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PSYCHIATRIE
EIN LEHRBUCH
FÜR
STUDIERENDE UND ÄRZTE
3 H a^-&*rt
VON
Dr. EMIL KRAEPELIN
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN
U ,
SIEBENTE, VIELFACH UMGEARBEITETE AUFLAGE
I. BAND
ALLGEMEINE PSYCHIATRIE
LEIPZIG
VERLAG VON JOHANN AMBROSIUS BARTH
i i i.
1903
1961
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ZZbSoZ/3if3oQ
Übersetzungsrecht Vorbehalten.
WELLCOME INSTITUTE
LIBRARY
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Druck von C. Grumbach in Leipzig.
Dem Andenken
Bernhard Gudden’s
gewidmet.
Digitized by the Internet Archive
in 2016
https://archive.org/details/b28120796_0001
Vorwort zur 7. Auflage.
Die Neubearbeitung des vorliegenden Buches, die ich durch
wiederholte Vergrösserung der Auflagen möglichst hinauszuschie-
ben gesucht habe, findet unsere Wissenschaft noch immer in
lebhaften Entwicklungskämpfen. Die meisten der im letzten Jahr-
zehnt aufgetauchten klinischen Fragen harren noch ihrer end-
gültigen Lösung, und auch auf Gebieten, deren Kenntnis zu einem
gewissen Abschlüsse gediehen zu. sein schien, wie die Paralyse
und die Epilepsie, erheben sich gewichtige Zweifel, ob nicht un-
sere bisherigen Anschauungen in wesentlichen Punkten einer Neu-
prüfung bedürfen. Diese Unsicherheit unseres Wissens ist gewiss
kein unerfreuliches Zeichen; bedeutet sie doch nach einem lange
dauernden, ziemlich unfruchtbaren Beharrungszustande eine Neu-
belebung des Bedürfnisses nach klinischer Durchforschung der
Geisteskrankheiten. Ausserordentlich erschwert wird aber durch
die Unfertigkeit und Zwiespältigkeit der weit auseinander weichen-
den, vielfach wechselnden Lehrmeinungen die Aufgabe, in einem
gegebenen Zeitpunkte den Besitzstand unserer Wissenschaft dar-
zustellen. So wenig ich mich zu der Selbstverleugnung ent-
schliessen kann, Anschauungen, die ich für überwunden halte, nur
deswegen weiter zu lehren, weil sie sich sonst noch allgemeiner
Anerkennung erfreuen, so sehr scheint es mir doch geboten, einen
vorläufig gewonnenen, wenn auch als unbefriedigend erkannten
Standpunkt erst dann zu verlassen, wenn ein unzweifelhaft besse-
rer gefunden wurde.
Aus diesem Grunde habe ich die Umänderungen in der neuen
Bearbeitung auf das Unumgängliche beschränkt, so tief ich auch
von der Verbesserungsbedürftigkeit der vorgetragenen Anschau-
ungen, namentlich auf dem Gebiete der Dementia praecox, über-
VI
Vorwort.
zeugt bin. Im allgemeinen Teile hat namentlich die Lehre von
den Erscheinungen des Irreseins eine umfassendere Durcharbei-
tung erfahren; ich hoffe, dass sie mehr und mehr durch eine tiefer
dringende Zergliederung der krankhaften Seelenvorgänge mittelst
des psychologischen Versuches ersetzt werden soll. Auf klinischem
Gebiete sind neben Anderem die alkoholischen Geistesstörungen,
das Jrresein bei Hirnerkrankungen und die Schlussabschnitte des
Buches wesentlich umgestaltet worden. Die fast durchweg
neuen pathologisch-anatomischen Bilder nebst den dazu gehörigen
Erläuterungen verdanke ich, wie früher, der treuen und uner-
müdlichen Mitarbeiterschaft Nissls, zum Teil auch der Freund-
lichkeit Alzheimers.
Heidelberg, den 19. September 1903.
E. Kraepelin.
Erster Band:
Allgemeine Psychiatrie,
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Einleitung
i o
I. Die Ursachen des Irreseins .
A. Äussere Ursachen ^
1. Körperliche Ursachen ^
Himkrankheiten
Kreislaufstörungen (Blutandrang, Anämie, Stauung) — Che-
mische Wirkungen, Zerstörungen, Psychische Wirkungen —
Kopfverletzungen — Localisation der psychischen Störungen
(Geschwülste, Giftwirkungen, landkartenartige Abgrenzung,
schichtweise Gliederung).
Nervenkrankheiten
Tabes — Polyneuritis — Chorea — Epilepsie — Tetanie —
Migränepsychosen — Schmerzdelirien, Reflexpsychosen (Dys-
phrenia neuralgica).
Operative Eingriffe . . , 34
Delirium traumaticum — Künstliches Klimakterium De-
lirien im Dunkelzimmer.
Vergiftung und Erschöpfung (Hunger, Schlaflosigkeit) . . .
Infektionskrankheiten
Akute Infektionskrankheiten (Infektion, Eieber, Erschöpfung)
Chronische Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Lepra, Sy-
philis, Metasyphilis).
Stoffwechselkrankheiten
Selbstvergiftungen (Kohlensäurevergiftung, Urämie, Cholä-
mie) — Krebssiechtum — Darmgifte — Diabetes, Glykos-
nrie _ Gicht — Myxödem, Basedowsche Krankheit.
Vergiftungen
Pellagra — Ergotismus — Alkohol — Äther, Paraldehyd,
Petroleum, Benzin, Chloroform — Morphium, Opium
Kokain — Haschisch, Fliegenschwamm — Arzneimittel
(Brom, Sulfonal, Jodoiorm) — Quecksilber, Blei, Phosphor —
Kohlenoxydgas, Schwefelkohlenstoff, Anilin.
X
Inhaltsverzeichnis.
Organerkrankungen
Sinnesorgane (Ohren) — Lungenleiden — Herzleiden —
Gefässerkrankungen — Erkrankungen derVerdauungswerk-
zeuge — Nierenleiden — Genitalerkrankungen.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft
Ausschweifungen, Onanie, Nuptiales Irresein, Enthaltsam-
keit — Menstruationsstörungen, Klimakterium — Schwan-
gerschaft, Wochenbett und Säugegeschäft.
2. Psychische Ursachen
Gemütsbewegungen
Akute (Emotionspsychosen, Angstdelirien) und chronische
Affekte.
Überanstrengung
Gefangenschaft
Krieg
Psychische Ansteckung
Epidemien, Induziertes Irresein — Irresein nach hypnotischen
und spiritistischen Versuchen.
Seite
68
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92
93
B. Innere Ursachen (Prädisposition)
1. Allgemeine Prädisposition
Lebensalter
Kinderpsychosen — Entwicklungsalter — Lebenshöhe —
Rückbildung — Greisenalter.
Geschlecht
Volksart und Klima
Allgemeine Lebensverhältnisse
Stadt und Land — Kulturfortschritte.
Beruf
Civilstand
2. Persönliche Prädisposition .
Erblichkeit
Entartung — Vererbungstypen — Entartungszeichen.
Entwicklungsstörungen
Erziehung
II. Die Erscheinungen des Irreseins
A.. Störungen des TV^ahwiehniungsvor ganges
Sinnestäuschungen
Elementare Trugwahrnehmungen — Wahrnehmungstäuschun-
£en Hallucination und Illusion — Reperception — Ein-
bildungstäuschungen (Doppeldenken) — Auffassungstäu-
schungen — Reflexhallucinationen — Gesichts-, Gehörs-,
Geruchs-, Geschmacks-, Gefühlstäuschungen — Verschieden-
artige klinische Ausprägung.
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128
129
Inhaltsverzeichnis.
XI
Seite
Trübungen des Bewusstseins
Dämmerzustände — Schlaf und Traum.
Störungen der Auffassung
Verlangsamung der Auffassung — Unbesinnlichkeit, Be-
nommenheit.
Störungen der Aufmerksamkeit
Abstumpfung — Sperrung — Hemmung — Bestimmbar-
keit — Ablenkbarkeit (Hyperprosexie) — Fesselung der
Aufmerksamkeit.
B. Störungen der Verstandestätigkeit
Störungen des Gedächtnisses
Störungen der Merkfähigkeit — Erinnerungslosigkeit (Retro-
grade Amnesie) — Gedächtnisschwäche — Partielle Am-
nesie (Amnestische Aphasie) — Erinnerungsfälschungen
(Paramnesien, Erinnerungshallucinationen).
Störungen der Orientierung
Zeitliche, örtliche, sachliche Orientierung — Desorientiert-
heit (apathische, stuporöse, deliriöse, hallucinatorische ,
amnestische, wahnhafte).
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe
Allgemeinvorstellungen, Begriffe (Sprache) — Erschwerte und
verschwommene Begriffsbildung.
Störungen des Gedankenganges
Vorstellungsverbindungen (Koexistenz, sprachliche Übung,
Klangassoziationen, Subsumtionen, prädikative Verbin-
dungen) — Zielvorstellungen — Zwangsvorstellungen —
Haften der Vorstellungen, Perseveration — Stereotypie —
Einförmigkeit — Umständlichkeit — Ablenkbarkeit (Ideen-
flucht, Weitschweifigkeit) — Zerfahrenheit — Verwirrtheit.
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163
171
177
181
Störungen der Einbildungskraft
Lähmung (Schwerfälligkeit) — Denkhemmung — Interesse-
losigkeit — Steigerung der Einbildungstätigkeit (Lügner
und Schwindler), erhöhte Suggestibilität und Autosugge-
stibilität.
Störungen des Urteils und der Schlussbildung
Wissen und Glaube — Irrtum, Aberglaube und Wahnidee —
Entstehungsbedingungen der Wahnideen (Monomanien,
überwertige Ideen, partielle Wahnbildung) Lokalisation
derselben — Deliriöse, schwachsinnige, fixierte, systemati-
sierte Wahnideen — Kleinheits- und Grössenideen (Ver-
sündigungs-, Verfolgungswahn, Eifersuchtswahn, Telepathie,
Verwandlungswahn, hypochondrischer Wahn, Grössenwahn,
Mangel des Krankheitsbewusstseins).
XII
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungs Verlaufes . . 228
Verlangsamung und Beschleunigung.
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit 231
Psychische Grundeigenschaften — Übungsfähigkeit — Übungs-
festigkeit — Anregbarkeit — Ermüdbarkeit — Erholungs-
fähigkeit (Schlaftiefe) — Ablenkbarkeit — Gewöhnungs-
fähigkeit.
Störungen des Selbstbewusstseins 235
Spaltung der Persönlichkeit — Doppeltes Bewusstsein (rEk-
mnesie“) — Krankhafte Wandlungen.
C. Störungen des Gefühlslebens 239
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit —
Teilnahmlosigkeit — Einschränkung der Gefühlsbeziehun-
gen — Beeinflussbarkeit der Stimmung, Stimmungswechsel.
Krankhafte Gemütsarten 244
Gesteigerte Unlustempfindlichkeit — Ängstlichkeit — Reiz-
barkeit — Verschlossenheit — Sonnennaturen — Schwärmer
und Schwindler — Leichtsinn.
Krankhafte Gemütsbewegungen 248
Angst — Zwangsbefürchtungen, Phobien — Niedergeschlagen-
heit — Gereiztheit — Übermut — Humor — Glücks-
gefühl — Heiterkeit — Verzückung, Ekstase.
Störungen der Gemeingefühle 259
Müdigkeit, Hunger — Langeweile — Ekelgefühle, Schmerz —
geschlechtliche Gefühle.
D. Störungen des Wollens und Handelns 264
Herabsetzung der Willensantriebe 265
Steigerung der Willensantriebe 267
Unruhe Beschäftigungsdrang — Bewegungsdrang.
Erschwerte Auslösung der Willensantriebe 270
Psychomotorische Hemmung, Stupor — Willenssperrung.
Erleichterte Auslösung der Willensantriebe 272
Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens 274
Willensfreiheit Bestimmbarkeit — Willenlosigkeit (Befehls-
automatie, Hypnose, Flexibilitas cerea, Nachahmungsauto-
matie, Echolalie, Echopraxie) — Ablenkbarkeit des Willens
(Unstetigkeit).
Verschrobenheit und Stereotypie
Willensdurchkreuzung — Stereotypie — Manieren — Rhyth-
mische Bewegungen — Entgleisungen (Paramimie, Drum-
herumreden).
Inhaltsverzeichnis.
XIII
Seite
Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens 284
Negativismus (Mutacismus, Vorbeireden, Befehlsnegativis-
mus) — Widerstreben — Eigensinn — Unlenksamkeit
Bindung des Willens, Pedanterie.
Zwangshandlungen
Schutzhandlungen — Zwangsantriebe.
Triebhandlungen 291
Krankhafte Triebe ^32
Suchten — Krankhafter Geschlechtstrieb (Konträre Sexual-
empfindung, Sadismus, Masochismus, Fetischismus) So-
domie, Zoophilie — Sammeltrieb, Stehltrieb — Brand-
stiftungstrieb — Mordtrieb, Giftmischerei.
Störungen der Ausdrucksbewegungen 300
Bewegungen (Verlust der Grazie) — Gebärden — Sprache
(Sprachverwirrtheit, Verbigeration, Wortneubildungen)
Schrift — Literatur und Kunst.
Handeln aus krankhaften Beweggründen 311
Handeln aus Wahnideen — Leistungsfähigkeit — Kranke
Herrscher — Geschäftsfähigkeit — Zurechnungsfähigkeit.
ITT- Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins 317
A. Verlauf des Irreseins 317
Beginn der Erkrankung 318
Höhe der Erkrankung 319
Wechsel des Zustandes — Anfälle — Intermissionen und
Remissionen.
Genesungszeit 323
Körpergewicht.
B. Ausgänge des Irreseins 325
Heilung 327
Prognose des Irreseins — Krankheitseinsicht — Einfluss
fieberhafter Krankheiten.
Unvollständige Heilung 331
Unheilbarkeit 333
Verblödung.
Tod 335
Sterblichkeit — Selbstmord.
C. Dauer des Irreseins 337
Spätheilungen.
IV. Die Erkennung des Irreseins 339
A. Krankenuntersuchung 339
Vorgeschichte 340
XIV
Inhaltsverzeichnis.
Zustandsuntersuchung
Körperliche Untersuchung (Allgemeinzustand, Entartungs-
zeichen, Schädel, Nervensystem, einzelne Organe, Kreis-
lanfsverhältnisse, Blut, Ausscheidungen) — Psychischer Zu-
stand (Intelligenzprüfungen) — Feinere Untersuchungen
(Auffassung, Zeitmessungen, Aufmerk6amkeit6schwankun-
gen, Gedächtnis, Merkfäbigkeit, Vorstellungsverbindungen,
Willensantriebe, Schrift, Ergographenversuche , Zitter-
bewegungen, Ausdrucksbewegungen, Reflexe, Plethysmo-
graphie, psychische Grundeigenschaften).
Beobachtung
Leichenbefund
• Anatomische Diagnose.
B. Grenzen des Irreseins
Klinische Diagnose — Krankhafte Vorgänge und Zustände —
Grenzgebiete (Beschränktheit, verkannte und wahre Genies,
sittliche Schwäche).
C. Verstellung und Verleugnung
Seite
343
369
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374
381
T. Die Behandlung des Irreseins
A. Vorbeugung
Heiraten Geisteskranker — Kampf gegen die Entartung —
Diätetik der Säuglinge — Erziehung — Überbürdungs-
frage — Berufswahl - Kampf gegen Trunksucht und
Syphilis — Irrenfürsorge, Irrenheilanstalten, HilLvereine —
Aufgaben des Staates (Wissenschaft und Unterricht).
B. Körperliche Behandlung
Arzneimittel
Narkotika (Opium, Morphium, Codein, Hyoscin, Duboisin
Haschisch, Pellotin)
Schlafmittel (Chloralhydrat, Paraldehyd, Amylenhydrat,
Dormiol, Sulfonal, Trional, Urethan, Hedonal. Veronal
Alkohol)
Chloroform, Äther, Bromäthyl . . . ’
Brompräparate ....
Amylnitrit, Digitalis
Thyreoidin, Tuberkulin, Bacterium coli ! ’ . .
Blasenpflaster, Brechweinstein, Drastika
Operative Eingriffe ....
Hirnoperationen, Kraniektomie - Gynäkologische Eingriffe -
Künstlicher Abortus und Frühgeburt - Beseitigung von
Wucherungen im Nasenrachenraum - Thyreodektomie -
Aochsalzinfusionen."
385
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404
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408
408
409
Inhaltsverzeichnis.
XV
Physikalische Heilmethoden
Wasserbehandlung (Dauerbäder, Wicklungen, Regenduschen,
Abreibungen) — Kälte — Elektrotherapie — Massage.
Diätetische Massregeln
Ernährung — Alkohol als Genussmittel — Mastkur — Bett-
lagerung — Separierung, Isolierung — Mechanische Be-
schränkung.
C. Psychische Behandlung
Allgemeine Regeln — Beschäftigung — Intimidation
Suggestion.
D. Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen
Psychische Erregung — Angst — Schlaflosigkeit Selbst-
mordneigung — Zerstörungssucht — Unreinlichkeit —
Masturbation — Nahrungsverweigerung (Sondenernährung,
Nährklystiere, Kochsalzinfusion, subkutane Ernährung).
E. Die Irrenanstalt
Geschichtliches — Wirkung der Anstalt Verbringung in
die Anstalt (Förmlichkeiten) — Irrenärzte — Pflegepersonal
— Stadtasyle (Wachabteilung) — Kolonien (Beschäftigung,
Ofifen-Türsystem) — Familiäre Verpflegung — Abteilungen
für gefährliche Geisteskranke — Entlassung aus der An-
stalt — Hilfsvereine — Trinkeranstalten — Nervenheil-
stätten.
Seite
411
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434
446
Einleitung.
Psychiatrie ist die Lehre von den psychischen Krank-
heiten und deren Behandlung. Ihren Ausgangspunkt bildet die
wissenschaftliche Erkenntnis des Wesens der Geistesstörungen.
In der Lösung dieser Aufgabe waren schon die Ärzte des Alter-
tums so weit vorgeschritten, dass sie das Irresein mit gewissen
körperlichen Störungen in Verbindung brachten, namentlich mit
dem Fieber und mit Veränderungen der Körpersäfte. Leider
gingen diese bereits zu Lehrgebäuden entwickelten Anschauungen
mit dem Zusammenbruche der alten Kultur fast völlig wieder
verloren. Dafür drangen im Mittelalter einerseits scholastisch-
philosophische, andererseits religiös-abergläubische Vorstellungen
in die Auffassung des Irreseins ein und verdrängen rasch die
vorhandenen Ansätze eines naturwissenschaftlichen Verständ-
nisses. Die Geistesstörung war nicht mehr Krankheit, sondern
Werk des Teufels, Strafe des Himmels, bisweilen auch göttliche
Verzückung. Nicht der Arzt beschäftigte sich mehr mit der
Erforschung und Behandlung des Seelengestörten, sondern der
Priester suchte ihm die bösen Geister zu vertreiben; das Volk
betete ihn als Heiligen an, und die Hexenrichter liessen ihn in
der Folterkammer wie auf dem Scheiterhaufen für seine ver-
meintlichen, wahnhaften Sünden büssen.
Mit der Wiedererneuerung der Wissenschaften und insbe-
sondere mit dem Aufschwünge der Medizin begann allmählich
auch das Interesse der Ärzte sich wieder den Geisteskranken
zuzuwenden. Allein es dauerte Jahrhunderte, bevor die klare
Erkenntnis sich überall Geltung zu erringen vermochte, dass die
Seelenstörungen nur vom ärztlichen Standpunkte aus richtig er-
forscht und erkannt werden können. Noch Kant vertrat die
K r aep elin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 1
2
Einleitung.
Anschauung, dass zur Beurteilung krankhafter Geisteszustände
mein- der Philosoph als der Arzt berufen sei. Erst die Errichtung
besonderer Anstalten für Geisteskranke unter ärztlicher Aufsicht
begann allmählich die Entwicklung einer wirklich wissenschaft-
lichen Betrachtungsweise des Irreseins anzubahnen. Wenn wir
von vereinzelten Vorläufern absehen, so gibt es erst seit dem
Ende des achtzehnten Jahrhunderts wirkliche Irrenärzte. Seit
jener Zeit hat sich die Psychiatrie trotz gewaltiger innerer und
äusserer Schwierigkeiten überraschend schnell zu einem kräftigen
Zweige der medizinischen Wissenschaft fortentwickelt.
Allerdings waren, namentlich bei uns in Deutschland, zunächst
noch schwere Kämpfe zu überstehen.*) Zwar hatte der auf die
Autorität der Bibel sich stützende Besessenheitsglaube bereits
seine Macht verloren, wenn er auch heute noch hier und da im
Verborgenen zu blühen scheint. Dagegen erstand der jungen
psychiatrischen Wissenschaft, wie sie damals gerade v on E s -
q u i r o 1 an der Hand einer reichen klinischen Erfahrung begründet
wurde, ein gefährlicher Feind in gewissen moraltheologischen Auf-
fassungen des Irreseins, die in den ersten Jahrzehnten des letzten
Jahrhunderts von Heinroth, Beneke u. a. in die Lehre \ om
Irresein hineingetragen wurden. Nach diesen Anschauungen sollte
die Geistesstörung wesentlich eine Folge der Sünde sein, welche
durch eigene Verschuldung Gewalt über den Menschen gewinne
und am Ende Leib und Seele verderbe. Gegen diese und ähnliche,
mit grossem Scharfsinn ausgeklügelten Anschauungen kämpften
mit den Waffen der naturwissenschaftlichen Forschung die „So-
matiker“, an ihrer Spitze Nasse und Jacobi**), welche das
Irresein für den Ausdruck körperlicher Störungen erHäiten.
Ihnen ist es gelungen, Sieger zu bleiben. Was noch vor
siebzig Jahren mühsam erstritten werden musste, ist heute,
wenn auch in vielfach veränderter Ausgestaltung, die selbst-
verständliche Grundlage unserer Wissenschaft geworden. Nie-
mand wagt es mehr, zu bezweifeln, dass Geistesstörungen Krank-
heiten sind, die der Arzt zu behandeln hat. Wir wissen jetzt,
*) Friedreich, Historisch-kritische Darstellung der Theorien über das
Wesen und den Sitz der psychischen Krankheiten. 1836.
**) J a c o b i , Beobachtungen über die Pathologie und Therapie der mit
Irresein verbundenen Krankheiten. 1830.
Einleitung-.
3
dass wir in ihnen die psychischen Erscheinungsformen mehr oder
weniger feiner Veränderungen im Gehirne, insbesondere in der
Rinde des Grosshirns, vor uns haben. Mit dieser Erkenntnis hat
die Psychiatrie bestimmte, klare Ziele gewonnen, denen sie mit
den Hilfsmitteln und nach den Grundsätzen naturwissenschaftlicher
Forschung entgegenstrebt.
Vor allem wird uns die Beobachtung am Kranken-
bette eine möglichst umfassende und eingehende Kenntnis der
klinischen Krankheitsformen zu liefern haben. A¥ir
müssen lernen, aus der fast unübersehbaren Mannigfaltigkeit der
Einzelerfahrungen nach und nach das Regelmässige und Wesent-
liche herauszuschälen, und auf diese AVeise zu einer Abgrenzung
und Gliederung der zusammengehörigen Beobachtungsreihen ge-
langen. Gerade diese Aufgabe hat sich auf unserem Gebiete
bisher als ganz besonders schwierig erwiesen. Krankheitsbilder,
die ihrem Wesen nach voneinander völlig verschieden sind, können
zeitweilig die grösste äusserliche Übereinstimmung darbieten, und
umgekehrt fassen wir heute mit gutem Rechte Zustände als
Äusserungen eines und desselben Krankheitsvorganges auf, die
zunächst durchaus unvereinbar, ja als schärfste Gegensätze er-
scheinen.
Was man mit Recht vom Arzte verlangt, ist die Vorher-
sage des Kommenden. Sobald wir imstande sind, aus dem
gegenwärtigen Zustande eines Kranken die weitere Entwicklung
seines Leidens mit Wahrscheinlichkeit vorauszubestimmen, ist
der erste wichtige Schritt zu einer wissenschaftlichen und prak-
tischen Beherrschung des Krankheitsbildes geschehen. Wir werden
daher gut tun, dieser Aufgabe zunächst unsere volle Aufmerksam-
keit zu widmen. Die meisten übrigen Zweige der Heilkunde
haben mit derselben im wesentlichen bereits abgeschlossen. Wir
wissen recht genau, wie ein Typhus oder ein Beinbruch verlaufen
wird, und kennen alle die Zwischenfälle, die den Heilvorgang
durchkreuzen können. In der Psychiatrie besitzen wir höchstens
die ersten Ansätze zu einer derartigen Kenntnis. Wohl erwirbt
sich der einzelne Irrenarzt im Laufe seiner persönlichen Erfahrung
die Fähigkeit, aus gewissen Zeichen Schlüsse auf die Heilbarkeit
oder Unheilbarkeit seiner Kranken zu ziehen. Dagegen fehlt es, ab-
gesehen etwa von der Gruppe der Paralyse, noch fast vollständig
4
Einleitung.
an zuverlässigen und lehrbaren Sätzen über die voraussichtliche
klinische Weiterentwicklung des einzelnen Krankheitsfalles.
Einer der Hauptgründe für diese Unvollkommenheit unserer
Wissenschaft liegt in der ungemein langen Dauer der Geistes-
krankheiten. Einerseits gibt es viele unheilbare Formen, die in
allmählichem Wechsel der Zustände das ganze Leben ausfüllen;
andererseits aber sehen wir bei einigen Hauptgruppen des Irre-
seins das Leiden in abgegrenzten, weit auseinander liegenden
Anfällen verlaufen oder doch jahrelang Stillstand machen, so
dass die innere Zusammengehörigkeit der einzelnen Anfälle oder
Nachschübe nur bei genauer Kenntnis der ganzen Vergangen-
heit überblickt werden kann. Jeder Irrenarzt erlebt zahlreiche
Überraschungen, sobald er in die Lage kommt, die späteren
Lebensschicksale seiner einstigen Kranken verfolgen zu können.
Namentlich wird er stets erkennen, dass die überwiegende Mehr-
zahl der rasch und günstig verlaufenden Geistesstörungen nichts
anderes sind, als die Äusserungen eines dauernden krankhaften
Zustandes, der freilich lange Zeit gar nicht hervorzutreten
braucht. Gerade diese trügerischen Augenblicksbilder sind es,
welche uns die Klärung der klinischen Erfahrung so sehr er-
schweren. Die Feststellung dessen, was wirklich vorkommt, muss
daher noch auf längere Zeit hinaus unsere erste Aufgabe bleiben.
Vor allem ist es wichtig, den gesamten Lebenslauf unserer
Kranken durch Jahrzehnte hindurch im Auge zu behalten; öfters
wird es erst dann möglich sein, den richtigen Standpunkt für
die klinische Beurteilung zu gewinnen.
Ganz besondere Vorsicht ist ferner bei der Feststellung der
Krankheits Ursachen geboten. Der Laie ist geneigt, ohne
weiteres irgend ein zufälliges Ereignis, eine gemütliche Erregung,
einen Misserfolg, ein körperliches Leiden, eine Überanstrengung
für den Ausbruch des Irreseins verantwortlich zu machen. Die
weiterblickende klinische Erfahrung lehrt indessen, dass die ur-
sächliche Bedeutung derartiger äusserer Einflüsse eine verhält-
nismässig recht geringe ist. Sehr häufig werden sogar die ersten
Erscheinungen des beginnenden Irreseins fälschlicherweise für
dessen Ursachen gehalten. Wenn wir sehen, dass die gleichen
Krankheitsfälle, die heute durch einen bestimmten Anstoss er-
zeugt zu werden scheinen, bei demselben Kranken ein anderes
Einleitung.
5
Mal, und ebenso in zahllosen anderen Fällen regelmässig, ganz
ohne jeden Anlass sich einstellen, so werden wir auch gegen
die erste, anscheinend so beweisende Beobachtung misstrauisch
werden. Auch auf diesem Gebiete ist noch ausserordentlich viel
zu tun. Die gleichen Ursachen müssen auch bei dem Vorgänge
der psychischen Erkrankung überall die gleichen Wirkungen
haben. Begegnen uns, wie so häufig, vermeintliche Abweichungen
von jenem Gesetze, so sind zweifellos entweder die Ursachen oder
die Wirkungen nicht wirklich gleich gewesen. Nach beiden Rich-
tungen hin wird eine geduldige Häufung zuverlässiger und nament-
lich vollständiger Beobachtungen allmählich Klarheit bringen.
Ist es uns gelungen, die klinischen Erfahrungen soweit zu
verarbeiten, dass wir Krankheitsgruppen mit bestimmten Ur-
sachen, bestimmten Erscheinungen und bestimmtem Verlaufe
aufstellen können, so wird es unsere Aufgabe sein, in das
Wesen des einzelnen Krankheitsvorganges einzu-
dringen. Ein wichtiger und auch bereits vielfach betretener
Weg zu diesem Ziele ist derjenige der pathologischen Ana-
tomie. Leider hat uns diese Wissenschaft, der die übrige Medizin
so viel verdankt, erst verhältnismässig wenige Aufschlüsse zu
liefern vermocht, weil unsere Kenntnisse von dem Bau der ge-
sunden und den Veränderungen der kranken Hirnrinde viel zu
lückenhaft sind. Insbesondere versagt unser Wissen völlig bei
denjenigen Gewebsteilen, die vorzugsweise Träger der höheren
Seelenäusserungen zu sein scheinen. Auch dort aber, wo die
Untersuchung bereits tiefgreifende und ausgedehnte Verände-
rungen aufgedeckt hat, erweist es sich als sehr schwierig, aus
den Befunden das Wesentliche und Eigenartige herauszuschälen
und weiterhin ein Bild von der Art und dem Verlaufe der zu
Grunde liegenden Krankheitsvorgänge zu gewinnen. Sehr wich-
tige Aufschlüsse hat der Tierversuch, namentlich die Erforschung
der Hirnrindenvergiftungen, gebracht, da es hier möglich ist,
eindeutige Beziehungen zwischen krankmachenden Ursachen und
Rindenveränderungen herzustellen und zugleich die einzelnen Ent-
wicklungsstufen des Krankheitsvorganges zu verfolgen. Freilich
sind diese Erfahrungen nicht ohne weiteres auf die wesentlich
anderen Verhältnisse beim Menschen zu übertragen. Immerhin
wird unser Verständnis wenigstens für diejenigen Formen der
6
Einleitung.
Geistesstörungen gefördert werden, deren Ursachen die Verwer-
tung im Tierversuche gestatten.
Weit weniger, als die pathologische Anatomie, vermag einst-
weilen die Physiologie der Hirnrinde zur Vertiefung
unserer Kenntnisse von den Geistesstörungen beizutragen, so wert-
voll ihre Lehren auch für die Erforschung und Behandlung der
gröberen Hirnerkrankungen geworden sind. Alle Formen des
Irreseins beruhen höchst wahrscheinlich auf ausgebreiteten Stö-
rungen in der Hirnrinde und dürften schwerlich an engumschrie-
bene Gebiete derselben geknüpft sein. Zudem sind die Eingriffe,
die uns Aufschlüsse über die örtliche Verteilung der Hirnver-
richtungen geliefert haben, unter allen Umständen weder ihrer
Art noch ihrer Ausbreitung nach den feinen und weitschichtigen
Abweichungen irgendwie vergleichbar, die wir als die Grundlage
der Geisteskrankheiten vermuten müssen. Andererseits ist die
Psychiatrie leider der Gefahr nicht immer entgangen, die aus
den Lokalisationsversuchen gewonnenen Vorstellungen ohne wei-
teres auf das unendlich verwickeltere Gebiet der psychischen
Störungen zu übertragen und damit einer rohen und zugleich
unfruchtbaren Schematisierung der klinischen Erfahrungen Vor-
schub zu leisten.
Das konnte um so leichter geschehen, je weniger wir tat-
sächlich von dem Getriebe und den Gesetzen unserer psychischen
Vorgänge wissen. Gerade die spekulative Psychologie mit ihren
dürren Gedankenspielereien hat die Entwicklung der Seelenheil-
kunde zu einer klinischen Wissenschaft am stärksten gehindert.
Diese Erkenntnis musste zu einer kräftigen Gegenströmung
führen, welche das Schwergewicht der psychiatrischen For-
schung auf die körperlichen und, wegen der Erfolge in anderen
medizinischen Gebieten, auf die anatomisch nachweisbaren Verän-
derungen legte. Es ist indessen klar, dass uns auch die voll-
kommenste Kenntnis der Hirnrindenstörungen beim Irresein, der
Nachweis aller sich dort vollziehenden Abweichungen in Form und
Verrichtung, durchaus im Unklaren darüber lassen würde, ob und
welche Beziehungen zwischen jenen Störungen und den psychi-
schen Krankheitserscheinungen bestehen. Ja, wir könnten das
eindringendste Verständnis für alle in der Hirnrinde sich abspielen-
den körperlichen Vorgänge besitzen, ohne an sich auch nur einen
Einleitung.
7
Augenblick zu der Vermutung gezwungen zu werden, dass wir
in jenem Gewebe den Träger des Seelenlebens vor uns haben. Aus
diesen Erwägungen ergibt sich die Notwendigkeit, ausser den
körperlichen Zuständen der Hirnrinde auch die psychischen
Erscheinungsformen jener letzteren gesondert zu erfor-
schen. Wir erhalten auf diese Weise zwei Reihen innig mit-
einander verbundener, aber ihrem Wesen nach unvergleichbarer
Tatsachen, das körperliche und das psychische Geschehen. Aus
den gesetzmässigen Beziehungen beider zu einander geht das
klinische Krankheitsbild hervor.
Wir müssen es daher als unsere Aufgabe betrachten, auch
jene Gesetze kennen zu lernen, welche den Ablauf der psychischen
Vorgänge beherrschen, namentlich aber auf das sorgfältigste den
Abhängigkeitsverhältnissen nachzugehen, die zwischen körper-
lichen und seelischen Zuständen bestehen. Glücklicherweise hat
sich aus dem Schosse der Physiologie heraus, namentlich in den
letzten Jahrzehnten, auch die Psychologie zu einer Erfahrungs-
wissenschaft entwickelt, die auf dem Wege der Naturforschung
ihren Gegenstand erfolgreich zu bearbeiten begonnen hat. Es
ist, wie schon die bisherige Arbeit gezeigt hat, nicht unmöglich,
mit Hilfe jener jungen Wissenschaft zu einer Physiologie
der Seele zu gelangen, die auch der Psychiatrie eine brauch-
bare Grundlage zu liefern vermag. Sie wird uns einerseits dazu
dienen können, verwickelte Erscheinungen in ihre einfacheren
Bestandteile zu zerlegen. Wir werden aus der Zergliederung
des gesunden Seelenlebens die Anhaltspunkte für die Beurteilung
und Erklärung krankhafter Störungen gewinnen, und wir werden
auch in der Lage sein, in geeigneten Fällen das Hilfsmittel des
psychologischen Versuches unmittelbar zur genaueren Eifor-
schung von Krankheitszuständen heranzuziehen.
Andererseits aber dürfen wir von einer wissenschaftlichen
Psychologie wertvolle Ergänzungen unserer Vorstellungen über
die Entstehung des Irreseins erwarten. Vor allem sind es wieder
die Gifte, deren Einwirkung auf den Ablauf unserer psychischen
Vorgänge wir grundsätzlich schon heute mit ziemlicher Genauig-
keit in ihre Einzelzüge zu zerlegen imstande sind. Die hier noch
im Bereiche des Gesunden gewonnenen Erfahrungen können uns
dann das Verständnis auch für die klinischen Krankheitserschei-
8
Einleitung.
nungen eröffnen, wie sich das bereits für einzelne Gifte gezeigt
hat. Auch eine Reihe anderer Einflüsse, denen wir gewöhnt sind,
Wirkungen auf unser Seelenleben zuzuschreiben, lassen sich in
ganz ähnlicher Weise untersuchen. Wir können die Veränderungen,
die durch den Hunger, mangelhaften Schlaf, geistige und körper-
liche Überanstrengung im Verhalten unserer psychischen Vor-
gänge hervorgerufen werden, von ihren leisesten Anfängen an
genau verfolgen und aus den geringeren Gleichgewichtsschwan-
kungen beim sonst gesunden Menschen Schlüsse auf die Deutung
der ausgeprägteren Störungen im Krankheitszustande ableiten.
Endlich aber wird die psychologische Zergliederung der einzelnen
Persönlichkeit mit Hilfe des Versuches vielleicht auch geeignet
sein, uns über die Eigentümlichkeiten jener vielgestaltigen Formen
krankhafter Veranlagung Aufklärung zu verschaffen, die man
unter dem gemeinsamen Namen der Entartungszustände zusam-
menzufassen pflegt.
Wenn der Seelenheilkunde aus der Beschäftigung mit den
höchsten und verwinkeltsten Lebensäusserungen und deren körper-
lichen Grundlagen auf Schritt und Tritt schier unüberwindliche
Schwierigkeiten erwachsen, so verleiht andererseits die Eigenart
des Gegenstandes ihren Ergebnissen eine Bedeutung, die weit
über das Gebiet der Fachwissenschaft hinausreicht. Nicht nur
wird der psychiatrisch geschulte Arzt aus ihr ein tieferes Ver-
ständnis für zahlreiche Beobachtungen am Krankenbette gewinnen,
die ihm sonst unklar geblieben wären, sondern die Lehre von den
geistigen Störungen liefert auch für alle diejenigen Wissenschaf-
ten wichtige Bausteine, die sich überhaupt mit dem Seelenleben
des Menschen beschäftigen. So kommen die innigsten wissen-
schaftlichen Wechselbeziehungen zur Psychologie und ihren ver-
schiedensten Zweigen zu stände, zur Völkerpsychologie, Kriminal-
psychologie, Persönlichkeitskunde, Psychologie der Altersstufen,
der Geschlechter, ferner zur Pädagogik, Ethik, Erkenntnis-
theorie u. s. f.
Unmittelbar wichtiger, als diese weitausgedehnten wissen-
schaftlichen Anknüpfungen, sind die praktischen Aufgaben,
welche die Psychiatrie zu lösen hat. Zunächst wird es sich dabei
um die Verhütung des Irreseins handeln. Die Gesichtspunkte
für diesen Zweig der Gesundheitspflege können naturgemäss nur
Einleitung.
9
aus der Lehre von den Ursachen geistiger Erkrankungen ge-
wonnen werden. Bedeutsame Fortschritte jener letzteren werden
daher vielfach auch Ausblicke auf vorbeugende Massregeln zu
eröffnen imstande sein. So wird unsere Kenntnis von der Rolle,
die Erblichkeit, Alkohol, Syphilis bei der Entstehung des Irre-
seins spielen, dem Arzte eine gewisse Richtschnur für sein Handeln
geben, mag der tatsächliche Erfolg seiner Bemühungen auch
heute noch ein bedauernswert geringer sein.
Leider ist auch der Nutzen, den die Behandlung der
Geistesstörungen aus der Erkenntnis ihrer Ursachen zieht, bisher
noch nicht sehr gross. Wo uns die Ursachen bekannt sind, ver-
mögen wir sie meistens nicht zu beseitigen, wie zum Beispiel bei
der erblichen Entartung. Darum muss hier die Erfahrung am
Krankenbette selbst unsere Lehrmeisterin werden. Sie hat uns
in verhältnismässig kurzer Zeit einen weiten, weiten Weg ge-
führt. Von dem Zeitpunkte an, in welchem Ärzte die Fürsorge
für die Geisteskranken übernahmen, seitdem sie in der Lage
waren, klinische Beobachtungen zu sammeln, hat sich das Los
unserer Kranken stetig gebessert. Die Entwicklung unseres
ganzen Anstaltswesens, einer der grossartigsten Schöpfungen
menschlichen Mitleids, ist auf das engste verknüpft gewesen
mit den Fortschritten in unserem Verständnisse des Irreseins.
Je klarer sich die Überzeugung Bahn brach, dass die Irren
Kranke sind, dass ihren Störungen bestimmte körperliche Ver-
änderungen zu Grunde liegen, um so mehr haben sich die Irren-
anstalten in ihren ganzen Einrichtungen denjenigen anderer Kran-
kenhäuser genähert, so dass heute ein Asyl für frisch Erkrankte
fast vollständig einer Abteilung für körperlich Kranke glei-
chen darf.
Ein Punkt ist es allerdings, welcher den Geisteskrankheiten
eine besondere Stelle gegenüber allen übrigen Leiden anweist:
das ist ihre ausserordentliche soziale Bedeutung. Das Irresein
gehört unter allen Umständen zu den schwersten Erkrankungen,
die es überhaupt gibt. Dazu kommt aber, dass der Geisteskranke
in der Regel nicht imstande ist, selbständig für sich zu sorgen.
Man kann ihn in seinem Handeln nicht nach seinem Belieben ge-
währen lassen, sondern er bedarf fremder Aufsicht und Fürsorge.
Aus dieser Tatsache erklärt es sich, dass dem Irrenarzte noch
10
Einleitung.
eine Reihe von Aufgaben zufallen, welche anderen Gebieten der
Heilkunde fremd sind. Die Verbringung des Geisteskranken in die
Anstalt geschieht meist nicht auf seinen eigenen Wunsch, sondern
auf Veranlassung seiner Angehörigen oder der Behörden. Er wird
behandelt und festgehalten ohne und nach Umständen selbst gegen
seinen Willen. Die gesetzliche Regelung der hier erwachsenden,
sehr schwierigen Fragen hat von jeher die Aufmerksamkeit der
Irrenärzte auf das ernsthafteste beschäftigt. Wie die Erfahrung
lehrt, sind die Fälle, in denen Geisteskranke schwerstes Unheil
über sich oder ihre Angehörigen bringen, überaus häufig. Darum
ist rasches Einschreiten beim Ausbruche geistiger Erkrankung mit
Rücksicht auf den Kranken selbst wie auf seine Umgebung
dringend geboten, um so mehr, als die Heilungsaussichten unter
solchen Umständen am günstigsten sind. Andererseits gibt es
nicht wenige Kranke, die nur mit grösstem Widerstreben in der
Anstalt bleiben, ja zweifellos unter der Freiheitsentziehung leiden.
Es leuchtet ein, dass es schwer genug ist, zwischen den wider-
strebenden Wünschen des Kranken und den Forderungen der
öffentlichen Sicherheit jederzeit entscheiden zu müssen.
Für die richtige Würdigung der Rolle, die das Irresein im
Gemeinwesen spielt, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen,
dass sich im Jahre 1898*) in den Irrenanstalten des Deutschen
Reiches nicht weniger als etwa 74 000 Kranke befanden. Es kam
somit 1 Anstaltskranker auf 688 Einwohner. Nach allgemeiner
Erfahrung beträgt die Anzahl der überhaupt vorhandenen Geistes-
kranken mindestens das Doppelte, so dass wir mit einer Zahl von
etwa 150 000 derartiger Kranker im Deutschen Reiche zu rechnen
haben. Ob damit die Wahrheit bereits erreicht ist, müssen wir
freilich sehr dahingestellt sein lassen. In manchen Gegenden
Deutschlands bieten heute die Anstalten schon Raum für einen
Kranken auf 5 — 600 Gesunde, ja man hat in der Schweiz sogar
auf je 200 Einwohner einen Platz in der Irrenanstalt gefordert!
Jedenfalls bedeutet die gewaltige Zahl der Geisteskranken, welche
ausser stände sind, ihr Leben selbständig zu führen, vielfach
sogar einer sehr sorgfältigen und kostspieligen Pflege bedürfen,
eine schwere Belastung unseres Volkes, namentlich der Gemein-
*) L ä k r , Die Heil- und Pfleganstalten für Psychisch-Kranke .des deutschen
Sprachgebietes. 1899.
Einleitung.
11
den, die meistens für die unbemittelten Kranken einzutreten
haben. Die zweckmässige Gestaltung dieser umfassenden Für-
sorge ist eine ebenso wichtige wie umfangreiche praktische Auf-
gabe unserer Wissenschaft.
Noch verwickelter fast und schwieriger sind die Beziehungen
unserer Kranken zu den verschiedenen Zweigen der Rechts-
pflege. Das Strafgesetz aller gesitteten Völker betrachtet
höhere Grade geistiger Erkrankung als Strafausschliessungsgrund ;
das bürgerliche Gesetzbuch spricht den Handlungen des Irren
die rechtliche Verbindlichkeit ab. Nach beiden Richtungen hin
hat das Gutachten des Irrenarztes sehr gewichtige Folgen für
das Lebensglück der Betroffenen. Wenn irgendwo, so gilt hier
der Satz, dass die Entscheidung solcher Fragen nur auf der
Grundlage einer tiefgehenden Sachkenntnis geschehen kann.
Auf Schritt und Tritt tauchen Schwierigkeiten auf, die ausschliess-
lich durch vollkommenste Beherrschung aller Einzelheiten der
klinischen Erfahrung überwunden werden können. Ja, nicht selten
entdeckt erst der Wissende dort Schwierigkeiten, wo sie dem
Unerfahrenen verborgen bleiben. Unter allen Umständen wird dei-
jenige der beste Gutachter sein, welcher der beste Kliniker ist.
Von der endgültigen Lösung der im vorstehenden gekenn-
zeichneten Aufgaben ist die Psychiatrie leider nur allzu weit noch
entfernt. Sie ist eine junge, im Werden begriffene Wissenschaft,
und sie muss sich in harten Kämpfen erst langsam die Stel-
lung erobern, die ihr nach Massgabe ihrer wissenschaftlichen und
praktischen Bedeutung gebührt. Kein Zweifel, dass sie sich die-
selbe erringen wird — stehen ihr doch dieselben Waffen zu Gebote,
die sich auf den übrigen Gebieten der Medizin so glänzend be-
währt haben: die klinische Beobachtung, das Mikroskop und das
Experiment.
H. Emminghaus, Allgemeine Psychopathologie zur Einführung in das
Studium der Geistesstörungen. 1878.
Maudsley, The pathology of mind. 1895.
S t ö r r i n g , Vorlesungen über Psychopathologie. 1900.
Ausführliche Darstellungen der allgemeinen Psychiatrie enthalten auch
die meisten der im zweiten Teile dieses Buches aufgeführten Lehrbücher.
I. Die Ursachen des Irreseins*)
Die Entstehungsgeschichte einer geistigen Erkrankung ist
fast immer eine sehr verwickelte. Nur recht selten finden wir
hier einfache und durchsichtige Beziehungen zwischen greifbaren
Ursachen und entsprechenden Wirkungen vor; fast immer sind
wir in der Lage, mit einer ganzen Reihe von verschiedenen Mög-
lichkeiten rechnen zu müssen, deren besondere Bedeutung im
einzelnen Falle wir oft kaum annähernd abzuschätzen vermögen.
Die Lehre von der Entwicklung des Irreseins kennt daher
nur ausnahmsweise einen unverbrüchlichen Zusammenhang zwi-
schen bestimmter Krankheitsursache und Krankheitsf orm ; viel-
mehr pflegen wir allgemein den gleichen äusseren Einwirkungen
die Erzeugung mannigfaltiger Formen des Irreseins zuzuschreiben
und andererseits die gleichen psychischen Erkrankungen aus
einer Anzahl der verschiedenartigsten Ursachen herzuleiten.
Dieser Widerspruch mit dem naturwissenschaftlichen Grundge-
setze, der sich übrigens bei allen unentwickelten Erfahrungs-
wissenschaften wiederfindet, beruht zunächst darauf, dass wir auf
unserem Gebiete vielleicht noch mehr, als irgendwo sonst, die
beiden grossen Gruppen der äusseren und inneren Ursachen
auseinanderzuhalten haben.
Unser Gehirn ist ein überaus reich und vielseitig entwickeltes
M erkzeug und zeigt daher eine ausserordentlich mannigfaltige
Ausbildung bei verschiedenen Personen. Aus diesem Grunde
werden wir bei der Entstehung des Irreseins der Eigenart des
einzelnen Menschen eine besonders hohe Bedeutung einräumen
müssen. Die gleiche Schädlichkeit wird bei der Einwirkung auf
verschiedenartige Wesen notwendigerweise auch verschiedenartige
' r o u 1 o u s e , les causes de la folie, prophylaxie et assistance. 1S96.
I. Die Ursachen des Irreseins.
13
Krankheitserscheinungen nach sich ziehen müssen. Während sie
in einem Falle an der inneren Widerstandsfähigkeit des Betrof-
fenen ohne weiteres abprallt, kann sie ein anderes Mal vielleicht
eine heftige, aber kurze Erschütterung des seelischen Gleich-
gewichtes erzeugen, bei einem Dritten etwa eine schlummernde
Krankheitsanlage wecken, die nun ihrerseits zu langdauerndem
geistigem Siechtum führt. Überall wird dabei der Satz Geltung
haben, dass äussere und innere Ursachen in einem gewissen Er-
gänzungsverhältnisse zu einander stehen. Je weniger ein Mensch
zum Irresein veranlagt ist, um so stärker muss die äussere
Schädigung sein, die ihn krank macht, und umgekehrt gibt es
Personen, die schon unter dem Einflüsse der kleinen Reize des
täglichen Lebens geisteskrank werden, weil ihre Widerstands-
fähigkeit zu gering ist, um selbst diese ohne tiefere Störung er-
tragen zu können.
Dazu kommt, dass wir heute überall wesentlich nur die
rohen, nicht aber die wahren Ursachen und Wirkungen zu
berücksichtigen vermögen. Wäre z. B. eine bestimmte chemische
Veränderung in der Zusammensetzung des Blutes die wahre Ur-
sache einer eigenartigen Geistesstörung, so könnten sehr ver-
schiedene rohe Ursachen, etwa das Krebssiechtum, häufige Blu-
tungen, chronische Malariavergiftung, Erkrankungen der blut-
bildenden Organe u. s. f. neben anderen Wirkungen gerade den
gemeinsamen Erfolg haben, dass die Ernährungsflüssigkeit nach
der hier in Betracht kommenden Richtung hin untauglich wird.
Noch wichtiger vielleicht ist es, dass umgekehrt psychische Stö-
rungen, die der äusserlichen Betrachtung völlig verschieden er-
scheinen, in Wahrheit doch nahe verwandt, etwa nur verschiedene
Entwicklungsstufen oder Stärkegrade eines und desselben Krank-
heitsvorganges sind. So wird man vielleicht den Grössen- und
den Kleinheitswahn des Paralytikers zunächst als Anzeichen
völlig entgegengesetzter Störungen anzusehen geneigt sein, bis
man entdeckt, dass beide als Erscheinungsformen desselben Grund-
leidens ohne weiteres ineinander übergehen, sich sogar miteinan-
der mischen können. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass
eine brauchbare Ursachenlehre ohne die genaueste Kenntnis der
klinischen Krankheitsformen nicht möglich ist. So lange wir
nicht am Krankenbette Wesensgleiches zusammenzufassen und
14
I. Die Ursachen des Irreseins.
Verschiedenes zu trennen vermögen, werden auch unsere ätio-
logischen Anschauungen notwendig unklar und widerspruchsvoll
bleiben.
Dennoch beginnt sich schon jetzt allmählich die Auf-
fassung Bahn zu brechen, dass dem Überwiegen der äusseren oder
der inneren Ursachen im allgemeinen zwei grosse Gruppen von
Geistesstörungen entsprechen, die von Möbius als exogene
und endogene Erkrankungen auseinandergehalten worden sind.
Jene erstere Gruppe zeigt wesentlich abgerundete Verlaufsarten
von bestimmtem Gepräge mit einer gewissen Gleichförmigkeit der
gesamten Entwicklung; dieser letzteren dagegen ist vielfacher
Wechsel der Krankheitserscheinungen nach Stärke und Art,
schwankender, unregelmässiger Verlauf oder Fortbestehen der
Störungen durch das ganze Leben hindurch eigentümlich. Es liegt
indessen auf der Hand, dass sich eine strenge Scheidung auf
diesem Gebiete nicht durchführen lässt. Vielmehr muss es natur-
gemäss alle möglichen Mischungen in dem Verhältnisse der
äusseren zu den inneren Ursachen geben. Das Gewicht des gleichen
äusseren Anstosses kann je nach dem uns wesentlich unbekannten
inneren Zustande ein sehr verschiedenes sein. Auf diese Weise
entstehen praktisch die mannigfaltigsten Beziehungen zwischen
rohen äusseren Ursachen und klinischen Formen des Irreseins,
so dass die zu Grunde liegenden Gesetzmässigkeiten tatsächlich
überaus schwer zu entwirren sind. Immerhin sind uns auch heute
schon gewisse Anhaltspunkte in den Krankheitsbildern selbst ge-
geben. Wir wissen von einer ganzen Reihe klinischer Formen
aus vielfältiger Erfahrung, dass sie überwiegend äusseren oder
inneren Ursachen ihre Entstehung verdanken, und wir können
daher aus der Art der Krankheitszeichen nicht selten auch dann
die exogene oder endogene Natur des einzelnen Falles mit grösster
Wahrscheinlichkeit feststellen, wenn uns der grobe Augenschein
zunächst zu einer falschen Auffassung zu verführen drohte.
A. Äussere Ursachen.
Die grosse Klasse der äusseren Ursachen des Irreseins pflegt
man zur besseren Übersicht weiter in die beiden Gruppen der
körperlichen und der psychischen Ursachen auseinan-
Hirnkrankheiten.
15
der zu trennen. Die ersteren greifen unmittelbar in den körper-
lichen Bestand unseres Seelenorganes ein, die anderen erst durch
Vermittlung psychischer Vorgänge, durch Erzeugung von Vor-
stellungen oder Gemütsbewegungen. Eine grundsätzliche Ver-
schiedenheit zwischen beiden Gruppen besteht selbstverständlich
nicht, da nach den überall festzuhaltenden Grundanschauungen
jeder Veränderung auf psychischem Gebiete durchaus eine
Störung im Ablaufe der körperlichen Vorgänge entspricht.
1. Körperliche Ursachen.
Hirnkrankheiten*). Da die letzte Grundlage aller Formen des
Irreseins höchst wahrscheinlich in krankhaften Vorgängen odei
Zuständen der Grosshirnrinde gesucht werden muss, so werden
wir allen wahren Ursachen die gemeinsame Eigenschaft zu-
schreiben dürfen, dass die Erkrankungen der Hirnrinde bewirken.
Der anatomische Nachweis solcher Erkrankungen ist schon
bei einer grossen Reihe von psychischen Störungen gelungen, wenn
auch die Deutung der Befunde und namentlich ihre gesetzmässige
Beziehung zu den klinischen Erscheinungen meist noch recht un-
klar ist. Insbesondere scheinen Veränderungen an den Rinden-
zellen überaus häufig zu sein, so dass es gar nicht ganz leicht
ist, völlig normale Bilder zu erhalten. Jedenfalls können ein-
greifende körperliche Schädigungen Zellenveränderungen er-
zeugen, ohne dass sie von auffallenderen psychischen Störungen
begleitet sind. Hoch hat ferner in der Rinde von nicht geistes-
kranken Menschen die Anzeichen einer kurz vor dem Tode ein-
setzenden akuten Störung aufgefunden, als deren Ausdruck wir
vielleicht die Bewusstseinstrübung betrachten dürfen, die den
Todeskampf zu begleiten pflegt. Natürlich wird durch solche
Erfahrungen die klinische Verwertbarkeit der Zellenbefunde sehr
stark geschmälert.
Auf der anderen Seite muss es bei grossen Gruppen von
geistigen Erkrankungen als recht zweifelhaft bezeichnet werden,
*) Nothnagel, Topische Diagnostik der Gehirnkrankheiten. 1879 ;
Wer nicke, Lehrbuch der Gehirnkrankheiten. 1881; Go wer s, Vorlesungen
über die Diagnostik der Gehirnkrankheiten, deutsch v. Mommsen. 1886;
Henschen, Klinische und anatomische Beiträge zur Pathologie des Gehirns.
1892; v. Monakow, Gehirnpathologie. 1897; Oppenheim, Lehrbuch der
Nervenkrankheiten, 3. Aufl. 1902.
16
I. Die Ursachen des Irreseins.
ob die Veränderungen, die ihnen zu Grunde liegen, überhaupt oder
doch mit unseren heutigen Hilfsmitteln sichtbar gemacht werden
können. Dass übrigens die wahrnehmbaren Veränderungen
durchaus nicht immer die Ursache der klinischen Störungen zu
sein brauchen, bedarf wohl kaum der Erwähnung.
Bei den Gehirnerkrankungen im engeren Sinne werden wir
ausgeprägtere psychiscne Erscheinungen dann erwarten, wenn
das Leiden entweder gerade in der Binde seinen Sitz hat oder
doch durch Erhöhung des Hirndruckes, Störungen der Blut-
verteilung, Giftwirkungen und dergl. die Rinde in Mitleidenschaft
zieht. Es kommt indessen vor, dass selbst greifbare Rinden-
erkrankungen, wenn sie umschrieben sind und sich langsam eni>
wickeln, die psychischen Leistungen, wenigstens anscheinend,
völlig unbeeinflusst lassen. Zur Erklärung derartiger Tatsachen
ist vielleicht die Möglichkeit einer teilweisen Stellvertretung ge-
sunder Rindenpartien für erkrankte, namentlich aber der Um-
stand in Erwägung zu ziehen, dass eine ganz allmählich ein-
tretende leichte Verminderung der psychischen Leistungsfähigkeit
mit unseren heutigen unvollkommenen Hilfsmitteln sehr schwer
aufzufinden und genau zu bestimmen ist.
Als das wichtigste Bindeglied zwischen Schädlichkeiten und
Hirnrindenerkrankungen hat man früher vielfach die Störungen
des Hirnkreislaufes betrachtet, durch deren Vermittlung noch
Meynert verschiedene psychische Krankheitsbilder zu erklären
suchte. Obgleich diese Anschauung heute nicht mehr haltbar ist,
so kann doch nicht bezweifelt werden, dass wesentliche Ände-
rungen in der Blutzufuhr einen entschiedenen Einfluss auf das
Seelenleben ausüben, namentlich, wenn sie sich rasch ausbilden.
Insbesondere pflegt man auch den Gefässerkrankungen, wie wir
sie bei einer Reihe von Geistesstörungen auftreten sehen, die
Entstehung schwerer, die Hirnernährung schädigender Kreislauf-
störungen zuzuschreiben, ohne dass bisher unsere Vorstellungen
über den inneren Zusammenhang der Vorgänge besonders klare
wären.
Vermehrten Blutandrang zum Gehirn beobachten wir im Fieber,
bei Wärmebestrahlungen des Kopfes, bei gewissen Gemütsbewe-
gungen, bei Hypertrophie des linken Ventrikels und bei den-
jenigen Giften, die eine Förderung der Herzarbeit oder eine Er-
Hirnkrankheiten.
17
Weiterung der Ifirngefässe bewirken. Endlich werden wir ört-
liche Steigerungen der Blutzufuhr bei allen entzündlichen Vor-
gängen anzunehmen haben, welche die Hirnrinde in Mitleidenschaft
ziehen. Das Abschneiden der Blutzufuhr vom Gehirn wird
am raschesten durch Zusammenpressen der beiden Halsschlag-
adern bewirkt, wie es wohl auch beim Erhängen vorkommt.
Hier dürfte jedoch in der Regel zugleich die Behinderung
des Blutabflusses durch Verschluss der grossen Halsvenen eine
wesentliche Rolle spielen. Weiterhin kommt Blutleere des Ge-
hirns namentlich durch starke Blutverluste, durch Herzschwäche
und vorübergehend durch diejenigen Gemütserschütterungen
(Schreck) zu stände, die mit einer krampfhaften Zusammen-
ziehung der Hirngefässe einhergehen. Ähnliche Wirkungen kön-
nen Gifte entfalten; vielleicht sind auch die unmittelbaren Folgen
der Hiimerschütterung zum Teil auf Gefässkrämpfe zurückzu-
führen. Örtliche Beeinträchtigung oder Abschneidung der Blut-
zufuhr kann durch die teilweise oder völlige Verstopfung von
Hirngefässen, ferner durch den Druck von Geschwülsten verur-
sacht werden, welche die Gefässe zusammenpressen. Wachsen die
Geschwülste, so kann die zunächst umschriebene Wirkung eine
allgemeine werden, indem sich die Raumbeschränkung in der
Schädelkapsel durch Vermittlung der Cerebrospinalflüssigkeit auf
den gesamten Schädelinhalt überträgt.
Wie wir durch Grasheys Untersuchungen*) wissen, führt
jede Erhöhung des Druckes im Schädel über ein bestimmtes per-
sönliches Mass hinaus sehr rasch zur Zusammendrückung der
Hirnvenen in ihren freien Abschnitten, weiterhin aber zur Ent-
stehung von Gefässschwingungen mit erheblicher Verlangsamung
der Kreislaufsgeschwindigkeit und deren Folgezuständen (Stau-
ungen, Ödeme). Die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit
welcher eine derartige Drucksteigerung im einzelnen Falle zu
stände kommt, hängt wesentlich ab von der Ausbildung, welche
die Abflussbahnen der Cerebrospinalflüssigkeit besitzen. Vermag
diese letztere bei einer Vermehrung des Schädelinhaltes rasch
*) Experimentelle Beiträge zur Lehre von der Blutcirkulation in der
Schädel-Rückgratshöhle. 1892; Kocher, Hirnerschütterung, Hirndruck und
chirurgische Eingriffe bei Hirnkrankheiten. Nothnagels Handbuch IX,
3, 2. 1902.
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 2
18
I. Die Ursachen des Irreseins.
nach allen Richtungen hin auszuweichen, so bleibt der Druck
im Schädel unverändert und die Blutversorgung erleidet keine
Störung. Sind aber die Ausgleichsvorrichtungen mangelhalt, so
genügt schon eine mässige Zunahme des Schädelinhaltes, um das
Auftreten schwererer Ernährungsstörungen einzuleiten. Vielleicht
verdient gerade nach dieser Richtung die von Thoma festge-
stellte Tatsache besondere Beachtung, dass von sämtlichen Ge-
fässen des Körpers das Gebiet der Carotis interna bei weitem
am meisten der Erkrankung an Arteriosklerose infolge von cber-
dehnung der Gefässwand ausgesetzt ist. Weit günstiger liegen
bei einer Zunahme des Schädelinhaltes die Verhältnisse dann,
wenn sie sich langsam, allmählich einstellt, so dass die Abfluss-
bahnen sich bis zu einem gewissen Grade den wachsenden Am-
forderungen anzupassen vermögen. Hier kann die lähmende V, ir-
kung auf die Hirnrinde ziemlich lange hintangehalten werden:
jede rasche Vermehrung des Schädelinhaltes dagegen hat unaus-
bleiblich die Erstickung der Hirnrinde zur Folge.
In geringerem Massstabe, als bei der Entwicklung von Ge-
schwülsten oder gar beim Eintritt von grösseren Blutungen
bilden sich Blutstauungen in der Schädelkapsel regelmässig aus,
wenn ein Missverhältnis zwischen dem Drucke in den Blutgeiässen
und in der Schädelhöhle entsteht. Dauernde Blutwallungen, , wie
sie bei Feuerarbeitern, bei aufregender Tätigkeit, bei häufigem
Alkoholmissbrauche stattfinden können, dürften ebenso zu S Lau-
ungen in der Schädelhöhle führen wie eine Abnahme der Trieb-
kraft des Herzens.
Die letzten Folgen aller Kreislaufstörungen im Gehirn können
immer nur Beeinträchtigungen des Stoffwechsels im Nerven-
gewebe, also chemische Wirkungen sein. Aus diesem Grünen
wird es für den Ablauf der Hirnvorgänge nicht nur auf die Menge,
sondern vor allem auch auf die Beschaffenheit des durchströmen-
den Blutes ankommen. Diese letztere aber ändert sich bei allen
Kreislaufsbehinderungen sehr rasch, da sich das Blut mit Zei falk-
stoffen beladet, die sonst in anderen Stätten des Körpers möglichst
bald unschädlich gemacht werden. Wir haben uns im Laufe der
letzten Jahrzehnte mehr und mehr daran gewöhnt, diesen und
anderen giftigen Beimischungen der Ernährungsflüssigkeit eine
Hauptrolle bei der Entstehung von Krankheitserscheinungen zu-
Hirnkrankheiten.
19
zuschreiben. Auch beim Fieber, bei Entzündungsvorgängen, bei
der örtlichen Reizwirkung von Herderkrankungen denken wir in
erster Linie an den reizenden und zersetzenden Einfluss im Blute
kreisender oder an Ort und Stelle gebildeter Gifte.
Ausser den Wirkungen auf Kreislauf und Stoffwechsel kom-
men vielfach noch sehr wesentlich einfach mechanische Zerstö-
rungen in Betracht. Das gilt namentlich von den Schädigungen
des Hirns durch Kopfverletzungen, bei denen nicht nur an den
unmittelbar betroffenen Stellen, sondern auch an den Gegenpolen
durch den Anprall Zerreissungen stattfinden können, ferner von
den Blutungen und wohl auch von dem Drucke sehr schnell
wachsender und die mannigfachsten Verheerungen bedingender
Geschwülste.
Endlich aber haben wir darauf hinzuweisen, dass bei den
verschiedensten Hirnkrankheiten neben den unmittelbaren Wir-
kungen auf das Hirngewebe noch mittelbare Beeinflussungen der
Seelenvorgänge eintreten können. Wir haben uns wohl vorzu-
stellen, dass die durch das Hirnleiden erzeugten Störungen allerlei
Gemütsbewegungen auslösen können, die nun ihrerseits wieder
psychogene Begleiterscheinungen erzeugen. Dass diese mittel-
baren Krankheitszeichen vielfach durch diejenigen des Hirnleidens
beeinflusst werden und daher unter Umständen als eine Übertrei-
bung und Vergröberung derselben erscheinen, wird man kaum
verwunderlich finden. Bei sorgfältiger Prüfung ergibt sich, dass
die Verknüpfung psychogener, sog. „hysterischer“ Krankheits-
äusserungen mit schweren Schädigungen der Hirnrinde ein überaus
häufiges Vorkommnis ist. Insbesondere hat Möbius auch ge-
wisse Krampferscheinungen und Dämmerzustände bei wieder-
belebten Erhängten*) als hysterische aufgefasst, während sie von
anderen Beobachtern nebst der gleichzeitig auftretenden retro-
graden Amnesie als Folgen der Erstickung gedeutet werden.
Wenn wir von diesen mittelbaren Störungen absehen, pflegen
sich die psychischen Krankheitsbilder bei gröberen Hirnleiden in
verschiedenartigerweise aus den Zeichen der Erregung und der
*) Wagner, Jahrbücher für Psychiatrie, VIII, 313; Möbius, Neuro-
logische Beiträge I, 55; Lührmann, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII,
185; Wollenberg, Archiv f. Psychiatrie, XXXI, 241.
2*
20
I. Die Ursachen des Irreseins.
Lähmung auf den einzelnen Gebieten des Seelenlebens zusammen-
zusetzen. Von den ersteren, die im allgemeinen geringeren Gra-
den des Leidens entsprechen, sind einfache oder verwickeltere
Sinnestäuschungen, Schlaflosigkeit, Ideenflucht, Delirien, ängst-
liche oder heitere Verstimmung, Unruhe und mehr oder weniger
heftige motorische Erregung zu nennen. Der psychische Aus-
druck einer plötzlichen allgemeinen Lähmung der Hirnrinde ist
dagegen eine rasch einsetzende tiefe Bewusstlosigkeit. Bei leich-
teren Graden der Störung kommt es zunächst zu einer Erschwe-
rung der Auffassung und Verarbeitung äusserer Eindrücke, zu
Unbesinnlichkeit, Gedächtnisschwäche, Gedankenarmut und Ver-
langsamung des Vorstellungsverlaufes, Urteilslosigkeit, grosser
Ermüdbarkeit; bei höherer Ausbildung entwickelt sich geradezu
Schlafsucht, traumartige Benommenheit, Blödsinn. Ferner be-
steht gemütliche Stumpfheit, verdriesslich weinerliche oder kin-
disch heitere Stimmung, Bestimmbarkeit oder Eigensinn, endlich
völliges Erlöschen der Willensregungen.
Da der Lähmung des Hirngewebes zumeist ein Zustand der
Reizung vorauszugehen pflegt, werden wir in den klinischen
Äusserungen der Hirnrindenerkrankungen den mannigfachsten
Verknüpfungen von psychischen Lähmungs- und Erregungserschei-
nungen begegnen. Noch verwickelter können die entstehenden
Krankheitsbilder dadurch werden, dass die Beeinträchtigung oder
der Ausfall höherer psychischer Leistungen noch Störungen ganz
anderer Art nach sich ziehen kann. Wenn wir berechtigt sind,
als den seelischen Kern der Persönlichkeit eine gewisse, durch
Anlage und Lebenserfahrung bestimmte Summe von Vorstel-
lungen, Denkgewohnheiten, Gefühlsrichtungen und Strebungen
anzusehen, so ist es einleuchtend, dass durch diesen Kern die
Einheitlichkeit und Stetigkeit der psychischen Persönlichkeit be-
dingt wird. Wird aber die Festigkeit seines Gefüges durch krank-
hafte Vorgänge geschwächt, so ist die Folge eine stärkere Beein-
flussbarkeit des Seelenlebens durch äussere und zufällige Ein-
wirkungen. Wir finden daher unter den Zeichen der Hirnerkran-
kungen, namentlich in den Anfängen ihrer Entwicklung, häufig
eine verminderte psychische Widerstandsfähigkeit, die sich in
rascher Erschöpfbarkeit, erhöhter Ablenkbarkeit und Zerstreut-
heit, gemütlicher Reizbarkeit und Haltlosigkeit des Willens
Hirnkrankheiten.
21
äussert. Dazu gesellt sich gewöhnlich auch eine grössere Em-
pfindlichkeit gegen Alkohol. Natürlich können sich die genannten
Störungen wieder in der verschiedenartigsten Weise mit Zeichen
der psychischen Lähmung und Erregung verbinden. Endlich ge-
hören zu allen diesen Krankheitsbildern natürlich noch die eigen-
artigen körperlichen Störungen, die durch den besonderen Sitz
des Leidens bedingt werden. Auf ihre Schilderung müssen wir
ebenso wie auf diejenige der aphasischen Erscheinungen an dieser
Stelle verzichten.
Für die klinische Psychiatrie haben die gröberen Hirn-
erkrankungen im allgemeinen keine allzu grosse Bedeutung. Die
meningitischen und encephalitischen Erkrankungen begegnen uns
zumeist nur in den Zuständen von Idiotie und Imbecillität, die sie
bei Kindern so oft erzeugen. Kranke mit Hirngeschwülsten ge-
raten nur gelegentlich unter falscher Diagnose, meist als Paraly-
tiker oder Epileptiker, einmal in die Irrenanstalt. Dagegen hat
sich der Irrenarzt nicht selten mit den krankhaften Seelenzustän-
den nach Kopfverletzungen*) zu beschäftigen. Während sich un-
mittelbar an solche Schädigungen traumartige Bewusstseins-
trübungen mit deliranten Zügen anzuschliessen pflegen, entwickeln
sich späterhin vorwiegend Krankheitsbilder mit den Zeichen ver-
minderter psychischer Widerstandsfähigkeit. Dazu gesellen sich
dann sehr häufig allerlei psychogene Störungen, so dass es oft
genug recht schwierig wird, ihren Anteil am Gesamtzustande von
demjenigen zu trennen, der unmittelbar durch die Verletzung des
Hirns bedingt ist. Eine weitere klinische Gruppe bildet der
Schwachsinn nach Apoplexie, der in der Regel den Stempel einer
einfachen psychischen Lähmung trägt und daher seltener in die
Hand des Irrenarztes gelangt. Ähnliches gilt von der multiplen
Sklerose. Mehr in den Vordergrund treten dann die psychischen
Störungen bei gewissen Verblödungsformen, die ihre Grundlage
in ausgebreiteten Erkrankungen der Hirnrinde haben, namentlich
bei den arteriosklerotischen und syphilitischen Gefässerkran-
kungen und gewissen diffusen, vielfach familiären Erkrankungen
des gesamten Nervensystems. Diese letzteren bilden pathologisch-
anatomisch wie klinisch den Übergang zu denjenigen Hirnerkran-
*) Werner, Vierteljahrsschrift f. gerichtl. Medizin, XXIII, Suppl. 1902.
22
I. Die Ursachen des Irreseins.
kungen, die wir ohne weiteres dem Gebiete der psychischen
Störungen zuzuweisen pflegen.
Das leuchtende Vorbild der Hirnpathologie und besonders
der Aphasielehre muss auch dem Irrenarzte den Gedanken nahe
legen, dass vielleicht die Seelenvorgänge an bestimmte Orte
des Hirnes, insbesondere der Rinde, gebunden sind. Daraus ergibt
sich die Frage, wie weit wir etwa jetzt schon imstande sind, aus
bestimmten psychischen Erscheinungen allein Rückschlüsse auf
den Sitz der ihnen zu Grunde liegenden Ernährungsstörung in der
Hirnrinde zu ziehen. Die allgemeine Möglichkeit einer derartigen
örtlichen Umgrenzung kann bei dem heutigen Stande der Lokali-
sationsfrage*) nicht wohl mehr in Zweifel gezogen werden, ja es
liegen klinische wie experimentelle, wenn auch nur sehr ver-
einzelte Tatsachen vor, welche Ausblicke nach der angedeuteten
Richtung hin zu eröffnen scheinen, auch wenn wir hier vollständig
absehen von den Störungen der rein sinnlichen Wahrnehmung
und der Bewegungen. So dürfen wir vielleicht daran denken,
unsere Erfahrungen über Worttaubheit und Asymbolie, über Para-
phasie und Parapraxie auf ähnliche Störungen bei Geisteskranken
zu übertragen, auf die Verständnislosigkeit in Zuständen von
schwerer Verworrenheit, beim Altersblödsinn, nach Kopfver-
letzungen, auf die Sprachverwirrtheit der Katatonischen, gewisse
Störungen des Handelns bei Paralytikern. Da wir ein Recht
haben, den Sitz der Veränderung bei jenen Krankheitszeichen mit
ziemlicher Wahrscheinlichkeit in bestimmte Gegenden der Hirn-
rinde zu verlegen, so lässt sich vermuten, dass auch den ähnlichen
Störungen bei eigentlichen Geisteskrankheiten eine entsprechende
Beziehung zu örtlichen Krankheitsvorgängen zukommt. Indessen
fehlt uns im Augenblicke noch viel zu sehr die Kenntnis der Rin-
denveränderungen einerseits, das tiefere Verständnis der klini-
schen Zeichen andererseits, als dass wir über die allgemeine Ver-
mutung einer näheren Verwandtschaft gewisser Erscheinungen
des Irreseins mit Störungen von bekanntem Sitze in der Hirnrinde
hinauszukommen vermöchten. Ähnliches gilt für die von Char-
*) Lucianiu. Seppilli, Die Funktionslokalisation auf der Grosshirn-
rinde, deutsch v. Frankel. 1886; v. Monakow, Über den gegenwärtigen
Stand der Frago nach der Lokalisation im Grosshirn, Ergebnisse der Physiologie,
I, 533. 1902. 1
Hirnkrankheiten.
23
cot und W i 1 b r a n d mitgeteilten Fälle mit Verlust der optischen
Einbildungskraft. Dieselben legen im Zusammenhalte mit viel-
fachen Erfahrungen an operierten Tieren nahe, die Ursachen ähn-
licher Störungen bei Geisteskranken in der Hinterhauptsrinde zu
suchen. Endlich hat bekanntlich Goltz die interessante Beobach-
tung gemacht, dass Verlust der ^orderen Rindengebiete bei Hun-
den neben anderen Veränderungen grosse Reizbarkeit und plan-
lose Unruhe erzeugt, während Entfernung der Hinterhauptslappen
im Gegenteil Trägheit und Stumpfheit selbst bei vorher bösartigen
Tieren zur Folge hat. Auch diese Ergebnisse würden sich etwa
mit 'den bekannten klinischen Erscheinungen erregter und stumpfer
Schwachsinnsformen einigermassen in Verbindung bringen lassen.
Leider lassen uns in dieser Frage die Erfahrungen über die
psychischen Störungen bei umgrenzten Hirnerkrankungen fast
vollkommen im Stich. Nur soviel scheint festzustehen, dass Ge-
schwülste des Balkens in der Regel mit tiefgreifender Störung der
Verstandesleistungen einhergehen. Das kann mit der Zerstörung
zahlreicher Verbindungen zwischen den beiden Hirnhalbkugeln
oder mit der gleichzeitigen Beeinträchtigung grösserer Rinden-
abschnitte auf beiden Seiten Zusammenhängen. Viel umstritten
ist die Rolle, die dem Stirnhirn für das höhere Seelenleben zuge-
schrieben wird. Für eine solche Beziehung spricht der Umstand,
dass es beim Menschen besonders stark entwickelt ist, und dass
ihm sonst anscheinend keine Verrichtung zukommt, die eine der-
artige Ausbildung erklären würde. Weniger sichergestellt scheint
die Behauptung zu sein, dass Zerstörungen des Stirnhirns in be-
sonders hohem Grade Verstandesstörungen bewirken.*) Es ist
natürlich ungemein schwierig, einen derartigen Satz zu beweisen,
da nur scharf umschriebene Verletzungen ohne Fernwirkungen
bei vorher völlig gesunden Menschen verwertbar sind. Zudem
kommt, wie Bruns betont, in Betracht, dass Stirnhirn-
geschwülste, ohne das Leben zu gefährden, sehr gross werden
können und schon deswegen unter Umständen stärkere psy-
chische Ausfallserscheinungen bedingen. Allerdings ist nament-
lich von Oppenheim auf ein besonderes Zeichen, die „Witzel-
*) Bruns, Die Geschwülste des Nervensystems. 1897; Oppenheim,
Die Geschwülste des Gehirns, 2. Auflage. 1902; Schuster, Psychische
Störungen bei Hirntumoren. 1902.
24
I. Die Ursachen des Irreseins.
sucht“, hingewiesen worden, das sich bei Stirnhirngeschwülsten
auffallend stark und häufig zeigen soll und in einem Falle durch
die Operation mit beseitigt wurde. Es muss indessen einstweilen
wohl dahingestellt bleiben, ob das Auftreten der Witzelsucht
wirklich den Schluss auf eine Stirnhirnerkrankung gestattet.
Jedenfalls beobachten wir Störungen, die wir klinisch davon nicht
abzutrennen vermögen, bei einer Reihe von Erkrankungen, die
sich sicher über weite Rindenabschnitte erstrecken, so nament-
lich beim Altersblödsinn, bei syphilitischer Gefässerkrankung und
bei der Katatonie. Natürlich ist das nicht etwa ein Gegenbeweis.
Yv^enn demnach die Anhaltspunkte für die Anknüpfung psychi-
scher Verrichtungen und Störungen an bestimmte Gebiete unserer
Hirnrinde zur Zeit noch ungemein dürftige sind, so liegen doch
eine ganze Reihe von Tatsachen vor, die eine Verlegung seelischer
Vorgänge in umgrenzte Rindenabschnitte wahrscheinlich machen.
Dahin gehört vor allem die ausserordentliche Verschie-
denheit der Nervenzellen, die wir als Träger unseres
Seelenlebens betrachten müssen. Durch N i s s 1 s Untersuchungen
wissen wir nicht nur, dass der Bauplan jener Zellen kein einheit-
licher ist, sondern auch, dass dort, wo wir ihre Verrichtungen
kennen, ähnliche Formen wiederkehren. Mit anderen Worten,
der Verschiedenheit im Bau entspricht eine Verschiedenheit in
der Funktion, ein Satz, der für alle anderen Körperzellen ganz
selbstverständlich erscheint und nur auf dem Gebiete des Ner-
vengewebes sich auffallend schwer Geltung verschafft. In der
Tat, wenn man die zahlreichen gesetzmässigen Verschiedenheiten
in Grösse, Umriss und innerem Aufbau der Nervenzellen betrach-
tet, so wird es völlig unmöglich, darin etwas anderes zu sehen,
als den Ausdruck einer verschiedenen Bestimmung. Dafür spricht
auch die Anordnung der Zellen in der Rinde. Fast
überall finden wir kleinere oder grössere Mengen gleichartiger
Rindenbestandteile zu einheitlichen Gruppen und Schichten ver-
bunden; seltener mischen sich Zellen verschiedener Bauart unter-
einander. In der Tierreihe bietet der Bau der Rindenzellen wie
ihre Anordnung die grössten Verschiedenheiten dar. Während
gewisse Formen der Nervenzellen, wie die grossen Gebilde der
motorischen Centren, schon bei niederen Wirbeltieren, wenn auch
nicht in der Rinde, auftreten, erscheinen die kleinen Zellen der
Rindenlokalisation.
25
zweiten Schicht erst beim Affen und vor allem beim Menschen.
Hier bilden sie eine riesige Schicht, von der beim Kaninchen auch
nicht eine Spur vorhanden ist. Aber auch die grossen Pyramiden-
zellen zeigen beim Menschen einen durchaus eigenartigen Bau;
sie sind zudem durchschnittlich kleiner, als z. B. die entsprechen-
den Zellen des Kaninchens. Wir werden kaum zweifeln können,
dass diese freilich noch fast ganz unbekannten Unterschiede in
irgend einer Beziehung zu der verschiedenen Ausbildung des
Seelenlebens stehen müssen.
Endlich hat Nissl* **)) gezeigt, dass verschiedene Zell-
arten durch Gifte in verschiedener Weise beein-
flusst werden können. Während z. B. der Alkohol die'
meisten Bestandteile der Hirnrinde auf das schwerste schädigt,
lässt er die grossen Zellen des Ammonshorns fast gänzlich un-
berührt; das Blei vernichtet ebenfalls den grössten Teil der
Rindenzellen, verändert aber nur in sehr geringem Masse die Spi-
nalganglien. Auch beim Menschen lässt sich zeigen, dass allge-
meine Krankheitsursachen (Infektionen, Fieber) die verschiedenen
Bestandteile der Rinde in sehr verschiedenem Grade schädigen.
Alle diese Erfahrungen deuten in gleicher Weise darauf hin, dass
den Verschiedenheiten im Bau der Nervenzellen eine tiefere Be-
deutung zukommt, und diese Bedeutung kann nur in ihrer ver-
schiedenen Verrichtung liegen. Die Lehre von der Lokalisation
der psychischen Vorgänge wird demnach zunächst die örtlichen
Verschiedenheiten der Rindenzellen zu berücksichtigen haben. 1 *)
Wie eine Durchmusterung der Hirnrinde unter diesem Ge-
sichtspunkte lehrt, setzt sich dieselbe aus unabsehbar vielen
einzelnen Teilen zusammen, die sich durch die Art ihrer Nerven-
zellen voneinander abgrenzen. Der Bau der Hirnrinde ist dem-
nach nichts weniger als einförmig, wie etwa derjenige der Leber,
sondern sie enthält eine Menge neben- und übereinander gelagerter
Organe von sehr verschiedener Ausdehnung und nicht minder
verschiedenartigem Aufbau. Bis jetzt wissen wir allerdings über
die Zahl, Beschaffenheit und gegenseitige Lage dieser Organe,
deren Gesamtheit wir als Hirnrinde bezeichnen, verzweifelt wenig.
*) Nissl, Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 1.
**) Nissl, Archiv f. Psychiatrie, XXIX, 1025; Schlapp, ebenda,
XXXII, 1037.
26
I. Die Ursachen des Irreseins.
Insbesondere sind wir ganz ausser stände, zu beurteilen, welche
Mannigfaltigkeiten in Anordnung und Gliederung etwa die zwi-
schen den Zellen liegenden Teile des Nervengewebes darbieten.
Nur die ganz grobe Sonderung der Rinde in eine Reihe von über-
einander gelegenen Schichten urd die allergreifbarsten örtlichen
Unterschiede in dieser Schichtung sind seit längerer Zeit bekannt.
Schon aus diesen Tatsachen aber lässt sich mit aller Bestimmtheit
der Schluss ableiten, dass der Querschnitt der Kirnrinde keine
Einheit darstellt, sondern überall eine Reihe von Organen mit
vielleicht völlig verschiedener Leistung enthält. Jedenfalls ist
die schichtweise Gliederung der Hirnrinde die bei weitem
auffallendste; sie zeigt uns unmittelbar übereinander Bestandteile
von denkbar grösster Verschiedenheit des gesamten Bauplanes.
Die Geschichte der Lokalisationsbestrebungen lehrt, dass
dieser nächstliegende Unterschied kaum jemals für die örtliche
Abgrenzung der Hirnverrichtungen verwertet worden ist. Der
Fehler, der zu den Zeiten G a 1 1 s begreiflich war, ist bis auf den
heutigen Tag immer wiederholt worden. Nahezu alle Versuche
einer strengeren Lokalisation haben den Rindenquerschnitt als
Einheit behandelt und ausschliesslich die Oberfläche „landkarten-
artig“ in verschiedene Gebiete eingeteilt. So konnte es geschehen,
dass ausgedehnten Abschnitten der Stirnrinde keine andere Be-
stimmung zugeschrieben wurde, als die willkürliche Beherrschung
der Rumpfmuskeln. Auch heute noch pflegt als „motorische
Region“ die ganze Gegend der vorderen Centralwindung betrach-
tet zu werden, obgleich die nachweisbaren motorischen Leistungen
höchst wahrscheinlich nur den kleinen, in der vierten und fünften
Schicht eingestreuten Nestern von motorischen Zellen zukommen,
während alle übrigen, weit zahlreicheren Bestandteile der Rinde
gar nichts damit zu tun haben brauchen.
In zielbewusstem Anschlüsse an Gail hat neuerdings
Möbius*) versucht, eine besondere geistige Fähigkeit, die „An-
lage zur Mathematik“ an eine umschriebene Hirngegend, die
vorderen Teile der ersten und zweiten Stirnwindung der linken
Seite, zu knüpfen. Er ist dabei ähnlich verfahren wie Gail
und hat sich, wie es ja auch kaum anders möglich war, wesentlich
*) Möbius, Über die Anlage zur Mathematik. 1900.
Rindenlokalisation.
27
auf die Feststellung gestützt, dass die entsprechende Schädel-
gegend bei vielen hervorragenden Mathematikern eine Vorwöl-
bung zeigte. Es hat nicht fehlen können, dass alle Einwände, die
gegen Gail gemacht worden sind, auch diesem Versuche einer
Erneuerung der alten Schädellehre entgegengehalten wurden. Mir
scheint, dass unsere Unsicherheit in den Lokalisationsfragen
selbst dort, wo uns unvergleichlich vielseitigere und zuverlässigere
Hilfsmittel für ihre Lösung zu Gebote stehen, einstweilen nicht
gerade zur Wiederaufnahme des trügerischen Gail sehen "V er-
fahrens ermutigen kann.
Auch die jüngste Einteilung der Hirnrinde von Flechsig*)
mit ihrer Abgrenzung von Sinnescentren und Associationscentren
baut sich nicht auf der grundlegenden Schichtung im Rinden-
querschnitte, sondern nur auf den noch recht unvollkommen be-
kannten örtlichen Verschiedenheiten dieses letzteren auf. Sie
stützt sich vor allem auf die Beobachtung, dass die Umhüllung
der Achsencylinder mit Markscheiden in verschiedenen Gegenden
des Stabkranzes und der Rinde zu sehr verschiedener Zeit er-
folgt. Flechsig nimmt an, dass diese Unterschiede in innig-
stem Zusammenhänge mit der Funktion der Faserzüge stehen,
dass Bündel mit gleicher Bestimmung zu gleicher Zeit markreif
werden und umgekehrt. Da er ferner zu der Überzeugung kam,
dass nur bestimmte Gegenden der Hirnrinde Stabkranzbündel auf-
weisen, während in anderen wesentlich nur Verbindungszüge auf-
treten, so schloss er, dass die Rinde in „Sinnescentren“ und
„Associationscentren“ zu zerlegen sei. Erstere sollten der Ver-
bindung mit der Aussenwelt, letztere den höheren Seelentätig-
keiten dienen. Gegen diese Aufstellungen sind eine Reihe der
hervorragendsten Hirnforscher auf getreten, Hitzig, Sachs,
v. Monakow, Dejerine, Nissl, Vogt, Siemerling
u. a. Sie haben zunächst geltend gemacht, dass der allgemeine
Zusammenhang zwischen Markreife und Funktion keineswegs er-
wiesen sei, sodann, dass die Ausbreitung des Stabkranzes in der
Rinde durchaus nicht die von Flechsig behaupteten Unter-
schiede erkennen lasse. Damit wird aber die Einteilung der Rinde,
*) Flechsig, Gehirn und Seele, 2. Anfl. 1896; Neurolog. Centralblatt,
XVH, 977; XIX, 828.
28
I. Die Ursachen des Irreseins.
die nach Flechsig anfangs neun, späterhin aber gar vierzig
verschiedene Felder enthalten sollte, vollkommen hinfällig. In der
Tat spricht der überall anscheinend gleichmässige Bau der klein-
zelligen Schicht weit mehr dafür, dass wir es in ihr mit einem
einheitlichen, fast über die ganze Rindenoberfläche sich er-
streckenden Organ zu tun haben, in dem vom anatomischen Stand-
punkte heute keinerlei landkartenartige Abgrenzung möglich ist.
Erst in den tieferen Schichten prägen sich die örtlichen Verschie-
denheiten stärker aus. Gerade die kleinzellige Schicht aber ist
für das höhere Seelenleben wahrscheinlich die wuchtigste, weil
sie erst beim Menschen ihre hohe und eigenartige Entwicklung
erlangt.
Die einzige Lokalisationslehre, welche dem geschichteten Bau
der Hirnrinde gerecht zu werden versucht, ist diejenige von
W e r n i c k e , der sich vorstellt, dass „eine Art schichtenweiser
Ablagerung der Vorstellungen, ähnlich den Sedimentbildungen
der jüngsten Erdschichten“ im Gehirn stattfinde. Er vermutet
weiter, dass der Reihe nach von innen nach aussen in den Zellen-
schichten „das Bewusstsein der Körperlichkeit“, dasjenige „der
Aussenwelt“ und endlich jenes „der Persönlichkeit“ seinen Sitz
habe. Wollten wir hier auch von der Schwierigkeit absehen,
wie diese schichtweise Ablagerung zu denken sei, so wäre nicht
recht zu verstehen, wie gerade die genannten drei Vorstellungs-
gruppen sich an so grundverschiedene Nervenzellen knüpfen
sollen, während doch jede einzelne dieser „Bewusstseinsarten“
viel weiter auseinanderweichende Bestandteile enthält. Sodann
aber ist die angenommene Dreiteilung psychologisch völlig un-
haltbar. An diesem Punkte liegt aber die Schwache der bis-
herigen Lokalisationsversuche überhaupt. Alle derartigen Be-
strebungen, die über die einfachsten Sinnesempfindungen und
Bewegungen hinausgreifen, müssen notwendig an der Unvollkom-
menheit unserer psychologischen Kenntnisse Schiffbruch leiden.
Auch die gewöhnlichsten psychischen Vorgänge erweisen sich bei
genauerer Betrachtung als so ungemein verwickelt, dass wir gut
begreifen, warum das Werkzeug unseres Seelenlebens einen so
hoffnungslos unentwirrbaren Aufbau besitzt. Kennten wir wirk-
lich alle die vielen Organe, aus denen sich die Hirnrinde zusam-
mensetzt, so wüssten wir immer noch nicht, was eine psychische
Rindenlokalisation.
29
„Funktion“ ist, wie wir sie dem einzelnen Zellenverbande zuschrei-
ben dürften. Erst dann, wenn wir nicht nur die körperliche Grund-
lage des Seelenlebens, sondern auch die psychischen Vorgänge
selbst in ihre einfachsten Bestandteile zerlegt haben, können wir
hoffen, Beziehungen zwischen beiden aufzufinden; bis dahin hat
jeder Versuch einer Lokalisation der verschiedenen psychischen
Leistungen in der Hirnrinde keinen anderen Wert, als den eines
unbeweisbaren und unwiderlegbaren Einfalles.
Einen sehr klaren Beweis für die Notwendigkeit der Ver-
einigung psychologischer Zergliederung mit der anatomischen
Betrachtung haben uns die neueren Versuche von Ewald über
den Muskelsinn geliefert. Man wusste längst, dass die Beein-
trächtigung der Bewegung, die nach Ausschneidung der moto-
rischen Centren eintritt, sich ziemlich rasch wieder verliert,
infolge vicariierenden Eintretens anderer Zellengruppen, wie man
annahm. Ewald hat aber gezeigt, dass hier keineswegs die
Verrichtung der zerstörten Teile als solche von anderen über-
nommen wird, sondern dass die Herrschaft über die Bewegungen
drei voneinander unabhängige Hilfsmittel besitzt, den Labyrinth-
sinn, die Gelenkempfindungen und das Auge. Die Lösung der-
selben Aufgabe erfolgt also auf drei ganz verschiedenen Wegen
und mit ganz verschiedenen Werkzeugen. Jedes derselben kann
für die anderen nur insofern eintreten, als der gleiche Zweck er-
reicht wird; dagegen ist die einmal vernichtete Leistung selbst
unwiederbringlich verloren. Gerade diese Erfahrungen dürften
sehr für eine schärfere örtliche Umgrenzung der Hirnleistungen
sprechen, während früher der rasche Ausgleich der Bewegungs-
störungen als ein wichtiger Beweis für die „funktionelle Indif-
ferenz“ der Hirnrindenteile betrachtet wurde.
Die schichtweise Anordnung und flächenhafte Ausbreitung
der Rindenorgane trägt die Schuld, warum uns in diesen Fragen
weder krankhafte noch künstliche Zerstörung sicheren Auf-
schluss über den Zusammenhang von anatomischem Gebilde und
psychischer Verrichtung zu geben vermag. Es erscheint so gut
wie ausgeschlossen, dass einmal ein Krankheitsvorgang oder ein
Eingriff nur ein einziges Organ und zugleich dieses wirklich
vollständig zerstören könne. Damit fehlen uns aber gerade die-
jenigen Hilfsmittel, die uns bei der Lokalisation auf subkortikalen
30
I. Die Ursachen des Irreseins.
Gebieten so sicher geführt haben. So viel ich sehe, bleibt uns
zur Zeit, ausser den Schlussfolgerungen der vergleichenden Ana-
tomie und Physiologie, nur eine einzige Möglichkeit, diese Fragen
mit Aussicht auf Erfolg in Angriff zu nehmen, die Vergiftung.
Durch psychologische Versuche haben wir gelernt, dass gewisse
Gifte nur einzelne, ganz bestimmte Seiten unseres Seelenlebens
beeinflussen, andere unberührt lassen; andererseits scheint die
Untersuchung der Nervenzellen vergifteter Tiere darzutun, dass
auch die verschiedenen Arten der Rindenbestandteile nicht in
gleichem Masse dem Gifte zugänglich sind. Vielmehr dürfte eine
Auswahl stattfinden, entsprechend etwa der verschiedenen che-
mischen Zusammensetzung und damit vielleicht auch der Funktion
der Zellen. Hier wäre also eine ferne Aussicht, nebeneinander die
Veränderung im Ablaufe der psychischen Vorgänge und im Ver-
halten ihrer körperlichen Grundlage festzustellen.
Eine erste Anknüpfung klinischer Erfahrungen an die Er-
gebnisse der Giftversuche könnten die durch Gifte erzeugten
Geistesstörungen liefern. Es wäre z. B. denkbar, dass den Er-
scheinungen des Rausches Veränderungen in verschiedenen Rin-
dengebieten zu Grunde liegen, die sich mit den uns bereits be-
kannten psychischen Wirkungen des Alkohols in Verbindung
bringen liessen. Weiterhin aber ist darauf hinzuweisen, dass
wir eine ganze Reihe von psychischen Krankheitsbildern kennen,
bei denen einzelne Störungen ganz besonders ausgeprägt sind.
Dem Rausche am nächsten steht die manische Erregung. Beiden
Zuständen gemeinsam ist die erleichterte Auslösung von Hand-
lungen; dagegen fehlen in der Manie die Zeichen der Lähmung,
wie sie sich beim Rausche in der Abnahme der Kraft, in der Ver-
langsamung der Bewegungen, in dem Auftreten ataktischer Stö-
rungen kundgeben; zudem bestehen wohl auch auf anderen psy-
chischen Gebieten wesentliche Unterschiede. Soweit diesen Ab-
weichungen verschiedene Angriffspunkte der krankmachenden
Schädlichkeit entsprechen, müsste es grundsätzlich, wenn auch
vielleicht noch lange nicht tatsächlich, möglich sein, ihre Ursache
aufzudecken und damit aus dem Vergleiche der klinischen und
anatomischen Übereinstimmungen und Unterschiede Aufschlüsse
über den Sitz dieser oder jener Störung zu erhalten. Freilich
wird dieser Weg erst dann gangbar sein, wenn ausser der sorg-
Nervenkrankheiten.
31
fältigen psychologischen Zergliederung der einzelnen Krankheits-
bilder auch die feineren Veränderungen der Hirnrinde unserem
Verständnisse weit mehr erschlossen sind, als heute. Die alleinige
Berücksichtigung von Zellen und Fasern kann dafür nicht genügen.
Gibt es überhaupt eine Lokalisation höherer psychischer
Leistungen, so werden sich für die Klärung dieser Frage besonders
diejenigen Krankheitsbilder fruchtbar erweisen, bei denen einzelne
sehr ausgeprägte Störungen hervortreten. Dahin gehören z. B.
die Presbyophrenie und die Korssakow sehe Krankheit mit
ihrer hochgradigen Merkstörung, die eigentümliche Gruppe der
Kranken mit Sprachverwirrtheit, die Formen mit einfacher hal-
lucinatorischer Verblödung, die Katatonien mit stark entwickel-
ten Willensstörungen u. s. f. Ihnen stehen andere Erkrankungen,
wie etwa die Fieberdelirien, die Paralyse, die syphilitische und
arteriosklerotische Hirnerkrankung, gegenüber, bei denen sich
die Krankheitszeichen viel gleichmässiger auf mannigfaltige Ge-
biete des Seelenlebens verteilen. Aus der verschiedenen Um-
grenzung der anatomischen Veränderungen bei den einzelnen
Krankheitsformen Hessen sich daher vielleicht einmal Aufschlüsse
über den besonderen Sitz der eigenartigen klinischen Störungen
gewinnen. Dass tatsächlich Unterschiede in der örtlichen Aus-
breitung der krankhaften Veränderungen bestehen, lehren schon
jetzt Nissls Beobachtungen bei Katatonie. Die Zerstörungen
liegen hier vorzugsweise in den tieferen Rindenschichten, im
Gegensätze zu ihrer gleichmässigeren Verteilung über die ganze
Rindenbreite bei der Paralyse. Es wäre daher immerhin denkbar,
dass die auffallende Störung der Gemütsregungen und der Willens-
handlungen bei Schonung der Auffassung und des Gedächtnisses
in irgend einer Beziehung zu der örtlichen Umgrenzung des kata-
tonischen Krankheitsvorganges stünde.
Nervenkrankheiten. Zwischen Nervenkrankheiten und Geistes-
störungen bestehen mannigfache Beziehungen. In der Regel
handelt es sich jedoch nicht um ein ursächliches Verhältnis,
sondern beide sind die Äusserungen desselben Krankheitszu-
standes, der die verschiedenen Gebiete des Nervensystems
in Mitleidenschaft zieht. So haben wir es bei den t a b i -
sehen Geistesstörungen einfach mit dem Fortschreiten des
Krankheitsvorganges vom Rückenmarke auf die Hirnrinde zu
32
I. Die Ursachen des Irreseins.
tun. In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle sind es einfach
Paralysen, bei denen nur die Rückenmarkserscheinungen den
übrigen Krankheitszeichen längere Zeit voraufgegangen sind. Ob
diese Deutung jedoch für alle Fälle zutrifft, ist unsicher und sehr
schwer zu entscheiden. Auch das polyneurische Irresein
zeigt uns nur an, dass die gleiche Schädlichkeit, die eine Erkran-
kung der Nervenstämme bewirkt hat, auf die Hirnrinde über-
greift. Wir werden uns daher auch nicht wundern, wenn ge-
legentlich die psychische Störung allein, ohne Beteiligung der
Nerven, beobachtet wird; die Krankheitsursache kann eoen, wie
es scheint, die verschiedenen Abschnitte des Nervensystems ge-
trennt oder gemeinsam schädigen. Diese Ursache selbst besteht
ohne Zweifel in einer Giftwirkung, wenn wir deren Art auch
noch nicht genauer kennen. Nach Bonhöffers Ansicht bildet
die wesentliche Grundlage immer der Alkoholismus, nährend
Infektionen, namentlich Tuberkulose, und andere Schädlichkeiten
als Plilfsursachen in Betracht kommen. Zu bemerken bleibt, dass
auch bei Nichttrinkern ganz ähnliche Krankheitsbilder auftreten
können, deren Abgrenzung von den alkoholischen Formen einst-
weilen noch recht schwierig erscheint. Das hervorstechendste
Krankheitszeichen ist die starke Störung der Merkfähigkeit mit
lebhaften Erinnerungsfälschungen. Ausserdem bestehen Er-
schwerung der Auffassung, grosse Ermüdbarkeit, ängstliches,
misstrauisches Wesen, vielfach auch Wahnbildungen.
Das choreatische*) Irresein haben wir wohl ebenfalls
darauf zurückzuführen, dass die infektiöse Krankheitsursache auch
das Hirn schädigt. In der Regel, wenn nicht ausschliesslich, ist
es der Krankheitserreger des akuten Gelenkrheumatismus, der
hier eine Rolle spielt. Wart mann und Westphal konnten
ihn aus dem Hirn einer Choreatischen züchten. Das Krankheitsbild
ist gekennzeichnet durch erhöhte gemütliche Reizbarkeit, kin-
disches, launenhaftes Wesen, raschen Stimmungswechsel, Schlaf-
losigkeit; in schweren Fällen kommt es zur Entwicklung ver-
wirrter, deliriöser Aufregungszustände. Völlig davon zu trennen
sind natürlich diejenigen Formen der Chorea (hereditäre, H u n -
*) Koppen, Archiv f. Psychiatrie, XX, 3; Zinn, ebenda, XXVIII, 411;
Bernstein, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIII, 538.
Nervenkrankheiten.
33
tingtons Chorea), die auf diffusen, chronischen Erkrankungen
des Centralnervensystems bisher unbekannter Entstehungsart be-
ruhen und regelmässig zu mehr oder weniger ausgeprägtem
Schwachsinn führen. Sie sind ähnlich zu beurteilen wie die
chronischen Hirnerkrankungen, die wir als die Grundlage der
Epilepsie zu betrachten haben. Wir benennen dieses Leiden
nach einem einzelnen, besonders in die Augen fallenden klinischen
Zeichen, während es sich doch um ausgebreitete, feinere oder
gröbere Veränderungen handelt, die in der Regel das gesamte
Seelenleben betreffen. Wahrscheinlich hat diese symptomatische
Betrachtungsweise zur Folge, dass wir bisher eine Reihe von ganz
verschiedenartigen Krankheitsvorgängen unter dem gleichen Be-
griffe zusammenfassen. Mit den klinischen Erscheinungsformen
werden wir uns späterhin eingehend zu beschäftigen haben.
Bei der Tetanie sind von v. Frankl-Hochwart und
von Fr. Schultze deliriöse Zustände mit Sinnestäuschungen
beschrieben worden; auch ich habe wiederholt derartige Zustände
gesehen. Es ist möglich, dass sie, ähnlich wie die choreatischen
Störungen, auf einer Vergiftung durch das mutmassliche Tetanie-
gift beruhen. Auf Grund bestimmter Erfahrungen bin ich in-
dessen zweifelhaft geworden, ob es sich in manchen Fällen
nicht um den Beginn einer Dementia praecox gehandelt hat.
Ebenso unsicher erscheint mir zur Zeit noch die Deutung der sog.
„Migräne psychosen“*). Sie werden als rasch verlaufende
Dämmerzustände mit deliriösen Sinnestäuschungen und Wahn-
bildungen geschildert und gleichen klinisch offenbar völlig ge-
wissen epileptischen Störungen. Da wenigstens die schwereren,
mit Augenerscheinungen einhergehenden Formen der Migräne viel-
fach mit der Epilepsie in Beziehung stehen, halte ich es für wahr-
scheinlich, dass auch die geschilderten Zustände als epileptische
aufzufassen sind, zumal leichtere Zeichen der Epilepsie, nament-
lich die periodischen Verstimmungen, sehr häufig übersehen
werden.
Ähnliche Zustände rasch verlaufender deliriöser Verworren-
*) Möbius, Die Migräne, 76; v. Krafft-Ebing, Arbeiten, 110,
135; Jahrb. f. Psych. XXI, 38; Koppen, Centralbl. f. Nervenheilk. 1898,
269; Mingazzini e Pacetti, Rivista sperimentale di freniatria, XXV,
3 u. 4. 1899.
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. AuB.
3
34
I. Die Ursachen des Irreseins.
heit mit nachheriger Erinnerungslücke sind mehrfach nach dem
Auftreten heftiger Nervenschmerzen, namentlich in Verbindung
mit krankhaften Zähnen, beobachtet worden. Man hat diese
„Schmerzdelirien“*) durch die Einwirkung des Nervenreizes auf
das Gehirn, vielleicht mit Erzeugung eines Gefässkrampfes, zu
erklären gesucht; auch die Auslösung starker gemütlicher Er-
schütterungen könnte dabei eine Rolle spielen. Diese Erfahrungen
erinnern an die Fälle von sog. Reflexepilepsie, bei denen ebenfalls
peripheren Nervenreizungen eine ursächliche Rolle zugeschrieben
wird. Man hat auch eine Gruppe von „Reflexpsychosen“ aufgestellt,
die durch dauernde Zerrung narbig eingeheilter Nervenäste be-
dingt sein sollen, und namentlich Schüle hat die ursächliche
Wirkung körperlicher Reize in seiner „Dysphrenia neuralgica
sehr weit ausgedehnt. Es ist gewiss nicht von der Hand zu weisen,
dass lebhafte Schmerzen einen starken Einfluss auf das Seelen-
leben ausüben und unter Umständen auch jemanden „rasend“
machen können, doch handelt es sich dabei gewiss nur selten um
ausgeprägte psychische Erkrankungen. Am leichtesten wird man
derartige Störungen bei solchen Personen auftreten sehen, die
ohnedies eine erhöhte gemütliche Beeinflussbarkeit darbieten, bei
Hysterischen.
Operative Eingriffe. Als Delirium nervosum oder traumati-
cum sind seit Dupuytren gewisse deliriöse Geistesstörungen
zusammengefasst worden, die sich bisweilen an schwere chiiui-
gische Eingriffe**) anschliessen. Die genauere Zergliederung
derartiger Erfahrungen zeigt, dass es sich dabei um eine
ganze Reihe sehr* verschiedenartiger klinischer Bilder handelt.
In einer grossen Zahl von Fällen ist der ursächliche Zusam-
menhang zwischen Eingriff und psychischer Störung nur ein
ganz lockerer. Das trifft zu für die manischen, katatonischen,
epileptischen, paralytischen Zustandsbilder, dann auch für die
senilen Delirien, die auf dem schon krankhaft vorbereiteten
*) Laquer, Archiv f. Psychiatrie, XXVI, 3; v. Krafft-Ebing,
Arbeiten, I, 81; Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVffl, 463.
**) Picque, Annales mddico-psychol., VIII, 8, 91, 113, 453; Picque
et Briand, ebenda, 249, 1898; Simpson, Journal of mental Science, 1897,
Januar; Pilcz, Wiener klinische Wochenschrift, 1902, 36.
Nervenkrankheiten.
35
Boden durch die Schädigung ausgelöst werden. Ähnliches gilt
natürlich von den ungemein häufigen alkoholischen und von den
urämischen Delirien. Entscheidender schon ist die Rolle des
chirurgischen Eingriffes bei den hysterischen Zufällen, obgleich
ja auch hier die wesentlichste Ursache immer in der erkranken-
den Persönlichkeit selbst gesucht werden muss. Der psychische
Eindruck, die Angst und Aufregung, die schon vor dem Eingriffe
besteht, ist das wirksame Bindeglied. Die Operation selbst kann
durch starken Blutverlust schädigen und dadurch Erschöpfungs-
delirien erzeugen; auch Giftwirkungen, namentlich Jodoform-
delirien, können auftreten. Im weiteren Verlaufe ist es einmal
wieder die Erschöpfung durch schwere Eingriffe mit mangel-
hafter Ernährung, die in Betracht gezogen werden muss; anderer-
seits aber können sich Eiterungen und Blutvergiftungen ent-
wickeln, die wieder die eigenartigen Krankheitsbilder der sep-
tischen Delirien hervorbringen. Endlich aber ist noch von ver-
schiedenen Seiten der starke gemütliche Eindruck betont worden,
den gewisse verstümmelnde Operationen ausüben, Amputationen,
Kastration, Anlegung eines Anus praeternaturalis u. dergl. Ob
die nach solchen Eingriffen beobachteten, länger dauernden, unter
Umständen zur Unheilbarkeit führenden Depressionszustände wirk-
lich eine klinische Sonderstellung beanspruchen dürfen, ist mir
einstweilen noch zweifelhaft.
Ebenso erscheint es unsicher, ob der besonderen Art der Ein-
griffe, abgesehen von ihren allgemeinen Wirkungen, eine be-
stimmte ursächliche Bedeutung zukommt. Allerdings werden bei
weitem am häufigsten Geistesstörungen nach Operationen an den
weiblichen Genitalorganen beobachtet. Bekanntlich hat man der
Entfernung der Eierstöcke vielfach einen hervorragenden Einfluss
auf das Seelenleben der Frau zugeschrieben und dabei namentlich
auch auf die starken geistigen und gemütlichen Umwälzungen
im Klimakterium hingewiesen. Wenn es auch bezweifelt werden
muss, dass gerade die Rückbildung der Eierstöcke, etwa das
Ausbleiben einer inneren Sekretion, die wichtigste oder gar die
einzige Ursache der klimakterischen Störungen bildet, so ist doch
wohl anzunehmen, dass der Verlust der Generationsdrüsen auch
für das seelische Gleichgewicht kein ganz bedeutungsloser Ein-
griff ist. Immerhin scheinen ausgeprägte psychische Störungen
3*
36
I. Die Ursachen des Irreseins.
sich jedenfalls nicht besonders häufig an denselben anzuschliessen.
Wir dürfen auch nicht ausser Acht lassen, dass längere Zeit hin-
durch die Kastration vielfach bei psychisch bereits nicht mehr
ganz gesunden Personen ausgeführt wurde, in der freilich meist
getäuschten Hoffnung, sie dadurch von ihren Leiden zu befreien.
Bei den Operationen in der Bauchhöhle und am Darm soll
nach der Ansicht von Pilcz Kotstauungen mit Aufsaugung von
Krankheitsgiften durch den Darm eine wichtige Rolle zukommen.
Nach Kataraktoperationen und überhaupt nach längerem Auf-
enthalte im Dunkelzimmer*) hat man nicht selten deliriöse Zu-
stände mit lebhaften Sinnestäuschungen, namentlich des Gesichts,
aber auch des Gehörs, seltener reine Gesichtstäuschungen bei
klarem Bewusstsein, auftreten sehen, die eine gewisse Ähnlich-
keit mit den in der Einzelhaft beobachteten Störungen darbieten.
Hier wie dort scheint der Abschluss gewisser Sinnesreize das
Auftreten von Trugwahrnehmungen auf dem betreffenden Gebiete
zu begünstigen. Im übrigen sind hier jedoch vor allem das
Greisenalter, unter Umständen auch schlechte Ernährung, ge-
mütliche Erregung oder alkoholische Gewohnheiten als Ent-
stehungsursachen zu berücksichtigen.
Vergiftung und Erschöpfung. Die schädigende Wirkung aller
nicht im Nervensystem selbst gelegenen körperlichen Ursachen
des Irreseins lässt sich, wie ich glaube, unter zwei allgemeine
Gesichtspunkte unterordnen, diejenigen der Vergiftung und der
Erschöpfung. In die erste Gruppe von Krankheitserzeugern ge-
hören alle jene Umwälzungen der Lebensvorgänge, bei denen
irgendwelche Stoffe in das Blut und damit auch in das Nerven-
gewebe eindringen, die unmittelbar zerstörend auf dieses letztere
einwirken. Mit solchen Vergiftungen haben wir es zu tun bei
allen Infektionskrankheiten, bei den Blutentmischungen, bei der
Einfuhr nicht organisierter Gifte. Grundsätzliche Unterschiede zwi-
schen diesen einzelnen Vorgängen dürften kaum bestehen, nach-
dem es wahrscheinlich geworden ist, dass wir die W irkung der
Infektion in letzter Linie auf die giftigen Erzeugnisse der Krank-
heitserreger zurückzuführen haben.
*) v. Frankl-Hochwart, Jahrbücher f. Psychiatrie, IX, 1 n. 2,
1889; Löwy, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LII, 166.
Vergiftung und Erschöpfung.
37
Die psychischen Erscheinungen der Vergiftung hängen einmal
von der Art des Giftes, dann aber auch von der Schnelligkeit ab,
mit der es seine Wirkung entfaltet. Alle rasch eintretenden Ver-
giftungen des Gehirns pflegen sich in Zuständen deliriöser Ver-
wirrtheit mit mehr oder weniger lebhaften Sinnestäuschungen
und vielfach auch mit Aufregung zu äussern, während bei lang-
samer Zerstörung durch das Gift mehr die Zeichen der psychi-
schen Lähmung in den Vordergrund treten. Natürlich wird das
klinische Bild im einzelnen sehr wesentlich durch die besonderen
Eigenschaften des Giftes bestimmt. Nach den bisher, nament-
lich von N i s s 1 , angestellten Versuchen ist es durchaus wahr-
scheinlich, dass jedem Gifte ein eigentümlicher Erkrankungsvor-
gang im Nervengewebe entspricht, dessen besondere Kennzeichen
wir bei subakuter maximaler Vergiftung auch anatomisch unter-
scheiden können, während bei sehr akuter oder chronischer Ver-
giftung sich wenigstens die Nervenzellenveränderungen noch nicht
auseinanderhalten lassen. Auch die Untersuchung der psychischen
Giftwirkungen, soweit sie bis jetzt genauer durchgeführt wurde,
hat uns für jedes Gift eine besondere Verteilung der Wirkung
auf die verschiedenen Gebiete des Seelenlebens kennen ge-
lehrt. Ebenso sind wir endlich klinisch imstande, in zahlreichen
Fällen die Natur der Vergiftung aus ihren Zeichen zu er-
kennen. Freilich ist bei den selteneren Formen, bei den meis-
ten Selbstvergiftungen und bei manchen sehr schleichend ver-
laufenden Giftwirkungen ein bündiger Rückschluss aus den
psychischen Erscheinungen auf die Krankheitsursache heute
noch nicht möglich.
Als Erschöpfung bezeichnen wir die Zerstörung der körper-
lichen Träger unseres Seelenlebens infolge zu starken Verbrauches
oder ungenügenden Ersatzes. Während wir uns die Ermüdung
lediglich durch die Anhäufung lähmend wirkender Zerfallsstoffe
im Blute zu erklären pflegen, würde die Erschöpfung dann be-
ginnen, wenn der Verbrauch im Nervengewebe den Ersatz bis
zur dauernden Gefährdung des Bestandes überschreitet. Die Er-
müdung wäre eine Narkose, die wir zu Zwecken der Behandlung
auch wohl durch andere ähnliche Narkosen ersetzen können; die
Erschöpfung dagegen ist der erste Schritt zu einer Selbstver-
nichtung des Nervensystems durch die eigene Tätigkeit. Die Er-
38
I. Die Ursachen des Irreseins.
müdung führt zum Schlafe; sie ist eine Axt Selbstschutz gegen
den Eintritt der Erschöpfung.
Im Schlafe werden die Ermüdungsstoffe aus den Geweben
herausgeschafft und unschädlich gemacht; ausserdem wird der
Verbrauch herabgesetzt. Der Ersatz des Verbrauchten dagegen
kann nur durch die Nahrungsaufnahme geschehen. So wenig wir
durch Sparsamkeit allein ohne Einnahmen ein Vermögen in seinem
Bestände erhalten können, so wenig vermag der Schlaf uns die
verbrauchten Kräfte zu ersetzen. Als die eigentliche Ursache der
Erschöpfung haben wir daher die mangelhafte Ernährung zu
betrachten. Freilich tritt das Missverhältnis zwischen Verbrauch
und Ersatz natürlich um so rascher hervor, je flotter verbraucht,
je weniger gespart wird. So kommt es, dass die drohende Er-
schöpfung durch äusserste Ruhe lange Zeit hindurch verhütet
werden kann, und dass die Gefahr ihres Eintretens bei gleich-
zeitiger Nahrungsverweigerung, Unruhe und Schlaflosigkeit ganz
ausserordentlich gross wird. Im einzelnen Falle kann die Er-
schöpfung auf sehr verschiedene Weise zu stände kommen.
Rascher Verbrauch durch angestrengte Arbeit, Fieber, Blutver-
luste, ungenügendes Sparen infolge von Schlafstörungen, endlich
Fehlen des Ersatzes durch die Nahrung sind die drei Haupt-
ursachen, welche auf die Entstehung der Erschöpfung hinarbeiten.
Beim Hungern und namentlich bei der weit wirksameren Ent-
ziehung des Schlafes sind an den Nervenzellen auch von verschie-
denen Forschern Veränderungen beschrieben worden, die je-
doch nichts Eigenartiges zu haben scheinen*); Daddi fand sie
bei künstlich erzeugter Schlaflosigkeit besonders im Stirnlappen.
Es muss vor der Hand noch dahingestellt bleiben, ob die
psychischen Wirkungen aller dieser Ursachen die gleichen sind.
Den Einfluss des Hungerns mit und ohne gleichzeitiges Dursten
hat Weygandt**) näher untersucht. Er kam zu dem Ergeb-
nisse, dass die Entziehung der Nahrung, namentlich ohne Flüssig-
keitsaufnahme, die geistige Arbeit des Rechnens und Lernens
deutlich erschwert, die Ablenkbarkeit steigert und den Gedanken-
*) Agostini, Rivista sperimentale di freniatria, XXIV, 1. 189S;
Daddi, Rivista di patologia nerv, e mentale, III, 1898.
**) Weygandt, Psychologische Arbeiten, IV, 45.
Vergiftung und Erschöpfung.
39
gang durch die Begünstigung von äusseren und Klangassociationen
verflacht, ohne anscheinend die Wahrnehmung erheblicher zu
beeinflussen. Andererseits stellte Aschaffen bürg an mehre-
ren Personen fest, welche Veränderungen die Art und Dauer
gewisser psychischer Leistungen im Verlaufe einer ohne Nahrungs-
aufnahme durcharbeiteten Nacht erfuhren. Dabei ergab sich
eine allgemeine Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit,
Erschwerung der Wahrnehmung mit gleichzeitigem Auftreten
selbständiger Sinneserregungen, Verlangsamung des Gedanken-
ganges, Entstehen ideenflüchtiger Vorstellungsverbindungen*),
endlich erleichterte Auslösung von Bewegungsantrieben. Ganz
dieselben Grundstörungen finden wir nun interessanterweise bei
derjenigen Form des Irreseins wieder, welche wir nach ihren Ent-
stehungsbedingungen besonders als Erschöpfungspsychose aufzu-
fassen berechtigt sind, beim Collapsdelirium. Patrick und
Gilbert**), die drei Personen neunzig Stunden lang wachen
Hessen, fanden Abnahme der Muskelkraft, Verlangsamung der
psychischen Zeit, eine sehr starke Störung der Aufmerksamkeit
und der Merkfähigkeit, dagegen Zunahme der Sehschärfe und
Auftreten massenhafter einfacher Gesichtstäuschungen. Ganz
ähnliche Beobachtungen wurden bei unsinnigem, sechs Tage und
Nächte hindurch fortgesetzten Radrennen in New-York gemacht.
Weniger klare Vorstellungen vermögen wir uns von den
Wirkungen der chronischen Erschöpfung zu machen, wie sie
durch dauernd ungenügende Ernährung bei schwerer Arbeit er-
zeugt und durch Schlafmangel, schlechte hygienische Verhält-
nisse, durch Kummer und Sorge begünstigt wird. Wir können
kaum zweifeln, dass alle diese Ursachen in der Entstehungsge-
schichte des Irreseins eine gewichtige Rolle spielen, allein wir
sind zur Zeit ausser stände, ihren Einfluss im einzelnen abzu-
wägen oder in bestimmten Krankheitszeichen wiederzuerkennen.
Nur darauf dürfen wir vielleicht hinweisen, dass sich nach Aus-
weis von Versuchen die durch Hungern und Schlaflosigkeit er-
zeugten psychischen Störungen erst allmählich wieder ausgleichen.
So Hess sich die Wirkung einer durcharbeiteten Nacht noch bis
*) Aschaffenburg, Psychologische Arbeiten, II, 1.
**) Patrick and Gilbert, Psychological Review, Sept. 1896.
40
I. Die Ursachen des Irreseins.
zum vierten folgenden Tage in einer abnehmenden Herabsetzung
der Arbeitsfähigkeit erkennen. Vom klinischen Standpunkte
müssen wir daher annehmen, dass die chronische Erschöpfung
einen rascheren Verbrauch des Nervengewebes bedingt und damit
vielleicht die wichtigste Ursache für das vorzeitige Eintreten
der Rückbildungserscheinungen und weiterhin der Greisenver-
änderungen darstellt. Ausserdem aber bewirkt sie wohl sicher
eine Herabsetzung der allgemeinen Widerstandsfähigkeit des
Körpers und begünstigt auf diese Weise die Entwicklung von
Störungen, welche ohne ihre Mitwirkung vielleicht nicht zu stände
gekommen wären.
Infektionskrankheiten*). Die soeben gewonnenen Gesichts-
punkte werden uns das Verständnis für eine ganze Reihe von
Schädlichkeiten eröffnen, denen man im einzelnen ursächliche Be-
deutung für die Entstehung des Irreseins zugeschrieben hat. So
haben wir bei den Infektionskrankheiten ohne Zweifel zunächst
mit Giftwirkungen zu rechnen, welche teils unmittelbar die
Hirnrinde angreifen, teils durch Erzeugung allgemeinerer Krank-
heitserscheinungen (Fieber) oder durch Vermittlung von Organ-
erkrankungen das Seelenleben beeinflussen. Im einzelnen ge-
staltet sich natürlich dieser Zusammenhang ausserordentlich ver-
schieden, je nach der besonderen Beschaffenheit des Krankheits-
giftes und der Art seiner Verteilung im Körper. Am wichtigsten
sind von diesen Krankheiten für die Entstehung psychischer Stö-
rungen Typhus **), akuter Gelenkrheumatismus,
Pneumonie, akute Exantheme, Kopf rose, Influ-
enza ***), Wechselfieber und Cholera.
Eine unmittelbare Einwirkung der betreffenden Krankheits-
gifte auf das Gehirn ist sichergestellt bisher nur für den Typhus,
die Pocken und das Wechselfieber, vielleicht auch die Influenza,
weil nur bei ihnen unzweifelhafte Beobachtungen psychischer
*) K r a e p e 1 i n , Archiv f. Psychiatrie, Bd. XI und XII; Adler, Allgem.
Zeitsclir. f. Psychiatrie, LIII, 740.
Friedländer, Über den Einfluss des Typhus auf das Nerven-
system. 1901.
***) Jutrosinski, Influenzapsychosen, Dissertation, 1S90; Kirn,
Volkmanns klin. Vorträge, Neue Folge, XIII, 1890; Fahr, Influenza som
aarsag til sindssygdom. 1898; Klemm, Psychosen im ätiologischen Zusammen-
hang mit Influenza. Diss. 1901.
Infektionskrankheiten.
41
Störung während des fieberlosen oder doch sehr gering fieber-
haften Verlaufes (im Vorläuferstadium) vorliegen, bevor andere
Ursachen haben zur Entwicklung gelangen können. Beim Gelenk-
rheumatismus kommt aber, wenn auch selten, eine Lokalisation
des Giftes in den Hirnhäuten vor, die dann natürlich ebenfalls
psychische Reizungs- und Lähmungserscheinungen hervorruft.
Für den Typhus sind tiefgreifende Veränderungen in der Hirnrinde
wiederholt nachgewiesen worden.
Während des fieberhaften Verlaufes der akuten Infek-
tionskrankheiten könnte zunächst die Steigerung der Körper-
wärme, dann aber möglicherweise auch die Kreislaufsbeschleuni-
nigung in der Schädelhöhle als wirksame Ursache in Betracht
kommen. Sehr häufig sieht man wenigstens die „Delirien“
dem Gange der Eigenwärme parallel gehen, ein Verhalten,
welches sich namentlich deutlich bei dem regelmässigen
Verlaufe der Typhuskurve herauszustellen pflegt. Eine Schädi-
gung der Nervenzellen durch Erwärmung, die freilich schwerlich
als eigenartig angesehen werden darf, ist von Goldscheider
und Fla tau wie von Lugaro festgestellt worden. Es ist in-
dessen zu berücksichtigen, dass die fieberhafte Steigerung der
Eigenwärme schliesslich doch nur- als Zeichen einer stärkeren
Giftzufuhr in die Blutbahn angesehen werden muss. Am wahr-
scheinlichsten ist wohl, dass auch im Fieber Giftwirkungen
die Hauptrolle spielen. So würde es sich auch am einfachsten
erklären, dass bei manchen anderen Leiden, z. B. bei der Tuber-
kulose, lange dauernde, beträchtliche Temperatursteigerungen ver-
hältnismässig selten mit psychischen Störungen einhergehen.
Eine gewisse Rolle für die Entstehung der Delirien bei In-
fektionskrankheiten spielt endlich zweifellos der Zustand der Kreis-
lauf sorgane, vielleicht auch der Lungen, da wir jene Störungen
nicht nur verhältnismässig häufig bei begleitenden Herzerkran-
kungen (Gelenkrheumatismus), sondern bei den verschiedensten
Formen der Herzschwäche, sogar neben kaum fieberhaften Tem-
peraturen auftreten sehen (Septicämie). Wir dürfen vielleicht
annehmen, dass die Kreislaufsstörungen dem Körper die Vernich-
tung und Überwindung der kreisenden Krankheitsgifte wesent-
lich erschweren. Wie viel gerade bei den so leicht delirierenden
Säufern auf die Herzschwäche und die Gefässerkrankungen, wie-
42
I. Die Ursachen des Irreseins.
viel auf die dauernden Veränderungen in der Hirnrinde zurück-
zuführen ist, lässt sich schwer sagen; wahrscheinlich ist das
Verhältnis in den einzelnen Fällen ein sehr verschiedenes, wie
sich auch klinisch alle Übergangsformen vom ausgeprägten De-
lirium tremens bis zum gewöhnlichen Fieberdelirium hier be-
obachten lassen.
Das später genauer zu zeichnende Bild der Fieberdelirien
setzt sich im allgemeinen aus den Erscheinungen der Hirn-
reizung und der Lähmung zusammen, die sich in der verschieden-
artigsten Weise miteinander verbinden können und in den schwer-
sten Graden, bei denen sich wohl immer auch tiefgreifende Kreis-
laufsstörungen entwickeln, endlich in völlige Lähmung der Hirn-
rinde, in Zustände von Schlafsucht und Ohnmacht übergehen.
Der Wirkungsweise einiger der genannten Infektionskrank-
heiten in mancher Beziehung verwandt ist diejenige der Lyssa,
insofern es sich auch hier wohl um eine unmittelbare A ergiftung
der Hirnrinde handelt. Emminghaus*) führt als einleitende
Symptome traurige Verstimmung und Ängstlichkeit an; auf der
Höhe der Erkrankung wechseln die Erscheinungen höchster psy-
chischer Erregung, heftige Delirien, Sinnestäuschungen, Gewalt-
taten mit vorübergehender völliger Klarheit des Bewusstseins
ab, bis endlich mit dem Eintritte psychischer Lähmung das Lei-
den abschliesst.
Wesentlich anders dagegen, als bei den Fieberdelirien,
gestaltet sich wahrscheinlich der Zusammenhang zwischen Ur-
sache und Wirkung bei jenen eigenartigen Geistesstörungen, die
sich nicht auf der Höhe, sondern nach dem Ablaufe akuter
Infektionskrankheiten entwickeln. Allerdings muss man auch hier
wohl vor allem an die giftigen Nachwirkungen der infektiösen
Krankheitsursache denken, entsprechend etwa den neuritischen
Erkrankungen, welche sich an Pocken, Typhus, Influenza und
namentlich an Diphtherie so häufig anschliessen. Am deutlichsten
wird das bei den schweren, oft unheilbaren, nach Typhus, Pocken
und Intermittens beobachteten geistigen Schwächezuständen, die
mit den Zeichen gröberer Erkrankungen des Hirns, Rückenmarks
oder der Nerven einhergehen. Bei anderen, günstiger und rascher
*) Archiv der Heilkunde XV, 239; Allgr. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXI, 5.
Infektionskrankheiten.
43
verlaufenden Formen dürfte auch noch die durch schwere und an-
dauernde Fieberzustände und verschiedenartige Begleiterkran-
kungen bedingte Erschöpfung des gesamten Körpers eine
ursächliche Rolle spielen. Nach Typhus und Gelenkrheumatismus
pflegen derartige Erkrankungen sich allmählich zu entwickeln
und wieder auszugleichen. Dagegen sehen wir, namentlich bei
der Lungenentzündung, aber auch nach akuten Exanthemen, Ery-
sipel, Influenza (Influenzapneumonie!), schweren Anginen, die
psychische Störung sich vielfach unmittelbar an einen plötzlichen
Abfall der Körperwärme und der Pulsgeschwindigkeit anschliessen
und dann meist nach kurzer Zeit wieder schwinden. Im all-
gemeinen kommt übrigens der krankhaften Veranlagung bei der
Entstehung der Erschöpfungspsychosen eine weit grössere Bedeu-
tung zu, als bei den Fieberdelirien. Offenbar sind die Erkrankungs-
ursachen im letzteren Falle viel mächtigere; sie überwältigen ohne
viel Unterschied auch ein kräftiges Nervensystem, während dort
vorzugsweise die weniger widerstandsfähigen Persönlichkeiten den
krankmachenden Einflüssen unterliegen.
Bis zu einem gewissen Grade spiegelt sich dieser Unterschied
der ursächlichen Bedingungen auch in dem klinischen Bilde der
Psychosen nach akuten Krankheiten wieder. Während die Fieber-
delirien in der Plauptsache überall die gleichen Erscheinungs-
formen zeigen, sehen wir hier, wo die persönliche Anlage stärker
hervortritt, die einzelnen Krankheitsbilder sich weit verschieden-
artiger und selbständiger entwickeln. Dies gilt natürlich nicht
für die mit schweren Rindenerkrankungen (Schwellung und Zer-
fall der Ganglienzellen, Pigmentembolien, entzündliche Infiltration)
einhergehenden Psychosen, welche einfach eine mehr oder weniger
ausgesprochene allgemeine Abnahme der psychischen Leistungen,
das Bild des Schwachsinns bis zum tiefsten Blödsinn darbieten.
Wo die krankmachende Ursache mit plötzlichem Sinken der
Eigenwärme und der Pulszahl hereinbricht, entstehen unvermittelt
rasch verlaufende Collapsdelirien mit Sinnestäuschungen, völliger
Verwirrtheit, Ideenflucht und Aufregungszuständen. In anderen
Fällen verschwinden die Fieberdelirien mit dem Eintritte der
körperlichen Besserung nicht, sondern spinnen sich, wenn auch
in veränderter Form, noch einige Zeit hindurch fort. Es hat
dabei den Anschein, als ob das geschwächte Gehirn nicht so rasch
44
I. Die Ursachen des Irreseins.
die auf der Höhe der Krankheit entstandenen Störungen aus-
gleichen könne. Auch hier liegt natürlich der Verdacht akuter,
sich wieder zurückbildender Zellveränderungen sehr nahe. Die-
jenigen Formen, die sich erst in der Genesungszeit entwickeln,
schliessen sich öfters an eine mehr zufällige Schädlichkeit, na-
mentlich an Gemütsbewegungen an. Sie tragen die Züge der Ver-
wirrtheit mit Sinnestäuschungen, Wahnbildungen und ängstlicher
oder heiterer Verstimmung. Von ihnen führen Übergänge all-
mählich hinüber zu der gewöhnlichen reizbaren Schwäche der
Genesenden nach einer schweren fieberhaften Krankheit.
In einer grossen Anzahl von Fällen handelt es sich bei den
Geistesstörungen nach körperlichen Krankheiten um solche For-
men des Irreseins, die in Wirklichkeit aus ganz anderen Ursachen
entstehen. Die akute Schädigung gibt hier nur den letzten An-
stoss zur Entwicklung des schon mehr oder weniger weit
vorbereiteten Deidens. Das ist der Fall bei den verschiedenen
Formen des manisch-depressiven Irreseins und der Katatonie, bei
der Melancholie, den senilen Delirien, bisweilen auch bei paraly-
tischen Erkrankungen. Gewöhnlich ist hier auch der zeitliche
Zusammenhang zwischen akuter Krankheit und Irresein ein ziem-
lich lockerer. In einzelnen Fällen beginnt die Psychose bei dem
wTenig widerstandsfähigen Rekonvaleszenten erst Wochen oder
gar Monate nach dem Ab laufe der hier eigentlich nur noch vor-
bereitenden Erkrankung, ja es scheint, dass namentlich nach
Typhus unter Umständen selbst jahrelang eine reizbare Schwäche
Zurückbleiben kann, welche der Entwicklung späterer Geistes-
störungen Vorschub leistet.
Nach ähnlichen Gesichtspunkten darf vielleicht zum Teil die
ursächliche Bedeutung mancher chronischer Infektions-
krankheiten beurteilt werden. Namentlich sind hier vielfach
die Bedingungen zur Entstehung von Erschöpfungszuständen ver-
wirklicht. Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit, grosse Ermüdbar-
keit, andererseits Reizbarkeit, Stimmungswechsel, endlich ein
Gemisch von Wankelmütigkeit und Eigensinn sind so häufige Be-
gleiterscheinungen solcher Leiden, dass sie gar nicht als eigent-
liche psychische Störungen aufgefasst zu werden pflegen. An-
dererseits spielen unter Umständen wohl auch die Krankheitsgifte
selbst eine gewisse Rolle.
Infektionskrankheiten.
45
Bei der Tuberkulose* **)) kommt es hie und da zu akuten
Geistesstörungen mit Verwirrtheit, Sinnestäuschungen, Wahnbil-
dungen, misstrauischer oder heiterer Stimmung, Schlaflosig-
keit und Erregung, die den infektiösen Schwächezuständen nach
Typhus oder Gelenkrheumatismus sehr ähnlich sind. Bei der ge-
ringen Häufigkeit der phthisischen Geistesstörungen müssen in
solchen Fällen wohl noch besondere Bedingungen mitwirken, unter
denen die psychopathische Veranlagung sicherlich eine wichtige
Rolle spielt. In anderen Fällen sehen wir den Alkoholismus dem
Krankheitsbilde seine bestimmte Färbung geben, und endlich
können natürlich gelegentlich auch meningitische Prozesse den
psychischen (und nervösen) Reizerscheinungen zu Grunde liegen.
Im Verlaufe der Lepra, die ja unzweifelhaft das Nerven-
system häufig in Mitleidenschaft zieht, sollen Depressionszustände
mit Schlaflosigkeit und starker Selbstmordneigung Vorkommen.
Genaueres ist jedoch darüber noch nicht bekannt.
Dagegen spielt die Syphilis*) bei der Erzeugung von Gei-
stesstörungen verschiedenster Art eine ganz hervorragende Rolle.
Kowalewsky betrachtet als die körperliche Grundlage der
syphilitischen Psychosen im ersten Abschnitte des Leidens die
Blutveränderungen, die in einer Abnahme der roten Blutkörper-
chen und ihres Farbstoffgehaltes sowie in einer Zunahme der
weissen Blutkörperchen bestehen und zur Zeit des Ausschlags
ihre grösste Entwicklung erreicht haben. Späterhin kommt es
dann zu den von Heubner vor allem beschriebenen Gefäss-
erkrankungen und endlich zu unmittelbaren Schädigungen des
Nervengewebes durch das im Blute kreisende Syphilisgift. Ausser-
dem sollen in manchen Fällen Blutveränderungen durch übertriebene
Quecksilberbehandlung, in anderen noch die gemütlichen Erschüt-
terungen durch die Aussicht auf die möglichen Folgen der An-
steckung als krankmachende Umstände in Betracht kommen;
*) Heinzeimann, Münchner Medizin. Wochenschr. 1894, 5; Char-
t i e r , de la phthisie et en particulier de la phthisie latente dans ses rapports
avec les psychoses. These, Paris. 1899.
**) Heubner, v. Ziemssens Handbuch, Bd. XI, 1; Rumpf, Die
syphilitischen Erkrankungen des Nervensystems. 1887; Kowalewsky,
Archiv f. Psych., XXVI, 2; J o 1 1 y , Berliner klinische Wochenschr. 1901, 1.
46
I. Die Ursachen des Irreseins.
natürlich haben die so erzeugten Krankheitszeichen zur Syphilis
selbst keinerlei Beziehung mehr.
Den klinischen Ausdruck aller dieser luetischen Krankheits-
vorgänge bilden Zustände, die man zunächst unter der Bezeich-
nung der syphilitischen Neurasthenie, Hypochondrie oder Hysterie
zusammenzufassen pflegt. Schon zur Zeit des ersten Ausschlags
sollen derartige Krankheitsbilder hervortreten können, um sich
nach dem Schwinden desselben oder unter dem Einflüsse der
Quecksilberbehandlung rasch wieder zu verlieren. Im weiteren
Verlaufe deuten manche Begleiterscheinungen, starke Kopf-
schmerzen, Schwindelanfälle, leichte, flüchtige Sprachstörungen
oder Lähmungen, Doppeltsehen, halbseitige Empfindungsstö-
rungen, vielleicht auch einmal eine Ohnmacht oder ein epilep-
tischer Anfall neben den Zeichen von Zerstreutheit, Versagen des
Gedächtnisses, Reizbarkeit, Ermüdbarkeit, Arbeitsunlust, Nieder-
geschlagenheit und Willensschwäche vielfach schon auf ein ern-
steres Leiden hin, dem vielleicht die allmähliche Entwicklung
der Gefässerkrankungen zu Grunde liegt. Wo ausgeprägte hyste-
rische Erscheinungen hervortreten, haben wir uns wohl vorzu-
stellen, dass, ähnlich wie bei anderen Hirnerkrankungen, die un-
mittelbaren körperlichen Veränderungen durch Vermittlung
gefühlsstarker Vorstellungen Störungen herbeiführen, die
mehr oder weniger weit über den Rahmen jener brsteren
hinausgreifen.
Die Fortentwicklung dieser Krankheitsbilder führt, wenn sie
nicht durch die Behandlung unterbrochen wird, zu geistigen
Schwächezuständen. Gedächtnis und Merkfähigkeit nehmen ab,
das Urteil wird schwach; die Fähigkeit zu planmässiger, geord-
neter Tätigkeit geht verloren. Zugleich können sich nun eine
Reihe von ausgeprägten psychischen Krankheitszeichen einstellen,
reizbares, nörgelndes Wesen, Wahnbildungen, meist flüchtiger,
aber oft ganz abenteuerlicher Art, Sinnestäuschungen, heitere
oder misstrauisch-gereizte Stimmung, Erregung, Prahlsucht, A er-
schwendungssucht. Schliesslich können die Kranken vollkommen
verblöden. In der Regel ist aber diese Entwicklung von den deut-
lichen Zeichen eines schweren Hirnleidens begleitet, namentlich
von halbseitigen Lähmungen, Schlaganfällen mit oder ohne nach-
bleibende Opticusatrophie, Augenmuskellähmungen, apliasischen
Infektionskrankheiten.
47
Störungen und ähnl. Ihnen entsprechen vielfach umschriebene
gummöse oder meningo-encephalitische Erkrankungen.
Von ungleich grösserer Bedeutung aber, als alle diese im
engeren Sinne syphilitischen Geistesstörungen, ist die progressive
Paralyse, die wir ebenfalls Ursache haben, wesentlich oder aus-
schliesslich auf eine vorangegangene luetische Erkrankung zu-
rückzuführen. Bei dem heutigen Stande der Frage halte ich es
für das bei weitem Wahrscheinlichste, dass in der Tat alle die-
jenigen Fälle, denen eine Syphilis zu Grunde liegt, eine einheit-
liche ätiologische, klinische und pathologisch-anatomische Gruppe
bilden, der ein ganz bestimmter Krankheitsvorgang entspricht.
Allerdings sind wir heute im Leben noch nicht immer imstande,
diese Fälle mit Sicherheit von denjenigen zu unterscheiden, die
anderen Ursprunges sind. Es zeigt sich eben, dass einerseits die
Fälle mit gleichem Leichenbefunde sehr verschiedene klinische
Bilder darbieten können, während es uns auf der anderen Seite
öfters unmöglich ist, aus den Krankheitszeichen auf einen be-
stimmten pathologischen Vorgang zu schliessen. Die Kennzeichen,
nach denen wir im Leben gruppieren, entsprechen nicht den-
jenigen der pathologischen Anatomie. In der vorliegenden Frage
aber scheint es, dass die letzteren bereits die zuverlässigeren sind.
Leider vermögen wir uns über die Art des Zusammenhanges
zwischen Syphilis und Paralyse noch keine genauere Vorstellung
zu machen. Nur soviel steht fest, dass die Paralyse der syphili-
tischen Ansteckung gewöhnlich erst nach einer längeren Reihe
von Jahren folgt, dass sie durch die antiluetischen Kuren nicht
günstig beeinflusst, geschweige denn geheilt wird, und dass sie
daher nicht geradezu als syphilitische Hirnerkrankung im engeren
Sinne auf gefasst werden darf. Möbius hat daher hier und bei
der offenbar sehr nahe verwandten Tabes von einer „Metasyphilis“
gesprochen. Manche Erfahrungen scheinen mir darauf hinzu-
deuten, dass es sich bei der Paralyse nicht um eine örtliche Er-
krankung handelt, wie bei der eigentlichen Hirnsyphilis, sondern
dass wir es mit sehr tiefgreifenden und allgemeinen Störungen
im gesamten Körper zu tun haben. Die häufigen Nieren- und Plerz-
erkrankungen wie das Aortenatherom der Paralytiker zeugen für
eine ausgebreitete Beteiligung der Blutgefässe. Ob diese letztere
allein dann weiter die Brüchigkeit der Knochen und die grosse
48
I. Die Ursachen des Irreseins.
Neigung zum Druckbrand bewirkt, muss zweifelhaft bleiben. Ich
möchte vielmehr an Veränderungen im Stoffwechsel und in der
Blutzusammensetzung glauben. Dafür würden auch die ganz
ausserordentlichen Schwankungen in dem Ernährungszustände der
Kranken wie die nicht selten beobachteten andauernden Tem-
peratursenkungen sprechen, die wohl zuverlässiger auf schwere
Störungen des Allgemeinzustandes, als auf örtliche Beeinflus-
sung der Temperaturregulierungscentren zurückgeführt werden.
Stoffwechselkrankheiten. Vielleicht eines der wichtigsten,
sicher aber das dunkelste Gebiet der ganzen psychiatrischen Ur-
sachenlehre ist dasjenige der Stoffwechselerkrankungen. Wir
dürfen ja wohl erwarten, dass jede krankhafte Änderung im Stoff-
wechsel auch die Ernährung des Nervensystems mehr oder weniger
stark in Mitleidenschaft ziehen und unter Umständen geradezu
giftige Stoffe in die Blutbahn gelangen lassen muss. Dagegen
wissen wir über die chemischen Einzelheiten dieser V orgänge
leider noch ungemein wenig. Es liegen allerdings eine Reihe
von Untersuchungen über die Veränderungen der Ausscheidungen
und des Blutes bei Geisteskranken vor, über die Giftigkeit des
Schweisses und Harns*), über die Alkalescenz, die bakterien-
tötenden und giftigen Eigenschaften des Blutes, über die ,,Iso-
tonie“**) der roten Blutkörperchen, ihre Zahl, ihren Hämoglobin-
gehalt, ihr Verhältnis zu den Leukocythen, — aber die Ergebnisse
aller dieser mühevollen Erhebungen sind meist so unsicher und
vieldeutig, dass aus ihnen irgendwelche zuverlässigen Schlüsse
über das Wesen der Krankheitsvorgänge einstweilen nicht abge-
leitet werden können. Abweichungen von dem Verhalten Ge-
sunder sind übrigens vielfach festgestellt worden. So fanden
Obici und Bonon, dass die Widerstandsfähigkeit roter Blut-
körperchen gegen Kochsalzlösungen besonders stark herabgesetzt
war in der Paralyse, beim pellagrösen Irresein und in den ersten
Stadien der Dementia praecox, also in Krankheitszuständen, für
welche die Annahme von Giften im Blute besonders nahe liegt.
*) Cabitto, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 36; Pellegrini,
ebenda, 144; Massaut, Bull, de la societd de mddic. ment, de Belgique,
Decembre 1895.
**) Abundo, Rivista sperim. di freniatria, XVIII, 292; Obici e
Bonon, Annali di nevrologia, XVIII, 5. 1900.
Stoffwechselkrankheiten.
49
In der Regel aber ist ein gesetzmässiger Zusammenhang
zwischen den vorhandenen Stoffwechselstörungen und den Krank-
heitsbildern gar nicht nachzuweisen. Allerdings liegt eine sehr
grosse Zahl von Beobachtungen vor, in denen die Geistesstörung
mit dieser oder jener Form der Selbstvergiftung in Beziehung
gebracht wird. Verhältnismässig selten aber enthalten solche
Vermutungen mehr als blosse Möglichkeiten. Der Grund liegt
hauptsächlich in dem Umstande, dass die Krankheitsbilder selbst
uns heute durchaus noch, keinen Schluss auf eine ursächliche
Selbstvergiftung erlauben. Wir sind daher meist gar nicht im-
stande, ein zufälliges Zusammentreffen auszuschliessen; höchstens
lässt sich sagen, dass wahrscheinlich irgend eine Vergiftung oder
Infektion vorliegt. Andererseits lehrt aber das Beispiel einzelner
Formen psychischer Störung, die wir auf Stoffwechselstörungen
zurückzuführen berechtigt sind, namentlich dasjenige des Deli-
rium tremens, ganz abgesehen von den gewöhnlichen Vergif-
tungen, dass dort, wo wirklich eindeutige Ursachen vorhanden
sind, auch die klinischen Bilder ihre ganz ausgeprägte Färbung
erhalten. Es ist daher zu hoffen, dass es allmählich gelingen
wird, für diejenigen Gruppen des Irreseins, welche bestimmten
Stoffwechselvergiftungen zu Grunde liegen, auch eigenartige
klinische Formen aufzufinden, die ohne weiteres den Rückschluss
auf die Krankheitsursache gestatten.
Im allgemeinen wird man annehmen dürfen, dass diejenigen
Ernährungsstörungen, die wesentlich eine allgemeine Verschlech-
terung der Blutbeschaffenheit herbeiführen, wie etwa die
Chlorose, die Leukämie, dauernde Unterernährung, wiederholte
Blutverluste, eine mehr oder weniger ausgesprochene Abnahme
der gesamten psychischen Leistungen erzeugen, Herabsetzung
der geistigen Arbeitsfähigkeit, gesteigerte Ermüdbarkeit, Zer-
streutheit, Vergesslichkeit, gemütliche Reizbarkeit mit vor-
wiegend depressiver Färbung, Einbusse an Willensfestigkeit und
Tatkraft. Diese Störungen sind bei schweren körperlichen All-
gemeinleiden so häufig, dass sie gar nicht als krankhaft aufzu-
fallen pflegen. Sie entsprechen ungefähr den Zeichen einer
dauernden Ermüdung, die wir ja gewöhnt sind, auf die un-
genügende Beseitigung und Vernichtung giftiger Zerfallstoffe
in den arbeitenden Geweben zurückzuführen.
Kraepclin, Psychiatrie. I. 7. Aufl.
4
50
I. Die Ursachen des Irreseins.
Dazu treten aber weitere Krankheitserscheinungen, sobald
irgend eine bestimmte Einrichtung im Getriebe unseres Stoff-
wechsels ihren Dienst versagt. Bei chronischen Störungen werden
wir allerdings deren besondere Wirkungen in dem Krankheitsbilde
meist kaum nachweisen können. Bei raschem Eintritte der Ver-
änderung im Körperhaushalte sind aber die Krankheitserschei-
nungen oft sehr stürmische. Unzulänglichkeit des Gasaustausches,
wie sie durch Erkrankungen der Lungen und der Kreislauforgane
herbeigeführt werden kann, erzeugt die Erscheinungen rausch-
artiger Benommenheit und heftige Angstgefühle, in höheren
Graden Bewusstlosigkeit. Mangelhafte Ausscheidung durch die
Nieren führt zur U r ä m i e mit deliriösen und komatösen Zustan-
den, namentlich bei vorgeschrittener Schwangerschaft; infolge
der Ansammlung von Gallenbestandteilen im Blute (Cholämie)
kommen Benommenheit und psychische Depression, bei der akuten
gelben Leberatrophie (Icterus gravis) furibunde Delirien mit
starker ängstlicher Erregung und Sinnestäuschungen, im weiteren
Verlaufe Sopor und Koma zur Beobachtung.
Recht unklar sind bisher noch die Beziehungen zwischen
dem Krebssiechtum und den hie und da bei demselben
beobachteten Geistesstörungen. Wenn auch^ die Annahme
immer mehl- an Boden gewinnt, dass die Krebsgeschwülste
irgendwie durch Lebewesen erzeugt werden, so fehlt doch
jeder Anhalt für eine Entscheidung der Frage, ob diese
Lebewesen unmittelbar oder durch giftige Ausscheidungsstone
die Hirnrinde schädigen, oder ob die psychische Erkrankung erbt
durch die allgemeinen Stoffwechselstörungen bedingt wird, die
dem Krebssiechtum eigentümlich sind. Sehr innig ^ dürften je-
doch die Beziehungen zwischen dem körperlichen Leiden und der
Hirnrindenerkrankung nicht sein, da die überwiegende Mehrzahl
der Krebskranken keine ausgeprägten psychischen Störungen er-
kennen lässt. Die Krankheitsbilder zeigen in der Regel die Form
ängstlich deliranter Zustände mit Sinnestäuschungen, Verworren-
heit und lebhafter Unruhe; im weiteren Verlaufe treten immer
mehr die Benommenheit und Schwäche in den Vordergrund.
Eisholz*) legt Wert auf den Wechsel zwischen deliranter "Ver-
wirrtheit und zeitweise fast völliger Klarheit.
*) E 1 s h o 1 z , Jahrb. f. Psycli., XVII, 144.
Stoffwechselkrankheiten.
51
Endlich scheinen auch krankhafte Zersetzungen des Darm-
inhaltes die Quelle von Allgemeininfektionen mit geistigen Stö-
rungen bilden zu können. So hat Wagner Fälle von Irresein
beschrieben, in denen er bei Darmstörungen Aceton und eine
Reihe weiterer krankhafter Bestandteile im Harn, auch vermehrte
Indicanausscheidung auffand. Auch von S ö 1 d e r *) sind als Ur-
sache einiger von ihm beobachteten psychischen Erkrankungen
Kotstauungen mit Zersetzung des Darminhaltes und Aufsaugung
von Giften ins Blut angenommen worden. Die klinischen Bilder
waren überall verwirrte Erregungszustände, die als Amentia oder
Delirium acutum bezeichnet werden. So wenig sich die Mög-
lichkeit bestreiten lässt, dass Rindenerkrankungen durch Auf-
saugung giftiger Zersetzungsstoffe vom Darm aus zu stände
kommen können, so schwierig erscheint es es doch, im einzelnen
Falle einen derartigen Zusammenhang nachzuweisen und gar
darauf ein Behandlungsverfahren zu gründen, da in den Krank-
heitszeichen selbst Anhaltspunkte dafür bisher wenigstens durch-
aus nicht zu erkennen sind.
Sehr eingehend sind in den letzten Jahren die Beziehungen
des Diabetes und der G 1 y k o s u r i e **) zu den Geistesstö-
rungen untersucht worden. Ausgeprägter Diabetes ist im ganzen
bei Geisteskranken nicht sehr häufig; man hat ihn namentlich bei
Paralyse, dann auch beim Alkoholismus und bei der Melancholie
beobachtet. Dagegen scheinen sich leichtere Veränderungen des
Seelenlebens doch vielfach bei Diabetes zu entwickeln, Abnahme
des Gedächtnisses und der geistigen Leistungsfähigkeit, Reizbar-
keit, Verstimmung, Vielgeschäftigkeit oder Schlafsucht und
Stumpfheit. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der Dia-
betes sich gern im höheren Lebensalter entwickelt und dann oft
mit Gefässerkrankungen verknüpft ist, deren Anteil an dem
klinischen Bilde sich kaum abgrenzen lässt. Laudenheimer
hat indessen auch eine diabetische „Pseudoparalyse“ beschrieben,
ein Krankheitsbild, das durch die Verbindung einer ausgeprägten
*) S ö 1 d e r , Jahrb. f. Psych. XVII, 147.
**) Bond, Journal of mental Science, 1896, Januar, April; Lauden-
heimer, Archiv f. Psych., XXIX, 2; Berl. klin. Wochenschr. 1898, 21; Rai-
mann, Zeitschr. f. Heilkunde, XXIII, 2, 1902.
52
I. Die Ursachen des Irreseins.
geistigen Schwäche mit einzelnen nervösen Storungen, Stocken der
Sprache, Hemiparesen, epileptoide Anfälle, Steigerung der Sehnen-
reflexe gekennzeichnet ist. Alle diese Störungen sollen der Lesse-
rung durch antidiabetische Kuren zugänglich sein. Im Hinblicke
auf das diabetische Koma ist die Möglichkeit schwerer Hirnstö-
rungen bei Diabetes nicht wohl zu bezweifeln, doch wird es noch
weiterer Erfahrungen, namentlich auch anatomischer Befunde be-
dürfen, nm die klinische Deutung derartiger Fälle sicher zu
stellen. , .. ,. . , .
Glykosurie ist bei Geisteskranken sicher häufiger, als bei
Gesunden, namentlich unmittelbar nach dem _ Delirium tremens
und bei lebhaften Angstzuständen; ich sah sie kürzlich m zwei
Fällen, die ich als syphilitische Gefässerkrankungen auffassen
möchte. Dementsprechend fand Raimann die Fähigkeit ein-
geführten Zucker zu verbrennen, herabgesetzt in der Melancholie,
beim Altersschwachsinn, bei der Paralyse, beim Schwinden des
Delirium tremens und bei der ätiologisch unklaren Gruppe der
Amentia, Es hat demnach den Anschein, dass die alimentäre
Glykosurie bei denjenigen Formen des Irreseins besonders leie t
zu stände kommt, bei denen wir Anlass haben, an Stoffwechsel-
störungen zu denken.
Eine erhebliche Rolle ist, namentlich von französischen und eng-
lischen Forschern, vielfach der Gicht*) zugeschrieben worden.
Anhäufung von Harnsäure im Blute soll einerseits Neurasthenie
erzeugen können, auf der anderen Seite wieder eine wesentliche
Ursache von Angstzuständen sein. Lange hat auch periodische
Depressionszustände mit Schwankungen der Harnsäureausscheidung
in ursächliche Verbindung gebracht. Nach der Schilderung hat
es sich um Anfälle gehandelt, die dem manisch-depressiven Irre-
sein angehören dürften. Ob wir es hier überall mit ursächlichen
Beziehungen oder mit einfachen Begleiterscheinungen zu . tun
haben, muss weiterer Prüfung überlassen bleiben; für die manisch-
depressiven Formen ist mir die erstere Annahme aus iie en
Gründen äusserst unwahrscheinlich. . .
Auf einem etwas sichereren Boden bewegen wir uns bei
der Erörterung des Zusammenhanges zwischen Geistesstörungen
*) Kowalewsky, Centralbl. f. Nervenheilk. 1901, 693.
Stoffwechselkrankheiten.
53
und Schilddrüsen erkrankungen, da uns hier zur Klärung der
Tierversuch wertvolle Aufschlüsse geliefert hat. Wir wissen
sicher, dass Ausfall der Schilddrüsentätigkeit die schwersten
Folgen für das Seelenleben nach sich zieht. Bei jugendlichen Per-
sonen bewirkt die Vernichtung oder krankhafte Umwandlung jener
Drüse die kretinistische Entartung des gesamten Körpers, wie
wir sie auch künstlich bei Tieren erzeugen können. Dagegen stellt
sich beim Erwachsenen nach Entfernung der ganzen Schilddrüse
das Bild der Kachexia strumipriva ein, dessen wesentliche Züge
in einem allmählich fortschreitenden Schwachsinn mit myxödema-
tösen Veränderungen der Haut und gewissen nervösen Reiz-
erscheinungen (Krampfanfälle, Tetanie) bestehen. Nahe Ver-
wandtschaft zu diesem Krankheitsbilde zeigt dasjenige des spon-
tanen Myxödems, wie es durch Schrumpfung oder krankhafte
Zerstörung der ganzen Schilddrüse zu stände kommt. Hier ge-
sellen sich zu dem leichteren oder schwereren Schwachsinn öfters
die Erscheinungen einer psychischen Depression, selbst lebhafte
Angstzustände hinzu. Als die gemeinsame Grundlage aller dieser
Störungen ist wohl die Anhäufung von Stoffen im Blute anzu-
sehen, die sonst durch die Schilddrüsentätigkeit zerstört werden.
Umgekehrt dürfen wir vielleicht annehmen, dass die beim
Morbus Basedowii*) beobachteten Störungen durch krank-
hafte Vermehrung und wohl auch Veränderung der Schilddrüsen-
ausscheidungen hervorgerufen werden; zum Teil wenigstens decken
sie sich mit denjenigen, die wir nach Einführung von Schilddrüsen-
bestandteilen in den Körper des gesunden und kranken Menschen
auftreten sehen. Die psychischen Erscheinungen sind diejenigen
einer Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit, erhöhte
gemütliche Reizbarkeit, heitere oder ängstliche Verstimmung,
Stimmungswechsel, flüchtige Wahnbildungen, Eifersuchtsideen,
Selbstanklagen, Unruhe, grosse Ermüdbarkeit, Schlaflosigkeit.
Einzelne Zeichen der Basedowschen Krankheit, Zittern,
Struma, Exophthalmus, Pulsbeschleunigung, scheinen sich häu-
figer während der Entwicklung der Dementia praecox ein-
*) Buschan, Die Basedowsche Krankheit. 1894; Möbius, Die
Basedowsche Krankheit. 1896, 32 ff.; Mau de, Journal of mental Science,
1896, Januar; Homburger, Über die Beziehungen des Morbus Basedowii
zu Psychosen und Psychoneurosen. Diss. Strassburg, 1899.
54
I. Die Ursachen des Irreseins.
zustellen, wenn mich nicht die allgemeine Neigung zu Schild-
drüsenerkrankungen in unserer Gegend täuscht.
Diese Tatsachen, die uns die Wichtigkeit eines unschein-
baren Organs für den Stoffwechsel auf das deutlichste dar-
tun, machen es wahrscheinlich, dass wohl auch noch von
anderen Seiten unter Umstanden ähnliche Selbst\ergiftungen
ausgehen können. So hat bereits V a s s a 1 e gezeigt, dass
Zerstörung der Hypophysis den Tod zur Folge hat,
während beim Menschen Hypophysisgeschwülste bekanntlich
häufig mit Akromegalie einhergehen. Auch psychische Störungen
können sich hinzugesellen, Gedächtnisschwäche, Arbeitsunfähig-
keit, gemütliche Stumpfheit bis zur völligen Versunkenheit, zeit-
weise auch Erregung. Es muss jedoch dahingestellt bleiben,
wie weit hier Wirkungen der Geschwulst als solcher oder die
Zerstörung des Hirnanhanges in Frage kommen.
Es ist zur Zeit nicht abzusehen, welche Aufschlüsse uns
die Verfolgung der hier sich darbietenden Fragen liefern wird.
Mir scheint jedoch schon heute namentlich die grosse Gruppe
der Verblödungsprozesse so manche Eigentümlichkeiten darzu-
bieten, welche die Annahme einer zu Grunde liegenden Selbst-
vergiftung begründen könnten. Ferner ist für gewisse Formen
der Epilepsie vielfach die Vermutung eines Zusammenhanges
mit der allmählichen Ansammlung und plötzlichen Ausscheidung
von Stoffwechselresten ausgesprochen worden. Auch die Geistes-
störungen des Rückbildungsalters dürften von Umwälzungen im
Stoffwechsel und deren Folgen begleitet sein.
Vergiftungen. Von den Giften, die überhaupt unsere Hirnrinde
beeinflussen, besitzt zum mindesten ein grosser Teil die Eigen-
schaft, ganz bestimmte seelische Leistungen in eigenartiger V eise
zu schädigen. Bei rasch tödtlich wirkenden Vergiftungen freilich
verwischen sich diese Unterschiede; die ausgebreitete V ernich-
tung des Hirnrindengewebes hebt sofort das Bewusstsein völlig
auf. Tritt aber die Wirkung langsamer und weniger überwältigend
auf, so entwickeln sich schnell einsetzende und ablaufende psj -
chische Störungen, deren Gestaltung vielfach sofort einen Rück-
schluss auf die giftige Ursache derselben gestattet, namentlich,
wenn wir die körperlichen Begleiterscheinungen mit beachten.
Da die meisten akuten Vergiftungen der Hirnrinde mit einer
Vergiftungen.
55
gewissen Bewusstseinstrübung verbunden sind, tragen die ent-
sprechenden Geistesstörungen die Züge eines Rausches, oder, wenn
sie auch mit Sinnestäuschungen verknüpft sind, eines Deliriums.
Allerdings ist bei der Seltenheit der meisten derartigen Vergif-
tungen unsere Kenntnis von den besonderen psychischen Wir-
kungen der einzelnen Gifte noch eine ungemein dürftige. Alles
aber, was wir bisher durch den Versuch über diese Frage wissen,
spricht mit grosser Entschiedenheit für die Eigenart jener Wir-
kungen. Genauere Untersuchungen liegen bisher vor über Alko-
hol, Coffein, Trional und Brom, vorläufige über Morphium, Paral-
dehyd, Chloralhydrat, Äther, Amylnitrit, Choroform, Cocain und
Tabak, aber schon diese Erfahrungen haben gezeigt, dass die
psychische Wirkung keines dieser Gifte derjenigen irgend eines
anderen völlig gleicht, so sehr sich auch die chemische Verwandt-
schaft auf diesem Gebiete geltend macht. Diese Tatsache ent-
spricht durchaus dem Befunde Nissls, dass die Zellverände-
rungen bei nicht allzu rascher Vergiftung je nach der Art des
eingeführten Giftes ein ganz bestimmtes Gepräge zeigten.
Durch länger fortgesetzte Vergiftung, wie sie bei den giftigen
Genussmitteln und manchen Gewerbegiften vorkommt, entwickeln
sich dauernde psychische Schwächezustände, oft mit bestimmten
nervösen Begleiterscheinungen, die ihnen dann die Bezeichnung
„Pseudoparalyse“ einzutragen pflegen. Auch diese Zustände dürf-
ten je nach der Art des Giftes verschieden sein, wenn wir auch
über ihre kennzeichnenden Züge noch ausserordentlich wenig
wissen. Im ganzen sind diese Krankheitsbilder, wenn sich nicht
die Zeichen immer wieder kehrender akuter Vergiftungen hinzu-
gesellen, wrenig ausgeprägt, da lie Ausfallserscheinungen in ihnen
überwiegen. Es ist auch bisher nicht gelungen, bei chronischen
Vergiftungen den einzelnen Giften eigentümliche Zellverände-
rungen aufzufinden. Solche Gifte, die ausser der Hirnrinde auch
andere Werkstätten des Körpers schädigen, können unter Um-
ständen mittelbare Geistesstörungen hervorrufen, die mit der
ursprünglichen Giftwirkung gar keine Beziehung mehr haben,
wie urämische oder ikterische Delirien. Eine derartige Entstehung
ist z. B. für- das Delirium der Trinker wahrscheinlich, welches
ganz andere Züge trägt, als der Rausch.
Eine erste kleine Gruppe von Vergiftungen, die wir hier zu
56
I. Die Ursachen des Irreseins.
betrachten haben, steht in nächster Beziehung zur Volksernäh-
rung. Dahin gehört vor allem die hauptsächlich in Oberitalien,
Südfrankreich, Nordspanien und Rumänien vorkommende Pel-
lagra*). Offenbar handelt es sich bei dem Leiden, das mit sehr
starken Verdauungsstörungen, Schwund der Darmschleimhaut,
Abmagerung und Hautausschlägen einhergeht, um eine chronische
Vergiftung, die zumeist auf den Genuss von verdorbenem Mais
zurückgeführt wird; Hilfsursachen sollen Armut und Elend aller
Art bilden. Wahrscheinlich haben wir es mit einem organisierten
Gifterzeuger zu tun, da Übertragung von Person zu Person,
übrigens auch Einfluss der Erblichkeit, beobachtet wurde, und
da häufig mildere Rückfälle des Leidens eintreten, wenn alle
genannten Schädlichkeiten längst weggefallen sind. Von einigen
Forschern wird angegeben, dass die Krankheit durchaus nicht
an den Maisgenuss gebunden sei und sich langsam ausbreite. Die
psychischen Störungen zeigen das Bild erhöhter gemütlicher Reiz-
barkeit, ferner Depression bis zum Stupor mit starker Selbstmord-
neigung und Ausgang in Verblödung, endlich Verwirrtheit mit
Erregung, die sich im sog. Typhus pellagrosus zu lebensgefähr-
lichen Graden steigern kann. Ob alle diese Formen eine klinische
Einheit bilden und allein auf die Giftwirkungen zurückzuführen
sind, ist zur Zeit noch zweifelhaft. Im Rückenmark findet man
Hinterseitenstrangsklerose, auch zerstreute Herde; der klinische
Ausdruck dieser Veränderungen sind gesteigerte Kniereflexe,
Lähmung und Schwäche der Beine, spastischer oder spastisch-
paretischer Gang.
Durch eine Vermengung des Brotgetreides mit Mutterkorn,
entsteht, bei uns glücklicherweise recht selten, der Ergotis-
mus, der öfters von psychischen Störungen**) begleitet ist.
Bisweilen hat man es dabei anscheinend mit Vergiftungsdelirien
zu tun; in der Mehrzahl der Fälle dagegen entwickeln sich länger
*) Lombroso, La pellagra. 1892, deutsch v. Kurella, 1898; Bel-
mondo, Rivista sperim. di freniatria, XV, XVI; Tuczek, Klinische und
anatomische Studien über die Pellagra. 1893; Finzi, Bollettino del manicomio
provinciale di Ferrara, XXIX, 1901 ; v. Zlatarovic, Jahrb. f. Psych.
XIX, 283.
**) Siemens, Archiv für Psychiatrie, XI, 1 u. 2; Tuczek, ebenda,
XIII, 1; XVIII, 2; Jahrmärker, ebenda, XXXV, 109.
Vergiftungen.
57
dauernde Krankheitszustände, die aber bei geeigneter Behand-
lung wieder verschwinden können, selbst nach längerer Zeit. Die
psychischen Anzeichen sind im allgemeinen Herabsetzung der
Verstandesleistungen, mehr oder weniger ausgesprochene Be-
wusstseinstrübung bis zur Betäubung, Verlangsamung des Den-
kens, Gedächtnisschwäche, Verwirrtheit, daneben häufige Angst-
zustände und tiefes Krankheitsgefühl. Bisweilen treten arti-
culatorische Sprachstörungen ein; die Patellarreflexe schwinden,
um bei günstigem Verlaufe wiederzukehren. Ferner kommt es
regelmässig zu epileptischen Krämpfen, unter Umständen zu
einer fortschreitenden epileptischen Erkrankung. Durch die
Leichenöffnung ist in mehreren Fällen eine Hinterstrangsklerose
des Rückenmarks festgestellt worden.
Die bei weitem grösste Rolle bei der Erzeugung von Vergif-
tungspsychosen spielen die Genussmittel, von denen für uns der
Alkohol*) eine ganz hervorragende Bedeutung besitzt. Die An-
gaben über die Häufigkeit, mit welcher der Missbrauch dieses
Genussmittels zur Aufnahme in die Irrenanstalt führt, schwanken,
je nach dem Volksstamm und den besonderen Verhältnissen,
zwischen 10—30, ja bis 40 Prozent aller psychisch Erkrankten.
Das männliche Geschlecht ist an der Trunksucht mindestens lOmal
so stark beteiligt, als das weibliche; nur in den niederen Gesell-
schaftsschichten ist dieses Verhältnis für die Weiber ungünstiger.
Die germanische Rasse scheint, worauf schon die Schilde-
rungen des Tacitus hinweisen, in ganz besonderem Masse zum
Missbrauche des Alkohols geneigt zu sein. Zu einer rasch an-
wachsenden Gefahr, ja zu einer Lebensfrage ist der Alkoholmiss-
brauch geworden, seitdem die fortschreitende Technik immer
grössere Mengen billigen und konzentrierten Alkohols erzeugt,
so dass heute der Schnapsrausch auch dem Ärmsten leicht er-
reichbar ist. Unter diesen Umständen hat der Alkoholverbrauch im
Laufe der letzten Jahrzehnte fast überall zugenommen. Nur die
skandinavischen Länder, welche vor etwa fünfzig Jahren infolge
der ungeheuren Ausbreitung des Alkoholismus am Rande des Ab-
*) Baer, Der Alkoholismus. 1878; Die Trunksucht und ihre Abwehr.
1890; Smith, Die Alkoholfrage. 1895; Grotjahn, Der Alkoholismus.
1898; Hoppe, Die Tatsachen über den Alkohol, 2. Aufl. 1901; Matti
II e 1 e n i u s , Die Alkoholfrage. 1903.
58
I. Die Ursachen des Irreseins.
grundes standen, haben es vermocht, durch geeignete Massregeln
den furchtbaren Feind wirksam zu bekämpfen, so dass sie heute
in der Trunksuchtsstatistik mit die günstigste Stelle einnehmen.
In den meisten übrigen Ländern und namentlich in Deutschland
lässt sich leider ein rasches Anwachsen des Alkoholismus nicht
verkennen. Eine besonders verderbliche Rolle scheinen in dieser
Richtung die grossen Städte mit ihrer zahlreichen Fabrikbevölke-
rung und ihrem Reichtum an Kneipen aller Art zu spielen, der
das ohnedies rasch steigende „Bedürfnis“ womöglich noch zu
überflügeln sucht. So kommt es denn, dass in Preussen 188 < für
Schnaps allein nicht weniger als 221 Millionen Mark, für geistige
Getränke überhaupt aber 867 Millionen Mark ausgegeben v. urden,
während die gesamten direkten Staatssteuern 150 Millionen Mark,
also nur Vs bis Ve dieser Summe betrugen! Der Bierverbrauch
ist im Deutschen Reiche zwischen 1872 und 1900 von 81,4 auf
125,0 Liter für den Kopf der Bevölkerung angewachsen. Es gib:
nicht wenige Arbeiter in unserem Vaterlande, welche l'i bis 20
Prozent ihres täglichen Arbeitsverdienstes für Alkohol ver-
brauchen. Ich kannte einen Sackträger, der jährlich etwa vier-
hundert Mark für Alkohol ausgab. Als ein ganz besonders schlim-
mes Zeichen muss es angesehen werden, dass in letzter Zeit
auch die Beteiligung des weiblichen Geschlechtes an der Trunk-
sucht erheblich zuzunehmen scheint.
Die bei weitem verderblichste Form alkoholischen Getränkes
ist der Schnaps, besonders der Kartoffelbranntwein, welcher
häufig ausser dem Äthylalkohol auch die noch giftigeren höheren
Alkohole, namentlich den Amylalkohol, enthält, und der in Süa-
frankreich und Oberitalien verbreitete Absinth (ätherisches Öl
der Artemisia Absynthium). Im biertrinkenden Süddeutschland
und selbst in den Weinländern spielen daher die schweren Formen
des Alkoholismus auch nicht im entferntesten die Rolle, wie etwa
im Nordosten, wo der Kartoffelfusel das wichtigste alkoholische
Genussmittel des Arbeiters bildet. Freilich wird dei ge-
ringere Giftgehalt der schwächeren Getränke zumeist durch die
grösseren Verbrauchsmengen wieder ausgeglichen. Dennoch
scheint die besondere Wirkung des Alkohols mit der Konzen-
tration des Getränkes abzunehmen. Dafür macht sich aber bei
dem in ungeheueren Mengen genossenen Bier noch eine andere
Vergiftungen.
59
Schädlichkeit geltend, die Wirkung der übermässigen Zufuhr
kalter Flüssigkeit auf Magen, Nieren, Kreislaufsorgane und Stoff-
wechsel.
Die ursächliche Bedeutung des Alkohols für die Erzeugung
von Geistesstörungen beruht vor allem auf der durch ihn herbei-
geführten Vergiftung der Hirnrinde. Tierversuche haben gezeigt,
dass wiederholte Alkoholgaben, die einzeln noch nicht als töd-
liche anzusehen sind, ausgebreitete und tiefgreifende Zerstö-
rungen an den Nervenzellen der Hirnrinde herbeizuführen ver-
mögen. Dieser Befund steht in Übereinstimmung mit psycho-
logischen Versuchen, die von Für er*) und Rüdin**) ange-
stellt worden sind. Bei denselben ergab sich nämlich, dass sich
die Nachwirkung eines mässigen Rausches in dem psychischen
Verhalten der Versuchsperson 12—24, unter Umständen sogar
48 Stunden lang deutlich nachweisen Hess. Sie bestand, ganz
wie die akute Alkoholwirkung, in einer Herabsetzung der
geistigen Leistungsfähigkeit, einer gesteigerten motorischen
Erregbarkeit und der Neigung zu gewohnheitsmässigen und Klang-
associationen.
Bei dauerndem Gebrauche des Alkohols müssen sich die Wir-
kungen der einzelnen Gaben naturgemäss allmählich häufen. In
der Tat kann es keinem Zweifel unterliegen, dass sich im Gehirne
des Trinkers schliesslich Veränderungen herausbilden, welche den
einzelnen Rausch weit überdauern. Bei einem Trinker konnte
ich eine starke Herabsetzung der Auffassungsfähigkeit, wahr-
scheinlich verbunden mit erhöhter psychomotorischer Erregbar-
keit, vierzehn Tage nach dem Beginne vollständiger Enthaltsam-
keit nachweisen. Wie schnell solche Veränderungen zu stände
kommen, lässt sich von vornherein schwer sagen; sicherlich wird
hier die persönliche Widerstandsfähigkeit eine erhebliche Rolle
spielen. Immerhin hat Smith***) den Nachweis geführt, dass
eine tägliche Alkoholmenge, die etwa zwei Litern Bier entsprach,
bereits vom zweiten Tage an eine dauernde Herabsetzung der
*) Für er, Bericht über den V. int er na t. Kongress zur Bekämpfung
des Missbrauchs geistiger Getränke in Basel, 1896, 355.
**) R ü d i n , Psychologische Arbeiten, IV, 1 u. 495.
***) Smith, Bericht über den V. internat. Kongress zur Bekämpfung
des Missbrauchs geistiger Getränke in Basel, 1896, 341.
60
I. Die Ursachen des Irreseins.
geistigen Leistungsfähigkeit bewirkte. Sobald nach zwölf Tagen
der Alkoholgenuss ausgesetzt wurde, verlor sich diese Schädigung
freilich sofort; allein, als sieben Tage später von neuem Alkohol
genommen wurde, trat nunmehr die Wirkung des Giftes bereits
am ersten Tage mit voller Deutlichkeit wieder hervor. Ganz
ähnliche Yersuchsergebnisse erhielt Kürz*). Diese nunmehr
bei vier Personen übereinstimmend gewonnenen Erfahrungen
sprechen dafür, dass eine dauernde Nachwirkung des regel-
mässigen Alkoholgenusses schon nach verhältnismässig sehr
kurzer Zeit sich einstellen kann. Freilich mag dieselbe lange
äusserst geringfügig bleiben — dennoch dürften die mitgeteilten
Versuche geeignet sein, uns einen Einblick in die ersten leisen
Anfänge des chronischen Alkoholismus zu gewähren.
Sie geben uns zugleich, wie ich denke, einen Anhaltspunkt für
die Beantwortung der wichtigen Frage: Wer ist als Trinker zu
betrachten? Da die dauernden Wirkungen des Alkohols sich bei
regelmässigem Gebrauche desselben sehr rasch einstellen, wenn
die Zwischenzeit zwischen zwei mittleren Gaben weniger als ein
bis zwei Tage beträgt, so kommen wir zu dem Schlüsse, dass sich
wahrscheinlich bei der Mehrzahl derjenigen Personen, welche
täglich 80—100 gr Alkohol zu sich zu nehmen, Andeutungen
psychischer Veränderungen werden nachweisen lassen. Dafür
spricht auch die Erfahrung, dass vielfach das Aufgeben eines
mässigen täglichen Alkoholgenusses bereits eine deutlich merk-
bare Besserung der gesamten Leistungsfähigkeit und des All-
gemeinbefindens zur Folge hat. Über die Rolle, welche der Ge-
wöhnung bei regelmässigem Alkoholgenusse zukommt, ist noch
wenig Sicheres bekannt. Es scheint nicht, als ob die Dauer
der Enthaltsamkeit bei vorher mässigen Personen einen wesent-
lichen Einfluss auf die Empfindlichkeit gegen den Alkohol hat.
Dagegen steht die Abnahme der akuten Alkoholwirkungen bei
regelmässigem Trinken wohl ausser Zweifel; andererseits nimmt
bei alten Säufern die Empfindlichkeit gegen das Gift wieder zu.
Im Hinblicke auf die bei anderen Giften noch viel ausgeprägteren
Gewöhnungserscheinungen werden wir wohl annehmen dürfen,
dass es sich dabei um dauernde Nachwirkungen des Alkohols in
*) Kürz und K r a e p e 1 i n , Psychologische Arbeiten, III, 417.
Vergiftungen.
61
unserem Nervengewebe handelt, die nicht, wie die Folgen der
Übung, eine Kräftigung bedeuten, sondern, wie die Unempfind-
lichkeit gegen Morphium, als krankhafte Veränderungen auf-
gefasst werden müssen.
Bei schwererem und lange dauerndem Alkoholmissbrauche
stellen sich regelmässig ausser den Wirkungen auf Gehirn und
Seelenleben auch mehr oder weniger ausgebreitete Veränderungen
in den verschiedensten Organen des Körpers ein; namentlich die
Blutgefässe werden verhältnismässig früh in Mitleidenschaft ge-
zogen. Es kommt auf diese Weise schliesslich zu einem schweren
Siechtum, welches nur sehr langsam und nur bis zu einem gewissen
Grade der Rückbildung noch fähig ist. Ganz besonders folgen-
schwer wird diese Allgemeinerkrankung durch den Umstand, dass
sie anscheinend einen äusserst verderblichen Einfluss auf die
Nachkommenschaft auszuüben imstande ist. D e m m e *)
hat zur näheren Beleuchtung dieser Frage im Laufe von zwölf
Jahren die Kinder in zwei Gruppen von je zehn Familien unter-
sucht. In den ersten dieser Gruppen waren die Eltern Trinker,
in der anderen nüchterne Leute. Auf die Trinkergruppe entfielen
insgesamt 57 Kinder; von denselben waren nur 10, also 17,5 Pro-
zent, völlig normal. Die übrigen litten an verschiedenartigen, auf
eine Entartung hinweisenden Leiden, Missbildungen, Zwergwuchs,
Veitstanz, Epilepsie, Idiotie; 25 Kinder starben in den ersten
Lebensmonaten. Aus den nüchternen Familien gingen 61 Kinder
hervor. Von diesen starben nur 5; 4 Kinder litten später an
Krankheiten des Nervensystems, 2 an Bildungsfehlern. Der Rest
von 50 Kindern dagegen, mithin 81,9 Prozent, war und blieb
völlig gesund. Diese Erfahrungen zeigen auf das schlagendste,
dass die chronische Alkoholvergiftung nicht nur den Einzelnen
vernichtet, sondern auch dem kommenden Geschlechte schon im
Keime den Stempel der Entartung aufdrückt.
Eine weitere Erläuterung dieses Satzes gibt uns die Tatsache,
dass 30 — 40 Prozent der Trinker von trunksüchtigen Eltern ab-
stammen. Ferner lässt sich nachweisen, dass 20 — 30 Prozent
der Epileptiker und Idioten und ein noch grösserer Anteil der
Verbrecher, Zwangszöglinge und Strassendirnen trunksüchtige
*) Über den Einfluss des Alkohols auf den Organismus der Kinder. 1891.
62
I. Die Ursachen des Irreseins.
Erzeuger hatten. Auch die Fähigkeit zum Stillen soll nach
Bunges Untersuchungen in Trinkerfamilien erlöschen. Durch
alle diese Erfahrungen gewinnt die alte Behauptung, dass im
Bausch erzeugte Kinder entarten, neue Stützen, ja, es ist schon
darauf hingewiesen worden, dass die bekannte körperliche und
o-eistige Minderwertigkeit der unehelich Geborenen zum Teil viel-
leicht auf der häufigen Mitwirkung des Alkohols bei ihrer
Erzeugung beruhen könne.
In seiner verhängnisvollen Einwirkung auf den Einzelnen unu
sein ganzes Geschlecht wird der Alkohol zumeist noch unter-
stützt durch eine Anzahl ähnlicher Schädlichkeiten, die mit aem
Missbrauche jenes Genussmittels Hand in Hand zu gehen pflegen.
Der Schnaps ist vorzugsweise das Getränk des armen Mannes,
der von ihm Anregung und Erwärmung erwartet, ja dem er zum
Teil die Nahrung ersetzen soll; die tägliche Not des sozialen
Elendes, der Armut, ungenügende Ernährung, schlechte, hygie-
nische Verhältnisse u. s. f. ebnen seinem Einflüsse hier den
Weg. So kommt es, dass der anfangs nur aus bestimmtem An-
lasse, nach starker Anstrengung, am Lohntage oder in veriuhre-
rischer Gesellschaft genossene Schnaps allmählich zum Lebens-
bedürfnisse wird, und der Gewohnheitstrinker nun regelmassig,
Tag für Tag, bei und nach der Arbeit wie an den Sonntagen, zu
Hause wie in der Kneipe zum Alkohol greift. Umgekehrt aber ist
es gerade der Alkohol, der durch seine vernichtenden V irkungen
auf das körperliche, geistige und soziale Wohlergehen des Trinkers
mit Notwendigkeit den wirtschaftlichen Zusammenbruch herbei-
führt und auf diese Weise einen Kreislauf herstellt, aus dem es
kein Entrinnen mehr gibt. Die Gefahr, auf diese schiefe Ebene
zu geraten, ist wegen der anheiternden Wirkungen des Alkohols
und wegen der überall bereiten, zur Volksunsitte gewordenen
Verführung weit grösser, als gemeinhin angenommen wird. Leider
können wir unserer Gesetzgebung den schweren Vorwurf nicht
ersparen, nahezu untätig dem Anwachsen der Trunksucht gegen-
überzustehen, ja dasselbe durch liebevolle Begünstigung der ver-
schiedenen Alkoholgewerbe geradezu zu fördern. Sie folgt damit
allerdings nur dem Beispiele der „öffentlichen Meinung“, welche
in Deutschland das Recht auf den Trunk unter allen Umstanden
gesichert wissen will. Selbst in den Kreisen dei Arzte, die aus
Vergiftungen.
63
vielfältiger trauriger Erfahrung die zerstörende Wirkung des
Alkohols genugsam kennen sollten, wird dieser schlimmste Feind
unseres Volkes in unbegreiflicher Gedankenlosigkeit noch viel-
fach als Stärkungsmittel für Schwache und gar für Kinder
angepriesen.
Es mag immerhin zugegeben werden, dass die nachteiligen
Folgen eines mässigen Alkoholgenusses und selbst eines gelegent-
lichen Übermasses von kräftigen Naturen ohne schwere Schädi-
gung ertragen werden. Allein die Zahl derjenigen, welche infolge
ihrer schwächeren Veranlagung oder ungünstiger Verhältnisse
tagtäglich durch den Alkohol um Gesundheit und Lebensglück
gebracht werden, ist wahrlich übergross ! Die Mitschuld fällt auf
uns alle. Niemand wird leugnen wollen, dass in den gebildeten
Kreisen kaum weniger als in den breiten Massen unseres Volkes
der Alkoholmissbrauch mit einer Nachsicht geduldet, ja mit einem
Wohlwollen gezüchtet wird, welches als eine der wichtigsten Ur-
sachen für die gewaltige, verderbenbringende Macht jener Volks-
seuche betrachtet werden muss. Alljährlich zahlen wir nicht
nur an Landstreichern und Tagedieben oder ähnlich wertlosem
Menschenmateriale, sondern auch an tüchtigen, ja hochbegabten
Naturen dem Gifte einen reichen Tribut. Freilich sind es vor-
zugsweise haltlose und schwache Persönlichkeiten, die dem Ein-
flüsse des Alkohols unterliegen, aber wir dürfen dabei nicht ver-
gessen, dass dieses Gift gerade selbst den Willen und die Wider-
standskraft des Menschen vernichtet und sich auf diese Weise
die günstigen Bedingungen schafft, welche ihm den endlichen
Sieg ermöglichen.
Die psychischen Störungen, welche der Alkoholmissbrauch
erzeugt, sind ausser dem Rausche und dem alkoholischen
Schwachsinn vor allem das Delirium tremens, ferner die Alko-
holwahnsinn, der Verfolgungswahn der Trinker und gewisse
Formen der Korssakowschen Geistesstörung. Ausserdem
pflegt der Alkohol bei frischen Aufregungszuständen verschie-
denster Art, besonders bei manischen und paralytischen Kranken,
eine rasche und sehr erhebliche A'erschlimmerung aller Erschei-
nungen herbeizuführen; bei epileptischer Veranlagung können
unter Umständen selbst mässige Alkoholmengen die schwersten
psychischen Störungen auslösen. Zu beachten ist indessen, dass
64
I. Die Ursachen des Irreseins.
häufig die Neigung zum Alkoholmissbrauche nicht sowohl die
Ursache, sondern vielmehr ein Zeichen des ausgebrochenen Irre-
seins darstellt.
Dem Alkohol stehen chemisch sehr nahe der Äther*) und
das Paraldehyd **). Der erstere ist schon seit längerer Zeit
in Irland und neuerdings auch in Ostpreussen in grösserem
Massstabe als billiges Ersatzmittel für den Alkohol in Gebrauch,
meist mit Branntwein gemischt; hie und da wird er auch ein-
geatmet. Wie S o m m e r mitteilt, wurden im Kreise Memel schon
im Jahre 1897 nicht weniger als 8580 Liter Äther zu Trink-
zwecken verkauft. Der Äther berauscht stärker, als der Alko-
hol; er scheint gerade wie jener ein dauerndes Siechtum mit
Erkrankung der Nieren, der Leber und Verfettung des Herzens
herbeizuführen. Auch das Petroleum und das Benzin sind
bisweilen als Genussmittel zur Erzeugung von Rauschzuständen
benutzt worden, seltener das Chloroform.
Die Wirkung des Paraldehyd auf das Seelenleben ist der-
jenigen des Alkohols sehr ähnlich. Nur erreicht die lähmende
Wirkung auf Auffassung und Denken viel rascher sehr hohe
Grade, während die psychomotorische Erregung, die beim Alkohol
so stark ausgeprägt ist, verhältnismässig geringfügig bleibt. Aus
diesen Gründen findet das Paraldehyd im allgemeinen nur als
Schlafmittel, nicht als Genussmittel Anwendung. Es sind je-
doch Fälle bekannt geworden, in denen eine allmählich ein-
tretende Gewöhnung zur dauernden Anwendung sehr hoher Gaben,
bis zu 30 und 40 gr im Tage, und damit zu einem dem chro-
nischen Alkoholismus entsprechenden Siechtume geführt hat.
Die Erscheinungen waren Schwinden der Esslust, Sinken der
Ernährung, Abnahme des Gedächtnisses und der geistigen Lei-
stungsfähigkeit, Zittern. Einige Male wurden . Zustände be-
obachtet, die genau dem Delirium der Trinker glichen.
Eine chronische Vergiftung, die zwar weniger verbreitet ist,
als der Alkoholismus, aber dafür noch immer erschreckend zu-
nimmt, haben uns die letzten Jahrzehnte in der Morphium-
sucht kennen gelehrt, wie sie sich bei lange fortgesetztem
*) Sommer, Neurol. Centralblatt, XVIII, 194. 1899.
**) Rein hold, Therap. Monatshefte, 1897, Juni.
Vergiftungen.
65
Gebrauche von Morphiumeinspritzungen entwickelt. Auch beim
Morphium begegnen wir im allgemeinen einer Verbindung von
lähmenden und erregenden Wirkungen des Giftes auf die
Hirnrinde; wie es indessen scheint, betreffen die ersteren mehr
die Willensantriebe, die letzteren mehr die Auffassung und
die Verstandesleistungen. Da das anfängliche Wohlbehagen
schon nach einigen Stunden einer sehr quälenden Erschlaf-
fung und Niedergeschlagenheit weicht, die nur durch das Mittel
selbst wieder beseitigt werden kann, so bildet sich überall
dort, wo dem Kranken das Morphium zugänglich ist, ein be-
ständiger Wechsel zwischen scheinbarem Wohlbefinden unter dem
Einflüsse des Giftes und jenem unangenehmen Nachstadium des
morphinistischen Katzenjammers heraus. Dazu kommt, dass mit
der Zeit eine wachsende Gewöhnung an das Mittel eintritt, die
gebieterisch eine oft ins Unglaubliche gehende Erhöhung der
Gabe fordert. Auf diese Weise entsteht das Bild des chronischen
Morphinismus mit seinen schweren Folgen für die körperliche,
geistige und sittliche Leistungsfähigkeit, mit dessen Betrachtung
im einzelnen wir uns späterhin noch sehr eingehend zu beschäf-
tigen haben werden. Ihm entspricht offenbar in allen wesentlichen
Zügen dasjenige der Opiophagie, wie sie in Ostasien so weit ver-
breitet ist, doch scheint das Opium mehr, als das Morphium, die
Entstehung heiterer, farbenreicher Traumzustände zu begünstigen.
Zur Milderung der Entziehungserscheinungen bei der Mor-
phiumentwöhnung ist in neuerer Zeit das Co ca 'in vielfach in
Anwendung gezogen worden. Nur zu bald hat sich indessen heraus-
gestellt, dass dieses Mittel noch schlimmere Gefahren mit sich
führt, als das Morphium. Der psychische Verfall des Cocainisten
schreitet weit rascher fort, als derjenige des Morphinisten, ja
auch des Trinkers, und führt sehr bald zu hochgradigster Ab-
schwächung der gesamten psychischen Leistungs- und Wider-
standsfähigkeit mit den Erscheinungen psychomotorischer Er-
regung. Ausserdem aber entwickelt sich unter dem Einflüsse
jenes Giftes ein eigenartiges Krankheitsbild, der Cocainwahn-
sinn. In ihrem Heimatlande Peru ist die Coca ein beliebtes
Genussmittel; auch dort sind die schweren Folgen des regel-
mässigen Cocagebrauches für die leibliche und geistige Gesund-
heit hinlänglich bekannt.
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl.
5
66
I. Die Ursachen des Irreseins.
In grösster Ausdehnung wird ferner in Vorderasien und Nord-
afrika das Haschisch geraucht. Warnock*) berichtet, dass
in die Anstalt bei Kairo von 253 aufgenommenen Kranken 80,
darunter nur 5 Frauen, durch Haschisch vergiftet waren. Er
unterscheidet einmal die akuten, traumhaften Haschischdelirien,
dann länger dauernde ängstliche Erregungszustände und endlich
Verblödungszustände mit grosser Willensschwäche und erhöhter
gemütlicher Reizbarkeit. Ähnliche Erkrankungen scheint das
in Nordsibirien gewohnheitsgemäss genossene Gift des Fliegen-
schwammes zu erzeugen.
Von den Arzneimitteln geben vielleicht die Bromsalze
am häufigsten Anlass zu psychischen Störungen. Zu lange fort-
gesetzte Anwendung derselben bewirkt eine Abschwächung der
psychischen Leistungen bis zur völligen Stumpfheit mit gleich-
zeitigen nervösen Lähmungserscheinungen. Dazu gesellen sich
Verdauungsstörungen, bronchitische Erkrankungen und die be-
kannte Acne. Der hie und da beobachtete Missbrauch des S u 1 -
fonals führt zu bedeutender Verlangsamung der Auffassung
und des Denkens, Unbesinnlichkeit, Verworrenheit, Schläfrigkeit;
zugleich stellen sich Schwindel, Ataxie, Schwäche in den Beinen,
epileptiforme Anfälle, Parästhesien, ferner Übelkeit, Erbrechen
und Verdauungsstörungen ein. Nach Jodoform gebrauch**)
ist ängstliche, weinerliche Unruhe beobachtet worden, die sich
bis zu deliranter Verwirrtheit mit Sinnestäuschungen steigern
kann; ob bei den übrigen auf Jodoformwirkung zurückgeführten
Krankheitsbildern der ursächliche Zusammenhang sicher ist, er-
scheint mir zweifelhaft. Vereinzelte Fälle von Vergiftungsdelirien
liegen ferner vor bei Atropin, Chinin, Salicylsäure,
Leuchtgas, Schwefelwasserstoff, Stickstoffoxy-
dul u. s. f.
Grössere praktische Bedeutung haben gewisse Vergiftungen,
die als Gewerbekrankheiten auftreten. Dem Quecksilber,
wie es in Bergwerken, Spiegelfabriken, unter Umständen auch
bei antiluetischen Kuren, massenhaft aufgenommen wird,
schreibt man Geistesstörungen zu mit sehr erhöhter Reiz-
*) Warnock, Journal of mental Science, Januar 1903, 96.
**) Schlesinger, Allgem. Zeitschr. f. Psych. LIV, 6.
Vergiftungen.
67
barkeit, Schreckhaftigkeit, Verlegenheit, Verwirrtheit, Sinnes-
täuschungen, ängstlichen Träumen und Schlaflosigkeit. Auf
dieser Grundlage sollen dann weiterhin Aufregungszustände
verschiedener Art oder aber eine allmähliche Abnahme aller
psychischen Leistungen zur Entwicklung gelangen, Schwäche
des Gedächtnisses und Urteils, Gemütsstumpfheit und Willen-
losigkeit. Die besonders bei Malern, Giessern und Schriftsetzern
beobachtete „Encephalopathia saturnin a“*) erzeugt ein-
mal akut verlaufende Bleidelirien mit tiefer Bewusstseinstrübung
und Sinnestäuschungen, sodann aber ausgeprägte psychische
Schwächezustände mit Abnahme des Gedächtnisses, gemütlicher
Stumpfheit, Angstgefühlen, Verfolgungsideen, Selbstmordneigung
und Ausbrüchen von Gewalttätigkeit. Dazu gesellen sich Kopf-
schmerzen, epileptische Krämpfe, Muskelzuckungen, Zittern,
Sprachstörung, Radialislähmung und die sonstigen bekannten
Zeichen der chronischen Bleivergiftung. Die Nervenzellenverände-
rungen bei rascher Einfuhr von Blei hat N i s s 1 näher verfolgt.
Die Vergiftung mit Phosphor scheint nach meinen
Beobachtungen in den letzten Lebenstagen deliriöse Zustände
mit Verworrenheit, Stimmungswechsel und ausgeprägt para-
phasischen Reden unter Übergang in tiefstes Koma erzeugen
zu können. Die Rindenzellen zeigen sich in der Weise ver-
ändert, dass sich die nicht färbbare Substanz sehr stark
färbt, der feinere Aufbau sich verwischt, der Umriss des
Kernes undeutlich wird; schliesslich verschwinden die Zellen
ganz, oder sie bleiben als schattenartige Gebilde ohne deut-
liche Gliederung in ihren früheren Umrissen noch annähernd
erkennbar. Das Kohlenoxydgas**), das den Sauerstoff aus
dem Hämoglobin verdrängt und Stauungen, Blutungen und Er-
weichungsherde im Hirn herbeiführt, erzeugt einmal schwere Ver-
worrenheit mit Delirien und Erinnerungsverlust, der vielfach auf
die Zeit vor der Vergiftung zurückgreift. Sodann aber kann sich
einige Tage nach der Erholung aus diesem Zustande ein geistiger
Schwächezustand entwickeln, der namentlich durch hochgradige
Gedächtnisschwäche neben Unklarheit und Stumpfheit gekenn-
*) Jolly, Chariteannalen, XIX; Probst, Monatsschr. f. Psych., IX,
444; Quensel, Archiv f. Psychiatrie, XXXV, 612.
**) Greidenberg, Annales medico-psych., VIII, 12, 58, 1900.
5*
68
I. Die Ursachen des Irreseins.
zeichnet ist und unter Umständen unheilbar wird. Halbseitige
Schwäche, Erschwerung der Sprache, Unsicherheit der Bewe-
gungen, Steigerung der Reflexe weisen dabei auf greifbare Ilirn-
schädigungen hin.
Eine ganz besondere Bedeutung für die Entstehung von
Geisteskrankheiten ist auch dem Schwefelkohlenstoff *)
zugeschrieben worden, der neben Verdauungsstörungen Kopf-
schmerzen, Schlaflosigkeit, Gedächtnisschwäche und neuritische
Erscheinungen hervorzurufen vermag. Eine ganze Reihe ver-
schiedenartiger, zum Teil selbst unheilbarer Psychosen soll durch
die Einatmung der Dämpfe jenes Stoffes in Gummifabriken erzeugt
werden. Abgesehen indessen von gewissen rauschartigen, raach
verlaufenden Erregungszuständen, entsprechen die bisher bei
Schwefelkohlenstoffarbeitern beobachteten psychischen Störungen
im allgemeinen völlig solchen Krankheitsbildern, die wii auch
ohne Giftwirkung auftreten sehen, namentlich der Hysterie und
der Dementia praecox. Der Nachweis, dass die Schwefelkohlen-
stoffvergiftung hier mehr als eine Gelegenheitsursache gewesen
sei, scheint mir daher noch nicht erbracht zu sein. Endlich liegen
noch einige Beobachtungen von plötzlichen rauschartigen Er-
regungszuständen nach Vergiftungen durch Anilin, Binitro-
toluol und To luidin**) vor.
Organerkrankungen. Einer der schwierigsten und umstritten-
sten Abschnitte in der Ätiologie der Psychosen ist die Lehre von
dem Einflüsse der Organerkrankungen. Hier ist der Zusammen-
hang naturgemäss stets ein sehr verwickelter, selbst durch grosse
Zahlen nicht immer sicher nachweisbarer, so dass die Deutung
der einzelnen Erfahrung bis zu einem gewissen Grade zumeist
dem persönlichen Ermessen des Beobachters überlassen bleibt.
Unter den Erkrankungen der Sinnesorgane sind es namentlich
Ohrenleiden, welchen ein Einfluss auf die Entstehung von Psy-
chosen zuzukommen scheint. Einerseits findet man bei lange
dauernden Gehörstäuschungen häufiger alte Mittelohr erkrankungen
*) H a m p e , Über die Geisteskrankheiten infolge Schwefelkohlenstoff-
vergiftung. 1895; Reynolds, Journal of mental Science, XLII, 25; Lau-
denheimer, Die Schwefelkohlenstoffvergiftung der Gummiarbeiter. 1899;
Köster, Archiv f. Psycli., XXXII, 569, 903.
**) Friedländer, Neurol. Centralblatt, XIX, 155, 294, 1900.
Organerkrankungen.
69
mit Veränderungen der elektrischen Akusticusreaktion, so dass
man sich der Annahme eines gewissen Zusammenhanges nicht
wohl erwehren kann; der Beeinträchtigungswahn solcher Kranker
erinnert geradezu an das bekannte Misstrauen der Schwerhörigen.
Sodann sieht man bisweilen bestehende subjektive Geräusche mit
der Entwicklung psychischer Störungen sich verschlechtern und
wieder bessern (gemeinsame Ursache?). Endlich hat man hier
und da auch ängstliche Aufregungszustände bei akuteren oder bei
Verschlimmerung chronischer Ohrenleiden beobachtet. Augen-
erkrankungen pflegen, soweit sie nicht Teilerscheinungen eines
Gehirnleidens sind, in keiner näheren Beziehung zum Irresein zu
stehen.
Von den Lungenleiden haben wir die Tuberkulose und
die akuten fieberhaften Erkrankungen schon oben erwähnt; es
lässt sich über sie weiter nicht viel sagen, als dass die Verkleine-
rung der Atmungsfläche mit ihren Folgen für den Gasaustausch,
dann aber die Beklemmungsgefühle bei emphysematischen und
namentlich asthmatischen Beschwerden wohl auch auf den Ab-
lauf der psychischen Vorgänge einigen Einfluss gewinnen können.
Herzleiden*) scheinen bei Geisteskranken etwas häu-
figer vorzukommen, als sonst; sie dürften einmal (bei Hyper-
trophie des linken Ventrikels) durch gelegentliche Blutwallungen,
dann aber (bei unausgeglichenen Klappenfehlern, bei Perikarditis
und Entartung des Herzmuskels) durch venöse Stauungen und
allgemeine Abschwächung des Blutkreislaufes von Bedeutung wer-
den. Als Andeutung derartiger Einwirkungen darf wohl schon die
in der Gesundheitsbreite gelegene, bekannte gemütliche Reizbar-
keit Herzkranker gelten. Dass ausserdem die Beklemmungs-
gefühle und das Herzklopfen nicht ohne Einfluss sind, ist sehr
wahrscheinlich. Smith hat bei Angstzuständen und Verstim-
mungen verschiedener Art, namentlich auch unter dem Einflüsse
des Alkohols, sehr erhebliche Erweiterungen des Herzens be-
schrieben, doch wird abzuwarten sein, ob seine Befunde sich
bestätigen und wie weit sie ursächliche Bedeutung haben. Jeden-
*) Witkowski, Allgemeine Zeitschrift f. Psychiatrie, XXXII, 347;
Karrer in Hagen, Statistische Untersuchungen über Geisteskrankheiten.
1876; Reinhold, Münchner Medizin. Wochenschr., 1894, 16.
70
I. Die Ursachen des Irreseins.
falls isfc nicht ausser acht zu lassen, dass viele Störungen der
Herztätigkeit nicht Ursache, sondern Begleiterscheinung oder
Folge der Geisteskrankheit sein dürften. So fand R e i n h o 1 d
namentlich bei Melancholischen ungemein häufig leichtere Ab-
weichungen, Fehlen oder Abschwächung des Spitzenstosses, Ver-
breiterung der Herzdämpfung, Beschleunigung der Herztätigkeit,
Veränderungen an den Herztönen, die er als die W irkungen des
körperlichen Allgemeinleidens auf fasst, welches der psychischen
Verstimmung zu Grunde liegt. Er denkt dabei geradezu an \ er-
giftungserscheinungen durch Stoffwechselprodukte. Auch bei der
Dementia praecox ist Beschleunigung oder starke Verlangsamung
der Herztätigkeit sehr gewöhnlich, während bei den psychogenen
Erkrankungen besonders die Erregbarkeit des Herzens erhöht zu
sein pflegt. Dass greifbare Schädigungen des Herzmuskels beim
Alkoholismus, bei der Paralyse, bei den Geistesstörungen der
höheren Lebensalter sehr häufig sind, lehrt der Leichenbefund.
Recht ungenügend bekannt ist bisher die Bedeutung dei
Gefässerkrankungen bei Psychosen. Früher war man ge-
neigt, möglichst viele Formen des Irreseins auf Lähmung oder
Krampf von Hirngefässen und dadurch bewirkte Störungen der
Ernährung in einzelnen Rindengebieten zurückzuführen. Neuer-
dings wird mehr den eigentlichen Erkrankungen der Gefässe eine
wichtige Rolle zugeschrieben, namentlich den luetischen und den
arteriosklerotischen Veränderungen. Die Verdickung und Er-
starrung des Gefässrohres, der Verlust der Elastizität, unter Um-
ständen auch die Verengerung seines Innenraumes, die ^ er-
stopfung sollen die Blutversorgung erschweren oder aufheben,
während die Bildung von kleinen Ausbuchtungen, die Blutaustritte
das Hirngewebe unmittelbar zerstören können. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass ausgebreitete Gefässerkrankungen verschie-
dener Art bei der Hirnlues, beim chronischen Alkoholismus, bei
der Paralyse, beim Altersblödsinn und bei den arteriosklerotischen
Geistesstörungen regelmässig gefunden werden. Wie weit sie
aber Ursachen und wie weit sie nur Begleiterscheinungen jener
Krankheitsvorgänge sind, lässt sich zur Zeit noch nicht erkennen.
Soweit die Intima der Gefässe mit erkrankt, ist wohl auch daran
zu denken, dass der Stoffwechsel des Blutes selbst gestört wird,
zumal die Veränderungen sich in der Regel über weite Gefäss-
Organerkrankungen.
71
gebiete auch in anderen Teilen des Körpers zu erstrecken
pflegen.
Die Zeichen erhöhter vasomotorischer Erregbarkeit, leichtes
Erröten, Dermatographie bis zur Quaddelbildung, begegnen uns
bei verschiedenen Formen des Irreseins, namentlich bei der
Paralyse, der Dementia praecox und bei der Schreckneurose. Bei
katatonischen Kranken entwickeln sich im Stupor ungemein häufig
die allerstärksten Grade der Cyanose. Da diese Störung durchaus
keine klaren Beziehungen zu dem Grade der Bewegungslosigkeit
zeigt und bei anderen Stuporformen weit weniger hervortritt,
haben wir es hier schwerlich mit mechanisch bedingten Stau-
ungen, sondern wohl mit Gefässlähmung inneren Ursprunges, viel-
leicht auch mit Veränderungen im Blute selbst zu tun. Lange
fortdauernde Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichtes
scheinen die Entwicklung von Gefässerkrankungen zu begün-
stigen, möglicherweise nach Thomas Annahme in der Weise,
dass die Muskelwand der Gefässe durch die häufigen Änderungen
der Gefässweite geschädigt werden. Vielleicht spielt dieser Um-
stand beim manisch-depressiven Irresein und bei der Schreck-
neurose eine Rolle, in deren Verlauf gern arteriosklerotische
Veränderungen auftreten.
Eine sehr weitgehende ursächliche Bedeutung hat man von
jeher den Erkrankungen der V erdauungswerkzeuge zu-
geschrieben; namentlich in der älteren Psychiatrie spielten die
Hämorrhoiden, die Stauungen im Pfortadersystem, die „Verstim-
mungen“ der Unterleibsgeflechte eine sehr grosse Rolle. In der
Tat ist schon der Einfluss leichter Verdauungsstörungen auf das
allgemeine psychische Wohlbefinden, namentlich bei nervös ver-
lagten Personen, ein ganz unverkennbarer*). Es scheint sich bei
diesem Zusammenhänge einerseits um die psychische Wirkung
unangenehmer, dauernder Organgefühle, dann aber um Selbst-
vergiftungen oder vielleicht auch um Störungen der allgemeinen
Blutverteilung durch Stauungen im Unterleibe zu handeln. Für
letztere Erklärung spricht die bekannte Erfahrung von Nicolai
(des „Proktophantasmisten“ aus Goethes Walpurgisnacht),
dessen Hallucinationen durch eine Blutentziehung am After ver-
*) Herzog, Archiv f. Psych., XXXI, 170.
72
I. Die Ursachen des Irreseins.
schwanden. Bei chronischen Magen- und Darmleiden kommt als
wichtiger Umstand noch die empfindliche Beeinträchtigung der
allgemeinen Ernährung hinzu. Verdauungsstörungen, namentlich
Verstopfung, sind bei frischen Geisteskrankheiten ungemein häufig,
besonders in Depressionszuständen aller Art, aber sie sind sicher-
lich vielfach als Folge der psychisch bedingten Unregelmässig-
keiten in der Nahrungsaufnahme und nicht als Ursache derselben
anzusehen. Allerdings hat Wagner*) bei gewissen akuten
Geistesstörungen eine Selbstvergiftung durch Zersetzungsstoffe
vom Darm aus angenommen; er fand dann Aceton und eine Reihe
weiterer krankhafter Bestandteile im Harn, auch Vermehrung der
Indicanausscheidung. Bei schwerem Darniederliegen aller psy-
chischen Leistungen scheint häufiger Herabsetzung der Salzsäure-
abscheidung im Magen vorzukommen; auch starke Schwankungen
des Salzsäuregehaltes im Magensafte sind bei verschiedenartigen
Geistesstörungen nicht selten**). Mangelhafte Verarbeitung der
Nahrung müssen wir wohl in jenen hie und da beobachteten fällen
annehmen, in denen trotz massenhafter Speisenzufuhr bei wahrem
Heisshunger das Körpergewicht sich durchaus nicht heben will.
Meist handelt es sich um Paralytiker und Katatoniker. Parasiten
im Darm können anscheinend bei Kindern deliriöse Erregungs-
zustände, auch Pruritus in den Genitalien und allerlei Stimmungs-
anomalien herbeiführen. Im ganzen wissen 'wir über alle diese
Verhältnisse sehr wenig Sicheres.
Unter den Nierenerkrankungen ***) dürften haupt-
sächlich diejenigen in Anschlag zu bringen sein, die zur Ent-
stehung von akuten oder chronischen urämischen "Vergiftungen
Anlass geben. Eiweiss im Harn sieht man vorübergehend oder
dauernd namentlich bei Trinkern und Paralytikern auftreten.
Von dem Bestehen eines klar gekennzeichneten „urämischen Irre-
seins“, ausser den früher erwähnten deliriösen Zuständen, habe
ich mich jedoch noch nicht überzeugen können.
*) Wagner, Wiener klinische Wochenschrift. 1896.
**) Leubuscher und Ziehen, Klinische Untersuchungen über die
Salzsäureabscheidung des Magens bei Geisteskranken. 1892.
***) Hagen, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXVIII, 1 ; V a s s a 1 e ,
Eivista sperimentale di freniatria, XVI, 1890; Auerbach, Allgem. Zeitschr.
f. Psychiatrie, LII, 337.
Organerkrankungen.
73
Weitaus die grösste Bedeutung für die Entstehung des Irre-
seins ist von seiten der Irrenärzte den krankhaften Vorgängen
in den Geschlechtsorganen zugeschrieben worden. Ins-
besondere hat der bessernde Einfluss gynäkologischer Eingriffe
auf manche nervösen und psychischen Störungen zu der Ansicht
geführt, dass Lageveränderungen des Uterus, Erosionen am Mut-
termund, Erkrankungen der Ovarien und Tuben, Pruritus vulvae,
Vaginismus unter Umständen psychische Störungen zu erzeugen
imstande seien.*) Als der klinische Ausdruck dieser Wirkungen
wurde, ja wird vielfach heute noch das formenreiche Krankheits-
bild der Hysterie betrachtet. Gerade hier sehen wir eben häufig
genug überraschende Besserungen, wahre Wunderkuren, durch
Beseitigung der verschiedenartigsten leichteren oder schwereren
Störungen eintreten. Es lässt sich nicht in Abrede stellen, dass es
sich bei den wohltätigen Folgen körperlicher Eingriffe öfters um
die Beseitigung bestimmter schädlicher Reizwirkungen auf ein
krankhaft empfindliches Nervensystem handelt. Wir wissen je-
doch andererseits sicher, dass bisweilen der gleiche Erfolg durch
ganz andere, selbst unsinnige Mittel erreicht werden kann. Daraus
geht hervor, dass wir es in derartigen Fällen wesentlich mit
psychischen Wirkungen zu tun haben. Auch die Entstehung
der Krankheitserscheinungen wird damit natürlich auf das psy-
chische Gebiet verlegt.
In der Tat können wir heute auf Grund unserer klinischen
Erfahrung mit Sicherheit sagen, dass Erkrankungen der weib-
lichen Geschlechtsorgane nur dann zum Irresein führen, wenn
bereits eine krankhafte Veranlagung, den Boden genügend vor-
bereitet hat. Aus diesem Grunde tragen die so entstehenden
Geistesstörungen auch durchaus kein einheitliches klinisches Ge-
präge; dieses letztere ist vielmehr ganz abhängig von der Kon-
stitution des Erkrankenden. Meist wird es sich daher um eine
der vielen Formen des Entartungsirreseins handeln. Beachtens-
wert ist übrigens für diese ganze Frage auch der Umstand, dass
*) L. Mayer, Die Beziehungen der krankhaften Zustände und Vor-
gänge in den Sexual Organen des Weibes zu Geistesstörungen. 1869; He gar,
Der Zusammenhang der Geschlechtskrankheiten mit nervösen Leiden und die
Kastration bei Neurosen. 1885; K r ö m e r , Beitrag zur Kastrationsfrage, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, LII, 1.
74
I. Die Ursachen des Irreseins.
die schwersten Erkrankungen der Geschlechtsorgane, die bös-
artigen Geschwülste, verhältnismässig selten Anlass zu Geistes-
störungen zu geben scheinen. Allenfalls beobachten wir bei
ihnen jene Formen des Irreseins, die auch sonst bei schweren
Ernährungsstörungen zur Entwicklung gelangen. Den Geschlechts-
leiden bei Männern scheint eine irgend erhebliche ursächliche
Bedeutung für das Irresein nicht zuzukommen.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft. Die nahen Be-
ziehungen, in welchen das Geschlechtsleben*) zu den psychischen
Zuständen des Menschen steht, wird deutlich genug durch die
eigentümlichen Wandlungen der Entwicklungsjahre und der Rück-
bildungszeit wie durch die Schwankungen des gemütlichen Gleich-
gewichtes bezeugt, die schon beim Gesunden den Ablauf der Ge-
schlechtsvorgänge begleiten. Es erscheint daher begreiflich,
wenn die verschiedenen Umwälzungen und Störungen auf diesem
Gebiete, wie sie den gesamten Körper, insbesondere das Nerven-
system, in Mitleidenschaft ziehen, auch im Bereiche des Seelen-
lebens krankhafte Vorgänge auszulösen vermögen.
In erster Linie werden als Ursachen des Irreseins ge-
schlechtliche Ausschweifungen und Onanie**) be-
schuldigt. Aus den zum Beweise herangezogenen Erfahrungen
sind natürlich zunächst alle diejenigen Fälle auszuscheiden, in
welchen ängstliche, zur Selbstbeobachtung oder zur Selbstanklage
geneigte Kranke Jahre oder gar Jahrzehnte zurückliegende
„Jugendsünden“ als die Ursache ihrer Leiden angeben; die Lektüre
einer gewissen Gattung von Schriften, welche die Folgen der
Onanie in den grellsten Farben schildern, liefert dazu nicht selten
die Anregung.
Dennoch lässt sich die Möglichkeit einer gelegentlichen wirk-
lichen Schädigung des Nervensystems durch die hier besproche-
nen Ursachen nicht ganz in Abrede stellen, zumal ja auch auf
diesem Gebiete ohne Zweifel das Mass der persönlichen Leistungs-
und Widerstandsfähigkeit ein äusserst verschiedenes ist. Es wäre
denkbar, dass einmal (wohl nur bei Männern und im jugendlichen
Alter) der Säfteverlust eine gewisse Bedeutung für die Gesamt-
*) Löwenfeld, Sexualleben und Nervenleiden, 3. Aufl. 1903.
**) v. Kraf f t-Ebing, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXXI, 4.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
75
ernährung gewinnen kann; es wäre ferner möglich, dass die häufige
starke Erregung des Nervensystems die allgemeine Reizbarkeit
desselben steigert und seine Widerstandsfähigkeit herabsetzt.
Dann ist aber wohl auch auf den entsittlichenden Einfluss hin-
zuweisen, welchen das stete Unterliegen im fruchtlosen Kampfe
mit übermächtig angewachsenen Antrieben auf die Willens-
festigkeit des Menschen ausübt. Nach allen diesen Richtungen
hin dürfte die Masturbation deswegen verderblicher wirken, als
der natürliche Geschlechtsverkehr, weil sie ihr Ziel viel häufiger
und leichter zu erreichen vermag, als der letztere. Beachtens-
wert sind übrigens auch jene vereinzelten Beobachtungen, in
denen (namentlich bei jungen Frauen) der erste Coitus akute Auf-
regungs- oder Depressionszustände herbeiführt („Nuptiales Irre-
sein“).*) Wahrscheinlich handelt es sich hier nur um die Aus-
lösung schon vorbereiteter Erkrankungen, meist wohl aus der
Gruppe des manisch-depressiven Irreseins. So waren in einem
derartigen Fälle meiner Beobachtung die Anzeichen der beginnen-
den Erregung bereits vor der Hochzeit vorhanden, ja man hoffte
törichterweise, die Erkrankung durch die Heirat heilen zu können.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist die hartnäckige,
unausrottbare Neigung zur Masturbation ohne Zweifel ein Zeichen,
nicht die Ursache der Geistesstörung; wir haben es einfach mit
einer krankhaft gesteigerten geschlechtlichen Erregbarkeit zu
tun. Das gilt gewiss für jene Fälle von Idiotie und Schwachsinn,
in denen die Masturbation bereits in der frühesten Kindheit be-
ginnt und allen Erziehungsmassregeln trotzt; es gilt aber ferner
auch für diejenige Form des Irreseins, welche man bisher als be-
sondere Eigentümlichkeit der Onanisten betrachtet hat. Die
Zeichen desselben sind fortschreitende Abnahme der psychischen
Leistungsfähigkeit, Unvermögen zur Auffassung und geistigen
Verarbeitung äusserer Eindrücke, Gedächtnisschwäche, Interesse-
losigkeit, Gemütsstumpfheit; in anderen Fällen treten mehr die
Erscheinungen erhöhter Reizbarkeit in den Vordergrund, barocke
Ideenverbindungen, Neigung za Mysticismus und exaltierter
Schwärmerei oder hypochondrische und depressive Verstimmung.
*) Dost, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 876; Obersteiner, Jahrb.
f. Psych., XXII, 313.
76
I. Die Ursachen des Irreseins.
Dazu gesellen sich dann mannigfaltige nervöse Störungen, be-
sonders Gemeinempfindungen, aus denen sich nicht selten un-
sinnige Wahnideen von dämonischer oder geheimnisvoller physi-
kalischer (magnetischer, elektrischer, sympathischer) Beein-
flussung herausentwickeln. Wir erkennen darin unschwer das
Bild der Dementia praecox, wie sie vorzugsweise den Entwick-
lungsjahren angehört. So manche Gründe sprechen dafür, dass
das Geschlechtsleben bei dieser Krankheit eine gewisse Rolle
spielt, wie später näher auszuführen sein wird, aber sie v.’ird
keinesfalls durch die Onanie verursacht. Es gibt zahlreiche be-
geisterte Onanisten, die nicht hebephrenisch werden, und um-
gekehrt fehlt die Onanie bei Hebephrenischen, namentlich bei
weiblichen, nicht selten gänzlich, trotz starker geschlechtlicher
Erregung.
Für jene umschriebene Gruppe der Dementia praecox, die
man mit dem Namen der Katatonie bezeichnet, hat Tschisch
als Ursache eine Selbstvergiftung durch geschlechtliche Ent-
haltsamkeit angenommen. Er stützt sich darauf, dass seine
Kranken sämtlich jugendliche Landbewohner und von blühendem
Körperbau gewesen seien, zudem keine Äusserungen über früheren
Geschlechtsverkehr gemacht hätten und ohne greifbare äussere
Ursache erkrankten. Ohne darauf hinzuweisen, dass jene Kenn-
zeichnung der Kranken schwerlich eine klinische Gruppierung
gestattet, dass viele Katatoniker regelmässigen Geschlechtsver-
kehr gehabt haben oder ausgiebig masturbieren, gibt es meines
Wissens durchaus keine Erfahrung, die dazu berechtigte, der
geschlechtlichen Enthaltsamkeit einen derartig verderblichen Ein-
fluss auf das Seelenleben zuzuschreiben. Die Mädchen der ge-
bildeteren Stände müssten sonst in erschreckendem Umfange
katatonisch werden.
Im allgemeinen nimmt bei gesunden Menschen nach länger
dauernder Enthaltsamkeit allmählich die geschlechtliche Erreg-
barkeit ab. Etwas anders liegen die Dinge vielleicht bei krank-
haft veranlagten Personen; hier scheint der Kampf gegen die
aufsteigenden Begierden Angstzustände auslösen zu können. Er-
zwungene Enthaltsamkeit, namentlich nach vorheriger Gewöhnung
an geschlechtliche Befriedigung, verführt ferner leicht zur Onanie
und kann auf diese Weise schädigend wirken; andererseits sehen
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
77
wir freilich häufig genug die Masturbation neben geregeltem ge-
schlechtlichem Verkehr sich entwickeln. Wo die Enthaltsamkeit
eine freiwillige ist, muss sie wohl richtiger als Folge und nicht
als Ursache einer krankhaften Anlage aufgefasst werden, die ja
öfters mit unvollständiger Entwicklung des Geschlechtstriebes,
unter Umständen auch der Genitalorgane einhergeht. Eine ge-
wisse Rolle bei der Entstehung von Verstimmungen und Angst-
zuständen scheinen endlich auch häufige sexuelle Reizungen ohne
gehörige Befriedigung zu spielen, wie sie mit der Durchführung
des „Zweikindersystems“ nicht selten verbunden sind.
Beim weiblichen Geschlechte pflegt schon der physiologische
Vorgang der Menstruation regelmässig von einer leichten Steige-
rung der nervösen und psychischen Reizbarkeit begleitet zu sein,
die bei einzelnen Personen sogar fast krankhafte Grade (äusserste
Verstimmung, lebhafte Erregung) erreichen kann. Diese Vor-
gänge scheinen sich in der Zeit vor den Menses ganz allmählich
vorzubereiten, um sich dann mit dem Eintritte derselben wieder
auszugleichen, so dass man geradezu von einer „menstrualen Wel-
lenbewegung“*) im Organismus des Weibes gesprochen hat, die
sich auch im seelischen Verhalten wieder erkennen lässt. Beim
erstmaligen Eintritte der Menses kann sich die hysterische
oder epileptische Veranlagung zum ersten Male in ohnmachts-
artigen Anfällen, Aufregungs- oder Dämmerzuständen äussern.
Ebenso gibt diese Umwälzung nicht selten Anlass zum Auftreten
der ersten leisen Andeutungen des cirkulären Irreseins in Form
unmotivierter Verstimmung oder leichter manischer Erregung.
Friedmann hat ferner auf jene nicht allzu häufigen Fälle
hingewiesen, in denen schon vor dem Eintritte der ersten Menses
in regelmässigen Zwischenzeiten kurzdauernde verwirrte Auf-
regungszustände beobachtet werden, die mit der Regelung der
Menstruation verschwinden und daher wohl unzweifelhaft mit den
Vorboten der Geschlechtsentwicklung in ursächliche Beziehung
gesetzt werden müssen. Auch bei diesen Fällen bin ich geneigt,
an den Beginn cirkulärer Formen zu denken, welche später, wenn
*) S c h ü 1 e , Allgem. Zeitschr. f. Psych., XL VII, 1 ; H e g a r , ebenda,
LVin, 357.
78
I. Die Ursachen des Irreseins,
auch erst nach Jahren, von neuem einsetzen, um sich nun in
typischer Weise fortzuentwickeln.
Tm Verlaufe psychischer Störungen kommt dem Eintritte
der Menstruation und noch mehr vielleicht den Unregelmässig-
keiten derselben ohne Zweifel eine erhebliche Bedeutung zu*).
Namentlich Erregungszustände aller Art pflegen sich zu diesen
Zeiten einzustellen oder zu steigern. Wir kennen sogar Fälle
periodischer Tobsucht, welche sich so eng an die Menses an-
schliessen, dass man geradezu von einem „menstruellen Irresein
sprechen kann. Klinisch handelt es sich dabei um manische oder
katatonische Krankheitsbilder. Aussetzen der Menses beobachten
wir öfters in cirkulären Depressionszuständen, noch häufiger
während der Entwicklung der Dementia praecox. Sie pflegen
dann mit der Besserung des Zustandes oder aber mit dem Ein-
tritt endgültiger Verblödung wiederzukehren. Ob hier überall
das Ausbleiben der Menses irgendwie eine ursächliche Bedeutung
hat oder nur Begleiterscheinung des Krankheitsvorganges ist,
entzieht sich zur Zeit noch unserer Kenntnis. Die letztere An-
nahme dürfte indessen heute die grössere Wahrscheinlichkeit für
sich haben. .
Einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung von Geistes-
störungen müssen wir endlich dem Klimakterium zuschrei-
ben. Es steht fest, dass in dieser Zeit die Neigung der Frauen,
psychisch zu erkranken, erheblich anwächst. Allerdings wild
man für diese Tatsache in erster Linie wohl die allgemeinen
Veränderungen verantwortlich machen müssen, welche das be
ginnende Greisenalter, die Rückbildungszeit, einleiten. Dafür
spricht vor allem der Umstand, dass wir beim männlichen Ge-
schlechte, wenn auch nicht so häufig, ganz dieselben klinischen
Formen des Irreseins im gleichen Lebensalter beobachten. Dahin
gehört vor allem die Melancholie und das manisch-depressive
Irresein, das nicht selten in dieser Zeit eist einsetzt.
Besonders deutlich zeigt sich die hervorragende Rolle, welche
das Geschlechtsleben auch für die psychische Persönlichkeit des
*) v. Krafft-Ebing, Archiv f. Psychiatrie, VIII, 1 ; Powers, Bei-
trag zur Kenntnis der menstrualen Psychosen, Diss. 1883; Schäfer, Allgem.
Zeitschr. f. Psych., 1893.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
79
Weibes spielt, in jener Gruppe von Geistesstörungen, deren Ent-
wicklung sich im Zusammenhang mit den verschiedenen Vorgängen
des Fortpflanzungsgeschäftes, der Schwangerschaft, dem Wochen-
bett und der Laktation vollzieht*). Die Angaben über die Häufig-
keit dieser Ursachen beim Zustandekommen psychischer Erkran-
kungen gehen ziemlich weit auseinander; im Mittel sind etwa
14 Prozent aller in Irrenanstalten beobachteten Geistesstörungen
bei Frauen auf dieselben zurückzuführen. Davon kommen 3 Pro-
zent auf die Schwangerschaftspsychosen. Der ursäch-
liche Zusammenhang scheint während dieser Zeit hauptsächlich
durch die Veränderungen in Mischung (Abnahme der Blutkörper-
chen und der Salze, Vermehrung des Fibrins) und Cirkulation
der Ernährungsflüssigkeit (Ausbildung des Placentarkreislaufs)
vermittelt zu werden; vielleicht ist auch, namentlich bei erstmalig
und bei unehelich Schwangeren, den psychischen Ursachen (Schwe-
ben zwischen Hoffnung und Furcht vor den Gefahren der Geburt,
Sorgen u. s. f.) ein gewisser Einfluss zuzuschreiben.
Unter klinischem Gesichtspunkte haben wir es hier jedoch
sicherlich nicht mit einer einheitlichen Gruppe des Irreseins zu
tun, sondern die einzelnen Fälle können eine sehr verschiedene
Bedeutung haben. Zunächst kommt es nicht selten vor, dass ein-
zelne Anfälle des manisch-depressiven Irreseins, namentlich De-
pressionszustände, durch die Umwälzungen der Schwangerschaft
ausgelöst werden. Hier werden wir regelmässig weitere Anfälle
auch ohne diesen und sogar ohne jeden äusseren Anlass auf-
treten sehen; andererseits kann sich die psychische Erkrankung
in mehreren Schwangerschaften wiederholen. Zu dieser Gruppe
bin ich geneigt, auch die gewöhnlich als periodische Melancholie
bezeichneten Formen zu rechnen, weil die Anfälle des manisch-
depressiven Irreseins nicht selten längere Zeit unter jenem Bilde
verlaufen. Entschieden häufiger, als die bisher genannten Krank-
heitsbilder, ist die Dementia praecox, in Form von Depression,
Stupor oder Erregung. Auch diese Störungen können in wieder-
holten Schwangerschaften hervortreten, nachdem sie in der
Zwischenzeit mehr oder weniger vollständig geschwunden waren;
*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie, V, 505; Ripping, Die Geistes-
störungen der Schwangeren, Wöchnerinnen und Säugenden. 1877.
80
I. Die Ursachen des Irreseins.
meist bringt dann jede folgende Schwangerschaft eine deutliche
Verschlechterung des psychischen Gesamtzustandes mit sich.
Ebenso können alte Katatonien oder Hebephrenien unter dem
Einflüsse einer Schwangerschaft frische Nachschübe zeigen. Hie
und da sieht man auch Paralysen sich in der Schwangerschaft
entwickeln, die hier natürlich noch weniger, als in den übrigen
Fällen, die wirkliche Ursache der Erkrankung bildet. Durch die
Geburt wird keine der besprochenen Formen des Irreseins er-
heblich beeinflusst; vielmehr geht jene meist ohne besondere
Begleiterscheinungen von statten; zuweilen sieht man eine \ er-
schlimmerung des Zustandes, beim manisch-depressiven Irresein
Umschlag der Depression in Erregung. In einem von mir beobach-
teten Falle gebar eine stuporöse Frau ihr totes Kind in den Nacht-
stuhl, ohne einen Laut von sich zu geben, so dass man erst später
durch die Blutung auf das Ereignis aufmerksam wurde..
Mehr als doppelt so häufig (bei 6,8 Prozent aller in die Irren-
anstalten auf genommenen Frauen; unter etwa 400 Wöchnerinnen
bei je einer) wird das Wochenbett*) Ursache des Irreseins,
hie und da auch ein Abortus mit starkem Blutverluste. Eict-
gebärende sind stärker gefährdet. Wir haben auch hier wieder zu
unterscheiden zwischen solchen Erkrankungen, die wirklich durch
das Wochenbett erzeugt, und solchen, die nur durch dasselbe aus-
gelöst werden. Zu den ersteren sind zunächst jene plötzlichen,
äusserst heftigen, deliriösen Erregungszustände zu rechnen, die
sich während der Geburt einstellen können und wegen der starken
Neigung zu Gewalttaten eine grosse forensische Bedeutung be-
sitzen; ihre Dauer beträgt meist nur wenige Stunden. Bei ihrer
Entstehung spielen einerseits wahrscheinlich die Schmerzen, der
Blutverlust, die raschen Kreislaufsänderungen sowie die psy-
chischen Einwirkungen der Geburt selbst und etwaiger Störungen
bei derselben eine gewisse Rolle. Eine Wöchnerin meiner Be-
obachtung stürzte sich in einem derartigen Zustande aus dem
Fenster durch das darunter befindliche Glasdach eines Tieib-
*) Hansen, Zeitschr. f. Geburtshilfe u. Gynäkologie, XV, 1; Hoppe,
Archiv f. Psychiatrie, XXV, 1. S d a r o w , Die puerperalen Psychosen vom
ätiologischen, klinischen und forensischen Standpunkt. 1896 (russisch); Aschaf-
fe n b u r g , Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 337 ; Meyer, Berl. Klin.
Wochenschr., 1901, 31; Siege nthaler, Jahrb. f. Psych., XVII, 87.
Geschlechtsleben und Portpflanzungsgeschäft.
81
hauses. Andere erdrosseln ihre Kinder oder lassen dieselben doch
unbeachtet ohne Nahrung und Pflege zu Grunde gehen. Vielleicht
handelt es sich hier, was die klinische Form wahrscheinlich machen
würde, öfters um epileptische, auch wohl hysterische Dämmer-
zustände, welche durch die besonderen Erschütterungen des
Gebärvorganges auch bei solchen Personen ausgelöst werden
können, die sonst nur geringfügige und leicht übersehene Zeichen
krankhafter Veranlagung darbieten.
Eine zweite Gruppe der Puerperalpsychosen kommt durch
Gifte zu stände. Hierher gehören die eklamptischen Delirien
mit ihrer urämischen Grundlage, die sich schon während der
Geburt oder in den ersten Tagen nachher einzustellen pflegen.
Weit häufiger sind die etwa am 5. bis 10. Tage des Wochenbettes
einsetzenden Geistesstörungen, denen fieberhafte Erkrankungen
zu Grunde liegen, Mastitis, Endokartitis ulcerosa, Perimetritis,
Sepsis, Pyämie. Die Geburtshelfer sind geneigt, einen grossen
Teil der Wochenbettspsychosen auf derartige Infektionen zurück-
zuführen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass solche Erkrankungen
in noch nicht Vs der Fälle nachweisbar sind und gewiss noch viel
seltener die wirklichen Ursachen der geistigen Störung bilden.
Wo aber letzteres der Fall ist, begegnen uns im wesentlichen die
klinischen Bilder der Fieber- und Infektionsdelirien, Benommen-
heit, Sinnestäuschungen, traumartige Verworrenheit, ängstliche
oder heitere Erregung, Neigung zum Übergang in Schlummersucht
und Koma.
Ebenfalls in näherer ursächlicher Beziehung zum Wochen-
bette stehen die Erschöpfungspsychosen. Sie dürfen
wohl mit den mächtigen Umwälzungen der ersten Tage des
Wochenbettes (Ausscheidungen, Gewichtsabnahme) in Zusammen-
hang gebracht werden, denen allerdings meist andere Einflüsse,
nervöse Veranlagung, schlechte Ernährung, ungünstige Lebens-
verhältnisse, schon vorgearbeitet haben. Eine erst allmählich
sich ausgleichende nervöse Erschöpfung mit erhöhter gemüt-
licher Erregbarkeit ist eine so gewöhnliche Begleiterscheinung
des Wochenbettes, dass sie kaum als krankhaft betrachtet zu
werden pflegt. Bei sehr stürmisch einsetzender Erschöpfung
kann sich das in der Regel rasch verlaufende Collapsdelirium
entwickeln. In welchem Umfange auch die länger dauernden
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 6
82
I. Die Ursachen des Irreseins.
und sich erst nach 1—2 Wochen entwickelnden, meist als
Amentia bezeichneten klinischen Formen auf eine Erschöpfung
oder auf andere Ursachen zurückgeführt werden dürfen, lässt
sich zur Zeit noch nicht mit Sicherheit entscheiden. Sie sind
im ganzen ziemlich selten. Die äusserlich als hallucinatorische
Verwirrtheit erscheinenden Fälle erweisen sich bei genauerer
Beobachtung vielfach als katatonisch oder manisch.
Ungleich häufiger, als die besprochenen Formen, sind die-
jenigen Erkrankungen, die durch das Wochenbett nur ausgelost
werden. In allererster Linie sind hier die Katatonien zu nennen.
Die Häufigkeit, mit der sich im Wochenbette katatonische Krank-
heitsbilder, Erregungen wie Depressionen und namentlich Stupor-
zustände, entwickeln, ist ungemein auffallend, zumal auch schon
bestehende katatonische Schwächezustände sehr gewöhnlich un-
günstig beeinflusst werden. Ich sah einen Fall, in dem eine in
Schüben verlaufende Katatonie nach jedem Wochenbette stärker
hervortrat, bis endlich der vierte Anfall zu tiefer, endgültiger
Verblödung führte. Solche Erfahrungen erwecken den ^ erdacht,
dass doch vielleicht noch eine besonders innige Beziehung zwi-
schen dem Wochenbette und der Katatonie bestehe. Eine solche
Vorstellung liegt auch deswegen nahe, weil die entschiedene
Vorliebe der Katatonie für die Entwicklungsjahre und das Ruck-
bildungsalter ebenfalls an dunkle Einflüsse des Geschlechtslebens
auf jene Krankheit denken lässt. Auf der anderen Seite scheinen
sich jedoch die Katatonien des Wochenbettes durchaus gar nicht
von anderen Formen zu unterscheiden, so dass wir wenigstens
einstweilen nicht berechtigt sind, aus ihnen eine eigenartige
klinische Gruppe zu bilden und damit dem Wochenbette eine mehr
als auslösende Bedeutung zuzuschreiben.
Zur Vorsicht in dieser Frage werden wir namentlich durch
das Beispiel des manisch-depressiven Irreseins gemahnt, dem wir
fast ebenso häufig im Wochenbette begegnen wie der Katatonie.
Depressive Formen überwiegen, aber auch manische, fehlen
durchaus nicht. Gar nicht selten sehen wir die Anfälle bei mehre-
ren Wochenbetten in gleicher Weise wiederkehren, aber sie
treten fast immer auch ausserhalb derselben aus anderem An-
lasse oder ganz von selbst hervor, ein Zeichen für die Selbstän-
digkeit der Störung gegenüber der auslösenden Schädlichkeit.
Geschlechtsleben und Fortpflanzungsgeschäft.
83
Auch hier gleichen die im Wochenbette beobachteten klinischen
Formen völlig den sonst bekannten. Die manischen und kata-
tonischen Erregungszustände nebst den weit selteneren Er-
schöpfungs- und Infektionsdelirien bilden die grosse Masse der
sogenannten „Puerperalmanien“, die somit keineswegs ein einheit-
liches Krankheitsbild darstellen, sondern eine Reihe von Erkran-
kungen umfassen, die nach Entwicklung und Ausgang sehr ver-
schieden sind. Hie und da sieht man im Wochenbette auch noch
ganz andersartige Formen des Irreseins beginnen, so z. B. die
Paralyse. Der Zusammenhang ist hier natürlich ebenfalls ein
sehr lockerer.
In der Mitte zwischen den Geistesstörungen der Schwanger-
schaft und des Wochenbettes stehen nach ihrer Häufigkeit
(4,9 Prozent aller weiblichen Aufnahmen in Irrenanstalten) die
psychischen Erkrankungen der Laktationszeit. Hier wird man
als Schädlichkeit in erster Linie die Erschöpfung durch Wochen-
bett und Säugegeschäft, vielleicht auch die durch beide hervor-
gerufenen Umwälzungen im Körperhaushalte zu betrachten haben.
Jedenfalls haben wir es wesentlich nur mit der Auslösung
schon anderweitig vorbereiteter psychischer Störungen zu tun;
dem entspricht die Tatsache, dass hier die krankhafte Veran-
lagung eine besonders wichtige Rolle zu spielen scheint. Auch
die klinischen Formen, die hier zur Beobachtung kommen,
weisen auf derartige Zusammenhänge hin. Ganz im Vordergründe
stehen die verschiedenen Krankheitsbilder des manisch-depres-
siven Irreseins, vorzugsweise Depressionszustände. Fast ebenso
häufig sind sodann Katatonien. Die Zeit des Ausbruchs der
Störung ist meist der 3. bis 5. Monat nach der Entbindung.
2. Psychische Ursachen.
Schon wiederholt haben wir in unserer bisherigen Darstellung
Gelegenheit gehabt, neben der unmittelbaren, körperlichen Ein-
wirkung der besprochenen Krankheitsursachen auch ihres psy-
chischen Einflusses zu gedenken. Man hat von diesem
Gesichtspunkte aus auch wohl die „gemischten“ Ursachen als
eine Zwischengruppe zwischen den körperlichen und den psy-
chischen hingestellt. Abgesehen von der aus unserer Grund-
6*
84
I. Die Ursachen des Irreseins.
anschauung sich mit Notwendigkeit ergebenden allgemeinen For-
derung, dass alle Störungen der psychischen Leistungen an solche
der Hirntätigkeit geknüpft sein müssen, ist die eigentliche Wir-
kungsweise der psychischen Ursachen noch völlig unbekannt; nur
einzelne Glieder des vermuteten Zusammenhanges können wir mit
Grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit namhaft machen.
So geht namentlich der Einfluss der Gemütsbewegungen regel-
mässig mit Veränderungen der Herztätigkeit, des Blut-
kreislaufs und der Atmung einher, welche ja die sphygmo-
graphische Untersuchung schon bei den leichtesten Gemüts-
bewegungen ohne Schwierigkeit nachweisen lässt; auch \er-
dauungs stör ungen scheinen durch psychische Ursachen
sehr häufig hervorgerufen zu werden, wie die alltägliche Er-
fahrung des Appetitmangels nach heftigem Ärger oder bei großem
Kummer dartut. Das wichtigste Bindeglied bei der Entstehung
des Irreseins aus psychischen Ursachen ist aber wohl die hier
niemals fehlende Beeinträchtigung des Schlafes, um
so mehr, als sie regelmässig auch eine Störung der Nahrungsauf-
nahme, nach sich zieht. Wo die lebhafte Erregung des. Gehirns
die Möglichkeit des Rühens und weiterhin eines gehörigen Er-
satzes der verbrauchten Ernährungsstoffe ausschliesst, da müssen
sich mit Notwendigkeit krankhafte Veränderungen im Sinne der
fortschreitenden Erschöpfung herausbilden.
Zu der Wirkung psychischer Schädlichkeiten pflegt . sich
aber fast immer noch diejenige mannigfacher körperlichei
Schwächungen durch Elend, Entbehrungen, schlechte Er-
nährung, unregelmässige Lebensweise, Ausschweifungen aller
Art hinzuzugesellen, so dass es im Einzelfalle gänzlich un-
möglich ist, den Anteil der verschiedenen Ursachen an dem
Zustandekommen des krankhaften Gesamtergebnisses auch nur
annähernd festzustellen. Griesinger ist der Ansicht, dass
im allgemeinen die psychischen Ursachen bei der Entstehung
des Irreseins ziemlich bedeutend die Rolle der körperlichen
überwiegen. Demgegenüber möchte ich meinerseits den psy-
chischen Ursachen, abgesehen vielleicht von ihrem Einflüsse auf
die gesamte Widerstandsfähigkeit, mehr eine auslösende und
beschleunigende Bedeutung zuschreiben. Bei bestehendem Irre-
sein sehen wir freilich psychische Eindrücke nicht selten eine
Gemütsbewegungen.
85
sehr deutliche Wirkung auf das Befinden unserer Pflegebefohle-
nen ausüben; namentlich die Verschlechterungen melancholischer
und cirkulärer Kranker durch Besuche ihrer liebsten Angehörigen
sind dafür ein lehrreiches Beispiel.
Nirgends vielleicht spielt die persönliche Eigenart,
die Empfindlichkeit des Betroffenen, eine grössere Rolle, als bei
der Entstehung des Irreseins aus psychischen Ursachen. Aller-
dings wissen wir, dass auch die körperliche Widerstandsfähigkeit
verschiedener Menschen innerhalb recht weiter Grenzen schwankt,
aber die Erfahrung lehrt, dass auf psychischem Gebiete die Unter-
schiede vielleicht noch um ein beträchtliches grösser ausfallen.
Sind es doch gerade diese Verschiedenheiten in der Verarbeitung
der wechselnden Eindrücke des Lebens, in welchen sich uns die
fast unabsehbare Mannigfaltigkeit der psychischen Persönlich-
keiten, der „Naturen“, „Charaktere“ und „Temperamente“ aus-
drückt ! So kommt es, dass psychische Ursachen allein im all-
gemeinen bei gesund entwickelten, rüstigen Persönlichkeiten wohl
nur äusserst selten wirkliche Geistesstörungen zu erzeugen im-
stande sind, während sie auf dem Boden einer krankhaften Anlage
zweifellos zu den wichtigsten Veranlassungen des Irreseins ge-
rechnet werden müssen.
Gemütsbewegungen. Am mächtigsten wirken natürlich solche
Eindrücke auf die psychische Persönlichkeit ein, die mit leb-
haften Schwankungen der gemütlichen Gleichgewichtslage ver-
bunden sind. Drückt sich doch gerade in der Stärke der Gefühle,
die einen Eindruck begleiten, der Grad des inneren Anteils aus,
welchen der Mensch an demselben nimmt 1 Die äussere Ursache
der Gemütsbewegung ist dabei an sich gleichgültig; „jedes Ge-
schlecht, jeder Stand, jedes Individuum“ sagt Griesinger,
„holt sich seine geistigen Wunden auf dem Kampfplatze, den ihm
die Natur und die äusseren Umstände angewiesen haben, und jeder
hat wieder einen anderen Punkt, auf dem er am verletzlichsten
ist, eine andere Sphäre, von der am leichtesten heftige Erschüt-
terungen ausgehen, der eine sein Geld, der andere seine äussere
Wertschätzung, der dritte seine Gefühle, seinen Glauben, sein
Wissen, seine Familie und dergleichen mehr.“ Fast ausschliess-
lich sind es die traurigen Gemütsbewegungen, die wir hier in
Betracht zu ziehen haben; wir wissen ja auch, dass gerade sie die
86
I. Die Ursachen des Irreseins.
mächtigsten und dauerndsten Stürme im Menschen zu erzeugen
vermögen, während selbst die höchsten Grade der Freude rasch
in das ruhige Gefühl des gesicherten Glücks überzugehen pflegen.
Angst vor einem bevorstehenden Unglück, Schreck über ein
unerwartetes Ereignis, Zorn über ein widerfahrenes Unrecht,
Verzweiflung über einen erlittenen Verlust — das sind die
gewaltigsten plötzlichen Erschütterungen, welchen unser psy-
chisches Gleichgewicht ausgesetzt ist, und die daher verhältnis-
mässig häufig als Ursachen tieferer und länger dauernder Stö-
rungen aufgeführt werden. Gerade hier dürften die regelmässig
vorhandenen körperlichen Begleiterscheinungen für die Ent-
stehung des Irreseins wesentlich mit ins Gewicht fallen.
Trotzdem ist es heute kaum möglich, bestimmte klinische
Krankheitsformen in ursächliche Beziehung zu heftigen Gemüts-
bewegungen oder gar zu den einzelnen Arten derselben zu setzen.
Man hat zwar vielfach von „Emotionspsychosen“ gesprochen und
denselben eine klinische Sonderstellung eingeräumt, allein ich
wäre aus eigener Erfahrung nicht imstande, dieselben genauer
zu kennzeichnen, da sie wegen ihres raschen Ablaufes jedenfalls
äusserst selten in die Hände des Irrenarztes kommen. Wir hören
indessen öfters, dass bei grossen Unglücksfällen diese oder jene
Person plötzlich anfängt, irre zu reden, sinnlos davon zu laufen,
die Umgebung anzugreifen; meist steht dann der Tod nahe bevor.
Derartige Fälle erinnern an das Grauen, das in unheimlichen
Lebenslagen die Klarheit des Blickes trüben und das Handeln
lähmen kann, an die Erscheinungen der Panik, die ganze Men-
schenmassen rasch zu einer Herde kopflos ins eigene V erderben
rennender Tiere machen kann. Es ist indessen zu berücksichtigen,
dass gerade in den rasch tödlich verlaufenden Fällen regelmässig
ausser den gemütlichen Erschütterungen schwere anderweitige
Schädigungen eingewirkt haben, namentlich längere Schlaflosig-
keit, äusserste geistige und körperliche Überanstrengung, Hunger,
Kälte, Entbehrungen aller Art. Dadurch werden die „Angst-
delirien“ vielleicht mit den Erschöpfungszuständen in eine ge-
wisse Verwandtschaft gebracht.
Wo dagegen wirklich nur starke Gemütsbewegungen einge-
wirkt haben, trägt die psychische Störung das Gepräge der hyste-
rischen Irreseinsformen ; sie ist dann auch vielfach von Lähmungs-
Gemütsbewegungen.
87
und Krampferscheinungen begleitet wie jene. So sah ich ein
junges Mädchen in einen mehrtägigen hysterischen Aufregungs-
zustand mit allgemeiner Chorea verfallen, als sie bei einem ge-
schlechtlichen Abenteuer ertappt worden war. Als besondere
Gestaltung dieser psychogenen Erkrankungen ist jedoch die durch
plötzliche heftige Gemütserschütterungen ausgelöste Schreck-
neurose zu nennen, die zwar der Hysterie in vielen Stücken nahe
steht, aber doch mit ihr nicht einfach zusammengeworfen werden
darf. Ferner gehören hierher gewisse Angstzustände, die sich
als mehr oder weniger klar bewusste Erinnerung an bestimmte
peinliche Erfahrungen regelmässig bei bestimmten Anlässen
wieder einstellen. Bei der Entstehung aller dieser psychogenen
Formen spielt übrigens die krankhafte Veranlagung des Betrof-
fenen eine sehr wesentliche Rolle.
Noch lockerer ist die ursächliche Verknüpfung zwischen Ge-
mütsbewegungen und Geistesstörung bei den übrigen Formen des
Irreseins. Die einzelnen manisch-depressiven Anfälle schliessen
sich, wie an andere Anlässe, nicht ganz selten an gemütliche
Aufregungen an. Dabei ist die klinische Färbung des Anfalls
von derjenigen des auslösenden Affektes ganz unabhängig. Hei-
tere, manische Erregung kann sich sehr wohl an einen traurigen
Anlass anschliessen; umgekehrt sah ich eine Dame mit verwirrten
Angstzuständen und peinigenden Sinnestäuschungen erkranken,
anscheinend in der Freude über die glückliche Verlobung ihrer
Tochter. Auch hier war jedoch schon vor langer Zeit eine ähnliche
Erkrankung vorausgegangen. Bei der Melancholie, deren Ent- ,
stehung öfters an wirkliche trübe Ereignisse anknüpft, scheint eine '
engere innere Beziehung zwischen gesunder und krankhafter Ver- |
Stimmung zu bestehen, doch ist auch hier Vorsicht in der j
Deutung am Platze, da sich die anscheinend ursächlichen Gemüts-
bewegungen bei nachträglicher Betrachtung häufig als bereits
krankhafte erweisen. Überdies entsteht die Krankheit oft genug
ohne jeden erkennbaren Anlass.
In höherem Grade vielleicht, als plötzliche Erschütterungen,
dürfte ein dauernder gemütlicher Druck imstande sein, krank-
hafte Störungen des Seelenlebens herbeizuführen. Wahrscheinlich
vermag auch unsere psychische Persönlichkeit im allgemeinen den
Einfluss schnell eintretender, aber kurz dauernder Schädlichkeiten
88
I. Die Ursachen des Irreseins.
leichter zu verwinden, als jene langsamen, nachhaltigen Einwir-
kungen, welche eine beständige Trübung des Stimmungshinter-
grundes herbeiführen, mit immer stärkerem Drucke allmählich
jede freiere, freudige Regung zurückdrängen und das Gefühl des
Unglücks bis zur Unerträglichkeit anwachsen lassen. Schlaflosig-
keit, schleichende Ernährungs-, Yerdauungs- und Kreislaufs-
störungen mögen hier als die körperlichen Einflüsse angesehen
werden, deren Wirkung sich an diejenige der psychischen Ur-
sachen anschliesst. Hierher gehört namentlich die Sorge in
ihren mannigfaltigen quälenden Formen, der Kummer über er-
littene Enttäuschungen, unglückliche Liebe, Trennung von ge-
liebten Personen und Versetzung in ungewohnte, peinigende Ver-
hältnisse (Heimweh), endlich die Reue über begangene Fehl-
tritte. Wie mir scheint, ist indessen die Wirkung auch dieser
Schädlichkeiten zumeist nur eine unterstützende; sie bereiten
den Boden für andere Krankheitsursachen vor. Ein besonders
fruchtbares Feld für die Wirkung derartiger Schädlichkeiten
bietet auch hier wieder die hysterische Veranlagung; so pflegt man
einen grossen Anteil an der erschreckenden Zunahme schwerer
psychischer Veränderungen nach Unfällen dem erbitternden und
aufreibenden Kampfe um die Rente zuzuschreiben. Auch die
übrigen Formen des Entartungsirreseins werden in Auftreten und
Verlauf sehr’ wesentlich durch gemütliche Erregungen beein-
flusst, insbesondere die verschiedenen Formen krankhafter
Angstzustände.
Überanstrengung*). Geistige Tätigkeit und Gemütsbewegung
beruhen auf den Lebensvorgängen in unserer Hirnrinde; das aus
ihnen entspringende Lebensgefühl ist eine der wichtigsten Grund-
lagen unseres Wohlbefindens. Dennoch kann ein Übermass jener
Vorgänge unter Umständen Schädigung unserer geistigen Gesund-
heit herbeiführen. Freilich haben wir hier von vornherein auf
einen grundlegenden Unterschied zwischen Verstandes- und Ge-
mütsleistung hinzuweisen. Die einfache geistige Arbeit führt
nach einer gewissen Zeit zur Ermüdung. Die subjektive Beglei-
terin derselben, die Müdigkeit, erzwingt in wachsender Stärke
schliesslich Einstellung der Tätigkeit, erzeugt Schlaf und schafft
*) M a n a c 6 i n e , Le surmenage mental dans la civilisation moderne. 1890.
Überanstrengung.
89
damit von selber die günstigen Bedingungen für den Ersatz des
verbrauchten Nervengewebes. Demgegenüber verscheucht die
gemütliche Erregung das Warnungszeichen der Müdigkeit trotz
tatsächlich vorhandener Ermüdung. Die Arbeitsleistung kann
daher unter ihrem Einflüsse bis zur Erschöpfung, bis zur unmittel-
baren Schädigung der körperlichen Grundlagen unseres Seelen-
lebens fortgesetzt werden. Bis zu einem gewissen Grade ge-
schieht das schon bei jeder geistigen Arbeit, die wir mit sehr
lebhaftem „Interesse“ verrichten. Hier kann die Ermüdungs-
abnahme der Leistungsfähigkeit einige Zeitlang durch wiederholte
starke Willensanstrengung, durch den „Antrieb“, ausgeglichen
werden, ja wir sehen unter solchen Umständen in den ersten
Stadien der Erschöpfung neben dem entschiedenen Sinken der
Arbeitsleistung die Zeichen der psychischen Erregbarkeitssteige-
rung durch gemütliche Einflüsse deutlich genug hervortreten.
Es ist demnach in erster Linie die mit gemütlicher Er-
regung einhergehende Arbeit, welche die Gesundheit zu ge-
fährden vermag. Je lebhafter von vornherein die Gefühlsbetonung
einer Arbeitsleistung, und je ausgeprägter überhaupt die gemüt-
liche Erregbarkeit des Arbeiters ist, desto grösser wird im ein-
zelnen Falle die Gefahr sein, dass die Zeichen des Ruhebedürf-
nisses verwischt werden und damit eine wirkliche Über-
anstrengung zu stände kommt. Vollzieht sich dieser Vorgang
häufiger oder gar gewohnheitsmässig, so werden die Folgen der
Überanstrengung durch die alltäglichen Ruhepausen nicht mehr
vollständig ausgeglichen: es kommt zu einer dauernden Steige-
rung der gemütlichen Erregbarkeit, Ausbleiben der Müdig-
keit und erheblicher Herabsetzung der geistigen Leistungs-
fähigkeit infolge von dauernder Erschöpfung. Das klinische Bild,
welches sich bei krankhafter Ausdehnung dieser Störungen ent-
wickelt, ist dasjenige der Neurasthenie. Die leichtesten Formen
derselben kann wohl ein jeder gelegentlich einmal an sich be-
obachten, wenn irgend eine Lebenslage erhöhte Anforderungen an
seine psychischen Leistungen stellt (Examen).
Im praktischen Leben können wir trotz der oben angedeuteten
Übergänge die wesentlich geistige von der gemütlichen Überan-
strengung einigermassen abscheiden. Der ersteren Form be-
gegnen wir namentlich bei Schülern, Studenten, Gelehrten, der
90
I. Die Ursachen des Irreseins.
zweiten dagegen, der Überbürdung mit Pflichten verschiedener
Art, bei Krankenpflegerinnen, Ärzten u. s. f. übermässige Ver-
standesarbeit birgt ernstere Gefahren wohl nur für jugendliche
oder krankhaft veranlagte Personen; in der Regel pflegen sich
die etwa auftretenden neurasthenischen Erscheinungen bei an-
gemessener Ruhe leicht wieder zu verlieren. Wo dagegen die
geistige Überanstrengung von beständiger gemütlicher Anspan-
nung, vom Gefühle schwerer Verantwortlichkeit und vielleicht
noch von körperlichen Strapazen und Ausschweifungen begleitet
wird, begegnen wir zumeist schwereren und länger dauernden
psychischen Veränderungen. Solche Tätigkeit ist es, welche den
Menschen rasch verbraucht, seine Leistungs- und V iderstands-
fähigkeit dauernd herabsetzt, ihn stumpf und reizbar zugleich
macht. Am besten sehen wir das vielleicht bei dem V artpersonal
in Irrenanstalten, welches nach langjährigem Anstaltsdienste fast
regelmässig die Zeichen einer dauernden Schädigung der ge-
samten Persönlichkeit darbietet. Ohne Zweifel bilden derartige
Veränderungen den günstigen Boden für das Auftreten weiterer
psychischer Erkrankungen, einerseits der hysterischen Formen,
andererseits der Rückbildungspsychosen; auch für die Entstehung
der Paralyse scheint die gemütliche Überanstrengung eine gewisse
Bedeutung zu haben.
Gefangenschaft. Eine ganze Reihe von psychischen Ursachen
findet sich vereinigt in der Gefangenschaft, namentlich in der
Einzelhaft, die erfahrungsgemäss nicht selten Geistesstörungen
erzeugt*). In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle besteht hier
schon eine mehr oder weniger schwere krankhafte Veranlagung,
teils auf Grund angeborener Entartung, teils durch mannigfache
Lebensschicksale (uneheliche Geburt, schlechte Erziehung, Krank-
heiten, Traumata, Alkoholismus) erworben. Dazu kommen die
besonderen hygienischen Verhältnisse des Gefängnislebens (ein-
förmige, knappe Kost, ungenügende Bewegung, Mangel frischer
Luft), die Nachwirkungen der Untersuchungshaft, der \ erlust der
persönlichen Freiheit und vor allem die Einsamkeit, welche dem
Eingesperrten zur grübelnden Beschäftigung mit den eigenen Ge-
*) Gut sch, Allgem. Zeitscbr. f. Psychiatrie, XIX, 1; Kirn, ebenda,
XLV, 1; Rüdin, ebenda, LVIII, 447.
Gefangenschaft.
91
danken gründliche Müsse gibt und ihn die Angst vor der Zukunft,
die Reue über das Begangene um so lebendiger empfinden lässt,
je weniger ihn sein Bildungsgrad und sein Charakter zur sittlichen
Selbsterziehung befähigt. Der Ausbruch der Psychose erfolgt
bisweilen schon in den ersten Tagen oder Wochen (Untersuchungs-
haft), häufiger nach einigen Monaten, unter Umständen erst nach
Jahr und Tag oder selbst nach langjährigem Verbrecherleben mit
zahlreichen, ohne geistige Erkrankung überstandenen Freiheits-
strafen. Am wirksamsten ist die Einzelhaft, deren Aufhebung-
vielfach, aber durchaus nicht immer, rasches Schwinden der
Krankheitszeichen herbeiführt. Doch kommen auch in der Gemein-
schaftshaft geistige Störungen oft genug zur* Beobachtung.
Bei weitem am häufigsten werden in der Stille der Isolier-
zelle hallucinatorische Krankheitsbilder, namentlich akut auftre-
tende, rasch verlaufende Formen, meist Verfolgungswahn, seltener
Grössenideen, vorwiegend mit Gehörstäuschungen, heftigen Angst-
zuständen und Selbstmorddrang beobachtet. Diese, zum Teil von
ihm als akute hallucinatorische Melancholie bezeichneten Zustände
hält Kirn für die eigenartige Psychose der Einzelhaft. Die ein-
gehende klinische Betrachtung einer grossen Zahl von derartigen
Fällen hat mir gezeigt, dass mindestens die Hälfte derselben
vollständig die Züge der Katatonie darbietet, wie sie ausserhalb
der Gefangenschaft beobachtet wird; auch der Ausgang in eigen-
artige Verblödung ist der gleiche. Recht häufig war hier der
akuten Erkrankung schon lange Zeit eine schleichend oder mit
leichten Angstzuständen einsetzende Verblödung vorausgegangen,
oder es handelte sich um frühzeitig ausgeprägte Gewohnheitsver-
brecher, bei denen dann irgend eine längere Freiheitsstrafe
das hallucinatorisch-katatonische Krankheitsbild zur Entwicklung
brachte; seltener, und dann oft in der Untersuchungshaft, brach
das Irresein bei solchen Personen aus, die bis dahin gar keine
auffallenden Züge dargeboten hatten. Eine weitere Gruppe bil-
den nach R ü d i n s Darlegungen die Alkoholisten mit Delirium
tremens und paranoiden Schwächezuständen, sodann Hysterische,
vereinzelte Paranoiker, Imbecille und namentlich Epileptiker. Bei
diesen letzteren handelt es sich in der Regel um gelegentliche
heftige Aufregungszustände mit Angst und deliriösen Sinnestäu-
schungen oder um einfache reizbare Verstimmungen (,, Zuchthaus-
92
I. Die Ursachen des Irreseins.
knall“), in einer kleineren Zahl von Fällen aber auch um lange
festgehaltene und geistig verarbeitete Verfolgungsideen mit leb-
haften Gehörstäuschungen.
Alle diese Krankheitsbilder lassen sich im wesentlichen
ohne besondere Schwierigkeit den ausserhalb des Gefäng-
nisses gemachten Erfahrungen einordnen. Sie sind höchstens
durch die grosse Lebhaftigkeit der Gehörstäuschungen sowie
durch die Wiederkehr gewisser naheliegender Wahnvorstel-
lungen ausgezeichnet, der Vorstellung, verspottet, hingerichtet,
vergiftet zu werden, oder umgekehrt, unschuldig verurteilt,
begnadigt worden zu sein und nun widerrechtlich festgehalten zu
werden u. s. f. Dagegen kommen ausser den klinisch ülaien
Bildern auch in beschränkterer Zahl Formen zur Beobachtung, die
einstweilen noch nicht befriedigend zu deuten sind und möglicher-
weise eigenartige Erzeugnisse der Gefangenschaft darstellen.
Hierher gehören namentlich rasch einsetzende und wieder schwin-
dende hallucinatorische Erregungszustände mit ausgeprägten Be-
einflussungsideen, die zwar nicht wahnhaft weiter \ erarbeitet,
aber auch nicht berichtigt, sondern dauernd festgehalten werden,
ohne dass jedoch weder vorher noch nachher die Zeichen einer
Verblödung auffindbar sind. Leichtere derartige Fälle mögen
vielfach in den Gefängnissen selbst ablaufen. Es muss der
weiteren Forschung Vorbehalten bleiben, zu entscheiden, ob es
sich hier um selbständige Krankheitsbilder oder nur um be-
sondere Gestaltungen sonst bekannter Formen handelt. Soviel
aber steht fest, dass die eigenartigen Bedingungen der Gefangen-
schaft imstande sind, den klinischen Bildern verschiedener Krank-
heitsvorgänge eine gewisse gemeinsame Färbung zu geben.
Krieg. Ganz besonders reich an psychischen Ursachen des
Irreseins ist der Krieg. Wenn Sommer*) den Nachweis ge-
liefert hat, dass der Militärdienst im Frieden wesentlich nur psy-
chopathisch veranlagte Personen krank macht und keinesfalls
mehr Opfer an Geistesstörungen fordert, als in der entsprechen-
den bürgerlichen Bevölkerung beobachtet werden, so pflegen
*) Sommer, Allgemeine Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIII, 13; Stier,
ebenda, LIX, 1; Ilberg, Über Geistesstörungen in der Armee zur Friedens-
zeit. 1903.
Krieg; Psychische Ansteckung.
93
doch Kriegs jahre*) regelmässig mit einer mächtigen Steigerung
der psychischen Erkrankungen in der Armee einherzugehen. Der
Grund dieser Erfahrung liegt zum Teil in der grösseren Häufung
von Gelegenheitsursachen, insbesondere von Kopfverletzungen und
akuten Krankheiten, hauptsächlich aber in der mehr chronischen
Schädigung durch körperliche Überanstrengungen, Schlaflosigkeit
und tiefgreifende, anhaltende gemütliche Erregungen. Die kli-
nischen Bilder sind demgemäss einmal schwere neurasthenische
Zustände und Schreckpsychosen, andererseits Gehirnerschütte-
rungspsychosen, Erschöpfungspsychosen, Epilepsie und ganz be-
sonders die Paralyse, deren Entstehung wir auf Rechnung der im
Feldzuge so vielfach erworbenen Syphilis zu setzen haben. Häufig
genug entwickelt sich das Irresein (namentlich die Paralyse) in-
folge der genannten Schädigungen erst nach längerer Zeit, um
dann meist einen schleichenden und ungünstigen Verlauf zu
nehmen.
Psychische Ansteckung. Zum Schlüsse haben wir noch des
Vorganges der uneigentlich sogenannten „psychischen Contagion“
zu gedenken, der Ausbreitung psychischer Störungen durch „An-
steckung“. Dass gewisse einfache unwillkürliche Bewegungen,
das Gähnen, Lachen, Räuspern, Husten, Erbrechen, durch Nach-
ahmung, d. h. durch die Erzeugung der Vorstellung dieser Be-
wegungen, hervorgerufen werden, ja dass sogar Ohnmächten
(Soldaten beim Impfen) und Krämpfe (Mädchenschulen) auf gleiche
Weise ausgelöst werden können, ist eine sehr bekannte Tatsache.
Den erregenden Einfluss des Beispiels zeigen ferner die Erfah-
rungen über das Verhalten grosser Volksmassen, die durch auf-
reizende Reden und Taten zu Handlungen getrieben werden können,
welche jeder einzelne für sich niemals begehen würde. Endlich
berichtet uns die Geschichte der Medizin von grossen geistigen
Epidemien,**) vorzugsweise religiösen Gepräges, die weite Kreise
ergriffen und zu widersinnigem Denken und Treiben geführt
haben. Ganz ähnliche Vorgänge werden unter verschiedenen
*) Sanitätsbericht über die deutschen Heere im Kriege gegen Frank-
reich 1870/71, Bd. VII.
**) Hecker, Die grossen Volkskrankheiten des Mittelalters, heraus-
gegeben von Hirsch. 1865; Sergi, psicosi epidemica. 1898; Rodrigues,
Annales medico-psych., VIII, 13, 19, 1901.
94
I. Die Ursachen des Irreseins.
Bezeichnungen noch heute bei gewissen leicht erregbaren Völker-
stämmen und religiösen Sekten beobachtet. Die letzten derartigen
Epidemien in der Gegend von Kiew hat S i k o r s k i *) eingehend
beschrieben. In einem Falle handelte es sich um einen Mann
mit religiösem Grössenwahn, dem sich zunächst einige unzweifel-
haft kranke Personen, weiter aber eine grosse Schar einfach un-
wissender und leichtgläubiger Bauern hinzugesellte. Sie alle
glaubten an die göttliche Sendung des Sektenstifters, an die
von ihm getanen Wunder, den von ihm ausgehenden himm-
lischen Geruch. In einer zweiten Epidemie, bei der eine Bäuerin
die Hauptrolle spielte, kam es dazu, dass sich in vier Gruppen 25
Personen lebendig begraben liessen, weil sie den W eltuntergang
für bevorstehend hielten. Auch der abenteuerliche Zug. der
Duchoborzen in Kanada gehört zu diesen Erscheinungen. Bei den
grossen geistigen Volksseuchen handelt es sich natürlich nui in
beschränktem Umfange um wirkliches Irresein; die Mehrzahl der
Teilnehmer befindet sich in Zuständen stärkster gemütlicher Er-
regung, von denen wir wissen, dass sie die Besonnenheit trüben
und die Selbstbeherrschung aufheben.
Es gibt aber andererseits auch gar nicht selten Fälle, in
denen mehrere miteinander in Berührung lebende Personen gleich-
zeitig oder kurz nacheinander unter ihrem gegenseitigen Ein-
flüsse in der gleichen Weise psychisch erkranken (induziertes
Irresein**), folie ä deux); ich selbst hatte Gelegenheit, im Zeit-
raum von acht Tagen drei mit religiöser Aufregung und Sinnes-
täuschungen erkrankte Geschwister in die Anstalt aufzunehmen.
Die Geistesstörung kann dabei entweder einfach durch die ge-
mütliche Erregung, welche sie bei der Umgebung erzeugt, als
Gelegenheitsursache krankmachend wirken; es handelt sich dann
meist um Anfälle des hysterischen oder manisch-depressiven Irre-
seins. Oder aber es werden geradezu gewisse Krankheitserschei-
nungen durch eine Art von Suggestion dauernd oder vorüber-
gehend von einer Person auf die andere übertragen. Nur in diesem
*) Sikorski, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, L, 778; ebenda, LV, 326.
**) Lehmann, Archiv f. Psychiatrie, XIV, 1; Jako wenko, Wjestnik
Psychiatrii. 1887; Werner, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLIV, 4 u. 5;
Wollenberg, Archiv f. Psychiatrie, XX, 1; Schön fei dt, ebenda,
XXVI, 202.
Psychische Ansteckung.
95
letzteren Falle hat man das Recht, von einer psychischen An-
steckung zu reden. In erster Linie kommt dabei die Übertragung
hysterischer Störungen in Betracht. Sodann aber macht man,
namentlich bei religiös Verrückten und bei Querulanten, nicht
selten die Beobachtung, dass sie die eine oder andere Person
ihrer nächsten Umgebung gänzlich in ihre Wahnideen hinein-
ziehen und von der Berechtigung ihrer Ansprüche vollständig
überzeugen. Die sekundär Erkrankten sind in solchen Fällen
regelmässig krankhaft veranlagte, beschränkte Personen mit sehr
geringer psychischer Widerstandsfähigkeit, vorzugsweise Frauen.
Meist pflegt jedoch bei ihnen keine selbständige weitere Verar-
beitung der Wahnideen stattzufinden. Vielmehr* nehmen sie ein-
fach urteilslos auf, was eine stärkere Persönlichkeit ihnen auf-
drängt; sie kommen wieder in ihr altes Geleise, sobald sie deren
übermächtigem Einflüsse entzogen werden. So werden in der
Irrenanstalt oft genug unselbständigere Kranke durch die Äusse-
rungen ihrer Genossen beeinflusst.
Hie und da aber sieht man auch eine wahre Geistes-
störung mit den gleichen, von aussen aufgenommenen Wahn-
bildungen, aber in durchaus selbständiger Entwicklung zu
stände kommen. Diese Fälle sind es, wie Schönfel dt
zutreffend ausgeführt hat, welche im eigentlichsten und
engsten Sinne als Irresein durch psychische Ansteckung zu be-
zeichnen wären. Allerdings wird man, wo es sich um Bluts-
verwandte handelt, immer mit der Möglichkeit einer gleichartigen
Erkrankung aus inneren Gründen zu rechnen haben. Der Aus-
bruch manisch-depressiver, hebephrenischer, katatonischer oder
paranoider Störungen bei mehreren Mitgliedern einer Familie,
auch ohne persönliche Berührung, ist so häufig, dass wir aus der
Gleichzeitigkeit noch nicht berechtigt sind, auf ursächliche Be-
ziehungen zu schliessen. Wenn wir auf der einen Seite auch die
erschütternde Wirkung nicht verkennen wollen, die das Auftreten
einer geistigen Störung auf das gemütliche Gleichgewicht der
nächsten Umgebung ausübt, so werden wir doch annehmen dürfen,
dass nur solche Personen selbständig erkranken, die den Keim
des Leidens schon in sich trugen.
Eine gewisse Verwandtschaft mit dem Vorgänge der psychi-
schen Ansteckung zeigen die in der neueren Zeit mehr beachteten
96
I. Die Ursachen des Irreseins.
Erfahrungen von geistigen Störungen im Anschlüsse an hypno-
tische und spiritistische*) Sitzungen. Die Aufregungen,
die damit verbunden sind, die abergläubischen Deutungen, die sich
an die geheimnisvollen Vorgänge knüpfen, bilden für empfäng-
liche und haltlose Naturen eine entschiedene Gefahr. Natürlich
ist von ursächlichen Beziehungen nicht die Rede in den zahlreichen
Fällen, in denen bei Geisteskranken einfach die Wahnvorstellung
hypnotischer oder spiritistischer Beeinflussung auftaucht:; der
Inhalt des Wahnes spiegelt hier nur die landläufigen Erklärungs-
versuche von Fernwirkungen wider. Dagegen kann namentlich
die Entwicklung von autohypnotischen Zuständen sehr ernste
Folgen nach sich ziehen, wie ich in einem zum Selbstmorde führen-
den Falle erlebt habe. Im allgemeinen handelt es sich um hyste-
rische Aufregungs- und Dämmerzustände, weiterhin aber auch
um grosse gemütliche Erregbarkeit und willenlose. Abhängigkeit
vom Hypnotiseur oder Medium. Ohne Zweifel spielt auch hier
die Veranlagung eine wesentliche Rolle, zumal von vornherein nur
solche Menschen sich mit grossem Eifer spiritistischen oder hyp-
notischen Sitzungen hinzugeben pflegen, die dafür besonders
empfänglich sind. Bei wirklich sachverständiger Handhabung der
Hypnose durch den Arzt lässt sich übrigens nach meiner Er-
fahrung jede Gefahr mit vollster Sicherheit ausschliessen.
B. Innere Ursachen (Prädisposition).
Mit der Betrachtung der krankhaften Veranlagung betreten
wir jenes zweite grosse Gebiet der ätiologischen Foi&chung,
welches sich mit den in der P e r s ö n 1 i c h k e i t d e s E r k r a n k-
ten selbst gelegenen Ursachen beschäftigt. Die Forderung,
ein vollständiges Verständnis für die Entstehung der Erkrankung
zu gewinnen, weist uns zurück auf die gesamte Entwicklungs-
geschichte der gegebenen psychischen Persönlichkeit und führt
uns zur Untersuchung aller jener inneren und äusseren Ein-
wirkungen, welche an der eigenartigen Ausprägung derselben mit-
gearbeitet haben. Der Übersichtlichkeit wegen pflegt man diese
Einflüsse in zwei Hauptklassen abzutrennen, in allgemeine
*) Henneberg, Archiv f. Psych., XXXIV, 3.
Lebensalter.
97
und persönliche, je nachdem sie sich auf grössere Gruppen
von Menschen insgesamt erstrecken, oder je nachdem sie nur
einzelne Mitglieder derselben betreffen und somit diesen letzteren
eine Sonderstellung gegenüber ihrer Umgebung verleihen.
1. Allgemeine Prädisposition.
Zwei verschiedenartige Bedingungen sind es, die man zumeist
unter der Bezeichnung der allgemein prädisponierenden Ursachen
zusammenfasst, nämlich einmal die Herabsetzung der
psychischen und körperlichen Widerstandsfähig-
keit, wie sie durch die besondere Veranlagung oder die beson-
deren Lebensverhältnisse einer Gruppe von Personen begründet
wird, dann aber auch die von den gleichen Umständen abhängige
grössere oder geringere Häufigkeit der äusseren
Ursachen psychischer Erkrankung. Streng genommen
kann natürlich nur im ersteren Falle von einer wirklichen Prä-
disposition die Rede sein, doch empfiehlt es sich aus praktischen
Gründen, auch die Betrachtung der letztgenannten Verhältnisse
hier anzuschliessen.
Lebensalter. Von den anthropologischen Eigenschaften,
welche die Ausbildung der psychischen Persönlichkeit ent-
scheidend beeinflussen, sind die wichtigsten das Lebensalter und
das Geschlecht. Das Gehirn des Neugeborenen ist in ge-
wisser Beziehung ein leeres Blatt; es ist wohl die Anlage vor-
handen, die dasselbe zu seinen späteren verwickelten Leistungen
befähigt, und es bestehen gewiss auch Anlagen, welche die Ent-
wicklung dieser Leistungen in eine bestimmte Bahn zwingen,
aber der Inhalt des Bewusstseins ist noch äusserst dürftig, die
Verknüpfung der einzelnen psychischen Vorgänge unvollkommen
und die Erinnerungsfähigkeit infolgedessen überaus beschränkt;
es ist noch keine feststehende, den Bewusstseinsinhalt und die
Triebbewegungen beherrschende, von der Aussenwelt abgegrenzte
psychische Persönlichkeit vorhanden.
Allerdings wird dieser Mangel sehr rasch ausgeglichen durch
die grosse Leichtigkeit, mit der sich im kindlichen Gehirne jene
funktionellen Verbindungen ausbilden, die wir als die Grundlage
der psychischen Vorgänge anzusehen pflegen. Indessen dieses
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Anfl. 7
98
I. Die Ursachen des Irreseins.
Verhalten schliesst zugleich eine Gefahr für das psychische Leben
des Kindes in sich. Die Möglichkeit einer so raschen Bereicherung
des Bewusstseinsinhalts beruht auf einer grösseren Empfänglich-
keit und Beeinflussbarkeit. Die grössere Erregbarkeit des Inter-
esses geht naturgemäss mit einer leichteren Ablenkbarkeit und
Zerstreutheit desselben einher; die Leichtigkeit, mit der sic
die Vorstellungen aneinander knüpfen, schliesst den Hang za
spielerischen Einbildungen und „märchenhafter Belebung der
Aussenwelt in sich. Dazu gesellt sich eine grosse Unbestandigkei ,
der Gemütsbewegungen und Stimmungen sowie die Neigung zu
raschem, unüberlegtem Handeln. Physiologisch drückt sich diese
Eigentümlichkeit des Kindesalters, wie wir durch So ltm an ns
Untersuchungen wissen, in der geringeren Ausbildung der hem-
menden Einflüsse im Nervensystem aus. _
Man sollte daher erwarten, dass die geringere . V lder-
standsfähigkeit des kindlichen Gehirns, wie sie auch im psy-
chischen Leben hervortritt, eine entschiedene Neigung zu gei-
stiger Erkrankung mit sich bringe. In der Tat spricht für diese
Ansicht die tägliche Beobachtung, indem sie uns zeigt, dass. ge-
wisse Schädlichkeiten, die der Erwachsene ohne Storung ertragt
z B leichte fieberhafte Erkrankungen, im Kindesalter alsbald
ausgeprägte psychische Veränderungen herbeizuführen pflegen.
Allein die unerschöpfliche Spannkraft der kindlichen Gewebe er-
möglicht offenbar einen rascheren und vollständigeren Ausg eic
der Störungen, so dass die Dauer wenigstens der heilbaren Formen
in der Regel nur eine kurze zu sein pflegt. Sie entgehen aus
diesem und anderen Gründen meist der psychiatrischen Zählung.
Dazu kommt, dass eine ganze Reihe jener Schädigungen die im
Laufe des späteren Lebens als die wichtigsten Ursachen des
Irreseins angesehen werden müssen (Alkohol, Syphilis, Ge-
schlechtsvorgänge, Überanstrengung, Sorgen), im Kindesalter so
gut wie ausgeschlossen sind. Trotz der an sich geringeien 1 ei
Standsfähigkeit sind daher psychische Störungen nach der An-
gabe aller Beobachter in den ersten Lebensjahren verhältnis-
mässig selten*); alle genauen Zahlenangaben verbieten sich wegen
der unsicheren statistischen Grundlagen von selbst.
*) Emminghaus, Die psychischen Störungen des Kindesalters. ISS-:
Moreau, La folie chez les enfants, deutsch von G a 1 a 1 1 i. 1889; I r e 1 a n d ,
Lebensalter.
99
Für die richtige Würdigung dieser Verhältnisse ist indessen
der Umstand in Betracht zu ziehen, dass schon vor der Geburt
und in den ersten Lebensjahren eine ganze Reihe von Krankheits-
vorgängen einsetzen, die zwar nicht klinisch reicher entwickelte
Geistesstörungen, wohl aber psychische Schwächezustände von
den leichtesten bis zu den schwersten Formen in ungemein
grosser Zahl erzeugen. Nur in einem Bruchteil der Fälle
handelt es sich dabei um Entwicklungsstörungen; zumeist sind
es Rindenerkrankungen bisher noch wenig bekannter Art, die
unter mehr oder weniger ausgedehnten Zerstörungen heilen,
aber natürlich die weitere psychische Ausbildung hindern.
Ausser den gröberen encephalitischen, porencephalischen, hy-
drocephalischen, luetischen und tuberkulösen Erkrankungen
spielen wohl auch Infektionen oder Selbstvergiftungen eine
Rolle, deren Spuren nur den feineren Untersuchungshilfs-
mitteln zugänglich sind. Hierher würde namentlich der Kre-
tinismus gehören, die Entwicklungsstörung durch Ausfall
der Schilddrüsentätigkeit. Man hat ferner an Giftwirkungen
vom Darm her gedacht, da Verdauungsstörungen bei kleinen
Kindern so leicht Hirnreizerscheinungen auslösen. Ein Teil der
in der Jugend zur Verblödung führenden Erkrankungen dürfte mit
der Hebephrenie wesensgleich sein, da gewisse klinische Bilder
der kindlichen Schwächezustände eine weitgehende Übereinstim-
mung mit denen der Entwicklungsjahre aufweisen und überdies
diese letzteren oft genug nur die Fortbildung von Krankheits-
zuständen darstellen, die in früher Jugend eingesetzt haben.
Ausser der Idiotie und Imbecillität beobachten wir im
Kindesalter vornehmlich Delirien bei fieberhaften Krankheiten
und namentlich epileptische und hysterische Störungen. Hie und
da begegnen wir in Form von leichten Verstimmungen oder Er-
regungen auch wohl den ersten Vorläufern des manisch-depres-
siven Irreseins. Ausserdem zeigen sich allmählich die mannig-
fachen Formen krankhafter Veranlagung, die zur Entwicklung
psychopathischer Persönlichkeiten führen. Endlich beginnen
The mental affections of children, idiocy, imbecility and insanity. 2. Aufl. 1900.
Manheimer, Les troubles mentaux de l’enfance. 1899; Infeld, Jahrb.
f. Psych., XXII, 326.
7*
100
I. Die Ursachen des Irreseins.
schon jetzt gewisse familiäre Erkrankungen des Nervensystems
und die vereinzelten Fälle von jugendlicher Paralyse.
Mit der fortschreitenden Ausbildung der psychischen Per-
sönlichkeit und mit dem gleichzeitigen Hervortreten mannig-
facher neuer Krankheitsursachen nimmt die Reichhaltigkeit der
Geistesstörungen allmählich zu. Die Entstehung des Irreseins
aus äusseren Ursachen wird dabei wesentlich durch deren Aus-
breitung in den einzelnen Lebensabschnitten bestimmt, wahrend
der Ausbruch endogener Geistesstörungen sich ganz vonüegenc
an gewisse Altersstufen knüpft. Zunächst kommen hier die mäch-
tigen körperlichen und psychischen Umwälzungen wahrend der
Entwicklungszeit*) in Betracht. ^ .
Ich muss es für sehr wahrscheinlich halten, dass in diesen
Vorgängen wesentliche Entstehungsbedingungen für einen Teil
jener Geistesstörungen zu suchen sind, die wir mit dem Namen
der Dementia praecox zu bezeichnen pflegen. Dafür spricht nich
nur der Umstand, dass gewisse Formen derselben gerade wahrend
der Entwicklungsjahre einsetzen, sondern namentlich auch die
bereits von Hecker betonte Anlehnung des klinischen Bildes
an die gewöhnlichen psychischen Veränderungen in jener Zeit,
Dahin gehören die lebhafte Tätigkeit der Einbildungskraft, die
eigentümlichen Stimmungsschwankungen, die Reizbarkeit, die
Neigung zu Schwärmerei und Empfindsamkeit, die. geschlecht-
liche Erregbarkeit, die Antriebe zu allerlei unvermitteltem und
unüberlegtem Handeln. Alle diese Züge finden sich in krankhafter
Ausprägung namentlich bei den hebephrenischen Erkrankungen
wieder. Allerdings haben wir es hier stets mit greifbaren und
eigenartigen Zerstörungen in der Hirnrinde zu tun, über deren
nähere Beziehungen zu den Entwicklungsvorgängen noch völliges
Dunkel herrscht.
Ausser der Dementia praecox treffen wir in diesem Alter
häufig auf die ersten Anfänge des manisch-depressiven Irreseins
in Form von leichteren oder schwereren Aufregungs- und Depres-
sionszuständen. Ihre Entstehung ist vielleicht in erbindung zu
bringen mit der bekannten grösseren gemütlichen Erregbarkeit
dieses Lebensalters, wie sie sich auch in der Häufigkeit \ on
*) W. Wille, Die Psychosen des Pubertätsalters. 1898.
Lebensalter.
101
Leidenschaftsverbrechen, von Körperverletzungen und Wider-
stand kundgibt. Ferner treten jetzt vielfach epileptische und
hysterische Krankheitserscheinungen deutlicher hervor, ebenso
die vielgestaltigen Formen des Entartungsirreseins.
Endlich aber beginnen nunmehr auch eine Anzahl von äusseren
Schädlichkeiten ihren Einfluss zu entfalten, da allmählich der
Schutz des elterlichen Hauses mit einer grösseren Selbständigkeit
der Lebensführung vertauscht wird. Allerlei Verführungen und
Kämpfe treten an die noch unfertige Persönlichkeit heran; die
Schädigungen, welche der Kampf ums Dasein mit sich bringt,
äussern ihre ersten Wirkungen. Dabei macht sich die Unzu-
länglichkeit der persönlichen Anlage allmählich stärker geltend.
Jene psychischen Krüppel, die dem Kampfe ums Dasein nicht
gewachsen sind, beginnen durch ihre eigentümliche Entwick-
lungsrichtung, durch unzweckmässige Verarbeitung der Lebens-
reize und geringere Widerstandsfähigkeit sich deutlicher aus-
zusondern. Für das männliche Geschlecht wird jetzt ganz be-
sonders der Alkohol gefährlich, für das weibliche das Fort-
pflanzungsgeschäft. Auch akute Krankheiten, heftige Gemüts-
erschütterungen, gelegentlich einmal Überanstrengung können
zu allerlei Schädigungen führen. Gleichwohl ist die Häufigkeit
psychischer Erkrankungen hier noch keine allzu grosse.
Die grösste statistische Häufigkeit der Geistesstörungen fällt
in die Zeit der vollen Kraftentfaltung vom 25. bis zum
40. Lebensjahre. Sicherlich ist der Grund nicht die besondere
Verletzlichkeit der entwickelten körperlichen und geistigen Per-
sönlichkeit, sondern lediglich die Zahl der von aussen auf die-
selbe einstürmenden Krankheitsursachen. Die Widerstandsfähig-
keit ist in diesem Alter zweifellos am grössten, aber die Schäd-
lichkeiten sind in rascherem Fortschritte angewachsen, als jene.
Die Schwierigkeiten der Lebensführung vergrössern sich mit der
zunehmenden Selbständigkeit und der Sorge um Weib und Kind;
aus der weiter reichenden Verantwortlichkeit entspringen ernstere
Kämpfe und Sorgen; die höher gestellten Hoffnungen bringen
Enttäuschungen mit sich, und die dauernde Anspannung aller
körperlichen und geistigen Kräfte im Daseinskämpfe geht mit der
Gefahr der Abnutzung und Abstumpfung einher. Dazu gesellen
sich die vielfachen Erkrankungen, denen die rücksichtslose Arbeit
102
I. Die Ursachen des Irreseins.
den Menschen aussetzt, die verhängnisvollen "V orgänge des Ge-
schlechtslebens beim Weibe, ganz besonders auch die verderbliche
Wirkung der Ausschweifungen in Trunk und Liebe nebst deren
tückischer Begleiterin, der Syphilis. Eine Reihe verschieden-
artiger Formen des Irreseins gewinnen daher in diesem Alter
ihre weiteste Verbreitung. Entschieden im Vordergründe jedoch
steht die Paralyse und der Alkoholismus, namentlich beim männ-
lichen Geschlechte; bei den Frauen treten demgegenüber die
einzelnen, nunmehr sich häufenden Anfälle des manisch-depres-
siven Irreseins stärker hervor. Seltener sind die V erblödungs-
formen geworden, doch gehören gerade die paranoiden Erkran-
kungen vielfach diesem Alter an; auch die echte Paranoia pflegt
hier zu beginnen.
In dem Jahrfünft vom 36. bis zum 40. Lebensjahre ist die
Zahl psychischer Erkrankungen auf ihrem Höhepunkte angelangt.
Von da ab wird das Irresein allmählich seltener, vielleicht des-
wegen, weil nunmehr das Ziel einer gesicherten Lebensstellung
in der Mehrzahl der Fälle erreicht ist und damit eine Anzahl von
Sorgen und Aufregungen in Wegfall kommt, andererseits, veii
das reifere Alter der Verführung zu Ausschweifungen weniger
zugänglich ist und beim Weibe die Gefahren des Fortpflanzungb-
geschäftes zurücktreten. Dazu kommt, dass im nunmehr be-
ginnenden Greisenalter die Empfindlichkeit für gemütliche Er-
schütterungen zweifellos bedeutend abnimmt. Endlich aber ist
dieses Lebensalter gewissermassen bereits „durchseucht ; die
grosse Mehrzahl der Gefährdeten ist schon früher den verderb-
lichen Einflüssen der Krankheitsursachen unterlegen. Aus allen
diesen Gründen lässt die Häufigkeit psychischer Erkrankungen
mit zunehmendem Alter zuerst ein langsames, von der Mitte der
50er Jahre aber ein rasches Sinken erkennen.
Andererseits jedoch haben nicht selten die aufreibenden
Schädigungen des Lebens hier eine neue, erworbene Prädisposition
geschaffen, indem sie die Widerstandsfähigkeit des verbrauch-
ten Gehirns untergraben. Das Alter wird selbst zur Krankheit,
der bis zu einem gewissen Grade schliesslich ein jeder erliegen
muss.*) Die Aufnahmefähigkeit des Greises, seine geistige Be-
*) Fried mann. Die Altersveränderungen und ihre Behandlung. 1902.
Lebensalter.
103
weglichkeit nimmt ab; er beginnt allmählich, fremd in seiner
Umgebung und in seiner Zeit zu werden. Sein Gedächtnis
wird unzuverlässig, namentlich für die jüngste Vergangenheit;
der Gesichtskreis verengt sich wegen der Unzugänglichkeit für
neue Anregungen; der Vorstellungsschatz verarmt, da der fort-
schreitende Verlust an Vorstellungen nicht mehr durch neuen
Erwerb ausgeglichen wird. Auch auf gemütlichem Gebiete kommt
es zu einer gewissen Verödung, zu einer Einschränkung der Ge-
fühlsregungen auf die allernächsten und unmittelbarsten Inter-
essen. Ohne Zweifel liegen dieser psychischen Umwandlung be-
stimmte körperliche Veränderungen zu Grunde. Wir erinnern nur
an das Klimakterium der Frauen und die entsprechenden, freilich
weit weniger einschneidenden Vorgänge beim Manne, ferner an
die augenfälligen Rückbildungen in den gesamten Organen des
alternden Körpers. Unter diesen hat man den Gefässverände-
rungen, der Arteriosklerose, eine besondere Bedeutung zugeschrie-
ben; sie sind nicht nur Begleiterscheinungen des eigentlichen
Greisenalters, sondern sie können auch schon früher sehr hohe
Grade erreichen. Andererseits beobachten wir zu dieser Zeit
im Rindengewebe selbst eine Reihe verschiedener Krankheits-
vorgänge, die schwerlich als einfache Folgen der Gefässverände-
rungen aufgefasst werden dürfen.
Als klinischen Ausdruck des Rückbildungsalters können wir
zunächst die Melancholie betrachten. Ausserdem scheint sich
die Herabsetzung der psychischen Widerstandsfähigkeit in diesem
Lebensabschnitte darin zu verraten, dass jetzt noch gewisse
Geistesstörungen beginnen können, die wir auf eine ursprüngliche
krankhafte Veranlagung zurückzuführen pflegen. Dahin gehört
namentlich das manisch-depressive Irresein; bisweilen ist schon
ein vereinzelter erster Anfall im Entwicklungsalter vorher-
gegangen. Sodann beginnen in diesem Lebensalter eine Reihe
zur Verblödung führender Irreseinsformen, die wir jetzt noch
mit unter dem Begriffe der Dementia praecox zusammenfassen.
Einerseits sind es paranoide Bilder mit abenteuerlichen Wahn-
bildungen und Sinnestäuschungen, andererseits die noch wenig
bekannten depressiv-katatonischen Formen, die meist mit der Melan-
cholie zusammengeworfen werden. Endlich haben wir auch des
senilen und präsenilen Beeinträchtigungswahnes hier zu gedenken.
104
I. Die Ursachen des Irreseins.
Mit dem Eintritte des eigentlichen Greisenalters gewinnen
die Geistesstörungen immer mehr den gemeinsamen Grundzug
der psychischen Schwäche. Abnahme des Gedächtnisses,
Unfähigkeit zur Auffassung und Verarbeitung neuer Eindrücke,
Verwirrtheit und Zerfahrenheit, Oberflächlichkeit der Gemüts-
bewegungen, hypochondrische Befürchtungen, nächtliche Unruhe,
dabei Neigung zu rascher Verblödung sind die hervorstechendsten
Züge der hierher gehörigen Krankheitsbilder, unter denen neben
dem einfachen, mehr oder weniger hochgradigen Altersblödsinn
die senilen Depressionszustände, die deliriösen Erregungen, die
Presbyophrenie und die arteriosklerotische "V erblödung im U order-
grunde stehen. Vereinzelt begegnen wir noch den letzten Aus-
läufern des manisch-depressiven Irreseins. Bemerkenswert ist
überall die Häufigkeit von Gehirnerscheinungen, Schwindel, apha-
sischen Störungen, Schlaganfällen, Krämpfen und Lähmungen.
Geschlecht. Die Frage nach der Veranlagung der beiden
Geschlechter zu psychischer Erkrankung ist auf Grund
statistischer Erhebungen vielfach verschieden beantwortet wor-
den. Ohne weiteres Eingehen auf die Würdigung der Fehler-
quellen derartiger Angaben sei hier nur bemerkt, dass die Sta-
tistik im allgemeinen keine erheblichen und sicheren Unter-
schiede in der Häufigkeit des Irreseins zwischen beiden Ge-
schlechtern erkennen lässt. In Wirklichkeit dürfte es kaum
zweifelhaft sein, dass das Weib mit seiner zarteren Veranlagung,
mit der geringeren Ausbildung des Verstandes und dem stärkeren
Hervortreten des Gefühlslebens weniger Widerstandsfähigkeit
gegen die körperlichen und psychischen Ursachen des Irreseins
besitzt, als der Mann. Allein die Bedeutung dieses Umstandes
wird ausgeglichen durch die verhältnismässig geschützte Stel-
lung, die das Weib dem unvergleichlich stärker gefährdeten Manne
gegenüber einnimmt. Alle jene Schädlichkeiten, die der Kampf
ums Dasein mit sich bringt, treffen in erster Linie und vorwiegend
den Mann, dem die Sorge für die Familie obliegt, wenn auch die
Mühsalen des Lebensunterhaltes für das unverheiratete Weib
vielfach weit grösser sein mögen. Ferner ist vor allem auf die
Wirkung der Ausschweifungen nach den verschiedensten Rich-
tungen hinzuweisen, Gefahren, denen ganz vorzugsweise der Mann
wegen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Unabhängig-
Geschlecht.
105
keit seiner Stellung ausgesetzt ist, während das Weib, durch Er-
ziehung und Sitte gebunden, stets ein eintönigeres, regelmäs-
sigeres und ruhigeres Leben zu führen gezwungen ist. Wo dieser
Zwang einmal durchbrochen und der Leidenschaftlichkeit der
weiblichen Natur freier Spielraum gegeben ist, bei Prostituierten,
sehen wir daher sofort die geringere Widerstandsfähigkeit des
weiblichen Geschlechtes in erschreckenden Prozentsätzen des
Irreseins und der Selbstmorde zum Ausdruck gelangen*). Aller-
dings dürfte gerade hier die verhältnismässige Häufigkeit ur-
sprünglicher krankhafter Veranlagung wesentlich in Rechnung
zu ziehen sein.
Die Entstehung der eigentümlichen Geistesstörungen des
Weibes wird durchaus beherrscht durch die Vorgänge des
Geschlechtslebens. Die Bedeutung der Sexualerkran-
kungen, der Schwangerschaft, des Wochenbettes, des Säuge-
geschäftes ist schon früher berührt worden; sie tragen die Schuld,
dass zwischen dem 16. und 35. Lebensjahre tatsächlich die Gefähr-
dung des weiblichen Geschlechtes eine etwas höhere ist, als die-
jenige des Mannes. Nach jenem Zeitpunkte zeigt dieselbe an sich
und verhältnismässig eine Abnahme, bis mit den mannigfachen
Umwälzungen und Störungen im Rückbildungsalter, etwa von
Mitte der 40er Jahre bis Mitte der 50er Jahre, die Zahl der psy-
chischen Erkrankungen beim Weibe wieder etwas überwiegt.
Ja, zwischen dem 61. und 65. Lebensjahre lässt sich sogar ge-
radezu eine Zunahme der Geistesstörungen beim weiblichen Ge-
schlechte nachweisen, die allerdings im späteren Alter wieder
einer rascheren Abnahme Platz macht. Dennoch erscheint das
Weib von da ab dauernd mehr gefährdet, als der Mann.
Den Verschiedenheiten in den ursächlichen Verhältnissen bei
beiden Geschlechtern entspricht auch das Vorwalten der einzelnen
Krankheitsformen bei ihnen. Die Dementia paralytica, die Ver-
giftungspsychosen, insbesondere der Alkoholismus, das epilep-
tische Irresein, die Verrücktheit, die erworbene Neurasthenie,
das traumatische Irresein, die Schreckneurose überwiegen beim
männlichen Geschlechte. Beim Weibe begegnen wir dagegen
auffallend häufig den mit lebhaften Stimmungsschwankungen
*) v. Oettingen, Moralstatistik. 3. Auflage. 1882, 767.
106
I. Die Ursachen des Irreseins.
einhergehenden manisch-depressiven Geistesstörungen, für welche
vielfach die periodischen Umwälzungen im Geschlechtsleben den
günstigen Boden abgeben. Auch die Entwicklung ausgeprägter
Formen der Hysterie wird anscheinend durch die Eigentümlich-
keiten der weiblichen Anlage begünstigt. Ferner beobachten
wir hier häufiger die Erschöpfungs- und Infektionspsychosen,
meist im Zusammenhänge mit den V orgängen des Fortpflanzungs-
geschäftes, während im Klimakterium des Weibes die Neigung
zu melancholischen Erkrankungen stärker hervortritt. \ on den
Verblödungskrankheiten scheinen die einfach hebephrenischen
Formen das männliche, die katatonischen das weibliche Geschlecht
etwas zu bevorzugen; auch hier bestehen deutliche Beziehungen
zum Fortpflanzungsgeschäfte.
Volksart und Klima. Sehr wenig Sicheres lässt sich bei dem
jetzigen Stande der Statistik und der grossen Schwierigkeit der
Frage über die Neigung der einzelnen Volksstämme zu geistiger
Erkrankung aussagen. Zunächst sind die Zählungen der Geistes-
kranken in den meisten Ländern so unsicher, dass sie durchaus
keine vergleichbaren Bilder geben. Sodann aber ist es unmöglich,
die Wirkung der verschiedenen Einflüsse, welche die Häufigkeit
des Irreseins bedingen, voneinander zu trennen, der A olksart,
der Lebensgewohnheiten, des Klimas, der Ernährung, der all-
gemeinen Gesundheitsverhältnisse u. s. f. Dennoch hat es den
Anschein, als ob Geistesstörungen bei Völkern, die unter ein-
fachen Bedingungen leben, weit seltener sind, als bei uns. Dass
dabei wirklich die Eigenart der A7ölker selbst eine Rolle spielen
kann, beweist das Beispiel der Juden*), die ohne gröbere Fehler
mit der sie umgebenden Bevölkerung verglichen werden können.
Dieser Vergleich ergibt, dass wenigstens in Deutschland und
ebenso in England die Juden in erheblich höherem Masse zu gei-
stiger und nervöser Erkrankung veranlagt sind, als die Germanen.
Allerdings sind bei ihnen die alkoholischen Formen des Irreseins
recht selten; dagegen treten ausserordentlich stark jene Stö-
rungen in den A7ordergrund, die wir auf erbliche Entartung zu-
rückzuführen pflegen. Vielleicht spielt dabei eine gewisse Rolle
die Vorliebe der Juden für Verwandtschaftsheiraten, von denen
*) P i 1 c z , Wiener klinische Rundschau. 1901, 47 u. 4S.
Volksart und Klima.
107
wir wissen, dass sie eine bestehende Krankheitsanlage in bedenk-
licher Weise fortzubilden imstande sind.
Ein gewisses Licht auf die hier erörterte Frage wirft
vielleicht auch die Selbstmordstatistik*). Die Unterschiede
nicht nur der grossen Volksstämme, sondern auch der ein-
zelnen kleineren Gruppen untereinander sind so beträcht-
liche, dass sie schlechterdings nicht allein oder auch nur
hauptsächlich auf die verschiedenen Lebensbedingungen zu-
rückgeführt werden dürfen. Wer Gelegenheit gehabt hat, die
ausserordentliche Selbstgefährlichkeit der Geisteskranken in
Sachsen kennen zu lernen, wird erstaunt sein, in Bayern etwa
oder in der Pfalz eine unvergleichlich geringere Selbstmord-
neigung anzutreffen. Dass dieselbe bei den Romanen noch weit
mehr in den Hintergrund tritt, ist bekannt. Auch hinsichtlich
der Gewalttätigkeit der Kranken bestehen sehr grosse Verschie-
denheiten. In Deutschland stehen nach meinen Erfahrungen Ober-
und Niederbayern in dieser Beziehung bei weitem obenan, während
die sächsischen Kranken im allgemeinen eine sehr geringe Neigung
zu Gewalttätigkeiten zeigen; die Kranken der Pfalz zeichnen sich
dagegen durch sehr grosse Unruhe aus. In sehr erheblicher Weise
wird die Häufigkeit und die Eigenart des Irreseins bei den ver-
schiedenen Völkern ferner durch die von ihnen bevorzugten Ge-
nussmittel bestimmt. So tritt bei den germanischen Stämmen
sehr ausgeprägt der Hang zum Alkohol in den Vordergrund,
während die Romanen im allgemeinen weit mässiger sind und
die Muhammedaner und Buddhisten jenes Gift durchaus verab-
scheuen. Dafür begegnen wir in Vorderasien und Nordafrika
den Geistesstörungen durch Haschisch, in Ostasien dem Opium-
missbrauche, der allerdings weit weniger tief in das Seelenleben
eingreift, endlich in Peru dem Cocai'nismus.
Von der allergrössten Bedeutung wäre es natürlich, einen
Einblick in die Häufigkeit der einzelnen klinischen Krankheits-
formen bei den verschiedenen Völkern zu gewinnen. Leider fehlen
dafür heute noch die notwendigsten Voraussetzungen, da die
überwiegende Mehrzahl unserer klinischen Diagnosen nur viel-
*) M o r s e 1 1 i , Der Selbstmord, deutsch von K u r e 1 1 a. 1881 ; Dürk-
heim, Le suicide, etude de sociologie. 1897.
108
I. Die Ursachen des Irreseins.
deutige Zustandsbilder umfasst. Höchstens die Angaben über
das Vorkommen der Paralyse können vergleichbar erscheinen.
Wir erfahren, dass sie in Irland, in Spanien, Nordafrika, in Bosnien,
Persien, Abbessynien und Japan weit seltener ist, als bei uns,
obgleich in manchen dieser Länder die Syphilis eine ungeheure
Verbreitung aufweist. Dabei ist aber zu bemerken, dass die
schweren Formen der Lues wenigstens in Mittelafrika fast ganz
fehlen; die Krankheit beschränkt sich dort wesentlich auf Haut-
ausschläge und Geschwüre und besitzt grosse Neigung zur Selbst-
heilung. Bei Naturvölkern scheinen die Krankheitsbilder der
Hysterie und Epilepsie nicht selten zu sein. Der ersteren zum
mindesten nahe verwandt ist das unter verschiedenen Namen auch
bei anderen Völkern beobachtete „Latah“ der Malayen, das sich
wesentlich in Anfällen von Befehlsautomatie oder Koprolalie
äussert, die durch Schreck ausgelöst werden. Dagegen dürfte
das bekannte „Amok“ der Malayen in das Gebiet der epileptischen
Störungen gehören. Zu erwähnen wäre etwa noch die in V est-
afrika und neuerdings auch in Uganda epidemisch auftretende
Schlafkrankheit der Neger, der eine diffuse, meist binnen Jahres-
frist zum Tode führende Hirnerkrankung bisher unbekannten Ur-
prungs zu Grunde liegt.
Höchst wahrscheinlich hat auch das Klima auf die Häufig-
keit und Form des Irreseins einen gewissen Einfluss, wenn auch
genaueres darüber kaum bekannt ist. Für jene Annahme sprechen
indessen zunächst die Erfahrungen, die man über die Abhängig-
keit der Selbstmorde und Verbrechen von Jahreszeiten und Klima
gemacht hat. Ferner habe ich den Eindruck, als ob die Auf-
regungszustände unserer Kranken im Sommer meist heftiger ver-
laufen, als im Winter; bei cirkulären Fällen sieht man nicht
selten die Depression gerade in den Winter fallen. In Italien
scheinen plötzliche triebartige Erregungszustände häufiger vor-
zukommen, als bei uns; andererseits sind mir bei den Esten
keine wesentlichen Abweichungen gegenüber unseren Kranken
aufgefallen. Rasch*) hat neuerdings über den Einfluss des
Tropenklimas auf eingewanderte Europäer berichtet. Er kommt
zu dem Ergebnisse, dass sich im Laufe der Jahre allmählich
*) Rasch, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIV, 745.
Allgemeine Lebensverhältnisse.
109
Schlaffheit, Gleichgültigkeit, Abnahme des Gedächtnisses, Ver-
lust der gemütlichen Widerstandsfähigkeit, Reizbarkeit und Em-
pfindlichkeit („Tropenkoller“), endlich Schwinden der Tatkraft
einstelle.
Allgemeine Lebensverhältnisse. Es kann nicht zweifelhaft
sein, dass die gesamten Lebensbedingungen, unter denen ein Volk
sich befindet, einen nachhaltigen Einfluss auch auf die Häufig-
keit des Irreseins gewinnen müssen; hängt doch von ihnen nicht
nur die allgemeine Widerstandsfähigkeit, sondern auch die Ver-
breitung der besonderen Krankheitsursachen ab. Wie es scheint,
nimmt die Zahl der Geistesstörungen mit steigender Gesittung
zu. Allerdings ist es schwierig, diesen Satz sicher zu beweisen,
da die Zahlenangaben über die Häufigkeit des Irreseins bei Natur-
völkern oder bei Völkern von verschiedener Stufe der Gesittung
aus naheliegenden Gründen keinen Vergleich gestatten. Dagegen
lassen regelmässige Zählungen bei uns mit Bestimmtheit eine
rasche Zunahme der anstaltsbedürftigen Geisteskranken er-
kennen, welche das allgemeine Anwachsen der Bevölkerung weit
übersteigt. Zum Teil ist diese Zunahme sicher durch die grössere
Sorgfalt der Zählung, durch die bessere Kenntnis der Geistes-
störungen bedingt; zum Teil auch hängt sie mit der wachsenden
Schwierigkeit zusammen, in den verwickelteren Lebensverhält-
nissen Geisteskranke ohne Gefahr ausser der Anstalt zu ver-
pflegen. Je grösser die Gefahr von Unglücksfällen oder Zusam-
menstössen mit der Umgebung wird, je enger das Beisammen-
wohnen, je kostbarer die einzelne Arbeitskraft, desto stärker
wächst die Neigung der Bevölkerung, ihre Geisteskranken der
Anstalt zu übergeben.
Dennoch können wir, wie ich glaube, nicht wohl mehr daran
zweifeln, dass wir tatsächlich mit einer Zunahme des Irreseins
zu rechnen haben. Dafür spricht ausser dem erschreckend
schnellen Anwachsen der Zahlen die gleichzeitige Steigerung der
Selbstmordhäufigkeit, dann aber auch der eigentümliche Gegen-
satz, der sich zwischen Stadt- und Landbevölkerung heraus-
stellt. Gerade die grossen Städte mit ihren erhöhten An-
forderungen an die geistige und sittliche Kraft des Einzelnen,
mit ihrer Erschwerung der Lebensbedingungen und ihren mannig-
fachen Verführungen zu Ausschweifungen aller Art sind es, welche
110
I. Die Ursachen des Irreseins.
bei weitem den grössten Beitrag zu der raschen Vermehrung
der Geisteskrankheiten und des Selbstmordes liefern. Dort sind
die Umwälzungen, die unser Zeitalter in den gesamten Lebens-
verhältnissen herbeigeführt hat, am schärfsten ausgeprägt. Die
vollständige Umgestaltung des Arbeitsbetriebes durch Dampf
und Elektrizität, die Vernichtung des Handwerks, die Entwicklung
des Fabrikwesens, der ins Ungeahnte gesteigerte wirtschaftliche
und geistige Verkehr stellen heute Anforderungen an die Lei-
stungsfähigkeit des Einzelnen, die weit über das früher Gewohnte
hinausgehen. Alle diese Wandlungen sind mit so unerhörter
Schnelligkeit vor sich gegangen, dass wohl nur die anpassungs-
fähigsten Naturen denselben völlig haben folgen können. Wir
leben in einer Übergangszeit, in welcher sich der Kampf ums
Dasein naturgemäss ganz besonders heftig und aufreibend ge-
staltet. Das ist, wie ich meine, der Hauptgrund, warum die An-
zahl derer so unheimlich zunimmt, die den allzu rasch gesteigerten
Anforderungen unseres heutigen Lebens nicht genügen una in
dem friedlichen Ringen kampfunfähig werden. Ein neues,
heranwachsendes Geschlecht wird in diesen Kampf von v orn-
herein mit frischer Kraft und besseren Waffen eintreten und
sich damit auch den veränderten Lebensbedingungen anpassen
lernen.
Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass jedem Übel am
Körper der Menschheit alsbald auch das Heilmittel zu erwachsen
pflegt. Das hastige Leben unserer Zeit ist gleichzeitig auch
reicher geworden; die Not hat auch die Hilfsbereitschaft ver-
mehrt. Allmählich werden die vielfachen Bestrebungen zur Lin-
derung des Elends, zur Erziehung des Volkes für seine neuen
Aufgaben ihre segensreiche Wirkung entfalten können und auch
die Schwachen stützen, die aus eigener Kraft der neuen Zeit
nicht zu folgen vermögen. Ja, in gewissem Sinne können wir
sogar sagen, dass gerade die stärker erwachende Menschenliebe
einen nicht unwesentlichen Anteil an der Zunahme oer Geistes-
störungen hat, indem sie eine grosse Anzahl von geistigen Krüp-
peln pflegt und erhält, die ohne sie unrettbar frühem Inter-
gange anheimfallen würden. Eine kräftige Triebfeder erhält diese
Fürsorge allerdings durch den Umstand, dass die besonderen
Lebensverhältnisse der grossen Städte heute die häusliche Pflege
Allgemeine Lebensverhältnisse; Beruf.
111
vieler Geisteskranker unmöglich machen, die sonst vielleicht der
Anstalt noch gar nicht bedürfen würden.
Auf der anderen Seite ist jedoch leider nicht zu verkennen,
dass einige der wichtigsten Ursachen des Irreseins auch ohne
unmittelbaren Zusammenhang mit der Umgestaltung unserer ge-
samten Lebensverhältnisse in rascher Verbreitung begriffen sind,
vor allem der Alkoholmissbrauch und die Syphilis. Beide Ursachen
werden erfahrungsgemäss besonders in den Grossstädten gezüch-
tet, in denen sie, sehr mässig gerechnet, etwa die Hälfte der
Geistesstörungen erzeugen. Will man die Ausbreitung der Trunk-
sucht und der Geschlechtskrankheiten als Gradmesser der Ge-
sittung betrachten, so müsste man allerdings zu dem trostlosen
Schlüsse kommen, dass wir durch den Fortschritt unserer Kultur
mit Notwendigkeit dem Untergange durch körperliche und gei-
stige Entartung entgegengetrieben werden.
Mehrfach ist die Ansicht ausgesprochen worden, dass die
klinischen Krankheitsformen schon im Laufe der letzten Jahr-
zehnte gewisse Wandlungen durchgemacht hätten. So soll die
demente Paralyse häufiger, die klassische Form seltener geworden
sein, , während die Neigung zu Remissionen zugenommen habe.
Andererseits soll das cirkuläre Irresein öfters beobachtet werden,
als früher. Da wir selbst und unsere Diagnosen, auch auf dem
anscheinend so sicheren Boden der Paralyse, fortwährendem
Wandel unterliegen, ist es sehr schwer, über solche Fragen ein zu-
verlässiges Urteil zu gewinnen. Es ist gewiss möglich, dass Ver-
schiebungen vor sich gegangen sind. So begegnen wir der Para-
lyse bei Frauen und Kindern anscheinend häufiger, während die
paralytischen Anfälle seltener geworden sein dürften. Aber auch
bei denjenigen Tatsachen, die einigermassen sichergestellt sind,
bleibt für die Deutung noch ein weiter Spielraum.
Beruf. Die Gefährdung einzelner Berufsarten durch Geistes-
störungen ist natürlich zumeist nur in der grösseren Häufigkeit
und Wirksamkeit der mit ihnen verknüpften Schädlichkeiten be-
gründet; höchstens könnte man aus der Wahl mancher künst-
lerischer Berufsarten, z. B. des dichterischen und schauspiele-
rischen, einen bisweilen zutreffenden Rückschluss auf eine stärkere
gemütliche Empfänglichkeit und Erregbarkeit machen. Ferner
dürfte die Berufslosigkeit (Landstreicher, Gewohnheitsver-
112
I. Die Ursachen des Irreseins.
brecher u. s. f.) vielfach durch unvollkommene oder krankhafte
Entwicklung der Persönlichkeit bedingt werden. Erfahrungs-
gemäss findet sich unter den Insassen der Gefängnisse, Zucht-
häuser und Arbeitshäuser eine bedeutende Zahl von mehr oder
weniger ausgeprägt Geisteskranken; die Angaben schwanken um
2—4 Prozent herum, gehen bei den Männern jedoch erheblich
höher. Am häufigsten scheinen Trinker zu sein, die freilich nur
mit Vorbehalt, als krank angesehen zu werden pflegen; inPreussen
sollen sie über 40 Prozent der Straf anstaltsbevölkerung aus-
machen. Auch Epileptiker sind nicht selten, besonders unter
den Landstreichern und Leidenschaftsverbrechern. Bei ihnen
spielt meist der Alkohol nebenbei noch eine bedeutende Rolle.
Weiterhin findet sich namentlich unter den unverbesserlichen
Dieben eine Anzahl von hebephrenisch oder katatonisch Schwach-
sinnigen, bei denen in früherem Lebensalter, öfters im Gefäng-
nisse, eine akute Geistesstörung mit ängstlicher Verwirrtheit und
Sinnestäuschungen zu einer tiefgreifenden Schädigung des Ge-
fühlslebens und des Willens geführt hat. Umgekehrt sehen wir
gar nicht selten verwegene Verbrecher bei Gelegenheit einer
längeren Freiheitsstrafe an Dementia praecox erkranken und
dann entweder in die Irrenanstalt wandern oder zu harmlosen
Landstreichern herabsinken.
Gerade die Landstreicher*) aber bilden eine höchst eigen-
artige Menschengruppe. Sie sind fast ausnahmslos geistig, oft
auch körperlich minderwertig und enthalten einen erheblichen
Bruchteil von ausgeprägt Geisteskranken. Ausser angeborenem
Schwachsinn und psychopathischer Veranlagung spielt nament-
lich der Alkoholmissbrauch eine hervorragende Rolle; Bon-
höf f e r fand seine Spuren in 63 Prozent seiner Fälle. In 12 Pro-
zent bestand Epilepsie. Von den zweifellos geisteskranken Land-
streichern und den ihnen so sehr nahestehenden Prostituierten
gehört die Mehrzahl dem Bilde der Dementia praecox an, die sich
allerdings ziemlich häufig auf dem Boden einer schon von Jugend
auf bestehenden Verblödung entwickelt. Bisweilen erfolgt das
Versinken in das Landstreichertum im unmittelbarem Anschlüsse
*) Bonhöffer, Zeitschrift f. d. gesamte Strafrechtswissenschaft, XXI,
1902; Wilmanns, Centralblatt f. Nervenheilk., XXV, 729, 1902.
Beruf.
113
an eine akute Geistesstörung; in anderen Fällen vollzieht sich die
Verblödung ganz schleichend, so dass sie schon einen sehr hohen
Grad erreicht hat, wenn sie endlich als krankhaft erkannt wird.
Von anderen Geistesstörungen führen hie und da die Paralyse oder
leichte manische Erregungen zum Landstreichertum.
Bei einem nicht unerheblichen Bruchteile der unverbesser-
lichen Verbrecher, Landstreicher und Dirnen haben wir es zwar
nicht mit ausgeprägtem Irresein, wohl aber mit krankhaften
Mängeln und Eigentümlichkeiten der psychischen Veranlagung
zu tun, die von vornherein ihre Lebensschicksale in die bestimmte
Bahn drängen. Es sind das die sogenannten „geborenen“ Ver-
brecher. Bei manchen derselben, namentlich bei gewissen Sitt-
lichkeitsverbrechern, Brandstiftern und Giftmischern, begegnen
wir geradezu mächtigen verbrecherischen Trieben. Von den ent-
schieden krankhaften Persönlichkeiten dieser Art führen flies-
sende Übergänge ganz allmählich zu den einfachen Gewohnheits-
verbrechern hinüber.
Im übrigen sind es entweder psychische oder körperliche Ur-
sachen, welche, an eine bestimmte Art der Lebensführung sich
knüpfend, eine grössere Häufigkeit des Irreseins zur Folge haben.
Geistige Überanstrengung kann bei Gelehrten oder im jugendlichen
Alter bei Schülern gefährdend wirken oder auf anderweitig vor-
bereitetem Boden dem Ausbruche des Irreseins Vorschub leisten.
So sieht man auffallend häufig junge Leute hebephrenisch er-
kranken, die sich auf der Schule besonders ausgezeichnet haben.
Gemütliche Erregungen spielen bei Soldaten im Kriege, bei Bör-
senmännern, bei Künstlern, bei Erzieherinnen ihre verderbliche
Rolle. Matrosen, Schankwirte, Prostituierte sind dem Einflüsse
der Ausschweifungen, dem Trünke und der Syphilis ausgesetzt;
auch Offiziere, Studenten und Kaufleute, besonders Reisende,
haben darunter zu leiden. Dagegen drückt der Fluch der Not,
der Entbehrung, der Nahrungssorgen, gesundheitlicher Miss-
stände hauptsächlich die handarbeitenden Massen der Bevölke-
rung. Körperliche Überanstrengung, Strapazen, Nachtwachen
sind die Schädlichkeiten, welche der Militärdienst mit sich bringt;
im Verein mit den vielleicht nicht ganz gleichgültigen bestän-
digen Erschütterungen des Fahrens treffen sie den Eisenbahn-
bediensteten. Wärmebestrahlung, Kopfverletzungen, Vergiftungen
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 8
114
I. Die Ursachen des Irreseins.
verschiedener Art (Blei, Quecksilber) sind weitere Gelegen-
heitsursachen, denen wieder andere Berufsarten vorzugsweise
ausgesetzt zu sein pflegen. Der klinische Ausdruck dieser Ge-
fährdung wird natürlich wesentlich durch die besondere Art der
vorherrschenden Ursachen bestimmt; wir können daher in dieser
Beziehung auf die frühere Besprechung der betreffenden ursäch-
lichen Verhältnisse zurückverweisen.
Zivilstand. Ein nicht unerheblicher Einfluss auf die Häufig-
keit des Irreseins muss, wie es im Hinblicke auf statistische
Zusammenstellungen den Anschein hat, dem Zivilstande zu-
geschrieben werden. Allerdings hat Hagen mit Recht darauf
hingewiesen, dass die zunächst sich ergebenden Unterschiede vor
allem auf die verschiedene Gefährdung des durchschnittlichen
Lebensalters zurückzuführen sind, in welchem sich die Ledigen
und die Verheirateten befinden. Haben wir doch oben gesehen,
dass psychische Erkrankungen zwischen dem 20. und 40. Lebens-
jahre überhaupt häufiger zu sein pflegen, als in späterem Alter.
Auf der andern Seite ist es unzweifelhaft, dass in einer grossen
Zahl von Fällen die Ehelosigkeit schon als die Folge einer un-
vollkommenen psychischen Entwicklung, einer bestehenden oder
(namentlich beim weiblichen Geschlechte) überstandenen Gei-
stesstörung anzusehen ist. Endlich aber kann auch der Ehe
selbst trotz der aus dem Fortpflanzungsgeschäfte erwachsen-
den Gefahren, trotz der Sorgen, die sie mit sich bringt, dennoch
wegen der grösseren Befriedigung und Sicherheit des gemein-
schaftlichen Lebens und auch wohl wegen der geringeren Ver-
führung zu Ausschweifungen eine gewisse schützende Bedeutung
nicht abgesprochen werden. Am meisten gefährdet scheinen die
Verwitweten und Geschiedenen zu sein; haben sie doch häufig
fast alle Sorgen und Gefahren der Ehe zu tragen, ohne deren
schützende und sichernde Wirkungen zu geniessen.
2. Persönliche Prädisposition.
Wenn uns die bisherige Betrachtung gezeigt hat, wie den
verschiedenen Gruppen von Menschen entweder nach ihrer all-
gemeinen Anlage eine geringere Widerstandsfähigkeit gegen schä-
digende Einflüsse zukommt, oder wie sie nach ihrer eigentüm-
Zivilstand; Erblichkeit.
115
liehen Veranlagung und den besonderen Lebensverhältnissen einer
grösseren oder geringeren Zahl von Gefahren ausgesetzt sind,
so werden uns ähnliche Gesichtspunkte einen Einblick in das
zweifache Wesen jener vielgestaltigen Krankheitsursachen ver-
schaffen, die man unter dem Namen der persönlichen
Prädisposition zusammenzufassen pflegt.
Erblichkeit. Die Zergliederung einer gegebenen Persönlich-
keit weist uns auf ihre Entstehung und damit über das Einzel-
leben hinaus auf dasjenige der Erzeuger zurück, welches uns
über die erste und ungemein wichtige Frage Aufschluss zu
geben hat, über den Einfluss der Erblichkeit. Bei der oft
überraschenden Treue, mit der sich nicht nur körperliche,
sondern namentlich auch geistige Eigenschaften von den Eltern
auf die Kinder übertragen, werden wir uns nicht wundern
dürfen, dass auch die Anlage zu psychischer Erkrankung in
grossem Umfange der Vererbung unterliegt. Scheint doch ge-
rade das Nervengewebe in besonderem Masse der Beeinflussung
durch die Vererbung zugänglich zu sein. Weiterhin aber darf
nach den Erfahrungen, die über die Nachkommenschaft der
Trinker und Syphilitischen vorliegen, nicht bezweifelt werden,
dass schwere erworbene Leiden, vielleicht durch unmittelbare
Schädigung der Keimzellen, ebenfalls für die geistige Gesund-
heit des kommenden Geschlechtes verderblich werden können.
Auch Gicht, Tuberkulose, Diabetes, bösartige Geschwülste und
dergleichen sind unter diesem Gesichtspunkte als Ursachen einer
angeborenen, freilich nicht eigentlich vererbten krankhaften Ver-
anlagung angeführt worden. Jedenfalls ist die Bedeutung der
Abstammung in der Entstehungsgeschichte psychischer Krank-
heiten immer und von allen Irrenärzten auf das einmütigste be-
tont worden, so sehr auch bei den naheliegenden Fehlerquellen
einer Statistik über diesen Punkt die Zahlenangaben im einzelnen
auseinandergehen*) (von 4 bis 90 Prozent). Der Grund für diese
grossen Unterschiede liegt hauptsächlich in der verschieden weiten
*) R i b o t , Die Vererbung, deutsch v. K u r e 1 1 a. 1895; Orschansky,
Die Vererbung im gesunden und im krankhaften Zustande. 1903; Grassmann,
Allgem. Zeitschr. f. Psych., LII, 960; Turner, Journal of mental Science, Juli
1896; Farguharson, ebenda, Juli 1898; War da, Monatsschrift für
Psychiatrie, IV, 388, 1898.
8*
116
I. Die Ursachen des Irreseins.
Fassung des Begriffes der Erblichkeit, in der grösseren oder
geringeren Genauigkeit der Vorgeschichte und in der Besonder-
heit des verarbeiteten Krankenmaterials. Wenn man berück-
sichtigt, dass nicht nur eigentliche Geistesstörungen, sondern
eine Reihe von verwandten Zuständen, Alkoholismus, Neurosen,
auffallende Charaktere, verbrecherische Neigungen und der-
gleichen, als Erscheinungsformen krankhafter Veranlagung an-
gesehen und somit bei der Feststellung der Erblichkeitsverhält-
nisse in Rechnung gebracht werden müssen, so lässt sich im
Mittel bei mindestens 60 bis 70 Prozent aller psychisch Er-
krankten unter den nächsten Anverwandten das Bestehen der-
artiger Abweichungen nachweisen.
Für die Würdigung dieses rein statistischen Ergebnisses ist
es indessen sehr wichtig, zu bedenken, dass einmal das Zusammen-
treffen psychopathischer Züge bei Gliedern derselben Familie
noch nicht notwendig einen ererbten Zusammenhang zwischen
diesen Störungen erweist, und dass uns ferner gänzlich der
zahlenmässige Nachweis für die Häufigkeit einer derartigen
erblichen Veranlagung bei der grossen Masse nicht geisteskranker
Personen mangelt. Allerdings hat eine auf meine Veranlassung
von Jost in der Strassburger medizinischen Klinik angestellte
Nachforschung über die psychopathische Belastung nicht geistes-
kranker Personen überraschenderweise bei nicht mehr als 3
Prozent das Vorkommen von Geistesstörungen in der Familie
ergeben. Da es sich indessen nur um etwa 200 Personen handelte,
bedarf diese Feststellung weiterer Nachprüfung. Näcke fand
von 80 Irrenpflegern sicher 7,5 Prozent, schätzungsweise 20 bis
25 Prozent erblich belastet. Wir haben somit die Erblichkeits-
zahlen beim Irresein zunächst lediglich als Erfahrungstatsachen
anzusehen, ohne in ihnen etwa den Ausdruck eines „Gesetzes“
zu erblicken, das in jedem Einzelfalle gültig wäre.
Wie die Erfahrung lehrt, kann die Vererbung entweder eine
unmittelbare, von den Eltern ausgehende, oder eine mittelbare
sein. Im letzteren Falle lässt sich wieder die atavistische,
von den Grosseltern hergeleitete, und die c o 1 1 a t e r a 1 e unter-
scheiden, die auf psychopathische Zustände in einer Seitenlinie
(Onkel, Grosstante, Vetter u. s. f.) zurückgeht. Am stärksten
wirkt sicherlich die unmittelbare Vererbung, namentlich wenn
Erblichkeit.
117
beide Eltern (gehäufte Vererbung), und wenn sie schon bei
der Zeugung des Kindes geisteskrank waren; doch kann auch
auf ein vor dem Ausbruche des Irreseins erzeugtes Kind die schon
früher bestehende krankhafte Veranlagung übertragen werden.
Der Einfluss des Vaters scheint bei der Vererbung im allge-
meinen mächtiger zu wirken, als derjenige der Mutter. Er über-
trägt sich mehr auf die Söhne, während die Mutter mehr die
Töchter beeinflusst. Dabei ist aber das weibliche Geschlecht
überall etwas empfänglicher für die erbliche Übertragung von
Krankheitsanlagen, als das männliche.
Dagegen muss es heute, namentlich im Hinblicke auf die
Verhältnisse bei Tieren, zum mindesten als recht zweifelhaft
gelten, ob wirklich, wie man vielfach gemeint hat, nahe Ver-
wandtschaft der Eltern*) an sich schon eine Entartung der
Kinder zur Folge hat. Die anscheinend in diesem Sinne spre-
chenden Erfahrungen lassen sich vielmehr höchst wahrscheinlich
auf eine gehäufte Vererbung von Krankheitsanlagen in bereits
entarteten Familien zurückführen. Eine derartige Inzucht scheint
in der Tat auf die kommenden Geschlechter ungemein verderb-
lich einzuwirken, wie durch das Beispiel namentlich vieler
jüdischer Familien sowie mancher Adelsgeschlechter und Für-
stenhäuser dargetan wird. Wo dagegen beide Eltern völlig ge-
sund sind, wird die Entwicklung der Nachkommenschaft durch
die Blutsverwandtschaft schwerlich in krankmachender Weise
beeinflusst.
Kommt es zu einer Häufung der krankhaften Einflüsse, so
entsteht schliesslich eine „organische Belastung“, d. h. es treten
bei der Nachkommenschaft die schwereren Formen psychischer
Entartung**) sowohl auf geistigem wie auf sittlichem Gebiete
hervor. Wir verstehen darunter alle Abweichungen, welche
an sich oder in ihrer weiteren Entwicklung die Leistungsfähig-
keit, das persönliche Glück oder die Tauglichkeit für das Ge-
sellschaftsleben ernstlich gefährden. Morel stellt für diese
*) P e i p e r s , Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 793, 1901.
**) Morel, Traite des degenerescences physiques, morales et intellec-
tuelles de l’espece humaine. 1857; Möbius, Über Entartung, Grenzfragen des
Nerven- und Seelenlebens, H. 3. 1900.
118
I. Die Ursachen des Irreseins.
fortschreitende erbliche Entartung das folgende allgemeine Ge-
setz auf: 1. Generation: nervöses Temperament, sittliche Un-
fähigkeit, Ausschweifungen. 2. Generation: Neigung zu Schlag-
anfällen und schweren Neurosen, Alkoholismus. 3. Generation:
psychische Störungen, Selbstmord, geistige Unfähigkeit. 4. Ge-
neration: angeborene Blödsinnsformen, Missbildungen, Entwick-
lungshemmungen. Es würde also diese Art der Züchtung von
selbst mit Notwendigkeit den Untergang des entarteten Ge-
schlechtes herbeiführen. Von einer so einfachen Regelmässig-
keit ist natürlich bei diesen ungemein verwickelten und nur in
deu gröbsten Umrissen bekannten Verhältnissen keine Rede. 1 or
allem ist dabei zu berücksichtigen, dass neben den verschlech-
ternden Einflüssen überall auch entgegengesetzte Strömungen
wirksam sind, welche auf den Ausgleich der Störungen und auf
eine gesunde Fortentwicklung hinarbeiten. Wäre das nicht der
Fall, so wäre längst das ganze Menschengeschlecht zu Grunde
gegangen. Tatsächlich kommt es daher nur unter sehr ungün-
stigen Umständen zu einer derartigen absteigenden Stufenleiter;
in zahllosen entarteten Familien sehen wir durch die Mischung
mit gesundem Blute die Spuren der krankhaften Veranlagung
sich bei den Nachkommen wieder verwischen. Immerhin dürfte
gerade das häufigere Auftreten angeborener Schwächezu-
stände, bisweilen neben hervorragender Begabung bei anderen
Familiengliedern, die schwersten Grade erblicher Belastung an-
kündigen.
Von den einzelnen psychischen Erkrankungen sehen wir das
manisch-depressive Irresein, die epileptischen und hysterischen
Geistesstörungen, namentlich aber die mannigfaltigen Gestal-
tungen des Entartungsirreseins, die verschiedenartigen Formen
krankhafter Persönlichkeiten, endlich wohl auch die Verrückt-
heit, sich am häufigsten auf ererbter Grundlage entwickeln. Ver-
hältnismässig wenig durch die Erblichkeitswirkungen beeinflusst
zeigen sich die Infektionspsychosen, die Erschöpfungszustände,
das Irresein des Rückbildungsalters, die progressive Paralyse und
die ihr verwandten Rindenerkrankungen, während die Dementia
praecox, die Idiotie und die chronischen Vergiftungen eine Art
Mittelstellung einnehmen. Es ergibt sich somit, dass erblich be-
lastete Personen, bei denen wir eben die eigentliche Ursache
Erblichkeit.
119
des Irreseins in der Gesamtlage suchen müssen, im allgemeinen
die Neigung haben, konstitutionell, dauernd oder doch in häufiger
wiederkehrenden Anfällen zu erkranken. Nicht selten erscheint
dabei die Störung, rein nach ihren Erscheinungen beurteilt,
als eine verhältnismässig geringe, da wir es mehr mit einem
eigenartig entwickelten, aus der Art geschlagenen Menschen,
als mit einem Krankheitsvorgange von umgrenztem Ablaufe
zu tun haben. Gerade die Mischung ausgeprägter Krank-
heitserscheinungen mit brauchbaren oder selbst bedeutenden psy-
chischen Leistungen, wie sie auf diese Weise zu stände kommt,
darf bis zu einem gewissen Grade als kennzeichnend für das
Irresein auf erblicher Grundlage angesehen werden. Auch das
Auftreten gewisser auffallender Krankheitserscheinungen, rascher
Verlust der Scham- und Ekelgefühle bei erhaltener Besonnen-
heit, ausgeprägte psychogene Züge, Triebartigkeit und Ver-
schrobenheit im Benehmen und Handeln, Neigung zu Heimtücke
und Rohheit pflegen mit mehr oder weniger Recht als Zeichen
der erblichen Entartung betrachtet zu werden.
Nur bei den schwersten Formen der erblichen Entartung
werden krankhafte Zustände als solche vererbt; in der Regel
findet nur die Übertragung einer Krankheits a n 1 a g e , einer
geringeren Widerstandsfähigkeit des Seelenlebens statt, welche
erst dann zu wirklichem Irresein führt, wenn ungünstige Ein-
flüsse auf dem Boden der ererbten Anlage ihre verderbliche Wirk-
samkeit entfalten. So erklärt es sich, dass der Beginn der
Geistesstörung bei erblich Belasteten besonders gern in jene
Lebensabschnitte zu fallen pflegt, in denen aus inneren oder
äusseren Gründen das psychische Gleichgewicht stärkeren Schwan-
kungen ausgesetzt ist, namentlich in das Entwicklungsalter und
in die Zeit der Rückbildungsvorgänge. Wenn wir diesen Er-
fahrungen gegenüber bei „rüstigen“, nicht erblich belasteten
Menschen im allgemeinen Geistesstörungen nur durch sehr ein-
greifende Schädlichkeiten entstehen und dann entweder in Ge-
nesung oder aber in mehr oder weniger schweres geistiges Siech-
tum ausgehen sehen, so bedarf es kaum besonderer Betonung,
dass es natürlich zwischen diesen beiden Grenzfällen alle mög-
lichen Übergänge geben muss. Das erklärt sich eben aus dem
sehr verschiedenen Gewichte, mit welchem die erbliche Veran-
120
I. Ursachen des Irreseins.
lagung die Entstehung der einzelnen klinischen Formen des
Irreseins beeinflusst. Ebenso ist es selbstverständlich, dass die
Beziehungen zwischen Erblichkeit und bestimmten psychischen
Krankheitsbildern zunächst nur statistische sind, dass also im
gegebenen Falle die erbliche Veranlagung zweifellos auch durch
eine Häufung andersartiger ungünstiger Einflüsse ersetzt werden,
und dass umgekehrt auch ein hochgradig erblich belasteter
Mensch an einer exogenen, nicht periodischen, heilbaren Geistes-
störung erkranken kann.
Die klinische Form wie der Verlauf der psychischen Störung
wiederholen in einzelnen Fällen mit grösster Treue das Krank-
heitsbild des Vorfahren, von dem sich die Vererbung her leitet
(gleichartige Vererbung). Mehrere Geschlechtsfolgen kön-
nen auf diese Weise nacheinander mit Selbstmord endigen, oder
es kann bei gleichen Anlässen, im gleichen Lebensalter dieselbe
Erkrankung bei Vorfahren und Nachkommen zur Entwicklung
gelangen. Sehr häufig sieht man auch Geschwister, namentlich
Zwillinge,*) in ganz gleicher oder doch ähnlicher Weise erkranken,
unter Umständen mit verblüffender Übereinstimmung in den
Einzelheiten. Meist handelt es sich dabei um das manisch-depres-
sive Irresein oder die Dementia praecox. Ferner scheinen nach
Siolis sorgfältigen Untersuchungen die affektiven Formen des
Irreseins einerseits und die Verrücktheit andererseits bei der \ er-
erbung bis zu einem gewissen Grade einander auszuschliessen**).
Ebenso fand V o r s t e r , dass die Dementia praecox und das
manisch-depressive Irresein in hohem Grade die Neigung zeigen,
sich in der gleichen Grundform, wenn auch in verschiedenen
klinischen Spielarten, erblich zu übertragen; er betrachtet das
Band der Erblichkeitsbeziehungen, das die eine wrie die andere
Gruppe von oft so mannigfaltigen Zustandsbildern verknüpft,
geradezu als einen Beweis für ihre innere klinische Zusammen-
gehörigkeit. Ferner scheinen mir Epilepsie und Alkoholismus
auch in Bezug auf die Erblichkeitsverhältnisse in näherer Ver-
*) Herfeldt, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVII, 25; Soukhanoff,
Annales medico-psychol., VIII, 12, 214, 1900.
**) Sioli, Archiv für Psychiatrie, XVI; Vor st er, Monatsschr. für
Psych., IX, 161; Tr6nel, Annales medico-psych., VIII, 11, 96, 1900.
Erblichkeit.
121
wandtschaft zu einander zu stehen, ebenso die Hysterie und die
verschiedenen Gestaltungen des Entartungsirreseins. Die Schwere
des Leidens kann sich dabei in der Folge der Geschlechter steigern
oder mildern.
Es ist jedoch nicht zu verkennen, dass die Wiederkehr der-
selben oder einander näherstehender Krankheitsbilder bei Eltern
und Kindern oder bei Geschwistern kein Gesetz, sondern nui eine
Regel bildet. Es gibt Beispiele genug für das Vorkommen ganz
verschiedenartiger Erkrankungsformen in der gleichen 1 amilie.
Wir sprechen dann von einer umwandelnden Vererbung.
Dabei können die mannigfachsten Erscheinungsformen des Irre-
seins nebeneinander auf treten. Allerdings ist es zweiielhaft, wie
weit hier wirklich von einer Vererbung gesprochen werden darf.
Vielleicht sind gerade die Abweichungen von der Gleichartigkeit
eben nicht auf die Vererbung, sondern auf die Einwirkung ganz
anderer, zufälliger oder persönlicher Ursachen zurückzufühi en.
Wir würden dann zu der Auffassung kommen, dass dort, wo die
Vererbung sich ungestört und mit Nachdruck geltend machen
kann, jeweils nur bestimmte Formen des Irreseins als Glieder
derselben Erblichkeitskette nebeneinander auftreten. Wo aber
nur eine ganz allgemeine krankhafte Veranlagung übertragen
wird, da wird die besondere klinische Gestaltung der Eikiankung
wesentlich durch die persönliche Eigenart und die Lebens-
schicksale mit bestimmt werden.
In der Tat lehrt uns die Betrachtung der psychischen Per-
sönlichkeiten aus entarteten Familien, dass einerseits die An-
lage zu ganz bestimmten geistigen Erkrankungen übertragen zu
werden scheint, während wir es in anderen Fällen nur mit einer
allgemeinen krankhaften Minderwertigkeit zu tun haben, die sich
in den verschiedensten Einzelzügen ausprägen kann. Auf dem
Gebiete des Verstandes begegnen uns als psychische Entartungs-
zeichen neben der Beschränktheit auffallende Unfähigkeit auf
einzelnen Gebieten, bisweilen verbunden mit einseitiger Bega-
bung, Dürftigkeit oder Überwuchern der Einbildungskraft, er-
höhte Suggestibilität, grosse Ermüdbarkeit. Am stärksten aber
pflegen die Störungen im Bereiche des Gemütslebens und des
Willens ausgeprägt zu sein. Wir finden hier grosse gemütliche
Erregbarkeit, Launenhaftigkeit, Gemütlosigkeit, Angstzustände,
122
I. Ursachen des Irreseins.
andererseits Bestimmbarkeit, Triebartigkeit des Handelns, Wil-
lenlosigkeit, krankhafte Triebe. Besonders bezeichnend für die
Entartungszustände scheint die Begrenzung der Störungen auf
einzelne Gebiete des Seelenlebens zu sein. Dadurch entstehen
die zwiespältigen, unausgeglichenen, rätselhaften Persönlich-
keiten, bei denen tiefgreifende Mängel der psychischen Veran-
lagung sich mit glänzender Begabung nach anderen Richtungen
hin verbinden. Gerade solche hervorragende Fähigkeiten bei Ent-
arteten haben der viel vertretenen Anschauung zur Stütze ge-
dient, dass auch das Genie nur ein Ausdruck krankhafter Ver-
anlagung sei.
Als körperliche Anzeichen der erblichen Entartung (Stig-
mata hereditatis) pflegt man manche Abweichungen zu betrachten,
die sich mit einiger Häufigkeit bei erblich belasteten Personen
vorfinden. Dahin gehören Verbildungen des Skeletts, des Schä-
dels, der Zähne, der Kiefer, des Gaumens, der Ohren, der Augen,
der Genitalien, Asymmetrien, Albinismus, gewisse Veränderungen
an der Haut, Fehlen, Überreichlichkeit oder eigenartige Ver-
teilung des Haarwuchses, ferner eine Reihe von nervösen Stö-
rungen, Zittern, Muskelzuckungen, Stottern, Schielen, Stammeln,
Nystagmus, Wiederkäuen u. dergl. Ein Teil dieser Abweichungen
wird als Rückschlag und Tierähnlichkeit, ein anderer als Ent-
wicklungshemmung aufgefasst. Soweit diese Deutung richtig
ist, wird ihre Beziehung zur psychischen Entartung einiger-
massen verständlich. Wir können uns vorstellen, dass dort, wo
sichtbare Zeichen einer fehlerhaften Ausbildung des Körpers zu
Tage treten, leicht auch diejenigen Gewebe gelitten haben können,
die wir als die Träger der psychischen Persönlichkeit ansehen.
Weit unsicherer ist dieser Schluss dann, wenn die Abweichungen
durch bestimmte krankhafte Vorgänge bedingt sind. Wir werden
ihnen in diesem Falle eine gewisse Bedeutung nur beilegen dürfen,
wenn sie wenigstens irgend einen Abschnitt des Nervensystems
betreffen.
Entwicklungsstörungen. Fast gänzlich unbekannt ist bisher
der Einfluss solcher Schädlichkeiten auf die seelische Veranlagung,
welche, ohne erbliche zu sein, die erste Zeit der Entwicklung
betreffen, obgleich dieselben höchst wahrscheinlich bisweilen von
sehr einschneidender Bedeutung sein können. So wird angegeben,
Entwicklungsstörungen.
123
dass Berauschtheit während des Zeugungsvorganges Epilepsie der
Nachkommen zur Folge haben, dass heftige Gemütsbewegung der
Mutter während der Schwangerschaft eine psychopathische Ver-
anlagung des Kindes hervorrufen könne. Dass ferner allerlei
körperliche Ursachen, ungenügende Ernährung, hohes oder sehr
jugendliches Alter der Eltern, endlich Krankheiten dieser letz-
teren oder des Fötus für die Hirnentwicklung und damit auch
für die psychische Anlage des Kindes eine grosse, wenn auch noch
nicht im einzelnen bestimmbare Wichtigkeit erlangen dürften,
bedarf keiner weiteren Ausführung. Von ganz besonderer Be-
deutung sind ohne Zweifel für die Nachkommenschaft alle die-
jenigen Krankheiten der Eltern, die tiefgreifende Umwälzungen
im Gesamtzustande des Körpers herbeiführen und dadurch mittel-
bar, bisweilen auch wohl unmittelbar die Keimzellen schädigen.
In erster Reihe sind hier der Alkoholismus und die Syphilis zu
nennen, deren verheerender Einfluss auf Lebensfähigkeit und
Gesundheit der Kinder bekannt genug ist. Ähnliche, wenn auch
schwächere Wirkungen werden der Tuberkulose, dem Diabetes,
dem Morphinismus und vielen anderen Formen des Siechtums
zugeschrieben.
Sodann sind wir berechtigt, anzunehmen, dass auch ohne
Erkrankung der Mutter die Frucht selbständige Schädigungen
erfahren kann, deren Ursachen wir freilich noch durchaus nicht
kennen. Die Untersuchungen über die Grundlagen der Idiotie
haben ergeben, dass es sich hier nur in einem kleinen Bruch-
teile der Fälle um Entwicklungsfehler, zumeist aber um mehr
oder weniger ausgebreitete Erkrankungen der fötalen Hirnrinde
handelt. Soweit über diese Frage ein Urteil möglich ist,
liegt es nahe, an Vergiftungen durch Stoffwechselerzeugnisse
oder an Infektionen zu denken. Manche dieser Erkrankungen
hinter lassen gar keine gröberen Veränderungen; bei anderen
stossen wir auf Hydrocephalie, Porencephalie, Mikrogyrie, Mikro-
cephalie und ähnliche Zerstörungen, die ohne weiteres die schwere
Schädigung des Hirns erkennen lassen.
Erziehung. Unserem unmittelbaren Verständnisse leichter
zugänglich erscheint die Bedeutung der Erziehung für die Ent-
wicklung der psychischen Persönlichkeit. Allerdings wissen wir
heute noch nicht, wie weit die Erziehung überhaupt in das Wesen
124
I. Ursachen des Irreseins.
des Menschen einzugreifen und dasselbe umzugestalten vermag.
Die Anschauungen über diesen Punkt schwanken zwischen achsel-
zuckendem Zweifel und hoffnungsvoller Vertrauensseligkeit viel-
fach hin und her. Die einfache Erfahrung scheint mir zu lehren,
dass hier die verschiedenartigsten Verhältnisse in der Natur wirk-
lich Vorkommen. Auf der einen Seite gibt es zweifellos ge-
wisse, ganz allgemeine Eigenschaften, welche von vornherein
die Eigenart des Einzelnen kennzeichnen. Dafür spricht neben
vielen anderen Gründen die überraschende Deutlichkeit, mit wel-
cher sich öfters schon bei ganz kleinen Geschwistern Verschie-
denheiten in der Veranlagung herausstellen, die späterhin durch
die mannigfachsten Lebensschicksale in keiner Weise verwischt
werden. So kennen wir Menschen, die von vornherein auf die
psychische Erkrankung unrettbar zutreiben, während andere schon
von den ersten Kinderjahren an in Denken und Handeln eine
vertrauenerweckende Sachlichkeit an den Tag legen, die sie durch
das ganze Leben begleitet. Offenbar handelt es sich hier um
sehr tief begründete Unterschiede, zu deren Erklärung man nach
Belieben Abweichungen in den Grössenverhältnissen der einzelnen
Organe untereinander, in der chemischen Zusammensetzung der
Gewebe oder ähnliches herbeiziehen mag.
Andererseits aber wird man kaum in Abrede stellen können,
dass dennoch die Art der Jugenderziehung für die weitere Aus-
bildung der einmal gegebenen Anlagen und damit auch für die
gesamte Gestaltung der Lebensschicksale von eingreifender Be-
deutung werden kann. Wir erkennen das nicht nur aus der starken
Beteiligung der unehelich Geborenen und Verwahrlosten am er-
brechen, am Selbstmord und Irresein, sondern auch an der Aus-
bildung von Menschentypen, je nach den Eindrücken der Kindheit.
Die Gegensätze zwischen Stadt- und Landbevölkerung, die Eigen-
tümlichkeiten der Strand-, Gebirgs- und Grenzbewohner ver-
wischen sich auch dann nicht, wenn die Menschen später in ganz
andere Verhältnisse hineingeworfen werden. Allerdings ist hier
überall, wie bei den Verbrecher-, Gelehrten- und Künstlerfamilien,
der Einfluss der Erblichkeit von demjenigen der Erziehung schwer
abzutrennen.
Die allgemeinen Aufgaben der Erziehung sind einmal die
verstandesmässige Ausbildung des Kindes, die dasselbe
Erziehung.
125
befähigt, Erfahrungen zu sammeln und zu verarbeiten, dann
aber die Begründung eines festen, das Handeln nach einheit-
lichen, sittlichen Grundsätzen leitenden Charakters. Nach
beiden Richtungen hin kann die Erziehung hinter den An-
forderungen Zurückbleiben, die der Kampf des Lebens an die
Leistungs- und Widerstandsfähigkeit des Einzelnen stellt. Ver-
nachlässigung der Verstandesbildung gibt ihn allen Gefahren
der Urteilslosigkeit und des Aberglaubens Preis und erschwert
ihm die Überwindung jener Schwierigkeiten, welche die Er-
ringung einer selbständigen Lebensstellung bietet. Andererseits
kann aber auch die Überanstrengung des jugendlichen Gehirns
schwere Schädlichkeiten mit sich führen, indem sie es frühzeitig
erschöpft und damit seine volle Ausbildung unmöglich macht.
Dies gilt namentlich für solche Kinder, die etwa schon von
Hause aus grosse Erregbarkeit oder rasche Ermüdbarkeit mit-
bringen. Behinderung der freien persönlichen Entwicklung durch
übermässige Strenge und Peinlichkeit macht den Menschen eng-
herzig und verschlossen und erstickt im Keime jene gemütlichen
Regungen des Wohlwollens und der Menschenliebe, von deren
Stärke vor allem die sittliche Ausbildung des Willens ab-
hängig ist. Verzärtelung endlich durch weichliche Nachgiebig-
keit lässt die augenblicklichen Launen und Begierden zur unbe-
zwinglichen Herrschaft über das Handeln gelangen und verhindert
dadurch die Entwicklung einer abgeschlossenen und einheitlichen,
fest in sich selbst gegründeten Persönlichkeit.
Den Einflüssen der Erziehung schliessen sich diejenigen der
späteren Lebenserfahrungen an, bald bessernd und veredelnd,
bald zerrüttend und untergrabend, was jene schuf. Alle die
schon früher aufgezählten körperlichen und psychischen Ur-
sachen, Verletzungen, Krankheiten und Vergiftungen aller Art,
erschöpfende Einflüsse, Überanstrengungen, Gemütsbewegungen,
Ausschweifungen u. s. f. können hier, soweit sie nicht geradezu
eine psychische Erkrankung herbeiführen, umwandelnd und vor-
bereitend auf den Einzelnen einwirken. Auch hier zeigt uns die
typische Gestaltung, welche die verschiedenen Stände, Berufs-
arten und sonstigen gesellschaftlichen Gruppen ihren Mitgliedern
in der gesamten Weltauffassung, in ihren sittlichen Anschauungen,
in der Lebensführung und selbst in allen möglichen Äusserlich-
126
I. Ursachen des Irreseins.
keiten aufprägen, dass nicht nur die Anlage des Einzelnen seine
Lebensschicksale bestimmt, sondern dass umgekehrt auch eine
Rückwirkung dieser letzteren auf die besondere Entfaltung seiner
persönlichen Eigenart stattfindet. Freilich fehlt uns heute noch
jeder Anhaltspunkt für die genauere Beurteilung des Einflusses,
den etwa die Erziehung durch das Leben auf die Häufigkeit und
die Gestaltung des Irreseins im einzelnen Falle ausübt.
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Die Gesamtheit der klinischen Erscheinungen, welche durch
den Krankheitsvorgang des Irreseins hervorgebracht werden, be-
zeichnen wir als die Symptome desselben. Von diesen Krankheits-
zeichen bedürfen nur diejenigen hier einer eingehenderen allge-
meinen Betrachtung, welche uns als psychische Verände-
rungen entgegentreten. Die verschiedenen körperlichen Krank-
heitserscheinungen, nervöse Reizungs- und Lähmungssymptome
aller Art, vasomotorische, trophische Störungen u. s. f., gehören
ihrer Natur nach dem Gebiete der Nervenheilkunde an. Sie be-
sitzen zwar für die Erkennung des besonderen, im einzelnen Falle
vorliegenden Krankheitsvorganges vielfach eine ganz hervor-
ragende Bedeutung, aber sie gehören nicht zu den Erscheinungen
des Irreseins als solchen und werden daher erst später, bei der
Darstellung der klinischen Krankheitsformen, nähere Berück-
sichtigung finden.
Drei Hauptrichtungen sind es im grossen und ganzen, in denen
sich die psychischen Lebenserscheinungen bewegen, die Auf-
nahme, Einprägung und geistige Verarbeitung
des Erfahrungsstoffes, die Schwankungen des
gemütlichen Gleichgewichts, endlich die Aus-
lösung von Willensantrieben und Handlungen. Auf
diesen drei Gebieten werden wir daher die Grundstörungen der
psychischen Leistungen aufzusuchen haben, aus deren verschieden-
artiger Verbindung wir die einzelnen klinischen Krankheitsbilder
hervorgehen sehen. Bei weitem die grösste Mannigfaltigkeit der
Erscheinungen bietet dabei unserer Zergliederung diejenige Gruppe
von psychischen Vorgängen dar, welche die Sammlung und Auf-
128
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
bewabrung sinnlicher Eindrücke, die Verarbeitung derselben zu
Vorstellungen und Begriffen, endlich die Ausbildung der höheren
Verstandesleistungen in sich schliesst.
A. Störungen des Wahrnehmung8 Vorganges.
Die Wahrnehmung eines äusseren Sinnesreizes ist im all-
gemeinen von zwei verschiedenen Bedingungen abhängig, nämlich
einmal von Bau und Leistung des gesamten peri-
pheren und centralen Sinnesgebietes, dann aber von
dem Zustande des Bewusstseins, welches den zugeiuhr-
ten Eindruck in sich aufnehmen soll. Alle Störungen, welche das
eine oder das andere dieser beiden Gebiete in krankhafter Leise
verändern, sind auch imstande, die Wahrnehmung der Aussen-
welt in mehr oder weniger hohem Grade zu beeinträchtigen. o
die äusseren reizauf nehmenden Organe leistungsunfähig geworden
sind (Blindheit, Taubheit), oder wo sich Hindernisse entwickelt
haben, welche die Fortleitung der Reize unmöglich macnen,
fallen bestimmte Arten von Sinnesvorstellungen in dem . r-
fahrungsschatze einfach aus. Hier hängt es von der allgemeinen
psychologischen Wichtigkeit derselben sowie von der Möglich-
keit einer Stellvertretung durch andere Sinne ab, wie weit da-
durch die Gesamtausbildung der psychischen Persönlichkeit zu-
rückgehalten wird. Die bei weitem grösste Bedeutung für ' die
geistige Entwicklung scheint dem Gehörssinn zuzukommen, oifen-
bar wegen seiner innigen Beziehungen zur Lautsprache, der wir
ja in erster Linie die Übermittlung des geistigen Erwerbes ver-
gangener Geschlechter verdanken. Wenn auch vereinzelte Fä e
bekannt sind, in denen durch eine überaus mühevolle Erziehung
sogar der Verlust des Gesichtes und Gehörs mit Hilfe des Tast-
sinnes einigermassen wieder ausgeglichen werden konnte, so
bleiben doch nicht unterrichtete Taubstumme lebenslänglich auf
der Stufe des Schwachsinns stehen, auch dann, wenn nicht, wie
so häufig, die Taubheit nur Begleiterin einer allgemeineren Hirn-
erkrankung ist. Blinde dagegen pflegen in ilnei geistigen Ent
Wicklung durch den Ausfall der Gesichtswahrnehmungen durchaus
nicht in höherem Grade gehindert zu werden.
Sinnestäuschungen.
129
Sinnestäuschungen. Ein weit grösseres klinisch-psychiatri-
sches Interesse nehmen indessen diejenigen Störungen des Wahr-
nehmungsvorganges in Anspruch, welche nicht durch vollständiges
Fehlen, sondern durch krankhafte Vorgänge im Gebiete der
Sinnesbahn bedingt sind, durch die somit nicht ein Ausfall von
Sinneserfahrung, sondern eine inhaltliche Veränderung, eine
A erfälschung derselben, erzeugt wird. Jedes Sinneswerk-
zeug wird durch irgendwelche Reize in einer ihm eigentümlichen,
„spezifischen“ Weise erregt. Es muss daher überall, wo der
Reiz, der einen Eindruck erzeugt, nicht der gewohnte, dem ge-
troffenen Sinne angemessene ist, eine Täuschung über die
Natur der Reizquelle entstehen. So ist, streng genommen, der
Lichtblitz, die Klangempfindung bei elektrischer Durchströmung
des Auges und Ohres, der Geschmackseindruck bei mechanischer
Reizung der Chorda tympani als eine Trugwahrnehmung anzu-
sehen, wenn wir dieselbe auch auf Grund unserer physiologischen
Erfahrungen und mit Hilfe der Überlegung sogleich als solche
erkennen, so dass eine weitere Verfälschung unseres Bewusst-
seinsinhaltes daraus nicht hervorgeht. Dennoch können unter
Umständen bei Geisteskranken (namentlich bei stärkerer Be-
wusstseinstrübung) die subjektiven Lichterscheinungen infolge von
Blutüberfüllung des Auges, das Brausen und Klingen in den Ohren
die ^ orstellung drohender Feuers- und Wassersgefahren und dergl.
wachrufen und auf diese Weise das Zustandekommen einer wirk-
lichen, nicht ausgeglichenen Täuschung vermitteln. Derartige
peripher bedingte Sinnestäuschungen hat man elementare
genannt, weil sie eben wegen ihres Entstehungsortes in den reiz-
aufnehmenden Flächen die Kennzeichen einfacher, nicht zusam-
mengesetzter Sinnesempfindungen tragen. Wir könnten sie auch
als Sinnestäuschungen im engeren Sinne den weiterhin zu be-
sprechenden W ahrnehmungs- und Einbildungstäuschungen gegen-
überstellen.
\ erfolgen wir indessen die Bahn der Sinnesnerven weiter
gegen die Hirnrinde zu, so gelangen wir zu denjenigen Stätten,
in denen sich die einzelnen Wahrnehmungsbestandteile, wie sie,
vom Sinneswerkzeuge geliefert werden, zu einem Gesamteindrucke
verbinden, der sodann als Sinnesvorstellung ins Bewusstsein ge-
langt. Über die anatomische Lage dieser Centren können wir
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufi.
9
130
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
freilich bisher nichts Sicheres aussagen; am wahrscheinlichsten
ist es jedoch, namentlich im Hinblick auf die klinischen und
experimentellen Erfahrungen über die „Seelenblindheit“, dass,
wenigstens beim Menschen und bei höheren Tieren, die sog.
centralen Sinnesflächen, d. h. die nächsten Endstätten der Sinnes-
bahnen in der Rinde, als solche zu betrachten sind. Es ist ohne
weiteres klar, dass auch hier nicht sinnliche Reize, also
z. B. Veränderungen in der Blutversorgung, Gifte und dergl.
Erregungszustände hervorzurufen vermögen, welche den ge-
wohnten Reizungen durch Sinneseindrücke sehr ähnlich sind, um
so leichter, wenn die Erregbarkeit der betreffenden Hirnstelle
im gegebenen Augenblicke durch irgendwelche Einflüsse ohnedies
gesteigert ist. Unter solchen Umständen kann daher irgend eine
mehr oder weniger zusammengesetzte Sinnesvorstellung in das
Bewusstsein eintreten, die nicht durch einen sinnlichen Reiz, son-
dern durch physiologische oder krankhafte Erregungszustände in
den höheren Abschnitten des betreffenden Sinnesgebietes hei-
vorgerufen wurde. Da dieselbe gleichwohl auf einen äusseren
Gegenstand bezogen wird, so haben wir es demnach hier mit
einer Fälschung des Wahrnehmungsvorganges zu tun, die auf
einer Täuschung über den wahren Ursprung der Sinnesreizung
beruht*).
Diese Gruppe der Sinnestäuschungen, die man wegen ihrer
vermutlichen Entstehung in den „Perceptionscentren“ vielleicht
als Perceptionsphantasmen (Wahrnehmungstäuschungen)
bezeichnen kann, ist es, welche der gewöhnlichen Wahrnehmung
am nächsten steht. Allerdings pflegen diese Täuschungen beim
gesunden Menschen, bei dem sie sich häufig vor dem Einschlafen
einstellen (hypnagogische Hallucinationen), nur ganz ausnahms-
weise eine grössere Lebhaftigkeit zu gewinnen. Unter krankhaften
Verhältnissen dagegen kann die sinnliche Deutlichkeit der Trug-
wahrnehmungen so gross werden, dass eine Berichtigung der
*) Johannes Müller, Über die phantastischen Gesichtserscheinungen.
1816; v. Krafft-Ebing, Die Sinnesdelirien. 1864; Kahlbaum, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, XXIII; Hagen, ebenda, XXV; Kandinsky, Kri-
tische und klinische Betrachtungen im Gebiete der Sinnestäuschungen. 1885;
P a r i s h , Über die Trugwahrnehmung. 1894; Berze, Jahrbücher f. Psychiatrie,
XVI, 285; Uhthoff, Monatsschr. für Psych., V, 241, 1899.
Sinnestäuschungen.
131
Fälschung nur mit Hilfe der anderen Sinne möglich ist. Wie
die Bilder, die bei geschlossenen Augen im Gesichtsfelde auf-
tauchen, sind sie vom Willen und vom sonstigen Gedankengange
im allgemeinen unabhängig und treten auch deswegen dem Be-
wusstsein als etwas Fremdes, Selbständiges, von aussen Kom-
mendes gegenüber, dessen subjektive Entstehung ihm völlig ver-
borgen bleibt. Aus demselben Grunde haben sie auch meist
einen ziemlich gleichförmigen, wenig wechselnden Inhalt (stabile
Hallucinationen Kahlbaums): Wiederholung derselben, bis-
weilen sinnlosen Worte, häufiges Wahrnehmen desselben Geruches,
Sehen bestimmter Muster, Blumen, Tiere u. dergl. Da sie auf
centralen Erregungszuständen beruhen, so sind sie nicht an die
Tätigkeit der äusseren Sinneswerkzeuge gebunden und kommen
auch bei gänzlicher Vernichtung der Sinnesnerven und ihrer
ersten Endigungen, der Nervenkerne, zur Beobachtung. Beson-
ders klar weisen auf ihre Ursprungsstätten diejenigen Fälle mit
halbseitigem Gesichtsfeldausfall hin, in denen die Lücken durch
Trugwahrnehmungen ausgefüllt werden. Hier erzeugt offenbar
der Krankheitsvorgang in der Hirnrinde, der die Wahrnehmung
wirklicher Gesichtseindrücke aufhebt, zugleich die täuschenden
Bilder. In den seltenen Fällen, bei denen Täuschungen in der
erhaltenen Gesichtsfeldhälfte auftraten, fanden sich beide Hinter-
hauptsrinden verändert. Auch das plötzliche Auftauchen leb-
hafter Lichtempfindungen ist bei rascher Entstehung doppel-
seitiger Rindenblindheit beobachtet worden.
Es hat jedoch den Anschein, dass auch periphere Ein-
wirkungen bisweilen in den höheren Abschnitten der Sinnesbahn
unmittelbar oder mittelbar Erregungszustände auszulösen ver-
mögen, die zur Entstehung von Sinnestäuschungen führen. Dies
geschieht offenbar um so leichter, je grösser die Reizbarkeit
jener Hirnteile ist. Unter krankhaften Verhältnissen genügen
bisweilen schon die gewöhnlichen Lebensreize, um die bespro-
chenen Fälschungen des Wahrnehmungsvorganges zu erzeugen;
in anderen Fällen treten sie sogleich hervor, wenn sich etwa
die Aufmerksamkeit auf das betroffene Sinnesgebiet richtet
und die leisen Erregungszustände in demselben über die Schwelle
-des Bewusstseins erhebt, oder wenn eine Gemütsbewegung vor-
übergehend die Reizempfänglichkeit steigert. Sie schwinden
9*
132
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
daher auch, sobald der Kranke sich beruhigt oder durch
ein Gespräch, geistige oder körperliche Beschäftigung, die
Versetzung in eine neue Umgebung und dergl. abgelenkt wird.
Manche Kranke sperren sich daher von wirklichen Eindrücken
nach Möglichkeit ab, um ungestörter ihre Sinnestäuschungen ver-
folgen zu können; andere suchen im Gegenteil lebhafte Vahr-
nehmungen zu erzeugen, um jenen zu entgehen. So kannte ich
einen Ingenieur, der sich mit den einfachsten Hilfsmitteln ein
kleines Läutewerk herstellte, um die ihn quälenden Stimmen zu
übertäuben. _
Für die Mitwirkung äusserer Reize bei der Entstehung der
Täuschungen spricht der Umstand, dass diese letzteren mitunter
verschwinden, wenn die Sinnesquelle verstopft wird. Bei Ge-
sichtstäuschungen hat man Wandern mit den Augenbewegungen
und Verdoppelung durch Prismen gesehen, Erscheinungen,, die
auf die Beeinflussung der Trugwahrnehmung durch wirkliche,
wenn auch vielleicht ganz unklare Gesichtsbilder hinweisen könn-
ten Es wäre aber auch möglich, dass die feste Gewohnheit,
die räumliche Lage des Gesehenen aus den Augenmuskelbewe-
gungen zu erschliessen, auch die Verlegung der Täuschungen
nach aussen beeinflusste, und dass die prismatische Verdoppelung
nebenher wirklich gesehener Gegenstände auch auf die unab-
hängig von der Netzhaut entstandene Trugwahrnehmung Über-
griffe, wie es bei hypnotischen Täuschungen beobachtet worden
ist. Farbige Gläser scheinen die Gesichtstäuschungen nicht mit-
zufärb 6ii
Weiterhin ist bemerkenswert das gelegentlich beobachtete
Vorkommen von einseitigen Gehörstäuschungen*) sowie der
Nachweis, dass bei alten Gehörsnallucinanten häufiger chronische
Erkrankungen des Mittelohrs und Abweichungen in der elek-
trischen Reaktion des Akusticus**) vorhanden sind. Ausser der
einfachen Hyperästhesie findet man hie und da paradoxe Re-
aktion des nicht armierten Ohres und namentlich auch die
schwerste Form der Störung, die Umkehrung der Formel für die
*) Robertson, Journal of mental Science, 1901, April, 277.
**) Jolly, Archiv f. Psychiatrie, IV; Buccola, Riviste di freniatna
sperimentale, XI,’ 1885; Redlich u. Kaufmann, Wiener klinische Wochen-
schrift, 1896. 33.
Sinnestäuschungen.
133
einfache Hyperästhesie. Wie J o 1 1 y gezeigt hat, gelingt es
hier gar nicht selten, durch elektrische Reizung des Akusticus
die Täuschungen hervorzurufen. Li ep mann war imstande, bei
Alkoholdeliranten durch leichten Druck auf die geschlossenen
Augen selbst nach Ablauf der stürmischeren Krankheitserschei-
nungen deutliche Gesichtstäuschungen zu erzeugen, welche in
ihrer bunten Gestaltung durchaus den sonst bei jener Krankheit
vorkommenden Trugwahrnehmungen glichen. Bonhöffe r, der
ähnliches auch im Gebiete des Hautsinnes beobachtete, legt nach
seinen Erfahrungen das Hauptgewicht hier auf das Einreden. Ohne
Zweifel gewinnen solche Täuschungen ihre feste Gestalt nur mit
Hilfe von Erinnerungsbildern. Immerhin aber dürften dabei Er-
regungszustände in der Netzhaut eine Rolle spielen. Darauf weist
auch der Umstand hin, dass bisweilen schon das einfache Ver-
hängen des Auges mit einem Tuche genügte, um die Täuschungen
hervorzurufen; anscheinend kamen durch den Lichtabschluss die
leisen Eigenerregungen der Netzhaut besser zur Geltung. Wir
werden durch diese Erfahrungen an den Bericht von N ä g e 1 i
erinnert, welcher nach einer Verbrennung seiner Hornhaut mit
heissem Spiritus vor seinen verbundenen Augen längere Zeit aus-
geprägte Gesichtstäuschungen von vollkommener sinnlicher Deut-
lichkeit beobachten konnte.
In der Regel pflegt es nur ein einzelnes Sinnesgebiet zu sein,
auf welchem sich in dieser Weise Fälschungen der äusseren Er-
fahrung vollziehen. Am häufigsten sind sicherlich solche Stö-
rungen im Gebiete des Gehörs und Gesichts, seltener in
demjenigen der drei übrigen Sinne und in dem dunklen Bereiche
jener Wahrnehmungen, die wir unter dem Sammelnamen der Ge-
meinempfindungen zusammenfassen.
Für die klinische Betrachtung hat E s q u i r o 1 und nach ihm
aus praktischen Gründen die Mehrzahl der Forscher zwei Arten
von Sinnestäuschungen unterschieden, solche nämlich, bei denen
eine äussere Reizquelle gar nicht vorhanden ist: Hallucina-
tionen, und solche, die nur als die Verfälschung einer wirk-
lichen Wahrnehmung durch eigene Zutaten zu betrachten sind:
Illusionen*). Im Einzelfalle ist diese Trennung nicht selten
*) S u 1 1 y , Die Illusionen. Internat, wissenschaftliche Bibliothek. 1883.
134
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
äusserst schwierig oder gänzlich unmöglich. So sind wir nament-
lich bei den Berührungssinnen (Geruch, Geschmack, Hautsinn)
fast niemals imstande, mit Sicherheit das Vorhandensein irgend
einer äusseren Reizursache (Zersetzungsvorgänge in Mund- oder
Nasenhöhle, Veränderungen der Blutfüllung, Schwankungen der
Eigenwärme u. dergl.) auszuschliessen, noch weniger natürlich
bei den Störungen der Gemeinempfindungen. Auch beim Gesicht
geben, wie schon angedeutet, unter Umständen nicht nachweis-
bare Reize, z. B. das Eigenlicht der Netzhaut, beim Gehör ent-
otische Geräusche u. s. f. gewissermassen den Rohstoff für die
Ausbildung der Trugwahrnehmungen ab. In anderen Fällen jedoch
ist die verschiedenartige Entstehungsweise ohne weiteres klar.
Der Furchtsame, der ragende Baumstämme, wallende Nebel für
Gespenster hält („Erlkönig“), der Kranke, der aus dem Läuten
der Glocken, dem Kritzeln der Feder, dem Pfeifen der Eisenbahn,
dem Bellen der Hunde, dem Knarren der Wagen Schimpfworte
und Vorwürfe heraushört — sie haben zweifellos „Illusionen ,
während wir die allbekannten Gesichtstäuschungen des Alkoho-
listen, die „Stimmen“, welche den Sträfling im stillen Zellen-
gefängnisse quälen oder beglücken, höchst wahrscheinlich als
Hallucinationen zu bezeichnen haben. Zwischen beiden Formen
gibt es alle möglichen Übergänge; ist doch die Illusion im Grunde
nichts anderes, als eine vielfach wechselnde Mischform von ge-
sunder Sinneswahrnehmung mit täuschenden Zutaten. Vir er-
innern uns hierbei der Tatsache, dass auch unsere gesunden Wahr-
nehmungen regelmässig nicht eine untrügliche V iedergabe des,
Sinneseindruckes darstellen, sondern von vornherein eine erheb-
liche Beimischung uns selbst unbewusster Wahrnehmungsfehler
enthalten.
Die gemeinsame Eigentümlichkeit dieser ganzen Gruppe \ on
Sinnestäuschungen liegt in der vollkommen sinnlichen Deut-
lichkeit derselben. Der Erregungszustand im Gehirn ent-
spricht durchaus demjenigen beim gewöhnlichen Wahrnehmungs-
vorgange, und die entstehende Trugwahrnehmung ordnet sich da-
her unterschiedslos in die Reihe der übrigen Sinneseindrücke ein.
Die Kranken glauben nicht nur, zu sehen, zu hören, zu fühlen,
sondern sie sehen, hören, fühlen wirklich.
Ein in vieler Beziehung abweichendes Verhalten bieten da-
Sinnestäuschungen.
135
gegen diejenigen nur uneigentlich so genannten Sinnestäuschungen
dar, die nichts anderes sind, alsVorstellungenvonbeson-
derer sinnlicher Kraft. Das Wiederauf tauchen eines
früheren Eindruckes pflegt in der Regel niemals die unmittelbare
Deutlichkeit der Sinneswahrnehmung selbst zu erreichen, sondern
sich jederzeit ganz unzweideutig durch die geringere Lebhaf-
tigkeit und Schärfe von jener zu unterscheiden. Indessen be-
stehen in dieser Beziehung bedeutende persönliche Verschieden-
heiten. Während von manchen Beobachtern den Erinnerungsbil-
dern jede genauere Ausprägung nach Farbe und Form abge-
sprochen wird, versichern andere, besonders bildende Künstler,
dass dieselben bisweilen an sinnlicher Kraft der unmittelbaren
Wahrnehmung nur sehr wenig nachgeben. Auch die persönliche
Sinnesveranlagung spielt hier eine grosse Rolle. Wo die Gesichts-
vorstellungen das geistige Leben beherrschen, werden sie natur-
gemäss einen weit grösseren Reichtum an scharfen Einzelheiten
aufweisen, als dort, wo Gehörs- oder Muskelvorstellungen das
wesentliche Werkzeug des Denkens bilden.
Unter krankhaften Verhältnissen können offenbar auftau->
chende Vorstellungen und Erinnerungsbilder bisweilen einen so
hohen Grad von sinnlicher Deutlichkeit erreichen, dass sie von
den Kranken als wirkliche Wahrnehmungen besonderer Art auf-
gefasst werden. Eine ganze Reihe von Forschern ist sogar der
Ansicht, dass alle Trugwahrnehmungen unmittelbar als Einbil-
dungsvorstellungen von aussergewöhnlicher sinnlicher Lebhaftig-
keit aufzufassen seien. Allein der Umstand, dass bei Halluci-
nanten durchaus nicht alle, sondern nur bestimmte Gruppen von
Vorstellungen in den Sinnestäuschungen eine Rolle zu spielen
scheinen, und dass neben diesen letzteren stets auch Vorstellungen
von der gewöhnlichen, abgeblassten und gestaltlosen Art zu ver-
laufen pflegen, deutet darauf hin, dass noch eine besondere
Ursache hinzukommen muss, wenn eine Vorstellung die greifbare
Deutlichkeit der Wahrnehmung erhalten soll.
Die nächstliegende und zumeist anerkannte Erklärung dieses
Verhaltens ist die Annahme einer gleichzeitigen rückläufigen
Erregung der Sinnesstätten im Gehirn. Wir haben
früher gesehen, dass die Erregungszustände dieser letzteren die
Form sinnlicher Wahrnehmung annehmen müssen, weil ja alle
136
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Sinneseindrücke eben nur durch Vermittlung jener Erregungen
in unser Bewusstsein eintreten können. Wenn es demnach diese
Hirnabschnitte sind, durch deren Erregung die Wahrnehmung
ihre sinnliche Eigenart erhält, so liegt es nahe, eine grössere
oder geringere Beteiligung derselben an dem Vorgänge der
lebhaften Wiedererneuerung früherer Eindrücke zu vermuten.
Eine derartige Anschauung würde namentlich gut die Tatsache
erklären, dass zwischen der Sinnestäuschung von vollkommenster
sinnlicher Deutlichkeit und der abgeblasstesten Erinnerung eine
ununterbrochene Reihe von Übergangsstufen liegt, ein Verhalten,
das sich durch die Annahme einer stärkeren oder schwächeren
Miterregung der Sinnesstätten am ungezwungensten erklären
lassen würde. Möglich, dass sogar beim gewöhnlichen Denken
die rückläufige Reizung, die „R e p e r c e p t i o n“, wie Kahl-
bäum sie genannt hat, in sehr geringer Stärke immer statt-
findet, und dass erst dann, wenn dieser Vorgang eine krank-
hafte Ausdehnung gewinnt, oder wenn die Sinnesstätten sich in
einem Zustande erhöhter Erregbarkeit befinden, die Lebhaftigkeit
des Erinnerungsbildes derjenigen der sinnlichen Wahrnehmung
sich annähert. Es würde somit gewissermassen ein bestimmtes
Verhältnis zwischen der Stärke der Reperception und der Reiz-
barkeit der Sinnesstätten bestehen: Je grösser die Reizbarkeit
dieser letzteren, desto leichter würden die Erinnerungsbilder das
Gepräge der sinnlichen Deutlichkeit erhalten, desto schwächer
brauchte die rückläufige Erregungswelle zu sein, um dieselben
auszulösen, und desto unabhängiger würden sie vom Vorstellungs-
verlaufe sein. Der Grenzfall wäre in den früher besprochenen,
auf örtlichen Reizungsvorgängen beruhenden Wahrnehmungs-
täuschungen gegeben, die dem Kranken ganz fremdartig, als etwas
von aussen sich Aufdrängendes gegenüberstehen.
Die Grenze nach der entgegengesetzten Seite bilden jene
Fälle, in denen es sich deutlich erkennbar gar nicht um eigent-
liche Sinnestäuschungen, sondern lediglich um Vorstellungen von
grosser Lebhaftigkeit handelt. Bei genauerem Eingehen gelingt
es, die zunächst auf Trugwahrnehmungen deutenden Äusserungen
der Kranken dahin zu begrenzen, dass die Eindrücke nicht eigent-
lich sinnliche, sondern „innerliche“ gewesen sind, die aber den-
noch wegen ihrer aufdringlichen Deutlichkeit von den gewöhn-
Sinnestäuschungen.
137
liehen Vorstellungen unterschieden werden. Hier würde man
sich etwa die Reperception sehr stark entwickelt, aber die Reiz-
barkeit der Sinnesstätten nicht erhöht vorzustellen haben. Für
diese Auffassung spricht der Umstand, dass diese letztgenannte
Gruppe der Einbildungstäuschungen, die man auch als
psychische Hallucinationen (Baillarger), Pseudo-
hallucinationen (Hagen) oder Apperceptionshal-
lucinationen (Kahlbaum) bezeichnet hat, zumeist mehrere
oder alle Sinnesgebiete in zusammenhängender Weise umfassen,
und dass sie stets in nahen Beziehungen zu dem sonstigen Be-
wusstseinsinhalte stehen, während die an der entgegengesetzten
Seite unserer Stufenreihe befindlichen Wahrnehmungstäuschungen
begreiflicherweise in der Regel nur einem einzelnen Sinnesgebiete
anzugehören pflegen und dem Vorstellungsverlaufe gegenüber
sich durchaus selbständig verhalten.
Eine bedeutsame Erläuterung erhält die Auffassung der
Sinnestäuschungen durch jene eigentümliche Störung, die man
als „Doppeldenken“ bezeichnet hat. Sie besteht wesentlich im
„Lautwerden“*) der Gedanken des Kranken. Unmittelbar an die
auftauchende Vorstellung schliesst sich eine deutliche Gehörs-
wahrnehmung des gedachten Wortes. Am häufigsten tritt dieses
Mithallucinieren beim Lesen, etwas seltener beim Schreiben auf,
also dann, wenn eine sprachliche Vorstellung sich mit einer ge-
wissen Stärke ins Bewusstsein drängt; bisweilen ist sie auch beim
einfachen Denken vorhanden oder sie knüpft sich an irgend eine
gleichgültige Wahrnehmung. Dem auslösenden Vorgänge kann
sie vorausgehen oder folgen: Die Stimme liest vor oder spricht
nach, bisweilen auch beides. Leises oder lautes Aussprechen der
Worte bringt die hallucinatorischen Mitklänge in der Regel zum
Verschwinden. Stets bestehen ausserdem noch anderweitige Ge-
hörstäuschungen. Ich kannte einen Kranken, der seinen weit
zerstreuten Bekannten mit Hilfe des Doppeldenkens zu deren
Vergnügen vorzulesen glaubte und immer deren Randbemerkungen
dazu hörte.
Zur Erklärung dieser Erscheinung wäre etwa eben wegen
der Hallucinationen eine erhöhte Reizbarkeit der centralen
*) Klinke, Archiv für Psychiatrie, XXVI, 147.
138
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Sinnesflächen anzunehmen, die sehr wohl unter dem Einflüsse
der Reperception zur fortlaufenden Entstehung von Trugwahr-
nehmungen führen könnte, welche dem in Sprachvorstellungen
fortschreitenden Gedankengange inhaltlich Schritt für Schritt
folgen. Die Ablenkung jener Erregungszustände auf Willens-
bahnen scheint dann die rückläufige Reizung der Sinnesflächen
durch den Vorstellungsverlauf und somit die Entstehung des
Doppeldenkens bis zu einem gewissen Grade verhindern zu
können. Koppen berichtet von einem Kranken, bei dem die
Störung verschwand, so lange er angestrengt und mit Interesse
arbeitete, während sie beim Nichtstun wiederkehrte.
Die Schwierigkeit, Einbildungsvorstellungen von fast sinn-
licher Lebhaftigkeit scharf von der wirklichen Wahrnehmung zu
trennen, ist die Ursache, warum bei Geisteskranken gerade die
Vermischung von Sinneseindrücken mit Bestandteilen, die dem
eigenen Vorstellungsschatze entstammen, eine so verhängnisvolle
Quelle der Verfälschung ihrer Erfahrung wird. Dieser Vorgang,
den wir als Apperceptionsillusion (Auffassungsverfäl-
schung) den früher berührten Formen der Illusion gegenüber-
stellen können, ist in geringerem Umfange schon unter gewöhn-
lichen Verhältnissen überaus häufig. Das Übersehen der Druck-
fehler ist dafür ein viel genanntes Beispiel. Die Schnelligkeit,
mit der wir bekannte Formen und Laute aufzufassen vermögen,
beruht eben wesentlich darauf, dass wir die rasch empfangenen all-
gemeinen Eindrücke ohne weiteres durch Erinnerungsbilder ver-
stärken und ergänzen, in der Hauptsache vielleicht richtig, oft
genug aber auch falsch. Niemandem kann es entgehen, wie sehr
auch die Wahrnehmung des Gesunden unter dem Einflüsse der
vorgefassten Meinung steht, namentlich dann, wenn lebhafte Ge-
mütsbewegungen die klare und sachliche Auffassung unserer Um-
gebung trüben. Auch der ruhigste, naturwissenschaftlichste Beob-
achter ist nicht immer ganz sicher, dass seine Wahrnehmungen
sich nicht unmerklich den Anschauungen anpassen, mit denen
er an seinen Gegenstand herantritt, und die Gemütsbewegungen
sind bekanntlich imstande, unserer Gesamtauffassung der Ereig-
nisse eine so verschiedene Beleuchtung zu geben, dass uns nach-
träglich die Abweichungen von der Wirklichkeit oft ganz un-
begreiflich erscheinen. Bei Geisteskranken sind aber die Be-
Sinnestäuschungen.
139
dingungen für die Entstehung von Auffassungsverfälschungen
häufig ausserordentlich günstige: starke gemütliche Erregungen,
grosse Lebhaftigkeit der Vorstellungen und endlich — ein später
noch näher zu berücksichtigender Umstand — Unfähigkeit zu
einer verständigen Sichtung und Berichtigung der Erfahrungen.
So kommt es, dass hier vielfach die sinnlichen Eindrücke in der
Auffassung des Kranken ganz abenteuerliche Formen annehmen
und auf diese Weise auch dort, wo keine eigentlichen Sinnes-
täuschungen vorhanden sind, die Bausteine zu einer verfälschten
Anschauung von der Aussenwelt zu liefern imstande sind. Dahin
gehört es, wenn eine Kranke die Geräusche draussen für das
Schreien ihrer zu Tode gemarterten Kinder oder für das „Knistern
der Hölle“ hält.
Am leichtesten kommt natürlich eine derartige Verfäl-
schung der Erfahrung dann zu stände, wenn die von den Sinnen
gelieferten Eindrücke nicht klar und scharf ausgeprägt, sondern
unbestimmt und verschwommen sind. Wie wir im ge-
wöhnlichen Leben undeutliche Wahrnehmungen am häufigsten
missverstehen, d. h. unwillkürlich durch eigene Beimischungen
ergänzen und auslegen, so spielen auch bei Geisteskranken die
Auffassungstäuschungen besonders dann eine grosse Rolle, wenn
die Deutlichkeit der Sinneseindrücke durch irgendwelche Ur-
sachen, namentlich durch Störungen des psychischen Gesamt-
zustandes, beeinträchtigt wird.
Die Verfälschung der Auffassung kann unter Umständen auch
durch Eindrücke von anderen Sinnesgebieten her ausgelöst werden.
K a h 1 b a u m hat diesen Vorgang mit dem Namen der Reflex-
hallucination belegt. Die Wahrnehmungen der einzelnen
Sinne stehen miteinander in so vielfältiger Verknüpfung, dass
ein lebhafter Eindruck leicht andere Sinnesgebiete mit erregen
kann. Im Grunde gehört hierher schon das Auftauchen des Ge-
sichtsbildes einer Katze, wenn wir ihr Miauen hören. Viel unmit-
telbarer treten diese Beziehungen der einzelnen Sinne bei den
sogenannten „Sekundärempfindungen“ hervor, dem Sehen von
Farben bei bestimmten Klängen, Gerüchen u. s. f. Sinnliche
Deutlichkeit erhalten die unangenehmen Empfindungen des Zu-
schauers bei schmerzhaften Eingriffen, die Belästigung im Kehl-
kopf beim Anhören eines heiseren Sängers, der Kitzel bei drohen-
140
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
der Berührung empfindlicher Stellen, die Wahrnehmung eines
blinden, gegen uns gerichteten Stosses. Mourly Vold hat
ferner nachgewiesen, dass sich auch in unseren Träumen vielfach
eine derartige Umsetzung von Reizen in Vorstellungen eines an-
deren Sinnesgebietes vollzieht.
In Krankheitszuständen spielen ähnliche Vorgänge oft eine
bedeutende Rolle. Namentlich Bewegungsempfindungen, wie sie
sich schon unter gewöhnlichen Verhältnissen so häufig an Sin-
neseindi'ücke anschliessen, scheinen vielfach auf diesem Wege
zu entstehen*). So gibt es Kranke, welche die in ihrer Umgebung
gesprochenen Worte in ihrer Zunge fühlen, denen ein Blick, eine
Berührung eigentümliche Spannungs- oder Erschlaffungsempfin-
dungen im Körper erregt. Umgekehrt berichtet Juliusburger
von einem tauben und blinden Kranken, der jedesmal Glöckchen
eine Melodie spielen hörte, sobald er die gelähmten Augen im
Rhythmus nach rechts zu bewegen suchte. Bisweilen nehmen
solche Zusammenhänge sehr absonderliche Formen an; die Kran-
ken fühlen sich mit der Suppe „ausgefüllt“, von ihrer Nachbarin
„eingenäht“, „eingestiückt“ u. ähnl. In der Regel dürfte es sich
bei allen diesen Erscheinungen übrigens nicht um einfache Über-
tragungen der Sinnesreize in eine andere Bahn, sondern um die
Mitwirkung von Einbildungen handeln, die lange vorbereitet sind
und auf dem Wege mehr oder weniger klar bewusster Überlegung
die Anknüpfung der Mitempfindungen an den ursprünglichen Ein-
druck vermitteln.
Eine sehr bemerkenswerte Eigenschaft der Sinnestäuschungen,
welche einmal auf ihre Entstehungsweise hindeutet, andererseits
ihre Wichtigkeit als Krankheitserscheinung kennzeichnet, ist die
gewaltige, unwiderstehliche Macht, die sie alsbald über den
gesamten Bewusstseinsinhalt des Kranken zu erhalten pflegen.
Es ist wahr, dass auch bei geistig völlig gesunden Menschen
ausnahmsweise einmal eine ausgesprochene Trugwahrnehmung
auftreten kann, und dass andererseits im Beginne oder am Ende
einer Geistesstörung die Täuschungen wegen ihres unwahrschein-
lichen Inhaltes nicht selten als solche erkannt werden. Allein man
sieht fast immer, wie andauernde Sinnestäuschungen das gesunde
*) Cramer, Die Hallucinationen im Muskelsinn bei Geisteskranken und
ihre klinische Bedeutung. 1889.
Sinnestäuschungen.
141
Urteil überwältigen und wie schon nach kurzer Zeit selbst die un-
sinnigsten und abenteuerlichsten Annahmen von dem Kranken
erfunden werden, um an der Wahrheit der Trugwahrnehmungen
allen besonnenen Gegengründen zum Trotz festzuhalten. Ja, wenn
etwa in der Genesungszeit die Überzeugung von der krankhaften
Natur der Täuschungen sich schon zu befestigen beginnt, wird
der Kranke im Augenblicke ihres Auftauchens selbst doch fast
regelmässig wieder von ihnen mit fortgerissen.
Diese eigenartige Erscheinung, die in der Ohnmacht der wirk-
lichen Wahrnehmungen, des offenbaren Augenscheins, gegenüber
der krankhaften Täuschung eine weitere Erläuterung findet, kann
eben deswegen natürlich nicht etwa in der sinnlichen Deutlichkeit
der Trugwahrnekmung ihren einfachen Grund haben; im Gegen-
teile scheint die Erfahrung dafür zu sprechen, dass die Macht der
Täuschungen mit dem Zurücktreten ihrer alltäglich sinnlichen Be-
schaffenheit eher wächst, als abnimmt. Die Erklärung ist daher
vielmehr in dem tiefgehenden, dem Kranken vielleicht selber un-
bewussten Zusammenhang© mit den ihm geläufigen Gedanken-
kreisen, in der inneren Übereinstimmung der Täuschungen mit
seinen krankhaften Befürchtungen und Wünschen zu suchen. Ganz
besonders sind es Gemütsbewegungen und Stimmungen, die den
Täuschungen Inhalt und Färbung geben, gerade so, wie sie das
Auftauchen bestimmter Vorstellungsreihen unterstützen und die
wirkliche Wahrnehmung beeinflussen. Sehr häufig beobachten
wir, namentlich in den Endzuständen der Dementia praecox, dass
Täuschungen sich nur in Verbindung mit den hier so häufigen
periodischen Stimmungsschwankungen einstellen, in den Zwischen-
zeiten dagegen völlig zurücktreten. Die überwältigende Beein-
flussung des Denkens und Handelns durch die Täuschungen nimmt
erst ab, wenn entweder Genesung eintritt oder mit der Ausbildung
fortschreitender Verblödung die gemütliche Regsamkeit schwin-
det. In beiden Fällen können die Täuschungen zunächst noch
f ortdauern, aber der Kranke „achtet nicht mehr so darauf“; sie
hören auf, eine Rolle zu spielen. So gibt es ungezählte Blödsinnige,'
die andauernd Stimmen hören, ohne den Inhalt derselben irgend
weiter zu verarbeiten, ein Beweis dafür, dass die Macht der Täu-
schungen ganz von dem Widerhall abhängig ist, den sie im
Seelenleben des Kranken finden.
142
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Diese Erwägungen sind es, welche mit grosser Entschieden-
heit gegen die verbreitete Auffassung sprechen, dass die Sinnes-
täuschungen regelmässig oder doch häufig die eigentliche
Ursache für die wahnhaften Gedanken, die Gemütsbewegungen,
das Handeln unserer Kranken bilden sollen. Freilich weisen die
Kranken in ihren Erzählungen nicht selten geradezu auf die Täu-
schungen als die Quelle und die Begründung ihrer Krankheits-
erscheinungen hin, allein 'es kann doch keinem Zv. eifei unter-
liegen, dass die Täuschungen in demselben Hirn entstanden sind
wie die übrigen Erscheinungen der psychischen Erkrankung. Tat-
sächlich verhalten sich die Kranken ja zu den Täuschungen auch
ganz anders, als zu wirklichen Wahrnehmungen. Kein Gesunder
würde die Worte eines Vorübergehenden: „das ist der Kaiser'1
sofort auf sich beziehen oder sich gar deswegen wirklich für
den Kaiser halten — auf den Geisteskranken, bei dem sie
den Abschluss einer Kette geheimer Hoffnungen und dunkler
Ahnungen bildet, kann eine derartige hallucinatorische Wahr-
nehmung den allertiefsten, überwältigendsten Bindruck machen
und unmittelbar die feste Überzeugung hervorbringen, nicht nur,
dass jene Worte wirklich gesprochen seien, sondern dass sie auch
die tatsächliche Wahrheit enthalten. Ebenso würden wk nie-
manden für entschuldigt halten, wenn er die an ihn wirklich
gerichtete Aufforderung „Töte dein Weib!“ etwa einfach au&-
führen würde, während wir beim Kranken der Sinnestäuschung
ohne weiteres eine zwingende Kraft zuzuschreiben gewöhnt sind.
Es lässt sich nun allerdings nicht von der Hand weisen,
dass möglicherweise die Entstehung einer Sinnestäuschung auf
sehr verschiedenem Wege erfolgen kann. Gerade unsere früheren
Auseinandersetzungen deuteten schon darauf hin, dass gewisse
Formen der Täuschungen vielleicht mehr in den Anfangsgebieten
der Sinnesbahn, andere dagegen mehr in denjenigen Hirnteilen
ihren Ursprung nehmen, welche den höheren psychischen Lei-
stungen dienen. Man hat daher auch wohl von einer primären
und sekundären Entstehung der Sinnestäuschungen gesprochen,
je nachdem dieselben als unabhängige Einflüsse in das Seelen-
leben eingreif en oder umgekehrt aus demselben hervorwachsen.
Wie die Erfahrung lehrt, besitzen jedoch gerade die sogenannten
sekundären Sinnestäuschungen die bei weitem grösste Macht über
Sinnestäuschungen.
143
Denken, Fühlen und Handeln. Nicht die Tatsache der Sinnes-
täuschung oder ihr Inhalt an sich ist es demnach, was so
überwältigend auf den Kranken wirkt, sondern einzig und allein
der Umstand, dass eben die Täuschung nichts anderes ist, als
sein eigenstes Erzeugnis. Wir können daher, abgesehen von den
oben bereits besprochenen klinischen Unterschieden, keinen be-
sonderen Wert darauf legen, zu entscheiden, ob im einzelnen
Falle die Wahnidee, die Stimmung oder die zugehörige Sinnes-
täuschung sich zuerst geltend gemacht habe. In der über-
wiegenden Mehrzahl der Fälle, und namentlich dann, wenn die
Täuschungen mit dauernden Wahnbildungen einhergehen, sind alle
jene Krankheitserscheinungen gewiss nur die Wirkungen einer und
derselben gemeinsamen Ursache, die verschiedenartigen Zeichen
des gleichen krankhaften Gesamtzustandes.
Der Inhalt und die Form der Trugwahrnehmungen zeigen
auf den einzelnen Sinnesgebieten eine grosse Mannigfaltigkeit.
Unter den Gesichtstäuschungen sind am häufigsten nächt-
liche „V i s i o n e n“, leuchtende Gestalten, Gott, Christus, Engel,
Verstorbene, Blumen, oder schreckhafte Fratzen, Teufel, wilde
Tiere und dergl. Diese Erscheinungen werden bald als übersinn-
liche Offenbarungen, bald als täuschende Vorspiegelungen auf-
gefasst, oder aber sie ähneln in ihren fremdartigen und abenteuer-
lichen Formen, in ihrem raschen Wechsel und ihrer Vielgestal-
tigkeit den Trugwahrnehmungen des lebhaften, unruhigen
Traumes, wie im Fieberdelirium. Mehr den wirklichen Wahr-
nehmungen nähern sich die weit selteneren Gesichtstäuschungen,
die bei hellem Tageslichte auftreten. Dahin gehören namentlich
die Täuschungen der Alkoholdeliranten, huschende Ratten und
Kobolde, zahlloses kriechendes Ungeziefer, Schmetterlinge und
Flocken in der Luft, Münzen am Boden, Drähte und gespannte
Fäden, lebhaft bewegte, bunte Menschenmengen. Bei andern
Kranken sind es einzelne Gestalten, ein schwarzer Hund, Löwen-
köpfe, die zum Fenster hineinsehen, dunkle Schatten, Gehenkte
an einem Baume, Blut, ein Leichenantlitz. Bisweilen verdecken die
Bilder die wirklichen Gegenstände, oder sie lassen sie gerade noch
durchschimmern. Im Essen befinden sich Schimmel, kleine ab-
geschnittene Köpfe mit beweglichen Augen, wimmelndes Ge-
würm; die Gegenstände der Umgebung haben ein ganz anderes
144
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Aussehen angenommen, zeigen bestimmte Gesichter, Totenköpfe,
bewegen, verändern sich, namentlich im seitlichen Sehfelde.
Hierhin gehören auch gewisse Fälle von Personenverwechs-
lung, bei welchen die Kranken in fremden Personen ihre Ange-
hörigen zu erblicken glauben oder umgekehrt ihre Angehörigen
nicht als solche anerkennen, behaupten, dass dieselben Personen
immer andere Gesichter und Gestalten annehmen, Fratzen
schneiden und ähnl. Im allgemeinen sind Gesichtstäuschungen
einer Aufklärung durch andere Sinne, namentlich den Tastsinn,
verhältnismässig leicht zugänglich und werden daher von Ge-
sunden unter einigermassen günstigen Verhältnissen auch regel-
mässig als solche erkannt. Nur wo Verworrenheit, heftige Ge-
mütsbewegungen, namentlich Angst, oder weit fortgeschrittene
psychische Schwäche eine unbefangene Prüfung der Täuschung
verhindern, werden selbst gröbere und fremdartigere Verfäl-
schungen der Gesichtswahrnehmung als wirkliche Sinnes-
erfahrungen hingenommen und verarbeitet.
Weit verderblicher pflegen in dieser Beziehung jene Ge-
hörstäuschungen zu sein, welche als „Stimmen“ auf treten,
ein Ausdruck, den der wahre Gehörshallucinant fast immer so-
gleich richtig versteht. Der Grund dafür liegt offenbar in der
tiefgreifenden Bedeutung, welche die Ausbildung der Sprache
für unser Denken besitzt. Da wir zumeist in Worten denken,
pflegen die. „Stimmen“ in sehr innigem Zusammenhänge mit dem
Gesamtinhalte des Bewusstseins zu stehen, ja sie sind häufig nichts,
als der sprachliche Ausdruck dessen, was die Seele des Kranken
bewegt, und haben daher für ihn eine weit grössere überzeugende
Gewalt, als alle sonstigen sinnlichen Täuschungen und insbe-
sondere als die wirklichen Reden der Umgebung selbst. Der
Kranke hört, zuerst gewöhnlich hinter seinem Rücken, allerlei
Bemerkungen, die sich auf ihn beziehen, jede seiner Handlungen
begleiten, die geheimsten Vorgänge seiner Vergangenheit offen
besprechen, ihn beleidigen, bedrohen oder beglücken. Namentlich
nicht ganz deutliche Reden, halblaute W^orte, unbestimmte Ge-
räusche gewinnen Inhalt; die Wagen „knarren und ertönen auf
ganz ungewöhnliche Weise und liefern Erzählungen, die Schweine
grunzen Namen und Erzählungen sowie Verwunderungsbezeu-
gungen, die Hunde schimpfen und bellen Vorwürfe, Hähne krähen
Sinnestäuschungen.
145
solche, selbst Gänse und Enten schnattern Namen, einzelne Redens-
arten und Bruchstücke von Referaten.“ Aus dem Schwirren der
Stahlfedern, dem Läuten der Glocken tönen dem Kranken Rufe
entgegen, oder aus der Wand, aus dem Bette, in dem er liegt,
ja aus den eigenen Ohren heraus, im Kopfe, im Unterleibe ver-
nimmt er die Stimmen. Nicht selten haben dieselben verschiedene
Höhe und Klangfarbe und werden daher verschiedenen Personen
zugeschrieben; bisweilen ist es eine ganze Schar, deren einzelne
Mitglieder genau unterschieden werden, auch wohl Wechselreden
führen; bisweilen sind es nur einige wenige oder eine einzige.
Die Stimmen der eigenen Angehörigen, untreuer Liebhaber, bos-
hafter Nachbarn, endlich diejenige Gottes oder des Teufels
pflegen am häufigsten vorzukommen. Vielfach sind die Stimmen
leise, flüsternd oder zischelnd, wie aus der Ferne, von oben
herunter, oder dumpf, aus dem Boden heraufkommend ; weniger
häufig sind sie laut und schreiend, alles andere übertönend. Sie
können so vollständig den wirklichen Wahrnehmungen gleichen,
dass die Kranken ihren Glauben an sie geradezu damit begründen.
„Wenn Ihre Worte wirklich gesprochen werden,“ so sagen sie
dem Arzte, „so muss das auch bei den anderen der Fall sein,
die ich ganz ebenso höre.“ Verhältnismässig selten sprechen die
Stimmen längere, zusammenhängende Sätze ; meist handelt es sich
um kurze, abgerissene Bemerkungen. Ausser den Stimmen werden
hie und da laute schiessende und knatternde Geräusche, Glocken-
läuten, wirres Geschrei, seltener angenehme Musik, Gesang und
dergl. gehört.
In anderen Fällen tritt namentlich der übernatürliche
Ursprung der gehörten Stimmen stärker hervor; sie sind dann
nicht selten von Gesichtstäuschungen begleitet. Gott oder
Christus geben dem Kranken einen Auftrag, eine Verheissung
oder klären ihn über ein Geheimnis seiner Persönlichkeit auf.
Der ganze Vorgang hat hier gewöhnlich etwas Traumhaftes,
Übersinnliches. Im Fieberdelirium und bei sehr verwirrten Kran-
ken zeigen auch die Gehörstäuschungen den raschen Wechsel und
die unklare Verworrenheit der unter gleichen Verhältnissen vor-
kommenden Gesichtstäuschungen.
Als eine besondere Gruppe der Gehörstäuschungen sind die
sogenannten „inneren Stimmen“, „Einflüsterungen“, die „Welt-
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Anfl. 10
146
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
spräche“, das „Gedenk“, das „Telephonieren“, „Telegraphieren“
und dergl. zu betrachten, die von dem Kranken selbst nicht
als äussere Wahrnehmungen, sondern als Eingebungen oder
künstliche Beeinflussungen aufgefasst werden. „Es ist zwischen
Hören und Ahnen“, meinte ein Kranker. Hier ist der Ursprung
aus dem eigenen Gedankengange in der Regel ^ sehr deutlich.
Bisweilen schliesst sich dieses innere Sprechen in der Art der
Rede und Wechselrede im Bewusstsein des Kranken aneinander,
so dass die Wahnidee einer förmlichen stillen Unterhaltung mit
fernen Personen entsteht. Oder aber die „Gewissensstimmen“
begleiten jede Handlung des Kranken mit entsprechenden Bemer-
kungen, feuern ihn an, erteilen ihm Befehle oder \ erböte. In
allen diesen Fällen entwickelt sich ebenso wie bei dem früher
beschriebenen „Doppeldenken“ leicht die Vorstellung, dass die
eigenen Gedanken der Umgebung bekannt seien, oder gar, dass
sie durch fremde Einwirkung gemacht und beeinflusst würden.
„Ich bin durchsichtig,“ sagte mir ein derartiger Kranker.
Der Inhalt der Gehörstäuschungen ist, wie schon ange-
deutet, nur selten ein ganz gleichgültiger und dann in der Regel
unsinnig und eintönig. Zumeist stehen die Stimmen in sehr nahen
Beziehungen zu dem Wohl und Wehe des Hörers, den sie auf-
reizen und peinigen, seltener beglücken und erheben. Sie können
dann einen mächtigen Einfluss auf das Handeln gewinnen. Die
fortwährenden Schmähungen, Beschimpfungen und höhnischen
Bemerkungen, der Jammer gemisshandelter Angehöriger machen
den Kranken misstrauisch und aufgeregt und bringen ihn zu ent-
rüsteter Abwehi- gegen seine vermeintlichen Peiniger; furchtbare
Drohungen setzen ihn in Angst und Verwirrung und zwingen ihn
zu rastloser Flucht, um den Verfolgern zu entgehen; gebieterische
Befehle lassen ihn die unsinnigsten und bisweilen unnatürlichsten
Taten begehen, weil er übernatürlichen Mächten gehorchen zu
müssen glaubt. .
Von weit geringerer unmittelbarer Bedeutung, als die Trug-
wahrnehmungen des Gesichts und Gehörs, deren Gebiet ja vor allem
der sinnliche Rohstoff unserer Vorstellungen entnommen wird,
sind die Täuschungen im Bereiche der übrigen Sinne für
das psychische Leben des Kranken. Der geängstigte Kranke
empfindet den Geruch giftiger Dünste, die ihn töten sollen, oder
Sinnestäuschungen.
147
den Schwefelgestank des Teufels, der ihn bedroht; er schmeckt
allerlei unappetitliche und schädliche Dinge, Menschenfleisch,
Kot, Arsenik, Canthariden in seinem Essen, die ihm von seinen
Feinden beigebracht werden. Diese Trugwahrnehmungen haben
ihren Ursprung zumeist in den Gedankenkreisen des Kranken,
weit seltener in umschriebenen Störungen der Sinnesgebiete, wie
z. B. Geruchstäuschungen bei Druck auf den Olfactorius oder bei
Rindenerkrankungen in der Gegend des Gyrus hippocampi auf-
treten können. In der Regel haben wir es somit hier mit dem
Ausdrucke allgemeiner psychischer Umwälzungen zu tun. Ähn-
liches gilt von den entsprechenden Täuschungen im Bereiche des
Haut- und Muskelsinnes sowie der Gemeinempfindungen. Wo uns
die Wahnideen des Elektrisiertwerdens, des Besessenseins, der
Umwandlung einzelner Körperteile, der inneren Versteinerung und
Eintrocknung, des Verschwindens von Kopf, Mund, Magen, After
u. s. f. begegnen, da handelt es sich nicht mehr um einfache
Verfälschungen der Wahrnehmung, sondern um die krankhafte
Verarbeitung von Empfindungen, die an sich meist zu unbe-
stimmt sein würden, um etwa in ähnlicher Weise wie die Gehörs-
und Gesichtstäuschungen den Bewusstseinsinhalt beeinflussen zu
können.
Die grosse Mannigfaltigkeit der Sinnestäuschungen hatte uns
zu der Anschauung geführt, dass ihre Entstehungsweise eine sehr
verschiedene sein müsse. Eine wichtige Bestätigung erfährt diese
Meinung durch die Erfahrung, dass die Art der Täuschungen in
sehr entschiedener Weise durch die klinischen Krank-
heitsformen bestimmt wird. Bei den Fieber- und Infektions-
delirien haben wir es mit bunten, wechselnden, traumartigen
Trugwahrnehmungen zu tun, bei denen verschiedene Sinnesgebiete
zur Vortäuschung verworrener, abenteuerlicher Erlebnisse Zu-
sammenwirken. Ähnlich verhalten sich die Täuschungen des
Trinkerdeliriums, doch ist hier der Zusammenhang der Einzel-
erlebnisse meist klarer. Die Täuschungen, die ausser Gehör,
Hautsinn und Muskelsinn ganz vorzugsweise den Gesichtssinn be-
treffen, haben ferner eine ausserordentliche sinnliche Deutlich-
keit; sie verknüpfen sich zudem so innig miteinander, dass sie
die Grundlage für ein „Beschäftigungsdelirium“ abgeben können.
Bemerkenswert ist endlich die Massenhaftigkeit der gleich-
10*
148
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
artigen Trugwahrnehmungen und ihre vielfach lebhafte Be-
wegung, das Auftauchen, Schwinden, Zerfliessen. Wie bei den
Fieberdelirien knüpfen sich auch hier die Täuschungen gern an
undeutlich aufgefasste Eindrücke an; sie können durch Einreden
hervorgerufen und beeinflusst werden. Ihnen nahe verwandt sind
die durch Cocain erzeugten Täuschungen, die sich auf Gesicht,
Gehör und Gemeinempfindungen zugleich erstrecken können. Be-
sonders kennzeichnend sind für dieses Gift die eigentümlichen
„mikroskopischen“ Gesichtstäuschungen, die Wahrnehmung zahl-
loser gleichartiger, winziger Einzelheiten, Tierchen, Löcher in
der Wand, Pünktchen. Demgegenüber begegnen uns bei. den
epileptischen Delirien, bei denen ebenfalls ein Zusammenwirken
verschiedener Sinnesgebiete häufig ist, vorzugsweise Täuschungen
mit lebhafter Gefühlsbetonung, das Sehen von Blut, Feuer,
Schreckgestalten, himmlischen Erscheinungen oder das Horen
von Drohungen, Schüssen, Kriegslärm, Yerheissungen und Engels-
musik.
Wir dürfen wohl annehmen, dass es sich m allen diesen
Fällen, da sich die Täuschungen verschiedener Sinne miteinander
verbinden, um ausgebreitete Krankheitsvorgänge in der Hirnrinde
handelt. Dafür spricht auch der Umstand, dass hier regel-
mässig mehr oder weniger starke Trübungen des Bewusstseins
bestehen. Allerdings deuten andererseits die unverkennbaren
klinischen Verschiedenheiten in der Gestaltung der Täuschungen
darauf hin, dass die Eigenart der einzelnen Krankheitsvor-
gänge sich dennoch deutlich geltend macht, sei es in dei
Verschiedenheit der Störungen selbst, sei es in der ver-
schiedenen Ausbreitung und Verteilung derselben. Mehr vor-
übergehende delirante Zustände mit ganz ähnlichen zusammen-
gesetzten Täuschungen mehrerer Sinne kommen noch in manchen
anderen Krankheiten vor, so im manisch-depressiven Irresein,
beim Altersblödsinn, bei der Dementia praecox, seltener in der
Paralyse, bei der die Neigung zum Auftreten, von Sinnestäu-
schungen überhaupt auffällig gering ist. Wie weit den genannten
Krankheitsvorgängen sonst Besonderheiten in der Gestaltung der
deliriösen Sinnestäuschungen entsprechen, ist noch sehr un-
genügend bekannt. Im allgemeinen darf man vielleicht annehmen,
dass bei den verwirrten Erregungszuständen der Dementia prae-
Sinnestäuschungen.
149
cox die Gehörstäuschungen im Vordergründe stehen, während
bei denjenigen des manisch-depressiven Irreseins daneben solche
des Gesichts und namentlich der Gemeinempfindungen eine grosse
Rolle spielen dürften. Zudem pflegt es sich hier wie bei der
Paralyse ganz vorwiegend um Illusionen, weit weniger um Hal-
iucinationen zu handeln.
Eine weit enger umgrenzte Gruppe bilden diejenigen kli-
nischen Formen, bei denen sich die Täuschungen auf ein einzelnes
Sinnesgebiet beschränken oder doch kein Zusammenwirken der
verschiedenen Sinne erkennen lassen. Ein sehr lehrreiches. Bei-
spiel dafür liefert der Alkoholwahnsinn und gewisse alkoholische
Schwächezustände, bei denen ganz ausschliesslich Gehörstäu-
schungen auftreten können. In einzelnen Fällen zeigen sie einen
taktmässigen Tonfall, so dass die Anknüpfung an das leise Ticken
des Carotispulses wahrscheinlich wird. Auch bei epileptischen
Geistesstörungen kommen hie und da nur Gehörstäuschungen zur
Beobachtung. In den cirkulären Depressionszuständen pflegen
sie in einzelnen kurzen Bemerkungen beängstigenden Inhaltes zu
bestehen, während bei den Trinkern und Epileptikern oft längere
zusammenhängende Reden gehört werden, in die sich mehrere
Personen einmischen, und die sich fast niemals unmittelbar an
den Kranken wenden.
Bei weitem am häufigsten sind Gehörstäuschungen in jener
grossen Gruppe von Krankheiten, die wir einstweilen noch unter
dem Namen der Dementia praecox zusammenfassen. Dauernd
fehlen sie nur selten. In der Regel bilden sie eines der eisten
Krankheitszeichen und bleiben oft genug die einzigen Täu-
schungen, die überhaupt auftreten. In den deliranten Zuständen
können sich jedoch auch Trugwahrnehmungen anderer Sinne
hinzugesellen, und endlich gibt es eine grössere Zahl von Fällen,
in denen sich neben den Gehörstäuschungen dauernd solche des
Hautsinns und namentlich der Gemeinempfindungen, auch wohl des
des Geruchs und Geschmackes entwickeln. Fast nur hier begegnet
uns die merkwürdige Störung des Doppeldenkens und Gedanken-
lautwerdens. Der Inhalt der Täuschungen ist oft nur im Anfänge
aufregend oder erfreuend, späterhin vielleicht ganz gleichgültig
oder unsinnig, im Gegensätze zu den oben angeführten Formen.
Diese Erfahrungen weisen darauf hin, dass der Krankheitsvorgang,
150
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
der diesen Geistesstörungen zu Grunde liegt, das Zustandekommen
von Gehörstäuschungen in ganz besonderem Grade begünstigt,
und dass dabei gemütliche Einflüsse keine massgebende Bedeu-
tung haben. Wir dürfen hier vielleicht daran erinnern, dass die
Gehörstäuschungen in sprachlicher Form auftreten, und dass wir
es gerade bei den Krankheiten, um die es sich hier handelt,
ungemein häufig auch mit Störungen des sprachlichen Ausdruckes
zu tun haben. Es wäre denkbar, dass diese beiden Krankheits-
zeichen in tieferer Beziehung zu einander stünden.
Trübungen des Bewusstseins. Ausser den Vorgängen in den
verschiedenen Abschnitten der Sinnesgebiete ist für die Erwer-
bung von Erfahrungen noch ein weiterer Umstand von hervor-
ragender Wichtigkeit, nämlich das Verhalten unseres Bewusst-
seins. Äussere Reize erzeugen in unserem Innern gewisse eigen-
tümliche, nicht näher erklärbare Zustandsveränderungen, die wir
unmittelbar auffassen und als Vorstellungen, Gefühle, Antriebe
u. s. f. auseinanderhalten. Diese allgemeinste Tatsache der
inneren Erfahrung bezeichnen wir im Anschlüsse an Fechners
Anschauungen als das Bewusstsein. Überall, wo äussere
Eindrücke in psychische Vorgänge umgesetzt werden, ist Be-
wusstsein vorhanden, denn dasselbe ist eben nichts anderes, als
ein Ausdruck für das Stattfinden dieser Umwandlung. Das
Wesen des Bewusstseins ist für uns völlig dunkel, doch wissen
wir, dass der Bestand desselben nicht nur im allgemeinen von den
Verrichtungen der Hirnrinde abhängig ist, sondern dass auch die
einzelnen Erscheinungen des Bewusstseins höchst wahrscheinlich
an bestimmte, bisher noch unbekannte Vorgänge in unserem
Nervengewebe gebunden sind.
Wie von der Beschaffenheit der Sinneswerkzeuge die Um-
setzung der äusseren Reize in Sinneserregung abhängig ist, so
sind weiterhin die Zustände der Hirnrinde für die Umwandlung
der physiologischen Erregungen in Bewusstseinsvorgänge von
entscheidender Bedeutung. In welchem Masse eine solche Um-
wandlung jeweils stattfindet, das ist bisher im Einzelfalle oft
äusserst schwierig zu erkennen, da uns die innere Erfahrung
eines Anderen nicht durch unmittelbaren Einblick, sondern nur
durch einen Rückschluss aus seinem äusseren Verhalten zugäng-
lich ist. Aus diesem letzteren allein entnehmen wir mit
Trübungen des Bewusstseins.
151
grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit, ob dasselbe
als Ausdruck psychischer Vorgänge zu betrachten ist odei
nicht.
Denjenigen Zustand, in welchem die Umsetzung körpeilichei
in seelische Vorgänge gänzlich aufgehoben ist, bezeichnen wir
als Bewusstlosigkeit. Jeder Reiz, der die Schwelle des
Bewusstseins überschreiten und damit einen psychischen Eindruck
hervorrufen soll, muss eine gewisse Stärke besitzen, die nicht
unter einen bestimmten Wert, den sogenannten Schwellen-
wert, heruntersinken darf. Allein die Grösse des Schwellen-
wertes wechselt je nach den Zuständen unserer Hirnrinde ausser-
ordentlich. Während sie bei gespannter Aufmerksamkeit ihre
niedrigsten Werte erreicht, kann sie in tiefster Ohnmacht un-
endlich werden, d. h. es genügen hier bisweilen selbst die allei-
stärksten Reize nicht mehr, um Bewusstseinsvorgänge auszu-
lösen. Man kann demnach, je nach der Grösse des Schwellen-
wertes, verschiedene Helligkeitsgrade des Bewusstseins
unterscheiden. Sinkt die Helligkeit des Bewusstseins unter ein
gewisses Mass, so entsteht ein mehr oder weniger tiefer „Däm-
merzustand“, in dem sowohl äussere wie innere Reize nur
uoch schwache und unklare psychische Gebilde erzeugen. Als
vorübergehende, sich oft ungemein scharf gegen das gesunde
Leben absetzende Störung beobachten wir derartige Bewusstseins-
trübungen bei der Epilepsie und Hysterie. Als lange dauernde
Dämmerzustände können wir dagegen gewisse Erschwerungen der
Seelenvorgänge betrachten, bei denen sich der psychophysische
Schwellenwert wesentlich erhöht. Unter Umständen kann an-
scheinend der Schwellenwert für äussere und für innere Reize
in ungleichmässiger Weise verändert werden; während die Ein-
wirkung äusserer Eindrücke erheblich erschwert ist, können den-
noch durch innere Erregungen lebhafte Bewusstseinsvorgänge aus-
gelöst werden. Das ist der Fall bei denjenigen Zuständen, die wir
als Delirien zu bezeichnen pflegen. Umgekehrt sehen wir bei
den Verblödungen nicht selten äussere Reize noch verhältnis-
mässig leicht Empfindungen erzeugen, während sich innere Vor-
gänge fast gar nicht mehr im Bewusstsein geltend machen. Hier
handelt es sich aber in der Regel gar nicht um eine Steigerung
des Schwellenwertes, sondern um ein dauerndes Sinken der psycho-
152
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
physischen Erregung. Gerade dadurch unterscheidet sich die
Verblödung vom Dämmerzustände.
Der häufigste, auch dem Gesunden wohlbekannte Dämmer-
zustand ist der Schlaf. Bei ihm ist es gelungen, durch Feststellung
der Reize, die in den einzelnen Abschnitten der Nacht genügen,
um das Aufwachen herbeizuführen, die Schwankungen der Schlaf-
tiefe, also die Helligkeitsgrade des Bewusstseins im Schlafe,
durch den Versuch genauer zu verfolgen. Dabei hat sich gezeigt,
dass die „Weckwerte“ im allgemeinen nach dem Einschlafen zu-
nächst rasch zunehmen, dann ebenso schnell wieder sinken, um
mit allerlei Schwankungen gegen Morgen ihre niedrigsten Werte
zu erreichen. Bei Morgenarbeitern liegt die grösste Schlaftiefe
am Ende der ersten Schlafstunde und ist nach wenigen Stunden
bereits ungemein gering. Dagegen scheinen Abendarbeiter ihre
grösste Schlaftiefe, die zudem erheblich geringer bleibt, als die-
jenige der ersteren Gruppe, viel später zu erreichen. Sie sinkt
dann auch langsamer und hält sich bis zum Erwachen auf einer
beträchtlicheren Höhe. Ohne Zweifel erfährt die Schlaftiefe bei
Geisteskranken die allereingreifendsten Veränderungen. Nament-
lich in Depressionszuständen pflegt der Schlaf oberflächlich und
häufig unterbrochen zu sein, während er bei manischen Kranken
von kurzer Dauer, aber sehr tief sein kann. Leider fehlen uns
über diese wichtigen Störungen noch genauere Untersuchungen.
Auch im Schlafe dürfte sich das Verhältnis des äusseren
Schwellenwertes zum inneren zu ungunsten des ersteren verschie-
ben. Dafür spricht die Erscheinung des Traumes, die allerdings
im Tiefschlafe fehlen oder doch spurlos werden kann. Die Träume
haben vielfach grosse Ähnlichkeit mit den Dämmerzuständen.
De Sanctis*) weist insbesondere darauf hin, dass die Träume
der Epileptiker und Hysterischen denselben Inhalt haben können
wie die Delirien der Kranken, dort schreckhafte Wahrnehmungen
von Blut, Flammen, andrängenden Ungeheuern, himmlische Er-
scheinungen oder wollüstige Erlebnisse, hier theatralische Ereig-
nisse, Auftreten Verstorbener, einzelner drohender, mahnender
oder rührender Gestalten. Er meint sogar nicht mit Unrecht, dass
Träume dieser Art zuweilen geradezu Äquivalente der im Wachen
auftretenden ähnlichen Störungen bilden könnten.
*) De Sanctis, I sogni. 1899, deutsch von 0. Schmidt. 1901.
Störungen der Auffassung.
153
In Depressionszuständen pflegen die ängstlichen und er-
schreckenden Träume der Verstimmung im Wachen zu entsprechen.
Auch Wahnbildungen können sich in den Träumen fortspinnen.
Namentlich begegnen wir häufig der Angabe nächtlicher feind-
seliger Beeinflussung. Die Kranken erzählen von nächtlichen Be-
gattungen, beklagen sich darüber, dass man ihnen die „Natur
abgezogen“, Veränderungen an ihrem Körper vorgenommen habe.
Es ist allerdings zweifelhaft, wie weit derartige Angaben wirklich
auf Traumerlebnisse zurückgehen; Pilcz fand geradezu, dass
paranoische Kranke nicht von ihren Wahnvorstellungen träumen.
Gar nicht selten aber vermengen die Kranken Traum und Wirk-
lichkeit; ich erinnere mich eines Kranken, der fast täglich dem
Arzte über das Vorwürfe machte, was er ihm wieder im Traume
angetan habe. Bei fortschreitender Verblödung schwindet mit
dem Verluste der geistigen Regsamkeit auch die Häufigkeit und
Lebhaftigkeit der Träume.
Störungen der Auffassung. Das Anwachsen der Wirkung
eines äusseren Reizes erfordert eine gewisse Zeit. Wie
der Versuch lehrt, wird die grösste Klarheit einer Sinnes-
wahrnehmung erst nach Verlauf einiger Sekunden erreicht.
Dieser Vorgang kann unter Umständen eine erhebliche Ver-
langsamung erfahren. Die Kranken vermögen dann Reize,
die sich ihnen nur kurze Zeit darbieten, gar nicht oder doch
nur höchst unvollkommen aufzufassen, während sich unter ge-
wöhnlichen Verhältnissen keinerlei Erschwerung der Auffassung
geltend zu machen braucht. Ist aber die Verlangsamung im An-
wachsen der Sinnesempfindungen eine sehr bedeutende, so kann
das Verblassen derselben, das nach kurzer Zeit beginnt, die
volle Entwicklung der Auffassung gänzlich verhindern; die Wahr-
nehmungen versinken schon wieder, bevor sie noch volle Deut-
lichkeit und Stärke erlangt haben. Natürlich werden einzelne
von vornherein sehr kräftige Eindrücke doch aufgefasst werden
können, aber sie bleiben mehr oder weniger zusammenhangslos,
weil die Zwischenglieder und die begleitenden Ereignisse nur
in unklarer und verschwommener Form dem Bewusstsein über-
mittelt werden. In ausgeprägtester Gestaltung begegnen wir
dieser Auffassungsstörung bei der Presbyophrenie und beim
Korssako w sehen Irresein, doch dürften sich leichtere Andeu-
154
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
tungen derselben wohl auch bei manchen anderen Erkrankungen,
namentlich deliriöser Art, auffinden lassen.
Die Auffassung eines äusseren Eindruckes erfordert indessen
ausser dem Anwachsen der Wahrnehmung zu einer gewissen Stärke
noch die Eingliederung derselben in unseren Erfahrungsschatz.
Die grosse Mehrzahl der Eindrücke, die wir tagtäglich in uns
aufnehmen, ist an sich ziemlich undeutlich und verschwommen;
sie werden erst dadurch zu klaren und verwertbaren Erfahrungen,
dass sie in den bereitliegenden Erinnerungsbildern gewissermassen
einen Widerhall finden, welcher den sinnlichen Reiz verstärkt.
Durch diesen Vorgang, den W u n d t als „Apperception“ bezeich-
net, bildet sich auch sofort die Verknüpfung der einzelnen V ahr-
nehmung mit unserer Gesamterfahrung, ein Zusammenhang mit
zahlreichen anderen Vorstellungen und damit das erständnis
des vorliegenden Eindruckes. Dabei finden ungenau erfasste Ein-
drücke ihre Ergänzung durch auftauchende Erinnerungsbilder, ein
Vorgang, der die Empfindlichkeit unserer Auffassung bekannten
Eindrücken gegenüber ausserordentlich steigert, zugleich aber
auch die Gefahr der Wahr nehmungs Verfälschung in sich schliesst.
Gerade die Beobachtungen über die alltäglichen Illusionen zeigen
uns am besten, in wie hohem Masse die sinnliche Erfahrung immer-
fort durch die Anklänge in unserem Erinnerungsschatze beein-
flusst wird.
Sobald diese Mitwirkung unseres früheren geistigen Er-
werbes beim Wahrnehmungsvorgange fortfällt, wird dieser un-
klar und inhaltlos. Es können sich wohl einzelne stärkere Ein-
drücke in unser Bewusstsein eindrängen, aber sie haften nicht und
werden nicht verstanden, da ihnen die Einordnung in den Zusam-
menhang unserer Vorstellungen und Begriffe mit allen ihren
Folgen für die weitere geistige Verarbeitung fehlt. In dieser
Lage befinden wir uns z. B. gegenüber dem völlig Unverständ-
lichen, sofern nicht etwa besondere Nebenumstände, Erwartung
und dergl. die Anregung bestimmter Vorstellungen durch
die Wahrnehmung vermitteln. Die Einzelheiten einer Ma-
schinenausstellung, eines auf dem Kopf stehenden Landschafts-
bildes können uns vollkommen entgehen, obgleich die sinnlichen
Eindrücke an sich ebenso lebhaft auf uns wirken, wie auf den
Fachmann, oder wie das aufrechtstehende Bild. Einsilbige und
Störungen der Auffassung.
155
selbst zweisilbige Wörter lesen wir sehr viel schneller, als sinn-
lose Silben von weit geringerer Buchstabenzahl.
Die häufigste Form der Auffassungsstörung ist die Erhöhung
des Schwellenwertes für äussere Reize, die verminderte Ansprech-
barkeit unseres Bewusstseins. Je stärker die Reize sein müssen,
um überhaupt Empfindungen zu erzeugen, desto verschwommener
und lückenhafter wird das Bild, das die Aussenwelt in unserem
Innern entwirft. Die Kranken fassen nur einen mehr oder weniger
beschränkten Teil der Eindrücke auf, die auf sie einwirken; sie
bemerken und verstehen nicht mehr, was um sie herum vor-
geht. Wir bezeichnen diesen Zustand, in dem die Besonnenheit
schwindet, als Un b e s i n n 1 i c h k e i t. Kann hier zunächst noch
vorübergehend oder durch besonders kräftige Reize eine Wahr-
nehmung erzwungen werden, so löst sich bei den stärkeren Graden
der Benommenheit die Verbindung mit den äusseren Gescheh-
nissen mehr und mehr. Die allmähliche Entwicklung dieser
Auffassungsstörungen begegnet uns bei der einfachen Ermüdung
und ihren Übergängen zum Schlafe, ebenso aber auch bei den
krankhaften Zuständen schwerer geistiger Erschöpfung. Mit
grösster Gewalt und Schnelligkeit geschieht die Absperrung
unseres Bewusstseins von der Aussenwelt durch die Betäubungs-
mittel Äther und Chloroform. Ganz ähnlich sind, soweit die
Prüfung durch den psychologischen Versuch reicht, die Beein-
trächtigungen der Wahrnehmung zu beurteilen, die durch eine
Anzahl von Schlafmitteln erzeugt werden; genauer nachgewiesen
wurde eine schwerere Auffassungsstörung bis jetzt bei Alkohol,
Paraldehyd und Trional. Nach unseren klinischen Erfahrungen
ist sie ferner bei den Fieber- und Vergiftungsdelirien sowie bei
den epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen vorhanden,
vielfach auch in den verschiedenen Zuständen des manisch-depres-
siven Irreseins, besonders im depressiven und manischen Stupor
wie in den stärkeren Graden der manischen Erregung.
Auf der Stufe der einfachen Wahrnehmung bleibt die gesamte
Sinneserfahrung in der ersten Zeit der geistigen Entwicklung
stehen. So lange die Einwirkungen der Aussenwelt noch keine
bleibenden Erinnerungsspuren zurückgelassen haben, ist auch jenes
Netz von psychologischen Beziehungen noch nicht geknüpft,
welches alle kommenden Lebenserfahrungen sofort mit dem gei-
156
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
stigen Erwerbe der Vergangenheit in Verbindung setzt. In den
schwereren Formen der psychischen Entwicklungshemmungen
dauert dieser Zustand unverändert fort; die Möglichkeit einer
fortschreitenden Aufhellung dieses geistigen Dämmerlebens ist
für immer abgeschnitten. Das Bewusstsein bleibt von einem un-
klaren Gemisch einzelner verschwommener Vorstellungen und
dunkler Gefühle erfüllt, in welchem keine deutliche Auffassung,
keine übersichtliche Ordnung und Gruppierung möglich ist.
Störungen der Aufmerksamkeit. Die Tatsache, dass nur eine
beschränkte Zahl von psychischen Gebilden jeweils in unserem
inneren Blickfelde vorhanden ist, bezeichnen wir als die „Enge
des Bewusstseins“. Indem die ganze Kette unserer psychischen
Ereignisse diese Enge durchwandert, stellt sich unser inneres
Leben als ein fortwährendes Kommen und Gehen, als ein Auf-
tauchen und Versinken von Seelenvorgängen dar. Zunächst noch
undeutlich und schwach, tritt ein inneres Erlebnis nach dem
anderen aus dem Dunkel des Unbewussten empor, um nach kurzer
Zeit die höchste Klarheit und Stärke zu erreichen, dann aber
wieder zu versinken und dem nächsten Platz zu machen. Auf
dem Plöhepunkte seiner Entwicklung wird dieser Vorgang be-
stimmend für die Richtung jener inneren Willenstätigkeit, die
wir Aufmerksamkeit nennen; unsere Sinneswerkzeuge wen-
den sich dem lebhaft sich aufdrängenden Eindrücke zu, und es
tauchen solche Vorstellungen auf, die den V organg verstärken,
der unsere Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hat. Diese
Anspannung der Aufmerksamkeit, die sehr verschiedene Grade
und Richtungen aufweisen kann, ist von gewissen körperlichen
Erscheinungen begleitet, die deutlich genug ihre Eigenschaft als
Willenshandlung erkennen lassen, Innervationsempfindungen in
Auge und Ohr, ja ausgesprochene Bewegungen, Veränderungen
der Atmung und des Pulses wie des Blutdruckes.
Die Tätigkeit der Aufmerksamkeit dient aber nicht nur
dazu, den auftauchenden Seelenvorgang zu verstärken, sondern
sie übt auch einen sehr entschiedenen Einfluss auf die weitere
Gestaltung der Bewusstseinsvorgänge aus. Das Anwachsen und
Schwinden einer Vorstellung nimmt eine gewisse Zeit in Anspruch.
Nach den Erfahrungen, die über die Einwirkung einer Sinnes-
wahrnehmung auf die Stärke einer ihr folgenden vorliegen, dürfen
Störungen der Aufmerksamkeit.
157
wir annehmen, dass die grösste Deutlichkeit für die einzelnen
Glieder einer Vorstellungsreihe erreicht wird, wenn sie in einem
zeitlichen Abstande von etwa 2 Sekunden sich aneinander an-
schliessen. Diese Zeit scheint somit für die volle Entwicklung
einer Vorstellung erforderlich zu sein. In Wirklichkeit folgen
jedoch die einzelnen Wahrnehmungen und Vorstellungen weit
rascher aufeinander. Das ist deswegen möglich, weil die Enge
des Bewusstseins nicht nur für ein einziges psychisches Ge-
bilde, sondern für eine ganze Anzahl derselben Raum lässt,
von denen allerdings immer nur eines jeweils am hellsten be-
leuchtet ist, während die übrigen entweder erst in der Entwicklung
begriffen sind oder schon wieder verblassen. Wir haben es, wie man
es auszudrücken pflegt, nicht mit einem inneren Blick punkte,
sondern mit einem Blick f e 1 d e zu tun, in welchem neben einer
Stelle von höchster Deutlichkeit der inneren Wahrnehmung die
verschiedensten Abstufungen bis zum Unbewussten zu finden sind.
Die Verstärkung eines auf tauchenden Eindruckes durch die
Aufmerksamkeit hat ohne Zweifel die Wirkung, sein Abblassen
zu verzögern. Er gewinnt dadurch einen Einfluss auf die nach
ihm entstehenden psychischen Gebilde, deren Entwicklung er je
nach seinen inneren Beziehungen zu ihnen hemmen oder fördern
kann. Auf diese Weise wird die ursprünglich passive, ziellose
Aufmerksamkeit zur aktiven, auswählenden. Nicht die Stärke
der äusseren Eindrücke, sondern weit mehr ihre Begünstigung
oder Unterdrückung durch die Aufmerksamkeit werden für die
innere Erfahrung massgebend.
Der Bewusstseinsinhalt des Kindes steht in hilfloser Ab-
hängigkeit von der zufälligen Umgebung; es nimmt nur die jeweils
stärksten Reize wahr, ohne Rücksicht auf den inneren Zusam-
menhang der Dinge, weil ihm jene allgemeinen Vorstellungen
fehlen, welche auch die weniger aufdringlichen Wahrnehmungen
als wesentliche Glieder in der Kette der Erfahrungen hervortreten
lassen. Beim Erwachsenen dagegen wird der Wahrnehmungs-
vorgang mehr und mehr durch die besonderen Neigungen be-
herrscht, die sich allmählich aus der persönlichen Lebenserfahrung
heraus entwickeln. Wir üben uns darin, einzelne Eindrücke vor-
zugsweise zu beachten, indem sich die Ansprechbarkeit unseier
Vorstellungen für sie fortschreitend verstärkt, so dass schon
158
II. Die Erßcheinungen des Irreseins.
leise Anklänge genügen, um in unserem Innern lebhaften Wider-
hall zu finden. Andererseits gewöhnen wir uns daran, all-
tägliche Reize unbeachtet zu lassen und ihnen keinen Einfluss
auf den Ablauf unserer psychischen Vorgänge mehr einzuräumen.
Diese Ausbildung bestimmter „Gesichtspunkte“, gewisser Rich-
tungen unseres „Interesses“, führt zu einer ausserordentlichen
Veränderlichkeit des Schwellenwertes, so dass wir im gleichen
Augenblicke sehr starke Reize völlig unbeachtet lassen können,
wo wir die feinsten Veränderungen irgend eines Gegenstandes
mit der grössten Schärfe auffassen.
In krankhaften Zuständen kann das Verhalten der Aufmerksam-
keit die mannigfachsten Störungen darbieten. Überall, wo die psy-
chische Ansprechbarkeit überhaupt herabgesetzt ist, in allen vor-
geschrittenen Verblödungszuständen, finden vir auch eine Ab-
stumpfung der Aufmerksamkeit. An die Wahrneh-
mungen knüpfen sich nicht rasch und lebhaft verstärkende Erinne-
rungsbilder an ; sie gewinnen keine Beziehungen zu den Erfahrungen
des Kranken und veranlassen ihn daher auch nicht, aus eigenem
Antriebe den Ereignissen weiter zu folgen. In der Umgebung eines
verblödeten Paralytikers können sich die aufregendsten Vorgänge
abspielen, ohne dass sie ihn berühren, auch wenn er vielleicht
Aufforderungen und Fragen noch aufzufassen vermag. Etwas
anders ist die sehr ausgeprägte Störung der Aufmerksamkeit
zu beurteilen, die wir in der Dementia praecox so ungemein
häufig beobachten, in der Regel schon vom ersten Abschnitte
der Krankheit an. Auch hier erweisen sich die Kranken,
namentlich in den Stuporzuständen, vielfach gegen alle Versuche,
ihre Aufmerksamkeit zu erregen, völlig unzugänglich, so dass
selbst Nadelstiche und Berührungen der Hornhaut keinerlei Wil-
lensbewegung auslösen. Allein man kann sich leicht davon über-
zeugen, dass keine Abstumpfung der Aufmerksamkeit, sondern
eine krankhafte Unterdrückung derselben vorliegt. Die Kran-
ken nehmen oft recht gut wahr, was um sie herum vorgeht,
aber sie sträuben sich unwillkürlich gegen jede Beeinflussung ihres
Denkens und Handelns durch diese Wahrnehmungen. Auch die
äusseren Zeichen der Aufmerksamkeitsspannung, das Hinwenden
des Kopfes und Blickes, das Einstellen der Blickrichtung, an-
scheinend auch die Veränderungen von Atmung und Puls, fallen
Störungen der Aufmerksamkeit.
159
vollständig fort. Wir wollen diese Störung, die durchaus den
negativistischen Vorgängen auf anderen Willensgebieten ent-
spricht, als Sperrung der Aufmerksamkeit bezeichnen.
Ausser lieh ähnlich, aber dem Wesen nach verschieden ist die
Hemmung der Aufmerksamkeit, der wir in gewissen
Stuporzuständen des manisch-depressiven Irreseins begegnen.
Auch hier ist es schwer, sich mit dem Kranken in geistige Ver-
bindung zu setzen, aber nur deswegen, weil bei ihm der innere
Widerhall fehlt, der die Verknüpfung der äusseren Eindrücke mit
dem eigenen Erfahrungsschätze herstellt und dadurch die aus-
wählende Tätigkeit der Aufmerksamkeit anregt. Das Auftauchen
von Vorstellungen ist erschwert, aber nicht durch Verödung des
geistigen Lebens, sondern durch Hemmungsvorgänge, so dass die
Wahrnehmungen keinen weiterreichenden Einfluss auf das innere
Leben gewinnen können. Dagegen pflegen die äusseren Zeichen
der Aufmerksamkeitsspannung, im Gegensätze zu den Erfahrungen
bei der Dementia praecox, erhalten zu sein; die Kranken blicken
fragend, wenn auch verständnislos, um sich, betrachten die dar-
gebotenen Gegenstände, wenden den Kopf bei Geräuschen u. s. f.
Eine unmittelbare Folge der Erschwerung psychischer An-
knüpfungen, sei es durch Abstumpfung oder Hemmung der Auf-
merksamkeit, ist der Verlust ihres bestimmenden Einflusses auf
die Wahrnehmung. Dabei kann sehr wohl der einzelne Eindruck
noch die Aufmerksamkeit erwecken und durch sie verstärkt
werden, aber es fehlt die Fortdauer dieser inneren Bewegung über
den Augenblick hinaus mit ihren Folgen für die Auswahl der
kommenden Wahrnehmungen. Die Kranken verweilen vielleicht
längere Zeit bei dem einmal dargebotenen Eindrücke, aber sie
können ohne weiteres durch einen neuen Reiz abgezogen werden,
sofern er nur kräftig genug ist. Diese Bestimmbarkeit
der Aufmerksamkeit beobachten wir namentlich bei der
Paralyse und beim Altersblödsinn, aber auch bei den erwähnten
Stuporformen des manisch-depressiven Irreseins und bei manchen
infektiösen Schwächezuständen. Die Kranken gleichen in gewisser
Beziehung dem Kinde ohne Erfahrung, bei dem eben darum keine
Vorstellungen und Erinnerungen geweckt werden, die auf die
Richtung der Aufmerksamkeit richtunggebend wirken könnten.
In denjenigen geistigen Schwächezuständen, in denen sich die
160
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
geistige Entwicklung dauernd auf der Stufe des Kindes erhält,
bleibt auch die Aufmerksamkeit zeitlebens unselbständig und be-
stimmbar.
Eine wesentlich andere Entstehungsweise dürfte diejenige
Aufmerksamkeitsstörung haben, die man gewöhnlich als er-
höhte Ablenkbarkeit bezeichnet. Es handelt sich dabei
um einen häufigen Wechsel in der Richtung der Aufmerksam-
keit aus inneren und äusseren Beweggründen. Während die Be-
stimmbarkeit der Aufmerksamkeit wesentlich durch das Fehlen
solcher Vorstellungen bedingt wird, die den Auffassungsvorgang
zu beeinflussen vermöchten, haben wir es hier vermutlich mit
einer grösseren Flüchtigkeit der psychischen Vorgänge zu tun.
Dafür spricht der Umstand, dass hier die Aufmerksamkeit auch
dann rasch von einem Eindrücke zum anderen abspringt, wenn
man sich bemüht, sie in derselben Richtung zu erhalten. Zudem
finden wir diese Störung ganz vorzugsweise in solchen Zuständen,
die mit den Zeichen einer erhöhten Erregbarkeit einhergehen.
Wir dürfen uns daher wohl vorstellen, dass bei der erhöhten Ab-
lenkbarkeit der Aufmerksamkeit die einzelnen Eindrücke rasch
wieder verblassen und daher keinen richtunggebenden Einfluss
auf die kommenden Wahrnehmungen gewinnen. Sie bilden keine
engverschlungene Kette, sondern eine lockere Reihe innerlich
unverbundener Einzelvorgänge.
Die leichtesten Grade dieser Störung begegnen uns in jenem
Zustande von Zerstreutheit, der sich neben den Zeichen einer
gewissen Unruhe bei der Ermüdung einzustellen pflegt. V ir
bemerken dabei, dass die aufgenommenen Eindrücke eine sehr
geringe Nachhaltigkeit besitzen, rasch versinken und den inneren
Zusammenhang verlieren. Trotz aller Anstrengung sind wir nicht
mehr imstande, einer Reihe von Ereignissen planmässig zu folgen,
sondern ertappen uns immer wieder darauf, dass wir durch zu-
fällige Nebendinge abgezogen werden und unsere Aufgabe nur
bruchstückweise erfassen. Bei der chronischen nervösen Er-
schöpfung kann diese Unfähigkeit längere Zeit andauern, ebenso
in der Genesungszeit nach schweren geistigen oder körperlichen
Erkrankungen. Weit stärker ausgeprägt ist die erhöhte Ablenk-
barkeit in den Erregungszuständen der Paralyse, bisweilen auch
der Katatonie, im Collapsdelirium und bei den infektiösen Geistes-
Störungen der Aufmerksamkeit.
161
Störungen, besonders aber in der Manie. Hier genügt oft schon
ein Zwischenruf, ein einzelnes Wort, das Vorzeigen irgend eines
Gegenstandes, um sofort die Richtung der Aufmerksamkeit zu
ändern. Es muss allerdings einstweilen dahingestellt bleiben, ob
es sich in diesen verschiedenartigen Erkrankungen überall um
dieselbe Aufmerksamkeitsstörung handelt.
Als dauernde Eigentümlichkeit findet sich erhöhte Ablenk-
barkeit der Aufmerksamkeit bei gewissen Formen der psycho-
pathischen Veranlagung. Es liegt auf der Hand, dass diese Stö-
rung auf die gesamte geistige Ausbildung einen weitreichenden
Einfluss ausüben muss. Je ablenkbarer ein Mensch ist, je mehr
seine Auffassung durch die Zufälligkeiten der äusseren Reize
statt durch innere, der eigenen Erfahrung entspringende Beweg-
gründe geleitet wird, destoweniger ist er imstande, sich eine zu-
sammenhängende und einheitliche Anschauung von der Aussen-
welt zu erwerben. Bruchstückweise und unvermittelt werden sich
die einzelnen verschiedenartigen Wahrnehmungen aneinander
schliessen, ohne jenes innere Band, welches durch die planmässige
Auswahl nach Massgabe leitender Allgemeinvorstellungen gebildet
wird. Die Auffassung haftet daher immer nur an Einzelheiten,
ohne einen Überblick über das Ganze zu vermitteln; sie wird ober-
flächlich und flüchtig und dringt nirgends in den tieferen Zusam-
menhang der Erscheinungen ein. So kann es kommen, dass zwar
die Auffassung des einzelnen Eindruckes keine wesentlichen Stö-
rungen darbietet, während doch die Unstetigkeit der Wahrneh-
mung, die vollkommene Unfähigkeit, zu beobachten, ein tie-
feres Verständnis der Aussenwelt und damit die höhere geistige
Ausbildung überhaupt unmöglich macht.
Man hat bisweilen die erhöhte Ablenkbarkeit als eine Stei-
gerung der Aufmerksamkeit, als „Hyperprosexie“, aufgefasst. Da
aber die eigentümliche Leistung der Aufmerksamkeit gerade in
der Beschränkung der Auffassung auf einzelne, dann freilich
mit höchster Klarheit erkannte Eindrücke liegt, trifft jene Be-
zeichnung das Wesen der Störung nicht. Tatsächlich können wir
uns auch leicht davon überzeugen, dass die ablenkbaren Kranken
durchaus nicht mehr oder besser, sondern im Gegenteil weniger
und schlechter auffassen. Jeder gesunde Zuschauer nimmt in
der gleichen Zeit noch ausserordentlich vieles wahr, was dem
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl. 11
162
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Kranken völlig entgeht, aber er nimmt die Mehrzahl der Ein-
drücke einfach zur Kenntnis, während bei dem ablenkbaren
Kranken jede neue Wahrnehmung sofort die Richtung der Auf-
merksamkeit und des Gedankenganges entscheidend beeinflusst.
Die Ablenkbarkeit ist somit nichts, als ein Zeichen geringerer
psychischer Widerstandsfähigkeit.
Weit eher könnte man als Hyperprosexie jene Fesselung
der Aufmerksamkeit durch einzelne äussere oder innere
Vorgänge bezeichnen, die uns für andere Wahrnehmungen unzu-
gänglich macht. Dahin gehört die fälschlicherweise sogenannte
Zerstreutheit des Gelehrten, soweit sie auf höchster Einseitigkeit
der Aufmerksamkeitsrichtung beruht. Vielleicht haben wir es
auch in manchen Krankheitszuständen mit derartigen Vorgängen
zu tun. So sind namentlich deprimierte Kranke bisweilen derart
mit ihren traurigen Vorstellungen beschäftigt, dass sie dadurch
für die Eindrücke der Aussenwelt gleichgültig werden, auch wenn
die Auffassungsfähigkeit an sich keine erheblichen Störungen dar-
bietet. In manchen deliriösen und stuporösen Zuständen dürfte
die schwere Beeinträchtigung der Auffassung zum Teil vielleicht
auch durch die Lebhaftigkeit der inneren Vorgänge mit bedingt
werden, durch die Sinnestäuschungen und Einbildungsvorstel-
lungen, welche die Aufmerksamkeit ganz in Anspruch nehmen.
Am wenigsten scheint das im katatonischen Stupor der Fall zu
sein, bei dem übrigens auch die Auffassungsfähigkeit gar keine
oder doch verhältnismässig unbedeutende Störungen darzu-
bieten pflegt.
B. Störungen der Yerstandestätigkeit.
Der von den Sinnen gelieferte und durch die Aufmerksamkeit
geklärte Erfahrungsrohstoff bildet die Grundlage aller weiteren
geistigen Arbeit und somit auch des gesamten Vorstellungs-
schatzes des Menschen. Man begreift daher, dass die aufgeführten
Störungen der Sinneserkenntnis, wie sie durch die Sinnestäu-
schungen, durch Verdunkelung des Bewusstseins, endlich durch
die Unfähigkeit zu planmässiger Auswahl der Eindrücke erzeugt
werden, nicht ohne die weitreichendsten Folgen für die Gestal-
Störungen der Aufmerksamkeit; Störungen des Gedächtnisses.
tung des Bewusstseinsinhaltes und der psychischen Persönlich-
keit bleiben können. Je unvollkommener und verfälschter die
Nachrichten von der Aussenwelt zur Wahrnehmung gelangen,
desto lückenhafter und unzuverlässiger wird die Anschauung
bleiben, welche sich im Bewusstsein des Menschen von seiner
Umgebung, vom eigenen Ich und von der Stellung dieses letzteren
zu seiner Umgebung entwickelt. Dazu kommt, dass zu jenen
Störungen, welche die Sammlung des Erfahrungsstoffes beeinträch-
tigen, fast ausnahmslos sich noch solche gesellen, die eine weitere
Verarbeitung desselben in krankhafter Weise beeinflussen.
Störungen des Gedächtnisses- Die allgemeinste Grundlage
aller geistigen Tätigkeit ist das Gedächtnis*). Jeder einmal
ins Bewusstsein getretene Eindruck hinterlässt auch nach seinem
Schwinden aus demselben eine allmählich schwächer werdende
Spur, die seine Wiedererneuerung durch eine zufällige Vorstel-
lungsverbindung oder durch eine Willensanstrengung, das Be-
sinnen, erleichtert. Diese bleibende Spur, welche die einmal ge-
machte Wahrnehmung auf längere Zeit hinaus dem Erfahrungs-
schätze des Menschen einreiht und sie seinem Gedächtnisse zur
Verfügung stellt, erhält sich im allgemeinen um so stärker und
länger, je klarer der ursprüngliche Eindruck aufgefasst worden
und je allseitiger er zu dem übrigen Bewusstseinsinhalte in Be-
ziehung getreten war, je mehr er, mit anderen Worten, das
Interesse des Menschen erregt hatte. Ferner aber wird die
Festigkeit, mit welcher frühere Eindrücke haften, in hohem
Masse durch Wiederholungen derselben verstärkt. Die ungeheure
Mehrzahl unserer Vorstellungen und selbst ein grosser Teil der
Vorstellungsverbindungen, mit denen wir tagtäglich arbeiten, ist
uns so geläufig, dass sie ohne irgendwelches Besinnen, von selbst,
in uns auftauchen, sobald sich irgend eine Anregung dazu bietet.
Die Betrachtung der Gedächtnisstörungen hat daher zwei
ganz verschiedene Leistungen auseinanderzuhalten, die unab-
hängig voneinander beeinträchtigt sein können. Die erste der-
selben ist die von Wernicke so bezeichnete Merkfähig-
keit**), die Einprägung und das Festhalten bestimmten, neu
*) R i b o t , Das Gedächtnis und seine Störungen. 1882.
**) Kraepelin, Monatsschr. f. Psychiatrie, VIII, 245. 1900; Ransch-
bürg, ebenda, IX, 241, 1901.
11*
164
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
dargebotenen Erfahrungsstoffes. Diese Merkfähigkeit ist im all-
gemeinen am grössten für Eindrücke, die mit möglichster Klar-
heit aufgefasst und, noch besser, mit Hilfe der auswählenden
Aufmerksamkeit nach bestimmten Gesichtspunkten verfolgt wur-
den. Alle Bedingungen, die geeignet sind, die Stärke und Schärfe
der Eindrücke sowie den Widerhall derselben in unserem Seelen-
leben abzuschwächen, werden somit die Merkfähigkeit herab-
setzen. Dahin gehören Erschwerungen der Auffassung einerseits,
Ablenkbarkeit und Gleichgültigkeit andererseits. Wir beobachten
daher jene Störung bei allen ausgeprägteren Bewusstseinstrü-
bungen, in geringerem Grade schon bei der einfachen Zerstreut-
heit infolge von Ermüdung, bei Behinderung der Nasenatmung,
ferner bei manischer Erregung, endlich bei vorgeschrittener Ver-
blödung, in der Paralyse, beim epileptischen Schwachsinn und in
denjenigen Endzuständen der Dementia praecox, die mit einer
Abstumpfung der Anteilnahme an der Aussenwelt einhergehen.
Die höchsten Grade der Merkstörung aber treffen wir in der
Korssakow sehen Krankheit und beim Altersblödsinn, insbeson-
dere bei der Presbyophrenie an, auch wenn hier die geistige Reg-
samkeit und die Auffassungsfähigkeit noch ganz gut erhalten ist.
Nach den bisher bei solchen Kranken vorliegenden Versuchen
scheint es indessen, dass sich bei ihnen die Wahrnehmungen un-
gemein langsam entwickeln, so dass bei Reizen, die nur sehr
kurze Zeit einwirken, eine bedeutende Herabsetzung der Auf-
fassungsfähigkeit hervortritt. Zugleich vollzieht sich das Ver-
blassen der Bewusstseinsvorgänge unverhältnismässig schnell.
Gerade dieser Umstand dürfte für die geringe Erneuerungsfähig-
keit der Erfahrungen bei den genannten Kranken in erster Linie
' verantwortlich zu machen sein.
Auch bei den manischen Kranken scheint, wie die erhöhte
Ablenkbarkeit dartut, das Verblassen der Vorstellungen sich rasch
zu vollziehen. Wenn trotzdem ihre Merkfähigkeit verhältnismässig
wenig gestört ist, könnte das darauf beruhen, dass die Wahr-
nehmungen sich vorher mit genügender Geschwindigkeit ent-
wickeln. Auf der anderen Seite ist es vielleicht nicht unnütz,
darauf hinzuweisen, dass im gesunden Leben auch unsere Traum-
erinnerungen eine sehr geringe Festigkeit darbieten. Sie er-
reichen ja an und für sich keine grosse Lebhaftigkeit und ver-
Störungen des Gedächtnisses.
165
sinken in der Regel ausserordentlich schnell. Namentlich Worte
und Reden aus dem Traume sind wir gewöhnlich auch dann nicht
imstande, wirklich zu behalten, wenn wir sie uns schon im Halb-
wachen durch mehrfache Wiederholung einzuprägen versucht
haben.
Da schwere Bewusstseinstrübungen in der Regel zeitlich ziem-
lich scharf umgrenzt zu sein pflegen, so kann auch die Merk-
fähigkeit nur für einen bestimmten Zeitabschnitt herabgesetzt
oder aufgehoben sein. Auf diese Weise entstehen Erinnerungs-
lücken, aus denen meistens auf eine Aufhebung des Bewusstseins
während des betreffenden Zeitabschnittes zurückgeschlossen wird.
Ja, streng genommen ist die Erinnerungslosigkeit, die
Amnesie, fast der einzige Anhaltspunkt, welcher uns mit einiger
Sicherheit die Annahme einer vorangegangenen Bewusstlosigkeit
gestattet. Allein die tägliche Erfahrung des Vergessens von
Träumen, an die wir bisweilen nur durch einen zufälligen Eindruck
wieder erinnert werden, zeigt uns, dass sehr wohl ein psychisches
Leben, also Bewusstsein, bestehen kann, ohne dass doch die
Spuren der Eindrücke und Vorstellungen fest genug im Gedächt-
nisse haften, um ohne Schwierigkeit eine Wiedererneuerung
zu gestatten. Ganz ähnlich sind sicherlich jene Bewusst-
seinsstörungen der Epilepsie, vieler Delirien, des schweren Rau-
sches, des Hypnotismus zu beurteilen, in denen die klinische Be-
obachtung häufig genug unzweideutige Anzeichen psychischer
Tätigkeit aufzufinden vermag, obgleich nachher nicht die
mindeste Erinnerung an dieselbe besteht oder wachgerufen
werden kann. Für diese Auffassung sind besonders wichtig die
bisweilen beobachteten Fälle, in denen unmittelbar beim Ab-
klingen der Störung noch eine gewisse, späterhin rasch schwin-
dende Erinnerung an das Vorgefallene möglich ist, oder in denen
sie durch die Hypnose wieder wachgerufen wird. Endlich aber
kann durch gewisse krankhafte Vorgänge nachträglich auch noch
dauernd oder vorübergehend die Erinnerung an Zeiten ausgelöscht
werden, in denen zweifellos keine Bewusstseinsstörung bestand.
Eine solche „retrograde Amnesie“*), ein rückschreitender Erinne-
rungsverlust, wird nach epileptischen, hysterischen, eklamp-
*) Paul, Archiv f. Psychiatrie, XXXII, 251. 1899.
166
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
tischen, paralytischen Anfällen, nach Kopfverletzungen, Er-
hängungsversuchen und Vergiftungen beobachtet. Die Kranken
wissen sich nicht nur an den betreffenden Vorfall, sondern auch
an die Ereignisse in den Stunden, Tagen und selbst Wochen vorher
nicht mehr zu erinnern. Bisweilen taucht späterhin allmählich
die Erinnerung mit oder ohne suggestive Nachhilfe wenigstens
teilweise wieder auf; in anderen Fällen ist sie für immer verloren
gegangen.
Wesentlich verschieden von der Merkfähigkeit für gegen-
wärtige ist die Erinnerungsfestigkeit vergangener Eindrücke. Sie
hängt nicht nur von der Merkfähigkeit in früheren Zeiten,
sondern auch von der Häufigkeit der voraufgegangenen Wieder-
holungen, endlich von der Zähigkeit des Gedächtnisses im allge-
meinen ab. Wir pflegen die Gedächtnisfestigkeit zumeist nach
der Sicherheit zu beurteilen, mit welcher früher gut eingelernte
Kenntnisse noch zur Verfügung stehen, Lernstoff aus der Schule,
wichtige persönliche Erinnerungen und ähnl. Wie die Erfahrung
lehrt, pflegt Herabsetzung der Gedächtnisfestigkeit, Gedächt-
nisschwäche, gewöhnlich mit einer Verminderung der Merk-
fähigkeit einherzugehen, nicht aber umgekehrt. Die Merkfähig-
keit ist beeinträchtigt ohne Gedächtnisschwäche bei den vorüber-
gehenden Bewusstseinstrübungen. Ferner beobachten wir ein
Missverhältnis zwischen starker Störung der Merkfähigkeit und
weit geringerer Gedächtnisschwäche namentlich im höheren Alter.
Die Auffassung neuer Eindrücke geschieht hier gewohnheitsmässig
ohne rechte innere Anteilnahme, und die Erneuerungsfähigkeit
bleibt daher für sie eine beschränkte, während so oft die Erinne-
rungen aus vergangener Zeit, nicht mehr verdrängt durch frischen
Erwerb, mit erstaunlicher Lebhaftigkeit und Treue im Vorstel-
lungsverlaufe wiederkehren. Mit dieser Erfahrung steht die Tat-
sache in bestem Einklänge, dass von allen Vorstellungsverbin-
dungen, mit denen wir zu arbeiten pflegen, etwa 70 Prozent aus
der Jugend stammen. In den krankhaften Störungen des Greisen-
alters tritt das geschilderte Verhalten oft recht auffallend hervor,
wenn auch mit fortschreitender Verblödung mehr und mehr die
früheren Erinnerungen gleichfalls verblassen. Ähnlich kann in
der Paralyse die Merkfähigkeit zunächst sehr viel stärker gestört
sein, bis sich später auch eine rasch zunehmende Gedächtnis-
Störungen des Gedächtnisses.
167
schwäche hinzugesellt. Bei der Korssakow sehen Geistes-
störung kann die Erinnerungsschwäche sich bis zu einem be-
stimmten Lebensabschnitte zurückerstrecken.
Nur kurz erwähnt soll hier noch werden, dass ausser den
zeitlich begrenzten Erinnerungslücken bekanntlich auch der
Verlust bestimmter Gruppen von Vorstellungen aus
dem Gedächtnisse beobachtet wird, ein Vorgang, dessen best-
gekanntes Beispiel die amnestische Aphasie, die Unfähig-
keit zur Wiedererzeugung einzelner oder aller sprachlicher Klang-
bilder darstellt, und der sich, wie es scheint, in ähnlicher Weise
auch auf anderen Gebieten abspielen kann. So hat W o 1 f f Fälle
beschrieben, in denen anscheinend ganze Klassen sinnlicher Er-
innerungsbilder verloren gegangen waren, während die Allgemein-
vorstellungen fortbestanden. Äusserst merkwürdige Beispiele
ganz umschriebenen Vorstellungsausfalls hat ferner Ri eg er bei
der Untersuchung eines Falles von schwerer Hirnverletzung be-
obachtet. Die Deutung solcher Erfahrungen ist ausserordentlich
schwierig. Zumeist pflegt man sie auf die Unterbrechung be-
stimmter Leitungsbahnen zu beziehen, doch reicht diese Er-
klärung höchstens für gewisse sehr grobe Störungen aus. Be-
achtenswert erscheint es, dass auch unter gewöhnlichen Ver-
hältnissen das Gedächtnis für verschiedene Gruppen von Vor-
stellungen bei einzelnen Personen sehr verschieden entwickelt
ist. Das Orts-, Zahlen- und Namen-, Farben-, Tonhöhen-, Formen-
gedächtnis sind anscheinend in hohem Masse voneinander unab-
hängig. Manche Erfahrungen sprechen ferner dafür, dass auch
die motorischen und sensorischen Bestandteile der einzelnen Vor-
stellungen, die sprachliche Bezeichnung und die sinnlichen Ele-
mente mit verschiedener Festigkeit haften können, so dass
schliesslich auch eine allgemeinere Störung je nach der besonderen
Zusammensetzung der gegebenen Vorstellung eigentümlich be-
grenzte Ausfallserscheinungen zur Folge haben könnte. Für die
Psychiatrie im engeren Sinne sind jedoch derartige Störungen
noch nicht nutzbar gemacht worden.
, Dagegen sind von grosser Bedeutung jene mannigfaltigen
und erheblichen Störungen, welche die Treue der Erinne-
rung, die inhaltliche Übereinstimmung des Gedächtnisbildes
mit der vergangenen Erfahrung bei Geisteskranken darbieten
168
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
kann. Wir wissen aus Versuchen wie aus alltäglichen Er-
fahrungen, dass selbst die allereinfachsten Erinnerungsbilder
schon unter gewöhnlichen Verhältnissen niemals vollständig den
Wahrnehmungen gleichen, sondern sofort, eben durch die Auf-
bewahrung im Gedächtnisse und die Einordnung in den sonstigen
Bewusstseinsinhalt, sehr beträchtliche Wandlungen durchzu-
machen pflegen. Man denke nur daran, wie klein dem Er-
wachsenen nach langer Abwesenheit die Grössenverhältnisse er-
scheinen, die ihm als Kind Eindruck machten. Mit der Ver-
änderung des allgemeinen Grössenmassstabes ist hier auch das
Erinnerungsbild unvermerkt gewachsen, so dass dann der Wider-
spruch desselben mit der Wirklichkeit völlig überraschend wirkt.
Aber auch schon die einfache Schilderung eines und desselben
Erlebnisses durch verschiedene Personen oder durch dieselbe
Person zu verschiedenen Zeiten*) lehrt, dass die Erinnerung nichts
weniger ist, als ein treues Abbild der Wirklichkeit. Sehr wichtig
ist dabei der Umstand, dass die innere Sicherheit der Wieder-
gabe durchaus nicht von der Übereinstimmung mit dem Urbilde
abhängig ist. Völlig frei erfundene Züge können von dem Ge-
fühle der zuverlässigen Erinnerung begleitet sein, während wirk-
liche Gedächtnisspuren vielleicht unsicher erscheinen. Ja, nicht
selten lässt sich nachweisen, dass gerade solche Einzelheiten,
die mit besonderer Klarheit in der Erinnerung hervortreten, nicht
der Wirklichkeit entsprechen. Diese Erfahrung mahnt zur Vor-
sicht bei der Annahme einer „Hypermnesie“, einer krankhaften
Steigerung der Erinnerungsfähigkeit. Wenn sich auch einzelne
Ereignisse mit sehr starker Gefühlsbetonung unter Umständen
sehr fest einprägen und mit quälender Deutlichkeit -nieder her-
vortreten können, wird man bei auffallend ins einzelne gehender
Erinnerung in der Regel mit Fälschungen zu rechnen haben.
Durch die krankhaften Veränderungen der psychischen Per-
sönlichkeit werden sehr häufig nachträglich auch die Erinnerungen
aus der Vergangenheit verfälscht. In besonders hohem Masse ge-
schieht das durch gemütliche Einflüsse, namentlich durch die
Regungen der Eigenliebe. Bei Menschen mit lebhafter Einbildungs-
kraft und ausgeprägtem Selbstgefühl erfahren die früheren Erleb-
*) Stern, Zur Psychologie der Aussage. 1902.
Störungen des Gedächtnisses.
169
nisse ganz unvermerkt sehr tiefgreifende Wandlungen in dem
Sinne, dass allmählich die eigene' Person immer mehr in den Vorder-
grund rückt. Die Schatten verwischen sich, und das Licht der eigenen
Vortrefflichkeit strahlt heller und heller. Unter Umständen kann
es bei diesem unwillkürlichen Bestreben nach Selbstverherrlichung
geradezu bis zur Erfindung oder doch sehr freien Ausschmückung
wirkungsvoller Geschichten kommen, die am Ende vom Erzähler
selbst nahezu für wahr gehalten werden, wie bei den Münch-
hausiaden und dem Jägerlatein. Sehr hübsch hat Daudet diesen
Vorgang bekanntlich in seinem „Tartar in“ geschildert. An-
dererseits erscheint dem deprimierten Kranken sein ganzes Vor-
leben als eine Kette von trüben Erfahrungen oder schlechten
Handlungen; der Verfolgungs- und der Grössenwahn werfen ihren
Schatten zurück auf frühere Zeiten und lassen den Kranken
schon in der Jugend die Andeutungen eines feindseligen Verhaltens
seiner Umgebung, auffallender Beachtung durch hochgestellte
Personen oder hervorragender Leistungsfähigkeit auf den ver-
schiedensten Gebieten menschlichen Könnens ausfindig machen.
In der Regel handelt es sich dabei nur um „Paramnesien“,
um teilweise Vermischung wirklicher Erlebnisse mit eigenen
Zutaten, also um einen Vorgang, der in gewissem Sinne etwa
den Illusionen entsprechen würde. Bisweilen jedoch kommt es
auch zu „Hallucinationen der Erinnerung“ (Sully),
zu völlig freier Erfindung scheinbarer Reminiscenzen, denen
gar kein Vorbild in der Vergangenheit entspricht*). So
können wir uns im Traume an Vorkommnisse mit voller Deut-
lichkeit erinnern, die niemals stattgefunden haben; ferner sind
wir imstande, derartige Erinnerungsfälschungen durch Einreden
in der Hypnose zu erzeugen; hie und da gelingt es auch in epi-
leptischen oder hysterischen Dämmerzuständen. Sehr abenteuer-
liche Erinnerungsfälschungen pflegen jene Kranken vorzubringen,
die ich unter dem Namen der Dementia paranoides beschrieben
habe. Sie erzählen von fabelhaften Reisen, die sie gemacht,
wunderbaren Erlebnissen, gewaltigen Kämpfen, die sie über-
*) Kraepelin, Archiv f. Psychiatrie, XVII u. XVIII; Behr, Allgem.
Zeitschr. f. Psych., LVI, 918; Bernard-Leroy, l’illusion de fausse re-
connaissance. 1898.
170
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
standen, schrecklichen Verwundungen, die sie erlitten haben,
und lassen sich durch Zwischenfragen und Einwürfe zu allen
möglichen, vielfach einander widersprechenden Einzelangaben ver-
leiten. Meist liegen solche Erlebnisse Jahre, selbst Jahrhunderte
oder Jahrtausende zurück. Auch bei Paralytikern ist das „Fabu-
lieren“, die Schilderung frei erfundener Erlebnisse, gelegentlich
stark ausgebildet, namentlich aber bei der Korssako w sehen
Geistesstörung und der ihr in vielen Punkten so ähnlichen Pres-
byophrenie. Hier werden die Lücken, welche die starke Merk-
störung bedingt, aus freien Stücken oder auf Anregung glatt
durch Erinnerungsfälschungen ausgefüllt, die sich demgemäss bis
in die jüngste Vergangenheit hinein erstrecken können.
In manchen Fällen werden die Erinnerungsfälschungen nicht
frei erzeugt, sondern sie schliessen sich an irgendwelche zu-
fällige äussere Eindrücke an (associierende Form). Die Kranken
glauben einzelne Personen oder Gegenstände ihrer Umgebung
früher schon einmal gesehen oder von ihnen gehört zu haben,
ohne sie doch auf wirkliche Erinnerungsbilder zu beziehen. Sie
verkennen daher jene Objekte keineswegs, wie das bei den Auf-
fassungsverfälschungen, bei der Beeinflussung von Wahrneh-
mungen durch die Erinnerung der Fall war, sondern es vollzieht
sich hier der umgekehrte Vorgang: an die vollkommen scharf
aufgefasste Wahrnehmung knüpft sich eine durchaus erfundene
Erinnerung, deren vermeintliches Vorbild gewöhnlich einige Mo-
nate oder seltener Jahre zurückdatiert wird. Dabei pflegt das
frühere Erlebnis meist erst nach einigen Stunden oder selbst
Tagen aufzutauchen, dann aber rasch volle Deutlichkeit zu ge-
winnen. Bisweilen wird das Urbild in den Traum zurückverlegt, so
dass die Wirklichkeit wie eine Erfüllung des Traumgesichtes er-
scheint. Behr weist darauf hin, dass in solchen Täuschungen
die Erklärung für manche „Wahrträume“ liegen könne.
Die letzte Form der Erinnerungsfälschung, der wir hier noch
zu gedenken haben, ist am besten von Sander beschrieben
worden. Schon im gesunden Leben begegnet es uns bisweilen,
namentlich in der Jugend und im Zustande einer gewissen Ab-
spannung, dass sich uns in irgend einer Lage plötzlich die Vor-
stellung aufdrängt, als hätten wir dieselbe schon einmal in ganz
derselben Weise erlebt. Zugleich haben wir eine dunkle Ahnung
Störungen des Gedächtnisses.
171
dessen, was nun voraussichtlich kommen wird, ohne uns jedoch
ein klares Bild davon machen zu können. In der Tat scheint
uns irgend ein alsbald eintretendes Ereignis wirklich unsere
Ahnung zu erfüllen. Auf diese Weise stehen wir eine kurze
Zeitlang gewissermassen als untätige Zuschauer dem eigenen
Vorstellungsverlaufe gegenüber, der in unbestimmten Andeu-
tungen dem wirklichen Gange der Dinge vorauseilt, bis plötzlich
die ganze Erscheinung verschwindet. Gefühle einer peinlichen
Unsicherheit und Spannung pflegen sich regelmässig mit derselben
zu verknüpfen.
In selir ausgeprägter Weise wird diese Störung hier und da
unter krankhaften Verhältnissen, besonders bei Epileptikern im
Zusammenhänge mit den Anfällen, beobachtet. Was dieselbe von
den früher genannten Formen der Erinnerungsfälschung unter-
scheidet, ist die völlige Gleichheit der gesamten Si-
tuation, unter Einschluss der eigenen Person, mit einer an-
scheinenden Erinnerung (identificierende Form). Während dort
einzelne Eindrücke als von früher her mittelbar oder häufiger
unmittelbar bekannt aufgefasst werden, ist hier die ganze Lage
mit allen Einzelheiten vermeintlich nur das getreue Abbild eines
völlig gleichen Erlebnisses aus der eigenen Vergangenheit. So
kommt es, dass in den recht seltenen Fällen, in denen sich diese
Fälschung Wochen, Monate, ja durch Jahrzehnte hindurch f ort-
spinnt, mit einer gewissen Notwendigkeit in dem Kranken die
Vorstellung erzeugt wird, dass er ein sich selbst wiederholendes
Doppelleben führt. Pick hat sogar einen Fall beschrieben, bei
dem eine Vervielfachung der Erinnerung ein trat. Die Grundlage
dieser Störung ist durchaus dunkel. Möglich ist es, dass bis-
weilen wirkliche verschwommene Erinnerungen, namentlich aus
Träumen, auf Grund entfernter Ähnlichkeiten mit der vielfach
nur in allgemeinen Umrissen aufgefassten gegenwärtigen Situa-
tion fälschlich in Verbindung gebracht werden, doch dürfte diese
Erklärung schwerlich für alle Fälle zutreffen. Die unangenehmen
Erwartungsgefühle lassen sich wohl am wahrscheinlichsten auf
das vergebliche Ringen nach einer deutlichen Auffassung des ver-
schwommenen Bewusstseinsinhaltes zurückführen.
Störungen der Orientierung. Die fortlaufende geistige Ver-
arbeitung der Lebensereignisse hat die Folge, dass wir uns
172
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
dauernd über die jeweilige allgemeine Lage, in der wir uns be-
finden, und über die Entwicklung derselben aus vergangenen
Ereignissen Rechenschaft zu geben vermögen. Diese Klarheit der
Beziehungen zur gegenwärtigen Umgebung wie zur Vergangen-
heit bezeichnen wir als Orientierung*). Natürlich haben
wir es dabei mit einer recht verwickelten geistigen Leistung zu
tun, an deren Zustandekommen die verschiedensten Gebiete unseres
Seelenlebens beteiligt sind. Zunächst entwickelt sich die zeit-
liche Ordnung unserer Erfahrungen aus der ununterbrochenen
und allseitigen Verknüpfung, welche durch das Gedächtnis zwi-
schen allen gleichzeitigen und unmittelbar aufeinanderfolgenden
Vorgängen in unserem Bewusstsein stetig hergestellt wird. Auf
diese Weise ordnet sich die ganze Summe unserer Erinnerungen
in eine fortlaufende Reihe ein, deren Endpunkt der gegenwärtige
Augenblick bildet, während das Anfangsglied mehr oder weniger
weit in die Vergangenheit zurückreicht. Nur die jüngsten Be-
standteile dieser Reihe sind jeweils in grösserer Vollständigkeit
und Klarheit Inhalt unseres Gedächtnisses; je weiter wir nach
rückwärts gehen, desto mehr verwischen sich die Einzelheiten,
und desto rascher schrumpft die Reihe auf vereinzelte, besonders
bedeutsame Erinnerungstatsachen zusammen, an welche sich ein
Gemisch von Einzelreminiscenzen in mehr oder weniger lockerer
Weise anknüpft. Jene Marksteine sind es, welche sich in bestimmte
Beziehungen zu allgemeineren Ereignissen, insbesondere zur
Zeitrechnung, setzen und uns damit eine wenigstens annähernde
zeitliche Ordnung unserer Erfahrungen in der Vergangenheit
ermöglichen.
Auch die Klarheit über den Ort, an dem wir uns befinden,
ist zum Teil an die Leistungen des Gedächtnisses geknüpft. Einer-
seits vermögen wir mit Hilfe früher erworbener Erinnerungs-
bilder die Einzelheiten unserer augenblicklichen Umgebung wieder-
zuerkennen; andererseits können uns die vorangegangenen Ereig-
nisse auch über eine uns sonst ganz unbekannte Umgebung Klar-
heit verschafft haben, wenn eben durch jene die Ortsveränderung
in eindeutiger Weise vorbereitet und von uns vorausgesehen
wurde. Allerdings werden wir weiterhin für die örtliche Orien-
*) F i n z i , Rivista di patologia nervosa e mentale, IV, 8. 1899.
Störungen der Orientierung.
173
tierung vielfach auch der Auffassung eine wesentliche Rolle bei-
zumessen haben. In allen Lebenslagen, in denen wir nicht vorher
wissen, wohin wir kommen, oder durch irgendwelche Umstände
in unserer Erwartung getäuscht worden sind, klärt uns die Wahr-
nehmung regelmässig bald über die wirkliche Lage auf, indem
sie in irgend einer Weise die Anknüpfung der neuen Eindrücke
an frühere Erfahrungen herstellt. Freilich wird es sich dabei
öfters nicht um eine einfache Deckung der gegenwärtigen Um-
gebung mit Erinnerungsbildern handeln, sondern das Verständnis
der Umgebung wird vielleicht erst durch mehr oder weniger
umständliche Überlegungen und Schlüsse gewonnen. Ganz dasselbe
gilt für die Orientierung über die Personen, bei der ebenfalls
Gedächtnis, Auffassung und Urteil Zusammenwirken müssen.
Aus diesen Darlegungen geht hervor, dass die Orientierung
unserer Kranken durch sehr verschiedene Störungen beeinträch-
tigt werden kann. Es empfiehlt sich daher vielleicht, ganz all-
gemein drei Hauptformen der Desorientiertheit auseinanderzu-
halten, je nachdem die Ursache wesentlich in krankhaften Ver-
änderungen der Auffassung, des Gedächtnisses oder des Urteils
liegt. Im einzelnen Falle kann sich dabei recht wohl die Wirkung
mehrerer dieser Störungen miteinander verbinden. Ferner kann
sich der Umfang der Störung entweder auf alle Gebiete der
Orientierung erstrecken oder sich auf einzelne Beziehungen be-
schränken, so dass wir gänzliche und teilweise Desorientierung
auseinanderhalten können.
Das Bild der Störung ist demnach ein sehr verschiedenes,
um so mehr, als die Beeinträchtigung der psychischen Leistungen,
aus der die Unklarheit der Kranken hervorgeht, sehr mannig-
facher Art sein kann. So kann die Auffassung der Umgebung
dadurch behindert sein, dass die Kranken nicht die genügende
geistige Regsamkeit besitzen, um die äusseren Eindrücke zu ver-
arbeiten, durch eine Denkhemmung, durch Trübung des Bewusst-
seins mit oder ohne Verfälschung der Wahrnehmung. Der erste
Fall ist sehr häufig in der Dementia praecox. Bei dieser apa-
thischen Desorientierung fehlt den Kranken, obgleich sie ohne
Schwierigkeit wahrnehmen, jede Neigung, sich über die Bedeutung
dessen, was sie sehen und hören, Rechenschaft zu geben, so dass
sie sich nach Wochen oft noch nicht darum gekümmert haben,
174
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wo sie sich befinden, wer die Personen ihrer Umgebung sind,
wie lange Zeit verflossen ist. Nur scheinbar ähnlich ist die
Wirkung der Denkhemmung, wie sie uns im manisch-depressiven
Irresein begegnet. Hier wird die zusammenhängende Auffassung
der Umgebung durch die Erschwerung der Denkarbeit verhindert,
so dass der Zustand der Ratlosigkeit entsteht. Die Kranken
nehmen wohl Einzelheiten wahr, vermögen sich aber aus ihnen
kein Bild ihrer Lage zusammenzusetzen. Ähnlich ist vielleicht die
Desorientierung bei heftiger manischer Erregung zu beurteilen,
die ebenfalls regelmässig mit starker Erschwerung der Auffassung
und der Verarbeitung äusserer Eindrücke einhergeht. Auch die
verschiedenen Formen der Bewusstseinstrübung, wie sie bei
Herderkrankungen, bei der Epilepsie, im Rausche beobachtet wer-
den, bedingen mehr oder weniger ausgeprägte Beeinträchtigungen
der Orientierung. In den deliriösen Zuständen, die uns als selb-
ständige Krankheitsbilder hauptsächlich bei Infektionen und "Ver-
giftungen sowie bei der Epilepsie und Hysterie begegnen, tragen
ausser der Unklarheit der Auffassung noch wirkliche Trugwahr-
nehmungen dazu bei, das Bild der Umgebung zu trüben und zu
verfälschen. Wenn man will, kann man alle diese Formen der
Desorientiertheit als stuporöse, deliriöse, hallucina-
to rische auseinanderhalten, doch wird man immer zu bedenken
haben, dass im einzelnen Krankheitsfalle die Entstehung der
Störung gewiss niemals ganz einheitlich, sondern stets durch das
Zusammenwirken verschiedener Ursachen bedingt ist.
Ein gutes Beispiel dafür gibt die Desorientiertheit im Delirium
tremens. Hier bestehen Sinnestäuschungen und eine Auffassungs-
störung. Dennoch ist das Missverhältnis zwischen der Besonnenheit
der Kranken und ihrer völligen Unklarheit über ihre ganze Lage
höchst auffallend. Zum Teil mag hier wohl der Umstand eine
Rolle spielen, dass die Auffassung der Lautsprache weit weniger
gestört ist, als diejenige von Gesichtseindrücken, die eben bei
der Orientierung von besonderer Wichtigkeit sind. Allein die
Kranken kommen auch dann nicht zur Klarheit, wenn man sie
über ihre Lage eingehend unterrichtet, obgleich sie diese Aus-
einandersetzung ganz gut verstehen. Die inneren deliriösen Er-
lebnisse verdrängen rasch wieder die Wirkung der aufklärenden
Worte. Dazu kommt, dass der Inhalt dieser letzteren, wie der
Störungen der Orientierung.
175
wirklichen Wahrnehmung überhaupt, nicht haftet, sondern sehr
bald einfach vergessen wird. Durch diesen letzteren Umstand wird
besonders die kennzeichnende Unklarheit über die Erlebnisse und
die zeitlichen Verhältnisse der jüngsten Vergangenheit erzeugt.
In denjenigen Fällen, in denen sich an das Delirium tremens
die K o r s s a k o w sehe Krankheit anschliesst, tritt die amne-
stische Desorientiertheit, wie wir sie etwa bezeichnen können,
immer mehr in den Vordergrund, da die Störung der Auffassung,
die Sinnestäuschungen, die Delirien, sich ganz oder bis auf geringe
Reste verlieren können. Demgemäss werden die Kranken meist
über ihre Umgebung und ihre Lage klar, vermögen sich aber
durchaus nicht in der Zeit zurechtzufinden. Sie wissen nicht,
wann sie in die Anstalt gekommen sind, wann sie zuletzt Besuch
gehabt, ja wann sie zu Mittag gegessen haben, da die Eindrücke bei
ihnen zu locker haften, um sich zu jener festgegliederten Reihe
aneinanderschliessen zu können, welche dem rückschauenden
Blicke die Abschätzung der Zeitlichen Entfernung von der Gegen-
wart gestattet. Ähnlich wie wir uns nach einförmigen, reizlosen
Wochen des letzten bedeutsamen Ereignisses entsinnen, als sei es
„erst gestern“ gewesen, so erscheinen diesen Kranken die Monate,
die keine bleibende Spur in ihrer Erinnerung1 zurückgelassen haben,
wie wenige Tage. Oder aber die Bilder der letzten Vergangenheit
verblassen so schnell, dass sie ihnen weit zurückzuliegen scheinen
und sie sich schon Monate in der Umgebung glauben, in die sie
gerade erst eingetreten sind. Das gewohnte Mass des Wechsels
der Tageszeiten, das uns vor dem unwillkürlichen Schätzungs-
fehler bewahrt, hinterlässt hier keine Spuren, welche eine
zeitliche Entfernungsschätzung ermöglichen könnten. Auf der
anderen Seite wird sie durch das Auftauchen von Erinnerungs-
fälschungen noch ganz besonders erschwert.
Noch stärker ausgeprägt kann die amnestische Desorien-
tierung in denjenigen Formen des Altersblödsinns sein, die wir
mit Wernicke als Presbyophrenie bezeichnen. Die überaus
starke Merkstörung macht hier, wohl in Verbindung mit einer
Erschwerung der Auffassung, gewöhnlich auch die geistige Ver-
arbeitung der augenblicklichen Eindrücke unmöglich, so dass die
Kranken von ihrer Umgebung kein klares Bild zu gewinnen ver-
mögen, obgleich sie Einzelheiten ohne erhebliche Schwierigkeit
176
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
verstehen. Auch die bekannte zeitliche Desorientierung der
Paralytiker ist wesentlich amnestischen Ursprungs, wenn auch
hier die Merkstörung nur ausnahmsweise die allerhöchsten Grade
erreicht. Sie erscheint in der Regel grösser, als sie wirklich
ist, weil sich zu ihr die Gleichgültigkeit, der Verlust der geistigen
Regsamkeit hinzugesellt, der die Kranken zu willkürlicher Ein-
prägung der äusseren Eindrücke mehr oder weniger unfähig macht.
Als eine besondere Form der amnestischen Desorientierung
können wir endlich noch jene Unklarheit über Zeit und Umgebung
betrachten, die durch eine Erinnerungslücke erzeugt wird. Beim
Erwachen aus dem Schlafe oder aus einer Ohnmacht empfinden
wir sofort das lebhafte Bedürfnis, uns über unsere gesamte Lage
klar zu werden und damit die Anknüpfung an die früheren Er-
lebnisse wieder zu gewinnen. Haben sich inzwischen eingreifende
Veränderungen abgespielt, so kann die Lösung dieser für gewöhn-
lich so einfachen Aufgabe recht schwierig werden, zumal wenn
zunächst vielleicht noch gewisse Behinderungen der Auffassung
oder des Denkens f ortbestehen. Aus diesen Gründen sehen wir
nach länger dauernden Zuständen schwerer Bewusstseinstrübung
und dadurch bedingten Erinnerungslücken sehr gewöhnlich eine
Zeitlang mangelhafte Orientierung andauern. Unter Umständen
kann dabei auch die Nachwirkung von Täuschungen und Delirien
aus der abgelaufenen Störung mitspielen.
Eine ganz andere Bedeutung, als die bisher besprochenen
Formen, hat endlich die wahnhafte Desorientierung. Hier
ist es nur die geistige Verarbeitung der an sich richtig auf-
gefassten und eingeprägten Eindrücke, die nicht zu einer Un-
klarheit, sondern zu einer falschen Ansicht über Zeit und Um-
gebung führt. Eine bewusste Überlegung braucht dabei nicht
stattzufinden; es handelt sich nur darum, dass sich die Kranken
in ausdrücklichen Gegensatz zum Augenschein und zu den Aus-
sagen ihrer Umgebung stellen. Unter Umständen können jedoch
wohl illusionäre oder hallucinatorische Wahrnehmungen den be-
sonderen Anstoss zu der wahnhaften Deutung geben. Hierher
gehören namentlich viele Personenverkennungen, die Angaben
deprimierter Kranker, sie seien im Gefängnis, in der Hölle, in
einem schlechten Hause, die hartnäckigen \ erschiebungen von
Tag oder Jahreszahl bei paranoiden Kranken u. s. f.
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.
177
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.
Die einfachsten Vorstellungen enthalten nur Bestandteile aus
einem einzigen Sinnesbereiche. Mit dem Fortschritte der gei-
stigen Ausbildung jedoch entstehen immer verwickeltere Gebilde,
deren einzelne Glieder den verschiedensten Gebieten der Sinnes-
erfahrung entstammen. Meistens ist dabei wohl der Anteil, welchen
die einzelnen Sinne liefern, ein sehr verschiedener. Nicht nur
kommt gewissen Gruppen von Wahrnehmungen für die Vorstel-
lungsbildung überhaupt eine weit grössere Bedeutung zu, als
anderen, sondern es hat auch den Anschein, als ob je nach der
persönlichen Anlage bald mehr diese, bald mehr jene Gebiete
der Sinneserfahrung bei diesem Vorgänge bevorzugt würden.
Während im Vorstellungsleben des Einen diejenigen Bestandteile
überwiegen, die durch das Auge aufgenommen wurden, treten
bei Anderen die vom Gehör oder durch die Bewegungsempfindungen
gelieferten Eindrücke besonders in den Vordergrund. Bei völligem
Ausfall ganzer Sinnesgebiete werden auch die Vorstellungen eine
eigentümliche Einseitigkeit darbieten müssen, ja, es kann der
Fall eintreten, dass sich die gesamten Vorstellungen ausschliess-
lich aus den Wahrnehmungen des Tast- und Bewegungssinnes
zusammensetzen müssen. Auch in diesem Grenzfalle ist übrigens
noch eine hohe Entwicklung des Vorstellungslebens möglich.
Es ist erklärlich, dass unvollkommene Ausbildung und ge-
ringe Nachhaltigkeit der sinnlichen Eindrücke die Entwicklung
zusammengesetzter Gestaltungen unserer Vorstellungstätigkeit in
hohem Grade beeinträchtigen müssen. Die einzelnen Wahr-
nehmungsbestandteile treten in keine näheren Beziehungen zu
einander und zu den früheren Erfahrungen; vereinzelt und ohne An-
knüpfung nach irgend einer Richtung hin, gehen sie in dem unter-
schiedslosen Gemenge rasch und vollständig wieder verloren. Der-
artige Zustände haben wir wohl bei den schwersten Formen des
angeborenen und erworbenen Blödsinns tatsächlich anzunehmen.
Hier findet vielfach eine engere Verknüpfung der einzelnen Wahr-
nehmungen überhaupt nicht statt. Die Glieder der Erfahrungs-
kette schliessen sich nicht aneinander, sondern jeder Eindruck
fällt rasch, wie er entstanden war, ungenutzt wieder dem Ver-
gessen anheim.
Mit der reicheren und vielseitigeren Ausbildung der Vor-
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl, 12
178
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Stellungen wird der Bau derselben notwendigerweise immer
verwickelter. Die Zahl und die Verschiedenartigkeit der mit-
einander verknüpften Bestandteile nimmt zu, so dass schliesslich
der ganze Umfang eines derartigen psychischen Gebildes sich nicht
mehr ohne weiteres, sondern nur bei der Betrachtung von den
verschiedensten Seiten her vollständig ermessen lässt. Gleich-
zeitig verlieren auch die einzelnen Bestandteile mehr und mehr
ihre sinnliche Bestimmtheit, da sie nicht einem einzelnen Sinnes-
eindrucke, sondern vielfach wiederholten Wahrnehmungen ent-
sprungen sind. Das Zufällige und Nebensächliche der Einzel-
erfahrungen verwischt sich, während das Wesentliche, immer
Wiederkehrende sich stärker ausprägt und befestigt. Auf diese
Weise werden eben die ursprünglichen Erinnerungsbilder zu wirk-
lichen Vorstellungen; sie sind nicht mehr der einfache Nachklang
einer bestimmten Sinneserfahrung, sondern der allgemeine Aus-
druck sämtlicher Erfahrungen einer gewissen Art, die überhaupt
auf das Bewusstsein eingewirkt haben.
Dieser Punkt der Entwicklung ist es, an welchem die
sprachlichen Bezeichnungen ihren Einfluss auf das
geistige Leben zu entfalten beginnen. Der Umfang und die ä iel-
seitigkeit der Sachvorstellungen macht es unmöglich, im Ge-
dankengange überall den gesamten Niederschlag einer Erfahrungs-
reihe nach allen Bichtungen hin ins Bewusstsein zu rufen. ä iel-
mehr tauchen beim Denken zunächst immer nur die am kräftigsten
entwickelten Bestandteile eines derartigen psychischen Gebildes
auf, wenn nicht durch besonderen Anlass andere Seiten der Vor-
stellung mehr in den Vordergrund gedrängt werden. Bei häufiger
Wiederholung dieses Vorganges werden am Ende jene stärker
ausgebildeten Teile dauernd zu wirklichen Vertretern der Ge-
samtvorstellung. Mit ihrer Hilfe sind wir dann auch jederzeit
imstande, die verschiedenen anderen Seiten des ganzen psychischen
Gebildes ins Bewusstsein zu ziehen und deutlicher zu beleuchten.
Die Vertretung der Gesamtvorstellung im abgekürzten Denk-
verfahren kann an sich natürlich jedem beliebigen Bestandteile
derselben zufallen. Auch hier bestehen ohne Zweifel sehr weit-
gehende persönliche Verschiedenheiten. Zunächst werden wohl
überall einzelne sachliche Erinnerungsbilder, bald aus diesem,
bald aus jenem Sinnesgebiete, diese Rolle übernehmen, ein Ver-
Störungen in der Bildung der Vorstellungen und Begriffe.
179
halten, welches um so länger und ausgeprägter fortbestehen bleibt,
je besser die sinnliche Einbildungskraft entwickelt ist. Im all-
gemeinen aber treten an die Stelle der sachlichen Erinnerungen
immer mehr die sprachlichen Zeichen derselben. Je umfassender
die einzelne Vorstellung wird, je allgemeiner ihr Inhalt, desto
mehr verblasst ihre sinnliche Färbung, desto grösser wird das
Gewicht, welches in ihr die immer in gleicher Form wiederholte
sprachliche Bezeichnung gewinnt. Die höchsten Entwicklungs-
formen der Verstandestätigkeit pflegen sich daher zum guten
Teile ganz ausserhalb der schwerfälligen Sachvorstellungen zu
vollziehen und nur hie und da einmal das Gebiet der sinnlichen
Erinnerungen flüchtig zu streifen.
Unter krankhaften Verhältnissen kann der hier geschilderte
Entwicklungsgang an irgend einem Punkte zum Stillstände kom-
men. Bei unvollkommener geistiger Veranlagung bleibt die Aus-
bildung der Vorstellungen auf der Stufe der sinnlichen Erinne-
rungsbilder stehen. Die Kranken haften an der Einzelerfahrung,
ohne das Gemeinsame aus verschiedenen gleichartigen Eindrücken
herausschälen zu können. Sie gewinnen keinen kurzen, geschlos-
senen Ausdruck für grössere Erfahrungsreihen; das Unwesent-
liche scheidet sich ihnen nicht vom Wesentlichen, das Allgemeine
nicht vom Besonderen. Das gesamte Denken vermag sich daher
nicht über das Gebiet des unmittelbar sinnlich Gegebenen hinaus
zur Erfassung höherer und weitblickender Gesichtspunkte zu er-
heben. Daraus ergibt sich notwendig die Beschränkung der ge-
samten Lebenserfahrung auf den nächsten und engsten Kreis,
die Unfähigkeit zur Ausbildung allgemeiner Begriffe, welche
als Grundlage einer abstrakteren Gedankenarbeit zu dienen
vermöchten.
Bei der grossen Bedeutung, welche das vorhandene Wissen
für die Sammlung neuer Erfahrungen besitzt, muss die mangelhafte
Ausbildung von Allgemeinvorstellungen das Anwachsen des Vor-
stellungsschatzes in sehr ungünstiger Weise beeinflussen. Frühere
Erfahrungen schärfen unseren Blick für andere ähnliche Ein-
drücke; Neues wird weit leichter auf genommen und festgehalten,
sobald es sich an Bekanntes anknüpfen, in bestehende Gedanken-
kreise einordnen kann. Je reicher der Vorstellungsschatz ist,
desto aufnahmefähiger wird er für jede neue Bereicherung, weil
12*
180
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die Beziehungen des Seelenlebens zur Aussenwelt immer zahl-
reichere und vielseitigere werden. So kommt es, dass die unvoll-
kommene Entwicklung der Vorstellungen selbst zugleich die
Empfänglichkeit für neue Eindrücke herabsetzt. Sie finden keine
Anknüpfung im Erfahrungsschätze, werden nicht fest eingegliedert
und gehen daher rasch und leicht wieder verloren. Zu der sinn-
lichen Beschränktheit des Gedankenganges gesellt sich daher
regelmässig Enge des Gesichtskreises, Vorstellungsarmut und Ge-
dächtnisstumpfheit.
Natürlich treten alle diese Störungen in ausgeprägter Form
nur dort hervor, wo die krankhafte Grundlage von Jugend auf
besteht. Beim erworbenen Schwachsinn wird der Vorrat früherer
Erfahrungen die Unfähigkeit zur Aufnahme neuer Eindrücke, zur
Bildung neuer Vorstellungen lange Zeit hindurch mehr oder weniger
vollständig verdecken können. Im weiteren Verlaufe freilich wird
man jene Störungen allmählich immer deutlicher sich geltend
machen sehen. Bei der Paralyse, bei der Dementia praecox, beim
Altersschwachsinn beobachten wir in gleicher Weise, wie der
Vorstellungskreis sich einengt, wie die allgemeineren, begriff-
lichen Gedankengänge zurücktreten gegenüber dem Greifbaren,
Alltäglichen und Naheliegenden. Neue Eindrücke werden nicht
mehr aufgenommen und verarbeitet, und die jüngsten Erfah-
rungen werden schnell vergessen, auch wenn die Erinnerungen
aus vergangenen Tagen noch mit überraschender Festigkeit und
Treue haften.
Kaum weniger verderblich, als die mangelnde Ausbildung der
Vorstellungsverbindungen, pflegt für das Seelenleben die krank-
hafte Beweglichkeit der psychischen Gebilde zu werden, welche
mit verwegener Leichtigkeit die verbindende Brücke zwischen
den verschiedenartigsten Erfahrungen zu schlagen weiss. Hier
genügen schon entfernte Ähnlichkeiten und teilweise Überein-
stimmungen, um zwei Vorstellungen in nahe Beziehungen zu
setzen; der Mangel an Zwischengliedern wird rasch durch immer
bereite Vermutungen ergänzt, und die Widersprüche werden in
mehr oder weniger freier Umgestaltung verwischt. So entwickelte
mir ein kranker Ingenieur einmal an der Hand umfangreicher und
sehr eingehender Zeichnungen die Idee, durch die verschieden-
artige Anordnung gewisser schmückender Bauglieder ganze Musik-
Störungen des Gedankenganges.
181
stücke in übertragener Form wiederzugeben und auf diese Weise
Auge und Ohr gleichzeitig künstlerisch anzuregen. Eine solche
Willkürlichkeit der Ideenverbindung macht natürlich bei der Be-
griffsbildung eine Auswahl des Zusammengehörigen und die Aus-
scheidung des Unwesentlichen, Entlegenen, fast gänzlich unmög-
lich. Die Begriffe müssen auf diese Weise durchaus jener Schärfe
und Klarheit entbehren, welche sie zur Grundlage höherer Geistes-
arbeit tauglich macht ; sie werden verschwommene und un-
klare psychische Gebilde, mit deren Hilfe nur einseitige und
verschrobene Urteile von zweifelhaftem Werte sowie unbestimmte
und unsichere Analogieschlüsse zu stände kommen können, sobald
sich der Gedankengang aus dem Bereiche der unmittelbaren Sinnes-
erfahrung entfernt. Als klinischen Ausdruck der hier geschil-
derten Störung können wir den Hang zum Schwärmen und Träu-
men, den Mangel des Sinnes für Tatsachen und Einzelheiten, die
Verzettelung der geistigen Arbeitskraft in unausführbaren Plänen
und Hirngespinsten betrachten. Diese Eigentümlichkeiten bilden
das Kennzeichen gewisser psychopathischer Persönlichkeiten; wir
begegnen ihnen ferner auch bei Verrückten und in den paranoiden
Zuständen.
Störungen des Gedankenganges. Die Verbindung der fertigen
Vorstellungen untereinander vollzieht sich nach bestimmten Ge-
setzen, die uns wenigstens in ihren allgemeinen Zügen bekannt
sind. Wir können zunächst zwei grosse Gruppen von Vorstel-
lungsverbindungen auseinanderhalten, die äusseren und die
inneren. Bei jenen ersteren wird die Verknüpfung der beiden Vor-
stellungen nur durch eine rein äusserliche, zufällige Beziehung
vermittelt, während wir es bei den inneren Associationen mit
sachlichen, aus dem Inhalte der Vorstellungen selbst hervor-
wachsenden Zusammenhängen zu tun haben. Im einzelnen gliedern
sich beide Hauptgruppen noch weiter in Unterformen je nach
der Art des verknüpfenden Bandes*). Eine äusserliche Verbindung
kann zunächst hergestellt werden durch häufige Vergesellschaf-
tung derselben Eindrücke. Dies geschieht z. B. dann, wenn zwei
Wahrnehmungen oft oder regelmässig in nahe räumliche oder
*) Aschaffenburg, Experimentelle Studien über Associationen,
Psychologische Arbeiten, I, 2; II, 1; IV, 2.
182
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zeitliche Beziehung zu einander treten. Haus und Fenster, Blitz
und Donner entsprechen dieser Bedingung. Ein ganz ähnlicher,
aber noch äusserlicherer Zusammenhang kann sich durch die
sprachliche Einübung herausbilden. Bestimmte Wort- und Satz-
verbindungen befestigen sich bei uns durch häufige Wiederholung
derart, dass jeder Bestandteil derselben die übrigen regelmässig
auch ins Bewusstsein ruft. Dahin gehören die Wortzusammen-
setzungen, die stehenden Redensarten, die Citate. Vielfach hat
sich in diesen Verbindungen die Denkarbeit früherer Geschlechter
niedergeschlagen; dem sprachlichen entspricht zugleich ein sach-
licher Zusammenhang. Für uns aber ist diese innere Verbindung
längst in den Hintergrund getreten gegenüber der einfachen,
gedankenlosen sprachlichen Gewöhnung. In noch höherem Grade
ist das der Fall, wenn der einzelne Bruchteil, wde nicht selten,
völlig sinnlos ist und nur durch die mechanische Anfügung des
Fehlenden zu einem sinnvollen Ganzen wird. Diese letztere Form
der äusseren Vorstellungsverbindungen bildet bereits den Über-
gang zu den für die Psychiatrie besonders wichtigen Klang-
associationen. Bei diesen handelt es sich um die Verknüpfung
zweier Vorstellungen lediglich auf Grund des sprachlichen Gleich-
klanges. Übereinstimmung einzelner Buchstaben oder besser
Sprachbewegungen, nicht selten in der Form des Reims, genügt
hier, die verbindende Brücke zu schlagen, ganz ohne jede Rück-
sicht auf den Inhalt. Auch hier wird die Eigenart des Vorganges
am klarsten in jenen Beispielen, in denen der associierte Gleich-
klang überhaupt keinen sprachlichen Inhalt mehr besitzt, sondern
völlig sinnlos ist.
Bei der zweiten grossen Gruppe von A^orstellungsverbin-
dungen begegnet uns zunächst die Verknüpfung nach Über-
leben- und Unterordnung. Der Entwicklungsgang der Vorstel-
lungen vollzieht sich ja in der Weise, dass wir von sinnlichen
Einzelerfahrungen durch Eingliederung ähnlicher Eindrücke all-
mählich zu einer Stufenleiter von immer allgemeineren Vor-
stellungen gelangen. Alle einzelnen Glieder dieser Entwicklung
stehen naturgemäss miteinander in näherer oder fernerer Ver-
bindung, so dass unser Gedankengang jederzeit den Schritt vom
Besonderen zum Allgemeinen wiederholen kann, mit dem er einst-
mals seine Ausbildung begonnen hat. Der gleiche Weg ist aber
Störungen des Gedankenganges.
183
auch in umgekehrter Richtung gangbar, und endlich vermögen
wir dauernd den Vorgang zu erneuern, der uns von Anfang an
die Verknüpfung innerlich übereinstimmender Erfahrungen unter-
einander ermöglichte. Alle diese Verbindungen bilden zusammen
die psychologische Grundlage derjenigen Urteile, welche das
gegenseitige Verhältnis unserer Vorstellungen zu einander von
den sinnlich einfachsten zu den verwickeltsten und allgemeinsten
Formen zum Ausdrucke bringen.
Demgegenüber können wir eine andere Form der inneren
Associationen wohl als die Vorstufe jener Urteile auf fassen, bei
denen es sich um die Bereicherung unserer Vorstellungen durch
neue Bestandteile handelt. Wir bezeichnen diese Vorstellungs-
verbindungen vielleicht am besten als prädikative. Sie fügen zu
einer gegebenen Vorstellung irgend ein Merkmal hinzu, welches
nicht notwendig zur Begriffsbestimmung gehört, sondern eine
mehr oder weniger eng begrenzte Gruppe von Einzelerfahrungen
aus der Gesamtzahl der Vorstellungsbestandteile heraushebt.
Diese beschränkte Aussage kann dabei sowohl gegenwärtigen Ein-
drücken wie der Erinnerung entnommen werden. Die prädikativen
Associationen enthalten demnach meist Eigenschaften, Zustände,
Tätigkeiten, durch welche die vorauf gehende Vorstellung nach
irgend einer Richtung hin näher bestimmt wird. Es werden ge-
wisse Bestandteile derselben, seien sie längst oder gerade erst
erworben, heller beleuchtet, die an sich beim Auf tauchen jener
Vorstellung nicht mit ins Bewusstsein getreten wären. So wird
etwa die Vorstellung Hund in uns neben der sprachlichen Be-
zeichnung durch die allgemeinen Umrisse des Tieres vertreten;
vielleicht werden wir uns dabei noch dunkel dessen bewusst, dass
der Hund ein Tier, dass er schwarz gefärbt ist, dass er läuft.
Alle diese unklaren Bestandteile der Hauptvorstellung können
durch den weiteren Verlauf des Gedankenganges zur deutlichen
Ausprägung gebracht werden. Nur der erstgenannte aber ist ein
notwendiges Glied der Vorstellung Hund; die beiden letzteren
und zahllose andere ähnliche enthalten eine nähere Bestimmung,
die nicht auf alle Hunde ohne Ausnahme zutrifft. Folgt daher
auf die Vorstellung Hund die Vorstellung Tier, so haben wir
es mit einer Association nach Überordnung zu tun, während die
beiden anderen Anknüpfungen prädikative Bestimmungen enthalten.
184
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Die inhaltlichen Störungen des Vorstellungsverlaufes lassen
sich, wie mir scheint, am einheitlichsten auf fassen als Verschie-
bungen in dem Verhältnisse zwischen den Zielvorstellungen und
den einzelnen Gliedern unseres Gedankenganges. Leider sind wir
hier überall in erster Linie auf die Prüfung der sprachlichen
Äusserungen unserer Kranken angewiesen, die naturgemäss nur
ein sehr unvollkommenes und häufig verzerrtes Bild ihres wirk-
lichen Vorstellungsverlaufes gehen.
Das gesunde Denken wird regelmässig von gewissen allge-
meinen Vorstellungen beherrscht, welche jeweils die Richtung
des Vorstellungsverlaufes angeben. Von den auf tauchenden Vor-
stellungen werden daher immer diejenigen Bestandteile besonders
kräftig angeregt, die mit den Leitvorstellungen in näherer Be-
ziehung stehen. Aus der grossen Zahl möglicher Anknüpfungen
werden auf diese Weise nur diejenigen wirklich zu stände kommen,
welche in einer bestimmten, durch die allgemeinen Ziele des Ge-
dankenganges bedingten Richtung liegen. So entsteht die innere
Einheit und Geschlossenheit unseres Denkens, die geistige Frei-
heit, welche uns in den Stand setzt, unseren Vorstellungsverlauf
nach Gesichtspunkten zu lenken, die aus der Entwicklungs-
geschichte unserer gesamten psychischen Persönlichkeit hervor-
gegangen sind.
In Krankheitszuständen kann der einheitliche Fortschritt des
Gedankenganges, wie er durch kräftige Ausbildung der Zielvor-
stellungen gewährleistet wird, auf verschiedene Weise gestört
sein. Am häufigsten kommt es vor, dass einzelne Vorstellungen
oder Gedankenrelhen mit besonders lebhafter Gefühlsbetonung
immer wieder den durch die Zielvorstellungen vorgezeichneten
Gedankengang durchbrechen. Die Erinnerung an irgend ein
trübes Ereignis, eine Erwartung oder Befürchtung kann uns so
sehr beherrschen, dass unsere Gedanken trotz aller Bemühungen,
sie in andere Richtungen zu zwingen, immer wieder zu demselben
Gegenstände zurückkehren. Andererseits können aus Stimmungen
peinliche Vorstellungen hervorwachsen, die eine aufdringliche
Macht über den Gedankengang gewinnen. Wir erinnern hier an
die Erfahrung, dass wir uns in gewissen Lagen bisweilen trotz
besserer Einsicht des Auftauchens von allerlei Schauer- und Ge-
spenstergeschichten nicht zu erwehren imstande sind. Sie er-
Störungen des Gedankenganges.
185
wachen im Gegenteil oft um so lebhafter, je angestrengter wir
sie in den Hintergrund zu drängen versuchen.
Diese Beeinflussung des Gedankenganges durch gefühls-
starke Vorstellungen ist natürlich um so stärker, je leichter
Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichtes zu stände kom-
men. Handelt es sich, wie gewöhnlich, um Unlustgefühle, deren
Macht auf Denken und Handeln überall am grössten ist, so wird
die Störung durch das Vordrängen derselben Gedanken bald als
peinigend empfunden. Gerade dadurch aber wächst ihre Macht.
Das Bestreben, sich ihrer zu erwehren, rückt sie immer mehr
in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. Unter diesen Umständen
kann sich zu der Unlust, die sich an den Inhalt der Vorstellung
knüpft, noch das quälende Gefühl der Ohnmacht gegenüber ihrer
zwingenden Aufdringlichkeit gesellen. Auf diese Weise entsteht
jene Störung, die wir mit v. Krafft-Ebing als Zwangs-
vorstellung*) bezeichnen, weil sie regelmässig mit dem leb-
haften Gefühle des Unterliegens gegen einen übermächtigen
Zwang einhergeht.
Die Furcht vor ihrer Wiederkehr und die dadurch bewirkte
Fesselung der Aufmerksamkeit sind der Nährboden und das
Kennzeichen der Zwangsvorstellung. Sie entwickelt sich daher
häufig auf dem Boden ängstlicher Verstimmungen, so bei
melancholischen und cirkulären Depressionszuständen, bisweilen
auch im ersten, depressiven Abschnitte einer Dementia praecox.
Der Inhalt der Zwangsvorstellung ist hier überall von vornherein
ein unangenehmer, quälender. Die Kranken müssen unausgesetzt
an irgend einen erschütternden Eindruck denken, den sie gehabt
haben, sich ein Unglück ausmalen, das sie betreffen könnte,
gotteslästerlichen oder unanständigen Gedanken nachhängen. Die
tiefe Verstimmung, die solchen Gedanken zu Grunde liegt und
durch sie neue Nahrung erhält, verbindet sich hier mit dem
Gefühle der zwangsmässigen Überwältigung des Denkens. Bei
weiterer Entwicklung gewinnt die erstere meist ganz die Ober-
hand, zumal, wenn der Widerstand des Kranken gegen die auf-
*) Westphal, Berl. klin. Wochenschr. 1877, 46; Wille, Archiv
f. Psychiatrie, XII, 1; Löwenfeld, ebenda, XXX, 679; Meynert,
Wiener klin. Wochenschr. 1888. 5—7 ; Tuczek, Berl. klin. Wochenschr. 1899, 6;
Friedmann, Psychiatr. Wochenschr. 1901, 40.
1S6
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
dringlichen Vorstellungen allmählich erlahmt, so dass der innere
Kampf und damit das Gefühl des Unterliegens fortfällt. Die ur-
sprünglichen Zwangsvorstellungen wandeln sich dabei mehr und
mehr in Wahnideen um. Der Gedanke an das gestorbene Kind
wird für den Kranken zur Gewissensmahnung wegen versäumter
Fürsorge; die Schreckbilder künftigen Unglücks bedeuten wirk-
lich drohende Strafen; die wüsten Gedanken sind der Ausdruck
einer von Grund aus verdorbenen Seele.
Viel reiner tritt das Wesen der Zwangsvorstellungen dort
hervor, wo der Stimmungshintergrund nicht durch selbständige
krankhafte Gemütsbewegungen beeinflusst wird. Hier liegt das
Quälende an sich nicht in dem Inhalte, sondern nur in der
zwangsmässigen Wiederkehr der Vorstellung. Die ausgebildet-
sten Formen dieser Zwangsvorstellungen im engeren Sinne ent-
wickeln sich in gewissen angeborenen krankhaften Zuständen,
die wir als Ausdruck der Entartung betrachten. Erhöhte gemüt-
liche Empfindlichkeit sowie die Neigung zu peinlicher Selbst-
beobachtung liefern die Vorbedingungen für die Entstehung der
Zwangsvorstellungen. Am leichtesten setzen sich auch hier Vor-
stellungen fest, die schon durch ihren Inhalt unangenehm wirken,
namentlich solche geschlechtlicher oder religiöser Art. Bis-
weilen heftet sich der peinliche Gefühlston auch erst durch Über-
legungen an die auf tauchende Vorstellung, wie bei einer von
Löwenfeld erwähnten Dame, die sich Vorwürfe darüber machte,
dass sie immer an einen ihr* sonst ganz fernstehenden Herrn
denken musste.
Während hier die Zwangsvorstellung von vornherein durch
begleitende Unlustgefühle in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit
gerückt wird, vermitteln in einer weiteren Gruppe von Fällen
gewisse allgemeine Denkgewohnheiten das Auftreten jener Ge-
dankengänge, die dann später durch das vergebliche Bestreben,
ihrer Herr zu werden, so zwingende Macht gewinnen. Jeder Ge-
sunde legt Wert darauf, die Namen der ihn umgebenden Personen
zu kennen. Bei dem krankhaften „Namenzwange“ kann das Be-
dürfnis, sich die Namen anderer Menschen ins Gedächtnis zu
rufen, so stark und so quälend werden, dass die Kranken zur
Befriedigung desselben grosse Verzeichnisse anlegen und am
Ende den Namen jedes beliebigen Menschen zu erfahren suchen,
Störungen des Gedankenganges.
187
der ihnen begegnet. Der „Zahlenzwang“ knüpft an die Rechen-
künste an, die wir zur Beherrschung der Zahlenreihe in der
Jugend üben müssen. Er veranlasst den Kranken, alle möglichen
unsinnigen Zählungen der sich ihm darbietenden Dinge auszu-
führen oder mit den Zahlen, die ihm aufstossen, zwangsmässig
Rechnungen vorzunehmen. Als „Ausdruckszwang“ kann man die
krankhafte Neigung bezeichnen, denselben Gedanken unter klein-
lichster Abwandlung aller Einzelheiten immer in eine neue Form
zu kleiden, ohne dass doch jemals die befriedigende Lösung
gefunden würde. Dadurch entsteht eine merkwürdige Häufung von
Wiederholungen, die jeden Fortschritt des Gedankens aufhalten.
Endlich lässt sich die krankhafte Gr übel- oder Frage sucht
mit der Neigung des Kindes zu ausschweifenden und läppischen
Fragen in Verbindung bringen. Dem Kranken drängen sich in
nie endender Folge unfruchtbare und zwecklose Fragen auf, die
ihn beunruhigen und in Atem halten, ohne dass er sich ihrei
zu erwehren vermöchte.
Für diese letztgeschilderten Fermen der Zwangsvorstellungen,
bei denen der Inhalt an sich ein gleichgültiger ist, passt ohne
Zweifel die von Friedmann durchgeführte Betrachtung, dass
wir es mit „unabgeschlossenen“ Vorstellungen zu tun haben, die
eben deshalb erregend wirken. Überall handelt es sich um das
Gefühl der Ungewissheit, das die Kranken zu ihren Anstrengungen
anspornt und doch niemals ganz beseitigt werden kann, weil jede
vor ihnen auftauchende Aufgabe sofort eine Reihe anderer nach
sich zieht. Der Namen, der Zählungen, der Ausdrucksformen, der
Fragen ist kein Ende, und die endgültige Beruhigung ist, sobald
überhaupt dem bohrenden Drange nachgegeben wurde, nicht zu
erreichen. Die tiefste Wurzel dieser Zwangsvorstellungen liegt
also in denselben Unlustgefühlen, die uns dazu treiben, Klarheit
und Wahrheit zu suchen, aber sie sind nicht mehr die Diener,
sondern die Herren der geistigen Persönlichkeit, weil dieser
letzteren die Kraft fehlt, sie zu unterdrücken, wo sie den Fluss
des Denkens hindern.
Eine dem Zwangsdenken nur äusserlich ähnliche Störung ist
das einfache Haften einzelner Vorstellungen. Das-
selbe wird dadurch gekennzeichnet, dass irgendwelche, einmal
angeregte Vorstellungen von ganz beliebigem Inhalte, aber regel-
188
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
massig in sprachlichen oder lautlichen Ausdrucksformen, sich
immer wieder in den Gedankengang einschieben. Auch im ge-
sunden Leben ist dieser Vorgang nicht gerade selten. Im ge-
wöhnlichen Flusse der Gedanken vermag sich keine einzelne
Vorstellung längere Zeit hindurch auf voller Höhe zu erhalten,
wenn sie nicht durch besondere Ursachen immer von neuem an-
geregt wird. Unablässig drängen sich neue Eindrücke und Vor-
stellungen ins Bewusstsein, um das Übergewicht zu gewinnen,
sobald die Lebhaftigkeit vorangegangener Bilder zu verblassen
beginnt. In diesem Kampfe können sich einzelne Vorstellungen
mit besonderer Hartnäckigkeit erhalten, die aus irgend einem
Grunde lebhaft angeregt worden sind. Namentlich Vorstellungen
von rhythmischer Gliederung, ein Vers, ein Citat, eine Melodie,
können wir bisweilen durchaus nicht wieder loswerden, sondern
müssen, vielleicht zu unserem grössten Verdrusse, in steter Wie-
derholung darauf zurückkommen, bis sie endlich durch andere
Vorgänge wieder in den Hintergrund gedrängt werden.
Einem eigentümlichen Kleben an sprachlichen Bezeichnungen
begegnen wir ferner sehr häufig bei gröberen Hirnerkrankungen.
Die Kranken versprechen sich vielfach im Sinne der kurz vorher
gebrauchten Wörter und Wendungen; sie belegen Gegenstände
fälschlich mit einer Benennung, die sie gerade gehört oder aus-
gesprochen haben oder mischen richtige und verkehrte Wort-
bruchstücke durcheinander. Namentlich unter dem Einflüsse der
Ermüdung kann dieses Haften rasch so störend werden, dass man
keine richtige Antwort mehr erhält, sondern nur wechselnde
oder einförmige Wiederholungen der früheren Angaben. Wie
v. S ö 1 d e r *) betont hat, handelt es sich hier nur um die krank-
hafte Ausbildung einer Erscheinung, die auch beim gewöhnlichen
Versprechen, beobachtet wird. Uns kommen dabei nicht nur die-
selben Wörter und Wendungen leicht wieder auf die Zunge,
sondern das Vorhergegangene bewirkt auch vielfach bestimmte
Sprechfehler.
Im Gegensätze zum Zwangsdenken bemerken wir jene
fortwährenden Wiederholungen vielfach erst nachträglich; das
Gefühl des Zwanges, der Überwältigung trotz unseres Wider-
*) S ö 1 d e r, Jahrb. f. Psychiatrie, XVIII, 479, 1S99.
Störungen des Gedankenganges.
189
strebens, fehlt vollständig, so unangenehm wir vielleicht auch
von der Zähigkeit der Vorstellungen berührt werden. Mir scheint
hier die Ermüdung eine gewisse Rolle zu spielen. Wo die
geistige Regsamkeit herabgesetzt ist, nimmt die Mannigfaltig-
keit und Lebhaftigkeit der neu sich darbietenden Vorstel-
lungen ab, so dass die Wiederholung früherer Vorgänge be-
günstigt wird. Allerdings hat Aschaffenburg bei seinen
Nacht versuchen keine Zunahme des Haftens mit fortschreitender
Ermüdung gefunden, doch ist es zweifelhaft, ob es sich in seinen
Beispielen nicht um eine andersartige Erscheinung gehandelt hat.
Auch andere Bestandteile der Vorstellungen, allerdings vor-
zugsweise oder ausschliesslich motorische, können haften. Die
Kranken gebrauchen vorgezeigte Gegenstände fälschlich so, wie
sie es kurz vorher richtig mit anderen gemacht haben. N e i s s e r
hat diese Störung treffend mit dem Namen der Perseveration
gekennzeichnet. In einigen Fällen von Altersblödsinn mit aus-
geprägtem Kleben konnte Schneider nachweisen, dass die
Entwicklung der angeregten Vorstellungen ungemein verlangsamt
war. Die Bezeichnung eines Bildes wurde vielfach erst dann,
aber nun richtig, vorgebracht, wenn inzwischen schon ein oder
zwei andere Bilder gezeigt worden waren, so dass also eine regel-
mässige, erhebliche Verspätung anzunehmen war. In der Tat
hat man bei der Perseveration vielfach den Eindruck, als ob die
Kranken zunächst der neuen Wahrnehmung völlig verständnislos
gegenüberstehen und auf das Drängen daher einfach das Voran-
gegangene wiederholen. Ist diese Anschauung richtig, so würde
nicht die besondere Hartnäckigkeit einzelner Vorstellungen, son-
dern die erschwerte Auslösung anderer, sie ersetzender und ver-
drängender Vorgänge die Störung bedingen.
Sorgfältig von der Perseveration zu unterscheiden ist die
Neigung, dieselben Vorstellungen „zu Tode zu hetzen“, wie sie
uns in ausgeprägtester Form bei der Dementia praecox begegnet.
Sie ist hier nur ein Ausfluss der allgemeinen Stereotypie der
Willensvorgänge. Andeutungen dieser Erscheinung kommen auch
bei Kindern gelegentlich vor. Sie besteht in der triebartigen,
oft ins Ungemessene fortgesetzten Wiederholung derselben
sprachlichen Äusserungen, bald für sich allein, bald unter Ein-
flechtung in andere, mehr oder weniger zusammenhangslose Ge-
190
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
dankenreihen. Der Inhalt dieser stereotypen Vorstellungen ist
dabei ein ganz zufälliger und wird nicht, wie beim Haften, durch
das Voraufgegangene bestimmt. Vielmehr kann eine Vorstellung
über kurz oder lang von einer anderen abgelöst werden, die dann
ebenso zähe haftet, oder es schieben sich durcheinander in einen
längeren Gedankengang eine Reihe verschiedener, immer wieder-
kehrender Vorstellungen ein. Offenbar spielt demnach bei dem
Vorgänge nicht die besondere Eigenschaft der einzelnen Vor-
stellung, sondern der Gesamtzustand des Seelenlebens die ent-
scheidende Rolle. Da wir wohl annehmen dürfen, dass die Stereo-
typie nur beim Fehlen einer zielbewussten Willensrichtung zu
stände kommt, werden wir uns nicht wundern, dass sich auch
die triebartige Wiederholung derselben Vorstellungen regelmässig
mit einer Zerfahrenheit des Gedankenganges verbindet, die auf
ungenügende Ausbildung von Zielvorstellungen hinweisen dürfte.
Sehr deutlich tritt das in dem folgenden Beispiele hervor:
„Herr Vetterlieb, es war nicht so, Herr Vetterlieb, es war nicht so, es
war nicht so, A Lauer für S Lauer, A Lauer für S Lauer, nur das einzige,
A Lauer für S Lauer, Herr Vetterlieb, weil ich für Ihr einziges Kind gebetet
habe, wie ich in Tauberbischofsheim. Herr Vetterlieb, lieber Herr \ etterlieb,
mein einzig Vetterlieb, ich will sagen, wie es gelebt hat, ein gutes, ein
böses, Herr Vetterlieb, M, R, I, S. Herr Vetterlieb, Schnaps gegen Brannt-
wein, Vergiftung gegen Vergiftung. Ich hänge meine Zunge bald so, bald
so, hinten hinaus, bald vorn hinaus. Herr Vetter lieb (5mal wiederholt), das
war Wucht, Herr Vetterlieb, eine Kupferschlange, durchlöchert, Herr Vetter-
lieb, wegen des wahren, wegen des wahren, wegen des wahren Willens“ u. s. f.
Wiederum eine andere Bedeutung, als die häufige Wieder-
kehr derselben Vorstellungen in einem bestimmten Gedanken-
gange, hat die gewohnheitsmässige Erneuerung gleich-
artiger Vorstellungsreihen bei den verschiedensten Gelegenheiten.
Während dort der Inhalt der stereotypen Vorstellungen von Fall
zu Fall wechseln kann, haben wir es hier mit dem erstarrten und
darum fast unveränderlichen Niederschlage früherer Erfahrungen
zu tun.
Unsere ganze geistige Ausbildung beruht auf dem Umstande,
dass sich unsere Vorstellungsverbindungen durch häufige Wieder-
holung allmählich mehr und mehr befestigen. Das Ergebnis
früher geleisteter Gedankenarbeit steht uns auf diese Weise
schliesslich fast mühelos jederzeit zu Gebote, so dass wir auf
Störungen des Gedankenganges.
191
der einmal erarbeiteten Grundlage ohne weiteres fortbauen
können. Ja, auch der gesamte Erfahrungs- und Gedankenschatz
vergangener Geschlechter wird uns in den festen Formen der
Muttersprache als fertiges Werkzeug für jederlei Denkarbeit
überliefert. Die Bedeutung dieser gegebenen Formeln im Vor-
stellungsverlaufe ist natürlich je nach der persönlichen Be-
fähigung zu eigenem Schaffen eine sehr verschiedene; sie kann
jedoch kaum überschätzt werden. Wir alle wissen, dass wir
beständig mit einer grossen Zahl von stehenden Wendungen und
festen Ideenverbindungen arbeiten, die mit erstaunlicher Unver-
meidlichkeit bei gegebenem Stichworte auftauchen und ablaufen,
ohne unser Zutun, ja selbst gegen unseren Willen. Ich konnte
nachweisen, dass von einer grösseren Gruppe eingeübter Asso-
ciationen nach fast zwei Jahren noch etwa 70 Prozent in völlig
gleicher Form wiederkehrten.
In Krankheitszuständen wird dieses Verhältnis ohne Zweifel
vielfach noch sehr bedeutend überschritten. Namentlich dann,
wenn die Fähigkeit zur Sammlung und Verarbeitung neuer Ein-
drücke durch das Irresein vernichtet wird, pflegen die Vorstel-
lungsüberreste aus gesunden Tagen allmählich in steter Wieder-
holung zu erstarren. So sehen wir beim Greise, in der Paralyse
und bei verschiedenen anderen Verblödungsformen den Vorstel-
lungsverlauf mehi- und mehr auf einzelne, immer wiederkehrende
Gedankenreihen einschrumpfen, welche keinerlei neue geistige
Arbeitsleistung mehr enthalten. Es entwickelt sich auf diese
Weise eine mehr oder weniger hochgradige Einförmigkeit
der Bewusstseinsvorgänge. Selbstverständlich verbindet sich damit
stets eine beträchtliche Verarmung des Vorstellungsschatzes.
Was nicht in festgeschlossener, unveränderlicher Verbindung er-
halten bleibt, geht rettungslos verloren. Schliesslich können sich
die gesamten sprachlichen Äusserungen einer früher reich ent-
wickelten Persönlichkeit auf die Abwandlung einiger weniger
dürftiger Gedanken zurückziehen.
Die folgende Nachschrift von einer altersblödsinnigen Kran-
ken mag das erläutern:
„Wir haben den ganzen Tag nichts gegessen — Kaffee und Brot — Kaffee
— die Frau würde gern kochen, wenn sie etwas kriegte, aber den ganzen
Tag hat sie nichts, als Kaffee und Brot — aber das geht nicht; die Frau
192
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
muss etwas zu essen haben — das geht nicht; der Mann muss aufhören, zu
essen, die Kinder müssen essen — ei, ei, ei, das ist doch stark; die Kinder
nichts mehr zu essen, nichts wie Kartoffeln — der Vater hat die Kartoffeln
gegessen; die Mutter hat nichts, die Kinder haben nichts — so ist es fort-
gegangen von einem Tag zum andern, haben die Kinder nichts gegessen wie
Kartoffel und Kaffee — ach Gott, da sind wir fertig, da haben wir nichts
gegessen, gar nichts, gar nichts; das darf nicht sein — wo wir hin sind,
haben wir den Kaffee fort und die Kartoffeln — das ist gar nichts —
nichts wie Kaffee, Kaffee, Kaffee“ u. s. f.
In nahen inneren Beziehungen zu der Einförmigkeit des Ge-
dankenganges steht eine andere, ihr äusserlich ziemlich unähn-
licüe Störung, die Umständlichkeit. Wir verstehen darunter
jene Gestaltung des Vorstellungs verlauf es, bei welcher nicht nur
die wesentlichen und notwendigen Glieder eines Gedankenganges,
sondern auch eine grössere Anzahl nebensächlicher und zufälliger
Begleitvorstellungen mit voller Deutlichkeit erzeugt werden. Da-
durch wird einerseits der Abschluss der Vorstellungskette, die
Erreichung des vorgesteckten Zieles, immer wieder hinaus-
geschoben und verzögert; andererseits wird der ganze Gedanken-
gang unübersichtlich, da die Nebendinge sich ebenso in den
Vordergrund drängen wie die Hauptsachen. Diese Störung beruht
demnach auf einer unvollkommenen Sichtung der Vorstellungen
nach ihrer Bedeutung für den jeweiligen Gedankengang. Darum
beschränkt sich der Fortschritt des Denkens nicht auf die gerade
Richtungslinie, sondern er berührt auch alle möglichen gleich-
gültigen Nebenumstände. Dennoch pflegt er sein Ziel schliess-
lich zu erreichen, weil die Zielvorstellung über den Einzelheiten
nicht ganz verloren geht.
Den einfachsten Formen der Umständlichkeit begegnen wir
in der Gesundheitsbreite bei ungebildeten Menschen, bei denen
die Ordnung der Vorstellungen nach ihrer Wichtigkeit nur un-
vollkommen durchgeführt wird. v. d. Steinen beobachtete sie
in ausgeprägtester Weise bei den Naturvölkern Centralbrasiliens.
Je weniger das begriffliche Denken entwickelt ist, je stärker
auch in den allgemeineren Vorstellungen noch die sinnlichen Be-
standteile hervortreten, desto grösser wird die Neigung sein,
im Gedankengange am Einzelnen und Nebensächlichen festzu-
kleben. Daher die grosse Schwierigkeit, von ungebildeten Leuten
knappe, sachliche Antworten zu erhalten, ihre Unfähigkeit, das
Störungen des Gedankenganges.
193
Unwesentliche aus ihren Erzählungen auszuscheiden, Gesehenes
und nur Gedachtes oder Vermutetes scharf zu trennen. Nicht
minder bekannt ist ferner die Umständlichkeit des Greisenalters.
Durch den Verlust der Aufnahmefähigkeit und Regsamkeit kommt
es hier zu häufigerer Wiederholung der gleichen Gedankengänge,
die sich allmählich mehr und mehr befestigen und daher immer
grössere Bedeutung für die gesamte Denkarbeit gewinnen.
Längere Reihen von Vorstellungen laufen ganz gewohnheits-
mässig ab, sobald sie durch irgend einen Anlass angeregt wer-
den. Diese erstarrten Ketten von Erinnerungsbildern, Lieblings-
gedanken, allgemeinen Lebenserfahrungen schiessen überall an
die einzelnen Glieder des jeweiligen Gedankenganges an und
verhindern den raschen, zielbewussten Fortgang, da sie nicht
unterdrückt werden können, sondern erst erledigt werden
müssen.
Grosse Ähnlichkeit mit dieser Störung, die natürlich beim
krankhaften Altersblödsinn am stärksten entwickelt zu sein pflegt,
zeigt die Umständlichkeit der Epileptiker. Die Einengung des
Gesichtskreises macht es solchen Kranken unmöglich, ein fernes
Ziel als Richtpunkt dauernd klar im Auge zu behalten; nur an
der Hand des Einzelnen und Nächstliegenden finden sie gleich-
sam tastend ihren Weg. Darum müssen sie auch immer die gleichen
Umwege an den gleichen Merkzeichen vorüber machen, wenn
sie überhaupt ihr Ziel erreichen sollen. Ein Beispiel dafür
gibt folgende Stelle aus einer sehr umfangreichen Lebens-
beschreibung:
„Ehe man etwas glauben tut, was einem andere Leute erzählt haben,
oder wa3 man in den Kalendern gelesen hat, man muss sich da erst fest
überzeugen und selbst nachsehen, ehe man sagen kann und glauben, die Sache
ist schön, oder die Sache ist nicht schön, erst untersuchen und selbst mit-
machen und nachsehen, und dann, wenn der Mensch alles untersucht hat und
selbst mitgemacht hat und alles nachgesehen, dann kann der Mensch erst
sagen, die Sache ist schön, oder sie ist nicht schön, oder nicht gut; deshalb
sage ich auch selbst, wenn man über eine Sache eine Auskunft geben oder
etwas ganz genau feststellen will, oder der Wahrheit gemäss sprechen will,
die Sache ist richtig oder die Sache ist nicht richtig, so muss ein jeder Mensch
die Sache so untersuchen, wie er es vor dem dreieinigen Gott und vor seiner
Majestät, dem Könige von Preussen, Wilhelm der Zweite, und Kaiser von
Deutschland, zu verantworten gedenkt. Ich will nun wieder an der Erzählung,
welche mir die Soldaten mitgeteilt haben, weiter schreiben.“
Kraepelin, Psychiatrie. I. 7. Aufl.
13
194
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Eine letzte grosse, eigenartige Gruppe von Störungen des
Gedankenganges ist durch das Fehlen oder die ungenügende Aus-
bildung der Zielvorstellungen gekennzeichnet. Die nächste Folge
einer mangelhaften Beherrschung des Vorstellungsverlaufes durch
bestimmte Gesichtspunkte ist naturgemäss ein häufiger, unver-
mittelter Richtungswechsel. Die Anregung neuer Vorstellungen
wird nicht mehr durch den vorhandenen Bewusstseinsinhalt, son-
dern durch das launenhafte Spiel des Zufalls bestimmt. Der
Gedankengang verliert seine Einheitlichkeit; er steuert nicht plan-
mässig einem bestimmten Ziele zu, sondern gerät immerfort in
neue Bahnen, die ebenso schnell wieder verlassen werden. Den
Anstoss zu solchem Richtungswechsel können äussere und innere
Vorgänge geben. Jeder beliebige Eindruck genügt, um den ^ or-
stellungsverlauf zur Entgleisung zu bringen; es besteht eben
wegen des Mangels an Leitvorstellungen eine ausserordentliche
Ablenkbarkeit des Gedankenganges.
Unter den klinischen Gestaltungen der hier besprochenen
Störung sind wir vielleicht imstande, zwei Hauptformen von
wesentlich verschiedener Bedeutung auseinander zu halten. Bei
der ersten derselben sind wohl Zielvorstellungen vorhanden, aber
sie sind ausserordentlich flüchtig und lösen einander sehr rasch
ab. Die unmittelbar aufeinanderfolgenden Glieder des Gedanken-
ganges stehen daher regelmässig noch in einer gewissen, wenn
auch nicht immer klar erkennbaren Verbindung, während aller-
dings der Gesamtverlauf infolge äusserer und innerer Anstösse
die verschiedensten und überraschendsten Richtungsänderungen
darbieten kann. Wegen der grossen Flüchtigkeit der angeregten
Vorstellungen gelingt es meist nur, auf einfachere Fragen kurze
Antwort zu erhalten, auch wenn die Auffassung an sich nicht so
sehr gestört ist. Verlangt man die Leistung schwierigerer Denk-
arbeit, so ist es in der Regel unmöglich, den Kranken genügend
lange bei der Aufgabe zu „fixieren“, da die angeregten ^ orstel-
lungen sofort wieder von anderen in den Hintergrund gedrängt
werden. Es sei uns gestattet, diese Form der krankhaften Zu-
sammenhangslosigkeit des Gedankenganges, dieses planlose Um-
herschweifen des Vorstellungsverlaufes „vom hundertsten ins
tausendste“ mit dem besonderen Namen der Ideenflucht*)
*) Aschaffenburg, Psychol. Arbeiten, IV, 235.
Störungen des Gedankenganges.
195
zu belegen, der allerdings meist in weiterem Sinne gebraucht
wird.
Die Gründe für diese Einengung liegen in der eigenartigen
klinischen Bedeutung dieses Krankheitszeichens. Dasselbe ist
ein Grundzug der Manie, findet sich allerdings ausserdem auch
bei manchen anderen Erregungszuständen, namentlich in der
Paralyse. Vielleicht können wir Andeutungen eines Versagens
der Zielvorstellungen schon im gesunden Leben auffinden, wenn
wir im süssen Nichtstun unseren Gedanken freien Lauf lassen,
die Fessel lösen, welche sie beim „Nachdenken“ in bestimmte
Bahnen zwingt. Noch deutlicher wird die Erscheinung im wirk-
lichen Traume. Hier empfinden wir ja gerade die Unmöglich-
keit äusserst peinlich, einen Gedanken weiter zu verfolgen, eine
auftauchende Vorstellungsreihe festzuhalten. Daher die vielen
überraschenden Wendungen in den Traumbildern, die sprunghaften,
unvermittelten Änderungen des ganzen Bewusstseinsinhaltes. Viel-
leicht trägt auch diese Eigentümlichkeit unseres Traumbewusst-
seins mit dazu bei, den wechselnden Bildern das Gepräge wirk-
licher Erlebnisse zu geben; sie sind unabhängiger von unserem
Gedankengange, als es sonst die Schöpfungen unserer Einbil-
dungskraft sein könnten.
Es kann zweifelhaft erscheinen, ob diese Erfahrungen wirk-
lich der Ideenflucht verwandt sind. Dagegen dürften wir in der
Ermüdung nicht selten wirklich leichte Grade jener Störung vor
uns haben. Auch hier verlieren wir bis zu einem gewissen Grade
die Herrschaft über unseren Gedankengang. Wir vermögen das
Ziel nicht mehr fest im Auge zu behalten und ertappen uns
immer häufiger auf Abschweifungen nach den verschiedensten
Kichtungen hin, von denen wir uns erst zwingen müssen, zu
unserem Ausgangspunkte zurückzukehren. Schliesslich sind wir
ganz ausser stände, länger bei dem gleichen Gegenstände zu
bleiben; gleichzeitig geht das zusammenhängende Verständnis für
unsere Aufgabe mehr und mehr verloren. Ein ganz ähnlicher
Vorgang vollzieht sich unter dem Einflüsse des Alkohols. Die
ziellosen Faseleien Betrunkener sind ja zur genüge bekannt.
Der Berauschte vermag nicht, einer Auseinandersetzung zu
folgen, und er bleibt auch in seinem Denken und Reden keinen
Augenblick bei der Stange, sondern verliert immer von neuem den
13*
196
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Faden, selbst wenn man ihn durch wiederholte Hinlenkung auf
den Ausgangspunkt im Zusammenhänge zu erhalten sucht.
Mit der Bezeichnung Ideenflucht verknüpft sich gewöhnlich
die Vorstellung einer beschleunigten Aufeinanderfolge der ein-
zelnen Gedanken. Man hat geradezu von einer Überstürzung der
Vorstellungsbildung, von einer so massenhaften Erzeugung neuer
Vorstellungen gesprochen, dass die Zusammenhangslosigkeit
lediglich durch das Ausfallen zahlreicher Zwischenglieder bedingt
sein soll, die nicht schnell genug ausgesprochen werden können.
Diese Auffassung erweist sich bei genauerer Prüfung als völlig
unhaltbar. Zunächst ist der Vorstellungsreichtum des Ideen-
flüchtigen nichts weniger, als gross, sondern wir begegnen jener
Störung sogar häufig genug bei ganz auffallender Gedanken-
armut. Sodann aber ist die Geschwindigkeit der Vorstellungs-
verbindungen niemals beschleunigt, meist im Gegenteil deutlich
verlangsamt. Die Zusammenhangslosigkeit der Kranken beruht
also einfach auf dem Mangel jener einheitlichen Beherrschung
der Gedankenverbindungen, die alle Nebenvorstellungen unter-
drückt und den Fortschritt nur in bestimmter Richtung zulässt.
Infolgedessen können sich hier alle möglichen zufällig aufschies-
senden Vorstellungen Geltung verschaffen, die im gesunden Be-
wusstsein durch die Macht der Zielvorstellungen gehemmt sein
würden. Nicht die rasche Aufeinanderfolge der A orstellungen
ist es demnach, welche die Bezeichnung Ideenflucht rechtfertigt,
sondern die Flüchtigkeit der einzelnen Ideen, die keinen nach-
haltigeren Einfluss auf den Ablauf des Gedankenganges zu ge-
winnen vermögen.
Die Richtung des Gedankenganges bei der Ideenflucht wird
im einzelnen durch äussere Eindrücke, ferner durch auftauchende
Vorstellungen, endlich aber, wo derartige Durchbrechungen
fehlen, durch die associativen Beziehungen der aufeinanderfolgen-
den Glieder bestimmt. Da keine dauernden Zielvorstellungen die
Verknüpfung nach innerem Plane regeln, so können die ver-
schiedensten Bestandteile der Vorstellungen ihren Einfluss auf
die Anregung neuer Bewusstseinsvorgänge geltend machen. So
kennen wir Zustände, in denen die Ideenverbindung ganz vorzugs-
weise durch einzelne sinnliche Erinnerungsbilder vermittelt zu
werden scheint, im Traume, in gewissen Vergiftungsdelirien,
Störungen des Gedankenganges.
197
namentlich im Opiumräusche. Lebhafte Einbildungsvorstellungen
schliessen sich hier in bunter Folge aneinander, entwickeln sich
auseinander, losgelöst von dem festgefügten Gerüste der ab-
strakten Vorstellungen. Infolgedessen entsteht eine lockere
Reihe reiner Hirngespinste ohne inneren Zusammenhang und ohne
Klärung durch die allgemeineren Lebenserfahrungen, deren schär-
feres Hervortreten in unserem Bewusstsein sofort die zahlreichen
Widersprüche und die innere Unwahrheit der abenteuerlichen
Erlebnisse deutlich erkennen lassen würde.
Dieser deliriösen Form der Ideenflucht steht die hypo-
manische Weitschweifigkeit nahe, bei der die Kianken
sich überall durch Nebenvorstellungen, Erinnerungen, Einfälle
ablenken lassen, jeder Versuchung zu Zwischenbemerkungen, Ein-
schiebungen und Ausschmückungen unterliegen, immeifoit auf
Abwege geraten und nur durch unausgesetzte Einwirkungen zu
ihrem Gegenstände zurückgeführt werden können. Ein Beispiel
dafür gibt folgendes Bruchstück einer Antwort auf die Frage:
„Sind Sie krank?“
„in M. hat meine Mutter noch einen Bruder, ein reicher, an-
gesehener Mann; er hat jetzt seine zweite Frau, ja, ich bin nicht so wie
Sie meinen; meine Geschwister haben mich um meine Sache immer gebracht,
ich bin verkürzt; den Mann, den ich habe, haben sie nicht gemocht; ich bin
die älteste, aber auch die kleinste. Von zwölf Jahren an habe ich viel
schaffen müssen bis 48; ich habe es am härtesten gehabt. Mein Mann lässt
mich nach Mariä Einsiedeln wallen, ein rechter Dummer! Wenn ich gewusst
hätt\ ich käm da herein, nicht für 2000 Mark war’ ich da herein; nach Mariä,
Einsiedeln hab’ ich gewollt; darum ist hier so ein Altar erschienen; ich hab’
Äpfel und Birnen haben wollen vom Paradies; der Dr. K. hat von dem Kuchen
gegessen und süssen Wein getrunken. Ich habe schwarze Trauben, die sind
auf geplatzt und heruntergefallen; jetzt hab’ ich sie ausgedrückt in einem
sauberen Tuch und in einen irdenen Krug hinein; jetzt hat es süssen Most
gegeben. Es ist Samstag gewesen; auf den Sonntag muss man doch Kuchen
haben; früh hab’ ich Teig gemacht, das hat unser Bäcker S. in K. ge-
backen und hat nichts zu backen gekostet, denn ich hol’ als meine Weck
beim Bäcker. Da hat der Dr. K. gesagt, seine Frau könnt’ nicht so backen;
er hätte so ein Luder“ u. s. f.
Bisweilen macht sich in den Abschweifungen deutlich der
Einfluss gewisser Gedankenrichtungen geltend, die zufällig an-
geregt werden, aber nicht auf eine Zielvorstellung lossteuern.
Es kommt dann zur Aufzählung verwandter Vorstellungsreihen,
die erst durch irgend eine Nebenassociation wieder unterbiochen
198
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wird. Aschaffenburg hat dafür sehr merkwürdige Bei-
spiele eines manischen Kranken angeführt, der einmal bei der
Aufzählung seiner Bekannten 589 Namen hintereinander nieder-
schrieb. Ein anderes Mal lieferte er 49 Ortsnamen, unter denen
sich die folgende Gruppe befand:
Coburg-Go tha-Eisenach-Gastein-Ems-Mainz~Mayence-Mayonnaise-H ummer-Stock-
fisch-Enterich-Pfau-Truthahn-Erfurt-Apolda-
Man erkennt hier deutlich die planlose Aneinanderreihung der
Städtenamen, die Unterbrechung der Reihe durch eine Klangver-
wandtschaft, das Entstehen einer neuen Aufzählung ganz anderen
Inhaltes und die unvermittelte Rückkehr zu der ersten Reihe.
Das verknüpfende Band ist hier in der Hauptsache noch der
Inhalt der Vorstellungen, anscheinend deswegen, weil bei den
schriftlichen Aufzeichnungen der Klang gar keine Rolle spielen
konnte. Immerhin ist ein gewisser Einfluss der sprachlichen
Übung — „Coburg-Gotha“ — und des Gleichklanges — „Mayence-
Mayonnaise“ angedeutet. Je stärker aber der Einfluss der
motorischen Sprachvorstellungen und der Sprachlaute für den
Gedankengang anwächst, beim Sprechen und Hören, desto mehr
kommt es an Stelle des inhaltlichen Zusammenhanges zu einer
Häufung sprachlich eingeübter Associationen, gewohnheits-
mässiger Wortverbindungen, endlich zur Verknüpfung der Vor-
stellungen nach reiner Klangähnlichkeit. Diese Störung ist es,
die man auch wohl im engeren Sinne als Ideenflucht bezeichnet;
vielleicht könnte man sie der durch inhaltliche Bestandteile der
Vorstellungen vermittelten „inneren“ Ideenflucht als „äussere“
gegenüberstellen.
Die Bedingungen für ihr Zustandekommen sind überall ge-
geben, wo wir es mit einer Steigerungder motorischen
Erregbarkeit zu tun haben. Gerade diese Form der Ideen-
flucht ist es, die sich unter dem Einflüsse von körperlichen An-
strengungen, Nachtwachen und Hungern sowie im Alkohol-
rausche einzustellen pflegt. Daher beobachten wir hier be-
sonders das Einlenken des Gedankenganges in die Bahnen ein-
geübter Wendungen und stehender Redensarten, in denen der
Einfluss der Sprachvorstellungen deutlich genug über denjenigen
des Gedankeninhaltes überwiegt. In Krankheitszuständen kann
der Redeschwall den Gedankengang gewissermassen vollständig
Störungen des Gedankenganges.
199
mit sich fortreissen. „Der Nagel an der Wand,“ begann eine
solche Kranke, auf einen Nagel zeigend, fuhr aber sodann fort:
„hört seine eigene Schand.“ Gleichklänge, Anklänge, Reime,
Citate überwuchern hier schliesslich mehr und mehr alle anders-
artigen Bindeglieder zwischen den einzelnen Vorstellungen. Ein
Beispiel für diese völlige Auflösung des inhaltlichen Zusammen-
hanges bietet die folgende, bei einem manischen Kranken ge-
wonnene Nachschrift:
Flut-Maul-Mammut-schwarzweiss-slip-abgehaut den Kopf-schmpp, schnapp
schnipp, schnapp, schnurr-Orsowa und Gradisca-Pump-Devrient-Kersowa-Kousso-
Odessa-Carmen-Grossmann-Ernestin-zick, zack, zuck-Decluse-Levit-Trier-Treviran
Tribites-Trevianda-Demimonde-Mandeck-Hirschdreck-Jod-Wasser-Apolhnans-Edm-
burg - Gries- Aumüller- Abel - Babel-Babylon-Schlauch-Mauer - Respirator-Barenfemd-
Schuwaloff-Rechberg-Cicero-Manuta-Mantua-Kalakaua-Sendelbachergasse-Nauplia
nobel-Adria-Licht-nach Belt-Grindach-Tegernbach-hintennaus-Sedelmayer-Meer-Au-
Ringseis-linksum-horch, der Lump hat seine Mutter umgebracht-schwarz werden-
ja sehr schön-Kakao-Mumps-Kaiser und Eeich-Zoroaster-Hansa-38 Kopf-Nicaea-
Constanz-Verbrennung-Huss-Schwager-Dreck-Theriak-pereatmundus-ans-Hansa etc.
An einigen Stellen (Wasser-Apollinaris, Nicaea-Constanz-Ver-
brennung-Huss) erkennt man noch eine innere Beziehung der
auftauchenden Vorstellungen. Meist aber spielen Anklänge die
Vermittlerrolle, so weit überhaupt noch eine Verbindung ersicht-
lich ist. Da die Reihe in ziemlich langsamem Zeitmasse vor-
gebracht wurde, kann natürlich auch manches Bindeglied un-
ausgesprochen geblieben sein.
Der eigentlichen Ideenflucht möchten wir hier als zweite
Form einer Lockerung des Gedankenganges die Zerfahren-
heit gegenüberstellen, wie sie der Dementia praecox im wei-
testen Sinne eigentümlich ist. Da wir von den tieferen Grund-
lagen dieser Störung noch nichts wissen, so ist es recht schwierig,
ihr Wesen genauer zu kennzeichnen. Wir haben es hier bei
leidlich erhaltener äusserer Form der Rede mit einem mehi odei
weniger vollständigen Verluste des inneren und äusseren Zusam-
menhanges der Vorstellungsreihen zu tun. Der Gedankengang
zeigt durchaus keinen Ariadnefaden, wie bei der inneren Ideen-
flucht, sondern die verschiedensten Vorstellungen reihen sich
völlig ziellos und unvermittelt aneinander an. Dort waren wir
imstande, zwischen den einzelnen Gliedern der V orstellungsi eihe
einen Zusammenhang, wenn auch oft nur sehr äusserlicher Art,
200
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
aufzufinden, durch den wir allmählich auf immer andere Gedanken-
ketten hinübergeleitet werden, bis wir unseren Ausgangspunkt
völlig ausser Augen verloren haben. Hier dagegen sind fast
nirgends Bindeglieder zwischen den aufeinanderfolgenden Vorstel-
lungen erkennbar, so häufig sich auch die Gedankengänge längere
Zeit hindurch in ähnlichen Wendungen bewegen, freilich meist in
ganz unklaren und widerspruchsvollen Formen. Während der Vor-
stellungsverlauf bei der Ideenflucht immerfort wechselnden und
daher nie erreichten Zielen zustrebt und stets neue Kreise zieht,
findet hier ein Fortschreiten des Gedankenganges nach irgend
einer Richtung überhaupt nicht statt, sondern nur ein planloses
Herumfahren in denselben allgemeinen Bahnen mit zahlreichen,
verblüffenden Entgleisungen. Die Ablenkbarkeit durch innere
und äussere Einflüsse ist hier ebenfalls sehr gross, aber die neu
erweckten Vorstellungen dienen nicht sofort als Anknüpfung für
andere, sondern schieben sich einfach zusammenhangslos in die
zerfahrenen Gedankengänge ein. Es gelingt oft ohne Schwierig-
keit, durch Fragen mitten in dem Wirrwarr von \ or Stellungen eine
Reihe vollständig geordneter Antworten zu erzielen. Die folgende
Nachschrift von einer katatonischen Kranken mag dazu dienen,
diese Eigentümlichkeiten näher zu erläutern; in Klammern sind
die Fragen des Arztes eingefügt.
(Warum sind Sie hier?) „Weil ich Kaiserin bin. Die lieben Eltern waren
schon da, und alles war schon da und hat mir die Erlaubnis gegeben; ich
habe auch stenographieren gelernt. Na, David, wie geht’s denn? Ja, so, als
Ersatzreservist. Grössenwahn. Kaiserin. (Gefällt es Jhnen gut?) 0, danke,
ganz gut, weil die Herrschaft die Erlaubnis dazu gegeben hat, ja, wir wollen
wieder die besten Freunde sein. Ach Gott, mein Bruder Karl David der erste
und Olga von Mühlhausen. Ach, lasst mich doch auch einmal schreiben.
(Warum sind Sie hier?) Irrsinnig, Grössenwahn. (Was?) Altes Fass, von Hei-
delberg, Studiosus als Kaufmann, für unsern Willy, Kaufmann dürfe auch
dazu. Ja so, weiter. Ich will ja nicht schuld sein; ich habe ja niemand
dazu auf gef ordert; ach Gott, von damals abends, wie wir beisammen waren,
ja. (Was war da?) Nichts, gar nichts. Heilbronn (lacht) gar nichts. Um
Gottes willen, so genau wird das alles genommen. Ja, so. (Wie alt sind Sie?)
22. VII. 1872. (Wollen Sie wieder fort?) Ich weiss nicht; wenn er kommt,
bin ich da; ich werd’ ihm doch nicht nachlaufen. (Lacht.) Ich muss immer
knappen (klappt mit den Zähnen). Ihr dürft mich auch noch einmal über
die Backen streichen; ich hab’ nichts dagegen. (Greift nach der Uhrkette.)
Die Kette ist aber nichts. Jetzt will ich doch einmal nach der Uhr sehen.
Ich will mir die Freiheit erlauben; unter Verwandten ist alles erlaubt. Adam
Störungen des Gedankenganges.
201
und Eva, o, die ist aber nicht von Gold. Was ich gesagt habe, es wäre alles
wahr, alles, was zur Verwandtschaft gehört; ich habe ja gesagt von a bis tz;
ich kann doch nicht alles mit einmal essen; die war auch nicht schuld; ich
will an allem schuld gewesen sein“ u. s. w.
Die Ablenkung durch Anreden, Klänge, Gesichtseindrücke
lässt sich hier leicht verfolgen. Eine Wiederkehr einzelner Wen-
dungen ist nur angedeutet; stärker tritt dieselbe schon in dem
folgenden Beispiel hervor, das einer langen Nachschrift bei einem
katatonischen Kranken entnommen ist.
„Gehen Sie weg, so kommt die Kaufmanns f r a u und sagt, sie ist reich
und ich bin arm; da meint sie, ich wäre der Weinstock; da geht sie hin
und betet an den Weinstock. Unter Beten verstehen die Katho-
liken„oren“. Die Frau handelt aber nicht im Bewusstsein der tat-
sächlich bewussten Handlung. Die haben das Walzertempo in sich; sie
hören und hören nicht, weil alles durcheinander ist; der eine spricht
französisch, der andere lateinisch. Ich werde in ganz Heidelberg als der
grösste Sünder angesehen, bin aber nicht der, für den mich die katholische
Kirche hält. Sie verehrt mich als zu ideell. Die Dame, die nach Amerika
geflohen ist auf dem untergegangenen Schiff, hat das Eisen und den Farb-
stoff genommen durch den Händedruck, aber nicht durch den blu-
tigen Händedruck, durch das pulsierende Blut, sondern durch den
eisernen Händedruck. Meine Kraft ist vom Eisen abhängig“ u. s. f.
In der ganzen, etwa achtmal so langen Unterredung kehrten
in ähnlicher Weise ungezählte Male die Ausdrücke Eisen, Gold,
Stahl, Messing, Phosphor, Silber, Geld, Elektrizität, Kraft,
Thermometer, Handgelenk, Meeresgrün, Topfpflanze, Wurzel,
Religion und einige andere wieder, aber nicht unmittelbar hinter-
einander, sondern an ganz verschiedenen Stellen. Die langsam
vorgebrachten Äusserungen schienen zunächst einen gewissen Sinn
zu haben; erst bei genauerer Prüfung stellte sich die gänzliche
Zerfahrenheit deutlich genug heraus.
Die Anknüpfung der Vorstellungen nach dem Klange macht
sich hier weniger geltend, als bei der Ideenflucht. Nicht selten
aber zeigt sich ein Einfluss des Sprachklanges auf den Gedanken-
gang in der Form der „Wortspielerei“. Es handelt sich dabei um
gewaltsam witzelnde Verdrehungen und Verzerrungen einzelner
Wörter oder Redensarten. Diese Klangassociationen bilden jedoch
hier nicht einfach die Überleitung von einer Vorstellung zur
anderen, sondern sie sind gesuchte Abwandlungen der einfachen
Redewendungen und demgemäss als ein Ausfluss jener Störung
202
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zu betrachten, die wir späterhin als Manieriertheit kennen lernen
werden. So sang eine Kranke stundenlang: „Undank ist der
Welt Lob“. Ein anderer sprach von „Fromage de Brüh“, als er
Suppe und Käse erhalten hatte, verlangte Häringssalat gegen
seine „Katertonie“, meinte, er leide nicht an Katatonie, sondern
an Miezetonie, erwiderte, als von einem Douceur gesprochen
wurde, es sei noch nicht zwölf Uhr (douze heures). Derselbe
Kranke witzelte aber auch ohne Beziehung zum Mortklange.
„Sie sind wohl Moltke; Sie sagen ja gar nichts“; „ich bin bald
zweimal neun Monate hier; jetzt schicken Sie mich doch mal
in die Frauenklinik, dass ich endlich niederkomme.“ Diese Reden
erinnern an die bei Hirngeschwülsten beobachtete „Mitzelsucht .
Andere Kranke gefallen sich in eigentümlich verblüffenden Vor-
stellungsverbindungen. Eine meist ganz klare und besonnene
Kranke äusserte: „Da oben haben Sie einen echten Hemden-
knopf, der pflegt erst durch mich in Bereitschaft zu kommen.
Der Feldwebelgeist liegt in dem Geschmeiss. Ist es nicht rund,
auch in den Kastengeist zu drehen. Ich habe der sechsjährigen
Ehepflicht genügt. Sie nehmen ja schon aus dem Mund die
Kinder heraus.“
Auch bei der Zerfahrenheit können Klang und Rhythmus
die Äusserungen der Kranken vollständig beherrschen; das ge-
schieht bei wachsender Erregung. Allerdings trägt das Er-
gebnis ein ganz anderes Gepräge, als in der Manie. Ein Beispiel
gibt die folgende Reimerei:
„Lieber, lieber Retter mein — rette doch nur Dich allein — Liebste Lieb',
wie kann ich sein allein — was ich schein’ — Lieber Hand — ist doch nur Land
Lieber Gott, ich wache bald wieder — wenn Du nur gibst die Mutter wieder —
Lieber Gott, was will ich haben — als nur die alte Gaben — In Dir nur allein
ist Mutter gänzlich ein — lieber Gott, ich kann ja warten — ich will ja nichts
als Mutterle halten — Liebe, Liebe, Liebe mein — kann nimmer ein Gedanke
sein — Gedanken raten tu ich nicht — Die Hand allein ist Pflichtespflicht*' u. s. f.
Schliesslich können sich die sprachlichen Äusserungen der
Kranken in eine Reihe von Silben, Buchstaben oder Lauten auf-
lösen. Während aber bei den schwersten Formen der Ideen-
flucht die Kette der Gleichklänge einen fortschreitenden Wechsel
erkennen lässt, während dort immer noch die Mehrzahl der vor-
gebrachten Sprachgebilde wirkliche Wörter darstellen, kommt es
hier zu einer völlig sinnlosen "Wiederholung derselben Bestand-
Störungen des Gedankenganges.
203
teile mit ganz geringfügigen Abänderungen, zu „Klangspielereien ‘
nach Art des folgenden Beispiels:
„ellio, ellio, ellio altomellio, altomellio — selo, elvo, delvo, helvo — f, f, f,
lieber Vater — f , f , f — lieber Vater — e, e, f — alte und neue — f, f — f, f, f
— katholische Kirche — w, e, f — katholische Kirche — w, e, f,“ und so zahl-
lose Male in eintöniger Wiederholung.
Der Gedankengang schreitet hier durch den Sprachklang nicht
zu neuen Vorstellungen fort, sondern klebt an ihm fest, ohne jede
begleitende Sachvorstellung. Kennzeichnend sind namentlich die
sinnlosen Reime.
Die gemeinsame Folge aller Störungen, welche den inneren
Zusammenhang der Vorstellungen lockern oder zerstören, ist das
Auftreten eines sehr häufigen Krankheitszeichens, der Ver-
wirrtheit. Die Entstehungsweise dieser Erscheinung ist, wie
wir gezeigt haben, eine vielfach verschiedene. Wo die Lockerung
des Gedankenzusammenhanges wesentlich durch Flüchtigkeit der
Zielvorstellungen bedingt wird, da entsteht die ideenflüch-
tige Verwirrtheit mit ihrer Neigung zu äusseren und vielfach
zu sprachlichen Associationen. Unvermitteltes Auftauchen ganz
verschiedenartiger Vorstellungen ohne Ordnung und Führung
durch bestimmte Zielvorstellungen erzeugt die zerfahrene
Verwirrtheit, die vielfach mit Andeutungen von Stereotypie und
Wortspielereien einhergeht. Vielleicht können wir ferner eine
traumhafte Verwirrtheit unterscheiden, wie sie den deliriösen
Zuständen eigentümlich ist. Bei ihr dürfte neben der Auffassungs-
störung und dem raschen Verblassen der Wahrnehmungen das
starke Hervortreten einzelner rein sinnlicher Bestandteile, die
nur teilweise Beleuchtung der Vorstellungen, eine gewisse Rolle
spielen, insofern sie uns bunte, abenteuerliche Erlebnisse vor-
spiegelt, ohne dass wir imstande wären, die inneren Widersprüche
aufzufassen.
Überraschendes Auftauchen massenhafter, locker sich an-
einander schliessender, neuer Gedankenreihen kann, wie es scheint,
zu einer „kombinatorischen“ Verwirrtheit führen; uns
schwindelt der Kopf, weil wir nicht imstande sind, die plötzlich
aufschiessenden Vorstellungen zu ordnen und zu überblicken. Diese
Form der Verwirrtheit findet sich in jenen Krankheitsformen, in
deren weiterem Verlaufe die rasch entstandenen Einbildungen
204
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
zu einem dauernden Wahngebäude verarbeitet werden, ähnlich,
wie auch wir eine uns anfangs verwirrende neue Idee allmählich
in unsere Gedankenkreise hineinarbeiten und dadurch die innere
Einheit und den Zusammenhang derselben wiederherstellen. Ein
solcher Kranker bezeichnete mir dieses verwirrende Anstürmen von
Ahnungen und Vermutungen als eine wahre „Hunnenschlacht des
Geistes“. Vielfach wird ferner das Auf tauchen massenhafter
Sinnestäuschungen als Ursache einer hallucinatorischen
Verwirrtheit betrachtet, ähnlich wie beim Gesunden die Orien-
tierung verloren geht, wenn er sich plötzlich in ein unentwirr-
bares Gemisch neuer, rätselhafter Sinneseindrücke versetzt sieht.
Bei alten Hallucinanten sehen wir indessen, dass vollkommene
Ordnung der Gedanken trotz zahlreicher Sinnestäuschungen be-
stehen kann.
Auch die psychische Hemmung, welche das Verständnis und
die geistige Verarbeitung äusserer Eindrücke erschwert, scheint
eine eigenartige Form der Verwirrtheit erzeugen zu können, die
wir wohl am besten als „stuporöse“ Verwirrtheit bezeichnen.
Vielfach handelt es sich dabei allerdings ohne Zweifel um die
Verbindung von Stupor mit Ideenflucht. Endlich spielen eine
sehr wichtige Rolle bei der Entstehung der verschiedenen Formen
der Verwirrtheit die Gemütsbewegungen. Den gewaltigen Einfluss
derselben auf den klaren Zusammenhang der Gedanken lehrt uns
schon die gesunde Erfahrung, von den leisesten Regungen der Ver-
legenheit und Befangenheit an bis zu den mächtigen Gefühls-
schwankungen der Angst, des Zornes und der Verzweiflung. In
Krankheitszuständen mit ihren heftigen Erschütterungen des ge-
mütlichen Gleichgewichtes ist dieser Einfluss natürlich noch un-
vergleichlich viel mächtiger, so dass wir es wahrscheinlich sehr
häufig mit Hemmungen und Störungen des Gedankenzusammen-
hanges durch Gemütsbewegungen zu tun haben. Im einzelnen
vermögen wir heute freilich das Wesen und Zustandekommen
dieser Wirkungen noch nicht zu zergliedern.
Störungen der Einbildungskraft. Der Schatz unserer früher
erworbenen Erfahrungen gewinnt erst dadurch seinen vollen Wert
für uns, dass wir imstande sind, aus ihm willkürlich V orstellungen
und Erinnerungen in den Blickpunkt des Bewusstseins zu heben
und sie in die mannigfachste Verknüpfung zu bringen. Wir dürfen
Störungen der Einbildungskraft.
205
diese Fähigkeit, die eine Reihe von Leistungen in sich schliesst,
hier wohl vorläufig als Einbildungskraft kennzeichnen. Sie
setzt natürlich auf der einen Seite erneuerungsfähige Spuren
früherer Seelenvorgänge voraus; auf der anderen Seite aber ist
sie es, die uns befähigt, aus den einfachen Erinnerungsresten neue
psychische Gebilde zusammenzusetzen, uns über die Sinnes-
erfahrung zu erheben und schöpferische Geistesarbeit zu leisten.
So bildet die sinnliche Einbildungskraft die Grundlage des male-
rischen oder musikalischen Schaffens, und auch die Entdecker-
arbeit des Erfinders oder Forschers wie die Gedankengänge des
Weltweisen nehmen ihren Ausgang von der willkürlichen Ver-
bindung getrennt erworbener Erfahrungsbestandteile.
Die freie Verfügung über die schlummernden Vorstellungen
wie ihre Verknüpfung kann in Krankheitszuständen sehr beträcht-
lich erschwert sein. Vor allem ist das der Fall bei der geistigen
Lähmung, wie sie sich in leichteren Graden schon bei der ein-
fachen Ermüdung, sodann bei Vergiftung mit betäubenden
und schlafmachenden Mitteln, namentlich aber bei den schweren
Verblödungen der Paralyse, des Altersirreseins und anderer Hirn-
erkrankungen entwickelt. Bei diesen letzteren Störungen ver-
bindet sich das Versiegen der Einbildungskraft regelmässig mit
einer Abnahme der Gedächtnisleistungen; die Vorstellungen stehen
nicht nur nicht mehr zu Gebote, sondern sie gehen in weitem
Umfange völlig verloren. Wo dieser Verlust weniger ausgedehnt
ist, wie zumeist beim epileptischen Schwachsinn, entwickelt sich
eine einfache „Schwerfälligkeit“. Die Kranken sind wohl
noch imstande, über ihren Vorstellungsschatz zu verfügen, aber
sie bedürfen dazu einer unverhältnismässig langen Zeit und leb-
hafter Anregung.
Der Schwerfälligkeit äusserlich ähnlich ist die Denk-
hemmung, der wir namentlich in den depressiven und gewissen
Mischzuständen des manisch-depressiven Irreseins begegnen; viel-
leicht ist auch die Denkstörung in manchen hysterischen und
epileptischen Dämmerzuständen hierher zu rechnen. Während es
sich bei der Schwerfälligkeit um eine dauernde Verlangsamung
und Unbeholfenheit der geistigen Leistungen handelt, haben wir
es bei der Denkhemmung mit einer vorübergehenden Erschwerung
durch starke Widerstände zu tun. Sie ist regelmässig begleitet
206
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
von Änderungen des Stimmungshintergrundes, deren Bedeutung
für die Tätigkeit der Einbildungskraft uns ja aus dem gesunden
Leben geläufig ist. Die Verarbeitung äusserer Eindrücke ist
erschwert, unter Umständen bis zur völligen Ratlosigkeit, weil
der Widerhall rasch auf tauchender Erinnerungsbilder fehlt; die
Kranken können sich auf nichts besinnen, finden nicht die An-
knüpfung an frühere Erlebnisse, wissen bisweilen nicht mehr die
Namen ihrer nächsten Angehörigen anzugeben. Ihnen fällt auch
durchaus nichts ein; die Gedanken scheinen geradezu still zu
stehen. Solche Kranke können den Eindruck ausgeprägtesten
Blödsinns machen. Als Hemmung wird aber die Störung dadurch
gekennzeichnet, dass unter gewissen Bedingungen alle diese
schweren Störungen ziemlich plötzlich verschwinden können.
Ausserdem wird von den Kranken selbst der Widerstand, mit dem
sie zu kämpfen haben, deutlich empfunden. Es fehlt ihnen nicht
an der geistigen Regsamkeit; sie sind nicht stumpf und gleich-
gültig wie die verblödeten Kranken, aber sie vermögen trotz
der grössten Anstrengungen nicht, die Gebundenheit und Un-
freiheit ihres Denkens zu überwinden.
Ganz anders liegt die Sache bei der krankhaften „Inter-
esselosigkei t“, wie sie jenen Krankheitsformen eigentüm-
lich ist, die wir als Dementia praecox zusammenfassen. Hier
ist die geistige Beweglichkeit an sich nicht wesentlich behindert;
dagegen fehlt mehr oder weniger vollständig die Triebfeder der
Gedankenarbeit. Auf bestimmte Anregungen hin vermögen die
Kranken ohne Schwierigkeit beliebige Vorstellungen wachzu-
rufen, aber sie werden nicht aus eigenem Antriebe zu geistiger
Tätigkeit gedrängt, geben sich keine Rechenschaft über das, was
mit ihnen geschieht, denken nicht nach, machen sich kein Bild
von der Zukunft. Da auf diese Weise das geistige Leben mehr
und mehr stockt und die Erneuerung alter Vorstellungen aus-
bleibt, vollzieht sich allmählich auch eine Einschrumpfung des
Erfahrungsschatzes, eine Art Verkümmerung durch Nicht-
gebrauch. Man kann sich jedoch bei diesen Kranken, im Gegen-
satz etwa zu den Paralytikern, nicht selten davon überzeugen,
dass gelegentlich noch überraschend viel mehr Vorstellungen bei
ihnen auftauchen, als man bei ihrer völligen Gedankenleere er-
wartet hätte. Daraus geht hervor, dass es sich hier in erster
Störungen der Einbildungskraft.
207
Linie um den Verlust der geistigen Regsamkeit gehandelt
haben muss.
Krankhafte Erregungen der Einbildungskraft geben sich vor
allem in besonderer Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen
kund, die unter Umständen fast sinnliche Stärke gewinnen können.
Wir sehen das vor allem in den verschiedenartigen deliranten
Zuständen; damit verbindet sich dann regelmässig eine ausge-
prägte Auffassungsstörung. Wenn man will, kann man auch
gewisse Angstzustände bei Melancholischen, Cirkulären, Psycho-
pathen hierher rechnen, in denen die Kranken sich ihie Be-
fürchtungen mit peinlicher Deutlichkeit und Ausführlichkeit aus-
malen. Es handelt sich hier offenbar um eine ganz ähnliche Er-
regung der Einbildungskraft, wie wir sie bei den entsprechenden
Gemütsbewegungen der Gesunden beobachten.
Zweifelhaft muss es bleiben, ob wir es auch in den mani-
schen, paralytischen oder katatonischen Erregungszuständen mit
einer Steigerung der Einbildungskraft zu tun haben. Am ehesten
würde man vielleicht noch für die Manie eine solche Annahme
machen können, doch ist der wirkliche Gedankenreichtum selbst
hier schwerlich vermehrt, oft genug sogar geradezu herabgesetzt.
Allerdings behaupten einzelne Kranke, dass ihnen so viele Ge-
danken zuströmten, und auch in den cirkulären Depressionszustän-
den hört man hier und da trotz ausgeprägter äusserer Hemmung
derartige Angaben. Es sprechen jedoch manche Gründe .dafür,
dass es sich dabei mehr um eine erhöhte Ablenkbarkeit und
Flüchtigkeit der inneren Vorgänge, als um eine gesteigerte Er-
zeugung von Vorstellungen handelt.
Dauerndes Überwuchern der Einbildungstätigkeit über die
nüchterne Verarbeitung der Erfahrung findet sich bei einer
grossen Gruppe von psychopathischen Persönlichkeiten. Dahin
gehören zunächst die krankhaften Erfinder und Abenteurer, die
bei der Verfolgung ausschweifender Pläne vollständig den sicheren
Boden der Wirklichkeit verlieren und nur den Erfolg, aber nie
die Schwierigkeiten und die Unzulänglichkeit ihrer Mittel vor
Augen haben. Ihnen verwandt sind die Träumer, die sich ge-
wohnheitsmässig in willkürlich erdachte Lebenslagen versenken
und sie liebevoll mit feinsten Einzelheiten ausmalen. Endlich
haben wir hier der krankhaften Lügner und Schwindler zu ge-
208
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
denken, die in den wechselnden Gebilden ihrer geschäftigen Ein-
bildungskraft höchste Befriedigung finden und dadurch zu immer
neuen, kühnen Erfindungen und Ausschmückungen getrieben wer-
den, so dass ein unentwirrbares Gemisch von Wahrheit und Dich-
tung entsteht*).
Grosse Lebhaftigkeit der Einbildungsvorstellungen geht in
der Regel mit erhöhter Beeinflussbarkeit der Gedankenwelt durch
äussere und innere Ursachen einher, da sie der Ausdruck einer
gesteigerten Beweglichkeit der psychischen Gebilde überhaupt
zu sein pflegt. In der Gesundheitsbreite zeigt sich das beim
kindlichen und beim weiblichen Seelenleben. Krankhafte Sugge-
stibilität und Autosuggestibilität ist die Begleiterscheinung vieler
psychopathischer Zustände, namentlich der hysterischen Veran-
lagung. Sie äussert sich hier nicht nur in der Zugänglichkeit
des Denkens und Empfindens für lebhafte Eindrücke und Einreden,
in der Herrschaft unvermittelt auftauchender Einbildungen, son-
dern namentlich auch in dem Auftreten von allerlei körperlichen
Folgeerscheinungen, die durch Vermittlung von Gemütsbewe-
gungen ausgelöst werden.
Störungen des Urteils und der Schlussbildung. Die höchsten
und verwickeltsten Leistungen auf dem Gebiete des Verstandes
sind Urteil und Schluss. Da sie sich aufbauen auf der Vorarbeit
der Wahrnehmung, des Gedächtnisses, der Bildung und Verbindung
von Vorstellungen, so ist es natürlich, dass alle Beeinträchtigungen
irgend eines dieser Vorgänge regelmässig in mehr oder weniger
nachhaltiger Weise das in Urteil und Schluss sich darstellende
Endergebnis der geistigen Arbeit in Mitleidenschaft ziehen müssen.
Abgesehen davon kann jedoch die verstandesmässige Verar-
beitung der Vorstellungen selbst gewissen krankhaften Stö-
rungen unterliegen, welche für das ganze geistige Leben in der
Regel äusserst verhängnisvoll werden.
Zwei Wege sind es vornehmlich, auf denen menschliche Er-
kenntnis zu stände kommt, durch unmittelbare Angliederung der
Erfahrung und durch freie, selbständige Erfindung. Freilich laufen
diese beiden Wege vielfach nebeneinander her. Auch die strengste
*) Delbrück, Die pathologische Lüge und die psychisch-abnormen
Schwindler. 1891.
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
209
Erfahrungswissenschaft vermag sich von der Beeinflussung durch
bestehende Anschauungen und Erwartungen nicht völlig frei zu
halten, und andererseits arbeitet die Einbildung auch in ihren
unabhängigsten Schöpfungen immer mit Einzelheiten, die ur-
sprünglich der Erfahrung entstammen. Indessen zeigt uns die
Geschichte der "V erstandesentwicklung beim Einzelnen wie bei
der Menschheit, dass mit zunehmender Reife immer schärfer die-
jenigen Erkenntnisse, die ein getreues Abbild der Welt liefern,
sich abscheiden von jenen, die aus der freien Umgestaltung der
Erfahrung hervorgegangen sind. Die ersteren bilden den Inhalt
unseres Wissens, die letzteren denjenigen unseres Glaubens,
soweit sie überall noch als Spiegel der Wirklichkeit betrachtet
werden. Wie uns die Völkerpsychologie lehrt, erscheinen ur-
sprünglich die beiden verschiedenen Erkenntnisquellen wesent-
lich gleichwertig. Naturvölker halten ihre frei erfundenen und
ausgeschmückten Überlieferungen für ebenso buchstäblich wahr
und glaubhaft wie die Erfahrungen ihrer Sinne. Auch bei Kindern
können wir bisweilen die unvollkommene Trennung zwischen Er-
lebtem und Erdichtetem noch deutlich beobachten. Späterhin
jedoch vollzieht sich mehr und mehr die oben angedeutete Schei-
dung, namentlich auf jenen Gebieten, auf denen eine stete und
zuverlässige Berichtigung der Erkenntnis durch immer neue Er-
fahrung möglich ist. Auch hier können allerdings Abweichungen
zwischen Wirklichkeit und Anschauung entstehen, die auf den
natürlichen Unvollkommenheiten unserer Auffassung und unserer
Denkgewohnheiten oder auf zufälligen Fehlervorgängen beruhen.
V ir nennen sie I r r t ü m e r. Sie werden bekämpft mit den
Waffen der Erfahrung und der verstandesmässigen Überlegung.
Ihre Herrschaft beruht auf der Beweiskraft der fehlerhaften
Wahrnehmungen oder Gedankengänge; ist diese Beweiskraft er-
schüttert, sind die zu Grunde liegenden Fehlervorgänge aufge-
deckt, so fällt damit der Irrtum von selbst.
Dagegen bleibt das übergrosse Gebiet unserer Erkenntnis,
auf dem die Erfahrung uns keine oder nur unsichere und strittige
Ergebnisse zu liefern vermag, dem Glauben Vorbehalten, der das-
selbe mit seinen Schöpfungen ausfüllt. Die ganze Belebung und
\7ermenschlichung der äusseren Natur ist nur sehr langsam der
nüchternen Auflösung in Erfahrungswissenschaft gewichen; sie
KraepeUn, Psychiatrie 1. 7. Aufl.
210
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
lebt bei Naturvölkern, beim Kinde, ja auch in dem mancherlei
Aberglauben des naiven Volkes noch heute fort. Allein während
ein Teil dieses Glaubens nur die Vorstufe des Wissens bildet
und freudig für die Sicherheit der Erfahrung hingegeben wird,
bewähren andere Glaubensgrundsätze eine Macht, die durch kein
Wissen, keine von aussen herantretende Beweisführung erschüt-
tert werden kann. Es sind das jene Wahrheiten, die uns „ans
Herz gewachsen“ sind, die wir „mit der Muttermilch eingesogen“
haben. Hier handelt es sich um Erkenntnisse, deren Einfluss
auf unser Denken nicht in ihrer besonders einleuchtenden Begrün-
dung durch die Erfahrung, sondern wesentlich in ihren tief-
greifenden Gefühlsbeziehungen zu unserer gesamten Per-
sönlichkeit liegt. Bis zu einem gewissen Grade ist das wohl
mit jeder von uns oft verfochtenen und darum liebgewonnenen
Lehrmeinung der Fall, aber es sind doch bestimmte Gebiete, auf
denen die durch Überlieferung, Erziehung und Gewöhnung fest-
gewurzelten Anschauungen einen besonders hohen Gefühlswert
und damit eine hervorragende Widerstandsfähigkeit gegen die
Einflüsse der Erfahrung erlangen. Leichter wird die Erfahrung
durch sie gefärbt, als sie selbst durch jene umgewandelt werden;
sie gewinnen dadurch vielfach die Eigenschaft von „V orurteilen".
Gemeinsam ist allen diesen im Gemüte wurzelnden Überzeu-
gungen die nahe Beziehung zu den allgemeinen Lebens-
interessen. Den Naturmenschen treibt das Gefühl der steten
Abhängigkeit im guten und bösen Sinne von den Kräften und Mächten
ringsherum zur freien Ausmalung seiner Beziehungen zu Sonne,
Blitz und Donner, zu Erde und Meer, zu Tier und Pflanze; den
Nährboden des Aberglaubens bildet die Unsicherheit und Un-
freiheit gegenüber dem Verborgenen, Unerklärlichen und Ge-
heimnisvollen, mag es Gefahren drohen oder Glück verheissen.
Deutlich erkennen wir hier überall in der strengen Scheidung
zwischen gut und böse, feindlich und freundlich die massgebende
Rolle der Gefühle bei der Erfindung. Gerade daraus erklärt sich
die ausserordentliche Zähigkeit dieser durch ungezählte Ge-
schlechter sich fortpflanzenden Überlieferungen, die trotz ihrer
Unsinnigkeit oft augenscheinlich im Herzen des Volkes noch
immer ihre uralte Glaubwürdigkeit bewahren.
Das Hilfsmittel, das dem Naturmenschen wie dem Kinde zu
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
211
einer Erklärung der Aussenwelt verhüllt, ist der willkürliche Ana-
logieschluss. Die auf diese Weise gewonnene Erkenntnis besitzt,
wie Friedmann*) überzeugend nachgewiesen hat, von vorn-
herein den gleichen, ja einen weit höheren Grad von Gewissheit
für uns, als die mit allen Hilfsmitteln der Wissenschaft ge-
prüfte Erfahrung. Ein beliebiger Einfall, eine entfernte oder
ganz äusserliche Beziehung wird ohne weiteres als Ausdruck der
Wirklichkeit hingenommen und trotz der gröbsten inneren Wider-
sprüche festgehalten. Mit dem Haarbüschel eines klugen Mannes
erlangt man auch seinen Verstand; den Feind tötet man durch
Vernichtung seines Bildes; Krankheit und Tod entstehen und
schwinden durch Zauber; der allwissende und allmächtige Fe-
tisch wird versteckt, um nicht Zeuge einer verbotenen Handlung
zu sein. Das ursprüngliche Denken wird somit nur durch Furcht
und Hoffnung, Wunsch und Erwartung geleitet; es kennt
nicht die Triebfeder aller höheren geistigen Entwicklung, den
Zweifel. Wie wir heute den durch Sachkenntnis nicht beirrten
Laien zuversichtlich, aber falsch, über die schwierigsten Fragen
urteilen sehen, so begleitet auch die Meinungen der Naturvölker
das unmittelbare Gefühl der Sicherheit. An Stelle dieser naiven
Gewissheit des Glaubens tritt erst nach einem langen, dornen-
vollen Erkenntniswege diejenige des Wissens, die freilich kaum
jemals ihren unzertrennlichen Begleiter, den Zweifel, gänzlich
überwindet.
Auch bei uns fliesst die Quelle der unmittelbar fest-
stehenden, nicht aus Verstandesarbeit hervorgegangenen An-
schauungen noch reichlich genug. Aus ihr entspringt vor allem der
Aberglaube, dessen Verwandtschaft mit den Einbildungen
der Naturvölker keines Beweises bedarf. Weiterhin aber gehören
hierher beim entwickelten und geschulten Menschen die poli-
tischen und religiösen Überzeugungen, deren wesentlichste Grund-
lage auch überall der Glaube ist, mag im einzelnen auch die
verstandesmässig verarbeitete Erfahrung den Inhalt vielfach be-
einflusst haben. Es sind die gemütlichen Bedürfnisse, welche
die Stellung des Menschen zu höheren Mächten und zur Gesell-
schaft bestimmen. Daraus erklärt sich die geringe Zugänglich-
*) Friedmann, Über den Wahn. 1894; Monatsschr. f. Psych., I, 455.
14*
212
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
keit jener Überzeugungen gegenüber Einwänden und Beweis-
gründen, die Leidenschaftlichkeit, mit der sie verfochten zu
werden pflegen, und ihre gleichartige Färbung in bestimmten
Ländern, Gegenden und Ständen, wie wir sie bei rein verstandes-
mässigen Überzeugungen schwerlich wiederfinden.
Diese Ausführungen sind vielleicht geeignet, uns bis zu
einem gewissen Grade ein Verständnis für jenen äusserst merk-
würdigen und wichtigen Krankheitsvorgang zu eröffnen, den wir
als Wahnbildung bezeichnen. Wahnideen sind krankhaft ver-
fälschte Vorstellungen, die der Berichtigung durch Beweisgründe
nicht zugänglich sind. Gerade diese Eigentümlichkeit weist uns
darauf hin, dass Wahnideen nicht aus Erfahrung oder Überlegung,
sondern aus dem Glauben entspringen. Allerdings knüpfen
sie sich nicht selten an wirkliche Wahrnehmungen oder Sinnes-
täuschungen an. Im letzteren Falle ist ihr Ursprung aus den
inneren Zuständen trotz der V erlegung der Täuschung nach aussen
augenscheinlich genug. Aber auch dann, wenn der V ahnvor-
stellung ein natürlicher Sinneseindruck zu Grunde liegt, ist ihre
eigentliche Quelle immer die aus der eigenen Einbildung hervor-
gehende krankhafte Deutung. Auch im gesunden Leben tritt
vielfach die Versuchung an uns heran, an geringfügige und viel-
deutige tatsächliche Anhaltspunkte zu weitgehende Wahrschein-
lichkeitsschlüsse zu knüpfen oder ohne zureichenden Grund ur-
sächliche Beziehungen zwischen zufällig zusammenfallenden Er-
eignissen zu vermuten. Unter krankhaften V erhältnissen aber
kann sich mit unwiderstehlicher Gewalt die Überzeugung von
Beziehungen der Dinge hervordrängen, wo die Vorstellungen in
Beziehung getreten sind, die Vermutung eines sachlichen Zu-
sammenhanges der Erscheinungen auf Grund des leicht geschürz-
ten psychologischen Bandes. Der harmloseste äussere V or-
gang kann zum tiefsinnigen Wahrzeichea verborgener Ereignisse
werden; in die nüchternsten Tatsachen wird ein versteckter und
entlegener Sinn hineingeheimnisst. Der Flug eines A ogels ist
ein verheissungsvoller Wink für die Zukunft; eine zufällig be-
obachtete Gebärde kündet drohende Gefahr; der Fund einiger
Kastanien bedeutet die Zusicherung künftiger Weltherrschaft.
Der Ursprung der Wahnbildung aus inneren Zuständen zeigt
sich auch in dem Umstande, dass sie regelmässig in nahem Zu-
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
213
sammenhange mit dem eigenen Ich des Kranken steht.
Die Vorstellungsgruppe der eigenen Persönlichkeit, das Selbst-
bewusstsein, bildet schon unter gewöhnlichen Verhältnissen den
Mittelpunkt unseres Denkens und Fuhlens; darum knüpfen sich
die wahnhaften Einbildungen gerade an diesen Kern an und setzen
das Netz geheimnisvoller Zusammenhänge und willkürlicher Be-
ziehungen in unmittelbare Verbindung mit dem eigenen Wohl
und Wehe. Die Entstehung von Wahnideen ist daher stets von
mehr oder weniger lebhaften Gefühlen begleitet, die erst mit
der Verblödung der Kranken allmählich in den Hintergrund treten.
Es giebt keine Wahnvorstellungen, welche dem Kranken von
vornherein gleichgültig wären, sondern sie sind, zunächst wenig-
stens, immer auf das engste verknüpft mit der eigenen Peison,
mit seiner Stimmung und mit seiner Stellung zur Umgebung.
Aus diesen Entstehungsbedingungen der Wahnidee wird uns
auch ihre wichtigste Eigenschaft einigermassen erklärlich, ihre
Widerstandsfähigkeit gegen alle, auch die schlagendste^
Beweisgründe. Da sie nicht in der Erfahrung wurzelt, kann sie
durch Erfahrungen erst dann erschüttert werden, wenn sie gar
kein Wahn mehr ist, sondern nur noch die Erinnerung, die Nach-
wirkung eines solchen, in der Genesungszeit. Auf der Höhe dei
Krankheit ist die Wahnidee durch Einflüsse gestützt, die mäch-
tiger sind, als alles verstandesmässige Wissen. „Ich will’s schon
nicht mehr meinen,“ sagte mir eine Kranke, die darüber jammerte,
dass ihr Mann und ihre Kinder ins Wasser geworfen worden seien,
„aber es kommt mir immer auf einmal wieder in den Kopf“.
Wir sehen daher, dass der Wahn regelmässig trotz der nächst-
liegenden und anscheinend unausweichlichsten Einwände unbeirrt
festgehalten wird, so lange seine inneren Entstehungsursachen
wirksam sind. Wird er auf gegeben oder durch einen anderen er-
setzt, so bringt das nicht unsere Überredung oder das Gewicht
der Tatsachen zu stände, sondern ein Wechsel des psychischen
Zustandes. Treiben wir den Kranken in die Enge, so erreichen
wir freilich mitunter vorübergehend oder in nebensächlichen
Punkten einige Zugeständnisse, aber die Ausser lichkeit einer
solchen Bekehrung zeigt sich regelmässig darin, dass sich das
Wahnbedürfnis sehr rasch wieder Luft macht, bald in den alten,
bald in neuen Formen. Selbst in jenen Fällen, in denen die
214
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Kranken ihre Wahnideen mit wirklichen Wahrnehmungen in Ver-
bindung bringen, bestehen die krankhaften Schöpfungen unver-
ändert fort, auch wenn ihre Erfahrungsstützen nachträglich zu-
sammenbrechen. Überzeugt man den Kranken, dass seine Wahr-
nehmungen falsch waren, was bisweilen möglich ist, so hat er
sofort andere Begründungen bei der Hand, und sei es auch nur
die einfache Behauptung, dass er eben seiner Sache gewiss sei.
„Da drin spür’ ich’s eben, dass es so ist,“ sagte mir, auf sein
Herz deutend, ein Kranker, der im Gesangbuche sein ganzes
Schicksal geweissagt fand, und auf den Einwand, dass ich mir
das ja ebenso gut einbilden könne, erwiderte er: „Sie spüren’ s
aber nicht!“
Durch alle diese Betrachtungen werden wir zu der An-
schauung geführt, dass die Wahnbildung in erster Linie durch,
das Auftauchen lebhafter Gefühlsregungen begünstigt wird. In
der Tat wissen wir, dass schon im gesunden Leben Gefühle die
gefährlichsten Hindernisse sachlicher Erkenntnis sind. Unter dem
Einflüsse des Zorns, der Angst, der Begeisterung mischen sich
der Betrachtung der Dinge Verkennungen, Befürchtungen, Hoff-
nungen hinzu, die mit der nüchternen Erfahrung nichts mehr ge-
mein haben. Aber auch die leiseren Schwankungen des Stim-
mungshintergrundes, die Gefühle der Trauer, der Erwartung,
Bangigkeit, des Misstrauens, der Sehnsucht, geben dem Spiegel-
bilde der Wirklichkeit ihre bestimmte Färbung. Wir werden uns
daher nicht wundern, wenn in Krankheitszuständen lebhaftere
Gefühlsregungen ungemein häufig von Wahnbildungen begleitet
sind. Namentlich die traurigen und ängstlichen Verstimmungen
pflegen, wie beim Gesunden, den stärksten Einfluss auf die Ver-
fälschung der Vorstellungen und Gedankengänge auszuüben.
Indessen die Entstehungsbedingungen der Wahnideen können
damit noch nicht erschöpft sein. So weit wir das zu beurteilen
vermögen, sind die Gefühle bei der Wahnbildung keineswegs
immer von so leidenschaftlicher Stärke, dass sie allein den Vor-
gang erklärlich erscheinen Hessen. Zunächst kann in deliriösen
Zuständen, z. B. im Trinkerdelirium, eine abenteuerliche Fülle
von Wahnbildungen beobachtet werden, ohne dass die Stimmungs-
schwankungen über das Mass einer gewissen Lustigkeit oder
geheimer Angst hinausgingen. Offenbar vermag hier der Kranke
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
215
die deliriösen Erlebnisse einfach nicht mehr von der Wirklichkeit
zu trennen. Allein wir würden fehl gehen, wenn wir etwa die
Lebhaftigkeit der Sinnestäuschungen für das Auftreten der Wahn-
vorstellungen verantwortlich machen wollten. Die Erfahrung,
dass die Kranken die unsinnigsten Täuschungen ohne stärkeres
Erstaunen oder doch ohne entschiedenen Widerspruch hinnehmen,
während sie am nächsten Tage bereits nicht den geringsten
Zweifel mehr an der Unwirklichkeit des Erlebten hegen, deutet
darauf hin, dass hier der Gesamtzustand des Bewusstseins während
der Krankheit eine Veränderung erlitten haben muss, welche die
Berichtigung der Wahnbildungen unmöglich machte. Wii ver-
weisen hier auf das Beispiel des Traumes. Im Traume sind es
sicherlich nicht starke Gefühle und nicht die Lebhaftigkeit der
Bilder allein, die uns zu wahnhafter Auffassung unserer Lage
veranlassen, sondern es ist die Unfähigkeit, jene Widersprüche zu
entdecken und zu berichtigen, die uns beim Erwachen sofort mit
voller Klarheit vor Augen stehen. Würde uns wirklich ein so
toller Spuk vorgemacht, wie im Delirium oder im Traume, so
würden wir ihn sofort als Possenspiel erkennen. Auch im Traume
regt sich bisweilen der Widerspruch, aber wir empfinden dabei
deutlich, dass es uns unmöglich ist, volle Klarheit zu gewinnen.
Ohne Zweifel ist daher in deliriösen Zuständen die Bewusst-
seinstrübung eine wesentliche Vorbedingung für die eigen-
artige Wahnbildung, wenn auch die gleichzeitige Lebhaftigkeit
der Sinnestäuschungen und Einbildungen reichlichen Stoff dazu
liefert.
Endlich aber ist darauf hinzuweisen, dass auch in der Paralyse,
im Altersblödsinn, bei der Dementia praecox Wahnbildungen Vor-
kommen, bei denen weder Gefühle noch stärkere Bewusstseins-
trübungen eine wesentliche Rolle spielen. Augenscheinlich haben
die Wahnbildungen bei diesen Krankheiten viele gemeinsame Züge
aufzuweisen. Die Annahme liegt daher nahe, dass die psy-
chische Schwäche, die sich hier überall entwickelt, das
Zustandekommen von Wahnideen besonders begünstige. Wir
kennen allerdings auch viele Schwächezustände ohne Wahnbil-
dung. Der angeborene Schwachsinn zeigt nur geringe Neigung
zur Entwicklung von Wahnideen, und ebenso verlaufen zahl-
reiche Fälle von Paralyse, Dementia praecox und Altersblöd-
216
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
sinn ohne derartige Erscheinungen. Der eigentliche Grund für
das Auftauchen von Wahnvorstellungen kann daher nicht in der
psychischen Schwäche an sich, sondern nur in begleitenden Er-
regungszuständen liegen, welche allerlei wahnhafte Einbildungen
im Innern des Kranken aufschiessen lassen. Tatsächlich lässt
sich unschwer feststellen, dass die Entstehung des Wahns fast
immer in Zeiten heiterer oder trauriger Abstimmungen am
reichsten vor sich geht. Namentlich deutlich wird diese Rolle
der Gefühlsschwankungen in solchen Fällen, in denen über-
haupt nur zeitweise Wahnideen hervortreten; man wird sie hier
stets von mehr oder weniger ausgesprochener gemütlicher Er-
regung begleitet sehen.
Ängstliche Vermutungen, Ahnungen abergläubischer Zusam-
menhänge, Luftschlösser und Zukunftsträume sind auch bei Ge-
sunden häufige Erscheinungen, aber sie gewinnen keine weiter-
reichende Macht; sie schwinden bei ruhiger Überlegung, wie
sie gekommen sind. Bei den Kranken aber tragen sie vielfach
von vornherein nicht nur den Stempel der unerschütterlichen
Gewissheit, sondern sie nisten sich dauernd ein, ohne einer
Berichtigung zugänglich zu sein, ja ohne auch nur das Be-
dürfnis einer näheren Prüfung oder Begründung zu wecken.
Wir sind es gewohnt, alle auftauchenden Einbildungen an dem
Massstabe unserer Wirklichkeitserfahrung zu messen und als
Erfindung zu kennzeichnen, was sich nicht widerspruchslos
dem festgefügten Bau unseres Wissens eingliedern lässt. Der
Kranke dagegen empfindet die Widersprüche seiner Einbildungen
mit der sonstigen, eigenen oder fremden Erfahrung gar nicht,
oder er missachtet sie, verschleiert sie wohl auch durch immer
unwahrscheinlichere und unmöglichere Annahmen. Offenbar ist
demnach für ihn die Nötigung, ja auch die Möglichkeit verloren
gegangen, den auftauchenden Wahnvorstellungen Widerstand ent-
gegenzusetzen, sie zu berichtigen und zu unterdrücken. Dafür
spricht namentlich auch die in den psychischen Schwächezustän-
den regelmässig beobachtete völlige Unsinnigkeit der AArahnvor-
stellungen, deren Unhaltbarkeit anscheinend dem besonnenen
Kranken ohne jedes Nachdenken klar sein müsste.
Die Ursache für diese Unfähigkeit hat man in früheren
Zeiten in den besonderen Eigenschaften der einzelnen A’orstel-
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
217
lungen gesucht. Die Lehre von den „Monomanien“ nahm an,
dass die „fixe Idee“ nur eine umgrenzte Störung des Seelen-
lebens bei sonst völlig erhaltener geistiger Gesundheit darstelle.
Gerade daraus ergaben sich jene törichten Heilbestrebungen,
welche durch irgend einen besonders überzeugenden Eingriff die
anscheinend ganz vereinzelte Wahnidee zu beseitigen und damit
die Krankheit selbst zu heben trachteten. Der Erfolg bei der-
artigen Versuchen ist im günstigsten Falle die Ersetzung einer
Wahnvorstellung durch eine oder mehrere andere.
Eine Art Wiederbelebung dieser Monomanielehre hat in
neuerer Zeit Wernicke versucht, indem er annahm, dass in
manchen Fällen die Wahnbildung durch das Auftreten einzelne! ,
besonders mächtiger, „überwertiger* Ideen zu stände komme.
Nach meinem Dafürhalten sind weder seine Beobachtungen
noch seine Erörterungen, die ihn weiter zur Annahme „untei-
wertiger“ Ideen bei der Manie geführt haben, überzeugend. In
dem Kommen und Gehen der Vorstellungen kann eben nui dann
ein einzelnes Glied übermächtig werden, wenn es nicht durch neu
auftauchende Vorgänge wieder in den Hintergrund gediängt wiid.
Lebhafte Gefühlsbetonung vermag somit wohl eine Vorstellungs-
gruppe „überwertig“ zu machen, aber alle Gefühle schwinden
allmählich und werden durch andere verdrängt; sie können daher
auf die Dauer das Übergewicht nicht erhalten, wenn nicht eine
Umwandlung der Gesamtpersönlichkeit oder eine krankhafte Ver-
ödung des geistigen Lebens diesen Vorgang unterstützt. Wir
kommen somit zu dem Schlüsse, dass der Ausbildung von Wahn-
ideen regelmässig eine allgemeine Störung des psy-
chischen Gesamtzustandes zu Grunde liegt. Angeregt
wird die Wahnbildung wohl immer durch Gefühlsschwankungen,
welche schlummernde Hoffnungen und Befürchtungen in Ein-
bildungsvorstellungen umsetzen. Dass aber diese V orstellungen
zum Wahne werden, eine Macht gewinnen, gegen die am Ende
selbst der Augenschein ohnmächtig ist, kann nur durch das Ver-
sagen unserer Urteilsfähigkeit zu stände kommen, wie es im
einen Falle durch leidenschaftliche gemütliche Erregung, im
anderen durch Trübung des Bewusstseins, im dritten durch die
Verstandesschwäche bedingt wird.
Man wird indessen hier mit Recht die Frage aufwerfen,
218
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
warum denn die Wahnvorstellungen gerade so enge Beziehungen
zum eigenen Wohl und Wehe aul'zuweisen haben, wenn ihre Ent-
stehungsursachen in allgemeinen Veränderungen des psychischen
Zustandes zu suchen sind. Der Grund dafür liegt, wie mir scheint,
in der starken Gefühlsbetonung derjenigen Vorstellungen, die
mit unserem Ich in naher Verbindung stehen. Die landläufige
Tatsache, dass ausgeprägte Stimmungen und Gemütsbewegungen
das klare Urteil trüben, und dass daher kein Gebiet des mensch-
lichen Denkens gröberen Täuschungen ausgesetzt ist, als die
Selbsterkenntnis, wird auch durch das Verhalten der Wahn-
ideen bestätigt, nur in vergrössertem Massstabe. Nach dem Bei-
spiele des Splitters im fremden und des Balkens im eigenen
Auge sehen wir daher oft unsere Kranken die Wahnideen Anderer
ohne weiteres richtig erkennen, während es ihnen unmöglich ist,
die anscheinend selbstverständliche Nutzanwendung auf den
eigenen, durchaus gleichartigen Fall zu ziehen. Man wird in-
indessen darum die geistige Störung, welche diesen „partiellen“
Wahnbildungen zu Grunde liegt, mit demselben Rechte eine all-
gemeine nennen müssen wie z. B. die Kreislaufssteckung infolge
eines Herzfehlers, auch wenn hier die Stauungserscheinungen zu-
nächst nur an den entferntesten Teilen zur Ausbildung kommen.
Wenn demnach überhaupt Einbildungsvorstellungen durch gemüt-
liche Erschütterungen erzeugt werden, so werden sie sich natur-
gemäss in erster Linie auf die Lage der eigenen Persönlichkeit
und deren nächste Beziehungen erstrecken. Sie wurzeln rascher,
fester und mit grösserer Überzeugungskraft in unserem Innern,
als fernliegende, gleichgültige Erfahrungen. Zudem sind diese
Vorstellungen einer Berichtigung bei weitem am schwersten zu-
gänglich, schon im gesunden Leben. Wo wir etwa in deliriösen
Zuständen einmal falsche Vorstellungen über entlegene Dinge
auftauchen sehen, können sie immer nach Art der Irrtümer ohne
Schwierigkeit durch den Augenschein beseitigt werden, sobald die
Bewusstseinstrübung geschwunden ist.
Es bedarf kaum noch der Ausführung, dass nach der hier
vertretenen Anschauung über die Entstehung der Wahnideen von
einer strenger begrenzten Ursprungsstätte dieser letzteren im
Gehirn nicht nur heute, sondern grundsätzlich nicht die Rede sein
kann. Die Wahnidee an sich ist zunächst eine Einbildungsvor-
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
219
Stellung wie jede andere, wie etwa die Traumvorstellungen auch,
bei denen wir ja ebenfalls gewisse häufig wiederkehrende Gestal-
tungen beobachten. Ihre besondere Stellung im Seelenleben des
Kranken aber und ihre eigenartige Ausbildung erhält sie durch
das augenblickliche oder dauernde V erhalten der gesamten psy-
chischen Persönlichkeit. Sie ist also nicht sowohl die Wii kung
eines umschriebenen Krankheitsvorganges, als vielmehi das
Zeichen einer allgemeinen krankhaften Veränderung der gesamten
Hirnleistung. Man hat allerdings versucht, jeder einzelnen Vor-
stellung eine besondere Rindenzelle als Sitz anzuweisen, so dass
etwa die Aufnahmefähigkeit des Hirns einfach durch die Zahl
jener Zellen bestimmt würde, und man könnte von diesem Stand-
punkte aus immerhin die Erkrankung gewisser Ganglienzellen-
gruppen oder Fasersysteme für das Auftreten von Wahnideen
verantwortlich machen. Allein jene Annahme ist im Hinblicke
auf psychologische und klinische Tatsachen ebenso unhaltbar wie
etwa die Anschauung, dass die Zahl der möglichen Gesichtsbilder
von der Menge der empfindenden Einheiten in unserer Netzhaut
abhängig sei. Zudem sehen wir tatsächlich Wahnideen nicht etwa
bei Herderkrankungen, sondern vielmehr bei solchen allgemeinen
Störungen (Vergiftungen, Verblödungen, Paralyse, krankhaften
Gemütsbewegungen, auf treten, welche zweifellos die \ errich-
tungen der ganzen Hirnrinde in Mitleidenschaft ziehen.
Der verschiedenen Entstehungsweise der Wahnideen ent-
spricht ihr mannigfaltiges klinisches Verhalten. Gemütsbewe-
gungen sind im allgemeinen veränderliche Vorgänge; daher sehen
wir die wesentlich auf dieser Grundlage entstehenden Wahnbil-
dungen in der Regel kommen, gehen und vielfach wechseln, je
nach Stärke und Färbung der Verstimmung. Nur wo diese selbst
durch längere Zeit hindurch eintönig ist, werden auch die gleichen
Wahnideen zäher festgehalten. Die deliriösen Wahnbildungen
ähneln durchweg denjenigen des Traumes; es sind bunte, aben-
teuerliche, wechselnde Bilder mit einzelnen durchgehenden Grund-
zügen, die oft in mannigfacher Gestalt wiederkehren. Je nach
dem grösseren oder geringeren Zusammenhänge der Gedanken-
gänge überhaupt können dabei auch die Wahnideen ganz unver-
mittelt, abgerissen nebeneinander stehen oder eine gewisse gei-
stige Verarbeitung zeigen, Begründungen, Schlussfolgerungen,
220
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
einheitliche Färbung. Schwindet die gemütliche Erregung oder
die Bewusstseinstrübung, so werden gewöhnlich die während der-
selben entstandenen Wahnideen berichtigt, auch wenn im übrigen
noch keine volle Genesung eingetreten ist.
Ganz anders verhalten sich diejenigen Wahnbildungen, bei
denen die geistige Schwäche eine wesentliche Rolle spielt.
Die wahnbildende Kraft wird wohl auch hier von Gemütsbewe-
gungen geliefert, aber die krankhaften Vorstellungen sind mit
dem Verblassen der Stimmungsschwankung nicht ohne weiteres
verschwunden. Zwar können sie nach und nach in den Hinter-
grund treten, aber nur dadurch, dass sie vergessen werden, nicht
durch verstandesmässige Berichtigung. Wir beobachten das oft
in der Paralyse, bei der Dementia praecox und bei den senilen
Geistesstörungen. Nicht selten tauchen hier später die alten,
verschollenen Wahnideen ganz vorübergehend unter dem Ein-
flüsse einer Stimmungsschwankung von neuem auf. Oft genug
werden sie aber auch dauernd festgehalten und sogar weiter ver-
arbeitet. Die Dementia paranoides und manche Fälle von Paralyse
lehren uns, wie auf dem Boden des erworbenen Schwachsinns
dauernde Stimmungsschwankungen unter Umständen sehr aus-
giebige Wahnbildungen anzuregen imstande sind.
Auch die länger haftenden Wahnbildungen zeigen indessen
wichtige Verschiedenheiten. Entweder verblassen sie allmählich,
um schliesslich doch mein’ und mehr zu versinken. So ist es
hauptsächlich bei der Dementia praecox und bei der Paralyse.
In anderen Fällen treten sie zwar in den Hintergrund, werden
aber nicht berichtigt, sondern bleiben als ,, Residualwahn“ dauernd
erhalten, ohne weiteren Einfluss zu gewinnen. Oder aber sie
werden in ganz einförmiger Weise immer wieder vorgebracht und
verknöchern gewissermassen zu stehender Formel ohne Fort-
entwicklung, aber auch ohne Rückbildung. Auch dieser Verlauf
stellt offenbar eine Form der Verblödung dar; doch ist die kli-
nische Stellung derartiger Fälle vielfach noch zweifelhaft. Das-
selbe gilt von denjenigen Beobachtungen, in denen die Wahn-
ideen sich allmählich verändern, unsinniger und zusammenhangs-
loser werden, neue Bestandteile in sich auf nehmen, während
andere langsam zurücktreten. Sie bilden die grosse Masse ge-
wisser, meist der Verrücktheit zugerechneten Formen, die
221
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
indessen viele Berührungspunkte mit der Dementia praecox
darbieten.
Endlich haben wir noch derjenigen Fälle zu gedenken, bei
denen im Verlaufe von Jahrzehnten eine unmerkliche, mehr oder
weniger einheitliche Fortentwicklung ohne stärkeren gei-
stigen Verfall stattfindet. Bei dieser Krankheitsform, der Para-
noia im engsten Sinne, erzeugt die freilich oft recht dürftige
geistige Verarbeitung der Wahnvorstellungen eine Art ver-
fälschter Weltanschauung. Der krankhaft veränderte Vorstel-
lungsinhalt wird zum dauernden Bestandteile des Er-
fahrungsschatzes und übt auf die gesamte weitere Vei-
arbeitung der äusseren Eindrücke wesentlichen Einfluss aus. Die
Stellung des Kranken zur Aussenwelt verschiebt sich allmählich
in bestimmter Richtung; die psychische Persönlichkeit mit ihren
früher gewonnenen Anschauungen erleidet eine durchgreifende
Umwandlung. Gerade diese vollständige Einverleibung
des Wahnes, die Gruppierung um den Mittelpunkt des eigenen
Ich ist es, welche den inneren Zusammenhang seiner einzelnen
Bestandteile, die geistige Verarbeitung derselben vermittelt. Man
pflegt daher vorzugsweise hier von einem „Wahnsysteme“
zu sprechen, wenn auch bisweilen ähnliche, inneilich zusammen-
hängende Wahnbildungen, jedoch von kürzerer Dauer, in der Para-
lyse und der Dementia praecox, bei Alkoholisten und Epileptikern
zur Beobachtung kommen. Fortschritte in der Wahnbildung
scheinen durch das stark gehobene Selbstgefühl, durch Angst-
zustände oder zornige Erregungen vermittelt zu werden, die so
entstandenen Einbildungen werden dann nicht berichtigt, sondern
festgehalten und weiter ausgesponnen. Auch hier ist nach meiner
Erfahrung regelmässig sehr bald eine deutliche Urteilsschwäche
erkennbar.
Wie die klinische Betrachtung lehrt, zeigt die Ausbildung
der Wahnideen im einzelnen eine Reihe verschiedener Formen,
welche bei unseren Kranken vielfach mit bemerkenswerter Gleich-
förmigkeit wiederkehren. Gewöhnlich pflegt man zunächst
Kleinheits- und Grössenideen, depressive und expan-
sive Wahnbildungen, voneinander zu unterscheiden. Unter den
mannigfachen Gestaltungen des depressiven Wahnes steht
dem gesunden Leben wohl am nächsten der Versündigungs-
222
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wahn; gibt es doch zahlreiche Menschen, die bei jedem Miss-
erfolge, ja bei jedem Unglücksfalle sogleich bereit sind, in ihrer
eigenen Handlungsweise die Ursache zu suchen und sich mit dem
Gedanken zu quälen, dass sie dieses oder jenes hätten anders
machen sollen. In krankhaften Depressionszuständen kann sich
diese Idee der Verschuldung an jede Äusserung oder Handlung
des Kranken anknüpfen. Er glaubt, immerfort Andere zu schä-
digen, zu täuschen, ins Unglück zu bringen, bittet um Verzeihung
für seine schrecklichen Taten. Auch die eigene Vergangenheit
wird durch den Wahn in das schlimmste Licht gesetzt. Alle
möglichen, selbst ganz gleichgültigen Handlungen erscheinen dem
Kranken als scheussliche Untaten; er klagt sich der grässlichsten
Verbrechen an, oft nur in allgemeinen Ausdrücken, bisweilen
aber auch in ganz bestimmter Erzählung, hält sich für ein schlech-
tes, verworfenes, gemütloses Geschöpf, für von Gott verstossen
und verdammt. Darum fürchtet und wünscht er zugleich eine
schreckliche Strafe, um seine Sünden zu büssen, und lebt in
der beständigen Erwartung, dass er nunmehr von den Polizisten
geholt, hingerichtet, verbrannt, zur Pdchtstätte geschleift, leben-
dig begraben werden solle. Wir begegnen solchen Vorstellungen
namentlich in der Melancholie wie in cirkulären und paralytischen
Depressionszuständen.
Diesen Wahnideen nahe verwandt sind gewisse Befürch-
tungen allgemeiner Art, die häufig mit ihnen sich vergesell-
schaften, die Idee, zu verarmen, arbeitsunfähig zu werden, ein
grosses Unglück erdulden zu müssen oder über die Angehörigen
heraufzubeschwören. Ähnliche Vorstellungen, dass irgend etwas
Schreckliches passiert, die Familie erkrankt und gestorben sei,
oder dass etwas Furchtbares bevorstehe, finden wir als vorüber-
gehende „Ahnungen“ bekanntlich häufig genug im täglichen
Leben wieder. Den gemeinsamen Hintergrund derselben bildet
überall eine gemütliche Verstimmung. In ihren schwersten
Formen führen sie zu dem sogenannten nihilistischen Wahn:
Alles ist vernichtet, zu Grunde gegangen; die Welt steht nicht
mehr. Alle sind längst gestorben; auch der Kranke selbst lebt
nicht mehr, hat keinen Namen mehr, ist überhaupt nichts, weniger
als nichts.
Eine weitere, sehr grosse Gruppe bilden diejenigen Wahn-
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
223
Vorstellungen, die man unter dem Namen des Verfolgungs-
wahnes zusammenzufassen pflegt. Andeutungen desselben fin-
den wir im gesunden Leben bei jenen argwöhnischen und miss-
trauischen Naturen, die bei ihrer Umgebung überall niedrige und
feindselige Beweggründe voraussetzen und im Zusammenhänge
damit eigenes Missgeschick regelmässig auf Neid und Hass An-
derer zurückzuführen bereit sind. Gewöhnlich verbindet sich
damit eine bedeutende Überschätzung der eigenen Persönlich-
keit und missgünstige Verkennung fremden Verdienstes. Bei
unseren Kranken bildet den Ausgangspunkt in der Regel eine
Zeit der Verstimmung, inneren Unbehagens und geheimei Angst.
Ahnungen und Vermutungen steigen auf; einzelne Wahrnehmungen
erscheinen verdächtig; es geht etwas Besonderes vor. Dei Kranke
beginnt, die Vorgänge in seiner Umgebung mit wachsendem Miss-
trauen anzusehen, gleichgültige Äusserungen und Erlebnisse, zu-
fällige Gebärden wahnhaft zu deuten und seine Wahrnehmungen
unter neuen, vorurteilsvollen Gesichtspunkten zu verarbeiten.
Zeitungsartikel, Gassenhauer, Predigten enthalten versteckte Ver-
höhnungen und den Hinweis auf seine verzweifelte Lage. Alle
Absicherungen der Liebe und Freundschaft sind eitel Heuchelei,
um ihn desto sicherer in die Falle zu locken. Diese Entwicklung
beobachten wir häufig bei der Abrücktheit und bei der . De-
mentia praecox, aber auch in cirkulären und anderen Depressions-
zuständen.
Sehr gewöhnlich ist der Abfolgungswahn von mehr oder
weniger zahlreichen Sinnestäuschungen begleitet, namentlich auf
dem Gebiete des Gehörs. Der Kranke sieht sich demnach von
einem Netze geheimer Feindseligkeiten, drohender Gefahien um-
geben, dem er nicht zu entrinnen vermag. Alles ist gegen ihn
verbündet, weidet sich an seiner Angst. Überall findet er sofort
die untrüglichen Zeichen dafür, dass man eingeweiht ist, dass
er durch Spione beobachtet und verfolgt wird. Er ist Gegenstand
der allgemeinen Aufmerksamkeit; man blickt ihn sonderbar an,
ruft ihm nach, zischelt einander Bemerkungen zu, weicht ihm aus,
spuckt vor ihn hin. Speisen und Getränke haben einen absonder-
lichen Geschmack, als ob etwas drin wäre; offenbar ist ihnen
Gift, Kot, Sperma, Menschenfleisch beigemischt. Nach ihrem Ge-
nuss treten Magenbeschwerden, Wallungen zum Kopfe, ge-
224
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
sclilechtliche Erregungen auf. Im eigenen Zimmer werden die
Spuren fremder Tätigkeit bemerkt; Gegenstände sind verschwun-
den, beschmutzt, verdorben, das vorher geschlossene Fenster plötz-
lich offen; der Schlüssel zur Türe schliesst nicht.
Eine grosse Rolle spielen auch Eifersuchtsideen*). Die
Kranken bemerken ein Erkalten der ehelichen Beziehungen, fangen
glühende Blicke, geheime Zeichen auf; in Briefen finden sich ver-
steckte Aufforderungen zum Stelldichein. Die Frau wird bei unver-
mutetem Nachhausekommen verlegen, sucht etwas zu verbergen,
hustet bedeutungsvoll; es ist noch dunkel im Zimmer. Draussen
poltert jemand aus der Tür; eine Gestalt huscht am Fenster
vorbei; das letzte Kind gleicht dem Vater nicht. Gerade der-
artige unzureichende Begründungen ermöglichen es uns, die be-
greiflicherweise öfters recht schwierige Unterscheidung von ge-
sunder oder gar berechtigter Eifersucht zu treffen. Am häufig-
sten ist der Eifersuchtswahn bei Alkoholisten und Coca'inisten
sowie bei senilen Geistesstörungen.
Bei fortgeschrittener geistiger Schwache nehmen die Ver-
folgungsideen oft ganz abenteuerliche Gestaltungen an. Die feind-
lichen Beeinflussungen gewinnen Formen, die nicht nur über das
W ahrscheinliche, sondern sehr bald auch über das Mögliche hinaus-
gehen. Ganz besonders in den Vordergrund treten nunmehr die
Einwirkungen auf den eigenen Körper, die in der verschiedensten
Weise ausgemalt werden. Vielfach handelt es sich um Verände-
rungen, die im Schlafe oder auf übersinnliche Weise herbeigeführt
werden (Telepathie). Die Annahme des Behextwerdens, des
Besessenseins, die ja in den Hexenprozessen des Mittelalters eine
so grosse sittengeschichtliche Bedeutsamkeit erlangt hat, liegt
hier dem abergläubischen Kranken äusserst nahe; sie wird ge-
stützt durch krankhafte Gemeingefühle, fremdartige, ihm auf-
steigende Gedanken und Reden, die Wahrnehmung von Stimmen
im eigenen Körper, lebhafte Träume. Ein etwas anderer Bil-
dungsgang macht den Kranken mehr zur Annahme magischer,
magnetischer, elektrischer, physikalischer, hypnotischer Ferne-
wirkungen geneigt, die durch allerlei Maschinen, Telephone, gal-
*) Vi Ilers, Bull, de la societö de mdd. ment, de Belgique, 1899;
Schüller, Jahrb. f. Psych., XX, 292.
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
225
vanische Batterien, sympathetische Beziehungen von unsichtbaren
Feinden vermittelt werden. Die Ausbildung derartiger Wahnvor-
stellungen ist bisweilen eine äusserst eingehende und spitzfindige.
Besonders häufig sind geschlechtliche Beeinflussungen, Durchströ-
mung und Reizung der Geschlechtsteile, Abtötung derselben, ge-
heimnisvolle Begattungen mit ihren weiteren Folgen bis zur Geburt
in nächtlicher Betäubung. Als Urheber der Verfolgungen und
Beeinflussungen werden entweder bestimmte Personen angesehen,
Vorgesetzte, Nachbarn, Freunde, Gatten, Liebhaber oder gewisse
Parteien mit sehr absonderlichen Zielen und Hilfsmitteln, die
Geistlichen, Freimaurer, Sozialdemokraten, der Mörderbund
u. s. f. Die Idee der körperlichen Umwandlung findet ihre
weitere Entwicklung in dem ebenfalls sittengeschichtlich wich-
tigen Wahne der Verzauberung in Tier gestalt (Wehr-
wölfe), des Abgestorbenseins, der Verwandlung in andere Per-
sonen, namentlich solche anderen Geschlechts, in leblose
Dinge u. s. f.
Diese letzten Formen der Wahnbildung leiten uns hinüber
zu den hypochondrischen Ideen, bei denen die körper-
liche Beeinträchtigung nicht auf fremde Einwirkung, sondern auf
eine schwere, unheilbare Krankheit zurückgeführt wird. Wie der
angehende Arzt die Anzeichen so mancher der gerade von ihm
studierten Leiden an sich zu entdecken glaubt, so werden hier
ganz harmlose, durchaus normale Erscheinungen am eigenen Kör-
per für die Folgen der Syphilis, der Hundswut, mannigfacher Ver-
giftungen, schwerer Blutstockungen, geschlechtlicher Ausschwei-
fungen und dergleichen angesehen. Bei Ärzten sind Tabes, Para-
lyse, Phthise der häufigste Inhalt hypochondrischer Wahnideen.
Psychopathische Zustände, ferner cirkuläre, paralytische, hebe-
phrenische, senile Depressionen geben den günstigen Boden für
die Entwicklung solcher Wahnbildungen ab. Mit dem Eintritte
der Verblödung gewinnen dieselben, namentlich unter dem Ein-
flüsse krankhafter Empfindungen aller Art, nicht selten ganz
unsinnige Formen. Ein lebendiges Tier sitzt im Körper, Würmei:
unter der Haut; Mund und After sind verschlossen, die Einge-
weide verdorben oder herausgenommen, alle Glieder gelähmt, der
Atem und das Blut vergiftet, der Kopf ausgehöhlt, die Zunge
verfault, der Leib zu einem winzigen Klümpchen zusammen-
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 15
226
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
geschrumpft; der ganze Körper ist mit Gestank erfüllt, in einen
Kikerikihahn verwandelt, von Eisen und ähnliches.
Auch die Grössenideen können unmittelbar den eigenen
Körper zum Gegenstände haben. Hier gewährt uns die Hoff-
nungsfreudigkeit der Schwindsüchtigen und die Selbsttäuschung
Betrunkener ein alltägliches Beispiel für jene Störungen des
Selbstbewusstseins, bei denen das Gefühl erhöhter Leistungsfähig-
keit in Widerspruch mit dem wirklichen Verhalten gerät. So
rühmen gebrechliche Paralytiker ihre Körperkräfte, ihre aus-
gezeichneten Lungen, ihre Manneskraft, sprechen von ihrer
schönen Stimme, von ihren gymnastischen Fertigkeiten, während
sie keinen musikalischen Ton hervorbringen und nicht auf den
Füssen stehen können. Den hypochondrischen Ideen inhaltlich
verwandt sind die Grössenvorstellungen, dass der eigene Kot
Gold, der Urin Rheinwein sei und ähnliches. Zuweilen gewinnen
auch Wahnvorstellungen depressiven Inhaltes durch die Art
ihrer Verwertung die Bedeutung von Grössenideen. Die Kranken
erzählen, dass sie sofort sterben würden, um dann in den Himmel
zu fahren; sie laden zu ihrer Hinrichtung ein, die mit grosser
Feierlichkeit stattfinden werde. Andere hören wir mit Genug-
tuung sich dessen rühmen, dass ihnen schon 30 OOOmal das Haupt
abgeschlagen worden sei, dass sie den schrecklichsten Kopfkrank-
heiten ausgesetzt gewesen seien, jeden Tag einen Zentner Strych-
nin eingeblasen bekämen. Hier dienen die unerhörten Gefahren
oft dazu, die eigene Kraft und Wichtigkeit in ein um so glän-
zenderes Licht zu setzen.
Sehl* häufig ist die Idee geistiger Gesundheit trotz tief-
greifender psychischer Störung, der Mangel des Krank-
heitsbewusstseins. Wir treffen in der Irrenanstalt immer
nur eine kleine Zahl von Kranken an, die sich für geistig gestört
halten; die meisten betrachten sich als völlig gesund, nicht wenige
als ganz besonders gescheidt und leistungsfähig. Bei manischen
und namentlich hypomanischen Kranken geht die erleichterte Aus-
lösung von Bewegungsantrieben mit der Vorstellung grosser gei-
stiger Frische einher. Ebenso halten sich Paralytiker in ihrer
gehobenen Stimmung oft für gesunder, als je in ihrem Leben.
Paranoiker, deren Einbildungskraft nicht durch schwerfällige
Überlegungen gehindert wird, fühlen sich als besonders begnadete
Störungen des Urteils und der Schlussbildung.
227
Menschen, berufen, die erhabensten Grosstaten des Geistes zu
vollenden. Oft genug geben derartige Kranke die Vermutung
einer geistigen Störung entrüstet ihrer Umgebung zurück.
Schliesslich führt das Gefühl erhöhter geistiger Leistungsfähig-
keit dahin, dass sich der Kranke für ein Universalgenie, für einen
grossen Entdecker und Weltverbesserer hält, für den es keine
Schwierigkeiten und keine unlösbaren Fragen mehr gibt; er ver-
steht alle Sprachen, kennt alle Geheimnisse der Natur und er-
gründet die tiefsten Rätsel des Daseins mit spielender Leichtig-
keit. Wer wird dabei nicht an die erstaunliche Gewandtheit er-
innert, mit der wir bisweilen im Traume die schwierigsten Auf-
gaben überwältigen, um nachher beim Erwachen zu entdecken,
dass unsere Erzeugnisse barer Unsinn gewesen sind!
Die äusseren Verhältnisse des Kranken, seine gesell-
schaftliche Stellung, sein Besitz, werden durch Grössen-
wahnideen in ähnlicher Weise umgewandelt. Er ist von hoher
Abkunft, Fürstenkind, Thronerbe, oder er steht wenigstens in
nahen Beziehungen zu weltlichen und geistlichen vornehmen Per-
sönlichkeiten, ja er hat Verbindungen mit überirdischen Mächten,
Verkehr mit der Jungfrau Maria, mit Christus oder Gott selbst.
In weiterer, sein* häufiger Steigerung ist er selbst Bismarck,
König, Kaiser, Papst (sogar beides in einer Person); er ist ein
Heiliger, Christus, Braut Christi, Gott, die verkörperte Dreieinig-
keit und Obergott. Andererseits rühmt der Kranke seine schönen
Kleider, seine Pferde und Schlösser; er besitzt grosse Lände-
reien und ungeheuer viel Geld, Millionen mal Milliarden; ihm ge-
hört Deutschland, Europa, alle fünf Erdteile, ja schliesslich die
ganze Welt. An diese Vorstellungen der Macht und des Reich-
tums knüpfen sich sehr gewöhnlich mannigfache Pläne, welche
mit Hilfe der zur Verfügung stehenden Mittel zur Ausführung
gebracht werden sollen. Uom einfachen Ankäufe allerlei un-
nützer Dinge geht es zur Planung gewaltiger Bauten, grossartiger
Feste, zur Austrocknung ganzer Meere, Durchbohrung der Erde,
Reisen nach dem Monde und durch das Weltall. In dieser ver-
schiedenartigen inhaltlichen Ausprägung des „Grössenwahns“
macht sich der Einfluss der persönlichen Erfahrung geltend. Die
allgemeine Richtung ist offenbar in dem zu Grunde liegenden
Krankheitszustande vorgezeichnet, aber die Ausgestaltung und
15*
228
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Ausschmückung des Wahns wird durch den Vorstellungsschatz
des Einzelnen geliefert und gibt somit ein bisweilen sehr tref-
fendes Bild von seinen Anschauungen, Interessen und Wünschen.
Immerhin zeigen die Wahnideen gleichartiger Kranker oft genug
eine überraschende Ähnlichkeitt, ein Beweis für die allgemeine
Einförmigkeit menschlichen Strebens und Denkens.
Grössen- und Kleinheitsidean sind durchaus nicht etwa als
gegensätzliche und einander ausschliessende Richtungen der Vor-
stellungstätigkeit zu betrachten, sondern sie verbinden sich
sogar sehr gewöhnlich. Oft stehen sie ganz unvermittelt
nebeneinander; hie und da jedoch lässt sich ein gewisser innerer
Zusammenhang beider Vorstellungskreise aufdecken. Der ver-
meintlich Verfolgte sieht die Ursache der gegen ihn gerichteten
Feindseligkeiten in seinen besonderen Vorzügen, in seinen na-
türlichen Ansprüchen auf ein grosses Besitztum, in seiner An-
wartschaft auf einen Fürstenthron, und umgekehrt glaubt der
wahnhafte Sprössling aus hohem Hause, der Besitzer eingebildeter
Reichtümer die Nichtanerkennung seiner Rechte auf die Machen-
schaften geheimer Feinde und Neider zurückbeziehen zu müssen,
betrachtet seine Zurückhaltung in der Irrenanstalt als das Werk
erbschieicherischer Verwandten oder auch als eine von Gott auf-
erlegte Prüfung, nach deren glücklichem Überstehen das ganze
Füllhorn des Glückes sich über ihn ergiessen werde. Ohne Zweifel
haben wir dabei übrigens nicht an eine logische Entwicklung
der einzelnen Gedankenkreise auseinander, sondern vielmehr an
eine nachträgliche Verbindung derselben zu denken, da jeder
Wahn ursprünglich selbständig aus den inneren Zuständen des
Kranken hervorgeht. Bei der Dementia praecox bedeutet das
Auftauchen von Grössenideen neben dem Verfolgungswahn regel-
mässig ein stärkeres Fortschreiten der psychischen Stärke.
Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes. Die
Verknüpfung von Vorstellungen und Begriffen miteinander nimmt,
wie sich durch Messungen zeigen lässt, eine bestimmte, nicht
unbeträchtliche Zeit (etwa 0,5 — 1,0" und mehr) in Anspruch,
deren Dauer bei der gleichen Person je nach der Leichtigkeit
wechselt, mit welcher sich die Glieder aneinanderfügen. Sie ge-
stattet umgekehrt Rückschlüsse auf die innigeren oder ent-
fernteren Beziehungen der psychischen Vorgänge zu einander. Bei
Störungen in der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes.
229
verschiedenen Personen zeigt die Geschwindigkeit der Vorstellungs-
Verbindungen schon in der Gesundheitsbreite sehr erhebliche Unter-
schiede, die bis auf das Dreifache schwanken können, ohne dass
sich bis jetzt für diese dauernden persönlichen Eigentümlich-
keiten bestimmte Gründe auffinden Hessen. Durch diese Er-
fahrung wird natürlich auch die Beurteilung krankhafter Ab-
weichungen insoweit erschwert, wie nicht im einzelnen Falle Ver-
gleichswerte aus gesunden Tagen zu Gebote stehen. Dazu kommt
noch der Umstand, dass die notwendigen Messungen mit allerlei
Schwierigkeiten umgeben sind, welche nur durch völlige Ver-
trautheit mit dem Massverfahren überwunden werden können.
Darin liegen die Gründe, warum die Kenntnisse von den Störungen
des zeitlichen Ablaufes unserer Gedankengänge verhältnismässig
noch recht ungenügende sind. Immerhin verfügen wir auch jetzt
schon über Zehntausende brauchbarer Messungen an Kranken.*)
Zunächst steht soviel fest, dass eine Verlangsamung des
Vorstellungsverlaufes durch eine ganze Reihe von Ursachen*schon
beim Gesunden herbeigeführt werden kann. Vor allem ist es
die Ermüdung, die regelmässig den Gedankengang verzögert,
schliesslich bis zur völligen psychischen Lähmung. Körperliche
und geistige Ermüdung haben diese Wirkung miteinander gemein-
sam. Ähnlich wirken eine Anzahl von Vergiftungen, namentlich
diejenigen mit Alkohol, Äther, Chloroform, Chloralhydrat u. a.,
in schwächerem Grade der Tabak. Auch gewisse Gemütsbewe-
gungen unangenehmer Art scheinen den Ablauf der Vorstel-
lungen zu verlangsamen.
In Krankheitszuständen vermag man die Verlangsamung des
Gedankenganges nicht selten schon mit einer einfachen Uhr oder
auch ohne jede Messung nachzuweisen. Namentlich in den stu-
porösen und gewissen Mischzuständen des cirkulären Irreseins
pflegt die Störung ungemein deutlich zu sein. Dabei ist jedoch
zu berücksichtigen, dass bisweilen nicht sowohl die AAerbindung
der Vorstellungen, sondern wesentlich nur die Auslösung der Ant-
wort stark verlangsamt ist. Ich kenne Fälle von cirkulärer Hem-
mung, bei denen der Vorstellungsverlauf nur unbedeutend oder
*) Reis, Psycholog. Arbeiten, II, 587 ; Aschaffenburg, ebenda,
IV, 235.
230
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gar nicht, die Entstehung der Sprachbewegung dagegen ungemein
stark erschwert war, wie sich durch Versuche zweifellos nach-
weisen Hess. Melancholische pflegen eine massige Verlangsamung
des Gedankenganges darzubieten. Eei der Dementia praecox,
namentlich in den Endzuständen, ist regelmässig eine geringe
Erschwerung in der Verbindung der Vorstellungen vorhanden,
die allerdings infolge des Negativismus weit grösser erscheinen
kann. Recht bedeutend pflegt die Verlängerung der psy-
chischen Zeiten in der Paralyse zu sein, bis im weiteren Ver-
laufe die Messung völlig versagt. Beim angeborenen Schwach-
sinn wird ebenfalls Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes be-
obachtet. Mit einer Verlängerung der Associationszeiten sieht
man regelmässig auch die Sc awankungen der gemessenen
Werte zunehmen, die Buccola mit Recht als das Dynamo-
meter der Aufmerksamkeit bezeichnet hat. Während sonst
die psychischen Vorgänge gerade bei langsamerer Arbeit
gleichmässiger zu verlaufen pflegen, werden hier die Lei-
stungen nicht nur geringer, sondern auch unregelmässiger;
zugleich lässt sich vielfach noch eine Abnahme ihres inneren
Wertes nachweisen.
Beschleunigung des Vorstellungsverlaufes kommt jeden-
falls ungleich seltener zu stände, als Verlangsamung. Sehen wir
ab von der allmählich eintretenden Verkürzung der psychischen
Zeiten durch Übung, so scheinen im gesunden Leben wesentlich
gewisse Formen der gemütlichen Erregung einen rascheren Ab-
lauf des Gedankenganges herbeiführen zu können. Höchstens wäre
hier noch der Einfluss der Anregung durch fortdauernde, gleich-
mässige Gedankenarbeit zu erwähnen, der ebenfalls erleichternd
auf die geistige Tätigkeit wirkt. Von Arzneistoffen ist bisher
nur für das Morphium, das Coffein und die ätherischen Öle des
Tees eine anregende Wirkung auf die Verstandesleistungen wahr-
scheinlich. Bei Geisteskranken sind unzweifelhafte erkürzungen
der psychischen Zeiten überhaupt noch nicht nachgewiesen. Er-
warten könnte man diese Erscheinung nach der allgemeinen An-
schauung etwa bei manischen Kranken, namentlich in den leich-
teren Formen, in der sogenannten Hypomanie. Drückt sich doch
schon in dem Namen der hier so deutlichen „Ideenflucht“ die Vor-
stellung einer Beschleunigung der Gedankenverbindungen aus.
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit.
231
In der Tat hat Marie Walitzkaja bei manischen Kranken
Verkürzungen der Associationszeit bis auf die Hälfte, ja bis auf
ein Drittel der gewöhnlichen Dauer gefunden. Der Annahme
einer derart erheblichen Beschleunigung der Vorstellungsverbm-
dungen widersprechen indessen die in unserer Klinik, nament-
lich von Aschaffenburg, gesammelten, sehr ausgedehnten
Erfahrungen durchaus. Meist lässt sich sogar bei Ideenflüchtigen
geradezu eine Verlangsamung des Gedankenganges nachweisen.
Ich bin nicht mehr im Zweifel darüber, dass die entgegenstehen-
den Ergebnisse durch die hier sehr naheliegende und nur schwierig
zu vermeidende Fehlerquelle der vorzeitigen Reaktion getrübt
worden sind.
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit. Der zeitliche Ab-
lauf des einzelnen psychischen Vorganges liefert uns nur ein
sehr unvollkommenes Bild der eigentlichen geistigen Leistungs-
fähigkeit. Es können tiefgreifende und ausgebreitete Störungen
in der gesamten geistigen Veranlagung bestehen, übei die wir
durch die einzelne Messung nicht das geringste erfahren. Dagegen
wird uns durch die Untersuchung der Arbeitsleistung während
längerer Zeit*) und unter verschiedenen Verhältnissen ein Ein-
blick in eine Reihe von Abweichungen eröffnet, deren Bedeutung
für das genauere Verständnis der Schwachsinnsformen, namentlich
der angeborenen, kaum überschätzt werden kann. Wii leinen
hier geradezu gewisse Grundeigenschaften der einzel-
nen Persönlichkeit kennen, von deren krankhaften Ge-
staltungen wir sonst nur höchst unbestimmte und verschwommene
Vorstellungen zu haben pflegen.
Zunächst stellt sich heraus, dass die Arbeitsleistung beim
gesunden Menschen gewisse dauernde Spuren hinterlässt, die für
später eine Erleichterung der gleichen Arbeit vermitteln. Diese
dauernde, nur sehr allmählich wieder verschwindende Arbeits-
erleichterung bezeichnen wir mit dem Namen der Übung. Die
Grösse des Übungseinflusses ist bei verschiedenen Personen sehr
verschieden. Weit grösser aber sind die Schwankungen auf krank-
haftem Gebiete. Wenn wir absehen von den erworbenen Schwach-
sinnsformen, insbesondere dem paralytischen Blödsinn, bei denen
*) K r a e p e 1 i n , Die Arbeitskurve, Philosophische Studien, XIX, 459.
232
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die Übungsfähigkeit häufig vollkommen vernichtet ist, so
leuchtet ohne weiteres ein, dass jene Eigenschaft bei Idioten
fast ausschliesslich die ganze Zukunft des Kranken bestimmt.
Bildungsunfähigkeit ist im wesentlichen nichts, als Mangel der
Übungsfähigkeit. Natürlich kommt es aber ausser der Arbeits-
erleichterung durch die Übung selbst auch auf die Festigkeit
an, mit welcher diese bleibende Spur im Gedächtnisse haftet.
Wo die erworbene Übung sich rasch wieder verliert, wird sie nur
ein sehr unzuverlässiges Hilfsmittel für die geistige Ausbildung
abzugeben imstande sein. Auch in dieser Beziehung finden sich
schon bei Gesunden sehr bedeutende Unterschiede. In krankhafter
Ausbildung begegnen wir raschem Schwinden der vielleicht ebenso
rasch erworbenen Übung namentlich bei jenen Formen des an-
geborenen Schwachsinns, bei denen eine gewisse oberflächliche
geistige Regsamkeit zunächst über die tief begründete Unzuläng-
lichkeit der geistigen Begabung täuscht.
Mit der Übungsfähigkeit steht vielleicht in innerer Beziehung
die Anregbarkeit. Es hat sich herausgestellt, dass durch
fortgesetzte geistige Arbeitsleistung rasch eine Erleichterung
eben dieser Arbeit zu stände kommt, die sich von der Übung
durch ihr schnelles Verschwinden nach dem Auf hören der Arbeit
unterscheidet. Die grössere oder geringere Leichtigkeit, mit der
sich diese Zunahme der Leistung während der Arbeit einstellt,
bezeichnen wir als Anregbarkeit. Aus der täglichen Erfahrung
ist genugsam bekannt, wie verschieden die Geschwindigkeit ist,
mit welcher sich der Einzelne in eine Arbeit hineinfindet. Unter
unseren Kranken bieten die Gehemmten, Stuporösen denjenigen
Grenzfall dar, bei welchem die Anregbarkeit ihre niedersten Werte
erreicht, während uns manische Kranke anscheinend gerade die
entgegengesetzte Störung in ihrer höchsten Ausbildung zeigen.
Namentlich bei feineren Untersuchungen über die Schrift hat sich
herausgestellt, dass in der Manie während des Schreibens die Ge-
schwindigkeit der Bewegungen und der Druck der Feder ausser-
ordentlich rasch anwächst. Weniger augenfällig, aber als dau-
ernde persönliche Eigentümlichkeiten, treten uns die beiden ent-
gegengesetzten Störungen in jenen Formen des angeborenen
Schwachsinns entgegen, die man, nicht ohne Beziehung auf das
verschiedene Verhalten der Anregbarkeit, als stumpfen und er-
Störungen der geistigen Arbeitsfähigkeit.
233
regbaren Schwachsinn auseinandergehalten hat. Vielleicht ist
auch die Nachhaltigkeit der Anregung, die Geschwindigkeit, mit
der sich die innere Bewegung wieder beruhigt, von Bedeutung für
das Verständnis dieser oder jener Krankheitszustände. Leider
ist über diese Verhältnisse bisher nichts bekannt.
Eine weitere, grundlegende Eigenschaft der geistigen Per-
sönlichkeit ist die Ermüdbarkeit. Durch die Ermüdung wird
die Höhe der Arbeitsleistung je länger, je mehr herabgesetzt,
wahrscheinlich nicht nur in ihrer Menge, sondern auch in ihrem
Werte. Grosse Ermüdbarkeit beeinträchtigt daher auf das em-
pfindlichste die Fähigkeit zu längerer und anstrengender Arbeits-
leistung. Bei Geisteskranken ist diese Störung ungemein ver-
breitet. Wir finden sie zunächst bei der nervösen Erschöpfung
und in der Genesungszeit nach verschiedenen Formen psychischer
Erkrankung. Sehr ausgeprägt pflegt sie in den Depressions-
zuständen nach manischen Anfällen zu sein; die durch die Er-
regung verdeckte Ermüdung tritt mit der Beruhigung in ähnlicher
Weise hervor wie die Abspannung nach aufregenden Erlebnissen
beim Gesunden. Sodann begegnen wir erhöhter Ermüdbarkeit
vielfach bei der Dementia praecox, namentlich aber bei den
senilen Hirnerkrankungen und in der Paralyse, wo sie häufig genug
das erste auffallende Krankheitszeichen bildet. Endlich ist
sie eine häufige Begleiterscheinung des angeborenen Schwach-
sinns. Sie kann hier, zum grossen Schaden des Kranken, un-
erkannt bleiben, wenn sie sich mit erhöhter Anregbarkeit ver-
bindet. Es kommt dann leicht zu einer Anspannung der geistigen
Arbeitskraft über das zulässige Mass hinaus, die zu einer dauern-
den Ermüdung, vielleicht auch zu einer Steigerung der Ermüd-
barkeit führen kann.
Ausgeglichen wird die Ermüdung durch die Erholung und
namentlich durch den Schlaf. Wahrscheinlich unterliegt auch
die Schnelligkeit, mit der sich die Erholung vollzieht, krankhaften
Störungen. Melancholische, Nervöse, Genesende sehen wir un-
gemein langsam die Folgen einer geistigen, gemütlichen oder
auch körperlichen Anstrengung wieder ausgleichen; wir haben
daher bei ihnen vielleicht eine Abnahme der Erholungsfähig-
keit, der geistigen Spannkraft, zu verzeichnen. Eine wesentliche
Rolle spielt dabei ohne Zweifel das Verhalten des Schlafes. Nach
234
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
den vorliegenden Untersuchungen darf es als wahrscheinlich gel-
ten, dass wir es beim Irresein vielfach mit schweren Störungen
nicht nur der Schlafdauer, sondern namentlich auch der Schlaf-
tiefe zu tun haben. Für Zustände einfacher Überarbeitung ist
eine V erf lachung des Schlafes, langsameres Erreichen der grössten
Tiefe und vollkommener Nachlass der Schlaftiefe gegen Morgen
bereits nachgewiesen.
Kaum weniger häufig, als der krankhaften Ermüdbarkeit,
begegnen wir auf unserem Gebiete einer Steigerung der Ab-
lenkbarkeit. Dieselbe kann entweder durch geringe Stärke
der Leitvorstellungen, durch ungewöhnlich lebhaftes Hervor-
treten einzelner Vorstellungsbestandteile oder endlich durch er-
höhte Empfindlichkeit für ablenkende Einwirkungen zu stände
kommen. Den ersten Fall haben wir im gesunden Leben beim
wachen Träumen vor uns, wenn wir planlos unsere Gedanken
schweifen lassen und dabei durch ganz zufällige innere und
äussere Einflüsse bald hierhin, bald dorthin abgelenkt werden.
Auf ähnliche Weise kommt vielleicht die Ablenkbarkeit beim
Schwachsinn, insbesondere bei der Paralyse und der Dementia
praecox, zu stände; hier fehlen dauernd jene Leitvorstellungen,
die dem Gedankengange seine bestimmte Richtung vorzeichnen
und das Anwachsen aller ausserhalb der Bahn liegenden Eindrücke
und Vorstellungen schon im Entstehen hemmen.
Für die zweite Form der Ablenkbarkeit finden wir vielleicht
gewisse Anknüpfungspunkte in den Begleiterscheinungen ange-
strengter Tätigkeit. Wir haben schon früher gesehen, dass mit
wachsender Willensspannung die sprachliche Gewohnheit einen
ganz besonderen Einfluss auf unseren Vorstellungsverlauf gewinnt.
Am deutlichsten wird das nach Entziehung des Schlafes und nach
körperlicher Arbeit. Die motorischen Bestandteile unserer Vor-
stellungen scheinen dabei ein deutliches Übergewicht zu erlangen.
Zugleich verlieren allerdings wohl auch die Leitvorstellungen
durch die Ermüdung wesentlich an Kraft. Infolgedessen sind
wir nicht mehr imstande, bei der Stange zu bleiben, ertappen uns
fortwährend auf Nebengedanken und sind genötigt, immer von
neuem durch eine besondere Anstrengung unsere Aufmerksamkeit
in die alte Richtung zurückzubringen. Diese Erscheinung ist uns
aus den Erörterungen über die Ideenflucht wohlbekannt; sie be-
Störungen des Selbstbewusstseins.
235
gegnet uns bei sehr verschiedenartigen Erregungszuständen, vor
allem im manisch-depressiven Irresein.
Erhöhte Empfindlichkeit gegen ablenkende Einwirkungen ist
endlich eine regelmässige Begleiterscheinung der allgemeinen
Nervosität. Sie geht Hand in Hand mit einer Herabsetzung der
Gewöhnungsfähigkeit. Für den gesunden Menschen pflegt
jede Ablenkung bei längerer Einwirkung allmählich ihren. Ein-
fluss mehr und mehr zu verlieren; er gewöhnt sich an die Störung
und lernt, dieselbe unbeachtet zu lassen. Bei gesteigerter ner-
vöser Reizbarkeit kann diese Gewöhnungsfähigkeit mehr oder
weniger erheblich herabgesetzt sein, so dass also die ablenkende
Wirkung einer Störung mit der Zeit immer wächst, anstatt sich
abzuschwächen. Auf diese Weise können schliesslich ganz un-
bedeutende Reize in einem Grade . störend einwirken, der dem
Unbefangenen unbegreiflich erscheint. .
Störungen des Selbstbewusstseins- Als Selbstbewusstsein be-
zeichnen wir die Summe aller jener Vorstellungen, aus denen
sich für uns das Bild unserer körperlichen und geistigen Persön-
lichkeit zusammensetzt. Diese Vorstellungsgruppe bildet den
dauernden Hintergrund unseres Seelenlebens und übt. daher auf
den Ablauf unserer gesamten geistigen Vorgänge . einen mass-
gebenden Einfluss aus. Sie verknüpft einerseits die Eindrücke
jedes Augenblickes zu einem einheitlichen Bilde unserer ge-
samten Lage, und sie verkettet andererseits die Reihe unserer
Lebenserfahrungen zu einer fortlaufenden Lebensgeschichte,
deren Endergebnis jeweils das gegebene Ich darstellt.
Störungen des Selbstbewusstseins können zunächst die innere
Einheit der Persönlichkeit aufheben. Wir kennen aus dem Traume
die Erscheinung, dass wir Zwiegespräche führen können, ja dass
wir über irgend eine schlagende Wendung unseres Gegners ver-
blüfft sind. Hier ist anscheinend die Einheitlichkeit des Selbst-
bewusstseins, die uns im Wachen gestattet, alle Gedanken und
Regungen unseres Innern gleichzeitig zu übersehen, aufgehoben.
Eine solche „Teilung“ oder „Spaltung“ des Selbstbewusstseins be-
gegnet uns in Krankheitszuständen häufig. Die ersten Ansätze dazu
haben wir vielleicht schon in jenen Fällen zu sehen, in denen Sinnes-
täuschungen dem Kranken als fremde Erscheinungen äusseren
Ursprungs entgegentreten. Wenn ein Trinker hört, dass übei
236
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
ihn spottende Zwiegespräche geführt und gefahrdrohende Pläne
verabredet werden, so bleibt ihm dabei völlig verborgen, dass
diese Täuschungen nichts, als der hallucinatorische Ausdruck seiner
eigenen Gedanken und Befürchtungen sind; er selbst spielt, ohne
es zu wissen, die Rolle zweier verschiedener Parteien. Nament-
lich bei der Dementia praecox kann diese Spaltung des Selbst-
bewusstseins sehr deutlich werden. Die Kranken sprechen dann
von den fremden Mächten, Feinden, die sich in ihrem Körper ein-
genistet haben, und unterscheiden sehr deutlich ihre eigenen Ge-
danken und Handlungen von denen ihrer Inwohner. Auch zur
Erklärung gewisser hysterischer Störungen hat man eine ähn-
liche Annahme vorgeschlagen. Da sich nachweisen lässt, dass
auch solche Reize psychisch verwertet werden können, die auf
empfindungslose Körpergegenden einwirken, und dass gelähmte
Glieder auf Umwegen in Bewegung gesetzt werden können, liegt
die Annahme nahe, dass es sich hier um eine Spaltung des Selbst-
bewusstseins handle, die einzelne Körpergebiete aus dem Zusam-
menhänge des Persönlichkeitsbewusstseins ausschliesst.
Der zeitliche Zusammenhang der Persönlichkeit mit ihrer
Vergangenheit kann dadurch gestört werden, dass die Spuren
kürzerer oder längerer Lebensabschnitte verlöschen. Hat in diesen
Abschnitten eine Fortentwicklung nicht stattgefunden, so findet
sich das Selbstbewusstsein nachher unverändert auf dem früheren
Standpunkte; die Zwischenzeit wird dann durch Schlussfolge-
rungen oder durch Erinnerungsfälschungen überbrückt. Ersteres
ist der Fall bei den Lücken, die durch Bewusstseinstrübungen,
den Schlaf, Ohnmächten, Dämmerzustände, Delirien, bedingt wer-
den; letzteres geschieht, wo der Verlust der Erinnerung durch
eine Merkstörung verursacht war, wie bei der K o r s s a k o w sehen
Krankheit. Ein wesentlich anderes Bild bieten dagegen die Fälle
von sogenanntem „doppeltem Bewusstsein“ dar. Hier
handelt es sich um den mehr oder weniger regelmässigen Wechsel
verschiedener Zustände, in denen jeweils nur die Erinnerung an
die Erlebnisse des gleichartigen Zustandes erhalten bleibt. Es
schieben sich also gewissennassen zwei verschiedene Persönlich-
keiten durcheinander, von denen jede nur über einen Teil der
Gesamterfahrungen verfügt. In der Regel pflegt die eine der-
selben einer früheren Entwicklungsstufe anzugehören und dem-
Störungen des Selbstbewusstseins.
237
gemäss allerlei Kenntnisse und Fertigkeiten nicht zu besitzen,
welche die andere beherrscht. Bisweilen lässt sich nachweisen,
dass geradezu eine Rückversetzung in ein bestimmtes, durch be-
sondere Ereignisse ausgezeichnetes Lebensalter stattgefunden hat.
Diese Erscheinung, die man bei geeigneten Personen durch hyp-
notisches Einreden künstlich erzeugen kann, gehört dem Gebiete
der Hysterie an; sie ist von den Franzosen als „Ekmnesie“ be-
zeichnet worden.
Das Selbstbewusstsein ist kein feststehendes psychisches Ge-
bilde, sondern es wird durch die Lebenserfahrungen fortwährend
verändert. Auch Krankheitsvorgänge vermögen es in der nach-
haltigsten Weise zu verfälschen, freilich in sehr verschiedenem
Grade. Worauf diese Unterschiede beruhen, ist noch völlig un-
klar. So sind die Verfälschungen des Selbstbewusstseins bei
cirkulären Depressionszuständen oft sehr ausgeprägt, während
sie in der Melancholie trotz weitgehendster wahnhafter Umge-
staltung der Umgebung sehr gering sein können. Auch im Trinker-
delirium spielen sich mit den Kranken die abenteuerlichsten Er-
lebnisse ab, ohne dass ihr Selbstbewusstsein verfälscht würde.
Da die schwersten Umwandlungen des Selbstbewusstseins in der
Paralyse, in der Dementia praecox und im manisch-depressiven
Irresein beobachtet werden, könnte man auf den Gedanken
kommen, dass jenes Krankheitszeichen in irgend einer Beziehung
zu den Störungen des Willens stände, die den genannten Formen
eigentümlich sind; pflegen wir doch auch den Willensregungen
einen besonders grossen Anteil an dem Aufbau der psychischen
Persönlichkeit zuzuschreiben.
Im einzelnen erhält die Verfälschung des Ichbewusstseins
ihre Färbung namentlich durch die krankhafte Stimmung. So
wächst beim manischen Kranken die eigene Persönlichkeit bis
zum Auftreten von Grössenideen, die freilich in der Regel nur
als halb scherzhafter Ausdruck des gehobenen Selbstgefühls
vorgebracht werden. In den cirkulären Depressions- und Stupor-
zuständen kommen sich die Kranken nicht nur schlecht und ver-
worfen vor, sondern sie fühlen sich oft genug auch körperlich
verändert, versteinert, verzogen, gestorben, glauben sich in ge-
schichtliche Personen verwandelt, sind zum Teufel, zum Tiere
geworden. Auch dem Paralytiker kann im Zusammenhänge mit
238
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
den Grössen- und Kleinheitsideen sein Körper in der mannig-
fachsten Weise verändert erscheinen; ebenso empfindet er viel-
fach in seinem geistigen Leben eine völlige Umwandlung, die
ihn seiner eigenen Vergangenheit entfremdet und ihn zu einem
ganz neuen Wesen macht, das je nach der Färbung der Stimmung
bis ins Ungemessene gewachsen oder zum Nichts zusammen-
geschrumpft ist. Ganz ähnliche, wenn auch weniger stürmische
Wandlungen können sich in der Dementia praecox vollziehen.
Sie sind jedoch im ganzen hier ungleich seltener, und sie ver-
knüpfen sich, im Gegensatz zur Paralyse und zum manisch-depres-
siven Irresein, immer mit der Vorstellung äusserer Beeinflussung
in irgend einer Form, ohne dass freilich die P eränderung der
eigenen Persönlichkeit gerade als Folge solcher Einwirkungen
gedeutet werden müsste. Bei denjenigen Formen des Irreseins,
die wir der V errücktheit zurechnen, pflegt die Störung des Selbst-
bewusstseins verhältnismässig gering zu sein; sie beschränkt sich
in. der Kegel auf eine wahnhafte Überschätzung der eigenen Fähig-
keiten, die unter Umständen durch Erinnerungsfälschungen in
die Vergangenheit zurückgeführt wird und die Anknüpfung für
eine Umdeutung der äusseren Lebensstellung bilden kann.
Mit dem Fortschreiten der Verblödung kommt es schliess-
lich auch zu einer Vernichtung des Selbstbewusstseins. In den
Endzuständen der Dementia praecox und namentlich der Paralyse
kann, wie es scheint, die Vorstellungsgruppe der körperlichen
und geistigen Persönlichkeit und damit das innere Band völlig
zerfallen, das die Kette der Erfahrungen zusammenkält. Es muss
jedoch betont werden, dass dieser Vorgang nicht eine einfache
Folge der Verblödung ist, sondern eine besondere Teilerscheinung
der genannten Erkrankungen bildet. Auch bei der epileptischen
Verblödung sehen wir hochgradige geistige Verarmung und
schwere Gedächtnisstörungen zur* Entwicklung kommen. Trotz-
dem bleibt hier in der Regel den Kranken ein klares, geordnetes
Bewusstsein ihrer Persönlichkeit. Selbst bei der Presbyophrenie,
bei der wegen der starken Merkstörung die Lebensereignisse
sofort spurlos aus der Erinnerung schwänden, um durch freie
Erfindungen ersetzt zu werden, pflegt das Selbstbewusstsein wohl
erhalten zu bleiben; höchstens kommt es zu einer Rückversetzung
in längstvergangene Zeiten.
Störungen des Gefühlslebens.
239
C. Störungen des Geliililslebeiis.
Jeder Sinneseindruck, der die Schwelle des Bewusstseins über-
schreitet, erzeugt in unserem Innern ausser der Wahrnehmung
eine eigentümliche Veränderung unseres Seelenzustandes, die wir
als Gefühl bezeichnen. Die Gefühle sind nicht, wie die Wahr-
nehmungen, ein Abbild der Aussenwelt, sondern sie kennzeichnen
unmittelbar die Stellung, welche das Ich gegenüber den äusseren
Einwirkungen einnimmt; es sind diejenigen Seelenzustände, aus
denen sich auch tatsächlich die Willensregungen entwickeln.
Nach Wundts*) Darlegungen kann man drei gegensätzliche
Gefühlsrichtungen auseinanderhalten, die jedoch nur selten allein,
sondern fast immer in mannigfaltigen Mischungen die geistigen
Vorgänge begleiten, die Lust und Unlust, die Erregung und Be-
ruhigung, vielleicht besser Hemmung, endlich die Spannung und
Lösung. Diese Zerlegung der Gefühlsmischungen in ihre ein-
fachsten Bestandteile lässt sich nicht nur an passend gewählten
Beispielen durch die innere Erfahrung unmittelbar durchführen,
sondern sie wird auch gestützt durch die eigenartigen Wirkungen,
die den verschiedenen Gefühlsarten auf Atmung, Puls und Blut-
druck zuzukommen scheinen.
Da die Gefühle die empfindlichsten Zeichen aller inneren
Veränderungen sind, ist es bei den Geistesstörungen regelmässig
gerade die Gefühlsbetonung, das „Gemütsleben“ der Kranken,
welches zunächst die auffallendsten Störungen darbietet. Die
Beurteilung dieser Krankheitserscheinung stösst jedoch des-
wegen auf gewisse eigentümliche Schwierigkeiten, weil uns hier
weit weniger, als auf dem Gebiete des Verstandes, eine
feststehende Richtschnur gegeben ist, mit Hilfe derer wir die
gradweisen Abweichungen vom gesunden Verhalten sicher be-
stimmen könnten. Verfälschungen der Sinneserfahrung, Ver-
stösse gegen die Grundsätze des logischen Denkens werden auch
vom Laien ohne weiteres als krankhafte Erscheinungen erkannt;
die Lebhaftigkeit der Gefühlsäusserungen zeigt aber schon
bei Gesunden unter verschiedenen Verhältnissen so weitgehende
persönliche Verschiedenheiten, dass die Abgrenzung des Krank-
*) W u n d t , Physiologische Psychologie. II, 284, 5. Aufl. 1902.
240
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
haften gerade auf diesem Gebiete häufig recht schwierig wird.
Der Laie (in forensischen Fällen der Richter) ist stets weit eher
geneigt, Mängel des Verstandes, besonders Wahnideen, für krank-
haft zu halten, als die eingreifendsten Störungen im Gemüts-
leben.
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.
Die einfachste und wohl auch häufigste Abweichung im Bereiche
der Gefühle ist die Herabsetzung ihrer Stärke. Während
sich im Gemüte des Gesunden der innere Anteil, den er an
seinen vielfachen Beziehungen zur Umgebung nimmt, in bestän-
digen, leiseren oder stärkeren Schwankungen des Stimmungs-
hintergrundes widerspiegelt, bedeutet die Abnahme dieser Ge-
fühlsbetonung Gleichgültigkeit und Teilnahmlosig-
keit gegenüber den Eindrücken der Aussenwelt. Diese Störung
ist eine allgemeine Begleiterscheinung der meisten Schwachsinns-
formen. Unter Umständen werden dabei die äusseren Erfahrungen
noch recht gut aufgefasst und selbst verstandesmässig verarbeitet,
ohne allerdings irgend einen bemerkbaren gemütlichen Widerhall
in dem Kranken wachzurufen. Dieses auffallende Missverhält-
nis zwischen Verstandes- und Gefühlsstörung tritt uns am aus-
geprägtesten bei der Dementia praecox entgegen. Erst in den
schwersten Krankheitszuständen pflegt hier auch die Auffassung
und die Vorstellungstätigkeit eine tiefgreifende Einbusse zu er-
leiden. Bei der Paralyse dagegen sehen wir einerseits die Ver-
standesleistungen in verhältnismässig höherem, die gemütlichen
Regungen dagegen in geringerem Grade durch die Krankheit
zerstört werden.
Die Abnahme der Gefühlsbetonung pflegt sich in der Regel
nicht auf alle Gebiete des gemütlichen Lebens gleichmässig zu
erstrecken, sondern es kommt vielmehr zunächst zu einer Ein-
schränkung der inneren Beziehungen des Kranken. Der Kreis
der Vorgänge, die ihn noch innerlich berühren, wird enger,
während nach gewissen Richtungen hin die Lebhaftigkeit der
Gefühle die alte bleibt, ja sich unter Umständen sogar noch
steigern kann. Am leichtesten gehen dem Kranken natürlich
solche Gefühle verloren, welche nicht unmittelbar an die Ver-
änderungen des eigenen Ich anknüpfen, sondern sich auf die Ver-
hältnisse der weiteren Aussenwelt beziehen, und ferner diejenigen.
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.
241
welche die Eigenschaft des Sinnlichen verloren haben und als
Begleiter gewisser allgemeiner Vorstellungen und Grundsätze nur
durch die höheren geistigen und sittlichen Leistungen wach-
gerufen werden. Wie der Gedankenkreis sich auf das Einfachste,
Nächstliegende und persönlich Wichtigste beschränkt, so behalten
auch die Gefühle ihre sinnliche Einfachheit und erstrecken sich
nur auf jene Eindrücke, die in dem unmittelbarsten und einleuch-
tendsten Zusammenhänge mit dem eigenen Wohl und W ehe stehen.
Mit anderen Worten: die Anteilnahme des Kranken zieht sich
wesentlich auf die Zustände der eigenen Person zurück, wird eine
ausschliesslich selbstsüchtige, und er verliert die Freude an der
geistigen Tätigkeit, an edleren künstlerischen Genüssen, das Ge-
fühl für die höheren Anforderungen des Anstandes, der Sittlich-
keit, der Religion. Fremdem Schicksale steht sein Herz kalt
und gleichgültig gegenüber; allgemeinere und höhere Bestre-
bungen vermögen weder Verständnis noch Teilnahme in seinem
Innern anzuregen. Es fallen also für ihn wesentlich alle jene
Beweggründe und Hemmungen fort, welche dem Gesunden aus
der Rücksicht auf seine Umgebung, aus seinen Beziehungen zur
Familie, zu seinem Volke, endlich zur gesamten Menschheit und
ihren Aufgaben entspringen. Die Folgen dieser Umwandlung sind
ungemein auffallende. Der Kranke hat kein Gefühl mehr für
seine Angehörigen, sein Geschäft, seine Arbeit, seine Pflicht;
er verliert das Schamgefühl, wird rücksichtslos im persönlichen
Verkehr, macht sich keine Gedanken über seine Lage, keine
Sorgen für die Zukunft.
In mildester Form sehen Avir eine derartige Veränderung
schon im gesunden Greisenalter, stärker im krankhaften Alters-
schwachsinn sich vollziehen. Die gemütliche Empfänglichkeit und
Begeisterungsfähigkeit verblasst, während die Regungen der
Eigenliebe sowie die Freude am Besitz und am sinnlichen Genüsse
sich lebhafter geltend machen. Weiterhin bilden die Zeichen der
gemütlichen Verblödung häufig die ersten auffallenden Erschei-
nungen der Paralyse und namentlich der Dementia praecox, in
deren Verlaufe sie sich immer schärfer ausprägen. Endlich aber
spielt das Fehlen der gemütlichen Ansprechbarkeit auch eine
wichtige Rolle bei manchen epileptischen und angeborenen
Schwachsinnsformen. Mit der Verkümmerung des Gemütslebens
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. ^ufl. 16
242
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
verträgt sich hier recht wohl eine gewisse Findigkeit in der
Verfolgung des sinnlichen Genusses, eine handwerksmäßige Ge-
wandtheit in der Erreichung selbstsüchtiger Vorteile, durch
welche sich die Umgebung häufig über die tiefe geistige und
gemütliche Unfähigkeit der Kranken hinwegtäuschen lässt. Aus
der Gesundheitsbreite gehören hierher jene gemütsrohen und
selbstsüchtigen Naturen, die fremden Gefühlen teilnahm los
gegenüberstehen, durch keine Regung der Menschenliebe aus
ihrer Ruhe aufgerüttelt werden und planmässig berechnend
nur von den Antrieben des gröbsten Eigennutzes sich leiten
lassen.
Ein höchst bedeutsamer Unterschied zwischen den niederen,
sinnlichen und den höheren, allgemeinen (logischen, sittlichen,
künstlerischen, religiösen) Gefühlen wird durch den Umstand be-
zeichnet, dass die ersteren wohl eine weit grössere augenblick-
liche Stärke, aber eine ungleich geringere Erneuerungs-
fähigkeit besitzen, als die letzteren. Ein sinnlicher Genuss
oder Schmerz kann uns für kurze Zeit in sehr lebhafte Eiregung
versetzen, aber er blasst in der Erinnerung rasch ab, während
z. B. die leiseren, aber andauernden sittlichen Gefühl unsCi
Denken und Handeln durch das ganze Leben hindurch fast un-
ausgesetzt begleiten und bestimmen, wo sie nicht durch leiden-
schaftliche Gemütsschwankungen übertönt werden. Gerade die
höheren Gefühle aber sind es, die unserem Stimmungshintergrunde
jene gleichförmige Ruhe, unserer geistigen Persönlichkeit jene
Festigkeit und innere Geschlossenheit zu gewähren vermögen, die
man mit Recht als die Eigenschaften eines gesunden, voll ent-
wickelten Mannes betrachtet. Da ferner die höheren Gefühle
eine Art Dämpfung für die raschen Gefühlsregungen des Augen-
blickes darstellen, pflegen sich mit dem Wegfalle dieser Dämpfung
plötzliche Leidenschaftsausbrüche von auffallender Heftigkeit,
aber geringer Nachhaltigkeit einzustellen.
Auch nach dieser Richtung hin wird sich daher das Fehlen
der höheren Gefühle im Krankheitsbilde des Schwachsinns geltend
machen müssen. Wo nicht hochgradige Stumpfheit alle Gefühls-
regungen überhaupt begräbt, sehen wir einerseits in der Ungleich-
förmigkeit der Stimmung, andererseits in ihrer Abhängigkeit von
äusseren Zufälligkeiten, in ihrer Beeinflussbarkeit, den
Herabsetzung und Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit.
243
Mangel der dauernden, höheren Gefühle sich kundgeben. Wo die
festen Grundlagen für die Stimmung fehlen, genügt oft eine
Kleinigkeit, ein Wort, der Ton der Stimme, um den Kranken aus
glückseligster Selbstzufriedenheit in masslose Verzweiflung zu
versetzen. Diese Erscheinung pflegt namentlich in der Paralyse
sehr deutlich zu sein.
Unvermittelte Aufwallungen des Gefühls finden sich ge-
legentlich bei den verschiedensten Formen des angeborenen und
erworbenen Schwachsinns. Aus der gesunden Erfahrung schon
sind die Leidenschaftsausbrüche beschränkter Menschen, die Lau-
nenhaftigkeit und Reizbarkeit der Greise bekannt. Ausser ge-
wissen Formen des angeborenen Schwachsinns zeigen ferner na-
mentlich die Endzustände der Dementia praecox regelmässig neben
weitgehendster gemütlicher Stumpfheit rasch entstehende, kurz-
dauernde Erregungen von oft sehr grosser Heftigkeit.
Besondere Lebhaftigkeit der Gefühlsregungen ist zu-
nächst eine Eigentümlichkeit des kindlichen und des weiblichen
Seelenlebens. Sie bedingt einmal eine erhöhte Beeinflussbarkeit des
Stimmungshintergrundes durch augenblickliche Ursachen, anderer-
seits wieder eine grosse Vergänglichkeit der Gefühlswallungen.
So entwickelt sich die bekannte Unstetigkeit und Launenhaftig-
keit der Gemütslage. Bei gewissen Formen der psychopathischen
Veranlagung tritt die Leichtigkeit, mit der lebhafte Gefühle
entstehen und vergehen, sehr auffallend hervor. Wir erinnern hier
an die krankhafte Weichlichkeit und Empfindsamkeit, die einer-
seits durch unangenehme und schmerzliche Eindrücke sofort auf
das tiefste erschüttert wird, andererseits sich bei jeder An-
regung edlerer Gefühle in hell lodernde, freilich auch bald wieder
verlöschende Begeisterung versetzen lässt. Diese Veranlagungen
leiten über zu dem eigenartigen Krankheitsbilde der Hysterie.
Dasselbe ist dadurch gekennzeichnet, dass hier die starke Ge-
fühlsbetonung den Vorstellungen einen weitreichenden Einfluss
nicht nur auf den Willen, sondern auch auf solche körperliche
Vorgänge verleiht, die dem Eingreifen der Willkür im allgemeinen
entzogen sind. Starke Gemütsbewegungen beeinflussen Atmung
und Kreislauf des Blutes, Blutdruck, Plerztätigkeit, Gefäss-
spannung, Darm-, Blasen- und Haarmuskeln, Drüsenausschei-
dungen, die Sicherheit und Kraft der Bewegungen, die Klarheit
16*
244
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
und Stärke der Empfindungen. Nach allen diesen Richtungen
hin gewinnen die unwillkürlichen Gefühlswirkungen bei der
Hysterie eine ungeahnte Ausdehnung, deren besonderes M esen
sich jedoch durch die ganz ähnlichen Wirkungen der hypnotischen
Beeinflussung einigermassen aufklären lässt.
Als vorübergehendes Krankheitszeichen begegnet uns eine
allgemeine Steigerung der gemütlichen Erregbarkeit in gewissen
Erregungszuständen der Paralyse, der Katatonie und namentlich
der Manie. Mit der Stärke der Gefühlsschwankungen, die sich
in stürmischen Ausdrucksbewegungen kundgibt, verbindet sich
auch hier die wichtige Erscheinung des Stimmungs-
wechsels, da die lebhafte Färbung der jeweiligen Gemüts-
lage den dämpfenden und ausgleichenden Einfluss der höheren
Gefühle völlig in den Hintergrund drängt. Wir werden dadurch
an die Erfahrungen des Rausches erinnert, bei dem ebenfalls die
Ausgiebigkeit der Gefühlswallungen so häufig mit . jähem Um-
schlagen der Gemütslage einhergeht. Die Leichtigkeit und Plötz-
lichkeit, mit der überall die verschiedenen Gefühlstöne wechseln
können, zeigt uns deutlich, dass ihre Entstehungsbedingungen
miteinander nahe verwandt sein müssen. Die Stärke der Gefühls-
äusserungen pflegt sich durch äussere Anregung rasch noch zu
steigern, eine Erscheinung, die auch dem gesunden Leben, na-
mentlich bei der gemütlichen Beeinflussung von Volksmassen,
wohlbekannt ist und uns ähnlich im Rausche begegnet. In der
Regel vermögen wir auch auf die Färbung der Stimmung ein-
zuwirken, oft in ganz überraschender Weise; nur bei den kata-
tonischen Erregungen steht solchen Versuchen der Negativis-
mus der Kranken entgegen.
Krankhafte Gemütsarten. Die Bedeutung der Gefühle als
Ausdruck der inneren Stellungnahme zu den Lebenserfahrungen
wird vielleicht am klarsten in der Tatsache der persönlichen Ge-
mütsarten. Dasselbe Ereignis bringt ganz verschiedene Seelen-
zustände hervor, je nach der Eigenart des Betroffenen, je nach
der tief in der Veranlagung wurzelnden Neigung zu bestimmten
Gefühlsbetonungen. Bei der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit
der Gefühlsmischungen erscheint es unmöglich, alle verschiedenen
Gestaltungen der Gemütsart zu kennzeichnen. Auf krankhaftem
Gebiete ist die Schwierigkeit aus naheliegenden Gründen eher noch
Krankhafte Gemütsarten.
245
grösser; wir müssen uns daher mit einer flüchtigen Skizzierung
einzelner Formen begnügen.
Da die Unlustgefühle im allgemeinen einen stärkeren Ein-
fluss auf unser Seelenleben zu gewinnen pflegen, als die weniger
stürmisch ablaufenden Lustgefühle, spielen sie auch bei den krank-
haften Gemütslagen eine grössere Rolle. Die gesteigerte
Unlustempfindlichkeit führt zu der Neigung, an allen
Lebensereignissen nur das Unangenehme und Peinigende heraus-
zufinden, sich den frohen Genuss des Erfreulichen durch die
kleinen Mängel und Störungen oder durch den Ausblick auf allerlei
trübe Möglichkeiten zu verkümmern. Die Vergangenheit wird
zu einer Kette von traurigen Erinnerungen, die Zukunft eine
Quelle von Sorgen und Unheil, die Gegenwart eine schwere, müh-
sam ertragene Bürde. Namentlich das eigene Wohl und Wehe
wird gern zum Mittelpunkte der düsteren Betrachtungen; jede
unbedeutende Störung des körperlichen Befindens erscheint der
misstrauischen Selbstbeobachtung als das Anzeichen drohender un-
heilbarer Leiden. Während im gesunden Leben die Niedergeschla-
genheit, wie sie sich an traurige Erfahrungen anschliesst, alsbald
durch den wieder erwachenden Lebensmut verscheucht wird, ver-
mögen bei der krankhaften Schwarzseherei auch freudige Eindrücke
nicht den Druck der Unlustverstimmung zu beseitigen, ja sie können
ihn unter Umständen noch steigern. Ein Teil der Fälle steht
in engeren Beziehungen zum manisch-depressiven Irresein; die
trübe Gemütslage verbindet sich dabei in der Regel mit Ent-
schlussunfähigkeit.
Wo die krankhafte Unlustbetonung von den Gefühlen der
inneren Spannung begleitet wird, gewinnt die Gemütslage den
Stempel der Ängstlichkeit. Den Kranken fehlt infolge-
dessen die innere Sicherheit und Freiheit, das Vertrauen auf die
eigene Kraft und Leistungsfähigkeit. An jede Handlung knüpft
sich ihnen die bange Erwartung ihrer Folgen oder der Zweifel
über ihre Berechtigung und Zweckmässigkeit. Auch hier sind es
die Zustände des eigenen Körpers, die einen besonders frucht-
baren Boden für die Entwicklung aller möglichen Bedenklichkeiten
abgeben. Es kommt auf diese Weise zu peinlichen Selbstquäle-
reien und Grübeleien, zu einem gesteigerten Verantwortlich-
keitsgefühl, das die schüchternen Regungen zuversichtlichen
246
II. Die Erscheinungen de6 Irreseins.
Lebensmutes im Keime erstickt. Diese Gemütsart bildet die
Grundlage der krankhaften Befürchtungen; ferner habe ich
in der Vorgeschichte von Melancholikern öfters ähnliche Züge
gefunden.
Verbindung von gesteigerter Unlustempfindlichkeit mit Er-
regung kennzeichnet die grosse Gruppe der reizbaren Na-
turen. Unangenehme Eindrücke, die uns zum Handeln heraus-
fordern, erzeugen die Gemütsbewegungen des Ärgers und des
Zornes; sie entstehen besonders leicht, wenn wir uns im Zustande
stärkerer Willensspannung befinden, in oder nach aufreibender,
unsere ganzen Kräfte in Anspruch nehmender Tätigkeit oder nach
heftigen Gemütserschütterungen. Bei der krankhaften Reizbar-
keit überwiegt nicht nur die Unlustbetonung der Lebenserfah-
rungen, sondern sie löst auch sofort eine gemütliche Erregung
aus, die zur Entladung drängt und nur in steten inneren Kämpfen
unterdrückt werden kann. Dieses Fehlen der Dämpfung bedingt
dauernde Schwankungen des gemütlichen Gleichgewichtes, Ln-
ruhe und Unstetigkeit mit gelegentlichen heftigeren Gefühls-
ausbrüchen, die bald mehr die Färbung der Verzweiflung, bald
mehr diejenige des Zorns annehmen können. Die erstere Form
begegnet uns am häufigsten bei der angeborenen Nervosität, die
krankhafte Zornmütigkeit (Iracundia morbosa) vorzugsweise bei
der epileptischen und hysterischen Veranlagung.
Die krankhafte Empfindlichkeit gegen die Aussenwelt führt
indessen nicht immer zu leidenschaftlichen Entladungen, sondern
bisweilen auch zu einer Art von innerer Absperrung. Dadurch
entsteht diejenige Gemütsart, die wir als Verschlossenheit
bezeichnen. Dieselbe verknüpft sich in der Regel nicht mit dem
zornigen Kraftgefühl, das den Trotz des Gesunden begleitet,
sondern bedeutet ein scheues Zurückweichen vor den Eindrücken
des Lebens mit dem mehr oder weniger deutlichen Bewusstsein
der eigenen Unzulänglichkeit. Der Verkehr mit Fremden, das
Heraustreten in eine ungewohnte Umgebung, besondere Anforde-
rungen, auftauchende Schwierigkeiten erscheinen den Kranken
sofort als unüberwindliche Hindernisse, denen sie nur durch völlige
Abschliessung zu entgehen, nicht aber durch tatkräftigen Ent-
schluss zu begegnen wissen. Diese Störung bildet den Schlüssel
zum Verhalten so mancher „Sonderlinge“. Ganz ähnliche Züge
Krankhafte Gemütsarten.
247
werden uns häufig in der Vorgeschichte der Dementia praecox
berichtet, nicht selten verbunden mit übertriebener Frömmig-
keit und der Neigung, sich aus dem Leben ins Kloster zurück-
zuziehen. Es scheint jedoch, dass hier nicht oder doch nicht
allein eine gesteigerte Unlustempfindlichkeit zu Grunde liegt,
sondern dass auch wohl negativistische und verschrobene Stre-
bungen dabei eine Rolle spielen.
Verstärkte Lustbetonung der Lebensreize finden wir zunächst
bei den glücklichen, „sonnigen“ Naturen, die stets in
heiterster Laune sind, allen Ereignissen die beste Seite abzu-
gewinnen wissen, an jedes Unternehmen die grössten Hoffnungen
knüpfen und ihr ganzes Leben in der sicheren Erwartung irgend
eines unerhörten Glücksfalles verbringen. Verbindet sich damit,
wie nicht selten, ein lebhafter Betätigungsdrang, der mit nie
versiegender Zuversicht wechselnden Zielen nachjagt, so werden
die inneren Beziehungen, die dieser Gemütsart zum manisch-
depressiven Irresein zukommen, besonders deutlich. Mir scheint,
dass solche Beziehungen auch dann anzunehmen sind, wenn aus-
geprägte Krankheitsanfälle vollständig fehlen, dass also eine
dauernde übermässige Lustbetonung mit innerer Unstetigkeit
ebenso eine Vorstufe jenes Leidens darstellt wie die grundlose
Gedrücktheit mit Entschlussunfähigkeit.
Einer anderen eigenartigen Abtönung des Gefühlslebens be-
gegen wir bei den Schwärmern. Hier sind einzelne Gefühls-
richtungen, namentlich religiöse oder geschlechtliche mit mehr
oder weniger verhüllter sinnlicher Färbung, zu besonderer Über-
schwänglichkeit entwickelt und beherrschen Denken und Handeln.
Aus der leidenschaftlichen Hingabe an die schwärmerischen Nei-
gungen erwachsen Lustgefühle von ausserordentlicher Stärke, die
alles äussere Leid und Ungemach aufwiegen können. Die Grund-
lage dieser Gemütsart bildet in der Regel die hysterische Ver-
anlagung. Den Schwärmern nahe stehen gewisse krankhafte
Schwindler, bei denen die unausrottbare Lust am Aben-
teuer, am Ungewöhnlichen und Aufregenden, die übermütige
Freude an der eigenen Erfindungsgabe alle bedächtigen Über-
legungen in den Hintergrund drängt. Auch hier lassen sich in
der Regel hysterische Züge nachweisen.
Von hier führen fliessende Übergänge hinüber zum krank-
248
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
haften Leichtsinn, der eine erhöhte Empfänglichkeit für die
seichten Zerstreuungen des Lebens besitzt, aber auch ernste
Dinge nicht ernst zu nehmen versteht, sondern das Leben im
wesentlichen als einen recht guten Witz betrachtet. Es handelt
sich hier wohl wesentlich um Oberflächlichkeit der Gemüts-
regungen überhaupt. Tief, nachhaltig und gestaltend vermögen
auf unser Seelenleben nur die ernsten oder mit Ernst gemischten
Eindrücke einzuwirken; nur sie sind geeignet, dem Stimmungs-
hintergrunde Einheitlichkeit und Stetigkeit zu geben. Mangelnde
Tiefe und rasches Verfliegen der Gemütsbewegungen wird daher
am einschneidendsten in der Verkümmerung der richtunggebenden
ernsten Gefühle zum Ausdrucke kommen. Darum verknüpft sich
mit dem. krankhaften Leichtsinn, der eine wesentliche Begleit-
erscheinung gewisser Schwachsinnsformen bildet, regelmässig
unvollkommene Entwicklung der höheren Gefühle, Selbstsucht
und Haltlosigkeit des Willens.
Eine gemeinsame Eigentümlichkeit der zuletzt gekennzeich-
neten krankhaften Gestaltungen der Gemütsart ist ein lebhaft
gesteigertes Selbstgefühl. Die eigenen Eigenschaften und Lei-
stungen erscheinen den Kranken in besonders günstigem Lichte
und gewinnen für sie um so höhere Bedeutung, als die Regungen
des Mitgefühls mit fremdem Leide in der Regel sehr unvollkommen
bei ihnen entwickelt sind. Wir sehen daher häufig nicht nur,
dass die Kranken ihre eigene Person inasslos überschätzen, son-
dern dass sie auch jede leise wirkliche oder vermeintliche Beein-
trächtigung als schwere Unbill empfinden, während ihre Ein-
griffe in fremde Rechte ihnen als völlig harmlose und erlaubte
Handlungen erscheinen. Diese selbstsüchtige Einseitigkeit der
Gefühlsbetonung finden wir bei vielen geborenen Verbrechern,
ferner bei den Pseudoquerulanten, bei denen sie mit grosser
Reizbarkeit einhergeht. Vielleicht gibt sie auch den günstigen
Boden ab für die Entwicklung des echten Querulantenwahnes
und der ihm verwandten Formen der Verrücktheit.
Krankhafte Gemütsbewegungen. Die krankhaften Gemüts-
bewegungen unterscheiden sich von denjenigen der Gesunden im
allgemeinen hauptsächlich durch den Mangel einer verständlichen
Begründung sowie durch ihre Stärke und Nachhaltigkeit, während
ihre Färbung in der Regel irgend einer der sonst bekannten
Krankhafte Gemütsbewegungen.
249
Gefühlsmischungen entspricht. Auch im gesunden Leben sehen
wir freilich Stimmungen kommen und gehen, ohne dass wir uns
immer über ihren Ursprung Rechenschaft zu geben vermöchten,
aber wir sind imstande, sie zu beherrschen und zu verscheuchen,
während die krankhaften Stimmungen allen Beeinflussungsver-
suchen trotzen. Andererseits schliessen sich krankhafte Gemüts-
bewegungen bisweilen an bestimmte äussere Anlässe an, aber
sie verblassen dann nicht wieder, wie die Gefühlswallungen des
Gesunden, sondern sie gewinnen Selbständigkeit und weichen auch
dann nicht, wenn der scheinbare Anlass beseitigt ist.
Die bei weitem häufigste Form der unangenehmen krank-
haften Gemütsbewegungen ist die Angst, die wir vielleicht
als eine Verbindung von Unlust mit innerer Spannung betrachten
können. Sie pflegt wie keines der anderen Gefühle den gesamten
körperlichen und geistigen Zustand in Mitleidenschaft zu ziehen.
Die innere Spannung macht sich in der Körperhaltung, den Aus-
drucksbewegungen, der krampfhaften Muskelinnervation geltend,
oder sie entladet sich in Jammern und Schreien, heftigen Abwehr-
und Fluchtversuchen, in Angriffen auf die Umgebung oder das
eigene Leben. Dazu gesellen sich alle jene schon aus der gesunden
Erfahrung bekannten nervösen Begleiterscheinungen der Angst,
ihre Wirkung auf die Herztätigkeit (Herzklopfen), auf die
Gefässnerven (Blasswerden), die Atmung, die willkürlichen Mus-
keln (Zittern, Schlottern), endlich auf Schweiss-, Harn- und
Darmabsonderung. Die Beeinflussung der Atmung und des Herz-
schlags wird von den Kranken sehr lebhaft als Druck und Be-
klemmung in der Herzgegend empfunden (Präkordialangst); sel-
tener überwiegen unangenehme Spannungsempfindungen im Kopfe.
Im Anfänge ist die Angst gewöhnlich gegenstandslos; der Kranke
fühlt sie, ohne zu wissen, warum, weiss sogar oft ganz genau,
dass er gar keinen Grund hat, sich zu fürchten. Hecker hat
darauf hingewiesen, dass die unbestimmte Angst ganz eigentüm-
liche Formen annehmen kann, deren ursprüngliche Bedeutung
nicht immer leicht zu erkennen ist, als Gefühl des Heimwehs,
der veränderten Auffassung, der Betäubung und ähnl. In der
Regel freilich verdichten sich allmählich die unbestimmten ängst-
lichen Ahnungen zu mehr oder weniger klar ausgemalten Be-
fürchtungen. In den höchsten Graden der Angst pflegt jedoch
250
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
das Bewusstsein mehr oder weniger stark getrübt zu sein; sehr
starke gemütliche Erregungen lassen nur ganz unklare und ver-
worrene Vorstellungen zu stände kommen.
In der Regel überfällt die Angst den Kranken in Anfällen,
oder sie zeigt doch wenigstens deutliche Nachlässe und er-
schlimmerungen, letztere besonders in der Nacht. Nur aus-
nahmsweise hält die ängstliche Spannung Tage, Wochen, ja selbst
Monate lang in voller Stärke an. Als eigentlich kennzeichnende
Krankheitserscheinung darf die Angst für die Melancholie be-
trachtet werden; man wird sie hier selten oder nie vermissen.
Auch in den Depressionszuständen des cirkulären Irreseins ist sie
häufig, doch gibt es hier zahlreiche Fälle, in denen sie gänzlich
fehlt. Ausserdem begegnen wir lebhafter Angst in den Dämmer-
zuständen der Epileptiker, bei Alkoholdeliranten, im Beginne kata-
tonischer Erkrankungen und bisweilen in den quälendsten Formen
bei Paralytikern.
Eine besondere, weit ausgedehnte klinische Gruppe von Angst-
zuständen bilden endlich jene Störungen, die man als Zwangs-
befürchtungen oder „Phobie n“ zu bezeichnen pflegt. Die Angst
knüpft sich hier jeweils an bestimmte Erlebnisse oder orstel-
lungen an, die zu verschiedenartigen quälenden Befürchtungen
Anlass geben. In ihren leichtesten Formen sind diese Befürch-
tungen auch dem gesunden Leben nicht fremd; den Stempel des
Krankhaften gewinnen sie zunächst durch ihre Hartnäckigkeit
und Aufdringlichkeit, weiterhin aber auch durch die peinliche
Lebhaftigkeit, mit der sich die erregte Einbildung alle erdenk-
lichen Einzelheiten der gefürchteten Vorgänge ausmalt. Die Er-
wartung von unangenehmen Eindrücken, von Gefahren und
Unannehmlichkeiten, sodann die Unsicherheit im persönlichen
Auftreten, die Verantwortung Im Handeln sind die Quellen, aus
denen auch die Zwangsbefürchtungen fliessen. Ihre Bezeichnung
haben sie daher, weil sie Überlegung und Willen immer wieder
überwältigen und die geistige Freiheit auf das schwerste beein-
trächtigen, obgleich ihre Haltlosigkeit deutlich erkannt wird.
Die Kranken umgeben sich daher, um sich gegen die be-
ständigen Einengungen durch zwangsmässige Unlustgefühle
einigermassen zu schützen, nicht selten mit einem ganzen Netze
absonderlicher Vorsichtsmassregeln, welche der äusseren Ein-
Krankhafte Gemütsbewegungen.
251
Wirkung ebensowenig Spielraum lassen wie der eigenen freien
Entschliessung. Das Auftreten der Zwangsbefürchtungen ist
kennzeichnend für gewisse Krankheitsbilder des Entartungsirre-
seins; vorübergehend werden sie auch beim manisch-depressiven
Irresein beobachtet.
Die weit verbreitete, lächerliche, aber schwer ausrottbare
Furcht vor Spinnen, Fröschen, Mäusen gibt uns ein Beispiel dafür,
wie harmlose Anlässe lebhafte Beunruhigung hervorrufen können.
Als weitere Entwicklungsstufe haben wir die Angst vor dem
Hineinblicken in einen Spiegel, vor dem Öffnen von Briefen, vor
dem Anziehen neuer Kleidungsstücke zu verzeichnen. Das leise
Unbehagen, das bei solchen Anlässen wohl auch einmal der
Gesunde verspürt, kann sich bei Kranken zu den heftigsten Angst-
anfällen steigern. Dasselbe gilt von der Furcht vor allerlei Ge-
fahren und peinlichen Erlebnissen. Wir begegnen der Angst, vom
Blitz erschlagen, von einem herabstürzenden Gegenstände ge-
troffen, von Betrunkenen angefallen, von durchgehenden Pferden
überrannt zu werden, bisweilen im Anschlüsse an persönliche
Erlebnisse, aber auch in freier Entstehung. Dahin gehört auch
die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor grossen Menschen-
mengen, die Befürchtung, in Gesellschaft von plötzlichem Un-
wohlsein, von Harn- oder Stuhldrang überfallen zu werden, beim
Anreden oder bei verfänglichen Bemerkungen erröten zu müssen,
namentlich aber die bei allen diesen Zwangsbefürchtungen sich
herausbildende Angst vor der Angst. Da die Kranken im-
stande sind, die Unsinnigkeit ihrer Befürchtungen klar zu über-
blicken, sind es sehr bald gar nicht die ihnen vorschwebenden
Zwischenfälle selbst, die sie beunruhigen, sondern die quälende
Nötigung, sich damit zu beschäftigen; sie fürchten nicht den Ein-
tritt jener Ereignisse, sondern das Auftauchen der Angst vor
ihnen.
Einen sehr ergiebigen Boden für die Erzeugung von Zwangs-
befürchtungen bilden die Regungen der Unsicherheit und Ver-
legenheit, die uns im Verkehr mit Anderen und in noch stärkerem
Grade bei besonderen Leistungen, namentlich in der Öffentlich-
keit, befallen. Sobald wir Fremden gegenübertreten und deren
Aufmerksamkeit auf uns gerichtet wissen, werden auch wir ver-
anlasst, an unsere äussere Erscheinung und den Eindruck zu
252
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
denken, den sie hervorrufen mag. Kleine Mängel, deren wir
uns dabei bewusst werden, können ein peinliches Gefühl der De-
mütigung hervorrufen, das unser Selbstvertrauen in empfindlicher
Weise lähmt. Bei krankhafter Veranlagung kann die Befürch-
tung irgend einer Unzulänglichkeit in der Kleidung, mangelnder
Sauberkeit, der Gedanke, etwas Auffallendes, einen unangenehmen
Geruch an sich zu haben, ohne irgend einen Anhalt auftauchen und
trotz aller Bemühungen, ihn zu verdrängen, solche Macht erlangen,
dass er die Unbefangenheit und Sicherheit des Auftretens ver-
nichtet. Der Versuch, des unbehaglichen Gefühls Herr zu werden,
richtet die Aufmerksamkeit des Kranken erst recht auf das-
selbe und verstärkt es; je mehr er sich damit beschäftigt,
desto grösser wird der Raum, den es in seinem Seelenleben ein-
nimmt.
Wenn wir ein besonderes Unternehmen vor uns haben, so
überfällt uns leicht der Zweifel, ob alles nach AVunsch gehen wird,
und damit eine gewisse innere Beunruhigung. Wir sprechen vom
Eisenbahnfieber, vom Lampenfieber, von der Prüfungsangst, uno
wissen, dass diese Gemütsbewegungen oft genug mächtiger sind,
als jede ruhige "Überlegung. Bei Kranken können sie nichx nur
eine ausserordentliche Heftigkeit zeigen und damit die Leistungs-
fähigkeit schwer schädigen, sondern sie treten vielfach auch bei
Anlässen auf, die den Gesunden völlig gleichgültig lassen. Das
bekannteste Beispiel dafür ist die Platzangst oder Agora-
phobie, das Gefühl der Unfähigkeit, allein über einen freien
Platz, durch eine menschenleere Strasse zu gehen. Jeder A er-
such kann die Beängstigung bis zu ohnmachtähnlichen Anfällen
steigern. Bei der Angst, sich zu verschlucken, wird der einfache
Vorgang des Schluckens durch die Einmischung unzweckmässiger
und krankhafter Nebenbewegungen in ähnlicher Weise erschwert
wie etwa das Gehen, sobald es nicht unwillkürlich abläuft. Für eine
entsprechende Störung beim Urinlassen hat man die schöne Be-
zeichnung des „Harnstotterns“ erfunden. Ganz besonders verstärkt
werden diese Behinderungen, wie schon im gesunden Leben, durch
die Aufmerksamkeit Anderer. Wie wir beim Singen oder Spielen
das Zuhören Dritter störend empfinden, so werden manche Men-
schen schon beim einfachen Schreiben behindert, sobald ihnen je-
mand auf die Finger sieht. Auch die Regungen des Schamgefühls
Krankhafte Gemütsbewegungen.
253
können solche Macht gewinnen, dass die Befriedigung der natür-
lichen Bedürfnisse in Gegenwart Anderer oder schon bei dem
Gedanken an fremde Beobachtung unmöglich wird.
Eine lebhafte Beeinträchtigung des Handelns entwickelt sich
aus der Befürchtung, Andere zu gefährden oder zu schädigen.
Aus der gesunden Erfahrung ist uns das Unbehagen bekannt, das
uns beim ungewohnten Hantieren mit geladenen Gewehren, sehr
scharf geschliffenen Messern ergreift, in dem Gedanken, dass
wir damit irgend ein Unheil anrichten könnten; es kann auch dann
auftreten, wenn wirkliche Gefahr vollkommen ausgeschlossen ist.
Bei Kranken nehmen derartige Befürchtungen die mannigfaltigsten
Gestaltungen an. Besonders häufig ist die Angst, irgendwie
Nadeln oder Glasscherben ins Essen zu bringen und auf diese
Weise Andere zu töten. Auch die Furcht, Krankheitskeime oder
Giftstoffe mit den Kleidern oder Händen aufzufangen und weiter
zu verbreiten, spielt eine ähnliche Rolle; ihr verwandt ist die
ganz abenteuerliche Idee, den Abort möglicherweise mit Samen-
fäden zu beschmutzen und dadurch die Schwängerung eines
Frauenzimmers herbeizuführen. Eine besondere Gruppe bildet
die Furcht vor der unwillkürlichen Ausführung verbrecherischer
Handlungen. Manche Kranke werden gepeinigt von der Vor-
stellung, sie müssten ein bereitliegendes Messer ergreifen und
damit jemanden töten, eine begegnende Frauensperson vergewal-
tigen, ein Kind unzüchtig berühren, einen Menschen anfallen,
beissen, von einer Brücke herunterstossen.
Sehr oft beziehen sich die Befürchtungen auf die Vergangen-
heit. Die Kranken leben in der Angst, dass sie bei dieser oder
jener Gelegenheit ein wichtiges Papier achtlos vernichtet, ein
Stückchen der Hostie beim Abendmahl verstreut, dass sie sich
beim Herausgeben von Geld zum Nachteil eines Andern geirrt
haben könnten, dass sie bei der Fällung eines Urteils nicht mit
der nötigen Gewissenhaftigkeit verfahren, durch unvorsichtiges
Umgehen mit Feuerzeug zu Brandstiftern geworden seien. Daran
knüpfen sich dann endlose Grübeleien über die Einzelheiten der
Vorgänge, Selbstverteidigungen und Selbstbeschuldigungen in
immer spitzfindigeren Formen. Während sonst bei den Zwangs-
befürchtungen das klare Bewusstsein ihrer Grundlosigkeit und
Krankhaftigkeit erhalten bleibt, kann bei diesen Formen zeitweise
254
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die bündige Berichtigung der quälenden Vorstellungen versagen.
Die Kranken sind nicht sicher, ob sie nicht doch eine der sie
beunruhigenden Handlungen ausgeführt haben, ja sie können
sogar überzeugt sein, dass es wirklich geschehen sei, und sich
den Vorgang mit allerlei Einzelheiten ausmalen, allerdings nie-
mals mit der unantastbaren Gewissheit, die wir bei den eigent-
lichen Wahnbildungen beobachten.
Der Unlust mit Spannung, wie wir die Angst bezeichnet
haben, dürfen wir vielleicht als Unlust mit Hemmung die ein-
fache Niedergeschlagenheit gegenüberstellen, den Seelen-
schmerz mit dem Gefühle der Unfähigkeit. Den Grundton dieser
Verstimmung bildet die aus dem eigenen Innern herauswachsende
Traurigkeit, die den gesamten Lebensereignissen ihren Stempel auf-
drückt. Infolgedessen erscheint die Vergangenheit als eine Kette
von schlimmen Erfahrungen oder gar Verfehlungen, die Gegen-
wart grau und trübe, die Zukunft hoffnungslos. Allerlei schwere
Gedanken und Ahnungen steigen auf, die sich zu ausgeprägten
Wahnbildungen im Sinne der Versündigung und Verfolgung ver-
dichten können. Am schmerzlichsten aber empfindet der Kranke
die Öde und Leere im eigenen Innern. Er fühlt weder Freude
noch Leid; die Eindrücke der Aussenwelt finden in seiner Brust
keinen Widerhall. „Ich bin wie ein Kinematograph“, sagte mir
eine Kranke; „ich sehe wohl, dass es schön ist, aber ich empfinde
es nicht.“ Die gesunde Befriedigung am Dasein hat einem Ge-
fühle schmerzlichen Lebensüberdrusses Platz gemacht; die frühe-
ren Lieblingsneigungen sind erloschen, und selbst die nächsten
Herzensbeziehungen scheinen in der gemütlichen Erstarrung unter-
gegangen zu sein. Ja, aus den Quellen des früheren Glückes
fliesst jetzt am reichlichsten die traurige Verstimmung, da die Un-
lustbetonung um so lebhafter wird, je stärker das Gemüt in
Anspruch genommen wird. Frohe Eindrücke steigern nur die
Verstimmung, die eben nicht, wie ein gesunder Seelenschmerz,
durch äusseres Glück gemildert wird, sondern umgekehrt den
freudigen Anlass im Sinne der krankhaft veränderten Gefühls-
betonung färbt. So sah ich einen Knaben mit trauriger Verstim-
mung beim Anhören heiterer Musik in bitterliches V einen aus-
brechen.
Diese Umwandlung der Gefühlsbetonung, die für gewisse
Krankhafte Gemütsbewegungen.
255
Formen der cirkulären Depressionszustände kennzeichnend ist,
geht in der Regel mit einer Hemmung des Denkens und Wollens
einher. Die Kranken empfinden ihren Zustand äusserst qualvoll;
sie fühlen sich innerlich abgestorben, herzlos geworden und
knüpfen daran sehr häufig die Vorstellung der sittlichen Ver-
ödung oder der körperlichen Veränderung. In Wirklichkeit sind
sie keineswegs gefühllos, wie gelegentliche Leidenschaftsausbrüche
beim Verkehr mit ihren Lieben sowie die starke Selbstmordneigung
deutlich genug dartun. Die Hemmung kann dabei unvermittelt
in Erregung übergehen, so dass dann die ganze Lebhaftigkeit
der Gemütsbewegung nach aussen hervortritt.
Eine Unlust mit Erregung beobachten wir ebenfalls nicht
selten im manisch-depressiven Irresein, bald als selbstän-
digen Krankheitsanfall, bald als Übergangszustand zwischen An-
fällen von verschiedener Färbung. Die Verstimmung ist dabei
bald eine mehr traurige, bald ängstlich oder zornig; sie äussert
sich je nachdem in Jammern und Klagen, in Befürchtungen oder
in Ausbrüchen von Gereiztheit. Gerade diese letztere Form
ist besonders häufig. Die Kranken sind verdriesslich, missmutig,
mit allem unzufrieden, zerfallen mit sich und ihrer Umgebung,
ärgern sich über jede Kleinigkeit und nörgeln, oft gegen ihre
bessere Einsicht, in der unerträglichsten Weise, um bei dem ge-
ringsten Anlasse zu heftigen Entladungen überzugehen. Ganz
ähnliche Verstimmungen, verbunden mit gehobenem Selbstgefühl
und Witzelsucht, sind mir wiederholt bei syphilitischen Hirnerkran-
kungen begegnet; auch manche Gemütsbewegungen der Hyste-
rischen zeigen eine Mischung von Unlust und Erregung mit zor-
niger Reizbarkeit.
Eine besondere Gruppe bilden vielleicht die V erstimmungen
der Epileptiker. Wir beobachten bei ihnen einmal einfache Nieder-
geschlagenheit mit Lebensüberdruss. Hie und da scheint sie mit
dem Gefühle der Hemmung einherzugehen; meist aber hat sie
eine „heimwehartige“ Färbung, ist also mit einer unbestimmten
Sehnsucht und inneren Unruhe verknüpft, die zu Selbstmordver-
suchen, zum Trinken oder zu planlosen Wanderungen führen
kann. Noch häufiger ist Gereiztheit mit plötzlichen gewalttätigen
Entladungen von ausserordentlicher Heftigkeit. In den eigent-
lichen Dämmerzuständen überwiegen ängstliche Spannungen, eben-
256
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
falls vielfach mit starker Reizbarkeit. Merkwürdigerweise können
sich in alle diese Unluststimmungen auch geschlechtliche und
ekstatische Lustgefühle hineinmischen.
Die Besprechung der krankhaften Lustgefühle knüpft
vielleicht am besten an gewisse Erfahrungen an, die über die
Wirkung einiger Arzneimittel auf die Stimmung vorliegen. Vor
allem ist es der Alkohol, der bekanntlich ausgeprägte Lustgefühle
von bestimmter Färbung hervorbringt, das Gefühl erhöhter Kraft,
Begeisterung, Unternehmungslust. Als die Wurzel dieser heiteren
Stimmung kann höchstwahrscheinlich die Erleichterung der Aus-
lösung von Bewegungsantrieben angesehen werden, wie sie sich
im weiteren Verlaufe der Alkoholwirkung immer deutlicher durch
das Auftreten von Reizbarkeit, lärmender Unruhe und planlosem
Tatendrang kundzugeben pflegt. Die gleiche Grundlage der
heiteren Verstimmung werden wir auch wohl dort vorauszusetzen
haben, wo uns auf krankhaftem Gebiete die Verbindung von leb-
haften Lustgefühlen mit grosser Reizbarkeit und starkem Be-
wegungsdrange begegnet, bei den manischen Aufregungszustän-
den. Die Ähnlichkeit dieser letzteren mit dem Rausche ist oft
genug betont worden, und sie ist nach dem Ausweise psycholo-
gischer Versuche, trotz tiefgreifender Unterschiede, doch eine
mehr als äusserliche. Auch bei der Manie haben wir es mit
einer erleichterten Auslösung von Bewegungsvorgängen zu tun,
die sich klinisch in den gleichen Erscheinungen äussert wie der
Rausch. In beiden Zuständen fehlt nahezu oder vollständig das
Bewusstsein der Störung. Der Berauschte hält sich höchstens für
ein wenig angeheitert, und der leicht manisch Erregte kann sich
überaus frisch und leistungsfähig, ja so gesund fühlen wie niemals.
Die Stimmung trägt in beiden Fäilen den Stempel der übermütigen
Lustigkeit; das Selbstgefühl ist sehr gesteigert.
Die gehobene Stimmung des Rausches wird bei fortgesetztem
Alkoholmissbrauche ebenso zu einer dauernden Eigenschaft des
Trinkers wie die übrigen Wirkungen jenes Giftes. Sie nimmt
jedoch dabei die Form eines gemütlichen, seichten Humors
an, wie er den Verkehrston der Stammtische kennzeichnet. Sehr
deutlich ist diese eigentümliche Stimmungslage regelmässig im
Delirium tremens, hier mit heimlicher Angst gemischt; sie pflegt
aber auch sonst beim ausgeliildeten Trinker unverkennbar zu
Krankhafte Gemütsbewegungen.
257
sein und sich erst bei dauernder Enthaltsamkeit allmählich zu
verlieren. Sie unterscheidet sich von der Angeregtheit des leich-
ten Rausches durch das Fehlen der Tatkraft. Diese unbekümmerte
Missachtung der Sorgen, die leichtherzige Versenkung in den
Genuss des Augenblicks, wie sie in den Trinkliedern gefeiert wird,
steht in nächster Beziehung zu der Willensschwäche und sitt-
lichen Unfähigkeit des Trinkers. Wie der wahre Humor einer-
seits die Selbstverlachung, andererseits die Unverwundbarkeit
durch das kleine Leid des Lebens in sich schliesst, so dürfte
auch dem Humor des Trinkers das tiefe Gefühl der eigenen Ohn-
macht zu Grunde liegen, das jeweils durch die alkoholische An-
heiterung gemildert wird. Freilich haben wir es dort mit der
sittlichen Selbstüberwindung zu tun, mit der Erreichung der
höchsten inneren Freiheit, hier aber mit dem willenlosen Auf-.
geben der eigenen Persönlichkeit, dem Versinken in eine fidele,
aber schmähliche Knechtschaft.
Auch in gewissen Formen der Paralyse kann das Ge-
sundheits- und Glücksgefühl sehr stark hervortreten ;
es nimmt hier bisweilen ganz überschwängliche Gestaltungen
an. Der Kranke fühlt sich so unaussprechlich selig, dass
er oft gar keine Worte zur Schilderung seines namenlosen
Entzückens finden kann. Dieses überquellende Glücksgefühl er-
innert an gewisse spätere Abschnitte des Rausches, in denen
bereits die Lähmungserscheinungen deutlicher geworden sind. Ihm
fehlt trotz aller Grössenideen die Ausgelassenheit, das frische,
unmittelbare Kraftgefühl, das der flotten manischen Stimmung
ihre besondere Färbung gibt. Im weiteren Verlaufe schrumpft
das Glücksgefühl des verblödenden Paralytikers immer mehr zu
einer lächelnden, gedankenlosen Zufriedenheit ein, die keine Spur
jener Reizbarkeit zeigt, wie sie auch die letzten Stufen der alko-
holischen Seligkeit noch auszeichnet. Ihr ähnelt die behagliche
Zufriedenheit des Altersblödsinns, der sich allerdings öfters noch
eine gewisse alberne Vergnügtheit beimischt.
Im Verlaufe der Dementia praecox begegnen wir ebenfalls
eigenartigen krankhaften Lustgefühlen. In den Erregungszustän-
den ist es eine läppische, gegenstandslose Heiterkeit und Aus-
gelassenheit mit unbändigen Lachausbrüchen, die sehr an die
krampfhafte Lustigkeit übermüdeter Kinder erinnert. Sie steht
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aull. 17
258
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
in gar keiner Beziehung zu dem Vorstellungsinhalte oder den
Vorgängen in der Umgebung, wie die übermütige Fröhlichkeit des
Manischen, und ist anscheinend auch nicht von wirklichem Mucks-
gefühl begleitet, wie die freudige Erregung des Paralytikers. Bei
den mit Grössenideen einhergehenden Formen kann eine ungemein
hochmütige, selbstbewusste Stimmung auf treten, . die meist mit
erhöhter Reizbarkeit einhergeht. Dagegen entwickelt sich mit
fortschreitender Verblödung vielfach eine unbekümmerte Vunsch-
losigkeit ohne Erwartungen und Hoffnungen, aber auch ohne
Sehnsucht, Furcht oder Reue.
Ausser dem Alkohol und dem in seiner Wirkung nach dieser
Richtung verwandten Cocain ist namentlich noch das Morphium
geeignet, Wohlbehagen zu erzeugen. Man pflegt diese V mkung
des Morphiums zumeist einfach auf seine schmerzstillende Eigen-
schaft zurückzuführen, allein der Umstand, dass jenes Mittel auch
dann das Gefühl des Wohlseins herbeiführt, wenn keinerlei Schmerz
und Unbehagen vorher bestanden hat, spricht mit genügender
Deutlichkeit dafür, dass die Wirkung nicht allein in der Be-
seitigung von Unlust, sondern vielmehr in der Erzeugung von
Lust bestehen muss. Es wäre auch sonst wohl undenkbar, dass
Morphium und Opium in dem genugsam bekannten Masse Ge-
nussmittel geworden wären. Möglicherweise knüpft sich das
Wohlbehagen bei der Morphiumwirkung an die hier eintretende
Erleichterung der Gedankenverbindungen an. Dafür würde auch
die Erfahrung sprechen, dass Morphinisten sich nach der Ein-
spritzung geistig frischer und leistungsfähiger fühlen, sowie dass
die Opiumraucher sich mit Wonne den bunten Bildern hingeben,
welche ihnen die lebhaft angeregte Einbildungskraft vorgaukelt.
Vielleicht ist dem Traumleben des Opiumrausches jener Zustand
verwandt, den wir als Vor zückung oder Ekstase zu be-
zeichnen pflegen. Auch hier fehlt gänzlich der Bewegungsdrang,
die Erleichterung des Handelns. Vielmehr zieht sich das Seelen-
leben auf einzelne traumhafte Trugwahrnehmungen und Gedanken-
gänge zurück, die von Gefühlen des höchsten Glückes beg ^^et
und fast immer religiösen Inhaltes sind. Wir beobachten solche
Zustände namentlich bei Epileptikern, bisweilen auch bei Hyste-
rischen
Wieder ein wenig anders scheint sich das Wohlgefühl des
Krankhafte Gemütsbewegungen.
259
Tabakrauchers zu verhalten. Die bis jetzt darüber vorliegenden
Versuche würden etwa für eine ganz leicht betäubende Wirkung
des Tabaks sprechen. Dadurch könnte das Gefühl behaglicher
Beschaulichkeit entstehen, welches nicht durch lebhafter sich auf-
drängende Vorstellungen oder Willensantriebe gestört wird. Dem-
gegenüber haben wir es beim Brom, dessen beruhigende Wir-
kungen genauer untersucht worden sind, höchst wahrscheinlich
gar nicht mit der Erzeugung wirklicher Lustgefühle, sondern
wohl ausschliesslich mit der Beseitigung innerer Spannungs-
zustände zu tun. Dem würde auch die Tatsache entsprechen, dass
für das Brom gar keine oder doch nur eine sehr geringe Gefahr
gewohnheitsmässigen Missbrauches besteht, da es eben kein Ge-
nussmittel darstellt, sondern ausschliesslich dann ein Wohlgefühl
herbeiführt, wenn vorher eine unbehagliche innere Erregung
bestand.
Mit den hier angedeuteten Formen der krankhaften Lust-
gefühle ist die Mannigfaltigkeit derselben nicht im entferntesten
erschöpft. Wir stehen nur überall vor der grossen Schwierigkeit,
die einzelnen Schattierungen dieser Zustände richtig zu kenn-
zeichnen und womöglich auch auf ihren Ursprung zurückzuver-
folgen. Vielfach ist diese Entstehungsweise überhaupt keine ein-
heitliche, sondern es mischen sich Gefühle verschiedenen Ur-
sprungs miteinander. Insbesondere können auch Gefühle verschie-
dener Färbung gleichzeitig vorhanden sein oder doch sehr rasch
aufeinander folgen. So haben wir schon die Mischung von Angst
und Humor beim Delirium tremens erwähnt; in epileptischen
Dämmerzuständen verbinden sich häufig ekstatische Wonne-
gefühle mit Angst und Zorn; im manisch-depressiven Irresein wie
in der Paralyse wechseln ganz gewöhnlich unvermittelt Glücks-
gefühl, Zorn und Verzweiflung.
Bisweilen mögen auch krankhafte Überlegungen und Vor-
stellungen die Stimmung beeinflussen, so dass die Störungen
dieser letzteren nicht ursprüngliche, sondern Folgen von Wahn-
bildungen sind. Im ganzen allerdings ist es mir bei weitem am
wahrscheinlichsten, dass Stimmung und Vorstellung einen ein-
heitlichen Vorgang bedeuten, dessen verschiedene Seiten sich
uns nur in verschiedener Weise darstellen.
Störungen der Gemeingefühle. Als Gemeingefühle bezeichnen
17*
260
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
wir vor allem diejenigen Gefühlsregungen, welche in engen und
unverbrüchlichen Beziehungen zur Selbsterhaltung stehen. Sie
haben die gemeinsame Eigentümlichkeit, dass sie stets mit leb-
haften Willensregungen verknüpft sind; ihre bestimmende Wich-
tigkeit für das Triebleben tritt dadurch klar zu Tage. Am besten
dürfen wir die Gemeingefühle als Mahnungen und Warnungen
auffassen, die sich aus der Erfahrung zahlloser Geschlechter all-
mählich zu unwillkürlich wirkenden Beweggründen des Handelns
herausentwickelt haben. Im gewöhnlichen Leben .unterrichten
uns diese Gefühle mit unfehlbarer Sicherheit über die jeweiligen
Bedürfnisse unseres Körpers, und sie fordern gebieterisch die-
jenigen Handlungen, welche der Sachlage angepasst sind. Die
Ausführung jener Handlungen kann durch den bewussten W ulen
zumeist gehindert werden, wenn auch oft nur unter starker
Selbstverleugnung; die Gefühle selbst dagegen werden nur da-
durch, aber dann auch mit Sicherheit, zum Schweigen gebracht,
dass dem angezeigten Bedürfnisse auf irgend eine Weise abge-
holfen wird. Allerdings beobachten wir auch im gesunden Leben
bisweilen, dass ein Gemeingefühl wieder schwindet, wenn wir
demselben trotz längerer Mahnung keine Folge geben. Wir sind
imstande, die Müdigkeit zu überwinden, wenn wir mit Auf-
gebot unserer Kräfte weiter arbeiten; der Hunger lasst nach,
sobald wir längere Zeit ausser stände sind, ihn zu befriedigen.
Tritt nun endlich die Möglichkeit ein, dem Ruhe- oder Nahrungs-
bedürfnisse nachzugeben, so vermissen wir zunächst peinlich
Müdigkeit und Hunger, die uns die Wiederherstellung unserer
Kräfte so leicht machen. Erst dann, wenn wir längere Zeit ge-
ruht haben, kehrt die Müdigkeit wieder bei uns ein,, und auch
der Hunger beginnt erst mit dem Essen allmählich sich wieder
zu melden.
Unser ganzes bewusstes Leben ist begleitet von einem
Lustgefühl, welches sich an die Ausführung geistiger oder kör-
perlicher Beschäftigung knüpft. Die tiefere Begründung, des-
selben mag in dem Umstande liegen, dass nur durch Tätigkeit
die Erhaltung und Ausbildung der Persönlichkeit möglich ist.
Fehlt jenes Gefühl, so entsteht diejenige Form der Langenweüe,
die aus dem Nichtstun entspringt und uns zu irgend einer Be-
tätigung antreibt. Wie quälend die Langeweile für den Gesun-
Störungen der Gemeingefühle.
261
den werden kann, wissen wir namentlich aus den verzweifelten
Anstrengungen, die bei erzwungener Untätigkeit, z. B. von Ge-
fangenen, gemacht werden, um ihr zu entgehen. Beim Irresein
fehlt die wirkliche Langeweile in der Regel gänzlich, vor allem
deswegen, weil die Kranken, auch wenn sie sich nicht beschäf-
tigen, durch die krankhaften Vorgänge in ihrem Innern voll-
kommen in Anspruch genommen sind. Es kann daher als ein
günstiges Zeichen angesehen werden, wenn die Langeweile auf-
tritt, doch darf man sie nicht mit dem Gefühle der Unbefriedigt-
heit verwechseln, das von niedergeschlagenen Kranken öfters als
Langeweile bezeichnet wird, ebensowenig mit dem ungestümen
Tätigkeitsdrang des Manischen. Als ein überaus wichtiges, wenn
auch sehr wenig in die Augen fallendes Krankheitszeichen haben
wir aber ferner das vollständige Fehlen der Langenweile bei der
Dementia praecox zu betrachten. Hier handelt es sich um den
Verlust der Willensregungen, aus denen das Tätigkeitsbedürfnis
seinen Ursprung nimmt. Die Kranken können trotz völliger Be-
sonnenheit und Klarheit Wochen und Monate daliegen, ohne das
Aufhören jeder Betätigung irgendwie peinlich zu empfinden. Dabei
sind sie auf äussere Anregung hin imstande, ohne weiteres selbst
schwierigere Aufgaben zu lösen. Dieses Fehlen der Langenweile
bei innerer Ruhe deutet immer auf eine sehr tiefgreifende Stö-
rung im Seelenleben hin; wir finden es sonst nur bei vorgeschrit-
tener Verblödung.
Eine ganz andere Bedeutung, als die Langeweile bei Un-
tätigkeit, hat das oft mit demselben Namen belegte Unlust-
gefühl, welches als Warnungszeichen nach übermässig lange
fortgesetzter Arbeit auftritt. Hier haben wir es mit einer Form
der Müdigkeit zu tun, die beim Gesunden im allgemeinen ziem-
lich genau die Grösse des wirklichen Ruhebedürfnisses, der Er-
müdung, anzeigt. Bei unseren Kranken kann sich auch dieser
Zusammenhang vollständig lockern. So sehen wir in vielen Er-
regungszuständen, namentlich bei manischen Kranken, ein dauern-
des völliges Fehlen der Müdigkeit trotz hochgradigsten Kräfte-
verbrauches, also schwerster Ermüdung. Mit dem Nachlassen
der Unruhe sehen wir dann freilich auch die Müdigkeit häufig
mit voller Gewalt den Genesenden überfallen. Umgekehrt pflegt
in den Depressionszuständen das Gefühl der Müdigkeit dauernd
262
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
vorhanden zu sein, auch dann, wenn von einer wirklichen Er-
müdung keine Rede sein kann, wie bei bettlägerigen Kranken
ohne jede Beschäftigung. Vielfach handelt es sich hier indessen
nur um das Gefühl einer Erschwerung jeder geistigen und körper-
lichen Regung und nicht um jenes besondere Gefühl der Schläf-
rigkeit, das wir als die Einleitung der vollkommensten Erholung
so hoch schätzen. Beide Störungen, Müdigkeit ohne Ermüdung
und Ermüdung ohne Müdigkeit, finden sich nicht selten bei
Neurasthenikern und namentlich im Entartungsirresein in selt-
samer Weise vereint. Die Kranken fühlen sich dauernd oder
anfallsweise ohne irgend genügenden Anlass matt, abgespannt,
arbeitsunfähig, finden aber andererseits keine Ruhe, weil sich
ihnen abends, beim Schlafengehen, die den Schlaf vorbereitende
Müdigkeit nicht einstellen will.
Die gleichen Erfahrungen fast gelten auf gesundem wie auf
krankhaftem Gebiete von dem Begleiter des Nahrungsbedürf-
nisses, dem Hunger. Auch der Hunger schweigt bei unseren auf-
geregten Kranken trotz dringendster Notwendigkeit des körper-
lichen Ersatzes. Schon nach kurzer Nahrungsverweigerung
scheint er vollständig zu schwinden, um sich allerdings dann oft
mit grösster Gewalt wieder Geltung zu verschaffen, wenn einmal
das Fasten durchbrochen ist. Andererseits sehen wir bei para-
lytischen und katatonischen Kranken häufig eine sinnlose Ge-
hässigkeit sich einstellen, obgleich bei den wohlgenährten und
trägen Kranken von einem wirklichen Nahrungsbedürfnisse an-
scheinend keine Rede sein kann. Im Entartungsirresein und bei
der Hysterie endlich begegnet uns nebeneinander ohne ersicht-
lichen Zusammenhang mit dem Ernährungsstande des Körpers
dauernder Mangel des Hungergefühls und ebenso unvermittelter
plötzlicher Heisshunger.
In nahen Beziehungen zur Nahrungsaufnahme stehen die
Ekelgefühle, die uns vor dem Genüsse unverdaulicher, übel
schmeckender oder riechender Dinge warnen. Schwerere Stö-
rungen auf diesem Gebiete sind in der Regel das Zeichen eines
weit gediehenen geistigen Verfalles. Wir beobachten Kranke,
welche die ekelhaftesten Dinge verzehren, sogar ihre eigenen Aus-
leerungen; auch Nägel, Steine, Glasscherben, Tiere werden nicht
selten verschluckt, sowohl in selbstmörderischer Absicht, also
Störungen der Gemeingefühle.
263
mit bewusster Überwindung des Ekels, als auch aus reiner Ge-
hässigkeit. Bei sehr erregten oder tief verblödeten Kranken
schwinden ferner nicht selten jene Gefühle, welche uns schon die
blosse Berührung mit Schmutz und Unrat unangenehm machen
und uns zur Sauberhaltung unseres Körpers und unserer ganzen
Umgebung antreiben. Wir sehen daher solche Kranke sich rück-
sichtslos beschmutzen, ja sich absichtlich mit ihren Speisen, mit
dem eigenen Speichel, mit Urin oder gar mit Kot einsalben ! *)
Ein weiteres Warnungszeichen, dessen Fortfall wir oft
genug bei Geisteskranken beobachten, ist der körper liehe
Schmerz. In Aufregungszuständen, namentlich bei starker
ängstlicher Erregung, werden selbst schwere Verletzungen trotz
voller Besonnenheit bisweilen gar nicht empfunden. Die gleiche
Erfahrung wird bekanntlich vom Soldaten auf dem Schlachtfelde
gemacht. Auf diese Weise wird es erklärlich, dass manche Kranke
sich die scheusslichsten Verletzungen beibringen können, ohne
durch den Schmerz in ihrem Treiben gestört zu werden. Aus-
reissen der Zunge, des Kehlkopfes, der Augen, Aufschneiden des
Bauches, Durchstemmen des Kehlkopfes und ähnliche bereits vor-
gekommene Selbstverstümmelungen wären ja offenbar für einen
Menschen mit gesunder Schmerzhemmung schlechterdings un-
möglich. Auch bei blödsinnigen Kranken findet sich diese Un-
empfindlichkeit gegen körperliche Schmerzen häufig. Die verblüf-
fendsten Beispiele dafür liefert die Paralyse, bei welcher freilich
die Zerstörung der Leitungsbahnen wesentlich mit in Betracht
kommen kann. Knochenbrüche, ausgedehnte V erbrennungen,
Druckbrand, Einschnitte, Ätzungen, alles pflegt von diesen Kran-
ken ohne jede oder doch ohne stärkere Schmerzensäusserung er-
tragen zu werden. Eine wesentlich andere Bedeutung hat die
Aufhebung der Schmerzempfindlichkeit bei Hysterischen und jipi-
leptikern. Hier scheint, ähnlich wie es in der Hypnose erreichbar
ist, die Schmerzschwelle allein eine sehr bedeutende Erhöhung
zu erfahren.
Wir haben hier endlich noch einer Gruppe von Gefühlen zu
gedenken, die zwar nicht mit der Selbsterhaltung, wohl aber
mit der Arterhaltung in Beziehung stehen. Dahin gehört zunächst
das allerdings erst durch das gesittete Zusammenleben künst-
*) Manheimer, Le gätisme au cours des etats psychopathiques. 1897.
264
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
lieh anerzogene geschlechtliche Schamgefühl. Bei erregten und
verwirrten Kranken kann dasselbe völlig in den Hintergrund
treten, doch sieht man deutliche Zeichen von Schamgefühl nicht
selten noch in sehr schweren manischen Zuständen, wenn nicht
die gesteigerte geschlechtliche Erregung es überwindet. Sehr auf-
fallend ist dagegen vielfach das rasche Schwinden des Scham-
gefühls in der Dementia praecox, auch ohne geschlechtliche Er-
regung. Wir sehen solche Kranken sich rücksichtslos entblössen,
ohne Scheu über geschlechtliche Dinge reden, vor aller Augen
und in der hartnäckigsten Weise masturbieren. Auch die in
derselben Krankheit vielfach beobachtete Neigung zu gesucht
unflätiger Ausdrucksweise (Koprolalie) und schamlosen Gebärden
wäre hier zu erwähnen.
Beim gesunden Menschen ist das Anwachsen des geschlecht-
lichen Bedürfnisses und ebenso die Befriedigung desselben von
bestimmten lebhaften Gefühlen begleitet, die bei unseren Kran-
ken fehlen, gesteigert oder auch in falsche Bahnen gelenkt sein
können. Geschlechtliche Kälte beobachten wir bei manchen
Formen des Entartungsirreseins, namentlich auch bei der Hysterie.
Ebenso pflegen bei Morphinisten die Geschlechtsgefühle allmählich
zu schwinden. Weit häufiger aber ist die Steigerung der ge-
schlechtlichen Erregbarkeit; sie findet sich bei gewissen Idioten,
ferner sehr ausgeprägt in der Dementia praecox, endlich in den
manischen und paralytischen Erregungszuständen sowie beim
Altersblödsinn. Ganz besondere Beachtung hat in neuerer Zeit
das Auftreten geschlechtlicher Gefühle ausserhalb des gesunden
Geschlechtsverkehrs gefunden, ihre Anknüpfung an Personen des
eigenen Geschlechts, an gewisse Gegenstände, ihre \erbindung
mit der Ausübung oder Erduldung von Misshandlungen. Da alle
diese Störungen in engster Beziehung zu krankhaften Richtungen
des Geschlechtstriebes stehen, werden wir ihrer am besten später
im Zusammenhänge mit diesen letzteren selbst gedenken.
D. Störungen des Wollens und Handelns.
Ihren letzten und wichtigsten Ausdruck finden alle Stö-
rungen, die das psychische Leben beeinflussen, im Wollen und
Herabsetzung der Willensantriebe.
265
Handeln des Kranken. Den Ausgangspunkt einer Willenshand-
lung bildet die Vorstellung eines bestimmten Zweckes, einer Ver-
änderung an uns selbst oder an unserer Umgebung. Diese Vor-
stellung wird von Gefühlen begleitet, die sich in Antriebe
zur Erreichung jenes Zweckes umsetzen. Die Richtung des Han-
delns ist demnach durch den Inhalt jener Vorstellung, die Kraft
und Nachhaltigkeit desselben durch die Stärke und Dauer der
begleitenden Gefühle bestimmt.
Die krankhaften Störungen desWollens und Handelns können
in der verschiedensten Weise und an den verschiedensten Punkten
des Willensvorganges angreifen. Die Stärke der Willensantriebe
kann herabgesetzt und erhöht, ihre Auslösung durch ver-
schiedenartige Störungen erschwert oder erleichtert sein. Die
Richtung des Wollens sehen wir durch äussere und innere
Beeinflussungen krankhaft abgelenkt werden, bald in vielfachem
Wechsel, bald in einseitiger Starrheit. Krankhafte An-
triebe können gewaltsam das gesunde Wollen unterdrücken,
triebartige Regungen können zu unüberlegten und zweck-
losen Handlungen drängen; die natürlichen Triebe sehen wir
krankhafte Formen annehmen. Endlich aber wird natür-
lich das ganze Handeln unserer Kranken durch alle jene Stö-
rungen beeinflusst, die sich auf anderen Gebieten ihres
Seelenlebens abspielen, auch wenn der Ablauf des Willens-
vorganges an sich dabei keine Abweichungen darbietet. Eine
besondere Besprechung werden die Ausdrucksbewegungen
erfordern, da sie es sind, die uns in erster Linie die Kenntnis
der inneren Erlebnisse unserer Kranken vermitteln.
Herabsetzung der Willensantriebe. Dem gesunden Verständ-
nisse am nächsten liegt jene Lähmung des Willens, die durch die
einfache Ermüdung herbeigeführt wird. Das Anwachsen der inneren
Widerstände bedingt zunächst eine Steigerung der Willens-
spannung, eine erhöhte „Anstrengung“, die dann weiterhin zum
Erlahmen führt. Da auch die Gedankenarbeit Willenstätigkeit ist,
schwindet mit der Zunahme des Ruhebedürfnisses die geistige
Regsamkeit ebenso wie die Neigung zu raschem und ausgiebigem
Handeln. Wir fühlen uns nicht mehr aufgelegt zu geistiger Tätig-
keit, und die Beweggründe müssen immer zwingendere werden,
wenn sie uns zu kräftiger Tat antreiben sollen. Ähnliche Wir-
266
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
kungen werden durch manche Gifte erzeugt. In den höchsten
Graden des Alkoholrausches, unter dem Einflüsse des Chloro-
forms, des Chloralhydrates erlöschen alle Willensantriebe, nach-
dem allerdings vielfach eine Steigerung derselben voraufgegangen
ist. Während aber diese Mittel gleichzeitig in noch höherem
Grade Auffassung und Denken lähmen, kennen wir im Morphium
und vielleicht auch im Tabak Giftstoffe, die ganz vorzugsweise
die Entstehung und Auslösung von Willensantrieben zu hindern
scheinen. Beim Alkohol, Morphium und dem beiden verwandten
Coca'in wird die Willenslähmung durch dauernden Missbrauch sehr
deutlich; es entwickelt sich ein folgenschwerer Mangel an Tat-
kraft. Die schwachen Antriebe verpuffen regelmässig, ohne
weiterreichenden, richtunggebenden Einfluss auf das Handeln zu
gewinnen; auch die sonst stärksten Beweggründe, die sittlichen
Forderungen, die Rücksicht auf die Familie, auf das eigene Lebens-
glück, vermögen den kraftlosen Willen nicht zu nachhaltiger An-
spannung anzuspornen.
Eine ganz ähnliche Verödung des Wollens sehen wir viel-
fach in den Endzuständen ungeheilter Geistesstörungen sich ent-
wickeln. So verlieren beim Altersschwachsinn zunächst die all-
gemeineren Vorstellungen und Gefühle ihren Einfluss auf das
Handeln. Die Spannkraft des Willens, die Schaffensfreude, die
schon im gesunden Greisenalter merklich abzunehmen pflegt,
erlahmt völlig; das Streben richtet sich auf das Nächstliegende
und verzichtet leicht auf die Überwindung von Hindernissen.
Statt dessen gewinnen jene Triebfedern das Übergewicht, die
aus den niederen Begierden entspringen. Habsucht, Geiz, Ge-
frässigkeit, unter Umständen auch geschlechtliche Gelüste sind
allein noch imstande, kräftigere Willensantriebe auszulösen. Oder
die Kranken dämmern wunschlos und tatenlos dahin, von ihrer
Umgebung gelenkt und geschoben, ohne in zweckmässigem Han-
deln oder Widerstreben die Spuren einer selbständigen Willens-
entschliessung erkennen zu lassen. Am auffallendsten pflegt
die Willenslähmung bei der Dementia praecox hervorzutreten,
weil daneben manche anderen psychischen Leistungen noch ver-
hältnismässig gut erhalten sein können. Die Abstumpfung der Ge-
fühle führt hier, namentlich in den Endzuständen, gewöhnlich auch
zu einer mehr oder weniger ausgesprochenen ^ ernichtung der
Steigerung der Willensantriebe.
267
Willensregungen. Die Kranken verlieren die Fälligkeit, aus
eigenem Antriebe nachzudenken oder sich zu beschäftigen. Sich
selbst überlassen, sitzen sie träge herum; weder in ihrem Innern
spielen sich Vorgänge ab, noch lösen äussere Einwirkungen Hand-
lungen aus; nur die unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse, be-
sonders das Essen, vermögen sie noch in Bewegung zu bringen.
Dennoch können sie durch geduldiges Antreiben und durch das
Beispiel oft noch zu ganz brauchbaren Leistungen gebracht wer-
den; freilich versiegt ihre Tätigkeit sofort, wenn der Anstoss
dazu aufhört. Gerade dadurch wird es deutlich, dass die Kranken
nicht die Fähigkeit zur Arbeit und zum Handeln, sondern nur den
Antrieb dazu verloren haben. Am weitesten schreitet die Zer-
störung des Willens in der Paralyse fort. Mit dem Schwinden
der geistigen und gemütlichen Ansprechbarkeit verlieren sich auch
die Willensregungen; der Kranke empfindet kein Leid und kein
Bedürfnis mehr, das ihn zu einer Handlung antreiben könnte.
Schliesslich können sich alle Lebensäusserungen auf die Fort-
dauer der unwillkürlichen und einiger reflektorischer Bewegungen
beschränken.
Was hier überall durch den Krankheitsvorgang zerstört wird,
kann auch von Jugend auf unentwickelt bleiben. Schon in der
Breite der Gesundheit ist die Stärke der Willensantriebe, die
Leichtigkeit, mit der sich Denken und Fühlen in Handeln umsetzt,
ausserordentlichen Schwankungen unterworfen. Von den trägen
und schwerfälligen Naturen führen uns Übergänge allmählich zu
den stumpfen Formen des angeborenen Schwachsinns und der
Idiotie, bei denen nur mühsam und selten ein Willensantrieb zu
stände kommt und zum Handeln führt. Selbstverständlich sind
es auch hier die sinnlichen Gefühle, Hunger und Schmerz, die
das Begehren am stärksten erregen und daher in erster Linie die
Richtung der Willensäusserungen bestimmen.
Steigerung der Willensantriebe. Das allgemeine Zeichen einer
Steigerung der Willensantriebe ist die motorische Erreg-
ung. Im einzelnen freilich haben wir uns das Zustandekommen
derselben in sehr verschiedener Weise zu denken. Zunächst kann
die Erregung sich einfach aus Vorstellungen oder Gefühlen
herausentwickeln. Dahin gehören die durch bestimmte Anlässe
hervorgerufenen Leidenschaftsausbrüche gesunder und kranker
268
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Menschen, die plötzliche Entladung überstürzter Willenshand-
handlungen in einer bestimmten Lebenslage. In diesen Fällen
ist offenbar das Handeln nur die notwendige Folge der gegebenen
psychologischen Vorbedingungen; eine Störung liegt daher auch
nicht auf dem Gebiete des Wollens selbst, sondern höchstens auf
denjenigen, die dasselbe vorbereiten. Es sind eben mächtige Be-
weggründe vorhanden, die naturgemäss auch besonders lebhafte
Willensantriebe zur Auslösung bringen müssen.
Von einer wirklichen Steigerung der Antriebe sind wir
dagegen zu sprechen berechtigt, wenn ein Missverhältnis zwi-
schen dem Gewichte der Beweggründe und der Heftigkeit der
Erregung besteht. Vielleicht ist das bis zu einem gewissen Grade
schon bei vielen delirierenden Kranken der Fall. Bei ihnen,
namentlich bei Alkoholdeliranten, entwickelt sich meist eine
deutliche Unruhe, die sich nicht genügend durch die Wahn-
vorstellungen, Sinnestäuschungen und Gemütsbewegungen er-
klären lässt, sondern auf krankhafte Willenserregung hinweist.
Die Kranken bleiben nicht im Bette, drängen zur Türe hinaus und
zeigen einen ausgeprägten Tätigkeitsdrang, allerdings in Be-
ziehung zu ihren Täuschungen. Dass sie aber trotz ihrer oft
grossen Hinfälligkeit überhaupt die lebhafte Neigung haben, sich
im Sinne ihres Berufes zu beschäftigen, macht die Annahme einer
selbständigen motorischen Erregung durchaus wahrscheinlich.
Eine weitere Form der hier besprochenen Störung lässt sich
am besten durch die Betrachtung des Alkoholrausches erläutern.
Wir sehen hier die Steigerung der Willensantriebe von der er-
wachenden Lebhaftigkeit in Reden und Ausdrucksbewegungen all-
mählich zum Lärmen, Schreien und schliesslich zu allen jenen
zwecklosen Handlungen anwachsen, die den Berauschten so häufig
mit der öffentlichen Ordnung und dem Strafgesetze in Wider-
streit bringen. Ganz ähnliche Störungen scheint das Cocain zu
erzeugen; wenigstens entsteht bei dauerndem Missbrauche des
Mittels zwecklose Unruhe, Geschwätzigkeit, Schreibseligkeit, die
kaum anders gedeutet werden können. Gerade diese Erregungs-
zustände der Coca'inisten bilden den Übergang zu jener eigen-
artigen Steigerung der Willensantriebe, wie sie dem Bilde des
manischen Irreseins eigentümlich ist, sich aber auch bei den In-
fektionspsychosen und bei der Paralyse vielfach entwickelt. Wir
Steigerung der Willensantriebe.
269
haben es hier mit einem krankhaften Beschäftigungs-
drange zu tun, der sich bei den leichteren, hypomanischen Zu-
ständen zunächst in unstetiger Yielgeschäftigkeit, grosser Ge-
sprächigkeit, lebhaften Gebärden kundgibt, im Sammeln und Zu-
sammenkaufen unnützer Dinge, in der Einmischung in fremde An-
gelegenheiten, der Verfolgung aller möglichen Pläne, in unsinni-
gen Ausschweifungen, in zwecklosem Herumtreiben und Reisen.
Bei stärkerer Erregung werden die Antriebe zum Handeln
immer zahlreicher und mannigfaltiger. Da zugleich die Zweck-
vorstellungen flüchtiger werden, lockert sich der Zusammenhang
zwischen den einzelnen Handlungen. Der Kranke ist nicht mehr
imstande, einen bestimmten Plan durchzuführen, sondern fängt
alles nur an, indem seine ursprüngliche Absicht sofort durch
neu aufsteigende Antriebe in den Hintergrund gedrängt wird.
Schliesslich ist ein Zweck der einzelnen Handlung kaum mehr
erkennbar; wir bemerken nur noch eine bunte Reihe wechseln-
der Kraftäusserungen. Es kommt zu beständigem Schreien und
Singen, Laufen, Tanzen, zum Entkleiden, Zerreissen der Kleidungs-
stücke mit mannigfacher Verwertung der Fetzen, Schmieren und
Malen mit Kot, Waschen mit Urin, Zerstören aller erreichbaren
Gegenstände, Trommeln und Klopfen mit Händen und Füssen.
Ein wesentlich anderes Bild, als der manische Beschäftigungs-
drang, bietet die katatonische Erregung dar. Dort ist auch
in den unsinnigsten Handlungen eine psychische Verursachung
wenigstens ungefähr erkennbar; alle Antriebe führen doch immer
zu Handlungen, so zwecklos und unsinnig dieselben auch
erscheinen mögen. Hier dagegen haben wir es wesentlich mit
Bewegungen zu tun, die meist durchaus keinen bestimmten
Erfolg haben. Auf diese Störung passt daher am besten die
Bezeichnung „Bewegungsdrang“, die sonst gerade für den
manischen Beschäftigungsdrang gebraucht zu werden pflegt.
Obgleich die eigentliche Erregung beim Katatoniker oft weit
geringer ist, sind seine Bewegungen völlig planlos und dienen nicht
der Verwirklichung dieser oder jener Absicht. Vielmehr bestehen
sie einfach in Gesichterschneiden, Verdrehungen und Verren-
kungen der Glieder, Auf- und Niederspringen, Purzelbäumen,
Wälzen, Händeklatschen, Herumrennen, Klettern und Tänzeln, in
dem Hervorbringen sinnloser Laute und Geräusche. Von eigent-
270
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
lichem Wollen kann Mer kaum noch die Rede sein, insofern wir
es nicht mehr mit der Umsetzung von Zweckvorstellungen in
Handlungen zu tun haben. Auch die Kranken selbst versichern
uns nicht selten auf das bestimmteste, dass sie nicht wissen, wie
sie dazu kommen, solche Bewegungen auszuführen. Vielleicht
dürfen wir hier an die Erfahrungen erinnern, die man nach starken
körperlichen Anstrengungen bisweilen macht. Dabei kann sich
eine Muskelunruhe entwickeln, die sich in allerlei zwecklosen
Bewegungen entladet; wir können nicht still sitzen, springen alle
Augenblicke auf, spielen mit den Fingern, wechseln die Stellung.
Auch hier handelt es sich um Antriebe, die nicht der Ausdruck
von Vorstellungen sind.
Erschwerte Auslösung der Willensantriebe. Die Kraft und
Schnelligkeit, mit der sich ein Willensantrieb in Handeln umsetzt,
ist ausser von seiner eigenen Stärke auch von der Grösse der
Widerstände abhängig, die er zu überwinden hat. So wissen wir,
dass Schreck und Furcht der Ausführung unserer Absichten
innere Hindernisse entgegensetzen können, die wir nur mit
der grössten Willensanstrengung zu überwinden imstande sind.
Eine derartige Steigerung der Widerstände, eine psychomo-
torische Hemmung, ist vielleicht die wichtigste Grund-
störung in gewissen Depressionszuständen des cirkulären Irre-
seins. Die Kranken werden unfähig zu den einfachsten Ent-
schlüssen, müssen sich zu jeder Handlung mühsam auf raffen,
vermögen sich nicht auszusprechen, sondern geben nur kurze,
einsilbige Antworten. Natürlich entsteht dadurch eine sehr aus-
geprägte Verlangsamung und Abschwächung des Handelns. Nur
ganz fest eingelernte Tätigkeiten gehen bisweilen noch ohne
Hemmung von statten; ebenso kann auch einmal eine heftige
Gemütserschütterung die Widerstände plötzlich durchbrechen.
Ferner lässt sich in der Regel nachweisen, dass bei fortgesetzten
Bemühungen die Hemmung allmählich geringer wird. In schweren
Fällen kann die Auslösung selbständiger Willenshandlungen fast
gänzlich unmöglich sein. Trotz aller ersichtlichen Anstrengung
bringen die Kranken kein Wort mehr hervor, sind unfähig, zu
essen, aufzustehen, sich anzukleiden. Regelmässig empfinden sie
dabei deutlich den ungeheuren Druck, der auf ihnen liegt und
den sie nicht zu überwinden imstande sind.
Erschwerte Auslösung der Willensantriebe.
271
Zumeist pflegt man diese Störung unter dem Namen des
„Stupor s“ mit einigen anderen, nur ausser lieh ähnlichen Zu-
ständen zusammenzufassen, von denen wir als wichtigsten den
katatonischen Stupor herausheben wollen. Bei ihm ist
die Auslösung der Bewegungen an sich keineswegs erschwert, wie
wir aus gelegentlichen, sehr rasch und kräftig erfolgenden Hand-
lungen leicht erkennen. Allein jeder Antrieb löst hier sofort
einen Gegenantrieb aus, der mindestens ebenso stark, öfters sogar
weit kräftiger ist. Auf diese Weise wird jede Bewegung im Ent-
stehen unterdrückt, namentlich wenn ihr eine äussere Anregung
zu Grunde liegt. Nicht selten sehen wir daher die beabsichtigte
oder verlangte Bewegung wohl angefangen, aber sofort wieder
unterbrochen und unter Umständen durch die entgegengesetzte
abgelöst werden. Hier wird demnach nicht der Antrieb durch
innere Widerstände gehemmt, sondern er wird durch einen Gegen-
befehl einfach ausgelöscht. Während die Kranken mit psychischer
Hemmung immer noch bemüht sind, den Widerstand zu überwinden,
bis sie endlich erlahmen oder durchdringen, kehrt sich beim ka-
tatonischen Stupor der Antrieb selbst von vornherein oder doch
sehr bald in Widerstreben um. Man kann daher im Vergleiche
zu der Hemmung dort von einer „Sperrung“ hier sprechen.
Sobald die Sperrung fortfällt, der Gegenbefehl ausbleibt, geht die
Handlung ohne die geringste Schwierigkeit von statten. Wie wir
bei jeder Muskelbewegung immer auch den Antagonisten in Tätig-
keit setzen, so entsteht anscheinend hier neben der Vorstellung
der angeregten Bewegung sofort auch diejenige der entgegen-
gesetzten und verhindert deren Auslösung.
Durch diese Willenssperrung werden zahlreiche Reaktionen
im Entstehen erstickt, die sich beim Gesunden gewohnheitsmässig,
ohne ausdrückliches Eingreifen der Willkür, vollziehen. Die
Kranken blicken nicht auf, wenn man sie anredet, erwidern den
Gruss nicht, ergreifen nicht die dargebotene Hand. Bedroht man
sie mit dem Messer oder sticht sie in das Augenlid, so weichen
sie allenfalls zurück, machen aber keine planmässigen Abwehr-
bewegungen; sie bleiben in äusserst unbequemen Stellungen
liegen, ohne sich behaglich zurechtzulegen, setzen sich stunden-
lang glühenden Sonnenstrahlen aus, obgleich wenige Schritte sie
in den Schatten bringen würden. Vielleicht ist auch das Auf-
272
II. Die Erscheinungen dos Irreseins.
hören des Lidschlages, des regelmässigen Speichelschluckens, das
Zurückhalten der Entleerungen auf die Willenssperrung, auf
die Unterdrückung der natürlichen, unwillkürlichen Antriebe zu-
rückzuführen. Das gesamte Verhalten der Kranken gewinnt durch
diese Störungen ein höchst absonderliches Gepräge. Indem die
erwarteten und dem Gesunden selbstverständlichen Willens-
äusserungen ausbleiben, erscheint das Benehmen unnatürlich,
unfrei und gezwungen.
Da es sich bei der Willenssperrung nicht um ein A ersagen
der Antriebe, sondern um das Gleichgewicht entgegengesetzter
Antriebe handelt, so bemerken wir hier bei der Ausführung von
Handlungen nicht die müde Kraftlosigkeit, die der Willenshem-
mung eigentümlich ist, sondern eine starre Spannung, die uns das
Spiel widerstrebender Einflüsse verrät. Die Bewegungen ge-
schehen mit einem Übermass von Anspannung, die sich auf alle
beteiligten Muskelgruppen in nahezu gleichmässiger Weise er-
streckt; das Ergebnis entwickelt sich aus einem verhältnis-
mässig geringen Übergewichte einer Gruppe über die entgegen-
gesetzte. Daher erscheinen Haltung und Bewegung steif und
gespannt. Nicht selten beobachten wir ein Schwanken in der
Kraft der Antriebe und Gegenantriebe; bald gewinnen die einen,
bald die andern die Oberhand. Es kommt zu plötzlichem Still-
stände und ebenso plötzlicher Fortsetzung der eingeleiteten Be-
wegung; sie läuft stossweise a.b, wird eckig und ungeschickt.
Vielleicht ist es das Gefühl aller dieser Behinderungen, das die
Kranken zu einer gleichzeitigen Anspannung weiter Muskelgebiete
veranlasst. Auch bei der Ausführung geringfügiger Bewegungen
werden gern die ganzen Glieder mit in Anspruch genommen. Auf
diese Weise werden die Bewegungen plump und masslos.
Erleichterte Auslösung von Willensantrieben. Die Eindrücke
der Aussenwelt wie unsere inneren Erlebnisse erzeugen in uns
dauernd einen mehr oder weniger hohen Grad von Willens-
spannung, der sich in mannigfachen Äusserungen zu entladen
strebt. Ein Teil dieser Wirkungen ist dem Einflüsse der W illkür
entzogen; den grössten Teil derselben vermögen wir jedoch durch
Willensanstrengungen zu hemmen. Von der Ausbildung dieser
Hemmungen, über die wir verfügen, hängt demnach die grössere
oder geringere Leichtigkeit ab, mit der auftauchende Antriebe
Erleichterte Auslösung von Willensantrieben.
273
sich in Handlungen umsetzen. Unsere geistige Entwicklung be-
deutet im allgemeinen eine Zunahme der Hemmungen; das Kind
handelt am raschesten und unmittelbarsten, während die wach-
sende Selbstbeherrschung den Mann befähigt, zahlreiche An-
triebe zu unterdrücken, bevor sie zur Tat werden. Die weibliche
Eigenart mit ihrer erhöhten gemütlichen Erregbarkeit pflegt in
dieser Hinsicht derjenigen des Kindes näher verwandt zu bleiben.
Die eindämmende Macht der Hemmungen wird natürlich um
so früher versagen, je stärker die Antriebe, je heftiger die Ge-
mütsbewegungen sind, aus denen sie hervorgehen. Auf der andern
Seite kennen wir Einflüsse, welche geradezu die Auslösung von
Willensantrieben erleichtern und damit die Widerstandsfähigkeit
gegen die Umsetzung von Antrieben in Handlungen vermindern.
In geringerem Grade scheint das schon für jede psychomotorische
Tätigkeit zu gelten. Durch fortgesetzte Ausführung von Bewe-
gungen geraten wir in eine gewisse Erregung, die eine Ver-
ringerung der Hemmungen bedeutet. Wir haben bereits früher
darauf hingewiesen, dass auch die krankhafte Willenshemmung
durch die Betätigung selbst allmählich abnimmt. Noch deutlicher
vielleicht ist das Anwachsen der Erregung bei manischen oder
katatonischen Kranken, sobald sie ihrer Unruhe freien Lauf lassen
können. Die ungehinderte Entladung ihrer Antriebe macht sie
immer unfähiger, sich zu beherrschen; darauf beruht hier der
überraschende Erfolg der Bettbehandlung gegenüber dem „Aus-
toben“. Nach den Ergebnissen psychologischer Versuche be-
günstigt die Entziehung des Schlafes ebenfalls den Wegfall
der Willenshemmungen. Dem würde die Erfahrung entsprechen,
dass andauernde Schlaflosigkeit die Erregung bei unseren Kranken
zu steigern scheint, doch ist hier auch die umgekehrte Deutung
möglich.
Eine sehr verhängnisvolle Abnahme der Willenshemmungen
wird in grösstem Umfange durch die Wirkung des Alkohols her-
beigeführt. Wenn auf der einen Seite das Verhalten Angetrun-
kener dafür spricht, dass wir es hier mit einer wirklichen Er-
regung zu tun haben, so deutet doch andererseits die Leichtig-
keit, mit der auch ohne Erregung die unbesonnensten und bedenk-
lichsten Handlungen zu stände kommen, auf den Verlust jener
Widerstände hin, die den Nüchternen befähigen, seine Antriebe
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 18
274
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
im Zaume zu halten. Alle die Beweggründe, die aus der sitt-
lichen Erziehung eines ganzen Lebens entspringen, verlieren plötzr-
lieh ihre Macht; alle Bedenken und Überlegungen schweigen, so-
bald der Alkohol die Selbstbeherrschung vernichtet hat. In ab-
geschwächtem Grade lässt sich diese Wirkung des Alkohols auf
den Willen auch dauernd beim Trinker nachweisen, in der ver-
ringerten Widerstandsfähigkeit gegen Verführungen aller Art.
Ähnliche Veränderungen erzeugt bei einmaligem wie bei gewohn-
heitsmässigem Gebrauche der Äther und wohl auch das Cocain.
Als dauernde Eigenschaft tritt uns ferner die erleichterte
Auslösung von Willensantrieben bei gewissen Formen krank-
hafter Veranlagung, namentlich bei der Hysterie, entgegen. Die
Lebhaftigkeit der Gefühlsbetonung lässt hier der verstandes-
mässigen Vorbereitung der Handlungen keinen grossen Spiel-
raum; daher kommen rasch und unvermittelt nicht selten Hand-
lungen zu stände, die den Stempel des Unbegreiflichen und Zweck-
widrigen tragen, Diebstähle, Schwindeleien, Selbstverletzungen.
Auch hier befinden sich die Kranken oft in einem eigentümlichen
Zwiespalte zwischen den gesunden Regungen und den triebartigen
Einflüssen, die ihren Willen überwältigen.
Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens. Zwei Quellen sind es,
aus denen die Beweggründe unseres Handelns entspringen, aus
äusseren Anstössen und aus feststehenden allgemeinen Willens-
richtungen, deren Inhalt ursprünglich allerdings auch durch die
Lebenserfahrung erworben wurde. Beim gesunden Menschen führt
jeder Anlass nur soweit wirklich zum Handeln, als ihm nicht
wichtige, der eigenen Persönlichkeit angehörende Gegenströ-
mungen im Wege stehen. Diese verhältnismässige Unabhängig-
keit des Wollens von äusseren Anstössen bildet die psychologische
Grundlage der „Willensfreiheit“. Nur Kinder und in ge-
ringerem Grade auch wohl Frauen, ferner die „leichtsinnigen
Naturen lassen sich mehr von den Einflüssen des Augenblickes,
als von festen „Grundsätzen“ leiten, weil sie solche noch nicht
erworben haben oder überhaupt nicht zu erwerben imstande sind.
Auf krankhaftem Gebiete wird der bestimmende Einfluss dauern-
der Willensrichtungen auf das Handeln beeinträchtigt oder ver-
nichtet durch einfache Abschwächung des Willens, durch Stei-
gerung der psychomotorischen Erregbarkeit und durch das Auf-
Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens.
275
treten krankhafter Antriebe. Der erste dieser Fälle ist verwirk-
licht in allen jenen Formen des angeborenen oder erworbenen
Schwachsinns, die mit einer Herabsetzung der Tatkraft einher-
gehen. Wo keine kräftigen Triebfedern des Handelns vorhanden
sind, wird dasselbe nicht durch die allgemeinen Eigenschaften der
Persönlichkeit bestimmt, sondern durch zufällige Einflüsse. Es
entwickelt sich also eine hilflose Abhängigkeit des Wollens von
allen möglichen Einwirkungen, eine krankhafte Bestimmbar-
keit. Da kein selbständiger Plan den festen Grund des Handelns
bildet, geht seine innere Einheit und Folgerichtigkeit verloren.
Am reinsten pflegt uns diese Störung in der Paralyse entgegen-
zutreten. Ein Wort genügt hier nicht selten, um den leicht
lenksamen Kranken ohne weiteres zu den widersprechendsten
Entschlüssen zu veranlassen.
Einen vorübergehenden Zustand von Willenlosigkeit
mit erhöhter Beeinflussbarkeit vermögen wir durch die Hyp-
nose*) zu erzeugen. Es gelingt bekanntlich bei einer sehr
grossen Zahl von Menschen (80 — 90 o/o), durch verschiedenartige
Hilfsmittel, namentlich durch lebhafte Erweckung der Vorstellung
■des Einschlafens, eine Veränderung des Bewusstseins in dem Sinne
kerbeizuführen, dass die Seelenvorgänge in eine mehr oder weniger
vollständige Abhängigkeit von dem Willen des Versuchsleiters
geraten. Bei den allerdings nicht sehr häufig erreichbaren höch-
sten Graden dieses Zustandes kann durch Suggestion, d. h. durch
kräftiges Anregen von Vorstellungen, Gefühlen und Antrieben
mit Hilfe des Wortes oder geeigneter Handlungen, der Inhalt
der Wahrnehmungen ganz nach Belieben frei erzeugt oder ab-
geändert werden. Ferner können frei erfundene Erinnerungen
mit allen Einzelheiten dem Beeinflussten eingepflanzt werden,
um bei ihm weitere selbständige Verarbeitung zu finden, und
endlich stehen auch seine Handlungen, ja sogar viele seiner un-
willkürlichen Verrichtungen, gänzlich unter dem Einflüsse der
gebieterisch die eigenen Willensregungen knebelnden Eingebungen.
Der Hypnotisierte vermag kein Glied zu rühren ohne Erlaubnis
des Hypnotiseurs; er verharrt in den Stellungen, die dieser ihm
*) Forel, Der Hypnotismus und die suggestive Psychotherapie, 4. Auf-
lage. 1902.
18*
276
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
gibt und begeht auf sein Geheiss unbedenklich unsinnige, unter
Umständen vielleicht sogar verbrecherische Handlungen. In ein-
zelnen Fällen dauert dieser nur mangelhaft durch den Ausdruck
Befehlsautomatie gekennzeichnete Zustand auch nach dem
Erwachen aus der Hypnose noch kürzere oder längere Zeit hin-
durch fort (Möglichkeit posthypnotischer Suggestionen), bis der
eigene Wille wieder die Herrschaft über den Ablauf der Seelen-
vorgänge gewinnt; zuweilen aber kann trotz völliger Rückkehr des
Wachzustandes im voraus für einen fernliegenden Zeitpunkt (an-
scheinend selbst bis zu einem Jahre) das Eintreten suggerierter
Wahrnehmungen und Handlungen erzwungen werden (Suggestion ä
echeance). In allen diesen Fällen erscheint dem Beeinflussten
selbst die pünktlich ausgeführte Handlung als das Ergebnis
eigenen Entschlusses; meist macht sich zu der bestimmten Zeit
der immer klarer werdende Drang nach Erfüllung der gestellten
Aufgabe geltend, ohne dass jedoch die Entstehung desselben durch
äussere Anregung irgendwie zum Bewusstsein käme. Hie und da
kann die hypnotische Willensstörung sogar ohne eigentliche Hyp-
nose, wenigstens ohne irgend tiefere Bewusstseinstrübung, in an-
scheinend wachem Zustande erzielt werden.
Wenn uns das Wesen dieser vielumstrittenen Erscheinungen
zur Zeit noch in vielen Beziehungen rätselhaft ist, so lässt sich
ein psychologisches Verständnis für dieselben immerhin durch die
Annahme gewinnen, dass es sich dabei um die vorübergehende Be-
seitigung jenes leitenden Einflusses handelt, welchen der V ille
durch Unterdrückung dieser und Begünstigung jener Bewusst-
seinsvorgänge fortdauernd auf unser Seelenleben ausübt. Die Ähn-
lichkeit der hypnotischen mit den Traumzuständen ist gerade unter
diesem Gesichtspunkte eine so handgreifliche, dass wir kaum erst
des so häufig beobachteten Überganges zwischen Hypnose und
Schlaf oder umgekehrt bedürften, um eine tiefere Verwandtschaft
beider anzunehmen. Auch im Traume nehmen wir urteilslos die
widerspruchsvollsten Wahrnehmungen und "V orstellungsverbin-
dungen als bare Wirklichkeit hin; wir erfinden Erinnerungen und
vergessen die alltäglichen Erfahrungen; vir begehen ohne Ge-
wissensbisse die zwecklosesten und schändlichsten Handlungen, um
uns andererseits auf das peinlichste in der Ausführung unserer
einfachsten Absichten immer und immer wieder gehemmt zu
Erhöhte Beeinflussbarkeit des Willens.
277
sehen. Nur ist es hier das unwillkürliche, höchstens zeitweise
durch äussere Reize angeregte Spiel unserer eigenen Vorstellungen
und Gefühle, welches durch die Ausschaltung der bestimmenden
Einflüsse freie Bahn gewinnt, während bei der Hypnose der fremde
Wille gewissermassen in unser entfesseltes Seelenleben hinein-
greift und nunmehr als unumschränkter Machthaber in dem herren-
losen Gebiete schalten kann. Ein solcher Versuch, den Träumen-
den von aussen her zu beeinflussen und dadurch ohne weiteres
die Hypnose herzustellen, gelingt freilich nur unter besonders
günstigen Umständen. Zumeist pflegt der Schläfer dabei zu er-
wachen, wenn er überhaupt der Einwirkung zugänglich ist. Die
Hypnose dagegen dauert trotz der Wahrnehmungen von aussen
fort: sie ist nichts, als ein leichter Schlaf mit der Autosuggestion,
nicht ohne fremde Hilfe erwachen zu können.
Einer ähnlichen vorübergehenden Ausschaltung des Willens
begegnen wir in gewissen Krankheitszuständen. Namentlich häufig
lassen sich die Glieder der Kranken ohne den geringsten Wider-
stand in jede beliebige Lage bringen und behalten dieselbe so lange
bei, bis man ihnen einen anderen Anstoss gibt oder bis sie infolge
hochgradiger Muskelermüdung zitternd dem Gesetze der Schwere
folgen. Wir bezeichnen diese Störung als wächserne Biegsamkeit
(Flexibilitas cerea) oder Katalepsie. Seltener gelingt es, die Kran-
ken durch die Einleitung einfacher, regelmässiger Bewegungen
zur fortgesetzten Wiederholung derselben zu veranlassen oder die
Nachahmung lebhaft vor ihren Augen ausgeführter Gebärden
(rasches Erheben der Arme, Händeklatschen) zu erreichen (Nach-
ahmungsautomatie, Echopraxie). Hie und da sieht man auch wohl
einen Kranken peinlich alles nachahmen, was sein Nachbar tut,
dieselben Bewegungen machen, ihm in gleichem Schritte folgen.
Häufiger beobachtet man willenloses Nachreden vorgesagter, Ein-
flechten zufällig aufgefangener Worte (Echolalie). Überall lässt
sich hier übrigens zeigen, dass die anscheinend maschinenmässig
handelnden Kranken die Eindrücke dennoch verarbeiten. Der
Kranke, der zugerufene Zahlen echolalisch wiederholt hat, löst in
derselben zwangsmässigen Weise eine ebenso vorgesagte Rechen-
aufgabe, oder er verzieht das Gesicht zu kläglichem Weinen,
während er auf kräftiges Geheiss immer wieder die Zunge heraus-
steckt, damit sie ihm durchstochen werden solle. Andeutungen
278
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
dieser Erscheinungen, besonders der wächsernen Biegsamkeit,
werden bei den verschiedenartigsten Krankheitszuständen ge-
legentlich beobachtet. Ich sah sie bei Hysterischen, Epileptischen,
Manischen, Paralytikern und Alkoholisten, bei traumatischem
Hirnabscess und bei einem mächtigen Hydrocephalus mit Hemi-
plegie, hier aus begreiflichen Gründen nur auf der nicht gelähmten
Seite. Bei weitem am ausgesprochensten aber findet sich die ganze
Gruppe von Störungen bei der Dementia praecox, insbesondere bei
jenen Formen, die wir als Katatonie kennen lernen werden.
Auch die krankhafte Erleichterung der Willensantriebe pflegt
mit erhöhter Beeinflussbarkeit einherzugehen. Die Leichtigkeit,
mit der sich Gedanken in Handlungen umsetzen, lässt jeden neuen
Eindruck, jeden Einfall sofort zu einer Macht werden, die ihren
Einfluss auf den Willen siegreich geltend macht, um freilich als-
bald durch andere Antriebe wieder verdrängt zu werden. Auf diese
Weise entsteht das Krankheitszeichen einer erhöhten Ab lenk-
bar k eit des Willens. Gemeinsam ist dieser und den bisher be-
sprochenen Störungen die Ohnmacht der dauernden M illemmich-
tungen. Während aber bei der Bestimmbarkeit und der Willen-
losigkeit wesentlich nur äussere Einflüsse für das Handeln mass-
gebend sind, hängt hier das Wollen ebenso sehr von den stets
wechselnden inneren Zuständen und Einfällen ab. Mir begegnen
dieser Störung, deren Gegenstück wir in der Ablenkbarkeit des
Vorstellungsverlaufes kennen gelernt haben, namentlich in ge-
wissen manischen und deliriösen Erregungszuständen. Als
dauernde persönliche Eigentümlichkeit begleitet die Ablenkbarkeit
des Wollens ferner die hysterische Veranlagung und die ihr nahe
stehenden Formen des Schwachsinns. Auch hier wird jeder An-
trieb, da er sich rasch und leicht in Handlung umsetzt, sehr bald
durch neue Entschlüsse wieder verdrängt. Das Tun und Treiben
der Kranken erhält dadurch den Stempel der U n s t e t i g k e i t und
Planlosigkeit. Plötzliche Entschlüsse und sprunghafte Anläufe
kommen und gehen; sie bleiben auf halbem Wege stecken und
werden leicht durch neue Anregungen verdrängt. Das Beispiel in
gutem und bösem Sinne, die gesamte Umgebung gewinnt grossen,
aber ganz vergänglichen Einfluss. Aon liier führen stetige .Eber
gänge zu jenen leicht erregbaren Persönlichkeiten hinüber, die mit
Begeisterung, aber ohne Nachhaltigkeit alles Neue ergreifen und
Verschrobenheit und Stereotypie.
279
nichts zu Ende führen, weil ihr Eifer lange vor Erreichung des
Zieles bereits verraucht ist.
Verschrobenheit und Stereotypie. Die Ausführung einer ein-
fachen Handlung ist im allgemeinen durch die Zweckvorstellung
ziemlich eindeutig bestimmt. Da unsere Bewegungen von dem
Grundsätze der Sparsamkeit beherrscht zu werden pflegen, suchen
wir das Ziel mit dem Mindestaufwand von Kraft, Weg und Zeit
zu erreichen. Wird dieser Grundsatz in augenfälliger Weise durch-
brochen oder trägt die Ausführung der Handlung offenkundig
den Stempel der Zweckwidrigkeit, so entsteht eine Störung des
Handelns, die wir vorläufig mit dem Namen der Verschroben-
heit belegen wollen, weil bei ihr die Deckung von Absicht und
Erfolg durch die unangemessene Einstellung der Antriebe ver-
hindert wird. Offenbar haben wir es hierbei mit der Einmischung
von Nebenantrieben in den natürlichen Ablauf des Handelns zu tun.
Auch bei der Willenssperrung waren wir zu einer ähnlichen An-
nahme gekommen. Wenn man will, kann man sie als denjenigen
besonderen Fall betrachten, in dem die Nebenantriebe dem ur-
sprünglich angeregten Antriebe gerade entgegengesetzt sind,
während wir uns hier mit solchen Nebenantrieben zu beschäf-
tigen haben, die jenen ersteren in den verschiedensten Richtungen
durchkreuzen. Die Willenssperrung wäre dann nur eine Unter-
form der allgemeineren Störung, die wir als Willensdurchkreu-
zung bezeichnen könnten. Beide Krankheitserscheinungen ge-
hören dem Gebiete der Katatonie an.
Die Nebenantriebe können die Handlung in der mannigfaltig-
faltigsten Weise beeinflussen. Als der einfachste Fall ist viel-
leicht die vielfache Wiederholung der auftauchenden Willens-
regungen zu betrachten., Im gesunden Leben wird jeder
Antrieb, sobald sein Ziel erreicht ist, durch andere Willens-
regungen verdrängt, die der Fortsetzung des zweckbewussten
Handelns dienen. Wo aber die planmässige Verfolgung be-
stimmter Ziele gestört ist und dennoch der allgemeine Drang
zu motorischen Äusserungen besteht, hat ein einmal aus-
gelöster Antrieb grosse Aussicht, immer wieder erneuert zu
werden, so lange die noch lebendigen Spuren nicht durch neue
Beweggründe verwischt werden. Er wird gewissermassen zum
Nebenantrieb, der die nicht durch feste Ziele geleitete Fort-
280
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
führung der Willensarbeit unterbricht und mit jeder Wie-
derholung unwiderstehlicher wird. Andeutungen dieses Vor-
ganges geben uns aus dem täglichen Leben vielleicht die gewohn-
heitsmässigen Gebärden, Flickwörter, Wendungen, die sich immer
dann einstellen, wenn das Handeln stockt, das Tothetzen derselben,
mehr oder weniger albernen Witze und Handlungen durch Be-
trunkene und Kinder. Überall handelt es sich hier um Willens-
erregung ohne Ziel. Auf krankhaftem Gebiete bezeichnen w L
diese Störung nach Kahlbaums Vorgänge mit dem Namen
der S t e r e o t y p i e. Je nachdem derselben die Willenssperrung
oder die Willensdurchkreuzung das Gepräge gibt, kommt es ent-
weder zu lange dauernder Anspannung bestimmter Muskelgruppen
oder zu vielfacher Wiederholung derselben Bewegungen. Im
ersteren Falle halten die Kranken trotz aller äusseren Einwir-
kungen eine und dieselbe Stellung Wochen, Monate, Jahre lang
fast unverändert fest; sie stehen in der gleichen, oft sehr un-
bequemen Haltung stets in derselben Ecke, knieen auf einer be-
stimmten Stelle oder liegen mit gespannten Gliedern und er-
hobenem Kopfe im Bette, so dass man sie ohne Schwierigkeit
an dem starr gekrümmten Anne in die Höhe heben kann. Andere
halten dauernd einen Bettzipfel mit den Zähnen fest, pressen mit
gespreizten Fingern ein Ohrläppchen zusammen, umklammern
krampfhaft einen Brotrest oder einen abgerissenen Knopf. Der
Gesichtsausdruck ist ebenfalls starr, maskenartig, die Stirne ver-
wundert in die Höhe gezogen, der Lidschlag fast aufgehoben, die
Augen sind bald weit geöffnet, bald fest zugekniffen, die Aug-
äpfel oft seitwärts gedreht, die Lippen rüsselförmig vorgeschoben
(„Schnauzkrampf“).
Weit mannigfaltiger gestalten sich naturgemäss die Be-
wegungsstereotypen (Zwangsbewegungen). Dahin gehören Pur-
zelbäume, rhythmisches Klopfen, Herumgehen in absonderlichen
Stellungen, Hüpfen, Aufspringen, Niederfallen, Herumrollen und
Kriechen am Boden, regelmässige, gezierte und gespreizte Arm-
bewegungen, Wippen, Wiegen, Schöpfen, Strudeln, Zupfen an
den Kleidern oder Haaren, Knirschen und Klappen mit den
Zähnen. Alle diese Bewegungen können sich zahllose Male hin-
tereinander wiederholen, bisweilen Wochen und Monate lang.
Dabei ist es meist ganz unmöglich, die Kranken in ihrem Be-
Verschrobenheit und Stereotypie.
281
ginnen zu hindern; sie strengen sich dabei rücksichtslos an und
verletzen sich sogar nicht selten. Gerade die Umbildungen all-
täglicher, gewohnheitsmässiger Bewegungen und Handlungen
durch Nebenantriebe zeigen wie im gesunden so im krankhaften
Leben eine grosse Neigung, stereotyp zu werden. Namentlich
pflegt auch die Sprache sie zu zeigen. Die Kranken lispeln,
grunzen, sprechen in geziertem Hochdeutsch oder übertriebener
Mundart, in Fistelstimme, in bestimmtem Tonfalle, mit rhyth-
mischer Gliederung, verdrehen und vertauschen einzelne Laute,
gebrauchen massenhafte Verkleinerungswörter, eigentümliche
Beiwörter, wiederholen mündlich und schriftlich ungezählte
Male dieselben Wörter und Wendungen, pfeifen oder zwit-
schern einzelne Sätze, weinen in Melodien. Wir bezeich-
nen diese Schrullen als Manieren, Sprechmanieren, Ess-
manieren, Gehmanieren, Begrüssungsmanieren u. s. f. So un-
übersehbar ihre Mannigfaltigkeit ist, kehren sie doch bei den
verschiedensten Kranken oft mit verblüffender Übereinstim-
mung wieder; andererseits ist auch ihre Entstehung aus einer
gemeinsamen Grundstörung unverkennbar. Sie bilden bei der
grossen Masse der abgelaufenen Fälle die letzten auffallenden
Reste der ehemaligen Krankheitserscheinungen und gestatten
oft ohne weiteres den Rückschluss auf die Zustände der Ver-
gangenheit.
In den Endzuständen der Katatonie begegnet uns hie und
da eine Form der Stereotypie, die mit der bisher betrachteten
schwerlich ganz wesensgleich ist. Es sind das die eigentümlich
rhythmischen Bewegungen, namentlich Wiegen des Kör-
pers im Sitzen oder Stehen, Nicken oder Anschlägen des Kopfes,
Händeklatschen, Ausstossen von Lauten, Pfauchen, Blasen. Diese
Erscheinungen sind immer die Anzeichen einer völligen Verödung
der Willensregungen. Sie werden in gleicher Weise bei tief stehen-
den Idioten beobachtet. Wir dürfen hier wohl an die ähnlichen
rhythmischen Bewegungen gewisser Raubtiere erinnern. Man kann
danach etwa vermuten, dass sie der Ausdruck gewisser niederer
Einrichtungen unseres Nervensystems sind, die durch die Ver-
nichtung der höheren Leistungen selbständigen Einfluss auf die
Bewegungen erlangen.
Bei der Stereotypie schreitet die Entwicklung der Willens-
282
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Handlungen nicht vorwärts. Auch wenn die Kranken in lebhafter
Tätigkeit sind, drehen sie sich gewissermassen immerfort im
Kreise, ohne ein Ziel zu erreichen. Demgegenüber entstehen
bei einer weiteren Form der Willensdurchkreuzung Nebenantriebe,
die nur Verzierungen oder Verschnörkelungen der beab-
sichtigten Handlung bedeuten; diese letztere kommt schliesslich
zu stände, aber auf Umwegen und mit allerlei Zutaten und Abwand-
lungen. Die Kranken gehen trippelnd oder feierlich, ruckweise,
hüpfend, auf den Zehen oder ganz hintenübergebeugt, schleifen mit
einem Fusse; sie reichen die Hand in weit ausholendem Bogen, mit
plötzlichem Schwünge oder steifem Ruck, berühren die dargebo-
tene Hand nur mit dem kleinen Finger, mit der Rückenfläche,
spreizen dabei die Finger oder verdrehen die Arme. Beim
Essen erfassen sie den Löffel am äussersten Ende, zerlegen das
Gemüse in kleine Häufchen, reiben den Teller am Augenrande hin
und her, stochern mit der Gabel zwecklos herum, zählen zwischen
je zwei Bissen bis 7 oder sagen einen Vers auf; die Milch wird
in winzigen Schlückchen und mit langen Pausen getrunken.
Die Bettstücke werden in eigentümlicher Weise angeordnet,
die Decke als Unterlage, das Kopfkissen oder die Matratze
zum Zudecken benutzt; die Kleider werden verkehrt angezogen,
absonderlich verknotet, das Hemd über der Weste getragen,
die Röcke über den Kopf geschlagen. Vielleicht ist auch
das Gesichterschneiden, „Grimmassieren“ der Kranken hierher
zu rechnen.
Von diesen Verschnörkelungen des Handelns führen fliessende
Übergänge zu jenen Störungen hinüber, die man nach Schüles
treffender Bezeichnung als „Entgleisungen des Willens“
auffassen kann. Die beabsichtigte Handlung kommt hierbei über-
haupt nicht zu stände, weil die Antriebe vor der Vollendung eine
ganz andere Richtung einschlagen. Der Kranke, der den Löffel
ergriff, um zu essen, dreht ihn einige Male im Kreise, um ihn
dann wieder hinzulegen; die zum Trinken an den Mund geführte
Tasse wird plötzlich umgestülpt und auf den Tisch gestellt; die
zum Grusse gebotene Hand weicht auf halbem Wege aus und
fährt in die Tasche; der jammernde Kranke, dem die Tränen
über die Wangen laufen, verzieht dabei das Gesicht zu fröhlichem
Grinsen („Paramimie“).
Verschrobenheit und Stereotypie.
283
Auch bei den Reden lässt sich öfters erkennen, dass die
Kranken im Anlaufe stecken bleiben, immer von neuem vergeblich
ansetzen und das Ziel schliesslich ganz aus den Augen verlieren.
Sie beginnen irgend einen Satz, unterbrechen sich plötzlich, fahren
in wechselnder Satzform und mit ganz anderen Gedanken fort,
kommen halb auf den Ausgang zurück, um wieder neue Wege ein-
zuschlagen u. s. f. Auf diese Weise entsteht eben jene Störung,
die wir früher als Zerfahrenheit kennen gelernt haben. Vielfach
ist dabei die Anknüpfung an eine bestimmte Vorstellung oder
Frage noch ungefähr erkennbar. Die Kranken bringen immer
wieder Wendungen, die dazu in einer gewissen Beziehung stehen,
ohne allerdings zu einem klaren Gedankenausdruck zu kommen.
Dieses „Drumherumreden“ möge durch das folgende Beispiel er-
läutert werden. Ein Kranker antwortete auf die Frage, was
mit ihm sei:
„Ich habe lange Zeit nicht bemerkt, was > es ist und was es war;
da habe ich gesehen, dass es die Humbertgeschichte ist, wissen Sie, Herr
Dr., und das hat bisher angehalten. Wissen Sie, ich weiss auch nicht, wie
das ist; es ist eigenartig; es ist eine grosse Portion Mutwillen dabei; es wird
etwas zu stark vorgeschoben in der Erleuchtung, und da hat man immer darunter
zu leiden. Und dann diese Aufmerksamkeit in dieser Affäre, die wird einem
geschenkt und fällt einem zu: das schleicht sich dann so ein.“
Die das Wollen durchkreuzenden Antriebe können ganz fremd-
artigen Inhalts sein und ausser jedem Zusammenhänge mit irgend-
welchen Zweckvorstellungen stehen. Der Kranke hebt plötzlich
seinen Nachbarn von hinten in die Höhe, setzt sich wie ein Vogel
auf den Rand der Badewanne, greift mit dem Finger in den After,
stellt sich auf den Kopf, entleert seinen Kot auf den Tisch. Nicht
selten werden diese unter Umständen sehr gefährlichen Einfälle
mit triebartiger Gewalt ausgeführt. Durch dieses Gemisch der
mannigfaltigsten Antriebe entsteht die eigentümliche Unbegreif-
lichkeit des katatonischen Handelns, der oft vollkommene Mangel
eines inneren Zusammenhanges der einzelnen Willensäusserungen
untereinander und mit der ganzen Sachlage, die Unsinnigkeit und
Zwecklosigkeit des gesamten Treibens und Redens bei nahezu
völliger geistiger Klarheit.
Bei diesen Entgleisungen hat man vielfach den Eindruck, als
ob die ursprünglichen Zweckvorstellungen durch den Anlauf zur
Ausführung des Entschlusses selbst in den Hintergrund gedrängt
284
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
würden. Wir sehen die Kranken mit grösster Anstrengung ihren
Willen einsetzen, wo sie auf einem kleinen Umwege mühelos zum
Ziele gelangen könnten. Der Katatoniker, der sinnlos gegen die
geschlossene Türe drängt, verlässt das Zimmer nicht durch den
weit geöffneten Nebenraum, ja, er benutzt meist nicht einmal
den Schlüssel, den man ihm in die Hand gibt, sondern wartet,
bis die Türe von irgend jemandem geöffnet wird. Aus derartigen
Erfahrungen möchte man den Schluss ziehen, dass hier nicht der
von uns vermutete Zweck, sondern nur das Mittel selbst gewollt
wird. Das kann aber wohl schwerlich von vornherein der Fall
sein. Weit näher liegt jedenfalls die Annahme, dass der erste
Antrieb zur Erreichung des Zweckes die Richtung des Wollens
sofort festgelegt hat. Der Kranke verrennt sich, wie es scheint,
in seine erste Absicht, so dass keine späteren Überlegungen ihn
mehr von dem einmal eingeschlagenen Wege abzubringen ver-
mögen.
Die hier vertretene Auffassung der katatonischen Verschro-
benheit bringt sie in eine gewisse Beziehung zu den Erschei-
nungen der Paraphasie und namentlich der Parapraxie, insofern
es sich auch bei diesen Störungen um eine Art Entgleisung der
Antriebe handelt, die unsinnige und unverständliche, zweck-
widrige Äusserungen zur Folge hat. Allein dort ist es nur die
Ausführung der Handlung, die misslingt; die Kranken wollen
das Zweckmässige, finden aber nicht den richtigen Weg zur Ver-
wirklichung. Bei der Verschrobenheit dagegen liegt die Stö-
rung nicht auf dem Gebiete des Handelns, sondern auf demjenigen
des Willens selbst. Das Werkzeug gehorcht den Antrieben ohne
Tadel, aber die Antriebe selbst werden verdrängt und durchkreuzt,
bevor das Ziel erreicht ist; die Kranken sind ausser stände, das
Zweckmässige zu wollen.
Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens. Bei der Be-
sprechung der Willenssperrung haben wir gesehen, wie unter
Umständen jeder Bewegungsanstoss sofort durch einen entgegen-
gesetzten Antrieb wirkungslos gemacht werden kann. Die Wil-
lenssperrung ist indessen nur die Teilerscheinung einer viel all-
gemeineren Störung, des triebartigen Widerstrebens gegen jede
äussere Beeinflussung des Willens, des von Kahlbaum so
bezeichneten Negativismus. Er äussert sich in der Ab-
Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens.
285
Sperrung gegen äussere Eindrücke, in der Unzugänglichkeit für
jeden persönlichen Verkehr, in dem Widerstande gegen jede
Aufforderung, der bis zur regelmässigen Ausführung gerade ent-
gegengesetzter Handlungen gehen kann (Befehlsnegativismus),
endlich in der Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse.
Auf diese Weise entsteht ein Handeln, welches in allen
Stücken das Gegenteil von dem erstrebt, was durch die gesunden
Beweggründe gefordert wäre. Die Kranken schliessen sich gegen
die Untersuchung starr ab; sie pressen die Zähne zusammen,
wenn sie die Zunge zeigen sollen, kneifen die Augen zu, sobald
man die Pupillen prüfen will, sehen zur Seite, falls man anfängt,
sich mit ihnen zu beschäftigen. Sie erwidern den Gruss nicht,
weichen bei der Annäherung zurück, verstecken sich, kriechen
unter die Decke, hüllen sich ein, reichen die Hand nicht oder
ziehen sie vor erfolgter Berührung wieder zurück. Allen Fragen
gegenüber bleiben sie stumm (Mutacismus) oder sie bringen
völlig beziehungslose Äusserungen vor, eine Störung, die man
als „Vorbeireden“ (Paralogie) zu bezeichnen pflegt. Äusseren
Eingriffen setzen sie den kräftigsten, aber fast immer rein
passiven Widerstand entgegen, lassen sich nicht ankleiden oder
ausziehen, nicht baden, nicht pflegen. Auch beim Essen sträu-
ben sie sich auf das äusserste, lassen alles stundenlang stehen
und kalt werden, um dann plötzlich wieder aus freien Stücken
mit Gier über die Nahrung herzufallen; sie verlangen kläglich
nach Wasser, um es auszuschütten, sobald es1 ihnen gebracht
wird, öfters wird Kot und Harn mit der grössten Anstrengung
zurückgehalten, besonders, wenn man die Kranken auf den Nacht-
stuhl bringt; sobald sie dann aufgestanden oder wieder ins Bett
gegangen sind, erfolgt sofort die Entleerung.
Es unterliegt nach meiner Überzeugung keinem Zweifel, dass
dieses negativistische Verhalten der Kranken durchaus nicht auf
bestimmte, verstandesmässig erfasste Beweggründe zurückgeführt
werden kann. Abgesehen von seltenen Ausnahmen, in denen nach-
träglich irgendwelche Vorstellungen oder Täuschungen als ganz
unzulängliche Triebfeder für das unsinnige Benehmen vorgebracht
werden, hört man von den Kranken regelmässig, dass sie sich
selbst keine Rechenschaft über dasselbe zu geben vermögen, son-
dern einfach so handeln mussten. Anscheinend haben wir es dem-
286
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
nach hier mit einer ganz unmittelbaren krankhaften Veränderung
der Willensantriebe zu tun. Dennoch ist die Störung des Handelns
nur eine unwillkürliche, nicht eine unbewusste. Das geht aus
der geistigen Verarbeitung der äusseren Beeinflussung hervor.
Die Kranken legen sich in fremde Betten, während sie aus dem
eigenen hinausdrängen; sie verschmähen ihr eigenes, vielleicht
besseres Essen, um sich mit List oder Gewalt desjenigen ihrer
Nachbarn zu bemächtigen. Am deutlichsten wird die triebartige,
psychische Entstehung der Störung durch die freilich nicht allzu
häufigen Fälle von Befehlsnegativismus. Solche Kranke bleiben
liegen, wenn man ihnen befiehlt, aufzustehen, kehren um, wenn
sie fortgehen sollen, schweigen sofort still, sobald man sie singen
heisst und umgekehrt.
Das Verständnis dieser höchst auffallenden Krankheits-
erscheinungen wird vielleicht durch die Erfahrung erleichtert,
dass Negativismus und Willenlosigkeit sich nicht nur in der Regel
bei denselben Kranken finden, sondern sich auch nicht selten durch
kleine Kunstgriffe rasch ineinander überführen lassen. Es gelingt,
Katalepsie in Starre, negativistisches Widerstreben in Nach-
ahmungsautomatie umzuwandeln; dazwischen hinein schieben sich
dann oft plötzliche, unvermittelte Antriebe. Die Annahme liegt
daher nahe, dass die zunächst so verschiedenen Erscheinungen
doch eine tiefere gemeinsame Wurzel haben. Überall erscheint der
regelnde, richtunggebende Einfluss dauernder Zwecke und
Willensneigungen auf das Handeln herabsetzt. Dadurch ist ein-
mal äusseren Anstössen, das andere Mal auftauchenden Einfällen
der Weg zur Einwirkung auf den Willen geöffnet. Auch das Ein-
treten der Willenssperrung, die an das Störrischwerden der Kinder
und mancher Tiere erinnert, wird jedenfalls durch die Schwächung
der gesunden Willensregungen begünstigt. Vielleicht haben wir
in diesem triebartigen Widerstreben einen tiefer begründeten
Zug unseres Seelenlebens vor uns, der durch eine höhere Entwick-
lung verdeckt wird, aber in der Krankheit wieder die Herrschaft
gewännt.
Bei weitem am häufigsten sind die hier geschilderten V illens-
störungen bei der Katatonie. In geringerer Ausbildung treffen
wir sie hie und da bei der Paralyse, gelegentlich auch wohl beim
Altersblödsinn an, also durchweg bei solchen Formen des Irre-
Verminderte Beeinflussbarkeit des Willens.
287
seins, denen schon nach unseren heutigen Kenntnissen schwerere
Zerstörungen in der Hirnrinde zu Grunde liegen.
Der katatonische Negativismus darf nicht verwechselt werden
mit dem Widerstreben ängstlicher Kranker. Auch bei diesen
letzteren entstehen Widerstände, sobald äussere Eingriffe er-
folgen. Indessen das ängstliche Widerstreben geht aus bestimm-
ten Gefühlen und Vorstellungen hervor. Es führt daher immer
zu mehr oder weniger zweckmässigen Abwehr- und Schutzbewe-
gungen, zum Entfliehen, Zurückweichen, Verkriechen oder selbst
zu verzweifelten Angriffen. Bei ängstlichen Kranken sind wir
imstande, durch freundliches Zureden allmählich den Widerstand
zu überwinden; dieser letztere beginnt schon vor der körperlichen
Einwirkung und wird um so stärker, je verdächtiger unsere An-
näherung dem Kranken erscheint. Auf den negativistischen Kran-
ken übt Zureden nicht den geringsten Einfluss; sein Widerstand
beginnt erst dann, aber auch unfehlbar, sobald irgend eine Be-
wegung angeregt wird, ohne jede Beziehung zu einer möglichen
Gefährdung. Im Gegenteil lassen sich die Kranken einfache, auch
unsanfte Berührungen selbst sehr empfindlicher Teile, z. B. der
Augen, meist ohne Sträuben gefallen, weil eben nicht die Angst,
überhaupt keine bestimmte Überlegung, sondern eine ganz ur-
sprüngliche Willensstörung die Grundlage ihres Verhaltens bil-
det. Daher pflegen auch die selbständigen Bewegungen ängst-
licher Kranker weit freier und zweckmässiger zu sein, als die-
jenigen beim Negativismus.
Näher schon dürfte dem Negativismus der Eigensinn
stehen, dem wir ebenfalls in Krankheitszuständen, besonders bei
der Imbecillität, bei der Epilepsie und Hysterie', bei der Paralyse
und beim Altersblödsinn, nicht selten in stärkster Entwicklung
begegnen. Auch hier wird an einem Entschlüsse zähe festgehal-
ten, obgleich die veränderten Bedingungen ihn dem weiter blicken-
den Beobachter als sehr unzweckmässig, vielleicht als verderb-
lich erscheinen lassen. Ja, wir sehen bisweilen, dass selbst trotz
besserer Einsicht die Fähigkeit fehlt, von der einmal festgelegten
Willensrichtung abzugehen. Immerhin pflegt das eigensinnige
Handeln ursprünglich von gewissen Überlegungen seinen Aus-
gangspunkt zu nehmen, wenn dieselben auch späterhin mehr in
den Hintergrund treten. Ferner ist der krankhafte Eigensinn
288
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
meist doch bis zu einem gewissen Grade dem Zureden, der Beein-
flussung durch Vorstellungen und Gefühlsregungen zugänglich,
wenigstens vorübergehend, und endlich ist er regelmässig von
einer ärgerlichen, gereizten Stimmung getragen, die nicht nur
zum Widerstande, sondern auch zu kräftiger Abwehr gegen ge-
waltsame Eingriffe führt. Sehr deutlich wird gerade dieser Unter-
schied vom Negativismus in jenen Fällen, in denen die Kranken
sich mit grösster Hartnäckigkeit gegen jede, auch die ver-
nünftigste und wohltätigste Massregel sträuben. Bei dieser all-
gemeinen Unlenksamkeit sind die Kranken stets zum Schimpfen
und zum Kampfe geneigt und werden vielfach von feindseligen,
wenn auch verworrenen Wahnvorstellungen beherrscht, im Gegen-
sätze zu dem Gleichmute des negativistischen Kranken, der nur
widerstrebt, selten abwehrt und noch weit seltener angreift.
Bei der Ausbildung einer selbständigen psychischen Persön-
lichkeit entwickeln sich, wie wir gesehen haben, gewisse dau-
ernde Willensrichtungen, die uns unabhängig machen von zu-
fälligen Einflüssen. Erstarren diese Willensrichtungen zu sehr,
so können sie eine vollkommene Bindung des Willens und
damit eine Unfreiheit der Entschliessung bedingen, die unter
Umständen bis in das Gebiet des Krankhaften hineinreicht. Die
unbeugsame Hartnäckigkeit des Querulanten ist dafür ein Bei-
spiel. Sie lässt ihn in ähnlicher Weise seinem Willen Hab
und Gut, Ehre und Freiheit zum Opfer bringen, wie es bei
den überzeugungstreuen Vorkämpfern grosser Ideen der Fall
ist, aber die Kleinlichkeit des Zweckes steht für die verständige
Überlegung in keinem Verhältnisse zu dem Aufwande an Kraft.
Eine mehr äusserliche Einschränkung der geistigen Freiheit wird
durch die Pedanterie, die Erstarrung der Lebensgewohn-
heiten, herbeigeführt. Die peinliche Selbstzucht zwingt hier
auch dann zur strengen Beobachtung enger Regeln, wenn höhere
Ziele eine Vernachlässigung derselben fordern würden. In krank-
hafter Gestaltung gedeiht diese Eigenschaft besonders auf dem
Boden epileptischer Veranlagung.
Zwangshandlungen. Mit diesem Namen bezeichnen wir solche
Handlungen, welche nicht aus dem gesunden Denken und Fühlen
hervorwachsen, sondern von dem Kranken gegen seinen W illen
und trotz lebhaften inneren Widerstrebens ausgeführt werden.
Zwangshandlungen.
289
Einen gewissen Anhalt für das Verständnis dieser Störungen
gibt uns allenfalls die bekannte Erfahrung aus dem gesunden
Leben, dass uns bei gewissen Gelegenheiten, am Rande eines
Abgrundes, auf einer Brücke, der Gedanke auftaucht, uns selbst
oder unsere Begleiter hinabzustürzen, bei feierlichen Anlässen
irgend eine lächerliche oder unpassende Handlung zu begehen,
im Theater plötzlich „Feuer“ zu rufen und ähnliches. In Wirk-
lichkeit kommt es niemals zur Ausführung. Vielmehr bleibt es bei
der mehr oder weniger klaren Ausmalung dessen, was geschehen
würde, wenn wir eine derartige Handlung begingen.
Bei krankhafter Veranlagung kann sich zu der Vorstellung
die quälende Befürchtung gesellen, dass die Handlung möglicher-
weise zu stände komme. Solche Befürchtungen, wie wir sie
früher geschildert haben, veranlassen dann allerhand Schutz-
handlungen, deren Durchführung sich die Kranken auf keine
Weise zu entziehen vermögen. Die Mannigfaltigkeit solcher Mass-
nahmen ist womöglich noch grösser, als diejenige der Befürch-
tungen. Die Kranken weichen jeder noch so entfernten Mög-
lichkeit aus, die gefürchtete Handlung zu begehen, entfliehen
dem daliegenden Messer, um nicht damit sich selbst oder ihre
Kinder umzubringen, lassen sich festbinden, sammeln schriftliche
Zeugnisse, dass sie nichts begangen haben, und lernen sie aus-
wendig. Aus der Berührungsfurcht geht das zwangsmässige
Waschen und Reinigen hervor, das einen ganz ungeheuren Um-
fang annehmen kann, aus der Kleiderangst das Aufträgen der
alten Kleider bis zum äussersten, aus der Papierangst das An-
sammeln von allen möglichen Zetteln und Fetzen. Eine meiner
Kranken, die immer fürchtete, irgend etwas versprochen zu
haben, musste sich beständig in ihren Gedanken oder flüsternd
dagegen verwahren; ein anderer musste alle möglichen Schutz-
sprüche und abergläubischen Hilfsmittel gegen seine Beängsti-
gungen in Anwendung bringen.
Es ist leicht ersichtlich, dass wir es bei allen diesen Hand-
lungen, welche die Kranken gegen ihre Überzeugung und gegen
ihren Willen ausführen müssen, nicht eigentlich mit einem ein-
fachen Zwange zu tun haben. Der Antrieb zum Handeln ent-
steht nicht unmittelbar als solcher, sondern er entwickelt sich
erst als Folge der krankhaften Befürchtung. Es sind gewisser-
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aafl. 19
290
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
massen Notwehrhandlungen, deren Lächerlichkeit und Unsinnig-
keit den Kranken meist deutlich zum Bewusstsein kommt; dennoch
werden sie immer wiederholt, weil sie erfahrungsgemäss wenig-
stens für den Augenblick Beruhigung bringen.
Wie es scheint, kommen aber hier und da auch Zwangs-
handlungen im engeren Sinne zur Beobachtung, bei denen der
Antrieb ohne Zusammenhang mit Befürchtungen selbständig
zwingend auftaucht. Zum Teil allerdings handelt es sich dabei
wohl um die Überbleibsel früherer Schutzhandlungen, denen die
Beziehung zu den Befürchtungen allmählich verloren gegangen
ist. Dahin gehört das Ausstossen gewisser Beschwörungsformeln,
absonderlicher Bewegungen und Gewohnheiten, symmetrischer
oder wiederholter, gradzahliger Berührungen, denen ursprüng-
lich irgend eine Bedeutung beigelegt wurde. Bei anderen An-
trieben scheinen jedoch solche Anknüpfungen zu fehlen, wie bei
dem Drange, Schimpfworte, Unflätigkeiten auszustossen. Sind
aber die Handlungen, zu denen sich der Kranke gedrängt fühlt,
gefährliche, so rufen die Antriebe ihrerseits Befürchtungen her-
vor; es ist dann in der Regel unmöglich, zu entscheiden, ob es
sich zunächst um Angstzustände oder um Zwangsantriebe ge-
handelt hat. Es können aber auch ganz gleichgültige Hand-
lungen, wie das Fortbewegen irgend eines Gegenstandes, sich
mit Ungestüm aufdrängen. Das Unterdrücken des Antriebes führt
dann zu lebhafter Beunruhigung, die erst bei der Ausführung
der Handlung schwindet, um durch die Beschämung über das
Unterliegen abgelöst zu werden. Bei wirklich bedenklichen Hand-
lungen scheint eine zwangsmässige Überwältigung des wider-
strebenden Willens nicht oder doch äusserst selten vorzukommen.
Alle diese Störungen gehören den Krankheitsbildern der psy-
chopathischen Veranlagung an.
Gar nicht selten hört man auch katatonische Kranke davon
reden, dass sie sich zu ihren absonderlichen Handlungen ge-
zwungen gefühlt hätten. Sie haben dies und jenes nicht tun
wollen, aber sie konnten nicht anders; sie vmrden dazu getrie-
ben; es wurde so gemacht, dass sie es tun mussten. Indessen
hier unterliegen die Kranken den Antrieben in der Regel ohne
Kampf, ohne inneres Widerstreben. Dadurch fällt eine wesent-
liche Eigentümlichkeit der Zwangshandlungen, der innere Zwie-
Triebhandlungen.
291
spalt und das Gefühl der Überwältigung, vollständig fort. Auch
wenn die Kranken meinen, die Handlung sei ihnen eingegeben,
nicht aus ihrem eigenen Willen hervorgegangen, so empfinden
sie ihr Tun doch nicht als eine Niederlage.
Triebhandlungen. Die Macht eines Willensantriebes hängt im
allgemeinen von der Lebhaftigkeit der Gefühle ab, die seine
Triebfedern bilden. Am kräftigsten wirken sinnliche Gefühle,
die uns oft gebieterisch zu bestimmten Handlungen drängen,
Schmerz, Hunger, Durst, geschlechtliche Gefühle. Je heftiger
aber die gemütliche Erschütterung, je stärker der Drang zum
Handeln, desto geringer ist der Einfluss der Überlegung, desto
schwieriger die Hemmung der sich vorbereitenden Tat. Sehr
leidenschaftliche Erregungen führen bekanntlich schon beim ge-
sunden Menschen unter Umständen zu einer mehr oder weniger
ausgeprägten Trübung des Bewusstseins. Immerhin sind wir
zumeist imstande, die allzu grosse Heftigkeit der Gemütsbewe-
gungen, wie sie noch dem Kinde eigentümlich ist, zu dämpfen und
damit die Herrschaft unseres Verstandes über das Handeln auf-
recht zu erhalten.
Bei Geisteskranken nehmen, entsprechend der Häufigkeit
lebhafter Gefühle und eingreifender Willensstörungen, die Trieb-
handlungen mit grosser Stärke der Antriebe und Unklarheit der
Zweckvorstellungen einen sehr viel breiteren Raum ein („Im-
pulsivität“); wir begegnen ihnen in den verschiedenartigsten
Erregungszuständen. Schon der Beschäftigungsdrang der mani-
schen Kranken ist vielleicht unter diesem Gesichtspunkte auf-
zufassen. Sicher sind hierher gewisse Handlungen der Epilep-
tiker zu rechnen, der mit vielen Namen belegte ziellose Wander-
trieb (Dromomanie, Poriomanie, Fugues, automatisme ambulatoire),
die geschlechtlichen Vergehen (Exhibitionismus, geschlechtliche
Angriffe), das Trinken der Dipsomanen. Ähnliches gilt wohl von
dem mannigfachen krankhaften Treiben vieler Hysterischen, von
ihren Selbstbeschädigungen, ihren Diebstählen und Schwindeleien.
Von den Zwangshandlungen unterscheidet sich das Tun aller dieser
Kranken durch den wesentlichen Umstand, dass die auftauchen-
den Antriebe im Augenblick durchaus nicht als aufgezwungene,
sondern als die natürlichen Äusserungen ihres psychischen Ge-
samtzustandes empfunden werden.
19*
292
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Als Triebhandlungen sind wohl auch am richtigsten die
oben erwähnten Willensentladungen der Katatoniker aufzufassen,
obgleich ihnen kein bestimmtes Lust- oder Unlustgefühl, sondern
ein mächtiger, ursprünglicher Bewegungsdrang zu Grunde liegt.
Der Kranke ist hier von dem Bewusstsein beherrscht, dass er
nun dieses oder jenes tun müsse, ohne klare Begründung, ohne
Nachdenken, wenn auch bisweilen mit dem deutlichen Gefühle
der Unsinnigkeit des eigenen Treibens. Hie und da taucht auch
wohl die Vorstellung auf, dass die Glieder von einer unsicht-
baren Macht, von Gott, dem Teufel, durch elektrische Beein-
flussungen in Bewegung gesetzt werden. V on . einem V ider-
stande gegen den Antrieb, von einem Kampfe ist jedoch gar
keine Rede; vielmehr folgt der Kranke blindlings seinen Einfällen.
Auf diese Weise entstehen zahllose verkehrte, absonderliche und
oft recht gefährliche Handlungen, die bei aller Mannigfaltigkeit
doch gewisse gemeinsame Züge darbieten. Dahin gehören die
eigentümlichen Kraftleistungen, die Purzelbäume und Luftsprünge,
das Singen, Schreien, Zerstören, Entkleiden, die plötzlichen An-
griffe, das Kotessen, die sinnlosen Versuche, sich zu erdrosseln,
den Mund aufzuschlitzen, die Augen auszubohren, Zunge und
Kehlkopf herauszureissen. Kennzeichnend für diese Triebhand-
lungen ist ausser dem Mangel jedes verständlichen Beweggrun-
des die ungemeine Schnelligkeit und Heftigkeit der Ausführung,
welche auf das rücksichtsloseste jedes Hindernis überwindet,
während umgekehrt bei den Zwangshandlungen schon eine
geringe Unterstützung des lebhaft sich regenden gesunden Wider-
standes genügt, um diesem letzteren zum Siege zu verhelfen.
Krankhafte Triebe. Der für die Selbsterhaltung wichtigste
Trieb, das Nahrungsbedürfnis, weist bei Geisteskranken
sehr häufig Störungen auf. Die Nahrungsverweigerung ist in
allen traurigen oder ängstlichen Verstimmungen, ferner im ka-
tatonischen Stupor eine ganz gewöhnliche Erscheinung; freilich
beruht sie in den erstgenannten Zuständen nicht immer auf einem
Schweigen des natürlichen Triebes, sondern auf Wahnvorstel-
lungen oder dem Wunsche, zu sterben. Andererseits werden von
Idioten, Paralytikern, Katatonikern vielfach nicht nur unglaub-
liche Mengen von Nahrungsmitteln, sondern bisweilen die un-
geniessbarsten und ekelerregendsten Dinge, Sand, Steine, See-
Krankhafte Triebe.
293
gras, Kot, lebende Tiere verschlungen. Hier kann man nicht
wohl von einer einfachen Steigerung gesunder Triebe sprechen,
sondern es handelt sich zweifellos bereits um gleichzeitige Ab-
weichungen in Art und Richtung des Begehrens. Dasselbe gilt
von den bekannten, plötzlich mit grosser Heftigkeit auftauchenden
Essgelüsten der Schwangeren und Hysterischen. Bernstein
hat eine Kranke beschrieben, die triebartig Papier und später
Sand verzehrte und einer förmlichen Entziehungskur unterworfen
werden musste. Wir werden hier erinnert an die verschiedenen
„Suchten“, das triebartige Verlangen nach Arznei- und Ge-
nussmitteln. Bei den meisten derselben sind es die angenehme
Wirkung oder das Auftreten von Entziehungserscheinungen, die
das Begehren erzeugen; es gibt aber auch Suchten, bei denen
derartige Umstände gar keine Rolle spielen. Zu ihrer Erklärung
dient die Erfahrung, dass die Neigung zum Missbrauche von Mit-
teln in der Regel eine allgemeine ist und sich gleichzeitig nach
verschiedenen Richtungen erstreckt, also eine persönliche An-
lage darstellt.
Bei weitem am mannigfaltigsten gestaltet sich die Reihe der
krankhaften Abweichungen auf dem Gebiete des Geschlechts-
triebes, wie sie in neuerer Zeit von verschiedenen Seiten her
auf das eingehendste bearbeitet worden sind. Einfache Herab-
setzung der geschlechtlichen Begehrlichkeit findet sich in den
Depressionszuständen, bei Morphinisten, bei manchen Formen des
angeborenen Schwachsinns und der hysterischen Veranlagung.
Dagegen erwacht der Geschlechtstrieb in anderen Fällen von
Idiotie und angeborener Entartung schon sehr früh und in grosser
Stärke; er führt dann regelmässig zur Onanie. Steigerung des
Geschlechtsbedürfnisses begleitet auch in mehr oder minder aus-
gesprochenem Grade die manische und katatonische Erregung;
sie drückt sich seltener geradezu in geschlechtlichen An-
griffen, meist in zweideutigen Reden, unflätigen Schimpfe-
reien und Beschuldigungen aus, in mehr oder weniger rück-
sichtsloser Masturbation, bei Weibern auch in schamlosen
Entblössungen, äusserster Unreinlichkeit oder beständigen Wa-
schungen mit Wasser, Speichel, Urin, Kämmen und Auflösen
der Haare, in leichteren Formen durch Putzen und Schön-
tun, Wechsel zwischen herausforderndem und verschämtem
294
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
oder empfindsamem Wesen, durch Händedrücken, Briefschrei-
ben, verständnisvolle Blicke. Zu diesen gradweisen Abstu-
fungen kommt nun aber eine fast unübersehbare Menge von
verschiedenartigen Entgleisungen des Geschlechtstriebes, bei
denen die Befriedigung auf zweckwidrigen Wegen gesucht
wird. Die bekannteste derselben ist die sogenannte con-
träre Sexualempfindung*), jene Störung, die das ge-
schlechtliche Fühlen und Begehren in unversöhnbaren Gegen-
satz zu der körperlichen Veranlagung des Menschen bringt
und ihn die geschlechtliche Befriedigung nur beim eigenen Ge-
schlechte finden lässt. Wir werden im klinischen Teile Gelegen-
heit haben, auf diese meist sehr früh sich zeigende Erscheinungs-
form des Entartungsirreseins ausführlich zurückzukommen.
Dagegen ist schon hier jene höchst eigentümliche Störung
des Geschlechtstriebes zu besprechen, die man nach dem be-
rüchtigten französischen Romanschriftsteller Marquis de Sa de**)
als „Sadismus“ bezeichnet hat. Es handelt sich dabei um
das Auftreten von geschlechtlichen Wollustempfindungen bei
Handlungen der Grausamkeit. Die betreffenden Personen suchen
entweder den Reiz der geschlechtlichen Vereinigung durch mehr
oder weniger ernste Misshandlungen zu erhöhen, oder die gra^
same Handlung erweckt schon an sich die volle sinnliche Befrie-
digung, auch beim Fehlen aller gesunden Vorbedingungen für
die geschlechtliche Erregung. Der letztere Fall stellt offenbar
nur eine weitere krankhafte Entwicklungsstufe des ersteren dar.
Was dort nebensächliches, vielleicht sogar entbehrliches Hilfs-
mittel war, ist hier zur Hauptsache geworden, neben welcher
die eigentliche Hauptsache, die geschlechtliche Vereinigung,
vollständig in den Hintergrund getreten ist. Tatsächlich finden
sich zahlreiche Übergangsformen von den leichtesten, noch in
der Gesundheitsbreite liegenden Anwandlungen bis zu den schwer-
sten, das Leben der Opfer fordernden krankhaften Verirrungen.
Unter den sadistischen Handlungen selbst kommen in erste t
Linie Geisselungen auf den entblössten Körper in Betracht, die
*) Havelock Ellis u. Symonds, Das conträre Geschlechtsgefühl,
deutsch v. Kurella. 1896; Raffalovich, uranisme et unisexualite. 1896;
Bloch, Beiträge zur Ätiologie der Psychopathia sexualis. 1902.
**) D Uhren, Der Marquis de Sade und seine Zeit 1900.
Krankhafte Triebe.
295
häufiger zur Unterstützung und Vorbereitung der geschlechtlichen
Erregung benutzt werden. Als wirklicher Ersatz des Beischlafs
dienen sie weit seltener und wohl nur in zweifellos krankhaften
Fällen. Ähnlich mag es mit der Neigung zum Kneifen undBeissen
stehen. Das Stechen und Schneiden tritt bei den von Zeit zu
Zeit einmal beobachteten „Mädchenstechern“ geradezu als Form
der geschlechtlichen Befriedigung auf. Die Kranken suchen sich
an hübsche junge Mädchen heranzudrängen und ihnen mit Dolch
oder Messer, deren sie bisweilen eine grosse Auswahl besitzen,
eine blutige, aber nicht gefährliche Wunde beizubringen, was
ihnen lebhafte Wollustgefühle verursacht. Noch einen Schritt
weiter gehen jene Kranken, welche sich die geschlechtliche Be-
friedigung durch Quälen und Töten von Tieren zu verschaffen
suchen. Dann kommen die Lustmörder, die ihr Opfer vor oder
nach dem Geschlechtsakte erdrosseln und dann womöglich auf-
schneiden, zerreissen, zerstückeln. Gerade in solchen Fällen zeigt
sich bisweilen ein buchstäblicher „Blutdurst“, der zum Aus-
saugen des Opfers und zur wirklichen Menschenfresserei führen
kann. Überall können eigentlich geschlechtliche Handlungen trotz
heftigster geschlechtlicher Erregung vollkommen fehlen. Als
eine Abart der Lustmörder sind wohl die glücklicherweise recht
seltenen Leichenschänder zu betrachten, unter denen der fran-
zösische Sergeant Bertrand eine traurige Berühmtheit erlangt
hat, da er, von unwiderstehlicher geschlechtlicher Begierde ge-
trieben, mit grösstem Geschicke frisch bestattete Leichen wieder
ausgrub, schändete und zerstückelte.
Gewissermassen das Gegenstück zum Sadismus bildet die von
v. Krafft-Ebing unter dem Namen des „Masochismus“
beschriebene Sucht, sich die geschlechtliche Befriedigung durch
Erduldung von Schmerzen zu erhöhen oder überhaupt erst zu
verschaffen. Die Bezeichnung ist hergenommen von dem Schrift-
steller Sacher-Masoch, der in seinen Romanen mit Vor-
liebe diese eigentümliche Erscheinung schilderte. Wegen der
bei beiden bestehenden Verbindung von Schmerz und Wollust
hat v. Schrenk-Notzingfür Masochismus und Sadismus die
gemeinsame Bezeichnung „Algolagnie“ (Schmerzgeilheit) vor-
geschlagen; jener ist tätige, dieser duldende Algolagnie.
Auch beim Masochismus begegnen wir vor allem der ge-
296
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
schlechtlichen Erregung durch Geisselung, aber hier durch Er-
dulden derselben. Die unliebsamen Nebenwirkungen erzieh-
licher Züchtigungen, namentlich der Schläge auf das Gesäss, sind
lange bekannt, ebenso die Auffrischung der gesunkenen ge-
schlechtlichen Leistungsfähigkeit durch ähnliche Massregeln.
Auch das Flagellantentum hat vielleicht eine seiner Wurzeln in
der sinnlich aufreizenden Wirkung der Geisselhiebe gehabt. In
das Gebiet des Krankhaften gehören die Fälle, in denen die ge-
schlechtliche Erregung durch wirklich rohe Misshandlungen, Ge-
bissen-, Gestochen-, Getretenwerden und ähnliches ausgelöst wird.
Meist werden hier andere Personen vorher zur Ausführung der
gewünschten Handlungen angelernt.
Aus naheliegenden Gründen führt die Algolagnie nur ver-
hältnismässig selten, bei ausgebildetem Schwachsinn und grosser
sittlicher Stumpfheit, zu jenen wirklich gefährlichen Hand-
lungen, welche in der Entwicklungsrichtung des krankhaften
Triebes liegen. Vielfach sind die Handlungen, welche ausgeübt
oder gewünscht werden, mehr Andeutungen, in der Weise, wie
schon das Ritzen der Haut ein Sinnbild des Tötens, das Einpressen
der Zähne ein solches des Auffressens darstellt. Der sadistische
Trieb kann sich in Handlungen Luft machen, welche ganz all-
gemein nur die unbeschränkte Herrschaft über das geschlecht-
liche Opfer ausdrücken (Beschimpfen, Beschmutzen, Fesseln),
während der Masochist sich befriedigt fühlt, wenn er in möglichst
lebhafter Weise die völlige Unterwerfung unter einen fremden
Willen empfindet (Erdulden von Beschimpfung, Bedrohung, Miss-
achtung, ekelhafter Besudelung, Urintrinken). Bei der regen
Mitarbeit der Einbildungskraft ist die Mannigfaltigkeit der Kunst-
griffe, welche diese Kranken zur Vorbereitung oder zum Ersätze
des Beischlafes anwenden oder von Anderen fordern, trotz mancher
Gleichförmigkeit eine ausserordentlich grosse.
Wir sind im Vorstehenden wiederholt der Erscheinung be-
gegnet, dass bei unseren Kranken ein ursprünglich das Zustande-
kommen der geschlechtlichen Erregung nur unterstützender ^ or-
gang schliesslich ganz allein schon und ohne V erbindung
mit eigentlichem Geschlechtsverkehre die angestrebte Befrie-
digung herbeizuführen vermag. In der Regel sind es Handlungen,
welche in irgend einer Weise die Vorstellung der Geschlechts-
Krankhafte Triebe.
297
beziehung lebhaft wachrufen. Einerseits können wollüstige Be-
tastungen, das Zusehen beim Geschlechtsverkehr Anderer, ja das
Beobachten der natürlichen Entleerungen, ferner das Lesen von
unzüchtigen Schriften, das Besehen oder Zeichnen derartiger
Bilder, endlich auch die Ausmalung geschlechtlicher Abenteuer
in Gedanken oder in schriftlicher Darstellung („psychische
Onanie“) diese Wirkung haben. Für die letztere Form der
geschlechtlichen Entladung geben gerade die verschiedenen
sadistischen und masochistischen Schriften merkwürdige Bei-
spiele. Dieses ganze Gebiet gehört der Entartung an; es scheint
aber, dass Ausschweifungen und geschlechtliche Übersättigung,
die freilich auch auf dem Boden der Entartung am besten ge-
deihen, hier eine gewisse Rolle spielen. Eine etwas andere Be-
deutung hat vielleicht der E x h i b i t i o n i s m u s , die geschlecht-
liche Befriedigung durch Vorzeigen der Geschlechtsteile gegen-
über Kindern oder Personen des anderen Geschlechtes. Er findet
sich, wie die meisten dieser Verirrungen, vorwiegend bei
Männern. Meist handelt es sich um Epileptiker in Dämmer-
zuständen oder um Altersschwachsinnige, seltener um einfache
Psychopathen.
Zur Erklärung dieser absonderlichen Erscheinungen liegt die
Annahme nahe, dass bei einer krankhaften Steigerung der ge-
schlechtlichen Erregbarkeit bereits der begleitende Vorgang ge-
nügt, um dieselbe Wirkung zu erzielen, welche er im gesunden
Leben höchstens in Verbindung mit den wirklichen Geschlechts-
reizen erreichte, ähnlich wie dem Empfindlichen schon die Probe-
signale bei der Feuerwehrübung unangenehme Gefühle erwecken.
Allein schliesslich kann es so w'eit- kommen, dass nur noch der
nebensächliche Reiz, nicht aber mehr der natürliche, oder
doch jener unvergleichlich viel stärker, als dieser, die geschlecht-
liche Befriedigung zu erzeugen imstande ist.
Ganz besonders häufig macht sich eine solche Verschiebung
in verschiedenartiger Entwicklung dahin geltend, dass es ein-
zelne, bestimmte Körperteile oder Kleidungsstücke sind, welche
zunächst geschlechtlich anregend wirken, dann bei der Aus-
führung des Beischlafes eine herrschende Rolle spielen und end-
lich für sich allein in ganz absonderlicher Weise den Geschlechts-
genuss vermitteln. Man bezeichnet diese Störung als ,,F e t i -
298
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
schismus“* **)). Von körperlichen Reizen dienen als Fetische
bald Hände oder Füsse, bald Augen, Mund, Ohr, Haare, besonders
Zöpfe. Die einfache Betrachtung, Berührung, Liebkosung der
betreffenden Teile gewährt dem Fetischisten eine weit höhere
geschlechtliche Befriedigung, als der wirkliche Beischlaf. Unter
den Kleidungsstücken sind Schuhe und Stiefel sehr bevorzugt,
nach v. Krafft-Ebings Ansicht wegen der an sie sich knü-
pfenden masochistischen Wollust der Unterwerfung, ferner Ta-
schentücher und Unterkleider, endlich Sammet- und Pelzstoffe.
Wie die Erfahrung lehrt, werden solche Dinge von den Kranken
aus geschlechtlicher Begierde öfters unter den schwierigsten Um-
ständen massenhaft gesammelt (Zopfabschneider !) und zu ein-
samen masturbatorischen Vergnügungen verwendet. Auch sadi-
stische und masochistische Handlungen können sich an den Fetisch
knüpfen. Die Kranken zerreissen, zerknittern oder beschmutzen
die Wäschestücke, drängen sich an Mädchen an, um ihre Kleider
mit Tinte oder ätzenden Säuren zu übergiessen, oder sie hüllen
sich in uringetränkte Tücher, stopfen sich schmutzige Lappen
in den Mund und dergl.
Mehl- dem Grenzgebiete zwischen geistiger Gesundheit und
Krankheit gehört die geschlechtliche Befriedigung durch un-
züchtige Handlungen an Kindern an. Wir treffen sie einmal in
epileptischen Dämmerzuständen, dann aber bei Personen, denen
der gesunde Geschlechtsverkehr erschwert ist, bei Greisen und
Schwachsinnigen. Eine ganz ähnliche Bedeutung hat auch die
Sodomie, die Unzucht mit Tieren. In welchen Beziehungen
endlich die krankhafte Zuneigung zu Tieren, die Z o o p h i 1 i e , mit
dem Geschlechtstriebe steht, ist noch unklar. Da es sich meist
um Frauen handelt, die mit der grössten Zärtlichkeit und Auf-
opferung sich ihren Katzen, Hunden oder ögeln widmen, möchte
man hier an eine Verirrung des Brutpflegetriebes glauben.
Als die Quelle des Sammeltriebes, der ebenfalls bis-
weilen krankhafte Formen annehmen kann, ist wohl die Freude
am Besitze, die Habsucht, anzusehen. Ihm schliesst sich der
namentlich beim weiblichen Geschlechte, in der Schwangerschaft,
*) Garnier, Les fetichistes pervertis et invertis sexuels. 1896.
**) S e i f f e r , Archiv für Psychiatrie, XXXI, 405. 1899.
Krankhafte Triebe.
299
während der Menses oder bei hysterischer Veranlagung, auftre-
tende Stehltrieb (Kleptomanie) an, die unwiderstehliche
Neigung, sich ohne Not selbst ganz unnütze, wertlose Dinge
durch Diebstahl anzueignen. Ob es sich dabei um etwas anderes
handelt, als um die Herabsetzung der Widerstandsfähigkeit gegen
eine augenblickliche, lockende Verführung, ist schwer zu ent-
scheiden. In hysterischen Dämmerzuständen kommt allerdings
ein wirklicher Trieb vor, alle möglichen Gegenstände einzustecken
und zu verbergen. In manchen Fällen von Stehltrieb hat sich
übrigens ein überraschender Zusammenhang mit geschlechtlichen
Verirrungen herausgestellt, bei solchen Personen, die Taschen-
tücher, Wäsche, Kleidungsstücke, Stiefel in grossen Mengen zu-
sammenstehlen, um sie als Fetisch zu benutzen.
Ganz ausser Beziehung zu den natürlichen Trieben scheint
der Brandstiftungstrieb („Pyromanie“) zu stehen, der ein-
mal in epileptischen und hysterischen Dämmerzuständen, dann aber
namentlich in den Entwicklungsjahren ohne sonstige erhebliche
Krankheitszeichen Vorkommen kann. Die mehrfache Wiederholung
derselben Tat, das Fehlen jedes vernünftigen Beweggrundes, die
Befriedigung beim Ausbrechen des Brandes, die spätere Reue,
die häufig beobachtete auslösende Wirkung des Alkohols weisen
auf krankhafte Grundlagen dieser noch recht rätselhaften Erfah-
rungen hin. Bisweilen spielt dabei das Heimweh, der Wunsch, fort-
zukommen, dem wir schon bei den epileptischen Verstimmungen
begegnet sind, eine Rolle. Ein junger Mensch meiner Beobach-
tung begründete eine von mehreren, rasch aufeinanderfolgenden
Brandstiftungen mit dem plötzlich bei ihm auftauchenden Ge-
danken, den Vater dadurch zum Ausziehen aus der aussichts-
losen und verbauten Wohnung zu veranlassen. Ähnlich ist es bei
jenen vereinzelten Beobachtungen von jungen Mädchen, die in
den Entwicklungsjahren ihre Pflegekinder ohne anderen Grund
ermorden, als weil sie ihrer Stelle überdrüssig sind. In einem
mir bekannt gewordenen Falle von mehrfacher Kindestötung
hatte die jugendliche Täterin Tieren und schliesslich auch kleinen
Kindern den Finger gewaltsam in den After gebohrt, so dass sie
daran starben ; hier bestanden wohl Beziehungen zum Geschlechts-
triebe. Endlich sind hier noch gewisse Formen der Giftmi-
scherei zu erwähnen, die fast ausschliesslich beim weiblichen
300
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Geschlechte Vorkommen. Es sind das jene grauenhaften Fälle, in
denen ohne erkennbaren Beweggrund wahllos zahlreiche Personen
der nächsten Umgebung, oft auch Kinder und geliebte Angehörige,
vergiftet werden. Die Täterinnen beobachten dabei mit innerer
Befriedigung die Wirkung ihres Tuns, empfinden aber lebhafte
Trauer beim Tode ihrer Opfer, ohne dem Drange nach weiterer
Betätigung widerstehen zu können. Die nahe psychologische V er-
wandtschaft mit dem Brandstiftungstriebe liegt auf der Hand;
in beiden Fällen werden heimlich mit unscheinbaren Mitteln ge-
waltige Wirkungen erzielt.
Alle dauernden Abweichungen auf dem Gebiete der Triebe
deuten auf eine angeborene Entartung hin; sie sind insgesamt
nur Teilerscheinungen einer krankhaften Veranlagung, feie bilden
besondere persönliche Eigentümlichkeiten, die von ihren Trägern
nicht unmittelbar als etwas Fremdartiges, Krankhaftes empfunden
werden, auch dann nicht, wenn dieselben durch Erfahrung und
Überlegung den Gegensatz kennen gelernt haben, in welchem sie
zu ihren gesunden Mitmenschen stehen. Die Ausnahmestellung,
die sie einnehmen, die daraus entspringenden Demütigungen
sind es vielmehr, was sie niederdrückt, als das Gefühl, krank
zu sein. Insbesondere werden die zweckwidrigen Gestaltungen
des Geschlechtstriebes von ihren Trägern vielfach der ge-
gesunden Betätigung desselben als gleichwertig an die Seite
gestellt. Hier liegt die allerdings im einzelnen fliessende Grenze
zwischen Zwangshandlungen und den Äusserungen krankhafter
Triebe. Der Zwangsantrieb erscheint dem Kranken immer als
etwas ihm innerlich Fremdes, Auf gedrungenes; seiner Aus-
führung folgt nur im Augenblicke das Gefühl der Befreiung von
dem inneren Drucke, dann aber dasjenige einer erlittenen Kie-
derlage. Dagegen bedeutet die Befriedigung des krankhaften
Triebes für den Kranken selbst zunächst nur die Deckung eines
natürlichen Bedürfnisses, und sie kann die gleichen, oft sogar
weit stärkere Lustgefühle hervorrufen, als die Betätigung der
gesunden Triebe. Erst durch die Einflüsse der Erziehung wird
dieser ursprüngliche Sachverhalt verwischt.
Störungen der Ausdrucksbewegungen. Eine der wichtigsten
Quellen für die Erkennung krankhafter Seelenzustände bilden die
Ausdrucksbewegungen im weitesten Sinne des Wortes, da wir
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
301
aus ihnen vor allem unsere Schlüsse auf die psychischen Vorgänge
zu ziehen haben, die sich in unseren Kranken abspielen. Eine
genaue Schilderung aller dieser Bilder würde indessen die äusser-
lich erkennbaren Hauptzüge sämtlicher klinischer Krankheits-
formen wiedergeben müssen; wir beschränken uns daher hier
auf wenige Andeutungen, die in der späteren Einzelbeschreibung
näher ausgeführt werden sollen.
Die Kranken mit Dementia praecox pflegen sich gar nicht
um ihre Umgebung zu kümmern, auch wenn sie tatsächlich recht
gut auf fassen; sie sind unzugänglich, beachten den Arzt nicht,
liegen teilnahmlos, oft in starrer, verzwickter Haltung da, geben
keine Antwort, befolgen keine Aufforderung, oder sie machen
einförmige, zwecklose Bewegungen, grinsen und lachen ohne
Anlass, werfen plötzlich irgend einen Gegenstand ins Zimmer,
rasen unaufhaltsam durch den Saal, drängen sinnlos zur Türe
hinaus u. s. f. Die verblödeten Kranken werden oft ganz ab-
lehnend, kauern oder stehen in irgend einer Ecke herum und
entziehen sich unter unverständlichem Gemurmel jedem Ver-
suche, sich mit ihnen in Beziehung zu setzen.
Sehr auffallend sind die Veränderungen, die der Ablauf der
Bewegungen in der Dementia praecox erfährt. In der Hauptsache
können wir sie als Verlust der Grazie kennzeichnen. Die Anmut
der Bewegungen ist das Ergebnis einer ganzen Reihe von Einzel-
vorgängen, die vielleicht am besten unter dem Gesichtspunkte der
Ersparnis zu betrachten sind. Die anmutige Bewegung erreicht
ihr Ziel mit möglichst geringem, aber ausreichendem Aufwande
von Kraft und Weg. Demgegenüber werden die katatonischen
Bewegungen entweder steif und hölzern infolge von übermässiger
Anspannung der Antagonisten oder schlaff und lässig wegen un-
genügenden Kraftaufwandes. Während die Anmut nur diejenigen
Muskeln in Bewegung setzt, die unmittelbar an der Handlung be-
teiligt sind, werden die katatonischen Bewegungen plump und
massig durch die Beteiligung grosser und ferner gelegener Mus-
kelgruppen. Die einfache Natürlichkeit, die geradeswegs dem
Ziele zustrebt, geht ihnen verloren durch Verschnörkelungen und
Entgleisungen, die ihnen den Stempel der Geziertheit und Ver-
schrobenheit aufdrücken. Auch die Abrundung fehlt ihnen, das
langsame Anwachsen und Abnehmen der Geschwindigkeit, wie
302
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
es einer haushälterischen Verwendung der Kraft entspricht; die
Bewegungen gehen ruckweise und eckig von statten, oft auch
in Absätzen, von plötzlicher Sperrung unterbrochen. Endlich ist
der Mangel an innerer Einheitlichkeit in den Ausdrucksbewe-
gungen bemerkenswert. Arme und Gesicht können die lebhaf-
testen Gebärden zeigen, während Rumpf und Beine starr sind
und die Zunge ruht, oder der Kranke tanzt mit starrem Aus-
druck und steifen Armen herum; er spricht lebhaft, antwortet,
verwebt das Gehörte in seine Reden, ohne doch seine Umgebung
anzublicken.
Die Kranken mit Wahnbildungen putzen sich mit allerlei
bunten Lappen heraus und suchen sich durch geheimnisvolle Ge-
bärden und Vorrichtungen vor feindlichen Beeinflussungen zu
schützen, oder sie ziehen sich mürrisch zurück, um gelegentlich
stürmisch ihren Groll zu entladen. Insbesondere die Gehörshal-
lucinanten stehen vielleicht mit lauschendem Gesichtsausdrucke
in einer Ecke und bewegen nur hier und da zur Antwort die
Lippen oder rufen einige abgerissene Worte. Die vorgeschrittenen
Paralytiker erkennt man an ihren schlaffen Gesichtszügen und
oft an einer gewissen täppischen Freundlichkeit, an dem strahlen-
den Ausdrucke, mit dem sie ihre schwachsinnigen Grössenideen
Vorbringen. Späterhin sieht man sie in tiefster V erblödung stumpf
daliegen, ohne jede Spur des Verständnisses oder der Anteil-
nahme für ihre Umgebung.
Der Niedergeschlagene sitzt, schlaff in sich zusammen-
gesunken, mit bekümmerten Zügen da und vermag oft nur mit der
grössten Anstrengung den Blick zu erheben, die Hand zu geben
oder eine leise, zögernde Antwort hervorzubringen. Ängstliche
Kranke kauern sich zusammen, wie um dem drohenden Unheil
möglichst wenig Angriffspunkte zu gewähren, pressen die Zähne
aufeinander, schliessen die Augen, machen sich steif, setzen
jedem Annäherungsversuche verzweifelte Gegenwehr entgegen.
Oder sie wandern ruhelos herum, an den Nägeln kauend, das Ge-
sicht zerzupfend, die Hände ringend, drängen fort, klammern
sich laut jammernd an ihre Umgebung an. Dagegen läuft der
Manische mit lebhaften Ausdrucksbewegungen schwatzend,
lachend, singend, geschäftig herum, sammelt alles Mögliche in
seinen Taschen an, redet überall drein, treibt Schabernack und
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
303
sucht auf jede Weise dem Gefühle erhöhter Leistungsfähigkeit
Luft zu machen. Die Hysterische bemüht sich, durch Kleidung
und Haartracht, durch Sprödigkeit, Ausgelassenheit oder Hilfs-
bedürftigkeit Eindruck zu machen; sie beobachtet scharf, be-
herrscht sehr bald ihre Umgebung und weiss allerlei kleinen
Schmuck des Lebens um sich anzuhäufen. Der Paranoiker endlich
trägt mit einer gewissen Würde die „Gefangenschaft“ der Irren-
anstalt, in der Tasche die selbstverfassten Beweisstücke für
seine hohe Stellung, die Abschriften seiner Beschwerden oder
die Akten seiner Rechtsstreitigkeiten. Aus allen diesen, in
grösster Mannigfaltigkeit wechselnden und dennoch vielfach wie-
derkehrenden Bildern vermag der erfahrene Irrenarzt oft schon
beim ersten Anblicke die ungefähre Art der Störungen zu er-
kennen. Zahlreich aber sind die Fälle, die für die oberflächliche
Beobachtung gar keine auffallenden Erscheinungen darbieten, ein
Verhalten, welches die bekannte Erfahrung erklärt, dass laien-
hafte Besucher der Anstalt und selbst Wärter bei vielen Kranken
das Vorhandensein einer Geistesstörung gar nicht aufzufinden
vermögen.
Von grosser Wichtigkeit sind namentlich die durch die
Geistesstörung bedingten Veränderungen in Sprache*) und
Schrift. Abgesehen von dem Inhalt, der natürlich vielfach
die Wahnideen oder Stimmungen des Kranken erkennen lässt,
prägt sich oft schon in der Form der Grundzug der Psychose aus.
Der Rededrang des Manischen äussert sich in unaufhörlichem,
überstürztem Schwatzen mit sehr gelockertem Zusammenhänge
und der Neigung zu rhythmischer Gliederung und sprachlichen
Reminiscenzen, zu Wortspielen und Reimen. Dieselben Züge fin-
den wir bei erregten Paralytikern wieder, verbunden mit den
mehr oder weniger ausgeprägten Zeichen der Sprachstörung. In
beiden Krankheitsformen wird nicht selten ein ganz unverständ-
liches Kauderwälsch unter der Bezeichnung der verschiedensten
fremden Sprachen Vorgebracht. Bei den gehemmten Kranken
ist die Sprache leise, mühsam und zögernd. Auch die Melan-
choliker sind meist wortkarg, vermögen sich aber ohne Schwierig-
*) Liebmann und Edel, Die Sprache der Geisteskranken. 1903.
304
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
keit zu äussern; sobald lebhafte Angst vorhanden ist, kann es
sogar zu ununterbrochenem, eintönigem und sehr störendem
Jammern kommen. _
Ganz besondere Eigentümlichkeiten pflegen die sprachlichen
Äusserungen der Katatoniker darzubieten. Die Kranken sind oft
Wochen und Monate lang völlig stumm, um dann ganz unver-
mittelt geläufig zu sprechen oder einen Gassenhauer zu singen.
Bisweilen geben sie verblüffend unpassende Antworten oder
knüpfen an einfache Auskünfte eine Menge unverständlicher, ver-
schwommener Redensarten. In der Erregung kommt es häufig
zu völlig sinnlosen Reimereien und Klangspielereien, bei denen
beliebige Silben in der mannigfaltigsten Weise verdreht und ab-
gewandelt werden. Vielfach mischen sich geordnete Sätze mit
durchaus beziehungslosen Wendungen. Namentlich bei längerem
Sprechen sieht man oft den anfänglich klaren Zusammenhang
völlig schwinden und jene merkwürdige Störung hervortreten,
die wir als Sprachverwirrtheit bezeichnen. Da die Kran-
ken vollkommen besonnen und orientiert sind, auch in ihrem
Benehmen und Handeln vielfach gar keine auffallenderen Ab-
weichungen darbieten, liegt die Vermutung nahe, dass wir es
hier wesentlich mit einer Sprachstörung zu tun haben. Die
Kranken sprechen leicht und fliessend, aber der Inhalt ihrer
Reden ist ein fast völlig unverständliches Gewirr von zum Teil
sinnlos zusammengewürfelten Wörtern, deren allgemeiner Inhalt
sich höchstens ungefähr aus einzelnen, halbwegs verständlichen
Anklängen erraten lässt. Forel hat diese Reden sehr treffend
als „Wortsalat“ gekennzeichnet. Ein Beispiel dafür gibt die
folgende Nachschrift:
.Ich frage in welches gegenüber der Persönlichkeiten. Was wollen Sie
eigentlich gegenüber der Versammlung in dem Bild geschlossen, meine ich,
so herzlos, dass meiner der Persönlichkeiten, die Impflege in meiner^ des
Körpers. Was wollen Sie eigentlich mir gegenüber Vertretung. Ich frage
jetzt nur ganz einfach. Hergebracht hat man mich wegen Jugend, und da
hat man Versammlung geschlossen im Bund. Von der Person gegenüber memer
Anhaltverpflegung, grossmütig der Erhaltungen der Führungen der Grafte
der Lebensmittel mir gemacht worden sind. Irrititionen der Dunkelheiten
wozu sind denn eigentlich die Gesetze geschlossen worden nach Stadt und
Land von Ulfiterinen und die früheren Jahreszeiten und die Hypotheken. Die
Erzählungen der Bürgerschaften gegenüber sagen die Mitglieder Mut und
Jugend anhold sein der Kräfte der Personen stehender Körper Freundlich-
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
305
keiten und alle, der gesund es macht nach den Hippliationen die Führung
aller der Kräften der Verfolgnissen gelegt zu werden. Warum schliesst man
hier eigentlich den Kittoll, was soll nun dem Kittoll verfallen an meinem
Körper, sein Abbild meine ich der Verfolgnissen“ u. s. w.
Hier ist auch der Satzzusammenhang völlig zerstört, was
keineswegs immer der Fall zu sein braucht. Die ersten Andeu-
tungen der Sprachverwirrtheit begegnen uns in den unbegreiflich
sinnlosen Sätzen, die unsere Kranken oft schon im Beginne der
Erkrankung mit voller Seelenruhe Vorbringen. Sie erinnern in
hohem Grade an die vielfach ganz ähnlichen Reden, die wir im
Traume zu halten pflegen. Anscheinend handelt es sich dort
wie hier um den dauernden oder vorübergehenden Verlust der
Fähigkeit, Vorstellungen und deren sprachliche Zeichen in rich-
tiger Weise miteinander zu verknüpfen.
In den Reden katatonischer Kranker tritt die Neigung zur
Wiederholung derselben Wendungen und Wörter ebenso hervor
wie die Stereotypie in ihrem sonstigen Handeln. Man beachte
oben die Ausdrücke: „Ich frage“, „gegenüber“, „Persönlichkei-
ten“, „was wollen Sie eigentlich“, „Körper“, „Pflege, Verpfle-
gung,“ »Jugend“, „Führung“, „Kräfte“, „geschlossen“, „Verfolg-
nissen“, „Kittoll“, „Versammlung“, „Bild, Abbild“, „eigentlich“.
Vielfach aber wird diese Sterotypie so stark, dass dieselben
Sätze ununterbrochen stunden- und selbst tagelang wiederholt
werden. Es entsteht damit das von Kahlbaum zuerst beschrie-
bene Krankheitszeichen der Verbigeration. Solche Sätze
sind z. B. folgende:
„Ihr Kinderlin, Vögelin, Tüpfelin, der Ahnherr ist jetzt da, die Türe ist
auf; führ mich jetzt in den Eisgarten. Die ganze Nacht hab’ ich im Bett
gesessen und habe nichts gegessen; die Weck ist gefressen — Ihr Kinderlin,
Vögelin, Tüpfelin“ u. s. f.
„Ich muss ins Innum, ins Innum, ins Innum; lasst mich ins Innum. Ich
muss im Innum mit der Matratze herumfahren; ich muss ins Innum“ u. s. f.
Sehr häufig findet dabei eine stark rhythmische Be-
tonung statt, wie in den folgenden Beispielen:
„Im Sätzerich, im Sätzerich, im Kimmichum“ u. s. f. — „Was söil ich jetzt
sägen, Zwidneikopf, was soll ich jetzt sägen, die Wäschschüssel holen“ u. s. f. —
„Mütterle, Späarmatz, ich müde und kränk und hungrig; ich bin verfroren
und wätschel-watschelnäss“ u. s. f.
Bisweilen löst sich der Inhalt solcher Reden in ein einfaches
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufi.
20
306
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Silbengeklingel auf, z. B. „Ka, ka, metsch, metsch, ka, ka, metsch,
metsch“ u. s. f. Es lässt sich jedoch zeigen, dass solche sinn-
losen Äusserungen hie und da nur Umbildungen ursprünglich ver-
ständlicher Wendungen darstellen. So rief eine Kranke tagelang:
„I me zeh, i me zeh“ u. s. f. Das war eine allmählich entstandene
Abkürzung von: ,,Ich will mal sehen“ (ob ich nicht heim darf).
Im Anfänge war dieser Sinn noch deutlich, ging aber bei den
zahllosen Wiederholungen nach und nach verloren. Überhaupt sind
die verbigerierenden Reden trotz aller Stereotypie durchaus nicht
unbeeinflussbar. Wir 'sehen oft, dass die Kranken im Laufe der
Zeit nicht nur selbst kleine Veränderungen hineinbringen, sondern
auch aufgefangene beliebige Eindrücke in ihre Sätze einflechten.
Eine Kranke wiederholte drei Stunden lang den Satz.
„Liebe Emilie, gib mir einen Kuss; wir wollen gesund werden, einen
Gruss und ’s war’ nichts. Wir wollen brav sein und schön folgen, folg” Mutter,
dass wir bald heimkommen. Der Brief war für mich; sorg , dass ich ihn
bekomm’.“
Nach dem inzwischen erfolgten Abendessen hatte sie hinter
„heimkommen“ eingeschoben: „Linsen und zwei Wurscht .
Eine wichtige Krankheitserscheinung, die besonders stark
bei der Sprachverwirrtheit entwickelt zu sein pflegt, ist die
Neubildung von Wörtern* **)). Auch dieser Vorgang ist uns
aus dem Traumleben wohlbekannt. Genau wie dort bald kleine
Buchstabenveränderungen an richtigen Wörtern angebracht, bald
sinnlose Silbenzusammenstellungen als geläufige W örter hinge-
nommen werden, treffen wir auch bei unseren Kranken alle Stufen
der Wortneubildung an. Leichtere Abweichungen finden wir in
den obigen Ausdrücken Impflege, Anhaltverpflegung, Irrititionen,
Tüpfelin, schwerere in Ulfiterinen, Hippliationen, Kittoll, Innum,
Sätzerich, Zwidneikopf, Kimmichum. Man hat dabei den Ein-
druck, als ob die Kranken mit den Neubildungen gewisse, aller-
dings nicht immer feststehende Vorstellungen verbinden und sich
der Ungeheuerlichkeit ihrer Ausdrücke ebensowenig bewusst sind
wie wir Im Traume. Unsere Annahme, dass es sich bei der Sprach-
verwirrtheit um eine Lockerung des Zusammenhanges zwischen
*) T a n z i , Rivista sperimentale di freniatria, 1889, 4.
**) S ö 1 d e r , Jahrbücher für Psychiatrie, XVIII, 479, 1899.
Störungen der Ausdrucksbewegunge>n.
307
Vorstellung und sprachlicher Bezeichnung handelt, gewinnt durch
diese Erfahrungen eine neue Stütze.
Ein weiteres Beispiel solcher Wortneubildungen gibt die
folgende, von einem Apotheker stammende Nachschrift:
„Der möchte gern als Student dicker gewidmet sein dem Volke, als dem
Liefronten, dem Lieferanten der Deutschen Unschuld, der sie glücklich erreicht
hat in den kleinen Kinderfüsschenanstalten der hiesigen Ober. Werden Sie
mir die Zuckerliebhaber dicker ereignen, so erkundigen Sie sich in dem Dasein
des Glücks und Sie frieren weiter keinen exceptablen Borophon oder Kleinekinder-
anstalten des Unglücks. Sie werden lieber gesetzmässiger Körper in den
natingalen Gefühlen der Unschlittpartei und werden fragen nach dem Gesetze
der Unschuld. Dr. Dominus, Arsenalhengst, Dr. Schnidiceps, das brauchen Sie
gar nicht zu notieren, sondern Sie werden etwas höher schreiben. Doktrinäre
Eminenz als Weik der Deutschen Omnibuspartie, das ist ein Glazimmer, d. h.
ein Gedanke, das Glied der Deutschen Lappländigkeit, das sind rotseidene Sonnen-
schirmrouleaux geworden in der Unschuld des Herzens“ u. s. f.
Einzelne Wörter sind richtig gebildet, aber unsinnig, wie
Unschlittpartei, Arsenalhengst, Lappländigkeit, Kinderfüsschen-
anstalten; andere zeigen nur geringfügige Abweichungen von
bekannten Wörtern, so Liefronten, exceptabel; den Liefronten
folgen überdies unmittelbar die „Lieferanten“. Endlich aber fin-
den sich auch hier eine Anzahl völlig erfundener Wörter, Borophon,
natingal, Schnidiceps, Weik, Glazimmer. Die Wiederkehr be-
stimmter Wendungen „dicker gewidmet, dicker ereignen“,
„Deutsch“, „kleine Kinder“, „Unschuld“, „Glück, glücklich, Un-
glück“, „Gesetz“, „das ist, das sind“, ist auch hier sehr deutlich.
Die Zwischenbemerkung über das Schreiben bezieht sich auf den
Nachschreiber, ein Zeichen, dass der Kranke den Vorgang gut
auffasste; er war übrigens auch in seinem Handeln vollkommen
geordnet. Bisweilen kann man bei den Wortneubildungen sehr
deutlich den Einfluss bestimmter Vorstellungskreise erkennen.
Ein anderer kranker Apotheker bezeichnete seinen Napf voll
Kartoffelmus als den „siliciumsauren Porzellannapf mit solaneen-
saurem Futterwickelmus“, als „futterwickelmussaure Haubitz“,
„kerlsaures Kopfmus“, sprach von seiner „kammersauren“ oder
„stangensauren“ Wurst, vom „apfelsauren Seidenkranz“ u. s. f.
In der Schrift*) der Geisteskranken finden sich inhaltlich
und äusserlich ganz entsprechende Störungen wie in der Sprache.
*) Köster, Die Schrift bei Geisteskrankheiten. 1903.
20*
308
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Hie und da, namentlich bei gröberen Hirnerkrankungen, aber
auch bei der Paralyse und Katatonie, besteht ein auffallendes
Missverhältnis zwischen den Veränderungen auf beiden Gebieten,
das auf umschriebene Schädigungen hinweist. Der manische
Kranke beschreibt Bogen über Bugen mit anspruchsvollen, mäc --
tigen, in kühnem Schwünge, aber flüchtig ausgeführten, me
und mehr bis zur Unleserlichkeit sich beschleunigenden Schrift-
zügen. Der Inhalt zeigt Weitschweifigkeit und Ablenkbarkeit;
dagegen treten die Klangassociationen weniger deutlich hervor, als
in der Rede ; sie werden durch Aufzählungen und W iederholungen
ersetzt. Die paralytische Schrift ist gekennzeichnet durch Aus-
lassungen, Fehler, Versetzungen der Buchstaben und V orte,
Kleckse, unsaubere Verbesserungen, Unsicherheit der einzelnen
Linien; dazu gesellen sich unter Umständen noch die geschilder-
ten Zeichen der Erregung. Der Querulant zeigt eine unheimliche
Leistungsfähigkeit in der Erzeugung von Schriftstücken, die m
endlosen Wiederholungen seine Klagen, Beschwerden, Schimpfe-
reien enthalten und meist von dicken Unterstreichungen, Aus-
rufungs- und Fragezeichen, Anmerkungen und Randbemerkungen
wimmeln, auch wohl in verschiedenfarbigen Tinten ausgeführt
werden. Überreichliche Anwendung der schriftlichen Betonungs-
mittel pflegt auch von den Hysterischen geübt zu werden.
Traurige Verstimmungen verringern die Lust zum Schreiben;
die Schriftstücke derartiger Kranker sind daher kurz, ab-
gerissen, die Buchstaben meist klein, zusammengedrängt. Bei
stärkerer psychischer Hemmung vermögen die Kranken nur sehr
langsam und mit grösster Anstrengung einige Worte zu Papier
zu bringen. Katatonische Kranke liefern vielfach nur ein un-
entzifferbares Gekritzel, zeigen sich aber plötzlich imstande, flott
und ohne Störung zu schreiben. Andere bedecken viele Bogen mit
unverständlichen Zeichen und einzelnen Wörtern in endloser Wie-
derholung mit geringen Abwandlungen (schriftliche ^ erbige-
ration). Auch verzwickte Zeichnungen, Abbildungen von fabel-
haften Wesen, rohe, obscöne Bilder werden von ihnen angefertigt,
oft ebenfalls in ungezählten gleichen oder ganz ähnlichen Exem-
plaren. Kranke mit Verfolgungsideen sieht man auch bisweilen
Zeichnungen von den geheimnisvollen Maschinen entwerfen, mit
denen sie gequält werden.
Störungen der Ausdrucksbewegungen.
309
Leider ist die Schrift Geisteskranker mit feineren Hilfsmitteln
noch wenig untersucht worden. Nur mit der von mir ange-
gebenen „Schriftwage“, die neben der Form der Schriftzüge auch
in jedem Augenblicke Druck und Geschwindigkeit des Schrei-
bens zu messen gestattet, sind einige Ergebnisse gewonnen wor-
den.*). Dabei hat sich gezeigt, dass bei manischen Kranken der
Schreibdruck erheblich gesteigert, die Schrift vergrössert ist,
während die Schnelligkeit der Bewegungen erst im Laufe des
Schreibens eine nennenswerte Beschleunigung erfährt. In den
cirkulären Depressionszuständen findet sich meist Verlangsamung
und Verkleinerung der Schrift mit Abnahme des Schreibdruckes,
doch gibt es auch zahlreiche Fälle dieser Art mit sehr aus-
geprägter Verstimmung, bei denen jene Schriftstörungen fehlen,
ein Zeichen dafür, dass die Zusammensetzung des psychischen
Krankheitsbildes trotz äusserer Ähnlichkeit doch eine recht ver-
schiedene sein kann. Im manischen Stupor liess sich Verlang-
samung der Schrift neben gesteigertem Drucke nachweisen. Bei
katatonischen Kranken sahen wir Schreiben ohne Störung regel-
los mit Schwächung der Antriebe ohne Verlangsamung wechseln;
ferner wurde allmähliches Versiegen des Druckes und schrullen-
haftes Überspringen einzelner Aufgaben beobachtet. Jedenfalls
ist es mit Hilfe dieser Untersuchungen möglich, noch eine Reihe
feinerer Schriftstörungen aufzudecken.
Bei solchen Geisteskrankheiten, die mit gröberen Rin-
denveränderungen einhergehen, begegnen uns häufig auch die-
jenigen Störungen der Sprache und Schrift, die man in der
Hirnpathologie zu behandeln pflegt, Aphasie und Paraphasie,
Agraphie, Paragraphie, Perseveration, Unfähigkeit, zu lesen, die
Buchstaben zu Silben und Wörtern zusammenzusetzen, undeut-
liche und erschwerte Aussprache, Skandieren, Eintönigkeit der
Rede, Ataxie der Schrift. Soweit diese Störungen auf unserem
Gebiete, bei der Paralyse, der arteriosklerotischen Hirnerkrankung
u. s. f., besondere Züge aufweisen, werden sie im klinischen Teile
Besprechung finden.
Es hat nicht fehlen können, dass die Geisteskranken auch
an der Literatur und Kunst einen gewissen Anteil genom-
') Gross, Psychologische Arbeiten, II, 450.
310
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
men haben. Unter den Schriftstellern*) treten am meisten hervor
Verrückte, insbesondere Querulanten, Manische und Katatoniker.
Die Leistungen der ersteren sind meist Verteidigung*- oder An-
klageschriften in eigener Sache, Flugblätter, . die sich an die
Öffentlichkeit wenden, um für vermeintlich erlittene Unbill Ge-
nugtuung zu erlangen, Notschreie im Kampfe gegen wahnhafte
Gefahren Auch die manischen Erzeugnisse richten sich häufig,
aber mehr mit Spott und Witz, als in Verzweiflung und Entrü-
stung, gegen bestimmte Personen, namentlich Irrenärzte, schil-
dern in humoristischem Tone Anstaltserlebnisse, gewandt und
ideenflüchtig, mit Wortspielen und Versen gewürzt. Andere
manische Kranke liefern Gedichtsammlungen in blühendstem Stil;
ich selber besitze ein derartiges Büchelchen voll ideenflüchtigen
Reimgeklingels von einem einfachen Bauern, der sich später m
der Depression erhängte. Die katatonischen W erke, die immer
auf Kosten ihrer Verfasser gedruckt werden, enthalten meist
in verzwicktem Druck und eigenartiger Rechtschreibung unver-
ständliche Sätze über die höchsten Fragen, das „Weltproblem“,
„Natur, Seele, Geist“ und ähnliches. Neben den Spuren guten
Gedächtnisses und grosser Belesenheit kann man hier die schön-
sten Beispiele der Sprachverwirrtheit durch ganze Bände hin-
durch finden.
Auf der anderen Seite lehrt uns die Geschichte des mensch-
lichen Geisteslebens, dass eine Reihe der hervorragendsten Per-
sönlichkeiten entweder einzelne krankhafte Züge dargeboten haben
oder in ausgesprochene Seelenstörungen verfallen sind. Nament-
lich die erstere Gruppe, die sich freilich je nach der Abgrenzung
des Krankhaften beliebig weit fassen lässt, hat der Auf-
fassung zur Stütze dienen müssen, dass die geniale Begabung
vielfach eine Erscheinungsform abnormer V eranlagung darstelle.
Unter den klinisch bestimmbaren Geisteskrankheiten grosser
Geisteshelden scheint das manisch-depressive Irresein am häu-
figsten zu sein; ferner kennen wir Fälle von Paralyse, Epilepsie,
Alkoholismus, paranoiden und senilen Erkrankungen. Möbius
hat sich der ausserordentlich verdienstlichen Arbeit unterzogen,
planmässig die Unterlagen für die psychiatrische Beurteilung her-
*) Behr, Volkmanns klinische Vorträge, Neue Folge, Nr. 134.
Handeln aus krankhaften Beweggründen.
311
vorragender Persönlichkeiten zu schaffen; bei Goethe und
Schopenhauer hat er die krankhaften Züge aufgedeckt, bei
Rousseau und Nietzsche eine klare Krankengeschichte ge-
liefert*). Leider bietet die Durchführung solcher Untersuchungen,
namentlich über längst Verstorbene, aus naheliegenden Gründen
ausserordentliche Schwierigkeiten.
In der bildenden Kunst spielen Geisteskranke im allgemeinen
eine geringere Rolle, schon deshalb, weil es für sie kaum möglich
ist, ihre Werke an die Öffentlichkeit zu bringen. Nichtsdesto-
weniger sind sie auch hier tätig, wie die Erfahrung dartut, dass
bei jedem grösseren künstlerischen Wettbewerbe immer auch
eine Reihe von Entwürfen einzulaufen pflegen, die sofort krank-
haften Ursprung verraten. Ein sehr eigenartiges Beispiel krank-
hafter Kunstübung sind die schon von Goethe beschriebenen
Bildwerke in der Villa Palagonia bei Palermo, abenteuerliche
Zwittergeschöpfe der verschrobensten Art, die durchaus an ge-
wisse Zeichnungen unserer Katatoniker erinnern. Einzelne krank-
hafte Züge finden sich wohl bei den leicht erregbaren Künst-
lern noch häufiger, als bei Gelehrten und Schriftstellern.
Als Beispiel möge der belgische Maler W i e r t z genannt
werden.
Handeln aus krankhaften Beweggründen. Die Umwälzungen,
welche das Irresein in dem gesamten Seelenleben herbeiführt,
müssen das Handeln unserer Kranken notwendigerweise auch dann
nach vielen Richtungen hin in Mitleidenschaft ziehen, wenn die
eigentlichen Störungen zunächst auf ganz anderen Gebieten ge-
legen sind. Ist doch das Handeln nichts anderes, als das End-
ergebnis des jeweiligen seelischen Gesamtzustandes! Wir sehen
daher in der Tat, wie sich in der Beeinflussung des Handelns
durch die verschiedenartigsten und fernliegendsten Störungen die
innere Einheitlichkeit und Untrennbarkeit unseres Seelenlebens
auf das deutlichste offenbart. Bei keiner einzigen Handlung eines
Geisteskranken, wenn wir die alltäglichsten, rein gewohnheits-
mässigen Verrichtungen etwa ausnehmen, lässt sich mit einiger
Sicherheit die Bedeutung abschätzen, welche das Irresein
für ihr Zustandekommen und ihre besondere Gestaltung ge-
wonnen hat.
*) Möbius, Ausgewählte Werke, Band 1 — 4.
312
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Die Art und Richtung der krankhaften Handlungen wird
in der Regel durch Wahnvorstellungen bestimmt. Versündigungs-
ideen und traurige oder ängstliche Verstimmungen sind es, die
den Kranken zu Taten der Verzweiflung, zum Kampfe gegen die
eigene Person, zu Selbstanklagen, Selbstverstümmelung, Abhacken
der Geschlechtsteile, zu Nahrungsverweigerung oder zu Buss-
übungen treiben. Vor allem aber haben wir hier die Selbstmord-
neigung zu fürchten, die überaus häufig das Leben der Kranken
bedroht. Der Verfolgungswahn führt zu Wutausbrüchen, zu An-
griffen aller Art, zum Verfassen von Zeitungsanzeigen, Flugschrif-
ten, Beschwerden, zu Mord und Totschlag oder zurErsinnung der
mannigfachsten Schutzmassregeln gegen die vermeintlichen Ver-
folger, zu Beschwörungen, geheimnisvollen Massnahmen und Ein-
richtungen, zu menschenfeindlicher Absperrung oder zu unstetem
Herumwandern in der Welt. Bei hypochondrischen Wahnvorstel-
lungen wiederum sind peinliche Eingriffe am eigenen Körper nicht
selten. Salben mit Urin und Kot, Verschmieren wunder Stellen
mit Brotbrei und ähnlichen Verbandmitteln, Herumstochern in
Nase und Ohren, Durchbohren der Ohrläppchen zur Ableitung
der schlechten Säfte vom Kopfe gehören noch zu den harmloseren
Massnahmen. Dagegen habe ich auch Versuche erlebt, sich den
Leib aufzuschneiden, um ein vermeintliches lebendes Tier heraus-
zuholen, ferner das Essen von Nägeln, um durch die „Schärfe“
das Blut zu reinigen. Ähnliche Handlungen Hysterischer, das
Verschlucken von Nadeln, Verletzungen und Einführen von
Fremdkörpern in die Geschlechtsteile, theatralische Selbstmord-
versuche, fortgesetztes Hungern, gehen in der Regel aus
ganz anderen Beweggründen hervor, zumeist wohl aus der
krankhaften Sucht, aufzufallen und das allgemeine Mitgefühl
zu erwecken.
Die psychische Erregung führt zunächst sehr bald zu Strei-
tigkeiten und Kämpfen mit der Umgebung, zu Verfehlungen gegen
die öffentliche Ordnung, nicht selten auch zum Widerstande gegen
die Staatsgewalt. Die Kranken benehmen sich auffallend, rück-
sichtslos, werden unlenksam, reizbar, störend, schliesslich gewalt-
tätig, sobald man ihnen entgegentritt. Das alles entwickelt sich
um so leichter, als die Erregung sehr häufig den vermehrten
Genuss geistiger Getränke zur Folge hat, durch den die Kranken
Handeln aus krankhaften Beweggründen.
313
rasch noch unruhiger und gefährlicher werden. Dazu kommt
meist auch die Neigung zu geschlechtlichen Ausschweifungen,
die sich ohne Rücksicht auf Anstand und Sitte Luft zu machen
pflegt. Tolle Streiche aller Art, Zerstörungen, abenteuerliche
Fahrten, Prügeleien, öffentliches Ärgernis sind die regelmässigen
Begleitereignisse derartiger Erregungszustände. Gesellen sich
Grössenideen hinzu, so kommt es zu sinnlosen Einkäufen und
Bestellungen, zur Einleitung fabelhafter Unternehmungen, zur
Verschleuderung grosser Geldsummen in unglaublich kurzer Zeit.
Die zuversichtliche Vorstellung, über unerschöpfliche Mittel zu
verfügen, kann den Kranken veranlassen, ganz harmlos von allem
Besitz zu ergreifen, was ihm gefällt, Unterschlagungen, Zech-
prellereien, Betrügereien zu begehen.
Andere Kranke mit Grössenideen bereiten planmässig und
von langer Hand alles vor, um vermeintliche Ansprüche zu ver-
wirklichen. Sie richten Briefe an hochgestellte Persönlichkeiten,
suchen sich denselben zu nähern, die allgemeine Aufmerksamkeit
auf sich zu lenken, veröffentlichen Flugschriften, erscheinen
plötzlich mit Orden oder in Uniform. Selbst die Erregung öffent-
lichen Ärgernisses, Missachtung der Polizeivorschriften oder gar
Angriffe auf Geistliche, Beamte, Fürsten dienen ihnen mitunter,
um ihre Lage und ihre Ansprüche allgemein bekannt zu machen.
Sehr häufig sind die Annäherungsversuche an hochgestellte Per-
sonen des anderen Geschlechtes, an die vermeintlichen heimlichen
Verlobten. Fensterpromenaden, Blumensendungen, Liebesbriefe,
Heiratsanträge, Nachreisen, persönliche Ansprache werden zur
Erreichung des Zieles ins Werk gesetzt, wenn sich der Kranke
nicht, was häufig der Fall ist, mit geheimnisvollen, über-
sinnlichen Beziehungen zu dem geliebten Gegenstände begnügt.
Religiöse Grössenideen führen öfters zu dem Bedürfnisse, eine
Gemeinde zu gründen, die Satzungen der herrschenden Kirche zu
bekämpfen, die Märtyrerkrone zu erwerben. Auffallende, an
Christus erinnernde Tracht mit ungeschorenem Haupthaar, ge-
suchte Einfachheit der Lebensgewohnheiten, öffentliche Pre-
digten und Vorträge, Auflehnung gegen die kirchlichen Gebräuche
bis zur Beschimpfung derselben, Heranziehung gleichgesinnter
Schüler pflegen die Schritte zu sein, die von solchen Kranken
nach und nach unternommen werden.
314
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
Es würde natürlich zu weit führen, wollten wir hier auch nur
annähernd alle die verkehrten Handlungen aufzählen, die im Ein-
zelfalle aus Wahnvorstellungen hervorgehen können; so ver-
schieden die Beweggründe, so verschieden die Persönlichkeiten
sind, so mannigfaltig gestaltet sich die Handlungsweise, wie sie
sich als Ergebnis aus dem Zusammenwirken dieser beiden Be-
dingungen schliesslich herausentwickelt. Nur darauf sei zum
Schlüsse noch hingewiesen, dass die geistige, oft auch die kör-
perliche Leistungsfähigkeit bei Fortdauer des Irreseins
unter allen Umständen eine schwere Einbusse erleidet. Es ist
wahr, dass es geisteskranke Künstler und Schriftsteller gibt,
die auch nach ihrer Erkrankung noch imstande sind, ihre Tätig-
keit fortzusetzen. Allein wir sehen dabei ausnahmslos, dass der
Wert des Geleisteten bedeutend gesunken ist. Fast immer leidet
auch die Stetigkeit und Nachhaltigkeit der Arbeitskraft. Sehr
häufig aber erlischt die Fähigkeit, Neues zu schaffen, mehr oder
weniger vollständig. Nur das handwerksmässig Eingelernte er-
hält sich; im übrigen bleibt es bei Wiederholungen oder Ver-
zerrungen früherer Schöpfungen. Mannigfache ausgesprochen
krankhafte Züge mischen sich hinein, unbegreiflich absonder-
liche oder geradezu wahnhafte Zutaten neben einzelnen Resten
aus gesunder Zeit. Auf dem Gebiete der körperlichen Arbeit
pflegt die Veränderung bei weitem weniger eingreifend zu
sein. Wir sehen zahlreiche Geisteskranke in den Anstalten
nach dem Ablaufe der stürmischeren Krankheitserscheinungen
äusserst brauchbare und selbst erfinderische Arbeiter werden.
Dennoch sind auch hier die Fälle recht selten, in denen ein nicht
genesener Geisteskranker dauernd die volle Arbeitskraft des Ge-
sunden zu entwickeln imstande ist.
Aus den angeführten Gründen werden Geisteskranke regel-
mässig sehr bald unfähig zu verantwortungsvoller Tätigkeit. So
lange indessen die Störung nicht erkannt ist, können sie durch
ihre Handlungen die schwersten Schädigungen über sich und ihre
Umgebung herbeiführen. Besonders gross ist natürlich diese Ge-
fahr bei Personen mit grosser Machtfülle und namentlich bei
Herrschern. Krankhafte Seelenzustände von Machthabern sind
daher oft genug für die Schicksale von Völkern und Staaten
von einschneidender Bedeutung gewesen, von den Cäsaren der
Handeln aus krankhaften Beweggründen.
315
Julisch-Claudischen Familie*) bis zu Johanna von
Kastilien und zu jenem unglücklichen Bayernkönige, dem sein
Arzt als Opfer seines Berufes mit in den Tod folgte.
Der praktischen Rechtspflege, die es ja gerade
mit dem Handeln der Menschen zu tun hat, haben die Störungen
desselben bei geistigen Erkrankungen nicht entgehen können.
Das Bedürfnis jener Wissenschaft hat daher zur Aufstellung ge-
wisser allgemeiner Eigenschaften der Persönlichkeit geführt,
welche als Grundlage für die rechtliche Tragweite menschlicher
Willensäusserungen angesehen werden. Diese Eigenschaften, die
dem Gesunden ohne weiteres zageschrieben werden, sind die
Geschäftsfähigkeit und die Zurechnungsfähigkeit.
Die psychologischen Voraussetzungen für die Geschäftsfähigkeit
sowohl wie für die Zurechnungsfähigkeit liegen zum Teil auf
dem Gebiete des Verstandes, zum Teil aber in dem Bereiche des
Wollens. Beide Zustände erfordern einmal eine klare Auf-
fassung der tatsächlichen Verhältnisse, einen
Einblick in die rechtliche oder sittliche Bedeu-
tung der einzelnen Willenshandlung, anderei seits
die Möglichkeit einer freien Entschliessung in
der Richtung jener Beweggründe, die der eigenen
selbstbewussten Persönlichkeit angehören. Wie
man leicht sieht, werden bei Geisteskranken in der Regel die
beiden aufgestellten Bedingungen unerfüllt sein. Wo Wahnideen
die Stellung des Ich zur Aussenwelt in krankhafter Weise ver-
ändern, ist für die richtige Beurteilung des eigenen Handelns
durch den Kranken keine Gewähr- mehr gegeben, während der
Verlust der dauernden, grundlegenden Willensrichtungen oder die
Überwältigung derselben durch krankhafte Gefühle und . Triebe
dem Menschen zweifellos die Freiheit eigener Entschliessung
im gebräuchlichen Sinne des Wortes rauben. Sowohl die Fähig-
keit, Rechtshandlungen zu vollziehen, wie die Zurechnungsfähig-
keit und damit die rechtliche Verantwortlichkeit für gemein-
gefährliche Taten sind demnach bei Geisteskranken grundsätz-
lich als aufgehoben zu betrachten. Eine allgemeine „Einsicht in
die Strafbarkeit der begangenen Handlung“, ja auch bisweilen
*) wiedemeister, Der Cäsarenwahnsinn der Julisch-Claudischen Im-
peratorenfamilie. 1875.
316
II. Die Erscheinungen des Irreseins.
die Möglichkeit, verbrecherische Antriebe bis zu einem gewissen
Grade zu bekämpfen, kann trotzdem recht wohl vorhanden sein.
Die eingehendere Würdigung dieser rechtlichen Beziehungen der
Irren bildet den Gegenstand einer besonderen Wissenschaft, der
gerichtlichen Psychopathologie*).
*) v. Krafft-Ebing, Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie,
3. Aufl. 1892; Maschkas, Handbuch der gerichtlichen Medizin, Bd. IV. 1882;
Cramer, Gerichtliche Psychiatrie, 3. Auflage. 1903; Delbrück, Gerichtliche
Psychopathologie. 1897; Ho che, Handbuch der gerichtlichen Psychiatrie. 1901.
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Wie die Erscheinungen, so werden auch Verlauf, Ausgänge
und Dauer des Irreseins im allgemeinen durch jene zwei grossen
Gruppen von Ursachen bedingt, die wir in der Entstehungs-
geschichte der Geistesstörungen kennen gelernt haben, einerseits
durch die Art und Wirkungsweise der kriankmachenden
Einflüsse, andererseits durch die körperliche und geistige
Eigenart der erkrankenden Person. Diese beiden Be-
dingungen sind es, die das Wesen und die klinischen Eigen-
tümlichkeiten des einzelnen KrankheitsVorganges bestimmen;
je genauer daher der Anteil eines jeden derselben an der Ent-
stehungsgeschichte des gegebenen Falles bekannt ist, mit desto
grösserer Sicherheit wird es möglich sein, die zukünftige Gestaltung
desselben vorauszusagen. Da uns indessen meist ein tieferer Ein-
blick in den inneren Zusammenhang zwischen Ursache und Wir-
kung noch nicht möglich ist, sind wir vor der Hand darauf an-
gewiesen, unser Urteil über den voraussichtlichen Verlauf einer
Erkrankung aus Anzeichen abzuleiten, die sich rein erfahrungs-
mässig zur Lösung dieser Aufgabe bewährt haben.
A. Verlauf des Irreseins.
Nach ihrem Verlaufe scheiden sich die Geistesstörungen vor
allem in krankhafte Vorgänge und in krankhafte Zustände.
Im ersteren Falle handelt es sich um den Ablauf bestimmter
Veränderungen in einer umgreuzten Zeit, im letzteren dagegen
um ein dauerndes, sich gleichbleibendes Verhalten der psychi-
schen Persönlichkeit, das entweder angeboren (z. B. Idiotie,
hysterische Veranlagung) oder als Wirkung einer vorauf-
318
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
gegangenen Geisteskrankheit erworben sein kann („End-
zustände“)- Bei diesen krankhaften Zuständen kann entweder nur
die Höhe oder auch die Art der seelischen Leistungen verändert
sein. Zu beachten ist übrigens, dass sie vielfach den Boden für
die Entwicklung vorübergehender, abgegrenzter Krankheits-
erscheinungen abgeben.
Den Vorgang der psychischen Störung fasste Griesinger
im Anschlüsse an seinen Lehrer Zeller als einen einheit-
lichen auf, dessen einzelnen Abschnitten die verschiedenen klini-
schen Formen des Irreseins (Melancholie, Manie, Verrücktheit,
Verwirrtheit, Blödsinn) entsprechen sollten. Die Grundlage dieser
Anschauung hat anscheinend namentlich die Dementia praecox,
in gewissem Sinne wohl auch das manisch-depressive Irresein
und die Paralyse geliefert. Allein die Erfahrung hat die Annahme
eines regelmässigen Ablaufes „der Geisteskrankheit in bestimm-
ten Abschnitten nicht bestätigt und zunächst durch den Hinweis
auf die Tatsache einer „primären“ Verrücktheit das künstlich
erdachte Gesetz durchbrochen. In der Tat lässt die Beobachtung
der Formen psychischer Störung durchaus nicht den nach der
angeführten Auffassung erwarteten einheitlichen, sondern einen
überaus verschiedenartigen Verlauf derselben erkennen.
Beginn der Erkrankung. Der Beginn einer Geisteskrankheit
ist in der Regel ein allmählicher; weit seltener bricht die Störung
plötzlich, ohne alle Vorboten über den Menschen herein. Der Grund
für dieses Verhalten liegt in der allgemeinen Entstehungsweise
des Irreseins. Es gibt hier nur verhältnismässig wenige Ursachen,
die ganz rasch eine durchgreifende Schädigung der körperlichen
Grundlagen unseres Seelenlebens hervorzubringen vermögen
(Gifte, Gemütserschütterung, Schädelverletzung, Fieber, Gebär-
akt); meistens haben wir es mit stetig, aber langsam wirkenden
Einflüssen zu tun, die erst nach und nach stärkere Veränderungen
erzeugen. Namentlich dort, wo die Bedingungen der Krankheit
wesentlich in der eigentümlichen Anlage der Person liegen, kann
die Entwicklung des Leidens Jahre und selbst Jahrzehnte dauern,
wenn kein heftiger Anstoss im Kampfe ums Dasein den Ausbruch
beschleunigt. Der Beginn der Erkrankung knüpft sich dann gern
an bestimmte Lebensalter, die wir anscheinend als Zeiten ge-
ringerer Widerstandsfähigkeit betrachten dürfen. Dahin gehören
Höhe der Erkrankung.
319
in erster Linie die Entwicklungsjahre, ferner der Beginn des
Greisenalters und bei Frauen das Klimakterium.
Bemerkenswert ist es, dass regelmässig kleine Veränderungen
im Gefühlsleben die ersten und bisweilen Wochen, Monate,
selbst Jahre lang einzigen Anzeichen einer herannahenden Geistes-
krankheit zu bilden pflegen. Überall, wo überhaupt eine Zeit
der einleitenden Krankheitserscheinungen sich abgrenzt, spielen
unter denselben erhöhte gemütliche Reizbarkeit und Launenhaftig-
keit, Unruhe, unbegründet heitere, ganz besonders häufig aber
niedergeschlagene Stimmung die Hauptrolle, selbst wenn später-
hin die Störungen der Gefühle ganz in den Hintergrund treten.
Ausserdem sind Zerstreutheit, Interesselosigkeit oder auffallende
Geschäftigkeit häufige Vorläufer der Krankheit. Zugleich lässt
sich regelmässig eine mehr oder weniger tiefgreifende Beeinträch-
tigung des Schlafes, häufig auch eine Störung der Esslust und
fortschreitendes Sinken der allgemeinen Ernährung beobachten.
Bei den sehr langsam zur Entwicklung gelangenden Geistesstö-
rungen ist der eigentliche Anfang häufig schwer festzustellen;
der Zeitpunkt, an welchem von der Umgebung die erste Verände-
rung an dem Kranken wahrgenommen wurde, bietet oft nur einen
sehr unzuverlässigen Anhalt für die Beurteilung dar.
An die Zeit der ersten Andeutungen schliesst sich bisweilen
eine solche des eigentlichen Krankheitsbeginnes an, in welcher
zwar das Irresein bereits deutlich hervortritt, aber doch erst nach
und nach zu jener vollständigen Ausbildung sich steigert, die man
als die Höhe der Krankheit bezeichnen kann. In anderen Fällen
erfolgt der eigentliche Ausbruch der Geistesstörung nach den
vorangegangenen unbestimmten Erscheinungen mehr oder weniger
plötzlich, besonders im Anschlüsse an irgend eine äussere Veran-
lassung, welche die schon angebahnte Störung rasch zu ihrer
vollen Höhe anwachsen lässt.
Höhe der Erkrankung. Der weitere Verlauf lässt je nach
der Krankheitsform erhebliche Verschiedenheiten erkennen. Die
Krankheit kann sich lange Zeit auf derselben Höhe erhalten:
gleich mässiger V erlauf ; oder sie kann vielfache Schwan-
kungen in der Stärke ihrer Erscheinungen darbieten: schwan-
kender Verlauf. Dies letztere Verhalten ist bei weitem das
häufigste. Die Nachlässe der Störung schliessen sich öfters mit
320
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
einer gewissen Regelmässigkeit an den Ablauf der Tageszeiten an.
Die Unruhe und Unklarheit der Greise beschränkt sich nicht selten
ganz auf die Nacht, während die Kranken am Tage vielleicht ge-
ordnet sind; ebenso sehen wir Alkoholdeliranten in der Nacht
regelmässig erregter und verwirrter werden. Dass epileptische
Anfälle bei vielen Kranken nur oder doch vorzugsweise nachts
auftreten, ist längst bekannt. In cirkulären Depressionszustän-
den, seltener in der Melancholie, ist der Wechsel der Stimmung
vom Morgen zum Abend oft sehr auffallend; meist sind die Kranken
abends sehr viel freier, als morgens, seltener umgekehrt. Hie
und da beobachtet man auch einen regelmässigen Wechsel von Tag
zu Tag, selbst Monate und Jahre hindurch. Zur Zeit der Menses
stellt sich meist eine vorübergehende Verschlechterung des Zu-
standes ein, bisweilen auch dann, wenn die Blutung ausbleibt.
Andererseits pflegt das Wiedererscheinen der versiegten Menses
mit einer günstigen Wendung des Krankheitszustandes einher-
zugehen.
Eine sehr grosse Zahl von Geistesstörungen verläuft in ein-
zelnen, durch längere freie Zwischenzeiten unterbrochenen An-
fällen. Sehr begreiflich ist ein solcher anfallsweiser A erlauf, wo
dieselbe Gelegenheitsursache immer von neuem wirkt. Dahin ge-
hören die Aufregungszustände der Trinker. Bei den epileptischen
Bewusstseinsstörungen beruht das anfallsweise Auftreten in dem
eigentümlichen Kreisläufe der zu Grunde liegenden, noch nicht
näher bekannten Umwälzungen; ähnlich steht es mit den seltenen,
den Fieberverlauf nachahmenden und an seiner Stelle einsetzenden
Geistesstörungen infolge von Malaria Vergiftung. Der Erkrankte
ist jedoch hier überall auch während der freien Zwischenzeiten
nicht als gesund zu betrachten, sondern die Krankheitserschein-
ungen sind nur zurückgetreten. Die psychische Entartung der
Trinker und Epileptiker, die Unsicherheit ihres inneren Gleich-
gewichtes bildet ebenso das Bindeglied zwischen den einzelnen
Ausbrüchen des Irreseins, wie die Malariavergiftung mit ihren
Zeichen die einzelnen Fieberanfälle überdauert.
Ganz ähnlich sind diejenigen Geistesstörungen zu beur-
teilen, welchen man wegen ihres ausgesprochen anfallsweisen
Verlaufes den Namen des „periodischen“ Irreseins beigelegt hat.
Es handelt sich dabei um einen mehr oder weniger regelmässigen
Höhe der Erkrankung.
321
Wechsel krankhafter mit nahezu gesunden Zuständen; die ein-
zelnen Abschnitte können Wochen, Monate, ja selbst eine Reihe
von Jahren dauern. Ebenso kann die Dauer der Zwischenzeiten
(„Intermissionen“) von einigen Wochen bis zu vielen Jahren
schwanken. Die wesentliche Ursache der Krankheit liegt hier
offenbar in der Person des Erkrankten selber, da sich häufig gar
kein oder doch nur ein sehr geringfügiger Anlass für den Aus-
bruch des Anfalles auffinden lässt; gelegentlich spielen die Menses
eine solche auslösende Rolle. Es gibt indessen auch Formen,
in denen die einzelnen Erkrankungen wesentlich oder ausschliess-
lich im Gefolge ungünstiger äusserer Lebensereignisse (Gemüts-
erschütterungen, Wochenbett, körperliche Leiden) auf treten, die
allerdings bei rüstigem Gehirn schwerlich eine solche Schwankung
des psychischen Gleichgewichts herbeigeführt haben würden; hier
sind die Anfälle seltenere und unregelmässigere. Endlich aber be-
gegnen uns manche Fälle, in denen die Krankheit sogar nur zwei-
bis dreimal im Leben auftritt. Von einer eigentlichen Periodicität
kann man hier nicht mehr sprechen, doch wird der innere Zusam-
menhang der einzelnen Anfälle durch die Zugehörigkeit zu dem-
selben klinischen Formenkreise dargetan. Aus dieser Überein-
stimmung der Krankheitsbilder leiten wir auch die Berech-
tigung ab, jene ganz vereinzelten Fälle dieser Gruppe zuzu-
rechnen, in denen nur ein einziger ausgeprägter Anfall zu stände
kommt.
Allerdings ist der klinische Aufbau der Anfälle beim perio-
dischen Irresein nicht immer ein so gleichmässiger, dass jeder
folgende genau das Bild der früheren wiederholt; häufiger sehen
wir verschiedenartige Gestaltungen miteinander abwechseln.
Nicht nur kann die Dauer und Stärke der Krankheitserscheinungen
eine sehr verschiedene sein, sondern auch die klinische Eigenart
der einzelnen Krankheitsabschnitte kann bei demselben Falle
grosse Verschiedenheiten zeigen. Am auffallendsten ist der mehr
oder weniger regelmässige Wechsel zwischen manischen und
Depressionszuständen, dem man den besonderen Namen des
cirkulären Irreseins gegeben hat. Aber auch die Abschnitte
von gleicher Färbung bieten in dem stärkeren oder schwächeren
Hervortreten von Erregung und Hemmung oder der Mischung
beider, in dem Auftauchen oder Fehlen von Wahnideen und Sinnes-
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 21
322
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
täuschungen noch mancherlei Verschiedenheiten. Dennoch ist es
immer ein bestimmter Formenkreis, innerhalb dessen sich alle
diese Bilder bewegen, so dass ihre innere Einheit unschwer erkannt
und damit von dem gegebenen Anfalle auf die Wiederkehr anderer
Anfälle aus derselben klinischen Gruppe geschlossen werden kann.
Die Zahl und Dauer der Anfälle pflegt im Verlaufe der ganzen
Krankheit ganz allmählich zuzunehmen. Die gesamte geistige Per-
sönlichkeit erleidet dabei eine gewisse, wenn auch zunächst viel-
leicht nicht sehr stark bemerkbare Einbusse. Namentlich bei
Häufung schwerer Anfälle mit kurzen Zwischenzeiten können sich
tiefergreifende Schwächezustände herausbilden. Auch in leich-
teren Fällen sind übrigens die periodisch Kranken während der
anfallsfreien Zeiten oft nicht völlig gesund; gewisse Eigentüm-
lichkeiten, verschlossenes oder sehr aufgeregtes V esen, auf-
fallende gemütliche Reizbarkeit oder Stumpfheit, Schwäche oder
Einseitigkeit in den geistigen Leistungen, namentlich aber der
Mangel einer ganz klaren Einsicht in die eigenen Krankheits-
zustände lassen sich vielfach auch dann nachweisen, w enn der
anscheinend Genesene wieder voll in seinen früheren Wirkungs-
kreis eingetreten ist.
Eine wesentlich andere Bedeutung, als den Zwischenzeiten
beim periodischen Irresein, müssen wir wohl endlich jenen Nach-
lässen („Remissionen“) der Krankheitserscheinungen zuerkennen,
die wir so häufig bei der Paralyse und ganz ähnlich bei der De-
mentia praecox sich einstellen sehen. Hier haben wir es mn
Krankheiten zu tun, die meist sehr entschieden fortschreiten.
Trotzdem kann das Leiden zeitweise zum Stillstände kommen,
währenddessen die ausgeprägteren Krankheitszeichen ganz oder
doch nahezu vollständig zurück treten. Offenbar müssen also die
-zu Grunde liegenden Schädlichkeiten sich vorübergehend wieder aus-
gleichen können. Indessen es handelt sich hier in der ganz über-
wiegenden Zahl der Fälle doch um einen Rest von bleibenden
Störungen, die eine Veränderung der gesamten geistigen Persön-
lichkeit bedeuten. Namentlich aber stellt sich bei der Paralvte
fast unfehlbar, bei der Dementia praecox wenigstens in der Regel,
früher oder später ein neuer Nachschub der Krankheit ein, der
nunmehr eine erhebliche Verschlechterung des Gesamtzustandes,
oft genug tiefe Verblödung herbeiführt. In welchem Umfange
Genesungszeit.
323
daneben bei beiden Krankheiten auch dauernde Stillstände oder
gar völlige Genesungen Vorkommen, bedarf noch weiterer Unter-
suchung.
Genesungszeit. Am häufigsten finden sich Schwankungen des
Krankheitszustandes beim Schwinden der einzelnen Anfälle; sie
sind daher im allgemeinen als ein günstiges Zeichen anzusehen.
Allerdings kommt auch, besonders bei den sehr rasch entstandenen
und sehr kurz dauernden Geistesstörungen (alkoholisches Irresein,
epileptische Erregungszustände, Collapsdelirien, Fieberdelirien),
ein fast plötzliches Verschwinden der ganzen Krankheitserschei-
nungen vor, z. B. nach einem tiefen Schlafe. In der übergrossen
Mehrzahl der Fälle jedoch geschieht die Abnahme einer psy-
chischen Störung ganz allmählich, im Laufe von Wochen und
Monaten. Zuerst verlieren sich, wie es scheint, Erschwerungen
der Auffassung und des Denkens; die Kranken beginnen sich in
ihrer Umgebung zurechtzufinden, Arzt und Mitkranke richtig zu
bezeichnen, verstehen besser, sprechen zusammenhängender. Weit
später schwinden die Zeichen gemütlicher Erregung, die heitere
oder traurige Stimmung; die Kranken werden ruhiger, freier,
gleichmässiger in ihrem Benehmen. Anfangs besteht diese Bes-
serung vielleicht nur für kurze Zeit, Tage oder Stunden, um einem
abermaligen Hervortreten der Krankheitserscheinungen bald wie-
der zu weichen. Nach und nach werden dann die Besserungen
ausgiebiger und gewinnen längere Dauer; die Rückfälle verlieren
an Stärke, bis schliesslich nur noch leichte Verschlimmerungen
bei besonderen Anlässen den fortschreitenden Gang der Genesung
unterbrechen.
Am längsten pflegt sich von den Krankheitserscheinungen
die Empfindlichkeit des gemütlichen Gleich-
gewichts und die Abstumpfung der Gefühlsregungen zu
erhalten, auch wenn die Störungen der Verstandestätigkeit und
die dauernden Verstimmungen sich schon längere Zeit aus-
geglichen hatten. So lässt sich der Verlauf der Krankheit in
seinen einzelnen Abschnitten vielleicht am genauesten nach dem
Verhalten der Gemütsregungen beurteilen. Sind es doch aber
auch gerade die Gefühle, in denen sich unmittelbar die augen-
blickliche Stellungnahme der Person zu den Eindrücken und Vor-
stellungen ihres Bewusstseinsinhaltes kundgibt, die uns somit über
21*
324
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
den Zustand derselben jeweils am besten aufzuklären vermögen,
während die Verstandesarbeit weit mehr von dem Erwerbe ver-
gangener Tage, dem Schatze früher gebildeter Vorstellungen,
Begriffe und Urteile beherrscht wird. Eine Störung der Ver-
standesleistungen kommt daher erst verhältnismässig spät zu
stände, und sie gleicht sich unter dem Einflüsse der gesammelten
Erfahrung früher wieder aus, als die Veränderungen im Bereiche
des Gefühls.
Sehl- klare und darum praktisch überaus wichtige Be-
ziehungen zu dem Gesamtverlaufe des Irreseins pflegt das
Körpergewicht unserer Kranken darzubieten. Während alle
krankhaften Zustände nur insoweit erheblichere Schwankungen
des Körpergewichtes erkennen lassen, wie greifbare Ernährungs-
störungen oder etwa vorübergehende Erregungen dasselbe beein-
flussen, beginnt jeder eigentliche psychische Krankheitsvorgang
mit einem entschiedenen Sinken des Körpergewichtes, welches
unter Umständen 20, 30 Pfund und noch mehr in wenigen Monaten
und selbst Wochen betragen kann. Während des Krankheits-
verlaufes schreitet die Abnahme langsam fort; im übrigen pflegen
ohne besonderen Anlass nur geringfügige Schwankungen vorzu-
kommen.
Der weitere Gang des Körpergewichtes gestaltet sich je nach
der Art der Erkrankung verschieden. Jede wirkliche Genesung
geht mit einer bedeutenden Hebung der allgemeinen Ernährung
einher. Vielfach kündigt sich diese Wendung des Krankheits-
verlaufes im Verhalten des Körpergewichtes schon zu einer Zeit
an, in der die sonstigen Krankheitserscheinungen noch keinerlei
Besserung erkennen lassen. Umgekehrt sehen wir bisweilen den
Krankheitszustand sich günstig gestalten, ohne dass die Er-
nährung sich in entsprechendem Masse bessert. Derartige Wen-
dungen sollten stets so lange mit äusserstem Misstrauen betrach-
tet werden, bis die unbedingt notwendige, aber zuweilen verzögerte
Körpergewichtszunahme endlich eingetreten ist. Am schönsten
zeigt sich dieses gesetzmässige Verhalten bei den Infektions- und
Erschöpfungspsychosen sowie bei den einzelnen Anfällen des
manisch-depressiven Irreseins.
Bei ungünstigem Ausgange des Leidens stellt sich mit der
Beruhigung der Kranken, wie sie die Verblödung mit sich bringt,
Genesungszeit.
325
oft ebenfalls eine Zunahme des bis dahin stark gesunkenen Körper-
gewichtes ein. Unter diesen Umständen kann die Entscheidung,
ob die Wendung eine günstige oder ungünstige Bedeutung hat,
im einzelnen Falle zunächst recht schwierig werden. Meist werden
allerdings die allmählich deutlicher hervortretenden Zeichen der
Genesung oder des Schwachsinns bald das Urteil ermöglichen.
Bei manchen Altersblödsinnigen und Melancholischen, vielleicht
auch bei einigen anderen Formen des Irreseins, kann übrigens die
Ernährungszunahme während der Verblödung ausbleiben.
Ganz besondere Beachtung verdient vielleicht die Erfahrung,
dass wir fast die stärksten überhaupt vorkommenden Schwan-
kungen des Körpergewichtes bei der Paralyse und der Dementia
praecox beobachten. Hier stellt sich häufig mit dem Eintritte
einer gewissen Beruhigung eine ungeheure Gefrässigkeit ein, die
mit ausserordentlichem Ansteigen des Körpergewichtes einher-
geht. Die Kranken werden unförmlich dick; ihre Gesichtszüge
verändern sich vollständig. An den plumpen, glänzenden Backen
wie an den umfangreichen Oberarmen finden sich im Unterhaut-
zellgewebe wulstige Einlagerungen, die oft in ganz auffallender
Weise an das Myxödem erinnern. Späterhin sieht man diese
Körperfülle meist schneller oder langsamer wieder schwinden.
Ich kann mich mit dem Gedanken nicht befreunden, dass es sich
hier um eine einfache Folge der gesteigerten Nahrungsaufnahme
handelt, zumal wir andere derartige Kranke trotz grösster Esslust
durchaus nicht dicker werden sehen. Vielmehr bin ich geneigt,
die Schwankungen des Körpergewichtes hier für Teilerscheinungen
der allgemeinen Stoffwechselerkrankung zu halten, die mir jenen
Erkrankungen zu Grunde zu liegen scheint. Der Heisshunger
könnte dabei, wie beim Diabetes, etwa nur eines der Zeichen
der krankhaften Umwälzung in den Ernährungsvorgängen dar-
stellen.
B. Ausgänge des Irreseins.
Von denjenigen Formen des Irreseins, die der Ausdruck be-
stimmter Krankheitsvorgänge sind, dürfen wir erwarten, dass sie
nicht nur einen im allgemeinen gesetzmässigen Verlauf, sondern
326
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
auch einen bestimmten Ausgang nehmen. Allerdings wird das End-
ergebnis einer Erkrankung ohne Zweifel sehr wesentlich durch die
persönliche Widerstandsfähigkeit wie durch den Grad des Leidens
beeinflusst; auch zufällige Umstände können natürlich mit hinein-
spielen. Aus diesen Gründen wird unserer Vorhersage über den
mutmasslichen Ausgang einer Geistesstörung auch im besten Falle
ein erheblicher Grad von Unsicherheit anhaften. Insbesondere
werden wir darauf gefasst sein müssen, dass Krankheiten, die im
allgemeinen heilbar sind, unter Umständen doch einmal in geistiges
Siechtum ausgehen oder mit dem Tode abschliessen können.
Dennoch ist die Stellung einer bestimmten Prognose*), eine
der wichtigsten ärztlichen Aufgaben, auch auf unserem Gebiete
innerhalb gewisser Grenzen erreichbar. Wir kennen einerseits
Krankheiten, deren Erscheinungen sich regelmässig nach kürzerer
oder längerer Zeit wieder verlieren, andererseits solche, die ihrem
Wesen nach immer oder doch fast immer zum Tode führen. Zwi-
schen ihnen stehen diejenigen Leiden, die mit der Gefahr des
Ausgangs in Siechtum verknüpft sind. Hier liegen die grössten
praktischen Schwierigkeiten für die ärztliche 'Vorhersage. Zum
Teil sind sie bedingt durch unsere noch sehr unvollkommene Kennt-
nis des endgültigen Ausganges der bisweilen über Jahrzehnte sich
erstreckenden Erkrankungen, zum Teil durch den Mangel an Er-
fahrung über diejenigen Zeichen, aus denen sich prognostische
Schlüsse ableiten lassen. Wir sind aber, wie ich glaube, zu der
Annahme berechtigt, dass auch auf diesem Gebiete sich mit der
Zeit sichere Gesetzmässigkeiten werden auffinden lassen. Ins-
besondere dürfen wir annehmen, dass der Endzustand, den ein
ungeheilter Krankheitsvorgang hinterlässt, Züge darbieten wird,
die für ihn in irgend einer Weise kennzeichnend sind. Wenn das
Wesen der einzelnen Formen des Irreseins ein verschiedenes ist,
wenn wir sie nach ihren Äusserungen voneinander zu trennen ver-
mögen, so werden voraussichtlich auch die krankhaften Verände-
rungen, die sie nach ihrem Ablaufe zurücklassen, nicht die gleichen
sein. Es muss daher möglich sein, aus den Endzuständen Schlüsse
auf den voraufgegangenen Krankheitsvorgang zu ziehen, anderer-
seits aber im Beginne des Leidens diejenigen Möglichkeiten be-
*) 1 1 b e r g , Die Prognose der Geisteskrankheiten. 1901.
Heilung.
327
stimmt zu umgrenzen, mit denen man für den Ausgang zu rechnen
hat. Die immer vollkommenere Lösung dieser Aufgabe ist nur
eine Frage der fortschreitenden Erfahrung.
Heilung. Der Vorgang der Genesung geht ohne scharfe
Grenze in den Zustand der vollendeten Heilung über. Die wenigen
Reste der überstandenen Krankheit, vereinzelte Wahnideen oder
Sinnestäuschungen, grundlose Verstimmungen, erhöhte Reizbar-
keit, verlieren sich allmählich; die gesunden Anschauungen und
Neigungen treten neu hervor; die gewohnten Beschäftigungen
werden wieder aufgenommen: die psychische Persönlichkeit mit
ihrer ganzen Eigenart knüpft über den krankhaften Zeitraum hin-
über an die vor demselben liegende gesunde Vergangenheit an,
ganz ähnlich wie wir nach wirrem Traume beim Erwachen sogleich,
vielleicht auch erst nach einigem Besinnen, mit den Erlebnissen
vor dem Einschlafen wieder Fühlung zu gewinnen suchen. Ist die
Wiedereinsetzung der psychischen Persönlichkeit in die Herrschaft
über ihren Erfahrungsschatz an allen Punkten vollzogen, wird der
Ablauf der psychischen Vorgänge nirgends mehr durch krank-
hafte Gefühle oder Vorstellungen beeinträchtigt, dann haben
wir das Recht, von einer völligen Genesung zu sprechen. Dieses
Ereignis ist nach der gewöhnlichen Annahme in etwa 30 bis
40 Prozent jener Erkrankungsfälle zu verzeichnen, welche in die
Anstaltsbehandlung kommen. Zur Würdigung dieser Zahlen ist
zu beachten, dass einerseits viele chronisch verlaufende, unheil-
bare Fälle niemals in die Irrenanstalten gelangen, und dass an-
dererseits zahlreiche leichte Erkrankungen ebenfalls in Familien-
pflege ihren günstigen Ablauf finden.
Unter Berücksichtigung dieser Verhältnisse würde es sich
ergeben, dass die Prognose der Geistesstörungen sich nicht er-
heblich ungünstiger stellt, als diejenige schwerer körperlicher
Erkrankungen. Erwägt man die beträchtlichen Zahlen der
Schwindsüchtigen, Herzfehler, Krebskranken, der unheilbaren
Hirn-, Nerven- und Nierenkranken auf grossen medizinischen Ab-
teilungen, so scheint der Unterschied der wirklichen Heilerfolge
zwischen den letzteren und den Irrenanstalten wesentlich auf dem
Umstande zu beruhen, dass man sich eben zum Eintritte in ein
Krankenhaus auch schon bei geringfügigeren Anlässen zu ent-
schliessen pflegt.
328
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Allein eine genauere Kenntnis der Geistesstörungen lehrt
uns, dass dieselben leider nicht nur immer schwere, sondern auch
ihrer überwiegenden Mehrzahl nach unheilbare Krankheiten dar-
stellen. Wirklich ganz vollständige Heilungen im strengsten Sinne
des Wortes sind verhältnismässig sehr selten. Eigentlich können
wir von solchen nur bei den Fieberdelirien, bei Vergiftungen und
thyreogenen Geistesstörungen, ferner bei den Erschöpfungs-
psychosen und allenfalls bei einer Anzahl von Rückbildungs-
psychosen sprechen, während wir es bei allen anderen Formen
des Irreseins mit unheilbaren Erkrankungen zu tun haben. Aller-
dings sehen wir überaus häufig sämtlichere auffallendere Krank-
heitserscheinungen für lange Zeit, selbst für viele Jahre, voll-
ständig verschwinden, so dass derartige Fälle unbedenklich zu
den wahren Heilungen gerechnet zu werden pflegen. Wir denken
hier namentlich an das epileptische und das manisch-depressive
Irresein sowie an die Katatonie, auch an einzelne Beobachtungen
von Paralyse. In der Regel setzt hier überall die Krankheit früher
oder später wieder ein, sei es in einfacher Wiederholung des
früheren Anfalles, sei es unter Fortschreiten des schleichenden
Grundleidens. Praktisch kommen die Zwischenzeiten oft einer
Heilung ganz oder nahezu gleich; von wissenschaftlichem Stand-
punkte aber müssen wir leider bekennen, dass bei genauer Sich-
tung der Beobachtungen nur ein sehr kleiner Bruchteil von Fällen
übrig bleibt, in welchen wir nach dem heutigen Stande unseres
Wissens überhaupt mit der endgültigen und vollständigen Hei-
lung rechnen dürfen. Dabei soll jedoch ausdrücklich bemerkt
werden, dass die Aussicht keineswegs ausgeschlossen erscheint,
vielleicht einmal für gewisse Formen des Irreseins Heilung zu
finden, die heute noch jeder wirksamen Behandlung unzugäng-
lich sind.
Das wichtigste Kennzeichen der eingetretenen Genesung ist
ausser dem Schwinden der wahrnehmbaren Krankheitserschei-
nungen die E i n s i c h t in die krankhafte Natur des überstandenen
Leidens und damit zumeist das Auftreten einer gewissen Dankbar-
keit für die genossene Behandlung und Pflege. Jene Einsicht ist es ja
gerade, welche uns die Gewähr dafür bietet, dass der Genesende
die krankhaften Veränderungen seines psychischen Lebens als
etwas Fremdartiges empfindet, dass er mit andern Worten auf
Heilung.
329
den Boden der Beurteilung zurückgekehrt ist, auf dem er vor der
Erkrankung, in gesunden Tagen stand. Mangel der Krankheits-
einsicht deutet stets auf die Unmöglichkeit einer richtigen Beur-
teilung der während der Geistesstörung gesammelten Erfahrungen
hin. Dieselbe hat ihren Grund entweder in der Fortdauer von
Sinnestäuschungen und Wahnbildungen, krankhaften Stimmungen,
oder aber in der Unfähigkeit zu durchgreifendem Gebrauche der
gesunden Urteilskraft, deren Betätigung einerseits Ruhe und
Gleichgewichtslage des Gemütes, andererseits aber eine gewisse
Anstrengung und geistige Regsamkeit erfordert. Kein Kiankei
ist als wirklich genesen zu betrachten, der nicht klare und volle
Einsicht in seine Krankheit besitzt, während umgekehrt ganz wohl
ein Verständnis für die krankhafte Natur der psychischen Störung
bestehen kann, ohne dass darum immer die Heilung zu erwarten
wäre. Ja, gerade in manchen Fällen unheilbaren, tief in der
ganzen Anlage des Menschen wurzelnden Irreseins ist eine der-
artige Selbsterkenntnis nicht so selten vorhanden. Bei den an-
fallsweise verlaufenden Störungen aber bleibt die Krankheits-
einsicht immer ein sehr günstiges Zeichen, namentlich wenn
gleichzeitig die stürmischeren Erscheinungen zurücktreten. In
manchen Fällen kommt die Krankheitseinsicht erst sehr spät und
zögernd zu stände, nachdem sich bereits alle übrigen Zeichen
der Geistesstörung vollkommen verloren haben. Wir werden darin
immer den Ausdruck einer angeborenen oder erworbenen Unfähig-
keit zu raschem Ausgleiche krankhafter Störungen erblicken
müssen.
Ganz regelmässig, wenigstens bei allen länger dauernden
Geistesstörungen, geht mit der fortschreitenden Genesung auch
eine körperliche Erholung einher, ausser Zunahme des Gewichtes
Besserung der Esslust, des Schlafes und das Gefühl des Wohlseins,
Anzeichen, die bei gleichzeitigem Hervortreten günstiger psychi-
scher Veränderungen einen bedeutenden prognostischen Wert be-
sitzen und hauptsächlich mit einer Abnahme der gemütlichen
Erregung in innerem Zusammenhänge zu stehen scheinen.
In einer kleinen Anzahl von Fällen hat man das Eintreten
psychischer Genesung während oder nach einer fieberhaften Er-
krankung (namentlich Typhus, Erysipel, Intermittens), seltener
nach stärkeren Blutungen, schweren Eiterungen oder Kopfver-
330
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
letzungen beobachtet.*) Am häufigsten handelt es sich dabei
natürlich um verhältnismässig frische Erkrankungen, Melancholie,
Manie, Amentia der Autoren, aber bisweilen tritt die günstige
Wendung auch nach längerer Dauer und in anscheinend aussichts-
losen Fällen ein; so werden weitgehende Besserungen nach Eite-
rungen bei der Paralyse berichtet. Freilich wird man in der Deu-
tung solcher Beobachtungen stets mit äusserster Vorsicht ver-
fahren müssen, da überraschende Genesungen oder doch Besse-
rungen auch sonst nicht gerade selten sind, eine einfache Folge
unserer mangelhaften klinischen Kenntnis der Geisteskrankheiten.
Andererseits aber kann man ohne Zweifel selbst bei längst verblö-
deten und Verwirrt gewordenen Kranken hie und da während
einer gelegentlichen fieberhaften Erkrankung die Wahnideen zu-
rücktreten und einer unerwarteten geistigen Regsamkeit Platz
machen sehen, hier allerdings immer nur für kurze Zeit. Die Er-
klärung derartiger Erfahrungen ist dunkel; wir müssen uns mit
der Erwägung begnügen, dass sich hier, wie ja auch die Entstehung
geistiger Störungen aus den gleichen Anlässen dartut, offenbar
mächtige Umwälzungen in der Ernährung der Hirnrinde vollziehen.
Vollständige Heilung einer Geisteskrankheit wird im all-
gemeinen am leichtesten in den rüstigen Lebensaltern und dort
zu stände kommen, wo ein vorübergehender, äusserer
Anlass die Ursache des ganzen Leidens bildete. Je weniger die
Bedingungen der Erkrankung in dem erkrankten Körper selber
liegen, desto rascher und vollständiger wird derselbe unter sonst
gleichen Umständen befähigt sein, die Störungen auszugleichen
und in den gesunden Zustand zurückzukehren. In der Tat sehen
wir daher namentlich diejenigen Gruppen des Irreseins die gün-
stigsten Genesungsaussichten darbieten, welche durch stark wir-
kende, aber gewöhnlich keine dauernde Veränderung hervor-
bringende Ursachen erzeugt werden (Vergiftungen, fieberhafte
Krankheiten, Wochenbett). Weit ungünstiger liegen die Verhält-
nisse, wenn die Krankheitsursachen entweder bleibende körper-
*) Fiedler, Deutsches Archiv für klinische Medizin, 1880, XXVI, 3;
Lehmann, Allgem. Zeitschrift für Psychiatrie, 1887, XLIII, 3; Wagner,
Jahrb. für Psychiatrie, VII, 1887 ; Friedländer, Monatsschr. für Psych.,
VIII, 60, 1900.
Unvollständige Heilung.
331
liehe Veränderungen hinterlassen (Kopfverletzungen, Syphilis,
Typhus bisweilen), oder aber, wenn sie durch längere Zeit hindurch
stetig auf den Menschen einwirken und somit durch Häufung
ihres Einflusses nach und nach eine dauernde Umwandlung in
seinem Gesamtzustande herbeiführen (chronische Gemütsbewe-
gungen und Krankheiten, Alkoholismus, Morphinismus, Stoff-
wechselvergiftungen).
Unvollständige Heilung. Von der Grösse dieser dauernden
Störung und den Einflüssen, denen der Kranke weiterhin aus-
gesetzt ist, hängt es hier ab, wieweit eine Wiederherstellung
des früheren gesunden Zustandes jeweils möglich ist. Nimmt
auch ein ausbrechender Krankheitsvorgang zunächst einen gün-
stigen Ablauf, so bleibt doch häufig genug eine „Dis p o s i t i o n“,
eine Neigung zu weiteren Erkrankungen zurück, die namentlich
dann ihren verderblichen Einfluss geltend macht, wenn der Ge-
nesene sich in den Bereich der alten Schädlichkeiten zurück-
begibt, Er fällt jetzt weit leichter, bei dem ersten gegebenen
Anlasse, in die überstandene Krankheit zurück. Jeder Rückfall
setzt wiederum die Widerstandsfähigkeit für die Folgezeit hei ab,
so dass immer geringfügigere Anstösse genügen, um die krank-
haften Zustände aufs neue herbeizuführen.
Ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie sich auf diese Weise
unter dem Einflüsse dauernder oder häufig wiederkehrender Ur-
sachen herausbilden können, finden sich bei ursprünglich krank-
haft veranlagten Menschen als angeborene Schwächen der
Persönlichkeit vor. Da hier die Krankheitsbedingungen in der
Person selber zu suchen sind, so kann von einer Heilung geistiger
Störungen in dem Sinne einer völligen Rückkehr zur Gesundheit
nicht wohl die Rede sein, da ja eben der Ausgangszustand selbst
nicht als ein wirklich gesunder anzusehen war. Das wichtigste
Erfordernis einer jeden Heilung, die Entfernung der Krankheits-
ursache, bleibt unerfüllbar, wo diese letztere eben durch die ganze
Eigenart des Menschen dargestellt wird. Trotzdem sehen wir
bei solchen Personen nicht selten ausgeprägte und schwere psy-
chische Krankheitserscheinungen mit derselben Geschwindigkeit
sich wieder verlieren, mit welcher sie aus unbedeutenden Anlässen
hervorgegangen sind.
Das eigentlich Auffallende ist dabei mehr die letztere, als
332
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
die erstere Erscheinung. Die krankhafte Ausgiebigkeit der Gleich-
gewichtsschwankung auf geringfügige Reize lässt die ganze Er-
krankung weit bedenklicher erscheinen, als sie wirklich ist. Würde
es doch auch verfehlt sein, etwa aus dem Herzklopfen eines Herz-
kranken auf den gleichen Grad gemütlicher Erregung schliessen
zu wollen, den wir unter denselben Verhältnissen beim Gesunden
vorauszusetzen hätten! Wir würden dann erstaunt sein, dort so
rasch völlige Beruhigung zu beobachten, wo wir glaubten, es mit
einer tiefen, dauernden Gemütsbewegung zu tun zu haben. Um-
gekehrt aber wird in diesem Beispiele der leiseste Anstoss ge-
nügen, das Anzeichen der Krankheit sogleich in voller Stärke
hervorzurufen, so dass es schliesslich vielleicht durch die blosse
Lebensarbeit dauernd fortbesteht, während sonst ein Leiden bis-
weilen lange Zeit vorhanden sein kann, ohne auffallende Störungen
zu verursachen. Ganz ähnlich haben wir es beim psychischen
Krüppel mit einer Verminderung der Widerstandsfähigkeit zu tun,
die schliesslich ohne besonderen Reizanstoss zur Entwicklung
geistiger Leiden führen kann, die aber auch dann eine krankhafte
Veränderung der ganzen Persönlichkeit bedeutet, wenn sie nicht
gerade lebhaftere Erscheinungen verursacht. Die Heilung der
vorübergehenden Störungen ist daher etwa mit der Beseitigung
eines Anfalles von Herzklopfen bei einem Herzkranken auf gleiche
Stufe zu stellen; das eigentliche Grundleiden besteht dabei unver-
ändert fort.
Die vorstehenden Erörterungen haben uns somit den Aus-
gang des Irreseins in unvollständige Heilung kennen gelehrt,
die „Besserun g“ oder „Heilung mitDefek t“. Die eigent-
lichen Krankheitserscheinungen treten auch hier im wesentlichen
zurück; die Stimmung wird ruhiger und gleichmässiger; Wahnideen
und Sinnestäuschungen verschwinden nach und nach, aber es
machen sich die mehr oder weniger ausgeprägten Anzeichen einer
Herabsetzung der psychischen Leistungs- und Widerstandsfähig-
keit, der Schwäche, bemerkbar. Der Genesende denkt zwar
der Form nach richtig und hat auch eine gewisse Einsicht in seine
Krankheit, aber er ist nicht mehr derjenige, der er früher war;
er hat einen Teil seiner Persönlichkeit eingebüsst. „Gerade das
Beste und Wertvollste ist,“ wie Griesinger sich treffend
ausdrückt, „von der geistigen Individualität abgestreift.“ Die
Unteilbarkeit.
333
geistige Regsamkeit und Frische, die gemütliche Tiefe, die selb-
ständige Tatkraft sind unwiederbringlich verloren gegangen. Oft
genug bleibt indessen der volle Umfang der psychischen Schwäche
im Schutze des Anstaltslebens unbemerkt, weil an den Kranken
in dem ruhigen, geregelten Tageslaufe gar keine besonderen An-
forderungen herantreten. Der Versuch einer Entlassung aus der
Anstalt ist daher die entscheidende Probe, die häufig genug schon
nach kurzer Zeit die nur „Gebesserten“ von den völlig Genesenen
abzutrennen gestattet, auch wenn vorher ein abschliessendes Ur-
teil noch nicht möglich war.
Allerdings kommt hier wieder sehr viel auf die äusseren
Umstände an. Ist die Häuslichkeit eine glückliche, die Vermögens-
lage und die Lebensstellung günstig, so vermag der Kranke viel-
fach wieder in seinen früheren Wirkungskreis zurückzukehren und
in geordneten Verhältnissen leidlich seine Stellung auszufüllen.
Allein die zielbewusste Festigkeit seines Willens hat er verloren;,
schwierigen Lebenslagen und drängenden Kämpfen ist er nicht
mehr gewachsen; leicht schieben sich Schwankungen des psy-
chischen Gleichgewichts ein, welche die Stetigkeit der Leistungen
unterbrechen. Dieser Zustand pflegt den Ausgängen des Alters-
irreseins, der Schreckneurose, namentlich aber den Besserungen
der Paralyse und der Dementia praecox eigentümlich zu
sein. Viele in unbegreiflicher Weise gescheiterte Lebensgänge,,
die schliesslich in bescheidenstem Wir kungskr eise enden, dürften
auf so entstandene Schwächezustände zurückzuführen sein. Als
ganz natürlicher Abschluss endlich ist die unvollkommene Wieder-
herstellung dort zu betrachten, wo der ganze Kr ankheits Vorgang
sich schon auf dem Boden einer von vornherein unzulänglichen
Persönlichkeit abspielte. Hier pflegt meist selbst die frühere
Höhe nicht wieder erreicht zu werden, sondern der Gebesserte
geht noch mehr geschwächt aus dem Anfalle hervor, so dass bei
häufigerer Wiederholung der Erkrankungen auch der psychische
Verfall jedesmal eine gewisse Steigerung erfährt.
Unheilbarkeit. Schon die unvollständige Heilung bedeutet
die Entstehung einer unheilbaren Veränderung in dem Gesamt-
zustande der Person, aber diese Veränderung besteht in einer
einfachen, mehr oder weniger hochgradigen Herabsetzung der
psychischen Leistungs- und Widerstandsfähigkeit, ohne eine Um-
334
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
wälzung in dem wesentlichen Inhalte des Denkens, Fühlens und
Handelns zu bedingen. Man kann daher weiterhin noch einen Aus-
gang in Unheilbarkeit unterscheiden, der entweder das un-
veränderte Andauern der einmal vollzogenen krankhaften Wand-
lung oder aber den Fortschritt derselben bis zum völligen Zerfall
der psychischen Persönlichkeit bedeutet. Das erstere ist der Fall
bei manchen Kranken mit manisch-depressivem Irresein sowie bei
der Verrücktheit, bei der ein langsam entwickeltes Wahnsystem
ohne wesentliche Zunahme der psychischen Schwäche dauernd
festgehalten wird. Von einem völligen Stillstände der Krank-
heit kann freilich auch hier nicht die Rede sein. ^ ielmehr v ird
einem aufmerksamen Beobachter die Abnahme der psychischen
Leistungsfähigkeit innerhalb längerer Zeiträume kaum entgehen,
schon der abstumpfende Einfluss des einförmigen Anstaltsaufent-
haltes muss sich vielfach in dieser Richtung geltend machen.
Auch nach der Dementia praecox beobachtet man sehr häufig die
Rückkehr zu einer Art dauernden Gleichgewichtszustandes mit
den Erscheinungen der psychischen Schwäche und einzelnen
sonstigen Überbleibseln aus der Krankheitszeit. Sie bilden ge-
wissermassen den Übergang zu den unvollständigen Heilungen.
Diese Kranken sind fähig, sich in einfachen ^ erhältnissen ohne er-
hebliche Schwierigkeit zurechtzufinden, sich zu beschäftigen, und
besitzen auch eine gewisse oberflächliche Krankheitseinsicht, so
dass sie von ihrer Umgebung gelegentlich für nahezu gesund ge-
halten werden können. Von Zeit zu Zeit jedoch treten die alten
Sinnestäuschungen wieder hervor, und nun lassen sich die Kranken
vorübergehend gänzlich von ihnen beherrschen, bis nach einigen
Stunden oder Tagen die Aufregung vorüber und alles rasch wieder
vergessen ist, ohne irgendwie wahnhaft verarbeitet zu werden.
Allen diesen, nur sehr langsam sich ändernden Zuständen
kann man den eigentlich fortschreitenden Krankheits-
verlauf gegenüberstellen, wie er bei gewissen Formen des manisch-
depressiven und epileptischen Irreseins, bei der Dementia praecox,
namentlich aber in der Paralyse regelmässig zur Beobachtung
gelangt. Diese Entwicklung wird meist dadurch eingeleitet, dass
zunächst die Stärke der dauernden gemütlichen Erregung ab-
nimmt, während sich die begleitenden Störungen des Verstandes
überhaupt nicht oder doch nicht vollständig zurückbilden, sondern
Tod.
335
in Form tiefgreifender Urteilslosigkeit und geistiger Stumpfheit,
widerspruchsvoller und zusammenhangsloser Wahnideen oder
völliger Verwirrtheit bis zum tiefsten Blödsinn bestehen bleiben.
Natürlich vollzieht sich dieser Vorgang einer fortschreitenden
Vernichtung der ursprünglichen Persönlichkeit, den man mit dem
Namen der V e r b 1 ö d u n g zu bezeichnen pflegt, je nach der Form
der Geistesstörung, welche er abschliesst, in etwas verschie-
dener Weise und namentlich in sehr verschiedenen Zeiträumen.
Bei den melancholischen Erkrankungen erhält sich die Klein-
mütigkeit und Verzagtheit, beim manisch-depressiven Irresein
die Entschlussunfähigkeit oder der Betätigungsdrang und der
Stimmungswechsel auch in den unheilbaren Endzuständen.
Die Verblödung nach Dementia praecox ist durch die mehr
oder weniger hochgradige Stumpfheit und Gleichgültigkeit
der Kranken neben einzelnen besser erhaltenen Fähigkeiten und
Kenntnissen ausgezeichnet. Zugleich finden sich gewöhnlich An-
deutungen katatonischer Erscheinungen, Manieren, albernes
Lachen, Katalepsie, Stereotypen. Häufig sind auch Sinnestäu-
schungen, zusammenhangslose Wahnbildungen, Sprachverwirrtheit
sowie zeitweise wiederkehrende, kurzdauernde Erregungen. In-
dessen schwindet hier wie bei der Paralyse oft genug auch die
letzte Spui- solcher früher vielleicht in Überfülle gelieferten Krank-
heitsäusserungen, die von dem unaufhaltsamen geistigen Verfalle
selbst mit vernichtet werden. Demgegenüber sehen wir bei ge-
wissen paranoiden Formen und der Verrücktheit die einmal ent-
wickelten Wahnideen nicht selten Jahre und selbst Jahrzehnte
haften.
Tod. Die letzte Form des Ausganges, den die Geistesstörung
nehmen kann, ist der Tod. Ohne Zweifel wird die Sterblichkeit
durch die psychische Erkrankung beträchtlich gesteigert; sie ist
bei Irren etwa fünfmal so gross wie bei der erwachsenen geistes-
gesunden Bevölkerung. Diese Zahl wird verständlich, wenn man
zunächst bedenkt, dass eine Reihe der dem Irresein zu Grunde
liegenden Hirnerkrankungen sehr schwere körperliche Schädi-
gungen erzeugen, die dann ihrerseits unmittelbar oder mittelbar
zum Tode führen können. Der bei weitem wichtigste dieser Krank-
heitsvorgänge ist derjenige der Paralyse. Derselbe kann geradezu
unter den Erscheinungen des tiefsten Marasmus und äusserster
336
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
Herzschwäche dem Leben ein Ende machen. Häufiger erliegen die
Kranken im paralytischen Anfalle. Der tötliche Ausgang erfolgt
hier entweder unmittelbar durch Hirnlähmung oder durch die Ent-
stehung von Druckbrand, Schluckpneumonien, Verletzungen, Blut-
vergiftungen u. dergl. Vereinzelt kommen neben der Paralyse
die ihr verwandten Hirnerkrankungen als Todesursachen in Be-
tracht, Gliose, Arteriosklerose, syphilitische Veränderungen, Ge-
schwülste, Embolien, Blutungen, Thrombosen.
In der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ist indessen das
Leiden, welches die Geistesstörung erzeugt, an sich kein tötliches.
Dagegen wird immerhin nicht allzu selten der Tod dadurch ver-
anlasst, dass sich einzelne gefahrdrohende Krankheitserschei-
nungen entwickeln. Dahin gehört vor allem die Neigung zum
Selbstmorde, wie sie sich so häufig an traurige Wahn-
ideen oder Stimmungen anschliesst. In ihr haben wir es mit einer
äusserst verhängnisvollen und praktisch überaus wichtigen Er-
scheinung des Irreseins zu tun, die bei schlechter Überwachung
zahlreiche Opfer fordert. Nächstdem ist es die Nahrungs-
verweigerung, dann die bis zur äussersten Erschöpfung an-
dauernde Unruhe und Schlaflosigkeit mancher Kranker,
schwerer Verlauf chirurgischer Verletzungen
wegen der Unmöglichkeit einer geeigneten Behandlung, die als
Todesursachen bei Geisteskranken genannt werden müssen.
Endlich aber ist es eine sehr bemerkenswerte Tatsache, dass
auch die Ausbildung gewisser körperlicher Erkrankungen durch
das Irresein begünstigt wird. Namentlich die Tuberkulose
forderte früher in Irrenanstalten die fünffache Zahl von Opfern
wie bei Geistesgesunden. Das kasernenhafte Leben, die häufig
bestehende Überfüllung, die ausgiebige Gelegenheit zur An-
steckung, sodann namentlich die Stumpfheit so vieler Kranker
und die damit verknüpfte Herabsetzung der Atmungs- und
Kreislaufstätigkeit sind wohl in erster Linie für dieses Verhalten
verantwortlich zu machen. Durch Besserung der allgemeinen
Lebensbedingungen, vor allem aber durch rechtzeitige Ab-
sperrung der Erkrankten ist es in der letzten Zeit gelungen, die
Tuberkulosegefahr in den Anstalten erheblich einzuschränken. )
*) Oswald, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 437.
337
C. Dauer des Irreseins.
Die Dauer psychischer Störungen bietet sehr weitgehende
Verschiedenheiten dar. Wo die Entstehungsbedingungen des Irre-
seins im Menschen selbst gelegen sind, da dauert dasselbe durch
das ganze Leben an; je mehr sie dagegen von äusseren Ursachen
abhängig sind, und je rascher und vorübergehender dieselben ein-
wirken, desto kürzer ist die Dauer der Krankheit. Fieberdelirien,
Vergiftungsdelirien, Collapsdelirien können nach wenigen Tagen,
Stunden, ja Minuten schon wieder verschwinden. Aber auch bei
krankhafter Veranlagung, bei Epileptikern, Hysterischen werden
„Anfälle“ von psychischer Störung beobachtet, die nur eine
äusserst kurze Dauer aufzuweisen haben. Hier ist jedoch, wie
schon früher ausgeführt, zu beachten, dass dieselben gewisser-
massen nur vorübergehende Verschlimmerungen eines an sich
schon krankhaften, andauernden Zustandes darstellen, wenn
dieser auch für gewöhnlich nicht in auffallenden Krankheits-
erscheinungen hervortritt. Im allgemeinen zeigen die Psychosen
trotz der genannten Ausnahmefälle eine beträchtlich längere
Dauer, als durchschnittlich körperliche Krankheiten, so dass hier
die Abgrenzung der akuten und chronischen Formen nach einem
anderen Massstabe zu geschehen pflegt. Selbst bei frischen Er-
krankungen zieht sich der Verlauf in der Regel über eine Reihe
von Monaten hin; Fälle bis zur Dauer eines Jahres und selbst da-
rüber werden daher häufig noch als akute oder subakute be-
zeichnet. Immerhin pflegt die überwiegende Mehrzahl der über-
haupt heilbaren Psychosen innerhalb des ersten Jahres den gün-
stigen Ausgang zu nehmen. Heilungen nach mehr als zwei-
jähriger Dauer der Krankheit sind schon ziemlich selten, doch
kommen solche Ausnahmefälle in sinkender Zahl selbst nach
fünf, acht und zehn Jahren noch vor, ja es werden ganz verein-
zelte Beobachtungen berichtet, in denen nach einem Anstalts-
aufenthalte von zwei Jahrzehnten noch eine unerwartete Genesung
sich einstellte*). Einzelne solcher „Spätheilungen“ betreffen
manisch-depressive Kranke, bei denen gelegentlich Anfälle von
*) Kreuser, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVII, 771, 1900.
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aofl. 22
338
III. Verlauf, Ausgänge und Dauer des Irreseins.
mehr als zehnjähriger Dauer Vorkommen. Die Hauptmasse der
Fälle gehört indessen höchst wahrscheinlich in das Gebiet der
Katatonie. Hier schliessen sich bisweilen die überraschenden
Besserungen nach langwierigem Krankheitsverlaufe an eine fie-
berhafte Erkrankung, an die Versetzung in eine andere Umgebung
an. Ohne Zweifel handelt es sich aber in allen diesen Fällen
nicht um völlige Genesungen, sondern um „Heilungen mit Defekt“',
wenn sie auch die Rückkehr in die Familie und unter Umständen
sogar in die Berufstätigkeit ermöglichen.
Ausser der Form der Psychose und der Persönlichkeit des
Erkrankten ist auf die Dauer derselben zweifellos auch die Behand-
lung von Einfluss. Je früher Geisteskranke in eine geeignete
Umgebung, in die Anstalt gebracht werden, desto rascher vollzieht
sich unter sonst gleichen Umständen der Ablauf der psychischen
Störung, und desto günstiger sind gleichzeitig die Aussichten
auf eine möglichst vollständige Genesung.
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Die Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein einer
Geistesstörung im einzelnen Falle setzt vor allem die Kenntnis
der Tatsachen voraus, die uns von der Geschichte und dem Zu-
stande der gesamten Persönlichkeit ein möglichst klares und
vollständiges Bild zu vermitteln geeignet sind. Die Gesichts-
punkte für die Verarbeitung dieser Tatsachen liefert uns dann
die klinische Erfahrung. Sie lehrt uns, ob und inwieweit sich
die vorliegenden Beobachtungen mit den gesicherten Errungen-
schaften der Wissenschaft zur Deckung bringen lassen. Auf
diese Weise gelangen wir zu einer Diagnose des einzelnen
Falles und durch Häufung der Beobachtungen zu einer umfassen-
den Formenlehre der Geisteskrankheiten. Erst der
so gewonnene Überblick über das klinische Gesamtgebiet wird uns
gestatten, die Grenzlinien desselben gegenüber der Gesundheits-
breite zu ziehen. Er gibt uns zugleich die sichere Eichtschnur
für die Vermeidung jener eigentümlichen Fehlerquellen psychia-
trischer Beurteilung, die aus der Vortäuschung und aus der Ver-
leugnung von Krankheitszeichen entspringen. Von allen diesen,
miteinander in inniger Verbindung stehenden Aufgaben, die bei
der Erkennung des Irreseins zu lösen sind, werden uns hier zu-
nächst die Durchführung der Krankenuntersuchung, die
Absteckung der Grenzen des Irreseins und die Aufdeckung
der Verstellung und Verleugnung beschäftigen, während
die Einordnung der Beobachtungen in die klinischen Formenkreise
späteren Ausführungen Vorbehalten bleiben muss.
A. Krankenuntersuchung *).
Den nächsten und wichtigsten Anhaltspunkt für die Er-
kennung einer Geistesstörung geben uns naturgemäss die Er-
*) Morselli, Manuale di semeiotica delle malattie mentali. 1885 u.
1895; Sommer, Diagnostik der Geisteskrankheiten, 2. Aufl. 1901.
22*
340
IV. Die Erkennung des Irreseins.
scheinungen und der Verlauf derselben; für ein weiter-
o-ehendes Verständnis ist aber immer auch die Kenntnis der äus-
seren und inneren Ursachen erforderlich, aus denen
heraus sich die Erscheinungen entwickelt haben. Das Endziel der
klinischen Untersuchung ist daher nicht nur die Feststellung der
etwa vorhandenen Anzeichen geistiger Störung, sondern auch die
Auffindung derjenigen Anhaltspunkte, die in ursächlicher Be-
ziehung von Bedeutung sein könnten. Die Hilfsmittel, die ihr
für alle diese Zwecke zu Gebote stehen, sind einmal die rück-
schauende Betrachtung des Vorlebens bis in frühere Ge-
schlechter hinein, die Anamnese, weiterhin die eingehende
Prüfung des gesamten körperlichen und psychischen Verhaltens
in einem gegebenen Augenblicke, die Aufnahme des Status
praesens, ferner die fortgesetzte Beobachtung und
endlich in gewissen Fällen auch die Erhebung eines Lei-
chenbefundes.
Vorgeschichte. Die erste Frage richtet sich auf die Erblich-
keitsverhältnisse im weitesten Sinne. Wer hier zuverlässige An-
gaben erhalten will, wird gut tun, mit seiner Prüfung möglichst
in das Einzelne einzugehen und sich nicht mit allgemeinen Ant-
worten zu begnügen. Ausser nach wirklichen Geisteskrankheiten,
zu denen von den Laien regelmässig nur die allerschwersten An-
staltsfälle gerechnet werden, vergesse man nicht, über das A or-
kommen von Nervenleiden, auffallenden Persönlichkeiten, Trunk-
sucht, Verbrechen Erkundigungen einzuziehen und sämtliche
Familienglieder unter diesen Gesichtspunkten durchzugehen.
Ausserdem empfiehlt es sich, verschiedene Angehörige, viel-
leicht auch den Untersuchten selbst, gesondert auszufragen,
da oft genug unabsichtlich, aus Unkenntnis oder Mangel an \er-
ständnis, bisweilen sogar absichtlich, wichtige Tatsachen ver-
schwiegen werden. In nicht wenigen Fällen gibt die persönliche
Bekanntschaft mit den verschiedenen Familiengliedern (absonder-
liche Vornamen!) dem geübten Beobachter schon an sich ge-
nügenden Stoff zur Beurteilung der Erb lichkeits Verhältnisse an
die Hand. Völlige, dauernde Einsichtslosigkeit mit rührender
Hoffnungsfreudigkeit bei den tiefgreifendsten Störungen ihrer
Kranken, Urteilslosigkeit gegenüber deren Wahnideen, übertrie-
bene oder zur Schau getragene Ängstlichkeit, unsinniges Miss-
Vorgeschichte.
341
trauen gegen die Anstalt und deren Einflüsse, Neigung zu allen
möglichen Quacksalbereien und kindischen Einmischungen in die
Behandlung, auf der anderen Seite Gleichgültigkeit, ja Rohheit
sind nicht selten kennzeichnende Züge bei den „Angehörigen“
entarteter Kranker.
Bei der geschichtlichen Verfolgung des einzelnen Lebens wird
man naturgemäss sein Augenmerk der Reihe nach auf alle jene
Schädlichkeiten zu richten haben, die wir früher als mögliche
Ursachen des Irreseins kennen gelernt haben. Namentlich kommen
zunächst Syphilis oder sonstige Allgemeinleiden der Eltern in
Betracht. Für die Zeit des intrauterinen Daseins haben wir auf
schwere Gemütsbewegungen, erschöpfende Krankheiten oder son-
stige Schädigungen des mütterlichen Körpers Rücksicht zu
nehmen. Weiterhin sind von Wichtigkeit der Verlauf der Geburt,
Infektionskrankheiten oder Gehirnleiden (Krämpfe, Lähmungen)
im ersten Kindesalter, Entwicklungsstörungen, die Einflüsse der
Erziehung und für das spätere Leben die ganze Reihe jener per-
sönlichen Schicksale, die das psychische Gleichgewicht zu er-
schüttern oder dauernd zu vernichten imstande sind, vor allem
die mannigfachen physiologischen und krankhaften Umwälzungen
auf körperlichem Gebiete, die Entwicklung der Geschlechtsreife,
das Fortpflanzungsgeschäft, Erkrankungen aller Art, endlich die
Ausschweifungen, die Entbehrungen, die niederdrückenden Ge-
mütsbewegungen. Oft genug freilich bleibt das Forschen nach
einer bestimmteren Ursache vollkommen ergebnislos, sei es, dass
überhaupt kein greifbarer äusserer Anstoss zur Entwicklung des
Irreseins vorhanden war, sei es, dass er nicht beachtet wurde
oder doch für die Erklärung sich als durchaus ungenügend er-
weist. So werden von der Umgebung nicht selten solche V or-
kommnisse als Ursache der Psychose angesehen, die sich bei
näherer Betrachtung unzweifelhaft als die Anzeichen der bereits
ausgebrochenen Störung darstellen, z. B. die Ausschweifungen
des Paralytikers, die Streitigkeiten des Hypomanischen, die Selbst-
beschuldigungen des Melancholikers, die Trägheit oder die Onanie
des Hebephrenen.
Ausser den Ursachen sind selbstverständlich die etwaigen
Erscheinungen des Irreseins in der Vergangenheit und weiterhin
deren Verlauf und Dauer festzustellen. Auch zu diesem Zwecke
342
IV. Die Erkennung des Irreseins.
wird man bis in die erste Jugendzeit zurückgreifen. Die Schnel-
ligkeit der körperlichen und geistigen Entwicklung (Gehen,
Sprechen, Lesen), die geistige Befähigung (Schulzeugnisse) und
sittliche Veranlagung, die Gemütsart, der Wille, die persönlichen
Neigungen und deren Ausbildung, namentlich auch das Verhalten
im Entwicklungsalter (Masturbation) haben unter diesem Ge-
sichtspunkte für uns Wichtigkeit. Von der grössten Bedeutung
aber ist natürlich die Feststellung desjenigen Zeitpunktes, an
dem eine unverkennbar krankhafte Veränderung im Seelenleben
sich einstellte. Gerade in dieser Hinsicht ist der Arzt den
allergröbsten, zumeist unabsichtlichen Täuschungen ausgesetzt.
Fast bei allen langsam verlaufenden Psychosen wird die Er-
krankung längere Zeit hindurch verkannt und ihr Beginn daher
viel später angenommen, als er wirklich stattfand. Erst bei ein-
gehendem Befragen erfährt man dann, dass doch auch vor dem
bezeichneten Zeitpunkte, oft Monate und Jahre vorher, schon diese
oder jene, nicht weiter beachteten Anzeichen der Störung vorhan-
den waren, dass die ersten krankhaften Spuren vielleicht schon bis
in die früheste Jugend zurückreichen. Gebildete Leute sind in dieser
Beziehung vielfach nicht bessere Beobachter als Ungebildete.
Besonders wichtig ist die Feststellung, ob die vorliegende
Erkrankung die erste im Leben ist oder ob schon früher ähnliche
oder andersartige Anfälle voraufgingen. Der Nachweis solcher
Vorläufer grenzt die Zahl der Krankheitsformen, mit denen man
zu rechnen hat, sofort sehr erheblich ein. Allerdings ist es nicht
immer leicht, über diese Frage Klarheit zu erhalten. Die Kranken
selbst sind oft nicht imstande, Auskunft zu geben, und von der
Umgebung sind leichtere Erregungen oder Verstimmungen viel-
fach gar nicht als krankhaft aufgefasst, auf irgendwelche zu-
fälligen Ereignisse zurückgeführt oder ganz vergessen worden.
Die Nachforschungen sind namentlich auf die Entwicklungs- oder
Rückbildungsjahre zu richten. Epileptische Verstimmungen wer-
den oft durch die Frage aufgedeckt, ob schon einmal Lebens-
überdruss bestand, und namentlich, ob Zeiten mit grosser Reiz-
barkeit vorhanden waren. Haben sich frühere Anfälle ergeben,
so ist sorgfältig festzustellen, ob seither völlige Genesung ein-
trat, oder ob diese oder jene Störungen von der ersten Erkrankung
zurückgeblieben sind.
Zustandsuntersuchung.
343
Die genauere Aufklärung der Vorgeschichte des Irreseins
setzt natürlich eine vollständige Kenntnis der einzelnen Krank-
heitsformen voraus. Schon aus den ersten allgemeinen Angaben
über die ursächlichen Verhältnisse, über die langsame oder
schnelle Entwicklung des Leidens, über das Bestehen von Sinnes-
täuschungen, Wahnideen, Gedächtnis- und Verstandesstörungen,
traurigen und heiteren Verstimmungen, Abweichungen im Be-
nehmen und Handeln, körperlichen und besonders nervösen Krank-
heitszeichen, über den gleichbleibenden, fortschreitenden, anfalls-
weisen, cirkulären Verlauf ergibt sich zumeist bald der Verdacht
auf eine bestimmte klinische Erkrankungsform, der dann durch.
Eingehen auf das Einzelne weiter begründet oder widerlegt werden
kann. Für praktische Zwecke und in der Hand des Erfahrenen ist
diese zunächst nach einem allgemeinen Überblick suchende Auf-
rollung der Vorgeschichte ungleich zweckmässiger, als die plan-
mässige Erledigung eines bereiten Fragebogens, welcher alle
überhaupt möglichen Erscheinungen des Irreseins umfasst.
Weniger belangreich für die Erkennung, dafür aber um so wich-
tiger für die Behandlung der Krankheit sind endlich die nie zu
unterlassenden Fragen nach der Neigung zu gemeingefährlichen
Handlungen, zur Nahrungsverweigerung und namentlich zum
Selbstmorde.
Zustandsuntersuchung. Wenn auch die Vorgeschichte viel-
fach schon hinreichende Anhaltspunkte liefert, um mit grosser
Wahrscheinlichkeit nicht nur eine Geistesstörung überhaupt, son-
dern die besondere Form derselben feststellen zu können, so ist
doch für die Abgabe eines ärztlichen Urteils die persönliche Unter-
suchung auch in den anscheinend einfachsten Fällen ebenso u n -
abweisliches Erfordernis wie bei irgend einer körper-
lichen Erkrankung. Der innige Zusammenhang zwischen psychi-
schen und körperlichen Störungen wird uns dabei zu sorgfältiger
Berücksichtigung auch dieser letzteren veranlassen, da wir in
ihnen nicht selten Aufschlüsse über die Ursachen des Irreseins
oder aber klinisch wichtige Begleiterscheinungen desselben auf-
zufinden erwarten dürfen.
Die körperliche Untersuchung wird zunächst den allge-
meinen Zustand des Körpers ins Auge zu fassen haben.
Missverhältnis zwischen Lebensalter und Aussehen (jugendlichei
344
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Habitus, vorzeitiges Greisentum), das Verhalten des Körper-
wachstums (Zwergwuchs, Kyphosen, schmächtiger Bau, Akro-
megalie), der Ernährung (Anämie, Fettpolster, Hautfarbe), der
Kräfte (Muskulatur), Kropfbildung, Hautverdickungen, Spuren
alter Rhachitis (Zähne, Rippen, Epiphysen) oder Syphilis (Kno-
chenauftreibungen, Hautnarben, Drüsenschwellungen), können
wertvolle Fingerzeige für die ursächliche Beurteilung des Falles
abgeben. Ferner pflegt man aus dem Vorhandensein gewisser
Entwicklungsstörungen (Albinismus, Spina bifida, Hasenscharte,
Wolfsrachen, sehr steiler oder sehr flacher Gaumen, Kryptorchis-
mus, Polymastie, Polydaktylie, Syndaktylie, Missbildungen der
Augen, Ohren, Zähne, Geschlechtsteile), die man als Entartungs-
zeichen*) betrachtet, den Schluss auf eine psychopathische Veran-
lagung zu ziehen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Be-
ziehungen zwischen jenen Bildungsfehlern und dem Hirnzustande
nichts weniger als eindeutige und klare sind. Man wird daher bei
der Verwertung solcher Befunde mit grösster Vorsicht zu ver-
fahren haben. Dasselbe gilt in noch höherem Masse von den Täto-
wierungen, denen man ebenfalls eine gewisse kennzeichnende Be-
deutung für den Zustand des Seelenlebens zugeschrieben hat.
Hier sind in erster Linie die Lebensgewohnheiten der Stände
und Berufe massgebend, aus denen die Kranken stammen.
Unzweifelhaft der wichtigste Teil der körperlichen Unter-
suchung ist die Prüfung des Nervensystems, insbesondere
des Gehirns, das freilich am Lebenden unserer Beurteilung
nur wenige Angriffspunkte darbietet. Von der Grösse des Ge-
hirns kann uns die Schädelmessung, namentlich nach dem von
Rieger**) ausgebildeten Verfahren, ein ungefähres Bild ver-
schaffen, dem indessen alle jene Fehlerquellen anhaften, welche
in dem unvollkommenen Parallelismus der Schädel- und Hirnober-
fläche ihren Ursprung haben. Unmittelbare psychiatrische Wich-
tigkeit besitzen daher nur diejenigen Verbildungen des Schädels
in Form und Grösse, die unzweifelhaft über den Bereich jener
Fehlerquellen hinausgehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass
*) Knecht, Allgem. Zeitschr. f. Pßychiatrie, LIV, 876; Ganter, eben-
da, LV, 495; Giuffrida-Ruggeri, atti della societh Romana di antro-
pologia, IV, 2, 3, 1896.
**) Rieger, Eine exakte Methode der Craniographie. 1885.
Zustandsuntersuchung.
345
es nicht allein auf die Schädel- oder Gehirngrösse an sich, sondern
wesentlich auf das Verhältnis derselben zu der Grösse und Masse
des ganzen Körpers ankommt. Unter Berücksichtigung dieses
Umstandes können bisweilen Missverhältnisse aufgedeckt werden,
die der einfachen Betrachtung entgehen. Im übrigen vermögen
allerdings alle feineren, erst mit Hilfe genauer Messungen fest-
stellbaren Abweichungen höchstens die allgemeine Vermutung
zu begründen, dass mit ihnen vielleicht auch Störungen in der
Hirnentwicklung einhergehen. Sehr beachtenswert sind dagegen
die Spuren früherer Verletzungen, Narben, Eindrücke und dergl.,
da sie bisweilen den einzigen Schlüssel für das Verständnis sonst
rätselhafter Krankheitsbilder abzugeben imstande sind.
Über die Kreislaufsverhältnisse des Gehirns vermag uns bis
zu einem gewissen Grade die Betrachtung benachbarter Gefäss-
bezirke, des Gesichtes und vor allem des Auges, Aufschluss zu
geben; in vereinzelten Fällen gestatten Schädellücken auch eine
unmittelbare Untersuchung.*) Für die Hirnpathologie ist die
Augenspiegeluntersuchung bekanntlich ein überaus wichtiges
Hilfsmittel geworden. Bei Geisteskranken dagegen sind ihre Er-
gebnisse leider noch allzu unsichere geblieben, als dass man ihr
heute einen wesentlichen Wert für die Diagnostik zuerkennen
könnte. Ob hier andere Verfahren, die Thermometrie**) und die
Ausculation des Kopfes, bessere Ergebnisse liefern werden, muss
der Zukunft überlassen bleiben.
Von durchschlagender Bedeutung für die Beurteilung des
Gehirnzustandes ist dagegen die Prüfung seiner Äusserungen.
Sehen wir zunächst ab von den psychischen Erscheinungen, so
werden wir in erster Linie die Sinnesgebiete zu untersuchen haben.
Freilich ist es hier, namentlich beim Gehör, oft recht schwierig,
ja unmöglich, Störungen in den reizaufnehmenden Sinneswerk-
zeugen von denjenigen der zugehörigen Hirnabschnitte zu trennen.
Ausser eingehender Prüfung der Sinnestätigkeit und der Besich-
tigung mit dem Spiegel kann insbesondere beim Ohr noch die
elektrische Untersuchung der Gehörnerven***) in Frage kommen,
*) Berger, Zur Lehre von der Blutcirkulation in der Schädelhöhle des
Menschen. 1901.
**) M o s s o , Die Temperatur des Gehirns. 1894.
***) Chvostek, Jahrb. f. Psychiatrie, XI, 3.
346
IV. Die Erkennung des Irreseins.
die bisweilen bemerkenswerte Abweichungen von der Brenner-
schen Normalformel zu Tage fördert. Bereits weit in das geistige
Leben hinein reichen jene Störungen der höheren Sinnestätig-
keit, die man als „Worttaubheit“ und „Seelenblindheit“ bezeich-
net hat. Noch mehr ist das der Fall bei den aphasischen und den
ihnen verwandten Störungen*), deren Zergliederung indessen nicht
in den Rahmen unserer Darstellung fällt.
Auf motorischem Gebiete beschäftigt uns zunächst Grösse
und Beweglichkeit der Pupille, für deren feinere Untersuchung
neuerdings Sommer und Bumke besondere Verfahren ausgebildet
haben. Ferner werden wir das Spiel der Augenmuskeln, der Ge-
sichtsmuskeln und der Zunge zu beachten haben ; auch das ^ er-
halten der Mimik (Starrheit, Zuckungen, Grimmassieren) ist von
Wichtigkeit. Mehr oder weniger bindende Rückschlüsse auf die Art
des Krankheitsvorganges im Gehirn ermöglichen uns gewisse
Formen des Krampfes (Rindenepilepsie, Athetose, Chorea) des
Zitterns (Senium, Alkoholismus, Delirium tremens) und der Läh-
mung (schlaffe oder spastische Lähmung, Contractur), dann
manche Goordinationsstörungen verwickelter Willkürbewegungen,
des Gehens, Stehens, namentlich aber des Sprechens und Schrei-
bens. Auch die epileptischen und hysterischen Krämpfe wie die
hysterischen Lähmungen weisen uns geradezu auf eine bestimmte,
freilich auch nur symptomatische Krankheitsauffassung hin.
Der Untersuchung des Gehirns schliesst sich eng diejenige
des Rückenmarkes, des Sympathicus und endlich der
peripheren Nerven an, um so enger, als ja selbst heute
noch nicht immer die Ursache einer krankhaften Erscheinung mit
Sicherheit in einen der grossen Abschnitte des Nervensystems ver-
legt werden kann. Die Prüfung des Haut- und Muskelsinnes
im weitesten Umfange, der Reizempfindlichkeit in ihren ver-
schiedenen Gestaltungen, der Schmerzempfindlichkeit (Druck-
punkte), der elektrischen und mechanischen Erregbarkeit der
*) Ballet, Die innerliche Sprache und die verschiedenen Formen der
Aphasie, deutsch v. Bongers. 1890; Freud, Zur Auffassung der Aphasien.
1891; Bastian, Über Aphasie und andere Sprachstörungen, deutsch v. Ur-
stein. 1902; Wolff, Zeitschr. f. Psychologie und Physiologie der Sinnes-
organe, XV, 1; Liepmann, Das Krankheitsbild der Apraxie. 1900; Heil-
bronn er, Über Asymbolie, Wernickes Psychiatr. Abhandlungen. 1897.
Zustandsuntersuchung.
347
Nerven (Facialisphänomen) und Muskeln, der Ausgiebigkeit,
Sicherheit und Kraft der Bewegungen, der Reflexe, endlich der
vasomotorischen (Dermatographie), trophischen, sekretorischen
Vorgänge (Speichelfluss) wird daher regelmässig die Untersuchung
des allgemeinen Hirnzustandes za vervollständigen haben.
Nur mittelbar, auf dem Wege vielgliedriger Schlussfolge-
rungen, kann uns natürlich die Untersuchung des übrigen
Körpers zu einer Erkennung krankhafter Vorgänge im Bereiche
des Nervensystems verhelfen. So werden wir uns erinnern, dass
schwere allgemeine Ernährungsstörungen (fieberhafte Krank-
heiten, Blutentmischungen, chronische Infektionen und Vergif-
tungen) häufig genug die Grundlage psychischer Erkrankungen
bilden, andererseits aber, dass jede rasch einsetzende Geistes-
störung mit durchgreifender Beeinträchtigung der Esslust, des
Schlafes und des gesamten Stoffwechsels einherzugehen pflegt.
Selbstverständlich kann aber die körperliche Veränderung im
einzelnen Falle auch ganz zufällig mit dem Irresein zusammen-
fallen. Gleichwohl wird zur vollen Würdigung der Sachlage eine
möglichst sorgfältige Untersuchung aller zugänglichen
Organe und ihrer Verrichtungen stets unerlässlich sein.
Besondere Bedeutung hat man bisweilen der Form des Puls-
bildes*) beigelegt, aus der man die weitgehendsten Aufschlüsse
über Diagnose und namentlich Prognose des Irreseins überhaupt
herauslesen wollte. Leider haben sich diese Hoffnungen nicht
erfüllt. Vielmehr hat sich gezeigt, dass die Gestaltung des
Pulsbildes im Verlaufe einer und derselben Erkrankung durch
verschiedenartige Einflüsse (Gemütsbewegungen, Gefässspannung,
Herztätigkeit) auf die mannigfaltigste Weise verändert werden
kann. Dagegen scheinen die Schwankungen des Blutdrucks **)
in der Tat gewisse Beziehungen zu der Art der Krankheitsvorgänge
aufzuweisen. Wenn sich bei manischer Erregung eine Herab-
setzung, bei trauriger Verstimmung und ebenso in Angstzuständen
eine Steigerung des Blutdruckes nachweisen lässt, so haben wir
*) Ziehen, Sphygmographische Untersuchungen an Geisteskranken. 1887 ;
Sokalski, Untersuchungen über Puls und Blutdruck in akuten Geisteskrank-
heiten. 1897; Patrizi, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 1.
**) Craig, Lancet, Juni 1898; Pilcz, Wiener klinische Wochenschrift,
1900, 12; Rosse, Centralblatt f. Psych. 1902, 517.
348
IV. Die Erkennung des Irreseins.
es hier wohl unmittelbar mit den vasomotorischen Begleiterschei-
nungen der krankhaften Stimmungen zu tun. Dagegen dürfte die von
Pilcz gefundene Senkung des Blutdruckes in der Paralyse und
namentlich in den letzten Abschnitten der Krankheit kurz vor
dem Tode einfach auf das allmähliche Versagen der Herztätig-
keit zurückzuführen sein. Näheren Aufschluss über diese gewiss
sehr wichtigen Verhältnisse verspricht vor allem auch das ple-
thysmographische Verfahren, wie es namentlich von
Lehmann*) ausgebildet worden ist. Da dasselbe die körper-
lichen Begleiterscheinungen der Gefühle mit grosser Genauigkeit
wiedergibt, wird es einerseits bei den Geistesstörungen mit leb-
haften Gemütsbewegungen, andererseits gerade bei denjenigen
Formen das Krankheitsbild vervollständigen, bei denen die
Schwankungen des Stimmungshintergrundes in krankhafter Weise
aufgehoben sind. Leider liegen bisher erst sehr wenige Unter-
suchungen an Geisteskranken mit diesem Verfahren vor.
Noch ganz in den ersten Anfängen befinden wir uns hinsicht-
lich der Untersuchung und Deutung der B lu t Veränderungen**)
bei Geisteskranken. Wir besitzen freilich bereits eine ganze Reihe
von Arbeiten über diese Fragen, allein zu bestimmten Schlüssen
im einzelnen Falle reichen die vorliegenden Ergebnisse noch nicht
aus. Es scheint mir jedoch zweifellos, dass wir gerade in dieser
Richtung noch wichtige Entdeckungen zu erwarten haben, um
so mehr, als die Bedeutung der allgemeinen Stoffwechselerkran-
kungen für einige der verbreitetsten Formen des Irreseins mir
immer klarer sich herauszustellen scheint. Ganz ähnlich steht
es mit den Harn Untersuchungen. Aus den Ausscheidungen wer-
den wir zwar immer nur ein sehr unvollkommenes Bild von den
Störungen in der chemischen Zusammensetzung der Körpergewebe
erhalten***), aber die Möglichkeit einer häufigen Untersuchung
*) A. Lehmann, Die körperlichen Äusserungen der seelischen, Zustände.
1899; R. Vogt, Centralblatt f. Psychiatrie, 1902, 965; Gent, Philosophische
Studien, XVIII, 715; Brodmann, Journal f. Psychologie u. Neurologie I, 10, 1903.
**) Vor st er, Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie, L., 3 u. 4r Ago-
stini, Rivista sperimentale di freniatria, XVIII, 483; Ceni, Revue de Psychia-
trie, März 1901; Pugh, Journal of mental Science, Jan. 1903, 71.
***) B e 1 m o n d o , Rivista sperim. di freniatria, XXII, 657 ; S t e f a n i ,
ebenda, 1900, 4; S o u r y , Annales medico-psychologiques, VIII, 8, 427, 1898.
Zustandsuntersuchung.
349.
wird uns doch zu einer eingehenden Berücksichtigung jenes Hilfs-
mittels veranlassen. Bisher wissen wir freilich wenig mehr, als
dass neben Eiweiss und Zucker gelegentlich noch eine Reihe an-
derer ungewöhnlicher Stoffe im Harn Vorkommen können, ohne
dass sich einstweilen eine genauere Beziehung zu bestimmten
Erkrankungen feststellen Hesse*). Auch die Untersuchungen des
Magensaftes haben die an sie geknüpften Erwartungen noch
nicht erfüllt; immerhin kann man ihren Ergebnissen vielleicht
gewisse Gesichtspunkte für die Behandlung entnehmen.
Hat uns die körperliche Untersuchung gewisse Anhaltspunkte
für die ursächliche Auffassung eines Falles oder Beweise für das
Bestehen von Störungen in diesen oder jenen Abschnitten des
Nervengewebes zu liefern, so muss das eigentliche Krankheits-
bild durch die Prüfung der psychischen Tätigkeit**)
festgestellt werden. Leider gehen die Hilfsmittel, die uns für
die Klärung dieses wichtigen Teiles des Krankheitszustandes zu
Gebote stehen, bisher nur wenig über diejenigen hinaus, die uns
die gewöhnliche Lebenserfahrung an die Hand gibt. Die Unter-
suchung des psychischen Zustandes liefert uns zumeist keinerlei
Zahl- und Massbestimmungen. Sie begnügt sich vielmehr mit
der ursprünglichsten Art der Beobachtung und mit dem einfachsten
psychologischen Versuche, der Stellung von Fragen; sie hält sich
in ihrem Gange nicht an einen vorherbestimmten Plan, sondern sie
schreitet nach Belieben vom unmittelbar Vorliegenden und Auf-
fallenden zum Verborgenen und schwerer Auffindbaren fort. Ge-
rade gewisse motorische Äusserungen sind es daher, die zumeist
den Ausgangspunkt für die Untersuchung zu bilden pflegen.
Aus der Körperhaltung, den Ausdrucksbewegungen, den Ge-
sichtszügen können in der Regel schon von vornherein einige
Aufschlüsse über das Verhalten der Aufmerksamkeit (Teil-
nahmlosigkeit, Interesse, Neugier) und die Stimmung des
Kranken gewonnen werden (Ausgelassenheit, Zufriedenheit, Angst,
Verzweiflung, Ruhe oder Stumpfheit). Durch einige einfache
Fragen über Namen, Alter, Vorleben wird weiterhin festgestellt,
*) Koppen, Archiv f. Psychiatrie, XX, 3; Schäfer, Monatsschr. f.
Psych. n. Neurol., II, 157.
**) Sommer, Lehrbuch der psychopathologischen Untersuchungs-
methoden. 1899.
350
IV. Die Erkennung des Irreseins.
ob das Bewusstsein getrübt oder klar, ob die Besonnenheit,
die Fähigkeit der Auffassung und unmittelbaren Verwertung von
Sinneseindrücken, erhalten ist. Zugleich wird sich dabei auch
ein annäherndes Urteil über die Schnelligkeit des Vorstellungs-
verlaufes sowie über das Gedächtnis für die frühere Ver-
gangenheit ergeben. Im Fortgange unserer Unterhaltung werden
wir festzustellen suchen, ob die Erinnerung an die jüngste Zeit,
die Orientierung über Zeit und augenblickliche Umgebung
(Aufenthaltsort wie Personen) und ob Krankheitsbewusst-
sein oder gar Einsicht vorhanden ist; wir gewinnen dabei die
Aufklärung, ob wir es mit einem geordneten oder mit einem ideen-
flüchtigen, zerfahrenen, deliriösen, verwirrten, umständlichen,
einförmigen Gedankengange zu tun haben. Inzwischen wer-
den sich zumeist schon allerlei weitere Anhaltspunkte für die
Beurteilung der übrigen psychischen Leistungen ergeben haben,
die uns als Wegweiser für die Auffindung weniger unmittelbar
zu Tage tretender Störungen dienen können.
Nicht ganz leicht ist es bisweilen, über das Bestehen von
Sinnestäuschungen ins klare zu kommen. Die einfache
Frage über diesen Punkt wird uns vielfach nicht zum Ziele
führen, sei es, dass sich dem Kranken die Trugwahrnehmungen
unterschiedslos der sonstigen Sinneserfahrung einordnen, sei es,
dass er aus irgendwelchen Gründen über dieselben eine miss-
trauische Zurückhaltung bewahrt. Gleichwohl pflegen die Be-
zeichnungen „Stimmen“ und „Bilder“ vom Hallucinanten in der
Kegel sofort auf seine Täuschungen bezogen zu werden. Bisweilen
sind die Trugwahrnehmungen trotz alles Ableugnens des Kranken
mit ziemlicher Sicherheit aus seinem Benehmen zu erschliessen,
aus der horchenden Stellung, in der er längere Zeit verharrt,
grundlosem Auffahren oder Lachen, lauten Selbstgesprächen,
plötzlicher Gereiztheit und dergl. Umgekehrt ist aber die Ge-
fahr recht gross, zu der Annahme von Sinnestäuschungen zu
kommen, wo es sich nur um eigentümlich aufgefasste und wieder-
gegebene wirkliche Wahrnehmungen handelt. Die Erfahrung hat
mir gezeigt, dass Vorsicht in dieser Beziehung sehr am Platze ist.
Auch die Erkennung von Wahnideen ist nicht immer ganz
leicht. Bisweilen treten dieselben bei der V ersetzung in eine
neue Umgebung zeitweise in den Hintergrund. Eine ganze Zahl
Zustandsuntersuchung.
351
von Kranken pflegt ferner ihre Wahnideen, namentlich im Be-
ginne der Erkrankung und vor Fremden, sehr sorgfältig geheim
zu halten und jedem Versuche tieferen Eindringens auszuweichen,
bis irgend ein Punkt getroffen wird, der sie in Erregung versetzt,
oder bis es gelingt, durch allerlei verfängliche Fragen eine An-
knüpfung zu finden, mit Hilfe deren sich anscheinend absichtslos
das ganze zusammenhängende Netz krankhafter Vorstellungen
entwickeln lässt. Nicht zu selten leitet auch hier schon das
äussere Benehmen des Kranken auf die Spur. Scheues, miss-
trauisches Wesen wird uns geheime Feinde und Verfolgungen,
schroffes Zurückweisen der Nahrung Vergiftungsideen vermuten
lassen; eine gewisse gespreizte Selbstgefälligkeit, die sich bis-
weilen schon in der Tracht ausspricht, deutet auf Grössenideen,
während häufiges Knieen, Händefalten, weinerlich verzagter Ge-
sichtsausdruck das Bestehen von Versündigungswahn mit reli-
giöser. Färbung wahrscheinlich macht u. s. f. Trotz aller Mannig-
faltigkeit im einzelnen pflegen dabei die Grundzüge solcher Wahn-
bildungen doch vielfach eine so weitgehende Übereinstimmung
miteinander aufzuweisen, dass ein erfahrener Beobachter auf
Grund seiner aus Äusserlichkeiten gezogenen Schlüsse dem ver-
blüfften Kranken öfters mit überraschender Schnelligkeit das
Zugeständnis seiner krankhaften Ideen zu entwinden vermag.
Ganz besondere Schwierigkeiten aber können dann erwachsen,
wenn der Inhalt der Wahnideen nicht ohne weiteres, sondern nur
auf Grund einer genaueren Kenntnis aller Verhältnisse als krank-
haft erkennbar ist, z. B. beim Wahne rechtlicher Benachteiligung,
ehelicher Untreue. Hier kann vielfach das Urteil erst nach
längerer Beobachtung und auch dann bisweilen nur mit grösster
Zurückhaltung abgegeben werden. Zudem pflegen gerade diese
Kranken sehr geschickt ihre Wahnideen zu verbergen oder schein-
bar vollkommen zutreffend zu begründen. Andererseits kann die
Erkennung bestimmter Wahnideen auch dadurch erschwert wer-
den, dass der Kranke benommen, verwirrt, ängstlich und dadurch
ausser stände ist, seine Gedanken zusammenhängend zu äussern.
Hier können Monate vergehen, bevor sich einigermassen klar er-
kennen lässt, welche Vorgänge sich in seinem Bewusstsein ab-
spielen. Wir sind bei dieser Beurteilung ganz auf die nicht immer
zuverlässige Deutung jener unwillkürlichen Äusserungen an-
352
IV. Die Erkennung des Irreseins.
gewiesen, in denen sich die Seelenzustände nach aussen kund-
geben.
Die Untersuchung auf das Bestehen von Wahnideen bietet
gleichzeitig Gelegenheit, in den Zustand der Verstandes-
tätigkeit und des Gedächtnisses überhaupt einige Ein-
blicke zu gewinnen. Das urteilslose Festhalten an widerspruchs-
vollen Vorstellungen ohne gleichzeitige Bewusstseinstrübung oder
gemütliche Erregung, ferner die Vermischung von Erinnerungen
mit erfundenen Einzelheiten werden in dieser Richtung zu ver-
werten sein. Im übrigen müssen uns hier die Regeln der alltäg-
lichen Menschenkenntnis darüber belehren, wie die allgemeine
geistige Veranlagung und Leistungsfähigkeit des Kranken be-
schaffen ist. Unter Berücksichtigung seiner Vergangenheit,
seiner Erziehung und Bildungsmittel werden wir im Gespräche un-
gefähr den Umfang seiner Kenntnisse, seines Gesichtskreises, sei-
ner Neigungen und seiner gegenwärtigen Urteilsfähigkeit zu er-
messen haben. Natürlich kann der so erreichte allgemeine Über-
blick die Gewinnung brauchbarer Gruppen und Abstufungen immer
nur in den allergröbsten Umrissen gestatten. Unter Lmständen
kann die Lösung bestimmter Aufgaben, der Versuch der Beschrei-
bung eines bis dahin unbekannten Gegenstandes, die mündliche
oder schriftliche Schilderung und Beurteilung der neuen Eindrücke
in der Anstalt, die Ausdauer bei einer bestimmten geistigen
Beschäftigung zur Krankenuntersuchung mit herangezogen
werden.
Leider stösst eine tieferdringende Prüfung der ^ erstandes-
leistungen unserer Kranken zur Zeit noch auf Schwierigkeiten, die
im Hinblick auf die Vielseitigkeit der Frage sowie auf den weit-
reichenden Einfluss der Erziehung und Bildung kaum überwindlich
erscheinen. Einen wesentlichen Fortschritt unseres psychischen
Untersuchungsverfahrens bedeuten jedoch die von verschiedenen
Forschern unternommenen Versuche, die geistigen Leistungen
unserer Kranken auf bestimmten Gebieten planmässig und unter
einheitlichen Gesichtspunkten aufzuzeichnen. Sommer vor allen
ist bemüht gewesen, diese Prüfungen zu vervollkommnen. Er hat
dabei besonderen Wert auf die „Gleichheit der Reize“ gelegt,
indem er eine beschränkte Zahl von Aufgaben den verschiedensten
Kranken vorführte und andererseits dies Verfahren bei denselben
Zustandsuntersuchung.
353
Kranken zu verschiedenen Zeiten wiederholte. Diesem Zwecke
dienten vorgedruckte Fragebogen mit verschiedenartigem In-
halte.*) Einmal kam es ihm darauf an, Auskunft über die „Orien-
tierung“ der Kranken zu erhalten; die Fragen beziehen sich
demnach auf Namen, Heimat, Alter, Zeit und Ort, Personen der
Umgebung, zeitliche Ordnung der letzten Erlebnisse; angeschlos-
sen werden einige Fragen über Stimmung, Krankheitsgefühl,
Sinnestäuschungen und Wahnvorstellungen. Ähnliche Fragebogen
behandeln die Schulkenntnisse und die Rechenfertigkeit; endlich
hat Sommer noch einige Gruppen von Reizworten für die Aus-
lösung von Associationen nach verschiedenen Gesichtspunkten zu-
sammengestellt. Die grossen Vorzüge dieses bereits in mehreren
grösseren Versuchsreihen angewendeten Fragebogenverfahrens
liegen in der Vergleichbarkeit der Ergebnisse. So manche kli-
nische Eigentümlichkeiten der einzelnen Krankheitsformen ge-
winnen dadurch greifbare Gestalt; namentlich aber lässt sich unter
Umständen sehr deutlich der Verlauf der Krankheit mit seinen
Verschlimmerungen, Besserungen oder periodischen Schwankungen
verfolgen.
Einen etwas anderen Weg hat Möller**) eingeschlagen.
Ihm kam es hauptsächlich auf die Untersuchung Schwachsinniger
an, bei denen er einmal den Umfang des gedächtnismässig fest-
gehaltenen Vorstellungsschatzes, sodann aber die Fähigkeit zu
geistiger Verarbeitung prüfen wollte. Für den ersten Zweck
entwarf er ebenfalls Fragebogen, die indessen jedem einzelnen
Falle angepasst und demgemäss sehr umfangreich waren. In
ihnen wurden die besonderen Lebensverhältnisse des Einzelnen,
der Lernstoff der von ihm besuchten Schulklassen, die Erwerbs-
und Berufstätigkeit eingehend berücksichtigt. Dadurch ist der
Einblick in den Gedächtnisstoff ungleich vollständiger geworden,
die Vergleichung verschiedener Personen aber sehr erschwert.
Als Massstab für die Verstandesfähigkeit benutzte Möller die
„Fabelmethode“, das heisst, er erzählte seinen Kranken einfache
Fabeln von abgestufter Schwierigkeit und forderte die Ableitung
*) Zu beziehen von der Brühl sehen Universitätsdruckerei in Giessen.
**) Möller, Über Intelligenzprüfungen, ein Beitrag zur Diagnostik des
Schwachsinns. Diss. 1897; Archiv f. Psychiatrie, XXXIV, 284.
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl.
23
354
IV. Die Erkennung des Irreseins.
der Nutzanwendung aus denselben, die Auffindung einer passen-
den Überschrift und womöglich die Angabe eines Sprichwortes
mit ähnlicher Lehre. Ohne Zweifel ist dieses Verfahren geeignet,
eine gute Vorstellung von dem Urteile und Schlussvermögen zu
liefern, doch stösst auch hier der Vergleich auf erhebliche Schwie-
rigkeiten.
Auch das Bedürfnis, die Erscheinungen der Aphasie und
verwandter Störungen genauer zu zergliedern, hat vielfach zur
Aufstellung bestimmter Untersuchungspläne geführt. Vorbild-
lich ist hier die Aufnahme des geistigen Besitzstandes durch
R i e g e r *) gewesen, der bei einem Kranken mit schwerei
Hirnverletzung auf das sorgfältigste den Umfang des V orstellungs-
schatzes und der Verstandesleistungen bestimmte. Ist die von
ihm durchgeführte Prüfung auch zunächst für die Aufdeckung
der durch gröbere Hirnerkrankungen bedingten Lücken geeignet,
so wird sie sich doch ohne Zweifel auch auf eine Reihe von
anderen Formen geistiger Störung, namentlich von Schwächezu-
ständen, übertragen lassen. Dabei wird sich voraussichtlich all-
mählich das besonders Wichtige von dem weniger Bedeutsamen
abscheiden und damit das jetzt noch ungemein mühsame und zeit-
raubende Verfahren praktisch verwendbarer werden.
Als äusserst unvollkommen muss unsere ärztliche Prüfung
der Gefühle, Gemütsbewegungen und Strebungen
bezeichnet werden. Was wir bei der einmaligen Untersuchung
auf diesen Gebieten überhaupt zu erkennen vermögen, zeigt sich
meist bereits bei der äusseren Betrachtung, in den Ausdrucksbewe-
gungen. In ihnen offenbaren sich die gehobene Stimmung, der Be-
tätigungsdrang und die Redelust der manischen, die Unruhe und
Angst der deliriösen oder melancholischen, der Bewegungsdrang,
die Manieren und Stereotypien der katatonischen, die Empfind-
lichkeit und Unstetigkeit der hysterischen Kranken. Auch über
die Herabsetzung oder Steigerung der psychomotorischen Erreg-
barkeit, die Hemmung, die Sperrung und Entgleisung des Willens
werden sich bei der Beobachtung der Kranken allmählich mein
*) Rieger, Beschreibung der Intelligenzstörungen infolge einer Hirn-
verletzung, nebst einem Entwurf zu einer allgemein anwendbaren Methode der
Intelligenzprüfung. 1889.
Zustandsuntersuchung.
355
oder weniger klare Aufschlüsse gewinnen lassen. Bei dem Ver-
suche körperlicher oder psychischer Einwirkung zeigt sich die
wächserne Biegsamkeit, der Negativismus, das ängstliche Wider-
streben, die Unlenksamkeit, der Eigensinn, die Bestimmbarkeit.
Über diese Erfahrungen hinaus sind wir wesentlich auf die nicht
immer ganz zuverlässigen Selbstschilderungen angewiesen, die
uns von dem Zustande des eigenen Innern entworfen werden.
Natürlich vermag uns aber der Verlauf der Untersuchung über
die grössere oder geringere gemütliche Reizbarkeit, über Gleich-
mässigkeit oder häufigen Wechsel der Stimmung, endlich über
auffallende Gefühlsäusserungen nach bestimmten Richtungen
hin, grundlosen Hass, religiöse Schwärmerei, überschwängliches
Glücksgefühl, Gleichgültigkeit, Stumpfheit mannigfache gewich-
tige Aufschlüsse zu liefern. Auf etwa vorhandene krankhafte
Neigungen, Selbstmorddrang, gesteigerte geschlechtliche Begierde,
Sucht zu kaufen, zu trinken, werden wir ebenfalls bei unserer
Prüfung Rücksicht nehmen müssen. Was sich aber hier nicht
schon unwillkürlich in dem gesamten Benehmen verrät, werden
wir häufig genug durch Ausfragen der Kranken auch nicht er-
fahren; wir müssen daher zur Vervollständigung unseres Bildes
nach dieser Richtung hin die Berichte der Umgebung mit zu
Hilfe nehmen.
Es wird kaum in Abrede gestellt werden können, dass für
die wissenschaftliche Betrachtung und auch im Vergleiche mit
anderen medizinischen Gebieten das Verfahren, nach dem wir
den Seelenzustand unserer Kranken feststellen, ein recht rohes
genannt werden muss; es hat fast mehr Ähnlichkeit mit dem
Vorgehen des Untersuchungsrichters, als mit einer naturwissen-
schaftlichen Erforschung. Leider ist es weniger schwer, diesen
Mangel zu erkennen, als ihm abzuhelfen. Nicht nur setzt das
Gebiet der psychischen Vorgänge an sich der Einführung wirk-
lich zuverlässiger Beobachtungshilfsmittel den grössten Wider-
stand entgegen, der nur allmählich überwunden werden kann,
sondern es ist auch nur allzu häufig gar nicht möglich, einen
Geisteskranken der Reihe nach planmässig allen den Prüfungen
zu unterwerfen, die man etwa für wünschenswert erachtet. Oft
genug ist unsere Versuchsperson eine widerwillige, unzugäng-
liche oder fast unverständliche, so dass selbst eine ungefähre
23*
356
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Erkenntnis derselben nur durch sehr grosse Geduld, ein fein-
fühliges Geschick und eine genaue Vertrautheit mit allen den
mannigfachen Erscheinungsformen erreicht werden kann, in
denen sich krankhafte Vorgänge zu offenbaren pflegen. Die mit
den gewöhnlichen Hilfsmitteln erreichbaren Ergebnisse leiden
alle an dem wesentlichen Nachteile, dass die erhobenen Befunde
vieldeutig sind und dass sie keine zuverlässigen Massbestim-
mungen gestatten. Die untersuchten Leistungen sind schon za
verwickelte, und die festgestellten einzelnen Abweichungen sind
so verschiedenartig, dass eine einfache zahlenmässige ^ erwer-
tuug unmöglich wird. Es drängt sich unter diesen Umständen
ganz von selbst die Forderung auf, diejenigen Verfahren für
die psychiatrische Untersuchung nutzbar zu machen, die \ on
der Psychologie zur feineren Zergliederung der Seelenvorgänge
und zur Gewinnung genauer, vergleichbarer Zahlenworte aus-
gebildet worden sind. Allerdings wird sich aus naheliegenden
Gründen die Durchführung zuverlässiger psychologischer Ver-
suchsreihen bei Geisteskranken nur in beschränkterem Umfange
ermöglichen lassen. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen
will ich es nicht unterlassen, hier, wenn auch nur in kurzen
Andeutungen, auf einige der Wege hinzuweisen, die uns in ab-
sehbarer Zeit voraussichtlich gestatten werden, wenigstens bei
manchen chronischer verlaufenden Formen des Irreseins Mes-
sung und Zählung psychischer Grössen zur Gewinnung eines
tieferen Einblickes in die Aid der Störungen zu verwerten. Alle
diese Wege sind bereits betreten und praktisch erprobt worden*).
Als Gang für eine feinere psychische Untersuchung würde
sich im allgemeinen die Verfolgung jener Bahn empfehlen,
welche unsere gesamte Erfahrung gegangen ist. Zuerst wären
somit der Wahrnehmungsvorgang, das Gedächtnis, dann die er-
bindungen der Vorstellungen, Urteile und Schlüsse, das Selbst-
bewusstsein, kurz die Verstandestätigkeit, endlich die niederen
und höheren Gefühle, die Stimmung, die Gemütsbewegungen und
deren Umsetzung in unwillkürliches und willkürliches Handeln
*) Vergl. Kraepelin, Der psychologische Versuch in der Psychiatrie,
Psychologische Arbeiten, 1, 1, 1895. Eine Reihe von weiteren Arbeiten über diese
Fragen enthalten die folgenden Hefte; vgl. Weygandt, Centralbl. f. Psych.
XXVI, 1, 29, 1903.
Zustandsuntersuchung.
357
zu berücksichtigen. Von allen diesen Abschnitten sind es nur
einige wenige, welche für jetzt einer genaueren Prüfung bei
Geisteskranken zugänglich erscheinen; sie liegen fast sämtlich
auf dem Gebiete der Verstandesleistungen.
Für die Lösung der hier gestellten Aufgaben wird es not-
wendig sein, vor allem die Untersuchung so zu gestalten, dass
sie mit möglichst einfachen Hilfsmitteln durchgeführt werden
kann, und dass sie recht geringe Anforderungen an die Mit-
wirkung der Versuchsperson stellt. Die Vereinigung dieser Be-
dingungen mit dem Streben nach genauen, zahlenmässigen Ergeb-
nissen erscheint fast unmöglich, doch lässt sich ein grosser Teil
der entgegenstehenden Schwierigkeiten sicherlich überwinden.
Für manche Zwecke freilich vermögen wir heute die Anwen-
dung feinerer und schwieriger zu handhabender Werkzeuge noch
nicht zu entbehren; ebensowenig wird man erwarten können,
dass sich alle oder doch viele Geisteskranke zu eindringenderen
Untersuchungen ihres Seelenlebens werden heranziehen lassen.
Immerhin kann man auch so eine Fülle von neuen Tatsachen ge-
winnen, deren Kenntnis weiterhin auch dort das Verständnis
erleichtern wird, wo die unmittelbare Untersuchung nicht durch-
führbar erscheint.
Die nächstliegende geistige Leistung, mit welcher wir
uns zu beschäftigen hätten, ist die Auffassung äusse-
rer Eindrücke. Zur Prüfung dieses Vorganges haben
wir uns mit gutem Erfolge grosser, mit Wörtern oder
sinnlosen Silben beklebter Trommeln bedient, die sich mit
gleichmässiger Geschwindigkeit vor einem engen Spalte um
ihre Axe drehten. Bei einer bestimmten Drehungsgeschwin-
digkeit ist man gerade noch imstande, durch den Spalt eine
Anzahl der vorüberziehenden Eindrücke zu erkennen, während
bei längerer Dauer der Leseübung die einzelnen Wörter all-
mählich verschwimmen oder falsch aufgefasst werden. Man kann
demnach auf diese Weise nicht nur ein Mass für die Auffassungs-
geschwindigkeit finden, sondern namentlich auch einen Einblick
in die Art der begangenen Fehler gewinnen. Die Erfahrung hat
gezeigt, dass gerade diese letzteren uns vielfache Aufschlüsse
geben, über die Grösse des inneren Blickfeldes, über die Zuver-
lässigkeit der Auffassung, die Neigung zu willkürlicher Er-
358
IV. Die Erkennung des Irreseins.
gänzung und zu kritischer Sichtung der Wahrnehmungen, über
die Rolle der Gesichtsbilder und der Bewegungsempfindungen in
den Sprachvorstellungen. luch die Verhältnisse der Übung
und Ermüdung auf dem Gebiete der Wahrnehmung können nach
dem angegebenen Verfahren festgestellt werden.
Einen ähnlichen Weg hat Ranschburg*) eingeschlagen,
der strahlenförmig mit Reizen verschiedener Art bedruckte
Scheiben in bestimmbarem Zeitmasse hinter einer mit Aus-
schnitt versehenen Platte sich drehen liess; die ruckende Be-
wegung konnte durch die Schläge eines Metronoms geregelt und
abgeändert werden; ein elektrischer Strom gestattete, da.-? Merk
nach Belieben in Gang zu setzen und anzuhalten. Die ganze
Einrichtung eignet sich vortrefflich zur Ausführung von Auf-
fassungs- und Einprägungsversuchen, bei denen Umfang und
Zuverlässigkeit dieser Leistungen festgestellt werden kann.
Auch Zeitmessungen lassen sich leicht mit diesen Prüfungen
verbinden.
Zu Zwecken der Untersuchung am Krankenbette haben wir
in den letzten Jahren eine Platte mit veränderlichem Spalte be-
nutzt, die mit Hilfe einer Feder vor den Gesichtsreizen (Zahlen,
Buchstabengruppen, Silben, Wörter, Bilder) vorbeigeschnellt
wurde. Die Anzahl der erkannten Reize gibt ein Mass für die
Auffassungsfähigkeit; die Fehler sind in ähnlicher M eise zu ver-
werten wie bei den früher angeführten Verfahren. Noch ein-
facher sind die von Bonhöffer bei Deliranten benutzten
Hilfsmittel, die sich an die gewöhnliche neurologische Unter-
suchung anlehnen, Prüfung der Berührungs- und Schmerzempfind-
lichkeit mit Hilfe von Nadeln, des Gehörs durch Flüsterstimme,
des Gesichts durch Schriftproben und Perimeter, der Farbenwahr-
nehmung durch Wollproben und gefärbte Quadrate, des Orts-
sinnes der Haut mit dem Zirkel. Das Vorlegen von einfachen
und verwickelteren Bildern gewährt Einblick in die weitere
geistige Verarbeitung der Wahrnehmungen und deckt unter Um-
ständen auch das Vorkommen von illusionären orgängen auf.
Bei schweren Auffassungsstörungen kann das Erkennen der Zahl
rasch vorgehaltener Finger, die Zählung schnell aufeinander
*) Monatsschrift für Psychiatrie, X, 321, 1901.
Zustandsuutersuchung.
359
folgender Klopfgeräusche als Aufgabe für den Kranken gewählt
werden.
Ein anderer Weg zur Untersuchung des Wahrnehmungsvor-
ganges ist uns in den sogenannten psychischen Zeitmes-
sungen gegeben. Das Verfahren bei solchen Messungen, für
die das Hipp sehe Chronoskop ein unvergleichlich bequemes
und zuverlässiges Hilfsmittel darstellt, ist nach den verschie-
densten Richtungen hin auf das sorgfältigste durchgearbeitet,
so dass sie in der Hand des Erfahrenen eine sehr wertvolle
Bereicherung unseres wissenschaftlichen Rüstzeuges bilden.
Leider sind allerdings viele der bisher veröffentlichten Ver-
suche an Geisteskranken wegen mangelhafter Anordnung voll-
kommen wertlos. Dagegen haben mir zahllose bei uns ausgeführte
Messungen gezeigt, dass sich auch bei Geisteskranken ohne
nennenswerte Schwierigkeit auf diesem Wege wichtige Ergebnisse
erzielen lassen. Man kann so z. B. die Auffassungszeit für zu-
gerufene oder gelesene Worte und Buchstaben bestimmen.
Auch bei diesem Verfahren stellt sich ausser der Verlängerung
oder Verkürzung der Zeiten das Auftreten von Wahrnehmungs-
verfälschungen heraus, die geeignet sind, ein besonderes Licht
auf den Ablauf des gemessenen Vorganges zu werfen.
Bei allen Auffassungsversuchen wird das Ergebnis sehr
wesentlich durch das V erhalten der Aufmerksamkeit be-
einflusst. Die Schwankungen der gewonnenen Werte geben
daher auch ein gewisses Mass für die grössere oder geringere
Gleichmässigkeit der Aufmerksamkeitsspannung. Genauer lassen
sich dieselben bei fortlaufender geistiger Arbeit (Addieren) mit
Hilfe einer kleinen Schreibfeder verfolgen, die beim Unter-
streichen jeder addierten Zahl einen elektrischen Strom
schliesst und auf diese Weise die Dauer jeder einzelnen Rech-
nung aufzuzeichnen gestattet. Wir erhalten so ein genaues
Bild von den Schwankungen in der Rechengeschwindigkeit, na-
mentlich auch, wie sich herausgestellt hat, von dem Einflüsse,
den das Eingreifen des Willens auf die Lösung der Aufgabe
ausübt. Für gröbere Prüfungen hat sich ebenfalls das fort-
laufende Addieren oder Subtrahieren derselben Zahl zweck-
mässig erwiesen. Lässt man z. B. von 100 fortlaufend 7 ab-
ziehen, so gewähren die Schwankungen in der Geschwindigkeit
360
IV. Die Erkennung des Irreseins.
und besonders die Entgleisungen ein gutes Bild von der Stetig-
keit der Aufmerksamkeitsspannung. Durch willkürlich hinein-
getragene Störungen kann man zugleich ein Urteil über die
äussere Ablenkbarkeit gewinnen.
Die Untersuchung des Gedächtnisses hat sich einmal
auf die Festigkeit zu erstrecken, mit welcher früher erworbene
Vorstellungen in unserem Innern haften, dann aber auf die
Fähigkeit, jetzt noch neue Vorstellungen aufzunehmen und auf-
zubewahren. Auf Störungen in der ersteren Richtung pflegen
wir gewöhnlich zu fahnden durch die Frage nach gewissen, als
selbstverständlich vorausgesetzten Kenntnissen, seien es persön-
liche Erlebnisse, seien es anderweitig erlernte Vorstellungs-
reihen, namentlich die Rechnungsarten. Man kann hier durch
reihenartig fortlaufende, planmässige Rechenversuche ein Mass
für die Leichtigkeit gewinnen, mit welcher der Kranke noch
über die in der Kindheit erlernten einfachen Zahlenverbindungen
verfügt. Ich bediene mich seit vielen Jahren zu diesem Zwecke
des fortlaufenden Addierens einstelliger Zahlen in besonders
dazu gedruckten Heften. In regelmässigen kürzeren Pausen
wird auf ein Glockenzeichen durch einen Strich das bis dahin
Gearbeitete abgegrenzt, so dass die Grösse der Leistung in den
einzelnen Zeitabschnitten unmittelbar aus der Menge der addierten
Zahlen erkannt werden kann. Am Krankenbette wird man kür-
zere derartige Reihen, z. B. das fortlaufende Addieren oder Sub-
trahieren von 3, 7, 12, ausführen lassen und die Zeiten mit einer
Sportuhr messen können.
Auf ganz ähnliche Weise lässt sich die augenblickliche Auf-
nahmefähigkeit des Gedächtnisses, die „Merkfähigkeit“,
durch Auswendiglernen langer Zahlen- oder sinnloser Silben-
reihen ohne erhebliche Schwierigkeit prüfen. Dabei ergibt sich,
dass verschiedene Personen die zu lernenden Reihen mit per-
sönlich bestimmter, aber sehr verschiedener Geschwindigkeit
auf sagen. Wahrscheinlich handelt es sich hier um Abweichungen
in der Art des Lernens. Berücksichtigt man, dass sich beim
Lernen einer Zahlenreihe die Auffassung des Sinneseindruckes
mit dem Aussprechen der Bezeichnungen verbindet, so liegt die
noch durch allerlei andere Beobachtungen gestützte Annahme
nahe, dass sich bei langsamem Hersagen die Aufmerksamkeit
Zustandsuntersuchung.
361
vorzugsweise auf die sinnlichen und associativen, bei schnellem
Hersagen dagegen besonders auf die motorischen Bestandteile
der Gesamtvorstellung richtet. Erstere werden bei langsamer
Einprägung, letztere bei häufiger Wiederholung besser in
unserem Gedächtnisse befestigt. Die Geschwindigkeit des Her-
sagens gestattet demnach einen Schluss auf die gewohnheits-
mässige Bevorzugung dieser oder jener Seite unserer Vorstel-
lungen, zunächst bei der vorliegenden Arbeitsleistung. Es ist
indessen nicht . unwahrscheinlich, dass diesen Verschiedenheiten
eine weit über das einzelne Gebiet hinausreichende Bedeutung
zukommt.
Versuche über die Merkfähigkeit lassen sich überall in be-
quemer Weise mit solchen über die Auffassungsfähigkeit ver-
knüpfen, indem man zwischen Darbietung des Reizes und Wieder-
gabe desselben beliebig lange Zwischenzeiten einschiebt. Wählt
man diese Zeiten recht kurz und wechselt man mit ihnen in
vielen Abstufungen, so ist es möglich, die Entwicklung des
Wahrnehmungs vor ganges bis zu voller Ausdehnung, dann aber
auch das Verblassen der Bilder und das Auftreten von behler-
vorgängen in allen Einzelheiten zu verfolgen. Wir bedienen uns
für solche Zwecke der bereits erwähnten Spaltplatte, mittelst
deren man die verschiedenartigsten Gesichtseindrücke für kurze
Zeit sichtbar machen kann. Auch der Ranschburg sehe
Apparat und jedes beliebige andere „Tachistoskop“ lässt sich
in gleicher Weise verwerten.
Einfachere und daher für die Untersuchung Geisteskranker
brauchbarere Verfahren zur Prüfung der Merkfähigkeit sind von
anderen Forschern, so von Bonhöffer, in Anwendung ge-
zogen worden. Den Kranken wurde die Aufgabe gestellt, mehr-
stellige vorgesagte Zahlen, Silbenzusammenstellungen, unbe-
kannte Wörter nach einer gewissen Zeit mündlich oder schrift-
lich zu wiederholen, aus einer Anzahl vorgelegter Bilder ein
bestimmtes wiederzuerkennen. Ranschburg *) hat nach ähn-
lichen Grundsätzen einen umfangreichen Versuchsplan zusammen-
gestellt und an Gesunden, Neurasthenischen und Paralytikern
durchgeführt. Bei demselben muss von Wortpaaren, die duich
*) Monatsschrift für Psychiatrie, IX, 241, 1901.
362
IV. Die Erkennung des Irreseins.
den Sinn oder durch den Klang in Verbindung stehen oder ganz
ohne Beziehungen aneinander geknüpft sind, auf Nennung des
Stichwortes das zweite wiedergegeben werden. Ferner hat die
Versuchsperson aus einer Sammlung von Brustbildern diejenigen
herauszusuchen, die ihr vorher gezeigt wurden; sie hat sich dann
auch Namen zu merken, die damit verknüpft werden. Unter
verschiedenen Farbentönen sind früher eingeprägte auszulesen;
aus einer grossen Zahl willkürlich angeordneter Quadrate sind
einzelne zu merken und später wieder aufzufinden; endlich wer-
den Zahlenangaben aus dem Bereiche des täglichen Lebens vor-
gesprochen und abgefragt. Leider haftet derartigen V ersuchs-
plänen, die sich in der mannigfaltigsten Weise anordnen lassen,
immer der grosse Übelstand an, dass die Zahl der gleichartigen
Versuche sehr klein und daher zufälligen Störungen in erheb-
lichem Grade ausgesetzt ist, dass aber eine Zusammenrechnung
der verschiedenen Versuchsformen, wie sie Ranschburg vor-
genommen hat, kaum zulässig erscheint. Dennoch tritt übrigens
in seinen Zahlen die Abnahme der Merkfähigkeit, namentlich für
Wortverbindungen, bei Neurasthenischen deutlich hervor, ebenso
die schwere Beeinträchtigung des Umfanges wie der Sicherheit
der Einprägung bei seinen Paralytikern, besonders auf dem Ge-
biete des Wort- und Namengedächtnisses wie der räumlichen
Orientierung.
Die Prüfung der Vorstellungsverbindungen *) lässt
sich nach sehr verschiedenen Richtungen hin ausdehnen. Zu-
nächst wird es möglich sein, die Geschwindigkeit zu messen, mit
welcher sich die einzelnen Glieder aneinander knüpfen. Ein sehr
annäherndes Urteil über diesen Punkt Hesse sich allenfalls schon
aus den oben erwähnten Rechenversuchen gewinnen. Genauere
Aufschlüsse aber, auch über die grossen A erschiedenheiten je
nach der Art der Verbindung, liefert uns die Messung mit Hilfe
des Chronoskopes. Eigenartige Ergebnisse erhält man ferner,
wie mir umfangreiche Versuchsreihen gezeigt haben, bei der
Untersuchung der Associationszeiten unter planmässiger Wie-
*) Aschaffenburg, Psychologische Arbeiten, I, 209; II, 1; IV, 235;
Van Erp Taalman Kip, Psychiatr. en neurolog. Bladen, 1899, 634 ;
1903, 1.
Zustandauntersuchung.
363
derholung derselben Versuche mit denselben Reizworten. Na-
mentlich der Einfluss der Übung auf die Schnelligkeit und Festig-
keit der Vorstellungsverbindungen lässt sich dabei sehr gut ver-
folgen. Allein auch ohne Zeitmessungen sind Associationsver-
suche nicht nur von mannigfachem Interesse, sondern auch un-
gemein leicht ausführbar. Indem man einfach irgend ein Wort
ausspricht und die erste daraufhin im Kranken auftauchende Vor-
stellung niederschreibt, kann man in kurzer Zeit die Unterlagen
für eine Statistik der Associationen sammeln, die Aufschlüsse
liefert über das gewohnheitsmässige Verhältnis der inneren zu
den äusseren Vorstellungsverbindungen, die Häufigkeit der ein-
gelernten, der Klangassociationen und der „Fehlassociationen ,
die in gar keiner Beziehung zu der A_rt des Reizwoites mehi
stehen. Auch auf diese Weise lassen sich Werte für die Festig-
keit der einzelnen Associationsgruppen gewinnen. Als Mass für
dieselbe habe ich das Verhältnis der bei einer Wiederholung neu
auftretenden Associationen zur Gesamtzahl der Versuche
benutzt.
Weiterhin kann man der Versuchsperson die Aufgabe stellen,
eine bestimmte Zeitlang die in ihr auftauchenden Vorstellungen
mit oder ohne Anknüpfung an ein gegebenes Ausgangswort nie-
derzuschreiben. Hier erhält man einen Durchschnittswert für
die Geschwindigkeit der Vorstellungsbildung, die regelmässig ge-
ringer ist, als diejenige des Schreibens. Dann aber lässt sich
auf diese Weise ein Urteil über die Neigung zu einzelnen Arten
der Vorstellungsverbindungen gewinnen, namentlich zu den
psychiatrisch so wichtigen sinnlosen und Klangassociationen.
Endlich aber ergibt sich bei diesem Verfahren ein Urteil über
die Einheitlichkeit oder Zerfahrenheit des Gedankenganges, über
die Reichhaltigkeit des Vorstellungsschatzes, die Neigung zu
sprunghaftem Abbrechen, zu zähem Festhalten oder zu bestän-
digem Wiederholen.
Beschränkt man der Versuchsperson die Auswahl der nie-
derzuschreibenden Worte auf bestimmte Gruppen, etwa solche
Gegenstände, die durch das Auge, durch das Ohr wahrnehmbar
sind, die Lust oder Unlust erregen, allgemeine Begriffe u. s. f.,
so ist man imstande, aus den Leistungen einer gegebenen Zeit
Schlüsse auf die grössere oder geringere Bereitschaft aller der
364
IV. Die Erkennung des Irreseins.
genannten Vorstellungsgruppen und damit auf die Gestaltung
des Vorstellungsschatzes überhaupt zu ziehen. Wie mir Ver-
suche gezeigt haben, lassen sich diese Ergebnisse nach verschie-
denen Richtungen hin verwerten. Schwierigere associative
Leistungen, die Bildung von Urteilen und Schlüssen, kann man in
ganz ähnlicher Weise untersuchen, hinsichtlich ihrer Richtigkeit,
ihrer Schnelligkeit, ihrer Festigkeit.
Zur Untersuchung der Auslösung von Willensantrie-
ben steht uns zunächst die Messung der Wahlzeiten zu Gebote.
Wenn man die Aufgabe stellt, dass auf einen Reiz durch eine
Bewegung mit der rechten Hand geantwortet werden soll, auf
einen andern dagegen mit der linken, so enthält dieser \ or-
gang ausser der Unterscheidung zwischen den beiden Reizen noch
denjenigen der Wahl zwischen zwei Bewegungen. Wie die Er-
fahrung gelehrt hat, besitzen wir in diesen „Wahlreaktionen“
ein sehr wertvolles Mittel zum Nachweise solcher Erregungs-
zustände im Gehirn, welche mit einer Erleichterung der Aus-
lösung von Willensbewegungen einhergehen. In diesem Falle
nämlich erfolgt sehr leicht die verlangte Bewegung, bevor der
Reiz noch recht aufgefasst, bisweilen sogar, bevor er über-
haupt erzeugt wurde. Dabei wird die ausgelöste Bewegung na-
türlich vielfach unrichtig ausf allen: es kommt zur Entstehung
von „Fehlreaktionen“, deren Zahl ein gutes Mass für den Grad
der Bewegungserleichterung abgibt. Weitere Aufschlüsse über
den gleichen Punkt erhalten wir durch Prüfung der Lese-,
Schreibe- oder Sprechgeschwindigkeit, die man nach einem ähn-
lichen Verfahren feststellen kann wie die Schnelligkeit des
Rechnens, durch Lösung fortlaufender, sich reihenweise aneinan-
der schliessender, gleichartiger Aufgaben.
Für die Untersuchung der Schrift habe ich seit längerer Zeit
auch die genauere Messung des Schreibweges und der Geschwin-
digkeit einzelner Schriftzüge sowie des in jedem Augenblicke
auf die Unterlage ausgeübten Druckes mit Hilfe einer dafür ge-
bauten „Schriftwage“ herangezogen. Dabei ergeben sich sehr
deutlich die Zeichen der psychomotorischen Erregung und Hem-
mung sowie der Willenssperrung. Die ausserordentliche Feinheit
und Vielseitigkeit dieser Prüfung rechtfertigt die Erwartung, dass
sie uns allmählich einen klaren Einblick in die Beeinflussung
Zustandsuntersuchung.
365
der Schrift durch Gemütsbewegungen und Willensantriebe er-
möglichen wird. Leider macht aber die Empfindlichkeit des
Verfahrens die Messung der einzelnen Grössen sehr mühsam
und zeitraubend.
Eine vielseitige Verwendung zur Untersuchung von Willensv
.Störungen gestattet ohne Zweifel der von Mosso angegebene
Ergograph, der allerdings gewisser Verbesserungen bedarf,
um für unsere Zwecke verwertbar zu sein. Zunächst gibt der
Ergograph Aufschluss über die Kraft, mit der eine Bewegung
.ausgeführt wird, sodann über das raschere oder langsamere Ver-
sagen des Kraftaufwandes, das durch Ermüdung, Hemmung oder
Willenssperrung herbeigeführt werden kann. Versuche in lang-
samem Zeitmasse oder die Wiederholung der Ermüdungskurven
nach verschieden langen Pausen geben uns ein Bild von der Er-
holungsfähigkeit des Willenswerkzeuges. Dabei scheint die Höhe
der einzelnen Ziehungen wesentlich von der Leistungsfähigkeit
des Muskels selbst, die Zahl der Hebungen in der Ermüdungs-
kurve dagegen mehr von dem Zustande des Nervengewebes ab-
hängig zu sein. Dafür spricht wenigstens unter anderem die
Steigerung der Hubhöhen unter dem Einflüsse des Coffeins, die
Vermehrung der Ziehungen durch Alkohol und körperliche Arbeit.
Endlich lässt sich durch die Zergliederung des Anstiegs und Ab-
falles der einzelnen Ziehung noch die Geschwindigkeit messen,
mit der die Verkürzung und Erschlaffung des Muskels unter dem
Einflüsse des Willensantriebes erfolgt.
Schwerere Störungen in der Auslösung von Willensantrieben
lassen sich schon in der Verlangsamung einfacher Bewegungen,
■des Handgebens, Armhebens, mit der Uhr messen; auch das Aus-
sprechen geläufiger Reihen, der Zahlen oder des Alphabets, ist
für diesen Zweck geeignet.
Der Zerlegung von Bewegungen in die drei Richtungen des
Raumes hat Sommer besonders seine Aufmerksamkeit gewid-
met. Er hat Hilfsmittel hergestellt, die es gestatten, die Be-
wegungen des Armes wie des Beines in ihre Richtungsbestandteile
.aufzulösen. Besonders wertvoll hat sich dieses Verfahren bis-
her erwiesen für die Darstellung schneller unwillkürlicher Be-
wegungen, namentlich des Zitterns und Zuckens. Die verschie-
denen Formen des Zitterns können nach Richtung und Geschwin-
366
IV. Die Erkennung des Irreseins.
digkeit genau verfolgt werden; die leichten Änderungen in der
Muskelspannung, die den Ablauf von Seelenvorgängen und ins-
besondere das Auftreten von Gemütsbewegungen begleiten, lassen
sich ohne Schwierigkeit darstellen. Auch für die Unterscheidung
gewisser funktioneller Bewegungsstörungen von solchen, die aul-
gröberen Erkrankungen des Nervengewebes beruhen, verspricht
das So mm er sehe Verfahren brauchbare Anhaltspunkte zu
liefern.
Auch mit der Wiedergabe und Zerlegung von Ausdrucks-
bewegungen hat sich Sommer vielfach beschäftigt. Zur ge-
naueren Erforschung des Gesichtsausdruckes hat er das stereo-
skopische Bild, neuerdings auch die Aufzeichnung der mimischen
Muskelbewegungen herangezogen. Für die Darstellung und Zer-
gliederung der Haltung und der gesamten Körperbewegungen
mag sich neben der Stereoskopie wohl auch die Kinematographie
verwenden lassen, die jedoch, wie ich mich überzeugt habe, für
unsere wissenschaftlichen Zwecke noch verschiedener Vervoll-
kommnungen bedarf. Dasselbe gilt wohl von dem Phonographen,
der allerdings von Sommer nicht nur zur Festhaltung kenn-
zeichnender Äusserungen, sondern auch zur genaueren Er-
forschung sprachlicher Eigentümlichkeiten und Störungen be-
nutzt worden ist.
Aussichtsreich sind endlich noch die Untersuchungen, die
Sommer im Anschlüsse an Rieger über den Ablauf des Knie-
sehnenref lexes angestellt hat. Die Aufzeichnung der Bewe-
gungen, die der ins Gleichgewicht gebrachte Unterschenkel aus-
führt, ergibt eine überraschende Mannigfaltigkeit von V erlaufs-
arten, von denen manche offenbar einen tieferen Zusammenhang
mit bestimmten Krankheitszuständen darbieten. Dahin scheint
besonders die Steigerung und das Nachlassen der dauernden
Spannung, ferner die Vermehrung der Ausschläge bis zum fort-
gesetzten Pendeln zu gehören, die Hornung beim einfachen
Herabfallen des Unterschenkels auch durch Alkoholwirkung
künstlich erzeugen konnte.
Wir haben in dieser Aufzählung die Gemütsbewegungen
ganz beiseite gelassen. In der Tat vermögen wir bisher kaum,
diese Seite unseres Seelenlebens irgendwie der Messung zugäng-
lich zu machen. Allerdings sind wir imstande, künstlich Stirn-
Zustandsuntersuchung.
367
rnungen zu erzeugen. Wir können Unlustregungen durch kör-
perliche Schmerzen und widrige Eindrücke aller Art, ebenso Lust-
gefühle, Heiterkeit, Schreck, Spannung, Zorn auf verschiedene
Weise herbeiführen. Besonders leicht gelingt das in der Hyp-
nose durch Eingebungen. Diese Wege sind vielfach, namentlich
von Lehmann, betreten worden, um die Beeinflussung der
Atmung, der Pulswelle und der Blutfüllung durch Gemüts-
schwankungen zu erforschen. Derartige Versuche haben be-
reits zu einer Reihe von wichtigen Feststellungen geführt, die
nunmehr eine Übertragung des Verfahrens auf krankhafte Ge-
mütszustände nicht mehr aussichtslos erscheinen lassen. Auch
die übrigen Hilfsmittel, die uns ein feineres Verständnis der
Willensäusserungen ermöglichen, der Ergograph, der Som-
m ersehe Zitterapparat, sein „Reflexmultiplikator“, die Schrift-
wage, wären verwendbar, um wenigstens die äusseren Zeichen
gemütlicher Erregungen aufzuzeichnen und zu messen. Inner-
halb gewisser Grenzen würden wir dadurch auch wohl Auf-
schluss über die Stärke und Art der inneren Erschütterungen
erhalten.
Weiterhin aber kann darauf hingewiesen werden, dass ge-
wisse Gifte ausgeprägte Stimmungen erzeugen, die vielleicht mit
deren messbaren Wirkungen auf das Seelenleben in irgend einer
Beziehung stehen. So haben wir früher gesehen, dass bei der
Alkoholwirkung etwa die Erleichterung der Bewegungsauslösung,
beim Morphium die Anregung der Einbildungskraft die Grundlage
der Stimmungsänderung bilden könnte, während die vom Thee er-
zeugte Behaglichkeit mit der Erleichterung der Verstandestätig-
keit bei gleichzeitiger motorischer Beruhigung, die stille Be-
friedigung des Rauchers mit der leicht lähmenden und beruhigen-
den Wirkung des Tabaks Zusammenhängen dürfte. Auch hier wäre
überall eine Ausdehnung der Untersuchungen auf diejenigen Ge-
biete wünschenswert, auf denen erfahrungsgemäss die Gemüts-
bewegungen ihren Ausdruck finden. Kennten wir die Wirkungen
der Gifte nach allen diesen Richtungen hin genauer, so wäre mög-
licherweise daran zu denken, aus den Veränderungen, die ein
Gift im einzelnen Falle herbeiführt, Schlüsse auf die besondere
Art des bestehenden Gemütszustandes abzuleiten. Die ganz ver-
schiedene Wirkung, die z. B. Alkohol und Brom auf die Ver-
368
IV. Die Erkennung des Irreseins.
■Stimmung des Epileptikers ausüben, berechtigt uns dazu. Der
Unterschied zwischen der Erregung des Manischen und des Epilep-
tikers wird durch die gänzlich abweichende Beeinflussung Beider
durch Brom in helles Licht gesetzt. Tatsächlich ist das Hilfs-
mittel der Giftwirkung zur genaueren Zergliederung gegebener
Seelenzustände bereits mit gutem Erfolge von uns in Anwendung
gezogen werden. -
Wir kommen nunmehr noch zu einer letzten, aber gewiss
nicht der unwichtigsten Seite der psychischen Untersuchung, zur
Feststellung der psychischen Grundeigenschaften.
Mit Hilfe der fortlaufenden Lösung gleichartiger Aufgaben sind
wir nämlich imstande, die Änderungen unserer geistigen Lei-
stungsfähigkeit auf verschiedenen Gebieten dauernd zu verfolgen.
Aus den Schwankungen der Arbeitsfähigkeit können wir abei
ein Mass gewinnen für die früher besprochenen Giundeigen-
schaften der geistigen Persönlichkeit. Genauere derartige Mes-
sungen erfordern allerdings umfangreiche Versuchsreihen und
ganz besondere, dem jeweiligen Zwecke angepasste Anord-
nungen.*) Immerhin wird sich die Übungsfähigkeit durch die
Zunahme der Leistungsfähigkeit unter dem Einflüsse der Arbeit
messen lassen. Man wird etwa die Anfangsleistung zweier, in
gewisser Zwischenzeit aufeinanderfolgender V ersuche vergleichen.
Allerdings kann dabei der inzwischen erfolgte Übungsverlust nicht
mit berücksichtigt werden, obgleich er wahrscheinlich für ver-
schiedene Personen nicht gleich gross ist. Die Übungsfestigkeit
lässt sich aus der Erhöhung der Arbeitsleistung erkennen, die nach
längerer Zwischenzeit von der früher festgestellten t bungswirkung
noch übrig geblieben ist. Die Anregbarkeit kann gemessen weiden
durch die Abnahme der Leistungsfähigkeit, die durch kürzere
Arbeitspausen gegenüber dem ununterbrochenen Fortarbeiten
herbeigeführt wird. Als annäherndes Mass der Ermüdbarkeit darf
die Abnahme der Leistungsfähigkeit nach bestimmter, längerer
Arbeitszeit gelten. Über die Erholungsfähigkeit gewinnt man
ein Urteil aus dem Stande der Leistungsfähigkeit nach einer
Pause im Anschlüsse an ermüdende Arbeit. Zur Bestimmung der
.Schlaftiefe stellen wir für jeden Abschnitt der Nacht die Stärke
*) Kraepelin, Archiv f. die gesamte Psychologie, I. 9. 1903.
Beobachtung.
369
der Reize fest, die gerade genügt, um den Schläfer zu erwecken.
Die Ablenkbarkeit messen wir aus der Herabsetzung der Lei-
stungsfähigkeit unter der erstmaligen Einwirkung bestimmter
Störungen, während die Gewöhnungsfähigkeit aus der Änderung
der Leistungsfähigkeit während längerer Einwirkung jener Stö-
rungen erkannt wird.
Mit diesen kurzen Andeutungen muss ich mich an dieser
Stelle begnügen. Eine ausführlichere Darlegung und Begründung
der hier erwähnten Messungen psychischer Grössen findet sich
in den angeführten Arbeiten. Umfassende Einzeluntersuchungen
haben den Beweis erbracht, dass die Mehrzahl dieser Bestim-
mungen schon mit den heute zur Verfügung stehenden Hilfs-
mitteln, und dass sie in grösserem oder geringerem Umfange
auch an so manchen Geisteskranken ausführbar sind. Wenn es
zur Zeit auch nur unbedeutende Anfänge sind, die hier vorliegen,
so liefern sie doch immerhin den Beweis, dass es möglich jst,
selbst auf unserem Forschungsgebiete für genauere natur-
wissenschaftliche Beobachtungsverfahren allmählich Boden zu
gewinnen.
Beobachtung. Es ist leicht verständlich, dass in einigermassen
schwierigen Fällen die einfache Untersuchung eines Kranken
niemals ausreicht, sondern zur grösseren Sicherheit immer eine
mehr oder weniger lang bemessene Beobachtungszeit gefordert
werden muss. Die Befangenheit bei der ungewöhnlichen Prüfung,
der Eindruck der Versetzung in neue Verhältnisse kann das Bild
für einige Zeit völlig verändern, ganz abgesehen von jenen Krank-
heitsformen, die ihrer .Natur nach mit freieren Zwischenzeiten
verlaufen oder nur anfallsweise hervortreten. Als Ort für die
Beobachtung dient am besten die Irrenanstalt, weil nur in ihr
eine dauernde, sachverständige Überwachung gesichert erscheint.
Sehr häufig fördern hier die ersten Tage der Einbürgerung, die man
ohne besonderen Eingriff verstreichen lässt, gar keine auffallen-
den Beobachtungen zu Tage; erst nach und nach treten die krank-
haften Erscheinungen, falls solche überhaupt vorhanden, deut-
licher hervor. Alle jene einzelnen Züge des psychischen Bildes,
die bei der einmaligen Untersuchung nur angedeutet waren,
prägen sich nun bei längerer Beobachtung deutlicher aus: 4as
Wesentliche sondert sich vom Unwesentlichen und Zufälligen.
24
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl.
370
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Der ausserordentliche Unterschied zwischen einmaliger und wie-
derholter Prüfung eines Geisteskranken wird ganz besonders
deutlich, wenn man sich daran gewöhnt, in jedem Falle schon
bei der ersten Untersuchung eine bestimmte Diagnose zu stellen.
Man begreift dann oft nach wenigen Tagen die Schwierigk eiten
nicht mehr, die man anfänglich mit der Beurteilung gehabt hat.
Dazu kommt, dass sich der Beobachtete Seinesgleichen gegen-
über und bei längerer Bekanntschaft mit dem Arzte unbefangene?
gibt, sich mehr gehen lässt und achtlos Eigentümlichkeiten, Ge-
danken, Gefühle verrät, mit denen er bei der einmaligen Unter-
suchung zurückhielt. Von besonderer Bedeutung in dieser Be-
ziehung pflegen Briefe und andere Schriftstücke zu sein, die oft
mit einem Schlage ein kaum erwartetes Licht über den Zustand
ihres Verfassers ausbreiten.
Weiterhin aber ist man nun in den Stand gesetzt, sein
Handeln kennen zu lernen, freilich nur in dem engen Rahmen
der Anstaltsverhältnisse, der aber für den Untersuchten doch
noch Gelegenheit genug zu krankhaften Willensäusserungen
darbietet. Lebhaftigkeit oder Gleichgültigkeit, Zerstreutheit oder
Versunkenheit, Leistungsfähigkeit oder Schwäche, Selbstüber-
schätzung oder Kleinmut, Reizbarkeit oder Stumpfheit, Tatkraft
oder Unentschlossenheit, Bestimmbarkeit oder Unlenksamkeit,
Arbeitslust oder Trägheit — alle diese Eigenschaften und viele
andere werden sich in den täglich beobachteten kleinen Zügen
nach und nach auf das unverkennbarste herausstellen müssen.
Endlich ist es nur auf dem Wege fortgesetzter Beobachtung mög-
lich, den fortschreitenden oder gleichbleibenden ^ erlauf des ver-
mutlichen Leidens, das Vorkommen von Besserungen, Verschlim-
merungen, „Anfällen“ aller Art, das Verhalten des Schlafes, der
Esslust, der Verdauung und vor allem des Körpergewichtes in
gesicherter Weise festzustellen. Soweit daher im einzelnen Falle
überhaupt eine Aufklärung über das körperliche und psychische
Verhalten möglich ist, wird sie durch die mannigfachen Er-
fahrungsquellen, welche die klinische Beobachtung gewährt, in
der Regel erreicht werden können.
Leichenbefund.*) Wenn wir in der übrigen Medizin gewöhnt
*) Juliusburger und Meyer, Monatsschr. f. Psych., III, 316; A 1 z-
heimer, Monatsschr. f. Psych., II, 82; Allgem. Zeitschr. f. Psych., LA II, 597,
Leichenbefund.
371
sind, als letzte Bestätigung unserer Krankheitsauffassung den
Leichenbefund anzusehen, so können wir in der Psychiatrie der
Untersuchung nach dem Tode bis jetzt nur einen sehr beschränkten
Wert zugestehen. Wo das Vorhandensein einer Geistesstörung
bei ausreichender Beobachtung nicht aus den Erscheinungen am
Lebenden sicher gestellt werden konnte, vermag die Hirnunter-
suchung heute ganz gewiss keine Entscheidung herbeizuführen.
Der Grund dafür liegt indessen nicht darin, dass etwa das Irresein
zumeist gar nicht auf körperlichen Veränderungen beruht. Viel-
mehr stellt sich mehr und mehr heraus, dass auch kürzer dauernde
und wenig beachtete Störungen, wie die Bewusstseinstrübungen
des Todeskampfes, fast immer mit erkennbaren Veränderungen
in den Hirnrindenzellen einhergehen. Es ist aus diesem Grunde
ungemein schwer, menschliche Hirnrinden mit durchaus gesun-
den Zellen zu bekommen. Gerade diese Empfindlichkeit der Rin-
denbestandteile ist es, die uns die Deutung der Bilder bei Geistes-
kranken so schwierig macht; es lässt sich im einzelnen Falle
zunächst oft kaum entscheiden, ob die aufgefundenen (akuten
Veränderungen die Grundlage des Irreseins gebildet haben oder
erst durch die tötliche Erkrankung erzeugt wurden.
Aber auch dort, wo aus diesen oder jenen Gründen die
innere Zugehörigkeit der aufgefundenen Zellveränderungen zu
dem psychischen Krankheitsvorgange sichergestellt ist, ver-
mögen wir aus ihnen allein doch keine Schlüsse über die
Eigenart jenes Vorganges abzuleiten. Schon bei der Erfor-
schung der Giftwirkungen auf die Nervenzellen kam Nissl
zu dem Ergebnisse, dass zwar die subakute maximale Ver-
giftung bei einer Reihe von Giften an gewissen Rinden-
zellen ganz bestimmte Veränderungen hervorbringe, dass sich
aber die Besonderheit dieser Wirkungen bei den für die Psy-
chiatrie namentlich in Betracht kommenden chronischen Ver-
giftungen vollkommen verwische. Wenn das für die scharf ge-
kennzeichneten und noch dazu dem Versuche zugänglichen Hirn-
störungen durch Gifte zutrifft, so wird man von vornherein die
Nissl, Archiv f. Psych., XXXII, 656; Heilbronner, Erlebnisse der all-
gemeinen Pathologie und pathol. Anatomie, VI, Suppl. 555; Robertson, a
text-book of pathology in relation to mental diseases, 1900; Meyer, Die
pathologische Anatomie der Psychosen, Orth — Festschrift. 1902.
24*
372
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Aussicht für sehr gering halten müssen, bei der grossen Masse
der Geisteskrankheiten mit ganz unbekannter Entstehungsweise
eigenartige Zellveränderungen aufzufinden. N i s s 1 hat es daher
auch unumwunden ausgesprochen, dass alle die von ihm beschrie-
benen Formen der Zellerkrankung nichts weniger, als kennzeich-
nend für bestimmte klinische Krankheitsbilder sind, ja nicht ein-
mal das Bestehen einer geistigen Störung überhaupt anzeigen.
Ebensowenig lassen sich feste Beziehungen zwischen Ausdehnung
und Schwere der Zellerkrankungen und Ausprägung der klini-
schen Krankheitserscheinungen nac-hweisen.
Allerdings leidet unsere Kenntnis dieser Verhältnisse noch
an dem Übelstande, dass einerseits vielfach nur ganz bestimmte
Zellformen, meist die grösseren, genauer untersucht zu werden
pflegen, während über die Erkrankungen der übrigen, vielleicht
für das Seelenleben weit wichtigeren Formen sehr viel weniger
bekannt ist. Sodann aber ist es bei dem heutigen Stande unseres
Wissens gar nicht möglich, ein irgend zuverlässiges Urt-eil über
die Ausdehnung und örtliche Umgrenzung der Krankheitsvorgänge
in der Rinde zu gewinnen. Bei der ausserordentlichen Mannig-
faltigkeit der Organe, aus denen sich die Hirnrinde ohne Zweifel
zusammensetzt, können einige Stichproben unmöglich genügen,
um uns über die Verbreitung der Zellveränderungen Klarheit 'zu
verschaffen. Es wäre daher an sich sehr wohl möglich, dass
uns eine Berücksichtigung aller Zellgattungen und eine sorg-
fältige Durchmusterung der gesamten Rinde zwar nicht in der
Art der Zellerkrankungen, abey doch in ihrer Ausbreitung auf
die einzelnen Zellarten und Rindenbezirke gewisse Besonderheiten
der verschiedenen Krankheitsvorgänge aufdecken würde.
Auf der anderen Seite werden wir jedoch immer annehmen
dürfen, dass es sich bei allen Geistesstörungen um weit ver-
breitete Veränderungen handeln wird; wissen wir doch zur ge-
nüge, dass recht umfangreiche Rindenzerstörungen vielfach ohne
irgend erkennbare Beeinträchtigungen des Seelenlebens verlaufen
können. Dem entspricht auch die Erfahrung, dass wir bei den-
jenigen Formen des Irreseins, die bisher Zellveränderungen dar-
geboten haben, diese letzteren in sehr grosser Ausdehnung an-
treffen. Ob aber dieser Befund irgend eine Beziehung zu dem
psychischen Krankheitsbilde hat, müssten wir auch dann dahin-
Leichenbefund.
373
gestellt sein lassen, wenn er für jede klinische Form verschie-
den wäre, da wir keine Ahnung davon haben, ob und wie die
Rindenzellen im einzelnen an dem Ablaufe der seelischen Vor-
gänge beteiligt sind. Gerade deswegen sind die Zellveränderungen
für uns heute nichts, als ein einzelnes Glied in der Kette des
gesamten Krankheitsvorganges, der sich jeweils in der Rinde ab-
spielt.
Wenn daher auch diese Teilerscheinung nicht kennzeichnend
für die besondere Art des Leidens ist, so wissen wir ja, dass
wir auch aus einem einzelnen Krankheitszeichen niemals eine
klinische Diagnose ableiten können. Wie aber der Gesamtzustand
eines Kranken zumeist doch ein Urteil über die vorliegende
klinische Form erlaubt, so dürfen wir auch hoffen, aus dem
Gesamtbilde der Hirnrinde bestimmte Schlüsse über
die Zugehörigkeit des Einzelfalles zu dieser oder jener Krank-
heitsgruppe ziehen zu lernen. Diese Erwartung hat sich für
eine Reihe von Erkrankungen bereits erfüllt. Berücksichtigen
wir nicht nur die Zellen und Fasern, sondern auch die gliösen
Gebilde und die Gefässe, so sind wir schon heute imstande, be-
stimmte anatomische und klinische Erscheinungen miteinander in
Beziehung zu bringen und aus dem Leichenbefunde Schlüsse auf
das Krankheitsbild im Leben abzuleiten. Das gilt vor allem von
der Paralyse, einigen Formen des Altersblödsinns, den Erkran-
kungen mit Arteriosklerose oder luetischen Gefässerkrankungen,
in geringerem Umfange aber auch von gewissen Gruppen der
Idiotie, von der Dementia praecox und einer Reihe weiterer Er-
krankungen. Nicht ganz selten hat uns dabei die anatomische
Untersuchung gezeigt, dass anscheinend leicht verständliche Krank-
heitsbilder bestimmt nicht der klinischen Gruppe angehörten, der
sie zugeteilt worden waren. Auf der anderen Seite hat sich,
namentlich bei den akut verlaufenden Geistesstörungen, oft genug
die befriedigende Einordnung des Leichenbefundes in klar ge-
kennzeichnete Krankheitsvorgänge einstweilen als unmöglich er-
wiesen.
Ein wesentliches Hindernis für die Fortentwicklung unserer
anatomischen Diagnostik ist zur Zeit ohne Zweifel noch die Un-
sicherheit, die in der Gruppierung der klinischen Krankheits-
bilder herrscht. Mag auch der Leichenbefund später einmal das
374
IV. Die Erkennung des Irreseins.
sicherste Mittel sein, die Diagnose des Klinikers zu bestätigen
oder zu berichtigen — vor der Hand bedarf der Anatom noch
dringend seiner Hilfe, um an der Hand eindeutiger klinischer
Bilder das Wesentliche von dem Zufälligen und Nebensächlichen
in seinen Befunden abtrennen zu lernen.
B. Grenzen des Irreseins.
Das Bedürfnis nach einer strengen Begriffsbestimmung der
Geisteskrankheit, nach einer Abgrenzung dieser letzteren von der
Breite des Gesunden, ist in der Geschichte der Psychiatrie der
Ausgangspunkt zahlloser, angestrengter Bemühungen, scharfsin-
niger Auseinandersetzungen und spitzfindiger Beweisführungen
gewesen, bis endlich die unvermeidliche Erkenntnis sich immer
mehr Bahn zu brechen begann, dass die Fragestellung von vorn-
herein eine falsche war, dass es hier wirklich scharfe Grenzen
und unfehlbare Kennzeichen der Natur der Sache gemäss ebenso-
wenig geben kann wie bei der Unterscheidung von körperlicher
Gesundheit und Krankheit. Die Anzeichen des Irreseins sind eben
durchaus nicht gänzlich fremdartige und durch das Irresein neu
erzeugte Erscheinungen, sondern sie haben ihre Wurzeln in ge-
sunden Vorgängen und verdanken ihre Eigenartigkeit nur der
einseitigen, masslosen Ausbildung oder dem Untergange dieser
oder jener Verrichtungen sowie der besonderen Verbindung der
verschiedenartigen Einzelstörungen.
Verhältnismässig leicht wird indessen die Erkennung einer
Geistesstörung dann, wenn es gelingt, den Nachweis zu führen,
dass die verdächtigen Erscheinungen nicht von jeher bestanden
haben, sondern etwas Gewordenes sind. Zwar kommen auch wohl
im gesunden Leben Wandlungen vor, die bis in das innerste Wesen
der Persönlichkeit umgreifen, aber im allgemeinen legt dennoch
die Beobachtung einer auffallenden Veränderung im Denken,
Fühlen und Handeln eines Menschen den Gedanken an eine krank-
hafte Natur derselben sehr nahe. Zur Gewissheit wird diese Ver-
mutung, wenn die hervortretenden Erscheinungen sich wider-
spruchslos in eines der bekannten klinischen
Krankheitsbilder einord nen, und wenn vielleicht auch
Grenzen des Irreseins.
375
Ursachen sich auffinden lassen, die erfahrungsgemäss jene Gruppe
von Störungen häufiger zu erzeugen pflegen.
Es darf mit allem Nachdrucke betont werden, dass in solchen
Fällen die genaue Erhebung der Vorgeschichte, sorgfältige Aus-
nutzung aller Untersuchungshilfsmittel und eine gewisse Zeit fort-
laufender Beobachtung bei wirklichem Sachverständ-
nis regelmässig zum Ziele führen wird. Die Psychiatrie ist in
der Erkennung von Krankheitsvorgängen, auch solchen sehr lang-
samen Verlaufes, in keiner Weise hilfloser, als etwa die innere
Medizin oder die Nervenheilkunde, die ja ebenfalls oft genug
erst nach längerer Beobachtung ein sicheres Verständnis schwie-
riger Krankheitsfälle erreichen. Nur die kühnste Unwissenheit
kann sich daher zu der häufig wiederholten Behauptung ver-
steigen, dass der Irrenarzt wegen der Unvollkommenheit der
Psychiatrie vielfach Geistesgesunde als krank betrachte und. sie
daher widerrechtlich ihrer Freiheit beraube. Allerdings sieht
der Sachverständige auch hier überall tiefer, als dei meist
von ganz abenteuerlichen Vorstellungen über das Irresein er-
füllte Laie.
Die unerbittliche Forderung, uns niemals mit dem Nachweise
einer Geistesstörung im allgemeinen zu begnügen, sondern unter
allen Umständen zu einer bestimmten klinischen
Diagnose zu gelangen, wird uns namentlich vor dem ver-
hängnisvollen Fehler bewahren, einzelne Erscheinungen als ent-
scheidend zu betrachten und darüber das Gesamtbild des vorlie-
genden Falles ausser Acht zu lassen. Früher hat man z. B. viel
darüber gestritten, ob Sinnestäuschungen auch bei geistiger Ge-
sundheit Vorkommen könnten, und ob der Selbstmord unter allen
Umständen als Krankheitserscheinung aufgefasst werden müsse;
jetzt wissen wir, dass beides Ereignisse sind, die im einzelnen
Falle nur durch den Zusammenhalt mit anderweitigen Beobach-
tungstatsachen richtig gewürdigt werden können. Wenn z. B.
Esquirol den Selbstmord einfach als eine besondere I orm des
Irreseins beschrieb, so habe ich in Übereinstimmung mit den Er-
fahrungen Anderer durch die Beobachtung geretteter Selbst-
mörder feststellen können, dass nur etwa 30 Prozent derselben
wirklich klinisch ausgeprägte geistige Störungen darboten..
Recht schwierig kann sich die Entscheidung über psychische
376
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Gesundheit oder Krankheit gestalten, wenn nicht über das Be-
stehen eines krankhaften Vorganges, sondern über das Vorhanden-
sein eines krankhaften Zustandes entschieden werden soll.
Im ersten Falle war uns die Richtschnur der Beurteilung in dem
Verhalten des Kranken selber vor der eingetretenen Veränderung
gegeben; hier dagegen sind wir gänzlich auf die Abgrenzung
nach den allgemeinen Begriffen angewiesen, die sich in der
Wissenschaft als Gradmesser des Krankhaften niedergeschlagen
haben. Dazu kommt, dass wir ein ausgedehntes Übergangsgebiet
zu verzeichnen haben, auf dem es sich lediglich um die Ab-
schätzung gradweiser Unterschiede handelt, so dass es vielfach
dem Belieben und dem Standpunkte des Beobachters überlassen
bleibt, wie weit oder wie eng er die Grenze der Geisteskrankheit
stecken will. Dies ist der Grund, warum so häufig die Gutachten
selbst wissenschaftlich hochstehender Sachverständiger bei der
Beurteilung solcher Fälle vollständig auseinandergehen; die all-
gemeinen Grundsätze versagen hier bisweilen durchaus und lassen
einzig dem persönlichen Ermessen die Entscheidung zufallen.
Der Irrenarzt ist demnach hier etwa in derselben Lage wie
der Kassenarzt bei der Beurteilung der Erwerbsfähigkeit, nur
mit dem Unterschiede, dass die Tragweite seines Ausspruches eine
häufig viel grössere ist. Es erscheint daher ganz unvermeidlich,
dass gelegentlich sein Urteil als Härte empfunden und von
Kranken oder Angehörigen angefochten wird, zumal den ersteren
immer, den letzteren häufig das Verständnis für die in Betracht
kommenden Zustände völlig abgeht. An diesem Punkte liegt wohl
die Hauptquelle für die namentlich in neuerer Zeit mit ebenso
viel Unkenntnis wie Gehässigkeit betriebene Bewegung gegen
die Tätigkeit der Irrenärzte.*) Natürlich würde niemand froher
sein, als diese letzteren selbst, wenn man sie von der leidigen
Verantwortlichkeit für die Beurteilung der Übergangsformen zwi-
schen geistiger Gesundheit und Krankheit befreien wollte. Lei-
der ist dazu wenig Aussicht, da sich schwerlich jemand finden
dürfte, der ihnen diese undankbare Aufgabe dauernd abnimmt.
Das grosse, sicher noch viel zu wenig gekannte Gebiet kli-
*) Man vergleiche nur die durch ihre naive Unwissenheit und Unverfroren-
heit geradezu erfrischenden Bücher des Herrn E. A. Schröder: Das Recht
im Irrenwesen. 1890; Zur Reform des Irrenrechtes. 1891.
Grenzen des Irreseins.
377
nischer Formen, mit dem wir es hier zu tun haben, ist haupt-
sächlich dasjenige des angeborenen Schwachsinns. Die Erschei-
nungen desselben treten uns in allen Richtungen des psychischen
Lebens entgegen, und wir müssen daher wenigstens einen kurzen
Blick auf die Grenzgebiete werfen, nicht sowohl, um die ivor-
handenen Schwierigkeiten zu lösen, sondern um auf die Unmög-
lichkeit einer grundsätzlichen Lösung derselben hinzuweisen.
Im Bereiche des Verstandes lassen sich der Hauptsache nach,
zwei Formen der psychischen Schwäche auseinanderhalten, unge-
nügende geistige Regsamkeit einerseits, dann aber Urteilslosigkeit
infolge von Überwuchern der Einbildungskraft. Der ersteren
Form, die sich durch das Fehlen allgemeinerer Begriffe, Enge des
Gesichtskreises, Gedankenarmut, Stumpfheit kennzeichnet, ent-
spricht in der Gesundheitsbreite jene Form der Dummheit, die
man als Beschränktheit zu bezeichnen pflegt. Die höchsten
Grade dieser Beschränktheit fallen aber mit den leichteren Fällen
des Schwachsinns unterschiedslos zusammen: es gibt kein einziges
Merkmal, welches eine andere als gradweise Abtrennung gestattete.
Auch die zweite Form der psychischen Schwäche findet ihr
Gegenstück in der Gesundheitsbreite. Es sind das die erregbaren,
leichtgläubigen Geister, die überall die Welt mit eigenen Augen
ansehen, Luftschlösser bauen und sofort Beziehungen und Zu-
sammenhänge ahnen, abenteuerlichen Gedanken und Plänen nach-
jagen. In gewissem Sinne können wir sogar den Aberglauben
unmittelbar als eine gesunde Form der Wahnbildung bezeichnen,
insofern er aus derselben Wurzel des Gemütsbedürfnisses heraus-
wächst. Es kann daher unter Umständen ungemein schwierig
werden, bei unseren Kranken Aberglauben und Wahnbildung von-
einander zu trennen. Den Übergang zum Krankhaften bildet die
Gruppe der Schwärmer und Schwindler, bei denen sich vielfach
geradezu die Züge der Entartung, namentlich der epileptischen und
hysterischen Veranlagung, nachweisen lassen. Den vereinzelten
Beispielen einseitiger Begabung bei Schwachsinnigen und Idioten
lassen sich manche der sogenannten verkannten Genies, Erfinder
und Entdecker, Religionsstifter an die Seite stellen, bei denen
die mangelnde Einheitlichkeit der Gesamtanlage auch den her-
vorragenden Eigenschaften ihrer Persönlichkeit die freie und
segensreiche Entfaltung verkümmert.
378
IV. Die Erkennung des Irreseins.
Man ist endlich vielfach so weit gegangen, auch das wirkliche
Genie als eine krankhafte Erscheinung, als eine Form der Ent-
artung, zu betrachten.*) Diese Anschauung schiesst ohne Zweifel
weit über das Ziel hinaus. Es ist allerdings richtig, dass sich in
den gleichen Familien nicht selten krankhafte Veranlagung und
höchste Begabung nebeneinander finden. Ferner ist es erklär-
lich, dass die hervorragende Entwicklung gewisser geistiger
Eigenschaften leicht eine Verkümmerung anderer mit sich bringen
wird. Wir sehen daher auch bei genialen Menschen häufig genug
neben glänzenden Leistungen unbegreifliche Schwächen. Wenn
man aber weiterhin bei allen möglichen Helden der Menschheit
diese oder jene Züge herausgefunden hat, die ihnen den Stempel
des Krankhaften aufdrücken sollen, so übersieht man dabei die
Tatsache, dass es wenige Gesunde geben dürfte, die bei ziel-
bewusster Zergliederung nicht ebenfalls irgendwelche Anklänge an
krankhafte Störungen aufzuweisen hätten. Wir werden also durch
eine derartige Beweisführung durchaus nicht dazu genötigt wer-
den, die höchsten Offenbarungen des Menschengeistes als den
Ausfluss krankhafter Entartung anzusehen. Gewiss finden wir
beim Genie Züge, die uns auch im Bereiche des Krankhaften
begegnen, die überraschende Kühnheit der Gedankenverbindungen,
die Lebhaftigkeit der Einbildungskraft, den Blick auf das Ganze
bei Vernachlässigung der Einzelheiten. Allein diese Eigentüm-
lichkeiten werden beim Genie durch die gleichzeitige Ausbildung
des abwägenden, prüfenden Verstandes in sicheren Grenzen ge-
halten, während sie dort die ungezügelte Herrschaft über das
geistige Leben an sich reissen. Mag sich daher auch unter den
hohen Begabungen eine gewisse Zahl finden, in denen die Ein-
seitigkeit der Ausbildung oder die gesteigerte Empfänglichkeit
nach gewissen Richtungen hin das gesunde Gleichgewicht des
Seelenlebens gefährden, so werden wir dennoch das Genie im
ganzen als den höchsten Ausdruck der voll entwickelten geistigen
Persönlichkeit anzusehen haben.
Von grosser Tragweite und darum von jeher am eifrigsten
versucht worden ist die Abgrenzung des Krankhaften von der
*) Lombroso, Genio e degenerazione: 1S97 ; Regnard, Annales
mödico-psyehologiques, VIII, 7, 10. 1898; Löwenfeld, Über die geniale
Geistestätigkeit. 1903.
Grenzen des Irreseins.
379
Gesundheitsbreite auf dem Gebiete des Gefühlslebens und des
Handelns, die wir gemeinsam ins Auge fassen wollen. Hier
gilt es ganz besonders, jene Handlungen, die aus krankhaften
Voraussetzungen hervorgegangen sind, abzutrennen von den-
jenigen, die ihre Quelle in unsittlichen Beweggründen haben.
Man wird hier nicht lange im Zweifel sein, wenn es gelingt, eine
Wahnidee, eine Sinnestäuschung oder auch ein unklares Angst-
gefühl, einen triebartigen Drang als die Ursache der Tat auf-
zufinden. Die allergrössten Schwierigkeiten indessen beginnen
sofort, sobald nicht Veränderungen in der Art der Gefühle,
sondern nur gradweise Abstufungen der ärztlichen Be-
urteilung unterliegen. Jede menschliche Handlung kommt da-
durch zu stände, dass die Triebfedern das Übergewicht über die
hemmenden Gegengründe erlangen. Eine unsittliche Handlung
kann somit entweder auf einer starken Ausbildung der unsittlichen
Antriebe oder aber auf einem Mangel der sittlichen Hemmungen
beruhen, und endlich kann sowohl jene übermässige wie diese
ungenügende Entwicklung aus krankhaften Ursachen hervor-
gegangen sein. Nun geht aber die krankhafte Zornmütigkeit ganz
allmählich in die Erregbarkeit des Leidenschaftsverbrechers
über, und die wechselnden Verstimmungen des geborenen Psy-
chopathen sind nur Steigerungen der oft ebensowenig sachlich
begründeten weltschmerzlichen Anwandlungen des Schwarzsehers,
die ihn an dem Werte des Daseins verzweifeln lassen. Der
Selbstmord in den letzteren, der Mord in den ersteren Fällen
sollte je nach der Krankhaftigkeit oder der gesunden Beschaffen-
heit des Gemütszustandes eine gänzlich verschiedene sittliche
Beurteilung erfahren, aber auch die genaueste Zergliederung ver-
mag hier oft die Grenze nicht zu finden, aus dem triftigen Grunde,
weil eine solche überhaupt nicht vorhanden ist.
Noch überzeugender tritt uns diese Schwierigkeit entgegen,
wo der krankhafte Mangel der sittlichen Gefühle von der
„sittlichen Schlechtigkeit“ abgegrenzt werden soll. So wenig
wie das Fehlen einer Niere in einem Falle krankhaft sein kann,
im andern nicht, so wenig geht es an, eine gesunde sittliche
Verwilderung neben einer krankhaften aufzustellen. Bei der
Beurteilung der Unzulänglichkeit einer Leistung kann es nicht in
erster Linie massgebend sein, ob sie angeboren, erworben oder
380
IV. Die Erkennung des Irreseins.
wie immer sie entstanden ist; nur nach der Ausdehnung
derselben kann man gesunde und krankhafte Grade unter-
scheiden, wie ja auch die Kleinheit der Niere erst unter einer
gewissen, ziemlich willkürlichen Grenze anfängt, krankhaft zu
werden. Wenn der Verlust der höheren sittlichen Gefühle als
Teilerscheinung gewisser Krankheitsvorgänge vorkommt (z. B.
der Trunksucht, der Paralyse), so schliesst dieser Umstand
nicht aus, dass auch der durch sittliche Verwahrlosung erzeugte
Ausfall, sobald er ein gewisses Mass erreicht hat
und nicht beseitigungsfähig ist, als krankhaft zu betrachten sei.
Jedes Werkzeug unseres Körpers bedarf der Übung und Aus-
bildung, um die von ihm geforderte Arbeit leisten zu können:
der unerzogene Taubstumme bleibt anerkanntermassen auf der
geistigen Entwicklungsstufe des Schwachsinns stehen sollte
allein der sittlich Unerzogene eine Ausnahme machen,
sollte nicht bei ihm ebenfalls eine Unvollkommenheit der ge-
mütlichen Ausbildung vorhanden sein, die unter Umständen eine
krankhafte Ausdehnung erlangen kann? Eine naturwissenschaft-
liche Betrachtung der Unsittlichkeit führt uns unabwendbar zu
dem Schlüsse, dass auch der Mangel sittlicher Gefühle nicht
nur zweifellos der Begleiter bestimmter klinischer Krankheitt'*-
formen ist, sondern in seinen höheren Graden überhaupt ohne
scharfe Abgrenzung in das Gebiet des Krankhaften hinüber-
spielt und als eine Entwicklungshemmung im Gemütsleben zu
betrachten ist, welcher nach anderer Richtung die Unzuläng-
lichkeit der Verstandeskräfte genau entspricht.
Es bleibt daher in derartigen Fällen bei der gerichtlichen
Feststellung der Geistesstörung bis zu einem gewissen Grade
häufig Sache der persönlichen Ansicht, ob die gestellte Frage
bejaht oder verneint werden soll. So zuverlässig es fast stets
gelingen wird, wenigstens bei längerer Beobachtung das Be-
stehen einer Manie, Melancholie, Verrücktheit, einer Dementia
praecox oder paralytica mit Sicherheit zu erweisen oder aus-
zuschliessen, so ratlos steht selbst der ausgezeichnetste Scharf-
sinn den gradweisen Abstufungen des angeborenen Schwachsinns
gegenüber. Die Schuld dafür trifft gewiss nicht die Psychiatrie,
sondern lediglich die richterliche Fragestellung, die nur scharfe
Grenzen zwischen Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähig-
Verstellung und Verleugnung.
381
keit kennt, alle die zahllosen Übergangsformen aber wesentlich
vernachlässigt. Vielleicht wird auch uns noch eine eingehendere
Erforschung des Schwachsinns zu einer schärferen Umgrenzung
der krankhaften Erscheinungen verhelfen; die Überwindung der
grundsätzlichen Schwierigkeiten aber und die Gewinnung
brauchbarer Gesichtspunkte für die Beurteilung kann sicherlich
nur durch eine andere Fassung der richterlichen Fragen an den
ärztlichen Sachverständigen erreicht werden.
C. Verstellung und Verleugnung.
Erheblich einfacher liegt die Aufgabe dort, wo nicht all-
gemein die Entscheidung über das Bestehen geistiger Gesund-
heit oder Krankheit gefällt werden soll, sondern wo es sich um
die Aufdeckung einer V erstellung*) handelt. Hier ist eine
sichere Richtschnur der Beurteilung durch die Erwägung ge-
geben, dass die vorliegende Gruppe von Erscheinungen sich
mit unseren sonstigen irrenärztlichen Erfahrungen decken muss.
Allerdings sehen wir auch bei den unzweifelhaft Geisteskranken
vielfach Zustandsbilder, die nicht in einen der gewohnten
Rahmen hineinpassen; darauf beruht ja jeder Fortschritt unserer
klinischen Formenlehre. Indessen derartige, zunächst unklare
Beobachtungen enthalten doch niemals innere Widersprüche. Wir
wissen ganz genau, dass gewisse Krankheitszeichen einander aus-
schliessen, dass z. B. ein ruhiger Kranker ohne Bewusstseins-
trübung und Merkstörung nicht dauernd desorientiert sein kann,
dass Fehlen einfachster Schulkenntnisse nur mit Blödsinn und
tiefer Gedächtnisstörung vereint sein oder durch Negativismus
vorgetäuscht werden kann. Wir vermögen uns somit auch dann,
wenn ein Krankheitsbild sich nicht ohne weiteres deuten lässt,
doch meist recht bald ein Urteil über seine innere Einheitlichkeit
und Wahrscheinlichkeit zu bilden.
Ein solches widerspruchsloses Krankheitsbild selbst zusam-
menzusetzen, erfordert weitgehende fachmännische Kenntnisse.
Ausserdem ist aber noch eine ganz ungewöhnliche Geschicklich-
keit und Ausdauer nötig, um die angenommene Rolle wirklich
*) Fürstner, Archiv f. Psychiatrie, XIX, 3; Fritsch, Jahrb. f.
Psychiatrie, VIII, In. 2; Raimann, ebenda, XXII, 443, 1902.
382
IV. Die Erkennung des Irreseins.
durchzuführen und festzuhalten. Die Anschauungen über Geisten
krankheiten unter Laien weichen fast durchgehends so sehr von
dem wahren Verhalten ab, dass es in der Regel für den Irrenarzt
ein Leichtes ist, die Verstellung zu erkennen und zu entlarven.
Am häufigsten werden tiefer Blödsinn oder AufregungszaisUL.de
(„Tobsucht“) nachgeahmt; dabei ist es überall die Sucht der
Simulanten, zu übertreiben und ihre Geisteskrankheit möglichst
glaubhaft zu machen, die sie widersprechende Erscheinungen
durcheinander mischen lässt und auf diese Weise die Unter-
scheidung von wirklichen Kranken ermöglicht. Häufig gelingt
es auch, durch allerlei Vexierversuche, durch hingeworfene Be-
merkungen gewisse Krankheitserscheinungen zu suggerieren,
namentlich völlige Unempfindlichkeit gegen Nadelstiche, Läh-
mungen, Ohnmächten und dergl. Überaus selten sind die Fälle,
in denen selbst bei längerer Beobachtung die Herstellung nicht
zweifellos festgestellt werden kann.
Indessen, so leicht und sicher die absichtliche Täuschung
als solche erkannt zu werden pflegt, so schwierig ist es oft genug,
das Bestehen einer Geistesstörung ausser der Herstel-
lung auszuschliessen. Neumann fordert mit Recht, dass
überhaupt kein Arzt jemals das Zeugnis geistiger Gesundheit
ausstellen solle; bei Simulanten ist in dieser Hinsicht doppelte
Vorsicht geboten. Die erfahrensten Irrenärzte teilen mit, dass
wirklich geistig gesunde Menschen unter den Simulanten nur
in verschwindend geringer Zahl verkommen, wenn auch die
eigentliche Störung eine ganz andersartige ist, als die nach-
geahmte. Namentlich Katatoniker, Querulanten, Hysterische,.
Schwachsinnige sind hierher zu rechnen. Ich selbst kann nur
sagen, dass ich mit der Annahme reiner Verstellung ohne ander-
weitige Geistesstörung im Laufe meiner Erfahrung immer zu-
rückhaltender geworden bin, nachdem ich eine ganze Anzahl
meiner ehemaligen Simulanten nachträglich habe verblöden sehen.
Darum kann ich nur dringend raten, nach Jahren immer wieder
einmal die Reihen derer zu prüfen, die einst als Simulanten „ent-
larvt“ wurden. Man wird übrigens auch bei ruhiger Überlegung
finden, dass für den Gesunden triftige Beweggründe zur Hortäu-
schung von Irresein naturgemäss recht selten sein müssen. Ich
will indessen einräumen, dass in Grossstädten mit ihrer ganz
Verstellung und Verleugnung.
383
andersartigen Verbrecherbevölkernng die Verhältnisse etwas
anders liegen mögen, als bei uns. Die Mittel und Verfahren,
welche die Aufdeckung von Verstellung im einzelnen Falle er-
möglichen, die Schlüsse, die man aus dem Benehmen eines Men-
schen vor, während und nach einer verbrecherischen Tat auf
seinen Geisteszustand ziehen kann, und eine Reihe ähnlicher
Punkte müssen wir hier übergehen, da sie den Aufgaben der
gerichtlichen Psychopathologie angehören.
Wir haben endlich noch der Verleugnung von Krank-
heitserscheinungen zu gedenken, die namentlich von Trinkern,
Cirkulären und Kranken mit Verfolgungswahn bisweilen mit
grosser Gewandtheit geübt wird, um die Entlassung aus der
Irrenanstalt oder die Aufhebung- der Entmündigung zu erreichen.
Es gibt unheilbare Irre, die jahrelang ihre äussere gesellschaft-
liche Haltung zu bewahren wissen und das Nest ihrer Wahnideen
tief in ihrer Brust verschliessen, bis eine unbedachte Äusserung,
eine gelegentliche gemütliche Erregung plötzlich der erstaunten
Umgebung die Augen öffnet und ihr die Erklärung für so manche
Sonderbarkeiten des Benehmens gibt, die man so lange für per-
sönliche Eigentümlichkeiten gehalten hatte. Wer nicht mit dem
geheimen Zusammenhänge und den Anknüpfungspunkten der
Fäden bekannt ist, aus denen sich das Wahngewebe zurecht-
spinnt, dem kann die tiefe Störung manches Verrückten völlig
verborgen bleiben, auch wenn sie gar nicht besonders verleugnet
wird. Selbst dem Arzte begegnet es bisweilen, dass er trotz
seines allgemeinen, bestimmten Verdachtes sich lange vergebens
abmüht, in das Innere eines Kranken einzudringen, und dass ihm
erst die Nachrichten über das Vorleben, das Benehmen in der
Freiheit eine klare Einsicht in die wirkliche Ausdehnung der
krankhaften Störung verschaffen. Manche Kranke zeigen sich
dem Arzte gegenüber ungemein harmlos und ungefährlich, stellen
alle Berichte der Angehörigen, alle Wahnideen völlig in Abrede
und wissen ihre auffallenden Handlungen so ungezwungen und
schlau zu begründen, dass es recht schwierig wird, die krank-
haften Züge klar zu erfassen. Unerfahrene lassen sich daher
oft vollständig von ihnen täuschen. Auf diese Weise pflegen
die Gesundheitszeugnisse zu stände zu kommen, die sich gewisse
Geisteskranke von Halb- und Nichtsachverständigen zu ver-
384
IV. Die Erkennung des Irreseins.
schaffen wissen. Kein erfahrener Irrenarzt wird in strittigen
Fällen nur auf Grund einiger Unterredungen, ohne genaueste
Kenntnis aller Verhältnisse und ohne Anstaltsbeobachtung, das
Urteil abgeben, dass eine geistige Störung nicht vorhanden ist,
schon deswegen, weil er weiss, dass fast ausnahmslos nur solche
Personen das Bedürfnis haben, sich ihre geistige Gesundheit be-
scheinigen zu lassen, die wirklich krank sind.
Man wird daher gut tun, jene die öffentliche Meinung immer
wieder beunruhigenden Flugschriften mit grösster \orsicht auf-
zunehmen, in denen das Justizunrecht der willkürlichen Freiheits-
beraubung, die Gefahren der geistigen Ermordung in den grell-
sten Farben ausgemalt zu werden pflegen. Allerdings ist die
Aufklärung derartiger Fälle häufig nicht leicht, sondern erfordert
höchste Sachkenntnis und vollkommenen Überblick über alle ein-
schlägigen Tatsachen und Persönlichkeiten. Wir dürfen es aber
nicht verschweigen, dass hie und da von Ärzten, die mit Lnrecht
als Sachverständige gelten, auch Personen als geisteskrank be-
zeichnet worden sind, die es im strengsten Sinne nicht waren;
namentlich hat man mehrfach streitsüchtige Menschen fälschlich
für Querulanten gehalten. Ein ganz alltägliches ^ orkommnis aber
ist es, dass zweifellos geisteskranke Personen, unter Umständen
zu ihrem grössten Schaden, für gesund erklärt werden. Solche
Missgriffe verschuldet indessen nicht die Psychiatrie, die sich
nach Kräften bemüht, ihr schwieriges Gebiet zu bearbeiten, son-
dern wesentlich der Staat, der fast überall nicht nur die Ent-
wicklung der klinischen Psychiatrie, sondern vor allem die psy-
chiatrische Ausbildung der Ärzte, auch der beamteten, in dei
verhängnisvollsten Weise vernachlässigt hat. Erst in der aller-
letzten Zeit ist hier eine gewisse Besserung zu verzeichnen.
Schliesslich sei noch auf die Krankheitsverleugnung be-
sonnener selbstmordsüchtiger Kranker hingewiesen, die bisweilen
mit grossem Geschick ihre krankhaften ^ orstellungen und Ge-
fühle zu verbergen, Besserung und heitere Stimmung vorzu-
täuschen wissen, um den stillen Vorsatz des Selbstmordes bei
weniger sorgfältiger Überwachung zur Ausführung bringen zu
können. Selbst die genaueste Vertrautheit mit dieser höchst
beachtenswerten Gefahr und unausgesetzte Wachsamkeit \er-
mag nicht immer vor bitteren Erfahrungen zu schützen.
V. Behandlung des Irreseins*).
Leitende Gesichtspunkte für eine zweckmässige Behandlung
sind die Bekämpfung der Ursachen und die Beseitigung oder
wenigstens Milderung der Erscheinungen. Die erstere Aufgabe
beginnt schon mit der Vorbeugung.
A. Vorbeugung.**)
Die Verhütung der Geisteskranken steht bei der grossen Be-
deutung der Erblichkeit für die Verbreitung des Irreseins zunächst
vor der Frage, ob ein Geisteskranker heiraten darf
oder nicht. Namentlich in manchen Formen der hysterischen
Psychosen hat man wegen ihrer vermeintlichen Entstehung aus
unbefriedigtem Geschlechtsbedürfnisse bisweilen die Ehe geradezu
für ein Heilmittel gehalten. Die Erfahrung hat indessen gezeigt,
dass zwar gesunde Eheleute anscheinend eine etwas geringere
Neigung zu Geistesstörungen besitzen, als Ledige, dass aber bei
schon bestehender Krankheit die Ehe zum mindesten auf das weib-
liche Geschlecht vielfach geradezu schädlich wirkt. Dazu kommt
die Gefahr einer Vererbung der krankhaften Anlage auf die Nach-
kommenschaft. So erscheint denn der ziemlich allgemein ange-r
*) Penzoldt und Stintzing, Handbuch der speziellen Therapie, Bd. V,
Abt. IX: Behandlung der Geisteskrankheiten, von Emminghaus-Pfister
(Allgemeiner Teil) und Ziehen (Spezieller Teil). 1896; Bleuler, Die all-
gemeine Behandlung der Geisteskrankheiten. 1898; Garnier et Colo-
1 i a n , Traite de therapeutique des maladies mentales et nerveuses. Hygiene
et prophylaxie. 1901; Pelman, Über die Behandlung der Geisteskranken,
Deutsche Klinik. 1902.
**) Fuchs, Die Prophylaxe in der Psychiatrie in Nobiling-Jankau,
Handbuch der Prophylaxe, V. 1900; M o r e 1 , Psychiatrische Wochenschrift,
I, 380, 1899.
Kracpelin: Psychiatrie I. 7. Aufl.
25
386
V. Behandlung des Irreseins.
nommene Grundsatz gerechtfertigt, vom ärztlichen Standpunkte
aus bei bestehender oder überstandener Geistesstörung, besonders
bei jenen Formen, die auf eine psychische Entartung hinweisen,
die Ehe unter allen Umständen zu widerraten,
während der einfache Ursprung aus einer belasteten Familie,
wenn nicht bereits Krankheitserscheinungen zu Tage treten,^ trotz
der immerhin drohenden Gefahren, doch kein unbedingten \ erbot
der Ehe begründen kann. Nur, wenn Blutsverwandtschaft vor-
handen ist oder in beiden Familien Geistesstörungen, nament-
lich solche von gleicher Form, aufgetreten sind, wird man sehr
ernste Bedenken geltend zu machen haben.
Allerdings lehrt die Erfahrung, dass Ratschläge über be\ er-
stehende Ehen zwar gesucht und angehört, aber äusserst selten
befolgt werden. Die Bedürfnisse der Rassenkräftigung, der ge-
schlechtlichen Zuchtwahl unter dem Gesichtspunkte der körper-
lichen und geistigen Gesundheit, treten regelmässig weit zurück
hinter anderen, kurzsichtigeren Beweggründen. Auch das Ein-
greifen des Staates durch Eheverbote oder Forderung von Gesund-
heitszeugnissen würde wenig Erfolg haben, da es zwar die Ehen,
nicht aber die Kindererzeugung einschränken könnte. Näcke
hat sich daher für den im Staate Michigan durchberatenen ^ or-
schlag erwärmt, gewisse Gruppen gemeingefährlicher und ent-
arteter Männer durch teilweise Ausschneidung der Samenleiter
zeugungsunfähig zu machen; bei Frauen soll in schweren Fällen
zur Entfernung der Gebärmutter von der Scheide aus geschritten
werden. Ohne Zweifel wäre die Massregel wirksam, doch erscheint
die Bestimmung darüber schwierig, bei wem sie Halt zu machen
hätte.
Im werdenden Keim können eine Reihe von Allgemeinleiden
der Eltern schwere Schädigungen hervorrufen, vielfach auch ge-
radezu die Anlage zum Irresein erzeugen. Wir nennen hier vor
allem den Alkohol, das Morphium, Cocain und die Syphilis. Ein
schwacher Trost ist es, dass bei Trinkern und Morphinisten die
geschlechtliche Leistungsfähigkeit allmählich abzunehmen pflegt;
dafür steigert der Rausch, dem man eine unmittelbar verderbliche
Wirkung auf den Samen nachsagt, wiederum die Begierde. Wie
lange der verhängnisvolle Einfluss der Lues auf die Nachkommen-
schaft trotz gründlicher Behandlungsversuche fortdauern kann,
Vorbeugung.
387
ist zweifelhaft. Will man daher einer Entartung des kommenden
Geschlechtes Vorbeugen, so wird man vor allem der Verbreitung /
der genannten Gifte oder doch der Kindererzeugung durch ihre
Träger entgegenzuwirken haben, sei es durch Belehrung und Auf-
klärung, sei es durch geeignete Absperrung.
Wie weit es möglich sein wird, die Schädigungen des kind-
lichen Gehirns durch Asphyxie, Druck oder Verletzungen bei der
Geburt einzuschränken, steht dahin; vielleicht wird bessere Aus-
bildung der Hebammen, regelmässige Zuziehung von Ärzten in
schwierigen Fällen, Vermehrung der Entbindungsanstalten hie
und da die Entstehung einer Idiotie durch die Geburt zu verhindern
imstande sein. Auch die Förderung des Stillens der Frauen dürfte
für die Gesunderhaltung des jugendlichen Gehirns nicht ohne
Bedeutung sein. Wir sind längst davon zurückgekommen, die
Krämpfe der Säuglinge, die „Gichter“, als eine harmlose Erschei-
nung zu betrachten. Vielfach sind sie jedenfalls die Anzeichen
von leichteren oder schwereren Hirnerkrankungen, die dauernde
Spuren für das spätere Leben zurücklassen können, allgemeine
Nervosität, Epilepsie, Schwachsinn bis zur ausgesprochenen Ver-
blödung. Da aber die Eingangspforte für Krankheitserreger hier
wahrscheinlich vor allem im Darme liegt, wird die Ernährung mit
Muttermilch diese Gefahren sehr wesentlich vermindern können,
zumal sie auch sonst die allgemeine Widerstandsfähigkeit des
Kindes gegen krankmachende Einflüsse steigert. Der im Säug-
lingsalter drohenden Gefahr des Kretinismus kann durch Ent-
fernung aus der verseuchten Gegend oder durch Darreichung von
Thyreoidin begegnet werden.
Die Verschiedenartigkeit unter gleichen Bedingungen auf-
gewachsener Geschwister zeigt uns vielfach, wie zwingend die
Entwicklung der psychischen Persönlichkeit durch die ursprüng-
liche Veranlagung und Mischung bestimmt wird. Dennoch werden
wir auch den Einflüssen der Erziehung in der Vorbeugung
des Irreseins eine gewisse Bedeutung nicht absprechen können.
Gerade etwas absonderlich angelegte Eltern vermögen häufig
nicht die rechte Mitte zwischen grillenhafter Strenge und weich-
licher Verzärtelung zu halten, Einflüsse, die nur ein sehr kräftig
geartetes Kind ohne dauernden Schaden für die Entwicklung
seiner Persönlichkeit zu ertragen imstande ist. Der ärztliche
25*
388
V. Behandlung des Irreseins.
Berater findet hier nicht so selten Gelegenheit zu warnendem
Eingreifen. Im allgemeinen wird jedes Kind am wirksamsten
durch den Verkehr mit seinesgleichen erzogen. Darum ist sorg-
fältige Auswahl der Gefährten, Ausschliessung von verdorbenen
oder entarteten Kameraden besonders für psychopathisch ver-
anlagte Kinder wichtig. In vereinzelten Fällen, bei sehr empfind-
lichen und erregbaren Kindern, wird zeitweise eine abgesonderte
Erziehung am Platze sein.
Allgemeine Aufmerksamkeit hat in letzter Zeit die Über-
bürdungsfrage*) der Schuljugend erregt. Es darf als wahr-
scheinlich gelten, dass kein jugendliches Gehirn wirklich in
strengem Sinne das zu leisten imstande ist, was zahlreiche Stun-
denpläne fordern. Wenn schon ein Erwachsener einer sehr ein-
fachen geistigen Arbeitsleistung nicht länger als etwa eine
Stunde zu folgen vermag, ohne deutliche, sich rasch steigernde
Ermüdungserscheinungen zu zeigen, so tritt in jüngerem Lebens-
alter und bei den schwierigeren Aufgaben des Schulunterrichtes
die Erschlaffung natürlich noch sehr viel rascher ein. Allerdings
ist die Ermüdung an sich noch keine Gefahr, da jede Tätigkeit
notwendig einen Verbrauch von Arbeitskraft mit sich bringt,
andererseits aber durch Übung die Leistungsfähigkeit steigert und
die Ermüdbarkeit herabsetzt. Wir wissen indessen, dass ein t ber-
mass von Ermüdung zur Erschöpfung und damit zu Störungen
führen kann, die sich erst langsam und in längerer Ruhe wieder
ausgleichen. Wann die schädigende Wirkung der Ermüdung im
einzelnen Falle beginnt, entzieht sich heute noch unserer Kenntnis.
Wir können nur allgemein sagen, dass dieser Punkt erreicht ist,
sobald sich die Arbeitsermüdung nicht mehr regelmässig von
einem Tage zum anderen wieder ausgleicht. Es kann zugegeben
werden, dass die grosse Mehrzahl der gesunden und kräftig ver-
anlagten Schüler Spannkraft genug besitzt, um auch über unge-
wöhnlich hohe Anforderungen ohne bleibende Nachteile hinweg-
zukommen. Ebenso sicher ist es aber auch, dass sich in jeder
Schule eine Reihe von Kindern befinden, die bei sonst guter Be-
gabung eine ganz besonders hohe Ermüdbarkeit besitzen, leicht
die Zeichen von Dauerermüdung aufweisen und daher der sorgfäl-
*) Ben da, Nervenhygiene und Schule. 1900.
Vorbeugung.
389
tigen Beobachtung durch den Arzt bedürfen. Überall haben
wir nicht nur mit Kindern aus krankhaft entarteten Familien,
sondern auch mit solchen zu rechnen, die späterhin selbst mehr
oder weniger schwer psychisch erkranken. Eines der Zeichen
der Entartung aber ist zweifellos grosse Ermüdbarkeit, die sich,
wie es scheint, vielfach mit grosser Übungsfähigkeit verbindet
und durch sie bis zu einem gewissen Grade verdeckt werden kann.
In der Schule werden die Gefahren der Übermüdung durch
das Einschieben von Erholungspausen zwischen die einzelnen
Unterrichtsabschnitte einigermassen wieder ausgeglichen. Frei-
lich ist die Dauer dieser Pausen wahrscheinlich viel zu kurz be-
messen, als dass sie eine ausreichende Erholung bieten könnten,
namentlich gegen Ende des Tagesunterrichtes. Glücklicherweise
indessen gibt es ein Sicherheitsventil, welches verhindert, dass
infolge der geistigen Überanstrengung schwere Gefahren für
das heranwachsende Geschlecht heraufgeführt werden — das
ist die Unaufmerksamkeit, die gerade dann hilfreich ein-
tritt, wenn die Anspannung notwendig zu einer Erholung drängt.
Leider versagt dieses Ventil, sobald von dem Schüler nicht bloss
Stillsitzen, sondern wirkliche Arbeitsleistung gefordert wird. Das
ist der Fall einmal bei der Hausarbeit, die eben überwältigt werden
muss, gleichgültig, ob sie dem Schüler viel oder wenig Zeit
kostet, ob er müde und erschöpft oder frisch ist. Sodann aber
ist es bekanntlich möglich, durch kräftigen Antrieb das Gefühl
der Müdigkeit zu unterdrücken und den Schüler zu einer An-
spannung seiner Kräfte zu veranlassen, die sonst durch das Schutz-
gefühl der Müdigkeit unbedingt verhindert würde. Gerade die
guten, tüchtigen Lehrer können daher unter Umständen für ihre
Schüler schädlich werden, weil sie deren Aufmerksamkeit auch
dann noch zu fesseln verstehen, wenn im Laufe der ausgedehnten
Unterrichtsstunden die Ermüdung schon lange das zulässige Mass
überschritten hat.
Wir werden aus diesen Gründen vom Standpunkte des Irren-
arztes aus eine Umgestaltung des Unterrichtes nach verschie-
denen Richtungen hin anzustreben haben. Vor allem ist zu berück-
sichtigen, dass die Ermüdungseinflüsse eine fortschreitende Ab-
nahme der geistigen Leistungsfähigkeit und schliesslich auch ein
Sinken des Übungswertes der Arbeit bedingen. Darum müssen
390
V. Behandlung des Irreseins.
wir vor einer Häufung der Arbeitsstunden warnen; viel besser
würde die Verteilung derselben auf zwei tägliche Hauptabschnitte
sein, deren erster bald nach dem Erwachen aus dem Schlafe
gelegen sein muss, während der zweite etwa zwei Stunden nach
der Hauptmahlzeit zu beginnen hätte. Das sind die beiden Tages-
zeiten, zu denen die Ermüdbarkeit am geringsten ist. Jeder dieser
Abschnitte soll durch Pausen von verschiedener Länge in Unter-
abschnitte zerlegt werden, in denen ein Wechsel zwischen
schwererer und leichterer Arbeit stattfindet, der ein zeitweises
Nachlassen der geistigen Anspannung ermöglicht. Die schwierig-
sten Lehrstoffe werden dabei zuerst zu behandeln und die
häuslichen Arbeiten bei der Bemessung der Gesamtarbeitszeit
sorgfältig mit zu berücksichtigen sein.
Da das mechanisch Erlernte, wie der Versuch lehrt, sehr
rasch wieder aus unserem Gedächtnisse schwindet und zudem nur
in äusserst geringem Masse begrifflich verarbeitet wird, so ist
das einfache Auswendiglernen zielbewusst und unerbittlich aus
dem Lehrplane zu verbannen. Jene Arbeitsleistung ist nicht nur
völlig unnütz, sondern zugleich ungemein anstrengend. Es darf
sogar als nicht unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass massen-
haftes Auswendiglernen geradezu ein Hemmnis der höheren gei-
stigen Ausbildung werden kann, sowohl dadurch, dass es die
Arbeitskraft in Anspruch nimmt und damit die Empfänglichkeit
nach anderen Richtungen hin vermindert, als auch durch allzu
starkes Betonen der motorischen Sprachvorstellungen und der rein
gewohnheitsmässigen Ideenverbindungen in unserem Seelenleben.
Eine besondere Belastung des jugendlichen Gehirns wird
durch die hochnotpeinlichen Prüfungen bewirkt. Hier gilt es
nicht nur, einen umfangreichen Gedächtnisstoff aus den ver-
schiedensten Wissensgebieten zu einer bestimmten Stunde ver-
wendungsbereit zu halten, sondern dazu kommt noch die gemüt-
liche Erregung im Hinblicke auf einen möglichen Misserfolg.
Kein Wunder, dass noch nach langen, langen Jahren das Schreck-
gespenst der Abschlussprüfung im Traume wieder aufzutauchen
pflegt. Diese Kraftprobe kann in den Entwicklungsjahren für
Einzelne gewiss eine Gefahr bedeuten und zum Anknüpfungs-
punkte für schwer sich ausgleichende Zustände von Nervosität
werden.
Vorbeugung.
391
Bei alledem darf selbstverständlich nicht ausser Acht ge-
lassen werden, dass nur in einem gesunden Körper eine gesunde
Seele wohnen kann. Sorge für einfache, aber ausreichende Er-
nährung, richtige Verteilung von Arbeit und Erholung, aus
reichenden Schlaf, Fernhaltung von aufregenden Vergnügungen,
namentlich am Abend, endlich gänzliches Meiden aller Nerven-
gifte, vor allem des Alkohols*), sind daher . selbstverständliche
Erziehungsregeln. Ausserdem wird die ausgiebigste Pflege und
Entwicklung der körperlichen Kraft und Gewandtheit durch
Leibesübungen aller Art, reichliche Bewegung im Fteien, Wan-
dern, Baden, Handfertigkeitsunterricht das beste Gegengewicht
gegenüber den Gefahren abgeben, die aus der einseitigen unc
übertriebenen Anspannung der geistigen Kräfte erwachsen
können. Zu berücksichtigen ist dabei indessen,, dass auch körper-
liche Ermüdung die geistige Leistungsfähigkeit herabsetzt, dass
daher anstrengende körperliche Übungen nicht in die Mitte,
sondern nur an das Ende des eigentlichen Schulunterrichtes
gelegt werden dürfen.
Eine Reihe dieser Forderungen finden sich vielfach, an-
nähernd wenigstens, bereits erfüllt, oder ihre Durchführung wild
doch von einsichtigen Schulmännern planmässig erstrebt. Was
aber am wichtigsten, leider auch am schwersten erreichbar er-
scheint, wäre eine immer weitergehende Sonderung der ver-
schiedenen Schülergruppen nach ihrer Eigenart, namentlich nach
ihrer Ermüdbarkeit. Durch diese Massregel könnten die Ge-
fahren der Überbürdung sehr wesentlich vermindert werden.
Wollte man sich einmal dazu entschliessen, über diesen Punkt
umfassende Untersuchungen anzustellen, so würde die Wichtig-
keit einer solchen Abtrennung für alle Teile klar vor Augen
liegen. Durch die Einrichtung von besonderen Klassen, für Un-
befähigte ist übrigens in einer Reihe von Städten schon ein erster
Schritt in der Aussonderung der durch den Unterrichtsbetrieb
gefährdeten und zugleich diesen selbst hemmenden Schüler getan.
Die Lösung der hier kurz angedeuteten Fragen kann nur
durch das planmässige Zusammenwirken von Lehrer und Arzt
*) Kraepelin, Alkohol und Jugend. 1902.
392
V. Behandlung des Irreseins.
1 erreicht werden. Die Anstellung von Schulärzten*), mit der jetzt
vielfach begonnen worden ist, erscheint daher auch für die
Vorbeugung des Irreseins von Bedeutung. Vor allem wird der
Schularzt imstande sein, alle diejenigen Kinder, die nach ihrem
körperlichen und geistigen Zustande den Anforderungen der
Schule nicht gewachsen sind, von vornherein auszuscheiden oder
doch der besonderen Berücksichtigung zu empfehlen; sie ent-
gehen dadurch den Gefahren, welche die Durchführung der Schul-
arbeit und der Schulzucht sonst für sie mit sich bringen würde.
Zugleich wird der Schularzt rechtzeitig die Behandlung solcher
körperlicher Leiden veranlassen können, welche leicht zu gei-
stiger Verkümmerung, Erschöpfung oder Erregbarkeitssteigerung
1 führen, Ohrenerkrankungen, Wucherungen im Nasenrachenraum,
Blutarmut, Bleichsucht, Menstruationsstörungen.
Besondere Aufmerksamkeit ist vor und in den Entwücklungs-
jahren auf die Überwachung der geschlechtlichen Regungen zu
richten. Wenn auch für gesunde Kinder die Klippen dieser Zeit
nicht allzu gefährlich sind, gewinnt bei krankhafter Veranlagung
das Geschlechtsleben sehr oft einen unverhältnismässig grossen
Spielraum. Die Begierden erwachen früh und bei geringfügigen
Anlässen; sie beschäftigen die Einbildung auf das lebhafteste
und führen leicht zu leidenschaftlicher und hartnäckiger Mastur-
bation, namentlich unter dem Einflüsse der Verführung. Er-
ziehungsanstalten, in denen sich gern derartige Gewohnheiten
ausbilden, sind daher für geschlechtlich erregbare Kinder eine
^ entschiedene Gefahr. Sehr häufig wird auch durch besondere
geschlechtliche Erlebnisse in der Jugend bei psychopathischen
Kindern der Keim zu jenen mannigfaltigen Verirrungen des Ge-
schlechtstriebes gelegt, die wir früher geschildert haben. Ver-
nünftige, rechtzeitige Aufklärung, Fernhaltung von schlechtem
Umgang und schlüpfriger Lektüre, planmässige Erziehung zu
reichlicher körperlicher Betätigung sind die Mittel, die uns zur
Bekämpfung aller dieser Gefahren zu Gebote stehen.
Im späteren Leben fällt der Vorbeugung des Irreseins die
doppelte Aufgabe zu, einmal den Einzelnen vor den nach seiner
besonderen Anlage drohenden Gefahren zu schützen, andererseits
*) Weygandt, Münchener Medizinische Wochenschrift. 1900, 5.
Vorbeugung.
393
jene allgemeineren Ursachen zu bekämpfen, die erfahrungs-
gemäß bei der Entstehung geistiger Erkrankungen eine her-
vorragende Rolle spielen. Nach der ersteren Richtung hin
wird ein einsichtsvoller Hausarzt ohne Zweifel sehr segens-
reich wirken können. Hier gilt es vor allem, die persön-
liche Eigenart zu berücksichtigen. Da die Leistungs- und
Widerstandsfähigkeit der Menschen überaus ungleich verteilt
ist, so wird es Sache des Arztes sein, unter sorgfältiger Ab-
schätzung dieser beiden Eigenschaften die Wahl des Berufes
und die gesamte Lebensführung nach Möglichkeit zu über-
wachen. Namentlich dort, wo eine krankhafte Veranlagung be-
steht, sind alle Berufsarten, welche die Gefahren geistiger oder
gemütlicher Überanstrengung, grosser Verantwortlichkeit in sich
schliessen, auf das entschiedenste zu widerraten. Hier passen
nur Beschäftigungen, die ein ruhiges, gleichmässiges Leben ohne
Aufregungen und Kämpfe, am besten mit reichlichem Aufent-
halte im Freien gestatten. Ebenso muss bei gefährdeten Per-
sonen von vornherein auf die Fernhaltung von Ausschweifungen,
auf die Sorge für ausreichende Erholung und Ernährung sotvie
für guten Schlaf in besonderer Weise Bedacht genommen werden.
Natürlich kann sich das ärztliche Handeln im einzelnen Falle
hier überaus mannigfaltig gestalten; die zuverlässigste Richt-
schnur desselben wird dabei immer aus einer genauen Kenntnis
der ursächlichen Verhältnisse des Irreseins zu entnehmen sein.
Die allgemeine Vorbeugung der Geisteskrankheiten
bietet zwar ebenfalls vielfache Angriffspunkte, aber zumeist sehr
weitaussehende und über den Bereich der ärztlichen Tätigkeit
hinausgehende Aufgaben. Alle Massregeln, welche die aufreibende
Gewalt des Daseinskampfes zu mildern, welche Not, Elend und
Krankheit zu lindern vermögen, dienen auch zugleich der Ver-
hütung des Irreseins. Eine besondere ärztliche Wichtigkeit haben
von denselben vor allem der Kampf gegen Trunksucht und
Syphilis, der gerade vom ärztlichen Stande mit allen zu Gebote
stehenden Mitteln geführt werden müsste. Die Gleichgültigkeit,
mit welcher die grosse Masse der Ärzte, der berufenen Hüter der
Volksgesundheit, den hier erwachsenden Aufgaben gegenüber-
steht, trägt einen wesentlichen Teil der Schuld an dem namen-
losen Unglück, das alljährlich durch Alkoholsiechtum und Para-
394
V. Behandlung des Irreseins.
lyse über unser Volk gebracht wird. Könnten wir Trunksucht
und Syphilis aus der Welt schaffen, so würden wir die Zahl der
Geisteskranken mindestens um ein Viertel, in den Grossstädten
um die Hälfte uM noch mehr verringern. Leider aber tragen
wir Ärzte, abgesehen von Unterlassungssünden, auch noch un-
mittelbar zur Vermehrung des Irreseins bei. Die erschreckende
Ausbreitung des Morphinismus, des Cocainismus und anderer
ähnlicher Vergiftungen, welche uns die letzten Jahrzehnte ge-
bracht haben, ist ausschliesslich auf Rechnung des ärztlichen
Standes zu setzen. Wir haben jene Geissein der Menschheit ge-
flochten und geben sie ihr noch heute Tag für Tag in die Hand —
wir haben daher auch die heilige Verpflichtung, alles zu tun,
was in unseren Kräften steht, um das von uns verschuldete Unheil
wieder aus der Welt zu schaffen!
Eine weitere Aufgabe, zu deren Lösung wir Ärzte in erster
Linie beizutragen berufen sind, ist die Einrichtung und Fortbil-
dung einer schnell und umsichtig arbeitenden Irrenfürsorge,
die nicht nur die Übertragung der psychischen Entartung auf die
Nachkommenschaft bis zu einem gewissen Grade beschränken
kann, sondern sicherlich auch vielfach imstande ist, die Entwick-
lung schwerer Krankheitsformen durch rechtzeitiges Eingreifen
zu verhüten. Ungeheures geradezu hat das letzte Jahrhundert
nach dieser Richtung hin geleistet, aber es gibt doch noch immer
genug und übergenug zu tun, um dem unheimlich anwachsenden
Bedürfnisse wenigstens einigermassen gerecht zu werden. ^ er-
breitung richtiger Vorstellungen über Geisteskranke und Irren-
anstalten*), verständige Hilfe bei der ersten Fürsorge in Krank-
heitsfällen, rechtzeitige Erkennung der Gefahr, Mitwirkung bei
der Heranziehung geeigneter Kräfte zur Pflege unserer Kranken
— das alles sind Richtungen, in denen auch derjenige Arzt für
die Verhütung und Bekämpfung des Irreseins eine segensreiche
Tätigkeit entfalten kann, der nicht die Behandlung Geisteskranker
zu seinem Lebensberufe gemacht hat.**)
Ganz besondere Aufgaben stellen der vorbeugenden Fürsorge
*) Fürstner, Wie ist die Fürsorge für Gemütskranke von Ärzten und
Laien zu fördern? 1899.
**) F u c h s , Der Hausarzt als Psychiater, Volkmanns Vorträge, Innere
Medizin, 74.
Vorbeugung.
395
diejenigen, die in Gefahr sind, geistig zu erkranken, und diejenigen,
die es schon einmal waren. Für die ersteren gilt es, aussei halb
des Rahmens der eigentlichen Irrenanstalten Heilstätten zu
schaffen, in denen sie sachverständigen Rat und angemessene
Behandlung finden. Diesem Ziele dient die in lebhaftem I lusse
befindliche Bewegung zur Errichtung von Nervenheilanstal-
ten. Da ihnen jede Freiheitsbeschränkung fehlt, werden sie
nicht mit den Vorurteilen zu kämpfen haben, die dem Eintritte
in eine Irrenanstalt noch immer entgegenstehen. Es ist daher
zu erwarten, dass die neue Einrichtung wesentlich dazu dienen
wird, den leichteren Formen psychischer Erkrankung rechtzeitig
Hilfe zu bringen und damit der Entwicklung schwerer Störungen
vorzubeugen. Dem Schutze der Entlassenen vor Rückfällen dienen
dagegen die Hi lfs vereine für Geisteskranke, die mit ihnen Füh-
lung behalten, ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehen und auf
diese Weise nach Möglichkeit die Rückkehr in geordnete Lebens-
verhältnisse erleichtern. Es liegt auf der Hand, dass durch dieses
Eingreifen die Gefahr von Rückfällen für die noch wenig wider-
standsfähigen und hilfsbedürftigen Kranken wesentlich vermindert
werden kann.
Bei der grossen Tragweite, die jede Geistesstörung nicht
nur für den Erkrankten selber, sondern für seine ganze Um-
gebung, seine Gemeinde, seine Nachkommen besitzt, ist die
Verhütung des Irreseins eine öffentliche Angelegen-
heit. Der Staat*) hat dringendsten Anlass, den Kampf gegen
die Geisteskrankheiten mit allen ihm zu Gebote stehenden Macht-
mitteln aufzunehmen. Er allein ist auch in der Lage, die grossen
Aufgaben erfolgreich in Angriff zu nehmen, die dieser Kampf
ihm stellt. Neben dem Bau und dem Betriebe von Anstalten
ist es ganz besonders die Ausbildung eines leistungsfähigen und
arbeitsfreudigen irrenärztlichen Standes, die ihm obliegt,
sodann die Förderung der psychiatrischen Wissenschaft,
ohne die das Werk hiemals gedeihen kann, endlich die Ausbreitung
von Kenntnissen in der Seelenheilkunde bei den von ihm ausgebil-
deten beamteten und praktischen Ärzten durch klinischen Unter-
richt und Fortbildungskurse. Grosses ist nach allen diesen Rich-
*) Kraepelin, Die psychiatrischen Aufgaben des Staates. 1900.
396
V. Behandlung des Irreseins.
tungen hin schon erreicht worden; vieles aber bleibt noch von
der Zukunft zu fordern und zu erhoffen.
B. Körperliche Behandlung.
Arzneimittel. Unter den Arzneimitteln sind es besonders die
Narkotica, die wegen ihrer beruhigenden Wirkung eine her-
vorragende Stelle in dem Heilapparate der Geistesstörungen ein-
nehmen. Seit alter Zeit ist das Opium im Gebrauch. Es wirkt
auf gewisse Verrichtungen unseres Grosshirns lähmend, beson-
ders, wie es scheint, bei ungenügender Blutzufuhr zu demselben.
Eine genaue Kenntnis seines Einflusses auf die verschiedenen
psychischen Leistungen fehlt bisher noch. Wie die Erfahrung
lehrt, sind Aufregungen, vor allem Angstzustände oder solche,
die durch schmerzhafte Reizungen erzeugt oder unterhalten wer-
den (Neuralgien, krankhafte Empfindungen, Präkordialangst),
seiner Einwirkung am meisten zugänglich; hier wird (durch nicht
zu kleine Gaben) Beruhigung und mittelbar Schlaf erzielt. Nicht
am Platze ist das Opium bei starken Stauungen im Gehirn (an-
dauerndes hohes Fieber), grosser körperlicher Hinfälligkeit und
namentlich Herzschwäche. Als unangenehme Nebenwirkungen
sind die Verdauungsstörungen (Appetitlosigkeit, hartnäckige Ver-
stopfung) zu beachten. Meist wird das Opium von Geisteskranken
recht gut vertragen. Es gibt jedoch zweifellos Fälle, in denen
bei sehr hohen Opiumgaben die bekämpften ängstlichen Auf-
regungszustände geradezu schlimmer werden; Vorsicht ist also
unter allen Umständen geraten. Das gebräuchliche Präparat ist
Tinctura Opii simplex innerlich (oder eine Lösung von Extr. Opii
aquos. 1 : 20 subcutan, zur Vermeidung von Abscessen oft frisch
zu bereiten), bei planmässiger Anwendung in steigender Gabe
von 10 — 20 Tropfen (0,05 — 0,1 Extrakt) 2 — 3mal täglich, bis
zum doppelten oder selbst dreifachen, wenn nicht schon früher
die erstrebte Beruhigung eintritt; später allmähliches Herunter-
gehen mit der Gabe.
Wegen der grösseren Gleichmässigkeit der Wirkung, der
sichereren Abmessung und der bequemeren (subcutanen) Hand-
habung ist an Stelle des Opiums in neuerer Zeit vielfach das
Arzneimittel.
397
Morphium getreten, welches im übrigen wesentlich dieselben
Vorzüge und Nachteile besitzt wie jenes Mittel. Das Morphium
erzeugt nach den bisher vorliegenden Versuchen in massigen
Gaben wesentlich eine Herabsetzung der centralen Schmerz-
empfindlichkeit sowie eine Lähmung des Willens bei gleichzeitiger
Erleichterung des Vorstellungsverlaufes. Es ist kein Schlaf-,
sondern nur ein Beruhigungsmittel; bei dauerndem Missbrauche
stellt es vorübergehend die verloren gegangene geistige Frische
und Leistungsfähigkeit wieder her.
Die Morphiumbehandlung ist ebenfalls zu einer planmässigen
Kur ausgebildet worden, die bei chronisch-melancholischen, be-
sonders ängstlichen Zuständen mit Parästhesien oder Schmerzen
bisweilen gute Dienste zu leisten scheint. Unser Bestreben muss
indessen durchaus dahin gehen, den Gebrauch des Morphiums so-
weit wie nur irgend möglich einzuschränken. Abgesehen
davon, dass bei einzelnen Kranken, namentlich bei Frauen, schon
auf sehr kleine Gaben Morphium (0,01 und weniger) recht unan-
genehme Störungen (Erbrechen, Aufregung, Ohnmächten, Harn-
verhaltung) auftreten, und dass bei Anwendung grösserer Mengen
auch nach Stunden noch unvermutet schwere, selbst tötlich aus-
gehende Vergiftungserscheinungen sich einstellen können, ist vor
allem an die kaum hoch genug anzuschlagende, schwere Gefahr
des chronischen Morphinismus zu erinnern, mit der wir uns später
eingehend zu beschäftigen haben werden.
Von den näheren Verwandten des Morphiums sind noch das
Dionin, Codein und Peronin*) für psychiatrische Zwecke
empfohlen worden. Sie sollen ähnlich, aber schwächer wirken,
als das Morphium, und selbst bei längerem Gebrauche nicht die
schwere Allgemeinerkrankung erzeugen wie jenes. Im wesent-
lichen handelt es sich um minderwertige Ersatzmittel des Mor-
phiums, für deren Anwendung bei uns kaum Anlass vor liegen
dürfte.
Dagegen können wir als ein für die irrenärztliche Behandlung
recht wertvolles Mittel das von Gnauck**) zuerst bei Geistes-
*) Fischer, Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte. 1888, 19; Winter-
nitz, Monatsschr. f. Psych., VII, 38, 1900; Meitzer, Therap. Monatsschr.
1898, Juni; Ransohoff, Psychiatr. Wochenschr. 1899, 20.
**) Gnauck, Charite-Annalen, VII; Sohrt, Pharmakotherapeutische-
398
V. Behandlung des Irreseins.
kranken angewandte Hyoscin (Ladenburg) bezeichnen.
Dieses Alkaloid (Chlor-, Brom- oder Jodverbindung) erzeugt in
subcutaner Gabe von 0,0005—0,001 gr mit nicht übertroff ener
Sicherheit einen nach 10—15 Minuten eintretenden tiefen Schlaf.
Bei innerlicher Anwendung, die wegen der völligen Geschmack-
losigkeit des Mittels keine Schwierigkeiten hat, kann die Gabe
auf das doppelte steigen. Die Nebenerscheinungen sollen dabei
schwächer ausfallen, als bei der Einspritzung unter die Haut,
Die Vergiftung wird eingeleitet durch Eingenommenheit des
Kopfes, Trockenheit im Halse, Schwere der Zunge, Unsicherheit
beim Gehen und eine mehrere Tage, selbst Wochen lang an-
dauernde, hochgradige Pupillenerweiterung. Bei grösseren Gaben
scheinen Übelkeit, Unregelmässigkeit des Pulses, Atmungsbehin-
derung, Gesichtstäuschungen, selbst Delirien und Collapszustände
auftreten zu können, doch haben hier vielleicht gelegentlich \ er-
unreinigungen eine gewisse Rolle gespielt. Ich selbst konnte
wenigstens niemals bedrohlichere Erscheinungen beobachten, ob-
gleich ich wegen ungünstiger äusserer Verhältnisse das Mittel
durch eine Reihe von Jahren überaus häufig habe in Anwendung
ziehen müssen. Nur besteht nach dem Erwachen gewöhnlich das
Gefühl von Abgeschlagenheit und ein leichter Druck im Kopfe,
der sich meist bald verliert. Das Hyoscin ist demnach ein äusserst
kräftig wirkendes Mittel, welches überall dort, wo die dringende
Notwendigkeit besteht, rasch Beruhigung und Schlaf zu verschaf-
fen, zuverlässig und meist ohne erhebliche Nachteile seine V ir-
kung tut. Schwere tobsüchtige oder deliriöse Erregungszustände
bei manisch-depressivem Irresein, Paralyse, Epilepsie, Katatonie,
unter Umständen auch im Delirium tremens oder Gollapsdelirium,
kommen hauptsächlich in Betracht. Gegen die Angst leistet das
Hyoscin nichts. Dagegen scheint hier bisweilen eine Verbindung
kleiner Gaben von Hyoscin mit Morphium gute Dienste zu tun.
Bei längerem Gebrauche tritt allmählich eine gewisse Gewöhnung
ein, die zu langsamer Erhöhung der Gabe führt. Besondere Stö-
rungen, wie etwa Appetitlosigkeit, Rückgang der Ernährung oder
Studien über das Hyoscin. Diss. 1886; Konrad, Centralbl., f. Psych., 1SSS.
18; Klinke, ebenda, 1889, 7; Dornblüth, Therap. Monatshefte, 1889,
8, 361; S erg er, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XLVII, 308; Bumke,
Monatsschr. f. Psychiatrie, Januar 1903.
Arzneimittel.
399
dergl., haben sich mir dabei niemals herausgestellt; ebensowenig
führt das Aussetzen des Mittels zu Entziehungserscheinungen. Da
aber auf der anderen Seite auch keine dauernde Beruhigung er-
zielt wird, sondern nach dem Verschwinden der Ermattung die
Aufregung in alter Weise wiederzukehren pflegt, so dürfte sich
das Hyoscin wegen seiner gewaltigen Wirkung nur für die ge-
legentliche, wurfweise Anwendung eignen. Ferner wird man gut
tun, bei sehr heruntergekommenen Kranken und beim Bestehen
von Kreislaufsstörungen das Mittel zu vermeiden oder doch mit
grosser Vorsicht zu handhaben.
Zum Ersatz des Hyoscins ist mehrfach das Duboisinum
sulfuricum*) empfohlen worden, da es weniger gefährlich
sei. Es wird in Gaben von 0,5—2 Milligramm unter die Haut ge-
spritzt, scheint ziemlich sicher zu wirken, aber nach den vorliegen-
den Berichten doch nicht so ganz harmlos zu sein. Ein wesent-
licher Vorteil vor dem gut erprobten Hyoscin lässt sich bisher
nicht erkennen.
Über das Haschisch sind nur wenige verwertbare Beob-
achtungen bekannt geworden, ein Umstand, der seinen Grund
hauptsächlich in der Unsicherheit und Verschiedenheit der zugäng-
lichen Präparate haben dürfte. Von den Bestandteilen desselben
hat das Cannabinon**) noch am meisten praktische Ver-
wertung gefunden. Leider ist das gebräuchliche Präparat keines-
wegs rein. Man gibt dasselbe als Schlafmittel in Dosen von 0,1
bis 0,2 gr, am besten in Pillen oder mit fein zerriebenem Kaffee-
pulver. Da die schlaf machende Wirkung, die nach etwa 2 3
Stunden eintritt, nicht sehr sicher und öfters von unangenehmen
Nebenerscheinungen begleitet ist, wird das Mittel wenig mehr
gebraucht. Auch dem Pel lotin (0,02—0,04 g), einem Alkaloid
aus gewissen Cactusarten, das Schlaf, aber auch Schwindel-
erscheinungen erzeugt, scheinen keine nennenswerten Vorzüge
eigen zu sein.
Eine zweite Gruppe von Arzneimitteln, welche in der Behand-
*) Ostermeyer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XL VII, 278, Prei-
n i n g e r, ebenda, XLVIII, 134; B e 1 m o n d o, Rivista, sperimentale di freniatria,
1892; Sk een, Journal cf Inental science, 1897, July.
**) Richter, Neurolog. Centralblatt, III, 21; IV, 1.
400
V. Behandlung des Irreseins.
hmg des Irreseins hervorragende Wichtigkeit erlangt haben, ist
diejenige der eigentlichen Schlafmittel*). Vor mehr als zwei
Jahrzehnten wurde von Liebreich das Chloralhydrat**)
empfohlen, welches mit grosser Sicherheit in Gaben von 2 — 3gr,
meist ohne andere Nachwehen, als eine gewisse Benommenheit
des Kopfes, einen länger dauernden, ruhigen Schlaf herbeiführt.
Da es ebensowenig wie die übrigen Schlafmittel Schmerzen stillt,
so hat man es bisweilen mit Morphium verbunden. Wegen seiner
ätzenden Eigenschaften und seines unangenehmen Geschmackes
gibt man das Chloralhydrat in stark verdünnter, schleimiger
Lösung als Klysma, oder innerlich unter Zusatz von Aqua Menthae
piperitae, Syrupus Liquiritiae oder corticum Aurantii. Seine An-
wendung findet das Mittel bei schwerer Schlaflosigkeit in den
verschiedensten Formen des Irreseins. Leider pflegt sich bei
längerem Gebrauche nach und nach eine wachsende Unempfindlich-
keit gegen das Mittel einzustellen, die zur Darreichung höherer
Gaben verführt. Nach dieser Richtung hin ist indessen grosse
Vorsicht geboten, da die fortgesetzte Anwendung des Chloral-
hydrats Verdauungsstörungen und Gefässlähmungen nach sich
zieht. Das häufigste Zeichen der chronischen Chloralvergiftung
ist der sog. „Rash“, eine namentlich beim Genüsse von Alkohol
oder heissen Flüssigkeiten auftretende fliegende Röte und Hitze
mit starker Pulsation, besonders am Kopfe und Halse; ferner
hat man Hautausschläge, Neigung zu Ödemen und Druckbrand,
endlich Zustände von dauernder stumpfer Benommenheit infolge
des Chloralmissbrauches beobachtet, die erst nach dem Aus-
setzen des Mittels langsam wieder schwinden. Gefährlich und
darum gänzlich zu vermeiden ist die Anwendung des Chloralhydrats
bei Herz- und Gefässerkrankungen (Fettherz, Myokarditis, Klap-
penfehler, Atherom u. s. f.); schon nach 5 gr wurden plötzliche
Todesfälle gesehen.
Einen ausgezeichneten Ersatz für das Chloralhydrat, der das
immerhin bedenkliche Mittel völlig entbehrlich macht, haben uns
*) Würschmidt, Über einige Hypnotica, deren Anwendung und W ir-
kung bei Geisteskranken. 1888; v. Krafft-Ebing, Wiener Klinische V ochen-
schrift. 1890, 2 u. 3.
**) Schüle, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, XXVIII, 1; Archiv für
Psychiatrie, V, 271 ; Arndt, ebenda, III, 673.
Arzneimittel.
401
Cer vello und Morse 1 1 i im Par aldehyd*) kennen gelehrt.
Das Mittel bewirkt in mittleren Gaben von 5 gr, die man ohne
Bedenken auf das Doppelte und selbst Dreifache steigern kann,
schon nach 10 — 12 Minuten sehr regelmässig einen tiefen, ruhigen,
dem natürlichen durchaus gleichenden, mehrstündigen Schlaf. Die
Müdigkeit tritt mit fast unwiderstehlicher Gewalt ein, geht aber,
wenn äussere Störungen, Schmerzen und dergl. vorhanden sind,
rasch wieder vorüber, so dass wesentlich das Einschlafen,
weniger der spätere Schlaf unter dem Einflüsse des Mittels steht.
Unangenehme Nachwirkungen, Eingenommenheit des Kopfes sind
hier äusserst- selten, wirkliche Gefahren anscheinend ausgeschlos-
sen, (da 50, ja selbst 105 gr des Mittels bereits ohne schädliche
Folgen genommen wurden. Muss demnach das Paraldehyd als
ein überaus wertvolles Schlafmittel bezeichnet werden, so hat
es den recht störenden Nachteil eines sehr widerlichen, kaum
zu verdeckenden Geschmackes und Geruches, der wegen der Aus-
scheidung durch die Lungen noch 12 — 24 Stunden nach dem Ein-
nehmen zurückbleibt. Die verhältnismässig angenehmste Form
der Darreichung ist die Vermischung mit Wein oder mit einer
aromatischen Tinktur, Syrup und Wasser (Umschütteln 1). In sehr
vereinzelten Fällen wird es übrigens vom Magen in jeder Form
zurückgewiesen; 'man wird dann allenfalls die Verabfolgung im
Klysma (in Ölemulsion) oder als Stuhlzäpfchen (mit 20% Paraf-
fin im Wasserbade vereinigt) versuchen können. Bei längerem
Gebrauche kann der Appetit leiden.
Das letzte Jahrzehnt hat uns in rascher Folge noch mit einer
Reihe mehr oder weniger brauchbarer Schlafmittel bekannt ge-
macht. Das von v. Mering zuerst empfohlene Amylen-
hydr at**) (2—5 gr) belästigt den Magen weniger, als das Paral-
dehyd, und riecht auch nicht unangenehm, während der Geschmack
nach meinen Erfahrungen bei den Kranken mindestens auf den
gleichen Widerwillen stösst. Die Wirkung tritt langsamer ein
und ist weniger sicher.
“*) Morselli, Gazetta degli ospedali. 1883, 4, 5, 6; Referat im Neurolog.
Centralblatt, II, 9; Gugl, Zeitschr. f. Therapie. 1883; v. Krafft-Ebing,
ebenda, 1887, 7; Raimann, Wiener Klin. Rundschau. 1899, 19—21; Bumke,
Monatsschr. f. Psych., XII, 489, 1902.
**) Lehmann, Neurolog. Centralblatt. 1887, 20; Schlöss, Jahrb.
f. Psychiatrie. 1888, 1, 2; Avellis, Deutsche Medizin. Wochenschr. 1888, 1.
Kraepelin, Psychiatrie X. 7. Aufl. 96
402
V. Behandlung des Irreseins.
Eine Verbindung von Amylenhydrat und Chloralhydrat hat
Fuchs unter dem Namen „D o r in i o 1“*) in den Handel gebracht.
Das Mittel, das ähnlich schmeckt wie Amylenhydrat, wird zu
0,5 2 oder 3 gr gegeben in einfacher lOprozentiger Lösung oder
in Kapseln, auch im Klysma. Die Wirkung tritt meist nach l/2
bis 1 Stunde ein und scheint im ganzen befriedigend zu sein.
Besondere Nachteile des Mittels sind bisher nicht bekannt ge-
worden.
Grössere Verbreitung hat das von Käst eingeführte S u 1 -
fonal**) gefunden. Das Mittel ist geruchlos, fast geschmack-
los und beeinträchtigt die Verdauung erst bei längerem Gebrauche.
Dagegen wird es wegen seiner Schwerlöslichkeit verhältnismässig
langsam aufgesogen und wirkt darum nach, so dass grosse Müdig-
keit und Schwäche in den Beinen am folgenden Tage nicht seltene
Erscheinungen sind. Diese Nachwirkung, die bisweilen noch in
der nächsten Nacht Schlaf bringt, kann unter Umständen, bei
dauernd erregten Kranken, die man an die Bettruhe gewöhnen
will, geradezu erwünscht sein. Bei fortgesetzten hohen Gaben
tritt nach anfänglich sehr geringer Wirkung bisweilen plötzlich
tagelange Schlafsucht auf, wahrscheinlich durch raschere Lösung
angesammelter Mengen des Mittels; es sind auch schon eine
Reihe von Todesfällen nach einmaliger wie nach fortgesetzter
Darreichung bekannt. Es kommt dabei zu Magen- und Darmblu-
tungen, Verfettung von Herz, Leber und Nieren, namentlich aber
zu einer schweren chronischen Blutzersetzung. Grosse Schläfrig-
keit, Unsicherheit der Bewegungen, Blässe, Übelkeit, Erbrechen,
Durchfälle und besonders Rotfärbung des Harns durch Hämato-
porphyrin***) sind wichtige Warnungszeichen. Es erscheint daher
dringend geraten, das Sulfonal, namentlich bei ^ erstopfung, nie-
mals längere Zeit hintereinander und nicht in Gaben über 2 gr
*) Wederhake, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 778; Schnitze,
Neurolog. Centralblatt. 1900, 249; Meitzer, Psychiatr. Wochenschr. 1902, 50.
**) Käst, Berl. Klin. Wochenschr. 1888, 16; Therapeutische Monatshefte,
1888, Juli; Cr am er, Münchener Mediz. Wochenschr. 1888, 24; Therapeutische
Monatshefte, 1888, 8; ebenda 1888, 24; 0 1 1 o, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie,
XLV, 4; Vorster, ebenda, XLII, 1; Schedtler, ebenda, XL, 3 u. 4.
***) Schulz, Neurol. Centralblatt. 1896, 866; Stokvis, Zeitschr. f. kli-
nische Medizin, XXVIII, 1; Hoppe-Seyler u. Ritter, Münchener Me-
dizin. Wochenschr., XLIV, 14; Frankel, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 9o3.
Arzneimittel.
403
in Anwendung zu bringen. Am besten gibt man das Mittel 1 2
Stunden vor dem Schlafengehen in grösseren Mengen heisser
Flüssigkeit (Thee, Suppe) gelöst.
Vor dem Sulfonal hat das Trional*) den Vorzug etwas
leichterer Löslichkeit. Es wirkt daher schneller und nicht ganz
so lange nach, doch lässt sich sein Einfluss durch ^feinere Mes-
sungen am Abende des nächsten Tages noch deutlich nachweisen.
Die psychischen Wirkungen des Trionals bestehen wesentlich in
einer bedeutenden Erschwerung der Auffassung und in einer
Störung der Bewegungsantriebe, während die Vorstellungs-
verbindungen und die Muskelkraft nicht beeinflusst werden. V iel-
leicht haben wir in der angeführten Verbindung von Wirkungen
eine gemeinsame Eigentümlichkeit der Schlafmittel überhaupt \oi
uns; manche Erfahrungen bei den schon genauer untersuchten
Mitteln würden dafür sprechen, ebenso die Tatsache, dass auch
das beste Schlafmittel, die Ermüdung selbst, die Auffassung wie
die Auslösung von Bewegungsantrieben erschwert. Der Blutdruck
wird durch das Trional herabgesetzt. Die Wirkung des Mittels
ist in Gaben von 1—2 gr (in heisser Milch oder warmem Rot-
wein) eine recht sichere. Die unangenehmen Folgeerscheinungen
sind verhältnismässig geringe, doch scheinen nicht nur Belästi-
gungen des Magens und Darms, sondern in vereinzelten Fällen
auch ernstere Vergiftungen** ***)) vorzukommen, über deren Zeichen
(Ataxie, Zittern, Unbesinnlichkeit, Depression, Reizbarkeit, Blut-
zersetzung) allerdings noch wenig bekannt ist.
Eine ganze Reihe weiterer Schlafmittel, die sich im ganzen
wenig bewährt haben, noch zu wenig erprobt oder durch andere,
bessere ersetzbar sind, sollen nur noch kurz erwähnt werden.
Dahin gehört das schwach wirkende Urethan (3 5 gr
in Pfeffermünzwasser), das leidlich brauchbare Hedonak ■*)
*) Schäfer, Berl. Klin. Wochenschr. 1892, 29; Schul fcze, Thera-
peutische Monatshefte, 1891, Oktober; Hänel, Psychologische Arbeiten, H, 326;
v. Mering, Therap. Monatshefte, 1896, August; Kornfeld, Wiener Medi-
zinische Blätter, 1898, 1.
**) Gier lieh, Neurol. Centralblatt, 1896, 770; Vogel, Berliner Klin.
Wochenschr., 1899, 40; Fischer, Trionalgebrauch und rationelle Verwendung
der Schlafmittel. 1901.
***) Müller, Münchener Med. Wochenschrift. 1901, 10.
26*
404
V. Behandlung des Irreseins.
n 4 gr in Oblaten, heisser Milch oder Kognak) und V e r o n a 1*)
(0,5 gr), das unzuverlässige und ätzende Hy p non (5 10
Tropfen mit Spermacet in Gelatinekapseln), das Ural (2—3 gr),
das Chloralamid (2—3 gr), das Tetronal, das Somnal
(4 — 6 gr), I s o p r a 1 (0,5 gr), die Chloralose (0,5 1 gr),
endlich das Methylal, das zwar den Vorzug der subcutanen
Anwendbarkeit besitzt, sich aber bisher noch keine weitere Ver-
breitung in der Behandlung der Schlaflosigkeit zu erschallen
vermocht hat.
Dagegen haben wir als eines sehr milden, in gesunden wie
krankhaften Zuständen häufig genug in Anwendung gezogenen
Schlafmittels endlich noch des Alkohols zu gedenken. In nicht
zu kleinen, beim Einzelnen natürlich sehr verschiedenen Gaben
(etwa 40—60 gr) erzielt er dort, wo die Schlaflosigkeit durch
erhöhte Reizbarkeit und Übermüdung des Gehirns bedingt wird,
nicht selten recht befriedigende Erfolge. Auch bei Zuständen
innerer Spannung und Niedergeschlagenheit werden die ei leich-
ternden und beruhigenden Wirkungen des Alkohols den Eintritt
des Schlafes zu unterstützen geeignet sein. Bei hysterischer,
neurasthenischer, bisweilen auch bei der Schlaflosigkeit des
Greisenalters ist daher zunächst ein V ersuch mit diesem Mit-
tel am Platze, doch ist dabei die Gefahr- einer dauernden
Gewöhnung sehr im Auge zu behalten. Man kann je nach
den Neigungen des Kranken die Form von Bier, Grog oder
Schlummerpunsch wählen. Ausgezeichnete Dienste leistet der
Alkohol bisweilen in verwirrten Erregungszuständen, die mit
Nahrungsverweigerung, schwerer Unruhe und schwachem Pulse
einhergehen. Hier passen stärkere Lösungen, wenn nötig, als
Zusatz zur künstlichen Fütterung.
Sehr heftige, allen anderen Mitteln "widerstehende Auf-
regungszustände, die aus irgend einem Grunde 0 eiletzungen,
Notwendigkeit eines Eingriffes und dergl.) rasche Beruhigung
verlangen, können gelegentlich auch zur Anwendung des Chloro-
forms führen. Schwächere, nervöse Personen, Hj^sterische,
Trinker sind jedoch davon ausgeschlossen, weil bei ihnen der
Zweck einer Beruhigung nicht erreicht zu werden pflegt und die
*) w ü r t h , Psychiatr. Wochenschr. 1903, 100.
Arzneimittel.
405
Betäubung nicht selten gefährlich ist. Weniger bedenklich, aber
auch weniger wirksam ist der Äther. Eine planmässige An-
wendung dieses Mittels bei erregten Kranken ist zwecklos, da
die erzielte Beruhigung die eigentliche Betäubung kaum zu über-
dauern pflegt. Auch die von Berger zur Bekämpfung von Ei -
regungszuständen empfohlene Einatmung von Bromäthyl (täg-
lich 5 — 10 gr) hat wegen des unsicheren Erfolges und des ab-
scheulichen Bromgestankes keine weitere Verbreitung gefunden.
Eine letzte Gruppe das Gehirn unmittelbar beeinflussender
Arzneimittel wird durch die Bromsalze (Bromkalium, -natrium,
-ammonium, -rubidium, -Strontium) gebildet. Die eigentliche Wir-
kungsweise derselben ist noch recht dunkel. Umfassende, bei uns
ausgeführte Versuche*) haben gelehrt, dass der Einfluss des
Broms auf psychische Vorgänge jedenfalls ein ungemein scharf
abgegrenzter ist. Entgegen der von mir gehegten Erwartung
scheint der Vorstellungsverlauf wenig, die Auslösung von Wil-
lenshandlungen gar nicht beeinflusst zu werden, ebensowenig der
Ablauf von Muskelarbeit. Dagegen wird die Leistungsfähigkeit
des Gedächtnisses entschieden herabgesetzt. Vor allem aber
wurden innere Spannungszustände gemildert oder beseitigt, die
im Versuche absichtlich erzeugt worden waren. An diesem Punkte
scheint die noch näher aufzuklärende psychische Hauptwirkung
des Broms zu liegen. Mit diesem Ergebnisse steht auch in all-
gemeiner Übereinstimmung die Erfahrung, dass die Bromsalze
namentlich auf dem Gebiete der Epilepsie und Neura-
sthenie sehr wertvolle Dienste leisten. Bei der Epilepsie wirken
sie allerdings in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nur
während der Dauer ihrer Anwendung, indem sie die Zahl und
Stärke der Anfälle verringern; mit dem Aussetzen des Mittels
pflegt die Krankheit in der früheren Heftigkeit, bisweilen sogar
in verstärktem Masse, wieder hervorzutreten. Der Erfolg wird
öfters mit der Sicherheit des wissenschaftlichen Versuches er-
reicht; verhältnismässig selten bleibt das Leiden gänzlich un-
beeinflusst. Ausserdem gibt es indessen, wie ich wiederholt er-
fahren, auch vereinzelte Fälle, in denen eine sehr entschiedene
und sogar gefahrdrohende Verschlimmerung und Häufung der
*) L ö w a 1 d , Psychologische Arbeiten I, 489.
406
V. Behandlung des Irreseins.
Anfälle sich einstellt; schon aus diesem Grunde sollte die An-
wendung der Mittel nicht ohne dauernde ärztliche Überwachung
durchgeführt werden. Die sorglose Versendung derselben im
grossen an beliebige Laien, wie sie von der Bielefelder An-
stalt aus geschieht, ist jedenfalls in hohem Masse gefährlich.
Sehr ausgedehnte Anwendung finden die Bromsalze 1 einer
bei der einfachen Neurasthenie und der sie so oft begleiten-
den „nervösen“ Schlaflosigkeit; die Beseitigung der
inneren Spannung genügt hier oft, um eine dauernde Beruhigung
und Erholung zu stände kommen zu lassen. Man gibt die einzelnen
Salze oder die drei erstgenannten in gleichem Verhältnisse ge-
mischt (Er lenm ey er sches Gemisch) entweder als Schlaf-
mittel in einmaliger voller Gabe (3 — 6 gr) oder aber planmässig
steigend und wieder fallend zu 2 — 6 gr täglich (Pulver in
Oblaten oder Lösung). Eine sehr bequeme, den stark salzigen
Geschmack verdeckende Form der Anwendung haben wir in dem
kohlensauren Bromwasser gewonnen, welches gewöhn-
lich in einer Flasche 10 gr Bromsalz enthält. Wo die Anfälle
zu bestimmten Zeiten (Menses) hervorzutreten pflegen, wird man
zweckmässig die höchsten Gaben gerade in diesen Abschnitt
fallen lassen, um während der Zwischenpausen herunterzugehen
und womöglich ganz auszusetzen (intermittierende Anwendung).
Grössere Gaben der Bromsalze können nämlich bei längerer,
ununterbrochener Anwendung schwere Gehirnerscheinungen her-
vorrufen (Abnahme des Gedächtnisses, Unsicherheit der Bewe-
gungen, Stumpfheit). Das Auftreten von Acneknötchen und
Furunkeln sowie starker foetor ex ore gibt das Zeichen zur
Unterbrechung; sonst folgen Verdauungsstörungen, fortschrei-
tende Abmagerung, Bronchitis und allmählich die übrigen Er-
scheinungen des Bromismus. Allerdings hat Fere von Kranken
berichtet, die seit Jahren täglich nicht weniger als 16—21 gr
Brom zu sich nehmen; auf diese Weise sollen sogar besondere
Heilerfolge erzielt worden sein. Ich würde ein derartiges Vor-
gehen keinesfalls verantworten mögen; vielmehr bin ich der
Ansicht, dass auch der Gebrauch mittlerer und kleinerer Gaben
nicht länger als einige Monate lang ohne Unterbrechung fort-
gesetzt werden sollte.
Neuerdings ist statt der gebräuchlichen Bromsalze das
Arzneimittel.
407
Bromäthylformin („Bromalin“) und das Bromsesamöl („Bro-
mipin“) empfohlen worden, welche weder Furunkel erzeugen
noch die Verdauungsorgane schädigen sollen. Die Gabe ist dort
die doppelte, hier die dreifache der übrigen Bromsalze. Das
Bromipin, das auch im Klysma, unter Umständen sogar sub-
cutan verwendbar ist, scheint sich besser zu bewähren, als das
Bromalin.
In ähnlicher Weise wie die Krampfanfälle vermögen die
Bromsalze auch bisweilen periodisch auftretende Aufregungs-
zustände zu unterdrücken, namentlich dann, wenn sie mit den
Menses in Beziehung stehen und von kurzer (1 2 wöchentlicher)
Dauer sind. Der Erfolg tritt nicht überall, in einzelnen Fällen
aber mit grosser Sicherheit ein. Von Wichtigkeit ist hiei na-
mentlich die rechtzeitige Darreichung bei den ersten Anzeichen
des beginnenden Anfalles, dann aber die Anwendung sehr grosser
Gaben. Man gibt 12—15 gr pro die eine Reihe von Tagen
hintereinander und geht dann langsam herunter, natürlich
unter beständiger Überwachung des Zustandes, im Hinblicke
auf die Gefahr plötzlicher Collapse oder bronchitischer Er-
krankungen.
Die Bedeutung der Blutversorgung für die Entstehung von
Geistesstörungen hat auch einigen Mitteln in die Behandlung des
Irreseins Eingang verschafft, die vorwiegend auf das Herz und
die Gefässe wirken. So hat man das Amy lnitrit wegen
seines auffallenden Einflusses auf das Gefässgebiet des Kopfes
in solchen Zuständen angewendet, in denen man einen Gefäss-
krampf vermutete. Leider hat das Mittel die gehegten Erwar-
tungen nicht gerechtfertigt, da die Wirkungen selbst im gün-
stigsten Falle sehr rasch vorübergehen. Ferner kommt der
Digitalis, namentlich in V erbindung mit Opium oder Mor-
phium, nicht selten dort eine beruhigende Wirkung zu, wo Auf-
regungszustände mit unregelmässigem, frequentem Pulse und
Herzschwäche einhergehen (Herzfehler, alte Perikarditis u. s. f.).
Wichtiger freilich noch wären Mittel, welche die Beschaff
fenheit des Blutes zu verbessern vermöchten. Bis heute
haben wir von solchen nur djas Thyreoidin zu nennen, welches
sich durch seine geradezu zauberhafte Wirkung auf das Myxödem
und den Kretinismus rasch so grossen Ruf verschafft hat. Bei
408
V. Behandlung des Irreseins.
anderen psychischen Störungen sind die Erfolge des nicht un-
gefährlichen Mittels bis jetzt zweifelhaft geblieben. Ich wenig-
stens habe trotz sehr ausgedehnter Versuche keine ermutigenden
Ergebnisse zu verzeichnen*); höchstens beobachtet man einige
verkleinernde Wirkung auf manche Kröpfe. Die psychischen Zu-
stände werden nicht entscheidend beeinflusst, vielleicht bis-
weilen etwas verschlechtert (Aufregungen), doch lassen sich hier
Zufälligkeiten zu schwer ausscheiden.
Brauchbare Erfahrungen über die Behandlung mit anderen
Organbestandteilen liegen auf dem Gebiete der Geistesstö-
rungen bis jetzt nicht vor; versucht worden ist die Darreichung
von Kuheierstöcken bei Frauen und von Nebennierenextrakc.
Dagegen sollen an dieser Stelle kurz die Bestrebungen V ag-
il er s**) erwähnt 'werden, durch künstlich erzeugtes Fieber
Besserung oder Heilung von Geistesstörungen zu erreichen. Die
Versuche knüpfen an die Erfahrung an, dass bisweilen Psychosen
durch zufällige fieberhafte Erkrankungen, namentlich das Ery-
sipel, auffallend günstig beeinflusst werden. Um diese gelegent-
lichen Erfahrungen planmässig nachzuahmen, wurden an einer
grösseren Reihe von Kranken Einspritzungen mit fiebererregen-
den Toxinen, vor allem mit Tuberculin, vorgenommen. Meistens
soll es sich um Amentia gehandelt haben. Die Erfolge schienen
einigermassen ermutigend. Allerdings werden alle derartigen
Versuche wenig Beweiskraft haben, so lange wir über die Auf-
fassung der behandelten Psychosen und besonders über ihren
mutmasslichen Weiteren Verlauf noch so im unklaren sind wie
heute. Dasselbe dürfte von den neuesten Bemühungen Bins-
w a n g e r s und seines Schülers Friedländer gelten, „Er-
schöpfungspsychosen“ durch Bakteriengifte (abgetötete Bouil-
lonkulturen von Bakterium coli und Typhusbazillen) zu heilen,
ebenso von Albertottis Vorschlag, durch Einspritzungen von
Terpentinöl Abscesse und Fieber zur günstigen Beeinflussung gei-
stiger Störungen zu erzeugen. Er erinnert an die einst so be-
liebten ableitenden Mittel (Blasenpflaster, Unguentum
tartari stibiati, Drastica), die jetzt fast völlig veraltet sind.
Wenn es richtig ist, dass bei der Paralyse langdauernde, starke
*) Amaldi, Rivista sperim. di freniatria, XXIII, 311.
**) B o e c k , Jahrbücher für Psychiatrie, XIV, 1 und 2.
Operative Eingriffe.
409
Eiterungen überraschende Besserungen bringen können, feiern
sie vielleicht noch einmal ihre Wiederauferstehung.
Operative Eingriffe. Der Spielraum für operative Eingriffe*),
soweit es sich nicht um zufällige Begleitstörungen handelt, ist
bei Geisteskranken aus naheliegenden Gründen kein sehr grosser.
Immerhin werden sie dort in Betracht kommen, wo etwa die
Ursache des Irreseins der Hand des Chirurgen zugänglich ist. Das
ist vor allem der Fall bei den Geistesstörungen nach Schädel-
verletzungen, bei Geschwülsten und Abscessen im Gehirn, soweit
sie erreichbar sind. Dagegen dürfte der Lumbalpunktion**) mehr
Wert für die Erkennung, als für die Beseitigung von Krankheits-
zuständen zukommen. Als völlig verfehlt hat sich die Kraniek-
tomie bei Idioten erwiesen. Ob es der Durchschneidung des
Sympathicus bei Epilepsie wesentlich besser ergeht, steht dahin.
Eher kann man noch gewisse Hoffnungen an die Beseitigung von
Einknickungen des Schädels oder Knochennarben bei Epileptikern
knüpfen; leider ist der Erfolg häufig genug nur ein vorüber-
gehender.
Ein grosses Gewicht hat man oft auf die operative Beseitigung
von Erkrankungen der weiblichen Geschlechtsorgane gelegt. So
sind von H o b b s Eierstocks- und Gebärmutterleiden, Lageverän-
derungen, Geschwülste, alte Dammrisse bei weiblichen Geistes-
kranken in grosser Zahl behandelt worden. Seine Erfolge waren
erstaunliche, eine Zunahme der Heilungen bei den Frauen um
15 %. Leider scheinen die Bedingungen anderswo nicht so gün-
stig zu liegen. Wir sehen nach gynäkologischen Operationen
zwar auch hie und da eine Besserung, meist jedoch gar keine
wesentliche Änderung, bisweilen aber auch Verschlimmerung des
psychischen Zustandes. Ich kann daher nur raten, solche Ein-
griffe auf diejenigen Fälle zu beschränken, in denen sie der
körperliche Zustand erforderlich macht, die Hoffnungen auf eine
günstige Beeinflussung des Irreseins aber nicht zu hoch zu spannen.
In dieser Beziehung sind namentlich auch die Erfahrungen über
die Heilung der Hysterie durch Ausschneidung der Eierstöcke,
Brennen der Clitoris und ähnliche Massnahmen lehrreich. So viele
Ovarien auch der lockenden Aussicht, mit einem Schlage gesund
*) Picque et Dagonet, Chirurgie des alienes, I. 1901.
**) D e v a u x , Centralbl. f. Psychiatrie XXVI, 384, 1903.
410
V. Behandlung des Irreseins.
zu werden, zum Opfer gefallen sind, so unbefriedigend war das
Ende, weil die Behandlung das Wesen des Leidens völlig ver-
kannt hatte.
Das Auftreten von Geistesstörungen in der Schwangerschaft
musste den Gedanken nahe legen, eine Genesung durch Abkürzung
oder Unterbrechung derselben herbeizuführen. Indessen die Er-
fahrung lehrt, dass die Geburt selbst in der Regel keinen gün-
stigen Einfluss auf den Verlauf des Irreseins ausübt. Dement-
sprechend habe ich auch nach der Einleitung des Abortes oder
der künstlichen Frühgeburt, die mir einige Male vorgekommen
ist, niemals einen Heilerfolg feststellen können. Im Gegenteil
dauerte die Störung ganz unverändert oder sogar in verstärkter
Form weiter. Berücksichtigen wir ausserdem, dass häufig genug
geistige Erkrankungen gerade im Wochenbette oder nach einem
Aborte einsetzen, so werden wir uns schwerlich dazu entschliessen
können, beim Irresein in der Schwangerschaft einen Eingriff zu
empfehlen, zumal öfters auch die anfänglich auftretenden Stö-
rungen sich nach einigen Monaten ganz von selbst wieder ver-
lieren. Ich kann mich daher der Ansicht J o 1 1 y s *) keinesfalls
anschliessen, dass Melancholie die Anzeige zur Einleitung des
Abortes bilden könne. Die „Melancholien“ der Schwangerschaft-
sind fast ausnahmslos cirkuläre oder katatonische Depressions-
zustände, die ihren gesetzmässigen Verlauf und Ausgang nehmen.
Die Rücksicht darauf, dass man einer Kranken vielleicht die ^ er-
bringung in die Anstalt ersparen könne, dürfte übrigens auch
dann nicht in dieser Frage massgebend sein, wenn man von dem
Eingriffe wirklich Erfolg erwarten dürfte.
Hie und da werden Fälle berichtet, in denen durch Ohren-
operationen, Entfernung cariöser Zähne, Anbohrung der Ober-
kieferhöhle, Ausbrennen der Nase Besserung psychischer Stö-
rungen bewirkt wurde. Bei Kindern stellt sich nach Entfernung
von Wucherungen aus dem Nasenrachenraume öfters eine ganz
überraschende Besserung ihres Geisteszustandes ein, schnelles
Schwinden ihres halb stumpfen, halb reizbaren Wesens, ihrer Un-
aufmerksamkeit und Vergesslichkeit. Teilweise Ausschneidung der
Schilddrüse kann für das Irresein bei Basedow scher Krank-
*) J o 1 1 y , Centralblatt für Psychiatrie. 1901, 684.
Physikalische Heilmethoden.
411
heit in Frage kommen. Endlich werden wir noch kurz der Blut-
entziehungen zu gedenken haben, die früher das Hauptmittel bei
Erregungszuständen bildeten, während sie jetzt durch unsere' vei-
änderten Anschauungen über die Entstehungsursachen des Iire-
seins ganz verdrängt worden sind.
Dagegen spielen die Infusionen unter die' Haut eine nicht un-
wichtige Rolle. Das Verfahren ist das gewöhnliche: 5—700 gr
0,5 prozentiger, auf 37 — 39° C. erwärmter, sterilisierter Koch-
salzlösung oder isotonischer Flüssigkeit*) lässt man unter ge-
ringem Druck mittels Hohlnadel oder Troikart in die subcutanen
Lymphräume oinfliessen. Meist sind zwei Einstiche (Brust, Rücken,
Oberschenkel) erforderlich, die jedoch auch mehrmals wiederholt
werden können; die Geschwulst wird durch vorsichtiges Kneten
verteilt. Wir greifen zu Kochsalzinfusionen vor allem bei sehr
entkräfteten Kranken mit Versagen der Herztätigkeit ziemlich
häufig mit vortrefflichem Erfolge; neuerdings sind auch Ölinfu-
sionen zur Ernährung bei Kranken mit Nahrungsverweigerung in
Anwendung gezogen worden. Französische Forscher haben Koch-
salzinfusionen mit Brombeimischung bei Epileptikern, mit Jod-
zusatz bei Paralytikern ins Auge gefasst.
Physikalische Heilmethoden. Unter den physikalischen Heil-
verfahren, die in die irrenärztliche Tätigkeit Eingang gefunden
haben, steht obenan die Wasserbehandlung, insonderheit
die Anwendung der Bäder. Zwar sind die barbarischen Douchen
und die kalten Sturzbäder, wie sie früher als „revulsive“ Mittel
beliebt waren, lange ausser Gebrauch gekommen. Dagegen haben
im Laufe der letzten Jahre die warmen Bäder **) in der Behandlung
der Geisteskranken eine ausserordentliche Verbreitung gewonnen
und geradezu eine Umwälzung im Betriebe der unruhigen Ab-
teilungen herbeigeführt. Die beruhigende Wirkung warmer Bäder
von 34—35° C. ist seit alter Zeit bekannt. Sie wurden zur Er-
zielung des Schlafes bei Nervosität, Hysterie, leichten Verstim-
mungs- und Angstzuständen abends 1 — 2 Stunden lang angewendet
*) Donath, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LX, 583, 1903; Wickel,
Psychiatr. Wochenschr. 1903, 181.
**) Thomsen, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LV, 721; B e y e r , Central-
blatt f. Psychiatrie. 1899, Januar; Kraepelin, ebenda 1901, Dezember;
Alter, ebenda 1903, März; Würth, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIX, 676.
412
V. Behandlung des Irreseins.
und mit einer kühlen Überrieselung und Abreibung abgeschlossen.
Auch bei erregten Kranken sind diese verlängerten Bäder von
jeher mit gutem Erfolge in Gebrauch gewesen; hier pflegte man
sie wohl mit kalten Umschlägen oder der Anwendung des Eis-
beutels auf den Kopf zu verbinden. Dagegen bestand eine weit
verbreitete Scheu vor einer längeren Ausdehnung der Wasser-
behandlung, von der man vor allem ungünstige Wirkungen auf
das Herz fürchtete.
In einzelnen Fällen haben jedoch schon die alten französi-
schen Irrenärzte erregte Kranke mehrere Tage und selbst wochen-
lang im warmen Bade behandelt. Trotz der günstigen Erfolge
hat sich dieses Verfahren nur sehr allmählich eingebürgert, offen-
bar hauptsächlich deswegen, weil der ganze Anstaltsbetrieb dafür
noch nicht reif war. Erst mit der Beseitigung aller Zwangs-
mittel, der Einrichtung von Wachabteilungen und dem Bestreben,
der Irrenanstalt immer mehr den Stempel des Krankenhauses
aufzudrücken, wurde die Badebehandlung allmählich in immer
grösserem Umfange angewendet, da sich herausstellte, dass sie
ausserordentlich wohltätig wirkte, ohne von nennenswerten Nach-
teilen begleitet zu sein. In Deutschland wurde sie namentlich
von Scholz warm empfohlen und viel geübt. Allerdings ver-
schloss er die Wannen mit Segeltuchdeckeln, aus denen nur der
Kopf der Kranken heraussah; anderwärts waren Holzdeckel in
Gebrauch. In diesen Bädern blieben die Kranken viele Stunden,
auch ganze Tage.
Meine eigenen Erfahrungen über „Dauerbäder“ reichen etwa
1V2 Jahrzehnte zurück. Die Beobachtung, dass verwirrte, sehr her-
untergekommene Kranke im Bade bald anfingen, sich zu beruhigen,
Nahrung zu sich zu nehmen und einzuschlafen, veranlasste mich,
hie und da die Bäder über mehrere Tage auszudehnen; nachts
kamen die Kranken wieder ins Bett. Da die anfangs gefürchteten
bedrohlichen Zufälle gänzlich ausblieben, habe ich das Verfahren
immer weiter ausgebildet und bin endlich dazu geschritten, die
Bäder auch des Nachts fortzusetzen, da der grelle Unterschied
in dem Abteilungsbetriebe am Tage und in der Nacht von selbst
dazu drängte. So kam es, dass einzelne Kranke viele Monate lang
ohne jede Unterbrechung im warmen Wasser zubrachten. Frei-
lich mussten zur Durchführung dieser Massregel erst besondere
Physikalische Heilmethoden.
413
Einrichtungen geschaffen werden. Es wurden in möglichst un-
mittelbarer Verbindung mit den Wachsälen helle, behagliche Bade-
säle mit englischen Steingutwannen hergestellt, denen jederzeit
reichliches warmes Wasser zur Verfügung stand; sodann musste
für ausreichende Überwachung der Kranken bei Tag und bei Nacht
Sorge getragen werden. Endlich aber wurde den Kranken duich
kleine Tischchen, durch Luftkissen zum Auflegen des Kopfes,
durch gespannte Tücher zur bequemeren Lagerung der Aufenthalt
im Bade, das Essen und Schlafen in demselben nach Möglichkeit
angenehm gemacht.
Die Wirkungen dieser ganzen Massregeln sind äusserst be-
friedigende gewesen. Es hat sich unzweifelhaft ergeben, dass
die Behandlung erregter Kranker im warmen Dauerbade jedem
anderen bisher bekannten V erfahren unvergleichlich über-
legen ist. Namentlich manische und paralytische, aber auch
katatonische Erregungszustände, ebenso das Delirium tremens,
eignen sich vorzüglich dafür; weniger trifft das für die ängstlichen
Erregungen der Epileptiker und Melancholischen zu, doch hat uns
auch hier das Bad oft sehr gute Dienste geleistet. Alle diese
Kranken werden im Bade ruhiger, essen und schlafen besser, sind
weniger in Gefahr, sich zu verletzen. Da keinerlei Gewalt gegen
sie angewendet wird und das warme Wasser für sie ein behag-
licher, ihre Freiheit nicht beengender Aufenthalt ist, den sie
schon wegen des rasch auftretenden Frostgefühls nur ungern
verlassen, geraten die Kranken mit ihrer Umgebung nicht in
Zwiespalt und werden weit weniger gereizt und gewalttätig.
Zerreissen und Zerstören fällt ganz fort; höchstens können die
Frauen die Badehemden zerschlitzen, die man ihnen gibt, falls
sie dieselben nicht verschmähen. Ebenso ist der Unreinlichkeit
auf die einfachste Weise ein Ziel gesetzt, da es ein leichtes ist,
das schmutzige Badewasser zu erneuern.
Auf diese Weise sind eine Reihe- der widerwärtigsten übel-
stände aus dem Anstaltsbetriebe mit einem Schlage beseitigt oder
doch bis auf ein sehr bescheidenes Mass gemildert. Es gibt kein
Schmieren und planmässiges Zerstören mehr, keine unzerreissbaren
Kleider, keine Schraubenschuhe oder festen Strohsäcke; auch das
hässliche Blechgeschirr, die Schüsseln und Nachtgeschirre aus
Pappe und Gummi können getrost abgeschafft werden. Die Isolie-
414
V. Behandlung des Irreseins.
rungen haben trotz sehr ungünstiger Belegungsverhältnisse voll-
kommen aufgehört. Endlich aber hat der gesamte Geist der
Behandlung entschieden gewonnen. Kranke wie härter erblicken
in der Anwendung des Bades nicht, wie so leicht in der Isolierung,
eine Strafe, sondern eine wohltätige ärztliche Massregel. E.^
fällt demnach ein sehr grosser Teil der Kämpfe fort, die sonst
dem erregten Kranken oft nicht erspart werden konnten, um
ihn und seine Umgebung zu schützen. Insbesondere aber sieht
der Wärter deutlich die beruhigende Wirkung des Bades und wird
dadurch unmerklich weit rascher zu einer richtigen Auffassung
der Erregungszustände gebracht, als es durch die Belehrung allein
jemals gelingen kann.
Wie die beruhigende Wirkung der Dauerbäder zu stände
kommt, bedarf noch weiterer Untersuchung. Jedenfalls spielt
dabei die Erweiterung der Hautgefässe und das Sinken des Blui-
druckes wohl eine gewisse Rolle. Ich möchte aber auch die
psychischen Wirkungen nicht gering schätzen, die behagliche
Wärme des umgebenden Wassers, die Abwesenheit aller beengen-
den Kleidungsstücke, die völlige Freiheit der Bewegung, das For i-
fallen der Reibungen mit der Umgebung, die unausgesetzte Über-
wachung.
Die Übelstände der Dauerbäder treten gegenüber ihren \ or-
zügen sehr in den Hintergrund. Zunächst sind sie ziemlich kost-
spielig, da sie nicht nur gute Anlagen, sondern auch viel warmes
Wasser und ausreichendes Personal erfordern. Wieweit der Mehr-
aufwand durch die Verminderung der Kosten für Reinigung und
Ersatz des Zerstörten ausgeglichen wird, hängt wohl von örtlichen
Bedingungen ab. Sodann entwickeln sich in der quellenden Ober-
haut leicht übertragbare Hautkrankheiten, die durch Pilzwuche-
rungen (Trichophytonarten) erzeugt werden. Vorbeugend wirkt
Einreiben der Haut mit Vaselin. Rechtzeitiges Pinseln der be-
fallenen Stellen mit Jodtinktur oder Resorcinlösung beseitigt
diese übrigens harmlosen Ansiedelungen sofort. Bedenklichei
ist es, dass alte Ohreneiterungen sich im Bade anscheinend leicht
verschlimmern; in solchen Fällen ist daher \orsicht geboten.
Während der Menses können die Bäder unbedenklich fortgesetzt
werden.
Die Kranken durch irgendwelche Anwendung von Gewalt im
Physikalische Heilmethoden.
415
Bade festzuhalten, ist, wie ich glaube, verfehlt, weil dadurch
der wesentliche Zweck des Bades, die Beruhigung, vereitelt wird.
Man lässt daher die zahlreichen Kranken, die nicht im Bade bleiben
wollen, zunächst ruhig gewähren, erneuert aber den Versuch, sie
ins Bad zu bringen, in kurzen Pausen immer wieder. Man wird dann
in der Regel sehen, dass der Kranke sich an die neue Massregel ge-
wöhnt. Erleichtert wird das durch die anfängliche Anwendung
von Sulfonal oder Hyoscin, im schlimmsten Falle durch vorher-
gehende feuchte Einpackungen, die hei einiger Geduld immer
zum Ziele führen. Ist aber ein Kranker einmal einige Stunden im
Bade geblieben, so ist damit in der Regel sein Widerstreben
dauernd geschwunden; man erreicht nun fast immer ganz leicht,
was anfangs schier unmöglich schien.
Besondere Vorteile bieten die Dauerbäder noch bei sehr
schwachen oder gelähmten Kranken, die man am besten auf
durchgespannte Tücher legt, unter Umständen mit Stopf kissen von
nicht entfetteter Watte. Die Verringerung des Körperdruckes
und die Möglichkeit peinlichster Sauberhaltung verhütet auch in
den schwierigsten Fällen das Durchliegen und erleichtert dadurch
die gesamte Pflege ausserordentlich.
Am häufigsten stösst die Durchführung der Badebehandlung
auf Schwierigkeiten in katatonischen Erregungszuständen. Glück-
licherweise steht uns hier ein Mittel zu Gebote, welches eine vor-
zügliche Ergänzung der Dauerbäder bildet, die feuchtwarmen
Ein Wicklungen. Ein in warmes Wasser getauchtes, leicht
ausgerungenes Leintuch wird um den ganzen Körper bis zum
Halse gelegt und dann eine grosse Wolldecke mässig fest
herumgewickelt. In dieser Packung, die durch einige Sicherheits-
nadeln befestigt wird, bleiben die Kranken zwei Stunden. Zu
einer längeren Ausdehnung des Verfahrens kann ich mich nicht
entschliessen, da einerseits die Gefahr der Wärmestauung be-
steht, andererseits grundsätzlich jeder Anschein einer beabsich-
tigten körperlichen Beschränkung vermieden werden sollte. Aus
beiden Gründen lasse ich Kranke, die dauernd widerstreben, nach
kurzer Zeit wieder aus der Wicklung befreien, allerdings, um
später den Versuch zu wiederholen. In der Regel sträuben sich
jedoch gerade die erregten Katatoniker höchstens bei der Aus-
führung der Einpackung, um nachher ganz überraschend still zu
416
V. Behandlung des Irreseins.
liegen. Meist hält die Beruhigung so lange an, dass es nachher
gelingt, die Kranken für einige Zeit im Bade zu halten. Versagt
diese Massregel, so wird von neuem zur Wicklung gegriffen.
Von den sonstigen Formen der Wasserbehandlung empfehlen
sich sanfte Regendouchen, kalte Abreibungen für nervöse und
hysterische Kranke, besonders auch für Onanisten, bei denen noch
kalte Sitzbäder hinzugefügt werden. Bei Neigung zu Blutwal-
lungen nach dem Kopfe vermögen Packungen der Füsse oder
Senffussbäder bisweilen einen schlafmachenden Einfluss auszuüben.
Auch die örtliche Anwendung der Kälte am Kopfe in der Form
des Eisbeutels ist noch vielfach im Gebrauch. Die Einfachheit und
Volkstümlichkeit dieser Massregel spricht entschieden zu ihren
Gunsten, wenn man auch gerade in der Psychiatrie vielleicht
häufiger von ihrem psychischen (Zwang der Bettlage), als von
dem physikalischen Einflüsse Erfolg hoffen darf.
Verhältnismässig beschränkte Anwendung hat die Elektro-
therapie*) in der Behandlung der Geisteskrankheiten gefun-
den. Die vorliegenden Erfahrungen sind daher sehr lückenhaft
und kaum zur Aufstellung allgemeiner Grundsätze geeignet. Der
faradische Strom scheint vorzugsweise als Erregungs-
mittel zu wirken. Demgegenüber erwartet man von der Gal-
vanisation des Rückenmarkes, des Sympathicus, des Gehirns
(schwache Ströme, kurze Sitzungen, grosse Elektroden, Leitung
längs oder schräg durch den Kopf) namentlich eine „kataly-
tische“ Einwirkung auf die feineren Vorgänge im Nervengewebe
und einen Einfluss auf das Gefässsystem. Man hat daher vor-
geschlagen, bei Zuständen mit erhöhter nervöser Reizbarkeit, Ge-
fässkrampf und dergleichen die Anode (absteigende Ströme),
bei bestehenden Lähmungserscheinungen, Stauungen, Ödemen da-
gegen die Kathode (aufsteigende Ströme) auf Hirn und Rücken-
mark einwirken zu lassen.
Im allgemeinen werden es natürlich vorzugsweise die mit
nervösen Beschwerden einhergehenden Fälle sein, in denen man
von der elektrischen Behandlung Erfolg hoffen darf. Hier mag
*) Arndt, Archiv f. Psychiatrie, II; Allgemeine Zeitschr. f. Tsych.,
XXVIII, XXXIV; Erb, Elektrotherapie, II, 2. Aufl. 1886; Tigges, Allgem.
Zeitschr. f. Psychiatrie, XL, 543.
Diätetische Massregeln.
417
es bisweilen gelingen, durch Beseitigung peripherer Reizursachen,
durch Herabsetzung der Erregbarkeit zu nützen. Hysterische
Dämmerzustände werden unter Umständen durch planmässige Fa-
radisation günstig beeinflusst; es empfiehlt sich die Anwendung
stärkerer Ströme an verschiedenen Stellen der Körperoberfläche
oder die allgemeine Faradisation. Galvanisation und Faradisation
des Kopfes (elektrische Hand) können wegen ihrer hypnotischen
Wirkung auch zur Bekämpfung der Schlaflosigkeit gelegentlich
in Anwendung gezogen werden. Die besten Dienste leistet die
elektrische Behandlung (Galvanisation des Kopfes, allgemeine Fa-
radisation mit der Rolle, elektrische Bäder) unzweifelhaft bei
hysterischen und neurasthenischen Kranken. Gerade hier aber
wird die Ausscheidung des sicherlich nicht geringen Anteils, wel-
cher dem psychischen Einflüsse des Verfahrens zugeschrieben wer-
den muss, vollkommen undurchführbar.
Die zeitgemässeste unter den physikalischen Heilmethoden,
die Massage, hat sich ebenfalls nur ein kleines Gebiet der
irrenärztlichen Tätigkeit zu erobern vermocht, das sie zudem noch
mit der Elektrizität bis zu einem gewissen Grade teilen muss. Bei
der grossen Mehrzahl der Geistesstörungen passt die Massage
nur dort, wo eine selbständige körperliche Anzeige für sie vor-
liegt. In gewissen Formen des hysterischen und neurasthenischen
Irreseins indessen, sowie nach manchen Erschöpfungs- und De-
pressionszuständen vermag die Massage, am besten in Verbindung
mit der allgemeinen Faradisation, durch Kräftigung der Musku-
latur und Anregung des Stoffwechsels oft recht schätzbare Dienste
zu leisten. Ihre Rolle in der sogenannten Mastkur wird weiter
unten Erwähnung finden.
Diätetische Massregeln. Zwar von langsamerer und weniger
durchgreifender, aber darum nicht weniger wertvoller Wirkung,
als die aufgeführten Arzneien und Heilverfahren, sind jene all-
gemeinen diätetischen Massregeln, die keinem besonderen Behand-
lungszwecke dienen, sondern die Befriedigung der täglichen
Lebensbedürfnisse zum Ziele haben. Obenan steht die Sorge für
eine passende Ernährung. J eder Geisteskranke, auch der
anscheinend „Vollblütige“, bedarf einer regelmässigen, gut be-
messenen Zufuhr kräftiger Nahrungsmittel, die nicht selten den
wichtigsten Punkt des Behandlungsplanes bildet. Durchaus in
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufi. 27
418
V. Die Behandlung des Irreseins.
den Vordergrund tritt diese Rücksicht, wo schwächende Ursachen,
Wochenbett, Blutverluste, fieberhafte Krankheiten der geistigen
Störung vorausgegangen sind, und wo Wage und körperliche
Untersuchung gesunkene Ernährung, Blutleere, Schwäche, Ab-
magerung erkennen lassen. Namentlich ist es von Wichtigkeit,
schon im Anfänge des Leidens, wo der Kranke, von lebhaften
Gemütsbewegungen beherrscht und ohne Esslust, die Nahrungs-
aufnahme vernachlässigt, auf ein regelmässiges Einhalten der
Mahlzeiten zu achten und jeder beginnenden Verdauungsstörung
sogleich entgegenzuarbeiten.
Diese Sorge erstreckt sich oft in gleicher Weise über den
ganzen Verlauf der Krankheit fort, wo Verstimmung, Unruhe oder
Negativismus den Kranken hindern, das Nahrungsbedürfnis selbst
zu befriedigen. Geduldiges, häufig wiederholtes Anbieten des
Essens, wenn auch immer nur kleine Mengen genommen werden,
führt hier meist zum Ziele. Stets muss die Kost leicht verdaulich
und, namentlich in schwierigeren Fällen, möglichst nahrhaft sein,
um durch ihren Nutzwert die Unmöglichkeit einer reichlicheren
Zufuhr auszugleichen (Fleischbreisuppen). Unter Umständen ist
aus diesem Grunde der Znsatz von Pepton, Nutrose, Somatose,
Hygiama, Tropon oder ähnlichen Stoffen angezeigt. Bei sehr
schwachen Kranken mit schweren verwirrten Erregungszuständen
empfiehlt sich zeitweise eine Überernährung durch reichliche Zu-
fuhr leicht verdaulicher Nahrungsmittel in kürzeren Pausen; man
wird hier freilich in der Regel zur Sonde greifen müssen. Die so
überaus häufige Verstopfung bekämpft man nur durch ganz
milde Mittel, namentlich durch Klystiere (Glycerin, Öl), Eingies-
sungen, nach Umständen durch Massage und Faradisation des
Bauches. Unterstützt werden diese Massnahmen durch sorgfältige
Regelung der gesamten Lebensweise, mässige Be-
wegung in frischer Luft, körperliche, keine geistige Anstrengung
erfordernde Beschäftigung, vorzüglich Gartenarbeit. Schwache
Kranke lässt man bei warmem Wetter zweckmässig den ganzen
Tag auf Bettstühlen im Freien liegen.
Von wesentlicher Bedeutung für das Getriebe der Irrenanstalt
erscheint mir die grundsätzliche Verbannung des Alkohols als
Genuss mittel. Es ist ja von vornherein selbstverständlich,
dass ein so stark wirkendes Nervengift auf die geschädigte Hirn-
Diätetische Massregeln.
419
rinde unserer Kranken nur einen ungünstigen Einfluss haben
kann. Die Erfahrung lehrt uns aber auch unzweideutig, dass in
jeder Irrenanstalt eine grössere Zahl von Kranken lebt, die
des Schutzes vor dem Alkohol mehr oder weniger dringend
bedürfen, namentlich Trinker und Epileptiker, aber auch Para-
lytiker, Hypomanische, Hebephrene. Ich habe reichlich Ge-
legenheit gehabt, die Erregungen zu beobachten, die durch das
Bier, im gewöhnlichen Tageslaufe wie bei Festen, erzeugt
wurden, manchmal auch durch die Entziehung desselben aus
ärztlichen Gründen. Gegen diese Übel gibt es nur ein Heil-
mittel, die völlige Ausschliessung des Alkoholgenusses für
Kranke und Personal aus der Anstalt. *) Nach meinen etwa, zehn-
jährigen Erfahrungen kann ich jene Massregel nur auf das wärmste
empfehlen; sie ist leicht durchführbar und wirkt günstig auf den
ganzen Geist der Anstalt.
Eine eigenartige Ausbildung hat die Sorge für die Körper-
ernährung in der von Weir Mitchell und Play fair**) ein-
geführten „Mastkur“ (feeding-cure) erhalten. Den leitenden
Gesichtspunkt dieses Verfahrens bildet die möglichste Beschleu-
nigung des Stoffumsatzes durch überreichliche Ernährung bei
gleichzeitiger lebhafter Muskelarbeit ohne eigene Anstrengung.
Den in Bettruhe gehaltenen Kranken werden in sehr kurzen
Zwischenräumen grosse Mengen nahrhafter, leicht verdaulicher
Esswaren (Milch, Fleisch, kräftige Suppen) zugeführt, während
durch regelmässige, ausgiebige Massage und faradische Reizung die
gesamte Körpermuskulatur bearbeitet wird. Dazu kommt als wich-
tigster Punkt des Heilplanes die völlige Entfernung des Kranken
aus den gewohnten Verhältnissen und die bedingungslose Unter-
ordnung unter den ärztlichen Willen. Zweifellos spielt dieser psy-
chische Eingriff bei der ganzen Kur eine äusserst bedeutsame
Rolle. Die Erfolge sind in geeigneten Fällen staunenswerte; man
darf solche aber nur auf dem Gebiete der eigentlichen Hysterie
und zwar dort erwarten, wo keine tiefgreifende psychische Stö-
*) Hoppe, Neurolog. Centralblatt, XVII, 1074.
**) Weir Mitchell, fat and blood, 3. Aufl. 1884; Playfair, Die
systematische Behandlung der Nervosität und Hysterie, deutsch v. Tischler.
1883; Burkart, Volkmanns Klinische Vorträge, 245.
27*
420
V. Die Behandlung des Irreseins.
rung, sondern wo wesentlich dauernde grosse Willensschwäche
(Lähmungen) besteht und die Ernährung tief gesunken ist.
Ganz besondere Berücksichtigung erfordert die diätetische
Behandlung der frisch Erkrankten. Hier handelt es sich vor allem
um Beruhigung. Das beste Mittel zur Erreichung dieses
Zweckes ist die Bettlagerung, die bisweilen schwierig,
unter einigermassen günstigen Verhältnissen (ausreichendes, gut
geschultes Personal) aber doch meistens durchführbar ist, in
manchen Fällen erst nach einer vorbereitenden Badebehandlung.
Bei einiger Geduld kann man durch diese harmlose Massregel,
welche die Unterschiede in der Behandlung psychisch und körper-
lich Kranker mehr und mehr verwischt, ganz ausserordentliche Er-
folge erzielen. Dennoch hat sie sich merkwürdigerweise nur sehr
langsam Bahn gebrochen. In Deutschland hat sich namentlich
N e i s s e r *) in dieser Dichtung verdient gemacht. Bei uns ist
es jetzt wohl überall anerkannt, dass alle frisch Erkrankten zu-
nächst und unter Umständen für längere Zeit ins Bett gehören.
Ferner wird man jene blutleeren und schwächlichen Kranken, die
durch ängstliches Herumlaufen ihre Kräfte zu erschöpfen drohen,
die Nahrungs Verweigerer, endlich die Unruhigen so lange wie
irgend möglich im Bett zu erhalten suchen, natürlich sämtlich
unter dauernder Überwachung. Jede Anwendung von Gewalt ist
dabei vom Übel, weil sie die Erregung nur steigert. Gedul-
diges Zureden und vorübergehendes Gewährenlassen führen weit
besser zum Ziel. Niemand wird sich der augenfälligen Erfahrung
entziehen können, dass die Aufregungszustände aller Art weit
milder im Bette verlaufen, als ausserhalb desselben. In schwie-
rigeren Fällen sinnloser Unruhe, namentlich im Collapsdelirium,
in epileptischen, katatonischen und paralytischen Dämmerzustän-
den, erweisen sich die Betten mit hohen gepolsterten Seitenwänden
als ungemein zweckmässig. Ruhige Kranke, die der Bettruhe
bedürfen (Melancholische, Gehemmte, Negativistische), wird man
nach einiger Zeit für Stunden täglich aufstehen, in den Garten
gehen, im Freien ruhen lassen, um ihnen den Genuss frischer
*) Neisser, Berliner klin. Wochenschr. 1890, 38; Allgem. Zeitschr. f.
Psych., L, 1893; Zeitschr. f. praktische Ärzte. 1900, 18' u. 19; Sdrieux et
Farnarier, Annales mddico-psyckol., VIII, 11, 61, 1900; Wizel, ebenda,
VIII, 13, 56, 1901; Bernardini, Rivista sperim. di freniatria, XXVI, 233.
Diätetische Massregeln.
421
Luft zu gewähren und den erschlaffenden Wirkungen langen Bett-
liegens entgegenzuarbeiten. Ganser lässt solche Kranke regel-
mässig massieren.
Als letztes Auskunftsmittel bei der Behandlung unruhiger
Kranker gilt die Separierung in offenem oder die Isolie-
rung in geschlossenem Einzelzimmer. Die erstere, die ja nur mit
Einwilligung des Kranken möglich ist, hat sehr häufig eine
günstige Wirkung, da sie äussere Reize bis zu einem gewissen
Grade abschliesst. Sie ist bei sich selbst gefährlichen Kranken
nur unter besonderer Aufsicht durchführbar und scheitert oft
genug daran, dass der erregte Kranke eben nicht in dem ihm
angewiesenen Raume bleibt oder sich dort unmöglich macht.
Schliesst man nunmehr die Türe, so verzichtet man damit auf
die weitere Überwachung, wenn man nicht die hässliche Ein-
richtung der Gucklöcher oder Beobachtungsfensterchen aus dem
Gefängnisse herübernehmen und eine ständige Wache vor die Türe
stellen will. Tatsächlich pflegen sich in den Isolierzimmern oder
„Tobzellen“ alsbald eine Reihe der schwersten Übelstände zu ent-
wickeln. Die Kranken zerreissen rücksichtslos ihr Bettzeug und
ihre Kleidung, bis man am Ende genötigt ist, sie nackt mit einem
Haufen Stroh oder Seegras auszustatten; sie zertrümmern ihr
Essgeschirr und zerkratzen mit den Bruchstücken die Wände, so
dass man zu Schüsseln aus Leder, Pappe oder Brotteig, zu Nacht-
geschirren und Bechern aus Gummi oder Leder greift, ohne doch
damit wirkliche Abhilfe zu schaffen. Alle möglichen Trümmer,
zusammengedrehte Leinwandtücher mit Steineinlagen, verknotete
Wolldecken, abgebrochene Löffelstiele, wuchtig geschwungene
Nachtgeschirre, ohne oder mit Inhalt, werden zu Waffen, die
den eintretenden Arzt oder Pfleger sehr unangenehm überraschen
können; ein eingeschmuggeltes Streichhölzchen gibt die Möglich-
keit gefährlicher Brandstiftungen, denen schon mehr als ein
Kranker erlegen ist. Absichtliche oder unabsichtliche Selbstver-
letzungen, Verschlucken von Scherben, Erdrosselung mit Bett-
tuchstreifen, Schnittwunden durch Glassplitter, Aufreissen des
Skrotums, Anrennen des Kopfes gegen die Wand und ähnliche
Dinge vollziehen sich in der Abgeschiedenheit des Isolierzimmers,,
ohne dass es bemerkt wird, namentlich, wenn noch Doppeltüren
eingerichtet sind, damit kein Laut nach aussen dringt. Endlich
422
V. Die Behandlung des Irreseins.
beginnen die Kranken meist sehr bald, zu onanieren und zu
schmieren. Nicht nur ihr Essen, sondern auch ihre Ausleerungen,
die sie längere Zeit, nicht zur Verbesserung ihrer Zimmer luft,
bei sich beherbergen müssen, dienen ihnen dazu, sich selbst, die
Wände und Decke ihres Zimmers derart einzusalben und zu be-
malen, dass der Eintretende aus dieser Genesungsstätte zurück-
prallt.
Rechnet man dazu, dass längerer Aufenthalt im Isolierzimmer
auch den Eintritt der Verblödung begünstigt, dass auf diese Weise
jene „Anstaltsartefakte“ zu stände kommen, die durch ihre V er-
wilderung den Schrecken ihrer Umgebung bilden, so kann darüber
kein Zweifel sein, dass die Isolierung ein Übel ist, welches man
sobald wie möglich beseitigen sollte. Diese Erkenntnis ist nicht
neu. Leider aber stellen sich der Durchführung jener Forderung
vielfach ernste Hindernisse entgegen. Will man die Absperrung
einzelner Kranker aus dem Anstaltsgetriebe gänzlich vermeiden
und den einzig richtigen Grundsatz unausgesetzter Beaufsichtigung
und Pflege jedes Einzelnen restlos durchführen, so bedarf es
dazu einer ganzen Reihe von Einrichtungen, die zum Teil erheb-
liche Mittel erfordern, genügende Kräfte an Ärzten und V art-
personal, zweckmässige Wachabteilungen und reichliche Gelegen-
heit zu Dauerbädern bei Tag und bei Nacht. Wattenberg,
Hoppe und Andere haben allerdings gezeigt, dass auch unter
den schwierigsten Bedingungen die „zellenlose“ Behandlung*) ver-
wirklicht werden kann. Allein es muss doch immer die Frage
aufgeworfen werden, ob man unter allen Umständen berechtigt
ist, von der Isolierung eines erregten Kranken abzusehen, auch
dann, wenn dadurch ernste Gefahren und Schädigungen für die
ebenfalls unserer Obhut übergebenen Mitkranken verbunden sind.
Dass unter günstigen Verhältnissen die Isolierung grundsätz-
lich aufgegeben werden kann, und dass damit ein unvergleich-
licher Fortschritt in unserer Krankenbehandlung herbeigeführt
wird, steht für mich fest. Dennoch würde ich in einem beson-
deren Ausnahmefalle, namentlich bei gefährlichen V erbrechern,
*) Wattenberg, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LII, 928; Heil-
bronn er, ebenda, LIH, 717; Hoppe, ebenda, LIV, 910; Psychiatr. Wochen-
schrift, III, 30; IV, 13; Kalmus, ebenda, II, 49; Wattenberg, eben-
da, 1903, 1; Mercklin, ebenda, 1903, 81.
Diätetische Massregeln.
423
nicht zögern, zur Isolierung zu greifen, sobald es keinen anderen
Weg mehl* gäbe, der Umgebung diejenige Sicherheit zu. verschaf-
fen, auf die sie gegründeten Anspruch hat.
In dem Heilapparate der älteren Anstalten spielte zur Un-
schädlichmachung der Kranken und zur Bekämpfung der Auf-
regung eine grosse Rolle die mechanische Beschränkung durch
Zwangsjacke, Zwangsstühle, Zwangsbetten, Gürtel mit Hand-
schuhen u. s. 1, alles Vorrichtungen, die dazu dienten, den Kran-
ken an dem freien Gebrauche seiner Glieder zu hindern und ihn
in einer bestimmten Lage festzuhalten. Es ist namentlich das
Verdienst des Engländers Conolly*), auf die Unzweckmässig-
keit, ja Gefährlichkeit dieser Zwangsmassregeln mit allem Nach-
drucke hingewiesen zu haben. Sie steigern die Unruhe und Auf-
regung des Kranken, der sich abmüht, sich frei zu machen; sie
erbittern ihn gegen seine Ärzte und Pfleger, die meist erst nach
hartem Kampfe die verhasste Beschränkung durchzuführen ver-
mögen, und sie verderben das Pflegepersonal, welches im Ver-
trauen auf die rohe Gewalt kein Bedürfnis empfindet, selbst engere
Fühlung mit den Kranken zu gewinnen und dieselben nicht sowohl
durch die Furcht, als vielmehr durch die kleinen Kunstgriffe des
hilfsbereiten Wohlwollens beherrschen zu lernen. Aus diesem
Grunde spielt das „Restraint“, die mechanische Beschränkung,
zwar* in schlecht eingerichteten Krankenhäusern und in den häus-
lichen Verhältnissen, zumal bei der weit verbreiteten übertrie-
benen Angst vor Geisteskranken, leider noch eine gewisse Rolle —
das mustergültige Anstaltsleben kennt sie nicht mehr. Wir
dürfen heute ohne weiteres sagen, dass die häufigere Anwendung
von Zwangsmitteln irgendwelcher Art in einer Anstalt mit Be-
stimmtheit entweder auf schlechte Einrichtungen oder aber auf
schlechte Ärzte zurückweist. Nur dort, wo die peinliche Durch-
führung des No-restraintverfahrens ein grösseres Übel bedeuten
würde, als die Beschränkung selbst, wo z. B. das Leben des
Kranken in Gefahr schwebt, wie bei schweren chirurgischen Er-
krankungen, unter Umständen auch bei schwierigen Reisen mit
sehr gefährlichen und aufgeregten Kranken, kann die menschliche
*) C o n o 1 1 y , Die Behandlung der Irren ohne mechanischen Zwang,, deutsch
von Brosius. 1860; Klinke, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie,. XLIX, 5.
424
V. Die Behandlung des Irreseins.
und ärztliche Berechtigung der Zwangsmittel nicht zweifelhaft
sein.
In der Regel wird man mit dem einfachen Festbinden durch
Betttücher, Handtücher und dergl. auskommen. Bei wirklich
grosser Gefahr wird man endlich nicht zögern, zur Anwendung
der Zwangsjacke zu greifen, doch kann ich z. B. mitteilen, dass ich
in den letzten sechzehn Jahren keinen Fall mehr erlebt habe, in
dem diese Massregel notwendig geworden wäre. Nur ein einziges
Mal während dieser Zeit war ich genötigt, einen sehr unruhigen
Kranken wegen lebensgefährlicher Blutungen nach einer Operation
mit Tüchern im Bett festbinden zu lassen. Die Zwangsjacke ist
eine vorn geschlossene, hinten verschnürbare Jacke von starkem
Segeltuche mit langen Ärmeln ohne Öffnungen, mit Hilfe deren
die Arme über der Brust gekreuzt festgehalten werden können.
Bei sehr fester Anlegung und langem Liegen derselben entstehen
leicht Hautabschürfungen und Druckbrand an den gefährdeten
Stellen; sie muss daher öfters gelockert und womöglich täglich
einige Stunden abgelegt werden. Kein mechanisch be-
schränkter Kranker darf ohne beständige Auf-
sicht gelassen werden; es kommt vor, dass er sich selbst
befreit oder gar erdrosselt.
C. Psychische Behandlung.
Besonders der Kampf um die Anwendbarkeit der mechanischen
Beschränkung ist es gewesen, der die Ausbildung einer planvollen
.psychischen Behandlung*) der Geisteskranken angebahnt
hat. Je weniger Arzt und Pflegepersonal gegenüber den Auf-
regungszuständen ihre Zuflucht zur nackten Gewalt nehmen konn-
ten, desto mehr mussten sie darauf bedacht sein, sich durch das
Mittel der psychischen Einwirkung Macht über ihre Pflege-
befohlenen zu verschaffen. Die Aufgaben dieser Behandlungsweise
sind es, einerseits die Krankheitserscheinungen zurückzudrängen,
*) Reil, Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode
auf Geisteszerrüttungen. 1803; Löwenfeld, Lehrbuch der gesamten Psycho-
therapie. 1897; Ziehen, Psychotherapie. 1898; v. Sch renk- Notzing,
Psychotherapie in Eulenburgs Realencyklopädie der gesamten Heilkunde.
Psychische Behandlung.
425
andererseits die gesunden Vorstellungen und Gefühle zu kräftigen
und ihnen schliesslich zum Siege über die krankhaften Störungen
zu verhelfen. Es liegt auf der Hand, dass sich für die Lösung
dieser Aufgaben bei der Mannigfaltigkeit der Persönlichkeiten,
die den Angriffspunkt des irrenärztlichen Handelns bilden, ins
Einzelne gehende Vorschriften nicht geben lassen, sondern dass
jenes Ziel in jedem Falle wieder auf anderem Wege erreicht
werden muss, dessen Auffindung und geschickte Verfolgung je-
weils der Einsicht und Erfahrung des Arztes überlassen bleibt.
Mit Recht wird daher wegen dieser grossen persönlichen V er-
antwortlichkeit vom Irrenarzte noch eine Summe besonderer gei-
stiger Eigenschaften gefordert: „wohlwollender Sinn, grosse Ge-
duld, Selbstbeherrschung, eine besondere Freiheit von allen Vor-
urteilen, ein aus einer reichen Weltkenntnis geschöpftes Ver-
ständnis der Menschen, Gewandtheit der Konversation und eine
besondere Neigung zu seinem Beruf, die ihn allein übei
dessen vielfache Mühen und Anstrengungen hinwegsetzt“*). So
ausgerüstet, wird er imstande sein, dem Kranken nicht nur ein
Arzt, sondern zugleich ein Erzieher und Freund zu werden, nicht
nur den körperlichen Grundlagen der Geistesstörung seine
Aufmerksamkeit zuzuwenden, sondern durch die Macht seiner
Persönlichkeit verständnisvoll auch die krankhaften psy-
chischen Erscheinungen selbst zu bekämpfen. Wir kt
schon bei körperlicher Erkrankung der Arzt häufig genug eben-
so sehr* durch seine persönlichen Eigenschaften wie durch di©
Arznei, so erweitert sich hier das Feld der psychischen Behandlung
selbstverständlich in ganz ausserordentlichem Masse.
Gerade aus diesem Grunde hat Ludwig**) wiederholt mit
besonderer Wärme die Verwendung weiblicher Ärzte für die
weiblichen Geisteskranken empfohlen. Er ist der Meinung, dass
einerseits die Frau ein viel tiefer dringendes Verständnis für das
Seelenleben ihrer Geschlechtsgenossinnen besitzen wird, und
dass andererseits diese weit leichter ihr© innersten Regungen
einem Weibe vertrauen würden, also mehr Trost und Erleichterung
bei ihr finden könnten. Dazu kommt, dass ja vielfach das Er-
*) Griesinger, Pathol. u. Therapie der psych. Krankheiten, 4. Aufl., 533.
**) Ludwig, Centralblatt f. Psychiatrie, 1899, 129.
426
V. Die Behandlung des Irreseins.
scheinen des Mannes auf der Frauenabteilung stark erregend wirkt,
und dass sich in der Krankheit Auftritte abspielen können, deren
Erinnerung für die Genesene doppelt peinlich ist, wenn der Arzt
Zeuge derselben war. Endlich lässt sich nicht verkennen, dass die
nötigen körperlichen Untersuchungen, namentlich bei geschlecht-
lich erregten weiblichen Kranken, sehr viel zweckmässiger durch
weibliche Ärzte vorzunehmen wären. Da man andenvärts mit
dieser Einrichtung gute Erfahrungen gemacht hat, wird sie sich
voraussichtlich auch bei uns einbürgern, sobald einmal brauchbare
Kräfte zur Verfügung stehen.
Der oberste Grundsatz in der psychischen Behandlung der
Geisteskranken ist Offenheit und unbedingte Wahr-
heitsliebe. Gerade hier wird von Laien und Ärzten immer
wieder schwer gefehlt. Man scheut sich in ganz unsinniger und
ungerechtfertigter Weise, einem Geisteskranken zu sagen, dass
man ihn für krank hält, während diese Erkenntnis doch die erste
Grundlage für die ganze Behandlung und nicht selten für den
Leidenden selbst geradezu eine Erlösung bedeutet. Freilich gibt
es viele Kranke, die sich für völlig gesund halten, aber auch hier
hat das unselige Versteckspiel, welches so häufig mit ihnen ge-
trieben wird, schlechterdings keinen Nutzen, da die Kranken ja
doch durch die Art, wie man sie behandelt, zn der Erkenntnis
kommen müssen, dass man bei ihnen eine geistige Störung ver-
mutet. Es muss unter allen Umständen für verwerflich erklärt
werden, einen Geisteskranken, in welcher Absicht immer, zu
täuschen, um ihn zu irgendwelchen notwendigen Massregeln
zu bewegen (Einnehmen von Arzneien, Verbringung in die Anstalt),
zu denen man seine Zustimmung nicht erreichen zu können glaubt.
Weit besser ist es, ihm ruhig und freundlich, aber fest zu erklären,
was man von ihm will und zu welchem Zwecke. Man wird dabei
fast immer sein Ziel schliesslich erreichen. Im äussersten Not-
fälle greife man lieber zur Gewalt, der sich besonnene Kranke
regelmässig fügen, wenn sie keinen andern Ausweg sehen. Sie
werden ein derartiges Vorgehen stets leichter verzeihen, als die
List, deren unvermeidliche Aufdeckung sehr gewöhnlich ein un-
ausrottbares Misstrauen im Gefolge hat. Ebenso notwendig ist
es, dem Kranken niemals eine Versprechung zu machen, die man
nicht zu halten gesonnen oder imstande ist. Andernfalls ver-
Psychische Behandlung.
427
scherzt man dauernd sein Vertrauen und verliert damit die Grund-
lage jeder weiteren Behandlung.
Den Wahnideen der Kranken gegenüber wird sich der Arzt
stets einfach ablehnend verhalten. Er wird ihnen weder durch
scheinbares Zustimmen neue Nahrung geben, noch sie in langen
Auseinandersetzungen ausführlich bekämpfen, noch viel weniger
aber etwa sie ins Lächerliche ziehen und dadurch die Kranken
erbittern. Der Beantwortung in gereiztem Tone gestellter, her-
ausfordernder Fragen weiche man in ruhiger Weise aus, ohne
aber dabei den ärztlichen Standpunkt irgendwie zu verleugnen.
Ich brauche kaum hinzuzufügen, dass der Grundsatz unbedingter
Offenheit durchaus nicht dahin führen darf, ohne zwingenden An-
lass hartnäckig jeder krankhaften Äusserung zu widersprechen,
die der Kranke etwa fallen lässt. Vielfach, namentlich bei
schwachsinnigen (paralytischen) oder sehr gereizten Kranken wild
man sich auf die gelegentliche Feststellung der Krankhaftigkeit
des Zustandes beschränken, die geäusserten Wahnideen übergehen,
unbeachtet lassen und nur die krankhaften Handlungen verhindern,
soweit sie eine Schädigung des eigenen oder des Wohles der
übrigen Kranken in sich schliessen.
Auch in Bezug auf diesen letzteren Punkt wird es sich in
der Hauptsache darum handeln, nach Möglichkeit die schlimmen
Wirkungen derjenigen Krankheitsäusserungen abzuschwächen, die
man durch die Behandlung nicht verhüten kann. Zu diesem Zwecke
versetzt man den Kranken in eine Umgebung, in welcher die Ge-
fahr des Selbstmordes, der Selbstbeschädigung, der Gewalttätig-
keit, der Zerstörungssucht, Unreinlichkeit u. s. f. durch Über-
wachung und besondere Einrichtungen, so weit irgend angängig,
eingeschränkt ist. In der Abgeschlossenheit einer Wachabteilung
ist der Kranke in Wirklichkeit viel freier, als zu Hause, wo jeder
seiner Handlungen wegen der möglichen schweren Folgen sogleich
Widerstand entgegengesetzt werden muss. Abgesehen von der
Durchführung unumgänglicher ärztlicher Massnahmen lasse man
den Kranken recht frei gewähren und erbittere ihn nicht durch
kleinliche Bevormundung oder häufige Ermahnungen. Nur die
Rücksicht auf ernstere Missstände oder Gefahren wird den Arzt
veranlassen, dem Treiben des Kranken freundlich, aber mit Ent-
schiedenheit entgegenzutreten. Er wird dann, wenn es durchaus
428
V. Die Behandlung des Irreseins.
sein muss und alles gütliche Zureden umsonst geblieben ist, auch
vor der Anwendung der Gewalt nicht zurückschrecken, um eine
als notwendig erkannte Massregel durchzuführen. Natürlich soll
auch jetzt so schonend wie irgend möglich vorgegangen und jede
Anknüpfung zu gütlicher Erreichung des Zieles benutzt werden.
Unter keinen Umständen soll irgend eine vom Arzte angeord-
nete oder durchgeführte Massregel den Anschein der Diszipli-
nierung tragen. Die Versetzung auf eine andere Abteilung, die
Entziehung des Ausganges, die Absonderung soll durchaus immer
nur aus rein ärztlichen Gründen geschehen, um drohendem Unheil
zu begegnen. Sobald diese Gründe hinfällig geworden sind, wer-
den auch die durch sie bedingten Anordnungen fallen müssen.
Gerade darum ist es verwerflich, die Gewährung kleiner harm-
loser Vergünstigungen, die Verabreichung von Tabak oder be-
sonderen Verordnungen aufgeregten Kranken zu entziehen oder
gar sie mit kalten Bädern und Douchen zu behandeln, um sie
zu geordneterem Benehmen zu veranlassen. Solche Erziehungs-
versuche nützen gar nichts, erbittern aber die Kranken und nähren
im Personal die ohnedies noch allzu fest wurzelnde Vorstellung,
dass die Kranken schon artig sein könnten, wenn sie nur wollten.
Bei allen mehr oder weniger rasch sich abspielenden Formen
der Geistesstörung ist die Aufgabe der psychischen Behandlung
wesentlich eine abwartende. Überall handelt es sich hier um
krankhafte Erregungszustände des Gehirns, die vor allen Dingen
Ruhe und immer wieder Ruhe fordern. Der Arzt hat daher in
erster Linie für die möglichste Fernhaltung aller äusseren und
inneren Reize zu sorgen. Dahin gehören namentlich der Verkehr
mit den nächsten Angehörigen, die lebhaften Gefühlsbeziehungen,
die aus der täglichen Umgebung, dem Berufe der Kranken, aus
langen Unterredungen, Vorhaltungen, ja oft auch aus wohlgemein-
ten Trostworten entspringen. Darum werden in der ersten Zeit
der Krankheit, so lange lebhafte gemütliche Erregbarkeit besteht,
die Besuche auf das äusserste einzuschränken sein, während sie
späterhin sehr wertvoll sein können, um das Band zu den früheren
Lebensbeziehungen wieder anzuknüpfen. Auf jede eigentliche
Tätigkeit muss verzichtet werden, da das erkrankte Gehirn zu
seiner Genesung durchaus der sorgfältigsten Schonung bedarf.
Vielfach erfüllt sich diese Vorschrift ganz von selbst, wreil der
Psychische Behandlung.
429
Kranke zu jeder geordneten oder andauernden Beschäftigung un-
fähig ist. Bei manischen und erregten paralytischen Kranken,
bei denen man die Äusserungen des Betätigungsdranges nicht ab-
schneiden kann, hat man wenigstens dafür Sorge zu tragen, dass
alle jene Reibungen und Kämpfe wegfallen, die mit der Berufs-
tätigkeit unzertrennlich verbunden sind.
Ferner versteht es sich ganz von selbst, dass alle aufregen-
den Auseinandersetzungen und Mitteilungen in dieser Zeit voll-
ständig vermieden werden müssen. Auch ohne dass man den
Kranken geradezu täuscht, wird es fast immer möglich sein, ihn
vor allen Nachrichten zu bewahren, die voraussichtlich eine
stärkere Erschütterung seines gemütlichen Gleichgewichtes her-
beiführen könnten. Man wartet mit solchen unliebsamen Er-
öffnungen bis zum Eintritte der Beruhigung, um auch dann den
Boden vorher sorgfältig und schonend vorzubereiten. Nur dann,
wenn dringende Gefahr besteht, dass dem Kranken eine schmerz-
liche Nachricht auf keine Weise vorenthalten werden kann, ist
es natürlich angezeigt, ihm dieselbe rechtzeitig in der richtigen
Form zu überbringen, um einer unvorhergesehenen Entdeckung
durch einen unglücklichen Zufall vorzubeugen.
Völlig unmöglich ist es, woran man zunächst denken könnte,
den krankhaften Gefühlen und Vorstellungen auf demselben Wege
beizukommen, auf dem man die Verstimmungen und Irrtümer der
Gesunden bekämpft. Der Traurige, den man auf Bällen und Kon-
zerten, auf Reisen oder in lustiger Gesellschaft aufzuheitern ver-
sucht, wird nur desto schmerzlicher und peinvoller von allen
äusseren Eindrücken berührt; die Bemühungen, aufsteigende
Wahnideen durch Vernunftgründe zu widerlegen, bleiben ohn-
mächtig gegenüber der Gewalt der inneren Vorgänge, aus denen
jene letzteren sich immer von neuem erzeugen. Versetzung des
Kranken in eine fremde, ihm gleichgültige und darum reizlose,
ruhige Umgebung, in der man ihm Verständnis ohne Neugier,
Wohlwollen ohne Aufdringlichkeit entgegenbringt, ist daher das
erste Erfordernis für die Besserung seines Zustandes.
Auch im weiteren Verlaufe ist ein entscheidender Einfluss der
psychischen Behandlung auf den Verlauf der Krankheit meist
nicht erkennbar. Dennoch steht es fest, dass freundlicher, ver-
ständiger Zuspruch das Herz des Ängstlichen und Niedergeschla-
430
V. Die Behandlung des Irreseins.
genen erleichtern, geduldiges, gleichmässiges Entgegenkommen
den Gereizten und Erregten beruhigen kann, wenn auch immer
nur vorübergehend, ohne Nachhaltigkeit. Vielleicht sind aber
diese fortgesetzten Bemühungen nach Ausgleichung der psychi-
schen Schwankungen doch bis zu einem gewissen Grade geeignet,
den natürlichen Heilungsvorgang zu unterstützen. Wir dürfen
das wenigstens schliessen aus der Erfahrung, dass verkehrte
psychische Behandlung, wie sie bisweilen durch Angehörige,
schlechtes Personal oder andere Kranke geübt wird, ohne jeden
Zweifel die Krankheitszustände nachhaltig verschlimmern kann.
Geduld, liebevolles Eingehen auf die einzelne Persönlichkeit, Nach-
giebigkeit ohne Schwäche auf der einen, gleichmässige Festig-
keit ohne Starrheit auf der anderen Seite müssen die leitenden
Gesichtspunkte für die ärztliche Tätigkeit abgeben.
Erst mit dem Beginne einer deutlichen Beruhigung des Kranken
erfährt die Aufgabe der psychischen Behandlung eine gewisse
Änderung. So lange die Aufmerksamkeit desselben zwangsweise
durch die Störung selbst in Anspruch genommen wird und nur für
krankhafte Gefühle und Vorstellungen im Bewusstsein Raum ge-
geben ist, pflegt er für die Vorgänge der Aussenwelt meist wenig
Sinn zu haben. Trotzdem er, der früher vielleicht keine Stunde
müssig sein konnte, nun wochen- und monatelang die Hände in
den Schoss legt oder sich in zwecklosem Bewegungsdrange er-
schöpft, empfindet er doch keine Langeweile, da ihm mit der
Fähigkeit auch der Antrieb zu nützlicher Tätigkeit verloren ge-
gangen ist. Jeder Versuch, ihn in diesem Zustande wieder den
gesunden Vorstellungen und Bestrebungen zugänglich zu machen,
bleibt in der Regel ergebnislos und kann sogar durch die Eiregung,
in die er den Kranken versetzt, geradezu schädlich wirken. All-
mählich indessen tauchen auch die früheren, gesunden Gefühle
und Gedankenkreise wieder hervor, und es gilt daher, ihnen die
Aufmerksamkeit des Kranken mehr und mehr zuzuwenden. Je
nach seiner Persönlichkeit gestalten sich dabei die Hilfsmittel
und die Richtung der Heilbestrebungen natürlich äusserst ver-
schieden.
Vor allem handelt es sich um die Auswahl einer passenden,
wohl anregenden, aber nicht anstrengenden Beschäftigung,
da sie am meisten geeignet ist, die Gedanken des Kranken von den
Psychische Behandlung.
431
Zuständen des eigenen Innern abzuziehen und in ihm die Teilnahme
an der Aussenwelt, an der gewohnten Tätigkeit wieder zu er-
wecken. Unterhaltender Lesestoff, die Lösung leichter geistiger
Aufgaben, Spiele aller Art, Musikübungen, andererseits körper-
liche Arbeit, die sich den früheren Beschäftigungen möglichst
anpasst, Handwerkerei, Garten- und Feldarbeit, Leibesübungen,
bei Weibern Nähen, Waschen, Kochen und dergl. in mannigfachster
Abwechselung, dienen in gleicher Weise der Erfüllung des Be-
handlungszweckes. Damit können sich weiterhin Zerstreuungen,
Besuche, Spaziergänge, gelegentliche kleine Festlichkeiten in vor-
teilhafter Weise verbinden, während geräuschvolle Vergnügungen,
Bälle, Theateraufführungen nach meiner Erfahrung weit mehr
Schaden als Nutzen stiften und zu dem Wesen eines Kranken-
hauses herzlich schlecht passen.
Eine besonders hervorragende Bolle spielt die Anleitung zu
einer passenden Beschäftigung bei den sehr langsam verlaufenden
Geistesstörungen und bei der krankhaften Veranlagung*). Wenn
dort der eigentliche Krankheitsvorgang einigermassen zum Still-
stände gekommen und eine gewisse Beruhigung eingetreten ist,
finden wir in der geregelten Tätigkeit das Mittel, die gesunden
Vorstellungskreise und Strebungen wieder anzuregen. Nament-
lich in den Endzuständen der Dementia praecox, die unsere An-
stalten füllen, liegt bei dem Verluste der Willensregsamkeit die
Gefahr des geistigen Versinkens ungemein nahe. Ihr wirkt die
Heranziehung zu den früher gewohnten Beschäftigungen erfolg-
reich entgegen; sie erweckt in den anscheinend völlig stumpfen
und unfähigen Kranken oft noch eine überraschende Menge von
Fertigkeiten, deren Übung und Pflege wenigstens einen beschei-
denen Rest von Selbständigkeit und geistigem Leben zu retten er-
möglicht. Gilt es hier, die fehlende Tatkraft durch äussere An-
regung zu ersetzen, so haben wir bei vielen Psychopathen das
mangelnde Selbstvertrauen, das krankhafte Gefühl der Unfähig-
keit und Schonungsbedürftigkeit durch die Anleitung zur Arbeit
zu bekämpfen. Während das Nichtstun und Erholen diese Zu-
stände entschieden verschlechtert, räumt die planmässige Er-
*) Grohmann, Technisches und Psychologisches in der Beschäftigung
von Nervenkranken. 1899.
432
V. Die Behandlung des Irreseins.
Ziehung zur Arbeit und die Übung nach und nach die Hindernisse
aus dem Wege, weckt die Freude am Schaffen und hebt das
Gefühl der eigenen Leistungsfähigkeit. Auch für die Schreck-
neurose gelten dieselben Gesichtspunkte.
Weit weniger Erfolg kann man sich von dem Versuche \er-
sprechen, durch besondere psychische Einwirkungen das Zurück-
treten der krankhaften Störungen zu beschleunigen und die ge-
sunden Vorgänge zu unterstützen. Durch scharfsinnige Über-
redungskünste wird man dabei kaum mehr erreichen, als durch
das Leuretsche „Intimidations-System“, welches einstmals jede
krankhafte Äusserung durch die Douche zu unterdrücken und so
das Irresein zu heilen suchte. So pflegte Gudden von einem
Kranken J a c o b i s zu erzählen, der sich für Gott hielt und durch
planmässige Einschüchterung zur Ableugnung dieses Wahnes
gebracht worden war. Als er „geheilt“ die ersten Schritte aus
der Anstalt getan hatte, drehte er sich um und bedrohte alle seme
Peiniger mit den furchtbarsten Strafen, die auf seinen, Gottes,
Wink unfehlbar hereinbrechen würden. Wo die Fähigkeit einer
gesunden Beurteilung durch die Krankheit dauernd^ oder, vorüoer-
gehend aufgehoben ist, wird natürlich selbst die Verweisung auf
den Augenschein machtlos, da sie ja eben das Urteil anruft.. Aus
diesem Grunde beruhen denn auch die in der Jugend der Psychiatrie
bei Hypochondern bisweilen vorgenommenen Scheineingriff e, . um
ihnen Tiere und dergl. aus dem Leibe zu holen, durchaus auf einer
naiven Verkennung des Wesens der Geistesstörung.
Ein überaus verführerischer Ausblick schien sich in neuerer
Zeit der psychischen Behandlung des Irreseins durch die staunen-
erregenden Tatsachen der suggestiven Beeinflussung in der Hyp-
nose*) eröffnen zu wollen. Wenn es auf dem angedeuteten V ege
gelingt, über die Wahrnehmungen, die Gedanken, den Willen eines
Menschen nicht nur für den Augenblick, sondern auch für längere
Zeit und sogar ohne sein Wissen eine fast unumschränkte Herr-
*) Wetterstrand, Der Hypnotismus und seine Anwendung in der
praktischen Medizin. 1891; Bernheim, Neue Studien über Hypnotismus,
Suggestion und Psychotherapie, deutsch von Freud. 1893; Hecker, Iljp-
nose und Suggestion im Dienste der Heilkunde. 1893; Lloyd Tuckey,
Psychotherapie oder Behandlung mittelst Hypnotismus und Suggestion, deutle
von Tatzel. 1895; Löwenfeld, Der Hypnotismus. 1901.
Psychische Behandlung.
433
schaft zu erlangen, so muss ein solches Verfahren gerade für den
Irrenarzt, dem die Beseitigung krankhafter Erscheinungen auf
allen jenen Gebieten anheimfällt, von kaum hoch genug zu schät-
zendem Werte sein. Leider hat die Erfahrung diese Erwartung
bisher nur in geringem Masse gerechtfertigt. So leicht es ge-
wöhnlich gelingt, geistig gesunde Menschen dem Einflüsse der
Hypnose zu unterwerfen und sie dabei von allem möglichen
Schmerz und Unbehagen zu befreien, so wenig zugänglich er-
weisen sich zumeist Geisteskranke für jenes Heilmittel. Die
Macht der Suggestion ist hier, wahrscheinlich wegen der häufigen
Aufmerksamkeitsstörungen und lebhaften Eigensuggestionen, eine
weit geringere, als unter gewöhnlichen Verhältnissen. Aus diesem
Grunde fällt es nicht nur im allgemeinen schwerer, Geisteskranke
zu hypnotisieren, sondern der Einfluss des Arztes wird auch fast
niemals ein so wirksamer und namentlich nachhaltiger. So ist es
z. B. nicht möglich, in der Hypnose etwa eingewurzelte Wahnideen
auszureden, die wir ja gewissermassen als dauernde Eigensugge-
stionen auf fassen können. Dagegen scheinen Sinnestäuschungen,
Appetit- und Schlafstörungen immerhin der hypnotischen Behand-
lung bis zu einem gewissen Grade zugänglich zu sein. Ebenso ver-
mag sie bei der Befreiung von Alkohol und Morphium öfters gute
Dienste zu leisten.
Am nächsten liegt es natürlich, die Suggestionen bei jenen
Formen des Irreseins in Anwendung zu bringen, bei welchen er-
fahrungsgemäss psychische Wirkungen ohnedies eine herrschende
Rolle im Krankheitsbilde spielen, bei der Hysterie und der Ner-
vosität. Ohne Zweifel ist es hier möglich, gelegentlich über-
raschende Erfolge zu erzielen, wie schon die Paradefälle der
„Heilmagnetiseure“ lehren; im ganzen aber scheinen doch vor-
zugsweise diejenigen Formen jener Erkrankungen Vorteil von der
hypnotischen Behandlung zu ziehen, bei denen die eigentlich
psychopathischen Erscheinungen gegenüber den nervösen Be-
schwerden zurücktreten. Zudem sind gerade hier hindernde Eigen-
suggestionen sehr häufig, und es besteht immerhin die Gefahr
der Entwicklung autohypnotischer Zustände, wenn dieselbe auch
durch grosses Geschick des Arztes und geeignete Handhabung
des Verfahrens meiner Überzeugung nach völlig vermieden werden
kann. Auch bei der Schreckneurose sind die Erfolge der hyp-
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 28
434
V. Die Behandlung des Irreseins.
notischen Behandlung weniger glänzend, als man vielleicht hätte
hoffen dürfen; dagegen ist die sogenannte monosymptomatische
Hysterie, der ich auch aus diesem Grunde eine Sonderstellung
einräumen möchte, dem heilenden Einflüsse der Suggestivbehand-
lung in sehr erfreulicher Weise zugänglich. Bei den übrigen
Formen des Entartungsirreseins, namentlich den Angstzuständen
und dem Zwangsirresein, sind wohl oft vorübergehende, aber nur
hie und da und nur bei grösster Geduld und Sachkenntnis dauernde
Erfolge zu erzielen; auch die bis dahin für unheilbar geltende
konträre Sexualempfindung ist in neuerer Zeit nicht ohne Nutzen
auf diese Weise behandelt worden.
Wenn nach diesen Erwägungen der Wirkungsbereich der hyp-
notischen Beeinflussung bei Geisteskranken heute auch ein weit
beschränkterer genannt werden muss, als zunächst erwartet wer-
den konnte, so liegt in dem bisher Erreichten doch die dringende
Mahnung für den Irrenarzt, sich mit der Anwendung dieses Heil-
verfahrens auf das eingehendste vertraut zu machen, sei es auch
nur, um nicht durch unsachgemässes Vorgehen Schaden anzurichten.
Die zweckmässigste und anscheinend ungefährlichste der bisher
bekannten Anwendungsformen des Hypnotismus ist ohne Zweifel
diejenige der mündlichen Suggestion, wie sie von Bernheim
und seinen Schülern geübt wird. Von einer eingehenderen Be-
schreibung derselben muss hier unter Hinweis auf die angeführten
Werke abgesehen werden, vor allem deswegen, weil das ganze
Verfahren nicht unbedeutende Anforderungen an die persönliche
Gewandtheit und Geistesgegenwart des Arztes stellt und deshalb
im einzelnen nur durch die Anschauung erlernt werden kann.
D. Behandlung einzelner Krankheitserseheinungen.
Ein Rückblick auf die ganze Reihe der Behandlungsmittel
so verschiedener Art, die dem Irrenarzte zu Gebote stehen, lässt
leicht erkennen, dass seine Tätigkeit sich im wesentlichen gegen
die Krankheitszeichen richtet, wie das ja bei der ungenügenden
Ausbildung unserer Ursachenlehre und den Schwierigkeiten, die
Ursachen, selbst wo wir sie kennen, zu beseitigen, kaum anders
erwartet werden darf. Nur in den wenigen Fällen, in denen als
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
435
Entstehungsbedingungen des Irreseins Fieber, örtliche oder allge-
meine Krankheiten, Vergiftungen, Neuralgien, Magen- und Darm-
leiden, Erkrankungen der Nieren oder Geschlechtswerkzeuge, der
Schilddrüse, Syphilis u. s. w. gegeben sind, kann unter Umständen
von einer wirklich ursächlichen Behandlung die Rede sein, auf
deren Einzelheiten wir hier natürlich nicht einzugehen haben.
Dagegen ist es von Wichtigkeit, noch die Behandlung gewisser
besonderer, bei verschiedenen Formen des Irreseins wiederkehren-
der Krankheitserscheinungen einer kurzen Besprechung
zu unterziehen.
Zunächst haben wir der p s y c h i s c h e n E r r e g u n g *) zu ge-
denken, deren nachdrückliche Behandlung namentlich dann not-
wendig wird, wenn sie eine Erschöpfung des Kranken herbeizu-
führen droht. Vor allem wird man hier versuchen, die dauernde
Bettruhe unter fortgesetzter Überwachung durchzuführen. Erweist
sich das als unmöglich, so wird man bei den meisten Kranken durch
die Anwendung warmer Dauerbäder ohne weiteres zum Ziele
kommen, namentlich, wenn man im Anfänge die Durchführung
dieser Massregel durch Arzneimittel (Trional, Sulfonal, Hyoscin)
unterstützt. Stösst die Badebehandlung auf Schwierigkeiten, was
namentlich bei katatonischen Erregungszuständen vorkommt, so
schreitet man, unter Umständen ebenfalls unter Mitwirkung einer
Arzneigabe, zu feuchtwarmen Wicklungen, an die sich der Kranke
regelmässig sehr rasch gewöhnt, auch wenn er sich im Anfänge
lebhaft sträubt. Dauert die Unruhe in der Wicklung fort, so wird
der Kranke nach kurzer Zeit wieder befreit und versuchsweise ins
Bad gebracht, um wieder in die Wicklung zurückzukehren, sobald
die Behandlung auch dort nicht möglich ist. Eine regelmässige,
geduldige Wiederholung dieses Wechsels hat mich, seitdem ich
in der Lage war, ihn auch die Nacht hindurch fortsetzen zu können,
selbst in den schwersten Fällen binnen wenigen Tage zum Ziele,
d. h. dahin geführt, dass die Kranken ohne Schwierigkeit im Bade
blieben. Die Anwendung von Betäubungsmitteln kann von diesem
Augenblicke an fortfallen. Meist bleiben die Kranken nach einigen
misslungenen Versuchen ganz ruhig in der Wicklung. Sie werden
dann nach spätestens zwei Stunden ausgepackt und ins Bad ge-
*) Gross, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LVI, 953, 1899.
28*
43G
V. Die Behandlung des Irreseins.
bracht; die nächste Wicklung folgt, sobald sie wieder aus dem
Bade herausdrängen. Mit dem Eintritte einer gewissen Beruhigung
wird immer von neuem der Versuch gemacht, die Kranken im
Bett zu halten, aus dem sie dann nur noch zeitweise, bei vorüber-
gehender Verschlimmerung des Zustandes, ins Bad zurückkehren.
Dieses ganze, planmässig ausgebildete Verfahren, die Verbindung
von Bettruhe, Bad und Packung, hat sich mir im Laufe der Jahre
so vorzüglich bewährt, dass die Erregungszustände unserer Kran-
ken ihre Schrecken für uns wesentlich verloren haben. Sollten
indessen einmal, etwa bei einer schweren epileptischen Erregung,
alle jene Hilfsmittel und ebenso die schon angeführten Arznei-
mittel versagen, so würde nichts übrig bleiben, als den Kranken in
einem mit Matratzen ausgelegten Zimmer unter beständiger Auf-
sicht abzusondern, bis der Zustand die Rückkehr zu dem geschilder-
ten Verfahren ermöglicht.
Bei der Behandlung ängstlicher Erregungen ist Opium
und Morphium am Platze, besonders wo unangenehme Empfin-
dungen, Schmerzen und dergl. bestehen. Die Bromsalze eignen
sich mehr für die Zustände innerer Beunruhigung und er-
höhter gemütlicher Reizbarkeit (epileptische Verstimmungen,
Nervosität); bei der reizbaren Depression der Cirkulären
leistet öfters die Verbindung von Brom mit Opium recht gute
Dienste. Wo der allgemeine Kräftezustand sehr gesunken ist,
wirkt bisweilen als bestes Beruhigungsmittel möglichst reichliche
Ernährung, wenn es sein muss, durch die Schlundsonde. Ist die
Erregung hauptsächlich die Folge von äusseren Einwirkungen,
so hilft oft schon die Versetzung in eine andere Umgebung, das
Zurückziehen in ein Einzelzimmer; in leichteren Fällen kommt man
vielleicht mit der einfachen Ablenkung der Aufmerksamkeit, ja
unter Umständen mit einem scherzhaften Worte, der Gewährung
einer kleinen Vergünstigung über drohende Ausbrüche hinweg.
Sehr wichtig ist es für Arzt und Pflegepersonal, derartige Kranke
genau zu kennen und sie nach ihrer Eigenart zu behandeln. Bei
den meist rasch verlaufenden Erregungen verblödeter Kranker
genügt in der Regel die sofortige Bettlagerung oder die A er-
bringung ins Bad; nur ausnahmsweise wird einmal eine Hyoscin-
einspritzung nötig.
Für die Behandlung der Schlaflosigkeit wird man regel-
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
437
massig zunächst mit diätetischen Massregeln auszukommen suchen.
Bei chronischen Erkrankungen und kräftigem Körper ist aus-
giebige Bewegung im Fteien (Holz- und Gartenarbeit), Turnen,
Massage am Platze, während bei frischen und leicht erregbaren
Kranken stärkere körperliche Anstrengungen meist gerade un-
günstig auf den Schlaf wirken. Hier wird man verlängerte warme
Bäder mit gleichzeitiger Abkühlung des Kopfes, feuchte Ein-
packungen, Galvanisation des Kopfes, in geeigneten Fällen
vielleicht hypnotische Beeinflussung ins Feld führen können.
Mitunter ist auch schon durch Einführung einer Nachmittags-
ruhe, Sorge für leicht verdauliches, frühzeitiges Abendessen, Ver-
meidung des Lesens am Abend, Beseitigung von Thee und Kaffee,
abendliche Darmentleerung, rechtzeitiges Schlafengehen, ausgie-
biges Lüften des Schlafzimmers und dergl. viel zu erreichen.
Muss man zu Arzneien greifen, so versuche man zuerst den Alkohol,
dann die Bromsalze in mittleren Gaben. Nur im äussersten Not-
fälle und nur bei acuten Erkrankungen darf ganz vorübergehend
zu anderen Schlafmitteln, bezw. bei grosser Angst oder lebhaften
Schmerzen zum Morphium oder Opium übergegangen werden, da
es sehr schwierig werden kann, die viel mit Betäubungsmitteln
behandelten Kranken wieder an den natürlichen Schlaf zu ge-
wöhnen und ihnen die Arzneien zu entziehen.
Sehi* sorgfältige Beachtung seitens der gesamten Umgebung
erheischt die Neigung zum Selbstmorde, die so häufig
bei Angstzuständen, besonders bei gleichzeitiger Bewusstseins-
trübung, aber auch bei ganz einfachen Verstimmungen ohne auf-
fallendere Störung der Besonnenheit, in den Vordergrund tritt.
Namentlich die letzteren Fälle sind es, welche die höchsten An-
forderungen an die Wachsamkeit und Umsicht des Anstaltspersonals
stellen. Die Gelegenheiten, die dem bisweilen mit voller Be-
rechnung handelnden Kranken zur Ausführung seines selbstmör-
derischen Planes dienen können, sind so überaus zahlreich und
mannigfaltig, dass nur eine gereifte und mit allen Möglichkeiten
vertraute Erfahrung die Aussicht hat, mit Erfolg dem krankhaften
Streben entgegenzuarbeiten. Jeder Nagel, jede Glasscherbe, jedes
Stück Blech kann zum tötlichen Werkzeuge in der Hand des ver-
zweifelten Kranken werden; jeder unbewachte Augenblick kann
Erhängen, Zusammenschnüren des Halses, Herunterspringen, Ver-
438
V. Die Behandlung des Irreseins.
schlucken gefährlicher Gegenstände, kann die schwersten Ver-
stümmelungen, Herausreissen der Augen, der Zunge, der Hoden
zu stände kommen lassen, ja ich habe das Abbeissen der Zunge
und ferner Bruch der Halswirbelsäule infolge eines mächtigen
Stosses mit dem Kopfe gegen die Wand in Gegenwart des Pflege-
personals erlebt. Glücklicherweise sind derartige Vorkommnisse
nicht häufig, ja es scheint, dass durch die Anstalt 90 o/o und sogar
noch mehr der sonst wahrscheinlichen Selbstmorde verhütet wer-
den, aber es ist wünschenswert, sich der Unglücksfälle zu erinnern,
damit sie auch nicht häufiger werden. Am gefährlichsten sind
Melancholiker und Cirkuläre in der Depression ohne stärkere Hem-
mung, da sie ihr Ziel oft mit grösster Hartnäckigkeit und vieler
Überlegung zu erreichen suchen; aber auch Paralytiker und na-
mentlich Katatoniker können, unter Umständen ganz unvermutet,
schwere Selbstmordversuche machen. Bei den letzteren pflegen
diese Versuche mit ausserordentlicher Tatkraft und ohne jede
Rücksicht auf die Umgebung, bisweilen wochenlang fast ununter-
brochen, ausgeführt zu werden, während die Paralytiker gewöhn-
lich ohne Nachdruck und sehr unüberlegt ans Werk gehen. Die
Selbstmordversuche der Hysterischen führen ebenfalls nur aus-
nahmsweise zum -Ziel, da sie in der Regel schwächlich und thea-
tralisch angelegt sind.
Die Neigung zum Zerstören entspringt bei unseren Kran-
ken meist aus innerer Erregung, bisweilen aber auch aus der
Langenweile und dem Mangel an zweckvoller Tätigkeit. Im letz-
teren Falle soll durch Anleitung und Gelegenheit zu nützlicher
Arbeit Abhilfe geschaffen werden. Da das am besten in grossen
Anstalten mit genügender Mannigfaltigkeit der Bedürfnisse und
Betriebe durchführbar ist, müssen arbeitsfähige Kranke sobald wie
möglich in derartige Anstalten überführt werden. Bei erregten
Kranken wird die Zerstörungssucht glatt und leicht durch die Be-
handlung im Bett und im Dauerbade bekämpft. Hier fehlt den
Kranken einerseits jeder Angriffspunkt; andererseits bietet das
Wasser ein unerschöpfliches Mittel zur Befriedigung des Betäti-
gungsdranges im Spritzen, Wirbeln, Klatschen, Tauchen. Bei einer
Kranken, die uns durch ihre Zerstörungen in einem früheren
manischen Anfalle ein kleines Vermögen kostete, habe ich den
wirtschaftlichen Nutzen greifbar feststellen können, den die Dauer-
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
439
bäder durch das Fortfallen jenes Krankheitszeichens gebracht
haben. Die wahren Zerstörungskünstler, denen durchaus nichts
widersteht, denen jeder Stein, jedes Drahtstückchen, jeder ab-
gebrochene Löffelstiel zum vielseitigsten, vernichtendsten Werk-
zeuge wird, bildet nur die Isolierung aus. Ihnen gegenüber sind
alle „unzerreissbaren“ Kleider, alle „unzerstörbaren“ Geschirre
und Einrichtungen gänzlich nutzlos. Mit der Durchführung der
zellenlosen Behandlung werden sie aus unserem Anstaltsleben ver-
schwinden.
Ganz Ähnliches gilt von einem weiteren Schrecken der irren-
ärztlichen Tätigkeit, der Unreinlichkeit. Soweit wir es mit
gelegentlichen Vorkommnissen zu tun haben, die bei gelähmten,
gebrechlichen oder unruhigen und verwirrten Kranken eintreten,
bietet die Verhütung und Beseitigung nichts Besonderes. Er-
ziehung des Wartpersonals zur Aufmerksamkeit, geduldiges An-
halten der Kranken zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, unter
Umständen regelmässige Eingiessungen zu vollständiger Ent-
leerung des Darmes, endlich rasche Beseitigung jeder geschehenen
Verunreinigung werden im allgemeinen zum Ziele führen. Weit
schlimmer für den Kranken wie für seine Umgebung ist die
scheussliche Gewohnheit des Schmierens. Da sie mit der Iso-
lierung in innigstem Zusammenhänge steht, wird sie durch das
Dauerbad, in dem die Sauberhaltung nicht die geringsten Schwie-
rigkeiten bietet, ohne weiteres beseitigt. Auch bei der sonst
recht mühsamen Behandlung sehr unbehilflicher unreiner Kranker
leistet das Dauerbad die vorzüglichsten Dienste. In Ermanglung
dessen pflegt man auch wohl die Lagerung auf Holzwolle oder
Mooswatte anzuwenden.
Besondere Mühe hat man sich vielfach gegeben, die Mastur-
bation zu bekämpfen. Oft verschwindet dieselbe mit der Ab-
nahme der psychischen Erregung von selbst; in anderen, chro-
nischen Fällen bleibt meist jede Behandlung erfolglos. Nicht ohne
Wert ist vielleicht die Anwendung des Bromkalium; wichtiger bleibt
indessen die diätetische Behandlung, Sorge für ruhigen Schlaf,
Vermeidung müssiger Bettruhe, Regelung der Darmentleerung,
ablenkende Beschäftigung, ausgiebige Bewegung im Freien bis
zur Ermüdung, ferner kalte Waschungen, besonders Sitzbäder, end-
lich eine aufmerksame, geduldige Überwachung und Erziehung.
440
V. Die Behandlung des Irreseins.
Zum Schlüsse haben wir noch einer äusserst wichtigen Krank-
heitserscheinung zu gedenken, deren Behandlung nicht selten recht
grosse Schwierigkeiten verursacht, der Nahrungsverweige-
rung*) (Sitophobie). In erster Linie wird man hier nach kör-
perlichen Ursachen zu suchen haben, namentlich Magen- oder
Mundkatarrhen oder Darmträgheit, die man durch geeignete Mass-
regeln, Auswahl der Speisen, Ausspülen des Magens, Mundes oder
Darmes, unter Umständen auch durch Arzneimittel zu bekämpfen
hat. Nicht viel Erfolg habe ich von dem anscheinend auch
nicht ganz ungefährlichen Orexin gesehen, welches zur Anregung
der Esslust empfohlen worden ist.
Wenn wir absehen von der durch schwere Benommenheit
bedingten Unfähigkeit, zu schlucken, hat die Nahrungsverweige-
rung am Läufigsten ihren Grund in mannigfachen Wahnideen, Ver-
giftungsfurcht, Glauben, nicht bezahlen zu können, das Essen
nicht wert zu sein, Wunsch zu verhungern. Der beste Bundes-
genosse ist immer der Hunger, der bisweilen nach einigen Tagen
der Nahrungsverweigerung sein Recht so stark geltend macht,
dass der Kranke dann mit wahrer Gier über die Vorgesetzten
Speisen herfällt. Er wirkt am verführerischsten, wenn man sich
um den Kranken scheinbar gar nicht kümmert, ihn mit dem Essen
allein lässt und seine Nahrungsverweigerung möglichst wenig
beachtet. Vieles Zureden oder gar Versuche, die Nahrung einzu-
geben, pflegen den Widerstand rasch sehr erheblich zu verstärken.
In anderen Fällen ist es mehr eine gewisse Willenlosigkeit, die den
Kranken hindert, die wahnhaften Gegenvorstellungen zu über-
winden; er isst, sobald man ihm den Löffel an den Mund führt.
Anwendung von Gewalt dabei ist hier wie dort regelmässig vom
Übel. Noch andere Formen der Nahrungsverweigerung kommen
durch den Negativismus der Katatoniker sowie durch die Unruhe
erregter Kranker zu stände, welche die Arbeit des Essens fort-
während mit andersartigen Bewegungsantrieben durchkreuzt. Bis-
weilen wechseln diese Zustände sehr rasch, und derselbe Kranke,
der jetzt auf keine Weise zum Essen zu bringen war, nimmt
vielleicht nach einer Viertelstunde freiwillig seine Nahrung zu
sich, um kurze Zeit darauf wieder allen Versuchungen eigensinnig
*) Pfister, Die Abstinenz der Geisteskranken und ihre Behandlung. 1S99.
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
441
zu widerstehen. Unermüdliche Geduld und genaue Ausnutzung
aller kleinen Vorteile (z. B. Anregung der Nachahmung und des
Appetits durch Mitessen) sowie möglichst sorgfältige Auswahl
und Abwechselung der Speisen helfen meist über die aufgezählten
Schwierigkeiten hinweg.
Allein es gibt Fälle, in denen alle Bemühungen des Arztes
nach dieser Richtung hin fehlschlagen, und in denen schliess-
lich, um der drohenden Gefahr der Erschöpfung und des Hunger-
todes zu begegnen, zur künstlichen, zwangsmässigen
Einbringung der Nahrung geschritten werden muss. Der
Zeitpunkt, an welchem man zu diesem Auskunftsmittel greift, wird
am besten durch die Körperwage bestimmt, weil sie den zuver-
lässigsten Anhaltspunkt für die Beurteilung des Ernährungszustan-
des liefert. Alle Kranken, die ungenügende Nahrung zu sich
nehmen, müssen daher häufig, am besten jeden Tag, gewogen
werden, damit man die Schnelligkeit der Gewichtsabnahme über-
wachen kann. Am schlimmsten sind diejenigen Fälle, in denen
die Kranken von langer Hand anfangen, immer weniger und
weniger zu essen, um allmählich ganz aufzuhören; hier ist rasches
Einschreiten dringend geboten, weil sonst leicht ein unaufhalt-
samer Zusammenbruch erfolgt. Je nach dem Zustande des
Kranken wird man spätestens 2 — 3 Tage nach Beginn der
völligen Nahrungsverweigerung, bisweilen auch schon noch früher,
mit der künstlichen Ernährung vorzugehen haben. Ist der Kranke
kräftig, gut genährt und hört er plötzlich auf, zu essen, so kann
man ruhig 6 — 8 Tage zuwarten. Der grimmige Hunger, der aller-
dings bei langem Fasten schliesslich ausbleibt, wird dann dem-
selben häufig ohnedies ein Ende machen. Ist die Nahrungsver-
weigerung keine vollständige, geniesst der Kranke wenigstens
noch Wasser, so hat man unter steter Berücksichtigung seines
Ernährungszustandes selbst 10 — 12 Tage ohne Gefahr Zeit, bevor
Zwangsmassregeln notwendig sind.
Ist man über die Notwendigkeit eines Eingriffes im klaren,
so schreite man ohne weiteres zur Sondenernährung, die in den
Händen des geübten Arztes eine sehr einfache und völlig harm-
lose Massregel darstellt, nicht gefährlicher, als eine Einspritzung
unter die Haut. Das gewaltsame Einschütten von Nahrung in
die Backentaschen, das Eindringen in die Zahnreihe mit Löffeln
442
V. Die Behandlung deß Irreseins.
und Schnabeltassen, das immer noch gelegentlich wieder em-
pfohlen wird, ist bei widerstrebenden oder gar besinnungslosen
Kranken durchaus zu verwerfen und unter Umständen sehr be-
denklich. Das einzig richtige Verfahren ist die Eingiessung lau-
warmer, passend zusammengesetzter Flüssigkeiten mittelst
Trichter und Sonde in den Magen. Die Sonde wird durch den Mund
oder besser durch die Nase eingeführt, die vorher möglichst von
Krusten und Schleim gereinigt werden. Das erstere Verfahren
zwingt bei starkem Widerstande des Kranken zu gewaltsamer
Eröffnung und Offenhaltung der Zahnreihe durch keilartige Werk-
zeuge (He ist ersehe Mundsperre), die sogar zu Verletzungen
führen kann; letzteres Vorgehen macht den Arzt vom Widerstande
des Kranken wesentlich imabhängig, misslingt aber leichter. Bei
jeder Fütterung muss der Kranke durch sichere Hände zuverlässig
festgehalten werden, um unvermutete störende Bewegungen zu
verhindern; das Vorschieben der aus weichem, biegsamem Stoffe
bestehenden Sonde (Jacques Patent oder dickwandiger Gummi-
schlauch mit Endöffnung) geschieht langsam und ohne die mindeste
Gewalt. In der Regel gleitet dieselbe mit Hilfe einer reflektorisch
ausgelösten Schluckbewegung glatt in die Speiseröhre hinein; bei
sehr widerstrebenden Kranken kann es indessen Vorkommen, dass
sie von ihrer Bahn nach vorn zu abgelenkt wird und sich im
Munde zusammenknäuelt. Hier muss man geduldig wiederholt
von neuem versuchen, zum Ziele zu kommen; im Notfälle bleibt
dann immer noch der Weg durch den Mund unter der sicheren
Führung des durch eine Metallhülse vor Bissen geschützten
Fingers.
Von grosser Wichtigkeit ist es, sich davon zu überzeugen,
dass die Sonde den richtigen Weg genommen hat und nicht in den
Kehlkopf gelangt ist. Bei gelähmten und sehr unempfindlichen
Kranken können nämlich die sonst das Eindringen eines Fremd-
körpers in die Luftwege begleitenden Erscheinungen der höchsten
Atemnot und der stürmischen Reflexbewegungen gänzlich fehlen;
die Sonde gleitet ohne Störung bis an die Gabelung der Luftröhre,
wo sie auf Widerstand stösst. Man hört nun die Atemluft durch
die Sonde streichen, doch können bei Luftansammlung im Magen
auch Ausatmungsgeräusche entstehen, wenn das Rohr glücklich in
diesen letzteren gelangt ist. Das unfehlbare Mittel, sich über
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
443
die Lage der Sonde zu vergewissern, ist die A u s c u 1 a t i o n des
Magens beim Einblasen von Luft.
Bevor man nun die Nahrung eingiesst, ist es vielfach zweck-
mässig, den Magen auszuspülen, um die in ihm angesammelten
Mengen von zersetztem Schleim und Speichel zu entfernen. Man
lässt nun die Nährflüssigkeit langsam und mit möglichst geringem
Drucke zufliessen. Das Zurückziehen der Sonde geschieht anfangs
langsam, in der Gegend des Kehlkopf einganges schnell; zugleich
wird die obere Öffnung des Rohres verschlossen gehalten, damit
nicht unten anhängende Tropfen bei dieser Gelegenheit in die Luft-
röhre gelangen. Nach der Fütterung muss der Kranke einige
Zeitlang, im Notfälle mit Gewalt, in Ruhelage gehalten werden.
Als Nahrungsflüssigkeit wählt man zweckmässig Milch oder
Fleischbrühe mit gequirlten rohen Eiern, Zucker und Butter, nach
Umständen Zusätze von Kakao, Fleischpepton, Fleischsaft, Soma-
tose, Fruchtsäften, Citronensäure; auch Arzneien, Alkohol, Kaffee
können natürlich auf diese Weise mit eingeführt werden. Im
allgemeinen wird man bestrebt sein, der Nahrung ungefähr die-
jenige Zusammensetzung von Kohlehydraten, Eiweiss und Fett
zu geben, die nach den Grundsätzen der Ernährungslehre erfor-
derlich ist. Es zeigt sich indessen, dass bei längerer Dauer der
künstlichen Ernährung eine sehr gleichmässige Zusammensetzung
der zugeführten Flüssigkeit schlecht ertragen wird, unter Um-
ständen sogar das Auftreten von Skorbut zur Folge haben kann.
Aus diesem Grunde empfiehlt es sich, in solchen Fällen mit einer
Reihe verschiedenartiger Gemische zu wechseln, namentlich aber
auch Zusätze von frischem Fleisch und Gemüsen zu machen. Bei
der Weite der Sonden gelingt es auch ohne Schwierigkeit,
derartige Beimengungen in fein zerriebener Form mit in den
Magen zu bringen. Namentlich Leber eignet sich wegen ihrer
Zusammensetzung wie wegen der Leichtigkeit der Verarbeitung
dazu recht gut. Wir pflegen mit sechs verschiedenen Mischungen
regelmässig abzuwechseln, in denen bald Leber und Fleischbrühe,
Milch und Zucker, Milch und Erbsenmehl, Milch, . Mondamin und
Öl, Milch, Zucker und Kakao, mit oder ohne Hinzufügung von
Eiern, die Hauptbestandteile bilden.
Die künstliche Ernährung wird täglich wenigstens zweimal
vorgenommen, am besten mittags und abends; jedesmal führt man
444
V. Die Behandlung des Irreseins.
anfänglich etwas weniger, später aber ungefähr einen Liter Flüs-
sigkeit ein. Meist vollzieht sich dieser Vorgang bei einiger Ge-
wöhnung sehr leicht und einfach. Es gelingt auf diese Weise,
nahrungsverweigernde Kranke monate- und jahrelang am Leben
zu erhalten und allmählich auch wieder eine Zunahme ihres Kör-
pergewichtes zu erreichen. Dennoch ist damit natürlich nur ein
unvollkommener Notbehelf für die freiwillige Nahrungsaufnahme
gewonnen. Man wird daher nebenbei immer fortfahren, auf alle
Weise die Beseitigung der Nahrungsverweigerung anzustreben.
Eine sehr unangenehme Begleiterscheinung der Fütterung ist
das bisweilen auftretende Erbrechen. Schleunige Entfernung
der Sonde ist hier wegen der Gefahr des Erstickens durch die
neben dem Rohr her auf ge würgte Nährflüssigkeit durchaus not-
wendig. Durch Verringerung der eingeführten Flüssigkeitsmenge,
Verlangsamung des Zuflusses, häufigere Wiederholung des Ver-
fahrens, im Notfälle durch Abstumpfung der Rachenempfindlich-
keit mit Hilfe von Narkoticis (Bromkalium, Bepinseln mit Coca'fn-
oder Morphiumlösung), Voranschicken von Eiswasser, Chloroform-
tropfen oder Kognak kann man diese Schwierigkeit meist über-
winden. Man begegnet indessen, allerdings glücklicherweise selten,
nahrungsverweigernden Kranken, die willkürlich erbrechen können
und so schliesslich jede Fütterung unmöglich machen.
In solchen Fällen und dort, wo aus irgend einem Grunde
(Verengerungen, Geschwüre, Geschwülste) die Ernährung durch
den Magen nicht möglich ist, kann man noch einen Versuch mit
Nährklystieren machen, die indessen auf die Dauer ein sehr
unvollkommenes Auskunftsmittel darstellen. In den gründlich ge-
reinigten und durch ein Opiumzäpfchen beruhigten Darm werden
möglichst hoch kleine Mengen Flüssigkeit von grossem Nähr-
wert, nach bekannten Vorschriften, gebracht, wie sie der Darm
aufnehmen kann, Milch mit Eiern, Mehl mit Eiern, Traubenzucker-
lösung mit Eiern und Fleischpepton u. s. f. Widerstrebende
Kranke werden freilich nur schwer am Herauspressen verhindert
werden können.
In neuerer Zeit ist die Reihe unserer Kampfmittel gegen die
Nahrungsverweigerung noch durch die Einführung der subcutanen
Kochsalzinfusion bereichert worden*). Dieselbe ist an-
*) Ilberg, Allgem. Zeitsclir. f. Psychiatrie, XL VIII, 620; Jacquin,
Behandlung einzelner Krankheitserscheinungen.
445
gebracht, wo die Zufuhr anregender Nahrungs- und Arznei-
mittel aus körperlichen Gründen (schwere Mund- oder
Magenleiden) unmöglich oder wo eine sehr rasche und er-
giebige Füllung des Gefässsystems notwendig erscheint. Bei
den Versuchen mit diesem Eingriffe hat sich herausgestellt,
dass im Gefolge der Kochsalzinfusion mit der regelmässigen
Besserung des Allgemeinbefindens auch ein erhöhtes Hunger-
und Eurstgefühl aufzutreten pflegt, welches die Kranken
unter Umständen zu freiwilliger Nahrungsaufnahme veranlasst,
namentlich dann, wenn die Verweigerung nicht durch klar ver-
arbeitete Wahnideen, sondern nur durch Verwirrtheit und Unruhe
bedingt war. Auf Grund solcher Erfahrungen haben wir in Fällen,
in denen keine grosse Gefahr im Verzüge war, statt der Infusionen
auch schon Kochsalzklystiere in Anwendung gezogen. Der Erfolg
ist kein so plötzlicher und durchgreifender, dafür aber das Ver-
fahren ein wesentlich einfacheres. Kleine Mengen gut erwärmter
physiologischer Kochsalzlösung, etwa ein viertel Liter zur Zeit,
lässt man unter geringem Drucke langsam möglichst hoch in
den Darm hineinlaufen; die Aufsaugung geschieht dann seitens
des wasserarmen Körpers regelmässig rasch und vollständig. Auch
bei diesem Verfahren pflegt sich ein lebhaftes Durst- und Hunger-
gefühl einzustellen, welches die Besiegung des Widerstandes
gegen die Nahrungsaufnahme bisweilen sehr erleichtert.
Die Einfuhr wirklicher Nahrungsstoffe unter die Haut ist
bisher nur in beschränktem Umfange versucht worden. Am besten
geeignet haben sich die Öleinspritzungen erwiesen, die von
1 1 b e r g * *) warm empfohlen werden. Unter den nötigen asep-
tischen Vorsichtsmassregeln werden Ölmengen von 200 — 300 gr
mit Hilfe einer dicken, gefensterten Hohlnadel unter die nach
Schlei chs Verfahren unempfindlich gemachte Haut gebracht
und dort anscheinend ohne Störung aufgesogen. Wir besitzen
demnach in verzweifelten Fällen, in denen die übrigen Hilfsmittel
versagen, hier noch einen Weg, das Leben für einige Zeit, unter
Umständen bis zu einer günstigen Wendung, zu verlängern.
Annales medico-psychol. VIII, 11, 361, 1900; Marie und Pactet, ebenda,
VIII, 14, 278, 1901.
*) 1 1 b e r g , Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LX, 278.
446
V. Die Behandlung des Irreseins.
E. Die Irrenanstalt.
Die Gesamtheit aller körperlichen und psychischen Heilmittel
findet sich zu einheitlichem Zusammenwirken vereinigt in den
mannigfaltigen Einrichtungen der Irrenanstalt. Die Irren-
anstalt in ihrer heutigen Gestaltung ist eine Eirungenschaft
unseres Zeitalters*). In früheren Jahrhunderten Hess man harm-
lose Kranke einfach herumlaufen und begnügte sich damit, die
störenden Irren über die nächste Grenze zu treiben oder in Ge-
wahrsam zu pehmen; sie wurden dann in Klöstern, häufige.. in
Gefängnissen und Zuchthäusern, zusammen mit allem möglichen
Gesindel untergebracht, in Käfigen („Dorenkisten“) oder aber auch
in eigenen, menagerieartigen „Narrentürmen“ eingesperrt, welche
• meist in der Stadtmauer lagen und an gewissen Tagen von der
Menge zur Belustigung besucht wurden. So mancher Kranke end-
lich fiel wohl auch den Hexenprozessen zum Opfer und wurde auf
die grausamste Weise zu Tode gemartert oder verbrannt **)•
Leider besserte die Überwindung dieses finsteren Aber-
glaubens mehr als ein Jahrhundert lang in dem Lose der unglück-
lichen Geisteskranken nur wenig. Da man das Irresein im all-
gemeinen für unheilbar hielt, so waren die Irren nichts, als
eine Last, deren man sich auf möglichst einfache Weise zu
entledigen suchte. Allerdings wurden in manchen Spitälern
schon Geisteskranke ganz sachgemäss verpflegt; meist aber
dienten die an Kranken-, Siechenhäuser und dergl. angebauten
„Tollhäuser“, „Narrenhäuslein“, „Gefängnisse der Angefochtenen“
nur zur Aufbewahrung. So wurden die Kranken denn vielfach
in schmutzigen, licht- und luftlosen V erliessen, auf Strohlagern,
zusammengepfercht, an Ketten geschlossen, hungernd und ohne
Kleidung der Willkür und der Peitsche roher Wärter (vielfach
entlassener Verbrecher!) schutzlos preisgegeben, bis der Tod,
barmherziger als die Mitwelt, sie von ihren Leiden erlöste. Selbbt
nachdem gegen die Mitte des achtzehnten Jahrhundei ts in England
*) Kirchhoff, Grundriss einer Geschichte der deutschen Irrenpflege.
1900; S n e 1 1 , Zur Geschichte der Irrenpflege. 1896; R i e g e r , Über die Psychia-
trie in Würzburg seit 300 Jahren. 1899.
**) S n e 1 1 , Hexenprozesse und Geistesstörung. 1891.
Die Irrenanstalt.
447
die erste eigentliche Irrenanstalt zur Behandlung von Geistes-
kranken eingerichtet worden war, fand dieses Beispiel nur lang-
same Nachahmung. Noch um die Wende des Jahrhunderts, als
P i n e 1 in Paris das Schicksal der verwahrlosten Geisteskranken
zu lindern bemüht war, herrschten fast überall, auf dem Fest-
lande wie in England, in den Narrenhäusern die entsetzlichsten
Zustände. Ja, noch 1817 sah sich Hayner, der ehrwürdige
Vorkämpfer für die menschliche Behandlung der Irren in Deutsch-
land, veranlasst, auf das feierlichste gegen die Ketten, die Zwangs-
stühle, die körperlichen Züchtigungen öffentlich Verwahrung ein-
zulegen*). Eine gute Vorstellung davon, wie es bis in die zwanziger
Jahre in alten Irrenanstalten aussah, gibt das bekannte Kaul-
bachsche Bild des Narrenhauses.
Nach und nach jedoch kam die Erkenntnis von der Not-
wendigkeit einer völligen Neugestaltung der Irrenfürsorge auf
ärztlicher Grundlage mit immer wachsender Gewalt zum Durch-
bruch, und es trat daher in den ersten Jahrzehnten dieses Jahr-
hunderts in den meisten vorgeschrittenen Ländern an Stelle der
einfachen Aufbewahrung die Errichtung wirklicher Heilanstalten,
die endlich auch den unglücklichen Irren die Wohltaten einer
ärztlichen, auf die Beseitigung ihres Leidens ge-
richteten Behandlung zu vermitteln bestimmt waren.
Diese Wandlung stand in der innigsten Beziehung zu dem
Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis von dem Wesen
der Geistesstörungen. Vielleicht sind wenige Gebiete menschlichen
Strebens so geeignet wie die Irrenheilkunde, den ungeheuren Ein-
fluss klarzulegen, den die rein wissenschaftliche Forschung auf
das Wohl und Wehe der Menschen ausübt. So vermochte die
praktische Irrenfürsorge zunächst den richtigen Weg nicht zu
finden, weil ihr die Leitung durch das wissenschaftliche Verständ-
nis des Irreseins mangelte.
Zwar hatte vielfach die tägliche Erfahrung schon zu einer
Behandlung der Geisteskranken geführt, die unseren heutigen
Anschauungen gar nicht so sehr fern steht. Dennoch konnte es
*) Hayner, Aufforderungen an Regierungen, Obrigkeiten und Vorsteher
der Irrenhäuser zur Abstellung einiger schweren Gebrechen in der Behandlung
der Irren. 1817.
448
V. Die Behandlung des Irreseins.
nicht fehlen, dass der Einfluss gewisser spekulativ-psychologischer
Auffassungen des Irreseins sich in allerlei Absonderlichkeiten
geltend machte, so namentlich in der Anwendung einer Reihe
von ausgesuchten Marterwerkzeugen, des Sackes, der Dreh-
scliaukel, des Tretrades, des Sarges, der kalten Douchen u. s. f.,
durch die man bestimmte heilsame psychische Wirkungen auszu-
üben gedachte. Die Kranken wurden in der verschiedensten Weise
gemisshandelt und gequält, aber nicht mehr aus Rohheit, sondern
in der wohlgemeintesten Absicht ärztlicher Beeinflussung *).
Glücklicherweise ist diese Verirrung verhältnismässig rasch
überwunden worden, und die Behandlungswerkzeuge wanderten
bald in die Rumpelkammern; dagegen erschien die Anwendung
einfacher mechanischer Beschränkung zum Schutze gegen erregte
Kranke oder auch zu ihrer psychischen Beeinflussung noch Jahr-
zehnte hindurch als selbstverständliche Massregel. Lange und
schwere Kämpfe hat es gekostet, bis allmählich C o n o 1 1 y s kühne
Neuerung mit ihren weitreichenden Folgen für die gesamte Ge-
staltung der Irrenanstalten überall als selbstverständliche For-
derung betrachtet wurde.
Wir dürfen es aber mit Stolz aussprechen, dass die Wider-
stände gegen den Fortschritt weit weniger bei den Irrenärzten
gelegen haben, als in den äusseren Verhältnissen, in der Ver-
ständnislosigkeit und Gleichgültigkeit der Massen, in dem Mangel
an verfügbaren Hilfsmitteln. Jahrhunderte lang haben Regie-
rungen und Volk dem Elende der Geisteskranken teilnahmlos zu-
gesehen, und erst, seitdem es Irrenärzte gibt, ist endlich die Be-
wegung in Fluss gekommen, die uns auf die jetzige Höhe geführt
hat. Was wir heute noch hie und da etwa an Missbräuchen und
Übelständen sehen, ist zumeist nicht das Ergebnis von sträflicher
Pflichtvergessenheit und Vernachlässigung, sondern es sind die
letzten Überreste eines kaum überwundenen Zeitalters, in welchem
nur die höchsten und erleuchtetsten Geister für die Menschenrechte
der Geisteskranken eintraten. Dieselben Irrenärzte, die man bis-
weilen in merkwürdiger Verkennung der geschichtlichen Ent-
wicklung gewissermassen als die geborenen Feinde der Kranken
*) Schneider, Entwurf zu einer Heilmittellehre gegen psychische
Krankheiten. 1824.
Die Irrenanstalt.
449
und Gesunden zu brandmarken beliebt, sind es gewesen, welche
in mühseliger, aufopferungsreicher Berufsarbeit ihren Pflege-
befohlenen die Ketten gelöst haben, in welche sie Rohheit und
Unkenntnis so lange geschmiedet hatte.
Die heutige Irrenanstalt ist ein Krankenhaus wie jedes andere,
mit dem einzigen, durch den Zustand ihrer Bewohner geforderten
Unterschiede, dass Eintritt, Behandlungsart und Austritt nicht
vom Belieben des Kranken, sondern unter gewissen Einschrän-
kungen vom Urteile des sachverständigen Arztes abhängen. Jede
Einrichtung der Anstalt dient daher in erster Linie dem Heilzwecke,
dessen Erreichung mit allen durch Wissenschaft und Erfahrung
gelieferten Hilfsmitteln erstrebt wird. Diese Aufgabe sucht die
Anstalt zu lösen, indem sie zunächst den Kranken mit einem
Schlage der Einwirkung jener täglichen Reize ent-
zieht, wie sie nur allzu oft in seinem Berufsleben, in der Sorge
für das tägliche Brot, in der verfehlten und verständnislosen
Behandlung seitens der Angehörigen und Freunde, ja in dem
Spotte und den Neckereien einer rohen Umgebung auf ihn ein-
stürmen. Er findet sich wieder in einem geordneten, vom Geiste
der Menschenliebe und des Wohlwollens durchdrungenen Haus-
wesen, in dem ihn teilnehmendes Verständnis für seinen Zustand,
liebevolle Fürsorge für seine Bedürfnisse und vor allen Dingen
Ruhe erwartet. Sehr häufig ist daher auch eine sofortige Be-
ruhigung der rasche Erfolg seiner Versetzung in die Anstalt.
Leider verhindern auch heute die immer noch in der Menge
und selbst bei Ärzten bestehenden Vorurteile gegen die Anstalt
vielfach die rechtzeitige Durchführung dieser segensreichen Mass-
regel. Es erscheint kaum glaublich, wenn trotz der jetzigen Ent-
wicklung unseres Irrenwesens in weiten Kreisen die ebenso un-
sinnige wie verhängnisvolle Vorstellung fortlebt, dass ein Kranker
erst „reif“ für die Irrenanstalt werden müsse, dass sein Zustand
sich bei vorzeitiger Aufnahme verschlechtern, dass ihn die Er-
kenntnis, in der Anstalt zu sein, das Zusammensein mit anderen
Kranken rasend machen werde. Damit verbindet sich dann weiter
die aller Erfahrung Hohn sprechende Meinung, dass ein Gesunder,
der etwa versehentlich in eine Anstalt eingesperrt werde, nun in-
folge der schrecklichen Eindrücke sehr bald in Geisteskrankheit
verfallen müsse u. s. f. Von einsichtslosen Kranken hören wir
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl. 29
450
V. Die Behandlung des Irreseins.
diese Überlegungen alle Tage Vorbringen; sie sind nur der Wider-
hall jener verderblichen Bestrebungen, die das glücklicherweise
schwindende Misstrauen gegen die Irrenanstalten durch urteils-
lose Schauergeschichten von neuem aufzuregen suchen. Indem
sie dahin drängen, die Aufnahme in die Anstalten durch weit-
läufige Förmlichkeiten, ja durch Anstrengung eines eigenen
„Irrenprozesses“ mit Instanzenzug nach Möglichkeit zu erschwe-
ren, betrügen sie Tausende hilfsbedürftiger Kranker um die Wohl-
tat rechtzeitiger Behandlung, ja um die Möglichkeit der Genesung.
Denn das hat die Erfahrung auf das unzweifelhafteste erwiesen,
dass die Aussicht auf Heilung oder doch Besserung bei Geistes-
störungen sich um so günstiger gestaltet, je früher die Ver-
bringung in eine geeignete Anstalt stattfindet.
Nur bei ganz leichten Formen psychischer Verstimmung, bei
vielen Formen des Entartungsirreseins, schleichend verlaufenden
oder abgeschlossenen Verblödungen und dergl., und wenn die häus-
lichen Verhältnisse eine sehr gute Überwachung und Pflege ge-
statten, ist es geraten, von der Anstaltsbehandlung abzusehen.
In allen schwereren, namentlich akuten Erkrankungen jedoch,
und ganz unbedingt dann, wenn in der Umgebung des Kranken
selbst Schädlichkeiten gelegen sind, oder wenn sich Selbstmord-
ideen, Nahrungsverweigerung, stärkere Aufregung, Unreinlichkeit,
Neigung zu Gewalttätigkeiten einstellen, ist die schleunigste "Ver-
setzung aus der Familie in die Irrenanstalt geboten. Das, was
die Irrenanstalt derartigen Kranken bietet, kann in der Häus-
lichkeit nur dann wenigstens annähernd erreicht werden, wenn
diese letztere selbst zu einer Irrenanstalt im kleinen umgestaltet
wird, wie das vielleicht bei sehr grossen Mitteln ausnahmsweise
einmal möglich ist.
Sehr dringend muss vor den vielfachen unverständigen er-
suchen gewarnt werden, die herannahende Geistesstörung durch
„Zerstreuungen“, anstrengende Reisen, Entziehungs- und Kalt-
wasserkuren abschneiden zu wollen, bevor man sich zu dem einzig
richtigen, lange verworfenen Schritte der Verbringung in die An-
stalt entschliesst. Die beste Zeit zum erfolgreichen ärztlichen
Handeln ist dadurch verloren gegangen, das Fortschreiten des
Krankheitsvorganges zu immer schwereren und vielleicht nicht
mehr ausgleichbaren Störungen begünstigt worden, so dass der
Die Irrenanstalt.
451
Kranke nach allen den missglückten Versuchen schliesslich schon
als geistige Ruine in die Hände des Irrenarztes gelangt. Obgleich
der Schwerpunkt der Behandlung Geisteskranker in der Irren-
anstalt gelegen ist, bleibt es daher eine überaus wichtige Auf-
gabe des Hausarztes, rechtzeitig die Entwicklung der Störung
zu erkennen und ohne viel Zeitverlust mit nutzlosem und häufig
schädlichem Herumprobieren die Versetzung des Kranken in die
für ihn geeignete Umgebung zu' veranlassen*). Von besonderem
Werte wird es dabei sein, wenn er durch eine sachverständige
Krankengeschichte dem Anstaltsarzte Aufschlüsse über den Be-
ginn und bisherigen Verlauf des Leidens zu geben vermag, da
ja die Aussagen des Kranken und selbst der Angehörigen über
diesen Punkt nicht selten recht wenig zuverlässig sind.
Über die Förmlichkeiten, unter denen die Verbringung des
Kranken in die Anstalt zu geschehen hat, bestehen in den ein-
zelnen Ländern verschiedenartige Bestimmungen. Abgesehen von
den freiwilligen Aufnahmen, die glücklicherweise vielfach schon
möglich sind, wird dabei regelmässig die Einwilligung der nächsten
Angehörigen oder die Einweisung durch eine Behörde verlangt,
ausserdem ein oder mehrere ärztliche oder amtsärztliche Zeug-
nisse über das Vorhandensein einer Geistesstörung und die Not-
wendigkeit der Anstaltsbehandlung. Vielfach besteht dabei der
Grundsatz, dass in Notfällen die Aufnahme des Kranken durch
das Fehlen eines oder des anderen schriftlichen Nachweises nicht
verzögert werden soll, sondern der Anstaltsarzt nach Befinden
das Recht hat, den Kranken fürsorglich, gegen Nachlieferung der
Papiere, aufzunehmen. Das ist namentlich deswegen notwendig,
weil sonst die erregten Kranken zunächst unfehlbar ganz formlos
in irgend einem ungeeigneten Gelass, bestenfalls in der Tobzelle
eines Krankenhauses, eingesperrt, im Bette geknebelt, festgebun-
den und gebändigt werden, wenn sie nicht davonlaufen, sich um-
bringen oder allerlei Unheil anrichten. Im grossen und ganzen
geht das Bestreben aller Einsichtigen dahin, die Aufnahme in
allen unzweifelhaften Fällen geistiger Störung nach Möglichkeit
*) Hocke, Die Aufgaben des Arztes bei der Einweisung in die Irren-
anstalt. 1900; Gastpar, Die Behandlung Geisteskranker vor ihrer Auf-
nahme in die Irrenanstalt. 1902.
29*
452
V. Die Behandlung des Irreseins.
zu erleichtern, da die „papierenen Ereignisse“ die Wirkung, die
man ihnen zuschreibt, nämlich widerrechtliche Freiheitsberau-
bungen zu verhindern, in keiner Weise ausüben, sondern nur die
Hilfeleistung verzögern. Die Sicherung vor Missbrauchen beruht,
abgesehen vom Strafgesetze, genau wie bei der Rechtspflege,
auf der persönlichen Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit der Irren-
ärzte. Es ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dass trotz aller
Schauergeschichten, die sogar in den Volksvertretungen vorge-
bracht worden sind, in Deutschland noch niemals ein Irrenarzt
wegen widerrechtlicher Freiheitsberaubung verurteilt wurde. Tat-
sächlich habe ich selbst Gelegenheit gehabt, 6 Jahre hin-
durch alle meine Kranken ohne irgendwelche Papiere aufzunehmen,
und ich habe keine nennenswerten Unzuträglichkeiten daraus er-
wachsen sehen. Freilich ist die Verantwortlichkeit für den Ii * en-
arzt selbst unter diesen Umständen eine viel grössere, als wenn
er sich überall auf gesetzliche Vorschriften berufen kann, aber er
ist als Sachverständiger auch am meisten dazu befähigt, sie zu
tragen, und die Kranken befinden sich dabei ohne Zweifel am
wohlsten.
Trotzdem ist natürlich in allen schwierigeren Fällen die vor-
herige Erledigung aller Förmlichkeiten gerade dem Anstaltsarzte
dringend erwünscht, damit wenigstens ein Teil der Last auf
fremden Schultern ruht, die ihm aus dem unerquicklichen und
undankbaren Festhalten widerstrebender, besonnener Kranker in
der Anstalt regelmässig zu erwachsen pflegt. Wir Irrenärzte
würden daher vom Standpunkte unserer Bequemlichkeit gegen
eine Erschwerung der Aufnahmen in die Anstalten nicht das
Geringste einzuwenden haben. Man versuche aber die Durch-
führung einer solchen „Reform“ auch nur ein einziges Jahr lang
wirklich in irgend einem Landesteile, so würden die papierenen
Verbesserungsvorschläge schneidiger Juristen und ihrer sach\er-
ständigen Halbirrenärzte von einem Sturme der Entrüstung über
die mangelhafte Irrenfürsorge hinweggefegt werden. Es bedarf
nur eines Blickes in unsere Tageszeitungen, um einen klaren Be-
griff von der Grösse des Unheils zu gewinnen, welches noch jetzt
tagtäglich Geisteskranke in der Freiheit über sich und ihre Um-
gebung heraufbeschwören. Rechtzeitige Fürsorge für diese Un-
glücklichen könnte ohne Zweifel einen grossen Teil der sich immer
Die Irrenanstalt.
453
wiederholenden Selbstmorde, Familientötungen, Angriffe, Brand-
stiftungen, der Geldverschleuderungen und geschlechtlichen Un-
geheuerlichkeiten verhüten, die wir als etwas ganz Selbstver-
ständliches hinzunehmen pflegen. Wer den traurigen Mut findet,
diese unerschöpfliche Summe menschlichen Elends noch ver-
grössern zu wollen, der beweist dadurch nur, dass er keine Ahnung
von dem zerstörenden Einflüsse besitzt, den schon ein einzelner
Geisteskranker auf die Familie ausübt, die für ihn zu sorgen ge-
zwungen ist. Gewiss sind nicht alle Geisteskranken gefährlich,
aber es gibt wenige, die es nicht einmal werden können. Ich habe
daher auch überall die Schwierigkeiten grösser gefunden, un-
heilbare, halbwegs entlassungsfähige Pfleglinge wieder loszu-
werden, als gemeingefährliche Kranke gegen ihren Willen in der
Anstalt festzuhalten.
Für die Behandlung des weiteren Verlaufs der gei-
stigen Störung bedarf die Anstalt aller Hilfsmittel, die irgendwie
auf eine günstige Entwicklung desselben hinzuwirken imstande
sind. Dahin gehören in erster Linie die in ihrem Fache besonders
ausgebildeten Ärzte, über deren sonstige notwendige Eigen-
schaften wir schon oben gesprochen haben. Wir dürfen nicht
verhehlen, dass wir in diesem Punkte das Erstrebenswerte noch
nicht erreicht haben*). Der Beruf des Irrenarztes, insbesondere
des Anstaltsleiters, ist ein recht schwerer und entsagungsvoller.
Die Vereinsamung in den meist fern vom Verkehr gelegenen
Anstalten, die grosse Verantwortlichkeit, der aufreibende, un-
ausgesetzte Verkehr mit Geisteskranken, die Hoffnungslosigkeit
des ärztlichen Tuns in der Mehrzahl der Fälle, die unbefriedigende
wirtschaftliche Lage, endlich die Überhäufung mit reinen Ver-
waltungsaufgaben stellen sehr bedeutende Anforderungen an die
Berufsfreudigkeit und die geistige Spannkraft. Neigung und
Fähigkeit zu wissenschaftlicher Fortbildung, zur Anregung und
Erziehung der jüngeren Ärzte werden dadurch in empfindlicher
Weise beeinträchtigt. Dazu kommt, dass fast überall die Zahl
der an den Anstalten vorgesehenen Ärzte viel zu gering ist, dass
ein einziger Arzt nicht selten für 150 — 200, ja noch mehr Kranke
zu sorgen hat. So ist es denn erklärlich, dass auch die vorhandenen
*) Hoppe, Die Stellung der Ärzte an den öffentlichen Irrenanstalten. 1902.
454
V. Die Behandlung des Irreseins.
Stellen vielfach nur ungenügend oder gar nicht besetzt sind.
Überlastung des Einzelnen, Ertötung der Eerufsfreudigkeit und
rascher Verbrauch sind die unausbleiblichen Folgen.
Da die Weiterentwicklung unserer Irrenfürsorge durchaus ab-
hängig ist von dem Verständnisse und der Leistungsfähigkeit des
irrenärztlichen Standes, erwachsen hier dem Staate wichtige Auf-
gaben. Der Hauptnachdruck ist darauf zu legen, dass einmal
die Zahl der selbständigen und behaglichen Lebensstellungen, die
dem Irrenarzte erreichbar sind, erheblich vergrössert wird, sodann
aber, dass mit allen Hilfsmitteln auch den Anstaltsärzten die
stetige, lebendige Fühlung mit den wissenschaftlichen Bestre-
bungen erhalten wird, durch Entlastung von Verwaltungs-
geschäften, Beschaffung wissenschaftlicher Hilfsmittel, Büche-
reien, Fortbildungskurse, Ermöglichung von wissenschaftlichen
Reisen. Es ist eine äusserst kurzsichtige Anschauung, wenn man
bisweilen geglaubt hat, dass durch die wissenschaftliche Beschäf-
tigung dem Krankendienste Zeit und Arbeitskraft entzogen werde;
gerade das Gegenteil ist der Fall. Nur die wissenschaftliche Be-
trachtung seines Gegenstandes ist imstande, den Irrenarzt einiger-
massen für die Schattenseiten seines Berufes zu entschädigen,
ihm die Frische zu erhalten und ihn vor einer handwerksmässigen
Erledigung der Tpgesgeschäfte zu bewahren. Rechnet man hinzu,
dass allein die Möglichkeit zu wissenschaftlicher Vertiefung der
Berufstätigkeit auf die Dauer tüchtige Kräfte heranziehen wird,
so kann darüber kein Zweifel sein, dass die Förderung wissen-
schaftlicher Bestrebungen die reichsten Früchte auch für die
praktische Krankenfürsorge trägt. Allerdings ist dabei voraus-
gesetzt, dass es sich wirklich um die Beschäftigung mit psychia-
trischen Fragen und nicht um entlegene Liebhabereien handelt.
Sache der Kliniken wird es. sein, für diese Tätigkeit die Anregungen
zu geben, wie umgekehrt viele klinische Aufgaben von aller-
grösster Wichtigkeit nur durch die Anstaltsärzte in Angriff ge-
nommen und gelöst werden können.
Fast noch brennender, als die Frage einer genügenden ärzt-
lichen Fürsorge für unsere Kranken, ist diejenige der Beschaffung
eines geeigneten Pflegepersonals*). Alle Irrenärzte sind darin
*) Hoppe, Centralbl. f. Psych. 1892, Dezember; 1895, Febr.; Lud-
wig, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LIV, 108.
Die Irrenanstalt.
455
einig, dass die Lösung dieser Aufgabe zur Zeit ebenso dringend
wie schwierig ist. Dem Pflegepersonal müssen wir unsere Kranken
dauernd anvertrauen, ohne dasselbe doch mehr, als immer nur vor-
übergehend, überwachen zu können. Mit Recht hat daher West-
p h a 1 es als das grösste Übel im Berufe des Irrenarztes bezeichnet,
dass er niemals sicher weiss, was mit seinen Kranken geschieht,
sobald er den Rücken wendet. Der Beruf des Irrenpflegepersonals
erfordert nicht nur ein hohes Mass geistiger und körperlicher Ge-
sundheit, sondern auch ausserordentlich viel Geduld, Opferwillig-
keit, Selbstbeherrschung und Verstand. Es ist sicher, dass nur ein
sehr kleiner Teil des vorhandenen Personals diesen Anforderungen
wenigstens annähernd entspricht, zumal die äussere Entschädi-
gung, die man zu bieten pflegt, in gar keinem Verhältnisse zu
der Schwierigkeit der auferlegten Pflichten steht. Aber auch die
wirklich tüchtigen und dienstwilligen Kräfte sehen wir regelmässig
nach kürzerer oder längerer Dienstzeit erlahmen und sich in der
überaus aufreibenden Tätigkeit verbrauchen. Einzelne erfahrene
Irrenärzte halten es daher für unzweckmässig, die Irrenpflege
überhaupt zu einem Lebensberufe zu gestalten, sondern verlangen
die Heranziehung immer neuer Kräfte an Stelle der nach einer
Anzahl von Jahren abgenutzten Personen. Ausserdem aber muss
jedenfalls die gesamte Lebensstellung des Pflegepersonals er-
heblich günstiger gestaltet werden, als heute1, damit eine weiter-
gehende Auswahl nur der geeignetsten Kräfte möglich ist. Sodann
wird die grösste und unausgesetzteste Sorgfalt auf die be-
rufliche Einübung*) und die sittliche Erziehung des Ein-
zelnen zu verwenden sein, wenn wir allmählich auch beim Durch-
schnitte dasjenige Mass von Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit er-
reichen wollen, welches die Pflege unserer Kranken durchaus
erfordert.
Jede Irrenanstalt gliedert sich naturgemäss in eine grössere
oder kleinere Zahl verschieden ausgestatteter Abteilungen für
die einzelnen Gruppen der Kranken (Unruhige, Plalbruhige, Ruhige,
Gebrechliche, Überwachungsbedürftige u. s. f.) ; sie enthält ausser-
*) Mercklin, Centralbl. für Nervenheilk. u. Psychiatrie 1896, 457;
Snell, Grundzüge der Irrenpflege. 1897; Leitfäden von Schröter (1897),
Tippei (1897), Schloss (2. Aufl. 1901), Scholz (3. Aufl. 1902).
456
V. Die Behandlung des Irreseins.
dem die allgemeinen Einrichtungen sonstiger Krankenhäuser. Im
übrigen aber drängt die Verschiedenartigkeit der Aufgaben, welche
die Irrenanstalt je nach der Eigenart ihrer Bewohner zu erfüllen
hat, mit Notwendigkeit auf eine Arbeitsteilung hin, auf eine ver-
schiedene Ausbildung der Anstalten nach ihren besonderen
Zwecken. Freilich ist die früher meist aufrecht erhaltene Trennung
derselben in Heil- und Pflegeanstalten als unzweckmässig und un-
durchführbar fast überall verlassen worden. Anstatt dessen be-
ginnt sich immer mehr die Scheidung zwischen kleineren, leicht
erreichbaren, für rasch verlaufende Fälle, vorläufige Lnter-
bringung und nach Umständen auch für den Unterricht geeigneten
Stadtasylen*) und den grösseren, auf längere Pflege oder
dauernde Versorgung eingerichteten, mehr abseits gelegenen
Irrenanstalten herauszubilden. Den Stadtasylen fällt dabei
die Aufgabe zu, aus dem ganzen fortwährend zufliessenden Kran-
kenmateriale die für die Anstalten passenden Fälle auszuwählen
und sie denselben zu überweisen.
Die Einrichtung des Stadtasyls ist wegen der Eigenart der
ihm zufliessenden Kranken beherrscht von der Rücksicht auf eine
möglichst vollständige und unausgesetzte Überwachung. Dieser
Grundsatz ist zuerst von Parchappe in den sogenannten
Wachabteilungen verwirklicht worden, in denen das Wart-
personal die Kranken Tag und Nacht unter Augen hatte, um jeder-
zeit Hilfe zu leisten oder Unglück zu verhüten. Einer derartigen
Überwachung bedürfen nach unseren heutigen Anschauungen sehr
viele Kranke, die sich selbst Gefährlichen, die Nahrungsverwei-
gerer, die Unreinlichen, die körperlich Kranken und Gebrechlichen,
endlich die Unruhigen und Gewalttätigen. In einem Stadtasyl
bilden diese Klassen von Kranken meist etwa die Hälfte bis zu
zwei Drittel des Bestandes. Es liegt indessen auf der Hand,
dass diese so verschiedenartigen Kranken sich nicht ohne die
grössten gegenseitigen Störungen in einer Abteilung unterbringen
lassen. Vielmehr werden für jedes Geschlecht mindestens zwei
Wachabteilungen notwendig sein, eine für ruhige, eine andere für
*) Griesinger, Archiv f. Psych., I, 8; Sioli, Allgem. Zeitschr..
LV, 826; LVII, 600; Dannemaiin, Bau, Einrichtung und Organisation psychia-
trischer Stadtasyle. 1901.
Die Irrenanstalt.
457
unruhige Kranke. Kann man noch weiter gehen und namentlich
die Gebrechlichen und Unreinlichen abtrennen — um so besser.
Jede Wachabteilung wird zweckmässig aus mehreren, an-
einanderstossenden, aber leicht übersehbaren Räumen bestehen,
damit man auch im einzelnen noch eine gewisse Sonderung der
sich störenden Kranken vornehmen kann. Demselben Zwecke
dienen auch 1 — 2, an die Haupträume anstossende und von da
zu überwachende Einzelzimmer für Kranke, die aus irgendwelchen
Gründen abgetrennt werden sollen oder wollen. Steht keine be-
sondere Abteilung für körperlich Kranke zur Verfügung, so wer-
den in solchen Einzelzimmern namentlich auch tuberkulöse Kranke
zu behandeln sein, deren Absperrung in Irrenanstalten besonders
wichtig ist. Die Selbstmordverdächtigen sind unter allen Um-
ständen so unterzubringen, dass sie keinen Augenblick ausser Acht
gelassen werden; nach Bedarf muss für einzelne Kranke eine be-
sondere Wache eingestellt werden. Die Unterbringung solcher
Kranker in einzelnen Zimmern mit eigener Aufsicht, wie sie von
den Angehörigen besserer Stände oft gewünscht wird, bietet weit
geringere Sicherheit und ist daher in bedenklichen Fällen durchaus
zu widerraten. Ich habe es übrigens oft erlebt, dass besonnene
Kranke selbst die Verlegung von der Wachabteilung ablehnten,
weil sie sich dort geborgener fühlten. Die für Selbstmordverdäch-
tige bestimmten Räume sollten unbedingt zu ebener Erde liegen.
Ist das nicht durchführbar, so halte ich die Vergitterung der
Fenster, obgleich man sich zumeist dagegen zu sträuben pflegt,
für unerlässlich, da mir die Erfahrung leider mehrfach gezeigt
hat, dass ohne diese Sicherung gefährliche Selbstmordversuche
nicht zuverlässig verhütet werden können.
Die Hauptforderung der Übersichtlichkeit lässt das früher
beliebte Korridorsystem für Wachabteilungen unzweckmässig er-
scheinen. Alle für Kranke bestimmte Nebenräume müssen un-
mittelbar von den Sälen aus zugänglich sein. Dazu gehört ausser
Abort, Waschraum und Theeküche vor allem der Baderaum, dem
nach den Erfolgen der Dauerbäder eine ganz andere Wichtigkeit
zukommt, als früher. Derselbe soll möglichst geräumig, hell,
freundlich, von äusserster Sauberkeit, behaglich eingerichtet sein
und an den Hauptwachsal anstossen; zwei Zugänge zu ihm sind
aus verschiedenen Gründen erwünscht. Zulauf und Ablauf des
458
V. Die Behandlung des Irreseins.
Wassers soll der Einwirkung der Kranken entzogen werden. Aus
dem Bade für unruhige Kranke sind alle Gegenstände, die zur
Waffe werden könnten, sorgfältig fernzuhalten; hier empfiehlt es
sich auch, Fensterscheiben von dickem Glase zu wählen. Ist die Zahl
der Bäder ausreichend, nächtliche Fortsetzung derselben möglich
und genügendes Wartpersonal vorhanden, so kann auch die Ein-
richtung der unruhigen Wachabteilung völlig derjenigen der
ruhigen entsprechen; beide werden sich dann in nichts, als durch
die geschlossenen Türen, von gewöhnlichen Krankensälen unter-
scheiden. Insbesondere bedarf es keines Zellenkorridors mehr;
nur für Ausnahmefälle (Verbrecher) vrird man etwa noch einen
fester gebauten Raum zur Verfügung halten. Für die zeitweise
ausser Bett befindlichen Kranken kann man noch je einen Tage-
raum hinzufügen.
Die Nachtwachen werden, wenigstens in kleineren Anstal-
ten, am zweckmässigsten nach dem sogenannten schottischen A er-
fahren geregelt. Bei demselben wmcht derselbe Wärter, den man
unter den älteren und erfahreneren auswählt, einige Zeit hindurch,
etwa vierzehn Tage lang, die ganze Nacht und ist tagsüber dienst-
frei. Die Vorzüge dieser Einrichtung gegenüber dem beständigen
Wechsel der Wache mit Zweiteilung der Nacht sind sehr er-
hebliche; sie liegen namentlich auch darin, dass mit geringer
A^ermehrung des Personals eine viel ausgedehntere Überwachung
erzielt werden kann. Selbstverständlich erfordert jeder nächt-
lich benutzte Baderaum eine besondere Wache. Alle Wachen be-
dürfen, wenn sie überhaupt einen Zweck haben sollen, der sorg-
fältigsten Kontrolle.
Neben den Wachabteilungen spielen in einem Stadtasyle die
Räume für ruhige Kranke und Genesende eine verhältnismässig
geringe Rolle. Sie brauchen auch in ihren Einrichtungen gar
nichts Besonderes zu bieten. Zweckmässig ist es, über einige
Arbeitsräume zu verfügen, in denen sich je nach Umständen ein-
mal ein Schumacher, Schneider, Anstreicher oder dergleichen ein-
richten kann. Ausserdem sollten nicht nur Gärten zur Erholung,
sondern auch etwas Land zur Beschäftigung in frischer Luft
vorhanden sein.
In den grossen Irrenanstalten bilden die AA^achabteilungen
ebenfalls den Kern des Ganzen, aber sie umfassen nur einen
Die Irrenanstalt.
459
verhältnismässig kleinen Bruchteil der Kranken. Man wird hier
in der Trennung der Wachabteilungen für die verschiedenen
Gruppen von Kranken sehr viel weiter gehen können und dem-
nach die einzelnen Einrichtungen ihren besonderen Zwecken noch
mehl- anpassen. Im übrigen aber tritt in der grossen Anstalt
die Sorge für die Beschäftigung und Unterhaltung der zu-
meist ruhigen und arbeitsfähigen Kranken in den Vordergrund.
Die Abteilungen nehmen daher das Gepräge grosser gemeinschaft-
licher Wohnhäuser an; wir finden Spiel- und Gesellschaftsräume,
Bibliothek, Werkstätten aller Art, grosse Gärten, Viehwirtschaft,
Ländereien.
Je grösser in einer Anstalt die Zahl der chronisch Kranken
ist, desto mehi- Freiheit der Bewegung wird man ihren Insassen
zu gewähren imstande sein. Mit der Dauer des Irreseins treten
meist die heftigeren Erregungen mehr und mehr zurück; die
Kranken werden ruhiger, gleichmässiger in ihrem Verhalten, frei-
lich auch schwachsinniger. Gegen die nunmehr drohende Ge-
fahr weiteren geistigen Verfalles gibt es kein besseres Mittel,
als die Freiheit, da der eintönige Anstaltsaufenthalt mit seinen
abstumpfenden Einflüssen den Fortschritt der Verblödung ent-
schieden begünstigt. Leider ist es nicht immer möglich, die un-
geheilten Kranken in ihre früheren Verhältnisse zurückkehren
zu lassen. Man wird ihnen daher wenigstens im Rahmen der
Anstalt, so weit wie irgend angängig, freie Bewegung und Be-
schäftigung zu verschaffen suchen. Dieser Wunsch hat allmäh-
lich dahin geführt, dass die Mehrzahl wenigstens der neueren
Irrenanstalten grundsätzlich auf die früher durchgeführte strenge
Absperrung der Kranken verzichtet hat. Überall sucht man
schon dem Äusseren der Anstalten in der Umgrenzung durch
einfache Hecken, in der Verteilung der Kranken auf einzelne,
als freundliche Villen erbaute Häuser mehr den Anschein etwa
einer Arbeiterniederlassung, als eines Irrengefängnisses zu geben.
Vielfach hat man grosse Abteilungen der Kranken, bis zur Hälfte
oder gar zwei Drittteilen, ganz frei, bei offenen Türen wohnen
und nach ihrem Belieben auf dem Anstaltsgebiete sich bewegen
lassen (Offen-Tür-System). Die günstige Wirkung solcher Ein-
richtungen auf das Wohlbefinden, die Arbeitsfähigkeit und das
gesamte Benehmen der Kranken ist eine ganz ausserordentliche.
460
V. Die Behandlung des Irreseins.
Gerade der weitere Ausbau solcher offenen Abteilungen wird
in erster Linie dazu beitragen, die Irrenanstalten volkstümlicher
zu machen und die aus vergangenen Zeiten fortgeerbten Vor-
urteile gegen diese Krankenhäuser allmählich zu mildern. Na-
mentlich werden sie auch der Unterbringung so mancher Kranker
dienen können, die des irrenärztlichen Rates bedürfen und
ihn auch gern einholen würden, aber vor der Einschliessung
und vor den Aufnahmeförmlichkeiten zurückscheuen. Die Zu-
lassung freiwilliger Aufnahmen wird diese Entwicklung be-
günstigen.
Einen überaus bedeutsamen Fortschritt hat die Ausbildung
der grossen Anstalten in der neueren Zeit erfahren durch die
Entwicklung der sog. Kolonien*), in welchen man, soweit wie
irgend möglich, die Kranken zu einer freien Beschäftigung mit
ländlichen Arbeiten heranzuziehen sucht. In dieser besten und
verhältnismässig billigsten Verpflegungsart dürfte die ganze Frage
der Irrenfürsorge auf lange Zeit hinaus ihre endgültige Lösung
gefunden haben. Den ersten, von Koppe in grösserem Mass-
stabe durchgeführten, überraschend günstig ausgefallenen und
bereits vielfach nachgeahmten Versuch einer derartigen Anstalt
bietet das Rittergut Alt-Scherbitz in der Provinz Sachsen
dar, welches gänzlich durch geisteskranke Arbeiter bewirtschaf-
tet wird. Selbstverständlich ist hier zur Behandlung der frischen
Fälle und der vorübergehenden Aufregungszustände noch eine
kleinere Centralanstalt mit den für diese Zwecke geeigneten
Einrichtungen notwendig. Wertvoll vor allem ist die koloniale
Verpflegungsart für die Unterbringung jener zahlreichen gei-
stigen Krüppel, denen die Krankheit die Möglichkeit einer selb-
ständigen Lebensführung genommen hat. Sie können durch die
stete Anregung, welche die Arbeit gibt, lange Jahre hindurch
in einem Zustande leidlichen Wohlseins erhalten werden, während
sie ohne dieselbe vielleicht rettungslos einer raschen \ erblödung
anheimgefallen wären. Ich selbst habe Gelegenheit gehabt,
Kranke, die Jahre lang in einer grossen geschlossenen Anstalt
gelebt hatten, unter dem Einflüsse der freieren Bewegung und
*) Pätz, Die Kolonisierung der Geisteskranken in Verbindung mit dem
Offen-Tiir-System. 1893.
Die Irrenanstalt.
461
selbständigeren Beschäftigung in der Kolonie auf geradezu über-
raschende Weise geistig auf leben zu sehen.
Auch noch nach einer anderen Richtung hin haben die
Besserungsbestrebungen der letzten Jahrzehnte die praktische
Lösung der Irrenfrage wesentlich gefördert. Indem man aus-
ging von dem Muster der belgischen Ortschaft G h e e 1 , deren
Bewohner sich seit alter Zeit aus ursprünglich religiösem An-
lasse (Kultus der heiligen D y m p h n a) mit der häuslichen Pflege
Geisteskranker beschäftigen, hat man, wie in einer Reihe anderer
Länder, namentlich in Schottland, auch in Deutschland (Ilten,
Bremen, Berlin, Zwiefalten und anderwärts) den glücklichen
Versuch gemacht, eine familiäre Verpflegung*) von
Irren unter ärztlicher Aufsicht in ausgedehnterem Masse ein-
zurichten. Die Kranken werden dabei gegen eine bestimmte
Entschädigung als Hausgenossen in geeigneten Familien unter-
gebracht und geniessen dadurch alle die mannigfachen Anre-
gungen und Freuden, welche die selbständige Lebensführung in
der Freiheit und die Zugehörigkeit zu einer kleinen Gemein-
schaft mit sich bringt. Diese Familienpflege dient entweder als
Übergang in die volle Freiheit, um die Kranken zunächst wieder
an eine geregelte Tagesarbeit zu gewöhnen und ihnen Gelegen-
heit zur Aufsuchung von Verdienst zu geben. Oder aber sie
bildet eine eigenartige Form der dauernden Irrenversorgung. Bei
uns in Deutschland gliedert sie sich regelmässig an grössere
Anstalten an und wird von ihnen überwacht. In Uchtspringe
sind eine Anzahl von Kranken geradezu in Wärterfamilien unter-
gebracht. Im allgemeinen wird es sich dabei wesentlich um
solche Kranke handeln, die nur deswegen der Anstaltsbehandlung
bedürfen, weil sie keine eigene Familie haben, die imstande
oder geeignet wäre, sich ihrer anzunehmen. Alt schätzt die Zahl
der für die Familienpflege passenden Kranken auf 15°/o. Dem-
gegenüber befindet sich in den belgischen Orten G h e e 1 und
Lierneux die weit überwiegende Menge aller Kranken in der
Familienpflege, deren Mittelpunkt eine verhältnismässig sehr
*) Bothe, Die familiäre Verpflegung Geisteskranker. 1893; Falken-
berg, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LIV, 553; Nawratzki, ebenda,
LIX, 411; Alt, Uber familiäre Irrenpflege. 1899.
462
V. Die Behandlung des Irreseins.
kleine geschlossene Abteilung für unruhige und überwachungs-
bedürftige Kranke bildet. Derartige Einrichtungen dürften je-
doch nur dort möglich sein, wo einerseits die Kranken selbst
sehr leicht zu behandeln sind, und wo sich andererseits eine
Bevölkerung findet, die für die eigenartige Aufgabe ganz be-
sonders geeignet ist.
Innerhalb gewisser Grenzen, als Vorbereitung zur vollen Frei-
heit und als Ersatz für die eigene Familie, wird die an sich
bestechendste Form der Irrenfürsorge auch für unsere Verhält-
nisse ein unersetzliches Glied in der Kette jener Einrichtungen
bilden, die berufen sind, das schwere Schicksal unserer Kranken
zu erleichtern. Es darf aber nicht übersehen werden, dass sie
auch gewisse Mängel hat, die namentlich in der Schwierigkeit
der ärztlichen Überwachung liegen. Soll sie den Anforderungen
entsprechen, die wir heute als Ärzte stellen müssen, so besitzt
sie ferner keineswegs den Vorzug der Billigkeit. Allerdings ist
vielfach die Familienpflege ursprünglich aus den Bedürfnissen
der Armenfürsorge hervorgegangen, die aus Mangel an geeig-
neten Anstalten in irgend einer Weise die Kranken unterzu-
bringen suchte. Es liegt indessen auf der Hand, dass sich im
allgemeinen keine Familie die Last der Verpflegung eines ihr
völlig fremden Geisteskranken aufbürden lassen wird, wenn sie
dafür nicht angemessen entschädigt wird. Soll das Entgelt also
geringer sein, als die Kosten der Anstaltsverpflegung, so wer-
den auch die Leistungen entsprechend sinken. Auf der anderen
Seite fühlen sich freilich die Kranken meist in den weit ein-
facheren Verhältnissen der Familienpflege wohler, als im Gross-
betriebe der Anstalt.
Die Häufigkeit des Irreseins bei Gefangenen hat schon
seit längerer Zeit zu besonderen Einrichtungen für geistes-
kranke Verbrecher im Anschlüsse an Strafanstalten
geführt. Die erste derartige Abteilung in Deutschland wurde
in Bruchsal geschaffen; neuerdings ist Preussen in grossem
Massstabe diesem Beispiele gefolgt. Die erkrankenden Gefangenen
kommen hier sehr rasch in fachärztliche Behandlung. Sobald ihre
Strafzeit abgelaufen oder, in Preussen, ihre Unheilbarkeit fest-
gestellt ist, werden sie in die gewöhnlichen Irrenanstalten über-
führt. Da sie öfters recht unangenehme und gefährliche Eigen-
Die Irrenanstalt.
463
schäften haben, die sich mit der Freiheit des sonstigen Anstalts-
betriebes schlecht vertragen, ist man mehrfach dazu geschritten,
einzelnen Anstalten mit besonderen Sicherungen versehene Bauten
für „verbrecherische Irre“ anzugliedern, in denen auch sonstige
sehr gefährliche Kranke untergebracht werden. Im ganzen sind
jedoch bisher die Erfahrungen mit der Anhäufung solcher In-
sassen in einer Abteilung nicht sehr befriedigende gewesen.
Die Aufgabe des Irrenarztes schliesst zunächst ab mit der
Entlassung des Kranken aus der Anstalt. In der
Regel soll dieselbe nur nach erfolgter Genesung geschehen, aber
es gibt nicht so gar selten Fälle, in denen der langsame Gang
der Genesung und ein sehr lebhaftes, allerdings noch krank-
haftes Heimweh oder 'das Drängen der Angehörigen zu einer
etwas vorzeitigen Entlassung zwingen, wenn man nicht die Ge-
fahr einer Verschlechterung oder gar eines unvermuteten Selbst-
mordes auf sich nehmen will. Bei vorsichtiger Auswahl der
Kranken und unter günstigen häuslichen Verhältnissen pflegt sich
dann die weitere Heilung meist ungestört zu vollziehen. Nament-
lich katatonische Kranke erfahren bisweilen durch einen Ent-
lassungsversuch eine verblüffende Besserung. Oft genug jedoch
kommen baldige Rückfälle vor, besonders wenn des Genesenden zu
Hause wieder Not und Sorge, lieblose, rohe Behandlung oder die
Gelegenheit zu Ausschweifungen wartet. Gerade für ihn ist aber
Schonung, Vermeidung jeder Überanstrengung
und eine nur ganz allmähliche Einführung in die alltäg-
liche Berufslast dringend notwendig. Wohlhabendere schieben
daher zweckmässig zwischen die Genesungszeit und den vollen
Eintritt in ihre früheren Pflichten einen kurzen Badeaufenthalt,
Besuch in befreundeter Familie und dergl. ein.
Jede Entlassung aus der Irrenanstalt ist zunächst eine ver-
suchsweise und wird erst nach einigen Monaten eine end-
gültige, um die Rückversetzung im Falle einer Verschlimmerung
zu erleichtern. Auch ungeheilte und sogar unheilbare Kranke
werden aus der Anstaltsbehandlung entlassen, wenn sie keine
Angriffspunkte für die Behandlung mehr darbieten und sich für
häusliche Pflege eignen oder sich psychische Selbständigkeit
genug bewahrt haben, um in günstigen äusseren Verhältnissen
kürzere oder längere Zeit ohne besondere ärztliche Aufsicht leben
464
V. Die Behandlung des Irreseins.
zu können. Es gibt sogar gewisse Gruppen von Kranken, denen
an sich der Anstaltsaufenthalt geradezu schadet, wenn auch
andererseits mit Rücksicht auf die Umgebung ihre Einschliessung
unumgänglich erscheint. Namentlich in solchen Fällen wird jede
Wendung zum Bessern, soweit das ohne Gefahr geschehen kann,
dazu ausgenutzt werden, dem Kranken die Wohltaten des Lebens
in der Freiheit für längere oder kürzere Zeit wieder zugänglich zu
machen.
Die Schwierigkeiten, die sich dem genesenen und noch mehr
dem nur gebesserten Geisteskranken bei der Rückkehr in seine
früheren Verhältnisse entgegenstellen, haben schon vor vielen
Jahrzehnten zur Gründung der Hilfsvereine *) für entlassene
Kranke geführt. Deren Aufgabe ist es, einmal dem Kranken durch
reichlich bemessene Geldunterstützungen über die ersten Sorgen
hinwegzuhelfen, sodann aber ihm bei der Wiedergewinnung einer
selbständigen und sorgenfreien Lebensstellung mit Rat und Tat
an die Hand zu gehen. Manche dieser Hilfsvereine, von denen
derjenige in Hessen unter Ludwigs Leitung vorbildlich geworden
ist, haben ihre Aufgabe noch viel weiter gesteckt. Sie suchen
durch ein Netz von Vertrauensmännern im ganzen Lande nicht
nur stete Fühlung mit den entlassenen Kranken zu behalten,
sondern auch weite Kreise der Bevölkerung zur werktätigen Mit-
arbeit an der Fürsorge für die Geisteskranken zu erziehen und
damit einerseits das Irrenwesen volkstümlicher zu machen, an-
dererseits eine wohlunterrichtete öffentliche Meinung zu schaffen,
die durch ihren Druck stetig weiteren Verbesserungen den W eg
bahnt.
Noch nach anderen Richtungen reicht das Gebiet der Irren-
fürsorge über den Bereich der eigentlichen Anstalten hinaus**).
Es gibt ganze Gruppen von Kranken, die der irrenärztlichen Be-
handlung bedürfen, sich aber nicht recht für die Unterbringung
in den Irrenanstalten eignen. Für sie gilt es, besondere, ihren
Bedürfnissen angepasste Einrichtungen zu schaffen. Am dringend-
sten ist die Notwendigkeit, für Trinkerheilstätten zu sorgen.
Während die unheilbaren Trinker recht wohl in die Irrenanstalten
*) Scholz, Irrenfürsorge und Irrenhilfsvereine. 1902.
**) Fischer, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, LV, 39.
Die Irrenanstalt.
465
gehören, würde das ebenso wichtige wie aussichtsreiche Werk
der Trinkerrettung im Anfänge scheitern, wenn man nicht für
die heilbaren Fälle eigene Anstalten schaffen und dadurch den
möglichst frühzeitigen und freiwilligen Eintritt in die planmässige
Behandlung erleichtern wollte. Gerade durch die Errichtung ärzt-
lich geleiteter Trinkerheilanstalten wird allmählich dem Volke
immer klarer zum Bewusstsein gebracht werden, dass die chro-
nische Alkoholvergiftung eine Krankheit ist, die man mit ärzt-
licher Hilfe zu bekämpfen hat. In zweiter Linie stehen wir vor
der dringenden Aufgabe, Heilstätten für jene unbemittelten
Nervenkranken zu schaffen, die nicht in den Rahmen der Irren-
anstalten passen, unter Umständen durch einen Aufenthalt dort
geradezu geschädigt werden. Hierhin gehören alle jene beson-
nenen und geordneten Kranken, die eine Zeitlang der Ruhe
und Befreiung von dem Druck der Tagesgeschäfte, oder die der
zielbewussten Anleitung zu regelmässiger Beschäftigung be-
dürfen. Die Bewegung zur Gründung solcher Nervenheilstätten
ist besonders durch Möbius*) angeregt worden; ihr erstes
Ergebnis ist das Haus Schönow in Zehlendorf bei Berlin;
weitere ähnliche Schöpfungen werden über kurz oder lang
folgen.
Ein sehr erheblicher Teil der Geisteskranken ist endlich überall
in Spitälern, Pfründen, Pflege- und Siechenanstalten aller
Art untergebracht, meist ohne fachärztliche Fürsorge. In der Tat
bieten namentlich die angeborenen geistigen Schwächezustände
einer derartigen Verpflegung meist gar keine Schwierigkeiten.
Etwas anders liegt die Frage bei den erworbenen Verblödungen.
Hier ist immer die Gefahr der Verwahrlosung, gelegentlicher Ver-
schlimmerungen des Zustandes und unter Umständen sehr bedenk-
licher Handlungen gegeben. Es erscheint daher durchaus unrichtig,
derartige Kranke dem Bereiche der geordneten Irrenfürsorge zu
entziehen; die Entwicklung gröblicher Missstände ist dabei kaum
zu vermeiden**). Auch die besonderen Anstalten für Idioten und
*) B e n d a , öffentliche Nervenheilanstalten? 1891; Möbius, Über die
Behandlung von Nervenkranken und die Errichtung von Nervenheilstätten. 1896;
Fuchs, Deutsche Praxis. 1902, 8; Neumann, Ärztliche Mitteilungen für
Baden. 1901.
**) Ludwig, Allgem. Zeitschr. f. Psych., LVIII, 1.
Kraepelin, Psychiatrie I. 7. Aufl.
30
466
V. Die Behandlung des Irreseins.
Epileptiker, die jetzt noch vielfach ausserhalb der eigentlichen
Irrenfürsorge stehen, bedürfen unbedingt der fachmännischen
Leitung und Überwachung, schon deswegen, weil nur auf diese
Weise die in ihnen gesammelten Erfahrungen wissenschaftliche
Verwertung finden und damit zu Fortschritten im Verständnisse
und in der Behandlung der Kranken führen können.
Register.
A.
Aberglaube 211. 377.
Ablenkbarkeit als Symptom 160. 194. 234.
„ des Willens 278.
„ Messung ders. 360. 369.
Abortus, Irresein nach dems. 80.
„ künstlicher als Heilmittel 410.
Abreibungen als Heilmittel 416.
Absinth als Ursache des Irreseins 58.
Ängstlichkeit 245.
Äther als Beruhigungsmittel 404.
Äthermissbrauch als Ursache des Irre-
seins 64.
Ätiologie, allgemeine 12.
Affekte s. Gemütsbewegungen.
Agoraphobie s. Platzangst.
Akusticusreaktion, elektrische 132. 345.
Akusticus, Hyperästhesie dess. 132.
Algolagnie 295.
Alkohol als Ursache des Irreseins 57.
„ als Schlafmittel 404.
„ in Irrenanstalten 418.
„ Kampf gegen denselben 393.
Alkoholintoleranz b. Hirnerkrankungen 21.
Alkoholwahnsinn 65.
Altersblödsinn 104.
Altscherbitz 460.
Amnesie 165.
„ retrograde 165.
»» „ bei Erhängten 19.
Amok der Malayen 108.
Amylenhydrat als Schlafmittel 401.
Amylnitrit al3 Arzneimittel 407.
Anamnese 340.
Angehörige Geisteskranker 340.
Angina als Ursache des Irreseins 43.
Angst als Symptom 249.
„ Behandlung derselben 436.
Angstdelirien 86.
Anilindelirien 68.
Anregbarkeit 232.
Anstaltsartefakte 422.
Ansteckung, psychische 93.
Anthropophagie 295.
Aphasie,, amnestische als Symptom 167.
Apoplexie, Schwachsinn nach ders. 21.
Apperception 154.
Apperceptionshallucination 137.
Apperceptionsillusion 138.
Arbeitsfähigkeit, geistige 231. 314.
Arteriosklerose 18. 21. 70. 104.
Arzneimittel 396.
Arzt, weiblicher 425.
Association s. Vorstellungsverbindung.
Associationscentren 27.
Associationsfestigkeit 363.
Atropindelirium 66.
Auffassungsfähigkeit, Untersuchung der-
selben 357.
Auffassungsstörungen 153.
Auffassungstäuschung 138.
Aufmerksamkeit 156.
„ Ablenkbarkeit ders. 160.
„ Abstumpfung ders. 159.
„ aktive 157.
„ Bestimmbarkeit ders. 159.
Dynamometer ders. 230.
„ Fesselung ders. 162.
„ passive 157.
Aufmerksamkeitsschwankungen, Unter-
suchung derselben 359.
Aufnahmeverfahren 451.
Aufzählungen 197.
Augenspiegeluntersuchung 345.
Auscultation des Kopfes 345.
Ausdrucksbewegungen, Störungen der-
selben 300.
„ Untersuchung ders. 366.
Ausdruckszwang 187.
Ausgänge des Irreseins 325.
Ausschweifungen, geschlechtliche als
Ursache des Irreseins 74.
Autohypnose, Gefahr derselben 96. 433.
30*
468
Register.
Automatie als Symptom 276.
Automatisme ambulatoire 291.
Autopsie 370.
B.
Bäder als Heilmittel 411.
„ elektrische 417.
„ verlängerte 411.
Bakterium coli als Heilmittel 408.
Balkengeschwülste als Ursache des Irre-
seins 23.
Basedowsche Krankheit als Ursache des
Irreseins 53.
Beeinflussbarkeit, gemütliche 242.
„ des Willens, erhöhte 274.
„ „ verminderte 284.
Befehlsautomatie 2/6.
Befehlsnegativismus 285.
Begriffsbildung 177.
„ Störungen ders. 177.
Begrüssungsmanieren 281.
Behandlung des Irreseins 385.
„ körperliche 396.
„ psychische 424.
„ symptomatische 434.
„ zellenlose 422.
Belastung, erbliche s. Erblichkeit.
„ organische 117.
Benzin als Ursache des Irreseins 64.
Beobachtung der Geisteskranken 369.
Berauschtheit während der Zeugung als
Ursache des Irreseins 122.
Berührungsfurcht 289.
Beruf als Ursache des Irreseins 111.
Berufslosigkeit als Zeichen d. Irreseins 111.
Berufswahl als Vorbeugung des Irreseins
393.
Beschäftigung als Heilmittel 430.
Beschäftigungsdelirium 147.
Beschäftigungsdrang 268.
Beschleunigung der psychischen Vor-
gänge 230.
Beschränktheit, Abgrenzung ders. von
geistiger Störung 377.
Beschränkung, mechanische 423.
Besonnenheit 350.
Besserung der Geisteskrankheit durch
körperliche Krankheit 329.
Bestimmbarkeit des Willens 275.
Bettbehandlung 420.
Bewegungen, rhythmische 281.
Bewegungsdrang 269.
Bewegungsstereotypen 280.
Bewusstlosigkeit 151.
Bewusstsein 150.
„ doppeltes 236.
„ Enge dess. 156.
„ Helligkeitsgrade dess. 151.
„ Schwelle dess. 151.
Bewusstseinstrübung als Symptom 150.
Biegsamkeit, wächserne 277.
Binitrotoluol als Ursache des Irreseins 68.
Blasenpflaster als Heilmittel 408.
Blattern s. Variola.
Bleivergiftung als Ursache des Irre-
seins 67.
Blickfeld, inneres 157.
Blickpunkt, innerer 157.
Blutandrang als Ursache des Irreseins 16.
Blutdruckuntersuchung 347.
Bluterkrankungen als Ursache des Irre-
seins 48.
Blutleere als Ursache des Irreseins 17.
Blutstauungen 17.
Blutveränderungen bei Geisteskranken
348.
Blutverluste 17. 49.
Brandstiftungstrieb 299.
Brechweinsteinsalbe als Heilmittel 408.
Bromäthyl als Heilmittel 405.
Bromäthylformin 407.
Bromalin 407.
Bromipin 407.
Bromismus 406.
Bromsalze als Heilmittel 405.
Bromvergiftung als Ursache des Irreseins
66.
Bromwasser, kohlensaures als Heilmittel
406.
Bromwirkung, psychische 259.
C.
Cäsarenwahn 314.
Cannabinon als Heilmittel 399.
Chininvergiftung als Ursache des Irre-
seins 66.
Chloralamid als Schlafmittel 404.
Chloralhydrat als Schlafmittel 400.
Chloralose 404.
Chloralrash 400.
Chloroform als Beruhigungsmittel 404.
Chloroformmissbrauch als Ursache des
Irreseins 64.
Chlorose als Ursache des Irreseins 49.
Cholämie als Ursache des Irreseins 50.
Cholera „ „ „ » 40.
Chorea „ „ » 32.
„ hereditäre 32.
„ Huntingtons 32.
Register.
469
Chronoskop 359.
Civilstand, Einfluss desselben auf das
Irresein 114.
Cocain als Ursache des Irreseins 65.
Codein als Arzneimittel 397.
Coitus, erster als Ursache des Irre-
seins 75.
Collapsdelirium 43.
Contagion s. Ansteckung.
D.
Dämmerzustand als Symptom 151.
Dannleiden als Ursache des Irreseins
51. 72.
Dauerbad 412.
Dauer des Irreseins 337.
Deckelbad 412.
Degeneration s. Entartung.
Delirium im Dunkelzimmer 36.
„ eklamptisches 81.
„ nervosum 34.
„ traumaticum 34.
„ tremens 63.
„ urämisches 81.
Denkhemmung 205.
Depression s. Verstimmung.
Desorientierung 1734
„ amnestische 175.
„ apathische 173.
„ deliriöse 174.
„ hallucinatorische 174.
„ stuporöse 174.
„ wahnhafte 176.
Diabetes als Ursache des Irreseins 51.
Diätetik des Irreseins 417.
Diagnose, anatomische 370.
Diagnostik, allgemeine 339.
Digitalis als Heilmittel 407.
Dionin 397.
Disciplinierung 428.
Dispositionsfähigkeit 315.
Dissimulation 383.
Doppeldenken als Symptom 137.
Dormiol 402.
Douchen als Heilmittel 411.
Drastica als Heilmittel 408.
Drehschaukel als Heilmittel 342.
Dromomanie 291.
Drucksteigerung in der Schädelkapsel als
Ursache des Irreseins 17.
Druckvisionen 133.
Duboisinum sulfuricum 399.
Dunkelzimmer, Delirium in demselben 36.
Dysphrenia neuralgica 34.
E.
Echolalie 277.
Echopraxie 277.
Ehe, Beziehungen derselben zum Irre-
sein 114.
Eifersuchtswahn 224.
Eigenbeziehung, krankhafte 213.
Eigensinn 287.
Einbildungskraft 205.
„ Störungen derselben 204.
Einbildungstäuschungen 137.
Einförmigkeit des Denkens 191.
Einwicklungen, feuchtwarme 415.
Einzelhaft als Ursache des Irreseins 90.
Eisbeutel als Heilmittel 416.
Eiterungen, bessernder Einfluss ders. auf
das Irresein 329.
Ekelgefühle, Verlust ders. als Symptom
262.
Eklamptisches Irresein 81.
Ekmnesie 237.
Ekstase 258.
Elektrotherapie beim Irresein 416.
Emotionspsychosen 86.
Empfindlichkeit, gesteigerte gegen Al-
kohol 21.
Encephalitis als Ursache des Irreseins 21.
Encephalopathia saturnina 67.
Endzustände 318.
Entartung, erbliche 117.
Entartungszeichen 344.
„ körperliche 122.
„ psychische 121.
Entgleisung des Willens 282.
Enthaltsamkeit, geschlechtliche als Ur-
sache des Irreseins 76.
Entlassung aus der Anstalt 463.
Entwicklungsjahre, Einfluss ders. auf das
Irresein 100.
Entwicklungsstörungen als Ursache des
Irreseins 122.
Epidemien, geistige 93.
Epilepsie als Ursache des Irreseins 33.
Epileptikerfürsorge 466.
Erblichkeit als Ursache des Irreseins 115.
„ atavistische 116.
„ collaterale 116.
„ gehäufte 117.
„ gleichartige 120.
„ mittelbare 116.
„ umwandelnde 121,
„ unmittelbare 116.
Erfinder, krankhafte 207.
Ergographenversuche 365.
Ergotismus als Ursache des Irreseins 56.
470
Register.
19. Flexibilitas cerea s. Biegsamkeit, wäch-
Erhängte, Geistesstörung bei dens.
Erholungsfähigkeit 233. 368.
Erinnerungsfälschung 167.
„ associierende 170.
„ identificierende 170.
Erinnerungshallucination 169.
Erinnerungslosigkeit 165.
Erinnerungslücke 165.
Erkennung des Irreseins 339.
Erlenmey ersches Gemisch 406.
Ermüdbarkeit, Messung ders. 368.
„ als Krankheitszeichen 233.
Ernährung der Geisteskranken 417.
„ künstliche 441.
Erregbarkeit, gemütliche Herabsetzung
ders. 240.
Erregbarkeit, gemütliche Steigerung
ders. 243.
Erregbarkeit, psychomotorische Herab-
setzung ders. 270.
Erregbarkeit, psychomotorische Steige-
rung ders. 272.
Erregung, Behandlung ders. 435.
„ katatonische 269.
„ manische 268.
„ motorische 267.
Erscheinungen des Irreseins 127.
Erschöpfung als Ursache des Irreseins
36. 43.
Erschöpfung, chronische nervöse 39.
Erysipel als Ursache des Irreseins 40.
Erysipel, bessernder Einfluss desselben
auf Geistesstörungen 329.
Erziehung als Ursache des Irreseins 123.
„ „ Vorbeugung des Irreseins
387.
Essmanieren 281.
Euphorie als Symptom 257.
„ der Morphinisten 258.
Exhibitionismus 291. 297.
F.
Fabelmethode 353.
Fabulieren 170.
Familiäre Erkrankungen 21.
Familienpflege 461.
Faradisation, allgemeine 417.
Fehlassociationen 363.
Fehlreaktionen 364.
Fesselung der Aufmerksamkeit 162.
Fetischismus 297.
Feuerarbeiter, Irresein bei dens. 16. 18.
Fieberdelirien 41.
Flagellanten 296.
serne.
Fliegenschwammvergiftung als Ursache
des Irreseins 66.
Folie ä deux 94.
Forensische Psychiatrie 316.
Formenlehre, psychiatrische 339.
Fragebogen 353.
Fragesucht 187.
Frühgeburt, künstliche als Heilmittel
410.
Fütterung, künstliche 441.
Fugues der Epileptiker 291.
Fortpflanzungsgeschäft und Irresein 74.
G.
Galvanisation des Gehirns 416.
Gedächtnis 163.
„ Festigkeit dess. 166.
„ Schwäche dess. 166.
„ Störungen desselben 163.
„ Untersuchung desselben 352.
360.
Gedankengang, Ablenkbarkeit dess. 194.
„ Beschleunigung dess. 230.
„ Einförmigkeit dess. 191.
„ Hemmung desselben 205.
„ Störungen desselben 181.
„ Umständlichkeit dess. 192.
„ Verlangsamung dess. 229.
„ Weitschweifigkeit desselben
197.
Gefässerkrankungen als Ursache des Irre-
seins 16. 21. 70.
Gefangenschaft als Ursache des Irre-
seins 90.
Gefrässigkeit als Symptom 292.
Gefühle 239.
„ geschlechtliche 264.
„ krankhafte Lebhaftigkeit dersel-
ben 243.
„ Störungen derselben 239.
„ Stumpfheit derselben 243.
Gehmanieren 281.
Gehörstäuschung 144.
„ einseitige 132.
Gelenkrheumatismus als Ursache des Irre-
seins 32. 40.
Gelüste der Schwangeren 293.
Gemeingefühle, Störungen derselben 259.
Gemütsart 244.
„ krankhafte 244.
Gemütsbewegungen als Ursache des Irre-
seins 85.
Register.
471
Gemütsbewegungen, Untersuchung der-
selben 366.
Gemütsbewegungen, krankhafte 248.
Genesungszeit 323.
Genie, Abgrenzung desselben vom Irre-
sein 12a 310. 378.
Genitalorgane, Erkrankungen ders. als
Ursache des Irreseins 73.
Gereiztheit, krankhafte 255.
Gerichtliche Psychopathologie 316.
Geschäftsfähigkeit 315.
Geschlecht, Beziehungen desselben zum
Irresein 104.
Geschlechtsleben und Irresein 74.
Geschlechtstrieb, Perversitäten desselben
294.
Geschwülste des Hirns 19. 23.
Gesichterschneiden 212.
Gesichtstäuschung 143.
„ mikroskopische 148.
Gewöhnungsfähigkeit 235. 369.
Gewohnheitsverbrecher 111.
Gheel 461.
Gicht als Ursache des Irreseins 52.
Gichter der Säuglinge 387.
Giftmischer, krankhafte 299.
Giftwirkungen auf Rindenzellen 25.
„ psychische 54.
Gleichgültigkeit als Symptom des Irre-
seins 240.
Glücksgefühl, krankhaftes 257.
Glykosurie beim Irresein 51.
Gravidität s. Schwangerschaft.
Grazie, Verlust ders. 301.
Greisenalter als Ursache des Irreseins
104.
Grenzen des Irreseins 374.
Grimassieren 282.
Grössenwahn als Symptom 221. 226.
Grübelsucht 187.
Grundeigenschaften, psychische 231.
„ „ Unter-
suchung ders. 368.
Gynäkologische Eingriffe als Heilmittel
409.
H.
Hämatoporphyrin bei Sulfonalvergiftung
402.
Häufigkeit des Irreseins 10. 109.
Haften der Vorstellungen 187.
Hallucination 133.
„ der Erinnerung 169.
„ hypnagogische 130.
„ psychische 137.
Hallucination, stabile 131.
Handeln, Störungen desselben 264.
Harnstottern 252.
Harnuntersuchungen bei Geisteskranken
348.
Harnveränderungen bei Geisteskranken
48.
Haschisch als Heilmittel 399.
„ als Ursache des Irreseins 66.
Hebephrenie 100.
Hedonal 403.
Heilanstalten 456.
Heilung des Irreseins 327.
„ mit Defekt 332.
„ unvollständige 331.
Heiraten Geisteskranker 385.
Hemmung, psychomotorische 270.
Herderkrankungen als Ursache des Irre-
seins 19.
Heredität s. Erblichkeit.
Herzleiden bei Geisteskranken 69.
Hexenprozesse 446.
Hilfsvereine für Geisteskranke 395. 464.
Hirnanämie als Ursache des Irreseins 117.
Hirnblutung als Ursache des Irreseins
18. 19.
Hirndruck als Ursache des Irreseins 17.
Hirnerkrankungen, Irresein bei dens. 15.
Hirnerschütterungen 17. 19. 21.
Hirngeschwülste als Ursache des Irre-
seins 17. 19. 23.
Hirnhyperämie als Ursache des Irre-
seins 16.
Humor der Trinker 256.
Hunger, Einfluss dess. auf psychische
Vorgänge 38.
Hydrotherapie 411.
Hyoscin als Heilmittel 398.
Hypermnesie 168.
Hyperprosexie 161.
Hypnon als Heilmittel 404.
Hypnose 275.
„ als Behandlungsart 432.
Hypnotica s. Schlafmittel.
Hypnotische Versuche als Ursache des
Irreseins 96.
Hypophysis 54.
Hysterie als Folge von Genitalleiden 73.
I. J.
Jahreszeiten in Beziehung zum Irre-
sein 108.
Icterus gravis als Ursache des Irre-
seins 50.
472
Itegister.
Idee, fixe 217.
„ überwertige 217.
„ unterwertige 217.
Ideenflucht als Symptom 194.
„ äussere 198
„ deliriöse 197.
„ innere 198.
„ sprachliche 198.
Idiotenbewegungen 281.
Idiotenfürsorge 465.
Illusion 133.
Impulsivität 291.
Induciertes Irresein 94.
Infectionskrankheiten als Ursachen des
Irreseins 40.
Influenza als Ursache des Irreseins 40.
Infusion, subcutane 411.
Intelligenzprüfung 353.
Interesse 206.
Interesselosigkeit 206.
Intermission 321.
Intermittens als Ursache des Irreseins 40.
„ bessernder Einfluss dess. auf
das Irresein 329.
Intimidation 432.
Intoleranz s. Empfindlichkeit.
Intoxikationen s. Vergiftungen.
Jodoformvergiftung als Ursache des Irre-
seins 66.
Iracundia morbosa 246.
Irrenanstalt 446.
Irrenarzt 425. 453.
„ weiblicher 425.
Irrenfürsorge als Vorbeugung 394.
Irrenkolonien 460.
Irresein, cirkuläres 321.
„ endogenes 14.
„ exogenes 14.
„ induciertes 94.
„ menstruelles 78.
„ periodisches 320.
Irrtum 209.
Isolierung 421.
Isopral 404.
Isotonie des Blutes 48.
Juden, Veranlagung derselben zum Irre-
sein 106.
K.
Kachexia strumipriva 53.
Kälte als Behandlungsmittel 416.
Karcinom s. Krebskachexie.
Kastration als Ursache des Irreseins 35.
Katalepsie 277.
Kataraktoperationen als Ursache des
Irreseins 36.
Kinder, Irresein derselben 97.
Kindsmord 299.
Kinematographie 366.
Klangassociationen 182.
Klangspielerei 203.
Kleiderangst 289.
Kleinheitswahn 221.
Kleptomanie 299.
Klima, Beziehungen dess. zum Irresein
108.
Klimakterium als Ursache des Irreseins
78. 102.
Klimakterium, künstliches, als Ursache
des Irreseins 35.
Klinische Formenlehre 339.
Kochsalzinfusion als Heilmittel 411. 444
Körpergewicht bei Geisteskranken 324
Kohlenoxydgasvergiftung als Ursache des
Irreseins 67.
Kohlensäurevergiftung als Ursache des
Irreseins 50.
Kolonie 460.
Kopfrose s. Erysipel.
Kopfverletzungen als Ursache des Irre-
seins 19. 21.
Kopfverletzungen, bessernder Einfluss
derselben auf das Irresein 329.
Koprolalie 264.
Koprophagie 262.
Korssako wsche Psychose 63.
Kotstauungen als Ursache des Irreseins
36. 51.
Kraniektomie 409.
Krankenuntersuchung 339.
Krankheiten, körperliche als Ursache des
Irreseins 40.
Krankheiten, körperliche, bessernder Ein-
fluss auf das Irresein 329.
Krankheitsbewusstsein 350.
„ Mangel dess. 226.
Krankheitseinsicht als prognostisches
Zeichen 328.
Krebskachexie als Ursache des Irre-
seins 50.
Kretinismus 53.
Krieg als Ursache des Irreseins 92.
Kultur und Irresein 109.
Künstler, Irresein bei denselben 111.
Kunst, krankhafte 311.
L.
Lactation als Ursache des Irreseins S3.
Lähmung des Willens 265.
Register.
473
Landstreicher, Irresein derselben 112.
Langeweile 260.
Latah der Malayen 108.
Launenhaftigkeit, krankhafte 243.
Lebensalter, Beziehungen desselben zum
Irresein 97.
Lebensverhältnisse, allgem. Beziehungen
derselben zum Irresein 109.
Leichenbefund 370.
Leichenschändung 295.
Leichtsinn, krankhafter 248.
Leistungsfähigkeit s. Arbeitsfähigkeit.
„ der Geisteskranken 314.
Lepra als Ursache des Irreseins 45.
Leuchtgasvergiftung als Ursache des
Irreseins 66.
Leukämie als Ursache des Irreseins 49.
Literatur, krankhafte 309.
Localisation der psychischen Störungen
22.
Localisation der Wahnideen 218.
„ zeitliche 172.
„ „ Störungen ders.
172.
Lüge, krankhafte 207.
Lues s. Syphilis.
Lumbalpunktion 409.
Lungenentzündung s. Pneumonie.
Lungenkrankheiten als Ursache des Irre-
seins 69.
Lustgefühle, krankhafte 256.
Lustigkeit 256.
Lustmord 295.
Lyssa als Ursache des Irreseins 42.
M.
Mädchenstecher 295.
Magenerkrankungen als Ursache des Irre-
seins 72.
Magensaft, Verhalten desselben 349.
Malaria s. Intermittens.
Manieren 281.
Mann, Veranlagung dess. zu Geistes-
störungen 104.
Masern als Ursache de3 Irreseins 40.
Masochismus 295.
Massage als Heilmittel 417.
Mastkur 419.
Masturbation als Ursache des Irre-
seins 74.
Masturbation, Behandlung derselben 439.
„ psychische 297.
Mathematik, Anlage zu derselben 26.
Medikamente s. Arzneimittel.
Meningitis als Ursache des Irreseins -1.
Menschenfresserei, krankhafte 295.
Menstrualpsychosen 78.
Menstruationsstörungen als Ursache des
Irreseins 77.
Menstruationsstörungen, Einfluss derselb.
auf den Verlauf des Irreseins 78.
Merkfähigkeit 163.
„ Untersuchung derselben 360.
Metasyphilis 47.
Methylal als Schlafmittel 404.
Migräne als Ursache des Irreseins 33.
Mimik der Geisteskranken 300.
Monomanie 217.
Morbus Basedowii 53.
Morphium als Heilmittel 397.
„ als Ursache des Irreseins 64.
Morphiumeuphorie 258.
Moosbetten 439.
Muskelbewegungen, Untersuchung der-
selben 365.
Mutacismus 285.
Myxödem als Ursache des Irreseins 53.
N.
Nachahmungsautomatie 277.
Nachtwachen 458.
„ Einfluss derselben auf das
Seelenleben 39.
Nährklystiere 444.
Nahrungsverweigerung als Krankheits-
zeichen 292.
Nahrungsverweigerung, Behandlung der-
selben 440.
Namenzwang 187.
Narkotica als Heilmittel 396.
Narrentürme 446.
Nationalität, Beziehungen ders. zum Irre-
sein 106.
Nebenantriebe 279.
Nebennierenextrakt als Heilmittel 408.
Negativismus 284.
Neologismen 306.
Nervenheilanstalten 395. 465.
Neivenkrankh eiten als Ursache des Irie-
seins 31.
Neurasthenie 89.
syphilitische 46.
Neuritis, multiple als Ursache des Irre-
seins 32.
Niedergeschlagenheit 254.
Nierenerkrankungen als Ursache des Irie-
seins 50. 72.
No-restraint 423.
Nuptiales Irresein 75.
474
Register.
0.
Offen-Tür-System 459.
Ohrenleiden als Ursache des Irreseins 68.
Olivenölinfusionen 445.
Onanie s. Masturbation.
Operationen als Ursache des Irreseins 34.
„ als Heilmittel 409.
Opium als Ursache des Irreseins 65.
„ als Heilmittel 396.
Opiumrausch 258.
Ophthalmoskopie als Untersuchungs-
methode 345.
Organerkrankungen als Ursache des Irre-
seins 68.
Organsaftbehandlung 408.
Orientierung 171.
„ örtliche 172.
„ Störungen ders. 171.
„ Untersuchung ders. 353.
„ zeitliche 172.
„ , Störungen dersel-
ben 172.
Ovariotomie als Heilmittel 409.
P.
Papierangst 253. 289.
Paraldehyd als Schlafmittel 401.
„ als Ursache des Irreseins 64.
Paralogie 285.
Paramimie 282.
Paramnesie 169.
Parasiten im Darm als Ursache des Irre-
seins 72.
Pedanterie 288.
Pellagra als Ursache des Irreseins 56.
Pellotin als Schlafmittel 399.
Perceptionsphantasmen 130.
Peronin 397.
Perseveration 189.
Personenverwechslung 144.
Petroleum als Ursache des Irreseins 64.
Pflegeanstalt 456.
Pflegepersonal 454.
Phobien 250.
Phonographie 366.
Phosphorvergiftung als Ursache des Irre-
seins 67.
Phthise als Begleiterin des Irreseins 336.
„ als Ursache des Irreseins 45.
Platzangst 252.
Plethysmographie 348.
Pneumonie als Ursache des Irreseins 40-
Pocken s. Variola.
Polsterbett 420.
Polyneuritisches Irresein 32.
Poriomanie 291.
Präkordialangst 249.
Prädisposition zum Irresein 96.
„ allgemeine 97.
„ persönliche 114.
Presbyophrenie 104.
Prodromalsymptome 318.
Prognose des Irreseins 326.
Prophylaxe des Irreseins 385.
Prostituierte, Irresein ders. 112.
Pseudohallucination 137.
Pseudoparalyse 55.
„ diabetische 51.
Psychogene Störungen bei Hirnerkran-
kungen 19. 21.
Psychose s. Irresein.
Pubertätsalter, Geistesstörungen des-
selben 100.
Puerperium s. Wochenbett.
Puerperalmanie 83.
Pulsbild beim Irresein 347.
Pupillenuntersuchung 346.
Pyromanie 299.
Q.
Quecksilbervergiftung als Ursache des
Irreseins 66.
R.
Rasse, Beziehung derselben zum Irre-
sein 106.
Ratlosigkeit 174.
Rausch, psychisches Bild dess. 30.
Rechtspflege, Beziehungen des Irreseins
zu derselben 315.
Reconvalescenz 323.
Reflexhallucination 139.
Reflexmultiplicator 366.
Reflexpsychosen 34.
Reinlichkeit, Störungen derselben 262.
Reizbarkeit, gemütliche, Erhöhung der-
selben 246.
Remission 322.
Reperception 136.
Residualwahn 220.
Restraint 423.
Rindenzellen, örtliche Verschiedenheit
derselben 24.
S.
Sadismus 294.
Salicylsäurevergiftung als Ursache des
Irreseins 66.
Register.
475
Salzsäuregehalt im Magensafte von Gei-
steskranken 72.
Sammeltrieb, krankhafter 298.
Säugegeschäft s. Lactation.
Schädellehre Galls 26.
Schädelmessung bei Geisteskranken 344.
Schamgefühl, Verlust dess. 264.
Scharlachdelirien 40.
Scheinoperationen bei Hypochondern 432.
Schilddrüsenerkrankung als Ursache des
Irreseins 53.
Schilddrüsenausschneidung als Heilmittel
410.
Schlafkrankheit der Neger 108.
Schlaflosigkeit, Behandlung ders. 436.
„ Einfluss derselben auf
psychische Vorgänge 39.
Schlafmittel 400.
Schlaftiefe, Gang derselben 152.
„ Störung derselben 234.
„ Messung derselben 368.
Schluckangst 252.
Schmerz, Fehlen desselben 263.
Schmerzdelirien 34.
Schmerzgeilheit 295.
Schnauzkrampf 280.
Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes
228.
Schreck als Ursache des Irreseins 17. 86.
Schreckneurose 87.
Schriftsteller, krankhafte 310.
Schriftstörungen 307.
Schriftwage 309. 364.
Schrullen 281.
Schulärzte 392.
Schutzhandlungen 289.
Schwärmer, krankhafte 247.
Schwangerschaft als Ursache des Irre-
seins 79.
Schwefelkohlenstoffvergiftung als Ur-
sache des Irreseins 68.
Schwefelwasserstoffvergiftung als Ur-
sache des Irreseins 66.
Schweiss, Giftigkeit dess. beim Irre-
sein 48.
Schwellenwert 151.
Schwerfälligkeit 205.
Schwindler, krankhafte 247.
Sectionsergebnisse bei Geisteskranken
370.
Sekundärempfindungen 139.
Selbstbewusstsein 235.
„ Spaltung desselben 235.
„ Störungen desselben 235.
„ Verdoppelung dess. 236.
Selbstgefühl, gesteigertes 256.
Selbstmord als Symptom 375.
Selbstmordneigung 312.
„ Behandlung ders. 437.
Selbstvergiftung 48.
Separierung 421.
Septicämie als Ursache des Irreseins
41. 81.
Serumbehandlung 411.
Sexualempfindung, conträre 294.
Siechenanstalten 465.
Simulation 381.
Sinnescentren 27.
Sinnestäuschungen 129.
„ elementare 129.
„ Nachweis ders. 350.
Sitophobie s. Nahrungsverweigerung.
Sklerose, multiple 21.
Sodomie 298.
Somatiker 2.
Somnal als Schlafmittel 404.
Sondenernährung 441.
Sonnennatur 247.
Spaltplatte 358.
Spätheilung 337.
Spannung, ängstliche 249.
Sphygmographie bei Geisteskranken 347.
Spiritismus und Irresein 96.
Sprachstörung 303.
Sprachverwirrtheit 304.
Sprechmanieren 281.
Staatliche Aufgaben der Psychiatrie
395.
Stadtasyl 456.
Städte, grosse, Irresein in denselben
109.
Status präsens, körperlicher 343.
„ „ psychischer 349.
Stehltrieb 299.
Sterblichkeit der Geisteskranken 335.
Stereoskopie 366.
Stereotypie des Willens 280.
„ der Vorstellungen 190.
Stickstoffoxydul als Ursache des Irre-
seins 66.
Stigmata hereditatis 122.
Stimmen 144.
Stimmungswechsel 244.
Stirnhirngeschwülste, psychische Stö-
rungen bei denselben 23.
Stoffwechselkrankheiten als Ursache des
Irreseins 48.
Stupor 271.
„ katatonischer 271.
Suchten 293.
Suggestion, hypnotische 275.
ä öcheance 275.
476
Register.
Suggestion, posthypnotische 276.
Sulfonal als Schlafmittel 402.
Sulfonal als Ursache des Irreseins 66.
Sympathicusdurchschneidung als Heilmit-
tel 409.
Symptomatologie des Irreseins 127.
Syphilis als Ursache des Irreseins 21. 45.
„ bei Paralyse 47.
„ Kampf gegen dieselbe 393.
T.
Tabes als Ursache des Irreseins 31.
Tachistoskop 361.
Tätowierung 344.
Tartarus stibiatus 408.
Teilnahmlosigkeit als Symptom 240.
Telepathie 224.
Terpentinöleinspritzungen 408.
Tetanie als Ursache des Irreseins 33.
Tetronal als Schlafmittel 403.
Therapie s. Behandlung.
Thermometrie des Kopfes 345.
Thyreodin 407.
Tierverwandlung, Wahn ders. 225.
Tobzellen 421.
Tod als Ausgang des Irreseins 335.
Todesursachen bei Geisteskranken 336.
Toluidinrausch 68.
Träumer, krankhafte 207.
Traubenzuckerinfusionen 340.
Traum bei Geisteskranken 152.
Trauma s. Kopfverletzungen.
Tretrad als Behandlungsmittel 448.
Triebe, krankhafte 292.
Triebhandlungen 291.
Trinker 60.
Trinkerheilstätten 464.
Trional als Schlafmittel 403.
Tropenklima, Einfluss desselben auf das
Irresein 108.
Trugwahrnehmungen s. Sinnestäuschungen.
Trunksucht s. Alkohol.
Tuberculin als Heilmittel 408.
Tuberculose als Ursache des Irreseins 45.
„ bei Geisteskranken 336.
Tumoren s. Geschwülste.
Typhus als Ursache des Irreseins 40.
„ bessernder Einfluss desselben auf
Geistesstörungen 329.
Typhus pellagrosus 56.
Typhustoxine als Heilmittel 408.
U.
Überanstrengung als Ursache des Irre-
seins 88.
überbürdung der Schuljugend 388.
Überernährung als Behanulungsmethode
418.
Übung 231.
Übungsfähigkeit, Messung ders. 368.
„ Störungen ders. 231.
Übungsfestigkeit 232. 368.
Umständlichkeit 192.
„ der Epileptiker 193.
Unbesinnlichkeit 155.
Unheilbarkeit 333.
Unlenksamkeit 288.
Unlustempfindlichkeit, gesteigerte 245.
Unlustgefühle, krankhafte 249.
Unreinlichkeit, Behandlung ders. 439.
„ als Krankheitszeichen 262.
Unruhe 268.
Unsittlichkeit, Abgrenzung ders. vom
Irresein 379.
Unstetigkeit 243. 278.
Unterricht, psychiatrischer 395.
Untersuchungshaft als Ursache des Irre-
seins 90.
Untersuchungsmethoden, klinische 352.
Urämie als Ursache des Irreseins 50. 72.
Ural als Schlafmittel 403.
Urethan als Schlafmittel 403.
Ursachen des Irreseins 12.
„ „ „ äussere 14
„ „ ., gemischte 81.
„ „ innere 96.
„ „ ., körperliche 15.
„ „ „ psychische 83.
„ „ „ rohe 13.
„ „ „ wahre 13.
Urteilsstörungen 208.
V.
Vagabunden, Beziehungen ders. zum Irre-
sein 112.
Variola als Ursache des Irreseins 40.
Verantwortlichkeit 315.
Verbalsuggestion 434.
Verbigeration 305.
Verblödung 335.
Verbrecher, geborene 113. 379.
„ geisteskranke 462.
Verdauungsstörungen als Ursache des
Irreseins 71.
Vererbung s. Erblichkeit.
Verfolgungswahn als Symptom 223.
„ physikalischer 224.
Vergiftung als Ursache des Irreseins
30. 36. 54.
Register.
477
Verlangsamung der psychischen Leistun-
gen 229.
Verlauf des Irreseins 317.
„ anfallsweiser 320.
cirkulärer 321.
„ fortschreitender 334.
„ gleichmässiger 319.
periodischer 320.
„ schwankender 319.
Verleugnung 383.
Veronal 404.
Verrücktheit, primäre 318.
Verschlossenheit 246.
Verschrobenheit 279.
Verstandestätigkeit, Störungen derselben
162.
Verstandestätigkeit, Prüfung ders. 352.
Verstellung 381.
Verstimmung, epileptische 255.
,. heitere 256.
„ traurige 254.
Versuche, psychologische bei Geistes-
kranken 356.
Versündigungswahn 222.
Verwandlungswahn 225.
Verwandtschaft der Eltern als Ursache
des Irreseins 117.
Verwirrtheit als Symptom 203.
„ hallucinatorische 204.
„ ideenflüchtige 203.
,, kombinatorische 203.
.. stuporöse 204.
„ traumhafte 203.
„ zerfahrene 203.
Verzückung 258.
Vision 143.
Volksart, Beziehungen derselben zum
Irresein 106.
Vorbeireden 285.
Vorbeugung 385.
Vorboten 318.
Vorgeschichte 340.
Vorstellungen, Haften derselben 187.
„ unabgeschlossene 187.
Vorstellungsschatz, Untersuchung dess.
353.
Vorstellungsverbindungen, äussere 181.
,. Festigkeit ders.
363.
„ innere 181.
,. prädikative 183.
,. Statistik dersel-
selben 363.
„ Störungen in der
Bildung dersel-
ben 177.
V orstellungsverbindungen, Untersuchung
derselben 362.
Vorstellungsverbindungen, zeitlicher Ab-
lauf ders. 228.
Vorstellungsverlauf s. Gedankengang.
W.
Wachabteilung 456.
Wärmebestrahlung des Kopfes als Ur-
sache des Irreseins 16. 18.
Wahnbildung 212.
„ partielle 218.
Wahnidee als Symptom 212.
,. deliriöse 219.
„ depressive 221.
„ exaltierte 226.
„ fixe 221.
„ Localisation derselben 218.
„ hypochondrische 225.
„ Nachweis derselben 350.
„ nihilistische 222.
„ systematisierte 221.
„ wechselnde 220.
Wahnsystem 221.
Wahlreaktionen 364.
Wahlzeit 364.
Wahrnehmung, Störungen ders. 128.
,, Untersuchung ders. 357.
Wahrnehmungstäuschungen 130.
Wandertrieb 291.
Wasserbehandlung 411.
Wechselfieber s. Intermittens.
Weib, Disposition desselben zum Irre-
sein 104.
Weitschweifigkeit 197.
Wicklungen, feuchte 415.
Widerstreben 287.
Wille, Störungen desselben 264.
,. Ablenkbarkeit desselben 278.
„ Beeinflussbarkeit desselben, er-
,, höhte 274.
„ Beeinflussbarkeit desselben, ver-
minderte 284.
Bestimmbarkeit desselben 275.
„ Bindung desselben 288.
,, Durchkreuzung desselben 279.
„ Entgleisung desselben 282.
„ Stereotypie desselben 280.
„ Unstetigkeit desselben 278.
Willenlosigkeit 275.
Willensantriebe, Auslösung, erleichterte
derselben 272.
Willensantriebe, Auslösung, erschwerte-
derselben 270.
478
Register.
Willensantriebe, Herabsetzung derselben
265.
Willensantriebe, Steigerung derselben
267.
Willensantriebe, Untersuchung derselben
279.
Willensfreiheit 274.
Willenshemmung 270.
Willenssperrtmg 271.
Witzelsucht 23. 202.
Wochenbett als Ursache des Irreseins 80.
Wortneubildungen 306.
Wortsalat 304.
Wortspielerei 201.
Wucherungen, adenoide, Entfernung der-
selben 410.
Z.
Zahl der Geisteskranken 10.
Zahlenzwang 187.
Zeichnungen, krankhafte 308.
Zeitmessungen, psychische 228. 359.
Zellenlose Behandlung 422.
Zerfahrenheit 199.
Zerstörungssucht, Behandlung ders. 438.
Zerstreutheit 160. 162. 164.
Zielvorstellungen 184.
Zitterapparat 365.
Zoophilie 298.
Zopfabschneider 298.
Zommütigkeit, krankhafte 246.
Zuchthausknall 92.
Zunahme des Irreseins 109.
Zurechnungsfähigkeit 315.
Zustände, krankhafte 317.
Zustandsuntersuchung 343.
Zwangsbefürchtungen 250.
Zwangsbewegungen 280.
Zwangshandlungen 288.
Zwangsjacke 423.
Zwangsvorstellungen 185.
Zwillingsirresein 120.
Verlag von JOHANN AMBROSIUS BARTH in LEIPZIG
Früher erschien von demselben Verfasser:
EINFÜHRUNG
IN DIE
PSYCHIATRISCHE KLINIK.
DREISSIG VORLESUNGEN
VON
DR. EMIL KRAEPELIN,
PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT HEIDELBERG.
VIII, 328 Seiten. 1901. Preis M. 8.40, gebunden M. 9.60,
gebunden und durchschossen M. 11. — .
Therapeutische Monatshefte. 1901. September:
Kraepeliu, der rühmlichat bekannte Heidelberger Irrenarzt, hat allen Studierenden
und Ärzten mit der Abfassung des vorliegenden Buches einen grossen Dienst geleistet. Ein der-
artiges Werk füllt tatsächlich eine seit lauge vorhandene Lücke aus. Sicherlich werden
Viele, die ,,der Not gehorchend, nicht dem eigenem Triebe“ — an das Studium der Geistes-
krankheiten herangehen, durch dasselbe Anregung und Interesse für das ihnen bisher so fremde
und dunkle Gebiet bekommen. — In 30 Vorlesungen werden klar und deutlich die Elemente der
Psychiatrie abgehandelt und an der Hand von geeigneten Beispielen finden wir in Kürze er-
läutert, was für das Verständnis der Geisteskrankheiten ein unerlässliches Erfordernis ist. Dabei
sollen diese Vorlesungen nichts weniger als ein Lehrbuch sein. Ihr Zweck ist vielmehr, als
eine Anleitung zur klinischen Betrachtung Geisteskranker zu gelten. Wie in der Klinik üblich,
wird der diagnostische Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt, typische Fälle werden in
geeigneter Weise analysiert und ihre Prognose und Heilbarkeit erörtert.
An dieser Stelle können wir zu unserem Bedauern nicht weiter auf Einzelheiten ein-
gehen, aber mit Nachdruck müssen wir hervorheben, dass es dem Verfasser meisterhaft gelungen
ist, wiederum ein verdienstvolles Bach geschaffen zu haben, das den Anfänger geschickt in das
Gebiet der Geisteskrankheiten einführt, „bei deren Beurteilung uns auf Schritt und Tritt Un-
klarheiten und Zweifel aufstosseu11. Dies neue Kr a e p eli n sehe Buch bedarf keiner weiteren
Empfehlung. Es verdient von Lernenden und Lehrenden als eine dankenswerte Erscheinung
begrüsst zu werden. Rabow.
Zeitschrift für Psychologie. Band 27, Heft 1/2:
An der Hand prägnant geschilderter und vortrefflich ausgesuchter Krankheitsbilder er-
örtert Verfasser die Kliuik der verschiedenen Psychosen und legt ganz besonders Wert auf die
Stellung der Diagnose und die eingeheude Begründung der Differential diagnose. In anziehender Weise
and anregender Form, mit didaktischem Geschick, mit einer feinen Beobachtungsgabe, die auch
ganz unscheinbare Züge zu verwerten weiss, begründet Kraepelin in jeder der mitgeteilten
Krankheitsgeschichten die Diagnose und berichtet über das weitere Schicksal des Kranken. Re-
ferent glaubt nicht fehlzugehen in der Annahme, dass sich auch vorliegendes Buch bald
einer ebenso grossen Beliebtheit und Verbreitung erfreuen wird wie des Verfassers Lehrbuch.
Jedenfalls ist heute wohl kaum ein Buch geeigneter, dou Studenten in die Klinik einzuführen,
ihm Interesse für die Psychiatrie einzufiössen und ihn zu selbständigem Denken anzuregen.
Ernst Schultze, Andernach.
Berliner klinische Wochenschrift. 1901. No. 49:
Die eigenartige Zergliederung des manchem so spröde erscheinenden Stoffes verbunden mit
der dem Verfasser eigenen klaren und fesselnden Darstellungsart hat unzweifelhaft für die Stu-
dierenden, besonders natürlich für die eigenen Schüler Kraepelin s, ihre grossen Vorzüge: sie
wird ihnen das Verständnis für psychische Krankkeitsbilder erleichtern und sie psychiatrisch
denken und urteilen lehren ; nicht minder wird aber auch dem praktischen Arzt eine ihm in so
anregender Form gebotene Auffrischung dessen, was er früher einmal in der Klinik selbst be-
obachtet hat, willkommen sein.
Verlag von JOHANN AMBROSIUS BARTH in LEIPZIG.
Möbius, Dr. P. J., Ausgewählte Werke.
Der geschlitzte Leipziger Neurologe schickt sieh an, seine „Ausgewkhlten Werke" in ein-
heitlicher vornehmer Ausstattung erscheinen zu lassen. Die ersten 5 Lände werden folgende
Titel haben: I. Band : Ilousseau. IX. und III. Band : Goethe. IV. Baud: Schopenhauer. V, Band:
Nietzsche. Jeder Band ist einzeln käuflich. Preis M. 3. — , geh. M. 4.50.
Band I: J. J. Rousseau. XXIV, 311 S. mit Titelbild und Handschrift-
probe. 1903. M. 3. — , geb. M. 4.50.
„Das vorliegende Buch, in dem uns M. die Entwicklung der Geistesstörung J. J. Koutseaug
schildert, wird von jedem Gebildeten von Anfang bis Ende mit warmem Interesse, ja mit
Spannung gelesen werden, denn die Lösung der Aufgabe ist M. in mustergültiger Weise gelungen.
Prof. E. Kraepelin.
Band II und III: Goethe. 260 und 264 S. mit Titelbildern. 1903.
Je M. 3. — , geb. M. 4.50.
Literarisches Centralblatt: M. unternimmt eine umfassende Darstellung des Patholo-
gischen hei Goethe in den Werken und der Person selbstverständlich unter Bevorzugung der
Abnormitäten geistiger Art. Dieser Aufgabe, deren ausserordentliche Wichtigkeit noch von der
Schwierigkeit ihrer Behandlung übertroffen scheint, ist der ausgezeichnete Nenrologe in so
hervorragendem Masse gerecht geworden, dass es vielleicht nicht zu kühn ist, wenn wir sein
Buch als die inhaltreichste Frucht der Goetheforschung der jüngsten Jahre auffassen . . .
Über Schopenhauer. VIII, 264 S. mit 12 Porträts. 1899.
M. 4.50, geb. M. 5.50.
Der 1. Teil ist ein Gutachten über den Geisteszustand Schopenhauers. In ihm wird auf
Grund der Familiengeschichte und der Biographie gezeigt, dass Schopenhauer eine „pathologische
Mehrwertigkeit“ war.
Der 2. Teil des Buches enthält eine Kritik der Philosophie Schopenhauers vom Stand-
punkte des Verfassers aus, die bei aller Schärfe des Urteils den Kern der Lehre als gesund an-
erkennt, und die Freunden wie Gegnern Anregung gewähren wird.
Über die Anlage zur Mathematik. VIII, 332 S. mit 51 Bild-
nissen. 1900. M. 7. — , geb. M. 8.50.
Nach M.’s Darstellung wird das mathematische Talent nicht erworben, sondern mit zur
Welt gebracht; es iBt nicht proportional, den anderen geistigen Fähigkeiten, sondern kann bei
grosser Intelligenz klein Bein und umgekehrt .... Der besonderen Geistesbeschaffenheit des
Mathematikers entspricht auch eine körperliche Besonderheit: eine ungewöhnlich starke Ent-
wickelung des oberen äusseren Angenhöhlenwinkels.
— Über Kunst und Künstler. VKI, 296 S. mit 8 Tafeln. 1901.
M. 7.—, geb. M. 8.50.
Verfasser kommt bei seinen Untersuchungen zu der Annahme bestimmter einzelner Kunst-
triebe, deren fünf unterschieden werden. Er zeigt, dass einzelne dieser Triebe bei einzelnen
Menschen von Geburt an besonders stark entwickelt sind und dass der ungewöhnlich starke
Trieb oder das Talent den Künstler zu seiner Tätigkeit nötigt.
Neurologische Beiträge. 4 Hefte. 1894 — 1896. M. 14 — .
Inhalt: 1. Heft: Über den Begriff der Hysterie und andere Vorwürfe vorwiegend
psychologischer Art. VI, 127 S. 1894. M. 4. —
2. Heft: Über Akinesia algera. Zur Lehre von der Nervosität, über Seelenstörungen
Chorea. IV, 137 S. 1894. M. 3.—
3. Heft: Zur Lehre von der Tabes. IV, 154 S. 1895. M. 3. —
4. Heft: Über verschiedene Formen der Neuritis. Über verschiedene Augenmuskel-
störungen. IV, 216 S. 1895. M. 4. —
Vermischte Aufsätze. IV, 176 S. 1898. M. 4.—.
In dem vorliegenden Hefte ist Altes und Neues abgedruckt. Die wichtigsten dieser
Studien betreffen die augenblicklich im Vordergrund stehende Bewegung zur Änderung unserer
sogenannten „Nervenheilanstalten“ in Arbeitsanstalten für Nervenkranke und vor Allem die
Neugründung von Volksbeilstätten für solche Patienten. Auch was wir über den Kampf gegen
den Alkobolismuß, den Kampf gegen die Tuberkulose und gegen die venerischen Krankheiten
erfahren, das sollte in breiteren Schichten des Publikums bekannt werden.
Stachyologie. Weitere vermischte Aufsätze. VIII, 219 S. 1901.
M. 4.80, geb. M. 6. — .
Diese „Ährenlese setzt sich aus folgenden Arbeiten zusammen: 3 Gespräche über Meta-
physik. 3 Gespräche über Religion. Psychiatrie und Literaturgeschichte. Über J. .T. Bosseaus
Jugend und W. A. Freund. Über die Heilung des Orest. Über das Studium der Talente. Über
die Vererbung künstlerischer Talente. Über einige Unterschiede der Talente. Über einige
Unterschiede der Geschlechter. Über den physiologischen Schwachsinn des Weihes. Über Ent-
artung. Über Massigkeit und Enthaltsamkeit.
Nervenkrankheiten. Ein kurzes Lehrbuch. VTH, 188 S. 1893.
geb. M. 4.50.
Deutsche Medizinal - Zoltung : Das gediegene kleine Buch wird sich schnell überall ein-
bürgern. Es enthält bei aller Kürze das Wissenswerteste aus dem Gebiete der Nervenkrankheiten
und zwar in so ansprechender origineller Form, dass es das Interesse des Lesers stets fesselt.