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Full text of "Psychiatrie : ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte"

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PSYCHIATRIE 


EIN  LEHRBUCH 


FÜR 


STUDIERENDE  UND  ÄRZTE 

3 H a^-&*rt 


VON 


Dr.  EMIL  KRAEPELIN 

PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  MÜNCHEN 


U , 


SIEBENTE,  VIELFACH  UMGEARBEITETE  AUFLAGE 


I.  BAND 

ALLGEMEINE  PSYCHIATRIE 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH 

i i i. 

1903 

1961 


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Übersetzungsrecht  Vorbehalten. 


WELLCOME  INSTITUTE 
LIBRARY 

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Druck  von  C.  Grumbach  in  Leipzig. 


Dem  Andenken 


Bernhard  Gudden’s 


gewidmet. 


Digitized  by  the  Internet  Archive 
in  2016 


https://archive.org/details/b28120796_0001 


Vorwort  zur  7.  Auflage. 


Die  Neubearbeitung  des  vorliegenden  Buches,  die  ich  durch 
wiederholte  Vergrösserung  der  Auflagen  möglichst  hinauszuschie- 
ben gesucht  habe,  findet  unsere  Wissenschaft  noch  immer  in 
lebhaften  Entwicklungskämpfen.  Die  meisten  der  im  letzten  Jahr- 
zehnt aufgetauchten  klinischen  Fragen  harren  noch  ihrer  end- 
gültigen Lösung,  und  auch  auf  Gebieten,  deren  Kenntnis  zu  einem 
gewissen  Abschlüsse  gediehen  zu.  sein  schien,  wie  die  Paralyse 
und  die  Epilepsie,  erheben  sich  gewichtige  Zweifel,  ob  nicht  un- 
sere bisherigen  Anschauungen  in  wesentlichen  Punkten  einer  Neu- 
prüfung bedürfen.  Diese  Unsicherheit  unseres  Wissens  ist  gewiss 
kein  unerfreuliches  Zeichen;  bedeutet  sie  doch  nach  einem  lange 
dauernden,  ziemlich  unfruchtbaren  Beharrungszustande  eine  Neu- 
belebung des  Bedürfnisses  nach  klinischer  Durchforschung  der 
Geisteskrankheiten.  Ausserordentlich  erschwert  wird  aber  durch 
die  Unfertigkeit  und  Zwiespältigkeit  der  weit  auseinander  weichen- 
den, vielfach  wechselnden  Lehrmeinungen  die  Aufgabe,  in  einem 
gegebenen  Zeitpunkte  den  Besitzstand  unserer  Wissenschaft  dar- 
zustellen. So  wenig  ich  mich  zu  der  Selbstverleugnung  ent- 
schliessen  kann,  Anschauungen,  die  ich  für  überwunden  halte,  nur 
deswegen  weiter  zu  lehren,  weil  sie  sich  sonst  noch  allgemeiner 
Anerkennung  erfreuen,  so  sehr  scheint  es  mir  doch  geboten,  einen 
vorläufig  gewonnenen,  wenn  auch  als  unbefriedigend  erkannten 
Standpunkt  erst  dann  zu  verlassen,  wenn  ein  unzweifelhaft  besse- 
rer gefunden  wurde. 

Aus  diesem  Grunde  habe  ich  die  Umänderungen  in  der  neuen 
Bearbeitung  auf  das  Unumgängliche  beschränkt,  so  tief  ich  auch 
von  der  Verbesserungsbedürftigkeit  der  vorgetragenen  Anschau- 
ungen, namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Dementia  praecox,  über- 


VI 


Vorwort. 


zeugt  bin.  Im  allgemeinen  Teile  hat  namentlich  die  Lehre  von 
den  Erscheinungen  des  Irreseins  eine  umfassendere  Durcharbei- 
tung erfahren;  ich  hoffe,  dass  sie  mehr  und  mehr  durch  eine  tiefer 
dringende  Zergliederung  der  krankhaften  Seelenvorgänge  mittelst 
des  psychologischen  Versuches  ersetzt  werden  soll.  Auf  klinischem 
Gebiete  sind  neben  Anderem  die  alkoholischen  Geistesstörungen, 
das  Jrresein  bei  Hirnerkrankungen  und  die  Schlussabschnitte  des 
Buches  wesentlich  umgestaltet  worden.  Die  fast  durchweg 
neuen  pathologisch-anatomischen  Bilder  nebst  den  dazu  gehörigen 
Erläuterungen  verdanke  ich,  wie  früher,  der  treuen  und  uner- 
müdlichen Mitarbeiterschaft  Nissls,  zum  Teil  auch  der  Freund- 
lichkeit Alzheimers. 

Heidelberg,  den  19.  September  1903. 

E.  Kraepelin. 


Erster  Band: 


Allgemeine  Psychiatrie, 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 


Einleitung 

i o 

I.  Die  Ursachen  des  Irreseins  . 

A.  Äussere  Ursachen ^ 

1.  Körperliche  Ursachen ^ 

Himkrankheiten 

Kreislaufstörungen  (Blutandrang,  Anämie,  Stauung)  — Che- 
mische Wirkungen,  Zerstörungen,  Psychische  Wirkungen  — 
Kopfverletzungen  — Localisation  der  psychischen  Störungen 
(Geschwülste,  Giftwirkungen,  landkartenartige  Abgrenzung, 
schichtweise  Gliederung). 

Nervenkrankheiten 

Tabes  — Polyneuritis  — Chorea  — Epilepsie  — Tetanie  — 
Migränepsychosen  — Schmerzdelirien,  Reflexpsychosen  (Dys- 
phrenia  neuralgica). 

Operative  Eingriffe  . . , 34 

Delirium  traumaticum  — Künstliches  Klimakterium  De- 


lirien im  Dunkelzimmer. 

Vergiftung  und  Erschöpfung  (Hunger,  Schlaflosigkeit)  . . . 

Infektionskrankheiten 

Akute  Infektionskrankheiten  (Infektion,  Eieber,  Erschöpfung) 
Chronische  Infektionskrankheiten  (Tuberkulose,  Lepra,  Sy- 


philis, Metasyphilis). 

Stoffwechselkrankheiten 

Selbstvergiftungen  (Kohlensäurevergiftung,  Urämie,  Cholä- 
mie) — Krebssiechtum  — Darmgifte  — Diabetes,  Glykos- 
nrie  _ Gicht  — Myxödem,  Basedowsche  Krankheit. 

Vergiftungen 

Pellagra  — Ergotismus  — Alkohol  — Äther,  Paraldehyd, 
Petroleum,  Benzin,  Chloroform  — Morphium,  Opium 
Kokain  — Haschisch,  Fliegenschwamm  — Arzneimittel 
(Brom,  Sulfonal,  Jodoiorm)  — Quecksilber,  Blei,  Phosphor  — 
Kohlenoxydgas,  Schwefelkohlenstoff,  Anilin. 


X 


Inhaltsverzeichnis. 


Organerkrankungen 

Sinnesorgane  (Ohren)  — Lungenleiden  — Herzleiden  — 
Gefässerkrankungen  — Erkrankungen  derVerdauungswerk- 
zeuge  — Nierenleiden  — Genitalerkrankungen. 

Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft 

Ausschweifungen,  Onanie,  Nuptiales  Irresein,  Enthaltsam- 
keit — Menstruationsstörungen,  Klimakterium  — Schwan- 
gerschaft, Wochenbett  und  Säugegeschäft. 

2.  Psychische  Ursachen 

Gemütsbewegungen 

Akute  (Emotionspsychosen,  Angstdelirien)  und  chronische 
Affekte. 

Überanstrengung 

Gefangenschaft 

Krieg 

Psychische  Ansteckung 

Epidemien,  Induziertes  Irresein  — Irresein  nach  hypnotischen 
und  spiritistischen  Versuchen. 


Seite 

68 


74 


83 

85 


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90 

92 

93 


B.  Innere  Ursachen  (Prädisposition)  

1.  Allgemeine  Prädisposition 

Lebensalter 

Kinderpsychosen  — Entwicklungsalter  — Lebenshöhe  — 
Rückbildung  — Greisenalter. 

Geschlecht 

Volksart  und  Klima 

Allgemeine  Lebensverhältnisse 

Stadt  und  Land  — Kulturfortschritte. 

Beruf 

Civilstand 

2.  Persönliche  Prädisposition  . 

Erblichkeit 

Entartung  — Vererbungstypen  — Entartungszeichen. 

Entwicklungsstörungen 

Erziehung 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins 

A..  Störungen  des  TV^ahwiehniungsvor ganges 

Sinnestäuschungen 

Elementare  Trugwahrnehmungen  — Wahrnehmungstäuschun- 
£en  Hallucination  und  Illusion  — Reperception  — Ein- 
bildungstäuschungen (Doppeldenken)  — Auffassungstäu- 
schungen — Reflexhallucinationen  — Gesichts-,  Gehörs-, 
Geruchs-,  Geschmacks-,  Gefühlstäuschungen  — Verschieden- 
artige klinische  Ausprägung. 


96 

97 
97 


104 

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114 

114 

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128 
129 


Inhaltsverzeichnis. 


XI 


Seite 


Trübungen  des  Bewusstseins 

Dämmerzustände  — Schlaf  und  Traum. 

Störungen  der  Auffassung 

Verlangsamung  der  Auffassung  — Unbesinnlichkeit,  Be- 
nommenheit. 

Störungen  der  Aufmerksamkeit 

Abstumpfung  — Sperrung  — Hemmung  — Bestimmbar- 
keit — Ablenkbarkeit  (Hyperprosexie)  — Fesselung  der 


Aufmerksamkeit. 


B.  Störungen  der  Verstandestätigkeit 

Störungen  des  Gedächtnisses 

Störungen  der  Merkfähigkeit  — Erinnerungslosigkeit  (Retro- 
grade Amnesie)  — Gedächtnisschwäche  — Partielle  Am- 
nesie (Amnestische  Aphasie)  — Erinnerungsfälschungen 
(Paramnesien,  Erinnerungshallucinationen). 

Störungen  der  Orientierung 

Zeitliche,  örtliche,  sachliche  Orientierung  — Desorientiert- 
heit (apathische,  stuporöse,  deliriöse,  hallucinatorische , 
amnestische,  wahnhafte). 

Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe 
Allgemeinvorstellungen,  Begriffe  (Sprache)  — Erschwerte  und 
verschwommene  Begriffsbildung. 

Störungen  des  Gedankenganges  

Vorstellungsverbindungen  (Koexistenz,  sprachliche  Übung, 
Klangassoziationen,  Subsumtionen,  prädikative  Verbin- 
dungen) — Zielvorstellungen  — Zwangsvorstellungen  — 
Haften  der  Vorstellungen,  Perseveration  — Stereotypie  — 
Einförmigkeit  — Umständlichkeit  — Ablenkbarkeit  (Ideen- 
flucht, Weitschweifigkeit)  — Zerfahrenheit  — Verwirrtheit. 


162 

163 


171 


177 

181 


Störungen  der  Einbildungskraft 

Lähmung  (Schwerfälligkeit)  — Denkhemmung  — Interesse- 
losigkeit — Steigerung  der  Einbildungstätigkeit  (Lügner 
und  Schwindler),  erhöhte  Suggestibilität  und  Autosugge- 


stibilität. 

Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung 

Wissen  und  Glaube  — Irrtum,  Aberglaube  und  Wahnidee  — 
Entstehungsbedingungen  der  Wahnideen  (Monomanien, 
überwertige  Ideen,  partielle  Wahnbildung)  Lokalisation 
derselben  — Deliriöse,  schwachsinnige,  fixierte,  systemati- 
sierte Wahnideen  — Kleinheits-  und  Grössenideen  (Ver- 
sündigungs-,  Verfolgungswahn,  Eifersuchtswahn,  Telepathie, 
Verwandlungswahn,  hypochondrischer  Wahn,  Grössenwahn, 
Mangel  des  Krankheitsbewusstseins). 


XII 


Inhaltsverzeichnis. 


Seite 

Störungen  in  der  Schnelligkeit  des  Vorstellungs Verlaufes  . . 228 
Verlangsamung  und  Beschleunigung. 

Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit 231 

Psychische  Grundeigenschaften  — Übungsfähigkeit  — Übungs- 
festigkeit  — Anregbarkeit  — Ermüdbarkeit  — Erholungs- 
fähigkeit (Schlaftiefe)  — Ablenkbarkeit  — Gewöhnungs- 
fähigkeit. 

Störungen  des  Selbstbewusstseins  235 

Spaltung  der  Persönlichkeit  — Doppeltes  Bewusstsein  (rEk- 
mnesie“)  — Krankhafte  Wandlungen. 

C.  Störungen  des  Gefühlslebens 239 


Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit  — 
Teilnahmlosigkeit  — Einschränkung  der  Gefühlsbeziehun- 
gen — Beeinflussbarkeit  der  Stimmung,  Stimmungswechsel. 


Krankhafte  Gemütsarten 244 

Gesteigerte  Unlustempfindlichkeit  — Ängstlichkeit  — Reiz- 
barkeit — Verschlossenheit  — Sonnennaturen  — Schwärmer 
und  Schwindler  — Leichtsinn. 

Krankhafte  Gemütsbewegungen 248 

Angst  — Zwangsbefürchtungen,  Phobien  — Niedergeschlagen- 
heit — Gereiztheit  — Übermut  — Humor  — Glücks- 
gefühl — Heiterkeit  — Verzückung,  Ekstase. 

Störungen  der  Gemeingefühle 259 

Müdigkeit,  Hunger  — Langeweile  — Ekelgefühle,  Schmerz  — 
geschlechtliche  Gefühle. 

D.  Störungen  des  Wollens  und  Handelns 264 

Herabsetzung  der  Willensantriebe 265 

Steigerung  der  Willensantriebe 267 

Unruhe  Beschäftigungsdrang  — Bewegungsdrang. 

Erschwerte  Auslösung  der  Willensantriebe 270 

Psychomotorische  Hemmung,  Stupor  — Willenssperrung. 

Erleichterte  Auslösung  der  Willensantriebe 272 

Erhöhte  Beeinflussbarkeit  des  Willens 274 


Willensfreiheit  Bestimmbarkeit  — Willenlosigkeit  (Befehls- 
automatie,  Hypnose,  Flexibilitas  cerea,  Nachahmungsauto- 
matie,  Echolalie,  Echopraxie)  — Ablenkbarkeit  des  Willens 
(Unstetigkeit). 

Verschrobenheit  und  Stereotypie 

Willensdurchkreuzung  — Stereotypie  — Manieren  — Rhyth- 
mische Bewegungen  — Entgleisungen  (Paramimie,  Drum- 
herumreden). 


Inhaltsverzeichnis. 


XIII 


Seite 

Verminderte  Beeinflussbarkeit  des  Willens 284 

Negativismus  (Mutacismus,  Vorbeireden,  Befehlsnegativis- 
mus) — Widerstreben  — Eigensinn  — Unlenksamkeit 
Bindung  des  Willens,  Pedanterie. 

Zwangshandlungen 

Schutzhandlungen  — Zwangsantriebe. 

Triebhandlungen  291 

Krankhafte  Triebe ^32 

Suchten  — Krankhafter  Geschlechtstrieb  (Konträre  Sexual- 
empfindung, Sadismus,  Masochismus,  Fetischismus)  So- 
domie, Zoophilie  — Sammeltrieb,  Stehltrieb  — Brand- 
stiftungstrieb — Mordtrieb,  Giftmischerei. 

Störungen  der  Ausdrucksbewegungen 300 

Bewegungen  (Verlust  der  Grazie)  — Gebärden  — Sprache 
(Sprachverwirrtheit,  Verbigeration,  Wortneubildungen) 

Schrift  — Literatur  und  Kunst. 

Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen 311 

Handeln  aus  Wahnideen  — Leistungsfähigkeit  — Kranke 
Herrscher  — Geschäftsfähigkeit  — Zurechnungsfähigkeit. 

ITT-  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins 317 

A.  Verlauf  des  Irreseins 317 

Beginn  der  Erkrankung 318 

Höhe  der  Erkrankung 319 

Wechsel  des  Zustandes  — Anfälle  — Intermissionen  und 
Remissionen. 

Genesungszeit 323 

Körpergewicht. 

B.  Ausgänge  des  Irreseins 325 

Heilung 327 

Prognose  des  Irreseins  — Krankheitseinsicht  — Einfluss 
fieberhafter  Krankheiten. 

Unvollständige  Heilung 331 

Unheilbarkeit 333 

Verblödung. 

Tod 335 

Sterblichkeit  — Selbstmord. 

C.  Dauer  des  Irreseins 337 

Spätheilungen. 

IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins 339 

A.  Krankenuntersuchung 339 

Vorgeschichte  340 


XIV 


Inhaltsverzeichnis. 


Zustandsuntersuchung 

Körperliche  Untersuchung  (Allgemeinzustand,  Entartungs- 
zeichen,  Schädel,  Nervensystem,  einzelne  Organe,  Kreis- 
lanfsverhältnisse,  Blut,  Ausscheidungen)  — Psychischer  Zu- 
stand (Intelligenzprüfungen)  — Feinere  Untersuchungen 
(Auffassung,  Zeitmessungen,  Aufmerk6amkeit6schwankun- 
gen,  Gedächtnis,  Merkfäbigkeit,  Vorstellungsverbindungen, 
Willensantriebe,  Schrift,  Ergographenversuche , Zitter- 
bewegungen, Ausdrucksbewegungen,  Reflexe,  Plethysmo- 
graphie, psychische  Grundeigenschaften). 

Beobachtung  

Leichenbefund 

• Anatomische  Diagnose. 

B.  Grenzen  des  Irreseins 

Klinische  Diagnose  — Krankhafte  Vorgänge  und  Zustände  — 
Grenzgebiete  (Beschränktheit,  verkannte  und  wahre  Genies, 
sittliche  Schwäche). 

C.  Verstellung  und  Verleugnung 


Seite 

343 


369 

370 

374 


381 


T.  Die  Behandlung  des  Irreseins 


A.  Vorbeugung 

Heiraten  Geisteskranker  — Kampf  gegen  die  Entartung  — 
Diätetik  der  Säuglinge  — Erziehung  — Überbürdungs- 
frage — Berufswahl  - Kampf  gegen  Trunksucht  und 
Syphilis  — Irrenfürsorge,  Irrenheilanstalten,  HilLvereine  — 
Aufgaben  des  Staates  (Wissenschaft  und  Unterricht). 

B.  Körperliche  Behandlung 

Arzneimittel 

Narkotika  (Opium,  Morphium,  Codein,  Hyoscin,  Duboisin 
Haschisch,  Pellotin) 

Schlafmittel  (Chloralhydrat,  Paraldehyd,  Amylenhydrat, 

Dormiol,  Sulfonal,  Trional,  Urethan,  Hedonal.  Veronal 
Alkohol) 

Chloroform,  Äther,  Bromäthyl  . . . ’ 

Brompräparate  .... 

Amylnitrit,  Digitalis 

Thyreoidin,  Tuberkulin,  Bacterium  coli ! ’ . . 
Blasenpflaster,  Brechweinstein,  Drastika 


Operative  Eingriffe  .... 

Hirnoperationen,  Kraniektomie  - Gynäkologische  Eingriffe  - 
Künstlicher  Abortus  und  Frühgeburt  - Beseitigung  von 
Wucherungen  im  Nasenrachenraum  - Thyreodektomie  - 
Aochsalzinfusionen." 


385 

385 


396 

396 

396 


399 

404 

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407 

408 

408 

409 


Inhaltsverzeichnis. 


XV 


Physikalische  Heilmethoden 

Wasserbehandlung  (Dauerbäder,  Wicklungen,  Regenduschen, 
Abreibungen)  — Kälte  — Elektrotherapie  — Massage. 

Diätetische  Massregeln  

Ernährung  — Alkohol  als  Genussmittel  — Mastkur  — Bett- 
lagerung — Separierung,  Isolierung  — Mechanische  Be- 
schränkung. 

C.  Psychische  Behandlung 

Allgemeine  Regeln  — Beschäftigung  — Intimidation 
Suggestion. 

D.  Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen 

Psychische  Erregung  — Angst  — Schlaflosigkeit  Selbst- 
mordneigung — Zerstörungssucht  — Unreinlichkeit  — 
Masturbation  — Nahrungsverweigerung  (Sondenernährung, 
Nährklystiere,  Kochsalzinfusion,  subkutane  Ernährung). 

E.  Die  Irrenanstalt 

Geschichtliches  — Wirkung  der  Anstalt  Verbringung  in 
die  Anstalt  (Förmlichkeiten)  — Irrenärzte  — Pflegepersonal 
— Stadtasyle  (Wachabteilung)  — Kolonien  (Beschäftigung, 
Ofifen-Türsystem)  — Familiäre  Verpflegung  — Abteilungen 
für  gefährliche  Geisteskranke  — Entlassung  aus  der  An- 
stalt — Hilfsvereine  — Trinkeranstalten  — Nervenheil- 
stätten. 


Seite 

411 

417 

424 

434 

446 


Einleitung. 


Psychiatrie  ist  die  Lehre  von  den  psychischen  Krank- 
heiten und  deren  Behandlung.  Ihren  Ausgangspunkt  bildet  die 
wissenschaftliche  Erkenntnis  des  Wesens  der  Geistesstörungen. 
In  der  Lösung  dieser  Aufgabe  waren  schon  die  Ärzte  des  Alter- 
tums so  weit  vorgeschritten,  dass  sie  das  Irresein  mit  gewissen 
körperlichen  Störungen  in  Verbindung  brachten,  namentlich  mit 
dem  Fieber  und  mit  Veränderungen  der  Körpersäfte.  Leider 
gingen  diese  bereits  zu  Lehrgebäuden  entwickelten  Anschauungen 
mit  dem  Zusammenbruche  der  alten  Kultur  fast  völlig  wieder 
verloren.  Dafür  drangen  im  Mittelalter  einerseits  scholastisch- 
philosophische,  andererseits  religiös-abergläubische  Vorstellungen 
in  die  Auffassung  des  Irreseins  ein  und  verdrängen  rasch  die 
vorhandenen  Ansätze  eines  naturwissenschaftlichen  Verständ- 
nisses. Die  Geistesstörung  war  nicht  mehr  Krankheit,  sondern 
Werk  des  Teufels,  Strafe  des  Himmels,  bisweilen  auch  göttliche 
Verzückung.  Nicht  der  Arzt  beschäftigte  sich  mehr  mit  der 
Erforschung  und  Behandlung  des  Seelengestörten,  sondern  der 
Priester  suchte  ihm  die  bösen  Geister  zu  vertreiben;  das  Volk 
betete  ihn  als  Heiligen  an,  und  die  Hexenrichter  liessen  ihn  in 
der  Folterkammer  wie  auf  dem  Scheiterhaufen  für  seine  ver- 
meintlichen, wahnhaften  Sünden  büssen. 

Mit  der  Wiedererneuerung  der  Wissenschaften  und  insbe- 
sondere mit  dem  Aufschwünge  der  Medizin  begann  allmählich 
auch  das  Interesse  der  Ärzte  sich  wieder  den  Geisteskranken 
zuzuwenden.  Allein  es  dauerte  Jahrhunderte,  bevor  die  klare 
Erkenntnis  sich  überall  Geltung  zu  erringen  vermochte,  dass  die 
Seelenstörungen  nur  vom  ärztlichen  Standpunkte  aus  richtig  er- 
forscht und  erkannt  werden  können.  Noch  Kant  vertrat  die 

K r aep elin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl.  1 


2 


Einleitung. 


Anschauung,  dass  zur  Beurteilung  krankhafter  Geisteszustände 
mein-  der  Philosoph  als  der  Arzt  berufen  sei.  Erst  die  Errichtung 
besonderer  Anstalten  für  Geisteskranke  unter  ärztlicher  Aufsicht 
begann  allmählich  die  Entwicklung  einer  wirklich  wissenschaft- 
lichen Betrachtungsweise  des  Irreseins  anzubahnen.  Wenn  wir 
von  vereinzelten  Vorläufern  absehen,  so  gibt  es  erst  seit  dem 
Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  wirkliche  Irrenärzte.  Seit 
jener  Zeit  hat  sich  die  Psychiatrie  trotz  gewaltiger  innerer  und 
äusserer  Schwierigkeiten  überraschend  schnell  zu  einem  kräftigen 
Zweige  der  medizinischen  Wissenschaft  fortentwickelt. 

Allerdings  waren,  namentlich  bei  uns  in  Deutschland,  zunächst 
noch  schwere  Kämpfe  zu  überstehen.*)  Zwar  hatte  der  auf  die 
Autorität  der  Bibel  sich  stützende  Besessenheitsglaube  bereits 
seine  Macht  verloren,  wenn  er  auch  heute  noch  hier  und  da  im 
Verborgenen  zu  blühen  scheint.  Dagegen  erstand  der  jungen 
psychiatrischen  Wissenschaft,  wie  sie  damals  gerade  v on  E s - 
q u i r o 1 an  der  Hand  einer  reichen  klinischen  Erfahrung  begründet 
wurde,  ein  gefährlicher  Feind  in  gewissen  moraltheologischen  Auf- 
fassungen des  Irreseins,  die  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  letzten 
Jahrhunderts  von  Heinroth,  Beneke  u.  a.  in  die  Lehre  \ om 
Irresein  hineingetragen  wurden.  Nach  diesen  Anschauungen  sollte 
die  Geistesstörung  wesentlich  eine  Folge  der  Sünde  sein,  welche 
durch  eigene  Verschuldung  Gewalt  über  den  Menschen  gewinne 
und  am  Ende  Leib  und  Seele  verderbe.  Gegen  diese  und  ähnliche, 
mit  grossem  Scharfsinn  ausgeklügelten  Anschauungen  kämpften 
mit  den  Waffen  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  die  „So- 
matiker“,  an  ihrer  Spitze  Nasse  und  Jacobi**),  welche  das 
Irresein  für  den  Ausdruck  körperlicher  Störungen  erHäiten. 

Ihnen  ist  es  gelungen,  Sieger  zu  bleiben.  Was  noch  vor 
siebzig  Jahren  mühsam  erstritten  werden  musste,  ist  heute, 
wenn  auch  in  vielfach  veränderter  Ausgestaltung,  die  selbst- 
verständliche Grundlage  unserer  Wissenschaft  geworden.  Nie- 
mand wagt  es  mehr,  zu  bezweifeln,  dass  Geistesstörungen  Krank- 
heiten sind,  die  der  Arzt  zu  behandeln  hat.  Wir  wissen  jetzt, 

*)  Friedreich,  Historisch-kritische  Darstellung  der  Theorien  über  das 
Wesen  und  den  Sitz  der  psychischen  Krankheiten.  1836. 

**)  J a c o b i , Beobachtungen  über  die  Pathologie  und  Therapie  der  mit 
Irresein  verbundenen  Krankheiten.  1830. 


Einleitung-. 


3 


dass  wir  in  ihnen  die  psychischen  Erscheinungsformen  mehr  oder 
weniger  feiner  Veränderungen  im  Gehirne,  insbesondere  in  der 
Rinde  des  Grosshirns,  vor  uns  haben.  Mit  dieser  Erkenntnis  hat 
die  Psychiatrie  bestimmte,  klare  Ziele  gewonnen,  denen  sie  mit 
den  Hilfsmitteln  und  nach  den  Grundsätzen  naturwissenschaftlicher 
Forschung  entgegenstrebt. 

Vor  allem  wird  uns  die  Beobachtung  am  Kranken- 
bette eine  möglichst  umfassende  und  eingehende  Kenntnis  der 
klinischen  Krankheitsformen  zu  liefern  haben.  A¥ir 
müssen  lernen,  aus  der  fast  unübersehbaren  Mannigfaltigkeit  der 
Einzelerfahrungen  nach  und  nach  das  Regelmässige  und  Wesent- 
liche  herauszuschälen,  und  auf  diese  AVeise  zu  einer  Abgrenzung 
und  Gliederung  der  zusammengehörigen  Beobachtungsreihen  ge- 
langen. Gerade  diese  Aufgabe  hat  sich  auf  unserem  Gebiete 
bisher  als  ganz  besonders  schwierig  erwiesen.  Krankheitsbilder, 
die  ihrem  Wesen  nach  voneinander  völlig  verschieden  sind,  können 
zeitweilig  die  grösste  äusserliche  Übereinstimmung  darbieten,  und 
umgekehrt  fassen  wir  heute  mit  gutem  Rechte  Zustände  als 
Äusserungen  eines  und  desselben  Krankheitsvorganges  auf,  die 
zunächst  durchaus  unvereinbar,  ja  als  schärfste  Gegensätze  er- 
scheinen. 

Was  man  mit  Recht  vom  Arzte  verlangt,  ist  die  Vorher- 
sage des  Kommenden.  Sobald  wir  imstande  sind,  aus  dem 
gegenwärtigen  Zustande  eines  Kranken  die  weitere  Entwicklung 
seines  Leidens  mit  Wahrscheinlichkeit  vorauszubestimmen,  ist 
der  erste  wichtige  Schritt  zu  einer  wissenschaftlichen  und  prak- 
tischen Beherrschung  des  Krankheitsbildes  geschehen.  Wir  werden 
daher  gut  tun,  dieser  Aufgabe  zunächst  unsere  volle  Aufmerksam- 
keit zu  widmen.  Die  meisten  übrigen  Zweige  der  Heilkunde 
haben  mit  derselben  im  wesentlichen  bereits  abgeschlossen.  Wir 
wissen  recht  genau,  wie  ein  Typhus  oder  ein  Beinbruch  verlaufen 
wird,  und  kennen  alle  die  Zwischenfälle,  die  den  Heilvorgang 
durchkreuzen  können.  In  der  Psychiatrie  besitzen  wir  höchstens 
die  ersten  Ansätze  zu  einer  derartigen  Kenntnis.  Wohl  erwirbt 
sich  der  einzelne  Irrenarzt  im  Laufe  seiner  persönlichen  Erfahrung 
die  Fähigkeit,  aus  gewissen  Zeichen  Schlüsse  auf  die  Heilbarkeit 
oder  Unheilbarkeit  seiner  Kranken  zu  ziehen.  Dagegen  fehlt  es,  ab- 
gesehen etwa  von  der  Gruppe  der  Paralyse,  noch  fast  vollständig 


4 


Einleitung. 


an  zuverlässigen  und  lehrbaren  Sätzen  über  die  voraussichtliche 
klinische  Weiterentwicklung  des  einzelnen  Krankheitsfalles. 

Einer  der  Hauptgründe  für  diese  Unvollkommenheit  unserer 
Wissenschaft  liegt  in  der  ungemein  langen  Dauer  der  Geistes- 
krankheiten. Einerseits  gibt  es  viele  unheilbare  Formen,  die  in 
allmählichem  Wechsel  der  Zustände  das  ganze  Leben  ausfüllen; 
andererseits  aber  sehen  wir  bei  einigen  Hauptgruppen  des  Irre- 
seins das  Leiden  in  abgegrenzten,  weit  auseinander  liegenden 
Anfällen  verlaufen  oder  doch  jahrelang  Stillstand  machen,  so 
dass  die  innere  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen  Anfälle  oder 
Nachschübe  nur  bei  genauer  Kenntnis  der  ganzen  Vergangen- 
heit überblickt  werden  kann.  Jeder  Irrenarzt  erlebt  zahlreiche 
Überraschungen,  sobald  er  in  die  Lage  kommt,  die  späteren 
Lebensschicksale  seiner  einstigen  Kranken  verfolgen  zu  können. 
Namentlich  wird  er  stets  erkennen,  dass  die  überwiegende  Mehr- 
zahl der  rasch  und  günstig  verlaufenden  Geistesstörungen  nichts 
anderes  sind,  als  die  Äusserungen  eines  dauernden  krankhaften 
Zustandes,  der  freilich  lange  Zeit  gar  nicht  hervorzutreten 
braucht.  Gerade  diese  trügerischen  Augenblicksbilder  sind  es, 
welche  uns  die  Klärung  der  klinischen  Erfahrung  so  sehr  er- 
schweren. Die  Feststellung  dessen,  was  wirklich  vorkommt,  muss 
daher  noch  auf  längere  Zeit  hinaus  unsere  erste  Aufgabe  bleiben. 
Vor  allem  ist  es  wichtig,  den  gesamten  Lebenslauf  unserer 
Kranken  durch  Jahrzehnte  hindurch  im  Auge  zu  behalten;  öfters 
wird  es  erst  dann  möglich  sein,  den  richtigen  Standpunkt  für 
die  klinische  Beurteilung  zu  gewinnen. 

Ganz  besondere  Vorsicht  ist  ferner  bei  der  Feststellung  der 
Krankheits Ursachen  geboten.  Der  Laie  ist  geneigt,  ohne 
weiteres  irgend  ein  zufälliges  Ereignis,  eine  gemütliche  Erregung, 
einen  Misserfolg,  ein  körperliches  Leiden,  eine  Überanstrengung 
für  den  Ausbruch  des  Irreseins  verantwortlich  zu  machen.  Die 
weiterblickende  klinische  Erfahrung  lehrt  indessen,  dass  die  ur- 
sächliche Bedeutung  derartiger  äusserer  Einflüsse  eine  verhält- 
nismässig recht  geringe  ist.  Sehr  häufig  werden  sogar  die  ersten 
Erscheinungen  des  beginnenden  Irreseins  fälschlicherweise  für 
dessen  Ursachen  gehalten.  Wenn  wir  sehen,  dass  die  gleichen 
Krankheitsfälle,  die  heute  durch  einen  bestimmten  Anstoss  er- 
zeugt zu  werden  scheinen,  bei  demselben  Kranken  ein  anderes 


Einleitung. 


5 


Mal,  und  ebenso  in  zahllosen  anderen  Fällen  regelmässig,  ganz 
ohne  jeden  Anlass  sich  einstellen,  so  werden  wir  auch  gegen 
die  erste,  anscheinend  so  beweisende  Beobachtung  misstrauisch 
werden.  Auch  auf  diesem  Gebiete  ist  noch  ausserordentlich  viel 
zu  tun.  Die  gleichen  Ursachen  müssen  auch  bei  dem  Vorgänge 
der  psychischen  Erkrankung  überall  die  gleichen  Wirkungen 
haben.  Begegnen  uns,  wie  so  häufig,  vermeintliche  Abweichungen 
von  jenem  Gesetze,  so  sind  zweifellos  entweder  die  Ursachen  oder 
die  Wirkungen  nicht  wirklich  gleich  gewesen.  Nach  beiden  Rich- 
tungen hin  wird  eine  geduldige  Häufung  zuverlässiger  und  nament- 
lich vollständiger  Beobachtungen  allmählich  Klarheit  bringen. 

Ist  es  uns  gelungen,  die  klinischen  Erfahrungen  soweit  zu 
verarbeiten,  dass  wir  Krankheitsgruppen  mit  bestimmten  Ur- 
sachen, bestimmten  Erscheinungen  und  bestimmtem  Verlaufe 
aufstellen  können,  so  wird  es  unsere  Aufgabe  sein,  in  das 
Wesen  des  einzelnen  Krankheitsvorganges  einzu- 
dringen. Ein  wichtiger  und  auch  bereits  vielfach  betretener 
Weg  zu  diesem  Ziele  ist  derjenige  der  pathologischen  Ana- 
tomie. Leider  hat  uns  diese  Wissenschaft,  der  die  übrige  Medizin 
so  viel  verdankt,  erst  verhältnismässig  wenige  Aufschlüsse  zu 
liefern  vermocht,  weil  unsere  Kenntnisse  von  dem  Bau  der  ge- 
sunden und  den  Veränderungen  der  kranken  Hirnrinde  viel  zu 
lückenhaft  sind.  Insbesondere  versagt  unser  Wissen  völlig  bei 
denjenigen  Gewebsteilen,  die  vorzugsweise  Träger  der  höheren 
Seelenäusserungen  zu  sein  scheinen.  Auch  dort  aber,  wo  die 
Untersuchung  bereits  tiefgreifende  und  ausgedehnte  Verände- 
rungen aufgedeckt  hat,  erweist  es  sich  als  sehr  schwierig,  aus 
den  Befunden  das  Wesentliche  und  Eigenartige  herauszuschälen 
und  weiterhin  ein  Bild  von  der  Art  und  dem  Verlaufe  der  zu 
Grunde  liegenden  Krankheitsvorgänge  zu  gewinnen.  Sehr  wich- 
tige Aufschlüsse  hat  der  Tierversuch,  namentlich  die  Erforschung 
der  Hirnrindenvergiftungen,  gebracht,  da  es  hier  möglich  ist, 
eindeutige  Beziehungen  zwischen  krankmachenden  Ursachen  und 
Rindenveränderungen  herzustellen  und  zugleich  die  einzelnen  Ent- 
wicklungsstufen des  Krankheitsvorganges  zu  verfolgen.  Freilich 
sind  diese  Erfahrungen  nicht  ohne  weiteres  auf  die  wesentlich 
anderen  Verhältnisse  beim  Menschen  zu  übertragen.  Immerhin 
wird  unser  Verständnis  wenigstens  für  diejenigen  Formen  der 


6 


Einleitung. 


Geistesstörungen  gefördert  werden,  deren  Ursachen  die  Verwer- 
tung im  Tierversuche  gestatten. 

Weit  weniger,  als  die  pathologische  Anatomie,  vermag  einst- 
weilen die  Physiologie  der  Hirnrinde  zur  Vertiefung 
unserer  Kenntnisse  von  den  Geistesstörungen  beizutragen,  so  wert- 
voll ihre  Lehren  auch  für  die  Erforschung  und  Behandlung  der 
gröberen  Hirnerkrankungen  geworden  sind.  Alle  Formen  des 
Irreseins  beruhen  höchst  wahrscheinlich  auf  ausgebreiteten  Stö- 
rungen in  der  Hirnrinde  und  dürften  schwerlich  an  engumschrie- 
bene Gebiete  derselben  geknüpft  sein.  Zudem  sind  die  Eingriffe, 
die  uns  Aufschlüsse  über  die  örtliche  Verteilung  der  Hirnver- 
richtungen geliefert  haben,  unter  allen  Umständen  weder  ihrer 
Art  noch  ihrer  Ausbreitung  nach  den  feinen  und  weitschichtigen 
Abweichungen  irgendwie  vergleichbar,  die  wir  als  die  Grundlage 
der  Geisteskrankheiten  vermuten  müssen.  Andererseits  ist  die 
Psychiatrie  leider  der  Gefahr  nicht  immer  entgangen,  die  aus 
den  Lokalisationsversuchen  gewonnenen  Vorstellungen  ohne  wei- 
teres auf  das  unendlich  verwickeltere  Gebiet  der  psychischen 
Störungen  zu  übertragen  und  damit  einer  rohen  und  zugleich 
unfruchtbaren  Schematisierung  der  klinischen  Erfahrungen  Vor- 
schub zu  leisten. 

Das  konnte  um  so  leichter  geschehen,  je  weniger  wir  tat- 
sächlich von  dem  Getriebe  und  den  Gesetzen  unserer  psychischen 
Vorgänge  wissen.  Gerade  die  spekulative  Psychologie  mit  ihren 
dürren  Gedankenspielereien  hat  die  Entwicklung  der  Seelenheil- 
kunde zu  einer  klinischen  Wissenschaft  am  stärksten  gehindert. 
Diese  Erkenntnis  musste  zu  einer  kräftigen  Gegenströmung 
führen,  welche  das  Schwergewicht  der  psychiatrischen  For- 
schung auf  die  körperlichen  und,  wegen  der  Erfolge  in  anderen 
medizinischen  Gebieten,  auf  die  anatomisch  nachweisbaren  Verän- 
derungen legte.  Es  ist  indessen  klar,  dass  uns  auch  die  voll- 
kommenste Kenntnis  der  Hirnrindenstörungen  beim  Irresein,  der 
Nachweis  aller  sich  dort  vollziehenden  Abweichungen  in  Form  und 
Verrichtung,  durchaus  im  Unklaren  darüber  lassen  würde,  ob  und 
welche  Beziehungen  zwischen  jenen  Störungen  und  den  psychi- 
schen Krankheitserscheinungen  bestehen.  Ja,  wir  könnten  das 
eindringendste  Verständnis  für  alle  in  der  Hirnrinde  sich  abspielen- 
den körperlichen  Vorgänge  besitzen,  ohne  an  sich  auch  nur  einen 


Einleitung. 


7 


Augenblick  zu  der  Vermutung  gezwungen  zu  werden,  dass  wir 
in  jenem  Gewebe  den  Träger  des  Seelenlebens  vor  uns  haben.  Aus 
diesen  Erwägungen  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  ausser  den 
körperlichen  Zuständen  der  Hirnrinde  auch  die  psychischen 
Erscheinungsformen  jener  letzteren  gesondert  zu  erfor- 
schen. Wir  erhalten  auf  diese  Weise  zwei  Reihen  innig  mit- 
einander verbundener,  aber  ihrem  Wesen  nach  unvergleichbarer 
Tatsachen,  das  körperliche  und  das  psychische  Geschehen.  Aus 
den  gesetzmässigen  Beziehungen  beider  zu  einander  geht  das 
klinische  Krankheitsbild  hervor. 

Wir  müssen  es  daher  als  unsere  Aufgabe  betrachten,  auch 
jene  Gesetze  kennen  zu  lernen,  welche  den  Ablauf  der  psychischen 
Vorgänge  beherrschen,  namentlich  aber  auf  das  sorgfältigste  den 
Abhängigkeitsverhältnissen  nachzugehen,  die  zwischen  körper- 
lichen und  seelischen  Zuständen  bestehen.  Glücklicherweise  hat 
sich  aus  dem  Schosse  der  Physiologie  heraus,  namentlich  in  den 
letzten  Jahrzehnten,  auch  die  Psychologie  zu  einer  Erfahrungs- 
wissenschaft entwickelt,  die  auf  dem  Wege  der  Naturforschung 
ihren  Gegenstand  erfolgreich  zu  bearbeiten  begonnen  hat.  Es 
ist,  wie  schon  die  bisherige  Arbeit  gezeigt  hat,  nicht  unmöglich, 
mit  Hilfe  jener  jungen  Wissenschaft  zu  einer  Physiologie 
der  Seele  zu  gelangen,  die  auch  der  Psychiatrie  eine  brauch- 
bare Grundlage  zu  liefern  vermag.  Sie  wird  uns  einerseits  dazu 
dienen  können,  verwickelte  Erscheinungen  in  ihre  einfacheren 
Bestandteile  zu  zerlegen.  Wir  werden  aus  der  Zergliederung 
des  gesunden  Seelenlebens  die  Anhaltspunkte  für  die  Beurteilung 
und  Erklärung  krankhafter  Störungen  gewinnen,  und  wir  werden 
auch  in  der  Lage  sein,  in  geeigneten  Fällen  das  Hilfsmittel  des 
psychologischen  Versuches  unmittelbar  zur  genaueren  Eifor- 
schung  von  Krankheitszuständen  heranzuziehen. 

Andererseits  aber  dürfen  wir  von  einer  wissenschaftlichen 
Psychologie  wertvolle  Ergänzungen  unserer  Vorstellungen  über 
die  Entstehung  des  Irreseins  erwarten.  Vor  allem  sind  es  wieder 
die  Gifte,  deren  Einwirkung  auf  den  Ablauf  unserer  psychischen 
Vorgänge  wir  grundsätzlich  schon  heute  mit  ziemlicher  Genauig- 
keit in  ihre  Einzelzüge  zu  zerlegen  imstande  sind.  Die  hier  noch 
im  Bereiche  des  Gesunden  gewonnenen  Erfahrungen  können  uns 
dann  das  Verständnis  auch  für  die  klinischen  Krankheitserschei- 


8 


Einleitung. 


nungen  eröffnen,  wie  sich  das  bereits  für  einzelne  Gifte  gezeigt 
hat.  Auch  eine  Reihe  anderer  Einflüsse,  denen  wir  gewöhnt  sind, 
Wirkungen  auf  unser  Seelenleben  zuzuschreiben,  lassen  sich  in 
ganz  ähnlicher  Weise  untersuchen.  Wir  können  die  Veränderungen, 
die  durch  den  Hunger,  mangelhaften  Schlaf,  geistige  und  körper- 
liche Überanstrengung  im  Verhalten  unserer  psychischen  Vor- 
gänge hervorgerufen  werden,  von  ihren  leisesten  Anfängen  an 
genau  verfolgen  und  aus  den  geringeren  Gleichgewichtsschwan- 
kungen beim  sonst  gesunden  Menschen  Schlüsse  auf  die  Deutung 
der  ausgeprägteren  Störungen  im  Krankheitszustande  ableiten. 
Endlich  aber  wird  die  psychologische  Zergliederung  der  einzelnen 
Persönlichkeit  mit  Hilfe  des  Versuches  vielleicht  auch  geeignet 
sein,  uns  über  die  Eigentümlichkeiten  jener  vielgestaltigen  Formen 
krankhafter  Veranlagung  Aufklärung  zu  verschaffen,  die  man 
unter  dem  gemeinsamen  Namen  der  Entartungszustände  zusam- 
menzufassen pflegt. 

Wenn  der  Seelenheilkunde  aus  der  Beschäftigung  mit  den 
höchsten  und  verwinkeltsten  Lebensäusserungen  und  deren  körper- 
lichen Grundlagen  auf  Schritt  und  Tritt  schier  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  erwachsen,  so  verleiht  andererseits  die  Eigenart 
des  Gegenstandes  ihren  Ergebnissen  eine  Bedeutung,  die  weit 
über  das  Gebiet  der  Fachwissenschaft  hinausreicht.  Nicht  nur 
wird  der  psychiatrisch  geschulte  Arzt  aus  ihr  ein  tieferes  Ver- 
ständnis für  zahlreiche  Beobachtungen  am  Krankenbette  gewinnen, 
die  ihm  sonst  unklar  geblieben  wären,  sondern  die  Lehre  von  den 
geistigen  Störungen  liefert  auch  für  alle  diejenigen  Wissenschaf- 
ten wichtige  Bausteine,  die  sich  überhaupt  mit  dem  Seelenleben 
des  Menschen  beschäftigen.  So  kommen  die  innigsten  wissen- 
schaftlichen Wechselbeziehungen  zur  Psychologie  und  ihren  ver- 
schiedensten Zweigen  zu  stände,  zur  Völkerpsychologie,  Kriminal- 
psychologie, Persönlichkeitskunde,  Psychologie  der  Altersstufen, 
der  Geschlechter,  ferner  zur  Pädagogik,  Ethik,  Erkenntnis- 
theorie u.  s.  f. 

Unmittelbar  wichtiger,  als  diese  weitausgedehnten  wissen- 
schaftlichen Anknüpfungen,  sind  die  praktischen  Aufgaben, 
welche  die  Psychiatrie  zu  lösen  hat.  Zunächst  wird  es  sich  dabei 
um  die  Verhütung  des  Irreseins  handeln.  Die  Gesichtspunkte 
für  diesen  Zweig  der  Gesundheitspflege  können  naturgemäss  nur 


Einleitung. 


9 


aus  der  Lehre  von  den  Ursachen  geistiger  Erkrankungen  ge- 
wonnen werden.  Bedeutsame  Fortschritte  jener  letzteren  werden 
daher  vielfach  auch  Ausblicke  auf  vorbeugende  Massregeln  zu 
eröffnen  imstande  sein.  So  wird  unsere  Kenntnis  von  der  Rolle, 
die  Erblichkeit,  Alkohol,  Syphilis  bei  der  Entstehung  des  Irre- 
seins spielen,  dem  Arzte  eine  gewisse  Richtschnur  für  sein  Handeln 
geben,  mag  der  tatsächliche  Erfolg  seiner  Bemühungen  auch 
heute  noch  ein  bedauernswert  geringer  sein. 

Leider  ist  auch  der  Nutzen,  den  die  Behandlung  der 
Geistesstörungen  aus  der  Erkenntnis  ihrer  Ursachen  zieht,  bisher 
noch  nicht  sehr  gross.  Wo  uns  die  Ursachen  bekannt  sind,  ver- 
mögen wir  sie  meistens  nicht  zu  beseitigen,  wie  zum  Beispiel  bei 
der  erblichen  Entartung.  Darum  muss  hier  die  Erfahrung  am 
Krankenbette  selbst  unsere  Lehrmeisterin  werden.  Sie  hat  uns 
in  verhältnismässig  kurzer  Zeit  einen  weiten,  weiten  Weg  ge- 
führt. Von  dem  Zeitpunkte  an,  in  welchem  Ärzte  die  Fürsorge 
für  die  Geisteskranken  übernahmen,  seitdem  sie  in  der  Lage 
waren,  klinische  Beobachtungen  zu  sammeln,  hat  sich  das  Los 
unserer  Kranken  stetig  gebessert.  Die  Entwicklung  unseres 
ganzen  Anstaltswesens,  einer  der  grossartigsten  Schöpfungen 
menschlichen  Mitleids,  ist  auf  das  engste  verknüpft  gewesen 
mit  den  Fortschritten  in  unserem  Verständnisse  des  Irreseins. 
Je  klarer  sich  die  Überzeugung  Bahn  brach,  dass  die  Irren 
Kranke  sind,  dass  ihren  Störungen  bestimmte  körperliche  Ver- 
änderungen zu  Grunde  liegen,  um  so  mehr  haben  sich  die  Irren- 
anstalten in  ihren  ganzen  Einrichtungen  denjenigen  anderer  Kran- 
kenhäuser genähert,  so  dass  heute  ein  Asyl  für  frisch  Erkrankte 
fast  vollständig  einer  Abteilung  für  körperlich  Kranke  glei- 
chen darf. 

Ein  Punkt  ist  es  allerdings,  welcher  den  Geisteskrankheiten 
eine  besondere  Stelle  gegenüber  allen  übrigen  Leiden  anweist: 
das  ist  ihre  ausserordentliche  soziale  Bedeutung.  Das  Irresein 
gehört  unter  allen  Umständen  zu  den  schwersten  Erkrankungen, 
die  es  überhaupt  gibt.  Dazu  kommt  aber,  dass  der  Geisteskranke 
in  der  Regel  nicht  imstande  ist,  selbständig  für  sich  zu  sorgen. 
Man  kann  ihn  in  seinem  Handeln  nicht  nach  seinem  Belieben  ge- 
währen lassen,  sondern  er  bedarf  fremder  Aufsicht  und  Fürsorge. 
Aus  dieser  Tatsache  erklärt  es  sich,  dass  dem  Irrenarzte  noch 


10 


Einleitung. 


eine  Reihe  von  Aufgaben  zufallen,  welche  anderen  Gebieten  der 
Heilkunde  fremd  sind.  Die  Verbringung  des  Geisteskranken  in  die 
Anstalt  geschieht  meist  nicht  auf  seinen  eigenen  Wunsch,  sondern 
auf  Veranlassung  seiner  Angehörigen  oder  der  Behörden.  Er  wird 
behandelt  und  festgehalten  ohne  und  nach  Umständen  selbst  gegen 
seinen  Willen.  Die  gesetzliche  Regelung  der  hier  erwachsenden, 
sehr  schwierigen  Fragen  hat  von  jeher  die  Aufmerksamkeit  der 
Irrenärzte  auf  das  ernsthafteste  beschäftigt.  Wie  die  Erfahrung 
lehrt,  sind  die  Fälle,  in  denen  Geisteskranke  schwerstes  Unheil 
über  sich  oder  ihre  Angehörigen  bringen,  überaus  häufig.  Darum 
ist  rasches  Einschreiten  beim  Ausbruche  geistiger  Erkrankung  mit 
Rücksicht  auf  den  Kranken  selbst  wie  auf  seine  Umgebung 
dringend  geboten,  um  so  mehr,  als  die  Heilungsaussichten  unter 
solchen  Umständen  am  günstigsten  sind.  Andererseits  gibt  es 
nicht  wenige  Kranke,  die  nur  mit  grösstem  Widerstreben  in  der 
Anstalt  bleiben,  ja  zweifellos  unter  der  Freiheitsentziehung  leiden. 
Es  leuchtet  ein,  dass  es  schwer  genug  ist,  zwischen  den  wider- 
strebenden Wünschen  des  Kranken  und  den  Forderungen  der 
öffentlichen  Sicherheit  jederzeit  entscheiden  zu  müssen. 

Für  die  richtige  Würdigung  der  Rolle,  die  das  Irresein  im 
Gemeinwesen  spielt,  ist  es  wichtig,  sich  zu  vergegenwärtigen, 
dass  sich  im  Jahre  1898*)  in  den  Irrenanstalten  des  Deutschen 
Reiches  nicht  weniger  als  etwa  74  000  Kranke  befanden.  Es  kam 
somit  1 Anstaltskranker  auf  688  Einwohner.  Nach  allgemeiner 
Erfahrung  beträgt  die  Anzahl  der  überhaupt  vorhandenen  Geistes- 
kranken mindestens  das  Doppelte,  so  dass  wir  mit  einer  Zahl  von 
etwa  150  000  derartiger  Kranker  im  Deutschen  Reiche  zu  rechnen 
haben.  Ob  damit  die  Wahrheit  bereits  erreicht  ist,  müssen  wir 
freilich  sehr  dahingestellt  sein  lassen.  In  manchen  Gegenden 
Deutschlands  bieten  heute  die  Anstalten  schon  Raum  für  einen 
Kranken  auf  5 — 600  Gesunde,  ja  man  hat  in  der  Schweiz  sogar 
auf  je  200  Einwohner  einen  Platz  in  der  Irrenanstalt  gefordert! 
Jedenfalls  bedeutet  die  gewaltige  Zahl  der  Geisteskranken,  welche 
ausser  stände  sind,  ihr  Leben  selbständig  zu  führen,  vielfach 
sogar  einer  sehr  sorgfältigen  und  kostspieligen  Pflege  bedürfen, 
eine  schwere  Belastung  unseres  Volkes,  namentlich  der  Gemein- 

*)  L ä k r , Die  Heil-  und  Pfleganstalten  für  Psychisch-Kranke  .des  deutschen 
Sprachgebietes.  1899. 


Einleitung. 


11 


den,  die  meistens  für  die  unbemittelten  Kranken  einzutreten 
haben.  Die  zweckmässige  Gestaltung  dieser  umfassenden  Für- 
sorge ist  eine  ebenso  wichtige  wie  umfangreiche  praktische  Auf- 
gabe unserer  Wissenschaft. 

Noch  verwickelter  fast  und  schwieriger  sind  die  Beziehungen 
unserer  Kranken  zu  den  verschiedenen  Zweigen  der  Rechts- 
pflege. Das  Strafgesetz  aller  gesitteten  Völker  betrachtet 
höhere  Grade  geistiger  Erkrankung  als  Strafausschliessungsgrund ; 
das  bürgerliche  Gesetzbuch  spricht  den  Handlungen  des  Irren 
die  rechtliche  Verbindlichkeit  ab.  Nach  beiden  Richtungen  hin 
hat  das  Gutachten  des  Irrenarztes  sehr  gewichtige  Folgen  für 
das  Lebensglück  der  Betroffenen.  Wenn  irgendwo,  so  gilt  hier 
der  Satz,  dass  die  Entscheidung  solcher  Fragen  nur  auf  der 
Grundlage  einer  tiefgehenden  Sachkenntnis  geschehen  kann. 
Auf  Schritt  und  Tritt  tauchen  Schwierigkeiten  auf,  die  ausschliess- 
lich durch  vollkommenste  Beherrschung  aller  Einzelheiten  der 
klinischen  Erfahrung  überwunden  werden  können.  Ja,  nicht  selten 
entdeckt  erst  der  Wissende  dort  Schwierigkeiten,  wo  sie  dem 
Unerfahrenen  verborgen  bleiben.  Unter  allen  Umständen  wird  dei- 
jenige  der  beste  Gutachter  sein,  welcher  der  beste  Kliniker  ist. 

Von  der  endgültigen  Lösung  der  im  vorstehenden  gekenn- 
zeichneten Aufgaben  ist  die  Psychiatrie  leider  nur  allzu  weit  noch 
entfernt.  Sie  ist  eine  junge,  im  Werden  begriffene  Wissenschaft, 
und  sie  muss  sich  in  harten  Kämpfen  erst  langsam  die  Stel- 
lung erobern,  die  ihr  nach  Massgabe  ihrer  wissenschaftlichen  und 
praktischen  Bedeutung  gebührt.  Kein  Zweifel,  dass  sie  sich  die- 
selbe erringen  wird  — stehen  ihr  doch  dieselben  Waffen  zu  Gebote, 
die  sich  auf  den  übrigen  Gebieten  der  Medizin  so  glänzend  be- 
währt haben:  die  klinische  Beobachtung,  das  Mikroskop  und  das 
Experiment.  


H.  Emminghaus,  Allgemeine  Psychopathologie  zur  Einführung  in  das 
Studium  der  Geistesstörungen.  1878. 

Maudsley,  The  pathology  of  mind.  1895. 

S t ö r r i n g , Vorlesungen  über  Psychopathologie.  1900. 

Ausführliche  Darstellungen  der  allgemeinen  Psychiatrie  enthalten  auch 
die  meisten  der  im  zweiten  Teile  dieses  Buches  aufgeführten  Lehrbücher. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins*) 


Die  Entstehungsgeschichte  einer  geistigen  Erkrankung  ist 
fast  immer  eine  sehr  verwickelte.  Nur  recht  selten  finden  wir 
hier  einfache  und  durchsichtige  Beziehungen  zwischen  greifbaren 
Ursachen  und  entsprechenden  Wirkungen  vor;  fast  immer  sind 
wir  in  der  Lage,  mit  einer  ganzen  Reihe  von  verschiedenen  Mög- 
lichkeiten rechnen  zu  müssen,  deren  besondere  Bedeutung  im 
einzelnen  Falle  wir  oft  kaum  annähernd  abzuschätzen  vermögen. 

Die  Lehre  von  der  Entwicklung  des  Irreseins  kennt  daher 
nur  ausnahmsweise  einen  unverbrüchlichen  Zusammenhang  zwi- 
schen bestimmter  Krankheitsursache  und  Krankheitsf orm ; viel- 
mehr pflegen  wir  allgemein  den  gleichen  äusseren  Einwirkungen 
die  Erzeugung  mannigfaltiger  Formen  des  Irreseins  zuzuschreiben 
und  andererseits  die  gleichen  psychischen  Erkrankungen  aus 
einer  Anzahl  der  verschiedenartigsten  Ursachen  herzuleiten. 
Dieser  Widerspruch  mit  dem  naturwissenschaftlichen  Grundge- 
setze, der  sich  übrigens  bei  allen  unentwickelten  Erfahrungs- 
wissenschaften wiederfindet,  beruht  zunächst  darauf,  dass  wir  auf 
unserem  Gebiete  vielleicht  noch  mehr,  als  irgendwo  sonst,  die 
beiden  grossen  Gruppen  der  äusseren  und  inneren  Ursachen 
auseinanderzuhalten  haben. 

Unser  Gehirn  ist  ein  überaus  reich  und  vielseitig  entwickeltes 
M erkzeug  und  zeigt  daher  eine  ausserordentlich  mannigfaltige 
Ausbildung  bei  verschiedenen  Personen.  Aus  diesem  Grunde 
werden  wir  bei  der  Entstehung  des  Irreseins  der  Eigenart  des 
einzelnen  Menschen  eine  besonders  hohe  Bedeutung  einräumen 
müssen.  Die  gleiche  Schädlichkeit  wird  bei  der  Einwirkung  auf 
verschiedenartige  Wesen  notwendigerweise  auch  verschiedenartige 

' r o u 1 o u s e , les  causes  de  la  folie,  prophylaxie  et  assistance.  1S96. 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


13 


Krankheitserscheinungen  nach  sich  ziehen  müssen.  Während  sie 
in  einem  Falle  an  der  inneren  Widerstandsfähigkeit  des  Betrof- 
fenen ohne  weiteres  abprallt,  kann  sie  ein  anderes  Mal  vielleicht 
eine  heftige,  aber  kurze  Erschütterung  des  seelischen  Gleich- 
gewichtes erzeugen,  bei  einem  Dritten  etwa  eine  schlummernde 
Krankheitsanlage  wecken,  die  nun  ihrerseits  zu  langdauerndem 
geistigem  Siechtum  führt.  Überall  wird  dabei  der  Satz  Geltung 
haben,  dass  äussere  und  innere  Ursachen  in  einem  gewissen  Er- 
gänzungsverhältnisse zu  einander  stehen.  Je  weniger  ein  Mensch 
zum  Irresein  veranlagt  ist,  um  so  stärker  muss  die  äussere 
Schädigung  sein,  die  ihn  krank  macht,  und  umgekehrt  gibt  es 
Personen,  die  schon  unter  dem  Einflüsse  der  kleinen  Reize  des 
täglichen  Lebens  geisteskrank  werden,  weil  ihre  Widerstands- 
fähigkeit zu  gering  ist,  um  selbst  diese  ohne  tiefere  Störung  er- 
tragen zu  können. 

Dazu  kommt,  dass  wir  heute  überall  wesentlich  nur  die 
rohen,  nicht  aber  die  wahren  Ursachen  und  Wirkungen  zu 
berücksichtigen  vermögen.  Wäre  z.  B.  eine  bestimmte  chemische 
Veränderung  in  der  Zusammensetzung  des  Blutes  die  wahre  Ur- 
sache einer  eigenartigen  Geistesstörung,  so  könnten  sehr  ver- 
schiedene rohe  Ursachen,  etwa  das  Krebssiechtum,  häufige  Blu- 
tungen, chronische  Malariavergiftung,  Erkrankungen  der  blut- 
bildenden Organe  u.  s.  f.  neben  anderen  Wirkungen  gerade  den 
gemeinsamen  Erfolg  haben,  dass  die  Ernährungsflüssigkeit  nach 
der  hier  in  Betracht  kommenden  Richtung  hin  untauglich  wird. 
Noch  wichtiger  vielleicht  ist  es,  dass  umgekehrt  psychische  Stö- 
rungen, die  der  äusserlichen  Betrachtung  völlig  verschieden  er- 
scheinen, in  Wahrheit  doch  nahe  verwandt,  etwa  nur  verschiedene 
Entwicklungsstufen  oder  Stärkegrade  eines  und  desselben  Krank- 
heitsvorganges sind.  So  wird  man  vielleicht  den  Grössen-  und 
den  Kleinheitswahn  des  Paralytikers  zunächst  als  Anzeichen 
völlig  entgegengesetzter  Störungen  anzusehen  geneigt  sein,  bis 
man  entdeckt,  dass  beide  als  Erscheinungsformen  desselben  Grund- 
leidens ohne  weiteres  ineinander  übergehen,  sich  sogar  miteinan- 
der mischen  können.  Aus  diesen  Überlegungen  ergibt  sich,  dass 
eine  brauchbare  Ursachenlehre  ohne  die  genaueste  Kenntnis  der 
klinischen  Krankheitsformen  nicht  möglich  ist.  So  lange  wir 
nicht  am  Krankenbette  Wesensgleiches  zusammenzufassen  und 


14 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Verschiedenes  zu  trennen  vermögen,  werden  auch  unsere  ätio- 
logischen Anschauungen  notwendig  unklar  und  widerspruchsvoll 
bleiben. 

Dennoch  beginnt  sich  schon  jetzt  allmählich  die  Auf- 
fassung Bahn  zu  brechen,  dass  dem  Überwiegen  der  äusseren  oder 
der  inneren  Ursachen  im  allgemeinen  zwei  grosse  Gruppen  von 
Geistesstörungen  entsprechen,  die  von  Möbius  als  exogene 
und  endogene  Erkrankungen  auseinandergehalten  worden  sind. 
Jene  erstere  Gruppe  zeigt  wesentlich  abgerundete  Verlaufsarten 
von  bestimmtem  Gepräge  mit  einer  gewissen  Gleichförmigkeit  der 
gesamten  Entwicklung;  dieser  letzteren  dagegen  ist  vielfacher 
Wechsel  der  Krankheitserscheinungen  nach  Stärke  und  Art, 
schwankender,  unregelmässiger  Verlauf  oder  Fortbestehen  der 
Störungen  durch  das  ganze  Leben  hindurch  eigentümlich.  Es  liegt 
indessen  auf  der  Hand,  dass  sich  eine  strenge  Scheidung  auf 
diesem  Gebiete  nicht  durchführen  lässt.  Vielmehr  muss  es  natur- 
gemäss  alle  möglichen  Mischungen  in  dem  Verhältnisse  der 
äusseren  zu  den  inneren  Ursachen  geben.  Das  Gewicht  des  gleichen 
äusseren  Anstosses  kann  je  nach  dem  uns  wesentlich  unbekannten 
inneren  Zustande  ein  sehr  verschiedenes  sein.  Auf  diese  Weise 
entstehen  praktisch  die  mannigfaltigsten  Beziehungen  zwischen 
rohen  äusseren  Ursachen  und  klinischen  Formen  des  Irreseins, 
so  dass  die  zu  Grunde  liegenden  Gesetzmässigkeiten  tatsächlich 
überaus  schwer  zu  entwirren  sind.  Immerhin  sind  uns  auch  heute 
schon  gewisse  Anhaltspunkte  in  den  Krankheitsbildern  selbst  ge- 
geben. Wir  wissen  von  einer  ganzen  Reihe  klinischer  Formen 
aus  vielfältiger  Erfahrung,  dass  sie  überwiegend  äusseren  oder 
inneren  Ursachen  ihre  Entstehung  verdanken,  und  wir  können 
daher  aus  der  Art  der  Krankheitszeichen  nicht  selten  auch  dann 
die  exogene  oder  endogene  Natur  des  einzelnen  Falles  mit  grösster 
Wahrscheinlichkeit  feststellen,  wenn  uns  der  grobe  Augenschein 
zunächst  zu  einer  falschen  Auffassung  zu  verführen  drohte. 


A.  Äussere  Ursachen. 

Die  grosse  Klasse  der  äusseren  Ursachen  des  Irreseins  pflegt 
man  zur  besseren  Übersicht  weiter  in  die  beiden  Gruppen  der 
körperlichen  und  der  psychischen  Ursachen  auseinan- 


Hirnkrankheiten. 


15 


der  zu  trennen.  Die  ersteren  greifen  unmittelbar  in  den  körper- 
lichen Bestand  unseres  Seelenorganes  ein,  die  anderen  erst  durch 
Vermittlung  psychischer  Vorgänge,  durch  Erzeugung  von  Vor- 
stellungen oder  Gemütsbewegungen.  Eine  grundsätzliche  Ver- 
schiedenheit zwischen  beiden  Gruppen  besteht  selbstverständlich 
nicht,  da  nach  den  überall  festzuhaltenden  Grundanschauungen 
jeder  Veränderung  auf  psychischem  Gebiete  durchaus  eine 
Störung  im  Ablaufe  der  körperlichen  Vorgänge  entspricht. 

1.  Körperliche  Ursachen. 

Hirnkrankheiten*).  Da  die  letzte  Grundlage  aller  Formen  des 
Irreseins  höchst  wahrscheinlich  in  krankhaften  Vorgängen  odei 
Zuständen  der  Grosshirnrinde  gesucht  werden  muss,  so  werden 
wir  allen  wahren  Ursachen  die  gemeinsame  Eigenschaft  zu- 
schreiben dürfen,  dass  die  Erkrankungen  der  Hirnrinde  bewirken. 
Der  anatomische  Nachweis  solcher  Erkrankungen  ist  schon 
bei  einer  grossen  Reihe  von  psychischen  Störungen  gelungen,  wenn 
auch  die  Deutung  der  Befunde  und  namentlich  ihre  gesetzmässige 
Beziehung  zu  den  klinischen  Erscheinungen  meist  noch  recht  un- 
klar ist.  Insbesondere  scheinen  Veränderungen  an  den  Rinden- 
zellen überaus  häufig  zu  sein,  so  dass  es  gar  nicht  ganz  leicht 
ist,  völlig  normale  Bilder  zu  erhalten.  Jedenfalls  können  ein- 
greifende körperliche  Schädigungen  Zellenveränderungen  er- 
zeugen, ohne  dass  sie  von  auffallenderen  psychischen  Störungen 
begleitet  sind.  Hoch  hat  ferner  in  der  Rinde  von  nicht  geistes- 
kranken Menschen  die  Anzeichen  einer  kurz  vor  dem  Tode  ein- 
setzenden akuten  Störung  aufgefunden,  als  deren  Ausdruck  wir 
vielleicht  die  Bewusstseinstrübung  betrachten  dürfen,  die  den 
Todeskampf  zu  begleiten  pflegt.  Natürlich  wird  durch  solche 
Erfahrungen  die  klinische  Verwertbarkeit  der  Zellenbefunde  sehr 
stark  geschmälert. 

Auf  der  anderen  Seite  muss  es  bei  grossen  Gruppen  von 
geistigen  Erkrankungen  als  recht  zweifelhaft  bezeichnet  werden, 

*)  Nothnagel,  Topische  Diagnostik  der  Gehirnkrankheiten.  1879 ; 
Wer  nicke,  Lehrbuch  der  Gehirnkrankheiten.  1881;  Go  wer  s,  Vorlesungen 
über  die  Diagnostik  der  Gehirnkrankheiten,  deutsch  v.  Mommsen.  1886; 
Henschen,  Klinische  und  anatomische  Beiträge  zur  Pathologie  des  Gehirns. 
1892;  v.  Monakow,  Gehirnpathologie.  1897;  Oppenheim,  Lehrbuch  der 
Nervenkrankheiten,  3.  Aufl.  1902. 


16 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


ob  die  Veränderungen,  die  ihnen  zu  Grunde  liegen,  überhaupt  oder 
doch  mit  unseren  heutigen  Hilfsmitteln  sichtbar  gemacht  werden 
können.  Dass  übrigens  die  wahrnehmbaren  Veränderungen 
durchaus  nicht  immer  die  Ursache  der  klinischen  Störungen  zu 
sein  brauchen,  bedarf  wohl  kaum  der  Erwähnung. 

Bei  den  Gehirnerkrankungen  im  engeren  Sinne  werden  wir 
ausgeprägtere  psychiscne  Erscheinungen  dann  erwarten,  wenn 
das  Leiden  entweder  gerade  in  der  Binde  seinen  Sitz  hat  oder 
doch  durch  Erhöhung  des  Hirndruckes,  Störungen  der  Blut- 
verteilung, Giftwirkungen  und  dergl.  die  Rinde  in  Mitleidenschaft 
zieht.  Es  kommt  indessen  vor,  dass  selbst  greifbare  Rinden- 
erkrankungen,  wenn  sie  umschrieben  sind  und  sich  langsam  eni> 
wickeln,  die  psychischen  Leistungen,  wenigstens  anscheinend, 
völlig  unbeeinflusst  lassen.  Zur  Erklärung  derartiger  Tatsachen 
ist  vielleicht  die  Möglichkeit  einer  teilweisen  Stellvertretung  ge- 
sunder Rindenpartien  für  erkrankte,  namentlich  aber  der  Um- 
stand in  Erwägung  zu  ziehen,  dass  eine  ganz  allmählich  ein- 
tretende leichte  Verminderung  der  psychischen  Leistungsfähigkeit 
mit  unseren  heutigen  unvollkommenen  Hilfsmitteln  sehr  schwer 
aufzufinden  und  genau  zu  bestimmen  ist. 

Als  das  wichtigste  Bindeglied  zwischen  Schädlichkeiten  und 
Hirnrindenerkrankungen  hat  man  früher  vielfach  die  Störungen 
des  Hirnkreislaufes  betrachtet,  durch  deren  Vermittlung  noch 
Meynert  verschiedene  psychische  Krankheitsbilder  zu  erklären 
suchte.  Obgleich  diese  Anschauung  heute  nicht  mehr  haltbar  ist, 
so  kann  doch  nicht  bezweifelt  werden,  dass  wesentliche  Ände- 
rungen in  der  Blutzufuhr  einen  entschiedenen  Einfluss  auf  das 
Seelenleben  ausüben,  namentlich,  wenn  sie  sich  rasch  ausbilden. 
Insbesondere  pflegt  man  auch  den  Gefässerkrankungen,  wie  wir 
sie  bei  einer  Reihe  von  Geistesstörungen  auftreten  sehen,  die 
Entstehung  schwerer,  die  Hirnernährung  schädigender  Kreislauf- 
störungen zuzuschreiben,  ohne  dass  bisher  unsere  Vorstellungen 
über  den  inneren  Zusammenhang  der  Vorgänge  besonders  klare 
wären. 

Vermehrten  Blutandrang  zum  Gehirn  beobachten  wir  im  Fieber, 
bei  Wärmebestrahlungen  des  Kopfes,  bei  gewissen  Gemütsbewe- 
gungen, bei  Hypertrophie  des  linken  Ventrikels  und  bei  den- 
jenigen Giften,  die  eine  Förderung  der  Herzarbeit  oder  eine  Er- 


Hirnkrankheiten. 


17 


Weiterung  der  Ifirngefässe  bewirken.  Endlich  werden  wir  ört- 
liche Steigerungen  der  Blutzufuhr  bei  allen  entzündlichen  Vor- 
gängen anzunehmen  haben,  welche  die  Hirnrinde  in  Mitleidenschaft 
ziehen.  Das  Abschneiden  der  Blutzufuhr  vom  Gehirn  wird 
am  raschesten  durch  Zusammenpressen  der  beiden  Halsschlag- 
adern bewirkt,  wie  es  wohl  auch  beim  Erhängen  vorkommt. 
Hier  dürfte  jedoch  in  der  Regel  zugleich  die  Behinderung 
des  Blutabflusses  durch  Verschluss  der  grossen  Halsvenen  eine 
wesentliche  Rolle  spielen.  Weiterhin  kommt  Blutleere  des  Ge- 
hirns namentlich  durch  starke  Blutverluste,  durch  Herzschwäche 
und  vorübergehend  durch  diejenigen  Gemütserschütterungen 
(Schreck)  zu  stände,  die  mit  einer  krampfhaften  Zusammen- 
ziehung der  Hirngefässe  einhergehen.  Ähnliche  Wirkungen  kön- 
nen Gifte  entfalten;  vielleicht  sind  auch  die  unmittelbaren  Folgen 
der  Hiimerschütterung  zum  Teil  auf  Gefässkrämpfe  zurückzu- 
führen. Örtliche  Beeinträchtigung  oder  Abschneidung  der  Blut- 
zufuhr kann  durch  die  teilweise  oder  völlige  Verstopfung  von 
Hirngefässen,  ferner  durch  den  Druck  von  Geschwülsten  verur- 
sacht werden,  welche  die  Gefässe  zusammenpressen.  Wachsen  die 
Geschwülste,  so  kann  die  zunächst  umschriebene  Wirkung  eine 
allgemeine  werden,  indem  sich  die  Raumbeschränkung  in  der 
Schädelkapsel  durch  Vermittlung  der  Cerebrospinalflüssigkeit  auf 
den  gesamten  Schädelinhalt  überträgt. 

Wie  wir  durch  Grasheys  Untersuchungen*)  wissen,  führt 
jede  Erhöhung  des  Druckes  im  Schädel  über  ein  bestimmtes  per- 
sönliches Mass  hinaus  sehr  rasch  zur  Zusammendrückung  der 
Hirnvenen  in  ihren  freien  Abschnitten,  weiterhin  aber  zur  Ent- 
stehung von  Gefässschwingungen  mit  erheblicher  Verlangsamung 
der  Kreislaufsgeschwindigkeit  und  deren  Folgezuständen  (Stau- 
ungen, Ödeme).  Die  grössere  oder  geringere  Leichtigkeit,  mit 
welcher  eine  derartige  Drucksteigerung  im  einzelnen  Falle  zu 
stände  kommt,  hängt  wesentlich  ab  von  der  Ausbildung,  welche 
die  Abflussbahnen  der  Cerebrospinalflüssigkeit  besitzen.  Vermag 
diese  letztere  bei  einer  Vermehrung  des  Schädelinhaltes  rasch 

*)  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre  von  der  Blutcirkulation  in  der 
Schädel-Rückgratshöhle.  1892;  Kocher,  Hirnerschütterung,  Hirndruck  und 
chirurgische  Eingriffe  bei  Hirnkrankheiten.  Nothnagels  Handbuch  IX, 
3,  2.  1902. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl.  2 


18 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


nach  allen  Richtungen  hin  auszuweichen,  so  bleibt  der  Druck 
im  Schädel  unverändert  und  die  Blutversorgung  erleidet  keine 
Störung.  Sind  aber  die  Ausgleichsvorrichtungen  mangelhalt,  so 
genügt  schon  eine  mässige  Zunahme  des  Schädelinhaltes,  um  das 
Auftreten  schwererer  Ernährungsstörungen  einzuleiten.  Vielleicht 
verdient  gerade  nach  dieser  Richtung  die  von  Thoma  festge- 
stellte Tatsache  besondere  Beachtung,  dass  von  sämtlichen  Ge- 
fässen  des  Körpers  das  Gebiet  der  Carotis  interna  bei  weitem 
am  meisten  der  Erkrankung  an  Arteriosklerose  infolge  von  cber- 
dehnung  der  Gefässwand  ausgesetzt  ist.  Weit  günstiger  liegen 
bei  einer  Zunahme  des  Schädelinhaltes  die  Verhältnisse  dann, 
wenn  sie  sich  langsam,  allmählich  einstellt,  so  dass  die  Abfluss- 
bahnen sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  den  wachsenden  Am- 
forderungen anzupassen  vermögen.  Hier  kann  die  lähmende  V,  ir- 
kung  auf  die  Hirnrinde  ziemlich  lange  hintangehalten  werden: 
jede  rasche  Vermehrung  des  Schädelinhaltes  dagegen  hat  unaus- 
bleiblich die  Erstickung  der  Hirnrinde  zur  Folge. 

In  geringerem  Massstabe,  als  bei  der  Entwicklung  von  Ge- 
schwülsten oder  gar  beim  Eintritt  von  grösseren  Blutungen 
bilden  sich  Blutstauungen  in  der  Schädelkapsel  regelmässig  aus, 
wenn  ein  Missverhältnis  zwischen  dem  Drucke  in  den  Blutgeiässen 
und  in  der  Schädelhöhle  entsteht.  Dauernde  Blutwallungen, , wie 
sie  bei  Feuerarbeitern,  bei  aufregender  Tätigkeit,  bei  häufigem 
Alkoholmissbrauche  stattfinden  können,  dürften  ebenso  zu  S Lau- 
ungen in  der  Schädelhöhle  führen  wie  eine  Abnahme  der  Trieb- 
kraft des  Herzens. 

Die  letzten  Folgen  aller  Kreislaufstörungen  im  Gehirn  können 
immer  nur  Beeinträchtigungen  des  Stoffwechsels  im  Nerven- 
gewebe, also  chemische  Wirkungen  sein.  Aus  diesem  Grünen 
wird  es  für  den  Ablauf  der  Hirnvorgänge  nicht  nur  auf  die  Menge, 
sondern  vor  allem  auch  auf  die  Beschaffenheit  des  durchströmen- 
den Blutes  ankommen.  Diese  letztere  aber  ändert  sich  bei  allen 
Kreislaufsbehinderungen  sehr  rasch,  da  sich  das  Blut  mit  Zei  falk- 
stoffen beladet,  die  sonst  in  anderen  Stätten  des  Körpers  möglichst 
bald  unschädlich  gemacht  werden.  Wir  haben  uns  im  Laufe  der 
letzten  Jahrzehnte  mehr  und  mehr  daran  gewöhnt,  diesen  und 
anderen  giftigen  Beimischungen  der  Ernährungsflüssigkeit  eine 
Hauptrolle  bei  der  Entstehung  von  Krankheitserscheinungen  zu- 


Hirnkrankheiten. 


19 


zuschreiben.  Auch  beim  Fieber,  bei  Entzündungsvorgängen,  bei 
der  örtlichen  Reizwirkung  von  Herderkrankungen  denken  wir  in 
erster  Linie  an  den  reizenden  und  zersetzenden  Einfluss  im  Blute 
kreisender  oder  an  Ort  und  Stelle  gebildeter  Gifte. 

Ausser  den  Wirkungen  auf  Kreislauf  und  Stoffwechsel  kom- 
men vielfach  noch  sehr  wesentlich  einfach  mechanische  Zerstö- 
rungen in  Betracht.  Das  gilt  namentlich  von  den  Schädigungen 
des  Hirns  durch  Kopfverletzungen,  bei  denen  nicht  nur  an  den 
unmittelbar  betroffenen  Stellen,  sondern  auch  an  den  Gegenpolen 
durch  den  Anprall  Zerreissungen  stattfinden  können,  ferner  von 
den  Blutungen  und  wohl  auch  von  dem  Drucke  sehr  schnell 
wachsender  und  die  mannigfachsten  Verheerungen  bedingender 
Geschwülste. 

Endlich  aber  haben  wir  darauf  hinzuweisen,  dass  bei  den 
verschiedensten  Hirnkrankheiten  neben  den  unmittelbaren  Wir- 
kungen auf  das  Hirngewebe  noch  mittelbare  Beeinflussungen  der 
Seelenvorgänge  eintreten  können.  Wir  haben  uns  wohl  vorzu- 
stellen, dass  die  durch  das  Hirnleiden  erzeugten  Störungen  allerlei 
Gemütsbewegungen  auslösen  können,  die  nun  ihrerseits  wieder 
psychogene  Begleiterscheinungen  erzeugen.  Dass  diese  mittel- 
baren Krankheitszeichen  vielfach  durch  diejenigen  des  Hirnleidens 
beeinflusst  werden  und  daher  unter  Umständen  als  eine  Übertrei- 
bung und  Vergröberung  derselben  erscheinen,  wird  man  kaum 
verwunderlich  finden.  Bei  sorgfältiger  Prüfung  ergibt  sich,  dass 
die  Verknüpfung  psychogener,  sog.  „hysterischer“  Krankheits- 
äusserungen mit  schweren  Schädigungen  der  Hirnrinde  ein  überaus 
häufiges  Vorkommnis  ist.  Insbesondere  hat  Möbius  auch  ge- 
wisse Krampferscheinungen  und  Dämmerzustände  bei  wieder- 
belebten Erhängten*)  als  hysterische  aufgefasst,  während  sie  von 
anderen  Beobachtern  nebst  der  gleichzeitig  auftretenden  retro- 
graden Amnesie  als  Folgen  der  Erstickung  gedeutet  werden. 

Wenn  wir  von  diesen  mittelbaren  Störungen  absehen,  pflegen 
sich  die  psychischen  Krankheitsbilder  bei  gröberen  Hirnleiden  in 
verschiedenartigerweise  aus  den  Zeichen  der  Erregung  und  der 


*)  Wagner,  Jahrbücher  für  Psychiatrie,  VIII,  313;  Möbius,  Neuro- 
logische Beiträge  I,  55;  Lührmann,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LII, 
185;  Wollenberg,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXXI,  241. 


2* 


20 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Lähmung  auf  den  einzelnen  Gebieten  des  Seelenlebens  zusammen- 
zusetzen. Von  den  ersteren,  die  im  allgemeinen  geringeren  Gra- 
den des  Leidens  entsprechen,  sind  einfache  oder  verwickeltere 
Sinnestäuschungen,  Schlaflosigkeit,  Ideenflucht,  Delirien,  ängst- 
liche oder  heitere  Verstimmung,  Unruhe  und  mehr  oder  weniger 
heftige  motorische  Erregung  zu  nennen.  Der  psychische  Aus- 
druck einer  plötzlichen  allgemeinen  Lähmung  der  Hirnrinde  ist 
dagegen  eine  rasch  einsetzende  tiefe  Bewusstlosigkeit.  Bei  leich- 
teren Graden  der  Störung  kommt  es  zunächst  zu  einer  Erschwe- 
rung der  Auffassung  und  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke,  zu 
Unbesinnlichkeit,  Gedächtnisschwäche,  Gedankenarmut  und  Ver- 
langsamung des  Vorstellungsverlaufes,  Urteilslosigkeit,  grosser 
Ermüdbarkeit;  bei  höherer  Ausbildung  entwickelt  sich  geradezu 
Schlafsucht,  traumartige  Benommenheit,  Blödsinn.  Ferner  be- 
steht gemütliche  Stumpfheit,  verdriesslich  weinerliche  oder  kin- 
disch heitere  Stimmung,  Bestimmbarkeit  oder  Eigensinn,  endlich 
völliges  Erlöschen  der  Willensregungen. 

Da  der  Lähmung  des  Hirngewebes  zumeist  ein  Zustand  der 
Reizung  vorauszugehen  pflegt,  werden  wir  in  den  klinischen 
Äusserungen  der  Hirnrindenerkrankungen  den  mannigfachsten 
Verknüpfungen  von  psychischen  Lähmungs-  und  Erregungserschei- 
nungen begegnen.  Noch  verwickelter  können  die  entstehenden 
Krankheitsbilder  dadurch  werden,  dass  die  Beeinträchtigung  oder 
der  Ausfall  höherer  psychischer  Leistungen  noch  Störungen  ganz 
anderer  Art  nach  sich  ziehen  kann.  Wenn  wir  berechtigt  sind, 
als  den  seelischen  Kern  der  Persönlichkeit  eine  gewisse,  durch 
Anlage  und  Lebenserfahrung  bestimmte  Summe  von  Vorstel- 
lungen, Denkgewohnheiten,  Gefühlsrichtungen  und  Strebungen 
anzusehen,  so  ist  es  einleuchtend,  dass  durch  diesen  Kern  die 
Einheitlichkeit  und  Stetigkeit  der  psychischen  Persönlichkeit  be- 
dingt wird.  Wird  aber  die  Festigkeit  seines  Gefüges  durch  krank- 
hafte Vorgänge  geschwächt,  so  ist  die  Folge  eine  stärkere  Beein- 
flussbarkeit  des  Seelenlebens  durch  äussere  und  zufällige  Ein- 
wirkungen. Wir  finden  daher  unter  den  Zeichen  der  Hirnerkran- 
kungen, namentlich  in  den  Anfängen  ihrer  Entwicklung,  häufig 
eine  verminderte  psychische  Widerstandsfähigkeit,  die  sich  in 
rascher  Erschöpfbarkeit,  erhöhter  Ablenkbarkeit  und  Zerstreut- 
heit, gemütlicher  Reizbarkeit  und  Haltlosigkeit  des  Willens 


Hirnkrankheiten. 


21 


äussert.  Dazu  gesellt  sich  gewöhnlich  auch  eine  grössere  Em- 
pfindlichkeit gegen  Alkohol.  Natürlich  können  sich  die  genannten 
Störungen  wieder  in  der  verschiedenartigsten  Weise  mit  Zeichen 
der  psychischen  Lähmung  und  Erregung  verbinden.  Endlich  ge- 
hören zu  allen  diesen  Krankheitsbildern  natürlich  noch  die  eigen- 
artigen körperlichen  Störungen,  die  durch  den  besonderen  Sitz 
des  Leidens  bedingt  werden.  Auf  ihre  Schilderung  müssen  wir 
ebenso  wie  auf  diejenige  der  aphasischen  Erscheinungen  an  dieser 
Stelle  verzichten. 

Für  die  klinische  Psychiatrie  haben  die  gröberen  Hirn- 
erkrankungen im  allgemeinen  keine  allzu  grosse  Bedeutung.  Die 
meningitischen  und  encephalitischen  Erkrankungen  begegnen  uns 
zumeist  nur  in  den  Zuständen  von  Idiotie  und  Imbecillität,  die  sie 
bei  Kindern  so  oft  erzeugen.  Kranke  mit  Hirngeschwülsten  ge- 
raten nur  gelegentlich  unter  falscher  Diagnose,  meist  als  Paraly- 
tiker oder  Epileptiker,  einmal  in  die  Irrenanstalt.  Dagegen  hat 
sich  der  Irrenarzt  nicht  selten  mit  den  krankhaften  Seelenzustän- 
den nach  Kopfverletzungen*)  zu  beschäftigen.  Während  sich  un- 
mittelbar an  solche  Schädigungen  traumartige  Bewusstseins- 
trübungen mit  deliranten  Zügen  anzuschliessen  pflegen,  entwickeln 
sich  späterhin  vorwiegend  Krankheitsbilder  mit  den  Zeichen  ver- 
minderter psychischer  Widerstandsfähigkeit.  Dazu  gesellen  sich 
dann  sehr  häufig  allerlei  psychogene  Störungen,  so  dass  es  oft 
genug  recht  schwierig  wird,  ihren  Anteil  am  Gesamtzustande  von 
demjenigen  zu  trennen,  der  unmittelbar  durch  die  Verletzung  des 
Hirns  bedingt  ist.  Eine  weitere  klinische  Gruppe  bildet  der 
Schwachsinn  nach  Apoplexie,  der  in  der  Regel  den  Stempel  einer 
einfachen  psychischen  Lähmung  trägt  und  daher  seltener  in  die 
Hand  des  Irrenarztes  gelangt.  Ähnliches  gilt  von  der  multiplen 
Sklerose.  Mehr  in  den  Vordergrund  treten  dann  die  psychischen 
Störungen  bei  gewissen  Verblödungsformen,  die  ihre  Grundlage 
in  ausgebreiteten  Erkrankungen  der  Hirnrinde  haben,  namentlich 
bei  den  arteriosklerotischen  und  syphilitischen  Gefässerkran- 
kungen  und  gewissen  diffusen,  vielfach  familiären  Erkrankungen 
des  gesamten  Nervensystems.  Diese  letzteren  bilden  pathologisch- 
anatomisch wie  klinisch  den  Übergang  zu  denjenigen  Hirnerkran- 


*)  Werner,  Vierteljahrsschrift  f.  gerichtl.  Medizin,  XXIII,  Suppl.  1902. 


22 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


kungen,  die  wir  ohne  weiteres  dem  Gebiete  der  psychischen 
Störungen  zuzuweisen  pflegen. 

Das  leuchtende  Vorbild  der  Hirnpathologie  und  besonders 
der  Aphasielehre  muss  auch  dem  Irrenarzte  den  Gedanken  nahe 
legen,  dass  vielleicht  die  Seelenvorgänge  an  bestimmte  Orte 
des  Hirnes,  insbesondere  der  Rinde,  gebunden  sind.  Daraus  ergibt 
sich  die  Frage,  wie  weit  wir  etwa  jetzt  schon  imstande  sind,  aus 
bestimmten  psychischen  Erscheinungen  allein  Rückschlüsse  auf 
den  Sitz  der  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Ernährungsstörung  in  der 
Hirnrinde  zu  ziehen.  Die  allgemeine  Möglichkeit  einer  derartigen 
örtlichen  Umgrenzung  kann  bei  dem  heutigen  Stande  der  Lokali- 
sationsfrage*) nicht  wohl  mehr  in  Zweifel  gezogen  werden,  ja  es 
liegen  klinische  wie  experimentelle,  wenn  auch  nur  sehr  ver- 
einzelte Tatsachen  vor,  welche  Ausblicke  nach  der  angedeuteten 
Richtung  hin  zu  eröffnen  scheinen,  auch  wenn  wir  hier  vollständig 
absehen  von  den  Störungen  der  rein  sinnlichen  Wahrnehmung 
und  der  Bewegungen.  So  dürfen  wir  vielleicht  daran  denken, 
unsere  Erfahrungen  über  Worttaubheit  und  Asymbolie,  über  Para- 
phasie und  Parapraxie  auf  ähnliche  Störungen  bei  Geisteskranken 
zu  übertragen,  auf  die  Verständnislosigkeit  in  Zuständen  von 
schwerer  Verworrenheit,  beim  Altersblödsinn,  nach  Kopfver- 
letzungen, auf  die  Sprachverwirrtheit  der  Katatonischen,  gewisse 
Störungen  des  Handelns  bei  Paralytikern.  Da  wir  ein  Recht 
haben,  den  Sitz  der  Veränderung  bei  jenen  Krankheitszeichen  mit 
ziemlicher  Wahrscheinlichkeit  in  bestimmte  Gegenden  der  Hirn- 
rinde zu  verlegen,  so  lässt  sich  vermuten,  dass  auch  den  ähnlichen 
Störungen  bei  eigentlichen  Geisteskrankheiten  eine  entsprechende 
Beziehung  zu  örtlichen  Krankheitsvorgängen  zukommt.  Indessen 
fehlt  uns  im  Augenblicke  noch  viel  zu  sehr  die  Kenntnis  der  Rin- 
denveränderungen einerseits,  das  tiefere  Verständnis  der  klini- 
schen Zeichen  andererseits,  als  dass  wir  über  die  allgemeine  Ver- 
mutung einer  näheren  Verwandtschaft  gewisser  Erscheinungen 
des  Irreseins  mit  Störungen  von  bekanntem  Sitze  in  der  Hirnrinde 
hinauszukommen  vermöchten.  Ähnliches  gilt  für  die  von  Char- 

*)  Lucianiu.  Seppilli,  Die  Funktionslokalisation  auf  der  Grosshirn- 
rinde, deutsch  v.  Frankel.  1886;  v.  Monakow,  Über  den  gegenwärtigen 
Stand  der  Frago  nach  der  Lokalisation  im  Grosshirn,  Ergebnisse  der  Physiologie, 
I,  533.  1902.  1 


Hirnkrankheiten. 


23 


cot  und  W i 1 b r a n d mitgeteilten  Fälle  mit  Verlust  der  optischen 
Einbildungskraft.  Dieselben  legen  im  Zusammenhalte  mit  viel- 
fachen Erfahrungen  an  operierten  Tieren  nahe,  die  Ursachen  ähn- 
licher Störungen  bei  Geisteskranken  in  der  Hinterhauptsrinde  zu 
suchen.  Endlich  hat  bekanntlich  Goltz  die  interessante  Beobach- 
tung gemacht,  dass  Verlust  der  ^orderen  Rindengebiete  bei  Hun- 
den neben  anderen  Veränderungen  grosse  Reizbarkeit  und  plan- 
lose Unruhe  erzeugt,  während  Entfernung  der  Hinterhauptslappen 
im  Gegenteil  Trägheit  und  Stumpfheit  selbst  bei  vorher  bösartigen 
Tieren  zur  Folge  hat.  Auch  diese  Ergebnisse  würden  sich  etwa 
mit 'den  bekannten  klinischen  Erscheinungen  erregter  und  stumpfer 
Schwachsinnsformen  einigermassen  in  Verbindung  bringen  lassen. 

Leider  lassen  uns  in  dieser  Frage  die  Erfahrungen  über  die 
psychischen  Störungen  bei  umgrenzten  Hirnerkrankungen  fast 
vollkommen  im  Stich.  Nur  soviel  scheint  festzustehen,  dass  Ge- 
schwülste des  Balkens  in  der  Regel  mit  tiefgreifender  Störung  der 
Verstandesleistungen  einhergehen.  Das  kann  mit  der  Zerstörung 
zahlreicher  Verbindungen  zwischen  den  beiden  Hirnhalbkugeln 
oder  mit  der  gleichzeitigen  Beeinträchtigung  grösserer  Rinden- 
abschnitte auf  beiden  Seiten  Zusammenhängen.  Viel  umstritten 
ist  die  Rolle,  die  dem  Stirnhirn  für  das  höhere  Seelenleben  zuge- 
schrieben wird.  Für  eine  solche  Beziehung  spricht  der  Umstand, 
dass  es  beim  Menschen  besonders  stark  entwickelt  ist,  und  dass 
ihm  sonst  anscheinend  keine  Verrichtung  zukommt,  die  eine  der- 
artige Ausbildung  erklären  würde.  Weniger  sichergestellt  scheint 
die  Behauptung  zu  sein,  dass  Zerstörungen  des  Stirnhirns  in  be- 
sonders hohem  Grade  Verstandesstörungen  bewirken.*)  Es  ist 
natürlich  ungemein  schwierig,  einen  derartigen  Satz  zu  beweisen, 
da  nur  scharf  umschriebene  Verletzungen  ohne  Fernwirkungen 
bei  vorher  völlig  gesunden  Menschen  verwertbar  sind.  Zudem 
kommt,  wie  Bruns  betont,  in  Betracht,  dass  Stirnhirn- 
geschwülste, ohne  das  Leben  zu  gefährden,  sehr  gross  werden 
können  und  schon  deswegen  unter  Umständen  stärkere  psy- 
chische Ausfallserscheinungen  bedingen.  Allerdings  ist  nament- 
lich von  Oppenheim  auf  ein  besonderes  Zeichen,  die  „Witzel- 

*)  Bruns,  Die  Geschwülste  des  Nervensystems.  1897;  Oppenheim, 
Die  Geschwülste  des  Gehirns,  2.  Auflage.  1902;  Schuster,  Psychische 
Störungen  bei  Hirntumoren.  1902. 


24 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


sucht“,  hingewiesen  worden,  das  sich  bei  Stirnhirngeschwülsten 
auffallend  stark  und  häufig  zeigen  soll  und  in  einem  Falle  durch 
die  Operation  mit  beseitigt  wurde.  Es  muss  indessen  einstweilen 
wohl  dahingestellt  bleiben,  ob  das  Auftreten  der  Witzelsucht 
wirklich  den  Schluss  auf  eine  Stirnhirnerkrankung  gestattet. 
Jedenfalls  beobachten  wir  Störungen,  die  wir  klinisch  davon  nicht 
abzutrennen  vermögen,  bei  einer  Reihe  von  Erkrankungen,  die 
sich  sicher  über  weite  Rindenabschnitte  erstrecken,  so  nament- 
lich beim  Altersblödsinn,  bei  syphilitischer  Gefässerkrankung  und 
bei  der  Katatonie.  Natürlich  ist  das  nicht  etwa  ein  Gegenbeweis. 

Yv^enn  demnach  die  Anhaltspunkte  für  die  Anknüpfung  psychi- 
scher Verrichtungen  und  Störungen  an  bestimmte  Gebiete  unserer 
Hirnrinde  zur  Zeit  noch  ungemein  dürftige  sind,  so  liegen  doch 
eine  ganze  Reihe  von  Tatsachen  vor,  die  eine  Verlegung  seelischer 
Vorgänge  in  umgrenzte  Rindenabschnitte  wahrscheinlich  machen. 
Dahin  gehört  vor  allem  die  ausserordentliche  Verschie- 
denheit der  Nervenzellen,  die  wir  als  Träger  unseres 
Seelenlebens  betrachten  müssen.  Durch  N i s s 1 s Untersuchungen 
wissen  wir  nicht  nur,  dass  der  Bauplan  jener  Zellen  kein  einheit- 
licher ist,  sondern  auch,  dass  dort,  wo  wir  ihre  Verrichtungen 
kennen,  ähnliche  Formen  wiederkehren.  Mit  anderen  Worten, 
der  Verschiedenheit  im  Bau  entspricht  eine  Verschiedenheit  in 
der  Funktion,  ein  Satz,  der  für  alle  anderen  Körperzellen  ganz 
selbstverständlich  erscheint  und  nur  auf  dem  Gebiete  des  Ner- 
vengewebes sich  auffallend  schwer  Geltung  verschafft.  In  der 
Tat,  wenn  man  die  zahlreichen  gesetzmässigen  Verschiedenheiten 
in  Grösse,  Umriss  und  innerem  Aufbau  der  Nervenzellen  betrach- 
tet, so  wird  es  völlig  unmöglich,  darin  etwas  anderes  zu  sehen, 
als  den  Ausdruck  einer  verschiedenen  Bestimmung.  Dafür  spricht 
auch  die  Anordnung  der  Zellen  in  der  Rinde.  Fast 
überall  finden  wir  kleinere  oder  grössere  Mengen  gleichartiger 
Rindenbestandteile  zu  einheitlichen  Gruppen  und  Schichten  ver- 
bunden; seltener  mischen  sich  Zellen  verschiedener  Bauart  unter- 
einander. In  der  Tierreihe  bietet  der  Bau  der  Rindenzellen  wie 
ihre  Anordnung  die  grössten  Verschiedenheiten  dar.  Während 
gewisse  Formen  der  Nervenzellen,  wie  die  grossen  Gebilde  der 
motorischen  Centren,  schon  bei  niederen  Wirbeltieren,  wenn  auch 
nicht  in  der  Rinde,  auftreten,  erscheinen  die  kleinen  Zellen  der 


Rindenlokalisation. 


25 


zweiten  Schicht  erst  beim  Affen  und  vor  allem  beim  Menschen. 
Hier  bilden  sie  eine  riesige  Schicht,  von  der  beim  Kaninchen  auch 
nicht  eine  Spur  vorhanden  ist.  Aber  auch  die  grossen  Pyramiden- 
zellen zeigen  beim  Menschen  einen  durchaus  eigenartigen  Bau; 
sie  sind  zudem  durchschnittlich  kleiner,  als  z.  B.  die  entsprechen- 
den Zellen  des  Kaninchens.  Wir  werden  kaum  zweifeln  können, 
dass  diese  freilich  noch  fast  ganz  unbekannten  Unterschiede  in 
irgend  einer  Beziehung  zu  der  verschiedenen  Ausbildung  des 
Seelenlebens  stehen  müssen. 

Endlich  hat  Nissl* **))  gezeigt,  dass  verschiedene  Zell- 
arten durch  Gifte  in  verschiedener  Weise  beein- 
flusst werden  können.  Während  z.  B.  der  Alkohol  die' 
meisten  Bestandteile  der  Hirnrinde  auf  das  schwerste  schädigt, 
lässt  er  die  grossen  Zellen  des  Ammonshorns  fast  gänzlich  un- 
berührt; das  Blei  vernichtet  ebenfalls  den  grössten  Teil  der 
Rindenzellen,  verändert  aber  nur  in  sehr  geringem  Masse  die  Spi- 
nalganglien. Auch  beim  Menschen  lässt  sich  zeigen,  dass  allge- 
meine Krankheitsursachen  (Infektionen,  Fieber)  die  verschiedenen 
Bestandteile  der  Rinde  in  sehr  verschiedenem  Grade  schädigen. 
Alle  diese  Erfahrungen  deuten  in  gleicher  Weise  darauf  hin,  dass 
den  Verschiedenheiten  im  Bau  der  Nervenzellen  eine  tiefere  Be- 
deutung zukommt,  und  diese  Bedeutung  kann  nur  in  ihrer  ver- 
schiedenen Verrichtung  liegen.  Die  Lehre  von  der  Lokalisation 
der  psychischen  Vorgänge  wird  demnach  zunächst  die  örtlichen 
Verschiedenheiten  der  Rindenzellen  zu  berücksichtigen  haben. 1 *) 

Wie  eine  Durchmusterung  der  Hirnrinde  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkte lehrt,  setzt  sich  dieselbe  aus  unabsehbar  vielen 
einzelnen  Teilen  zusammen,  die  sich  durch  die  Art  ihrer  Nerven- 
zellen voneinander  abgrenzen.  Der  Bau  der  Hirnrinde  ist  dem- 
nach nichts  weniger  als  einförmig,  wie  etwa  derjenige  der  Leber, 
sondern  sie  enthält  eine  Menge  neben-  und  übereinander  gelagerter 
Organe  von  sehr  verschiedener  Ausdehnung  und  nicht  minder 
verschiedenartigem  Aufbau.  Bis  jetzt  wissen  wir  allerdings  über 
die  Zahl,  Beschaffenheit  und  gegenseitige  Lage  dieser  Organe, 
deren  Gesamtheit  wir  als  Hirnrinde  bezeichnen,  verzweifelt  wenig. 

*)  Nissl,  Allg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  1. 

**)  Nissl,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXIX,  1025;  Schlapp,  ebenda, 
XXXII,  1037. 


26 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Insbesondere  sind  wir  ganz  ausser  stände,  zu  beurteilen,  welche 
Mannigfaltigkeiten  in  Anordnung  und  Gliederung  etwa  die  zwi- 
schen den  Zellen  liegenden  Teile  des  Nervengewebes  darbieten. 
Nur  die  ganz  grobe  Sonderung  der  Rinde  in  eine  Reihe  von  über- 
einander gelegenen  Schichten  urd  die  allergreifbarsten  örtlichen 
Unterschiede  in  dieser  Schichtung  sind  seit  längerer  Zeit  bekannt. 
Schon  aus  diesen  Tatsachen  aber  lässt  sich  mit  aller  Bestimmtheit 
der  Schluss  ableiten,  dass  der  Querschnitt  der  Kirnrinde  keine 
Einheit  darstellt,  sondern  überall  eine  Reihe  von  Organen  mit 
vielleicht  völlig  verschiedener  Leistung  enthält.  Jedenfalls  ist 
die  schichtweise  Gliederung  der  Hirnrinde  die  bei  weitem 
auffallendste;  sie  zeigt  uns  unmittelbar  übereinander  Bestandteile 
von  denkbar  grösster  Verschiedenheit  des  gesamten  Bauplanes. 

Die  Geschichte  der  Lokalisationsbestrebungen  lehrt,  dass 
dieser  nächstliegende  Unterschied  kaum  jemals  für  die  örtliche 
Abgrenzung  der  Hirnverrichtungen  verwertet  worden  ist.  Der 
Fehler,  der  zu  den  Zeiten  G a 1 1 s begreiflich  war,  ist  bis  auf  den 
heutigen  Tag  immer  wiederholt  worden.  Nahezu  alle  Versuche 
einer  strengeren  Lokalisation  haben  den  Rindenquerschnitt  als 
Einheit  behandelt  und  ausschliesslich  die  Oberfläche  „landkarten- 
artig“ in  verschiedene  Gebiete  eingeteilt.  So  konnte  es  geschehen, 
dass  ausgedehnten  Abschnitten  der  Stirnrinde  keine  andere  Be- 
stimmung zugeschrieben  wurde,  als  die  willkürliche  Beherrschung 
der  Rumpfmuskeln.  Auch  heute  noch  pflegt  als  „motorische 
Region“  die  ganze  Gegend  der  vorderen  Centralwindung  betrach- 
tet zu  werden,  obgleich  die  nachweisbaren  motorischen  Leistungen 
höchst  wahrscheinlich  nur  den  kleinen,  in  der  vierten  und  fünften 
Schicht  eingestreuten  Nestern  von  motorischen  Zellen  zukommen, 
während  alle  übrigen,  weit  zahlreicheren  Bestandteile  der  Rinde 
gar  nichts  damit  zu  tun  haben  brauchen. 

In  zielbewusstem  Anschlüsse  an  Gail  hat  neuerdings 
Möbius*)  versucht,  eine  besondere  geistige  Fähigkeit,  die  „An- 
lage zur  Mathematik“  an  eine  umschriebene  Hirngegend,  die 
vorderen  Teile  der  ersten  und  zweiten  Stirnwindung  der  linken 
Seite,  zu  knüpfen.  Er  ist  dabei  ähnlich  verfahren  wie  Gail 
und  hat  sich,  wie  es  ja  auch  kaum  anders  möglich  war,  wesentlich 


*)  Möbius,  Über  die  Anlage  zur  Mathematik.  1900. 


Rindenlokalisation. 


27 


auf  die  Feststellung  gestützt,  dass  die  entsprechende  Schädel- 
gegend bei  vielen  hervorragenden  Mathematikern  eine  Vorwöl- 
bung zeigte.  Es  hat  nicht  fehlen  können,  dass  alle  Einwände,  die 
gegen  Gail  gemacht  worden  sind,  auch  diesem  Versuche  einer 
Erneuerung  der  alten  Schädellehre  entgegengehalten  wurden.  Mir 
scheint,  dass  unsere  Unsicherheit  in  den  Lokalisationsfragen 
selbst  dort,  wo  uns  unvergleichlich  vielseitigere  und  zuverlässigere 
Hilfsmittel  für  ihre  Lösung  zu  Gebote  stehen,  einstweilen  nicht 
gerade  zur  Wiederaufnahme  des  trügerischen  Gail  sehen  "V  er- 
fahrens  ermutigen  kann. 

Auch  die  jüngste  Einteilung  der  Hirnrinde  von  Flechsig*) 
mit  ihrer  Abgrenzung  von  Sinnescentren  und  Associationscentren 
baut  sich  nicht  auf  der  grundlegenden  Schichtung  im  Rinden- 
querschnitte, sondern  nur  auf  den  noch  recht  unvollkommen  be- 
kannten örtlichen  Verschiedenheiten  dieses  letzteren  auf.  Sie 
stützt  sich  vor  allem  auf  die  Beobachtung,  dass  die  Umhüllung 
der  Achsencylinder  mit  Markscheiden  in  verschiedenen  Gegenden 
des  Stabkranzes  und  der  Rinde  zu  sehr  verschiedener  Zeit  er- 
folgt. Flechsig  nimmt  an,  dass  diese  Unterschiede  in  innig- 
stem Zusammenhänge  mit  der  Funktion  der  Faserzüge  stehen, 
dass  Bündel  mit  gleicher  Bestimmung  zu  gleicher  Zeit  markreif 
werden  und  umgekehrt.  Da  er  ferner  zu  der  Überzeugung  kam, 
dass  nur  bestimmte  Gegenden  der  Hirnrinde  Stabkranzbündel  auf- 
weisen,  während  in  anderen  wesentlich  nur  Verbindungszüge  auf- 
treten,  so  schloss  er,  dass  die  Rinde  in  „Sinnescentren“  und 
„Associationscentren“  zu  zerlegen  sei.  Erstere  sollten  der  Ver- 
bindung mit  der  Aussenwelt,  letztere  den  höheren  Seelentätig- 
keiten dienen.  Gegen  diese  Aufstellungen  sind  eine  Reihe  der 
hervorragendsten  Hirnforscher  auf  getreten,  Hitzig,  Sachs, 
v.  Monakow,  Dejerine,  Nissl,  Vogt,  Siemerling 
u.  a.  Sie  haben  zunächst  geltend  gemacht,  dass  der  allgemeine 
Zusammenhang  zwischen  Markreife  und  Funktion  keineswegs  er- 
wiesen sei,  sodann,  dass  die  Ausbreitung  des  Stabkranzes  in  der 
Rinde  durchaus  nicht  die  von  Flechsig  behaupteten  Unter- 
schiede erkennen  lasse.  Damit  wird  aber  die  Einteilung  der  Rinde, 


*)  Flechsig,  Gehirn  und  Seele,  2.  Anfl.  1896;  Neurolog.  Centralblatt, 
XVH,  977;  XIX,  828. 


28 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


die  nach  Flechsig  anfangs  neun,  späterhin  aber  gar  vierzig 
verschiedene  Felder  enthalten  sollte,  vollkommen  hinfällig.  In  der 
Tat  spricht  der  überall  anscheinend  gleichmässige  Bau  der  klein- 
zelligen Schicht  weit  mehr  dafür,  dass  wir  es  in  ihr  mit  einem 
einheitlichen,  fast  über  die  ganze  Rindenoberfläche  sich  er- 
streckenden Organ  zu  tun  haben,  in  dem  vom  anatomischen  Stand- 
punkte heute  keinerlei  landkartenartige  Abgrenzung  möglich  ist. 
Erst  in  den  tieferen  Schichten  prägen  sich  die  örtlichen  Verschie- 
denheiten stärker  aus.  Gerade  die  kleinzellige  Schicht  aber  ist 
für  das  höhere  Seelenleben  wahrscheinlich  die  wuchtigste,  weil 
sie  erst  beim  Menschen  ihre  hohe  und  eigenartige  Entwicklung 
erlangt. 

Die  einzige  Lokalisationslehre,  welche  dem  geschichteten  Bau 
der  Hirnrinde  gerecht  zu  werden  versucht,  ist  diejenige  von 
W e r n i c k e , der  sich  vorstellt,  dass  „eine  Art  schichtenweiser 
Ablagerung  der  Vorstellungen,  ähnlich  den  Sedimentbildungen 
der  jüngsten  Erdschichten“  im  Gehirn  stattfinde.  Er  vermutet 
weiter,  dass  der  Reihe  nach  von  innen  nach  aussen  in  den  Zellen- 
schichten „das  Bewusstsein  der  Körperlichkeit“,  dasjenige  „der 
Aussenwelt“  und  endlich  jenes  „der  Persönlichkeit“  seinen  Sitz 
habe.  Wollten  wir  hier  auch  von  der  Schwierigkeit  absehen, 
wie  diese  schichtweise  Ablagerung  zu  denken  sei,  so  wäre  nicht 
recht  zu  verstehen,  wie  gerade  die  genannten  drei  Vorstellungs- 
gruppen sich  an  so  grundverschiedene  Nervenzellen  knüpfen 
sollen,  während  doch  jede  einzelne  dieser  „Bewusstseinsarten“ 
viel  weiter  auseinanderweichende  Bestandteile  enthält.  Sodann 
aber  ist  die  angenommene  Dreiteilung  psychologisch  völlig  un- 
haltbar. An  diesem  Punkte  liegt  aber  die  Schwache  der  bis- 
herigen Lokalisationsversuche  überhaupt.  Alle  derartigen  Be- 
strebungen, die  über  die  einfachsten  Sinnesempfindungen  und 
Bewegungen  hinausgreifen,  müssen  notwendig  an  der  Unvollkom- 
menheit unserer  psychologischen  Kenntnisse  Schiffbruch  leiden. 
Auch  die  gewöhnlichsten  psychischen  Vorgänge  erweisen  sich  bei 
genauerer  Betrachtung  als  so  ungemein  verwickelt,  dass  wir  gut 
begreifen,  warum  das  Werkzeug  unseres  Seelenlebens  einen  so 
hoffnungslos  unentwirrbaren  Aufbau  besitzt.  Kennten  wir  wirk- 
lich alle  die  vielen  Organe,  aus  denen  sich  die  Hirnrinde  zusam- 
mensetzt, so  wüssten  wir  immer  noch  nicht,  was  eine  psychische 


Rindenlokalisation. 


29 


„Funktion“  ist,  wie  wir  sie  dem  einzelnen  Zellenverbande  zuschrei- 
ben dürften.  Erst  dann,  wenn  wir  nicht  nur  die  körperliche  Grund- 
lage des  Seelenlebens,  sondern  auch  die  psychischen  Vorgänge 
selbst  in  ihre  einfachsten  Bestandteile  zerlegt  haben,  können  wir 
hoffen,  Beziehungen  zwischen  beiden  aufzufinden;  bis  dahin  hat 
jeder  Versuch  einer  Lokalisation  der  verschiedenen  psychischen 
Leistungen  in  der  Hirnrinde  keinen  anderen  Wert,  als  den  eines 
unbeweisbaren  und  unwiderlegbaren  Einfalles. 

Einen  sehr  klaren  Beweis  für  die  Notwendigkeit  der  Ver- 
einigung psychologischer  Zergliederung  mit  der  anatomischen 
Betrachtung  haben  uns  die  neueren  Versuche  von  Ewald  über 
den  Muskelsinn  geliefert.  Man  wusste  längst,  dass  die  Beein- 
trächtigung der  Bewegung,  die  nach  Ausschneidung  der  moto- 
rischen Centren  eintritt,  sich  ziemlich  rasch  wieder  verliert, 
infolge  vicariierenden  Eintretens  anderer  Zellengruppen,  wie  man 
annahm.  Ewald  hat  aber  gezeigt,  dass  hier  keineswegs  die 
Verrichtung  der  zerstörten  Teile  als  solche  von  anderen  über- 
nommen wird,  sondern  dass  die  Herrschaft  über  die  Bewegungen 
drei  voneinander  unabhängige  Hilfsmittel  besitzt,  den  Labyrinth- 
sinn, die  Gelenkempfindungen  und  das  Auge.  Die  Lösung  der- 
selben Aufgabe  erfolgt  also  auf  drei  ganz  verschiedenen  Wegen 
und  mit  ganz  verschiedenen  Werkzeugen.  Jedes  derselben  kann 
für  die  anderen  nur  insofern  eintreten,  als  der  gleiche  Zweck  er- 
reicht wird;  dagegen  ist  die  einmal  vernichtete  Leistung  selbst 
unwiederbringlich  verloren.  Gerade  diese  Erfahrungen  dürften 
sehr  für  eine  schärfere  örtliche  Umgrenzung  der  Hirnleistungen 
sprechen,  während  früher  der  rasche  Ausgleich  der  Bewegungs- 
störungen als  ein  wichtiger  Beweis  für  die  „funktionelle  Indif- 
ferenz“ der  Hirnrindenteile  betrachtet  wurde. 

Die  schichtweise  Anordnung  und  flächenhafte  Ausbreitung 
der  Rindenorgane  trägt  die  Schuld,  warum  uns  in  diesen  Fragen 
weder  krankhafte  noch  künstliche  Zerstörung  sicheren  Auf- 
schluss über  den  Zusammenhang  von  anatomischem  Gebilde  und 
psychischer  Verrichtung  zu  geben  vermag.  Es  erscheint  so  gut 
wie  ausgeschlossen,  dass  einmal  ein  Krankheitsvorgang  oder  ein 
Eingriff  nur  ein  einziges  Organ  und  zugleich  dieses  wirklich 
vollständig  zerstören  könne.  Damit  fehlen  uns  aber  gerade  die- 
jenigen Hilfsmittel,  die  uns  bei  der  Lokalisation  auf  subkortikalen 


30 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Gebieten  so  sicher  geführt  haben.  So  viel  ich  sehe,  bleibt  uns 
zur  Zeit,  ausser  den  Schlussfolgerungen  der  vergleichenden  Ana- 
tomie und  Physiologie,  nur  eine  einzige  Möglichkeit,  diese  Fragen 
mit  Aussicht  auf  Erfolg  in  Angriff  zu  nehmen,  die  Vergiftung. 
Durch  psychologische  Versuche  haben  wir  gelernt,  dass  gewisse 
Gifte  nur  einzelne,  ganz  bestimmte  Seiten  unseres  Seelenlebens 
beeinflussen,  andere  unberührt  lassen;  andererseits  scheint  die 
Untersuchung  der  Nervenzellen  vergifteter  Tiere  darzutun,  dass 
auch  die  verschiedenen  Arten  der  Rindenbestandteile  nicht  in 
gleichem  Masse  dem  Gifte  zugänglich  sind.  Vielmehr  dürfte  eine 
Auswahl  stattfinden,  entsprechend  etwa  der  verschiedenen  che- 
mischen Zusammensetzung  und  damit  vielleicht  auch  der  Funktion 
der  Zellen.  Hier  wäre  also  eine  ferne  Aussicht,  nebeneinander  die 
Veränderung  im  Ablaufe  der  psychischen  Vorgänge  und  im  Ver- 
halten ihrer  körperlichen  Grundlage  festzustellen. 

Eine  erste  Anknüpfung  klinischer  Erfahrungen  an  die  Er- 
gebnisse der  Giftversuche  könnten  die  durch  Gifte  erzeugten 
Geistesstörungen  liefern.  Es  wäre  z.  B.  denkbar,  dass  den  Er- 
scheinungen des  Rausches  Veränderungen  in  verschiedenen  Rin- 
dengebieten zu  Grunde  liegen,  die  sich  mit  den  uns  bereits  be- 
kannten psychischen  Wirkungen  des  Alkohols  in  Verbindung 
bringen  liessen.  Weiterhin  aber  ist  darauf  hinzuweisen,  dass 
wir  eine  ganze  Reihe  von  psychischen  Krankheitsbildern  kennen, 
bei  denen  einzelne  Störungen  ganz  besonders  ausgeprägt  sind. 
Dem  Rausche  am  nächsten  steht  die  manische  Erregung.  Beiden 
Zuständen  gemeinsam  ist  die  erleichterte  Auslösung  von  Hand- 
lungen; dagegen  fehlen  in  der  Manie  die  Zeichen  der  Lähmung, 
wie  sie  sich  beim  Rausche  in  der  Abnahme  der  Kraft,  in  der  Ver- 
langsamung der  Bewegungen,  in  dem  Auftreten  ataktischer  Stö- 
rungen kundgeben;  zudem  bestehen  wohl  auch  auf  anderen  psy- 
chischen Gebieten  wesentliche  Unterschiede.  Soweit  diesen  Ab- 
weichungen verschiedene  Angriffspunkte  der  krankmachenden 
Schädlichkeit  entsprechen,  müsste  es  grundsätzlich,  wenn  auch 
vielleicht  noch  lange  nicht  tatsächlich,  möglich  sein,  ihre  Ursache 
aufzudecken  und  damit  aus  dem  Vergleiche  der  klinischen  und 
anatomischen  Übereinstimmungen  und  Unterschiede  Aufschlüsse 
über  den  Sitz  dieser  oder  jener  Störung  zu  erhalten.  Freilich 
wird  dieser  Weg  erst  dann  gangbar  sein,  wenn  ausser  der  sorg- 


Nervenkrankheiten. 


31 


fältigen  psychologischen  Zergliederung  der  einzelnen  Krankheits- 
bilder auch  die  feineren  Veränderungen  der  Hirnrinde  unserem 
Verständnisse  weit  mehr  erschlossen  sind,  als  heute.  Die  alleinige 
Berücksichtigung  von  Zellen  und  Fasern  kann  dafür  nicht  genügen. 

Gibt  es  überhaupt  eine  Lokalisation  höherer  psychischer 
Leistungen,  so  werden  sich  für  die  Klärung  dieser  Frage  besonders 
diejenigen  Krankheitsbilder  fruchtbar  erweisen,  bei  denen  einzelne 
sehr  ausgeprägte  Störungen  hervortreten.  Dahin  gehören  z.  B. 
die  Presbyophrenie  und  die  Korssakow sehe  Krankheit  mit 
ihrer  hochgradigen  Merkstörung,  die  eigentümliche  Gruppe  der 
Kranken  mit  Sprachverwirrtheit,  die  Formen  mit  einfacher  hal- 
lucinatorischer  Verblödung,  die  Katatonien  mit  stark  entwickel- 
ten Willensstörungen  u.  s.  f.  Ihnen  stehen  andere  Erkrankungen, 
wie  etwa  die  Fieberdelirien,  die  Paralyse,  die  syphilitische  und 
arteriosklerotische  Hirnerkrankung,  gegenüber,  bei  denen  sich 
die  Krankheitszeichen  viel  gleichmässiger  auf  mannigfaltige  Ge- 
biete des  Seelenlebens  verteilen.  Aus  der  verschiedenen  Um- 
grenzung der  anatomischen  Veränderungen  bei  den  einzelnen 
Krankheitsformen  Hessen  sich  daher  vielleicht  einmal  Aufschlüsse 
über  den  besonderen  Sitz  der  eigenartigen  klinischen  Störungen 
gewinnen.  Dass  tatsächlich  Unterschiede  in  der  örtlichen  Aus- 
breitung der  krankhaften  Veränderungen  bestehen,  lehren  schon 
jetzt  Nissls  Beobachtungen  bei  Katatonie.  Die  Zerstörungen 
liegen  hier  vorzugsweise  in  den  tieferen  Rindenschichten,  im 
Gegensätze  zu  ihrer  gleichmässigeren  Verteilung  über  die  ganze 
Rindenbreite  bei  der  Paralyse.  Es  wäre  daher  immerhin  denkbar, 
dass  die  auffallende  Störung  der  Gemütsregungen  und  der  Willens- 
handlungen bei  Schonung  der  Auffassung  und  des  Gedächtnisses 
in  irgend  einer  Beziehung  zu  der  örtlichen  Umgrenzung  des  kata- 
tonischen Krankheitsvorganges  stünde. 

Nervenkrankheiten.  Zwischen  Nervenkrankheiten  und  Geistes- 
störungen bestehen  mannigfache  Beziehungen.  In  der  Regel 
handelt  es  sich  jedoch  nicht  um  ein  ursächliches  Verhältnis, 
sondern  beide  sind  die  Äusserungen  desselben  Krankheitszu- 
standes, der  die  verschiedenen  Gebiete  des  Nervensystems 
in  Mitleidenschaft  zieht.  So  haben  wir  es  bei  den  t a b i - 
sehen  Geistesstörungen  einfach  mit  dem  Fortschreiten  des 
Krankheitsvorganges  vom  Rückenmarke  auf  die  Hirnrinde  zu 


32 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


tun.  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  sind  es  einfach 
Paralysen,  bei  denen  nur  die  Rückenmarkserscheinungen  den 
übrigen  Krankheitszeichen  längere  Zeit  voraufgegangen  sind.  Ob 
diese  Deutung  jedoch  für  alle  Fälle  zutrifft,  ist  unsicher  und  sehr 
schwer  zu  entscheiden.  Auch  das  polyneurische  Irresein 
zeigt  uns  nur  an,  dass  die  gleiche  Schädlichkeit,  die  eine  Erkran- 
kung der  Nervenstämme  bewirkt  hat,  auf  die  Hirnrinde  über- 
greift.  Wir  werden  uns  daher  auch  nicht  wundern,  wenn  ge- 
legentlich die  psychische  Störung  allein,  ohne  Beteiligung  der 
Nerven,  beobachtet  wird;  die  Krankheitsursache  kann  eoen,  wie 
es  scheint,  die  verschiedenen  Abschnitte  des  Nervensystems  ge- 
trennt oder  gemeinsam  schädigen.  Diese  Ursache  selbst  besteht 
ohne  Zweifel  in  einer  Giftwirkung,  wenn  wir  deren  Art  auch 
noch  nicht  genauer  kennen.  Nach  Bonhöffers  Ansicht  bildet 
die  wesentliche  Grundlage  immer  der  Alkoholismus,  nährend 
Infektionen,  namentlich  Tuberkulose,  und  andere  Schädlichkeiten 
als  Plilfsursachen  in  Betracht  kommen.  Zu  bemerken  bleibt,  dass 
auch  bei  Nichttrinkern  ganz  ähnliche  Krankheitsbilder  auftreten 
können,  deren  Abgrenzung  von  den  alkoholischen  Formen  einst- 
weilen noch  recht  schwierig  erscheint.  Das  hervorstechendste 
Krankheitszeichen  ist  die  starke  Störung  der  Merkfähigkeit  mit 
lebhaften  Erinnerungsfälschungen.  Ausserdem  bestehen  Er- 
schwerung der  Auffassung,  grosse  Ermüdbarkeit,  ängstliches, 
misstrauisches  Wesen,  vielfach  auch  Wahnbildungen. 

Das  choreatische*)  Irresein  haben  wir  wohl  ebenfalls 
darauf  zurückzuführen,  dass  die  infektiöse  Krankheitsursache  auch 
das  Hirn  schädigt.  In  der  Regel,  wenn  nicht  ausschliesslich,  ist 
es  der  Krankheitserreger  des  akuten  Gelenkrheumatismus,  der 
hier  eine  Rolle  spielt.  Wart  mann  und  Westphal  konnten 
ihn  aus  dem  Hirn  einer  Choreatischen  züchten.  Das  Krankheitsbild 
ist  gekennzeichnet  durch  erhöhte  gemütliche  Reizbarkeit,  kin- 
disches, launenhaftes  Wesen,  raschen  Stimmungswechsel,  Schlaf- 
losigkeit; in  schweren  Fällen  kommt  es  zur  Entwicklung  ver- 
wirrter, deliriöser  Aufregungszustände.  Völlig  davon  zu  trennen 
sind  natürlich  diejenigen  Formen  der  Chorea  (hereditäre,  H u n - 


*)  Koppen,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XX,  3;  Zinn,  ebenda,  XXVIII,  411; 
Bernstein,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIII,  538. 


Nervenkrankheiten. 


33 


tingtons  Chorea),  die  auf  diffusen,  chronischen  Erkrankungen 
des  Centralnervensystems  bisher  unbekannter  Entstehungsart  be- 
ruhen und  regelmässig  zu  mehr  oder  weniger  ausgeprägtem 
Schwachsinn  führen.  Sie  sind  ähnlich  zu  beurteilen  wie  die 
chronischen  Hirnerkrankungen,  die  wir  als  die  Grundlage  der 
Epilepsie  zu  betrachten  haben.  Wir  benennen  dieses  Leiden 
nach  einem  einzelnen,  besonders  in  die  Augen  fallenden  klinischen 
Zeichen,  während  es  sich  doch  um  ausgebreitete,  feinere  oder 
gröbere  Veränderungen  handelt,  die  in  der  Regel  das  gesamte 
Seelenleben  betreffen.  Wahrscheinlich  hat  diese  symptomatische 
Betrachtungsweise  zur  Folge,  dass  wir  bisher  eine  Reihe  von  ganz 
verschiedenartigen  Krankheitsvorgängen  unter  dem  gleichen  Be- 
griffe zusammenfassen.  Mit  den  klinischen  Erscheinungsformen 
werden  wir  uns  späterhin  eingehend  zu  beschäftigen  haben. 

Bei  der  Tetanie  sind  von  v.  Frankl-Hochwart  und 
von  Fr.  Schultze  deliriöse  Zustände  mit  Sinnestäuschungen 
beschrieben  worden;  auch  ich  habe  wiederholt  derartige  Zustände 
gesehen.  Es  ist  möglich,  dass  sie,  ähnlich  wie  die  choreatischen 
Störungen,  auf  einer  Vergiftung  durch  das  mutmassliche  Tetanie- 
gift beruhen.  Auf  Grund  bestimmter  Erfahrungen  bin  ich  in- 
dessen zweifelhaft  geworden,  ob  es  sich  in  manchen  Fällen 
nicht  um  den  Beginn  einer  Dementia  praecox  gehandelt  hat. 
Ebenso  unsicher  erscheint  mir  zur  Zeit  noch  die  Deutung  der  sog. 
„Migräne psychosen“*).  Sie  werden  als  rasch  verlaufende 
Dämmerzustände  mit  deliriösen  Sinnestäuschungen  und  Wahn- 
bildungen geschildert  und  gleichen  klinisch  offenbar  völlig  ge- 
wissen epileptischen  Störungen.  Da  wenigstens  die  schwereren, 
mit  Augenerscheinungen  einhergehenden  Formen  der  Migräne  viel- 
fach mit  der  Epilepsie  in  Beziehung  stehen,  halte  ich  es  für  wahr- 
scheinlich, dass  auch  die  geschilderten  Zustände  als  epileptische 
aufzufassen  sind,  zumal  leichtere  Zeichen  der  Epilepsie,  nament- 
lich die  periodischen  Verstimmungen,  sehr  häufig  übersehen 
werden. 

Ähnliche  Zustände  rasch  verlaufender  deliriöser  Verworren- 

*)  Möbius,  Die  Migräne,  76;  v.  Krafft-Ebing,  Arbeiten,  110, 
135;  Jahrb.  f.  Psych.  XXI,  38;  Koppen,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  1898, 
269;  Mingazzini  e Pacetti,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXV, 
3 u.  4.  1899. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  AuB. 


3 


34 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


heit  mit  nachheriger  Erinnerungslücke  sind  mehrfach  nach  dem 
Auftreten  heftiger  Nervenschmerzen,  namentlich  in  Verbindung 
mit  krankhaften  Zähnen,  beobachtet  worden.  Man  hat  diese 
„Schmerzdelirien“*)  durch  die  Einwirkung  des  Nervenreizes  auf 
das  Gehirn,  vielleicht  mit  Erzeugung  eines  Gefässkrampfes,  zu 
erklären  gesucht;  auch  die  Auslösung  starker  gemütlicher  Er- 
schütterungen könnte  dabei  eine  Rolle  spielen.  Diese  Erfahrungen 
erinnern  an  die  Fälle  von  sog.  Reflexepilepsie,  bei  denen  ebenfalls 
peripheren  Nervenreizungen  eine  ursächliche  Rolle  zugeschrieben 

wird.  Man  hat  auch  eine  Gruppe  von  „Reflexpsychosen“  aufgestellt, 

die  durch  dauernde  Zerrung  narbig  eingeheilter  Nervenäste  be- 
dingt sein  sollen,  und  namentlich  Schüle  hat  die  ursächliche 
Wirkung  körperlicher  Reize  in  seiner  „Dysphrenia  neuralgica 
sehr  weit  ausgedehnt.  Es  ist  gewiss  nicht  von  der  Hand  zu  weisen, 
dass  lebhafte  Schmerzen  einen  starken  Einfluss  auf  das  Seelen- 
leben ausüben  und  unter  Umständen  auch  jemanden  „rasend“ 
machen  können,  doch  handelt  es  sich  dabei  gewiss  nur  selten  um 
ausgeprägte  psychische  Erkrankungen.  Am  leichtesten  wird  man 
derartige  Störungen  bei  solchen  Personen  auftreten  sehen,  die 
ohnedies  eine  erhöhte  gemütliche  Beeinflussbarkeit  darbieten,  bei 
Hysterischen. 

Operative  Eingriffe.  Als  Delirium  nervosum  oder  traumati- 
cum  sind  seit  Dupuytren  gewisse  deliriöse  Geistesstörungen 
zusammengefasst  worden,  die  sich  bisweilen  an  schwere  chiiui- 
gische  Eingriffe**)  anschliessen.  Die  genauere  Zergliederung 
derartiger  Erfahrungen  zeigt,  dass  es  sich  dabei  um  eine 
ganze  Reihe  sehr*  verschiedenartiger  klinischer  Bilder  handelt. 
In  einer  grossen  Zahl  von  Fällen  ist  der  ursächliche  Zusam- 
menhang zwischen  Eingriff  und  psychischer  Störung  nur  ein 
ganz  lockerer.  Das  trifft  zu  für  die  manischen,  katatonischen, 
epileptischen,  paralytischen  Zustandsbilder,  dann  auch  für  die 
senilen  Delirien,  die  auf  dem  schon  krankhaft  vorbereiteten 


*)  Laquer,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXVI,  3;  v.  Krafft-Ebing, 
Arbeiten,  I,  81;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVffl,  463. 

**)  Picque,  Annales  mddico-psychol.,  VIII,  8,  91,  113,  453;  Picque 
et  Briand,  ebenda,  249,  1898;  Simpson,  Journal  of  mental  Science,  1897, 
Januar;  Pilcz,  Wiener  klinische  Wochenschrift,  1902,  36. 


Nervenkrankheiten. 


35 


Boden  durch  die  Schädigung  ausgelöst  werden.  Ähnliches  gilt 
natürlich  von  den  ungemein  häufigen  alkoholischen  und  von  den 
urämischen  Delirien.  Entscheidender  schon  ist  die  Rolle  des 
chirurgischen  Eingriffes  bei  den  hysterischen  Zufällen,  obgleich 
ja  auch  hier  die  wesentlichste  Ursache  immer  in  der  erkranken- 
den Persönlichkeit  selbst  gesucht  werden  muss.  Der  psychische 
Eindruck,  die  Angst  und  Aufregung,  die  schon  vor  dem  Eingriffe 
besteht,  ist  das  wirksame  Bindeglied.  Die  Operation  selbst  kann 
durch  starken  Blutverlust  schädigen  und  dadurch  Erschöpfungs- 
delirien erzeugen;  auch  Giftwirkungen,  namentlich  Jodoform- 
delirien, können  auftreten.  Im  weiteren  Verlaufe  ist  es  einmal 
wieder  die  Erschöpfung  durch  schwere  Eingriffe  mit  mangel- 
hafter Ernährung,  die  in  Betracht  gezogen  werden  muss;  anderer- 
seits aber  können  sich  Eiterungen  und  Blutvergiftungen  ent- 
wickeln, die  wieder  die  eigenartigen  Krankheitsbilder  der  sep- 
tischen Delirien  hervorbringen.  Endlich  aber  ist  noch  von  ver- 
schiedenen Seiten  der  starke  gemütliche  Eindruck  betont  worden, 
den  gewisse  verstümmelnde  Operationen  ausüben,  Amputationen, 
Kastration,  Anlegung  eines  Anus  praeternaturalis  u.  dergl.  Ob 
die  nach  solchen  Eingriffen  beobachteten,  länger  dauernden,  unter 
Umständen  zur  Unheilbarkeit  führenden  Depressionszustände  wirk- 
lich eine  klinische  Sonderstellung  beanspruchen  dürfen,  ist  mir 
einstweilen  noch  zweifelhaft. 

Ebenso  erscheint  es  unsicher,  ob  der  besonderen  Art  der  Ein- 
griffe, abgesehen  von  ihren  allgemeinen  Wirkungen,  eine  be- 
stimmte ursächliche  Bedeutung  zukommt.  Allerdings  werden  bei 
weitem  am  häufigsten  Geistesstörungen  nach  Operationen  an  den 
weiblichen  Genitalorganen  beobachtet.  Bekanntlich  hat  man  der 
Entfernung  der  Eierstöcke  vielfach  einen  hervorragenden  Einfluss 
auf  das  Seelenleben  der  Frau  zugeschrieben  und  dabei  namentlich 
auch  auf  die  starken  geistigen  und  gemütlichen  Umwälzungen 
im  Klimakterium  hingewiesen.  Wenn  es  auch  bezweifelt  werden 
muss,  dass  gerade  die  Rückbildung  der  Eierstöcke,  etwa  das 
Ausbleiben  einer  inneren  Sekretion,  die  wichtigste  oder  gar  die 
einzige  Ursache  der  klimakterischen  Störungen  bildet,  so  ist  doch 
wohl  anzunehmen,  dass  der  Verlust  der  Generationsdrüsen  auch 
für  das  seelische  Gleichgewicht  kein  ganz  bedeutungsloser  Ein- 
griff ist.  Immerhin  scheinen  ausgeprägte  psychische  Störungen 

3* 


36 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


sich  jedenfalls  nicht  besonders  häufig  an  denselben  anzuschliessen. 
Wir  dürfen  auch  nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  längere  Zeit  hin- 
durch die  Kastration  vielfach  bei  psychisch  bereits  nicht  mehr 
ganz  gesunden  Personen  ausgeführt  wurde,  in  der  freilich  meist 
getäuschten  Hoffnung,  sie  dadurch  von  ihren  Leiden  zu  befreien. 

Bei  den  Operationen  in  der  Bauchhöhle  und  am  Darm  soll 
nach  der  Ansicht  von  Pilcz  Kotstauungen  mit  Aufsaugung  von 
Krankheitsgiften  durch  den  Darm  eine  wichtige  Rolle  zukommen. 
Nach  Kataraktoperationen  und  überhaupt  nach  längerem  Auf- 
enthalte im  Dunkelzimmer*)  hat  man  nicht  selten  deliriöse  Zu- 
stände mit  lebhaften  Sinnestäuschungen,  namentlich  des  Gesichts, 
aber  auch  des  Gehörs,  seltener  reine  Gesichtstäuschungen  bei 
klarem  Bewusstsein,  auftreten  sehen,  die  eine  gewisse  Ähnlich- 
keit mit  den  in  der  Einzelhaft  beobachteten  Störungen  darbieten. 
Hier  wie  dort  scheint  der  Abschluss  gewisser  Sinnesreize  das 
Auftreten  von  Trugwahrnehmungen  auf  dem  betreffenden  Gebiete 
zu  begünstigen.  Im  übrigen  sind  hier  jedoch  vor  allem  das 
Greisenalter,  unter  Umständen  auch  schlechte  Ernährung,  ge- 
mütliche Erregung  oder  alkoholische  Gewohnheiten  als  Ent- 
stehungsursachen zu  berücksichtigen. 

Vergiftung  und  Erschöpfung.  Die  schädigende  Wirkung  aller 
nicht  im  Nervensystem  selbst  gelegenen  körperlichen  Ursachen 
des  Irreseins  lässt  sich,  wie  ich  glaube,  unter  zwei  allgemeine 
Gesichtspunkte  unterordnen,  diejenigen  der  Vergiftung  und  der 
Erschöpfung.  In  die  erste  Gruppe  von  Krankheitserzeugern  ge- 
hören alle  jene  Umwälzungen  der  Lebensvorgänge,  bei  denen 
irgendwelche  Stoffe  in  das  Blut  und  damit  auch  in  das  Nerven- 
gewebe eindringen,  die  unmittelbar  zerstörend  auf  dieses  letztere 
einwirken.  Mit  solchen  Vergiftungen  haben  wir  es  zu  tun  bei 
allen  Infektionskrankheiten,  bei  den  Blutentmischungen,  bei  der 
Einfuhr  nicht  organisierter  Gifte.  Grundsätzliche  Unterschiede  zwi- 
schen diesen  einzelnen  Vorgängen  dürften  kaum  bestehen,  nach- 
dem es  wahrscheinlich  geworden  ist,  dass  wir  die  W irkung  der 
Infektion  in  letzter  Linie  auf  die  giftigen  Erzeugnisse  der  Krank- 
heitserreger zurückzuführen  haben. 


*)  v.  Frankl-Hochwart,  Jahrbücher  f.  Psychiatrie,  IX,  1 n.  2, 
1889;  Löwy,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LII,  166. 


Vergiftung  und  Erschöpfung. 


37 


Die  psychischen  Erscheinungen  der  Vergiftung  hängen  einmal 
von  der  Art  des  Giftes,  dann  aber  auch  von  der  Schnelligkeit  ab, 
mit  der  es  seine  Wirkung  entfaltet.  Alle  rasch  eintretenden  Ver- 
giftungen des  Gehirns  pflegen  sich  in  Zuständen  deliriöser  Ver- 
wirrtheit mit  mehr  oder  weniger  lebhaften  Sinnestäuschungen 
und  vielfach  auch  mit  Aufregung  zu  äussern,  während  bei  lang- 
samer Zerstörung  durch  das  Gift  mehr  die  Zeichen  der  psychi- 
schen Lähmung  in  den  Vordergrund  treten.  Natürlich  wird  das 
klinische  Bild  im  einzelnen  sehr  wesentlich  durch  die  besonderen 
Eigenschaften  des  Giftes  bestimmt.  Nach  den  bisher,  nament- 
lich von  N i s s 1 , angestellten  Versuchen  ist  es  durchaus  wahr- 
scheinlich, dass  jedem  Gifte  ein  eigentümlicher  Erkrankungsvor- 
gang im  Nervengewebe  entspricht,  dessen  besondere  Kennzeichen 
wir  bei  subakuter  maximaler  Vergiftung  auch  anatomisch  unter- 
scheiden können,  während  bei  sehr  akuter  oder  chronischer  Ver- 
giftung sich  wenigstens  die  Nervenzellenveränderungen  noch  nicht 
auseinanderhalten  lassen.  Auch  die  Untersuchung  der  psychischen 
Giftwirkungen,  soweit  sie  bis  jetzt  genauer  durchgeführt  wurde, 
hat  uns  für  jedes  Gift  eine  besondere  Verteilung  der  Wirkung 
auf  die  verschiedenen  Gebiete  des  Seelenlebens  kennen  ge- 
lehrt. Ebenso  sind  wir  endlich  klinisch  imstande,  in  zahlreichen 
Fällen  die  Natur  der  Vergiftung  aus  ihren  Zeichen  zu  er- 
kennen. Freilich  ist  bei  den  selteneren  Formen,  bei  den  meis- 
ten Selbstvergiftungen  und  bei  manchen  sehr  schleichend  ver- 
laufenden Giftwirkungen  ein  bündiger  Rückschluss  aus  den 
psychischen  Erscheinungen  auf  die  Krankheitsursache  heute 
noch  nicht  möglich. 

Als  Erschöpfung  bezeichnen  wir  die  Zerstörung  der  körper- 
lichen Träger  unseres  Seelenlebens  infolge  zu  starken  Verbrauches 
oder  ungenügenden  Ersatzes.  Während  wir  uns  die  Ermüdung 
lediglich  durch  die  Anhäufung  lähmend  wirkender  Zerfallsstoffe 
im  Blute  zu  erklären  pflegen,  würde  die  Erschöpfung  dann  be- 
ginnen, wenn  der  Verbrauch  im  Nervengewebe  den  Ersatz  bis 
zur  dauernden  Gefährdung  des  Bestandes  überschreitet.  Die  Er- 
müdung wäre  eine  Narkose,  die  wir  zu  Zwecken  der  Behandlung 
auch  wohl  durch  andere  ähnliche  Narkosen  ersetzen  können;  die 
Erschöpfung  dagegen  ist  der  erste  Schritt  zu  einer  Selbstver- 
nichtung des  Nervensystems  durch  die  eigene  Tätigkeit.  Die  Er- 


38 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


müdung  führt  zum  Schlafe;  sie  ist  eine  Axt  Selbstschutz  gegen 
den  Eintritt  der  Erschöpfung. 

Im  Schlafe  werden  die  Ermüdungsstoffe  aus  den  Geweben 
herausgeschafft  und  unschädlich  gemacht;  ausserdem  wird  der 
Verbrauch  herabgesetzt.  Der  Ersatz  des  Verbrauchten  dagegen 
kann  nur  durch  die  Nahrungsaufnahme  geschehen.  So  wenig  wir 
durch  Sparsamkeit  allein  ohne  Einnahmen  ein  Vermögen  in  seinem 
Bestände  erhalten  können,  so  wenig  vermag  der  Schlaf  uns  die 
verbrauchten  Kräfte  zu  ersetzen.  Als  die  eigentliche  Ursache  der 
Erschöpfung  haben  wir  daher  die  mangelhafte  Ernährung  zu 
betrachten.  Freilich  tritt  das  Missverhältnis  zwischen  Verbrauch 
und  Ersatz  natürlich  um  so  rascher  hervor,  je  flotter  verbraucht, 
je  weniger  gespart  wird.  So  kommt  es,  dass  die  drohende  Er- 
schöpfung durch  äusserste  Ruhe  lange  Zeit  hindurch  verhütet 
werden  kann,  und  dass  die  Gefahr  ihres  Eintretens  bei  gleich- 
zeitiger Nahrungsverweigerung,  Unruhe  und  Schlaflosigkeit  ganz 
ausserordentlich  gross  wird.  Im  einzelnen  Falle  kann  die  Er- 
schöpfung auf  sehr  verschiedene  Weise  zu  stände  kommen. 
Rascher  Verbrauch  durch  angestrengte  Arbeit,  Fieber,  Blutver- 
luste, ungenügendes  Sparen  infolge  von  Schlafstörungen,  endlich 
Fehlen  des  Ersatzes  durch  die  Nahrung  sind  die  drei  Haupt- 
ursachen, welche  auf  die  Entstehung  der  Erschöpfung  hinarbeiten. 
Beim  Hungern  und  namentlich  bei  der  weit  wirksameren  Ent- 
ziehung des  Schlafes  sind  an  den  Nervenzellen  auch  von  verschie- 
denen Forschern  Veränderungen  beschrieben  worden,  die  je- 
doch nichts  Eigenartiges  zu  haben  scheinen*);  Daddi  fand  sie 
bei  künstlich  erzeugter  Schlaflosigkeit  besonders  im  Stirnlappen. 

Es  muss  vor  der  Hand  noch  dahingestellt  bleiben,  ob  die 
psychischen  Wirkungen  aller  dieser  Ursachen  die  gleichen  sind. 
Den  Einfluss  des  Hungerns  mit  und  ohne  gleichzeitiges  Dursten 
hat  Weygandt**)  näher  untersucht.  Er  kam  zu  dem  Ergeb- 
nisse, dass  die  Entziehung  der  Nahrung,  namentlich  ohne  Flüssig- 
keitsaufnahme, die  geistige  Arbeit  des  Rechnens  und  Lernens 
deutlich  erschwert,  die  Ablenkbarkeit  steigert  und  den  Gedanken- 


*)  Agostini,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XXIV,  1.  189S; 
Daddi,  Rivista  di  patologia  nerv,  e mentale,  III,  1898. 

**)  Weygandt,  Psychologische  Arbeiten,  IV,  45. 


Vergiftung  und  Erschöpfung. 


39 


gang  durch  die  Begünstigung  von  äusseren  und  Klangassociationen 
verflacht,  ohne  anscheinend  die  Wahrnehmung  erheblicher  zu 
beeinflussen.  Andererseits  stellte  Aschaffen  bürg  an  mehre- 
ren Personen  fest,  welche  Veränderungen  die  Art  und  Dauer 
gewisser  psychischer  Leistungen  im  Verlaufe  einer  ohne  Nahrungs- 
aufnahme durcharbeiteten  Nacht  erfuhren.  Dabei  ergab  sich 
eine  allgemeine  Abnahme  der  geistigen  Leistungsfähigkeit, 
Erschwerung  der  Wahrnehmung  mit  gleichzeitigem  Auftreten 
selbständiger  Sinneserregungen,  Verlangsamung  des  Gedanken- 
ganges, Entstehen  ideenflüchtiger  Vorstellungsverbindungen*), 
endlich  erleichterte  Auslösung  von  Bewegungsantrieben.  Ganz 
dieselben  Grundstörungen  finden  wir  nun  interessanterweise  bei 
derjenigen  Form  des  Irreseins  wieder,  welche  wir  nach  ihren  Ent- 
stehungsbedingungen besonders  als  Erschöpfungspsychose  aufzu- 
fassen berechtigt  sind,  beim  Collapsdelirium.  Patrick  und 
Gilbert**),  die  drei  Personen  neunzig  Stunden  lang  wachen 
Hessen,  fanden  Abnahme  der  Muskelkraft,  Verlangsamung  der 
psychischen  Zeit,  eine  sehr  starke  Störung  der  Aufmerksamkeit 
und  der  Merkfähigkeit,  dagegen  Zunahme  der  Sehschärfe  und 
Auftreten  massenhafter  einfacher  Gesichtstäuschungen.  Ganz 
ähnliche  Beobachtungen  wurden  bei  unsinnigem,  sechs  Tage  und 
Nächte  hindurch  fortgesetzten  Radrennen  in  New-York  gemacht. 

Weniger  klare  Vorstellungen  vermögen  wir  uns  von  den 
Wirkungen  der  chronischen  Erschöpfung  zu  machen,  wie  sie 
durch  dauernd  ungenügende  Ernährung  bei  schwerer  Arbeit  er- 
zeugt und  durch  Schlafmangel,  schlechte  hygienische  Verhält- 
nisse, durch  Kummer  und  Sorge  begünstigt  wird.  Wir  können 
kaum  zweifeln,  dass  alle  diese  Ursachen  in  der  Entstehungsge- 
schichte des  Irreseins  eine  gewichtige  Rolle  spielen,  allein  wir 
sind  zur  Zeit  ausser  stände,  ihren  Einfluss  im  einzelnen  abzu- 
wägen oder  in  bestimmten  Krankheitszeichen  wiederzuerkennen. 
Nur  darauf  dürfen  wir  vielleicht  hinweisen,  dass  sich  nach  Aus- 
weis von  Versuchen  die  durch  Hungern  und  Schlaflosigkeit  er- 
zeugten psychischen  Störungen  erst  allmählich  wieder  ausgleichen. 
So  Hess  sich  die  Wirkung  einer  durcharbeiteten  Nacht  noch  bis 


*)  Aschaffenburg,  Psychologische  Arbeiten,  II,  1. 

**)  Patrick  and  Gilbert,  Psychological  Review,  Sept.  1896. 


40 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


zum  vierten  folgenden  Tage  in  einer  abnehmenden  Herabsetzung 
der  Arbeitsfähigkeit  erkennen.  Vom  klinischen  Standpunkte 
müssen  wir  daher  annehmen,  dass  die  chronische  Erschöpfung 
einen  rascheren  Verbrauch  des  Nervengewebes  bedingt  und  damit 
vielleicht  die  wichtigste  Ursache  für  das  vorzeitige  Eintreten 
der  Rückbildungserscheinungen  und  weiterhin  der  Greisenver- 
änderungen  darstellt.  Ausserdem  aber  bewirkt  sie  wohl  sicher 
eine  Herabsetzung  der  allgemeinen  Widerstandsfähigkeit  des 
Körpers  und  begünstigt  auf  diese  Weise  die  Entwicklung  von 
Störungen,  welche  ohne  ihre  Mitwirkung  vielleicht  nicht  zu  stände 
gekommen  wären. 

Infektionskrankheiten*).  Die  soeben  gewonnenen  Gesichts- 
punkte werden  uns  das  Verständnis  für  eine  ganze  Reihe  von 
Schädlichkeiten  eröffnen,  denen  man  im  einzelnen  ursächliche  Be- 
deutung für  die  Entstehung  des  Irreseins  zugeschrieben  hat.  So 
haben  wir  bei  den  Infektionskrankheiten  ohne  Zweifel  zunächst 
mit  Giftwirkungen  zu  rechnen,  welche  teils  unmittelbar  die 
Hirnrinde  angreifen,  teils  durch  Erzeugung  allgemeinerer  Krank- 
heitserscheinungen (Fieber)  oder  durch  Vermittlung  von  Organ- 
erkrankungen das  Seelenleben  beeinflussen.  Im  einzelnen  ge- 
staltet sich  natürlich  dieser  Zusammenhang  ausserordentlich  ver- 
schieden, je  nach  der  besonderen  Beschaffenheit  des  Krankheits- 
giftes und  der  Art  seiner  Verteilung  im  Körper.  Am  wichtigsten 
sind  von  diesen  Krankheiten  für  die  Entstehung  psychischer  Stö- 
rungen Typhus  **),  akuter  Gelenkrheumatismus, 
Pneumonie,  akute  Exantheme,  Kopf  rose,  Influ- 
enza ***),  Wechselfieber  und  Cholera. 

Eine  unmittelbare  Einwirkung  der  betreffenden  Krankheits- 
gifte auf  das  Gehirn  ist  sichergestellt  bisher  nur  für  den  Typhus, 
die  Pocken  und  das  Wechselfieber,  vielleicht  auch  die  Influenza, 
weil  nur  bei  ihnen  unzweifelhafte  Beobachtungen  psychischer 

*)  K r a e p e 1 i n , Archiv  f.  Psychiatrie,  Bd.  XI  und  XII;  Adler,  Allgem. 
Zeitsclir.  f.  Psychiatrie,  LIII,  740. 

Friedländer,  Über  den  Einfluss  des  Typhus  auf  das  Nerven- 
system. 1901. 

***)  Jutrosinski,  Influenzapsychosen,  Dissertation,  1S90;  Kirn, 
Volkmanns  klin.  Vorträge,  Neue  Folge,  XIII,  1890;  Fahr,  Influenza  som 
aarsag  til  sindssygdom.  1898;  Klemm,  Psychosen  im  ätiologischen  Zusammen- 
hang mit  Influenza.  Diss.  1901. 


Infektionskrankheiten. 


41 


Störung  während  des  fieberlosen  oder  doch  sehr  gering  fieber- 
haften Verlaufes  (im  Vorläuferstadium)  vorliegen,  bevor  andere 
Ursachen  haben  zur  Entwicklung  gelangen  können.  Beim  Gelenk- 
rheumatismus kommt  aber,  wenn  auch  selten,  eine  Lokalisation 
des  Giftes  in  den  Hirnhäuten  vor,  die  dann  natürlich  ebenfalls 
psychische  Reizungs-  und  Lähmungserscheinungen  hervorruft. 
Für  den  Typhus  sind  tiefgreifende  Veränderungen  in  der  Hirnrinde 
wiederholt  nachgewiesen  worden. 

Während  des  fieberhaften  Verlaufes  der  akuten  Infek- 
tionskrankheiten könnte  zunächst  die  Steigerung  der  Körper- 
wärme, dann  aber  möglicherweise  auch  die  Kreislaufsbeschleuni- 
nigung  in  der  Schädelhöhle  als  wirksame  Ursache  in  Betracht 
kommen.  Sehr  häufig  sieht  man  wenigstens  die  „Delirien“ 
dem  Gange  der  Eigenwärme  parallel  gehen,  ein  Verhalten, 
welches  sich  namentlich  deutlich  bei  dem  regelmässigen 
Verlaufe  der  Typhuskurve  herauszustellen  pflegt.  Eine  Schädi- 
gung der  Nervenzellen  durch  Erwärmung,  die  freilich  schwerlich 
als  eigenartig  angesehen  werden  darf,  ist  von  Goldscheider 
und  Fla  tau  wie  von  Lugaro  festgestellt  worden.  Es  ist  in- 
dessen zu  berücksichtigen,  dass  die  fieberhafte  Steigerung  der 
Eigenwärme  schliesslich  doch  nur-  als  Zeichen  einer  stärkeren 
Giftzufuhr  in  die  Blutbahn  angesehen  werden  muss.  Am  wahr- 
scheinlichsten ist  wohl,  dass  auch  im  Fieber  Giftwirkungen 
die  Hauptrolle  spielen.  So  würde  es  sich  auch  am  einfachsten 
erklären,  dass  bei  manchen  anderen  Leiden,  z.  B.  bei  der  Tuber- 
kulose, lange  dauernde,  beträchtliche  Temperatursteigerungen  ver- 
hältnismässig selten  mit  psychischen  Störungen  einhergehen. 

Eine  gewisse  Rolle  für  die  Entstehung  der  Delirien  bei  In- 
fektionskrankheiten spielt  endlich  zweifellos  der  Zustand  der  Kreis- 
lauf sorgane,  vielleicht  auch  der  Lungen,  da  wir  jene  Störungen 
nicht  nur  verhältnismässig  häufig  bei  begleitenden  Herzerkran- 
kungen (Gelenkrheumatismus),  sondern  bei  den  verschiedensten 
Formen  der  Herzschwäche,  sogar  neben  kaum  fieberhaften  Tem- 
peraturen auftreten  sehen  (Septicämie).  Wir  dürfen  vielleicht 
annehmen,  dass  die  Kreislaufsstörungen  dem  Körper  die  Vernich- 
tung und  Überwindung  der  kreisenden  Krankheitsgifte  wesent- 
lich erschweren.  Wie  viel  gerade  bei  den  so  leicht  delirierenden 
Säufern  auf  die  Herzschwäche  und  die  Gefässerkrankungen,  wie- 


42 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


viel  auf  die  dauernden  Veränderungen  in  der  Hirnrinde  zurück- 
zuführen ist,  lässt  sich  schwer  sagen;  wahrscheinlich  ist  das 
Verhältnis  in  den  einzelnen  Fällen  ein  sehr  verschiedenes,  wie 
sich  auch  klinisch  alle  Übergangsformen  vom  ausgeprägten  De- 
lirium tremens  bis  zum  gewöhnlichen  Fieberdelirium  hier  be- 
obachten lassen. 

Das  später  genauer  zu  zeichnende  Bild  der  Fieberdelirien 
setzt  sich  im  allgemeinen  aus  den  Erscheinungen  der  Hirn- 
reizung und  der  Lähmung  zusammen,  die  sich  in  der  verschieden- 
artigsten Weise  miteinander  verbinden  können  und  in  den  schwer- 
sten Graden,  bei  denen  sich  wohl  immer  auch  tiefgreifende  Kreis- 
laufsstörungen  entwickeln,  endlich  in  völlige  Lähmung  der  Hirn- 
rinde, in  Zustände  von  Schlafsucht  und  Ohnmacht  übergehen. 

Der  Wirkungsweise  einiger  der  genannten  Infektionskrank- 
heiten in  mancher  Beziehung  verwandt  ist  diejenige  der  Lyssa, 
insofern  es  sich  auch  hier  wohl  um  eine  unmittelbare  A ergiftung 
der  Hirnrinde  handelt.  Emminghaus*)  führt  als  einleitende 
Symptome  traurige  Verstimmung  und  Ängstlichkeit  an;  auf  der 
Höhe  der  Erkrankung  wechseln  die  Erscheinungen  höchster  psy- 
chischer Erregung,  heftige  Delirien,  Sinnestäuschungen,  Gewalt- 
taten mit  vorübergehender  völliger  Klarheit  des  Bewusstseins 
ab,  bis  endlich  mit  dem  Eintritte  psychischer  Lähmung  das  Lei- 
den abschliesst. 

Wesentlich  anders  dagegen,  als  bei  den  Fieberdelirien, 
gestaltet  sich  wahrscheinlich  der  Zusammenhang  zwischen  Ur- 
sache und  Wirkung  bei  jenen  eigenartigen  Geistesstörungen,  die 
sich  nicht  auf  der  Höhe,  sondern  nach  dem  Ablaufe  akuter 
Infektionskrankheiten  entwickeln.  Allerdings  muss  man  auch  hier 
wohl  vor  allem  an  die  giftigen  Nachwirkungen  der  infektiösen 
Krankheitsursache  denken,  entsprechend  etwa  den  neuritischen 
Erkrankungen,  welche  sich  an  Pocken,  Typhus,  Influenza  und 
namentlich  an  Diphtherie  so  häufig  anschliessen.  Am  deutlichsten 
wird  das  bei  den  schweren,  oft  unheilbaren,  nach  Typhus,  Pocken 
und  Intermittens  beobachteten  geistigen  Schwächezuständen,  die 
mit  den  Zeichen  gröberer  Erkrankungen  des  Hirns,  Rückenmarks 
oder  der  Nerven  einhergehen.  Bei  anderen,  günstiger  und  rascher 


*)  Archiv  der  Heilkunde  XV,  239;  Allgr.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXI,  5. 


Infektionskrankheiten. 


43 


verlaufenden  Formen  dürfte  auch  noch  die  durch  schwere  und  an- 
dauernde Fieberzustände  und  verschiedenartige  Begleiterkran- 
kungen bedingte  Erschöpfung  des  gesamten  Körpers  eine 
ursächliche  Rolle  spielen.  Nach  Typhus  und  Gelenkrheumatismus 
pflegen  derartige  Erkrankungen  sich  allmählich  zu  entwickeln 
und  wieder  auszugleichen.  Dagegen  sehen  wir,  namentlich  bei 
der  Lungenentzündung,  aber  auch  nach  akuten  Exanthemen,  Ery- 
sipel, Influenza  (Influenzapneumonie!),  schweren  Anginen,  die 
psychische  Störung  sich  vielfach  unmittelbar  an  einen  plötzlichen 
Abfall  der  Körperwärme  und  der  Pulsgeschwindigkeit  anschliessen 
und  dann  meist  nach  kurzer  Zeit  wieder  schwinden.  Im  all- 
gemeinen kommt  übrigens  der  krankhaften  Veranlagung  bei  der 
Entstehung  der  Erschöpfungspsychosen  eine  weit  grössere  Bedeu- 
tung zu,  als  bei  den  Fieberdelirien.  Offenbar  sind  die  Erkrankungs- 
ursachen im  letzteren  Falle  viel  mächtigere;  sie  überwältigen  ohne 
viel  Unterschied  auch  ein  kräftiges  Nervensystem,  während  dort 
vorzugsweise  die  weniger  widerstandsfähigen  Persönlichkeiten  den 
krankmachenden  Einflüssen  unterliegen. 

Bis  zu  einem  gewissen  Grade  spiegelt  sich  dieser  Unterschied 
der  ursächlichen  Bedingungen  auch  in  dem  klinischen  Bilde  der 
Psychosen  nach  akuten  Krankheiten  wieder.  Während  die  Fieber- 
delirien in  der  Plauptsache  überall  die  gleichen  Erscheinungs- 
formen zeigen,  sehen  wir  hier,  wo  die  persönliche  Anlage  stärker 
hervortritt,  die  einzelnen  Krankheitsbilder  sich  weit  verschieden- 
artiger und  selbständiger  entwickeln.  Dies  gilt  natürlich  nicht 
für  die  mit  schweren  Rindenerkrankungen  (Schwellung  und  Zer- 
fall der  Ganglienzellen,  Pigmentembolien,  entzündliche  Infiltration) 
einhergehenden  Psychosen,  welche  einfach  eine  mehr  oder  weniger 
ausgesprochene  allgemeine  Abnahme  der  psychischen  Leistungen, 
das  Bild  des  Schwachsinns  bis  zum  tiefsten  Blödsinn  darbieten. 

Wo  die  krankmachende  Ursache  mit  plötzlichem  Sinken  der 
Eigenwärme  und  der  Pulszahl  hereinbricht,  entstehen  unvermittelt 
rasch  verlaufende  Collapsdelirien  mit  Sinnestäuschungen,  völliger 
Verwirrtheit,  Ideenflucht  und  Aufregungszuständen.  In  anderen 
Fällen  verschwinden  die  Fieberdelirien  mit  dem  Eintritte  der 
körperlichen  Besserung  nicht,  sondern  spinnen  sich,  wenn  auch 
in  veränderter  Form,  noch  einige  Zeit  hindurch  fort.  Es  hat 
dabei  den  Anschein,  als  ob  das  geschwächte  Gehirn  nicht  so  rasch 


44 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


die  auf  der  Höhe  der  Krankheit  entstandenen  Störungen  aus- 
gleichen  könne.  Auch  hier  liegt  natürlich  der  Verdacht  akuter, 
sich  wieder  zurückbildender  Zellveränderungen  sehr  nahe.  Die- 
jenigen Formen,  die  sich  erst  in  der  Genesungszeit  entwickeln, 
schliessen  sich  öfters  an  eine  mehr  zufällige  Schädlichkeit,  na- 
mentlich an  Gemütsbewegungen  an.  Sie  tragen  die  Züge  der  Ver- 
wirrtheit mit  Sinnestäuschungen,  Wahnbildungen  und  ängstlicher 
oder  heiterer  Verstimmung.  Von  ihnen  führen  Übergänge  all- 
mählich hinüber  zu  der  gewöhnlichen  reizbaren  Schwäche  der 
Genesenden  nach  einer  schweren  fieberhaften  Krankheit. 

In  einer  grossen  Anzahl  von  Fällen  handelt  es  sich  bei  den 
Geistesstörungen  nach  körperlichen  Krankheiten  um  solche  For- 
men des  Irreseins,  die  in  Wirklichkeit  aus  ganz  anderen  Ursachen 
entstehen.  Die  akute  Schädigung  gibt  hier  nur  den  letzten  An- 
stoss  zur  Entwicklung  des  schon  mehr  oder  weniger  weit 
vorbereiteten  Deidens.  Das  ist  der  Fall  bei  den  verschiedenen 
Formen  des  manisch-depressiven  Irreseins  und  der  Katatonie,  bei 
der  Melancholie,  den  senilen  Delirien,  bisweilen  auch  bei  paraly- 
tischen Erkrankungen.  Gewöhnlich  ist  hier  auch  der  zeitliche 
Zusammenhang  zwischen  akuter  Krankheit  und  Irresein  ein  ziem- 
lich lockerer.  In  einzelnen  Fällen  beginnt  die  Psychose  bei  dem 
wTenig  widerstandsfähigen  Rekonvaleszenten  erst  Wochen  oder 
gar  Monate  nach  dem  Ab  laufe  der  hier  eigentlich  nur  noch  vor- 
bereitenden Erkrankung,  ja  es  scheint,  dass  namentlich  nach 
Typhus  unter  Umständen  selbst  jahrelang  eine  reizbare  Schwäche 
Zurückbleiben  kann,  welche  der  Entwicklung  späterer  Geistes- 
störungen Vorschub  leistet. 

Nach  ähnlichen  Gesichtspunkten  darf  vielleicht  zum  Teil  die 
ursächliche  Bedeutung  mancher  chronischer  Infektions- 
krankheiten beurteilt  werden.  Namentlich  sind  hier  vielfach 
die  Bedingungen  zur  Entstehung  von  Erschöpfungszuständen  ver- 
wirklicht. Herabsetzung  der  Arbeitsfähigkeit,  grosse  Ermüdbar- 
keit, andererseits  Reizbarkeit,  Stimmungswechsel,  endlich  ein 
Gemisch  von  Wankelmütigkeit  und  Eigensinn  sind  so  häufige  Be- 
gleiterscheinungen solcher  Leiden,  dass  sie  gar  nicht  als  eigent- 
liche psychische  Störungen  aufgefasst  zu  werden  pflegen.  An- 
dererseits spielen  unter  Umständen  wohl  auch  die  Krankheitsgifte 
selbst  eine  gewisse  Rolle. 


Infektionskrankheiten. 


45 


Bei  der  Tuberkulose* **))  kommt  es  hie  und  da  zu  akuten 
Geistesstörungen  mit  Verwirrtheit,  Sinnestäuschungen,  Wahnbil- 
dungen, misstrauischer  oder  heiterer  Stimmung,  Schlaflosig- 
keit und  Erregung,  die  den  infektiösen  Schwächezuständen  nach 
Typhus  oder  Gelenkrheumatismus  sehr  ähnlich  sind.  Bei  der  ge- 
ringen Häufigkeit  der  phthisischen  Geistesstörungen  müssen  in 
solchen  Fällen  wohl  noch  besondere  Bedingungen  mitwirken,  unter 
denen  die  psychopathische  Veranlagung  sicherlich  eine  wichtige 
Rolle  spielt.  In  anderen  Fällen  sehen  wir  den  Alkoholismus  dem 
Krankheitsbilde  seine  bestimmte  Färbung  geben,  und  endlich 
können  natürlich  gelegentlich  auch  meningitische  Prozesse  den 
psychischen  (und  nervösen)  Reizerscheinungen  zu  Grunde  liegen. 

Im  Verlaufe  der  Lepra,  die  ja  unzweifelhaft  das  Nerven- 
system häufig  in  Mitleidenschaft  zieht,  sollen  Depressionszustände 
mit  Schlaflosigkeit  und  starker  Selbstmordneigung  Vorkommen. 
Genaueres  ist  jedoch  darüber  noch  nicht  bekannt. 

Dagegen  spielt  die  Syphilis*)  bei  der  Erzeugung  von  Gei- 
stesstörungen verschiedenster  Art  eine  ganz  hervorragende  Rolle. 
Kowalewsky  betrachtet  als  die  körperliche  Grundlage  der 
syphilitischen  Psychosen  im  ersten  Abschnitte  des  Leidens  die 
Blutveränderungen,  die  in  einer  Abnahme  der  roten  Blutkörper- 
chen und  ihres  Farbstoffgehaltes  sowie  in  einer  Zunahme  der 
weissen  Blutkörperchen  bestehen  und  zur  Zeit  des  Ausschlags 
ihre  grösste  Entwicklung  erreicht  haben.  Späterhin  kommt  es 
dann  zu  den  von  Heubner  vor  allem  beschriebenen  Gefäss- 
erkrankungen  und  endlich  zu  unmittelbaren  Schädigungen  des 
Nervengewebes  durch  das  im  Blute  kreisende  Syphilisgift.  Ausser- 
dem sollen  in  manchen  Fällen  Blutveränderungen  durch  übertriebene 
Quecksilberbehandlung,  in  anderen  noch  die  gemütlichen  Erschüt- 
terungen durch  die  Aussicht  auf  die  möglichen  Folgen  der  An- 
steckung als  krankmachende  Umstände  in  Betracht  kommen; 


*)  Heinzeimann,  Münchner  Medizin.  Wochenschr.  1894,  5;  Char- 
t i e r , de  la  phthisie  et  en  particulier  de  la  phthisie  latente  dans  ses  rapports 
avec  les  psychoses.  These,  Paris.  1899. 

**)  Heubner,  v.  Ziemssens  Handbuch,  Bd.  XI,  1;  Rumpf,  Die 
syphilitischen  Erkrankungen  des  Nervensystems.  1887;  Kowalewsky, 
Archiv  f.  Psych.,  XXVI,  2;  J o 1 1 y , Berliner  klinische  Wochenschr.  1901,  1. 


46 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


natürlich  haben  die  so  erzeugten  Krankheitszeichen  zur  Syphilis 
selbst  keinerlei  Beziehung  mehr. 

Den  klinischen  Ausdruck  aller  dieser  luetischen  Krankheits- 
vorgänge bilden  Zustände,  die  man  zunächst  unter  der  Bezeich- 
nung der  syphilitischen  Neurasthenie,  Hypochondrie  oder  Hysterie 
zusammenzufassen  pflegt.  Schon  zur  Zeit  des  ersten  Ausschlags 
sollen  derartige  Krankheitsbilder  hervortreten  können,  um  sich 
nach  dem  Schwinden  desselben  oder  unter  dem  Einflüsse  der 
Quecksilberbehandlung  rasch  wieder  zu  verlieren.  Im  weiteren 
Verlaufe  deuten  manche  Begleiterscheinungen,  starke  Kopf- 
schmerzen, Schwindelanfälle,  leichte,  flüchtige  Sprachstörungen 
oder  Lähmungen,  Doppeltsehen,  halbseitige  Empfindungsstö- 
rungen, vielleicht  auch  einmal  eine  Ohnmacht  oder  ein  epilep- 
tischer Anfall  neben  den  Zeichen  von  Zerstreutheit,  Versagen  des 
Gedächtnisses,  Reizbarkeit,  Ermüdbarkeit,  Arbeitsunlust,  Nieder- 
geschlagenheit und  Willensschwäche  vielfach  schon  auf  ein  ern- 
steres Leiden  hin,  dem  vielleicht  die  allmähliche  Entwicklung 
der  Gefässerkrankungen  zu  Grunde  liegt.  Wo  ausgeprägte  hyste- 
rische Erscheinungen  hervortreten,  haben  wir  uns  wohl  vorzu- 
stellen, dass,  ähnlich  wie  bei  anderen  Hirnerkrankungen,  die  un- 
mittelbaren körperlichen  Veränderungen  durch  Vermittlung 
gefühlsstarker  Vorstellungen  Störungen  herbeiführen,  die 
mehr  oder  weniger  weit  über  den  Rahmen  jener  brsteren 
hinausgreifen. 

Die  Fortentwicklung  dieser  Krankheitsbilder  führt,  wenn  sie 
nicht  durch  die  Behandlung  unterbrochen  wird,  zu  geistigen 
Schwächezuständen.  Gedächtnis  und  Merkfähigkeit  nehmen  ab, 
das  Urteil  wird  schwach;  die  Fähigkeit  zu  planmässiger,  geord- 
neter Tätigkeit  geht  verloren.  Zugleich  können  sich  nun  eine 
Reihe  von  ausgeprägten  psychischen  Krankheitszeichen  einstellen, 
reizbares,  nörgelndes  Wesen,  Wahnbildungen,  meist  flüchtiger, 
aber  oft  ganz  abenteuerlicher  Art,  Sinnestäuschungen,  heitere 
oder  misstrauisch-gereizte  Stimmung,  Erregung,  Prahlsucht,  A er- 
schwendungssucht.  Schliesslich  können  die  Kranken  vollkommen 
verblöden.  In  der  Regel  ist  aber  diese  Entwicklung  von  den  deut- 
lichen Zeichen  eines  schweren  Hirnleidens  begleitet,  namentlich 
von  halbseitigen  Lähmungen,  Schlaganfällen  mit  oder  ohne  nach- 
bleibende Opticusatrophie,  Augenmuskellähmungen,  apliasischen 


Infektionskrankheiten. 


47 


Störungen  und  ähnl.  Ihnen  entsprechen  vielfach  umschriebene 
gummöse  oder  meningo-encephalitische  Erkrankungen. 

Von  ungleich  grösserer  Bedeutung  aber,  als  alle  diese  im 
engeren  Sinne  syphilitischen  Geistesstörungen,  ist  die  progressive 
Paralyse,  die  wir  ebenfalls  Ursache  haben,  wesentlich  oder  aus- 
schliesslich auf  eine  vorangegangene  luetische  Erkrankung  zu- 
rückzuführen. Bei  dem  heutigen  Stande  der  Frage  halte  ich  es 
für  das  bei  weitem  Wahrscheinlichste,  dass  in  der  Tat  alle  die- 
jenigen Fälle,  denen  eine  Syphilis  zu  Grunde  liegt,  eine  einheit- 
liche ätiologische,  klinische  und  pathologisch-anatomische  Gruppe 
bilden,  der  ein  ganz  bestimmter  Krankheitsvorgang  entspricht. 
Allerdings  sind  wir  heute  im  Leben  noch  nicht  immer  imstande, 
diese  Fälle  mit  Sicherheit  von  denjenigen  zu  unterscheiden,  die 
anderen  Ursprunges  sind.  Es  zeigt  sich  eben,  dass  einerseits  die 
Fälle  mit  gleichem  Leichenbefunde  sehr  verschiedene  klinische 
Bilder  darbieten  können,  während  es  uns  auf  der  anderen  Seite 
öfters  unmöglich  ist,  aus  den  Krankheitszeichen  auf  einen  be- 
stimmten pathologischen  Vorgang  zu  schliessen.  Die  Kennzeichen, 
nach  denen  wir  im  Leben  gruppieren,  entsprechen  nicht  den- 
jenigen der  pathologischen  Anatomie.  In  der  vorliegenden  Frage 
aber  scheint  es,  dass  die  letzteren  bereits  die  zuverlässigeren  sind. 

Leider  vermögen  wir  uns  über  die  Art  des  Zusammenhanges 
zwischen  Syphilis  und  Paralyse  noch  keine  genauere  Vorstellung 
zu  machen.  Nur  soviel  steht  fest,  dass  die  Paralyse  der  syphili- 
tischen Ansteckung  gewöhnlich  erst  nach  einer  längeren  Reihe 
von  Jahren  folgt,  dass  sie  durch  die  antiluetischen  Kuren  nicht 
günstig  beeinflusst,  geschweige  denn  geheilt  wird,  und  dass  sie 
daher  nicht  geradezu  als  syphilitische  Hirnerkrankung  im  engeren 
Sinne  auf  gefasst  werden  darf.  Möbius  hat  daher  hier  und  bei 
der  offenbar  sehr  nahe  verwandten  Tabes  von  einer  „Metasyphilis“ 
gesprochen.  Manche  Erfahrungen  scheinen  mir  darauf  hinzu- 
deuten, dass  es  sich  bei  der  Paralyse  nicht  um  eine  örtliche  Er- 
krankung handelt,  wie  bei  der  eigentlichen  Hirnsyphilis,  sondern 
dass  wir  es  mit  sehr  tiefgreifenden  und  allgemeinen  Störungen 
im  gesamten  Körper  zu  tun  haben.  Die  häufigen  Nieren-  und  Plerz- 
erkrankungen  wie  das  Aortenatherom  der  Paralytiker  zeugen  für 
eine  ausgebreitete  Beteiligung  der  Blutgefässe.  Ob  diese  letztere 
allein  dann  weiter  die  Brüchigkeit  der  Knochen  und  die  grosse 


48 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Neigung  zum  Druckbrand  bewirkt,  muss  zweifelhaft  bleiben.  Ich 
möchte  vielmehr  an  Veränderungen  im  Stoffwechsel  und  in  der 
Blutzusammensetzung  glauben.  Dafür  würden  auch  die  ganz 
ausserordentlichen  Schwankungen  in  dem  Ernährungszustände  der 
Kranken  wie  die  nicht  selten  beobachteten  andauernden  Tem- 
peratursenkungen sprechen,  die  wohl  zuverlässiger  auf  schwere 
Störungen  des  Allgemeinzustandes,  als  auf  örtliche  Beeinflus- 
sung der  Temperaturregulierungscentren  zurückgeführt  werden. 

Stoffwechselkrankheiten.  Vielleicht  eines  der  wichtigsten, 
sicher  aber  das  dunkelste  Gebiet  der  ganzen  psychiatrischen  Ur- 
sachenlehre ist  dasjenige  der  Stoffwechselerkrankungen.  Wir 
dürfen  ja  wohl  erwarten,  dass  jede  krankhafte  Änderung  im  Stoff- 
wechsel auch  die  Ernährung  des  Nervensystems  mehr  oder  weniger 
stark  in  Mitleidenschaft  ziehen  und  unter  Umständen  geradezu 
giftige  Stoffe  in  die  Blutbahn  gelangen  lassen  muss.  Dagegen 
wissen  wir  über  die  chemischen  Einzelheiten  dieser  V orgänge 
leider  noch  ungemein  wenig.  Es  liegen  allerdings  eine  Reihe 
von  Untersuchungen  über  die  Veränderungen  der  Ausscheidungen 
und  des  Blutes  bei  Geisteskranken  vor,  über  die  Giftigkeit  des 
Schweisses  und  Harns*),  über  die  Alkalescenz,  die  bakterien- 
tötenden und  giftigen  Eigenschaften  des  Blutes,  über  die  ,,Iso- 
tonie“**)  der  roten  Blutkörperchen,  ihre  Zahl,  ihren  Hämoglobin- 
gehalt, ihr  Verhältnis  zu  den  Leukocythen,  — aber  die  Ergebnisse 
aller  dieser  mühevollen  Erhebungen  sind  meist  so  unsicher  und 
vieldeutig,  dass  aus  ihnen  irgendwelche  zuverlässigen  Schlüsse 
über  das  Wesen  der  Krankheitsvorgänge  einstweilen  nicht  abge- 
leitet werden  können.  Abweichungen  von  dem  Verhalten  Ge- 
sunder sind  übrigens  vielfach  festgestellt  worden.  So  fanden 
Obici  und  Bonon,  dass  die  Widerstandsfähigkeit  roter  Blut- 
körperchen gegen  Kochsalzlösungen  besonders  stark  herabgesetzt 
war  in  der  Paralyse,  beim  pellagrösen  Irresein  und  in  den  ersten 
Stadien  der  Dementia  praecox,  also  in  Krankheitszuständen,  für 
welche  die  Annahme  von  Giften  im  Blute  besonders  nahe  liegt. 


*)  Cabitto,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXIII,  36;  Pellegrini, 
ebenda,  144;  Massaut,  Bull,  de  la  societd  de  mddic.  ment,  de  Belgique, 
Decembre  1895. 

**)  Abundo,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XVIII,  292;  Obici  e 
Bonon,  Annali  di  nevrologia,  XVIII,  5.  1900. 


Stoffwechselkrankheiten. 


49 


In  der  Regel  aber  ist  ein  gesetzmässiger  Zusammenhang 
zwischen  den  vorhandenen  Stoffwechselstörungen  und  den  Krank- 
heitsbildern gar  nicht  nachzuweisen.  Allerdings  liegt  eine  sehr 
grosse  Zahl  von  Beobachtungen  vor,  in  denen  die  Geistesstörung 
mit  dieser  oder  jener  Form  der  Selbstvergiftung  in  Beziehung 
gebracht  wird.  Verhältnismässig  selten  aber  enthalten  solche 
Vermutungen  mehr  als  blosse  Möglichkeiten.  Der  Grund  liegt 
hauptsächlich  in  dem  Umstande,  dass  die  Krankheitsbilder  selbst 
uns  heute  durchaus  noch,  keinen  Schluss  auf  eine  ursächliche 
Selbstvergiftung  erlauben.  Wir  sind  daher  meist  gar  nicht  im- 
stande, ein  zufälliges  Zusammentreffen  auszuschliessen;  höchstens 
lässt  sich  sagen,  dass  wahrscheinlich  irgend  eine  Vergiftung  oder 
Infektion  vorliegt.  Andererseits  lehrt  aber  das  Beispiel  einzelner 
Formen  psychischer  Störung,  die  wir  auf  Stoffwechselstörungen 
zurückzuführen  berechtigt  sind,  namentlich  dasjenige  des  Deli- 
rium tremens,  ganz  abgesehen  von  den  gewöhnlichen  Vergif- 
tungen, dass  dort,  wo  wirklich  eindeutige  Ursachen  vorhanden 
sind,  auch  die  klinischen  Bilder  ihre  ganz  ausgeprägte  Färbung 
erhalten.  Es  ist  daher  zu  hoffen,  dass  es  allmählich  gelingen 
wird,  für  diejenigen  Gruppen  des  Irreseins,  welche  bestimmten 
Stoffwechselvergiftungen  zu  Grunde  liegen,  auch  eigenartige 
klinische  Formen  aufzufinden,  die  ohne  weiteres  den  Rückschluss 
auf  die  Krankheitsursache  gestatten. 

Im  allgemeinen  wird  man  annehmen  dürfen,  dass  diejenigen 
Ernährungsstörungen,  die  wesentlich  eine  allgemeine  Verschlech- 
terung der  Blutbeschaffenheit  herbeiführen,  wie  etwa  die 
Chlorose,  die  Leukämie,  dauernde  Unterernährung,  wiederholte 
Blutverluste,  eine  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Abnahme 
der  gesamten  psychischen  Leistungen  erzeugen,  Herabsetzung 
der  geistigen  Arbeitsfähigkeit,  gesteigerte  Ermüdbarkeit,  Zer- 
streutheit, Vergesslichkeit,  gemütliche  Reizbarkeit  mit  vor- 
wiegend depressiver  Färbung,  Einbusse  an  Willensfestigkeit  und 
Tatkraft.  Diese  Störungen  sind  bei  schweren  körperlichen  All- 
gemeinleiden so  häufig,  dass  sie  gar  nicht  als  krankhaft  aufzu- 
fallen pflegen.  Sie  entsprechen  ungefähr  den  Zeichen  einer 
dauernden  Ermüdung,  die  wir  ja  gewöhnt  sind,  auf  die  un- 
genügende Beseitigung  und  Vernichtung  giftiger  Zerfallstoffe 
in  den  arbeitenden  Geweben  zurückzuführen. 


Kraepclin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl. 


4 


50 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Dazu  treten  aber  weitere  Krankheitserscheinungen,  sobald 
irgend  eine  bestimmte  Einrichtung  im  Getriebe  unseres  Stoff- 
wechsels ihren  Dienst  versagt.  Bei  chronischen  Störungen  werden 
wir  allerdings  deren  besondere  Wirkungen  in  dem  Krankheitsbilde 
meist  kaum  nachweisen  können.  Bei  raschem  Eintritte  der  Ver- 
änderung im  Körperhaushalte  sind  aber  die  Krankheitserschei- 
nungen oft  sehr  stürmische.  Unzulänglichkeit  des  Gasaustausches, 
wie  sie  durch  Erkrankungen  der  Lungen  und  der  Kreislauforgane 
herbeigeführt  werden  kann,  erzeugt  die  Erscheinungen  rausch- 
artiger Benommenheit  und  heftige  Angstgefühle,  in  höheren 
Graden  Bewusstlosigkeit.  Mangelhafte  Ausscheidung  durch  die 
Nieren  führt  zur  U r ä m i e mit  deliriösen  und  komatösen  Zustan- 
den, namentlich  bei  vorgeschrittener  Schwangerschaft;  infolge 
der  Ansammlung  von  Gallenbestandteilen  im  Blute  (Cholämie) 
kommen  Benommenheit  und  psychische  Depression,  bei  der  akuten 
gelben  Leberatrophie  (Icterus  gravis)  furibunde  Delirien  mit 
starker  ängstlicher  Erregung  und  Sinnestäuschungen,  im  weiteren 
Verlaufe  Sopor  und  Koma  zur  Beobachtung. 

Recht  unklar  sind  bisher  noch  die  Beziehungen  zwischen 
dem  Krebssiechtum  und  den  hie  und  da  bei  demselben 
beobachteten  Geistesstörungen.  Wenn  auch^  die  Annahme 
immer  mehl-  an  Boden  gewinnt,  dass  die  Krebsgeschwülste 
irgendwie  durch  Lebewesen  erzeugt  werden,  so  fehlt  doch 
jeder  Anhalt  für  eine  Entscheidung  der  Frage,  ob  diese 
Lebewesen  unmittelbar  oder  durch  giftige  Ausscheidungsstone 
die  Hirnrinde  schädigen,  oder  ob  die  psychische  Erkrankung  erbt 
durch  die  allgemeinen  Stoffwechselstörungen  bedingt  wird,  die 
dem  Krebssiechtum  eigentümlich  sind.  Sehr  innig  ^ dürften  je- 
doch die  Beziehungen  zwischen  dem  körperlichen  Leiden  und  der 
Hirnrindenerkrankung  nicht  sein,  da  die  überwiegende  Mehrzahl 
der  Krebskranken  keine  ausgeprägten  psychischen  Störungen  er- 
kennen lässt.  Die  Krankheitsbilder  zeigen  in  der  Regel  die  Form 
ängstlich  deliranter  Zustände  mit  Sinnestäuschungen,  Verworren- 
heit und  lebhafter  Unruhe;  im  weiteren  Verlaufe  treten  immer 
mehr  die  Benommenheit  und  Schwäche  in  den  Vordergrund. 
Eisholz*)  legt  Wert  auf  den  Wechsel  zwischen  deliranter  "Ver- 
wirrtheit und  zeitweise  fast  völliger  Klarheit. 


*)  E 1 s h o 1 z , Jahrb.  f.  Psycli.,  XVII,  144. 


Stoffwechselkrankheiten. 


51 


Endlich  scheinen  auch  krankhafte  Zersetzungen  des  Darm- 
inhaltes die  Quelle  von  Allgemeininfektionen  mit  geistigen  Stö- 
rungen bilden  zu  können.  So  hat  Wagner  Fälle  von  Irresein 
beschrieben,  in  denen  er  bei  Darmstörungen  Aceton  und  eine 
Reihe  weiterer  krankhafter  Bestandteile  im  Harn,  auch  vermehrte 
Indicanausscheidung  auffand.  Auch  von  S ö 1 d e r *)  sind  als  Ur- 
sache einiger  von  ihm  beobachteten  psychischen  Erkrankungen 
Kotstauungen  mit  Zersetzung  des  Darminhaltes  und  Aufsaugung 
von  Giften  ins  Blut  angenommen  worden.  Die  klinischen  Bilder 
waren  überall  verwirrte  Erregungszustände,  die  als  Amentia  oder 
Delirium  acutum  bezeichnet  werden.  So  wenig  sich  die  Mög- 
lichkeit bestreiten  lässt,  dass  Rindenerkrankungen  durch  Auf- 
saugung giftiger  Zersetzungsstoffe  vom  Darm  aus  zu  stände 
kommen  können,  so  schwierig  erscheint  es  es  doch,  im  einzelnen 
Falle  einen  derartigen  Zusammenhang  nachzuweisen  und  gar 
darauf  ein  Behandlungsverfahren  zu  gründen,  da  in  den  Krank- 
heitszeichen selbst  Anhaltspunkte  dafür  bisher  wenigstens  durch- 
aus nicht  zu  erkennen  sind. 

Sehr  eingehend  sind  in  den  letzten  Jahren  die  Beziehungen 
des  Diabetes  und  der  G 1 y k o s u r i e **)  zu  den  Geistesstö- 
rungen untersucht  worden.  Ausgeprägter  Diabetes  ist  im  ganzen 
bei  Geisteskranken  nicht  sehr  häufig;  man  hat  ihn  namentlich  bei 
Paralyse,  dann  auch  beim  Alkoholismus  und  bei  der  Melancholie 
beobachtet.  Dagegen  scheinen  sich  leichtere  Veränderungen  des 
Seelenlebens  doch  vielfach  bei  Diabetes  zu  entwickeln,  Abnahme 
des  Gedächtnisses  und  der  geistigen  Leistungsfähigkeit,  Reizbar- 
keit, Verstimmung,  Vielgeschäftigkeit  oder  Schlafsucht  und 
Stumpfheit.  Dabei  ist  jedoch  zu  berücksichtigen,  dass  der  Dia- 
betes sich  gern  im  höheren  Lebensalter  entwickelt  und  dann  oft 
mit  Gefässerkrankungen  verknüpft  ist,  deren  Anteil  an  dem 
klinischen  Bilde  sich  kaum  abgrenzen  lässt.  Laudenheimer 
hat  indessen  auch  eine  diabetische  „Pseudoparalyse“  beschrieben, 
ein  Krankheitsbild,  das  durch  die  Verbindung  einer  ausgeprägten 


*)  S ö 1 d e r , Jahrb.  f.  Psych.  XVII,  147. 

**)  Bond,  Journal  of  mental  Science,  1896,  Januar,  April;  Lauden- 
heimer, Archiv  f.  Psych.,  XXIX,  2;  Berl.  klin.  Wochenschr.  1898,  21;  Rai- 
mann,  Zeitschr.  f.  Heilkunde,  XXIII,  2,  1902. 


52 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


geistigen  Schwäche  mit  einzelnen  nervösen  Storungen,  Stocken  der 
Sprache,  Hemiparesen,  epileptoide  Anfälle,  Steigerung  der  Sehnen- 
reflexe gekennzeichnet  ist.  Alle  diese  Störungen  sollen  der  Lesse- 
rung durch  antidiabetische  Kuren  zugänglich  sein.  Im  Hinblicke 
auf  das  diabetische  Koma  ist  die  Möglichkeit  schwerer  Hirnstö- 
rungen bei  Diabetes  nicht  wohl  zu  bezweifeln,  doch  wird  es  noch 
weiterer  Erfahrungen,  namentlich  auch  anatomischer  Befunde  be- 
dürfen, nm  die  klinische  Deutung  derartiger  Fälle  sicher  zu 

stellen.  , ..  ,.  . , . 

Glykosurie  ist  bei  Geisteskranken  sicher  häufiger,  als  bei 

Gesunden,  namentlich  unmittelbar  nach  dem  _ Delirium  tremens 
und  bei  lebhaften  Angstzuständen;  ich  sah  sie  kürzlich  m zwei 
Fällen,  die  ich  als  syphilitische  Gefässerkrankungen  auffassen 
möchte.  Dementsprechend  fand  Raimann  die  Fähigkeit  ein- 
geführten Zucker  zu  verbrennen,  herabgesetzt  in  der  Melancholie, 
beim  Altersschwachsinn,  bei  der  Paralyse,  beim  Schwinden  des 
Delirium  tremens  und  bei  der  ätiologisch  unklaren  Gruppe  der 
Amentia,  Es  hat  demnach  den  Anschein,  dass  die  alimentäre 
Glykosurie  bei  denjenigen  Formen  des  Irreseins  besonders  leie  t 
zu  stände  kommt,  bei  denen  wir  Anlass  haben,  an  Stoffwechsel- 
störungen zu  denken. 

Eine  erhebliche  Rolle  ist,  namentlich  von  französischen  und  eng- 
lischen Forschern,  vielfach  der  Gicht*)  zugeschrieben  worden. 
Anhäufung  von  Harnsäure  im  Blute  soll  einerseits  Neurasthenie 
erzeugen  können,  auf  der  anderen  Seite  wieder  eine  wesentliche 
Ursache  von  Angstzuständen  sein.  Lange  hat  auch  periodische 
Depressionszustände  mit  Schwankungen  der  Harnsäureausscheidung 
in  ursächliche  Verbindung  gebracht.  Nach  der  Schilderung  hat 
es  sich  um  Anfälle  gehandelt,  die  dem  manisch-depressiven  Irre- 
sein angehören  dürften.  Ob  wir  es  hier  überall  mit  ursächlichen 
Beziehungen  oder  mit  einfachen  Begleiterscheinungen  zu  . tun 
haben,  muss  weiterer  Prüfung  überlassen  bleiben;  für  die  manisch- 
depressiven  Formen  ist  mir  die  erstere  Annahme  aus  iie  en 

Gründen  äusserst  unwahrscheinlich.  . . 

Auf  einem  etwas  sichereren  Boden  bewegen  wir  uns  bei 
der  Erörterung  des  Zusammenhanges  zwischen  Geistesstörungen 


*)  Kowalewsky,  Centralbl.  f.  Nervenheilk.  1901,  693. 


Stoffwechselkrankheiten. 


53 


und  Schilddrüsen erkrankungen,  da  uns  hier  zur  Klärung  der 
Tierversuch  wertvolle  Aufschlüsse  geliefert  hat.  Wir  wissen 
sicher,  dass  Ausfall  der  Schilddrüsentätigkeit  die  schwersten 
Folgen  für  das  Seelenleben  nach  sich  zieht.  Bei  jugendlichen  Per- 
sonen bewirkt  die  Vernichtung  oder  krankhafte  Umwandlung  jener 
Drüse  die  kretinistische  Entartung  des  gesamten  Körpers,  wie 
wir  sie  auch  künstlich  bei  Tieren  erzeugen  können.  Dagegen  stellt 
sich  beim  Erwachsenen  nach  Entfernung  der  ganzen  Schilddrüse 
das  Bild  der  Kachexia  strumipriva  ein,  dessen  wesentliche  Züge 
in  einem  allmählich  fortschreitenden  Schwachsinn  mit  myxödema- 
tösen  Veränderungen  der  Haut  und  gewissen  nervösen  Reiz- 
erscheinungen (Krampfanfälle,  Tetanie)  bestehen.  Nahe  Ver- 
wandtschaft zu  diesem  Krankheitsbilde  zeigt  dasjenige  des  spon- 
tanen Myxödems,  wie  es  durch  Schrumpfung  oder  krankhafte 
Zerstörung  der  ganzen  Schilddrüse  zu  stände  kommt.  Hier  ge- 
sellen sich  zu  dem  leichteren  oder  schwereren  Schwachsinn  öfters 
die  Erscheinungen  einer  psychischen  Depression,  selbst  lebhafte 
Angstzustände  hinzu.  Als  die  gemeinsame  Grundlage  aller  dieser 
Störungen  ist  wohl  die  Anhäufung  von  Stoffen  im  Blute  anzu- 
sehen, die  sonst  durch  die  Schilddrüsentätigkeit  zerstört  werden. 

Umgekehrt  dürfen  wir  vielleicht  annehmen,  dass  die  beim 
Morbus  Basedowii*)  beobachteten  Störungen  durch  krank- 
hafte Vermehrung  und  wohl  auch  Veränderung  der  Schilddrüsen- 
ausscheidungen hervorgerufen  werden;  zum  Teil  wenigstens  decken 
sie  sich  mit  denjenigen,  die  wir  nach  Einführung  von  Schilddrüsen- 
bestandteilen in  den  Körper  des  gesunden  und  kranken  Menschen 
auftreten  sehen.  Die  psychischen  Erscheinungen  sind  diejenigen 
einer  Herabsetzung  der  psychischen  Widerstandsfähigkeit,  erhöhte 
gemütliche  Reizbarkeit,  heitere  oder  ängstliche  Verstimmung, 
Stimmungswechsel,  flüchtige  Wahnbildungen,  Eifersuchtsideen, 
Selbstanklagen,  Unruhe,  grosse  Ermüdbarkeit,  Schlaflosigkeit. 
Einzelne  Zeichen  der  Basedowschen  Krankheit,  Zittern, 
Struma,  Exophthalmus,  Pulsbeschleunigung,  scheinen  sich  häu- 
figer während  der  Entwicklung  der  Dementia  praecox  ein- 

*)  Buschan,  Die  Basedowsche  Krankheit.  1894;  Möbius,  Die 
Basedowsche  Krankheit.  1896,  32  ff.;  Mau  de,  Journal  of  mental  Science, 
1896,  Januar;  Homburger,  Über  die  Beziehungen  des  Morbus  Basedowii 
zu  Psychosen  und  Psychoneurosen.  Diss.  Strassburg,  1899. 


54 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


zustellen,  wenn  mich  nicht  die  allgemeine  Neigung  zu  Schild- 
drüsenerkrankungen in  unserer  Gegend  täuscht. 

Diese  Tatsachen,  die  uns  die  Wichtigkeit  eines  unschein- 
baren Organs  für  den  Stoffwechsel  auf  das  deutlichste  dar- 
tun, machen  es  wahrscheinlich,  dass  wohl  auch  noch  von 
anderen  Seiten  unter  Umstanden  ähnliche  Selbst\ergiftungen 
ausgehen  können.  So  hat  bereits  V a s s a 1 e gezeigt,  dass 
Zerstörung  der  Hypophysis  den  Tod  zur  Folge  hat, 
während  beim  Menschen  Hypophysisgeschwülste  bekanntlich 
häufig  mit  Akromegalie  einhergehen.  Auch  psychische  Störungen 
können  sich  hinzugesellen,  Gedächtnisschwäche,  Arbeitsunfähig- 
keit,  gemütliche  Stumpfheit  bis  zur  völligen  Versunkenheit,  zeit- 
weise auch  Erregung.  Es  muss  jedoch  dahingestellt  bleiben, 
wie  weit  hier  Wirkungen  der  Geschwulst  als  solcher  oder  die 
Zerstörung  des  Hirnanhanges  in  Frage  kommen. 

Es  ist  zur  Zeit  nicht  abzusehen,  welche  Aufschlüsse  uns 
die  Verfolgung  der  hier  sich  darbietenden  Fragen  liefern  wird. 
Mir  scheint  jedoch  schon  heute  namentlich  die  grosse  Gruppe 
der  Verblödungsprozesse  so  manche  Eigentümlichkeiten  darzu- 
bieten, welche  die  Annahme  einer  zu  Grunde  liegenden  Selbst- 
vergiftung begründen  könnten.  Ferner  ist  für  gewisse  Formen 
der  Epilepsie  vielfach  die  Vermutung  eines  Zusammenhanges 
mit  der  allmählichen  Ansammlung  und  plötzlichen  Ausscheidung 
von  Stoffwechselresten  ausgesprochen  worden.  Auch  die  Geistes- 
störungen des  Rückbildungsalters  dürften  von  Umwälzungen  im 
Stoffwechsel  und  deren  Folgen  begleitet  sein. 

Vergiftungen.  Von  den  Giften,  die  überhaupt  unsere  Hirnrinde 
beeinflussen,  besitzt  zum  mindesten  ein  grosser  Teil  die  Eigen- 
schaft, ganz  bestimmte  seelische  Leistungen  in  eigenartiger  V eise 
zu  schädigen.  Bei  rasch  tödtlich  wirkenden  Vergiftungen  freilich 
verwischen  sich  diese  Unterschiede;  die  ausgebreitete  V ernich- 
tung des  Hirnrindengewebes  hebt  sofort  das  Bewusstsein  völlig 
auf.  Tritt  aber  die  Wirkung  langsamer  und  weniger  überwältigend 
auf,  so  entwickeln  sich  schnell  einsetzende  und  ablaufende  psj  - 
chische  Störungen,  deren  Gestaltung  vielfach  sofort  einen  Rück- 
schluss auf  die  giftige  Ursache  derselben  gestattet,  namentlich, 
wenn  wir  die  körperlichen  Begleiterscheinungen  mit  beachten. 
Da  die  meisten  akuten  Vergiftungen  der  Hirnrinde  mit  einer 


Vergiftungen. 


55 


gewissen  Bewusstseinstrübung  verbunden  sind,  tragen  die  ent- 
sprechenden Geistesstörungen  die  Züge  eines  Rausches,  oder,  wenn 
sie  auch  mit  Sinnestäuschungen  verknüpft  sind,  eines  Deliriums. 
Allerdings  ist  bei  der  Seltenheit  der  meisten  derartigen  Vergif- 
tungen unsere  Kenntnis  von  den  besonderen  psychischen  Wir- 
kungen der  einzelnen  Gifte  noch  eine  ungemein  dürftige.  Alles 
aber,  was  wir  bisher  durch  den  Versuch  über  diese  Frage  wissen, 
spricht  mit  grosser  Entschiedenheit  für  die  Eigenart  jener  Wir- 
kungen. Genauere  Untersuchungen  liegen  bisher  vor  über  Alko- 
hol, Coffein,  Trional  und  Brom,  vorläufige  über  Morphium,  Paral- 
dehyd,  Chloralhydrat,  Äther,  Amylnitrit,  Choroform,  Cocain  und 
Tabak,  aber  schon  diese  Erfahrungen  haben  gezeigt,  dass  die 
psychische  Wirkung  keines  dieser  Gifte  derjenigen  irgend  eines 
anderen  völlig  gleicht,  so  sehr  sich  auch  die  chemische  Verwandt- 
schaft auf  diesem  Gebiete  geltend  macht.  Diese  Tatsache  ent- 
spricht durchaus  dem  Befunde  Nissls,  dass  die  Zellverände- 
rungen bei  nicht  allzu  rascher  Vergiftung  je  nach  der  Art  des 
eingeführten  Giftes  ein  ganz  bestimmtes  Gepräge  zeigten. 

Durch  länger  fortgesetzte  Vergiftung,  wie  sie  bei  den  giftigen 
Genussmitteln  und  manchen  Gewerbegiften  vorkommt,  entwickeln 
sich  dauernde  psychische  Schwächezustände,  oft  mit  bestimmten 
nervösen  Begleiterscheinungen,  die  ihnen  dann  die  Bezeichnung 
„Pseudoparalyse“  einzutragen  pflegen.  Auch  diese  Zustände  dürf- 
ten je  nach  der  Art  des  Giftes  verschieden  sein,  wenn  wir  auch 
über  ihre  kennzeichnenden  Züge  noch  ausserordentlich  wenig 
wissen.  Im  ganzen  sind  diese  Krankheitsbilder,  wenn  sich  nicht 
die  Zeichen  immer  wieder  kehrender  akuter  Vergiftungen  hinzu- 
gesellen, wrenig  ausgeprägt,  da  lie  Ausfallserscheinungen  in  ihnen 
überwiegen.  Es  ist  auch  bisher  nicht  gelungen,  bei  chronischen 
Vergiftungen  den  einzelnen  Giften  eigentümliche  Zellverände- 
rungen aufzufinden.  Solche  Gifte,  die  ausser  der  Hirnrinde  auch 
andere  Werkstätten  des  Körpers  schädigen,  können  unter  Um- 
ständen mittelbare  Geistesstörungen  hervorrufen,  die  mit  der 
ursprünglichen  Giftwirkung  gar  keine  Beziehung  mehr  haben, 
wie  urämische  oder  ikterische  Delirien.  Eine  derartige  Entstehung 
ist  z.  B.  für-  das  Delirium  der  Trinker  wahrscheinlich,  welches 
ganz  andere  Züge  trägt,  als  der  Rausch. 

Eine  erste  kleine  Gruppe  von  Vergiftungen,  die  wir  hier  zu 


56 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


betrachten  haben,  steht  in  nächster  Beziehung  zur  Volksernäh- 
rung. Dahin  gehört  vor  allem  die  hauptsächlich  in  Oberitalien, 
Südfrankreich,  Nordspanien  und  Rumänien  vorkommende  Pel- 
lagra*). Offenbar  handelt  es  sich  bei  dem  Leiden,  das  mit  sehr 
starken  Verdauungsstörungen,  Schwund  der  Darmschleimhaut, 
Abmagerung  und  Hautausschlägen  einhergeht,  um  eine  chronische 
Vergiftung,  die  zumeist  auf  den  Genuss  von  verdorbenem  Mais 
zurückgeführt  wird;  Hilfsursachen  sollen  Armut  und  Elend  aller 
Art  bilden.  Wahrscheinlich  haben  wir  es  mit  einem  organisierten 
Gifterzeuger  zu  tun,  da  Übertragung  von  Person  zu  Person, 
übrigens  auch  Einfluss  der  Erblichkeit,  beobachtet  wurde,  und 
da  häufig  mildere  Rückfälle  des  Leidens  eintreten,  wenn  alle 
genannten  Schädlichkeiten  längst  weggefallen  sind.  Von  einigen 
Forschern  wird  angegeben,  dass  die  Krankheit  durchaus  nicht 
an  den  Maisgenuss  gebunden  sei  und  sich  langsam  ausbreite.  Die 
psychischen  Störungen  zeigen  das  Bild  erhöhter  gemütlicher  Reiz- 
barkeit, ferner  Depression  bis  zum  Stupor  mit  starker  Selbstmord- 
neigung und  Ausgang  in  Verblödung,  endlich  Verwirrtheit  mit 
Erregung,  die  sich  im  sog.  Typhus  pellagrosus  zu  lebensgefähr- 
lichen Graden  steigern  kann.  Ob  alle  diese  Formen  eine  klinische 
Einheit  bilden  und  allein  auf  die  Giftwirkungen  zurückzuführen 
sind,  ist  zur  Zeit  noch  zweifelhaft.  Im  Rückenmark  findet  man 
Hinterseitenstrangsklerose,  auch  zerstreute  Herde;  der  klinische 
Ausdruck  dieser  Veränderungen  sind  gesteigerte  Kniereflexe, 
Lähmung  und  Schwäche  der  Beine,  spastischer  oder  spastisch- 
paretischer  Gang. 

Durch  eine  Vermengung  des  Brotgetreides  mit  Mutterkorn, 
entsteht,  bei  uns  glücklicherweise  recht  selten,  der  Ergotis- 
mus,  der  öfters  von  psychischen  Störungen**)  begleitet  ist. 
Bisweilen  hat  man  es  dabei  anscheinend  mit  Vergiftungsdelirien 
zu  tun;  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  dagegen  entwickeln  sich  länger 


*)  Lombroso,  La  pellagra.  1892,  deutsch  v.  Kurella,  1898;  Bel- 
mondo,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XV,  XVI;  Tuczek,  Klinische  und 
anatomische  Studien  über  die  Pellagra.  1893;  Finzi,  Bollettino  del  manicomio 
provinciale  di  Ferrara,  XXIX,  1901 ; v.  Zlatarovic,  Jahrb.  f.  Psych. 
XIX,  283. 

**)  Siemens,  Archiv  für  Psychiatrie,  XI,  1 u.  2;  Tuczek,  ebenda, 
XIII,  1;  XVIII,  2;  Jahrmärker,  ebenda,  XXXV,  109. 


Vergiftungen. 


57 


dauernde  Krankheitszustände,  die  aber  bei  geeigneter  Behand- 
lung wieder  verschwinden  können,  selbst  nach  längerer  Zeit.  Die 
psychischen  Anzeichen  sind  im  allgemeinen  Herabsetzung  der 
Verstandesleistungen,  mehr  oder  weniger  ausgesprochene  Be- 
wusstseinstrübung bis  zur  Betäubung,  Verlangsamung  des  Den- 
kens, Gedächtnisschwäche,  Verwirrtheit,  daneben  häufige  Angst- 
zustände und  tiefes  Krankheitsgefühl.  Bisweilen  treten  arti- 
culatorische  Sprachstörungen  ein;  die  Patellarreflexe  schwinden, 
um  bei  günstigem  Verlaufe  wiederzukehren.  Ferner  kommt  es 
regelmässig  zu  epileptischen  Krämpfen,  unter  Umständen  zu 
einer  fortschreitenden  epileptischen  Erkrankung.  Durch  die 
Leichenöffnung  ist  in  mehreren  Fällen  eine  Hinterstrangsklerose 
des  Rückenmarks  festgestellt  worden. 

Die  bei  weitem  grösste  Rolle  bei  der  Erzeugung  von  Vergif- 
tungspsychosen spielen  die  Genussmittel,  von  denen  für  uns  der 
Alkohol*)  eine  ganz  hervorragende  Bedeutung  besitzt.  Die  An- 
gaben über  die  Häufigkeit,  mit  welcher  der  Missbrauch  dieses 
Genussmittels  zur  Aufnahme  in  die  Irrenanstalt  führt,  schwanken, 
je  nach  dem  Volksstamm  und  den  besonderen  Verhältnissen, 
zwischen  10—30,  ja  bis  40  Prozent  aller  psychisch  Erkrankten. 
Das  männliche  Geschlecht  ist  an  der  Trunksucht  mindestens  lOmal 
so  stark  beteiligt,  als  das  weibliche;  nur  in  den  niederen  Gesell- 
schaftsschichten ist  dieses  Verhältnis  für  die  Weiber  ungünstiger. 

Die  germanische  Rasse  scheint,  worauf  schon  die  Schilde- 
rungen des  Tacitus  hinweisen,  in  ganz  besonderem  Masse  zum 
Missbrauche  des  Alkohols  geneigt  zu  sein.  Zu  einer  rasch  an- 
wachsenden Gefahr,  ja  zu  einer  Lebensfrage  ist  der  Alkoholmiss- 
brauch geworden,  seitdem  die  fortschreitende  Technik  immer 
grössere  Mengen  billigen  und  konzentrierten  Alkohols  erzeugt, 
so  dass  heute  der  Schnapsrausch  auch  dem  Ärmsten  leicht  er- 
reichbar ist.  Unter  diesen  Umständen  hat  der  Alkoholverbrauch  im 
Laufe  der  letzten  Jahrzehnte  fast  überall  zugenommen.  Nur  die 
skandinavischen  Länder,  welche  vor  etwa  fünfzig  Jahren  infolge 
der  ungeheuren  Ausbreitung  des  Alkoholismus  am  Rande  des  Ab- 

*)  Baer,  Der  Alkoholismus.  1878;  Die  Trunksucht  und  ihre  Abwehr. 
1890;  Smith,  Die  Alkoholfrage.  1895;  Grotjahn,  Der  Alkoholismus. 
1898;  Hoppe,  Die  Tatsachen  über  den  Alkohol,  2.  Aufl.  1901;  Matti 
II  e 1 e n i u s , Die  Alkoholfrage.  1903. 


58 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


grundes  standen,  haben  es  vermocht,  durch  geeignete  Massregeln 
den  furchtbaren  Feind  wirksam  zu  bekämpfen,  so  dass  sie  heute 
in  der  Trunksuchtsstatistik  mit  die  günstigste  Stelle  einnehmen. 
In  den  meisten  übrigen  Ländern  und  namentlich  in  Deutschland 
lässt  sich  leider  ein  rasches  Anwachsen  des  Alkoholismus  nicht 
verkennen.  Eine  besonders  verderbliche  Rolle  scheinen  in  dieser 
Richtung  die  grossen  Städte  mit  ihrer  zahlreichen  Fabrikbevölke- 
rung und  ihrem  Reichtum  an  Kneipen  aller  Art  zu  spielen,  der 
das  ohnedies  rasch  steigende  „Bedürfnis“  womöglich  noch  zu 
überflügeln  sucht.  So  kommt  es  denn,  dass  in  Preussen  188  < für 
Schnaps  allein  nicht  weniger  als  221  Millionen  Mark,  für  geistige 
Getränke  überhaupt  aber  867  Millionen  Mark  ausgegeben  v.  urden, 
während  die  gesamten  direkten  Staatssteuern  150  Millionen  Mark, 
also  nur  Vs  bis  Ve  dieser  Summe  betrugen!  Der  Bierverbrauch 
ist  im  Deutschen  Reiche  zwischen  1872  und  1900  von  81,4  auf 
125,0  Liter  für  den  Kopf  der  Bevölkerung  angewachsen.  Es  gib: 
nicht  wenige  Arbeiter  in  unserem  Vaterlande,  welche  l'i  bis  20 
Prozent  ihres  täglichen  Arbeitsverdienstes  für  Alkohol  ver- 
brauchen. Ich  kannte  einen  Sackträger,  der  jährlich  etwa  vier- 
hundert Mark  für  Alkohol  ausgab.  Als  ein  ganz  besonders  schlim- 
mes Zeichen  muss  es  angesehen  werden,  dass  in  letzter  Zeit 
auch  die  Beteiligung  des  weiblichen  Geschlechtes  an  der  Trunk- 
sucht erheblich  zuzunehmen  scheint. 

Die  bei  weitem  verderblichste  Form  alkoholischen  Getränkes 
ist  der  Schnaps,  besonders  der  Kartoffelbranntwein,  welcher 
häufig  ausser  dem  Äthylalkohol  auch  die  noch  giftigeren  höheren 
Alkohole,  namentlich  den  Amylalkohol,  enthält,  und  der  in  Süa- 
frankreich  und  Oberitalien  verbreitete  Absinth  (ätherisches  Öl 
der  Artemisia  Absynthium).  Im  biertrinkenden  Süddeutschland 
und  selbst  in  den  Weinländern  spielen  daher  die  schweren  Formen 
des  Alkoholismus  auch  nicht  im  entferntesten  die  Rolle,  wie  etwa 
im  Nordosten,  wo  der  Kartoffelfusel  das  wichtigste  alkoholische 
Genussmittel  des  Arbeiters  bildet.  Freilich  wird  dei  ge- 
ringere Giftgehalt  der  schwächeren  Getränke  zumeist  durch  die 
grösseren  Verbrauchsmengen  wieder  ausgeglichen.  Dennoch 
scheint  die  besondere  Wirkung  des  Alkohols  mit  der  Konzen- 
tration des  Getränkes  abzunehmen.  Dafür  macht  sich  aber  bei 
dem  in  ungeheueren  Mengen  genossenen  Bier  noch  eine  andere 


Vergiftungen. 


59 


Schädlichkeit  geltend,  die  Wirkung  der  übermässigen  Zufuhr 
kalter  Flüssigkeit  auf  Magen,  Nieren,  Kreislaufsorgane  und  Stoff- 
wechsel. 

Die  ursächliche  Bedeutung  des  Alkohols  für  die  Erzeugung 
von  Geistesstörungen  beruht  vor  allem  auf  der  durch  ihn  herbei- 
geführten Vergiftung  der  Hirnrinde.  Tierversuche  haben  gezeigt, 
dass  wiederholte  Alkoholgaben,  die  einzeln  noch  nicht  als  töd- 
liche anzusehen  sind,  ausgebreitete  und  tiefgreifende  Zerstö- 
rungen an  den  Nervenzellen  der  Hirnrinde  herbeizuführen  ver- 
mögen. Dieser  Befund  steht  in  Übereinstimmung  mit  psycho- 
logischen Versuchen,  die  von  Für  er*)  und  Rüdin**)  ange- 
stellt worden  sind.  Bei  denselben  ergab  sich  nämlich,  dass  sich 
die  Nachwirkung  eines  mässigen  Rausches  in  dem  psychischen 
Verhalten  der  Versuchsperson  12—24,  unter  Umständen  sogar 
48  Stunden  lang  deutlich  nachweisen  Hess.  Sie  bestand,  ganz 
wie  die  akute  Alkoholwirkung,  in  einer  Herabsetzung  der 
geistigen  Leistungsfähigkeit,  einer  gesteigerten  motorischen 
Erregbarkeit  und  der  Neigung  zu  gewohnheitsmässigen  und  Klang- 
associationen. 

Bei  dauerndem  Gebrauche  des  Alkohols  müssen  sich  die  Wir- 
kungen der  einzelnen  Gaben  naturgemäss  allmählich  häufen.  In 
der  Tat  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  sich  im  Gehirne 
des  Trinkers  schliesslich  Veränderungen  herausbilden,  welche  den 
einzelnen  Rausch  weit  überdauern.  Bei  einem  Trinker  konnte 
ich  eine  starke  Herabsetzung  der  Auffassungsfähigkeit,  wahr- 
scheinlich verbunden  mit  erhöhter  psychomotorischer  Erregbar- 
keit, vierzehn  Tage  nach  dem  Beginne  vollständiger  Enthaltsam- 
keit nachweisen.  Wie  schnell  solche  Veränderungen  zu  stände 
kommen,  lässt  sich  von  vornherein  schwer  sagen;  sicherlich  wird 
hier  die  persönliche  Widerstandsfähigkeit  eine  erhebliche  Rolle 
spielen.  Immerhin  hat  Smith***)  den  Nachweis  geführt,  dass 
eine  tägliche  Alkoholmenge,  die  etwa  zwei  Litern  Bier  entsprach, 
bereits  vom  zweiten  Tage  an  eine  dauernde  Herabsetzung  der 

*)  Für  er,  Bericht  über  den  V.  int  er  na  t.  Kongress  zur  Bekämpfung 
des  Missbrauchs  geistiger  Getränke  in  Basel,  1896,  355. 

**)  R ü d i n , Psychologische  Arbeiten,  IV,  1 u.  495. 

***)  Smith,  Bericht  über  den  V.  internat.  Kongress  zur  Bekämpfung 
des  Missbrauchs  geistiger  Getränke  in  Basel,  1896,  341. 


60 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


geistigen  Leistungsfähigkeit  bewirkte.  Sobald  nach  zwölf  Tagen 
der  Alkoholgenuss  ausgesetzt  wurde,  verlor  sich  diese  Schädigung 
freilich  sofort;  allein,  als  sieben  Tage  später  von  neuem  Alkohol 
genommen  wurde,  trat  nunmehr  die  Wirkung  des  Giftes  bereits 
am  ersten  Tage  mit  voller  Deutlichkeit  wieder  hervor.  Ganz 
ähnliche  Yersuchsergebnisse  erhielt  Kürz*).  Diese  nunmehr 
bei  vier  Personen  übereinstimmend  gewonnenen  Erfahrungen 
sprechen  dafür,  dass  eine  dauernde  Nachwirkung  des  regel- 
mässigen Alkoholgenusses  schon  nach  verhältnismässig  sehr 
kurzer  Zeit  sich  einstellen  kann.  Freilich  mag  dieselbe  lange 
äusserst  geringfügig  bleiben  — dennoch  dürften  die  mitgeteilten 
Versuche  geeignet  sein,  uns  einen  Einblick  in  die  ersten  leisen 
Anfänge  des  chronischen  Alkoholismus  zu  gewähren. 

Sie  geben  uns  zugleich,  wie  ich  denke,  einen  Anhaltspunkt  für 
die  Beantwortung  der  wichtigen  Frage:  Wer  ist  als  Trinker  zu 
betrachten?  Da  die  dauernden  Wirkungen  des  Alkohols  sich  bei 
regelmässigem  Gebrauche  desselben  sehr  rasch  einstellen,  wenn 
die  Zwischenzeit  zwischen  zwei  mittleren  Gaben  weniger  als  ein 
bis  zwei  Tage  beträgt,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  dass  sich 
wahrscheinlich  bei  der  Mehrzahl  derjenigen  Personen,  welche 
täglich  80—100  gr  Alkohol  zu  sich  zu  nehmen,  Andeutungen 
psychischer  Veränderungen  werden  nachweisen  lassen.  Dafür 
spricht  auch  die  Erfahrung,  dass  vielfach  das  Aufgeben  eines 
mässigen  täglichen  Alkoholgenusses  bereits  eine  deutlich  merk- 
bare Besserung  der  gesamten  Leistungsfähigkeit  und  des  All- 
gemeinbefindens zur  Folge  hat.  Über  die  Rolle,  welche  der  Ge- 
wöhnung bei  regelmässigem  Alkoholgenusse  zukommt,  ist  noch 
wenig  Sicheres  bekannt.  Es  scheint  nicht,  als  ob  die  Dauer 
der  Enthaltsamkeit  bei  vorher  mässigen  Personen  einen  wesent- 
lichen Einfluss  auf  die  Empfindlichkeit  gegen  den  Alkohol  hat. 
Dagegen  steht  die  Abnahme  der  akuten  Alkoholwirkungen  bei 
regelmässigem  Trinken  wohl  ausser  Zweifel;  andererseits  nimmt 
bei  alten  Säufern  die  Empfindlichkeit  gegen  das  Gift  wieder  zu. 
Im  Hinblicke  auf  die  bei  anderen  Giften  noch  viel  ausgeprägteren 
Gewöhnungserscheinungen  werden  wir  wohl  annehmen  dürfen, 
dass  es  sich  dabei  um  dauernde  Nachwirkungen  des  Alkohols  in 


*)  Kürz  und  K r a e p e 1 i n , Psychologische  Arbeiten,  III,  417. 


Vergiftungen. 


61 


unserem  Nervengewebe  handelt,  die  nicht,  wie  die  Folgen  der 
Übung,  eine  Kräftigung  bedeuten,  sondern,  wie  die  Unempfind- 
lichkeit gegen  Morphium,  als  krankhafte  Veränderungen  auf- 
gefasst  werden  müssen. 

Bei  schwererem  und  lange  dauerndem  Alkoholmissbrauche 
stellen  sich  regelmässig  ausser  den  Wirkungen  auf  Gehirn  und 
Seelenleben  auch  mehr  oder  weniger  ausgebreitete  Veränderungen 
in  den  verschiedensten  Organen  des  Körpers  ein;  namentlich  die 
Blutgefässe  werden  verhältnismässig  früh  in  Mitleidenschaft  ge- 
zogen. Es  kommt  auf  diese  Weise  schliesslich  zu  einem  schweren 
Siechtum,  welches  nur  sehr  langsam  und  nur  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Rückbildung  noch  fähig  ist.  Ganz  besonders  folgen- 
schwer wird  diese  Allgemeinerkrankung  durch  den  Umstand,  dass 
sie  anscheinend  einen  äusserst  verderblichen  Einfluss  auf  die 
Nachkommenschaft  auszuüben  imstande  ist.  D e m m e *) 
hat  zur  näheren  Beleuchtung  dieser  Frage  im  Laufe  von  zwölf 
Jahren  die  Kinder  in  zwei  Gruppen  von  je  zehn  Familien  unter- 
sucht. In  den  ersten  dieser  Gruppen  waren  die  Eltern  Trinker, 
in  der  anderen  nüchterne  Leute.  Auf  die  Trinkergruppe  entfielen 
insgesamt  57  Kinder;  von  denselben  waren  nur  10,  also  17,5  Pro- 
zent, völlig  normal.  Die  übrigen  litten  an  verschiedenartigen,  auf 
eine  Entartung  hinweisenden  Leiden,  Missbildungen,  Zwergwuchs, 
Veitstanz,  Epilepsie,  Idiotie;  25  Kinder  starben  in  den  ersten 
Lebensmonaten.  Aus  den  nüchternen  Familien  gingen  61  Kinder 
hervor.  Von  diesen  starben  nur  5;  4 Kinder  litten  später  an 
Krankheiten  des  Nervensystems,  2 an  Bildungsfehlern.  Der  Rest 
von  50  Kindern  dagegen,  mithin  81,9  Prozent,  war  und  blieb 
völlig  gesund.  Diese  Erfahrungen  zeigen  auf  das  schlagendste, 
dass  die  chronische  Alkoholvergiftung  nicht  nur  den  Einzelnen 
vernichtet,  sondern  auch  dem  kommenden  Geschlechte  schon  im 
Keime  den  Stempel  der  Entartung  aufdrückt. 

Eine  weitere  Erläuterung  dieses  Satzes  gibt  uns  die  Tatsache, 
dass  30 — 40  Prozent  der  Trinker  von  trunksüchtigen  Eltern  ab- 
stammen. Ferner  lässt  sich  nachweisen,  dass  20 — 30  Prozent 
der  Epileptiker  und  Idioten  und  ein  noch  grösserer  Anteil  der 
Verbrecher,  Zwangszöglinge  und  Strassendirnen  trunksüchtige 


*)  Über  den  Einfluss  des  Alkohols  auf  den  Organismus  der  Kinder.  1891. 


62 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Erzeuger  hatten.  Auch  die  Fähigkeit  zum  Stillen  soll  nach 
Bunges  Untersuchungen  in  Trinkerfamilien  erlöschen.  Durch 
alle  diese  Erfahrungen  gewinnt  die  alte  Behauptung,  dass  im 
Bausch  erzeugte  Kinder  entarten,  neue  Stützen,  ja,  es  ist  schon 
darauf  hingewiesen  worden,  dass  die  bekannte  körperliche  und 
o-eistige  Minderwertigkeit  der  unehelich  Geborenen  zum  Teil  viel- 
leicht auf  der  häufigen  Mitwirkung  des  Alkohols  bei  ihrer 
Erzeugung  beruhen  könne. 

In  seiner  verhängnisvollen  Einwirkung  auf  den  Einzelnen  unu 
sein  ganzes  Geschlecht  wird  der  Alkohol  zumeist  noch  unter- 
stützt durch  eine  Anzahl  ähnlicher  Schädlichkeiten,  die  mit  aem 
Missbrauche  jenes  Genussmittels  Hand  in  Hand  zu  gehen  pflegen. 
Der  Schnaps  ist  vorzugsweise  das  Getränk  des  armen  Mannes, 
der  von  ihm  Anregung  und  Erwärmung  erwartet,  ja  dem  er  zum 
Teil  die  Nahrung  ersetzen  soll;  die  tägliche  Not  des  sozialen 
Elendes,  der  Armut,  ungenügende  Ernährung,  schlechte,  hygie- 
nische Verhältnisse  u.  s.  f.  ebnen  seinem  Einflüsse  hier  den 
Weg.  So  kommt  es,  dass  der  anfangs  nur  aus  bestimmtem  An- 
lasse, nach  starker  Anstrengung,  am  Lohntage  oder  in  veriuhre- 
rischer  Gesellschaft  genossene  Schnaps  allmählich  zum  Lebens- 
bedürfnisse wird,  und  der  Gewohnheitstrinker  nun  regelmassig, 
Tag  für  Tag,  bei  und  nach  der  Arbeit  wie  an  den  Sonntagen,  zu 
Hause  wie  in  der  Kneipe  zum  Alkohol  greift.  Umgekehrt  aber  ist 
es  gerade  der  Alkohol,  der  durch  seine  vernichtenden  V irkungen 
auf  das  körperliche,  geistige  und  soziale  Wohlergehen  des  Trinkers 
mit  Notwendigkeit  den  wirtschaftlichen  Zusammenbruch  herbei- 
führt und  auf  diese  Weise  einen  Kreislauf  herstellt,  aus  dem  es 
kein  Entrinnen  mehr  gibt.  Die  Gefahr,  auf  diese  schiefe  Ebene 
zu  geraten,  ist  wegen  der  anheiternden  Wirkungen  des  Alkohols 
und  wegen  der  überall  bereiten,  zur  Volksunsitte  gewordenen 
Verführung  weit  grösser,  als  gemeinhin  angenommen  wird.  Leider 
können  wir  unserer  Gesetzgebung  den  schweren  Vorwurf  nicht 
ersparen,  nahezu  untätig  dem  Anwachsen  der  Trunksucht  gegen- 
überzustehen, ja  dasselbe  durch  liebevolle  Begünstigung  der  ver- 
schiedenen Alkoholgewerbe  geradezu  zu  fördern.  Sie  folgt  damit 
allerdings  nur  dem  Beispiele  der  „öffentlichen  Meinung“,  welche 
in  Deutschland  das  Recht  auf  den  Trunk  unter  allen  Umstanden 
gesichert  wissen  will.  Selbst  in  den  Kreisen  dei  Arzte,  die  aus 


Vergiftungen. 


63 


vielfältiger  trauriger  Erfahrung  die  zerstörende  Wirkung  des 
Alkohols  genugsam  kennen  sollten,  wird  dieser  schlimmste  Feind 
unseres  Volkes  in  unbegreiflicher  Gedankenlosigkeit  noch  viel- 
fach als  Stärkungsmittel  für  Schwache  und  gar  für  Kinder 
angepriesen. 

Es  mag  immerhin  zugegeben  werden,  dass  die  nachteiligen 
Folgen  eines  mässigen  Alkoholgenusses  und  selbst  eines  gelegent- 
lichen Übermasses  von  kräftigen  Naturen  ohne  schwere  Schädi- 
gung ertragen  werden.  Allein  die  Zahl  derjenigen,  welche  infolge 
ihrer  schwächeren  Veranlagung  oder  ungünstiger  Verhältnisse 
tagtäglich  durch  den  Alkohol  um  Gesundheit  und  Lebensglück 
gebracht  werden,  ist  wahrlich  übergross ! Die  Mitschuld  fällt  auf 
uns  alle.  Niemand  wird  leugnen  wollen,  dass  in  den  gebildeten 
Kreisen  kaum  weniger  als  in  den  breiten  Massen  unseres  Volkes 
der  Alkoholmissbrauch  mit  einer  Nachsicht  geduldet,  ja  mit  einem 
Wohlwollen  gezüchtet  wird,  welches  als  eine  der  wichtigsten  Ur- 
sachen für  die  gewaltige,  verderbenbringende  Macht  jener  Volks- 
seuche betrachtet  werden  muss.  Alljährlich  zahlen  wir  nicht 
nur  an  Landstreichern  und  Tagedieben  oder  ähnlich  wertlosem 
Menschenmateriale,  sondern  auch  an  tüchtigen,  ja  hochbegabten 
Naturen  dem  Gifte  einen  reichen  Tribut.  Freilich  sind  es  vor- 
zugsweise haltlose  und  schwache  Persönlichkeiten,  die  dem  Ein- 
flüsse des  Alkohols  unterliegen,  aber  wir  dürfen  dabei  nicht  ver- 
gessen, dass  dieses  Gift  gerade  selbst  den  Willen  und  die  Wider- 
standskraft des  Menschen  vernichtet  und  sich  auf  diese  Weise 
die  günstigen  Bedingungen  schafft,  welche  ihm  den  endlichen 
Sieg  ermöglichen. 

Die  psychischen  Störungen,  welche  der  Alkoholmissbrauch 
erzeugt,  sind  ausser  dem  Rausche  und  dem  alkoholischen 
Schwachsinn  vor  allem  das  Delirium  tremens,  ferner  die  Alko- 
holwahnsinn, der  Verfolgungswahn  der  Trinker  und  gewisse 
Formen  der  Korssakowschen  Geistesstörung.  Ausserdem 
pflegt  der  Alkohol  bei  frischen  Aufregungszuständen  verschie- 
denster Art,  besonders  bei  manischen  und  paralytischen  Kranken, 
eine  rasche  und  sehr  erhebliche  A'erschlimmerung  aller  Erschei- 
nungen herbeizuführen;  bei  epileptischer  Veranlagung  können 
unter  Umständen  selbst  mässige  Alkoholmengen  die  schwersten 
psychischen  Störungen  auslösen.  Zu  beachten  ist  indessen,  dass 


64 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


häufig  die  Neigung  zum  Alkoholmissbrauche  nicht  sowohl  die 
Ursache,  sondern  vielmehr  ein  Zeichen  des  ausgebrochenen  Irre- 
seins darstellt. 

Dem  Alkohol  stehen  chemisch  sehr  nahe  der  Äther*)  und 
das  Paraldehyd **).  Der  erstere  ist  schon  seit  längerer  Zeit 
in  Irland  und  neuerdings  auch  in  Ostpreussen  in  grösserem 
Massstabe  als  billiges  Ersatzmittel  für  den  Alkohol  in  Gebrauch, 
meist  mit  Branntwein  gemischt;  hie  und  da  wird  er  auch  ein- 
geatmet. Wie  S o m m e r mitteilt,  wurden  im  Kreise  Memel  schon 
im  Jahre  1897  nicht  weniger  als  8580  Liter  Äther  zu  Trink- 
zwecken verkauft.  Der  Äther  berauscht  stärker,  als  der  Alko- 
hol; er  scheint  gerade  wie  jener  ein  dauerndes  Siechtum  mit 
Erkrankung  der  Nieren,  der  Leber  und  Verfettung  des  Herzens 
herbeizuführen.  Auch  das  Petroleum  und  das  Benzin  sind 
bisweilen  als  Genussmittel  zur  Erzeugung  von  Rauschzuständen 
benutzt  worden,  seltener  das  Chloroform. 

Die  Wirkung  des  Paraldehyd  auf  das  Seelenleben  ist  der- 
jenigen des  Alkohols  sehr  ähnlich.  Nur  erreicht  die  lähmende 
Wirkung  auf  Auffassung  und  Denken  viel  rascher  sehr  hohe 
Grade,  während  die  psychomotorische  Erregung,  die  beim  Alkohol 
so  stark  ausgeprägt  ist,  verhältnismässig  geringfügig  bleibt.  Aus 
diesen  Gründen  findet  das  Paraldehyd  im  allgemeinen  nur  als 
Schlafmittel,  nicht  als  Genussmittel  Anwendung.  Es  sind  je- 
doch Fälle  bekannt  geworden,  in  denen  eine  allmählich  ein- 
tretende Gewöhnung  zur  dauernden  Anwendung  sehr  hoher  Gaben, 
bis  zu  30  und  40  gr  im  Tage,  und  damit  zu  einem  dem  chro- 
nischen Alkoholismus  entsprechenden  Siechtume  geführt  hat. 
Die  Erscheinungen  waren  Schwinden  der  Esslust,  Sinken  der 
Ernährung,  Abnahme  des  Gedächtnisses  und  der  geistigen  Lei- 
stungsfähigkeit, Zittern.  Einige  Male  wurden  . Zustände  be- 
obachtet, die  genau  dem  Delirium  der  Trinker  glichen. 

Eine  chronische  Vergiftung,  die  zwar  weniger  verbreitet  ist, 
als  der  Alkoholismus,  aber  dafür  noch  immer  erschreckend  zu- 
nimmt, haben  uns  die  letzten  Jahrzehnte  in  der  Morphium- 
sucht kennen  gelehrt,  wie  sie  sich  bei  lange  fortgesetztem 


*)  Sommer,  Neurol.  Centralblatt,  XVIII,  194.  1899. 

**)  Rein  hold,  Therap.  Monatshefte,  1897,  Juni. 


Vergiftungen. 


65 


Gebrauche  von  Morphiumeinspritzungen  entwickelt.  Auch  beim 
Morphium  begegnen  wir  im  allgemeinen  einer  Verbindung  von 
lähmenden  und  erregenden  Wirkungen  des  Giftes  auf  die 
Hirnrinde;  wie  es  indessen  scheint,  betreffen  die  ersteren  mehr 
die  Willensantriebe,  die  letzteren  mehr  die  Auffassung  und 
die  Verstandesleistungen.  Da  das  anfängliche  Wohlbehagen 
schon  nach  einigen  Stunden  einer  sehr  quälenden  Erschlaf- 
fung und  Niedergeschlagenheit  weicht,  die  nur  durch  das  Mittel 
selbst  wieder  beseitigt  werden  kann,  so  bildet  sich  überall 
dort,  wo  dem  Kranken  das  Morphium  zugänglich  ist,  ein  be- 
ständiger Wechsel  zwischen  scheinbarem  Wohlbefinden  unter  dem 
Einflüsse  des  Giftes  und  jenem  unangenehmen  Nachstadium  des 
morphinistischen  Katzenjammers  heraus.  Dazu  kommt,  dass  mit 
der  Zeit  eine  wachsende  Gewöhnung  an  das  Mittel  eintritt,  die 
gebieterisch  eine  oft  ins  Unglaubliche  gehende  Erhöhung  der 
Gabe  fordert.  Auf  diese  Weise  entsteht  das  Bild  des  chronischen 
Morphinismus  mit  seinen  schweren  Folgen  für  die  körperliche, 
geistige  und  sittliche  Leistungsfähigkeit,  mit  dessen  Betrachtung 
im  einzelnen  wir  uns  späterhin  noch  sehr  eingehend  zu  beschäf- 
tigen haben  werden.  Ihm  entspricht  offenbar  in  allen  wesentlichen 
Zügen  dasjenige  der  Opiophagie,  wie  sie  in  Ostasien  so  weit  ver- 
breitet ist,  doch  scheint  das  Opium  mehr,  als  das  Morphium,  die 
Entstehung  heiterer,  farbenreicher  Traumzustände  zu  begünstigen. 

Zur  Milderung  der  Entziehungserscheinungen  bei  der  Mor- 
phiumentwöhnung ist  in  neuerer  Zeit  das  Co  ca 'in  vielfach  in 
Anwendung  gezogen  worden.  Nur  zu  bald  hat  sich  indessen  heraus- 
gestellt, dass  dieses  Mittel  noch  schlimmere  Gefahren  mit  sich 
führt,  als  das  Morphium.  Der  psychische  Verfall  des  Cocainisten 
schreitet  weit  rascher  fort,  als  derjenige  des  Morphinisten,  ja 
auch  des  Trinkers,  und  führt  sehr  bald  zu  hochgradigster  Ab- 
schwächung der  gesamten  psychischen  Leistungs-  und  Wider- 
standsfähigkeit mit  den  Erscheinungen  psychomotorischer  Er- 
regung. Ausserdem  aber  entwickelt  sich  unter  dem  Einflüsse 
jenes  Giftes  ein  eigenartiges  Krankheitsbild,  der  Cocainwahn- 
sinn. In  ihrem  Heimatlande  Peru  ist  die  Coca  ein  beliebtes 
Genussmittel;  auch  dort  sind  die  schweren  Folgen  des  regel- 
mässigen Cocagebrauches  für  die  leibliche  und  geistige  Gesund- 
heit hinlänglich  bekannt. 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl. 


5 


66 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


In  grösster  Ausdehnung  wird  ferner  in  Vorderasien  und  Nord- 
afrika das  Haschisch  geraucht.  Warnock*)  berichtet,  dass 
in  die  Anstalt  bei  Kairo  von  253  aufgenommenen  Kranken  80, 
darunter  nur  5 Frauen,  durch  Haschisch  vergiftet  waren.  Er 
unterscheidet  einmal  die  akuten,  traumhaften  Haschischdelirien, 
dann  länger  dauernde  ängstliche  Erregungszustände  und  endlich 
Verblödungszustände  mit  grosser  Willensschwäche  und  erhöhter 
gemütlicher  Reizbarkeit.  Ähnliche  Erkrankungen  scheint  das 
in  Nordsibirien  gewohnheitsgemäss  genossene  Gift  des  Fliegen- 
schwammes zu  erzeugen. 

Von  den  Arzneimitteln  geben  vielleicht  die  Bromsalze 
am  häufigsten  Anlass  zu  psychischen  Störungen.  Zu  lange  fort- 
gesetzte Anwendung  derselben  bewirkt  eine  Abschwächung  der 
psychischen  Leistungen  bis  zur  völligen  Stumpfheit  mit  gleich- 
zeitigen nervösen  Lähmungserscheinungen.  Dazu  gesellen  sich 
Verdauungsstörungen,  bronchitische  Erkrankungen  und  die  be- 
kannte Acne.  Der  hie  und  da  beobachtete  Missbrauch  des  S u 1 - 
fonals  führt  zu  bedeutender  Verlangsamung  der  Auffassung 
und  des  Denkens,  Unbesinnlichkeit,  Verworrenheit,  Schläfrigkeit; 
zugleich  stellen  sich  Schwindel,  Ataxie,  Schwäche  in  den  Beinen, 
epileptiforme  Anfälle,  Parästhesien,  ferner  Übelkeit,  Erbrechen 
und  Verdauungsstörungen  ein.  Nach  Jodoform  gebrauch**) 
ist  ängstliche,  weinerliche  Unruhe  beobachtet  worden,  die  sich 
bis  zu  deliranter  Verwirrtheit  mit  Sinnestäuschungen  steigern 
kann;  ob  bei  den  übrigen  auf  Jodoformwirkung  zurückgeführten 
Krankheitsbildern  der  ursächliche  Zusammenhang  sicher  ist,  er- 
scheint mir  zweifelhaft.  Vereinzelte  Fälle  von  Vergiftungsdelirien 
liegen  ferner  vor  bei  Atropin,  Chinin,  Salicylsäure, 
Leuchtgas,  Schwefelwasserstoff,  Stickstoffoxy- 
dul u.  s.  f. 

Grössere  praktische  Bedeutung  haben  gewisse  Vergiftungen, 
die  als  Gewerbekrankheiten  auftreten.  Dem  Quecksilber, 
wie  es  in  Bergwerken,  Spiegelfabriken,  unter  Umständen  auch 
bei  antiluetischen  Kuren,  massenhaft  aufgenommen  wird, 
schreibt  man  Geistesstörungen  zu  mit  sehr  erhöhter  Reiz- 


*)  Warnock,  Journal  of  mental  Science,  Januar  1903,  96. 

**)  Schlesinger,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.  LIV,  6. 


Vergiftungen. 


67 


barkeit,  Schreckhaftigkeit,  Verlegenheit,  Verwirrtheit,  Sinnes- 
täuschungen, ängstlichen  Träumen  und  Schlaflosigkeit.  Auf 
dieser  Grundlage  sollen  dann  weiterhin  Aufregungszustände 
verschiedener  Art  oder  aber  eine  allmähliche  Abnahme  aller 
psychischen  Leistungen  zur  Entwicklung  gelangen,  Schwäche 
des  Gedächtnisses  und  Urteils,  Gemütsstumpfheit  und  Willen- 
losigkeit. Die  besonders  bei  Malern,  Giessern  und  Schriftsetzern 
beobachtete  „Encephalopathia  saturnin a“*)  erzeugt  ein- 
mal akut  verlaufende  Bleidelirien  mit  tiefer  Bewusstseinstrübung 
und  Sinnestäuschungen,  sodann  aber  ausgeprägte  psychische 
Schwächezustände  mit  Abnahme  des  Gedächtnisses,  gemütlicher 
Stumpfheit,  Angstgefühlen,  Verfolgungsideen,  Selbstmordneigung 
und  Ausbrüchen  von  Gewalttätigkeit.  Dazu  gesellen  sich  Kopf- 
schmerzen, epileptische  Krämpfe,  Muskelzuckungen,  Zittern, 
Sprachstörung,  Radialislähmung  und  die  sonstigen  bekannten 
Zeichen  der  chronischen  Bleivergiftung.  Die  Nervenzellenverände- 
rungen  bei  rascher  Einfuhr  von  Blei  hat  N i s s 1 näher  verfolgt. 

Die  Vergiftung  mit  Phosphor  scheint  nach  meinen 
Beobachtungen  in  den  letzten  Lebenstagen  deliriöse  Zustände 
mit  Verworrenheit,  Stimmungswechsel  und  ausgeprägt  para- 
phasischen  Reden  unter  Übergang  in  tiefstes  Koma  erzeugen 
zu  können.  Die  Rindenzellen  zeigen  sich  in  der  Weise  ver- 
ändert, dass  sich  die  nicht  färbbare  Substanz  sehr  stark 
färbt,  der  feinere  Aufbau  sich  verwischt,  der  Umriss  des 
Kernes  undeutlich  wird;  schliesslich  verschwinden  die  Zellen 
ganz,  oder  sie  bleiben  als  schattenartige  Gebilde  ohne  deut- 
liche Gliederung  in  ihren  früheren  Umrissen  noch  annähernd 
erkennbar.  Das  Kohlenoxydgas**),  das  den  Sauerstoff  aus 
dem  Hämoglobin  verdrängt  und  Stauungen,  Blutungen  und  Er- 
weichungsherde im  Hirn  herbeiführt,  erzeugt  einmal  schwere  Ver- 
worrenheit mit  Delirien  und  Erinnerungsverlust,  der  vielfach  auf 
die  Zeit  vor  der  Vergiftung  zurückgreift.  Sodann  aber  kann  sich 
einige  Tage  nach  der  Erholung  aus  diesem  Zustande  ein  geistiger 
Schwächezustand  entwickeln,  der  namentlich  durch  hochgradige 
Gedächtnisschwäche  neben  Unklarheit  und  Stumpfheit  gekenn- 

*)  Jolly,  Chariteannalen,  XIX;  Probst,  Monatsschr.  f.  Psych.,  IX, 
444;  Quensel,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXXV,  612. 

**)  Greidenberg,  Annales  medico-psych.,  VIII,  12,  58,  1900. 

5* 


68 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


zeichnet  ist  und  unter  Umständen  unheilbar  wird.  Halbseitige 
Schwäche,  Erschwerung  der  Sprache,  Unsicherheit  der  Bewe- 
gungen, Steigerung  der  Reflexe  weisen  dabei  auf  greifbare  Ilirn- 
schädigungen  hin. 

Eine  ganz  besondere  Bedeutung  für  die  Entstehung  von 
Geisteskrankheiten  ist  auch  dem  Schwefelkohlenstoff *) 
zugeschrieben  worden,  der  neben  Verdauungsstörungen  Kopf- 
schmerzen, Schlaflosigkeit,  Gedächtnisschwäche  und  neuritische 
Erscheinungen  hervorzurufen  vermag.  Eine  ganze  Reihe  ver- 
schiedenartiger, zum  Teil  selbst  unheilbarer  Psychosen  soll  durch 
die  Einatmung  der  Dämpfe  jenes  Stoffes  in  Gummifabriken  erzeugt 
werden.  Abgesehen  indessen  von  gewissen  rauschartigen,  raach 
verlaufenden  Erregungszuständen,  entsprechen  die  bisher  bei 
Schwefelkohlenstoffarbeitern  beobachteten  psychischen  Störungen 
im  allgemeinen  völlig  solchen  Krankheitsbildern,  die  wii  auch 
ohne  Giftwirkung  auftreten  sehen,  namentlich  der  Hysterie  und 
der  Dementia  praecox.  Der  Nachweis,  dass  die  Schwefelkohlen- 
stoffvergiftung hier  mehr  als  eine  Gelegenheitsursache  gewesen 
sei,  scheint  mir  daher  noch  nicht  erbracht  zu  sein.  Endlich  liegen 
noch  einige  Beobachtungen  von  plötzlichen  rauschartigen  Er- 
regungszuständen nach  Vergiftungen  durch  Anilin,  Binitro- 
toluol  und  To  luidin**)  vor. 

Organerkrankungen.  Einer  der  schwierigsten  und  umstritten- 
sten Abschnitte  in  der  Ätiologie  der  Psychosen  ist  die  Lehre  von 
dem  Einflüsse  der  Organerkrankungen.  Hier  ist  der  Zusammen- 
hang naturgemäss  stets  ein  sehr  verwickelter,  selbst  durch  grosse 
Zahlen  nicht  immer  sicher  nachweisbarer,  so  dass  die  Deutung 
der  einzelnen  Erfahrung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zumeist 
dem  persönlichen  Ermessen  des  Beobachters  überlassen  bleibt. 
Unter  den  Erkrankungen  der  Sinnesorgane  sind  es  namentlich 
Ohrenleiden,  welchen  ein  Einfluss  auf  die  Entstehung  von  Psy- 
chosen zuzukommen  scheint.  Einerseits  findet  man  bei  lange 
dauernden  Gehörstäuschungen  häufiger  alte  Mittelohr erkrankungen 


*)  H a m p e , Über  die  Geisteskrankheiten  infolge  Schwefelkohlenstoff- 
vergiftung. 1895;  Reynolds,  Journal  of  mental  Science,  XLII,  25;  Lau- 
denheimer,  Die  Schwefelkohlenstoffvergiftung  der  Gummiarbeiter.  1899; 
Köster,  Archiv  f.  Psycli.,  XXXII,  569,  903. 

**)  Friedländer,  Neurol.  Centralblatt,  XIX,  155,  294,  1900. 


Organerkrankungen. 


69 


mit  Veränderungen  der  elektrischen  Akusticusreaktion,  so  dass 
man  sich  der  Annahme  eines  gewissen  Zusammenhanges  nicht 
wohl  erwehren  kann;  der  Beeinträchtigungswahn  solcher  Kranker 
erinnert  geradezu  an  das  bekannte  Misstrauen  der  Schwerhörigen. 
Sodann  sieht  man  bisweilen  bestehende  subjektive  Geräusche  mit 
der  Entwicklung  psychischer  Störungen  sich  verschlechtern  und 
wieder  bessern  (gemeinsame  Ursache?).  Endlich  hat  man  hier 
und  da  auch  ängstliche  Aufregungszustände  bei  akuteren  oder  bei 
Verschlimmerung  chronischer  Ohrenleiden  beobachtet.  Augen- 
erkrankungen pflegen,  soweit  sie  nicht  Teilerscheinungen  eines 
Gehirnleidens  sind,  in  keiner  näheren  Beziehung  zum  Irresein  zu 
stehen. 

Von  den  Lungenleiden  haben  wir  die  Tuberkulose  und 
die  akuten  fieberhaften  Erkrankungen  schon  oben  erwähnt;  es 
lässt  sich  über  sie  weiter  nicht  viel  sagen,  als  dass  die  Verkleine- 
rung der  Atmungsfläche  mit  ihren  Folgen  für  den  Gasaustausch, 
dann  aber  die  Beklemmungsgefühle  bei  emphysematischen  und 
namentlich  asthmatischen  Beschwerden  wohl  auch  auf  den  Ab- 
lauf der  psychischen  Vorgänge  einigen  Einfluss  gewinnen  können. 

Herzleiden*)  scheinen  bei  Geisteskranken  etwas  häu- 
figer vorzukommen,  als  sonst;  sie  dürften  einmal  (bei  Hyper- 
trophie des  linken  Ventrikels)  durch  gelegentliche  Blutwallungen, 
dann  aber  (bei  unausgeglichenen  Klappenfehlern,  bei  Perikarditis 
und  Entartung  des  Herzmuskels)  durch  venöse  Stauungen  und 
allgemeine  Abschwächung  des  Blutkreislaufes  von  Bedeutung  wer- 
den. Als  Andeutung  derartiger  Einwirkungen  darf  wohl  schon  die 
in  der  Gesundheitsbreite  gelegene,  bekannte  gemütliche  Reizbar- 
keit Herzkranker  gelten.  Dass  ausserdem  die  Beklemmungs- 
gefühle und  das  Herzklopfen  nicht  ohne  Einfluss  sind,  ist  sehr 
wahrscheinlich.  Smith  hat  bei  Angstzuständen  und  Verstim- 
mungen verschiedener  Art,  namentlich  auch  unter  dem  Einflüsse 
des  Alkohols,  sehr  erhebliche  Erweiterungen  des  Herzens  be- 
schrieben, doch  wird  abzuwarten  sein,  ob  seine  Befunde  sich 
bestätigen  und  wie  weit  sie  ursächliche  Bedeutung  haben.  Jeden- 


*)  Witkowski,  Allgemeine  Zeitschrift  f.  Psychiatrie,  XXXII,  347; 
Karrer  in  Hagen,  Statistische  Untersuchungen  über  Geisteskrankheiten. 
1876;  Reinhold,  Münchner  Medizin.  Wochenschr.,  1894,  16. 


70 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


falls  isfc  nicht  ausser  acht  zu  lassen,  dass  viele  Störungen  der 
Herztätigkeit  nicht  Ursache,  sondern  Begleiterscheinung  oder 
Folge  der  Geisteskrankheit  sein  dürften.  So  fand  R e i n h o 1 d 
namentlich  bei  Melancholischen  ungemein  häufig  leichtere  Ab- 
weichungen, Fehlen  oder  Abschwächung  des  Spitzenstosses,  Ver- 
breiterung der  Herzdämpfung,  Beschleunigung  der  Herztätigkeit, 
Veränderungen  an  den  Herztönen,  die  er  als  die  W irkungen  des 
körperlichen  Allgemeinleidens  auf  fasst,  welches  der  psychischen 
Verstimmung  zu  Grunde  liegt.  Er  denkt  dabei  geradezu  an  \ er- 
giftungserscheinungen  durch  Stoffwechselprodukte.  Auch  bei  der 
Dementia  praecox  ist  Beschleunigung  oder  starke  Verlangsamung 
der  Herztätigkeit  sehr  gewöhnlich,  während  bei  den  psychogenen 
Erkrankungen  besonders  die  Erregbarkeit  des  Herzens  erhöht  zu 
sein  pflegt.  Dass  greifbare  Schädigungen  des  Herzmuskels  beim 
Alkoholismus,  bei  der  Paralyse,  bei  den  Geistesstörungen  der 
höheren  Lebensalter  sehr  häufig  sind,  lehrt  der  Leichenbefund. 

Recht  ungenügend  bekannt  ist  bisher  die  Bedeutung  dei 
Gefässerkrankungen  bei  Psychosen.  Früher  war  man  ge- 
neigt, möglichst  viele  Formen  des  Irreseins  auf  Lähmung  oder 
Krampf  von  Hirngefässen  und  dadurch  bewirkte  Störungen  der 
Ernährung  in  einzelnen  Rindengebieten  zurückzuführen.  Neuer- 
dings wird  mehr  den  eigentlichen  Erkrankungen  der  Gefässe  eine 
wichtige  Rolle  zugeschrieben,  namentlich  den  luetischen  und  den 
arteriosklerotischen  Veränderungen.  Die  Verdickung  und  Er- 
starrung des  Gefässrohres,  der  Verlust  der  Elastizität,  unter  Um- 
ständen auch  die  Verengerung  seines  Innenraumes,  die  ^ er- 
stopfung  sollen  die  Blutversorgung  erschweren  oder  aufheben, 
während  die  Bildung  von  kleinen  Ausbuchtungen,  die  Blutaustritte 
das  Hirngewebe  unmittelbar  zerstören  können.  Es  unterliegt 
keinem  Zweifel,  dass  ausgebreitete  Gefässerkrankungen  verschie- 
dener Art  bei  der  Hirnlues,  beim  chronischen  Alkoholismus,  bei 
der  Paralyse,  beim  Altersblödsinn  und  bei  den  arteriosklerotischen 
Geistesstörungen  regelmässig  gefunden  werden.  Wie  weit  sie 
aber  Ursachen  und  wie  weit  sie  nur  Begleiterscheinungen  jener 
Krankheitsvorgänge  sind,  lässt  sich  zur  Zeit  noch  nicht  erkennen. 
Soweit  die  Intima  der  Gefässe  mit  erkrankt,  ist  wohl  auch  daran 
zu  denken,  dass  der  Stoffwechsel  des  Blutes  selbst  gestört  wird, 
zumal  die  Veränderungen  sich  in  der  Regel  über  weite  Gefäss- 


Organerkrankungen. 


71 


gebiete  auch  in  anderen  Teilen  des  Körpers  zu  erstrecken 
pflegen. 

Die  Zeichen  erhöhter  vasomotorischer  Erregbarkeit,  leichtes 
Erröten,  Dermatographie  bis  zur  Quaddelbildung,  begegnen  uns 
bei  verschiedenen  Formen  des  Irreseins,  namentlich  bei  der 
Paralyse,  der  Dementia  praecox  und  bei  der  Schreckneurose.  Bei 
katatonischen  Kranken  entwickeln  sich  im  Stupor  ungemein  häufig 
die  allerstärksten  Grade  der  Cyanose.  Da  diese  Störung  durchaus 
keine  klaren  Beziehungen  zu  dem  Grade  der  Bewegungslosigkeit 
zeigt  und  bei  anderen  Stuporformen  weit  weniger  hervortritt, 
haben  wir  es  hier  schwerlich  mit  mechanisch  bedingten  Stau- 
ungen, sondern  wohl  mit  Gefässlähmung  inneren  Ursprunges,  viel- 
leicht auch  mit  Veränderungen  im  Blute  selbst  zu  tun.  Lange 
fortdauernde  Schwankungen  des  gemütlichen  Gleichgewichtes 
scheinen  die  Entwicklung  von  Gefässerkrankungen  zu  begün- 
stigen, möglicherweise  nach  Thomas  Annahme  in  der  Weise, 
dass  die  Muskelwand  der  Gefässe  durch  die  häufigen  Änderungen 
der  Gefässweite  geschädigt  werden.  Vielleicht  spielt  dieser  Um- 
stand beim  manisch-depressiven  Irresein  und  bei  der  Schreck- 
neurose eine  Rolle,  in  deren  Verlauf  gern  arteriosklerotische 
Veränderungen  auftreten. 

Eine  sehr  weitgehende  ursächliche  Bedeutung  hat  man  von 
jeher  den  Erkrankungen  der  V erdauungswerkzeuge  zu- 
geschrieben; namentlich  in  der  älteren  Psychiatrie  spielten  die 
Hämorrhoiden,  die  Stauungen  im  Pfortadersystem,  die  „Verstim- 
mungen“ der  Unterleibsgeflechte  eine  sehr  grosse  Rolle.  In  der 
Tat  ist  schon  der  Einfluss  leichter  Verdauungsstörungen  auf  das 
allgemeine  psychische  Wohlbefinden,  namentlich  bei  nervös  ver- 
lagten  Personen,  ein  ganz  unverkennbarer*).  Es  scheint  sich  bei 
diesem  Zusammenhänge  einerseits  um  die  psychische  Wirkung 
unangenehmer,  dauernder  Organgefühle,  dann  aber  um  Selbst- 
vergiftungen oder  vielleicht  auch  um  Störungen  der  allgemeinen 
Blutverteilung  durch  Stauungen  im  Unterleibe  zu  handeln.  Für 
letztere  Erklärung  spricht  die  bekannte  Erfahrung  von  Nicolai 
(des  „Proktophantasmisten“  aus  Goethes  Walpurgisnacht), 
dessen  Hallucinationen  durch  eine  Blutentziehung  am  After  ver- 


*)  Herzog,  Archiv  f.  Psych.,  XXXI,  170. 


72 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


schwanden.  Bei  chronischen  Magen-  und  Darmleiden  kommt  als 
wichtiger  Umstand  noch  die  empfindliche  Beeinträchtigung  der 
allgemeinen  Ernährung  hinzu.  Verdauungsstörungen,  namentlich 
Verstopfung,  sind  bei  frischen  Geisteskrankheiten  ungemein  häufig, 
besonders  in  Depressionszuständen  aller  Art,  aber  sie  sind  sicher- 
lich vielfach  als  Folge  der  psychisch  bedingten  Unregelmässig- 
keiten in  der  Nahrungsaufnahme  und  nicht  als  Ursache  derselben 
anzusehen.  Allerdings  hat  Wagner*)  bei  gewissen  akuten 
Geistesstörungen  eine  Selbstvergiftung  durch  Zersetzungsstoffe 
vom  Darm  aus  angenommen;  er  fand  dann  Aceton  und  eine  Reihe 
weiterer  krankhafter  Bestandteile  im  Harn,  auch  Vermehrung  der 
Indicanausscheidung.  Bei  schwerem  Darniederliegen  aller  psy- 
chischen Leistungen  scheint  häufiger  Herabsetzung  der  Salzsäure- 
abscheidung  im  Magen  vorzukommen;  auch  starke  Schwankungen 
des  Salzsäuregehaltes  im  Magensafte  sind  bei  verschiedenartigen 
Geistesstörungen  nicht  selten**).  Mangelhafte  Verarbeitung  der 
Nahrung  müssen  wir  wohl  in  jenen  hie  und  da  beobachteten  fällen 
annehmen,  in  denen  trotz  massenhafter  Speisenzufuhr  bei  wahrem 
Heisshunger  das  Körpergewicht  sich  durchaus  nicht  heben  will. 
Meist  handelt  es  sich  um  Paralytiker  und  Katatoniker.  Parasiten 
im  Darm  können  anscheinend  bei  Kindern  deliriöse  Erregungs- 
zustände, auch  Pruritus  in  den  Genitalien  und  allerlei  Stimmungs- 
anomalien herbeiführen.  Im  ganzen  wissen  'wir  über  alle  diese 
Verhältnisse  sehr  wenig  Sicheres. 

Unter  den  Nierenerkrankungen ***)  dürften  haupt- 
sächlich diejenigen  in  Anschlag  zu  bringen  sein,  die  zur  Ent- 
stehung von  akuten  oder  chronischen  urämischen  "Vergiftungen 
Anlass  geben.  Eiweiss  im  Harn  sieht  man  vorübergehend  oder 
dauernd  namentlich  bei  Trinkern  und  Paralytikern  auftreten. 
Von  dem  Bestehen  eines  klar  gekennzeichneten  „urämischen  Irre- 
seins“, ausser  den  früher  erwähnten  deliriösen  Zuständen,  habe 
ich  mich  jedoch  noch  nicht  überzeugen  können. 


*)  Wagner,  Wiener  klinische  Wochenschrift.  1896. 

**)  Leubuscher  und  Ziehen,  Klinische  Untersuchungen  über  die 
Salzsäureabscheidung  des  Magens  bei  Geisteskranken.  1892. 

***)  Hagen,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXVIII,  1 ; V a s s a 1 e , 
Eivista  sperimentale  di  freniatria,  XVI,  1890;  Auerbach,  Allgem.  Zeitschr. 
f.  Psychiatrie,  LII,  337. 


Organerkrankungen. 


73 


Weitaus  die  grösste  Bedeutung  für  die  Entstehung  des  Irre- 
seins ist  von  seiten  der  Irrenärzte  den  krankhaften  Vorgängen 
in  den  Geschlechtsorganen  zugeschrieben  worden.  Ins- 
besondere hat  der  bessernde  Einfluss  gynäkologischer  Eingriffe 
auf  manche  nervösen  und  psychischen  Störungen  zu  der  Ansicht 
geführt,  dass  Lageveränderungen  des  Uterus,  Erosionen  am  Mut- 
termund, Erkrankungen  der  Ovarien  und  Tuben,  Pruritus  vulvae, 
Vaginismus  unter  Umständen  psychische  Störungen  zu  erzeugen 
imstande  seien.*)  Als  der  klinische  Ausdruck  dieser  Wirkungen 
wurde,  ja  wird  vielfach  heute  noch  das  formenreiche  Krankheits- 
bild der  Hysterie  betrachtet.  Gerade  hier  sehen  wir  eben  häufig 
genug  überraschende  Besserungen,  wahre  Wunderkuren,  durch 
Beseitigung  der  verschiedenartigsten  leichteren  oder  schwereren 
Störungen  eintreten.  Es  lässt  sich  nicht  in  Abrede  stellen,  dass  es 
sich  bei  den  wohltätigen  Folgen  körperlicher  Eingriffe  öfters  um 
die  Beseitigung  bestimmter  schädlicher  Reizwirkungen  auf  ein 
krankhaft  empfindliches  Nervensystem  handelt.  Wir  wissen  je- 
doch andererseits  sicher,  dass  bisweilen  der  gleiche  Erfolg  durch 
ganz  andere,  selbst  unsinnige  Mittel  erreicht  werden  kann.  Daraus 
geht  hervor,  dass  wir  es  in  derartigen  Fällen  wesentlich  mit 
psychischen  Wirkungen  zu  tun  haben.  Auch  die  Entstehung 
der  Krankheitserscheinungen  wird  damit  natürlich  auf  das  psy- 
chische Gebiet  verlegt. 

In  der  Tat  können  wir  heute  auf  Grund  unserer  klinischen 
Erfahrung  mit  Sicherheit  sagen,  dass  Erkrankungen  der  weib- 
lichen Geschlechtsorgane  nur  dann  zum  Irresein  führen,  wenn 
bereits  eine  krankhafte  Veranlagung,  den  Boden  genügend  vor- 
bereitet hat.  Aus  diesem  Grunde  tragen  die  so  entstehenden 
Geistesstörungen  auch  durchaus  kein  einheitliches  klinisches  Ge- 
präge; dieses  letztere  ist  vielmehr  ganz  abhängig  von  der  Kon- 
stitution des  Erkrankenden.  Meist  wird  es  sich  daher  um  eine 
der  vielen  Formen  des  Entartungsirreseins  handeln.  Beachtens- 
wert ist  übrigens  für  diese  ganze  Frage  auch  der  Umstand,  dass 

*)  L.  Mayer,  Die  Beziehungen  der  krankhaften  Zustände  und  Vor- 
gänge in  den  Sexual  Organen  des  Weibes  zu  Geistesstörungen.  1869;  He  gar, 
Der  Zusammenhang  der  Geschlechtskrankheiten  mit  nervösen  Leiden  und  die 
Kastration  bei  Neurosen.  1885;  K r ö m e r , Beitrag  zur  Kastrationsfrage,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LII,  1. 


74 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


die  schwersten  Erkrankungen  der  Geschlechtsorgane,  die  bös- 
artigen Geschwülste,  verhältnismässig  selten  Anlass  zu  Geistes- 
störungen zu  geben  scheinen.  Allenfalls  beobachten  wir  bei 
ihnen  jene  Formen  des  Irreseins,  die  auch  sonst  bei  schweren 
Ernährungsstörungen  zur  Entwicklung  gelangen.  Den  Geschlechts- 
leiden bei  Männern  scheint  eine  irgend  erhebliche  ursächliche 
Bedeutung  für  das  Irresein  nicht  zuzukommen. 

Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft.  Die  nahen  Be- 
ziehungen, in  welchen  das  Geschlechtsleben*)  zu  den  psychischen 
Zuständen  des  Menschen  steht,  wird  deutlich  genug  durch  die 
eigentümlichen  Wandlungen  der  Entwicklungsjahre  und  der  Rück- 
bildungszeit wie  durch  die  Schwankungen  des  gemütlichen  Gleich- 
gewichtes bezeugt,  die  schon  beim  Gesunden  den  Ablauf  der  Ge- 
schlechtsvorgänge begleiten.  Es  erscheint  daher  begreiflich, 
wenn  die  verschiedenen  Umwälzungen  und  Störungen  auf  diesem 
Gebiete,  wie  sie  den  gesamten  Körper,  insbesondere  das  Nerven- 
system, in  Mitleidenschaft  ziehen,  auch  im  Bereiche  des  Seelen- 
lebens krankhafte  Vorgänge  auszulösen  vermögen. 

In  erster  Linie  werden  als  Ursachen  des  Irreseins  ge- 
schlechtliche Ausschweifungen  und  Onanie**)  be- 
schuldigt. Aus  den  zum  Beweise  herangezogenen  Erfahrungen 
sind  natürlich  zunächst  alle  diejenigen  Fälle  auszuscheiden,  in 
welchen  ängstliche,  zur  Selbstbeobachtung  oder  zur  Selbstanklage 
geneigte  Kranke  Jahre  oder  gar  Jahrzehnte  zurückliegende 
„Jugendsünden“  als  die  Ursache  ihrer  Leiden  angeben;  die  Lektüre 
einer  gewissen  Gattung  von  Schriften,  welche  die  Folgen  der 
Onanie  in  den  grellsten  Farben  schildern,  liefert  dazu  nicht  selten 
die  Anregung. 

Dennoch  lässt  sich  die  Möglichkeit  einer  gelegentlichen  wirk- 
lichen Schädigung  des  Nervensystems  durch  die  hier  besproche- 
nen Ursachen  nicht  ganz  in  Abrede  stellen,  zumal  ja  auch  auf 
diesem  Gebiete  ohne  Zweifel  das  Mass  der  persönlichen  Leistungs- 
und Widerstandsfähigkeit  ein  äusserst  verschiedenes  ist.  Es  wäre 
denkbar,  dass  einmal  (wohl  nur  bei  Männern  und  im  jugendlichen 
Alter)  der  Säfteverlust  eine  gewisse  Bedeutung  für  die  Gesamt- 


*)  Löwenfeld,  Sexualleben  und  Nervenleiden,  3.  Aufl.  1903. 

**)  v.  Kraf  f t-Ebing,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXXI,  4. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


75 


ernährung  gewinnen  kann;  es  wäre  ferner  möglich,  dass  die  häufige 
starke  Erregung  des  Nervensystems  die  allgemeine  Reizbarkeit 
desselben  steigert  und  seine  Widerstandsfähigkeit  herabsetzt. 
Dann  ist  aber  wohl  auch  auf  den  entsittlichenden  Einfluss  hin- 
zuweisen, welchen  das  stete  Unterliegen  im  fruchtlosen  Kampfe 
mit  übermächtig  angewachsenen  Antrieben  auf  die  Willens- 
festigkeit des  Menschen  ausübt.  Nach  allen  diesen  Richtungen 
hin  dürfte  die  Masturbation  deswegen  verderblicher  wirken,  als 
der  natürliche  Geschlechtsverkehr,  weil  sie  ihr  Ziel  viel  häufiger 
und  leichter  zu  erreichen  vermag,  als  der  letztere.  Beachtens- 
wert sind  übrigens  auch  jene  vereinzelten  Beobachtungen,  in 
denen  (namentlich  bei  jungen  Frauen)  der  erste  Coitus  akute  Auf- 
regungs-  oder  Depressionszustände  herbeiführt  („Nuptiales  Irre- 
sein“).*) Wahrscheinlich  handelt  es  sich  hier  nur  um  die  Aus- 
lösung schon  vorbereiteter  Erkrankungen,  meist  wohl  aus  der 
Gruppe  des  manisch-depressiven  Irreseins.  So  waren  in  einem 
derartigen  Fälle  meiner  Beobachtung  die  Anzeichen  der  beginnen- 
den Erregung  bereits  vor  der  Hochzeit  vorhanden,  ja  man  hoffte 
törichterweise,  die  Erkrankung  durch  die  Heirat  heilen  zu  können. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ist  die  hartnäckige, 
unausrottbare  Neigung  zur  Masturbation  ohne  Zweifel  ein  Zeichen, 
nicht  die  Ursache  der  Geistesstörung;  wir  haben  es  einfach  mit 
einer  krankhaft  gesteigerten  geschlechtlichen  Erregbarkeit  zu 
tun.  Das  gilt  gewiss  für  jene  Fälle  von  Idiotie  und  Schwachsinn, 
in  denen  die  Masturbation  bereits  in  der  frühesten  Kindheit  be- 
ginnt und  allen  Erziehungsmassregeln  trotzt;  es  gilt  aber  ferner 
auch  für  diejenige  Form  des  Irreseins,  welche  man  bisher  als  be- 
sondere Eigentümlichkeit  der  Onanisten  betrachtet  hat.  Die 
Zeichen  desselben  sind  fortschreitende  Abnahme  der  psychischen 
Leistungsfähigkeit,  Unvermögen  zur  Auffassung  und  geistigen 
Verarbeitung  äusserer  Eindrücke,  Gedächtnisschwäche,  Interesse- 
losigkeit, Gemütsstumpfheit;  in  anderen  Fällen  treten  mehr  die 
Erscheinungen  erhöhter  Reizbarkeit  in  den  Vordergrund,  barocke 
Ideenverbindungen,  Neigung  za  Mysticismus  und  exaltierter 
Schwärmerei  oder  hypochondrische  und  depressive  Verstimmung. 


*)  Dost,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LIX,  876;  Obersteiner,  Jahrb. 
f.  Psych.,  XXII,  313. 


76 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Dazu  gesellen  sich  dann  mannigfaltige  nervöse  Störungen,  be- 
sonders Gemeinempfindungen,  aus  denen  sich  nicht  selten  un- 
sinnige Wahnideen  von  dämonischer  oder  geheimnisvoller  physi- 
kalischer (magnetischer,  elektrischer,  sympathischer)  Beein- 
flussung herausentwickeln.  Wir  erkennen  darin  unschwer  das 
Bild  der  Dementia  praecox,  wie  sie  vorzugsweise  den  Entwick- 
lungsjahren angehört.  So  manche  Gründe  sprechen  dafür,  dass 
das  Geschlechtsleben  bei  dieser  Krankheit  eine  gewisse  Rolle 
spielt,  wie  später  näher  auszuführen  sein  wird,  aber  sie  v.’ird 
keinesfalls  durch  die  Onanie  verursacht.  Es  gibt  zahlreiche  be- 
geisterte Onanisten,  die  nicht  hebephrenisch  werden,  und  um- 
gekehrt fehlt  die  Onanie  bei  Hebephrenischen,  namentlich  bei 
weiblichen,  nicht  selten  gänzlich,  trotz  starker  geschlechtlicher 
Erregung. 

Für  jene  umschriebene  Gruppe  der  Dementia  praecox,  die 
man  mit  dem  Namen  der  Katatonie  bezeichnet,  hat  Tschisch 
als  Ursache  eine  Selbstvergiftung  durch  geschlechtliche  Ent- 
haltsamkeit angenommen.  Er  stützt  sich  darauf,  dass  seine 
Kranken  sämtlich  jugendliche  Landbewohner  und  von  blühendem 
Körperbau  gewesen  seien,  zudem  keine  Äusserungen  über  früheren 
Geschlechtsverkehr  gemacht  hätten  und  ohne  greifbare  äussere 
Ursache  erkrankten.  Ohne  darauf  hinzuweisen,  dass  jene  Kenn- 
zeichnung der  Kranken  schwerlich  eine  klinische  Gruppierung 
gestattet,  dass  viele  Katatoniker  regelmässigen  Geschlechtsver- 
kehr gehabt  haben  oder  ausgiebig  masturbieren,  gibt  es  meines 
Wissens  durchaus  keine  Erfahrung,  die  dazu  berechtigte,  der 
geschlechtlichen  Enthaltsamkeit  einen  derartig  verderblichen  Ein- 
fluss auf  das  Seelenleben  zuzuschreiben.  Die  Mädchen  der  ge- 
bildeteren Stände  müssten  sonst  in  erschreckendem  Umfange 
katatonisch  werden. 

Im  allgemeinen  nimmt  bei  gesunden  Menschen  nach  länger 
dauernder  Enthaltsamkeit  allmählich  die  geschlechtliche  Erreg- 
barkeit ab.  Etwas  anders  liegen  die  Dinge  vielleicht  bei  krank- 
haft veranlagten  Personen;  hier  scheint  der  Kampf  gegen  die 
aufsteigenden  Begierden  Angstzustände  auslösen  zu  können.  Er- 
zwungene Enthaltsamkeit,  namentlich  nach  vorheriger  Gewöhnung 
an  geschlechtliche  Befriedigung,  verführt  ferner  leicht  zur  Onanie 
und  kann  auf  diese  Weise  schädigend  wirken;  andererseits  sehen 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


77 


wir  freilich  häufig  genug  die  Masturbation  neben  geregeltem  ge- 
schlechtlichem Verkehr  sich  entwickeln.  Wo  die  Enthaltsamkeit 
eine  freiwillige  ist,  muss  sie  wohl  richtiger  als  Folge  und  nicht 
als  Ursache  einer  krankhaften  Anlage  aufgefasst  werden,  die  ja 
öfters  mit  unvollständiger  Entwicklung  des  Geschlechtstriebes, 
unter  Umständen  auch  der  Genitalorgane  einhergeht.  Eine  ge- 
wisse Rolle  bei  der  Entstehung  von  Verstimmungen  und  Angst- 
zuständen scheinen  endlich  auch  häufige  sexuelle  Reizungen  ohne 
gehörige  Befriedigung  zu  spielen,  wie  sie  mit  der  Durchführung 
des  „Zweikindersystems“  nicht  selten  verbunden  sind. 

Beim  weiblichen  Geschlechte  pflegt  schon  der  physiologische 
Vorgang  der  Menstruation  regelmässig  von  einer  leichten  Steige- 
rung der  nervösen  und  psychischen  Reizbarkeit  begleitet  zu  sein, 
die  bei  einzelnen  Personen  sogar  fast  krankhafte  Grade  (äusserste 
Verstimmung,  lebhafte  Erregung)  erreichen  kann.  Diese  Vor- 
gänge scheinen  sich  in  der  Zeit  vor  den  Menses  ganz  allmählich 
vorzubereiten,  um  sich  dann  mit  dem  Eintritte  derselben  wieder 
auszugleichen,  so  dass  man  geradezu  von  einer  „menstrualen  Wel- 
lenbewegung“*) im  Organismus  des  Weibes  gesprochen  hat,  die 
sich  auch  im  seelischen  Verhalten  wieder  erkennen  lässt.  Beim 
erstmaligen  Eintritte  der  Menses  kann  sich  die  hysterische 
oder  epileptische  Veranlagung  zum  ersten  Male  in  ohnmachts- 
artigen Anfällen,  Aufregungs-  oder  Dämmerzuständen  äussern. 
Ebenso  gibt  diese  Umwälzung  nicht  selten  Anlass  zum  Auftreten 
der  ersten  leisen  Andeutungen  des  cirkulären  Irreseins  in  Form 
unmotivierter  Verstimmung  oder  leichter  manischer  Erregung. 
Friedmann  hat  ferner  auf  jene  nicht  allzu  häufigen  Fälle 
hingewiesen,  in  denen  schon  vor  dem  Eintritte  der  ersten  Menses 
in  regelmässigen  Zwischenzeiten  kurzdauernde  verwirrte  Auf- 
regungszustände beobachtet  werden,  die  mit  der  Regelung  der 
Menstruation  verschwinden  und  daher  wohl  unzweifelhaft  mit  den 
Vorboten  der  Geschlechtsentwicklung  in  ursächliche  Beziehung 
gesetzt  werden  müssen.  Auch  bei  diesen  Fällen  bin  ich  geneigt, 
an  den  Beginn  cirkulärer  Formen  zu  denken,  welche  später,  wenn 


*)  S c h ü 1 e , Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  XL VII,  1 ; H e g a r , ebenda, 
LVin,  357. 


78 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins, 


auch  erst  nach  Jahren,  von  neuem  einsetzen,  um  sich  nun  in 

typischer  Weise  fortzuentwickeln. 

Tm  Verlaufe  psychischer  Störungen  kommt  dem  Eintritte 
der  Menstruation  und  noch  mehr  vielleicht  den  Unregelmässig- 
keiten derselben  ohne  Zweifel  eine  erhebliche  Bedeutung  zu*). 
Namentlich  Erregungszustände  aller  Art  pflegen  sich  zu  diesen 
Zeiten  einzustellen  oder  zu  steigern.  Wir  kennen  sogar  Fälle 
periodischer  Tobsucht,  welche  sich  so  eng  an  die  Menses  an- 
schliessen,  dass  man  geradezu  von  einem  „menstruellen  Irresein 
sprechen  kann.  Klinisch  handelt  es  sich  dabei  um  manische  oder 
katatonische  Krankheitsbilder.  Aussetzen  der  Menses  beobachten 
wir  öfters  in  cirkulären  Depressionszuständen,  noch  häufiger 
während  der  Entwicklung  der  Dementia  praecox.  Sie  pflegen 
dann  mit  der  Besserung  des  Zustandes  oder  aber  mit  dem  Ein- 
tritt endgültiger  Verblödung  wiederzukehren.  Ob  hier  überall 
das  Ausbleiben  der  Menses  irgendwie  eine  ursächliche  Bedeutung 
hat  oder  nur  Begleiterscheinung  des  Krankheitsvorganges  ist, 
entzieht  sich  zur  Zeit  noch  unserer  Kenntnis.  Die  letztere  An- 
nahme dürfte  indessen  heute  die  grössere  Wahrscheinlichkeit  für 

sich  haben.  . 

Einen  bedeutenden  Einfluss  auf  die  Entwicklung  von  Geistes- 
störungen müssen  wir  endlich  dem  Klimakterium  zuschrei- 
ben. Es  steht  fest,  dass  in  dieser  Zeit  die  Neigung  der  Frauen, 
psychisch  zu  erkranken,  erheblich  anwächst.  Allerdings  wild 
man  für  diese  Tatsache  in  erster  Linie  wohl  die  allgemeinen 
Veränderungen  verantwortlich  machen  müssen,  welche  das  be 
ginnende  Greisenalter,  die  Rückbildungszeit,  einleiten.  Dafür 
spricht  vor  allem  der  Umstand,  dass  wir  beim  männlichen  Ge- 
schlechte,  wenn  auch  nicht  so  häufig,  ganz  dieselben  klinischen 
Formen  des  Irreseins  im  gleichen  Lebensalter  beobachten.  Dahin 
gehört  vor  allem  die  Melancholie  und  das  manisch-depressive 
Irresein,  das  nicht  selten  in  dieser  Zeit  eist  einsetzt. 

Besonders  deutlich  zeigt  sich  die  hervorragende  Rolle,  welche 
das  Geschlechtsleben  auch  für  die  psychische  Persönlichkeit  des 


*)  v.  Krafft-Ebing,  Archiv  f.  Psychiatrie,  VIII,  1 ; Powers,  Bei- 
trag zur  Kenntnis  der  menstrualen  Psychosen,  Diss.  1883;  Schäfer,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psych.,  1893. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


79 


Weibes  spielt,  in  jener  Gruppe  von  Geistesstörungen,  deren  Ent- 
wicklung sich  im  Zusammenhang  mit  den  verschiedenen  Vorgängen 
des  Fortpflanzungsgeschäftes,  der  Schwangerschaft,  dem  Wochen- 
bett und  der  Laktation  vollzieht*).  Die  Angaben  über  die  Häufig- 
keit dieser  Ursachen  beim  Zustandekommen  psychischer  Erkran- 
kungen gehen  ziemlich  weit  auseinander;  im  Mittel  sind  etwa 
14  Prozent  aller  in  Irrenanstalten  beobachteten  Geistesstörungen 
bei  Frauen  auf  dieselben  zurückzuführen.  Davon  kommen  3 Pro- 
zent auf  die  Schwangerschaftspsychosen.  Der  ursäch- 
liche Zusammenhang  scheint  während  dieser  Zeit  hauptsächlich 
durch  die  Veränderungen  in  Mischung  (Abnahme  der  Blutkörper- 
chen und  der  Salze,  Vermehrung  des  Fibrins)  und  Cirkulation 
der  Ernährungsflüssigkeit  (Ausbildung  des  Placentarkreislaufs) 
vermittelt  zu  werden;  vielleicht  ist  auch,  namentlich  bei  erstmalig 
und  bei  unehelich  Schwangeren,  den  psychischen  Ursachen  (Schwe- 
ben zwischen  Hoffnung  und  Furcht  vor  den  Gefahren  der  Geburt, 
Sorgen  u.  s.  f.)  ein  gewisser  Einfluss  zuzuschreiben. 

Unter  klinischem  Gesichtspunkte  haben  wir  es  hier  jedoch 
sicherlich  nicht  mit  einer  einheitlichen  Gruppe  des  Irreseins  zu 
tun,  sondern  die  einzelnen  Fälle  können  eine  sehr  verschiedene 
Bedeutung  haben.  Zunächst  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  ein- 
zelne Anfälle  des  manisch-depressiven  Irreseins,  namentlich  De- 
pressionszustände, durch  die  Umwälzungen  der  Schwangerschaft 
ausgelöst  werden.  Hier  werden  wir  regelmässig  weitere  Anfälle 
auch  ohne  diesen  und  sogar  ohne  jeden  äusseren  Anlass  auf- 
treten  sehen;  andererseits  kann  sich  die  psychische  Erkrankung 
in  mehreren  Schwangerschaften  wiederholen.  Zu  dieser  Gruppe 
bin  ich  geneigt,  auch  die  gewöhnlich  als  periodische  Melancholie 
bezeichneten  Formen  zu  rechnen,  weil  die  Anfälle  des  manisch- 
depressiven  Irreseins  nicht  selten  längere  Zeit  unter  jenem  Bilde 
verlaufen.  Entschieden  häufiger,  als  die  bisher  genannten  Krank- 
heitsbilder, ist  die  Dementia  praecox,  in  Form  von  Depression, 
Stupor  oder  Erregung.  Auch  diese  Störungen  können  in  wieder- 
holten Schwangerschaften  hervortreten,  nachdem  sie  in  der 
Zwischenzeit  mehr  oder  weniger  vollständig  geschwunden  waren; 


*)  Fürstner,  Archiv  f.  Psychiatrie,  V,  505;  Ripping,  Die  Geistes- 
störungen der  Schwangeren,  Wöchnerinnen  und  Säugenden.  1877. 


80 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


meist  bringt  dann  jede  folgende  Schwangerschaft  eine  deutliche 
Verschlechterung  des  psychischen  Gesamtzustandes  mit  sich. 
Ebenso  können  alte  Katatonien  oder  Hebephrenien  unter  dem 
Einflüsse  einer  Schwangerschaft  frische  Nachschübe  zeigen.  Hie 
und  da  sieht  man  auch  Paralysen  sich  in  der  Schwangerschaft 
entwickeln,  die  hier  natürlich  noch  weniger,  als  in  den  übrigen 
Fällen,  die  wirkliche  Ursache  der  Erkrankung  bildet.  Durch  die 
Geburt  wird  keine  der  besprochenen  Formen  des  Irreseins  er- 
heblich beeinflusst;  vielmehr  geht  jene  meist  ohne  besondere 
Begleiterscheinungen  von  statten;  zuweilen  sieht  man  eine  \ er- 
schlimmerung  des  Zustandes,  beim  manisch-depressiven  Irresein 
Umschlag  der  Depression  in  Erregung.  In  einem  von  mir  beobach- 
teten Falle  gebar  eine  stuporöse  Frau  ihr  totes  Kind  in  den  Nacht- 
stuhl, ohne  einen  Laut  von  sich  zu  geben,  so  dass  man  erst  später 
durch  die  Blutung  auf  das  Ereignis  aufmerksam  wurde.. 

Mehr  als  doppelt  so  häufig  (bei  6,8  Prozent  aller  in  die  Irren- 
anstalten auf  genommenen  Frauen;  unter  etwa  400  Wöchnerinnen 
bei  je  einer)  wird  das  Wochenbett*)  Ursache  des  Irreseins, 
hie  und  da  auch  ein  Abortus  mit  starkem  Blutverluste.  Eict- 
gebärende  sind  stärker  gefährdet.  Wir  haben  auch  hier  wieder  zu 
unterscheiden  zwischen  solchen  Erkrankungen,  die  wirklich  durch 
das  Wochenbett  erzeugt,  und  solchen,  die  nur  durch  dasselbe  aus- 
gelöst werden.  Zu  den  ersteren  sind  zunächst  jene  plötzlichen, 
äusserst  heftigen,  deliriösen  Erregungszustände  zu  rechnen,  die 
sich  während  der  Geburt  einstellen  können  und  wegen  der  starken 
Neigung  zu  Gewalttaten  eine  grosse  forensische  Bedeutung  be- 
sitzen; ihre  Dauer  beträgt  meist  nur  wenige  Stunden.  Bei  ihrer 
Entstehung  spielen  einerseits  wahrscheinlich  die  Schmerzen,  der 
Blutverlust,  die  raschen  Kreislaufsänderungen  sowie  die  psy- 
chischen Einwirkungen  der  Geburt  selbst  und  etwaiger  Störungen 
bei  derselben  eine  gewisse  Rolle.  Eine  Wöchnerin  meiner  Be- 
obachtung stürzte  sich  in  einem  derartigen  Zustande  aus  dem 
Fenster  durch  das  darunter  befindliche  Glasdach  eines  Tieib- 


*)  Hansen,  Zeitschr.  f.  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie,  XV,  1;  Hoppe, 
Archiv  f.  Psychiatrie,  XXV,  1.  S d a r o w , Die  puerperalen  Psychosen  vom 
ätiologischen,  klinischen  und  forensischen  Standpunkt.  1896  (russisch);  Aschaf- 
fe n b u r g , Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVIII,  337 ; Meyer,  Berl.  Klin. 
Wochenschr.,  1901,  31;  Siege nthaler,  Jahrb.  f.  Psych.,  XVII,  87. 


Geschlechtsleben  und  Portpflanzungsgeschäft. 


81 


hauses.  Andere  erdrosseln  ihre  Kinder  oder  lassen  dieselben  doch 
unbeachtet  ohne  Nahrung  und  Pflege  zu  Grunde  gehen.  Vielleicht 
handelt  es  sich  hier,  was  die  klinische  Form  wahrscheinlich  machen 
würde,  öfters  um  epileptische,  auch  wohl  hysterische  Dämmer- 
zustände, welche  durch  die  besonderen  Erschütterungen  des 
Gebärvorganges  auch  bei  solchen  Personen  ausgelöst  werden 
können,  die  sonst  nur  geringfügige  und  leicht  übersehene  Zeichen 
krankhafter  Veranlagung  darbieten. 

Eine  zweite  Gruppe  der  Puerperalpsychosen  kommt  durch 
Gifte  zu  stände.  Hierher  gehören  die  eklamptischen  Delirien 
mit  ihrer  urämischen  Grundlage,  die  sich  schon  während  der 
Geburt  oder  in  den  ersten  Tagen  nachher  einzustellen  pflegen. 
Weit  häufiger  sind  die  etwa  am  5.  bis  10.  Tage  des  Wochenbettes 
einsetzenden  Geistesstörungen,  denen  fieberhafte  Erkrankungen 
zu  Grunde  liegen,  Mastitis,  Endokartitis  ulcerosa,  Perimetritis, 
Sepsis,  Pyämie.  Die  Geburtshelfer  sind  geneigt,  einen  grossen 
Teil  der  Wochenbettspsychosen  auf  derartige  Infektionen  zurück- 
zuführen. Es  hat  sich  jedoch  gezeigt,  dass  solche  Erkrankungen 
in  noch  nicht  Vs  der  Fälle  nachweisbar  sind  und  gewiss  noch  viel 
seltener  die  wirklichen  Ursachen  der  geistigen  Störung  bilden. 
Wo  aber  letzteres  der  Fall  ist,  begegnen  uns  im  wesentlichen  die 
klinischen  Bilder  der  Fieber-  und  Infektionsdelirien,  Benommen- 
heit, Sinnestäuschungen,  traumartige  Verworrenheit,  ängstliche 
oder  heitere  Erregung,  Neigung  zum  Übergang  in  Schlummersucht 
und  Koma. 

Ebenfalls  in  näherer  ursächlicher  Beziehung  zum  Wochen- 
bette stehen  die  Erschöpfungspsychosen.  Sie  dürfen 
wohl  mit  den  mächtigen  Umwälzungen  der  ersten  Tage  des 
Wochenbettes  (Ausscheidungen,  Gewichtsabnahme)  in  Zusammen- 
hang gebracht  werden,  denen  allerdings  meist  andere  Einflüsse, 
nervöse  Veranlagung,  schlechte  Ernährung,  ungünstige  Lebens- 
verhältnisse, schon  vorgearbeitet  haben.  Eine  erst  allmählich 
sich  ausgleichende  nervöse  Erschöpfung  mit  erhöhter  gemüt- 
licher Erregbarkeit  ist  eine  so  gewöhnliche  Begleiterscheinung 
des  Wochenbettes,  dass  sie  kaum  als  krankhaft  betrachtet  zu 
werden  pflegt.  Bei  sehr  stürmisch  einsetzender  Erschöpfung 
kann  sich  das  in  der  Regel  rasch  verlaufende  Collapsdelirium 
entwickeln.  In  welchem  Umfange  auch  die  länger  dauernden 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl.  6 


82 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


und  sich  erst  nach  1—2  Wochen  entwickelnden,  meist  als 
Amentia  bezeichneten  klinischen  Formen  auf  eine  Erschöpfung 
oder  auf  andere  Ursachen  zurückgeführt  werden  dürfen,  lässt 
sich  zur  Zeit  noch  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden.  Sie  sind 
im  ganzen  ziemlich  selten.  Die  äusserlich  als  hallucinatorische 
Verwirrtheit  erscheinenden  Fälle  erweisen  sich  bei  genauerer 
Beobachtung  vielfach  als  katatonisch  oder  manisch. 

Ungleich  häufiger,  als  die  besprochenen  Formen,  sind  die- 
jenigen Erkrankungen,  die  durch  das  Wochenbett  nur  ausgelost 
werden.  In  allererster  Linie  sind  hier  die  Katatonien  zu  nennen. 
Die  Häufigkeit,  mit  der  sich  im  Wochenbette  katatonische  Krank- 
heitsbilder, Erregungen  wie  Depressionen  und  namentlich  Stupor- 
zustände, entwickeln,  ist  ungemein  auffallend,  zumal  auch  schon 
bestehende  katatonische  Schwächezustände  sehr  gewöhnlich  un- 
günstig beeinflusst  werden.  Ich  sah  einen  Fall,  in  dem  eine  in 
Schüben  verlaufende  Katatonie  nach  jedem  Wochenbette  stärker 
hervortrat,  bis  endlich  der  vierte  Anfall  zu  tiefer,  endgültiger 
Verblödung  führte.  Solche  Erfahrungen  erwecken  den  ^ erdacht, 
dass  doch  vielleicht  noch  eine  besonders  innige  Beziehung  zwi- 
schen dem  Wochenbette  und  der  Katatonie  bestehe.  Eine  solche 
Vorstellung  liegt  auch  deswegen  nahe,  weil  die  entschiedene 
Vorliebe  der  Katatonie  für  die  Entwicklungsjahre  und  das  Ruck- 
bildungsalter ebenfalls  an  dunkle  Einflüsse  des  Geschlechtslebens 
auf  jene  Krankheit  denken  lässt.  Auf  der  anderen  Seite  scheinen 
sich  jedoch  die  Katatonien  des  Wochenbettes  durchaus  gar  nicht 
von  anderen  Formen  zu  unterscheiden,  so  dass  wir  wenigstens 
einstweilen  nicht  berechtigt  sind,  aus  ihnen  eine  eigenartige 
klinische  Gruppe  zu  bilden  und  damit  dem  Wochenbette  eine  mehr 
als  auslösende  Bedeutung  zuzuschreiben. 

Zur  Vorsicht  in  dieser  Frage  werden  wir  namentlich  durch 
das  Beispiel  des  manisch-depressiven  Irreseins  gemahnt,  dem  wir 
fast  ebenso  häufig  im  Wochenbette  begegnen  wie  der  Katatonie. 
Depressive  Formen  überwiegen,  aber  auch  manische,  fehlen 
durchaus  nicht.  Gar  nicht  selten  sehen  wir  die  Anfälle  bei  mehre- 
ren Wochenbetten  in  gleicher  Weise  wiederkehren,  aber  sie 
treten  fast  immer  auch  ausserhalb  derselben  aus  anderem  An- 
lasse oder  ganz  von  selbst  hervor,  ein  Zeichen  für  die  Selbstän- 
digkeit der  Störung  gegenüber  der  auslösenden  Schädlichkeit. 


Geschlechtsleben  und  Fortpflanzungsgeschäft. 


83 


Auch  hier  gleichen  die  im  Wochenbette  beobachteten  klinischen 
Formen  völlig  den  sonst  bekannten.  Die  manischen  und  kata- 
tonischen Erregungszustände  nebst  den  weit  selteneren  Er- 
schöpfungs-  und  Infektionsdelirien  bilden  die  grosse  Masse  der 
sogenannten  „Puerperalmanien“,  die  somit  keineswegs  ein  einheit- 
liches Krankheitsbild  darstellen,  sondern  eine  Reihe  von  Erkran- 
kungen umfassen,  die  nach  Entwicklung  und  Ausgang  sehr  ver- 
schieden sind.  Hie  und  da  sieht  man  im  Wochenbette  auch  noch 
ganz  andersartige  Formen  des  Irreseins  beginnen,  so  z.  B.  die 
Paralyse.  Der  Zusammenhang  ist  hier  natürlich  ebenfalls  ein 
sehr  lockerer. 

In  der  Mitte  zwischen  den  Geistesstörungen  der  Schwanger- 
schaft und  des  Wochenbettes  stehen  nach  ihrer  Häufigkeit 
(4,9  Prozent  aller  weiblichen  Aufnahmen  in  Irrenanstalten)  die 
psychischen  Erkrankungen  der  Laktationszeit.  Hier  wird  man 
als  Schädlichkeit  in  erster  Linie  die  Erschöpfung  durch  Wochen- 
bett und  Säugegeschäft,  vielleicht  auch  die  durch  beide  hervor- 
gerufenen Umwälzungen  im  Körperhaushalte  zu  betrachten  haben. 
Jedenfalls  haben  wir  es  wesentlich  nur  mit  der  Auslösung 
schon  anderweitig  vorbereiteter  psychischer  Störungen  zu  tun; 
dem  entspricht  die  Tatsache,  dass  hier  die  krankhafte  Veran- 
lagung eine  besonders  wichtige  Rolle  zu  spielen  scheint.  Auch 
die  klinischen  Formen,  die  hier  zur  Beobachtung  kommen, 
weisen  auf  derartige  Zusammenhänge  hin.  Ganz  im  Vordergründe 
stehen  die  verschiedenen  Krankheitsbilder  des  manisch-depres- 
siven Irreseins,  vorzugsweise  Depressionszustände.  Fast  ebenso 
häufig  sind  sodann  Katatonien.  Die  Zeit  des  Ausbruchs  der 
Störung  ist  meist  der  3.  bis  5.  Monat  nach  der  Entbindung. 

2.  Psychische  Ursachen. 

Schon  wiederholt  haben  wir  in  unserer  bisherigen  Darstellung 
Gelegenheit  gehabt,  neben  der  unmittelbaren,  körperlichen  Ein- 
wirkung der  besprochenen  Krankheitsursachen  auch  ihres  psy- 
chischen Einflusses  zu  gedenken.  Man  hat  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  auch  wohl  die  „gemischten“  Ursachen  als 
eine  Zwischengruppe  zwischen  den  körperlichen  und  den  psy- 
chischen hingestellt.  Abgesehen  von  der  aus  unserer  Grund- 

6* 


84 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


anschauung  sich  mit  Notwendigkeit  ergebenden  allgemeinen  For- 
derung, dass  alle  Störungen  der  psychischen  Leistungen  an  solche 
der  Hirntätigkeit  geknüpft  sein  müssen,  ist  die  eigentliche  Wir- 
kungsweise der  psychischen  Ursachen  noch  völlig  unbekannt;  nur 
einzelne  Glieder  des  vermuteten  Zusammenhanges  können  wir  mit 
Grösserer  oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit  namhaft  machen. 
So  geht  namentlich  der  Einfluss  der  Gemütsbewegungen  regel- 
mässig mit  Veränderungen  der  Herztätigkeit,  des  Blut- 
kreislaufs und  der  Atmung  einher,  welche  ja  die  sphygmo- 
graphische  Untersuchung  schon  bei  den  leichtesten  Gemüts- 
bewegungen ohne  Schwierigkeit  nachweisen  lässt;  auch  \er- 
dauungs stör ungen  scheinen  durch  psychische  Ursachen 
sehr  häufig  hervorgerufen  zu  werden,  wie  die  alltägliche  Er- 
fahrung des  Appetitmangels  nach  heftigem  Ärger  oder  bei  großem 
Kummer  dartut.  Das  wichtigste  Bindeglied  bei  der  Entstehung 
des  Irreseins  aus  psychischen  Ursachen  ist  aber  wohl  die  hier 
niemals  fehlende  Beeinträchtigung  des  Schlafes,  um 
so  mehr,  als  sie  regelmässig  auch  eine  Störung  der  Nahrungsauf- 
nahme, nach  sich  zieht.  Wo  die  lebhafte  Erregung  des.  Gehirns 
die  Möglichkeit  des  Rühens  und  weiterhin  eines  gehörigen  Er- 
satzes der  verbrauchten  Ernährungsstoffe  ausschliesst,  da  müssen 
sich  mit  Notwendigkeit  krankhafte  Veränderungen  im  Sinne  der 
fortschreitenden  Erschöpfung  herausbilden. 

Zu  der  Wirkung  psychischer  Schädlichkeiten  pflegt  . sich 
aber  fast  immer  noch  diejenige  mannigfacher  körperlichei 
Schwächungen  durch  Elend,  Entbehrungen,  schlechte  Er- 
nährung, unregelmässige  Lebensweise,  Ausschweifungen  aller 
Art  hinzuzugesellen,  so  dass  es  im  Einzelfalle  gänzlich  un- 
möglich ist,  den  Anteil  der  verschiedenen  Ursachen  an  dem 
Zustandekommen  des  krankhaften  Gesamtergebnisses  auch  nur 
annähernd  festzustellen.  Griesinger  ist  der  Ansicht,  dass 
im  allgemeinen  die  psychischen  Ursachen  bei  der  Entstehung 
des  Irreseins  ziemlich  bedeutend  die  Rolle  der  körperlichen 
überwiegen.  Demgegenüber  möchte  ich  meinerseits  den  psy- 
chischen Ursachen,  abgesehen  vielleicht  von  ihrem  Einflüsse  auf 
die  gesamte  Widerstandsfähigkeit,  mehr  eine  auslösende  und 
beschleunigende  Bedeutung  zuschreiben.  Bei  bestehendem  Irre- 
sein sehen  wir  freilich  psychische  Eindrücke  nicht  selten  eine 


Gemütsbewegungen. 


85 


sehr  deutliche  Wirkung  auf  das  Befinden  unserer  Pflegebefohle- 
nen ausüben;  namentlich  die  Verschlechterungen  melancholischer 
und  cirkulärer  Kranker  durch  Besuche  ihrer  liebsten  Angehörigen 
sind  dafür  ein  lehrreiches  Beispiel. 

Nirgends  vielleicht  spielt  die  persönliche  Eigenart, 
die  Empfindlichkeit  des  Betroffenen,  eine  grössere  Rolle,  als  bei 
der  Entstehung  des  Irreseins  aus  psychischen  Ursachen.  Aller- 
dings wissen  wir,  dass  auch  die  körperliche  Widerstandsfähigkeit 
verschiedener  Menschen  innerhalb  recht  weiter  Grenzen  schwankt, 
aber  die  Erfahrung  lehrt,  dass  auf  psychischem  Gebiete  die  Unter- 
schiede vielleicht  noch  um  ein  beträchtliches  grösser  ausfallen. 
Sind  es  doch  gerade  diese  Verschiedenheiten  in  der  Verarbeitung 
der  wechselnden  Eindrücke  des  Lebens,  in  welchen  sich  uns  die 
fast  unabsehbare  Mannigfaltigkeit  der  psychischen  Persönlich- 
keiten, der  „Naturen“,  „Charaktere“  und  „Temperamente“  aus- 
drückt ! So  kommt  es,  dass  psychische  Ursachen  allein  im  all- 
gemeinen bei  gesund  entwickelten,  rüstigen  Persönlichkeiten  wohl 
nur  äusserst  selten  wirkliche  Geistesstörungen  zu  erzeugen  im- 
stande sind,  während  sie  auf  dem  Boden  einer  krankhaften  Anlage 
zweifellos  zu  den  wichtigsten  Veranlassungen  des  Irreseins  ge- 
rechnet werden  müssen. 

Gemütsbewegungen.  Am  mächtigsten  wirken  natürlich  solche 
Eindrücke  auf  die  psychische  Persönlichkeit  ein,  die  mit  leb- 
haften Schwankungen  der  gemütlichen  Gleichgewichtslage  ver- 
bunden sind.  Drückt  sich  doch  gerade  in  der  Stärke  der  Gefühle, 
die  einen  Eindruck  begleiten,  der  Grad  des  inneren  Anteils  aus, 
welchen  der  Mensch  an  demselben  nimmt  1 Die  äussere  Ursache 
der  Gemütsbewegung  ist  dabei  an  sich  gleichgültig;  „jedes  Ge- 
schlecht, jeder  Stand,  jedes  Individuum“  sagt  Griesinger, 
„holt  sich  seine  geistigen  Wunden  auf  dem  Kampfplatze,  den  ihm 
die  Natur  und  die  äusseren  Umstände  angewiesen  haben,  und  jeder 
hat  wieder  einen  anderen  Punkt,  auf  dem  er  am  verletzlichsten 
ist,  eine  andere  Sphäre,  von  der  am  leichtesten  heftige  Erschüt- 
terungen ausgehen,  der  eine  sein  Geld,  der  andere  seine  äussere 
Wertschätzung,  der  dritte  seine  Gefühle,  seinen  Glauben,  sein 
Wissen,  seine  Familie  und  dergleichen  mehr.“  Fast  ausschliess- 
lich sind  es  die  traurigen  Gemütsbewegungen,  die  wir  hier  in 
Betracht  zu  ziehen  haben;  wir  wissen  ja  auch,  dass  gerade  sie  die 


86 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


mächtigsten  und  dauerndsten  Stürme  im  Menschen  zu  erzeugen 
vermögen,  während  selbst  die  höchsten  Grade  der  Freude  rasch 
in  das  ruhige  Gefühl  des  gesicherten  Glücks  überzugehen  pflegen. 
Angst  vor  einem  bevorstehenden  Unglück,  Schreck  über  ein 
unerwartetes  Ereignis,  Zorn  über  ein  widerfahrenes  Unrecht, 
Verzweiflung  über  einen  erlittenen  Verlust  — das  sind  die 
gewaltigsten  plötzlichen  Erschütterungen,  welchen  unser  psy- 
chisches Gleichgewicht  ausgesetzt  ist,  und  die  daher  verhältnis- 
mässig häufig  als  Ursachen  tieferer  und  länger  dauernder  Stö- 
rungen aufgeführt  werden.  Gerade  hier  dürften  die  regelmässig 
vorhandenen  körperlichen  Begleiterscheinungen  für  die  Ent- 
stehung des  Irreseins  wesentlich  mit  ins  Gewicht  fallen. 

Trotzdem  ist  es  heute  kaum  möglich,  bestimmte  klinische 
Krankheitsformen  in  ursächliche  Beziehung  zu  heftigen  Gemüts- 
bewegungen oder  gar  zu  den  einzelnen  Arten  derselben  zu  setzen. 
Man  hat  zwar  vielfach  von  „Emotionspsychosen“  gesprochen  und 
denselben  eine  klinische  Sonderstellung  eingeräumt,  allein  ich 
wäre  aus  eigener  Erfahrung  nicht  imstande,  dieselben  genauer 
zu  kennzeichnen,  da  sie  wegen  ihres  raschen  Ablaufes  jedenfalls 
äusserst  selten  in  die  Hände  des  Irrenarztes  kommen.  Wir  hören 
indessen  öfters,  dass  bei  grossen  Unglücksfällen  diese  oder  jene 
Person  plötzlich  anfängt,  irre  zu  reden,  sinnlos  davon  zu  laufen, 
die  Umgebung  anzugreifen;  meist  steht  dann  der  Tod  nahe  bevor. 
Derartige  Fälle  erinnern  an  das  Grauen,  das  in  unheimlichen 
Lebenslagen  die  Klarheit  des  Blickes  trüben  und  das  Handeln 
lähmen  kann,  an  die  Erscheinungen  der  Panik,  die  ganze  Men- 
schenmassen rasch  zu  einer  Herde  kopflos  ins  eigene  V erderben 
rennender  Tiere  machen  kann.  Es  ist  indessen  zu  berücksichtigen, 
dass  gerade  in  den  rasch  tödlich  verlaufenden  Fällen  regelmässig 
ausser  den  gemütlichen  Erschütterungen  schwere  anderweitige 
Schädigungen  eingewirkt  haben,  namentlich  längere  Schlaflosig- 
keit, äusserste  geistige  und  körperliche  Überanstrengung,  Hunger, 
Kälte,  Entbehrungen  aller  Art.  Dadurch  werden  die  „Angst- 
delirien“ vielleicht  mit  den  Erschöpfungszuständen  in  eine  ge- 
wisse Verwandtschaft  gebracht. 

Wo  dagegen  wirklich  nur  starke  Gemütsbewegungen  einge- 
wirkt haben,  trägt  die  psychische  Störung  das  Gepräge  der  hyste- 
rischen Irreseinsformen ; sie  ist  dann  auch  vielfach  von  Lähmungs- 


Gemütsbewegungen. 


87 


und  Krampferscheinungen  begleitet  wie  jene.  So  sah  ich  ein 
junges  Mädchen  in  einen  mehrtägigen  hysterischen  Aufregungs- 
zustand mit  allgemeiner  Chorea  verfallen,  als  sie  bei  einem  ge- 
schlechtlichen Abenteuer  ertappt  worden  war.  Als  besondere 
Gestaltung  dieser  psychogenen  Erkrankungen  ist  jedoch  die  durch 
plötzliche  heftige  Gemütserschütterungen  ausgelöste  Schreck- 
neurose zu  nennen,  die  zwar  der  Hysterie  in  vielen  Stücken  nahe 
steht,  aber  doch  mit  ihr  nicht  einfach  zusammengeworfen  werden 
darf.  Ferner  gehören  hierher  gewisse  Angstzustände,  die  sich 
als  mehr  oder  weniger  klar  bewusste  Erinnerung  an  bestimmte 
peinliche  Erfahrungen  regelmässig  bei  bestimmten  Anlässen 
wieder  einstellen.  Bei  der  Entstehung  aller  dieser  psychogenen 
Formen  spielt  übrigens  die  krankhafte  Veranlagung  des  Betrof- 
fenen eine  sehr  wesentliche  Rolle. 

Noch  lockerer  ist  die  ursächliche  Verknüpfung  zwischen  Ge- 
mütsbewegungen und  Geistesstörung  bei  den  übrigen  Formen  des 
Irreseins.  Die  einzelnen  manisch-depressiven  Anfälle  schliessen 
sich,  wie  an  andere  Anlässe,  nicht  ganz  selten  an  gemütliche 
Aufregungen  an.  Dabei  ist  die  klinische  Färbung  des  Anfalls 
von  derjenigen  des  auslösenden  Affektes  ganz  unabhängig.  Hei- 
tere, manische  Erregung  kann  sich  sehr  wohl  an  einen  traurigen 
Anlass  anschliessen;  umgekehrt  sah  ich  eine  Dame  mit  verwirrten 
Angstzuständen  und  peinigenden  Sinnestäuschungen  erkranken, 
anscheinend  in  der  Freude  über  die  glückliche  Verlobung  ihrer 
Tochter.  Auch  hier  war  jedoch  schon  vor  langer  Zeit  eine  ähnliche 
Erkrankung  vorausgegangen.  Bei  der  Melancholie,  deren  Ent-  , 
stehung  öfters  an  wirkliche  trübe  Ereignisse  anknüpft,  scheint  eine  ' 
engere  innere  Beziehung  zwischen  gesunder  und  krankhafter  Ver-  | 
Stimmung  zu  bestehen,  doch  ist  auch  hier  Vorsicht  in  der  j 
Deutung  am  Platze,  da  sich  die  anscheinend  ursächlichen  Gemüts- 
bewegungen bei  nachträglicher  Betrachtung  häufig  als  bereits 
krankhafte  erweisen.  Überdies  entsteht  die  Krankheit  oft  genug 
ohne  jeden  erkennbaren  Anlass. 

In  höherem  Grade  vielleicht,  als  plötzliche  Erschütterungen, 
dürfte  ein  dauernder  gemütlicher  Druck  imstande  sein,  krank- 
hafte Störungen  des  Seelenlebens  herbeizuführen.  Wahrscheinlich 
vermag  auch  unsere  psychische  Persönlichkeit  im  allgemeinen  den 
Einfluss  schnell  eintretender,  aber  kurz  dauernder  Schädlichkeiten 


88 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


leichter  zu  verwinden,  als  jene  langsamen,  nachhaltigen  Einwir- 
kungen, welche  eine  beständige  Trübung  des  Stimmungshinter- 
grundes herbeiführen,  mit  immer  stärkerem  Drucke  allmählich 
jede  freiere,  freudige  Regung  zurückdrängen  und  das  Gefühl  des 
Unglücks  bis  zur  Unerträglichkeit  anwachsen  lassen.  Schlaflosig- 
keit, schleichende  Ernährungs-,  Yerdauungs-  und  Kreislaufs- 
störungen mögen  hier  als  die  körperlichen  Einflüsse  angesehen 
werden,  deren  Wirkung  sich  an  diejenige  der  psychischen  Ur- 
sachen anschliesst.  Hierher  gehört  namentlich  die  Sorge  in 
ihren  mannigfaltigen  quälenden  Formen,  der  Kummer  über  er- 
littene Enttäuschungen,  unglückliche  Liebe,  Trennung  von  ge- 
liebten Personen  und  Versetzung  in  ungewohnte,  peinigende  Ver- 
hältnisse (Heimweh),  endlich  die  Reue  über  begangene  Fehl- 
tritte. Wie  mir  scheint,  ist  indessen  die  Wirkung  auch  dieser 
Schädlichkeiten  zumeist  nur  eine  unterstützende;  sie  bereiten 
den  Boden  für  andere  Krankheitsursachen  vor.  Ein  besonders 
fruchtbares  Feld  für  die  Wirkung  derartiger  Schädlichkeiten 
bietet  auch  hier  wieder  die  hysterische  Veranlagung;  so  pflegt  man 
einen  grossen  Anteil  an  der  erschreckenden  Zunahme  schwerer 
psychischer  Veränderungen  nach  Unfällen  dem  erbitternden  und 
aufreibenden  Kampfe  um  die  Rente  zuzuschreiben.  Auch  die 
übrigen  Formen  des  Entartungsirreseins  werden  in  Auftreten  und 
Verlauf  sehr’  wesentlich  durch  gemütliche  Erregungen  beein- 
flusst, insbesondere  die  verschiedenen  Formen  krankhafter 
Angstzustände. 

Überanstrengung*).  Geistige  Tätigkeit  und  Gemütsbewegung 
beruhen  auf  den  Lebensvorgängen  in  unserer  Hirnrinde;  das  aus 
ihnen  entspringende  Lebensgefühl  ist  eine  der  wichtigsten  Grund- 
lagen unseres  Wohlbefindens.  Dennoch  kann  ein  Übermass  jener 
Vorgänge  unter  Umständen  Schädigung  unserer  geistigen  Gesund- 
heit herbeiführen.  Freilich  haben  wir  hier  von  vornherein  auf 
einen  grundlegenden  Unterschied  zwischen  Verstandes-  und  Ge- 
mütsleistung hinzuweisen.  Die  einfache  geistige  Arbeit  führt 
nach  einer  gewissen  Zeit  zur  Ermüdung.  Die  subjektive  Beglei- 
terin derselben,  die  Müdigkeit,  erzwingt  in  wachsender  Stärke 
schliesslich  Einstellung  der  Tätigkeit,  erzeugt  Schlaf  und  schafft 


*)  M a n a c 6 i n e , Le  surmenage  mental  dans  la  civilisation  moderne.  1890. 


Überanstrengung. 


89 


damit  von  selber  die  günstigen  Bedingungen  für  den  Ersatz  des 
verbrauchten  Nervengewebes.  Demgegenüber  verscheucht  die 
gemütliche  Erregung  das  Warnungszeichen  der  Müdigkeit  trotz 
tatsächlich  vorhandener  Ermüdung.  Die  Arbeitsleistung  kann 
daher  unter  ihrem  Einflüsse  bis  zur  Erschöpfung,  bis  zur  unmittel- 
baren Schädigung  der  körperlichen  Grundlagen  unseres  Seelen- 
lebens fortgesetzt  werden.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ge- 
schieht das  schon  bei  jeder  geistigen  Arbeit,  die  wir  mit  sehr 
lebhaftem  „Interesse“  verrichten.  Hier  kann  die  Ermüdungs- 
abnahme der  Leistungsfähigkeit  einige  Zeitlang  durch  wiederholte 
starke  Willensanstrengung,  durch  den  „Antrieb“,  ausgeglichen 
werden,  ja  wir  sehen  unter  solchen  Umständen  in  den  ersten 
Stadien  der  Erschöpfung  neben  dem  entschiedenen  Sinken  der 
Arbeitsleistung  die  Zeichen  der  psychischen  Erregbarkeitssteige- 
rung durch  gemütliche  Einflüsse  deutlich  genug  hervortreten. 

Es  ist  demnach  in  erster  Linie  die  mit  gemütlicher  Er- 
regung einhergehende  Arbeit,  welche  die  Gesundheit  zu  ge- 
fährden vermag.  Je  lebhafter  von  vornherein  die  Gefühlsbetonung 
einer  Arbeitsleistung,  und  je  ausgeprägter  überhaupt  die  gemüt- 
liche Erregbarkeit  des  Arbeiters  ist,  desto  grösser  wird  im  ein- 
zelnen Falle  die  Gefahr  sein,  dass  die  Zeichen  des  Ruhebedürf- 
nisses verwischt  werden  und  damit  eine  wirkliche  Über- 
anstrengung  zu  stände  kommt.  Vollzieht  sich  dieser  Vorgang 
häufiger  oder  gar  gewohnheitsmässig,  so  werden  die  Folgen  der 
Überanstrengung  durch  die  alltäglichen  Ruhepausen  nicht  mehr 
vollständig  ausgeglichen:  es  kommt  zu  einer  dauernden  Steige- 
rung der  gemütlichen  Erregbarkeit,  Ausbleiben  der  Müdig- 
keit und  erheblicher  Herabsetzung  der  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit infolge  von  dauernder  Erschöpfung.  Das  klinische  Bild, 
welches  sich  bei  krankhafter  Ausdehnung  dieser  Störungen  ent- 
wickelt, ist  dasjenige  der  Neurasthenie.  Die  leichtesten  Formen 
derselben  kann  wohl  ein  jeder  gelegentlich  einmal  an  sich  be- 
obachten, wenn  irgend  eine  Lebenslage  erhöhte  Anforderungen  an 
seine  psychischen  Leistungen  stellt  (Examen). 

Im  praktischen  Leben  können  wir  trotz  der  oben  angedeuteten 
Übergänge  die  wesentlich  geistige  von  der  gemütlichen  Überan- 
strengung einigermassen  abscheiden.  Der  ersteren  Form  be- 
gegnen wir  namentlich  bei  Schülern,  Studenten,  Gelehrten,  der 


90 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


zweiten  dagegen,  der  Überbürdung  mit  Pflichten  verschiedener 
Art,  bei  Krankenpflegerinnen,  Ärzten  u.  s.  f.  übermässige  Ver- 
standesarbeit birgt  ernstere  Gefahren  wohl  nur  für  jugendliche 
oder  krankhaft  veranlagte  Personen;  in  der  Regel  pflegen  sich 
die  etwa  auftretenden  neurasthenischen  Erscheinungen  bei  an- 
gemessener Ruhe  leicht  wieder  zu  verlieren.  Wo  dagegen  die 
geistige  Überanstrengung  von  beständiger  gemütlicher  Anspan- 
nung, vom  Gefühle  schwerer  Verantwortlichkeit  und  vielleicht 
noch  von  körperlichen  Strapazen  und  Ausschweifungen  begleitet 
wird,  begegnen  wir  zumeist  schwereren  und  länger  dauernden 
psychischen  Veränderungen.  Solche  Tätigkeit  ist  es,  welche  den 
Menschen  rasch  verbraucht,  seine  Leistungs-  und  V iderstands- 
fähigkeit  dauernd  herabsetzt,  ihn  stumpf  und  reizbar  zugleich 
macht.  Am  besten  sehen  wir  das  vielleicht  bei  dem  V artpersonal 
in  Irrenanstalten,  welches  nach  langjährigem  Anstaltsdienste  fast 
regelmässig  die  Zeichen  einer  dauernden  Schädigung  der  ge- 
samten Persönlichkeit  darbietet.  Ohne  Zweifel  bilden  derartige 
Veränderungen  den  günstigen  Boden  für  das  Auftreten  weiterer 
psychischer  Erkrankungen,  einerseits  der  hysterischen  Formen, 
andererseits  der  Rückbildungspsychosen;  auch  für  die  Entstehung 
der  Paralyse  scheint  die  gemütliche  Überanstrengung  eine  gewisse 
Bedeutung  zu  haben. 

Gefangenschaft.  Eine  ganze  Reihe  von  psychischen  Ursachen 
findet  sich  vereinigt  in  der  Gefangenschaft,  namentlich  in  der 
Einzelhaft,  die  erfahrungsgemäss  nicht  selten  Geistesstörungen 
erzeugt*).  In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  besteht  hier 
schon  eine  mehr  oder  weniger  schwere  krankhafte  Veranlagung, 
teils  auf  Grund  angeborener  Entartung,  teils  durch  mannigfache 
Lebensschicksale  (uneheliche  Geburt,  schlechte  Erziehung,  Krank- 
heiten, Traumata,  Alkoholismus)  erworben.  Dazu  kommen  die 
besonderen  hygienischen  Verhältnisse  des  Gefängnislebens  (ein- 
förmige, knappe  Kost,  ungenügende  Bewegung,  Mangel  frischer 
Luft),  die  Nachwirkungen  der  Untersuchungshaft,  der  \ erlust  der 
persönlichen  Freiheit  und  vor  allem  die  Einsamkeit,  welche  dem 
Eingesperrten  zur  grübelnden  Beschäftigung  mit  den  eigenen  Ge- 


*)  Gut  sch,  Allgem.  Zeitscbr.  f.  Psychiatrie,  XIX,  1;  Kirn,  ebenda, 
XLV,  1;  Rüdin,  ebenda,  LVIII,  447. 


Gefangenschaft. 


91 


danken  gründliche  Müsse  gibt  und  ihn  die  Angst  vor  der  Zukunft, 
die  Reue  über  das  Begangene  um  so  lebendiger  empfinden  lässt, 
je  weniger  ihn  sein  Bildungsgrad  und  sein  Charakter  zur  sittlichen 
Selbsterziehung  befähigt.  Der  Ausbruch  der  Psychose  erfolgt 
bisweilen  schon  in  den  ersten  Tagen  oder  Wochen  (Untersuchungs- 
haft), häufiger  nach  einigen  Monaten,  unter  Umständen  erst  nach 
Jahr  und  Tag  oder  selbst  nach  langjährigem  Verbrecherleben  mit 
zahlreichen,  ohne  geistige  Erkrankung  überstandenen  Freiheits- 
strafen. Am  wirksamsten  ist  die  Einzelhaft,  deren  Aufhebung- 
vielfach,  aber  durchaus  nicht  immer,  rasches  Schwinden  der 
Krankheitszeichen  herbeiführt.  Doch  kommen  auch  in  der  Gemein- 
schaftshaft geistige  Störungen  oft  genug  zur*  Beobachtung. 

Bei  weitem  am  häufigsten  werden  in  der  Stille  der  Isolier- 
zelle hallucinatorische  Krankheitsbilder,  namentlich  akut  auftre- 
tende, rasch  verlaufende  Formen,  meist  Verfolgungswahn,  seltener 
Grössenideen,  vorwiegend  mit  Gehörstäuschungen,  heftigen  Angst- 
zuständen und  Selbstmorddrang  beobachtet.  Diese,  zum  Teil  von 
ihm  als  akute  hallucinatorische  Melancholie  bezeichneten  Zustände 
hält  Kirn  für  die  eigenartige  Psychose  der  Einzelhaft.  Die  ein- 
gehende klinische  Betrachtung  einer  grossen  Zahl  von  derartigen 
Fällen  hat  mir  gezeigt,  dass  mindestens  die  Hälfte  derselben 
vollständig  die  Züge  der  Katatonie  darbietet,  wie  sie  ausserhalb 
der  Gefangenschaft  beobachtet  wird;  auch  der  Ausgang  in  eigen- 
artige Verblödung  ist  der  gleiche.  Recht  häufig  war  hier  der 
akuten  Erkrankung  schon  lange  Zeit  eine  schleichend  oder  mit 
leichten  Angstzuständen  einsetzende  Verblödung  vorausgegangen, 
oder  es  handelte  sich  um  frühzeitig  ausgeprägte  Gewohnheitsver- 
brecher, bei  denen  dann  irgend  eine  längere  Freiheitsstrafe 
das  hallucinatorisch-katatonische  Krankheitsbild  zur  Entwicklung 
brachte;  seltener,  und  dann  oft  in  der  Untersuchungshaft,  brach 
das  Irresein  bei  solchen  Personen  aus,  die  bis  dahin  gar  keine 
auffallenden  Züge  dargeboten  hatten.  Eine  weitere  Gruppe  bil- 
den nach  R ü d i n s Darlegungen  die  Alkoholisten  mit  Delirium 
tremens  und  paranoiden  Schwächezuständen,  sodann  Hysterische, 
vereinzelte  Paranoiker,  Imbecille  und  namentlich  Epileptiker.  Bei 
diesen  letzteren  handelt  es  sich  in  der  Regel  um  gelegentliche 
heftige  Aufregungszustände  mit  Angst  und  deliriösen  Sinnestäu- 
schungen oder  um  einfache  reizbare  Verstimmungen  (,, Zuchthaus- 


92 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


knall“),  in  einer  kleineren  Zahl  von  Fällen  aber  auch  um  lange 
festgehaltene  und  geistig  verarbeitete  Verfolgungsideen  mit  leb- 
haften Gehörstäuschungen. 

Alle  diese  Krankheitsbilder  lassen  sich  im  wesentlichen 
ohne  besondere  Schwierigkeit  den  ausserhalb  des  Gefäng- 
nisses gemachten  Erfahrungen  einordnen.  Sie  sind  höchstens 
durch  die  grosse  Lebhaftigkeit  der  Gehörstäuschungen  sowie 
durch  die  Wiederkehr  gewisser  naheliegender  Wahnvorstel- 
lungen ausgezeichnet,  der  Vorstellung,  verspottet,  hingerichtet, 
vergiftet  zu  werden,  oder  umgekehrt,  unschuldig  verurteilt, 
begnadigt  worden  zu  sein  und  nun  widerrechtlich  festgehalten  zu 
werden  u.  s.  f.  Dagegen  kommen  ausser  den  klinisch  ülaien 
Bildern  auch  in  beschränkterer  Zahl  Formen  zur  Beobachtung,  die 
einstweilen  noch  nicht  befriedigend  zu  deuten  sind  und  möglicher- 
weise eigenartige  Erzeugnisse  der  Gefangenschaft  darstellen. 
Hierher  gehören  namentlich  rasch  einsetzende  und  wieder  schwin- 
dende hallucinatorische  Erregungszustände  mit  ausgeprägten  Be- 
einflussungsideen, die  zwar  nicht  wahnhaft  weiter  \ erarbeitet, 
aber  auch  nicht  berichtigt,  sondern  dauernd  festgehalten  werden, 
ohne  dass  jedoch  weder  vorher  noch  nachher  die  Zeichen  einer 
Verblödung  auffindbar  sind.  Leichtere  derartige  Fälle  mögen 
vielfach  in  den  Gefängnissen  selbst  ablaufen.  Es  muss  der 
weiteren  Forschung  Vorbehalten  bleiben,  zu  entscheiden,  ob  es 
sich  hier  um  selbständige  Krankheitsbilder  oder  nur  um  be- 
sondere Gestaltungen  sonst  bekannter  Formen  handelt.  Soviel 
aber  steht  fest,  dass  die  eigenartigen  Bedingungen  der  Gefangen- 
schaft imstande  sind,  den  klinischen  Bildern  verschiedener  Krank- 
heitsvorgänge eine  gewisse  gemeinsame  Färbung  zu  geben. 

Krieg.  Ganz  besonders  reich  an  psychischen  Ursachen  des 
Irreseins  ist  der  Krieg.  Wenn  Sommer*)  den  Nachweis  ge- 
liefert hat,  dass  der  Militärdienst  im  Frieden  wesentlich  nur  psy- 
chopathisch veranlagte  Personen  krank  macht  und  keinesfalls 
mehr  Opfer  an  Geistesstörungen  fordert,  als  in  der  entsprechen- 
den bürgerlichen  Bevölkerung  beobachtet  werden,  so  pflegen 


*)  Sommer,  Allgemeine  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIII,  13;  Stier, 
ebenda,  LIX,  1;  Ilberg,  Über  Geistesstörungen  in  der  Armee  zur  Friedens- 
zeit. 1903. 


Krieg;  Psychische  Ansteckung. 


93 


doch  Kriegs jahre*)  regelmässig  mit  einer  mächtigen  Steigerung 
der  psychischen  Erkrankungen  in  der  Armee  einherzugehen.  Der 
Grund  dieser  Erfahrung  liegt  zum  Teil  in  der  grösseren  Häufung 
von  Gelegenheitsursachen,  insbesondere  von  Kopfverletzungen  und 
akuten  Krankheiten,  hauptsächlich  aber  in  der  mehr  chronischen 
Schädigung  durch  körperliche  Überanstrengungen,  Schlaflosigkeit 
und  tiefgreifende,  anhaltende  gemütliche  Erregungen.  Die  kli- 
nischen Bilder  sind  demgemäss  einmal  schwere  neurasthenische 
Zustände  und  Schreckpsychosen,  andererseits  Gehirnerschütte- 
rungspsychosen, Erschöpfungspsychosen,  Epilepsie  und  ganz  be- 
sonders die  Paralyse,  deren  Entstehung  wir  auf  Rechnung  der  im 
Feldzuge  so  vielfach  erworbenen  Syphilis  zu  setzen  haben.  Häufig 
genug  entwickelt  sich  das  Irresein  (namentlich  die  Paralyse)  in- 
folge der  genannten  Schädigungen  erst  nach  längerer  Zeit,  um 
dann  meist  einen  schleichenden  und  ungünstigen  Verlauf  zu 
nehmen. 

Psychische  Ansteckung.  Zum  Schlüsse  haben  wir  noch  des 
Vorganges  der  uneigentlich  sogenannten  „psychischen  Contagion“ 
zu  gedenken,  der  Ausbreitung  psychischer  Störungen  durch  „An- 
steckung“. Dass  gewisse  einfache  unwillkürliche  Bewegungen, 
das  Gähnen,  Lachen,  Räuspern,  Husten,  Erbrechen,  durch  Nach- 
ahmung, d.  h.  durch  die  Erzeugung  der  Vorstellung  dieser  Be- 
wegungen, hervorgerufen  werden,  ja  dass  sogar  Ohnmächten 
(Soldaten  beim  Impfen)  und  Krämpfe  (Mädchenschulen)  auf  gleiche 
Weise  ausgelöst  werden  können,  ist  eine  sehr  bekannte  Tatsache. 
Den  erregenden  Einfluss  des  Beispiels  zeigen  ferner  die  Erfah- 
rungen über  das  Verhalten  grosser  Volksmassen,  die  durch  auf- 
reizende Reden  und  Taten  zu  Handlungen  getrieben  werden  können, 
welche  jeder  einzelne  für  sich  niemals  begehen  würde.  Endlich 
berichtet  uns  die  Geschichte  der  Medizin  von  grossen  geistigen 
Epidemien,**)  vorzugsweise  religiösen  Gepräges,  die  weite  Kreise 
ergriffen  und  zu  widersinnigem  Denken  und  Treiben  geführt 
haben.  Ganz  ähnliche  Vorgänge  werden  unter  verschiedenen 

*)  Sanitätsbericht  über  die  deutschen  Heere  im  Kriege  gegen  Frank- 
reich 1870/71,  Bd.  VII. 

**)  Hecker,  Die  grossen  Volkskrankheiten  des  Mittelalters,  heraus- 
gegeben von  Hirsch.  1865;  Sergi,  psicosi  epidemica.  1898;  Rodrigues, 
Annales  medico-psych.,  VIII,  13,  19,  1901. 


94 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Bezeichnungen  noch  heute  bei  gewissen  leicht  erregbaren  Völker- 
stämmen  und  religiösen  Sekten  beobachtet.  Die  letzten  derartigen 
Epidemien  in  der  Gegend  von  Kiew  hat  S i k o r s k i *)  eingehend 
beschrieben.  In  einem  Falle  handelte  es  sich  um  einen  Mann 
mit  religiösem  Grössenwahn,  dem  sich  zunächst  einige  unzweifel- 
haft kranke  Personen,  weiter  aber  eine  grosse  Schar  einfach  un- 
wissender und  leichtgläubiger  Bauern  hinzugesellte.  Sie  alle 
glaubten  an  die  göttliche  Sendung  des  Sektenstifters,  an  die 
von  ihm  getanen  Wunder,  den  von  ihm  ausgehenden  himm- 
lischen Geruch.  In  einer  zweiten  Epidemie,  bei  der  eine  Bäuerin 
die  Hauptrolle  spielte,  kam  es  dazu,  dass  sich  in  vier  Gruppen  25 
Personen  lebendig  begraben  liessen,  weil  sie  den  W eltuntergang 
für  bevorstehend  hielten.  Auch  der  abenteuerliche  Zug.  der 
Duchoborzen  in  Kanada  gehört  zu  diesen  Erscheinungen.  Bei  den 
grossen  geistigen  Volksseuchen  handelt  es  sich  natürlich  nui  in 
beschränktem  Umfange  um  wirkliches  Irresein;  die  Mehrzahl  der 
Teilnehmer  befindet  sich  in  Zuständen  stärkster  gemütlicher  Er- 
regung, von  denen  wir  wissen,  dass  sie  die  Besonnenheit  trüben 
und  die  Selbstbeherrschung  aufheben. 

Es  gibt  aber  andererseits  auch  gar  nicht  selten  Fälle,  in 
denen  mehrere  miteinander  in  Berührung  lebende  Personen  gleich- 
zeitig oder  kurz  nacheinander  unter  ihrem  gegenseitigen  Ein- 
flüsse in  der  gleichen  Weise  psychisch  erkranken  (induziertes 
Irresein**),  folie  ä deux);  ich  selbst  hatte  Gelegenheit,  im  Zeit- 
raum von  acht  Tagen  drei  mit  religiöser  Aufregung  und  Sinnes- 
täuschungen erkrankte  Geschwister  in  die  Anstalt  aufzunehmen. 
Die  Geistesstörung  kann  dabei  entweder  einfach  durch  die  ge- 
mütliche Erregung,  welche  sie  bei  der  Umgebung  erzeugt,  als 
Gelegenheitsursache  krankmachend  wirken;  es  handelt  sich  dann 
meist  um  Anfälle  des  hysterischen  oder  manisch-depressiven  Irre- 
seins. Oder  aber  es  werden  geradezu  gewisse  Krankheitserschei- 
nungen durch  eine  Art  von  Suggestion  dauernd  oder  vorüber- 
gehend von  einer  Person  auf  die  andere  übertragen.  Nur  in  diesem 

*)  Sikorski,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  L,  778;  ebenda,  LV,  326. 

**)  Lehmann,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XIV,  1;  Jako wenko,  Wjestnik 
Psychiatrii.  1887;  Werner,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLIV,  4 u.  5; 
Wollenberg,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XX,  1;  Schön  fei  dt,  ebenda, 
XXVI,  202. 


Psychische  Ansteckung. 


95 


letzteren  Falle  hat  man  das  Recht,  von  einer  psychischen  An- 
steckung zu  reden.  In  erster  Linie  kommt  dabei  die  Übertragung 
hysterischer  Störungen  in  Betracht.  Sodann  aber  macht  man, 
namentlich  bei  religiös  Verrückten  und  bei  Querulanten,  nicht 
selten  die  Beobachtung,  dass  sie  die  eine  oder  andere  Person 
ihrer  nächsten  Umgebung  gänzlich  in  ihre  Wahnideen  hinein- 
ziehen und  von  der  Berechtigung  ihrer  Ansprüche  vollständig 
überzeugen.  Die  sekundär  Erkrankten  sind  in  solchen  Fällen 
regelmässig  krankhaft  veranlagte,  beschränkte  Personen  mit  sehr 
geringer  psychischer  Widerstandsfähigkeit,  vorzugsweise  Frauen. 
Meist  pflegt  jedoch  bei  ihnen  keine  selbständige  weitere  Verar- 
beitung der  Wahnideen  stattzufinden.  Vielmehr*  nehmen  sie  ein- 
fach urteilslos  auf,  was  eine  stärkere  Persönlichkeit  ihnen  auf- 
drängt; sie  kommen  wieder  in  ihr  altes  Geleise,  sobald  sie  deren 
übermächtigem  Einflüsse  entzogen  werden.  So  werden  in  der 
Irrenanstalt  oft  genug  unselbständigere  Kranke  durch  die  Äusse- 
rungen ihrer  Genossen  beeinflusst. 

Hie  und  da  aber  sieht  man  auch  eine  wahre  Geistes- 
störung mit  den  gleichen,  von  aussen  aufgenommenen  Wahn- 
bildungen, aber  in  durchaus  selbständiger  Entwicklung  zu 
stände  kommen.  Diese  Fälle  sind  es,  wie  Schönfel  dt 
zutreffend  ausgeführt  hat,  welche  im  eigentlichsten  und 
engsten  Sinne  als  Irresein  durch  psychische  Ansteckung  zu  be- 
zeichnen wären.  Allerdings  wird  man,  wo  es  sich  um  Bluts- 
verwandte handelt,  immer  mit  der  Möglichkeit  einer  gleichartigen 
Erkrankung  aus  inneren  Gründen  zu  rechnen  haben.  Der  Aus- 
bruch manisch-depressiver,  hebephrenischer,  katatonischer  oder 
paranoider  Störungen  bei  mehreren  Mitgliedern  einer  Familie, 
auch  ohne  persönliche  Berührung,  ist  so  häufig,  dass  wir  aus  der 
Gleichzeitigkeit  noch  nicht  berechtigt  sind,  auf  ursächliche  Be- 
ziehungen zu  schliessen.  Wenn  wir  auf  der  einen  Seite  auch  die 
erschütternde  Wirkung  nicht  verkennen  wollen,  die  das  Auftreten 
einer  geistigen  Störung  auf  das  gemütliche  Gleichgewicht  der 
nächsten  Umgebung  ausübt,  so  werden  wir  doch  annehmen  dürfen, 
dass  nur  solche  Personen  selbständig  erkranken,  die  den  Keim 
des  Leidens  schon  in  sich  trugen. 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  Vorgänge  der  psychi- 
schen Ansteckung  zeigen  die  in  der  neueren  Zeit  mehr  beachteten 


96 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Erfahrungen  von  geistigen  Störungen  im  Anschlüsse  an  hypno- 
tische und  spiritistische*)  Sitzungen.  Die  Aufregungen, 
die  damit  verbunden  sind,  die  abergläubischen  Deutungen,  die  sich 
an  die  geheimnisvollen  Vorgänge  knüpfen,  bilden  für  empfäng- 
liche und  haltlose  Naturen  eine  entschiedene  Gefahr.  Natürlich 
ist  von  ursächlichen  Beziehungen  nicht  die  Rede  in  den  zahlreichen 
Fällen,  in  denen  bei  Geisteskranken  einfach  die  Wahnvorstellung 
hypnotischer  oder  spiritistischer  Beeinflussung  auftaucht:;  der 
Inhalt  des  Wahnes  spiegelt  hier  nur  die  landläufigen  Erklärungs- 
versuche von  Fernwirkungen  wider.  Dagegen  kann  namentlich 
die  Entwicklung  von  autohypnotischen  Zuständen  sehr  ernste 
Folgen  nach  sich  ziehen,  wie  ich  in  einem  zum  Selbstmorde  führen- 
den Falle  erlebt  habe.  Im  allgemeinen  handelt  es  sich  um  hyste- 
rische Aufregungs-  und  Dämmerzustände,  weiterhin  aber  auch 
um  grosse  gemütliche  Erregbarkeit  und  willenlose.  Abhängigkeit 
vom  Hypnotiseur  oder  Medium.  Ohne  Zweifel  spielt  auch  hier 
die  Veranlagung  eine  wesentliche  Rolle,  zumal  von  vornherein  nur 
solche  Menschen  sich  mit  grossem  Eifer  spiritistischen  oder  hyp- 
notischen Sitzungen  hinzugeben  pflegen,  die  dafür  besonders 
empfänglich  sind.  Bei  wirklich  sachverständiger  Handhabung  der 
Hypnose  durch  den  Arzt  lässt  sich  übrigens  nach  meiner  Er- 
fahrung jede  Gefahr  mit  vollster  Sicherheit  ausschliessen. 


B.  Innere  Ursachen  (Prädisposition). 

Mit  der  Betrachtung  der  krankhaften  Veranlagung  betreten 
wir  jenes  zweite  grosse  Gebiet  der  ätiologischen  Foi&chung, 
welches  sich  mit  den  in  der  P e r s ö n 1 i c h k e i t d e s E r k r a n k- 
ten  selbst  gelegenen  Ursachen  beschäftigt.  Die  Forderung, 
ein  vollständiges  Verständnis  für  die  Entstehung  der  Erkrankung 
zu  gewinnen,  weist  uns  zurück  auf  die  gesamte  Entwicklungs- 
geschichte der  gegebenen  psychischen  Persönlichkeit  und  führt 
uns  zur  Untersuchung  aller  jener  inneren  und  äusseren  Ein- 
wirkungen, welche  an  der  eigenartigen  Ausprägung  derselben  mit- 
gearbeitet haben.  Der  Übersichtlichkeit  wegen  pflegt  man  diese 
Einflüsse  in  zwei  Hauptklassen  abzutrennen,  in  allgemeine 


*)  Henneberg,  Archiv  f.  Psych.,  XXXIV,  3. 


Lebensalter. 


97 


und  persönliche,  je  nachdem  sie  sich  auf  grössere  Gruppen 
von  Menschen  insgesamt  erstrecken,  oder  je  nachdem  sie  nur 
einzelne  Mitglieder  derselben  betreffen  und  somit  diesen  letzteren 
eine  Sonderstellung  gegenüber  ihrer  Umgebung  verleihen. 

1.  Allgemeine  Prädisposition. 

Zwei  verschiedenartige  Bedingungen  sind  es,  die  man  zumeist 
unter  der  Bezeichnung  der  allgemein  prädisponierenden  Ursachen 
zusammenfasst,  nämlich  einmal  die  Herabsetzung  der 
psychischen  und  körperlichen  Widerstandsfähig- 
keit, wie  sie  durch  die  besondere  Veranlagung  oder  die  beson- 
deren Lebensverhältnisse  einer  Gruppe  von  Personen  begründet 
wird,  dann  aber  auch  die  von  den  gleichen  Umständen  abhängige 
grössere  oder  geringere  Häufigkeit  der  äusseren 
Ursachen  psychischer  Erkrankung.  Streng  genommen 
kann  natürlich  nur  im  ersteren  Falle  von  einer  wirklichen  Prä- 
disposition die  Rede  sein,  doch  empfiehlt  es  sich  aus  praktischen 
Gründen,  auch  die  Betrachtung  der  letztgenannten  Verhältnisse 
hier  anzuschliessen. 

Lebensalter.  Von  den  anthropologischen  Eigenschaften, 
welche  die  Ausbildung  der  psychischen  Persönlichkeit  ent- 
scheidend beeinflussen,  sind  die  wichtigsten  das  Lebensalter  und 
das  Geschlecht.  Das  Gehirn  des  Neugeborenen  ist  in  ge- 
wisser Beziehung  ein  leeres  Blatt;  es  ist  wohl  die  Anlage  vor- 
handen, die  dasselbe  zu  seinen  späteren  verwickelten  Leistungen 
befähigt,  und  es  bestehen  gewiss  auch  Anlagen,  welche  die  Ent- 
wicklung dieser  Leistungen  in  eine  bestimmte  Bahn  zwingen, 
aber  der  Inhalt  des  Bewusstseins  ist  noch  äusserst  dürftig,  die 
Verknüpfung  der  einzelnen  psychischen  Vorgänge  unvollkommen 
und  die  Erinnerungsfähigkeit  infolgedessen  überaus  beschränkt; 
es  ist  noch  keine  feststehende,  den  Bewusstseinsinhalt  und  die 
Triebbewegungen  beherrschende,  von  der  Aussenwelt  abgegrenzte 
psychische  Persönlichkeit  vorhanden. 

Allerdings  wird  dieser  Mangel  sehr  rasch  ausgeglichen  durch 
die  grosse  Leichtigkeit,  mit  der  sich  im  kindlichen  Gehirne  jene 
funktionellen  Verbindungen  ausbilden,  die  wir  als  die  Grundlage 
der  psychischen  Vorgänge  anzusehen  pflegen.  Indessen  dieses 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Anfl.  7 


98 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Verhalten  schliesst  zugleich  eine  Gefahr  für  das  psychische  Leben 
des  Kindes  in  sich.  Die  Möglichkeit  einer  so  raschen  Bereicherung 
des  Bewusstseinsinhalts  beruht  auf  einer  grösseren  Empfänglich- 
keit und  Beeinflussbarkeit.  Die  grössere  Erregbarkeit  des  Inter- 
esses geht  naturgemäss  mit  einer  leichteren  Ablenkbarkeit  und 
Zerstreutheit  desselben  einher;  die  Leichtigkeit,  mit  der  sic 
die  Vorstellungen  aneinander  knüpfen,  schliesst  den  Hang  za 
spielerischen  Einbildungen  und  „märchenhafter  Belebung  der 
Aussenwelt  in  sich.  Dazu  gesellt  sich  eine  grosse  Unbestandigkei  , 
der  Gemütsbewegungen  und  Stimmungen  sowie  die  Neigung  zu 
raschem,  unüberlegtem  Handeln.  Physiologisch  drückt  sich  diese 
Eigentümlichkeit  des  Kindesalters,  wie  wir  durch  So  ltm  an  ns 
Untersuchungen  wissen,  in  der  geringeren  Ausbildung  der  hem- 
menden Einflüsse  im  Nervensystem  aus.  _ 

Man  sollte  daher  erwarten,  dass  die  geringere . V lder- 
standsfähigkeit  des  kindlichen  Gehirns,  wie  sie  auch  im  psy- 
chischen Leben  hervortritt,  eine  entschiedene  Neigung  zu  gei- 
stiger Erkrankung  mit  sich  bringe.  In  der  Tat  spricht  für  diese 
Ansicht  die  tägliche  Beobachtung,  indem  sie  uns  zeigt,  dass. ge- 
wisse Schädlichkeiten,  die  der  Erwachsene  ohne  Storung  ertragt 
z B leichte  fieberhafte  Erkrankungen,  im  Kindesalter  alsbald 
ausgeprägte  psychische  Veränderungen  herbeizuführen  pflegen. 
Allein  die  unerschöpfliche  Spannkraft  der  kindlichen  Gewebe  er- 
möglicht offenbar  einen  rascheren  und  vollständigeren  Ausg  eic 
der  Störungen,  so  dass  die  Dauer  wenigstens  der  heilbaren  Formen 
in  der  Regel  nur  eine  kurze  zu  sein  pflegt.  Sie  entgehen  aus 
diesem  und  anderen  Gründen  meist  der  psychiatrischen  Zählung. 
Dazu  kommt,  dass  eine  ganze  Reihe  jener  Schädigungen  die  im 
Laufe  des  späteren  Lebens  als  die  wichtigsten  Ursachen  des 
Irreseins  angesehen  werden  müssen  (Alkohol,  Syphilis,  Ge- 
schlechtsvorgänge, Überanstrengung,  Sorgen),  im  Kindesalter  so 
gut  wie  ausgeschlossen  sind.  Trotz  der  an  sich  geringeien  1 ei 
Standsfähigkeit  sind  daher  psychische  Störungen  nach  der  An- 
gabe aller  Beobachter  in  den  ersten  Lebensjahren  verhältnis- 
mässig selten*);  alle  genauen  Zahlenangaben  verbieten  sich  wegen 
der  unsicheren  statistischen  Grundlagen  von  selbst. 

*)  Emminghaus,  Die  psychischen  Störungen  des  Kindesalters.  ISS-: 
Moreau,  La  folie  chez  les  enfants,  deutsch  von  G a 1 a 1 1 i.  1889;  I r e 1 a n d , 


Lebensalter. 


99 


Für  die  richtige  Würdigung  dieser  Verhältnisse  ist  indessen 
der  Umstand  in  Betracht  zu  ziehen,  dass  schon  vor  der  Geburt 
und  in  den  ersten  Lebensjahren  eine  ganze  Reihe  von  Krankheits- 
vorgängen einsetzen,  die  zwar  nicht  klinisch  reicher  entwickelte 
Geistesstörungen,  wohl  aber  psychische  Schwächezustände  von 
den  leichtesten  bis  zu  den  schwersten  Formen  in  ungemein 
grosser  Zahl  erzeugen.  Nur  in  einem  Bruchteil  der  Fälle 
handelt  es  sich  dabei  um  Entwicklungsstörungen;  zumeist  sind 
es  Rindenerkrankungen  bisher  noch  wenig  bekannter  Art,  die 
unter  mehr  oder  weniger  ausgedehnten  Zerstörungen  heilen, 
aber  natürlich  die  weitere  psychische  Ausbildung  hindern. 
Ausser  den  gröberen  encephalitischen,  porencephalischen,  hy- 
drocephalischen,  luetischen  und  tuberkulösen  Erkrankungen 
spielen  wohl  auch  Infektionen  oder  Selbstvergiftungen  eine 
Rolle,  deren  Spuren  nur  den  feineren  Untersuchungshilfs- 
mitteln zugänglich  sind.  Hierher  würde  namentlich  der  Kre- 
tinismus gehören,  die  Entwicklungsstörung  durch  Ausfall 
der  Schilddrüsentätigkeit.  Man  hat  ferner  an  Giftwirkungen 
vom  Darm  her  gedacht,  da  Verdauungsstörungen  bei  kleinen 
Kindern  so  leicht  Hirnreizerscheinungen  auslösen.  Ein  Teil  der 
in  der  Jugend  zur  Verblödung  führenden  Erkrankungen  dürfte  mit 
der  Hebephrenie  wesensgleich  sein,  da  gewisse  klinische  Bilder 
der  kindlichen  Schwächezustände  eine  weitgehende  Übereinstim- 
mung mit  denen  der  Entwicklungsjahre  aufweisen  und  überdies 
diese  letzteren  oft  genug  nur  die  Fortbildung  von  Krankheits- 
zuständen darstellen,  die  in  früher  Jugend  eingesetzt  haben. 

Ausser  der  Idiotie  und  Imbecillität  beobachten  wir  im 
Kindesalter  vornehmlich  Delirien  bei  fieberhaften  Krankheiten 
und  namentlich  epileptische  und  hysterische  Störungen.  Hie  und 
da  begegnen  wir  in  Form  von  leichten  Verstimmungen  oder  Er- 
regungen auch  wohl  den  ersten  Vorläufern  des  manisch-depres- 
siven Irreseins.  Ausserdem  zeigen  sich  allmählich  die  mannig- 
fachen Formen  krankhafter  Veranlagung,  die  zur  Entwicklung 
psychopathischer  Persönlichkeiten  führen.  Endlich  beginnen 


The  mental  affections  of  children,  idiocy,  imbecility  and  insanity.  2.  Aufl.  1900. 
Manheimer,  Les  troubles  mentaux  de  l’enfance.  1899;  Infeld,  Jahrb. 
f.  Psych.,  XXII,  326. 


7* 


100 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


schon  jetzt  gewisse  familiäre  Erkrankungen  des  Nervensystems 
und  die  vereinzelten  Fälle  von  jugendlicher  Paralyse. 

Mit  der  fortschreitenden  Ausbildung  der  psychischen  Per- 
sönlichkeit und  mit  dem  gleichzeitigen  Hervortreten  mannig- 
facher neuer  Krankheitsursachen  nimmt  die  Reichhaltigkeit  der 
Geistesstörungen  allmählich  zu.  Die  Entstehung  des  Irreseins 
aus  äusseren  Ursachen  wird  dabei  wesentlich  durch  deren  Aus- 
breitung in  den  einzelnen  Lebensabschnitten  bestimmt,  wahrend 
der  Ausbruch  endogener  Geistesstörungen  sich  ganz  vonüegenc 
an  gewisse  Altersstufen  knüpft.  Zunächst  kommen  hier  die  mäch- 
tigen körperlichen  und  psychischen  Umwälzungen  wahrend  der 

Entwicklungszeit*)  in  Betracht.  ^ . 

Ich  muss  es  für  sehr  wahrscheinlich  halten,  dass  in  diesen 
Vorgängen  wesentliche  Entstehungsbedingungen  für  einen  Teil 
jener  Geistesstörungen  zu  suchen  sind,  die  wir  mit  dem  Namen 
der  Dementia  praecox  zu  bezeichnen  pflegen.  Dafür  spricht  nich 
nur  der  Umstand,  dass  gewisse  Formen  derselben  gerade  wahrend 
der  Entwicklungsjahre  einsetzen,  sondern  namentlich  auch  die 
bereits  von  Hecker  betonte  Anlehnung  des  klinischen  Bildes 
an  die  gewöhnlichen  psychischen  Veränderungen  in  jener  Zeit, 
Dahin  gehören  die  lebhafte  Tätigkeit  der  Einbildungskraft,  die 
eigentümlichen  Stimmungsschwankungen,  die  Reizbarkeit,  die 
Neigung  zu  Schwärmerei  und  Empfindsamkeit,  die.  geschlecht- 
liche Erregbarkeit,  die  Antriebe  zu  allerlei  unvermitteltem  und 
unüberlegtem  Handeln.  Alle  diese  Züge  finden  sich  in  krankhafter 
Ausprägung  namentlich  bei  den  hebephrenischen  Erkrankungen 
wieder.  Allerdings  haben  wir  es  hier  stets  mit  greifbaren  und 
eigenartigen  Zerstörungen  in  der  Hirnrinde  zu  tun,  über  deren 
nähere  Beziehungen  zu  den  Entwicklungsvorgängen  noch  völliges 
Dunkel  herrscht. 

Ausser  der  Dementia  praecox  treffen  wir  in  diesem  Alter 
häufig  auf  die  ersten  Anfänge  des  manisch-depressiven  Irreseins 
in  Form  von  leichteren  oder  schwereren  Aufregungs-  und  Depres- 
sionszuständen. Ihre  Entstehung  ist  vielleicht  in  erbindung  zu 
bringen  mit  der  bekannten  grösseren  gemütlichen  Erregbarkeit 
dieses  Lebensalters,  wie  sie  sich  auch  in  der  Häufigkeit  \ on 


*)  W.  Wille,  Die  Psychosen  des  Pubertätsalters.  1898. 


Lebensalter. 


101 


Leidenschaftsverbrechen,  von  Körperverletzungen  und  Wider- 
stand kundgibt.  Ferner  treten  jetzt  vielfach  epileptische  und 
hysterische  Krankheitserscheinungen  deutlicher  hervor,  ebenso 
die  vielgestaltigen  Formen  des  Entartungsirreseins. 

Endlich  aber  beginnen  nunmehr  auch  eine  Anzahl  von  äusseren 
Schädlichkeiten  ihren  Einfluss  zu  entfalten,  da  allmählich  der 
Schutz  des  elterlichen  Hauses  mit  einer  grösseren  Selbständigkeit 
der  Lebensführung  vertauscht  wird.  Allerlei  Verführungen  und 
Kämpfe  treten  an  die  noch  unfertige  Persönlichkeit  heran;  die 
Schädigungen,  welche  der  Kampf  ums  Dasein  mit  sich  bringt, 
äussern  ihre  ersten  Wirkungen.  Dabei  macht  sich  die  Unzu- 
länglichkeit der  persönlichen  Anlage  allmählich  stärker  geltend. 
Jene  psychischen  Krüppel,  die  dem  Kampfe  ums  Dasein  nicht 
gewachsen  sind,  beginnen  durch  ihre  eigentümliche  Entwick- 
lungsrichtung, durch  unzweckmässige  Verarbeitung  der  Lebens- 
reize und  geringere  Widerstandsfähigkeit  sich  deutlicher  aus- 
zusondern. Für  das  männliche  Geschlecht  wird  jetzt  ganz  be- 
sonders der  Alkohol  gefährlich,  für  das  weibliche  das  Fort- 
pflanzungsgeschäft. Auch  akute  Krankheiten,  heftige  Gemüts- 
erschütterungen, gelegentlich  einmal  Überanstrengung  können 
zu  allerlei  Schädigungen  führen.  Gleichwohl  ist  die  Häufigkeit 
psychischer  Erkrankungen  hier  noch  keine  allzu  grosse. 

Die  grösste  statistische  Häufigkeit  der  Geistesstörungen  fällt 
in  die  Zeit  der  vollen  Kraftentfaltung  vom  25.  bis  zum 
40.  Lebensjahre.  Sicherlich  ist  der  Grund  nicht  die  besondere 
Verletzlichkeit  der  entwickelten  körperlichen  und  geistigen  Per- 
sönlichkeit, sondern  lediglich  die  Zahl  der  von  aussen  auf  die- 
selbe einstürmenden  Krankheitsursachen.  Die  Widerstandsfähig- 
keit ist  in  diesem  Alter  zweifellos  am  grössten,  aber  die  Schäd- 
lichkeiten sind  in  rascherem  Fortschritte  angewachsen,  als  jene. 
Die  Schwierigkeiten  der  Lebensführung  vergrössern  sich  mit  der 
zunehmenden  Selbständigkeit  und  der  Sorge  um  Weib  und  Kind; 
aus  der  weiter  reichenden  Verantwortlichkeit  entspringen  ernstere 
Kämpfe  und  Sorgen;  die  höher  gestellten  Hoffnungen  bringen 
Enttäuschungen  mit  sich,  und  die  dauernde  Anspannung  aller 
körperlichen  und  geistigen  Kräfte  im  Daseinskämpfe  geht  mit  der 
Gefahr  der  Abnutzung  und  Abstumpfung  einher.  Dazu  gesellen 
sich  die  vielfachen  Erkrankungen,  denen  die  rücksichtslose  Arbeit 


102 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


den  Menschen  aussetzt,  die  verhängnisvollen  "V  orgänge  des  Ge- 
schlechtslebens beim  Weibe,  ganz  besonders  auch  die  verderbliche 
Wirkung  der  Ausschweifungen  in  Trunk  und  Liebe  nebst  deren 
tückischer  Begleiterin,  der  Syphilis.  Eine  Reihe  verschieden- 
artiger Formen  des  Irreseins  gewinnen  daher  in  diesem  Alter 
ihre  weiteste  Verbreitung.  Entschieden  im  Vordergründe  jedoch 
steht  die  Paralyse  und  der  Alkoholismus,  namentlich  beim  männ- 
lichen Geschlechte;  bei  den  Frauen  treten  demgegenüber  die 
einzelnen,  nunmehr  sich  häufenden  Anfälle  des  manisch-depres- 
siven Irreseins  stärker  hervor.  Seltener  sind  die  V erblödungs- 
formen  geworden,  doch  gehören  gerade  die  paranoiden  Erkran- 
kungen vielfach  diesem  Alter  an;  auch  die  echte  Paranoia  pflegt 
hier  zu  beginnen. 

In  dem  Jahrfünft  vom  36.  bis  zum  40.  Lebensjahre  ist  die 
Zahl  psychischer  Erkrankungen  auf  ihrem  Höhepunkte  angelangt. 
Von  da  ab  wird  das  Irresein  allmählich  seltener,  vielleicht  des- 
wegen, weil  nunmehr  das  Ziel  einer  gesicherten  Lebensstellung 
in  der  Mehrzahl  der  Fälle  erreicht  ist  und  damit  eine  Anzahl  von 
Sorgen  und  Aufregungen  in  Wegfall  kommt,  andererseits,  veii 
das  reifere  Alter  der  Verführung  zu  Ausschweifungen  weniger 
zugänglich  ist  und  beim  Weibe  die  Gefahren  des  Fortpflanzungb- 
geschäftes  zurücktreten.  Dazu  kommt,  dass  im  nunmehr  be- 
ginnenden Greisenalter  die  Empfindlichkeit  für  gemütliche  Er- 
schütterungen zweifellos  bedeutend  abnimmt.  Endlich  aber  ist 
dieses  Lebensalter  gewissermassen  bereits  „durchseucht  ; die 
grosse  Mehrzahl  der  Gefährdeten  ist  schon  früher  den  verderb- 
lichen Einflüssen  der  Krankheitsursachen  unterlegen.  Aus  allen 
diesen  Gründen  lässt  die  Häufigkeit  psychischer  Erkrankungen 
mit  zunehmendem  Alter  zuerst  ein  langsames,  von  der  Mitte  der 
50er  Jahre  aber  ein  rasches  Sinken  erkennen. 

Andererseits  jedoch  haben  nicht  selten  die  aufreibenden 
Schädigungen  des  Lebens  hier  eine  neue,  erworbene  Prädisposition 
geschaffen,  indem  sie  die  Widerstandsfähigkeit  des  verbrauch- 
ten Gehirns  untergraben.  Das  Alter  wird  selbst  zur  Krankheit, 
der  bis  zu  einem  gewissen  Grade  schliesslich  ein  jeder  erliegen 
muss.*)  Die  Aufnahmefähigkeit  des  Greises,  seine  geistige  Be- 


*)  Fried  mann.  Die  Altersveränderungen  und  ihre  Behandlung.  1902. 


Lebensalter. 


103 


weglichkeit  nimmt  ab;  er  beginnt  allmählich,  fremd  in  seiner 
Umgebung  und  in  seiner  Zeit  zu  werden.  Sein  Gedächtnis 
wird  unzuverlässig,  namentlich  für  die  jüngste  Vergangenheit; 
der  Gesichtskreis  verengt  sich  wegen  der  Unzugänglichkeit  für 
neue  Anregungen;  der  Vorstellungsschatz  verarmt,  da  der  fort- 
schreitende Verlust  an  Vorstellungen  nicht  mehr  durch  neuen 
Erwerb  ausgeglichen  wird.  Auch  auf  gemütlichem  Gebiete  kommt 
es  zu  einer  gewissen  Verödung,  zu  einer  Einschränkung  der  Ge- 
fühlsregungen auf  die  allernächsten  und  unmittelbarsten  Inter- 
essen. Ohne  Zweifel  liegen  dieser  psychischen  Umwandlung  be- 
stimmte körperliche  Veränderungen  zu  Grunde.  Wir  erinnern  nur 
an  das  Klimakterium  der  Frauen  und  die  entsprechenden,  freilich 
weit  weniger  einschneidenden  Vorgänge  beim  Manne,  ferner  an 
die  augenfälligen  Rückbildungen  in  den  gesamten  Organen  des 
alternden  Körpers.  Unter  diesen  hat  man  den  Gefässverände- 
rungen,  der  Arteriosklerose,  eine  besondere  Bedeutung  zugeschrie- 
ben; sie  sind  nicht  nur  Begleiterscheinungen  des  eigentlichen 
Greisenalters,  sondern  sie  können  auch  schon  früher  sehr  hohe 
Grade  erreichen.  Andererseits  beobachten  wir  zu  dieser  Zeit 
im  Rindengewebe  selbst  eine  Reihe  verschiedener  Krankheits- 
vorgänge, die  schwerlich  als  einfache  Folgen  der  Gefässverände- 
rungen  aufgefasst  werden  dürfen. 

Als  klinischen  Ausdruck  des  Rückbildungsalters  können  wir 
zunächst  die  Melancholie  betrachten.  Ausserdem  scheint  sich 
die  Herabsetzung  der  psychischen  Widerstandsfähigkeit  in  diesem 
Lebensabschnitte  darin  zu  verraten,  dass  jetzt  noch  gewisse 
Geistesstörungen  beginnen  können,  die  wir  auf  eine  ursprüngliche 
krankhafte  Veranlagung  zurückzuführen  pflegen.  Dahin  gehört 
namentlich  das  manisch-depressive  Irresein;  bisweilen  ist  schon 
ein  vereinzelter  erster  Anfall  im  Entwicklungsalter  vorher- 
gegangen. Sodann  beginnen  in  diesem  Lebensalter  eine  Reihe 
zur  Verblödung  führender  Irreseinsformen,  die  wir  jetzt  noch 
mit  unter  dem  Begriffe  der  Dementia  praecox  zusammenfassen. 
Einerseits  sind  es  paranoide  Bilder  mit  abenteuerlichen  Wahn- 
bildungen und  Sinnestäuschungen,  andererseits  die  noch  wenig 
bekannten  depressiv-katatonischen  Formen,  die  meist  mit  der  Melan- 
cholie zusammengeworfen  werden.  Endlich  haben  wir  auch  des 
senilen  und  präsenilen  Beeinträchtigungswahnes  hier  zu  gedenken. 


104 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Mit  dem  Eintritte  des  eigentlichen  Greisenalters  gewinnen 
die  Geistesstörungen  immer  mehr  den  gemeinsamen  Grundzug 
der  psychischen  Schwäche.  Abnahme  des  Gedächtnisses, 
Unfähigkeit  zur  Auffassung  und  Verarbeitung  neuer  Eindrücke, 
Verwirrtheit  und  Zerfahrenheit,  Oberflächlichkeit  der  Gemüts- 
bewegungen, hypochondrische  Befürchtungen,  nächtliche  Unruhe, 
dabei  Neigung  zu  rascher  Verblödung  sind  die  hervorstechendsten 
Züge  der  hierher  gehörigen  Krankheitsbilder,  unter  denen  neben 
dem  einfachen,  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Altersblödsinn 
die  senilen  Depressionszustände,  die  deliriösen  Erregungen,  die 
Presbyophrenie  und  die  arteriosklerotische  "V  erblödung  im  U order- 
grunde  stehen.  Vereinzelt  begegnen  wir  noch  den  letzten  Aus- 
läufern des  manisch-depressiven  Irreseins.  Bemerkenswert  ist 
überall  die  Häufigkeit  von  Gehirnerscheinungen,  Schwindel,  apha- 
sischen  Störungen,  Schlaganfällen,  Krämpfen  und  Lähmungen. 

Geschlecht.  Die  Frage  nach  der  Veranlagung  der  beiden 
Geschlechter  zu  psychischer  Erkrankung  ist  auf  Grund 
statistischer  Erhebungen  vielfach  verschieden  beantwortet  wor- 
den. Ohne  weiteres  Eingehen  auf  die  Würdigung  der  Fehler- 
quellen derartiger  Angaben  sei  hier  nur  bemerkt,  dass  die  Sta- 
tistik im  allgemeinen  keine  erheblichen  und  sicheren  Unter- 
schiede in  der  Häufigkeit  des  Irreseins  zwischen  beiden  Ge- 
schlechtern erkennen  lässt.  In  Wirklichkeit  dürfte  es  kaum 
zweifelhaft  sein,  dass  das  Weib  mit  seiner  zarteren  Veranlagung, 
mit  der  geringeren  Ausbildung  des  Verstandes  und  dem  stärkeren 
Hervortreten  des  Gefühlslebens  weniger  Widerstandsfähigkeit 
gegen  die  körperlichen  und  psychischen  Ursachen  des  Irreseins 
besitzt,  als  der  Mann.  Allein  die  Bedeutung  dieses  Umstandes 
wird  ausgeglichen  durch  die  verhältnismässig  geschützte  Stel- 
lung, die  das  Weib  dem  unvergleichlich  stärker  gefährdeten  Manne 
gegenüber  einnimmt.  Alle  jene  Schädlichkeiten,  die  der  Kampf 
ums  Dasein  mit  sich  bringt,  treffen  in  erster  Linie  und  vorwiegend 
den  Mann,  dem  die  Sorge  für  die  Familie  obliegt,  wenn  auch  die 
Mühsalen  des  Lebensunterhaltes  für  das  unverheiratete  Weib 
vielfach  weit  grösser  sein  mögen.  Ferner  ist  vor  allem  auf  die 
Wirkung  der  Ausschweifungen  nach  den  verschiedensten  Rich- 
tungen hinzuweisen,  Gefahren,  denen  ganz  vorzugsweise  der  Mann 
wegen  der  gesellschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Unabhängig- 


Geschlecht. 


105 


keit  seiner  Stellung  ausgesetzt  ist,  während  das  Weib,  durch  Er- 
ziehung und  Sitte  gebunden,  stets  ein  eintönigeres,  regelmäs- 
sigeres  und  ruhigeres  Leben  zu  führen  gezwungen  ist.  Wo  dieser 
Zwang  einmal  durchbrochen  und  der  Leidenschaftlichkeit  der 
weiblichen  Natur  freier  Spielraum  gegeben  ist,  bei  Prostituierten, 
sehen  wir  daher  sofort  die  geringere  Widerstandsfähigkeit  des 
weiblichen  Geschlechtes  in  erschreckenden  Prozentsätzen  des 
Irreseins  und  der  Selbstmorde  zum  Ausdruck  gelangen*).  Aller- 
dings dürfte  gerade  hier  die  verhältnismässige  Häufigkeit  ur- 
sprünglicher krankhafter  Veranlagung  wesentlich  in  Rechnung 
zu  ziehen  sein. 

Die  Entstehung  der  eigentümlichen  Geistesstörungen  des 
Weibes  wird  durchaus  beherrscht  durch  die  Vorgänge  des 
Geschlechtslebens.  Die  Bedeutung  der  Sexualerkran- 
kungen, der  Schwangerschaft,  des  Wochenbettes,  des  Säuge- 
geschäftes ist  schon  früher  berührt  worden;  sie  tragen  die  Schuld, 
dass  zwischen  dem  16.  und  35.  Lebensjahre  tatsächlich  die  Gefähr- 
dung des  weiblichen  Geschlechtes  eine  etwas  höhere  ist,  als  die- 
jenige des  Mannes.  Nach  jenem  Zeitpunkte  zeigt  dieselbe  an  sich 
und  verhältnismässig  eine  Abnahme,  bis  mit  den  mannigfachen 
Umwälzungen  und  Störungen  im  Rückbildungsalter,  etwa  von 
Mitte  der  40er  Jahre  bis  Mitte  der  50er  Jahre,  die  Zahl  der  psy- 
chischen Erkrankungen  beim  Weibe  wieder  etwas  überwiegt. 
Ja,  zwischen  dem  61.  und  65.  Lebensjahre  lässt  sich  sogar  ge- 
radezu eine  Zunahme  der  Geistesstörungen  beim  weiblichen  Ge- 
schlechte  nachweisen,  die  allerdings  im  späteren  Alter  wieder 
einer  rascheren  Abnahme  Platz  macht.  Dennoch  erscheint  das 
Weib  von  da  ab  dauernd  mehr  gefährdet,  als  der  Mann. 

Den  Verschiedenheiten  in  den  ursächlichen  Verhältnissen  bei 
beiden  Geschlechtern  entspricht  auch  das  Vorwalten  der  einzelnen 
Krankheitsformen  bei  ihnen.  Die  Dementia  paralytica,  die  Ver- 
giftungspsychosen, insbesondere  der  Alkoholismus,  das  epilep- 
tische Irresein,  die  Verrücktheit,  die  erworbene  Neurasthenie, 
das  traumatische  Irresein,  die  Schreckneurose  überwiegen  beim 
männlichen  Geschlechte.  Beim  Weibe  begegnen  wir  dagegen 
auffallend  häufig  den  mit  lebhaften  Stimmungsschwankungen 


*)  v.  Oettingen,  Moralstatistik.  3.  Auflage.  1882,  767. 


106 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


einhergehenden  manisch-depressiven  Geistesstörungen,  für  welche 
vielfach  die  periodischen  Umwälzungen  im  Geschlechtsleben  den 
günstigen  Boden  abgeben.  Auch  die  Entwicklung  ausgeprägter 
Formen  der  Hysterie  wird  anscheinend  durch  die  Eigentümlich- 
keiten der  weiblichen  Anlage  begünstigt.  Ferner  beobachten 
wir  hier  häufiger  die  Erschöpfungs-  und  Infektionspsychosen, 
meist  im  Zusammenhänge  mit  den  V orgängen  des  Fortpflanzungs- 
geschäftes, während  im  Klimakterium  des  Weibes  die  Neigung 
zu  melancholischen  Erkrankungen  stärker  hervortritt.  \ on  den 
Verblödungskrankheiten  scheinen  die  einfach  hebephrenischen 
Formen  das  männliche,  die  katatonischen  das  weibliche  Geschlecht 
etwas  zu  bevorzugen;  auch  hier  bestehen  deutliche  Beziehungen 
zum  Fortpflanzungsgeschäfte. 

Volksart  und  Klima.  Sehr  wenig  Sicheres  lässt  sich  bei  dem 
jetzigen  Stande  der  Statistik  und  der  grossen  Schwierigkeit  der 
Frage  über  die  Neigung  der  einzelnen  Volksstämme  zu  geistiger 
Erkrankung  aussagen.  Zunächst  sind  die  Zählungen  der  Geistes- 
kranken in  den  meisten  Ländern  so  unsicher,  dass  sie  durchaus 
keine  vergleichbaren  Bilder  geben.  Sodann  aber  ist  es  unmöglich, 
die  Wirkung  der  verschiedenen  Einflüsse,  welche  die  Häufigkeit 
des  Irreseins  bedingen,  voneinander  zu  trennen,  der  A olksart, 
der  Lebensgewohnheiten,  des  Klimas,  der  Ernährung,  der  all- 
gemeinen Gesundheitsverhältnisse  u.  s.  f.  Dennoch  hat  es  den 
Anschein,  als  ob  Geistesstörungen  bei  Völkern,  die  unter  ein- 
fachen Bedingungen  leben,  weit  seltener  sind,  als  bei  uns.  Dass 
dabei  wirklich  die  Eigenart  der  A7ölker  selbst  eine  Rolle  spielen 
kann,  beweist  das  Beispiel  der  Juden*),  die  ohne  gröbere  Fehler 
mit  der  sie  umgebenden  Bevölkerung  verglichen  werden  können. 
Dieser  Vergleich  ergibt,  dass  wenigstens  in  Deutschland  und 
ebenso  in  England  die  Juden  in  erheblich  höherem  Masse  zu  gei- 
stiger und  nervöser  Erkrankung  veranlagt  sind,  als  die  Germanen. 
Allerdings  sind  bei  ihnen  die  alkoholischen  Formen  des  Irreseins 
recht  selten;  dagegen  treten  ausserordentlich  stark  jene  Stö- 
rungen in  den  A7ordergrund,  die  wir  auf  erbliche  Entartung  zu- 
rückzuführen pflegen.  Vielleicht  spielt  dabei  eine  gewisse  Rolle 
die  Vorliebe  der  Juden  für  Verwandtschaftsheiraten,  von  denen 


*)  P i 1 c z , Wiener  klinische  Rundschau.  1901,  47  u.  4S. 


Volksart  und  Klima. 


107 


wir  wissen,  dass  sie  eine  bestehende  Krankheitsanlage  in  bedenk- 
licher Weise  fortzubilden  imstande  sind. 

Ein  gewisses  Licht  auf  die  hier  erörterte  Frage  wirft 
vielleicht  auch  die  Selbstmordstatistik*).  Die  Unterschiede 
nicht  nur  der  grossen  Volksstämme,  sondern  auch  der  ein- 
zelnen kleineren  Gruppen  untereinander  sind  so  beträcht- 
liche, dass  sie  schlechterdings  nicht  allein  oder  auch  nur 
hauptsächlich  auf  die  verschiedenen  Lebensbedingungen  zu- 
rückgeführt werden  dürfen.  Wer  Gelegenheit  gehabt  hat,  die 
ausserordentliche  Selbstgefährlichkeit  der  Geisteskranken  in 
Sachsen  kennen  zu  lernen,  wird  erstaunt  sein,  in  Bayern  etwa 
oder  in  der  Pfalz  eine  unvergleichlich  geringere  Selbstmord- 
neigung anzutreffen.  Dass  dieselbe  bei  den  Romanen  noch  weit 
mehr  in  den  Hintergrund  tritt,  ist  bekannt.  Auch  hinsichtlich 
der  Gewalttätigkeit  der  Kranken  bestehen  sehr  grosse  Verschie- 
denheiten. In  Deutschland  stehen  nach  meinen  Erfahrungen  Ober- 
und Niederbayern  in  dieser  Beziehung  bei  weitem  obenan,  während 
die  sächsischen  Kranken  im  allgemeinen  eine  sehr  geringe  Neigung 
zu  Gewalttätigkeiten  zeigen;  die  Kranken  der  Pfalz  zeichnen  sich 
dagegen  durch  sehr  grosse  Unruhe  aus.  In  sehr  erheblicher  Weise 
wird  die  Häufigkeit  und  die  Eigenart  des  Irreseins  bei  den  ver- 
schiedenen Völkern  ferner  durch  die  von  ihnen  bevorzugten  Ge- 
nussmittel bestimmt.  So  tritt  bei  den  germanischen  Stämmen 
sehr  ausgeprägt  der  Hang  zum  Alkohol  in  den  Vordergrund, 
während  die  Romanen  im  allgemeinen  weit  mässiger  sind  und 
die  Muhammedaner  und  Buddhisten  jenes  Gift  durchaus  verab- 
scheuen. Dafür  begegnen  wir  in  Vorderasien  und  Nordafrika 
den  Geistesstörungen  durch  Haschisch,  in  Ostasien  dem  Opium- 
missbrauche, der  allerdings  weit  weniger  tief  in  das  Seelenleben 
eingreift,  endlich  in  Peru  dem  Cocai'nismus. 

Von  der  allergrössten  Bedeutung  wäre  es  natürlich,  einen 
Einblick  in  die  Häufigkeit  der  einzelnen  klinischen  Krankheits- 
formen bei  den  verschiedenen  Völkern  zu  gewinnen.  Leider  fehlen 
dafür  heute  noch  die  notwendigsten  Voraussetzungen,  da  die 
überwiegende  Mehrzahl  unserer  klinischen  Diagnosen  nur  viel- 


*)  M o r s e 1 1 i , Der  Selbstmord,  deutsch  von  K u r e 1 1 a.  1881 ; Dürk- 
heim, Le  suicide,  etude  de  sociologie.  1897. 


108 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


deutige  Zustandsbilder  umfasst.  Höchstens  die  Angaben  über 
das  Vorkommen  der  Paralyse  können  vergleichbar  erscheinen. 
Wir  erfahren,  dass  sie  in  Irland,  in  Spanien,  Nordafrika,  in  Bosnien, 
Persien,  Abbessynien  und  Japan  weit  seltener  ist,  als  bei  uns, 
obgleich  in  manchen  dieser  Länder  die  Syphilis  eine  ungeheure 
Verbreitung  aufweist.  Dabei  ist  aber  zu  bemerken,  dass  die 
schweren  Formen  der  Lues  wenigstens  in  Mittelafrika  fast  ganz 
fehlen;  die  Krankheit  beschränkt  sich  dort  wesentlich  auf  Haut- 
ausschläge und  Geschwüre  und  besitzt  grosse  Neigung  zur  Selbst- 
heilung. Bei  Naturvölkern  scheinen  die  Krankheitsbilder  der 
Hysterie  und  Epilepsie  nicht  selten  zu  sein.  Der  ersteren  zum 
mindesten  nahe  verwandt  ist  das  unter  verschiedenen  Namen  auch 
bei  anderen  Völkern  beobachtete  „Latah“  der  Malayen,  das  sich 
wesentlich  in  Anfällen  von  Befehlsautomatie  oder  Koprolalie 
äussert,  die  durch  Schreck  ausgelöst  werden.  Dagegen  dürfte 
das  bekannte  „Amok“  der  Malayen  in  das  Gebiet  der  epileptischen 
Störungen  gehören.  Zu  erwähnen  wäre  etwa  noch  die  in  V est- 
afrika  und  neuerdings  auch  in  Uganda  epidemisch  auftretende 
Schlafkrankheit  der  Neger,  der  eine  diffuse,  meist  binnen  Jahres- 
frist zum  Tode  führende  Hirnerkrankung  bisher  unbekannten  Ur- 
prungs  zu  Grunde  liegt. 

Höchst  wahrscheinlich  hat  auch  das  Klima  auf  die  Häufig- 
keit und  Form  des  Irreseins  einen  gewissen  Einfluss,  wenn  auch 
genaueres  darüber  kaum  bekannt  ist.  Für  jene  Annahme  sprechen 
indessen  zunächst  die  Erfahrungen,  die  man  über  die  Abhängig- 
keit der  Selbstmorde  und  Verbrechen  von  Jahreszeiten  und  Klima 
gemacht  hat.  Ferner  habe  ich  den  Eindruck,  als  ob  die  Auf- 
regungszustände unserer  Kranken  im  Sommer  meist  heftiger  ver- 
laufen, als  im  Winter;  bei  cirkulären  Fällen  sieht  man  nicht 
selten  die  Depression  gerade  in  den  Winter  fallen.  In  Italien 
scheinen  plötzliche  triebartige  Erregungszustände  häufiger  vor- 
zukommen, als  bei  uns;  andererseits  sind  mir  bei  den  Esten 
keine  wesentlichen  Abweichungen  gegenüber  unseren  Kranken 
aufgefallen.  Rasch*)  hat  neuerdings  über  den  Einfluss  des 
Tropenklimas  auf  eingewanderte  Europäer  berichtet.  Er  kommt 
zu  dem  Ergebnisse,  dass  sich  im  Laufe  der  Jahre  allmählich 


*)  Rasch,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LIV,  745. 


Allgemeine  Lebensverhältnisse. 


109 


Schlaffheit,  Gleichgültigkeit,  Abnahme  des  Gedächtnisses,  Ver- 
lust der  gemütlichen  Widerstandsfähigkeit,  Reizbarkeit  und  Em- 
pfindlichkeit („Tropenkoller“),  endlich  Schwinden  der  Tatkraft 
einstelle. 

Allgemeine  Lebensverhältnisse.  Es  kann  nicht  zweifelhaft 
sein,  dass  die  gesamten  Lebensbedingungen,  unter  denen  ein  Volk 
sich  befindet,  einen  nachhaltigen  Einfluss  auch  auf  die  Häufig- 
keit des  Irreseins  gewinnen  müssen;  hängt  doch  von  ihnen  nicht 
nur  die  allgemeine  Widerstandsfähigkeit,  sondern  auch  die  Ver- 
breitung der  besonderen  Krankheitsursachen  ab.  Wie  es  scheint, 
nimmt  die  Zahl  der  Geistesstörungen  mit  steigender  Gesittung 
zu.  Allerdings  ist  es  schwierig,  diesen  Satz  sicher  zu  beweisen, 
da  die  Zahlenangaben  über  die  Häufigkeit  des  Irreseins  bei  Natur- 
völkern oder  bei  Völkern  von  verschiedener  Stufe  der  Gesittung 
aus  naheliegenden  Gründen  keinen  Vergleich  gestatten.  Dagegen 
lassen  regelmässige  Zählungen  bei  uns  mit  Bestimmtheit  eine 
rasche  Zunahme  der  anstaltsbedürftigen  Geisteskranken  er- 
kennen, welche  das  allgemeine  Anwachsen  der  Bevölkerung  weit 
übersteigt.  Zum  Teil  ist  diese  Zunahme  sicher  durch  die  grössere 
Sorgfalt  der  Zählung,  durch  die  bessere  Kenntnis  der  Geistes- 
störungen bedingt;  zum  Teil  auch  hängt  sie  mit  der  wachsenden 
Schwierigkeit  zusammen,  in  den  verwickelteren  Lebensverhält- 
nissen Geisteskranke  ohne  Gefahr  ausser  der  Anstalt  zu  ver- 
pflegen. Je  grösser  die  Gefahr  von  Unglücksfällen  oder  Zusam- 
menstössen  mit  der  Umgebung  wird,  je  enger  das  Beisammen- 
wohnen, je  kostbarer  die  einzelne  Arbeitskraft,  desto  stärker 
wächst  die  Neigung  der  Bevölkerung,  ihre  Geisteskranken  der 
Anstalt  zu  übergeben. 

Dennoch  können  wir,  wie  ich  glaube,  nicht  wohl  mehr  daran 
zweifeln,  dass  wir  tatsächlich  mit  einer  Zunahme  des  Irreseins 
zu  rechnen  haben.  Dafür  spricht  ausser  dem  erschreckend 
schnellen  Anwachsen  der  Zahlen  die  gleichzeitige  Steigerung  der 
Selbstmordhäufigkeit,  dann  aber  auch  der  eigentümliche  Gegen- 
satz, der  sich  zwischen  Stadt-  und  Landbevölkerung  heraus- 
stellt. Gerade  die  grossen  Städte  mit  ihren  erhöhten  An- 
forderungen an  die  geistige  und  sittliche  Kraft  des  Einzelnen, 
mit  ihrer  Erschwerung  der  Lebensbedingungen  und  ihren  mannig- 
fachen Verführungen  zu  Ausschweifungen  aller  Art  sind  es,  welche 


110 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


bei  weitem  den  grössten  Beitrag  zu  der  raschen  Vermehrung 
der  Geisteskrankheiten  und  des  Selbstmordes  liefern.  Dort  sind 
die  Umwälzungen,  die  unser  Zeitalter  in  den  gesamten  Lebens- 
verhältnissen herbeigeführt  hat,  am  schärfsten  ausgeprägt.  Die 
vollständige  Umgestaltung  des  Arbeitsbetriebes  durch  Dampf 
und  Elektrizität,  die  Vernichtung  des  Handwerks,  die  Entwicklung 
des  Fabrikwesens,  der  ins  Ungeahnte  gesteigerte  wirtschaftliche 
und  geistige  Verkehr  stellen  heute  Anforderungen  an  die  Lei- 
stungsfähigkeit des  Einzelnen,  die  weit  über  das  früher  Gewohnte 
hinausgehen.  Alle  diese  Wandlungen  sind  mit  so  unerhörter 
Schnelligkeit  vor  sich  gegangen,  dass  wohl  nur  die  anpassungs- 
fähigsten Naturen  denselben  völlig  haben  folgen  können.  Wir 
leben  in  einer  Übergangszeit,  in  welcher  sich  der  Kampf  ums 
Dasein  naturgemäss  ganz  besonders  heftig  und  aufreibend  ge- 
staltet. Das  ist,  wie  ich  meine,  der  Hauptgrund,  warum  die  An- 
zahl derer  so  unheimlich  zunimmt,  die  den  allzu  rasch  gesteigerten 
Anforderungen  unseres  heutigen  Lebens  nicht  genügen  una  in 
dem  friedlichen  Ringen  kampfunfähig  werden.  Ein  neues, 
heranwachsendes  Geschlecht  wird  in  diesen  Kampf  von  v orn- 
herein  mit  frischer  Kraft  und  besseren  Waffen  eintreten  und 
sich  damit  auch  den  veränderten  Lebensbedingungen  anpassen 
lernen. 

Wir  dürfen  dabei  nicht  vergessen,  dass  jedem  Übel  am 
Körper  der  Menschheit  alsbald  auch  das  Heilmittel  zu  erwachsen 
pflegt.  Das  hastige  Leben  unserer  Zeit  ist  gleichzeitig  auch 
reicher  geworden;  die  Not  hat  auch  die  Hilfsbereitschaft  ver- 
mehrt. Allmählich  werden  die  vielfachen  Bestrebungen  zur  Lin- 
derung des  Elends,  zur  Erziehung  des  Volkes  für  seine  neuen 
Aufgaben  ihre  segensreiche  Wirkung  entfalten  können  und  auch 
die  Schwachen  stützen,  die  aus  eigener  Kraft  der  neuen  Zeit 
nicht  zu  folgen  vermögen.  Ja,  in  gewissem  Sinne  können  wir 
sogar  sagen,  dass  gerade  die  stärker  erwachende  Menschenliebe 
einen  nicht  unwesentlichen  Anteil  an  der  Zunahme  oer  Geistes- 
störungen hat,  indem  sie  eine  grosse  Anzahl  von  geistigen  Krüp- 
peln pflegt  und  erhält,  die  ohne  sie  unrettbar  frühem  Inter- 
gange  anheimfallen  würden.  Eine  kräftige  Triebfeder  erhält  diese 
Fürsorge  allerdings  durch  den  Umstand,  dass  die  besonderen 
Lebensverhältnisse  der  grossen  Städte  heute  die  häusliche  Pflege 


Allgemeine  Lebensverhältnisse;  Beruf. 


111 


vieler  Geisteskranker  unmöglich  machen,  die  sonst  vielleicht  der 
Anstalt  noch  gar  nicht  bedürfen  würden. 

Auf  der  anderen  Seite  ist  jedoch  leider  nicht  zu  verkennen, 
dass  einige  der  wichtigsten  Ursachen  des  Irreseins  auch  ohne 
unmittelbaren  Zusammenhang  mit  der  Umgestaltung  unserer  ge- 
samten Lebensverhältnisse  in  rascher  Verbreitung  begriffen  sind, 
vor  allem  der  Alkoholmissbrauch  und  die  Syphilis.  Beide  Ursachen 
werden  erfahrungsgemäss  besonders  in  den  Grossstädten  gezüch- 
tet, in  denen  sie,  sehr  mässig  gerechnet,  etwa  die  Hälfte  der 
Geistesstörungen  erzeugen.  Will  man  die  Ausbreitung  der  Trunk- 
sucht und  der  Geschlechtskrankheiten  als  Gradmesser  der  Ge- 
sittung betrachten,  so  müsste  man  allerdings  zu  dem  trostlosen 
Schlüsse  kommen,  dass  wir  durch  den  Fortschritt  unserer  Kultur 
mit  Notwendigkeit  dem  Untergange  durch  körperliche  und  gei- 
stige Entartung  entgegengetrieben  werden. 

Mehrfach  ist  die  Ansicht  ausgesprochen  worden,  dass  die 
klinischen  Krankheitsformen  schon  im  Laufe  der  letzten  Jahr- 
zehnte gewisse  Wandlungen  durchgemacht  hätten.  So  soll  die 
demente  Paralyse  häufiger,  die  klassische  Form  seltener  geworden 
sein, , während  die  Neigung  zu  Remissionen  zugenommen  habe. 
Andererseits  soll  das  cirkuläre  Irresein  öfters  beobachtet  werden, 
als  früher.  Da  wir  selbst  und  unsere  Diagnosen,  auch  auf  dem 
anscheinend  so  sicheren  Boden  der  Paralyse,  fortwährendem 
Wandel  unterliegen,  ist  es  sehr  schwer,  über  solche  Fragen  ein  zu- 
verlässiges Urteil  zu  gewinnen.  Es  ist  gewiss  möglich,  dass  Ver- 
schiebungen vor  sich  gegangen  sind.  So  begegnen  wir  der  Para- 
lyse bei  Frauen  und  Kindern  anscheinend  häufiger,  während  die 
paralytischen  Anfälle  seltener  geworden  sein  dürften.  Aber  auch 
bei  denjenigen  Tatsachen,  die  einigermassen  sichergestellt  sind, 
bleibt  für  die  Deutung  noch  ein  weiter  Spielraum. 

Beruf.  Die  Gefährdung  einzelner  Berufsarten  durch  Geistes- 
störungen ist  natürlich  zumeist  nur  in  der  grösseren  Häufigkeit 
und  Wirksamkeit  der  mit  ihnen  verknüpften  Schädlichkeiten  be- 
gründet; höchstens  könnte  man  aus  der  Wahl  mancher  künst- 
lerischer Berufsarten,  z.  B.  des  dichterischen  und  schauspiele- 
rischen, einen  bisweilen  zutreffenden  Rückschluss  auf  eine  stärkere 
gemütliche  Empfänglichkeit  und  Erregbarkeit  machen.  Ferner 
dürfte  die  Berufslosigkeit  (Landstreicher,  Gewohnheitsver- 


112 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


brecher  u.  s.  f.)  vielfach  durch  unvollkommene  oder  krankhafte 
Entwicklung  der  Persönlichkeit  bedingt  werden.  Erfahrungs- 
gemäss findet  sich  unter  den  Insassen  der  Gefängnisse,  Zucht- 
häuser und  Arbeitshäuser  eine  bedeutende  Zahl  von  mehr  oder 
weniger  ausgeprägt  Geisteskranken;  die  Angaben  schwanken  um 
2—4  Prozent  herum,  gehen  bei  den  Männern  jedoch  erheblich 
höher.  Am  häufigsten  scheinen  Trinker  zu  sein,  die  freilich  nur 
mit  Vorbehalt,  als  krank  angesehen  zu  werden  pflegen;  inPreussen 
sollen  sie  über  40  Prozent  der  Straf anstaltsbevölkerung  aus- 
machen. Auch  Epileptiker  sind  nicht  selten,  besonders  unter 
den  Landstreichern  und  Leidenschaftsverbrechern.  Bei  ihnen 
spielt  meist  der  Alkohol  nebenbei  noch  eine  bedeutende  Rolle. 
Weiterhin  findet  sich  namentlich  unter  den  unverbesserlichen 
Dieben  eine  Anzahl  von  hebephrenisch  oder  katatonisch  Schwach- 
sinnigen, bei  denen  in  früherem  Lebensalter,  öfters  im  Gefäng- 
nisse, eine  akute  Geistesstörung  mit  ängstlicher  Verwirrtheit  und 
Sinnestäuschungen  zu  einer  tiefgreifenden  Schädigung  des  Ge- 
fühlslebens und  des  Willens  geführt  hat.  Umgekehrt  sehen  wir 
gar  nicht  selten  verwegene  Verbrecher  bei  Gelegenheit  einer 
längeren  Freiheitsstrafe  an  Dementia  praecox  erkranken  und 
dann  entweder  in  die  Irrenanstalt  wandern  oder  zu  harmlosen 
Landstreichern  herabsinken. 

Gerade  die  Landstreicher*)  aber  bilden  eine  höchst  eigen- 
artige Menschengruppe.  Sie  sind  fast  ausnahmslos  geistig,  oft 
auch  körperlich  minderwertig  und  enthalten  einen  erheblichen 
Bruchteil  von  ausgeprägt  Geisteskranken.  Ausser  angeborenem 
Schwachsinn  und  psychopathischer  Veranlagung  spielt  nament- 
lich der  Alkoholmissbrauch  eine  hervorragende  Rolle;  Bon- 
höf f e r fand  seine  Spuren  in  63  Prozent  seiner  Fälle.  In  12  Pro- 
zent bestand  Epilepsie.  Von  den  zweifellos  geisteskranken  Land- 
streichern und  den  ihnen  so  sehr  nahestehenden  Prostituierten 
gehört  die  Mehrzahl  dem  Bilde  der  Dementia  praecox  an,  die  sich 
allerdings  ziemlich  häufig  auf  dem  Boden  einer  schon  von  Jugend 
auf  bestehenden  Verblödung  entwickelt.  Bisweilen  erfolgt  das 
Versinken  in  das  Landstreichertum  im  unmittelbarem  Anschlüsse 


*)  Bonhöffer,  Zeitschrift  f.  d.  gesamte  Strafrechtswissenschaft,  XXI, 
1902;  Wilmanns,  Centralblatt  f.  Nervenheilk.,  XXV,  729,  1902. 


Beruf. 


113 


an  eine  akute  Geistesstörung;  in  anderen  Fällen  vollzieht  sich  die 
Verblödung  ganz  schleichend,  so  dass  sie  schon  einen  sehr  hohen 
Grad  erreicht  hat,  wenn  sie  endlich  als  krankhaft  erkannt  wird. 
Von  anderen  Geistesstörungen  führen  hie  und  da  die  Paralyse  oder 
leichte  manische  Erregungen  zum  Landstreichertum. 

Bei  einem  nicht  unerheblichen  Bruchteile  der  unverbesser- 
lichen Verbrecher,  Landstreicher  und  Dirnen  haben  wir  es  zwar 
nicht  mit  ausgeprägtem  Irresein,  wohl  aber  mit  krankhaften 
Mängeln  und  Eigentümlichkeiten  der  psychischen  Veranlagung 
zu  tun,  die  von  vornherein  ihre  Lebensschicksale  in  die  bestimmte 
Bahn  drängen.  Es  sind  das  die  sogenannten  „geborenen“  Ver- 
brecher. Bei  manchen  derselben,  namentlich  bei  gewissen  Sitt- 
lichkeitsverbrechern, Brandstiftern  und  Giftmischern,  begegnen 
wir  geradezu  mächtigen  verbrecherischen  Trieben.  Von  den  ent- 
schieden krankhaften  Persönlichkeiten  dieser  Art  führen  flies- 
sende Übergänge  ganz  allmählich  zu  den  einfachen  Gewohnheits- 
verbrechern hinüber. 

Im  übrigen  sind  es  entweder  psychische  oder  körperliche  Ur- 
sachen, welche,  an  eine  bestimmte  Art  der  Lebensführung  sich 
knüpfend,  eine  grössere  Häufigkeit  des  Irreseins  zur  Folge  haben. 
Geistige  Überanstrengung  kann  bei  Gelehrten  oder  im  jugendlichen 
Alter  bei  Schülern  gefährdend  wirken  oder  auf  anderweitig  vor- 
bereitetem Boden  dem  Ausbruche  des  Irreseins  Vorschub  leisten. 
So  sieht  man  auffallend  häufig  junge  Leute  hebephrenisch  er- 
kranken, die  sich  auf  der  Schule  besonders  ausgezeichnet  haben. 
Gemütliche  Erregungen  spielen  bei  Soldaten  im  Kriege,  bei  Bör- 
senmännern, bei  Künstlern,  bei  Erzieherinnen  ihre  verderbliche 
Rolle.  Matrosen,  Schankwirte,  Prostituierte  sind  dem  Einflüsse 
der  Ausschweifungen,  dem  Trünke  und  der  Syphilis  ausgesetzt; 
auch  Offiziere,  Studenten  und  Kaufleute,  besonders  Reisende, 
haben  darunter  zu  leiden.  Dagegen  drückt  der  Fluch  der  Not, 
der  Entbehrung,  der  Nahrungssorgen,  gesundheitlicher  Miss- 
stände hauptsächlich  die  handarbeitenden  Massen  der  Bevölke- 
rung. Körperliche  Überanstrengung,  Strapazen,  Nachtwachen 
sind  die  Schädlichkeiten,  welche  der  Militärdienst  mit  sich  bringt; 
im  Verein  mit  den  vielleicht  nicht  ganz  gleichgültigen  bestän- 
digen Erschütterungen  des  Fahrens  treffen  sie  den  Eisenbahn- 
bediensteten. Wärmebestrahlung,  Kopfverletzungen,  Vergiftungen 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl.  8 


114 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


verschiedener  Art  (Blei,  Quecksilber)  sind  weitere  Gelegen- 
heitsursachen, denen  wieder  andere  Berufsarten  vorzugsweise 
ausgesetzt  zu  sein  pflegen.  Der  klinische  Ausdruck  dieser  Ge- 
fährdung wird  natürlich  wesentlich  durch  die  besondere  Art  der 
vorherrschenden  Ursachen  bestimmt;  wir  können  daher  in  dieser 
Beziehung  auf  die  frühere  Besprechung  der  betreffenden  ursäch- 
lichen Verhältnisse  zurückverweisen. 

Zivilstand.  Ein  nicht  unerheblicher  Einfluss  auf  die  Häufig- 
keit des  Irreseins  muss,  wie  es  im  Hinblicke  auf  statistische 
Zusammenstellungen  den  Anschein  hat,  dem  Zivilstande  zu- 
geschrieben werden.  Allerdings  hat  Hagen  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  dass  die  zunächst  sich  ergebenden  Unterschiede  vor 
allem  auf  die  verschiedene  Gefährdung  des  durchschnittlichen 
Lebensalters  zurückzuführen  sind,  in  welchem  sich  die  Ledigen 
und  die  Verheirateten  befinden.  Haben  wir  doch  oben  gesehen, 
dass  psychische  Erkrankungen  zwischen  dem  20.  und  40.  Lebens- 
jahre überhaupt  häufiger  zu  sein  pflegen,  als  in  späterem  Alter. 
Auf  der  andern  Seite  ist  es  unzweifelhaft,  dass  in  einer  grossen 
Zahl  von  Fällen  die  Ehelosigkeit  schon  als  die  Folge  einer  un- 
vollkommenen psychischen  Entwicklung,  einer  bestehenden  oder 
(namentlich  beim  weiblichen  Geschlechte)  überstandenen  Gei- 
stesstörung anzusehen  ist.  Endlich  aber  kann  auch  der  Ehe 
selbst  trotz  der  aus  dem  Fortpflanzungsgeschäfte  erwachsen- 
den Gefahren,  trotz  der  Sorgen,  die  sie  mit  sich  bringt,  dennoch 
wegen  der  grösseren  Befriedigung  und  Sicherheit  des  gemein- 
schaftlichen Lebens  und  auch  wohl  wegen  der  geringeren  Ver- 
führung zu  Ausschweifungen  eine  gewisse  schützende  Bedeutung 
nicht  abgesprochen  werden.  Am  meisten  gefährdet  scheinen  die 
Verwitweten  und  Geschiedenen  zu  sein;  haben  sie  doch  häufig 
fast  alle  Sorgen  und  Gefahren  der  Ehe  zu  tragen,  ohne  deren 
schützende  und  sichernde  Wirkungen  zu  geniessen. 


2.  Persönliche  Prädisposition. 

Wenn  uns  die  bisherige  Betrachtung  gezeigt  hat,  wie  den 
verschiedenen  Gruppen  von  Menschen  entweder  nach  ihrer  all- 
gemeinen Anlage  eine  geringere  Widerstandsfähigkeit  gegen  schä- 
digende Einflüsse  zukommt,  oder  wie  sie  nach  ihrer  eigentüm- 


Zivilstand;  Erblichkeit. 


115 


liehen  Veranlagung  und  den  besonderen  Lebensverhältnissen  einer 
grösseren  oder  geringeren  Zahl  von  Gefahren  ausgesetzt  sind, 
so  werden  uns  ähnliche  Gesichtspunkte  einen  Einblick  in  das 
zweifache  Wesen  jener  vielgestaltigen  Krankheitsursachen  ver- 
schaffen, die  man  unter  dem  Namen  der  persönlichen 
Prädisposition  zusammenzufassen  pflegt. 

Erblichkeit.  Die  Zergliederung  einer  gegebenen  Persönlich- 
keit weist  uns  auf  ihre  Entstehung  und  damit  über  das  Einzel- 
leben hinaus  auf  dasjenige  der  Erzeuger  zurück,  welches  uns 
über  die  erste  und  ungemein  wichtige  Frage  Aufschluss  zu 
geben  hat,  über  den  Einfluss  der  Erblichkeit.  Bei  der  oft 
überraschenden  Treue,  mit  der  sich  nicht  nur  körperliche, 
sondern  namentlich  auch  geistige  Eigenschaften  von  den  Eltern 
auf  die  Kinder  übertragen,  werden  wir  uns  nicht  wundern 
dürfen,  dass  auch  die  Anlage  zu  psychischer  Erkrankung  in 
grossem  Umfange  der  Vererbung  unterliegt.  Scheint  doch  ge- 
rade das  Nervengewebe  in  besonderem  Masse  der  Beeinflussung 
durch  die  Vererbung  zugänglich  zu  sein.  Weiterhin  aber  darf 
nach  den  Erfahrungen,  die  über  die  Nachkommenschaft  der 
Trinker  und  Syphilitischen  vorliegen,  nicht  bezweifelt  werden, 
dass  schwere  erworbene  Leiden,  vielleicht  durch  unmittelbare 
Schädigung  der  Keimzellen,  ebenfalls  für  die  geistige  Gesund- 
heit des  kommenden  Geschlechtes  verderblich  werden  können. 
Auch  Gicht,  Tuberkulose,  Diabetes,  bösartige  Geschwülste  und 
dergleichen  sind  unter  diesem  Gesichtspunkte  als  Ursachen  einer 
angeborenen,  freilich  nicht  eigentlich  vererbten  krankhaften  Ver- 
anlagung angeführt  worden.  Jedenfalls  ist  die  Bedeutung  der 
Abstammung  in  der  Entstehungsgeschichte  psychischer  Krank- 
heiten immer  und  von  allen  Irrenärzten  auf  das  einmütigste  be- 
tont worden,  so  sehr  auch  bei  den  naheliegenden  Fehlerquellen 
einer  Statistik  über  diesen  Punkt  die  Zahlenangaben  im  einzelnen 
auseinandergehen*)  (von  4 bis  90  Prozent).  Der  Grund  für  diese 
grossen  Unterschiede  liegt  hauptsächlich  in  der  verschieden  weiten 

*)  R i b o t , Die  Vererbung,  deutsch  v.  K u r e 1 1 a.  1895;  Orschansky, 
Die  Vererbung  im  gesunden  und  im  krankhaften  Zustande.  1903;  Grassmann, 
Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LII,  960;  Turner,  Journal  of  mental  Science,  Juli 
1896;  Farguharson,  ebenda,  Juli  1898;  War  da,  Monatsschrift  für 
Psychiatrie,  IV,  388,  1898. 


8* 


116 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


Fassung  des  Begriffes  der  Erblichkeit,  in  der  grösseren  oder 
geringeren  Genauigkeit  der  Vorgeschichte  und  in  der  Besonder- 
heit des  verarbeiteten  Krankenmaterials.  Wenn  man  berück- 
sichtigt, dass  nicht  nur  eigentliche  Geistesstörungen,  sondern 
eine  Reihe  von  verwandten  Zuständen,  Alkoholismus,  Neurosen, 
auffallende  Charaktere,  verbrecherische  Neigungen  und  der- 
gleichen, als  Erscheinungsformen  krankhafter  Veranlagung  an- 
gesehen und  somit  bei  der  Feststellung  der  Erblichkeitsverhält- 
nisse in  Rechnung  gebracht  werden  müssen,  so  lässt  sich  im 
Mittel  bei  mindestens  60  bis  70  Prozent  aller  psychisch  Er- 
krankten unter  den  nächsten  Anverwandten  das  Bestehen  der- 
artiger Abweichungen  nachweisen. 

Für  die  Würdigung  dieses  rein  statistischen  Ergebnisses  ist 
es  indessen  sehr  wichtig,  zu  bedenken,  dass  einmal  das  Zusammen- 
treffen psychopathischer  Züge  bei  Gliedern  derselben  Familie 
noch  nicht  notwendig  einen  ererbten  Zusammenhang  zwischen 
diesen  Störungen  erweist,  und  dass  uns  ferner  gänzlich  der 
zahlenmässige  Nachweis  für  die  Häufigkeit  einer  derartigen 
erblichen  Veranlagung  bei  der  grossen  Masse  nicht  geisteskranker 
Personen  mangelt.  Allerdings  hat  eine  auf  meine  Veranlassung 
von  Jost  in  der  Strassburger  medizinischen  Klinik  angestellte 
Nachforschung  über  die  psychopathische  Belastung  nicht  geistes- 
kranker Personen  überraschenderweise  bei  nicht  mehr  als  3 
Prozent  das  Vorkommen  von  Geistesstörungen  in  der  Familie 
ergeben.  Da  es  sich  indessen  nur  um  etwa  200  Personen  handelte, 
bedarf  diese  Feststellung  weiterer  Nachprüfung.  Näcke  fand 
von  80  Irrenpflegern  sicher  7,5  Prozent,  schätzungsweise  20  bis 
25  Prozent  erblich  belastet.  Wir  haben  somit  die  Erblichkeits- 
zahlen beim  Irresein  zunächst  lediglich  als  Erfahrungstatsachen 
anzusehen,  ohne  in  ihnen  etwa  den  Ausdruck  eines  „Gesetzes“ 
zu  erblicken,  das  in  jedem  Einzelfalle  gültig  wäre. 

Wie  die  Erfahrung  lehrt,  kann  die  Vererbung  entweder  eine 
unmittelbare,  von  den  Eltern  ausgehende,  oder  eine  mittelbare 
sein.  Im  letzteren  Falle  lässt  sich  wieder  die  atavistische, 
von  den  Grosseltern  hergeleitete,  und  die  c o 1 1 a t e r a 1 e unter- 
scheiden, die  auf  psychopathische  Zustände  in  einer  Seitenlinie 
(Onkel,  Grosstante,  Vetter  u.  s.  f.)  zurückgeht.  Am  stärksten 
wirkt  sicherlich  die  unmittelbare  Vererbung,  namentlich  wenn 


Erblichkeit. 


117 


beide  Eltern  (gehäufte  Vererbung),  und  wenn  sie  schon  bei 
der  Zeugung  des  Kindes  geisteskrank  waren;  doch  kann  auch 
auf  ein  vor  dem  Ausbruche  des  Irreseins  erzeugtes  Kind  die  schon 
früher  bestehende  krankhafte  Veranlagung  übertragen  werden. 
Der  Einfluss  des  Vaters  scheint  bei  der  Vererbung  im  allge- 
meinen mächtiger  zu  wirken,  als  derjenige  der  Mutter.  Er  über- 
trägt sich  mehr  auf  die  Söhne,  während  die  Mutter  mehr  die 
Töchter  beeinflusst.  Dabei  ist  aber  das  weibliche  Geschlecht 
überall  etwas  empfänglicher  für  die  erbliche  Übertragung  von 
Krankheitsanlagen,  als  das  männliche. 

Dagegen  muss  es  heute,  namentlich  im  Hinblicke  auf  die 
Verhältnisse  bei  Tieren,  zum  mindesten  als  recht  zweifelhaft 
gelten,  ob  wirklich,  wie  man  vielfach  gemeint  hat,  nahe  Ver- 
wandtschaft der  Eltern*)  an  sich  schon  eine  Entartung  der 
Kinder  zur  Folge  hat.  Die  anscheinend  in  diesem  Sinne  spre- 
chenden Erfahrungen  lassen  sich  vielmehr  höchst  wahrscheinlich 
auf  eine  gehäufte  Vererbung  von  Krankheitsanlagen  in  bereits 
entarteten  Familien  zurückführen.  Eine  derartige  Inzucht  scheint 
in  der  Tat  auf  die  kommenden  Geschlechter  ungemein  verderb- 
lich einzuwirken,  wie  durch  das  Beispiel  namentlich  vieler 
jüdischer  Familien  sowie  mancher  Adelsgeschlechter  und  Für- 
stenhäuser dargetan  wird.  Wo  dagegen  beide  Eltern  völlig  ge- 
sund sind,  wird  die  Entwicklung  der  Nachkommenschaft  durch 
die  Blutsverwandtschaft  schwerlich  in  krankmachender  Weise 
beeinflusst. 

Kommt  es  zu  einer  Häufung  der  krankhaften  Einflüsse,  so 
entsteht  schliesslich  eine  „organische  Belastung“,  d.  h.  es  treten 
bei  der  Nachkommenschaft  die  schwereren  Formen  psychischer 
Entartung**)  sowohl  auf  geistigem  wie  auf  sittlichem  Gebiete 
hervor.  Wir  verstehen  darunter  alle  Abweichungen,  welche 
an  sich  oder  in  ihrer  weiteren  Entwicklung  die  Leistungsfähig- 
keit, das  persönliche  Glück  oder  die  Tauglichkeit  für  das  Ge- 
sellschaftsleben ernstlich  gefährden.  Morel  stellt  für  diese 


*)  P e i p e r s , Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVIII,  793,  1901. 

**)  Morel,  Traite  des  degenerescences  physiques,  morales  et  intellec- 
tuelles  de  l’espece  humaine.  1857;  Möbius,  Über  Entartung,  Grenzfragen  des 
Nerven-  und  Seelenlebens,  H.  3.  1900. 


118 


I.  Die  Ursachen  des  Irreseins. 


fortschreitende  erbliche  Entartung  das  folgende  allgemeine  Ge- 
setz auf:  1.  Generation:  nervöses  Temperament,  sittliche  Un- 
fähigkeit, Ausschweifungen.  2.  Generation:  Neigung  zu  Schlag- 
anfällen und  schweren  Neurosen,  Alkoholismus.  3.  Generation: 
psychische  Störungen,  Selbstmord,  geistige  Unfähigkeit.  4.  Ge- 
neration: angeborene  Blödsinnsformen,  Missbildungen,  Entwick- 
lungshemmungen. Es  würde  also  diese  Art  der  Züchtung  von 
selbst  mit  Notwendigkeit  den  Untergang  des  entarteten  Ge- 
schlechtes herbeiführen.  Von  einer  so  einfachen  Regelmässig- 
keit ist  natürlich  bei  diesen  ungemein  verwickelten  und  nur  in 
deu  gröbsten  Umrissen  bekannten  Verhältnissen  keine  Rede.  1 or 
allem  ist  dabei  zu  berücksichtigen,  dass  neben  den  verschlech- 
ternden Einflüssen  überall  auch  entgegengesetzte  Strömungen 
wirksam  sind,  welche  auf  den  Ausgleich  der  Störungen  und  auf 
eine  gesunde  Fortentwicklung  hinarbeiten.  Wäre  das  nicht  der 
Fall,  so  wäre  längst  das  ganze  Menschengeschlecht  zu  Grunde 
gegangen.  Tatsächlich  kommt  es  daher  nur  unter  sehr  ungün- 
stigen Umständen  zu  einer  derartigen  absteigenden  Stufenleiter; 
in  zahllosen  entarteten  Familien  sehen  wir  durch  die  Mischung 
mit  gesundem  Blute  die  Spuren  der  krankhaften  Veranlagung 
sich  bei  den  Nachkommen  wieder  verwischen.  Immerhin  dürfte 
gerade  das  häufigere  Auftreten  angeborener  Schwächezu- 
stände, bisweilen  neben  hervorragender  Begabung  bei  anderen 
Familiengliedern,  die  schwersten  Grade  erblicher  Belastung  an- 
kündigen. 

Von  den  einzelnen  psychischen  Erkrankungen  sehen  wir  das 
manisch-depressive  Irresein,  die  epileptischen  und  hysterischen 
Geistesstörungen,  namentlich  aber  die  mannigfaltigen  Gestal- 
tungen des  Entartungsirreseins,  die  verschiedenartigen  Formen 
krankhafter  Persönlichkeiten,  endlich  wohl  auch  die  Verrückt- 
heit, sich  am  häufigsten  auf  ererbter  Grundlage  entwickeln.  Ver- 
hältnismässig  wenig  durch  die  Erblichkeitswirkungen  beeinflusst 
zeigen  sich  die  Infektionspsychosen,  die  Erschöpfungszustände, 
das  Irresein  des  Rückbildungsalters,  die  progressive  Paralyse  und 
die  ihr  verwandten  Rindenerkrankungen,  während  die  Dementia 
praecox,  die  Idiotie  und  die  chronischen  Vergiftungen  eine  Art 
Mittelstellung  einnehmen.  Es  ergibt  sich  somit,  dass  erblich  be- 
lastete Personen,  bei  denen  wir  eben  die  eigentliche  Ursache 


Erblichkeit. 


119 


des  Irreseins  in  der  Gesamtlage  suchen  müssen,  im  allgemeinen 
die  Neigung  haben,  konstitutionell,  dauernd  oder  doch  in  häufiger 
wiederkehrenden  Anfällen  zu  erkranken.  Nicht  selten  erscheint 
dabei  die  Störung,  rein  nach  ihren  Erscheinungen  beurteilt, 
als  eine  verhältnismässig  geringe,  da  wir  es  mehr  mit  einem 
eigenartig  entwickelten,  aus  der  Art  geschlagenen  Menschen, 
als  mit  einem  Krankheitsvorgange  von  umgrenztem  Ablaufe 
zu  tun  haben.  Gerade  die  Mischung  ausgeprägter  Krank- 
heitserscheinungen mit  brauchbaren  oder  selbst  bedeutenden  psy- 
chischen Leistungen,  wie  sie  auf  diese  Weise  zu  stände  kommt, 
darf  bis  zu  einem  gewissen  Grade  als  kennzeichnend  für  das 
Irresein  auf  erblicher  Grundlage  angesehen  werden.  Auch  das 
Auftreten  gewisser  auffallender  Krankheitserscheinungen,  rascher 
Verlust  der  Scham-  und  Ekelgefühle  bei  erhaltener  Besonnen- 
heit, ausgeprägte  psychogene  Züge,  Triebartigkeit  und  Ver- 
schrobenheit im  Benehmen  und  Handeln,  Neigung  zu  Heimtücke 
und  Rohheit  pflegen  mit  mehr  oder  weniger  Recht  als  Zeichen 
der  erblichen  Entartung  betrachtet  zu  werden. 

Nur  bei  den  schwersten  Formen  der  erblichen  Entartung 
werden  krankhafte  Zustände  als  solche  vererbt;  in  der  Regel 
findet  nur  die  Übertragung  einer  Krankheits  a n 1 a g e , einer 
geringeren  Widerstandsfähigkeit  des  Seelenlebens  statt,  welche 
erst  dann  zu  wirklichem  Irresein  führt,  wenn  ungünstige  Ein- 
flüsse auf  dem  Boden  der  ererbten  Anlage  ihre  verderbliche  Wirk- 
samkeit entfalten.  So  erklärt  es  sich,  dass  der  Beginn  der 
Geistesstörung  bei  erblich  Belasteten  besonders  gern  in  jene 
Lebensabschnitte  zu  fallen  pflegt,  in  denen  aus  inneren  oder 
äusseren  Gründen  das  psychische  Gleichgewicht  stärkeren  Schwan- 
kungen ausgesetzt  ist,  namentlich  in  das  Entwicklungsalter  und 
in  die  Zeit  der  Rückbildungsvorgänge.  Wenn  wir  diesen  Er- 
fahrungen gegenüber  bei  „rüstigen“,  nicht  erblich  belasteten 
Menschen  im  allgemeinen  Geistesstörungen  nur  durch  sehr  ein- 
greifende Schädlichkeiten  entstehen  und  dann  entweder  in  Ge- 
nesung oder  aber  in  mehr  oder  weniger  schweres  geistiges  Siech- 
tum ausgehen  sehen,  so  bedarf  es  kaum  besonderer  Betonung, 
dass  es  natürlich  zwischen  diesen  beiden  Grenzfällen  alle  mög- 
lichen Übergänge  geben  muss.  Das  erklärt  sich  eben  aus  dem 
sehr  verschiedenen  Gewichte,  mit  welchem  die  erbliche  Veran- 


120 


I.  Ursachen  des  Irreseins. 


lagung  die  Entstehung  der  einzelnen  klinischen  Formen  des 
Irreseins  beeinflusst.  Ebenso  ist  es  selbstverständlich,  dass  die 
Beziehungen  zwischen  Erblichkeit  und  bestimmten  psychischen 
Krankheitsbildern  zunächst  nur  statistische  sind,  dass  also  im 
gegebenen  Falle  die  erbliche  Veranlagung  zweifellos  auch  durch 
eine  Häufung  andersartiger  ungünstiger  Einflüsse  ersetzt  werden, 
und  dass  umgekehrt  auch  ein  hochgradig  erblich  belasteter 
Mensch  an  einer  exogenen,  nicht  periodischen,  heilbaren  Geistes- 
störung erkranken  kann. 

Die  klinische  Form  wie  der  Verlauf  der  psychischen  Störung 
wiederholen  in  einzelnen  Fällen  mit  grösster  Treue  das  Krank- 
heitsbild des  Vorfahren,  von  dem  sich  die  Vererbung  her  leitet 
(gleichartige  Vererbung).  Mehrere  Geschlechtsfolgen  kön- 
nen auf  diese  Weise  nacheinander  mit  Selbstmord  endigen,  oder 
es  kann  bei  gleichen  Anlässen,  im  gleichen  Lebensalter  dieselbe 
Erkrankung  bei  Vorfahren  und  Nachkommen  zur  Entwicklung 
gelangen.  Sehr  häufig  sieht  man  auch  Geschwister,  namentlich 
Zwillinge,*)  in  ganz  gleicher  oder  doch  ähnlicher  Weise  erkranken, 
unter  Umständen  mit  verblüffender  Übereinstimmung  in  den 
Einzelheiten.  Meist  handelt  es  sich  dabei  um  das  manisch-depres- 
sive Irresein  oder  die  Dementia  praecox.  Ferner  scheinen  nach 
Siolis  sorgfältigen  Untersuchungen  die  affektiven  Formen  des 
Irreseins  einerseits  und  die  Verrücktheit  andererseits  bei  der  \ er- 
erbung  bis  zu  einem  gewissen  Grade  einander  auszuschliessen**). 
Ebenso  fand  V o r s t e r , dass  die  Dementia  praecox  und  das 
manisch-depressive  Irresein  in  hohem  Grade  die  Neigung  zeigen, 
sich  in  der  gleichen  Grundform,  wenn  auch  in  verschiedenen 
klinischen  Spielarten,  erblich  zu  übertragen;  er  betrachtet  das 
Band  der  Erblichkeitsbeziehungen,  das  die  eine  wrie  die  andere 
Gruppe  von  oft  so  mannigfaltigen  Zustandsbildern  verknüpft, 
geradezu  als  einen  Beweis  für  ihre  innere  klinische  Zusammen- 
gehörigkeit. Ferner  scheinen  mir  Epilepsie  und  Alkoholismus 
auch  in  Bezug  auf  die  Erblichkeitsverhältnisse  in  näherer  Ver- 


*)  Herfeldt,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVII,  25;  Soukhanoff, 
Annales  medico-psychol.,  VIII,  12,  214,  1900. 

**)  Sioli,  Archiv  für  Psychiatrie,  XVI;  Vor  st  er,  Monatsschr.  für 
Psych.,  IX,  161;  Tr6nel,  Annales  medico-psych.,  VIII,  11,  96,  1900. 


Erblichkeit. 


121 


wandtschaft  zu  einander  zu  stehen,  ebenso  die  Hysterie  und  die 
verschiedenen  Gestaltungen  des  Entartungsirreseins.  Die  Schwere 
des  Leidens  kann  sich  dabei  in  der  Folge  der  Geschlechter  steigern 
oder  mildern. 

Es  ist  jedoch  nicht  zu  verkennen,  dass  die  Wiederkehr  der- 
selben oder  einander  näherstehender  Krankheitsbilder  bei  Eltern 
und  Kindern  oder  bei  Geschwistern  kein  Gesetz,  sondern  nui  eine 
Regel  bildet.  Es  gibt  Beispiele  genug  für  das  Vorkommen  ganz 
verschiedenartiger  Erkrankungsformen  in  der  gleichen  1 amilie. 
Wir  sprechen  dann  von  einer  umwandelnden  Vererbung. 
Dabei  können  die  mannigfachsten  Erscheinungsformen  des  Irre- 
seins nebeneinander  auf  treten.  Allerdings  ist  es  zweiielhaft,  wie 
weit  hier  wirklich  von  einer  Vererbung  gesprochen  werden  darf. 
Vielleicht  sind  gerade  die  Abweichungen  von  der  Gleichartigkeit 
eben  nicht  auf  die  Vererbung,  sondern  auf  die  Einwirkung  ganz 
anderer,  zufälliger  oder  persönlicher  Ursachen  zurückzufühi  en. 
Wir  würden  dann  zu  der  Auffassung  kommen,  dass  dort,  wo  die 
Vererbung  sich  ungestört  und  mit  Nachdruck  geltend  machen 
kann,  jeweils  nur  bestimmte  Formen  des  Irreseins  als  Glieder 
derselben  Erblichkeitskette  nebeneinander  auftreten.  Wo  aber 
nur  eine  ganz  allgemeine  krankhafte  Veranlagung  übertragen 
wird,  da  wird  die  besondere  klinische  Gestaltung  der  Eikiankung 
wesentlich  durch  die  persönliche  Eigenart  und  die  Lebens- 
schicksale mit  bestimmt  werden. 

In  der  Tat  lehrt  uns  die  Betrachtung  der  psychischen  Per- 
sönlichkeiten aus  entarteten  Familien,  dass  einerseits  die  An- 
lage zu  ganz  bestimmten  geistigen  Erkrankungen  übertragen  zu 
werden  scheint,  während  wir  es  in  anderen  Fällen  nur  mit  einer 
allgemeinen  krankhaften  Minderwertigkeit  zu  tun  haben,  die  sich 
in  den  verschiedensten  Einzelzügen  ausprägen  kann.  Auf  dem 
Gebiete  des  Verstandes  begegnen  uns  als  psychische  Entartungs- 
zeichen neben  der  Beschränktheit  auffallende  Unfähigkeit  auf 
einzelnen  Gebieten,  bisweilen  verbunden  mit  einseitiger  Bega- 
bung, Dürftigkeit  oder  Überwuchern  der  Einbildungskraft,  er- 
höhte Suggestibilität,  grosse  Ermüdbarkeit.  Am  stärksten  aber 
pflegen  die  Störungen  im  Bereiche  des  Gemütslebens  und  des 
Willens  ausgeprägt  zu  sein.  Wir  finden  hier  grosse  gemütliche 
Erregbarkeit,  Launenhaftigkeit,  Gemütlosigkeit,  Angstzustände, 


122 


I.  Ursachen  des  Irreseins. 


andererseits  Bestimmbarkeit,  Triebartigkeit  des  Handelns,  Wil- 
lenlosigkeit, krankhafte  Triebe.  Besonders  bezeichnend  für  die 
Entartungszustände  scheint  die  Begrenzung  der  Störungen  auf 
einzelne  Gebiete  des  Seelenlebens  zu  sein.  Dadurch  entstehen 
die  zwiespältigen,  unausgeglichenen,  rätselhaften  Persönlich- 
keiten, bei  denen  tiefgreifende  Mängel  der  psychischen  Veran- 
lagung sich  mit  glänzender  Begabung  nach  anderen  Richtungen 
hin  verbinden.  Gerade  solche  hervorragende  Fähigkeiten  bei  Ent- 
arteten haben  der  viel  vertretenen  Anschauung  zur  Stütze  ge- 
dient, dass  auch  das  Genie  nur  ein  Ausdruck  krankhafter  Ver- 
anlagung sei. 

Als  körperliche  Anzeichen  der  erblichen  Entartung  (Stig- 
mata hereditatis)  pflegt  man  manche  Abweichungen  zu  betrachten, 
die  sich  mit  einiger  Häufigkeit  bei  erblich  belasteten  Personen 
vorfinden.  Dahin  gehören  Verbildungen  des  Skeletts,  des  Schä- 
dels, der  Zähne,  der  Kiefer,  des  Gaumens,  der  Ohren,  der  Augen, 
der  Genitalien,  Asymmetrien,  Albinismus,  gewisse  Veränderungen 
an  der  Haut,  Fehlen,  Überreichlichkeit  oder  eigenartige  Ver- 
teilung des  Haarwuchses,  ferner  eine  Reihe  von  nervösen  Stö- 
rungen, Zittern,  Muskelzuckungen,  Stottern,  Schielen,  Stammeln, 
Nystagmus,  Wiederkäuen  u.  dergl.  Ein  Teil  dieser  Abweichungen 
wird  als  Rückschlag  und  Tierähnlichkeit,  ein  anderer  als  Ent- 
wicklungshemmung aufgefasst.  Soweit  diese  Deutung  richtig 
ist,  wird  ihre  Beziehung  zur  psychischen  Entartung  einiger- 
massen  verständlich.  Wir  können  uns  vorstellen,  dass  dort,  wo 
sichtbare  Zeichen  einer  fehlerhaften  Ausbildung  des  Körpers  zu 
Tage  treten,  leicht  auch  diejenigen  Gewebe  gelitten  haben  können, 
die  wir  als  die  Träger  der  psychischen  Persönlichkeit  ansehen. 
Weit  unsicherer  ist  dieser  Schluss  dann,  wenn  die  Abweichungen 
durch  bestimmte  krankhafte  Vorgänge  bedingt  sind.  Wir  werden 
ihnen  in  diesem  Falle  eine  gewisse  Bedeutung  nur  beilegen  dürfen, 
wenn  sie  wenigstens  irgend  einen  Abschnitt  des  Nervensystems 
betreffen. 

Entwicklungsstörungen.  Fast  gänzlich  unbekannt  ist  bisher 
der  Einfluss  solcher  Schädlichkeiten  auf  die  seelische  Veranlagung, 
welche,  ohne  erbliche  zu  sein,  die  erste  Zeit  der  Entwicklung 
betreffen,  obgleich  dieselben  höchst  wahrscheinlich  bisweilen  von 
sehr  einschneidender  Bedeutung  sein  können.  So  wird  angegeben, 


Entwicklungsstörungen. 


123 


dass  Berauschtheit  während  des  Zeugungsvorganges  Epilepsie  der 
Nachkommen  zur  Folge  haben,  dass  heftige  Gemütsbewegung  der 
Mutter  während  der  Schwangerschaft  eine  psychopathische  Ver- 
anlagung  des  Kindes  hervorrufen  könne.  Dass  ferner  allerlei 
körperliche  Ursachen,  ungenügende  Ernährung,  hohes  oder  sehr 
jugendliches  Alter  der  Eltern,  endlich  Krankheiten  dieser  letz- 
teren oder  des  Fötus  für  die  Hirnentwicklung  und  damit  auch 
für  die  psychische  Anlage  des  Kindes  eine  grosse,  wenn  auch  noch 
nicht  im  einzelnen  bestimmbare  Wichtigkeit  erlangen  dürften, 
bedarf  keiner  weiteren  Ausführung.  Von  ganz  besonderer  Be- 
deutung sind  ohne  Zweifel  für  die  Nachkommenschaft  alle  die- 
jenigen Krankheiten  der  Eltern,  die  tiefgreifende  Umwälzungen 
im  Gesamtzustande  des  Körpers  herbeiführen  und  dadurch  mittel- 
bar, bisweilen  auch  wohl  unmittelbar  die  Keimzellen  schädigen. 
In  erster  Reihe  sind  hier  der  Alkoholismus  und  die  Syphilis  zu 
nennen,  deren  verheerender  Einfluss  auf  Lebensfähigkeit  und 
Gesundheit  der  Kinder  bekannt  genug  ist.  Ähnliche,  wenn  auch 
schwächere  Wirkungen  werden  der  Tuberkulose,  dem  Diabetes, 
dem  Morphinismus  und  vielen  anderen  Formen  des  Siechtums 
zugeschrieben. 

Sodann  sind  wir  berechtigt,  anzunehmen,  dass  auch  ohne 
Erkrankung  der  Mutter  die  Frucht  selbständige  Schädigungen 
erfahren  kann,  deren  Ursachen  wir  freilich  noch  durchaus  nicht 
kennen.  Die  Untersuchungen  über  die  Grundlagen  der  Idiotie 
haben  ergeben,  dass  es  sich  hier  nur  in  einem  kleinen  Bruch- 
teile der  Fälle  um  Entwicklungsfehler,  zumeist  aber  um  mehr 
oder  weniger  ausgebreitete  Erkrankungen  der  fötalen  Hirnrinde 
handelt.  Soweit  über  diese  Frage  ein  Urteil  möglich  ist, 
liegt  es  nahe,  an  Vergiftungen  durch  Stoffwechselerzeugnisse 
oder  an  Infektionen  zu  denken.  Manche  dieser  Erkrankungen 
hinter  lassen  gar  keine  gröberen  Veränderungen;  bei  anderen 
stossen  wir  auf  Hydrocephalie,  Porencephalie,  Mikrogyrie,  Mikro- 
cephalie  und  ähnliche  Zerstörungen,  die  ohne  weiteres  die  schwere 
Schädigung  des  Hirns  erkennen  lassen. 

Erziehung.  Unserem  unmittelbaren  Verständnisse  leichter 
zugänglich  erscheint  die  Bedeutung  der  Erziehung  für  die  Ent- 
wicklung der  psychischen  Persönlichkeit.  Allerdings  wissen  wir 
heute  noch  nicht,  wie  weit  die  Erziehung  überhaupt  in  das  Wesen 


124 


I.  Ursachen  des  Irreseins. 


des  Menschen  einzugreifen  und  dasselbe  umzugestalten  vermag. 
Die  Anschauungen  über  diesen  Punkt  schwanken  zwischen  achsel- 
zuckendem Zweifel  und  hoffnungsvoller  Vertrauensseligkeit  viel- 
fach hin  und  her.  Die  einfache  Erfahrung  scheint  mir  zu  lehren, 
dass  hier  die  verschiedenartigsten  Verhältnisse  in  der  Natur  wirk- 
lich Vorkommen.  Auf  der  einen  Seite  gibt  es  zweifellos  ge- 
wisse, ganz  allgemeine  Eigenschaften,  welche  von  vornherein 
die  Eigenart  des  Einzelnen  kennzeichnen.  Dafür  spricht  neben 
vielen  anderen  Gründen  die  überraschende  Deutlichkeit,  mit  wel- 
cher sich  öfters  schon  bei  ganz  kleinen  Geschwistern  Verschie- 
denheiten in  der  Veranlagung  herausstellen,  die  späterhin  durch 
die  mannigfachsten  Lebensschicksale  in  keiner  Weise  verwischt 
werden.  So  kennen  wir  Menschen,  die  von  vornherein  auf  die 
psychische  Erkrankung  unrettbar  zutreiben,  während  andere  schon 
von  den  ersten  Kinderjahren  an  in  Denken  und  Handeln  eine 
vertrauenerweckende  Sachlichkeit  an  den  Tag  legen,  die  sie  durch 
das  ganze  Leben  begleitet.  Offenbar  handelt  es  sich  hier  um 
sehr  tief  begründete  Unterschiede,  zu  deren  Erklärung  man  nach 
Belieben  Abweichungen  in  den  Grössenverhältnissen  der  einzelnen 
Organe  untereinander,  in  der  chemischen  Zusammensetzung  der 
Gewebe  oder  ähnliches  herbeiziehen  mag. 

Andererseits  aber  wird  man  kaum  in  Abrede  stellen  können, 
dass  dennoch  die  Art  der  Jugenderziehung  für  die  weitere  Aus- 
bildung der  einmal  gegebenen  Anlagen  und  damit  auch  für  die 
gesamte  Gestaltung  der  Lebensschicksale  von  eingreifender  Be- 
deutung werden  kann.  Wir  erkennen  das  nicht  nur  aus  der  starken 
Beteiligung  der  unehelich  Geborenen  und  Verwahrlosten  am  er- 
brechen, am  Selbstmord  und  Irresein,  sondern  auch  an  der  Aus- 
bildung von  Menschentypen,  je  nach  den  Eindrücken  der  Kindheit. 
Die  Gegensätze  zwischen  Stadt-  und  Landbevölkerung,  die  Eigen- 
tümlichkeiten der  Strand-,  Gebirgs-  und  Grenzbewohner  ver- 
wischen sich  auch  dann  nicht,  wenn  die  Menschen  später  in  ganz 
andere  Verhältnisse  hineingeworfen  werden.  Allerdings  ist  hier 
überall,  wie  bei  den  Verbrecher-,  Gelehrten-  und  Künstlerfamilien, 
der  Einfluss  der  Erblichkeit  von  demjenigen  der  Erziehung  schwer 
abzutrennen. 

Die  allgemeinen  Aufgaben  der  Erziehung  sind  einmal  die 
verstandesmässige  Ausbildung  des  Kindes,  die  dasselbe 


Erziehung. 


125 


befähigt,  Erfahrungen  zu  sammeln  und  zu  verarbeiten,  dann 
aber  die  Begründung  eines  festen,  das  Handeln  nach  einheit- 
lichen, sittlichen  Grundsätzen  leitenden  Charakters.  Nach 
beiden  Richtungen  hin  kann  die  Erziehung  hinter  den  An- 
forderungen Zurückbleiben,  die  der  Kampf  des  Lebens  an  die 
Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit  des  Einzelnen  stellt.  Ver- 
nachlässigung der  Verstandesbildung  gibt  ihn  allen  Gefahren 
der  Urteilslosigkeit  und  des  Aberglaubens  Preis  und  erschwert 
ihm  die  Überwindung  jener  Schwierigkeiten,  welche  die  Er- 
ringung einer  selbständigen  Lebensstellung  bietet.  Andererseits 
kann  aber  auch  die  Überanstrengung  des  jugendlichen  Gehirns 
schwere  Schädlichkeiten  mit  sich  führen,  indem  sie  es  frühzeitig 
erschöpft  und  damit  seine  volle  Ausbildung  unmöglich  macht. 
Dies  gilt  namentlich  für  solche  Kinder,  die  etwa  schon  von 
Hause  aus  grosse  Erregbarkeit  oder  rasche  Ermüdbarkeit  mit- 
bringen. Behinderung  der  freien  persönlichen  Entwicklung  durch 
übermässige  Strenge  und  Peinlichkeit  macht  den  Menschen  eng- 
herzig und  verschlossen  und  erstickt  im  Keime  jene  gemütlichen 
Regungen  des  Wohlwollens  und  der  Menschenliebe,  von  deren 
Stärke  vor  allem  die  sittliche  Ausbildung  des  Willens  ab- 
hängig ist.  Verzärtelung  endlich  durch  weichliche  Nachgiebig- 
keit lässt  die  augenblicklichen  Launen  und  Begierden  zur  unbe- 
zwinglichen  Herrschaft  über  das  Handeln  gelangen  und  verhindert 
dadurch  die  Entwicklung  einer  abgeschlossenen  und  einheitlichen, 
fest  in  sich  selbst  gegründeten  Persönlichkeit. 

Den  Einflüssen  der  Erziehung  schliessen  sich  diejenigen  der 
späteren  Lebenserfahrungen  an,  bald  bessernd  und  veredelnd, 
bald  zerrüttend  und  untergrabend,  was  jene  schuf.  Alle  die 
schon  früher  aufgezählten  körperlichen  und  psychischen  Ur- 
sachen, Verletzungen,  Krankheiten  und  Vergiftungen  aller  Art, 
erschöpfende  Einflüsse,  Überanstrengungen,  Gemütsbewegungen, 
Ausschweifungen  u.  s.  f.  können  hier,  soweit  sie  nicht  geradezu 
eine  psychische  Erkrankung  herbeiführen,  umwandelnd  und  vor- 
bereitend auf  den  Einzelnen  einwirken.  Auch  hier  zeigt  uns  die 
typische  Gestaltung,  welche  die  verschiedenen  Stände,  Berufs- 
arten und  sonstigen  gesellschaftlichen  Gruppen  ihren  Mitgliedern 
in  der  gesamten  Weltauffassung,  in  ihren  sittlichen  Anschauungen, 
in  der  Lebensführung  und  selbst  in  allen  möglichen  Äusserlich- 


126 


I.  Ursachen  des  Irreseins. 


keiten  aufprägen,  dass  nicht  nur  die  Anlage  des  Einzelnen  seine 
Lebensschicksale  bestimmt,  sondern  dass  umgekehrt  auch  eine 
Rückwirkung  dieser  letzteren  auf  die  besondere  Entfaltung  seiner 
persönlichen  Eigenart  stattfindet.  Freilich  fehlt  uns  heute  noch 
jeder  Anhaltspunkt  für  die  genauere  Beurteilung  des  Einflusses, 
den  etwa  die  Erziehung  durch  das  Leben  auf  die  Häufigkeit  und 
die  Gestaltung  des  Irreseins  im  einzelnen  Falle  ausübt. 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Die  Gesamtheit  der  klinischen  Erscheinungen,  welche  durch 
den  Krankheitsvorgang  des  Irreseins  hervorgebracht  werden,  be- 
zeichnen wir  als  die  Symptome  desselben.  Von  diesen  Krankheits- 
zeichen bedürfen  nur  diejenigen  hier  einer  eingehenderen  allge- 
meinen Betrachtung,  welche  uns  als  psychische  Verände- 
rungen entgegentreten.  Die  verschiedenen  körperlichen  Krank- 
heitserscheinungen, nervöse  Reizungs-  und  Lähmungssymptome 
aller  Art,  vasomotorische,  trophische  Störungen  u.  s.  f.,  gehören 
ihrer  Natur  nach  dem  Gebiete  der  Nervenheilkunde  an.  Sie  be- 
sitzen zwar  für  die  Erkennung  des  besonderen,  im  einzelnen  Falle 
vorliegenden  Krankheitsvorganges  vielfach  eine  ganz  hervor- 
ragende Bedeutung,  aber  sie  gehören  nicht  zu  den  Erscheinungen 
des  Irreseins  als  solchen  und  werden  daher  erst  später,  bei  der 
Darstellung  der  klinischen  Krankheitsformen,  nähere  Berück- 
sichtigung finden. 

Drei  Hauptrichtungen  sind  es  im  grossen  und  ganzen,  in  denen 
sich  die  psychischen  Lebenserscheinungen  bewegen,  die  Auf- 
nahme, Einprägung  und  geistige  Verarbeitung 
des  Erfahrungsstoffes,  die  Schwankungen  des 
gemütlichen  Gleichgewichts,  endlich  die  Aus- 
lösung von  Willensantrieben  und  Handlungen.  Auf 
diesen  drei  Gebieten  werden  wir  daher  die  Grundstörungen  der 
psychischen  Leistungen  aufzusuchen  haben,  aus  deren  verschieden- 
artiger Verbindung  wir  die  einzelnen  klinischen  Krankheitsbilder 
hervorgehen  sehen.  Bei  weitem  die  grösste  Mannigfaltigkeit  der 
Erscheinungen  bietet  dabei  unserer  Zergliederung  diejenige  Gruppe 
von  psychischen  Vorgängen  dar,  welche  die  Sammlung  und  Auf- 


128 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


bewabrung  sinnlicher  Eindrücke,  die  Verarbeitung  derselben  zu 
Vorstellungen  und  Begriffen,  endlich  die  Ausbildung  der  höheren 
Verstandesleistungen  in  sich  schliesst. 


A.  Störungen  des  Wahrnehmung8 Vorganges. 

Die  Wahrnehmung  eines  äusseren  Sinnesreizes  ist  im  all- 
gemeinen von  zwei  verschiedenen  Bedingungen  abhängig,  nämlich 
einmal  von  Bau  und  Leistung  des  gesamten  peri- 
pheren und  centralen  Sinnesgebietes,  dann  aber  von 
dem  Zustande  des  Bewusstseins,  welches  den  zugeiuhr- 
ten  Eindruck  in  sich  aufnehmen  soll.  Alle  Störungen,  welche  das 
eine  oder  das  andere  dieser  beiden  Gebiete  in  krankhafter  Leise 
verändern,  sind  auch  imstande,  die  Wahrnehmung  der  Aussen- 
welt  in  mehr  oder  weniger  hohem  Grade  zu  beeinträchtigen.  o 
die  äusseren  reizauf nehmenden  Organe  leistungsunfähig  geworden 
sind  (Blindheit,  Taubheit),  oder  wo  sich  Hindernisse  entwickelt 
haben,  welche  die  Fortleitung  der  Reize  unmöglich  macnen, 
fallen  bestimmte  Arten  von  Sinnesvorstellungen  in  dem  . r- 
fahrungsschatze  einfach  aus.  Hier  hängt  es  von  der  allgemeinen 
psychologischen  Wichtigkeit  derselben  sowie  von  der  Möglich- 
keit einer  Stellvertretung  durch  andere  Sinne  ab,  wie  weit  da- 
durch die  Gesamtausbildung  der  psychischen  Persönlichkeit  zu- 
rückgehalten wird.  Die  bei  weitem  grösste  Bedeutung  für ' die 
geistige  Entwicklung  scheint  dem  Gehörssinn  zuzukommen,  oifen- 
bar  wegen  seiner  innigen  Beziehungen  zur  Lautsprache,  der  wir 
ja  in  erster  Linie  die  Übermittlung  des  geistigen  Erwerbes  ver- 
gangener Geschlechter  verdanken.  Wenn  auch  vereinzelte  Fä  e 
bekannt  sind,  in  denen  durch  eine  überaus  mühevolle  Erziehung 
sogar  der  Verlust  des  Gesichtes  und  Gehörs  mit  Hilfe  des  Tast- 
sinnes einigermassen  wieder  ausgeglichen  werden  konnte,  so 
bleiben  doch  nicht  unterrichtete  Taubstumme  lebenslänglich  auf 
der  Stufe  des  Schwachsinns  stehen,  auch  dann,  wenn  nicht,  wie 
so  häufig,  die  Taubheit  nur  Begleiterin  einer  allgemeineren  Hirn- 
erkrankung ist.  Blinde  dagegen  pflegen  in  ilnei  geistigen  Ent 
Wicklung  durch  den  Ausfall  der  Gesichtswahrnehmungen  durchaus 
nicht  in  höherem  Grade  gehindert  zu  werden. 


Sinnestäuschungen. 


129 


Sinnestäuschungen.  Ein  weit  grösseres  klinisch-psychiatri- 
sches Interesse  nehmen  indessen  diejenigen  Störungen  des  Wahr- 
nehmungsvorganges in  Anspruch,  welche  nicht  durch  vollständiges 
Fehlen,  sondern  durch  krankhafte  Vorgänge  im  Gebiete  der 
Sinnesbahn  bedingt  sind,  durch  die  somit  nicht  ein  Ausfall  von 
Sinneserfahrung,  sondern  eine  inhaltliche  Veränderung,  eine 
A erfälschung  derselben,  erzeugt  wird.  Jedes  Sinneswerk- 
zeug wird  durch  irgendwelche  Reize  in  einer  ihm  eigentümlichen, 
„spezifischen“  Weise  erregt.  Es  muss  daher  überall,  wo  der 
Reiz,  der  einen  Eindruck  erzeugt,  nicht  der  gewohnte,  dem  ge- 
troffenen Sinne  angemessene  ist,  eine  Täuschung  über  die 
Natur  der  Reizquelle  entstehen.  So  ist,  streng  genommen,  der 
Lichtblitz,  die  Klangempfindung  bei  elektrischer  Durchströmung 
des  Auges  und  Ohres,  der  Geschmackseindruck  bei  mechanischer 
Reizung  der  Chorda  tympani  als  eine  Trugwahrnehmung  anzu- 
sehen, wenn  wir  dieselbe  auch  auf  Grund  unserer  physiologischen 
Erfahrungen  und  mit  Hilfe  der  Überlegung  sogleich  als  solche 
erkennen,  so  dass  eine  weitere  Verfälschung  unseres  Bewusst- 
seinsinhaltes daraus  nicht  hervorgeht.  Dennoch  können  unter 
Umständen  bei  Geisteskranken  (namentlich  bei  stärkerer  Be- 
wusstseinstrübung) die  subjektiven  Lichterscheinungen  infolge  von 
Blutüberfüllung  des  Auges,  das  Brausen  und  Klingen  in  den  Ohren 
die  ^ orstellung  drohender  Feuers-  und  Wassersgefahren  und  dergl. 
wachrufen  und  auf  diese  Weise  das  Zustandekommen  einer  wirk- 
lichen, nicht  ausgeglichenen  Täuschung  vermitteln.  Derartige 
peripher  bedingte  Sinnestäuschungen  hat  man  elementare 
genannt,  weil  sie  eben  wegen  ihres  Entstehungsortes  in  den  reiz- 
aufnehmenden  Flächen  die  Kennzeichen  einfacher,  nicht  zusam- 
mengesetzter Sinnesempfindungen  tragen.  Wir  könnten  sie  auch 
als  Sinnestäuschungen  im  engeren  Sinne  den  weiterhin  zu  be- 
sprechenden W ahrnehmungs-  und  Einbildungstäuschungen  gegen- 
überstellen. 

\ erfolgen  wir  indessen  die  Bahn  der  Sinnesnerven  weiter 
gegen  die  Hirnrinde  zu,  so  gelangen  wir  zu  denjenigen  Stätten, 
in  denen  sich  die  einzelnen  Wahrnehmungsbestandteile,  wie  sie, 
vom  Sinneswerkzeuge  geliefert  werden,  zu  einem  Gesamteindrucke 
verbinden,  der  sodann  als  Sinnesvorstellung  ins  Bewusstsein  ge- 
langt. Über  die  anatomische  Lage  dieser  Centren  können  wir 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufi. 


9 


130 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


freilich  bisher  nichts  Sicheres  aussagen;  am  wahrscheinlichsten 
ist  es  jedoch,  namentlich  im  Hinblick  auf  die  klinischen  und 
experimentellen  Erfahrungen  über  die  „Seelenblindheit“,  dass, 
wenigstens  beim  Menschen  und  bei  höheren  Tieren,  die  sog. 
centralen  Sinnesflächen,  d.  h.  die  nächsten  Endstätten  der  Sinnes- 
bahnen in  der  Rinde,  als  solche  zu  betrachten  sind.  Es  ist  ohne 
weiteres  klar,  dass  auch  hier  nicht  sinnliche  Reize,  also 
z.  B.  Veränderungen  in  der  Blutversorgung,  Gifte  und  dergl. 
Erregungszustände  hervorzurufen  vermögen,  welche  den  ge- 
wohnten Reizungen  durch  Sinneseindrücke  sehr  ähnlich  sind,  um 
so  leichter,  wenn  die  Erregbarkeit  der  betreffenden  Hirnstelle 
im  gegebenen  Augenblicke  durch  irgendwelche  Einflüsse  ohnedies 
gesteigert  ist.  Unter  solchen  Umständen  kann  daher  irgend  eine 
mehr  oder  weniger  zusammengesetzte  Sinnesvorstellung  in  das 
Bewusstsein  eintreten,  die  nicht  durch  einen  sinnlichen  Reiz,  son- 
dern durch  physiologische  oder  krankhafte  Erregungszustände  in 
den  höheren  Abschnitten  des  betreffenden  Sinnesgebietes  hei- 
vorgerufen  wurde.  Da  dieselbe  gleichwohl  auf  einen  äusseren 
Gegenstand  bezogen  wird,  so  haben  wir  es  demnach  hier  mit 
einer  Fälschung  des  Wahrnehmungsvorganges  zu  tun,  die  auf 
einer  Täuschung  über  den  wahren  Ursprung  der  Sinnesreizung 
beruht*). 

Diese  Gruppe  der  Sinnestäuschungen,  die  man  wegen  ihrer 
vermutlichen  Entstehung  in  den  „Perceptionscentren“  vielleicht 
als  Perceptionsphantasmen  (Wahrnehmungstäuschungen) 
bezeichnen  kann,  ist  es,  welche  der  gewöhnlichen  Wahrnehmung 
am  nächsten  steht.  Allerdings  pflegen  diese  Täuschungen  beim 
gesunden  Menschen,  bei  dem  sie  sich  häufig  vor  dem  Einschlafen 
einstellen  (hypnagogische  Hallucinationen),  nur  ganz  ausnahms- 
weise eine  grössere  Lebhaftigkeit  zu  gewinnen.  Unter  krankhaften 
Verhältnissen  dagegen  kann  die  sinnliche  Deutlichkeit  der  Trug- 
wahrnehmungen so  gross  werden,  dass  eine  Berichtigung  der 


*)  Johannes  Müller,  Über  die  phantastischen  Gesichtserscheinungen. 
1816;  v.  Krafft-Ebing,  Die  Sinnesdelirien.  1864;  Kahlbaum,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXIII;  Hagen,  ebenda,  XXV;  Kandinsky,  Kri- 
tische und  klinische  Betrachtungen  im  Gebiete  der  Sinnestäuschungen.  1885; 
P a r i s h , Über  die  Trugwahrnehmung.  1894;  Berze,  Jahrbücher  f.  Psychiatrie, 
XVI,  285;  Uhthoff,  Monatsschr.  für  Psych.,  V,  241,  1899. 


Sinnestäuschungen. 


131 


Fälschung  nur  mit  Hilfe  der  anderen  Sinne  möglich  ist.  Wie 
die  Bilder,  die  bei  geschlossenen  Augen  im  Gesichtsfelde  auf- 
tauchen, sind  sie  vom  Willen  und  vom  sonstigen  Gedankengange 
im  allgemeinen  unabhängig  und  treten  auch  deswegen  dem  Be- 
wusstsein als  etwas  Fremdes,  Selbständiges,  von  aussen  Kom- 
mendes gegenüber,  dessen  subjektive  Entstehung  ihm  völlig  ver- 
borgen bleibt.  Aus  demselben  Grunde  haben  sie  auch  meist 
einen  ziemlich  gleichförmigen,  wenig  wechselnden  Inhalt  (stabile 
Hallucinationen  Kahlbaums):  Wiederholung  derselben,  bis- 
weilen sinnlosen  Worte,  häufiges  Wahrnehmen  desselben  Geruches, 
Sehen  bestimmter  Muster,  Blumen,  Tiere  u.  dergl.  Da  sie  auf 
centralen  Erregungszuständen  beruhen,  so  sind  sie  nicht  an  die 
Tätigkeit  der  äusseren  Sinneswerkzeuge  gebunden  und  kommen 
auch  bei  gänzlicher  Vernichtung  der  Sinnesnerven  und  ihrer 
ersten  Endigungen,  der  Nervenkerne,  zur  Beobachtung.  Beson- 
ders klar  weisen  auf  ihre  Ursprungsstätten  diejenigen  Fälle  mit 
halbseitigem  Gesichtsfeldausfall  hin,  in  denen  die  Lücken  durch 
Trugwahrnehmungen  ausgefüllt  werden.  Hier  erzeugt  offenbar 
der  Krankheitsvorgang  in  der  Hirnrinde,  der  die  Wahrnehmung 
wirklicher  Gesichtseindrücke  aufhebt,  zugleich  die  täuschenden 
Bilder.  In  den  seltenen  Fällen,  bei  denen  Täuschungen  in  der 
erhaltenen  Gesichtsfeldhälfte  auftraten,  fanden  sich  beide  Hinter- 
hauptsrinden verändert.  Auch  das  plötzliche  Auftauchen  leb- 
hafter Lichtempfindungen  ist  bei  rascher  Entstehung  doppel- 
seitiger Rindenblindheit  beobachtet  worden. 

Es  hat  jedoch  den  Anschein,  dass  auch  periphere  Ein- 
wirkungen bisweilen  in  den  höheren  Abschnitten  der  Sinnesbahn 
unmittelbar  oder  mittelbar  Erregungszustände  auszulösen  ver- 
mögen, die  zur  Entstehung  von  Sinnestäuschungen  führen.  Dies 
geschieht  offenbar  um  so  leichter,  je  grösser  die  Reizbarkeit 
jener  Hirnteile  ist.  Unter  krankhaften  Verhältnissen  genügen 
bisweilen  schon  die  gewöhnlichen  Lebensreize,  um  die  bespro- 
chenen Fälschungen  des  Wahrnehmungsvorganges  zu  erzeugen; 
in  anderen  Fällen  treten  sie  sogleich  hervor,  wenn  sich  etwa 
die  Aufmerksamkeit  auf  das  betroffene  Sinnesgebiet  richtet 
und  die  leisen  Erregungszustände  in  demselben  über  die  Schwelle 
-des  Bewusstseins  erhebt,  oder  wenn  eine  Gemütsbewegung  vor- 
übergehend die  Reizempfänglichkeit  steigert.  Sie  schwinden 

9* 


132 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


daher  auch,  sobald  der  Kranke  sich  beruhigt  oder  durch 
ein  Gespräch,  geistige  oder  körperliche  Beschäftigung,  die 
Versetzung  in  eine  neue  Umgebung  und  dergl.  abgelenkt  wird. 
Manche  Kranke  sperren  sich  daher  von  wirklichen  Eindrücken 
nach  Möglichkeit  ab,  um  ungestörter  ihre  Sinnestäuschungen  ver- 
folgen zu  können;  andere  suchen  im  Gegenteil  lebhafte  Vahr- 
nehmungen zu  erzeugen,  um  jenen  zu  entgehen.  So  kannte  ich 
einen  Ingenieur,  der  sich  mit  den  einfachsten  Hilfsmitteln  ein 
kleines  Läutewerk  herstellte,  um  die  ihn  quälenden  Stimmen  zu 

übertäuben.  _ 

Für  die  Mitwirkung  äusserer  Reize  bei  der  Entstehung  der 

Täuschungen  spricht  der  Umstand,  dass  diese  letzteren  mitunter 
verschwinden,  wenn  die  Sinnesquelle  verstopft  wird.  Bei  Ge- 
sichtstäuschungen hat  man  Wandern  mit  den  Augenbewegungen 
und  Verdoppelung  durch  Prismen  gesehen,  Erscheinungen,,  die 
auf  die  Beeinflussung  der  Trugwahrnehmung  durch  wirkliche, 
wenn  auch  vielleicht  ganz  unklare  Gesichtsbilder  hinweisen  könn- 
ten Es  wäre  aber  auch  möglich,  dass  die  feste  Gewohnheit, 
die  räumliche  Lage  des  Gesehenen  aus  den  Augenmuskelbewe- 
gungen zu  erschliessen,  auch  die  Verlegung  der  Täuschungen 
nach  aussen  beeinflusste,  und  dass  die  prismatische  Verdoppelung 
nebenher  wirklich  gesehener  Gegenstände  auch  auf  die  unab- 
hängig von  der  Netzhaut  entstandene  Trugwahrnehmung  Über- 
griffe, wie  es  bei  hypnotischen  Täuschungen  beobachtet  worden 
ist.  Farbige  Gläser  scheinen  die  Gesichtstäuschungen  nicht  mit- 
zufärb  6ii 

Weiterhin  ist  bemerkenswert  das  gelegentlich  beobachtete 
Vorkommen  von  einseitigen  Gehörstäuschungen*)  sowie  der 
Nachweis,  dass  bei  alten  Gehörsnallucinanten  häufiger  chronische 
Erkrankungen  des  Mittelohrs  und  Abweichungen  in  der  elek- 
trischen Reaktion  des  Akusticus**)  vorhanden  sind.  Ausser  der 
einfachen  Hyperästhesie  findet  man  hie  und  da  paradoxe  Re- 
aktion des  nicht  armierten  Ohres  und  namentlich  auch  die 
schwerste  Form  der  Störung,  die  Umkehrung  der  Formel  für  die 

*)  Robertson,  Journal  of  mental  Science,  1901,  April,  277. 

**)  Jolly,  Archiv  f.  Psychiatrie,  IV;  Buccola,  Riviste  di  freniatna 
sperimentale,  XI,’  1885;  Redlich  u.  Kaufmann,  Wiener  klinische  Wochen- 
schrift, 1896.  33. 


Sinnestäuschungen. 


133 


einfache  Hyperästhesie.  Wie  J o 1 1 y gezeigt  hat,  gelingt  es 
hier  gar  nicht  selten,  durch  elektrische  Reizung  des  Akusticus 
die  Täuschungen  hervorzurufen.  Li ep mann  war  imstande,  bei 
Alkoholdeliranten  durch  leichten  Druck  auf  die  geschlossenen 
Augen  selbst  nach  Ablauf  der  stürmischeren  Krankheitserschei- 
nungen deutliche  Gesichtstäuschungen  zu  erzeugen,  welche  in 
ihrer  bunten  Gestaltung  durchaus  den  sonst  bei  jener  Krankheit 
vorkommenden  Trugwahrnehmungen  glichen.  Bonhöffe r,  der 
ähnliches  auch  im  Gebiete  des  Hautsinnes  beobachtete,  legt  nach 
seinen  Erfahrungen  das  Hauptgewicht  hier  auf  das  Einreden.  Ohne 
Zweifel  gewinnen  solche  Täuschungen  ihre  feste  Gestalt  nur  mit 
Hilfe  von  Erinnerungsbildern.  Immerhin  aber  dürften  dabei  Er- 
regungszustände in  der  Netzhaut  eine  Rolle  spielen.  Darauf  weist 
auch  der  Umstand  hin,  dass  bisweilen  schon  das  einfache  Ver- 
hängen des  Auges  mit  einem  Tuche  genügte,  um  die  Täuschungen 
hervorzurufen;  anscheinend  kamen  durch  den  Lichtabschluss  die 
leisen  Eigenerregungen  der  Netzhaut  besser  zur  Geltung.  Wir 
werden  durch  diese  Erfahrungen  an  den  Bericht  von  N ä g e 1 i 
erinnert,  welcher  nach  einer  Verbrennung  seiner  Hornhaut  mit 
heissem  Spiritus  vor  seinen  verbundenen  Augen  längere  Zeit  aus- 
geprägte Gesichtstäuschungen  von  vollkommener  sinnlicher  Deut- 
lichkeit beobachten  konnte. 

In  der  Regel  pflegt  es  nur  ein  einzelnes  Sinnesgebiet  zu  sein, 
auf  welchem  sich  in  dieser  Weise  Fälschungen  der  äusseren  Er- 
fahrung vollziehen.  Am  häufigsten  sind  sicherlich  solche  Stö- 
rungen im  Gebiete  des  Gehörs  und  Gesichts,  seltener  in 
demjenigen  der  drei  übrigen  Sinne  und  in  dem  dunklen  Bereiche 
jener  Wahrnehmungen,  die  wir  unter  dem  Sammelnamen  der  Ge- 
meinempfindungen zusammenfassen. 

Für  die  klinische  Betrachtung  hat  E s q u i r o 1 und  nach  ihm 
aus  praktischen  Gründen  die  Mehrzahl  der  Forscher  zwei  Arten 
von  Sinnestäuschungen  unterschieden,  solche  nämlich,  bei  denen 
eine  äussere  Reizquelle  gar  nicht  vorhanden  ist:  Hallucina- 
tionen,  und  solche,  die  nur  als  die  Verfälschung  einer  wirk- 
lichen Wahrnehmung  durch  eigene  Zutaten  zu  betrachten  sind: 
Illusionen*).  Im  Einzelfalle  ist  diese  Trennung  nicht  selten 


*)  S u 1 1 y , Die  Illusionen.  Internat,  wissenschaftliche  Bibliothek.  1883. 


134 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


äusserst  schwierig  oder  gänzlich  unmöglich.  So  sind  wir  nament- 
lich bei  den  Berührungssinnen  (Geruch,  Geschmack,  Hautsinn) 
fast  niemals  imstande,  mit  Sicherheit  das  Vorhandensein  irgend 
einer  äusseren  Reizursache  (Zersetzungsvorgänge  in  Mund-  oder 
Nasenhöhle,  Veränderungen  der  Blutfüllung,  Schwankungen  der 
Eigenwärme  u.  dergl.)  auszuschliessen,  noch  weniger  natürlich 
bei  den  Störungen  der  Gemeinempfindungen.  Auch  beim  Gesicht 
geben,  wie  schon  angedeutet,  unter  Umständen  nicht  nachweis- 
bare Reize,  z.  B.  das  Eigenlicht  der  Netzhaut,  beim  Gehör  ent- 
otische  Geräusche  u.  s.  f.  gewissermassen  den  Rohstoff  für  die 
Ausbildung  der  Trugwahrnehmungen  ab.  In  anderen  Fällen  jedoch 
ist  die  verschiedenartige  Entstehungsweise  ohne  weiteres  klar. 
Der  Furchtsame,  der  ragende  Baumstämme,  wallende  Nebel  für 
Gespenster  hält  („Erlkönig“),  der  Kranke,  der  aus  dem  Läuten 
der  Glocken,  dem  Kritzeln  der  Feder,  dem  Pfeifen  der  Eisenbahn, 
dem  Bellen  der  Hunde,  dem  Knarren  der  Wagen  Schimpfworte 
und  Vorwürfe  heraushört  — sie  haben  zweifellos  „Illusionen  , 
während  wir  die  allbekannten  Gesichtstäuschungen  des  Alkoho- 
listen,  die  „Stimmen“,  welche  den  Sträfling  im  stillen  Zellen- 
gefängnisse quälen  oder  beglücken,  höchst  wahrscheinlich  als 
Hallucinationen  zu  bezeichnen  haben.  Zwischen  beiden  Formen 
gibt  es  alle  möglichen  Übergänge;  ist  doch  die  Illusion  im  Grunde 
nichts  anderes,  als  eine  vielfach  wechselnde  Mischform  von  ge- 
sunder Sinneswahrnehmung  mit  täuschenden  Zutaten.  Vir  er- 
innern uns  hierbei  der  Tatsache,  dass  auch  unsere  gesunden  Wahr- 
nehmungen regelmässig  nicht  eine  untrügliche  V iedergabe  des, 
Sinneseindruckes  darstellen,  sondern  von  vornherein  eine  erheb- 
liche Beimischung  uns  selbst  unbewusster  Wahrnehmungsfehler 
enthalten. 

Die  gemeinsame  Eigentümlichkeit  dieser  ganzen  Gruppe  \ on 
Sinnestäuschungen  liegt  in  der  vollkommen  sinnlichen  Deut- 
lichkeit derselben.  Der  Erregungszustand  im  Gehirn  ent- 
spricht durchaus  demjenigen  beim  gewöhnlichen  Wahrnehmungs- 
vorgange,  und  die  entstehende  Trugwahrnehmung  ordnet  sich  da- 
her unterschiedslos  in  die  Reihe  der  übrigen  Sinneseindrücke  ein. 
Die  Kranken  glauben  nicht  nur,  zu  sehen,  zu  hören,  zu  fühlen, 
sondern  sie  sehen,  hören,  fühlen  wirklich. 

Ein  in  vieler  Beziehung  abweichendes  Verhalten  bieten  da- 


Sinnestäuschungen. 


135 


gegen  diejenigen  nur  uneigentlich  so  genannten  Sinnestäuschungen 
dar,  die  nichts  anderes  sind,  alsVorstellungenvonbeson- 
derer  sinnlicher  Kraft.  Das  Wiederauf  tauchen  eines 
früheren  Eindruckes  pflegt  in  der  Regel  niemals  die  unmittelbare 
Deutlichkeit  der  Sinneswahrnehmung  selbst  zu  erreichen,  sondern 
sich  jederzeit  ganz  unzweideutig  durch  die  geringere  Lebhaf- 
tigkeit und  Schärfe  von  jener  zu  unterscheiden.  Indessen  be- 
stehen in  dieser  Beziehung  bedeutende  persönliche  Verschieden- 
heiten. Während  von  manchen  Beobachtern  den  Erinnerungsbil- 
dern jede  genauere  Ausprägung  nach  Farbe  und  Form  abge- 
sprochen wird,  versichern  andere,  besonders  bildende  Künstler, 
dass  dieselben  bisweilen  an  sinnlicher  Kraft  der  unmittelbaren 
Wahrnehmung  nur  sehr  wenig  nachgeben.  Auch  die  persönliche 
Sinnesveranlagung  spielt  hier  eine  grosse  Rolle.  Wo  die  Gesichts- 
vorstellungen das  geistige  Leben  beherrschen,  werden  sie  natur- 
gemäss  einen  weit  grösseren  Reichtum  an  scharfen  Einzelheiten 
aufweisen,  als  dort,  wo  Gehörs-  oder  Muskelvorstellungen  das 
wesentliche  Werkzeug  des  Denkens  bilden. 

Unter  krankhaften  Verhältnissen  können  offenbar  auftau-> 
chende  Vorstellungen  und  Erinnerungsbilder  bisweilen  einen  so 
hohen  Grad  von  sinnlicher  Deutlichkeit  erreichen,  dass  sie  von 
den  Kranken  als  wirkliche  Wahrnehmungen  besonderer  Art  auf- 
gefasst  werden.  Eine  ganze  Reihe  von  Forschern  ist  sogar  der 
Ansicht,  dass  alle  Trugwahrnehmungen  unmittelbar  als  Einbil- 
dungsvorstellungen von  aussergewöhnlicher  sinnlicher  Lebhaftig- 
keit aufzufassen  seien.  Allein  der  Umstand,  dass  bei  Halluci- 
nanten  durchaus  nicht  alle,  sondern  nur  bestimmte  Gruppen  von 
Vorstellungen  in  den  Sinnestäuschungen  eine  Rolle  zu  spielen 
scheinen,  und  dass  neben  diesen  letzteren  stets  auch  Vorstellungen 
von  der  gewöhnlichen,  abgeblassten  und  gestaltlosen  Art  zu  ver- 
laufen pflegen,  deutet  darauf  hin,  dass  noch  eine  besondere 
Ursache  hinzukommen  muss,  wenn  eine  Vorstellung  die  greifbare 
Deutlichkeit  der  Wahrnehmung  erhalten  soll. 

Die  nächstliegende  und  zumeist  anerkannte  Erklärung  dieses 
Verhaltens  ist  die  Annahme  einer  gleichzeitigen  rückläufigen 
Erregung  der  Sinnesstätten  im  Gehirn.  Wir  haben 
früher  gesehen,  dass  die  Erregungszustände  dieser  letzteren  die 
Form  sinnlicher  Wahrnehmung  annehmen  müssen,  weil  ja  alle 


136 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Sinneseindrücke  eben  nur  durch  Vermittlung  jener  Erregungen 
in  unser  Bewusstsein  eintreten  können.  Wenn  es  demnach  diese 
Hirnabschnitte  sind,  durch  deren  Erregung  die  Wahrnehmung 
ihre  sinnliche  Eigenart  erhält,  so  liegt  es  nahe,  eine  grössere 
oder  geringere  Beteiligung  derselben  an  dem  Vorgänge  der 
lebhaften  Wiedererneuerung  früherer  Eindrücke  zu  vermuten. 
Eine  derartige  Anschauung  würde  namentlich  gut  die  Tatsache 
erklären,  dass  zwischen  der  Sinnestäuschung  von  vollkommenster 
sinnlicher  Deutlichkeit  und  der  abgeblasstesten  Erinnerung  eine 
ununterbrochene  Reihe  von  Übergangsstufen  liegt,  ein  Verhalten, 
das  sich  durch  die  Annahme  einer  stärkeren  oder  schwächeren 
Miterregung  der  Sinnesstätten  am  ungezwungensten  erklären 
lassen  würde.  Möglich,  dass  sogar  beim  gewöhnlichen  Denken 
die  rückläufige  Reizung,  die  „R  e p e r c e p t i o n“,  wie  Kahl- 
bäum  sie  genannt  hat,  in  sehr  geringer  Stärke  immer  statt- 
findet, und  dass  erst  dann,  wenn  dieser  Vorgang  eine  krank- 
hafte Ausdehnung  gewinnt,  oder  wenn  die  Sinnesstätten  sich  in 
einem  Zustande  erhöhter  Erregbarkeit  befinden,  die  Lebhaftigkeit 
des  Erinnerungsbildes  derjenigen  der  sinnlichen  Wahrnehmung 
sich  annähert.  Es  würde  somit  gewissermassen  ein  bestimmtes 
Verhältnis  zwischen  der  Stärke  der  Reperception  und  der  Reiz- 
barkeit der  Sinnesstätten  bestehen:  Je  grösser  die  Reizbarkeit 
dieser  letzteren,  desto  leichter  würden  die  Erinnerungsbilder  das 
Gepräge  der  sinnlichen  Deutlichkeit  erhalten,  desto  schwächer 
brauchte  die  rückläufige  Erregungswelle  zu  sein,  um  dieselben 
auszulösen,  und  desto  unabhängiger  würden  sie  vom  Vorstellungs- 
verlaufe sein.  Der  Grenzfall  wäre  in  den  früher  besprochenen, 
auf  örtlichen  Reizungsvorgängen  beruhenden  Wahrnehmungs- 
täuschungen gegeben,  die  dem  Kranken  ganz  fremdartig,  als  etwas 
von  aussen  sich  Aufdrängendes  gegenüberstehen. 

Die  Grenze  nach  der  entgegengesetzten  Seite  bilden  jene 
Fälle,  in  denen  es  sich  deutlich  erkennbar  gar  nicht  um  eigent- 
liche Sinnestäuschungen,  sondern  lediglich  um  Vorstellungen  von 
grosser  Lebhaftigkeit  handelt.  Bei  genauerem  Eingehen  gelingt 
es,  die  zunächst  auf  Trugwahrnehmungen  deutenden  Äusserungen 
der  Kranken  dahin  zu  begrenzen,  dass  die  Eindrücke  nicht  eigent- 
lich sinnliche,  sondern  „innerliche“  gewesen  sind,  die  aber  den- 
noch wegen  ihrer  aufdringlichen  Deutlichkeit  von  den  gewöhn- 


Sinnestäuschungen. 


137 


liehen  Vorstellungen  unterschieden  werden.  Hier  würde  man 
sich  etwa  die  Reperception  sehr  stark  entwickelt,  aber  die  Reiz- 
barkeit der  Sinnesstätten  nicht  erhöht  vorzustellen  haben.  Für 
diese  Auffassung  spricht  der  Umstand,  dass  diese  letztgenannte 
Gruppe  der  Einbildungstäuschungen,  die  man  auch  als 
psychische  Hallucinationen  (Baillarger),  Pseudo- 
hallucinationen  (Hagen)  oder  Apperceptionshal- 
lucinationen  (Kahlbaum)  bezeichnet  hat,  zumeist  mehrere 
oder  alle  Sinnesgebiete  in  zusammenhängender  Weise  umfassen, 
und  dass  sie  stets  in  nahen  Beziehungen  zu  dem  sonstigen  Be- 
wusstseinsinhalte stehen,  während  die  an  der  entgegengesetzten 
Seite  unserer  Stufenreihe  befindlichen  Wahrnehmungstäuschungen 
begreiflicherweise  in  der  Regel  nur  einem  einzelnen  Sinnesgebiete 
anzugehören  pflegen  und  dem  Vorstellungsverlaufe  gegenüber 
sich  durchaus  selbständig  verhalten. 

Eine  bedeutsame  Erläuterung  erhält  die  Auffassung  der 
Sinnestäuschungen  durch  jene  eigentümliche  Störung,  die  man 
als  „Doppeldenken“  bezeichnet  hat.  Sie  besteht  wesentlich  im 
„Lautwerden“*)  der  Gedanken  des  Kranken.  Unmittelbar  an  die 
auftauchende  Vorstellung  schliesst  sich  eine  deutliche  Gehörs- 
wahrnehmung des  gedachten  Wortes.  Am  häufigsten  tritt  dieses 
Mithallucinieren  beim  Lesen,  etwas  seltener  beim  Schreiben  auf, 
also  dann,  wenn  eine  sprachliche  Vorstellung  sich  mit  einer  ge- 
wissen Stärke  ins  Bewusstsein  drängt;  bisweilen  ist  sie  auch  beim 
einfachen  Denken  vorhanden  oder  sie  knüpft  sich  an  irgend  eine 
gleichgültige  Wahrnehmung.  Dem  auslösenden  Vorgänge  kann 
sie  vorausgehen  oder  folgen:  Die  Stimme  liest  vor  oder  spricht 
nach,  bisweilen  auch  beides.  Leises  oder  lautes  Aussprechen  der 
Worte  bringt  die  hallucinatorischen  Mitklänge  in  der  Regel  zum 
Verschwinden.  Stets  bestehen  ausserdem  noch  anderweitige  Ge- 
hörstäuschungen. Ich  kannte  einen  Kranken,  der  seinen  weit 
zerstreuten  Bekannten  mit  Hilfe  des  Doppeldenkens  zu  deren 
Vergnügen  vorzulesen  glaubte  und  immer  deren  Randbemerkungen 
dazu  hörte. 

Zur  Erklärung  dieser  Erscheinung  wäre  etwa  eben  wegen 
der  Hallucinationen  eine  erhöhte  Reizbarkeit  der  centralen 


*)  Klinke,  Archiv  für  Psychiatrie,  XXVI,  147. 


138 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Sinnesflächen  anzunehmen,  die  sehr  wohl  unter  dem  Einflüsse 
der  Reperception  zur  fortlaufenden  Entstehung  von  Trugwahr- 
nehmungen führen  könnte,  welche  dem  in  Sprachvorstellungen 
fortschreitenden  Gedankengange  inhaltlich  Schritt  für  Schritt 
folgen.  Die  Ablenkung  jener  Erregungszustände  auf  Willens- 
bahnen scheint  dann  die  rückläufige  Reizung  der  Sinnesflächen 
durch  den  Vorstellungsverlauf  und  somit  die  Entstehung  des 
Doppeldenkens  bis  zu  einem  gewissen  Grade  verhindern  zu 
können.  Koppen  berichtet  von  einem  Kranken,  bei  dem  die 
Störung  verschwand,  so  lange  er  angestrengt  und  mit  Interesse 
arbeitete,  während  sie  beim  Nichtstun  wiederkehrte. 

Die  Schwierigkeit,  Einbildungsvorstellungen  von  fast  sinn- 
licher Lebhaftigkeit  scharf  von  der  wirklichen  Wahrnehmung  zu 
trennen,  ist  die  Ursache,  warum  bei  Geisteskranken  gerade  die 
Vermischung  von  Sinneseindrücken  mit  Bestandteilen,  die  dem 
eigenen  Vorstellungsschatze  entstammen,  eine  so  verhängnisvolle 
Quelle  der  Verfälschung  ihrer  Erfahrung  wird.  Dieser  Vorgang, 
den  wir  als  Apperceptionsillusion  (Auffassungsverfäl- 
schung) den  früher  berührten  Formen  der  Illusion  gegenüber- 
stellen können,  ist  in  geringerem  Umfange  schon  unter  gewöhn- 
lichen Verhältnissen  überaus  häufig.  Das  Übersehen  der  Druck- 
fehler ist  dafür  ein  viel  genanntes  Beispiel.  Die  Schnelligkeit, 
mit  der  wir  bekannte  Formen  und  Laute  aufzufassen  vermögen, 
beruht  eben  wesentlich  darauf,  dass  wir  die  rasch  empfangenen  all- 
gemeinen Eindrücke  ohne  weiteres  durch  Erinnerungsbilder  ver- 
stärken und  ergänzen,  in  der  Hauptsache  vielleicht  richtig,  oft 
genug  aber  auch  falsch.  Niemandem  kann  es  entgehen,  wie  sehr 
auch  die  Wahrnehmung  des  Gesunden  unter  dem  Einflüsse  der 
vorgefassten  Meinung  steht,  namentlich  dann,  wenn  lebhafte  Ge- 
mütsbewegungen die  klare  und  sachliche  Auffassung  unserer  Um- 
gebung trüben.  Auch  der  ruhigste,  naturwissenschaftlichste  Beob- 
achter ist  nicht  immer  ganz  sicher,  dass  seine  Wahrnehmungen 
sich  nicht  unmerklich  den  Anschauungen  anpassen,  mit  denen 
er  an  seinen  Gegenstand  herantritt,  und  die  Gemütsbewegungen 
sind  bekanntlich  imstande,  unserer  Gesamtauffassung  der  Ereig- 
nisse eine  so  verschiedene  Beleuchtung  zu  geben,  dass  uns  nach- 
träglich die  Abweichungen  von  der  Wirklichkeit  oft  ganz  un- 
begreiflich erscheinen.  Bei  Geisteskranken  sind  aber  die  Be- 


Sinnestäuschungen. 


139 


dingungen  für  die  Entstehung  von  Auffassungsverfälschungen 
häufig  ausserordentlich  günstige:  starke  gemütliche  Erregungen, 
grosse  Lebhaftigkeit  der  Vorstellungen  und  endlich  — ein  später 
noch  näher  zu  berücksichtigender  Umstand  — Unfähigkeit  zu 
einer  verständigen  Sichtung  und  Berichtigung  der  Erfahrungen. 
So  kommt  es,  dass  hier  vielfach  die  sinnlichen  Eindrücke  in  der 
Auffassung  des  Kranken  ganz  abenteuerliche  Formen  annehmen 
und  auf  diese  Weise  auch  dort,  wo  keine  eigentlichen  Sinnes- 
täuschungen vorhanden  sind,  die  Bausteine  zu  einer  verfälschten 
Anschauung  von  der  Aussenwelt  zu  liefern  imstande  sind.  Dahin 
gehört  es,  wenn  eine  Kranke  die  Geräusche  draussen  für  das 
Schreien  ihrer  zu  Tode  gemarterten  Kinder  oder  für  das  „Knistern 
der  Hölle“  hält. 

Am  leichtesten  kommt  natürlich  eine  derartige  Verfäl- 
schung der  Erfahrung  dann  zu  stände,  wenn  die  von  den  Sinnen 
gelieferten  Eindrücke  nicht  klar  und  scharf  ausgeprägt,  sondern 
unbestimmt  und  verschwommen  sind.  Wie  wir  im  ge- 
wöhnlichen Leben  undeutliche  Wahrnehmungen  am  häufigsten 
missverstehen,  d.  h.  unwillkürlich  durch  eigene  Beimischungen 
ergänzen  und  auslegen,  so  spielen  auch  bei  Geisteskranken  die 
Auffassungstäuschungen  besonders  dann  eine  grosse  Rolle,  wenn 
die  Deutlichkeit  der  Sinneseindrücke  durch  irgendwelche  Ur- 
sachen, namentlich  durch  Störungen  des  psychischen  Gesamt- 
zustandes, beeinträchtigt  wird. 

Die  Verfälschung  der  Auffassung  kann  unter  Umständen  auch 
durch  Eindrücke  von  anderen  Sinnesgebieten  her  ausgelöst  werden. 
K a h 1 b a u m hat  diesen  Vorgang  mit  dem  Namen  der  Reflex- 
hallucination  belegt.  Die  Wahrnehmungen  der  einzelnen 
Sinne  stehen  miteinander  in  so  vielfältiger  Verknüpfung,  dass 
ein  lebhafter  Eindruck  leicht  andere  Sinnesgebiete  mit  erregen 
kann.  Im  Grunde  gehört  hierher  schon  das  Auftauchen  des  Ge- 
sichtsbildes einer  Katze,  wenn  wir  ihr  Miauen  hören.  Viel  unmit- 
telbarer treten  diese  Beziehungen  der  einzelnen  Sinne  bei  den 
sogenannten  „Sekundärempfindungen“  hervor,  dem  Sehen  von 
Farben  bei  bestimmten  Klängen,  Gerüchen  u.  s.  f.  Sinnliche 
Deutlichkeit  erhalten  die  unangenehmen  Empfindungen  des  Zu- 
schauers bei  schmerzhaften  Eingriffen,  die  Belästigung  im  Kehl- 
kopf beim  Anhören  eines  heiseren  Sängers,  der  Kitzel  bei  drohen- 


140 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


der  Berührung  empfindlicher  Stellen,  die  Wahrnehmung  eines 
blinden,  gegen  uns  gerichteten  Stosses.  Mourly  Vold  hat 
ferner  nachgewiesen,  dass  sich  auch  in  unseren  Träumen  vielfach 
eine  derartige  Umsetzung  von  Reizen  in  Vorstellungen  eines  an- 
deren Sinnesgebietes  vollzieht. 

In  Krankheitszuständen  spielen  ähnliche  Vorgänge  oft  eine 
bedeutende  Rolle.  Namentlich  Bewegungsempfindungen,  wie  sie 
sich  schon  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  so  häufig  an  Sin- 
neseindi'ücke  anschliessen,  scheinen  vielfach  auf  diesem  Wege 
zu  entstehen*).  So  gibt  es  Kranke,  welche  die  in  ihrer  Umgebung 
gesprochenen  Worte  in  ihrer  Zunge  fühlen,  denen  ein  Blick,  eine 
Berührung  eigentümliche  Spannungs-  oder  Erschlaffungsempfin- 
dungen im  Körper  erregt.  Umgekehrt  berichtet  Juliusburger 
von  einem  tauben  und  blinden  Kranken,  der  jedesmal  Glöckchen 
eine  Melodie  spielen  hörte,  sobald  er  die  gelähmten  Augen  im 
Rhythmus  nach  rechts  zu  bewegen  suchte.  Bisweilen  nehmen 
solche  Zusammenhänge  sehr  absonderliche  Formen  an;  die  Kran- 
ken fühlen  sich  mit  der  Suppe  „ausgefüllt“,  von  ihrer  Nachbarin 
„eingenäht“,  „eingestiückt“  u.  ähnl.  In  der  Regel  dürfte  es  sich 
bei  allen  diesen  Erscheinungen  übrigens  nicht  um  einfache  Über- 
tragungen der  Sinnesreize  in  eine  andere  Bahn,  sondern  um  die 
Mitwirkung  von  Einbildungen  handeln,  die  lange  vorbereitet  sind 
und  auf  dem  Wege  mehr  oder  weniger  klar  bewusster  Überlegung 
die  Anknüpfung  der  Mitempfindungen  an  den  ursprünglichen  Ein- 
druck vermitteln. 

Eine  sehr  bemerkenswerte  Eigenschaft  der  Sinnestäuschungen, 
welche  einmal  auf  ihre  Entstehungsweise  hindeutet,  andererseits 
ihre  Wichtigkeit  als  Krankheitserscheinung  kennzeichnet,  ist  die 
gewaltige,  unwiderstehliche  Macht,  die  sie  alsbald  über  den 
gesamten  Bewusstseinsinhalt  des  Kranken  zu  erhalten  pflegen. 
Es  ist  wahr,  dass  auch  bei  geistig  völlig  gesunden  Menschen 
ausnahmsweise  einmal  eine  ausgesprochene  Trugwahrnehmung 
auftreten  kann,  und  dass  andererseits  im  Beginne  oder  am  Ende 
einer  Geistesstörung  die  Täuschungen  wegen  ihres  unwahrschein- 
lichen Inhaltes  nicht  selten  als  solche  erkannt  werden.  Allein  man 
sieht  fast  immer,  wie  andauernde  Sinnestäuschungen  das  gesunde 

*)  Cramer,  Die  Hallucinationen  im  Muskelsinn  bei  Geisteskranken  und 
ihre  klinische  Bedeutung.  1889. 


Sinnestäuschungen. 


141 


Urteil  überwältigen  und  wie  schon  nach  kurzer  Zeit  selbst  die  un- 
sinnigsten und  abenteuerlichsten  Annahmen  von  dem  Kranken 
erfunden  werden,  um  an  der  Wahrheit  der  Trugwahrnehmungen 
allen  besonnenen  Gegengründen  zum  Trotz  festzuhalten.  Ja,  wenn 
etwa  in  der  Genesungszeit  die  Überzeugung  von  der  krankhaften 
Natur  der  Täuschungen  sich  schon  zu  befestigen  beginnt,  wird 
der  Kranke  im  Augenblicke  ihres  Auftauchens  selbst  doch  fast 
regelmässig  wieder  von  ihnen  mit  fortgerissen. 

Diese  eigenartige  Erscheinung,  die  in  der  Ohnmacht  der  wirk- 
lichen Wahrnehmungen,  des  offenbaren  Augenscheins,  gegenüber 
der  krankhaften  Täuschung  eine  weitere  Erläuterung  findet,  kann 
eben  deswegen  natürlich  nicht  etwa  in  der  sinnlichen  Deutlichkeit 
der  Trugwahrnekmung  ihren  einfachen  Grund  haben;  im  Gegen- 
teile scheint  die  Erfahrung  dafür  zu  sprechen,  dass  die  Macht  der 
Täuschungen  mit  dem  Zurücktreten  ihrer  alltäglich  sinnlichen  Be- 
schaffenheit eher  wächst,  als  abnimmt.  Die  Erklärung  ist  daher 
vielmehr  in  dem  tiefgehenden,  dem  Kranken  vielleicht  selber  un- 
bewussten Zusammenhang©  mit  den  ihm  geläufigen  Gedanken- 
kreisen, in  der  inneren  Übereinstimmung  der  Täuschungen  mit 
seinen  krankhaften  Befürchtungen  und  Wünschen  zu  suchen.  Ganz 
besonders  sind  es  Gemütsbewegungen  und  Stimmungen,  die  den 
Täuschungen  Inhalt  und  Färbung  geben,  gerade  so,  wie  sie  das 
Auftauchen  bestimmter  Vorstellungsreihen  unterstützen  und  die 
wirkliche  Wahrnehmung  beeinflussen.  Sehr  häufig  beobachten 
wir,  namentlich  in  den  Endzuständen  der  Dementia  praecox,  dass 
Täuschungen  sich  nur  in  Verbindung  mit  den  hier  so  häufigen 
periodischen  Stimmungsschwankungen  einstellen,  in  den  Zwischen- 
zeiten dagegen  völlig  zurücktreten.  Die  überwältigende  Beein- 
flussung des  Denkens  und  Handelns  durch  die  Täuschungen  nimmt 
erst  ab,  wenn  entweder  Genesung  eintritt  oder  mit  der  Ausbildung 
fortschreitender  Verblödung  die  gemütliche  Regsamkeit  schwin- 
det. In  beiden  Fällen  können  die  Täuschungen  zunächst  noch 
f ortdauern,  aber  der  Kranke  „achtet  nicht  mehr  so  darauf“;  sie 
hören  auf,  eine  Rolle  zu  spielen.  So  gibt  es  ungezählte  Blödsinnige,' 
die  andauernd  Stimmen  hören,  ohne  den  Inhalt  derselben  irgend 
weiter  zu  verarbeiten,  ein  Beweis  dafür,  dass  die  Macht  der  Täu- 
schungen ganz  von  dem  Widerhall  abhängig  ist,  den  sie  im 
Seelenleben  des  Kranken  finden. 


142 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Diese  Erwägungen  sind  es,  welche  mit  grosser  Entschieden- 
heit gegen  die  verbreitete  Auffassung  sprechen,  dass  die  Sinnes- 
täuschungen regelmässig  oder  doch  häufig  die  eigentliche 
Ursache  für  die  wahnhaften  Gedanken,  die  Gemütsbewegungen, 
das  Handeln  unserer  Kranken  bilden  sollen.  Freilich  weisen  die 
Kranken  in  ihren  Erzählungen  nicht  selten  geradezu  auf  die  Täu- 
schungen als  die  Quelle  und  die  Begründung  ihrer  Krankheits- 
erscheinungen hin,  allein  'es  kann  doch  keinem  Zv.  eifei  unter- 
liegen, dass  die  Täuschungen  in  demselben  Hirn  entstanden  sind 
wie  die  übrigen  Erscheinungen  der  psychischen  Erkrankung.  Tat- 
sächlich verhalten  sich  die  Kranken  ja  zu  den  Täuschungen  auch 
ganz  anders,  als  zu  wirklichen  Wahrnehmungen.  Kein  Gesunder 
würde  die  Worte  eines  Vorübergehenden:  „das  ist  der  Kaiser'1 
sofort  auf  sich  beziehen  oder  sich  gar  deswegen  wirklich  für 
den  Kaiser  halten  — auf  den  Geisteskranken,  bei  dem  sie 
den  Abschluss  einer  Kette  geheimer  Hoffnungen  und  dunkler 
Ahnungen  bildet,  kann  eine  derartige  hallucinatorische  Wahr- 
nehmung den  allertiefsten,  überwältigendsten  Bindruck  machen 
und  unmittelbar  die  feste  Überzeugung  hervorbringen,  nicht  nur, 
dass  jene  Worte  wirklich  gesprochen  seien,  sondern  dass  sie  auch 
die  tatsächliche  Wahrheit  enthalten.  Ebenso  würden  wk  nie- 
manden für  entschuldigt  halten,  wenn  er  die  an  ihn  wirklich 
gerichtete  Aufforderung  „Töte  dein  Weib!“  etwa  einfach  au&- 
führen  würde,  während  wir  beim  Kranken  der  Sinnestäuschung 
ohne  weiteres  eine  zwingende  Kraft  zuzuschreiben  gewöhnt  sind. 

Es  lässt  sich  nun  allerdings  nicht  von  der  Hand  weisen, 
dass  möglicherweise  die  Entstehung  einer  Sinnestäuschung  auf 
sehr  verschiedenem  Wege  erfolgen  kann.  Gerade  unsere  früheren 
Auseinandersetzungen  deuteten  schon  darauf  hin,  dass  gewisse 
Formen  der  Täuschungen  vielleicht  mehr  in  den  Anfangsgebieten 
der  Sinnesbahn,  andere  dagegen  mehr  in  denjenigen  Hirnteilen 
ihren  Ursprung  nehmen,  welche  den  höheren  psychischen  Lei- 
stungen dienen.  Man  hat  daher  auch  wohl  von  einer  primären 
und  sekundären  Entstehung  der  Sinnestäuschungen  gesprochen, 
je  nachdem  dieselben  als  unabhängige  Einflüsse  in  das  Seelen- 
leben eingreif en  oder  umgekehrt  aus  demselben  hervorwachsen. 
Wie  die  Erfahrung  lehrt,  besitzen  jedoch  gerade  die  sogenannten 
sekundären  Sinnestäuschungen  die  bei  weitem  grösste  Macht  über 


Sinnestäuschungen. 


143 


Denken,  Fühlen  und  Handeln.  Nicht  die  Tatsache  der  Sinnes- 
täuschung oder  ihr  Inhalt  an  sich  ist  es  demnach,  was  so 
überwältigend  auf  den  Kranken  wirkt,  sondern  einzig  und  allein 
der  Umstand,  dass  eben  die  Täuschung  nichts  anderes  ist,  als 
sein  eigenstes  Erzeugnis.  Wir  können  daher,  abgesehen  von  den 
oben  bereits  besprochenen  klinischen  Unterschieden,  keinen  be- 
sonderen Wert  darauf  legen,  zu  entscheiden,  ob  im  einzelnen 
Falle  die  Wahnidee,  die  Stimmung  oder  die  zugehörige  Sinnes- 
täuschung sich  zuerst  geltend  gemacht  habe.  In  der  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Fälle,  und  namentlich  dann,  wenn  die 
Täuschungen  mit  dauernden  Wahnbildungen  einhergehen,  sind  alle 
jene  Krankheitserscheinungen  gewiss  nur  die  Wirkungen  einer  und 
derselben  gemeinsamen  Ursache,  die  verschiedenartigen  Zeichen 
des  gleichen  krankhaften  Gesamtzustandes. 

Der  Inhalt  und  die  Form  der  Trugwahrnehmungen  zeigen 
auf  den  einzelnen  Sinnesgebieten  eine  grosse  Mannigfaltigkeit. 
Unter  den  Gesichtstäuschungen  sind  am  häufigsten  nächt- 
liche „V  i s i o n e n“,  leuchtende  Gestalten,  Gott,  Christus,  Engel, 
Verstorbene,  Blumen,  oder  schreckhafte  Fratzen,  Teufel,  wilde 
Tiere  und  dergl.  Diese  Erscheinungen  werden  bald  als  übersinn- 
liche Offenbarungen,  bald  als  täuschende  Vorspiegelungen  auf- 
gefasst, oder  aber  sie  ähneln  in  ihren  fremdartigen  und  abenteuer- 
lichen Formen,  in  ihrem  raschen  Wechsel  und  ihrer  Vielgestal- 
tigkeit den  Trugwahrnehmungen  des  lebhaften,  unruhigen 
Traumes,  wie  im  Fieberdelirium.  Mehr  den  wirklichen  Wahr- 
nehmungen nähern  sich  die  weit  selteneren  Gesichtstäuschungen, 
die  bei  hellem  Tageslichte  auftreten.  Dahin  gehören  namentlich 
die  Täuschungen  der  Alkoholdeliranten,  huschende  Ratten  und 
Kobolde,  zahlloses  kriechendes  Ungeziefer,  Schmetterlinge  und 
Flocken  in  der  Luft,  Münzen  am  Boden,  Drähte  und  gespannte 
Fäden,  lebhaft  bewegte,  bunte  Menschenmengen.  Bei  andern 
Kranken  sind  es  einzelne  Gestalten,  ein  schwarzer  Hund,  Löwen- 
köpfe, die  zum  Fenster  hineinsehen,  dunkle  Schatten,  Gehenkte 
an  einem  Baume,  Blut,  ein  Leichenantlitz.  Bisweilen  verdecken  die 
Bilder  die  wirklichen  Gegenstände,  oder  sie  lassen  sie  gerade  noch 
durchschimmern.  Im  Essen  befinden  sich  Schimmel,  kleine  ab- 
geschnittene Köpfe  mit  beweglichen  Augen,  wimmelndes  Ge- 
würm; die  Gegenstände  der  Umgebung  haben  ein  ganz  anderes 


144 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Aussehen  angenommen,  zeigen  bestimmte  Gesichter,  Totenköpfe, 
bewegen,  verändern  sich,  namentlich  im  seitlichen  Sehfelde. 
Hierhin  gehören  auch  gewisse  Fälle  von  Personenverwechs- 
lung, bei  welchen  die  Kranken  in  fremden  Personen  ihre  Ange- 
hörigen zu  erblicken  glauben  oder  umgekehrt  ihre  Angehörigen 
nicht  als  solche  anerkennen,  behaupten,  dass  dieselben  Personen 
immer  andere  Gesichter  und  Gestalten  annehmen,  Fratzen 
schneiden  und  ähnl.  Im  allgemeinen  sind  Gesichtstäuschungen 
einer  Aufklärung  durch  andere  Sinne,  namentlich  den  Tastsinn, 
verhältnismässig  leicht  zugänglich  und  werden  daher  von  Ge- 
sunden unter  einigermassen  günstigen  Verhältnissen  auch  regel- 
mässig als  solche  erkannt.  Nur  wo  Verworrenheit,  heftige  Ge- 
mütsbewegungen, namentlich  Angst,  oder  weit  fortgeschrittene 
psychische  Schwäche  eine  unbefangene  Prüfung  der  Täuschung 
verhindern,  werden  selbst  gröbere  und  fremdartigere  Verfäl- 
schungen der  Gesichtswahrnehmung  als  wirkliche  Sinnes- 
erfahrungen hingenommen  und  verarbeitet. 

Weit  verderblicher  pflegen  in  dieser  Beziehung  jene  Ge- 
hörstäuschungen zu  sein,  welche  als  „Stimmen“  auf  treten, 
ein  Ausdruck,  den  der  wahre  Gehörshallucinant  fast  immer  so- 
gleich richtig  versteht.  Der  Grund  dafür  liegt  offenbar  in  der 
tiefgreifenden  Bedeutung,  welche  die  Ausbildung  der  Sprache 
für  unser  Denken  besitzt.  Da  wir  zumeist  in  Worten  denken, 
pflegen  die.  „Stimmen“  in  sehr  innigem  Zusammenhänge  mit  dem 
Gesamtinhalte  des  Bewusstseins  zu  stehen,  ja  sie  sind  häufig  nichts, 
als  der  sprachliche  Ausdruck  dessen,  was  die  Seele  des  Kranken 
bewegt,  und  haben  daher  für  ihn  eine  weit  grössere  überzeugende 
Gewalt,  als  alle  sonstigen  sinnlichen  Täuschungen  und  insbe- 
sondere als  die  wirklichen  Reden  der  Umgebung  selbst.  Der 
Kranke  hört,  zuerst  gewöhnlich  hinter  seinem  Rücken,  allerlei 
Bemerkungen,  die  sich  auf  ihn  beziehen,  jede  seiner  Handlungen 
begleiten,  die  geheimsten  Vorgänge  seiner  Vergangenheit  offen 
besprechen,  ihn  beleidigen,  bedrohen  oder  beglücken.  Namentlich 
nicht  ganz  deutliche  Reden,  halblaute  W^orte,  unbestimmte  Ge- 
räusche gewinnen  Inhalt;  die  Wagen  „knarren  und  ertönen  auf 
ganz  ungewöhnliche  Weise  und  liefern  Erzählungen,  die  Schweine 
grunzen  Namen  und  Erzählungen  sowie  Verwunderungsbezeu- 
gungen, die  Hunde  schimpfen  und  bellen  Vorwürfe,  Hähne  krähen 


Sinnestäuschungen. 


145 


solche,  selbst  Gänse  und  Enten  schnattern  Namen,  einzelne  Redens- 
arten und  Bruchstücke  von  Referaten.“  Aus  dem  Schwirren  der 
Stahlfedern,  dem  Läuten  der  Glocken  tönen  dem  Kranken  Rufe 
entgegen,  oder  aus  der  Wand,  aus  dem  Bette,  in  dem  er  liegt, 
ja  aus  den  eigenen  Ohren  heraus,  im  Kopfe,  im  Unterleibe  ver- 
nimmt er  die  Stimmen.  Nicht  selten  haben  dieselben  verschiedene 
Höhe  und  Klangfarbe  und  werden  daher  verschiedenen  Personen 
zugeschrieben;  bisweilen  ist  es  eine  ganze  Schar,  deren  einzelne 
Mitglieder  genau  unterschieden  werden,  auch  wohl  Wechselreden 
führen;  bisweilen  sind  es  nur  einige  wenige  oder  eine  einzige. 
Die  Stimmen  der  eigenen  Angehörigen,  untreuer  Liebhaber,  bos- 
hafter Nachbarn,  endlich  diejenige  Gottes  oder  des  Teufels 
pflegen  am  häufigsten  vorzukommen.  Vielfach  sind  die  Stimmen 
leise,  flüsternd  oder  zischelnd,  wie  aus  der  Ferne,  von  oben 
herunter,  oder  dumpf,  aus  dem  Boden  heraufkommend ; weniger 
häufig  sind  sie  laut  und  schreiend,  alles  andere  übertönend.  Sie 
können  so  vollständig  den  wirklichen  Wahrnehmungen  gleichen, 
dass  die  Kranken  ihren  Glauben  an  sie  geradezu  damit  begründen. 
„Wenn  Ihre  Worte  wirklich  gesprochen  werden,“  so  sagen  sie 
dem  Arzte,  „so  muss  das  auch  bei  den  anderen  der  Fall  sein, 
die  ich  ganz  ebenso  höre.“  Verhältnismässig  selten  sprechen  die 
Stimmen  längere,  zusammenhängende  Sätze ; meist  handelt  es  sich 
um  kurze,  abgerissene  Bemerkungen.  Ausser  den  Stimmen  werden 
hie  und  da  laute  schiessende  und  knatternde  Geräusche,  Glocken- 
läuten, wirres  Geschrei,  seltener  angenehme  Musik,  Gesang  und 
dergl.  gehört. 

In  anderen  Fällen  tritt  namentlich  der  übernatürliche 
Ursprung  der  gehörten  Stimmen  stärker  hervor;  sie  sind  dann 
nicht  selten  von  Gesichtstäuschungen  begleitet.  Gott  oder 
Christus  geben  dem  Kranken  einen  Auftrag,  eine  Verheissung 
oder  klären  ihn  über  ein  Geheimnis  seiner  Persönlichkeit  auf. 
Der  ganze  Vorgang  hat  hier  gewöhnlich  etwas  Traumhaftes, 
Übersinnliches.  Im  Fieberdelirium  und  bei  sehr  verwirrten  Kran- 
ken zeigen  auch  die  Gehörstäuschungen  den  raschen  Wechsel  und 
die  unklare  Verworrenheit  der  unter  gleichen  Verhältnissen  vor- 
kommenden Gesichtstäuschungen. 

Als  eine  besondere  Gruppe  der  Gehörstäuschungen  sind  die 
sogenannten  „inneren  Stimmen“,  „Einflüsterungen“,  die  „Welt- 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Anfl.  10 


146 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


spräche“,  das  „Gedenk“,  das  „Telephonieren“,  „Telegraphieren“ 
und  dergl.  zu  betrachten,  die  von  dem  Kranken  selbst  nicht 
als  äussere  Wahrnehmungen,  sondern  als  Eingebungen  oder 
künstliche  Beeinflussungen  aufgefasst  werden.  „Es  ist  zwischen 
Hören  und  Ahnen“,  meinte  ein  Kranker.  Hier  ist  der  Ursprung 
aus  dem  eigenen  Gedankengange  in  der  Regel  ^ sehr  deutlich. 
Bisweilen  schliesst  sich  dieses  innere  Sprechen  in  der  Art  der 
Rede  und  Wechselrede  im  Bewusstsein  des  Kranken  aneinander, 
so  dass  die  Wahnidee  einer  förmlichen  stillen  Unterhaltung  mit 
fernen  Personen  entsteht.  Oder  aber  die  „Gewissensstimmen“ 
begleiten  jede  Handlung  des  Kranken  mit  entsprechenden  Bemer- 
kungen, feuern  ihn  an,  erteilen  ihm  Befehle  oder  \ erböte.  In 
allen  diesen  Fällen  entwickelt  sich  ebenso  wie  bei  dem  früher 
beschriebenen  „Doppeldenken“  leicht  die  Vorstellung,  dass  die 
eigenen  Gedanken  der  Umgebung  bekannt  seien,  oder  gar,  dass 
sie  durch  fremde  Einwirkung  gemacht  und  beeinflusst  würden. 
„Ich  bin  durchsichtig,“  sagte  mir  ein  derartiger  Kranker. 

Der  Inhalt  der  Gehörstäuschungen  ist,  wie  schon  ange- 
deutet, nur  selten  ein  ganz  gleichgültiger  und  dann  in  der  Regel 
unsinnig  und  eintönig.  Zumeist  stehen  die  Stimmen  in  sehr  nahen 
Beziehungen  zu  dem  Wohl  und  Wehe  des  Hörers,  den  sie  auf- 
reizen und  peinigen,  seltener  beglücken  und  erheben.  Sie  können 
dann  einen  mächtigen  Einfluss  auf  das  Handeln  gewinnen.  Die 
fortwährenden  Schmähungen,  Beschimpfungen  und  höhnischen 
Bemerkungen,  der  Jammer  gemisshandelter  Angehöriger  machen 
den  Kranken  misstrauisch  und  aufgeregt  und  bringen  ihn  zu  ent- 
rüsteter Abwehi-  gegen  seine  vermeintlichen  Peiniger;  furchtbare 
Drohungen  setzen  ihn  in  Angst  und  Verwirrung  und  zwingen  ihn 
zu  rastloser  Flucht,  um  den  Verfolgern  zu  entgehen;  gebieterische 
Befehle  lassen  ihn  die  unsinnigsten  und  bisweilen  unnatürlichsten 
Taten  begehen,  weil  er  übernatürlichen  Mächten  gehorchen  zu 

müssen  glaubt.  . 

Von  weit  geringerer  unmittelbarer  Bedeutung,  als  die  Trug- 
wahrnehmungen des  Gesichts  und  Gehörs,  deren  Gebiet  ja  vor  allem 
der  sinnliche  Rohstoff  unserer  Vorstellungen  entnommen  wird, 
sind  die  Täuschungen  im  Bereiche  der  übrigen  Sinne  für 
das  psychische  Leben  des  Kranken.  Der  geängstigte  Kranke 
empfindet  den  Geruch  giftiger  Dünste,  die  ihn  töten  sollen,  oder 


Sinnestäuschungen. 


147 


den  Schwefelgestank  des  Teufels,  der  ihn  bedroht;  er  schmeckt 
allerlei  unappetitliche  und  schädliche  Dinge,  Menschenfleisch, 
Kot,  Arsenik,  Canthariden  in  seinem  Essen,  die  ihm  von  seinen 
Feinden  beigebracht  werden.  Diese  Trugwahrnehmungen  haben 
ihren  Ursprung  zumeist  in  den  Gedankenkreisen  des  Kranken, 
weit  seltener  in  umschriebenen  Störungen  der  Sinnesgebiete,  wie 
z.  B.  Geruchstäuschungen  bei  Druck  auf  den  Olfactorius  oder  bei 
Rindenerkrankungen  in  der  Gegend  des  Gyrus  hippocampi  auf- 
treten  können.  In  der  Regel  haben  wir  es  somit  hier  mit  dem 
Ausdrucke  allgemeiner  psychischer  Umwälzungen  zu  tun.  Ähn- 
liches gilt  von  den  entsprechenden  Täuschungen  im  Bereiche  des 
Haut-  und  Muskelsinnes  sowie  der  Gemeinempfindungen.  Wo  uns 
die  Wahnideen  des  Elektrisiertwerdens,  des  Besessenseins,  der 
Umwandlung  einzelner  Körperteile,  der  inneren  Versteinerung  und 
Eintrocknung,  des  Verschwindens  von  Kopf,  Mund,  Magen,  After 
u.  s.  f.  begegnen,  da  handelt  es  sich  nicht  mehr  um  einfache 
Verfälschungen  der  Wahrnehmung,  sondern  um  die  krankhafte 
Verarbeitung  von  Empfindungen,  die  an  sich  meist  zu  unbe- 
stimmt sein  würden,  um  etwa  in  ähnlicher  Weise  wie  die  Gehörs- 
und Gesichtstäuschungen  den  Bewusstseinsinhalt  beeinflussen  zu 
können. 

Die  grosse  Mannigfaltigkeit  der  Sinnestäuschungen  hatte  uns 
zu  der  Anschauung  geführt,  dass  ihre  Entstehungsweise  eine  sehr 
verschiedene  sein  müsse.  Eine  wichtige  Bestätigung  erfährt  diese 
Meinung  durch  die  Erfahrung,  dass  die  Art  der  Täuschungen  in 
sehr  entschiedener  Weise  durch  die  klinischen  Krank- 
heitsformen bestimmt  wird.  Bei  den  Fieber-  und  Infektions- 
delirien haben  wir  es  mit  bunten,  wechselnden,  traumartigen 
Trugwahrnehmungen  zu  tun,  bei  denen  verschiedene  Sinnesgebiete 
zur  Vortäuschung  verworrener,  abenteuerlicher  Erlebnisse  Zu- 
sammenwirken. Ähnlich  verhalten  sich  die  Täuschungen  des 
Trinkerdeliriums,  doch  ist  hier  der  Zusammenhang  der  Einzel- 
erlebnisse meist  klarer.  Die  Täuschungen,  die  ausser  Gehör, 
Hautsinn  und  Muskelsinn  ganz  vorzugsweise  den  Gesichtssinn  be- 
treffen, haben  ferner  eine  ausserordentliche  sinnliche  Deutlich- 
keit; sie  verknüpfen  sich  zudem  so  innig  miteinander,  dass  sie 
die  Grundlage  für  ein  „Beschäftigungsdelirium“  abgeben  können. 
Bemerkenswert  ist  endlich  die  Massenhaftigkeit  der  gleich- 

10* 


148 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


artigen  Trugwahrnehmungen  und  ihre  vielfach  lebhafte  Be- 
wegung, das  Auftauchen,  Schwinden,  Zerfliessen.  Wie  bei  den 
Fieberdelirien  knüpfen  sich  auch  hier  die  Täuschungen  gern  an 
undeutlich  aufgefasste  Eindrücke  an;  sie  können  durch  Einreden 
hervorgerufen  und  beeinflusst  werden.  Ihnen  nahe  verwandt  sind 
die  durch  Cocain  erzeugten  Täuschungen,  die  sich  auf  Gesicht, 
Gehör  und  Gemeinempfindungen  zugleich  erstrecken  können.  Be- 
sonders kennzeichnend  sind  für  dieses  Gift  die  eigentümlichen 
„mikroskopischen“  Gesichtstäuschungen,  die  Wahrnehmung  zahl- 
loser gleichartiger,  winziger  Einzelheiten,  Tierchen,  Löcher  in 
der  Wand,  Pünktchen.  Demgegenüber  begegnen  uns  bei.  den 
epileptischen  Delirien,  bei  denen  ebenfalls  ein  Zusammenwirken 
verschiedener  Sinnesgebiete  häufig  ist,  vorzugsweise  Täuschungen 
mit  lebhafter  Gefühlsbetonung,  das  Sehen  von  Blut,  Feuer, 
Schreckgestalten,  himmlischen  Erscheinungen  oder  das  Horen 
von  Drohungen,  Schüssen,  Kriegslärm,  Yerheissungen  und  Engels- 
musik. 

Wir  dürfen  wohl  annehmen,  dass  es  sich  m allen  diesen 
Fällen,  da  sich  die  Täuschungen  verschiedener  Sinne  miteinander 
verbinden,  um  ausgebreitete  Krankheitsvorgänge  in  der  Hirnrinde 
handelt.  Dafür  spricht  auch  der  Umstand,  dass  hier  regel- 
mässig mehr  oder  weniger  starke  Trübungen  des  Bewusstseins 
bestehen.  Allerdings  deuten  andererseits  die  unverkennbaren 
klinischen  Verschiedenheiten  in  der  Gestaltung  der  Täuschungen 
darauf  hin,  dass  die  Eigenart  der  einzelnen  Krankheitsvor- 
gänge sich  dennoch  deutlich  geltend  macht,  sei  es  in  dei 
Verschiedenheit  der  Störungen  selbst,  sei  es  in  der  ver- 
schiedenen Ausbreitung  und  Verteilung  derselben.  Mehr  vor- 
übergehende delirante  Zustände  mit  ganz  ähnlichen  zusammen- 
gesetzten Täuschungen  mehrerer  Sinne  kommen  noch  in  manchen 
anderen  Krankheiten  vor,  so  im  manisch-depressiven  Irresein, 
beim  Altersblödsinn,  bei  der  Dementia  praecox,  seltener  in  der 
Paralyse,  bei  der  die  Neigung  zum  Auftreten,  von  Sinnestäu- 
schungen überhaupt  auffällig  gering  ist.  Wie  weit  den  genannten 
Krankheitsvorgängen  sonst  Besonderheiten  in  der  Gestaltung  der 
deliriösen  Sinnestäuschungen  entsprechen,  ist  noch  sehr  un- 
genügend bekannt.  Im  allgemeinen  darf  man  vielleicht  annehmen, 
dass  bei  den  verwirrten  Erregungszuständen  der  Dementia  prae- 


Sinnestäuschungen. 


149 


cox  die  Gehörstäuschungen  im  Vordergründe  stehen,  während 
bei  denjenigen  des  manisch-depressiven  Irreseins  daneben  solche 
des  Gesichts  und  namentlich  der  Gemeinempfindungen  eine  grosse 
Rolle  spielen  dürften.  Zudem  pflegt  es  sich  hier  wie  bei  der 
Paralyse  ganz  vorwiegend  um  Illusionen,  weit  weniger  um  Hal- 
iucinationen  zu  handeln. 

Eine  weit  enger  umgrenzte  Gruppe  bilden  diejenigen  kli- 
nischen Formen,  bei  denen  sich  die  Täuschungen  auf  ein  einzelnes 
Sinnesgebiet  beschränken  oder  doch  kein  Zusammenwirken  der 
verschiedenen  Sinne  erkennen  lassen.  Ein  sehr  lehrreiches.  Bei- 
spiel dafür  liefert  der  Alkoholwahnsinn  und  gewisse  alkoholische 
Schwächezustände,  bei  denen  ganz  ausschliesslich  Gehörstäu- 
schungen auftreten  können.  In  einzelnen  Fällen  zeigen  sie  einen 
taktmässigen  Tonfall,  so  dass  die  Anknüpfung  an  das  leise  Ticken 
des  Carotispulses  wahrscheinlich  wird.  Auch  bei  epileptischen 
Geistesstörungen  kommen  hie  und  da  nur  Gehörstäuschungen  zur 
Beobachtung.  In  den  cirkulären  Depressionszuständen  pflegen 
sie  in  einzelnen  kurzen  Bemerkungen  beängstigenden  Inhaltes  zu 
bestehen,  während  bei  den  Trinkern  und  Epileptikern  oft  längere 
zusammenhängende  Reden  gehört  werden,  in  die  sich  mehrere 
Personen  einmischen,  und  die  sich  fast  niemals  unmittelbar  an 
den  Kranken  wenden. 

Bei  weitem  am  häufigsten  sind  Gehörstäuschungen  in  jener 
grossen  Gruppe  von  Krankheiten,  die  wir  einstweilen  noch  unter 
dem  Namen  der  Dementia  praecox  zusammenfassen.  Dauernd 
fehlen  sie  nur  selten.  In  der  Regel  bilden  sie  eines  der  eisten 
Krankheitszeichen  und  bleiben  oft  genug  die  einzigen  Täu- 
schungen, die  überhaupt  auftreten.  In  den  deliranten  Zuständen 
können  sich  jedoch  auch  Trugwahrnehmungen  anderer  Sinne 
hinzugesellen,  und  endlich  gibt  es  eine  grössere  Zahl  von  Fällen, 
in  denen  sich  neben  den  Gehörstäuschungen  dauernd  solche  des 
Hautsinns  und  namentlich  der  Gemeinempfindungen,  auch  wohl  des 
des  Geruchs  und  Geschmackes  entwickeln.  Fast  nur  hier  begegnet 
uns  die  merkwürdige  Störung  des  Doppeldenkens  und  Gedanken- 
lautwerdens. Der  Inhalt  der  Täuschungen  ist  oft  nur  im  Anfänge 
aufregend  oder  erfreuend,  späterhin  vielleicht  ganz  gleichgültig 
oder  unsinnig,  im  Gegensätze  zu  den  oben  angeführten  Formen. 
Diese  Erfahrungen  weisen  darauf  hin,  dass  der  Krankheitsvorgang, 


150 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


der  diesen  Geistesstörungen  zu  Grunde  liegt,  das  Zustandekommen 
von  Gehörstäuschungen  in  ganz  besonderem  Grade  begünstigt, 
und  dass  dabei  gemütliche  Einflüsse  keine  massgebende  Bedeu- 
tung haben.  Wir  dürfen  hier  vielleicht  daran  erinnern,  dass  die 
Gehörstäuschungen  in  sprachlicher  Form  auftreten,  und  dass  wir 
es  gerade  bei  den  Krankheiten,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
ungemein  häufig  auch  mit  Störungen  des  sprachlichen  Ausdruckes 
zu  tun  haben.  Es  wäre  denkbar,  dass  diese  beiden  Krankheits- 
zeichen in  tieferer  Beziehung  zu  einander  stünden. 

Trübungen  des  Bewusstseins.  Ausser  den  Vorgängen  in  den 
verschiedenen  Abschnitten  der  Sinnesgebiete  ist  für  die  Erwer- 
bung von  Erfahrungen  noch  ein  weiterer  Umstand  von  hervor- 
ragender Wichtigkeit,  nämlich  das  Verhalten  unseres  Bewusst- 
seins. Äussere  Reize  erzeugen  in  unserem  Innern  gewisse  eigen- 
tümliche, nicht  näher  erklärbare  Zustandsveränderungen,  die  wir 
unmittelbar  auffassen  und  als  Vorstellungen,  Gefühle,  Antriebe 
u.  s.  f.  auseinanderhalten.  Diese  allgemeinste  Tatsache  der 
inneren  Erfahrung  bezeichnen  wir  im  Anschlüsse  an  Fechners 
Anschauungen  als  das  Bewusstsein.  Überall,  wo  äussere 
Eindrücke  in  psychische  Vorgänge  umgesetzt  werden,  ist  Be- 
wusstsein vorhanden,  denn  dasselbe  ist  eben  nichts  anderes,  als 
ein  Ausdruck  für  das  Stattfinden  dieser  Umwandlung.  Das 
Wesen  des  Bewusstseins  ist  für  uns  völlig  dunkel,  doch  wissen 
wir,  dass  der  Bestand  desselben  nicht  nur  im  allgemeinen  von  den 
Verrichtungen  der  Hirnrinde  abhängig  ist,  sondern  dass  auch  die 
einzelnen  Erscheinungen  des  Bewusstseins  höchst  wahrscheinlich 
an  bestimmte,  bisher  noch  unbekannte  Vorgänge  in  unserem 
Nervengewebe  gebunden  sind. 

Wie  von  der  Beschaffenheit  der  Sinneswerkzeuge  die  Um- 
setzung der  äusseren  Reize  in  Sinneserregung  abhängig  ist,  so 
sind  weiterhin  die  Zustände  der  Hirnrinde  für  die  Umwandlung 
der  physiologischen  Erregungen  in  Bewusstseinsvorgänge  von 
entscheidender  Bedeutung.  In  welchem  Masse  eine  solche  Um- 
wandlung jeweils  stattfindet,  das  ist  bisher  im  Einzelfalle  oft 
äusserst  schwierig  zu  erkennen,  da  uns  die  innere  Erfahrung 
eines  Anderen  nicht  durch  unmittelbaren  Einblick,  sondern  nur 
durch  einen  Rückschluss  aus  seinem  äusseren  Verhalten  zugäng- 
lich ist.  Aus  diesem  letzteren  allein  entnehmen  wir  mit 


Trübungen  des  Bewusstseins. 


151 


grösserer  oder  geringerer  Wahrscheinlichkeit,  ob  dasselbe 
als  Ausdruck  psychischer  Vorgänge  zu  betrachten  ist  odei 
nicht. 

Denjenigen  Zustand,  in  welchem  die  Umsetzung  körpeilichei 
in  seelische  Vorgänge  gänzlich  aufgehoben  ist,  bezeichnen  wir 
als  Bewusstlosigkeit.  Jeder  Reiz,  der  die  Schwelle  des 
Bewusstseins  überschreiten  und  damit  einen  psychischen  Eindruck 
hervorrufen  soll,  muss  eine  gewisse  Stärke  besitzen,  die  nicht 
unter  einen  bestimmten  Wert,  den  sogenannten  Schwellen- 
wert, heruntersinken  darf.  Allein  die  Grösse  des  Schwellen- 
wertes wechselt  je  nach  den  Zuständen  unserer  Hirnrinde  ausser- 
ordentlich. Während  sie  bei  gespannter  Aufmerksamkeit  ihre 
niedrigsten  Werte  erreicht,  kann  sie  in  tiefster  Ohnmacht  un- 
endlich werden,  d.  h.  es  genügen  hier  bisweilen  selbst  die  allei- 
stärksten  Reize  nicht  mehr,  um  Bewusstseinsvorgänge  auszu- 
lösen. Man  kann  demnach,  je  nach  der  Grösse  des  Schwellen- 
wertes, verschiedene  Helligkeitsgrade  des  Bewusstseins 
unterscheiden.  Sinkt  die  Helligkeit  des  Bewusstseins  unter  ein 
gewisses  Mass,  so  entsteht  ein  mehr  oder  weniger  tiefer  „Däm- 
merzustand“, in  dem  sowohl  äussere  wie  innere  Reize  nur 
uoch  schwache  und  unklare  psychische  Gebilde  erzeugen.  Als 
vorübergehende,  sich  oft  ungemein  scharf  gegen  das  gesunde 
Leben  absetzende  Störung  beobachten  wir  derartige  Bewusstseins- 
trübungen bei  der  Epilepsie  und  Hysterie.  Als  lange  dauernde 
Dämmerzustände  können  wir  dagegen  gewisse  Erschwerungen  der 
Seelenvorgänge  betrachten,  bei  denen  sich  der  psychophysische 
Schwellenwert  wesentlich  erhöht.  Unter  Umständen  kann  an- 
scheinend der  Schwellenwert  für  äussere  und  für  innere  Reize 
in  ungleichmässiger  Weise  verändert  werden;  während  die  Ein- 
wirkung äusserer  Eindrücke  erheblich  erschwert  ist,  können  den- 
noch durch  innere  Erregungen  lebhafte  Bewusstseinsvorgänge  aus- 
gelöst werden.  Das  ist  der  Fall  bei  denjenigen  Zuständen,  die  wir 
als  Delirien  zu  bezeichnen  pflegen.  Umgekehrt  sehen  wir  bei 
den  Verblödungen  nicht  selten  äussere  Reize  noch  verhältnis- 
mässig leicht  Empfindungen  erzeugen,  während  sich  innere  Vor- 
gänge fast  gar  nicht  mehr  im  Bewusstsein  geltend  machen.  Hier 
handelt  es  sich  aber  in  der  Regel  gar  nicht  um  eine  Steigerung 
des  Schwellenwertes,  sondern  um  ein  dauerndes  Sinken  der  psycho- 


152 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


physischen  Erregung.  Gerade  dadurch  unterscheidet  sich  die 
Verblödung  vom  Dämmerzustände. 

Der  häufigste,  auch  dem  Gesunden  wohlbekannte  Dämmer- 
zustand ist  der  Schlaf.  Bei  ihm  ist  es  gelungen,  durch  Feststellung 
der  Reize,  die  in  den  einzelnen  Abschnitten  der  Nacht  genügen, 
um  das  Aufwachen  herbeizuführen,  die  Schwankungen  der  Schlaf- 
tiefe, also  die  Helligkeitsgrade  des  Bewusstseins  im  Schlafe, 
durch  den  Versuch  genauer  zu  verfolgen.  Dabei  hat  sich  gezeigt, 
dass  die  „Weckwerte“  im  allgemeinen  nach  dem  Einschlafen  zu- 
nächst rasch  zunehmen,  dann  ebenso  schnell  wieder  sinken,  um 
mit  allerlei  Schwankungen  gegen  Morgen  ihre  niedrigsten  Werte 
zu  erreichen.  Bei  Morgenarbeitern  liegt  die  grösste  Schlaftiefe 
am  Ende  der  ersten  Schlafstunde  und  ist  nach  wenigen  Stunden 
bereits  ungemein  gering.  Dagegen  scheinen  Abendarbeiter  ihre 
grösste  Schlaftiefe,  die  zudem  erheblich  geringer  bleibt,  als  die- 
jenige der  ersteren  Gruppe,  viel  später  zu  erreichen.  Sie  sinkt 
dann  auch  langsamer  und  hält  sich  bis  zum  Erwachen  auf  einer 
beträchtlicheren  Höhe.  Ohne  Zweifel  erfährt  die  Schlaftiefe  bei 
Geisteskranken  die  allereingreifendsten  Veränderungen.  Nament- 
lich in  Depressionszuständen  pflegt  der  Schlaf  oberflächlich  und 
häufig  unterbrochen  zu  sein,  während  er  bei  manischen  Kranken 
von  kurzer  Dauer,  aber  sehr  tief  sein  kann.  Leider  fehlen  uns 
über  diese  wichtigen  Störungen  noch  genauere  Untersuchungen. 

Auch  im  Schlafe  dürfte  sich  das  Verhältnis  des  äusseren 
Schwellenwertes  zum  inneren  zu  ungunsten  des  ersteren  verschie- 
ben. Dafür  spricht  die  Erscheinung  des  Traumes,  die  allerdings 
im  Tiefschlafe  fehlen  oder  doch  spurlos  werden  kann.  Die  Träume 
haben  vielfach  grosse  Ähnlichkeit  mit  den  Dämmerzuständen. 
De  Sanctis*)  weist  insbesondere  darauf  hin,  dass  die  Träume 
der  Epileptiker  und  Hysterischen  denselben  Inhalt  haben  können 
wie  die  Delirien  der  Kranken,  dort  schreckhafte  Wahrnehmungen 
von  Blut,  Flammen,  andrängenden  Ungeheuern,  himmlische  Er- 
scheinungen oder  wollüstige  Erlebnisse,  hier  theatralische  Ereig- 
nisse, Auftreten  Verstorbener,  einzelner  drohender,  mahnender 
oder  rührender  Gestalten.  Er  meint  sogar  nicht  mit  Unrecht,  dass 
Träume  dieser  Art  zuweilen  geradezu  Äquivalente  der  im  Wachen 
auftretenden  ähnlichen  Störungen  bilden  könnten. 


*)  De  Sanctis,  I sogni.  1899,  deutsch  von  0.  Schmidt.  1901. 


Störungen  der  Auffassung. 


153 


In  Depressionszuständen  pflegen  die  ängstlichen  und  er- 
schreckenden Träume  der  Verstimmung  im  Wachen  zu  entsprechen. 
Auch  Wahnbildungen  können  sich  in  den  Träumen  fortspinnen. 
Namentlich  begegnen  wir  häufig  der  Angabe  nächtlicher  feind- 
seliger Beeinflussung.  Die  Kranken  erzählen  von  nächtlichen  Be- 
gattungen, beklagen  sich  darüber,  dass  man  ihnen  die  „Natur 
abgezogen“,  Veränderungen  an  ihrem  Körper  vorgenommen  habe. 
Es  ist  allerdings  zweifelhaft,  wie  weit  derartige  Angaben  wirklich 
auf  Traumerlebnisse  zurückgehen;  Pilcz  fand  geradezu,  dass 
paranoische  Kranke  nicht  von  ihren  Wahnvorstellungen  träumen. 
Gar  nicht  selten  aber  vermengen  die  Kranken  Traum  und  Wirk- 
lichkeit; ich  erinnere  mich  eines  Kranken,  der  fast  täglich  dem 
Arzte  über  das  Vorwürfe  machte,  was  er  ihm  wieder  im  Traume 
angetan  habe.  Bei  fortschreitender  Verblödung  schwindet  mit 
dem  Verluste  der  geistigen  Regsamkeit  auch  die  Häufigkeit  und 
Lebhaftigkeit  der  Träume. 

Störungen  der  Auffassung.  Das  Anwachsen  der  Wirkung 
eines  äusseren  Reizes  erfordert  eine  gewisse  Zeit.  Wie 
der  Versuch  lehrt,  wird  die  grösste  Klarheit  einer  Sinnes- 
wahrnehmung erst  nach  Verlauf  einiger  Sekunden  erreicht. 
Dieser  Vorgang  kann  unter  Umständen  eine  erhebliche  Ver- 
langsamung erfahren.  Die  Kranken  vermögen  dann  Reize, 
die  sich  ihnen  nur  kurze  Zeit  darbieten,  gar  nicht  oder  doch 
nur  höchst  unvollkommen  aufzufassen,  während  sich  unter  ge- 
wöhnlichen Verhältnissen  keinerlei  Erschwerung  der  Auffassung 
geltend  zu  machen  braucht.  Ist  aber  die  Verlangsamung  im  An- 
wachsen der  Sinnesempfindungen  eine  sehr  bedeutende,  so  kann 
das  Verblassen  derselben,  das  nach  kurzer  Zeit  beginnt,  die 
volle  Entwicklung  der  Auffassung  gänzlich  verhindern;  die  Wahr- 
nehmungen versinken  schon  wieder,  bevor  sie  noch  volle  Deut- 
lichkeit und  Stärke  erlangt  haben.  Natürlich  werden  einzelne 
von  vornherein  sehr  kräftige  Eindrücke  doch  aufgefasst  werden 
können,  aber  sie  bleiben  mehr  oder  weniger  zusammenhangslos, 
weil  die  Zwischenglieder  und  die  begleitenden  Ereignisse  nur 
in  unklarer  und  verschwommener  Form  dem  Bewusstsein  über- 
mittelt werden.  In  ausgeprägtester  Gestaltung  begegnen  wir 
dieser  Auffassungsstörung  bei  der  Presbyophrenie  und  beim 
Korssako  w sehen  Irresein,  doch  dürften  sich  leichtere  Andeu- 


154 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


tungen  derselben  wohl  auch  bei  manchen  anderen  Erkrankungen, 
namentlich  deliriöser  Art,  auffinden  lassen. 

Die  Auffassung  eines  äusseren  Eindruckes  erfordert  indessen 
ausser  dem  Anwachsen  der  Wahrnehmung  zu  einer  gewissen  Stärke 
noch  die  Eingliederung  derselben  in  unseren  Erfahrungsschatz. 
Die  grosse  Mehrzahl  der  Eindrücke,  die  wir  tagtäglich  in  uns 
aufnehmen,  ist  an  sich  ziemlich  undeutlich  und  verschwommen; 
sie  werden  erst  dadurch  zu  klaren  und  verwertbaren  Erfahrungen, 
dass  sie  in  den  bereitliegenden  Erinnerungsbildern  gewissermassen 
einen  Widerhall  finden,  welcher  den  sinnlichen  Reiz  verstärkt. 
Durch  diesen  Vorgang,  den  W u n d t als  „Apperception“  bezeich- 
net, bildet  sich  auch  sofort  die  Verknüpfung  der  einzelnen  V ahr- 
nehmung  mit  unserer  Gesamterfahrung,  ein  Zusammenhang  mit 
zahlreichen  anderen  Vorstellungen  und  damit  das  erständnis 
des  vorliegenden  Eindruckes.  Dabei  finden  ungenau  erfasste  Ein- 
drücke ihre  Ergänzung  durch  auftauchende  Erinnerungsbilder,  ein 
Vorgang,  der  die  Empfindlichkeit  unserer  Auffassung  bekannten 
Eindrücken  gegenüber  ausserordentlich  steigert,  zugleich  aber 
auch  die  Gefahr  der  Wahr nehmungs Verfälschung  in  sich  schliesst. 
Gerade  die  Beobachtungen  über  die  alltäglichen  Illusionen  zeigen 
uns  am  besten,  in  wie  hohem  Masse  die  sinnliche  Erfahrung  immer- 
fort durch  die  Anklänge  in  unserem  Erinnerungsschatze  beein- 
flusst wird. 

Sobald  diese  Mitwirkung  unseres  früheren  geistigen  Er- 
werbes beim  Wahrnehmungsvorgange  fortfällt,  wird  dieser  un- 
klar und  inhaltlos.  Es  können  sich  wohl  einzelne  stärkere  Ein- 
drücke in  unser  Bewusstsein  eindrängen,  aber  sie  haften  nicht  und 
werden  nicht  verstanden,  da  ihnen  die  Einordnung  in  den  Zusam- 
menhang unserer  Vorstellungen  und  Begriffe  mit  allen  ihren 
Folgen  für  die  weitere  geistige  Verarbeitung  fehlt.  In  dieser 
Lage  befinden  wir  uns  z.  B.  gegenüber  dem  völlig  Unverständ- 
lichen, sofern  nicht  etwa  besondere  Nebenumstände,  Erwartung 
und  dergl.  die  Anregung  bestimmter  Vorstellungen  durch 
die  Wahrnehmung  vermitteln.  Die  Einzelheiten  einer  Ma- 
schinenausstellung, eines  auf  dem  Kopf  stehenden  Landschafts- 
bildes können  uns  vollkommen  entgehen,  obgleich  die  sinnlichen 
Eindrücke  an  sich  ebenso  lebhaft  auf  uns  wirken,  wie  auf  den 
Fachmann,  oder  wie  das  aufrechtstehende  Bild.  Einsilbige  und 


Störungen  der  Auffassung. 


155 


selbst  zweisilbige  Wörter  lesen  wir  sehr  viel  schneller,  als  sinn- 
lose Silben  von  weit  geringerer  Buchstabenzahl. 

Die  häufigste  Form  der  Auffassungsstörung  ist  die  Erhöhung 
des  Schwellenwertes  für  äussere  Reize,  die  verminderte  Ansprech- 
barkeit  unseres  Bewusstseins.  Je  stärker  die  Reize  sein  müssen, 
um  überhaupt  Empfindungen  zu  erzeugen,  desto  verschwommener 
und  lückenhafter  wird  das  Bild,  das  die  Aussenwelt  in  unserem 
Innern  entwirft.  Die  Kranken  fassen  nur  einen  mehr  oder  weniger 
beschränkten  Teil  der  Eindrücke  auf,  die  auf  sie  einwirken;  sie 
bemerken  und  verstehen  nicht  mehr,  was  um  sie  herum  vor- 
geht. Wir  bezeichnen  diesen  Zustand,  in  dem  die  Besonnenheit 
schwindet,  als  Un b e s i n n 1 i c h k e i t.  Kann  hier  zunächst  noch 
vorübergehend  oder  durch  besonders  kräftige  Reize  eine  Wahr- 
nehmung erzwungen  werden,  so  löst  sich  bei  den  stärkeren  Graden 
der  Benommenheit  die  Verbindung  mit  den  äusseren  Gescheh- 
nissen mehr  und  mehr.  Die  allmähliche  Entwicklung  dieser 
Auffassungsstörungen  begegnet  uns  bei  der  einfachen  Ermüdung 
und  ihren  Übergängen  zum  Schlafe,  ebenso  aber  auch  bei  den 
krankhaften  Zuständen  schwerer  geistiger  Erschöpfung.  Mit 
grösster  Gewalt  und  Schnelligkeit  geschieht  die  Absperrung 
unseres  Bewusstseins  von  der  Aussenwelt  durch  die  Betäubungs- 
mittel Äther  und  Chloroform.  Ganz  ähnlich  sind,  soweit  die 
Prüfung  durch  den  psychologischen  Versuch  reicht,  die  Beein- 
trächtigungen der  Wahrnehmung  zu  beurteilen,  die  durch  eine 
Anzahl  von  Schlafmitteln  erzeugt  werden;  genauer  nachgewiesen 
wurde  eine  schwerere  Auffassungsstörung  bis  jetzt  bei  Alkohol, 
Paraldehyd  und  Trional.  Nach  unseren  klinischen  Erfahrungen 
ist  sie  ferner  bei  den  Fieber-  und  Vergiftungsdelirien  sowie  bei 
den  epileptischen  und  hysterischen  Dämmerzuständen  vorhanden, 
vielfach  auch  in  den  verschiedenen  Zuständen  des  manisch-depres- 
siven Irreseins,  besonders  im  depressiven  und  manischen  Stupor 
wie  in  den  stärkeren  Graden  der  manischen  Erregung. 

Auf  der  Stufe  der  einfachen  Wahrnehmung  bleibt  die  gesamte 
Sinneserfahrung  in  der  ersten  Zeit  der  geistigen  Entwicklung 
stehen.  So  lange  die  Einwirkungen  der  Aussenwelt  noch  keine 
bleibenden  Erinnerungsspuren  zurückgelassen  haben,  ist  auch  jenes 
Netz  von  psychologischen  Beziehungen  noch  nicht  geknüpft, 
welches  alle  kommenden  Lebenserfahrungen  sofort  mit  dem  gei- 


156 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


stigen  Erwerbe  der  Vergangenheit  in  Verbindung  setzt.  In  den 
schwereren  Formen  der  psychischen  Entwicklungshemmungen 
dauert  dieser  Zustand  unverändert  fort;  die  Möglichkeit  einer 
fortschreitenden  Aufhellung  dieses  geistigen  Dämmerlebens  ist 
für  immer  abgeschnitten.  Das  Bewusstsein  bleibt  von  einem  un- 
klaren Gemisch  einzelner  verschwommener  Vorstellungen  und 
dunkler  Gefühle  erfüllt,  in  welchem  keine  deutliche  Auffassung, 
keine  übersichtliche  Ordnung  und  Gruppierung  möglich  ist. 

Störungen  der  Aufmerksamkeit.  Die  Tatsache,  dass  nur  eine 
beschränkte  Zahl  von  psychischen  Gebilden  jeweils  in  unserem 
inneren  Blickfelde  vorhanden  ist,  bezeichnen  wir  als  die  „Enge 
des  Bewusstseins“.  Indem  die  ganze  Kette  unserer  psychischen 
Ereignisse  diese  Enge  durchwandert,  stellt  sich  unser  inneres 
Leben  als  ein  fortwährendes  Kommen  und  Gehen,  als  ein  Auf- 
tauchen und  Versinken  von  Seelenvorgängen  dar.  Zunächst  noch 
undeutlich  und  schwach,  tritt  ein  inneres  Erlebnis  nach  dem 
anderen  aus  dem  Dunkel  des  Unbewussten  empor,  um  nach  kurzer 
Zeit  die  höchste  Klarheit  und  Stärke  zu  erreichen,  dann  aber 
wieder  zu  versinken  und  dem  nächsten  Platz  zu  machen.  Auf 
dem  Plöhepunkte  seiner  Entwicklung  wird  dieser  Vorgang  be- 
stimmend für  die  Richtung  jener  inneren  Willenstätigkeit,  die 
wir  Aufmerksamkeit  nennen;  unsere  Sinneswerkzeuge  wen- 
den sich  dem  lebhaft  sich  aufdrängenden  Eindrücke  zu,  und  es 
tauchen  solche  Vorstellungen  auf,  die  den  V organg  verstärken, 
der  unsere  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  genommen  hat.  Diese 
Anspannung  der  Aufmerksamkeit,  die  sehr  verschiedene  Grade 
und  Richtungen  aufweisen  kann,  ist  von  gewissen  körperlichen 
Erscheinungen  begleitet,  die  deutlich  genug  ihre  Eigenschaft  als 
Willenshandlung  erkennen  lassen,  Innervationsempfindungen  in 
Auge  und  Ohr,  ja  ausgesprochene  Bewegungen,  Veränderungen 
der  Atmung  und  des  Pulses  wie  des  Blutdruckes. 

Die  Tätigkeit  der  Aufmerksamkeit  dient  aber  nicht  nur 
dazu,  den  auftauchenden  Seelenvorgang  zu  verstärken,  sondern 
sie  übt  auch  einen  sehr  entschiedenen  Einfluss  auf  die  weitere 
Gestaltung  der  Bewusstseinsvorgänge  aus.  Das  Anwachsen  und 
Schwinden  einer  Vorstellung  nimmt  eine  gewisse  Zeit  in  Anspruch. 
Nach  den  Erfahrungen,  die  über  die  Einwirkung  einer  Sinnes- 
wahrnehmung auf  die  Stärke  einer  ihr  folgenden  vorliegen,  dürfen 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


157 


wir  annehmen,  dass  die  grösste  Deutlichkeit  für  die  einzelnen 
Glieder  einer  Vorstellungsreihe  erreicht  wird,  wenn  sie  in  einem 
zeitlichen  Abstande  von  etwa  2 Sekunden  sich  aneinander  an- 
schliessen.  Diese  Zeit  scheint  somit  für  die  volle  Entwicklung 
einer  Vorstellung  erforderlich  zu  sein.  In  Wirklichkeit  folgen 
jedoch  die  einzelnen  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  weit 
rascher  aufeinander.  Das  ist  deswegen  möglich,  weil  die  Enge 
des  Bewusstseins  nicht  nur  für  ein  einziges  psychisches  Ge- 
bilde, sondern  für  eine  ganze  Anzahl  derselben  Raum  lässt, 
von  denen  allerdings  immer  nur  eines  jeweils  am  hellsten  be- 
leuchtet ist,  während  die  übrigen  entweder  erst  in  der  Entwicklung 
begriffen  sind  oder  schon  wieder  verblassen.  Wir  haben  es,  wie  man 
es  auszudrücken  pflegt,  nicht  mit  einem  inneren  Blick  punkte, 
sondern  mit  einem  Blick  f e 1 d e zu  tun,  in  welchem  neben  einer 
Stelle  von  höchster  Deutlichkeit  der  inneren  Wahrnehmung  die 
verschiedensten  Abstufungen  bis  zum  Unbewussten  zu  finden  sind. 

Die  Verstärkung  eines  auf  tauchenden  Eindruckes  durch  die 
Aufmerksamkeit  hat  ohne  Zweifel  die  Wirkung,  sein  Abblassen 
zu  verzögern.  Er  gewinnt  dadurch  einen  Einfluss  auf  die  nach 
ihm  entstehenden  psychischen  Gebilde,  deren  Entwicklung  er  je 
nach  seinen  inneren  Beziehungen  zu  ihnen  hemmen  oder  fördern 
kann.  Auf  diese  Weise  wird  die  ursprünglich  passive,  ziellose 
Aufmerksamkeit  zur  aktiven,  auswählenden.  Nicht  die  Stärke 
der  äusseren  Eindrücke,  sondern  weit  mehr  ihre  Begünstigung 
oder  Unterdrückung  durch  die  Aufmerksamkeit  werden  für  die 
innere  Erfahrung  massgebend. 

Der  Bewusstseinsinhalt  des  Kindes  steht  in  hilfloser  Ab- 
hängigkeit von  der  zufälligen  Umgebung;  es  nimmt  nur  die  jeweils 
stärksten  Reize  wahr,  ohne  Rücksicht  auf  den  inneren  Zusam- 
menhang der  Dinge,  weil  ihm  jene  allgemeinen  Vorstellungen 
fehlen,  welche  auch  die  weniger  aufdringlichen  Wahrnehmungen 
als  wesentliche  Glieder  in  der  Kette  der  Erfahrungen  hervortreten 
lassen.  Beim  Erwachsenen  dagegen  wird  der  Wahrnehmungs- 
vorgang mehr  und  mehr  durch  die  besonderen  Neigungen  be- 
herrscht, die  sich  allmählich  aus  der  persönlichen  Lebenserfahrung 
heraus  entwickeln.  Wir  üben  uns  darin,  einzelne  Eindrücke  vor- 
zugsweise zu  beachten,  indem  sich  die  Ansprechbarkeit  unseier 
Vorstellungen  für  sie  fortschreitend  verstärkt,  so  dass  schon 


158 


II.  Die  Erßcheinungen  des  Irreseins. 


leise  Anklänge  genügen,  um  in  unserem  Innern  lebhaften  Wider- 
hall zu  finden.  Andererseits  gewöhnen  wir  uns  daran,  all- 
tägliche Reize  unbeachtet  zu  lassen  und  ihnen  keinen  Einfluss 
auf  den  Ablauf  unserer  psychischen  Vorgänge  mehr  einzuräumen. 
Diese  Ausbildung  bestimmter  „Gesichtspunkte“,  gewisser  Rich- 
tungen unseres  „Interesses“,  führt  zu  einer  ausserordentlichen 
Veränderlichkeit  des  Schwellenwertes,  so  dass  wir  im  gleichen 
Augenblicke  sehr  starke  Reize  völlig  unbeachtet  lassen  können, 
wo  wir  die  feinsten  Veränderungen  irgend  eines  Gegenstandes 
mit  der  grössten  Schärfe  auffassen. 

In  krankhaften  Zuständen  kann  das  Verhalten  der  Aufmerksam- 
keit die  mannigfachsten  Störungen  darbieten.  Überall,  wo  die  psy- 
chische Ansprechbarkeit  überhaupt  herabgesetzt  ist,  in  allen  vor- 
geschrittenen Verblödungszuständen,  finden  vir  auch  eine  Ab- 
stumpfung der  Aufmerksamkeit.  An  die  Wahrneh- 
mungen knüpfen  sich  nicht  rasch  und  lebhaft  verstärkende  Erinne- 
rungsbilder an ; sie  gewinnen  keine  Beziehungen  zu  den  Erfahrungen 
des  Kranken  und  veranlassen  ihn  daher  auch  nicht,  aus  eigenem 
Antriebe  den  Ereignissen  weiter  zu  folgen.  In  der  Umgebung  eines 
verblödeten  Paralytikers  können  sich  die  aufregendsten  Vorgänge 
abspielen,  ohne  dass  sie  ihn  berühren,  auch  wenn  er  vielleicht 
Aufforderungen  und  Fragen  noch  aufzufassen  vermag.  Etwas 
anders  ist  die  sehr  ausgeprägte  Störung  der  Aufmerksamkeit 
zu  beurteilen,  die  wir  in  der  Dementia  praecox  so  ungemein 
häufig  beobachten,  in  der  Regel  schon  vom  ersten  Abschnitte 
der  Krankheit  an.  Auch  hier  erweisen  sich  die  Kranken, 
namentlich  in  den  Stuporzuständen,  vielfach  gegen  alle  Versuche, 
ihre  Aufmerksamkeit  zu  erregen,  völlig  unzugänglich,  so  dass 
selbst  Nadelstiche  und  Berührungen  der  Hornhaut  keinerlei  Wil- 
lensbewegung auslösen.  Allein  man  kann  sich  leicht  davon  über- 
zeugen, dass  keine  Abstumpfung  der  Aufmerksamkeit,  sondern 
eine  krankhafte  Unterdrückung  derselben  vorliegt.  Die  Kran- 
ken nehmen  oft  recht  gut  wahr,  was  um  sie  herum  vorgeht, 
aber  sie  sträuben  sich  unwillkürlich  gegen  jede  Beeinflussung  ihres 
Denkens  und  Handelns  durch  diese  Wahrnehmungen.  Auch  die 
äusseren  Zeichen  der  Aufmerksamkeitsspannung,  das  Hinwenden 
des  Kopfes  und  Blickes,  das  Einstellen  der  Blickrichtung,  an- 
scheinend auch  die  Veränderungen  von  Atmung  und  Puls,  fallen 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


159 


vollständig  fort.  Wir  wollen  diese  Störung,  die  durchaus  den 
negativistischen  Vorgängen  auf  anderen  Willensgebieten  ent- 
spricht, als  Sperrung  der  Aufmerksamkeit  bezeichnen. 

Ausser  lieh  ähnlich,  aber  dem  Wesen  nach  verschieden  ist  die 
Hemmung  der  Aufmerksamkeit,  der  wir  in  gewissen 
Stuporzuständen  des  manisch-depressiven  Irreseins  begegnen. 
Auch  hier  ist  es  schwer,  sich  mit  dem  Kranken  in  geistige  Ver- 
bindung zu  setzen,  aber  nur  deswegen,  weil  bei  ihm  der  innere 
Widerhall  fehlt,  der  die  Verknüpfung  der  äusseren  Eindrücke  mit 
dem  eigenen  Erfahrungsschätze  herstellt  und  dadurch  die  aus- 
wählende Tätigkeit  der  Aufmerksamkeit  anregt.  Das  Auftauchen 
von  Vorstellungen  ist  erschwert,  aber  nicht  durch  Verödung  des 
geistigen  Lebens,  sondern  durch  Hemmungsvorgänge,  so  dass  die 
Wahrnehmungen  keinen  weiterreichenden  Einfluss  auf  das  innere 
Leben  gewinnen  können.  Dagegen  pflegen  die  äusseren  Zeichen 
der  Aufmerksamkeitsspannung,  im  Gegensätze  zu  den  Erfahrungen 
bei  der  Dementia  praecox,  erhalten  zu  sein;  die  Kranken  blicken 
fragend,  wenn  auch  verständnislos,  um  sich,  betrachten  die  dar- 
gebotenen Gegenstände,  wenden  den  Kopf  bei  Geräuschen  u.  s.  f. 

Eine  unmittelbare  Folge  der  Erschwerung  psychischer  An- 
knüpfungen, sei  es  durch  Abstumpfung  oder  Hemmung  der  Auf- 
merksamkeit, ist  der  Verlust  ihres  bestimmenden  Einflusses  auf 
die  Wahrnehmung.  Dabei  kann  sehr  wohl  der  einzelne  Eindruck 
noch  die  Aufmerksamkeit  erwecken  und  durch  sie  verstärkt 
werden,  aber  es  fehlt  die  Fortdauer  dieser  inneren  Bewegung  über 
den  Augenblick  hinaus  mit  ihren  Folgen  für  die  Auswahl  der 
kommenden  Wahrnehmungen.  Die  Kranken  verweilen  vielleicht 
längere  Zeit  bei  dem  einmal  dargebotenen  Eindrücke,  aber  sie 
können  ohne  weiteres  durch  einen  neuen  Reiz  abgezogen  werden, 
sofern  er  nur  kräftig  genug  ist.  Diese  Bestimmbarkeit 
der  Aufmerksamkeit  beobachten  wir  namentlich  bei  der 
Paralyse  und  beim  Altersblödsinn,  aber  auch  bei  den  erwähnten 
Stuporformen  des  manisch-depressiven  Irreseins  und  bei  manchen 
infektiösen  Schwächezuständen.  Die  Kranken  gleichen  in  gewisser 
Beziehung  dem  Kinde  ohne  Erfahrung,  bei  dem  eben  darum  keine 
Vorstellungen  und  Erinnerungen  geweckt  werden,  die  auf  die 
Richtung  der  Aufmerksamkeit  richtunggebend  wirken  könnten. 
In  denjenigen  geistigen  Schwächezuständen,  in  denen  sich  die 


160 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


geistige  Entwicklung  dauernd  auf  der  Stufe  des  Kindes  erhält, 
bleibt  auch  die  Aufmerksamkeit  zeitlebens  unselbständig  und  be- 
stimmbar. 

Eine  wesentlich  andere  Entstehungsweise  dürfte  diejenige 
Aufmerksamkeitsstörung  haben,  die  man  gewöhnlich  als  er- 
höhte Ablenkbarkeit  bezeichnet.  Es  handelt  sich  dabei 
um  einen  häufigen  Wechsel  in  der  Richtung  der  Aufmerksam- 
keit aus  inneren  und  äusseren  Beweggründen.  Während  die  Be- 
stimmbarkeit der  Aufmerksamkeit  wesentlich  durch  das  Fehlen 
solcher  Vorstellungen  bedingt  wird,  die  den  Auffassungsvorgang 
zu  beeinflussen  vermöchten,  haben  wir  es  hier  vermutlich  mit 
einer  grösseren  Flüchtigkeit  der  psychischen  Vorgänge  zu  tun. 
Dafür  spricht  der  Umstand,  dass  hier  die  Aufmerksamkeit  auch 
dann  rasch  von  einem  Eindrücke  zum  anderen  abspringt,  wenn 
man  sich  bemüht,  sie  in  derselben  Richtung  zu  erhalten.  Zudem 
finden  wir  diese  Störung  ganz  vorzugsweise  in  solchen  Zuständen, 
die  mit  den  Zeichen  einer  erhöhten  Erregbarkeit  einhergehen. 
Wir  dürfen  uns  daher  wohl  vorstellen,  dass  bei  der  erhöhten  Ab- 
lenkbarkeit der  Aufmerksamkeit  die  einzelnen  Eindrücke  rasch 
wieder  verblassen  und  daher  keinen  richtunggebenden  Einfluss 
auf  die  kommenden  Wahrnehmungen  gewinnen.  Sie  bilden  keine 
engverschlungene  Kette,  sondern  eine  lockere  Reihe  innerlich 
unverbundener  Einzelvorgänge. 

Die  leichtesten  Grade  dieser  Störung  begegnen  uns  in  jenem 
Zustande  von  Zerstreutheit,  der  sich  neben  den  Zeichen  einer 
gewissen  Unruhe  bei  der  Ermüdung  einzustellen  pflegt.  V ir 
bemerken  dabei,  dass  die  aufgenommenen  Eindrücke  eine  sehr 
geringe  Nachhaltigkeit  besitzen,  rasch  versinken  und  den  inneren 
Zusammenhang  verlieren.  Trotz  aller  Anstrengung  sind  wir  nicht 
mehr  imstande,  einer  Reihe  von  Ereignissen  planmässig  zu  folgen, 
sondern  ertappen  uns  immer  wieder  darauf,  dass  wir  durch  zu- 
fällige Nebendinge  abgezogen  werden  und  unsere  Aufgabe  nur 
bruchstückweise  erfassen.  Bei  der  chronischen  nervösen  Er- 
schöpfung kann  diese  Unfähigkeit  längere  Zeit  andauern,  ebenso 
in  der  Genesungszeit  nach  schweren  geistigen  oder  körperlichen 
Erkrankungen.  Weit  stärker  ausgeprägt  ist  die  erhöhte  Ablenk- 
barkeit in  den  Erregungszuständen  der  Paralyse,  bisweilen  auch 
der  Katatonie,  im  Collapsdelirium  und  bei  den  infektiösen  Geistes- 


Störungen  der  Aufmerksamkeit. 


161 


Störungen,  besonders  aber  in  der  Manie.  Hier  genügt  oft  schon 
ein  Zwischenruf,  ein  einzelnes  Wort,  das  Vorzeigen  irgend  eines 
Gegenstandes,  um  sofort  die  Richtung  der  Aufmerksamkeit  zu 
ändern.  Es  muss  allerdings  einstweilen  dahingestellt  bleiben,  ob 
es  sich  in  diesen  verschiedenartigen  Erkrankungen  überall  um 
dieselbe  Aufmerksamkeitsstörung  handelt. 

Als  dauernde  Eigentümlichkeit  findet  sich  erhöhte  Ablenk- 
barkeit der  Aufmerksamkeit  bei  gewissen  Formen  der  psycho- 
pathischen Veranlagung.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diese  Stö- 
rung auf  die  gesamte  geistige  Ausbildung  einen  weitreichenden 
Einfluss  ausüben  muss.  Je  ablenkbarer  ein  Mensch  ist,  je  mehr 
seine  Auffassung  durch  die  Zufälligkeiten  der  äusseren  Reize 
statt  durch  innere,  der  eigenen  Erfahrung  entspringende  Beweg- 
gründe geleitet  wird,  destoweniger  ist  er  imstande,  sich  eine  zu- 
sammenhängende und  einheitliche  Anschauung  von  der  Aussen- 
welt  zu  erwerben.  Bruchstückweise  und  unvermittelt  werden  sich 
die  einzelnen  verschiedenartigen  Wahrnehmungen  aneinander 
schliessen,  ohne  jenes  innere  Band,  welches  durch  die  planmässige 
Auswahl  nach  Massgabe  leitender  Allgemeinvorstellungen  gebildet 
wird.  Die  Auffassung  haftet  daher  immer  nur  an  Einzelheiten, 
ohne  einen  Überblick  über  das  Ganze  zu  vermitteln;  sie  wird  ober- 
flächlich und  flüchtig  und  dringt  nirgends  in  den  tieferen  Zusam- 
menhang der  Erscheinungen  ein.  So  kann  es  kommen,  dass  zwar 
die  Auffassung  des  einzelnen  Eindruckes  keine  wesentlichen  Stö- 
rungen darbietet,  während  doch  die  Unstetigkeit  der  Wahrneh- 
mung, die  vollkommene  Unfähigkeit,  zu  beobachten,  ein  tie- 
feres Verständnis  der  Aussenwelt  und  damit  die  höhere  geistige 
Ausbildung  überhaupt  unmöglich  macht. 

Man  hat  bisweilen  die  erhöhte  Ablenkbarkeit  als  eine  Stei- 
gerung der  Aufmerksamkeit,  als  „Hyperprosexie“,  aufgefasst.  Da 
aber  die  eigentümliche  Leistung  der  Aufmerksamkeit  gerade  in 
der  Beschränkung  der  Auffassung  auf  einzelne,  dann  freilich 
mit  höchster  Klarheit  erkannte  Eindrücke  liegt,  trifft  jene  Be- 
zeichnung das  Wesen  der  Störung  nicht.  Tatsächlich  können  wir 
uns  auch  leicht  davon  überzeugen,  dass  die  ablenkbaren  Kranken 
durchaus  nicht  mehr  oder  besser,  sondern  im  Gegenteil  weniger 
und  schlechter  auffassen.  Jeder  gesunde  Zuschauer  nimmt  in 
der  gleichen  Zeit  noch  ausserordentlich  vieles  wahr,  was  dem 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl.  11 


162 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Kranken  völlig  entgeht,  aber  er  nimmt  die  Mehrzahl  der  Ein- 
drücke einfach  zur  Kenntnis,  während  bei  dem  ablenkbaren 
Kranken  jede  neue  Wahrnehmung  sofort  die  Richtung  der  Auf- 
merksamkeit und  des  Gedankenganges  entscheidend  beeinflusst. 
Die  Ablenkbarkeit  ist  somit  nichts,  als  ein  Zeichen  geringerer 
psychischer  Widerstandsfähigkeit. 

Weit  eher  könnte  man  als  Hyperprosexie  jene  Fesselung 
der  Aufmerksamkeit  durch  einzelne  äussere  oder  innere 
Vorgänge  bezeichnen,  die  uns  für  andere  Wahrnehmungen  unzu- 
gänglich macht.  Dahin  gehört  die  fälschlicherweise  sogenannte 
Zerstreutheit  des  Gelehrten,  soweit  sie  auf  höchster  Einseitigkeit 
der  Aufmerksamkeitsrichtung  beruht.  Vielleicht  haben  wir  es 
auch  in  manchen  Krankheitszuständen  mit  derartigen  Vorgängen 
zu  tun.  So  sind  namentlich  deprimierte  Kranke  bisweilen  derart 
mit  ihren  traurigen  Vorstellungen  beschäftigt,  dass  sie  dadurch 
für  die  Eindrücke  der  Aussenwelt  gleichgültig  werden,  auch  wenn 
die  Auffassungsfähigkeit  an  sich  keine  erheblichen  Störungen  dar- 
bietet. In  manchen  deliriösen  und  stuporösen  Zuständen  dürfte 
die  schwere  Beeinträchtigung  der  Auffassung  zum  Teil  vielleicht 
auch  durch  die  Lebhaftigkeit  der  inneren  Vorgänge  mit  bedingt 
werden,  durch  die  Sinnestäuschungen  und  Einbildungsvorstel- 
lungen, welche  die  Aufmerksamkeit  ganz  in  Anspruch  nehmen. 
Am  wenigsten  scheint  das  im  katatonischen  Stupor  der  Fall  zu 
sein,  bei  dem  übrigens  auch  die  Auffassungsfähigkeit  gar  keine 
oder  doch  verhältnismässig  unbedeutende  Störungen  darzu- 
bieten pflegt. 


B.  Störungen  der  Yerstandestätigkeit. 

Der  von  den  Sinnen  gelieferte  und  durch  die  Aufmerksamkeit 
geklärte  Erfahrungsrohstoff  bildet  die  Grundlage  aller  weiteren 
geistigen  Arbeit  und  somit  auch  des  gesamten  Vorstellungs- 
schatzes des  Menschen.  Man  begreift  daher,  dass  die  aufgeführten 
Störungen  der  Sinneserkenntnis,  wie  sie  durch  die  Sinnestäu- 
schungen, durch  Verdunkelung  des  Bewusstseins,  endlich  durch 
die  Unfähigkeit  zu  planmässiger  Auswahl  der  Eindrücke  erzeugt 
werden,  nicht  ohne  die  weitreichendsten  Folgen  für  die  Gestal- 


Störungen  der  Aufmerksamkeit;  Störungen  des  Gedächtnisses. 


tung  des  Bewusstseinsinhaltes  und  der  psychischen  Persönlich- 
keit bleiben  können.  Je  unvollkommener  und  verfälschter  die 
Nachrichten  von  der  Aussenwelt  zur  Wahrnehmung  gelangen, 
desto  lückenhafter  und  unzuverlässiger  wird  die  Anschauung 
bleiben,  welche  sich  im  Bewusstsein  des  Menschen  von  seiner 
Umgebung,  vom  eigenen  Ich  und  von  der  Stellung  dieses  letzteren 
zu  seiner  Umgebung  entwickelt.  Dazu  kommt,  dass  zu  jenen 
Störungen,  welche  die  Sammlung  des  Erfahrungsstoffes  beeinträch- 
tigen, fast  ausnahmslos  sich  noch  solche  gesellen,  die  eine  weitere 
Verarbeitung  desselben  in  krankhafter  Weise  beeinflussen. 

Störungen  des  Gedächtnisses-  Die  allgemeinste  Grundlage 
aller  geistigen  Tätigkeit  ist  das  Gedächtnis*).  Jeder  einmal 
ins  Bewusstsein  getretene  Eindruck  hinterlässt  auch  nach  seinem 
Schwinden  aus  demselben  eine  allmählich  schwächer  werdende 
Spur,  die  seine  Wiedererneuerung  durch  eine  zufällige  Vorstel- 
lungsverbindung oder  durch  eine  Willensanstrengung,  das  Be- 
sinnen, erleichtert.  Diese  bleibende  Spur,  welche  die  einmal  ge- 
machte Wahrnehmung  auf  längere  Zeit  hinaus  dem  Erfahrungs- 
schätze des  Menschen  einreiht  und  sie  seinem  Gedächtnisse  zur 
Verfügung  stellt,  erhält  sich  im  allgemeinen  um  so  stärker  und 
länger,  je  klarer  der  ursprüngliche  Eindruck  aufgefasst  worden 
und  je  allseitiger  er  zu  dem  übrigen  Bewusstseinsinhalte  in  Be- 
ziehung getreten  war,  je  mehr  er,  mit  anderen  Worten,  das 
Interesse  des  Menschen  erregt  hatte.  Ferner  aber  wird  die 
Festigkeit,  mit  welcher  frühere  Eindrücke  haften,  in  hohem 
Masse  durch  Wiederholungen  derselben  verstärkt.  Die  ungeheure 
Mehrzahl  unserer  Vorstellungen  und  selbst  ein  grosser  Teil  der 
Vorstellungsverbindungen,  mit  denen  wir  tagtäglich  arbeiten,  ist 
uns  so  geläufig,  dass  sie  ohne  irgendwelches  Besinnen,  von  selbst, 
in  uns  auftauchen,  sobald  sich  irgend  eine  Anregung  dazu  bietet. 

Die  Betrachtung  der  Gedächtnisstörungen  hat  daher  zwei 
ganz  verschiedene  Leistungen  auseinanderzuhalten,  die  unab- 
hängig voneinander  beeinträchtigt  sein  können.  Die  erste  der- 
selben ist  die  von  Wernicke  so  bezeichnete  Merkfähig- 
keit**), die  Einprägung  und  das  Festhalten  bestimmten,  neu 

*)  R i b o t , Das  Gedächtnis  und  seine  Störungen.  1882. 

**)  Kraepelin,  Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  VIII,  245.  1900;  Ransch- 
bürg,  ebenda,  IX,  241,  1901. 


11* 


164 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


dargebotenen  Erfahrungsstoffes.  Diese  Merkfähigkeit  ist  im  all- 
gemeinen am  grössten  für  Eindrücke,  die  mit  möglichster  Klar- 
heit aufgefasst  und,  noch  besser,  mit  Hilfe  der  auswählenden 
Aufmerksamkeit  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  verfolgt  wur- 
den. Alle  Bedingungen,  die  geeignet  sind,  die  Stärke  und  Schärfe 
der  Eindrücke  sowie  den  Widerhall  derselben  in  unserem  Seelen- 
leben abzuschwächen,  werden  somit  die  Merkfähigkeit  herab- 
setzen. Dahin  gehören  Erschwerungen  der  Auffassung  einerseits, 
Ablenkbarkeit  und  Gleichgültigkeit  andererseits.  Wir  beobachten 
daher  jene  Störung  bei  allen  ausgeprägteren  Bewusstseinstrü- 
bungen, in  geringerem  Grade  schon  bei  der  einfachen  Zerstreut- 
heit infolge  von  Ermüdung,  bei  Behinderung  der  Nasenatmung, 
ferner  bei  manischer  Erregung,  endlich  bei  vorgeschrittener  Ver- 
blödung, in  der  Paralyse,  beim  epileptischen  Schwachsinn  und  in 
denjenigen  Endzuständen  der  Dementia  praecox,  die  mit  einer 
Abstumpfung  der  Anteilnahme  an  der  Aussenwelt  einhergehen. 
Die  höchsten  Grade  der  Merkstörung  aber  treffen  wir  in  der 
Korssakow sehen  Krankheit  und  beim  Altersblödsinn,  insbeson- 
dere bei  der  Presbyophrenie  an,  auch  wenn  hier  die  geistige  Reg- 
samkeit und  die  Auffassungsfähigkeit  noch  ganz  gut  erhalten  ist. 
Nach  den  bisher  bei  solchen  Kranken  vorliegenden  Versuchen 
scheint  es  indessen,  dass  sich  bei  ihnen  die  Wahrnehmungen  un- 
gemein  langsam  entwickeln,  so  dass  bei  Reizen,  die  nur  sehr 
kurze  Zeit  einwirken,  eine  bedeutende  Herabsetzung  der  Auf- 
fassungsfähigkeit hervortritt.  Zugleich  vollzieht  sich  das  Ver- 
blassen der  Bewusstseinsvorgänge  unverhältnismässig  schnell. 
Gerade  dieser  Umstand  dürfte  für  die  geringe  Erneuerungsfähig- 
keit der  Erfahrungen  bei  den  genannten  Kranken  in  erster  Linie 
' verantwortlich  zu  machen  sein. 

Auch  bei  den  manischen  Kranken  scheint,  wie  die  erhöhte 
Ablenkbarkeit  dartut,  das  Verblassen  der  Vorstellungen  sich  rasch 
zu  vollziehen.  Wenn  trotzdem  ihre  Merkfähigkeit  verhältnismässig 
wenig  gestört  ist,  könnte  das  darauf  beruhen,  dass  die  Wahr- 
nehmungen sich  vorher  mit  genügender  Geschwindigkeit  ent- 
wickeln. Auf  der  anderen  Seite  ist  es  vielleicht  nicht  unnütz, 
darauf  hinzuweisen,  dass  im  gesunden  Leben  auch  unsere  Traum- 
erinnerungen eine  sehr  geringe  Festigkeit  darbieten.  Sie  er- 
reichen ja  an  und  für  sich  keine  grosse  Lebhaftigkeit  und  ver- 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


165 


sinken  in  der  Regel  ausserordentlich  schnell.  Namentlich  Worte 
und  Reden  aus  dem  Traume  sind  wir  gewöhnlich  auch  dann  nicht 
imstande,  wirklich  zu  behalten,  wenn  wir  sie  uns  schon  im  Halb- 
wachen durch  mehrfache  Wiederholung  einzuprägen  versucht 
haben. 

Da  schwere  Bewusstseinstrübungen  in  der  Regel  zeitlich  ziem- 
lich scharf  umgrenzt  zu  sein  pflegen,  so  kann  auch  die  Merk- 
fähigkeit nur  für  einen  bestimmten  Zeitabschnitt  herabgesetzt 
oder  aufgehoben  sein.  Auf  diese  Weise  entstehen  Erinnerungs- 
lücken, aus  denen  meistens  auf  eine  Aufhebung  des  Bewusstseins 
während  des  betreffenden  Zeitabschnittes  zurückgeschlossen  wird. 
Ja,  streng  genommen  ist  die  Erinnerungslosigkeit,  die 
Amnesie,  fast  der  einzige  Anhaltspunkt,  welcher  uns  mit  einiger 
Sicherheit  die  Annahme  einer  vorangegangenen  Bewusstlosigkeit 
gestattet.  Allein  die  tägliche  Erfahrung  des  Vergessens  von 
Träumen,  an  die  wir  bisweilen  nur  durch  einen  zufälligen  Eindruck 
wieder  erinnert  werden,  zeigt  uns,  dass  sehr  wohl  ein  psychisches 
Leben,  also  Bewusstsein,  bestehen  kann,  ohne  dass  doch  die 
Spuren  der  Eindrücke  und  Vorstellungen  fest  genug  im  Gedächt- 
nisse haften,  um  ohne  Schwierigkeit  eine  Wiedererneuerung 
zu  gestatten.  Ganz  ähnlich  sind  sicherlich  jene  Bewusst- 
seinsstörungen der  Epilepsie,  vieler  Delirien,  des  schweren  Rau- 
sches, des  Hypnotismus  zu  beurteilen,  in  denen  die  klinische  Be- 
obachtung häufig  genug  unzweideutige  Anzeichen  psychischer 
Tätigkeit  aufzufinden  vermag,  obgleich  nachher  nicht  die 
mindeste  Erinnerung  an  dieselbe  besteht  oder  wachgerufen 
werden  kann.  Für  diese  Auffassung  sind  besonders  wichtig  die 
bisweilen  beobachteten  Fälle,  in  denen  unmittelbar  beim  Ab- 
klingen der  Störung  noch  eine  gewisse,  späterhin  rasch  schwin- 
dende Erinnerung  an  das  Vorgefallene  möglich  ist,  oder  in  denen 
sie  durch  die  Hypnose  wieder  wachgerufen  wird.  Endlich  aber 
kann  durch  gewisse  krankhafte  Vorgänge  nachträglich  auch  noch 
dauernd  oder  vorübergehend  die  Erinnerung  an  Zeiten  ausgelöscht 
werden,  in  denen  zweifellos  keine  Bewusstseinsstörung  bestand. 
Eine  solche  „retrograde  Amnesie“*),  ein  rückschreitender  Erinne- 
rungsverlust, wird  nach  epileptischen,  hysterischen,  eklamp- 


*)  Paul,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXXII,  251.  1899. 


166 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


tischen,  paralytischen  Anfällen,  nach  Kopfverletzungen,  Er- 
hängungsversuchen  und  Vergiftungen  beobachtet.  Die  Kranken 
wissen  sich  nicht  nur  an  den  betreffenden  Vorfall,  sondern  auch 
an  die  Ereignisse  in  den  Stunden,  Tagen  und  selbst  Wochen  vorher 
nicht  mehr  zu  erinnern.  Bisweilen  taucht  späterhin  allmählich 
die  Erinnerung  mit  oder  ohne  suggestive  Nachhilfe  wenigstens 
teilweise  wieder  auf;  in  anderen  Fällen  ist  sie  für  immer  verloren 
gegangen. 

Wesentlich  verschieden  von  der  Merkfähigkeit  für  gegen- 
wärtige ist  die  Erinnerungsfestigkeit  vergangener  Eindrücke.  Sie 
hängt  nicht  nur  von  der  Merkfähigkeit  in  früheren  Zeiten, 
sondern  auch  von  der  Häufigkeit  der  voraufgegangenen  Wieder- 
holungen, endlich  von  der  Zähigkeit  des  Gedächtnisses  im  allge- 
meinen ab.  Wir  pflegen  die  Gedächtnisfestigkeit  zumeist  nach 
der  Sicherheit  zu  beurteilen,  mit  welcher  früher  gut  eingelernte 
Kenntnisse  noch  zur  Verfügung  stehen,  Lernstoff  aus  der  Schule, 
wichtige  persönliche  Erinnerungen  und  ähnl.  Wie  die  Erfahrung 
lehrt,  pflegt  Herabsetzung  der  Gedächtnisfestigkeit,  Gedächt- 
nisschwäche, gewöhnlich  mit  einer  Verminderung  der  Merk- 
fähigkeit einherzugehen,  nicht  aber  umgekehrt.  Die  Merkfähig- 
keit ist  beeinträchtigt  ohne  Gedächtnisschwäche  bei  den  vorüber- 
gehenden Bewusstseinstrübungen.  Ferner  beobachten  wir  ein 
Missverhältnis  zwischen  starker  Störung  der  Merkfähigkeit  und 
weit  geringerer  Gedächtnisschwäche  namentlich  im  höheren  Alter. 
Die  Auffassung  neuer  Eindrücke  geschieht  hier  gewohnheitsmässig 
ohne  rechte  innere  Anteilnahme,  und  die  Erneuerungsfähigkeit 
bleibt  daher  für  sie  eine  beschränkte,  während  so  oft  die  Erinne- 
rungen aus  vergangener  Zeit,  nicht  mehr  verdrängt  durch  frischen 
Erwerb,  mit  erstaunlicher  Lebhaftigkeit  und  Treue  im  Vorstel- 
lungsverlaufe wiederkehren.  Mit  dieser  Erfahrung  steht  die  Tat- 
sache in  bestem  Einklänge,  dass  von  allen  Vorstellungsverbin- 
dungen, mit  denen  wir  zu  arbeiten  pflegen,  etwa  70  Prozent  aus 
der  Jugend  stammen.  In  den  krankhaften  Störungen  des  Greisen- 
alters  tritt  das  geschilderte  Verhalten  oft  recht  auffallend  hervor, 
wenn  auch  mit  fortschreitender  Verblödung  mehr  und  mehr  die 
früheren  Erinnerungen  gleichfalls  verblassen.  Ähnlich  kann  in 
der  Paralyse  die  Merkfähigkeit  zunächst  sehr  viel  stärker  gestört 
sein,  bis  sich  später  auch  eine  rasch  zunehmende  Gedächtnis- 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


167 


schwäche  hinzugesellt.  Bei  der  Korssakow sehen  Geistes- 
störung kann  die  Erinnerungsschwäche  sich  bis  zu  einem  be- 
stimmten Lebensabschnitte  zurückerstrecken. 

Nur  kurz  erwähnt  soll  hier  noch  werden,  dass  ausser  den 
zeitlich  begrenzten  Erinnerungslücken  bekanntlich  auch  der 
Verlust  bestimmter  Gruppen  von  Vorstellungen  aus 
dem  Gedächtnisse  beobachtet  wird,  ein  Vorgang,  dessen  best- 
gekanntes Beispiel  die  amnestische  Aphasie,  die  Unfähig- 
keit zur  Wiedererzeugung  einzelner  oder  aller  sprachlicher  Klang- 
bilder darstellt,  und  der  sich,  wie  es  scheint,  in  ähnlicher  Weise 
auch  auf  anderen  Gebieten  abspielen  kann.  So  hat  W o 1 f f Fälle 
beschrieben,  in  denen  anscheinend  ganze  Klassen  sinnlicher  Er- 
innerungsbilder verloren  gegangen  waren,  während  die  Allgemein- 
vorstellungen fortbestanden.  Äusserst  merkwürdige  Beispiele 
ganz  umschriebenen  Vorstellungsausfalls  hat  ferner  Ri  eg  er  bei 
der  Untersuchung  eines  Falles  von  schwerer  Hirnverletzung  be- 
obachtet. Die  Deutung  solcher  Erfahrungen  ist  ausserordentlich 
schwierig.  Zumeist  pflegt  man  sie  auf  die  Unterbrechung  be- 
stimmter Leitungsbahnen  zu  beziehen,  doch  reicht  diese  Er- 
klärung höchstens  für  gewisse  sehr  grobe  Störungen  aus.  Be- 
achtenswert erscheint  es,  dass  auch  unter  gewöhnlichen  Ver- 
hältnissen das  Gedächtnis  für  verschiedene  Gruppen  von  Vor- 
stellungen bei  einzelnen  Personen  sehr  verschieden  entwickelt 
ist.  Das  Orts-,  Zahlen-  und  Namen-,  Farben-,  Tonhöhen-,  Formen- 
gedächtnis sind  anscheinend  in  hohem  Masse  voneinander  unab- 
hängig. Manche  Erfahrungen  sprechen  ferner  dafür,  dass  auch 
die  motorischen  und  sensorischen  Bestandteile  der  einzelnen  Vor- 
stellungen, die  sprachliche  Bezeichnung  und  die  sinnlichen  Ele- 
mente mit  verschiedener  Festigkeit  haften  können,  so  dass 
schliesslich  auch  eine  allgemeinere  Störung  je  nach  der  besonderen 
Zusammensetzung  der  gegebenen  Vorstellung  eigentümlich  be- 
grenzte Ausfallserscheinungen  zur  Folge  haben  könnte.  Für  die 
Psychiatrie  im  engeren  Sinne  sind  jedoch  derartige  Störungen 
noch  nicht  nutzbar  gemacht  worden. 

, Dagegen  sind  von  grosser  Bedeutung  jene  mannigfaltigen 
und  erheblichen  Störungen,  welche  die  Treue  der  Erinne- 
rung, die  inhaltliche  Übereinstimmung  des  Gedächtnisbildes 
mit  der  vergangenen  Erfahrung  bei  Geisteskranken  darbieten 


168 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


kann.  Wir  wissen  aus  Versuchen  wie  aus  alltäglichen  Er- 
fahrungen, dass  selbst  die  allereinfachsten  Erinnerungsbilder 
schon  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  niemals  vollständig  den 
Wahrnehmungen  gleichen,  sondern  sofort,  eben  durch  die  Auf- 
bewahrung im  Gedächtnisse  und  die  Einordnung  in  den  sonstigen 
Bewusstseinsinhalt,  sehr  beträchtliche  Wandlungen  durchzu- 
machen pflegen.  Man  denke  nur  daran,  wie  klein  dem  Er- 
wachsenen nach  langer  Abwesenheit  die  Grössenverhältnisse  er- 
scheinen, die  ihm  als  Kind  Eindruck  machten.  Mit  der  Ver- 
änderung des  allgemeinen  Grössenmassstabes  ist  hier  auch  das 
Erinnerungsbild  unvermerkt  gewachsen,  so  dass  dann  der  Wider- 
spruch desselben  mit  der  Wirklichkeit  völlig  überraschend  wirkt. 
Aber  auch  schon  die  einfache  Schilderung  eines  und  desselben 
Erlebnisses  durch  verschiedene  Personen  oder  durch  dieselbe 
Person  zu  verschiedenen  Zeiten*)  lehrt,  dass  die  Erinnerung  nichts 
weniger  ist,  als  ein  treues  Abbild  der  Wirklichkeit.  Sehr  wichtig 
ist  dabei  der  Umstand,  dass  die  innere  Sicherheit  der  Wieder- 
gabe durchaus  nicht  von  der  Übereinstimmung  mit  dem  Urbilde 
abhängig  ist.  Völlig  frei  erfundene  Züge  können  von  dem  Ge- 
fühle der  zuverlässigen  Erinnerung  begleitet  sein,  während  wirk- 
liche Gedächtnisspuren  vielleicht  unsicher  erscheinen.  Ja,  nicht 
selten  lässt  sich  nachweisen,  dass  gerade  solche  Einzelheiten, 
die  mit  besonderer  Klarheit  in  der  Erinnerung  hervortreten,  nicht 
der  Wirklichkeit  entsprechen.  Diese  Erfahrung  mahnt  zur  Vor- 
sicht bei  der  Annahme  einer  „Hypermnesie“,  einer  krankhaften 
Steigerung  der  Erinnerungsfähigkeit.  Wenn  sich  auch  einzelne 
Ereignisse  mit  sehr  starker  Gefühlsbetonung  unter  Umständen 
sehr  fest  einprägen  und  mit  quälender  Deutlichkeit  -nieder  her- 
vortreten können,  wird  man  bei  auffallend  ins  einzelne  gehender 
Erinnerung  in  der  Regel  mit  Fälschungen  zu  rechnen  haben. 

Durch  die  krankhaften  Veränderungen  der  psychischen  Per- 
sönlichkeit werden  sehr  häufig  nachträglich  auch  die  Erinnerungen 
aus  der  Vergangenheit  verfälscht.  In  besonders  hohem  Masse  ge- 
schieht das  durch  gemütliche  Einflüsse,  namentlich  durch  die 
Regungen  der  Eigenliebe.  Bei  Menschen  mit  lebhafter  Einbildungs- 
kraft und  ausgeprägtem  Selbstgefühl  erfahren  die  früheren  Erleb- 


*)  Stern,  Zur  Psychologie  der  Aussage.  1902. 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


169 


nisse  ganz  unvermerkt  sehr  tiefgreifende  Wandlungen  in  dem 
Sinne,  dass  allmählich  die  eigene'  Person  immer  mehr  in  den  Vorder- 
grund rückt.  Die  Schatten  verwischen  sich,  und  das  Licht  der  eigenen 
Vortrefflichkeit  strahlt  heller  und  heller.  Unter  Umständen  kann 
es  bei  diesem  unwillkürlichen  Bestreben  nach  Selbstverherrlichung 
geradezu  bis  zur  Erfindung  oder  doch  sehr  freien  Ausschmückung 
wirkungsvoller  Geschichten  kommen,  die  am  Ende  vom  Erzähler 
selbst  nahezu  für  wahr  gehalten  werden,  wie  bei  den  Münch- 
hausiaden  und  dem  Jägerlatein.  Sehr  hübsch  hat  Daudet  diesen 
Vorgang  bekanntlich  in  seinem  „Tartar in“  geschildert.  An- 
dererseits erscheint  dem  deprimierten  Kranken  sein  ganzes  Vor- 
leben als  eine  Kette  von  trüben  Erfahrungen  oder  schlechten 
Handlungen;  der  Verfolgungs-  und  der  Grössenwahn  werfen  ihren 
Schatten  zurück  auf  frühere  Zeiten  und  lassen  den  Kranken 
schon  in  der  Jugend  die  Andeutungen  eines  feindseligen  Verhaltens 
seiner  Umgebung,  auffallender  Beachtung  durch  hochgestellte 
Personen  oder  hervorragender  Leistungsfähigkeit  auf  den  ver- 
schiedensten Gebieten  menschlichen  Könnens  ausfindig  machen. 

In  der  Regel  handelt  es  sich  dabei  nur  um  „Paramnesien“, 
um  teilweise  Vermischung  wirklicher  Erlebnisse  mit  eigenen 
Zutaten,  also  um  einen  Vorgang,  der  in  gewissem  Sinne  etwa 
den  Illusionen  entsprechen  würde.  Bisweilen  jedoch  kommt  es 
auch  zu  „Hallucinationen  der  Erinnerung“  (Sully), 
zu  völlig  freier  Erfindung  scheinbarer  Reminiscenzen,  denen 
gar  kein  Vorbild  in  der  Vergangenheit  entspricht*).  So 
können  wir  uns  im  Traume  an  Vorkommnisse  mit  voller  Deut- 
lichkeit erinnern,  die  niemals  stattgefunden  haben;  ferner  sind 
wir  imstande,  derartige  Erinnerungsfälschungen  durch  Einreden 
in  der  Hypnose  zu  erzeugen;  hie  und  da  gelingt  es  auch  in  epi- 
leptischen oder  hysterischen  Dämmerzuständen.  Sehr  abenteuer- 
liche Erinnerungsfälschungen  pflegen  jene  Kranken  vorzubringen, 
die  ich  unter  dem  Namen  der  Dementia  paranoides  beschrieben 
habe.  Sie  erzählen  von  fabelhaften  Reisen,  die  sie  gemacht, 
wunderbaren  Erlebnissen,  gewaltigen  Kämpfen,  die  sie  über- 


*)  Kraepelin,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XVII  u.  XVIII;  Behr,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psych.,  LVI,  918;  Bernard-Leroy,  l’illusion  de  fausse  re- 
connaissance.  1898. 


170 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


standen,  schrecklichen  Verwundungen,  die  sie  erlitten  haben, 
und  lassen  sich  durch  Zwischenfragen  und  Einwürfe  zu  allen 
möglichen,  vielfach  einander  widersprechenden  Einzelangaben  ver- 
leiten. Meist  liegen  solche  Erlebnisse  Jahre,  selbst  Jahrhunderte 
oder  Jahrtausende  zurück.  Auch  bei  Paralytikern  ist  das  „Fabu- 
lieren“, die  Schilderung  frei  erfundener  Erlebnisse,  gelegentlich 
stark  ausgebildet,  namentlich  aber  bei  der  Korssako w sehen 
Geistesstörung  und  der  ihr  in  vielen  Punkten  so  ähnlichen  Pres- 
byophrenie. Hier  werden  die  Lücken,  welche  die  starke  Merk- 
störung bedingt,  aus  freien  Stücken  oder  auf  Anregung  glatt 
durch  Erinnerungsfälschungen  ausgefüllt,  die  sich  demgemäss  bis 
in  die  jüngste  Vergangenheit  hinein  erstrecken  können. 

In  manchen  Fällen  werden  die  Erinnerungsfälschungen  nicht 
frei  erzeugt,  sondern  sie  schliessen  sich  an  irgendwelche  zu- 
fällige äussere  Eindrücke  an  (associierende  Form).  Die  Kranken 
glauben  einzelne  Personen  oder  Gegenstände  ihrer  Umgebung 
früher  schon  einmal  gesehen  oder  von  ihnen  gehört  zu  haben, 
ohne  sie  doch  auf  wirkliche  Erinnerungsbilder  zu  beziehen.  Sie 
verkennen  daher  jene  Objekte  keineswegs,  wie  das  bei  den  Auf- 
fassungsverfälschungen, bei  der  Beeinflussung  von  Wahrneh- 
mungen durch  die  Erinnerung  der  Fall  war,  sondern  es  vollzieht 
sich  hier  der  umgekehrte  Vorgang:  an  die  vollkommen  scharf 
aufgefasste  Wahrnehmung  knüpft  sich  eine  durchaus  erfundene 
Erinnerung,  deren  vermeintliches  Vorbild  gewöhnlich  einige  Mo- 
nate oder  seltener  Jahre  zurückdatiert  wird.  Dabei  pflegt  das 
frühere  Erlebnis  meist  erst  nach  einigen  Stunden  oder  selbst 
Tagen  aufzutauchen,  dann  aber  rasch  volle  Deutlichkeit  zu  ge- 
winnen. Bisweilen  wird  das  Urbild  in  den  Traum  zurückverlegt,  so 
dass  die  Wirklichkeit  wie  eine  Erfüllung  des  Traumgesichtes  er- 
scheint. Behr  weist  darauf  hin,  dass  in  solchen  Täuschungen 
die  Erklärung  für  manche  „Wahrträume“  liegen  könne. 

Die  letzte  Form  der  Erinnerungsfälschung,  der  wir  hier  noch 
zu  gedenken  haben,  ist  am  besten  von  Sander  beschrieben 
worden.  Schon  im  gesunden  Leben  begegnet  es  uns  bisweilen, 
namentlich  in  der  Jugend  und  im  Zustande  einer  gewissen  Ab- 
spannung, dass  sich  uns  in  irgend  einer  Lage  plötzlich  die  Vor- 
stellung aufdrängt,  als  hätten  wir  dieselbe  schon  einmal  in  ganz 
derselben  Weise  erlebt.  Zugleich  haben  wir  eine  dunkle  Ahnung 


Störungen  des  Gedächtnisses. 


171 


dessen,  was  nun  voraussichtlich  kommen  wird,  ohne  uns  jedoch 
ein  klares  Bild  davon  machen  zu  können.  In  der  Tat  scheint 
uns  irgend  ein  alsbald  eintretendes  Ereignis  wirklich  unsere 
Ahnung  zu  erfüllen.  Auf  diese  Weise  stehen  wir  eine  kurze 
Zeitlang  gewissermassen  als  untätige  Zuschauer  dem  eigenen 
Vorstellungsverlaufe  gegenüber,  der  in  unbestimmten  Andeu- 
tungen dem  wirklichen  Gange  der  Dinge  vorauseilt,  bis  plötzlich 
die  ganze  Erscheinung  verschwindet.  Gefühle  einer  peinlichen 
Unsicherheit  und  Spannung  pflegen  sich  regelmässig  mit  derselben 
zu  verknüpfen. 

In  selir  ausgeprägter  Weise  wird  diese  Störung  hier  und  da 
unter  krankhaften  Verhältnissen,  besonders  bei  Epileptikern  im 
Zusammenhänge  mit  den  Anfällen,  beobachtet.  Was  dieselbe  von 
den  früher  genannten  Formen  der  Erinnerungsfälschung  unter- 
scheidet, ist  die  völlige  Gleichheit  der  gesamten  Si- 
tuation, unter  Einschluss  der  eigenen  Person,  mit  einer  an- 
scheinenden Erinnerung  (identificierende  Form).  Während  dort 
einzelne  Eindrücke  als  von  früher  her  mittelbar  oder  häufiger 
unmittelbar  bekannt  aufgefasst  werden,  ist  hier  die  ganze  Lage 
mit  allen  Einzelheiten  vermeintlich  nur  das  getreue  Abbild  eines 
völlig  gleichen  Erlebnisses  aus  der  eigenen  Vergangenheit.  So 
kommt  es,  dass  in  den  recht  seltenen  Fällen,  in  denen  sich  diese 
Fälschung  Wochen,  Monate,  ja  durch  Jahrzehnte  hindurch  f ort- 
spinnt, mit  einer  gewissen  Notwendigkeit  in  dem  Kranken  die 
Vorstellung  erzeugt  wird,  dass  er  ein  sich  selbst  wiederholendes 
Doppelleben  führt.  Pick  hat  sogar  einen  Fall  beschrieben,  bei 
dem  eine  Vervielfachung  der  Erinnerung  ein  trat.  Die  Grundlage 
dieser  Störung  ist  durchaus  dunkel.  Möglich  ist  es,  dass  bis- 
weilen wirkliche  verschwommene  Erinnerungen,  namentlich  aus 
Träumen,  auf  Grund  entfernter  Ähnlichkeiten  mit  der  vielfach 
nur  in  allgemeinen  Umrissen  aufgefassten  gegenwärtigen  Situa- 
tion fälschlich  in  Verbindung  gebracht  werden,  doch  dürfte  diese 
Erklärung  schwerlich  für  alle  Fälle  zutreffen.  Die  unangenehmen 
Erwartungsgefühle  lassen  sich  wohl  am  wahrscheinlichsten  auf 
das  vergebliche  Ringen  nach  einer  deutlichen  Auffassung  des  ver- 
schwommenen Bewusstseinsinhaltes  zurückführen. 

Störungen  der  Orientierung.  Die  fortlaufende  geistige  Ver- 
arbeitung der  Lebensereignisse  hat  die  Folge,  dass  wir  uns 


172 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


dauernd  über  die  jeweilige  allgemeine  Lage,  in  der  wir  uns  be- 
finden, und  über  die  Entwicklung  derselben  aus  vergangenen 
Ereignissen  Rechenschaft  zu  geben  vermögen.  Diese  Klarheit  der 
Beziehungen  zur  gegenwärtigen  Umgebung  wie  zur  Vergangen- 
heit bezeichnen  wir  als  Orientierung*).  Natürlich  haben 
wir  es  dabei  mit  einer  recht  verwickelten  geistigen  Leistung  zu 
tun,  an  deren  Zustandekommen  die  verschiedensten  Gebiete  unseres 
Seelenlebens  beteiligt  sind.  Zunächst  entwickelt  sich  die  zeit- 
liche Ordnung  unserer  Erfahrungen  aus  der  ununterbrochenen 
und  allseitigen  Verknüpfung,  welche  durch  das  Gedächtnis  zwi- 
schen allen  gleichzeitigen  und  unmittelbar  aufeinanderfolgenden 
Vorgängen  in  unserem  Bewusstsein  stetig  hergestellt  wird.  Auf 
diese  Weise  ordnet  sich  die  ganze  Summe  unserer  Erinnerungen 
in  eine  fortlaufende  Reihe  ein,  deren  Endpunkt  der  gegenwärtige 
Augenblick  bildet,  während  das  Anfangsglied  mehr  oder  weniger 
weit  in  die  Vergangenheit  zurückreicht.  Nur  die  jüngsten  Be- 
standteile dieser  Reihe  sind  jeweils  in  grösserer  Vollständigkeit 
und  Klarheit  Inhalt  unseres  Gedächtnisses;  je  weiter  wir  nach 
rückwärts  gehen,  desto  mehr  verwischen  sich  die  Einzelheiten, 
und  desto  rascher  schrumpft  die  Reihe  auf  vereinzelte,  besonders 
bedeutsame  Erinnerungstatsachen  zusammen,  an  welche  sich  ein 
Gemisch  von  Einzelreminiscenzen  in  mehr  oder  weniger  lockerer 
Weise  anknüpft.  Jene  Marksteine  sind  es,  welche  sich  in  bestimmte 
Beziehungen  zu  allgemeineren  Ereignissen,  insbesondere  zur 
Zeitrechnung,  setzen  und  uns  damit  eine  wenigstens  annähernde 
zeitliche  Ordnung  unserer  Erfahrungen  in  der  Vergangenheit 
ermöglichen. 

Auch  die  Klarheit  über  den  Ort,  an  dem  wir  uns  befinden, 
ist  zum  Teil  an  die  Leistungen  des  Gedächtnisses  geknüpft.  Einer- 
seits vermögen  wir  mit  Hilfe  früher  erworbener  Erinnerungs- 
bilder die  Einzelheiten  unserer  augenblicklichen  Umgebung  wieder- 
zuerkennen; andererseits  können  uns  die  vorangegangenen  Ereig- 
nisse auch  über  eine  uns  sonst  ganz  unbekannte  Umgebung  Klar- 
heit verschafft  haben,  wenn  eben  durch  jene  die  Ortsveränderung 
in  eindeutiger  Weise  vorbereitet  und  von  uns  vorausgesehen 
wurde.  Allerdings  werden  wir  weiterhin  für  die  örtliche  Orien- 


*)  F i n z i , Rivista  di  patologia  nervosa  e mentale,  IV,  8.  1899. 


Störungen  der  Orientierung. 


173 


tierung  vielfach  auch  der  Auffassung  eine  wesentliche  Rolle  bei- 
zumessen haben.  In  allen  Lebenslagen,  in  denen  wir  nicht  vorher 
wissen,  wohin  wir  kommen,  oder  durch  irgendwelche  Umstände 
in  unserer  Erwartung  getäuscht  worden  sind,  klärt  uns  die  Wahr- 
nehmung regelmässig  bald  über  die  wirkliche  Lage  auf,  indem 
sie  in  irgend  einer  Weise  die  Anknüpfung  der  neuen  Eindrücke 
an  frühere  Erfahrungen  herstellt.  Freilich  wird  es  sich  dabei 
öfters  nicht  um  eine  einfache  Deckung  der  gegenwärtigen  Um- 
gebung mit  Erinnerungsbildern  handeln,  sondern  das  Verständnis 
der  Umgebung  wird  vielleicht  erst  durch  mehr  oder  weniger 
umständliche  Überlegungen  und  Schlüsse  gewonnen.  Ganz  dasselbe 
gilt  für  die  Orientierung  über  die  Personen,  bei  der  ebenfalls 
Gedächtnis,  Auffassung  und  Urteil  Zusammenwirken  müssen. 

Aus  diesen  Darlegungen  geht  hervor,  dass  die  Orientierung 
unserer  Kranken  durch  sehr  verschiedene  Störungen  beeinträch- 
tigt werden  kann.  Es  empfiehlt  sich  daher  vielleicht,  ganz  all- 
gemein drei  Hauptformen  der  Desorientiertheit  auseinanderzu- 
halten, je  nachdem  die  Ursache  wesentlich  in  krankhaften  Ver- 
änderungen der  Auffassung,  des  Gedächtnisses  oder  des  Urteils 
liegt.  Im  einzelnen  Falle  kann  sich  dabei  recht  wohl  die  Wirkung 
mehrerer  dieser  Störungen  miteinander  verbinden.  Ferner  kann 
sich  der  Umfang  der  Störung  entweder  auf  alle  Gebiete  der 
Orientierung  erstrecken  oder  sich  auf  einzelne  Beziehungen  be- 
schränken, so  dass  wir  gänzliche  und  teilweise  Desorientierung 
auseinanderhalten  können. 

Das  Bild  der  Störung  ist  demnach  ein  sehr  verschiedenes, 
um  so  mehr,  als  die  Beeinträchtigung  der  psychischen  Leistungen, 
aus  der  die  Unklarheit  der  Kranken  hervorgeht,  sehr  mannig- 
facher Art  sein  kann.  So  kann  die  Auffassung  der  Umgebung 
dadurch  behindert  sein,  dass  die  Kranken  nicht  die  genügende 
geistige  Regsamkeit  besitzen,  um  die  äusseren  Eindrücke  zu  ver- 
arbeiten, durch  eine  Denkhemmung,  durch  Trübung  des  Bewusst- 
seins mit  oder  ohne  Verfälschung  der  Wahrnehmung.  Der  erste 
Fall  ist  sehr  häufig  in  der  Dementia  praecox.  Bei  dieser  apa- 
thischen Desorientierung  fehlt  den  Kranken,  obgleich  sie  ohne 
Schwierigkeit  wahrnehmen,  jede  Neigung,  sich  über  die  Bedeutung 
dessen,  was  sie  sehen  und  hören,  Rechenschaft  zu  geben,  so  dass 
sie  sich  nach  Wochen  oft  noch  nicht  darum  gekümmert  haben, 


174 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wo  sie  sich  befinden,  wer  die  Personen  ihrer  Umgebung  sind, 
wie  lange  Zeit  verflossen  ist.  Nur  scheinbar  ähnlich  ist  die 
Wirkung  der  Denkhemmung,  wie  sie  uns  im  manisch-depressiven 
Irresein  begegnet.  Hier  wird  die  zusammenhängende  Auffassung 
der  Umgebung  durch  die  Erschwerung  der  Denkarbeit  verhindert, 
so  dass  der  Zustand  der  Ratlosigkeit  entsteht.  Die  Kranken 
nehmen  wohl  Einzelheiten  wahr,  vermögen  sich  aber  aus  ihnen 
kein  Bild  ihrer  Lage  zusammenzusetzen.  Ähnlich  ist  vielleicht  die 
Desorientierung  bei  heftiger  manischer  Erregung  zu  beurteilen, 
die  ebenfalls  regelmässig  mit  starker  Erschwerung  der  Auffassung 
und  der  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke  einhergeht.  Auch  die 
verschiedenen  Formen  der  Bewusstseinstrübung,  wie  sie  bei 
Herderkrankungen,  bei  der  Epilepsie,  im  Rausche  beobachtet  wer- 
den, bedingen  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Beeinträchtigungen 
der  Orientierung.  In  den  deliriösen  Zuständen,  die  uns  als  selb- 
ständige Krankheitsbilder  hauptsächlich  bei  Infektionen  und  "Ver- 
giftungen sowie  bei  der  Epilepsie  und  Hysterie  begegnen,  tragen 
ausser  der  Unklarheit  der  Auffassung  noch  wirkliche  Trugwahr- 
nehmungen dazu  bei,  das  Bild  der  Umgebung  zu  trüben  und  zu 
verfälschen.  Wenn  man  will,  kann  man  alle  diese  Formen  der 
Desorientiertheit  als  stuporöse,  deliriöse,  hallucina- 
to rische  auseinanderhalten,  doch  wird  man  immer  zu  bedenken 
haben,  dass  im  einzelnen  Krankheitsfalle  die  Entstehung  der 
Störung  gewiss  niemals  ganz  einheitlich,  sondern  stets  durch  das 
Zusammenwirken  verschiedener  Ursachen  bedingt  ist. 

Ein  gutes  Beispiel  dafür  gibt  die  Desorientiertheit  im  Delirium 
tremens.  Hier  bestehen  Sinnestäuschungen  und  eine  Auffassungs- 
störung. Dennoch  ist  das  Missverhältnis  zwischen  der  Besonnenheit 
der  Kranken  und  ihrer  völligen  Unklarheit  über  ihre  ganze  Lage 
höchst  auffallend.  Zum  Teil  mag  hier  wohl  der  Umstand  eine 
Rolle  spielen,  dass  die  Auffassung  der  Lautsprache  weit  weniger 
gestört  ist,  als  diejenige  von  Gesichtseindrücken,  die  eben  bei 
der  Orientierung  von  besonderer  Wichtigkeit  sind.  Allein  die 
Kranken  kommen  auch  dann  nicht  zur  Klarheit,  wenn  man  sie 
über  ihre  Lage  eingehend  unterrichtet,  obgleich  sie  diese  Aus- 
einandersetzung ganz  gut  verstehen.  Die  inneren  deliriösen  Er- 
lebnisse verdrängen  rasch  wieder  die  Wirkung  der  aufklärenden 
Worte.  Dazu  kommt,  dass  der  Inhalt  dieser  letzteren,  wie  der 


Störungen  der  Orientierung. 


175 


wirklichen  Wahrnehmung  überhaupt,  nicht  haftet,  sondern  sehr 
bald  einfach  vergessen  wird.  Durch  diesen  letzteren  Umstand  wird 
besonders  die  kennzeichnende  Unklarheit  über  die  Erlebnisse  und 
die  zeitlichen  Verhältnisse  der  jüngsten  Vergangenheit  erzeugt. 

In  denjenigen  Fällen,  in  denen  sich  an  das  Delirium  tremens 
die  K o r s s a k o w sehe  Krankheit  anschliesst,  tritt  die  amne- 
stische Desorientiertheit,  wie  wir  sie  etwa  bezeichnen  können, 
immer  mehr  in  den  Vordergrund,  da  die  Störung  der  Auffassung, 
die  Sinnestäuschungen,  die  Delirien,  sich  ganz  oder  bis  auf  geringe 
Reste  verlieren  können.  Demgemäss  werden  die  Kranken  meist 
über  ihre  Umgebung  und  ihre  Lage  klar,  vermögen  sich  aber 
durchaus  nicht  in  der  Zeit  zurechtzufinden.  Sie  wissen  nicht, 
wann  sie  in  die  Anstalt  gekommen  sind,  wann  sie  zuletzt  Besuch 
gehabt,  ja  wann  sie  zu  Mittag  gegessen  haben,  da  die  Eindrücke  bei 
ihnen  zu  locker  haften,  um  sich  zu  jener  festgegliederten  Reihe 
aneinanderschliessen  zu  können,  welche  dem  rückschauenden 
Blicke  die  Abschätzung  der  Zeitlichen  Entfernung  von  der  Gegen- 
wart gestattet.  Ähnlich  wie  wir  uns  nach  einförmigen,  reizlosen 
Wochen  des  letzten  bedeutsamen  Ereignisses  entsinnen,  als  sei  es 
„erst  gestern“  gewesen,  so  erscheinen  diesen  Kranken  die  Monate, 
die  keine  bleibende  Spur  in  ihrer  Erinnerung1  zurückgelassen  haben, 
wie  wenige  Tage.  Oder  aber  die  Bilder  der  letzten  Vergangenheit 
verblassen  so  schnell,  dass  sie  ihnen  weit  zurückzuliegen  scheinen 
und  sie  sich  schon  Monate  in  der  Umgebung  glauben,  in  die  sie 
gerade  erst  eingetreten  sind.  Das  gewohnte  Mass  des  Wechsels 
der  Tageszeiten,  das  uns  vor  dem  unwillkürlichen  Schätzungs- 
fehler bewahrt,  hinterlässt  hier  keine  Spuren,  welche  eine 
zeitliche  Entfernungsschätzung  ermöglichen  könnten.  Auf  der 
anderen  Seite  wird  sie  durch  das  Auftauchen  von  Erinnerungs- 
fälschungen noch  ganz  besonders  erschwert. 

Noch  stärker  ausgeprägt  kann  die  amnestische  Desorien- 
tierung in  denjenigen  Formen  des  Altersblödsinns  sein,  die  wir 
mit  Wernicke  als  Presbyophrenie  bezeichnen.  Die  überaus 
starke  Merkstörung  macht  hier,  wohl  in  Verbindung  mit  einer 
Erschwerung  der  Auffassung,  gewöhnlich  auch  die  geistige  Ver- 
arbeitung der  augenblicklichen  Eindrücke  unmöglich,  so  dass  die 
Kranken  von  ihrer  Umgebung  kein  klares  Bild  zu  gewinnen  ver- 
mögen, obgleich  sie  Einzelheiten  ohne  erhebliche  Schwierigkeit 


176 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


verstehen.  Auch  die  bekannte  zeitliche  Desorientierung  der 
Paralytiker  ist  wesentlich  amnestischen  Ursprungs,  wenn  auch 
hier  die  Merkstörung  nur  ausnahmsweise  die  allerhöchsten  Grade 
erreicht.  Sie  erscheint  in  der  Regel  grösser,  als  sie  wirklich 
ist,  weil  sich  zu  ihr  die  Gleichgültigkeit,  der  Verlust  der  geistigen 
Regsamkeit  hinzugesellt,  der  die  Kranken  zu  willkürlicher  Ein- 
prägung der  äusseren  Eindrücke  mehr  oder  weniger  unfähig  macht. 

Als  eine  besondere  Form  der  amnestischen  Desorientierung 
können  wir  endlich  noch  jene  Unklarheit  über  Zeit  und  Umgebung 
betrachten,  die  durch  eine  Erinnerungslücke  erzeugt  wird.  Beim 
Erwachen  aus  dem  Schlafe  oder  aus  einer  Ohnmacht  empfinden 
wir  sofort  das  lebhafte  Bedürfnis,  uns  über  unsere  gesamte  Lage 
klar  zu  werden  und  damit  die  Anknüpfung  an  die  früheren  Er- 
lebnisse wieder  zu  gewinnen.  Haben  sich  inzwischen  eingreifende 
Veränderungen  abgespielt,  so  kann  die  Lösung  dieser  für  gewöhn- 
lich so  einfachen  Aufgabe  recht  schwierig  werden,  zumal  wenn 
zunächst  vielleicht  noch  gewisse  Behinderungen  der  Auffassung 
oder  des  Denkens  f ortbestehen.  Aus  diesen  Gründen  sehen  wir 
nach  länger  dauernden  Zuständen  schwerer  Bewusstseinstrübung 
und  dadurch  bedingten  Erinnerungslücken  sehr  gewöhnlich  eine 
Zeitlang  mangelhafte  Orientierung  andauern.  Unter  Umständen 
kann  dabei  auch  die  Nachwirkung  von  Täuschungen  und  Delirien 
aus  der  abgelaufenen  Störung  mitspielen. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung,  als  die  bisher  besprochenen 
Formen,  hat  endlich  die  wahnhafte  Desorientierung.  Hier 
ist  es  nur  die  geistige  Verarbeitung  der  an  sich  richtig  auf- 
gefassten  und  eingeprägten  Eindrücke,  die  nicht  zu  einer  Un- 
klarheit, sondern  zu  einer  falschen  Ansicht  über  Zeit  und  Um- 
gebung führt.  Eine  bewusste  Überlegung  braucht  dabei  nicht 
stattzufinden;  es  handelt  sich  nur  darum,  dass  sich  die  Kranken 
in  ausdrücklichen  Gegensatz  zum  Augenschein  und  zu  den  Aus- 
sagen ihrer  Umgebung  stellen.  Unter  Umständen  können  jedoch 
wohl  illusionäre  oder  hallucinatorische  Wahrnehmungen  den  be- 
sonderen Anstoss  zu  der  wahnhaften  Deutung  geben.  Hierher 
gehören  namentlich  viele  Personenverkennungen,  die  Angaben 
deprimierter  Kranker,  sie  seien  im  Gefängnis,  in  der  Hölle,  in 
einem  schlechten  Hause,  die  hartnäckigen  \ erschiebungen  von 
Tag  oder  Jahreszahl  bei  paranoiden  Kranken  u.  s.  f. 


Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe. 


177 


Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe. 

Die  einfachsten  Vorstellungen  enthalten  nur  Bestandteile  aus 
einem  einzigen  Sinnesbereiche.  Mit  dem  Fortschritte  der  gei- 
stigen Ausbildung  jedoch  entstehen  immer  verwickeltere  Gebilde, 
deren  einzelne  Glieder  den  verschiedensten  Gebieten  der  Sinnes- 
erfahrung entstammen.  Meistens  ist  dabei  wohl  der  Anteil,  welchen 
die  einzelnen  Sinne  liefern,  ein  sehr  verschiedener.  Nicht  nur 
kommt  gewissen  Gruppen  von  Wahrnehmungen  für  die  Vorstel- 
lungsbildung überhaupt  eine  weit  grössere  Bedeutung  zu,  als 
anderen,  sondern  es  hat  auch  den  Anschein,  als  ob  je  nach  der 
persönlichen  Anlage  bald  mehr  diese,  bald  mehr  jene  Gebiete 
der  Sinneserfahrung  bei  diesem  Vorgänge  bevorzugt  würden. 
Während  im  Vorstellungsleben  des  Einen  diejenigen  Bestandteile 
überwiegen,  die  durch  das  Auge  aufgenommen  wurden,  treten 
bei  Anderen  die  vom  Gehör  oder  durch  die  Bewegungsempfindungen 
gelieferten  Eindrücke  besonders  in  den  Vordergrund.  Bei  völligem 
Ausfall  ganzer  Sinnesgebiete  werden  auch  die  Vorstellungen  eine 
eigentümliche  Einseitigkeit  darbieten  müssen,  ja,  es  kann  der 
Fall  eintreten,  dass  sich  die  gesamten  Vorstellungen  ausschliess- 
lich aus  den  Wahrnehmungen  des  Tast-  und  Bewegungssinnes 
zusammensetzen  müssen.  Auch  in  diesem  Grenzfalle  ist  übrigens 
noch  eine  hohe  Entwicklung  des  Vorstellungslebens  möglich. 

Es  ist  erklärlich,  dass  unvollkommene  Ausbildung  und  ge- 
ringe Nachhaltigkeit  der  sinnlichen  Eindrücke  die  Entwicklung 
zusammengesetzter  Gestaltungen  unserer  Vorstellungstätigkeit  in 
hohem  Grade  beeinträchtigen  müssen.  Die  einzelnen  Wahr- 
nehmungsbestandteile treten  in  keine  näheren  Beziehungen  zu 
einander  und  zu  den  früheren  Erfahrungen;  vereinzelt  und  ohne  An- 
knüpfung nach  irgend  einer  Richtung  hin,  gehen  sie  in  dem  unter- 
schiedslosen Gemenge  rasch  und  vollständig  wieder  verloren.  Der- 
artige Zustände  haben  wir  wohl  bei  den  schwersten  Formen  des 
angeborenen  und  erworbenen  Blödsinns  tatsächlich  anzunehmen. 
Hier  findet  vielfach  eine  engere  Verknüpfung  der  einzelnen  Wahr- 
nehmungen überhaupt  nicht  statt.  Die  Glieder  der  Erfahrungs- 
kette schliessen  sich  nicht  aneinander,  sondern  jeder  Eindruck 
fällt  rasch,  wie  er  entstanden  war,  ungenutzt  wieder  dem  Ver- 
gessen anheim. 

Mit  der  reicheren  und  vielseitigeren  Ausbildung  der  Vor- 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl,  12 


178 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Stellungen  wird  der  Bau  derselben  notwendigerweise  immer 
verwickelter.  Die  Zahl  und  die  Verschiedenartigkeit  der  mit- 
einander verknüpften  Bestandteile  nimmt  zu,  so  dass  schliesslich 
der  ganze  Umfang  eines  derartigen  psychischen  Gebildes  sich  nicht 
mehr  ohne  weiteres,  sondern  nur  bei  der  Betrachtung  von  den 
verschiedensten  Seiten  her  vollständig  ermessen  lässt.  Gleich- 
zeitig verlieren  auch  die  einzelnen  Bestandteile  mehr  und  mehr 
ihre  sinnliche  Bestimmtheit,  da  sie  nicht  einem  einzelnen  Sinnes- 
eindrucke, sondern  vielfach  wiederholten  Wahrnehmungen  ent- 
sprungen sind.  Das  Zufällige  und  Nebensächliche  der  Einzel- 
erfahrungen verwischt  sich,  während  das  Wesentliche,  immer 
Wiederkehrende  sich  stärker  ausprägt  und  befestigt.  Auf  diese 
Weise  werden  eben  die  ursprünglichen  Erinnerungsbilder  zu  wirk- 
lichen Vorstellungen;  sie  sind  nicht  mehr  der  einfache  Nachklang 
einer  bestimmten  Sinneserfahrung,  sondern  der  allgemeine  Aus- 
druck sämtlicher  Erfahrungen  einer  gewissen  Art,  die  überhaupt 
auf  das  Bewusstsein  eingewirkt  haben. 

Dieser  Punkt  der  Entwicklung  ist  es,  an  welchem  die 
sprachlichen  Bezeichnungen  ihren  Einfluss  auf  das 
geistige  Leben  zu  entfalten  beginnen.  Der  Umfang  und  die  ä iel- 
seitigkeit  der  Sachvorstellungen  macht  es  unmöglich,  im  Ge- 
dankengange überall  den  gesamten  Niederschlag  einer  Erfahrungs- 
reihe nach  allen  Bichtungen  hin  ins  Bewusstsein  zu  rufen.  ä iel- 
mehr  tauchen  beim  Denken  zunächst  immer  nur  die  am  kräftigsten 
entwickelten  Bestandteile  eines  derartigen  psychischen  Gebildes 
auf,  wenn  nicht  durch  besonderen  Anlass  andere  Seiten  der  Vor- 
stellung mehr  in  den  Vordergrund  gedrängt  werden.  Bei  häufiger 
Wiederholung  dieses  Vorganges  werden  am  Ende  jene  stärker 
ausgebildeten  Teile  dauernd  zu  wirklichen  Vertretern  der  Ge- 
samtvorstellung. Mit  ihrer  Hilfe  sind  wir  dann  auch  jederzeit 
imstande,  die  verschiedenen  anderen  Seiten  des  ganzen  psychischen 
Gebildes  ins  Bewusstsein  zu  ziehen  und  deutlicher  zu  beleuchten. 

Die  Vertretung  der  Gesamtvorstellung  im  abgekürzten  Denk- 
verfahren kann  an  sich  natürlich  jedem  beliebigen  Bestandteile 
derselben  zufallen.  Auch  hier  bestehen  ohne  Zweifel  sehr  weit- 
gehende persönliche  Verschiedenheiten.  Zunächst  werden  wohl 
überall  einzelne  sachliche  Erinnerungsbilder,  bald  aus  diesem, 
bald  aus  jenem  Sinnesgebiete,  diese  Rolle  übernehmen,  ein  Ver- 


Störungen  in  der  Bildung  der  Vorstellungen  und  Begriffe. 


179 


halten,  welches  um  so  länger  und  ausgeprägter  fortbestehen  bleibt, 
je  besser  die  sinnliche  Einbildungskraft  entwickelt  ist.  Im  all- 
gemeinen aber  treten  an  die  Stelle  der  sachlichen  Erinnerungen 
immer  mehr  die  sprachlichen  Zeichen  derselben.  Je  umfassender 
die  einzelne  Vorstellung  wird,  je  allgemeiner  ihr  Inhalt,  desto 
mehr  verblasst  ihre  sinnliche  Färbung,  desto  grösser  wird  das 
Gewicht,  welches  in  ihr  die  immer  in  gleicher  Form  wiederholte 
sprachliche  Bezeichnung  gewinnt.  Die  höchsten  Entwicklungs- 
formen der  Verstandestätigkeit  pflegen  sich  daher  zum  guten 
Teile  ganz  ausserhalb  der  schwerfälligen  Sachvorstellungen  zu 
vollziehen  und  nur  hie  und  da  einmal  das  Gebiet  der  sinnlichen 
Erinnerungen  flüchtig  zu  streifen. 

Unter  krankhaften  Verhältnissen  kann  der  hier  geschilderte 
Entwicklungsgang  an  irgend  einem  Punkte  zum  Stillstände  kom- 
men. Bei  unvollkommener  geistiger  Veranlagung  bleibt  die  Aus- 
bildung der  Vorstellungen  auf  der  Stufe  der  sinnlichen  Erinne- 
rungsbilder stehen.  Die  Kranken  haften  an  der  Einzelerfahrung, 
ohne  das  Gemeinsame  aus  verschiedenen  gleichartigen  Eindrücken 
herausschälen  zu  können.  Sie  gewinnen  keinen  kurzen,  geschlos- 
senen Ausdruck  für  grössere  Erfahrungsreihen;  das  Unwesent- 
liche scheidet  sich  ihnen  nicht  vom  Wesentlichen,  das  Allgemeine 
nicht  vom  Besonderen.  Das  gesamte  Denken  vermag  sich  daher 
nicht  über  das  Gebiet  des  unmittelbar  sinnlich  Gegebenen  hinaus 
zur  Erfassung  höherer  und  weitblickender  Gesichtspunkte  zu  er- 
heben. Daraus  ergibt  sich  notwendig  die  Beschränkung  der  ge- 
samten Lebenserfahrung  auf  den  nächsten  und  engsten  Kreis, 
die  Unfähigkeit  zur  Ausbildung  allgemeiner  Begriffe,  welche 
als  Grundlage  einer  abstrakteren  Gedankenarbeit  zu  dienen 
vermöchten. 

Bei  der  grossen  Bedeutung,  welche  das  vorhandene  Wissen 
für  die  Sammlung  neuer  Erfahrungen  besitzt,  muss  die  mangelhafte 
Ausbildung  von  Allgemeinvorstellungen  das  Anwachsen  des  Vor- 
stellungsschatzes in  sehr  ungünstiger  Weise  beeinflussen.  Frühere 
Erfahrungen  schärfen  unseren  Blick  für  andere  ähnliche  Ein- 
drücke; Neues  wird  weit  leichter  auf  genommen  und  festgehalten, 
sobald  es  sich  an  Bekanntes  anknüpfen,  in  bestehende  Gedanken- 
kreise einordnen  kann.  Je  reicher  der  Vorstellungsschatz  ist, 
desto  aufnahmefähiger  wird  er  für  jede  neue  Bereicherung,  weil 

12* 


180 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  Beziehungen  des  Seelenlebens  zur  Aussenwelt  immer  zahl- 
reichere und  vielseitigere  werden.  So  kommt  es,  dass  die  unvoll- 
kommene Entwicklung  der  Vorstellungen  selbst  zugleich  die 
Empfänglichkeit  für  neue  Eindrücke  herabsetzt.  Sie  finden  keine 
Anknüpfung  im  Erfahrungsschätze,  werden  nicht  fest  eingegliedert 
und  gehen  daher  rasch  und  leicht  wieder  verloren.  Zu  der  sinn- 
lichen Beschränktheit  des  Gedankenganges  gesellt  sich  daher 
regelmässig  Enge  des  Gesichtskreises,  Vorstellungsarmut  und  Ge- 
dächtnisstumpfheit. 

Natürlich  treten  alle  diese  Störungen  in  ausgeprägter  Form 
nur  dort  hervor,  wo  die  krankhafte  Grundlage  von  Jugend  auf 
besteht.  Beim  erworbenen  Schwachsinn  wird  der  Vorrat  früherer 
Erfahrungen  die  Unfähigkeit  zur  Aufnahme  neuer  Eindrücke,  zur 
Bildung  neuer  Vorstellungen  lange  Zeit  hindurch  mehr  oder  weniger 
vollständig  verdecken  können.  Im  weiteren  Verlaufe  freilich  wird 
man  jene  Störungen  allmählich  immer  deutlicher  sich  geltend 
machen  sehen.  Bei  der  Paralyse,  bei  der  Dementia  praecox,  beim 
Altersschwachsinn  beobachten  wir  in  gleicher  Weise,  wie  der 
Vorstellungskreis  sich  einengt,  wie  die  allgemeineren,  begriff- 
lichen Gedankengänge  zurücktreten  gegenüber  dem  Greifbaren, 
Alltäglichen  und  Naheliegenden.  Neue  Eindrücke  werden  nicht 
mehr  aufgenommen  und  verarbeitet,  und  die  jüngsten  Erfah- 
rungen werden  schnell  vergessen,  auch  wenn  die  Erinnerungen 
aus  vergangenen  Tagen  noch  mit  überraschender  Festigkeit  und 
Treue  haften. 

Kaum  weniger  verderblich,  als  die  mangelnde  Ausbildung  der 
Vorstellungsverbindungen,  pflegt  für  das  Seelenleben  die  krank- 
hafte Beweglichkeit  der  psychischen  Gebilde  zu  werden,  welche 
mit  verwegener  Leichtigkeit  die  verbindende  Brücke  zwischen 
den  verschiedenartigsten  Erfahrungen  zu  schlagen  weiss.  Hier 
genügen  schon  entfernte  Ähnlichkeiten  und  teilweise  Überein- 
stimmungen, um  zwei  Vorstellungen  in  nahe  Beziehungen  zu 
setzen;  der  Mangel  an  Zwischengliedern  wird  rasch  durch  immer 
bereite  Vermutungen  ergänzt,  und  die  Widersprüche  werden  in 
mehr  oder  weniger  freier  Umgestaltung  verwischt.  So  entwickelte 
mir  ein  kranker  Ingenieur  einmal  an  der  Hand  umfangreicher  und 
sehr  eingehender  Zeichnungen  die  Idee,  durch  die  verschieden- 
artige Anordnung  gewisser  schmückender  Bauglieder  ganze  Musik- 


Störungen  des  Gedankenganges. 


181 


stücke  in  übertragener  Form  wiederzugeben  und  auf  diese  Weise 
Auge  und  Ohr  gleichzeitig  künstlerisch  anzuregen.  Eine  solche 
Willkürlichkeit  der  Ideenverbindung  macht  natürlich  bei  der  Be- 
griffsbildung eine  Auswahl  des  Zusammengehörigen  und  die  Aus- 
scheidung des  Unwesentlichen,  Entlegenen,  fast  gänzlich  unmög- 
lich. Die  Begriffe  müssen  auf  diese  Weise  durchaus  jener  Schärfe 
und  Klarheit  entbehren,  welche  sie  zur  Grundlage  höherer  Geistes- 
arbeit tauglich  macht ; sie  werden  verschwommene  und  un- 
klare psychische  Gebilde,  mit  deren  Hilfe  nur  einseitige  und 
verschrobene  Urteile  von  zweifelhaftem  Werte  sowie  unbestimmte 
und  unsichere  Analogieschlüsse  zu  stände  kommen  können,  sobald 
sich  der  Gedankengang  aus  dem  Bereiche  der  unmittelbaren  Sinnes- 
erfahrung entfernt.  Als  klinischen  Ausdruck  der  hier  geschil- 
derten Störung  können  wir  den  Hang  zum  Schwärmen  und  Träu- 
men, den  Mangel  des  Sinnes  für  Tatsachen  und  Einzelheiten,  die 
Verzettelung  der  geistigen  Arbeitskraft  in  unausführbaren  Plänen 
und  Hirngespinsten  betrachten.  Diese  Eigentümlichkeiten  bilden 
das  Kennzeichen  gewisser  psychopathischer  Persönlichkeiten;  wir 
begegnen  ihnen  ferner  auch  bei  Verrückten  und  in  den  paranoiden 
Zuständen. 

Störungen  des  Gedankenganges.  Die  Verbindung  der  fertigen 
Vorstellungen  untereinander  vollzieht  sich  nach  bestimmten  Ge- 
setzen, die  uns  wenigstens  in  ihren  allgemeinen  Zügen  bekannt 
sind.  Wir  können  zunächst  zwei  grosse  Gruppen  von  Vorstel- 
lungsverbindungen auseinanderhalten,  die  äusseren  und  die 
inneren.  Bei  jenen  ersteren  wird  die  Verknüpfung  der  beiden  Vor- 
stellungen nur  durch  eine  rein  äusserliche,  zufällige  Beziehung 
vermittelt,  während  wir  es  bei  den  inneren  Associationen  mit 
sachlichen,  aus  dem  Inhalte  der  Vorstellungen  selbst  hervor- 
wachsenden Zusammenhängen  zu  tun  haben.  Im  einzelnen  gliedern 
sich  beide  Hauptgruppen  noch  weiter  in  Unterformen  je  nach 
der  Art  des  verknüpfenden  Bandes*).  Eine  äusserliche  Verbindung 
kann  zunächst  hergestellt  werden  durch  häufige  Vergesellschaf- 
tung derselben  Eindrücke.  Dies  geschieht  z.  B.  dann,  wenn  zwei 
Wahrnehmungen  oft  oder  regelmässig  in  nahe  räumliche  oder 


*)  Aschaffenburg,  Experimentelle  Studien  über  Associationen, 
Psychologische  Arbeiten,  I,  2;  II,  1;  IV,  2. 


182 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zeitliche  Beziehung  zu  einander  treten.  Haus  und  Fenster,  Blitz 
und  Donner  entsprechen  dieser  Bedingung.  Ein  ganz  ähnlicher, 
aber  noch  äusserlicherer  Zusammenhang  kann  sich  durch  die 
sprachliche  Einübung  herausbilden.  Bestimmte  Wort-  und  Satz- 
verbindungen befestigen  sich  bei  uns  durch  häufige  Wiederholung 
derart,  dass  jeder  Bestandteil  derselben  die  übrigen  regelmässig 
auch  ins  Bewusstsein  ruft.  Dahin  gehören  die  Wortzusammen- 
setzungen, die  stehenden  Redensarten,  die  Citate.  Vielfach  hat 
sich  in  diesen  Verbindungen  die  Denkarbeit  früherer  Geschlechter 
niedergeschlagen;  dem  sprachlichen  entspricht  zugleich  ein  sach- 
licher Zusammenhang.  Für  uns  aber  ist  diese  innere  Verbindung 
längst  in  den  Hintergrund  getreten  gegenüber  der  einfachen, 
gedankenlosen  sprachlichen  Gewöhnung.  In  noch  höherem  Grade 
ist  das  der  Fall,  wenn  der  einzelne  Bruchteil,  wde  nicht  selten, 
völlig  sinnlos  ist  und  nur  durch  die  mechanische  Anfügung  des 
Fehlenden  zu  einem  sinnvollen  Ganzen  wird.  Diese  letztere  Form 
der  äusseren  Vorstellungsverbindungen  bildet  bereits  den  Über- 
gang zu  den  für  die  Psychiatrie  besonders  wichtigen  Klang- 
associationen.  Bei  diesen  handelt  es  sich  um  die  Verknüpfung 
zweier  Vorstellungen  lediglich  auf  Grund  des  sprachlichen  Gleich- 
klanges. Übereinstimmung  einzelner  Buchstaben  oder  besser 
Sprachbewegungen,  nicht  selten  in  der  Form  des  Reims,  genügt 
hier,  die  verbindende  Brücke  zu  schlagen,  ganz  ohne  jede  Rück- 
sicht auf  den  Inhalt.  Auch  hier  wird  die  Eigenart  des  Vorganges 
am  klarsten  in  jenen  Beispielen,  in  denen  der  associierte  Gleich- 
klang überhaupt  keinen  sprachlichen  Inhalt  mehr  besitzt,  sondern 
völlig  sinnlos  ist. 

Bei  der  zweiten  grossen  Gruppe  von  A^orstellungsverbin- 
dungen  begegnet  uns  zunächst  die  Verknüpfung  nach  Über- 
leben- und  Unterordnung.  Der  Entwicklungsgang  der  Vorstel- 
lungen vollzieht  sich  ja  in  der  Weise,  dass  wir  von  sinnlichen 
Einzelerfahrungen  durch  Eingliederung  ähnlicher  Eindrücke  all- 
mählich zu  einer  Stufenleiter  von  immer  allgemeineren  Vor- 
stellungen gelangen.  Alle  einzelnen  Glieder  dieser  Entwicklung 
stehen  naturgemäss  miteinander  in  näherer  oder  fernerer  Ver- 
bindung, so  dass  unser  Gedankengang  jederzeit  den  Schritt  vom 
Besonderen  zum  Allgemeinen  wiederholen  kann,  mit  dem  er  einst- 
mals seine  Ausbildung  begonnen  hat.  Der  gleiche  Weg  ist  aber 


Störungen  des  Gedankenganges. 


183 


auch  in  umgekehrter  Richtung  gangbar,  und  endlich  vermögen 
wir  dauernd  den  Vorgang  zu  erneuern,  der  uns  von  Anfang  an 
die  Verknüpfung  innerlich  übereinstimmender  Erfahrungen  unter- 
einander ermöglichte.  Alle  diese  Verbindungen  bilden  zusammen 
die  psychologische  Grundlage  derjenigen  Urteile,  welche  das 
gegenseitige  Verhältnis  unserer  Vorstellungen  zu  einander  von 
den  sinnlich  einfachsten  zu  den  verwickeltsten  und  allgemeinsten 
Formen  zum  Ausdrucke  bringen. 

Demgegenüber  können  wir  eine  andere  Form  der  inneren 
Associationen  wohl  als  die  Vorstufe  jener  Urteile  auf  fassen,  bei 
denen  es  sich  um  die  Bereicherung  unserer  Vorstellungen  durch 
neue  Bestandteile  handelt.  Wir  bezeichnen  diese  Vorstellungs- 
verbindungen vielleicht  am  besten  als  prädikative.  Sie  fügen  zu 
einer  gegebenen  Vorstellung  irgend  ein  Merkmal  hinzu,  welches 
nicht  notwendig  zur  Begriffsbestimmung  gehört,  sondern  eine 
mehr  oder  weniger  eng  begrenzte  Gruppe  von  Einzelerfahrungen 
aus  der  Gesamtzahl  der  Vorstellungsbestandteile  heraushebt. 
Diese  beschränkte  Aussage  kann  dabei  sowohl  gegenwärtigen  Ein- 
drücken wie  der  Erinnerung  entnommen  werden.  Die  prädikativen 
Associationen  enthalten  demnach  meist  Eigenschaften,  Zustände, 
Tätigkeiten,  durch  welche  die  vorauf  gehende  Vorstellung  nach 
irgend  einer  Richtung  hin  näher  bestimmt  wird.  Es  werden  ge- 
wisse Bestandteile  derselben,  seien  sie  längst  oder  gerade  erst 
erworben,  heller  beleuchtet,  die  an  sich  beim  Auf  tauchen  jener 
Vorstellung  nicht  mit  ins  Bewusstsein  getreten  wären.  So  wird 
etwa  die  Vorstellung  Hund  in  uns  neben  der  sprachlichen  Be- 
zeichnung durch  die  allgemeinen  Umrisse  des  Tieres  vertreten; 
vielleicht  werden  wir  uns  dabei  noch  dunkel  dessen  bewusst,  dass 
der  Hund  ein  Tier,  dass  er  schwarz  gefärbt  ist,  dass  er  läuft. 
Alle  diese  unklaren  Bestandteile  der  Hauptvorstellung  können 
durch  den  weiteren  Verlauf  des  Gedankenganges  zur  deutlichen 
Ausprägung  gebracht  werden.  Nur  der  erstgenannte  aber  ist  ein 
notwendiges  Glied  der  Vorstellung  Hund;  die  beiden  letzteren 
und  zahllose  andere  ähnliche  enthalten  eine  nähere  Bestimmung, 
die  nicht  auf  alle  Hunde  ohne  Ausnahme  zutrifft.  Folgt  daher 
auf  die  Vorstellung  Hund  die  Vorstellung  Tier,  so  haben  wir 
es  mit  einer  Association  nach  Überordnung  zu  tun,  während  die 
beiden  anderen  Anknüpfungen  prädikative  Bestimmungen  enthalten. 


184 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Die  inhaltlichen  Störungen  des  Vorstellungsverlaufes  lassen 
sich,  wie  mir  scheint,  am  einheitlichsten  auf  fassen  als  Verschie- 
bungen in  dem  Verhältnisse  zwischen  den  Zielvorstellungen  und 
den  einzelnen  Gliedern  unseres  Gedankenganges.  Leider  sind  wir 
hier  überall  in  erster  Linie  auf  die  Prüfung  der  sprachlichen 
Äusserungen  unserer  Kranken  angewiesen,  die  naturgemäss  nur 
ein  sehr  unvollkommenes  und  häufig  verzerrtes  Bild  ihres  wirk- 
lichen Vorstellungsverlaufes  gehen. 

Das  gesunde  Denken  wird  regelmässig  von  gewissen  allge- 
meinen Vorstellungen  beherrscht,  welche  jeweils  die  Richtung 
des  Vorstellungsverlaufes  angeben.  Von  den  auf  tauchenden  Vor- 
stellungen werden  daher  immer  diejenigen  Bestandteile  besonders 
kräftig  angeregt,  die  mit  den  Leitvorstellungen  in  näherer  Be- 
ziehung stehen.  Aus  der  grossen  Zahl  möglicher  Anknüpfungen 
werden  auf  diese  Weise  nur  diejenigen  wirklich  zu  stände  kommen, 
welche  in  einer  bestimmten,  durch  die  allgemeinen  Ziele  des  Ge- 
dankenganges bedingten  Richtung  liegen.  So  entsteht  die  innere 
Einheit  und  Geschlossenheit  unseres  Denkens,  die  geistige  Frei- 
heit, welche  uns  in  den  Stand  setzt,  unseren  Vorstellungsverlauf 
nach  Gesichtspunkten  zu  lenken,  die  aus  der  Entwicklungs- 
geschichte unserer  gesamten  psychischen  Persönlichkeit  hervor- 
gegangen sind. 

In  Krankheitszuständen  kann  der  einheitliche  Fortschritt  des 
Gedankenganges,  wie  er  durch  kräftige  Ausbildung  der  Zielvor- 
stellungen gewährleistet  wird,  auf  verschiedene  Weise  gestört 
sein.  Am  häufigsten  kommt  es  vor,  dass  einzelne  Vorstellungen 
oder  Gedankenrelhen  mit  besonders  lebhafter  Gefühlsbetonung 
immer  wieder  den  durch  die  Zielvorstellungen  vorgezeichneten 
Gedankengang  durchbrechen.  Die  Erinnerung  an  irgend  ein 
trübes  Ereignis,  eine  Erwartung  oder  Befürchtung  kann  uns  so 
sehr  beherrschen,  dass  unsere  Gedanken  trotz  aller  Bemühungen, 
sie  in  andere  Richtungen  zu  zwingen,  immer  wieder  zu  demselben 
Gegenstände  zurückkehren.  Andererseits  können  aus  Stimmungen 
peinliche  Vorstellungen  hervorwachsen,  die  eine  aufdringliche 
Macht  über  den  Gedankengang  gewinnen.  Wir  erinnern  hier  an 
die  Erfahrung,  dass  wir  uns  in  gewissen  Lagen  bisweilen  trotz 
besserer  Einsicht  des  Auftauchens  von  allerlei  Schauer-  und  Ge- 
spenstergeschichten nicht  zu  erwehren  imstande  sind.  Sie  er- 


Störungen  des  Gedankenganges. 


185 


wachen  im  Gegenteil  oft  um  so  lebhafter,  je  angestrengter  wir 
sie  in  den  Hintergrund  zu  drängen  versuchen. 

Diese  Beeinflussung  des  Gedankenganges  durch  gefühls- 
starke Vorstellungen  ist  natürlich  um  so  stärker,  je  leichter 
Schwankungen  des  gemütlichen  Gleichgewichtes  zu  stände  kom- 
men. Handelt  es  sich,  wie  gewöhnlich,  um  Unlustgefühle,  deren 
Macht  auf  Denken  und  Handeln  überall  am  grössten  ist,  so  wird 
die  Störung  durch  das  Vordrängen  derselben  Gedanken  bald  als 
peinigend  empfunden.  Gerade  dadurch  aber  wächst  ihre  Macht. 
Das  Bestreben,  sich  ihrer  zu  erwehren,  rückt  sie  immer  mehr 
in  den  Blickpunkt  der  Aufmerksamkeit.  Unter  diesen  Umständen 
kann  sich  zu  der  Unlust,  die  sich  an  den  Inhalt  der  Vorstellung 
knüpft,  noch  das  quälende  Gefühl  der  Ohnmacht  gegenüber  ihrer 
zwingenden  Aufdringlichkeit  gesellen.  Auf  diese  Weise  entsteht 
jene  Störung,  die  wir  mit  v.  Krafft-Ebing  als  Zwangs- 
vorstellung*) bezeichnen,  weil  sie  regelmässig  mit  dem  leb- 
haften Gefühle  des  Unterliegens  gegen  einen  übermächtigen 
Zwang  einhergeht. 

Die  Furcht  vor  ihrer  Wiederkehr  und  die  dadurch  bewirkte 
Fesselung  der  Aufmerksamkeit  sind  der  Nährboden  und  das 
Kennzeichen  der  Zwangsvorstellung.  Sie  entwickelt  sich  daher 
häufig  auf  dem  Boden  ängstlicher  Verstimmungen,  so  bei 
melancholischen  und  cirkulären  Depressionszuständen,  bisweilen 
auch  im  ersten,  depressiven  Abschnitte  einer  Dementia  praecox. 
Der  Inhalt  der  Zwangsvorstellung  ist  hier  überall  von  vornherein 
ein  unangenehmer,  quälender.  Die  Kranken  müssen  unausgesetzt 
an  irgend  einen  erschütternden  Eindruck  denken,  den  sie  gehabt 
haben,  sich  ein  Unglück  ausmalen,  das  sie  betreffen  könnte, 
gotteslästerlichen  oder  unanständigen  Gedanken  nachhängen.  Die 
tiefe  Verstimmung,  die  solchen  Gedanken  zu  Grunde  liegt  und 
durch  sie  neue  Nahrung  erhält,  verbindet  sich  hier  mit  dem 
Gefühle  der  zwangsmässigen  Überwältigung  des  Denkens.  Bei 
weiterer  Entwicklung  gewinnt  die  erstere  meist  ganz  die  Ober- 
hand, zumal,  wenn  der  Widerstand  des  Kranken  gegen  die  auf- 

*)  Westphal,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1877,  46;  Wille,  Archiv 
f.  Psychiatrie,  XII,  1;  Löwenfeld,  ebenda,  XXX,  679;  Meynert, 
Wiener  klin.  Wochenschr.  1888.  5—7 ; Tuczek,  Berl.  klin.  Wochenschr.  1899,  6; 
Friedmann,  Psychiatr.  Wochenschr.  1901,  40. 


1S6 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


dringlichen  Vorstellungen  allmählich  erlahmt,  so  dass  der  innere 
Kampf  und  damit  das  Gefühl  des  Unterliegens  fortfällt.  Die  ur- 
sprünglichen Zwangsvorstellungen  wandeln  sich  dabei  mehr  und 
mehr  in  Wahnideen  um.  Der  Gedanke  an  das  gestorbene  Kind 
wird  für  den  Kranken  zur  Gewissensmahnung  wegen  versäumter 
Fürsorge;  die  Schreckbilder  künftigen  Unglücks  bedeuten  wirk- 
lich drohende  Strafen;  die  wüsten  Gedanken  sind  der  Ausdruck 
einer  von  Grund  aus  verdorbenen  Seele. 

Viel  reiner  tritt  das  Wesen  der  Zwangsvorstellungen  dort 
hervor,  wo  der  Stimmungshintergrund  nicht  durch  selbständige 
krankhafte  Gemütsbewegungen  beeinflusst  wird.  Hier  liegt  das 
Quälende  an  sich  nicht  in  dem  Inhalte,  sondern  nur  in  der 
zwangsmässigen  Wiederkehr  der  Vorstellung.  Die  ausgebildet- 
sten Formen  dieser  Zwangsvorstellungen  im  engeren  Sinne  ent- 
wickeln sich  in  gewissen  angeborenen  krankhaften  Zuständen, 
die  wir  als  Ausdruck  der  Entartung  betrachten.  Erhöhte  gemüt- 
liche Empfindlichkeit  sowie  die  Neigung  zu  peinlicher  Selbst- 
beobachtung liefern  die  Vorbedingungen  für  die  Entstehung  der 
Zwangsvorstellungen.  Am  leichtesten  setzen  sich  auch  hier  Vor- 
stellungen fest,  die  schon  durch  ihren  Inhalt  unangenehm  wirken, 
namentlich  solche  geschlechtlicher  oder  religiöser  Art.  Bis- 
weilen heftet  sich  der  peinliche  Gefühlston  auch  erst  durch  Über- 
legungen an  die  auf  tauchende  Vorstellung,  wie  bei  einer  von 
Löwenfeld  erwähnten  Dame,  die  sich  Vorwürfe  darüber  machte, 
dass  sie  immer  an  einen  ihr*  sonst  ganz  fernstehenden  Herrn 
denken  musste. 

Während  hier  die  Zwangsvorstellung  von  vornherein  durch 
begleitende  Unlustgefühle  in  den  Blickpunkt  der  Aufmerksamkeit 
gerückt  wird,  vermitteln  in  einer  weiteren  Gruppe  von  Fällen 
gewisse  allgemeine  Denkgewohnheiten  das  Auftreten  jener  Ge- 
dankengänge, die  dann  später  durch  das  vergebliche  Bestreben, 
ihrer  Herr  zu  werden,  so  zwingende  Macht  gewinnen.  Jeder  Ge- 
sunde legt  Wert  darauf,  die  Namen  der  ihn  umgebenden  Personen 
zu  kennen.  Bei  dem  krankhaften  „Namenzwange“  kann  das  Be- 
dürfnis, sich  die  Namen  anderer  Menschen  ins  Gedächtnis  zu 
rufen,  so  stark  und  so  quälend  werden,  dass  die  Kranken  zur 
Befriedigung  desselben  grosse  Verzeichnisse  anlegen  und  am 
Ende  den  Namen  jedes  beliebigen  Menschen  zu  erfahren  suchen, 


Störungen  des  Gedankenganges. 


187 


der  ihnen  begegnet.  Der  „Zahlenzwang“  knüpft  an  die  Rechen- 
künste an,  die  wir  zur  Beherrschung  der  Zahlenreihe  in  der 
Jugend  üben  müssen.  Er  veranlasst  den  Kranken,  alle  möglichen 
unsinnigen  Zählungen  der  sich  ihm  darbietenden  Dinge  auszu- 
führen oder  mit  den  Zahlen,  die  ihm  aufstossen,  zwangsmässig 
Rechnungen  vorzunehmen.  Als  „Ausdruckszwang“  kann  man  die 
krankhafte  Neigung  bezeichnen,  denselben  Gedanken  unter  klein- 
lichster Abwandlung  aller  Einzelheiten  immer  in  eine  neue  Form 
zu  kleiden,  ohne  dass  doch  jemals  die  befriedigende  Lösung 
gefunden  würde.  Dadurch  entsteht  eine  merkwürdige  Häufung  von 
Wiederholungen,  die  jeden  Fortschritt  des  Gedankens  aufhalten. 
Endlich  lässt  sich  die  krankhafte  Gr  übel-  oder  Frage  sucht 
mit  der  Neigung  des  Kindes  zu  ausschweifenden  und  läppischen 
Fragen  in  Verbindung  bringen.  Dem  Kranken  drängen  sich  in 
nie  endender  Folge  unfruchtbare  und  zwecklose  Fragen  auf,  die 
ihn  beunruhigen  und  in  Atem  halten,  ohne  dass  er  sich  ihrei 
zu  erwehren  vermöchte. 

Für  diese  letztgeschilderten  Fermen  der  Zwangsvorstellungen, 
bei  denen  der  Inhalt  an  sich  ein  gleichgültiger  ist,  passt  ohne 
Zweifel  die  von  Friedmann  durchgeführte  Betrachtung,  dass 
wir  es  mit  „unabgeschlossenen“  Vorstellungen  zu  tun  haben,  die 
eben  deshalb  erregend  wirken.  Überall  handelt  es  sich  um  das 
Gefühl  der  Ungewissheit,  das  die  Kranken  zu  ihren  Anstrengungen 
anspornt  und  doch  niemals  ganz  beseitigt  werden  kann,  weil  jede 
vor  ihnen  auftauchende  Aufgabe  sofort  eine  Reihe  anderer  nach 
sich  zieht.  Der  Namen,  der  Zählungen,  der  Ausdrucksformen,  der 
Fragen  ist  kein  Ende,  und  die  endgültige  Beruhigung  ist,  sobald 
überhaupt  dem  bohrenden  Drange  nachgegeben  wurde,  nicht  zu 
erreichen.  Die  tiefste  Wurzel  dieser  Zwangsvorstellungen  liegt 
also  in  denselben  Unlustgefühlen,  die  uns  dazu  treiben,  Klarheit 
und  Wahrheit  zu  suchen,  aber  sie  sind  nicht  mehr  die  Diener, 
sondern  die  Herren  der  geistigen  Persönlichkeit,  weil  dieser 
letzteren  die  Kraft  fehlt,  sie  zu  unterdrücken,  wo  sie  den  Fluss 
des  Denkens  hindern. 

Eine  dem  Zwangsdenken  nur  äusserlich  ähnliche  Störung  ist 
das  einfache  Haften  einzelner  Vorstellungen.  Das- 
selbe wird  dadurch  gekennzeichnet,  dass  irgendwelche,  einmal 
angeregte  Vorstellungen  von  ganz  beliebigem  Inhalte,  aber  regel- 


188 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


massig  in  sprachlichen  oder  lautlichen  Ausdrucksformen,  sich 
immer  wieder  in  den  Gedankengang  einschieben.  Auch  im  ge- 
sunden Leben  ist  dieser  Vorgang  nicht  gerade  selten.  Im  ge- 
wöhnlichen Flusse  der  Gedanken  vermag  sich  keine  einzelne 
Vorstellung  längere  Zeit  hindurch  auf  voller  Höhe  zu  erhalten, 
wenn  sie  nicht  durch  besondere  Ursachen  immer  von  neuem  an- 
geregt wird.  Unablässig  drängen  sich  neue  Eindrücke  und  Vor- 
stellungen ins  Bewusstsein,  um  das  Übergewicht  zu  gewinnen, 
sobald  die  Lebhaftigkeit  vorangegangener  Bilder  zu  verblassen 
beginnt.  In  diesem  Kampfe  können  sich  einzelne  Vorstellungen 
mit  besonderer  Hartnäckigkeit  erhalten,  die  aus  irgend  einem 
Grunde  lebhaft  angeregt  worden  sind.  Namentlich  Vorstellungen 
von  rhythmischer  Gliederung,  ein  Vers,  ein  Citat,  eine  Melodie, 
können  wir  bisweilen  durchaus  nicht  wieder  loswerden,  sondern 
müssen,  vielleicht  zu  unserem  grössten  Verdrusse,  in  steter  Wie- 
derholung darauf  zurückkommen,  bis  sie  endlich  durch  andere 
Vorgänge  wieder  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden. 

Einem  eigentümlichen  Kleben  an  sprachlichen  Bezeichnungen 
begegnen  wir  ferner  sehr  häufig  bei  gröberen  Hirnerkrankungen. 
Die  Kranken  versprechen  sich  vielfach  im  Sinne  der  kurz  vorher 
gebrauchten  Wörter  und  Wendungen;  sie  belegen  Gegenstände 
fälschlich  mit  einer  Benennung,  die  sie  gerade  gehört  oder  aus- 
gesprochen haben  oder  mischen  richtige  und  verkehrte  Wort- 
bruchstücke durcheinander.  Namentlich  unter  dem  Einflüsse  der 
Ermüdung  kann  dieses  Haften  rasch  so  störend  werden,  dass  man 
keine  richtige  Antwort  mehr  erhält,  sondern  nur  wechselnde 
oder  einförmige  Wiederholungen  der  früheren  Angaben.  Wie 
v.  S ö 1 d e r *)  betont  hat,  handelt  es  sich  hier  nur  um  die  krank- 
hafte Ausbildung  einer  Erscheinung,  die  auch  beim  gewöhnlichen 
Versprechen,  beobachtet  wird.  Uns  kommen  dabei  nicht  nur  die- 
selben Wörter  und  Wendungen  leicht  wieder  auf  die  Zunge, 
sondern  das  Vorhergegangene  bewirkt  auch  vielfach  bestimmte 
Sprechfehler. 

Im  Gegensätze  zum  Zwangsdenken  bemerken  wir  jene 
fortwährenden  Wiederholungen  vielfach  erst  nachträglich;  das 
Gefühl  des  Zwanges,  der  Überwältigung  trotz  unseres  Wider- 


*)  S ö 1 d e r,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XVIII,  479,  1S99. 


Störungen  des  Gedankenganges. 


189 


strebens,  fehlt  vollständig,  so  unangenehm  wir  vielleicht  auch 
von  der  Zähigkeit  der  Vorstellungen  berührt  werden.  Mir  scheint 
hier  die  Ermüdung  eine  gewisse  Rolle  zu  spielen.  Wo  die 
geistige  Regsamkeit  herabgesetzt  ist,  nimmt  die  Mannigfaltig- 
keit und  Lebhaftigkeit  der  neu  sich  darbietenden  Vorstel- 
lungen ab,  so  dass  die  Wiederholung  früherer  Vorgänge  be- 
günstigt wird.  Allerdings  hat  Aschaffenburg  bei  seinen 
Nacht  versuchen  keine  Zunahme  des  Haftens  mit  fortschreitender 
Ermüdung  gefunden,  doch  ist  es  zweifelhaft,  ob  es  sich  in  seinen 
Beispielen  nicht  um  eine  andersartige  Erscheinung  gehandelt  hat. 

Auch  andere  Bestandteile  der  Vorstellungen,  allerdings  vor- 
zugsweise oder  ausschliesslich  motorische,  können  haften.  Die 
Kranken  gebrauchen  vorgezeigte  Gegenstände  fälschlich  so,  wie 
sie  es  kurz  vorher  richtig  mit  anderen  gemacht  haben.  N e i s s e r 
hat  diese  Störung  treffend  mit  dem  Namen  der  Perseveration 
gekennzeichnet.  In  einigen  Fällen  von  Altersblödsinn  mit  aus- 
geprägtem Kleben  konnte  Schneider  nachweisen,  dass  die 
Entwicklung  der  angeregten  Vorstellungen  ungemein  verlangsamt 
war.  Die  Bezeichnung  eines  Bildes  wurde  vielfach  erst  dann, 
aber  nun  richtig,  vorgebracht,  wenn  inzwischen  schon  ein  oder 
zwei  andere  Bilder  gezeigt  worden  waren,  so  dass  also  eine  regel- 
mässige, erhebliche  Verspätung  anzunehmen  war.  In  der  Tat 
hat  man  bei  der  Perseveration  vielfach  den  Eindruck,  als  ob  die 
Kranken  zunächst  der  neuen  Wahrnehmung  völlig  verständnislos 
gegenüberstehen  und  auf  das  Drängen  daher  einfach  das  Voran- 
gegangene wiederholen.  Ist  diese  Anschauung  richtig,  so  würde 
nicht  die  besondere  Hartnäckigkeit  einzelner  Vorstellungen,  son- 
dern die  erschwerte  Auslösung  anderer,  sie  ersetzender  und  ver- 
drängender Vorgänge  die  Störung  bedingen. 

Sorgfältig  von  der  Perseveration  zu  unterscheiden  ist  die 
Neigung,  dieselben  Vorstellungen  „zu  Tode  zu  hetzen“,  wie  sie 
uns  in  ausgeprägtester  Form  bei  der  Dementia  praecox  begegnet. 
Sie  ist  hier  nur  ein  Ausfluss  der  allgemeinen  Stereotypie  der 
Willensvorgänge.  Andeutungen  dieser  Erscheinung  kommen  auch 
bei  Kindern  gelegentlich  vor.  Sie  besteht  in  der  triebartigen, 
oft  ins  Ungemessene  fortgesetzten  Wiederholung  derselben 
sprachlichen  Äusserungen,  bald  für  sich  allein,  bald  unter  Ein- 
flechtung in  andere,  mehr  oder  weniger  zusammenhangslose  Ge- 


190 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


dankenreihen.  Der  Inhalt  dieser  stereotypen  Vorstellungen  ist 
dabei  ein  ganz  zufälliger  und  wird  nicht,  wie  beim  Haften,  durch 
das  Voraufgegangene  bestimmt.  Vielmehr  kann  eine  Vorstellung 
über  kurz  oder  lang  von  einer  anderen  abgelöst  werden,  die  dann 
ebenso  zähe  haftet,  oder  es  schieben  sich  durcheinander  in  einen 
längeren  Gedankengang  eine  Reihe  verschiedener,  immer  wieder- 
kehrender Vorstellungen  ein.  Offenbar  spielt  demnach  bei  dem 
Vorgänge  nicht  die  besondere  Eigenschaft  der  einzelnen  Vor- 
stellung, sondern  der  Gesamtzustand  des  Seelenlebens  die  ent- 
scheidende Rolle.  Da  wir  wohl  annehmen  dürfen,  dass  die  Stereo- 
typie nur  beim  Fehlen  einer  zielbewussten  Willensrichtung  zu 
stände  kommt,  werden  wir  uns  nicht  wundern,  dass  sich  auch 
die  triebartige  Wiederholung  derselben  Vorstellungen  regelmässig 
mit  einer  Zerfahrenheit  des  Gedankenganges  verbindet,  die  auf 
ungenügende  Ausbildung  von  Zielvorstellungen  hinweisen  dürfte. 
Sehr  deutlich  tritt  das  in  dem  folgenden  Beispiele  hervor: 

„Herr  Vetterlieb,  es  war  nicht  so,  Herr  Vetterlieb,  es  war  nicht  so,  es 
war  nicht  so,  A Lauer  für  S Lauer,  A Lauer  für  S Lauer,  nur  das  einzige, 
A Lauer  für  S Lauer,  Herr  Vetterlieb,  weil  ich  für  Ihr  einziges  Kind  gebetet 
habe,  wie  ich  in  Tauberbischofsheim.  Herr  Vetterlieb,  lieber  Herr  \ etterlieb, 
mein  einzig  Vetterlieb,  ich  will  sagen,  wie  es  gelebt  hat,  ein  gutes,  ein 
böses,  Herr  Vetterlieb,  M,  R,  I,  S.  Herr  Vetterlieb,  Schnaps  gegen  Brannt- 
wein, Vergiftung  gegen  Vergiftung.  Ich  hänge  meine  Zunge  bald  so,  bald 
so,  hinten  hinaus,  bald  vorn  hinaus.  Herr  Vetter  lieb  (5mal  wiederholt),  das 
war  Wucht,  Herr  Vetterlieb,  eine  Kupferschlange,  durchlöchert,  Herr  Vetter- 
lieb, wegen  des  wahren,  wegen  des  wahren,  wegen  des  wahren  Willens“  u.  s.  f. 

Wiederum  eine  andere  Bedeutung,  als  die  häufige  Wieder- 
kehr derselben  Vorstellungen  in  einem  bestimmten  Gedanken- 
gange, hat  die  gewohnheitsmässige  Erneuerung  gleich- 
artiger Vorstellungsreihen  bei  den  verschiedensten  Gelegenheiten. 
Während  dort  der  Inhalt  der  stereotypen  Vorstellungen  von  Fall 
zu  Fall  wechseln  kann,  haben  wir  es  hier  mit  dem  erstarrten  und 
darum  fast  unveränderlichen  Niederschlage  früherer  Erfahrungen 
zu  tun. 

Unsere  ganze  geistige  Ausbildung  beruht  auf  dem  Umstande, 
dass  sich  unsere  Vorstellungsverbindungen  durch  häufige  Wieder- 
holung allmählich  mehr  und  mehr  befestigen.  Das  Ergebnis 
früher  geleisteter  Gedankenarbeit  steht  uns  auf  diese  Weise 
schliesslich  fast  mühelos  jederzeit  zu  Gebote,  so  dass  wir  auf 


Störungen  des  Gedankenganges. 


191 


der  einmal  erarbeiteten  Grundlage  ohne  weiteres  fortbauen 
können.  Ja,  auch  der  gesamte  Erfahrungs-  und  Gedankenschatz 
vergangener  Geschlechter  wird  uns  in  den  festen  Formen  der 
Muttersprache  als  fertiges  Werkzeug  für  jederlei  Denkarbeit 
überliefert.  Die  Bedeutung  dieser  gegebenen  Formeln  im  Vor- 
stellungsverlaufe ist  natürlich  je  nach  der  persönlichen  Be- 
fähigung zu  eigenem  Schaffen  eine  sehr  verschiedene;  sie  kann 
jedoch  kaum  überschätzt  werden.  Wir  alle  wissen,  dass  wir 
beständig  mit  einer  grossen  Zahl  von  stehenden  Wendungen  und 
festen  Ideenverbindungen  arbeiten,  die  mit  erstaunlicher  Unver- 
meidlichkeit bei  gegebenem  Stichworte  auftauchen  und  ablaufen, 
ohne  unser  Zutun,  ja  selbst  gegen  unseren  Willen.  Ich  konnte 
nachweisen,  dass  von  einer  grösseren  Gruppe  eingeübter  Asso- 
ciationen nach  fast  zwei  Jahren  noch  etwa  70  Prozent  in  völlig 
gleicher  Form  wiederkehrten. 

In  Krankheitszuständen  wird  dieses  Verhältnis  ohne  Zweifel 
vielfach  noch  sehr  bedeutend  überschritten.  Namentlich  dann, 
wenn  die  Fähigkeit  zur  Sammlung  und  Verarbeitung  neuer  Ein- 
drücke durch  das  Irresein  vernichtet  wird,  pflegen  die  Vorstel- 
lungsüberreste aus  gesunden  Tagen  allmählich  in  steter  Wieder- 
holung zu  erstarren.  So  sehen  wir  beim  Greise,  in  der  Paralyse 
und  bei  verschiedenen  anderen  Verblödungsformen  den  Vorstel- 
lungsverlauf mehi-  und  mehr  auf  einzelne,  immer  wiederkehrende 
Gedankenreihen  einschrumpfen,  welche  keinerlei  neue  geistige 
Arbeitsleistung  mehr  enthalten.  Es  entwickelt  sich  auf  diese 
Weise  eine  mehr  oder  weniger  hochgradige  Einförmigkeit 
der  Bewusstseinsvorgänge.  Selbstverständlich  verbindet  sich  damit 
stets  eine  beträchtliche  Verarmung  des  Vorstellungsschatzes. 
Was  nicht  in  festgeschlossener,  unveränderlicher  Verbindung  er- 
halten bleibt,  geht  rettungslos  verloren.  Schliesslich  können  sich 
die  gesamten  sprachlichen  Äusserungen  einer  früher  reich  ent- 
wickelten Persönlichkeit  auf  die  Abwandlung  einiger  weniger 
dürftiger  Gedanken  zurückziehen. 

Die  folgende  Nachschrift  von  einer  altersblödsinnigen  Kran- 
ken mag  das  erläutern: 

„Wir  haben  den  ganzen  Tag  nichts  gegessen  — Kaffee  und  Brot  — Kaffee 
— die  Frau  würde  gern  kochen,  wenn  sie  etwas  kriegte,  aber  den  ganzen 
Tag  hat  sie  nichts,  als  Kaffee  und  Brot  — aber  das  geht  nicht;  die  Frau 


192 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


muss  etwas  zu  essen  haben  — das  geht  nicht;  der  Mann  muss  aufhören,  zu 
essen,  die  Kinder  müssen  essen  — ei,  ei,  ei,  das  ist  doch  stark;  die  Kinder 
nichts  mehr  zu  essen,  nichts  wie  Kartoffeln  — der  Vater  hat  die  Kartoffeln 
gegessen;  die  Mutter  hat  nichts,  die  Kinder  haben  nichts  — so  ist  es  fort- 
gegangen von  einem  Tag  zum  andern,  haben  die  Kinder  nichts  gegessen  wie 
Kartoffel  und  Kaffee  — ach  Gott,  da  sind  wir  fertig,  da  haben  wir  nichts 
gegessen,  gar  nichts,  gar  nichts;  das  darf  nicht  sein  — wo  wir  hin  sind, 
haben  wir  den  Kaffee  fort  und  die  Kartoffeln  — das  ist  gar  nichts  — 
nichts  wie  Kaffee,  Kaffee,  Kaffee“  u.  s.  f. 

In  nahen  inneren  Beziehungen  zu  der  Einförmigkeit  des  Ge- 
dankenganges steht  eine  andere,  ihr  äusserlich  ziemlich  unähn- 
licüe  Störung,  die  Umständlichkeit.  Wir  verstehen  darunter 
jene  Gestaltung  des  Vorstellungs  verlauf  es,  bei  welcher  nicht  nur 
die  wesentlichen  und  notwendigen  Glieder  eines  Gedankenganges, 
sondern  auch  eine  grössere  Anzahl  nebensächlicher  und  zufälliger 
Begleitvorstellungen  mit  voller  Deutlichkeit  erzeugt  werden.  Da- 
durch wird  einerseits  der  Abschluss  der  Vorstellungskette,  die 
Erreichung  des  vorgesteckten  Zieles,  immer  wieder  hinaus- 
geschoben und  verzögert;  andererseits  wird  der  ganze  Gedanken- 
gang unübersichtlich,  da  die  Nebendinge  sich  ebenso  in  den 
Vordergrund  drängen  wie  die  Hauptsachen.  Diese  Störung  beruht 
demnach  auf  einer  unvollkommenen  Sichtung  der  Vorstellungen 
nach  ihrer  Bedeutung  für  den  jeweiligen  Gedankengang.  Darum 
beschränkt  sich  der  Fortschritt  des  Denkens  nicht  auf  die  gerade 
Richtungslinie,  sondern  er  berührt  auch  alle  möglichen  gleich- 
gültigen Nebenumstände.  Dennoch  pflegt  er  sein  Ziel  schliess- 
lich zu  erreichen,  weil  die  Zielvorstellung  über  den  Einzelheiten 
nicht  ganz  verloren  geht. 

Den  einfachsten  Formen  der  Umständlichkeit  begegnen  wir 
in  der  Gesundheitsbreite  bei  ungebildeten  Menschen,  bei  denen 
die  Ordnung  der  Vorstellungen  nach  ihrer  Wichtigkeit  nur  un- 
vollkommen durchgeführt  wird.  v.  d.  Steinen  beobachtete  sie 
in  ausgeprägtester  Weise  bei  den  Naturvölkern  Centralbrasiliens. 
Je  weniger  das  begriffliche  Denken  entwickelt  ist,  je  stärker 
auch  in  den  allgemeineren  Vorstellungen  noch  die  sinnlichen  Be- 
standteile hervortreten,  desto  grösser  wird  die  Neigung  sein, 
im  Gedankengange  am  Einzelnen  und  Nebensächlichen  festzu- 
kleben. Daher  die  grosse  Schwierigkeit,  von  ungebildeten  Leuten 
knappe,  sachliche  Antworten  zu  erhalten,  ihre  Unfähigkeit,  das 


Störungen  des  Gedankenganges. 


193 


Unwesentliche  aus  ihren  Erzählungen  auszuscheiden,  Gesehenes 
und  nur  Gedachtes  oder  Vermutetes  scharf  zu  trennen.  Nicht 
minder  bekannt  ist  ferner  die  Umständlichkeit  des  Greisenalters. 
Durch  den  Verlust  der  Aufnahmefähigkeit  und  Regsamkeit  kommt 
es  hier  zu  häufigerer  Wiederholung  der  gleichen  Gedankengänge, 
die  sich  allmählich  mehr  und  mehr  befestigen  und  daher  immer 
grössere  Bedeutung  für  die  gesamte  Denkarbeit  gewinnen. 
Längere  Reihen  von  Vorstellungen  laufen  ganz  gewohnheits- 
mässig  ab,  sobald  sie  durch  irgend  einen  Anlass  angeregt  wer- 
den. Diese  erstarrten  Ketten  von  Erinnerungsbildern,  Lieblings- 
gedanken, allgemeinen  Lebenserfahrungen  schiessen  überall  an 
die  einzelnen  Glieder  des  jeweiligen  Gedankenganges  an  und 
verhindern  den  raschen,  zielbewussten  Fortgang,  da  sie  nicht 
unterdrückt  werden  können,  sondern  erst  erledigt  werden 
müssen. 

Grosse  Ähnlichkeit  mit  dieser  Störung,  die  natürlich  beim 
krankhaften  Altersblödsinn  am  stärksten  entwickelt  zu  sein  pflegt, 
zeigt  die  Umständlichkeit  der  Epileptiker.  Die  Einengung  des 
Gesichtskreises  macht  es  solchen  Kranken  unmöglich,  ein  fernes 
Ziel  als  Richtpunkt  dauernd  klar  im  Auge  zu  behalten;  nur  an 
der  Hand  des  Einzelnen  und  Nächstliegenden  finden  sie  gleich- 
sam tastend  ihren  Weg.  Darum  müssen  sie  auch  immer  die  gleichen 
Umwege  an  den  gleichen  Merkzeichen  vorüber  machen,  wenn 
sie  überhaupt  ihr  Ziel  erreichen  sollen.  Ein  Beispiel  dafür 
gibt  folgende  Stelle  aus  einer  sehr  umfangreichen  Lebens- 
beschreibung: 

„Ehe  man  etwas  glauben  tut,  was  einem  andere  Leute  erzählt  haben, 
oder  wa3  man  in  den  Kalendern  gelesen  hat,  man  muss  sich  da  erst  fest 
überzeugen  und  selbst  nachsehen,  ehe  man  sagen  kann  und  glauben,  die  Sache 
ist  schön,  oder  die  Sache  ist  nicht  schön,  erst  untersuchen  und  selbst  mit- 
machen und  nachsehen,  und  dann,  wenn  der  Mensch  alles  untersucht  hat  und 
selbst  mitgemacht  hat  und  alles  nachgesehen,  dann  kann  der  Mensch  erst 
sagen,  die  Sache  ist  schön,  oder  sie  ist  nicht  schön,  oder  nicht  gut;  deshalb 
sage  ich  auch  selbst,  wenn  man  über  eine  Sache  eine  Auskunft  geben  oder 
etwas  ganz  genau  feststellen  will,  oder  der  Wahrheit  gemäss  sprechen  will, 
die  Sache  ist  richtig  oder  die  Sache  ist  nicht  richtig,  so  muss  ein  jeder  Mensch 
die  Sache  so  untersuchen,  wie  er  es  vor  dem  dreieinigen  Gott  und  vor  seiner 
Majestät,  dem  Könige  von  Preussen,  Wilhelm  der  Zweite,  und  Kaiser  von 
Deutschland,  zu  verantworten  gedenkt.  Ich  will  nun  wieder  an  der  Erzählung, 
welche  mir  die  Soldaten  mitgeteilt  haben,  weiter  schreiben.“ 

Kraepelin,  Psychiatrie.  I.  7.  Aufl. 


13 


194 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Eine  letzte  grosse,  eigenartige  Gruppe  von  Störungen  des 
Gedankenganges  ist  durch  das  Fehlen  oder  die  ungenügende  Aus- 
bildung der  Zielvorstellungen  gekennzeichnet.  Die  nächste  Folge 
einer  mangelhaften  Beherrschung  des  Vorstellungsverlaufes  durch 
bestimmte  Gesichtspunkte  ist  naturgemäss  ein  häufiger,  unver- 
mittelter Richtungswechsel.  Die  Anregung  neuer  Vorstellungen 
wird  nicht  mehr  durch  den  vorhandenen  Bewusstseinsinhalt,  son- 
dern durch  das  launenhafte  Spiel  des  Zufalls  bestimmt.  Der 
Gedankengang  verliert  seine  Einheitlichkeit;  er  steuert  nicht  plan- 
mässig  einem  bestimmten  Ziele  zu,  sondern  gerät  immerfort  in 
neue  Bahnen,  die  ebenso  schnell  wieder  verlassen  werden.  Den 
Anstoss  zu  solchem  Richtungswechsel  können  äussere  und  innere 
Vorgänge  geben.  Jeder  beliebige  Eindruck  genügt,  um  den  ^ or- 
stellungsverlauf  zur  Entgleisung  zu  bringen;  es  besteht  eben 
wegen  des  Mangels  an  Leitvorstellungen  eine  ausserordentliche 
Ablenkbarkeit  des  Gedankenganges. 

Unter  den  klinischen  Gestaltungen  der  hier  besprochenen 
Störung  sind  wir  vielleicht  imstande,  zwei  Hauptformen  von 
wesentlich  verschiedener  Bedeutung  auseinander  zu  halten.  Bei 
der  ersten  derselben  sind  wohl  Zielvorstellungen  vorhanden,  aber 
sie  sind  ausserordentlich  flüchtig  und  lösen  einander  sehr  rasch 
ab.  Die  unmittelbar  aufeinanderfolgenden  Glieder  des  Gedanken- 
ganges stehen  daher  regelmässig  noch  in  einer  gewissen,  wenn 
auch  nicht  immer  klar  erkennbaren  Verbindung,  während  aller- 
dings der  Gesamtverlauf  infolge  äusserer  und  innerer  Anstösse 
die  verschiedensten  und  überraschendsten  Richtungsänderungen 
darbieten  kann.  Wegen  der  grossen  Flüchtigkeit  der  angeregten 
Vorstellungen  gelingt  es  meist  nur,  auf  einfachere  Fragen  kurze 
Antwort  zu  erhalten,  auch  wenn  die  Auffassung  an  sich  nicht  so 
sehr  gestört  ist.  Verlangt  man  die  Leistung  schwierigerer  Denk- 
arbeit, so  ist  es  in  der  Regel  unmöglich,  den  Kranken  genügend 
lange  bei  der  Aufgabe  zu  „fixieren“,  da  die  angeregten  ^ orstel- 
lungen  sofort  wieder  von  anderen  in  den  Hintergrund  gedrängt 
werden.  Es  sei  uns  gestattet,  diese  Form  der  krankhaften  Zu- 
sammenhangslosigkeit des  Gedankenganges,  dieses  planlose  Um- 
herschweifen des  Vorstellungsverlaufes  „vom  hundertsten  ins 
tausendste“  mit  dem  besonderen  Namen  der  Ideenflucht*) 


*)  Aschaffenburg,  Psychol.  Arbeiten,  IV,  235. 


Störungen  des  Gedankenganges. 


195 


zu  belegen,  der  allerdings  meist  in  weiterem  Sinne  gebraucht 
wird. 

Die  Gründe  für  diese  Einengung  liegen  in  der  eigenartigen 
klinischen  Bedeutung  dieses  Krankheitszeichens.  Dasselbe  ist 
ein  Grundzug  der  Manie,  findet  sich  allerdings  ausserdem  auch 
bei  manchen  anderen  Erregungszuständen,  namentlich  in  der 
Paralyse.  Vielleicht  können  wir  Andeutungen  eines  Versagens 
der  Zielvorstellungen  schon  im  gesunden  Leben  auffinden,  wenn 
wir  im  süssen  Nichtstun  unseren  Gedanken  freien  Lauf  lassen, 
die  Fessel  lösen,  welche  sie  beim  „Nachdenken“  in  bestimmte 
Bahnen  zwingt.  Noch  deutlicher  wird  die  Erscheinung  im  wirk- 
lichen Traume.  Hier  empfinden  wir  ja  gerade  die  Unmöglich- 
keit äusserst  peinlich,  einen  Gedanken  weiter  zu  verfolgen,  eine 
auftauchende  Vorstellungsreihe  festzuhalten.  Daher  die  vielen 
überraschenden  Wendungen  in  den  Traumbildern,  die  sprunghaften, 
unvermittelten  Änderungen  des  ganzen  Bewusstseinsinhaltes.  Viel- 
leicht trägt  auch  diese  Eigentümlichkeit  unseres  Traumbewusst- 
seins mit  dazu  bei,  den  wechselnden  Bildern  das  Gepräge  wirk- 
licher Erlebnisse  zu  geben;  sie  sind  unabhängiger  von  unserem 
Gedankengange,  als  es  sonst  die  Schöpfungen  unserer  Einbil- 
dungskraft sein  könnten. 

Es  kann  zweifelhaft  erscheinen,  ob  diese  Erfahrungen  wirk- 
lich der  Ideenflucht  verwandt  sind.  Dagegen  dürften  wir  in  der 
Ermüdung  nicht  selten  wirklich  leichte  Grade  jener  Störung  vor 
uns  haben.  Auch  hier  verlieren  wir  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
die  Herrschaft  über  unseren  Gedankengang.  Wir  vermögen  das 
Ziel  nicht  mehr  fest  im  Auge  zu  behalten  und  ertappen  uns 
immer  häufiger  auf  Abschweifungen  nach  den  verschiedensten 
Kichtungen  hin,  von  denen  wir  uns  erst  zwingen  müssen,  zu 
unserem  Ausgangspunkte  zurückzukehren.  Schliesslich  sind  wir 
ganz  ausser  stände,  länger  bei  dem  gleichen  Gegenstände  zu 
bleiben;  gleichzeitig  geht  das  zusammenhängende  Verständnis  für 
unsere  Aufgabe  mehr  und  mehr  verloren.  Ein  ganz  ähnlicher 
Vorgang  vollzieht  sich  unter  dem  Einflüsse  des  Alkohols.  Die 
ziellosen  Faseleien  Betrunkener  sind  ja  zur  genüge  bekannt. 
Der  Berauschte  vermag  nicht,  einer  Auseinandersetzung  zu 
folgen,  und  er  bleibt  auch  in  seinem  Denken  und  Reden  keinen 
Augenblick  bei  der  Stange,  sondern  verliert  immer  von  neuem  den 

13* 


196 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Faden,  selbst  wenn  man  ihn  durch  wiederholte  Hinlenkung  auf 
den  Ausgangspunkt  im  Zusammenhänge  zu  erhalten  sucht. 

Mit  der  Bezeichnung  Ideenflucht  verknüpft  sich  gewöhnlich 
die  Vorstellung  einer  beschleunigten  Aufeinanderfolge  der  ein- 
zelnen Gedanken.  Man  hat  geradezu  von  einer  Überstürzung  der 
Vorstellungsbildung,  von  einer  so  massenhaften  Erzeugung  neuer 
Vorstellungen  gesprochen,  dass  die  Zusammenhangslosigkeit 
lediglich  durch  das  Ausfallen  zahlreicher  Zwischenglieder  bedingt 
sein  soll,  die  nicht  schnell  genug  ausgesprochen  werden  können. 
Diese  Auffassung  erweist  sich  bei  genauerer  Prüfung  als  völlig 
unhaltbar.  Zunächst  ist  der  Vorstellungsreichtum  des  Ideen- 
flüchtigen nichts  weniger,  als  gross,  sondern  wir  begegnen  jener 
Störung  sogar  häufig  genug  bei  ganz  auffallender  Gedanken- 
armut. Sodann  aber  ist  die  Geschwindigkeit  der  Vorstellungs- 
verbindungen niemals  beschleunigt,  meist  im  Gegenteil  deutlich 
verlangsamt.  Die  Zusammenhangslosigkeit  der  Kranken  beruht 
also  einfach  auf  dem  Mangel  jener  einheitlichen  Beherrschung 
der  Gedankenverbindungen,  die  alle  Nebenvorstellungen  unter- 
drückt und  den  Fortschritt  nur  in  bestimmter  Richtung  zulässt. 
Infolgedessen  können  sich  hier  alle  möglichen  zufällig  aufschies- 
senden  Vorstellungen  Geltung  verschaffen,  die  im  gesunden  Be- 
wusstsein durch  die  Macht  der  Zielvorstellungen  gehemmt  sein 
würden.  Nicht  die  rasche  Aufeinanderfolge  der  A orstellungen 
ist  es  demnach,  welche  die  Bezeichnung  Ideenflucht  rechtfertigt, 
sondern  die  Flüchtigkeit  der  einzelnen  Ideen,  die  keinen  nach- 
haltigeren Einfluss  auf  den  Ablauf  des  Gedankenganges  zu  ge- 
winnen vermögen. 

Die  Richtung  des  Gedankenganges  bei  der  Ideenflucht  wird 
im  einzelnen  durch  äussere  Eindrücke,  ferner  durch  auftauchende 
Vorstellungen,  endlich  aber,  wo  derartige  Durchbrechungen 
fehlen,  durch  die  associativen  Beziehungen  der  aufeinanderfolgen- 
den Glieder  bestimmt.  Da  keine  dauernden  Zielvorstellungen  die 
Verknüpfung  nach  innerem  Plane  regeln,  so  können  die  ver- 
schiedensten Bestandteile  der  Vorstellungen  ihren  Einfluss  auf 
die  Anregung  neuer  Bewusstseinsvorgänge  geltend  machen.  So 
kennen  wir  Zustände,  in  denen  die  Ideenverbindung  ganz  vorzugs- 
weise durch  einzelne  sinnliche  Erinnerungsbilder  vermittelt  zu 
werden  scheint,  im  Traume,  in  gewissen  Vergiftungsdelirien, 


Störungen  des  Gedankenganges. 


197 


namentlich  im  Opiumräusche.  Lebhafte  Einbildungsvorstellungen 
schliessen  sich  hier  in  bunter  Folge  aneinander,  entwickeln  sich 
auseinander,  losgelöst  von  dem  festgefügten  Gerüste  der  ab- 
strakten Vorstellungen.  Infolgedessen  entsteht  eine  lockere 
Reihe  reiner  Hirngespinste  ohne  inneren  Zusammenhang  und  ohne 
Klärung  durch  die  allgemeineren  Lebenserfahrungen,  deren  schär- 
feres Hervortreten  in  unserem  Bewusstsein  sofort  die  zahlreichen 
Widersprüche  und  die  innere  Unwahrheit  der  abenteuerlichen 
Erlebnisse  deutlich  erkennen  lassen  würde. 

Dieser  deliriösen  Form  der  Ideenflucht  steht  die  hypo- 
manische Weitschweifigkeit  nahe,  bei  der  die  Kianken 
sich  überall  durch  Nebenvorstellungen,  Erinnerungen,  Einfälle 
ablenken  lassen,  jeder  Versuchung  zu  Zwischenbemerkungen,  Ein- 
schiebungen und  Ausschmückungen  unterliegen,  immeifoit  auf 
Abwege  geraten  und  nur  durch  unausgesetzte  Einwirkungen  zu 
ihrem  Gegenstände  zurückgeführt  werden  können.  Ein  Beispiel 
dafür  gibt  folgendes  Bruchstück  einer  Antwort  auf  die  Frage: 
„Sind  Sie  krank?“ 

„in  M.  hat  meine  Mutter  noch  einen  Bruder,  ein  reicher,  an- 
gesehener Mann;  er  hat  jetzt  seine  zweite  Frau,  ja,  ich  bin  nicht  so  wie 
Sie  meinen;  meine  Geschwister  haben  mich  um  meine  Sache  immer  gebracht, 
ich  bin  verkürzt;  den  Mann,  den  ich  habe,  haben  sie  nicht  gemocht;  ich  bin 
die  älteste,  aber  auch  die  kleinste.  Von  zwölf  Jahren  an  habe  ich  viel 
schaffen  müssen  bis  48;  ich  habe  es  am  härtesten  gehabt.  Mein  Mann  lässt 
mich  nach  Mariä  Einsiedeln  wallen,  ein  rechter  Dummer!  Wenn  ich  gewusst 
hätt\  ich  käm  da  herein,  nicht  für  2000  Mark  war’  ich  da  herein;  nach  Mariä, 
Einsiedeln  hab’  ich  gewollt;  darum  ist  hier  so  ein  Altar  erschienen;  ich  hab’ 
Äpfel  und  Birnen  haben  wollen  vom  Paradies;  der  Dr.  K.  hat  von  dem  Kuchen 
gegessen  und  süssen  Wein  getrunken.  Ich  habe  schwarze  Trauben,  die  sind 
auf  geplatzt  und  heruntergefallen;  jetzt  hab’  ich  sie  ausgedrückt  in  einem 
sauberen  Tuch  und  in  einen  irdenen  Krug  hinein;  jetzt  hat  es  süssen  Most 
gegeben.  Es  ist  Samstag  gewesen;  auf  den  Sonntag  muss  man  doch  Kuchen 
haben;  früh  hab’  ich  Teig  gemacht,  das  hat  unser  Bäcker  S.  in  K.  ge- 
backen und  hat  nichts  zu  backen  gekostet,  denn  ich  hol’  als  meine  Weck 
beim  Bäcker.  Da  hat  der  Dr.  K.  gesagt,  seine  Frau  könnt’  nicht  so  backen; 
er  hätte  so  ein  Luder“  u.  s.  f. 

Bisweilen  macht  sich  in  den  Abschweifungen  deutlich  der 
Einfluss  gewisser  Gedankenrichtungen  geltend,  die  zufällig  an- 
geregt werden,  aber  nicht  auf  eine  Zielvorstellung  lossteuern. 
Es  kommt  dann  zur  Aufzählung  verwandter  Vorstellungsreihen, 
die  erst  durch  irgend  eine  Nebenassociation  wieder  unterbiochen 


198 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wird.  Aschaffenburg  hat  dafür  sehr  merkwürdige  Bei- 
spiele eines  manischen  Kranken  angeführt,  der  einmal  bei  der 
Aufzählung  seiner  Bekannten  589  Namen  hintereinander  nieder- 
schrieb. Ein  anderes  Mal  lieferte  er  49  Ortsnamen,  unter  denen 
sich  die  folgende  Gruppe  befand: 

Coburg-Go  tha-Eisenach-Gastein-Ems-Mainz~Mayence-Mayonnaise-H  ummer-Stock- 
fisch-Enterich-Pfau-Truthahn-Erfurt-Apolda- 

Man  erkennt  hier  deutlich  die  planlose  Aneinanderreihung  der 
Städtenamen,  die  Unterbrechung  der  Reihe  durch  eine  Klangver- 
wandtschaft, das  Entstehen  einer  neuen  Aufzählung  ganz  anderen 
Inhaltes  und  die  unvermittelte  Rückkehr  zu  der  ersten  Reihe. 
Das  verknüpfende  Band  ist  hier  in  der  Hauptsache  noch  der 
Inhalt  der  Vorstellungen,  anscheinend  deswegen,  weil  bei  den 
schriftlichen  Aufzeichnungen  der  Klang  gar  keine  Rolle  spielen 
konnte.  Immerhin  ist  ein  gewisser  Einfluss  der  sprachlichen 
Übung  — „Coburg-Gotha“  — und  des  Gleichklanges  — „Mayence- 
Mayonnaise“  angedeutet.  Je  stärker  aber  der  Einfluss  der 
motorischen  Sprachvorstellungen  und  der  Sprachlaute  für  den 
Gedankengang  anwächst,  beim  Sprechen  und  Hören,  desto  mehr 
kommt  es  an  Stelle  des  inhaltlichen  Zusammenhanges  zu  einer 
Häufung  sprachlich  eingeübter  Associationen,  gewohnheits- 
mässiger  Wortverbindungen,  endlich  zur  Verknüpfung  der  Vor- 
stellungen nach  reiner  Klangähnlichkeit.  Diese  Störung  ist  es, 
die  man  auch  wohl  im  engeren  Sinne  als  Ideenflucht  bezeichnet; 
vielleicht  könnte  man  sie  der  durch  inhaltliche  Bestandteile  der 
Vorstellungen  vermittelten  „inneren“  Ideenflucht  als  „äussere“ 
gegenüberstellen. 

Die  Bedingungen  für  ihr  Zustandekommen  sind  überall  ge- 
geben, wo  wir  es  mit  einer  Steigerungder  motorischen 
Erregbarkeit  zu  tun  haben.  Gerade  diese  Form  der  Ideen- 
flucht ist  es,  die  sich  unter  dem  Einflüsse  von  körperlichen  An- 
strengungen, Nachtwachen  und  Hungern  sowie  im  Alkohol- 
rausche einzustellen  pflegt.  Daher  beobachten  wir  hier  be- 
sonders das  Einlenken  des  Gedankenganges  in  die  Bahnen  ein- 
geübter Wendungen  und  stehender  Redensarten,  in  denen  der 
Einfluss  der  Sprachvorstellungen  deutlich  genug  über  denjenigen 
des  Gedankeninhaltes  überwiegt.  In  Krankheitszuständen  kann 
der  Redeschwall  den  Gedankengang  gewissermassen  vollständig 


Störungen  des  Gedankenganges. 


199 


mit  sich  fortreissen.  „Der  Nagel  an  der  Wand,“  begann  eine 
solche  Kranke,  auf  einen  Nagel  zeigend,  fuhr  aber  sodann  fort: 
„hört  seine  eigene  Schand.“  Gleichklänge,  Anklänge,  Reime, 
Citate  überwuchern  hier  schliesslich  mehr  und  mehr  alle  anders- 
artigen Bindeglieder  zwischen  den  einzelnen  Vorstellungen.  Ein 
Beispiel  für  diese  völlige  Auflösung  des  inhaltlichen  Zusammen- 
hanges bietet  die  folgende,  bei  einem  manischen  Kranken  ge- 
wonnene Nachschrift: 


Flut-Maul-Mammut-schwarzweiss-slip-abgehaut  den  Kopf-schmpp,  schnapp 
schnipp,  schnapp,  schnurr-Orsowa  und  Gradisca-Pump-Devrient-Kersowa-Kousso- 
Odessa-Carmen-Grossmann-Ernestin-zick,  zack,  zuck-Decluse-Levit-Trier-Treviran 

Tribites-Trevianda-Demimonde-Mandeck-Hirschdreck-Jod-Wasser-Apolhnans-Edm- 

burg  - Gries- Aumüller- Abel  - Babel-Babylon-Schlauch-Mauer  - Respirator-Barenfemd- 

Schuwaloff-Rechberg-Cicero-Manuta-Mantua-Kalakaua-Sendelbachergasse-Nauplia 

nobel-Adria-Licht-nach  Belt-Grindach-Tegernbach-hintennaus-Sedelmayer-Meer-Au- 

Ringseis-linksum-horch,  der  Lump  hat  seine  Mutter  umgebracht-schwarz  werden- 
ja  sehr  schön-Kakao-Mumps-Kaiser  und  Eeich-Zoroaster-Hansa-38  Kopf-Nicaea- 

Constanz-Verbrennung-Huss-Schwager-Dreck-Theriak-pereatmundus-ans-Hansa  etc. 

An  einigen  Stellen  (Wasser-Apollinaris,  Nicaea-Constanz-Ver- 
brennung-Huss)  erkennt  man  noch  eine  innere  Beziehung  der 
auftauchenden  Vorstellungen.  Meist  aber  spielen  Anklänge  die 
Vermittlerrolle,  so  weit  überhaupt  noch  eine  Verbindung  ersicht- 
lich ist.  Da  die  Reihe  in  ziemlich  langsamem  Zeitmasse  vor- 
gebracht wurde,  kann  natürlich  auch  manches  Bindeglied  un- 
ausgesprochen geblieben  sein. 

Der  eigentlichen  Ideenflucht  möchten  wir  hier  als  zweite 
Form  einer  Lockerung  des  Gedankenganges  die  Zerfahren- 
heit gegenüberstellen,  wie  sie  der  Dementia  praecox  im  wei- 
testen Sinne  eigentümlich  ist.  Da  wir  von  den  tieferen  Grund- 
lagen dieser  Störung  noch  nichts  wissen,  so  ist  es  recht  schwierig, 
ihr  Wesen  genauer  zu  kennzeichnen.  Wir  haben  es  hier  bei 
leidlich  erhaltener  äusserer  Form  der  Rede  mit  einem  mehi  odei 
weniger  vollständigen  Verluste  des  inneren  und  äusseren  Zusam- 
menhanges der  Vorstellungsreihen  zu  tun.  Der  Gedankengang 
zeigt  durchaus  keinen  Ariadnefaden,  wie  bei  der  inneren  Ideen- 
flucht, sondern  die  verschiedensten  Vorstellungen  reihen  sich 
völlig  ziellos  und  unvermittelt  aneinander  an.  Dort  waren  wir 
imstande,  zwischen  den  einzelnen  Gliedern  der  V orstellungsi  eihe 
einen  Zusammenhang,  wenn  auch  oft  nur  sehr  äusserlicher  Art, 


200 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


aufzufinden,  durch  den  wir  allmählich  auf  immer  andere  Gedanken- 
ketten hinübergeleitet  werden,  bis  wir  unseren  Ausgangspunkt 
völlig  ausser  Augen  verloren  haben.  Hier  dagegen  sind  fast 
nirgends  Bindeglieder  zwischen  den  aufeinanderfolgenden  Vorstel- 
lungen erkennbar,  so  häufig  sich  auch  die  Gedankengänge  längere 
Zeit  hindurch  in  ähnlichen  Wendungen  bewegen,  freilich  meist  in 
ganz  unklaren  und  widerspruchsvollen  Formen.  Während  der  Vor- 
stellungsverlauf bei  der  Ideenflucht  immerfort  wechselnden  und 
daher  nie  erreichten  Zielen  zustrebt  und  stets  neue  Kreise  zieht, 
findet  hier  ein  Fortschreiten  des  Gedankenganges  nach  irgend 
einer  Richtung  überhaupt  nicht  statt,  sondern  nur  ein  planloses 
Herumfahren  in  denselben  allgemeinen  Bahnen  mit  zahlreichen, 
verblüffenden  Entgleisungen.  Die  Ablenkbarkeit  durch  innere 
und  äussere  Einflüsse  ist  hier  ebenfalls  sehr  gross,  aber  die  neu 
erweckten  Vorstellungen  dienen  nicht  sofort  als  Anknüpfung  für 
andere,  sondern  schieben  sich  einfach  zusammenhangslos  in  die 
zerfahrenen  Gedankengänge  ein.  Es  gelingt  oft  ohne  Schwierig- 
keit, durch  Fragen  mitten  in  dem  Wirrwarr  von  \ or Stellungen  eine 
Reihe  vollständig  geordneter  Antworten  zu  erzielen.  Die  folgende 
Nachschrift  von  einer  katatonischen  Kranken  mag  dazu  dienen, 
diese  Eigentümlichkeiten  näher  zu  erläutern;  in  Klammern  sind 
die  Fragen  des  Arztes  eingefügt. 

(Warum  sind  Sie  hier?)  „Weil  ich  Kaiserin  bin.  Die  lieben  Eltern  waren 
schon  da,  und  alles  war  schon  da  und  hat  mir  die  Erlaubnis  gegeben;  ich 
habe  auch  stenographieren  gelernt.  Na,  David,  wie  geht’s  denn?  Ja,  so,  als 
Ersatzreservist.  Grössenwahn.  Kaiserin.  (Gefällt  es  Jhnen  gut?)  0,  danke, 
ganz  gut,  weil  die  Herrschaft  die  Erlaubnis  dazu  gegeben  hat,  ja,  wir  wollen 
wieder  die  besten  Freunde  sein.  Ach  Gott,  mein  Bruder  Karl  David  der  erste 
und  Olga  von  Mühlhausen.  Ach,  lasst  mich  doch  auch  einmal  schreiben. 
(Warum  sind  Sie  hier?)  Irrsinnig,  Grössenwahn.  (Was?)  Altes  Fass,  von  Hei- 
delberg, Studiosus  als  Kaufmann,  für  unsern  Willy,  Kaufmann  dürfe  auch 
dazu.  Ja  so,  weiter.  Ich  will  ja  nicht  schuld  sein;  ich  habe  ja  niemand 
dazu  auf  gef  ordert;  ach  Gott,  von  damals  abends,  wie  wir  beisammen  waren, 
ja.  (Was  war  da?)  Nichts,  gar  nichts.  Heilbronn  (lacht)  gar  nichts.  Um 
Gottes  willen,  so  genau  wird  das  alles  genommen.  Ja,  so.  (Wie  alt  sind  Sie?) 
22.  VII.  1872.  (Wollen  Sie  wieder  fort?)  Ich  weiss  nicht;  wenn  er  kommt, 
bin  ich  da;  ich  werd’  ihm  doch  nicht  nachlaufen.  (Lacht.)  Ich  muss  immer 
knappen  (klappt  mit  den  Zähnen).  Ihr  dürft  mich  auch  noch  einmal  über 
die  Backen  streichen;  ich  hab’  nichts  dagegen.  (Greift  nach  der  Uhrkette.) 
Die  Kette  ist  aber  nichts.  Jetzt  will  ich  doch  einmal  nach  der  Uhr  sehen. 
Ich  will  mir  die  Freiheit  erlauben;  unter  Verwandten  ist  alles  erlaubt.  Adam 


Störungen  des  Gedankenganges. 


201 


und  Eva,  o,  die  ist  aber  nicht  von  Gold.  Was  ich  gesagt  habe,  es  wäre  alles 
wahr,  alles,  was  zur  Verwandtschaft  gehört;  ich  habe  ja  gesagt  von  a bis  tz; 
ich  kann  doch  nicht  alles  mit  einmal  essen;  die  war  auch  nicht  schuld;  ich 
will  an  allem  schuld  gewesen  sein“  u.  s.  w. 

Die  Ablenkung  durch  Anreden,  Klänge,  Gesichtseindrücke 
lässt  sich  hier  leicht  verfolgen.  Eine  Wiederkehr  einzelner  Wen- 
dungen ist  nur  angedeutet;  stärker  tritt  dieselbe  schon  in  dem 
folgenden  Beispiel  hervor,  das  einer  langen  Nachschrift  bei  einem 
katatonischen  Kranken  entnommen  ist. 

„Gehen  Sie  weg,  so  kommt  die  Kaufmanns  f r a u und  sagt,  sie  ist  reich 
und  ich  bin  arm;  da  meint  sie,  ich  wäre  der  Weinstock;  da  geht  sie  hin 
und  betet  an  den  Weinstock.  Unter  Beten  verstehen  die  Katho- 
liken„oren“.  Die  Frau  handelt  aber  nicht  im  Bewusstsein  der  tat- 
sächlich bewussten  Handlung.  Die  haben  das  Walzertempo  in  sich;  sie 
hören  und  hören  nicht,  weil  alles  durcheinander  ist;  der  eine  spricht 
französisch,  der  andere  lateinisch.  Ich  werde  in  ganz  Heidelberg  als  der 
grösste  Sünder  angesehen,  bin  aber  nicht  der,  für  den  mich  die  katholische 
Kirche  hält.  Sie  verehrt  mich  als  zu  ideell.  Die  Dame,  die  nach  Amerika 
geflohen  ist  auf  dem  untergegangenen  Schiff,  hat  das  Eisen  und  den  Farb- 
stoff genommen  durch  den  Händedruck,  aber  nicht  durch  den  blu- 
tigen Händedruck,  durch  das  pulsierende  Blut,  sondern  durch  den 
eisernen  Händedruck.  Meine  Kraft  ist  vom  Eisen  abhängig“  u.  s.  f. 

In  der  ganzen,  etwa  achtmal  so  langen  Unterredung  kehrten 
in  ähnlicher  Weise  ungezählte  Male  die  Ausdrücke  Eisen,  Gold, 
Stahl,  Messing,  Phosphor,  Silber,  Geld,  Elektrizität,  Kraft, 
Thermometer,  Handgelenk,  Meeresgrün,  Topfpflanze,  Wurzel, 
Religion  und  einige  andere  wieder,  aber  nicht  unmittelbar  hinter- 
einander, sondern  an  ganz  verschiedenen  Stellen.  Die  langsam 
vorgebrachten  Äusserungen  schienen  zunächst  einen  gewissen  Sinn 
zu  haben;  erst  bei  genauerer  Prüfung  stellte  sich  die  gänzliche 
Zerfahrenheit  deutlich  genug  heraus. 

Die  Anknüpfung  der  Vorstellungen  nach  dem  Klange  macht 
sich  hier  weniger  geltend,  als  bei  der  Ideenflucht.  Nicht  selten 
aber  zeigt  sich  ein  Einfluss  des  Sprachklanges  auf  den  Gedanken- 
gang in  der  Form  der  „Wortspielerei“.  Es  handelt  sich  dabei  um 
gewaltsam  witzelnde  Verdrehungen  und  Verzerrungen  einzelner 
Wörter  oder  Redensarten.  Diese  Klangassociationen  bilden  jedoch 
hier  nicht  einfach  die  Überleitung  von  einer  Vorstellung  zur 
anderen,  sondern  sie  sind  gesuchte  Abwandlungen  der  einfachen 
Redewendungen  und  demgemäss  als  ein  Ausfluss  jener  Störung 


202 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zu  betrachten,  die  wir  späterhin  als  Manieriertheit  kennen  lernen 
werden.  So  sang  eine  Kranke  stundenlang:  „Undank  ist  der 
Welt  Lob“.  Ein  anderer  sprach  von  „Fromage  de  Brüh“,  als  er 
Suppe  und  Käse  erhalten  hatte,  verlangte  Häringssalat  gegen 
seine  „Katertonie“,  meinte,  er  leide  nicht  an  Katatonie,  sondern 
an  Miezetonie,  erwiderte,  als  von  einem  Douceur  gesprochen 
wurde,  es  sei  noch  nicht  zwölf  Uhr  (douze  heures).  Derselbe 
Kranke  witzelte  aber  auch  ohne  Beziehung  zum  Mortklange. 
„Sie  sind  wohl  Moltke;  Sie  sagen  ja  gar  nichts“;  „ich  bin  bald 
zweimal  neun  Monate  hier;  jetzt  schicken  Sie  mich  doch  mal 
in  die  Frauenklinik,  dass  ich  endlich  niederkomme.“  Diese  Reden 
erinnern  an  die  bei  Hirngeschwülsten  beobachtete  „Mitzelsucht  . 
Andere  Kranke  gefallen  sich  in  eigentümlich  verblüffenden  Vor- 
stellungsverbindungen. Eine  meist  ganz  klare  und  besonnene 
Kranke  äusserte:  „Da  oben  haben  Sie  einen  echten  Hemden- 
knopf, der  pflegt  erst  durch  mich  in  Bereitschaft  zu  kommen. 
Der  Feldwebelgeist  liegt  in  dem  Geschmeiss.  Ist  es  nicht  rund, 
auch  in  den  Kastengeist  zu  drehen.  Ich  habe  der  sechsjährigen 
Ehepflicht  genügt.  Sie  nehmen  ja  schon  aus  dem  Mund  die 
Kinder  heraus.“ 

Auch  bei  der  Zerfahrenheit  können  Klang  und  Rhythmus 
die  Äusserungen  der  Kranken  vollständig  beherrschen;  das  ge- 
schieht bei  wachsender  Erregung.  Allerdings  trägt  das  Er- 
gebnis ein  ganz  anderes  Gepräge,  als  in  der  Manie.  Ein  Beispiel 
gibt  die  folgende  Reimerei: 

„Lieber,  lieber  Retter  mein  — rette  doch  nur  Dich  allein  — Liebste  Lieb', 
wie  kann  ich  sein  allein  — was  ich  schein’  — Lieber  Hand  — ist  doch  nur  Land 
Lieber  Gott,  ich  wache  bald  wieder  — wenn  Du  nur  gibst  die  Mutter  wieder  — 
Lieber  Gott,  was  will  ich  haben  — als  nur  die  alte  Gaben  — In  Dir  nur  allein 
ist  Mutter  gänzlich  ein  — lieber  Gott,  ich  kann  ja  warten  — ich  will  ja  nichts 
als  Mutterle  halten  — Liebe,  Liebe,  Liebe  mein  — kann  nimmer  ein  Gedanke 
sein  — Gedanken  raten  tu  ich  nicht  — Die  Hand  allein  ist  Pflichtespflicht*'  u.  s.  f. 

Schliesslich  können  sich  die  sprachlichen  Äusserungen  der 
Kranken  in  eine  Reihe  von  Silben,  Buchstaben  oder  Lauten  auf- 
lösen.  Während  aber  bei  den  schwersten  Formen  der  Ideen- 
flucht die  Kette  der  Gleichklänge  einen  fortschreitenden  Wechsel 
erkennen  lässt,  während  dort  immer  noch  die  Mehrzahl  der  vor- 
gebrachten Sprachgebilde  wirkliche  Wörter  darstellen,  kommt  es 
hier  zu  einer  völlig  sinnlosen  "Wiederholung  derselben  Bestand- 


Störungen  des  Gedankenganges. 


203 


teile  mit  ganz  geringfügigen  Abänderungen,  zu  „Klangspielereien  ‘ 
nach  Art  des  folgenden  Beispiels: 

„ellio,  ellio,  ellio  altomellio,  altomellio  — selo,  elvo,  delvo,  helvo  — f,  f,  f, 
lieber  Vater  — f , f , f — lieber  Vater  — e,  e,  f — alte  und  neue  — f,  f — f,  f,  f 
— katholische  Kirche  — w,  e,  f — katholische  Kirche  — w,  e,  f,“  und  so  zahl- 
lose Male  in  eintöniger  Wiederholung. 

Der  Gedankengang  schreitet  hier  durch  den  Sprachklang  nicht 
zu  neuen  Vorstellungen  fort,  sondern  klebt  an  ihm  fest,  ohne  jede 
begleitende  Sachvorstellung.  Kennzeichnend  sind  namentlich  die 
sinnlosen  Reime. 

Die  gemeinsame  Folge  aller  Störungen,  welche  den  inneren 
Zusammenhang  der  Vorstellungen  lockern  oder  zerstören,  ist  das 
Auftreten  eines  sehr  häufigen  Krankheitszeichens,  der  Ver- 
wirrtheit. Die  Entstehungsweise  dieser  Erscheinung  ist,  wie 
wir  gezeigt  haben,  eine  vielfach  verschiedene.  Wo  die  Lockerung 
des  Gedankenzusammenhanges  wesentlich  durch  Flüchtigkeit  der 
Zielvorstellungen  bedingt  wird,  da  entsteht  die  ideenflüch- 
tige Verwirrtheit  mit  ihrer  Neigung  zu  äusseren  und  vielfach 
zu  sprachlichen  Associationen.  Unvermitteltes  Auftauchen  ganz 
verschiedenartiger  Vorstellungen  ohne  Ordnung  und  Führung 
durch  bestimmte  Zielvorstellungen  erzeugt  die  zerfahrene 
Verwirrtheit,  die  vielfach  mit  Andeutungen  von  Stereotypie  und 
Wortspielereien  einhergeht.  Vielleicht  können  wir  ferner  eine 
traumhafte  Verwirrtheit  unterscheiden,  wie  sie  den  deliriösen 
Zuständen  eigentümlich  ist.  Bei  ihr  dürfte  neben  der  Auffassungs- 
störung und  dem  raschen  Verblassen  der  Wahrnehmungen  das 
starke  Hervortreten  einzelner  rein  sinnlicher  Bestandteile,  die 
nur  teilweise  Beleuchtung  der  Vorstellungen,  eine  gewisse  Rolle 
spielen,  insofern  sie  uns  bunte,  abenteuerliche  Erlebnisse  vor- 
spiegelt, ohne  dass  wir  imstande  wären,  die  inneren  Widersprüche 
aufzufassen. 

Überraschendes  Auftauchen  massenhafter,  locker  sich  an- 
einander schliessender,  neuer  Gedankenreihen  kann,  wie  es  scheint, 
zu  einer  „kombinatorischen“  Verwirrtheit  führen;  uns 
schwindelt  der  Kopf,  weil  wir  nicht  imstande  sind,  die  plötzlich 
aufschiessenden  Vorstellungen  zu  ordnen  und  zu  überblicken.  Diese 
Form  der  Verwirrtheit  findet  sich  in  jenen  Krankheitsformen,  in 
deren  weiterem  Verlaufe  die  rasch  entstandenen  Einbildungen 


204 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


zu  einem  dauernden  Wahngebäude  verarbeitet  werden,  ähnlich, 
wie  auch  wir  eine  uns  anfangs  verwirrende  neue  Idee  allmählich 
in  unsere  Gedankenkreise  hineinarbeiten  und  dadurch  die  innere 
Einheit  und  den  Zusammenhang  derselben  wiederherstellen.  Ein 
solcher  Kranker  bezeichnete  mir  dieses  verwirrende  Anstürmen  von 
Ahnungen  und  Vermutungen  als  eine  wahre  „Hunnenschlacht  des 
Geistes“.  Vielfach  wird  ferner  das  Auf  tauchen  massenhafter 
Sinnestäuschungen  als  Ursache  einer  hallucinatorischen 
Verwirrtheit  betrachtet,  ähnlich  wie  beim  Gesunden  die  Orien- 
tierung verloren  geht,  wenn  er  sich  plötzlich  in  ein  unentwirr- 
bares Gemisch  neuer,  rätselhafter  Sinneseindrücke  versetzt  sieht. 
Bei  alten  Hallucinanten  sehen  wir  indessen,  dass  vollkommene 
Ordnung  der  Gedanken  trotz  zahlreicher  Sinnestäuschungen  be- 
stehen kann. 

Auch  die  psychische  Hemmung,  welche  das  Verständnis  und 
die  geistige  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke  erschwert,  scheint 
eine  eigenartige  Form  der  Verwirrtheit  erzeugen  zu  können,  die 
wir  wohl  am  besten  als  „stuporöse“  Verwirrtheit  bezeichnen. 
Vielfach  handelt  es  sich  dabei  allerdings  ohne  Zweifel  um  die 
Verbindung  von  Stupor  mit  Ideenflucht.  Endlich  spielen  eine 
sehr  wichtige  Rolle  bei  der  Entstehung  der  verschiedenen  Formen 
der  Verwirrtheit  die  Gemütsbewegungen.  Den  gewaltigen  Einfluss 
derselben  auf  den  klaren  Zusammenhang  der  Gedanken  lehrt  uns 
schon  die  gesunde  Erfahrung,  von  den  leisesten  Regungen  der  Ver- 
legenheit und  Befangenheit  an  bis  zu  den  mächtigen  Gefühls- 
schwankungen der  Angst,  des  Zornes  und  der  Verzweiflung.  In 
Krankheitszuständen  mit  ihren  heftigen  Erschütterungen  des  ge- 
mütlichen Gleichgewichtes  ist  dieser  Einfluss  natürlich  noch  un- 
vergleichlich viel  mächtiger,  so  dass  wir  es  wahrscheinlich  sehr 
häufig  mit  Hemmungen  und  Störungen  des  Gedankenzusammen- 
hanges durch  Gemütsbewegungen  zu  tun  haben.  Im  einzelnen 
vermögen  wir  heute  freilich  das  Wesen  und  Zustandekommen 
dieser  Wirkungen  noch  nicht  zu  zergliedern. 

Störungen  der  Einbildungskraft.  Der  Schatz  unserer  früher 
erworbenen  Erfahrungen  gewinnt  erst  dadurch  seinen  vollen  Wert 
für  uns,  dass  wir  imstande  sind,  aus  ihm  willkürlich  V orstellungen 
und  Erinnerungen  in  den  Blickpunkt  des  Bewusstseins  zu  heben 
und  sie  in  die  mannigfachste  Verknüpfung  zu  bringen.  Wir  dürfen 


Störungen  der  Einbildungskraft. 


205 


diese  Fähigkeit,  die  eine  Reihe  von  Leistungen  in  sich  schliesst, 
hier  wohl  vorläufig  als  Einbildungskraft  kennzeichnen.  Sie 
setzt  natürlich  auf  der  einen  Seite  erneuerungsfähige  Spuren 
früherer  Seelenvorgänge  voraus;  auf  der  anderen  Seite  aber  ist 
sie  es,  die  uns  befähigt,  aus  den  einfachen  Erinnerungsresten  neue 
psychische  Gebilde  zusammenzusetzen,  uns  über  die  Sinnes- 
erfahrung zu  erheben  und  schöpferische  Geistesarbeit  zu  leisten. 
So  bildet  die  sinnliche  Einbildungskraft  die  Grundlage  des  male- 
rischen oder  musikalischen  Schaffens,  und  auch  die  Entdecker- 
arbeit des  Erfinders  oder  Forschers  wie  die  Gedankengänge  des 
Weltweisen  nehmen  ihren  Ausgang  von  der  willkürlichen  Ver- 
bindung getrennt  erworbener  Erfahrungsbestandteile. 

Die  freie  Verfügung  über  die  schlummernden  Vorstellungen 
wie  ihre  Verknüpfung  kann  in  Krankheitszuständen  sehr  beträcht- 
lich erschwert  sein.  Vor  allem  ist  das  der  Fall  bei  der  geistigen 
Lähmung,  wie  sie  sich  in  leichteren  Graden  schon  bei  der  ein- 
fachen Ermüdung,  sodann  bei  Vergiftung  mit  betäubenden 
und  schlafmachenden  Mitteln,  namentlich  aber  bei  den  schweren 
Verblödungen  der  Paralyse,  des  Altersirreseins  und  anderer  Hirn- 
erkrankungen entwickelt.  Bei  diesen  letzteren  Störungen  ver- 
bindet sich  das  Versiegen  der  Einbildungskraft  regelmässig  mit 
einer  Abnahme  der  Gedächtnisleistungen;  die  Vorstellungen  stehen 
nicht  nur  nicht  mehr  zu  Gebote,  sondern  sie  gehen  in  weitem 
Umfange  völlig  verloren.  Wo  dieser  Verlust  weniger  ausgedehnt 
ist,  wie  zumeist  beim  epileptischen  Schwachsinn,  entwickelt  sich 
eine  einfache  „Schwerfälligkeit“.  Die  Kranken  sind  wohl 
noch  imstande,  über  ihren  Vorstellungsschatz  zu  verfügen,  aber 
sie  bedürfen  dazu  einer  unverhältnismässig  langen  Zeit  und  leb- 
hafter Anregung. 

Der  Schwerfälligkeit  äusserlich  ähnlich  ist  die  Denk- 
hemmung,  der  wir  namentlich  in  den  depressiven  und  gewissen 
Mischzuständen  des  manisch-depressiven  Irreseins  begegnen;  viel- 
leicht ist  auch  die  Denkstörung  in  manchen  hysterischen  und 
epileptischen  Dämmerzuständen  hierher  zu  rechnen.  Während  es 
sich  bei  der  Schwerfälligkeit  um  eine  dauernde  Verlangsamung 
und  Unbeholfenheit  der  geistigen  Leistungen  handelt,  haben  wir 
es  bei  der  Denkhemmung  mit  einer  vorübergehenden  Erschwerung 
durch  starke  Widerstände  zu  tun.  Sie  ist  regelmässig  begleitet 


206 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


von  Änderungen  des  Stimmungshintergrundes,  deren  Bedeutung 
für  die  Tätigkeit  der  Einbildungskraft  uns  ja  aus  dem  gesunden 
Leben  geläufig  ist.  Die  Verarbeitung  äusserer  Eindrücke  ist 
erschwert,  unter  Umständen  bis  zur  völligen  Ratlosigkeit,  weil 
der  Widerhall  rasch  auf  tauchender  Erinnerungsbilder  fehlt;  die 
Kranken  können  sich  auf  nichts  besinnen,  finden  nicht  die  An- 
knüpfung an  frühere  Erlebnisse,  wissen  bisweilen  nicht  mehr  die 
Namen  ihrer  nächsten  Angehörigen  anzugeben.  Ihnen  fällt  auch 
durchaus  nichts  ein;  die  Gedanken  scheinen  geradezu  still  zu 
stehen.  Solche  Kranke  können  den  Eindruck  ausgeprägtesten 
Blödsinns  machen.  Als  Hemmung  wird  aber  die  Störung  dadurch 
gekennzeichnet,  dass  unter  gewissen  Bedingungen  alle  diese 
schweren  Störungen  ziemlich  plötzlich  verschwinden  können. 
Ausserdem  wird  von  den  Kranken  selbst  der  Widerstand,  mit  dem 
sie  zu  kämpfen  haben,  deutlich  empfunden.  Es  fehlt  ihnen  nicht 
an  der  geistigen  Regsamkeit;  sie  sind  nicht  stumpf  und  gleich- 
gültig wie  die  verblödeten  Kranken,  aber  sie  vermögen  trotz 
der  grössten  Anstrengungen  nicht,  die  Gebundenheit  und  Un- 
freiheit ihres  Denkens  zu  überwinden. 

Ganz  anders  liegt  die  Sache  bei  der  krankhaften  „Inter- 
esselosigkei t“,  wie  sie  jenen  Krankheitsformen  eigentüm- 
lich ist,  die  wir  als  Dementia  praecox  zusammenfassen.  Hier 
ist  die  geistige  Beweglichkeit  an  sich  nicht  wesentlich  behindert; 
dagegen  fehlt  mehr  oder  weniger  vollständig  die  Triebfeder  der 
Gedankenarbeit.  Auf  bestimmte  Anregungen  hin  vermögen  die 
Kranken  ohne  Schwierigkeit  beliebige  Vorstellungen  wachzu- 
rufen, aber  sie  werden  nicht  aus  eigenem  Antriebe  zu  geistiger 
Tätigkeit  gedrängt,  geben  sich  keine  Rechenschaft  über  das,  was 
mit  ihnen  geschieht,  denken  nicht  nach,  machen  sich  kein  Bild 
von  der  Zukunft.  Da  auf  diese  Weise  das  geistige  Leben  mehr 
und  mehr  stockt  und  die  Erneuerung  alter  Vorstellungen  aus- 
bleibt, vollzieht  sich  allmählich  auch  eine  Einschrumpfung  des 
Erfahrungsschatzes,  eine  Art  Verkümmerung  durch  Nicht- 
gebrauch. Man  kann  sich  jedoch  bei  diesen  Kranken,  im  Gegen- 
satz etwa  zu  den  Paralytikern,  nicht  selten  davon  überzeugen, 
dass  gelegentlich  noch  überraschend  viel  mehr  Vorstellungen  bei 
ihnen  auftauchen,  als  man  bei  ihrer  völligen  Gedankenleere  er- 
wartet hätte.  Daraus  geht  hervor,  dass  es  sich  hier  in  erster 


Störungen  der  Einbildungskraft. 


207 


Linie  um  den  Verlust  der  geistigen  Regsamkeit  gehandelt 
haben  muss. 

Krankhafte  Erregungen  der  Einbildungskraft  geben  sich  vor 
allem  in  besonderer  Lebhaftigkeit  der  Einbildungsvorstellungen 
kund,  die  unter  Umständen  fast  sinnliche  Stärke  gewinnen  können. 
Wir  sehen  das  vor  allem  in  den  verschiedenartigen  deliranten 
Zuständen;  damit  verbindet  sich  dann  regelmässig  eine  ausge- 
prägte Auffassungsstörung.  Wenn  man  will,  kann  man  auch 
gewisse  Angstzustände  bei  Melancholischen,  Cirkulären,  Psycho- 
pathen hierher  rechnen,  in  denen  die  Kranken  sich  ihie  Be- 
fürchtungen mit  peinlicher  Deutlichkeit  und  Ausführlichkeit  aus- 
malen. Es  handelt  sich  hier  offenbar  um  eine  ganz  ähnliche  Er- 
regung der  Einbildungskraft,  wie  wir  sie  bei  den  entsprechenden 
Gemütsbewegungen  der  Gesunden  beobachten. 

Zweifelhaft  muss  es  bleiben,  ob  wir  es  auch  in  den  mani- 
schen, paralytischen  oder  katatonischen  Erregungszuständen  mit 
einer  Steigerung  der  Einbildungskraft  zu  tun  haben.  Am  ehesten 
würde  man  vielleicht  noch  für  die  Manie  eine  solche  Annahme 
machen  können,  doch  ist  der  wirkliche  Gedankenreichtum  selbst 
hier  schwerlich  vermehrt,  oft  genug  sogar  geradezu  herabgesetzt. 
Allerdings  behaupten  einzelne  Kranke,  dass  ihnen  so  viele  Ge- 
danken zuströmten,  und  auch  in  den  cirkulären  Depressionszustän- 
den hört  man  hier  und  da  trotz  ausgeprägter  äusserer  Hemmung 
derartige  Angaben.  Es  sprechen  jedoch  manche  Gründe  .dafür, 
dass  es  sich  dabei  mehr  um  eine  erhöhte  Ablenkbarkeit  und 
Flüchtigkeit  der  inneren  Vorgänge,  als  um  eine  gesteigerte  Er- 
zeugung von  Vorstellungen  handelt. 

Dauerndes  Überwuchern  der  Einbildungstätigkeit  über  die 
nüchterne  Verarbeitung  der  Erfahrung  findet  sich  bei  einer 
grossen  Gruppe  von  psychopathischen  Persönlichkeiten.  Dahin 
gehören  zunächst  die  krankhaften  Erfinder  und  Abenteurer,  die 
bei  der  Verfolgung  ausschweifender  Pläne  vollständig  den  sicheren 
Boden  der  Wirklichkeit  verlieren  und  nur  den  Erfolg,  aber  nie 
die  Schwierigkeiten  und  die  Unzulänglichkeit  ihrer  Mittel  vor 
Augen  haben.  Ihnen  verwandt  sind  die  Träumer,  die  sich  ge- 
wohnheitsmässig  in  willkürlich  erdachte  Lebenslagen  versenken 
und  sie  liebevoll  mit  feinsten  Einzelheiten  ausmalen.  Endlich 
haben  wir  hier  der  krankhaften  Lügner  und  Schwindler  zu  ge- 


208 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


denken,  die  in  den  wechselnden  Gebilden  ihrer  geschäftigen  Ein- 
bildungskraft höchste  Befriedigung  finden  und  dadurch  zu  immer 
neuen,  kühnen  Erfindungen  und  Ausschmückungen  getrieben  wer- 
den, so  dass  ein  unentwirrbares  Gemisch  von  Wahrheit  und  Dich- 
tung entsteht*). 

Grosse  Lebhaftigkeit  der  Einbildungsvorstellungen  geht  in 
der  Regel  mit  erhöhter  Beeinflussbarkeit  der  Gedankenwelt  durch 
äussere  und  innere  Ursachen  einher,  da  sie  der  Ausdruck  einer 
gesteigerten  Beweglichkeit  der  psychischen  Gebilde  überhaupt 
zu  sein  pflegt.  In  der  Gesundheitsbreite  zeigt  sich  das  beim 
kindlichen  und  beim  weiblichen  Seelenleben.  Krankhafte  Sugge- 
stibilität  und  Autosuggestibilität  ist  die  Begleiterscheinung  vieler 
psychopathischer  Zustände,  namentlich  der  hysterischen  Veran- 
lagung. Sie  äussert  sich  hier  nicht  nur  in  der  Zugänglichkeit 
des  Denkens  und  Empfindens  für  lebhafte  Eindrücke  und  Einreden, 
in  der  Herrschaft  unvermittelt  auftauchender  Einbildungen,  son- 
dern namentlich  auch  in  dem  Auftreten  von  allerlei  körperlichen 
Folgeerscheinungen,  die  durch  Vermittlung  von  Gemütsbewe- 
gungen ausgelöst  werden. 

Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung.  Die  höchsten 
und  verwickeltsten  Leistungen  auf  dem  Gebiete  des  Verstandes 
sind  Urteil  und  Schluss.  Da  sie  sich  aufbauen  auf  der  Vorarbeit 
der  Wahrnehmung,  des  Gedächtnisses,  der  Bildung  und  Verbindung 
von  Vorstellungen,  so  ist  es  natürlich,  dass  alle  Beeinträchtigungen 
irgend  eines  dieser  Vorgänge  regelmässig  in  mehr  oder  weniger 
nachhaltiger  Weise  das  in  Urteil  und  Schluss  sich  darstellende 
Endergebnis  der  geistigen  Arbeit  in  Mitleidenschaft  ziehen  müssen. 
Abgesehen  davon  kann  jedoch  die  verstandesmässige  Verar- 
beitung der  Vorstellungen  selbst  gewissen  krankhaften  Stö- 
rungen unterliegen,  welche  für  das  ganze  geistige  Leben  in  der 
Regel  äusserst  verhängnisvoll  werden. 

Zwei  Wege  sind  es  vornehmlich,  auf  denen  menschliche  Er- 
kenntnis zu  stände  kommt,  durch  unmittelbare  Angliederung  der 
Erfahrung  und  durch  freie,  selbständige  Erfindung.  Freilich  laufen 
diese  beiden  Wege  vielfach  nebeneinander  her.  Auch  die  strengste 


*)  Delbrück,  Die  pathologische  Lüge  und  die  psychisch-abnormen 
Schwindler.  1891. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


209 


Erfahrungswissenschaft  vermag  sich  von  der  Beeinflussung  durch 
bestehende  Anschauungen  und  Erwartungen  nicht  völlig  frei  zu 
halten,  und  andererseits  arbeitet  die  Einbildung  auch  in  ihren 
unabhängigsten  Schöpfungen  immer  mit  Einzelheiten,  die  ur- 
sprünglich der  Erfahrung  entstammen.  Indessen  zeigt  uns  die 
Geschichte  der  "V  erstandesentwicklung  beim  Einzelnen  wie  bei 
der  Menschheit,  dass  mit  zunehmender  Reife  immer  schärfer  die- 
jenigen Erkenntnisse,  die  ein  getreues  Abbild  der  Welt  liefern, 
sich  abscheiden  von  jenen,  die  aus  der  freien  Umgestaltung  der 
Erfahrung  hervorgegangen  sind.  Die  ersteren  bilden  den  Inhalt 
unseres  Wissens,  die  letzteren  denjenigen  unseres  Glaubens, 
soweit  sie  überall  noch  als  Spiegel  der  Wirklichkeit  betrachtet 
werden.  Wie  uns  die  Völkerpsychologie  lehrt,  erscheinen  ur- 
sprünglich die  beiden  verschiedenen  Erkenntnisquellen  wesent- 
lich gleichwertig.  Naturvölker  halten  ihre  frei  erfundenen  und 
ausgeschmückten  Überlieferungen  für  ebenso  buchstäblich  wahr 
und  glaubhaft  wie  die  Erfahrungen  ihrer  Sinne.  Auch  bei  Kindern 
können  wir  bisweilen  die  unvollkommene  Trennung  zwischen  Er- 
lebtem und  Erdichtetem  noch  deutlich  beobachten.  Späterhin 
jedoch  vollzieht  sich  mehr  und  mehr  die  oben  angedeutete  Schei- 
dung, namentlich  auf  jenen  Gebieten,  auf  denen  eine  stete  und 
zuverlässige  Berichtigung  der  Erkenntnis  durch  immer  neue  Er- 
fahrung möglich  ist.  Auch  hier  können  allerdings  Abweichungen 
zwischen  Wirklichkeit  und  Anschauung  entstehen,  die  auf  den 
natürlichen  Unvollkommenheiten  unserer  Auffassung  und  unserer 
Denkgewohnheiten  oder  auf  zufälligen  Fehlervorgängen  beruhen. 
V ir  nennen  sie  I r r t ü m e r.  Sie  werden  bekämpft  mit  den 
Waffen  der  Erfahrung  und  der  verstandesmässigen  Überlegung. 
Ihre  Herrschaft  beruht  auf  der  Beweiskraft  der  fehlerhaften 
Wahrnehmungen  oder  Gedankengänge;  ist  diese  Beweiskraft  er- 
schüttert, sind  die  zu  Grunde  liegenden  Fehlervorgänge  aufge- 
deckt,  so  fällt  damit  der  Irrtum  von  selbst. 

Dagegen  bleibt  das  übergrosse  Gebiet  unserer  Erkenntnis, 
auf  dem  die  Erfahrung  uns  keine  oder  nur  unsichere  und  strittige 
Ergebnisse  zu  liefern  vermag,  dem  Glauben  Vorbehalten,  der  das- 
selbe mit  seinen  Schöpfungen  ausfüllt.  Die  ganze  Belebung  und 
\7ermenschlichung  der  äusseren  Natur  ist  nur  sehr  langsam  der 
nüchternen  Auflösung  in  Erfahrungswissenschaft  gewichen;  sie 

KraepeUn,  Psychiatrie  1.  7.  Aufl. 


210 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


lebt  bei  Naturvölkern,  beim  Kinde,  ja  auch  in  dem  mancherlei 
Aberglauben  des  naiven  Volkes  noch  heute  fort.  Allein  während 
ein  Teil  dieses  Glaubens  nur  die  Vorstufe  des  Wissens  bildet 
und  freudig  für  die  Sicherheit  der  Erfahrung  hingegeben  wird, 
bewähren  andere  Glaubensgrundsätze  eine  Macht,  die  durch  kein 
Wissen,  keine  von  aussen  herantretende  Beweisführung  erschüt- 
tert werden  kann.  Es  sind  das  jene  Wahrheiten,  die  uns  „ans 
Herz  gewachsen“  sind,  die  wir  „mit  der  Muttermilch  eingesogen“ 
haben.  Hier  handelt  es  sich  um  Erkenntnisse,  deren  Einfluss 
auf  unser  Denken  nicht  in  ihrer  besonders  einleuchtenden  Begrün- 
dung durch  die  Erfahrung,  sondern  wesentlich  in  ihren  tief- 
greifenden Gefühlsbeziehungen  zu  unserer  gesamten  Per- 
sönlichkeit liegt.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  ist  das  wohl 
mit  jeder  von  uns  oft  verfochtenen  und  darum  liebgewonnenen 
Lehrmeinung  der  Fall,  aber  es  sind  doch  bestimmte  Gebiete,  auf 
denen  die  durch  Überlieferung,  Erziehung  und  Gewöhnung  fest- 
gewurzelten Anschauungen  einen  besonders  hohen  Gefühlswert 
und  damit  eine  hervorragende  Widerstandsfähigkeit  gegen  die 
Einflüsse  der  Erfahrung  erlangen.  Leichter  wird  die  Erfahrung 
durch  sie  gefärbt,  als  sie  selbst  durch  jene  umgewandelt  werden; 
sie  gewinnen  dadurch  vielfach  die  Eigenschaft  von  „V orurteilen". 

Gemeinsam  ist  allen  diesen  im  Gemüte  wurzelnden  Überzeu- 
gungen die  nahe  Beziehung  zu  den  allgemeinen  Lebens- 
interessen. Den  Naturmenschen  treibt  das  Gefühl  der  steten 
Abhängigkeit  im  guten  und  bösen  Sinne  von  den  Kräften  und  Mächten 
ringsherum  zur  freien  Ausmalung  seiner  Beziehungen  zu  Sonne, 
Blitz  und  Donner,  zu  Erde  und  Meer,  zu  Tier  und  Pflanze;  den 
Nährboden  des  Aberglaubens  bildet  die  Unsicherheit  und  Un- 
freiheit gegenüber  dem  Verborgenen,  Unerklärlichen  und  Ge- 
heimnisvollen, mag  es  Gefahren  drohen  oder  Glück  verheissen. 
Deutlich  erkennen  wir  hier  überall  in  der  strengen  Scheidung 
zwischen  gut  und  böse,  feindlich  und  freundlich  die  massgebende 
Rolle  der  Gefühle  bei  der  Erfindung.  Gerade  daraus  erklärt  sich 
die  ausserordentliche  Zähigkeit  dieser  durch  ungezählte  Ge- 
schlechter sich  fortpflanzenden  Überlieferungen,  die  trotz  ihrer 
Unsinnigkeit  oft  augenscheinlich  im  Herzen  des  Volkes  noch 
immer  ihre  uralte  Glaubwürdigkeit  bewahren. 

Das  Hilfsmittel,  das  dem  Naturmenschen  wie  dem  Kinde  zu 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


211 


einer  Erklärung  der  Aussenwelt  verhüllt,  ist  der  willkürliche  Ana- 
logieschluss. Die  auf  diese  Weise  gewonnene  Erkenntnis  besitzt, 
wie  Friedmann*)  überzeugend  nachgewiesen  hat,  von  vorn- 
herein den  gleichen,  ja  einen  weit  höheren  Grad  von  Gewissheit 
für  uns,  als  die  mit  allen  Hilfsmitteln  der  Wissenschaft  ge- 
prüfte Erfahrung.  Ein  beliebiger  Einfall,  eine  entfernte  oder 
ganz  äusserliche  Beziehung  wird  ohne  weiteres  als  Ausdruck  der 
Wirklichkeit  hingenommen  und  trotz  der  gröbsten  inneren  Wider- 
sprüche festgehalten.  Mit  dem  Haarbüschel  eines  klugen  Mannes 
erlangt  man  auch  seinen  Verstand;  den  Feind  tötet  man  durch 
Vernichtung  seines  Bildes;  Krankheit  und  Tod  entstehen  und 
schwinden  durch  Zauber;  der  allwissende  und  allmächtige  Fe- 
tisch wird  versteckt,  um  nicht  Zeuge  einer  verbotenen  Handlung 
zu  sein.  Das  ursprüngliche  Denken  wird  somit  nur  durch  Furcht 
und  Hoffnung,  Wunsch  und  Erwartung  geleitet;  es  kennt 
nicht  die  Triebfeder  aller  höheren  geistigen  Entwicklung,  den 
Zweifel.  Wie  wir  heute  den  durch  Sachkenntnis  nicht  beirrten 
Laien  zuversichtlich,  aber  falsch,  über  die  schwierigsten  Fragen 
urteilen  sehen,  so  begleitet  auch  die  Meinungen  der  Naturvölker 
das  unmittelbare  Gefühl  der  Sicherheit.  An  Stelle  dieser  naiven 
Gewissheit  des  Glaubens  tritt  erst  nach  einem  langen,  dornen- 
vollen Erkenntniswege  diejenige  des  Wissens,  die  freilich  kaum 
jemals  ihren  unzertrennlichen  Begleiter,  den  Zweifel,  gänzlich 
überwindet. 

Auch  bei  uns  fliesst  die  Quelle  der  unmittelbar  fest- 
stehenden, nicht  aus  Verstandesarbeit  hervorgegangenen  An- 
schauungen noch  reichlich  genug.  Aus  ihr  entspringt  vor  allem  der 
Aberglaube,  dessen  Verwandtschaft  mit  den  Einbildungen 
der  Naturvölker  keines  Beweises  bedarf.  Weiterhin  aber  gehören 
hierher  beim  entwickelten  und  geschulten  Menschen  die  poli- 
tischen und  religiösen  Überzeugungen,  deren  wesentlichste  Grund- 
lage auch  überall  der  Glaube  ist,  mag  im  einzelnen  auch  die 
verstandesmässig  verarbeitete  Erfahrung  den  Inhalt  vielfach  be- 
einflusst haben.  Es  sind  die  gemütlichen  Bedürfnisse,  welche 
die  Stellung  des  Menschen  zu  höheren  Mächten  und  zur  Gesell- 
schaft bestimmen.  Daraus  erklärt  sich  die  geringe  Zugänglich- 


*)  Friedmann,  Über  den  Wahn.  1894;  Monatsschr.  f.  Psych.,  I,  455. 

14* 


212 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


keit  jener  Überzeugungen  gegenüber  Einwänden  und  Beweis- 
gründen, die  Leidenschaftlichkeit,  mit  der  sie  verfochten  zu 
werden  pflegen,  und  ihre  gleichartige  Färbung  in  bestimmten 
Ländern,  Gegenden  und  Ständen,  wie  wir  sie  bei  rein  verstandes- 
mässigen  Überzeugungen  schwerlich  wiederfinden. 

Diese  Ausführungen  sind  vielleicht  geeignet,  uns  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  ein  Verständnis  für  jenen  äusserst  merk- 
würdigen und  wichtigen  Krankheitsvorgang  zu  eröffnen,  den  wir 
als  Wahnbildung  bezeichnen.  Wahnideen  sind  krankhaft  ver- 
fälschte Vorstellungen,  die  der  Berichtigung  durch  Beweisgründe 
nicht  zugänglich  sind.  Gerade  diese  Eigentümlichkeit  weist  uns 
darauf  hin,  dass  Wahnideen  nicht  aus  Erfahrung  oder  Überlegung, 
sondern  aus  dem  Glauben  entspringen.  Allerdings  knüpfen 
sie  sich  nicht  selten  an  wirkliche  Wahrnehmungen  oder  Sinnes- 
täuschungen an.  Im  letzteren  Falle  ist  ihr  Ursprung  aus  den 
inneren  Zuständen  trotz  der  V erlegung  der  Täuschung  nach  aussen 
augenscheinlich  genug.  Aber  auch  dann,  wenn  der  V ahnvor- 
stellung  ein  natürlicher  Sinneseindruck  zu  Grunde  liegt,  ist  ihre 
eigentliche  Quelle  immer  die  aus  der  eigenen  Einbildung  hervor- 
gehende krankhafte  Deutung.  Auch  im  gesunden  Leben  tritt 
vielfach  die  Versuchung  an  uns  heran,  an  geringfügige  und  viel- 
deutige tatsächliche  Anhaltspunkte  zu  weitgehende  Wahrschein- 
lichkeitsschlüsse zu  knüpfen  oder  ohne  zureichenden  Grund  ur- 
sächliche Beziehungen  zwischen  zufällig  zusammenfallenden  Er- 
eignissen zu  vermuten.  Unter  krankhaften  V erhältnissen  aber 
kann  sich  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  die  Überzeugung  von 
Beziehungen  der  Dinge  hervordrängen,  wo  die  Vorstellungen  in 
Beziehung  getreten  sind,  die  Vermutung  eines  sachlichen  Zu- 
sammenhanges der  Erscheinungen  auf  Grund  des  leicht  geschürz- 
ten psychologischen  Bandes.  Der  harmloseste  äussere  V or- 
gang  kann  zum  tiefsinnigen  Wahrzeichea  verborgener  Ereignisse 
werden;  in  die  nüchternsten  Tatsachen  wird  ein  versteckter  und 
entlegener  Sinn  hineingeheimnisst.  Der  Flug  eines  A ogels  ist 
ein  verheissungsvoller  Wink  für  die  Zukunft;  eine  zufällig  be- 
obachtete Gebärde  kündet  drohende  Gefahr;  der  Fund  einiger 
Kastanien  bedeutet  die  Zusicherung  künftiger  Weltherrschaft. 

Der  Ursprung  der  Wahnbildung  aus  inneren  Zuständen  zeigt 
sich  auch  in  dem  Umstande,  dass  sie  regelmässig  in  nahem  Zu- 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


213 


sammenhange  mit  dem  eigenen  Ich  des  Kranken  steht. 
Die  Vorstellungsgruppe  der  eigenen  Persönlichkeit,  das  Selbst- 
bewusstsein, bildet  schon  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen  den 
Mittelpunkt  unseres  Denkens  und  Fuhlens;  darum  knüpfen  sich 
die  wahnhaften  Einbildungen  gerade  an  diesen  Kern  an  und  setzen 
das  Netz  geheimnisvoller  Zusammenhänge  und  willkürlicher  Be- 
ziehungen in  unmittelbare  Verbindung  mit  dem  eigenen  Wohl 
und  Wehe.  Die  Entstehung  von  Wahnideen  ist  daher  stets  von 
mehr  oder  weniger  lebhaften  Gefühlen  begleitet,  die  erst  mit 
der  Verblödung  der  Kranken  allmählich  in  den  Hintergrund  treten. 
Es  giebt  keine  Wahnvorstellungen,  welche  dem  Kranken  von 
vornherein  gleichgültig  wären,  sondern  sie  sind,  zunächst  wenig- 
stens, immer  auf  das  engste  verknüpft  mit  der  eigenen  Peison, 
mit  seiner  Stimmung  und  mit  seiner  Stellung  zur  Umgebung. 

Aus  diesen  Entstehungsbedingungen  der  Wahnidee  wird  uns 
auch  ihre  wichtigste  Eigenschaft  einigermassen  erklärlich,  ihre 
Widerstandsfähigkeit  gegen  alle,  auch  die  schlagendste^ 
Beweisgründe.  Da  sie  nicht  in  der  Erfahrung  wurzelt,  kann  sie 
durch  Erfahrungen  erst  dann  erschüttert  werden,  wenn  sie  gar 
kein  Wahn  mehr  ist,  sondern  nur  noch  die  Erinnerung,  die  Nach- 
wirkung eines  solchen,  in  der  Genesungszeit.  Auf  der  Höhe  dei 
Krankheit  ist  die  Wahnidee  durch  Einflüsse  gestützt,  die  mäch- 
tiger sind,  als  alles  verstandesmässige  Wissen.  „Ich  will’s  schon 
nicht  mehr  meinen,“  sagte  mir  eine  Kranke,  die  darüber  jammerte, 
dass  ihr  Mann  und  ihre  Kinder  ins  Wasser  geworfen  worden  seien, 
„aber  es  kommt  mir  immer  auf  einmal  wieder  in  den  Kopf“. 

Wir  sehen  daher,  dass  der  Wahn  regelmässig  trotz  der  nächst- 
liegenden  und  anscheinend  unausweichlichsten  Einwände  unbeirrt 
festgehalten  wird,  so  lange  seine  inneren  Entstehungsursachen 
wirksam  sind.  Wird  er  auf  gegeben  oder  durch  einen  anderen  er- 
setzt, so  bringt  das  nicht  unsere  Überredung  oder  das  Gewicht 
der  Tatsachen  zu  stände,  sondern  ein  Wechsel  des  psychischen 
Zustandes.  Treiben  wir  den  Kranken  in  die  Enge,  so  erreichen 
wir  freilich  mitunter  vorübergehend  oder  in  nebensächlichen 
Punkten  einige  Zugeständnisse,  aber  die  Ausser lichkeit  einer 
solchen  Bekehrung  zeigt  sich  regelmässig  darin,  dass  sich  das 
Wahnbedürfnis  sehr  rasch  wieder  Luft  macht,  bald  in  den  alten, 
bald  in  neuen  Formen.  Selbst  in  jenen  Fällen,  in  denen  die 


214 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Kranken  ihre  Wahnideen  mit  wirklichen  Wahrnehmungen  in  Ver- 
bindung bringen,  bestehen  die  krankhaften  Schöpfungen  unver- 
ändert fort,  auch  wenn  ihre  Erfahrungsstützen  nachträglich  zu- 
sammenbrechen. Überzeugt  man  den  Kranken,  dass  seine  Wahr- 
nehmungen falsch  waren,  was  bisweilen  möglich  ist,  so  hat  er 
sofort  andere  Begründungen  bei  der  Hand,  und  sei  es  auch  nur 
die  einfache  Behauptung,  dass  er  eben  seiner  Sache  gewiss  sei. 
„Da  drin  spür’  ich’s  eben,  dass  es  so  ist,“  sagte  mir,  auf  sein 
Herz  deutend,  ein  Kranker,  der  im  Gesangbuche  sein  ganzes 
Schicksal  geweissagt  fand,  und  auf  den  Einwand,  dass  ich  mir 
das  ja  ebenso  gut  einbilden  könne,  erwiderte  er:  „Sie  spüren’ s 
aber  nicht!“ 

Durch  alle  diese  Betrachtungen  werden  wir  zu  der  An- 
schauung geführt,  dass  die  Wahnbildung  in  erster  Linie  durch, 
das  Auftauchen  lebhafter  Gefühlsregungen  begünstigt  wird.  In 
der  Tat  wissen  wir,  dass  schon  im  gesunden  Leben  Gefühle  die 
gefährlichsten  Hindernisse  sachlicher  Erkenntnis  sind.  Unter  dem 
Einflüsse  des  Zorns,  der  Angst,  der  Begeisterung  mischen  sich 
der  Betrachtung  der  Dinge  Verkennungen,  Befürchtungen,  Hoff- 
nungen hinzu,  die  mit  der  nüchternen  Erfahrung  nichts  mehr  ge- 
mein haben.  Aber  auch  die  leiseren  Schwankungen  des  Stim- 
mungshintergrundes, die  Gefühle  der  Trauer,  der  Erwartung, 
Bangigkeit,  des  Misstrauens,  der  Sehnsucht,  geben  dem  Spiegel- 
bilde der  Wirklichkeit  ihre  bestimmte  Färbung.  Wir  werden  uns 
daher  nicht  wundern,  wenn  in  Krankheitszuständen  lebhaftere 
Gefühlsregungen  ungemein  häufig  von  Wahnbildungen  begleitet 
sind.  Namentlich  die  traurigen  und  ängstlichen  Verstimmungen 
pflegen,  wie  beim  Gesunden,  den  stärksten  Einfluss  auf  die  Ver- 
fälschung der  Vorstellungen  und  Gedankengänge  auszuüben. 

Indessen  die  Entstehungsbedingungen  der  Wahnideen  können 
damit  noch  nicht  erschöpft  sein.  So  weit  wir  das  zu  beurteilen 
vermögen,  sind  die  Gefühle  bei  der  Wahnbildung  keineswegs 
immer  von  so  leidenschaftlicher  Stärke,  dass  sie  allein  den  Vor- 
gang erklärlich  erscheinen  Hessen.  Zunächst  kann  in  deliriösen 
Zuständen,  z.  B.  im  Trinkerdelirium,  eine  abenteuerliche  Fülle 
von  Wahnbildungen  beobachtet  werden,  ohne  dass  die  Stimmungs- 
schwankungen über  das  Mass  einer  gewissen  Lustigkeit  oder 
geheimer  Angst  hinausgingen.  Offenbar  vermag  hier  der  Kranke 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


215 


die  deliriösen  Erlebnisse  einfach  nicht  mehr  von  der  Wirklichkeit 
zu  trennen.  Allein  wir  würden  fehl  gehen,  wenn  wir  etwa  die 
Lebhaftigkeit  der  Sinnestäuschungen  für  das  Auftreten  der  Wahn- 
vorstellungen verantwortlich  machen  wollten.  Die  Erfahrung, 
dass  die  Kranken  die  unsinnigsten  Täuschungen  ohne  stärkeres 
Erstaunen  oder  doch  ohne  entschiedenen  Widerspruch  hinnehmen, 
während  sie  am  nächsten  Tage  bereits  nicht  den  geringsten 
Zweifel  mehr  an  der  Unwirklichkeit  des  Erlebten  hegen,  deutet 
darauf  hin,  dass  hier  der  Gesamtzustand  des  Bewusstseins  während 
der  Krankheit  eine  Veränderung  erlitten  haben  muss,  welche  die 
Berichtigung  der  Wahnbildungen  unmöglich  machte.  Wii  ver- 
weisen hier  auf  das  Beispiel  des  Traumes.  Im  Traume  sind  es 
sicherlich  nicht  starke  Gefühle  und  nicht  die  Lebhaftigkeit  der 
Bilder  allein,  die  uns  zu  wahnhafter  Auffassung  unserer  Lage 
veranlassen,  sondern  es  ist  die  Unfähigkeit,  jene  Widersprüche  zu 
entdecken  und  zu  berichtigen,  die  uns  beim  Erwachen  sofort  mit 
voller  Klarheit  vor  Augen  stehen.  Würde  uns  wirklich  ein  so 
toller  Spuk  vorgemacht,  wie  im  Delirium  oder  im  Traume,  so 
würden  wir  ihn  sofort  als  Possenspiel  erkennen.  Auch  im  Traume 
regt  sich  bisweilen  der  Widerspruch,  aber  wir  empfinden  dabei 
deutlich,  dass  es  uns  unmöglich  ist,  volle  Klarheit  zu  gewinnen. 
Ohne  Zweifel  ist  daher  in  deliriösen  Zuständen  die  Bewusst- 
seinstrübung eine  wesentliche  Vorbedingung  für  die  eigen- 
artige Wahnbildung,  wenn  auch  die  gleichzeitige  Lebhaftigkeit 
der  Sinnestäuschungen  und  Einbildungen  reichlichen  Stoff  dazu 
liefert. 

Endlich  aber  ist  darauf  hinzuweisen,  dass  auch  in  der  Paralyse, 
im  Altersblödsinn,  bei  der  Dementia  praecox  Wahnbildungen  Vor- 
kommen, bei  denen  weder  Gefühle  noch  stärkere  Bewusstseins- 
trübungen eine  wesentliche  Rolle  spielen.  Augenscheinlich  haben 
die  Wahnbildungen  bei  diesen  Krankheiten  viele  gemeinsame  Züge 
aufzuweisen.  Die  Annahme  liegt  daher  nahe,  dass  die  psy- 
chische Schwäche,  die  sich  hier  überall  entwickelt,  das 
Zustandekommen  von  Wahnideen  besonders  begünstige.  Wir 
kennen  allerdings  auch  viele  Schwächezustände  ohne  Wahnbil- 
dung. Der  angeborene  Schwachsinn  zeigt  nur  geringe  Neigung 
zur  Entwicklung  von  Wahnideen,  und  ebenso  verlaufen  zahl- 
reiche Fälle  von  Paralyse,  Dementia  praecox  und  Altersblöd- 


216 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sinn  ohne  derartige  Erscheinungen.  Der  eigentliche  Grund  für 
das  Auftauchen  von  Wahnvorstellungen  kann  daher  nicht  in  der 
psychischen  Schwäche  an  sich,  sondern  nur  in  begleitenden  Er- 
regungszuständen liegen,  welche  allerlei  wahnhafte  Einbildungen 
im  Innern  des  Kranken  aufschiessen  lassen.  Tatsächlich  lässt 
sich  unschwer  feststellen,  dass  die  Entstehung  des  Wahns  fast 
immer  in  Zeiten  heiterer  oder  trauriger  Abstimmungen  am 
reichsten  vor  sich  geht.  Namentlich  deutlich  wird  diese  Rolle 
der  Gefühlsschwankungen  in  solchen  Fällen,  in  denen  über- 
haupt nur  zeitweise  Wahnideen  hervortreten;  man  wird  sie  hier 
stets  von  mehr  oder  weniger  ausgesprochener  gemütlicher  Er- 
regung begleitet  sehen. 

Ängstliche  Vermutungen,  Ahnungen  abergläubischer  Zusam- 
menhänge, Luftschlösser  und  Zukunftsträume  sind  auch  bei  Ge- 
sunden häufige  Erscheinungen,  aber  sie  gewinnen  keine  weiter- 
reichende Macht;  sie  schwinden  bei  ruhiger  Überlegung,  wie 
sie  gekommen  sind.  Bei  den  Kranken  aber  tragen  sie  vielfach 
von  vornherein  nicht  nur  den  Stempel  der  unerschütterlichen 
Gewissheit,  sondern  sie  nisten  sich  dauernd  ein,  ohne  einer 
Berichtigung  zugänglich  zu  sein,  ja  ohne  auch  nur  das  Be- 
dürfnis einer  näheren  Prüfung  oder  Begründung  zu  wecken. 
Wir  sind  es  gewohnt,  alle  auftauchenden  Einbildungen  an  dem 
Massstabe  unserer  Wirklichkeitserfahrung  zu  messen  und  als 
Erfindung  zu  kennzeichnen,  was  sich  nicht  widerspruchslos 
dem  festgefügten  Bau  unseres  Wissens  eingliedern  lässt.  Der 
Kranke  dagegen  empfindet  die  Widersprüche  seiner  Einbildungen 
mit  der  sonstigen,  eigenen  oder  fremden  Erfahrung  gar  nicht, 
oder  er  missachtet  sie,  verschleiert  sie  wohl  auch  durch  immer 
unwahrscheinlichere  und  unmöglichere  Annahmen.  Offenbar  ist 
demnach  für  ihn  die  Nötigung,  ja  auch  die  Möglichkeit  verloren 
gegangen,  den  auftauchenden  Wahnvorstellungen  Widerstand  ent- 
gegenzusetzen, sie  zu  berichtigen  und  zu  unterdrücken.  Dafür 
spricht  namentlich  auch  die  in  den  psychischen  Schwächezustän- 
den regelmässig  beobachtete  völlige  Unsinnigkeit  der  AArahnvor- 
stellungen,  deren  Unhaltbarkeit  anscheinend  dem  besonnenen 
Kranken  ohne  jedes  Nachdenken  klar  sein  müsste. 

Die  Ursache  für  diese  Unfähigkeit  hat  man  in  früheren 
Zeiten  in  den  besonderen  Eigenschaften  der  einzelnen  A’orstel- 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


217 


lungen  gesucht.  Die  Lehre  von  den  „Monomanien“  nahm  an, 
dass  die  „fixe  Idee“  nur  eine  umgrenzte  Störung  des  Seelen- 
lebens bei  sonst  völlig  erhaltener  geistiger  Gesundheit  darstelle. 
Gerade  daraus  ergaben  sich  jene  törichten  Heilbestrebungen, 
welche  durch  irgend  einen  besonders  überzeugenden  Eingriff  die 
anscheinend  ganz  vereinzelte  Wahnidee  zu  beseitigen  und  damit 
die  Krankheit  selbst  zu  heben  trachteten.  Der  Erfolg  bei  der- 
artigen Versuchen  ist  im  günstigsten  Falle  die  Ersetzung  einer 
Wahnvorstellung  durch  eine  oder  mehrere  andere. 

Eine  Art  Wiederbelebung  dieser  Monomanielehre  hat  in 
neuerer  Zeit  Wernicke  versucht,  indem  er  annahm,  dass  in 
manchen  Fällen  die  Wahnbildung  durch  das  Auftreten  einzelne! , 
besonders  mächtiger,  „überwertiger*  Ideen  zu  stände  komme. 
Nach  meinem  Dafürhalten  sind  weder  seine  Beobachtungen 
noch  seine  Erörterungen,  die  ihn  weiter  zur  Annahme  „untei- 
wertiger“  Ideen  bei  der  Manie  geführt  haben,  überzeugend.  In 
dem  Kommen  und  Gehen  der  Vorstellungen  kann  eben  nui  dann 
ein  einzelnes  Glied  übermächtig  werden,  wenn  es  nicht  durch  neu 
auftauchende  Vorgänge  wieder  in  den  Hintergrund  gediängt  wiid. 
Lebhafte  Gefühlsbetonung  vermag  somit  wohl  eine  Vorstellungs- 
gruppe „überwertig“  zu  machen,  aber  alle  Gefühle  schwinden 
allmählich  und  werden  durch  andere  verdrängt;  sie  können  daher 
auf  die  Dauer  das  Übergewicht  nicht  erhalten,  wenn  nicht  eine 
Umwandlung  der  Gesamtpersönlichkeit  oder  eine  krankhafte  Ver- 
ödung des  geistigen  Lebens  diesen  Vorgang  unterstützt.  Wir 
kommen  somit  zu  dem  Schlüsse,  dass  der  Ausbildung  von  Wahn- 
ideen regelmässig  eine  allgemeine  Störung  des  psy- 
chischen Gesamtzustandes  zu  Grunde  liegt.  Angeregt 
wird  die  Wahnbildung  wohl  immer  durch  Gefühlsschwankungen, 
welche  schlummernde  Hoffnungen  und  Befürchtungen  in  Ein- 
bildungsvorstellungen umsetzen.  Dass  aber  diese  V orstellungen 
zum  Wahne  werden,  eine  Macht  gewinnen,  gegen  die  am  Ende 
selbst  der  Augenschein  ohnmächtig  ist,  kann  nur  durch  das  Ver- 
sagen unserer  Urteilsfähigkeit  zu  stände  kommen,  wie  es  im 
einen  Falle  durch  leidenschaftliche  gemütliche  Erregung,  im 
anderen  durch  Trübung  des  Bewusstseins,  im  dritten  durch  die 
Verstandesschwäche  bedingt  wird. 

Man  wird  indessen  hier  mit  Recht  die  Frage  aufwerfen, 


218 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


warum  denn  die  Wahnvorstellungen  gerade  so  enge  Beziehungen 
zum  eigenen  Wohl  und  Wehe  aul'zuweisen  haben,  wenn  ihre  Ent- 
stehungsursachen in  allgemeinen  Veränderungen  des  psychischen 
Zustandes  zu  suchen  sind.  Der  Grund  dafür  liegt,  wie  mir  scheint, 
in  der  starken  Gefühlsbetonung  derjenigen  Vorstellungen,  die 
mit  unserem  Ich  in  naher  Verbindung  stehen.  Die  landläufige 
Tatsache,  dass  ausgeprägte  Stimmungen  und  Gemütsbewegungen 
das  klare  Urteil  trüben,  und  dass  daher  kein  Gebiet  des  mensch- 
lichen Denkens  gröberen  Täuschungen  ausgesetzt  ist,  als  die 
Selbsterkenntnis,  wird  auch  durch  das  Verhalten  der  Wahn- 
ideen bestätigt,  nur  in  vergrössertem  Massstabe.  Nach  dem  Bei- 
spiele des  Splitters  im  fremden  und  des  Balkens  im  eigenen 
Auge  sehen  wir  daher  oft  unsere  Kranken  die  Wahnideen  Anderer 
ohne  weiteres  richtig  erkennen,  während  es  ihnen  unmöglich  ist, 
die  anscheinend  selbstverständliche  Nutzanwendung  auf  den 
eigenen,  durchaus  gleichartigen  Fall  zu  ziehen.  Man  wird  in- 
indessen  darum  die  geistige  Störung,  welche  diesen  „partiellen“ 
Wahnbildungen  zu  Grunde  liegt,  mit  demselben  Rechte  eine  all- 
gemeine nennen  müssen  wie  z.  B.  die  Kreislaufssteckung  infolge 
eines  Herzfehlers,  auch  wenn  hier  die  Stauungserscheinungen  zu- 
nächst nur  an  den  entferntesten  Teilen  zur  Ausbildung  kommen. 
Wenn  demnach  überhaupt  Einbildungsvorstellungen  durch  gemüt- 
liche Erschütterungen  erzeugt  werden,  so  werden  sie  sich  natur- 
gemäss  in  erster  Linie  auf  die  Lage  der  eigenen  Persönlichkeit 
und  deren  nächste  Beziehungen  erstrecken.  Sie  wurzeln  rascher, 
fester  und  mit  grösserer  Überzeugungskraft  in  unserem  Innern, 
als  fernliegende,  gleichgültige  Erfahrungen.  Zudem  sind  diese 
Vorstellungen  einer  Berichtigung  bei  weitem  am  schwersten  zu- 
gänglich, schon  im  gesunden  Leben.  Wo  wir  etwa  in  deliriösen 
Zuständen  einmal  falsche  Vorstellungen  über  entlegene  Dinge 
auftauchen  sehen,  können  sie  immer  nach  Art  der  Irrtümer  ohne 
Schwierigkeit  durch  den  Augenschein  beseitigt  werden,  sobald  die 
Bewusstseinstrübung  geschwunden  ist. 

Es  bedarf  kaum  noch  der  Ausführung,  dass  nach  der  hier 
vertretenen  Anschauung  über  die  Entstehung  der  Wahnideen  von 
einer  strenger  begrenzten  Ursprungsstätte  dieser  letzteren  im 
Gehirn  nicht  nur  heute,  sondern  grundsätzlich  nicht  die  Rede  sein 
kann.  Die  Wahnidee  an  sich  ist  zunächst  eine  Einbildungsvor- 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


219 


Stellung  wie  jede  andere,  wie  etwa  die  Traumvorstellungen  auch, 
bei  denen  wir  ja  ebenfalls  gewisse  häufig  wiederkehrende  Gestal- 
tungen beobachten.  Ihre  besondere  Stellung  im  Seelenleben  des 
Kranken  aber  und  ihre  eigenartige  Ausbildung  erhält  sie  durch 
das  augenblickliche  oder  dauernde  V erhalten  der  gesamten  psy- 
chischen Persönlichkeit.  Sie  ist  also  nicht  sowohl  die  Wii  kung 
eines  umschriebenen  Krankheitsvorganges,  als  vielmehi  das 
Zeichen  einer  allgemeinen  krankhaften  Veränderung  der  gesamten 
Hirnleistung.  Man  hat  allerdings  versucht,  jeder  einzelnen  Vor- 
stellung eine  besondere  Rindenzelle  als  Sitz  anzuweisen,  so  dass 
etwa  die  Aufnahmefähigkeit  des  Hirns  einfach  durch  die  Zahl 
jener  Zellen  bestimmt  würde,  und  man  könnte  von  diesem  Stand- 
punkte aus  immerhin  die  Erkrankung  gewisser  Ganglienzellen- 
gruppen oder  Fasersysteme  für  das  Auftreten  von  Wahnideen 
verantwortlich  machen.  Allein  jene  Annahme  ist  im  Hinblicke 
auf  psychologische  und  klinische  Tatsachen  ebenso  unhaltbar  wie 
etwa  die  Anschauung,  dass  die  Zahl  der  möglichen  Gesichtsbilder 
von  der  Menge  der  empfindenden  Einheiten  in  unserer  Netzhaut 
abhängig  sei.  Zudem  sehen  wir  tatsächlich  Wahnideen  nicht  etwa 
bei  Herderkrankungen,  sondern  vielmehr  bei  solchen  allgemeinen 
Störungen  (Vergiftungen,  Verblödungen,  Paralyse,  krankhaften 
Gemütsbewegungen,  auf  treten,  welche  zweifellos  die  \ errich- 
tungen  der  ganzen  Hirnrinde  in  Mitleidenschaft  ziehen. 

Der  verschiedenen  Entstehungsweise  der  Wahnideen  ent- 
spricht ihr  mannigfaltiges  klinisches  Verhalten.  Gemütsbewe- 
gungen sind  im  allgemeinen  veränderliche  Vorgänge;  daher  sehen 
wir  die  wesentlich  auf  dieser  Grundlage  entstehenden  Wahnbil- 
dungen in  der  Regel  kommen,  gehen  und  vielfach  wechseln,  je 
nach  Stärke  und  Färbung  der  Verstimmung.  Nur  wo  diese  selbst 
durch  längere  Zeit  hindurch  eintönig  ist,  werden  auch  die  gleichen 
Wahnideen  zäher  festgehalten.  Die  deliriösen  Wahnbildungen 
ähneln  durchweg  denjenigen  des  Traumes;  es  sind  bunte,  aben- 
teuerliche, wechselnde  Bilder  mit  einzelnen  durchgehenden  Grund- 
zügen, die  oft  in  mannigfacher  Gestalt  wiederkehren.  Je  nach 
dem  grösseren  oder  geringeren  Zusammenhänge  der  Gedanken- 
gänge überhaupt  können  dabei  auch  die  Wahnideen  ganz  unver- 
mittelt, abgerissen  nebeneinander  stehen  oder  eine  gewisse  gei- 
stige Verarbeitung  zeigen,  Begründungen,  Schlussfolgerungen, 


220 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


einheitliche  Färbung.  Schwindet  die  gemütliche  Erregung  oder 
die  Bewusstseinstrübung,  so  werden  gewöhnlich  die  während  der- 
selben entstandenen  Wahnideen  berichtigt,  auch  wenn  im  übrigen 
noch  keine  volle  Genesung  eingetreten  ist. 

Ganz  anders  verhalten  sich  diejenigen  Wahnbildungen,  bei 
denen  die  geistige  Schwäche  eine  wesentliche  Rolle  spielt. 
Die  wahnbildende  Kraft  wird  wohl  auch  hier  von  Gemütsbewe- 
gungen geliefert,  aber  die  krankhaften  Vorstellungen  sind  mit 
dem  Verblassen  der  Stimmungsschwankung  nicht  ohne  weiteres 
verschwunden.  Zwar  können  sie  nach  und  nach  in  den  Hinter- 
grund treten,  aber  nur  dadurch,  dass  sie  vergessen  werden,  nicht 
durch  verstandesmässige  Berichtigung.  Wir  beobachten  das  oft 
in  der  Paralyse,  bei  der  Dementia  praecox  und  bei  den  senilen 
Geistesstörungen.  Nicht  selten  tauchen  hier  später  die  alten, 
verschollenen  Wahnideen  ganz  vorübergehend  unter  dem  Ein- 
flüsse einer  Stimmungsschwankung  von  neuem  auf.  Oft  genug 
werden  sie  aber  auch  dauernd  festgehalten  und  sogar  weiter  ver- 
arbeitet. Die  Dementia  paranoides  und  manche  Fälle  von  Paralyse 
lehren  uns,  wie  auf  dem  Boden  des  erworbenen  Schwachsinns 
dauernde  Stimmungsschwankungen  unter  Umständen  sehr  aus- 
giebige Wahnbildungen  anzuregen  imstande  sind. 

Auch  die  länger  haftenden  Wahnbildungen  zeigen  indessen 
wichtige  Verschiedenheiten.  Entweder  verblassen  sie  allmählich, 
um  schliesslich  doch  mein’  und  mehr  zu  versinken.  So  ist  es 
hauptsächlich  bei  der  Dementia  praecox  und  bei  der  Paralyse. 
In  anderen  Fällen  treten  sie  zwar  in  den  Hintergrund,  werden 
aber  nicht  berichtigt,  sondern  bleiben  als  ,, Residualwahn“  dauernd 
erhalten,  ohne  weiteren  Einfluss  zu  gewinnen.  Oder  aber  sie 
werden  in  ganz  einförmiger  Weise  immer  wieder  vorgebracht  und 
verknöchern  gewissermassen  zu  stehender  Formel  ohne  Fort- 
entwicklung, aber  auch  ohne  Rückbildung.  Auch  dieser  Verlauf 
stellt  offenbar  eine  Form  der  Verblödung  dar;  doch  ist  die  kli- 
nische Stellung  derartiger  Fälle  vielfach  noch  zweifelhaft.  Das- 
selbe gilt  von  denjenigen  Beobachtungen,  in  denen  die  Wahn- 
ideen sich  allmählich  verändern,  unsinniger  und  zusammenhangs- 
loser  werden,  neue  Bestandteile  in  sich  auf  nehmen,  während 
andere  langsam  zurücktreten.  Sie  bilden  die  grosse  Masse  ge- 
wisser, meist  der  Verrücktheit  zugerechneten  Formen,  die 


221 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 

indessen  viele  Berührungspunkte  mit  der  Dementia  praecox 
darbieten. 

Endlich  haben  wir  noch  derjenigen  Fälle  zu  gedenken,  bei 
denen  im  Verlaufe  von  Jahrzehnten  eine  unmerkliche,  mehr  oder 
weniger  einheitliche  Fortentwicklung  ohne  stärkeren  gei- 
stigen Verfall  stattfindet.  Bei  dieser  Krankheitsform,  der  Para- 
noia im  engsten  Sinne,  erzeugt  die  freilich  oft  recht  dürftige 
geistige  Verarbeitung  der  Wahnvorstellungen  eine  Art  ver- 
fälschter Weltanschauung.  Der  krankhaft  veränderte  Vorstel- 
lungsinhalt wird  zum  dauernden  Bestandteile  des  Er- 
fahrungsschatzes und  übt  auf  die  gesamte  weitere  Vei- 
arbeitung  der  äusseren  Eindrücke  wesentlichen  Einfluss  aus.  Die 
Stellung  des  Kranken  zur  Aussenwelt  verschiebt  sich  allmählich 
in  bestimmter  Richtung;  die  psychische  Persönlichkeit  mit  ihren 
früher  gewonnenen  Anschauungen  erleidet  eine  durchgreifende 
Umwandlung.  Gerade  diese  vollständige  Einverleibung 
des  Wahnes,  die  Gruppierung  um  den  Mittelpunkt  des  eigenen 
Ich  ist  es,  welche  den  inneren  Zusammenhang  seiner  einzelnen 
Bestandteile,  die  geistige  Verarbeitung  derselben  vermittelt.  Man 
pflegt  daher  vorzugsweise  hier  von  einem  „Wahnsysteme“ 
zu  sprechen,  wenn  auch  bisweilen  ähnliche,  inneilich  zusammen- 
hängende Wahnbildungen,  jedoch  von  kürzerer  Dauer,  in  der  Para- 
lyse und  der  Dementia  praecox,  bei  Alkoholisten  und  Epileptikern 
zur  Beobachtung  kommen.  Fortschritte  in  der  Wahnbildung 
scheinen  durch  das  stark  gehobene  Selbstgefühl,  durch  Angst- 
zustände oder  zornige  Erregungen  vermittelt  zu  werden,  die  so 
entstandenen  Einbildungen  werden  dann  nicht  berichtigt,  sondern 
festgehalten  und  weiter  ausgesponnen.  Auch  hier  ist  nach  meiner 
Erfahrung  regelmässig  sehr  bald  eine  deutliche  Urteilsschwäche 
erkennbar. 

Wie  die  klinische  Betrachtung  lehrt,  zeigt  die  Ausbildung 
der  Wahnideen  im  einzelnen  eine  Reihe  verschiedener  Formen, 
welche  bei  unseren  Kranken  vielfach  mit  bemerkenswerter  Gleich- 
förmigkeit wiederkehren.  Gewöhnlich  pflegt  man  zunächst 
Kleinheits-  und  Grössenideen,  depressive  und  expan- 
sive Wahnbildungen,  voneinander  zu  unterscheiden.  Unter  den 
mannigfachen  Gestaltungen  des  depressiven  Wahnes  steht 
dem  gesunden  Leben  wohl  am  nächsten  der  Versündigungs- 


222 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wahn;  gibt  es  doch  zahlreiche  Menschen,  die  bei  jedem  Miss- 
erfolge, ja  bei  jedem  Unglücksfalle  sogleich  bereit  sind,  in  ihrer 
eigenen  Handlungsweise  die  Ursache  zu  suchen  und  sich  mit  dem 
Gedanken  zu  quälen,  dass  sie  dieses  oder  jenes  hätten  anders 
machen  sollen.  In  krankhaften  Depressionszuständen  kann  sich 
diese  Idee  der  Verschuldung  an  jede  Äusserung  oder  Handlung 
des  Kranken  anknüpfen.  Er  glaubt,  immerfort  Andere  zu  schä- 
digen, zu  täuschen,  ins  Unglück  zu  bringen,  bittet  um  Verzeihung 
für  seine  schrecklichen  Taten.  Auch  die  eigene  Vergangenheit 
wird  durch  den  Wahn  in  das  schlimmste  Licht  gesetzt.  Alle 
möglichen,  selbst  ganz  gleichgültigen  Handlungen  erscheinen  dem 
Kranken  als  scheussliche  Untaten;  er  klagt  sich  der  grässlichsten 
Verbrechen  an,  oft  nur  in  allgemeinen  Ausdrücken,  bisweilen 
aber  auch  in  ganz  bestimmter  Erzählung,  hält  sich  für  ein  schlech- 
tes, verworfenes,  gemütloses  Geschöpf,  für  von  Gott  verstossen 
und  verdammt.  Darum  fürchtet  und  wünscht  er  zugleich  eine 
schreckliche  Strafe,  um  seine  Sünden  zu  büssen,  und  lebt  in 
der  beständigen  Erwartung,  dass  er  nunmehr  von  den  Polizisten 
geholt,  hingerichtet,  verbrannt,  zur  Pdchtstätte  geschleift,  leben- 
dig begraben  werden  solle.  Wir  begegnen  solchen  Vorstellungen 
namentlich  in  der  Melancholie  wie  in  cirkulären  und  paralytischen 
Depressionszuständen. 

Diesen  Wahnideen  nahe  verwandt  sind  gewisse  Befürch- 
tungen allgemeiner  Art,  die  häufig  mit  ihnen  sich  vergesell- 
schaften, die  Idee,  zu  verarmen,  arbeitsunfähig  zu  werden,  ein 
grosses  Unglück  erdulden  zu  müssen  oder  über  die  Angehörigen 
heraufzubeschwören.  Ähnliche  Vorstellungen,  dass  irgend  etwas 
Schreckliches  passiert,  die  Familie  erkrankt  und  gestorben  sei, 
oder  dass  etwas  Furchtbares  bevorstehe,  finden  wir  als  vorüber- 
gehende „Ahnungen“  bekanntlich  häufig  genug  im  täglichen 
Leben  wieder.  Den  gemeinsamen  Hintergrund  derselben  bildet 
überall  eine  gemütliche  Verstimmung.  In  ihren  schwersten 
Formen  führen  sie  zu  dem  sogenannten  nihilistischen  Wahn: 
Alles  ist  vernichtet,  zu  Grunde  gegangen;  die  Welt  steht  nicht 
mehr.  Alle  sind  längst  gestorben;  auch  der  Kranke  selbst  lebt 
nicht  mehr,  hat  keinen  Namen  mehr,  ist  überhaupt  nichts,  weniger 
als  nichts. 

Eine  weitere,  sehr  grosse  Gruppe  bilden  diejenigen  Wahn- 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


223 


Vorstellungen,  die  man  unter  dem  Namen  des  Verfolgungs- 
wahnes zusammenzufassen  pflegt.  Andeutungen  desselben  fin- 
den wir  im  gesunden  Leben  bei  jenen  argwöhnischen  und  miss- 
trauischen Naturen,  die  bei  ihrer  Umgebung  überall  niedrige  und 
feindselige  Beweggründe  voraussetzen  und  im  Zusammenhänge 
damit  eigenes  Missgeschick  regelmässig  auf  Neid  und  Hass  An- 
derer zurückzuführen  bereit  sind.  Gewöhnlich  verbindet  sich 
damit  eine  bedeutende  Überschätzung  der  eigenen  Persönlich- 
keit und  missgünstige  Verkennung  fremden  Verdienstes.  Bei 
unseren  Kranken  bildet  den  Ausgangspunkt  in  der  Regel  eine 
Zeit  der  Verstimmung,  inneren  Unbehagens  und  geheimei  Angst. 
Ahnungen  und  Vermutungen  steigen  auf;  einzelne  Wahrnehmungen 
erscheinen  verdächtig;  es  geht  etwas  Besonderes  vor.  Dei  Kranke 
beginnt,  die  Vorgänge  in  seiner  Umgebung  mit  wachsendem  Miss- 
trauen anzusehen,  gleichgültige  Äusserungen  und  Erlebnisse,  zu- 
fällige Gebärden  wahnhaft  zu  deuten  und  seine  Wahrnehmungen 
unter  neuen,  vorurteilsvollen  Gesichtspunkten  zu  verarbeiten. 
Zeitungsartikel,  Gassenhauer,  Predigten  enthalten  versteckte  Ver- 
höhnungen und  den  Hinweis  auf  seine  verzweifelte  Lage.  Alle 
Absicherungen  der  Liebe  und  Freundschaft  sind  eitel  Heuchelei, 
um  ihn  desto  sicherer  in  die  Falle  zu  locken.  Diese  Entwicklung 
beobachten  wir  häufig  bei  der  Abrücktheit  und  bei  der . De- 
mentia praecox,  aber  auch  in  cirkulären  und  anderen  Depressions- 
zuständen. 

Sehr  gewöhnlich  ist  der  Abfolgungswahn  von  mehr  oder 
weniger  zahlreichen  Sinnestäuschungen  begleitet,  namentlich  auf 
dem  Gebiete  des  Gehörs.  Der  Kranke  sieht  sich  demnach  von 
einem  Netze  geheimer  Feindseligkeiten,  drohender  Gefahien  um- 
geben, dem  er  nicht  zu  entrinnen  vermag.  Alles  ist  gegen  ihn 
verbündet,  weidet  sich  an  seiner  Angst.  Überall  findet  er  sofort 
die  untrüglichen  Zeichen  dafür,  dass  man  eingeweiht  ist,  dass 
er  durch  Spione  beobachtet  und  verfolgt  wird.  Er  ist  Gegenstand 
der  allgemeinen  Aufmerksamkeit;  man  blickt  ihn  sonderbar  an, 
ruft  ihm  nach,  zischelt  einander  Bemerkungen  zu,  weicht  ihm  aus, 
spuckt  vor  ihn  hin.  Speisen  und  Getränke  haben  einen  absonder- 
lichen Geschmack,  als  ob  etwas  drin  wäre;  offenbar  ist  ihnen 
Gift,  Kot,  Sperma,  Menschenfleisch  beigemischt.  Nach  ihrem  Ge- 
nuss treten  Magenbeschwerden,  Wallungen  zum  Kopfe,  ge- 


224 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


sclilechtliche  Erregungen  auf.  Im  eigenen  Zimmer  werden  die 
Spuren  fremder  Tätigkeit  bemerkt;  Gegenstände  sind  verschwun- 
den, beschmutzt,  verdorben,  das  vorher  geschlossene  Fenster  plötz- 
lich offen;  der  Schlüssel  zur  Türe  schliesst  nicht. 

Eine  grosse  Rolle  spielen  auch  Eifersuchtsideen*).  Die 
Kranken  bemerken  ein  Erkalten  der  ehelichen  Beziehungen,  fangen 
glühende  Blicke,  geheime  Zeichen  auf;  in  Briefen  finden  sich  ver- 
steckte Aufforderungen  zum  Stelldichein.  Die  Frau  wird  bei  unver- 
mutetem Nachhausekommen  verlegen,  sucht  etwas  zu  verbergen, 
hustet  bedeutungsvoll;  es  ist  noch  dunkel  im  Zimmer.  Draussen 
poltert  jemand  aus  der  Tür;  eine  Gestalt  huscht  am  Fenster 
vorbei;  das  letzte  Kind  gleicht  dem  Vater  nicht.  Gerade  der- 
artige unzureichende  Begründungen  ermöglichen  es  uns,  die  be- 
greiflicherweise öfters  recht  schwierige  Unterscheidung  von  ge- 
sunder oder  gar  berechtigter  Eifersucht  zu  treffen.  Am  häufig- 
sten ist  der  Eifersuchtswahn  bei  Alkoholisten  und  Coca'inisten 
sowie  bei  senilen  Geistesstörungen. 

Bei  fortgeschrittener  geistiger  Schwache  nehmen  die  Ver- 
folgungsideen oft  ganz  abenteuerliche  Gestaltungen  an.  Die  feind- 
lichen Beeinflussungen  gewinnen  Formen,  die  nicht  nur  über  das 
W ahrscheinliche,  sondern  sehr  bald  auch  über  das  Mögliche  hinaus- 
gehen. Ganz  besonders  in  den  Vordergrund  treten  nunmehr  die 
Einwirkungen  auf  den  eigenen  Körper,  die  in  der  verschiedensten 
Weise  ausgemalt  werden.  Vielfach  handelt  es  sich  um  Verände- 
rungen, die  im  Schlafe  oder  auf  übersinnliche  Weise  herbeigeführt 
werden  (Telepathie).  Die  Annahme  des  Behextwerdens,  des 
Besessenseins,  die  ja  in  den  Hexenprozessen  des  Mittelalters  eine 
so  grosse  sittengeschichtliche  Bedeutsamkeit  erlangt  hat,  liegt 
hier  dem  abergläubischen  Kranken  äusserst  nahe;  sie  wird  ge- 
stützt durch  krankhafte  Gemeingefühle,  fremdartige,  ihm  auf- 
steigende Gedanken  und  Reden,  die  Wahrnehmung  von  Stimmen 
im  eigenen  Körper,  lebhafte  Träume.  Ein  etwas  anderer  Bil- 
dungsgang macht  den  Kranken  mehr  zur  Annahme  magischer, 
magnetischer,  elektrischer,  physikalischer,  hypnotischer  Ferne- 
wirkungen geneigt,  die  durch  allerlei  Maschinen,  Telephone,  gal- 


*)  Vi Ilers,  Bull,  de  la  societö  de  mdd.  ment,  de  Belgique,  1899; 
Schüller,  Jahrb.  f.  Psych.,  XX,  292. 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


225 


vanische  Batterien,  sympathetische  Beziehungen  von  unsichtbaren 
Feinden  vermittelt  werden.  Die  Ausbildung  derartiger  Wahnvor- 
stellungen ist  bisweilen  eine  äusserst  eingehende  und  spitzfindige. 
Besonders  häufig  sind  geschlechtliche  Beeinflussungen,  Durchströ- 
mung und  Reizung  der  Geschlechtsteile,  Abtötung  derselben,  ge- 
heimnisvolle Begattungen  mit  ihren  weiteren  Folgen  bis  zur  Geburt 
in  nächtlicher  Betäubung.  Als  Urheber  der  Verfolgungen  und 
Beeinflussungen  werden  entweder  bestimmte  Personen  angesehen, 
Vorgesetzte,  Nachbarn,  Freunde,  Gatten,  Liebhaber  oder  gewisse 
Parteien  mit  sehr  absonderlichen  Zielen  und  Hilfsmitteln,  die 
Geistlichen,  Freimaurer,  Sozialdemokraten,  der  Mörderbund 
u.  s.  f.  Die  Idee  der  körperlichen  Umwandlung  findet  ihre 
weitere  Entwicklung  in  dem  ebenfalls  sittengeschichtlich  wich- 
tigen Wahne  der  Verzauberung  in  Tier  gestalt  (Wehr- 
wölfe), des  Abgestorbenseins,  der  Verwandlung  in  andere  Per- 
sonen, namentlich  solche  anderen  Geschlechts,  in  leblose 
Dinge  u.  s.  f. 

Diese  letzten  Formen  der  Wahnbildung  leiten  uns  hinüber 
zu  den  hypochondrischen  Ideen,  bei  denen  die  körper- 
liche Beeinträchtigung  nicht  auf  fremde  Einwirkung,  sondern  auf 
eine  schwere,  unheilbare  Krankheit  zurückgeführt  wird.  Wie  der 
angehende  Arzt  die  Anzeichen  so  mancher  der  gerade  von  ihm 
studierten  Leiden  an  sich  zu  entdecken  glaubt,  so  werden  hier 
ganz  harmlose,  durchaus  normale  Erscheinungen  am  eigenen  Kör- 
per für  die  Folgen  der  Syphilis,  der  Hundswut,  mannigfacher  Ver- 
giftungen, schwerer  Blutstockungen,  geschlechtlicher  Ausschwei- 
fungen und  dergleichen  angesehen.  Bei  Ärzten  sind  Tabes,  Para- 
lyse, Phthise  der  häufigste  Inhalt  hypochondrischer  Wahnideen. 
Psychopathische  Zustände,  ferner  cirkuläre,  paralytische,  hebe- 
phrenische,  senile  Depressionen  geben  den  günstigen  Boden  für 
die  Entwicklung  solcher  Wahnbildungen  ab.  Mit  dem  Eintritte 
der  Verblödung  gewinnen  dieselben,  namentlich  unter  dem  Ein- 
flüsse krankhafter  Empfindungen  aller  Art,  nicht  selten  ganz 
unsinnige  Formen.  Ein  lebendiges  Tier  sitzt  im  Körper,  Würmei: 
unter  der  Haut;  Mund  und  After  sind  verschlossen,  die  Einge- 
weide verdorben  oder  herausgenommen,  alle  Glieder  gelähmt,  der 
Atem  und  das  Blut  vergiftet,  der  Kopf  ausgehöhlt,  die  Zunge 
verfault,  der  Leib  zu  einem  winzigen  Klümpchen  zusammen- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl.  15 


226 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


geschrumpft;  der  ganze  Körper  ist  mit  Gestank  erfüllt,  in  einen 
Kikerikihahn  verwandelt,  von  Eisen  und  ähnliches. 

Auch  die  Grössenideen  können  unmittelbar  den  eigenen 
Körper  zum  Gegenstände  haben.  Hier  gewährt  uns  die  Hoff- 
nungsfreudigkeit der  Schwindsüchtigen  und  die  Selbsttäuschung 
Betrunkener  ein  alltägliches  Beispiel  für  jene  Störungen  des 
Selbstbewusstseins,  bei  denen  das  Gefühl  erhöhter  Leistungsfähig- 
keit in  Widerspruch  mit  dem  wirklichen  Verhalten  gerät.  So 
rühmen  gebrechliche  Paralytiker  ihre  Körperkräfte,  ihre  aus- 
gezeichneten Lungen,  ihre  Manneskraft,  sprechen  von  ihrer 
schönen  Stimme,  von  ihren  gymnastischen  Fertigkeiten,  während 
sie  keinen  musikalischen  Ton  hervorbringen  und  nicht  auf  den 
Füssen  stehen  können.  Den  hypochondrischen  Ideen  inhaltlich 
verwandt  sind  die  Grössenvorstellungen,  dass  der  eigene  Kot 
Gold,  der  Urin  Rheinwein  sei  und  ähnliches.  Zuweilen  gewinnen 
auch  Wahnvorstellungen  depressiven  Inhaltes  durch  die  Art 
ihrer  Verwertung  die  Bedeutung  von  Grössenideen.  Die  Kranken 
erzählen,  dass  sie  sofort  sterben  würden,  um  dann  in  den  Himmel 
zu  fahren;  sie  laden  zu  ihrer  Hinrichtung  ein,  die  mit  grosser 
Feierlichkeit  stattfinden  werde.  Andere  hören  wir  mit  Genug- 
tuung sich  dessen  rühmen,  dass  ihnen  schon  30  OOOmal  das  Haupt 
abgeschlagen  worden  sei,  dass  sie  den  schrecklichsten  Kopfkrank- 
heiten ausgesetzt  gewesen  seien,  jeden  Tag  einen  Zentner  Strych- 
nin eingeblasen  bekämen.  Hier  dienen  die  unerhörten  Gefahren 
oft  dazu,  die  eigene  Kraft  und  Wichtigkeit  in  ein  um  so  glän- 
zenderes Licht  zu  setzen. 

Sehl*  häufig  ist  die  Idee  geistiger  Gesundheit  trotz  tief- 
greifender psychischer  Störung,  der  Mangel  des  Krank- 
heitsbewusstseins. Wir  treffen  in  der  Irrenanstalt  immer 
nur  eine  kleine  Zahl  von  Kranken  an,  die  sich  für  geistig  gestört 
halten;  die  meisten  betrachten  sich  als  völlig  gesund,  nicht  wenige 
als  ganz  besonders  gescheidt  und  leistungsfähig.  Bei  manischen 
und  namentlich  hypomanischen  Kranken  geht  die  erleichterte  Aus- 
lösung von  Bewegungsantrieben  mit  der  Vorstellung  grosser  gei- 
stiger Frische  einher.  Ebenso  halten  sich  Paralytiker  in  ihrer 
gehobenen  Stimmung  oft  für  gesunder,  als  je  in  ihrem  Leben. 
Paranoiker,  deren  Einbildungskraft  nicht  durch  schwerfällige 
Überlegungen  gehindert  wird,  fühlen  sich  als  besonders  begnadete 


Störungen  des  Urteils  und  der  Schlussbildung. 


227 


Menschen,  berufen,  die  erhabensten  Grosstaten  des  Geistes  zu 
vollenden.  Oft  genug  geben  derartige  Kranke  die  Vermutung 
einer  geistigen  Störung  entrüstet  ihrer  Umgebung  zurück. 
Schliesslich  führt  das  Gefühl  erhöhter  geistiger  Leistungsfähig- 
keit dahin,  dass  sich  der  Kranke  für  ein  Universalgenie,  für  einen 
grossen  Entdecker  und  Weltverbesserer  hält,  für  den  es  keine 
Schwierigkeiten  und  keine  unlösbaren  Fragen  mehr  gibt;  er  ver- 
steht alle  Sprachen,  kennt  alle  Geheimnisse  der  Natur  und  er- 
gründet die  tiefsten  Rätsel  des  Daseins  mit  spielender  Leichtig- 
keit. Wer  wird  dabei  nicht  an  die  erstaunliche  Gewandtheit  er- 
innert, mit  der  wir  bisweilen  im  Traume  die  schwierigsten  Auf- 
gaben überwältigen,  um  nachher  beim  Erwachen  zu  entdecken, 
dass  unsere  Erzeugnisse  barer  Unsinn  gewesen  sind! 

Die  äusseren  Verhältnisse  des  Kranken,  seine  gesell- 
schaftliche Stellung,  sein  Besitz,  werden  durch  Grössen- 
wahnideen in  ähnlicher  Weise  umgewandelt.  Er  ist  von  hoher 
Abkunft,  Fürstenkind,  Thronerbe,  oder  er  steht  wenigstens  in 
nahen  Beziehungen  zu  weltlichen  und  geistlichen  vornehmen  Per- 
sönlichkeiten, ja  er  hat  Verbindungen  mit  überirdischen  Mächten, 
Verkehr  mit  der  Jungfrau  Maria,  mit  Christus  oder  Gott  selbst. 
In  weiterer,  sein*  häufiger  Steigerung  ist  er  selbst  Bismarck, 
König,  Kaiser,  Papst  (sogar  beides  in  einer  Person);  er  ist  ein 
Heiliger,  Christus,  Braut  Christi,  Gott,  die  verkörperte  Dreieinig- 
keit und  Obergott.  Andererseits  rühmt  der  Kranke  seine  schönen 
Kleider,  seine  Pferde  und  Schlösser;  er  besitzt  grosse  Lände- 
reien und  ungeheuer  viel  Geld,  Millionen  mal  Milliarden;  ihm  ge- 
hört Deutschland,  Europa,  alle  fünf  Erdteile,  ja  schliesslich  die 
ganze  Welt.  An  diese  Vorstellungen  der  Macht  und  des  Reich- 
tums knüpfen  sich  sehr  gewöhnlich  mannigfache  Pläne,  welche 
mit  Hilfe  der  zur  Verfügung  stehenden  Mittel  zur  Ausführung 
gebracht  werden  sollen.  Uom  einfachen  Ankäufe  allerlei  un- 
nützer Dinge  geht  es  zur  Planung  gewaltiger  Bauten,  grossartiger 
Feste,  zur  Austrocknung  ganzer  Meere,  Durchbohrung  der  Erde, 
Reisen  nach  dem  Monde  und  durch  das  Weltall.  In  dieser  ver- 
schiedenartigen inhaltlichen  Ausprägung  des  „Grössenwahns“ 
macht  sich  der  Einfluss  der  persönlichen  Erfahrung  geltend.  Die 
allgemeine  Richtung  ist  offenbar  in  dem  zu  Grunde  liegenden 
Krankheitszustande  vorgezeichnet,  aber  die  Ausgestaltung  und 

15* 


228 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Ausschmückung  des  Wahns  wird  durch  den  Vorstellungsschatz 
des  Einzelnen  geliefert  und  gibt  somit  ein  bisweilen  sehr  tref- 
fendes Bild  von  seinen  Anschauungen,  Interessen  und  Wünschen. 
Immerhin  zeigen  die  Wahnideen  gleichartiger  Kranker  oft  genug 
eine  überraschende  Ähnlichkeitt,  ein  Beweis  für  die  allgemeine 
Einförmigkeit  menschlichen  Strebens  und  Denkens. 

Grössen-  und  Kleinheitsidean  sind  durchaus  nicht  etwa  als 
gegensätzliche  und  einander  ausschliessende  Richtungen  der  Vor- 
stellungstätigkeit zu  betrachten,  sondern  sie  verbinden  sich 
sogar  sehr  gewöhnlich.  Oft  stehen  sie  ganz  unvermittelt 
nebeneinander;  hie  und  da  jedoch  lässt  sich  ein  gewisser  innerer 
Zusammenhang  beider  Vorstellungskreise  aufdecken.  Der  ver- 
meintlich Verfolgte  sieht  die  Ursache  der  gegen  ihn  gerichteten 
Feindseligkeiten  in  seinen  besonderen  Vorzügen,  in  seinen  na- 
türlichen Ansprüchen  auf  ein  grosses  Besitztum,  in  seiner  An- 
wartschaft auf  einen  Fürstenthron,  und  umgekehrt  glaubt  der 
wahnhafte  Sprössling  aus  hohem  Hause,  der  Besitzer  eingebildeter 
Reichtümer  die  Nichtanerkennung  seiner  Rechte  auf  die  Machen- 
schaften geheimer  Feinde  und  Neider  zurückbeziehen  zu  müssen, 
betrachtet  seine  Zurückhaltung  in  der  Irrenanstalt  als  das  Werk 
erbschieicherischer  Verwandten  oder  auch  als  eine  von  Gott  auf- 
erlegte Prüfung,  nach  deren  glücklichem  Überstehen  das  ganze 
Füllhorn  des  Glückes  sich  über  ihn  ergiessen  werde.  Ohne  Zweifel 
haben  wir  dabei  übrigens  nicht  an  eine  logische  Entwicklung 
der  einzelnen  Gedankenkreise  auseinander,  sondern  vielmehr  an 
eine  nachträgliche  Verbindung  derselben  zu  denken,  da  jeder 
Wahn  ursprünglich  selbständig  aus  den  inneren  Zuständen  des 
Kranken  hervorgeht.  Bei  der  Dementia  praecox  bedeutet  das 
Auftauchen  von  Grössenideen  neben  dem  Verfolgungswahn  regel- 
mässig ein  stärkeres  Fortschreiten  der  psychischen  Stärke. 

Störungen  in  der  Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes.  Die 
Verknüpfung  von  Vorstellungen  und  Begriffen  miteinander  nimmt, 
wie  sich  durch  Messungen  zeigen  lässt,  eine  bestimmte,  nicht 
unbeträchtliche  Zeit  (etwa  0,5 — 1,0"  und  mehr)  in  Anspruch, 
deren  Dauer  bei  der  gleichen  Person  je  nach  der  Leichtigkeit 
wechselt,  mit  welcher  sich  die  Glieder  aneinanderfügen.  Sie  ge- 
stattet umgekehrt  Rückschlüsse  auf  die  innigeren  oder  ent- 
fernteren Beziehungen  der  psychischen  Vorgänge  zu  einander.  Bei 


Störungen  in  der  Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes. 


229 


verschiedenen  Personen  zeigt  die  Geschwindigkeit  der  Vorstellungs- 
Verbindungen  schon  in  der  Gesundheitsbreite  sehr  erhebliche  Unter- 
schiede, die  bis  auf  das  Dreifache  schwanken  können,  ohne  dass 
sich  bis  jetzt  für  diese  dauernden  persönlichen  Eigentümlich- 
keiten bestimmte  Gründe  auffinden  Hessen.  Durch  diese  Er- 
fahrung wird  natürlich  auch  die  Beurteilung  krankhafter  Ab- 
weichungen insoweit  erschwert,  wie  nicht  im  einzelnen  Falle  Ver- 
gleichswerte aus  gesunden  Tagen  zu  Gebote  stehen.  Dazu  kommt 
noch  der  Umstand,  dass  die  notwendigen  Messungen  mit  allerlei 
Schwierigkeiten  umgeben  sind,  welche  nur  durch  völlige  Ver- 
trautheit mit  dem  Massverfahren  überwunden  werden  können. 
Darin  liegen  die  Gründe,  warum  die  Kenntnisse  von  den  Störungen 
des  zeitlichen  Ablaufes  unserer  Gedankengänge  verhältnismässig 
noch  recht  ungenügende  sind.  Immerhin  verfügen  wir  auch  jetzt 
schon  über  Zehntausende  brauchbarer  Messungen  an  Kranken.*) 
Zunächst  steht  soviel  fest,  dass  eine  Verlangsamung  des 
Vorstellungsverlaufes  durch  eine  ganze  Reihe  von  Ursachen*schon 
beim  Gesunden  herbeigeführt  werden  kann.  Vor  allem  ist  es 
die  Ermüdung,  die  regelmässig  den  Gedankengang  verzögert, 
schliesslich  bis  zur  völligen  psychischen  Lähmung.  Körperliche 
und  geistige  Ermüdung  haben  diese  Wirkung  miteinander  gemein- 
sam. Ähnlich  wirken  eine  Anzahl  von  Vergiftungen,  namentlich 
diejenigen  mit  Alkohol,  Äther,  Chloroform,  Chloralhydrat  u.  a., 
in  schwächerem  Grade  der  Tabak.  Auch  gewisse  Gemütsbewe- 
gungen unangenehmer  Art  scheinen  den  Ablauf  der  Vorstel- 
lungen zu  verlangsamen. 

In  Krankheitszuständen  vermag  man  die  Verlangsamung  des 
Gedankenganges  nicht  selten  schon  mit  einer  einfachen  Uhr  oder 
auch  ohne  jede  Messung  nachzuweisen.  Namentlich  in  den  stu- 
porösen  und  gewissen  Mischzuständen  des  cirkulären  Irreseins 
pflegt  die  Störung  ungemein  deutlich  zu  sein.  Dabei  ist  jedoch 
zu  berücksichtigen,  dass  bisweilen  nicht  sowohl  die  AAerbindung 
der  Vorstellungen,  sondern  wesentlich  nur  die  Auslösung  der  Ant- 
wort stark  verlangsamt  ist.  Ich  kenne  Fälle  von  cirkulärer  Hem- 
mung, bei  denen  der  Vorstellungsverlauf  nur  unbedeutend  oder 


*)  Reis,  Psycholog.  Arbeiten,  II,  587 ; Aschaffenburg,  ebenda, 
IV,  235. 


230 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gar  nicht,  die  Entstehung  der  Sprachbewegung  dagegen  ungemein 
stark  erschwert  war,  wie  sich  durch  Versuche  zweifellos  nach- 
weisen  Hess.  Melancholische  pflegen  eine  massige  Verlangsamung 
des  Gedankenganges  darzubieten.  Eei  der  Dementia  praecox, 
namentlich  in  den  Endzuständen,  ist  regelmässig  eine  geringe 
Erschwerung  in  der  Verbindung  der  Vorstellungen  vorhanden, 
die  allerdings  infolge  des  Negativismus  weit  grösser  erscheinen 
kann.  Recht  bedeutend  pflegt  die  Verlängerung  der  psy- 
chischen Zeiten  in  der  Paralyse  zu  sein,  bis  im  weiteren  Ver- 
laufe die  Messung  völlig  versagt.  Beim  angeborenen  Schwach- 
sinn wird  ebenfalls  Verlangsamung  des  Vorstellungsverlaufes  be- 
obachtet. Mit  einer  Verlängerung  der  Associationszeiten  sieht 
man  regelmässig  auch  die  Sc  awankungen  der  gemessenen 
Werte  zunehmen,  die  Buccola  mit  Recht  als  das  Dynamo- 
meter der  Aufmerksamkeit  bezeichnet  hat.  Während  sonst 
die  psychischen  Vorgänge  gerade  bei  langsamerer  Arbeit 
gleichmässiger  zu  verlaufen  pflegen,  werden  hier  die  Lei- 
stungen nicht  nur  geringer,  sondern  auch  unregelmässiger; 
zugleich  lässt  sich  vielfach  noch  eine  Abnahme  ihres  inneren 
Wertes  nachweisen. 

Beschleunigung  des  Vorstellungsverlaufes  kommt  jeden- 
falls ungleich  seltener  zu  stände,  als  Verlangsamung.  Sehen  wir 
ab  von  der  allmählich  eintretenden  Verkürzung  der  psychischen 
Zeiten  durch  Übung,  so  scheinen  im  gesunden  Leben  wesentlich 
gewisse  Formen  der  gemütlichen  Erregung  einen  rascheren  Ab- 
lauf des  Gedankenganges  herbeiführen  zu  können.  Höchstens  wäre 
hier  noch  der  Einfluss  der  Anregung  durch  fortdauernde,  gleich- 
mässige  Gedankenarbeit  zu  erwähnen,  der  ebenfalls  erleichternd 
auf  die  geistige  Tätigkeit  wirkt.  Von  Arzneistoffen  ist  bisher 
nur  für  das  Morphium,  das  Coffein  und  die  ätherischen  Öle  des 
Tees  eine  anregende  Wirkung  auf  die  Verstandesleistungen  wahr- 
scheinlich. Bei  Geisteskranken  sind  unzweifelhafte  erkürzungen 
der  psychischen  Zeiten  überhaupt  noch  nicht  nachgewiesen.  Er- 
warten könnte  man  diese  Erscheinung  nach  der  allgemeinen  An- 
schauung etwa  bei  manischen  Kranken,  namentlich  in  den  leich- 
teren Formen,  in  der  sogenannten  Hypomanie.  Drückt  sich  doch 
schon  in  dem  Namen  der  hier  so  deutlichen  „Ideenflucht“  die  Vor- 
stellung einer  Beschleunigung  der  Gedankenverbindungen  aus. 


Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit. 


231 


In  der  Tat  hat  Marie  Walitzkaja  bei  manischen  Kranken 
Verkürzungen  der  Associationszeit  bis  auf  die  Hälfte,  ja  bis  auf 
ein  Drittel  der  gewöhnlichen  Dauer  gefunden.  Der  Annahme 
einer  derart  erheblichen  Beschleunigung  der  Vorstellungsverbm- 
dungen  widersprechen  indessen  die  in  unserer  Klinik,  nament- 
lich von  Aschaffenburg,  gesammelten,  sehr  ausgedehnten 
Erfahrungen  durchaus.  Meist  lässt  sich  sogar  bei  Ideenflüchtigen 
geradezu  eine  Verlangsamung  des  Gedankenganges  nachweisen. 
Ich  bin  nicht  mehr  im  Zweifel  darüber,  dass  die  entgegenstehen- 
den Ergebnisse  durch  die  hier  sehr  naheliegende  und  nur  schwierig 
zu  vermeidende  Fehlerquelle  der  vorzeitigen  Reaktion  getrübt 
worden  sind. 

Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit.  Der  zeitliche  Ab- 
lauf des  einzelnen  psychischen  Vorganges  liefert  uns  nur  ein 
sehr  unvollkommenes  Bild  der  eigentlichen  geistigen  Leistungs- 
fähigkeit. Es  können  tiefgreifende  und  ausgebreitete  Störungen 
in  der  gesamten  geistigen  Veranlagung  bestehen,  übei  die  wir 
durch  die  einzelne  Messung  nicht  das  geringste  erfahren.  Dagegen 
wird  uns  durch  die  Untersuchung  der  Arbeitsleistung  während 
längerer  Zeit*)  und  unter  verschiedenen  Verhältnissen  ein  Ein- 
blick in  eine  Reihe  von  Abweichungen  eröffnet,  deren  Bedeutung 
für  das  genauere  Verständnis  der  Schwachsinnsformen,  namentlich 
der  angeborenen,  kaum  überschätzt  werden  kann.  Wii  leinen 
hier  geradezu  gewisse  Grundeigenschaften  der  einzel- 
nen Persönlichkeit  kennen,  von  deren  krankhaften  Ge- 
staltungen wir  sonst  nur  höchst  unbestimmte  und  verschwommene 

Vorstellungen  zu  haben  pflegen. 

Zunächst  stellt  sich  heraus,  dass  die  Arbeitsleistung  beim 
gesunden  Menschen  gewisse  dauernde  Spuren  hinterlässt,  die  für 
später  eine  Erleichterung  der  gleichen  Arbeit  vermitteln.  Diese 
dauernde,  nur  sehr  allmählich  wieder  verschwindende  Arbeits- 
erleichterung bezeichnen  wir  mit  dem  Namen  der  Übung.  Die 
Grösse  des  Übungseinflusses  ist  bei  verschiedenen  Personen  sehr 
verschieden.  Weit  grösser  aber  sind  die  Schwankungen  auf  krank- 
haftem Gebiete.  Wenn  wir  absehen  von  den  erworbenen  Schwach- 
sinnsformen, insbesondere  dem  paralytischen  Blödsinn,  bei  denen 


*)  K r a e p e 1 i n , Die  Arbeitskurve,  Philosophische  Studien,  XIX,  459. 


232 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  Übungsfähigkeit  häufig  vollkommen  vernichtet  ist,  so 
leuchtet  ohne  weiteres  ein,  dass  jene  Eigenschaft  bei  Idioten 
fast  ausschliesslich  die  ganze  Zukunft  des  Kranken  bestimmt. 
Bildungsunfähigkeit  ist  im  wesentlichen  nichts,  als  Mangel  der 
Übungsfähigkeit.  Natürlich  kommt  es  aber  ausser  der  Arbeits- 
erleichterung durch  die  Übung  selbst  auch  auf  die  Festigkeit 
an,  mit  welcher  diese  bleibende  Spur  im  Gedächtnisse  haftet. 
Wo  die  erworbene  Übung  sich  rasch  wieder  verliert,  wird  sie  nur 
ein  sehr  unzuverlässiges  Hilfsmittel  für  die  geistige  Ausbildung 
abzugeben  imstande  sein.  Auch  in  dieser  Beziehung  finden  sich 
schon  bei  Gesunden  sehr  bedeutende  Unterschiede.  In  krankhafter 
Ausbildung  begegnen  wir  raschem  Schwinden  der  vielleicht  ebenso 
rasch  erworbenen  Übung  namentlich  bei  jenen  Formen  des  an- 
geborenen Schwachsinns,  bei  denen  eine  gewisse  oberflächliche 
geistige  Regsamkeit  zunächst  über  die  tief  begründete  Unzuläng- 
lichkeit der  geistigen  Begabung  täuscht. 

Mit  der  Übungsfähigkeit  steht  vielleicht  in  innerer  Beziehung 
die  Anregbarkeit.  Es  hat  sich  herausgestellt,  dass  durch 
fortgesetzte  geistige  Arbeitsleistung  rasch  eine  Erleichterung 
eben  dieser  Arbeit  zu  stände  kommt,  die  sich  von  der  Übung 
durch  ihr  schnelles  Verschwinden  nach  dem  Auf  hören  der  Arbeit 
unterscheidet.  Die  grössere  oder  geringere  Leichtigkeit,  mit  der 
sich  diese  Zunahme  der  Leistung  während  der  Arbeit  einstellt, 
bezeichnen  wir  als  Anregbarkeit.  Aus  der  täglichen  Erfahrung 
ist  genugsam  bekannt,  wie  verschieden  die  Geschwindigkeit  ist, 
mit  welcher  sich  der  Einzelne  in  eine  Arbeit  hineinfindet.  Unter 
unseren  Kranken  bieten  die  Gehemmten,  Stuporösen  denjenigen 
Grenzfall  dar,  bei  welchem  die  Anregbarkeit  ihre  niedersten  Werte 
erreicht,  während  uns  manische  Kranke  anscheinend  gerade  die 
entgegengesetzte  Störung  in  ihrer  höchsten  Ausbildung  zeigen. 
Namentlich  bei  feineren  Untersuchungen  über  die  Schrift  hat  sich 
herausgestellt,  dass  in  der  Manie  während  des  Schreibens  die  Ge- 
schwindigkeit der  Bewegungen  und  der  Druck  der  Feder  ausser- 
ordentlich rasch  anwächst.  Weniger  augenfällig,  aber  als  dau- 
ernde persönliche  Eigentümlichkeiten,  treten  uns  die  beiden  ent- 
gegengesetzten Störungen  in  jenen  Formen  des  angeborenen 
Schwachsinns  entgegen,  die  man,  nicht  ohne  Beziehung  auf  das 
verschiedene  Verhalten  der  Anregbarkeit,  als  stumpfen  und  er- 


Störungen  der  geistigen  Arbeitsfähigkeit. 


233 


regbaren  Schwachsinn  auseinandergehalten  hat.  Vielleicht  ist 
auch  die  Nachhaltigkeit  der  Anregung,  die  Geschwindigkeit,  mit 
der  sich  die  innere  Bewegung  wieder  beruhigt,  von  Bedeutung  für 
das  Verständnis  dieser  oder  jener  Krankheitszustände.  Leider 
ist  über  diese  Verhältnisse  bisher  nichts  bekannt. 

Eine  weitere,  grundlegende  Eigenschaft  der  geistigen  Per- 
sönlichkeit ist  die  Ermüdbarkeit.  Durch  die  Ermüdung  wird 
die  Höhe  der  Arbeitsleistung  je  länger,  je  mehr  herabgesetzt, 
wahrscheinlich  nicht  nur  in  ihrer  Menge,  sondern  auch  in  ihrem 
Werte.  Grosse  Ermüdbarkeit  beeinträchtigt  daher  auf  das  em- 
pfindlichste die  Fähigkeit  zu  längerer  und  anstrengender  Arbeits- 
leistung. Bei  Geisteskranken  ist  diese  Störung  ungemein  ver- 
breitet. Wir  finden  sie  zunächst  bei  der  nervösen  Erschöpfung 
und  in  der  Genesungszeit  nach  verschiedenen  Formen  psychischer 
Erkrankung.  Sehr  ausgeprägt  pflegt  sie  in  den  Depressions- 
zuständen nach  manischen  Anfällen  zu  sein;  die  durch  die  Er- 
regung verdeckte  Ermüdung  tritt  mit  der  Beruhigung  in  ähnlicher 
Weise  hervor  wie  die  Abspannung  nach  aufregenden  Erlebnissen 
beim  Gesunden.  Sodann  begegnen  wir  erhöhter  Ermüdbarkeit 
vielfach  bei  der  Dementia  praecox,  namentlich  aber  bei  den 
senilen  Hirnerkrankungen  und  in  der  Paralyse,  wo  sie  häufig  genug 
das  erste  auffallende  Krankheitszeichen  bildet.  Endlich  ist 
sie  eine  häufige  Begleiterscheinung  des  angeborenen  Schwach- 
sinns. Sie  kann  hier,  zum  grossen  Schaden  des  Kranken,  un- 
erkannt bleiben,  wenn  sie  sich  mit  erhöhter  Anregbarkeit  ver- 
bindet. Es  kommt  dann  leicht  zu  einer  Anspannung  der  geistigen 
Arbeitskraft  über  das  zulässige  Mass  hinaus,  die  zu  einer  dauern- 
den Ermüdung,  vielleicht  auch  zu  einer  Steigerung  der  Ermüd- 
barkeit führen  kann. 

Ausgeglichen  wird  die  Ermüdung  durch  die  Erholung  und 
namentlich  durch  den  Schlaf.  Wahrscheinlich  unterliegt  auch 
die  Schnelligkeit,  mit  der  sich  die  Erholung  vollzieht,  krankhaften 
Störungen.  Melancholische,  Nervöse,  Genesende  sehen  wir  un- 
gemein  langsam  die  Folgen  einer  geistigen,  gemütlichen  oder 
auch  körperlichen  Anstrengung  wieder  ausgleichen;  wir  haben 
daher  bei  ihnen  vielleicht  eine  Abnahme  der  Erholungsfähig- 
keit, der  geistigen  Spannkraft,  zu  verzeichnen.  Eine  wesentliche 
Rolle  spielt  dabei  ohne  Zweifel  das  Verhalten  des  Schlafes.  Nach 


234 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


den  vorliegenden  Untersuchungen  darf  es  als  wahrscheinlich  gel- 
ten, dass  wir  es  beim  Irresein  vielfach  mit  schweren  Störungen 
nicht  nur  der  Schlafdauer,  sondern  namentlich  auch  der  Schlaf- 
tiefe zu  tun  haben.  Für  Zustände  einfacher  Überarbeitung  ist 
eine  V erf lachung  des  Schlafes,  langsameres  Erreichen  der  grössten 
Tiefe  und  vollkommener  Nachlass  der  Schlaftiefe  gegen  Morgen 
bereits  nachgewiesen. 

Kaum  weniger  häufig,  als  der  krankhaften  Ermüdbarkeit, 
begegnen  wir  auf  unserem  Gebiete  einer  Steigerung  der  Ab- 
lenkbarkeit.  Dieselbe  kann  entweder  durch  geringe  Stärke 
der  Leitvorstellungen,  durch  ungewöhnlich  lebhaftes  Hervor- 
treten einzelner  Vorstellungsbestandteile  oder  endlich  durch  er- 
höhte Empfindlichkeit  für  ablenkende  Einwirkungen  zu  stände 
kommen.  Den  ersten  Fall  haben  wir  im  gesunden  Leben  beim 
wachen  Träumen  vor  uns,  wenn  wir  planlos  unsere  Gedanken 
schweifen  lassen  und  dabei  durch  ganz  zufällige  innere  und 
äussere  Einflüsse  bald  hierhin,  bald  dorthin  abgelenkt  werden. 
Auf  ähnliche  Weise  kommt  vielleicht  die  Ablenkbarkeit  beim 
Schwachsinn,  insbesondere  bei  der  Paralyse  und  der  Dementia 
praecox,  zu  stände;  hier  fehlen  dauernd  jene  Leitvorstellungen, 
die  dem  Gedankengange  seine  bestimmte  Richtung  vorzeichnen 
und  das  Anwachsen  aller  ausserhalb  der  Bahn  liegenden  Eindrücke 
und  Vorstellungen  schon  im  Entstehen  hemmen. 

Für  die  zweite  Form  der  Ablenkbarkeit  finden  wir  vielleicht 
gewisse  Anknüpfungspunkte  in  den  Begleiterscheinungen  ange- 
strengter Tätigkeit.  Wir  haben  schon  früher  gesehen,  dass  mit 
wachsender  Willensspannung  die  sprachliche  Gewohnheit  einen 
ganz  besonderen  Einfluss  auf  unseren  Vorstellungsverlauf  gewinnt. 
Am  deutlichsten  wird  das  nach  Entziehung  des  Schlafes  und  nach 
körperlicher  Arbeit.  Die  motorischen  Bestandteile  unserer  Vor- 
stellungen scheinen  dabei  ein  deutliches  Übergewicht  zu  erlangen. 
Zugleich  verlieren  allerdings  wohl  auch  die  Leitvorstellungen 
durch  die  Ermüdung  wesentlich  an  Kraft.  Infolgedessen  sind 
wir  nicht  mehr  imstande,  bei  der  Stange  zu  bleiben,  ertappen  uns 
fortwährend  auf  Nebengedanken  und  sind  genötigt,  immer  von 
neuem  durch  eine  besondere  Anstrengung  unsere  Aufmerksamkeit 
in  die  alte  Richtung  zurückzubringen.  Diese  Erscheinung  ist  uns 
aus  den  Erörterungen  über  die  Ideenflucht  wohlbekannt;  sie  be- 


Störungen  des  Selbstbewusstseins. 


235 


gegnet  uns  bei  sehr  verschiedenartigen  Erregungszuständen,  vor 
allem  im  manisch-depressiven  Irresein. 

Erhöhte  Empfindlichkeit  gegen  ablenkende  Einwirkungen  ist 
endlich  eine  regelmässige  Begleiterscheinung  der  allgemeinen 
Nervosität.  Sie  geht  Hand  in  Hand  mit  einer  Herabsetzung  der 
Gewöhnungsfähigkeit.  Für  den  gesunden  Menschen  pflegt 
jede  Ablenkung  bei  längerer  Einwirkung  allmählich  ihren.  Ein- 
fluss mehr  und  mehr  zu  verlieren;  er  gewöhnt  sich  an  die  Störung 
und  lernt,  dieselbe  unbeachtet  zu  lassen.  Bei  gesteigerter  ner- 
vöser Reizbarkeit  kann  diese  Gewöhnungsfähigkeit  mehr  oder 
weniger  erheblich  herabgesetzt  sein,  so  dass  also  die  ablenkende 
Wirkung  einer  Störung  mit  der  Zeit  immer  wächst,  anstatt  sich 
abzuschwächen.  Auf  diese  Weise  können  schliesslich  ganz  un- 
bedeutende Reize  in  einem  Grade . störend  einwirken,  der  dem 
Unbefangenen  unbegreiflich  erscheint.  . 

Störungen  des  Selbstbewusstseins-  Als  Selbstbewusstsein  be- 
zeichnen wir  die  Summe  aller  jener  Vorstellungen,  aus  denen 
sich  für  uns  das  Bild  unserer  körperlichen  und  geistigen  Persön- 
lichkeit zusammensetzt.  Diese  Vorstellungsgruppe  bildet  den 
dauernden  Hintergrund  unseres  Seelenlebens  und  übt.  daher  auf 
den  Ablauf  unserer  gesamten  geistigen  Vorgänge . einen  mass- 
gebenden Einfluss  aus.  Sie  verknüpft  einerseits  die  Eindrücke 
jedes  Augenblickes  zu  einem  einheitlichen  Bilde  unserer  ge- 
samten Lage,  und  sie  verkettet  andererseits  die  Reihe  unserer 
Lebenserfahrungen  zu  einer  fortlaufenden  Lebensgeschichte, 
deren  Endergebnis  jeweils  das  gegebene  Ich  darstellt. 

Störungen  des  Selbstbewusstseins  können  zunächst  die  innere 
Einheit  der  Persönlichkeit  aufheben.  Wir  kennen  aus  dem  Traume 
die  Erscheinung,  dass  wir  Zwiegespräche  führen  können,  ja  dass 
wir  über  irgend  eine  schlagende  Wendung  unseres  Gegners  ver- 
blüfft sind.  Hier  ist  anscheinend  die  Einheitlichkeit  des  Selbst- 
bewusstseins, die  uns  im  Wachen  gestattet,  alle  Gedanken  und 
Regungen  unseres  Innern  gleichzeitig  zu  übersehen,  aufgehoben. 
Eine  solche  „Teilung“  oder  „Spaltung“  des  Selbstbewusstseins  be- 
gegnet uns  in  Krankheitszuständen  häufig.  Die  ersten  Ansätze  dazu 
haben  wir  vielleicht  schon  in  jenen  Fällen  zu  sehen,  in  denen  Sinnes- 
täuschungen dem  Kranken  als  fremde  Erscheinungen  äusseren 
Ursprungs  entgegentreten.  Wenn  ein  Trinker  hört,  dass  übei 


236 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


ihn  spottende  Zwiegespräche  geführt  und  gefahrdrohende  Pläne 
verabredet  werden,  so  bleibt  ihm  dabei  völlig  verborgen,  dass 
diese  Täuschungen  nichts,  als  der  hallucinatorische  Ausdruck  seiner 
eigenen  Gedanken  und  Befürchtungen  sind;  er  selbst  spielt,  ohne 
es  zu  wissen,  die  Rolle  zweier  verschiedener  Parteien.  Nament- 
lich bei  der  Dementia  praecox  kann  diese  Spaltung  des  Selbst- 
bewusstseins sehr  deutlich  werden.  Die  Kranken  sprechen  dann 
von  den  fremden  Mächten,  Feinden,  die  sich  in  ihrem  Körper  ein- 
genistet haben,  und  unterscheiden  sehr  deutlich  ihre  eigenen  Ge- 
danken und  Handlungen  von  denen  ihrer  Inwohner.  Auch  zur 
Erklärung  gewisser  hysterischer  Störungen  hat  man  eine  ähn- 
liche Annahme  vorgeschlagen.  Da  sich  nachweisen  lässt,  dass 
auch  solche  Reize  psychisch  verwertet  werden  können,  die  auf 
empfindungslose  Körpergegenden  einwirken,  und  dass  gelähmte 
Glieder  auf  Umwegen  in  Bewegung  gesetzt  werden  können,  liegt 
die  Annahme  nahe,  dass  es  sich  hier  um  eine  Spaltung  des  Selbst- 
bewusstseins handle,  die  einzelne  Körpergebiete  aus  dem  Zusam- 
menhänge des  Persönlichkeitsbewusstseins  ausschliesst. 

Der  zeitliche  Zusammenhang  der  Persönlichkeit  mit  ihrer 
Vergangenheit  kann  dadurch  gestört  werden,  dass  die  Spuren 
kürzerer  oder  längerer  Lebensabschnitte  verlöschen.  Hat  in  diesen 
Abschnitten  eine  Fortentwicklung  nicht  stattgefunden,  so  findet 
sich  das  Selbstbewusstsein  nachher  unverändert  auf  dem  früheren 
Standpunkte;  die  Zwischenzeit  wird  dann  durch  Schlussfolge- 
rungen oder  durch  Erinnerungsfälschungen  überbrückt.  Ersteres 
ist  der  Fall  bei  den  Lücken,  die  durch  Bewusstseinstrübungen, 
den  Schlaf,  Ohnmächten,  Dämmerzustände,  Delirien,  bedingt  wer- 
den; letzteres  geschieht,  wo  der  Verlust  der  Erinnerung  durch 
eine  Merkstörung  verursacht  war,  wie  bei  der  K o r s s a k o w sehen 
Krankheit.  Ein  wesentlich  anderes  Bild  bieten  dagegen  die  Fälle 
von  sogenanntem  „doppeltem  Bewusstsein“  dar.  Hier 
handelt  es  sich  um  den  mehr  oder  weniger  regelmässigen  Wechsel 
verschiedener  Zustände,  in  denen  jeweils  nur  die  Erinnerung  an 
die  Erlebnisse  des  gleichartigen  Zustandes  erhalten  bleibt.  Es 
schieben  sich  also  gewissennassen  zwei  verschiedene  Persönlich- 
keiten durcheinander,  von  denen  jede  nur  über  einen  Teil  der 
Gesamterfahrungen  verfügt.  In  der  Regel  pflegt  die  eine  der- 
selben einer  früheren  Entwicklungsstufe  anzugehören  und  dem- 


Störungen  des  Selbstbewusstseins. 


237 


gemäss  allerlei  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  nicht  zu  besitzen, 
welche  die  andere  beherrscht.  Bisweilen  lässt  sich  nachweisen, 
dass  geradezu  eine  Rückversetzung  in  ein  bestimmtes,  durch  be- 
sondere Ereignisse  ausgezeichnetes  Lebensalter  stattgefunden  hat. 
Diese  Erscheinung,  die  man  bei  geeigneten  Personen  durch  hyp- 
notisches Einreden  künstlich  erzeugen  kann,  gehört  dem  Gebiete 
der  Hysterie  an;  sie  ist  von  den  Franzosen  als  „Ekmnesie“  be- 
zeichnet worden. 

Das  Selbstbewusstsein  ist  kein  feststehendes  psychisches  Ge- 
bilde, sondern  es  wird  durch  die  Lebenserfahrungen  fortwährend 
verändert.  Auch  Krankheitsvorgänge  vermögen  es  in  der  nach- 
haltigsten Weise  zu  verfälschen,  freilich  in  sehr  verschiedenem 
Grade.  Worauf  diese  Unterschiede  beruhen,  ist  noch  völlig  un- 
klar. So  sind  die  Verfälschungen  des  Selbstbewusstseins  bei 
cirkulären  Depressionszuständen  oft  sehr  ausgeprägt,  während 
sie  in  der  Melancholie  trotz  weitgehendster  wahnhafter  Umge- 
staltung der  Umgebung  sehr  gering  sein  können.  Auch  im  Trinker- 
delirium spielen  sich  mit  den  Kranken  die  abenteuerlichsten  Er- 
lebnisse ab,  ohne  dass  ihr  Selbstbewusstsein  verfälscht  würde. 
Da  die  schwersten  Umwandlungen  des  Selbstbewusstseins  in  der 
Paralyse,  in  der  Dementia  praecox  und  im  manisch-depressiven 
Irresein  beobachtet  werden,  könnte  man  auf  den  Gedanken 
kommen,  dass  jenes  Krankheitszeichen  in  irgend  einer  Beziehung 
zu  den  Störungen  des  Willens  stände,  die  den  genannten  Formen 
eigentümlich  sind;  pflegen  wir  doch  auch  den  Willensregungen 
einen  besonders  grossen  Anteil  an  dem  Aufbau  der  psychischen 
Persönlichkeit  zuzuschreiben. 

Im  einzelnen  erhält  die  Verfälschung  des  Ichbewusstseins 
ihre  Färbung  namentlich  durch  die  krankhafte  Stimmung.  So 
wächst  beim  manischen  Kranken  die  eigene  Persönlichkeit  bis 
zum  Auftreten  von  Grössenideen,  die  freilich  in  der  Regel  nur 
als  halb  scherzhafter  Ausdruck  des  gehobenen  Selbstgefühls 
vorgebracht  werden.  In  den  cirkulären  Depressions-  und  Stupor- 
zuständen kommen  sich  die  Kranken  nicht  nur  schlecht  und  ver- 
worfen vor,  sondern  sie  fühlen  sich  oft  genug  auch  körperlich 
verändert,  versteinert,  verzogen,  gestorben,  glauben  sich  in  ge- 
schichtliche Personen  verwandelt,  sind  zum  Teufel,  zum  Tiere 
geworden.  Auch  dem  Paralytiker  kann  im  Zusammenhänge  mit 


238 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


den  Grössen-  und  Kleinheitsideen  sein  Körper  in  der  mannig- 
fachsten Weise  verändert  erscheinen;  ebenso  empfindet  er  viel- 
fach in  seinem  geistigen  Leben  eine  völlige  Umwandlung,  die 
ihn  seiner  eigenen  Vergangenheit  entfremdet  und  ihn  zu  einem 
ganz  neuen  Wesen  macht,  das  je  nach  der  Färbung  der  Stimmung 
bis  ins  Ungemessene  gewachsen  oder  zum  Nichts  zusammen- 
geschrumpft ist.  Ganz  ähnliche,  wenn  auch  weniger  stürmische 
Wandlungen  können  sich  in  der  Dementia  praecox  vollziehen. 
Sie  sind  jedoch  im  ganzen  hier  ungleich  seltener,  und  sie  ver- 
knüpfen sich,  im  Gegensatz  zur  Paralyse  und  zum  manisch-depres- 
siven Irresein,  immer  mit  der  Vorstellung  äusserer  Beeinflussung 
in  irgend  einer  Form,  ohne  dass  freilich  die  P eränderung  der 
eigenen  Persönlichkeit  gerade  als  Folge  solcher  Einwirkungen 
gedeutet  werden  müsste.  Bei  denjenigen  Formen  des  Irreseins, 
die  wir  der  V errücktheit  zurechnen,  pflegt  die  Störung  des  Selbst- 
bewusstseins verhältnismässig  gering  zu  sein;  sie  beschränkt  sich 
in.  der  Kegel  auf  eine  wahnhafte  Überschätzung  der  eigenen  Fähig- 
keiten, die  unter  Umständen  durch  Erinnerungsfälschungen  in 
die  Vergangenheit  zurückgeführt  wird  und  die  Anknüpfung  für 
eine  Umdeutung  der  äusseren  Lebensstellung  bilden  kann. 

Mit  dem  Fortschreiten  der  Verblödung  kommt  es  schliess- 
lich auch  zu  einer  Vernichtung  des  Selbstbewusstseins.  In  den 
Endzuständen  der  Dementia  praecox  und  namentlich  der  Paralyse 
kann,  wie  es  scheint,  die  Vorstellungsgruppe  der  körperlichen 
und  geistigen  Persönlichkeit  und  damit  das  innere  Band  völlig 
zerfallen,  das  die  Kette  der  Erfahrungen  zusammenkält.  Es  muss 
jedoch  betont  werden,  dass  dieser  Vorgang  nicht  eine  einfache 
Folge  der  Verblödung  ist,  sondern  eine  besondere  Teilerscheinung 
der  genannten  Erkrankungen  bildet.  Auch  bei  der  epileptischen 
Verblödung  sehen  wir  hochgradige  geistige  Verarmung  und 
schwere  Gedächtnisstörungen  zur*  Entwicklung  kommen.  Trotz- 
dem bleibt  hier  in  der  Regel  den  Kranken  ein  klares,  geordnetes 
Bewusstsein  ihrer  Persönlichkeit.  Selbst  bei  der  Presbyophrenie, 
bei  der  wegen  der  starken  Merkstörung  die  Lebensereignisse 
sofort  spurlos  aus  der  Erinnerung  schwänden,  um  durch  freie 
Erfindungen  ersetzt  zu  werden,  pflegt  das  Selbstbewusstsein  wohl 
erhalten  zu  bleiben;  höchstens  kommt  es  zu  einer  Rückversetzung 
in  längstvergangene  Zeiten. 


Störungen  des  Gefühlslebens. 


239 


C.  Störungen  des  Geliililslebeiis. 

Jeder  Sinneseindruck,  der  die  Schwelle  des  Bewusstseins  über- 
schreitet, erzeugt  in  unserem  Innern  ausser  der  Wahrnehmung 
eine  eigentümliche  Veränderung  unseres  Seelenzustandes,  die  wir 
als  Gefühl  bezeichnen.  Die  Gefühle  sind  nicht,  wie  die  Wahr- 
nehmungen, ein  Abbild  der  Aussenwelt,  sondern  sie  kennzeichnen 
unmittelbar  die  Stellung,  welche  das  Ich  gegenüber  den  äusseren 
Einwirkungen  einnimmt;  es  sind  diejenigen  Seelenzustände,  aus 
denen  sich  auch  tatsächlich  die  Willensregungen  entwickeln. 
Nach  Wundts*)  Darlegungen  kann  man  drei  gegensätzliche 
Gefühlsrichtungen  auseinanderhalten,  die  jedoch  nur  selten  allein, 
sondern  fast  immer  in  mannigfaltigen  Mischungen  die  geistigen 
Vorgänge  begleiten,  die  Lust  und  Unlust,  die  Erregung  und  Be- 
ruhigung, vielleicht  besser  Hemmung,  endlich  die  Spannung  und 
Lösung.  Diese  Zerlegung  der  Gefühlsmischungen  in  ihre  ein- 
fachsten Bestandteile  lässt  sich  nicht  nur  an  passend  gewählten 
Beispielen  durch  die  innere  Erfahrung  unmittelbar  durchführen, 
sondern  sie  wird  auch  gestützt  durch  die  eigenartigen  Wirkungen, 
die  den  verschiedenen  Gefühlsarten  auf  Atmung,  Puls  und  Blut- 
druck zuzukommen  scheinen. 

Da  die  Gefühle  die  empfindlichsten  Zeichen  aller  inneren 
Veränderungen  sind,  ist  es  bei  den  Geistesstörungen  regelmässig 
gerade  die  Gefühlsbetonung,  das  „Gemütsleben“  der  Kranken, 
welches  zunächst  die  auffallendsten  Störungen  darbietet.  Die 
Beurteilung  dieser  Krankheitserscheinung  stösst  jedoch  des- 
wegen auf  gewisse  eigentümliche  Schwierigkeiten,  weil  uns  hier 
weit  weniger,  als  auf  dem  Gebiete  des  Verstandes,  eine 
feststehende  Richtschnur  gegeben  ist,  mit  Hilfe  derer  wir  die 
gradweisen  Abweichungen  vom  gesunden  Verhalten  sicher  be- 
stimmen könnten.  Verfälschungen  der  Sinneserfahrung,  Ver- 
stösse  gegen  die  Grundsätze  des  logischen  Denkens  werden  auch 
vom  Laien  ohne  weiteres  als  krankhafte  Erscheinungen  erkannt; 
die  Lebhaftigkeit  der  Gefühlsäusserungen  zeigt  aber  schon 
bei  Gesunden  unter  verschiedenen  Verhältnissen  so  weitgehende 
persönliche  Verschiedenheiten,  dass  die  Abgrenzung  des  Krank- 

*)  W u n d t , Physiologische  Psychologie.  II,  284,  5.  Aufl.  1902. 


240 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


haften  gerade  auf  diesem  Gebiete  häufig  recht  schwierig  wird. 
Der  Laie  (in  forensischen  Fällen  der  Richter)  ist  stets  weit  eher 
geneigt,  Mängel  des  Verstandes,  besonders  Wahnideen,  für  krank- 
haft zu  halten,  als  die  eingreifendsten  Störungen  im  Gemüts- 
leben. 

Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit. 

Die  einfachste  und  wohl  auch  häufigste  Abweichung  im  Bereiche 
der  Gefühle  ist  die  Herabsetzung  ihrer  Stärke.  Während 
sich  im  Gemüte  des  Gesunden  der  innere  Anteil,  den  er  an 
seinen  vielfachen  Beziehungen  zur  Umgebung  nimmt,  in  bestän- 
digen, leiseren  oder  stärkeren  Schwankungen  des  Stimmungs- 
hintergrundes widerspiegelt,  bedeutet  die  Abnahme  dieser  Ge- 
fühlsbetonung Gleichgültigkeit  und  Teilnahmlosig- 
keit  gegenüber  den  Eindrücken  der  Aussenwelt.  Diese  Störung 
ist  eine  allgemeine  Begleiterscheinung  der  meisten  Schwachsinns- 
formen. Unter  Umständen  werden  dabei  die  äusseren  Erfahrungen 
noch  recht  gut  aufgefasst  und  selbst  verstandesmässig  verarbeitet, 
ohne  allerdings  irgend  einen  bemerkbaren  gemütlichen  Widerhall 
in  dem  Kranken  wachzurufen.  Dieses  auffallende  Missverhält- 
nis zwischen  Verstandes-  und  Gefühlsstörung  tritt  uns  am  aus- 
geprägtesten bei  der  Dementia  praecox  entgegen.  Erst  in  den 
schwersten  Krankheitszuständen  pflegt  hier  auch  die  Auffassung 
und  die  Vorstellungstätigkeit  eine  tiefgreifende  Einbusse  zu  er- 
leiden. Bei  der  Paralyse  dagegen  sehen  wir  einerseits  die  Ver- 
standesleistungen in  verhältnismässig  höherem,  die  gemütlichen 
Regungen  dagegen  in  geringerem  Grade  durch  die  Krankheit 
zerstört  werden. 

Die  Abnahme  der  Gefühlsbetonung  pflegt  sich  in  der  Regel 
nicht  auf  alle  Gebiete  des  gemütlichen  Lebens  gleichmässig  zu 
erstrecken,  sondern  es  kommt  vielmehr  zunächst  zu  einer  Ein- 
schränkung der  inneren  Beziehungen  des  Kranken.  Der  Kreis 
der  Vorgänge,  die  ihn  noch  innerlich  berühren,  wird  enger, 
während  nach  gewissen  Richtungen  hin  die  Lebhaftigkeit  der 
Gefühle  die  alte  bleibt,  ja  sich  unter  Umständen  sogar  noch 
steigern  kann.  Am  leichtesten  gehen  dem  Kranken  natürlich 
solche  Gefühle  verloren,  welche  nicht  unmittelbar  an  die  Ver- 
änderungen des  eigenen  Ich  anknüpfen,  sondern  sich  auf  die  Ver- 
hältnisse der  weiteren  Aussenwelt  beziehen,  und  ferner  diejenigen. 


Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit. 


241 


welche  die  Eigenschaft  des  Sinnlichen  verloren  haben  und  als 
Begleiter  gewisser  allgemeiner  Vorstellungen  und  Grundsätze  nur 
durch  die  höheren  geistigen  und  sittlichen  Leistungen  wach- 
gerufen werden.  Wie  der  Gedankenkreis  sich  auf  das  Einfachste, 
Nächstliegende  und  persönlich  Wichtigste  beschränkt,  so  behalten 
auch  die  Gefühle  ihre  sinnliche  Einfachheit  und  erstrecken  sich 
nur  auf  jene  Eindrücke,  die  in  dem  unmittelbarsten  und  einleuch- 
tendsten Zusammenhänge  mit  dem  eigenen  Wohl  und  W ehe  stehen. 
Mit  anderen  Worten:  die  Anteilnahme  des  Kranken  zieht  sich 
wesentlich  auf  die  Zustände  der  eigenen  Person  zurück,  wird  eine 
ausschliesslich  selbstsüchtige,  und  er  verliert  die  Freude  an  der 
geistigen  Tätigkeit,  an  edleren  künstlerischen  Genüssen,  das  Ge- 
fühl für  die  höheren  Anforderungen  des  Anstandes,  der  Sittlich- 
keit, der  Religion.  Fremdem  Schicksale  steht  sein  Herz  kalt 
und  gleichgültig  gegenüber;  allgemeinere  und  höhere  Bestre- 
bungen vermögen  weder  Verständnis  noch  Teilnahme  in  seinem 
Innern  anzuregen.  Es  fallen  also  für  ihn  wesentlich  alle  jene 
Beweggründe  und  Hemmungen  fort,  welche  dem  Gesunden  aus 
der  Rücksicht  auf  seine  Umgebung,  aus  seinen  Beziehungen  zur 
Familie,  zu  seinem  Volke,  endlich  zur  gesamten  Menschheit  und 
ihren  Aufgaben  entspringen.  Die  Folgen  dieser  Umwandlung  sind 
ungemein  auffallende.  Der  Kranke  hat  kein  Gefühl  mehr  für 
seine  Angehörigen,  sein  Geschäft,  seine  Arbeit,  seine  Pflicht; 
er  verliert  das  Schamgefühl,  wird  rücksichtslos  im  persönlichen 
Verkehr,  macht  sich  keine  Gedanken  über  seine  Lage,  keine 
Sorgen  für  die  Zukunft. 

In  mildester  Form  sehen  Avir  eine  derartige  Veränderung 
schon  im  gesunden  Greisenalter,  stärker  im  krankhaften  Alters- 
schwachsinn sich  vollziehen.  Die  gemütliche  Empfänglichkeit  und 
Begeisterungsfähigkeit  verblasst,  während  die  Regungen  der 
Eigenliebe  sowie  die  Freude  am  Besitz  und  am  sinnlichen  Genüsse 
sich  lebhafter  geltend  machen.  Weiterhin  bilden  die  Zeichen  der 
gemütlichen  Verblödung  häufig  die  ersten  auffallenden  Erschei- 
nungen der  Paralyse  und  namentlich  der  Dementia  praecox,  in 
deren  Verlaufe  sie  sich  immer  schärfer  ausprägen.  Endlich  aber 
spielt  das  Fehlen  der  gemütlichen  Ansprechbarkeit  auch  eine 
wichtige  Rolle  bei  manchen  epileptischen  und  angeborenen 
Schwachsinnsformen.  Mit  der  Verkümmerung  des  Gemütslebens 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  ^ufl.  16 


242 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


verträgt  sich  hier  recht  wohl  eine  gewisse  Findigkeit  in  der 
Verfolgung  des  sinnlichen  Genusses,  eine  handwerksmäßige  Ge- 
wandtheit in  der  Erreichung  selbstsüchtiger  Vorteile,  durch 
welche  sich  die  Umgebung  häufig  über  die  tiefe  geistige  und 
gemütliche  Unfähigkeit  der  Kranken  hinwegtäuschen  lässt.  Aus 
der  Gesundheitsbreite  gehören  hierher  jene  gemütsrohen  und 
selbstsüchtigen  Naturen,  die  fremden  Gefühlen  teilnahm  los 
gegenüberstehen,  durch  keine  Regung  der  Menschenliebe  aus 
ihrer  Ruhe  aufgerüttelt  werden  und  planmässig  berechnend 
nur  von  den  Antrieben  des  gröbsten  Eigennutzes  sich  leiten 
lassen. 

Ein  höchst  bedeutsamer  Unterschied  zwischen  den  niederen, 
sinnlichen  und  den  höheren,  allgemeinen  (logischen,  sittlichen, 
künstlerischen,  religiösen)  Gefühlen  wird  durch  den  Umstand  be- 
zeichnet, dass  die  ersteren  wohl  eine  weit  grössere  augenblick- 
liche Stärke,  aber  eine  ungleich  geringere  Erneuerungs- 
fähigkeit besitzen,  als  die  letzteren.  Ein  sinnlicher  Genuss 
oder  Schmerz  kann  uns  für  kurze  Zeit  in  sehr  lebhafte  Eiregung 
versetzen,  aber  er  blasst  in  der  Erinnerung  rasch  ab,  während 
z.  B.  die  leiseren,  aber  andauernden  sittlichen  Gefühl  unsCi 
Denken  und  Handeln  durch  das  ganze  Leben  hindurch  fast  un- 
ausgesetzt begleiten  und  bestimmen,  wo  sie  nicht  durch  leiden- 
schaftliche Gemütsschwankungen  übertönt  werden.  Gerade  die 
höheren  Gefühle  aber  sind  es,  die  unserem  Stimmungshintergrunde 
jene  gleichförmige  Ruhe,  unserer  geistigen  Persönlichkeit  jene 
Festigkeit  und  innere  Geschlossenheit  zu  gewähren  vermögen,  die 
man  mit  Recht  als  die  Eigenschaften  eines  gesunden,  voll  ent- 
wickelten Mannes  betrachtet.  Da  ferner  die  höheren  Gefühle 
eine  Art  Dämpfung  für  die  raschen  Gefühlsregungen  des  Augen- 
blickes darstellen,  pflegen  sich  mit  dem  Wegfalle  dieser  Dämpfung 
plötzliche  Leidenschaftsausbrüche  von  auffallender  Heftigkeit, 
aber  geringer  Nachhaltigkeit  einzustellen. 

Auch  nach  dieser  Richtung  hin  wird  sich  daher  das  Fehlen 
der  höheren  Gefühle  im  Krankheitsbilde  des  Schwachsinns  geltend 
machen  müssen.  Wo  nicht  hochgradige  Stumpfheit  alle  Gefühls- 
regungen überhaupt  begräbt,  sehen  wir  einerseits  in  der  Ungleich- 
förmigkeit der  Stimmung,  andererseits  in  ihrer  Abhängigkeit  von 
äusseren  Zufälligkeiten,  in  ihrer  Beeinflussbarkeit,  den 


Herabsetzung  und  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit. 


243 


Mangel  der  dauernden,  höheren  Gefühle  sich  kundgeben.  Wo  die 
festen  Grundlagen  für  die  Stimmung  fehlen,  genügt  oft  eine 
Kleinigkeit,  ein  Wort,  der  Ton  der  Stimme,  um  den  Kranken  aus 
glückseligster  Selbstzufriedenheit  in  masslose  Verzweiflung  zu 
versetzen.  Diese  Erscheinung  pflegt  namentlich  in  der  Paralyse 
sehr  deutlich  zu  sein. 

Unvermittelte  Aufwallungen  des  Gefühls  finden  sich  ge- 
legentlich bei  den  verschiedensten  Formen  des  angeborenen  und 
erworbenen  Schwachsinns.  Aus  der  gesunden  Erfahrung  schon 
sind  die  Leidenschaftsausbrüche  beschränkter  Menschen,  die  Lau- 
nenhaftigkeit und  Reizbarkeit  der  Greise  bekannt.  Ausser  ge- 
wissen Formen  des  angeborenen  Schwachsinns  zeigen  ferner  na- 
mentlich die  Endzustände  der  Dementia  praecox  regelmässig  neben 
weitgehendster  gemütlicher  Stumpfheit  rasch  entstehende,  kurz- 
dauernde Erregungen  von  oft  sehr  grosser  Heftigkeit. 

Besondere  Lebhaftigkeit  der  Gefühlsregungen  ist  zu- 
nächst eine  Eigentümlichkeit  des  kindlichen  und  des  weiblichen 
Seelenlebens.  Sie  bedingt  einmal  eine  erhöhte  Beeinflussbarkeit  des 
Stimmungshintergrundes  durch  augenblickliche  Ursachen,  anderer- 
seits wieder  eine  grosse  Vergänglichkeit  der  Gefühlswallungen. 
So  entwickelt  sich  die  bekannte  Unstetigkeit  und  Launenhaftig- 
keit der  Gemütslage.  Bei  gewissen  Formen  der  psychopathischen 
Veranlagung  tritt  die  Leichtigkeit,  mit  der  lebhafte  Gefühle 
entstehen  und  vergehen,  sehr  auffallend  hervor.  Wir  erinnern  hier 
an  die  krankhafte  Weichlichkeit  und  Empfindsamkeit,  die  einer- 
seits durch  unangenehme  und  schmerzliche  Eindrücke  sofort  auf 
das  tiefste  erschüttert  wird,  andererseits  sich  bei  jeder  An- 
regung edlerer  Gefühle  in  hell  lodernde,  freilich  auch  bald  wieder 
verlöschende  Begeisterung  versetzen  lässt.  Diese  Veranlagungen 
leiten  über  zu  dem  eigenartigen  Krankheitsbilde  der  Hysterie. 
Dasselbe  ist  dadurch  gekennzeichnet,  dass  hier  die  starke  Ge- 
fühlsbetonung den  Vorstellungen  einen  weitreichenden  Einfluss 
nicht  nur  auf  den  Willen,  sondern  auch  auf  solche  körperliche 
Vorgänge  verleiht,  die  dem  Eingreifen  der  Willkür  im  allgemeinen 
entzogen  sind.  Starke  Gemütsbewegungen  beeinflussen  Atmung 
und  Kreislauf  des  Blutes,  Blutdruck,  Plerztätigkeit,  Gefäss- 
spannung,  Darm-,  Blasen-  und  Haarmuskeln,  Drüsenausschei- 
dungen, die  Sicherheit  und  Kraft  der  Bewegungen,  die  Klarheit 

16* 


244 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


und  Stärke  der  Empfindungen.  Nach  allen  diesen  Richtungen 
hin  gewinnen  die  unwillkürlichen  Gefühlswirkungen  bei  der 
Hysterie  eine  ungeahnte  Ausdehnung,  deren  besonderes  M esen 
sich  jedoch  durch  die  ganz  ähnlichen  Wirkungen  der  hypnotischen 
Beeinflussung  einigermassen  aufklären  lässt. 

Als  vorübergehendes  Krankheitszeichen  begegnet  uns  eine 
allgemeine  Steigerung  der  gemütlichen  Erregbarkeit  in  gewissen 
Erregungszuständen  der  Paralyse,  der  Katatonie  und  namentlich 
der  Manie.  Mit  der  Stärke  der  Gefühlsschwankungen,  die  sich 
in  stürmischen  Ausdrucksbewegungen  kundgibt,  verbindet  sich 
auch  hier  die  wichtige  Erscheinung  des  Stimmungs- 
wechsels, da  die  lebhafte  Färbung  der  jeweiligen  Gemüts- 
lage den  dämpfenden  und  ausgleichenden  Einfluss  der  höheren 
Gefühle  völlig  in  den  Hintergrund  drängt.  Wir  werden  dadurch 
an  die  Erfahrungen  des  Rausches  erinnert,  bei  dem  ebenfalls  die 
Ausgiebigkeit  der  Gefühlswallungen  so  häufig  mit . jähem  Um- 
schlagen der  Gemütslage  einhergeht.  Die  Leichtigkeit  und  Plötz- 
lichkeit, mit  der  überall  die  verschiedenen  Gefühlstöne  wechseln 
können,  zeigt  uns  deutlich,  dass  ihre  Entstehungsbedingungen 
miteinander  nahe  verwandt  sein  müssen.  Die  Stärke  der  Gefühls- 
äusserungen pflegt  sich  durch  äussere  Anregung  rasch  noch  zu 
steigern,  eine  Erscheinung,  die  auch  dem  gesunden  Leben,  na- 
mentlich bei  der  gemütlichen  Beeinflussung  von  Volksmassen, 
wohlbekannt  ist  und  uns  ähnlich  im  Rausche  begegnet.  In  der 
Regel  vermögen  wir  auch  auf  die  Färbung  der  Stimmung  ein- 
zuwirken, oft  in  ganz  überraschender  Weise;  nur  bei  den  kata- 
tonischen Erregungen  steht  solchen  Versuchen  der  Negativis- 
mus der  Kranken  entgegen. 

Krankhafte  Gemütsarten.  Die  Bedeutung  der  Gefühle  als 
Ausdruck  der  inneren  Stellungnahme  zu  den  Lebenserfahrungen 
wird  vielleicht  am  klarsten  in  der  Tatsache  der  persönlichen  Ge- 
mütsarten. Dasselbe  Ereignis  bringt  ganz  verschiedene  Seelen- 
zustände  hervor,  je  nach  der  Eigenart  des  Betroffenen,  je  nach 
der  tief  in  der  Veranlagung  wurzelnden  Neigung  zu  bestimmten 
Gefühlsbetonungen.  Bei  der  unerschöpflichen  Mannigfaltigkeit 
der  Gefühlsmischungen  erscheint  es  unmöglich,  alle  verschiedenen 
Gestaltungen  der  Gemütsart  zu  kennzeichnen.  Auf  krankhaftem 
Gebiete  ist  die  Schwierigkeit  aus  naheliegenden  Gründen  eher  noch 


Krankhafte  Gemütsarten. 


245 


grösser;  wir  müssen  uns  daher  mit  einer  flüchtigen  Skizzierung 
einzelner  Formen  begnügen. 

Da  die  Unlustgefühle  im  allgemeinen  einen  stärkeren  Ein- 
fluss auf  unser  Seelenleben  zu  gewinnen  pflegen,  als  die  weniger 
stürmisch  ablaufenden  Lustgefühle,  spielen  sie  auch  bei  den  krank- 
haften Gemütslagen  eine  grössere  Rolle.  Die  gesteigerte 
Unlustempfindlichkeit  führt  zu  der  Neigung,  an  allen 
Lebensereignissen  nur  das  Unangenehme  und  Peinigende  heraus- 
zufinden, sich  den  frohen  Genuss  des  Erfreulichen  durch  die 
kleinen  Mängel  und  Störungen  oder  durch  den  Ausblick  auf  allerlei 
trübe  Möglichkeiten  zu  verkümmern.  Die  Vergangenheit  wird 
zu  einer  Kette  von  traurigen  Erinnerungen,  die  Zukunft  eine 
Quelle  von  Sorgen  und  Unheil,  die  Gegenwart  eine  schwere,  müh- 
sam ertragene  Bürde.  Namentlich  das  eigene  Wohl  und  Wehe 
wird  gern  zum  Mittelpunkte  der  düsteren  Betrachtungen;  jede 
unbedeutende  Störung  des  körperlichen  Befindens  erscheint  der 
misstrauischen  Selbstbeobachtung  als  das  Anzeichen  drohender  un- 
heilbarer Leiden.  Während  im  gesunden  Leben  die  Niedergeschla- 
genheit, wie  sie  sich  an  traurige  Erfahrungen  anschliesst,  alsbald 
durch  den  wieder  erwachenden  Lebensmut  verscheucht  wird,  ver- 
mögen bei  der  krankhaften  Schwarzseherei  auch  freudige  Eindrücke 
nicht  den  Druck  der  Unlustverstimmung  zu  beseitigen,  ja  sie  können 
ihn  unter  Umständen  noch  steigern.  Ein  Teil  der  Fälle  steht 
in  engeren  Beziehungen  zum  manisch-depressiven  Irresein;  die 
trübe  Gemütslage  verbindet  sich  dabei  in  der  Regel  mit  Ent- 
schlussunfähigkeit. 

Wo  die  krankhafte  Unlustbetonung  von  den  Gefühlen  der 
inneren  Spannung  begleitet  wird,  gewinnt  die  Gemütslage  den 
Stempel  der  Ängstlichkeit.  Den  Kranken  fehlt  infolge- 
dessen die  innere  Sicherheit  und  Freiheit,  das  Vertrauen  auf  die 
eigene  Kraft  und  Leistungsfähigkeit.  An  jede  Handlung  knüpft 
sich  ihnen  die  bange  Erwartung  ihrer  Folgen  oder  der  Zweifel 
über  ihre  Berechtigung  und  Zweckmässigkeit.  Auch  hier  sind  es 
die  Zustände  des  eigenen  Körpers,  die  einen  besonders  frucht- 
baren Boden  für  die  Entwicklung  aller  möglichen  Bedenklichkeiten 
abgeben.  Es  kommt  auf  diese  Weise  zu  peinlichen  Selbstquäle- 
reien und  Grübeleien,  zu  einem  gesteigerten  Verantwortlich- 
keitsgefühl, das  die  schüchternen  Regungen  zuversichtlichen 


246 


II.  Die  Erscheinungen  de6  Irreseins. 


Lebensmutes  im  Keime  erstickt.  Diese  Gemütsart  bildet  die 
Grundlage  der  krankhaften  Befürchtungen;  ferner  habe  ich 
in  der  Vorgeschichte  von  Melancholikern  öfters  ähnliche  Züge 
gefunden. 

Verbindung  von  gesteigerter  Unlustempfindlichkeit  mit  Er- 
regung kennzeichnet  die  grosse  Gruppe  der  reizbaren  Na- 
turen. Unangenehme  Eindrücke,  die  uns  zum  Handeln  heraus- 
fordern, erzeugen  die  Gemütsbewegungen  des  Ärgers  und  des 
Zornes;  sie  entstehen  besonders  leicht,  wenn  wir  uns  im  Zustande 
stärkerer  Willensspannung  befinden,  in  oder  nach  aufreibender, 
unsere  ganzen  Kräfte  in  Anspruch  nehmender  Tätigkeit  oder  nach 
heftigen  Gemütserschütterungen.  Bei  der  krankhaften  Reizbar- 
keit überwiegt  nicht  nur  die  Unlustbetonung  der  Lebenserfah- 
rungen, sondern  sie  löst  auch  sofort  eine  gemütliche  Erregung 
aus,  die  zur  Entladung  drängt  und  nur  in  steten  inneren  Kämpfen 
unterdrückt  werden  kann.  Dieses  Fehlen  der  Dämpfung  bedingt 
dauernde  Schwankungen  des  gemütlichen  Gleichgewichtes,  Ln- 
ruhe  und  Unstetigkeit  mit  gelegentlichen  heftigeren  Gefühls- 
ausbrüchen, die  bald  mehr  die  Färbung  der  Verzweiflung,  bald 
mehr  diejenige  des  Zorns  annehmen  können.  Die  erstere  Form 
begegnet  uns  am  häufigsten  bei  der  angeborenen  Nervosität,  die 
krankhafte  Zornmütigkeit  (Iracundia  morbosa)  vorzugsweise  bei 
der  epileptischen  und  hysterischen  Veranlagung. 

Die  krankhafte  Empfindlichkeit  gegen  die  Aussenwelt  führt 
indessen  nicht  immer  zu  leidenschaftlichen  Entladungen,  sondern 
bisweilen  auch  zu  einer  Art  von  innerer  Absperrung.  Dadurch 
entsteht  diejenige  Gemütsart,  die  wir  als  Verschlossenheit 
bezeichnen.  Dieselbe  verknüpft  sich  in  der  Regel  nicht  mit  dem 
zornigen  Kraftgefühl,  das  den  Trotz  des  Gesunden  begleitet, 
sondern  bedeutet  ein  scheues  Zurückweichen  vor  den  Eindrücken 
des  Lebens  mit  dem  mehr  oder  weniger  deutlichen  Bewusstsein 
der  eigenen  Unzulänglichkeit.  Der  Verkehr  mit  Fremden,  das 
Heraustreten  in  eine  ungewohnte  Umgebung,  besondere  Anforde- 
rungen, auftauchende  Schwierigkeiten  erscheinen  den  Kranken 
sofort  als  unüberwindliche  Hindernisse,  denen  sie  nur  durch  völlige 
Abschliessung  zu  entgehen,  nicht  aber  durch  tatkräftigen  Ent- 
schluss zu  begegnen  wissen.  Diese  Störung  bildet  den  Schlüssel 
zum  Verhalten  so  mancher  „Sonderlinge“.  Ganz  ähnliche  Züge 


Krankhafte  Gemütsarten. 


247 


werden  uns  häufig  in  der  Vorgeschichte  der  Dementia  praecox 
berichtet,  nicht  selten  verbunden  mit  übertriebener  Frömmig- 
keit und  der  Neigung,  sich  aus  dem  Leben  ins  Kloster  zurück- 
zuziehen. Es  scheint  jedoch,  dass  hier  nicht  oder  doch  nicht 
allein  eine  gesteigerte  Unlustempfindlichkeit  zu  Grunde  liegt, 
sondern  dass  auch  wohl  negativistische  und  verschrobene  Stre- 
bungen dabei  eine  Rolle  spielen. 

Verstärkte  Lustbetonung  der  Lebensreize  finden  wir  zunächst 
bei  den  glücklichen,  „sonnigen“  Naturen,  die  stets  in 
heiterster  Laune  sind,  allen  Ereignissen  die  beste  Seite  abzu- 
gewinnen wissen,  an  jedes  Unternehmen  die  grössten  Hoffnungen 
knüpfen  und  ihr  ganzes  Leben  in  der  sicheren  Erwartung  irgend 
eines  unerhörten  Glücksfalles  verbringen.  Verbindet  sich  damit, 
wie  nicht  selten,  ein  lebhafter  Betätigungsdrang,  der  mit  nie 
versiegender  Zuversicht  wechselnden  Zielen  nachjagt,  so  werden 
die  inneren  Beziehungen,  die  dieser  Gemütsart  zum  manisch- 
depressiven  Irresein  zukommen,  besonders  deutlich.  Mir  scheint, 
dass  solche  Beziehungen  auch  dann  anzunehmen  sind,  wenn  aus- 
geprägte Krankheitsanfälle  vollständig  fehlen,  dass  also  eine 
dauernde  übermässige  Lustbetonung  mit  innerer  Unstetigkeit 
ebenso  eine  Vorstufe  jenes  Leidens  darstellt  wie  die  grundlose 
Gedrücktheit  mit  Entschlussunfähigkeit. 

Einer  anderen  eigenartigen  Abtönung  des  Gefühlslebens  be- 
gegen  wir  bei  den  Schwärmern.  Hier  sind  einzelne  Gefühls- 
richtungen, namentlich  religiöse  oder  geschlechtliche  mit  mehr 
oder  weniger  verhüllter  sinnlicher  Färbung,  zu  besonderer  Über- 
schwänglichkeit entwickelt  und  beherrschen  Denken  und  Handeln. 
Aus  der  leidenschaftlichen  Hingabe  an  die  schwärmerischen  Nei- 
gungen erwachsen  Lustgefühle  von  ausserordentlicher  Stärke,  die 
alles  äussere  Leid  und  Ungemach  aufwiegen  können.  Die  Grund- 
lage dieser  Gemütsart  bildet  in  der  Regel  die  hysterische  Ver- 
anlagung. Den  Schwärmern  nahe  stehen  gewisse  krankhafte 
Schwindler,  bei  denen  die  unausrottbare  Lust  am  Aben- 
teuer, am  Ungewöhnlichen  und  Aufregenden,  die  übermütige 
Freude  an  der  eigenen  Erfindungsgabe  alle  bedächtigen  Über- 
legungen in  den  Hintergrund  drängt.  Auch  hier  lassen  sich  in 
der  Regel  hysterische  Züge  nachweisen. 

Von  hier  führen  fliessende  Übergänge  hinüber  zum  krank- 


248 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


haften  Leichtsinn,  der  eine  erhöhte  Empfänglichkeit  für  die 
seichten  Zerstreuungen  des  Lebens  besitzt,  aber  auch  ernste 
Dinge  nicht  ernst  zu  nehmen  versteht,  sondern  das  Leben  im 
wesentlichen  als  einen  recht  guten  Witz  betrachtet.  Es  handelt 
sich  hier  wohl  wesentlich  um  Oberflächlichkeit  der  Gemüts- 
regungen überhaupt.  Tief,  nachhaltig  und  gestaltend  vermögen 
auf  unser  Seelenleben  nur  die  ernsten  oder  mit  Ernst  gemischten 
Eindrücke  einzuwirken;  nur  sie  sind  geeignet,  dem  Stimmungs- 
hintergrunde  Einheitlichkeit  und  Stetigkeit  zu  geben.  Mangelnde 
Tiefe  und  rasches  Verfliegen  der  Gemütsbewegungen  wird  daher 
am  einschneidendsten  in  der  Verkümmerung  der  richtunggebenden 
ernsten  Gefühle  zum  Ausdrucke  kommen.  Darum  verknüpft  sich 
mit  dem.  krankhaften  Leichtsinn,  der  eine  wesentliche  Begleit- 
erscheinung gewisser  Schwachsinnsformen  bildet,  regelmässig 
unvollkommene  Entwicklung  der  höheren  Gefühle,  Selbstsucht 
und  Haltlosigkeit  des  Willens. 

Eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  zuletzt  gekennzeich- 
neten krankhaften  Gestaltungen  der  Gemütsart  ist  ein  lebhaft 
gesteigertes  Selbstgefühl.  Die  eigenen  Eigenschaften  und  Lei- 
stungen erscheinen  den  Kranken  in  besonders  günstigem  Lichte 
und  gewinnen  für  sie  um  so  höhere  Bedeutung,  als  die  Regungen 
des  Mitgefühls  mit  fremdem  Leide  in  der  Regel  sehr  unvollkommen 
bei  ihnen  entwickelt  sind.  Wir  sehen  daher  häufig  nicht  nur, 
dass  die  Kranken  ihre  eigene  Person  inasslos  überschätzen,  son- 
dern dass  sie  auch  jede  leise  wirkliche  oder  vermeintliche  Beein- 
trächtigung als  schwere  Unbill  empfinden,  während  ihre  Ein- 
griffe in  fremde  Rechte  ihnen  als  völlig  harmlose  und  erlaubte 
Handlungen  erscheinen.  Diese  selbstsüchtige  Einseitigkeit  der 
Gefühlsbetonung  finden  wir  bei  vielen  geborenen  Verbrechern, 
ferner  bei  den  Pseudoquerulanten,  bei  denen  sie  mit  grosser 
Reizbarkeit  einhergeht.  Vielleicht  gibt  sie  auch  den  günstigen 
Boden  ab  für  die  Entwicklung  des  echten  Querulantenwahnes 
und  der  ihm  verwandten  Formen  der  Verrücktheit. 

Krankhafte  Gemütsbewegungen.  Die  krankhaften  Gemüts- 
bewegungen unterscheiden  sich  von  denjenigen  der  Gesunden  im 
allgemeinen  hauptsächlich  durch  den  Mangel  einer  verständlichen 
Begründung  sowie  durch  ihre  Stärke  und  Nachhaltigkeit,  während 
ihre  Färbung  in  der  Regel  irgend  einer  der  sonst  bekannten 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


249 


Gefühlsmischungen  entspricht.  Auch  im  gesunden  Leben  sehen 
wir  freilich  Stimmungen  kommen  und  gehen,  ohne  dass  wir  uns 
immer  über  ihren  Ursprung  Rechenschaft  zu  geben  vermöchten, 
aber  wir  sind  imstande,  sie  zu  beherrschen  und  zu  verscheuchen, 
während  die  krankhaften  Stimmungen  allen  Beeinflussungsver- 
suchen trotzen.  Andererseits  schliessen  sich  krankhafte  Gemüts- 
bewegungen bisweilen  an  bestimmte  äussere  Anlässe  an,  aber 
sie  verblassen  dann  nicht  wieder,  wie  die  Gefühlswallungen  des 
Gesunden,  sondern  sie  gewinnen  Selbständigkeit  und  weichen  auch 
dann  nicht,  wenn  der  scheinbare  Anlass  beseitigt  ist. 

Die  bei  weitem  häufigste  Form  der  unangenehmen  krank- 
haften Gemütsbewegungen  ist  die  Angst,  die  wir  vielleicht 
als  eine  Verbindung  von  Unlust  mit  innerer  Spannung  betrachten 
können.  Sie  pflegt  wie  keines  der  anderen  Gefühle  den  gesamten 
körperlichen  und  geistigen  Zustand  in  Mitleidenschaft  zu  ziehen. 
Die  innere  Spannung  macht  sich  in  der  Körperhaltung,  den  Aus- 
drucksbewegungen, der  krampfhaften  Muskelinnervation  geltend, 
oder  sie  entladet  sich  in  Jammern  und  Schreien,  heftigen  Abwehr- 
und Fluchtversuchen,  in  Angriffen  auf  die  Umgebung  oder  das 
eigene  Leben.  Dazu  gesellen  sich  alle  jene  schon  aus  der  gesunden 
Erfahrung  bekannten  nervösen  Begleiterscheinungen  der  Angst, 
ihre  Wirkung  auf  die  Herztätigkeit  (Herzklopfen),  auf  die 
Gefässnerven  (Blasswerden),  die  Atmung,  die  willkürlichen  Mus- 
keln (Zittern,  Schlottern),  endlich  auf  Schweiss-,  Harn-  und 
Darmabsonderung.  Die  Beeinflussung  der  Atmung  und  des  Herz- 
schlags wird  von  den  Kranken  sehr  lebhaft  als  Druck  und  Be- 
klemmung in  der  Herzgegend  empfunden  (Präkordialangst);  sel- 
tener überwiegen  unangenehme  Spannungsempfindungen  im  Kopfe. 
Im  Anfänge  ist  die  Angst  gewöhnlich  gegenstandslos;  der  Kranke 
fühlt  sie,  ohne  zu  wissen,  warum,  weiss  sogar  oft  ganz  genau, 
dass  er  gar  keinen  Grund  hat,  sich  zu  fürchten.  Hecker  hat 
darauf  hingewiesen,  dass  die  unbestimmte  Angst  ganz  eigentüm- 
liche Formen  annehmen  kann,  deren  ursprüngliche  Bedeutung 
nicht  immer  leicht  zu  erkennen  ist,  als  Gefühl  des  Heimwehs, 
der  veränderten  Auffassung,  der  Betäubung  und  ähnl.  In  der 
Regel  freilich  verdichten  sich  allmählich  die  unbestimmten  ängst- 
lichen Ahnungen  zu  mehr  oder  weniger  klar  ausgemalten  Be- 
fürchtungen. In  den  höchsten  Graden  der  Angst  pflegt  jedoch 


250 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


das  Bewusstsein  mehr  oder  weniger  stark  getrübt  zu  sein;  sehr 
starke  gemütliche  Erregungen  lassen  nur  ganz  unklare  und  ver- 
worrene Vorstellungen  zu  stände  kommen. 

In  der  Regel  überfällt  die  Angst  den  Kranken  in  Anfällen, 
oder  sie  zeigt  doch  wenigstens  deutliche  Nachlässe  und  er- 
schlimmerungen,  letztere  besonders  in  der  Nacht.  Nur  aus- 
nahmsweise hält  die  ängstliche  Spannung  Tage,  Wochen,  ja  selbst 
Monate  lang  in  voller  Stärke  an.  Als  eigentlich  kennzeichnende 
Krankheitserscheinung  darf  die  Angst  für  die  Melancholie  be- 
trachtet werden;  man  wird  sie  hier  selten  oder  nie  vermissen. 
Auch  in  den  Depressionszuständen  des  cirkulären  Irreseins  ist  sie 
häufig,  doch  gibt  es  hier  zahlreiche  Fälle,  in  denen  sie  gänzlich 
fehlt.  Ausserdem  begegnen  wir  lebhafter  Angst  in  den  Dämmer- 
zuständen der  Epileptiker,  bei  Alkoholdeliranten,  im  Beginne  kata- 
tonischer Erkrankungen  und  bisweilen  in  den  quälendsten  Formen 
bei  Paralytikern. 

Eine  besondere,  weit  ausgedehnte  klinische  Gruppe  von  Angst- 
zuständen bilden  endlich  jene  Störungen,  die  man  als  Zwangs- 
befürchtungen  oder  „Phobie  n“  zu  bezeichnen  pflegt.  Die  Angst 
knüpft  sich  hier  jeweils  an  bestimmte  Erlebnisse  oder  orstel- 
lungen  an,  die  zu  verschiedenartigen  quälenden  Befürchtungen 
Anlass  geben.  In  ihren  leichtesten  Formen  sind  diese  Befürch- 
tungen auch  dem  gesunden  Leben  nicht  fremd;  den  Stempel  des 
Krankhaften  gewinnen  sie  zunächst  durch  ihre  Hartnäckigkeit 
und  Aufdringlichkeit,  weiterhin  aber  auch  durch  die  peinliche 
Lebhaftigkeit,  mit  der  sich  die  erregte  Einbildung  alle  erdenk- 
lichen Einzelheiten  der  gefürchteten  Vorgänge  ausmalt.  Die  Er- 
wartung von  unangenehmen  Eindrücken,  von  Gefahren  und 
Unannehmlichkeiten,  sodann  die  Unsicherheit  im  persönlichen 
Auftreten,  die  Verantwortung  Im  Handeln  sind  die  Quellen,  aus 
denen  auch  die  Zwangsbefürchtungen  fliessen.  Ihre  Bezeichnung 
haben  sie  daher,  weil  sie  Überlegung  und  Willen  immer  wieder 
überwältigen  und  die  geistige  Freiheit  auf  das  schwerste  beein- 
trächtigen, obgleich  ihre  Haltlosigkeit  deutlich  erkannt  wird. 
Die  Kranken  umgeben  sich  daher,  um  sich  gegen  die  be- 
ständigen Einengungen  durch  zwangsmässige  Unlustgefühle 
einigermassen  zu  schützen,  nicht  selten  mit  einem  ganzen  Netze 
absonderlicher  Vorsichtsmassregeln,  welche  der  äusseren  Ein- 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


251 


Wirkung  ebensowenig  Spielraum  lassen  wie  der  eigenen  freien 
Entschliessung.  Das  Auftreten  der  Zwangsbefürchtungen  ist 
kennzeichnend  für  gewisse  Krankheitsbilder  des  Entartungsirre- 
seins; vorübergehend  werden  sie  auch  beim  manisch-depressiven 
Irresein  beobachtet. 

Die  weit  verbreitete,  lächerliche,  aber  schwer  ausrottbare 
Furcht  vor  Spinnen,  Fröschen,  Mäusen  gibt  uns  ein  Beispiel  dafür, 
wie  harmlose  Anlässe  lebhafte  Beunruhigung  hervorrufen  können. 
Als  weitere  Entwicklungsstufe  haben  wir  die  Angst  vor  dem 
Hineinblicken  in  einen  Spiegel,  vor  dem  Öffnen  von  Briefen,  vor 
dem  Anziehen  neuer  Kleidungsstücke  zu  verzeichnen.  Das  leise 
Unbehagen,  das  bei  solchen  Anlässen  wohl  auch  einmal  der 
Gesunde  verspürt,  kann  sich  bei  Kranken  zu  den  heftigsten  Angst- 
anfällen steigern.  Dasselbe  gilt  von  der  Furcht  vor  allerlei  Ge- 
fahren und  peinlichen  Erlebnissen.  Wir  begegnen  der  Angst,  vom 
Blitz  erschlagen,  von  einem  herabstürzenden  Gegenstände  ge- 
troffen, von  Betrunkenen  angefallen,  von  durchgehenden  Pferden 
überrannt  zu  werden,  bisweilen  im  Anschlüsse  an  persönliche 
Erlebnisse,  aber  auch  in  freier  Entstehung.  Dahin  gehört  auch 
die  Angst  vor  dem  Alleinsein,  die  Angst  vor  grossen  Menschen- 
mengen, die  Befürchtung,  in  Gesellschaft  von  plötzlichem  Un- 
wohlsein, von  Harn-  oder  Stuhldrang  überfallen  zu  werden,  beim 
Anreden  oder  bei  verfänglichen  Bemerkungen  erröten  zu  müssen, 
namentlich  aber  die  bei  allen  diesen  Zwangsbefürchtungen  sich 
herausbildende  Angst  vor  der  Angst.  Da  die  Kranken  im- 
stande sind,  die  Unsinnigkeit  ihrer  Befürchtungen  klar  zu  über- 
blicken, sind  es  sehr  bald  gar  nicht  die  ihnen  vorschwebenden 
Zwischenfälle  selbst,  die  sie  beunruhigen,  sondern  die  quälende 
Nötigung,  sich  damit  zu  beschäftigen;  sie  fürchten  nicht  den  Ein- 
tritt jener  Ereignisse,  sondern  das  Auftauchen  der  Angst  vor 
ihnen. 

Einen  sehr  ergiebigen  Boden  für  die  Erzeugung  von  Zwangs- 
befürchtungen bilden  die  Regungen  der  Unsicherheit  und  Ver- 
legenheit, die  uns  im  Verkehr  mit  Anderen  und  in  noch  stärkerem 
Grade  bei  besonderen  Leistungen,  namentlich  in  der  Öffentlich- 
keit, befallen.  Sobald  wir  Fremden  gegenübertreten  und  deren 
Aufmerksamkeit  auf  uns  gerichtet  wissen,  werden  auch  wir  ver- 
anlasst, an  unsere  äussere  Erscheinung  und  den  Eindruck  zu 


252 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


denken,  den  sie  hervorrufen  mag.  Kleine  Mängel,  deren  wir 
uns  dabei  bewusst  werden,  können  ein  peinliches  Gefühl  der  De- 
mütigung hervorrufen,  das  unser  Selbstvertrauen  in  empfindlicher 
Weise  lähmt.  Bei  krankhafter  Veranlagung  kann  die  Befürch- 
tung irgend  einer  Unzulänglichkeit  in  der  Kleidung,  mangelnder 
Sauberkeit,  der  Gedanke,  etwas  Auffallendes,  einen  unangenehmen 
Geruch  an  sich  zu  haben,  ohne  irgend  einen  Anhalt  auftauchen  und 
trotz  aller  Bemühungen,  ihn  zu  verdrängen,  solche  Macht  erlangen, 
dass  er  die  Unbefangenheit  und  Sicherheit  des  Auftretens  ver- 
nichtet. Der  Versuch,  des  unbehaglichen  Gefühls  Herr  zu  werden, 
richtet  die  Aufmerksamkeit  des  Kranken  erst  recht  auf  das- 
selbe und  verstärkt  es;  je  mehr  er  sich  damit  beschäftigt, 
desto  grösser  wird  der  Raum,  den  es  in  seinem  Seelenleben  ein- 
nimmt. 

Wenn  wir  ein  besonderes  Unternehmen  vor  uns  haben,  so 
überfällt  uns  leicht  der  Zweifel,  ob  alles  nach  AVunsch  gehen  wird, 
und  damit  eine  gewisse  innere  Beunruhigung.  Wir  sprechen  vom 
Eisenbahnfieber,  vom  Lampenfieber,  von  der  Prüfungsangst,  uno 
wissen,  dass  diese  Gemütsbewegungen  oft  genug  mächtiger  sind, 
als  jede  ruhige  "Überlegung.  Bei  Kranken  können  sie  nichx  nur 
eine  ausserordentliche  Heftigkeit  zeigen  und  damit  die  Leistungs- 
fähigkeit schwer  schädigen,  sondern  sie  treten  vielfach  auch  bei 
Anlässen  auf,  die  den  Gesunden  völlig  gleichgültig  lassen.  Das 
bekannteste  Beispiel  dafür  ist  die  Platzangst  oder  Agora- 
phobie, das  Gefühl  der  Unfähigkeit,  allein  über  einen  freien 
Platz,  durch  eine  menschenleere  Strasse  zu  gehen.  Jeder  A er- 
such kann  die  Beängstigung  bis  zu  ohnmachtähnlichen  Anfällen 
steigern.  Bei  der  Angst,  sich  zu  verschlucken,  wird  der  einfache 
Vorgang  des  Schluckens  durch  die  Einmischung  unzweckmässiger 
und  krankhafter  Nebenbewegungen  in  ähnlicher  Weise  erschwert 
wie  etwa  das  Gehen,  sobald  es  nicht  unwillkürlich  abläuft.  Für  eine 
entsprechende  Störung  beim  Urinlassen  hat  man  die  schöne  Be- 
zeichnung des  „Harnstotterns“  erfunden.  Ganz  besonders  verstärkt 
werden  diese  Behinderungen,  wie  schon  im  gesunden  Leben,  durch 
die  Aufmerksamkeit  Anderer.  Wie  wir  beim  Singen  oder  Spielen 
das  Zuhören  Dritter  störend  empfinden,  so  werden  manche  Men- 
schen schon  beim  einfachen  Schreiben  behindert,  sobald  ihnen  je- 
mand auf  die  Finger  sieht.  Auch  die  Regungen  des  Schamgefühls 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


253 


können  solche  Macht  gewinnen,  dass  die  Befriedigung  der  natür- 
lichen Bedürfnisse  in  Gegenwart  Anderer  oder  schon  bei  dem 
Gedanken  an  fremde  Beobachtung  unmöglich  wird. 

Eine  lebhafte  Beeinträchtigung  des  Handelns  entwickelt  sich 
aus  der  Befürchtung,  Andere  zu  gefährden  oder  zu  schädigen. 
Aus  der  gesunden  Erfahrung  ist  uns  das  Unbehagen  bekannt,  das 
uns  beim  ungewohnten  Hantieren  mit  geladenen  Gewehren,  sehr 
scharf  geschliffenen  Messern  ergreift,  in  dem  Gedanken,  dass 
wir  damit  irgend  ein  Unheil  anrichten  könnten;  es  kann  auch  dann 
auftreten,  wenn  wirkliche  Gefahr  vollkommen  ausgeschlossen  ist. 
Bei  Kranken  nehmen  derartige  Befürchtungen  die  mannigfaltigsten 
Gestaltungen  an.  Besonders  häufig  ist  die  Angst,  irgendwie 
Nadeln  oder  Glasscherben  ins  Essen  zu  bringen  und  auf  diese 
Weise  Andere  zu  töten.  Auch  die  Furcht,  Krankheitskeime  oder 
Giftstoffe  mit  den  Kleidern  oder  Händen  aufzufangen  und  weiter 
zu  verbreiten,  spielt  eine  ähnliche  Rolle;  ihr  verwandt  ist  die 
ganz  abenteuerliche  Idee,  den  Abort  möglicherweise  mit  Samen- 
fäden zu  beschmutzen  und  dadurch  die  Schwängerung  eines 
Frauenzimmers  herbeizuführen.  Eine  besondere  Gruppe  bildet 
die  Furcht  vor  der  unwillkürlichen  Ausführung  verbrecherischer 
Handlungen.  Manche  Kranke  werden  gepeinigt  von  der  Vor- 
stellung, sie  müssten  ein  bereitliegendes  Messer  ergreifen  und 
damit  jemanden  töten,  eine  begegnende  Frauensperson  vergewal- 
tigen, ein  Kind  unzüchtig  berühren,  einen  Menschen  anfallen, 
beissen,  von  einer  Brücke  herunterstossen. 

Sehr  oft  beziehen  sich  die  Befürchtungen  auf  die  Vergangen- 
heit. Die  Kranken  leben  in  der  Angst,  dass  sie  bei  dieser  oder 
jener  Gelegenheit  ein  wichtiges  Papier  achtlos  vernichtet,  ein 
Stückchen  der  Hostie  beim  Abendmahl  verstreut,  dass  sie  sich 
beim  Herausgeben  von  Geld  zum  Nachteil  eines  Andern  geirrt 
haben  könnten,  dass  sie  bei  der  Fällung  eines  Urteils  nicht  mit 
der  nötigen  Gewissenhaftigkeit  verfahren,  durch  unvorsichtiges 
Umgehen  mit  Feuerzeug  zu  Brandstiftern  geworden  seien.  Daran 
knüpfen  sich  dann  endlose  Grübeleien  über  die  Einzelheiten  der 
Vorgänge,  Selbstverteidigungen  und  Selbstbeschuldigungen  in 
immer  spitzfindigeren  Formen.  Während  sonst  bei  den  Zwangs- 
befürchtungen das  klare  Bewusstsein  ihrer  Grundlosigkeit  und 
Krankhaftigkeit  erhalten  bleibt,  kann  bei  diesen  Formen  zeitweise 


254 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  bündige  Berichtigung  der  quälenden  Vorstellungen  versagen. 
Die  Kranken  sind  nicht  sicher,  ob  sie  nicht  doch  eine  der  sie 
beunruhigenden  Handlungen  ausgeführt  haben,  ja  sie  können 
sogar  überzeugt  sein,  dass  es  wirklich  geschehen  sei,  und  sich 
den  Vorgang  mit  allerlei  Einzelheiten  ausmalen,  allerdings  nie- 
mals mit  der  unantastbaren  Gewissheit,  die  wir  bei  den  eigent- 
lichen Wahnbildungen  beobachten. 

Der  Unlust  mit  Spannung,  wie  wir  die  Angst  bezeichnet 
haben,  dürfen  wir  vielleicht  als  Unlust  mit  Hemmung  die  ein- 
fache Niedergeschlagenheit  gegenüberstellen,  den  Seelen- 
schmerz mit  dem  Gefühle  der  Unfähigkeit.  Den  Grundton  dieser 
Verstimmung  bildet  die  aus  dem  eigenen  Innern  herauswachsende 
Traurigkeit,  die  den  gesamten  Lebensereignissen  ihren  Stempel  auf- 
drückt. Infolgedessen  erscheint  die  Vergangenheit  als  eine  Kette 
von  schlimmen  Erfahrungen  oder  gar  Verfehlungen,  die  Gegen- 
wart grau  und  trübe,  die  Zukunft  hoffnungslos.  Allerlei  schwere 
Gedanken  und  Ahnungen  steigen  auf,  die  sich  zu  ausgeprägten 
Wahnbildungen  im  Sinne  der  Versündigung  und  Verfolgung  ver- 
dichten können.  Am  schmerzlichsten  aber  empfindet  der  Kranke 
die  Öde  und  Leere  im  eigenen  Innern.  Er  fühlt  weder  Freude 
noch  Leid;  die  Eindrücke  der  Aussenwelt  finden  in  seiner  Brust 
keinen  Widerhall.  „Ich  bin  wie  ein  Kinematograph“,  sagte  mir 
eine  Kranke;  „ich  sehe  wohl,  dass  es  schön  ist,  aber  ich  empfinde 
es  nicht.“  Die  gesunde  Befriedigung  am  Dasein  hat  einem  Ge- 
fühle schmerzlichen  Lebensüberdrusses  Platz  gemacht;  die  frühe- 
ren Lieblingsneigungen  sind  erloschen,  und  selbst  die  nächsten 
Herzensbeziehungen  scheinen  in  der  gemütlichen  Erstarrung  unter- 
gegangen zu  sein.  Ja,  aus  den  Quellen  des  früheren  Glückes 
fliesst  jetzt  am  reichlichsten  die  traurige  Verstimmung,  da  die  Un- 
lustbetonung um  so  lebhafter  wird,  je  stärker  das  Gemüt  in 
Anspruch  genommen  wird.  Frohe  Eindrücke  steigern  nur  die 
Verstimmung,  die  eben  nicht,  wie  ein  gesunder  Seelenschmerz, 
durch  äusseres  Glück  gemildert  wird,  sondern  umgekehrt  den 
freudigen  Anlass  im  Sinne  der  krankhaft  veränderten  Gefühls- 
betonung färbt.  So  sah  ich  einen  Knaben  mit  trauriger  Verstim- 
mung beim  Anhören  heiterer  Musik  in  bitterliches  V einen  aus- 
brechen. 

Diese  Umwandlung  der  Gefühlsbetonung,  die  für  gewisse 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


255 


Formen  der  cirkulären  Depressionszustände  kennzeichnend  ist, 
geht  in  der  Regel  mit  einer  Hemmung  des  Denkens  und  Wollens 
einher.  Die  Kranken  empfinden  ihren  Zustand  äusserst  qualvoll; 
sie  fühlen  sich  innerlich  abgestorben,  herzlos  geworden  und 
knüpfen  daran  sehr  häufig  die  Vorstellung  der  sittlichen  Ver- 
ödung oder  der  körperlichen  Veränderung.  In  Wirklichkeit  sind 
sie  keineswegs  gefühllos,  wie  gelegentliche  Leidenschaftsausbrüche 
beim  Verkehr  mit  ihren  Lieben  sowie  die  starke  Selbstmordneigung 
deutlich  genug  dartun.  Die  Hemmung  kann  dabei  unvermittelt 
in  Erregung  übergehen,  so  dass  dann  die  ganze  Lebhaftigkeit 
der  Gemütsbewegung  nach  aussen  hervortritt. 

Eine  Unlust  mit  Erregung  beobachten  wir  ebenfalls  nicht 
selten  im  manisch-depressiven  Irresein,  bald  als  selbstän- 
digen Krankheitsanfall,  bald  als  Übergangszustand  zwischen  An- 
fällen von  verschiedener  Färbung.  Die  Verstimmung  ist  dabei 
bald  eine  mehr  traurige,  bald  ängstlich  oder  zornig;  sie  äussert 
sich  je  nachdem  in  Jammern  und  Klagen,  in  Befürchtungen  oder 
in  Ausbrüchen  von  Gereiztheit.  Gerade  diese  letztere  Form 
ist  besonders  häufig.  Die  Kranken  sind  verdriesslich,  missmutig, 
mit  allem  unzufrieden,  zerfallen  mit  sich  und  ihrer  Umgebung, 
ärgern  sich  über  jede  Kleinigkeit  und  nörgeln,  oft  gegen  ihre 
bessere  Einsicht,  in  der  unerträglichsten  Weise,  um  bei  dem  ge- 
ringsten Anlasse  zu  heftigen  Entladungen  überzugehen.  Ganz 
ähnliche  Verstimmungen,  verbunden  mit  gehobenem  Selbstgefühl 
und  Witzelsucht,  sind  mir  wiederholt  bei  syphilitischen  Hirnerkran- 
kungen begegnet;  auch  manche  Gemütsbewegungen  der  Hyste- 
rischen zeigen  eine  Mischung  von  Unlust  und  Erregung  mit  zor- 
niger Reizbarkeit. 

Eine  besondere  Gruppe  bilden  vielleicht  die  V erstimmungen 
der  Epileptiker.  Wir  beobachten  bei  ihnen  einmal  einfache  Nieder- 
geschlagenheit mit  Lebensüberdruss.  Hie  und  da  scheint  sie  mit 
dem  Gefühle  der  Hemmung  einherzugehen;  meist  aber  hat  sie 
eine  „heimwehartige“  Färbung,  ist  also  mit  einer  unbestimmten 
Sehnsucht  und  inneren  Unruhe  verknüpft,  die  zu  Selbstmordver- 
suchen, zum  Trinken  oder  zu  planlosen  Wanderungen  führen 
kann.  Noch  häufiger  ist  Gereiztheit  mit  plötzlichen  gewalttätigen 
Entladungen  von  ausserordentlicher  Heftigkeit.  In  den  eigent- 
lichen Dämmerzuständen  überwiegen  ängstliche  Spannungen,  eben- 


256 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


falls  vielfach  mit  starker  Reizbarkeit.  Merkwürdigerweise  können 
sich  in  alle  diese  Unluststimmungen  auch  geschlechtliche  und 
ekstatische  Lustgefühle  hineinmischen. 

Die  Besprechung  der  krankhaften  Lustgefühle  knüpft 
vielleicht  am  besten  an  gewisse  Erfahrungen  an,  die  über  die 
Wirkung  einiger  Arzneimittel  auf  die  Stimmung  vorliegen.  Vor 
allem  ist  es  der  Alkohol,  der  bekanntlich  ausgeprägte  Lustgefühle 
von  bestimmter  Färbung  hervorbringt,  das  Gefühl  erhöhter  Kraft, 
Begeisterung,  Unternehmungslust.  Als  die  Wurzel  dieser  heiteren 
Stimmung  kann  höchstwahrscheinlich  die  Erleichterung  der  Aus- 
lösung von  Bewegungsantrieben  angesehen  werden,  wie  sie  sich 
im  weiteren  Verlaufe  der  Alkoholwirkung  immer  deutlicher  durch 
das  Auftreten  von  Reizbarkeit,  lärmender  Unruhe  und  planlosem 
Tatendrang  kundzugeben  pflegt.  Die  gleiche  Grundlage  der 
heiteren  Verstimmung  werden  wir  auch  wohl  dort  vorauszusetzen 
haben,  wo  uns  auf  krankhaftem  Gebiete  die  Verbindung  von  leb- 
haften Lustgefühlen  mit  grosser  Reizbarkeit  und  starkem  Be- 
wegungsdrange begegnet,  bei  den  manischen  Aufregungszustän- 
den. Die  Ähnlichkeit  dieser  letzteren  mit  dem  Rausche  ist  oft 
genug  betont  worden,  und  sie  ist  nach  dem  Ausweise  psycholo- 
gischer Versuche,  trotz  tiefgreifender  Unterschiede,  doch  eine 
mehr  als  äusserliche.  Auch  bei  der  Manie  haben  wir  es  mit 
einer  erleichterten  Auslösung  von  Bewegungsvorgängen  zu  tun, 
die  sich  klinisch  in  den  gleichen  Erscheinungen  äussert  wie  der 
Rausch.  In  beiden  Zuständen  fehlt  nahezu  oder  vollständig  das 
Bewusstsein  der  Störung.  Der  Berauschte  hält  sich  höchstens  für 
ein  wenig  angeheitert,  und  der  leicht  manisch  Erregte  kann  sich 
überaus  frisch  und  leistungsfähig,  ja  so  gesund  fühlen  wie  niemals. 
Die  Stimmung  trägt  in  beiden  Fäilen  den  Stempel  der  übermütigen 
Lustigkeit;  das  Selbstgefühl  ist  sehr  gesteigert. 

Die  gehobene  Stimmung  des  Rausches  wird  bei  fortgesetztem 
Alkoholmissbrauche  ebenso  zu  einer  dauernden  Eigenschaft  des 
Trinkers  wie  die  übrigen  Wirkungen  jenes  Giftes.  Sie  nimmt 
jedoch  dabei  die  Form  eines  gemütlichen,  seichten  Humors 
an,  wie  er  den  Verkehrston  der  Stammtische  kennzeichnet.  Sehr 
deutlich  ist  diese  eigentümliche  Stimmungslage  regelmässig  im 
Delirium  tremens,  hier  mit  heimlicher  Angst  gemischt;  sie  pflegt 
aber  auch  sonst  beim  ausgeliildeten  Trinker  unverkennbar  zu 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


257 


sein  und  sich  erst  bei  dauernder  Enthaltsamkeit  allmählich  zu 
verlieren.  Sie  unterscheidet  sich  von  der  Angeregtheit  des  leich- 
ten Rausches  durch  das  Fehlen  der  Tatkraft.  Diese  unbekümmerte 
Missachtung  der  Sorgen,  die  leichtherzige  Versenkung  in  den 
Genuss  des  Augenblicks,  wie  sie  in  den  Trinkliedern  gefeiert  wird, 
steht  in  nächster  Beziehung  zu  der  Willensschwäche  und  sitt- 
lichen Unfähigkeit  des  Trinkers.  Wie  der  wahre  Humor  einer- 
seits die  Selbstverlachung,  andererseits  die  Unverwundbarkeit 
durch  das  kleine  Leid  des  Lebens  in  sich  schliesst,  so  dürfte 
auch  dem  Humor  des  Trinkers  das  tiefe  Gefühl  der  eigenen  Ohn- 
macht zu  Grunde  liegen,  das  jeweils  durch  die  alkoholische  An- 
heiterung  gemildert  wird.  Freilich  haben  wir  es  dort  mit  der 
sittlichen  Selbstüberwindung  zu  tun,  mit  der  Erreichung  der 
höchsten  inneren  Freiheit,  hier  aber  mit  dem  willenlosen  Auf-. 
geben  der  eigenen  Persönlichkeit,  dem  Versinken  in  eine  fidele, 
aber  schmähliche  Knechtschaft. 

Auch  in  gewissen  Formen  der  Paralyse  kann  das  Ge- 
sundheits-  und  Glücksgefühl  sehr  stark  hervortreten ; 
es  nimmt  hier  bisweilen  ganz  überschwängliche  Gestaltungen 
an.  Der  Kranke  fühlt  sich  so  unaussprechlich  selig,  dass 
er  oft  gar  keine  Worte  zur  Schilderung  seines  namenlosen 
Entzückens  finden  kann.  Dieses  überquellende  Glücksgefühl  er- 
innert an  gewisse  spätere  Abschnitte  des  Rausches,  in  denen 
bereits  die  Lähmungserscheinungen  deutlicher  geworden  sind.  Ihm 
fehlt  trotz  aller  Grössenideen  die  Ausgelassenheit,  das  frische, 
unmittelbare  Kraftgefühl,  das  der  flotten  manischen  Stimmung 
ihre  besondere  Färbung  gibt.  Im  weiteren  Verlaufe  schrumpft 
das  Glücksgefühl  des  verblödenden  Paralytikers  immer  mehr  zu 
einer  lächelnden,  gedankenlosen  Zufriedenheit  ein,  die  keine  Spur 
jener  Reizbarkeit  zeigt,  wie  sie  auch  die  letzten  Stufen  der  alko- 
holischen Seligkeit  noch  auszeichnet.  Ihr  ähnelt  die  behagliche 
Zufriedenheit  des  Altersblödsinns,  der  sich  allerdings  öfters  noch 
eine  gewisse  alberne  Vergnügtheit  beimischt. 

Im  Verlaufe  der  Dementia  praecox  begegnen  wir  ebenfalls 
eigenartigen  krankhaften  Lustgefühlen.  In  den  Erregungszustän- 
den ist  es  eine  läppische,  gegenstandslose  Heiterkeit  und  Aus- 
gelassenheit mit  unbändigen  Lachausbrüchen,  die  sehr  an  die 
krampfhafte  Lustigkeit  übermüdeter  Kinder  erinnert.  Sie  steht 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aull.  17 


258 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


in  gar  keiner  Beziehung  zu  dem  Vorstellungsinhalte  oder  den 
Vorgängen  in  der  Umgebung,  wie  die  übermütige  Fröhlichkeit  des 
Manischen,  und  ist  anscheinend  auch  nicht  von  wirklichem  Mucks- 
gefühl begleitet,  wie  die  freudige  Erregung  des  Paralytikers.  Bei 
den  mit  Grössenideen  einhergehenden  Formen  kann  eine  ungemein 
hochmütige,  selbstbewusste  Stimmung  auf treten, . die  meist  mit 
erhöhter  Reizbarkeit  einhergeht.  Dagegen  entwickelt  sich  mit 
fortschreitender  Verblödung  vielfach  eine  unbekümmerte  Vunsch- 
losigkeit  ohne  Erwartungen  und  Hoffnungen,  aber  auch  ohne 

Sehnsucht,  Furcht  oder  Reue. 

Ausser  dem  Alkohol  und  dem  in  seiner  Wirkung  nach  dieser 
Richtung  verwandten  Cocain  ist  namentlich  noch  das  Morphium 
geeignet,  Wohlbehagen  zu  erzeugen.  Man  pflegt  diese  V mkung 
des  Morphiums  zumeist  einfach  auf  seine  schmerzstillende  Eigen- 
schaft zurückzuführen,  allein  der  Umstand,  dass  jenes  Mittel  auch 
dann  das  Gefühl  des  Wohlseins  herbeiführt,  wenn  keinerlei  Schmerz 
und  Unbehagen  vorher  bestanden  hat,  spricht  mit  genügender 
Deutlichkeit  dafür,  dass  die  Wirkung  nicht  allein  in  der  Be- 
seitigung von  Unlust,  sondern  vielmehr  in  der  Erzeugung  von 
Lust  bestehen  muss.  Es  wäre  auch  sonst  wohl  undenkbar,  dass 
Morphium  und  Opium  in  dem  genugsam  bekannten  Masse  Ge- 
nussmittel geworden  wären.  Möglicherweise  knüpft  sich  das 
Wohlbehagen  bei  der  Morphiumwirkung  an  die  hier  eintretende 
Erleichterung  der  Gedankenverbindungen  an.  Dafür  würde  auch 
die  Erfahrung  sprechen,  dass  Morphinisten  sich  nach  der  Ein- 
spritzung geistig  frischer  und  leistungsfähiger  fühlen,  sowie  dass 
die  Opiumraucher  sich  mit  Wonne  den  bunten  Bildern  hingeben, 
welche  ihnen  die  lebhaft  angeregte  Einbildungskraft  vorgaukelt. 
Vielleicht  ist  dem  Traumleben  des  Opiumrausches  jener  Zustand 
verwandt,  den  wir  als  Vor zückung  oder  Ekstase  zu  be- 
zeichnen pflegen.  Auch  hier  fehlt  gänzlich  der  Bewegungsdrang, 
die  Erleichterung  des  Handelns.  Vielmehr  zieht  sich  das  Seelen- 
leben auf  einzelne  traumhafte  Trugwahrnehmungen  und  Gedanken- 
gänge  zurück,  die  von  Gefühlen  des  höchsten  Glückes  beg  ^^et 
und  fast  immer  religiösen  Inhaltes  sind.  Wir  beobachten  solche 
Zustände  namentlich  bei  Epileptikern,  bisweilen  auch  bei  Hyste- 
rischen 

Wieder  ein  wenig  anders  scheint  sich  das  Wohlgefühl  des 


Krankhafte  Gemütsbewegungen. 


259 


Tabakrauchers  zu  verhalten.  Die  bis  jetzt  darüber  vorliegenden 
Versuche  würden  etwa  für  eine  ganz  leicht  betäubende  Wirkung 
des  Tabaks  sprechen.  Dadurch  könnte  das  Gefühl  behaglicher 
Beschaulichkeit  entstehen,  welches  nicht  durch  lebhafter  sich  auf- 
drängende Vorstellungen  oder  Willensantriebe  gestört  wird.  Dem- 
gegenüber haben  wir  es  beim  Brom,  dessen  beruhigende  Wir- 
kungen genauer  untersucht  worden  sind,  höchst  wahrscheinlich 
gar  nicht  mit  der  Erzeugung  wirklicher  Lustgefühle,  sondern 
wohl  ausschliesslich  mit  der  Beseitigung  innerer  Spannungs- 
zustände zu  tun.  Dem  würde  auch  die  Tatsache  entsprechen,  dass 
für  das  Brom  gar  keine  oder  doch  nur  eine  sehr  geringe  Gefahr 
gewohnheitsmässigen  Missbrauches  besteht,  da  es  eben  kein  Ge- 
nussmittel darstellt,  sondern  ausschliesslich  dann  ein  Wohlgefühl 
herbeiführt,  wenn  vorher  eine  unbehagliche  innere  Erregung 
bestand. 

Mit  den  hier  angedeuteten  Formen  der  krankhaften  Lust- 
gefühle ist  die  Mannigfaltigkeit  derselben  nicht  im  entferntesten 
erschöpft.  Wir  stehen  nur  überall  vor  der  grossen  Schwierigkeit, 
die  einzelnen  Schattierungen  dieser  Zustände  richtig  zu  kenn- 
zeichnen und  womöglich  auch  auf  ihren  Ursprung  zurückzuver- 
folgen. Vielfach  ist  diese  Entstehungsweise  überhaupt  keine  ein- 
heitliche, sondern  es  mischen  sich  Gefühle  verschiedenen  Ur- 
sprungs miteinander.  Insbesondere  können  auch  Gefühle  verschie- 
dener Färbung  gleichzeitig  vorhanden  sein  oder  doch  sehr  rasch 
aufeinander  folgen.  So  haben  wir  schon  die  Mischung  von  Angst 
und  Humor  beim  Delirium  tremens  erwähnt;  in  epileptischen 
Dämmerzuständen  verbinden  sich  häufig  ekstatische  Wonne- 
gefühle mit  Angst  und  Zorn;  im  manisch-depressiven  Irresein  wie 
in  der  Paralyse  wechseln  ganz  gewöhnlich  unvermittelt  Glücks- 
gefühl, Zorn  und  Verzweiflung. 

Bisweilen  mögen  auch  krankhafte  Überlegungen  und  Vor- 
stellungen die  Stimmung  beeinflussen,  so  dass  die  Störungen 
dieser  letzteren  nicht  ursprüngliche,  sondern  Folgen  von  Wahn- 
bildungen sind.  Im  ganzen  allerdings  ist  es  mir  bei  weitem  am 
wahrscheinlichsten,  dass  Stimmung  und  Vorstellung  einen  ein- 
heitlichen Vorgang  bedeuten,  dessen  verschiedene  Seiten  sich 
uns  nur  in  verschiedener  Weise  darstellen. 

Störungen  der  Gemeingefühle.  Als  Gemeingefühle  bezeichnen 

17* 


260 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


wir  vor  allem  diejenigen  Gefühlsregungen,  welche  in  engen  und 
unverbrüchlichen  Beziehungen  zur  Selbsterhaltung  stehen.  Sie 
haben  die  gemeinsame  Eigentümlichkeit,  dass  sie  stets  mit  leb- 
haften Willensregungen  verknüpft  sind;  ihre  bestimmende  Wich- 
tigkeit für  das  Triebleben  tritt  dadurch  klar  zu  Tage.  Am  besten 
dürfen  wir  die  Gemeingefühle  als  Mahnungen  und  Warnungen 
auffassen,  die  sich  aus  der  Erfahrung  zahlloser  Geschlechter  all- 
mählich zu  unwillkürlich  wirkenden  Beweggründen  des  Handelns 
herausentwickelt  haben.  Im  gewöhnlichen  Leben  .unterrichten 
uns  diese  Gefühle  mit  unfehlbarer  Sicherheit  über  die  jeweiligen 
Bedürfnisse  unseres  Körpers,  und  sie  fordern  gebieterisch  die- 
jenigen Handlungen,  welche  der  Sachlage  angepasst  sind.  Die 
Ausführung  jener  Handlungen  kann  durch  den  bewussten  W ulen 
zumeist  gehindert  werden,  wenn  auch  oft  nur  unter  starker 
Selbstverleugnung;  die  Gefühle  selbst  dagegen  werden  nur  da- 
durch, aber  dann  auch  mit  Sicherheit,  zum  Schweigen  gebracht, 
dass  dem  angezeigten  Bedürfnisse  auf  irgend  eine  Weise  abge- 
holfen wird.  Allerdings  beobachten  wir  auch  im  gesunden  Leben 
bisweilen,  dass  ein  Gemeingefühl  wieder  schwindet,  wenn  wir 
demselben  trotz  längerer  Mahnung  keine  Folge  geben.  Wir  sind 
imstande,  die  Müdigkeit  zu  überwinden,  wenn  wir  mit  Auf- 
gebot unserer  Kräfte  weiter  arbeiten;  der  Hunger  lasst  nach, 
sobald  wir  längere  Zeit  ausser  stände  sind,  ihn  zu  befriedigen. 
Tritt  nun  endlich  die  Möglichkeit  ein,  dem  Ruhe-  oder  Nahrungs- 
bedürfnisse nachzugeben,  so  vermissen  wir  zunächst  peinlich 
Müdigkeit  und  Hunger,  die  uns  die  Wiederherstellung  unserer 
Kräfte  so  leicht  machen.  Erst  dann,  wenn  wir  längere  Zeit  ge- 
ruht haben,  kehrt  die  Müdigkeit  wieder  bei  uns  ein,,  und  auch 
der  Hunger  beginnt  erst  mit  dem  Essen  allmählich  sich  wieder 

zu  melden. 

Unser  ganzes  bewusstes  Leben  ist  begleitet  von  einem 
Lustgefühl,  welches  sich  an  die  Ausführung  geistiger  oder  kör- 
perlicher Beschäftigung  knüpft.  Die  tiefere  Begründung,  des- 
selben mag  in  dem  Umstande  liegen,  dass  nur  durch  Tätigkeit 
die  Erhaltung  und  Ausbildung  der  Persönlichkeit  möglich  ist. 
Fehlt  jenes  Gefühl,  so  entsteht  diejenige  Form  der  Langenweüe, 
die  aus  dem  Nichtstun  entspringt  und  uns  zu  irgend  einer  Be- 
tätigung antreibt.  Wie  quälend  die  Langeweile  für  den  Gesun- 


Störungen  der  Gemeingefühle. 


261 


den  werden  kann,  wissen  wir  namentlich  aus  den  verzweifelten 
Anstrengungen,  die  bei  erzwungener  Untätigkeit,  z.  B.  von  Ge- 
fangenen, gemacht  werden,  um  ihr  zu  entgehen.  Beim  Irresein 
fehlt  die  wirkliche  Langeweile  in  der  Regel  gänzlich,  vor  allem 
deswegen,  weil  die  Kranken,  auch  wenn  sie  sich  nicht  beschäf- 
tigen, durch  die  krankhaften  Vorgänge  in  ihrem  Innern  voll- 
kommen in  Anspruch  genommen  sind.  Es  kann  daher  als  ein 
günstiges  Zeichen  angesehen  werden,  wenn  die  Langeweile  auf- 
tritt,  doch  darf  man  sie  nicht  mit  dem  Gefühle  der  Unbefriedigt- 
heit  verwechseln,  das  von  niedergeschlagenen  Kranken  öfters  als 
Langeweile  bezeichnet  wird,  ebensowenig  mit  dem  ungestümen 
Tätigkeitsdrang  des  Manischen.  Als  ein  überaus  wichtiges,  wenn 
auch  sehr  wenig  in  die  Augen  fallendes  Krankheitszeichen  haben 
wir  aber  ferner  das  vollständige  Fehlen  der  Langenweile  bei  der 
Dementia  praecox  zu  betrachten.  Hier  handelt  es  sich  um  den 
Verlust  der  Willensregungen,  aus  denen  das  Tätigkeitsbedürfnis 
seinen  Ursprung  nimmt.  Die  Kranken  können  trotz  völliger  Be- 
sonnenheit und  Klarheit  Wochen  und  Monate  daliegen,  ohne  das 
Aufhören  jeder  Betätigung  irgendwie  peinlich  zu  empfinden.  Dabei 
sind  sie  auf  äussere  Anregung  hin  imstande,  ohne  weiteres  selbst 
schwierigere  Aufgaben  zu  lösen.  Dieses  Fehlen  der  Langenweile 
bei  innerer  Ruhe  deutet  immer  auf  eine  sehr  tiefgreifende  Stö- 
rung im  Seelenleben  hin;  wir  finden  es  sonst  nur  bei  vorgeschrit- 
tener Verblödung. 

Eine  ganz  andere  Bedeutung,  als  die  Langeweile  bei  Un- 
tätigkeit, hat  das  oft  mit  demselben  Namen  belegte  Unlust- 
gefühl, welches  als  Warnungszeichen  nach  übermässig  lange 
fortgesetzter  Arbeit  auftritt.  Hier  haben  wir  es  mit  einer  Form 
der  Müdigkeit  zu  tun,  die  beim  Gesunden  im  allgemeinen  ziem- 
lich genau  die  Grösse  des  wirklichen  Ruhebedürfnisses,  der  Er- 
müdung, anzeigt.  Bei  unseren  Kranken  kann  sich  auch  dieser 
Zusammenhang  vollständig  lockern.  So  sehen  wir  in  vielen  Er- 
regungszuständen, namentlich  bei  manischen  Kranken,  ein  dauern- 
des völliges  Fehlen  der  Müdigkeit  trotz  hochgradigsten  Kräfte- 
verbrauches, also  schwerster  Ermüdung.  Mit  dem  Nachlassen 
der  Unruhe  sehen  wir  dann  freilich  auch  die  Müdigkeit  häufig 
mit  voller  Gewalt  den  Genesenden  überfallen.  Umgekehrt  pflegt 
in  den  Depressionszuständen  das  Gefühl  der  Müdigkeit  dauernd 


262 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


vorhanden  zu  sein,  auch  dann,  wenn  von  einer  wirklichen  Er- 
müdung keine  Rede  sein  kann,  wie  bei  bettlägerigen  Kranken 
ohne  jede  Beschäftigung.  Vielfach  handelt  es  sich  hier  indessen 
nur  um  das  Gefühl  einer  Erschwerung  jeder  geistigen  und  körper- 
lichen Regung  und  nicht  um  jenes  besondere  Gefühl  der  Schläf- 
rigkeit, das  wir  als  die  Einleitung  der  vollkommensten  Erholung 
so  hoch  schätzen.  Beide  Störungen,  Müdigkeit  ohne  Ermüdung 
und  Ermüdung  ohne  Müdigkeit,  finden  sich  nicht  selten  bei 
Neurasthenikern  und  namentlich  im  Entartungsirresein  in  selt- 
samer Weise  vereint.  Die  Kranken  fühlen  sich  dauernd  oder 
anfallsweise  ohne  irgend  genügenden  Anlass  matt,  abgespannt, 
arbeitsunfähig,  finden  aber  andererseits  keine  Ruhe,  weil  sich 
ihnen  abends,  beim  Schlafengehen,  die  den  Schlaf  vorbereitende 

Müdigkeit  nicht  einstellen  will. 

Die  gleichen  Erfahrungen  fast  gelten  auf  gesundem  wie  auf 
krankhaftem  Gebiete  von  dem  Begleiter  des  Nahrungsbedürf- 
nisses, dem  Hunger.  Auch  der  Hunger  schweigt  bei  unseren  auf- 
geregten Kranken  trotz  dringendster  Notwendigkeit  des  körper- 
lichen Ersatzes.  Schon  nach  kurzer  Nahrungsverweigerung 
scheint  er  vollständig  zu  schwinden,  um  sich  allerdings  dann  oft 
mit  grösster  Gewalt  wieder  Geltung  zu  verschaffen,  wenn  einmal 
das  Fasten  durchbrochen  ist.  Andererseits  sehen  wir  bei  para- 
lytischen und  katatonischen  Kranken  häufig  eine  sinnlose  Ge- 
hässigkeit sich  einstellen,  obgleich  bei  den  wohlgenährten  und 
trägen  Kranken  von  einem  wirklichen  Nahrungsbedürfnisse  an- 
scheinend keine  Rede  sein  kann.  Im  Entartungsirresein  und  bei 
der  Hysterie  endlich  begegnet  uns  nebeneinander  ohne  ersicht- 
lichen Zusammenhang  mit  dem  Ernährungsstande  des  Körpers 
dauernder  Mangel  des  Hungergefühls  und  ebenso  unvermittelter 
plötzlicher  Heisshunger. 

In  nahen  Beziehungen  zur  Nahrungsaufnahme  stehen  die 
Ekelgefühle,  die  uns  vor  dem  Genüsse  unverdaulicher,  übel 
schmeckender  oder  riechender  Dinge  warnen.  Schwerere  Stö- 
rungen auf  diesem  Gebiete  sind  in  der  Regel  das  Zeichen  eines 
weit  gediehenen  geistigen  Verfalles.  Wir  beobachten  Kranke, 
welche  die  ekelhaftesten  Dinge  verzehren,  sogar  ihre  eigenen  Aus- 
leerungen; auch  Nägel,  Steine,  Glasscherben,  Tiere  werden  nicht 
selten  verschluckt,  sowohl  in  selbstmörderischer  Absicht,  also 


Störungen  der  Gemeingefühle. 


263 


mit  bewusster  Überwindung  des  Ekels,  als  auch  aus  reiner  Ge- 
hässigkeit. Bei  sehr  erregten  oder  tief  verblödeten  Kranken 
schwinden  ferner  nicht  selten  jene  Gefühle,  welche  uns  schon  die 
blosse  Berührung  mit  Schmutz  und  Unrat  unangenehm  machen 
und  uns  zur  Sauberhaltung  unseres  Körpers  und  unserer  ganzen 
Umgebung  antreiben.  Wir  sehen  daher  solche  Kranke  sich  rück- 
sichtslos beschmutzen,  ja  sich  absichtlich  mit  ihren  Speisen,  mit 
dem  eigenen  Speichel,  mit  Urin  oder  gar  mit  Kot  einsalben ! *) 
Ein  weiteres  Warnungszeichen,  dessen  Fortfall  wir  oft 
genug  bei  Geisteskranken  beobachten,  ist  der  körper liehe 
Schmerz.  In  Aufregungszuständen,  namentlich  bei  starker 
ängstlicher  Erregung,  werden  selbst  schwere  Verletzungen  trotz 
voller  Besonnenheit  bisweilen  gar  nicht  empfunden.  Die  gleiche 
Erfahrung  wird  bekanntlich  vom  Soldaten  auf  dem  Schlachtfelde 
gemacht.  Auf  diese  Weise  wird  es  erklärlich,  dass  manche  Kranke 
sich  die  scheusslichsten  Verletzungen  beibringen  können,  ohne 
durch  den  Schmerz  in  ihrem  Treiben  gestört  zu  werden.  Aus- 
reissen  der  Zunge,  des  Kehlkopfes,  der  Augen,  Aufschneiden  des 
Bauches,  Durchstemmen  des  Kehlkopfes  und  ähnliche  bereits  vor- 
gekommene Selbstverstümmelungen  wären  ja  offenbar  für  einen 
Menschen  mit  gesunder  Schmerzhemmung  schlechterdings  un- 
möglich. Auch  bei  blödsinnigen  Kranken  findet  sich  diese  Un- 
empfindlichkeit gegen  körperliche  Schmerzen  häufig.  Die  verblüf- 
fendsten Beispiele  dafür  liefert  die  Paralyse,  bei  welcher  freilich 
die  Zerstörung  der  Leitungsbahnen  wesentlich  mit  in  Betracht 
kommen  kann.  Knochenbrüche,  ausgedehnte  V erbrennungen, 
Druckbrand,  Einschnitte,  Ätzungen,  alles  pflegt  von  diesen  Kran- 
ken ohne  jede  oder  doch  ohne  stärkere  Schmerzensäusserung  er- 
tragen zu  werden.  Eine  wesentlich  andere  Bedeutung  hat  die 
Aufhebung  der  Schmerzempfindlichkeit  bei  Hysterischen  und  jipi- 
leptikern.  Hier  scheint,  ähnlich  wie  es  in  der  Hypnose  erreichbar 
ist,  die  Schmerzschwelle  allein  eine  sehr  bedeutende  Erhöhung 
zu  erfahren. 

Wir  haben  hier  endlich  noch  einer  Gruppe  von  Gefühlen  zu 
gedenken,  die  zwar  nicht  mit  der  Selbsterhaltung,  wohl  aber 
mit  der  Arterhaltung  in  Beziehung  stehen.  Dahin  gehört  zunächst 
das  allerdings  erst  durch  das  gesittete  Zusammenleben  künst- 

*)  Manheimer,  Le  gätisme  au  cours  des  etats  psychopathiques.  1897. 


264 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


lieh  anerzogene  geschlechtliche  Schamgefühl.  Bei  erregten  und 
verwirrten  Kranken  kann  dasselbe  völlig  in  den  Hintergrund 
treten,  doch  sieht  man  deutliche  Zeichen  von  Schamgefühl  nicht 
selten  noch  in  sehr  schweren  manischen  Zuständen,  wenn  nicht 
die  gesteigerte  geschlechtliche  Erregung  es  überwindet.  Sehr  auf- 
fallend ist  dagegen  vielfach  das  rasche  Schwinden  des  Scham- 
gefühls in  der  Dementia  praecox,  auch  ohne  geschlechtliche  Er- 
regung. Wir  sehen  solche  Kranken  sich  rücksichtslos  entblössen, 
ohne  Scheu  über  geschlechtliche  Dinge  reden,  vor  aller  Augen 
und  in  der  hartnäckigsten  Weise  masturbieren.  Auch  die  in 
derselben  Krankheit  vielfach  beobachtete  Neigung  zu  gesucht 
unflätiger  Ausdrucksweise  (Koprolalie)  und  schamlosen  Gebärden 
wäre  hier  zu  erwähnen. 

Beim  gesunden  Menschen  ist  das  Anwachsen  des  geschlecht- 
lichen Bedürfnisses  und  ebenso  die  Befriedigung  desselben  von 
bestimmten  lebhaften  Gefühlen  begleitet,  die  bei  unseren  Kran- 
ken fehlen,  gesteigert  oder  auch  in  falsche  Bahnen  gelenkt  sein 
können.  Geschlechtliche  Kälte  beobachten  wir  bei  manchen 
Formen  des  Entartungsirreseins,  namentlich  auch  bei  der  Hysterie. 
Ebenso  pflegen  bei  Morphinisten  die  Geschlechtsgefühle  allmählich 
zu  schwinden.  Weit  häufiger  aber  ist  die  Steigerung  der  ge- 
schlechtlichen Erregbarkeit;  sie  findet  sich  bei  gewissen  Idioten, 
ferner  sehr  ausgeprägt  in  der  Dementia  praecox,  endlich  in  den 
manischen  und  paralytischen  Erregungszuständen  sowie  beim 
Altersblödsinn.  Ganz  besondere  Beachtung  hat  in  neuerer  Zeit 
das  Auftreten  geschlechtlicher  Gefühle  ausserhalb  des  gesunden 
Geschlechtsverkehrs  gefunden,  ihre  Anknüpfung  an  Personen  des 
eigenen  Geschlechts,  an  gewisse  Gegenstände,  ihre  \erbindung 
mit  der  Ausübung  oder  Erduldung  von  Misshandlungen.  Da  alle 
diese  Störungen  in  engster  Beziehung  zu  krankhaften  Richtungen 
des  Geschlechtstriebes  stehen,  werden  wir  ihrer  am  besten  später 
im  Zusammenhänge  mit  diesen  letzteren  selbst  gedenken. 


D.  Störungen  des  Wollens  und  Handelns. 

Ihren  letzten  und  wichtigsten  Ausdruck  finden  alle  Stö- 
rungen, die  das  psychische  Leben  beeinflussen,  im  Wollen  und 


Herabsetzung  der  Willensantriebe. 


265 


Handeln  des  Kranken.  Den  Ausgangspunkt  einer  Willenshand- 
lung bildet  die  Vorstellung  eines  bestimmten  Zweckes,  einer  Ver- 
änderung an  uns  selbst  oder  an  unserer  Umgebung.  Diese  Vor- 
stellung wird  von  Gefühlen  begleitet,  die  sich  in  Antriebe 
zur  Erreichung  jenes  Zweckes  umsetzen.  Die  Richtung  des  Han- 
delns ist  demnach  durch  den  Inhalt  jener  Vorstellung,  die  Kraft 
und  Nachhaltigkeit  desselben  durch  die  Stärke  und  Dauer  der 
begleitenden  Gefühle  bestimmt. 

Die  krankhaften  Störungen  desWollens  und  Handelns  können 
in  der  verschiedensten  Weise  und  an  den  verschiedensten  Punkten 
des  Willensvorganges  angreifen.  Die  Stärke  der  Willensantriebe 
kann  herabgesetzt  und  erhöht,  ihre  Auslösung  durch  ver- 
schiedenartige Störungen  erschwert  oder  erleichtert  sein.  Die 
Richtung  des  Wollens  sehen  wir  durch  äussere  und  innere 
Beeinflussungen  krankhaft  abgelenkt  werden,  bald  in  vielfachem 
Wechsel,  bald  in  einseitiger  Starrheit.  Krankhafte  An- 
triebe können  gewaltsam  das  gesunde  Wollen  unterdrücken, 
triebartige  Regungen  können  zu  unüberlegten  und  zweck- 
losen Handlungen  drängen;  die  natürlichen  Triebe  sehen  wir 
krankhafte  Formen  annehmen.  Endlich  aber  wird  natür- 
lich das  ganze  Handeln  unserer  Kranken  durch  alle  jene  Stö- 
rungen beeinflusst,  die  sich  auf  anderen  Gebieten  ihres 
Seelenlebens  abspielen,  auch  wenn  der  Ablauf  des  Willens- 
vorganges an  sich  dabei  keine  Abweichungen  darbietet.  Eine 
besondere  Besprechung  werden  die  Ausdrucksbewegungen 
erfordern,  da  sie  es  sind,  die  uns  in  erster  Linie  die  Kenntnis 
der  inneren  Erlebnisse  unserer  Kranken  vermitteln. 

Herabsetzung  der  Willensantriebe.  Dem  gesunden  Verständ- 
nisse am  nächsten  liegt  jene  Lähmung  des  Willens,  die  durch  die 
einfache  Ermüdung  herbeigeführt  wird.  Das  Anwachsen  der  inneren 
Widerstände  bedingt  zunächst  eine  Steigerung  der  Willens- 
spannung, eine  erhöhte  „Anstrengung“,  die  dann  weiterhin  zum 
Erlahmen  führt.  Da  auch  die  Gedankenarbeit  Willenstätigkeit  ist, 
schwindet  mit  der  Zunahme  des  Ruhebedürfnisses  die  geistige 
Regsamkeit  ebenso  wie  die  Neigung  zu  raschem  und  ausgiebigem 
Handeln.  Wir  fühlen  uns  nicht  mehr  aufgelegt  zu  geistiger  Tätig- 
keit, und  die  Beweggründe  müssen  immer  zwingendere  werden, 
wenn  sie  uns  zu  kräftiger  Tat  antreiben  sollen.  Ähnliche  Wir- 


266 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


kungen  werden  durch  manche  Gifte  erzeugt.  In  den  höchsten 
Graden  des  Alkoholrausches,  unter  dem  Einflüsse  des  Chloro- 
forms, des  Chloralhydrates  erlöschen  alle  Willensantriebe,  nach- 
dem allerdings  vielfach  eine  Steigerung  derselben  voraufgegangen 
ist.  Während  aber  diese  Mittel  gleichzeitig  in  noch  höherem 
Grade  Auffassung  und  Denken  lähmen,  kennen  wir  im  Morphium 
und  vielleicht  auch  im  Tabak  Giftstoffe,  die  ganz  vorzugsweise 
die  Entstehung  und  Auslösung  von  Willensantrieben  zu  hindern 
scheinen.  Beim  Alkohol,  Morphium  und  dem  beiden  verwandten 
Coca'in  wird  die  Willenslähmung  durch  dauernden  Missbrauch  sehr 
deutlich;  es  entwickelt  sich  ein  folgenschwerer  Mangel  an  Tat- 
kraft. Die  schwachen  Antriebe  verpuffen  regelmässig,  ohne 
weiterreichenden,  richtunggebenden  Einfluss  auf  das  Handeln  zu 
gewinnen;  auch  die  sonst  stärksten  Beweggründe,  die  sittlichen 
Forderungen,  die  Rücksicht  auf  die  Familie,  auf  das  eigene  Lebens- 
glück, vermögen  den  kraftlosen  Willen  nicht  zu  nachhaltiger  An- 
spannung anzuspornen. 

Eine  ganz  ähnliche  Verödung  des  Wollens  sehen  wir  viel- 
fach in  den  Endzuständen  ungeheilter  Geistesstörungen  sich  ent- 
wickeln. So  verlieren  beim  Altersschwachsinn  zunächst  die  all- 
gemeineren Vorstellungen  und  Gefühle  ihren  Einfluss  auf  das 
Handeln.  Die  Spannkraft  des  Willens,  die  Schaffensfreude,  die 
schon  im  gesunden  Greisenalter  merklich  abzunehmen  pflegt, 
erlahmt  völlig;  das  Streben  richtet  sich  auf  das  Nächstliegende 
und  verzichtet  leicht  auf  die  Überwindung  von  Hindernissen. 
Statt  dessen  gewinnen  jene  Triebfedern  das  Übergewicht,  die 
aus  den  niederen  Begierden  entspringen.  Habsucht,  Geiz,  Ge- 
frässigkeit,  unter  Umständen  auch  geschlechtliche  Gelüste  sind 
allein  noch  imstande,  kräftigere  Willensantriebe  auszulösen.  Oder 
die  Kranken  dämmern  wunschlos  und  tatenlos  dahin,  von  ihrer 
Umgebung  gelenkt  und  geschoben,  ohne  in  zweckmässigem  Han- 
deln oder  Widerstreben  die  Spuren  einer  selbständigen  Willens- 
entschliessung  erkennen  zu  lassen.  Am  auffallendsten  pflegt 
die  Willenslähmung  bei  der  Dementia  praecox  hervorzutreten, 
weil  daneben  manche  anderen  psychischen  Leistungen  noch  ver- 
hältnismässig gut  erhalten  sein  können.  Die  Abstumpfung  der  Ge- 
fühle führt  hier,  namentlich  in  den  Endzuständen,  gewöhnlich  auch 
zu  einer  mehr  oder  weniger  ausgesprochenen  ^ ernichtung  der 


Steigerung  der  Willensantriebe. 


267 


Willensregungen.  Die  Kranken  verlieren  die  Fälligkeit,  aus 
eigenem  Antriebe  nachzudenken  oder  sich  zu  beschäftigen.  Sich 
selbst  überlassen,  sitzen  sie  träge  herum;  weder  in  ihrem  Innern 
spielen  sich  Vorgänge  ab,  noch  lösen  äussere  Einwirkungen  Hand- 
lungen aus;  nur  die  unmittelbaren  körperlichen  Bedürfnisse,  be- 
sonders das  Essen,  vermögen  sie  noch  in  Bewegung  zu  bringen. 
Dennoch  können  sie  durch  geduldiges  Antreiben  und  durch  das 
Beispiel  oft  noch  zu  ganz  brauchbaren  Leistungen  gebracht  wer- 
den; freilich  versiegt  ihre  Tätigkeit  sofort,  wenn  der  Anstoss 
dazu  aufhört.  Gerade  dadurch  wird  es  deutlich,  dass  die  Kranken 
nicht  die  Fähigkeit  zur  Arbeit  und  zum  Handeln,  sondern  nur  den 
Antrieb  dazu  verloren  haben.  Am  weitesten  schreitet  die  Zer- 
störung des  Willens  in  der  Paralyse  fort.  Mit  dem  Schwinden 
der  geistigen  und  gemütlichen  Ansprechbarkeit  verlieren  sich  auch 
die  Willensregungen;  der  Kranke  empfindet  kein  Leid  und  kein 
Bedürfnis  mehr,  das  ihn  zu  einer  Handlung  antreiben  könnte. 
Schliesslich  können  sich  alle  Lebensäusserungen  auf  die  Fort- 
dauer der  unwillkürlichen  und  einiger  reflektorischer  Bewegungen 
beschränken. 

Was  hier  überall  durch  den  Krankheitsvorgang  zerstört  wird, 
kann  auch  von  Jugend  auf  unentwickelt  bleiben.  Schon  in  der 
Breite  der  Gesundheit  ist  die  Stärke  der  Willensantriebe,  die 
Leichtigkeit,  mit  der  sich  Denken  und  Fühlen  in  Handeln  umsetzt, 
ausserordentlichen  Schwankungen  unterworfen.  Von  den  trägen 
und  schwerfälligen  Naturen  führen  uns  Übergänge  allmählich  zu 
den  stumpfen  Formen  des  angeborenen  Schwachsinns  und  der 
Idiotie,  bei  denen  nur  mühsam  und  selten  ein  Willensantrieb  zu 
stände  kommt  und  zum  Handeln  führt.  Selbstverständlich  sind 
es  auch  hier  die  sinnlichen  Gefühle,  Hunger  und  Schmerz,  die 
das  Begehren  am  stärksten  erregen  und  daher  in  erster  Linie  die 
Richtung  der  Willensäusserungen  bestimmen. 

Steigerung  der  Willensantriebe.  Das  allgemeine  Zeichen  einer 
Steigerung  der  Willensantriebe  ist  die  motorische  Erreg- 
ung. Im  einzelnen  freilich  haben  wir  uns  das  Zustandekommen 
derselben  in  sehr  verschiedener  Weise  zu  denken.  Zunächst  kann 
die  Erregung  sich  einfach  aus  Vorstellungen  oder  Gefühlen 
herausentwickeln.  Dahin  gehören  die  durch  bestimmte  Anlässe 
hervorgerufenen  Leidenschaftsausbrüche  gesunder  und  kranker 


268 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Menschen,  die  plötzliche  Entladung  überstürzter  Willenshand- 
handlungen in  einer  bestimmten  Lebenslage.  In  diesen  Fällen 
ist  offenbar  das  Handeln  nur  die  notwendige  Folge  der  gegebenen 
psychologischen  Vorbedingungen;  eine  Störung  liegt  daher  auch 
nicht  auf  dem  Gebiete  des  Wollens  selbst,  sondern  höchstens  auf 
denjenigen,  die  dasselbe  vorbereiten.  Es  sind  eben  mächtige  Be- 
weggründe vorhanden,  die  naturgemäss  auch  besonders  lebhafte 
Willensantriebe  zur  Auslösung  bringen  müssen. 

Von  einer  wirklichen  Steigerung  der  Antriebe  sind  wir 
dagegen  zu  sprechen  berechtigt,  wenn  ein  Missverhältnis  zwi- 
schen dem  Gewichte  der  Beweggründe  und  der  Heftigkeit  der 
Erregung  besteht.  Vielleicht  ist  das  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
schon  bei  vielen  delirierenden  Kranken  der  Fall.  Bei  ihnen, 
namentlich  bei  Alkoholdeliranten,  entwickelt  sich  meist  eine 
deutliche  Unruhe,  die  sich  nicht  genügend  durch  die  Wahn- 
vorstellungen, Sinnestäuschungen  und  Gemütsbewegungen  er- 
klären lässt,  sondern  auf  krankhafte  Willenserregung  hinweist. 
Die  Kranken  bleiben  nicht  im  Bette,  drängen  zur  Türe  hinaus  und 
zeigen  einen  ausgeprägten  Tätigkeitsdrang,  allerdings  in  Be- 
ziehung zu  ihren  Täuschungen.  Dass  sie  aber  trotz  ihrer  oft 
grossen  Hinfälligkeit  überhaupt  die  lebhafte  Neigung  haben,  sich 
im  Sinne  ihres  Berufes  zu  beschäftigen,  macht  die  Annahme  einer 
selbständigen  motorischen  Erregung  durchaus  wahrscheinlich. 

Eine  weitere  Form  der  hier  besprochenen  Störung  lässt  sich 
am  besten  durch  die  Betrachtung  des  Alkoholrausches  erläutern. 
Wir  sehen  hier  die  Steigerung  der  Willensantriebe  von  der  er- 
wachenden Lebhaftigkeit  in  Reden  und  Ausdrucksbewegungen  all- 
mählich zum  Lärmen,  Schreien  und  schliesslich  zu  allen  jenen 
zwecklosen  Handlungen  anwachsen,  die  den  Berauschten  so  häufig 
mit  der  öffentlichen  Ordnung  und  dem  Strafgesetze  in  Wider- 
streit bringen.  Ganz  ähnliche  Störungen  scheint  das  Cocain  zu 
erzeugen;  wenigstens  entsteht  bei  dauerndem  Missbrauche  des 
Mittels  zwecklose  Unruhe,  Geschwätzigkeit,  Schreibseligkeit,  die 
kaum  anders  gedeutet  werden  können.  Gerade  diese  Erregungs- 
zustände der  Coca'inisten  bilden  den  Übergang  zu  jener  eigen- 
artigen Steigerung  der  Willensantriebe,  wie  sie  dem  Bilde  des 
manischen  Irreseins  eigentümlich  ist,  sich  aber  auch  bei  den  In- 
fektionspsychosen und  bei  der  Paralyse  vielfach  entwickelt.  Wir 


Steigerung  der  Willensantriebe. 


269 


haben  es  hier  mit  einem  krankhaften  Beschäftigungs- 
drange zu  tun,  der  sich  bei  den  leichteren,  hypomanischen  Zu- 
ständen zunächst  in  unstetiger  Yielgeschäftigkeit,  grosser  Ge- 
sprächigkeit, lebhaften  Gebärden  kundgibt,  im  Sammeln  und  Zu- 
sammenkaufen unnützer  Dinge,  in  der  Einmischung  in  fremde  An- 
gelegenheiten, der  Verfolgung  aller  möglichen  Pläne,  in  unsinni- 
gen Ausschweifungen,  in  zwecklosem  Herumtreiben  und  Reisen. 

Bei  stärkerer  Erregung  werden  die  Antriebe  zum  Handeln 
immer  zahlreicher  und  mannigfaltiger.  Da  zugleich  die  Zweck- 
vorstellungen flüchtiger  werden,  lockert  sich  der  Zusammenhang 
zwischen  den  einzelnen  Handlungen.  Der  Kranke  ist  nicht  mehr 
imstande,  einen  bestimmten  Plan  durchzuführen,  sondern  fängt 
alles  nur  an,  indem  seine  ursprüngliche  Absicht  sofort  durch 
neu  aufsteigende  Antriebe  in  den  Hintergrund  gedrängt  wird. 
Schliesslich  ist  ein  Zweck  der  einzelnen  Handlung  kaum  mehr 
erkennbar;  wir  bemerken  nur  noch  eine  bunte  Reihe  wechseln- 
der Kraftäusserungen.  Es  kommt  zu  beständigem  Schreien  und 
Singen,  Laufen,  Tanzen,  zum  Entkleiden,  Zerreissen  der  Kleidungs- 
stücke mit  mannigfacher  Verwertung  der  Fetzen,  Schmieren  und 
Malen  mit  Kot,  Waschen  mit  Urin,  Zerstören  aller  erreichbaren 
Gegenstände,  Trommeln  und  Klopfen  mit  Händen  und  Füssen. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild,  als  der  manische  Beschäftigungs- 
drang, bietet  die  katatonische  Erregung  dar.  Dort  ist  auch 
in  den  unsinnigsten  Handlungen  eine  psychische  Verursachung 
wenigstens  ungefähr  erkennbar;  alle  Antriebe  führen  doch  immer 
zu  Handlungen,  so  zwecklos  und  unsinnig  dieselben  auch 
erscheinen  mögen.  Hier  dagegen  haben  wir  es  wesentlich  mit 
Bewegungen  zu  tun,  die  meist  durchaus  keinen  bestimmten 
Erfolg  haben.  Auf  diese  Störung  passt  daher  am  besten  die 
Bezeichnung  „Bewegungsdrang“,  die  sonst  gerade  für  den 
manischen  Beschäftigungsdrang  gebraucht  zu  werden  pflegt. 
Obgleich  die  eigentliche  Erregung  beim  Katatoniker  oft  weit 
geringer  ist,  sind  seine  Bewegungen  völlig  planlos  und  dienen  nicht 
der  Verwirklichung  dieser  oder  jener  Absicht.  Vielmehr  bestehen 
sie  einfach  in  Gesichterschneiden,  Verdrehungen  und  Verren- 
kungen der  Glieder,  Auf-  und  Niederspringen,  Purzelbäumen, 
Wälzen,  Händeklatschen,  Herumrennen,  Klettern  und  Tänzeln,  in 
dem  Hervorbringen  sinnloser  Laute  und  Geräusche.  Von  eigent- 


270 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


lichem  Wollen  kann  Mer  kaum  noch  die  Rede  sein,  insofern  wir 
es  nicht  mehr  mit  der  Umsetzung  von  Zweckvorstellungen  in 
Handlungen  zu  tun  haben.  Auch  die  Kranken  selbst  versichern 
uns  nicht  selten  auf  das  bestimmteste,  dass  sie  nicht  wissen,  wie 
sie  dazu  kommen,  solche  Bewegungen  auszuführen.  Vielleicht 
dürfen  wir  hier  an  die  Erfahrungen  erinnern,  die  man  nach  starken 
körperlichen  Anstrengungen  bisweilen  macht.  Dabei  kann  sich 
eine  Muskelunruhe  entwickeln,  die  sich  in  allerlei  zwecklosen 
Bewegungen  entladet;  wir  können  nicht  still  sitzen,  springen  alle 
Augenblicke  auf,  spielen  mit  den  Fingern,  wechseln  die  Stellung. 
Auch  hier  handelt  es  sich  um  Antriebe,  die  nicht  der  Ausdruck 
von  Vorstellungen  sind. 

Erschwerte  Auslösung  der  Willensantriebe.  Die  Kraft  und 
Schnelligkeit,  mit  der  sich  ein  Willensantrieb  in  Handeln  umsetzt, 
ist  ausser  von  seiner  eigenen  Stärke  auch  von  der  Grösse  der 
Widerstände  abhängig,  die  er  zu  überwinden  hat.  So  wissen  wir, 
dass  Schreck  und  Furcht  der  Ausführung  unserer  Absichten 
innere  Hindernisse  entgegensetzen  können,  die  wir  nur  mit 
der  grössten  Willensanstrengung  zu  überwinden  imstande  sind. 
Eine  derartige  Steigerung  der  Widerstände,  eine  psychomo- 
torische Hemmung,  ist  vielleicht  die  wichtigste  Grund- 
störung in  gewissen  Depressionszuständen  des  cirkulären  Irre- 
seins. Die  Kranken  werden  unfähig  zu  den  einfachsten  Ent- 
schlüssen, müssen  sich  zu  jeder  Handlung  mühsam  auf  raffen, 
vermögen  sich  nicht  auszusprechen,  sondern  geben  nur  kurze, 
einsilbige  Antworten.  Natürlich  entsteht  dadurch  eine  sehr  aus- 
geprägte Verlangsamung  und  Abschwächung  des  Handelns.  Nur 
ganz  fest  eingelernte  Tätigkeiten  gehen  bisweilen  noch  ohne 
Hemmung  von  statten;  ebenso  kann  auch  einmal  eine  heftige 
Gemütserschütterung  die  Widerstände  plötzlich  durchbrechen. 
Ferner  lässt  sich  in  der  Regel  nachweisen,  dass  bei  fortgesetzten 
Bemühungen  die  Hemmung  allmählich  geringer  wird.  In  schweren 
Fällen  kann  die  Auslösung  selbständiger  Willenshandlungen  fast 
gänzlich  unmöglich  sein.  Trotz  aller  ersichtlichen  Anstrengung 
bringen  die  Kranken  kein  Wort  mehr  hervor,  sind  unfähig,  zu 
essen,  aufzustehen,  sich  anzukleiden.  Regelmässig  empfinden  sie 
dabei  deutlich  den  ungeheuren  Druck,  der  auf  ihnen  liegt  und 
den  sie  nicht  zu  überwinden  imstande  sind. 


Erschwerte  Auslösung  der  Willensantriebe. 


271 


Zumeist  pflegt  man  diese  Störung  unter  dem  Namen  des 
„Stupor  s“  mit  einigen  anderen,  nur  ausser  lieh  ähnlichen  Zu- 
ständen zusammenzufassen,  von  denen  wir  als  wichtigsten  den 
katatonischen  Stupor  herausheben  wollen.  Bei  ihm  ist 
die  Auslösung  der  Bewegungen  an  sich  keineswegs  erschwert,  wie 
wir  aus  gelegentlichen,  sehr  rasch  und  kräftig  erfolgenden  Hand- 
lungen leicht  erkennen.  Allein  jeder  Antrieb  löst  hier  sofort 
einen  Gegenantrieb  aus,  der  mindestens  ebenso  stark,  öfters  sogar 
weit  kräftiger  ist.  Auf  diese  Weise  wird  jede  Bewegung  im  Ent- 
stehen unterdrückt,  namentlich  wenn  ihr  eine  äussere  Anregung 
zu  Grunde  liegt.  Nicht  selten  sehen  wir  daher  die  beabsichtigte 
oder  verlangte  Bewegung  wohl  angefangen,  aber  sofort  wieder 
unterbrochen  und  unter  Umständen  durch  die  entgegengesetzte 
abgelöst  werden.  Hier  wird  demnach  nicht  der  Antrieb  durch 
innere  Widerstände  gehemmt,  sondern  er  wird  durch  einen  Gegen- 
befehl einfach  ausgelöscht.  Während  die  Kranken  mit  psychischer 
Hemmung  immer  noch  bemüht  sind,  den  Widerstand  zu  überwinden, 
bis  sie  endlich  erlahmen  oder  durchdringen,  kehrt  sich  beim  ka- 
tatonischen Stupor  der  Antrieb  selbst  von  vornherein  oder  doch 
sehr  bald  in  Widerstreben  um.  Man  kann  daher  im  Vergleiche 
zu  der  Hemmung  dort  von  einer  „Sperrung“  hier  sprechen. 
Sobald  die  Sperrung  fortfällt,  der  Gegenbefehl  ausbleibt,  geht  die 
Handlung  ohne  die  geringste  Schwierigkeit  von  statten.  Wie  wir 
bei  jeder  Muskelbewegung  immer  auch  den  Antagonisten  in  Tätig- 
keit setzen,  so  entsteht  anscheinend  hier  neben  der  Vorstellung 
der  angeregten  Bewegung  sofort  auch  diejenige  der  entgegen- 
gesetzten und  verhindert  deren  Auslösung. 

Durch  diese  Willenssperrung  werden  zahlreiche  Reaktionen 
im  Entstehen  erstickt,  die  sich  beim  Gesunden  gewohnheitsmässig, 
ohne  ausdrückliches  Eingreifen  der  Willkür,  vollziehen.  Die 
Kranken  blicken  nicht  auf,  wenn  man  sie  anredet,  erwidern  den 
Gruss  nicht,  ergreifen  nicht  die  dargebotene  Hand.  Bedroht  man 
sie  mit  dem  Messer  oder  sticht  sie  in  das  Augenlid,  so  weichen 
sie  allenfalls  zurück,  machen  aber  keine  planmässigen  Abwehr- 
bewegungen; sie  bleiben  in  äusserst  unbequemen  Stellungen 
liegen,  ohne  sich  behaglich  zurechtzulegen,  setzen  sich  stunden- 
lang glühenden  Sonnenstrahlen  aus,  obgleich  wenige  Schritte  sie 
in  den  Schatten  bringen  würden.  Vielleicht  ist  auch  das  Auf- 


272 


II.  Die  Erscheinungen  dos  Irreseins. 


hören  des  Lidschlages,  des  regelmässigen  Speichelschluckens,  das 
Zurückhalten  der  Entleerungen  auf  die  Willenssperrung,  auf 
die  Unterdrückung  der  natürlichen,  unwillkürlichen  Antriebe  zu- 
rückzuführen. Das  gesamte  Verhalten  der  Kranken  gewinnt  durch 
diese  Störungen  ein  höchst  absonderliches  Gepräge.  Indem  die 
erwarteten  und  dem  Gesunden  selbstverständlichen  Willens- 
äusserungen ausbleiben,  erscheint  das  Benehmen  unnatürlich, 
unfrei  und  gezwungen. 

Da  es  sich  bei  der  Willenssperrung  nicht  um  ein  A ersagen 
der  Antriebe,  sondern  um  das  Gleichgewicht  entgegengesetzter 
Antriebe  handelt,  so  bemerken  wir  hier  bei  der  Ausführung  von 
Handlungen  nicht  die  müde  Kraftlosigkeit,  die  der  Willenshem- 
mung eigentümlich  ist,  sondern  eine  starre  Spannung,  die  uns  das 
Spiel  widerstrebender  Einflüsse  verrät.  Die  Bewegungen  ge- 
schehen mit  einem  Übermass  von  Anspannung,  die  sich  auf  alle 
beteiligten  Muskelgruppen  in  nahezu  gleichmässiger  Weise  er- 
streckt; das  Ergebnis  entwickelt  sich  aus  einem  verhältnis- 
mässig geringen  Übergewichte  einer  Gruppe  über  die  entgegen- 
gesetzte. Daher  erscheinen  Haltung  und  Bewegung  steif  und 
gespannt.  Nicht  selten  beobachten  wir  ein  Schwanken  in  der 
Kraft  der  Antriebe  und  Gegenantriebe;  bald  gewinnen  die  einen, 
bald  die  andern  die  Oberhand.  Es  kommt  zu  plötzlichem  Still- 
stände und  ebenso  plötzlicher  Fortsetzung  der  eingeleiteten  Be- 
wegung; sie  läuft  stossweise  a.b,  wird  eckig  und  ungeschickt. 
Vielleicht  ist  es  das  Gefühl  aller  dieser  Behinderungen,  das  die 
Kranken  zu  einer  gleichzeitigen  Anspannung  weiter  Muskelgebiete 
veranlasst.  Auch  bei  der  Ausführung  geringfügiger  Bewegungen 
werden  gern  die  ganzen  Glieder  mit  in  Anspruch  genommen.  Auf 
diese  Weise  werden  die  Bewegungen  plump  und  masslos. 

Erleichterte  Auslösung  von  Willensantrieben.  Die  Eindrücke 
der  Aussenwelt  wie  unsere  inneren  Erlebnisse  erzeugen  in  uns 
dauernd  einen  mehr  oder  weniger  hohen  Grad  von  Willens- 
spannung, der  sich  in  mannigfachen  Äusserungen  zu  entladen 
strebt.  Ein  Teil  dieser  Wirkungen  ist  dem  Einflüsse  der  W illkür 
entzogen;  den  grössten  Teil  derselben  vermögen  wir  jedoch  durch 
Willensanstrengungen  zu  hemmen.  Von  der  Ausbildung  dieser 
Hemmungen,  über  die  wir  verfügen,  hängt  demnach  die  grössere 
oder  geringere  Leichtigkeit  ab,  mit  der  auftauchende  Antriebe 


Erleichterte  Auslösung  von  Willensantrieben. 


273 


sich  in  Handlungen  umsetzen.  Unsere  geistige  Entwicklung  be- 
deutet im  allgemeinen  eine  Zunahme  der  Hemmungen;  das  Kind 
handelt  am  raschesten  und  unmittelbarsten,  während  die  wach- 
sende Selbstbeherrschung  den  Mann  befähigt,  zahlreiche  An- 
triebe zu  unterdrücken,  bevor  sie  zur  Tat  werden.  Die  weibliche 
Eigenart  mit  ihrer  erhöhten  gemütlichen  Erregbarkeit  pflegt  in 
dieser  Hinsicht  derjenigen  des  Kindes  näher  verwandt  zu  bleiben. 

Die  eindämmende  Macht  der  Hemmungen  wird  natürlich  um 
so  früher  versagen,  je  stärker  die  Antriebe,  je  heftiger  die  Ge- 
mütsbewegungen sind,  aus  denen  sie  hervorgehen.  Auf  der  andern 
Seite  kennen  wir  Einflüsse,  welche  geradezu  die  Auslösung  von 
Willensantrieben  erleichtern  und  damit  die  Widerstandsfähigkeit 
gegen  die  Umsetzung  von  Antrieben  in  Handlungen  vermindern. 
In  geringerem  Grade  scheint  das  schon  für  jede  psychomotorische 
Tätigkeit  zu  gelten.  Durch  fortgesetzte  Ausführung  von  Bewe- 
gungen geraten  wir  in  eine  gewisse  Erregung,  die  eine  Ver- 
ringerung der  Hemmungen  bedeutet.  Wir  haben  bereits  früher 
darauf  hingewiesen,  dass  auch  die  krankhafte  Willenshemmung 
durch  die  Betätigung  selbst  allmählich  abnimmt.  Noch  deutlicher 
vielleicht  ist  das  Anwachsen  der  Erregung  bei  manischen  oder 
katatonischen  Kranken,  sobald  sie  ihrer  Unruhe  freien  Lauf  lassen 
können.  Die  ungehinderte  Entladung  ihrer  Antriebe  macht  sie 
immer  unfähiger,  sich  zu  beherrschen;  darauf  beruht  hier  der 
überraschende  Erfolg  der  Bettbehandlung  gegenüber  dem  „Aus- 
toben“. Nach  den  Ergebnissen  psychologischer  Versuche  be- 
günstigt die  Entziehung  des  Schlafes  ebenfalls  den  Wegfall 
der  Willenshemmungen.  Dem  würde  die  Erfahrung  entsprechen, 
dass  andauernde  Schlaflosigkeit  die  Erregung  bei  unseren  Kranken 
zu  steigern  scheint,  doch  ist  hier  auch  die  umgekehrte  Deutung 
möglich. 

Eine  sehr  verhängnisvolle  Abnahme  der  Willenshemmungen 
wird  in  grösstem  Umfange  durch  die  Wirkung  des  Alkohols  her- 
beigeführt. Wenn  auf  der  einen  Seite  das  Verhalten  Angetrun- 
kener dafür  spricht,  dass  wir  es  hier  mit  einer  wirklichen  Er- 
regung zu  tun  haben,  so  deutet  doch  andererseits  die  Leichtig- 
keit, mit  der  auch  ohne  Erregung  die  unbesonnensten  und  bedenk- 
lichsten Handlungen  zu  stände  kommen,  auf  den  Verlust  jener 
Widerstände  hin,  die  den  Nüchternen  befähigen,  seine  Antriebe 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl.  18 


274 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


im  Zaume  zu  halten.  Alle  die  Beweggründe,  die  aus  der  sitt- 
lichen Erziehung  eines  ganzen  Lebens  entspringen,  verlieren  plötzr- 
lieh  ihre  Macht;  alle  Bedenken  und  Überlegungen  schweigen,  so- 
bald der  Alkohol  die  Selbstbeherrschung  vernichtet  hat.  In  ab- 
geschwächtem Grade  lässt  sich  diese  Wirkung  des  Alkohols  auf 
den  Willen  auch  dauernd  beim  Trinker  nachweisen,  in  der  ver- 
ringerten Widerstandsfähigkeit  gegen  Verführungen  aller  Art. 
Ähnliche  Veränderungen  erzeugt  bei  einmaligem  wie  bei  gewohn- 
heitsmässigem  Gebrauche  der  Äther  und  wohl  auch  das  Cocain. 

Als  dauernde  Eigenschaft  tritt  uns  ferner  die  erleichterte 
Auslösung  von  Willensantrieben  bei  gewissen  Formen  krank- 
hafter Veranlagung,  namentlich  bei  der  Hysterie,  entgegen.  Die 
Lebhaftigkeit  der  Gefühlsbetonung  lässt  hier  der  verstandes- 
mässigen  Vorbereitung  der  Handlungen  keinen  grossen  Spiel- 
raum; daher  kommen  rasch  und  unvermittelt  nicht  selten  Hand- 
lungen zu  stände,  die  den  Stempel  des  Unbegreiflichen  und  Zweck- 
widrigen tragen,  Diebstähle,  Schwindeleien,  Selbstverletzungen. 
Auch  hier  befinden  sich  die  Kranken  oft  in  einem  eigentümlichen 
Zwiespalte  zwischen  den  gesunden  Regungen  und  den  triebartigen 
Einflüssen,  die  ihren  Willen  überwältigen. 

Erhöhte  Beeinflussbarkeit  des  Willens.  Zwei  Quellen  sind  es, 
aus  denen  die  Beweggründe  unseres  Handelns  entspringen,  aus 
äusseren  Anstössen  und  aus  feststehenden  allgemeinen  Willens- 
richtungen, deren  Inhalt  ursprünglich  allerdings  auch  durch  die 
Lebenserfahrung  erworben  wurde.  Beim  gesunden  Menschen  führt 
jeder  Anlass  nur  soweit  wirklich  zum  Handeln,  als  ihm  nicht 
wichtige,  der  eigenen  Persönlichkeit  angehörende  Gegenströ- 
mungen im  Wege  stehen.  Diese  verhältnismässige  Unabhängig- 
keit des  Wollens  von  äusseren  Anstössen  bildet  die  psychologische 
Grundlage  der  „Willensfreiheit“.  Nur  Kinder  und  in  ge- 
ringerem Grade  auch  wohl  Frauen,  ferner  die  „leichtsinnigen 
Naturen  lassen  sich  mehr  von  den  Einflüssen  des  Augenblickes, 
als  von  festen  „Grundsätzen“  leiten,  weil  sie  solche  noch  nicht 
erworben  haben  oder  überhaupt  nicht  zu  erwerben  imstande  sind. 
Auf  krankhaftem  Gebiete  wird  der  bestimmende  Einfluss  dauern- 
der Willensrichtungen  auf  das  Handeln  beeinträchtigt  oder  ver- 
nichtet durch  einfache  Abschwächung  des  Willens,  durch  Stei- 
gerung der  psychomotorischen  Erregbarkeit  und  durch  das  Auf- 


Erhöhte  Beeinflussbarkeit  des  Willens. 


275 


treten  krankhafter  Antriebe.  Der  erste  dieser  Fälle  ist  verwirk- 
licht in  allen  jenen  Formen  des  angeborenen  oder  erworbenen 
Schwachsinns,  die  mit  einer  Herabsetzung  der  Tatkraft  einher- 
gehen. Wo  keine  kräftigen  Triebfedern  des  Handelns  vorhanden 
sind,  wird  dasselbe  nicht  durch  die  allgemeinen  Eigenschaften  der 
Persönlichkeit  bestimmt,  sondern  durch  zufällige  Einflüsse.  Es 
entwickelt  sich  also  eine  hilflose  Abhängigkeit  des  Wollens  von 
allen  möglichen  Einwirkungen,  eine  krankhafte  Bestimmbar- 
keit. Da  kein  selbständiger  Plan  den  festen  Grund  des  Handelns 
bildet,  geht  seine  innere  Einheit  und  Folgerichtigkeit  verloren. 
Am  reinsten  pflegt  uns  diese  Störung  in  der  Paralyse  entgegen- 
zutreten. Ein  Wort  genügt  hier  nicht  selten,  um  den  leicht 
lenksamen  Kranken  ohne  weiteres  zu  den  widersprechendsten 
Entschlüssen  zu  veranlassen. 

Einen  vorübergehenden  Zustand  von  Willenlosigkeit 
mit  erhöhter  Beeinflussbarkeit  vermögen  wir  durch  die  Hyp- 
nose*) zu  erzeugen.  Es  gelingt  bekanntlich  bei  einer  sehr 
grossen  Zahl  von  Menschen  (80 — 90 o/o),  durch  verschiedenartige 
Hilfsmittel,  namentlich  durch  lebhafte  Erweckung  der  Vorstellung 
■des  Einschlafens,  eine  Veränderung  des  Bewusstseins  in  dem  Sinne 
kerbeizuführen,  dass  die  Seelenvorgänge  in  eine  mehr  oder  weniger 
vollständige  Abhängigkeit  von  dem  Willen  des  Versuchsleiters 
geraten.  Bei  den  allerdings  nicht  sehr  häufig  erreichbaren  höch- 
sten Graden  dieses  Zustandes  kann  durch  Suggestion,  d.  h.  durch 
kräftiges  Anregen  von  Vorstellungen,  Gefühlen  und  Antrieben 
mit  Hilfe  des  Wortes  oder  geeigneter  Handlungen,  der  Inhalt 
der  Wahrnehmungen  ganz  nach  Belieben  frei  erzeugt  oder  ab- 
geändert werden.  Ferner  können  frei  erfundene  Erinnerungen 
mit  allen  Einzelheiten  dem  Beeinflussten  eingepflanzt  werden, 
um  bei  ihm  weitere  selbständige  Verarbeitung  zu  finden,  und 
endlich  stehen  auch  seine  Handlungen,  ja  sogar  viele  seiner  un- 
willkürlichen Verrichtungen,  gänzlich  unter  dem  Einflüsse  der 
gebieterisch  die  eigenen  Willensregungen  knebelnden  Eingebungen. 
Der  Hypnotisierte  vermag  kein  Glied  zu  rühren  ohne  Erlaubnis 
des  Hypnotiseurs;  er  verharrt  in  den  Stellungen,  die  dieser  ihm 


*)  Forel,  Der  Hypnotismus  und  die  suggestive  Psychotherapie,  4.  Auf- 
lage. 1902. 


18* 


276 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


gibt  und  begeht  auf  sein  Geheiss  unbedenklich  unsinnige,  unter 
Umständen  vielleicht  sogar  verbrecherische  Handlungen.  In  ein- 
zelnen Fällen  dauert  dieser  nur  mangelhaft  durch  den  Ausdruck 
Befehlsautomatie  gekennzeichnete  Zustand  auch  nach  dem 
Erwachen  aus  der  Hypnose  noch  kürzere  oder  längere  Zeit  hin- 
durch fort  (Möglichkeit  posthypnotischer  Suggestionen),  bis  der 
eigene  Wille  wieder  die  Herrschaft  über  den  Ablauf  der  Seelen- 
vorgänge gewinnt;  zuweilen  aber  kann  trotz  völliger  Rückkehr  des 
Wachzustandes  im  voraus  für  einen  fernliegenden  Zeitpunkt  (an- 
scheinend selbst  bis  zu  einem  Jahre)  das  Eintreten  suggerierter 
Wahrnehmungen  und  Handlungen  erzwungen  werden  (Suggestion  ä 
echeance).  In  allen  diesen  Fällen  erscheint  dem  Beeinflussten 
selbst  die  pünktlich  ausgeführte  Handlung  als  das  Ergebnis 
eigenen  Entschlusses;  meist  macht  sich  zu  der  bestimmten  Zeit 
der  immer  klarer  werdende  Drang  nach  Erfüllung  der  gestellten 
Aufgabe  geltend,  ohne  dass  jedoch  die  Entstehung  desselben  durch 
äussere  Anregung  irgendwie  zum  Bewusstsein  käme.  Hie  und  da 
kann  die  hypnotische  Willensstörung  sogar  ohne  eigentliche  Hyp- 
nose, wenigstens  ohne  irgend  tiefere  Bewusstseinstrübung,  in  an- 
scheinend wachem  Zustande  erzielt  werden. 

Wenn  uns  das  Wesen  dieser  vielumstrittenen  Erscheinungen 
zur  Zeit  noch  in  vielen  Beziehungen  rätselhaft  ist,  so  lässt  sich 
ein  psychologisches  Verständnis  für  dieselben  immerhin  durch  die 
Annahme  gewinnen,  dass  es  sich  dabei  um  die  vorübergehende  Be- 
seitigung jenes  leitenden  Einflusses  handelt,  welchen  der  V ille 
durch  Unterdrückung  dieser  und  Begünstigung  jener  Bewusst- 
seinsvorgänge fortdauernd  auf  unser  Seelenleben  ausübt.  Die  Ähn- 
lichkeit der  hypnotischen  mit  den  Traumzuständen  ist  gerade  unter 
diesem  Gesichtspunkte  eine  so  handgreifliche,  dass  wir  kaum  erst 
des  so  häufig  beobachteten  Überganges  zwischen  Hypnose  und 
Schlaf  oder  umgekehrt  bedürften,  um  eine  tiefere  Verwandtschaft 
beider  anzunehmen.  Auch  im  Traume  nehmen  wir  urteilslos  die 
widerspruchsvollsten  Wahrnehmungen  und  "V  orstellungsverbin- 
dungen  als  bare  Wirklichkeit  hin;  wir  erfinden  Erinnerungen  und 
vergessen  die  alltäglichen  Erfahrungen;  vir  begehen  ohne  Ge- 
wissensbisse die  zwecklosesten  und  schändlichsten  Handlungen,  um 
uns  andererseits  auf  das  peinlichste  in  der  Ausführung  unserer 
einfachsten  Absichten  immer  und  immer  wieder  gehemmt  zu 


Erhöhte  Beeinflussbarkeit  des  Willens. 


277 


sehen.  Nur  ist  es  hier  das  unwillkürliche,  höchstens  zeitweise 
durch  äussere  Reize  angeregte  Spiel  unserer  eigenen  Vorstellungen 
und  Gefühle,  welches  durch  die  Ausschaltung  der  bestimmenden 
Einflüsse  freie  Bahn  gewinnt,  während  bei  der  Hypnose  der  fremde 
Wille  gewissermassen  in  unser  entfesseltes  Seelenleben  hinein- 
greift  und  nunmehr  als  unumschränkter  Machthaber  in  dem  herren- 
losen Gebiete  schalten  kann.  Ein  solcher  Versuch,  den  Träumen- 
den von  aussen  her  zu  beeinflussen  und  dadurch  ohne  weiteres 
die  Hypnose  herzustellen,  gelingt  freilich  nur  unter  besonders 
günstigen  Umständen.  Zumeist  pflegt  der  Schläfer  dabei  zu  er- 
wachen, wenn  er  überhaupt  der  Einwirkung  zugänglich  ist.  Die 
Hypnose  dagegen  dauert  trotz  der  Wahrnehmungen  von  aussen 
fort:  sie  ist  nichts,  als  ein  leichter  Schlaf  mit  der  Autosuggestion, 
nicht  ohne  fremde  Hilfe  erwachen  zu  können. 

Einer  ähnlichen  vorübergehenden  Ausschaltung  des  Willens 
begegnen  wir  in  gewissen  Krankheitszuständen.  Namentlich  häufig 
lassen  sich  die  Glieder  der  Kranken  ohne  den  geringsten  Wider- 
stand in  jede  beliebige  Lage  bringen  und  behalten  dieselbe  so  lange 
bei,  bis  man  ihnen  einen  anderen  Anstoss  gibt  oder  bis  sie  infolge 
hochgradiger  Muskelermüdung  zitternd  dem  Gesetze  der  Schwere 
folgen.  Wir  bezeichnen  diese  Störung  als  wächserne  Biegsamkeit 
(Flexibilitas  cerea)  oder  Katalepsie.  Seltener  gelingt  es,  die  Kran- 
ken durch  die  Einleitung  einfacher,  regelmässiger  Bewegungen 
zur  fortgesetzten  Wiederholung  derselben  zu  veranlassen  oder  die 
Nachahmung  lebhaft  vor  ihren  Augen  ausgeführter  Gebärden 
(rasches  Erheben  der  Arme,  Händeklatschen)  zu  erreichen  (Nach- 
ahmungsautomatie,  Echopraxie).  Hie  und  da  sieht  man  auch  wohl 
einen  Kranken  peinlich  alles  nachahmen,  was  sein  Nachbar  tut, 
dieselben  Bewegungen  machen,  ihm  in  gleichem  Schritte  folgen. 
Häufiger  beobachtet  man  willenloses  Nachreden  vorgesagter,  Ein- 
flechten zufällig  aufgefangener  Worte  (Echolalie).  Überall  lässt 
sich  hier  übrigens  zeigen,  dass  die  anscheinend  maschinenmässig 
handelnden  Kranken  die  Eindrücke  dennoch  verarbeiten.  Der 
Kranke,  der  zugerufene  Zahlen  echolalisch  wiederholt  hat,  löst  in 
derselben  zwangsmässigen  Weise  eine  ebenso  vorgesagte  Rechen- 
aufgabe, oder  er  verzieht  das  Gesicht  zu  kläglichem  Weinen, 
während  er  auf  kräftiges  Geheiss  immer  wieder  die  Zunge  heraus- 
steckt, damit  sie  ihm  durchstochen  werden  solle.  Andeutungen 


278 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


dieser  Erscheinungen,  besonders  der  wächsernen  Biegsamkeit, 
werden  bei  den  verschiedenartigsten  Krankheitszuständen  ge- 
legentlich beobachtet.  Ich  sah  sie  bei  Hysterischen,  Epileptischen, 
Manischen,  Paralytikern  und  Alkoholisten,  bei  traumatischem 
Hirnabscess  und  bei  einem  mächtigen  Hydrocephalus  mit  Hemi- 
plegie, hier  aus  begreiflichen  Gründen  nur  auf  der  nicht  gelähmten 
Seite.  Bei  weitem  am  ausgesprochensten  aber  findet  sich  die  ganze 
Gruppe  von  Störungen  bei  der  Dementia  praecox,  insbesondere  bei 
jenen  Formen,  die  wir  als  Katatonie  kennen  lernen  werden. 

Auch  die  krankhafte  Erleichterung  der  Willensantriebe  pflegt 
mit  erhöhter  Beeinflussbarkeit  einherzugehen.  Die  Leichtigkeit, 
mit  der  sich  Gedanken  in  Handlungen  umsetzen,  lässt  jeden  neuen 
Eindruck,  jeden  Einfall  sofort  zu  einer  Macht  werden,  die  ihren 
Einfluss  auf  den  Willen  siegreich  geltend  macht,  um  freilich  als- 
bald durch  andere  Antriebe  wieder  verdrängt  zu  werden.  Auf  diese 
Weise  entsteht  das  Krankheitszeichen  einer  erhöhten  Ab  lenk- 
bar k eit  des  Willens.  Gemeinsam  ist  dieser  und  den  bisher  be- 
sprochenen Störungen  die  Ohnmacht  der  dauernden  M illemmich- 
tungen.  Während  aber  bei  der  Bestimmbarkeit  und  der  Willen- 
losigkeit wesentlich  nur  äussere  Einflüsse  für  das  Handeln  mass- 
gebend sind,  hängt  hier  das  Wollen  ebenso  sehr  von  den  stets 
wechselnden  inneren  Zuständen  und  Einfällen  ab.  Mir  begegnen 
dieser  Störung,  deren  Gegenstück  wir  in  der  Ablenkbarkeit  des 
Vorstellungsverlaufes  kennen  gelernt  haben,  namentlich  in  ge- 
wissen manischen  und  deliriösen  Erregungszuständen.  Als 
dauernde  persönliche  Eigentümlichkeit  begleitet  die  Ablenkbarkeit 
des  Wollens  ferner  die  hysterische  Veranlagung  und  die  ihr  nahe 
stehenden  Formen  des  Schwachsinns.  Auch  hier  wird  jeder  An- 
trieb, da  er  sich  rasch  und  leicht  in  Handlung  umsetzt,  sehr  bald 
durch  neue  Entschlüsse  wieder  verdrängt.  Das  Tun  und  Treiben 
der  Kranken  erhält  dadurch  den  Stempel  der  U n s t e t i g k e i t und 
Planlosigkeit.  Plötzliche  Entschlüsse  und  sprunghafte  Anläufe 
kommen  und  gehen;  sie  bleiben  auf  halbem  Wege  stecken  und 
werden  leicht  durch  neue  Anregungen  verdrängt.  Das  Beispiel  in 
gutem  und  bösem  Sinne,  die  gesamte  Umgebung  gewinnt  grossen, 
aber  ganz  vergänglichen  Einfluss.  Aon  liier  führen  stetige  .Eber 
gänge  zu  jenen  leicht  erregbaren  Persönlichkeiten  hinüber,  die  mit 
Begeisterung,  aber  ohne  Nachhaltigkeit  alles  Neue  ergreifen  und 


Verschrobenheit  und  Stereotypie. 


279 


nichts  zu  Ende  führen,  weil  ihr  Eifer  lange  vor  Erreichung  des 
Zieles  bereits  verraucht  ist. 

Verschrobenheit  und  Stereotypie.  Die  Ausführung  einer  ein- 
fachen Handlung  ist  im  allgemeinen  durch  die  Zweckvorstellung 
ziemlich  eindeutig  bestimmt.  Da  unsere  Bewegungen  von  dem 
Grundsätze  der  Sparsamkeit  beherrscht  zu  werden  pflegen,  suchen 
wir  das  Ziel  mit  dem  Mindestaufwand  von  Kraft,  Weg  und  Zeit 
zu  erreichen.  Wird  dieser  Grundsatz  in  augenfälliger  Weise  durch- 
brochen oder  trägt  die  Ausführung  der  Handlung  offenkundig 
den  Stempel  der  Zweckwidrigkeit,  so  entsteht  eine  Störung  des 
Handelns,  die  wir  vorläufig  mit  dem  Namen  der  Verschroben- 
heit belegen  wollen,  weil  bei  ihr  die  Deckung  von  Absicht  und 
Erfolg  durch  die  unangemessene  Einstellung  der  Antriebe  ver- 
hindert wird.  Offenbar  haben  wir  es  hierbei  mit  der  Einmischung 
von  Nebenantrieben  in  den  natürlichen  Ablauf  des  Handelns  zu  tun. 
Auch  bei  der  Willenssperrung  waren  wir  zu  einer  ähnlichen  An- 
nahme gekommen.  Wenn  man  will,  kann  man  sie  als  denjenigen 
besonderen  Fall  betrachten,  in  dem  die  Nebenantriebe  dem  ur- 
sprünglich angeregten  Antriebe  gerade  entgegengesetzt  sind, 
während  wir  uns  hier  mit  solchen  Nebenantrieben  zu  beschäf- 
tigen haben,  die  jenen  ersteren  in  den  verschiedensten  Richtungen 
durchkreuzen.  Die  Willenssperrung  wäre  dann  nur  eine  Unter- 
form der  allgemeineren  Störung,  die  wir  als  Willensdurchkreu- 
zung bezeichnen  könnten.  Beide  Krankheitserscheinungen  ge- 
hören dem  Gebiete  der  Katatonie  an. 

Die  Nebenantriebe  können  die  Handlung  in  der  mannigfaltig- 
faltigsten Weise  beeinflussen.  Als  der  einfachste  Fall  ist  viel- 
leicht die  vielfache  Wiederholung  der  auftauchenden  Willens- 
regungen  zu  betrachten.,  Im  gesunden  Leben  wird  jeder 
Antrieb,  sobald  sein  Ziel  erreicht  ist,  durch  andere  Willens- 
regungen verdrängt,  die  der  Fortsetzung  des  zweckbewussten 
Handelns  dienen.  Wo  aber  die  planmässige  Verfolgung  be- 
stimmter Ziele  gestört  ist  und  dennoch  der  allgemeine  Drang 
zu  motorischen  Äusserungen  besteht,  hat  ein  einmal  aus- 
gelöster Antrieb  grosse  Aussicht,  immer  wieder  erneuert  zu 
werden,  so  lange  die  noch  lebendigen  Spuren  nicht  durch  neue 
Beweggründe  verwischt  werden.  Er  wird  gewissermassen  zum 
Nebenantrieb,  der  die  nicht  durch  feste  Ziele  geleitete  Fort- 


280 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


führung  der  Willensarbeit  unterbricht  und  mit  jeder  Wie- 
derholung unwiderstehlicher  wird.  Andeutungen  dieses  Vor- 
ganges geben  uns  aus  dem  täglichen  Leben  vielleicht  die  gewohn- 
heitsmässigen  Gebärden,  Flickwörter,  Wendungen,  die  sich  immer 
dann  einstellen,  wenn  das  Handeln  stockt,  das  Tothetzen  derselben, 
mehr  oder  weniger  albernen  Witze  und  Handlungen  durch  Be- 
trunkene und  Kinder.  Überall  handelt  es  sich  hier  um  Willens- 
erregung ohne  Ziel.  Auf  krankhaftem  Gebiete  bezeichnen  w L 
diese  Störung  nach  Kahlbaums  Vorgänge  mit  dem  Namen 
der  S t e r e o t y p i e.  Je  nachdem  derselben  die  Willenssperrung 
oder  die  Willensdurchkreuzung  das  Gepräge  gibt,  kommt  es  ent- 
weder zu  lange  dauernder  Anspannung  bestimmter  Muskelgruppen 
oder  zu  vielfacher  Wiederholung  derselben  Bewegungen.  Im 
ersteren  Falle  halten  die  Kranken  trotz  aller  äusseren  Einwir- 
kungen eine  und  dieselbe  Stellung  Wochen,  Monate,  Jahre  lang 
fast  unverändert  fest;  sie  stehen  in  der  gleichen,  oft  sehr  un- 
bequemen Haltung  stets  in  derselben  Ecke,  knieen  auf  einer  be- 
stimmten Stelle  oder  liegen  mit  gespannten  Gliedern  und  er- 
hobenem Kopfe  im  Bette,  so  dass  man  sie  ohne  Schwierigkeit 
an  dem  starr  gekrümmten  Anne  in  die  Höhe  heben  kann.  Andere 
halten  dauernd  einen  Bettzipfel  mit  den  Zähnen  fest,  pressen  mit 
gespreizten  Fingern  ein  Ohrläppchen  zusammen,  umklammern 
krampfhaft  einen  Brotrest  oder  einen  abgerissenen  Knopf.  Der 
Gesichtsausdruck  ist  ebenfalls  starr,  maskenartig,  die  Stirne  ver- 
wundert in  die  Höhe  gezogen,  der  Lidschlag  fast  aufgehoben,  die 
Augen  sind  bald  weit  geöffnet,  bald  fest  zugekniffen,  die  Aug- 
äpfel oft  seitwärts  gedreht,  die  Lippen  rüsselförmig  vorgeschoben 
(„Schnauzkrampf“). 

Weit  mannigfaltiger  gestalten  sich  naturgemäss  die  Be- 
wegungsstereotypen (Zwangsbewegungen).  Dahin  gehören  Pur- 
zelbäume, rhythmisches  Klopfen,  Herumgehen  in  absonderlichen 
Stellungen,  Hüpfen,  Aufspringen,  Niederfallen,  Herumrollen  und 
Kriechen  am  Boden,  regelmässige,  gezierte  und  gespreizte  Arm- 
bewegungen, Wippen,  Wiegen,  Schöpfen,  Strudeln,  Zupfen  an 
den  Kleidern  oder  Haaren,  Knirschen  und  Klappen  mit  den 
Zähnen.  Alle  diese  Bewegungen  können  sich  zahllose  Male  hin- 
tereinander wiederholen,  bisweilen  Wochen  und  Monate  lang. 
Dabei  ist  es  meist  ganz  unmöglich,  die  Kranken  in  ihrem  Be- 


Verschrobenheit  und  Stereotypie. 


281 


ginnen  zu  hindern;  sie  strengen  sich  dabei  rücksichtslos  an  und 
verletzen  sich  sogar  nicht  selten.  Gerade  die  Umbildungen  all- 
täglicher, gewohnheitsmässiger  Bewegungen  und  Handlungen 
durch  Nebenantriebe  zeigen  wie  im  gesunden  so  im  krankhaften 
Leben  eine  grosse  Neigung,  stereotyp  zu  werden.  Namentlich 
pflegt  auch  die  Sprache  sie  zu  zeigen.  Die  Kranken  lispeln, 
grunzen,  sprechen  in  geziertem  Hochdeutsch  oder  übertriebener 
Mundart,  in  Fistelstimme,  in  bestimmtem  Tonfalle,  mit  rhyth- 
mischer Gliederung,  verdrehen  und  vertauschen  einzelne  Laute, 
gebrauchen  massenhafte  Verkleinerungswörter,  eigentümliche 
Beiwörter,  wiederholen  mündlich  und  schriftlich  ungezählte 
Male  dieselben  Wörter  und  Wendungen,  pfeifen  oder  zwit- 
schern einzelne  Sätze,  weinen  in  Melodien.  Wir  bezeich- 
nen diese  Schrullen  als  Manieren,  Sprechmanieren,  Ess- 
manieren, Gehmanieren,  Begrüssungsmanieren  u.  s.  f.  So  un- 
übersehbar ihre  Mannigfaltigkeit  ist,  kehren  sie  doch  bei  den 
verschiedensten  Kranken  oft  mit  verblüffender  Übereinstim- 
mung wieder;  andererseits  ist  auch  ihre  Entstehung  aus  einer 
gemeinsamen  Grundstörung  unverkennbar.  Sie  bilden  bei  der 
grossen  Masse  der  abgelaufenen  Fälle  die  letzten  auffallenden 
Reste  der  ehemaligen  Krankheitserscheinungen  und  gestatten 
oft  ohne  weiteres  den  Rückschluss  auf  die  Zustände  der  Ver- 
gangenheit. 

In  den  Endzuständen  der  Katatonie  begegnet  uns  hie  und 
da  eine  Form  der  Stereotypie,  die  mit  der  bisher  betrachteten 
schwerlich  ganz  wesensgleich  ist.  Es  sind  das  die  eigentümlich 
rhythmischen  Bewegungen,  namentlich  Wiegen  des  Kör- 
pers im  Sitzen  oder  Stehen,  Nicken  oder  Anschlägen  des  Kopfes, 
Händeklatschen,  Ausstossen  von  Lauten,  Pfauchen,  Blasen.  Diese 
Erscheinungen  sind  immer  die  Anzeichen  einer  völligen  Verödung 
der  Willensregungen.  Sie  werden  in  gleicher  Weise  bei  tief  stehen- 
den Idioten  beobachtet.  Wir  dürfen  hier  wohl  an  die  ähnlichen 
rhythmischen  Bewegungen  gewisser  Raubtiere  erinnern.  Man  kann 
danach  etwa  vermuten,  dass  sie  der  Ausdruck  gewisser  niederer 
Einrichtungen  unseres  Nervensystems  sind,  die  durch  die  Ver- 
nichtung der  höheren  Leistungen  selbständigen  Einfluss  auf  die 
Bewegungen  erlangen. 

Bei  der  Stereotypie  schreitet  die  Entwicklung  der  Willens- 


282 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Handlungen  nicht  vorwärts.  Auch  wenn  die  Kranken  in  lebhafter 
Tätigkeit  sind,  drehen  sie  sich  gewissermassen  immerfort  im 
Kreise,  ohne  ein  Ziel  zu  erreichen.  Demgegenüber  entstehen 
bei  einer  weiteren  Form  der  Willensdurchkreuzung  Nebenantriebe, 
die  nur  Verzierungen  oder  Verschnörkelungen  der  beab- 
sichtigten Handlung  bedeuten;  diese  letztere  kommt  schliesslich 
zu  stände,  aber  auf  Umwegen  und  mit  allerlei  Zutaten  und  Abwand- 
lungen. Die  Kranken  gehen  trippelnd  oder  feierlich,  ruckweise, 
hüpfend,  auf  den  Zehen  oder  ganz  hintenübergebeugt,  schleifen  mit 
einem  Fusse;  sie  reichen  die  Hand  in  weit  ausholendem  Bogen,  mit 
plötzlichem  Schwünge  oder  steifem  Ruck,  berühren  die  dargebo- 
tene Hand  nur  mit  dem  kleinen  Finger,  mit  der  Rückenfläche, 
spreizen  dabei  die  Finger  oder  verdrehen  die  Arme.  Beim 
Essen  erfassen  sie  den  Löffel  am  äussersten  Ende,  zerlegen  das 
Gemüse  in  kleine  Häufchen,  reiben  den  Teller  am  Augenrande  hin 
und  her,  stochern  mit  der  Gabel  zwecklos  herum,  zählen  zwischen 
je  zwei  Bissen  bis  7 oder  sagen  einen  Vers  auf;  die  Milch  wird 
in  winzigen  Schlückchen  und  mit  langen  Pausen  getrunken. 
Die  Bettstücke  werden  in  eigentümlicher  Weise  angeordnet, 
die  Decke  als  Unterlage,  das  Kopfkissen  oder  die  Matratze 
zum  Zudecken  benutzt;  die  Kleider  werden  verkehrt  angezogen, 
absonderlich  verknotet,  das  Hemd  über  der  Weste  getragen, 
die  Röcke  über  den  Kopf  geschlagen.  Vielleicht  ist  auch 
das  Gesichterschneiden,  „Grimmassieren“  der  Kranken  hierher 
zu  rechnen. 

Von  diesen  Verschnörkelungen  des  Handelns  führen  fliessende 
Übergänge  zu  jenen  Störungen  hinüber,  die  man  nach  Schüles 
treffender  Bezeichnung  als  „Entgleisungen  des  Willens“ 
auffassen  kann.  Die  beabsichtigte  Handlung  kommt  hierbei  über- 
haupt nicht  zu  stände,  weil  die  Antriebe  vor  der  Vollendung  eine 
ganz  andere  Richtung  einschlagen.  Der  Kranke,  der  den  Löffel 
ergriff,  um  zu  essen,  dreht  ihn  einige  Male  im  Kreise,  um  ihn 
dann  wieder  hinzulegen;  die  zum  Trinken  an  den  Mund  geführte 
Tasse  wird  plötzlich  umgestülpt  und  auf  den  Tisch  gestellt;  die 
zum  Grusse  gebotene  Hand  weicht  auf  halbem  Wege  aus  und 
fährt  in  die  Tasche;  der  jammernde  Kranke,  dem  die  Tränen 
über  die  Wangen  laufen,  verzieht  dabei  das  Gesicht  zu  fröhlichem 
Grinsen  („Paramimie“). 


Verschrobenheit  und  Stereotypie. 


283 


Auch  bei  den  Reden  lässt  sich  öfters  erkennen,  dass  die 
Kranken  im  Anlaufe  stecken  bleiben,  immer  von  neuem  vergeblich 
ansetzen  und  das  Ziel  schliesslich  ganz  aus  den  Augen  verlieren. 
Sie  beginnen  irgend  einen  Satz,  unterbrechen  sich  plötzlich,  fahren 
in  wechselnder  Satzform  und  mit  ganz  anderen  Gedanken  fort, 
kommen  halb  auf  den  Ausgang  zurück,  um  wieder  neue  Wege  ein- 
zuschlagen u.  s.  f.  Auf  diese  Weise  entsteht  eben  jene  Störung, 
die  wir  früher  als  Zerfahrenheit  kennen  gelernt  haben.  Vielfach 
ist  dabei  die  Anknüpfung  an  eine  bestimmte  Vorstellung  oder 
Frage  noch  ungefähr  erkennbar.  Die  Kranken  bringen  immer 
wieder  Wendungen,  die  dazu  in  einer  gewissen  Beziehung  stehen, 
ohne  allerdings  zu  einem  klaren  Gedankenausdruck  zu  kommen. 
Dieses  „Drumherumreden“  möge  durch  das  folgende  Beispiel  er- 
läutert werden.  Ein  Kranker  antwortete  auf  die  Frage,  was 
mit  ihm  sei: 

„Ich  habe  lange  Zeit  nicht  bemerkt,  was  > es  ist  und  was  es  war; 
da  habe  ich  gesehen,  dass  es  die  Humbertgeschichte  ist,  wissen  Sie,  Herr 
Dr.,  und  das  hat  bisher  angehalten.  Wissen  Sie,  ich  weiss  auch  nicht,  wie 
das  ist;  es  ist  eigenartig;  es  ist  eine  grosse  Portion  Mutwillen  dabei;  es  wird 
etwas  zu  stark  vorgeschoben  in  der  Erleuchtung,  und  da  hat  man  immer  darunter 
zu  leiden.  Und  dann  diese  Aufmerksamkeit  in  dieser  Affäre,  die  wird  einem 
geschenkt  und  fällt  einem  zu:  das  schleicht  sich  dann  so  ein.“ 

Die  das  Wollen  durchkreuzenden  Antriebe  können  ganz  fremd- 
artigen Inhalts  sein  und  ausser  jedem  Zusammenhänge  mit  irgend- 
welchen Zweckvorstellungen  stehen.  Der  Kranke  hebt  plötzlich 
seinen  Nachbarn  von  hinten  in  die  Höhe,  setzt  sich  wie  ein  Vogel 
auf  den  Rand  der  Badewanne,  greift  mit  dem  Finger  in  den  After, 
stellt  sich  auf  den  Kopf,  entleert  seinen  Kot  auf  den  Tisch.  Nicht 
selten  werden  diese  unter  Umständen  sehr  gefährlichen  Einfälle 
mit  triebartiger  Gewalt  ausgeführt.  Durch  dieses  Gemisch  der 
mannigfaltigsten  Antriebe  entsteht  die  eigentümliche  Unbegreif- 
lichkeit des  katatonischen  Handelns,  der  oft  vollkommene  Mangel 
eines  inneren  Zusammenhanges  der  einzelnen  Willensäusserungen 
untereinander  und  mit  der  ganzen  Sachlage,  die  Unsinnigkeit  und 
Zwecklosigkeit  des  gesamten  Treibens  und  Redens  bei  nahezu 
völliger  geistiger  Klarheit. 

Bei  diesen  Entgleisungen  hat  man  vielfach  den  Eindruck,  als 
ob  die  ursprünglichen  Zweckvorstellungen  durch  den  Anlauf  zur 
Ausführung  des  Entschlusses  selbst  in  den  Hintergrund  gedrängt 


284 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


würden.  Wir  sehen  die  Kranken  mit  grösster  Anstrengung  ihren 
Willen  einsetzen,  wo  sie  auf  einem  kleinen  Umwege  mühelos  zum 
Ziele  gelangen  könnten.  Der  Katatoniker,  der  sinnlos  gegen  die 
geschlossene  Türe  drängt,  verlässt  das  Zimmer  nicht  durch  den 
weit  geöffneten  Nebenraum,  ja,  er  benutzt  meist  nicht  einmal 
den  Schlüssel,  den  man  ihm  in  die  Hand  gibt,  sondern  wartet, 
bis  die  Türe  von  irgend  jemandem  geöffnet  wird.  Aus  derartigen 
Erfahrungen  möchte  man  den  Schluss  ziehen,  dass  hier  nicht  der 
von  uns  vermutete  Zweck,  sondern  nur  das  Mittel  selbst  gewollt 
wird.  Das  kann  aber  wohl  schwerlich  von  vornherein  der  Fall 
sein.  Weit  näher  liegt  jedenfalls  die  Annahme,  dass  der  erste 
Antrieb  zur  Erreichung  des  Zweckes  die  Richtung  des  Wollens 
sofort  festgelegt  hat.  Der  Kranke  verrennt  sich,  wie  es  scheint, 
in  seine  erste  Absicht,  so  dass  keine  späteren  Überlegungen  ihn 
mehr  von  dem  einmal  eingeschlagenen  Wege  abzubringen  ver- 
mögen. 

Die  hier  vertretene  Auffassung  der  katatonischen  Verschro- 
benheit bringt  sie  in  eine  gewisse  Beziehung  zu  den  Erschei- 
nungen der  Paraphasie  und  namentlich  der  Parapraxie,  insofern 
es  sich  auch  bei  diesen  Störungen  um  eine  Art  Entgleisung  der 
Antriebe  handelt,  die  unsinnige  und  unverständliche,  zweck- 
widrige Äusserungen  zur  Folge  hat.  Allein  dort  ist  es  nur  die 
Ausführung  der  Handlung,  die  misslingt;  die  Kranken  wollen 
das  Zweckmässige,  finden  aber  nicht  den  richtigen  Weg  zur  Ver- 
wirklichung. Bei  der  Verschrobenheit  dagegen  liegt  die  Stö- 
rung nicht  auf  dem  Gebiete  des  Handelns,  sondern  auf  demjenigen 
des  Willens  selbst.  Das  Werkzeug  gehorcht  den  Antrieben  ohne 
Tadel,  aber  die  Antriebe  selbst  werden  verdrängt  und  durchkreuzt, 
bevor  das  Ziel  erreicht  ist;  die  Kranken  sind  ausser  stände,  das 
Zweckmässige  zu  wollen. 

Verminderte  Beeinflussbarkeit  des  Willens.  Bei  der  Be- 
sprechung der  Willenssperrung  haben  wir  gesehen,  wie  unter 
Umständen  jeder  Bewegungsanstoss  sofort  durch  einen  entgegen- 
gesetzten Antrieb  wirkungslos  gemacht  werden  kann.  Die  Wil- 
lenssperrung ist  indessen  nur  die  Teilerscheinung  einer  viel  all- 
gemeineren Störung,  des  triebartigen  Widerstrebens  gegen  jede 
äussere  Beeinflussung  des  Willens,  des  von  Kahlbaum  so 
bezeichneten  Negativismus.  Er  äussert  sich  in  der  Ab- 


Verminderte  Beeinflussbarkeit  des  Willens. 


285 


Sperrung  gegen  äussere  Eindrücke,  in  der  Unzugänglichkeit  für 
jeden  persönlichen  Verkehr,  in  dem  Widerstande  gegen  jede 
Aufforderung,  der  bis  zur  regelmässigen  Ausführung  gerade  ent- 
gegengesetzter Handlungen  gehen  kann  (Befehlsnegativismus), 
endlich  in  der  Unterdrückung  natürlicher  Bedürfnisse. 

Auf  diese  Weise  entsteht  ein  Handeln,  welches  in  allen 
Stücken  das  Gegenteil  von  dem  erstrebt,  was  durch  die  gesunden 
Beweggründe  gefordert  wäre.  Die  Kranken  schliessen  sich  gegen 
die  Untersuchung  starr  ab;  sie  pressen  die  Zähne  zusammen, 
wenn  sie  die  Zunge  zeigen  sollen,  kneifen  die  Augen  zu,  sobald 
man  die  Pupillen  prüfen  will,  sehen  zur  Seite,  falls  man  anfängt, 
sich  mit  ihnen  zu  beschäftigen.  Sie  erwidern  den  Gruss  nicht, 
weichen  bei  der  Annäherung  zurück,  verstecken  sich,  kriechen 
unter  die  Decke,  hüllen  sich  ein,  reichen  die  Hand  nicht  oder 
ziehen  sie  vor  erfolgter  Berührung  wieder  zurück.  Allen  Fragen 
gegenüber  bleiben  sie  stumm  (Mutacismus)  oder  sie  bringen 
völlig  beziehungslose  Äusserungen  vor,  eine  Störung,  die  man 
als  „Vorbeireden“  (Paralogie)  zu  bezeichnen  pflegt.  Äusseren 
Eingriffen  setzen  sie  den  kräftigsten,  aber  fast  immer  rein 
passiven  Widerstand  entgegen,  lassen  sich  nicht  ankleiden  oder 
ausziehen,  nicht  baden,  nicht  pflegen.  Auch  beim  Essen  sträu- 
ben sie  sich  auf  das  äusserste,  lassen  alles  stundenlang  stehen 
und  kalt  werden,  um  dann  plötzlich  wieder  aus  freien  Stücken 
mit  Gier  über  die  Nahrung  herzufallen;  sie  verlangen  kläglich 
nach  Wasser,  um  es  auszuschütten,  sobald  es1  ihnen  gebracht 
wird,  öfters  wird  Kot  und  Harn  mit  der  grössten  Anstrengung 
zurückgehalten,  besonders,  wenn  man  die  Kranken  auf  den  Nacht- 
stuhl bringt;  sobald  sie  dann  aufgestanden  oder  wieder  ins  Bett 
gegangen  sind,  erfolgt  sofort  die  Entleerung. 

Es  unterliegt  nach  meiner  Überzeugung  keinem  Zweifel,  dass 
dieses  negativistische  Verhalten  der  Kranken  durchaus  nicht  auf 
bestimmte,  verstandesmässig  erfasste  Beweggründe  zurückgeführt 
werden  kann.  Abgesehen  von  seltenen  Ausnahmen,  in  denen  nach- 
träglich irgendwelche  Vorstellungen  oder  Täuschungen  als  ganz 
unzulängliche  Triebfeder  für  das  unsinnige  Benehmen  vorgebracht 
werden,  hört  man  von  den  Kranken  regelmässig,  dass  sie  sich 
selbst  keine  Rechenschaft  über  dasselbe  zu  geben  vermögen,  son- 
dern einfach  so  handeln  mussten.  Anscheinend  haben  wir  es  dem- 


286 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


nach  hier  mit  einer  ganz  unmittelbaren  krankhaften  Veränderung 
der  Willensantriebe  zu  tun.  Dennoch  ist  die  Störung  des  Handelns 
nur  eine  unwillkürliche,  nicht  eine  unbewusste.  Das  geht  aus 
der  geistigen  Verarbeitung  der  äusseren  Beeinflussung  hervor. 
Die  Kranken  legen  sich  in  fremde  Betten,  während  sie  aus  dem 
eigenen  hinausdrängen;  sie  verschmähen  ihr  eigenes,  vielleicht 
besseres  Essen,  um  sich  mit  List  oder  Gewalt  desjenigen  ihrer 
Nachbarn  zu  bemächtigen.  Am  deutlichsten  wird  die  triebartige, 
psychische  Entstehung  der  Störung  durch  die  freilich  nicht  allzu 
häufigen  Fälle  von  Befehlsnegativismus.  Solche  Kranke  bleiben 
liegen,  wenn  man  ihnen  befiehlt,  aufzustehen,  kehren  um,  wenn 
sie  fortgehen  sollen,  schweigen  sofort  still,  sobald  man  sie  singen 
heisst  und  umgekehrt. 

Das  Verständnis  dieser  höchst  auffallenden  Krankheits- 
erscheinungen wird  vielleicht  durch  die  Erfahrung  erleichtert, 
dass  Negativismus  und  Willenlosigkeit  sich  nicht  nur  in  der  Regel 
bei  denselben  Kranken  finden,  sondern  sich  auch  nicht  selten  durch 
kleine  Kunstgriffe  rasch  ineinander  überführen  lassen.  Es  gelingt, 
Katalepsie  in  Starre,  negativistisches  Widerstreben  in  Nach- 
ahmungsautomatie  umzuwandeln;  dazwischen  hinein  schieben  sich 
dann  oft  plötzliche,  unvermittelte  Antriebe.  Die  Annahme  liegt 
daher  nahe,  dass  die  zunächst  so  verschiedenen  Erscheinungen 
doch  eine  tiefere  gemeinsame  Wurzel  haben.  Überall  erscheint  der 
regelnde,  richtunggebende  Einfluss  dauernder  Zwecke  und 
Willensneigungen  auf  das  Handeln  herabsetzt.  Dadurch  ist  ein- 
mal äusseren  Anstössen,  das  andere  Mal  auftauchenden  Einfällen 
der  Weg  zur  Einwirkung  auf  den  Willen  geöffnet.  Auch  das  Ein- 
treten der  Willenssperrung,  die  an  das  Störrischwerden  der  Kinder 
und  mancher  Tiere  erinnert,  wird  jedenfalls  durch  die  Schwächung 
der  gesunden  Willensregungen  begünstigt.  Vielleicht  haben  wir 
in  diesem  triebartigen  Widerstreben  einen  tiefer  begründeten 
Zug  unseres  Seelenlebens  vor  uns,  der  durch  eine  höhere  Entwick- 
lung verdeckt  wird,  aber  in  der  Krankheit  wieder  die  Herrschaft 

gewännt. 

Bei  weitem  am  häufigsten  sind  die  hier  geschilderten  V illens- 
störungen  bei  der  Katatonie.  In  geringerer  Ausbildung  treffen 
wir  sie  hie  und  da  bei  der  Paralyse,  gelegentlich  auch  wohl  beim 
Altersblödsinn  an,  also  durchweg  bei  solchen  Formen  des  Irre- 


Verminderte  Beeinflussbarkeit  des  Willens. 


287 


seins,  denen  schon  nach  unseren  heutigen  Kenntnissen  schwerere 
Zerstörungen  in  der  Hirnrinde  zu  Grunde  liegen. 

Der  katatonische  Negativismus  darf  nicht  verwechselt  werden 
mit  dem  Widerstreben  ängstlicher  Kranker.  Auch  bei  diesen 
letzteren  entstehen  Widerstände,  sobald  äussere  Eingriffe  er- 
folgen. Indessen  das  ängstliche  Widerstreben  geht  aus  bestimm- 
ten Gefühlen  und  Vorstellungen  hervor.  Es  führt  daher  immer 
zu  mehr  oder  weniger  zweckmässigen  Abwehr-  und  Schutzbewe- 
gungen, zum  Entfliehen,  Zurückweichen,  Verkriechen  oder  selbst 
zu  verzweifelten  Angriffen.  Bei  ängstlichen  Kranken  sind  wir 
imstande,  durch  freundliches  Zureden  allmählich  den  Widerstand 
zu  überwinden;  dieser  letztere  beginnt  schon  vor  der  körperlichen 
Einwirkung  und  wird  um  so  stärker,  je  verdächtiger  unsere  An- 
näherung dem  Kranken  erscheint.  Auf  den  negativistischen  Kran- 
ken übt  Zureden  nicht  den  geringsten  Einfluss;  sein  Widerstand 
beginnt  erst  dann,  aber  auch  unfehlbar,  sobald  irgend  eine  Be- 
wegung angeregt  wird,  ohne  jede  Beziehung  zu  einer  möglichen 
Gefährdung.  Im  Gegenteil  lassen  sich  die  Kranken  einfache,  auch 
unsanfte  Berührungen  selbst  sehr  empfindlicher  Teile,  z.  B.  der 
Augen,  meist  ohne  Sträuben  gefallen,  weil  eben  nicht  die  Angst, 
überhaupt  keine  bestimmte  Überlegung,  sondern  eine  ganz  ur- 
sprüngliche Willensstörung  die  Grundlage  ihres  Verhaltens  bil- 
det. Daher  pflegen  auch  die  selbständigen  Bewegungen  ängst- 
licher Kranker  weit  freier  und  zweckmässiger  zu  sein,  als  die- 
jenigen beim  Negativismus. 

Näher  schon  dürfte  dem  Negativismus  der  Eigensinn 
stehen,  dem  wir  ebenfalls  in  Krankheitszuständen,  besonders  bei 
der  Imbecillität,  bei  der  Epilepsie  und  Hysterie',  bei  der  Paralyse 
und  beim  Altersblödsinn,  nicht  selten  in  stärkster  Entwicklung 
begegnen.  Auch  hier  wird  an  einem  Entschlüsse  zähe  festgehal- 
ten, obgleich  die  veränderten  Bedingungen  ihn  dem  weiter  blicken- 
den Beobachter  als  sehr  unzweckmässig,  vielleicht  als  verderb- 
lich erscheinen  lassen.  Ja,  wir  sehen  bisweilen,  dass  selbst  trotz 
besserer  Einsicht  die  Fähigkeit  fehlt,  von  der  einmal  festgelegten 
Willensrichtung  abzugehen.  Immerhin  pflegt  das  eigensinnige 
Handeln  ursprünglich  von  gewissen  Überlegungen  seinen  Aus- 
gangspunkt zu  nehmen,  wenn  dieselben  auch  späterhin  mehr  in 
den  Hintergrund  treten.  Ferner  ist  der  krankhafte  Eigensinn 


288 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


meist  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  dem  Zureden,  der  Beein- 
flussung durch  Vorstellungen  und  Gefühlsregungen  zugänglich, 
wenigstens  vorübergehend,  und  endlich  ist  er  regelmässig  von 
einer  ärgerlichen,  gereizten  Stimmung  getragen,  die  nicht  nur 
zum  Widerstande,  sondern  auch  zu  kräftiger  Abwehr  gegen  ge- 
waltsame Eingriffe  führt.  Sehr  deutlich  wird  gerade  dieser  Unter- 
schied vom  Negativismus  in  jenen  Fällen,  in  denen  die  Kranken 
sich  mit  grösster  Hartnäckigkeit  gegen  jede,  auch  die  ver- 
nünftigste und  wohltätigste  Massregel  sträuben.  Bei  dieser  all- 
gemeinen Unlenksamkeit  sind  die  Kranken  stets  zum  Schimpfen 
und  zum  Kampfe  geneigt  und  werden  vielfach  von  feindseligen, 
wenn  auch  verworrenen  Wahnvorstellungen  beherrscht,  im  Gegen- 
sätze zu  dem  Gleichmute  des  negativistischen  Kranken,  der  nur 
widerstrebt,  selten  abwehrt  und  noch  weit  seltener  angreift. 

Bei  der  Ausbildung  einer  selbständigen  psychischen  Persön- 
lichkeit entwickeln  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  gewisse  dau- 
ernde Willensrichtungen,  die  uns  unabhängig  machen  von  zu- 
fälligen Einflüssen.  Erstarren  diese  Willensrichtungen  zu  sehr, 
so  können  sie  eine  vollkommene  Bindung  des  Willens  und 
damit  eine  Unfreiheit  der  Entschliessung  bedingen,  die  unter 
Umständen  bis  in  das  Gebiet  des  Krankhaften  hineinreicht.  Die 
unbeugsame  Hartnäckigkeit  des  Querulanten  ist  dafür  ein  Bei- 
spiel. Sie  lässt  ihn  in  ähnlicher  Weise  seinem  Willen  Hab 
und  Gut,  Ehre  und  Freiheit  zum  Opfer  bringen,  wie  es  bei 
den  überzeugungstreuen  Vorkämpfern  grosser  Ideen  der  Fall 
ist,  aber  die  Kleinlichkeit  des  Zweckes  steht  für  die  verständige 
Überlegung  in  keinem  Verhältnisse  zu  dem  Aufwande  an  Kraft. 
Eine  mehr  äusserliche  Einschränkung  der  geistigen  Freiheit  wird 
durch  die  Pedanterie,  die  Erstarrung  der  Lebensgewohn- 
heiten, herbeigeführt.  Die  peinliche  Selbstzucht  zwingt  hier 
auch  dann  zur  strengen  Beobachtung  enger  Regeln,  wenn  höhere 
Ziele  eine  Vernachlässigung  derselben  fordern  würden.  In  krank- 
hafter Gestaltung  gedeiht  diese  Eigenschaft  besonders  auf  dem 
Boden  epileptischer  Veranlagung. 

Zwangshandlungen.  Mit  diesem  Namen  bezeichnen  wir  solche 
Handlungen,  welche  nicht  aus  dem  gesunden  Denken  und  Fühlen 
hervorwachsen,  sondern  von  dem  Kranken  gegen  seinen  W illen 
und  trotz  lebhaften  inneren  Widerstrebens  ausgeführt  werden. 


Zwangshandlungen. 


289 


Einen  gewissen  Anhalt  für  das  Verständnis  dieser  Störungen 
gibt  uns  allenfalls  die  bekannte  Erfahrung  aus  dem  gesunden 
Leben,  dass  uns  bei  gewissen  Gelegenheiten,  am  Rande  eines 
Abgrundes,  auf  einer  Brücke,  der  Gedanke  auftaucht,  uns  selbst 
oder  unsere  Begleiter  hinabzustürzen,  bei  feierlichen  Anlässen 
irgend  eine  lächerliche  oder  unpassende  Handlung  zu  begehen, 
im  Theater  plötzlich  „Feuer“  zu  rufen  und  ähnliches.  In  Wirk- 
lichkeit kommt  es  niemals  zur  Ausführung.  Vielmehr  bleibt  es  bei 
der  mehr  oder  weniger  klaren  Ausmalung  dessen,  was  geschehen 
würde,  wenn  wir  eine  derartige  Handlung  begingen. 

Bei  krankhafter  Veranlagung  kann  sich  zu  der  Vorstellung 
die  quälende  Befürchtung  gesellen,  dass  die  Handlung  möglicher- 
weise zu  stände  komme.  Solche  Befürchtungen,  wie  wir  sie 
früher  geschildert  haben,  veranlassen  dann  allerhand  Schutz- 
handlungen, deren  Durchführung  sich  die  Kranken  auf  keine 
Weise  zu  entziehen  vermögen.  Die  Mannigfaltigkeit  solcher  Mass- 
nahmen ist  womöglich  noch  grösser,  als  diejenige  der  Befürch- 
tungen. Die  Kranken  weichen  jeder  noch  so  entfernten  Mög- 
lichkeit aus,  die  gefürchtete  Handlung  zu  begehen,  entfliehen 
dem  daliegenden  Messer,  um  nicht  damit  sich  selbst  oder  ihre 
Kinder  umzubringen,  lassen  sich  festbinden,  sammeln  schriftliche 
Zeugnisse,  dass  sie  nichts  begangen  haben,  und  lernen  sie  aus- 
wendig. Aus  der  Berührungsfurcht  geht  das  zwangsmässige 
Waschen  und  Reinigen  hervor,  das  einen  ganz  ungeheuren  Um- 
fang annehmen  kann,  aus  der  Kleiderangst  das  Aufträgen  der 
alten  Kleider  bis  zum  äussersten,  aus  der  Papierangst  das  An- 
sammeln von  allen  möglichen  Zetteln  und  Fetzen.  Eine  meiner 
Kranken,  die  immer  fürchtete,  irgend  etwas  versprochen  zu 
haben,  musste  sich  beständig  in  ihren  Gedanken  oder  flüsternd 
dagegen  verwahren;  ein  anderer  musste  alle  möglichen  Schutz- 
sprüche  und  abergläubischen  Hilfsmittel  gegen  seine  Beängsti- 
gungen in  Anwendung  bringen. 

Es  ist  leicht  ersichtlich,  dass  wir  es  bei  allen  diesen  Hand- 
lungen, welche  die  Kranken  gegen  ihre  Überzeugung  und  gegen 
ihren  Willen  ausführen  müssen,  nicht  eigentlich  mit  einem  ein- 
fachen Zwange  zu  tun  haben.  Der  Antrieb  zum  Handeln  ent- 
steht nicht  unmittelbar  als  solcher,  sondern  er  entwickelt  sich 
erst  als  Folge  der  krankhaften  Befürchtung.  Es  sind  gewisser- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aafl.  19 


290 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


massen  Notwehrhandlungen,  deren  Lächerlichkeit  und  Unsinnig- 
keit  den  Kranken  meist  deutlich  zum  Bewusstsein  kommt;  dennoch 
werden  sie  immer  wiederholt,  weil  sie  erfahrungsgemäss  wenig- 
stens für  den  Augenblick  Beruhigung  bringen. 

Wie  es  scheint,  kommen  aber  hier  und  da  auch  Zwangs- 
handlungen im  engeren  Sinne  zur  Beobachtung,  bei  denen  der 
Antrieb  ohne  Zusammenhang  mit  Befürchtungen  selbständig 
zwingend  auftaucht.  Zum  Teil  allerdings  handelt  es  sich  dabei 
wohl  um  die  Überbleibsel  früherer  Schutzhandlungen,  denen  die 
Beziehung  zu  den  Befürchtungen  allmählich  verloren  gegangen 
ist.  Dahin  gehört  das  Ausstossen  gewisser  Beschwörungsformeln, 
absonderlicher  Bewegungen  und  Gewohnheiten,  symmetrischer 
oder  wiederholter,  gradzahliger  Berührungen,  denen  ursprüng- 
lich irgend  eine  Bedeutung  beigelegt  wurde.  Bei  anderen  An- 
trieben scheinen  jedoch  solche  Anknüpfungen  zu  fehlen,  wie  bei 
dem  Drange,  Schimpfworte,  Unflätigkeiten  auszustossen.  Sind 
aber  die  Handlungen,  zu  denen  sich  der  Kranke  gedrängt  fühlt, 
gefährliche,  so  rufen  die  Antriebe  ihrerseits  Befürchtungen  her- 
vor; es  ist  dann  in  der  Regel  unmöglich,  zu  entscheiden,  ob  es 
sich  zunächst  um  Angstzustände  oder  um  Zwangsantriebe  ge- 
handelt hat.  Es  können  aber  auch  ganz  gleichgültige  Hand- 
lungen, wie  das  Fortbewegen  irgend  eines  Gegenstandes,  sich 
mit  Ungestüm  aufdrängen.  Das  Unterdrücken  des  Antriebes  führt 
dann  zu  lebhafter  Beunruhigung,  die  erst  bei  der  Ausführung 
der  Handlung  schwindet,  um  durch  die  Beschämung  über  das 
Unterliegen  abgelöst  zu  werden.  Bei  wirklich  bedenklichen  Hand- 
lungen scheint  eine  zwangsmässige  Überwältigung  des  wider- 
strebenden Willens  nicht  oder  doch  äusserst  selten  vorzukommen. 
Alle  diese  Störungen  gehören  den  Krankheitsbildern  der  psy- 
chopathischen Veranlagung  an. 

Gar  nicht  selten  hört  man  auch  katatonische  Kranke  davon 
reden,  dass  sie  sich  zu  ihren  absonderlichen  Handlungen  ge- 
zwungen gefühlt  hätten.  Sie  haben  dies  und  jenes  nicht  tun 
wollen,  aber  sie  konnten  nicht  anders;  sie  vmrden  dazu  getrie- 
ben; es  wurde  so  gemacht,  dass  sie  es  tun  mussten.  Indessen 
hier  unterliegen  die  Kranken  den  Antrieben  in  der  Regel  ohne 
Kampf,  ohne  inneres  Widerstreben.  Dadurch  fällt  eine  wesent- 
liche Eigentümlichkeit  der  Zwangshandlungen,  der  innere  Zwie- 


Triebhandlungen. 


291 


spalt  und  das  Gefühl  der  Überwältigung,  vollständig  fort.  Auch 
wenn  die  Kranken  meinen,  die  Handlung  sei  ihnen  eingegeben, 
nicht  aus  ihrem  eigenen  Willen  hervorgegangen,  so  empfinden 
sie  ihr  Tun  doch  nicht  als  eine  Niederlage. 

Triebhandlungen.  Die  Macht  eines  Willensantriebes  hängt  im 
allgemeinen  von  der  Lebhaftigkeit  der  Gefühle  ab,  die  seine 
Triebfedern  bilden.  Am  kräftigsten  wirken  sinnliche  Gefühle, 
die  uns  oft  gebieterisch  zu  bestimmten  Handlungen  drängen, 
Schmerz,  Hunger,  Durst,  geschlechtliche  Gefühle.  Je  heftiger 
aber  die  gemütliche  Erschütterung,  je  stärker  der  Drang  zum 
Handeln,  desto  geringer  ist  der  Einfluss  der  Überlegung,  desto 
schwieriger  die  Hemmung  der  sich  vorbereitenden  Tat.  Sehr 
leidenschaftliche  Erregungen  führen  bekanntlich  schon  beim  ge- 
sunden Menschen  unter  Umständen  zu  einer  mehr  oder  weniger 
ausgeprägten  Trübung  des  Bewusstseins.  Immerhin  sind  wir 
zumeist  imstande,  die  allzu  grosse  Heftigkeit  der  Gemütsbewe- 
gungen, wie  sie  noch  dem  Kinde  eigentümlich  ist,  zu  dämpfen  und 
damit  die  Herrschaft  unseres  Verstandes  über  das  Handeln  auf- 
recht zu  erhalten. 

Bei  Geisteskranken  nehmen,  entsprechend  der  Häufigkeit 
lebhafter  Gefühle  und  eingreifender  Willensstörungen,  die  Trieb- 
handlungen mit  grosser  Stärke  der  Antriebe  und  Unklarheit  der 
Zweckvorstellungen  einen  sehr  viel  breiteren  Raum  ein  („Im- 
pulsivität“); wir  begegnen  ihnen  in  den  verschiedenartigsten 
Erregungszuständen.  Schon  der  Beschäftigungsdrang  der  mani- 
schen Kranken  ist  vielleicht  unter  diesem  Gesichtspunkte  auf- 
zufassen. Sicher  sind  hierher  gewisse  Handlungen  der  Epilep- 
tiker zu  rechnen,  der  mit  vielen  Namen  belegte  ziellose  Wander- 
trieb (Dromomanie,  Poriomanie,  Fugues,  automatisme  ambulatoire), 
die  geschlechtlichen  Vergehen  (Exhibitionismus,  geschlechtliche 
Angriffe),  das  Trinken  der  Dipsomanen.  Ähnliches  gilt  wohl  von 
dem  mannigfachen  krankhaften  Treiben  vieler  Hysterischen,  von 
ihren  Selbstbeschädigungen,  ihren  Diebstählen  und  Schwindeleien. 
Von  den  Zwangshandlungen  unterscheidet  sich  das  Tun  aller  dieser 
Kranken  durch  den  wesentlichen  Umstand,  dass  die  auftauchen- 
den Antriebe  im  Augenblick  durchaus  nicht  als  aufgezwungene, 
sondern  als  die  natürlichen  Äusserungen  ihres  psychischen  Ge- 
samtzustandes empfunden  werden. 


19* 


292 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Als  Triebhandlungen  sind  wohl  auch  am  richtigsten  die 
oben  erwähnten  Willensentladungen  der  Katatoniker  aufzufassen, 
obgleich  ihnen  kein  bestimmtes  Lust-  oder  Unlustgefühl,  sondern 
ein  mächtiger,  ursprünglicher  Bewegungsdrang  zu  Grunde  liegt. 
Der  Kranke  ist  hier  von  dem  Bewusstsein  beherrscht,  dass  er 
nun  dieses  oder  jenes  tun  müsse,  ohne  klare  Begründung,  ohne 
Nachdenken,  wenn  auch  bisweilen  mit  dem  deutlichen  Gefühle 
der  Unsinnigkeit  des  eigenen  Treibens.  Hie  und  da  taucht  auch 
wohl  die  Vorstellung  auf,  dass  die  Glieder  von  einer  unsicht- 
baren Macht,  von  Gott,  dem  Teufel,  durch  elektrische  Beein- 
flussungen in  Bewegung  gesetzt  werden.  V on  . einem  V ider- 
stande  gegen  den  Antrieb,  von  einem  Kampfe  ist  jedoch  gar 
keine  Rede;  vielmehr  folgt  der  Kranke  blindlings  seinen  Einfällen. 
Auf  diese  Weise  entstehen  zahllose  verkehrte,  absonderliche  und 
oft  recht  gefährliche  Handlungen,  die  bei  aller  Mannigfaltigkeit 
doch  gewisse  gemeinsame  Züge  darbieten.  Dahin  gehören  die 
eigentümlichen  Kraftleistungen,  die  Purzelbäume  und  Luftsprünge, 
das  Singen,  Schreien,  Zerstören,  Entkleiden,  die  plötzlichen  An- 
griffe, das  Kotessen,  die  sinnlosen  Versuche,  sich  zu  erdrosseln, 
den  Mund  aufzuschlitzen,  die  Augen  auszubohren,  Zunge  und 
Kehlkopf  herauszureissen.  Kennzeichnend  für  diese  Triebhand- 
lungen ist  ausser  dem  Mangel  jedes  verständlichen  Beweggrun- 
des die  ungemeine  Schnelligkeit  und  Heftigkeit  der  Ausführung, 
welche  auf  das  rücksichtsloseste  jedes  Hindernis  überwindet, 
während  umgekehrt  bei  den  Zwangshandlungen  schon  eine 
geringe  Unterstützung  des  lebhaft  sich  regenden  gesunden  Wider- 
standes genügt,  um  diesem  letzteren  zum  Siege  zu  verhelfen. 

Krankhafte  Triebe.  Der  für  die  Selbsterhaltung  wichtigste 
Trieb,  das  Nahrungsbedürfnis,  weist  bei  Geisteskranken 
sehr  häufig  Störungen  auf.  Die  Nahrungsverweigerung  ist  in 
allen  traurigen  oder  ängstlichen  Verstimmungen,  ferner  im  ka- 
tatonischen Stupor  eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung;  freilich 
beruht  sie  in  den  erstgenannten  Zuständen  nicht  immer  auf  einem 
Schweigen  des  natürlichen  Triebes,  sondern  auf  Wahnvorstel- 
lungen oder  dem  Wunsche,  zu  sterben.  Andererseits  werden  von 
Idioten,  Paralytikern,  Katatonikern  vielfach  nicht  nur  unglaub- 
liche Mengen  von  Nahrungsmitteln,  sondern  bisweilen  die  un- 
geniessbarsten  und  ekelerregendsten  Dinge,  Sand,  Steine,  See- 


Krankhafte  Triebe. 


293 


gras,  Kot,  lebende  Tiere  verschlungen.  Hier  kann  man  nicht 
wohl  von  einer  einfachen  Steigerung  gesunder  Triebe  sprechen, 
sondern  es  handelt  sich  zweifellos  bereits  um  gleichzeitige  Ab- 
weichungen in  Art  und  Richtung  des  Begehrens.  Dasselbe  gilt 
von  den  bekannten,  plötzlich  mit  grosser  Heftigkeit  auftauchenden 
Essgelüsten  der  Schwangeren  und  Hysterischen.  Bernstein 
hat  eine  Kranke  beschrieben,  die  triebartig  Papier  und  später 
Sand  verzehrte  und  einer  förmlichen  Entziehungskur  unterworfen 
werden  musste.  Wir  werden  hier  erinnert  an  die  verschiedenen 
„Suchten“,  das  triebartige  Verlangen  nach  Arznei-  und  Ge- 
nussmitteln. Bei  den  meisten  derselben  sind  es  die  angenehme 
Wirkung  oder  das  Auftreten  von  Entziehungserscheinungen,  die 
das  Begehren  erzeugen;  es  gibt  aber  auch  Suchten,  bei  denen 
derartige  Umstände  gar  keine  Rolle  spielen.  Zu  ihrer  Erklärung 
dient  die  Erfahrung,  dass  die  Neigung  zum  Missbrauche  von  Mit- 
teln in  der  Regel  eine  allgemeine  ist  und  sich  gleichzeitig  nach 
verschiedenen  Richtungen  erstreckt,  also  eine  persönliche  An- 
lage darstellt. 

Bei  weitem  am  mannigfaltigsten  gestaltet  sich  die  Reihe  der 
krankhaften  Abweichungen  auf  dem  Gebiete  des  Geschlechts- 
triebes, wie  sie  in  neuerer  Zeit  von  verschiedenen  Seiten  her 
auf  das  eingehendste  bearbeitet  worden  sind.  Einfache  Herab- 
setzung der  geschlechtlichen  Begehrlichkeit  findet  sich  in  den 
Depressionszuständen,  bei  Morphinisten,  bei  manchen  Formen  des 
angeborenen  Schwachsinns  und  der  hysterischen  Veranlagung. 
Dagegen  erwacht  der  Geschlechtstrieb  in  anderen  Fällen  von 
Idiotie  und  angeborener  Entartung  schon  sehr  früh  und  in  grosser 
Stärke;  er  führt  dann  regelmässig  zur  Onanie.  Steigerung  des 
Geschlechtsbedürfnisses  begleitet  auch  in  mehr  oder  minder  aus- 
gesprochenem Grade  die  manische  und  katatonische  Erregung; 
sie  drückt  sich  seltener  geradezu  in  geschlechtlichen  An- 
griffen, meist  in  zweideutigen  Reden,  unflätigen  Schimpfe- 
reien und  Beschuldigungen  aus,  in  mehr  oder  weniger  rück- 
sichtsloser Masturbation,  bei  Weibern  auch  in  schamlosen 
Entblössungen,  äusserster  Unreinlichkeit  oder  beständigen  Wa- 
schungen mit  Wasser,  Speichel,  Urin,  Kämmen  und  Auflösen 
der  Haare,  in  leichteren  Formen  durch  Putzen  und  Schön- 
tun, Wechsel  zwischen  herausforderndem  und  verschämtem 


294 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


oder  empfindsamem  Wesen,  durch  Händedrücken,  Briefschrei- 
ben,  verständnisvolle  Blicke.  Zu  diesen  gradweisen  Abstu- 
fungen kommt  nun  aber  eine  fast  unübersehbare  Menge  von 
verschiedenartigen  Entgleisungen  des  Geschlechtstriebes,  bei 
denen  die  Befriedigung  auf  zweckwidrigen  Wegen  gesucht 
wird.  Die  bekannteste  derselben  ist  die  sogenannte  con- 
träre  Sexualempfindung*),  jene  Störung,  die  das  ge- 
schlechtliche Fühlen  und  Begehren  in  unversöhnbaren  Gegen- 
satz zu  der  körperlichen  Veranlagung  des  Menschen  bringt 
und  ihn  die  geschlechtliche  Befriedigung  nur  beim  eigenen  Ge- 
schlechte  finden  lässt.  Wir  werden  im  klinischen  Teile  Gelegen- 
heit haben,  auf  diese  meist  sehr  früh  sich  zeigende  Erscheinungs- 
form des  Entartungsirreseins  ausführlich  zurückzukommen. 

Dagegen  ist  schon  hier  jene  höchst  eigentümliche  Störung 
des  Geschlechtstriebes  zu  besprechen,  die  man  nach  dem  be- 
rüchtigten französischen  Romanschriftsteller  Marquis  de  Sa  de**) 
als  „Sadismus“  bezeichnet  hat.  Es  handelt  sich  dabei  um 
das  Auftreten  von  geschlechtlichen  Wollustempfindungen  bei 
Handlungen  der  Grausamkeit.  Die  betreffenden  Personen  suchen 
entweder  den  Reiz  der  geschlechtlichen  Vereinigung  durch  mehr 
oder  weniger  ernste  Misshandlungen  zu  erhöhen,  oder  die  gra^ 
same  Handlung  erweckt  schon  an  sich  die  volle  sinnliche  Befrie- 
digung, auch  beim  Fehlen  aller  gesunden  Vorbedingungen  für 
die  geschlechtliche  Erregung.  Der  letztere  Fall  stellt  offenbar 
nur  eine  weitere  krankhafte  Entwicklungsstufe  des  ersteren  dar. 
Was  dort  nebensächliches,  vielleicht  sogar  entbehrliches  Hilfs- 
mittel war,  ist  hier  zur  Hauptsache  geworden,  neben  welcher 
die  eigentliche  Hauptsache,  die  geschlechtliche  Vereinigung, 
vollständig  in  den  Hintergrund  getreten  ist.  Tatsächlich  finden 
sich  zahlreiche  Übergangsformen  von  den  leichtesten,  noch  in 
der  Gesundheitsbreite  liegenden  Anwandlungen  bis  zu  den  schwer- 
sten, das  Leben  der  Opfer  fordernden  krankhaften  Verirrungen. 

Unter  den  sadistischen  Handlungen  selbst  kommen  in  erste  t 
Linie  Geisselungen  auf  den  entblössten  Körper  in  Betracht,  die 

*)  Havelock  Ellis  u.  Symonds,  Das  conträre  Geschlechtsgefühl, 
deutsch  v.  Kurella.  1896;  Raffalovich,  uranisme  et  unisexualite.  1896; 
Bloch,  Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psychopathia  sexualis.  1902. 

**)  D Uhren,  Der  Marquis  de  Sade  und  seine  Zeit  1900. 


Krankhafte  Triebe. 


295 


häufiger  zur  Unterstützung  und  Vorbereitung  der  geschlechtlichen 
Erregung  benutzt  werden.  Als  wirklicher  Ersatz  des  Beischlafs 
dienen  sie  weit  seltener  und  wohl  nur  in  zweifellos  krankhaften 
Fällen.  Ähnlich  mag  es  mit  der  Neigung  zum  Kneifen  undBeissen 
stehen.  Das  Stechen  und  Schneiden  tritt  bei  den  von  Zeit  zu 
Zeit  einmal  beobachteten  „Mädchenstechern“  geradezu  als  Form 
der  geschlechtlichen  Befriedigung  auf.  Die  Kranken  suchen  sich 
an  hübsche  junge  Mädchen  heranzudrängen  und  ihnen  mit  Dolch 
oder  Messer,  deren  sie  bisweilen  eine  grosse  Auswahl  besitzen, 
eine  blutige,  aber  nicht  gefährliche  Wunde  beizubringen,  was 
ihnen  lebhafte  Wollustgefühle  verursacht.  Noch  einen  Schritt 
weiter  gehen  jene  Kranken,  welche  sich  die  geschlechtliche  Be- 
friedigung durch  Quälen  und  Töten  von  Tieren  zu  verschaffen 
suchen.  Dann  kommen  die  Lustmörder,  die  ihr  Opfer  vor  oder 
nach  dem  Geschlechtsakte  erdrosseln  und  dann  womöglich  auf- 
schneiden, zerreissen,  zerstückeln.  Gerade  in  solchen  Fällen  zeigt 
sich  bisweilen  ein  buchstäblicher  „Blutdurst“,  der  zum  Aus- 
saugen des  Opfers  und  zur  wirklichen  Menschenfresserei  führen 
kann.  Überall  können  eigentlich  geschlechtliche  Handlungen  trotz 
heftigster  geschlechtlicher  Erregung  vollkommen  fehlen.  Als 
eine  Abart  der  Lustmörder  sind  wohl  die  glücklicherweise  recht 
seltenen  Leichenschänder  zu  betrachten,  unter  denen  der  fran- 
zösische Sergeant  Bertrand  eine  traurige  Berühmtheit  erlangt 
hat,  da  er,  von  unwiderstehlicher  geschlechtlicher  Begierde  ge- 
trieben, mit  grösstem  Geschicke  frisch  bestattete  Leichen  wieder 
ausgrub,  schändete  und  zerstückelte. 

Gewissermassen  das  Gegenstück  zum  Sadismus  bildet  die  von 
v.  Krafft-Ebing  unter  dem  Namen  des  „Masochismus“ 
beschriebene  Sucht,  sich  die  geschlechtliche  Befriedigung  durch 
Erduldung  von  Schmerzen  zu  erhöhen  oder  überhaupt  erst  zu 
verschaffen.  Die  Bezeichnung  ist  hergenommen  von  dem  Schrift- 
steller Sacher-Masoch,  der  in  seinen  Romanen  mit  Vor- 
liebe diese  eigentümliche  Erscheinung  schilderte.  Wegen  der 
bei  beiden  bestehenden  Verbindung  von  Schmerz  und  Wollust 
hat  v.  Schrenk-Notzingfür  Masochismus  und  Sadismus  die 
gemeinsame  Bezeichnung  „Algolagnie“  (Schmerzgeilheit)  vor- 
geschlagen; jener  ist  tätige,  dieser  duldende  Algolagnie. 

Auch  beim  Masochismus  begegnen  wir  vor  allem  der  ge- 


296 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


schlechtlichen  Erregung  durch  Geisselung,  aber  hier  durch  Er- 
dulden derselben.  Die  unliebsamen  Nebenwirkungen  erzieh- 
licher Züchtigungen,  namentlich  der  Schläge  auf  das  Gesäss,  sind 
lange  bekannt,  ebenso  die  Auffrischung  der  gesunkenen  ge- 
schlechtlichen Leistungsfähigkeit  durch  ähnliche  Massregeln. 
Auch  das  Flagellantentum  hat  vielleicht  eine  seiner  Wurzeln  in 
der  sinnlich  aufreizenden  Wirkung  der  Geisselhiebe  gehabt.  In 
das  Gebiet  des  Krankhaften  gehören  die  Fälle,  in  denen  die  ge- 
schlechtliche Erregung  durch  wirklich  rohe  Misshandlungen,  Ge- 
bissen-, Gestochen-,  Getretenwerden  und  ähnliches  ausgelöst  wird. 
Meist  werden  hier  andere  Personen  vorher  zur  Ausführung  der 
gewünschten  Handlungen  angelernt. 

Aus  naheliegenden  Gründen  führt  die  Algolagnie  nur  ver- 
hältnismässig selten,  bei  ausgebildetem  Schwachsinn  und  grosser 
sittlicher  Stumpfheit,  zu  jenen  wirklich  gefährlichen  Hand- 
lungen, welche  in  der  Entwicklungsrichtung  des  krankhaften 
Triebes  liegen.  Vielfach  sind  die  Handlungen,  welche  ausgeübt 
oder  gewünscht  werden,  mehr  Andeutungen,  in  der  Weise,  wie 
schon  das  Ritzen  der  Haut  ein  Sinnbild  des  Tötens,  das  Einpressen 
der  Zähne  ein  solches  des  Auffressens  darstellt.  Der  sadistische 
Trieb  kann  sich  in  Handlungen  Luft  machen,  welche  ganz  all- 
gemein nur  die  unbeschränkte  Herrschaft  über  das  geschlecht- 
liche Opfer  ausdrücken  (Beschimpfen,  Beschmutzen,  Fesseln), 
während  der  Masochist  sich  befriedigt  fühlt,  wenn  er  in  möglichst 
lebhafter  Weise  die  völlige  Unterwerfung  unter  einen  fremden 
Willen  empfindet  (Erdulden  von  Beschimpfung,  Bedrohung,  Miss- 
achtung, ekelhafter  Besudelung,  Urintrinken).  Bei  der  regen 
Mitarbeit  der  Einbildungskraft  ist  die  Mannigfaltigkeit  der  Kunst- 
griffe, welche  diese  Kranken  zur  Vorbereitung  oder  zum  Ersätze 
des  Beischlafes  anwenden  oder  von  Anderen  fordern,  trotz  mancher 
Gleichförmigkeit  eine  ausserordentlich  grosse. 

Wir  sind  im  Vorstehenden  wiederholt  der  Erscheinung  be- 
gegnet, dass  bei  unseren  Kranken  ein  ursprünglich  das  Zustande- 
kommen der  geschlechtlichen  Erregung  nur  unterstützender  ^ or- 
gang  schliesslich  ganz  allein  schon  und  ohne  V erbindung 
mit  eigentlichem  Geschlechtsverkehre  die  angestrebte  Befrie- 
digung herbeizuführen  vermag.  In  der  Regel  sind  es  Handlungen, 
welche  in  irgend  einer  Weise  die  Vorstellung  der  Geschlechts- 


Krankhafte  Triebe. 


297 


beziehung  lebhaft  wachrufen.  Einerseits  können  wollüstige  Be- 
tastungen, das  Zusehen  beim  Geschlechtsverkehr  Anderer,  ja  das 
Beobachten  der  natürlichen  Entleerungen,  ferner  das  Lesen  von 
unzüchtigen  Schriften,  das  Besehen  oder  Zeichnen  derartiger 
Bilder,  endlich  auch  die  Ausmalung  geschlechtlicher  Abenteuer 
in  Gedanken  oder  in  schriftlicher  Darstellung  („psychische 
Onanie“)  diese  Wirkung  haben.  Für  die  letztere  Form  der 
geschlechtlichen  Entladung  geben  gerade  die  verschiedenen 
sadistischen  und  masochistischen  Schriften  merkwürdige  Bei- 
spiele. Dieses  ganze  Gebiet  gehört  der  Entartung  an;  es  scheint 
aber,  dass  Ausschweifungen  und  geschlechtliche  Übersättigung, 
die  freilich  auch  auf  dem  Boden  der  Entartung  am  besten  ge- 
deihen, hier  eine  gewisse  Rolle  spielen.  Eine  etwas  andere  Be- 
deutung hat  vielleicht  der  E x h i b i t i o n i s m u s , die  geschlecht- 
liche Befriedigung  durch  Vorzeigen  der  Geschlechtsteile  gegen- 
über Kindern  oder  Personen  des  anderen  Geschlechtes.  Er  findet 
sich,  wie  die  meisten  dieser  Verirrungen,  vorwiegend  bei 
Männern.  Meist  handelt  es  sich  um  Epileptiker  in  Dämmer- 
zuständen oder  um  Altersschwachsinnige,  seltener  um  einfache 
Psychopathen. 

Zur  Erklärung  dieser  absonderlichen  Erscheinungen  liegt  die 
Annahme  nahe,  dass  bei  einer  krankhaften  Steigerung  der  ge- 
schlechtlichen Erregbarkeit  bereits  der  begleitende  Vorgang  ge- 
nügt, um  dieselbe  Wirkung  zu  erzielen,  welche  er  im  gesunden 
Leben  höchstens  in  Verbindung  mit  den  wirklichen  Geschlechts- 
reizen erreichte,  ähnlich  wie  dem  Empfindlichen  schon  die  Probe- 
signale bei  der  Feuerwehrübung  unangenehme  Gefühle  erwecken. 
Allein  schliesslich  kann  es  so  w'eit-  kommen,  dass  nur  noch  der 
nebensächliche  Reiz,  nicht  aber  mehr  der  natürliche,  oder 
doch  jener  unvergleichlich  viel  stärker,  als  dieser,  die  geschlecht- 
liche Befriedigung  zu  erzeugen  imstande  ist. 

Ganz  besonders  häufig  macht  sich  eine  solche  Verschiebung 
in  verschiedenartiger  Entwicklung  dahin  geltend,  dass  es  ein- 
zelne, bestimmte  Körperteile  oder  Kleidungsstücke  sind,  welche 
zunächst  geschlechtlich  anregend  wirken,  dann  bei  der  Aus- 
führung des  Beischlafes  eine  herrschende  Rolle  spielen  und  end- 
lich für  sich  allein  in  ganz  absonderlicher  Weise  den  Geschlechts- 
genuss vermitteln.  Man  bezeichnet  diese  Störung  als  ,,F  e t i - 


298 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


schismus“* **)).  Von  körperlichen  Reizen  dienen  als  Fetische 
bald  Hände  oder  Füsse,  bald  Augen,  Mund,  Ohr,  Haare,  besonders 
Zöpfe.  Die  einfache  Betrachtung,  Berührung,  Liebkosung  der 
betreffenden  Teile  gewährt  dem  Fetischisten  eine  weit  höhere 
geschlechtliche  Befriedigung,  als  der  wirkliche  Beischlaf.  Unter 
den  Kleidungsstücken  sind  Schuhe  und  Stiefel  sehr  bevorzugt, 
nach  v.  Krafft-Ebings  Ansicht  wegen  der  an  sie  sich  knü- 
pfenden masochistischen  Wollust  der  Unterwerfung,  ferner  Ta- 
schentücher und  Unterkleider,  endlich  Sammet-  und  Pelzstoffe. 
Wie  die  Erfahrung  lehrt,  werden  solche  Dinge  von  den  Kranken 
aus  geschlechtlicher  Begierde  öfters  unter  den  schwierigsten  Um- 
ständen massenhaft  gesammelt  (Zopfabschneider !)  und  zu  ein- 
samen masturbatorischen  Vergnügungen  verwendet.  Auch  sadi- 
stische und  masochistische  Handlungen  können  sich  an  den  Fetisch 
knüpfen.  Die  Kranken  zerreissen,  zerknittern  oder  beschmutzen 
die  Wäschestücke,  drängen  sich  an  Mädchen  an,  um  ihre  Kleider 
mit  Tinte  oder  ätzenden  Säuren  zu  übergiessen,  oder  sie  hüllen 
sich  in  uringetränkte  Tücher,  stopfen  sich  schmutzige  Lappen 
in  den  Mund  und  dergl. 

Mehl-  dem  Grenzgebiete  zwischen  geistiger  Gesundheit  und 
Krankheit  gehört  die  geschlechtliche  Befriedigung  durch  un- 
züchtige Handlungen  an  Kindern  an.  Wir  treffen  sie  einmal  in 
epileptischen  Dämmerzuständen,  dann  aber  bei  Personen,  denen 
der  gesunde  Geschlechtsverkehr  erschwert  ist,  bei  Greisen  und 
Schwachsinnigen.  Eine  ganz  ähnliche  Bedeutung  hat  auch  die 
Sodomie,  die  Unzucht  mit  Tieren.  In  welchen  Beziehungen 
endlich  die  krankhafte  Zuneigung  zu  Tieren,  die  Z o o p h i 1 i e , mit 
dem  Geschlechtstriebe  steht,  ist  noch  unklar.  Da  es  sich  meist 
um  Frauen  handelt,  die  mit  der  grössten  Zärtlichkeit  und  Auf- 
opferung sich  ihren  Katzen,  Hunden  oder  ögeln  widmen,  möchte 
man  hier  an  eine  Verirrung  des  Brutpflegetriebes  glauben. 

Als  die  Quelle  des  Sammeltriebes,  der  ebenfalls  bis- 
weilen krankhafte  Formen  annehmen  kann,  ist  wohl  die  Freude 
am  Besitze,  die  Habsucht,  anzusehen.  Ihm  schliesst  sich  der 
namentlich  beim  weiblichen  Geschlechte,  in  der  Schwangerschaft, 


*)  Garnier,  Les  fetichistes  pervertis  et  invertis  sexuels.  1896. 

**)  S e i f f e r , Archiv  für  Psychiatrie,  XXXI,  405.  1899. 


Krankhafte  Triebe. 


299 


während  der  Menses  oder  bei  hysterischer  Veranlagung,  auftre- 
tende  Stehltrieb  (Kleptomanie)  an,  die  unwiderstehliche 
Neigung,  sich  ohne  Not  selbst  ganz  unnütze,  wertlose  Dinge 
durch  Diebstahl  anzueignen.  Ob  es  sich  dabei  um  etwas  anderes 
handelt,  als  um  die  Herabsetzung  der  Widerstandsfähigkeit  gegen 
eine  augenblickliche,  lockende  Verführung,  ist  schwer  zu  ent- 
scheiden. In  hysterischen  Dämmerzuständen  kommt  allerdings 
ein  wirklicher  Trieb  vor,  alle  möglichen  Gegenstände  einzustecken 
und  zu  verbergen.  In  manchen  Fällen  von  Stehltrieb  hat  sich 
übrigens  ein  überraschender  Zusammenhang  mit  geschlechtlichen 
Verirrungen  herausgestellt,  bei  solchen  Personen,  die  Taschen- 
tücher, Wäsche,  Kleidungsstücke,  Stiefel  in  grossen  Mengen  zu- 
sammenstehlen, um  sie  als  Fetisch  zu  benutzen. 

Ganz  ausser  Beziehung  zu  den  natürlichen  Trieben  scheint 
der  Brandstiftungstrieb  („Pyromanie“)  zu  stehen,  der  ein- 
mal in  epileptischen  und  hysterischen  Dämmerzuständen,  dann  aber 
namentlich  in  den  Entwicklungsjahren  ohne  sonstige  erhebliche 
Krankheitszeichen  Vorkommen  kann.  Die  mehrfache  Wiederholung 
derselben  Tat,  das  Fehlen  jedes  vernünftigen  Beweggrundes,  die 
Befriedigung  beim  Ausbrechen  des  Brandes,  die  spätere  Reue, 
die  häufig  beobachtete  auslösende  Wirkung  des  Alkohols  weisen 
auf  krankhafte  Grundlagen  dieser  noch  recht  rätselhaften  Erfah- 
rungen hin.  Bisweilen  spielt  dabei  das  Heimweh,  der  Wunsch,  fort- 
zukommen, dem  wir  schon  bei  den  epileptischen  Verstimmungen 
begegnet  sind,  eine  Rolle.  Ein  junger  Mensch  meiner  Beobach- 
tung begründete  eine  von  mehreren,  rasch  aufeinanderfolgenden 
Brandstiftungen  mit  dem  plötzlich  bei  ihm  auftauchenden  Ge- 
danken, den  Vater  dadurch  zum  Ausziehen  aus  der  aussichts- 
losen und  verbauten  Wohnung  zu  veranlassen.  Ähnlich  ist  es  bei 
jenen  vereinzelten  Beobachtungen  von  jungen  Mädchen,  die  in 
den  Entwicklungsjahren  ihre  Pflegekinder  ohne  anderen  Grund 
ermorden,  als  weil  sie  ihrer  Stelle  überdrüssig  sind.  In  einem 
mir  bekannt  gewordenen  Falle  von  mehrfacher  Kindestötung 
hatte  die  jugendliche  Täterin  Tieren  und  schliesslich  auch  kleinen 
Kindern  den  Finger  gewaltsam  in  den  After  gebohrt,  so  dass  sie 
daran  starben ; hier  bestanden  wohl  Beziehungen  zum  Geschlechts- 
triebe. Endlich  sind  hier  noch  gewisse  Formen  der  Giftmi- 
scherei zu  erwähnen,  die  fast  ausschliesslich  beim  weiblichen 


300 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Geschlechte  Vorkommen.  Es  sind  das  jene  grauenhaften  Fälle,  in 
denen  ohne  erkennbaren  Beweggrund  wahllos  zahlreiche  Personen 
der  nächsten  Umgebung,  oft  auch  Kinder  und  geliebte  Angehörige, 
vergiftet  werden.  Die  Täterinnen  beobachten  dabei  mit  innerer 
Befriedigung  die  Wirkung  ihres  Tuns,  empfinden  aber  lebhafte 
Trauer  beim  Tode  ihrer  Opfer,  ohne  dem  Drange  nach  weiterer 
Betätigung  widerstehen  zu  können.  Die  nahe  psychologische  V er- 
wandtschaft  mit  dem  Brandstiftungstriebe  liegt  auf  der  Hand; 
in  beiden  Fällen  werden  heimlich  mit  unscheinbaren  Mitteln  ge- 
waltige Wirkungen  erzielt. 

Alle  dauernden  Abweichungen  auf  dem  Gebiete  der  Triebe 
deuten  auf  eine  angeborene  Entartung  hin;  sie  sind  insgesamt 
nur  Teilerscheinungen  einer  krankhaften  Veranlagung,  feie  bilden 
besondere  persönliche  Eigentümlichkeiten,  die  von  ihren  Trägern 
nicht  unmittelbar  als  etwas  Fremdartiges,  Krankhaftes  empfunden 
werden,  auch  dann  nicht,  wenn  dieselben  durch  Erfahrung  und 
Überlegung  den  Gegensatz  kennen  gelernt  haben,  in  welchem  sie 
zu  ihren  gesunden  Mitmenschen  stehen.  Die  Ausnahmestellung, 
die  sie  einnehmen,  die  daraus  entspringenden  Demütigungen 
sind  es  vielmehr,  was  sie  niederdrückt,  als  das  Gefühl,  krank 
zu  sein.  Insbesondere  werden  die  zweckwidrigen  Gestaltungen 
des  Geschlechtstriebes  von  ihren  Trägern  vielfach  der  ge- 
gesunden  Betätigung  desselben  als  gleichwertig  an  die  Seite 
gestellt.  Hier  liegt  die  allerdings  im  einzelnen  fliessende  Grenze 
zwischen  Zwangshandlungen  und  den  Äusserungen  krankhafter 
Triebe.  Der  Zwangsantrieb  erscheint  dem  Kranken  immer  als 
etwas  ihm  innerlich  Fremdes,  Auf  gedrungenes;  seiner  Aus- 
führung folgt  nur  im  Augenblicke  das  Gefühl  der  Befreiung  von 
dem  inneren  Drucke,  dann  aber  dasjenige  einer  erlittenen  Kie- 
derlage.  Dagegen  bedeutet  die  Befriedigung  des  krankhaften 
Triebes  für  den  Kranken  selbst  zunächst  nur  die  Deckung  eines 
natürlichen  Bedürfnisses,  und  sie  kann  die  gleichen,  oft  sogar 
weit  stärkere  Lustgefühle  hervorrufen,  als  die  Betätigung  der 
gesunden  Triebe.  Erst  durch  die  Einflüsse  der  Erziehung  wird 
dieser  ursprüngliche  Sachverhalt  verwischt. 

Störungen  der  Ausdrucksbewegungen.  Eine  der  wichtigsten 
Quellen  für  die  Erkennung  krankhafter  Seelenzustände  bilden  die 
Ausdrucksbewegungen  im  weitesten  Sinne  des  Wortes,  da  wir 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


301 


aus  ihnen  vor  allem  unsere  Schlüsse  auf  die  psychischen  Vorgänge 
zu  ziehen  haben,  die  sich  in  unseren  Kranken  abspielen.  Eine 
genaue  Schilderung  aller  dieser  Bilder  würde  indessen  die  äusser- 
lich  erkennbaren  Hauptzüge  sämtlicher  klinischer  Krankheits- 
formen wiedergeben  müssen;  wir  beschränken  uns  daher  hier 
auf  wenige  Andeutungen,  die  in  der  späteren  Einzelbeschreibung 
näher  ausgeführt  werden  sollen. 

Die  Kranken  mit  Dementia  praecox  pflegen  sich  gar  nicht 
um  ihre  Umgebung  zu  kümmern,  auch  wenn  sie  tatsächlich  recht 
gut  auf  fassen;  sie  sind  unzugänglich,  beachten  den  Arzt  nicht, 
liegen  teilnahmlos,  oft  in  starrer,  verzwickter  Haltung  da,  geben 
keine  Antwort,  befolgen  keine  Aufforderung,  oder  sie  machen 
einförmige,  zwecklose  Bewegungen,  grinsen  und  lachen  ohne 
Anlass,  werfen  plötzlich  irgend  einen  Gegenstand  ins  Zimmer, 
rasen  unaufhaltsam  durch  den  Saal,  drängen  sinnlos  zur  Türe 
hinaus  u.  s.  f.  Die  verblödeten  Kranken  werden  oft  ganz  ab- 
lehnend, kauern  oder  stehen  in  irgend  einer  Ecke  herum  und 
entziehen  sich  unter  unverständlichem  Gemurmel  jedem  Ver- 
suche, sich  mit  ihnen  in  Beziehung  zu  setzen. 

Sehr  auffallend  sind  die  Veränderungen,  die  der  Ablauf  der 
Bewegungen  in  der  Dementia  praecox  erfährt.  In  der  Hauptsache 
können  wir  sie  als  Verlust  der  Grazie  kennzeichnen.  Die  Anmut 
der  Bewegungen  ist  das  Ergebnis  einer  ganzen  Reihe  von  Einzel- 
vorgängen, die  vielleicht  am  besten  unter  dem  Gesichtspunkte  der 
Ersparnis  zu  betrachten  sind.  Die  anmutige  Bewegung  erreicht 
ihr  Ziel  mit  möglichst  geringem,  aber  ausreichendem  Aufwande 
von  Kraft  und  Weg.  Demgegenüber  werden  die  katatonischen 
Bewegungen  entweder  steif  und  hölzern  infolge  von  übermässiger 
Anspannung  der  Antagonisten  oder  schlaff  und  lässig  wegen  un- 
genügenden Kraftaufwandes.  Während  die  Anmut  nur  diejenigen 
Muskeln  in  Bewegung  setzt,  die  unmittelbar  an  der  Handlung  be- 
teiligt sind,  werden  die  katatonischen  Bewegungen  plump  und 
massig  durch  die  Beteiligung  grosser  und  ferner  gelegener  Mus- 
kelgruppen. Die  einfache  Natürlichkeit,  die  geradeswegs  dem 
Ziele  zustrebt,  geht  ihnen  verloren  durch  Verschnörkelungen  und 
Entgleisungen,  die  ihnen  den  Stempel  der  Geziertheit  und  Ver- 
schrobenheit aufdrücken.  Auch  die  Abrundung  fehlt  ihnen,  das 
langsame  Anwachsen  und  Abnehmen  der  Geschwindigkeit,  wie 


302 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


es  einer  haushälterischen  Verwendung  der  Kraft  entspricht;  die 
Bewegungen  gehen  ruckweise  und  eckig  von  statten,  oft  auch 
in  Absätzen,  von  plötzlicher  Sperrung  unterbrochen.  Endlich  ist 
der  Mangel  an  innerer  Einheitlichkeit  in  den  Ausdrucksbewe- 
gungen bemerkenswert.  Arme  und  Gesicht  können  die  lebhaf- 
testen Gebärden  zeigen,  während  Rumpf  und  Beine  starr  sind 
und  die  Zunge  ruht,  oder  der  Kranke  tanzt  mit  starrem  Aus- 
druck und  steifen  Armen  herum;  er  spricht  lebhaft,  antwortet, 
verwebt  das  Gehörte  in  seine  Reden,  ohne  doch  seine  Umgebung 
anzublicken. 

Die  Kranken  mit  Wahnbildungen  putzen  sich  mit  allerlei 
bunten  Lappen  heraus  und  suchen  sich  durch  geheimnisvolle  Ge- 
bärden und  Vorrichtungen  vor  feindlichen  Beeinflussungen  zu 
schützen,  oder  sie  ziehen  sich  mürrisch  zurück,  um  gelegentlich 
stürmisch  ihren  Groll  zu  entladen.  Insbesondere  die  Gehörshal- 
lucinanten  stehen  vielleicht  mit  lauschendem  Gesichtsausdrucke 
in  einer  Ecke  und  bewegen  nur  hier  und  da  zur  Antwort  die 
Lippen  oder  rufen  einige  abgerissene  Worte.  Die  vorgeschrittenen 
Paralytiker  erkennt  man  an  ihren  schlaffen  Gesichtszügen  und 
oft  an  einer  gewissen  täppischen  Freundlichkeit,  an  dem  strahlen- 
den Ausdrucke,  mit  dem  sie  ihre  schwachsinnigen  Grössenideen 
Vorbringen.  Späterhin  sieht  man  sie  in  tiefster  V erblödung  stumpf 
daliegen,  ohne  jede  Spur  des  Verständnisses  oder  der  Anteil- 
nahme für  ihre  Umgebung. 

Der  Niedergeschlagene  sitzt,  schlaff  in  sich  zusammen- 
gesunken, mit  bekümmerten  Zügen  da  und  vermag  oft  nur  mit  der 
grössten  Anstrengung  den  Blick  zu  erheben,  die  Hand  zu  geben 
oder  eine  leise,  zögernde  Antwort  hervorzubringen.  Ängstliche 
Kranke  kauern  sich  zusammen,  wie  um  dem  drohenden  Unheil 
möglichst  wenig  Angriffspunkte  zu  gewähren,  pressen  die  Zähne 
aufeinander,  schliessen  die  Augen,  machen  sich  steif,  setzen 
jedem  Annäherungsversuche  verzweifelte  Gegenwehr  entgegen. 
Oder  sie  wandern  ruhelos  herum,  an  den  Nägeln  kauend,  das  Ge- 
sicht zerzupfend,  die  Hände  ringend,  drängen  fort,  klammern 
sich  laut  jammernd  an  ihre  Umgebung  an.  Dagegen  läuft  der 
Manische  mit  lebhaften  Ausdrucksbewegungen  schwatzend, 
lachend,  singend,  geschäftig  herum,  sammelt  alles  Mögliche  in 
seinen  Taschen  an,  redet  überall  drein,  treibt  Schabernack  und 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


303 


sucht  auf  jede  Weise  dem  Gefühle  erhöhter  Leistungsfähigkeit 
Luft  zu  machen.  Die  Hysterische  bemüht  sich,  durch  Kleidung 
und  Haartracht,  durch  Sprödigkeit,  Ausgelassenheit  oder  Hilfs- 
bedürftigkeit Eindruck  zu  machen;  sie  beobachtet  scharf,  be- 
herrscht sehr  bald  ihre  Umgebung  und  weiss  allerlei  kleinen 
Schmuck  des  Lebens  um  sich  anzuhäufen.  Der  Paranoiker  endlich 
trägt  mit  einer  gewissen  Würde  die  „Gefangenschaft“  der  Irren- 
anstalt, in  der  Tasche  die  selbstverfassten  Beweisstücke  für 
seine  hohe  Stellung,  die  Abschriften  seiner  Beschwerden  oder 
die  Akten  seiner  Rechtsstreitigkeiten.  Aus  allen  diesen,  in 
grösster  Mannigfaltigkeit  wechselnden  und  dennoch  vielfach  wie- 
derkehrenden Bildern  vermag  der  erfahrene  Irrenarzt  oft  schon 
beim  ersten  Anblicke  die  ungefähre  Art  der  Störungen  zu  er- 
kennen. Zahlreich  aber  sind  die  Fälle,  die  für  die  oberflächliche 
Beobachtung  gar  keine  auffallenden  Erscheinungen  darbieten,  ein 
Verhalten,  welches  die  bekannte  Erfahrung  erklärt,  dass  laien- 
hafte Besucher  der  Anstalt  und  selbst  Wärter  bei  vielen  Kranken 
das  Vorhandensein  einer  Geistesstörung  gar  nicht  aufzufinden 
vermögen. 

Von  grosser  Wichtigkeit  sind  namentlich  die  durch  die 
Geistesstörung  bedingten  Veränderungen  in  Sprache*)  und 
Schrift.  Abgesehen  von  dem  Inhalt,  der  natürlich  vielfach 
die  Wahnideen  oder  Stimmungen  des  Kranken  erkennen  lässt, 
prägt  sich  oft  schon  in  der  Form  der  Grundzug  der  Psychose  aus. 
Der  Rededrang  des  Manischen  äussert  sich  in  unaufhörlichem, 
überstürztem  Schwatzen  mit  sehr  gelockertem  Zusammenhänge 
und  der  Neigung  zu  rhythmischer  Gliederung  und  sprachlichen 
Reminiscenzen,  zu  Wortspielen  und  Reimen.  Dieselben  Züge  fin- 
den wir  bei  erregten  Paralytikern  wieder,  verbunden  mit  den 
mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Zeichen  der  Sprachstörung.  In 
beiden  Krankheitsformen  wird  nicht  selten  ein  ganz  unverständ- 
liches Kauderwälsch  unter  der  Bezeichnung  der  verschiedensten 
fremden  Sprachen  Vorgebracht.  Bei  den  gehemmten  Kranken 
ist  die  Sprache  leise,  mühsam  und  zögernd.  Auch  die  Melan- 
choliker sind  meist  wortkarg,  vermögen  sich  aber  ohne  Schwierig- 


*)  Liebmann  und  Edel,  Die  Sprache  der  Geisteskranken.  1903. 


304 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


keit  zu  äussern;  sobald  lebhafte  Angst  vorhanden  ist,  kann  es 
sogar  zu  ununterbrochenem,  eintönigem  und  sehr  störendem 

Jammern  kommen.  _ 

Ganz  besondere  Eigentümlichkeiten  pflegen  die  sprachlichen 
Äusserungen  der  Katatoniker  darzubieten.  Die  Kranken  sind  oft 
Wochen  und  Monate  lang  völlig  stumm,  um  dann  ganz  unver- 
mittelt geläufig  zu  sprechen  oder  einen  Gassenhauer  zu  singen. 
Bisweilen  geben  sie  verblüffend  unpassende  Antworten  oder 
knüpfen  an  einfache  Auskünfte  eine  Menge  unverständlicher,  ver- 
schwommener Redensarten.  In  der  Erregung  kommt  es  häufig 
zu  völlig  sinnlosen  Reimereien  und  Klangspielereien,  bei  denen 
beliebige  Silben  in  der  mannigfaltigsten  Weise  verdreht  und  ab- 
gewandelt werden.  Vielfach  mischen  sich  geordnete  Sätze  mit 
durchaus  beziehungslosen  Wendungen.  Namentlich  bei  längerem 
Sprechen  sieht  man  oft  den  anfänglich  klaren  Zusammenhang 
völlig  schwinden  und  jene  merkwürdige  Störung  hervortreten, 
die  wir  als  Sprachverwirrtheit  bezeichnen.  Da  die  Kran- 
ken vollkommen  besonnen  und  orientiert  sind,  auch  in  ihrem 
Benehmen  und  Handeln  vielfach  gar  keine  auffallenderen  Ab- 
weichungen darbieten,  liegt  die  Vermutung  nahe,  dass  wir  es 
hier  wesentlich  mit  einer  Sprachstörung  zu  tun  haben.  Die 
Kranken  sprechen  leicht  und  fliessend,  aber  der  Inhalt  ihrer 
Reden  ist  ein  fast  völlig  unverständliches  Gewirr  von  zum  Teil 
sinnlos  zusammengewürfelten  Wörtern,  deren  allgemeiner  Inhalt 
sich  höchstens  ungefähr  aus  einzelnen,  halbwegs  verständlichen 
Anklängen  erraten  lässt.  Forel  hat  diese  Reden  sehr  treffend 
als  „Wortsalat“  gekennzeichnet.  Ein  Beispiel  dafür  gibt  die 
folgende  Nachschrift: 

.Ich  frage  in  welches  gegenüber  der  Persönlichkeiten.  Was  wollen  Sie 
eigentlich  gegenüber  der  Versammlung  in  dem  Bild  geschlossen,  meine  ich, 
so  herzlos,  dass  meiner  der  Persönlichkeiten,  die  Impflege  in  meiner^  des 
Körpers.  Was  wollen  Sie  eigentlich  mir  gegenüber  Vertretung.  Ich  frage 
jetzt  nur  ganz  einfach.  Hergebracht  hat  man  mich  wegen  Jugend,  und  da 
hat  man  Versammlung  geschlossen  im  Bund.  Von  der  Person  gegenüber  memer 
Anhaltverpflegung,  grossmütig  der  Erhaltungen  der  Führungen  der  Grafte 
der  Lebensmittel  mir  gemacht  worden  sind.  Irrititionen  der  Dunkelheiten 
wozu  sind  denn  eigentlich  die  Gesetze  geschlossen  worden  nach  Stadt  und 
Land  von  Ulfiterinen  und  die  früheren  Jahreszeiten  und  die  Hypotheken.  Die 
Erzählungen  der  Bürgerschaften  gegenüber  sagen  die  Mitglieder  Mut  und 
Jugend  anhold  sein  der  Kräfte  der  Personen  stehender  Körper  Freundlich- 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


305 


keiten  und  alle,  der  gesund  es  macht  nach  den  Hippliationen  die  Führung 
aller  der  Kräften  der  Verfolgnissen  gelegt  zu  werden.  Warum  schliesst  man 
hier  eigentlich  den  Kittoll,  was  soll  nun  dem  Kittoll  verfallen  an  meinem 
Körper,  sein  Abbild  meine  ich  der  Verfolgnissen“  u.  s.  w. 

Hier  ist  auch  der  Satzzusammenhang  völlig  zerstört,  was 
keineswegs  immer  der  Fall  zu  sein  braucht.  Die  ersten  Andeu- 
tungen der  Sprachverwirrtheit  begegnen  uns  in  den  unbegreiflich 
sinnlosen  Sätzen,  die  unsere  Kranken  oft  schon  im  Beginne  der 
Erkrankung  mit  voller  Seelenruhe  Vorbringen.  Sie  erinnern  in 
hohem  Grade  an  die  vielfach  ganz  ähnlichen  Reden,  die  wir  im 
Traume  zu  halten  pflegen.  Anscheinend  handelt  es  sich  dort 
wie  hier  um  den  dauernden  oder  vorübergehenden  Verlust  der 
Fähigkeit,  Vorstellungen  und  deren  sprachliche  Zeichen  in  rich- 
tiger Weise  miteinander  zu  verknüpfen. 

In  den  Reden  katatonischer  Kranker  tritt  die  Neigung  zur 
Wiederholung  derselben  Wendungen  und  Wörter  ebenso  hervor 
wie  die  Stereotypie  in  ihrem  sonstigen  Handeln.  Man  beachte 
oben  die  Ausdrücke:  „Ich  frage“,  „gegenüber“,  „Persönlichkei- 
ten“, „was  wollen  Sie  eigentlich“,  „Körper“,  „Pflege,  Verpfle- 
gung,“ »Jugend“,  „Führung“,  „Kräfte“,  „geschlossen“,  „Verfolg- 
nissen“, „Kittoll“,  „Versammlung“,  „Bild,  Abbild“,  „eigentlich“. 
Vielfach  aber  wird  diese  Sterotypie  so  stark,  dass  dieselben 
Sätze  ununterbrochen  stunden-  und  selbst  tagelang  wiederholt 
werden.  Es  entsteht  damit  das  von  Kahlbaum  zuerst  beschrie- 
bene Krankheitszeichen  der  Verbigeration.  Solche  Sätze 
sind  z.  B.  folgende: 


„Ihr  Kinderlin,  Vögelin,  Tüpfelin,  der  Ahnherr  ist  jetzt  da,  die  Türe  ist 
auf;  führ  mich  jetzt  in  den  Eisgarten.  Die  ganze  Nacht  hab’  ich  im  Bett 
gesessen  und  habe  nichts  gegessen;  die  Weck  ist  gefressen  — Ihr  Kinderlin, 
Vögelin,  Tüpfelin“  u.  s.  f. 

„Ich  muss  ins  Innum,  ins  Innum,  ins  Innum;  lasst  mich  ins  Innum.  Ich 
muss  im  Innum  mit  der  Matratze  herumfahren;  ich  muss  ins  Innum“  u.  s.  f. 


Sehr  häufig  findet  dabei  eine  stark  rhythmische  Be- 
tonung statt,  wie  in  den  folgenden  Beispielen: 

„Im  Sätzerich,  im  Sätzerich,  im  Kimmichum“  u.  s.  f.  — „Was  söil  ich  jetzt 
sägen,  Zwidneikopf,  was  soll  ich  jetzt  sägen,  die  Wäschschüssel  holen“  u.  s.  f.  — 
„Mütterle,  Späarmatz,  ich  müde  und  kränk  und  hungrig;  ich  bin  verfroren 
und  wätschel-watschelnäss“  u.  s.  f. 

Bisweilen  löst  sich  der  Inhalt  solcher  Reden  in  ein  einfaches 


Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufi. 


20 


306 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Silbengeklingel  auf,  z.  B.  „Ka,  ka,  metsch,  metsch,  ka,  ka,  metsch, 
metsch“  u.  s.  f.  Es  lässt  sich  jedoch  zeigen,  dass  solche  sinn- 
losen Äusserungen  hie  und  da  nur  Umbildungen  ursprünglich  ver- 
ständlicher Wendungen  darstellen.  So  rief  eine  Kranke  tagelang: 
„I  me  zeh,  i me  zeh“  u.  s.  f.  Das  war  eine  allmählich  entstandene 
Abkürzung  von:  ,,Ich  will  mal  sehen“  (ob  ich  nicht  heim  darf). 
Im  Anfänge  war  dieser  Sinn  noch  deutlich,  ging  aber  bei  den 
zahllosen  Wiederholungen  nach  und  nach  verloren.  Überhaupt  sind 
die  verbigerierenden  Reden  trotz  aller  Stereotypie  durchaus  nicht 
unbeeinflussbar.  Wir  'sehen  oft,  dass  die  Kranken  im  Laufe  der 
Zeit  nicht  nur  selbst  kleine  Veränderungen  hineinbringen,  sondern 
auch  aufgefangene  beliebige  Eindrücke  in  ihre  Sätze  einflechten. 
Eine  Kranke  wiederholte  drei  Stunden  lang  den  Satz. 

„Liebe  Emilie,  gib  mir  einen  Kuss;  wir  wollen  gesund  werden,  einen 
Gruss  und  ’s  war’  nichts.  Wir  wollen  brav  sein  und  schön  folgen,  folg”  Mutter, 
dass  wir  bald  heimkommen.  Der  Brief  war  für  mich;  sorg , dass  ich  ihn 
bekomm’.“ 

Nach  dem  inzwischen  erfolgten  Abendessen  hatte  sie  hinter 
„heimkommen“  eingeschoben:  „Linsen  und  zwei  Wurscht  . 

Eine  wichtige  Krankheitserscheinung,  die  besonders  stark 
bei  der  Sprachverwirrtheit  entwickelt  zu  sein  pflegt,  ist  die 
Neubildung  von  Wörtern* **)).  Auch  dieser  Vorgang  ist  uns 
aus  dem  Traumleben  wohlbekannt.  Genau  wie  dort  bald  kleine 
Buchstabenveränderungen  an  richtigen  Wörtern  angebracht,  bald 
sinnlose  Silbenzusammenstellungen  als  geläufige  W örter  hinge- 
nommen werden,  treffen  wir  auch  bei  unseren  Kranken  alle  Stufen 
der  Wortneubildung  an.  Leichtere  Abweichungen  finden  wir  in 
den  obigen  Ausdrücken  Impflege,  Anhaltverpflegung,  Irrititionen, 
Tüpfelin,  schwerere  in  Ulfiterinen,  Hippliationen,  Kittoll,  Innum, 
Sätzerich,  Zwidneikopf,  Kimmichum.  Man  hat  dabei  den  Ein- 
druck, als  ob  die  Kranken  mit  den  Neubildungen  gewisse,  aller- 
dings nicht  immer  feststehende  Vorstellungen  verbinden  und  sich 
der  Ungeheuerlichkeit  ihrer  Ausdrücke  ebensowenig  bewusst  sind 
wie  wir  Im  Traume.  Unsere  Annahme,  dass  es  sich  bei  der  Sprach- 
verwirrtheit um  eine  Lockerung  des  Zusammenhanges  zwischen 


*)  T a n z i , Rivista  sperimentale  di  freniatria,  1889,  4. 

**)  S ö 1 d e r , Jahrbücher  für  Psychiatrie,  XVIII,  479,  1899. 


Störungen  der  Ausdrucksbewegunge>n. 


307 


Vorstellung  und  sprachlicher  Bezeichnung  handelt,  gewinnt  durch 
diese  Erfahrungen  eine  neue  Stütze. 

Ein  weiteres  Beispiel  solcher  Wortneubildungen  gibt  die 
folgende,  von  einem  Apotheker  stammende  Nachschrift: 

„Der  möchte  gern  als  Student  dicker  gewidmet  sein  dem  Volke,  als  dem 
Liefronten,  dem  Lieferanten  der  Deutschen  Unschuld,  der  sie  glücklich  erreicht 
hat  in  den  kleinen  Kinderfüsschenanstalten  der  hiesigen  Ober.  Werden  Sie 
mir  die  Zuckerliebhaber  dicker  ereignen,  so  erkundigen  Sie  sich  in  dem  Dasein 
des  Glücks  und  Sie  frieren  weiter  keinen  exceptablen  Borophon  oder  Kleinekinder- 
anstalten des  Unglücks.  Sie  werden  lieber  gesetzmässiger  Körper  in  den 
natingalen  Gefühlen  der  Unschlittpartei  und  werden  fragen  nach  dem  Gesetze 
der  Unschuld.  Dr.  Dominus,  Arsenalhengst,  Dr.  Schnidiceps,  das  brauchen  Sie 
gar  nicht  zu  notieren,  sondern  Sie  werden  etwas  höher  schreiben.  Doktrinäre 
Eminenz  als  Weik  der  Deutschen  Omnibuspartie,  das  ist  ein  Glazimmer,  d.  h. 
ein  Gedanke,  das  Glied  der  Deutschen  Lappländigkeit,  das  sind  rotseidene  Sonnen- 
schirmrouleaux  geworden  in  der  Unschuld  des  Herzens“  u.  s.  f. 

Einzelne  Wörter  sind  richtig  gebildet,  aber  unsinnig,  wie 
Unschlittpartei,  Arsenalhengst,  Lappländigkeit,  Kinderfüsschen- 
anstalten; andere  zeigen  nur  geringfügige  Abweichungen  von 
bekannten  Wörtern,  so  Liefronten,  exceptabel;  den  Liefronten 
folgen  überdies  unmittelbar  die  „Lieferanten“.  Endlich  aber  fin- 
den sich  auch  hier  eine  Anzahl  völlig  erfundener  Wörter,  Borophon, 
natingal,  Schnidiceps,  Weik,  Glazimmer.  Die  Wiederkehr  be- 
stimmter Wendungen  „dicker  gewidmet,  dicker  ereignen“, 
„Deutsch“,  „kleine  Kinder“,  „Unschuld“,  „Glück,  glücklich,  Un- 
glück“, „Gesetz“,  „das  ist,  das  sind“,  ist  auch  hier  sehr  deutlich. 
Die  Zwischenbemerkung  über  das  Schreiben  bezieht  sich  auf  den 
Nachschreiber,  ein  Zeichen,  dass  der  Kranke  den  Vorgang  gut 
auffasste;  er  war  übrigens  auch  in  seinem  Handeln  vollkommen 
geordnet.  Bisweilen  kann  man  bei  den  Wortneubildungen  sehr 
deutlich  den  Einfluss  bestimmter  Vorstellungskreise  erkennen. 
Ein  anderer  kranker  Apotheker  bezeichnete  seinen  Napf  voll 
Kartoffelmus  als  den  „siliciumsauren  Porzellannapf  mit  solaneen- 
saurem  Futterwickelmus“,  als  „futterwickelmussaure  Haubitz“, 
„kerlsaures  Kopfmus“,  sprach  von  seiner  „kammersauren“  oder 
„stangensauren“  Wurst,  vom  „apfelsauren  Seidenkranz“  u.  s.  f. 

In  der  Schrift*)  der  Geisteskranken  finden  sich  inhaltlich 
und  äusserlich  ganz  entsprechende  Störungen  wie  in  der  Sprache. 

*)  Köster,  Die  Schrift  bei  Geisteskrankheiten.  1903. 


20* 


308 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Hie  und  da,  namentlich  bei  gröberen  Hirnerkrankungen,  aber 
auch  bei  der  Paralyse  und  Katatonie,  besteht  ein  auffallendes 
Missverhältnis  zwischen  den  Veränderungen  auf  beiden  Gebieten, 
das  auf  umschriebene  Schädigungen  hinweist.  Der  manische 
Kranke  beschreibt  Bogen  über  Bugen  mit  anspruchsvollen,  mäc  -- 
tigen,  in  kühnem  Schwünge,  aber  flüchtig  ausgeführten,  me 
und  mehr  bis  zur  Unleserlichkeit  sich  beschleunigenden  Schrift- 
zügen. Der  Inhalt  zeigt  Weitschweifigkeit  und  Ablenkbarkeit; 
dagegen  treten  die  Klangassociationen  weniger  deutlich  hervor,  als 
in  der  Rede ; sie  werden  durch  Aufzählungen  und  W iederholungen 
ersetzt.  Die  paralytische  Schrift  ist  gekennzeichnet  durch  Aus- 
lassungen, Fehler,  Versetzungen  der  Buchstaben  und  V orte, 
Kleckse,  unsaubere  Verbesserungen,  Unsicherheit  der  einzelnen 
Linien;  dazu  gesellen  sich  unter  Umständen  noch  die  geschilder- 
ten Zeichen  der  Erregung.  Der  Querulant  zeigt  eine  unheimliche 
Leistungsfähigkeit  in  der  Erzeugung  von  Schriftstücken,  die  m 
endlosen  Wiederholungen  seine  Klagen,  Beschwerden,  Schimpfe- 
reien enthalten  und  meist  von  dicken  Unterstreichungen,  Aus- 
rufungs-  und  Fragezeichen,  Anmerkungen  und  Randbemerkungen 
wimmeln,  auch  wohl  in  verschiedenfarbigen  Tinten  ausgeführt 
werden.  Überreichliche  Anwendung  der  schriftlichen  Betonungs- 
mittel pflegt  auch  von  den  Hysterischen  geübt  zu  werden. 
Traurige  Verstimmungen  verringern  die  Lust  zum  Schreiben; 
die  Schriftstücke  derartiger  Kranker  sind  daher  kurz,  ab- 
gerissen, die  Buchstaben  meist  klein,  zusammengedrängt.  Bei 
stärkerer  psychischer  Hemmung  vermögen  die  Kranken  nur  sehr 
langsam  und  mit  grösster  Anstrengung  einige  Worte  zu  Papier 
zu  bringen.  Katatonische  Kranke  liefern  vielfach  nur  ein  un- 
entzifferbares Gekritzel,  zeigen  sich  aber  plötzlich  imstande,  flott 
und  ohne  Störung  zu  schreiben.  Andere  bedecken  viele  Bogen  mit 
unverständlichen  Zeichen  und  einzelnen  Wörtern  in  endloser  Wie- 
derholung mit  geringen  Abwandlungen  (schriftliche  ^ erbige- 
ration).  Auch  verzwickte  Zeichnungen,  Abbildungen  von  fabel- 
haften Wesen,  rohe,  obscöne  Bilder  werden  von  ihnen  angefertigt, 
oft  ebenfalls  in  ungezählten  gleichen  oder  ganz  ähnlichen  Exem- 
plaren. Kranke  mit  Verfolgungsideen  sieht  man  auch  bisweilen 
Zeichnungen  von  den  geheimnisvollen  Maschinen  entwerfen,  mit 
denen  sie  gequält  werden. 


Störungen  der  Ausdrucksbewegungen. 


309 


Leider  ist  die  Schrift  Geisteskranker  mit  feineren  Hilfsmitteln 
noch  wenig  untersucht  worden.  Nur  mit  der  von  mir  ange- 
gebenen „Schriftwage“,  die  neben  der  Form  der  Schriftzüge  auch 
in  jedem  Augenblicke  Druck  und  Geschwindigkeit  des  Schrei- 
bens zu  messen  gestattet,  sind  einige  Ergebnisse  gewonnen  wor- 
den.*). Dabei  hat  sich  gezeigt,  dass  bei  manischen  Kranken  der 
Schreibdruck  erheblich  gesteigert,  die  Schrift  vergrössert  ist, 
während  die  Schnelligkeit  der  Bewegungen  erst  im  Laufe  des 
Schreibens  eine  nennenswerte  Beschleunigung  erfährt.  In  den 
cirkulären  Depressionszuständen  findet  sich  meist  Verlangsamung 
und  Verkleinerung  der  Schrift  mit  Abnahme  des  Schreibdruckes, 
doch  gibt  es  auch  zahlreiche  Fälle  dieser  Art  mit  sehr  aus- 
geprägter Verstimmung,  bei  denen  jene  Schriftstörungen  fehlen, 
ein  Zeichen  dafür,  dass  die  Zusammensetzung  des  psychischen 
Krankheitsbildes  trotz  äusserer  Ähnlichkeit  doch  eine  recht  ver- 
schiedene sein  kann.  Im  manischen  Stupor  liess  sich  Verlang- 
samung der  Schrift  neben  gesteigertem  Drucke  nachweisen.  Bei 
katatonischen  Kranken  sahen  wir  Schreiben  ohne  Störung  regel- 
los mit  Schwächung  der  Antriebe  ohne  Verlangsamung  wechseln; 
ferner  wurde  allmähliches  Versiegen  des  Druckes  und  schrullen- 
haftes Überspringen  einzelner  Aufgaben  beobachtet.  Jedenfalls 
ist  es  mit  Hilfe  dieser  Untersuchungen  möglich,  noch  eine  Reihe 
feinerer  Schriftstörungen  aufzudecken. 

Bei  solchen  Geisteskrankheiten,  die  mit  gröberen  Rin- 
denveränderungen einhergehen,  begegnen  uns  häufig  auch  die- 
jenigen Störungen  der  Sprache  und  Schrift,  die  man  in  der 
Hirnpathologie  zu  behandeln  pflegt,  Aphasie  und  Paraphasie, 
Agraphie,  Paragraphie,  Perseveration,  Unfähigkeit,  zu  lesen,  die 
Buchstaben  zu  Silben  und  Wörtern  zusammenzusetzen,  undeut- 
liche und  erschwerte  Aussprache,  Skandieren,  Eintönigkeit  der 
Rede,  Ataxie  der  Schrift.  Soweit  diese  Störungen  auf  unserem 
Gebiete,  bei  der  Paralyse,  der  arteriosklerotischen  Hirnerkrankung 
u.  s.  f.,  besondere  Züge  aufweisen,  werden  sie  im  klinischen  Teile 
Besprechung  finden. 

Es  hat  nicht  fehlen  können,  dass  die  Geisteskranken  auch 
an  der  Literatur  und  Kunst  einen  gewissen  Anteil  genom- 


')  Gross,  Psychologische  Arbeiten,  II,  450. 


310 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


men  haben.  Unter  den  Schriftstellern*)  treten  am  meisten  hervor 
Verrückte,  insbesondere  Querulanten,  Manische  und  Katatoniker. 
Die  Leistungen  der  ersteren  sind  meist  Verteidigung*-  oder  An- 
klageschriften in  eigener  Sache,  Flugblätter, . die  sich  an  die 
Öffentlichkeit  wenden,  um  für  vermeintlich  erlittene  Unbill  Ge- 
nugtuung zu  erlangen,  Notschreie  im  Kampfe  gegen  wahnhafte 
Gefahren  Auch  die  manischen  Erzeugnisse  richten  sich  häufig, 
aber  mehr  mit  Spott  und  Witz,  als  in  Verzweiflung  und  Entrü- 
stung, gegen  bestimmte  Personen,  namentlich  Irrenärzte,  schil- 
dern in  humoristischem  Tone  Anstaltserlebnisse,  gewandt  und 
ideenflüchtig,  mit  Wortspielen  und  Versen  gewürzt.  Andere 
manische  Kranke  liefern  Gedichtsammlungen  in  blühendstem  Stil; 
ich  selber  besitze  ein  derartiges  Büchelchen  voll  ideenflüchtigen 
Reimgeklingels  von  einem  einfachen  Bauern,  der  sich  später  m 
der  Depression  erhängte.  Die  katatonischen  W erke,  die  immer 
auf  Kosten  ihrer  Verfasser  gedruckt  werden,  enthalten  meist 
in  verzwicktem  Druck  und  eigenartiger  Rechtschreibung  unver- 
ständliche Sätze  über  die  höchsten  Fragen,  das  „Weltproblem“, 
„Natur,  Seele,  Geist“  und  ähnliches.  Neben  den  Spuren  guten 
Gedächtnisses  und  grosser  Belesenheit  kann  man  hier  die  schön- 
sten Beispiele  der  Sprachverwirrtheit  durch  ganze  Bände  hin- 
durch finden. 

Auf  der  anderen  Seite  lehrt  uns  die  Geschichte  des  mensch- 
lichen Geisteslebens,  dass  eine  Reihe  der  hervorragendsten  Per- 
sönlichkeiten entweder  einzelne  krankhafte  Züge  dargeboten  haben 
oder  in  ausgesprochene  Seelenstörungen  verfallen  sind.  Nament- 
lich die  erstere  Gruppe,  die  sich  freilich  je  nach  der  Abgrenzung 
des  Krankhaften  beliebig  weit  fassen  lässt,  hat  der  Auf- 
fassung zur  Stütze  dienen  müssen,  dass  die  geniale  Begabung 
vielfach  eine  Erscheinungsform  abnormer  V eranlagung  darstelle. 
Unter  den  klinisch  bestimmbaren  Geisteskrankheiten  grosser 
Geisteshelden  scheint  das  manisch-depressive  Irresein  am  häu- 
figsten zu  sein;  ferner  kennen  wir  Fälle  von  Paralyse,  Epilepsie, 
Alkoholismus,  paranoiden  und  senilen  Erkrankungen.  Möbius 
hat  sich  der  ausserordentlich  verdienstlichen  Arbeit  unterzogen, 
planmässig  die  Unterlagen  für  die  psychiatrische  Beurteilung  her- 


*)  Behr,  Volkmanns  klinische  Vorträge,  Neue  Folge,  Nr.  134. 


Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen. 


311 


vorragender  Persönlichkeiten  zu  schaffen;  bei  Goethe  und 
Schopenhauer  hat  er  die  krankhaften  Züge  aufgedeckt,  bei 
Rousseau  und  Nietzsche  eine  klare  Krankengeschichte  ge- 
liefert*). Leider  bietet  die  Durchführung  solcher  Untersuchungen, 
namentlich  über  längst  Verstorbene,  aus  naheliegenden  Gründen 
ausserordentliche  Schwierigkeiten. 

In  der  bildenden  Kunst  spielen  Geisteskranke  im  allgemeinen 
eine  geringere  Rolle,  schon  deshalb,  weil  es  für  sie  kaum  möglich 
ist,  ihre  Werke  an  die  Öffentlichkeit  zu  bringen.  Nichtsdesto- 
weniger sind  sie  auch  hier  tätig,  wie  die  Erfahrung  dartut,  dass 
bei  jedem  grösseren  künstlerischen  Wettbewerbe  immer  auch 
eine  Reihe  von  Entwürfen  einzulaufen  pflegen,  die  sofort  krank- 
haften Ursprung  verraten.  Ein  sehr  eigenartiges  Beispiel  krank- 
hafter Kunstübung  sind  die  schon  von  Goethe  beschriebenen 
Bildwerke  in  der  Villa  Palagonia  bei  Palermo,  abenteuerliche 
Zwittergeschöpfe  der  verschrobensten  Art,  die  durchaus  an  ge- 
wisse Zeichnungen  unserer  Katatoniker  erinnern.  Einzelne  krank- 
hafte Züge  finden  sich  wohl  bei  den  leicht  erregbaren  Künst- 
lern noch  häufiger,  als  bei  Gelehrten  und  Schriftstellern. 
Als  Beispiel  möge  der  belgische  Maler  W i e r t z genannt 
werden. 

Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen.  Die  Umwälzungen, 
welche  das  Irresein  in  dem  gesamten  Seelenleben  herbeiführt, 
müssen  das  Handeln  unserer  Kranken  notwendigerweise  auch  dann 
nach  vielen  Richtungen  hin  in  Mitleidenschaft  ziehen,  wenn  die 
eigentlichen  Störungen  zunächst  auf  ganz  anderen  Gebieten  ge- 
legen sind.  Ist  doch  das  Handeln  nichts  anderes,  als  das  End- 
ergebnis des  jeweiligen  seelischen  Gesamtzustandes!  Wir  sehen 
daher  in  der  Tat,  wie  sich  in  der  Beeinflussung  des  Handelns 
durch  die  verschiedenartigsten  und  fernliegendsten  Störungen  die 
innere  Einheitlichkeit  und  Untrennbarkeit  unseres  Seelenlebens 
auf  das  deutlichste  offenbart.  Bei  keiner  einzigen  Handlung  eines 
Geisteskranken,  wenn  wir  die  alltäglichsten,  rein  gewohnheits- 
mässigen  Verrichtungen  etwa  ausnehmen,  lässt  sich  mit  einiger 
Sicherheit  die  Bedeutung  abschätzen,  welche  das  Irresein 
für  ihr  Zustandekommen  und  ihre  besondere  Gestaltung  ge- 
wonnen hat. 


*)  Möbius,  Ausgewählte  Werke,  Band  1 — 4. 


312 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Die  Art  und  Richtung  der  krankhaften  Handlungen  wird 
in  der  Regel  durch  Wahnvorstellungen  bestimmt.  Versündigungs- 
ideen und  traurige  oder  ängstliche  Verstimmungen  sind  es,  die 
den  Kranken  zu  Taten  der  Verzweiflung,  zum  Kampfe  gegen  die 
eigene  Person,  zu  Selbstanklagen,  Selbstverstümmelung,  Abhacken 
der  Geschlechtsteile,  zu  Nahrungsverweigerung  oder  zu  Buss- 
übungen treiben.  Vor  allem  aber  haben  wir  hier  die  Selbstmord- 
neigung zu  fürchten,  die  überaus  häufig  das  Leben  der  Kranken 
bedroht.  Der  Verfolgungswahn  führt  zu  Wutausbrüchen,  zu  An- 
griffen aller  Art,  zum  Verfassen  von  Zeitungsanzeigen,  Flugschrif- 
ten, Beschwerden,  zu  Mord  und  Totschlag  oder  zurErsinnung  der 
mannigfachsten  Schutzmassregeln  gegen  die  vermeintlichen  Ver- 
folger, zu  Beschwörungen,  geheimnisvollen  Massnahmen  und  Ein- 
richtungen, zu  menschenfeindlicher  Absperrung  oder  zu  unstetem 
Herumwandern  in  der  Welt.  Bei  hypochondrischen  Wahnvorstel- 
lungen wiederum  sind  peinliche  Eingriffe  am  eigenen  Körper  nicht 
selten.  Salben  mit  Urin  und  Kot,  Verschmieren  wunder  Stellen 
mit  Brotbrei  und  ähnlichen  Verbandmitteln,  Herumstochern  in 
Nase  und  Ohren,  Durchbohren  der  Ohrläppchen  zur  Ableitung 
der  schlechten  Säfte  vom  Kopfe  gehören  noch  zu  den  harmloseren 
Massnahmen.  Dagegen  habe  ich  auch  Versuche  erlebt,  sich  den 
Leib  aufzuschneiden,  um  ein  vermeintliches  lebendes  Tier  heraus- 
zuholen, ferner  das  Essen  von  Nägeln,  um  durch  die  „Schärfe“ 
das  Blut  zu  reinigen.  Ähnliche  Handlungen  Hysterischer,  das 
Verschlucken  von  Nadeln,  Verletzungen  und  Einführen  von 
Fremdkörpern  in  die  Geschlechtsteile,  theatralische  Selbstmord- 
versuche, fortgesetztes  Hungern,  gehen  in  der  Regel  aus 
ganz  anderen  Beweggründen  hervor,  zumeist  wohl  aus  der 
krankhaften  Sucht,  aufzufallen  und  das  allgemeine  Mitgefühl 
zu  erwecken. 

Die  psychische  Erregung  führt  zunächst  sehr  bald  zu  Strei- 
tigkeiten und  Kämpfen  mit  der  Umgebung,  zu  Verfehlungen  gegen 
die  öffentliche  Ordnung,  nicht  selten  auch  zum  Widerstande  gegen 
die  Staatsgewalt.  Die  Kranken  benehmen  sich  auffallend,  rück- 
sichtslos, werden  unlenksam,  reizbar,  störend,  schliesslich  gewalt- 
tätig, sobald  man  ihnen  entgegentritt.  Das  alles  entwickelt  sich 
um  so  leichter,  als  die  Erregung  sehr  häufig  den  vermehrten 
Genuss  geistiger  Getränke  zur  Folge  hat,  durch  den  die  Kranken 


Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen. 


313 


rasch  noch  unruhiger  und  gefährlicher  werden.  Dazu  kommt 
meist  auch  die  Neigung  zu  geschlechtlichen  Ausschweifungen, 
die  sich  ohne  Rücksicht  auf  Anstand  und  Sitte  Luft  zu  machen 
pflegt.  Tolle  Streiche  aller  Art,  Zerstörungen,  abenteuerliche 
Fahrten,  Prügeleien,  öffentliches  Ärgernis  sind  die  regelmässigen 
Begleitereignisse  derartiger  Erregungszustände.  Gesellen  sich 
Grössenideen  hinzu,  so  kommt  es  zu  sinnlosen  Einkäufen  und 
Bestellungen,  zur  Einleitung  fabelhafter  Unternehmungen,  zur 
Verschleuderung  grosser  Geldsummen  in  unglaublich  kurzer  Zeit. 
Die  zuversichtliche  Vorstellung,  über  unerschöpfliche  Mittel  zu 
verfügen,  kann  den  Kranken  veranlassen,  ganz  harmlos  von  allem 
Besitz  zu  ergreifen,  was  ihm  gefällt,  Unterschlagungen,  Zech- 
prellereien, Betrügereien  zu  begehen. 

Andere  Kranke  mit  Grössenideen  bereiten  planmässig  und 
von  langer  Hand  alles  vor,  um  vermeintliche  Ansprüche  zu  ver- 
wirklichen. Sie  richten  Briefe  an  hochgestellte  Persönlichkeiten, 
suchen  sich  denselben  zu  nähern,  die  allgemeine  Aufmerksamkeit 
auf  sich  zu  lenken,  veröffentlichen  Flugschriften,  erscheinen 
plötzlich  mit  Orden  oder  in  Uniform.  Selbst  die  Erregung  öffent- 
lichen Ärgernisses,  Missachtung  der  Polizeivorschriften  oder  gar 
Angriffe  auf  Geistliche,  Beamte,  Fürsten  dienen  ihnen  mitunter, 
um  ihre  Lage  und  ihre  Ansprüche  allgemein  bekannt  zu  machen. 
Sehr  häufig  sind  die  Annäherungsversuche  an  hochgestellte  Per- 
sonen des  anderen  Geschlechtes,  an  die  vermeintlichen  heimlichen 
Verlobten.  Fensterpromenaden,  Blumensendungen,  Liebesbriefe, 
Heiratsanträge,  Nachreisen,  persönliche  Ansprache  werden  zur 
Erreichung  des  Zieles  ins  Werk  gesetzt,  wenn  sich  der  Kranke 
nicht,  was  häufig  der  Fall  ist,  mit  geheimnisvollen,  über- 
sinnlichen Beziehungen  zu  dem  geliebten  Gegenstände  begnügt. 
Religiöse  Grössenideen  führen  öfters  zu  dem  Bedürfnisse,  eine 
Gemeinde  zu  gründen,  die  Satzungen  der  herrschenden  Kirche  zu 
bekämpfen,  die  Märtyrerkrone  zu  erwerben.  Auffallende,  an 
Christus  erinnernde  Tracht  mit  ungeschorenem  Haupthaar,  ge- 
suchte Einfachheit  der  Lebensgewohnheiten,  öffentliche  Pre- 
digten und  Vorträge,  Auflehnung  gegen  die  kirchlichen  Gebräuche 
bis  zur  Beschimpfung  derselben,  Heranziehung  gleichgesinnter 
Schüler  pflegen  die  Schritte  zu  sein,  die  von  solchen  Kranken 
nach  und  nach  unternommen  werden. 


314 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


Es  würde  natürlich  zu  weit  führen,  wollten  wir  hier  auch  nur 
annähernd  alle  die  verkehrten  Handlungen  aufzählen,  die  im  Ein- 
zelfalle aus  Wahnvorstellungen  hervorgehen  können;  so  ver- 
schieden die  Beweggründe,  so  verschieden  die  Persönlichkeiten 
sind,  so  mannigfaltig  gestaltet  sich  die  Handlungsweise,  wie  sie 
sich  als  Ergebnis  aus  dem  Zusammenwirken  dieser  beiden  Be- 
dingungen schliesslich  herausentwickelt.  Nur  darauf  sei  zum 
Schlüsse  noch  hingewiesen,  dass  die  geistige,  oft  auch  die  kör- 
perliche Leistungsfähigkeit  bei  Fortdauer  des  Irreseins 
unter  allen  Umständen  eine  schwere  Einbusse  erleidet.  Es  ist 
wahr,  dass  es  geisteskranke  Künstler  und  Schriftsteller  gibt, 
die  auch  nach  ihrer  Erkrankung  noch  imstande  sind,  ihre  Tätig- 
keit fortzusetzen.  Allein  wir  sehen  dabei  ausnahmslos,  dass  der 
Wert  des  Geleisteten  bedeutend  gesunken  ist.  Fast  immer  leidet 
auch  die  Stetigkeit  und  Nachhaltigkeit  der  Arbeitskraft.  Sehr 
häufig  aber  erlischt  die  Fähigkeit,  Neues  zu  schaffen,  mehr  oder 
weniger  vollständig.  Nur  das  handwerksmässig  Eingelernte  er- 
hält sich;  im  übrigen  bleibt  es  bei  Wiederholungen  oder  Ver- 
zerrungen früherer  Schöpfungen.  Mannigfache  ausgesprochen 
krankhafte  Züge  mischen  sich  hinein,  unbegreiflich  absonder- 
liche oder  geradezu  wahnhafte  Zutaten  neben  einzelnen  Resten 
aus  gesunder  Zeit.  Auf  dem  Gebiete  der  körperlichen  Arbeit 
pflegt  die  Veränderung  bei  weitem  weniger  eingreifend  zu 
sein.  Wir  sehen  zahlreiche  Geisteskranke  in  den  Anstalten 
nach  dem  Ablaufe  der  stürmischeren  Krankheitserscheinungen 
äusserst  brauchbare  und  selbst  erfinderische  Arbeiter  werden. 
Dennoch  sind  auch  hier  die  Fälle  recht  selten,  in  denen  ein  nicht 
genesener  Geisteskranker  dauernd  die  volle  Arbeitskraft  des  Ge- 
sunden zu  entwickeln  imstande  ist. 

Aus  den  angeführten  Gründen  werden  Geisteskranke  regel- 
mässig sehr  bald  unfähig  zu  verantwortungsvoller  Tätigkeit.  So 
lange  indessen  die  Störung  nicht  erkannt  ist,  können  sie  durch 
ihre  Handlungen  die  schwersten  Schädigungen  über  sich  und  ihre 
Umgebung  herbeiführen.  Besonders  gross  ist  natürlich  diese  Ge- 
fahr bei  Personen  mit  grosser  Machtfülle  und  namentlich  bei 
Herrschern.  Krankhafte  Seelenzustände  von  Machthabern  sind 
daher  oft  genug  für  die  Schicksale  von  Völkern  und  Staaten 
von  einschneidender  Bedeutung  gewesen,  von  den  Cäsaren  der 


Handeln  aus  krankhaften  Beweggründen. 


315 


Julisch-Claudischen  Familie*)  bis  zu  Johanna  von 
Kastilien  und  zu  jenem  unglücklichen  Bayernkönige,  dem  sein 
Arzt  als  Opfer  seines  Berufes  mit  in  den  Tod  folgte. 

Der  praktischen  Rechtspflege,  die  es  ja  gerade 
mit  dem  Handeln  der  Menschen  zu  tun  hat,  haben  die  Störungen 
desselben  bei  geistigen  Erkrankungen  nicht  entgehen  können. 
Das  Bedürfnis  jener  Wissenschaft  hat  daher  zur  Aufstellung  ge- 
wisser allgemeiner  Eigenschaften  der  Persönlichkeit  geführt, 
welche  als  Grundlage  für  die  rechtliche  Tragweite  menschlicher 
Willensäusserungen  angesehen  werden.  Diese  Eigenschaften,  die 
dem  Gesunden  ohne  weiteres  zageschrieben  werden,  sind  die 
Geschäftsfähigkeit  und  die  Zurechnungsfähigkeit. 
Die  psychologischen  Voraussetzungen  für  die  Geschäftsfähigkeit 
sowohl  wie  für  die  Zurechnungsfähigkeit  liegen  zum  Teil  auf 
dem  Gebiete  des  Verstandes,  zum  Teil  aber  in  dem  Bereiche  des 
Wollens.  Beide  Zustände  erfordern  einmal  eine  klare  Auf- 
fassung der  tatsächlichen  Verhältnisse,  einen 
Einblick  in  die  rechtliche  oder  sittliche  Bedeu- 
tung der  einzelnen  Willenshandlung,  anderei seits 
die  Möglichkeit  einer  freien  Entschliessung  in 
der  Richtung  jener  Beweggründe,  die  der  eigenen 
selbstbewussten  Persönlichkeit  angehören.  Wie 
man  leicht  sieht,  werden  bei  Geisteskranken  in  der  Regel  die 
beiden  aufgestellten  Bedingungen  unerfüllt  sein.  Wo  Wahnideen 
die  Stellung  des  Ich  zur  Aussenwelt  in  krankhafter  Weise  ver- 
ändern, ist  für  die  richtige  Beurteilung  des  eigenen  Handelns 
durch  den  Kranken  keine  Gewähr-  mehr  gegeben,  während  der 
Verlust  der  dauernden,  grundlegenden  Willensrichtungen  oder  die 
Überwältigung  derselben  durch  krankhafte  Gefühle  und . Triebe 
dem  Menschen  zweifellos  die  Freiheit  eigener  Entschliessung 
im  gebräuchlichen  Sinne  des  Wortes  rauben.  Sowohl  die  Fähig- 
keit, Rechtshandlungen  zu  vollziehen,  wie  die  Zurechnungsfähig- 
keit und  damit  die  rechtliche  Verantwortlichkeit  für  gemein- 
gefährliche Taten  sind  demnach  bei  Geisteskranken  grundsätz- 
lich als  aufgehoben  zu  betrachten.  Eine  allgemeine  „Einsicht  in 
die  Strafbarkeit  der  begangenen  Handlung“,  ja  auch  bisweilen 

*)  wiedemeister,  Der  Cäsarenwahnsinn  der  Julisch-Claudischen  Im- 
peratorenfamilie. 1875. 


316 


II.  Die  Erscheinungen  des  Irreseins. 


die  Möglichkeit,  verbrecherische  Antriebe  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zu  bekämpfen,  kann  trotzdem  recht  wohl  vorhanden  sein. 
Die  eingehendere  Würdigung  dieser  rechtlichen  Beziehungen  der 
Irren  bildet  den  Gegenstand  einer  besonderen  Wissenschaft,  der 
gerichtlichen  Psychopathologie*). 

*)  v.  Krafft-Ebing,  Lehrbuch  der  gerichtlichen  Psychopathologie, 
3.  Aufl.  1892;  Maschkas,  Handbuch  der  gerichtlichen  Medizin,  Bd.  IV.  1882; 
Cramer,  Gerichtliche  Psychiatrie,  3.  Auflage.  1903;  Delbrück,  Gerichtliche 
Psychopathologie.  1897;  Ho  che,  Handbuch  der  gerichtlichen  Psychiatrie.  1901. 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 

Wie  die  Erscheinungen,  so  werden  auch  Verlauf,  Ausgänge 
und  Dauer  des  Irreseins  im  allgemeinen  durch  jene  zwei  grossen 
Gruppen  von  Ursachen  bedingt,  die  wir  in  der  Entstehungs- 
geschichte der  Geistesstörungen  kennen  gelernt  haben,  einerseits 
durch  die  Art  und  Wirkungsweise  der  kriankmachenden 
Einflüsse,  andererseits  durch  die  körperliche  und  geistige 
Eigenart  der  erkrankenden  Person.  Diese  beiden  Be- 
dingungen sind  es,  die  das  Wesen  und  die  klinischen  Eigen- 
tümlichkeiten des  einzelnen  KrankheitsVorganges  bestimmen; 
je  genauer  daher  der  Anteil  eines  jeden  derselben  an  der  Ent- 
stehungsgeschichte des  gegebenen  Falles  bekannt  ist,  mit  desto 
grösserer  Sicherheit  wird  es  möglich  sein,  die  zukünftige  Gestaltung 
desselben  vorauszusagen.  Da  uns  indessen  meist  ein  tieferer  Ein- 
blick in  den  inneren  Zusammenhang  zwischen  Ursache  und  Wir- 
kung noch  nicht  möglich  ist,  sind  wir  vor  der  Hand  darauf  an- 
gewiesen, unser  Urteil  über  den  voraussichtlichen  Verlauf  einer 
Erkrankung  aus  Anzeichen  abzuleiten,  die  sich  rein  erfahrungs- 
mässig  zur  Lösung  dieser  Aufgabe  bewährt  haben. 


A.  Verlauf  des  Irreseins. 

Nach  ihrem  Verlaufe  scheiden  sich  die  Geistesstörungen  vor 
allem  in  krankhafte  Vorgänge  und  in  krankhafte  Zustände. 
Im  ersteren  Falle  handelt  es  sich  um  den  Ablauf  bestimmter 
Veränderungen  in  einer  umgreuzten  Zeit,  im  letzteren  dagegen 
um  ein  dauerndes,  sich  gleichbleibendes  Verhalten  der  psychi- 
schen Persönlichkeit,  das  entweder  angeboren  (z.  B.  Idiotie, 
hysterische  Veranlagung)  oder  als  Wirkung  einer  vorauf- 


318 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


gegangenen  Geisteskrankheit  erworben  sein  kann  („End- 
zustände“)- Bei  diesen  krankhaften  Zuständen  kann  entweder  nur 
die  Höhe  oder  auch  die  Art  der  seelischen  Leistungen  verändert 
sein.  Zu  beachten  ist  übrigens,  dass  sie  vielfach  den  Boden  für 
die  Entwicklung  vorübergehender,  abgegrenzter  Krankheits- 
erscheinungen abgeben. 

Den  Vorgang  der  psychischen  Störung  fasste  Griesinger 
im  Anschlüsse  an  seinen  Lehrer  Zeller  als  einen  einheit- 
lichen auf,  dessen  einzelnen  Abschnitten  die  verschiedenen  klini- 
schen Formen  des  Irreseins  (Melancholie,  Manie,  Verrücktheit, 
Verwirrtheit,  Blödsinn)  entsprechen  sollten.  Die  Grundlage  dieser 
Anschauung  hat  anscheinend  namentlich  die  Dementia  praecox, 
in  gewissem  Sinne  wohl  auch  das  manisch-depressive  Irresein 
und  die  Paralyse  geliefert.  Allein  die  Erfahrung  hat  die  Annahme 
eines  regelmässigen  Ablaufes  „der  Geisteskrankheit  in  bestimm- 
ten Abschnitten  nicht  bestätigt  und  zunächst  durch  den  Hinweis 
auf  die  Tatsache  einer  „primären“  Verrücktheit  das  künstlich 
erdachte  Gesetz  durchbrochen.  In  der  Tat  lässt  die  Beobachtung 
der  Formen  psychischer  Störung  durchaus  nicht  den  nach  der 
angeführten  Auffassung  erwarteten  einheitlichen,  sondern  einen 
überaus  verschiedenartigen  Verlauf  derselben  erkennen. 

Beginn  der  Erkrankung.  Der  Beginn  einer  Geisteskrankheit 
ist  in  der  Regel  ein  allmählicher;  weit  seltener  bricht  die  Störung 
plötzlich,  ohne  alle  Vorboten  über  den  Menschen  herein.  Der  Grund 
für  dieses  Verhalten  liegt  in  der  allgemeinen  Entstehungsweise 
des  Irreseins.  Es  gibt  hier  nur  verhältnismässig  wenige  Ursachen, 
die  ganz  rasch  eine  durchgreifende  Schädigung  der  körperlichen 
Grundlagen  unseres  Seelenlebens  hervorzubringen  vermögen 
(Gifte,  Gemütserschütterung,  Schädelverletzung,  Fieber,  Gebär- 
akt); meistens  haben  wir  es  mit  stetig,  aber  langsam  wirkenden 
Einflüssen  zu  tun,  die  erst  nach  und  nach  stärkere  Veränderungen 
erzeugen.  Namentlich  dort,  wo  die  Bedingungen  der  Krankheit 
wesentlich  in  der  eigentümlichen  Anlage  der  Person  liegen,  kann 
die  Entwicklung  des  Leidens  Jahre  und  selbst  Jahrzehnte  dauern, 
wenn  kein  heftiger  Anstoss  im  Kampfe  ums  Dasein  den  Ausbruch 
beschleunigt.  Der  Beginn  der  Erkrankung  knüpft  sich  dann  gern 
an  bestimmte  Lebensalter,  die  wir  anscheinend  als  Zeiten  ge- 
ringerer Widerstandsfähigkeit  betrachten  dürfen.  Dahin  gehören 


Höhe  der  Erkrankung. 


319 


in  erster  Linie  die  Entwicklungsjahre,  ferner  der  Beginn  des 
Greisenalters  und  bei  Frauen  das  Klimakterium. 

Bemerkenswert  ist  es,  dass  regelmässig  kleine  Veränderungen 
im  Gefühlsleben  die  ersten  und  bisweilen  Wochen,  Monate, 
selbst  Jahre  lang  einzigen  Anzeichen  einer  herannahenden  Geistes- 
krankheit zu  bilden  pflegen.  Überall,  wo  überhaupt  eine  Zeit 
der  einleitenden  Krankheitserscheinungen  sich  abgrenzt,  spielen 
unter  denselben  erhöhte  gemütliche  Reizbarkeit  und  Launenhaftig- 
keit, Unruhe,  unbegründet  heitere,  ganz  besonders  häufig  aber 
niedergeschlagene  Stimmung  die  Hauptrolle,  selbst  wenn  später- 
hin die  Störungen  der  Gefühle  ganz  in  den  Hintergrund  treten. 
Ausserdem  sind  Zerstreutheit,  Interesselosigkeit  oder  auffallende 
Geschäftigkeit  häufige  Vorläufer  der  Krankheit.  Zugleich  lässt 
sich  regelmässig  eine  mehr  oder  weniger  tiefgreifende  Beeinträch- 
tigung des  Schlafes,  häufig  auch  eine  Störung  der  Esslust  und 
fortschreitendes  Sinken  der  allgemeinen  Ernährung  beobachten. 
Bei  den  sehr  langsam  zur  Entwicklung  gelangenden  Geistesstö- 
rungen ist  der  eigentliche  Anfang  häufig  schwer  festzustellen; 
der  Zeitpunkt,  an  welchem  von  der  Umgebung  die  erste  Verände- 
rung an  dem  Kranken  wahrgenommen  wurde,  bietet  oft  nur  einen 
sehr  unzuverlässigen  Anhalt  für  die  Beurteilung  dar. 

An  die  Zeit  der  ersten  Andeutungen  schliesst  sich  bisweilen 
eine  solche  des  eigentlichen  Krankheitsbeginnes  an,  in  welcher 
zwar  das  Irresein  bereits  deutlich  hervortritt,  aber  doch  erst  nach 
und  nach  zu  jener  vollständigen  Ausbildung  sich  steigert,  die  man 
als  die  Höhe  der  Krankheit  bezeichnen  kann.  In  anderen  Fällen 
erfolgt  der  eigentliche  Ausbruch  der  Geistesstörung  nach  den 
vorangegangenen  unbestimmten  Erscheinungen  mehr  oder  weniger 
plötzlich,  besonders  im  Anschlüsse  an  irgend  eine  äussere  Veran- 
lassung, welche  die  schon  angebahnte  Störung  rasch  zu  ihrer 
vollen  Höhe  anwachsen  lässt. 

Höhe  der  Erkrankung.  Der  weitere  Verlauf  lässt  je  nach 
der  Krankheitsform  erhebliche  Verschiedenheiten  erkennen.  Die 
Krankheit  kann  sich  lange  Zeit  auf  derselben  Höhe  erhalten: 
gleich mässiger  V erlauf ; oder  sie  kann  vielfache  Schwan- 
kungen in  der  Stärke  ihrer  Erscheinungen  darbieten:  schwan- 
kender Verlauf.  Dies  letztere  Verhalten  ist  bei  weitem  das 
häufigste.  Die  Nachlässe  der  Störung  schliessen  sich  öfters  mit 


320 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


einer  gewissen  Regelmässigkeit  an  den  Ablauf  der  Tageszeiten  an. 
Die  Unruhe  und  Unklarheit  der  Greise  beschränkt  sich  nicht  selten 
ganz  auf  die  Nacht,  während  die  Kranken  am  Tage  vielleicht  ge- 
ordnet sind;  ebenso  sehen  wir  Alkoholdeliranten  in  der  Nacht 
regelmässig  erregter  und  verwirrter  werden.  Dass  epileptische 
Anfälle  bei  vielen  Kranken  nur  oder  doch  vorzugsweise  nachts 
auftreten,  ist  längst  bekannt.  In  cirkulären  Depressionszustän- 
den, seltener  in  der  Melancholie,  ist  der  Wechsel  der  Stimmung 
vom  Morgen  zum  Abend  oft  sehr  auffallend;  meist  sind  die  Kranken 
abends  sehr  viel  freier,  als  morgens,  seltener  umgekehrt.  Hie 
und  da  beobachtet  man  auch  einen  regelmässigen  Wechsel  von  Tag 
zu  Tag,  selbst  Monate  und  Jahre  hindurch.  Zur  Zeit  der  Menses 
stellt  sich  meist  eine  vorübergehende  Verschlechterung  des  Zu- 
standes ein,  bisweilen  auch  dann,  wenn  die  Blutung  ausbleibt. 
Andererseits  pflegt  das  Wiedererscheinen  der  versiegten  Menses 
mit  einer  günstigen  Wendung  des  Krankheitszustandes  einher- 
zugehen. 

Eine  sehr  grosse  Zahl  von  Geistesstörungen  verläuft  in  ein- 
zelnen, durch  längere  freie  Zwischenzeiten  unterbrochenen  An- 
fällen. Sehr  begreiflich  ist  ein  solcher  anfallsweiser  A erlauf,  wo 
dieselbe  Gelegenheitsursache  immer  von  neuem  wirkt.  Dahin  ge- 
hören die  Aufregungszustände  der  Trinker.  Bei  den  epileptischen 
Bewusstseinsstörungen  beruht  das  anfallsweise  Auftreten  in  dem 
eigentümlichen  Kreisläufe  der  zu  Grunde  liegenden,  noch  nicht 
näher  bekannten  Umwälzungen;  ähnlich  steht  es  mit  den  seltenen, 
den  Fieberverlauf  nachahmenden  und  an  seiner  Stelle  einsetzenden 
Geistesstörungen  infolge  von  Malaria  Vergiftung.  Der  Erkrankte 
ist  jedoch  hier  überall  auch  während  der  freien  Zwischenzeiten 
nicht  als  gesund  zu  betrachten,  sondern  die  Krankheitserschein- 
ungen sind  nur  zurückgetreten.  Die  psychische  Entartung  der 
Trinker  und  Epileptiker,  die  Unsicherheit  ihres  inneren  Gleich- 
gewichtes bildet  ebenso  das  Bindeglied  zwischen  den  einzelnen 
Ausbrüchen  des  Irreseins,  wie  die  Malariavergiftung  mit  ihren 
Zeichen  die  einzelnen  Fieberanfälle  überdauert. 

Ganz  ähnlich  sind  diejenigen  Geistesstörungen  zu  beur- 
teilen, welchen  man  wegen  ihres  ausgesprochen  anfallsweisen 
Verlaufes  den  Namen  des  „periodischen“  Irreseins  beigelegt  hat. 
Es  handelt  sich  dabei  um  einen  mehr  oder  weniger  regelmässigen 


Höhe  der  Erkrankung. 


321 


Wechsel  krankhafter  mit  nahezu  gesunden  Zuständen;  die  ein- 
zelnen Abschnitte  können  Wochen,  Monate,  ja  selbst  eine  Reihe 
von  Jahren  dauern.  Ebenso  kann  die  Dauer  der  Zwischenzeiten 
(„Intermissionen“)  von  einigen  Wochen  bis  zu  vielen  Jahren 
schwanken.  Die  wesentliche  Ursache  der  Krankheit  liegt  hier 
offenbar  in  der  Person  des  Erkrankten  selber,  da  sich  häufig  gar 
kein  oder  doch  nur  ein  sehr  geringfügiger  Anlass  für  den  Aus- 
bruch des  Anfalles  auffinden  lässt;  gelegentlich  spielen  die  Menses 
eine  solche  auslösende  Rolle.  Es  gibt  indessen  auch  Formen, 
in  denen  die  einzelnen  Erkrankungen  wesentlich  oder  ausschliess- 
lich im  Gefolge  ungünstiger  äusserer  Lebensereignisse  (Gemüts- 
erschütterungen, Wochenbett,  körperliche  Leiden)  auf  treten,  die 
allerdings  bei  rüstigem  Gehirn  schwerlich  eine  solche  Schwankung 
des  psychischen  Gleichgewichts  herbeigeführt  haben  würden;  hier 
sind  die  Anfälle  seltenere  und  unregelmässigere.  Endlich  aber  be- 
gegnen uns  manche  Fälle,  in  denen  die  Krankheit  sogar  nur  zwei- 
bis  dreimal  im  Leben  auftritt.  Von  einer  eigentlichen  Periodicität 
kann  man  hier  nicht  mehr  sprechen,  doch  wird  der  innere  Zusam- 
menhang der  einzelnen  Anfälle  durch  die  Zugehörigkeit  zu  dem- 
selben klinischen  Formenkreise  dargetan.  Aus  dieser  Überein- 
stimmung der  Krankheitsbilder  leiten  wir  auch  die  Berech- 
tigung ab,  jene  ganz  vereinzelten  Fälle  dieser  Gruppe  zuzu- 
rechnen, in  denen  nur  ein  einziger  ausgeprägter  Anfall  zu  stände 
kommt. 

Allerdings  ist  der  klinische  Aufbau  der  Anfälle  beim  perio- 
dischen Irresein  nicht  immer  ein  so  gleichmässiger,  dass  jeder 
folgende  genau  das  Bild  der  früheren  wiederholt;  häufiger  sehen 
wir  verschiedenartige  Gestaltungen  miteinander  abwechseln. 
Nicht  nur  kann  die  Dauer  und  Stärke  der  Krankheitserscheinungen 
eine  sehr  verschiedene  sein,  sondern  auch  die  klinische  Eigenart 
der  einzelnen  Krankheitsabschnitte  kann  bei  demselben  Falle 
grosse  Verschiedenheiten  zeigen.  Am  auffallendsten  ist  der  mehr 
oder  weniger  regelmässige  Wechsel  zwischen  manischen  und 
Depressionszuständen,  dem  man  den  besonderen  Namen  des 
cirkulären  Irreseins  gegeben  hat.  Aber  auch  die  Abschnitte 
von  gleicher  Färbung  bieten  in  dem  stärkeren  oder  schwächeren 
Hervortreten  von  Erregung  und  Hemmung  oder  der  Mischung 
beider,  in  dem  Auftauchen  oder  Fehlen  von  Wahnideen  und  Sinnes- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl.  21 


322 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


täuschungen  noch  mancherlei  Verschiedenheiten.  Dennoch  ist  es 
immer  ein  bestimmter  Formenkreis,  innerhalb  dessen  sich  alle 
diese  Bilder  bewegen,  so  dass  ihre  innere  Einheit  unschwer  erkannt 
und  damit  von  dem  gegebenen  Anfalle  auf  die  Wiederkehr  anderer 
Anfälle  aus  derselben  klinischen  Gruppe  geschlossen  werden  kann. 

Die  Zahl  und  Dauer  der  Anfälle  pflegt  im  Verlaufe  der  ganzen 
Krankheit  ganz  allmählich  zuzunehmen.  Die  gesamte  geistige  Per- 
sönlichkeit erleidet  dabei  eine  gewisse,  wenn  auch  zunächst  viel- 
leicht nicht  sehr  stark  bemerkbare  Einbusse.  Namentlich  bei 
Häufung  schwerer  Anfälle  mit  kurzen  Zwischenzeiten  können  sich 
tiefergreifende  Schwächezustände  herausbilden.  Auch  in  leich- 
teren Fällen  sind  übrigens  die  periodisch  Kranken  während  der 
anfallsfreien  Zeiten  oft  nicht  völlig  gesund;  gewisse  Eigentüm- 
lichkeiten, verschlossenes  oder  sehr  aufgeregtes  V esen,  auf- 
fallende gemütliche  Reizbarkeit  oder  Stumpfheit,  Schwäche  oder 
Einseitigkeit  in  den  geistigen  Leistungen,  namentlich  aber  der 
Mangel  einer  ganz  klaren  Einsicht  in  die  eigenen  Krankheits- 
zustände  lassen  sich  vielfach  auch  dann  nachweisen,  w enn  der 
anscheinend  Genesene  wieder  voll  in  seinen  früheren  Wirkungs- 
kreis eingetreten  ist. 

Eine  wesentlich  andere  Bedeutung,  als  den  Zwischenzeiten 
beim  periodischen  Irresein,  müssen  wir  wohl  endlich  jenen  Nach- 
lässen („Remissionen“)  der  Krankheitserscheinungen  zuerkennen, 
die  wir  so  häufig  bei  der  Paralyse  und  ganz  ähnlich  bei  der  De- 
mentia praecox  sich  einstellen  sehen.  Hier  haben  wir  es  mn 
Krankheiten  zu  tun,  die  meist  sehr  entschieden  fortschreiten. 
Trotzdem  kann  das  Leiden  zeitweise  zum  Stillstände  kommen, 
währenddessen  die  ausgeprägteren  Krankheitszeichen  ganz  oder 
doch  nahezu  vollständig  zurück  treten.  Offenbar  müssen  also  die 
-zu  Grunde  liegenden  Schädlichkeiten  sich  vorübergehend  wieder  aus- 
gleichen  können.  Indessen  es  handelt  sich  hier  in  der  ganz  über- 
wiegenden Zahl  der  Fälle  doch  um  einen  Rest  von  bleibenden 
Störungen,  die  eine  Veränderung  der  gesamten  geistigen  Persön- 
lichkeit bedeuten.  Namentlich  aber  stellt  sich  bei  der  Paralvte 
fast  unfehlbar,  bei  der  Dementia  praecox  wenigstens  in  der  Regel, 
früher  oder  später  ein  neuer  Nachschub  der  Krankheit  ein,  der 
nunmehr  eine  erhebliche  Verschlechterung  des  Gesamtzustandes, 
oft  genug  tiefe  Verblödung  herbeiführt.  In  welchem  Umfange 


Genesungszeit. 


323 


daneben  bei  beiden  Krankheiten  auch  dauernde  Stillstände  oder 
gar  völlige  Genesungen  Vorkommen,  bedarf  noch  weiterer  Unter- 
suchung. 

Genesungszeit.  Am  häufigsten  finden  sich  Schwankungen  des 
Krankheitszustandes  beim  Schwinden  der  einzelnen  Anfälle;  sie 
sind  daher  im  allgemeinen  als  ein  günstiges  Zeichen  anzusehen. 
Allerdings  kommt  auch,  besonders  bei  den  sehr  rasch  entstandenen 
und  sehr  kurz  dauernden  Geistesstörungen  (alkoholisches  Irresein, 
epileptische  Erregungszustände,  Collapsdelirien,  Fieberdelirien), 
ein  fast  plötzliches  Verschwinden  der  ganzen  Krankheitserschei- 
nungen vor,  z.  B.  nach  einem  tiefen  Schlafe.  In  der  übergrossen 
Mehrzahl  der  Fälle  jedoch  geschieht  die  Abnahme  einer  psy- 
chischen Störung  ganz  allmählich,  im  Laufe  von  Wochen  und 
Monaten.  Zuerst  verlieren  sich,  wie  es  scheint,  Erschwerungen 
der  Auffassung  und  des  Denkens;  die  Kranken  beginnen  sich  in 
ihrer  Umgebung  zurechtzufinden,  Arzt  und  Mitkranke  richtig  zu 
bezeichnen,  verstehen  besser,  sprechen  zusammenhängender.  Weit 
später  schwinden  die  Zeichen  gemütlicher  Erregung,  die  heitere 
oder  traurige  Stimmung;  die  Kranken  werden  ruhiger,  freier, 
gleichmässiger  in  ihrem  Benehmen.  Anfangs  besteht  diese  Bes- 
serung vielleicht  nur  für  kurze  Zeit,  Tage  oder  Stunden,  um  einem 
abermaligen  Hervortreten  der  Krankheitserscheinungen  bald  wie- 
der zu  weichen.  Nach  und  nach  werden  dann  die  Besserungen 
ausgiebiger  und  gewinnen  längere  Dauer;  die  Rückfälle  verlieren 
an  Stärke,  bis  schliesslich  nur  noch  leichte  Verschlimmerungen 
bei  besonderen  Anlässen  den  fortschreitenden  Gang  der  Genesung 
unterbrechen. 

Am  längsten  pflegt  sich  von  den  Krankheitserscheinungen 
die  Empfindlichkeit  des  gemütlichen  Gleich- 
gewichts und  die  Abstumpfung  der  Gefühlsregungen  zu 
erhalten,  auch  wenn  die  Störungen  der  Verstandestätigkeit  und 
die  dauernden  Verstimmungen  sich  schon  längere  Zeit  aus- 
geglichen hatten.  So  lässt  sich  der  Verlauf  der  Krankheit  in 
seinen  einzelnen  Abschnitten  vielleicht  am  genauesten  nach  dem 
Verhalten  der  Gemütsregungen  beurteilen.  Sind  es  doch  aber 
auch  gerade  die  Gefühle,  in  denen  sich  unmittelbar  die  augen- 
blickliche Stellungnahme  der  Person  zu  den  Eindrücken  und  Vor- 
stellungen ihres  Bewusstseinsinhaltes  kundgibt,  die  uns  somit  über 

21* 


324 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


den  Zustand  derselben  jeweils  am  besten  aufzuklären  vermögen, 
während  die  Verstandesarbeit  weit  mehr  von  dem  Erwerbe  ver- 
gangener Tage,  dem  Schatze  früher  gebildeter  Vorstellungen, 
Begriffe  und  Urteile  beherrscht  wird.  Eine  Störung  der  Ver- 
standesleistungen kommt  daher  erst  verhältnismässig  spät  zu 
stände,  und  sie  gleicht  sich  unter  dem  Einflüsse  der  gesammelten 
Erfahrung  früher  wieder  aus,  als  die  Veränderungen  im  Bereiche 
des  Gefühls. 

Sehl-  klare  und  darum  praktisch  überaus  wichtige  Be- 
ziehungen zu  dem  Gesamtverlaufe  des  Irreseins  pflegt  das 
Körpergewicht  unserer  Kranken  darzubieten.  Während  alle 
krankhaften  Zustände  nur  insoweit  erheblichere  Schwankungen 
des  Körpergewichtes  erkennen  lassen,  wie  greifbare  Ernährungs- 
störungen oder  etwa  vorübergehende  Erregungen  dasselbe  beein- 
flussen, beginnt  jeder  eigentliche  psychische  Krankheitsvorgang 
mit  einem  entschiedenen  Sinken  des  Körpergewichtes,  welches 
unter  Umständen  20,  30  Pfund  und  noch  mehr  in  wenigen  Monaten 
und  selbst  Wochen  betragen  kann.  Während  des  Krankheits- 
verlaufes schreitet  die  Abnahme  langsam  fort;  im  übrigen  pflegen 
ohne  besonderen  Anlass  nur  geringfügige  Schwankungen  vorzu- 
kommen. 

Der  weitere  Gang  des  Körpergewichtes  gestaltet  sich  je  nach 
der  Art  der  Erkrankung  verschieden.  Jede  wirkliche  Genesung 
geht  mit  einer  bedeutenden  Hebung  der  allgemeinen  Ernährung 
einher.  Vielfach  kündigt  sich  diese  Wendung  des  Krankheits- 
verlaufes im  Verhalten  des  Körpergewichtes  schon  zu  einer  Zeit 
an,  in  der  die  sonstigen  Krankheitserscheinungen  noch  keinerlei 
Besserung  erkennen  lassen.  Umgekehrt  sehen  wir  bisweilen  den 
Krankheitszustand  sich  günstig  gestalten,  ohne  dass  die  Er- 
nährung sich  in  entsprechendem  Masse  bessert.  Derartige  Wen- 
dungen sollten  stets  so  lange  mit  äusserstem  Misstrauen  betrach- 
tet werden,  bis  die  unbedingt  notwendige,  aber  zuweilen  verzögerte 
Körpergewichtszunahme  endlich  eingetreten  ist.  Am  schönsten 
zeigt  sich  dieses  gesetzmässige  Verhalten  bei  den  Infektions-  und 
Erschöpfungspsychosen  sowie  bei  den  einzelnen  Anfällen  des 
manisch-depressiven  Irreseins. 

Bei  ungünstigem  Ausgange  des  Leidens  stellt  sich  mit  der 
Beruhigung  der  Kranken,  wie  sie  die  Verblödung  mit  sich  bringt, 


Genesungszeit. 


325 


oft  ebenfalls  eine  Zunahme  des  bis  dahin  stark  gesunkenen  Körper- 
gewichtes ein.  Unter  diesen  Umständen  kann  die  Entscheidung, 
ob  die  Wendung  eine  günstige  oder  ungünstige  Bedeutung  hat, 
im  einzelnen  Falle  zunächst  recht  schwierig  werden.  Meist  werden 
allerdings  die  allmählich  deutlicher  hervortretenden  Zeichen  der 
Genesung  oder  des  Schwachsinns  bald  das  Urteil  ermöglichen. 
Bei  manchen  Altersblödsinnigen  und  Melancholischen,  vielleicht 
auch  bei  einigen  anderen  Formen  des  Irreseins,  kann  übrigens  die 
Ernährungszunahme  während  der  Verblödung  ausbleiben. 

Ganz  besondere  Beachtung  verdient  vielleicht  die  Erfahrung, 
dass  wir  fast  die  stärksten  überhaupt  vorkommenden  Schwan- 
kungen des  Körpergewichtes  bei  der  Paralyse  und  der  Dementia 
praecox  beobachten.  Hier  stellt  sich  häufig  mit  dem  Eintritte 
einer  gewissen  Beruhigung  eine  ungeheure  Gefrässigkeit  ein,  die 
mit  ausserordentlichem  Ansteigen  des  Körpergewichtes  einher- 
geht. Die  Kranken  werden  unförmlich  dick;  ihre  Gesichtszüge 
verändern  sich  vollständig.  An  den  plumpen,  glänzenden  Backen 
wie  an  den  umfangreichen  Oberarmen  finden  sich  im  Unterhaut- 
zellgewebe  wulstige  Einlagerungen,  die  oft  in  ganz  auffallender 
Weise  an  das  Myxödem  erinnern.  Späterhin  sieht  man  diese 
Körperfülle  meist  schneller  oder  langsamer  wieder  schwinden. 
Ich  kann  mich  mit  dem  Gedanken  nicht  befreunden,  dass  es  sich 
hier  um  eine  einfache  Folge  der  gesteigerten  Nahrungsaufnahme 
handelt,  zumal  wir  andere  derartige  Kranke  trotz  grösster  Esslust 
durchaus  nicht  dicker  werden  sehen.  Vielmehr  bin  ich  geneigt, 
die  Schwankungen  des  Körpergewichtes  hier  für  Teilerscheinungen 
der  allgemeinen  Stoffwechselerkrankung  zu  halten,  die  mir  jenen 
Erkrankungen  zu  Grunde  zu  liegen  scheint.  Der  Heisshunger 
könnte  dabei,  wie  beim  Diabetes,  etwa  nur  eines  der  Zeichen 
der  krankhaften  Umwälzung  in  den  Ernährungsvorgängen  dar- 
stellen. 


B.  Ausgänge  des  Irreseins. 

Von  denjenigen  Formen  des  Irreseins,  die  der  Ausdruck  be- 
stimmter Krankheitsvorgänge  sind,  dürfen  wir  erwarten,  dass  sie 
nicht  nur  einen  im  allgemeinen  gesetzmässigen  Verlauf,  sondern 


326 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


auch  einen  bestimmten  Ausgang  nehmen.  Allerdings  wird  das  End- 
ergebnis einer  Erkrankung  ohne  Zweifel  sehr  wesentlich  durch  die 
persönliche  Widerstandsfähigkeit  wie  durch  den  Grad  des  Leidens 
beeinflusst;  auch  zufällige  Umstände  können  natürlich  mit  hinein- 
spielen. Aus  diesen  Gründen  wird  unserer  Vorhersage  über  den 
mutmasslichen  Ausgang  einer  Geistesstörung  auch  im  besten  Falle 
ein  erheblicher  Grad  von  Unsicherheit  anhaften.  Insbesondere 
werden  wir  darauf  gefasst  sein  müssen,  dass  Krankheiten,  die  im 
allgemeinen  heilbar  sind,  unter  Umständen  doch  einmal  in  geistiges 
Siechtum  ausgehen  oder  mit  dem  Tode  abschliessen  können. 

Dennoch  ist  die  Stellung  einer  bestimmten  Prognose*),  eine 
der  wichtigsten  ärztlichen  Aufgaben,  auch  auf  unserem  Gebiete 
innerhalb  gewisser  Grenzen  erreichbar.  Wir  kennen  einerseits 
Krankheiten,  deren  Erscheinungen  sich  regelmässig  nach  kürzerer 
oder  längerer  Zeit  wieder  verlieren,  andererseits  solche,  die  ihrem 
Wesen  nach  immer  oder  doch  fast  immer  zum  Tode  führen.  Zwi- 
schen ihnen  stehen  diejenigen  Leiden,  die  mit  der  Gefahr  des 
Ausgangs  in  Siechtum  verknüpft  sind.  Hier  liegen  die  grössten 
praktischen  Schwierigkeiten  für  die  ärztliche  'Vorhersage.  Zum 
Teil  sind  sie  bedingt  durch  unsere  noch  sehr  unvollkommene  Kennt- 
nis des  endgültigen  Ausganges  der  bisweilen  über  Jahrzehnte  sich 
erstreckenden  Erkrankungen,  zum  Teil  durch  den  Mangel  an  Er- 
fahrung über  diejenigen  Zeichen,  aus  denen  sich  prognostische 
Schlüsse  ableiten  lassen.  Wir  sind  aber,  wie  ich  glaube,  zu  der 
Annahme  berechtigt,  dass  auch  auf  diesem  Gebiete  sich  mit  der 
Zeit  sichere  Gesetzmässigkeiten  werden  auffinden  lassen.  Ins- 
besondere dürfen  wir  annehmen,  dass  der  Endzustand,  den  ein 
ungeheilter  Krankheitsvorgang  hinterlässt,  Züge  darbieten  wird, 
die  für  ihn  in  irgend  einer  Weise  kennzeichnend  sind.  Wenn  das 
Wesen  der  einzelnen  Formen  des  Irreseins  ein  verschiedenes  ist, 
wenn  wir  sie  nach  ihren  Äusserungen  voneinander  zu  trennen  ver- 
mögen, so  werden  voraussichtlich  auch  die  krankhaften  Verände- 
rungen, die  sie  nach  ihrem  Ablaufe  zurücklassen,  nicht  die  gleichen 
sein.  Es  muss  daher  möglich  sein,  aus  den  Endzuständen  Schlüsse 
auf  den  voraufgegangenen  Krankheitsvorgang  zu  ziehen,  anderer- 
seits aber  im  Beginne  des  Leidens  diejenigen  Möglichkeiten  be- 


*)  1 1 b e r g , Die  Prognose  der  Geisteskrankheiten.  1901. 


Heilung. 


327 


stimmt  zu  umgrenzen,  mit  denen  man  für  den  Ausgang  zu  rechnen 
hat.  Die  immer  vollkommenere  Lösung  dieser  Aufgabe  ist  nur 
eine  Frage  der  fortschreitenden  Erfahrung. 

Heilung.  Der  Vorgang  der  Genesung  geht  ohne  scharfe 
Grenze  in  den  Zustand  der  vollendeten  Heilung  über.  Die  wenigen 
Reste  der  überstandenen  Krankheit,  vereinzelte  Wahnideen  oder 
Sinnestäuschungen,  grundlose  Verstimmungen,  erhöhte  Reizbar- 
keit, verlieren  sich  allmählich;  die  gesunden  Anschauungen  und 
Neigungen  treten  neu  hervor;  die  gewohnten  Beschäftigungen 
werden  wieder  aufgenommen:  die  psychische  Persönlichkeit  mit 
ihrer  ganzen  Eigenart  knüpft  über  den  krankhaften  Zeitraum  hin- 
über an  die  vor  demselben  liegende  gesunde  Vergangenheit  an, 
ganz  ähnlich  wie  wir  nach  wirrem  Traume  beim  Erwachen  sogleich, 
vielleicht  auch  erst  nach  einigem  Besinnen,  mit  den  Erlebnissen 
vor  dem  Einschlafen  wieder  Fühlung  zu  gewinnen  suchen.  Ist  die 
Wiedereinsetzung  der  psychischen  Persönlichkeit  in  die  Herrschaft 
über  ihren  Erfahrungsschatz  an  allen  Punkten  vollzogen,  wird  der 
Ablauf  der  psychischen  Vorgänge  nirgends  mehr  durch  krank- 
hafte Gefühle  oder  Vorstellungen  beeinträchtigt,  dann  haben 
wir  das  Recht,  von  einer  völligen  Genesung  zu  sprechen.  Dieses 
Ereignis  ist  nach  der  gewöhnlichen  Annahme  in  etwa  30  bis 
40  Prozent  jener  Erkrankungsfälle  zu  verzeichnen,  welche  in  die 
Anstaltsbehandlung  kommen.  Zur  Würdigung  dieser  Zahlen  ist 
zu  beachten,  dass  einerseits  viele  chronisch  verlaufende,  unheil- 
bare Fälle  niemals  in  die  Irrenanstalten  gelangen,  und  dass  an- 
dererseits zahlreiche  leichte  Erkrankungen  ebenfalls  in  Familien- 
pflege ihren  günstigen  Ablauf  finden. 

Unter  Berücksichtigung  dieser  Verhältnisse  würde  es  sich 
ergeben,  dass  die  Prognose  der  Geistesstörungen  sich  nicht  er- 
heblich ungünstiger  stellt,  als  diejenige  schwerer  körperlicher 
Erkrankungen.  Erwägt  man  die  beträchtlichen  Zahlen  der 
Schwindsüchtigen,  Herzfehler,  Krebskranken,  der  unheilbaren 
Hirn-,  Nerven-  und  Nierenkranken  auf  grossen  medizinischen  Ab- 
teilungen, so  scheint  der  Unterschied  der  wirklichen  Heilerfolge 
zwischen  den  letzteren  und  den  Irrenanstalten  wesentlich  auf  dem 
Umstande  zu  beruhen,  dass  man  sich  eben  zum  Eintritte  in  ein 
Krankenhaus  auch  schon  bei  geringfügigeren  Anlässen  zu  ent- 
schliessen  pflegt. 


328 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Allein  eine  genauere  Kenntnis  der  Geistesstörungen  lehrt 
uns,  dass  dieselben  leider  nicht  nur  immer  schwere,  sondern  auch 
ihrer  überwiegenden  Mehrzahl  nach  unheilbare  Krankheiten  dar- 
stellen. Wirklich  ganz  vollständige  Heilungen  im  strengsten  Sinne 
des  Wortes  sind  verhältnismässig  sehr  selten.  Eigentlich  können 
wir  von  solchen  nur  bei  den  Fieberdelirien,  bei  Vergiftungen  und 
thyreogenen  Geistesstörungen,  ferner  bei  den  Erschöpfungs- 
psychosen und  allenfalls  bei  einer  Anzahl  von  Rückbildungs- 
psychosen sprechen,  während  wir  es  bei  allen  anderen  Formen 
des  Irreseins  mit  unheilbaren  Erkrankungen  zu  tun  haben.  Aller- 
dings sehen  wir  überaus  häufig  sämtlichere  auffallendere  Krank- 
heitserscheinungen für  lange  Zeit,  selbst  für  viele  Jahre,  voll- 
ständig verschwinden,  so  dass  derartige  Fälle  unbedenklich  zu 
den  wahren  Heilungen  gerechnet  zu  werden  pflegen.  Wir  denken 
hier  namentlich  an  das  epileptische  und  das  manisch-depressive 
Irresein  sowie  an  die  Katatonie,  auch  an  einzelne  Beobachtungen 
von  Paralyse.  In  der  Regel  setzt  hier  überall  die  Krankheit  früher 
oder  später  wieder  ein,  sei  es  in  einfacher  Wiederholung  des 
früheren  Anfalles,  sei  es  unter  Fortschreiten  des  schleichenden 
Grundleidens.  Praktisch  kommen  die  Zwischenzeiten  oft  einer 
Heilung  ganz  oder  nahezu  gleich;  von  wissenschaftlichem  Stand- 
punkte aber  müssen  wir  leider  bekennen,  dass  bei  genauer  Sich- 
tung der  Beobachtungen  nur  ein  sehr  kleiner  Bruchteil  von  Fällen 
übrig  bleibt,  in  welchen  wir  nach  dem  heutigen  Stande  unseres 
Wissens  überhaupt  mit  der  endgültigen  und  vollständigen  Hei- 
lung rechnen  dürfen.  Dabei  soll  jedoch  ausdrücklich  bemerkt 
werden,  dass  die  Aussicht  keineswegs  ausgeschlossen  erscheint, 
vielleicht  einmal  für  gewisse  Formen  des  Irreseins  Heilung  zu 
finden,  die  heute  noch  jeder  wirksamen  Behandlung  unzugäng- 
lich sind. 

Das  wichtigste  Kennzeichen  der  eingetretenen  Genesung  ist 
ausser  dem  Schwinden  der  wahrnehmbaren  Krankheitserschei- 
nungen die  E i n s i c h t in  die  krankhafte  Natur  des  überstandenen 
Leidens  und  damit  zumeist  das  Auftreten  einer  gewissen  Dankbar- 
keit für  die  genossene  Behandlung  und  Pflege.  Jene  Einsicht  ist  es  ja 
gerade,  welche  uns  die  Gewähr  dafür  bietet,  dass  der  Genesende 
die  krankhaften  Veränderungen  seines  psychischen  Lebens  als 
etwas  Fremdartiges  empfindet,  dass  er  mit  andern  Worten  auf 


Heilung. 


329 


den  Boden  der  Beurteilung  zurückgekehrt  ist,  auf  dem  er  vor  der 
Erkrankung,  in  gesunden  Tagen  stand.  Mangel  der  Krankheits- 
einsicht deutet  stets  auf  die  Unmöglichkeit  einer  richtigen  Beur- 
teilung der  während  der  Geistesstörung  gesammelten  Erfahrungen 
hin.  Dieselbe  hat  ihren  Grund  entweder  in  der  Fortdauer  von 
Sinnestäuschungen  und  Wahnbildungen,  krankhaften  Stimmungen, 
oder  aber  in  der  Unfähigkeit  zu  durchgreifendem  Gebrauche  der 
gesunden  Urteilskraft,  deren  Betätigung  einerseits  Ruhe  und 
Gleichgewichtslage  des  Gemütes,  andererseits  aber  eine  gewisse 
Anstrengung  und  geistige  Regsamkeit  erfordert.  Kein  Kiankei 
ist  als  wirklich  genesen  zu  betrachten,  der  nicht  klare  und  volle 
Einsicht  in  seine  Krankheit  besitzt,  während  umgekehrt  ganz  wohl 
ein  Verständnis  für  die  krankhafte  Natur  der  psychischen  Störung 
bestehen  kann,  ohne  dass  darum  immer  die  Heilung  zu  erwarten 
wäre.  Ja,  gerade  in  manchen  Fällen  unheilbaren,  tief  in  der 
ganzen  Anlage  des  Menschen  wurzelnden  Irreseins  ist  eine  der- 
artige Selbsterkenntnis  nicht  so  selten  vorhanden.  Bei  den  an- 
fallsweise verlaufenden  Störungen  aber  bleibt  die  Krankheits- 
einsicht immer  ein  sehr  günstiges  Zeichen,  namentlich  wenn 
gleichzeitig  die  stürmischeren  Erscheinungen  zurücktreten.  In 
manchen  Fällen  kommt  die  Krankheitseinsicht  erst  sehr  spät  und 
zögernd  zu  stände,  nachdem  sich  bereits  alle  übrigen  Zeichen 
der  Geistesstörung  vollkommen  verloren  haben.  Wir  werden  darin 
immer  den  Ausdruck  einer  angeborenen  oder  erworbenen  Unfähig- 
keit zu  raschem  Ausgleiche  krankhafter  Störungen  erblicken 
müssen. 

Ganz  regelmässig,  wenigstens  bei  allen  länger  dauernden 
Geistesstörungen,  geht  mit  der  fortschreitenden  Genesung  auch 
eine  körperliche  Erholung  einher,  ausser  Zunahme  des  Gewichtes 
Besserung  der  Esslust,  des  Schlafes  und  das  Gefühl  des  Wohlseins, 
Anzeichen,  die  bei  gleichzeitigem  Hervortreten  günstiger  psychi- 
scher Veränderungen  einen  bedeutenden  prognostischen  Wert  be- 
sitzen und  hauptsächlich  mit  einer  Abnahme  der  gemütlichen 
Erregung  in  innerem  Zusammenhänge  zu  stehen  scheinen. 

In  einer  kleinen  Anzahl  von  Fällen  hat  man  das  Eintreten 
psychischer  Genesung  während  oder  nach  einer  fieberhaften  Er- 
krankung (namentlich  Typhus,  Erysipel,  Intermittens),  seltener 
nach  stärkeren  Blutungen,  schweren  Eiterungen  oder  Kopfver- 


330 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


letzungen  beobachtet.*)  Am  häufigsten  handelt  es  sich  dabei 
natürlich  um  verhältnismässig  frische  Erkrankungen,  Melancholie, 
Manie,  Amentia  der  Autoren,  aber  bisweilen  tritt  die  günstige 
Wendung  auch  nach  längerer  Dauer  und  in  anscheinend  aussichts- 
losen Fällen  ein;  so  werden  weitgehende  Besserungen  nach  Eite- 
rungen bei  der  Paralyse  berichtet.  Freilich  wird  man  in  der  Deu- 
tung solcher  Beobachtungen  stets  mit  äusserster  Vorsicht  ver- 
fahren müssen,  da  überraschende  Genesungen  oder  doch  Besse- 
rungen auch  sonst  nicht  gerade  selten  sind,  eine  einfache  Folge 
unserer  mangelhaften  klinischen  Kenntnis  der  Geisteskrankheiten. 
Andererseits  aber  kann  man  ohne  Zweifel  selbst  bei  längst  verblö- 
deten und  Verwirrt  gewordenen  Kranken  hie  und  da  während 
einer  gelegentlichen  fieberhaften  Erkrankung  die  Wahnideen  zu- 
rücktreten und  einer  unerwarteten  geistigen  Regsamkeit  Platz 
machen  sehen,  hier  allerdings  immer  nur  für  kurze  Zeit.  Die  Er- 
klärung derartiger  Erfahrungen  ist  dunkel;  wir  müssen  uns  mit 
der  Erwägung  begnügen,  dass  sich  hier,  wie  ja  auch  die  Entstehung 
geistiger  Störungen  aus  den  gleichen  Anlässen  dartut,  offenbar 
mächtige  Umwälzungen  in  der  Ernährung  der  Hirnrinde  vollziehen. 

Vollständige  Heilung  einer  Geisteskrankheit  wird  im  all- 
gemeinen am  leichtesten  in  den  rüstigen  Lebensaltern  und  dort 
zu  stände  kommen,  wo  ein  vorübergehender,  äusserer 
Anlass  die  Ursache  des  ganzen  Leidens  bildete.  Je  weniger  die 
Bedingungen  der  Erkrankung  in  dem  erkrankten  Körper  selber 
liegen,  desto  rascher  und  vollständiger  wird  derselbe  unter  sonst 
gleichen  Umständen  befähigt  sein,  die  Störungen  auszugleichen 
und  in  den  gesunden  Zustand  zurückzukehren.  In  der  Tat  sehen 
wir  daher  namentlich  diejenigen  Gruppen  des  Irreseins  die  gün- 
stigsten Genesungsaussichten  darbieten,  welche  durch  stark  wir- 
kende, aber  gewöhnlich  keine  dauernde  Veränderung  hervor- 
bringende Ursachen  erzeugt  werden  (Vergiftungen,  fieberhafte 
Krankheiten,  Wochenbett).  Weit  ungünstiger  liegen  die  Verhält- 
nisse, wenn  die  Krankheitsursachen  entweder  bleibende  körper- 


*)  Fiedler,  Deutsches  Archiv  für  klinische  Medizin,  1880,  XXVI,  3; 
Lehmann,  Allgem.  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  1887,  XLIII,  3;  Wagner, 
Jahrb.  für  Psychiatrie,  VII,  1887 ; Friedländer,  Monatsschr.  für  Psych., 
VIII,  60,  1900. 


Unvollständige  Heilung. 


331 


liehe  Veränderungen  hinterlassen  (Kopfverletzungen,  Syphilis, 
Typhus  bisweilen),  oder  aber,  wenn  sie  durch  längere  Zeit  hindurch 
stetig  auf  den  Menschen  einwirken  und  somit  durch  Häufung 
ihres  Einflusses  nach  und  nach  eine  dauernde  Umwandlung  in 
seinem  Gesamtzustande  herbeiführen  (chronische  Gemütsbewe- 
gungen und  Krankheiten,  Alkoholismus,  Morphinismus,  Stoff- 
wechselvergiftungen). 

Unvollständige  Heilung.  Von  der  Grösse  dieser  dauernden 
Störung  und  den  Einflüssen,  denen  der  Kranke  weiterhin  aus- 
gesetzt ist,  hängt  es  hier  ab,  wieweit  eine  Wiederherstellung 
des  früheren  gesunden  Zustandes  jeweils  möglich  ist.  Nimmt 
auch  ein  ausbrechender  Krankheitsvorgang  zunächst  einen  gün- 
stigen Ablauf,  so  bleibt  doch  häufig  genug  eine  „Dis p o s i t i o n“, 
eine  Neigung  zu  weiteren  Erkrankungen  zurück,  die  namentlich 
dann  ihren  verderblichen  Einfluss  geltend  macht,  wenn  der  Ge- 
nesene sich  in  den  Bereich  der  alten  Schädlichkeiten  zurück- 
begibt, Er  fällt  jetzt  weit  leichter,  bei  dem  ersten  gegebenen 
Anlasse,  in  die  überstandene  Krankheit  zurück.  Jeder  Rückfall 
setzt  wiederum  die  Widerstandsfähigkeit  für  die  Folgezeit  hei  ab, 
so  dass  immer  geringfügigere  Anstösse  genügen,  um  die  krank- 
haften Zustände  aufs  neue  herbeizuführen. 

Ganz  ähnliche  Verhältnisse,  wie  sie  sich  auf  diese  Weise 
unter  dem  Einflüsse  dauernder  oder  häufig  wiederkehrender  Ur- 
sachen herausbilden  können,  finden  sich  bei  ursprünglich  krank- 
haft veranlagten  Menschen  als  angeborene  Schwächen  der 
Persönlichkeit  vor.  Da  hier  die  Krankheitsbedingungen  in  der 
Person  selber  zu  suchen  sind,  so  kann  von  einer  Heilung  geistiger 
Störungen  in  dem  Sinne  einer  völligen  Rückkehr  zur  Gesundheit 
nicht  wohl  die  Rede  sein,  da  ja  eben  der  Ausgangszustand  selbst 
nicht  als  ein  wirklich  gesunder  anzusehen  war.  Das  wichtigste 
Erfordernis  einer  jeden  Heilung,  die  Entfernung  der  Krankheits- 
ursache, bleibt  unerfüllbar,  wo  diese  letztere  eben  durch  die  ganze 
Eigenart  des  Menschen  dargestellt  wird.  Trotzdem  sehen  wir 
bei  solchen  Personen  nicht  selten  ausgeprägte  und  schwere  psy- 
chische Krankheitserscheinungen  mit  derselben  Geschwindigkeit 
sich  wieder  verlieren,  mit  welcher  sie  aus  unbedeutenden  Anlässen 
hervorgegangen  sind. 

Das  eigentlich  Auffallende  ist  dabei  mehr  die  letztere,  als 


332 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


die  erstere  Erscheinung.  Die  krankhafte  Ausgiebigkeit  der  Gleich- 
gewichtsschwankung auf  geringfügige  Reize  lässt  die  ganze  Er- 
krankung weit  bedenklicher  erscheinen,  als  sie  wirklich  ist.  Würde 
es  doch  auch  verfehlt  sein,  etwa  aus  dem  Herzklopfen  eines  Herz- 
kranken auf  den  gleichen  Grad  gemütlicher  Erregung  schliessen 
zu  wollen,  den  wir  unter  denselben  Verhältnissen  beim  Gesunden 
vorauszusetzen  hätten!  Wir  würden  dann  erstaunt  sein,  dort  so 
rasch  völlige  Beruhigung  zu  beobachten,  wo  wir  glaubten,  es  mit 
einer  tiefen,  dauernden  Gemütsbewegung  zu  tun  zu  haben.  Um- 
gekehrt aber  wird  in  diesem  Beispiele  der  leiseste  Anstoss  ge- 
nügen, das  Anzeichen  der  Krankheit  sogleich  in  voller  Stärke 
hervorzurufen,  so  dass  es  schliesslich  vielleicht  durch  die  blosse 
Lebensarbeit  dauernd  fortbesteht,  während  sonst  ein  Leiden  bis- 
weilen lange  Zeit  vorhanden  sein  kann,  ohne  auffallende  Störungen 
zu  verursachen.  Ganz  ähnlich  haben  wir  es  beim  psychischen 
Krüppel  mit  einer  Verminderung  der  Widerstandsfähigkeit  zu  tun, 
die  schliesslich  ohne  besonderen  Reizanstoss  zur  Entwicklung 
geistiger  Leiden  führen  kann,  die  aber  auch  dann  eine  krankhafte 
Veränderung  der  ganzen  Persönlichkeit  bedeutet,  wenn  sie  nicht 
gerade  lebhaftere  Erscheinungen  verursacht.  Die  Heilung  der 
vorübergehenden  Störungen  ist  daher  etwa  mit  der  Beseitigung 
eines  Anfalles  von  Herzklopfen  bei  einem  Herzkranken  auf  gleiche 
Stufe  zu  stellen;  das  eigentliche  Grundleiden  besteht  dabei  unver- 
ändert fort. 

Die  vorstehenden  Erörterungen  haben  uns  somit  den  Aus- 
gang des  Irreseins  in  unvollständige  Heilung  kennen  gelehrt, 
die  „Besserun g“  oder  „Heilung  mitDefek t“.  Die  eigent- 
lichen Krankheitserscheinungen  treten  auch  hier  im  wesentlichen 
zurück;  die  Stimmung  wird  ruhiger  und  gleichmässiger;  Wahnideen 
und  Sinnestäuschungen  verschwinden  nach  und  nach,  aber  es 
machen  sich  die  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Anzeichen  einer 
Herabsetzung  der  psychischen  Leistungs-  und  Widerstandsfähig- 
keit, der  Schwäche,  bemerkbar.  Der  Genesende  denkt  zwar 
der  Form  nach  richtig  und  hat  auch  eine  gewisse  Einsicht  in  seine 
Krankheit,  aber  er  ist  nicht  mehr  derjenige,  der  er  früher  war; 
er  hat  einen  Teil  seiner  Persönlichkeit  eingebüsst.  „Gerade  das 
Beste  und  Wertvollste  ist,“  wie  Griesinger  sich  treffend 
ausdrückt,  „von  der  geistigen  Individualität  abgestreift.“  Die 


Unteilbarkeit. 


333 


geistige  Regsamkeit  und  Frische,  die  gemütliche  Tiefe,  die  selb- 
ständige Tatkraft  sind  unwiederbringlich  verloren  gegangen.  Oft 
genug  bleibt  indessen  der  volle  Umfang  der  psychischen  Schwäche 
im  Schutze  des  Anstaltslebens  unbemerkt,  weil  an  den  Kranken 
in  dem  ruhigen,  geregelten  Tageslaufe  gar  keine  besonderen  An- 
forderungen herantreten.  Der  Versuch  einer  Entlassung  aus  der 
Anstalt  ist  daher  die  entscheidende  Probe,  die  häufig  genug  schon 
nach  kurzer  Zeit  die  nur  „Gebesserten“  von  den  völlig  Genesenen 
abzutrennen  gestattet,  auch  wenn  vorher  ein  abschliessendes  Ur- 
teil noch  nicht  möglich  war. 

Allerdings  kommt  hier  wieder  sehr  viel  auf  die  äusseren 
Umstände  an.  Ist  die  Häuslichkeit  eine  glückliche,  die  Vermögens- 
lage und  die  Lebensstellung  günstig,  so  vermag  der  Kranke  viel- 
fach wieder  in  seinen  früheren  Wirkungskreis  zurückzukehren  und 
in  geordneten  Verhältnissen  leidlich  seine  Stellung  auszufüllen. 
Allein  die  zielbewusste  Festigkeit  seines  Willens  hat  er  verloren;, 
schwierigen  Lebenslagen  und  drängenden  Kämpfen  ist  er  nicht 
mehr  gewachsen;  leicht  schieben  sich  Schwankungen  des  psy- 
chischen Gleichgewichts  ein,  welche  die  Stetigkeit  der  Leistungen 
unterbrechen.  Dieser  Zustand  pflegt  den  Ausgängen  des  Alters- 
irreseins, der  Schreckneurose,  namentlich  aber  den  Besserungen 
der  Paralyse  und  der  Dementia  praecox  eigentümlich  zu 
sein.  Viele  in  unbegreiflicher  Weise  gescheiterte  Lebensgänge,, 
die  schliesslich  in  bescheidenstem  Wir kungskr eise  enden,  dürften 
auf  so  entstandene  Schwächezustände  zurückzuführen  sein.  Als 
ganz  natürlicher  Abschluss  endlich  ist  die  unvollkommene  Wieder- 
herstellung dort  zu  betrachten,  wo  der  ganze  Kr ankheits Vorgang 
sich  schon  auf  dem  Boden  einer  von  vornherein  unzulänglichen 
Persönlichkeit  abspielte.  Hier  pflegt  meist  selbst  die  frühere 
Höhe  nicht  wieder  erreicht  zu  werden,  sondern  der  Gebesserte 
geht  noch  mehr  geschwächt  aus  dem  Anfalle  hervor,  so  dass  bei 
häufigerer  Wiederholung  der  Erkrankungen  auch  der  psychische 
Verfall  jedesmal  eine  gewisse  Steigerung  erfährt. 

Unheilbarkeit.  Schon  die  unvollständige  Heilung  bedeutet 
die  Entstehung  einer  unheilbaren  Veränderung  in  dem  Gesamt- 
zustande der  Person,  aber  diese  Veränderung  besteht  in  einer 
einfachen,  mehr  oder  weniger  hochgradigen  Herabsetzung  der 
psychischen  Leistungs-  und  Widerstandsfähigkeit,  ohne  eine  Um- 


334 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


wälzung  in  dem  wesentlichen  Inhalte  des  Denkens,  Fühlens  und 
Handelns  zu  bedingen.  Man  kann  daher  weiterhin  noch  einen  Aus- 
gang in  Unheilbarkeit  unterscheiden,  der  entweder  das  un- 
veränderte Andauern  der  einmal  vollzogenen  krankhaften  Wand- 
lung oder  aber  den  Fortschritt  derselben  bis  zum  völligen  Zerfall 
der  psychischen  Persönlichkeit  bedeutet.  Das  erstere  ist  der  Fall 
bei  manchen  Kranken  mit  manisch-depressivem  Irresein  sowie  bei 
der  Verrücktheit,  bei  der  ein  langsam  entwickeltes  Wahnsystem 
ohne  wesentliche  Zunahme  der  psychischen  Schwäche  dauernd 
festgehalten  wird.  Von  einem  völligen  Stillstände  der  Krank- 
heit kann  freilich  auch  hier  nicht  die  Rede  sein.  ^ ielmehr  v ird 
einem  aufmerksamen  Beobachter  die  Abnahme  der  psychischen 
Leistungsfähigkeit  innerhalb  längerer  Zeiträume  kaum  entgehen, 
schon  der  abstumpfende  Einfluss  des  einförmigen  Anstaltsaufent- 
haltes  muss  sich  vielfach  in  dieser  Richtung  geltend  machen. 
Auch  nach  der  Dementia  praecox  beobachtet  man  sehr  häufig  die 
Rückkehr  zu  einer  Art  dauernden  Gleichgewichtszustandes  mit 
den  Erscheinungen  der  psychischen  Schwäche  und  einzelnen 
sonstigen  Überbleibseln  aus  der  Krankheitszeit.  Sie  bilden  ge- 
wissermassen  den  Übergang  zu  den  unvollständigen  Heilungen. 
Diese  Kranken  sind  fähig,  sich  in  einfachen  ^ erhältnissen  ohne  er- 
hebliche Schwierigkeit  zurechtzufinden,  sich  zu  beschäftigen,  und 
besitzen  auch  eine  gewisse  oberflächliche  Krankheitseinsicht,  so 
dass  sie  von  ihrer  Umgebung  gelegentlich  für  nahezu  gesund  ge- 
halten werden  können.  Von  Zeit  zu  Zeit  jedoch  treten  die  alten 
Sinnestäuschungen  wieder  hervor,  und  nun  lassen  sich  die  Kranken 
vorübergehend  gänzlich  von  ihnen  beherrschen,  bis  nach  einigen 
Stunden  oder  Tagen  die  Aufregung  vorüber  und  alles  rasch  wieder 
vergessen  ist,  ohne  irgendwie  wahnhaft  verarbeitet  zu  werden. 

Allen  diesen,  nur  sehr  langsam  sich  ändernden  Zuständen 
kann  man  den  eigentlich  fortschreitenden  Krankheits- 
verlauf gegenüberstellen,  wie  er  bei  gewissen  Formen  des  manisch- 
depressiven  und  epileptischen  Irreseins,  bei  der  Dementia  praecox, 
namentlich  aber  in  der  Paralyse  regelmässig  zur  Beobachtung 
gelangt.  Diese  Entwicklung  wird  meist  dadurch  eingeleitet,  dass 
zunächst  die  Stärke  der  dauernden  gemütlichen  Erregung  ab- 
nimmt, während  sich  die  begleitenden  Störungen  des  Verstandes 
überhaupt  nicht  oder  doch  nicht  vollständig  zurückbilden,  sondern 


Tod. 


335 


in  Form  tiefgreifender  Urteilslosigkeit  und  geistiger  Stumpfheit, 
widerspruchsvoller  und  zusammenhangsloser  Wahnideen  oder 
völliger  Verwirrtheit  bis  zum  tiefsten  Blödsinn  bestehen  bleiben. 
Natürlich  vollzieht  sich  dieser  Vorgang  einer  fortschreitenden 
Vernichtung  der  ursprünglichen  Persönlichkeit,  den  man  mit  dem 
Namen  der  V e r b 1 ö d u n g zu  bezeichnen  pflegt,  je  nach  der  Form 
der  Geistesstörung,  welche  er  abschliesst,  in  etwas  verschie- 
dener Weise  und  namentlich  in  sehr  verschiedenen  Zeiträumen. 
Bei  den  melancholischen  Erkrankungen  erhält  sich  die  Klein- 
mütigkeit und  Verzagtheit,  beim  manisch-depressiven  Irresein 
die  Entschlussunfähigkeit  oder  der  Betätigungsdrang  und  der 
Stimmungswechsel  auch  in  den  unheilbaren  Endzuständen. 
Die  Verblödung  nach  Dementia  praecox  ist  durch  die  mehr 
oder  weniger  hochgradige  Stumpfheit  und  Gleichgültigkeit 
der  Kranken  neben  einzelnen  besser  erhaltenen  Fähigkeiten  und 
Kenntnissen  ausgezeichnet.  Zugleich  finden  sich  gewöhnlich  An- 
deutungen katatonischer  Erscheinungen,  Manieren,  albernes 
Lachen,  Katalepsie,  Stereotypen.  Häufig  sind  auch  Sinnestäu- 
schungen, zusammenhangslose  Wahnbildungen,  Sprachverwirrtheit 
sowie  zeitweise  wiederkehrende,  kurzdauernde  Erregungen.  In- 
dessen schwindet  hier  wie  bei  der  Paralyse  oft  genug  auch  die 
letzte  Spui-  solcher  früher  vielleicht  in  Überfülle  gelieferten  Krank- 
heitsäusserungen, die  von  dem  unaufhaltsamen  geistigen  Verfalle 
selbst  mit  vernichtet  werden.  Demgegenüber  sehen  wir  bei  ge- 
wissen paranoiden  Formen  und  der  Verrücktheit  die  einmal  ent- 
wickelten Wahnideen  nicht  selten  Jahre  und  selbst  Jahrzehnte 
haften. 

Tod.  Die  letzte  Form  des  Ausganges,  den  die  Geistesstörung 
nehmen  kann,  ist  der  Tod.  Ohne  Zweifel  wird  die  Sterblichkeit 
durch  die  psychische  Erkrankung  beträchtlich  gesteigert;  sie  ist 
bei  Irren  etwa  fünfmal  so  gross  wie  bei  der  erwachsenen  geistes- 
gesunden Bevölkerung.  Diese  Zahl  wird  verständlich,  wenn  man 
zunächst  bedenkt,  dass  eine  Reihe  der  dem  Irresein  zu  Grunde 
liegenden  Hirnerkrankungen  sehr  schwere  körperliche  Schädi- 
gungen erzeugen,  die  dann  ihrerseits  unmittelbar  oder  mittelbar 
zum  Tode  führen  können.  Der  bei  weitem  wichtigste  dieser  Krank- 
heitsvorgänge ist  derjenige  der  Paralyse.  Derselbe  kann  geradezu 
unter  den  Erscheinungen  des  tiefsten  Marasmus  und  äusserster 


336 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


Herzschwäche  dem  Leben  ein  Ende  machen.  Häufiger  erliegen  die 
Kranken  im  paralytischen  Anfalle.  Der  tötliche  Ausgang  erfolgt 
hier  entweder  unmittelbar  durch  Hirnlähmung  oder  durch  die  Ent- 
stehung von  Druckbrand,  Schluckpneumonien,  Verletzungen,  Blut- 
vergiftungen u.  dergl.  Vereinzelt  kommen  neben  der  Paralyse 
die  ihr  verwandten  Hirnerkrankungen  als  Todesursachen  in  Be- 
tracht, Gliose,  Arteriosklerose,  syphilitische  Veränderungen,  Ge- 
schwülste, Embolien,  Blutungen,  Thrombosen. 

In  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  ist  indessen  das 
Leiden,  welches  die  Geistesstörung  erzeugt,  an  sich  kein  tötliches. 
Dagegen  wird  immerhin  nicht  allzu  selten  der  Tod  dadurch  ver- 
anlasst, dass  sich  einzelne  gefahrdrohende  Krankheitserschei- 
nungen entwickeln.  Dahin  gehört  vor  allem  die  Neigung  zum 
Selbstmorde,  wie  sie  sich  so  häufig  an  traurige  Wahn- 
ideen oder  Stimmungen  anschliesst.  In  ihr  haben  wir  es  mit  einer 
äusserst  verhängnisvollen  und  praktisch  überaus  wichtigen  Er- 
scheinung des  Irreseins  zu  tun,  die  bei  schlechter  Überwachung 
zahlreiche  Opfer  fordert.  Nächstdem  ist  es  die  Nahrungs- 
verweigerung, dann  die  bis  zur  äussersten  Erschöpfung  an- 
dauernde Unruhe  und  Schlaflosigkeit  mancher  Kranker, 
schwerer  Verlauf  chirurgischer  Verletzungen 
wegen  der  Unmöglichkeit  einer  geeigneten  Behandlung,  die  als 
Todesursachen  bei  Geisteskranken  genannt  werden  müssen. 

Endlich  aber  ist  es  eine  sehr  bemerkenswerte  Tatsache,  dass 
auch  die  Ausbildung  gewisser  körperlicher  Erkrankungen  durch 
das  Irresein  begünstigt  wird.  Namentlich  die  Tuberkulose 
forderte  früher  in  Irrenanstalten  die  fünffache  Zahl  von  Opfern 
wie  bei  Geistesgesunden.  Das  kasernenhafte  Leben,  die  häufig 
bestehende  Überfüllung,  die  ausgiebige  Gelegenheit  zur  An- 
steckung, sodann  namentlich  die  Stumpfheit  so  vieler  Kranker 
und  die  damit  verknüpfte  Herabsetzung  der  Atmungs-  und 
Kreislaufstätigkeit  sind  wohl  in  erster  Linie  für  dieses  Verhalten 
verantwortlich  zu  machen.  Durch  Besserung  der  allgemeinen 
Lebensbedingungen,  vor  allem  aber  durch  rechtzeitige  Ab- 
sperrung der  Erkrankten  ist  es  in  der  letzten  Zeit  gelungen,  die 
Tuberkulosegefahr  in  den  Anstalten  erheblich  einzuschränken.  ) 


*)  Oswald,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LIX,  437. 


337 


C.  Dauer  des  Irreseins. 

Die  Dauer  psychischer  Störungen  bietet  sehr  weitgehende 
Verschiedenheiten  dar.  Wo  die  Entstehungsbedingungen  des  Irre- 
seins im  Menschen  selbst  gelegen  sind,  da  dauert  dasselbe  durch 
das  ganze  Leben  an;  je  mehr  sie  dagegen  von  äusseren  Ursachen 
abhängig  sind,  und  je  rascher  und  vorübergehender  dieselben  ein- 
wirken, desto  kürzer  ist  die  Dauer  der  Krankheit.  Fieberdelirien, 
Vergiftungsdelirien,  Collapsdelirien  können  nach  wenigen  Tagen, 
Stunden,  ja  Minuten  schon  wieder  verschwinden.  Aber  auch  bei 
krankhafter  Veranlagung,  bei  Epileptikern,  Hysterischen  werden 
„Anfälle“  von  psychischer  Störung  beobachtet,  die  nur  eine 
äusserst  kurze  Dauer  aufzuweisen  haben.  Hier  ist  jedoch,  wie 
schon  früher  ausgeführt,  zu  beachten,  dass  dieselben  gewisser- 
massen  nur  vorübergehende  Verschlimmerungen  eines  an  sich 
schon  krankhaften,  andauernden  Zustandes  darstellen,  wenn 
dieser  auch  für  gewöhnlich  nicht  in  auffallenden  Krankheits- 
erscheinungen hervortritt.  Im  allgemeinen  zeigen  die  Psychosen 
trotz  der  genannten  Ausnahmefälle  eine  beträchtlich  längere 
Dauer,  als  durchschnittlich  körperliche  Krankheiten,  so  dass  hier 
die  Abgrenzung  der  akuten  und  chronischen  Formen  nach  einem 
anderen  Massstabe  zu  geschehen  pflegt.  Selbst  bei  frischen  Er- 
krankungen zieht  sich  der  Verlauf  in  der  Regel  über  eine  Reihe 
von  Monaten  hin;  Fälle  bis  zur  Dauer  eines  Jahres  und  selbst  da- 
rüber werden  daher  häufig  noch  als  akute  oder  subakute  be- 
zeichnet. Immerhin  pflegt  die  überwiegende  Mehrzahl  der  über- 
haupt heilbaren  Psychosen  innerhalb  des  ersten  Jahres  den  gün- 
stigen Ausgang  zu  nehmen.  Heilungen  nach  mehr  als  zwei- 
jähriger Dauer  der  Krankheit  sind  schon  ziemlich  selten,  doch 
kommen  solche  Ausnahmefälle  in  sinkender  Zahl  selbst  nach 
fünf,  acht  und  zehn  Jahren  noch  vor,  ja  es  werden  ganz  verein- 
zelte Beobachtungen  berichtet,  in  denen  nach  einem  Anstalts- 
aufenthalte von  zwei  Jahrzehnten  noch  eine  unerwartete  Genesung 
sich  einstellte*).  Einzelne  solcher  „Spätheilungen“  betreffen 
manisch-depressive  Kranke,  bei  denen  gelegentlich  Anfälle  von 


*)  Kreuser,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVII,  771,  1900. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aofl.  22 


338 


III.  Verlauf,  Ausgänge  und  Dauer  des  Irreseins. 


mehr  als  zehnjähriger  Dauer  Vorkommen.  Die  Hauptmasse  der 
Fälle  gehört  indessen  höchst  wahrscheinlich  in  das  Gebiet  der 
Katatonie.  Hier  schliessen  sich  bisweilen  die  überraschenden 
Besserungen  nach  langwierigem  Krankheitsverlaufe  an  eine  fie- 
berhafte Erkrankung,  an  die  Versetzung  in  eine  andere  Umgebung 
an.  Ohne  Zweifel  handelt  es  sich  aber  in  allen  diesen  Fällen 
nicht  um  völlige  Genesungen,  sondern  um  „Heilungen  mit  Defekt“', 
wenn  sie  auch  die  Rückkehr  in  die  Familie  und  unter  Umständen 
sogar  in  die  Berufstätigkeit  ermöglichen. 

Ausser  der  Form  der  Psychose  und  der  Persönlichkeit  des 
Erkrankten  ist  auf  die  Dauer  derselben  zweifellos  auch  die  Behand- 
lung von  Einfluss.  Je  früher  Geisteskranke  in  eine  geeignete 
Umgebung,  in  die  Anstalt  gebracht  werden,  desto  rascher  vollzieht 
sich  unter  sonst  gleichen  Umständen  der  Ablauf  der  psychischen 
Störung,  und  desto  günstiger  sind  gleichzeitig  die  Aussichten 
auf  eine  möglichst  vollständige  Genesung. 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem  Vorhandensein  einer 
Geistesstörung  im  einzelnen  Falle  setzt  vor  allem  die  Kenntnis 
der  Tatsachen  voraus,  die  uns  von  der  Geschichte  und  dem  Zu- 
stande der  gesamten  Persönlichkeit  ein  möglichst  klares  und 
vollständiges  Bild  zu  vermitteln  geeignet  sind.  Die  Gesichts- 
punkte für  die  Verarbeitung  dieser  Tatsachen  liefert  uns  dann 
die  klinische  Erfahrung.  Sie  lehrt  uns,  ob  und  inwieweit  sich 
die  vorliegenden  Beobachtungen  mit  den  gesicherten  Errungen- 
schaften der  Wissenschaft  zur  Deckung  bringen  lassen.  Auf 
diese  Weise  gelangen  wir  zu  einer  Diagnose  des  einzelnen 
Falles  und  durch  Häufung  der  Beobachtungen  zu  einer  umfassen- 
den Formenlehre  der  Geisteskrankheiten.  Erst  der 
so  gewonnene  Überblick  über  das  klinische  Gesamtgebiet  wird  uns 
gestatten,  die  Grenzlinien  desselben  gegenüber  der  Gesundheits- 
breite zu  ziehen.  Er  gibt  uns  zugleich  die  sichere  Eichtschnur 
für  die  Vermeidung  jener  eigentümlichen  Fehlerquellen  psychia- 
trischer Beurteilung,  die  aus  der  Vortäuschung  und  aus  der  Ver- 
leugnung von  Krankheitszeichen  entspringen.  Von  allen  diesen, 
miteinander  in  inniger  Verbindung  stehenden  Aufgaben,  die  bei 
der  Erkennung  des  Irreseins  zu  lösen  sind,  werden  uns  hier  zu- 
nächst die  Durchführung  der  Krankenuntersuchung,  die 
Absteckung  der  Grenzen  des  Irreseins  und  die  Aufdeckung 
der  Verstellung  und  Verleugnung  beschäftigen,  während 
die  Einordnung  der  Beobachtungen  in  die  klinischen  Formenkreise 
späteren  Ausführungen  Vorbehalten  bleiben  muss. 

A.  Krankenuntersuchung  *). 

Den  nächsten  und  wichtigsten  Anhaltspunkt  für  die  Er- 
kennung einer  Geistesstörung  geben  uns  naturgemäss  die  Er- 

*)  Morselli,  Manuale  di  semeiotica  delle  malattie  mentali.  1885  u. 
1895;  Sommer,  Diagnostik  der  Geisteskrankheiten,  2.  Aufl.  1901. 

22* 


340 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


scheinungen  und  der  Verlauf  derselben;  für  ein  weiter- 
o-ehendes  Verständnis  ist  aber  immer  auch  die  Kenntnis  der  äus- 
seren und  inneren  Ursachen  erforderlich,  aus  denen 
heraus  sich  die  Erscheinungen  entwickelt  haben.  Das  Endziel  der 
klinischen  Untersuchung  ist  daher  nicht  nur  die  Feststellung  der 
etwa  vorhandenen  Anzeichen  geistiger  Störung,  sondern  auch  die 
Auffindung  derjenigen  Anhaltspunkte,  die  in  ursächlicher  Be- 
ziehung von  Bedeutung  sein  könnten.  Die  Hilfsmittel,  die  ihr 
für  alle  diese  Zwecke  zu  Gebote  stehen,  sind  einmal  die  rück- 
schauende Betrachtung  des  Vorlebens  bis  in  frühere  Ge- 
schlechter hinein,  die  Anamnese,  weiterhin  die  eingehende 
Prüfung  des  gesamten  körperlichen  und  psychischen  Verhaltens 
in  einem  gegebenen  Augenblicke,  die  Aufnahme  des  Status 
praesens,  ferner  die  fortgesetzte  Beobachtung  und 
endlich  in  gewissen  Fällen  auch  die  Erhebung  eines  Lei- 
chenbefundes. 

Vorgeschichte.  Die  erste  Frage  richtet  sich  auf  die  Erblich- 
keitsverhältnisse im  weitesten  Sinne.  Wer  hier  zuverlässige  An- 
gaben erhalten  will,  wird  gut  tun,  mit  seiner  Prüfung  möglichst 
in  das  Einzelne  einzugehen  und  sich  nicht  mit  allgemeinen  Ant- 
worten zu  begnügen.  Ausser  nach  wirklichen  Geisteskrankheiten, 
zu  denen  von  den  Laien  regelmässig  nur  die  allerschwersten  An- 
staltsfälle gerechnet  werden,  vergesse  man  nicht,  über  das  A or- 
kommen  von  Nervenleiden,  auffallenden  Persönlichkeiten,  Trunk- 


sucht, Verbrechen  Erkundigungen  einzuziehen  und  sämtliche 
Familienglieder  unter  diesen  Gesichtspunkten  durchzugehen. 
Ausserdem  empfiehlt  es  sich,  verschiedene  Angehörige,  viel- 
leicht auch  den  Untersuchten  selbst,  gesondert  auszufragen, 
da  oft  genug  unabsichtlich,  aus  Unkenntnis  oder  Mangel  an  \er- 
ständnis,  bisweilen  sogar  absichtlich,  wichtige  Tatsachen  ver- 
schwiegen werden.  In  nicht  wenigen  Fällen  gibt  die  persönliche 
Bekanntschaft  mit  den  verschiedenen  Familiengliedern  (absonder- 
liche Vornamen!)  dem  geübten  Beobachter  schon  an  sich  ge- 
nügenden Stoff  zur  Beurteilung  der  Erb lichkeits Verhältnisse  an 
die  Hand.  Völlige,  dauernde  Einsichtslosigkeit  mit  rührender 
Hoffnungsfreudigkeit  bei  den  tiefgreifendsten  Störungen  ihrer 
Kranken,  Urteilslosigkeit  gegenüber  deren  Wahnideen,  übertrie- 
bene oder  zur  Schau  getragene  Ängstlichkeit,  unsinniges  Miss- 


Vorgeschichte. 


341 


trauen  gegen  die  Anstalt  und  deren  Einflüsse,  Neigung  zu  allen 
möglichen  Quacksalbereien  und  kindischen  Einmischungen  in  die 
Behandlung,  auf  der  anderen  Seite  Gleichgültigkeit,  ja  Rohheit 
sind  nicht  selten  kennzeichnende  Züge  bei  den  „Angehörigen“ 
entarteter  Kranker. 

Bei  der  geschichtlichen  Verfolgung  des  einzelnen  Lebens  wird 
man  naturgemäss  sein  Augenmerk  der  Reihe  nach  auf  alle  jene 
Schädlichkeiten  zu  richten  haben,  die  wir  früher  als  mögliche 
Ursachen  des  Irreseins  kennen  gelernt  haben.  Namentlich  kommen 
zunächst  Syphilis  oder  sonstige  Allgemeinleiden  der  Eltern  in 
Betracht.  Für  die  Zeit  des  intrauterinen  Daseins  haben  wir  auf 
schwere  Gemütsbewegungen,  erschöpfende  Krankheiten  oder  son- 
stige Schädigungen  des  mütterlichen  Körpers  Rücksicht  zu 
nehmen.  Weiterhin  sind  von  Wichtigkeit  der  Verlauf  der  Geburt, 
Infektionskrankheiten  oder  Gehirnleiden  (Krämpfe,  Lähmungen) 
im  ersten  Kindesalter,  Entwicklungsstörungen,  die  Einflüsse  der 
Erziehung  und  für  das  spätere  Leben  die  ganze  Reihe  jener  per- 
sönlichen Schicksale,  die  das  psychische  Gleichgewicht  zu  er- 
schüttern oder  dauernd  zu  vernichten  imstande  sind,  vor  allem 
die  mannigfachen  physiologischen  und  krankhaften  Umwälzungen 
auf  körperlichem  Gebiete,  die  Entwicklung  der  Geschlechtsreife, 
das  Fortpflanzungsgeschäft,  Erkrankungen  aller  Art,  endlich  die 
Ausschweifungen,  die  Entbehrungen,  die  niederdrückenden  Ge- 
mütsbewegungen. Oft  genug  freilich  bleibt  das  Forschen  nach 
einer  bestimmteren  Ursache  vollkommen  ergebnislos,  sei  es,  dass 
überhaupt  kein  greifbarer  äusserer  Anstoss  zur  Entwicklung  des 
Irreseins  vorhanden  war,  sei  es,  dass  er  nicht  beachtet  wurde 
oder  doch  für  die  Erklärung  sich  als  durchaus  ungenügend  er- 
weist. So  werden  von  der  Umgebung  nicht  selten  solche  V or- 
kommnisse  als  Ursache  der  Psychose  angesehen,  die  sich  bei 
näherer  Betrachtung  unzweifelhaft  als  die  Anzeichen  der  bereits 
ausgebrochenen  Störung  darstellen,  z.  B.  die  Ausschweifungen 
des  Paralytikers,  die  Streitigkeiten  des  Hypomanischen,  die  Selbst- 
beschuldigungen des  Melancholikers,  die  Trägheit  oder  die  Onanie 
des  Hebephrenen. 

Ausser  den  Ursachen  sind  selbstverständlich  die  etwaigen 
Erscheinungen  des  Irreseins  in  der  Vergangenheit  und  weiterhin 
deren  Verlauf  und  Dauer  festzustellen.  Auch  zu  diesem  Zwecke 


342 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


wird  man  bis  in  die  erste  Jugendzeit  zurückgreifen.  Die  Schnel- 
ligkeit der  körperlichen  und  geistigen  Entwicklung  (Gehen, 
Sprechen,  Lesen),  die  geistige  Befähigung  (Schulzeugnisse)  und 
sittliche  Veranlagung,  die  Gemütsart,  der  Wille,  die  persönlichen 
Neigungen  und  deren  Ausbildung,  namentlich  auch  das  Verhalten 
im  Entwicklungsalter  (Masturbation)  haben  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkte für  uns  Wichtigkeit.  Von  der  grössten  Bedeutung 
aber  ist  natürlich  die  Feststellung  desjenigen  Zeitpunktes,  an 
dem  eine  unverkennbar  krankhafte  Veränderung  im  Seelenleben 
sich  einstellte.  Gerade  in  dieser  Hinsicht  ist  der  Arzt  den 
allergröbsten,  zumeist  unabsichtlichen  Täuschungen  ausgesetzt. 
Fast  bei  allen  langsam  verlaufenden  Psychosen  wird  die  Er- 
krankung längere  Zeit  hindurch  verkannt  und  ihr  Beginn  daher 
viel  später  angenommen,  als  er  wirklich  stattfand.  Erst  bei  ein- 
gehendem Befragen  erfährt  man  dann,  dass  doch  auch  vor  dem 
bezeichneten  Zeitpunkte,  oft  Monate  und  Jahre  vorher,  schon  diese 
oder  jene,  nicht  weiter  beachteten  Anzeichen  der  Störung  vorhan- 
den waren,  dass  die  ersten  krankhaften  Spuren  vielleicht  schon  bis 
in  die  früheste  Jugend  zurückreichen.  Gebildete  Leute  sind  in  dieser 
Beziehung  vielfach  nicht  bessere  Beobachter  als  Ungebildete. 

Besonders  wichtig  ist  die  Feststellung,  ob  die  vorliegende 
Erkrankung  die  erste  im  Leben  ist  oder  ob  schon  früher  ähnliche 
oder  andersartige  Anfälle  voraufgingen.  Der  Nachweis  solcher 
Vorläufer  grenzt  die  Zahl  der  Krankheitsformen,  mit  denen  man 
zu  rechnen  hat,  sofort  sehr  erheblich  ein.  Allerdings  ist  es  nicht 
immer  leicht,  über  diese  Frage  Klarheit  zu  erhalten.  Die  Kranken 
selbst  sind  oft  nicht  imstande,  Auskunft  zu  geben,  und  von  der 
Umgebung  sind  leichtere  Erregungen  oder  Verstimmungen  viel- 
fach gar  nicht  als  krankhaft  aufgefasst,  auf  irgendwelche  zu- 
fälligen Ereignisse  zurückgeführt  oder  ganz  vergessen  worden. 
Die  Nachforschungen  sind  namentlich  auf  die  Entwicklungs-  oder 
Rückbildungsjahre  zu  richten.  Epileptische  Verstimmungen  wer- 
den oft  durch  die  Frage  aufgedeckt,  ob  schon  einmal  Lebens- 
überdruss bestand,  und  namentlich,  ob  Zeiten  mit  grosser  Reiz- 
barkeit vorhanden  waren.  Haben  sich  frühere  Anfälle  ergeben, 
so  ist  sorgfältig  festzustellen,  ob  seither  völlige  Genesung  ein- 
trat, oder  ob  diese  oder  jene  Störungen  von  der  ersten  Erkrankung 
zurückgeblieben  sind. 


Zustandsuntersuchung. 


343 


Die  genauere  Aufklärung  der  Vorgeschichte  des  Irreseins 
setzt  natürlich  eine  vollständige  Kenntnis  der  einzelnen  Krank- 
heitsformen voraus.  Schon  aus  den  ersten  allgemeinen  Angaben 
über  die  ursächlichen  Verhältnisse,  über  die  langsame  oder 
schnelle  Entwicklung  des  Leidens,  über  das  Bestehen  von  Sinnes- 
täuschungen, Wahnideen,  Gedächtnis-  und  Verstandesstörungen, 
traurigen  und  heiteren  Verstimmungen,  Abweichungen  im  Be- 
nehmen und  Handeln,  körperlichen  und  besonders  nervösen  Krank- 
heitszeichen, über  den  gleichbleibenden,  fortschreitenden,  anfalls- 
weisen, cirkulären  Verlauf  ergibt  sich  zumeist  bald  der  Verdacht 
auf  eine  bestimmte  klinische  Erkrankungsform,  der  dann  durch. 
Eingehen  auf  das  Einzelne  weiter  begründet  oder  widerlegt  werden 
kann.  Für  praktische  Zwecke  und  in  der  Hand  des  Erfahrenen  ist 
diese  zunächst  nach  einem  allgemeinen  Überblick  suchende  Auf- 
rollung der  Vorgeschichte  ungleich  zweckmässiger,  als  die  plan- 
mässige  Erledigung  eines  bereiten  Fragebogens,  welcher  alle 
überhaupt  möglichen  Erscheinungen  des  Irreseins  umfasst. 
Weniger  belangreich  für  die  Erkennung,  dafür  aber  um  so  wich- 
tiger für  die  Behandlung  der  Krankheit  sind  endlich  die  nie  zu 
unterlassenden  Fragen  nach  der  Neigung  zu  gemeingefährlichen 
Handlungen,  zur  Nahrungsverweigerung  und  namentlich  zum 
Selbstmorde. 

Zustandsuntersuchung.  Wenn  auch  die  Vorgeschichte  viel- 
fach schon  hinreichende  Anhaltspunkte  liefert,  um  mit  grosser 
Wahrscheinlichkeit  nicht  nur  eine  Geistesstörung  überhaupt,  son- 
dern die  besondere  Form  derselben  feststellen  zu  können,  so  ist 
doch  für  die  Abgabe  eines  ärztlichen  Urteils  die  persönliche  Unter- 
suchung auch  in  den  anscheinend  einfachsten  Fällen  ebenso  u n - 
abweisliches  Erfordernis  wie  bei  irgend  einer  körper- 
lichen Erkrankung.  Der  innige  Zusammenhang  zwischen  psychi- 
schen und  körperlichen  Störungen  wird  uns  dabei  zu  sorgfältiger 
Berücksichtigung  auch  dieser  letzteren  veranlassen,  da  wir  in 
ihnen  nicht  selten  Aufschlüsse  über  die  Ursachen  des  Irreseins 
oder  aber  klinisch  wichtige  Begleiterscheinungen  desselben  auf- 
zufinden erwarten  dürfen. 

Die  körperliche  Untersuchung  wird  zunächst  den  allge- 
meinen Zustand  des  Körpers  ins  Auge  zu  fassen  haben. 
Missverhältnis  zwischen  Lebensalter  und  Aussehen  (jugendlichei 


344 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Habitus,  vorzeitiges  Greisentum),  das  Verhalten  des  Körper- 
wachstums (Zwergwuchs,  Kyphosen,  schmächtiger  Bau,  Akro- 
megalie), der  Ernährung  (Anämie,  Fettpolster,  Hautfarbe),  der 
Kräfte  (Muskulatur),  Kropfbildung,  Hautverdickungen,  Spuren 
alter  Rhachitis  (Zähne,  Rippen,  Epiphysen)  oder  Syphilis  (Kno- 
chenauftreibungen, Hautnarben,  Drüsenschwellungen),  können 
wertvolle  Fingerzeige  für  die  ursächliche  Beurteilung  des  Falles 
abgeben.  Ferner  pflegt  man  aus  dem  Vorhandensein  gewisser 
Entwicklungsstörungen  (Albinismus,  Spina  bifida,  Hasenscharte, 
Wolfsrachen,  sehr  steiler  oder  sehr  flacher  Gaumen,  Kryptorchis- 
mus, Polymastie,  Polydaktylie,  Syndaktylie,  Missbildungen  der 
Augen,  Ohren,  Zähne,  Geschlechtsteile),  die  man  als  Entartungs- 
zeichen*) betrachtet,  den  Schluss  auf  eine  psychopathische  Veran- 
lagung zu  ziehen.  Dabei  ist  jedoch  zu  beachten,  dass  die  Be- 
ziehungen zwischen  jenen  Bildungsfehlern  und  dem  Hirnzustande 
nichts  weniger  als  eindeutige  und  klare  sind.  Man  wird  daher  bei 
der  Verwertung  solcher  Befunde  mit  grösster  Vorsicht  zu  ver- 
fahren haben.  Dasselbe  gilt  in  noch  höherem  Masse  von  den  Täto- 
wierungen, denen  man  ebenfalls  eine  gewisse  kennzeichnende  Be- 
deutung für  den  Zustand  des  Seelenlebens  zugeschrieben  hat. 
Hier  sind  in  erster  Linie  die  Lebensgewohnheiten  der  Stände 
und  Berufe  massgebend,  aus  denen  die  Kranken  stammen. 

Unzweifelhaft  der  wichtigste  Teil  der  körperlichen  Unter- 
suchung ist  die  Prüfung  des  Nervensystems,  insbesondere 
des  Gehirns,  das  freilich  am  Lebenden  unserer  Beurteilung 
nur  wenige  Angriffspunkte  darbietet.  Von  der  Grösse  des  Ge- 
hirns kann  uns  die  Schädelmessung,  namentlich  nach  dem  von 
Rieger**)  ausgebildeten  Verfahren,  ein  ungefähres  Bild  ver- 
schaffen, dem  indessen  alle  jene  Fehlerquellen  anhaften,  welche 
in  dem  unvollkommenen  Parallelismus  der  Schädel-  und  Hirnober- 
fläche ihren  Ursprung  haben.  Unmittelbare  psychiatrische  Wich- 
tigkeit besitzen  daher  nur  diejenigen  Verbildungen  des  Schädels 
in  Form  und  Grösse,  die  unzweifelhaft  über  den  Bereich  jener 
Fehlerquellen  hinausgehen.  Dabei  ist  zu  berücksichtigen,  dass 

*)  Knecht,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Pßychiatrie,  LIV,  876;  Ganter,  eben- 
da, LV,  495;  Giuffrida-Ruggeri,  atti  della  societh  Romana  di  antro- 
pologia,  IV,  2,  3,  1896. 

**)  Rieger,  Eine  exakte  Methode  der  Craniographie.  1885. 


Zustandsuntersuchung. 


345 


es  nicht  allein  auf  die  Schädel-  oder  Gehirngrösse  an  sich,  sondern 
wesentlich  auf  das  Verhältnis  derselben  zu  der  Grösse  und  Masse 
des  ganzen  Körpers  ankommt.  Unter  Berücksichtigung  dieses 
Umstandes  können  bisweilen  Missverhältnisse  aufgedeckt  werden, 
die  der  einfachen  Betrachtung  entgehen.  Im  übrigen  vermögen 
allerdings  alle  feineren,  erst  mit  Hilfe  genauer  Messungen  fest- 
stellbaren Abweichungen  höchstens  die  allgemeine  Vermutung 
zu  begründen,  dass  mit  ihnen  vielleicht  auch  Störungen  in  der 
Hirnentwicklung  einhergehen.  Sehr  beachtenswert  sind  dagegen 
die  Spuren  früherer  Verletzungen,  Narben,  Eindrücke  und  dergl., 
da  sie  bisweilen  den  einzigen  Schlüssel  für  das  Verständnis  sonst 
rätselhafter  Krankheitsbilder  abzugeben  imstande  sind. 

Über  die  Kreislaufsverhältnisse  des  Gehirns  vermag  uns  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  die  Betrachtung  benachbarter  Gefäss- 
bezirke,  des  Gesichtes  und  vor  allem  des  Auges,  Aufschluss  zu 
geben;  in  vereinzelten  Fällen  gestatten  Schädellücken  auch  eine 
unmittelbare  Untersuchung.*)  Für  die  Hirnpathologie  ist  die 
Augenspiegeluntersuchung  bekanntlich  ein  überaus  wichtiges 
Hilfsmittel  geworden.  Bei  Geisteskranken  dagegen  sind  ihre  Er- 
gebnisse leider  noch  allzu  unsichere  geblieben,  als  dass  man  ihr 
heute  einen  wesentlichen  Wert  für  die  Diagnostik  zuerkennen 
könnte.  Ob  hier  andere  Verfahren,  die  Thermometrie**)  und  die 
Ausculation  des  Kopfes,  bessere  Ergebnisse  liefern  werden,  muss 
der  Zukunft  überlassen  bleiben. 

Von  durchschlagender  Bedeutung  für  die  Beurteilung  des 
Gehirnzustandes  ist  dagegen  die  Prüfung  seiner  Äusserungen. 
Sehen  wir  zunächst  ab  von  den  psychischen  Erscheinungen,  so 
werden  wir  in  erster  Linie  die  Sinnesgebiete  zu  untersuchen  haben. 
Freilich  ist  es  hier,  namentlich  beim  Gehör,  oft  recht  schwierig, 
ja  unmöglich,  Störungen  in  den  reizaufnehmenden  Sinneswerk- 
zeugen von  denjenigen  der  zugehörigen  Hirnabschnitte  zu  trennen. 
Ausser  eingehender  Prüfung  der  Sinnestätigkeit  und  der  Besich- 
tigung mit  dem  Spiegel  kann  insbesondere  beim  Ohr  noch  die 
elektrische  Untersuchung  der  Gehörnerven***)  in  Frage  kommen, 

*)  Berger,  Zur  Lehre  von  der  Blutcirkulation  in  der  Schädelhöhle  des 
Menschen.  1901. 

**)  M o s s o , Die  Temperatur  des  Gehirns.  1894. 

***)  Chvostek,  Jahrb.  f.  Psychiatrie,  XI,  3. 


346 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


die  bisweilen  bemerkenswerte  Abweichungen  von  der  Brenner- 
schen  Normalformel  zu  Tage  fördert.  Bereits  weit  in  das  geistige 
Leben  hinein  reichen  jene  Störungen  der  höheren  Sinnestätig- 
keit, die  man  als  „Worttaubheit“  und  „Seelenblindheit“  bezeich- 
net hat.  Noch  mehr  ist  das  der  Fall  bei  den  aphasischen  und  den 
ihnen  verwandten  Störungen*),  deren  Zergliederung  indessen  nicht 
in  den  Rahmen  unserer  Darstellung  fällt. 

Auf  motorischem  Gebiete  beschäftigt  uns  zunächst  Grösse 
und  Beweglichkeit  der  Pupille,  für  deren  feinere  Untersuchung 
neuerdings  Sommer  und  Bumke  besondere  Verfahren  ausgebildet 
haben.  Ferner  werden  wir  das  Spiel  der  Augenmuskeln,  der  Ge- 
sichtsmuskeln und  der  Zunge  zu  beachten  haben ; auch  das  ^ er- 
halten der  Mimik  (Starrheit,  Zuckungen,  Grimmassieren)  ist  von 
Wichtigkeit.  Mehr  oder  weniger  bindende  Rückschlüsse  auf  die  Art 
des  Krankheitsvorganges  im  Gehirn  ermöglichen  uns  gewisse 
Formen  des  Krampfes  (Rindenepilepsie,  Athetose,  Chorea)  des 
Zitterns  (Senium,  Alkoholismus,  Delirium  tremens)  und  der  Läh- 
mung (schlaffe  oder  spastische  Lähmung,  Contractur),  dann 
manche  Goordinationsstörungen  verwickelter  Willkürbewegungen, 
des  Gehens,  Stehens,  namentlich  aber  des  Sprechens  und  Schrei- 
bens. Auch  die  epileptischen  und  hysterischen  Krämpfe  wie  die 
hysterischen  Lähmungen  weisen  uns  geradezu  auf  eine  bestimmte, 
freilich  auch  nur  symptomatische  Krankheitsauffassung  hin. 

Der  Untersuchung  des  Gehirns  schliesst  sich  eng  diejenige 
des  Rückenmarkes,  des  Sympathicus  und  endlich  der 
peripheren  Nerven  an,  um  so  enger,  als  ja  selbst  heute 
noch  nicht  immer  die  Ursache  einer  krankhaften  Erscheinung  mit 
Sicherheit  in  einen  der  grossen  Abschnitte  des  Nervensystems  ver- 
legt werden  kann.  Die  Prüfung  des  Haut-  und  Muskelsinnes 
im  weitesten  Umfange,  der  Reizempfindlichkeit  in  ihren  ver- 
schiedenen Gestaltungen,  der  Schmerzempfindlichkeit  (Druck- 
punkte), der  elektrischen  und  mechanischen  Erregbarkeit  der 


*)  Ballet,  Die  innerliche  Sprache  und  die  verschiedenen  Formen  der 
Aphasie,  deutsch  v.  Bongers.  1890;  Freud,  Zur  Auffassung  der  Aphasien. 
1891;  Bastian,  Über  Aphasie  und  andere  Sprachstörungen,  deutsch  v.  Ur- 
stein.  1902;  Wolff,  Zeitschr.  f.  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnes- 
organe, XV,  1;  Liepmann,  Das  Krankheitsbild  der  Apraxie.  1900;  Heil- 
bronn er,  Über  Asymbolie,  Wernickes  Psychiatr.  Abhandlungen.  1897. 


Zustandsuntersuchung. 


347 


Nerven  (Facialisphänomen)  und  Muskeln,  der  Ausgiebigkeit, 
Sicherheit  und  Kraft  der  Bewegungen,  der  Reflexe,  endlich  der 
vasomotorischen  (Dermatographie),  trophischen,  sekretorischen 
Vorgänge  (Speichelfluss)  wird  daher  regelmässig  die  Untersuchung 
des  allgemeinen  Hirnzustandes  za  vervollständigen  haben. 

Nur  mittelbar,  auf  dem  Wege  vielgliedriger  Schlussfolge- 
rungen, kann  uns  natürlich  die  Untersuchung  des  übrigen 
Körpers  zu  einer  Erkennung  krankhafter  Vorgänge  im  Bereiche 
des  Nervensystems  verhelfen.  So  werden  wir  uns  erinnern,  dass 
schwere  allgemeine  Ernährungsstörungen  (fieberhafte  Krank- 
heiten, Blutentmischungen,  chronische  Infektionen  und  Vergif- 
tungen) häufig  genug  die  Grundlage  psychischer  Erkrankungen 
bilden,  andererseits  aber,  dass  jede  rasch  einsetzende  Geistes- 
störung mit  durchgreifender  Beeinträchtigung  der  Esslust,  des 
Schlafes  und  des  gesamten  Stoffwechsels  einherzugehen  pflegt. 

Selbstverständlich  kann  aber  die  körperliche  Veränderung  im 
einzelnen  Falle  auch  ganz  zufällig  mit  dem  Irresein  zusammen- 
fallen. Gleichwohl  wird  zur  vollen  Würdigung  der  Sachlage  eine 
möglichst  sorgfältige  Untersuchung  aller  zugänglichen 
Organe  und  ihrer  Verrichtungen  stets  unerlässlich  sein. 
Besondere  Bedeutung  hat  man  bisweilen  der  Form  des  Puls- 
bildes*) beigelegt,  aus  der  man  die  weitgehendsten  Aufschlüsse 
über  Diagnose  und  namentlich  Prognose  des  Irreseins  überhaupt 
herauslesen  wollte.  Leider  haben  sich  diese  Hoffnungen  nicht 
erfüllt.  Vielmehr  hat  sich  gezeigt,  dass  die  Gestaltung  des 
Pulsbildes  im  Verlaufe  einer  und  derselben  Erkrankung  durch 
verschiedenartige  Einflüsse  (Gemütsbewegungen,  Gefässspannung, 
Herztätigkeit)  auf  die  mannigfaltigste  Weise  verändert  werden 
kann.  Dagegen  scheinen  die  Schwankungen  des  Blutdrucks **) 
in  der  Tat  gewisse  Beziehungen  zu  der  Art  der  Krankheitsvorgänge 
aufzuweisen.  Wenn  sich  bei  manischer  Erregung  eine  Herab- 
setzung, bei  trauriger  Verstimmung  und  ebenso  in  Angstzuständen 
eine  Steigerung  des  Blutdruckes  nachweisen  lässt,  so  haben  wir 

*)  Ziehen,  Sphygmographische  Untersuchungen  an  Geisteskranken.  1887 ; 
Sokalski,  Untersuchungen  über  Puls  und  Blutdruck  in  akuten  Geisteskrank- 
heiten. 1897;  Patrizi,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXIII,  1. 

**)  Craig,  Lancet,  Juni  1898;  Pilcz,  Wiener  klinische  Wochenschrift, 
1900,  12;  Rosse,  Centralblatt  f.  Psych.  1902,  517. 


348 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


es  hier  wohl  unmittelbar  mit  den  vasomotorischen  Begleiterschei- 
nungen der  krankhaften  Stimmungen  zu  tun.  Dagegen  dürfte  die  von 
Pilcz  gefundene  Senkung  des  Blutdruckes  in  der  Paralyse  und 
namentlich  in  den  letzten  Abschnitten  der  Krankheit  kurz  vor 
dem  Tode  einfach  auf  das  allmähliche  Versagen  der  Herztätig- 
keit zurückzuführen  sein.  Näheren  Aufschluss  über  diese  gewiss 
sehr  wichtigen  Verhältnisse  verspricht  vor  allem  auch  das  ple- 
thysmographische Verfahren,  wie  es  namentlich  von 
Lehmann*)  ausgebildet  worden  ist.  Da  dasselbe  die  körper- 
lichen Begleiterscheinungen  der  Gefühle  mit  grosser  Genauigkeit 
wiedergibt,  wird  es  einerseits  bei  den  Geistesstörungen  mit  leb- 
haften Gemütsbewegungen,  andererseits  gerade  bei  denjenigen 
Formen  das  Krankheitsbild  vervollständigen,  bei  denen  die 
Schwankungen  des  Stimmungshintergrundes  in  krankhafter  Weise 
aufgehoben  sind.  Leider  liegen  bisher  erst  sehr  wenige  Unter- 
suchungen an  Geisteskranken  mit  diesem  Verfahren  vor. 

Noch  ganz  in  den  ersten  Anfängen  befinden  wir  uns  hinsicht- 
lich der  Untersuchung  und  Deutung  der  B lu  t Veränderungen**) 
bei  Geisteskranken.  Wir  besitzen  freilich  bereits  eine  ganze  Reihe 
von  Arbeiten  über  diese  Fragen,  allein  zu  bestimmten  Schlüssen 
im  einzelnen  Falle  reichen  die  vorliegenden  Ergebnisse  noch  nicht 
aus.  Es  scheint  mir  jedoch  zweifellos,  dass  wir  gerade  in  dieser 
Richtung  noch  wichtige  Entdeckungen  zu  erwarten  haben,  um 
so  mehr,  als  die  Bedeutung  der  allgemeinen  Stoffwechselerkran- 
kungen für  einige  der  verbreitetsten  Formen  des  Irreseins  mir 
immer  klarer  sich  herauszustellen  scheint.  Ganz  ähnlich  steht 
es  mit  den  Harn  Untersuchungen.  Aus  den  Ausscheidungen  wer- 
den wir  zwar  immer  nur  ein  sehr  unvollkommenes  Bild  von  den 
Störungen  in  der  chemischen  Zusammensetzung  der  Körpergewebe 
erhalten***),  aber  die  Möglichkeit  einer  häufigen  Untersuchung 


*)  A.  Lehmann,  Die  körperlichen  Äusserungen  der  seelischen,  Zustände. 
1899;  R.  Vogt,  Centralblatt  f.  Psychiatrie,  1902,  965;  Gent,  Philosophische 
Studien,  XVIII,  715;  Brodmann,  Journal  f.  Psychologie  u.  Neurologie  I,  10, 1903. 

**)  Vor  st  er,  Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie,  L.,  3 u.  4r  Ago- 
stini,  Rivista  sperimentale  di  freniatria,  XVIII,  483;  Ceni,  Revue  de  Psychia- 
trie, März  1901;  Pugh,  Journal  of  mental  Science,  Jan.  1903,  71. 

***)  B e 1 m o n d o , Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXII,  657 ; S t e f a n i , 
ebenda,  1900,  4;  S o u r y , Annales  medico-psychologiques,  VIII,  8,  427,  1898. 


Zustandsuntersuchung. 


349. 


wird  uns  doch  zu  einer  eingehenden  Berücksichtigung  jenes  Hilfs- 
mittels veranlassen.  Bisher  wissen  wir  freilich  wenig  mehr,  als 
dass  neben  Eiweiss  und  Zucker  gelegentlich  noch  eine  Reihe  an- 
derer ungewöhnlicher  Stoffe  im  Harn  Vorkommen  können,  ohne 
dass  sich  einstweilen  eine  genauere  Beziehung  zu  bestimmten 
Erkrankungen  feststellen  Hesse*).  Auch  die  Untersuchungen  des 
Magensaftes  haben  die  an  sie  geknüpften  Erwartungen  noch 
nicht  erfüllt;  immerhin  kann  man  ihren  Ergebnissen  vielleicht 
gewisse  Gesichtspunkte  für  die  Behandlung  entnehmen. 

Hat  uns  die  körperliche  Untersuchung  gewisse  Anhaltspunkte 
für  die  ursächliche  Auffassung  eines  Falles  oder  Beweise  für  das 
Bestehen  von  Störungen  in  diesen  oder  jenen  Abschnitten  des 
Nervengewebes  zu  liefern,  so  muss  das  eigentliche  Krankheits- 
bild durch  die  Prüfung  der  psychischen  Tätigkeit**) 
festgestellt  werden.  Leider  gehen  die  Hilfsmittel,  die  uns  für 
die  Klärung  dieses  wichtigen  Teiles  des  Krankheitszustandes  zu 
Gebote  stehen,  bisher  nur  wenig  über  diejenigen  hinaus,  die  uns 
die  gewöhnliche  Lebenserfahrung  an  die  Hand  gibt.  Die  Unter- 
suchung des  psychischen  Zustandes  liefert  uns  zumeist  keinerlei 
Zahl-  und  Massbestimmungen.  Sie  begnügt  sich  vielmehr  mit 
der  ursprünglichsten  Art  der  Beobachtung  und  mit  dem  einfachsten 
psychologischen  Versuche,  der  Stellung  von  Fragen;  sie  hält  sich 
in  ihrem  Gange  nicht  an  einen  vorherbestimmten  Plan,  sondern  sie 
schreitet  nach  Belieben  vom  unmittelbar  Vorliegenden  und  Auf- 
fallenden zum  Verborgenen  und  schwerer  Auffindbaren  fort.  Ge- 
rade gewisse  motorische  Äusserungen  sind  es  daher,  die  zumeist 
den  Ausgangspunkt  für  die  Untersuchung  zu  bilden  pflegen. 

Aus  der  Körperhaltung,  den  Ausdrucksbewegungen,  den  Ge- 
sichtszügen können  in  der  Regel  schon  von  vornherein  einige 
Aufschlüsse  über  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  (Teil- 
nahmlosigkeit,  Interesse,  Neugier)  und  die  Stimmung  des 
Kranken  gewonnen  werden  (Ausgelassenheit,  Zufriedenheit,  Angst, 
Verzweiflung,  Ruhe  oder  Stumpfheit).  Durch  einige  einfache 
Fragen  über  Namen,  Alter,  Vorleben  wird  weiterhin  festgestellt, 

*)  Koppen,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XX,  3;  Schäfer,  Monatsschr.  f. 
Psych.  n.  Neurol.,  II,  157. 

**)  Sommer,  Lehrbuch  der  psychopathologischen  Untersuchungs- 
methoden. 1899. 


350 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


ob  das  Bewusstsein  getrübt  oder  klar,  ob  die  Besonnenheit, 
die  Fähigkeit  der  Auffassung  und  unmittelbaren  Verwertung  von 
Sinneseindrücken,  erhalten  ist.  Zugleich  wird  sich  dabei  auch 
ein  annäherndes  Urteil  über  die  Schnelligkeit  des  Vorstellungs- 
verlaufes sowie  über  das  Gedächtnis  für  die  frühere  Ver- 
gangenheit ergeben.  Im  Fortgange  unserer  Unterhaltung  werden 
wir  festzustellen  suchen,  ob  die  Erinnerung  an  die  jüngste  Zeit, 
die  Orientierung  über  Zeit  und  augenblickliche  Umgebung 
(Aufenthaltsort  wie  Personen)  und  ob  Krankheitsbewusst- 
sein oder  gar  Einsicht  vorhanden  ist;  wir  gewinnen  dabei  die 
Aufklärung,  ob  wir  es  mit  einem  geordneten  oder  mit  einem  ideen- 
flüchtigen, zerfahrenen,  deliriösen,  verwirrten,  umständlichen, 
einförmigen  Gedankengange  zu  tun  haben.  Inzwischen  wer- 
den sich  zumeist  schon  allerlei  weitere  Anhaltspunkte  für  die 
Beurteilung  der  übrigen  psychischen  Leistungen  ergeben  haben, 
die  uns  als  Wegweiser  für  die  Auffindung  weniger  unmittelbar 
zu  Tage  tretender  Störungen  dienen  können. 

Nicht  ganz  leicht  ist  es  bisweilen,  über  das  Bestehen  von 
Sinnestäuschungen  ins  klare  zu  kommen.  Die  einfache 
Frage  über  diesen  Punkt  wird  uns  vielfach  nicht  zum  Ziele 
führen,  sei  es,  dass  sich  dem  Kranken  die  Trugwahrnehmungen 
unterschiedslos  der  sonstigen  Sinneserfahrung  einordnen,  sei  es, 
dass  er  aus  irgendwelchen  Gründen  über  dieselben  eine  miss- 
trauische Zurückhaltung  bewahrt.  Gleichwohl  pflegen  die  Be- 
zeichnungen „Stimmen“  und  „Bilder“  vom  Hallucinanten  in  der 
Kegel  sofort  auf  seine  Täuschungen  bezogen  zu  werden.  Bisweilen 
sind  die  Trugwahrnehmungen  trotz  alles  Ableugnens  des  Kranken 
mit  ziemlicher  Sicherheit  aus  seinem  Benehmen  zu  erschliessen, 
aus  der  horchenden  Stellung,  in  der  er  längere  Zeit  verharrt, 
grundlosem  Auffahren  oder  Lachen,  lauten  Selbstgesprächen, 
plötzlicher  Gereiztheit  und  dergl.  Umgekehrt  ist  aber  die  Ge- 
fahr recht  gross,  zu  der  Annahme  von  Sinnestäuschungen  zu 
kommen,  wo  es  sich  nur  um  eigentümlich  aufgefasste  und  wieder- 
gegebene wirkliche  Wahrnehmungen  handelt.  Die  Erfahrung  hat 
mir  gezeigt,  dass  Vorsicht  in  dieser  Beziehung  sehr  am  Platze  ist. 

Auch  die  Erkennung  von  Wahnideen  ist  nicht  immer  ganz 
leicht.  Bisweilen  treten  dieselben  bei  der  V ersetzung  in  eine 
neue  Umgebung  zeitweise  in  den  Hintergrund.  Eine  ganze  Zahl 


Zustandsuntersuchung. 


351 


von  Kranken  pflegt  ferner  ihre  Wahnideen,  namentlich  im  Be- 
ginne der  Erkrankung  und  vor  Fremden,  sehr  sorgfältig  geheim 
zu  halten  und  jedem  Versuche  tieferen  Eindringens  auszuweichen, 
bis  irgend  ein  Punkt  getroffen  wird,  der  sie  in  Erregung  versetzt, 
oder  bis  es  gelingt,  durch  allerlei  verfängliche  Fragen  eine  An- 
knüpfung zu  finden,  mit  Hilfe  deren  sich  anscheinend  absichtslos 
das  ganze  zusammenhängende  Netz  krankhafter  Vorstellungen 
entwickeln  lässt.  Nicht  zu  selten  leitet  auch  hier  schon  das 
äussere  Benehmen  des  Kranken  auf  die  Spur.  Scheues,  miss- 
trauisches Wesen  wird  uns  geheime  Feinde  und  Verfolgungen, 
schroffes  Zurückweisen  der  Nahrung  Vergiftungsideen  vermuten 
lassen;  eine  gewisse  gespreizte  Selbstgefälligkeit,  die  sich  bis- 
weilen schon  in  der  Tracht  ausspricht,  deutet  auf  Grössenideen, 
während  häufiges  Knieen,  Händefalten,  weinerlich  verzagter  Ge- 
sichtsausdruck das  Bestehen  von  Versündigungswahn  mit  reli- 
giöser. Färbung  wahrscheinlich  macht  u.  s.  f.  Trotz  aller  Mannig- 
faltigkeit im  einzelnen  pflegen  dabei  die  Grundzüge  solcher  Wahn- 
bildungen doch  vielfach  eine  so  weitgehende  Übereinstimmung 
miteinander  aufzuweisen,  dass  ein  erfahrener  Beobachter  auf 
Grund  seiner  aus  Äusserlichkeiten  gezogenen  Schlüsse  dem  ver- 
blüfften Kranken  öfters  mit  überraschender  Schnelligkeit  das 
Zugeständnis  seiner  krankhaften  Ideen  zu  entwinden  vermag. 

Ganz  besondere  Schwierigkeiten  aber  können  dann  erwachsen, 
wenn  der  Inhalt  der  Wahnideen  nicht  ohne  weiteres,  sondern  nur 
auf  Grund  einer  genaueren  Kenntnis  aller  Verhältnisse  als  krank- 
haft erkennbar  ist,  z.  B.  beim  Wahne  rechtlicher  Benachteiligung, 
ehelicher  Untreue.  Hier  kann  vielfach  das  Urteil  erst  nach 
längerer  Beobachtung  und  auch  dann  bisweilen  nur  mit  grösster 
Zurückhaltung  abgegeben  werden.  Zudem  pflegen  gerade  diese 
Kranken  sehr  geschickt  ihre  Wahnideen  zu  verbergen  oder  schein- 
bar vollkommen  zutreffend  zu  begründen.  Andererseits  kann  die 
Erkennung  bestimmter  Wahnideen  auch  dadurch  erschwert  wer- 
den, dass  der  Kranke  benommen,  verwirrt,  ängstlich  und  dadurch 
ausser  stände  ist,  seine  Gedanken  zusammenhängend  zu  äussern. 
Hier  können  Monate  vergehen,  bevor  sich  einigermassen  klar  er- 
kennen lässt,  welche  Vorgänge  sich  in  seinem  Bewusstsein  ab- 
spielen. Wir  sind  bei  dieser  Beurteilung  ganz  auf  die  nicht  immer 
zuverlässige  Deutung  jener  unwillkürlichen  Äusserungen  an- 


352 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


gewiesen,  in  denen  sich  die  Seelenzustände  nach  aussen  kund- 
geben. 

Die  Untersuchung  auf  das  Bestehen  von  Wahnideen  bietet 
gleichzeitig  Gelegenheit,  in  den  Zustand  der  Verstandes- 
tätigkeit und  des  Gedächtnisses  überhaupt  einige  Ein- 
blicke zu  gewinnen.  Das  urteilslose  Festhalten  an  widerspruchs- 
vollen Vorstellungen  ohne  gleichzeitige  Bewusstseinstrübung  oder 
gemütliche  Erregung,  ferner  die  Vermischung  von  Erinnerungen 
mit  erfundenen  Einzelheiten  werden  in  dieser  Richtung  zu  ver- 
werten sein.  Im  übrigen  müssen  uns  hier  die  Regeln  der  alltäg- 
lichen Menschenkenntnis  darüber  belehren,  wie  die  allgemeine 
geistige  Veranlagung  und  Leistungsfähigkeit  des  Kranken  be- 
schaffen ist.  Unter  Berücksichtigung  seiner  Vergangenheit, 
seiner  Erziehung  und  Bildungsmittel  werden  wir  im  Gespräche  un- 
gefähr den  Umfang  seiner  Kenntnisse,  seines  Gesichtskreises,  sei- 
ner Neigungen  und  seiner  gegenwärtigen  Urteilsfähigkeit  zu  er- 
messen haben.  Natürlich  kann  der  so  erreichte  allgemeine  Über- 
blick die  Gewinnung  brauchbarer  Gruppen  und  Abstufungen  immer 
nur  in  den  allergröbsten  Umrissen  gestatten.  Unter  Lmständen 
kann  die  Lösung  bestimmter  Aufgaben,  der  Versuch  der  Beschrei- 
bung eines  bis  dahin  unbekannten  Gegenstandes,  die  mündliche 
oder  schriftliche  Schilderung  und  Beurteilung  der  neuen  Eindrücke 
in  der  Anstalt,  die  Ausdauer  bei  einer  bestimmten  geistigen 
Beschäftigung  zur  Krankenuntersuchung  mit  herangezogen 
werden. 

Leider  stösst  eine  tieferdringende  Prüfung  der  ^ erstandes- 
leistungen  unserer  Kranken  zur  Zeit  noch  auf  Schwierigkeiten,  die 
im  Hinblick  auf  die  Vielseitigkeit  der  Frage  sowie  auf  den  weit- 
reichenden Einfluss  der  Erziehung  und  Bildung  kaum  überwindlich 
erscheinen.  Einen  wesentlichen  Fortschritt  unseres  psychischen 
Untersuchungsverfahrens  bedeuten  jedoch  die  von  verschiedenen 
Forschern  unternommenen  Versuche,  die  geistigen  Leistungen 
unserer  Kranken  auf  bestimmten  Gebieten  planmässig  und  unter 
einheitlichen  Gesichtspunkten  aufzuzeichnen.  Sommer  vor  allen 
ist  bemüht  gewesen,  diese  Prüfungen  zu  vervollkommnen.  Er  hat 
dabei  besonderen  Wert  auf  die  „Gleichheit  der  Reize“  gelegt, 
indem  er  eine  beschränkte  Zahl  von  Aufgaben  den  verschiedensten 
Kranken  vorführte  und  andererseits  dies  Verfahren  bei  denselben 


Zustandsuntersuchung. 


353 


Kranken  zu  verschiedenen  Zeiten  wiederholte.  Diesem  Zwecke 
dienten  vorgedruckte  Fragebogen  mit  verschiedenartigem  In- 
halte.*) Einmal  kam  es  ihm  darauf  an,  Auskunft  über  die  „Orien- 
tierung“ der  Kranken  zu  erhalten;  die  Fragen  beziehen  sich 
demnach  auf  Namen,  Heimat,  Alter,  Zeit  und  Ort,  Personen  der 
Umgebung,  zeitliche  Ordnung  der  letzten  Erlebnisse;  angeschlos- 
sen werden  einige  Fragen  über  Stimmung,  Krankheitsgefühl, 
Sinnestäuschungen  und  Wahnvorstellungen.  Ähnliche  Fragebogen 
behandeln  die  Schulkenntnisse  und  die  Rechenfertigkeit;  endlich 
hat  Sommer  noch  einige  Gruppen  von  Reizworten  für  die  Aus- 
lösung von  Associationen  nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  zu- 
sammengestellt. Die  grossen  Vorzüge  dieses  bereits  in  mehreren 
grösseren  Versuchsreihen  angewendeten  Fragebogenverfahrens 
liegen  in  der  Vergleichbarkeit  der  Ergebnisse.  So  manche  kli- 
nische Eigentümlichkeiten  der  einzelnen  Krankheitsformen  ge- 
winnen dadurch  greifbare  Gestalt;  namentlich  aber  lässt  sich  unter 
Umständen  sehr  deutlich  der  Verlauf  der  Krankheit  mit  seinen 
Verschlimmerungen,  Besserungen  oder  periodischen  Schwankungen 
verfolgen. 

Einen  etwas  anderen  Weg  hat  Möller**)  eingeschlagen. 
Ihm  kam  es  hauptsächlich  auf  die  Untersuchung  Schwachsinniger 
an,  bei  denen  er  einmal  den  Umfang  des  gedächtnismässig  fest- 
gehaltenen Vorstellungsschatzes,  sodann  aber  die  Fähigkeit  zu 
geistiger  Verarbeitung  prüfen  wollte.  Für  den  ersten  Zweck 
entwarf  er  ebenfalls  Fragebogen,  die  indessen  jedem  einzelnen 
Falle  angepasst  und  demgemäss  sehr  umfangreich  waren.  In 
ihnen  wurden  die  besonderen  Lebensverhältnisse  des  Einzelnen, 
der  Lernstoff  der  von  ihm  besuchten  Schulklassen,  die  Erwerbs- 
und Berufstätigkeit  eingehend  berücksichtigt.  Dadurch  ist  der 
Einblick  in  den  Gedächtnisstoff  ungleich  vollständiger  geworden, 
die  Vergleichung  verschiedener  Personen  aber  sehr  erschwert. 
Als  Massstab  für  die  Verstandesfähigkeit  benutzte  Möller  die 
„Fabelmethode“,  das  heisst,  er  erzählte  seinen  Kranken  einfache 
Fabeln  von  abgestufter  Schwierigkeit  und  forderte  die  Ableitung 


*)  Zu  beziehen  von  der  Brühl  sehen  Universitätsdruckerei  in  Giessen. 

**)  Möller,  Über  Intelligenzprüfungen,  ein  Beitrag  zur  Diagnostik  des 
Schwachsinns.  Diss.  1897;  Archiv  f.  Psychiatrie,  XXXIV,  284. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl. 


23 


354 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


der  Nutzanwendung  aus  denselben,  die  Auffindung  einer  passen- 
den Überschrift  und  womöglich  die  Angabe  eines  Sprichwortes 
mit  ähnlicher  Lehre.  Ohne  Zweifel  ist  dieses  Verfahren  geeignet, 
eine  gute  Vorstellung  von  dem  Urteile  und  Schlussvermögen  zu 
liefern,  doch  stösst  auch  hier  der  Vergleich  auf  erhebliche  Schwie- 
rigkeiten. 

Auch  das  Bedürfnis,  die  Erscheinungen  der  Aphasie  und 
verwandter  Störungen  genauer  zu  zergliedern,  hat  vielfach  zur 
Aufstellung  bestimmter  Untersuchungspläne  geführt.  Vorbild- 
lich ist  hier  die  Aufnahme  des  geistigen  Besitzstandes  durch 
R i e g e r *)  gewesen,  der  bei  einem  Kranken  mit  schwerei 
Hirnverletzung  auf  das  sorgfältigste  den  Umfang  des  V orstellungs- 
schatzes  und  der  Verstandesleistungen  bestimmte.  Ist  die  von 
ihm  durchgeführte  Prüfung  auch  zunächst  für  die  Aufdeckung 
der  durch  gröbere  Hirnerkrankungen  bedingten  Lücken  geeignet, 
so  wird  sie  sich  doch  ohne  Zweifel  auch  auf  eine  Reihe  von 
anderen  Formen  geistiger  Störung,  namentlich  von  Schwächezu- 
ständen, übertragen  lassen.  Dabei  wird  sich  voraussichtlich  all- 
mählich das  besonders  Wichtige  von  dem  weniger  Bedeutsamen 
abscheiden  und  damit  das  jetzt  noch  ungemein  mühsame  und  zeit- 
raubende Verfahren  praktisch  verwendbarer  werden. 

Als  äusserst  unvollkommen  muss  unsere  ärztliche  Prüfung 
der  Gefühle,  Gemütsbewegungen  und  Strebungen 
bezeichnet  werden.  Was  wir  bei  der  einmaligen  Untersuchung 
auf  diesen  Gebieten  überhaupt  zu  erkennen  vermögen,  zeigt  sich 
meist  bereits  bei  der  äusseren  Betrachtung,  in  den  Ausdrucksbewe- 
gungen. In  ihnen  offenbaren  sich  die  gehobene  Stimmung,  der  Be- 
tätigungsdrang und  die  Redelust  der  manischen,  die  Unruhe  und 
Angst  der  deliriösen  oder  melancholischen,  der  Bewegungsdrang, 
die  Manieren  und  Stereotypien  der  katatonischen,  die  Empfind- 
lichkeit und  Unstetigkeit  der  hysterischen  Kranken.  Auch  über 
die  Herabsetzung  oder  Steigerung  der  psychomotorischen  Erreg- 
barkeit, die  Hemmung,  die  Sperrung  und  Entgleisung  des  Willens 
werden  sich  bei  der  Beobachtung  der  Kranken  allmählich  mein 


*)  Rieger,  Beschreibung  der  Intelligenzstörungen  infolge  einer  Hirn- 
verletzung, nebst  einem  Entwurf  zu  einer  allgemein  anwendbaren  Methode  der 
Intelligenzprüfung.  1889. 


Zustandsuntersuchung. 


355 


oder  weniger  klare  Aufschlüsse  gewinnen  lassen.  Bei  dem  Ver- 
suche körperlicher  oder  psychischer  Einwirkung  zeigt  sich  die 
wächserne  Biegsamkeit,  der  Negativismus,  das  ängstliche  Wider- 
streben, die  Unlenksamkeit,  der  Eigensinn,  die  Bestimmbarkeit. 
Über  diese  Erfahrungen  hinaus  sind  wir  wesentlich  auf  die  nicht 
immer  ganz  zuverlässigen  Selbstschilderungen  angewiesen,  die 
uns  von  dem  Zustande  des  eigenen  Innern  entworfen  werden. 
Natürlich  vermag  uns  aber  der  Verlauf  der  Untersuchung  über 
die  grössere  oder  geringere  gemütliche  Reizbarkeit,  über  Gleich- 
mässigkeit  oder  häufigen  Wechsel  der  Stimmung,  endlich  über 
auffallende  Gefühlsäusserungen  nach  bestimmten  Richtungen 
hin,  grundlosen  Hass,  religiöse  Schwärmerei,  überschwängliches 
Glücksgefühl,  Gleichgültigkeit,  Stumpfheit  mannigfache  gewich- 
tige Aufschlüsse  zu  liefern.  Auf  etwa  vorhandene  krankhafte 
Neigungen,  Selbstmorddrang,  gesteigerte  geschlechtliche  Begierde, 
Sucht  zu  kaufen,  zu  trinken,  werden  wir  ebenfalls  bei  unserer 
Prüfung  Rücksicht  nehmen  müssen.  Was  sich  aber  hier  nicht 
schon  unwillkürlich  in  dem  gesamten  Benehmen  verrät,  werden 
wir  häufig  genug  durch  Ausfragen  der  Kranken  auch  nicht  er- 
fahren; wir  müssen  daher  zur  Vervollständigung  unseres  Bildes 
nach  dieser  Richtung  hin  die  Berichte  der  Umgebung  mit  zu 
Hilfe  nehmen. 

Es  wird  kaum  in  Abrede  gestellt  werden  können,  dass  für 
die  wissenschaftliche  Betrachtung  und  auch  im  Vergleiche  mit 
anderen  medizinischen  Gebieten  das  Verfahren,  nach  dem  wir 
den  Seelenzustand  unserer  Kranken  feststellen,  ein  recht  rohes 
genannt  werden  muss;  es  hat  fast  mehr  Ähnlichkeit  mit  dem 
Vorgehen  des  Untersuchungsrichters,  als  mit  einer  naturwissen- 
schaftlichen Erforschung.  Leider  ist  es  weniger  schwer,  diesen 
Mangel  zu  erkennen,  als  ihm  abzuhelfen.  Nicht  nur  setzt  das 
Gebiet  der  psychischen  Vorgänge  an  sich  der  Einführung  wirk- 
lich zuverlässiger  Beobachtungshilfsmittel  den  grössten  Wider- 
stand entgegen,  der  nur  allmählich  überwunden  werden  kann, 
sondern  es  ist  auch  nur  allzu  häufig  gar  nicht  möglich,  einen 
Geisteskranken  der  Reihe  nach  planmässig  allen  den  Prüfungen 
zu  unterwerfen,  die  man  etwa  für  wünschenswert  erachtet.  Oft 
genug  ist  unsere  Versuchsperson  eine  widerwillige,  unzugäng- 
liche oder  fast  unverständliche,  so  dass  selbst  eine  ungefähre 

23* 


356 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Erkenntnis  derselben  nur  durch  sehr  grosse  Geduld,  ein  fein- 
fühliges Geschick  und  eine  genaue  Vertrautheit  mit  allen  den 
mannigfachen  Erscheinungsformen  erreicht  werden  kann,  in 
denen  sich  krankhafte  Vorgänge  zu  offenbaren  pflegen.  Die  mit 
den  gewöhnlichen  Hilfsmitteln  erreichbaren  Ergebnisse  leiden 
alle  an  dem  wesentlichen  Nachteile,  dass  die  erhobenen  Befunde 
vieldeutig  sind  und  dass  sie  keine  zuverlässigen  Massbestim- 
mungen  gestatten.  Die  untersuchten  Leistungen  sind  schon  za 
verwickelte,  und  die  festgestellten  einzelnen  Abweichungen  sind 
so  verschiedenartig,  dass  eine  einfache  zahlenmässige  ^ erwer- 
tuug  unmöglich  wird.  Es  drängt  sich  unter  diesen  Umständen 
ganz  von  selbst  die  Forderung  auf,  diejenigen  Verfahren  für 
die  psychiatrische  Untersuchung  nutzbar  zu  machen,  die  \ on 
der  Psychologie  zur  feineren  Zergliederung  der  Seelenvorgänge 
und  zur  Gewinnung  genauer,  vergleichbarer  Zahlenworte  aus- 
gebildet worden  sind.  Allerdings  wird  sich  aus  naheliegenden 
Gründen  die  Durchführung  zuverlässiger  psychologischer  Ver- 
suchsreihen bei  Geisteskranken  nur  in  beschränkterem  Umfange 
ermöglichen  lassen.  Trotzdem  oder  vielmehr  gerade  deswegen 
will  ich  es  nicht  unterlassen,  hier,  wenn  auch  nur  in  kurzen 
Andeutungen,  auf  einige  der  Wege  hinzuweisen,  die  uns  in  ab- 
sehbarer Zeit  voraussichtlich  gestatten  werden,  wenigstens  bei 
manchen  chronischer  verlaufenden  Formen  des  Irreseins  Mes- 
sung und  Zählung  psychischer  Grössen  zur  Gewinnung  eines 
tieferen  Einblickes  in  die  Aid  der  Störungen  zu  verwerten.  Alle 
diese  Wege  sind  bereits  betreten  und  praktisch  erprobt  worden*). 

Als  Gang  für  eine  feinere  psychische  Untersuchung  würde 
sich  im  allgemeinen  die  Verfolgung  jener  Bahn  empfehlen, 
welche  unsere  gesamte  Erfahrung  gegangen  ist.  Zuerst  wären 
somit  der  Wahrnehmungsvorgang,  das  Gedächtnis,  dann  die  er- 
bindungen  der  Vorstellungen,  Urteile  und  Schlüsse,  das  Selbst- 
bewusstsein, kurz  die  Verstandestätigkeit,  endlich  die  niederen 
und  höheren  Gefühle,  die  Stimmung,  die  Gemütsbewegungen  und 
deren  Umsetzung  in  unwillkürliches  und  willkürliches  Handeln 

*)  Vergl.  Kraepelin,  Der  psychologische  Versuch  in  der  Psychiatrie, 
Psychologische  Arbeiten,  1, 1,  1895.  Eine  Reihe  von  weiteren  Arbeiten  über  diese 
Fragen  enthalten  die  folgenden  Hefte;  vgl.  Weygandt,  Centralbl.  f.  Psych. 
XXVI,  1,  29,  1903. 


Zustandsuntersuchung. 


357 


zu  berücksichtigen.  Von  allen  diesen  Abschnitten  sind  es  nur 
einige  wenige,  welche  für  jetzt  einer  genaueren  Prüfung  bei 
Geisteskranken  zugänglich  erscheinen;  sie  liegen  fast  sämtlich 
auf  dem  Gebiete  der  Verstandesleistungen. 

Für  die  Lösung  der  hier  gestellten  Aufgaben  wird  es  not- 
wendig sein,  vor  allem  die  Untersuchung  so  zu  gestalten,  dass 
sie  mit  möglichst  einfachen  Hilfsmitteln  durchgeführt  werden 
kann,  und  dass  sie  recht  geringe  Anforderungen  an  die  Mit- 
wirkung der  Versuchsperson  stellt.  Die  Vereinigung  dieser  Be- 
dingungen mit  dem  Streben  nach  genauen,  zahlenmässigen  Ergeb- 
nissen erscheint  fast  unmöglich,  doch  lässt  sich  ein  grosser  Teil 
der  entgegenstehenden  Schwierigkeiten  sicherlich  überwinden. 
Für  manche  Zwecke  freilich  vermögen  wir  heute  die  Anwen- 
dung feinerer  und  schwieriger  zu  handhabender  Werkzeuge  noch 
nicht  zu  entbehren;  ebensowenig  wird  man  erwarten  können, 
dass  sich  alle  oder  doch  viele  Geisteskranke  zu  eindringenderen 
Untersuchungen  ihres  Seelenlebens  werden  heranziehen  lassen. 
Immerhin  kann  man  auch  so  eine  Fülle  von  neuen  Tatsachen  ge- 
winnen, deren  Kenntnis  weiterhin  auch  dort  das  Verständnis 
erleichtern  wird,  wo  die  unmittelbare  Untersuchung  nicht  durch- 
führbar erscheint. 

Die  nächstliegende  geistige  Leistung,  mit  welcher  wir 
uns  zu  beschäftigen  hätten,  ist  die  Auffassung  äusse- 
rer Eindrücke.  Zur  Prüfung  dieses  Vorganges  haben 
wir  uns  mit  gutem  Erfolge  grosser,  mit  Wörtern  oder 
sinnlosen  Silben  beklebter  Trommeln  bedient,  die  sich  mit 
gleichmässiger  Geschwindigkeit  vor  einem  engen  Spalte  um 
ihre  Axe  drehten.  Bei  einer  bestimmten  Drehungsgeschwin- 
digkeit ist  man  gerade  noch  imstande,  durch  den  Spalt  eine 
Anzahl  der  vorüberziehenden  Eindrücke  zu  erkennen,  während 
bei  längerer  Dauer  der  Leseübung  die  einzelnen  Wörter  all- 
mählich verschwimmen  oder  falsch  aufgefasst  werden.  Man  kann 
demnach  auf  diese  Weise  nicht  nur  ein  Mass  für  die  Auffassungs- 
geschwindigkeit finden,  sondern  namentlich  auch  einen  Einblick 
in  die  Art  der  begangenen  Fehler  gewinnen.  Die  Erfahrung  hat 
gezeigt,  dass  gerade  diese  letzteren  uns  vielfache  Aufschlüsse 
geben,  über  die  Grösse  des  inneren  Blickfeldes,  über  die  Zuver- 
lässigkeit der  Auffassung,  die  Neigung  zu  willkürlicher  Er- 


358 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


gänzung  und  zu  kritischer  Sichtung  der  Wahrnehmungen,  über 
die  Rolle  der  Gesichtsbilder  und  der  Bewegungsempfindungen  in 
den  Sprachvorstellungen.  luch  die  Verhältnisse  der  Übung 
und  Ermüdung  auf  dem  Gebiete  der  Wahrnehmung  können  nach 
dem  angegebenen  Verfahren  festgestellt  werden. 

Einen  ähnlichen  Weg  hat  Ranschburg*)  eingeschlagen, 
der  strahlenförmig  mit  Reizen  verschiedener  Art  bedruckte 
Scheiben  in  bestimmbarem  Zeitmasse  hinter  einer  mit  Aus- 
schnitt versehenen  Platte  sich  drehen  liess;  die  ruckende  Be- 
wegung konnte  durch  die  Schläge  eines  Metronoms  geregelt  und 
abgeändert  werden;  ein  elektrischer  Strom  gestattete,  da.-?  Merk 
nach  Belieben  in  Gang  zu  setzen  und  anzuhalten.  Die  ganze 
Einrichtung  eignet  sich  vortrefflich  zur  Ausführung  von  Auf- 
fassungs-  und  Einprägungsversuchen,  bei  denen  Umfang  und 
Zuverlässigkeit  dieser  Leistungen  festgestellt  werden  kann. 
Auch  Zeitmessungen  lassen  sich  leicht  mit  diesen  Prüfungen 
verbinden. 

Zu  Zwecken  der  Untersuchung  am  Krankenbette  haben  wir 
in  den  letzten  Jahren  eine  Platte  mit  veränderlichem  Spalte  be- 
nutzt, die  mit  Hilfe  einer  Feder  vor  den  Gesichtsreizen  (Zahlen, 
Buchstabengruppen,  Silben,  Wörter,  Bilder)  vorbeigeschnellt 
wurde.  Die  Anzahl  der  erkannten  Reize  gibt  ein  Mass  für  die 
Auffassungsfähigkeit;  die  Fehler  sind  in  ähnlicher  M eise  zu  ver- 
werten wie  bei  den  früher  angeführten  Verfahren.  Noch  ein- 
facher sind  die  von  Bonhöffer  bei  Deliranten  benutzten 
Hilfsmittel,  die  sich  an  die  gewöhnliche  neurologische  Unter- 
suchung anlehnen,  Prüfung  der  Berührungs-  und  Schmerzempfind- 
lichkeit mit  Hilfe  von  Nadeln,  des  Gehörs  durch  Flüsterstimme, 
des  Gesichts  durch  Schriftproben  und  Perimeter,  der  Farbenwahr- 
nehmung durch  Wollproben  und  gefärbte  Quadrate,  des  Orts- 
sinnes der  Haut  mit  dem  Zirkel.  Das  Vorlegen  von  einfachen 
und  verwickelteren  Bildern  gewährt  Einblick  in  die  weitere 
geistige  Verarbeitung  der  Wahrnehmungen  und  deckt  unter  Um- 
ständen auch  das  Vorkommen  von  illusionären  orgängen  auf. 
Bei  schweren  Auffassungsstörungen  kann  das  Erkennen  der  Zahl 
rasch  vorgehaltener  Finger,  die  Zählung  schnell  aufeinander 


*)  Monatsschrift  für  Psychiatrie,  X,  321,  1901. 


Zustandsuutersuchung. 


359 


folgender  Klopfgeräusche  als  Aufgabe  für  den  Kranken  gewählt 
werden. 

Ein  anderer  Weg  zur  Untersuchung  des  Wahrnehmungsvor- 
ganges  ist  uns  in  den  sogenannten  psychischen  Zeitmes- 
sungen gegeben.  Das  Verfahren  bei  solchen  Messungen,  für 
die  das  Hipp  sehe  Chronoskop  ein  unvergleichlich  bequemes 
und  zuverlässiges  Hilfsmittel  darstellt,  ist  nach  den  verschie- 
densten Richtungen  hin  auf  das  sorgfältigste  durchgearbeitet, 
so  dass  sie  in  der  Hand  des  Erfahrenen  eine  sehr  wertvolle 
Bereicherung  unseres  wissenschaftlichen  Rüstzeuges  bilden. 
Leider  sind  allerdings  viele  der  bisher  veröffentlichten  Ver- 
suche an  Geisteskranken  wegen  mangelhafter  Anordnung  voll- 
kommen wertlos.  Dagegen  haben  mir  zahllose  bei  uns  ausgeführte 
Messungen  gezeigt,  dass  sich  auch  bei  Geisteskranken  ohne 
nennenswerte  Schwierigkeit  auf  diesem  Wege  wichtige  Ergebnisse 
erzielen  lassen.  Man  kann  so  z.  B.  die  Auffassungszeit  für  zu- 
gerufene oder  gelesene  Worte  und  Buchstaben  bestimmen. 
Auch  bei  diesem  Verfahren  stellt  sich  ausser  der  Verlängerung 
oder  Verkürzung  der  Zeiten  das  Auftreten  von  Wahrnehmungs- 
verfälschungen heraus,  die  geeignet  sind,  ein  besonderes  Licht 
auf  den  Ablauf  des  gemessenen  Vorganges  zu  werfen. 

Bei  allen  Auffassungsversuchen  wird  das  Ergebnis  sehr 
wesentlich  durch  das  V erhalten  der  Aufmerksamkeit  be- 
einflusst. Die  Schwankungen  der  gewonnenen  Werte  geben 
daher  auch  ein  gewisses  Mass  für  die  grössere  oder  geringere 
Gleichmässigkeit  der  Aufmerksamkeitsspannung.  Genauer  lassen 
sich  dieselben  bei  fortlaufender  geistiger  Arbeit  (Addieren)  mit 
Hilfe  einer  kleinen  Schreibfeder  verfolgen,  die  beim  Unter- 
streichen jeder  addierten  Zahl  einen  elektrischen  Strom 
schliesst  und  auf  diese  Weise  die  Dauer  jeder  einzelnen  Rech- 
nung aufzuzeichnen  gestattet.  Wir  erhalten  so  ein  genaues 
Bild  von  den  Schwankungen  in  der  Rechengeschwindigkeit,  na- 
mentlich auch,  wie  sich  herausgestellt  hat,  von  dem  Einflüsse, 
den  das  Eingreifen  des  Willens  auf  die  Lösung  der  Aufgabe 
ausübt.  Für  gröbere  Prüfungen  hat  sich  ebenfalls  das  fort- 
laufende Addieren  oder  Subtrahieren  derselben  Zahl  zweck- 
mässig erwiesen.  Lässt  man  z.  B.  von  100  fortlaufend  7 ab- 
ziehen,  so  gewähren  die  Schwankungen  in  der  Geschwindigkeit 


360 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


und  besonders  die  Entgleisungen  ein  gutes  Bild  von  der  Stetig- 
keit der  Aufmerksamkeitsspannung.  Durch  willkürlich  hinein- 
getragene Störungen  kann  man  zugleich  ein  Urteil  über  die 
äussere  Ablenkbarkeit  gewinnen. 

Die  Untersuchung  des  Gedächtnisses  hat  sich  einmal 
auf  die  Festigkeit  zu  erstrecken,  mit  welcher  früher  erworbene 
Vorstellungen  in  unserem  Innern  haften,  dann  aber  auf  die 
Fähigkeit,  jetzt  noch  neue  Vorstellungen  aufzunehmen  und  auf- 
zubewahren. Auf  Störungen  in  der  ersteren  Richtung  pflegen 
wir  gewöhnlich  zu  fahnden  durch  die  Frage  nach  gewissen,  als 
selbstverständlich  vorausgesetzten  Kenntnissen,  seien  es  persön- 
liche Erlebnisse,  seien  es  anderweitig  erlernte  Vorstellungs- 
reihen, namentlich  die  Rechnungsarten.  Man  kann  hier  durch 
reihenartig  fortlaufende,  planmässige  Rechenversuche  ein  Mass 
für  die  Leichtigkeit  gewinnen,  mit  welcher  der  Kranke  noch 
über  die  in  der  Kindheit  erlernten  einfachen  Zahlenverbindungen 
verfügt.  Ich  bediene  mich  seit  vielen  Jahren  zu  diesem  Zwecke 
des  fortlaufenden  Addierens  einstelliger  Zahlen  in  besonders 
dazu  gedruckten  Heften.  In  regelmässigen  kürzeren  Pausen 
wird  auf  ein  Glockenzeichen  durch  einen  Strich  das  bis  dahin 
Gearbeitete  abgegrenzt,  so  dass  die  Grösse  der  Leistung  in  den 
einzelnen  Zeitabschnitten  unmittelbar  aus  der  Menge  der  addierten 
Zahlen  erkannt  werden  kann.  Am  Krankenbette  wird  man  kür- 
zere derartige  Reihen,  z.  B.  das  fortlaufende  Addieren  oder  Sub- 
trahieren von  3,  7,  12,  ausführen  lassen  und  die  Zeiten  mit  einer 
Sportuhr  messen  können. 

Auf  ganz  ähnliche  Weise  lässt  sich  die  augenblickliche  Auf- 
nahmefähigkeit des  Gedächtnisses,  die  „Merkfähigkeit“, 
durch  Auswendiglernen  langer  Zahlen-  oder  sinnloser  Silben- 
reihen ohne  erhebliche  Schwierigkeit  prüfen.  Dabei  ergibt  sich, 
dass  verschiedene  Personen  die  zu  lernenden  Reihen  mit  per- 
sönlich bestimmter,  aber  sehr  verschiedener  Geschwindigkeit 
auf  sagen.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  hier  um  Abweichungen 
in  der  Art  des  Lernens.  Berücksichtigt  man,  dass  sich  beim 
Lernen  einer  Zahlenreihe  die  Auffassung  des  Sinneseindruckes 
mit  dem  Aussprechen  der  Bezeichnungen  verbindet,  so  liegt  die 
noch  durch  allerlei  andere  Beobachtungen  gestützte  Annahme 
nahe,  dass  sich  bei  langsamem  Hersagen  die  Aufmerksamkeit 


Zustandsuntersuchung. 


361 


vorzugsweise  auf  die  sinnlichen  und  associativen,  bei  schnellem 
Hersagen  dagegen  besonders  auf  die  motorischen  Bestandteile 
der  Gesamtvorstellung  richtet.  Erstere  werden  bei  langsamer 
Einprägung,  letztere  bei  häufiger  Wiederholung  besser  in 
unserem  Gedächtnisse  befestigt.  Die  Geschwindigkeit  des  Her- 
sagens  gestattet  demnach  einen  Schluss  auf  die  gewohnheits- 
mässige  Bevorzugung  dieser  oder  jener  Seite  unserer  Vorstel- 
lungen, zunächst  bei  der  vorliegenden  Arbeitsleistung.  Es  ist 
indessen  nicht . unwahrscheinlich,  dass  diesen  Verschiedenheiten 
eine  weit  über  das  einzelne  Gebiet  hinausreichende  Bedeutung 
zukommt. 

Versuche  über  die  Merkfähigkeit  lassen  sich  überall  in  be- 
quemer Weise  mit  solchen  über  die  Auffassungsfähigkeit  ver- 
knüpfen, indem  man  zwischen  Darbietung  des  Reizes  und  Wieder- 
gabe desselben  beliebig  lange  Zwischenzeiten  einschiebt.  Wählt 
man  diese  Zeiten  recht  kurz  und  wechselt  man  mit  ihnen  in 
vielen  Abstufungen,  so  ist  es  möglich,  die  Entwicklung  des 
Wahrnehmungs  vor  ganges  bis  zu  voller  Ausdehnung,  dann  aber 
auch  das  Verblassen  der  Bilder  und  das  Auftreten  von  behler- 
vorgängen  in  allen  Einzelheiten  zu  verfolgen.  Wir  bedienen  uns 
für  solche  Zwecke  der  bereits  erwähnten  Spaltplatte,  mittelst 
deren  man  die  verschiedenartigsten  Gesichtseindrücke  für  kurze 
Zeit  sichtbar  machen  kann.  Auch  der  Ranschburg sehe 
Apparat  und  jedes  beliebige  andere  „Tachistoskop“  lässt  sich 
in  gleicher  Weise  verwerten. 

Einfachere  und  daher  für  die  Untersuchung  Geisteskranker 
brauchbarere  Verfahren  zur  Prüfung  der  Merkfähigkeit  sind  von 
anderen  Forschern,  so  von  Bonhöffer,  in  Anwendung  ge- 
zogen worden.  Den  Kranken  wurde  die  Aufgabe  gestellt,  mehr- 
stellige vorgesagte  Zahlen,  Silbenzusammenstellungen,  unbe- 
kannte Wörter  nach  einer  gewissen  Zeit  mündlich  oder  schrift- 
lich zu  wiederholen,  aus  einer  Anzahl  vorgelegter  Bilder  ein 
bestimmtes  wiederzuerkennen.  Ranschburg  *)  hat  nach  ähn- 
lichen Grundsätzen  einen  umfangreichen  Versuchsplan  zusammen- 
gestellt und  an  Gesunden,  Neurasthenischen  und  Paralytikern 
durchgeführt.  Bei  demselben  muss  von  Wortpaaren,  die  duich 


*)  Monatsschrift  für  Psychiatrie,  IX,  241,  1901. 


362 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


den  Sinn  oder  durch  den  Klang  in  Verbindung  stehen  oder  ganz 
ohne  Beziehungen  aneinander  geknüpft  sind,  auf  Nennung  des 
Stichwortes  das  zweite  wiedergegeben  werden.  Ferner  hat  die 
Versuchsperson  aus  einer  Sammlung  von  Brustbildern  diejenigen 
herauszusuchen,  die  ihr  vorher  gezeigt  wurden;  sie  hat  sich  dann 
auch  Namen  zu  merken,  die  damit  verknüpft  werden.  Unter 
verschiedenen  Farbentönen  sind  früher  eingeprägte  auszulesen; 
aus  einer  grossen  Zahl  willkürlich  angeordneter  Quadrate  sind 
einzelne  zu  merken  und  später  wieder  aufzufinden;  endlich  wer- 
den Zahlenangaben  aus  dem  Bereiche  des  täglichen  Lebens  vor- 
gesprochen und  abgefragt.  Leider  haftet  derartigen  V ersuchs- 
plänen,  die  sich  in  der  mannigfaltigsten  Weise  anordnen  lassen, 
immer  der  grosse  Übelstand  an,  dass  die  Zahl  der  gleichartigen 
Versuche  sehr  klein  und  daher  zufälligen  Störungen  in  erheb- 
lichem Grade  ausgesetzt  ist,  dass  aber  eine  Zusammenrechnung 
der  verschiedenen  Versuchsformen,  wie  sie  Ranschburg  vor- 
genommen hat,  kaum  zulässig  erscheint.  Dennoch  tritt  übrigens 
in  seinen  Zahlen  die  Abnahme  der  Merkfähigkeit,  namentlich  für 
Wortverbindungen,  bei  Neurasthenischen  deutlich  hervor,  ebenso 
die  schwere  Beeinträchtigung  des  Umfanges  wie  der  Sicherheit 
der  Einprägung  bei  seinen  Paralytikern,  besonders  auf  dem  Ge- 
biete des  Wort-  und  Namengedächtnisses  wie  der  räumlichen 
Orientierung. 

Die  Prüfung  der  Vorstellungsverbindungen *)  lässt 
sich  nach  sehr  verschiedenen  Richtungen  hin  ausdehnen.  Zu- 
nächst wird  es  möglich  sein,  die  Geschwindigkeit  zu  messen,  mit 
welcher  sich  die  einzelnen  Glieder  aneinander  knüpfen.  Ein  sehr 
annäherndes  Urteil  über  diesen  Punkt  Hesse  sich  allenfalls  schon 
aus  den  oben  erwähnten  Rechenversuchen  gewinnen.  Genauere 
Aufschlüsse  aber,  auch  über  die  grossen  A erschiedenheiten  je 
nach  der  Art  der  Verbindung,  liefert  uns  die  Messung  mit  Hilfe 
des  Chronoskopes.  Eigenartige  Ergebnisse  erhält  man  ferner, 
wie  mir  umfangreiche  Versuchsreihen  gezeigt  haben,  bei  der 
Untersuchung  der  Associationszeiten  unter  planmässiger  Wie- 


*)  Aschaffenburg,  Psychologische  Arbeiten,  I,  209;  II,  1;  IV,  235; 
Van  Erp  Taalman  Kip,  Psychiatr.  en  neurolog.  Bladen,  1899,  634 ; 
1903,  1. 


Zustandauntersuchung. 


363 


derholung  derselben  Versuche  mit  denselben  Reizworten.  Na- 
mentlich der  Einfluss  der  Übung  auf  die  Schnelligkeit  und  Festig- 
keit der  Vorstellungsverbindungen  lässt  sich  dabei  sehr  gut  ver- 
folgen. Allein  auch  ohne  Zeitmessungen  sind  Associationsver- 
suche nicht  nur  von  mannigfachem  Interesse,  sondern  auch  un- 
gemein  leicht  ausführbar.  Indem  man  einfach  irgend  ein  Wort 
ausspricht  und  die  erste  daraufhin  im  Kranken  auftauchende  Vor- 
stellung niederschreibt,  kann  man  in  kurzer  Zeit  die  Unterlagen 
für  eine  Statistik  der  Associationen  sammeln,  die  Aufschlüsse 
liefert  über  das  gewohnheitsmässige  Verhältnis  der  inneren  zu 
den  äusseren  Vorstellungsverbindungen,  die  Häufigkeit  der  ein- 
gelernten, der  Klangassociationen  und  der  „Fehlassociationen  , 
die  in  gar  keiner  Beziehung  zu  der  A_rt  des  Reizwoites  mehi 
stehen.  Auch  auf  diese  Weise  lassen  sich  Werte  für  die  Festig- 
keit der  einzelnen  Associationsgruppen  gewinnen.  Als  Mass  für 
dieselbe  habe  ich  das  Verhältnis  der  bei  einer  Wiederholung  neu 
auftretenden  Associationen  zur  Gesamtzahl  der  Versuche 
benutzt. 

Weiterhin  kann  man  der  Versuchsperson  die  Aufgabe  stellen, 
eine  bestimmte  Zeitlang  die  in  ihr  auftauchenden  Vorstellungen 
mit  oder  ohne  Anknüpfung  an  ein  gegebenes  Ausgangswort  nie- 
derzuschreiben. Hier  erhält  man  einen  Durchschnittswert  für 
die  Geschwindigkeit  der  Vorstellungsbildung,  die  regelmässig  ge- 
ringer ist,  als  diejenige  des  Schreibens.  Dann  aber  lässt  sich 
auf  diese  Weise  ein  Urteil  über  die  Neigung  zu  einzelnen  Arten 
der  Vorstellungsverbindungen  gewinnen,  namentlich  zu  den 
psychiatrisch  so  wichtigen  sinnlosen  und  Klangassociationen. 
Endlich  aber  ergibt  sich  bei  diesem  Verfahren  ein  Urteil  über 
die  Einheitlichkeit  oder  Zerfahrenheit  des  Gedankenganges,  über 
die  Reichhaltigkeit  des  Vorstellungsschatzes,  die  Neigung  zu 
sprunghaftem  Abbrechen,  zu  zähem  Festhalten  oder  zu  bestän- 
digem Wiederholen. 

Beschränkt  man  der  Versuchsperson  die  Auswahl  der  nie- 
derzuschreibenden Worte  auf  bestimmte  Gruppen,  etwa  solche 
Gegenstände,  die  durch  das  Auge,  durch  das  Ohr  wahrnehmbar 
sind,  die  Lust  oder  Unlust  erregen,  allgemeine  Begriffe  u.  s.  f., 
so  ist  man  imstande,  aus  den  Leistungen  einer  gegebenen  Zeit 
Schlüsse  auf  die  grössere  oder  geringere  Bereitschaft  aller  der 


364 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


genannten  Vorstellungsgruppen  und  damit  auf  die  Gestaltung 
des  Vorstellungsschatzes  überhaupt  zu  ziehen.  Wie  mir  Ver- 
suche gezeigt  haben,  lassen  sich  diese  Ergebnisse  nach  verschie- 
denen Richtungen  hin  verwerten.  Schwierigere  associative 
Leistungen,  die  Bildung  von  Urteilen  und  Schlüssen,  kann  man  in 
ganz  ähnlicher  Weise  untersuchen,  hinsichtlich  ihrer  Richtigkeit, 
ihrer  Schnelligkeit,  ihrer  Festigkeit. 

Zur  Untersuchung  der  Auslösung  von  Willensantrie- 
ben steht  uns  zunächst  die  Messung  der  Wahlzeiten  zu  Gebote. 
Wenn  man  die  Aufgabe  stellt,  dass  auf  einen  Reiz  durch  eine 
Bewegung  mit  der  rechten  Hand  geantwortet  werden  soll,  auf 
einen  andern  dagegen  mit  der  linken,  so  enthält  dieser  \ or- 
gang  ausser  der  Unterscheidung  zwischen  den  beiden  Reizen  noch 
denjenigen  der  Wahl  zwischen  zwei  Bewegungen.  Wie  die  Er- 
fahrung gelehrt  hat,  besitzen  wir  in  diesen  „Wahlreaktionen“ 
ein  sehr  wertvolles  Mittel  zum  Nachweise  solcher  Erregungs- 
zustände im  Gehirn,  welche  mit  einer  Erleichterung  der  Aus- 
lösung von  Willensbewegungen  einhergehen.  In  diesem  Falle 
nämlich  erfolgt  sehr  leicht  die  verlangte  Bewegung,  bevor  der 
Reiz  noch  recht  aufgefasst,  bisweilen  sogar,  bevor  er  über- 
haupt erzeugt  wurde.  Dabei  wird  die  ausgelöste  Bewegung  na- 
türlich vielfach  unrichtig  ausf allen:  es  kommt  zur  Entstehung 
von  „Fehlreaktionen“,  deren  Zahl  ein  gutes  Mass  für  den  Grad 
der  Bewegungserleichterung  abgibt.  Weitere  Aufschlüsse  über 
den  gleichen  Punkt  erhalten  wir  durch  Prüfung  der  Lese-, 
Schreibe-  oder  Sprechgeschwindigkeit,  die  man  nach  einem  ähn- 
lichen Verfahren  feststellen  kann  wie  die  Schnelligkeit  des 
Rechnens,  durch  Lösung  fortlaufender,  sich  reihenweise  aneinan- 
der schliessender,  gleichartiger  Aufgaben. 

Für  die  Untersuchung  der  Schrift  habe  ich  seit  längerer  Zeit 
auch  die  genauere  Messung  des  Schreibweges  und  der  Geschwin- 
digkeit einzelner  Schriftzüge  sowie  des  in  jedem  Augenblicke 
auf  die  Unterlage  ausgeübten  Druckes  mit  Hilfe  einer  dafür  ge- 
bauten „Schriftwage“  herangezogen.  Dabei  ergeben  sich  sehr 
deutlich  die  Zeichen  der  psychomotorischen  Erregung  und  Hem- 
mung sowie  der  Willenssperrung.  Die  ausserordentliche  Feinheit 
und  Vielseitigkeit  dieser  Prüfung  rechtfertigt  die  Erwartung,  dass 
sie  uns  allmählich  einen  klaren  Einblick  in  die  Beeinflussung 


Zustandsuntersuchung. 


365 


der  Schrift  durch  Gemütsbewegungen  und  Willensantriebe  er- 
möglichen wird.  Leider  macht  aber  die  Empfindlichkeit  des 
Verfahrens  die  Messung  der  einzelnen  Grössen  sehr  mühsam 
und  zeitraubend. 

Eine  vielseitige  Verwendung  zur  Untersuchung  von  Willensv 
.Störungen  gestattet  ohne  Zweifel  der  von  Mosso  angegebene 
Ergograph,  der  allerdings  gewisser  Verbesserungen  bedarf, 
um  für  unsere  Zwecke  verwertbar  zu  sein.  Zunächst  gibt  der 
Ergograph  Aufschluss  über  die  Kraft,  mit  der  eine  Bewegung 
.ausgeführt  wird,  sodann  über  das  raschere  oder  langsamere  Ver- 
sagen des  Kraftaufwandes,  das  durch  Ermüdung,  Hemmung  oder 
Willenssperrung  herbeigeführt  werden  kann.  Versuche  in  lang- 
samem Zeitmasse  oder  die  Wiederholung  der  Ermüdungskurven 
nach  verschieden  langen  Pausen  geben  uns  ein  Bild  von  der  Er- 
holungsfähigkeit des  Willenswerkzeuges.  Dabei  scheint  die  Höhe 
der  einzelnen  Ziehungen  wesentlich  von  der  Leistungsfähigkeit 
des  Muskels  selbst,  die  Zahl  der  Hebungen  in  der  Ermüdungs- 
kurve dagegen  mehr  von  dem  Zustande  des  Nervengewebes  ab- 
hängig zu  sein.  Dafür  spricht  wenigstens  unter  anderem  die 
Steigerung  der  Hubhöhen  unter  dem  Einflüsse  des  Coffeins,  die 
Vermehrung  der  Ziehungen  durch  Alkohol  und  körperliche  Arbeit. 
Endlich  lässt  sich  durch  die  Zergliederung  des  Anstiegs  und  Ab- 
falles der  einzelnen  Ziehung  noch  die  Geschwindigkeit  messen, 
mit  der  die  Verkürzung  und  Erschlaffung  des  Muskels  unter  dem 
Einflüsse  des  Willensantriebes  erfolgt. 

Schwerere  Störungen  in  der  Auslösung  von  Willensantrieben 
lassen  sich  schon  in  der  Verlangsamung  einfacher  Bewegungen, 
■des  Handgebens,  Armhebens,  mit  der  Uhr  messen;  auch  das  Aus- 
sprechen geläufiger  Reihen,  der  Zahlen  oder  des  Alphabets,  ist 
für  diesen  Zweck  geeignet. 

Der  Zerlegung  von  Bewegungen  in  die  drei  Richtungen  des 
Raumes  hat  Sommer  besonders  seine  Aufmerksamkeit  gewid- 
met. Er  hat  Hilfsmittel  hergestellt,  die  es  gestatten,  die  Be- 
wegungen des  Armes  wie  des  Beines  in  ihre  Richtungsbestandteile 
.aufzulösen.  Besonders  wertvoll  hat  sich  dieses  Verfahren  bis- 
her erwiesen  für  die  Darstellung  schneller  unwillkürlicher  Be- 
wegungen, namentlich  des  Zitterns  und  Zuckens.  Die  verschie- 
denen Formen  des  Zitterns  können  nach  Richtung  und  Geschwin- 


366 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


digkeit  genau  verfolgt  werden;  die  leichten  Änderungen  in  der 
Muskelspannung,  die  den  Ablauf  von  Seelenvorgängen  und  ins- 
besondere das  Auftreten  von  Gemütsbewegungen  begleiten,  lassen 
sich  ohne  Schwierigkeit  darstellen.  Auch  für  die  Unterscheidung 
gewisser  funktioneller  Bewegungsstörungen  von  solchen,  die  aul- 
gröberen  Erkrankungen  des  Nervengewebes  beruhen,  verspricht 
das  So  mm  er  sehe  Verfahren  brauchbare  Anhaltspunkte  zu 

liefern. 

Auch  mit  der  Wiedergabe  und  Zerlegung  von  Ausdrucks- 
bewegungen hat  sich  Sommer  vielfach  beschäftigt.  Zur  ge- 
naueren Erforschung  des  Gesichtsausdruckes  hat  er  das  stereo- 
skopische Bild,  neuerdings  auch  die  Aufzeichnung  der  mimischen 
Muskelbewegungen  herangezogen.  Für  die  Darstellung  und  Zer- 
gliederung der  Haltung  und  der  gesamten  Körperbewegungen 
mag  sich  neben  der  Stereoskopie  wohl  auch  die  Kinematographie 
verwenden  lassen,  die  jedoch,  wie  ich  mich  überzeugt  habe,  für 
unsere  wissenschaftlichen  Zwecke  noch  verschiedener  Vervoll- 
kommnungen bedarf.  Dasselbe  gilt  wohl  von  dem  Phonographen, 
der  allerdings  von  Sommer  nicht  nur  zur  Festhaltung  kenn- 
zeichnender Äusserungen,  sondern  auch  zur  genaueren  Er- 
forschung sprachlicher  Eigentümlichkeiten  und  Störungen  be- 
nutzt worden  ist. 

Aussichtsreich  sind  endlich  noch  die  Untersuchungen,  die 
Sommer  im  Anschlüsse  an  Rieger  über  den  Ablauf  des  Knie- 
sehnenref lexes  angestellt  hat.  Die  Aufzeichnung  der  Bewe- 
gungen, die  der  ins  Gleichgewicht  gebrachte  Unterschenkel  aus- 
führt, ergibt  eine  überraschende  Mannigfaltigkeit  von  V erlaufs- 
arten,  von  denen  manche  offenbar  einen  tieferen  Zusammenhang 
mit  bestimmten  Krankheitszuständen  darbieten.  Dahin  scheint 
besonders  die  Steigerung  und  das  Nachlassen  der  dauernden 
Spannung,  ferner  die  Vermehrung  der  Ausschläge  bis  zum  fort- 
gesetzten Pendeln  zu  gehören,  die  Hornung  beim  einfachen 
Herabfallen  des  Unterschenkels  auch  durch  Alkoholwirkung 
künstlich  erzeugen  konnte. 

Wir  haben  in  dieser  Aufzählung  die  Gemütsbewegungen 
ganz  beiseite  gelassen.  In  der  Tat  vermögen  wir  bisher  kaum, 
diese  Seite  unseres  Seelenlebens  irgendwie  der  Messung  zugäng- 
lich zu  machen.  Allerdings  sind  wir  imstande,  künstlich  Stirn- 


Zustandsuntersuchung. 


367 


rnungen  zu  erzeugen.  Wir  können  Unlustregungen  durch  kör- 
perliche Schmerzen  und  widrige  Eindrücke  aller  Art,  ebenso  Lust- 
gefühle, Heiterkeit,  Schreck,  Spannung,  Zorn  auf  verschiedene 
Weise  herbeiführen.  Besonders  leicht  gelingt  das  in  der  Hyp- 
nose durch  Eingebungen.  Diese  Wege  sind  vielfach,  namentlich 
von  Lehmann,  betreten  worden,  um  die  Beeinflussung  der 
Atmung,  der  Pulswelle  und  der  Blutfüllung  durch  Gemüts- 
schwankungen zu  erforschen.  Derartige  Versuche  haben  be- 
reits zu  einer  Reihe  von  wichtigen  Feststellungen  geführt,  die 
nunmehr  eine  Übertragung  des  Verfahrens  auf  krankhafte  Ge- 
mütszustände nicht  mehr  aussichtslos  erscheinen  lassen.  Auch 
die  übrigen  Hilfsmittel,  die  uns  ein  feineres  Verständnis  der 
Willensäusserungen  ermöglichen,  der  Ergograph,  der  Som- 
m ersehe  Zitterapparat,  sein  „Reflexmultiplikator“,  die  Schrift- 
wage, wären  verwendbar,  um  wenigstens  die  äusseren  Zeichen 
gemütlicher  Erregungen  aufzuzeichnen  und  zu  messen.  Inner- 
halb gewisser  Grenzen  würden  wir  dadurch  auch  wohl  Auf- 
schluss über  die  Stärke  und  Art  der  inneren  Erschütterungen 
erhalten. 

Weiterhin  aber  kann  darauf  hingewiesen  werden,  dass  ge- 
wisse Gifte  ausgeprägte  Stimmungen  erzeugen,  die  vielleicht  mit 
deren  messbaren  Wirkungen  auf  das  Seelenleben  in  irgend  einer 
Beziehung  stehen.  So  haben  wir  früher  gesehen,  dass  bei  der 
Alkoholwirkung  etwa  die  Erleichterung  der  Bewegungsauslösung, 
beim  Morphium  die  Anregung  der  Einbildungskraft  die  Grundlage 
der  Stimmungsänderung  bilden  könnte,  während  die  vom  Thee  er- 
zeugte Behaglichkeit  mit  der  Erleichterung  der  Verstandestätig- 
keit bei  gleichzeitiger  motorischer  Beruhigung,  die  stille  Be- 
friedigung des  Rauchers  mit  der  leicht  lähmenden  und  beruhigen- 
den Wirkung  des  Tabaks  Zusammenhängen  dürfte.  Auch  hier  wäre 
überall  eine  Ausdehnung  der  Untersuchungen  auf  diejenigen  Ge- 
biete wünschenswert,  auf  denen  erfahrungsgemäss  die  Gemüts- 
bewegungen ihren  Ausdruck  finden.  Kennten  wir  die  Wirkungen 
der  Gifte  nach  allen  diesen  Richtungen  hin  genauer,  so  wäre  mög- 
licherweise daran  zu  denken,  aus  den  Veränderungen,  die  ein 
Gift  im  einzelnen  Falle  herbeiführt,  Schlüsse  auf  die  besondere 
Art  des  bestehenden  Gemütszustandes  abzuleiten.  Die  ganz  ver- 
schiedene Wirkung,  die  z.  B.  Alkohol  und  Brom  auf  die  Ver- 


368 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


■Stimmung  des  Epileptikers  ausüben,  berechtigt  uns  dazu.  Der 
Unterschied  zwischen  der  Erregung  des  Manischen  und  des  Epilep- 
tikers wird  durch  die  gänzlich  abweichende  Beeinflussung  Beider 
durch  Brom  in  helles  Licht  gesetzt.  Tatsächlich  ist  das  Hilfs- 
mittel der  Giftwirkung  zur  genaueren  Zergliederung  gegebener 
Seelenzustände  bereits  mit  gutem  Erfolge  von  uns  in  Anwendung 
gezogen  werden.  - 

Wir  kommen  nunmehr  noch  zu  einer  letzten,  aber  gewiss 
nicht  der  unwichtigsten  Seite  der  psychischen  Untersuchung,  zur 
Feststellung  der  psychischen  Grundeigenschaften. 
Mit  Hilfe  der  fortlaufenden  Lösung  gleichartiger  Aufgaben  sind 
wir  nämlich  imstande,  die  Änderungen  unserer  geistigen  Lei- 
stungsfähigkeit auf  verschiedenen  Gebieten  dauernd  zu  verfolgen. 
Aus  den  Schwankungen  der  Arbeitsfähigkeit  können  wir  abei 
ein  Mass  gewinnen  für  die  früher  besprochenen  Giundeigen- 
schaften  der  geistigen  Persönlichkeit.  Genauere  derartige  Mes- 
sungen erfordern  allerdings  umfangreiche  Versuchsreihen  und 
ganz  besondere,  dem  jeweiligen  Zwecke  angepasste  Anord- 
nungen.*) Immerhin  wird  sich  die  Übungsfähigkeit  durch  die 
Zunahme  der  Leistungsfähigkeit  unter  dem  Einflüsse  der  Arbeit 
messen  lassen.  Man  wird  etwa  die  Anfangsleistung  zweier,  in 
gewisser  Zwischenzeit  aufeinanderfolgender  V ersuche  vergleichen. 
Allerdings  kann  dabei  der  inzwischen  erfolgte  Übungsverlust  nicht 
mit  berücksichtigt  werden,  obgleich  er  wahrscheinlich  für  ver- 
schiedene Personen  nicht  gleich  gross  ist.  Die  Übungsfestigkeit 
lässt  sich  aus  der  Erhöhung  der  Arbeitsleistung  erkennen,  die  nach 
längerer  Zwischenzeit  von  der  früher  festgestellten  t bungswirkung 
noch  übrig  geblieben  ist.  Die  Anregbarkeit  kann  gemessen  weiden 
durch  die  Abnahme  der  Leistungsfähigkeit,  die  durch  kürzere 
Arbeitspausen  gegenüber  dem  ununterbrochenen  Fortarbeiten 
herbeigeführt  wird.  Als  annäherndes  Mass  der  Ermüdbarkeit  darf 
die  Abnahme  der  Leistungsfähigkeit  nach  bestimmter,  längerer 
Arbeitszeit  gelten.  Über  die  Erholungsfähigkeit  gewinnt  man 
ein  Urteil  aus  dem  Stande  der  Leistungsfähigkeit  nach  einer 
Pause  im  Anschlüsse  an  ermüdende  Arbeit.  Zur  Bestimmung  der 
.Schlaftiefe  stellen  wir  für  jeden  Abschnitt  der  Nacht  die  Stärke 


*)  Kraepelin,  Archiv  f.  die  gesamte  Psychologie,  I.  9.  1903. 


Beobachtung. 


369 


der  Reize  fest,  die  gerade  genügt,  um  den  Schläfer  zu  erwecken. 
Die  Ablenkbarkeit  messen  wir  aus  der  Herabsetzung  der  Lei- 
stungsfähigkeit unter  der  erstmaligen  Einwirkung  bestimmter 
Störungen,  während  die  Gewöhnungsfähigkeit  aus  der  Änderung 
der  Leistungsfähigkeit  während  längerer  Einwirkung  jener  Stö- 
rungen erkannt  wird. 

Mit  diesen  kurzen  Andeutungen  muss  ich  mich  an  dieser 
Stelle  begnügen.  Eine  ausführlichere  Darlegung  und  Begründung 
der  hier  erwähnten  Messungen  psychischer  Grössen  findet  sich 
in  den  angeführten  Arbeiten.  Umfassende  Einzeluntersuchungen 
haben  den  Beweis  erbracht,  dass  die  Mehrzahl  dieser  Bestim- 
mungen schon  mit  den  heute  zur  Verfügung  stehenden  Hilfs- 
mitteln, und  dass  sie  in  grösserem  oder  geringerem  Umfange 
auch  an  so  manchen  Geisteskranken  ausführbar  sind.  Wenn  es 
zur  Zeit  auch  nur  unbedeutende  Anfänge  sind,  die  hier  vorliegen, 
so  liefern  sie  doch  immerhin  den  Beweis,  dass  es  möglich  jst, 
selbst  auf  unserem  Forschungsgebiete  für  genauere  natur- 
wissenschaftliche Beobachtungsverfahren  allmählich  Boden  zu 
gewinnen. 

Beobachtung.  Es  ist  leicht  verständlich,  dass  in  einigermassen 
schwierigen  Fällen  die  einfache  Untersuchung  eines  Kranken 
niemals  ausreicht,  sondern  zur  grösseren  Sicherheit  immer  eine 
mehr  oder  weniger  lang  bemessene  Beobachtungszeit  gefordert 
werden  muss.  Die  Befangenheit  bei  der  ungewöhnlichen  Prüfung, 
der  Eindruck  der  Versetzung  in  neue  Verhältnisse  kann  das  Bild 
für  einige  Zeit  völlig  verändern,  ganz  abgesehen  von  jenen  Krank- 
heitsformen, die  ihrer  .Natur  nach  mit  freieren  Zwischenzeiten 
verlaufen  oder  nur  anfallsweise  hervortreten.  Als  Ort  für  die 
Beobachtung  dient  am  besten  die  Irrenanstalt,  weil  nur  in  ihr 
eine  dauernde,  sachverständige  Überwachung  gesichert  erscheint. 
Sehr  häufig  fördern  hier  die  ersten  Tage  der  Einbürgerung,  die  man 
ohne  besonderen  Eingriff  verstreichen  lässt,  gar  keine  auffallen- 
den Beobachtungen  zu  Tage;  erst  nach  und  nach  treten  die  krank- 
haften Erscheinungen,  falls  solche  überhaupt  vorhanden,  deut- 
licher hervor.  Alle  jene  einzelnen  Züge  des  psychischen  Bildes, 
die  bei  der  einmaligen  Untersuchung  nur  angedeutet  waren, 
prägen  sich  nun  bei  längerer  Beobachtung  deutlicher  aus:  4as 
Wesentliche  sondert  sich  vom  Unwesentlichen  und  Zufälligen. 

24 


Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl. 


370 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Der  ausserordentliche  Unterschied  zwischen  einmaliger  und  wie- 
derholter Prüfung  eines  Geisteskranken  wird  ganz  besonders 
deutlich,  wenn  man  sich  daran  gewöhnt,  in  jedem  Falle  schon 
bei  der  ersten  Untersuchung  eine  bestimmte  Diagnose  zu  stellen. 
Man  begreift  dann  oft  nach  wenigen  Tagen  die  Schwierigk eiten 
nicht  mehr,  die  man  anfänglich  mit  der  Beurteilung  gehabt  hat. 
Dazu  kommt,  dass  sich  der  Beobachtete  Seinesgleichen  gegen- 
über und  bei  längerer  Bekanntschaft  mit  dem  Arzte  unbefangene? 
gibt,  sich  mehr  gehen  lässt  und  achtlos  Eigentümlichkeiten,  Ge- 
danken, Gefühle  verrät,  mit  denen  er  bei  der  einmaligen  Unter- 
suchung zurückhielt.  Von  besonderer  Bedeutung  in  dieser  Be- 
ziehung pflegen  Briefe  und  andere  Schriftstücke  zu  sein,  die  oft 
mit  einem  Schlage  ein  kaum  erwartetes  Licht  über  den  Zustand 
ihres  Verfassers  ausbreiten. 

Weiterhin  aber  ist  man  nun  in  den  Stand  gesetzt,  sein 
Handeln  kennen  zu  lernen,  freilich  nur  in  dem  engen  Rahmen 
der  Anstaltsverhältnisse,  der  aber  für  den  Untersuchten  doch 
noch  Gelegenheit  genug  zu  krankhaften  Willensäusserungen 
darbietet.  Lebhaftigkeit  oder  Gleichgültigkeit,  Zerstreutheit  oder 
Versunkenheit,  Leistungsfähigkeit  oder  Schwäche,  Selbstüber- 
schätzung oder  Kleinmut,  Reizbarkeit  oder  Stumpfheit,  Tatkraft 
oder  Unentschlossenheit,  Bestimmbarkeit  oder  Unlenksamkeit, 
Arbeitslust  oder  Trägheit  — alle  diese  Eigenschaften  und  viele 
andere  werden  sich  in  den  täglich  beobachteten  kleinen  Zügen 
nach  und  nach  auf  das  unverkennbarste  herausstellen  müssen. 
Endlich  ist  es  nur  auf  dem  Wege  fortgesetzter  Beobachtung  mög- 
lich, den  fortschreitenden  oder  gleichbleibenden  ^ erlauf  des  ver- 
mutlichen Leidens,  das  Vorkommen  von  Besserungen,  Verschlim- 
merungen, „Anfällen“  aller  Art,  das  Verhalten  des  Schlafes,  der 
Esslust,  der  Verdauung  und  vor  allem  des  Körpergewichtes  in 
gesicherter  Weise  festzustellen.  Soweit  daher  im  einzelnen  Falle 
überhaupt  eine  Aufklärung  über  das  körperliche  und  psychische 
Verhalten  möglich  ist,  wird  sie  durch  die  mannigfachen  Er- 
fahrungsquellen, welche  die  klinische  Beobachtung  gewährt,  in 
der  Regel  erreicht  werden  können. 

Leichenbefund.*)  Wenn  wir  in  der  übrigen  Medizin  gewöhnt 

*)  Juliusburger  und  Meyer,  Monatsschr.  f.  Psych.,  III,  316;  A 1 z- 
heimer,  Monatsschr.  f.  Psych.,  II,  82;  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LA II,  597, 


Leichenbefund. 


371 


sind,  als  letzte  Bestätigung  unserer  Krankheitsauffassung  den 
Leichenbefund  anzusehen,  so  können  wir  in  der  Psychiatrie  der 
Untersuchung  nach  dem  Tode  bis  jetzt  nur  einen  sehr  beschränkten 
Wert  zugestehen.  Wo  das  Vorhandensein  einer  Geistesstörung 
bei  ausreichender  Beobachtung  nicht  aus  den  Erscheinungen  am 
Lebenden  sicher  gestellt  werden  konnte,  vermag  die  Hirnunter- 
suchung heute  ganz  gewiss  keine  Entscheidung  herbeizuführen. 
Der  Grund  dafür  liegt  indessen  nicht  darin,  dass  etwa  das  Irresein 
zumeist  gar  nicht  auf  körperlichen  Veränderungen  beruht.  Viel- 
mehr stellt  sich  mehr  und  mehr  heraus,  dass  auch  kürzer  dauernde 
und  wenig  beachtete  Störungen,  wie  die  Bewusstseinstrübungen 
des  Todeskampfes,  fast  immer  mit  erkennbaren  Veränderungen 
in  den  Hirnrindenzellen  einhergehen.  Es  ist  aus  diesem  Grunde 
ungemein  schwer,  menschliche  Hirnrinden  mit  durchaus  gesun- 
den Zellen  zu  bekommen.  Gerade  diese  Empfindlichkeit  der  Rin- 
denbestandteile ist  es,  die  uns  die  Deutung  der  Bilder  bei  Geistes- 
kranken so  schwierig  macht;  es  lässt  sich  im  einzelnen  Falle 
zunächst  oft  kaum  entscheiden,  ob  die  aufgefundenen  (akuten 
Veränderungen  die  Grundlage  des  Irreseins  gebildet  haben  oder 
erst  durch  die  tötliche  Erkrankung  erzeugt  wurden. 

Aber  auch  dort,  wo  aus  diesen  oder  jenen  Gründen  die 
innere  Zugehörigkeit  der  aufgefundenen  Zellveränderungen  zu 
dem  psychischen  Krankheitsvorgange  sichergestellt  ist,  ver- 
mögen wir  aus  ihnen  allein  doch  keine  Schlüsse  über  die 
Eigenart  jenes  Vorganges  abzuleiten.  Schon  bei  der  Erfor- 
schung der  Giftwirkungen  auf  die  Nervenzellen  kam  Nissl 
zu  dem  Ergebnisse,  dass  zwar  die  subakute  maximale  Ver- 
giftung bei  einer  Reihe  von  Giften  an  gewissen  Rinden- 
zellen ganz  bestimmte  Veränderungen  hervorbringe,  dass  sich 
aber  die  Besonderheit  dieser  Wirkungen  bei  den  für  die  Psy- 
chiatrie namentlich  in  Betracht  kommenden  chronischen  Ver- 
giftungen vollkommen  verwische.  Wenn  das  für  die  scharf  ge- 
kennzeichneten und  noch  dazu  dem  Versuche  zugänglichen  Hirn- 
störungen durch  Gifte  zutrifft,  so  wird  man  von  vornherein  die 

Nissl,  Archiv  f.  Psych.,  XXXII,  656;  Heilbronner,  Erlebnisse  der  all- 
gemeinen Pathologie  und  pathol.  Anatomie,  VI,  Suppl.  555;  Robertson,  a 
text-book  of  pathology  in  relation  to  mental  diseases,  1900;  Meyer,  Die 
pathologische  Anatomie  der  Psychosen,  Orth  — Festschrift.  1902. 

24* 


372 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Aussicht  für  sehr  gering  halten  müssen,  bei  der  grossen  Masse 
der  Geisteskrankheiten  mit  ganz  unbekannter  Entstehungsweise 
eigenartige  Zellveränderungen  aufzufinden.  N i s s 1 hat  es  daher 
auch  unumwunden  ausgesprochen,  dass  alle  die  von  ihm  beschrie- 
benen Formen  der  Zellerkrankung  nichts  weniger,  als  kennzeich- 
nend für  bestimmte  klinische  Krankheitsbilder  sind,  ja  nicht  ein- 
mal das  Bestehen  einer  geistigen  Störung  überhaupt  anzeigen. 
Ebensowenig  lassen  sich  feste  Beziehungen  zwischen  Ausdehnung 
und  Schwere  der  Zellerkrankungen  und  Ausprägung  der  klini- 
schen Krankheitserscheinungen  nac-hweisen. 

Allerdings  leidet  unsere  Kenntnis  dieser  Verhältnisse  noch 
an  dem  Übelstande,  dass  einerseits  vielfach  nur  ganz  bestimmte 
Zellformen,  meist  die  grösseren,  genauer  untersucht  zu  werden 
pflegen,  während  über  die  Erkrankungen  der  übrigen,  vielleicht 
für  das  Seelenleben  weit  wichtigeren  Formen  sehr  viel  weniger 
bekannt  ist.  Sodann  aber  ist  es  bei  dem  heutigen  Stande  unseres 
Wissens  gar  nicht  möglich,  ein  irgend  zuverlässiges  Urt-eil  über 
die  Ausdehnung  und  örtliche  Umgrenzung  der  Krankheitsvorgänge 
in  der  Rinde  zu  gewinnen.  Bei  der  ausserordentlichen  Mannig- 
faltigkeit der  Organe,  aus  denen  sich  die  Hirnrinde  ohne  Zweifel 
zusammensetzt,  können  einige  Stichproben  unmöglich  genügen, 
um  uns  über  die  Verbreitung  der  Zellveränderungen  Klarheit  'zu 
verschaffen.  Es  wäre  daher  an  sich  sehr  wohl  möglich,  dass 
uns  eine  Berücksichtigung  aller  Zellgattungen  und  eine  sorg- 
fältige Durchmusterung  der  gesamten  Rinde  zwar  nicht  in  der 
Art  der  Zellerkrankungen,  abey  doch  in  ihrer  Ausbreitung  auf 
die  einzelnen  Zellarten  und  Rindenbezirke  gewisse  Besonderheiten 
der  verschiedenen  Krankheitsvorgänge  aufdecken  würde. 

Auf  der  anderen  Seite  werden  wir  jedoch  immer  annehmen 
dürfen,  dass  es  sich  bei  allen  Geistesstörungen  um  weit  ver- 
breitete Veränderungen  handeln  wird;  wissen  wir  doch  zur  ge- 
nüge, dass  recht  umfangreiche  Rindenzerstörungen  vielfach  ohne 
irgend  erkennbare  Beeinträchtigungen  des  Seelenlebens  verlaufen 
können.  Dem  entspricht  auch  die  Erfahrung,  dass  wir  bei  den- 
jenigen Formen  des  Irreseins,  die  bisher  Zellveränderungen  dar- 
geboten haben,  diese  letzteren  in  sehr  grosser  Ausdehnung  an- 
treffen. Ob  aber  dieser  Befund  irgend  eine  Beziehung  zu  dem 
psychischen  Krankheitsbilde  hat,  müssten  wir  auch  dann  dahin- 


Leichenbefund. 


373 


gestellt  sein  lassen,  wenn  er  für  jede  klinische  Form  verschie- 
den wäre,  da  wir  keine  Ahnung  davon  haben,  ob  und  wie  die 
Rindenzellen  im  einzelnen  an  dem  Ablaufe  der  seelischen  Vor- 
gänge beteiligt  sind.  Gerade  deswegen  sind  die  Zellveränderungen 
für  uns  heute  nichts,  als  ein  einzelnes  Glied  in  der  Kette  des 
gesamten  Krankheitsvorganges,  der  sich  jeweils  in  der  Rinde  ab- 
spielt. 

Wenn  daher  auch  diese  Teilerscheinung  nicht  kennzeichnend 
für  die  besondere  Art  des  Leidens  ist,  so  wissen  wir  ja,  dass 
wir  auch  aus  einem  einzelnen  Krankheitszeichen  niemals  eine 
klinische  Diagnose  ableiten  können.  Wie  aber  der  Gesamtzustand 
eines  Kranken  zumeist  doch  ein  Urteil  über  die  vorliegende 
klinische  Form  erlaubt,  so  dürfen  wir  auch  hoffen,  aus  dem 
Gesamtbilde  der  Hirnrinde  bestimmte  Schlüsse  über 
die  Zugehörigkeit  des  Einzelfalles  zu  dieser  oder  jener  Krank- 
heitsgruppe ziehen  zu  lernen.  Diese  Erwartung  hat  sich  für 
eine  Reihe  von  Erkrankungen  bereits  erfüllt.  Berücksichtigen 
wir  nicht  nur  die  Zellen  und  Fasern,  sondern  auch  die  gliösen 
Gebilde  und  die  Gefässe,  so  sind  wir  schon  heute  imstande,  be- 
stimmte anatomische  und  klinische  Erscheinungen  miteinander  in 
Beziehung  zu  bringen  und  aus  dem  Leichenbefunde  Schlüsse  auf 
das  Krankheitsbild  im  Leben  abzuleiten.  Das  gilt  vor  allem  von 
der  Paralyse,  einigen  Formen  des  Altersblödsinns,  den  Erkran- 
kungen mit  Arteriosklerose  oder  luetischen  Gefässerkrankungen, 
in  geringerem  Umfange  aber  auch  von  gewissen  Gruppen  der 
Idiotie,  von  der  Dementia  praecox  und  einer  Reihe  weiterer  Er- 
krankungen. Nicht  ganz  selten  hat  uns  dabei  die  anatomische 
Untersuchung  gezeigt,  dass  anscheinend  leicht  verständliche  Krank- 
heitsbilder bestimmt  nicht  der  klinischen  Gruppe  angehörten,  der 
sie  zugeteilt  worden  waren.  Auf  der  anderen  Seite  hat  sich, 
namentlich  bei  den  akut  verlaufenden  Geistesstörungen,  oft  genug 
die  befriedigende  Einordnung  des  Leichenbefundes  in  klar  ge- 
kennzeichnete Krankheitsvorgänge  einstweilen  als  unmöglich  er- 
wiesen. 

Ein  wesentliches  Hindernis  für  die  Fortentwicklung  unserer 
anatomischen  Diagnostik  ist  zur  Zeit  ohne  Zweifel  noch  die  Un- 
sicherheit, die  in  der  Gruppierung  der  klinischen  Krankheits- 
bilder herrscht.  Mag  auch  der  Leichenbefund  später  einmal  das 


374 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


sicherste  Mittel  sein,  die  Diagnose  des  Klinikers  zu  bestätigen 
oder  zu  berichtigen  — vor  der  Hand  bedarf  der  Anatom  noch 
dringend  seiner  Hilfe,  um  an  der  Hand  eindeutiger  klinischer 
Bilder  das  Wesentliche  von  dem  Zufälligen  und  Nebensächlichen 
in  seinen  Befunden  abtrennen  zu  lernen. 


B.  Grenzen  des  Irreseins. 

Das  Bedürfnis  nach  einer  strengen  Begriffsbestimmung  der 
Geisteskrankheit,  nach  einer  Abgrenzung  dieser  letzteren  von  der 
Breite  des  Gesunden,  ist  in  der  Geschichte  der  Psychiatrie  der 
Ausgangspunkt  zahlloser,  angestrengter  Bemühungen,  scharfsin- 
niger Auseinandersetzungen  und  spitzfindiger  Beweisführungen 
gewesen,  bis  endlich  die  unvermeidliche  Erkenntnis  sich  immer 
mehr  Bahn  zu  brechen  begann,  dass  die  Fragestellung  von  vorn- 
herein eine  falsche  war,  dass  es  hier  wirklich  scharfe  Grenzen 
und  unfehlbare  Kennzeichen  der  Natur  der  Sache  gemäss  ebenso- 
wenig geben  kann  wie  bei  der  Unterscheidung  von  körperlicher 
Gesundheit  und  Krankheit.  Die  Anzeichen  des  Irreseins  sind  eben 
durchaus  nicht  gänzlich  fremdartige  und  durch  das  Irresein  neu 
erzeugte  Erscheinungen,  sondern  sie  haben  ihre  Wurzeln  in  ge- 
sunden Vorgängen  und  verdanken  ihre  Eigenartigkeit  nur  der 
einseitigen,  masslosen  Ausbildung  oder  dem  Untergange  dieser 
oder  jener  Verrichtungen  sowie  der  besonderen  Verbindung  der 
verschiedenartigen  Einzelstörungen. 

Verhältnismässig  leicht  wird  indessen  die  Erkennung  einer 
Geistesstörung  dann,  wenn  es  gelingt,  den  Nachweis  zu  führen, 
dass  die  verdächtigen  Erscheinungen  nicht  von  jeher  bestanden 
haben,  sondern  etwas  Gewordenes  sind.  Zwar  kommen  auch  wohl 
im  gesunden  Leben  Wandlungen  vor,  die  bis  in  das  innerste  Wesen 
der  Persönlichkeit  umgreifen,  aber  im  allgemeinen  legt  dennoch 
die  Beobachtung  einer  auffallenden  Veränderung  im  Denken, 
Fühlen  und  Handeln  eines  Menschen  den  Gedanken  an  eine  krank- 
hafte Natur  derselben  sehr  nahe.  Zur  Gewissheit  wird  diese  Ver- 
mutung, wenn  die  hervortretenden  Erscheinungen  sich  wider- 
spruchslos in  eines  der  bekannten  klinischen 
Krankheitsbilder  einord nen,  und  wenn  vielleicht  auch 


Grenzen  des  Irreseins. 


375 


Ursachen  sich  auffinden  lassen,  die  erfahrungsgemäss  jene  Gruppe 
von  Störungen  häufiger  zu  erzeugen  pflegen. 

Es  darf  mit  allem  Nachdrucke  betont  werden,  dass  in  solchen 
Fällen  die  genaue  Erhebung  der  Vorgeschichte,  sorgfältige  Aus- 
nutzung aller  Untersuchungshilfsmittel  und  eine  gewisse  Zeit  fort- 
laufender Beobachtung  bei  wirklichem  Sachverständ- 
nis regelmässig  zum  Ziele  führen  wird.  Die  Psychiatrie  ist  in 
der  Erkennung  von  Krankheitsvorgängen,  auch  solchen  sehr  lang- 
samen Verlaufes,  in  keiner  Weise  hilfloser,  als  etwa  die  innere 
Medizin  oder  die  Nervenheilkunde,  die  ja  ebenfalls  oft  genug 
erst  nach  längerer  Beobachtung  ein  sicheres  Verständnis  schwie- 
riger Krankheitsfälle  erreichen.  Nur  die  kühnste  Unwissenheit 
kann  sich  daher  zu  der  häufig  wiederholten  Behauptung  ver- 
steigen,  dass  der  Irrenarzt  wegen  der  Unvollkommenheit  der 
Psychiatrie  vielfach  Geistesgesunde  als  krank  betrachte  und.  sie 
daher  widerrechtlich  ihrer  Freiheit  beraube.  Allerdings  sieht 
der  Sachverständige  auch  hier  überall  tiefer,  als  dei  meist 
von  ganz  abenteuerlichen  Vorstellungen  über  das  Irresein  er- 
füllte Laie. 

Die  unerbittliche  Forderung,  uns  niemals  mit  dem  Nachweise 
einer  Geistesstörung  im  allgemeinen  zu  begnügen,  sondern  unter 
allen  Umständen  zu  einer  bestimmten  klinischen 
Diagnose  zu  gelangen,  wird  uns  namentlich  vor  dem  ver- 
hängnisvollen Fehler  bewahren,  einzelne  Erscheinungen  als  ent- 
scheidend zu  betrachten  und  darüber  das  Gesamtbild  des  vorlie- 
genden Falles  ausser  Acht  zu  lassen.  Früher  hat  man  z.  B.  viel 
darüber  gestritten,  ob  Sinnestäuschungen  auch  bei  geistiger  Ge- 
sundheit Vorkommen  könnten,  und  ob  der  Selbstmord  unter  allen 
Umständen  als  Krankheitserscheinung  aufgefasst  werden  müsse; 
jetzt  wissen  wir,  dass  beides  Ereignisse  sind,  die  im  einzelnen 
Falle  nur  durch  den  Zusammenhalt  mit  anderweitigen  Beobach- 
tungstatsachen richtig  gewürdigt  werden  können.  Wenn  z.  B. 
Esquirol  den  Selbstmord  einfach  als  eine  besondere  I orm  des 
Irreseins  beschrieb,  so  habe  ich  in  Übereinstimmung  mit  den  Er- 
fahrungen Anderer  durch  die  Beobachtung  geretteter  Selbst- 
mörder feststellen  können,  dass  nur  etwa  30  Prozent  derselben 
wirklich  klinisch  ausgeprägte  geistige  Störungen  darboten.. 

Recht  schwierig  kann  sich  die  Entscheidung  über  psychische 


376 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Gesundheit  oder  Krankheit  gestalten,  wenn  nicht  über  das  Be- 
stehen eines  krankhaften  Vorganges,  sondern  über  das  Vorhanden- 
sein eines  krankhaften  Zustandes  entschieden  werden  soll. 
Im  ersten  Falle  war  uns  die  Richtschnur  der  Beurteilung  in  dem 
Verhalten  des  Kranken  selber  vor  der  eingetretenen  Veränderung 
gegeben;  hier  dagegen  sind  wir  gänzlich  auf  die  Abgrenzung 
nach  den  allgemeinen  Begriffen  angewiesen,  die  sich  in  der 
Wissenschaft  als  Gradmesser  des  Krankhaften  niedergeschlagen 
haben.  Dazu  kommt,  dass  wir  ein  ausgedehntes  Übergangsgebiet 
zu  verzeichnen  haben,  auf  dem  es  sich  lediglich  um  die  Ab- 
schätzung gradweiser  Unterschiede  handelt,  so  dass  es  vielfach 
dem  Belieben  und  dem  Standpunkte  des  Beobachters  überlassen 
bleibt,  wie  weit  oder  wie  eng  er  die  Grenze  der  Geisteskrankheit 
stecken  will.  Dies  ist  der  Grund,  warum  so  häufig  die  Gutachten 
selbst  wissenschaftlich  hochstehender  Sachverständiger  bei  der 
Beurteilung  solcher  Fälle  vollständig  auseinandergehen;  die  all- 
gemeinen Grundsätze  versagen  hier  bisweilen  durchaus  und  lassen 
einzig  dem  persönlichen  Ermessen  die  Entscheidung  zufallen. 

Der  Irrenarzt  ist  demnach  hier  etwa  in  derselben  Lage  wie 
der  Kassenarzt  bei  der  Beurteilung  der  Erwerbsfähigkeit,  nur 
mit  dem  Unterschiede,  dass  die  Tragweite  seines  Ausspruches  eine 
häufig  viel  grössere  ist.  Es  erscheint  daher  ganz  unvermeidlich, 
dass  gelegentlich  sein  Urteil  als  Härte  empfunden  und  von 
Kranken  oder  Angehörigen  angefochten  wird,  zumal  den  ersteren 
immer,  den  letzteren  häufig  das  Verständnis  für  die  in  Betracht 
kommenden  Zustände  völlig  abgeht.  An  diesem  Punkte  liegt  wohl 
die  Hauptquelle  für  die  namentlich  in  neuerer  Zeit  mit  ebenso 
viel  Unkenntnis  wie  Gehässigkeit  betriebene  Bewegung  gegen 
die  Tätigkeit  der  Irrenärzte.*)  Natürlich  würde  niemand  froher 
sein,  als  diese  letzteren  selbst,  wenn  man  sie  von  der  leidigen 
Verantwortlichkeit  für  die  Beurteilung  der  Übergangsformen  zwi- 
schen geistiger  Gesundheit  und  Krankheit  befreien  wollte.  Lei- 
der ist  dazu  wenig  Aussicht,  da  sich  schwerlich  jemand  finden 
dürfte,  der  ihnen  diese  undankbare  Aufgabe  dauernd  abnimmt. 

Das  grosse,  sicher  noch  viel  zu  wenig  gekannte  Gebiet  kli- 

*)  Man  vergleiche  nur  die  durch  ihre  naive  Unwissenheit  und  Unverfroren- 
heit geradezu  erfrischenden  Bücher  des  Herrn  E.  A.  Schröder:  Das  Recht 
im  Irrenwesen.  1890;  Zur  Reform  des  Irrenrechtes.  1891. 


Grenzen  des  Irreseins. 


377 


nischer  Formen,  mit  dem  wir  es  hier  zu  tun  haben,  ist  haupt- 
sächlich dasjenige  des  angeborenen  Schwachsinns.  Die  Erschei- 
nungen desselben  treten  uns  in  allen  Richtungen  des  psychischen 
Lebens  entgegen,  und  wir  müssen  daher  wenigstens  einen  kurzen 
Blick  auf  die  Grenzgebiete  werfen,  nicht  sowohl,  um  die  ivor- 
handenen  Schwierigkeiten  zu  lösen,  sondern  um  auf  die  Unmög- 
lichkeit einer  grundsätzlichen  Lösung  derselben  hinzuweisen. 

Im  Bereiche  des  Verstandes  lassen  sich  der  Hauptsache  nach, 
zwei  Formen  der  psychischen  Schwäche  auseinanderhalten,  unge- 
nügende geistige  Regsamkeit  einerseits,  dann  aber  Urteilslosigkeit 
infolge  von  Überwuchern  der  Einbildungskraft.  Der  ersteren 
Form,  die  sich  durch  das  Fehlen  allgemeinerer  Begriffe,  Enge  des 
Gesichtskreises,  Gedankenarmut,  Stumpfheit  kennzeichnet,  ent- 
spricht in  der  Gesundheitsbreite  jene  Form  der  Dummheit,  die 
man  als  Beschränktheit  zu  bezeichnen  pflegt.  Die  höchsten 
Grade  dieser  Beschränktheit  fallen  aber  mit  den  leichteren  Fällen 
des  Schwachsinns  unterschiedslos  zusammen:  es  gibt  kein  einziges 
Merkmal,  welches  eine  andere  als  gradweise  Abtrennung  gestattete. 

Auch  die  zweite  Form  der  psychischen  Schwäche  findet  ihr 
Gegenstück  in  der  Gesundheitsbreite.  Es  sind  das  die  erregbaren, 
leichtgläubigen  Geister,  die  überall  die  Welt  mit  eigenen  Augen 
ansehen,  Luftschlösser  bauen  und  sofort  Beziehungen  und  Zu- 
sammenhänge ahnen,  abenteuerlichen  Gedanken  und  Plänen  nach- 
jagen. In  gewissem  Sinne  können  wir  sogar  den  Aberglauben 
unmittelbar  als  eine  gesunde  Form  der  Wahnbildung  bezeichnen, 
insofern  er  aus  derselben  Wurzel  des  Gemütsbedürfnisses  heraus- 
wächst. Es  kann  daher  unter  Umständen  ungemein  schwierig 
werden,  bei  unseren  Kranken  Aberglauben  und  Wahnbildung  von- 
einander zu  trennen.  Den  Übergang  zum  Krankhaften  bildet  die 
Gruppe  der  Schwärmer  und  Schwindler,  bei  denen  sich  vielfach 
geradezu  die  Züge  der  Entartung,  namentlich  der  epileptischen  und 
hysterischen  Veranlagung,  nachweisen  lassen.  Den  vereinzelten 
Beispielen  einseitiger  Begabung  bei  Schwachsinnigen  und  Idioten 
lassen  sich  manche  der  sogenannten  verkannten  Genies,  Erfinder 
und  Entdecker,  Religionsstifter  an  die  Seite  stellen,  bei  denen 
die  mangelnde  Einheitlichkeit  der  Gesamtanlage  auch  den  her- 
vorragenden Eigenschaften  ihrer  Persönlichkeit  die  freie  und 
segensreiche  Entfaltung  verkümmert. 


378 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


Man  ist  endlich  vielfach  so  weit  gegangen,  auch  das  wirkliche 
Genie  als  eine  krankhafte  Erscheinung,  als  eine  Form  der  Ent- 
artung, zu  betrachten.*)  Diese  Anschauung  schiesst  ohne  Zweifel 
weit  über  das  Ziel  hinaus.  Es  ist  allerdings  richtig,  dass  sich  in 
den  gleichen  Familien  nicht  selten  krankhafte  Veranlagung  und 
höchste  Begabung  nebeneinander  finden.  Ferner  ist  es  erklär- 
lich, dass  die  hervorragende  Entwicklung  gewisser  geistiger 
Eigenschaften  leicht  eine  Verkümmerung  anderer  mit  sich  bringen 
wird.  Wir  sehen  daher  auch  bei  genialen  Menschen  häufig  genug 
neben  glänzenden  Leistungen  unbegreifliche  Schwächen.  Wenn 
man  aber  weiterhin  bei  allen  möglichen  Helden  der  Menschheit 
diese  oder  jene  Züge  herausgefunden  hat,  die  ihnen  den  Stempel 
des  Krankhaften  aufdrücken  sollen,  so  übersieht  man  dabei  die 
Tatsache,  dass  es  wenige  Gesunde  geben  dürfte,  die  bei  ziel- 
bewusster Zergliederung  nicht  ebenfalls  irgendwelche  Anklänge  an 
krankhafte  Störungen  aufzuweisen  hätten.  Wir  werden  also  durch 
eine  derartige  Beweisführung  durchaus  nicht  dazu  genötigt  wer- 
den, die  höchsten  Offenbarungen  des  Menschengeistes  als  den 
Ausfluss  krankhafter  Entartung  anzusehen.  Gewiss  finden  wir 
beim  Genie  Züge,  die  uns  auch  im  Bereiche  des  Krankhaften 
begegnen,  die  überraschende  Kühnheit  der  Gedankenverbindungen, 
die  Lebhaftigkeit  der  Einbildungskraft,  den  Blick  auf  das  Ganze 
bei  Vernachlässigung  der  Einzelheiten.  Allein  diese  Eigentüm- 
lichkeiten werden  beim  Genie  durch  die  gleichzeitige  Ausbildung 
des  abwägenden,  prüfenden  Verstandes  in  sicheren  Grenzen  ge- 
halten, während  sie  dort  die  ungezügelte  Herrschaft  über  das 
geistige  Leben  an  sich  reissen.  Mag  sich  daher  auch  unter  den 
hohen  Begabungen  eine  gewisse  Zahl  finden,  in  denen  die  Ein- 
seitigkeit der  Ausbildung  oder  die  gesteigerte  Empfänglichkeit 
nach  gewissen  Richtungen  hin  das  gesunde  Gleichgewicht  des 
Seelenlebens  gefährden,  so  werden  wir  dennoch  das  Genie  im 
ganzen  als  den  höchsten  Ausdruck  der  voll  entwickelten  geistigen 
Persönlichkeit  anzusehen  haben. 

Von  grosser  Tragweite  und  darum  von  jeher  am  eifrigsten 
versucht  worden  ist  die  Abgrenzung  des  Krankhaften  von  der 

*)  Lombroso,  Genio  e degenerazione:  1S97 ; Regnard,  Annales 

mödico-psyehologiques,  VIII,  7,  10.  1898;  Löwenfeld,  Über  die  geniale 

Geistestätigkeit.  1903. 


Grenzen  des  Irreseins. 


379 


Gesundheitsbreite  auf  dem  Gebiete  des  Gefühlslebens  und  des 
Handelns,  die  wir  gemeinsam  ins  Auge  fassen  wollen.  Hier 
gilt  es  ganz  besonders,  jene  Handlungen,  die  aus  krankhaften 
Voraussetzungen  hervorgegangen  sind,  abzutrennen  von  den- 
jenigen, die  ihre  Quelle  in  unsittlichen  Beweggründen  haben. 
Man  wird  hier  nicht  lange  im  Zweifel  sein,  wenn  es  gelingt,  eine 
Wahnidee,  eine  Sinnestäuschung  oder  auch  ein  unklares  Angst- 
gefühl, einen  triebartigen  Drang  als  die  Ursache  der  Tat  auf- 
zufinden. Die  allergrössten  Schwierigkeiten  indessen  beginnen 
sofort,  sobald  nicht  Veränderungen  in  der  Art  der  Gefühle, 
sondern  nur  gradweise  Abstufungen  der  ärztlichen  Be- 
urteilung unterliegen.  Jede  menschliche  Handlung  kommt  da- 
durch zu  stände,  dass  die  Triebfedern  das  Übergewicht  über  die 
hemmenden  Gegengründe  erlangen.  Eine  unsittliche  Handlung 
kann  somit  entweder  auf  einer  starken  Ausbildung  der  unsittlichen 
Antriebe  oder  aber  auf  einem  Mangel  der  sittlichen  Hemmungen 
beruhen,  und  endlich  kann  sowohl  jene  übermässige  wie  diese 
ungenügende  Entwicklung  aus  krankhaften  Ursachen  hervor- 
gegangen sein.  Nun  geht  aber  die  krankhafte  Zornmütigkeit  ganz 
allmählich  in  die  Erregbarkeit  des  Leidenschaftsverbrechers 
über,  und  die  wechselnden  Verstimmungen  des  geborenen  Psy- 
chopathen sind  nur  Steigerungen  der  oft  ebensowenig  sachlich 
begründeten  weltschmerzlichen  Anwandlungen  des  Schwarzsehers, 
die  ihn  an  dem  Werte  des  Daseins  verzweifeln  lassen.  Der 
Selbstmord  in  den  letzteren,  der  Mord  in  den  ersteren  Fällen 
sollte  je  nach  der  Krankhaftigkeit  oder  der  gesunden  Beschaffen- 
heit des  Gemütszustandes  eine  gänzlich  verschiedene  sittliche 
Beurteilung  erfahren,  aber  auch  die  genaueste  Zergliederung  ver- 
mag hier  oft  die  Grenze  nicht  zu  finden,  aus  dem  triftigen  Grunde, 
weil  eine  solche  überhaupt  nicht  vorhanden  ist. 

Noch  überzeugender  tritt  uns  diese  Schwierigkeit  entgegen, 
wo  der  krankhafte  Mangel  der  sittlichen  Gefühle  von  der 
„sittlichen  Schlechtigkeit“  abgegrenzt  werden  soll.  So  wenig 
wie  das  Fehlen  einer  Niere  in  einem  Falle  krankhaft  sein  kann, 
im  andern  nicht,  so  wenig  geht  es  an,  eine  gesunde  sittliche 
Verwilderung  neben  einer  krankhaften  aufzustellen.  Bei  der 
Beurteilung  der  Unzulänglichkeit  einer  Leistung  kann  es  nicht  in 
erster  Linie  massgebend  sein,  ob  sie  angeboren,  erworben  oder 


380 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


wie  immer  sie  entstanden  ist;  nur  nach  der  Ausdehnung 
derselben  kann  man  gesunde  und  krankhafte  Grade  unter- 
scheiden, wie  ja  auch  die  Kleinheit  der  Niere  erst  unter  einer 
gewissen,  ziemlich  willkürlichen  Grenze  anfängt,  krankhaft  zu 
werden.  Wenn  der  Verlust  der  höheren  sittlichen  Gefühle  als 
Teilerscheinung  gewisser  Krankheitsvorgänge  vorkommt  (z.  B. 
der  Trunksucht,  der  Paralyse),  so  schliesst  dieser  Umstand 
nicht  aus,  dass  auch  der  durch  sittliche  Verwahrlosung  erzeugte 
Ausfall,  sobald  er  ein  gewisses  Mass  erreicht  hat 
und  nicht  beseitigungsfähig  ist,  als  krankhaft  zu  betrachten  sei. 
Jedes  Werkzeug  unseres  Körpers  bedarf  der  Übung  und  Aus- 
bildung, um  die  von  ihm  geforderte  Arbeit  leisten  zu  können: 
der  unerzogene  Taubstumme  bleibt  anerkanntermassen  auf  der 
geistigen  Entwicklungsstufe  des  Schwachsinns  stehen  sollte 
allein  der  sittlich  Unerzogene  eine  Ausnahme  machen, 
sollte  nicht  bei  ihm  ebenfalls  eine  Unvollkommenheit  der  ge- 
mütlichen Ausbildung  vorhanden  sein,  die  unter  Umständen  eine 
krankhafte  Ausdehnung  erlangen  kann?  Eine  naturwissenschaft- 
liche Betrachtung  der  Unsittlichkeit  führt  uns  unabwendbar  zu 
dem  Schlüsse,  dass  auch  der  Mangel  sittlicher  Gefühle  nicht 
nur  zweifellos  der  Begleiter  bestimmter  klinischer  Krankheitt'*- 
formen  ist,  sondern  in  seinen  höheren  Graden  überhaupt  ohne 
scharfe  Abgrenzung  in  das  Gebiet  des  Krankhaften  hinüber- 
spielt  und  als  eine  Entwicklungshemmung  im  Gemütsleben  zu 
betrachten  ist,  welcher  nach  anderer  Richtung  die  Unzuläng- 
lichkeit der  Verstandeskräfte  genau  entspricht. 

Es  bleibt  daher  in  derartigen  Fällen  bei  der  gerichtlichen 
Feststellung  der  Geistesstörung  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
häufig  Sache  der  persönlichen  Ansicht,  ob  die  gestellte  Frage 
bejaht  oder  verneint  werden  soll.  So  zuverlässig  es  fast  stets 
gelingen  wird,  wenigstens  bei  längerer  Beobachtung  das  Be- 
stehen einer  Manie,  Melancholie,  Verrücktheit,  einer  Dementia 
praecox  oder  paralytica  mit  Sicherheit  zu  erweisen  oder  aus- 
zuschliessen,  so  ratlos  steht  selbst  der  ausgezeichnetste  Scharf- 
sinn den  gradweisen  Abstufungen  des  angeborenen  Schwachsinns 
gegenüber.  Die  Schuld  dafür  trifft  gewiss  nicht  die  Psychiatrie, 
sondern  lediglich  die  richterliche  Fragestellung,  die  nur  scharfe 
Grenzen  zwischen  Zurechnungsfähigkeit  und  Unzurechnungsfähig- 


Verstellung  und  Verleugnung. 


381 


keit  kennt,  alle  die  zahllosen  Übergangsformen  aber  wesentlich 
vernachlässigt.  Vielleicht  wird  auch  uns  noch  eine  eingehendere 
Erforschung  des  Schwachsinns  zu  einer  schärferen  Umgrenzung 
der  krankhaften  Erscheinungen  verhelfen;  die  Überwindung  der 
grundsätzlichen  Schwierigkeiten  aber  und  die  Gewinnung 
brauchbarer  Gesichtspunkte  für  die  Beurteilung  kann  sicherlich 
nur  durch  eine  andere  Fassung  der  richterlichen  Fragen  an  den 
ärztlichen  Sachverständigen  erreicht  werden. 

C.  Verstellung  und  Verleugnung. 

Erheblich  einfacher  liegt  die  Aufgabe  dort,  wo  nicht  all- 
gemein die  Entscheidung  über  das  Bestehen  geistiger  Gesund- 
heit oder  Krankheit  gefällt  werden  soll,  sondern  wo  es  sich  um 
die  Aufdeckung  einer  V erstellung*)  handelt.  Hier  ist  eine 
sichere  Richtschnur  der  Beurteilung  durch  die  Erwägung  ge- 
geben, dass  die  vorliegende  Gruppe  von  Erscheinungen  sich 
mit  unseren  sonstigen  irrenärztlichen  Erfahrungen  decken  muss. 
Allerdings  sehen  wir  auch  bei  den  unzweifelhaft  Geisteskranken 
vielfach  Zustandsbilder,  die  nicht  in  einen  der  gewohnten 
Rahmen  hineinpassen;  darauf  beruht  ja  jeder  Fortschritt  unserer 
klinischen  Formenlehre.  Indessen  derartige,  zunächst  unklare 
Beobachtungen  enthalten  doch  niemals  innere  Widersprüche.  Wir 
wissen  ganz  genau,  dass  gewisse  Krankheitszeichen  einander  aus- 
schliessen,  dass  z.  B.  ein  ruhiger  Kranker  ohne  Bewusstseins- 
trübung und  Merkstörung  nicht  dauernd  desorientiert  sein  kann, 
dass  Fehlen  einfachster  Schulkenntnisse  nur  mit  Blödsinn  und 
tiefer  Gedächtnisstörung  vereint  sein  oder  durch  Negativismus 
vorgetäuscht  werden  kann.  Wir  vermögen  uns  somit  auch  dann, 
wenn  ein  Krankheitsbild  sich  nicht  ohne  weiteres  deuten  lässt, 
doch  meist  recht  bald  ein  Urteil  über  seine  innere  Einheitlichkeit 
und  Wahrscheinlichkeit  zu  bilden. 

Ein  solches  widerspruchsloses  Krankheitsbild  selbst  zusam- 
menzusetzen, erfordert  weitgehende  fachmännische  Kenntnisse. 
Ausserdem  ist  aber  noch  eine  ganz  ungewöhnliche  Geschicklich- 
keit und  Ausdauer  nötig,  um  die  angenommene  Rolle  wirklich 

*)  Fürstner,  Archiv  f.  Psychiatrie,  XIX,  3;  Fritsch,  Jahrb.  f. 
Psychiatrie,  VIII,  In.  2;  Raimann,  ebenda,  XXII,  443,  1902. 


382 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


durchzuführen  und  festzuhalten.  Die  Anschauungen  über  Geisten 
krankheiten  unter  Laien  weichen  fast  durchgehends  so  sehr  von 
dem  wahren  Verhalten  ab,  dass  es  in  der  Regel  für  den  Irrenarzt 
ein  Leichtes  ist,  die  Verstellung  zu  erkennen  und  zu  entlarven. 
Am  häufigsten  werden  tiefer  Blödsinn  oder  AufregungszaisUL.de 
(„Tobsucht“)  nachgeahmt;  dabei  ist  es  überall  die  Sucht  der 
Simulanten,  zu  übertreiben  und  ihre  Geisteskrankheit  möglichst 
glaubhaft  zu  machen,  die  sie  widersprechende  Erscheinungen 
durcheinander  mischen  lässt  und  auf  diese  Weise  die  Unter- 
scheidung von  wirklichen  Kranken  ermöglicht.  Häufig  gelingt 
es  auch,  durch  allerlei  Vexierversuche,  durch  hingeworfene  Be- 
merkungen gewisse  Krankheitserscheinungen  zu  suggerieren, 
namentlich  völlige  Unempfindlichkeit  gegen  Nadelstiche,  Läh- 
mungen, Ohnmächten  und  dergl.  Überaus  selten  sind  die  Fälle, 
in  denen  selbst  bei  längerer  Beobachtung  die  Herstellung  nicht 
zweifellos  festgestellt  werden  kann. 

Indessen,  so  leicht  und  sicher  die  absichtliche  Täuschung 
als  solche  erkannt  zu  werden  pflegt,  so  schwierig  ist  es  oft  genug, 
das  Bestehen  einer  Geistesstörung  ausser  der  Herstel- 
lung auszuschliessen.  Neumann  fordert  mit  Recht,  dass 
überhaupt  kein  Arzt  jemals  das  Zeugnis  geistiger  Gesundheit 
ausstellen  solle;  bei  Simulanten  ist  in  dieser  Hinsicht  doppelte 
Vorsicht  geboten.  Die  erfahrensten  Irrenärzte  teilen  mit,  dass 
wirklich  geistig  gesunde  Menschen  unter  den  Simulanten  nur 
in  verschwindend  geringer  Zahl  verkommen,  wenn  auch  die 
eigentliche  Störung  eine  ganz  andersartige  ist,  als  die  nach- 
geahmte. Namentlich  Katatoniker,  Querulanten,  Hysterische,. 
Schwachsinnige  sind  hierher  zu  rechnen.  Ich  selbst  kann  nur 
sagen,  dass  ich  mit  der  Annahme  reiner  Verstellung  ohne  ander- 
weitige Geistesstörung  im  Laufe  meiner  Erfahrung  immer  zu- 
rückhaltender geworden  bin,  nachdem  ich  eine  ganze  Anzahl 
meiner  ehemaligen  Simulanten  nachträglich  habe  verblöden  sehen. 
Darum  kann  ich  nur  dringend  raten,  nach  Jahren  immer  wieder 
einmal  die  Reihen  derer  zu  prüfen,  die  einst  als  Simulanten  „ent- 
larvt“ wurden.  Man  wird  übrigens  auch  bei  ruhiger  Überlegung 
finden,  dass  für  den  Gesunden  triftige  Beweggründe  zur  Hortäu- 
schung  von  Irresein  naturgemäss  recht  selten  sein  müssen.  Ich 
will  indessen  einräumen,  dass  in  Grossstädten  mit  ihrer  ganz 


Verstellung  und  Verleugnung. 


383 


andersartigen  Verbrecherbevölkernng  die  Verhältnisse  etwas 
anders  liegen  mögen,  als  bei  uns.  Die  Mittel  und  Verfahren, 
welche  die  Aufdeckung  von  Verstellung  im  einzelnen  Falle  er- 
möglichen, die  Schlüsse,  die  man  aus  dem  Benehmen  eines  Men- 
schen vor,  während  und  nach  einer  verbrecherischen  Tat  auf 
seinen  Geisteszustand  ziehen  kann,  und  eine  Reihe  ähnlicher 
Punkte  müssen  wir  hier  übergehen,  da  sie  den  Aufgaben  der 
gerichtlichen  Psychopathologie  angehören. 

Wir  haben  endlich  noch  der  Verleugnung  von  Krank- 
heitserscheinungen zu  gedenken,  die  namentlich  von  Trinkern, 
Cirkulären  und  Kranken  mit  Verfolgungswahn  bisweilen  mit 
grosser  Gewandtheit  geübt  wird,  um  die  Entlassung  aus  der 
Irrenanstalt  oder  die  Aufhebung-  der  Entmündigung  zu  erreichen. 
Es  gibt  unheilbare  Irre,  die  jahrelang  ihre  äussere  gesellschaft- 
liche Haltung  zu  bewahren  wissen  und  das  Nest  ihrer  Wahnideen 
tief  in  ihrer  Brust  verschliessen,  bis  eine  unbedachte  Äusserung, 
eine  gelegentliche  gemütliche  Erregung  plötzlich  der  erstaunten 
Umgebung  die  Augen  öffnet  und  ihr  die  Erklärung  für  so  manche 
Sonderbarkeiten  des  Benehmens  gibt,  die  man  so  lange  für  per- 
sönliche Eigentümlichkeiten  gehalten  hatte.  Wer  nicht  mit  dem 
geheimen  Zusammenhänge  und  den  Anknüpfungspunkten  der 
Fäden  bekannt  ist,  aus  denen  sich  das  Wahngewebe  zurecht- 
spinnt, dem  kann  die  tiefe  Störung  manches  Verrückten  völlig 
verborgen  bleiben,  auch  wenn  sie  gar  nicht  besonders  verleugnet 
wird.  Selbst  dem  Arzte  begegnet  es  bisweilen,  dass  er  trotz 
seines  allgemeinen,  bestimmten  Verdachtes  sich  lange  vergebens 
abmüht,  in  das  Innere  eines  Kranken  einzudringen,  und  dass  ihm 
erst  die  Nachrichten  über  das  Vorleben,  das  Benehmen  in  der 
Freiheit  eine  klare  Einsicht  in  die  wirkliche  Ausdehnung  der 
krankhaften  Störung  verschaffen.  Manche  Kranke  zeigen  sich 
dem  Arzte  gegenüber  ungemein  harmlos  und  ungefährlich,  stellen 
alle  Berichte  der  Angehörigen,  alle  Wahnideen  völlig  in  Abrede 
und  wissen  ihre  auffallenden  Handlungen  so  ungezwungen  und 
schlau  zu  begründen,  dass  es  recht  schwierig  wird,  die  krank- 
haften Züge  klar  zu  erfassen.  Unerfahrene  lassen  sich  daher 
oft  vollständig  von  ihnen  täuschen.  Auf  diese  Weise  pflegen 
die  Gesundheitszeugnisse  zu  stände  zu  kommen,  die  sich  gewisse 
Geisteskranke  von  Halb-  und  Nichtsachverständigen  zu  ver- 


384 


IV.  Die  Erkennung  des  Irreseins. 


schaffen  wissen.  Kein  erfahrener  Irrenarzt  wird  in  strittigen 
Fällen  nur  auf  Grund  einiger  Unterredungen,  ohne  genaueste 
Kenntnis  aller  Verhältnisse  und  ohne  Anstaltsbeobachtung,  das 
Urteil  abgeben,  dass  eine  geistige  Störung  nicht  vorhanden  ist, 
schon  deswegen,  weil  er  weiss,  dass  fast  ausnahmslos  nur  solche 
Personen  das  Bedürfnis  haben,  sich  ihre  geistige  Gesundheit  be- 
scheinigen zu  lassen,  die  wirklich  krank  sind. 

Man  wird  daher  gut  tun,  jene  die  öffentliche  Meinung  immer 
wieder  beunruhigenden  Flugschriften  mit  grösster  \orsicht  auf- 
zunehmen, in  denen  das  Justizunrecht  der  willkürlichen  Freiheits- 
beraubung, die  Gefahren  der  geistigen  Ermordung  in  den  grell- 
sten Farben  ausgemalt  zu  werden  pflegen.  Allerdings  ist  die 
Aufklärung  derartiger  Fälle  häufig  nicht  leicht,  sondern  erfordert 
höchste  Sachkenntnis  und  vollkommenen  Überblick  über  alle  ein- 
schlägigen Tatsachen  und  Persönlichkeiten.  Wir  dürfen  es  aber 
nicht  verschweigen,  dass  hie  und  da  von  Ärzten,  die  mit  Lnrecht 
als  Sachverständige  gelten,  auch  Personen  als  geisteskrank  be- 
zeichnet worden  sind,  die  es  im  strengsten  Sinne  nicht  waren; 
namentlich  hat  man  mehrfach  streitsüchtige  Menschen  fälschlich 
für  Querulanten  gehalten.  Ein  ganz  alltägliches  ^ orkommnis  aber 
ist  es,  dass  zweifellos  geisteskranke  Personen,  unter  Umständen 
zu  ihrem  grössten  Schaden,  für  gesund  erklärt  werden.  Solche 
Missgriffe  verschuldet  indessen  nicht  die  Psychiatrie,  die  sich 
nach  Kräften  bemüht,  ihr  schwieriges  Gebiet  zu  bearbeiten,  son- 
dern wesentlich  der  Staat,  der  fast  überall  nicht  nur  die  Ent- 
wicklung der  klinischen  Psychiatrie,  sondern  vor  allem  die  psy- 
chiatrische Ausbildung  der  Ärzte,  auch  der  beamteten,  in  dei 
verhängnisvollsten  Weise  vernachlässigt  hat.  Erst  in  der  aller- 
letzten Zeit  ist  hier  eine  gewisse  Besserung  zu  verzeichnen. 

Schliesslich  sei  noch  auf  die  Krankheitsverleugnung  be- 
sonnener selbstmordsüchtiger  Kranker  hingewiesen,  die  bisweilen 
mit  grossem  Geschick  ihre  krankhaften  ^ orstellungen  und  Ge- 
fühle zu  verbergen,  Besserung  und  heitere  Stimmung  vorzu- 
täuschen wissen,  um  den  stillen  Vorsatz  des  Selbstmordes  bei 
weniger  sorgfältiger  Überwachung  zur  Ausführung  bringen  zu 
können.  Selbst  die  genaueste  Vertrautheit  mit  dieser  höchst 
beachtenswerten  Gefahr  und  unausgesetzte  Wachsamkeit  \er- 
mag  nicht  immer  vor  bitteren  Erfahrungen  zu  schützen. 


V.  Behandlung  des  Irreseins*). 

Leitende  Gesichtspunkte  für  eine  zweckmässige  Behandlung 
sind  die  Bekämpfung  der  Ursachen  und  die  Beseitigung  oder 
wenigstens  Milderung  der  Erscheinungen.  Die  erstere  Aufgabe 
beginnt  schon  mit  der  Vorbeugung. 


A.  Vorbeugung.**) 

Die  Verhütung  der  Geisteskranken  steht  bei  der  grossen  Be- 
deutung der  Erblichkeit  für  die  Verbreitung  des  Irreseins  zunächst 
vor  der  Frage,  ob  ein  Geisteskranker  heiraten  darf 
oder  nicht.  Namentlich  in  manchen  Formen  der  hysterischen 
Psychosen  hat  man  wegen  ihrer  vermeintlichen  Entstehung  aus 
unbefriedigtem  Geschlechtsbedürfnisse  bisweilen  die  Ehe  geradezu 
für  ein  Heilmittel  gehalten.  Die  Erfahrung  hat  indessen  gezeigt, 
dass  zwar  gesunde  Eheleute  anscheinend  eine  etwas  geringere 
Neigung  zu  Geistesstörungen  besitzen,  als  Ledige,  dass  aber  bei 
schon  bestehender  Krankheit  die  Ehe  zum  mindesten  auf  das  weib- 
liche Geschlecht  vielfach  geradezu  schädlich  wirkt.  Dazu  kommt 
die  Gefahr  einer  Vererbung  der  krankhaften  Anlage  auf  die  Nach- 
kommenschaft. So  erscheint  denn  der  ziemlich  allgemein  ange-r 

*)  Penzoldt  und  Stintzing,  Handbuch  der  speziellen  Therapie,  Bd.  V, 
Abt.  IX:  Behandlung  der  Geisteskrankheiten,  von  Emminghaus-Pfister 
(Allgemeiner  Teil)  und  Ziehen  (Spezieller  Teil).  1896;  Bleuler,  Die  all- 
gemeine Behandlung  der  Geisteskrankheiten.  1898;  Garnier  et  Colo- 
1 i a n , Traite  de  therapeutique  des  maladies  mentales  et  nerveuses.  Hygiene 
et  prophylaxie.  1901;  Pelman,  Über  die  Behandlung  der  Geisteskranken, 
Deutsche  Klinik.  1902. 

**)  Fuchs,  Die  Prophylaxe  in  der  Psychiatrie  in  Nobiling-Jankau, 
Handbuch  der  Prophylaxe,  V.  1900;  M o r e 1 , Psychiatrische  Wochenschrift, 
I,  380,  1899. 

Kracpelin:  Psychiatrie  I.  7.  Aufl. 


25 


386 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


nommene  Grundsatz  gerechtfertigt,  vom  ärztlichen  Standpunkte 
aus  bei  bestehender  oder  überstandener  Geistesstörung,  besonders 
bei  jenen  Formen,  die  auf  eine  psychische  Entartung  hinweisen, 
die  Ehe  unter  allen  Umständen  zu  widerraten, 
während  der  einfache  Ursprung  aus  einer  belasteten  Familie, 
wenn  nicht  bereits  Krankheitserscheinungen  zu  Tage  treten,^  trotz 
der  immerhin  drohenden  Gefahren,  doch  kein  unbedingten  \ erbot 
der  Ehe  begründen  kann.  Nur,  wenn  Blutsverwandtschaft  vor- 
handen ist  oder  in  beiden  Familien  Geistesstörungen,  nament- 
lich solche  von  gleicher  Form,  aufgetreten  sind,  wird  man  sehr 
ernste  Bedenken  geltend  zu  machen  haben. 

Allerdings  lehrt  die  Erfahrung,  dass  Ratschläge  über  be\ er- 
stehende Ehen  zwar  gesucht  und  angehört,  aber  äusserst  selten 
befolgt  werden.  Die  Bedürfnisse  der  Rassenkräftigung,  der  ge- 
schlechtlichen Zuchtwahl  unter  dem  Gesichtspunkte  der  körper- 
lichen und  geistigen  Gesundheit,  treten  regelmässig  weit  zurück 
hinter  anderen,  kurzsichtigeren  Beweggründen.  Auch  das  Ein- 
greifen des  Staates  durch  Eheverbote  oder  Forderung  von  Gesund- 
heitszeugnissen würde  wenig  Erfolg  haben,  da  es  zwar  die  Ehen, 
nicht  aber  die  Kindererzeugung  einschränken  könnte.  Näcke 
hat  sich  daher  für  den  im  Staate  Michigan  durchberatenen  ^ or- 
schlag  erwärmt,  gewisse  Gruppen  gemeingefährlicher  und  ent- 
arteter Männer  durch  teilweise  Ausschneidung  der  Samenleiter 
zeugungsunfähig  zu  machen;  bei  Frauen  soll  in  schweren  Fällen 
zur  Entfernung  der  Gebärmutter  von  der  Scheide  aus  geschritten 
werden.  Ohne  Zweifel  wäre  die  Massregel  wirksam,  doch  erscheint 
die  Bestimmung  darüber  schwierig,  bei  wem  sie  Halt  zu  machen 
hätte. 

Im  werdenden  Keim  können  eine  Reihe  von  Allgemeinleiden 
der  Eltern  schwere  Schädigungen  hervorrufen,  vielfach  auch  ge- 
radezu die  Anlage  zum  Irresein  erzeugen.  Wir  nennen  hier  vor 
allem  den  Alkohol,  das  Morphium,  Cocain  und  die  Syphilis.  Ein 
schwacher  Trost  ist  es,  dass  bei  Trinkern  und  Morphinisten  die 
geschlechtliche  Leistungsfähigkeit  allmählich  abzunehmen  pflegt; 
dafür  steigert  der  Rausch,  dem  man  eine  unmittelbar  verderbliche 
Wirkung  auf  den  Samen  nachsagt,  wiederum  die  Begierde.  Wie 
lange  der  verhängnisvolle  Einfluss  der  Lues  auf  die  Nachkommen- 
schaft trotz  gründlicher  Behandlungsversuche  fortdauern  kann, 


Vorbeugung. 


387 


ist  zweifelhaft.  Will  man  daher  einer  Entartung  des  kommenden 
Geschlechtes  Vorbeugen,  so  wird  man  vor  allem  der  Verbreitung  / 
der  genannten  Gifte  oder  doch  der  Kindererzeugung  durch  ihre 
Träger  entgegenzuwirken  haben,  sei  es  durch  Belehrung  und  Auf- 
klärung, sei  es  durch  geeignete  Absperrung. 

Wie  weit  es  möglich  sein  wird,  die  Schädigungen  des  kind- 
lichen Gehirns  durch  Asphyxie,  Druck  oder  Verletzungen  bei  der 
Geburt  einzuschränken,  steht  dahin;  vielleicht  wird  bessere  Aus- 
bildung der  Hebammen,  regelmässige  Zuziehung  von  Ärzten  in 
schwierigen  Fällen,  Vermehrung  der  Entbindungsanstalten  hie 
und  da  die  Entstehung  einer  Idiotie  durch  die  Geburt  zu  verhindern 
imstande  sein.  Auch  die  Förderung  des  Stillens  der  Frauen  dürfte 
für  die  Gesunderhaltung  des  jugendlichen  Gehirns  nicht  ohne 
Bedeutung  sein.  Wir  sind  längst  davon  zurückgekommen,  die 
Krämpfe  der  Säuglinge,  die  „Gichter“,  als  eine  harmlose  Erschei- 
nung zu  betrachten.  Vielfach  sind  sie  jedenfalls  die  Anzeichen 
von  leichteren  oder  schwereren  Hirnerkrankungen,  die  dauernde 
Spuren  für  das  spätere  Leben  zurücklassen  können,  allgemeine 
Nervosität,  Epilepsie,  Schwachsinn  bis  zur  ausgesprochenen  Ver- 
blödung. Da  aber  die  Eingangspforte  für  Krankheitserreger  hier 
wahrscheinlich  vor  allem  im  Darme  liegt,  wird  die  Ernährung  mit 
Muttermilch  diese  Gefahren  sehr  wesentlich  vermindern  können, 
zumal  sie  auch  sonst  die  allgemeine  Widerstandsfähigkeit  des 
Kindes  gegen  krankmachende  Einflüsse  steigert.  Der  im  Säug- 
lingsalter drohenden  Gefahr  des  Kretinismus  kann  durch  Ent- 
fernung aus  der  verseuchten  Gegend  oder  durch  Darreichung  von 
Thyreoidin  begegnet  werden. 

Die  Verschiedenartigkeit  unter  gleichen  Bedingungen  auf- 
gewachsener Geschwister  zeigt  uns  vielfach,  wie  zwingend  die 
Entwicklung  der  psychischen  Persönlichkeit  durch  die  ursprüng- 
liche Veranlagung  und  Mischung  bestimmt  wird.  Dennoch  werden 
wir  auch  den  Einflüssen  der  Erziehung  in  der  Vorbeugung 
des  Irreseins  eine  gewisse  Bedeutung  nicht  absprechen  können. 
Gerade  etwas  absonderlich  angelegte  Eltern  vermögen  häufig 
nicht  die  rechte  Mitte  zwischen  grillenhafter  Strenge  und  weich- 
licher Verzärtelung  zu  halten,  Einflüsse,  die  nur  ein  sehr  kräftig 
geartetes  Kind  ohne  dauernden  Schaden  für  die  Entwicklung 
seiner  Persönlichkeit  zu  ertragen  imstande  ist.  Der  ärztliche 

25* 


388 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Berater  findet  hier  nicht  so  selten  Gelegenheit  zu  warnendem 
Eingreifen.  Im  allgemeinen  wird  jedes  Kind  am  wirksamsten 
durch  den  Verkehr  mit  seinesgleichen  erzogen.  Darum  ist  sorg- 
fältige Auswahl  der  Gefährten,  Ausschliessung  von  verdorbenen 
oder  entarteten  Kameraden  besonders  für  psychopathisch  ver- 
anlagte Kinder  wichtig.  In  vereinzelten  Fällen,  bei  sehr  empfind- 
lichen und  erregbaren  Kindern,  wird  zeitweise  eine  abgesonderte 
Erziehung  am  Platze  sein. 

Allgemeine  Aufmerksamkeit  hat  in  letzter  Zeit  die  Über- 
bürdungsfrage*)  der  Schuljugend  erregt.  Es  darf  als  wahr- 
scheinlich gelten,  dass  kein  jugendliches  Gehirn  wirklich  in 
strengem  Sinne  das  zu  leisten  imstande  ist,  was  zahlreiche  Stun- 
denpläne fordern.  Wenn  schon  ein  Erwachsener  einer  sehr  ein- 
fachen geistigen  Arbeitsleistung  nicht  länger  als  etwa  eine 
Stunde  zu  folgen  vermag,  ohne  deutliche,  sich  rasch  steigernde 
Ermüdungserscheinungen  zu  zeigen,  so  tritt  in  jüngerem  Lebens- 
alter und  bei  den  schwierigeren  Aufgaben  des  Schulunterrichtes 
die  Erschlaffung  natürlich  noch  sehr  viel  rascher  ein.  Allerdings 
ist  die  Ermüdung  an  sich  noch  keine  Gefahr,  da  jede  Tätigkeit 
notwendig  einen  Verbrauch  von  Arbeitskraft  mit  sich  bringt, 
andererseits  aber  durch  Übung  die  Leistungsfähigkeit  steigert  und 
die  Ermüdbarkeit  herabsetzt.  Wir  wissen  indessen,  dass  ein  t ber- 
mass  von  Ermüdung  zur  Erschöpfung  und  damit  zu  Störungen 
führen  kann,  die  sich  erst  langsam  und  in  längerer  Ruhe  wieder 
ausgleichen.  Wann  die  schädigende  Wirkung  der  Ermüdung  im 
einzelnen  Falle  beginnt,  entzieht  sich  heute  noch  unserer  Kenntnis. 
Wir  können  nur  allgemein  sagen,  dass  dieser  Punkt  erreicht  ist, 
sobald  sich  die  Arbeitsermüdung  nicht  mehr  regelmässig  von 
einem  Tage  zum  anderen  wieder  ausgleicht.  Es  kann  zugegeben 
werden,  dass  die  grosse  Mehrzahl  der  gesunden  und  kräftig  ver- 
anlagten Schüler  Spannkraft  genug  besitzt,  um  auch  über  unge- 
wöhnlich hohe  Anforderungen  ohne  bleibende  Nachteile  hinweg- 
zukommen. Ebenso  sicher  ist  es  aber  auch,  dass  sich  in  jeder 
Schule  eine  Reihe  von  Kindern  befinden,  die  bei  sonst  guter  Be- 
gabung eine  ganz  besonders  hohe  Ermüdbarkeit  besitzen,  leicht 
die  Zeichen  von  Dauerermüdung  aufweisen  und  daher  der  sorgfäl- 


*)  Ben  da,  Nervenhygiene  und  Schule.  1900. 


Vorbeugung. 


389 


tigen  Beobachtung  durch  den  Arzt  bedürfen.  Überall  haben 
wir  nicht  nur  mit  Kindern  aus  krankhaft  entarteten  Familien, 
sondern  auch  mit  solchen  zu  rechnen,  die  späterhin  selbst  mehr 
oder  weniger  schwer  psychisch  erkranken.  Eines  der  Zeichen 
der  Entartung  aber  ist  zweifellos  grosse  Ermüdbarkeit,  die  sich, 
wie  es  scheint,  vielfach  mit  grosser  Übungsfähigkeit  verbindet 
und  durch  sie  bis  zu  einem  gewissen  Grade  verdeckt  werden  kann. 

In  der  Schule  werden  die  Gefahren  der  Übermüdung  durch 
das  Einschieben  von  Erholungspausen  zwischen  die  einzelnen 
Unterrichtsabschnitte  einigermassen  wieder  ausgeglichen.  Frei- 
lich ist  die  Dauer  dieser  Pausen  wahrscheinlich  viel  zu  kurz  be- 
messen, als  dass  sie  eine  ausreichende  Erholung  bieten  könnten, 
namentlich  gegen  Ende  des  Tagesunterrichtes.  Glücklicherweise 
indessen  gibt  es  ein  Sicherheitsventil,  welches  verhindert,  dass 
infolge  der  geistigen  Überanstrengung  schwere  Gefahren  für 
das  heranwachsende  Geschlecht  heraufgeführt  werden  — das 
ist  die  Unaufmerksamkeit,  die  gerade  dann  hilfreich  ein- 
tritt,  wenn  die  Anspannung  notwendig  zu  einer  Erholung  drängt. 
Leider  versagt  dieses  Ventil,  sobald  von  dem  Schüler  nicht  bloss 
Stillsitzen,  sondern  wirkliche  Arbeitsleistung  gefordert  wird.  Das 
ist  der  Fall  einmal  bei  der  Hausarbeit,  die  eben  überwältigt  werden 
muss,  gleichgültig,  ob  sie  dem  Schüler  viel  oder  wenig  Zeit 
kostet,  ob  er  müde  und  erschöpft  oder  frisch  ist.  Sodann  aber 
ist  es  bekanntlich  möglich,  durch  kräftigen  Antrieb  das  Gefühl 
der  Müdigkeit  zu  unterdrücken  und  den  Schüler  zu  einer  An- 
spannung seiner  Kräfte  zu  veranlassen,  die  sonst  durch  das  Schutz- 
gefühl der  Müdigkeit  unbedingt  verhindert  würde.  Gerade  die 
guten,  tüchtigen  Lehrer  können  daher  unter  Umständen  für  ihre 
Schüler  schädlich  werden,  weil  sie  deren  Aufmerksamkeit  auch 
dann  noch  zu  fesseln  verstehen,  wenn  im  Laufe  der  ausgedehnten 
Unterrichtsstunden  die  Ermüdung  schon  lange  das  zulässige  Mass 
überschritten  hat. 

Wir  werden  aus  diesen  Gründen  vom  Standpunkte  des  Irren- 
arztes aus  eine  Umgestaltung  des  Unterrichtes  nach  verschie- 
denen Richtungen  hin  anzustreben  haben.  Vor  allem  ist  zu  berück- 
sichtigen, dass  die  Ermüdungseinflüsse  eine  fortschreitende  Ab- 
nahme der  geistigen  Leistungsfähigkeit  und  schliesslich  auch  ein 
Sinken  des  Übungswertes  der  Arbeit  bedingen.  Darum  müssen 


390 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


wir  vor  einer  Häufung  der  Arbeitsstunden  warnen;  viel  besser 
würde  die  Verteilung  derselben  auf  zwei  tägliche  Hauptabschnitte 
sein,  deren  erster  bald  nach  dem  Erwachen  aus  dem  Schlafe 
gelegen  sein  muss,  während  der  zweite  etwa  zwei  Stunden  nach 
der  Hauptmahlzeit  zu  beginnen  hätte.  Das  sind  die  beiden  Tages- 
zeiten, zu  denen  die  Ermüdbarkeit  am  geringsten  ist.  Jeder  dieser 
Abschnitte  soll  durch  Pausen  von  verschiedener  Länge  in  Unter- 
abschnitte zerlegt  werden,  in  denen  ein  Wechsel  zwischen 
schwererer  und  leichterer  Arbeit  stattfindet,  der  ein  zeitweises 
Nachlassen  der  geistigen  Anspannung  ermöglicht.  Die  schwierig- 
sten Lehrstoffe  werden  dabei  zuerst  zu  behandeln  und  die 
häuslichen  Arbeiten  bei  der  Bemessung  der  Gesamtarbeitszeit 
sorgfältig  mit  zu  berücksichtigen  sein. 

Da  das  mechanisch  Erlernte,  wie  der  Versuch  lehrt,  sehr 
rasch  wieder  aus  unserem  Gedächtnisse  schwindet  und  zudem  nur 
in  äusserst  geringem  Masse  begrifflich  verarbeitet  wird,  so  ist 
das  einfache  Auswendiglernen  zielbewusst  und  unerbittlich  aus 
dem  Lehrplane  zu  verbannen.  Jene  Arbeitsleistung  ist  nicht  nur 
völlig  unnütz,  sondern  zugleich  ungemein  anstrengend.  Es  darf 
sogar  als  nicht  unwahrscheinlich  bezeichnet  werden,  dass  massen- 
haftes Auswendiglernen  geradezu  ein  Hemmnis  der  höheren  gei- 
stigen Ausbildung  werden  kann,  sowohl  dadurch,  dass  es  die 
Arbeitskraft  in  Anspruch  nimmt  und  damit  die  Empfänglichkeit 
nach  anderen  Richtungen  hin  vermindert,  als  auch  durch  allzu 
starkes  Betonen  der  motorischen  Sprachvorstellungen  und  der  rein 
gewohnheitsmässigen  Ideenverbindungen  in  unserem  Seelenleben. 

Eine  besondere  Belastung  des  jugendlichen  Gehirns  wird 
durch  die  hochnotpeinlichen  Prüfungen  bewirkt.  Hier  gilt  es 
nicht  nur,  einen  umfangreichen  Gedächtnisstoff  aus  den  ver- 
schiedensten Wissensgebieten  zu  einer  bestimmten  Stunde  ver- 
wendungsbereit zu  halten,  sondern  dazu  kommt  noch  die  gemüt- 
liche Erregung  im  Hinblicke  auf  einen  möglichen  Misserfolg. 
Kein  Wunder,  dass  noch  nach  langen,  langen  Jahren  das  Schreck- 
gespenst der  Abschlussprüfung  im  Traume  wieder  aufzutauchen 
pflegt.  Diese  Kraftprobe  kann  in  den  Entwicklungsjahren  für 
Einzelne  gewiss  eine  Gefahr  bedeuten  und  zum  Anknüpfungs- 
punkte für  schwer  sich  ausgleichende  Zustände  von  Nervosität 
werden. 


Vorbeugung. 


391 


Bei  alledem  darf  selbstverständlich  nicht  ausser  Acht  ge- 
lassen werden,  dass  nur  in  einem  gesunden  Körper  eine  gesunde 
Seele  wohnen  kann.  Sorge  für  einfache,  aber  ausreichende  Er- 
nährung, richtige  Verteilung  von  Arbeit  und  Erholung,  aus 
reichenden  Schlaf,  Fernhaltung  von  aufregenden  Vergnügungen, 
namentlich  am  Abend,  endlich  gänzliches  Meiden  aller  Nerven- 
gifte, vor  allem  des  Alkohols*),  sind  daher . selbstverständliche 
Erziehungsregeln.  Ausserdem  wird  die  ausgiebigste  Pflege  und 
Entwicklung  der  körperlichen  Kraft  und  Gewandtheit  durch 
Leibesübungen  aller  Art,  reichliche  Bewegung  im  Fteien,  Wan- 
dern, Baden,  Handfertigkeitsunterricht  das  beste  Gegengewicht 
gegenüber  den  Gefahren  abgeben,  die  aus  der  einseitigen  unc 
übertriebenen  Anspannung  der  geistigen  Kräfte  erwachsen 
können.  Zu  berücksichtigen  ist  dabei  indessen,,  dass  auch  körper- 
liche Ermüdung  die  geistige  Leistungsfähigkeit  herabsetzt,  dass 
daher  anstrengende  körperliche  Übungen  nicht  in  die  Mitte, 
sondern  nur  an  das  Ende  des  eigentlichen  Schulunterrichtes 

gelegt  werden  dürfen. 

Eine  Reihe  dieser  Forderungen  finden  sich  vielfach,  an- 
nähernd wenigstens,  bereits  erfüllt,  oder  ihre  Durchführung  wild 
doch  von  einsichtigen  Schulmännern  planmässig  erstrebt.  Was 
aber  am  wichtigsten,  leider  auch  am  schwersten  erreichbar  er- 
scheint, wäre  eine  immer  weitergehende  Sonderung  der  ver- 
schiedenen Schülergruppen  nach  ihrer  Eigenart,  namentlich  nach 
ihrer  Ermüdbarkeit.  Durch  diese  Massregel  könnten  die  Ge- 
fahren der  Überbürdung  sehr  wesentlich  vermindert  werden. 
Wollte  man  sich  einmal  dazu  entschliessen,  über  diesen  Punkt 
umfassende  Untersuchungen  anzustellen,  so  würde  die  Wichtig- 
keit einer  solchen  Abtrennung  für  alle  Teile  klar  vor  Augen 
liegen.  Durch  die  Einrichtung  von  besonderen  Klassen,  für  Un- 
befähigte ist  übrigens  in  einer  Reihe  von  Städten  schon  ein  erster 
Schritt  in  der  Aussonderung  der  durch  den  Unterrichtsbetrieb 
gefährdeten  und  zugleich  diesen  selbst  hemmenden  Schüler  getan. 

Die  Lösung  der  hier  kurz  angedeuteten  Fragen  kann  nur 
durch  das  planmässige  Zusammenwirken  von  Lehrer  und  Arzt 


*)  Kraepelin,  Alkohol  und  Jugend.  1902. 


392 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


1 erreicht  werden.  Die  Anstellung  von  Schulärzten*),  mit  der  jetzt 
vielfach  begonnen  worden  ist,  erscheint  daher  auch  für  die 
Vorbeugung  des  Irreseins  von  Bedeutung.  Vor  allem  wird  der 
Schularzt  imstande  sein,  alle  diejenigen  Kinder,  die  nach  ihrem 
körperlichen  und  geistigen  Zustande  den  Anforderungen  der 
Schule  nicht  gewachsen  sind,  von  vornherein  auszuscheiden  oder 
doch  der  besonderen  Berücksichtigung  zu  empfehlen;  sie  ent- 
gehen dadurch  den  Gefahren,  welche  die  Durchführung  der  Schul- 
arbeit und  der  Schulzucht  sonst  für  sie  mit  sich  bringen  würde. 
Zugleich  wird  der  Schularzt  rechtzeitig  die  Behandlung  solcher 
körperlicher  Leiden  veranlassen  können,  welche  leicht  zu  gei- 
stiger Verkümmerung,  Erschöpfung  oder  Erregbarkeitssteigerung 
1 führen,  Ohrenerkrankungen,  Wucherungen  im  Nasenrachenraum, 
Blutarmut,  Bleichsucht,  Menstruationsstörungen. 

Besondere  Aufmerksamkeit  ist  vor  und  in  den  Entwücklungs- 
jahren  auf  die  Überwachung  der  geschlechtlichen  Regungen  zu 
richten.  Wenn  auch  für  gesunde  Kinder  die  Klippen  dieser  Zeit 
nicht  allzu  gefährlich  sind,  gewinnt  bei  krankhafter  Veranlagung 
das  Geschlechtsleben  sehr  oft  einen  unverhältnismässig  grossen 
Spielraum.  Die  Begierden  erwachen  früh  und  bei  geringfügigen 
Anlässen;  sie  beschäftigen  die  Einbildung  auf  das  lebhafteste 
und  führen  leicht  zu  leidenschaftlicher  und  hartnäckiger  Mastur- 
bation, namentlich  unter  dem  Einflüsse  der  Verführung.  Er- 
ziehungsanstalten, in  denen  sich  gern  derartige  Gewohnheiten 
ausbilden,  sind  daher  für  geschlechtlich  erregbare  Kinder  eine 
^ entschiedene  Gefahr.  Sehr  häufig  wird  auch  durch  besondere 
geschlechtliche  Erlebnisse  in  der  Jugend  bei  psychopathischen 
Kindern  der  Keim  zu  jenen  mannigfaltigen  Verirrungen  des  Ge- 
schlechtstriebes gelegt,  die  wir  früher  geschildert  haben.  Ver- 
nünftige, rechtzeitige  Aufklärung,  Fernhaltung  von  schlechtem 
Umgang  und  schlüpfriger  Lektüre,  planmässige  Erziehung  zu 
reichlicher  körperlicher  Betätigung  sind  die  Mittel,  die  uns  zur 
Bekämpfung  aller  dieser  Gefahren  zu  Gebote  stehen. 

Im  späteren  Leben  fällt  der  Vorbeugung  des  Irreseins  die 
doppelte  Aufgabe  zu,  einmal  den  Einzelnen  vor  den  nach  seiner 
besonderen  Anlage  drohenden  Gefahren  zu  schützen,  andererseits 


*)  Weygandt,  Münchener  Medizinische  Wochenschrift.  1900,  5. 


Vorbeugung. 


393 


jene  allgemeineren  Ursachen  zu  bekämpfen,  die  erfahrungs- 
gemäß bei  der  Entstehung  geistiger  Erkrankungen  eine  her- 
vorragende Rolle  spielen.  Nach  der  ersteren  Richtung  hin 
wird  ein  einsichtsvoller  Hausarzt  ohne  Zweifel  sehr  segens- 
reich wirken  können.  Hier  gilt  es  vor  allem,  die  persön- 
liche Eigenart  zu  berücksichtigen.  Da  die  Leistungs-  und 
Widerstandsfähigkeit  der  Menschen  überaus  ungleich  verteilt 
ist,  so  wird  es  Sache  des  Arztes  sein,  unter  sorgfältiger  Ab- 
schätzung dieser  beiden  Eigenschaften  die  Wahl  des  Berufes 
und  die  gesamte  Lebensführung  nach  Möglichkeit  zu  über- 
wachen. Namentlich  dort,  wo  eine  krankhafte  Veranlagung  be- 
steht, sind  alle  Berufsarten,  welche  die  Gefahren  geistiger  oder 
gemütlicher  Überanstrengung,  grosser  Verantwortlichkeit  in  sich 
schliessen,  auf  das  entschiedenste  zu  widerraten.  Hier  passen 
nur  Beschäftigungen,  die  ein  ruhiges,  gleichmässiges  Leben  ohne 
Aufregungen  und  Kämpfe,  am  besten  mit  reichlichem  Aufent- 
halte im  Freien  gestatten.  Ebenso  muss  bei  gefährdeten  Per- 
sonen von  vornherein  auf  die  Fernhaltung  von  Ausschweifungen, 
auf  die  Sorge  für  ausreichende  Erholung  und  Ernährung  sotvie 
für  guten  Schlaf  in  besonderer  Weise  Bedacht  genommen  werden. 
Natürlich  kann  sich  das  ärztliche  Handeln  im  einzelnen  Falle 
hier  überaus  mannigfaltig  gestalten;  die  zuverlässigste  Richt- 
schnur desselben  wird  dabei  immer  aus  einer  genauen  Kenntnis 
der  ursächlichen  Verhältnisse  des  Irreseins  zu  entnehmen  sein. 

Die  allgemeine  Vorbeugung  der  Geisteskrankheiten 
bietet  zwar  ebenfalls  vielfache  Angriffspunkte,  aber  zumeist  sehr 
weitaussehende  und  über  den  Bereich  der  ärztlichen  Tätigkeit 
hinausgehende  Aufgaben.  Alle  Massregeln,  welche  die  aufreibende 
Gewalt  des  Daseinskampfes  zu  mildern,  welche  Not,  Elend  und 
Krankheit  zu  lindern  vermögen,  dienen  auch  zugleich  der  Ver- 
hütung des  Irreseins.  Eine  besondere  ärztliche  Wichtigkeit  haben 
von  denselben  vor  allem  der  Kampf  gegen  Trunksucht  und 
Syphilis,  der  gerade  vom  ärztlichen  Stande  mit  allen  zu  Gebote 
stehenden  Mitteln  geführt  werden  müsste.  Die  Gleichgültigkeit, 
mit  welcher  die  grosse  Masse  der  Ärzte,  der  berufenen  Hüter  der 
Volksgesundheit,  den  hier  erwachsenden  Aufgaben  gegenüber- 
steht, trägt  einen  wesentlichen  Teil  der  Schuld  an  dem  namen- 
losen Unglück,  das  alljährlich  durch  Alkoholsiechtum  und  Para- 


394 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


lyse  über  unser  Volk  gebracht  wird.  Könnten  wir  Trunksucht 
und  Syphilis  aus  der  Welt  schaffen,  so  würden  wir  die  Zahl  der 
Geisteskranken  mindestens  um  ein  Viertel,  in  den  Grossstädten 
um  die  Hälfte  uM  noch  mehr  verringern.  Leider  aber  tragen 
wir  Ärzte,  abgesehen  von  Unterlassungssünden,  auch  noch  un- 
mittelbar zur  Vermehrung  des  Irreseins  bei.  Die  erschreckende 
Ausbreitung  des  Morphinismus,  des  Cocainismus  und  anderer 
ähnlicher  Vergiftungen,  welche  uns  die  letzten  Jahrzehnte  ge- 
bracht haben,  ist  ausschliesslich  auf  Rechnung  des  ärztlichen 
Standes  zu  setzen.  Wir  haben  jene  Geissein  der  Menschheit  ge- 
flochten und  geben  sie  ihr  noch  heute  Tag  für  Tag  in  die  Hand  — 
wir  haben  daher  auch  die  heilige  Verpflichtung,  alles  zu  tun, 
was  in  unseren  Kräften  steht,  um  das  von  uns  verschuldete  Unheil 
wieder  aus  der  Welt  zu  schaffen! 

Eine  weitere  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  wir  Ärzte  in  erster 
Linie  beizutragen  berufen  sind,  ist  die  Einrichtung  und  Fortbil- 
dung einer  schnell  und  umsichtig  arbeitenden  Irrenfürsorge, 
die  nicht  nur  die  Übertragung  der  psychischen  Entartung  auf  die 
Nachkommenschaft  bis  zu  einem  gewissen  Grade  beschränken 
kann,  sondern  sicherlich  auch  vielfach  imstande  ist,  die  Entwick- 
lung schwerer  Krankheitsformen  durch  rechtzeitiges  Eingreifen 
zu  verhüten.  Ungeheures  geradezu  hat  das  letzte  Jahrhundert 
nach  dieser  Richtung  hin  geleistet,  aber  es  gibt  doch  noch  immer 
genug  und  übergenug  zu  tun,  um  dem  unheimlich  anwachsenden 
Bedürfnisse  wenigstens  einigermassen  gerecht  zu  werden.  ^ er- 
breitung  richtiger  Vorstellungen  über  Geisteskranke  und  Irren- 
anstalten*), verständige  Hilfe  bei  der  ersten  Fürsorge  in  Krank- 
heitsfällen, rechtzeitige  Erkennung  der  Gefahr,  Mitwirkung  bei 
der  Heranziehung  geeigneter  Kräfte  zur  Pflege  unserer  Kranken 
— das  alles  sind  Richtungen,  in  denen  auch  derjenige  Arzt  für 
die  Verhütung  und  Bekämpfung  des  Irreseins  eine  segensreiche 
Tätigkeit  entfalten  kann,  der  nicht  die  Behandlung  Geisteskranker 
zu  seinem  Lebensberufe  gemacht  hat.**) 

Ganz  besondere  Aufgaben  stellen  der  vorbeugenden  Fürsorge 

*)  Fürstner,  Wie  ist  die  Fürsorge  für  Gemütskranke  von  Ärzten  und 
Laien  zu  fördern?  1899. 

**)  F u c h s , Der  Hausarzt  als  Psychiater,  Volkmanns  Vorträge,  Innere 
Medizin,  74. 


Vorbeugung. 


395 


diejenigen,  die  in  Gefahr  sind,  geistig  zu  erkranken,  und  diejenigen, 
die  es  schon  einmal  waren.  Für  die  ersteren  gilt  es,  aussei  halb 
des  Rahmens  der  eigentlichen  Irrenanstalten  Heilstätten  zu 
schaffen,  in  denen  sie  sachverständigen  Rat  und  angemessene 
Behandlung  finden.  Diesem  Ziele  dient  die  in  lebhaftem  I lusse 
befindliche  Bewegung  zur  Errichtung  von  Nervenheilanstal- 
ten. Da  ihnen  jede  Freiheitsbeschränkung  fehlt,  werden  sie 
nicht  mit  den  Vorurteilen  zu  kämpfen  haben,  die  dem  Eintritte 
in  eine  Irrenanstalt  noch  immer  entgegenstehen.  Es  ist  daher 
zu  erwarten,  dass  die  neue  Einrichtung  wesentlich  dazu  dienen 
wird,  den  leichteren  Formen  psychischer  Erkrankung  rechtzeitig 
Hilfe  zu  bringen  und  damit  der  Entwicklung  schwerer  Störungen 
vorzubeugen.  Dem  Schutze  der  Entlassenen  vor  Rückfällen  dienen 
dagegen  die  Hi lfs vereine  für  Geisteskranke,  die  mit  ihnen  Füh- 
lung behalten,  ihnen  mit  Rat  und  Tat  zur  Seite  stehen  und  auf 
diese  Weise  nach  Möglichkeit  die  Rückkehr  in  geordnete  Lebens- 
verhältnisse erleichtern.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  durch  dieses 
Eingreifen  die  Gefahr  von  Rückfällen  für  die  noch  wenig  wider- 
standsfähigen und  hilfsbedürftigen  Kranken  wesentlich  vermindert 
werden  kann. 

Bei  der  grossen  Tragweite,  die  jede  Geistesstörung  nicht 
nur  für  den  Erkrankten  selber,  sondern  für  seine  ganze  Um- 
gebung, seine  Gemeinde,  seine  Nachkommen  besitzt,  ist  die 
Verhütung  des  Irreseins  eine  öffentliche  Angelegen- 
heit. Der  Staat*)  hat  dringendsten  Anlass,  den  Kampf  gegen 
die  Geisteskrankheiten  mit  allen  ihm  zu  Gebote  stehenden  Macht- 
mitteln aufzunehmen.  Er  allein  ist  auch  in  der  Lage,  die  grossen 
Aufgaben  erfolgreich  in  Angriff  zu  nehmen,  die  dieser  Kampf 
ihm  stellt.  Neben  dem  Bau  und  dem  Betriebe  von  Anstalten 
ist  es  ganz  besonders  die  Ausbildung  eines  leistungsfähigen  und 
arbeitsfreudigen  irrenärztlichen  Standes,  die  ihm  obliegt, 
sodann  die  Förderung  der  psychiatrischen  Wissenschaft, 
ohne  die  das  Werk  hiemals  gedeihen  kann,  endlich  die  Ausbreitung 
von  Kenntnissen  in  der  Seelenheilkunde  bei  den  von  ihm  ausgebil- 
deten beamteten  und  praktischen  Ärzten  durch  klinischen  Unter- 
richt und  Fortbildungskurse.  Grosses  ist  nach  allen  diesen  Rich- 


*)  Kraepelin,  Die  psychiatrischen  Aufgaben  des  Staates.  1900. 


396 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


tungen  hin  schon  erreicht  worden;  vieles  aber  bleibt  noch  von 
der  Zukunft  zu  fordern  und  zu  erhoffen. 


B.  Körperliche  Behandlung. 

Arzneimittel.  Unter  den  Arzneimitteln  sind  es  besonders  die 
Narkotica,  die  wegen  ihrer  beruhigenden  Wirkung  eine  her- 
vorragende Stelle  in  dem  Heilapparate  der  Geistesstörungen  ein- 
nehmen. Seit  alter  Zeit  ist  das  Opium  im  Gebrauch.  Es  wirkt 
auf  gewisse  Verrichtungen  unseres  Grosshirns  lähmend,  beson- 
ders, wie  es  scheint,  bei  ungenügender  Blutzufuhr  zu  demselben. 
Eine  genaue  Kenntnis  seines  Einflusses  auf  die  verschiedenen 
psychischen  Leistungen  fehlt  bisher  noch.  Wie  die  Erfahrung 
lehrt,  sind  Aufregungen,  vor  allem  Angstzustände  oder  solche, 
die  durch  schmerzhafte  Reizungen  erzeugt  oder  unterhalten  wer- 
den (Neuralgien,  krankhafte  Empfindungen,  Präkordialangst), 
seiner  Einwirkung  am  meisten  zugänglich;  hier  wird  (durch  nicht 
zu  kleine  Gaben)  Beruhigung  und  mittelbar  Schlaf  erzielt.  Nicht 
am  Platze  ist  das  Opium  bei  starken  Stauungen  im  Gehirn  (an- 
dauerndes hohes  Fieber),  grosser  körperlicher  Hinfälligkeit  und 
namentlich  Herzschwäche.  Als  unangenehme  Nebenwirkungen 
sind  die  Verdauungsstörungen  (Appetitlosigkeit,  hartnäckige  Ver- 
stopfung) zu  beachten.  Meist  wird  das  Opium  von  Geisteskranken 
recht  gut  vertragen.  Es  gibt  jedoch  zweifellos  Fälle,  in  denen 
bei  sehr  hohen  Opiumgaben  die  bekämpften  ängstlichen  Auf- 
regungszustände geradezu  schlimmer  werden;  Vorsicht  ist  also 
unter  allen  Umständen  geraten.  Das  gebräuchliche  Präparat  ist 
Tinctura  Opii  simplex  innerlich  (oder  eine  Lösung  von  Extr.  Opii 
aquos.  1 : 20  subcutan,  zur  Vermeidung  von  Abscessen  oft  frisch 
zu  bereiten),  bei  planmässiger  Anwendung  in  steigender  Gabe 
von  10 — 20  Tropfen  (0,05 — 0,1  Extrakt)  2 — 3mal  täglich,  bis 
zum  doppelten  oder  selbst  dreifachen,  wenn  nicht  schon  früher 
die  erstrebte  Beruhigung  eintritt;  später  allmähliches  Herunter- 
gehen mit  der  Gabe. 

Wegen  der  grösseren  Gleichmässigkeit  der  Wirkung,  der 
sichereren  Abmessung  und  der  bequemeren  (subcutanen)  Hand- 
habung ist  an  Stelle  des  Opiums  in  neuerer  Zeit  vielfach  das 


Arzneimittel. 


397 


Morphium  getreten,  welches  im  übrigen  wesentlich  dieselben 
Vorzüge  und  Nachteile  besitzt  wie  jenes  Mittel.  Das  Morphium 
erzeugt  nach  den  bisher  vorliegenden  Versuchen  in  massigen 
Gaben  wesentlich  eine  Herabsetzung  der  centralen  Schmerz- 
empfindlichkeit sowie  eine  Lähmung  des  Willens  bei  gleichzeitiger 
Erleichterung  des  Vorstellungsverlaufes.  Es  ist  kein  Schlaf-, 
sondern  nur  ein  Beruhigungsmittel;  bei  dauerndem  Missbrauche 
stellt  es  vorübergehend  die  verloren  gegangene  geistige  Frische 
und  Leistungsfähigkeit  wieder  her. 

Die  Morphiumbehandlung  ist  ebenfalls  zu  einer  planmässigen 
Kur  ausgebildet  worden,  die  bei  chronisch-melancholischen,  be- 
sonders ängstlichen  Zuständen  mit  Parästhesien  oder  Schmerzen 
bisweilen  gute  Dienste  zu  leisten  scheint.  Unser  Bestreben  muss 
indessen  durchaus  dahin  gehen,  den  Gebrauch  des  Morphiums  so- 
weit wie  nur  irgend  möglich  einzuschränken.  Abgesehen 
davon,  dass  bei  einzelnen  Kranken,  namentlich  bei  Frauen,  schon 
auf  sehr  kleine  Gaben  Morphium  (0,01  und  weniger)  recht  unan- 
genehme Störungen  (Erbrechen,  Aufregung,  Ohnmächten,  Harn- 
verhaltung) auftreten,  und  dass  bei  Anwendung  grösserer  Mengen 
auch  nach  Stunden  noch  unvermutet  schwere,  selbst  tötlich  aus- 
gehende Vergiftungserscheinungen  sich  einstellen  können,  ist  vor 
allem  an  die  kaum  hoch  genug  anzuschlagende,  schwere  Gefahr 
des  chronischen  Morphinismus  zu  erinnern,  mit  der  wir  uns  später 
eingehend  zu  beschäftigen  haben  werden. 

Von  den  näheren  Verwandten  des  Morphiums  sind  noch  das 
Dionin,  Codein  und  Peronin*)  für  psychiatrische  Zwecke 
empfohlen  worden.  Sie  sollen  ähnlich,  aber  schwächer  wirken, 
als  das  Morphium,  und  selbst  bei  längerem  Gebrauche  nicht  die 
schwere  Allgemeinerkrankung  erzeugen  wie  jenes.  Im  wesent- 
lichen handelt  es  sich  um  minderwertige  Ersatzmittel  des  Mor- 
phiums, für  deren  Anwendung  bei  uns  kaum  Anlass  vor  liegen 
dürfte. 

Dagegen  können  wir  als  ein  für  die  irrenärztliche  Behandlung 
recht  wertvolles  Mittel  das  von  Gnauck**)  zuerst  bei  Geistes- 


*)  Fischer,  Korrespondenzbl.  f.  Schweizer  Ärzte.  1888,  19;  Winter- 
nitz, Monatsschr.  f.  Psych.,  VII,  38,  1900;  Meitzer,  Therap.  Monatsschr. 
1898,  Juni;  Ransohoff,  Psychiatr.  Wochenschr.  1899,  20. 

**)  Gnauck,  Charite-Annalen,  VII;  Sohrt,  Pharmakotherapeutische- 


398 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


kranken  angewandte  Hyoscin  (Ladenburg)  bezeichnen. 
Dieses  Alkaloid  (Chlor-,  Brom-  oder  Jodverbindung)  erzeugt  in 
subcutaner  Gabe  von  0,0005—0,001  gr  mit  nicht  übertroff ener 
Sicherheit  einen  nach  10—15  Minuten  eintretenden  tiefen  Schlaf. 
Bei  innerlicher  Anwendung,  die  wegen  der  völligen  Geschmack- 
losigkeit des  Mittels  keine  Schwierigkeiten  hat,  kann  die  Gabe 
auf  das  doppelte  steigen.  Die  Nebenerscheinungen  sollen  dabei 
schwächer  ausfallen,  als  bei  der  Einspritzung  unter  die  Haut, 
Die  Vergiftung  wird  eingeleitet  durch  Eingenommenheit  des 
Kopfes,  Trockenheit  im  Halse,  Schwere  der  Zunge,  Unsicherheit 
beim  Gehen  und  eine  mehrere  Tage,  selbst  Wochen  lang  an- 
dauernde, hochgradige  Pupillenerweiterung.  Bei  grösseren  Gaben 
scheinen  Übelkeit,  Unregelmässigkeit  des  Pulses,  Atmungsbehin- 
derung, Gesichtstäuschungen,  selbst  Delirien  und  Collapszustände 
auftreten  zu  können,  doch  haben  hier  vielleicht  gelegentlich  \ er- 
unreinigungen  eine  gewisse  Rolle  gespielt.  Ich  selbst  konnte 
wenigstens  niemals  bedrohlichere  Erscheinungen  beobachten,  ob- 
gleich ich  wegen  ungünstiger  äusserer  Verhältnisse  das  Mittel 
durch  eine  Reihe  von  Jahren  überaus  häufig  habe  in  Anwendung 
ziehen  müssen.  Nur  besteht  nach  dem  Erwachen  gewöhnlich  das 
Gefühl  von  Abgeschlagenheit  und  ein  leichter  Druck  im  Kopfe, 
der  sich  meist  bald  verliert.  Das  Hyoscin  ist  demnach  ein  äusserst 
kräftig  wirkendes  Mittel,  welches  überall  dort,  wo  die  dringende 
Notwendigkeit  besteht,  rasch  Beruhigung  und  Schlaf  zu  verschaf- 
fen, zuverlässig  und  meist  ohne  erhebliche  Nachteile  seine  V ir- 
kung  tut.  Schwere  tobsüchtige  oder  deliriöse  Erregungszustände 
bei  manisch-depressivem  Irresein,  Paralyse,  Epilepsie,  Katatonie, 
unter  Umständen  auch  im  Delirium  tremens  oder  Gollapsdelirium, 
kommen  hauptsächlich  in  Betracht.  Gegen  die  Angst  leistet  das 
Hyoscin  nichts.  Dagegen  scheint  hier  bisweilen  eine  Verbindung 
kleiner  Gaben  von  Hyoscin  mit  Morphium  gute  Dienste  zu  tun. 
Bei  längerem  Gebrauche  tritt  allmählich  eine  gewisse  Gewöhnung 
ein,  die  zu  langsamer  Erhöhung  der  Gabe  führt.  Besondere  Stö- 
rungen, wie  etwa  Appetitlosigkeit,  Rückgang  der  Ernährung  oder 

Studien  über  das  Hyoscin.  Diss.  1886;  Konrad,  Centralbl.,  f.  Psych.,  1SSS. 
18;  Klinke,  ebenda,  1889,  7;  Dornblüth,  Therap.  Monatshefte,  1889, 
8,  361;  S erg  er,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XLVII,  308;  Bumke, 
Monatsschr.  f.  Psychiatrie,  Januar  1903. 


Arzneimittel. 


399 


dergl.,  haben  sich  mir  dabei  niemals  herausgestellt;  ebensowenig 
führt  das  Aussetzen  des  Mittels  zu  Entziehungserscheinungen.  Da 
aber  auf  der  anderen  Seite  auch  keine  dauernde  Beruhigung  er- 
zielt wird,  sondern  nach  dem  Verschwinden  der  Ermattung  die 
Aufregung  in  alter  Weise  wiederzukehren  pflegt,  so  dürfte  sich 
das  Hyoscin  wegen  seiner  gewaltigen  Wirkung  nur  für  die  ge- 
legentliche, wurfweise  Anwendung  eignen.  Ferner  wird  man  gut 
tun,  bei  sehr  heruntergekommenen  Kranken  und  beim  Bestehen 
von  Kreislaufsstörungen  das  Mittel  zu  vermeiden  oder  doch  mit 
grosser  Vorsicht  zu  handhaben. 

Zum  Ersatz  des  Hyoscins  ist  mehrfach  das  Duboisinum 
sulfuricum*)  empfohlen  worden,  da  es  weniger  gefährlich 
sei.  Es  wird  in  Gaben  von  0,5—2  Milligramm  unter  die  Haut  ge- 
spritzt, scheint  ziemlich  sicher  zu  wirken,  aber  nach  den  vorliegen- 
den Berichten  doch  nicht  so  ganz  harmlos  zu  sein.  Ein  wesent- 
licher Vorteil  vor  dem  gut  erprobten  Hyoscin  lässt  sich  bisher 
nicht  erkennen. 

Über  das  Haschisch  sind  nur  wenige  verwertbare  Beob- 
achtungen bekannt  geworden,  ein  Umstand,  der  seinen  Grund 
hauptsächlich  in  der  Unsicherheit  und  Verschiedenheit  der  zugäng- 
lichen Präparate  haben  dürfte.  Von  den  Bestandteilen  desselben 
hat  das  Cannabinon**)  noch  am  meisten  praktische  Ver- 
wertung gefunden.  Leider  ist  das  gebräuchliche  Präparat  keines- 
wegs rein.  Man  gibt  dasselbe  als  Schlafmittel  in  Dosen  von  0,1 
bis  0,2  gr,  am  besten  in  Pillen  oder  mit  fein  zerriebenem  Kaffee- 
pulver. Da  die  schlaf  machende  Wirkung,  die  nach  etwa  2 3 

Stunden  eintritt,  nicht  sehr  sicher  und  öfters  von  unangenehmen 
Nebenerscheinungen  begleitet  ist,  wird  das  Mittel  wenig  mehr 
gebraucht.  Auch  dem  Pel lotin  (0,02—0,04  g),  einem  Alkaloid 
aus  gewissen  Cactusarten,  das  Schlaf,  aber  auch  Schwindel- 
erscheinungen erzeugt,  scheinen  keine  nennenswerten  Vorzüge 
eigen  zu  sein. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Arzneimitteln,  welche  in  der  Behand- 


*)  Ostermeyer,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XL VII,  278,  Prei- 
n i n g e r,  ebenda,  XLVIII,  134;  B e 1 m o n d o,  Rivista,  sperimentale  di  freniatria, 
1892;  Sk  een,  Journal  cf  Inental  science,  1897,  July. 

**)  Richter,  Neurolog.  Centralblatt,  III,  21;  IV,  1. 


400 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


hmg  des  Irreseins  hervorragende  Wichtigkeit  erlangt  haben,  ist 
diejenige  der  eigentlichen  Schlafmittel*).  Vor  mehr  als  zwei 
Jahrzehnten  wurde  von  Liebreich  das  Chloralhydrat**) 
empfohlen,  welches  mit  grosser  Sicherheit  in  Gaben  von  2 — 3gr, 
meist  ohne  andere  Nachwehen,  als  eine  gewisse  Benommenheit 
des  Kopfes,  einen  länger  dauernden,  ruhigen  Schlaf  herbeiführt. 
Da  es  ebensowenig  wie  die  übrigen  Schlafmittel  Schmerzen  stillt, 
so  hat  man  es  bisweilen  mit  Morphium  verbunden.  Wegen  seiner 
ätzenden  Eigenschaften  und  seines  unangenehmen  Geschmackes 
gibt  man  das  Chloralhydrat  in  stark  verdünnter,  schleimiger 
Lösung  als  Klysma,  oder  innerlich  unter  Zusatz  von  Aqua  Menthae 
piperitae,  Syrupus  Liquiritiae  oder  corticum  Aurantii.  Seine  An- 
wendung findet  das  Mittel  bei  schwerer  Schlaflosigkeit  in  den 
verschiedensten  Formen  des  Irreseins.  Leider  pflegt  sich  bei 
längerem  Gebrauche  nach  und  nach  eine  wachsende  Unempfindlich- 
keit gegen  das  Mittel  einzustellen,  die  zur  Darreichung  höherer 
Gaben  verführt.  Nach  dieser  Richtung  hin  ist  indessen  grosse 
Vorsicht  geboten,  da  die  fortgesetzte  Anwendung  des  Chloral- 
hydrats  Verdauungsstörungen  und  Gefässlähmungen  nach  sich 
zieht.  Das  häufigste  Zeichen  der  chronischen  Chloralvergiftung 
ist  der  sog.  „Rash“,  eine  namentlich  beim  Genüsse  von  Alkohol 
oder  heissen  Flüssigkeiten  auftretende  fliegende  Röte  und  Hitze 
mit  starker  Pulsation,  besonders  am  Kopfe  und  Halse;  ferner 
hat  man  Hautausschläge,  Neigung  zu  Ödemen  und  Druckbrand, 
endlich  Zustände  von  dauernder  stumpfer  Benommenheit  infolge 
des  Chloralmissbrauches  beobachtet,  die  erst  nach  dem  Aus- 
setzen des  Mittels  langsam  wieder  schwinden.  Gefährlich  und 
darum  gänzlich  zu  vermeiden  ist  die  Anwendung  des  Chloralhydrats 
bei  Herz-  und  Gefässerkrankungen  (Fettherz,  Myokarditis,  Klap- 
penfehler, Atherom  u.  s.  f.);  schon  nach  5 gr  wurden  plötzliche 
Todesfälle  gesehen. 

Einen  ausgezeichneten  Ersatz  für  das  Chloralhydrat,  der  das 
immerhin  bedenkliche  Mittel  völlig  entbehrlich  macht,  haben  uns 

*)  Würschmidt,  Über  einige  Hypnotica,  deren  Anwendung  und  W ir- 
kung  bei  Geisteskranken.  1888;  v.  Krafft-Ebing,  Wiener  Klinische  V ochen- 
schrift.  1890,  2 u.  3. 

**)  Schüle,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XXVIII,  1;  Archiv  für 
Psychiatrie,  V,  271 ; Arndt,  ebenda,  III,  673. 


Arzneimittel. 


401 


Cer vello  und  Morse  1 1 i im  Par aldehyd*)  kennen  gelehrt. 
Das  Mittel  bewirkt  in  mittleren  Gaben  von  5 gr,  die  man  ohne 
Bedenken  auf  das  Doppelte  und  selbst  Dreifache  steigern  kann, 
schon  nach  10 — 12  Minuten  sehr  regelmässig  einen  tiefen,  ruhigen, 
dem  natürlichen  durchaus  gleichenden,  mehrstündigen  Schlaf.  Die 
Müdigkeit  tritt  mit  fast  unwiderstehlicher  Gewalt  ein,  geht  aber, 
wenn  äussere  Störungen,  Schmerzen  und  dergl.  vorhanden  sind, 
rasch  wieder  vorüber,  so  dass  wesentlich  das  Einschlafen, 
weniger  der  spätere  Schlaf  unter  dem  Einflüsse  des  Mittels  steht. 
Unangenehme  Nachwirkungen,  Eingenommenheit  des  Kopfes  sind 
hier  äusserst-  selten,  wirkliche  Gefahren  anscheinend  ausgeschlos- 
sen, (da  50,  ja  selbst  105  gr  des  Mittels  bereits  ohne  schädliche 
Folgen  genommen  wurden.  Muss  demnach  das  Paraldehyd  als 
ein  überaus  wertvolles  Schlafmittel  bezeichnet  werden,  so  hat 
es  den  recht  störenden  Nachteil  eines  sehr  widerlichen,  kaum 
zu  verdeckenden  Geschmackes  und  Geruches,  der  wegen  der  Aus- 
scheidung durch  die  Lungen  noch  12 — 24  Stunden  nach  dem  Ein- 
nehmen zurückbleibt.  Die  verhältnismässig  angenehmste  Form 
der  Darreichung  ist  die  Vermischung  mit  Wein  oder  mit  einer 
aromatischen  Tinktur,  Syrup  und  Wasser  (Umschütteln  1).  In  sehr 
vereinzelten  Fällen  wird  es  übrigens  vom  Magen  in  jeder  Form 
zurückgewiesen;  'man  wird  dann  allenfalls  die  Verabfolgung  im 
Klysma  (in  Ölemulsion)  oder  als  Stuhlzäpfchen  (mit  20%  Paraf- 
fin im  Wasserbade  vereinigt)  versuchen  können.  Bei  längerem 
Gebrauche  kann  der  Appetit  leiden. 

Das  letzte  Jahrzehnt  hat  uns  in  rascher  Folge  noch  mit  einer 
Reihe  mehr  oder  weniger  brauchbarer  Schlafmittel  bekannt  ge- 
macht. Das  von  v.  Mering  zuerst  empfohlene  Amylen- 
hydr  at**)  (2—5  gr)  belästigt  den  Magen  weniger,  als  das  Paral- 
dehyd, und  riecht  auch  nicht  unangenehm,  während  der  Geschmack 
nach  meinen  Erfahrungen  bei  den  Kranken  mindestens  auf  den 
gleichen  Widerwillen  stösst.  Die  Wirkung  tritt  langsamer  ein 
und  ist  weniger  sicher. 

“*)  Morselli,  Gazetta  degli  ospedali.  1883,  4,  5,  6;  Referat  im  Neurolog. 
Centralblatt,  II,  9;  Gugl,  Zeitschr.  f.  Therapie.  1883;  v.  Krafft-Ebing, 
ebenda,  1887,  7;  Raimann,  Wiener  Klin.  Rundschau.  1899,  19—21;  Bumke, 

Monatsschr.  f.  Psych.,  XII,  489,  1902. 

**)  Lehmann,  Neurolog.  Centralblatt.  1887,  20;  Schlöss,  Jahrb. 
f.  Psychiatrie.  1888,  1,  2;  Avellis,  Deutsche  Medizin.  Wochenschr.  1888,  1. 

Kraepelin,  Psychiatrie  X.  7.  Aufl.  96 


402 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Eine  Verbindung  von  Amylenhydrat  und  Chloralhydrat  hat 
Fuchs  unter  dem  Namen  „D  o r in  i o 1“*)  in  den  Handel  gebracht. 
Das  Mittel,  das  ähnlich  schmeckt  wie  Amylenhydrat,  wird  zu 

0,5 2 oder  3 gr  gegeben  in  einfacher  lOprozentiger  Lösung  oder 

in  Kapseln,  auch  im  Klysma.  Die  Wirkung  tritt  meist  nach  l/2 
bis  1 Stunde  ein  und  scheint  im  ganzen  befriedigend  zu  sein. 
Besondere  Nachteile  des  Mittels  sind  bisher  nicht  bekannt  ge- 
worden. 

Grössere  Verbreitung  hat  das  von  Käst  eingeführte  S u 1 - 
fonal**)  gefunden.  Das  Mittel  ist  geruchlos,  fast  geschmack- 
los und  beeinträchtigt  die  Verdauung  erst  bei  längerem  Gebrauche. 
Dagegen  wird  es  wegen  seiner  Schwerlöslichkeit  verhältnismässig 
langsam  aufgesogen  und  wirkt  darum  nach,  so  dass  grosse  Müdig- 
keit und  Schwäche  in  den  Beinen  am  folgenden  Tage  nicht  seltene 
Erscheinungen  sind.  Diese  Nachwirkung,  die  bisweilen  noch  in 
der  nächsten  Nacht  Schlaf  bringt,  kann  unter  Umständen,  bei 
dauernd  erregten  Kranken,  die  man  an  die  Bettruhe  gewöhnen 
will,  geradezu  erwünscht  sein.  Bei  fortgesetzten  hohen  Gaben 
tritt  nach  anfänglich  sehr  geringer  Wirkung  bisweilen  plötzlich 
tagelange  Schlafsucht  auf,  wahrscheinlich  durch  raschere  Lösung 
angesammelter  Mengen  des  Mittels;  es  sind  auch  schon  eine 
Reihe  von  Todesfällen  nach  einmaliger  wie  nach  fortgesetzter 
Darreichung  bekannt.  Es  kommt  dabei  zu  Magen-  und  Darmblu- 
tungen, Verfettung  von  Herz,  Leber  und  Nieren,  namentlich  aber 
zu  einer  schweren  chronischen  Blutzersetzung.  Grosse  Schläfrig- 
keit, Unsicherheit  der  Bewegungen,  Blässe,  Übelkeit,  Erbrechen, 
Durchfälle  und  besonders  Rotfärbung  des  Harns  durch  Hämato- 
porphyrin***)  sind  wichtige  Warnungszeichen.  Es  erscheint  daher 
dringend  geraten,  das  Sulfonal,  namentlich  bei  ^ erstopfung,  nie- 
mals längere  Zeit  hintereinander  und  nicht  in  Gaben  über  2 gr 

*)  Wederhake,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVIII,  778;  Schnitze, 
Neurolog.  Centralblatt.  1900,  249;  Meitzer,  Psychiatr.  Wochenschr.  1902,  50. 

**)  Käst,  Berl.  Klin.  Wochenschr.  1888,  16;  Therapeutische  Monatshefte, 
1888,  Juli;  Cr  am  er,  Münchener  Mediz.  Wochenschr.  1888,  24;  Therapeutische 
Monatshefte,  1888,  8;  ebenda  1888,  24;  0 1 1 o,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie, 
XLV,  4;  Vorster,  ebenda,  XLII,  1;  Schedtler,  ebenda,  XL,  3 u.  4. 

***)  Schulz,  Neurol.  Centralblatt.  1896,  866;  Stokvis,  Zeitschr.  f.  kli- 
nische Medizin,  XXVIII,  1;  Hoppe-Seyler  u.  Ritter,  Münchener  Me- 
dizin. Wochenschr.,  XLIV,  14;  Frankel,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LIX,  9o3. 


Arzneimittel. 


403 


in  Anwendung  zu  bringen.  Am  besten  gibt  man  das  Mittel  1 2 

Stunden  vor  dem  Schlafengehen  in  grösseren  Mengen  heisser 
Flüssigkeit  (Thee,  Suppe)  gelöst. 

Vor  dem  Sulfonal  hat  das  Trional*)  den  Vorzug  etwas 
leichterer  Löslichkeit.  Es  wirkt  daher  schneller  und  nicht  ganz 
so  lange  nach,  doch  lässt  sich  sein  Einfluss  durch  ^feinere  Mes- 
sungen am  Abende  des  nächsten  Tages  noch  deutlich  nachweisen. 
Die  psychischen  Wirkungen  des  Trionals  bestehen  wesentlich  in 
einer  bedeutenden  Erschwerung  der  Auffassung  und  in  einer 
Störung  der  Bewegungsantriebe,  während  die  Vorstellungs- 
verbindungen und  die  Muskelkraft  nicht  beeinflusst  werden.  V iel- 
leicht  haben  wir  in  der  angeführten  Verbindung  von  Wirkungen 
eine  gemeinsame  Eigentümlichkeit  der  Schlafmittel  überhaupt  \oi 
uns;  manche  Erfahrungen  bei  den  schon  genauer  untersuchten 
Mitteln  würden  dafür  sprechen,  ebenso  die  Tatsache,  dass  auch 
das  beste  Schlafmittel,  die  Ermüdung  selbst,  die  Auffassung  wie 
die  Auslösung  von  Bewegungsantrieben  erschwert.  Der  Blutdruck 
wird  durch  das  Trional  herabgesetzt.  Die  Wirkung  des  Mittels 
ist  in  Gaben  von  1—2  gr  (in  heisser  Milch  oder  warmem  Rot- 
wein) eine  recht  sichere.  Die  unangenehmen  Folgeerscheinungen 
sind  verhältnismässig  geringe,  doch  scheinen  nicht  nur  Belästi- 
gungen des  Magens  und  Darms,  sondern  in  vereinzelten  Fällen 
auch  ernstere  Vergiftungen** ***))  vorzukommen,  über  deren  Zeichen 
(Ataxie,  Zittern,  Unbesinnlichkeit,  Depression,  Reizbarkeit,  Blut- 
zersetzung) allerdings  noch  wenig  bekannt  ist. 

Eine  ganze  Reihe  weiterer  Schlafmittel,  die  sich  im  ganzen 
wenig  bewährt  haben,  noch  zu  wenig  erprobt  oder  durch  andere, 
bessere  ersetzbar  sind,  sollen  nur  noch  kurz  erwähnt  werden. 
Dahin  gehört  das  schwach  wirkende  Urethan  (3  5 gr 

in  Pfeffermünzwasser),  das  leidlich  brauchbare  Hedonak  ■*) 


*)  Schäfer,  Berl.  Klin.  Wochenschr.  1892,  29;  Schul  fcze,  Thera- 
peutische Monatshefte,  1891,  Oktober;  Hänel,  Psychologische  Arbeiten,  H,  326; 
v.  Mering,  Therap.  Monatshefte,  1896,  August;  Kornfeld,  Wiener  Medi- 
zinische Blätter,  1898,  1. 

**)  Gier  lieh,  Neurol.  Centralblatt,  1896,  770;  Vogel,  Berliner  Klin. 
Wochenschr.,  1899,  40;  Fischer,  Trionalgebrauch  und  rationelle  Verwendung 
der  Schlafmittel.  1901. 

***)  Müller,  Münchener  Med.  Wochenschrift.  1901,  10. 


26* 


404 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


n 4 gr  in  Oblaten,  heisser  Milch  oder  Kognak)  und  V e r o n a 1*) 

(0,5 gr),  das  unzuverlässige  und  ätzende  Hy p non  (5  10 

Tropfen  mit  Spermacet  in  Gelatinekapseln),  das  Ural  (2—3  gr), 
das  Chloralamid  (2—3  gr),  das  Tetronal,  das  Somnal 
(4 — 6 gr),  I s o p r a 1 (0,5  gr),  die  Chloralose  (0,5  1 gr), 
endlich  das  Methylal,  das  zwar  den  Vorzug  der  subcutanen 
Anwendbarkeit  besitzt,  sich  aber  bisher  noch  keine  weitere  Ver- 
breitung in  der  Behandlung  der  Schlaflosigkeit  zu  erschallen 
vermocht  hat. 

Dagegen  haben  wir  als  eines  sehr  milden,  in  gesunden  wie 
krankhaften  Zuständen  häufig  genug  in  Anwendung  gezogenen 
Schlafmittels  endlich  noch  des  Alkohols  zu  gedenken.  In  nicht 
zu  kleinen,  beim  Einzelnen  natürlich  sehr  verschiedenen  Gaben 
(etwa  40—60  gr)  erzielt  er  dort,  wo  die  Schlaflosigkeit  durch 
erhöhte  Reizbarkeit  und  Übermüdung  des  Gehirns  bedingt  wird, 
nicht  selten  recht  befriedigende  Erfolge.  Auch  bei  Zuständen 
innerer  Spannung  und  Niedergeschlagenheit  werden  die  ei  leich- 
ternden und  beruhigenden  Wirkungen  des  Alkohols  den  Eintritt 
des  Schlafes  zu  unterstützen  geeignet  sein.  Bei  hysterischer, 
neurasthenischer,  bisweilen  auch  bei  der  Schlaflosigkeit  des 
Greisenalters  ist  daher  zunächst  ein  V ersuch  mit  diesem  Mit- 
tel am  Platze,  doch  ist  dabei  die  Gefahr-  einer  dauernden 
Gewöhnung  sehr  im  Auge  zu  behalten.  Man  kann  je  nach 
den  Neigungen  des  Kranken  die  Form  von  Bier,  Grog  oder 
Schlummerpunsch  wählen.  Ausgezeichnete  Dienste  leistet  der 
Alkohol  bisweilen  in  verwirrten  Erregungszuständen,  die  mit 
Nahrungsverweigerung,  schwerer  Unruhe  und  schwachem  Pulse 
einhergehen.  Hier  passen  stärkere  Lösungen,  wenn  nötig,  als 
Zusatz  zur  künstlichen  Fütterung. 

Sehr  heftige,  allen  anderen  Mitteln  "widerstehende  Auf- 
regungszustände, die  aus  irgend  einem  Grunde  0 eiletzungen, 
Notwendigkeit  eines  Eingriffes  und  dergl.)  rasche  Beruhigung 
verlangen,  können  gelegentlich  auch  zur  Anwendung  des  Chloro- 
forms führen.  Schwächere,  nervöse  Personen,  Hj^sterische, 
Trinker  sind  jedoch  davon  ausgeschlossen,  weil  bei  ihnen  der 
Zweck  einer  Beruhigung  nicht  erreicht  zu  werden  pflegt  und  die 


*)  w ü r t h , Psychiatr.  Wochenschr.  1903,  100. 


Arzneimittel. 


405 


Betäubung  nicht  selten  gefährlich  ist.  Weniger  bedenklich,  aber 
auch  weniger  wirksam  ist  der  Äther.  Eine  planmässige  An- 
wendung dieses  Mittels  bei  erregten  Kranken  ist  zwecklos,  da 
die  erzielte  Beruhigung  die  eigentliche  Betäubung  kaum  zu  über- 
dauern pflegt.  Auch  die  von  Berger  zur  Bekämpfung  von  Ei  - 
regungszuständen  empfohlene  Einatmung  von  Bromäthyl  (täg- 
lich 5 — 10  gr)  hat  wegen  des  unsicheren  Erfolges  und  des  ab- 
scheulichen Bromgestankes  keine  weitere  Verbreitung  gefunden. 

Eine  letzte  Gruppe  das  Gehirn  unmittelbar  beeinflussender 
Arzneimittel  wird  durch  die  Bromsalze  (Bromkalium,  -natrium, 
-ammonium,  -rubidium,  -Strontium)  gebildet.  Die  eigentliche  Wir- 
kungsweise derselben  ist  noch  recht  dunkel.  Umfassende,  bei  uns 
ausgeführte  Versuche*)  haben  gelehrt,  dass  der  Einfluss  des 
Broms  auf  psychische  Vorgänge  jedenfalls  ein  ungemein  scharf 
abgegrenzter  ist.  Entgegen  der  von  mir  gehegten  Erwartung 
scheint  der  Vorstellungsverlauf  wenig,  die  Auslösung  von  Wil- 
lenshandlungen gar  nicht  beeinflusst  zu  werden,  ebensowenig  der 
Ablauf  von  Muskelarbeit.  Dagegen  wird  die  Leistungsfähigkeit 
des  Gedächtnisses  entschieden  herabgesetzt.  Vor  allem  aber 
wurden  innere  Spannungszustände  gemildert  oder  beseitigt,  die 
im  Versuche  absichtlich  erzeugt  worden  waren.  An  diesem  Punkte 
scheint  die  noch  näher  aufzuklärende  psychische  Hauptwirkung 
des  Broms  zu  liegen.  Mit  diesem  Ergebnisse  steht  auch  in  all- 
gemeiner Übereinstimmung  die  Erfahrung,  dass  die  Bromsalze 
namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Epilepsie  und  Neura- 
sthenie sehr  wertvolle  Dienste  leisten.  Bei  der  Epilepsie  wirken 
sie  allerdings  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  nur 
während  der  Dauer  ihrer  Anwendung,  indem  sie  die  Zahl  und 
Stärke  der  Anfälle  verringern;  mit  dem  Aussetzen  des  Mittels 
pflegt  die  Krankheit  in  der  früheren  Heftigkeit,  bisweilen  sogar 
in  verstärktem  Masse,  wieder  hervorzutreten.  Der  Erfolg  wird 
öfters  mit  der  Sicherheit  des  wissenschaftlichen  Versuches  er- 
reicht; verhältnismässig  selten  bleibt  das  Leiden  gänzlich  un- 
beeinflusst. Ausserdem  gibt  es  indessen,  wie  ich  wiederholt  er- 
fahren, auch  vereinzelte  Fälle,  in  denen  eine  sehr  entschiedene 
und  sogar  gefahrdrohende  Verschlimmerung  und  Häufung  der 


*)  L ö w a 1 d , Psychologische  Arbeiten  I,  489. 


406 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


Anfälle  sich  einstellt;  schon  aus  diesem  Grunde  sollte  die  An- 
wendung der  Mittel  nicht  ohne  dauernde  ärztliche  Überwachung 
durchgeführt  werden.  Die  sorglose  Versendung  derselben  im 
grossen  an  beliebige  Laien,  wie  sie  von  der  Bielefelder  An- 
stalt aus  geschieht,  ist  jedenfalls  in  hohem  Masse  gefährlich. 

Sehr  ausgedehnte  Anwendung  finden  die  Bromsalze  1 einer 
bei  der  einfachen  Neurasthenie  und  der  sie  so  oft  begleiten- 
den „nervösen“  Schlaflosigkeit;  die  Beseitigung  der 
inneren  Spannung  genügt  hier  oft,  um  eine  dauernde  Beruhigung 
und  Erholung  zu  stände  kommen  zu  lassen.  Man  gibt  die  einzelnen 
Salze  oder  die  drei  erstgenannten  in  gleichem  Verhältnisse  ge- 
mischt (Er  lenm  ey  er  sches  Gemisch)  entweder  als  Schlaf- 
mittel in  einmaliger  voller  Gabe  (3 — 6 gr)  oder  aber  planmässig 
steigend  und  wieder  fallend  zu  2 — 6 gr  täglich  (Pulver  in 
Oblaten  oder  Lösung).  Eine  sehr  bequeme,  den  stark  salzigen 
Geschmack  verdeckende  Form  der  Anwendung  haben  wir  in  dem 
kohlensauren  Bromwasser  gewonnen,  welches  gewöhn- 
lich in  einer  Flasche  10  gr  Bromsalz  enthält.  Wo  die  Anfälle 
zu  bestimmten  Zeiten  (Menses)  hervorzutreten  pflegen,  wird  man 
zweckmässig  die  höchsten  Gaben  gerade  in  diesen  Abschnitt 
fallen  lassen,  um  während  der  Zwischenpausen  herunterzugehen 
und  womöglich  ganz  auszusetzen  (intermittierende  Anwendung). 
Grössere  Gaben  der  Bromsalze  können  nämlich  bei  längerer, 
ununterbrochener  Anwendung  schwere  Gehirnerscheinungen  her- 
vorrufen  (Abnahme  des  Gedächtnisses,  Unsicherheit  der  Bewe- 
gungen, Stumpfheit).  Das  Auftreten  von  Acneknötchen  und 
Furunkeln  sowie  starker  foetor  ex  ore  gibt  das  Zeichen  zur 
Unterbrechung;  sonst  folgen  Verdauungsstörungen,  fortschrei- 
tende Abmagerung,  Bronchitis  und  allmählich  die  übrigen  Er- 
scheinungen des  Bromismus.  Allerdings  hat  Fere  von  Kranken 
berichtet,  die  seit  Jahren  täglich  nicht  weniger  als  16—21  gr 
Brom  zu  sich  nehmen;  auf  diese  Weise  sollen  sogar  besondere 
Heilerfolge  erzielt  worden  sein.  Ich  würde  ein  derartiges  Vor- 
gehen keinesfalls  verantworten  mögen;  vielmehr  bin  ich  der 
Ansicht,  dass  auch  der  Gebrauch  mittlerer  und  kleinerer  Gaben 
nicht  länger  als  einige  Monate  lang  ohne  Unterbrechung  fort- 
gesetzt werden  sollte. 

Neuerdings  ist  statt  der  gebräuchlichen  Bromsalze  das 


Arzneimittel. 


407 


Bromäthylformin  („Bromalin“)  und  das  Bromsesamöl  („Bro- 
mipin“)  empfohlen  worden,  welche  weder  Furunkel  erzeugen 
noch  die  Verdauungsorgane  schädigen  sollen.  Die  Gabe  ist  dort 
die  doppelte,  hier  die  dreifache  der  übrigen  Bromsalze.  Das 
Bromipin,  das  auch  im  Klysma,  unter  Umständen  sogar  sub- 
cutan  verwendbar  ist,  scheint  sich  besser  zu  bewähren,  als  das 
Bromalin. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  Krampfanfälle  vermögen  die 
Bromsalze  auch  bisweilen  periodisch  auftretende  Aufregungs- 
zustände zu  unterdrücken,  namentlich  dann,  wenn  sie  mit  den 
Menses  in  Beziehung  stehen  und  von  kurzer  (1  2 wöchentlicher) 

Dauer  sind.  Der  Erfolg  tritt  nicht  überall,  in  einzelnen  Fällen 
aber  mit  grosser  Sicherheit  ein.  Von  Wichtigkeit  ist  hiei  na- 
mentlich die  rechtzeitige  Darreichung  bei  den  ersten  Anzeichen 
des  beginnenden  Anfalles,  dann  aber  die  Anwendung  sehr  grosser 
Gaben.  Man  gibt  12—15  gr  pro  die  eine  Reihe  von  Tagen 
hintereinander  und  geht  dann  langsam  herunter,  natürlich 
unter  beständiger  Überwachung  des  Zustandes,  im  Hinblicke 
auf  die  Gefahr  plötzlicher  Collapse  oder  bronchitischer  Er- 
krankungen. 

Die  Bedeutung  der  Blutversorgung  für  die  Entstehung  von 
Geistesstörungen  hat  auch  einigen  Mitteln  in  die  Behandlung  des 
Irreseins  Eingang  verschafft,  die  vorwiegend  auf  das  Herz  und 
die  Gefässe  wirken.  So  hat  man  das  Amy  lnitrit  wegen 
seines  auffallenden  Einflusses  auf  das  Gefässgebiet  des  Kopfes 
in  solchen  Zuständen  angewendet,  in  denen  man  einen  Gefäss- 
krampf  vermutete.  Leider  hat  das  Mittel  die  gehegten  Erwar- 
tungen  nicht  gerechtfertigt,  da  die  Wirkungen  selbst  im  gün- 
stigsten Falle  sehr  rasch  vorübergehen.  Ferner  kommt  der 
Digitalis,  namentlich  in  V erbindung  mit  Opium  oder  Mor- 
phium, nicht  selten  dort  eine  beruhigende  Wirkung  zu,  wo  Auf- 
regungszustände mit  unregelmässigem,  frequentem  Pulse  und 
Herzschwäche  einhergehen  (Herzfehler,  alte  Perikarditis  u.  s.  f.). 
Wichtiger  freilich  noch  wären  Mittel,  welche  die  Beschaff 
fenheit  des  Blutes  zu  verbessern  vermöchten.  Bis  heute 
haben  wir  von  solchen  nur  djas  Thyreoidin  zu  nennen,  welches 
sich  durch  seine  geradezu  zauberhafte  Wirkung  auf  das  Myxödem 
und  den  Kretinismus  rasch  so  grossen  Ruf  verschafft  hat.  Bei 


408 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


anderen  psychischen  Störungen  sind  die  Erfolge  des  nicht  un- 
gefährlichen Mittels  bis  jetzt  zweifelhaft  geblieben.  Ich  wenig- 
stens habe  trotz  sehr  ausgedehnter  Versuche  keine  ermutigenden 
Ergebnisse  zu  verzeichnen*);  höchstens  beobachtet  man  einige 
verkleinernde  Wirkung  auf  manche  Kröpfe.  Die  psychischen  Zu- 
stände werden  nicht  entscheidend  beeinflusst,  vielleicht  bis- 
weilen etwas  verschlechtert  (Aufregungen),  doch  lassen  sich  hier 
Zufälligkeiten  zu  schwer  ausscheiden. 

Brauchbare  Erfahrungen  über  die  Behandlung  mit  anderen 
Organbestandteilen  liegen  auf  dem  Gebiete  der  Geistesstö- 
rungen bis  jetzt  nicht  vor;  versucht  worden  ist  die  Darreichung 
von  Kuheierstöcken  bei  Frauen  und  von  Nebennierenextrakc. 
Dagegen  sollen  an  dieser  Stelle  kurz  die  Bestrebungen  V ag- 
il er  s**)  erwähnt  'werden,  durch  künstlich  erzeugtes  Fieber 
Besserung  oder  Heilung  von  Geistesstörungen  zu  erreichen.  Die 
Versuche  knüpfen  an  die  Erfahrung  an,  dass  bisweilen  Psychosen 
durch  zufällige  fieberhafte  Erkrankungen,  namentlich  das  Ery- 
sipel, auffallend  günstig  beeinflusst  werden.  Um  diese  gelegent- 
lichen Erfahrungen  planmässig  nachzuahmen,  wurden  an  einer 
grösseren  Reihe  von  Kranken  Einspritzungen  mit  fiebererregen- 
den Toxinen,  vor  allem  mit  Tuberculin,  vorgenommen.  Meistens 
soll  es  sich  um  Amentia  gehandelt  haben.  Die  Erfolge  schienen 
einigermassen  ermutigend.  Allerdings  werden  alle  derartigen 
Versuche  wenig  Beweiskraft  haben,  so  lange  wir  über  die  Auf- 
fassung der  behandelten  Psychosen  und  besonders  über  ihren 
mutmasslichen  Weiteren  Verlauf  noch  so  im  unklaren  sind  wie 
heute.  Dasselbe  dürfte  von  den  neuesten  Bemühungen  Bins- 
w a n g e r s und  seines  Schülers  Friedländer  gelten,  „Er- 
schöpfungspsychosen“ durch  Bakteriengifte  (abgetötete  Bouil- 
lonkulturen von  Bakterium  coli  und  Typhusbazillen)  zu  heilen, 
ebenso  von  Albertottis  Vorschlag,  durch  Einspritzungen  von 
Terpentinöl  Abscesse  und  Fieber  zur  günstigen  Beeinflussung  gei- 
stiger Störungen  zu  erzeugen.  Er  erinnert  an  die  einst  so  be- 
liebten ableitenden  Mittel  (Blasenpflaster,  Unguentum 
tartari  stibiati,  Drastica),  die  jetzt  fast  völlig  veraltet  sind. 
Wenn  es  richtig  ist,  dass  bei  der  Paralyse  langdauernde,  starke 

*)  Amaldi,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXIII,  311. 

**)  B o e c k , Jahrbücher  für  Psychiatrie,  XIV,  1 und  2. 


Operative  Eingriffe. 


409 


Eiterungen  überraschende  Besserungen  bringen  können,  feiern 
sie  vielleicht  noch  einmal  ihre  Wiederauferstehung. 

Operative  Eingriffe.  Der  Spielraum  für  operative  Eingriffe*), 
soweit  es  sich  nicht  um  zufällige  Begleitstörungen  handelt,  ist 
bei  Geisteskranken  aus  naheliegenden  Gründen  kein  sehr  grosser. 
Immerhin  werden  sie  dort  in  Betracht  kommen,  wo  etwa  die 
Ursache  des  Irreseins  der  Hand  des  Chirurgen  zugänglich  ist.  Das 
ist  vor  allem  der  Fall  bei  den  Geistesstörungen  nach  Schädel- 
verletzungen, bei  Geschwülsten  und  Abscessen  im  Gehirn,  soweit 
sie  erreichbar  sind.  Dagegen  dürfte  der  Lumbalpunktion**)  mehr 
Wert  für  die  Erkennung,  als  für  die  Beseitigung  von  Krankheits- 
zuständen zukommen.  Als  völlig  verfehlt  hat  sich  die  Kraniek- 
tomie  bei  Idioten  erwiesen.  Ob  es  der  Durchschneidung  des 
Sympathicus  bei  Epilepsie  wesentlich  besser  ergeht,  steht  dahin. 
Eher  kann  man  noch  gewisse  Hoffnungen  an  die  Beseitigung  von 
Einknickungen  des  Schädels  oder  Knochennarben  bei  Epileptikern 
knüpfen;  leider  ist  der  Erfolg  häufig  genug  nur  ein  vorüber- 
gehender. 

Ein  grosses  Gewicht  hat  man  oft  auf  die  operative  Beseitigung 
von  Erkrankungen  der  weiblichen  Geschlechtsorgane  gelegt.  So 
sind  von  H o b b s Eierstocks-  und  Gebärmutterleiden,  Lageverän- 
derungen, Geschwülste,  alte  Dammrisse  bei  weiblichen  Geistes- 
kranken in  grosser  Zahl  behandelt  worden.  Seine  Erfolge  waren 
erstaunliche,  eine  Zunahme  der  Heilungen  bei  den  Frauen  um 
15  %.  Leider  scheinen  die  Bedingungen  anderswo  nicht  so  gün- 
stig zu  liegen.  Wir  sehen  nach  gynäkologischen  Operationen 
zwar  auch  hie  und  da  eine  Besserung,  meist  jedoch  gar  keine 
wesentliche  Änderung,  bisweilen  aber  auch  Verschlimmerung  des 
psychischen  Zustandes.  Ich  kann  daher  nur  raten,  solche  Ein- 
griffe auf  diejenigen  Fälle  zu  beschränken,  in  denen  sie  der 
körperliche  Zustand  erforderlich  macht,  die  Hoffnungen  auf  eine 
günstige  Beeinflussung  des  Irreseins  aber  nicht  zu  hoch  zu  spannen. 
In  dieser  Beziehung  sind  namentlich  auch  die  Erfahrungen  über 
die  Heilung  der  Hysterie  durch  Ausschneidung  der  Eierstöcke, 
Brennen  der  Clitoris  und  ähnliche  Massnahmen  lehrreich.  So  viele 
Ovarien  auch  der  lockenden  Aussicht,  mit  einem  Schlage  gesund 

*)  Picque  et  Dagonet,  Chirurgie  des  alienes,  I.  1901. 

**)  D e v a u x , Centralbl.  f.  Psychiatrie  XXVI,  384,  1903. 


410 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


zu  werden,  zum  Opfer  gefallen  sind,  so  unbefriedigend  war  das 
Ende,  weil  die  Behandlung  das  Wesen  des  Leidens  völlig  ver- 
kannt hatte. 

Das  Auftreten  von  Geistesstörungen  in  der  Schwangerschaft 
musste  den  Gedanken  nahe  legen,  eine  Genesung  durch  Abkürzung 
oder  Unterbrechung  derselben  herbeizuführen.  Indessen  die  Er- 
fahrung lehrt,  dass  die  Geburt  selbst  in  der  Regel  keinen  gün- 
stigen Einfluss  auf  den  Verlauf  des  Irreseins  ausübt.  Dement- 
sprechend habe  ich  auch  nach  der  Einleitung  des  Abortes  oder 
der  künstlichen  Frühgeburt,  die  mir  einige  Male  vorgekommen 
ist,  niemals  einen  Heilerfolg  feststellen  können.  Im  Gegenteil 
dauerte  die  Störung  ganz  unverändert  oder  sogar  in  verstärkter 
Form  weiter.  Berücksichtigen  wir  ausserdem,  dass  häufig  genug 
geistige  Erkrankungen  gerade  im  Wochenbette  oder  nach  einem 
Aborte  einsetzen,  so  werden  wir  uns  schwerlich  dazu  entschliessen 
können,  beim  Irresein  in  der  Schwangerschaft  einen  Eingriff  zu 
empfehlen,  zumal  öfters  auch  die  anfänglich  auftretenden  Stö- 
rungen sich  nach  einigen  Monaten  ganz  von  selbst  wieder  ver- 
lieren. Ich  kann  mich  daher  der  Ansicht  J o 1 1 y s *)  keinesfalls 
anschliessen,  dass  Melancholie  die  Anzeige  zur  Einleitung  des 
Abortes  bilden  könne.  Die  „Melancholien“  der  Schwangerschaft- 
sind fast  ausnahmslos  cirkuläre  oder  katatonische  Depressions- 
zustände, die  ihren  gesetzmässigen  Verlauf  und  Ausgang  nehmen. 
Die  Rücksicht  darauf,  dass  man  einer  Kranken  vielleicht  die  ^ er- 
bringung  in  die  Anstalt  ersparen  könne,  dürfte  übrigens  auch 
dann  nicht  in  dieser  Frage  massgebend  sein,  wenn  man  von  dem 
Eingriffe  wirklich  Erfolg  erwarten  dürfte. 

Hie  und  da  werden  Fälle  berichtet,  in  denen  durch  Ohren- 
operationen, Entfernung  cariöser  Zähne,  Anbohrung  der  Ober- 
kieferhöhle, Ausbrennen  der  Nase  Besserung  psychischer  Stö- 
rungen bewirkt  wurde.  Bei  Kindern  stellt  sich  nach  Entfernung 
von  Wucherungen  aus  dem  Nasenrachenraume  öfters  eine  ganz 
überraschende  Besserung  ihres  Geisteszustandes  ein,  schnelles 
Schwinden  ihres  halb  stumpfen,  halb  reizbaren  Wesens,  ihrer  Un- 
aufmerksamkeit und  Vergesslichkeit.  Teilweise  Ausschneidung  der 
Schilddrüse  kann  für  das  Irresein  bei  Basedow  scher  Krank- 


*)  J o 1 1 y , Centralblatt  für  Psychiatrie.  1901,  684. 


Physikalische  Heilmethoden. 


411 


heit  in  Frage  kommen.  Endlich  werden  wir  noch  kurz  der  Blut- 
entziehungen zu  gedenken  haben,  die  früher  das  Hauptmittel  bei 
Erregungszuständen  bildeten,  während  sie  jetzt  durch  unsere'  vei- 
änderten  Anschauungen  über  die  Entstehungsursachen  des  Iire- 
seins  ganz  verdrängt  worden  sind. 

Dagegen  spielen  die  Infusionen  unter  die'  Haut  eine  nicht  un- 
wichtige Rolle.  Das  Verfahren  ist  das  gewöhnliche:  5—700  gr 
0,5  prozentiger,  auf  37 — 39°  C.  erwärmter,  sterilisierter  Koch- 
salzlösung oder  isotonischer  Flüssigkeit*)  lässt  man  unter  ge- 
ringem Druck  mittels  Hohlnadel  oder  Troikart  in  die  subcutanen 
Lymphräume  oinfliessen.  Meist  sind  zwei  Einstiche  (Brust,  Rücken, 
Oberschenkel)  erforderlich,  die  jedoch  auch  mehrmals  wiederholt 
werden  können;  die  Geschwulst  wird  durch  vorsichtiges  Kneten 
verteilt.  Wir  greifen  zu  Kochsalzinfusionen  vor  allem  bei  sehr 
entkräfteten  Kranken  mit  Versagen  der  Herztätigkeit  ziemlich 
häufig  mit  vortrefflichem  Erfolge;  neuerdings  sind  auch  Ölinfu- 
sionen zur  Ernährung  bei  Kranken  mit  Nahrungsverweigerung  in 
Anwendung  gezogen  worden.  Französische  Forscher  haben  Koch- 
salzinfusionen mit  Brombeimischung  bei  Epileptikern,  mit  Jod- 
zusatz bei  Paralytikern  ins  Auge  gefasst. 

Physikalische  Heilmethoden.  Unter  den  physikalischen  Heil- 
verfahren, die  in  die  irrenärztliche  Tätigkeit  Eingang  gefunden 
haben,  steht  obenan  die  Wasserbehandlung,  insonderheit 
die  Anwendung  der  Bäder.  Zwar  sind  die  barbarischen  Douchen 
und  die  kalten  Sturzbäder,  wie  sie  früher  als  „revulsive“  Mittel 
beliebt  waren,  lange  ausser  Gebrauch  gekommen.  Dagegen  haben 
im  Laufe  der  letzten  Jahre  die  warmen  Bäder  **)  in  der  Behandlung 
der  Geisteskranken  eine  ausserordentliche  Verbreitung  gewonnen 
und  geradezu  eine  Umwälzung  im  Betriebe  der  unruhigen  Ab- 
teilungen herbeigeführt.  Die  beruhigende  Wirkung  warmer  Bäder 
von  34—35°  C.  ist  seit  alter  Zeit  bekannt.  Sie  wurden  zur  Er- 
zielung des  Schlafes  bei  Nervosität,  Hysterie,  leichten  Verstim- 
mungs-  und  Angstzuständen  abends  1 — 2 Stunden  lang  angewendet 

*)  Donath,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LX,  583,  1903;  Wickel, 
Psychiatr.  Wochenschr.  1903,  181. 

**)  Thomsen,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LV,  721;  B e y e r , Central- 
blatt f.  Psychiatrie.  1899,  Januar;  Kraepelin,  ebenda  1901,  Dezember; 
Alter,  ebenda  1903,  März;  Würth,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LIX,  676. 


412 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


und  mit  einer  kühlen  Überrieselung  und  Abreibung  abgeschlossen. 
Auch  bei  erregten  Kranken  sind  diese  verlängerten  Bäder  von 
jeher  mit  gutem  Erfolge  in  Gebrauch  gewesen;  hier  pflegte  man 
sie  wohl  mit  kalten  Umschlägen  oder  der  Anwendung  des  Eis- 
beutels auf  den  Kopf  zu  verbinden.  Dagegen  bestand  eine  weit 
verbreitete  Scheu  vor  einer  längeren  Ausdehnung  der  Wasser- 
behandlung, von  der  man  vor  allem  ungünstige  Wirkungen  auf 
das  Herz  fürchtete. 

In  einzelnen  Fällen  haben  jedoch  schon  die  alten  französi- 
schen Irrenärzte  erregte  Kranke  mehrere  Tage  und  selbst  wochen- 
lang im  warmen  Bade  behandelt.  Trotz  der  günstigen  Erfolge 
hat  sich  dieses  Verfahren  nur  sehr  allmählich  eingebürgert,  offen- 
bar hauptsächlich  deswegen,  weil  der  ganze  Anstaltsbetrieb  dafür 
noch  nicht  reif  war.  Erst  mit  der  Beseitigung  aller  Zwangs- 
mittel, der  Einrichtung  von  Wachabteilungen  und  dem  Bestreben, 
der  Irrenanstalt  immer  mehr  den  Stempel  des  Krankenhauses 
aufzudrücken,  wurde  die  Badebehandlung  allmählich  in  immer 
grösserem  Umfange  angewendet,  da  sich  herausstellte,  dass  sie 
ausserordentlich  wohltätig  wirkte,  ohne  von  nennenswerten  Nach- 
teilen begleitet  zu  sein.  In  Deutschland  wurde  sie  namentlich 
von  Scholz  warm  empfohlen  und  viel  geübt.  Allerdings  ver- 
schloss er  die  Wannen  mit  Segeltuchdeckeln,  aus  denen  nur  der 
Kopf  der  Kranken  heraussah;  anderwärts  waren  Holzdeckel  in 
Gebrauch.  In  diesen  Bädern  blieben  die  Kranken  viele  Stunden, 
auch  ganze  Tage. 

Meine  eigenen  Erfahrungen  über  „Dauerbäder“  reichen  etwa 
1V2  Jahrzehnte  zurück.  Die  Beobachtung,  dass  verwirrte,  sehr  her- 
untergekommene Kranke  im  Bade  bald  anfingen,  sich  zu  beruhigen, 
Nahrung  zu  sich  zu  nehmen  und  einzuschlafen,  veranlasste  mich, 
hie  und  da  die  Bäder  über  mehrere  Tage  auszudehnen;  nachts 
kamen  die  Kranken  wieder  ins  Bett.  Da  die  anfangs  gefürchteten 
bedrohlichen  Zufälle  gänzlich  ausblieben,  habe  ich  das  Verfahren 
immer  weiter  ausgebildet  und  bin  endlich  dazu  geschritten,  die 
Bäder  auch  des  Nachts  fortzusetzen,  da  der  grelle  Unterschied 
in  dem  Abteilungsbetriebe  am  Tage  und  in  der  Nacht  von  selbst 
dazu  drängte.  So  kam  es,  dass  einzelne  Kranke  viele  Monate  lang 
ohne  jede  Unterbrechung  im  warmen  Wasser  zubrachten.  Frei- 
lich mussten  zur  Durchführung  dieser  Massregel  erst  besondere 


Physikalische  Heilmethoden. 


413 


Einrichtungen  geschaffen  werden.  Es  wurden  in  möglichst  un- 
mittelbarer Verbindung  mit  den  Wachsälen  helle,  behagliche  Bade- 
säle mit  englischen  Steingutwannen  hergestellt,  denen  jederzeit 
reichliches  warmes  Wasser  zur  Verfügung  stand;  sodann  musste 
für  ausreichende  Überwachung  der  Kranken  bei  Tag  und  bei  Nacht 
Sorge  getragen  werden.  Endlich  aber  wurde  den  Kranken  duich 
kleine  Tischchen,  durch  Luftkissen  zum  Auflegen  des  Kopfes, 
durch  gespannte  Tücher  zur  bequemeren  Lagerung  der  Aufenthalt 
im  Bade,  das  Essen  und  Schlafen  in  demselben  nach  Möglichkeit 
angenehm  gemacht. 

Die  Wirkungen  dieser  ganzen  Massregeln  sind  äusserst  be- 
friedigende gewesen.  Es  hat  sich  unzweifelhaft  ergeben,  dass 
die  Behandlung  erregter  Kranker  im  warmen  Dauerbade  jedem 
anderen  bisher  bekannten  V erfahren  unvergleichlich  über- 
legen ist.  Namentlich  manische  und  paralytische,  aber  auch 
katatonische  Erregungszustände,  ebenso  das  Delirium  tremens, 
eignen  sich  vorzüglich  dafür;  weniger  trifft  das  für  die  ängstlichen 
Erregungen  der  Epileptiker  und  Melancholischen  zu,  doch  hat  uns 
auch  hier  das  Bad  oft  sehr  gute  Dienste  geleistet.  Alle  diese 
Kranken  werden  im  Bade  ruhiger,  essen  und  schlafen  besser,  sind 
weniger  in  Gefahr,  sich  zu  verletzen.  Da  keinerlei  Gewalt  gegen 
sie  angewendet  wird  und  das  warme  Wasser  für  sie  ein  behag- 
licher, ihre  Freiheit  nicht  beengender  Aufenthalt  ist,  den  sie 
schon  wegen  des  rasch  auftretenden  Frostgefühls  nur  ungern 
verlassen,  geraten  die  Kranken  mit  ihrer  Umgebung  nicht  in 
Zwiespalt  und  werden  weit  weniger  gereizt  und  gewalttätig. 
Zerreissen  und  Zerstören  fällt  ganz  fort;  höchstens  können  die 
Frauen  die  Badehemden  zerschlitzen,  die  man  ihnen  gibt,  falls 
sie  dieselben  nicht  verschmähen.  Ebenso  ist  der  Unreinlichkeit 
auf  die  einfachste  Weise  ein  Ziel  gesetzt,  da  es  ein  leichtes  ist, 
das  schmutzige  Badewasser  zu  erneuern. 

Auf  diese  Weise  sind  eine  Reihe-  der  widerwärtigsten  übel- 
stände aus  dem  Anstaltsbetriebe  mit  einem  Schlage  beseitigt  oder 
doch  bis  auf  ein  sehr  bescheidenes  Mass  gemildert.  Es  gibt  kein 
Schmieren  und  planmässiges  Zerstören  mehr,  keine  unzerreissbaren 
Kleider,  keine  Schraubenschuhe  oder  festen  Strohsäcke;  auch  das 
hässliche  Blechgeschirr,  die  Schüsseln  und  Nachtgeschirre  aus 
Pappe  und  Gummi  können  getrost  abgeschafft  werden.  Die  Isolie- 


414 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


rungen  haben  trotz  sehr  ungünstiger  Belegungsverhältnisse  voll- 
kommen aufgehört.  Endlich  aber  hat  der  gesamte  Geist  der 
Behandlung  entschieden  gewonnen.  Kranke  wie  härter  erblicken 
in  der  Anwendung  des  Bades  nicht,  wie  so  leicht  in  der  Isolierung, 
eine  Strafe,  sondern  eine  wohltätige  ärztliche  Massregel.  E.^ 
fällt  demnach  ein  sehr  grosser  Teil  der  Kämpfe  fort,  die  sonst 
dem  erregten  Kranken  oft  nicht  erspart  werden  konnten,  um 
ihn  und  seine  Umgebung  zu  schützen.  Insbesondere  aber  sieht 
der  Wärter  deutlich  die  beruhigende  Wirkung  des  Bades  und  wird 
dadurch  unmerklich  weit  rascher  zu  einer  richtigen  Auffassung 
der  Erregungszustände  gebracht,  als  es  durch  die  Belehrung  allein 
jemals  gelingen  kann. 

Wie  die  beruhigende  Wirkung  der  Dauerbäder  zu  stände 
kommt,  bedarf  noch  weiterer  Untersuchung.  Jedenfalls  spielt 
dabei  die  Erweiterung  der  Hautgefässe  und  das  Sinken  des  Blui- 
druckes  wohl  eine  gewisse  Rolle.  Ich  möchte  aber  auch  die 
psychischen  Wirkungen  nicht  gering  schätzen,  die  behagliche 
Wärme  des  umgebenden  Wassers,  die  Abwesenheit  aller  beengen- 
den Kleidungsstücke,  die  völlige  Freiheit  der  Bewegung,  das  For  i- 
fallen  der  Reibungen  mit  der  Umgebung,  die  unausgesetzte  Über- 
wachung. 

Die  Übelstände  der  Dauerbäder  treten  gegenüber  ihren  \ or- 
zügen  sehr  in  den  Hintergrund.  Zunächst  sind  sie  ziemlich  kost- 
spielig, da  sie  nicht  nur  gute  Anlagen,  sondern  auch  viel  warmes 
Wasser  und  ausreichendes  Personal  erfordern.  Wieweit  der  Mehr- 
aufwand durch  die  Verminderung  der  Kosten  für  Reinigung  und 
Ersatz  des  Zerstörten  ausgeglichen  wird,  hängt  wohl  von  örtlichen 
Bedingungen  ab.  Sodann  entwickeln  sich  in  der  quellenden  Ober- 
haut leicht  übertragbare  Hautkrankheiten,  die  durch  Pilzwuche- 
rungen (Trichophytonarten)  erzeugt  werden.  Vorbeugend  wirkt 
Einreiben  der  Haut  mit  Vaselin.  Rechtzeitiges  Pinseln  der  be- 
fallenen Stellen  mit  Jodtinktur  oder  Resorcinlösung  beseitigt 
diese  übrigens  harmlosen  Ansiedelungen  sofort.  Bedenklichei 
ist  es,  dass  alte  Ohreneiterungen  sich  im  Bade  anscheinend  leicht 
verschlimmern;  in  solchen  Fällen  ist  daher  \orsicht  geboten. 
Während  der  Menses  können  die  Bäder  unbedenklich  fortgesetzt 
werden. 

Die  Kranken  durch  irgendwelche  Anwendung  von  Gewalt  im 


Physikalische  Heilmethoden. 


415 


Bade  festzuhalten,  ist,  wie  ich  glaube,  verfehlt,  weil  dadurch 
der  wesentliche  Zweck  des  Bades,  die  Beruhigung,  vereitelt  wird. 
Man  lässt  daher  die  zahlreichen  Kranken,  die  nicht  im  Bade  bleiben 
wollen,  zunächst  ruhig  gewähren,  erneuert  aber  den  Versuch,  sie 
ins  Bad  zu  bringen,  in  kurzen  Pausen  immer  wieder.  Man  wird  dann 
in  der  Regel  sehen,  dass  der  Kranke  sich  an  die  neue  Massregel  ge- 
wöhnt. Erleichtert  wird  das  durch  die  anfängliche  Anwendung 
von  Sulfonal  oder  Hyoscin,  im  schlimmsten  Falle  durch  vorher- 
gehende feuchte  Einpackungen,  die  hei  einiger  Geduld  immer 
zum  Ziele  führen.  Ist  aber  ein  Kranker  einmal  einige  Stunden  im 
Bade  geblieben,  so  ist  damit  in  der  Regel  sein  Widerstreben 
dauernd  geschwunden;  man  erreicht  nun  fast  immer  ganz  leicht, 
was  anfangs  schier  unmöglich  schien. 

Besondere  Vorteile  bieten  die  Dauerbäder  noch  bei  sehr 
schwachen  oder  gelähmten  Kranken,  die  man  am  besten  auf 
durchgespannte  Tücher  legt,  unter  Umständen  mit  Stopf kissen  von 
nicht  entfetteter  Watte.  Die  Verringerung  des  Körperdruckes 
und  die  Möglichkeit  peinlichster  Sauberhaltung  verhütet  auch  in 
den  schwierigsten  Fällen  das  Durchliegen  und  erleichtert  dadurch 
die  gesamte  Pflege  ausserordentlich. 

Am  häufigsten  stösst  die  Durchführung  der  Badebehandlung 
auf  Schwierigkeiten  in  katatonischen  Erregungszuständen.  Glück- 
licherweise steht  uns  hier  ein  Mittel  zu  Gebote,  welches  eine  vor- 
zügliche Ergänzung  der  Dauerbäder  bildet,  die  feuchtwarmen 
Ein  Wicklungen.  Ein  in  warmes  Wasser  getauchtes,  leicht 
ausgerungenes  Leintuch  wird  um  den  ganzen  Körper  bis  zum 
Halse  gelegt  und  dann  eine  grosse  Wolldecke  mässig  fest 
herumgewickelt.  In  dieser  Packung,  die  durch  einige  Sicherheits- 
nadeln befestigt  wird,  bleiben  die  Kranken  zwei  Stunden.  Zu 
einer  längeren  Ausdehnung  des  Verfahrens  kann  ich  mich  nicht 
entschliessen,  da  einerseits  die  Gefahr  der  Wärmestauung  be- 
steht, andererseits  grundsätzlich  jeder  Anschein  einer  beabsich- 
tigten körperlichen  Beschränkung  vermieden  werden  sollte.  Aus 
beiden  Gründen  lasse  ich  Kranke,  die  dauernd  widerstreben,  nach 
kurzer  Zeit  wieder  aus  der  Wicklung  befreien,  allerdings,  um 
später  den  Versuch  zu  wiederholen.  In  der  Regel  sträuben  sich 
jedoch  gerade  die  erregten  Katatoniker  höchstens  bei  der  Aus- 
führung der  Einpackung,  um  nachher  ganz  überraschend  still  zu 


416 


V.  Behandlung  des  Irreseins. 


liegen.  Meist  hält  die  Beruhigung  so  lange  an,  dass  es  nachher 
gelingt,  die  Kranken  für  einige  Zeit  im  Bade  zu  halten.  Versagt 
diese  Massregel,  so  wird  von  neuem  zur  Wicklung  gegriffen. 

Von  den  sonstigen  Formen  der  Wasserbehandlung  empfehlen 
sich  sanfte  Regendouchen,  kalte  Abreibungen  für  nervöse  und 
hysterische  Kranke,  besonders  auch  für  Onanisten,  bei  denen  noch 
kalte  Sitzbäder  hinzugefügt  werden.  Bei  Neigung  zu  Blutwal- 
lungen nach  dem  Kopfe  vermögen  Packungen  der  Füsse  oder 
Senffussbäder  bisweilen  einen  schlafmachenden  Einfluss  auszuüben. 
Auch  die  örtliche  Anwendung  der  Kälte  am  Kopfe  in  der  Form 
des  Eisbeutels  ist  noch  vielfach  im  Gebrauch.  Die  Einfachheit  und 
Volkstümlichkeit  dieser  Massregel  spricht  entschieden  zu  ihren 
Gunsten,  wenn  man  auch  gerade  in  der  Psychiatrie  vielleicht 
häufiger  von  ihrem  psychischen  (Zwang  der  Bettlage),  als  von 
dem  physikalischen  Einflüsse  Erfolg  hoffen  darf. 

Verhältnismässig  beschränkte  Anwendung  hat  die  Elektro- 
therapie*) in  der  Behandlung  der  Geisteskrankheiten  gefun- 
den. Die  vorliegenden  Erfahrungen  sind  daher  sehr  lückenhaft 
und  kaum  zur  Aufstellung  allgemeiner  Grundsätze  geeignet.  Der 
faradische  Strom  scheint  vorzugsweise  als  Erregungs- 
mittel zu  wirken.  Demgegenüber  erwartet  man  von  der  Gal- 
vanisation des  Rückenmarkes,  des  Sympathicus,  des  Gehirns 
(schwache  Ströme,  kurze  Sitzungen,  grosse  Elektroden,  Leitung 
längs  oder  schräg  durch  den  Kopf)  namentlich  eine  „kataly- 
tische“ Einwirkung  auf  die  feineren  Vorgänge  im  Nervengewebe 
und  einen  Einfluss  auf  das  Gefässsystem.  Man  hat  daher  vor- 
geschlagen, bei  Zuständen  mit  erhöhter  nervöser  Reizbarkeit,  Ge- 
fässkrampf  und  dergleichen  die  Anode  (absteigende  Ströme), 
bei  bestehenden  Lähmungserscheinungen,  Stauungen,  Ödemen  da- 
gegen die  Kathode  (aufsteigende  Ströme)  auf  Hirn  und  Rücken- 
mark einwirken  zu  lassen. 

Im  allgemeinen  werden  es  natürlich  vorzugsweise  die  mit 
nervösen  Beschwerden  einhergehenden  Fälle  sein,  in  denen  man 
von  der  elektrischen  Behandlung  Erfolg  hoffen  darf.  Hier  mag 


*)  Arndt,  Archiv  f.  Psychiatrie,  II;  Allgemeine  Zeitschr.  f.  Tsych., 
XXVIII,  XXXIV;  Erb,  Elektrotherapie,  II,  2.  Aufl.  1886;  Tigges,  Allgem. 
Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  XL,  543. 


Diätetische  Massregeln. 


417 


es  bisweilen  gelingen,  durch  Beseitigung  peripherer  Reizursachen, 
durch  Herabsetzung  der  Erregbarkeit  zu  nützen.  Hysterische 
Dämmerzustände  werden  unter  Umständen  durch  planmässige  Fa- 
radisation  günstig  beeinflusst;  es  empfiehlt  sich  die  Anwendung 
stärkerer  Ströme  an  verschiedenen  Stellen  der  Körperoberfläche 
oder  die  allgemeine  Faradisation.  Galvanisation  und  Faradisation 
des  Kopfes  (elektrische  Hand)  können  wegen  ihrer  hypnotischen 
Wirkung  auch  zur  Bekämpfung  der  Schlaflosigkeit  gelegentlich 
in  Anwendung  gezogen  werden.  Die  besten  Dienste  leistet  die 
elektrische  Behandlung  (Galvanisation  des  Kopfes,  allgemeine  Fa- 
radisation mit  der  Rolle,  elektrische  Bäder)  unzweifelhaft  bei 
hysterischen  und  neurasthenischen  Kranken.  Gerade  hier  aber 
wird  die  Ausscheidung  des  sicherlich  nicht  geringen  Anteils,  wel- 
cher dem  psychischen  Einflüsse  des  Verfahrens  zugeschrieben  wer- 
den muss,  vollkommen  undurchführbar. 

Die  zeitgemässeste  unter  den  physikalischen  Heilmethoden, 
die  Massage,  hat  sich  ebenfalls  nur  ein  kleines  Gebiet  der 
irrenärztlichen  Tätigkeit  zu  erobern  vermocht,  das  sie  zudem  noch 
mit  der  Elektrizität  bis  zu  einem  gewissen  Grade  teilen  muss.  Bei 
der  grossen  Mehrzahl  der  Geistesstörungen  passt  die  Massage 
nur  dort,  wo  eine  selbständige  körperliche  Anzeige  für  sie  vor- 
liegt. In  gewissen  Formen  des  hysterischen  und  neurasthenischen 
Irreseins  indessen,  sowie  nach  manchen  Erschöpfungs-  und  De- 
pressionszuständen vermag  die  Massage,  am  besten  in  Verbindung 
mit  der  allgemeinen  Faradisation,  durch  Kräftigung  der  Musku- 
latur und  Anregung  des  Stoffwechsels  oft  recht  schätzbare  Dienste 
zu  leisten.  Ihre  Rolle  in  der  sogenannten  Mastkur  wird  weiter 
unten  Erwähnung  finden. 

Diätetische  Massregeln.  Zwar  von  langsamerer  und  weniger 
durchgreifender,  aber  darum  nicht  weniger  wertvoller  Wirkung, 
als  die  aufgeführten  Arzneien  und  Heilverfahren,  sind  jene  all- 
gemeinen diätetischen  Massregeln,  die  keinem  besonderen  Behand- 
lungszwecke dienen,  sondern  die  Befriedigung  der  täglichen 
Lebensbedürfnisse  zum  Ziele  haben.  Obenan  steht  die  Sorge  für 
eine  passende  Ernährung.  J eder  Geisteskranke,  auch  der 
anscheinend  „Vollblütige“,  bedarf  einer  regelmässigen,  gut  be- 
messenen Zufuhr  kräftiger  Nahrungsmittel,  die  nicht  selten  den 
wichtigsten  Punkt  des  Behandlungsplanes  bildet.  Durchaus  in 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufi.  27 


418 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


den  Vordergrund  tritt  diese  Rücksicht,  wo  schwächende  Ursachen, 
Wochenbett,  Blutverluste,  fieberhafte  Krankheiten  der  geistigen 
Störung  vorausgegangen  sind,  und  wo  Wage  und  körperliche 
Untersuchung  gesunkene  Ernährung,  Blutleere,  Schwäche,  Ab- 
magerung erkennen  lassen.  Namentlich  ist  es  von  Wichtigkeit, 
schon  im  Anfänge  des  Leidens,  wo  der  Kranke,  von  lebhaften 
Gemütsbewegungen  beherrscht  und  ohne  Esslust,  die  Nahrungs- 
aufnahme vernachlässigt,  auf  ein  regelmässiges  Einhalten  der 
Mahlzeiten  zu  achten  und  jeder  beginnenden  Verdauungsstörung 
sogleich  entgegenzuarbeiten. 

Diese  Sorge  erstreckt  sich  oft  in  gleicher  Weise  über  den 
ganzen  Verlauf  der  Krankheit  fort,  wo  Verstimmung,  Unruhe  oder 
Negativismus  den  Kranken  hindern,  das  Nahrungsbedürfnis  selbst 
zu  befriedigen.  Geduldiges,  häufig  wiederholtes  Anbieten  des 
Essens,  wenn  auch  immer  nur  kleine  Mengen  genommen  werden, 
führt  hier  meist  zum  Ziele.  Stets  muss  die  Kost  leicht  verdaulich 
und,  namentlich  in  schwierigeren  Fällen,  möglichst  nahrhaft  sein, 
um  durch  ihren  Nutzwert  die  Unmöglichkeit  einer  reichlicheren 
Zufuhr  auszugleichen  (Fleischbreisuppen).  Unter  Umständen  ist 
aus  diesem  Grunde  der  Znsatz  von  Pepton,  Nutrose,  Somatose, 
Hygiama,  Tropon  oder  ähnlichen  Stoffen  angezeigt.  Bei  sehr 
schwachen  Kranken  mit  schweren  verwirrten  Erregungszuständen 
empfiehlt  sich  zeitweise  eine  Überernährung  durch  reichliche  Zu- 
fuhr leicht  verdaulicher  Nahrungsmittel  in  kürzeren  Pausen;  man 
wird  hier  freilich  in  der  Regel  zur  Sonde  greifen  müssen.  Die  so 
überaus  häufige  Verstopfung  bekämpft  man  nur  durch  ganz 
milde  Mittel,  namentlich  durch  Klystiere  (Glycerin,  Öl),  Eingies- 
sungen, nach  Umständen  durch  Massage  und  Faradisation  des 
Bauches.  Unterstützt  werden  diese  Massnahmen  durch  sorgfältige 
Regelung  der  gesamten  Lebensweise,  mässige  Be- 
wegung in  frischer  Luft,  körperliche,  keine  geistige  Anstrengung 
erfordernde  Beschäftigung,  vorzüglich  Gartenarbeit.  Schwache 
Kranke  lässt  man  bei  warmem  Wetter  zweckmässig  den  ganzen 
Tag  auf  Bettstühlen  im  Freien  liegen. 

Von  wesentlicher  Bedeutung  für  das  Getriebe  der  Irrenanstalt 
erscheint  mir  die  grundsätzliche  Verbannung  des  Alkohols  als 
Genuss  mittel.  Es  ist  ja  von  vornherein  selbstverständlich, 
dass  ein  so  stark  wirkendes  Nervengift  auf  die  geschädigte  Hirn- 


Diätetische  Massregeln. 


419 


rinde  unserer  Kranken  nur  einen  ungünstigen  Einfluss  haben 
kann.  Die  Erfahrung  lehrt  uns  aber  auch  unzweideutig,  dass  in 
jeder  Irrenanstalt  eine  grössere  Zahl  von  Kranken  lebt,  die 
des  Schutzes  vor  dem  Alkohol  mehr  oder  weniger  dringend 
bedürfen,  namentlich  Trinker  und  Epileptiker,  aber  auch  Para- 
lytiker, Hypomanische,  Hebephrene.  Ich  habe  reichlich  Ge- 
legenheit gehabt,  die  Erregungen  zu  beobachten,  die  durch  das 
Bier,  im  gewöhnlichen  Tageslaufe  wie  bei  Festen,  erzeugt 
wurden,  manchmal  auch  durch  die  Entziehung  desselben  aus 
ärztlichen  Gründen.  Gegen  diese  Übel  gibt  es  nur  ein  Heil- 
mittel, die  völlige  Ausschliessung  des  Alkoholgenusses  für 
Kranke  und  Personal  aus  der  Anstalt.  *)  Nach  meinen  etwa,  zehn- 
jährigen Erfahrungen  kann  ich  jene  Massregel  nur  auf  das  wärmste 
empfehlen;  sie  ist  leicht  durchführbar  und  wirkt  günstig  auf  den 
ganzen  Geist  der  Anstalt. 

Eine  eigenartige  Ausbildung  hat  die  Sorge  für  die  Körper- 
ernährung in  der  von  Weir  Mitchell  und  Play  fair**)  ein- 
geführten „Mastkur“  (feeding-cure)  erhalten.  Den  leitenden 
Gesichtspunkt  dieses  Verfahrens  bildet  die  möglichste  Beschleu- 
nigung des  Stoffumsatzes  durch  überreichliche  Ernährung  bei 
gleichzeitiger  lebhafter  Muskelarbeit  ohne  eigene  Anstrengung. 
Den  in  Bettruhe  gehaltenen  Kranken  werden  in  sehr  kurzen 
Zwischenräumen  grosse  Mengen  nahrhafter,  leicht  verdaulicher 
Esswaren  (Milch,  Fleisch,  kräftige  Suppen)  zugeführt,  während 
durch  regelmässige,  ausgiebige  Massage  und  faradische  Reizung  die 
gesamte  Körpermuskulatur  bearbeitet  wird.  Dazu  kommt  als  wich- 
tigster Punkt  des  Heilplanes  die  völlige  Entfernung  des  Kranken 
aus  den  gewohnten  Verhältnissen  und  die  bedingungslose  Unter- 
ordnung unter  den  ärztlichen  Willen.  Zweifellos  spielt  dieser  psy- 
chische Eingriff  bei  der  ganzen  Kur  eine  äusserst  bedeutsame 
Rolle.  Die  Erfolge  sind  in  geeigneten  Fällen  staunenswerte;  man 
darf  solche  aber  nur  auf  dem  Gebiete  der  eigentlichen  Hysterie 
und  zwar  dort  erwarten,  wo  keine  tiefgreifende  psychische  Stö- 


*)  Hoppe,  Neurolog.  Centralblatt,  XVII,  1074. 

**)  Weir  Mitchell,  fat  and  blood,  3.  Aufl.  1884;  Playfair,  Die 
systematische  Behandlung  der  Nervosität  und  Hysterie,  deutsch  v.  Tischler. 
1883;  Burkart,  Volkmanns  Klinische  Vorträge,  245. 


27* 


420 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


rung,  sondern  wo  wesentlich  dauernde  grosse  Willensschwäche 
(Lähmungen)  besteht  und  die  Ernährung  tief  gesunken  ist. 

Ganz  besondere  Berücksichtigung  erfordert  die  diätetische 
Behandlung  der  frisch  Erkrankten.  Hier  handelt  es  sich  vor  allem 
um  Beruhigung.  Das  beste  Mittel  zur  Erreichung  dieses 
Zweckes  ist  die  Bettlagerung,  die  bisweilen  schwierig, 
unter  einigermassen  günstigen  Verhältnissen  (ausreichendes,  gut 
geschultes  Personal)  aber  doch  meistens  durchführbar  ist,  in 
manchen  Fällen  erst  nach  einer  vorbereitenden  Badebehandlung. 
Bei  einiger  Geduld  kann  man  durch  diese  harmlose  Massregel, 
welche  die  Unterschiede  in  der  Behandlung  psychisch  und  körper- 
lich Kranker  mehr  und  mehr  verwischt,  ganz  ausserordentliche  Er- 
folge erzielen.  Dennoch  hat  sie  sich  merkwürdigerweise  nur  sehr 
langsam  Bahn  gebrochen.  In  Deutschland  hat  sich  namentlich 
N e i s s e r *)  in  dieser  Dichtung  verdient  gemacht.  Bei  uns  ist 
es  jetzt  wohl  überall  anerkannt,  dass  alle  frisch  Erkrankten  zu- 
nächst und  unter  Umständen  für  längere  Zeit  ins  Bett  gehören. 
Ferner  wird  man  jene  blutleeren  und  schwächlichen  Kranken,  die 
durch  ängstliches  Herumlaufen  ihre  Kräfte  zu  erschöpfen  drohen, 
die  Nahrungs  Verweigerer,  endlich  die  Unruhigen  so  lange  wie 
irgend  möglich  im  Bett  zu  erhalten  suchen,  natürlich  sämtlich 
unter  dauernder  Überwachung.  Jede  Anwendung  von  Gewalt  ist 
dabei  vom  Übel,  weil  sie  die  Erregung  nur  steigert.  Gedul- 
diges Zureden  und  vorübergehendes  Gewährenlassen  führen  weit 
besser  zum  Ziel.  Niemand  wird  sich  der  augenfälligen  Erfahrung 
entziehen  können,  dass  die  Aufregungszustände  aller  Art  weit 
milder  im  Bette  verlaufen,  als  ausserhalb  desselben.  In  schwie- 
rigeren Fällen  sinnloser  Unruhe,  namentlich  im  Collapsdelirium, 
in  epileptischen,  katatonischen  und  paralytischen  Dämmerzustän- 
den, erweisen  sich  die  Betten  mit  hohen  gepolsterten  Seitenwänden 
als  ungemein  zweckmässig.  Ruhige  Kranke,  die  der  Bettruhe 
bedürfen  (Melancholische,  Gehemmte,  Negativistische),  wird  man 
nach  einiger  Zeit  für  Stunden  täglich  aufstehen,  in  den  Garten 
gehen,  im  Freien  ruhen  lassen,  um  ihnen  den  Genuss  frischer 

*)  Neisser,  Berliner  klin.  Wochenschr.  1890,  38;  Allgem.  Zeitschr.  f. 
Psych.,  L,  1893;  Zeitschr.  f.  praktische  Ärzte.  1900,  18'  u.  19;  Sdrieux  et 
Farnarier,  Annales  mddico-psyckol.,  VIII,  11,  61,  1900;  Wizel,  ebenda, 
VIII,  13,  56,  1901;  Bernardini,  Rivista  sperim.  di  freniatria,  XXVI,  233. 


Diätetische  Massregeln. 


421 


Luft  zu  gewähren  und  den  erschlaffenden  Wirkungen  langen  Bett- 
liegens  entgegenzuarbeiten.  Ganser  lässt  solche  Kranke  regel- 
mässig massieren. 

Als  letztes  Auskunftsmittel  bei  der  Behandlung  unruhiger 
Kranker  gilt  die  Separierung  in  offenem  oder  die  Isolie- 
rung in  geschlossenem  Einzelzimmer.  Die  erstere,  die  ja  nur  mit 
Einwilligung  des  Kranken  möglich  ist,  hat  sehr  häufig  eine 
günstige  Wirkung,  da  sie  äussere  Reize  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  abschliesst.  Sie  ist  bei  sich  selbst  gefährlichen  Kranken 
nur  unter  besonderer  Aufsicht  durchführbar  und  scheitert  oft 
genug  daran,  dass  der  erregte  Kranke  eben  nicht  in  dem  ihm 
angewiesenen  Raume  bleibt  oder  sich  dort  unmöglich  macht. 
Schliesst  man  nunmehr  die  Türe,  so  verzichtet  man  damit  auf 
die  weitere  Überwachung,  wenn  man  nicht  die  hässliche  Ein- 
richtung der  Gucklöcher  oder  Beobachtungsfensterchen  aus  dem 
Gefängnisse  herübernehmen  und  eine  ständige  Wache  vor  die  Türe 
stellen  will.  Tatsächlich  pflegen  sich  in  den  Isolierzimmern  oder 
„Tobzellen“  alsbald  eine  Reihe  der  schwersten  Übelstände  zu  ent- 
wickeln. Die  Kranken  zerreissen  rücksichtslos  ihr  Bettzeug  und 
ihre  Kleidung,  bis  man  am  Ende  genötigt  ist,  sie  nackt  mit  einem 
Haufen  Stroh  oder  Seegras  auszustatten;  sie  zertrümmern  ihr 
Essgeschirr  und  zerkratzen  mit  den  Bruchstücken  die  Wände,  so 
dass  man  zu  Schüsseln  aus  Leder,  Pappe  oder  Brotteig,  zu  Nacht- 
geschirren und  Bechern  aus  Gummi  oder  Leder  greift,  ohne  doch 
damit  wirkliche  Abhilfe  zu  schaffen.  Alle  möglichen  Trümmer, 
zusammengedrehte  Leinwandtücher  mit  Steineinlagen,  verknotete 
Wolldecken,  abgebrochene  Löffelstiele,  wuchtig  geschwungene 
Nachtgeschirre,  ohne  oder  mit  Inhalt,  werden  zu  Waffen,  die 
den  eintretenden  Arzt  oder  Pfleger  sehr  unangenehm  überraschen 
können;  ein  eingeschmuggeltes  Streichhölzchen  gibt  die  Möglich- 
keit gefährlicher  Brandstiftungen,  denen  schon  mehr  als  ein 
Kranker  erlegen  ist.  Absichtliche  oder  unabsichtliche  Selbstver- 
letzungen, Verschlucken  von  Scherben,  Erdrosselung  mit  Bett- 
tuchstreifen, Schnittwunden  durch  Glassplitter,  Aufreissen  des 
Skrotums,  Anrennen  des  Kopfes  gegen  die  Wand  und  ähnliche 
Dinge  vollziehen  sich  in  der  Abgeschiedenheit  des  Isolierzimmers,, 
ohne  dass  es  bemerkt  wird,  namentlich,  wenn  noch  Doppeltüren 
eingerichtet  sind,  damit  kein  Laut  nach  aussen  dringt.  Endlich 


422 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


beginnen  die  Kranken  meist  sehr  bald,  zu  onanieren  und  zu 
schmieren.  Nicht  nur  ihr  Essen,  sondern  auch  ihre  Ausleerungen, 
die  sie  längere  Zeit,  nicht  zur  Verbesserung  ihrer  Zimmer luft, 
bei  sich  beherbergen  müssen,  dienen  ihnen  dazu,  sich  selbst,  die 
Wände  und  Decke  ihres  Zimmers  derart  einzusalben  und  zu  be- 
malen, dass  der  Eintretende  aus  dieser  Genesungsstätte  zurück- 
prallt. 

Rechnet  man  dazu,  dass  längerer  Aufenthalt  im  Isolierzimmer 
auch  den  Eintritt  der  Verblödung  begünstigt,  dass  auf  diese  Weise 
jene  „Anstaltsartefakte“  zu  stände  kommen,  die  durch  ihre  V er- 
wilderung  den  Schrecken  ihrer  Umgebung  bilden,  so  kann  darüber 
kein  Zweifel  sein,  dass  die  Isolierung  ein  Übel  ist,  welches  man 
sobald  wie  möglich  beseitigen  sollte.  Diese  Erkenntnis  ist  nicht 
neu.  Leider  aber  stellen  sich  der  Durchführung  jener  Forderung 
vielfach  ernste  Hindernisse  entgegen.  Will  man  die  Absperrung 
einzelner  Kranker  aus  dem  Anstaltsgetriebe  gänzlich  vermeiden 
und  den  einzig  richtigen  Grundsatz  unausgesetzter  Beaufsichtigung 
und  Pflege  jedes  Einzelnen  restlos  durchführen,  so  bedarf  es 
dazu  einer  ganzen  Reihe  von  Einrichtungen,  die  zum  Teil  erheb- 
liche Mittel  erfordern,  genügende  Kräfte  an  Ärzten  und  V art- 
personal, zweckmässige  Wachabteilungen  und  reichliche  Gelegen- 
heit zu  Dauerbädern  bei  Tag  und  bei  Nacht.  Wattenberg, 
Hoppe  und  Andere  haben  allerdings  gezeigt,  dass  auch  unter 
den  schwierigsten  Bedingungen  die  „zellenlose“  Behandlung*)  ver- 
wirklicht werden  kann.  Allein  es  muss  doch  immer  die  Frage 
aufgeworfen  werden,  ob  man  unter  allen  Umständen  berechtigt 
ist,  von  der  Isolierung  eines  erregten  Kranken  abzusehen,  auch 
dann,  wenn  dadurch  ernste  Gefahren  und  Schädigungen  für  die 
ebenfalls  unserer  Obhut  übergebenen  Mitkranken  verbunden  sind. 
Dass  unter  günstigen  Verhältnissen  die  Isolierung  grundsätz- 
lich aufgegeben  werden  kann,  und  dass  damit  ein  unvergleich- 
licher Fortschritt  in  unserer  Krankenbehandlung  herbeigeführt 
wird,  steht  für  mich  fest.  Dennoch  würde  ich  in  einem  beson- 
deren Ausnahmefalle,  namentlich  bei  gefährlichen  V erbrechern, 

*)  Wattenberg,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LII,  928;  Heil- 
bronn er,  ebenda,  LIH,  717;  Hoppe,  ebenda,  LIV,  910;  Psychiatr.  Wochen- 
schrift, III,  30;  IV,  13;  Kalmus,  ebenda,  II,  49;  Wattenberg,  eben- 
da, 1903,  1;  Mercklin,  ebenda,  1903,  81. 


Diätetische  Massregeln. 


423 


nicht  zögern,  zur  Isolierung  zu  greifen,  sobald  es  keinen  anderen 
Weg  mehl*  gäbe,  der  Umgebung  diejenige  Sicherheit  zu.  verschaf- 
fen, auf  die  sie  gegründeten  Anspruch  hat. 

In  dem  Heilapparate  der  älteren  Anstalten  spielte  zur  Un- 
schädlichmachung der  Kranken  und  zur  Bekämpfung  der  Auf- 
regung eine  grosse  Rolle  die  mechanische  Beschränkung  durch 
Zwangsjacke,  Zwangsstühle,  Zwangsbetten,  Gürtel  mit  Hand- 
schuhen u.  s.  1,  alles  Vorrichtungen,  die  dazu  dienten,  den  Kran- 
ken an  dem  freien  Gebrauche  seiner  Glieder  zu  hindern  und  ihn 
in  einer  bestimmten  Lage  festzuhalten.  Es  ist  namentlich  das 
Verdienst  des  Engländers  Conolly*),  auf  die  Unzweckmässig- 
keit, ja  Gefährlichkeit  dieser  Zwangsmassregeln  mit  allem  Nach- 
drucke hingewiesen  zu  haben.  Sie  steigern  die  Unruhe  und  Auf- 
regung des  Kranken,  der  sich  abmüht,  sich  frei  zu  machen;  sie 
erbittern  ihn  gegen  seine  Ärzte  und  Pfleger,  die  meist  erst  nach 
hartem  Kampfe  die  verhasste  Beschränkung  durchzuführen  ver- 
mögen, und  sie  verderben  das  Pflegepersonal,  welches  im  Ver- 
trauen auf  die  rohe  Gewalt  kein  Bedürfnis  empfindet,  selbst  engere 
Fühlung  mit  den  Kranken  zu  gewinnen  und  dieselben  nicht  sowohl 
durch  die  Furcht,  als  vielmehr  durch  die  kleinen  Kunstgriffe  des 
hilfsbereiten  Wohlwollens  beherrschen  zu  lernen.  Aus  diesem 
Grunde  spielt  das  „Restraint“,  die  mechanische  Beschränkung, 
zwar*  in  schlecht  eingerichteten  Krankenhäusern  und  in  den  häus- 
lichen Verhältnissen,  zumal  bei  der  weit  verbreiteten  übertrie- 
benen Angst  vor  Geisteskranken,  leider  noch  eine  gewisse  Rolle  — 
das  mustergültige  Anstaltsleben  kennt  sie  nicht  mehr.  Wir 
dürfen  heute  ohne  weiteres  sagen,  dass  die  häufigere  Anwendung 
von  Zwangsmitteln  irgendwelcher  Art  in  einer  Anstalt  mit  Be- 
stimmtheit entweder  auf  schlechte  Einrichtungen  oder  aber  auf 
schlechte  Ärzte  zurückweist.  Nur  dort,  wo  die  peinliche  Durch- 
führung des  No-restraintverfahrens  ein  grösseres  Übel  bedeuten 
würde,  als  die  Beschränkung  selbst,  wo  z.  B.  das  Leben  des 
Kranken  in  Gefahr  schwebt,  wie  bei  schweren  chirurgischen  Er- 
krankungen, unter  Umständen  auch  bei  schwierigen  Reisen  mit 
sehr  gefährlichen  und  aufgeregten  Kranken,  kann  die  menschliche 


*)  C o n o 1 1 y , Die  Behandlung  der  Irren  ohne  mechanischen  Zwang,,  deutsch 
von  Brosius.  1860;  Klinke,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,.  XLIX,  5. 


424 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


und  ärztliche  Berechtigung  der  Zwangsmittel  nicht  zweifelhaft 
sein. 

In  der  Regel  wird  man  mit  dem  einfachen  Festbinden  durch 
Betttücher,  Handtücher  und  dergl.  auskommen.  Bei  wirklich 
grosser  Gefahr  wird  man  endlich  nicht  zögern,  zur  Anwendung 
der  Zwangsjacke  zu  greifen,  doch  kann  ich  z.  B.  mitteilen,  dass  ich 
in  den  letzten  sechzehn  Jahren  keinen  Fall  mehr  erlebt  habe,  in 
dem  diese  Massregel  notwendig  geworden  wäre.  Nur  ein  einziges 
Mal  während  dieser  Zeit  war  ich  genötigt,  einen  sehr  unruhigen 
Kranken  wegen  lebensgefährlicher  Blutungen  nach  einer  Operation 
mit  Tüchern  im  Bett  festbinden  zu  lassen.  Die  Zwangsjacke  ist 
eine  vorn  geschlossene,  hinten  verschnürbare  Jacke  von  starkem 
Segeltuche  mit  langen  Ärmeln  ohne  Öffnungen,  mit  Hilfe  deren 
die  Arme  über  der  Brust  gekreuzt  festgehalten  werden  können. 
Bei  sehr  fester  Anlegung  und  langem  Liegen  derselben  entstehen 
leicht  Hautabschürfungen  und  Druckbrand  an  den  gefährdeten 
Stellen;  sie  muss  daher  öfters  gelockert  und  womöglich  täglich 
einige  Stunden  abgelegt  werden.  Kein  mechanisch  be- 
schränkter Kranker  darf  ohne  beständige  Auf- 
sicht gelassen  werden;  es  kommt  vor,  dass  er  sich  selbst 
befreit  oder  gar  erdrosselt. 


C.  Psychische  Behandlung. 

Besonders  der  Kampf  um  die  Anwendbarkeit  der  mechanischen 
Beschränkung  ist  es  gewesen,  der  die  Ausbildung  einer  planvollen 
.psychischen  Behandlung*)  der  Geisteskranken  angebahnt 
hat.  Je  weniger  Arzt  und  Pflegepersonal  gegenüber  den  Auf- 
regungszuständen ihre  Zuflucht  zur  nackten  Gewalt  nehmen  konn- 
ten, desto  mehr  mussten  sie  darauf  bedacht  sein,  sich  durch  das 
Mittel  der  psychischen  Einwirkung  Macht  über  ihre  Pflege- 
befohlenen zu  verschaffen.  Die  Aufgaben  dieser  Behandlungsweise 
sind  es,  einerseits  die  Krankheitserscheinungen  zurückzudrängen, 

*)  Reil,  Rhapsodien  über  die  Anwendung  der  psychischen  Kurmethode 
auf  Geisteszerrüttungen.  1803;  Löwenfeld,  Lehrbuch  der  gesamten  Psycho- 
therapie. 1897;  Ziehen,  Psychotherapie.  1898;  v.  Sch  renk- Notzing, 
Psychotherapie  in  Eulenburgs  Realencyklopädie  der  gesamten  Heilkunde. 


Psychische  Behandlung. 


425 


andererseits  die  gesunden  Vorstellungen  und  Gefühle  zu  kräftigen 
und  ihnen  schliesslich  zum  Siege  über  die  krankhaften  Störungen 
zu  verhelfen.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  sich  für  die  Lösung 
dieser  Aufgaben  bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Persönlichkeiten, 
die  den  Angriffspunkt  des  irrenärztlichen  Handelns  bilden,  ins 
Einzelne  gehende  Vorschriften  nicht  geben  lassen,  sondern  dass 
jenes  Ziel  in  jedem  Falle  wieder  auf  anderem  Wege  erreicht 
werden  muss,  dessen  Auffindung  und  geschickte  Verfolgung  je- 
weils der  Einsicht  und  Erfahrung  des  Arztes  überlassen  bleibt. 

Mit  Recht  wird  daher  wegen  dieser  grossen  persönlichen  V er- 
antwortlichkeit  vom  Irrenarzte  noch  eine  Summe  besonderer  gei- 
stiger Eigenschaften  gefordert:  „wohlwollender  Sinn,  grosse  Ge- 
duld, Selbstbeherrschung,  eine  besondere  Freiheit  von  allen  Vor- 
urteilen, ein  aus  einer  reichen  Weltkenntnis  geschöpftes  Ver- 
ständnis der  Menschen,  Gewandtheit  der  Konversation  und  eine 
besondere  Neigung  zu  seinem  Beruf,  die  ihn  allein  übei 
dessen  vielfache  Mühen  und  Anstrengungen  hinwegsetzt“*).  So 
ausgerüstet,  wird  er  imstande  sein,  dem  Kranken  nicht  nur  ein 
Arzt,  sondern  zugleich  ein  Erzieher  und  Freund  zu  werden,  nicht 
nur  den  körperlichen  Grundlagen  der  Geistesstörung  seine 
Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  sondern  durch  die  Macht  seiner 
Persönlichkeit  verständnisvoll  auch  die  krankhaften  psy- 
chischen Erscheinungen  selbst  zu  bekämpfen.  Wir  kt 
schon  bei  körperlicher  Erkrankung  der  Arzt  häufig  genug  eben- 
so sehr*  durch  seine  persönlichen  Eigenschaften  wie  durch  di© 
Arznei,  so  erweitert  sich  hier  das  Feld  der  psychischen  Behandlung 
selbstverständlich  in  ganz  ausserordentlichem  Masse. 

Gerade  aus  diesem  Grunde  hat  Ludwig**)  wiederholt  mit 
besonderer  Wärme  die  Verwendung  weiblicher  Ärzte  für  die 
weiblichen  Geisteskranken  empfohlen.  Er  ist  der  Meinung,  dass 
einerseits  die  Frau  ein  viel  tiefer  dringendes  Verständnis  für  das 
Seelenleben  ihrer  Geschlechtsgenossinnen  besitzen  wird,  und 
dass  andererseits  diese  weit  leichter  ihr©  innersten  Regungen 
einem  Weibe  vertrauen  würden,  also  mehr  Trost  und  Erleichterung 
bei  ihr  finden  könnten.  Dazu  kommt,  dass  ja  vielfach  das  Er- 


*)  Griesinger,  Pathol.  u.  Therapie  der  psych.  Krankheiten,  4. Aufl.,  533. 

**)  Ludwig,  Centralblatt  f.  Psychiatrie,  1899,  129. 


426 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


scheinen  des  Mannes  auf  der  Frauenabteilung  stark  erregend  wirkt, 
und  dass  sich  in  der  Krankheit  Auftritte  abspielen  können,  deren 
Erinnerung  für  die  Genesene  doppelt  peinlich  ist,  wenn  der  Arzt 
Zeuge  derselben  war.  Endlich  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  die 
nötigen  körperlichen  Untersuchungen,  namentlich  bei  geschlecht- 
lich erregten  weiblichen  Kranken,  sehr  viel  zweckmässiger  durch 
weibliche  Ärzte  vorzunehmen  wären.  Da  man  andenvärts  mit 
dieser  Einrichtung  gute  Erfahrungen  gemacht  hat,  wird  sie  sich 
voraussichtlich  auch  bei  uns  einbürgern,  sobald  einmal  brauchbare 
Kräfte  zur  Verfügung  stehen. 

Der  oberste  Grundsatz  in  der  psychischen  Behandlung  der 
Geisteskranken  ist  Offenheit  und  unbedingte  Wahr- 
heitsliebe. Gerade  hier  wird  von  Laien  und  Ärzten  immer 
wieder  schwer  gefehlt.  Man  scheut  sich  in  ganz  unsinniger  und 
ungerechtfertigter  Weise,  einem  Geisteskranken  zu  sagen,  dass 
man  ihn  für  krank  hält,  während  diese  Erkenntnis  doch  die  erste 
Grundlage  für  die  ganze  Behandlung  und  nicht  selten  für  den 
Leidenden  selbst  geradezu  eine  Erlösung  bedeutet.  Freilich  gibt 
es  viele  Kranke,  die  sich  für  völlig  gesund  halten,  aber  auch  hier 
hat  das  unselige  Versteckspiel,  welches  so  häufig  mit  ihnen  ge- 
trieben wird,  schlechterdings  keinen  Nutzen,  da  die  Kranken  ja 
doch  durch  die  Art,  wie  man  sie  behandelt,  zn  der  Erkenntnis 
kommen  müssen,  dass  man  bei  ihnen  eine  geistige  Störung  ver- 
mutet. Es  muss  unter  allen  Umständen  für  verwerflich  erklärt 
werden,  einen  Geisteskranken,  in  welcher  Absicht  immer,  zu 
täuschen,  um  ihn  zu  irgendwelchen  notwendigen  Massregeln 
zu  bewegen  (Einnehmen  von  Arzneien,  Verbringung  in  die  Anstalt), 
zu  denen  man  seine  Zustimmung  nicht  erreichen  zu  können  glaubt. 
Weit  besser  ist  es,  ihm  ruhig  und  freundlich,  aber  fest  zu  erklären, 
was  man  von  ihm  will  und  zu  welchem  Zwecke.  Man  wird  dabei 
fast  immer  sein  Ziel  schliesslich  erreichen.  Im  äussersten  Not- 
fälle greife  man  lieber  zur  Gewalt,  der  sich  besonnene  Kranke 
regelmässig  fügen,  wenn  sie  keinen  andern  Ausweg  sehen.  Sie 
werden  ein  derartiges  Vorgehen  stets  leichter  verzeihen,  als  die 
List,  deren  unvermeidliche  Aufdeckung  sehr  gewöhnlich  ein  un- 
ausrottbares Misstrauen  im  Gefolge  hat.  Ebenso  notwendig  ist 
es,  dem  Kranken  niemals  eine  Versprechung  zu  machen,  die  man 
nicht  zu  halten  gesonnen  oder  imstande  ist.  Andernfalls  ver- 


Psychische  Behandlung. 


427 


scherzt  man  dauernd  sein  Vertrauen  und  verliert  damit  die  Grund- 
lage jeder  weiteren  Behandlung. 

Den  Wahnideen  der  Kranken  gegenüber  wird  sich  der  Arzt 
stets  einfach  ablehnend  verhalten.  Er  wird  ihnen  weder  durch 
scheinbares  Zustimmen  neue  Nahrung  geben,  noch  sie  in  langen 
Auseinandersetzungen  ausführlich  bekämpfen,  noch  viel  weniger 
aber  etwa  sie  ins  Lächerliche  ziehen  und  dadurch  die  Kranken 
erbittern.  Der  Beantwortung  in  gereiztem  Tone  gestellter,  her- 
ausfordernder Fragen  weiche  man  in  ruhiger  Weise  aus,  ohne 
aber  dabei  den  ärztlichen  Standpunkt  irgendwie  zu  verleugnen. 
Ich  brauche  kaum  hinzuzufügen,  dass  der  Grundsatz  unbedingter 
Offenheit  durchaus  nicht  dahin  führen  darf,  ohne  zwingenden  An- 
lass hartnäckig  jeder  krankhaften  Äusserung  zu  widersprechen, 
die  der  Kranke  etwa  fallen  lässt.  Vielfach,  namentlich  bei 
schwachsinnigen  (paralytischen)  oder  sehr  gereizten  Kranken  wild 
man  sich  auf  die  gelegentliche  Feststellung  der  Krankhaftigkeit 
des  Zustandes  beschränken,  die  geäusserten  Wahnideen  übergehen, 
unbeachtet  lassen  und  nur  die  krankhaften  Handlungen  verhindern, 
soweit  sie  eine  Schädigung  des  eigenen  oder  des  Wohles  der 
übrigen  Kranken  in  sich  schliessen. 

Auch  in  Bezug  auf  diesen  letzteren  Punkt  wird  es  sich  in 
der  Hauptsache  darum  handeln,  nach  Möglichkeit  die  schlimmen 
Wirkungen  derjenigen  Krankheitsäusserungen  abzuschwächen,  die 
man  durch  die  Behandlung  nicht  verhüten  kann.  Zu  diesem  Zwecke 
versetzt  man  den  Kranken  in  eine  Umgebung,  in  welcher  die  Ge- 
fahr des  Selbstmordes,  der  Selbstbeschädigung,  der  Gewalttätig- 
keit, der  Zerstörungssucht,  Unreinlichkeit  u.  s.  f.  durch  Über- 
wachung und  besondere  Einrichtungen,  so  weit  irgend  angängig, 
eingeschränkt  ist.  In  der  Abgeschlossenheit  einer  Wachabteilung 
ist  der  Kranke  in  Wirklichkeit  viel  freier,  als  zu  Hause,  wo  jeder 
seiner  Handlungen  wegen  der  möglichen  schweren  Folgen  sogleich 
Widerstand  entgegengesetzt  werden  muss.  Abgesehen  von  der 
Durchführung  unumgänglicher  ärztlicher  Massnahmen  lasse  man 
den  Kranken  recht  frei  gewähren  und  erbittere  ihn  nicht  durch 
kleinliche  Bevormundung  oder  häufige  Ermahnungen.  Nur  die 
Rücksicht  auf  ernstere  Missstände  oder  Gefahren  wird  den  Arzt 
veranlassen,  dem  Treiben  des  Kranken  freundlich,  aber  mit  Ent- 
schiedenheit entgegenzutreten.  Er  wird  dann,  wenn  es  durchaus 


428 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


sein  muss  und  alles  gütliche  Zureden  umsonst  geblieben  ist,  auch 
vor  der  Anwendung  der  Gewalt  nicht  zurückschrecken,  um  eine 
als  notwendig  erkannte  Massregel  durchzuführen.  Natürlich  soll 
auch  jetzt  so  schonend  wie  irgend  möglich  vorgegangen  und  jede 
Anknüpfung  zu  gütlicher  Erreichung  des  Zieles  benutzt  werden. 

Unter  keinen  Umständen  soll  irgend  eine  vom  Arzte  angeord- 
nete oder  durchgeführte  Massregel  den  Anschein  der  Diszipli- 
nierung tragen.  Die  Versetzung  auf  eine  andere  Abteilung,  die 
Entziehung  des  Ausganges,  die  Absonderung  soll  durchaus  immer 
nur  aus  rein  ärztlichen  Gründen  geschehen,  um  drohendem  Unheil 
zu  begegnen.  Sobald  diese  Gründe  hinfällig  geworden  sind,  wer- 
den auch  die  durch  sie  bedingten  Anordnungen  fallen  müssen. 
Gerade  darum  ist  es  verwerflich,  die  Gewährung  kleiner  harm- 
loser Vergünstigungen,  die  Verabreichung  von  Tabak  oder  be- 
sonderen Verordnungen  aufgeregten  Kranken  zu  entziehen  oder 
gar  sie  mit  kalten  Bädern  und  Douchen  zu  behandeln,  um  sie 
zu  geordneterem  Benehmen  zu  veranlassen.  Solche  Erziehungs- 
versuche nützen  gar  nichts,  erbittern  aber  die  Kranken  und  nähren 
im  Personal  die  ohnedies  noch  allzu  fest  wurzelnde  Vorstellung, 
dass  die  Kranken  schon  artig  sein  könnten,  wenn  sie  nur  wollten. 

Bei  allen  mehr  oder  weniger  rasch  sich  abspielenden  Formen 
der  Geistesstörung  ist  die  Aufgabe  der  psychischen  Behandlung 
wesentlich  eine  abwartende.  Überall  handelt  es  sich  hier  um 
krankhafte  Erregungszustände  des  Gehirns,  die  vor  allen  Dingen 
Ruhe  und  immer  wieder  Ruhe  fordern.  Der  Arzt  hat  daher  in 
erster  Linie  für  die  möglichste  Fernhaltung  aller  äusseren  und 
inneren  Reize  zu  sorgen.  Dahin  gehören  namentlich  der  Verkehr 
mit  den  nächsten  Angehörigen,  die  lebhaften  Gefühlsbeziehungen, 
die  aus  der  täglichen  Umgebung,  dem  Berufe  der  Kranken,  aus 
langen  Unterredungen,  Vorhaltungen,  ja  oft  auch  aus  wohlgemein- 
ten Trostworten  entspringen.  Darum  werden  in  der  ersten  Zeit 
der  Krankheit,  so  lange  lebhafte  gemütliche  Erregbarkeit  besteht, 
die  Besuche  auf  das  äusserste  einzuschränken  sein,  während  sie 
späterhin  sehr  wertvoll  sein  können,  um  das  Band  zu  den  früheren 
Lebensbeziehungen  wieder  anzuknüpfen.  Auf  jede  eigentliche 
Tätigkeit  muss  verzichtet  werden,  da  das  erkrankte  Gehirn  zu 
seiner  Genesung  durchaus  der  sorgfältigsten  Schonung  bedarf. 
Vielfach  erfüllt  sich  diese  Vorschrift  ganz  von  selbst,  wreil  der 


Psychische  Behandlung. 


429 


Kranke  zu  jeder  geordneten  oder  andauernden  Beschäftigung  un- 
fähig ist.  Bei  manischen  und  erregten  paralytischen  Kranken, 
bei  denen  man  die  Äusserungen  des  Betätigungsdranges  nicht  ab- 
schneiden kann,  hat  man  wenigstens  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass 
alle  jene  Reibungen  und  Kämpfe  wegfallen,  die  mit  der  Berufs- 
tätigkeit unzertrennlich  verbunden  sind. 

Ferner  versteht  es  sich  ganz  von  selbst,  dass  alle  aufregen- 
den Auseinandersetzungen  und  Mitteilungen  in  dieser  Zeit  voll- 
ständig vermieden  werden  müssen.  Auch  ohne  dass  man  den 
Kranken  geradezu  täuscht,  wird  es  fast  immer  möglich  sein,  ihn 
vor  allen  Nachrichten  zu  bewahren,  die  voraussichtlich  eine 
stärkere  Erschütterung  seines  gemütlichen  Gleichgewichtes  her- 
beiführen könnten.  Man  wartet  mit  solchen  unliebsamen  Er- 
öffnungen bis  zum  Eintritte  der  Beruhigung,  um  auch  dann  den 
Boden  vorher  sorgfältig  und  schonend  vorzubereiten.  Nur  dann, 
wenn  dringende  Gefahr  besteht,  dass  dem  Kranken  eine  schmerz- 
liche Nachricht  auf  keine  Weise  vorenthalten  werden  kann,  ist 
es  natürlich  angezeigt,  ihm  dieselbe  rechtzeitig  in  der  richtigen 
Form  zu  überbringen,  um  einer  unvorhergesehenen  Entdeckung 
durch  einen  unglücklichen  Zufall  vorzubeugen. 

Völlig  unmöglich  ist  es,  woran  man  zunächst  denken  könnte, 
den  krankhaften  Gefühlen  und  Vorstellungen  auf  demselben  Wege 
beizukommen,  auf  dem  man  die  Verstimmungen  und  Irrtümer  der 
Gesunden  bekämpft.  Der  Traurige,  den  man  auf  Bällen  und  Kon- 
zerten, auf  Reisen  oder  in  lustiger  Gesellschaft  aufzuheitern  ver- 
sucht, wird  nur  desto  schmerzlicher  und  peinvoller  von  allen 
äusseren  Eindrücken  berührt;  die  Bemühungen,  aufsteigende 
Wahnideen  durch  Vernunftgründe  zu  widerlegen,  bleiben  ohn- 
mächtig gegenüber  der  Gewalt  der  inneren  Vorgänge,  aus  denen 
jene  letzteren  sich  immer  von  neuem  erzeugen.  Versetzung  des 
Kranken  in  eine  fremde,  ihm  gleichgültige  und  darum  reizlose, 
ruhige  Umgebung,  in  der  man  ihm  Verständnis  ohne  Neugier, 
Wohlwollen  ohne  Aufdringlichkeit  entgegenbringt,  ist  daher  das 
erste  Erfordernis  für  die  Besserung  seines  Zustandes. 

Auch  im  weiteren  Verlaufe  ist  ein  entscheidender  Einfluss  der 
psychischen  Behandlung  auf  den  Verlauf  der  Krankheit  meist 
nicht  erkennbar.  Dennoch  steht  es  fest,  dass  freundlicher,  ver- 
ständiger Zuspruch  das  Herz  des  Ängstlichen  und  Niedergeschla- 


430 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


genen  erleichtern,  geduldiges,  gleichmässiges  Entgegenkommen 
den  Gereizten  und  Erregten  beruhigen  kann,  wenn  auch  immer 
nur  vorübergehend,  ohne  Nachhaltigkeit.  Vielleicht  sind  aber 
diese  fortgesetzten  Bemühungen  nach  Ausgleichung  der  psychi- 
schen Schwankungen  doch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  geeignet, 
den  natürlichen  Heilungsvorgang  zu  unterstützen.  Wir  dürfen 
das  wenigstens  schliessen  aus  der  Erfahrung,  dass  verkehrte 
psychische  Behandlung,  wie  sie  bisweilen  durch  Angehörige, 
schlechtes  Personal  oder  andere  Kranke  geübt  wird,  ohne  jeden 
Zweifel  die  Krankheitszustände  nachhaltig  verschlimmern  kann. 
Geduld,  liebevolles  Eingehen  auf  die  einzelne  Persönlichkeit,  Nach- 
giebigkeit ohne  Schwäche  auf  der  einen,  gleichmässige  Festig- 
keit ohne  Starrheit  auf  der  anderen  Seite  müssen  die  leitenden 
Gesichtspunkte  für  die  ärztliche  Tätigkeit  abgeben. 

Erst  mit  dem  Beginne  einer  deutlichen  Beruhigung  des  Kranken 
erfährt  die  Aufgabe  der  psychischen  Behandlung  eine  gewisse 
Änderung.  So  lange  die  Aufmerksamkeit  desselben  zwangsweise 
durch  die  Störung  selbst  in  Anspruch  genommen  wird  und  nur  für 
krankhafte  Gefühle  und  Vorstellungen  im  Bewusstsein  Raum  ge- 
geben ist,  pflegt  er  für  die  Vorgänge  der  Aussenwelt  meist  wenig 
Sinn  zu  haben.  Trotzdem  er,  der  früher  vielleicht  keine  Stunde 
müssig  sein  konnte,  nun  wochen-  und  monatelang  die  Hände  in 
den  Schoss  legt  oder  sich  in  zwecklosem  Bewegungsdrange  er- 
schöpft, empfindet  er  doch  keine  Langeweile,  da  ihm  mit  der 
Fähigkeit  auch  der  Antrieb  zu  nützlicher  Tätigkeit  verloren  ge- 
gangen ist.  Jeder  Versuch,  ihn  in  diesem  Zustande  wieder  den 
gesunden  Vorstellungen  und  Bestrebungen  zugänglich  zu  machen, 
bleibt  in  der  Regel  ergebnislos  und  kann  sogar  durch  die  Eiregung, 
in  die  er  den  Kranken  versetzt,  geradezu  schädlich  wirken.  All- 
mählich indessen  tauchen  auch  die  früheren,  gesunden  Gefühle 
und  Gedankenkreise  wieder  hervor,  und  es  gilt  daher,  ihnen  die 
Aufmerksamkeit  des  Kranken  mehr  und  mehr  zuzuwenden.  Je 
nach  seiner  Persönlichkeit  gestalten  sich  dabei  die  Hilfsmittel 
und  die  Richtung  der  Heilbestrebungen  natürlich  äusserst  ver- 
schieden. 

Vor  allem  handelt  es  sich  um  die  Auswahl  einer  passenden, 
wohl  anregenden,  aber  nicht  anstrengenden  Beschäftigung, 
da  sie  am  meisten  geeignet  ist,  die  Gedanken  des  Kranken  von  den 


Psychische  Behandlung. 


431 


Zuständen  des  eigenen  Innern  abzuziehen  und  in  ihm  die  Teilnahme 
an  der  Aussenwelt,  an  der  gewohnten  Tätigkeit  wieder  zu  er- 
wecken. Unterhaltender  Lesestoff,  die  Lösung  leichter  geistiger 
Aufgaben,  Spiele  aller  Art,  Musikübungen,  andererseits  körper- 
liche Arbeit,  die  sich  den  früheren  Beschäftigungen  möglichst 
anpasst,  Handwerkerei,  Garten-  und  Feldarbeit,  Leibesübungen, 
bei  Weibern  Nähen,  Waschen,  Kochen  und  dergl.  in  mannigfachster 
Abwechselung,  dienen  in  gleicher  Weise  der  Erfüllung  des  Be- 
handlungszweckes. Damit  können  sich  weiterhin  Zerstreuungen, 
Besuche,  Spaziergänge,  gelegentliche  kleine  Festlichkeiten  in  vor- 
teilhafter Weise  verbinden,  während  geräuschvolle  Vergnügungen, 
Bälle,  Theateraufführungen  nach  meiner  Erfahrung  weit  mehr 
Schaden  als  Nutzen  stiften  und  zu  dem  Wesen  eines  Kranken- 
hauses herzlich  schlecht  passen. 

Eine  besonders  hervorragende  Bolle  spielt  die  Anleitung  zu 
einer  passenden  Beschäftigung  bei  den  sehr  langsam  verlaufenden 
Geistesstörungen  und  bei  der  krankhaften  Veranlagung*).  Wenn 
dort  der  eigentliche  Krankheitsvorgang  einigermassen  zum  Still- 
stände gekommen  und  eine  gewisse  Beruhigung  eingetreten  ist, 
finden  wir  in  der  geregelten  Tätigkeit  das  Mittel,  die  gesunden 
Vorstellungskreise  und  Strebungen  wieder  anzuregen.  Nament- 
lich in  den  Endzuständen  der  Dementia  praecox,  die  unsere  An- 
stalten füllen,  liegt  bei  dem  Verluste  der  Willensregsamkeit  die 
Gefahr  des  geistigen  Versinkens  ungemein  nahe.  Ihr  wirkt  die 
Heranziehung  zu  den  früher  gewohnten  Beschäftigungen  erfolg- 
reich entgegen;  sie  erweckt  in  den  anscheinend  völlig  stumpfen 
und  unfähigen  Kranken  oft  noch  eine  überraschende  Menge  von 
Fertigkeiten,  deren  Übung  und  Pflege  wenigstens  einen  beschei- 
denen Rest  von  Selbständigkeit  und  geistigem  Leben  zu  retten  er- 
möglicht. Gilt  es  hier,  die  fehlende  Tatkraft  durch  äussere  An- 
regung zu  ersetzen,  so  haben  wir  bei  vielen  Psychopathen  das 
mangelnde  Selbstvertrauen,  das  krankhafte  Gefühl  der  Unfähig- 
keit und  Schonungsbedürftigkeit  durch  die  Anleitung  zur  Arbeit 
zu  bekämpfen.  Während  das  Nichtstun  und  Erholen  diese  Zu- 
stände entschieden  verschlechtert,  räumt  die  planmässige  Er- 


*)  Grohmann,  Technisches  und  Psychologisches  in  der  Beschäftigung 
von  Nervenkranken.  1899. 


432 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


Ziehung  zur  Arbeit  und  die  Übung  nach  und  nach  die  Hindernisse 
aus  dem  Wege,  weckt  die  Freude  am  Schaffen  und  hebt  das 
Gefühl  der  eigenen  Leistungsfähigkeit.  Auch  für  die  Schreck- 
neurose gelten  dieselben  Gesichtspunkte. 

Weit  weniger  Erfolg  kann  man  sich  von  dem  Versuche  \er- 
sprechen,  durch  besondere  psychische  Einwirkungen  das  Zurück- 
treten der  krankhaften  Störungen  zu  beschleunigen  und  die  ge- 
sunden Vorgänge  zu  unterstützen.  Durch  scharfsinnige  Über- 
redungskünste wird  man  dabei  kaum  mehr  erreichen,  als  durch 
das  Leuretsche  „Intimidations-System“,  welches  einstmals  jede 
krankhafte  Äusserung  durch  die  Douche  zu  unterdrücken  und  so 
das  Irresein  zu  heilen  suchte.  So  pflegte  Gudden  von  einem 
Kranken  J a c o b i s zu  erzählen,  der  sich  für  Gott  hielt  und  durch 
planmässige  Einschüchterung  zur  Ableugnung  dieses  Wahnes 
gebracht  worden  war.  Als  er  „geheilt“  die  ersten  Schritte  aus 
der  Anstalt  getan  hatte,  drehte  er  sich  um  und  bedrohte  alle  seme 
Peiniger  mit  den  furchtbarsten  Strafen,  die  auf  seinen,  Gottes, 
Wink  unfehlbar  hereinbrechen  würden.  Wo  die  Fähigkeit  einer 
gesunden  Beurteilung  durch  die  Krankheit  dauernd^  oder,  vorüoer- 
gehend  aufgehoben  ist,  wird  natürlich  selbst  die  Verweisung  auf 
den  Augenschein  machtlos,  da  sie  ja  eben  das  Urteil  anruft..  Aus 
diesem  Grunde  beruhen  denn  auch  die  in  der  Jugend  der  Psychiatrie 
bei  Hypochondern  bisweilen  vorgenommenen  Scheineingriff e, . um 
ihnen  Tiere  und  dergl.  aus  dem  Leibe  zu  holen,  durchaus  auf  einer 
naiven  Verkennung  des  Wesens  der  Geistesstörung. 

Ein  überaus  verführerischer  Ausblick  schien  sich  in  neuerer 
Zeit  der  psychischen  Behandlung  des  Irreseins  durch  die  staunen- 
erregenden Tatsachen  der  suggestiven  Beeinflussung  in  der  Hyp- 
nose*) eröffnen  zu  wollen.  Wenn  es  auf  dem  angedeuteten  V ege 
gelingt,  über  die  Wahrnehmungen,  die  Gedanken,  den  Willen  eines 
Menschen  nicht  nur  für  den  Augenblick,  sondern  auch  für  längere 
Zeit  und  sogar  ohne  sein  Wissen  eine  fast  unumschränkte  Herr- 


*)  Wetterstrand,  Der  Hypnotismus  und  seine  Anwendung  in  der 
praktischen  Medizin.  1891;  Bernheim,  Neue  Studien  über  Hypnotismus, 
Suggestion  und  Psychotherapie,  deutsch  von  Freud.  1893;  Hecker,  Iljp- 
nose  und  Suggestion  im  Dienste  der  Heilkunde.  1893;  Lloyd  Tuckey, 
Psychotherapie  oder  Behandlung  mittelst  Hypnotismus  und  Suggestion,  deutle 
von  Tatzel.  1895;  Löwenfeld,  Der  Hypnotismus.  1901. 


Psychische  Behandlung. 


433 


schaft  zu  erlangen,  so  muss  ein  solches  Verfahren  gerade  für  den 
Irrenarzt,  dem  die  Beseitigung  krankhafter  Erscheinungen  auf 
allen  jenen  Gebieten  anheimfällt,  von  kaum  hoch  genug  zu  schät- 
zendem Werte  sein.  Leider  hat  die  Erfahrung  diese  Erwartung 
bisher  nur  in  geringem  Masse  gerechtfertigt.  So  leicht  es  ge- 
wöhnlich gelingt,  geistig  gesunde  Menschen  dem  Einflüsse  der 
Hypnose  zu  unterwerfen  und  sie  dabei  von  allem  möglichen 
Schmerz  und  Unbehagen  zu  befreien,  so  wenig  zugänglich  er- 
weisen sich  zumeist  Geisteskranke  für  jenes  Heilmittel.  Die 
Macht  der  Suggestion  ist  hier,  wahrscheinlich  wegen  der  häufigen 
Aufmerksamkeitsstörungen  und  lebhaften  Eigensuggestionen,  eine 
weit  geringere,  als  unter  gewöhnlichen  Verhältnissen.  Aus  diesem 
Grunde  fällt  es  nicht  nur  im  allgemeinen  schwerer,  Geisteskranke 
zu  hypnotisieren,  sondern  der  Einfluss  des  Arztes  wird  auch  fast 
niemals  ein  so  wirksamer  und  namentlich  nachhaltiger.  So  ist  es 
z.  B.  nicht  möglich,  in  der  Hypnose  etwa  eingewurzelte  Wahnideen 
auszureden,  die  wir  ja  gewissermassen  als  dauernde  Eigensugge- 
stionen auf  fassen  können.  Dagegen  scheinen  Sinnestäuschungen, 
Appetit-  und  Schlafstörungen  immerhin  der  hypnotischen  Behand- 
lung bis  zu  einem  gewissen  Grade  zugänglich  zu  sein.  Ebenso  ver- 
mag sie  bei  der  Befreiung  von  Alkohol  und  Morphium  öfters  gute 
Dienste  zu  leisten. 

Am  nächsten  liegt  es  natürlich,  die  Suggestionen  bei  jenen 
Formen  des  Irreseins  in  Anwendung  zu  bringen,  bei  welchen  er- 
fahrungsgemäss  psychische  Wirkungen  ohnedies  eine  herrschende 
Rolle  im  Krankheitsbilde  spielen,  bei  der  Hysterie  und  der  Ner- 
vosität. Ohne  Zweifel  ist  es  hier  möglich,  gelegentlich  über- 
raschende Erfolge  zu  erzielen,  wie  schon  die  Paradefälle  der 
„Heilmagnetiseure“  lehren;  im  ganzen  aber  scheinen  doch  vor- 
zugsweise diejenigen  Formen  jener  Erkrankungen  Vorteil  von  der 
hypnotischen  Behandlung  zu  ziehen,  bei  denen  die  eigentlich 
psychopathischen  Erscheinungen  gegenüber  den  nervösen  Be- 
schwerden zurücktreten.  Zudem  sind  gerade  hier  hindernde  Eigen- 
suggestionen sehr  häufig,  und  es  besteht  immerhin  die  Gefahr 
der  Entwicklung  autohypnotischer  Zustände,  wenn  dieselbe  auch 
durch  grosses  Geschick  des  Arztes  und  geeignete  Handhabung 
des  Verfahrens  meiner  Überzeugung  nach  völlig  vermieden  werden 
kann.  Auch  bei  der  Schreckneurose  sind  die  Erfolge  der  hyp- 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl.  28 


434 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


notischen  Behandlung  weniger  glänzend,  als  man  vielleicht  hätte 
hoffen  dürfen;  dagegen  ist  die  sogenannte  monosymptomatische 
Hysterie,  der  ich  auch  aus  diesem  Grunde  eine  Sonderstellung 
einräumen  möchte,  dem  heilenden  Einflüsse  der  Suggestivbehand- 
lung in  sehr  erfreulicher  Weise  zugänglich.  Bei  den  übrigen 
Formen  des  Entartungsirreseins,  namentlich  den  Angstzuständen 
und  dem  Zwangsirresein,  sind  wohl  oft  vorübergehende,  aber  nur 
hie  und  da  und  nur  bei  grösster  Geduld  und  Sachkenntnis  dauernde 
Erfolge  zu  erzielen;  auch  die  bis  dahin  für  unheilbar  geltende 
konträre  Sexualempfindung  ist  in  neuerer  Zeit  nicht  ohne  Nutzen 
auf  diese  Weise  behandelt  worden. 

Wenn  nach  diesen  Erwägungen  der  Wirkungsbereich  der  hyp- 
notischen Beeinflussung  bei  Geisteskranken  heute  auch  ein  weit 
beschränkterer  genannt  werden  muss,  als  zunächst  erwartet  wer- 
den konnte,  so  liegt  in  dem  bisher  Erreichten  doch  die  dringende 
Mahnung  für  den  Irrenarzt,  sich  mit  der  Anwendung  dieses  Heil- 
verfahrens auf  das  eingehendste  vertraut  zu  machen,  sei  es  auch 
nur,  um  nicht  durch  unsachgemässes  Vorgehen  Schaden  anzurichten. 
Die  zweckmässigste  und  anscheinend  ungefährlichste  der  bisher 
bekannten  Anwendungsformen  des  Hypnotismus  ist  ohne  Zweifel 
diejenige  der  mündlichen  Suggestion,  wie  sie  von  Bernheim 
und  seinen  Schülern  geübt  wird.  Von  einer  eingehenderen  Be- 
schreibung derselben  muss  hier  unter  Hinweis  auf  die  angeführten 
Werke  abgesehen  werden,  vor  allem  deswegen,  weil  das  ganze 
Verfahren  nicht  unbedeutende  Anforderungen  an  die  persönliche 
Gewandtheit  und  Geistesgegenwart  des  Arztes  stellt  und  deshalb 
im  einzelnen  nur  durch  die  Anschauung  erlernt  werden  kann. 


D.  Behandlung  einzelner  Krankheitserseheinungen. 

Ein  Rückblick  auf  die  ganze  Reihe  der  Behandlungsmittel 
so  verschiedener  Art,  die  dem  Irrenarzte  zu  Gebote  stehen,  lässt 
leicht  erkennen,  dass  seine  Tätigkeit  sich  im  wesentlichen  gegen 
die  Krankheitszeichen  richtet,  wie  das  ja  bei  der  ungenügenden 
Ausbildung  unserer  Ursachenlehre  und  den  Schwierigkeiten,  die 
Ursachen,  selbst  wo  wir  sie  kennen,  zu  beseitigen,  kaum  anders 
erwartet  werden  darf.  Nur  in  den  wenigen  Fällen,  in  denen  als 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


435 


Entstehungsbedingungen  des  Irreseins  Fieber,  örtliche  oder  allge- 
meine Krankheiten,  Vergiftungen,  Neuralgien,  Magen-  und  Darm- 
leiden, Erkrankungen  der  Nieren  oder  Geschlechtswerkzeuge,  der 
Schilddrüse,  Syphilis  u.  s.  w.  gegeben  sind,  kann  unter  Umständen 
von  einer  wirklich  ursächlichen  Behandlung  die  Rede  sein,  auf 
deren  Einzelheiten  wir  hier  natürlich  nicht  einzugehen  haben. 
Dagegen  ist  es  von  Wichtigkeit,  noch  die  Behandlung  gewisser 
besonderer,  bei  verschiedenen  Formen  des  Irreseins  wiederkehren- 
der Krankheitserscheinungen  einer  kurzen  Besprechung 
zu  unterziehen. 

Zunächst  haben  wir  der  p s y c h i s c h e n E r r e g u n g *)  zu  ge- 
denken, deren  nachdrückliche  Behandlung  namentlich  dann  not- 
wendig wird,  wenn  sie  eine  Erschöpfung  des  Kranken  herbeizu- 
führen  droht.  Vor  allem  wird  man  hier  versuchen,  die  dauernde 
Bettruhe  unter  fortgesetzter  Überwachung  durchzuführen.  Erweist 
sich  das  als  unmöglich,  so  wird  man  bei  den  meisten  Kranken  durch 
die  Anwendung  warmer  Dauerbäder  ohne  weiteres  zum  Ziele 
kommen,  namentlich,  wenn  man  im  Anfänge  die  Durchführung 
dieser  Massregel  durch  Arzneimittel  (Trional,  Sulfonal,  Hyoscin) 
unterstützt.  Stösst  die  Badebehandlung  auf  Schwierigkeiten,  was 
namentlich  bei  katatonischen  Erregungszuständen  vorkommt,  so 
schreitet  man,  unter  Umständen  ebenfalls  unter  Mitwirkung  einer 
Arzneigabe,  zu  feuchtwarmen  Wicklungen,  an  die  sich  der  Kranke 
regelmässig  sehr  rasch  gewöhnt,  auch  wenn  er  sich  im  Anfänge 
lebhaft  sträubt.  Dauert  die  Unruhe  in  der  Wicklung  fort,  so  wird 
der  Kranke  nach  kurzer  Zeit  wieder  befreit  und  versuchsweise  ins 
Bad  gebracht,  um  wieder  in  die  Wicklung  zurückzukehren,  sobald 
die  Behandlung  auch  dort  nicht  möglich  ist.  Eine  regelmässige, 
geduldige  Wiederholung  dieses  Wechsels  hat  mich,  seitdem  ich 
in  der  Lage  war,  ihn  auch  die  Nacht  hindurch  fortsetzen  zu  können, 
selbst  in  den  schwersten  Fällen  binnen  wenigen  Tage  zum  Ziele, 
d.  h.  dahin  geführt,  dass  die  Kranken  ohne  Schwierigkeit  im  Bade 
blieben.  Die  Anwendung  von  Betäubungsmitteln  kann  von  diesem 
Augenblicke  an  fortfallen.  Meist  bleiben  die  Kranken  nach  einigen 
misslungenen  Versuchen  ganz  ruhig  in  der  Wicklung.  Sie  werden 
dann  nach  spätestens  zwei  Stunden  ausgepackt  und  ins  Bad  ge- 


*)  Gross,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LVI,  953,  1899. 

28* 


43G 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


bracht;  die  nächste  Wicklung  folgt,  sobald  sie  wieder  aus  dem 
Bade  herausdrängen.  Mit  dem  Eintritte  einer  gewissen  Beruhigung 
wird  immer  von  neuem  der  Versuch  gemacht,  die  Kranken  im 
Bett  zu  halten,  aus  dem  sie  dann  nur  noch  zeitweise,  bei  vorüber- 
gehender Verschlimmerung  des  Zustandes,  ins  Bad  zurückkehren. 
Dieses  ganze,  planmässig  ausgebildete  Verfahren,  die  Verbindung 
von  Bettruhe,  Bad  und  Packung,  hat  sich  mir  im  Laufe  der  Jahre 
so  vorzüglich  bewährt,  dass  die  Erregungszustände  unserer  Kran- 
ken ihre  Schrecken  für  uns  wesentlich  verloren  haben.  Sollten 
indessen  einmal,  etwa  bei  einer  schweren  epileptischen  Erregung, 
alle  jene  Hilfsmittel  und  ebenso  die  schon  angeführten  Arznei- 
mittel versagen,  so  würde  nichts  übrig  bleiben,  als  den  Kranken  in 
einem  mit  Matratzen  ausgelegten  Zimmer  unter  beständiger  Auf- 
sicht abzusondern,  bis  der  Zustand  die  Rückkehr  zu  dem  geschilder- 
ten Verfahren  ermöglicht. 

Bei  der  Behandlung  ängstlicher  Erregungen  ist  Opium 
und  Morphium  am  Platze,  besonders  wo  unangenehme  Empfin- 
dungen, Schmerzen  und  dergl.  bestehen.  Die  Bromsalze  eignen 
sich  mehr  für  die  Zustände  innerer  Beunruhigung  und  er- 
höhter gemütlicher  Reizbarkeit  (epileptische  Verstimmungen, 
Nervosität);  bei  der  reizbaren  Depression  der  Cirkulären 
leistet  öfters  die  Verbindung  von  Brom  mit  Opium  recht  gute 
Dienste.  Wo  der  allgemeine  Kräftezustand  sehr  gesunken  ist, 
wirkt  bisweilen  als  bestes  Beruhigungsmittel  möglichst  reichliche 
Ernährung,  wenn  es  sein  muss,  durch  die  Schlundsonde.  Ist  die 
Erregung  hauptsächlich  die  Folge  von  äusseren  Einwirkungen, 
so  hilft  oft  schon  die  Versetzung  in  eine  andere  Umgebung,  das 
Zurückziehen  in  ein  Einzelzimmer;  in  leichteren  Fällen  kommt  man 
vielleicht  mit  der  einfachen  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit,  ja 
unter  Umständen  mit  einem  scherzhaften  Worte,  der  Gewährung 
einer  kleinen  Vergünstigung  über  drohende  Ausbrüche  hinweg. 
Sehr  wichtig  ist  es  für  Arzt  und  Pflegepersonal,  derartige  Kranke 
genau  zu  kennen  und  sie  nach  ihrer  Eigenart  zu  behandeln.  Bei 
den  meist  rasch  verlaufenden  Erregungen  verblödeter  Kranker 
genügt  in  der  Regel  die  sofortige  Bettlagerung  oder  die  A er- 
bringung  ins  Bad;  nur  ausnahmsweise  wird  einmal  eine  Hyoscin- 
einspritzung  nötig. 

Für  die  Behandlung  der  Schlaflosigkeit  wird  man  regel- 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


437 


massig  zunächst  mit  diätetischen  Massregeln  auszukommen  suchen. 
Bei  chronischen  Erkrankungen  und  kräftigem  Körper  ist  aus- 
giebige Bewegung  im  Fteien  (Holz-  und  Gartenarbeit),  Turnen, 
Massage  am  Platze,  während  bei  frischen  und  leicht  erregbaren 
Kranken  stärkere  körperliche  Anstrengungen  meist  gerade  un- 
günstig auf  den  Schlaf  wirken.  Hier  wird  man  verlängerte  warme 
Bäder  mit  gleichzeitiger  Abkühlung  des  Kopfes,  feuchte  Ein- 
packungen, Galvanisation  des  Kopfes,  in  geeigneten  Fällen 
vielleicht  hypnotische  Beeinflussung  ins  Feld  führen  können. 
Mitunter  ist  auch  schon  durch  Einführung  einer  Nachmittags- 
ruhe, Sorge  für  leicht  verdauliches,  frühzeitiges  Abendessen,  Ver- 
meidung des  Lesens  am  Abend,  Beseitigung  von  Thee  und  Kaffee, 
abendliche  Darmentleerung,  rechtzeitiges  Schlafengehen,  ausgie- 
biges Lüften  des  Schlafzimmers  und  dergl.  viel  zu  erreichen. 
Muss  man  zu  Arzneien  greifen,  so  versuche  man  zuerst  den  Alkohol, 
dann  die  Bromsalze  in  mittleren  Gaben.  Nur  im  äussersten  Not- 
fälle und  nur  bei  acuten  Erkrankungen  darf  ganz  vorübergehend 
zu  anderen  Schlafmitteln,  bezw.  bei  grosser  Angst  oder  lebhaften 
Schmerzen  zum  Morphium  oder  Opium  übergegangen  werden,  da 
es  sehr  schwierig  werden  kann,  die  viel  mit  Betäubungsmitteln 
behandelten  Kranken  wieder  an  den  natürlichen  Schlaf  zu  ge- 
wöhnen und  ihnen  die  Arzneien  zu  entziehen. 

Sehi*  sorgfältige  Beachtung  seitens  der  gesamten  Umgebung 
erheischt  die  Neigung  zum  Selbstmorde,  die  so  häufig 
bei  Angstzuständen,  besonders  bei  gleichzeitiger  Bewusstseins- 
trübung, aber  auch  bei  ganz  einfachen  Verstimmungen  ohne  auf- 
fallendere Störung  der  Besonnenheit,  in  den  Vordergrund  tritt. 
Namentlich  die  letzteren  Fälle  sind  es,  welche  die  höchsten  An- 
forderungen an  die  Wachsamkeit  und  Umsicht  des  Anstaltspersonals 
stellen.  Die  Gelegenheiten,  die  dem  bisweilen  mit  voller  Be- 
rechnung handelnden  Kranken  zur  Ausführung  seines  selbstmör- 
derischen Planes  dienen  können,  sind  so  überaus  zahlreich  und 
mannigfaltig,  dass  nur  eine  gereifte  und  mit  allen  Möglichkeiten 
vertraute  Erfahrung  die  Aussicht  hat,  mit  Erfolg  dem  krankhaften 
Streben  entgegenzuarbeiten.  Jeder  Nagel,  jede  Glasscherbe,  jedes 
Stück  Blech  kann  zum  tötlichen  Werkzeuge  in  der  Hand  des  ver- 
zweifelten Kranken  werden;  jeder  unbewachte  Augenblick  kann 
Erhängen,  Zusammenschnüren  des  Halses,  Herunterspringen,  Ver- 


438 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


schlucken  gefährlicher  Gegenstände,  kann  die  schwersten  Ver- 
stümmelungen, Herausreissen  der  Augen,  der  Zunge,  der  Hoden 
zu  stände  kommen  lassen,  ja  ich  habe  das  Abbeissen  der  Zunge 
und  ferner  Bruch  der  Halswirbelsäule  infolge  eines  mächtigen 
Stosses  mit  dem  Kopfe  gegen  die  Wand  in  Gegenwart  des  Pflege- 
personals erlebt.  Glücklicherweise  sind  derartige  Vorkommnisse 
nicht  häufig,  ja  es  scheint,  dass  durch  die  Anstalt  90  o/o  und  sogar 
noch  mehr  der  sonst  wahrscheinlichen  Selbstmorde  verhütet  wer- 
den, aber  es  ist  wünschenswert,  sich  der  Unglücksfälle  zu  erinnern, 
damit  sie  auch  nicht  häufiger  werden.  Am  gefährlichsten  sind 
Melancholiker  und  Cirkuläre  in  der  Depression  ohne  stärkere  Hem- 
mung, da  sie  ihr  Ziel  oft  mit  grösster  Hartnäckigkeit  und  vieler 
Überlegung  zu  erreichen  suchen;  aber  auch  Paralytiker  und  na- 
mentlich Katatoniker  können,  unter  Umständen  ganz  unvermutet, 
schwere  Selbstmordversuche  machen.  Bei  den  letzteren  pflegen 
diese  Versuche  mit  ausserordentlicher  Tatkraft  und  ohne  jede 
Rücksicht  auf  die  Umgebung,  bisweilen  wochenlang  fast  ununter- 
brochen, ausgeführt  zu  werden,  während  die  Paralytiker  gewöhn- 
lich ohne  Nachdruck  und  sehr  unüberlegt  ans  Werk  gehen.  Die 
Selbstmordversuche  der  Hysterischen  führen  ebenfalls  nur  aus- 
nahmsweise zum  -Ziel,  da  sie  in  der  Regel  schwächlich  und  thea- 
tralisch angelegt  sind. 

Die  Neigung  zum  Zerstören  entspringt  bei  unseren  Kran- 
ken meist  aus  innerer  Erregung,  bisweilen  aber  auch  aus  der 
Langenweile  und  dem  Mangel  an  zweckvoller  Tätigkeit.  Im  letz- 
teren Falle  soll  durch  Anleitung  und  Gelegenheit  zu  nützlicher 
Arbeit  Abhilfe  geschaffen  werden.  Da  das  am  besten  in  grossen 
Anstalten  mit  genügender  Mannigfaltigkeit  der  Bedürfnisse  und 
Betriebe  durchführbar  ist,  müssen  arbeitsfähige  Kranke  sobald  wie 
möglich  in  derartige  Anstalten  überführt  werden.  Bei  erregten 
Kranken  wird  die  Zerstörungssucht  glatt  und  leicht  durch  die  Be- 
handlung im  Bett  und  im  Dauerbade  bekämpft.  Hier  fehlt  den 
Kranken  einerseits  jeder  Angriffspunkt;  andererseits  bietet  das 
Wasser  ein  unerschöpfliches  Mittel  zur  Befriedigung  des  Betäti- 
gungsdranges im  Spritzen,  Wirbeln,  Klatschen,  Tauchen.  Bei  einer 
Kranken,  die  uns  durch  ihre  Zerstörungen  in  einem  früheren 
manischen  Anfalle  ein  kleines  Vermögen  kostete,  habe  ich  den 
wirtschaftlichen  Nutzen  greifbar  feststellen  können,  den  die  Dauer- 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


439 


bäder  durch  das  Fortfallen  jenes  Krankheitszeichens  gebracht 
haben.  Die  wahren  Zerstörungskünstler,  denen  durchaus  nichts 
widersteht,  denen  jeder  Stein,  jedes  Drahtstückchen,  jeder  ab- 
gebrochene Löffelstiel  zum  vielseitigsten,  vernichtendsten  Werk- 
zeuge wird,  bildet  nur  die  Isolierung  aus.  Ihnen  gegenüber  sind 
alle  „unzerreissbaren“  Kleider,  alle  „unzerstörbaren“  Geschirre 
und  Einrichtungen  gänzlich  nutzlos.  Mit  der  Durchführung  der 
zellenlosen  Behandlung  werden  sie  aus  unserem  Anstaltsleben  ver- 
schwinden. 

Ganz  Ähnliches  gilt  von  einem  weiteren  Schrecken  der  irren- 
ärztlichen Tätigkeit,  der  Unreinlichkeit.  Soweit  wir  es  mit 
gelegentlichen  Vorkommnissen  zu  tun  haben,  die  bei  gelähmten, 
gebrechlichen  oder  unruhigen  und  verwirrten  Kranken  eintreten, 
bietet  die  Verhütung  und  Beseitigung  nichts  Besonderes.  Er- 
ziehung des  Wartpersonals  zur  Aufmerksamkeit,  geduldiges  An- 
halten der  Kranken  zur  Befriedigung  ihrer  Bedürfnisse,  unter 
Umständen  regelmässige  Eingiessungen  zu  vollständiger  Ent- 
leerung des  Darmes,  endlich  rasche  Beseitigung  jeder  geschehenen 
Verunreinigung  werden  im  allgemeinen  zum  Ziele  führen.  Weit 
schlimmer  für  den  Kranken  wie  für  seine  Umgebung  ist  die 
scheussliche  Gewohnheit  des  Schmierens.  Da  sie  mit  der  Iso- 
lierung in  innigstem  Zusammenhänge  steht,  wird  sie  durch  das 
Dauerbad,  in  dem  die  Sauberhaltung  nicht  die  geringsten  Schwie- 
rigkeiten bietet,  ohne  weiteres  beseitigt.  Auch  bei  der  sonst 
recht  mühsamen  Behandlung  sehr  unbehilflicher  unreiner  Kranker 
leistet  das  Dauerbad  die  vorzüglichsten  Dienste.  In  Ermanglung 
dessen  pflegt  man  auch  wohl  die  Lagerung  auf  Holzwolle  oder 
Mooswatte  anzuwenden. 

Besondere  Mühe  hat  man  sich  vielfach  gegeben,  die  Mastur- 
bation zu  bekämpfen.  Oft  verschwindet  dieselbe  mit  der  Ab- 
nahme der  psychischen  Erregung  von  selbst;  in  anderen,  chro- 
nischen Fällen  bleibt  meist  jede  Behandlung  erfolglos.  Nicht  ohne 
Wert  ist  vielleicht  die  Anwendung  des  Bromkalium;  wichtiger  bleibt 
indessen  die  diätetische  Behandlung,  Sorge  für  ruhigen  Schlaf, 
Vermeidung  müssiger  Bettruhe,  Regelung  der  Darmentleerung, 
ablenkende  Beschäftigung,  ausgiebige  Bewegung  im  Freien  bis 
zur  Ermüdung,  ferner  kalte  Waschungen,  besonders  Sitzbäder,  end- 
lich eine  aufmerksame,  geduldige  Überwachung  und  Erziehung. 


440 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


Zum  Schlüsse  haben  wir  noch  einer  äusserst  wichtigen  Krank- 
heitserscheinung zu  gedenken,  deren  Behandlung  nicht  selten  recht 
grosse  Schwierigkeiten  verursacht,  der  Nahrungsverweige- 
rung*) (Sitophobie).  In  erster  Linie  wird  man  hier  nach  kör- 
perlichen Ursachen  zu  suchen  haben,  namentlich  Magen-  oder 
Mundkatarrhen  oder  Darmträgheit,  die  man  durch  geeignete  Mass- 
regeln,  Auswahl  der  Speisen,  Ausspülen  des  Magens,  Mundes  oder 
Darmes,  unter  Umständen  auch  durch  Arzneimittel  zu  bekämpfen 
hat.  Nicht  viel  Erfolg  habe  ich  von  dem  anscheinend  auch 
nicht  ganz  ungefährlichen  Orexin  gesehen,  welches  zur  Anregung 
der  Esslust  empfohlen  worden  ist. 

Wenn  wir  absehen  von  der  durch  schwere  Benommenheit 
bedingten  Unfähigkeit,  zu  schlucken,  hat  die  Nahrungsverweige- 
rung am  Läufigsten  ihren  Grund  in  mannigfachen  Wahnideen,  Ver- 
giftungsfurcht, Glauben,  nicht  bezahlen  zu  können,  das  Essen 
nicht  wert  zu  sein,  Wunsch  zu  verhungern.  Der  beste  Bundes- 
genosse ist  immer  der  Hunger,  der  bisweilen  nach  einigen  Tagen 
der  Nahrungsverweigerung  sein  Recht  so  stark  geltend  macht, 
dass  der  Kranke  dann  mit  wahrer  Gier  über  die  Vorgesetzten 
Speisen  herfällt.  Er  wirkt  am  verführerischsten,  wenn  man  sich 
um  den  Kranken  scheinbar  gar  nicht  kümmert,  ihn  mit  dem  Essen 
allein  lässt  und  seine  Nahrungsverweigerung  möglichst  wenig 
beachtet.  Vieles  Zureden  oder  gar  Versuche,  die  Nahrung  einzu- 
geben, pflegen  den  Widerstand  rasch  sehr  erheblich  zu  verstärken. 
In  anderen  Fällen  ist  es  mehr  eine  gewisse  Willenlosigkeit,  die  den 
Kranken  hindert,  die  wahnhaften  Gegenvorstellungen  zu  über- 
winden; er  isst,  sobald  man  ihm  den  Löffel  an  den  Mund  führt. 
Anwendung  von  Gewalt  dabei  ist  hier  wie  dort  regelmässig  vom 
Übel.  Noch  andere  Formen  der  Nahrungsverweigerung  kommen 
durch  den  Negativismus  der  Katatoniker  sowie  durch  die  Unruhe 
erregter  Kranker  zu  stände,  welche  die  Arbeit  des  Essens  fort- 
während mit  andersartigen  Bewegungsantrieben  durchkreuzt.  Bis- 
weilen wechseln  diese  Zustände  sehr  rasch,  und  derselbe  Kranke, 
der  jetzt  auf  keine  Weise  zum  Essen  zu  bringen  war,  nimmt 
vielleicht  nach  einer  Viertelstunde  freiwillig  seine  Nahrung  zu 
sich,  um  kurze  Zeit  darauf  wieder  allen  Versuchungen  eigensinnig 


*)  Pfister,  Die  Abstinenz  der  Geisteskranken  und  ihre  Behandlung.  1S99. 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


441 


zu  widerstehen.  Unermüdliche  Geduld  und  genaue  Ausnutzung 
aller  kleinen  Vorteile  (z.  B.  Anregung  der  Nachahmung  und  des 
Appetits  durch  Mitessen)  sowie  möglichst  sorgfältige  Auswahl 
und  Abwechselung  der  Speisen  helfen  meist  über  die  aufgezählten 
Schwierigkeiten  hinweg. 

Allein  es  gibt  Fälle,  in  denen  alle  Bemühungen  des  Arztes 
nach  dieser  Richtung  hin  fehlschlagen,  und  in  denen  schliess- 
lich, um  der  drohenden  Gefahr  der  Erschöpfung  und  des  Hunger- 
todes zu  begegnen,  zur  künstlichen,  zwangsmässigen 
Einbringung  der  Nahrung  geschritten  werden  muss.  Der 
Zeitpunkt,  an  welchem  man  zu  diesem  Auskunftsmittel  greift,  wird 
am  besten  durch  die  Körperwage  bestimmt,  weil  sie  den  zuver- 
lässigsten Anhaltspunkt  für  die  Beurteilung  des  Ernährungszustan- 
des liefert.  Alle  Kranken,  die  ungenügende  Nahrung  zu  sich 
nehmen,  müssen  daher  häufig,  am  besten  jeden  Tag,  gewogen 
werden,  damit  man  die  Schnelligkeit  der  Gewichtsabnahme  über- 
wachen kann.  Am  schlimmsten  sind  diejenigen  Fälle,  in  denen 
die  Kranken  von  langer  Hand  anfangen,  immer  weniger  und 
weniger  zu  essen,  um  allmählich  ganz  aufzuhören;  hier  ist  rasches 
Einschreiten  dringend  geboten,  weil  sonst  leicht  ein  unaufhalt- 
samer Zusammenbruch  erfolgt.  Je  nach  dem  Zustande  des 
Kranken  wird  man  spätestens  2 — 3 Tage  nach  Beginn  der 
völligen  Nahrungsverweigerung,  bisweilen  auch  schon  noch  früher, 
mit  der  künstlichen  Ernährung  vorzugehen  haben.  Ist  der  Kranke 
kräftig,  gut  genährt  und  hört  er  plötzlich  auf,  zu  essen,  so  kann 
man  ruhig  6 — 8 Tage  zuwarten.  Der  grimmige  Hunger,  der  aller- 
dings bei  langem  Fasten  schliesslich  ausbleibt,  wird  dann  dem- 
selben häufig  ohnedies  ein  Ende  machen.  Ist  die  Nahrungsver- 
weigerung keine  vollständige,  geniesst  der  Kranke  wenigstens 
noch  Wasser,  so  hat  man  unter  steter  Berücksichtigung  seines 
Ernährungszustandes  selbst  10 — 12  Tage  ohne  Gefahr  Zeit,  bevor 
Zwangsmassregeln  notwendig  sind. 

Ist  man  über  die  Notwendigkeit  eines  Eingriffes  im  klaren, 
so  schreite  man  ohne  weiteres  zur  Sondenernährung,  die  in  den 
Händen  des  geübten  Arztes  eine  sehr  einfache  und  völlig  harm- 
lose Massregel  darstellt,  nicht  gefährlicher,  als  eine  Einspritzung 
unter  die  Haut.  Das  gewaltsame  Einschütten  von  Nahrung  in 
die  Backentaschen,  das  Eindringen  in  die  Zahnreihe  mit  Löffeln 


442 


V.  Die  Behandlung  deß  Irreseins. 


und  Schnabeltassen,  das  immer  noch  gelegentlich  wieder  em- 
pfohlen wird,  ist  bei  widerstrebenden  oder  gar  besinnungslosen 
Kranken  durchaus  zu  verwerfen  und  unter  Umständen  sehr  be- 
denklich. Das  einzig  richtige  Verfahren  ist  die  Eingiessung  lau- 
warmer, passend  zusammengesetzter  Flüssigkeiten  mittelst 
Trichter  und  Sonde  in  den  Magen.  Die  Sonde  wird  durch  den  Mund 
oder  besser  durch  die  Nase  eingeführt,  die  vorher  möglichst  von 
Krusten  und  Schleim  gereinigt  werden.  Das  erstere  Verfahren 
zwingt  bei  starkem  Widerstande  des  Kranken  zu  gewaltsamer 
Eröffnung  und  Offenhaltung  der  Zahnreihe  durch  keilartige  Werk- 
zeuge (He  ist  ersehe  Mundsperre),  die  sogar  zu  Verletzungen 
führen  kann;  letzteres  Vorgehen  macht  den  Arzt  vom  Widerstande 
des  Kranken  wesentlich  imabhängig,  misslingt  aber  leichter.  Bei 
jeder  Fütterung  muss  der  Kranke  durch  sichere  Hände  zuverlässig 
festgehalten  werden,  um  unvermutete  störende  Bewegungen  zu 
verhindern;  das  Vorschieben  der  aus  weichem,  biegsamem  Stoffe 
bestehenden  Sonde  (Jacques  Patent  oder  dickwandiger  Gummi- 
schlauch mit  Endöffnung)  geschieht  langsam  und  ohne  die  mindeste 
Gewalt.  In  der  Regel  gleitet  dieselbe  mit  Hilfe  einer  reflektorisch 
ausgelösten  Schluckbewegung  glatt  in  die  Speiseröhre  hinein;  bei 
sehr  widerstrebenden  Kranken  kann  es  indessen  Vorkommen,  dass 
sie  von  ihrer  Bahn  nach  vorn  zu  abgelenkt  wird  und  sich  im 
Munde  zusammenknäuelt.  Hier  muss  man  geduldig  wiederholt 
von  neuem  versuchen,  zum  Ziele  zu  kommen;  im  Notfälle  bleibt 
dann  immer  noch  der  Weg  durch  den  Mund  unter  der  sicheren 
Führung  des  durch  eine  Metallhülse  vor  Bissen  geschützten 
Fingers. 

Von  grosser  Wichtigkeit  ist  es,  sich  davon  zu  überzeugen, 
dass  die  Sonde  den  richtigen  Weg  genommen  hat  und  nicht  in  den 
Kehlkopf  gelangt  ist.  Bei  gelähmten  und  sehr  unempfindlichen 
Kranken  können  nämlich  die  sonst  das  Eindringen  eines  Fremd- 
körpers in  die  Luftwege  begleitenden  Erscheinungen  der  höchsten 
Atemnot  und  der  stürmischen  Reflexbewegungen  gänzlich  fehlen; 
die  Sonde  gleitet  ohne  Störung  bis  an  die  Gabelung  der  Luftröhre, 
wo  sie  auf  Widerstand  stösst.  Man  hört  nun  die  Atemluft  durch 
die  Sonde  streichen,  doch  können  bei  Luftansammlung  im  Magen 
auch  Ausatmungsgeräusche  entstehen,  wenn  das  Rohr  glücklich  in 
diesen  letzteren  gelangt  ist.  Das  unfehlbare  Mittel,  sich  über 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


443 


die  Lage  der  Sonde  zu  vergewissern,  ist  die  A u s c u 1 a t i o n des 
Magens  beim  Einblasen  von  Luft. 

Bevor  man  nun  die  Nahrung  eingiesst,  ist  es  vielfach  zweck- 
mässig, den  Magen  auszuspülen,  um  die  in  ihm  angesammelten 
Mengen  von  zersetztem  Schleim  und  Speichel  zu  entfernen.  Man 
lässt  nun  die  Nährflüssigkeit  langsam  und  mit  möglichst  geringem 
Drucke  zufliessen.  Das  Zurückziehen  der  Sonde  geschieht  anfangs 
langsam,  in  der  Gegend  des  Kehlkopf einganges  schnell;  zugleich 
wird  die  obere  Öffnung  des  Rohres  verschlossen  gehalten,  damit 
nicht  unten  anhängende  Tropfen  bei  dieser  Gelegenheit  in  die  Luft- 
röhre gelangen.  Nach  der  Fütterung  muss  der  Kranke  einige 
Zeitlang,  im  Notfälle  mit  Gewalt,  in  Ruhelage  gehalten  werden. 

Als  Nahrungsflüssigkeit  wählt  man  zweckmässig  Milch  oder 
Fleischbrühe  mit  gequirlten  rohen  Eiern,  Zucker  und  Butter,  nach 
Umständen  Zusätze  von  Kakao,  Fleischpepton,  Fleischsaft,  Soma- 
tose, Fruchtsäften,  Citronensäure;  auch  Arzneien,  Alkohol,  Kaffee 
können  natürlich  auf  diese  Weise  mit  eingeführt  werden.  Im 
allgemeinen  wird  man  bestrebt  sein,  der  Nahrung  ungefähr  die- 
jenige Zusammensetzung  von  Kohlehydraten,  Eiweiss  und  Fett 
zu  geben,  die  nach  den  Grundsätzen  der  Ernährungslehre  erfor- 
derlich ist.  Es  zeigt  sich  indessen,  dass  bei  längerer  Dauer  der 
künstlichen  Ernährung  eine  sehr  gleichmässige  Zusammensetzung 
der  zugeführten  Flüssigkeit  schlecht  ertragen  wird,  unter  Um- 
ständen sogar  das  Auftreten  von  Skorbut  zur  Folge  haben  kann. 
Aus  diesem  Grunde  empfiehlt  es  sich,  in  solchen  Fällen  mit  einer 
Reihe  verschiedenartiger  Gemische  zu  wechseln,  namentlich  aber 
auch  Zusätze  von  frischem  Fleisch  und  Gemüsen  zu  machen.  Bei 
der  Weite  der  Sonden  gelingt  es  auch  ohne  Schwierigkeit, 
derartige  Beimengungen  in  fein  zerriebener  Form  mit  in  den 
Magen  zu  bringen.  Namentlich  Leber  eignet  sich  wegen  ihrer 
Zusammensetzung  wie  wegen  der  Leichtigkeit  der  Verarbeitung 
dazu  recht  gut.  Wir  pflegen  mit  sechs  verschiedenen  Mischungen 
regelmässig  abzuwechseln,  in  denen  bald  Leber  und  Fleischbrühe, 
Milch  und  Zucker,  Milch  und  Erbsenmehl,  Milch, . Mondamin  und 
Öl,  Milch,  Zucker  und  Kakao,  mit  oder  ohne  Hinzufügung  von 

Eiern,  die  Hauptbestandteile  bilden. 

Die  künstliche  Ernährung  wird  täglich  wenigstens  zweimal 
vorgenommen,  am  besten  mittags  und  abends;  jedesmal  führt  man 


444 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


anfänglich  etwas  weniger,  später  aber  ungefähr  einen  Liter  Flüs- 
sigkeit ein.  Meist  vollzieht  sich  dieser  Vorgang  bei  einiger  Ge- 
wöhnung sehr  leicht  und  einfach.  Es  gelingt  auf  diese  Weise, 
nahrungsverweigernde  Kranke  monate-  und  jahrelang  am  Leben 
zu  erhalten  und  allmählich  auch  wieder  eine  Zunahme  ihres  Kör- 
pergewichtes zu  erreichen.  Dennoch  ist  damit  natürlich  nur  ein 
unvollkommener  Notbehelf  für  die  freiwillige  Nahrungsaufnahme 
gewonnen.  Man  wird  daher  nebenbei  immer  fortfahren,  auf  alle 
Weise  die  Beseitigung  der  Nahrungsverweigerung  anzustreben. 

Eine  sehr  unangenehme  Begleiterscheinung  der  Fütterung  ist 
das  bisweilen  auftretende  Erbrechen.  Schleunige  Entfernung 
der  Sonde  ist  hier  wegen  der  Gefahr  des  Erstickens  durch  die 
neben  dem  Rohr  her  auf  ge  würgte  Nährflüssigkeit  durchaus  not- 
wendig. Durch  Verringerung  der  eingeführten  Flüssigkeitsmenge, 
Verlangsamung  des  Zuflusses,  häufigere  Wiederholung  des  Ver- 
fahrens, im  Notfälle  durch  Abstumpfung  der  Rachenempfindlich- 
keit mit  Hilfe  von  Narkoticis  (Bromkalium,  Bepinseln  mit  Coca'fn- 
oder  Morphiumlösung),  Voranschicken  von  Eiswasser,  Chloroform- 
tropfen oder  Kognak  kann  man  diese  Schwierigkeit  meist  über- 
winden. Man  begegnet  indessen,  allerdings  glücklicherweise  selten, 
nahrungsverweigernden  Kranken,  die  willkürlich  erbrechen  können 
und  so  schliesslich  jede  Fütterung  unmöglich  machen. 

In  solchen  Fällen  und  dort,  wo  aus  irgend  einem  Grunde 
(Verengerungen,  Geschwüre,  Geschwülste)  die  Ernährung  durch 
den  Magen  nicht  möglich  ist,  kann  man  noch  einen  Versuch  mit 
Nährklystieren  machen,  die  indessen  auf  die  Dauer  ein  sehr 
unvollkommenes  Auskunftsmittel  darstellen.  In  den  gründlich  ge- 
reinigten und  durch  ein  Opiumzäpfchen  beruhigten  Darm  werden 
möglichst  hoch  kleine  Mengen  Flüssigkeit  von  grossem  Nähr- 
wert, nach  bekannten  Vorschriften,  gebracht,  wie  sie  der  Darm 
aufnehmen  kann,  Milch  mit  Eiern,  Mehl  mit  Eiern,  Traubenzucker- 
lösung mit  Eiern  und  Fleischpepton  u.  s.  f.  Widerstrebende 
Kranke  werden  freilich  nur  schwer  am  Herauspressen  verhindert 
werden  können. 

In  neuerer  Zeit  ist  die  Reihe  unserer  Kampfmittel  gegen  die 
Nahrungsverweigerung  noch  durch  die  Einführung  der  subcutanen 
Kochsalzinfusion  bereichert  worden*).  Dieselbe  ist  an- 

*)  Ilberg,  Allgem.  Zeitsclir.  f.  Psychiatrie,  XL VIII,  620;  Jacquin, 


Behandlung  einzelner  Krankheitserscheinungen. 


445 


gebracht,  wo  die  Zufuhr  anregender  Nahrungs-  und  Arznei- 
mittel aus  körperlichen  Gründen  (schwere  Mund-  oder 
Magenleiden)  unmöglich  oder  wo  eine  sehr  rasche  und  er- 
giebige Füllung  des  Gefässsystems  notwendig  erscheint.  Bei 
den  Versuchen  mit  diesem  Eingriffe  hat  sich  herausgestellt, 
dass  im  Gefolge  der  Kochsalzinfusion  mit  der  regelmässigen 
Besserung  des  Allgemeinbefindens  auch  ein  erhöhtes  Hunger- 
und  Eurstgefühl  aufzutreten  pflegt,  welches  die  Kranken 
unter  Umständen  zu  freiwilliger  Nahrungsaufnahme  veranlasst, 
namentlich  dann,  wenn  die  Verweigerung  nicht  durch  klar  ver- 
arbeitete Wahnideen,  sondern  nur  durch  Verwirrtheit  und  Unruhe 
bedingt  war.  Auf  Grund  solcher  Erfahrungen  haben  wir  in  Fällen, 
in  denen  keine  grosse  Gefahr  im  Verzüge  war,  statt  der  Infusionen 
auch  schon  Kochsalzklystiere  in  Anwendung  gezogen.  Der  Erfolg 
ist  kein  so  plötzlicher  und  durchgreifender,  dafür  aber  das  Ver- 
fahren ein  wesentlich  einfacheres.  Kleine  Mengen  gut  erwärmter 
physiologischer  Kochsalzlösung,  etwa  ein  viertel  Liter  zur  Zeit, 
lässt  man  unter  geringem  Drucke  langsam  möglichst  hoch  in 
den  Darm  hineinlaufen;  die  Aufsaugung  geschieht  dann  seitens 
des  wasserarmen  Körpers  regelmässig  rasch  und  vollständig.  Auch 
bei  diesem  Verfahren  pflegt  sich  ein  lebhaftes  Durst-  und  Hunger- 
gefühl einzustellen,  welches  die  Besiegung  des  Widerstandes 
gegen  die  Nahrungsaufnahme  bisweilen  sehr  erleichtert. 

Die  Einfuhr  wirklicher  Nahrungsstoffe  unter  die  Haut  ist 
bisher  nur  in  beschränktem  Umfange  versucht  worden.  Am  besten 
geeignet  haben  sich  die  Öleinspritzungen  erwiesen,  die  von 
1 1 b e r g  *  *)  warm  empfohlen  werden.  Unter  den  nötigen  asep- 
tischen Vorsichtsmassregeln  werden  Ölmengen  von  200 — 300  gr 
mit  Hilfe  einer  dicken,  gefensterten  Hohlnadel  unter  die  nach 
Schlei chs  Verfahren  unempfindlich  gemachte  Haut  gebracht 
und  dort  anscheinend  ohne  Störung  aufgesogen.  Wir  besitzen 
demnach  in  verzweifelten  Fällen,  in  denen  die  übrigen  Hilfsmittel 
versagen,  hier  noch  einen  Weg,  das  Leben  für  einige  Zeit,  unter 
Umständen  bis  zu  einer  günstigen  Wendung,  zu  verlängern. 


Annales  medico-psychol.  VIII,  11,  361,  1900;  Marie  und  Pactet,  ebenda, 
VIII,  14,  278,  1901. 

*)  1 1 b e r g , Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LX,  278. 


446 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


E.  Die  Irrenanstalt. 

Die  Gesamtheit  aller  körperlichen  und  psychischen  Heilmittel 
findet  sich  zu  einheitlichem  Zusammenwirken  vereinigt  in  den 
mannigfaltigen  Einrichtungen  der  Irrenanstalt.  Die  Irren- 
anstalt in  ihrer  heutigen  Gestaltung  ist  eine  Eirungenschaft 
unseres  Zeitalters*).  In  früheren  Jahrhunderten  Hess  man  harm- 
lose Kranke  einfach  herumlaufen  und  begnügte  sich  damit,  die 
störenden  Irren  über  die  nächste  Grenze  zu  treiben  oder  in  Ge- 
wahrsam zu  pehmen;  sie  wurden  dann  in  Klöstern,  häufige..  in 
Gefängnissen  und  Zuchthäusern,  zusammen  mit  allem  möglichen 
Gesindel  untergebracht,  in  Käfigen  („Dorenkisten“)  oder  aber  auch 
in  eigenen,  menagerieartigen  „Narrentürmen“  eingesperrt,  welche 
• meist  in  der  Stadtmauer  lagen  und  an  gewissen  Tagen  von  der 
Menge  zur  Belustigung  besucht  wurden.  So  mancher  Kranke  end- 
lich fiel  wohl  auch  den  Hexenprozessen  zum  Opfer  und  wurde  auf 
die  grausamste  Weise  zu  Tode  gemartert  oder  verbrannt  **)• 

Leider  besserte  die  Überwindung  dieses  finsteren  Aber- 
glaubens mehr  als  ein  Jahrhundert  lang  in  dem  Lose  der  unglück- 
lichen Geisteskranken  nur  wenig.  Da  man  das  Irresein  im  all- 
gemeinen für  unheilbar  hielt,  so  waren  die  Irren  nichts,  als 
eine  Last,  deren  man  sich  auf  möglichst  einfache  Weise  zu 
entledigen  suchte.  Allerdings  wurden  in  manchen  Spitälern 
schon  Geisteskranke  ganz  sachgemäss  verpflegt;  meist  aber 
dienten  die  an  Kranken-,  Siechenhäuser  und  dergl.  angebauten 
„Tollhäuser“,  „Narrenhäuslein“,  „Gefängnisse  der  Angefochtenen“ 
nur  zur  Aufbewahrung.  So  wurden  die  Kranken  denn  vielfach 
in  schmutzigen,  licht-  und  luftlosen  V erliessen,  auf  Strohlagern, 
zusammengepfercht,  an  Ketten  geschlossen,  hungernd  und  ohne 
Kleidung  der  Willkür  und  der  Peitsche  roher  Wärter  (vielfach 
entlassener  Verbrecher!)  schutzlos  preisgegeben,  bis  der  Tod, 
barmherziger  als  die  Mitwelt,  sie  von  ihren  Leiden  erlöste.  Selbbt 
nachdem  gegen  die  Mitte  des  achtzehnten  Jahrhundei  ts  in  England 

*)  Kirchhoff,  Grundriss  einer  Geschichte  der  deutschen  Irrenpflege. 
1900;  S n e 1 1 , Zur  Geschichte  der  Irrenpflege.  1896;  R i e g e r , Über  die  Psychia- 
trie in  Würzburg  seit  300  Jahren.  1899. 

**)  S n e 1 1 , Hexenprozesse  und  Geistesstörung.  1891. 


Die  Irrenanstalt. 


447 


die  erste  eigentliche  Irrenanstalt  zur  Behandlung  von  Geistes- 
kranken eingerichtet  worden  war,  fand  dieses  Beispiel  nur  lang- 
same Nachahmung.  Noch  um  die  Wende  des  Jahrhunderts,  als 
P i n e 1 in  Paris  das  Schicksal  der  verwahrlosten  Geisteskranken 
zu  lindern  bemüht  war,  herrschten  fast  überall,  auf  dem  Fest- 
lande wie  in  England,  in  den  Narrenhäusern  die  entsetzlichsten 
Zustände.  Ja,  noch  1817  sah  sich  Hayner,  der  ehrwürdige 
Vorkämpfer  für  die  menschliche  Behandlung  der  Irren  in  Deutsch- 
land, veranlasst,  auf  das  feierlichste  gegen  die  Ketten,  die  Zwangs- 
stühle, die  körperlichen  Züchtigungen  öffentlich  Verwahrung  ein- 
zulegen*). Eine  gute  Vorstellung  davon,  wie  es  bis  in  die  zwanziger 
Jahre  in  alten  Irrenanstalten  aussah,  gibt  das  bekannte  Kaul- 
bachsche  Bild  des  Narrenhauses. 

Nach  und  nach  jedoch  kam  die  Erkenntnis  von  der  Not- 
wendigkeit einer  völligen  Neugestaltung  der  Irrenfürsorge  auf 
ärztlicher  Grundlage  mit  immer  wachsender  Gewalt  zum  Durch- 
bruch, und  es  trat  daher  in  den  ersten  Jahrzehnten  dieses  Jahr- 
hunderts in  den  meisten  vorgeschrittenen  Ländern  an  Stelle  der 
einfachen  Aufbewahrung  die  Errichtung  wirklicher  Heilanstalten, 
die  endlich  auch  den  unglücklichen  Irren  die  Wohltaten  einer 
ärztlichen,  auf  die  Beseitigung  ihres  Leidens  ge- 
richteten Behandlung  zu  vermitteln  bestimmt  waren. 

Diese  Wandlung  stand  in  der  innigsten  Beziehung  zu  dem 
Fortschritte  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  von  dem  Wesen 
der  Geistesstörungen.  Vielleicht  sind  wenige  Gebiete  menschlichen 
Strebens  so  geeignet  wie  die  Irrenheilkunde,  den  ungeheuren  Ein- 
fluss klarzulegen,  den  die  rein  wissenschaftliche  Forschung  auf 
das  Wohl  und  Wehe  der  Menschen  ausübt.  So  vermochte  die 
praktische  Irrenfürsorge  zunächst  den  richtigen  Weg  nicht  zu 
finden,  weil  ihr  die  Leitung  durch  das  wissenschaftliche  Verständ- 
nis des  Irreseins  mangelte. 

Zwar  hatte  vielfach  die  tägliche  Erfahrung  schon  zu  einer 
Behandlung  der  Geisteskranken  geführt,  die  unseren  heutigen 
Anschauungen  gar  nicht  so  sehr  fern  steht.  Dennoch  konnte  es 


*)  Hayner,  Aufforderungen  an  Regierungen,  Obrigkeiten  und  Vorsteher 
der  Irrenhäuser  zur  Abstellung  einiger  schweren  Gebrechen  in  der  Behandlung 
der  Irren.  1817. 


448 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


nicht  fehlen,  dass  der  Einfluss  gewisser  spekulativ-psychologischer 
Auffassungen  des  Irreseins  sich  in  allerlei  Absonderlichkeiten 
geltend  machte,  so  namentlich  in  der  Anwendung  einer  Reihe 
von  ausgesuchten  Marterwerkzeugen,  des  Sackes,  der  Dreh- 
scliaukel,  des  Tretrades,  des  Sarges,  der  kalten  Douchen  u.  s.  f., 
durch  die  man  bestimmte  heilsame  psychische  Wirkungen  auszu- 
üben gedachte.  Die  Kranken  wurden  in  der  verschiedensten  Weise 
gemisshandelt  und  gequält,  aber  nicht  mehr  aus  Rohheit,  sondern 
in  der  wohlgemeintesten  Absicht  ärztlicher  Beeinflussung *). 

Glücklicherweise  ist  diese  Verirrung  verhältnismässig  rasch 
überwunden  worden,  und  die  Behandlungswerkzeuge  wanderten 
bald  in  die  Rumpelkammern;  dagegen  erschien  die  Anwendung 
einfacher  mechanischer  Beschränkung  zum  Schutze  gegen  erregte 
Kranke  oder  auch  zu  ihrer  psychischen  Beeinflussung  noch  Jahr- 
zehnte hindurch  als  selbstverständliche  Massregel.  Lange  und 
schwere  Kämpfe  hat  es  gekostet,  bis  allmählich  C o n o 1 1 y s kühne 
Neuerung  mit  ihren  weitreichenden  Folgen  für  die  gesamte  Ge- 
staltung der  Irrenanstalten  überall  als  selbstverständliche  For- 
derung betrachtet  wurde. 

Wir  dürfen  es  aber  mit  Stolz  aussprechen,  dass  die  Wider- 
stände gegen  den  Fortschritt  weit  weniger  bei  den  Irrenärzten 
gelegen  haben,  als  in  den  äusseren  Verhältnissen,  in  der  Ver- 
ständnislosigkeit und  Gleichgültigkeit  der  Massen,  in  dem  Mangel 
an  verfügbaren  Hilfsmitteln.  Jahrhunderte  lang  haben  Regie- 
rungen und  Volk  dem  Elende  der  Geisteskranken  teilnahmlos  zu- 
gesehen, und  erst,  seitdem  es  Irrenärzte  gibt,  ist  endlich  die  Be- 
wegung in  Fluss  gekommen,  die  uns  auf  die  jetzige  Höhe  geführt 
hat.  Was  wir  heute  noch  hie  und  da  etwa  an  Missbräuchen  und 
Übelständen  sehen,  ist  zumeist  nicht  das  Ergebnis  von  sträflicher 
Pflichtvergessenheit  und  Vernachlässigung,  sondern  es  sind  die 
letzten  Überreste  eines  kaum  überwundenen  Zeitalters,  in  welchem 
nur  die  höchsten  und  erleuchtetsten  Geister  für  die  Menschenrechte 
der  Geisteskranken  eintraten.  Dieselben  Irrenärzte,  die  man  bis- 
weilen in  merkwürdiger  Verkennung  der  geschichtlichen  Ent- 
wicklung gewissermassen  als  die  geborenen  Feinde  der  Kranken 

*)  Schneider,  Entwurf  zu  einer  Heilmittellehre  gegen  psychische 
Krankheiten.  1824. 


Die  Irrenanstalt. 


449 


und  Gesunden  zu  brandmarken  beliebt,  sind  es  gewesen,  welche 
in  mühseliger,  aufopferungsreicher  Berufsarbeit  ihren  Pflege- 
befohlenen die  Ketten  gelöst  haben,  in  welche  sie  Rohheit  und 
Unkenntnis  so  lange  geschmiedet  hatte. 

Die  heutige  Irrenanstalt  ist  ein  Krankenhaus  wie  jedes  andere, 
mit  dem  einzigen,  durch  den  Zustand  ihrer  Bewohner  geforderten 
Unterschiede,  dass  Eintritt,  Behandlungsart  und  Austritt  nicht 
vom  Belieben  des  Kranken,  sondern  unter  gewissen  Einschrän- 
kungen vom  Urteile  des  sachverständigen  Arztes  abhängen.  Jede 
Einrichtung  der  Anstalt  dient  daher  in  erster  Linie  dem  Heilzwecke, 
dessen  Erreichung  mit  allen  durch  Wissenschaft  und  Erfahrung 
gelieferten  Hilfsmitteln  erstrebt  wird.  Diese  Aufgabe  sucht  die 
Anstalt  zu  lösen,  indem  sie  zunächst  den  Kranken  mit  einem 
Schlage  der  Einwirkung  jener  täglichen  Reize  ent- 
zieht, wie  sie  nur  allzu  oft  in  seinem  Berufsleben,  in  der  Sorge 
für  das  tägliche  Brot,  in  der  verfehlten  und  verständnislosen 
Behandlung  seitens  der  Angehörigen  und  Freunde,  ja  in  dem 
Spotte  und  den  Neckereien  einer  rohen  Umgebung  auf  ihn  ein- 
stürmen. Er  findet  sich  wieder  in  einem  geordneten,  vom  Geiste 
der  Menschenliebe  und  des  Wohlwollens  durchdrungenen  Haus- 
wesen, in  dem  ihn  teilnehmendes  Verständnis  für  seinen  Zustand, 
liebevolle  Fürsorge  für  seine  Bedürfnisse  und  vor  allen  Dingen 
Ruhe  erwartet.  Sehr  häufig  ist  daher  auch  eine  sofortige  Be- 
ruhigung der  rasche  Erfolg  seiner  Versetzung  in  die  Anstalt. 

Leider  verhindern  auch  heute  die  immer  noch  in  der  Menge 
und  selbst  bei  Ärzten  bestehenden  Vorurteile  gegen  die  Anstalt 
vielfach  die  rechtzeitige  Durchführung  dieser  segensreichen  Mass- 
regel.  Es  erscheint  kaum  glaublich,  wenn  trotz  der  jetzigen  Ent- 
wicklung unseres  Irrenwesens  in  weiten  Kreisen  die  ebenso  un- 
sinnige wie  verhängnisvolle  Vorstellung  fortlebt,  dass  ein  Kranker 
erst  „reif“  für  die  Irrenanstalt  werden  müsse,  dass  sein  Zustand 
sich  bei  vorzeitiger  Aufnahme  verschlechtern,  dass  ihn  die  Er- 
kenntnis, in  der  Anstalt  zu  sein,  das  Zusammensein  mit  anderen 
Kranken  rasend  machen  werde.  Damit  verbindet  sich  dann  weiter 
die  aller  Erfahrung  Hohn  sprechende  Meinung,  dass  ein  Gesunder, 
der  etwa  versehentlich  in  eine  Anstalt  eingesperrt  werde,  nun  in- 
folge der  schrecklichen  Eindrücke  sehr  bald  in  Geisteskrankheit 
verfallen  müsse  u.  s.  f.  Von  einsichtslosen  Kranken  hören  wir 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl.  29 


450 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


diese  Überlegungen  alle  Tage  Vorbringen;  sie  sind  nur  der  Wider- 
hall jener  verderblichen  Bestrebungen,  die  das  glücklicherweise 
schwindende  Misstrauen  gegen  die  Irrenanstalten  durch  urteils- 
lose Schauergeschichten  von  neuem  aufzuregen  suchen.  Indem 
sie  dahin  drängen,  die  Aufnahme  in  die  Anstalten  durch  weit- 
läufige Förmlichkeiten,  ja  durch  Anstrengung  eines  eigenen 
„Irrenprozesses“  mit  Instanzenzug  nach  Möglichkeit  zu  erschwe- 
ren, betrügen  sie  Tausende  hilfsbedürftiger  Kranker  um  die  Wohl- 
tat rechtzeitiger  Behandlung,  ja  um  die  Möglichkeit  der  Genesung. 
Denn  das  hat  die  Erfahrung  auf  das  unzweifelhafteste  erwiesen, 
dass  die  Aussicht  auf  Heilung  oder  doch  Besserung  bei  Geistes- 
störungen sich  um  so  günstiger  gestaltet,  je  früher  die  Ver- 
bringung in  eine  geeignete  Anstalt  stattfindet. 

Nur  bei  ganz  leichten  Formen  psychischer  Verstimmung,  bei 
vielen  Formen  des  Entartungsirreseins,  schleichend  verlaufenden 
oder  abgeschlossenen  Verblödungen  und  dergl.,  und  wenn  die  häus- 
lichen Verhältnisse  eine  sehr  gute  Überwachung  und  Pflege  ge- 
statten, ist  es  geraten,  von  der  Anstaltsbehandlung  abzusehen. 
In  allen  schwereren,  namentlich  akuten  Erkrankungen  jedoch, 
und  ganz  unbedingt  dann,  wenn  in  der  Umgebung  des  Kranken 
selbst  Schädlichkeiten  gelegen  sind,  oder  wenn  sich  Selbstmord- 
ideen, Nahrungsverweigerung,  stärkere  Aufregung,  Unreinlichkeit, 
Neigung  zu  Gewalttätigkeiten  einstellen,  ist  die  schleunigste  "Ver- 
setzung aus  der  Familie  in  die  Irrenanstalt  geboten.  Das,  was 
die  Irrenanstalt  derartigen  Kranken  bietet,  kann  in  der  Häus- 
lichkeit nur  dann  wenigstens  annähernd  erreicht  werden,  wenn 
diese  letztere  selbst  zu  einer  Irrenanstalt  im  kleinen  umgestaltet 
wird,  wie  das  vielleicht  bei  sehr  grossen  Mitteln  ausnahmsweise 
einmal  möglich  ist. 

Sehr  dringend  muss  vor  den  vielfachen  unverständigen  er- 
suchen gewarnt  werden,  die  herannahende  Geistesstörung  durch 
„Zerstreuungen“,  anstrengende  Reisen,  Entziehungs-  und  Kalt- 
wasserkuren abschneiden  zu  wollen,  bevor  man  sich  zu  dem  einzig 
richtigen,  lange  verworfenen  Schritte  der  Verbringung  in  die  An- 
stalt entschliesst.  Die  beste  Zeit  zum  erfolgreichen  ärztlichen 
Handeln  ist  dadurch  verloren  gegangen,  das  Fortschreiten  des 
Krankheitsvorganges  zu  immer  schwereren  und  vielleicht  nicht 
mehr  ausgleichbaren  Störungen  begünstigt  worden,  so  dass  der 


Die  Irrenanstalt. 


451 


Kranke  nach  allen  den  missglückten  Versuchen  schliesslich  schon 
als  geistige  Ruine  in  die  Hände  des  Irrenarztes  gelangt.  Obgleich 
der  Schwerpunkt  der  Behandlung  Geisteskranker  in  der  Irren- 
anstalt gelegen  ist,  bleibt  es  daher  eine  überaus  wichtige  Auf- 
gabe des  Hausarztes,  rechtzeitig  die  Entwicklung  der  Störung 
zu  erkennen  und  ohne  viel  Zeitverlust  mit  nutzlosem  und  häufig 
schädlichem  Herumprobieren  die  Versetzung  des  Kranken  in  die 
für  ihn  geeignete  Umgebung  zu'  veranlassen*).  Von  besonderem 
Werte  wird  es  dabei  sein,  wenn  er  durch  eine  sachverständige 
Krankengeschichte  dem  Anstaltsarzte  Aufschlüsse  über  den  Be- 
ginn und  bisherigen  Verlauf  des  Leidens  zu  geben  vermag,  da 
ja  die  Aussagen  des  Kranken  und  selbst  der  Angehörigen  über 
diesen  Punkt  nicht  selten  recht  wenig  zuverlässig  sind. 

Über  die  Förmlichkeiten,  unter  denen  die  Verbringung  des 
Kranken  in  die  Anstalt  zu  geschehen  hat,  bestehen  in  den  ein- 
zelnen Ländern  verschiedenartige  Bestimmungen.  Abgesehen  von 
den  freiwilligen  Aufnahmen,  die  glücklicherweise  vielfach  schon 
möglich  sind,  wird  dabei  regelmässig  die  Einwilligung  der  nächsten 
Angehörigen  oder  die  Einweisung  durch  eine  Behörde  verlangt, 
ausserdem  ein  oder  mehrere  ärztliche  oder  amtsärztliche  Zeug- 
nisse über  das  Vorhandensein  einer  Geistesstörung  und  die  Not- 
wendigkeit der  Anstaltsbehandlung.  Vielfach  besteht  dabei  der 
Grundsatz,  dass  in  Notfällen  die  Aufnahme  des  Kranken  durch 
das  Fehlen  eines  oder  des  anderen  schriftlichen  Nachweises  nicht 
verzögert  werden  soll,  sondern  der  Anstaltsarzt  nach  Befinden 
das  Recht  hat,  den  Kranken  fürsorglich,  gegen  Nachlieferung  der 
Papiere,  aufzunehmen.  Das  ist  namentlich  deswegen  notwendig, 
weil  sonst  die  erregten  Kranken  zunächst  unfehlbar  ganz  formlos 
in  irgend  einem  ungeeigneten  Gelass,  bestenfalls  in  der  Tobzelle 
eines  Krankenhauses,  eingesperrt,  im  Bette  geknebelt,  festgebun- 
den und  gebändigt  werden,  wenn  sie  nicht  davonlaufen,  sich  um- 
bringen oder  allerlei  Unheil  anrichten.  Im  grossen  und  ganzen 
geht  das  Bestreben  aller  Einsichtigen  dahin,  die  Aufnahme  in 
allen  unzweifelhaften  Fällen  geistiger  Störung  nach  Möglichkeit 


*)  Hocke,  Die  Aufgaben  des  Arztes  bei  der  Einweisung  in  die  Irren- 
anstalt. 1900;  Gastpar,  Die  Behandlung  Geisteskranker  vor  ihrer  Auf- 
nahme in  die  Irrenanstalt.  1902. 


29* 


452 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


zu  erleichtern,  da  die  „papierenen  Ereignisse“  die  Wirkung,  die 
man  ihnen  zuschreibt,  nämlich  widerrechtliche  Freiheitsberau- 
bungen zu  verhindern,  in  keiner  Weise  ausüben,  sondern  nur  die 
Hilfeleistung  verzögern.  Die  Sicherung  vor  Missbrauchen  beruht, 
abgesehen  vom  Strafgesetze,  genau  wie  bei  der  Rechtspflege, 
auf  der  persönlichen  Tüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit  der  Irren- 
ärzte. Es  ist  in  dieser  Hinsicht  bezeichnend,  dass  trotz  aller 
Schauergeschichten,  die  sogar  in  den  Volksvertretungen  vorge- 
bracht worden  sind,  in  Deutschland  noch  niemals  ein  Irrenarzt 
wegen  widerrechtlicher  Freiheitsberaubung  verurteilt  wurde.  Tat- 
sächlich habe  ich  selbst  Gelegenheit  gehabt,  6 Jahre  hin- 
durch alle  meine  Kranken  ohne  irgendwelche  Papiere  aufzunehmen, 
und  ich  habe  keine  nennenswerten  Unzuträglichkeiten  daraus  er- 
wachsen sehen.  Freilich  ist  die  Verantwortlichkeit  für  den  Ii  * en- 
arzt  selbst  unter  diesen  Umständen  eine  viel  grössere,  als  wenn 
er  sich  überall  auf  gesetzliche  Vorschriften  berufen  kann,  aber  er 
ist  als  Sachverständiger  auch  am  meisten  dazu  befähigt,  sie  zu 
tragen,  und  die  Kranken  befinden  sich  dabei  ohne  Zweifel  am 
wohlsten. 

Trotzdem  ist  natürlich  in  allen  schwierigeren  Fällen  die  vor- 
herige Erledigung  aller  Förmlichkeiten  gerade  dem  Anstaltsarzte 
dringend  erwünscht,  damit  wenigstens  ein  Teil  der  Last  auf 
fremden  Schultern  ruht,  die  ihm  aus  dem  unerquicklichen  und 
undankbaren  Festhalten  widerstrebender,  besonnener  Kranker  in 
der  Anstalt  regelmässig  zu  erwachsen  pflegt.  Wir  Irrenärzte 
würden  daher  vom  Standpunkte  unserer  Bequemlichkeit  gegen 
eine  Erschwerung  der  Aufnahmen  in  die  Anstalten  nicht  das 
Geringste  einzuwenden  haben.  Man  versuche  aber  die  Durch- 
führung einer  solchen  „Reform“  auch  nur  ein  einziges  Jahr  lang 
wirklich  in  irgend  einem  Landesteile,  so  würden  die  papierenen 
Verbesserungsvorschläge  schneidiger  Juristen  und  ihrer  sach\er- 
ständigen  Halbirrenärzte  von  einem  Sturme  der  Entrüstung  über 
die  mangelhafte  Irrenfürsorge  hinweggefegt  werden.  Es  bedarf 
nur  eines  Blickes  in  unsere  Tageszeitungen,  um  einen  klaren  Be- 
griff von  der  Grösse  des  Unheils  zu  gewinnen,  welches  noch  jetzt 
tagtäglich  Geisteskranke  in  der  Freiheit  über  sich  und  ihre  Um- 
gebung heraufbeschwören.  Rechtzeitige  Fürsorge  für  diese  Un- 
glücklichen könnte  ohne  Zweifel  einen  grossen  Teil  der  sich  immer 


Die  Irrenanstalt. 


453 


wiederholenden  Selbstmorde,  Familientötungen,  Angriffe,  Brand- 
stiftungen, der  Geldverschleuderungen  und  geschlechtlichen  Un- 
geheuerlichkeiten verhüten,  die  wir  als  etwas  ganz  Selbstver- 
ständliches hinzunehmen  pflegen.  Wer  den  traurigen  Mut  findet, 
diese  unerschöpfliche  Summe  menschlichen  Elends  noch  ver- 
grössern  zu  wollen,  der  beweist  dadurch  nur,  dass  er  keine  Ahnung 
von  dem  zerstörenden  Einflüsse  besitzt,  den  schon  ein  einzelner 
Geisteskranker  auf  die  Familie  ausübt,  die  für  ihn  zu  sorgen  ge- 
zwungen ist.  Gewiss  sind  nicht  alle  Geisteskranken  gefährlich, 
aber  es  gibt  wenige,  die  es  nicht  einmal  werden  können.  Ich  habe 
daher  auch  überall  die  Schwierigkeiten  grösser  gefunden,  un- 
heilbare, halbwegs  entlassungsfähige  Pfleglinge  wieder  loszu- 
werden, als  gemeingefährliche  Kranke  gegen  ihren  Willen  in  der 
Anstalt  festzuhalten. 

Für  die  Behandlung  des  weiteren  Verlaufs  der  gei- 
stigen Störung  bedarf  die  Anstalt  aller  Hilfsmittel,  die  irgendwie 
auf  eine  günstige  Entwicklung  desselben  hinzuwirken  imstande 
sind.  Dahin  gehören  in  erster  Linie  die  in  ihrem  Fache  besonders 
ausgebildeten  Ärzte,  über  deren  sonstige  notwendige  Eigen- 
schaften wir  schon  oben  gesprochen  haben.  Wir  dürfen  nicht 
verhehlen,  dass  wir  in  diesem  Punkte  das  Erstrebenswerte  noch 
nicht  erreicht  haben*).  Der  Beruf  des  Irrenarztes,  insbesondere 
des  Anstaltsleiters,  ist  ein  recht  schwerer  und  entsagungsvoller. 
Die  Vereinsamung  in  den  meist  fern  vom  Verkehr  gelegenen 
Anstalten,  die  grosse  Verantwortlichkeit,  der  aufreibende,  un- 
ausgesetzte Verkehr  mit  Geisteskranken,  die  Hoffnungslosigkeit 
des  ärztlichen  Tuns  in  der  Mehrzahl  der  Fälle,  die  unbefriedigende 
wirtschaftliche  Lage,  endlich  die  Überhäufung  mit  reinen  Ver- 
waltungsaufgaben stellen  sehr  bedeutende  Anforderungen  an  die 
Berufsfreudigkeit  und  die  geistige  Spannkraft.  Neigung  und 
Fähigkeit  zu  wissenschaftlicher  Fortbildung,  zur  Anregung  und 
Erziehung  der  jüngeren  Ärzte  werden  dadurch  in  empfindlicher 
Weise  beeinträchtigt.  Dazu  kommt,  dass  fast  überall  die  Zahl 
der  an  den  Anstalten  vorgesehenen  Ärzte  viel  zu  gering  ist,  dass 
ein  einziger  Arzt  nicht  selten  für  150 — 200,  ja  noch  mehr  Kranke 
zu  sorgen  hat.  So  ist  es  denn  erklärlich,  dass  auch  die  vorhandenen 


*)  Hoppe,  Die  Stellung  der  Ärzte  an  den  öffentlichen  Irrenanstalten.  1902. 


454 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


Stellen  vielfach  nur  ungenügend  oder  gar  nicht  besetzt  sind. 
Überlastung  des  Einzelnen,  Ertötung  der  Eerufsfreudigkeit  und 
rascher  Verbrauch  sind  die  unausbleiblichen  Folgen. 

Da  die  Weiterentwicklung  unserer  Irrenfürsorge  durchaus  ab- 
hängig ist  von  dem  Verständnisse  und  der  Leistungsfähigkeit  des 
irrenärztlichen  Standes,  erwachsen  hier  dem  Staate  wichtige  Auf- 
gaben. Der  Hauptnachdruck  ist  darauf  zu  legen,  dass  einmal 
die  Zahl  der  selbständigen  und  behaglichen  Lebensstellungen,  die 
dem  Irrenarzte  erreichbar  sind,  erheblich  vergrössert  wird,  sodann 
aber,  dass  mit  allen  Hilfsmitteln  auch  den  Anstaltsärzten  die 
stetige,  lebendige  Fühlung  mit  den  wissenschaftlichen  Bestre- 
bungen erhalten  wird,  durch  Entlastung  von  Verwaltungs- 
geschäften, Beschaffung  wissenschaftlicher  Hilfsmittel,  Büche- 
reien, Fortbildungskurse,  Ermöglichung  von  wissenschaftlichen 
Reisen.  Es  ist  eine  äusserst  kurzsichtige  Anschauung,  wenn  man 
bisweilen  geglaubt  hat,  dass  durch  die  wissenschaftliche  Beschäf- 
tigung dem  Krankendienste  Zeit  und  Arbeitskraft  entzogen  werde; 
gerade  das  Gegenteil  ist  der  Fall.  Nur  die  wissenschaftliche  Be- 
trachtung seines  Gegenstandes  ist  imstande,  den  Irrenarzt  einiger- 
massen  für  die  Schattenseiten  seines  Berufes  zu  entschädigen, 
ihm  die  Frische  zu  erhalten  und  ihn  vor  einer  handwerksmässigen 
Erledigung  der  Tpgesgeschäfte  zu  bewahren.  Rechnet  man  hinzu, 
dass  allein  die  Möglichkeit  zu  wissenschaftlicher  Vertiefung  der 
Berufstätigkeit  auf  die  Dauer  tüchtige  Kräfte  heranziehen  wird, 
so  kann  darüber  kein  Zweifel  sein,  dass  die  Förderung  wissen- 
schaftlicher Bestrebungen  die  reichsten  Früchte  auch  für  die 
praktische  Krankenfürsorge  trägt.  Allerdings  ist  dabei  voraus- 
gesetzt, dass  es  sich  wirklich  um  die  Beschäftigung  mit  psychia- 
trischen Fragen  und  nicht  um  entlegene  Liebhabereien  handelt. 
Sache  der  Kliniken  wird  es.  sein,  für  diese  Tätigkeit  die  Anregungen 
zu  geben,  wie  umgekehrt  viele  klinische  Aufgaben  von  aller- 
grösster Wichtigkeit  nur  durch  die  Anstaltsärzte  in  Angriff  ge- 
nommen und  gelöst  werden  können. 

Fast  noch  brennender,  als  die  Frage  einer  genügenden  ärzt- 
lichen Fürsorge  für  unsere  Kranken,  ist  diejenige  der  Beschaffung 
eines  geeigneten  Pflegepersonals*).  Alle  Irrenärzte  sind  darin 

*)  Hoppe,  Centralbl.  f.  Psych.  1892,  Dezember;  1895,  Febr.;  Lud- 
wig, Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LIV,  108. 


Die  Irrenanstalt. 


455 


einig,  dass  die  Lösung  dieser  Aufgabe  zur  Zeit  ebenso  dringend 
wie  schwierig  ist.  Dem  Pflegepersonal  müssen  wir  unsere  Kranken 
dauernd  anvertrauen,  ohne  dasselbe  doch  mehr,  als  immer  nur  vor- 
übergehend, überwachen  zu  können.  Mit  Recht  hat  daher  West- 
p h a 1 es  als  das  grösste  Übel  im  Berufe  des  Irrenarztes  bezeichnet, 
dass  er  niemals  sicher  weiss,  was  mit  seinen  Kranken  geschieht, 
sobald  er  den  Rücken  wendet.  Der  Beruf  des  Irrenpflegepersonals 
erfordert  nicht  nur  ein  hohes  Mass  geistiger  und  körperlicher  Ge- 
sundheit, sondern  auch  ausserordentlich  viel  Geduld,  Opferwillig- 
keit, Selbstbeherrschung  und  Verstand.  Es  ist  sicher,  dass  nur  ein 
sehr  kleiner  Teil  des  vorhandenen  Personals  diesen  Anforderungen 
wenigstens  annähernd  entspricht,  zumal  die  äussere  Entschädi- 
gung, die  man  zu  bieten  pflegt,  in  gar  keinem  Verhältnisse  zu 
der  Schwierigkeit  der  auferlegten  Pflichten  steht.  Aber  auch  die 
wirklich  tüchtigen  und  dienstwilligen  Kräfte  sehen  wir  regelmässig 
nach  kürzerer  oder  längerer  Dienstzeit  erlahmen  und  sich  in  der 
überaus  aufreibenden  Tätigkeit  verbrauchen.  Einzelne  erfahrene 
Irrenärzte  halten  es  daher  für  unzweckmässig,  die  Irrenpflege 
überhaupt  zu  einem  Lebensberufe  zu  gestalten,  sondern  verlangen 
die  Heranziehung  immer  neuer  Kräfte  an  Stelle  der  nach  einer 
Anzahl  von  Jahren  abgenutzten  Personen.  Ausserdem  aber  muss 
jedenfalls  die  gesamte  Lebensstellung  des  Pflegepersonals  er- 
heblich günstiger  gestaltet  werden,  als  heute1,  damit  eine  weiter- 
gehende Auswahl  nur  der  geeignetsten  Kräfte  möglich  ist.  Sodann 
wird  die  grösste  und  unausgesetzteste  Sorgfalt  auf  die  be- 
rufliche Einübung*)  und  die  sittliche  Erziehung  des  Ein- 
zelnen zu  verwenden  sein,  wenn  wir  allmählich  auch  beim  Durch- 
schnitte dasjenige  Mass  von  Tüchtigkeit  und  Zuverlässigkeit  er- 
reichen wollen,  welches  die  Pflege  unserer  Kranken  durchaus 
erfordert. 

Jede  Irrenanstalt  gliedert  sich  naturgemäss  in  eine  grössere 
oder  kleinere  Zahl  verschieden  ausgestatteter  Abteilungen  für 
die  einzelnen  Gruppen  der  Kranken  (Unruhige,  Plalbruhige,  Ruhige, 
Gebrechliche,  Überwachungsbedürftige  u.  s.  f.) ; sie  enthält  ausser- 


*)  Mercklin,  Centralbl.  für  Nervenheilk.  u.  Psychiatrie  1896,  457; 
Snell,  Grundzüge  der  Irrenpflege.  1897;  Leitfäden  von  Schröter  (1897), 
Tippei  (1897),  Schloss  (2.  Aufl.  1901),  Scholz  (3.  Aufl.  1902). 


456 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


dem  die  allgemeinen  Einrichtungen  sonstiger  Krankenhäuser.  Im 
übrigen  aber  drängt  die  Verschiedenartigkeit  der  Aufgaben,  welche 
die  Irrenanstalt  je  nach  der  Eigenart  ihrer  Bewohner  zu  erfüllen 
hat,  mit  Notwendigkeit  auf  eine  Arbeitsteilung  hin,  auf  eine  ver- 
schiedene Ausbildung  der  Anstalten  nach  ihren  besonderen 
Zwecken.  Freilich  ist  die  früher  meist  aufrecht  erhaltene  Trennung 
derselben  in  Heil-  und  Pflegeanstalten  als  unzweckmässig  und  un- 
durchführbar fast  überall  verlassen  worden.  Anstatt  dessen  be- 
ginnt sich  immer  mehr  die  Scheidung  zwischen  kleineren,  leicht 
erreichbaren,  für  rasch  verlaufende  Fälle,  vorläufige  Lnter- 
bringung  und  nach  Umständen  auch  für  den  Unterricht  geeigneten 
Stadtasylen*)  und  den  grösseren,  auf  längere  Pflege  oder 
dauernde  Versorgung  eingerichteten,  mehr  abseits  gelegenen 
Irrenanstalten  herauszubilden.  Den  Stadtasylen  fällt  dabei 
die  Aufgabe  zu,  aus  dem  ganzen  fortwährend  zufliessenden  Kran- 
kenmateriale die  für  die  Anstalten  passenden  Fälle  auszuwählen 
und  sie  denselben  zu  überweisen. 

Die  Einrichtung  des  Stadtasyls  ist  wegen  der  Eigenart  der 
ihm  zufliessenden  Kranken  beherrscht  von  der  Rücksicht  auf  eine 
möglichst  vollständige  und  unausgesetzte  Überwachung.  Dieser 
Grundsatz  ist  zuerst  von  Parchappe  in  den  sogenannten 
Wachabteilungen  verwirklicht  worden,  in  denen  das  Wart- 
personal die  Kranken  Tag  und  Nacht  unter  Augen  hatte,  um  jeder- 
zeit Hilfe  zu  leisten  oder  Unglück  zu  verhüten.  Einer  derartigen 
Überwachung  bedürfen  nach  unseren  heutigen  Anschauungen  sehr 
viele  Kranke,  die  sich  selbst  Gefährlichen,  die  Nahrungsverwei- 
gerer, die  Unreinlichen,  die  körperlich  Kranken  und  Gebrechlichen, 
endlich  die  Unruhigen  und  Gewalttätigen.  In  einem  Stadtasyl 
bilden  diese  Klassen  von  Kranken  meist  etwa  die  Hälfte  bis  zu 
zwei  Drittel  des  Bestandes.  Es  liegt  indessen  auf  der  Hand, 
dass  diese  so  verschiedenartigen  Kranken  sich  nicht  ohne  die 
grössten  gegenseitigen  Störungen  in  einer  Abteilung  unterbringen 
lassen.  Vielmehr  werden  für  jedes  Geschlecht  mindestens  zwei 
Wachabteilungen  notwendig  sein,  eine  für  ruhige,  eine  andere  für 


*)  Griesinger,  Archiv  f.  Psych.,  I,  8;  Sioli,  Allgem.  Zeitschr.. 
LV,  826;  LVII,  600;  Dannemaiin,  Bau,  Einrichtung  und  Organisation  psychia- 
trischer Stadtasyle.  1901. 


Die  Irrenanstalt. 


457 


unruhige  Kranke.  Kann  man  noch  weiter  gehen  und  namentlich 
die  Gebrechlichen  und  Unreinlichen  abtrennen  — um  so  besser. 

Jede  Wachabteilung  wird  zweckmässig  aus  mehreren,  an- 
einanderstossenden,  aber  leicht  übersehbaren  Räumen  bestehen, 
damit  man  auch  im  einzelnen  noch  eine  gewisse  Sonderung  der 
sich  störenden  Kranken  vornehmen  kann.  Demselben  Zwecke 
dienen  auch  1 — 2,  an  die  Haupträume  anstossende  und  von  da 
zu  überwachende  Einzelzimmer  für  Kranke,  die  aus  irgendwelchen 
Gründen  abgetrennt  werden  sollen  oder  wollen.  Steht  keine  be- 
sondere Abteilung  für  körperlich  Kranke  zur  Verfügung,  so  wer- 
den in  solchen  Einzelzimmern  namentlich  auch  tuberkulöse  Kranke 
zu  behandeln  sein,  deren  Absperrung  in  Irrenanstalten  besonders 
wichtig  ist.  Die  Selbstmordverdächtigen  sind  unter  allen  Um- 
ständen so  unterzubringen,  dass  sie  keinen  Augenblick  ausser  Acht 
gelassen  werden;  nach  Bedarf  muss  für  einzelne  Kranke  eine  be- 
sondere Wache  eingestellt  werden.  Die  Unterbringung  solcher 
Kranker  in  einzelnen  Zimmern  mit  eigener  Aufsicht,  wie  sie  von 
den  Angehörigen  besserer  Stände  oft  gewünscht  wird,  bietet  weit 
geringere  Sicherheit  und  ist  daher  in  bedenklichen  Fällen  durchaus 
zu  widerraten.  Ich  habe  es  übrigens  oft  erlebt,  dass  besonnene 
Kranke  selbst  die  Verlegung  von  der  Wachabteilung  ablehnten, 
weil  sie  sich  dort  geborgener  fühlten.  Die  für  Selbstmordverdäch- 
tige bestimmten  Räume  sollten  unbedingt  zu  ebener  Erde  liegen. 
Ist  das  nicht  durchführbar,  so  halte  ich  die  Vergitterung  der 
Fenster,  obgleich  man  sich  zumeist  dagegen  zu  sträuben  pflegt, 
für  unerlässlich,  da  mir  die  Erfahrung  leider  mehrfach  gezeigt 
hat,  dass  ohne  diese  Sicherung  gefährliche  Selbstmordversuche 
nicht  zuverlässig  verhütet  werden  können. 

Die  Hauptforderung  der  Übersichtlichkeit  lässt  das  früher 
beliebte  Korridorsystem  für  Wachabteilungen  unzweckmässig  er- 
scheinen. Alle  für  Kranke  bestimmte  Nebenräume  müssen  un- 
mittelbar von  den  Sälen  aus  zugänglich  sein.  Dazu  gehört  ausser 
Abort,  Waschraum  und  Theeküche  vor  allem  der  Baderaum,  dem 
nach  den  Erfolgen  der  Dauerbäder  eine  ganz  andere  Wichtigkeit 
zukommt,  als  früher.  Derselbe  soll  möglichst  geräumig,  hell, 
freundlich,  von  äusserster  Sauberkeit,  behaglich  eingerichtet  sein 
und  an  den  Hauptwachsal  anstossen;  zwei  Zugänge  zu  ihm  sind 
aus  verschiedenen  Gründen  erwünscht.  Zulauf  und  Ablauf  des 


458 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


Wassers  soll  der  Einwirkung  der  Kranken  entzogen  werden.  Aus 
dem  Bade  für  unruhige  Kranke  sind  alle  Gegenstände,  die  zur 
Waffe  werden  könnten,  sorgfältig  fernzuhalten;  hier  empfiehlt  es 
sich  auch,  Fensterscheiben  von  dickem  Glase  zu  wählen.  Ist  die  Zahl 
der  Bäder  ausreichend,  nächtliche  Fortsetzung  derselben  möglich 
und  genügendes  Wartpersonal  vorhanden,  so  kann  auch  die  Ein- 
richtung der  unruhigen  Wachabteilung  völlig  derjenigen  der 
ruhigen  entsprechen;  beide  werden  sich  dann  in  nichts,  als  durch 
die  geschlossenen  Türen,  von  gewöhnlichen  Krankensälen  unter- 
scheiden. Insbesondere  bedarf  es  keines  Zellenkorridors  mehr; 
nur  für  Ausnahmefälle  (Verbrecher)  vrird  man  etwa  noch  einen 
fester  gebauten  Raum  zur  Verfügung  halten.  Für  die  zeitweise 
ausser  Bett  befindlichen  Kranken  kann  man  noch  je  einen  Tage- 
raum hinzufügen. 

Die  Nachtwachen  werden,  wenigstens  in  kleineren  Anstal- 
ten, am  zweckmässigsten  nach  dem  sogenannten  schottischen  A er- 
fahren geregelt.  Bei  demselben  wmcht  derselbe  Wärter,  den  man 
unter  den  älteren  und  erfahreneren  auswählt,  einige  Zeit  hindurch, 
etwa  vierzehn  Tage  lang,  die  ganze  Nacht  und  ist  tagsüber  dienst- 
frei. Die  Vorzüge  dieser  Einrichtung  gegenüber  dem  beständigen 
Wechsel  der  Wache  mit  Zweiteilung  der  Nacht  sind  sehr  er- 
hebliche; sie  liegen  namentlich  auch  darin,  dass  mit  geringer 
A^ermehrung  des  Personals  eine  viel  ausgedehntere  Überwachung 
erzielt  werden  kann.  Selbstverständlich  erfordert  jeder  nächt- 
lich benutzte  Baderaum  eine  besondere  Wache.  Alle  Wachen  be- 
dürfen, wenn  sie  überhaupt  einen  Zweck  haben  sollen,  der  sorg- 
fältigsten Kontrolle. 

Neben  den  Wachabteilungen  spielen  in  einem  Stadtasyle  die 
Räume  für  ruhige  Kranke  und  Genesende  eine  verhältnismässig 
geringe  Rolle.  Sie  brauchen  auch  in  ihren  Einrichtungen  gar 
nichts  Besonderes  zu  bieten.  Zweckmässig  ist  es,  über  einige 
Arbeitsräume  zu  verfügen,  in  denen  sich  je  nach  Umständen  ein- 
mal ein  Schumacher,  Schneider,  Anstreicher  oder  dergleichen  ein- 
richten kann.  Ausserdem  sollten  nicht  nur  Gärten  zur  Erholung, 
sondern  auch  etwas  Land  zur  Beschäftigung  in  frischer  Luft 
vorhanden  sein. 

In  den  grossen  Irrenanstalten  bilden  die  AA^achabteilungen 
ebenfalls  den  Kern  des  Ganzen,  aber  sie  umfassen  nur  einen 


Die  Irrenanstalt. 


459 


verhältnismässig  kleinen  Bruchteil  der  Kranken.  Man  wird  hier 
in  der  Trennung  der  Wachabteilungen  für  die  verschiedenen 
Gruppen  von  Kranken  sehr  viel  weiter  gehen  können  und  dem- 
nach die  einzelnen  Einrichtungen  ihren  besonderen  Zwecken  noch 
mehl-  anpassen.  Im  übrigen  aber  tritt  in  der  grossen  Anstalt 
die  Sorge  für  die  Beschäftigung  und  Unterhaltung  der  zu- 
meist ruhigen  und  arbeitsfähigen  Kranken  in  den  Vordergrund. 
Die  Abteilungen  nehmen  daher  das  Gepräge  grosser  gemeinschaft- 
licher Wohnhäuser  an;  wir  finden  Spiel-  und  Gesellschaftsräume, 
Bibliothek,  Werkstätten  aller  Art,  grosse  Gärten,  Viehwirtschaft, 
Ländereien. 

Je  grösser  in  einer  Anstalt  die  Zahl  der  chronisch  Kranken 
ist,  desto  mehi-  Freiheit  der  Bewegung  wird  man  ihren  Insassen 
zu  gewähren  imstande  sein.  Mit  der  Dauer  des  Irreseins  treten 
meist  die  heftigeren  Erregungen  mehr  und  mehr  zurück;  die 
Kranken  werden  ruhiger,  gleichmässiger  in  ihrem  Verhalten,  frei- 
lich auch  schwachsinniger.  Gegen  die  nunmehr  drohende  Ge- 
fahr weiteren  geistigen  Verfalles  gibt  es  kein  besseres  Mittel, 
als  die  Freiheit,  da  der  eintönige  Anstaltsaufenthalt  mit  seinen 
abstumpfenden  Einflüssen  den  Fortschritt  der  Verblödung  ent- 
schieden begünstigt.  Leider  ist  es  nicht  immer  möglich,  die  un- 
geheilten  Kranken  in  ihre  früheren  Verhältnisse  zurückkehren 
zu  lassen.  Man  wird  ihnen  daher  wenigstens  im  Rahmen  der 
Anstalt,  so  weit  wie  irgend  angängig,  freie  Bewegung  und  Be- 
schäftigung zu  verschaffen  suchen.  Dieser  Wunsch  hat  allmäh- 
lich dahin  geführt,  dass  die  Mehrzahl  wenigstens  der  neueren 
Irrenanstalten  grundsätzlich  auf  die  früher  durchgeführte  strenge 
Absperrung  der  Kranken  verzichtet  hat.  Überall  sucht  man 
schon  dem  Äusseren  der  Anstalten  in  der  Umgrenzung  durch 
einfache  Hecken,  in  der  Verteilung  der  Kranken  auf  einzelne, 
als  freundliche  Villen  erbaute  Häuser  mehr  den  Anschein  etwa 
einer  Arbeiterniederlassung,  als  eines  Irrengefängnisses  zu  geben. 
Vielfach  hat  man  grosse  Abteilungen  der  Kranken,  bis  zur  Hälfte 
oder  gar  zwei  Drittteilen,  ganz  frei,  bei  offenen  Türen  wohnen 
und  nach  ihrem  Belieben  auf  dem  Anstaltsgebiete  sich  bewegen 
lassen  (Offen-Tür-System).  Die  günstige  Wirkung  solcher  Ein- 
richtungen auf  das  Wohlbefinden,  die  Arbeitsfähigkeit  und  das 
gesamte  Benehmen  der  Kranken  ist  eine  ganz  ausserordentliche. 


460 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


Gerade  der  weitere  Ausbau  solcher  offenen  Abteilungen  wird 
in  erster  Linie  dazu  beitragen,  die  Irrenanstalten  volkstümlicher 
zu  machen  und  die  aus  vergangenen  Zeiten  fortgeerbten  Vor- 
urteile gegen  diese  Krankenhäuser  allmählich  zu  mildern.  Na- 
mentlich werden  sie  auch  der  Unterbringung  so  mancher  Kranker 
dienen  können,  die  des  irrenärztlichen  Rates  bedürfen  und 
ihn  auch  gern  einholen  würden,  aber  vor  der  Einschliessung 
und  vor  den  Aufnahmeförmlichkeiten  zurückscheuen.  Die  Zu- 
lassung freiwilliger  Aufnahmen  wird  diese  Entwicklung  be- 
günstigen. 

Einen  überaus  bedeutsamen  Fortschritt  hat  die  Ausbildung 
der  grossen  Anstalten  in  der  neueren  Zeit  erfahren  durch  die 
Entwicklung  der  sog.  Kolonien*),  in  welchen  man,  soweit  wie 
irgend  möglich,  die  Kranken  zu  einer  freien  Beschäftigung  mit 
ländlichen  Arbeiten  heranzuziehen  sucht.  In  dieser  besten  und 
verhältnismässig  billigsten  Verpflegungsart  dürfte  die  ganze  Frage 
der  Irrenfürsorge  auf  lange  Zeit  hinaus  ihre  endgültige  Lösung 
gefunden  haben.  Den  ersten,  von  Koppe  in  grösserem  Mass- 
stabe  durchgeführten,  überraschend  günstig  ausgefallenen  und 
bereits  vielfach  nachgeahmten  Versuch  einer  derartigen  Anstalt 
bietet  das  Rittergut  Alt-Scherbitz  in  der  Provinz  Sachsen 
dar,  welches  gänzlich  durch  geisteskranke  Arbeiter  bewirtschaf- 
tet wird.  Selbstverständlich  ist  hier  zur  Behandlung  der  frischen 
Fälle  und  der  vorübergehenden  Aufregungszustände  noch  eine 
kleinere  Centralanstalt  mit  den  für  diese  Zwecke  geeigneten 
Einrichtungen  notwendig.  Wertvoll  vor  allem  ist  die  koloniale 
Verpflegungsart  für  die  Unterbringung  jener  zahlreichen  gei- 
stigen Krüppel,  denen  die  Krankheit  die  Möglichkeit  einer  selb- 
ständigen Lebensführung  genommen  hat.  Sie  können  durch  die 
stete  Anregung,  welche  die  Arbeit  gibt,  lange  Jahre  hindurch 
in  einem  Zustande  leidlichen  Wohlseins  erhalten  werden,  während 
sie  ohne  dieselbe  vielleicht  rettungslos  einer  raschen  \ erblödung 
anheimgefallen  wären.  Ich  selbst  habe  Gelegenheit  gehabt, 
Kranke,  die  Jahre  lang  in  einer  grossen  geschlossenen  Anstalt 
gelebt  hatten,  unter  dem  Einflüsse  der  freieren  Bewegung  und 


*)  Pätz,  Die  Kolonisierung  der  Geisteskranken  in  Verbindung  mit  dem 
Offen-Tiir-System.  1893. 


Die  Irrenanstalt. 


461 


selbständigeren  Beschäftigung  in  der  Kolonie  auf  geradezu  über- 
raschende Weise  geistig  auf  leben  zu  sehen. 

Auch  noch  nach  einer  anderen  Richtung  hin  haben  die 
Besserungsbestrebungen  der  letzten  Jahrzehnte  die  praktische 
Lösung  der  Irrenfrage  wesentlich  gefördert.  Indem  man  aus- 
ging von  dem  Muster  der  belgischen  Ortschaft  G h e e 1 , deren 
Bewohner  sich  seit  alter  Zeit  aus  ursprünglich  religiösem  An- 
lasse (Kultus  der  heiligen  D y m p h n a)  mit  der  häuslichen  Pflege 
Geisteskranker  beschäftigen,  hat  man,  wie  in  einer  Reihe  anderer 
Länder,  namentlich  in  Schottland,  auch  in  Deutschland  (Ilten, 
Bremen,  Berlin,  Zwiefalten  und  anderwärts)  den  glücklichen 
Versuch  gemacht,  eine  familiäre  Verpflegung*)  von 
Irren  unter  ärztlicher  Aufsicht  in  ausgedehnterem  Masse  ein- 
zurichten. Die  Kranken  werden  dabei  gegen  eine  bestimmte 
Entschädigung  als  Hausgenossen  in  geeigneten  Familien  unter- 
gebracht und  geniessen  dadurch  alle  die  mannigfachen  Anre- 
gungen und  Freuden,  welche  die  selbständige  Lebensführung  in 
der  Freiheit  und  die  Zugehörigkeit  zu  einer  kleinen  Gemein- 
schaft mit  sich  bringt.  Diese  Familienpflege  dient  entweder  als 
Übergang  in  die  volle  Freiheit,  um  die  Kranken  zunächst  wieder 
an  eine  geregelte  Tagesarbeit  zu  gewöhnen  und  ihnen  Gelegen- 
heit zur  Aufsuchung  von  Verdienst  zu  geben.  Oder  aber  sie 
bildet  eine  eigenartige  Form  der  dauernden  Irrenversorgung.  Bei 
uns  in  Deutschland  gliedert  sie  sich  regelmässig  an  grössere 
Anstalten  an  und  wird  von  ihnen  überwacht.  In  Uchtspringe 
sind  eine  Anzahl  von  Kranken  geradezu  in  Wärterfamilien  unter- 
gebracht. Im  allgemeinen  wird  es  sich  dabei  wesentlich  um 
solche  Kranke  handeln,  die  nur  deswegen  der  Anstaltsbehandlung 
bedürfen,  weil  sie  keine  eigene  Familie  haben,  die  imstande 
oder  geeignet  wäre,  sich  ihrer  anzunehmen.  Alt  schätzt  die  Zahl 
der  für  die  Familienpflege  passenden  Kranken  auf  15°/o.  Dem- 
gegenüber befindet  sich  in  den  belgischen  Orten  G h e e 1 und 
Lierneux  die  weit  überwiegende  Menge  aller  Kranken  in  der 
Familienpflege,  deren  Mittelpunkt  eine  verhältnismässig  sehr 


*)  Bothe,  Die  familiäre  Verpflegung  Geisteskranker.  1893;  Falken- 
berg, Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LIV,  553;  Nawratzki,  ebenda, 
LIX,  411;  Alt,  Uber  familiäre  Irrenpflege.  1899. 


462 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


kleine  geschlossene  Abteilung  für  unruhige  und  überwachungs- 
bedürftige Kranke  bildet.  Derartige  Einrichtungen  dürften  je- 
doch nur  dort  möglich  sein,  wo  einerseits  die  Kranken  selbst 
sehr  leicht  zu  behandeln  sind,  und  wo  sich  andererseits  eine 
Bevölkerung  findet,  die  für  die  eigenartige  Aufgabe  ganz  be- 
sonders geeignet  ist. 

Innerhalb  gewisser  Grenzen,  als  Vorbereitung  zur  vollen  Frei- 
heit und  als  Ersatz  für  die  eigene  Familie,  wird  die  an  sich 
bestechendste  Form  der  Irrenfürsorge  auch  für  unsere  Verhält- 
nisse ein  unersetzliches  Glied  in  der  Kette  jener  Einrichtungen 
bilden,  die  berufen  sind,  das  schwere  Schicksal  unserer  Kranken 
zu  erleichtern.  Es  darf  aber  nicht  übersehen  werden,  dass  sie 
auch  gewisse  Mängel  hat,  die  namentlich  in  der  Schwierigkeit 
der  ärztlichen  Überwachung  liegen.  Soll  sie  den  Anforderungen 
entsprechen,  die  wir  heute  als  Ärzte  stellen  müssen,  so  besitzt 
sie  ferner  keineswegs  den  Vorzug  der  Billigkeit.  Allerdings  ist 
vielfach  die  Familienpflege  ursprünglich  aus  den  Bedürfnissen 
der  Armenfürsorge  hervorgegangen,  die  aus  Mangel  an  geeig- 
neten Anstalten  in  irgend  einer  Weise  die  Kranken  unterzu- 
bringen suchte.  Es  liegt  indessen  auf  der  Hand,  dass  sich  im 
allgemeinen  keine  Familie  die  Last  der  Verpflegung  eines  ihr 
völlig  fremden  Geisteskranken  aufbürden  lassen  wird,  wenn  sie 
dafür  nicht  angemessen  entschädigt  wird.  Soll  das  Entgelt  also 
geringer  sein,  als  die  Kosten  der  Anstaltsverpflegung,  so  wer- 
den auch  die  Leistungen  entsprechend  sinken.  Auf  der  anderen 
Seite  fühlen  sich  freilich  die  Kranken  meist  in  den  weit  ein- 
facheren Verhältnissen  der  Familienpflege  wohler,  als  im  Gross- 
betriebe der  Anstalt. 

Die  Häufigkeit  des  Irreseins  bei  Gefangenen  hat  schon 
seit  längerer  Zeit  zu  besonderen  Einrichtungen  für  geistes- 
kranke Verbrecher  im  Anschlüsse  an  Strafanstalten 
geführt.  Die  erste  derartige  Abteilung  in  Deutschland  wurde 
in  Bruchsal  geschaffen;  neuerdings  ist  Preussen  in  grossem 
Massstabe  diesem  Beispiele  gefolgt.  Die  erkrankenden  Gefangenen 
kommen  hier  sehr  rasch  in  fachärztliche  Behandlung.  Sobald  ihre 
Strafzeit  abgelaufen  oder,  in  Preussen,  ihre  Unheilbarkeit  fest- 
gestellt ist,  werden  sie  in  die  gewöhnlichen  Irrenanstalten  über- 
führt. Da  sie  öfters  recht  unangenehme  und  gefährliche  Eigen- 


Die  Irrenanstalt. 


463 


schäften  haben,  die  sich  mit  der  Freiheit  des  sonstigen  Anstalts- 
betriebes schlecht  vertragen,  ist  man  mehrfach  dazu  geschritten, 
einzelnen  Anstalten  mit  besonderen  Sicherungen  versehene  Bauten 
für  „verbrecherische  Irre“  anzugliedern,  in  denen  auch  sonstige 
sehr  gefährliche  Kranke  untergebracht  werden.  Im  ganzen  sind 
jedoch  bisher  die  Erfahrungen  mit  der  Anhäufung  solcher  In- 
sassen in  einer  Abteilung  nicht  sehr  befriedigende  gewesen. 

Die  Aufgabe  des  Irrenarztes  schliesst  zunächst  ab  mit  der 
Entlassung  des  Kranken  aus  der  Anstalt.  In  der 
Regel  soll  dieselbe  nur  nach  erfolgter  Genesung  geschehen,  aber 
es  gibt  nicht  so  gar  selten  Fälle,  in  denen  der  langsame  Gang 
der  Genesung  und  ein  sehr  lebhaftes,  allerdings  noch  krank- 
haftes Heimweh  oder  'das  Drängen  der  Angehörigen  zu  einer 
etwas  vorzeitigen  Entlassung  zwingen,  wenn  man  nicht  die  Ge- 
fahr einer  Verschlechterung  oder  gar  eines  unvermuteten  Selbst- 
mordes auf  sich  nehmen  will.  Bei  vorsichtiger  Auswahl  der 
Kranken  und  unter  günstigen  häuslichen  Verhältnissen  pflegt  sich 
dann  die  weitere  Heilung  meist  ungestört  zu  vollziehen.  Nament- 
lich katatonische  Kranke  erfahren  bisweilen  durch  einen  Ent- 
lassungsversuch eine  verblüffende  Besserung.  Oft  genug  jedoch 
kommen  baldige  Rückfälle  vor,  besonders  wenn  des  Genesenden  zu 
Hause  wieder  Not  und  Sorge,  lieblose,  rohe  Behandlung  oder  die 
Gelegenheit  zu  Ausschweifungen  wartet.  Gerade  für  ihn  ist  aber 
Schonung,  Vermeidung  jeder  Überanstrengung 
und  eine  nur  ganz  allmähliche  Einführung  in  die  alltäg- 
liche Berufslast  dringend  notwendig.  Wohlhabendere  schieben 
daher  zweckmässig  zwischen  die  Genesungszeit  und  den  vollen 
Eintritt  in  ihre  früheren  Pflichten  einen  kurzen  Badeaufenthalt, 
Besuch  in  befreundeter  Familie  und  dergl.  ein. 

Jede  Entlassung  aus  der  Irrenanstalt  ist  zunächst  eine  ver- 
suchsweise und  wird  erst  nach  einigen  Monaten  eine  end- 
gültige, um  die  Rückversetzung  im  Falle  einer  Verschlimmerung 
zu  erleichtern.  Auch  ungeheilte  und  sogar  unheilbare  Kranke 
werden  aus  der  Anstaltsbehandlung  entlassen,  wenn  sie  keine 
Angriffspunkte  für  die  Behandlung  mehr  darbieten  und  sich  für 
häusliche  Pflege  eignen  oder  sich  psychische  Selbständigkeit 
genug  bewahrt  haben,  um  in  günstigen  äusseren  Verhältnissen 
kürzere  oder  längere  Zeit  ohne  besondere  ärztliche  Aufsicht  leben 


464 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


zu  können.  Es  gibt  sogar  gewisse  Gruppen  von  Kranken,  denen 
an  sich  der  Anstaltsaufenthalt  geradezu  schadet,  wenn  auch 
andererseits  mit  Rücksicht  auf  die  Umgebung  ihre  Einschliessung 
unumgänglich  erscheint.  Namentlich  in  solchen  Fällen  wird  jede 
Wendung  zum  Bessern,  soweit  das  ohne  Gefahr  geschehen  kann, 
dazu  ausgenutzt  werden,  dem  Kranken  die  Wohltaten  des  Lebens 
in  der  Freiheit  für  längere  oder  kürzere  Zeit  wieder  zugänglich  zu 
machen. 

Die  Schwierigkeiten,  die  sich  dem  genesenen  und  noch  mehr 
dem  nur  gebesserten  Geisteskranken  bei  der  Rückkehr  in  seine 
früheren  Verhältnisse  entgegenstellen,  haben  schon  vor  vielen 
Jahrzehnten  zur  Gründung  der  Hilfsvereine *)  für  entlassene 
Kranke  geführt.  Deren  Aufgabe  ist  es,  einmal  dem  Kranken  durch 
reichlich  bemessene  Geldunterstützungen  über  die  ersten  Sorgen 
hinwegzuhelfen,  sodann  aber  ihm  bei  der  Wiedergewinnung  einer 
selbständigen  und  sorgenfreien  Lebensstellung  mit  Rat  und  Tat 
an  die  Hand  zu  gehen.  Manche  dieser  Hilfsvereine,  von  denen 
derjenige  in  Hessen  unter  Ludwigs  Leitung  vorbildlich  geworden 
ist,  haben  ihre  Aufgabe  noch  viel  weiter  gesteckt.  Sie  suchen 
durch  ein  Netz  von  Vertrauensmännern  im  ganzen  Lande  nicht 
nur  stete  Fühlung  mit  den  entlassenen  Kranken  zu  behalten, 
sondern  auch  weite  Kreise  der  Bevölkerung  zur  werktätigen  Mit- 
arbeit an  der  Fürsorge  für  die  Geisteskranken  zu  erziehen  und 
damit  einerseits  das  Irrenwesen  volkstümlicher  zu  machen,  an- 
dererseits eine  wohlunterrichtete  öffentliche  Meinung  zu  schaffen, 
die  durch  ihren  Druck  stetig  weiteren  Verbesserungen  den  W eg 
bahnt. 

Noch  nach  anderen  Richtungen  reicht  das  Gebiet  der  Irren- 
fürsorge über  den  Bereich  der  eigentlichen  Anstalten  hinaus**). 
Es  gibt  ganze  Gruppen  von  Kranken,  die  der  irrenärztlichen  Be- 
handlung bedürfen,  sich  aber  nicht  recht  für  die  Unterbringung 
in  den  Irrenanstalten  eignen.  Für  sie  gilt  es,  besondere,  ihren 
Bedürfnissen  angepasste  Einrichtungen  zu  schaffen.  Am  dringend- 
sten ist  die  Notwendigkeit,  für  Trinkerheilstätten  zu  sorgen. 
Während  die  unheilbaren  Trinker  recht  wohl  in  die  Irrenanstalten 


*)  Scholz,  Irrenfürsorge  und  Irrenhilfsvereine.  1902. 

**)  Fischer,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie,  LV,  39. 


Die  Irrenanstalt. 


465 


gehören,  würde  das  ebenso  wichtige  wie  aussichtsreiche  Werk 
der  Trinkerrettung  im  Anfänge  scheitern,  wenn  man  nicht  für 
die  heilbaren  Fälle  eigene  Anstalten  schaffen  und  dadurch  den 
möglichst  frühzeitigen  und  freiwilligen  Eintritt  in  die  planmässige 
Behandlung  erleichtern  wollte.  Gerade  durch  die  Errichtung  ärzt- 
lich geleiteter  Trinkerheilanstalten  wird  allmählich  dem  Volke 
immer  klarer  zum  Bewusstsein  gebracht  werden,  dass  die  chro- 
nische Alkoholvergiftung  eine  Krankheit  ist,  die  man  mit  ärzt- 
licher Hilfe  zu  bekämpfen  hat.  In  zweiter  Linie  stehen  wir  vor 
der  dringenden  Aufgabe,  Heilstätten  für  jene  unbemittelten 
Nervenkranken  zu  schaffen,  die  nicht  in  den  Rahmen  der  Irren- 
anstalten passen,  unter  Umständen  durch  einen  Aufenthalt  dort 
geradezu  geschädigt  werden.  Hierhin  gehören  alle  jene  beson- 
nenen und  geordneten  Kranken,  die  eine  Zeitlang  der  Ruhe 
und  Befreiung  von  dem  Druck  der  Tagesgeschäfte,  oder  die  der 
zielbewussten  Anleitung  zu  regelmässiger  Beschäftigung  be- 
dürfen. Die  Bewegung  zur  Gründung  solcher  Nervenheilstätten 
ist  besonders  durch  Möbius*)  angeregt  worden;  ihr  erstes 
Ergebnis  ist  das  Haus  Schönow  in  Zehlendorf  bei  Berlin; 
weitere  ähnliche  Schöpfungen  werden  über  kurz  oder  lang 
folgen. 

Ein  sehr  erheblicher  Teil  der  Geisteskranken  ist  endlich  überall 
in  Spitälern,  Pfründen,  Pflege-  und  Siechenanstalten  aller 
Art  untergebracht,  meist  ohne  fachärztliche  Fürsorge.  In  der  Tat 
bieten  namentlich  die  angeborenen  geistigen  Schwächezustände 
einer  derartigen  Verpflegung  meist  gar  keine  Schwierigkeiten. 
Etwas  anders  liegt  die  Frage  bei  den  erworbenen  Verblödungen. 
Hier  ist  immer  die  Gefahr  der  Verwahrlosung,  gelegentlicher  Ver- 
schlimmerungen des  Zustandes  und  unter  Umständen  sehr  bedenk- 
licher Handlungen  gegeben.  Es  erscheint  daher  durchaus  unrichtig, 
derartige  Kranke  dem  Bereiche  der  geordneten  Irrenfürsorge  zu 
entziehen;  die  Entwicklung  gröblicher  Missstände  ist  dabei  kaum 
zu  vermeiden**).  Auch  die  besonderen  Anstalten  für  Idioten  und 

*)  B e n d a , öffentliche  Nervenheilanstalten?  1891;  Möbius,  Über  die 
Behandlung  von  Nervenkranken  und  die  Errichtung  von  Nervenheilstätten.  1896; 
Fuchs,  Deutsche  Praxis.  1902,  8;  Neumann,  Ärztliche  Mitteilungen  für 
Baden.  1901. 

**)  Ludwig,  Allgem.  Zeitschr.  f.  Psych.,  LVIII,  1. 

Kraepelin,  Psychiatrie  I.  7.  Aufl. 


30 


466 


V.  Die  Behandlung  des  Irreseins. 


Epileptiker,  die  jetzt  noch  vielfach  ausserhalb  der  eigentlichen 
Irrenfürsorge  stehen,  bedürfen  unbedingt  der  fachmännischen 
Leitung  und  Überwachung,  schon  deswegen,  weil  nur  auf  diese 
Weise  die  in  ihnen  gesammelten  Erfahrungen  wissenschaftliche 
Verwertung  finden  und  damit  zu  Fortschritten  im  Verständnisse 
und  in  der  Behandlung  der  Kranken  führen  können. 


Register. 


A. 

Aberglaube  211.  377. 

Ablenkbarkeit  als  Symptom  160. 194.  234. 
„ des  Willens  278. 

„ Messung  ders.  360.  369. 
Abortus,  Irresein  nach  dems.  80. 

„ künstlicher  als  Heilmittel  410. 
Abreibungen  als  Heilmittel  416. 

Absinth  als  Ursache  des  Irreseins  58. 
Ängstlichkeit  245. 

Äther  als  Beruhigungsmittel  404. 
Äthermissbrauch  als  Ursache  des  Irre- 
seins 64. 

Ätiologie,  allgemeine  12. 

Affekte  s.  Gemütsbewegungen. 
Agoraphobie  s.  Platzangst. 
Akusticusreaktion,  elektrische  132.  345. 
Akusticus,  Hyperästhesie  dess.  132. 
Algolagnie  295. 

Alkohol  als  Ursache  des  Irreseins  57. 

„ als  Schlafmittel  404. 

„ in  Irrenanstalten  418. 

„ Kampf  gegen  denselben  393. 
Alkoholintoleranz  b.  Hirnerkrankungen  21. 
Alkoholwahnsinn  65. 

Altersblödsinn  104. 

Altscherbitz  460. 

Amnesie  165. 

„ retrograde  165. 

»»  „ bei  Erhängten  19. 

Amok  der  Malayen  108. 

Amylenhydrat  als  Schlafmittel  401. 
Amylnitrit  al3  Arzneimittel  407. 
Anamnese  340. 

Angehörige  Geisteskranker  340. 

Angina  als  Ursache  des  Irreseins  43. 
Angst  als  Symptom  249. 

„ Behandlung  derselben  436. 
Angstdelirien  86. 

Anilindelirien  68. 

Anregbarkeit  232. 


Anstaltsartefakte  422. 

Ansteckung,  psychische  93. 
Anthropophagie  295. 

Aphasie,,  amnestische  als  Symptom  167. 
Apoplexie,  Schwachsinn  nach  ders.  21. 
Apperception  154. 
Apperceptionshallucination  137. 
Apperceptionsillusion  138. 
Arbeitsfähigkeit,  geistige  231.  314. 
Arteriosklerose  18.  21.  70.  104. 
Arzneimittel  396. 

Arzt,  weiblicher  425. 

Association  s.  Vorstellungsverbindung. 
Associationscentren  27. 
Associationsfestigkeit  363. 
Atropindelirium  66. 

Auffassungsfähigkeit,  Untersuchung  der- 
selben 357. 

Auffassungsstörungen  153. 
Auffassungstäuschung  138. 
Aufmerksamkeit  156. 

„ Ablenkbarkeit  ders.  160. 

„ Abstumpfung  ders.  159. 

„ aktive  157. 

„ Bestimmbarkeit  ders.  159. 

Dynamometer  ders.  230. 
„ Fesselung  ders.  162. 

„ passive  157. 

Aufmerksamkeitsschwankungen,  Unter- 
suchung derselben  359. 
Aufnahmeverfahren  451. 

Aufzählungen  197. 
Augenspiegeluntersuchung  345. 
Auscultation  des  Kopfes  345. 
Ausdrucksbewegungen,  Störungen  der- 
selben 300. 

„ Untersuchung  ders.  366. 

Ausdruckszwang  187. 

Ausgänge  des  Irreseins  325. 
Ausschweifungen,  geschlechtliche  als 
Ursache  des  Irreseins  74. 
Autohypnose,  Gefahr  derselben  96.  433. 

30* 


468 


Register. 


Automatie  als  Symptom  276. 
Automatisme  ambulatoire  291. 
Autopsie  370. 


B. 

Bäder  als  Heilmittel  411. 

„ elektrische  417. 

„ verlängerte  411. 

Bakterium  coli  als  Heilmittel  408. 
Balkengeschwülste  als  Ursache  des  Irre- 
seins 23. 

Basedowsche  Krankheit  als  Ursache  des 
Irreseins  53. 

Beeinflussbarkeit,  gemütliche  242. 

„ des  Willens,  erhöhte  274. 

„ „ verminderte  284. 

Befehlsautomatie  2/6. 
Befehlsnegativismus  285. 

Begriffsbildung  177. 

„ Störungen  ders.  177. 

Begrüssungsmanieren  281. 

Behandlung  des  Irreseins  385. 

„ körperliche  396. 

„ psychische  424. 

„ symptomatische  434. 

„ zellenlose  422. 

Belastung,  erbliche  s.  Erblichkeit. 

„ organische  117. 

Benzin  als  Ursache  des  Irreseins  64. 
Beobachtung  der  Geisteskranken  369. 
Berauschtheit  während  der  Zeugung  als 
Ursache  des  Irreseins  122. 
Berührungsfurcht  289. 

Beruf  als  Ursache  des  Irreseins  111. 
Berufslosigkeit  als  Zeichen  d.  Irreseins  111. 
Berufswahl  als  Vorbeugung  des  Irreseins 
393. 

Beschäftigung  als  Heilmittel  430. 
Beschäftigungsdelirium  147. 
Beschäftigungsdrang  268. 
Beschleunigung  der  psychischen  Vor- 
gänge 230. 

Beschränktheit,  Abgrenzung  ders.  von 
geistiger  Störung  377. 

Beschränkung,  mechanische  423. 
Besonnenheit  350. 

Besserung  der  Geisteskrankheit  durch 
körperliche  Krankheit  329. 
Bestimmbarkeit  des  Willens  275. 
Bettbehandlung  420. 

Bewegungen,  rhythmische  281. 
Bewegungsdrang  269. 
Bewegungsstereotypen  280. 
Bewusstlosigkeit  151. 


Bewusstsein  150. 

„ doppeltes  236. 

„ Enge  dess.  156. 

„ Helligkeitsgrade  dess.  151. 

„ Schwelle  dess.  151. 
Bewusstseinstrübung  als  Symptom  150. 
Biegsamkeit,  wächserne  277. 
Binitrotoluol  als  Ursache  des  Irreseins  68. 
Blasenpflaster  als  Heilmittel  408. 
Blattern  s.  Variola. 

Bleivergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 67. 

Blickfeld,  inneres  157. 

Blickpunkt,  innerer  157. 

Blutandrang  als  Ursache  des  Irreseins  16. 
Blutdruckuntersuchung  347. 
Bluterkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 48. 

Blutleere  als  Ursache  des  Irreseins  17. 
Blutstauungen  17. 

Blutveränderungen  bei  Geisteskranken 
348. 

Blutverluste  17.  49. 

Brandstiftungstrieb  299. 
Brechweinsteinsalbe  als  Heilmittel  408. 
Bromäthyl  als  Heilmittel  405. 
Bromäthylformin  407. 

Bromalin  407. 

Bromipin  407. 

Bromismus  406. 

Bromsalze  als  Heilmittel  405. 
Bromvergiftung  als  Ursache  des  Irreseins 
66. 

Bromwasser,  kohlensaures  als  Heilmittel 
406. 

Bromwirkung,  psychische  259. 

C. 

Cäsarenwahn  314. 

Cannabinon  als  Heilmittel  399. 
Chininvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 66. 

Chloralamid  als  Schlafmittel  404. 
Chloralhydrat  als  Schlafmittel  400. 
Chloralose  404. 

Chloralrash  400. 

Chloroform  als  Beruhigungsmittel  404. 
Chloroformmissbrauch  als  Ursache  des 
Irreseins  64. 

Chlorose  als  Ursache  des  Irreseins  49. 
Cholämie  als  Ursache  des  Irreseins  50. 
Cholera  „ „ „ » 40. 

Chorea  „ „ » 32. 

„ hereditäre  32. 

„ Huntingtons  32. 


Register. 


469 


Chronoskop  359. 

Civilstand,  Einfluss  desselben  auf  das 
Irresein  114. 

Cocain  als  Ursache  des  Irreseins  65. 
Codein  als  Arzneimittel  397. 

Coitus,  erster  als  Ursache  des  Irre- 
seins 75. 

Collapsdelirium  43. 

Contagion  s.  Ansteckung. 


D. 

Dämmerzustand  als  Symptom  151. 
Dannleiden  als  Ursache  des  Irreseins 
51.  72. 

Dauerbad  412. 

Dauer  des  Irreseins  337. 

Deckelbad  412. 

Degeneration  s.  Entartung. 

Delirium  im  Dunkelzimmer  36. 

„ eklamptisches  81. 

„ nervosum  34. 

„ traumaticum  34. 

„ tremens  63. 

„ urämisches  81. 

Denkhemmung  205. 

Depression  s.  Verstimmung. 
Desorientierung  1734 

„ amnestische  175. 

„ apathische  173. 

„ deliriöse  174. 

„ hallucinatorische  174. 

„ stuporöse  174. 

„ wahnhafte  176. 

Diabetes  als  Ursache  des  Irreseins  51. 
Diätetik  des  Irreseins  417. 

Diagnose,  anatomische  370. 

Diagnostik,  allgemeine  339. 

Digitalis  als  Heilmittel  407. 

Dionin  397. 

Disciplinierung  428. 

Dispositionsfähigkeit  315. 

Dissimulation  383. 

Doppeldenken  als  Symptom  137. 
Dormiol  402. 

Douchen  als  Heilmittel  411. 

Drastica  als  Heilmittel  408. 
Drehschaukel  als  Heilmittel  342. 
Dromomanie  291. 

Drucksteigerung  in  der  Schädelkapsel  als 
Ursache  des  Irreseins  17. 
Druckvisionen  133. 

Duboisinum  sulfuricum  399. 
Dunkelzimmer,  Delirium  in  demselben  36. 
Dysphrenia  neuralgica  34. 


E. 

Echolalie  277. 

Echopraxie  277. 

Ehe,  Beziehungen  derselben  zum  Irre- 
sein 114. 

Eifersuchtswahn  224. 

Eigenbeziehung,  krankhafte  213. 
Eigensinn  287. 

Einbildungskraft  205. 

„ Störungen  derselben  204. 
Einbildungstäuschungen  137. 
Einförmigkeit  des  Denkens  191. 
Einwicklungen,  feuchtwarme  415. 
Einzelhaft  als  Ursache  des  Irreseins  90. 
Eisbeutel  als  Heilmittel  416. 

Eiterungen,  bessernder  Einfluss  ders.  auf 
das  Irresein  329. 

Ekelgefühle,  Verlust  ders.  als  Symptom 
262. 

Eklamptisches  Irresein  81. 

Ekmnesie  237. 

Ekstase  258. 

Elektrotherapie  beim  Irresein  416. 
Emotionspsychosen  86. 

Empfindlichkeit,  gesteigerte  gegen  Al- 
kohol 21. 

Encephalitis  als  Ursache  des  Irreseins  21. 
Encephalopathia  saturnina  67. 
Endzustände  318. 

Entartung,  erbliche  117. 
Entartungszeichen  344. 

„ körperliche  122. 

„ psychische  121. 

Entgleisung  des  Willens  282. 
Enthaltsamkeit,  geschlechtliche  als  Ur- 
sache des  Irreseins  76. 

Entlassung  aus  der  Anstalt  463. 
Entwicklungsjahre,  Einfluss  ders.  auf  das 
Irresein  100. 

Entwicklungsstörungen  als  Ursache  des 
Irreseins  122. 

Epidemien,  geistige  93. 

Epilepsie  als  Ursache  des  Irreseins  33. 
Epileptikerfürsorge  466. 

Erblichkeit  als  Ursache  des  Irreseins  115. 
„ atavistische  116. 

„ collaterale  116. 

„ gehäufte  117. 

„ gleichartige  120. 

„ mittelbare  116. 

„ umwandelnde  121, 

„ unmittelbare  116. 

Erfinder,  krankhafte  207. 
Ergographenversuche  365. 

Ergotismus  als  Ursache  des  Irreseins  56. 


470 


Register. 


19.  Flexibilitas  cerea  s.  Biegsamkeit,  wäch- 


Erhängte,  Geistesstörung  bei  dens. 
Erholungsfähigkeit  233.  368. 
Erinnerungsfälschung  167. 

„ associierende  170. 

„ identificierende  170. 

Erinnerungshallucination  169. 
Erinnerungslosigkeit  165. 
Erinnerungslücke  165. 

Erkennung  des  Irreseins  339. 
Erlenmey ersches  Gemisch  406. 
Ermüdbarkeit,  Messung  ders.  368. 

„ als  Krankheitszeichen  233. 
Ernährung  der  Geisteskranken  417. 

„ künstliche  441. 

Erregbarkeit,  gemütliche  Herabsetzung 
ders.  240. 

Erregbarkeit,  gemütliche  Steigerung 
ders.  243. 

Erregbarkeit,  psychomotorische  Herab- 
setzung ders.  270. 

Erregbarkeit,  psychomotorische  Steige- 
rung ders.  272. 

Erregung,  Behandlung  ders.  435. 

„ katatonische  269. 

„ manische  268. 

„ motorische  267. 

Erscheinungen  des  Irreseins  127. 
Erschöpfung  als  Ursache  des  Irreseins 
36.  43. 

Erschöpfung,  chronische  nervöse  39. 
Erysipel  als  Ursache  des  Irreseins  40. 
Erysipel,  bessernder  Einfluss  desselben 
auf  Geistesstörungen  329. 

Erziehung  als  Ursache  des  Irreseins  123. 
„ „ Vorbeugung  des  Irreseins 

387. 

Essmanieren  281. 

Euphorie  als  Symptom  257. 

„ der  Morphinisten  258. 
Exhibitionismus  291.  297. 


F. 

Fabelmethode  353. 

Fabulieren  170. 

Familiäre  Erkrankungen  21. 
Familienpflege  461. 

Faradisation,  allgemeine  417. 
Fehlassociationen  363. 

Fehlreaktionen  364. 

Fesselung  der  Aufmerksamkeit  162. 
Fetischismus  297. 

Feuerarbeiter,  Irresein  bei  dens.  16.  18. 
Fieberdelirien  41. 

Flagellanten  296. 


serne. 

Fliegenschwammvergiftung  als  Ursache 
des  Irreseins  66. 

Folie  ä deux  94. 

Forensische  Psychiatrie  316. 
Formenlehre,  psychiatrische  339. 
Fragebogen  353. 

Fragesucht  187. 

Frühgeburt,  künstliche  als  Heilmittel 
410. 

Fütterung,  künstliche  441. 

Fugues  der  Epileptiker  291. 
Fortpflanzungsgeschäft  und  Irresein  74. 


G. 

Galvanisation  des  Gehirns  416. 
Gedächtnis  163. 

„ Festigkeit  dess.  166. 

„ Schwäche  dess.  166. 

„ Störungen  desselben  163. 

„ Untersuchung  desselben  352. 

360. 

Gedankengang,  Ablenkbarkeit  dess.  194. 
„ Beschleunigung  dess.  230. 

„ Einförmigkeit  dess.  191. 

„ Hemmung  desselben  205. 

„ Störungen  desselben  181. 

„ Umständlichkeit  dess.  192. 

„ Verlangsamung  dess.  229. 

„ Weitschweifigkeit  desselben 

197. 

Gefässerkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 16.  21.  70. 

Gefangenschaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 90. 

Gefrässigkeit  als  Symptom  292. 

Gefühle  239. 

„ geschlechtliche  264. 

„ krankhafte  Lebhaftigkeit  dersel- 
ben 243. 

„ Störungen  derselben  239. 

„ Stumpfheit  derselben  243. 

Gehmanieren  281. 

Gehörstäuschung  144. 

„ einseitige  132. 
Gelenkrheumatismus  als  Ursache  des  Irre- 
seins 32.  40. 

Gelüste  der  Schwangeren  293. 
Gemeingefühle,  Störungen  derselben  259. 
Gemütsart  244. 

„ krankhafte  244. 
Gemütsbewegungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 85. 


Register. 


471 


Gemütsbewegungen,  Untersuchung  der- 
selben 366. 

Gemütsbewegungen,  krankhafte  248. 
Genesungszeit  323. 

Genie,  Abgrenzung  desselben  vom  Irre- 
sein 12a  310.  378. 

Genitalorgane,  Erkrankungen  ders.  als 
Ursache  des  Irreseins  73. 

Gereiztheit,  krankhafte  255. 

Gerichtliche  Psychopathologie  316. 
Geschäftsfähigkeit  315. 

Geschlecht,  Beziehungen  desselben  zum 
Irresein  104. 

Geschlechtsleben  und  Irresein  74. 
Geschlechtstrieb,  Perversitäten  desselben 
294. 

Geschwülste  des  Hirns  19.  23. 
Gesichterschneiden  212. 
Gesichtstäuschung  143. 

„ mikroskopische  148. 
Gewöhnungsfähigkeit  235.  369. 
Gewohnheitsverbrecher  111. 

Gheel  461. 

Gicht  als  Ursache  des  Irreseins  52. 
Gichter  der  Säuglinge  387. 

Giftmischer,  krankhafte  299. 
Giftwirkungen  auf  Rindenzellen  25. 

„ psychische  54. 
Gleichgültigkeit  als  Symptom  des  Irre- 
seins 240. 

Glücksgefühl,  krankhaftes  257. 
Glykosurie  beim  Irresein  51. 

Gravidität  s.  Schwangerschaft. 

Grazie,  Verlust  ders.  301. 

Greisenalter  als  Ursache  des  Irreseins 
104. 

Grenzen  des  Irreseins  374. 
Grimassieren  282. 

Grössenwahn  als  Symptom  221.  226. 
Grübelsucht  187. 

Grundeigenschaften,  psychische  231. 

„ „ Unter- 

suchung ders.  368. 
Gynäkologische  Eingriffe  als  Heilmittel 
409. 

H. 

Hämatoporphyrin  bei  Sulfonalvergiftung 
402. 

Häufigkeit  des  Irreseins  10.  109. 
Haften  der  Vorstellungen  187. 
Hallucination  133. 

„ der  Erinnerung  169. 

„ hypnagogische  130. 

„ psychische  137. 


Hallucination,  stabile  131. 

Handeln,  Störungen  desselben  264. 
Harnstottern  252. 

Harnuntersuchungen  bei  Geisteskranken 
348. 

Harnveränderungen  bei  Geisteskranken 
48. 

Haschisch  als  Heilmittel  399. 

„ als  Ursache  des  Irreseins  66. 
Hebephrenie  100. 

Hedonal  403. 

Heilanstalten  456. 

Heilung  des  Irreseins  327. 

„ mit  Defekt  332. 

„ unvollständige  331. 

Heiraten  Geisteskranker  385. 

Hemmung,  psychomotorische  270. 
Herderkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 19. 

Heredität  s.  Erblichkeit. 

Herzleiden  bei  Geisteskranken  69. 
Hexenprozesse  446. 

Hilfsvereine  für  Geisteskranke  395.  464. 
Hirnanämie  als  Ursache  des  Irreseins  117. 
Hirnblutung  als  Ursache  des  Irreseins 
18.  19. 

Hirndruck  als  Ursache  des  Irreseins  17. 
Hirnerkrankungen,  Irresein  bei  dens.  15. 
Hirnerschütterungen  17.  19.  21. 
Hirngeschwülste  als  Ursache  des  Irre- 
seins 17.  19.  23. 

Hirnhyperämie  als  Ursache  des  Irre- 
seins 16. 

Humor  der  Trinker  256. 

Hunger,  Einfluss  dess.  auf  psychische 
Vorgänge  38. 

Hydrotherapie  411. 

Hyoscin  als  Heilmittel  398. 
Hypermnesie  168. 

Hyperprosexie  161. 

Hypnon  als  Heilmittel  404. 

Hypnose  275. 

„ als  Behandlungsart  432. 
Hypnotica  s.  Schlafmittel. 

Hypnotische  Versuche  als  Ursache  des 
Irreseins  96. 

Hypophysis  54. 

Hysterie  als  Folge  von  Genitalleiden  73. 

I.  J. 

Jahreszeiten  in  Beziehung  zum  Irre- 
sein 108. 

Icterus  gravis  als  Ursache  des  Irre- 
seins 50. 


472 


Itegister. 


Idee,  fixe  217. 

„ überwertige  217. 

„ unterwertige  217. 

Ideenflucht  als  Symptom  194. 

„ äussere  198 
„ deliriöse  197. 

„ innere  198. 

„ sprachliche  198. 
Idiotenbewegungen  281. 

Idiotenfürsorge  465. 

Illusion  133. 

Impulsivität  291. 

Induciertes  Irresein  94. 
Infectionskrankheiten  als  Ursachen  des 
Irreseins  40. 

Influenza  als  Ursache  des  Irreseins  40. 
Infusion,  subcutane  411. 
Intelligenzprüfung  353. 

Interesse  206. 

Interesselosigkeit  206. 

Intermission  321. 

Intermittens  als  Ursache  des  Irreseins  40. 
„ bessernder  Einfluss  dess.  auf 
das  Irresein  329. 
Intimidation  432. 

Intoleranz  s.  Empfindlichkeit. 
Intoxikationen  s.  Vergiftungen. 
Jodoformvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 66. 

Iracundia  morbosa  246. 

Irrenanstalt  446. 

Irrenarzt  425.  453. 

„ weiblicher  425. 

Irrenfürsorge  als  Vorbeugung  394. 
Irrenkolonien  460. 

Irresein,  cirkuläres  321. 

„ endogenes  14. 

„ exogenes  14. 

„ induciertes  94. 

„ menstruelles  78. 

„ periodisches  320. 

Irrtum  209. 

Isolierung  421. 

Isopral  404. 

Isotonie  des  Blutes  48. 

Juden,  Veranlagung  derselben  zum  Irre- 
sein 106. 


K. 

Kachexia  strumipriva  53. 

Kälte  als  Behandlungsmittel  416. 
Karcinom  s.  Krebskachexie. 

Kastration  als  Ursache  des  Irreseins  35. 
Katalepsie  277. 


Kataraktoperationen  als  Ursache  des 
Irreseins  36. 

Kinder,  Irresein  derselben  97. 

Kindsmord  299. 

Kinematographie  366. 

Klangassociationen  182. 

Klangspielerei  203. 

Kleiderangst  289. 

Kleinheitswahn  221. 

Kleptomanie  299. 

Klima,  Beziehungen  dess.  zum  Irresein 
108. 

Klimakterium  als  Ursache  des  Irreseins 
78.  102. 

Klimakterium,  künstliches,  als  Ursache 
des  Irreseins  35. 

Klinische  Formenlehre  339. 

Kochsalzinfusion  als  Heilmittel  411.  444 

Körpergewicht  bei  Geisteskranken  324 

Kohlenoxydgasvergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  67. 

Kohlensäurevergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  50. 

Kolonie  460. 

Kopfrose  s.  Erysipel. 

Kopfverletzungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 19.  21. 

Kopfverletzungen,  bessernder  Einfluss 
derselben  auf  das  Irresein  329. 

Koprolalie  264. 

Koprophagie  262. 

Korssako wsche  Psychose  63. 

Kotstauungen  als  Ursache  des  Irreseins 
36.  51. 

Kraniektomie  409. 

Krankenuntersuchung  339. 

Krankheiten,  körperliche  als  Ursache  des 
Irreseins  40. 

Krankheiten,  körperliche,  bessernder  Ein- 
fluss auf  das  Irresein  329. 

Krankheitsbewusstsein  350. 

„ Mangel  dess.  226. 

Krankheitseinsicht  als  prognostisches 
Zeichen  328. 

Krebskachexie  als  Ursache  des  Irre- 
seins 50. 

Kretinismus  53. 

Krieg  als  Ursache  des  Irreseins  92. 

Kultur  und  Irresein  109. 

Künstler,  Irresein  bei  denselben  111. 

Kunst,  krankhafte  311. 

L. 

Lactation  als  Ursache  des  Irreseins  S3. 

Lähmung  des  Willens  265. 


Register. 


473 


Landstreicher,  Irresein  derselben  112. 
Langeweile  260. 

Latah  der  Malayen  108. 

Launenhaftigkeit,  krankhafte  243. 
Lebensalter,  Beziehungen  desselben  zum 
Irresein  97. 

Lebensverhältnisse,  allgem.  Beziehungen 
derselben  zum  Irresein  109. 
Leichenbefund  370. 

Leichenschändung  295. 

Leichtsinn,  krankhafter  248. 
Leistungsfähigkeit  s.  Arbeitsfähigkeit. 

„ der  Geisteskranken  314. 

Lepra  als  Ursache  des  Irreseins  45. 
Leuchtgasvergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  66. 

Leukämie  als  Ursache  des  Irreseins  49. 
Literatur,  krankhafte  309. 

Localisation  der  psychischen  Störungen 

22. 

Localisation  der  Wahnideen  218. 

„ zeitliche  172. 

„ „ Störungen  ders. 

172. 

Lüge,  krankhafte  207. 

Lues  s.  Syphilis. 

Lumbalpunktion  409. 

Lungenentzündung  s.  Pneumonie. 
Lungenkrankheiten  als  Ursache  des  Irre- 
seins 69. 

Lustgefühle,  krankhafte  256. 

Lustigkeit  256. 

Lustmord  295. 

Lyssa  als  Ursache  des  Irreseins  42. 

M. 

Mädchenstecher  295. 

Magenerkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 72. 

Magensaft,  Verhalten  desselben  349. 
Malaria  s.  Intermittens. 

Manieren  281. 

Mann,  Veranlagung  dess.  zu  Geistes- 
störungen 104. 

Masern  als  Ursache  de3  Irreseins  40. 
Masochismus  295. 

Massage  als  Heilmittel  417. 

Mastkur  419. 

Masturbation  als  Ursache  des  Irre- 
seins 74. 

Masturbation,  Behandlung  derselben  439. 

„ psychische  297. 

Mathematik,  Anlage  zu  derselben  26. 
Medikamente  s.  Arzneimittel. 

Meningitis  als  Ursache  des  Irreseins  -1. 


Menschenfresserei,  krankhafte  295. 
Menstrualpsychosen  78. 
Menstruationsstörungen  als  Ursache  des 
Irreseins  77. 

Menstruationsstörungen,  Einfluss  derselb. 

auf  den  Verlauf  des  Irreseins  78. 
Merkfähigkeit  163. 

„ Untersuchung  derselben  360. 
Metasyphilis  47. 

Methylal  als  Schlafmittel  404. 

Migräne  als  Ursache  des  Irreseins  33. 
Mimik  der  Geisteskranken  300. 
Monomanie  217. 

Morbus  Basedowii  53. 

Morphium  als  Heilmittel  397. 

„ als  Ursache  des  Irreseins  64. 

Morphiumeuphorie  258. 

Moosbetten  439. 

Muskelbewegungen,  Untersuchung  der- 
selben 365. 

Mutacismus  285. 

Myxödem  als  Ursache  des  Irreseins  53. 

N. 

Nachahmungsautomatie  277. 
Nachtwachen  458. 

„ Einfluss  derselben  auf  das 

Seelenleben  39. 

Nährklystiere  444. 

Nahrungsverweigerung  als  Krankheits- 
zeichen 292. 

Nahrungsverweigerung,  Behandlung  der- 
selben 440. 

Namenzwang  187. 

Narkotica  als  Heilmittel  396. 
Narrentürme  446. 

Nationalität,  Beziehungen  ders.  zum  Irre- 
sein 106. 

Nebenantriebe  279. 

Nebennierenextrakt  als  Heilmittel  408. 
Negativismus  284. 

Neologismen  306. 

Nervenheilanstalten  395.  465. 
Neivenkrankh eiten  als  Ursache  des  Irie- 
seins  31. 

Neurasthenie  89. 

syphilitische  46. 

Neuritis,  multiple  als  Ursache  des  Irre- 
seins 32. 

Niedergeschlagenheit  254. 
Nierenerkrankungen  als  Ursache  des  Irie- 

seins  50.  72. 

No-restraint  423. 

Nuptiales  Irresein  75. 


474 


Register. 


0. 

Offen-Tür-System  459. 

Ohrenleiden  als  Ursache  des  Irreseins  68. 
Olivenölinfusionen  445. 

Onanie  s.  Masturbation. 

Operationen  als  Ursache  des  Irreseins  34. 

„ als  Heilmittel  409. 

Opium  als  Ursache  des  Irreseins  65. 

„ als  Heilmittel  396. 

Opiumrausch  258. 

Ophthalmoskopie  als  Untersuchungs- 
methode 345. 

Organerkrankungen  als  Ursache  des  Irre- 
seins 68. 

Organsaftbehandlung  408. 

Orientierung  171. 

„ örtliche  172. 

„ Störungen  ders.  171. 

„ Untersuchung  ders.  353. 

„ zeitliche  172. 

„ , Störungen  dersel- 

ben 172. 

Ovariotomie  als  Heilmittel  409. 

P. 

Papierangst  253.  289. 

Paraldehyd  als  Schlafmittel  401. 

„ als  Ursache  des  Irreseins  64. 
Paralogie  285. 

Paramimie  282. 

Paramnesie  169. 

Parasiten  im  Darm  als  Ursache  des  Irre- 
seins 72. 

Pedanterie  288. 

Pellagra  als  Ursache  des  Irreseins  56. 
Pellotin  als  Schlafmittel  399. 
Perceptionsphantasmen  130. 

Peronin  397. 

Perseveration  189. 

Personenverwechslung  144. 

Petroleum  als  Ursache  des  Irreseins  64. 
Pflegeanstalt  456. 

Pflegepersonal  454. 

Phobien  250. 

Phonographie  366. 

Phosphorvergiftung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 67. 

Phthise  als  Begleiterin  des  Irreseins  336. 

„ als  Ursache  des  Irreseins  45. 
Platzangst  252. 

Plethysmographie  348. 

Pneumonie  als  Ursache  des  Irreseins  40- 
Pocken  s.  Variola. 

Polsterbett  420. 

Polyneuritisches  Irresein  32. 


Poriomanie  291. 

Präkordialangst  249. 

Prädisposition  zum  Irresein  96. 

„ allgemeine  97. 

„ persönliche  114. 
Presbyophrenie  104. 

Prodromalsymptome  318. 

Prognose  des  Irreseins  326. 

Prophylaxe  des  Irreseins  385. 
Prostituierte,  Irresein  ders.  112. 
Pseudohallucination  137. 

Pseudoparalyse  55. 

„ diabetische  51. 

Psychogene  Störungen  bei  Hirnerkran- 
kungen 19.  21. 

Psychose  s.  Irresein. 

Pubertätsalter,  Geistesstörungen  des- 
selben 100. 

Puerperium  s.  Wochenbett. 
Puerperalmanie  83. 

Pulsbild  beim  Irresein  347. 
Pupillenuntersuchung  346. 

Pyromanie  299. 

Q. 

Quecksilbervergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  66. 

R. 

Rasse,  Beziehung  derselben  zum  Irre- 
sein 106. 

Ratlosigkeit  174. 

Rausch,  psychisches  Bild  dess.  30. 
Rechtspflege,  Beziehungen  des  Irreseins 
zu  derselben  315. 

Reconvalescenz  323. 

Reflexhallucination  139. 
Reflexmultiplicator  366. 

Reflexpsychosen  34. 

Reinlichkeit,  Störungen  derselben  262. 
Reizbarkeit,  gemütliche,  Erhöhung  der- 
selben 246. 

Remission  322. 

Reperception  136. 

Residualwahn  220. 

Restraint  423. 

Rindenzellen,  örtliche  Verschiedenheit 
derselben  24. 

S. 

Sadismus  294. 

Salicylsäurevergiftung  als  Ursache  des 
Irreseins  66. 


Register. 


475 


Salzsäuregehalt  im  Magensafte  von  Gei- 
steskranken 72. 

Sammeltrieb,  krankhafter  298. 
Säugegeschäft  s.  Lactation. 

Schädellehre  Galls  26. 

Schädelmessung  bei  Geisteskranken  344. 
Schamgefühl,  Verlust  dess.  264. 
Scharlachdelirien  40. 

Scheinoperationen  bei  Hypochondern  432. 
Schilddrüsenerkrankung  als  Ursache  des 
Irreseins  53. 

Schilddrüsenausschneidung  als  Heilmittel 
410. 

Schlafkrankheit  der  Neger  108. 
Schlaflosigkeit,  Behandlung  ders.  436. 

„ Einfluss  derselben  auf 

psychische  Vorgänge  39. 

Schlafmittel  400. 

Schlaftiefe,  Gang  derselben  152. 

„ Störung  derselben  234. 

„ Messung  derselben  368. 
Schluckangst  252. 

Schmerz,  Fehlen  desselben  263. 
Schmerzdelirien  34. 

Schmerzgeilheit  295. 

Schnauzkrampf  280. 

Schnelligkeit  des  Vorstellungsverlaufes 
228. 

Schreck  als  Ursache  des  Irreseins  17.  86. 
Schreckneurose  87. 

Schriftsteller,  krankhafte  310. 
Schriftstörungen  307. 

Schriftwage  309.  364. 

Schrullen  281. 

Schulärzte  392. 

Schutzhandlungen  289. 

Schwärmer,  krankhafte  247. 
Schwangerschaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 79. 

Schwefelkohlenstoffvergiftung  als  Ur- 
sache des  Irreseins  68. 
Schwefelwasserstoffvergiftung  als  Ur- 
sache des  Irreseins  66. 

Schweiss,  Giftigkeit  dess.  beim  Irre- 
sein 48. 

Schwellenwert  151. 

Schwerfälligkeit  205. 

Schwindler,  krankhafte  247. 
Sectionsergebnisse  bei  Geisteskranken 
370. 

Sekundärempfindungen  139. 
Selbstbewusstsein  235. 

„ Spaltung  desselben  235. 

„ Störungen  desselben  235. 
„ Verdoppelung  dess.  236. 
Selbstgefühl,  gesteigertes  256. 


Selbstmord  als  Symptom  375. 
Selbstmordneigung  312. 

„ Behandlung  ders.  437. 

Selbstvergiftung  48. 

Separierung  421. 

Septicämie  als  Ursache  des  Irreseins 
41.  81. 

Serumbehandlung  411. 

Sexualempfindung,  conträre  294. 
Siechenanstalten  465. 

Simulation  381. 

Sinnescentren  27. 

Sinnestäuschungen  129. 

„ elementare  129. 

„ Nachweis  ders.  350. 

Sitophobie  s.  Nahrungsverweigerung. 
Sklerose,  multiple  21. 

Sodomie  298. 

Somatiker  2. 

Somnal  als  Schlafmittel  404. 
Sondenernährung  441. 

Sonnennatur  247. 

Spaltplatte  358. 

Spätheilung  337. 

Spannung,  ängstliche  249. 
Sphygmographie  bei  Geisteskranken  347. 
Spiritismus  und  Irresein  96. 
Sprachstörung  303. 

Sprachverwirrtheit  304. 

Sprechmanieren  281. 

Staatliche  Aufgaben  der  Psychiatrie 
395. 

Stadtasyl  456. 

Städte,  grosse,  Irresein  in  denselben 
109. 

Status  präsens,  körperlicher  343. 

„ „ psychischer  349. 

Stehltrieb  299. 

Sterblichkeit  der  Geisteskranken  335. 
Stereoskopie  366. 

Stereotypie  des  Willens  280. 

„ der  Vorstellungen  190. 
Stickstoffoxydul  als  Ursache  des  Irre- 
seins 66. 

Stigmata  hereditatis  122. 

Stimmen  144. 

Stimmungswechsel  244. 
Stirnhirngeschwülste,  psychische  Stö- 
rungen bei  denselben  23. 
Stoffwechselkrankheiten  als  Ursache  des 
Irreseins  48. 

Stupor  271. 

„ katatonischer  271. 

Suchten  293. 

Suggestion,  hypnotische  275. 
ä öcheance  275. 


476 


Register. 


Suggestion,  posthypnotische  276. 

Sulfonal  als  Schlafmittel  402. 

Sulfonal  als  Ursache  des  Irreseins  66. 
Sympathicusdurchschneidung  als  Heilmit- 
tel 409. 

Symptomatologie  des  Irreseins  127. 
Syphilis  als  Ursache  des  Irreseins  21.  45. 
„ bei  Paralyse  47. 

„ Kampf  gegen  dieselbe  393. 

T. 

Tabes  als  Ursache  des  Irreseins  31. 
Tachistoskop  361. 

Tätowierung  344. 

Tartarus  stibiatus  408. 

Teilnahmlosigkeit  als  Symptom  240. 
Telepathie  224. 

Terpentinöleinspritzungen  408. 

Tetanie  als  Ursache  des  Irreseins  33. 
Tetronal  als  Schlafmittel  403. 

Therapie  s.  Behandlung. 

Thermometrie  des  Kopfes  345. 
Thyreodin  407. 

Tierverwandlung,  Wahn  ders.  225. 
Tobzellen  421. 

Tod  als  Ausgang  des  Irreseins  335. 
Todesursachen  bei  Geisteskranken  336. 
Toluidinrausch  68. 

Träumer,  krankhafte  207. 
Traubenzuckerinfusionen  340. 

Traum  bei  Geisteskranken  152. 

Trauma  s.  Kopfverletzungen. 

Tretrad  als  Behandlungsmittel  448. 
Triebe,  krankhafte  292. 

Triebhandlungen  291. 

Trinker  60. 

Trinkerheilstätten  464. 

Trional  als  Schlafmittel  403. 
Tropenklima,  Einfluss  desselben  auf  das 
Irresein  108. 

Trugwahrnehmungen  s.  Sinnestäuschungen. 
Trunksucht  s.  Alkohol. 

Tuberculin  als  Heilmittel  408. 
Tuberculose  als  Ursache  des  Irreseins  45. 

„ bei  Geisteskranken  336. 
Tumoren  s.  Geschwülste. 

Typhus  als  Ursache  des  Irreseins  40. 

„ bessernder  Einfluss  desselben  auf 
Geistesstörungen  329. 

Typhus  pellagrosus  56. 

Typhustoxine  als  Heilmittel  408. 

U. 

Überanstrengung  als  Ursache  des  Irre- 
seins 88. 


überbürdung  der  Schuljugend  388. 
Überernährung  als  Behanulungsmethode 
418. 

Übung  231. 

Übungsfähigkeit,  Messung  ders.  368. 

„ Störungen  ders.  231. 

Übungsfestigkeit  232.  368. 
Umständlichkeit  192. 

„ der  Epileptiker  193. 

Unbesinnlichkeit  155. 

Unheilbarkeit  333. 

Unlenksamkeit  288. 

Unlustempfindlichkeit,  gesteigerte  245. 
Unlustgefühle,  krankhafte  249. 
Unreinlichkeit,  Behandlung  ders.  439. 

„ als  Krankheitszeichen  262. 
Unruhe  268. 

Unsittlichkeit,  Abgrenzung  ders.  vom 
Irresein  379. 

Unstetigkeit  243.  278. 

Unterricht,  psychiatrischer  395. 
Untersuchungshaft  als  Ursache  des  Irre- 
seins 90. 

Untersuchungsmethoden,  klinische  352. 
Urämie  als  Ursache  des  Irreseins  50.  72. 
Ural  als  Schlafmittel  403. 

Urethan  als  Schlafmittel  403. 

Ursachen  des  Irreseins  12. 

„ „ „ äussere  14 

„ „ .,  gemischte  81. 

„ „ innere  96. 

„ „ .,  körperliche  15. 

„ „ „ psychische  83. 

„ „ „ rohe  13. 

„ „ „ wahre  13. 

Urteilsstörungen  208. 


V. 

Vagabunden,  Beziehungen  ders.  zum  Irre- 
sein 112. 

Variola  als  Ursache  des  Irreseins  40. 
Verantwortlichkeit  315. 

Verbalsuggestion  434. 

Verbigeration  305. 

Verblödung  335. 

Verbrecher,  geborene  113.  379. 

„ geisteskranke  462. 
Verdauungsstörungen  als  Ursache  des 
Irreseins  71. 

Vererbung  s.  Erblichkeit. 
Verfolgungswahn  als  Symptom  223. 

„ physikalischer  224. 
Vergiftung  als  Ursache  des  Irreseins 
30.  36.  54. 


Register. 


477 


Verlangsamung  der  psychischen  Leistun- 
gen 229. 

Verlauf  des  Irreseins  317. 

„ anfallsweiser  320. 

cirkulärer  321. 

„ fortschreitender  334. 

„ gleichmässiger  319. 

periodischer  320. 

„ schwankender  319. 

Verleugnung  383. 

Veronal  404. 

Verrücktheit,  primäre  318. 
Verschlossenheit  246. 

Verschrobenheit  279. 
Verstandestätigkeit,  Störungen  derselben 
162. 

Verstandestätigkeit,  Prüfung  ders.  352. 
Verstellung  381. 

Verstimmung,  epileptische  255. 

,.  heitere  256. 

„ traurige  254. 

Versuche,  psychologische  bei  Geistes- 
kranken 356. 

Versündigungswahn  222. 
Verwandlungswahn  225. 

Verwandtschaft  der  Eltern  als  Ursache 
des  Irreseins  117. 

Verwirrtheit  als  Symptom  203. 

„ hallucinatorische  204. 

„ ideenflüchtige  203. 

,,  kombinatorische  203. 

..  stuporöse  204. 

„ traumhafte  203. 

„ zerfahrene  203. 

Verzückung  258. 

Vision  143. 

Volksart,  Beziehungen  derselben  zum 
Irresein  106. 

Vorbeireden  285. 

Vorbeugung  385. 

Vorboten  318. 

Vorgeschichte  340. 

Vorstellungen,  Haften  derselben  187. 

„ unabgeschlossene  187. 

Vorstellungsschatz,  Untersuchung  dess. 
353. 

Vorstellungsverbindungen,  äussere  181. 

,.  Festigkeit  ders. 

363. 

„ innere  181. 

,.  prädikative  183. 

,.  Statistik  dersel- 

selben  363. 

„ Störungen  in  der 

Bildung  dersel- 
ben 177. 


V orstellungsverbindungen,  Untersuchung 
derselben  362. 
Vorstellungsverbindungen,  zeitlicher  Ab- 
lauf ders.  228. 

Vorstellungsverlauf  s.  Gedankengang. 


W. 

Wachabteilung  456. 

Wärmebestrahlung  des  Kopfes  als  Ur- 
sache des  Irreseins  16.  18. 
Wahnbildung  212. 

„ partielle  218. 

Wahnidee  als  Symptom  212. 

,.  deliriöse  219. 

„ depressive  221. 

„ exaltierte  226. 

„ fixe  221. 

„ Localisation  derselben  218. 

„ hypochondrische  225. 

„ Nachweis  derselben  350. 

„ nihilistische  222. 

„ systematisierte  221. 

„ wechselnde  220. 

Wahnsystem  221. 

Wahlreaktionen  364. 

Wahlzeit  364. 

Wahrnehmung,  Störungen  ders.  128. 

,,  Untersuchung  ders.  357. 
Wahrnehmungstäuschungen  130. 
Wandertrieb  291. 

Wasserbehandlung  411. 

Wechselfieber  s.  Intermittens. 

Weib,  Disposition  desselben  zum  Irre- 
sein 104. 

Weitschweifigkeit  197. 

Wicklungen,  feuchte  415. 

Widerstreben  287. 

Wille,  Störungen  desselben  264. 

,.  Ablenkbarkeit  desselben  278. 

„ Beeinflussbarkeit  desselben,  er- 
,,  höhte  274. 

„ Beeinflussbarkeit  desselben,  ver- 
minderte 284. 

Bestimmbarkeit  desselben  275. 

„ Bindung  desselben  288. 

,,  Durchkreuzung  desselben  279. 

„ Entgleisung  desselben  282. 

„ Stereotypie  desselben  280. 

„ Unstetigkeit  desselben  278. 
Willenlosigkeit  275. 

Willensantriebe,  Auslösung,  erleichterte 
derselben  272. 

Willensantriebe,  Auslösung,  erschwerte- 
derselben  270. 


478 


Register. 


Willensantriebe,  Herabsetzung  derselben 
265. 

Willensantriebe,  Steigerung  derselben 
267. 

Willensantriebe,  Untersuchung  derselben 
279. 

Willensfreiheit  274. 

Willenshemmung  270. 

Willenssperrtmg  271. 

Witzelsucht  23.  202. 

Wochenbett  als  Ursache  des  Irreseins  80. 
Wortneubildungen  306. 

Wortsalat  304. 

Wortspielerei  201. 

Wucherungen,  adenoide,  Entfernung  der- 
selben 410. 


Z. 

Zahl  der  Geisteskranken  10. 
Zahlenzwang  187. 
Zeichnungen,  krankhafte  308. 


Zeitmessungen,  psychische  228.  359. 
Zellenlose  Behandlung  422. 
Zerfahrenheit  199. 

Zerstörungssucht,  Behandlung  ders.  438. 
Zerstreutheit  160.  162.  164. 
Zielvorstellungen  184. 

Zitterapparat  365. 

Zoophilie  298. 

Zopfabschneider  298. 

Zommütigkeit,  krankhafte  246. 
Zuchthausknall  92. 

Zunahme  des  Irreseins  109. 
Zurechnungsfähigkeit  315. 

Zustände,  krankhafte  317. 
Zustandsuntersuchung  343. 
Zwangsbefürchtungen  250. 
Zwangsbewegungen  280. 
Zwangshandlungen  288. 

Zwangsjacke  423. 

Zwangsvorstellungen  185. 
Zwillingsirresein  120. 


Verlag  von  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH  in  LEIPZIG 


Früher  erschien  von  demselben  Verfasser: 

EINFÜHRUNG 

IN  DIE 

PSYCHIATRISCHE  KLINIK. 

DREISSIG  VORLESUNGEN 

VON 

DR.  EMIL  KRAEPELIN, 

PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  HEIDELBERG. 

VIII,  328  Seiten.  1901.  Preis  M.  8.40,  gebunden  M.  9.60, 
gebunden  und  durchschossen  M.  11. — . 


Therapeutische  Monatshefte.  1901.  September: 

Kraepeliu,  der  rühmlichat  bekannte  Heidelberger  Irrenarzt,  hat  allen  Studierenden 
und  Ärzten  mit  der  Abfassung  des  vorliegenden  Buches  einen  grossen  Dienst  geleistet.  Ein  der- 
artiges Werk  füllt  tatsächlich  eine  seit  lauge  vorhandene  Lücke  aus.  Sicherlich  werden 
Viele,  die  ,,der  Not  gehorchend,  nicht  dem  eigenem  Triebe“  — an  das  Studium  der  Geistes- 
krankheiten herangehen,  durch  dasselbe  Anregung  und  Interesse  für  das  ihnen  bisher  so  fremde 
und  dunkle  Gebiet  bekommen.  — In  30  Vorlesungen  werden  klar  und  deutlich  die  Elemente  der 
Psychiatrie  abgehandelt  und  an  der  Hand  von  geeigneten  Beispielen  finden  wir  in  Kürze  er- 
läutert, was  für  das  Verständnis  der  Geisteskrankheiten  ein  unerlässliches  Erfordernis  ist.  Dabei 
sollen  diese  Vorlesungen  nichts  weniger  als  ein  Lehrbuch  sein.  Ihr  Zweck  ist  vielmehr,  als 
eine  Anleitung  zur  klinischen  Betrachtung  Geisteskranker  zu  gelten.  Wie  in  der  Klinik  üblich, 
wird  der  diagnostische  Gesichtspunkt  in  den  Vordergrund  gestellt,  typische  Fälle  werden  in 
geeigneter  Weise  analysiert  und  ihre  Prognose  und  Heilbarkeit  erörtert. 

An  dieser  Stelle  können  wir  zu  unserem  Bedauern  nicht  weiter  auf  Einzelheiten  ein- 
gehen,  aber  mit  Nachdruck  müssen  wir  hervorheben,  dass  es  dem  Verfasser  meisterhaft  gelungen 
ist,  wiederum  ein  verdienstvolles  Bach  geschaffen  zu  haben,  das  den  Anfänger  geschickt  in  das 
Gebiet  der  Geisteskrankheiten  einführt,  „bei  deren  Beurteilung  uns  auf  Schritt  und  Tritt  Un- 
klarheiten und  Zweifel  aufstosseu11.  Dies  neue  Kr a e p eli n sehe  Buch  bedarf  keiner  weiteren 
Empfehlung.  Es  verdient  von  Lernenden  und  Lehrenden  als  eine  dankenswerte  Erscheinung 
begrüsst  zu  werden.  Rabow. 

Zeitschrift  für  Psychologie.  Band  27,  Heft  1/2: 

An  der  Hand  prägnant  geschilderter  und  vortrefflich  ausgesuchter  Krankheitsbilder  er- 
örtert Verfasser  die  Kliuik  der  verschiedenen  Psychosen  und  legt  ganz  besonders  Wert  auf  die 
Stellung  der  Diagnose  und  die  eingeheude  Begründung  der  Differential diagnose.  In  anziehender  Weise 
and  anregender  Form,  mit  didaktischem  Geschick,  mit  einer  feinen  Beobachtungsgabe,  die  auch 
ganz  unscheinbare  Züge  zu  verwerten  weiss,  begründet  Kraepelin  in  jeder  der  mitgeteilten 
Krankheitsgeschichten  die  Diagnose  und  berichtet  über  das  weitere  Schicksal  des  Kranken.  Re- 
ferent glaubt  nicht  fehlzugehen  in  der  Annahme,  dass  sich  auch  vorliegendes  Buch  bald 
einer  ebenso  grossen  Beliebtheit  und  Verbreitung  erfreuen  wird  wie  des  Verfassers  Lehrbuch. 
Jedenfalls  ist  heute  wohl  kaum  ein  Buch  geeigneter,  dou  Studenten  in  die  Klinik  einzuführen, 
ihm  Interesse  für  die  Psychiatrie  einzufiössen  und  ihn  zu  selbständigem  Denken  anzuregen. 

Ernst  Schultze,  Andernach. 

Berliner  klinische  Wochenschrift.  1901.  No.  49: 

Die  eigenartige  Zergliederung  des  manchem  so  spröde  erscheinenden  Stoffes  verbunden  mit 
der  dem  Verfasser  eigenen  klaren  und  fesselnden  Darstellungsart  hat  unzweifelhaft  für  die  Stu- 
dierenden, besonders  natürlich  für  die  eigenen  Schüler  Kraepelin s,  ihre  grossen  Vorzüge:  sie 
wird  ihnen  das  Verständnis  für  psychische  Krankkeitsbilder  erleichtern  und  sie  psychiatrisch 
denken  und  urteilen  lehren ; nicht  minder  wird  aber  auch  dem  praktischen  Arzt  eine  ihm  in  so 
anregender  Form  gebotene  Auffrischung  dessen,  was  er  früher  einmal  in  der  Klinik  selbst  be- 
obachtet hat,  willkommen  sein. 


Verlag  von  JOHANN  AMBROSIUS  BARTH  in  LEIPZIG. 


Möbius,  Dr.  P.  J.,  Ausgewählte  Werke. 

Der  geschlitzte  Leipziger  Neurologe  schickt  sieh  an,  seine  „Ausgewkhlten  Werke"  in  ein- 
heitlicher vornehmer  Ausstattung  erscheinen  zu  lassen.  Die  ersten  5 Lände  werden  folgende 
Titel  haben:  I.  Band : Ilousseau.  IX.  und  III.  Band  : Goethe.  IV.  Baud:  Schopenhauer.  V,  Band: 
Nietzsche.  Jeder  Band  ist  einzeln  käuflich.  Preis  M.  3. — , geh.  M.  4.50. 

Band  I:  J.  J.  Rousseau.  XXIV,  311  S.  mit  Titelbild  und  Handschrift- 
probe. 1903.  M.  3. — , geb.  M.  4.50. 

„Das  vorliegende  Buch,  in  dem  uns  M.  die  Entwicklung  der  Geistesstörung  J.  J.  Koutseaug 
schildert,  wird  von  jedem  Gebildeten  von  Anfang  bis  Ende  mit  warmem  Interesse,  ja  mit 
Spannung  gelesen  werden,  denn  die  Lösung  der  Aufgabe  ist  M.  in  mustergültiger  Weise  gelungen. 

Prof.  E.  Kraepelin. 

Band  II  und  III:  Goethe.  260  und  264  S.  mit  Titelbildern.  1903. 

Je  M.  3. — , geb.  M.  4.50. 

Literarisches  Centralblatt:  M.  unternimmt  eine  umfassende  Darstellung  des  Patholo- 
gischen hei  Goethe  in  den  Werken  und  der  Person  selbstverständlich  unter  Bevorzugung  der 
Abnormitäten  geistiger  Art.  Dieser  Aufgabe,  deren  ausserordentliche  Wichtigkeit  noch  von  der 
Schwierigkeit  ihrer  Behandlung  übertroffen  scheint,  ist  der  ausgezeichnete  Nenrologe  in  so 
hervorragendem  Masse  gerecht  geworden,  dass  es  vielleicht  nicht  zu  kühn  ist,  wenn  wir  sein 
Buch  als  die  inhaltreichste  Frucht  der  Goetheforschung  der  jüngsten  Jahre  auffassen  . . . 

Über  Schopenhauer.  VIII,  264  S.  mit  12  Porträts.  1899. 

M.  4.50,  geb.  M.  5.50. 

Der  1.  Teil  ist  ein  Gutachten  über  den  Geisteszustand  Schopenhauers.  In  ihm  wird  auf 
Grund  der  Familiengeschichte  und  der  Biographie  gezeigt,  dass  Schopenhauer  eine  „pathologische 
Mehrwertigkeit“  war. 

Der  2.  Teil  des  Buches  enthält  eine  Kritik  der  Philosophie  Schopenhauers  vom  Stand- 
punkte des  Verfassers  aus,  die  bei  aller  Schärfe  des  Urteils  den  Kern  der  Lehre  als  gesund  an- 
erkennt, und  die  Freunden  wie  Gegnern  Anregung  gewähren  wird. 

Über  die  Anlage  zur  Mathematik.  VIII,  332  S.  mit  51  Bild- 
nissen. 1900.  M.  7. — , geb.  M.  8.50. 

Nach  M.’s  Darstellung  wird  das  mathematische  Talent  nicht  erworben,  sondern  mit  zur 
Welt  gebracht;  es  iBt  nicht  proportional,  den  anderen  geistigen  Fähigkeiten,  sondern  kann  bei 
grosser  Intelligenz  klein  Bein  und  umgekehrt  ....  Der  besonderen  Geistesbeschaffenheit  des 
Mathematikers  entspricht  auch  eine  körperliche  Besonderheit:  eine  ungewöhnlich  starke  Ent- 
wickelung des  oberen  äusseren  Angenhöhlenwinkels. 

— Über  Kunst  und  Künstler.  VKI,  296  S.  mit  8 Tafeln.  1901. 

M.  7.—,  geb.  M.  8.50. 

Verfasser  kommt  bei  seinen  Untersuchungen  zu  der  Annahme  bestimmter  einzelner  Kunst- 
triebe,  deren  fünf  unterschieden  werden.  Er  zeigt,  dass  einzelne  dieser  Triebe  bei  einzelnen 
Menschen  von  Geburt  an  besonders  stark  entwickelt  sind  und  dass  der  ungewöhnlich  starke 
Trieb  oder  das  Talent  den  Künstler  zu  seiner  Tätigkeit  nötigt. 

Neurologische  Beiträge.  4 Hefte.  1894 — 1896.  M.  14 — . 

Inhalt:  1.  Heft:  Über  den  Begriff  der  Hysterie  und  andere  Vorwürfe  vorwiegend 
psychologischer  Art.  VI,  127  S.  1894.  M.  4. — 

2.  Heft:  Über  Akinesia  algera.  Zur  Lehre  von  der  Nervosität,  über  Seelenstörungen 

Chorea.  IV,  137  S.  1894.  M.  3.— 

3.  Heft:  Zur  Lehre  von  der  Tabes.  IV,  154  S.  1895.  M.  3. — 

4.  Heft:  Über  verschiedene  Formen  der  Neuritis.  Über  verschiedene  Augenmuskel- 

störungen.  IV,  216  S.  1895.  M.  4. — 

Vermischte  Aufsätze.  IV,  176  S.  1898.  M.  4.—. 

In  dem  vorliegenden  Hefte  ist  Altes  und  Neues  abgedruckt.  Die  wichtigsten  dieser 
Studien  betreffen  die  augenblicklich  im  Vordergrund  stehende  Bewegung  zur  Änderung  unserer 
sogenannten  „Nervenheilanstalten“  in  Arbeitsanstalten  für  Nervenkranke  und  vor  Allem  die 
Neugründung  von  Volksbeilstätten  für  solche  Patienten.  Auch  was  wir  über  den  Kampf  gegen 
den  Alkobolismuß,  den  Kampf  gegen  die  Tuberkulose  und  gegen  die  venerischen  Krankheiten 
erfahren,  das  sollte  in  breiteren  Schichten  des  Publikums  bekannt  werden. 

Stachyologie.  Weitere  vermischte  Aufsätze.  VIII,  219  S.  1901. 

M.  4.80,  geb.  M.  6. — . 

Diese  „Ährenlese  setzt  sich  aus  folgenden  Arbeiten  zusammen:  3 Gespräche  über  Meta- 
physik. 3 Gespräche  über  Religion.  Psychiatrie  und  Literaturgeschichte.  Über  J.  .T.  Bosseaus 
Jugend  und  W.  A.  Freund.  Über  die  Heilung  des  Orest.  Über  das  Studium  der  Talente.  Über 
die  Vererbung  künstlerischer  Talente.  Über  einige  Unterschiede  der  Talente.  Über  einige 
Unterschiede  der  Geschlechter.  Über  den  physiologischen  Schwachsinn  des  Weihes.  Über  Ent- 
artung. Über  Massigkeit  und  Enthaltsamkeit. 

Nervenkrankheiten.  Ein  kurzes  Lehrbuch.  VTH,  188  S.  1893. 

geb.  M.  4.50. 

Deutsche  Medizinal  - Zoltung : Das  gediegene  kleine  Buch  wird  sich  schnell  überall  ein- 
bürgern. Es  enthält  bei  aller  Kürze  das  Wissenswerteste  aus  dem  Gebiete  der  Nervenkrankheiten 
und  zwar  in  so  ansprechender  origineller  Form,  dass  es  das  Interesse  des  Lesers  stets  fesselt.