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Baltische Monatsschrift.
19. Band.
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Riff«, 1890.
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THE NEW YORK
PUBLIC LIBRARY
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R 1903 L
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lihalt.
Zur Lage, (E. B.) Seite 1
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicams), (E. Hol-
länder) t „ 20
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft and seine Vor-
gänger, (H. Diederichs) »38
Znr livländischen Landtagsgeschichte „ 84
Notizen . . . « , „ 100
Statistische Stadien zar Wohnangsfrage, (E. Laspeyres). . . » 113
Zar livländischen Landtagsgeschichte (Forts.) ........ f, 146
Marie Therese and Loaise de La Valli^re, (H. Sewigh) . . . ,, 155
Notizen »191
Die Politik der Päpste and Konradin, (Winkelmann) .... „ 217
Statistische Stadien zar Wohnangsfrage, (E. Laspeyres). . . „ 288
Die Expropriation nach provinziellem Recht „ 267
Correspondenzen „ 286
Notizen „ 294
Der Anjalaband in Finnland, 1788, (A. Brückner) „ 309
üeber das Yerhältniss von Natar- and Geisteswissenschaft, (Prof.
Dr. A. V. Oettingen) „ 355
Die drei grossen Siege preassisch-deatscher Staatskanst, (E. B.) . „ 384
Die Fraaenbewegang in Deatschland, (G Cohn) „ 413
Winkelmann and Reinhold von Berg, (Dr. Her m. Lücke) . . ^ 433
Das Oberammergaaer Passionsspiel im Jahre 1870, (A. Brückner) „ 441
Correspondenzen „ 470
Notizen „ 491
Potemkin's Glück and Ende. (A. Brückner) »501
Die Rigaer Volkszählang vom 3. März 1867, (Dr. 0. Brasche) » 532
Erinner angen an Dr. Ferd. Walter, (Ass. J. Eckard t) . . . . „ 556
Notizen ' »571
Am Jahresschlass, (E. B.) » 585
Zur Lage.
Bei der Buchhandlung
bestelle :
Exempl. IBaltische IMonat^sclifift.
Neue Folge. 1870. Mfirz u. ff.
Preis des Jahrgangs 4 Rbl. 50 Kop., nach auswärts 5 Rbl.
(Verlag von Bacmeister & Brutzer in Riga.)
Ort und Datum: Name:
=Ci«
Die Ueffentlichkeit giebt so wenig als der Einzelne etwas umsonst,
und mit dem Vertrauen selbst, welches sie schenkt, verbindet sie
Ansprüche. Die „Baltische Monatsschrift" wurde gegründet als Organ
einer Partei und durchlebte eine Zeit der öffentlichen Parteifehdeu,
wie in unsem Provinzen noch keine ausgefochten worden waren. Wenn
sie dennoch, der Meinung ihrer Gründer treu, von dem Schatten der
Parteileidenschaft unberührt blieb, so war dieses vorzüglich der maass-
vollen Persönlichkeit zu danken, welche sie leitete. Anzuregen ohne
zu agitiren, aufzuklären ohne aufzureizen war ihr Streben, und indem
sie hieran festhielt, gelang es ihr, die Anerkennung streitender Parteien
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 1
Zur Lage.
Indem wir dieses erste Heft einer neuen Folge der „Baltischen
Monatsschrift" herausgeben wünschen wir einigen der Fragen, die
in unsem Lesern beim Anblick des veränderten Gewandes dieser
Zeitschrift vielleicht wach gerufen werden, zu begegnen. Auch scheint
es geboten, gleichwie der Verwalter fremden Gutes bei seinem Ein-
tritt eine Inventarisation des Vorhandenen vornimmt, in kurzer Ueber-
schau die augenblickliche Lage uns zu vergegenwärtigen, das Ge-
gebene, soweit es möglich ist, zu prüfen, um einst vielleicht von dem
Gewordenen Rechenschaft ablegen zu können. Denn wir sind uns
der Schwierigkeit bewusst, in ein Unternehmen hineinzuleben, hinein-
zuwachsen, welches zum grössten Theil dem allgemeinen, öffentlichen
Vertrauen sein Entstehen, der öffentlichen Anerkennung sein Wachs-
thum verdankt, zum andern Theil seine Spannkraft darin fand, dass
es ihrerzeit gegebene, erreichbare und greifbare Ziele verfolgte, von
denen einige erreicht wurden, andere heute ihre Bedeutung verloren
haben. Dass die Ziele wechseln, ist natürlich. Dass das öffentliche
Vertrauen möglichst wenig wechsele, ist unser Wunsch.
Wir können diese Zeitschrift nicht ohne Bedauern aus der Hand
eines Mannes empfangen, ,der dieses Vertrauen in hohem Grade besitzt.
Die Oeflfentlichkeit giebt so wenig als der Einzelne etwas umsonst,
und mit dem Vertrauen selbst, welches sie schenkt, verbindet sie
Ansprüche. Die „Baltische Monatsschrift" wurde gegründet als Organ
einer Partei und durchlebte eine Zeit der öffentlichen Parteifehden,
wie in unsem Provinzen noch keine ausgefochten worden waren. Wenn
sie dennoch, der Meinung ihrer Gründer treu, von dem Schatten der
Parteileidenschaft unberührt blieb, so war dieses vorzüglich der maass-
vollen Persönlichkeit zu danken, \^elche sie leitete. Anzuregen ohne
zu agitiren, aufzuklären ohne aufzureizen war ihr Streben, und indem
sie hieran festhielt, gelang es ihr, die Anerkennung streitender Parteien
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 1
2 Zur Lage.
inmitten derselben zu erwerben. Dieses aber ist ein nicht gemeines
Lob. Wer in einer solchen Zeit, wie die von 1862 — 1869 es für
uns gewesen ist, und in einer Thätigkeit wie der der Leitung einer
vorwiegend politischen ZeitscM-ift sich dieses Lobes würdig gezeigt
hat, der ist nicht nur mit der „Baltischen Monatsschrift", sondern
auch mit den baltischen Landen viel zu sehr „verwachsen", um sich
je von jener wie von diesen ganz lösen zu können. Wenn daher die
„Baltische Monatsschrift" in unserm sehr geehrten Vorgänger einen
Leiter verlor, welchen wir stets beklagen werden, so gereicht es uns
zur grossen Befriedigung, von ihm beim Abschiede das Versprechen
erhalten zu. haben: non alius, sed aliter.
Zehn Jahre sind verflossen seit die „Baltische Monatschrift" ins
Leben trat. Was dieses Decennium für Russland, was es ins-
besondere für die baltischen Provinzen bedeutete, vermögen wir heute
noch nicht zu ermessen. Nur dass es von grosser Bedeutung ge-
wesen, fühlt ein Jeder.
Man hat von dieser Zeit als von einer neuen Aera für Russland
gesprochen; und allerdings erscheint es bei'echtigt, ihr eine so hphe
Wichtigkeit beizulegen. Denn das Russland von 1849 gleicht dem von
1869 so wenig als das Preussen Friedrich Wilhelm's II dem Preussen
von 181S gleicht. — Seit den Tagen der heiligen Allianz war
für die dominirende Stellung Russlands im europäischen Staatensystem
kein Ereigniss folgenschwerer als der Krimkrieg. Die „alte Ordnung
der Dinge", zu deren Erhaltung das kaiserliche Manifest vom 26. Juni
1853 die Unterthanen des Reiches aufrief, erlitt mit und seit diesem
Kriege eine so tiefgreifende Erschütterung, als nur je durch die
Wechselwirkung äusserer Politik und innerer Reformen in einem Staate
hervorgebracht wurde.
Eine ' lange Zeit des Friedens hatte Russland als erste Kriegs-
macht Europas verlebt. Alle Kräfte waren nach Aussen gerichtet,
alle Sorgfalt wandte sich dem Glänze des Harnisches zu, der sich in
der Beresina und der Elster gespiegelt hatte. Es gab kein Cabinet
in Europa, in dem das Flüstern des russischen Gesandten nicht besser
vernommen worden wäre, als das Poltern irgend eines andern Mannes,
der seinem Beruf gemäss französisch redete. Legitimität und Abso-
lutismus fanden Russland stets geneigt, seine Kräfte zu ihrer Erhaltung
aufzubieten und die europäische Demokratie ballte machtlos die Faust
in der Tasche.
Dann kam der Bruch mit den Westmächten, und mit ihm die
Zeit der Umkehr nach Innen. Seit dem Jahre 1855 hat Russland
Zur Lage. 3
Reformen erlebt, wie sie umfassender weder von einem Peel, noch
einem Turgot inaugurirt worden sind. Man hörte auf, ohne Unterlass
auszuschauen nach den Lorbeeren des Krieges oder der Diplomatie,
die draussen zu pflücken sich etwa eine Gelegenheit darböte, und man
begann zu Hause den Boden zu bereiten, auf welchem der heimische
Lorbeer des Friedens einst gedeihen könnte. Ein kräftig jugendliches
Leben zeigte sich überall. Jeder wollte sich betheiligen bei der Innern
Arbeit. Die Presse gelangte plötzlich zu einer Bedeutung, welche
diejenige in Schatten stellte, die vor 100 Jahren die Briefe des Junius
sich in England errangen. Ja man kann sagen, dass noch nie ein
grösserer Triumph der Presse in politischen Fragen gefeiert worden
ißt, als in Russland zu unserer Zeit, dass ihre absolute Wirkung nirgend
* eine grössere gewesen ist. Denn die Macht der politischen Presse
Englands ist durch die staatlichen und socialen Verhältnisse des Landes
sanctionirt, sie ist ein so nothwendiges und anex'kanntes Glied des
englischen Staatskörpers, als eines der beiden Häuser des Parlaments.
Die Stellung der Presse in Russland war und ist eine weitaus hievon
verschiedene, und dennoch war ihr Einfluss zu Zeiten mindestens
ebenso gross, als nur je der der englischen Presse in England es
gewesen ist. — Man mag diese seltsame Erscheinung erklären, be-
urtheilen wie man will, die Thatsache ist unleugbar, und wer in den
Rechnungen dieser Zeit diese grösste Ziffer tibersieht, der wird sich
verrechnen. Die ungeheure Gewalt der Presse in Russland zu er-
klären erscheint uns indessen nicht schwierig. Denn die Gewalt des
Gedankens, die Leidenschaften sich dienstbar zu machen, wird überall
weniger durch äussere Schranken, als durch das gleichartige Mittel
des Denkens bestimmt. Wo geistige oder materielle Interessen der
Massen angetastet, erregt werden, da hängt von der Bildung oder
Unbildung der letzteren die Macht der Presse ab. Der Unbildung
gegenüber wird sie zum Despotismus neigen, mit der Bildung wird
sie in innige Wechselwirkung treten. Und umgekehrt: wo Bildung
vorhanden ist, und diese Wechselwirkung dennoch nicht Platz greift,
die Presse sich isolirt, da ist man gezwungen, anzunehmen, dass das
Pubücujn sich einer Berührung seiner Interessen nicht bewusst ist.
— Die äusseren Umstände waren der englischen Presse noch stets
weitaus günstiger als der russischen •, jene wird durch keine Censur
gezügelt: aber sie ist darum keineswegs zügellos, denn sie wird in
Schranken gehalten durch ihr eigenes, politisch gebildetes Publicum.
Die freisinnigen Maassregeln unserer Regierung schufen eine politische
Presse um die Massen politisch zu bilden. Die Presse erhielt eine
1*
4 Zur Lage.
bisher unerhörte Freiheit der Bewegung, die Controle der Censur
verringerte sich in hohem Maasse : aber an ihre Stelle trat keine Controle
eines selbstdenkenden Publicums. Die Presse stand nicht mehr unter dem
äussern Zwang der Regierung, und sie stand noch nicht unter dem
einer in geistiger Thätigkeit ihi* paritätischen öffentlichen Meinung.
Sie war sich selbst überlassen einer Menge gegenüber, die nicht das
selbständige Urtheil, die Mittel besass, ihr zu widerstehen, und daher
haltlos von ihr fortgerissen wurde.
Dem Umschwünge der ganzen Richtung des Staatslebens folgte
bald eine Periode des Sturmes. Auf den Fahnen der Publicisten
wechselten die mannigfaltigsten Devisen, Gremeindebesitz, Panslavis-
mus, nationale Wissenschaft einander ab. Daneben wurde Alles und
Jedes im Staate, die entlegensten Winkel durchforscht, geprüft. Es
wurden viele Verbesserungen durchgeführt, weit mehr unternommen
und wieder bei Seite geworfen. Zahlreiche Zeitschriften entstanden
und gingen ein, ein Jeder that den Mund weit auf, schrie in das
Gewühl hinein, schrie den Nachbar an und hörte nie auf eine Ant-
wort. Die Regierung hatte die Kräfte entfesselt, und bald glaubte
Alles, was ohne Fessel sich fühlte, eine grosse Kraft zu sein. Eine
rastlose Geschäftigkeit ergriff immer weitere Kreise, und zugleich
erscholl ein Jubel durch das weite Reich, der Ausdruck freudiger Ver-
wunderung über die eigene Thatkraft und Thätigkeit.
Damals, im Jahre 1859, schrieb die Moskauer Zeitung: „Nicht
ohne freudige Regung und gerechten Stolz lasen wir in letzter Zeit
die Urtheile der auswärtigen Journale über die gegenwärtigen Zu-
stände unseres Vaterlandes. Bei der grossen -Annäherung zwischen
Russland und dem Westen Europas können der Aufmerksamkeit des
letzteren jene frische Kraft, jener gesunde, unerschütterliche Glaube
an eine Zukunft, jene Abwesenheit krankhafter Extravaganzen, welche
eine beneidenswerthe Eigen thümlichkeit jugendkräftiger Völker bilden,
die ein ernstes, inneres Dasein zu leben beginnen, keinesfalls ent-
gangen sein.''
Es ist natürlich, dass von den vielen Fragen, die mit Nutzen
vor der OefFentlichkeit hätten besprochen werden können, nur sehr
wenige mit Verständniss, und noch weniger mit Gründlichkeit erörtert
wurden. Indessen wurde doch manches Gute geleistet, und man durfte
hoffen, dass nach dem Feiertagsjubel eine Zeit ernster häuslicher
Arbeit eintreten werde. Denn das Haus war bis zum Giebel gefüllt
mit Material,, welches der Verarbeitung harrte. Die Aufhebung der
Leibeigenschaft allein reichte hin, alle tüchtigen Kräfte auf lange
Zur Lage. 5
hinaus zu beschäftigen und es schien, als ob wirklich dem Streben der
Staatsregierung nach Förderung der häuslichen Arbeit reiche Mittel
sich darbieten würden.
Auch wir begrüssten freudig diese ersten Anfänge eines ernsten
Innern Schaffens, und wenn jenes der dauernde Charakter der Be-
wegung gewesen, geblieben wäre, wir wären stolz, mit ihr die Arbeit
zu theilen. Aber es kam anders. Der leichte Ruhm, von den Uebeln
gesprochen zu haben, welcher der Regierung zukam die es gestattete,
wurde von der Presse zum eigenen, höchsten Verdienst erhoben.
Man schmückte sich die Stirn mit der Glorie des Reformators weil
man die Erlaubniss erhalten hatte, von Reformen zu reden. Ein effect-
haschender Dilettantismus machte sich breit. Die Presse wollte nur
herrschen und vergass das Arbeiten, sie reizte auf statt zu ordnen;
sie stachelte das heilsame Selbstbewusstsein des Volkes nicht nur an,
sondern führte es zu Selbstüberhebung. Man glaubte Alles zu können
weil man über Alles reden durfte. Man glaubte Alles gethan zu
haben, wenn man über Alles geredet hatte. Bald wurde aus der Arbeit
ein Spiel. Anstatt den Boden für den heimischen Lorbeer zu ackern,
holte man sich fremde Lorbeerreiser und pflanzte sie in eine Erde,
in der sie nicht gedeihen konnten, in der sie nicht Wurzel fassten.
Dann riss man mit knabenhafter Ungeduld die Reiser aus der Erde,
und trug sie triumphirend als eigenste Erzeugnisse der Heimath umher.
Man fand es ermüdend, die vorhandenen Listitutionen, die realen Ver-
hältnisse zu bessern, und fand es leichter, für Alles Universalmittel
zu erfinden. Statt praktisch hier niederzubrechen, dort aufzubauen,
wirklich Schlechtes durch Besseres zu ersetzen, begnügte man sich,
mit grossen Principien zu spielen.
So kam man bald dazu, von der ersten, segenverheissenden
Richtung abzuspringen, die langsam reifenden Früchte häuslicher
Arbeit zu schädigen, die Blicke wieder nach Aussen zu richten. Man
fand in dem Nationalitätsprincip ein bequemes Mittel mit Thaten zu
glänzen, und suchte eifrig nach Objecten, auf die sich dieses grosse
Princip ruhmreich appliciren liesse.
Es war die polnische Lisurrection ausgebrochen und hatte ihr
verderbliches und nachhaltiges Gift in die grosse Bewegung hinein-
gegossen. Die weitgreifenden, wohlmeinenden Pläne der Regierung
wurden theils paralysirt, theils auf lange hinaus in einem grossen
Theile des Reiches in ihren wohlthätigen Wirkungen gestört. Die
Macht des Parteiwesens wurde durch die Insurrection gestärkt.
Seitdem ist das Staatsleben immer mehr mit den öffentlichen
6 Zur Lage.
Strömungen versöhnt worden und mit dem höchsten Erstaunen blicken
wir heute auf das Gewordene. Innerhalb eines Zeitraumes von
15 Jahren hat sich in einem absolut monarchischen, ja dem abso-
lutesten Staate Europas eine Oeffentlichkeit herausgebildet, deren
Gewalt stets bis in die entferntesten Grenzen des Reichs, ja weit
drüber hinaus verspürt wird.
Im Lichte dieser Oeffentlichkeit, im Schatten dieses Parteigetriebes
sind die Dinge im Reich während dieser Zeit zu betrachten wenn
man sie richtig verstehen will. Es giebt noch heute eine Partei,-
oder besser eine Klasse von Menschen im Reiche, die mit souveräner
Verachtung auf diese neuen Kräfte herabblickt ^ die sich von den
hominesnovi, den Aksakow, Katkow, Leonijew mit nur einem Stirn-
runzeln abwendet. Diese Klasse begeht das Unrecht, den aufsteigen-
den Qualm, die aufgeworfene Asche von der treibenden Kraft nicht
zu trennen, ja sie begeht den grösseren Fehler., diese Kräfte zu
ignoriren. Es ist ein fürwitziges Unternehmen, staatliche Umwälzungen
niederrunzeln zu wollen weil sie' Von Zeitungsschreibern gemacht
werden, und eine tragische Komik liegt in dem vornehmen Lächeln
eines Mannes, den die unsanften Räder einer stürmischen Zeit zu
Boden geworfen haben. Weil die alte Aristokratie Russlands bisher
unterhalb des Thrones sich allein sah, ist der grosse Theil derselben
unvermögend, dort jetzt etwas Anderes zu erblicken. Dieser Theil
schaut bei dem Getöse, welches an sein Ohr schlägt, verwundert
um sich, und da er nicht bemerkt, dass das Getöse in den Reihen
der Seinigen entspringt, meint er, es sei eine Täuschung des Ohres,
die keine Beachtung verdiene. Dieser specifisch aristokratische Fehler
ist so alt als die Aristokratie, und wo eine Aristokratie von jungen
Volkskräften für immer, oder doch für lange Zeit überflutet worden
ist, da ist, wenn sie noch einigen Innern Werth besass, diese politische
Kurzsichtigkeit und deren Folge, politische Unthätigkeit, die Ursache
gewesen.
Nach diesem flüchtigen Blick in die Ferne senken wir das Auge
auf unsere nächste Umgebung.
Der Sturm, der den grossen Baum erschüttert, schleudert die
äussersten Zweige gewaltig hinüber und herüber. Dort wurden
manche gute Früchte vor der Reife herabgeworfen, hier wurden
manche schon in der Knospe erstickt, für welche die Eigenart des
Pfropfreises andere Zeitigung, andere Sonne und Regen verlangte.
Dennoch ist diese Zeit für die baltischen Provinzen nicht nur von
höchster Bedeutung, sötfdern auch von einigem Nutzen gewesen.
Zur Lage. 7
Bis vor etwa 16 Jahren gehörten die baltischen Provinzen in
gewissem Sinne zu den glücklichsten Landstrichen, die man sehen
konnte. Seit langer Zeit unter dem Scepter eines mächtigen Reiches
blieben sie von Kriegen und Fehden verschont, deren häufige Opfer
sie früher geworden waren. Während blutige Kämpfe manch schönen
Landstrich im Westen Europas verheiörten, betrat kein feindlicher
Seldat.den Boden Liv- und Estlands, konnte Kurland mit nicht er-
heblichen Unterbrechungen sich dauernd von den früheren Schlägen
erholen.
Die russischen Herrscher zeigten in der That meist eine den
deutschen Unterthanen freundliche Gesinnung. Nicht dass diese Lande
verhätschelt worden wären auf Kosten der übrigen Provinzen des
Reichs. Sie Äaten redlich das Ihrige, ja sie trugen mehr zu den
öffentlichen Lasten bei als die Andern, und sie konnten mehr bei-
tragen weil sie mehr arbeiteten, mehr erwarben. Aber ihnen wurde
die Möglichkeit erhalten, in ihrer Weise zu arbeiten, sie zahlten ihre
Steuern, und man fragte nicht viel darnach, wie sie sie aufbrachten.
Durch ihre Vergangenheit waren sie in die Lage versetzt, mit einiger
Selbstgenügsamkeit auf der Folie der übrigen Provinzen sich stets
für auf der Höhe ihrer Zeit stehend anzusehen. Kein unruhiger Zeit-
geist drängte sie ungeduldig vorwärts, denn Dank ihrer Geschichte
erblickte der Zeitgeist des Reichs stets ihren Rücken, und der des
Auslandes hatte keine Macht über sie. Die grossen Erschütterungen
der Wende des Jahrhunderts und der Mitte des neuen wurden zwar
auch bei uns verspürt. Besonders in Kurland schlugen die Pulse
stärker weil dort der Blutwechsel mit dem Westen noch in genauerer
Verbindung stand. Man hatte dort seine Zeit der Romantik, des
Rationalismus, der demokratischen Ideen. Man las in Livland die
Schriften Garlieb Merkels, und den besten Köpfen blendete der Schim-
mer des Humanismus das politische Auge. Aber die Unruhen der
bürgerlichen Union in den neunziger Jahren waren in Kurland ebenso
ein Sturm in einem Glase Wasser als die der vierziger Jahre es
später in den drei Provinzen waren. Das Wasser wurde wohl ge-
■s. ^
kräuselt, aber das Gefäss war zu klein, zu abgeschlossen, um nach-
haltige Wirkungen aufzunehmen.
So kam es, dass der Zeitgeist des Westens dieses Land ein wenig
bei Seite liegen liess. Die Initiative der Stände begann zu hinken,
der politische Blick verdunkelte sich.
Mit dem Deutschthum bei uns sahen wir alles das verbunden,
was unsere glückliche Existenz förderte. Was irgend sociale oder
1.
8 Zur Lage,
politische Macht im Lande hatte, war deutsch, und was deutsch war,
konnte sicher sein, im Reich zu Macht und Ansehen, oder doch zu
leidlicher Stellung zu gelangen. So entstand die Verwechselung: die
tüchtige, selbständig schaffende Kraft, die unter günstigen Umständen
uns Deutsche zu Macht und Ansehen hatte gelangen lassen, ver-
wechselte man mit dem baltischen Deutschthum selbst, man vertauschte
die nationale Abkunft mit dem nationalen Charakter. Weil unsere
glänzendsten Traditionen mit der Macht unseres Deutschthums zu-
sammenfielen, meinte man, zum Glänze keines weiteren Umstandes
zu bedürfen, als zur leitenden Nationalität bei uns zu gehören. Weil
wir gewohnt waren, zu Hause zu leiten, im Reiche grosse Erfolge zu
erzielen, glaubten wir einen Anspruch auf Leitung und Erfolg dadurch
begründet, dass wir Deutsche, oder besser, dass wir Edelleute oder
Bürger Kur-, Liv- oder Estlands waren.
Wenn wir nach Westen schauten, so fühlten wir uns gehoben
durch ein dunkles Gefühl der Zusammengehörigkeit mit einem Volke,
welches durch Kampf und Arbeit zu grossen Zielen strebte, grosse
Erfolge errang. Wir Hessen uns diese Errungenschaften der Civili-
sation Wohlgefallen soweit sie uns behagten und hatten eine leise
Empfindung als ob wir selbst sie mit verdient hätten. Auf die
socialen Kämpfe, den ständischen Hader der Zeit .von 1848 sahen
wir mit eijiiger Verachtung hin, und dankten Gott, dass wir nicht
waren wie andere Leute. Denn bei uns herrschte tiefer Friede
und leidliche Zufriedenheit. Während wir in jenen Bewegungen
den Unfrieden klar erkannten, vermochten wir die segensreiche
Entwicklung nicht zu erkennen, die sie im Schoosse bargen, und
als die Fehlgeburten jener Zeit zu Tage kamen waren sie nicht
geeignet, unsere Achtung und unser Verständniss für den Westen zu
mehren. Wir sahen dort Unordnungen, die das Aufstreben unbe-
rechtigter Mächte hervorbrachte, und bemerkten mit Befriedigung, dass
bei uns Ordnung und Recht unerschüttert aufrecht standen. Dass wir
so urth eilten, dass wir die Berechtigung jener Mächte nicht anerkannten,
war natürlich: wir urtheilten so wie damals und stets alle diejenigen
Klassen es gethan haben, die Vorrechte zu vertheidigen hatten.
Schauten wir nach Osten, so sahen wir einen starken Herrscher,
dessen Arm uns vor jenen Unordnungen bewahrte, den Segen des
Friedens uns erhielt. Wir sahen fernervcin weites Feld, auf welchem
unsere Söhne, die jüngeren Brüder, noch stets mit leichter Mühe sich
Geltung und Stellung verschafft hatten, und wo ein gnädiger Monarch
mit grossem und verdientem Vertrauen uns entgegenkam. Wir sahen
i
Zur Lage. 9
ein grosses Reich, von dessen Einrichtungen wir kaum mehr wussten,
.als dass keine den unseren an Autonomie und zeitgemässer Auf-
geklärtheit gleich kam,
Unsere Religion und unsere Geistlichkeit waren unter aufge-
klärtem Scepter geschützt und geachtet. Ein hervorragender Mann
dieses Berufs konnte — es war im Jahre 1810 — mit Ueberzeugung
sagen: „Ungerechtigkeit wäre es, nicht ausdrücklich darauf hinzu-
weisen, dass die evangelisch - lutherische Kirche nie und nirgends
neben einer andern christlichen Confession gestanden hat, insbesondere
wo diese die Reichsconfession war, von der sie so wenig beein-
trächtiget, und auch nur gefährdet worden wäre, als wir bis jetzt
von der orthodox - griechischen Kirche.* Er hielt es für eine Ver-
sündigung an der Gerechtigkeit des Monarchen, von Gnade und Dul-
dung zu reden wo monarchische Zusicherungen die vollstaatsbürger-
liche Existenz unserer Kirche und evangelische Gewissensfreiheit auf
so sichere Grundlagen stellten.
Die Zustände in Deutschland konnten uns nicht behagen, denn
sie drängten gegen den Absolutismus der Monarchen und der Adels-
aristokratien an, und unsere Gesinnungen waren völlig monarchisch
und aristokratisch, sie bedrohten die Autorität der Kirche, und wir
waren streng kirchlich. Die Zustände im Reich behagten uns in
so weit sehr wohl, als sie durch die Thätigkeit zahlreicher Söhne
unserer Lande uns näher gerückt wurden. Hier leisteten wir Einiges
und galten viel. So zeigte sich uns der Westen wenig beneidens-
werth, und im Osten wurden wir mit Grund beneidet.
Aber unser Blick war nur selten nach Aussen gerichtet und
unserem Auge genügte der massige Kreis, der die Literessen alther-
gebrachten provinziellen Lebens umgrenzte. Wir trieben keine grosse
Politik. Es war unsere^ vornehmste Sorge, die Dinge in der Provinz
zu erhalten wie sie waren, denn indem wir dieses thaten, schienen
wir ein glückliches Dasein uns ajif lange Zeit hinaus zu sichern.
Geringeren Neuerungen widerstrebten wir nicht: den Wohlstand der
Bauern zu mehren, ihre Litelligenz zu fördern, dem Fabrikwesen
Vorschub, dem Gewerbe Unterstützung zu leisten, die Aemter recht-
schaffen zu verwalten, die Justiz unparteiisch zu üben — dieses Alles
zu fördern soweit die augenblicklichen Bedürfnisse es erheischten,
Hessen wir uns angelegen - sein. Doch obwohl es weder an gutem
Willen noch an Fleiss allzusehr gebrach, solcherlei zwar werthvoUe,
jedoch nicht stets genügende Arbeit zu vollbringen, so hegten wir
1
10 Zur Lage. j
doch einen grossen Abscheu vor tiefgreifenden Veränderungen, allge- '
meinen Umgestaltungen. — Wir glichen dem Besitzer eines geräumigen,
behäbig und wohnlich eingerichteten alten Hauses, der mit Freude
und aus Gewohnheit die jährlichen Reparaturen vornimmt, mit ver-
ständigem Sinn hier einem rauchenden Ofen zu frischem Luftzuge,
dort einer knarrenden Thür zu schmeidiger Bewegung verhilft, hier
eine neue, einfache Erfindung, dort eine praktische Verbesserung an-
bringt; aber während er sehr geneigt ist, auf solche Weise die alte
Wohnlichkeit zu vermehren, es fast für einen Frevel ansähe wenn
man ihm anmuthete, das Fundament, die Wände, das Dach zu erneuern.
Denn ihm verschwände die Wohnlichkeit mit dem Alten, und das Alte
mit den Haupttheilen des Hauses. — Er fügt dem Ganzen ein Stück
nach dem andern langsam und bedächtig ein, und bei jedem neuen
ist das vorhergehende letzte ein längst vertrauter und geprüfter Freund ;
und so erscheint ihm wohnlich und ehrwürdig was doch nur wenig
älter ist als das Neue. Denn indem er das eine Stück dem andern
folgen lässt, knüpft sich ihm eine ganze Reihe aneinander, und das
jüngste deucht ihm alt Weil es eine Geschichte hat, es deucht ihm
ehrwürdig weil es von vielem Ehrwürdigen umgeben ist. Wollte
man ganze Wände auf einmal einreissen , dem Ganzen plötzlich in
grossen Dingen zu nahe treten , so wäre ^des Neuen zu viel um von
der Würde des Alten den Schein zu borgen, es wäre um die Wohn-
lichkeit geschehen.
So lebten wir behaglich in den alten Räumen, über unsere Schwelle
trat selten die Leidenschaft, und der häusliche Zwist, so alt als wir
selbst, diente dem Hausstande fast mehr «ur Würze, ajs dass er ernst-
liche Besorgnisse erweckt hätte.
Dieses war unsere Lage und sie war in der That in gewissem
Sinne eine glückliche zu nennen. Es war, was man in unruhigen
Perioden die gute, alte Zeit zu nennen liebt.
„Die Welt war damals noch „gemüthlich",
Und ruhig lebten hin die Leut' — ".
Dass wir uns selbst aus dieser gemüthlichen Ruhe nicht aufstörten,
hat man uns schwer verargt. Aber, wie wir meinen, mit Unrecht.
Es ist eine etwas doctriöäre, unhistorische Anforderung, dass in einem
grossen, monarchisch regierten Reiche eine kleine Provinz sich ganz
unabhängig von den augenblicklichen, staatlichen Principien des Ganzen,
ja gegen dieselben, aus ständischen Verhältnissen nach eigenen, grossen
Ideen der Politik entwickele. Li ganz Russland durfte unter der Re-
gierung des Kaisers Nikolaus Niemand im Ernst verlangen, dass die
\
Zur Lage. 11
Vorrechte der herrschenden Klassen beseitigt würden. Es ist eine
menschlich und politisch im Allgemeinen unrechtfertige Zumuthung,
dass man eine Macht aufgebe, deren Berechtigung nicht angestritten
wird. Uns trifft der Vorwurf nicht, dem Drängen der minder be-
rechtigten Klassen in feudaler Weise uns zu widersetzen. Nur räumen
wir Eines ein : Wir müssen von uns selbst ein grösseres Maass politischen
Scharfblicks, ein weiter sehendes Auge verlangen, als von den Massen
oder von politischen Ständen im Allgemeinen. Wir haben für unsere
Vorrechte mehr zu verantworten als Andere. Wir dürfen uns nicht
darauf verlassen, dass zu rechter Zeit die realen Kräfte sich finden
werden, das Substrat einer Idee zu bilden, unsere Existenz, unsere
Entwickelung zu stützen. — Kurzsichtig zu sein ist ein Fehler, kein
Vergehen. Daraus einen Vorwurf uns zu machen sind wir allein
berechtigt und verpflichtet, aber kein Anderer.
Damals machte Niemand uns den Vorwurf, dass unsere Ent-
wickelung still stehe und die Schritte, die wir vorwärts thaten, ge-
schahen meist aus eigenem, freiwilligen Antriebe. Als in Preussen,
in Oesterreich die Leibeigenschaft der Bauern aufgehoben wurde,
wirkten grosse Mittel zur Erreichung dieses Zieles mit. Li Oesterreich
gingen die Kriege gegen Friedrich 11, die Reformen Maria Theresia's
dem Schritte voraus, den Joseph II in reformatorischem Feuereifer,
und dennoch unvollständig that. In Preussen bedurfte es des Elendes
de» napoleonischen Bedrückung, und es gehörte ein Stein dazu,, um
nach hartnäckigem Widerstände die Abolition der Leibeigenschaft und
Erbunterthänigkeit herbeizuführen. Im Herzogthum Warschau wurde
diese Reform im Jahre 1807 von Napoleon mit dem Code civil
decretirt. So ausserordentliche Kräfte erst konnten den Widerstand
der Gewohnheit brechen. Was dort durch die Vereinigung unge-
wöhnlicher äusserer Verhältnisse und ungewöhnlicher Männer dem
Adel abgerungen wurde, das geschah hier um dieselbe Zeit durch die
Initiative des Adels, gegen den die Spitze dieser Reform gewandt
war. Ja die Anfänge zu derselben sehen wjr hier schon 1764, 1753
auftauchen, und die Zeit Stein's und Hardenberg's fand diese Ritter-
schaften bereits in einem Grade für die Durchführung dieses grossen Acts
gereift, der einer thatkräftigen Initiative den fast einmüthigen Beschluss
folgen Hess. Und im Zusammenhang mit diesem politisch be wussteh
Leben ging eine geistige Bewegung auch auf andern, verwandten
Gebieten durch unser Land, an die sich unsere besten Namen knüpfen.
Auf jene Zeit mit Stolz zurückzublicken sind wir berechtigt.
Damals besassen wir, zum Mindesten in einer Richtung die Schärfe
12 Zur Lage.
des politischen Blicks und die selbständige, muthige Thatkraft, welche
den Vorwurf des Feudalismus und Junkerthums weit zurückweisen,
und deren Vorhandensein die Bedingung ist, die uns befähigt, zu sein
was wir sein sollen. — Die Verhältnisse, die wir oben berührten,
haben uns seitdem andere Wege geführt. Niemand drängte uns zur
Arbeit, und wir wurden gemüthlich. Niemand warf uns vor, dass
wir gemüthlich seien, und wir wurden kurzsichtig. Denn es ziemte
uns nicht, an der Thätigkeit jenes Haushaltes Genüge zu finden. Eine
verhängnissvolle Trägheit und Indolenz, eine kleinliche Selbstgenüg-
samkeit drohte unsere ffuten Kräfte im Lande werth- und würdelos
zu machen. Man kümmerte sich wenig um den Nachbar, und wenn
man es that, so geschah es meist in der Weise der Kaflfeeschwestem.
Unsere Pglitik drohte in jene Cavalierspolitik auszuarten, die eine
gefährliche Klippe aristokratisch -corporativer Verhältnisse ist. Wo
in Aristokratien das Bewusstsein grosser Pflichten, deren Erfüllung
ihnen obliegt, erlischt, da nimmt das politische Leben leicht den
Charakter des Persönlichen an. Eine gewisse Würde und Ehre wird
gewahrt, aber es ist die gesellschaftliche Ehre des Cavaliers, die man
darunter versteht und die man mit der des politischen Körpers ver-
wechselt. Man wacht darüber, dass der Einzelne das Ganze nicht
verunziere, dass er eine würdige Gesinnung an den Tag lege, dass
er nicht des persönlichen Muthes ermangele, dass die corporativen
Aemter nicht bestechlich seien; man sorgt, dass die Vertreter der
Körperschaften Leute seien, die ihrer Stellung nichts vergeben, man
thut Alles f(lr ein anständiges Benehmen des Einzelnen und des
Ganzen — und damit endigt der politische Katechismus. Aber dieses
anständige Benehmen wiegt zwar viel in den leichten Beziehungen
des Einzelnen zu dem geselligen Verkehr; wir verlangen im gewöhn-
lichen bürgerlichen Leben von der Mehrzahl der Menschen nicht mehr,
als dass sie die Bewegung des Ganzen nicht hemmen, die Kreise der
einzelnen Nebenmenschen nicht stören, und sind im Allgemeinen zu
der Voraussetzung berechtigt, dass wer sich würdig und ohne Anstoss
in der Gesellschaft und in seinen Geschäften zu benehmen weiss, ein
guter Staatsbürger sei. Von dem politischen Körper müssen wir mehr
verlangen. Wir können uns mit jenem negativen Maassstabe nicht
begnügen und fordern positive Tüchtigkeit. Wir können uns nicht
zufrieden geben wenn die Körperschaft nur ihre äussere Würde auf-
recht hält, wenn sie keine Niederlage erleidet, weil sie sich der Ver-
legenheit des Kampfes nicht aussetzt, wenn sie nicht irrt, weil sie
nicht handelt. Es mag ein höchst würdiges Bild gewesen sein, welches
Zur Lage. 13
die auf dem Forum versammelten Senatoren von Rom dem eindringen-
den Fremdling darboten, und wir bewundem die erhabene Vater-
landsliebe der Greise, wel^e, um die erzürnten Götter Roms zu ver-
söhnen, auf den curulischen Sesseln sitzend, sich zu gewissem Tode
dem Feinde überlieferten. Aber dieses Opfer kann uns nicht mit der
Schmach versöhnen, die jene selben Senatoren und Häupter von Rom
verschuldeten als sie durch Unthätigkeit und Zwietracht den dies
Alliensis herbeiführten.
Je grösseres und ausschliesslicheres Gewicht man den individuell
persönlichen Seiten des corporativen Lebens beilegt, um so enger
wird der Kreis des wahren politischen Schaffens. Denn immer mehr
und zwar im selben Yerhältniss als die Thatkraft abnimmt, wächst
die Furcht, dass wenn eine Verbesserung, eine Reform, eine politische
That unternommen wird, ihr Misslingen der Körperschaft zur Unehre
gereichen möchte, und man kommt dahin, dass die Körperschaft als
solche und der Einzelne innerhalb derselben vor allem Handeln zurück-
scheuen, nur um der Gefahr zu entgehen sich vielleicht eine Blosse
zu geben. Und es kommt dieses hinzu, dass eine schöne und wichtige
Eigenschaft corporativer Gemeinwesen durch jene Veräusserlichung
des politischen Lebens geschwächt wird, nämlich die in der alten
Devise enthalten ist: concordia res parvae crescunt. Denndaman
in misslichen Lagen Andere neben sich erblickt, die, ähnlichen oder
gleichen, schwierigen Fragen gegenüberstehend dem Thun des Nachbars
erwartungsvoll zuschauen, so wird man einerseits nur um so vor-
sichtiger, unthätiger, zum Verdecken seines Handelns geneigter, weil
viel daran liegt, dass jene es nicht etwa besser machen und klüger
erscheinen ; anderseits ist man im Handeln so zurückhaltend als mög-
lich, damit man durch einen die Andern etwa treffenden Schaden
rechtzeitig gewarnt werde, und vielleicht, indem man sich hiernach
richtet, aus dem Nichtsthun noch den Vortheil ziehen könne, für den
Weiseren, Scharfblickenderen zu gelten. Es gebricht die Kraft, jene
vermeintliche Ehre zu -wagen für die Gemeinsamkeit der That, und
man übersieht, dass indem man so diesen äussern Schein der Würde,
der Klugkeit wahrt, weit wesentlichere Dinge, nämlich die Thatkraft
auf dem Boden des einzelnen'Gemeinwesens selbst, und die Stärkung
durch Gemeinsamkeit der Arbeit gefährdet und verloren werden.
Diesem Geiste fallen leicht Aristokratien anheim, die 'nicht durch
ernste und würdige Pflichten und durch das lebendige Bewusstsein
derselben zur Arbeit und Thätigkeit gespornt, gezwungen werden.
Wenn unser politisches Leben diesem Geiste entging, so danken wir
14 Zur Lage.
es der ihm zugeführten Arbeit, und je weiter wir uns von jenem
Geiste entfernen, für um so gesunder werden wir unsere politischen
Gemeinwesen galten dürfen.
In jenen Jahrzehnten nach der Bauernemancipation begann es
an Arbeit zu fehlen weil man sie nicht sah, weil wir kurzsichtig ge-
worden waren, und das Blut in den Körpern wurde dick. Wir er-
freuten uns eines massigen Wohlstandes und einer noch massigeren
deutschen Bildung. Weil diese deutsche Bildung und deutsche Sitte
eine Quelle der Befähigung zu grossen Erfolgen für uns war, wachten
wir fast eifersüchtig darüber, nicht dass sie reichlicher flösse, sondern
dass wir allein daraus schöpften. Wir sahen unser Deutschthum nicht
anders denn als ein Privilegium gleich den übrigen Privilegien des
Grundeigenthums, der Richterwahl an, und gönnten es den Andern
ebenso wenig als diese. Es fehlte nicht an dem Verständniss für die
Nothwendigkeit der Verbreitung geistiger Bildung unter dem Land-
volke ; es fehlte aber wohl an dem Verständniss für die Geistesrichtung
in der Bildung. Wir hielten dasjenige im engen Raum verschlossen,
was nur gedeiht bei vollem Licht und freiem Leben. Die Ritterschaften
haderten mit den Städten, dem Edelmann stand Jedermann in der
Welt näher, als der Bürger seines Landes und Stammes. Denn was
die Stammeshingehörigkeit dem Edelmann werth machte, wurde von
aussen nicht angefeindet, und die einzige Concurrenz drohte ihm inner-
halb des Stammes aus dem Bürgerthum. Und umgekehrt: je ungünstiger
die politische Lage des Bürgerstandes bei uns wurde, um so mehr
musste in den Augen des Einzelnen aus diesem Stande der Werth
unseres Bürgerthums hier schwinden um dort auf socialem Gebiet
eine Entschädigung zu finden, wo die bürgerliche Arbeit des Deutschen
allgemeine Anerkennuii^ genoss. Mit der Regierung und im Reich
standen wir gut. 'Wenn wir aber politisirten, so war die Entdeckung
neuer Goldadern in Perm von grösserer Fragwürdigkeit, als die Ab-
schaffung der Korngesetze in England oder eine Verfassungsänderung
in einer Schwesterprovinz. Denn dort war unser Vetter Gouverneur
und unser Neffe hatte Aussicht, die Verwaltung der neuen Gold-
wäschereien zu erhalten, und hier waren wir oft Kirchthurmspolitiker
genug, um in knabenhafter Eitelkeit d,en Gefährten die Sache aus-
baden zu lassen, höchst selbstzufrieden, sich so klug aus der Affaire
gezogen zu haben. Das Interesse, welches der Kurländer für das
Starodubsche Uhlanenregiment oder das 3. Seeregiment hatte war
grösser als dasjenige, welches er für die Dorpater Hochschule oder
der Livländer für die Verhandlungen des kurischen Landtages hatte,
(
Zur Lage. 15
denn alle Namen des kurischen. Adels waren in den OfBzierslisten
jener Regimenter zu lesen. Der Kurländer, der die Namen Leal oder
Harrien nennen hörte, Hess sein Gedächtniss unsicher über sämmtliche
Längen- und Breiteugrade der Erdkugel hingleiten, und der Estländer
wusste von den Kurländern nur zu erzählen, dass die Unterländer
gesittete Menschen seien, die Weizen säten, die Oberländer aber «ich
alle unter einander duzten; dass jene ihr halbes, diese ihr ganzes Leben
damit hinbrächten, Hunde zu erziehen und Hasen zu schiessen. So
mangelhafte gegenseitige Urtheile und Kenntniss waren natürlich mit
geringem Interesse verbunden. — Den Erfolgen der europäischen
Politik Russlands schenkten wir ein wachsames Auge, denn unsere
Gesandtschaften in aller Herren Ländern waren fast ausschliesslich in
«
den gewandten Händen von Diplomaten, die wir beim Vornamen
nannten. Russland war die erste unter den Grossmächten, und seine
Diplomatie, unsere Vettern, die erste im europäischen Concert. Ihre
Siege waren unsere Siege, ihre Feinde hassten wir mit persönlichem
Hasse.
Aber während dieser ganzen Zeit seit jenen zwanziger Jahren
zeigt unser inneres Leben eine auffallende Oede. Es fanden sich hie
und da Männer, die wohl im Stande waren eine kräftige Entwickelung
zu leiten. Sie hatten den Muth der Initiative von den Mannen^ der
zwanziger Jahre überkommen , aber soweit nicht äussere Mittel sie
unterstützten, vermochten sie wenig einer Masse gegenüber, die gemüth-
lich war. Es fehlte uns nicht an Männern von hohem Geist, von
hervorragenden Talenten : aber dieser Geist entzückte meist die Gesell-
schaft zu St. James und Versailles, diese Talente glänzten im Winter-
palast und auf der Maiparade. Sie erhielten und mehrten das Ansehen,
welches die Ritterschaften bei Kaiser und Reich genossen. Aber
unterdessen ging ein halbes Jahrhundert durch das Land ehe die
Consequenzen der Bauememancipation in der Agrarreform gezogen
wurden, unterdessen ward ein grosser und wichtiger Theil der pro-
vinziellen Verwältungsmaschine leer an Talenten und Geist, und die
Kronbehörden entfremdeten den Landesbehörden. Man war sehr
geschmeichelt und sehr befriedigt wenn der Repräsentant der pro-
vinziellen Ritterschaft eine „ganz exceptionelle Stellung" in den Kreisen
des Hofes einnahm, und Hess sichs wenig kümmern, ob diese Stellung
auf dem Parquet der Residenz oder auf dem heimathlichen Boden der
Provinz errungen war, ob diese Ehren exceptionell persönliche waren,
oder in der That mit aussergewöhnlicben, realen Verdiensten um die
repräsentirte -Provinz zusammenhingen. Mau war entzückt, als etwas
16 Zur Lage.
Absonderliches zu erscheinen, und war wenig bestrebt, etwas Sonder-
liches zu sein. So waren Gewohnheit und die eigene Schwere die
wohlthätigen Kräfte, denen wir fast allein die Erhaltung dessen zu
verdanken haben, was heute uns von grossem Werth scheint.
Wir erreichten allerdings auf jenem Wege und in einer Richtung
viel: wir waren sehr gute Patrioten und hatten vortreffliche Ver-
bindungen; der Schwerpunkt unserer Interessen verlegte sich immer
mehr in die Residenz und das Reich.
Als im Jahre 1853 die ersten Feindseligkeiten gegen die Pforte
begannen, als das kaiserliche Manifest vom 1. November die Unter-
thanen zum Religionskriege, zur Vertheidigung der geheiligten Rechte
der orthodoxen {[irche aufrief, da entflammte das kaiserliche Wort
zur allgemeinen Begeisterung. Reiche Geldspenden wurden aufgebracht
und wanderten in die Kassen, die dann die Hospitäler und Ma-
gazine von Sewastopol versorgten. Unsere Frauen und Jungfrauen
zupften eifrig Charpie für die . Verwundeten ; die einquartierten
Truppen wurden freudig begrüsst und freigebig beherbergt; unsere
Pfarrer hielten feurige Gebete für die Kämpfenden und für den Sieg
der gerechten Sache; unsere Jünglinge verliessen in Schaaren die
Schulen und die Universität, empfingen gemeinsam die kirchliche
Weihe für das Vaterl^d, und wurden von den Häuptern der Provinz
Sr. Majestät zugeführt, welche sie der Sorge des damaligen Thron-
folgers, unseres heutigen Kaisers, übergab. Mit der grössten Spannung
folgten wir den Ereignissen des Krieges, mit Jubel empfingen wir
jede Siegesnachricht, mit tiefem Schmerz und gekränktem Ehrgefühl
erfüllte uns der Ausgang.
Zehn Jahre der äusseren Ruhe gingen vorüber. Andere Thaten,
als die der Diplomaten und Heerführer haben während dieses De-
cenniums unsern Geist beschäftigt und bestimmt. Manche exceptionelle
Stellungen erwiesen sich als Seifenblasen, und manch saftigen Lorbeer
sahen wir mit schmerzlichem Erstaunen in unserer Hand verdorren.
Aber der Wirbel des ganzen Reichs hat uns Bewegung und Richtung
gegeben, jene Umkehr des Ganzen bahnte eine Wendung auch unseres
Geistes an. Ein Vergleich unseres Heute mit der guten, alten Zeit
führt sorgenvolle Linien auf unsere Stirn, aber sie lässt uns zugleich
in mancherlei Beziehungen wohlthätiger Folgen der grossen Reformen
unseres Monarchen und der wechselnden Ideen des öffentlichen Geistes
im Reiche mit Dankbarkeit bewusst werden. Die oft veränderte Stellung,
welche in dieser Zeit jener Geist zu uns genommen, hat wesentlich
unsere Kenntniss desselben gefordert, unsere Selbsterkenn tniss geschärft.
!\
Zur Lasre. 17
"O
Mit Befriedigung vernahmen wir die ersten Reden, welche die
Moskausche Zeitung an uns richtete. Es war im Jahre 1864, nach-
dem wir schon längere Zeit mit Ueberraschung bemerkt hatten, welche
Wichtigkeit man den Zuständen, der baltischen Provinzen beizulegen
begann, als jenes Blatt uns die Hand bot zur friedlichen innern
Assimilation. Wir waren erstaunt über die geöffneten Armö, die
sehnlichsf uns ans Herz zu drücken begehrten, und waren zweifelhaft,
welche Gefühle diesen Busen bewegten, der für die deutsche Cultur
in den baltischen Provinzen alle nur möglichen ^Immunitäten** be-
anspruchte, dessen höchster Wunsch es war, in diesem abgelegenen,
unbeachteten Küstenlande das Verlangen nach freier Verschmelzung
zu erwecken. Wir sahen uns plötzlich als vielumCreite Jungfrau,
und wussten nicht, was uns der Menge stürmischer Freier so werth
machte.
„Keine Nationalität überwindet die ihr beigemischten fremden
Elemente durch die blosse Steigerung ihrer äussern Machtstellung.**
So sprach' die Moskausche Zeitung zu Anfang des Jahres 1864, und
noch hieute sind wir ihr dankbar für diese gute und von uns stets
zu beherzigende Lehre. Am Schlüsse desselben Jahres schon sprach
die „Baltische Monatsschrift** ihr letztes Wort zu jenem Blatte. Seitdem
hat die Moskauer Zeitung nicht mehr zu uns, sondern nur über uns
gesprochen. Wir aber haben uns belehren lassen, oder noch zu lernen :
wie das ganze Reich alle Kräfte an die innere Arbeit gesetzt hat,
so dürfen auch wir von dem Wege, den das Ganze geht, nicht
weichen, so haben auch wir, ein Jeder an seiner Stelle im Hause zu
arbeiten, angestrengt zu wachen und zu wirken, ne respublica
quid detrimenti capiat.
Mit den Reformphantasien, wqlche das Reich durchschwärmen
sind auch uns viele Reformgedanken und einige Ausführungen der-
selben gekommen. Wir haben innerhalb weniger Jahre grössere Um-
wälzungen unserer Institutionen erfahren, als in den 50 Jahren vor
dieser Zeit. Es ist freilich wakr : diesen 50 Jahren der Ruhe haben
wir es zu verdanken, dass die Bewegung uns nicht schädlicher wurde,
als sie es hätte werden können. Wir hatten lange stille gesessen
und uns gepflegt in patriarchalischer Wirthschaftlichkeit und bürger-
meisterlicher Fürsorge, und als wir aufgestört wurden, reichten die
Kräfte aus, um auf unsern Füssen zu stehen und zu gehen» So machten
wir, anfangs zaudernd, schwankend, einige grosse Schritte. Der
Grundbesitz wurde frei gegeben, die Zunftschranken gebrochen, dem
Bauer wurde persönlich und in den Gemeindeverbänden völlige
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 2
^ 1= .
18 Zur Lage.
Selbständigkeit gesichert. Diese und andere Neuerungen wurden
nicht blos unternommen um Aushängeschilder eines modernen Libe-
ralismus zu bleiben, sie waren nicht Concessionen, die den Anforde-
rungen der augenblicklichen Verhältnisse gegenüber widerwillig
gemacht worden wären um zu gelegener Zeit thatsächlich vereitelt
zu werden. Wir thaten ehrlich was wii* thaten, und es genügt ein
Blick auf die heutigen agraren Zustände um zu erkennen, dass bei
uns Reform nicht Phrase ist. Und dieses Alles vollzog sich ohne
wesentliche störende Rückschläge. Doch ist aber die Gewohnheit der
Ruhe nicht geeignet, für Anstrengungen und Ausdauer auf unebenen
und ungewöhnlichen Pfaden vorzubereiten, Da«s wir uns nicht wieder
still niedersetzen, dafür ist gesorgt, und es wäre gleich thöricht zu
glauben , dass man auf rollenden Steinen sitzen oder stehen könne,
wie auf einen Zauberstab zu hoffen, der dem tobenden Wetter ge-
böte. Weitere einschneidende Neuerungen stehen uns bevor, und
es ist unsere Sache, dafür zu sorgen, dass sie Reformen bleiben.
Die feindliche Presse thut das Ihrige, um bei uns das Gute zu
hindern, einen ruhigen Gang zu stören, und wir müssen vorsichtig
auftreten, aber wir müssen gehen. Was uns eigen und werthvoU
ist, ist nicht ein geschenkter Schatz in der Truhe, der gegeben und
genommen wird, und wir werden es nur bewahren indem wir es
täglich erwerben, erweitern. Denn was lebendig ist, unterliegt
stetigem Stoffwechsel, und das nennen wir lebenskräftig, was die
Eigenart des Stoffes in sich stets wieder herzustellen im Stande ist.
Zu einer Zeit, wo in ganz Europa die Gegensätze sich in einer
Weise schärfen, die, wie wir meinen, einer völligen Verrückung der
politischen Centren zuführen muss; wo in dem grossen Reiche, dem
wir angehören, Wandlungen sich vollziehen, die wir eher Geschicke
als Reformen nennen möchten, haben auch diese Provinzen schwere,
böse Tage gesehen. Wo eine langjährige Gewohnheit uns gelehrt
hatte, die Vertheidigung unserer Interessen zu suchen, da fanden wir
die Waffen stumpf, und wir bemerkien, dass sich in unsere Rech-
nungen Fajßtore eingedrängt hatten, auf die die althergebrachten
Formeln nicht mehr passen wollten. Aber wir müssen mit diesen
Factoren rechnen, wir müssen neue Formeln finden. Folgen wir dem
Beispiel unserer Reichsgenossen, gehen wir, wenn auch mit andern
Mitteln als jene ausgerüstet, in kleineren häuslichen Verhältnissen
an die häusliche Arbeit. Benutzen wir die Kräfte, die wir sonst
anderswo verwandt haben, zur friedlichen innem Entwicklung. Be-
reiten wir für kommende Neuerungen unser Material. Wenn der
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Zur Lage. 19
«
Landmann den Boden ackert und düngt und wieder ackert, dann weiss
er nicht ob einst eine günstige Sonne den Weizen gedeihen oder böses
Wetter das Unkraut wuchern lassen wird. Dennoch bearbeitet er
unverdrossen den Boden für den Weizen. Wir sind mehr als Andere
in engen Räumen auf uns selbst, auf einander angewiesen. Aber
schränken wir die Bewegung, den Gesichtskreis nicht noch mehr ein
als der Raum es erfordert.
Mit diesen Wünschen übergeben wir unsem Lesern das vor-
liegende Heft und fügen nur noch den hinzu, dass es der „Baltischen
Monatsschrift" vergönnt sein möge, unter vielen, erfolgreich schaffen-
den Kräften eine zu sein.
E. B.
2*
1
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4
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Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums.
XI e d e»
gehalten zur Einweihungsfeier des Gebäudes des baltischen Polytechnicums zu
Riga aml. September 1869 yon E. Hollander als derzeitigem stellvertretenden
Vorsitzenden des Verwaltungsraths.
Hochverehrte Anwesende!
U:
nsere Hochschule ist an einen bedeutungsvollen Abschnitt ihres
Lebens angelangt: sie hat eine bleibende Stätte gefunden.
Nachdem bereits vor einem Jahre' der innere Ausbau zum Ab-
schluss gediehen war, so weit bei einem lebendigen Organismus über-
haupt von Abschluss die Rede sein kann, steht nun auch der äussere
Bau vollendet da. Die Ausführung desselben hat 4 Baujahre in An-
spruch genommen. Sie haben den zunächst Betheiligten viel Mühe
und Arbeit gekostet. Wir sind ihnen dafür zu dem lebhaftesten Dank
verpflichtet. Vor Allem gilt dieser Dank dem Manne, der den Plan
zu dem Bau entworfen und denselben dann mit unermüdlicher Sorg-
falt geleitet hat, unserem verdienten Professor Hilbig. Seiner weisen
Sparsamkeit ist es auch am meisten zu danken, dass es möglich ge-
wesen, die Baukosten, welche, abgesehen von den Kosten der inneren
Einrichtung und des Laboratoriums auf 180,000 Rbl. veranschlagt
waren, nur um die verhältnissmässig nicht bedeutende Summe von
ca. 5000 Rbl. zu überschreiten.
In seiner im Rundbogenstyl ausgeführten schönen Architectur
repräsentirt der monumentale Ziegelrohbau unsere Anstalt in wahr-
haft würdiger Weise, während im Innern überall eine den Verhält-
nissen entsprechende edle Einfachheit und Zweckmässigkeit sich zeigt.
Indem der Verwaltungsrath dieses also für seinen erhabenen
Zweck ausgerüstete Haus hiermit dem geehrten Lehrer-CoUegium und
den Herren Studirenden seiner Bestimmung gemäss zur Benutzung
I
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums. 21
überweist, lebt er der Hoffnung, dass in diesen Räumen alle Zeit der
Geist 'ächter Wissenschaftlichkeit bei Lehrenden und Lernenden herr- '
sehen und sich aus diesem Geiste heraus immer mehr alle die Früchte
entwickeln werden, die man von einer Hochschule zu erwarten be-
rechtigt ist.
Der Verwaltungsrath hofft, dass unsere Anstalt fortan fröhlicher
noch emporblühen und gedeihen wird. Er hofft, dass diese starken
Mauern sie schützen werden gegen manchen Sturm von innen und
von aussen.
So sind unsere Herzen in dieser Feierstunde erfüllt von Dank
bei dem Blick in die Vergangenheit, beseelt von Hoffnung bei dem
Blick in die Zukunft. Beide Richtungen führen uns vor Allem zu
Gott, dem allmächtigen Beschützer und Lenker aller Dinge.
Wir haben solchem Danke bereits Ausdruck verliehen in dem
gemeinsam gesungenen Liede. Es ist uns aber nicht minder Be-
dürfniss, diese unsere Anstalt auch für die Zukunft dem Schutze und
der Gnade des Allmächtigen zu befehlen, der bei allem Wechsel der
Dinge allein unveränderlich bleibt.
Erst? Jahre sind vergangen seit ihrer Begründung. Und doch
welche Veränderung in dem Kreise der Männer, die für sie gewirkt
und gearbeitet! Welcher Wechsel der ihr vorgesetzten Curatoren,
welcher Wechsel in dem Personal des Verwaltungsrathes und des
Lehrer-CoUegiums ! Die meisten gingen in andere Lebensstellungen
über, ein Thefl ging bereits zur ewigen Heimath ein. Unter ihnen
vor Allem der Mitbegründer und erste Präsident des Verwaltungs-
raths, der Bürgermeister Otto Müller. Es kann der Name dieses
Mannes hier nicht genannt werden, ohne dabei seiner hiervorragenden
Verdienste um die Begründung unserer Hochschule zu gedenken und
ohne dem tiefen Schmerze Ausdruck zu verleihen, den sein allzu
früher Heimgang so wie überall in Stadt und Land, so namentlich
auch bei allen denen finden muss, die ein richtiges Verständniss einer-
seits fär die Bedeutung unserer Anstalt, anderseits aber für die
grossen Schwierigkeiten haben, die der Begründung derselben ent-
gegenstanden und deren Fortbestehen noch immer bedrohen.
Freilich ist unsere Anstalt nicht auf die einzelnen Personen an-
gewiesen, sondern auf die Stände unserer Provinzen. Sie haben in
richtiger Erkenntniss dessen, was uns noth ist, dieselbe begründet,
sie werden — des sind wir überzeugt — was mit so vielen Opfern
ins Leben gerufen worden ist, nicht wieder fallen lassen. Nicht jedes
Blatt unserer heimischen Geschichte giebt Zeugniss von der Einigkeit
ir
22 Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums.
der Stände, hier aber liegt ein solches vor. Einmüthig haben sie
das edle Werk begonnen, einmüthig dasselbe bisher gepflegt. Auch
in Zukunft wird es den betheiligten Ständen nicht an Männern fehlen,
die bereit sind, das hoffnungsvoll begonnene Werk mit Liebe und
Begeisterung fortzuführen.
Auf dieser Ueberzeugung beruht vor Allem die Zukunft unserer
Anstalt, die in dem Augenblicke, in welchem sie im Begriffe steht
die Kinderjahre hinter sich zu lassen, uns zu dieser erhebenden Feier
hier versammelt hat.
Soll aber aus dieser Feier eine Anregung hervorgehen für die
künftige Handhabung der Administration unserer Anstalt — und das
muss im letzten Grunde doch mit ihre Aufgabe sein — so wird das
nur geschehen können auf den Grund der Erfahrungen, die im Laufe
der Jahre gemacht worden sind. Darin liegt die Berechtigung, dass
bei dieser Feier einer wissenschaftlichen Anstalt neben den Männern
der Wissenschaft ein Glied des Verwaltungsraths das Wort ergreift.
Indem es sonach meine Aufgabe ist, Ihnen, hochgeehrte An-
wesende, in knappen Zügen das Wesentliche aus der Geschichte
unserer Anstalt in das Gedächtniss zurückzurufen, brauche ich kaum
hinzuzufügen, dass Sie nicht werden erwarten können, von mir etwas
Neues zu hören.
Es ist Niemand hier, der zu unserer Anstalt nicht in einer ge-
wissen Beziehung stände. Was ich Ihnen zu sagen habe, haben Sie
mit erlebt. Zugleich aber will ich versuchen, die Stellung, die der
Verwaltungsrath zu den einzelnen Fragen einnimmt, kurz zu charak-
terisiren.
Die kritische Lage, in welche die 3 Hauptfactoren unseres wirth-
schaftlichen Lebens, Handel, Industrie und Landwirthschaft in Folge
des Mangels einer localen Bildungsanstalt für industrielle und tech-
nische Berufssphären gegen Ende der fünfziger Jahre gerathen war;
die dadurch herbeigeführte Abhängigkeit von dem Auslande, welche
die wirthschaftliche Entwickelung unserer Provinzen nach allen Seiten
in wahrhaft besorglicher Weise zu hemmen und zu beeinträchtigen
drohte, veranlasste im Jahre 1857 einen Kreis patriotischer Männer
verschiedener Berufszweige, den Plan zur Errichtung einer polytech-
nischen Schule in ernste Berathung zu nehmen. Das Resultat dieser
Verhandlungen war der Plan zur Errichtung einer Schule, welche
mit einem Ausgabeetat von 14,000 Rbl. nur die allgemeinste Vor-
bildung für höhere technische Lehranstalten bezweckte. Der Börsen-
Comitö, welcheni dieser Plan zur weiteren Wahrnehmung übergeben
Beitrag zui* Geschichte des baltischen Polytechnicums. 23
wurde, gelangte jedoch bald zu der Ueberzeugung, dass die projectirte
Schule den Bedürftiissen der Zeit und des Landes nicht entspreche,
dass es sich vielmehr, solle anders der beabsichtigte Zweck erreicht
werden, um die Gründung einer polytechnischen Hochschule handele,
welche geeignet wäre, eine vollständige Ausbildung für den technischen
und industriellen Beruf, nach dem damaligen Stande der Wissenschaft
zu geben. Zu Anfang des Jahres 1859 entschloss man sich, den Pro-
fessor Franke, den zweiten Director des Polytechnicums zu Hannover
hierher zu berufen, um dessen sachkundigen Rath einzuholen. Aus
den mit ihm gepflogenen Berathungen ging ein Entwurf hervor, welcher
im Wesentlichen unserer Anstalt zur Grundlage gedient hat. Nur in
dem Ausgabeetat hatte Franke sich stark vergriflfen, indem er meinte,
denselben mit ca. 20,000 Rbl. bestreiten zu können. Den mit den
hiesigen Verhältnissen genau bekannten Gliedern des Börsen-Comit^'s
konnte jedoch dieser Fehlgriff nicht entgehen. Man erkannte bald,
dass die Anstalt in ihrem vollen Betriebe, mit Hinzuschlagung der
Renten für das Baucapital des auf die Dauer nicht zu entmissenden
eigenen Gebäudes, jedenfalls das Doppelte der veranschlagten Summe
noch um ein sehr Bedeutendes übersteigen müsse. Dass der Börsen-
Comite sich durch die Höhe der dadurch bedingten Opfer nicht ab-
schrecken liess, sondern energisch weiter vorging, werden ihm unseire
Provinzen niemals genug danken können. In der That lässt sich
behaupten, dass ohne die hochherzige und opferfreudige Initiative
unserer Kaufmannschaft und ihrer Vertretung die Sache schwerlich
den erwünschten Erfolg gehabt hätte. Ihnen ist es auch hauptsächlich
zuzuschreiben, dass die um ihre Mitwirkung und Betheiligung ange-
gangenen Corporationen und Autoritäten sich einstimmig bereit
erklärten die Sache als die ihrige in die Hand zu nehmen und mit
Geldbeiträgen zu unterstützen.
Am 1. Mai 1861 erhielt das vorgestellte Statut die Allerhöchste
Bestätigung.
Die Grundzüge dieses Statuts darf ich wohl bei Ihnen Allen als
bekannt voraussetzen.
Ich begnüge mich daher mit der Bemerkung, dass das Statut sich
durchaus als lebensfähig erwiesen hat. Nach der bisherigen Erfahrung
dürfte kaum irgend eine wesentliche Abänderung dringend geboten
erscheinen. Freilich beruht das zum Theil darauf, dass das Statut,
in der richtigen Erkenntniss der Neuheit der Sache und ihrer Ent-
wickelungsfähigkeit, eine ziemlich allgemeine Fassung erhalten hat,
welche gewissen Modificationen freien Spielraum gestattet. Es handelt
24 Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums.'
sich jetzt nur noch, wie eine Denkschrift vom Februar 1865 besagt,
um die Fortführung des Begonnenen, und die praktische Ausführung
dessen, was nach dem Allerhöchsten "Willen den Ständen des Landes,
ihrem eigenen Wunsche gemäss, gewährt und überlassen war. Der-
gleichen Modificationen sind hinsichtlich des Lehrplanes im Laufe der
Jahre vielfach nothwendig geworden.
Man hatte anfangs 8 Fachabtheilungen in das Auge gefasst:
1. Die Handels-Abtheilung;
2. Die landwirthschaftliche Abtheilung;
3. Die chemisch-technische Abtheilung;
4. Die mechanisch-technische Abtheilung für Fabrikanten;
5. Die Abtheilung für Feldmesser und Geodäten;
6. Die Ligenieur- Abtheilung;
7. Die Abtheilung für Maschinen-Ingenieure;
8. Die Abtheüung für Architecten.
Zunächst möchte ich constatiren, dass ein so vollständiges Poly-
technicum bis hiezu nirgend existirt, indem eine Fachabtheilung für
Kaufleute mit keinem auswärtigen Polytechnicum verbunden ist. Die
Kaufleute sind mithin von dem Segen academischer Bildung und
academischen Lebens bisher völlig ausgeschlossen gewesen, da die
sogenannten Handels- Academien fast durchgängig diesem Namen ganz
und gar nicht entsprechen, unter allen Umständen aber ihrer Isolirt-
heit wegen nicht mit den Universitäten verglichen werden können.
Der Weg, den unsere Hochschule eingeschlagen hat, ist daher in
dieser Beziehung ein ganz neuer. Da die Handelsabtheilung erst
im vorigen Jahre in's Leben getreten ist, lässt sich von Resultaten
allerdings noch nicht sprechen. So viel ist aber gewiss , dass das
Bedürfiiiss nach einer mit dem Polytechnicum verbundenen Handels-
fachschule durch die Opfer, welcher der Handelsstand die Sache werth
erachtet hat, als constatirt angesehen "werden muss. Und wenn es
gestattet ist, einen Blick in die Zukunft zu werfen, so dürfte man
sich kaum der Ueberzeugung entschlagen können, dass eine Ver-
theilung der Zöglinge der Handelsabtheilung, welche mit Erfolg ihren
Cursus beendet haben, auf sämmtliche Zweige unseres Handels von
maassgebender Bedeutung für die Entwickelung desselben, ja für die
unseres gesammten communalen und socialen Lebens werden müsste,
denn, m. H., das ist doch klar, dass in einer Handelsstadt alles Ge-
deihen zunächst von der Tüchtigkeit des Handelsstandes abhängt.
Allein die Handelsabtheilung hat keineswegs die Aufgabe, nur
dieser Stadt oder unseren Provinzen zu gut zu kommen, vielmehr soll
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums. 25
und wird sie, wie unsere Anstalt ttberhaupT;, dem gesammten Reich zum
Nutzen gereichen. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass die Handels-
abtheilung an unserer Hochschule zugleich nach Maassgabe der Mög-
lichkeit die Aufgabe zu übernehmen haben wird, welche in Zürich
die sogenannte philosophische und volkswirthschaftliche Abtheilung
zu erfüllen hat, indem sie durch facultative Vorträge aiis dem Gebiete
der Religion, der Philosophie, der Geschichte, Literatur und Kunst
den Studirenden der übrigen Abtheilungen zur Erlangung eines höheren
Grades allgemeiner Bildung verhilft.
Anerkannte Autoritäten, wie namentlich der Director Redten-
bacher in Carlsruhe, wamön so eindringlich vor der Vernachlässigung
der humanistischen Studien, welche die Techniker den ideellen
Interessen entfremde, dass es durchaus geboten erscheint, diesen Gegen-
stand fortwährend im Auge zu behalten.
Die landwirthschaftliche Abtheilung sollte anfangs keine
specifisch agronomische Lehranstalt repräsentiren, sondern sich auf
den Vortrag der für den rationellen Landwirth unentbehrlichen natur-
wissenschaftlichen und technischen Fächer beschränken. Dagegen
war man von vornherein darauf bedacht, eine landwirthschaftliche
Versuchsstation einzurichten, deren Aufgabe darin besteht, durch natur-
wissenschaftliche Untersuchungen auf dem Gebiete der Bodenkunde,
Agriculturchemie , Pflanzenphysiologie etc. zur Förderung der Land-
wirthschaft beizutragen. Im Laufe der Zeit hat es sich indessen als
nothwendig herausgestellt, die landwirthschaftliche Abtheilung durch
Gründung einer Professur für die Specialfächer und durch 'Hinzu-
fügung eines dritten Jahrescursus zu vervollständigen. Die Besetzung
dieser Professur hat vor einem Jahre stattgefunden.
Hinsichtlich der übrigen Fachabtheilungen ist nur zu bemerken,
dass die mechanisch-technische Abtheilung für Fabrikanten und nicht
minder auch die Abtheilung für Geodäten im engeren Sinne für über-
flüssig erkannt wurden. In allemeuester Zeit ist auch die Architecten-
Abtheilung in Frage gestellt worden, wegen der Ooncurrenz der St.
Petersburger Bauschule, welche den Studirenden pecuniäre Erleich-
terungen und Aussichten auf staatliche Anstellungen bietet, wie sie
unser Polytechnicum zur Zeit nicht gewährt. Die Verhandlungen
hierüber sind noch nicht eingeleitet.
Was den eigentlichen Lehrplan anbetrifft, so hatte das Frankesche
Project nach dem Beispiel der polytechnischen Schulen in Dresden,
Carlsruhe und Zürich den Grundsatz fester Curse aufgestellt und zwar
26 Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnxcums.
um so inehl', als man in Hannover, wo man den Studirendeü die Aus-
wahl der Fächer überlassen hatte, davon zurückkam.
Aus finanziellen Rücksichten und um den Studirenden so lange
als möglich die Entscheidung für ein bestimmtes Specialfach offen zu
lassen, wurden bei Eröffnung der ersten Facheurse am 1. September
1863 Combinationen der einzelnen Abtheilungen in den Studienplan
aufgenommen, so weit dieselben ohne Benachtheiligung der Fach-
studien niöglich schienen. Ausserdem aber erwies es sich als noth-
wendig, die nur auf 2 und resp. 3 Jahre bemessenen Curse für einzelne
Abtheilungen durch facultative Supplementcurse zu ergänzen. Allein
schon in den ersten Monaten erkannte map die Nothwendigkeit, dass
die in diesem Sinne au^estellten, nur eventuell projectirten faculta-
tiven Supplementcurse als obligatorische in den Lehrplap aufge-
nommen würden und der Uebergang von den combinirten zu den
nach Specialfächern gesonderten Lehrcursen geboten sei. Man sah
sich demnach genöthigt, auf den ursprünglichen Plan fester Curse
zurückzukommen. Allein nachdem dieser Grundsatz vollständig durch-
geführt war, erwies auch das System der geschlossenen obligatorischen
Curse sich als mangelhaft. Gegen Schluss des vorigen Studienjahres
brachte das Lehrer -Collegium die Einführung einer beschränkten
Studienfreiheit in Vorschlag, welche, nachdem der Verwaltungsrath
sie acceptirt hatte, auch bereits die Genehmigung Sr. Excellenz des
Herrn Curators erhalten hat. Die beschränkte Studienfreiheit gewährt
dem wissenschaftlichen Eifer der studirenden Jugend den nöthigen
Spielraum. Es lassen sich demnach von ihr die besten Resultate erwarten,
ohne dass deshalb die Sache irgend wie als abgeschlossen gelten kann.
Dieser häufige Systemwechsel gereicht der Plenarconferenz ganz
und gar nicht zum Vorwurf. Bei einer Sache, die überall noch neu
und im Flusse ist, kann das Richtige erst nach vielfachen Erfahrungen
gefunden werden. Von der Conferenz eben ist Nichts weiter zu ver-
langen, als dass sie mit lebendigem Interesse und gewissenhafter Sorg-
falt das Richtige suche. Dass sie es daran nicht hat fehlen lassen,
dafür spricht der Umstand, dass die Programme unserer Anstalt auch
in auswärtigen ZeitscBriften anerkennende Würdigung gefunden haben.
Nachdem das Allerhöchst, bestätigte Statut unserer Anstalt ver-
öffentlicht worden war und die zunächst betheiligten Corporationen,
die livländische Ritterschaft, die Stände der Stadt Riga und die
rigasche Kaufmannschaft ihre Delegirte zum Verwaltungsrathe ge-
wählt hatten, veranlasste der Börsen - Comitö, welcher die Sache bis
dahin betrieben hatte, den Zusammentritt des Verwaltungsraths.
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums. 27
Derselbe constituirte sich am 7. August 1861 und wählte den
Bürgermeister Otto Müller zu seinem Präsidenten.
Der Verwaltungsrath glaubte seine Thä^tigkeit nicht früher be-
ginnen zu können, als bis er durch eine in das Ausland zu entsen-
dende Delegation noch genauere Kenntniss von den Einrichtungen der
vorzüglichsten polytechnischen und Handelsschulen, namentlich auch
in baulicher Hinsicht erhalten hätte.
Erst als diese Delegation, bestehend aus dem Bürgermeister Müller
und dem Secretär des Verwaltungsraths Herrn v. Stein, zurückgekehrt
war und ihren Bericht erstattet hatte, fand der Verwaltungsrath sich
in der Lage, weitere Beschlüsse zu fassen.
Man schritt vor Allem zur Wahl des Directors, und handelte
fortan nur im Einverständniss mit demselben.
Von dem Bau eines eigenen Hauses sollte einstweilen abgesehen
und die Anstalt .im Herbste 1862 mit einem auf die mathematischen
und naturwissenschaftlichen Vorbereitungsdisciplinen zu beschränken-
den Cursus eröffnet, sodann aber succesive je nach dem Bedürfniss
der Special- oder Facheurse vorgeschritten werden.
Am 2. October 1862 wurde die technische Vorbereitungsschule
mit 15 Schülern, zu denen im Laufe des Jahres noch 8 hinzukamen,
eröffnet. Dieselbe bedarf keiner weiteren Rechtfertigung, da weder bei
ihrer Entstehung noch auch jetzt eine hinreichende Anzahl von Schulen
vorhanden war und ist, welche geeignet wären die Vorbildung für das
Polytechnicum zu übernehmen. Denn wollte man auch zugeben, dass
eine solche Vorbereitungsschule für Riga entbehrlich sei, so doch
gewiss nicht für Diejenigen, welche ihre Vorbildung ausserhalb Riga's
zu suchen genöthigt sind. In Ländern, in welchen das Schulwesen
auf einem ungleich höheren Standpunkte steht als bei uns, wie z. B.
in der Schweiz, hat man zwar anfangs geglaubt, eines solchen vor-
bereitenden Cursus entbehren zu können, sich jedoch bald von der
Nothwendigkeit desselben überzeugt. Die Inconvenienzen, welche die
Verbindung der Vorbereitungsschule 'mit dem Polytechnicum anfangs
herbeiführten, dürften als beseitigt anzusehen sein seitdem man die
Unterscheidung zwischen dem Vorbereitungscursus und dem Polytech-
nicum schärfer in das Auge gefasst hat.
Die Einwürfe aber, welche man von dem Standpunkte der
Pädagogik gegen die Vorbereitungsschule geltend gemacht hat,
beruhen auf dem Irrthume, als ob dieselbe mit ilirem einjährigen
Cursus etwas Anderes als ein Nothbehelf sein könne und w(»lle.
Der Zweck derselben besieht eben nur darin, den Candidaten für das
28 Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums.
Polytechnicum Gelegenheit zu bieten, sich in den wesentlichsten
Fächern so viele Kenntnisse zu yerschafifen, als sie nothwendig nöthig
haben um den Vorträgen folgen zu können. So lange das Bedürftiiss
eines solchen Vorbereitungscursus vorhanden ist wird derselbe daher
nicht entbehrt werden können. Die nothwendige Voraussetzung ist
aber ein gewisses Maass allgemeiner Bildung. Meint man es ernst
damit, unser Polytechnicum den Universitäten gleich zu stellen —
und über die Gleichheit ihrer Zielpunkte existirt kein Zweifel — so
wird man sich entschliessen müssen, auch dieselben Ausgangspunkte
zu wählen, d. h. man wird als Bedingung des Eintrittes in das Poly-
technicum diejenige Reife verlangen müssen, die auf den Gymnasien
erlangt wird ui>d mithin für die Vorbereitungsclasse die Reife eines
Primaners. Wenn das bei der Begründung unserer Anstalt zu hoch
gegriffen schien und auch für den Augenblick noch ist, so wird man
eine allmälige Steigerung der Ansprüche doch fortwährend im Auge
behalten m^üssen.
Aus der technischen Vorbereitungsschule ging für das zweite
Studienjahr am 1. Sept. 1863 ein vereinigter Cursus für Landwirthe
und Chemiker und ein Cursus für Architecten, Ingenieure und Geodäten
hervor. Dem ersteren schlössen sich im darauf folgenden Jahre die
Fabrikanten an, die später in Wegfall gekommen sind, dem letzteren
die Maschinenbauer. So waren bereits im dritten Jahre des Bestehens
der Anstalt alle Abtheilungen bis auf die Handels- Abtheilung, welche
mit ihrer besonderen Vorbereitungsclasse erst vor einem Jahre in's
Leben gerufen werden konnte, vertreten.
Die Frequenz unserer Anstalt hat bis jetzt nicht ganz den ge-
hegten Erwartungen entsprochen, indessen hat dbch immer, namentlich
in den Facheursen eine regelmässige Steigerung siattgefunden.
lö^Vea gab es 23 Schüler des technischen Vorcursus und — Studirende,
IS^Vei „„29„ „ „ ^ »16
IS^Vßs „ „ 18 „ ^ . „ ^ »30
IS^Vee »«34„^ „ „ »37
IS^Vei , , 31 „ , , , ,45
18 Ves » » 24 „ 5, „ „ »02
18^769 ^ „ 36 „ „ \ „ „• 14desHandels-
vorcursus und 59 Studirende,
18®7to gab es 46 Schüler des technischen Vorcursus, 13 des Handels-
vorcursus und 90 Studirende.
Die Gesammtzahl der bis zum 1. Septbr. 1869 in den Vorbereitungs-
classen und in das Polytechnicum Eingetretenen beläuft sich auf 271.
»
»
»
»
»
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums. 29
Im Jahre 1865 wurden die ersten Zöglinge nach absolvirten
Studien und bestandener Diplomprüfung entlassen. Seitdem haben
in jedem Jahre Diplomprüfungen stattgehabt. Im Ganzen sind aus
unserer Hochschule bereits hervorgegangen:
5 Landwirthe, '
1 Fabrikant,
4 Chemiker,
7 Ingenieure,
2 Maschinen - Ingenieure,
überhaupt also 19.
Das Regulativ für die Diplomprüflingen ist bereits auf den Grund
der gemachten Erfahrungen mehrfachen Umarbeitungen unterzogen
worden, ohne doch zu einem völligen Abschluss gekommen zu sein,
was schon deshalb nicht möglich war, weil die Handelsabtheilung
erst in zwei Jahren ihre ersten Zöglinge entlassen wird.
Wie sehr aber unsere Anstalt einem wirklichen praktischen Be-
dürfniss entspricht, dürfte sich am schlagendsten daraus ergeben, dass
die Entlassenen meist gleich nach bestandener Prüfung Anstellungen
finden. So hatte namentlich von den 8 im Juni 1869 Entlassenen
die Hälfte schon nach einigen Wochen feste Beschäftigung gefunden.
In dem Letrer-CoUegium hat im Laufe der Jahre ein vielfacher
Wechsel stattfinden müssen. Ein Theil unserer Professoren ist von
hier aus ehrenvollen an sie ergj^ngenen Berufungen gefolgt. Immer
aber ist es uns bis jetzt noch gelungen, aufs Neue tüchtige Kräfte
zu gewinnen. Es gereicht das dem Verwaltungsrathe um so mehr zur
Genugthuung, als er auf das Lebendigste von der Ueberzeugung durch-
drungen ist, dass in der Tüchtigkeit des Lehrer-CoUegiums der Schwer-
punkt der Sache liegt und mithin von ihr auch das Gedeihen der
Anstalt abhängt.
Die finanziellen Schwierigkeiten, mit denen unsere Hochschule
zu kämpfen gehabt hat, sind von Anfang an sehr gross gewesen.
Voraussichtlich werden sie auch noch längere Zeit fortdauern. Es ist
eben ohne Beispiel, dass eine solche Anstalt mit einem so bedeutenden
Ausgabeetat ohne Herbeiziehung der Mittel des Staates unterhalten
wird. Die Stände konnten sich zur Uebernahme einer derartigen
Verpflichtung nur verstehen in der richtigen Erkenntniss, dass eine
solche Hochschule in einer Zeit, welche mehr als je nach Verständniss
der wirthschaftlichen Interessen ringt, welche die technischen und
naturwissenschaftlichen Disciplinen immer mehr in den Vordergrund
30 Beitrag zur , Geschichte des baltischen Polytechriicunis.
stellt, in der That eine Lebensfrage für unsere Provinzen geworden
sei. Zwar trat im Jahre 1865 eine Finanzkrisis ein, welche die
Existenz der Anstalt bedrohte, allein die zunächst betU^iljgie^n Cor-
porationen verdoppelten ihre Beiträge und ermöglichten auf diese Weise
die Fortführung. Das aber darf man sich freilich nicht verhehlen,
dass immer noch neue Opfer erforderlich sind. Der Ausgabeetat
stellt sich für die nächsten Jahre incl. der Summen, welche für die
Verzinsung und Tilgung der auf dieses Haus von den» Creditvereine
aufgenommenen Capitalien erforderlich sind, auf circa 48,000 Rbl.
heraus. Die Einnahmen belaufen sich aber nur an Beiträgen der
Corporationen auf circa 27,000 Rbl. und an Schul- und CoUegien-
geldern circa 16,000 Rbl. Es ergiebt sich demnach ein Zukurzschuss
von circa 5,000 Rbl., dessen Deckung augenblicklich nur durch den
Zuwachs an Schülern und Studirenden zu erwarten steht. Dass diese
aber immer nur allmälig eintreten und daher, insofern es nicht gelingt,
die Beiträge der contribuirenden Corporationen zu erhöhen, noch eine
extraordinaire Deckung nothwendig werden wird, liegt auf der Hand.
Die Stände werden demnach jedenfalls darauf gefasst sein müssen,
die Anstalt noch eine Reihe von Jahren zu subventionireu und es
fragt sich, ob die Beiträge jemals ganz werden in Wegfall kommen
können. Möglich wird dies wohl nur dann sein, wenn unsere Anstalt
einst nicht ausschliesslich auf die Schul- und Colleglengelder ange-
wiesen, sondern ausserdem noch durch Capitalien, welche ihr auf dem
Wege der Vermächtnisse, der Schenkung oder sonst irgendwie zufallen
könnten, sicher gestellt sein sollte. Ein kleiner Anfang ist dazu aller-
dings bereits gemacht, indem ein v. Wulffsches und zwei Otto Müllersche
Stipendien existiren, welche die Bestimmung haben, bedürftigen Poly-
technikern ' die Mittel zur Entrichtung von CoUegiengeldern zu ge-
währen und auf diese Weise zugleich der Anstalt zu gut kommen.
Ausserdem existiren noch 9 Freistellen, für welche denjenigen
Corporationen das Repräsentationsrecht zusteht, die die höchsten
Jahresbeiträge zur Unterhaltung des. Polytechnicums zahlen. Und
zwar so, dass auf je 2,000 Rbl. eine Freistelle kommt, dieselbe Cor-
poration aber höchstens 3 Freistellen zu vergeben hat. Demnach hat
gegenwärtig die kurländische Ritterschaft 1 Freistelle, die livländische
Ritterschaft 2, die Rigasche Commune und die Rigasche Kaufmarin-
schaft je 3 Freistellen zu vergeben. Die Zahl sämmtlicher Freistellen
beträgt somit 15, von denen 3 in halbe Freistellen getheilt sind, so
dass zur Zeit 18 Polytechniker das Beneficium des vollen oder theil-
weisen Erlasses der Colleglengelder gemessen.
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums. 31
ZuT Sicherstellung der etatmässigen Docenten für den Fall des
Eintritts der Unfähigkeit durch Alter oder Krankheit ist ein Pensions-
fond gegründet, der sich bereits auf mehr als 7,000 Rbl. belauft.
Die Reformbedürftigkeit des demselben zu Grunde liegenden Reglements
ist jedoch sowohl von dem Verwaltungsrathe, als auch dem Lehrer-
Collegium anerkannt worden. Die Verhandlungen sind zwar noch
nicht vollständig geschlossen, indessen liegt die Sache so, dass eine
alle Theile zufriedenstellende Lösung derselben schon in der nächsten
Zeit zu erwarten steht. Es lässt sich hoffen, dass alsdann jedenfalls
eine grössere, wenn nicht allseitige Betheiligung der Docenten, die
überdies für die Zukunft obligatorisch sein soll, stattfinden und auf
diese Weise der Pensionsfond rasch anwachsen wird. Der Segen,
welcher daraus auch der Anstalt erwächst indem ihr dadurch die Ge-
winnung tüchtiger Kräfte erleichtert wird, ist ersichtlich.
Erwähnung verdienen ferner noch diejenigen Leistungen des
Polytechnicums, welche nicht gerade zu seiner eigentlichen Aufgabe
gerechnet werden können.
Es gehört namentlich dahin die Handwerkerfortbildungsclasse, der
Wintercursus für Handelslehrlinge, und die öffentlichen Vorträge.
Die beiden ersten sind bereits eingegangen. Der Wintercursus für
Handelslehrlinge erst seit einem Jahre weil derselbe nach Eröffnung
der Handelsabtheilung und ihrer Vorbereitungsciasse nicht weiter
erforderlich erschien. Die Handwerkerciasse dagegen kam schon nach
3 Jahren in Wegfall, einmal weil man die Noth wendigkeit erkannte,
zumal bei der Unzulänglichkeit der Mittel, das Polytechnicum auf
seine eigentlichen Zwecke zu beschränken, sodann aber weil es an-
gemessen erschien, diese Sache der Initiative des Gewerbestandes zu
überlassen. Der Gewerbeverein hat denn auch seitdem die Sache in
die Hand genommen und auch bereits einen hoffnungsreichen Anfang
gemacht. -Die öffentlichen Vorträge, welche in den ersten Jahren
von den Docenten des Polytechnicums im Börsensaale für das Pu-
blicum gegen eine Zahlung zum Besten des Pensionsfonds gehalten
wurden, haben in den letzten beiden Jahren wegen mangelnder Theil-
nahme von Seiten des Publicums nicht mehr stattgefunden. Statt
dessen hat der Professor der Nationalöconomie in dem Gewerbeverein
Vorträge über Themata seiner Wissenschaft gehalten, an welchen
auch den dem Polytechnicum nahestehenden Kreisen die Theilnahme
gesichert war. Im Laufe des bevorstehenden Winters beabsichtigt
man indessen einen abermaligen Versuch zu machen, die früheren
Vorträge wiederum aufzunehmen. Dieselben sollen in der Aula des
32 Beitrag zur Geschichte des. baltischen Polytechnicums.
Polytechnicums gehalten werden. Es wird diese Angelegenheit nicht
nur aus sachlichen Gründen, sondern auch um des guten Zweckes
willen, für welchen die zu erzielende Einnahme bestimmt ist, im
Auge zu behalten sein.
Mit diesen aus dem eigentlichen Berufskreise der Anstalt heraus-
tretenden Lebensäusserungen des Polytechnicums ist aber seine Be-
deutung keineswegs erschöpft. Sein Einfluss erstreckt sich vielmehr
auf die Praxis der gesammten Technik. In neuerer Zeit ist auf diesem
Gebiete kaum eine Sache von Wichtigkeit aufgetaucht, bei welcher
nicht unsere Professore zu Rathe gezogen und mit thätig gewesen
wären. Am wohlthätigsten aber hat sich dieser Einfluss in dem tech-
nischen Vereine geltend gemacht, innerhalb welches die Verbindung
zwischen Theorie und Praxis auf das AUerglücklichste zur Erscheinung
kam. Ueberhaupt aber ist nicht zu unterschätzen, welchen Zuwachs
an Intelligenz wir in einem zahlreichen Professoren- und Lehrer-
Collegium und in den schon jetzt nach Hunderten zu zählenden Zög-
lingen unserer Anstalt erhalten haben. Wenn man mit Recht sagt,
Geld sei Macht, so gilt das sicher doch noch mehr von der Intelli-
genz. Der Krieg des Jahres 1866, in welchem das Urtheil sach-
kundiger Ausländer den Schulmeistern den Sieg zuschreibt, hat' das
so klar demonstrirt, dass heute zu Tage Niemand mehr die Bedeu-
tung der Intelligenz nach dieser Seite hin zu bezweifeln wagt. Es
lässt sich hiernach der Nutzen unserer Anstalt für das gesammte
Reich ermessen, welchem sie im Laufe der Zeit eine grosse Anzahl
von Männern mit wissenschaftlicher Ausbildung für alle Berufszweige
der Technik und Industrie zu stellen verspricht.
Es »ist noch ein Punkt von Wichtigkeit zu berühren, nämlich die
Stellung der Schüler und der Studirenden. Ich meine nicht zu ein-
ander, denn abgesehen von der Gemeinsamkeit der Localitäten und
eines Theiles des Lehrpersonals stehen dieselben in keiner näheren
Beziehung zu einaQder als die Prima der Gymnasien zu der Univer-
sität, sondern die Stellung jeder der beiden Theile für sich/
Zwar scheint die Beantwortung der Frage sehr leicht und man
ist eigentlich auch nie darüber im Zweifel gewesen, dass die ersten
eben wie Schüler, die letzten dagegen wie die Studenten der Uni-
versitäten zu behandeln seien. In der Praxis ist die Sache jedoch
nicht so einfach und die verschiedenen Verhältnisse machen Modi-
ficationen durchaus nothwendig. Bei den Schülern der Vorbereitungs-
Classen liegt die besondere Schwierigkeit darin, dass dieselben mit
ihrem blos einjährigen Cursus als eine wirkliche Schule kaum gelten
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechuicunis. 33
können und daher eine geregelte Schuldisciplin nicht durchführbar
erscheint. Dazu kommt noch, dass die jungen Leute häufig in schon
vorgerücktem Alter eintreten und dass bei der Neuheit der technischen
Studien zur Zeit noch ein grosser Andrang auch solcher jungen Leute
stattfindet, die für andere Berufszweige meist aus Mangel an Fleiss
nicht tauglich erscheinen. Allen diesen Erscheinungen gegenüber hat
die Anstalt sich darauf zu beschränken, von den Schülern den regel-
mässigen Besuch der Classe und die Bekundung von Fortschritten, so
wie selbstverständlich ein gesittetes Betragen innerhalb und ausserhalb
der Schule zu beanspruchen. Eine eigentliche pädagogische Beein-
flussung der Schüler liegt ausser dem Bereiche der Möglichkeit. Es
muss daher den Aeltern und Vormündern anheimgestellt werden, in
dieser Beziehung von sich aus die nöthige Vorsorge zu treffen, indem
der Anstalt kaum ein anderer Weg übrig bleibt, als die Schüler,
welche den Ansprüchen derselben nicht genügen, zu entfernen, wobei
indessen, falls nichts weiter auszusetzen ist als der Mangel an Fort-
schritten, die einmalige Wiederholung des Cursus gestattet ist.
Den Studirenden dagegen ist unzweifelhaft die volle akademische
Freiheit einzuräumen, jedoch ist auch von ihnen der regelmässige
Besuch der Collegia unbedingt zu verlangen. Es liegt in der Natur
der technischen Wissenschaften, die in so genauem Zusammenhange
stehen, dass nur bei einem regelmässigen Besuch der Collegia ein
erfolgreiches Studium möglich ist. Unsere Anstalt hat die Beobach-
tung* dieser Grundsätze in keiner Weise zu bedauern gehabt. Dis-
ciplinarvergehen sind im Ganzen nur selten vorgekommen und die
studirende Jugend hat die ihr gewährte Freiheit durchaus in keiner
Weise missbraucht. Im Laufe von 7 Jahren sind nur 2 Studirende
wegen Disciplinarvergehen ausgeschieden, während aus der Vorschule
allerdings 13 ausgeschlossen werden mussten.
Eine besondere Schwierigkeit lag für die Studirenden darin,
dass sie im Anfange des Beiraths älterer Collegen gänzlich entbehren
mussten, die Jeder, welcher die Universität bezieht, sonst so leicht
finden kann, und deren er gewöhnlich so sehr bedarf. Die Bedeutung
des akademischen Lebens liegt eben nicht ausschliesslich in dem
Studium der Wissenschaften, sie liegt vielmehr wesentlich darin, dass
dieses Studium gemeinsam betrieben wird, dass die studirende
Jugend Gelegenheit hat, in täglichem Zusammensein in ungezwun-
gener Weise ihre Gedanken über das, was sie auf den verschiedenen
Disciplinen des Wissens sich * aneignet und was sie erlebt, auszu-
tauschen \ das ist ein wesentliches Moment in dem Universitätsleben.
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 3
34 Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicums.
•
Dieser gesellige Verkehr unter den Studirenden in Ernst und jugend-
licher Fröhlichkeit bedarf einer gewissen Regelung, die ihnen von
oben her nicht gegeben werden kann; sie müssen sie sich selbst
schaffen. Nur wenn die Jugend frühe schon lernt, sich selbst zu re-
gieren, werden aus ihr Staatsbürger hervorgehen, die von Achtung
für das Gesetz erfüllt, es verstehen, vor allen Dingen sich selbst unter
dasselbe zu beugen, dann aber auch geschickt sind, die Massen zu
leiten und überall die bestehende Ordnung aufrecht zu erhalten. Man
muss es unserer studirenden Jugend nachrühmen, dass sie ^s ver-
standen hat, diesen Weg der Selbstzucht und. des Selbstregiments
zur Geltung zu bringen. In der ersten Zeit nach Begründung des
Polytechnicums war die Sittlichkeit der polytechnischen Jugend keines-
Vveges durchweg befriedigend zu nennen. Die jungen Leute, welche
derselben damals angehörten, sind längst ausgetreten und ich kann
daher mit aller Offenheit darüber sprechen. Die Sache war so offen-
kundig geworden, dass der Verwaltungsrath sich genöthigt sah, mit
aller Energie dagegen einzuschreiten.
Sicher hätten die von dem Verwaltungsrathe ergriffenen Mass-
regeln äussere Ausschreitungen beseitigt. Das Wesen hätten sie kaum
gebessert. Das konnte blos geschehen, wenn die studirende Jugend
die Sache selbst in die Hand nahm. Sie hat es gethan. Und seit-
dem die Poly technikerschaft sich entschlossen hat, das Princip der
Sittlichkeit auf ihre Fahne zu schreiben und als das oberste Heilig-
thum der Jugend sich selbst zu wahren, seitdem ist immer mehr der
Geist ernsten Strebens, wissenschaftlichen Sinnes und rechter jugend-
licher Fröhlichkeit in unserer studirenden Jugend zur Geltung ge-
kommen. Wolle Gott, dass es immerdar so bliebe!
Es giebt reicher dotirte polytechnische Schulen, als die unsrige.
Sie wird sich daher niemals in jeder Beziehung mit diesen messen
können, allein, wie sie schon jetzt eine ehrenvolle Stellung unter den
Schwesteranstalten einnimmt, so wird sie, des . sind wir überzeugt,
eine solche immer zu behaupten wissen; für die Ausbildung der
heimischen Techniker wird sie aber, wie das Beispiel unserer Lan-
desuniversität lehrt, immer die geeigneteste Pflanzstätte sein.
Jeder Baum gedeiht am besten in dem heimischen Boden. Die
Verpflanzung ist mitunter zweckmässig, bisweilen sogar geboten,
Regel aber darf sie nie werden, sie kostet zu vielen Bäumen das Leben.
Das Leben des Menschen wurzelt in seinem tiefsten Grunde
nicht in dem Wissen, sondern in dem Können. Nicht die Aneig-
nung der Schätze der Wissenschaft, wie hoch wir dieselbe auch stellen
Beitrag zur Greschichte des baltischen Polyteehnicums. 35.
mögen, zumal für ihre Jünger, ist daher vor Allem anzustreben, son-
dern die Bildung des Herzens und des Charakters. Aber nur, wo
diese Hand in Hand geht mit jener, gelangt der Mensch zu der har-
monischen Ausbildung aller seiner Anlagen, welche wir eben so
passend als schön mit dem Worte „Humanität" bezeichnen. Was
man auch reden mag von dem Gegensatz des Humanismus und des
Dualismus, diese Humanität muss doch das letzte Ziel auch unserer
Anstalt sein.
Der Weg, den wir bis daher zurückgelegt haben, war nicht
immer glatt und eben. An Schwierigkeiten von aussen und innen
hat es nicht gefehlt. Sie werden auch in Zukunft nicht ganz auf-
hören. Die inneren Schwierigkeiten aber sind die bedenklicheren.
Dem Allerhöchst bestätigten Statut gemäss ist die Leitung un-
serer Anstalt dem Verwaltungsrathe, und in Bezug auf die inneren
Angelegenheiten derselben, d. h. die Lehrthätigkeit und die Disciplin,
zunächst dem Director und der Lehrerschaft übertragen. Es kann
nicht fehlen, dass bei einer Berathung derselben Gegenstände in zwei
Collegien von so verschiedenartiger Zusammensetzung die Anschauun-
gen nicht selten gar sehr von einander abweichen. Grade darin
liegt eine Garantie, dass die Sache- allseitig beleuchtet und erwogen
wird. Auf der anderen Seite kann dabei und zwar dann am aller-
meisten, wenn beide Körperschaften sich der Sache mit wirklichem
Interesse annehmen, eine gewisse Collision nicht ausbleiben. Eine
•solche ist an und für sich noch nicht gefährlich, im Gegentheil ich
halte sie für nothwendig und wünschenswerth. Wo Leben ist, muss
Gegensatz sein, nur im Tode hört derselbe auf. Gefährlich aber ist
es, wenn dieser Gegensatz ein bleibender wird und sich daraus ein
Antagonismus entwickelt, der jeder unbefangenen Prüfung von vorn-
herein die Spitze abzubrechen droht. Das darf nicht sein. Wer je
Mitglied eines Collegiums gewesen ist, wird wissen, wie leicht ein
solches dazu kommen kann, Missgriflfe zu begehen. So lange Menschen
verwalten sind sie vorgekommen, und sie werden niemals aufhören.
Ohne also hier auf specielle Fälle irgend eingehen zu können,
muss von vornherein zugegeben werden, dass bei der Lösung einer
eben so neuen als schwierigen Aufgabe Fehler und Missgriffe sicher
sowol von dem Verwaltungsrathe, als auch von dem Lehrercollegium
begangen worden sind, so wie es andererseits als selbstverständlich
gelten muss, dq,ss beide Theile niemals anders, als in gutem Glauben
gehandelt haben,
3*
I
36 Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicuins.
Nach diesen Zugeständnissen bleibt in der That Nichts übrig,
was der Befürchtung eines dauernden Gegensatzes Raum zu geben
geeignet wäre.
Der Verwaltungsrath wird in der richtigen Erkenntniss dessen,
dass in dem LehrercoUegium der S(!hwerpunkt der ganzen Sache
liegt, auf dasselbe alle mögliehe Rücksicht zu nehmen haben, er
wird sich namentlich davor hüten müssen, diese auf dem Gebiete
des Geisteslebens liegende Angelegenheit in büreaukratische Formen
zwingen zu wollen.
Auf der anderen Seite aber wird er unbedingt die Zügel des
Regiments in fester Hand behalten müssen.
Nur wenn es ihm gelingt, dieser seiner Aufgabe nach beiden
Seiten hin gerecht zu werden, wird er dem Vertrauen entsprechen,
das seine Committenten und das Land ihm geschenkt haben.
Ich glaube in dem Vorstehenden an der Hand der Erfahrungen
welche im Laufe der Jahre gemacht worden sind, das Wesentlichste
aus der Geschichte unserer Hochschule wenigstens angedeutet und
den Standpunkt des Verwaltungsraths dabei kurz gekennzeichnet
zu haben.
So treten wir nach allen Seiten hin mit guten Hoffnungen in
das neue Stadium unserer Anstalt ein. Wir befehlen sie dem Schutze
unseres Herrn und Kaisers, der nicht nur deshalb ein Befreier ge-
nannt zu werden verdient, weil er die äusseren Banden von Millionen
seiner Unterthanen gelöst hat, sondern nicht minder darum, weil. er
das Signal gegeben hat, dass überall im weiten Reiche sich Leben
und Bewegung und daraus wieder Licht und Wahrheit entwickeln;
wir befehlen sie der einflussreichen Fürsorge unseres verehrten Herrn
Curators *).
Wir haben das Glück gehabt, dass unsere Herren Curatore sich
sämmtlich unserer jungen Anstalt mit warmem Eifer angenommen
haben. Wir sind ihnen allen und insbesondere auch unserem gegen-
wärtigen Herrn Curator deshalb zu dem lebhaftesten Dank verpflichtet.
Gestatten Sie, Excellenz, dass wir solchem Danke hiermit Ausdruck
verleihen. Wir danken Ihnen aber namentlich auch dafür, dass sie
der selbstthätigen Entwickelung unserer Anstalt freien Spielraum
gegönnt haben.
•) Sowohl der Herr General- Gouverneur der Ostseegouvemements als Curator
des halt. Polytechnikums, als auch die in Biga anwesenden Repräsentanten der
betheiligten Körperschaften wohnten der Feier bei.
Beitrag zur Geschichte des baltischen Polytechnicuuis. 37
Als Ew. Excellenz Vorgänger, der Graf Schuwalow, sein Amt an-
trat, da war es der verstorbene Bürgermeister Müller, der in einer
Begrüssungsrede die Bitte an ihn richtete: „Geben Sie Raum der freien
Entwickelung!'' Ich habe ein Recht, mich in dieser Stunde auf das
Wort dieses Mannes zu beziehen und Ihnen, Excellenz, dieselbe Bitte
an das Herz zu legen.
Geben Sie, Excellenz, wie bisher so auch in Zukunft Raum der
selbstthätigen Administration des Verwaltupgsrathes ; gewähren Sie,
wie bisher, der Lehrthätigkeit den erforderlichen Spielraum ; gestatten
Sie, wie bisher, der studirenden Jugend die freie Bewegung!
An Sie aber, hochverehrte Vertreter der baltischen Stände, richte
ich die ergebenste Bitte: Gehen Sie nicht hinweg von dieser Stätte
ohne den Entschluss gefasst zu haben, diese unsere gute Sache ihren
Committenten aufs Neue an das Herz zu legen, damit diese nicht
müde werden, immer noch weitere Opfer zu bringen und uns fort
und fort Männer zu senden, die bereit sind mit uns gemeinsam das
Werk an unserer Anstalt zu treiben, welche uns, je fröhlicher sie
emporblüht, desto mehr in das Herz hineinwächst und immer mehr
unser Stolz und unsere Freude wird.
Und Sie, verehrte Herren Professore und Lehrer, . Sie sind es,
— das kann nicht genug betont werden — von denen vor Allem
das Gedeihen der Anstalt abhängt. Lassen Sie uns alle Zeit das
Auge fest gerichtet halten -auf das eine Ziel, das wir Alle wollen,
das Wohl unserer Hochschule.
Endlich aber wende ich mich an Euch, Commilitonen. Ihr seid
es, für welche die Anstalt in das Leben gerufen worden ist. Haltet
in jugendlicher Begeisterung immerdar hoch die Fahne, die Ihr selbst
aufgepflanzt habt, die Fahne des Selbstregiments, des ernsten sitt-
lichen Strebens, der echten Wissenschaftlichkeit und der rechten
Jugendfröhlichkeit !
Dann wird in Erfüllung gehen, was jene edlen Männer, die
einst den Plan zur Begründung unserer Anstalt fassten, beabsich-
tigten. Es wird unsere Hochschule eine Pflanzstätte werden tüchtig
gebildeter Männer und Staatsbürger zum Segen unserer engeren
Heimath und des gesammten grossen Vaterlandes! Das walte Gott!
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft
und seine Vorgänger.
JJer Name keines baltischen Schriftstellers aus älterer Zeit ist in
unseren Tagen so häufig genannt wie der Garlieb Merkel's. Seit-
dem sein Andenken in der „Rigaschen Zeitung" und dann in Eckardt's
„Baltischen Provinzen Russlands" erneuert worden, hat besonders
die Feier seines hundertjährigen Geburtstages in weiteren Kreisen
lebhaftes Interesse für den Mann erregt, der zur Zeit unserer Väter
so viel besprochen, so sehr bewundert und so heftig angeklagt, uns
fast fremd geworden und lange ganz vergessen war. Die gesamrate
Presse, viele wissenschaftliche und praktische Vereine unseres Landes
haben sich in Veranlassung des 21. October mit dem leidenschaft-
lichen Vertheidiger der Menschenrechte, dem unermüdlichen Be-
kämpfer der Leibeigenschaft eingehend beschäftigt. Stimmen des
Lobes und der Anerkennung,, lebhafter Dankbarkeit, wie pietätvoller
Verehrung haben sich da vernehmen lassen, auch an Versuchen
tendenziöser Ausbeutung hat e& nicht gefehlt. Wie natürlich und
der Aufgabe solcher Gedächtnissreden entsprechend, traten die Licht-
seiten des gefeierten Mannes stark hervor, wurde auf den Schatten
in seinem Wesen nur mehr leise hingewiesen; lag es doch nicht in
der Absicht dieser Darstellungen, eine rein geschichtliche Würdigung
zu geben. Jetzt erst, da die Feierstimmung selbst verrauscht, aber
die Theilnahme für die Bestrebungen des Mannes neu angeregt ist,
scheint der Augenblick gekommen, eine solche zu versuchen.
Auch scheinen alle Bedingungen zu einer unbefangenen Beur-
theilung Merkel's gegeben zu sein: wir stehen ihm fern genug, um
das Urtheil frei zu halten von den Parteianschauungen seiner Zeit,
und er steht uns nahe genug, um uns in seinem Wirken und Streben
verständlich zu sein. Die unbefangene historische Betrachtung wird
Garlieb Merkel als Bek'ämpfer der Leibeigenschaft. 39
sich aber nicht durch blosse Nüchternheit und kühle Gleichgiltigkeit
gegenüber den Kämpfen und Forderungen des Tages kennzeichnen,
sondern durch das Streben nach möglichst umfassender Einsicht in
das Werden und den Zusammenhang der Dinge und durch die volle
Klarheit über den eigenen Standpunkt. Dadurch allein wird es dem
denkenden Beschauer möglich, auch den seinigen entgegengesetzte
Anschauungen zu verstehen, die Entstehung und den Verlauf längst
entschwundener Geistesrichtungen zu erfassen und sie in ihrer Eigen-
thümlichkeit zu fixiren. Von diesen Gesichtspunkten aus soll auf
den folgenden Blättern G. Merkel geschildert werden.
So vielgeschäftig aber ist die Thätigkeit dieses Mannes gewesen,
auf so heterogenen Gebieten hat sie sich bewegt, dass es unmöglich
erscheint, sie in deti engen Rahmen eines Aufsatzes zusammenzu-
drängen, ohne die Deutlichkeit des Bildes zu schädigen. Daher soll
zunächst entsprechend der Veranlassung dieses Aufsatzes und der
Bedeutung des Gegenstandes Merkel's Wirken für die Aufhebung
der Leibeigenschaft dargestellt werden; einer folgenden Betrachtung
bleibt es vorbehalten, seine Stellung als Kritiker und politischer
Schriftsteller sowie als Journalist zu schildern.
Betrachten wir Merkel's berühmtes Buch „die Letten am Ende
des philosophischen Jahrhunderts** ftir sich allein und isolirt von den
Werken, .welche ihm vorausgegangen, so wird uns der wahre Maass-
stab zu einer gerechten Abschätzung seiner Verdienste und seiner
Schwächen fehlen. Erst im Zusammenhange mit allen früheren
Bestrebungen dieser Art und als Schlussstein derselben aufgefasst
wird das Buch die ihm gebührende Stelle einnehmen. Es kann
hier natürlich nicht anf eine Geschichte der Leibeigenschaft in Liv-
land abgesehen sein. Zu einer solchen, wie wünschenswerth sie
auch sei, fehlt es noch an den wichtigsten Vorarbeiten, auch der
urkundliche Stoflf ist noch nicht genügend für alle drei Provinzen
zusammengebracht. Was darüber bisher geschrieben, beruht von
Jannau bis auf Samson fiir die ältere Zeit auf sehr ungenügendem,
Tsritisch ni6ht gesichtetem Material. Namentlich die für die Aus-
bildung der Leibeigenschaft so wichtige Epoche von der Mitte des
ftinfzehnten bis zuiä Ende des sechszehnten Jahrhunderts harrt noch
der rechtsgeschichtlichen Erforschung ebenso wie eine Untersuchung
des Zustandes uhd der Verhältnisse der Bauern in der früheren
Ordenszeit ein dringendes Bedürfniss, weit über den engen Kreis
streng geschichtlicher Forscher hinaus, ist. Bunge's Arbeiten bieten
bis jetzt darüber die einzige, bei weitem nicht ausreichende
40 Garlieb Merkel als Bekärapfer der Leibeigenschaft,
Belehrung. Auch auf die von den Königen Polens und Schwedens
gemachten Versuche, die Leibeigenschaft zu beschränken oder ganz
aufzuheben, kann hier nicht eingegangen werden. Nur die literarische
Bekämpfung der Leibeigenschaft von Seiten einzelner patriotischer
Männer wird uns beschäftigen. Diese Angriffe beginnen erst um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts. Es war dies die Zeit, in der, wie
schon mehrfach hervorgehoben worden, die ständischen Corporationen
des J^andes mit der grössten Schärfe und Härte ausschliesslich ihre
Standesinteressen vertraten und mehr denn lemals vorher oder
nachher die Landesinteressen preisgaben und hintansetzten. Ins-
besondere der Adel Livlands, der sich nur langsam von den furcht-
baren Schlägen, die ihn seit der Reduction Karl XI. bis zum Ende
des nordischen Krieges getroffen, erholte, schloss sich ganz in sich
ab und hielt, im Bewusstsein mehr gelitten, auch wohl mehr gethan
zu haben als die andern Bewohner des Landes, den kleinsten Titel
seiner Privilegien mit zäher, unnachgiebiger Hartnäckigkeit fest.
Er suchte seine Vorrechte noch zu erweitern und fürchtete sich
vor jedem Zugeständniss an höhere oder gleichstehende Gewalten, da
er erfahren hatte, wie leicht dadurch eine Handhabe gefunden sei,
auch seine theuersten und höchsten Güter anzutasten.
Dasselbe gilt in nicht geringerem Grade von den Städten, die
womöglich noch engherziger als der Adel jedes fremde Element
fernhielten und ihren Stolz darin setzten, stets andere Ansichten zu
vertreten als die Ritterschaft. Selbst Riga sah kaum über die
Grenzen des städtischen Weichbildes hinaus. Man mag das be-
klagen und es mit Recht kurzsichtig nennen, so das Wesentliche
und Bleibende einer Verfassung mit dem Unwesentlichen und Ver-
gänglichen zu identificiren, da, wenn nun doch einmal dieses fallen
muss, auch jenes nur allzu leicht in Frage gestellt wird-, aber man
wird zugeben müssen, dass eine solche Reaction nach grossen nieder-
schmetternden Katastrophen alle Zeit in der Geschichte sich zeigt.
Auch die Stellung der Herren zu den leibeigenen Bauern wurde
von dieser Umwandlung betroffen. Alle die Beschränkungen der
schrankenlosen Macht der Gutsherren, welche die Könige Schwedens
durchgesetzt, fielen jetzt weg, und die zerrütteten Vermögensverhält-
nisse der meisten Glieder des Adels machten es fast nothwendig, dass
die Rechte des Herrn über seine Leibeigenen in der strengsten und
härtesten Weise ausgeübt wurden. Fühlte man sich doch in
seinem Rechte, jetzt, wo man zum grossen russischen Reiche, in
dem die Leibeigenschaft wie in Livland herrschte, gehörte, erst
.a-JUJ
Garlieb Merkel als Bekftmpfer der Leibeigrenschaft. 41
vollkommen sicher und geschützt. Daher erklärt es sich, dass der Adel
nie so schroflf und unumwunden die Leibeigenschaft als eines seiner
unveräusserlichen Rechte vertheidigt hat wie in der ersten Hälfte
des 18. Jahrhunderts. Das wird jeder sofort erkennen, der z. B. das
Rosen sehe Memorial von 1739 mit den früheren Rechtfertigungen
und Vorstellungen des livländischen Adels vergleicht. Eine solche
übermässige Spannung ohnehin schon harter und grausamer Rechte
konnte nicht ohne die traurigsten Folgen bleiben. Aber auch diese
brachten keine richtige Erkenntniss zu Wege. Da geschah, was im
Verlauf der Dinge stets zu geschehen pflegt, wenn Corporationen zur
Abhilfe schreiender Missstände Hand anzulegen nicht im Stande sind
oder nicht den Willen haben: es trat die Nöthigung zu reformiren
von aussen an den Adel heran. Das ist die Bedeutung des denk-
würdigen Landtags von 1765. Und um diese Zeit traten uns auch in Liv-
land die ersten Bestrebungen, der Leibeigenschaft ihre Härte zu nehmen,
ja sie ganz zu beseitigen, entgegen. Wer denkt nicht sogleich an
den edlen Namen Schoultz von Ascheraden? Neben ihm gebührt
ein Ehrenplatz dem Pastor Eisen auf Torma. Mit Stolz können wir
es aussprechen: Am Eingang der neuem Zeit stehen als Väter des
Gedankens der Bauernemancipation ein deutscher Edelmann und
ein deutscher Prediger. Und beiden gereicht es zur hohen Ehre,
dass sie den Gedanken gefasst, ehe noch die drängende Nothwendig-
keit an dieThüren des Ritterhauses geklopft hatte. Diese beiden Männer,
jeder in seiner Art ausgezeichnet und merkwürdig, hätten längst eine
eingehende Schilderung verdient, bei d^r die zweifellos zahlreich
vorhandenen. Familienpapiere und Briefe zu Grunde gelegt Verden
müssten. Schoultz würde in einer Geschichte der Aufhebung der
Leibeigenschaft eine Hauptstelle einnehmen: hier können nur An-
deutungen über den Zusammenhang und die Einwirkung, welche er
auf die literarische Bekämpfung der Unfreiheit geübt, gegeben wer-
den, Wüssten wir Genaueres, als die gedruckten Auszüge aus seiner
Selbstbiographie uns bieten, über seine Entwickelung, dann würde es
ims wahrscheinlich weniger räthselhaft erscheinen, wie aus dem ver-
abschiedeten Capitän von massiger Bildung, hinter dem ein wüstes
Jugendleben lag, der wahrhaft freisinnige und edle Patriot, der
warme Vertreter des Landesrechtes und der genaue Kenner der
Landesgeschichte geworden. Mit bewunderungswürdiger Geistes-
klarheit hat er die Schäden der Bauerverhältnisse erkannt! Sein
Ascheradensches und Römershofsches Bauerrecht wird für alle Zeit
ein -Denkmal seiner wahrhaft väterlichen Gesinnung gegen seine
42 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibelgenschait.
Batiern und noch mehr seiner politischen Einsicht bleiben. Nicht
eine plötzliche völlige Aufhebung der Leibeigenschaft wollte er,
sondern darin besteht sein grosses Verdienst, dass er die Pflichten
des Bauern dem Herrn gegenüber scharf und genau fixirte und
ihm bestimmte unveräusserliche Rechte zugestand. Und er that
dies allein seinem Herzen und seiner richtigen Einsicht folgend.
Denn was Met-kel in seinen ^freien Letten* annimmt, Schoultz habe
seiij Baüerrfecht in Folge höherer Anregung gegeben, entbehrt aller
Begründung und passt durchaus nicht zu dem klaren Charakter des
Mannes, der wahrhaft adelig von den Pflichten des Adels dachte,
nein, nicht nur dachte, sondern auch so handelte. Werfen wir einen
Blick in seinen „Versuch den Adelstand zu entwickeln'', so finden
wii* in diesem kleinen Hefte nicht tiefe Weisheit oder geistreiche
Gedanken, nichts von alle dem, aber wir finden darin eine klare
und volle Einsicht in die Pflichten des einzelnen Standes, wie wir
sie allen Ständen unseres Landes wünschen möchten. Lesen wir da
^. B. : Alle Stände eines Staates sind zur allgemeinen Wohlfahrt
gleich unentbehrlich. Jeder Stand ist also dem andern als dem
Werkzeuge seiner Wohlftihrt Achtung schuldig," so werden wir die
Bfedeutung solcher Aussprüche ermessen wenn wir bedenken, dass
sie ein livländischer Baron in der Mitte des vorigen Jahrhunderts
gethaii. Oder wenn Schoultz, nachdem er gezeigt, dass die Vorzüge
des Adels nur durch grössere Verpflichtungen gegen den Staat begründet
seien, erklärt: „entweder müssen diese die währen Grundsätze des
Adelsstandes sein oder es tst kein Adelsstand,'' so werden wir* ver-
stehen, warum gerade dieser Mann es gewesen, der für die
„Menschenrechte" der Bauern aufgetreten.
Ein Jahr nachdem das Ascheradehsche Bauerrecht gedruckt
worden, trat der Landtag zusammen, jener Landtag von 1765, der
noch seines Geschichtsschreibers harrt. Graf Browne machte der
versammelten Ritterschaft die bekannten Propositionen über den
gedrückten Zustand der Biauern und verurtheilte in der Motivirung
derselben das bisherige Verfahren der Herren aufs Schärfste. Der
Mangel an Eigenthum, die Unbestimmtheit der Abgaben und
Leistungen und die harte Ausübung des Rechtes der Hauszucht be-
zeichnete er als die Hauptgründe des Elendes der Bauern und ver-
langte in drohendem Tone von dem Landtage schleunige Abhilfe.
Die Ritterschaft glaubte sich in ihrem festbegründeten Rechte ange-
pfiffen und wollte sich anfangs ganz ablehnend gegen die Forderung
beS^tiromter gesetzlicher Normen in den angegebenen Stücken erklären
Gaxlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 48
und nur. geloben, nach Ehre und Gewissen in Zukunft so zu ver-
fahren, wie es einem christlichen Edelmanne gebühre. Erst als
Schoultz sein berühmtes Gutachten abgegeben und der Graf Browne
unbedingt auf seiner Forderung gesetzlicher Regelung bestand, kamen
jene Bestimmungen zu Stande, die dann die Grundlagen geworden
sind, auf denen all^ Späteren Verbesserungen fortbauten. Das Recht
des ^axiziti auf bewegliches Eigenthum, festbestimmte Leistungen und
ein gewisses Klagerecht gegen die Herren sind die Hauptpunkte der
Verordnungen von 1765. Dürftig genug waren freilich diese Be»-
Stimmungen und boten der Willkür und Härte noch grossen Spiel-
raum. Daher ein der früheren Zustände unkundiger Beurtheiler wie
A. L, Schlözer sie in seinen Staatsanzeigen von 1782 als unerhört
grausam und barbarisch verdammen konnte. Aber dass auch nur
soviel «rlangt vs^orden, ist nicht am wenigsten Schoultz's Verdienst.
Sein Gutachten, das mit Erbitterung und Grimm aufgenommen
wurde, wii*d man auch heute noch trotz der uns so fremd geworde-
nen Ausdrucksweise jener Tage nicht ohne Bewegung lesen. Reine
Menschenliebe und politische Einsicht finden sich da in ergreifender
Vereinigung. Wir müssen für den Bauern ein festes Recht schaffen,
und zwar so rasch als möglich; denn thun wir es nicht freiwillig^
so werden wir dazu gezwungen: diese Gedanken durchziehen seine
ganze Auseinandersetzung. Gelang es ihm auch nicht seine Standes-
genossen zur richtigen Auffassung der ganzen Situation zu erheben,
die nothdürftigsten Anfänge freierer Entwickelung waren gefunden.
An eine Aufhebung der bestehenden Leibeigenschaft wurde dabei
von keiner Seite gedacht. Ein solcher Gedanke wurde aber voü
Schoultz's Zeitgenossen, dem Pastor Eisen, gefasst. In seinem Gut-
achten hatte Schoultz unter Anderem auf die eben erschienene „Be-
schreibung der Leibeigenschaft in Liefland von einem liefländischen
Patrioten^ in MüUer's Sammlung russischer^ Geschichte als auf eine
letzte Wamungsstimme hingewiesen, dabei aber dem Verfasser jenes
Aufsatzes starke Uebertreibungen vorgeworfen. Dieser Aufsatz nun
rührt von Eisen her.
Johann GeorgEisen vonSchwarzenberg, über dessen merk-
würdige, wechselvolle Lebensverhältnisse Gadebusch in seiner liv-
ländischen Bibliothek sehr ausführliche Auskunft giebt, stammte aus
Franken und w.ar seit 1745 Pastor zu Torma und Lohusu. Er hat
sich durch die Eiftftihrung der Blatternimpfung in Livland grosse
Verdienste erworbeti und war durch seine verschiedenen Versuche
der Kräutertrocknung so bekannt geworden, dass der berühmte Graf
44 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
Wilhelm von Schaumburg -Lippe eine Denkmünze auf ihn prägen
liess und mit ihm correspondirte. Auch in Petersburg genoss er
grosses Ansehen und wurde namentlich von Peter IIL sehr gnädig
aufgenommen. Dieser Mann nun hat sich lange Zeit mit den Zu-
ständen der Bauern in Livland und der Verbesserung des Ackerbaues
beschäftigt und wurde bald darauf geführt, dass ^die Leibeigenschaft
die erste Ursache aller UnvoUkommenheiten eines Staates 'sei**.
Diesen Gedanken durchzuführen arbeitete er ein ganzes System der
Staatswirthschaft aus und der geringe Anklang, den er mit seinen
Ansichten in seiner Umgebung fand, machte ihn nur noch eifriger.
Seine Arbeiten wurden in Petersburg und am Hofe bekannt und ge-
lesen und da dies besonders im Jahre 1760 bis 1763 geschah, liegt
der Gedanke nahe, dass auch Katharina 11. mit ihnen nicht unbe-
kannt geblieben und dieselben so mittelbar oder unmittelbar auf jene
Vorschläge, die Graf Browne dem Landtage machte, von Einfluss
gewesen, eine Vermuthung, die durch einige Andeutungen von
Schoultz bekräftigt wird. Gedruckt ist von allen diesen Aufsätzen
nur jener eine im Jahre 1764. Der Herausgeber der Sammlung
russischer Geschichte, Professor Müller, war mit Eisen's Manuscript
so willkürlich umgegangen, hatte so viele Zusätze und Einschiebungen
gemacht, alle mit der Tendenz, die ohnehin schon unverhüllte Schil-
derung der Leibeigenschaft in Livland zu verstärken und den Ein-
druck noch empörender zu machen,, dass Eisen sich veranlasst sah,
in der Vossischen Zeitung von 1765 eine Erklärung abzugeben, in
der er nur für einen Theil des Aufsatzes die Verantwortung übernahm.
Diese in sehr gemässigtem Tone gehaltene „Beschreibung der Leib-
eigenschaft inLiefland'' enthält schon alle die Gründe gegen die Leibeigen-
schaft, welche später, nur mit grösserer Schärfe, geltend gemacht worden
sind. Auch die Anklage gegen die deutschen Ritter, welche das
Land nur aus Eigennutz erobert, als die Urheber .der Leibeigenschaft,
und die At)leitung aller Fehler und schlimmen Eigenschaften des
lettischen und estnischen Bauern aus seiner Knechtschaft findet sich
schon hier. Der Mangel des Eigenthums, die Rechtlosigkeit dem
Herrn gegenüber, die Unbestimmtheit der Leistungen sind die Quellen
des Elends. Die niedrige Stufe der Landwirthschaft in Livland, die
Gleichgiltigkeit des Bauern gegen alle Verbesserungen, gegen alles,
was ihm nicht für den Augenblick nützt, sein unbedingtes Misstrauen
gegen den Herrn sind die natürliche Folge davon. Daran schliesst
sich eine lebhafte Schilderung der Armuth und der elenden Lebens-
weise der Bauern, ihrer armseligen Hütten und ihrer aus Mangel an
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 45
Eifer und an Zeit nur ungenügend bebauten Aecker. Richtig wird
auch auf die immer schroffere Scheidung zwischen Adel und Bürger-
thum als Folge der herrschenden Leibeigenschaft hingewiesen. Dennoch
spricht sich der Aufsatz gegen eine plötzliche Aufhebung derselben
auf obrigkeitlichen Befehl aus, jedoch mit so schwachen Gründen, dass
man sogleich erkennt, wie das nur geschieht, um die Wirkung des
Ganzen in Livland nicht abzuschwächen. Ueberhaupt wird fast aus-
schliesslich vom Standpunkt der Nützlichkeit argumentirt, dem Herrn
plausibel zu machen gesucht, wie er bei der Erleichterung der Leib-
eigenschaft nur gewinnen könne, der Ertrag der Güter sich ver-
doppeln, ja verdreifachen müsse und wie er für den Bauern viel
weniger zu sorgen haben werde. Die positiven Vorschläge sind nur
karz angedeutet. Es sollen dem Bauern alle Bauerstellen und
-ländereien eigenthümlich und erblich überlassen werden, von unbe-
bauten oder morastigen Landstücken jedem soviel als Eigenthum auf-
zunehmen gestattet sein, als er zu bearbeiten vermag, ferner solle
es jedem freistehen, den Ueberfluss seines Getreides wo und an
wen er wolle zu verkaufen, endlich jeder Bauer ein Handwerk lernen
und ausüben dürfen. Wenn das alles geschieht, verspricht sich der
Verfasser eine neue Blüthe des Landes. Auf die Frage, wanim der Adel
die zu erwartenden Vortheile nicht schon längst eingesehen, antwortet
Eisen ausweichend: „als Patriot muss ich nichts sagen, was jemand
beleidigen und wovon der gewisse Nutzen nicht offenbar isf Doch
mit dieser Arbeit waren Eisen's Bemühungen auf diesem Gebietie
nicht zu Ende. Mit rastlosem Eifer suchte er seine Gedanken in
immer klarere und einleuchtendere Form zu bringen. Im Jahre 1767
hatte er ein neues System der Staatswissenschaft ausgearbeitet, das
sich ganz besonders mit der Leibeigenschaft und der Art und Weise
wie sie abzuschaffen sei beschäftigte, und war fest überzeugt, die
Ausführung seiner Gedanken werde gelingen, wenn er es auch selbst
nicht mehr erleben sollte. Diese grössere Schrift ist leider unge-
druckt geblieben und verschollen. Mir liegt eine vor einiger Zeit
aufgefundene Handschrift Eisen's unter dem Titel: „Begriff der drey
verschiedenen Verfassungen der Bewohner eines Staates, so auf das
Bauer-Landeigenthum, auf den Zeitpacht imd auf die Leibeigenschaft
des Bauers gegründet sind" vor. Obgleich der Lihalt derselben nicht
vollständig mit allen Angaben Gadebusch's über die oben angeführte
Schrift übereinstimmt, glaube ich doch in derselben jenes System zu
finden, da die Aehnlichkeit in allen wesentlichen Punkten entscheidend
ist. In streng syllogistischer Form und auf der Grundlage Wolffischer
46 O^arlieb Merkel als Bekäinpfer der Leibeigenschaft.
Anschauungen enthält die Abhandlung ein populäres Naturrecht undeirie
Art praktischer Politik. Sie verdiente wohl immer noch, ^veuigstens aus-
zugsweise, bekannt gemacht zu werden. Für uns kommt der von der
Leibeigenschaft l^andelnde Theil haupts'^hlich in Betracht. Das Ganze
ist rein aprioristisch construirt und sieht meist von den geschichtlich
gewordenen Verhältnissen ganz ab. Dennoch wird immer Livland
in's Auge gefasst. Aber wie ganz anders als in dem gedruckten
Aufsatze, wie frei und ungebunden bewegt sich hier der Verfaßser.
Eigentlich giebt es nur zwei Stände im Staate: Büxger und Baußr,
der Adeliche ist nur ein zu vorzüglichen Ehrenämtern erjioben^r
Bürgen Damit der Staat seinen Zweck erfülle, müssen die Stände
in einem richtigen Verhpiltnisse unter einander und ftir sich stehen^
d. h. der Staat muss eine Verfassung haben. Sein Zweck aber ist
Wohlfahrt und Glückseligkeit. Ei?ie voUkomn^ene Verfassung ist nur
da, wo der letzte Stand sich in der rechten Stellung befindet, d. h.
der Bauer muss frei sei^ und Eigenthum haben. Das Eigßnthum
erhält er von seinem Herrn, wofür er ihm und seinen Nachkommen
einen Erbzins zahlt; dieser muss so gross sein, dass der Herr durch
die Freilassung nichts verliert und muss sicH piit dem steigenden
Wohlstand des Bauern vergrössern, aber andererseits dem Bauern
nicht drückend sein. Er wird daher durch Gesetze festgestellt. So
behält der Adel das Obereigenthui^ der Bauergüter. Das ist die
einzig richtige Verfassung. Freiheit der Bauern mit Zeitpacht ist
scheinbar eine nützliche Stufe zwischen Mangel an allem Besitz und
dem vollen Eigenthum, aber in Wirl^liijhkeit dem Staate nur
schädlich, weil der Bauer dann nichts für die Verbesserung des
Grund und Bodens thun wird und weil der Ackerbau dabei niemals
zu grösserer Blüthe gedeihen kann. Mit voller Schärfe wendet sich
der Verfasser dann gegen die Verfassung, welche auf die Leibeigen-
schaft des Bauern gegründet ist. Bei der Leibeigenschaft kann weder
der Staat seinen Zweck erfüllen, noch kß,nn es dabei wirkliche
Stände geben. Der Bauer ist hier nicht Bauer, d. h. selbständiger
Ackerbauer, sondern ein Knecht, der mit den anderen Ständen nichts
gemein hat. Der Bürger kann nie aus dem leibeigenen Knechte
hervorgehen und ist auch vom Adel gänzlich geschieden, hat also
keine Wurzel und keinen Boden. Der Edelmann allein ist ein
Stand und zwar vereinigt er in sich alle drei, er ist 4er wahre
Bauer, der seine Aecker durch Knechte bestellt, er ist auch Bürger,
da er alle bürgerlichen Geschäfte auf seinem Gute selbst verrichtet.
t)a aber im Lande doch Städte und Bürger nothwendig sind, so ist
Garlieb Merlfel als Bekänipfer der Leibeigenschaft, 47
»eben den Adel der ausländische Bürger getreten, statt dass sich
naturgemäss ein Stand aus dem andern im Lande selbst entwickeln
sollte. Und was sind die Folgen der Leibeigenschaft für das Land
und für die Herren? Durchaus schädliche. D^r Leibeigene sorgt
nur für die nächste Zukunft, er arbeitet nur soviel, als er zum Leben
nothdürftig muss; daher ist das Land voll von Morästen, Sümpfen,
wüsten Orten, unbebauten Gegenden. Die Wohnungen sind elend,
sein Vieh erbärmlich, Wiesencultur und Gartenzucht sieht man fast
nirgend. Andererseits muss jler Herr alles selbst verstehen, von
allem Kenntniss haben, alles überwachen, weil sonst seine Knechte
ihm bei jeder Gelegenheit Schaden thun und alle Arbeit hassen, da
sie von ihr keinen Vortheil haben. „Er ist nur der Wirth von
hundert Knechten, von. hundert Feinden seiner Wirthschaft, von
hundert Bettlerp.'' Alle Fehler und Laster der Leibeigenen ent-
stehen aus ihrer jammervollen Lage. Sie sind diebisch, faul, nieder-
trächtig^ verschwenderisch und boshaft, dazu dem Trünke ergeben.
Sie haben keinen anderen Gedanken als die auf ihrem Lan4e haf-
tenden Dienste und. Abgaben zu entrichten und jeder Trieb zum
Fortschritt fehlt ihnen. Streben nach Reichthum und Ehrbegierde,
die Hauptursachen höherer Cultur, gehen ihi^en ganz ab. Solche
Verhältnisse müssen auf den Zustand des ganzen Landes einwirken.
Daher „hat die Leibeigenschaft Bürger, aber keinen Bürgerstand,
Gelehrte und Künstler, aber weder Wissenschaften noch Künste."
Kurz, die Leibeigenschaft gleicht einer Krankheit, die den ganzen
Körper bis auf das Mark durchdrungen hat; sie hat nicht nur alle
politischen Grundlagen des Staates zerfressen, sondern auch Herz
und Geist aller Bewohner vergiftet. Darum Aufhebung der Leib-
eigenschaft um jeden Preis. Aber man verfahre dabei ruhig und
vorsichtig, lasse die Sache mehr sich selbst entwickeln, als dass
man tumultuarisch eingriffe. Hat der Bauer erst Eigenthum, so wird
sich alles andere schon machen. Viele Edelleute meinen, der leib-
eigene Bauer müsse erst durch Schule und Unterricht herangebildet
sein, ehe man ihm die Freiheit gehen könne. ' Das würde noch sehr
lange dauern, und wie wüsste man, wann der Augenblick der voU-
' kommenen Reife gekommen. Und was soll der Leibeigene, ehe er
frei ist, mit den menschlichen Begriffen und Empfindungen? Also
erst Freiheit und dann Schulen. Der neue Zustand muss aus einem
natürlichen SamSn hervorgehen und nicht durch äussere Gewalt
mühsam gehalten werden. ^Dieser Same aber heisst Freiheit und
Eigenthum. Hieraus entstehen die der Natur der Geschäfte des
48 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
Staates angemessene Stände und aus diesen wachset wieder die all-
gemeine Glückseligkeit."
Soweit der alte Pastor von Torma.' Niemand wird die richtigen
und treffenden Ansichten und Bemerkungen in dieser Auseinander-
setzung verkennen können. Ist auch manches wichtige Moment über-
gangen, manches nur flüchtig berührt, ist auch die dem Ganzen zu
Grunde liegende Anschauung vom Wesen und von den Aufgaben
des Staates veraltet, — die Leibeigenschaft inLivland ist hier zuerst
principiell bekämpft. Und wer erkennt nicht, wie fast alle Argu-
mente und Anklagen der späteren Schriftisteller sich schon hier, nur
in ruhiger Zusammenfassung, finden. Im Wesentlichen kommen alle
Folgenden kaum über die hier ausgesprochenen Gedanken hinaus.
Auch ihnen fehlt das, was sich in Eisen's Darlegungen am meisten
vermissen lässt, der Gesichtspunkt der Landespolilik. Obgleich Eisen's
Schrift ungedruckt blieb, können wir doch annehmen, dass sie, wie
seine Bestrebungen liberhaupt, in weitern Kreisen bekannt geworden ist.
Merkel kennt merkwürdiger Weise diesen seinen bedeutendsten Vor-
gänger gar nicht, obgleich er oft fast wörtlich mit Eisen übereinstimmt.
Nachdem einmal der auf dem Bauerstande lastende Druck
Gegenstand öffentlicher Besprechung geworden und vom Adel selbst
indirect zugestanden worden war, seit die ersten Schritte zur Ver-
besserung der Lage der Leibeigenen in Livland geschehen waren konnte
es nicht fehlen, dass immer wieder wohlmeinende und einsichtige
Männer sich mit der Frage beschäftigten, ob und wie die Leibeigen-
schaft gemildert und beschränkt werden könne. Die für das ganze
Land so hochwichtige Bauerfrage konnte jetzt nicht mehr ganz zurück-
treten oder bei Seite geschoben werden. In keinem der auf 1765
folgenden Jahrzehnte hat es an Mahnungen gefehlt; die stets
erneuerten Besprechungen der Bauerfrohnen, der Zweckmässigkeit
neue Hoflagen einzurichten, der Bauerländereien zeigen, dass die
Leibeigenschaft nicht mehr als etwas Selbstverständliches und Natür-
liches angesehen wurde, sondern die Herren im Lande selbst fühlten,
es werde auf dem Wege der Reformen noch weiter gegangen werden
•müssen. Aus der Zeit nun, in welcher die Aufklärung in Livland
einzudringen begann, haben wir eine sehr eingehende Schilderung
der estnischen und lettischen Bauern von Hupel im zweiten Bande
seiner topographischen Nachrichten v^on Lief- und Ehstland, 1777.
Sie ist wie das Buch, worin sie steht, ohne klare Ordnung und
geistige Durchdringung, aber eine sehr werthvolle Materialiensamm-
lung. Wir gewinnen daraus ein lebendiges Bild des leiblichen und
Garlieb Merkel als Bekam pfei* der Leibeigensehaft. 49
geistigen Ziistandes der Bauern, vor hundert Jahren. Die guten und
noch mehr die schlimmen Eigenschaften des lettischen und estnischen
Volkscharakters, der Aberglaube und die Rohheit, die Schlauheit
und die Arbeitsscheu der Bauern werden weitläufig von Hupel abge-
handelt. Er kommt dann natürlich auch auf die Leibeigensehaft
zu sprechen. Dabei geht er jedoch sehr vorsichtig zu Werke.
Persönlich ist er, wie das auch aus anderen seiner Schriften hervor-
geht, durchaus davon überzeugt, dass. die Leibeigenschaft verwerflich
und dem Lande wie den Bauern sehr schädlich ist, aber er spricht
diese seine Ueberzeugung nirgend direct aus. Charakterfeste Ge-
sinnung und männlicher Muth waren überhaupt den Predigern und
Jüngern der Aufklärung nicht eben sehr eigen, sie halfen sich wo es
ging, mit zweckmässiger Accomodation. Dazu machte der wohlwollende,
aber flache Optimismus, der Hupel's ganze literarische Wirksamkeit
kennzeichnet, ihn am wenigsten zum Vertreter eines Princips ge-
eignet. In seiner Darstellung der Bauerverhältnisse hilft er sich so,
dass er die gegen den bestehenden Zustand gerichteten Ansichten
ohne eigenes Urtheil referirt und die einzelnien Thatsachen, Be-
stimmungen, Gesetze in der Art zusammenstellt, dass man seine
Nichtübereinstimmung mit Vielem leicht erkennen kann. Charakte-
ristisch für seine Weise ist gleich der Anfang seiner Schilderung.
Beide Völker sind Sclaven, das wahre Eigenthum eines andern
Menschen; Waare, Sachen sind Erbmenschen! Welcher Anblick,
einen Menschen wegen eines kleinen Vergehens unter Ruthenstrafe
zu sehen! Wie oft wird der Bauer misshandelt, nichts ist sein
eigen! Klingt das nicht ganz wie eine Stelle aus Merkel? Hupel
aber fügt gleich hinzu: so wird ein Ausländer urtheilen. Und nun
wird das Gesagte limitirt und nach Kräften abgeschwächt. Nicht
jeder Sclave ist unglücklich, es giebt auch milde Erbherren und Amt-
leute, wie theuer wird nicht die hochgerühmte Freiheit anderer
Länder bezahlt ! Die Bauern in Livland fühlen meistens die Knecht-
schaft nicht, in der Noth muss sie der Herr unterhalten und am Ende
ist es einerlei, als Sclave oder als freier Mensch zu hungern. ^Die
Frage, ob e^s gut wäre, dass der Bauer frei würde, ist viel zu unbe-
stimmt und gehört nicht hierher; ohnehin setzt sie viele andere vor-
aus, die eine strenge Untersuchung erheischen." Dann wieder wird
erzählt, ein Herr habe sein ganzes Gut an seine Bauern verarrendirt
, und. alles gehe gut, von der alten Liebe zur Freiheit sei bei den
Bauern immer noch etwas übrig. Sofort aber bemerkt Hupel,
durch die Freiheit würden sehr viele Bauern liederlich oder gar
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 4
50 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
Strassenräuber werden. Und so geht es mit ja und nein in einem Athem
bis zu Ende fort. Entschiedener spricht sich Hupel gegen die Will-
kürlichkeit und Eigenmächtigkeit aus, mit der viele Herren die Frohn-
dienste der Bauern erhöhen oder verwandeln und wünscht sehr die
Verordnungen von 1765 möchten überall streng gehalten und be-
obachtet werden. Dass das Recht der Bauern, gegen ihre Herren
vor dem Ordnungsgericht zu klagen fast illusorisch gemacht sei durch
die harten Strafen, mit denen jede nicht strict beweisbare Klage gezüchtigt
werde, giebt er deutlich zu verstehen. Gleichmässige Fixirung der
Frohnen und Abgaben auf allen Gütern erscheint ihm durchaus noth-
wendig, um den Bauern in eine bessere Lage zu bringen. Ich muss
darauf verzichten, hier weiter in das Detail seiner Darstellung ein-
zugehen und viele interessante Einzelnheiten hervorzuheben; das
würde zu weit vom eigentlichen Gegenstand dieser Betrachtung ab-
führen. Bezeichnender als alles Einzelne ist die Auffassung und der
Standpunkt der ganzen Abhandlung für die schroffe Scheidung,
welche auch den menschenfreundlichen Mann der Aufklärung von
dem leibeigenen estnischen und lettischen Bauern trennte. Mit einer
Art neugierigen Interesses hat Hupel die Esten und Letten beob-
achtet, ihre Sitten und Gewohnheiten kennen gelernt, in ihre Denk-
und Empfindungsweise einzudringen gesucht und findet zu seiner
Freude als Resultat, dass sie viele Eigenschaften mit dem gebildeten
Deutschen gemein haben und andere nur in Folge ihres gedrückten
Lebens nicht ausgebildet sind, kurz er schildert die Bauern, in deren
Mitte er lebt, so, wie man etwa heut zu Tage die wilden Völkerr
schaften fremder Welttheile dem Leser vorführt. Doch das ist kein
eigenthümlich livländischer Standpunkt, eine solche Stellung nahm die
ganze gebildete Gesellschaft im vorigen Jahrhundert zu dem Bauer-
stande ein. Die humansten Vertreter der Aufklärung in Deutschland
standen den Bauern ihres eigenen Volkes ebenso fremd gegenüber,
wie Hupel den Letten und Esten. Davon wird sich jeder über-
zeugen, der z. B. Gawes Schrift über den Charakter der Bauern auch
nur aus den Auszügen in Freytags Bildern aus der deutschen Ver-
gangenheit kennt.
Von grossem Interesse sind aus den folgenden Jahren die Ge-
danken über den Sclavenstand der Bauern von einem livländischen
Landrath, der sich leider nicht genannt hat, aber doch wohl noch
möchte ermittelt werden ^können. Dieser Aufsatz nimmt vielfach
Bezug auf HupePs Darstellung, und findet sich versteckt in den Zu-
sätzen des dritten Bandes seiner Nachrichten vom Jahre 1782. Hier
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 51
wird schon die Möglichkeit einer Aufhebung der Leibeigenschaft ins
Auge gefasst, aber grosse Bedenken dagegen geltend gemacht. Ein
Recht, seinen Bauern willkürlich zu behandeln, existirt seit 1765
nicht mehr in Livland. Es bleibt aber noch zu wünschen, dass dem
Bauern der erbliche Besitz seines Landes gesichert sei, dessen ihn
nur unbezahlte Schulden oder die Nichtleistung seiner bestimmten
Pflichten verbistig machen könnten; auch in diesem Falle müsste
nicht der Gutsherr, sondern die Gebietsältesten Richter sein. Weiter
könne man zunächst in der Verbesserung der Lage der Bauern
nicht gehen, meint der Landrath. Denn Bewilligung des völligen
Eigenthums könnte doch nur mit Vorbehalt aller am Lande haftenden
Pflichten und Abgaben zugestanden werden. Es könnten also nur
Bauern Käufer sein und ohne persönliche Freiheit wäre ein solcher
Verkauf ganz illusorisch. In Bezug auf die völlige Freilassung wäre
sehr fraglich, ob es dem Staate zuträglich sei, dass der Bauer will-
kürlich seinen Beruf verlassen könne. Ferner ist die Abschaffung
der Leibesstrafen bei den noch zu rohen Sitten der Bauern nicht gut
thunlich. Doch müsste Maass und Ziel darin gesetzt werden. Der
Vorschlag, diese Strafen in Geldabgaben zu verwandeln, sei von den
Bauern selbst mit Recht abgelehnt worden, denn „ein habsüchtiger
Herr würde den wohlhabenden Bauern nur desto öfterer straffällig
gefunden haben.'' Auch dem ^die Menschheit herabwürdigenden Ver-
kauf einzelner Personen oder ganzer Familien muss noch für eine
Zeit nachgesehen werden wegen der ungleichen Bevölkerung vieler
Gegenden. Doch müsste bestimmt werden , dass der auf Land
sitzende Bauer nicht verkauft werden könnte, wenigstens nicht wider
seinen eigenen Willen und ohne Erkenn tniss der Gebietsältesten.
Die persönliche Freiheit des Bauern endlich könnte in Livland
„noch nicht Statt finden". Die Besorgniss, wie der Bauer die
Freiheit ertragen würde und dass viele Unordnungen bei dieser
grossen Veränderung eintreten könnten, wäre leicht zu beseitigen.
Aber entscheidend seien die Fragen, was denn aus dem Ackerbau
werden sollte und wie es um den Bauer selbst stehen würde. Die
Bauern würden gleich nach erhaltener Freilassung den Feldbau
schaarenweise verlassen und sich leichteren Gewerben widmen, und
das flache Land somit ganz veröden. Die Bauern aber, welche beim
Ackerbau blieben, würden die ihnen angebotene Freiheit schwerlich
annehmen, wenn sie erführen, sie wären fortan in Noth und Unglücks-
fällen auf sich allein angewiesen ohne Unterstützung vom Gutsherrn.
„Wenn Liefland sowohl als auch alle umliegende Länder hinreichend
4*
52 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
bevölkert sein werden, so kann und wird auch den liefiändischen
Bauern die Freiheit ertheilt werden. Und dieser Zeitpunkt ist gewiss
nicht mehr so weit entfernt". Doch wäre zunächst auch dann eine
beschränkte Freiheit der Bauern wie in Dänemark (die war freilich
nur eine mildere Form der Leibeigenschaft) zweckmässig. „Im
Grunde besteht die Freiheit des Pöbels doch nur in der Einbildung."
Und der Bauer im Herzogthum Livland ist seit dem Gesetze von
1765 nicht mehrSclave, sondern glebae adscriptus. Und nun fährt
der Landrath fort: „Hier sehe ich auch schon der grossen Einwendung
entgegen, dass nemlich diesem Gesetze nicht so genau nachgelebt
werde. Das ist freilich wahr, leider! nur zu wahr. Aber welches
Gesetz in der Welt wird nicht auch übertreten?" Er tröstet sich
damit, dass solche Uebertretungen nach geschehener Anzeige gehörig
bestraft werden. Nur schade, dass die Bauern ihre Klagen fast
immer mit „ungehörigen Ausschweifungen" vorbringen, die noth-
wendig bestraft werden müssen. Andere Bauern lassen sich dadurch
abschrecken, ihre gerechten Klagen gehörig anzubringen. Doch
werden mit der Zeit Herren und Bauern ihre wechselseitigen Rechte
und Pflichten besser kennen lern'en. Dass die Bauern keine Kapi-
talien sammeln, ist nach ihrem Zustande natürlich, wo es reiche
Bauern giebt, müssen sie ihr Vermögen durch Handel, Wucher und
andere Gewerbe erworben haben. „Und das würde ich in meinem
Gebiete nicht verstatten", weil der Ackerbau dadurch geschädigt
wird, erklärt der Landrath und fügt höchst bezeichnend hinzu: ein
zureichliches Auskommen nach seinem Stande muss der hiesige
Bauer von seinem Land haben, und wenn er das hat, so hat er
gerade so viel, als der grösste Theil des übrigen Pöbels in der
ganzen Welt nur immer wünschen kann und mag." Entschieden
erklärt er sich schliesslich gegen die Einrichtung von Hoflagen aus
Bauerländern, weil sie die Bevölkerung verringert und die Lasten
der Bauern erschwert. Es wäre dringend zu wünschen, dass man
bestimmte: von nun an keine BauerstelleA mehr unter die Hofes-
felder gezogen!
Welche Mischung wohlmeinender Gesinnung und engherziger
Beschränktheit bietet doch dieser Aufsatz! Man erblickt in ihm
recht deutlich den Kampf der alten harten Ansichten früherer Zeit mit
den neuen Ideen. Und wie gross erscheint hier schon der Einfluss
der Gedanken Schoultz's von Ascheraden, die noch nicht "zwanzig
Jahre früher mit so heftigem Unwillen vom Adel Livlands aufge-
nommen worden waren. In langsamem und allmäligem, aber desto
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 63
sicherem Fortschreiten gewannen sie immer mehr Anhänger und
brachen milderen und humanen Bestimmungen die Bahn. Das stand
in engem Zusammenhang mit der immer weiteren Ausbreitung der
Aufklärung in den achtziger Jahren. Was vor einem Menschenalter
nur vereinzelte Menschenfreunde gedacht und gefühlt, drang jetzt in
alle gebildeten Kreise des Landes ein. Obgleich die Lage der Bauern
rechtlich unverändert blieb und nach wie vor die einzelnen Leib-
eigenen der Willkür ihrer Herren in hohem Grade preisgegeben
waren, begannen doch die einsichtigen Vertreter des Adels das Un-
natürliche der bestehenden Verhältnisse immer klarer zu erkennen.
Der guten und wohlwollenden Herren wurden immer mehr im Lande.
Aber auch äussere Ereignisse trugen nicht wenig zu einer richtigem
Auffassung der Bauerverhältnisse bei. Die Bauernunruhen von 1783
und 1784 wegen der Kopfsteuer, welche von der Krone statt der
früheren Naturallieferungen eingeführt wurde, und die dabei zu Tage
tretenden Erscheinungen mussten alle Einsichtigen nachdenklich
stimmen. Man sah, dass der Boden, auf dem man für alle Zeit un-
gestört fortzuleben gedachte, doch nicht so ganz sicher sei, dass man
sich auf einem Vulkan bewege, gegen dessen Ausbrüche man sich
doch etwas mehr vorsehen müsse. Sodann die Einführung einer
neuen Landesverfassung und die Zustimmung, welche dieselbe von
vielen Seiten fand, musste eine immer dringender werdende Mahnung
an den Adel sein, ob es nicht an der Zeit sei, aus eigenem An-
triebe auf harte und mit dem sittlichen Bewusstsein der Menschen in
schreiendem Widerspruch stehenden Rechte zu verzichten. Unter
solchen Zeitverhältnissen erhob sich abermals eine Stimme wider die
herrschende Leibeigenschaft. Und wieder war es ein deutscher
Prediger. Im Jahre 1786 veröffentlichte Heinrich Johann Jannau,
Pastor zu Lais, einer der eifrigsten Vertheidiger der neuen Ver-
fassung, anonym seine „Geschichte der Sclaverey und Charakter der
Bauern in Lief- und Ehstland".
Er verfolgte darin einen doppelten Zweck. In dem historischen
Theile, dem ersten Versuche einer Geschichte der Leibeigenschaft
giebt er eine Uebersicht der Schicksale der Urbewohner bis auf seine
Zeit. Schon der Titel des Buches: Geschichte der So-laverei, zeigt
wie wenig klar dem Verfasser der Begriff und das Wesen der Leib-
eigenschaft geworden. Die Tendenz des ganzen Abschnittes ist, zu
zeigen, wie Letten und Esten in Knechtschaft geriethen als „Aben-
theurer Trug und Eigennutz mit dem geheiligten Namen der Religion
vertheidigten" und wie der Bauer erst nach dem Untergange des
54 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft,
Ordensstaats „unter ordentlicher Regierung'' wieder menschlicher
behandelt worden und einzelne Rechte erlangt hat. Die Ordensritter
waren nur Barbaren und Peiniger des Volkes, „Herrschsucht war
ihr Beginnen und Dummheit die Fessel, die den Letten und den Esten
in Sclaverei erhielt"; der Bauer hatte in der ganzen Zeit, in dem
eigentlichsten Verstände noch gar keine Religion, „Gehorsam gegen
den Erbherrn war seine Religion." Erst Stephan Bathory, Gustav
Adolf und Karl XI erbarmen sich der Bauern und obgleich es ihnen
nicht gelingt den Leibeigenen die Freiheit zu verschaffen, bereiten
sie denselben doch ein erträglicheres Dasein. AUenVersuchen der Könige,
die Lage der Leibeignen zu bessern, setzt sich der Adel entgegen
und weiss die Ausführung der erlassenen Gesetze zu vereiteln.
Schliesslich wird ziemlich deutlich die Hoffnung ausgesprochen, von
oben her möchten noch weitere Beschränkungen der gutsherrlichen
Rechte angeordnet werden. Obgleich sich Jannau selbst zuweilen
die Erkenntniss aufdrängt, dass die Bemühungen Stephans und Karls XI
die Rechte des Adels über die Bauern zu beschränken, gewiss nicht
aus reiner Humanität hervorgegangen sind, sondern dass dabei sehr
bestimmte, leicht erkennbare politische Motive vorgewaltet haben,
so sieht er doch in allem Widerstände des Adels nur Trotz und
Hartnäckigkeit. Daher ist er auch mit der Reduction Karls XI im
Grunde ganz einverstanden. Im zweiten Theile, der von dem Charakter
der Bauern handelt, zeigt er wie zwar im Herzen des Leibeignen
in Folge seiner Knechtschaft tiefer Hass gegen den Deutschen er-
wachsen sei und wie er auf einer sehr niedrigen Stufe der Cultur
stehe, dass er aber dennoch Ehrlichkeit, Stolz, Verstand besitze.
Durch welche Mittel nun soll der Bauer in eine bessere Lage gebracht
werden ? Entschieden spricht sich Jannau gegen eine Aufhebung
der Leibeigenschaft aus. „Die Freiheit wäre nach jetziger Denkart der
Bauern das schädlichste Geschenk, das man ihnen machen könnte."
Nein, darauf kommt es an, ihm die Leibeigenschaft angenehm und
ihn mit seinem Willen eigen zu machen. Das würde erreicht werden
durch Aufklärung über seine Bestimmung in der menschlichen Gesell-
schaft, durch die vollständige Sicherung seines Eigenthums und durch
ein für alle Zeit festgesetztes Maass von Pflichten , die er zu erfüllen
hat. Zu diesem Zwecke wäre es sehr dienlich, wenn alle Streitig-
keiten zwischen einem Bauern und seinem Herrn stets unter Hinzu-
ziehung seiner Standesgenossen entschieden würden und wenn man
alle Gesetze und Verordnungen , welche die Bauern betreffen , ins
Lettische und Estnische übersetzte und ihnen in die Hände gäbe.
Garlieb Merkel als Bekampfer der Leibeigenschaft. 86
Ferner müsste die willkürliche Sprengung der Gesinde und die unbe-
schränkte Einrichtung von Hoflagen untersagt werden. Alle Arbeiten
und alle Leistungen, zu denen der Bauer nicht ausdrücklich ver-
pflichtet ist, sollen nach einem festen Maassstabe vergütet werden;
endlich das in einem Gute eingeführte Wakkenbuch gedruckt und in
jedem Gesinde ein Exemplar niedergelegt werden. Es kann nicht
geleugnet werden, dass viele Herren in allen diesen Beziehungen
sich sehr wohlwollend beweisen und namentlich viel für die Schulen
thun, aber gesetzliche Bestimmungen sind doch sicherer. Dann erst
würde der Bauer mit Eifer dem Erwerbe nachgehen, Handwerke
lernen und höhere Bildung sich aneignen, wenn er sicher wäre im
unveränderlichen Besitz seines väterlichen Gesindes zu bleiben und
aufhören könnte zu fürchten, durch seine Geschicklichkeit in noch
grössere Abhängigkeit zu gerathen. Alle diese Ausführungen werden
mit Beispielen erläutert.
Man sieht, es sind, im Wesentlichen nur etwas erweitert, Forderungen,
welche eigentlich durch die Patente von 1765 schon erledigt waren.
Bei der vielfachen Unbestimmtheit der damaligen Festsetzungen ist
es aber leicht erklärlich, wie viele eingewurzelte Missstände immer
noch fortbestanden. Andere, später leidenschaftlich angegriffene
Rechte, wie das Hauszuchtsrecht des Gutsherrn werden von Jannau
kaum berührt. Praktische Vorschläge wie dem Bauer Eigenthum
gegeben werden solle, ohne doch den Gutsherrn gar zu sehr zu
benachtheiligen, vermisst man ganz. Obgleich in ziemlich maassvollen
Ton geschrieben, namentlich wo die Rede auf die Gegenwart kommt,
machte das Buch doch grosses Aufsehen, erregte aber auch viel
Unzufriedenheit im Lande. Unter den Entgegnungen ist eine be-
merkenswerth. Der Wendensche Kreismarschall Alexis v. Böttiger,
liess gegen Jannau ein Schriftchen unter dem Titel: „Der lief- und
ehstländische Bauer ist nicht der so gedrückte Sclave für den man
ihn hält," 1786 drucken. In sehr ruhigem Tone unternimmt es der
Verfasser seinen Gegner zu widerlegen. Er zeigt zuerst durch eine
angestellt^ Vergleichung , dass der Gehorch des russischen Bauern
viel drückender ist als der des livländischen. Sodann versucht er
den Nachweis^ dass ein liv- und estländischer Bauer reichlich soviel
Getreide, als zu seinem und der GesindebewohnerLebensunterhalte nöthig
ist, von seinem Lande gewinnen kann und dass ihm noch genug „zum
Wohlleben" übrig bleibt. Endlich glaubt er erweisen zu können,
dass die vom Wakkenbuch eines Gutes festgesetzten Bauerarbeitstage
hinreichend sind um alle bei einem Gute erforderlichen Arbeiten zu
66 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft,
bestreiten und dass der Herr also nicht nöthig hat^ seine Bauern
ausser ihrer pflicbtmässigen Arbeit weiter anzustrengen. Die ganze
Auseinandersetzung gründet sich auf angefügte tabellarische Zu-
sammenstellungen und Vergleichungen. 80 meint Böttiger den Lesern
und Jannau selbst einen bessern Begriff von der Verfassung des.liv-
und estländischen Bauers gegeben und ihn überzeugt zu haben, man
könne auch mit den besten Absichten, von Vorurtheilen geleitet, oft
in einer Sache zu weit gehen. Gegen Jannau's Meinung, der Bauer
müsse das Recht haben, sich jederzeit über seinen Herrn zu beklagen,
erklärt sich Böttiger entschieden. Denn >,der Bauer wüi'de allemal
über etwas zu klagen haben, und wer würde bei einem erbitterten
Herrn wohl der leidende Theil bis zur neuen Liquisition sein V*^
Und das patriarchalische Band, das den Herrn mit seinen Leibeigenen
wie den Vater mit seinen Kindern verbinde, würde durch die fort-
währenden Klagen der Bauern unfehlbar zerrissen werden. Also
überlasse man es der Zeit, die Verfassung Livlands auf den voll-
kommensten Grad menschlicher Ordnung und Glückseligkeit zu
bringen. Der Verfasser bemerkt noch, dass in schlechten Jahren
der Herr viel schlimmer daran sei als der Bauer, ja oft in das grösste
Elend gerathe und schliesst dann damit, dass er gar nicht gegen die
Aufhebung der Leibeigenschaft sei. „Man gebe dem Bauern, wenn
man will, seine Freiheit und entlasse ihn aller seiner Pflichten ; aber
man nehme auch nicht demjenigen sein Eigenthum, der es für sein
baares Geld gekauft, ererbt oder auch für die dem Staate geleisteten
Dienste als eine Belohnung erhalten hat." Diese Aeusserung ist sehr
bemerkenswerth weil sie zuerst den Gedanken ausspricht, den Leib-
eigenen die Freiheit zu geben ohne ihm zugleich Grundbesitz zu
verleihen. Die ganze Beweisführung Böttigers wird Niemanden über-
zeugen. Im besten Falle erweist sie nur die Möglichkeit einer erträg-
lichen Lage der Bauern in der Leibeigenschaft, keinesfalls aber ihre
Wirklichkeit. Die Berechnung geht von den normalen Verhältnissen
eines mittelgrossen Gutes aus, nimmt das höchste Maass des Ertrages
an und schlägt die Leistungen an den Hof auf das geringste Maass
an ; dabei ist strenge Gerechtigkeit von Seiten des Herrn und eifrige
Arbeit beim Bauern selbstverständliche Voraussetzung. Wie oft konnte
das alles zusammentreffen und wie viele Güter entsprechen diesen
Voraussetzungen! Und wenn nun schlechte Jahre und Missernten
eintreten, der Herr seinen eignen Vortheil in der möglichsten
Schonung der Bauern nicht , erkannte? Mit solchen. Beweisen und
Widerlegungen war eben nichts erreicht, nur die wohlmeinende
Garlieb Merkel als Bekämpi'er der Leibeigenschaft. 57
Gesinnung des 8chi*eibers dai'getlian. Doch war durch diese Schriften
die Zweckmässigkeit und Berechtigung der Leibeigenschaft wieder
eine Frage des Tages geworden. Wie sehr sie im Widerspruche mit
den überall gepredigten Ideen der Aufklärung, der mit Begeisterung
aus Frankreich aufgenommenen Lehre von der Gleichheit aller
Menschen stehe, konnte sich doch kein Einsichtiger verbergen. Aber
man fand einen Ausweg aus diesem Dilemma. Nicht ewig solle der
estnische und lettische Bauer in Leibeigenschaft schmachten, nein nur
solange bis er zur nötbigen Bildung, zur Fähigkeit seine Pflichten zu
begreifen und der Stimme seines Gewissens stets zu folgen, erzogen
sei. Dann, so meinten viele wohlmeinende Männer aus dem Adel,
wollten sie mit Freuden auf alle ihre Rechte über die Bauern ver-
zichten und der Leibeigenschaft ein Ende machen. Bis es dahin
komme, werde freilich noch viel Zeit vergehen, aber einmal werde
doch der Tag der Freiheit, anbrechen. Auch andere menschen-
freundliche Männer meinten, auf die Freilassung der Bauern komme
es weniger an 5 vielmehr sei darauf alle Sorge zu richten, dass der
Bauer die Freiheit gar nicht vermisse. Von solchen Gedanken ist
der Aufsatz erfüllt, den der bekannte öconomische Schriftsteller und
Geschichtsschreiber Livlands W. C. F riebe in Hupeis nordischen
Miscellaneen vom Jahre 1788 unter dem Titel: Etwas über Leib-
eigenschaft und Freiheit einrücken Hess. Hier wird physische und
politische Freiheit unterschieden ; zu jener ist der livländische Bauer
nach dem Rechte der Natur so gewiss berufen als jeder andere
Mensch, ob auch zu dieser, ist zweifelhaft. Die Entscheidung dax-über
hängt von der Beantwortung der Frage ab, ob die Aufliebuug der
Leibeigenschaft nicht vortheilhafter für den Staat und die Erbherren
ist, als ihr Fortbestehen? Die Antwort darauf wird bejahend aus-
fallen. Dennoch ist nicht daran zu denken, dem Bauern sofort die
Freiheit zu geben und ihn sich selbst zu überlassen. Bei den Haupt-
eigenschaften seines Charakters: Unwissenheit, Faulheit, Liederlich-
keit, Unehrlichkeit müsste er bald zu Grunde gehen. Durch die
lange Unterjochung ist die Natur der Letten und Esten verderbt,
zumal da es Grundsatz der frühern Landesherren war, ^das Volk in
Dummheit zu erhalten". Nun folgen wieder die bekannten heftigen
Anklagen gegen die deutschen Eroberer und Frömmigkeit heucheln-
den Ritter. Ehe die physische Lage des Bauern sich zum Bessern
gestaltet, ist an eine höhere Cultur und moralische Ausbildung des-
selben nicht zu denken. Auch Friebe sieht in dem Zugeständniss
unentreissbaren Eigenthums die nothwendige Voraussetzung aller
88 Garlieb Merkel als BekÄmpfer der Leibeigenschaft.
Reformen. Er sucht zu zeigen, dass der leibeigene Bauer seinem
Herrn ebenso viel koste, als dieser freien Arbeitern zahlen mttsste.
Ueberhaupt würden die Nachtheile einer Freilassung der Bauern für
den Herrn durchaus nicht so gross sein, wie man meistens glaube.
Ein einsichtiger Herr müsse ja auch schon jetzt um seines eignen
Vortheils willen für das Wohlergehen der Leibeignen sorgen. Aber
auch im schlimmsten Falle sei der Bauer kein Sclave, wie Jannau
ihn nenne. Die Hauptsache ist, Selbstbewusstsein im Landmann zu
erwecken, damit er über den nächsten Augenblick hinaussehen
lernt. Dies Jahrhundert wird das Eintreten einer so grossen und
viele Vorbereitungen erfordernden Umwälzung wie die Aufhebung
der Leibeigenschaft ist, nicht mehr sehen. Friebe schliesst mit der
Frage: „Wer ist physisch glücklicher, ein livländischer oder ein
deutscher freier Bauer?" und antwortet darauf: '„politisch ist es der
letztere. Würde aber ein hiesiger das ertragen können was jener
erträgt?"
Diese letzte Stimme vor Merkel verhallte ungehört; sie war auch
nicht klar und scharf genug um Eindruck zu machen. Aber auch
mächtigere und kühnere Worte hätten in jener traurigen Zeit kein
Echo im Lande gefunden. Waren es doch jene Jahre, in denen man
die Früchte der politischen Zerklüftung und Entfremdung aller Stände
des Landes erntete. So lange hatte man sich beargwöhnt, kleinlich
gestritten und gehadert, so verschoben und in so unnatürlichen
Gegensatz gebracht waren alle Interessen, so fremd war man dem
Ursprünge und dem Geiste der Väter geworden, dass man gar keinen
gemeinsamen Boden mehr A,nd, dass die Schädigung eines Standes
mit Jubel von dem andern begrüsst wurde. Niemals sind die deutschen
Bewohner dieser Lande ihren Aufgaben und ihrem Beruf mehr untreu
geworden, als in jenen dunkeln Tagen. Die allem historischen Be-
wusstsein feindselige Richtung der Aufklärung, die Uebertragung fremd-
artiger politischer Gesichtspunkte und Anschauungen auf unsere ganz
eigenartigen Verhältnisse, machten in Verbindung mit der herrschenden
starren Abgeschlossenheit aller Kreise die einfachste politische Einsicht,
jeden Versuch einer Verständigung unmöglich. Was Wunder also, dass
die alte Landesverfassung unter dem Freudengeschrei der grossen
Masse zusammenbrach^ kannten doch längst die Einzelnen für die
Verhältnisse im Lande keinen andern Maassstab, als den ihres persön-
lichen Wohlergehens und selbstischen Interesses. Und Livland, ein
Land das mit allen Fasern seiner Existenz in geschichtlichem Boden
wurzelt, Livland hatte damals alles Verständniss seiner Vergangenheit
Garlieb Merjcel als Bekampfer der Leibeigenschaft. 59
völlig verloren. Je mehr man vom Erbe der Vö-ter bei Seite warf,
um so zuversichtlicher meinte man auf der Bahn des Fortschrittes
zu wandeln. Schlagen wir eines der Geschichtsbücher jener Zeit
auf, überall finden wir jene Anschauungen, von denen uns im Verlauf
dieses Aufsatzes schon häufig Beispiele entgegengetreten, in aller
Breite vorgetragen. War die deutsche Herrschaft an der Ostseeküste
nur gegründet um „Menschen zu schlachten", Knechtschaft freien
Völkern zu bringen, hatten der grausame Ritter, der tückische Priester,
der habgierige Kaufherr hier ihre Gewalt aufgerichtet nur um
gemeinsam unter unmenschlichen Gräueln den Letten und Esten
das Mark auszusaugen, war die ganze Ordenszeit eine Periode,
die jeder aufrichtige Freund der Menschheit aus der Geschichte
gestrichen wünschte — dann war über das Recht der deutschen
Niederlassung und dfer deutschen Bewohner Livlands der Stab ge-
brochen, dann mussten sie zufrieden sein ruhig fortvegetiren zu
dürfen. Die Hupel, Jannau und wie die Verurtheiler der Vorzeit alle
heissen, sie bedachten nicht, dass sie sich mit ihren Argumentationen
und Declamationen den Boden unter den Füssen wegzogen, dass auch
für sie kein berechtigter Platz mehr im Lande war wenn nur Trug
imd Gewalt die Ordnungen gegründet, in denen sie wirkten und
lebten. Aber scharfes und consequentes Denken lag der Aufklärung
fern. Sie heftete den Blick stets nur auf die augenblickliche Gegen-
wart ohne Rücksicht auf Vergangenheit und Zukunft. Von der Ver-
wirrung und Verwüstung, welche sie angerichtet, hat sicli das ge'öunde
politische Bewusstsein erst sehr allmälig erholt und auch heute^ noch
stehen viele Richtungen unbewusst unter ihrem nachwirkenden Ein-
flüsse. Sollen wir also der Aufklärungsperiode jedes Werk und jedes
Verdienst absprechen? Nein, das wird selbst ihr entschiedenster
Gegner nicht thun. Auch von ihr gilt der Satz, dass keine Richtung
jemals Gewalt über die Menschen gewonnen, die nicht bestimmte
Wahrheitsmomente enthielt. Freilich ist ihr Verdienst mehr negativer
Natur. Sie hat vieles Unbrauchbare beseitigt und den Boden von
vielem Schutte gereinigt.. In zweierlei aber möchte ich den Haupt-
werth der Aufklärungszeit für unser Land setzen. Aus dem alten
Zustande des Hasses und der Erstarrung konnte sich nur durch die
Infragestellung und Antastung der berechtigsten wie der willkürlichen,
der uQveräusserlichsten wie der zufälligen Rechte und Ordnungen
eine neue Gestaltung herausbilden, die durch die allgemeine Zerstörung
auf die eigentlichen Quellen der Lebenskraft des Landes gewaltsam
hingewiesen wurde und sich des reichen, von der Vorzeit überlieferten
60 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
Schatzes allmälig neu bewusst zu werden begann. In dieser Um-
bildung der Anschauungen und Formen stehen wir noch heute. So-
dann richteten sich die berechtigten Angriffe der Aufklärung gegen
einzelne grosse Missstände der Gesellschaft, die früher als eng ver-
wachsen mit alten theuern Rechten geduldet und entschuldigt wurden,
nun aber, losgelöst aus dem früheren Zusammenhang, grell aller
Menschlichkeit und allem natürlichen Gefühle widersprachen. Solch
ein schreiendes Uebel war die Leibeigenschaft. Alle die Gründe,
welche früher für ihre Aufrechftialtung vom Adel geltend gemacht
worden waren, fielen jetzt fort und es blieb nur die gehässige Wirk-
^lichkeit bestehen. In ihrer Bekämpfung haben sich die Männer der
Aufklärung den meisten, auch heute noch anerkannten Ruhm erworben.
Freilich haben sie auch bei dieser verdienstlichen Thätigkeit dieselbe
gefährliche Einseitigkeit gezeigt, die allem ihYen Wirken anhaftet.
Da giebt es nun keine Persönlichkeit, in der sich alle Anschauungen
und Bestrebungen der AuMärung im guten wie im gchlimmen Sinne
so vereinigt finden, wie Garlieb Merkel. Es ist der Typus dieser
ganzen Richtung in unserem Lande, in keinem spiegelt sie sich so
klar und rein ab. Darin besteht seine Bedeutung und seine Schwäche.
Bis zum letzten Augenblicke ist er ganz das Kind seiner Zeit geblieben.
Mit leidenschaftlicher Begeisterung des Verstandes unternahm er den
Kampf für Menschenrechte und Vernunft wider Knechtschaft und
historisch überlieferte Gerechtsame. Seiner ganzen Entwickelung
nach war er, dazu angelegt wie kein anderer. Von Kindheit an hatte
eine rjein verstandesmässige Ausbildung alle jugendlichen Stimmungen
und Gefühle in ihm verdrängt; ein Sonderling, sein Vater, die zersetzende
Skepsis -der Encyklopädisten, der ätzende Spott Voltaires waren seine
Lehrmeister. Was wusste der grübelnde, allem wirklichen Leben
fernstehende Predigers§ohn von den Geschicken des Landes dem er
angehörte, den ruhmvollen Thaten und den schweren Leiden ver-
gangener Geschlechter! Er verglich die Zustände ringsum mit den
Lehrsätzen und Forderungen seiner Meister und sah überall nur
Zerrbilder. Er schwärmte für die retablirten Menschenrechte, für
die grösste Entdeckung des Jahrhunderts, den unsterblichen contrat
social und als er ins Leben trat, sah er sich von Heerden willen-
loser unselbständiger Sclaven umgeben, traf er nicht selten auf harte,
grausame Herren und zum Viehe erniedrigte, heimlich knirschende
Knechte. Und bald glaubte er überall nur solche Herren zu sölien.
Er fühlt den Zorn der empörten Menschheit in seinem Herzen.
Wird denn keiner aufstehen gegen diese Schmach und dieses Elend?
Garlieb Merkel als Rekämpfer der Leibeis^enschaft. 61
Und als es keiner thut, da fühlt er in sich den Beruf Advocat der
Menschheit zu werden, diie Schande des Jahrhunderts zu brandmarken,
am Throne ' der grössten Herrscherin seine Anklage wider das un-
menschliche Verbrechen niederzulegen. Aber wer kann es wagen
in der Löwenhöhle den Löwen anzugreifen? Er eilt erst hinaus in
das Land, wo man frei denken und schreiben kann, und von da
schleudert er dem Adel Livlands, den Ritterschaften der Ostsee-
provinzen vor dem gebildeten Publicum Europas seine furchtbaren
Anklagen in's Gesicht. Das sind die „Letten am Ende des philoso-
phischen Jahrhunderts, 1797." Vergegenwärtigen wir uns die damalige
Lage. Zwischen den frühern Schriften und Merkel's Buch liegt die
französische Revolution. Die Wirkungen dieser furchtbaren Katastrophe
blieben auch auf die baltischen Provinzen nicht ohne Einfluss. Die
Frage von den Menschenrechten war keine theoretische Geistesübung
mehr, sondern, verlangte unerbittlich praktische Erledigung. Schroflf
gegenüber stehende Parteien bildeten sich, von denen die einen nur in
der unbedingten Aufrechterhaltung des Alten Heil sahen und jeden Ver^
such einer Reform als revolutionär anklagten, die andern aber nur durch
zeitgemässe Zugeständnisse und durch die Beseitigung verhasster Vor-
rechte den Gefahren der Zukunft zu entgehen meinten. Das musste vor
allem seine Anwendung auf die Leibeigenschaft finden. Man erkannte,
dass hier in erster Linie Umgestaltungen eintreten mussten, und als der
livländische Landtag von 1795 zusammentrat, da erwartete man
allgemein von ihm eine eingreifende Reforni der Bauernverhältnisse.
Solche Erwartungen spricht auch die berühmte Landtagspredigt von
Sonntag: „Ermunterung zum Gemeingeist " aus. Daraus erklärt sich
die ihr beigemessene Bedeutung und ihr gewaltiger Eindruck. Wenn
wir sie heute lesen ist uns eine solche Wirkung kaum verständlich.
Es ist eine ziemlich trockene, oft triviale moralische Abhandlung, die
nur bei der Ermahnung an den Adel, für das Wohlergehen der Bauern
zu sorgen und ihnen Eigenthum zu schaffen, sich über das ganz Ge-
wöhnliche etwas erhebt. Die Ritterschaft war so befriedigt von ihr,
dass sie ihren Druck verfügte, aber auf dem Landtage kam gar kein
Beschluss zu Stande, sondern dem Convent wurde es überlassen, feste
Principien für eine neue Ordnung der Bauernverhältnisse zu finden
und mit den einzelnen Kreisconventen darüber zu verhandeln. Die
Enttäuschung über dieses Resultat der Verhandlungen war gross im
Lande. Zur Betrübniss aller wohlmeinenden Reformfreunde war
.damit die Sache in das Unbestimmte vertagt. Zu den bitter
Enttäuschten gehörte der junge Merkel. Er, der Sonntag schon vor der
62 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
Eröffnung des Landtages seine Schrift mitgetheilt, beschloss jetzt, sie
drucken zu lassen. Ob bei der Abfassung und Veröff'entlichung seines
Buches ihn auch persönliche Missstimmung gegen einzelne Personen
aus dem Adel geleitet, wie man damals allgemein glaubte, lässt sich
nicht beweisen, wenn es auch manche Umstände wahrscheinlich
machen. Die Letten machten den gewaltigsten Eindruck, in Deutsch-
land fast noch mehr als in Livland. Der furchtbare Lihalt, die leiden-
s<;haftliche Erregtheit der Darstellung, die Gewandtheit des Stiles
und die, wie es schien, unwiderlegliche Deduction wirkten zu-
sammen um diesem Werk eine hervorragende Bedeutung zu geben.
Der junge unbekannte Hauslehrer erwarb sich mit einem Schlage
einen angesehenen und gefürchteten Namen, und lange galt M'erkel
als der erste Schriftsteller der Ostseeprpvinzen. Heute werden
die, Letten viel genannt und gerühmt, aber sehr wenig gelesen. Es
erscheint daher am Platze eine Uebersicht des Inhalts in kurzen
Zügen vorzulegen. Plan und Composition des Ganzen sind vorzüglich
berechnet, die Gruppirung höchst wirkungsvoll. Eine Widmung an
den Fürsten Repnin, den Statthalter von Liv- und Estland, bildet
den Eingang. Nachdem seine Grösse im Kriege und Frieden gefeiert,
wird an ihn die Bitte gerichtet, Fürsprecher der vielen Hundert-
tausende von Unglücklichen, die, aller Menschenrechte beraubt, in
unaussprechlichem Elende schmachten , am Throne der grossen
Monarchin zu werden. Ein Wort aus dem Munde der unsterblichen
Katharina, und sie sind frei. Alle Hoffnung der Unterdrückten beruht
auf dem Fürsten. Die darauf folgende Einleitung soll die Stimmung
des Lesers erregen und auf das Schlimmste vorbereiten. „Die Ver-
nunft -hat gesiegt und das Jahrhundert der Gerechtigkeit beginnt'',
so wird sie mit selbstbewusstem Stolz der Aufklärung eröffnet.
Das Jahrhundert hat Throne umgestürzt, Reiche zertrümmert, die
ältesten Rechte der Grossen vernichtet, nur in einem Winkel Europas
thront noch die härteste Despotie. Noch seufzen die Letten und Esten
unter dem Joche der Knechtschaft. Aber auch für sie wird die
Stunde der Befreiung kommen, früh oder spät, und dann wehe den
Herrn, wenn sie nicht freiwillig auf ihre „Ungerechtsame" verzichten.
Das werden sie nur wenn die gebildete Menschheit ihre Gewalt
brandmarkt. Darum soll hier dem Adel und der Geistlichkeit Liv-
lands ein Spiegelbild vorgehalten werden, vor dem sie sich entsetzen.
Es soll aber auch die Aufmerksamkeit der Landesregierung auf die
Unglücklichen hingelenkt werden, damit sie eingreife wenn es
Noth thut. Manche haben schon früher über denselben Gegenstand
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 63
geschrieben, aber schonend und rücksichtsvoll. Ohne Schonung und
ohne Rücksicht will ich schreiben, erklärt der Verfasser, aber un-
parteiisch. Und sein Beruf dazu? Acht Jahre hat er täglich mit
Edelleuten und Bauern verkehrt, das Meiste selbst erlebt, vieles
selbst gesehen. Er weiss, dass er heftig schreibt, er weiss, dass er
sich Gefahren aussetzt, aber was ücht ihn das an? Er erfüllt nur seine
Pflicht. ^Vaterlandsliebe ist mein Beruf undWahrheitsliebe mein Talent".
Und nun entrollt sich uns das Bild. Was waren die Letten einst und
was sind sie geworden? „Nach allen Nachrichten aus alten Liedern
und Chroniken" war ihr Leben vor dem Eindringen der Deutschen
ein dauerndes Idyll; alle Tugenden unverdorbener Naturmenschen
besassen sie, fast keine Laster. Am Anfange des 12. Jahrhunderts
standen Letten und Esten schon auf einer hohen Stufe der Cultur
und wenn sie ruhig ihrer Entwickelung überlassen geblieben wären,
„glänzten sie heute vielleicht schon unter den Bewohnern Europas,
hätten ihre Kante, ihre Herder, ihre Wielande etc. gehabt und spielten
eine wichtige Rolle im Reiche der Wissenschaften und der Politik."
Da brachen plötzlich Schaaren geweihter Mörder und hinterlistiger
Pfaffen über sie herein, badeten in Blut und machten Livland zu einer
Mordhöhle der Pfaffen. Aller Menschenrechte beraubt sind die Ein-
geborenen jetzt zum Stumpfsinn herabgesunken, hausen mit Schweinen
und Hühnern zusammen in elenden dunkeln raucherfüllten Hütten
und schleppen mühselig ihr armes Leben hin. Aber was ist die
Vernichtung des äussern Wohlstandes gegen die Verwüstung, welche
die Jahrhundert lange Sclaverei im Charakter der Letten angerichtet
hat. Und nun entwirft der Vertheidiger und Vorkämpfer der Letten
und Esten ein Bild von diesen Volksstämmen, das die ungünstigen
Schilderungen aller Frühem weit hinter sich lässt und für das ihm
seine heutigen Verehrer wohl nicht ganz dankbar sein werden.
Unbedingtes Misstrauen und sclavische Furcht vor dem Herrn ver-
binden sich mit erschreckender Fühllosigkeit ^egen ihre hächsten
Angehörigen. Freilich wohnt in ihrem Herzen auch grimmiger Hass
gegen alle Deutschen, vor dessen Ausbruch, diese zittern. Aber roher
Aberglauben und^unmässige Trunksucht, die soweit geht, dass Mütter
das Glas Branntwein mit ihren Säuglingen theilen, sind doch wieder
starke Schatten. Dazu erscheint Unredlichkeit als ein Hauptzug
ihres Charakters, diebisch und betrügerisch gegen den Herrn zu sein
ist ihnen natürlich. Und schliesslich das Schlimmste : die Letten haben
keinen Nationalstolz! Kann es dafür einen bessern Beweis geben
als dass „jeder Einzelne, dem es gelingt in einen andern Stand zu
64 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
treten es für die bitterste Beleidigung hält, wenn man ihn erinnert,
dass er ein Lette sei!'' Alle Laster und Fehler des Letten werden
aber erst verständlich und zum Theil erklärlich auf dem Grunde der
Frohndienste und Abgaben, die er zu leisten hat. Und nun überläset
sich Merkel ganz dem Zuge seines rhetorischen Talents. Auch das
Verhältniss der Leibeignen zu ihrem Herrn beruht auf einem contra t
social; aber wie ist dieser von dem Herrn gehalten worden I Die
Leistungen der Bauern sind nach den Gütern verschieden, sagt Merkel,
und dennoch giebt er eine Entsetzen erregende Schilderung der Pflichten
des leibeignen Bauerwirthen schlechthin. Da erhalten wir denn eine
Berechnung, nach der der Bauerwirth in jedem gewöhnlichen Jahre
12 Loof weniger erntet, als zum Lebensunterhalt der Bewohner eines
Gesindes nöthig sind. Und dazu muss er noch dem HofeJ dem
Prediger, dem Schulmeister seine Abgaben entrichten und die Schulden
vom vorhergehenden Jahre bezahlen! Aber wie ist denn das möglich?
fragt der entsetzte Leser. Dadurch, dass er Spreubrod isst und im April
Vorschuss vom Hofe erhält, antwortet Merkel und überlässt ihn
seinem Zweifel. Und nun dieFrohnen. Zum Düngen, zur Saat, zur Ernte
stellt jeder Wirth 3 bis 5 Menschen oder — soviel der Hof will, Bauholz
und Brennholz muss er zum Hofe führen, 25 Wochen im Jahre einen
Knecht mit einem Pferde und einen zu Fuss stellen. -Wann bestellt
denn der Bauer seine eigenen Felder? fragt man wieder und erhält
zur Antwort:- an Sonn- und Festtagen. Ferner das Verführen der
Hofesgefälle 30 bis 40 Meilen weit, endlich die zahllosen Abgaben
an Naturalien ! Und trotz aller dieser Lasten kann der Bauer nichts
sein eigen nennen. Der Herr kann jeden Hausvater zum Knechte,
jeden Knecht zum Hausvater machen, ihm Haus und Hof nehmen, ihn
unter das Militär stecken. Kurz „die Bauern haben nichts als was
der Erbherr iMien lässt und sind nichts, als was ihm gefällt." Jeder
mit den Bauerverhältnissen jener Zeit auch nur oberflächlich Be-
kannte weiss nur z]i gut, wie drückend und hart' die materielle Lage
der Leibeigenen war und dass die herrschenden Missstände gebiete-
rische Abhilfe verlangten. Aber, dass die Allgemeingiltigkeit der
obigen Darstellung undenkbar und unmöglich ist, liegt auf der Hand.
Und der Hauptfehler der ganzen Darstellung zeigt sich hier zuerst
in grellem Lichte, das beständige Gerieralisiren specieller Thatsachen
und Erfahrungen. So musste aus der ohnehin schon argen Wirk-
lichkeit ein grausiges Zerrbild werden. Die Frage, ob sich demi
Niemand bisher um die furchtbare Lage der Leibeigenen gekümmert,
führt zu einer Schilderung der bisher von Stephan Bathory bis 1765
Qarlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 65
•
gemachten Versuche Abhilfe zu schaffen. Hier ist Jannau ganz zu
Grunde gelegt. Nur ist alles mit brennenden Farben gemalt und die
List und Tücke des Adels, durch die er stets alle edlen Absichten der
Regenten vereitelt, mit breitem Behagen geschildert. Mit bitterem
Hohne wird sodann von den Rechten der Bauern in Livland ge-
handelt und an der Ausführung der Patente von 1765 gezeigt, dass
sie keine haben. Die Bestimmung z. B., der Bauer kann Eigenthum
haben, heisst nur, was er besitzt, darf ihm nicht ohne Vorwand un-
bezahlt genommen werden. Wie es mit der Bestimmung gehalten
werde, dass die Leibeigenen am Heirathen nicht gehindert werden
sollen, beleuchten grauenerregende Beispiele, und wenn die Bauern
krank sind, werden sie von den Herren „zu Tode gequacksalberf,
denn die ihnen gereichten Heilmittel bestimmen sich nach ihrem
geringeren oder grösseren Vorhandensein in der Hausapotheke der
Edelfrauen. An Aerzte ist natürlich auf den Privatgütern nicht zu
denken. Die Berechtigung des Bauern, über seinen Herrn zu klagen,
zeigt sich als' eine Berechtigung Ruthenhiebe zu erhalten^ die Ein-
führung von Bauergerichten ist vereitelt und so das wirksamste
Mittel, dem Sclaven Muth und Selbstvertrauen wieder zu gebeii,
nämlich ihm den Weg zu Ehrenstellen zu öffnen, beseitigt. Kann
es ein ärmlicheres Volksrecht in irgend einem Staate „in der poli-
cirten Welt" geben? schliesst Merkel diesen Abschnitt. Was für ein
Blick eröffnet sich uns aus solchen Verhältnissen in die Zukunft?
Schrecklich* und fürchterlich sind die kommenden Zeiten für die
Despoten und ihre Nachkommen. Und nun entwirft Merkel ein
fiirchtbares grausiges Bild der Umwälzungen, der Gewaltakte, der
Rachegräuel die eintreten müssen, wenn die ^Grossherren" nicht
noch im letzten Augenblicke freiwillig auf ihre durch Mord und List
erworbenen Rechte über die Letten verzichten. Diese Schilderung, die
wir nicht mittheilen können, ist höchst lesenswerth ; sie ist die Quelle
vieler späteren Schriften und Broschüren geworden, von denen nur keine
so unumwunden zu sprechen gewagt hat wie ihr Meister. Aber von
der Seite des Rechtes, fährt Merkel fort, wird der Adel nie zur Auf-
hebung der Leibeigenschaft bewogen werden; man muss versuchen,
ihm zu zeigen, dass die gefürchteten schädlichen Folgen der Frei-
lassung blosse Einbildung sind, dass vielmehr die bedeutendsten
Vortheile daraus auch für die Gutsherren erwachsen. Also wider-
legen wir „die seichten Scheingründe der heuchlerischen Schwätzer."
Sie lauten: Der Lette ist noch nicht reif zur Freiheit, sein
Volkscharakter macht die strengste Behandlung und die Sclaverei
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 5
66 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
•
nothwendig, seine Lage würde durch die Freilassung sehr unsicher und
traurig werden. Wie leicht ist die Nichtigkeit aller dieser Ein-
wendungen gezeigt. Mit dem ersten Grunde lässt sich die Ereilassung
in unabsehbare Zeit hinausschieben, denn der Herr wird immer
sagen, dass sein Sklave nicht reif ist, in den Besitz seiner Menschen-
rechte zu kommen. Die gegenwärtigen Nationalfehler der Letten
werden durch die Freilassung vernichtet werden und die Besorgniss
wegen ihrer Zukunft wird dadurch wegfallen, dass sie gegen Ent-
richtung bestimmter Abgaben und gegen bestimmte Frohnen den
Erbbesitz ihrer Gesinde erlangen. Indem sich Merkel im Namen der
Letten bei den Gutsherren für ihre zarte Fürsorge bedankt, schliesst
er mit den höhn vollen Worten : „Ich möchte fast annehmen, dass die
Letten Geschöpfe von einer den Edelleuten wenigstens sehr ähnlichen
Gattung seien und so gut als diese endlieh aufhören müssen, wie
Kinder behandelt zu werden und fremder Leitung zu bedürfen."
Wer ermisst aber erst den unendlichen Schaden, den die Leibeigen-
schaft jedem Staate, in dem sie herrscht, zufügt. Weder Gesetz noch
Recht können da bestehen, weder Vaterlandsliebe noch Bürgertugend
da erblühen, wo ihr Fluch lastet. Das Schicksal Polens dient dazu
als warnender Beleg. Zu welcher Blüthe könnte Livland gelangen,
welchen Aufschwung würde seine Cultur nehmen, sässe nicht in
seinem Innern das eine Grundübel der Leibeigenschaft, die alles ver-
giftet und zerstört. Darum schliesst Merkel mit der absichtsvollen
Wendung: Wird der Beherrscher Russlands es immer dulden, dass
einige tausend Sklavenhändler grosse Menschenheerden besitzen?
Nein, das wird er nicht.
Das Schlusskapitel des Buches, charakteristisch genug, das
kürzeste von allen, bespricht die Mittel, den Letten Bildung und
Freiheit zu geben. Freiheit und Wohlstand des Bauern sind das
letzte Ziel, das durch die Aufhebung der Leibeigenschaft erreicht
werden soll. Dazu bedarf es, um die Sache nicht zu überstürzen,
vorbereitender Schritte, von denen zwei sofort gethan werden müssen.
Man stelle den Bauern fortan unter Schutz eines Tribunals, dessen
Mitglieder zum Theil aus seinen Brüdern bestehen, d. h. man richte
Bauergerichte für Streitigkeiten zwischen den Herren und ihren
Bauern ein und bilde daneben Gutsgerichte für Streitigkeiten der
Bauern untereinander und zum Schutz vor der Willkür des Herrn.
Sodann muss eine Revision der Leistungen auf jedem Gute vor-
genommen und dieselben für die Zukunft unabänderlich festgestellt
werden. Ferner schlägt Merkel zur grösseren Sicherung der Bauern-
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 67
mehrere Gesetze vor oder will sie vielmehr wieder erneuert wissen.
Die wichtigsten darunter sind: Kein Gutsherr darf einen Bauern
ohne Zustimmung des Gutsgerichts aus seinem Besitz weisen, er darf
keinen Leibeigenen verkaufen, nicht er, sondern allein das Gutsge-
richt darf Leibesstrafen verhängen, zur Eheschliessung bedarf es
nicht mehr der Einwilligung der Gutsherrschaft. Werden, alle diese
Vorschläge verwircklicht, dann bedarf es nur einer Vorbereitungsfrist
von höchstens 5 Jahren zur völligen Aufhebung der Leibeigenschaft.
Auf diesem Wege werden die Letten schneller reif für die Freiheit
sein als sie durch Schulen, Katechismusunterricht und Gesangbücher
es je werden können. Nach Ablauf der angegebenen Zeit muss der
Erbherr jedem Letten für höchstens vierzig Thaler die Freiheit zu
geben verpflichtet sein. Jeder Hausvater bleibt dabei im ewigen, ver-"
käuflichen, nur durch Frohndienste beschwerten Besitz seines Güt-
chens. „Das sind die leicht ausführbaren Vorschläge meines
Entwurfes,'' sagt Merkel. „Aber wer wird ihre Ausführung über-
nehmen? Der Adel — niemals, die Regierung — wird lange noch
durch andere dringende Geschäfte in Anspruch genommen sein.
Darum ergeht an die Edlern aus allen Völkern der Ruf, ihre Stimme
zu erheben gegen diese Entwürdigung der Menschheit, so laut und
so lange sie zu erheben, bis sie gehört wird." Stolz und drohend
wie der Anfang ist der Schluss des Werkes.
Ein Anhang schildert in einer aus dem Leben gegriffenen,
drastischen Darstellung die Landgeistlichen in Livland. An dem
vorausgeschickten Ideal eines Geistlichen, freilich eines Geistlichen
der Aufklärung, bemisst Merkel die Wirklichkeit. Es fehlt auch hier
nicht an starken Uebertreibungen und dem leidigen Generalisiren.
So wird den Pastoren der Vorwurf gemacht, sie, deren heilige Pflicht
es wäre, sich der Leibeigenen anzunehmen, für sie gegen die Herren
einzutreten, unterschieden sich in nichts von den Grossherren, sie
seien gegen ihre Bauern ebenso hart und streng wie diese. Und doch
waren gerade die ersten Bekämpfer der Leibeigenschaft Pastoren!
Aber im Ganzen spricht Merkel hier ruhiger und. unbefangener und
der vielfache scharfe Tadel gegen das Leben und Treiben der
Geistlichkeit ist nicht unbegründet. So giebt dieser Abschnitt eine
culturhistorische Schilderung von bleibendem Werthe und ist einer
der lehrreichsten des ganzen Buches. Das ist in flüchtigen Umrissen
der Inhalt des berühmten Werkes.
So grossen Eindruck machte dasselbe, dass schon im Jahre 1800
eine zweite verbesserte Auflage erschien, die sich von der ersten nur
5*
68 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
dadurch unterscheidet, dass sie noch mehr mit pseudophilosophischen
Betrachtungen aufgeputzt ist. Was war es denn nun was diesem
Werke eine solche Bedeutung gab, worin besteht seine Kraft ? Auch
wer die Letten nur flüchtig durchblättert, wird bemerken, dass weder
neue Gesichtspunkte noch Tiefe und Grösse der Auffassung sie vor
den frühern Versuchen auszeichnen. Sieht man genauer zu, so wird
man kaum ein Argument, kaum eine Auseinandersetzung darin ent-
decken, die nicht schpn bei den frühem Gegnern der Leibeigenschaft
sich finden. Noch mehr, was man bisher gar nicht bemerkt hat,
der grösste- Theil der Schilderungen vom Leben und Charakter der
Letten, ihrem Elend und ihre Sitten ist fast wörtlich aus Hupel ent-
lehnt. Nur wird alles schwarz ausgemalt und noch mehr zu Un-
gunsten der Herren zugestutzt und die unbefangene und naive Dar-
stellung Hupeis überall tendenziös überarbeitet Dass alle Bauern
Kaflfbrod essen, dass die Leibeigenen oft gegen Hunde, Pferde u. s. w.
ausgetauscht werden, dass schon die kleinen Kinder von ihren Müttern
Brantwein bekommen, alles dieses und vieles Andere, was Merkel
wie -aus eigner Kenntniss geschöpft mit den kräftigsten Farben darstellt,
stammt aus Hupel. Gegen die Richtigkeit mancher dieser Angaben und
gegen ihre allgemeine Giltigkeit hatte schon der ungenannte livländische
Landrath Einwendungen gemächt, die der Verfasser der Letten
natürlich unbeachtet gelassen hat. So ist auch im Thatsächlichen
Merkels Originalität gering. Nur die Erzählungen einzelner Grau-
samkeiten, Barbareien, Misshandljingen sind sein Eigenthum. Aber
wie erklärt sich, denn der Erfolg des Buches? Einzig aus der Art
und Weise, wie die schon früher so vielfach angegriffenen Miss-
stände darin behandelt wurden und durch die Heftigkeit und Rück-
sichtslosigkeit seiner Sprache.' So hatte es noch Niemand bisher
gewagt über livländische Dinge zu reden, so schneidenden Ausdruck
noch Niemand seiner Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhält-
nissen des Landes zu geben sich erlaubt. Und der das that war
kein Fremder, sondern ein Sohn des Landes, von Jugend auf mit
den Zuständen seiner Heimath vertraut. Wenn ein solcher sich
gedruifgen fühlte so zu sprechen, wie furchtbar musste dann die Lage
der leibeigenen Bauern in Livland sein! Solche und ähnliche
Erwägungen waren es, welche Merkels Anklagen und Schilderungen in
Deutschland überall und auch in Livland vielfach unbedingten Glauben
und dauernde Wirkung verschafften. Die Letten schienen einen
Abgrund von Barbarei und Unmenschlichkeit aufzudecken, wie man
ihn in Europa nicht für möglich gehalten hätte. Die Beispiele von
Cfaplieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 69
Verbrechen und brutalen Gewaltthaten der Herren waren mit grosser
Geschicklichkeit so gewählt und gruppirt, dass sie nur aufs Gerade-
wohl aus einer zahllosen Masse herausgegriflfen erschienen und
dadurch um so mehr Schauder und Entsetzen erregen mussten. Man
sah die Leibeignen in dem aller elendesten Zustande, ohne Eigen-
thum, ohne Recht, ohne sittlichen Halt, reine Sachen, durch das
Recht der Hauszucht ganz ihren Peinigern in die Hände gegeben
und musste es fast unbegreiflich finden, wie menschliche Wesen unter
solchem Drucke überhaupt existiren konnten. Und diese Verhältnisse
waren in einer Sprache geschilfert, die alle Stufenleiter sittlicher
Entrüstung, höhnischen Spottes, schmerzlicher Klage durchlief. So
musste in der That beim ersten Anblick diese scharfe, energische,
überall auf Thatsachen sich gründende Darstellung unwiderleglich
erscheinen, wie es ihr Merkel so oft nachrühmt. Und in gewisser
Beziehung ist sie es auch. Aber furchtbar einseitig und bis zur
Unwahrheit absichtsvoll zugespitzt ist dennoch das Ganze. Man
darf nie vergessen, dass hier nicht bloss ein Angreifer der Sache,
sondern auch ein Ankläger der Personen und des Standes spricht,
der mit allen Mitteln sein Ziel zu erreichen kein Bedenken trägt.
Man würde sehr irren, wenn man glaubte, es seien allein die
Leidenschaft und der Zorn des empörten Menschenfreundes, die
Merkel seine Anklagen erheben liessen ; es wirkte dabei nicht
zum geringsten Theile der schroffe Gegensatz des Bürgers gegen
den Adel mit. An vielen Stellen bricht dieser hervor. Fürwahr
es klingt wie der bitterste Spott, wenn sich Merkel in der Ein-
leitung der Unparteilichkeit ' rühmt. Dass er absolut unfähig ist
die Entstehung, Ausbildung und Ausbreitung der Leibeigenschaft als
einen geschichtlichen Process der menschlichen Entwickelung zu be-
greifen, das wollen wir einem Manne der Aufklärung nicht besonders
zum Vorwurf machen; wird es doch noch heute der gewöhnlichen
TagesauflFassung schwer. Aber mit diesem Mangel alles historischen
Sinnes und auch aller geschichtlichen Kenntniss hängt ein Hauptfehler
seines ganzen Buches zusammen. Merkel behandelt die Leibeigen-
schaft in Livland so, als ob das Land in völliger Isolirung von der
ganzen übrigen Welt sich befände, als herrschten hier Zustände, die
ohne Analogie in der Geschichte und in dem gegenwärtigen Europa
seien. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn die Leibeigenschaft der
livländischen Bauern mit der in andern Ländern herrschenden Un-
freiheit der Landbewohner zu vergleichen. Auf diesem Wege allein
hätte sich gezeigt, worin die Bauernverhältnisse Livlands sich von
70 Garlieb. Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
denen anderer Staaten unterschieden. Es lag doch auf der Hand
die sehr ähnlichen Zustände in Pommern, Mecklenburg und Schleswig-
Holstein zur Vergleichung herbeizuziehen. Davon aber findet sich
nirgend eine Spur. Wer nun die sorgfältigen Zusammenstellungen
darüber in Sagenheims Geschichte der Leibeigenschaft sich vergegen-
wärtigt, oder etwa die sehr interessanten Actenstücke zur Geschichte
der Leibeigenschaft in Schleswig-Holstein 1798 liest, der wird finden,
dass es am Ende des philosophischen Jahrhunderts in deutschen
Ländern nicht viel anders aussah als in Livland. Die von dem
Ausschuss der schleswig-holsteinischen Gutsbesitzer 1796 gegebene
Darstellung der Rechte eines Herrn über seine Leibeignen und der
Pflichten dieser hat nur zu viel Verwandtschaft mit den in Livland
herrschenden Bestimmungen. Freilich wurden sie dort immer seltener
geltend gemacht. Noch bis in den Anfang dieses Jahrhunderts waren
in Pommern die Klagen über willkürliches Lagen der Bauern, Ver-
tauschung und Verkauf der Leibeignen, Hinderung der Ehe-
schliessungen häufig genug. Auch Beispiele brutaler Misshandlung
und blutiger Strenge finden sich in den deutschen Ostseeländern nicht
selten. Dadurch können die Missstände in Livland natürlich nicht
gerechtfertigt werden, aber sie erscheinen der unerhörten Singularität
enthoben doch in anderem Lichte als Merkel sie darstellt. Und wie
viel schwieriger war hier alles durch die schroffen Racenunterschiede
und die dadurch mitbedingte eigenthümliche Gestaltung der innem
und äussern Landesverhältnisse! Gelang in Deutschland und in
andern Staaten wo die gesammte Bevölkerung, Herren wie Leib-
eigene, einem Volksstamme angehörten, die Aufhebung der Leib-
eigenschaft nur aUmälig und nach vielen Schwankungen, wie gross
waren erst in Livland, wo eingewurzelte Vorurtheile und nationale
Gegensätze, hochmüthige Geringschätzung und finsteres Misstrauen
sich entgegenstanden, die zu überwindenden Hindernisse. Die grelle
Unnatur der herrschenden Zustände zu erkennen und sie zu ver-
urtheilen, war nicht schwer, aber etwas ganz anderes war es
praktische Vorschläge zu einer wesentlichen Umgestaltung der länd-
lichen Verhältnisse zu machen, ohne doch alles Bestehende gewaltsam
zu zertrümmern. Und hier zeigt sich Merkels ganze Schwäche. Er
hatte weder politische noch nationalöconomische Bildung genug um
die ganze Tragweite und die grosse Schwierigkeit der von ihm ge-
forderten Umwälzung zu übersehen und die Mittel und Wege dazu
klar ins Auge zu fassen. Alle seine Weisheit stammt aus Rousseau
und seine politischen und socialen Grundsätze und Ansichten sind
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 71
die der Redner in der französischen Nationalversammlung und im
Nationalconvent, nur soweit gemildert als es die staatlichen Verhältnisse,
unter denen er lebte, geboten. Er glaubt alles gethan zu haben
wenn er unermüdlich gegen Knechtschaft und Sclaverei declamirt,
die abstrakte Freiheit predigt und die Selbstsucht und Härte des
Adels anklagt. Wenn er aber dazu kommt auszusprechen, was denn
nun geschehen soll, wie dürftig sind da seine Vorschläge I Und doch
glaubt er mit seinen wenigen flüchtigen Bemerkungen alles Nöthige
erschöpft zu haben. Auch darin ist er ein echter Repräsentant der
Aufklärung und ihres flachen Optimismus. Er ist sich nicht einmal
darüber klar geworden, welche Stellung der freigelassene Bauer zu
seinem bisherigen Herrn einnehmen soll: er redet davon, dass der
Bauer sein Land als freies Eigenthum haben müsse und bald darauf
spricht er wieder von der Erbpacht, in der er es behalten soll. So
schwankend und unsicher dachte und schrieb der heftigste Gegner
der Leibeigenschaft. Was Wunder also, dass die Ritterschaften, in
denen die widerstreitendsten Literessen mit einander kämpften, bei
der allmäligen Einführung der Bauernfreiheit manchen Fehlgrifif
gethan haben. Ein anderer schwerer Vorwurf, der Merkel's ganze
Darstellung trifft, ist die schon berührte Verallgemeinerung der ein-
zelnen von ihm vorgeführten Beispiele. Er hatte nur einen sehr
kleinen Theil Livlands aus eigner Anschauung kennen gelernt, gesteht
selbst zu, dass die Behandlung und die Lage der Bauern auf jedem
Gute verschieden sei und behauptet trotzdem, seine Schilderung gelte
nicht nur für ganz Livland, sondern in ganz gleicher Weise auch für
Estland und Kurland, obgleich er diese Provinzen gar nicht kannte.
Von anderer Seite wissen wir ziemlich genau, welche Unterschiede
in der Behandlung der Leibeignen in den verschiedenen Gegenden
Livlands stattfanden. Die härtesten Herren z. B. und die heftigsten
Gegner der Aufhebung der Leibeigenschaft wohnten um Dorpat herum,
die humansten und freisinnigsten in der Gegend von Wenden und
nach Riga hin. Auch die Abgaben und Frohnen waren sehr mannig-
fach abgestuft nach den einzelnen Gütern. Es wäre nun doch darauf
angekommen durch sorgfältige Zusammenstellung und Vergleichung
die durchschnittliche Höhe der Frohnen und Abgaben zu finden und
darum die Lage des Bauernstandes zu prüfen. Das hätte aber nur
nach sorgfältigen Vorarbeiten auf dem Wege methodischer Statistik
geschehen können und von dieser hatte jene Zeit und mit ihr Merkel
kaum eine Ahnung. Dennoch hat er auch vom Standpunkte jener
Tage aus weniger dafür gethan als er bei so heftigen Anklagen zu
/
72 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
thun verpflichtet war. Er begnügt sich stets damit irgend eine Härte
und Grausamkeit eines Herrn zu erzählen und dann empört atis-
zurufen: so behandelt man die Bauern in Livlandl Die Gegner
blieben ihm in derselben Weise die Antwort nicht schuldig. Sie
führten eine grosse Anzahl wohlthätiger,. menschenfreundlicher
Herren und eine Menge Güter auf, deren Bauern wohlhabend und
zufrieden seien und erklärten dann triumphirend: das ist der wirk-
liche Zustand der Bauern in Lirland! Das eine war so einseitig
und unbeweisend als das andere und in solcher Weise konnte der
Streit in's Unendliche fortgeführt werden. Dabei hatte Merkel aber
das voraus, dass er die Sympathien aller Unbetheiligten zweifellos
auf seiner Seite hatte, obgleich die • Vertheidiger der bestehenden
Verhältnisse sich unzweifelhaft durch weit grössere Sachkenntniss
auszeichneten. Aber mit vollem Rechte erscheint uns Modernen die
persönliche Freiheit als das natürlichste und einfachste Menschenrecht
und als die Grundbedingung aller höheren Gesittung und selbst die
gehässigste und ungerechteste Vertretung derselben wird mehr auf
unsere Zustimmung rechnen können, als die gewandtesten und kennt-
nissreichsten Gegner. Nichts zeigt uns die Unnatur der damaligen
Zustände in grellerem Lichte, als die eine Thatsache, dass die Vor-
kämpfer der Bauemfreiheit ihr Ziel nur durch völlige Zertrümmerung
des Bestehenden und die Vernichtung aller geschichtlich begründeten
Ordnungen meinten erreichen zu können und dass andererseits die
meisten Anhänger der alten Verfassung auch die Leibeigenschaft
mit aller Kraft als integrirenden Bestandtheil des alten Landes-
rechts vertheidigen zu müssen glaubten. Wir können uns heute nur
mit Mühe in diese völlige Verkehrung und Verrückung der einfachsten
politischen und sittlichen BegriflFe jener bösen Tage hineindenken,
so weit liegen sie hinter uns. — Merkels „Letten" geben nur ein Zerrbild
der Wirklichkeit, sie sind oft mehr eine perfide und höhnische An-
klageschrift, als eine wahrheitsgetreue Schilderung, alles darin ist
mit gehässiger Absicht zusammengestellt und willkürlich zugestutzt
Dennoch haben sie eine heilsame Wirkung ausgeübt. Die Aufhebung
der Leibeigenschaft war eine sittliche und politische Nothwendigkeit
für das Land. So lange die Knechtschaft bestand war jede ernste
innere Reform eine Unmöglichkeit. Dieser auf dem Lande liegende
Bann musste durchbrochen werden — um jeden Preis. Ob die Ge-
schichten, welche Merkel erzählt, wahr waren oder nicht, darauf
kommt es nicht an; die Thatsache der beinahe völligen Rechtlosig-
keit der Bauern stand fest und diese musste principiell beseitigt
Gwlieb Merkel ab Bekärnj^fei^ der Leibeigenschaft. 73
werden. Das klar gemacht zu haben, darauf ener^ch und rück<-
sichtsloB hingewiesen zu haben, ist Merkels eigentliches, freilich mehr
indirectes Verdienst. Man möchte wünschen, dass ein edlerer Geist
mit tieferem Verständniss der Landesgeschichte und lauterer Ueber-
zeugung die Vertretung der gerechten Sache übernommen hätte, wir
würden uns seines Werkes dann \ingestörter und ohne gemischte
Gefühle freuen können. Aber es ist ja eine alte Erfahrung, dass
die berechtigsten Forderungen, so lange sie mit Ruhe und Mässigung
geltend gemacht werden, meistens unbeachtet bleiben oder gaf Ab*
Weisung erfahren, bis sie zuletzt Vertreter finden, die mit l^enschaft*
lichem Ungestüm und schroffer Uebertreibung sich Gehör erzwingen.
So ging es in Livland mit der Frage der Leibeigenschaft und darin
findet Merkel seine Erklärung und theilweise Entschuldigung, wenn
auch keine Rechtfertigung. Denn man sage nicht, in solchen leiden-
schaftlich erregten Tagen sei es unmöglich für den Einzelnen, gerecht
und sorgfältig alle Momente abzuwägen, die Schärfe des Gegensatzes
mache stets eine gewisse einseitige Uebertreibung nothwendig und
ohne starke Einseitigkeit werde nie etwas Bedeutendes erreicht.
Wohl! aber zwischen der leidenschaftlichen Einseitigkeit eines von
seinen Ideen fortgerissenen Geistes und der blinden Beschränktheit des
Parteieifers, der kein Mittel verschmäht, sein Ziel zu erreichen, ist
doch ein gewaltiger Unterschied. Es liegt nahe, Merkel und seinen
Kampf gegen die Leibeigenschaft mit einem anderen sehr bekannten
Manne, der in derselben Richtung gewirkt, zu vergleichen. Unser
E. M. Arndt hat wenige Jahre nach Merkel in eiüer seiner frühesten
Schriften die Leibeigenschaft in Pommern und Rügen energisch an-
gegriffen. Wir sehen aus seiner Darstellung, wie die Bauern sich
dorj; ziemlich unter demselben Druck befanden wie bei uns und dass
die Herren für das Fortbestehen der Leibeigenschaft genau dieselben
Gründe geltend machten, wie bei uns. Mit den schärfsten und
klarsten Gründen widerlegt Arndt alle Schutzreden, mit kräftigem
Zorne schildert er die Gewaltthaten der Herren, die hohen Frohnen
und die Rechtlosigkeit der Bauern, das abscheulige Bauernlegen,
mit leidenschaftlicher Erreguüg fordert er die Freiheit für die Land-
leute. Aber in wie ganz anderer Weise geschieht das als bei Merkel !
Auf dem Boden der Geschichte, mit historischem Blick wird die
Frage behandelt, kein unlauteres Motiv, keine kleinliche Standeseifer«
sucht mischt sich da ein. Und wie viel besser kannte Arndt alle
einschlagenden Verhältnisse, er der Sohn eines früher leibeigenen
Pächters. Die wahre Sachkenntniss machte hier wie immer gerechter
L ^
74 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
und billiger. Ausserdem war Arndt eine durchaus geschichtlich und
politisch angelegte Natur, Merkel ein Tagesschriftsteller, der den
Stimmungen und Richtungen des Augenblicks huldigt. Darum hat
Arndts Buch nicht nur zu seiner Zeit gewirkt, was es sollte, sondern
ist noch heute ein schönes Denkmal eines freiheitsliebenden, mann-
haften Herzens, Merkels Letten dagegen machen heute, nachdem sie
auf seine Zeitgenossen gewirkt, einen abstossenden , durchaus uner-
freulichen Eindruck. Denn es war die Sache, welche damals auf
die Menschen wirkte, nicht ihr Vertreter, vielmehr die Sache trotz
ihres Vertreters. Auch diejenigen, welche mit einzelnen oder den
meisten Ausführungen des Buches nicht übereinstimmten, fanden doch
in ihm eine Stütze für ihre Reformpläne und konnten darauf als auf
eine ernste Drohung der Zukunft hinweisen. Daraus erklärt es sich
auch, dass ein Mann wie Samson in dem Vorwort zu seinem Versuch
Merkel so glänzendes Lob ertheilen konnte. Es war das Gefühl der
Dankbarkeit gegen einen ehemaligen sehr wirksamen Alliirten. Die
spätere unbefangene Betrachtung kann ungleich weniger günstig über
Merkels Letten urtheilen und in ihnen nur den lebendigen Ausdruck
einer, vergangenen Zeitrichtung mit aller ihrer Einseitigkeit und aller
ihren Vorurtheilen erblicken. Es ist mit den Letten, wie mit
Merkel's ganzer Wirksamkeit: nachdem er zeitweilig bald grösseren
bald geringeren Einfluss geübt, ist er vorübergegangen und vergessen.
Nicht einen neuen Gedanken, nicht eine Idee hat er in seinem ganzen
Leben aufgestellt, immer ist er nur von den Wogen der Zeitströmung
getragen worden. Darum kennt ihn die Nachwelt nicht mehr. Doch
das weiter auszufahren, bleibt einer anderen Gelegenheit überlassen.
Für Livland waren „die Letten" damals nach der ganzen Art
ihres Hervortretens und durch die darin enthaltenen Drohungen . ein
nicht zu überhörender letzter Warnungsruf. GriflF auch jetzt noch die
Ritterschaft nicht mit allem Ernste die Erledigung dieser wichtigsten
Angelegenheit des Landes an, so war es so gut, als ob sie als
politische Corporation abdicirte und die Ordnung der Landesverhält-
nisse fremden Gewalten überliess. Dass sie sich noch im letzten
Augenblicke auf sich selbst besann und auf den Landtagen von 1797
bis 1803 die Umbildung der Leibeigenschaft zu Stande brachte,
welche in der Bauerverordnung von 1804 ihren Ausdruck fand, —
das zeigte, dass sie trotz alles innern Haders und Zwiespalts noch
Lebenskraft und politische Einsicht genug hatte, um die Vertretung
der Landesinteressen auch weiter noch wahrzunehmen. Ob auf das Zu-
standekommen dieser Beschlüsse äussere Einflüsse eingewirkt und wie
Oarlieb Merkel als Bek&mpfer der Leibeigenschaft. 75
weit sie es gethan, ist ziemlich gleichgiltig. Bei Reformen, welche
von politischen Corporationen ausgehen und ihre wesentlichsten Inter*
essen berühren, werden immer complicirte Motive bestimmend sein.
Wesentlich ist nur, ob sie selbst zu handeln sich entschliesst, ehe
förmlicher Zwang von Aussen sie nöthigt. Und die livländische
Ritterschaft hat, wenn auch nach längeren Kämpfen, gehandelt, ehe
es zu spät war. Die nothwendige Reform wurde, wenn auch in
langsamem; so doch sicherem Fortschreiten durchgeführt. Damit
waren freilich Leute, welche alles plötzlich und mit einem Schlage
umgewandelt sehen wollten, nicht zufrieden. So vor Allem Merkel.
So wenig politische Einsicht er besass, so gross war sein Talent als
Agitator. Es ist wirklich bewundernswürdig, wie er in immer neuen
Wendungen, in immer neuen Schriften bei jeder sich ihm darbieten-
den Gelegenheit auf das in dem Letten behandelte Thema zurück-
kommt und es stets von Neuem dem Leser vorführt. Der Ton wird
dabei noch schärfer, die Leidenschaft und Uebertreibung noch mass-
loser. In demselben Jahre noch wie die Letten erschien von ihm Humes
und Rousseaus Abhandlungen über den Urvertrag nebst einem Versuch
über Leibeigenschaft, den Liefländischen Erbherren gewidmet. Der
Versuch lüber die Leibeigenschaft ist eine philosophisch-historische
Abhandlung voll der sonderbarsten Theorien und Einfälle, ohne
Sachkenntniss, flach und breit. Merkel will darin beweisen, dass
die Sclaverei viel erträglicher sei als die Jjeibeigenschaft und stützt
sich dabei auf die Geschichte der Griechen und Römer (!), versucht
den Lehnsadel aus dem Orient abzuleiten, und bringt dann mit
anderen Worten dieselben Gründe gegen die Leibeigenschaft vor, die er
schon in dem Letten entwickelt. Das Ganze endigt auch hier mit
einer Anrufung der Regierung einzuschreiten und einer Drohung
von Empörung und Mord an die Herren.
Im folgenden Jahre, 1798, liess er das Supplement zu den Letten,
drucken, worin er sich gegen eine Anfrage des Herrn von Brasch
seine Letten betreffend und gegen den Landtagsschluss von 1797
wendet. Der letztere, die ersten wesentlichen Erleichterungen der
Leibeigenschaft enthaltend, war ganz unter dem Einflüsse Friedrich
von Sivers zu Stande gekommen und dadurch allein schon hinreichend
als Portschritt charakterisirt. Merkel aber versucht mit wahrhaft
sophistischer Verdrehung an jedem einzelnen Paragraphen zu
zeigen, dass darin nicht eine Verbesserung, sondern eine Ver-
schlechterung der Lage der Bauern enthalten sei. Noch wider-
wärtiger ist die rachgierige Erbitterung, mit der er sich gegen Brasch
L _
78 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenseliafl.
wendet und aelbat ror eigentlichen Verleumdungen nicht zurück-
sdireekt. So wirft er ihm vor^ die Bauern auf seinem eigenen Gute
seien von ihm ausgeplünderte Bettler und ein Gegenstand des Mit-
leidens fär die Nachbarn, wahrend es doch bekannt war und sich
leicht feststellen liess, dass Brasch gegen seine Bauern stets wie ein
Vater handelte» So erzählt er, nach dem Berichte eines von allen
seinen Standesgenossen verachteten, Merkel selbst als scheusslicher
Misshandler seiner Bauern bekannten Edelmanns von Sivers, den er
d<!>ch hochzuachten ui»d wahrhaft zu schätzen erklärt, eine Geschichte,
nach der dieser als ein wahrer Tyrann gegen seine Leibeigenen
erscheint, und sucht sich gegen alle Beweise, dass sie ungegründet
sei, durch Schmähungen zu vertheidigen.
Auch die „Rückkehr ins Vaterland^, ein Halbroman, 1798, hat
die Tendenz, die Abscheulichkeit der Leibeigenschaft und die heuch-
lerische Menschenliebe der livländischen Herren zu brandmarken.
Das Büchlein enthält ausserdem viel kulturgeschichtlichen Stoff über
das damalige Biga und seine gesellschaftlichen Verhältnisse, der
nicht ohne Interesse ist und nur zum kleinsten Theile in den
Charakteristiken und Kritiken Verwendung gefunden hat.
Ein Werk grösseren Umfanges und höherer Bedeutung war:
Die Vorzeit Lieflands, ein Denkmahl des Pfaffen- und Rittergeistes,
1798 ; nächst den Letten das Bedeutendste, was Merkel geschrieben.
Seiner ganzen Tendenz pach gehört es hierher. Nicht eine Ge-
schichte Livlands soll und will das Buch sein, sondern eine historische
Darlegung, wie aus dem freien und von der Natur mit allen Gaben
des Leibes und Geistes ausgestatteten Letten durch das Eindringen
der deutschen „Räuber^ im Laufe der Jahrhunderte das gedrückte
und stumpfsinnige Volk geworden, das sie jetzt seien. Also eine
Ausführung des ersten Abschnitts „der Letten" will Merkel geben.
Ohne ii^end welches Quellenstudium, ohne die geringste Ahnung
historischer Kritik, ohne wirkliche Sprachkenntniss hat sich Merkel
in diesem Werke mit beispielloser Leichtfertigkeit an die Lösung
einer Aufgabe gemacht, die auch der gründlichsten und besonnensten
Forschung die grössten, oft unüberwindliche Schwierigkeiten bietet.
Ohne alle ernste und gründliche Vorbereitung ging er an die
Arbeit, deren Resultat ihm schon vorher feststand. Die Geschichte
der Knechtung der ursprünglich freien und edlen Letten und Esten
und ihrer Herabwürdigung bis zur Thierheit — das ist die Ge-
schichte des livländischen Ordensstaates. Mit Erstaunen und mit
Unwillen hat er wahrgenommen, dass alle bisherigen Geschichten
Oarlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 77
nur die Tllate^ der grausamen Unterdrtioker behandeln, selbst „der
sonst so brauchbare Jannau.^ Da treibt ihn der Unwille, die eigent-
liche Geschichte „der wahren Liefländer" zu schreiben und darin zu
zeigen, wie kein Recht und kein Vertrag den livländischen Herren
ihre Stellung gegeben, „nicht dnmal die Gunst eines Fürsten, son-
dern allein die nackte Gewalt." Er will den livländischen Ord^nß-
staat „als ein gleichgiltiges aber merkwürdiges Phänomen behandeln,
das nicht wiederkehrt". Und so macht sich der halbgebildete junge
Aufklärer frischweg daran, diese so schwer verständliche und eigen-
thümliche Staatsbildung in ihrem Entstehen, Wachsen und Untergß-i^
dem Leser vorzuführen. Ihn beschwert weder Quellenstudium noch
Kenntniss der politischen Institutionen seiner Heimath, weder natio-
nales Bewusstsein noch geschichtliches Yerständniss, dafür durchdringt
ihn eine sehr fortgeschrittene liberale Gesinnung und überall bricht
der entschiedene Hass gegen alle Grundlagen des deuteohen Lebens
in Livland hervor. Den grössten Theil dßs ersten Bandes nimmt
eine Beschreibung der lettischen und estnischen Vorzeit, ihrer Religion
und Gebräuche ein. Enthielt schon die Schilderung im erstem Ab-
schnitte der Letten des Abenteuerlichen und Sonderbaren genug, so
erscheint sie doch wie eine nüchterne kptische Abhandlung gegen
das wüste Chaos von Phantasien, leeren Combinationen und albernen
Fabeln, das sich hier vor uns aufthut. Alle jene ungeheuerlichen
und weit ausgesponnenen Erfindungen der preussischen Schriftsteller
des 16. Jahrhunderts, aus denen sie ein ganzes System des Götter-
glaubens der alten Preussen und Littauer bildeten, werden von
Merkel mit Hinzufügung der seltsamsten Missverständnisse wieder
aufgetischt, einfach auf die Letten übertragen und mit einigen luftigen
Hypothesen ausgeschmückt. Und diese ganz unkritische, und ver-
worrene, durch und durch unzuverlässige und unbrauchbare Zu-
sammenstellung ist Jahrzehnte hindurch, ja vielfach noch bis auf den
heutigen Tag die Quelle gewesen, aus der die Kenntniss der lettischen
Mythologie geschöpft und in weitern Kreisen verbreitet worden ist.
Aus den dreisten Erfindungen des Erasmus Stella und den um nichts
mehr glaubwürdigen Angaben Stryjkowki's oder vielmehr seines
Uebersetzers Kojalowicz hat z. B. Merkel die bekannte Erzählung
von Widewut, dem ^Moses der Letten", seinen Thaten und Schicksalen
geschöpft und sie in einer Weise ausgeschmückt, dass ein Unkundiger
meinen sollte, alles sei den zuverlässigsten Quellen entnommen. Und
doch, ist in der ganzen Geschichte von Widewut, „dem alanischen
Greise", nicht ein wahres Wort! Was soll man aber dazu sagen,
78 öarlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigen3chaft.
wenn solche Märchen auch heute noch den Letten selbst als wahre
Begebenheiten erzählt werden, heute, wo es doch nicht so schwer
ist, sich in diesen Dingen Raths zu erholen. Um so mehr freuen
wir uns zu hören, dass zwei ausgezeichnete Kenner dieser Ur-
geschichten nächstens die völlige Unzuverlässigkeit der bisherigen
darüber handelnden Darstellungen eingehend nachweisen und damit
hojBfentüch dem ganzen Schwindel, der bisher mit der lettischen
Mythologie getrieben worden, für immer ein Ende machen werden.
Wie wenig befähigt Merkel zur Erfassung der Religionsgeschichte
vergangenem Zeiten war, davon gibt, ganz abgesehen von dem Stand-
punkte flachster Aufklärung, den er mit den meisten seiner Zeitge-
nossen theilt, namentlich die Betrachtung über Monotheismus und
Polytheismus redendes Zeugniss. Indem er den Satz an die Spitze
stellt : ^Die Menschen erschaffen ihren Gott und dieser erschafft ihnen
dann einen Charakter'', kommt er zu dem Resultat, dass der Mono-
theist „nach langem Grübeln und Tappen nur eine gleichgültige
Wahrscheinlichkeit verbreitet, die nie sein Herz auch nur für einen
Augenblick mehr erwärmen kann", während* dem Polytheisten sein
Glaube Muth, Selbstvertrauen, . Energie und Festigkeit gibt. „Ja,"
sagt Merkel, „der Polytheist kann rauher, grausamer, gefühlloser
seyn als der Eingöttler, aber er wird auch treuer, edler, stärker,
muthiger, tugendhafter seyn als dieser!" Bei solchen Anschauungen
über Wesen und Inhalt der Religion muss denn freilich die Christiani-
sirung Livlands als ein Verbrechen und ein trauriger Rückschritt gegen
den Polytheismus der Letten erscheinen. Auch die Reformation
findet wenig Gnade vor Merkels Augen, es war nicht ein Kampf
des Lichtes, sondern nur die Dämmerung gegen mitternächtliche
Finsterniss. „Jetzt, im 18. Jahrhundert, würde Luthers .Streit eine
Erörterung scheinen, ob das Gras roth oder weiss sey, aber im
18. Jahrhundert wäre Luther auch nicht Luther, er wäre Teutsch-
lands Rousseau gewesen." Man kann sich darum vorstellen, was
für ein abscheuliches Zerrbild von dem grossen Gründer des liv-
ländischen Staates, dem Bischof Albert entworfen wird. Dieser
gefühllose Tyrann und ehrgeizige Räuber soll nicht einmal an die
Phantome geglaubt haben, für die er doch eiferte. Hier wie fast
Überali im Buche fühlt man sich empört von der Gewissenlosigkeit
und Keckheit, mit denen den Menschen vergangener Tage Zwecke
und Motive angedichtet werden, auf Grund deren sie dann verur-
theilt werden. Dagegen wird man im ganzen Buche auch nicht den
leisesten Versuch finden, die innere . Verfassung des Ordensstaates
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 79
darzustellen. Die „einförmige'' Ordensgeschichte wird möglichst
dürftig abgefertigt, und die beständigen Schmähungen wechseln ab
mit Erzählungen aus der Geschichte des Ordens in Preussen, der
Littauer und Russen. Verfasser und Leser sind froh, als es endlich
mit dem Orden zu Ende geht nnd Iwan der Schreckliche der liv-
ländischen Selbstständigkeit den Untergang bereitet. Würdig des
ganzen Buches ist der Schluss: „Unstreitig erwarb sich Iwan ein
grosses Verdienst um die Menschheit durch die Zerstörung eines
Staate&j der hoffentlich immer der einzige seiner Art bleiben wird:
denn gewisser gar zu wahnsinniger Verirrungen sind die Menschen,
wie die Blattern nur Einmal fähig. Diejenige, deren Geschichte
wir durchgegangen sind, liess ein scheussliches Denkmal zurück:
die liefländische Grossherrlichkeit.''
Entsprechend dem Inhalt ist auch Form und Stil der Darstel-
lung. Ein hohles Pathos und ermüdende declamatorische Sprache
machen die Leetüre unerträglich. Wir würden nicht so lange bei
diesem traur^en Machwerke verweilt haben, wenn es nicht leider
grossen Einfluss auf die Beurtheilung und Auffassung unserer älteren
Geschichte geübt hätte und mittelbar noch jetzt übte. Die weit ver-
breitete Ansicht: es fehle der Geschichte Livlands der interessante
und anziehende Inhalt, sie sei einförmig und öde, geht ganz auf
Merkel zurück. In Wahrheit kann es unsere ältere Geschichte mit
jeder Provinzialgeschichte an Interesse aufnehmen, ja den meisten
ist sie darin überlegen. Man hat es diesem Buche wohl als Ver-
dienst angerechnet, dass darin die Vorzeit Livlands zuerst in popu-
lärer allgemein verständlicher Form lesbar dargestellt worden, wäh-
rend die früheren Geschichtswerke nur für gelehrte Forscher in
schwerfälliger Darstellung geschrieben worden. Aber das angebliche
Verdienst fällt in sich zusammen, wenn man sich erinnisrt, dass
schon einige Jahre früher Friebe sein Handbuch der Geschichte Lief-,
Est- und Kurlands herausgegeben hatte. Er nimmt darin einen
nicht weniger aufgeklärten Standpunkt ein als Merkel und schreibt
sehr gewandt und anziehend, nur ist er tausendmal gründlicher
als dieser.
Auch mit diesem seinem Buche glaubte Merkel noch nicht genug
gethan zu haben. Als er schon seinen Streifzug gegen die Romantik
und die systematische Verunglimpfung Göthe's begonnen, mitten aus
seinen Streitigkeiten mit den Schlegel heraus machte er noch einen
Angriff auf die Leibeigenschaft in poetischer Form. Das ist sein
Wannem Ymanta, eine lettische Sage, 1802." Wie wir aus einem
r>
i
80 Oarlieb Merkel ab Bekämpfer der Leibeigenschaft.
kürzlich bekannt gewordenen Briefe erfahren, war ihm der Oedanke
zu diesem Büchlein noch vor der Abfassung ^der Letten^ aufgetaucht.
In poetischer Prosa wird darin das Eindringen der christlichen Ritter
und Priester mit den bekannten Farben geschildert und das Ganze
gipfelt in dem Gegensatze zwischen dem seinem Volke und Glauben
treuen Lettenführer Ymanta und dem aus Eitelkeit und Ehrgeiz zum
Christenthum übergetretenen Kaupo. Li einem Kampfe zwischen beiden
der über die Zukunft des Landes entscheiden soll, fällt Kaupo, aber
Ymanta stirbt ebenfalls an der Wunde, die ihm Kaupos vergiftetes
Schwert geschlagen. Sagte es uns auch Merkel in Vor- und Nachwort
ijicht ausdrücklich, aus der Anlage des ganzen Gedichts würden wir
sofoüt erkennen, dass es ein Tendenzpi*odukt gegen die Leibeigenschaft
ist.. Daher nimmt einen grossen Raum darin die Vision Ymantas über
die zukünftigen Schicksale seines Volkes ein, worin nun alles Gräss-
liche und Schreckliche gehäuft ist bis Alexander sich ihm als Befreier
zeigt. Ein« dichterisch nicht eben sehr geistreiche Wendung. Doch
das Ziel ist Abscheu gegen die deutschen. Ritter und ihre Nach-
kommen zu erregen und diesen Zweck erreicht das Produkt, bei dem
4iatürlich von einem eigentlich poetischen Werth keine Rede sein kann.
Mit dem Wannem Ymanta ist Merkels Thätigkeit gegen die
Leibeigenschaft zu Ende; alles was er später noch in dieser Richtung
veröffentlicht, sind nur Nachklänge. Und mit dem Jahre 1804 trat
ja auch jene wohlthätige durchgreifende Umgestaltung der Bauern-
verhältnisse ein, auf die alle Patrioten solange gehofft. .Damit war
den heftigsten Anklagen der Grund entzogen und Merkel lebte
damals auch schon läiigere Zeit fern von Livlond in erbittertem
literarischem und bald auch politischem Kampfe, der ihm keine Zeit
Uess weiter auf die Leibeigenschaft in Livland zurückzukommen.
Es wird aber wohl manchem Leser dieses Aufsatzes wie vielen
damalgen Zeitgenossen in Deutschland sich die Frage aufgedrängt
haben : warum antworteten die Livländer. nicht auf Merkels Angriffiß,
wenn sich doch das Unb^ründete und Verkehi'te der meisten leicht
zeigen Uess? Die Antwort ist einfach: weil sie nicht durften. Der
Herr von Brasch, der im Intelligenzblatt der AUg. Literaturzeitung
von 1798 eine polemische Anfrage an Merkel gerichtet, auf welche
dieser mit seinem Supplement geantwortet, hatte den Plan gefasst,
eine eingehende Widerlegung Merkels zu schreiben und wurde von
allen Seiten, auch von Sivers, mit Materialien unterstützt, da zwang
ihn die Nothwendigkeit von seinem Vorhaben abzustehen und zu
schweigen. Keine Stimme aus dem Adel durfte sich vernehmen
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 81
lassen, der Gegner mochte sagfen, was er wollte. Das Nähere darüber
findet man in Tiebes Ehrenrettung Lief- und Ehstlands. Die
Sensation die Merkels Schriften erregten, wurde durch den Schein
der Unwiderleglichkeit noch verstärkt und das unfreiwillige Schweigen
. der Livländer gab ihm die Möglichkeit sich immer von Neuem als
; den unüberwindlichen Vertheidiger der Letten triumphirend hinzu-
stellen. So erfolgreich und bedeutend erschien seine Thätigkeit, dass
sein Ruhm eifrige Nachahmer erweckte. Ein ehemaliger Hauslehrer
I in Estland, Herr Petri, unternahm es ganz im Stile Merkels Vor-
kämpfer der Esten zu werden und folgt seinem Vorbilde so getreu,
dass er ganze Seiten aus Merkel abschreibt und nur die Esten an
Stelle der Letten setzt. Auch vor persönlichen Verläumdungen gegen
bekannte Personen schreckte er nicht zurück, wodurch er sich schwere
Verfolgungen zuzog. Doch enthält sein dreibändiges Werk „Ehstland
und die Ehsten" auch vieles Beachtenswerthe und jetzt nochLateressante.
Als es den Livländern wieder möglich war zu schreiben und zu
sprechen, haben sie es an Entgegnungen nicht fehlen lassen. Nament-
lich Tiebes Ehrenrettung und der Nachtrag dazu sind sehr gut
geschrieben und an Kenntniss der Verhältnisse Merkel weit über-
legen, wenn auch nach der andern Seite hin etwas einseitig, lieber
die wirkliche Lage der Bauern vor 1804 erfährt man daraus jeden-
falls Genaueres und Richtigeres als aus allen Schriften Merkels
zusammengenommen. Niemand hat diesem soviel Blossen und Un-
richtigkeiten nachgewiesen als Tiebe. Ihm hat Merkel auch nicht
geantwortet.
Das Jahr 1819 brachte endlich die völlige Aufhebung der Leib-
eigenschaft, freilich mit bedauernswerther Entfernung von den
richtigen Grundsätzen von 1804. Jedoch daran dachte damals
Niemand, am wenigsten Merkel, der die Erreichung dieses Zieles
nicht zum wenigsten seiner einflussreichen literarischen Thätigkeit
zuschrieb. So fühlte er sich denn auch gedrungen die Freilassung
der Bauern auf seine Art zu feiern und noch einmal, zum letzten Mal,
auf den so oft von ihm behandelten Gegenstand zurückzukommen.
„Die freien Letten und Ehsten, Riga 1820*^ unterscheiden sich nun
freilich sehr von seinen frühern Schriften. Er schrieb sie in Riga
mit Benutzung mancher handschriftlichen Aktenstücke aus städtischen
und andern Archiven und sah sich schon dadurch zu grösserer
Mässigung bewogen. Das Ganze ist eine Geschichte der Leibeigen-
schaft in den Ostseeprovinzen von den ältesten Zeiten bis zur Auf-
hebung derselben, bis zum Jahre 1797 Erzählung und beurtheilendes
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Heft 1. 6
L.^,^
82 Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft.
Raisonnement , von da an fast nur 'Zusammenstellung von Acten-
stücken. Der Ton. der Schrift, ihre Darstellung ist ruhiger und
gehaltener, dafür auch trockener und einförmiger, dagegen die Auf-
fassung und der Standpunkt in nichts gegen früher verändert. Die
Begründung der deutsehen Herrschaft in Livland wird mit demselben
Mangel an allem geschichtlichen Verständniss erzählt wie in den
frühern Schriften, die Ausbildung der Leibeigenschaft auch hier nur
in der Grausamkeit und Habsucht der fremden Räuber gesucht. Die
Stellung zum Adel ist hier keine freundlichere, das Widerstreben der
Ritterschaften gegen die Massregeln der polnischen und schwedischen
Könige mit der alten feindseligen Abneigung geschildert, ihre Ver-
dienste um die endliche Aufhebung der Leibeigenschaft möglichst
beschränkt und gegen die Thätigkeit der Regierung in dieser Sache
zurückgesetzt. Das ganze Buch ist eben doch nur eine einseitige
Parteischrift, die wohl in mittelbarem Auftrage des Marquis Paulucci
verfasst ist. Und doch erschien das Buch dem liberalen Bürgerthum
jener Tage wegen seiner ruhigem Sprache, die doch nur eine leicht
zu durchschauende Hülle ist, wie ein Abfall Merkels von seinem
frühern Standpunkt und fand wenig Beifall. So feindlich standen
sich damals noch immer die Stände des Landes gegenüber. Aber
auch von Seiten des Adels unternahm es Jemand noch einmal Ab-
rechnung zu halten mit dem zudringlichen und übereifrigen Publicisten.
Der Landrichter H. A. v. Bock griff in seinem „Denkzettel zu der
Erinnerungsschrift des Dr. G. Merkel", 1821, die Schwächen des
Buches und Merkels überhaupt, seine immer stärker hervortretende
masslose Eitelkeit mit vielem Witze und grosser Schärfe an und
yertheidigte den Adel nicht ohne gute Gründe gegen die beständig
wider ihn erhobenen Anklagen. Auf die Frage, wie sich die Bauer-
verordnung von 18 j 9 zu der von 1804 verhält, ob denn wirklich
jene in allen Stücken einen Portschritt über diese bezeichnet, ist weder
Merkel noch sein Gegner auch nur mit einem Worte eingegangen.
Wir stehen am Schlüsse unserer Betrachtung. Fünfzig Jahre
liegen zwischen uns und der letzten Schrift Merkels. Die Lebens-
interessen unseres Landes haben tiefe Umwandlungen erfahren
und ein Resultat steht fest: ein Schriftsteller wie Merkel wäre heute
nicht möglich. Auch die ähnliche Gesinnungen und Anschauungen
hegen, scheuen sich so zu reden wie er. So wie er reden heute nur
unsere Gegner. Und wir schöpfen Trost und ernste Mahnung zu-
gleich aus der Vergegenwärtigung jener Zeit und ihres . Repräsen-
tanten. So weit konnten wir abfallen, so untreu werden unserem
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft. 88
Berufe und unserer Pflicht, so völlig verschwinden konnte jede Er-
innerung an das, was einst gewesen — und wir sind nicht unter-
gegangen. Aber es bürgt uns nichts dafür, dass wenn es wieder
einmal so weit käme, wenn wieder tiefer Schlaf und sorglose
Fahrlässigkeit sich über uns ausbreitete, dass dann noch, einmal ein
gnädiges Geschick uns erweckt. Wir fangen heute an von unserer
Geschichte zu lernen, wir beginnen die grossartige Arbeit der Ver-
gangenheit zu begreifen, auch manches auf den ersten Anblick
Fremdartige und Wunderliche wird uns verständlich. Eins aber kann
jeder aus den seltsam verschlungenen Schicksalen unseres Landes
lernen: niemals hat seinen Bewohnern ein bequemer ruhiger Friede
gefrommt, in harter Noth und schwerem Kampf ist alles gegründet,
worauf unser Leben steht. In dem schweren Ringen um die Existenz
erstarkt die politische Kraft und Einsicht, mi^ der Grösse des Ein-
satzes wächst auch die Stärke.
H. Diederichs.
6^
Zur livländischen Landtagsgeschichte.
3. Die Bauerrerordnung ron I8A4 und die Terfassungsfrage.
(Vgl. Balt. Monatsschr. Bd. XVm, Heft 4 u. 6.)
Die acht Jahre, welche zwischen der am 28. November 1796 er-
folgten Wiederherstellung der alten Verfassung Livlands und der
Promulgation der Bauerverordnung von 1804 liegen, bilden einen der
anziehendsten und interessantesten Abschnitte unserer neuen Landes-
geschichte. Sie sind ebenso denkwürdig durch den Sieg, welchen
die Sache der Humanität über mittelalterliche Vorurtheile und bar-
barische Gewohnheiten erfochten, wie durch die Kämpfe, in welchen
Anhänger des aufgeklärten Despotismus und Vertreter des historischen
Rechts noch ein Mal ihre Kräfte massen. Ungleich der Partei-
gruppirung in andern Ländern waren es bei uns die Letzteren, welche
sich als Vorkämpfer der liberalen Zeitideen gerirten, während die
Männer der Statthalterschaftsverfassung darauf ausgingen, mit Hülfe
dieser Ordnung die Thätigkeit der liberalen Führer lahm zu legen.
Die Gegensätze, welche das livländische öffentliche Leben ein
Menschenalter lang bewegt hatten, traten sich in dem kurzen Zeit-
raum dieser acht Jahre schroffer entgegen als jemals früher und die
geheimen Gedanken derer, welche sich den Forderungen der Ver-
nunft und des Gewissens widersetzt hatten, enthüllten sich, kurz
bevor sie zu Grabe getragen wurden, mit einer Offenheit, welche
alle Zweifel an ihrer wahren Bedeutung ausschloss.
Bevor wir auf die Landtagsverhandlungen näher eingehen, welche
den Schauplatz dieses Kampfes bildeten, wird es nothw endig sein,
auf die allgemeine Signatur der Zeit und auf die Männer, welche
während, derselben an der Spitze unserer öffentlichen Angelegenheiten
standen einen flüchtigen Blick zu werfen.
Der Zeitraum, von welchem hier die Rede ist, zerfällt in zwei
scharf geschiedene Hälften, deren Grenze durch den 21. März 1801,
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 8ö
den Todestag des Kaisers Pfiiul, bezeichnet wird. Während der fünf-
jährigen Regierung dieses Monarchen fand, wie in den meisten Pro-
vinzen Russlands, auch bei uns wiederholter Personenwechsel in der
Oberverwaltung statt. Bis zum Jahr 1798 blieb Fürst Repnin, der
Nachfolger Browne's, General -Gouverneur der drei Provinzen; ihm
folgte im Amte (1798—1800) der Generallieutenant v. Benkendprff
mit dem Titel eines Militär- Gouverneurs, während die Civil-
Verwaltung von dem -wirklichen Geheimerath Ludwig v. Nagel
geleitet wurde. Baron Campenhausen hatte dieses Amt eine kurze
Zeit geführt. Der Nachfolger dieses Beamten, Graf Mengden, war
nach kaum viermonatlicher Amtsführung gestorben. Aber schon im
Jahre 1800 trat ein neuer Wechsel ein : Benkendorff verlor sein Amt,
Nagel starb, der neue Gouverneur Rehbinder konnte sich nicht be-
haupten und des Kaisers Günstling Baron (später Graf) Peter v. d.
Fahlen, Militär-Gouverneur von Petersburg und Alt-Finnland, wurde
mit der Oberverwaltung der Ostseeprovinzen betraut nachdem er
vorher einige Jahre lang General - Gouverneur von Kurland ge-
wesen war. Wie wir aus der Bulmerincqschen Chronik wissen,
hat dieser einflussreiche Staatsmann niemals in Riga residirt,
sondern die wichtigeren Geschäfte seines Amtsbezirks von Peters-
burg aus besorgt, die laufenden Sachen durch den Gouverneur
V. Richter und die localen Beamten erledigen lassen. Das Land-
marschalls-Amt wurde während dieses Zeitraums von Friedrich
V. Sivers (der aber schon 1797 nach einem heftigen Conflict mit
Repnin abdicirte) dem Baron Ungern-Sternberg (1798 — 1800),
Gustav Johann v. Buddenbrock (bis 1803), dann von einem
Herrn v. S am son verwaltet. Während des Interimisticums, das
zwischen Sivers* Rücktritt und Ungern -Sternberg's Wahl lag und
fast ein Jahr lang dauerte, vicarirten der Reihe nach Landrath v. Berg,
ein Sivers, Samson und Richter. General -Superintendent war seit
dem Tode des alten Christian David Lenz (+ 1798) der Dr. Johann
Dankwarth, der sich im Jahre 1803 Kränklichkeits halber seinen aus-
gezeichneten Freund und späteren Nachfolger, den Oberpastor zu
St. Jacob Carl Gottlob Sonntag (f 1827) adjungiren liess.
Soviel von den Personen, die damals das Heft in Händen hatten.
Als bekannt kann vorausgesetzt werden, dass die in Rede stehende
Periode einen schwankenden, unsteten Charakter trug, und dass
eine Consolidation der Verhältnisse in Stadt und Land trotz der mit
uJbel aufgenommenen Wiederherstellung der alten Verfassung erst
nach dem Jahre 1801 möglich wurde. Als mindestens mitwirkende
86 Zur livländischen Landtagsgeschichte.
Ursache sind die häufigen Wechsel in 4er Verwaltung anzusehen,
die sehr heterogenen Einflüssen Spielraum boten. Repnin wird als
stolzer reiner Charakter geschildert, der das Beste wollte, an der
Erreicl^ung desselben aber häufig durch leidenschaftliches Temperament
und ungenügende Kenntniss der Verhältnisse gehindert wurde;
y. Benkendorflf und v. Richter waren als humane, einsichtige Männer
bald heimisch und allgemein beliebt, dem Letzteren wurde ausser
diesen Eigenschaften noch ungewöhnliche Geschäftskenntniss nach-
gerühmt. Graf Pahlen, der, wie wir wissen, niemals naph Riga kam,
blieb dem grösseren Publicum völlig fremd, sein Vorgänger, der er-
wähnte Civil-General-Gouvemeur v. Nagel galt für hart und für einen
beschränkten Kopf, dessen Unkenntniss der Geschäfte (er hatte den
grössten Theil seines Lebens in nord- russischen Gouvernements zu-
gebracht) namentlich dem rigaschen Rath vielfache Unannehmlich-
keiten bereitete; Herr v. Rehbinder verlor schon bald nach seinem
Amtsantritt das Vertrauen des Kaisers und der Regierung weil er
nicht Geschäftsmann war und ausserdem mit Nagel häufig in Competenz-
conflicte gerieth.
Der Charakter des Schwankens und der Widersprüche, welcher
durch difeen häufigen Wechsel in der Verwaltung sich kennzeichnet,
scheint sich auch den Landtagen, welche während dieser Periode
abgehalten wurden, mitgetheilt zu haben. Schon zwölf Monate
nach dem Restilutions- Landtage von 1797 wurde eine neue Ver-
sammlung einberufen. Gleich die ersten von derselben behandelten
Fragen sind für die damaligen Zeitumstände höchst bezeichnend.
Der Kaiser hatte die alte Verfassung wiederhergestellt, aber die
Privilegien, welche die Grundlagen derselben bildeten, waren nicht
bestätigt worden. Sprach der Restitutions - Ukas implicite eine
Privilegienbestätigung aus, oder musste dieselbe noch ausdrücklich
eingeholt werden? War es opportun, diese Bestätigung von dem
Kaiser zu erbitten, dem man schon so viel zu danken hatte,
oder empfahl es sich, das bezügliche Gesuch sammt den übrigen
„Sollicitationen*' einfach dem Senat zu unterbreiten? Kaum war
man über diese schwierige Frage schlüssig geworden (der Land-
tag entschied sich dafür, dieses mal keine besondere Privilegien-
bestätigung zu erbitten), so tauchte eine andere grössere Schwierig-
keit auf. Der Civil-General-Gouverneur Geheimerath v. Nagel zeigte
dem Landmarschall an, dass ihm Allerhöchst „Theilnahme an dem
abzuhaltenden Landtage" aufgegeben worden sei. Nach der Statt-
halterschaftsordnung war gegen diese Zumuthung nichts einzuwenden:
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 87
dem Geist und Buchstaben der eben restituirten alten Verfassung lief
eine solche ^Theilnahme" des höchsten Verwaltungsbeamten des
Landes direct zuwider. Sollte das dem Monarchen gegenüber
geltend gemacht werden — ihm, der selbst der grossmüthige Urheber
der Restitution gewesen war, der aber die Privilegien, auf welche man
sich berufen wollte, «och nicht anerkannt hatte? Dazu kam noch,
dass das Herrn v. Nagel gewordene Mandat ein doppeltes Gesicht
zeigte. Wie er mitgetheilt hatte, war ihm einerseits aufgegeben
worden, einen Beitrag des Landes für die Canalverbindung der Düna
mit der Aa, sowie die Aufbringung von 3300 Rbl. B. für Erhaltung
der adligen Behörden zu verlangen ; gleichzeitig hatte derselbe aber
auch den Auftrag erhalten, dem Landtage mitzutheilen, Se. Majestät
habe die „Einrichtung" der seit Jahrzehnten sehnlich gewünschten
Universität verfügt. .
Wesentlich dem Eindruck, den der widerspruchsvolle Charakter
der Lage erregte, wird es zuzuschreiben sein, dass es auf dem Land-
tage von 1798 zu keinerlei Beschlüssen kam, welche für die Folgezeit
von Wichtigkeit gewesen wären. Dem durch die Umstände der Zeit
bedingten Beschluss, im Hinblick auf die Restitution dieses mal keine
besondere Privilegienbestätigung zu erbitten, folgte ein zweiter Be-
schluss, beim Senat (der an die Stelle des JustizcoUegiums für liv-,
est- und finnländische Sachen getreten war) um Abfassung eines Ge-
setzbuchs für das Land zu bitten und gleichzeitig auf Erhöhung der
Vorspanngelder und Bestätigung der „ökonomischen Societät'* anzu-
tragen. Wie wir in der Folge sehen werden, wurde nur in Bezug
auf dieses letzte Desiderium etwas erreicht, die beiden anderen
Wünscie der Landesrepräsentation blieben noch lange auf der Tages-
ordnung, und die bereits seit einem Menschenalter betriebene Codi-
fication der Landesverfassung und des Landesrechts kam erst nach
einem halben Jahrhundert zur Ausführung. Dass Baron Ungern-
Sternberg auf diesem Landtage zum Landmarschall gewählt wurde,
ist bereits früher gesagt worden. Die übrigen Verhandlungen
drehten sich meist um kleine innere Fragen und Händel. Das Land
war in Folge der Einziehung der Ritterschaftsgüter (deren Schulden
von der Krone nicht übernommen worden waren), der Türkensteuer
und anderer schwerer Auflagen früherer Jahre mit einer Schulden-
masse von 11 Millionen Rbl. B. belastet. In Rücksicht hierauf wurde
beschlossen, den von der Regierung gemachten Vorschlag, durch
den Bau von Kasernen die Einquartierungslast zu beseitigen, nicht
anzunehmen. Für das Land, dem die Aufbringung der Auslagen
88 Zur livländischen Landtagsgeschichte,
für diese Bauten unmöglich war, erschien die fernere Tragung der
Einquartierung in natura bequemer und minder -drückend — den
Städten konnte überlassen bleiben, sich ihrerseits durch Anlegung
von Kasernen von der Quartierlast zu befreien. Dagegen erhob der
Vertreter Riga's, Rathsherr . Rolssen, Protest, indem er geltend
machte, dass ein allgemeiner Kasernenbau, dessen Umkosten pro Seele
repartirt würden, den Städten günstiger sei, als isoUrtes Vorgehen
derselben. Obgleich noch andere Verhandlungsgegenstände vor-
lagen, die den Hader mit den Städten neu zu beleben geeignet
waren, blieb es bei dieser Episode. In Sachen der zahlreichen
Competenzconflicte zwischen dem rigaschen Landgericht und dem
Rathe dieser Stadt, welche durch die widerspruchsvollen Bestim-
mungen der Statthalterschaftsordnung hervorgerufen worden waren,
beschloss man einfach, die Jurisdiction von 1783 wieder herzustellen.
Auch die ziemlich gleichzeitig zur Sprache gebrachten Beschwerden
über den Transitzoll, den die Stadt Pemau von durchgehenden
Waaren erhob, wurden rasch erledigt indem man sich für Ver-
weisung der bezüglichen Streitfrage an den Senat entschloss. Das
gleiche Geschick hatte eine Beschwerde der Stadt Riga über die
Verwendung landischer Handwerker beim Bau des Ritterhauses.
Gleich hier bemerken wir, dass die Entscheidung des Senats zu
Gunsten der Ritterschaft ausfiel.
Wir übergehen die obigen Verhandlungsgegenstände (Abfassung
eines Wappenbuchs durch den alten Historiker Brotze, Verhandlungen
über gegenseitige Auslieferung liv- und kurländischer Läuflinge
u. s. w.), weil sie kein ernsteres Interesse in Anspruch nehmen.
Das Gleiche gilt von der Agrarfrage, die während der ges&mmten
Eegierungszeit Kaiser Paul's in ein Stocken kam, das zu dem Eifer
in directem Contrast stand, welchen die vorige Regierung dieser
Angelegenheit gewidmet hatte. Die Berathung über ein bezügliches
Sentiment, welches einzelne vom Kaiser zu Rathe gezogene „deutsche
Senateurs" abgefasst hatten, gab der reactionären Partei, (welche
rasch eine Witterung von der veränderten Lage bekam) zur Ver-
lautbarung von Wünschen Veranlassung, welche wesentlich darauf
abzielten, die Bestimmungen des Landtags von 1797 abzuschwächen.
Friedrich Sivers, der treue Wächter der bäuerlichen Interessen, trat
diesen Tendenzen mit der ganzen Entschiedenheit seines energischen
Wesens entgegen. Er erklärte, jedes Zurückgehen über die vorig-
jährigen Bestimmungen als Competenzüberschreitung des Landtags
ansehen und vor den Stufen des Thrones zur Sprache bringen zu
Zu livländisehen Landtagsgeschichte, 89
wollen. Bei dieser Erklärung blieb er trotz allen Widerspruchs der
Gegner, und wir haben allen Grund zu der Annahme, dass wesent-
lich nur diesem Umstände die Erfolglosigkeit der reactionören
Bestrebungen dieses Landtags zuzuschreiben ist. ,Dass der Sitz der-
selben im estnischen Livland war, und dass die Opposition sich vor-
zugsweise gegen die ^ Kreiscommissionen zur Untersuchung bäuerlicher
Klagen** richtete, ist bereits früher (vgl. S. 371 des vorigen Jahrg.
der Balt. Monatsschr.) erörtert worden.
Noch steriler filr die brennenden Fragen, als die Versammlung
von 1798, war der im Jahre 1800 einberufene Landtag. Wenn wir
erwähnen, dass dem behufs Einrichtung der Universität gewählten
Curator und dessen Adjuncten Diäten bewilligt wurden, (Curator
wurde Hofrath von Liphart an Stelle Transehe's), dass man diesen
Adelsvertretern eine Instruction ertheilte, dass mit Errichtung der
schon früher beschlossenen bäuerlichen Vorrathsmagazine Ernst
gemacht wurde, dass man die Ritterschaftsgüter neu taxireh liess,
zum Zweck der Tilgung der Ritterschaftsschulden eine Steuer von
5 Rbl. pr. Haken ausschrieb und die Ordnungsgerichte neu organi-
sirte, *) so sind die Hauptpunkte, welche im Jahr l&X) zur Sprache
kamen, genannt. **) Auf die immer wiederkehrenden Streitigkeiten
über die Quartierlast und das Stationswesen, die auch dieses mal
nicht ausblieben, näher einzugehen, liegt kein Grund vor, da die-
selben sich genau in dem Cirkel bewegten, den wir früher kennen
gelernt haben. Erwähnt sei dagegen, dass auch der Landtag von
1800 von dem damaligen Civil -General- Gouverneur von Nagel be-
sucht wurde, ohne dass man eine Discussion dieser Anomalie für
opportun gebalten hätte.
Als die Ritterschaft sich zwei Jahre später wiederum zu den
gewohnten Berathungen versammelte, war die äussere und innere
Lage des Landes vollständig verändert. Mit dem folgenreichen
Thronwechsel vom 28. März 1801 hatte auch für Livland eine neue
Periode, eine Zeit rüstigen Aufschwungs und allgemeiner Streb-
samkeit begonnen, eine Reaction gegen den eben geschilderten
*) Bei Einfübrung der Statthalterschafts- Verfassung war das Land in 9 Kreise
getheilt worden, deren jeder eine besondere Landpolizeibebörde erhielt. Obgleich
die alte Kreisein theilung wieder hergestellt wurde, behielt man die 9 Landpolizei-
bezirke und deren auf altem Fuss organisirte Behörden bei.
**) Auf die Verhandlungen und Beschlüsse über die Universität gehen wir
nicht näher «in, da die Geschichte derselben bereits eine ausführliche Dar-
8t«llaiig gefanden hat
L__.
90 Zur lirl&ndiBchen Landtagsgeschichte.
Znetand der Jahre 1796 — 1801. Schon vier Monate nachdem
Alexander I. unter dem Jubel des gesatninten Reiche den Thron
bestiegen hatte, war Fürst Galyzin, ein wohlgesinnter, wenn andi
nicht bedeutender Jtfann, mit dem General - Gouvernement betraut
worden ; dann halte der Kaiser die Provinz besucht und durch seine
glänzende Erscheinung, sein leutseliges Wesen alle Glassen der
Gesellschaft in frohe Erregung versetzt. So war begreiflich, dass
der Landtag von 1802 in gehobener Stimmung und mit einer Rede
des 1800 gewählten Landmai'schalls v. Buddenbrock erötfhet wurde,
welche von Begeisterung fär den humanen jungen Herrscher und
von Vertrauen in eine bessere Zukunft des Landes überfloss. Gleich
die ersten Mittheilungen, mit denen der Landmarschall vor den
Saal trat, waren geeignet, diese Stimmung zu befestigen. Dem
Eifer des Universitäts-Curators Grafen Mannteuffel und seiner Collegen,
der Landräthe Sivers und Richter, war es gelungen, die Sache der
„den Ritterschaften von Liv- und Estland übergebenen Universität
Dorpat" so weit zu fördern, dass die Eröffnung der Vorlesungen
schon für die nächsten Wochen bevorstand. Die Bestätigung der
Privilegien war ohne alle Schwierigkeit erfolgt; schon als die Ver-
treter' der Ritterschaft dem jungen Kaiser ihre erste Gratulation
dargebracht hatten, war ihnen (L. R. Sivere, L. R. Richter, Graf
Mannteuffel und v. Oettingen} dieselbe zugesagt worden. Gleichzeitig
mit der eigentlichen Bestätigung, welche zu Moskau bei Gelegenheit
der Krönung erfolgte, war der Krönungsdeputation (Landräthe
Richter und Sivera) die erfolgreiche Durchführung eines anderen
Desideriums geglückt, welches das Land schon lange auf dem
Herzen trug: jene Naturallieferungen an die in Livland staüonirten
Truppen, welche, an und für sich lästig, durch die beständigen Händel
mit den Empfängern eine Quelle zahlloser Galamitäten bildeten,
waren aufgehoben worden.
Die ersten Beschlüsse, welche die Versammlung unter dem Ein-
druck dieser willkommenen Botschaft fasste, waren: sofortige Be-
will^ung der 5 Rbl. B. pr, Haken, welche der Kaiser als Zuschuss
für eine neu zu begründende Militärechule gewünscht hatte, und Be-
nutjiung „der günstigen Chancen" des Augenblicks behufs Erwirkung
der Bestätigung des seit Jahren geplanten Credilvereins. Es wurden
femer 6 Kopeken pr. Seele behufs Unterstützung des Universitäts-
planes bewilligt, „fürs Künftige" eine Erhöhung dieses Betrages auf
14 Kop. in Aussicht genommen. — Zwei fernere Beschlüsse bezogen
sich auf das Justizwesen : die Zahl der Landgerichtscancellisten wurde
Zur liyl&ndischen Landtagsgeschichte, 91
vermehrt, die Noöiwendigkeit der Erhaltung der 8 Ordnungsgerichte
anerkannt (den neunten Ordnungsgerichtsbezirk bild^e die Insel
Oesel), und eine aus Hofgerichtsgliedern bestehende Commission
behufs Codification des Landrechtes niedergesetzt; der Entwurf des
neuen Gesetzbuchs sollte sodann der Juristenfacultät der neubegrün-
deten Landesuniversität zur Durchsicht übergeben werden.
Die wichtigsten der Landtagsverhandlungen von 1802 betrafen
eine Frage, die nur selten auf der Tagesordnung Livlands gewesen ist
und über welche zu allen Zeiten ein gleich ungünstiger Stern gewaltet
hat: die Reform der Landesverfassung, oder genauer gesagt
der Landesvertretung. Wer in der neueren Provinzialgeschichte
Bescheid weiss, dem wird nicht zweifelhaft sein können, warum die
Gedanken an eine derartige Umgestaltung jedesmal in der Geburt
erstickt worden sind: weil man niemals den Muth hatte, auf den
Kern der Uebel einzugehen, welche die Landesrepräsentation zum
Schatten dessen machen, was sie sein könnte, weil man sich vor
dem Eingeständniss fürchtete, dass die fast ausschliessliche Vertretung
eines Standes keine Solidarität der Interessen möglich werden lässt,
und dass eine Versammlung, deren Mitgliederzahl lediglich vom Zufall
abhängt, überhaupt Zufälligkeiten unterworfen ist — darum hat man
es niemals zu einer Reform, nicht einmal zu energischen Reformver-
suchen gebracht. Es hat sich, namentlich in früherer Zeit, bei den
sogenannten Umgestaltungsversuchen immer nur darum gehandelt,
einer grösseren Zahl von Gutsbesitzern die Landstandschaft zu sichern
und diese von der Zugehörigkeit zur Matrikel unabhängig zu
machen. Aus diesem Grunde haben die Manöver der Landsassen-
partei des 18. Jahrhunderts immer nur den Charakter cliquenhafter
Usurpationen getragen, und sind die Versuche der kleineren Städte,
Landstandschaft zu gewinnen, niemals von energischen Sympathien
des gebildeten Theils der Bevölkerung begleitet gewesen.
Was sich im Jahre 1802 als Versuch zur Veränderung der
Verfassung gebärdete, steht aber noch tief unter den Versuchen,
welche Landsassen und Städte ihrer Zeit unternommen hatten, um
die Provinzialvertretung zu erweitern. Eine Schaar verbitterter,
engherziger Egoisten versuchte gegen die alte Verfassung Sturm zu
laufen, weil die Männer, welche Dank derselben im Amt waren und
maassgebenden Einfluss übten, gestürzt und um die Möglichkeit
gebracht werden sollten, das Selbstbestimmungsrecht des Landes
im liberalen Sinne zu gebrauchen. Bevor wir auf dieses Attentat
genauer eingehen, wird es nothwendig sein, eine Frage näher in's
L.
92 Zur livländischen Landtagsgeschichte.
Auge zu fassen, die anscheinend nichts mit der Verfassung zu thun hat,
thatsächlich aber auf die Entwickelung derselben den nachtheiligsten
Einfluss übte: die Frage, wem die sogen. Ritterschaftsgüter donirt
worden waren und wer als rechtlicher Inhaber derselben anzu-
sehen war.
Schon zu schwedischer Zeit war der livländischen Ritterschaft
wiederholt die Donation von Gütern zur Erhaltung des Landraths-
coUegiums verheissen worden. Bei der.Armuth des Landes, der
Kostspieligkeit des Reisens und bei längerem Aufenthalte in der ver-
hältnissmässig theuren Landeshauptstadt war es natürlich, dass man
den Männern, welche ihre Zeit und Arbeitskraft ' dem öffentlichen
Literesse widmeten, eine Art Entschädigung zuwenden -wollte, und
da dieselben zahlreiche Functionen versahen, welche direct dem
Staatsinteresse dienten, lag es nah, von dem Staat eine Subvention zu
verlangen. Obgleich die schwedische Verheissung vom Jahre 1663
her datirte, war sie während der letzten fünfzig Jahre schwedischen
Regiments in Livland nicht erfüllt worden. Bei dem Geiz Karls XL
und den steten finanziellen Verlegenheiten seines kriegerischen
Sohnes verstand es sich gleichsam von selbst, dass man der ver-
liassten, aufsässigen Provinz am rigaschen Meerbusen nicht Wort
hielt. Schon in den ersten Jahren nach der russischen Eroberung
(1711, 1712, 1714 und 1721), wurde Peter der Grosse wiederholt
gebeten, das Versprechen zu erfüllen, das seine Rechtsvorgänger
gegeben und nicht gehalten hatten. Peter war nicht abgeneigt, dem
Wunsch der livländischen Ritterschaft zu willfahren und bereits im
Anfang der zwanziger Jahre war der Ritterschaftsrepräsentation der
Besitz der Güter Bersohn und Laudohn zugesagt worden. Als man
im Jahre 1724 auf die Sache zurückkam, fand sich indessen, dass
die genannten Güter inzwischen dem Grafen Sava Ragesinsky ver-
liehen worden waren. Katharina L entschloss sich daher, das Ver-
sprechen ihres Gemahls durch Verleihung der Güter Trikaten,
Planhof, Sackenhof und Wiezenhof, (zusammen 55 V2 Haken gross)
zu lösen, und diese wurden der Ritterschaft wirklich im Jahre 1725
zugewiesen, freilich erst nachdem dieselbe die ingrossirten Pfand-
schulden (4807 Thaler) refundirt und ausserdem 300 Dukaten an
das „Arrangement'' gewandt hatte; einzelne Theile dieser Güter
wurden überdies der Krone vorläufig reservirt.
Kaum war man in den Besitz dieses neuen Eigenthums getreten,
so tauchte auch schon die heikele Frage auf, ob die Renten desselben
ausschliesslich zu Gunsten der Landesrepräsentation (Landräthe und
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 93
• *
Landmarschall) verwendet oder zwischen dieser und der Ritterschaft
getheilt werden sollten. Wie bereits früher erwähnt worden (B. M.
ß. XVm., H. 4. S. 267 und a. a. O. H. 6, S. 473), war auf dem
Landtage von 1727 festgesetzt worden, jeder Landrath habe für seine
Residirung 100 Thaler, der Landmarschall denselben Betrag, der
Ritterschaftssecretär (in Ansehung seiner vielen Reisen) 300 Thlr.,
der Notar 50 Thaler zu erhalten. Die Ueberschüsse aus dem Be-
trage dieser Güter sollten zum Nutzen der Ritterschaft, namentlich
zur Bezahlung der Landesbeamten (es erhielt z. B. jeder der vier
bei den Oberkirchenvorstehern angestellten Notare 50 Thaler) ver-
wendet werden. — Ueber die Einzelheiten der Verwendung in
späteren Jahren liegen uns keine Daten vor, zweifellos ist nur, dass
der steigende Ertrag der Güter wesentlich der Ritterschaf tscasse
zu Gute kam, und einen nicht unbeträchtlichen Theil der Ausgaben
für die Landesbehörden deckte. Als 1786, nach Aufhebung des
LandrathscoUegiums die Einziehung der trikatenschen Güter zum
Besten der Krone verfügt worden war, gerieth die Ritterschaftscasse
(Vgl. a. a. 0. S. 258) in eine Reihe der grössten Verlegenheiten.
Nicht nur, dass die Bewilligungen beträchtlich erhöht werden
mussten, um den Ausfall zu decken und die Last der Bezahlung de?
Landesbeamten fortan allein zu tragen, — die Krone hatte sich ge-
weigert, die auf den Gütern lastenden Schulden zu übernehmen und
die Forderung sofortiger Lnmission in dieselben ausgesprochen.
Tausende von Thalern mussten verausgabt werden, um die Arren-
datore zu entschädigen, an welche man die Güter verpachtet hatte,
andere Tausende wurden durch die Processe verschlungen, welche
ein so unerwartetes und überstürztes Verfahren der Ritterschaft
bereitete, ohne dass diese die geringste Schuld traf. Gleichzeitig
drängten die gefährdeten Hypothekengläubiger, indem sie Sicher-
stellung oder volle Befriedigung ihrer Ansprüche verlangten — kurz
das gesammte Land war durch einen Besitz, der ihm nur für kurze
-Zeit und nur zum Theil von directem Nutzen gewesen war, in ;ernst-
hafte Verlegenheit gebracht worden.
Wie g^oss dieselben gewesen, sollte erst klar werden, als der
eigentliche Grund der Calamität wegfiel. Bei Gelegenheit der Wieder-
herstellung der alten Verfassung wurden auch die Ritterschaftsgüter
restituirt; die 17 anderweitig verschenkten Haken, welche an dem
früheren Besitzthum fehlten, wurden einige Jahre später durch Ein-
weisung des Gutes Wiezenhof (um welches ein Landtagsschluss speciell
gebeten hatte) ersetzt. Nichts desto weniger war die finanzielle Lage
94 . Zur livländischen Landtagsgeschichte.
der Ritterschaft auch nach dieser Restitution eine ausserordentlich
schwierige, und es liegt die Annahme nah, dass die Wiedertibemahme
der Güter zunächst auch nur mit Umkosten (für Neubeschafiung von
Inventar u. s. w.) verbunden war. Im Jahre 1798 war constatirt
worden, dass das Land nicht weniger als 11 Millionen Rbl. B.
Schulden habe, und dass viele Jahre vergehen würden ehe dieselben
getilgt worden. Im Jahre 1800 wurde eine besondere Steuer im Betrage
von 6 Rbl. pr. Haken ausgeschrieben, deren Erlös ausschliesslich zur
Tilgung von „Renten und Schulden" bestimmt war; 1802 musste
dieselbe erhöht werden, damit wenigstens die dringendsten Schulden
gedeckt würden. Sehr bezeichnend für die Schwierigkeit der Lage
ist eine in den Recessen von 1802 enthaltene Bemerkung, dahin
lautend, dass die Aufbringung von 2372 Rbl. B. pr. Haken — wie
sie angesichts der Forderungen für den Tilgungsfond, die Universität
Dorpat und die projectirte Petersburger Militärschule nothwendig
erscheine — für das Land zu drückend sein würde.
Bei so bewandten Umständen lag die Frage nach dem Modus
der Verwendung der Einnahmen aus den Ritterschaftsgütem in der
Natur der Sache. Donirt waren dieselben, wie wir oben gesehen
haben, zum Zweck der Erhaltung des LandrathscoUegiums und dieses
hatte wenigstens einen Theil der Revenuen regelmässig bezogen^
während der Rest zur Bezahlung von Landesbeamten verwendet
worden war. In der Noth der Verwirrung, welche der Einziehung
von 1786 gefolgt war, hatte man indessen die Beihülfe der gesammten
Corporation in Anspruch nehmen müssen; die Ritterschaft war mit
Abgaben und Schulden belastet worden, um die auf diesem Besitz
ruhenden Verpflichtungen zu erfüllen und hatte demselben so grosse
Opfer gebracht, dass seine Restitution ihr einen Anspruch auf Theil-
nahme an den Revenuen sichern zu müssen schien. Aller Wahr-
scheinlichkeit nach wäre ein bezügliches Arrangement zwischen
LandrathscoUegium und Plenum mühelos, wenigstens ohne ernstere
Schwierigkeiten herbeizuführen gewesen wenij beide Theile guten
Willen und Unbefangenheit des Urtheils mitgebracht hätten.
Diese Unbefangenheit war indessen längst abhanden gekommen
seit die zur Lösung drängende Agrarfrage die Ritterschaft in zwei
feindliche Parteien, eine bauemfreundliche-liberale und eine reactionäre
gespalten hatte. Wie dem Leser aus den früher veröffentlichen Mit-
theilungen erinnerlich sein wird, wären die hervorragendsten Führer
der liberalen Partei, namentlich Friedrich v. Sivers, der ehemalige
Gouvernements - Adelsmarschall v. Gersdorf und Graf Meilin bei
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 95
Gelegenheit der Wiederherstellung der alten Verfassung zu Land-
räthen gewählt und so an die Spitze der Geschäfte gebracht worden.
Diese Männer, auf denen damals die Zukunft des Landes ruhte,
waren von ihren Gegnern mit einer Erbitterung angefeindet worden,
von deren Brutalität man sich in unserer verfeinerten und formen-
glatten Zeit kaum eine Vorstellung machen kann. Die Opposition,
welche im dörptschen Kreise ihren Sitz und an den Freiherrn
V. Taube und Schoultz-Rewold ihre Führer hatte, liess keine Mittel
unversucht, um die liberalen Wortführer zu stürzen und verhasst zu
machen. Die in den Jahren 1797 und 1798 vergeblich unternommenen
Versuche, das bäuerliche Regulativ von 1797 auf Lettland zu be-
schränken, hatten nur dazu geführt, den vorhandenen Zwiespalt zu
verschärfen. Wohl gelang es später, die an der Spitze der zur An-
nahme von Bauerbeschwejrden bestimmten Kreiscommissionen stehen-
den drei liberalen Landräthe unter Gericht zu bringen — aber auch
dieser „Coup" war ohne eigentlichen Erfolg weil die bezügliche
Vorschrift des General - Gouvernements sehr bald wieder zurück-
genommen werden musste. Auf dem Landtage von 1803 wurde nun
ein neuer Angriff unternommen , zu dem die Ritterschaftsgüter den
Vorwand hergeben mussten. Die Reactionspartei wusste das Land-
rathscoUegium unter ein doppeltes Odium zu stellen : dieses Collegium
— hiess es — concentrire auf Umkosten des Plenums allen Einfluss
in sich, um das Land zu agrarischen Reformen zu zwingen, welche
den Adelsinteressen zuwiderliefen, und geberde sich ausserdem als
der Inhaber jener Güter, für welche die Rittercasse immer wieder
in Anspruch genommen werde und um deren willen das Land am
Rande des Bankerotts stehe. Werde man — hiess es weiter — das
LändrathscoUegium los, so sei. Aussicht vorhanden, die Landes-
schulden von der Krone übernommen und die liberalen Ideen mit
jenem verhassten Collegium für immer begraben zu sehen.
Der Plan war nicht übel ausgesonnen, und es kam nur noch
darauf an, ihm möglichst zahlreiche Anhänger zu werben. Zu diesem
Zweck wurde das Stichwort „Wiederherstellung der Statthalterschafts-
Verfassung" ausgegeben und daran erinnert, dass während der drei-
zehn Jahre, in denen diese in Kraft gewesen, die leidige Agrarfrage
brach gelegen habe, der Adel bloss zur Vertretung seiner Standes-
interessen verpflichtet gewesen sei, der Betrag der Bewilligungen sich
geringer gestellt habe als gegenwärtig u. s. w. Dieselben Argumente
egoistischer Engherzigkeit, mit denen ungefähr gleichzeitig eine Hand-
voll rigascher Spiessbürger dazu vermocht worden war, gegen die
1
L _
96 Zur livländischen Landtagsgeschicbte.
angebliche Tyrannei des rigaschen Raths Sturm zu laufen und fllr
Wiederherstellung der demokratischen Städteordnung zu agitiren,
wurden jetzt dem unzurechnunfisfahigen Theil des Landadels vor-
gesetzt, um denselben zur „Abwerfung des Jochs der Landräthe"
Muth zu machen. Die Kreise, denen die Landesprivilegien nie mehr
als Aushängeschilder für den Cultus egoistischer ÖonderinteresBen
gewesen waren, fanden es durchaus natürlich, dass man diese Schilder
wegwarf sobald dieselben der ständischen Selbstsucht unbequem
wurden, und binnen Kurzem hatte sich eine Anzahl von Uännem
zusammengefunden, um mit dem liberalen LandrathscoUeglum zu-
gleich die conservatire alte Verfassung über den Haufen zu werfen.
Die einzige „conservative" Idee, welche von diesem Schl^e liv-
ländischer Patrioten anerkannt und verstanden wurde, war die Idee,
dass der Bauer verpflichtet sei, bis an das Ende der Tage dem Herrn
„Gehorch" und „Gerechtigkeiten" zu pr&stiren, und zwar in dem
Betrage, den dieser für gut hielt. Der Befestigung dieser Kern- und
Centralidee alleä Andere zu opfern, mochte es Namen haben, welche
es wollte, war die einzige wahrhaft „conservative Politik".
Inmitten der Landtagsverhandlungen von 1802, bei denen wir
Btehen blieben, wurde der erste Versuch gemacht, diesen im Stillen
ausgebrüteten Plan zu verwirklichen. Tags nachdem der neu-
recipirte „Mitbruder" General-Gouverneur Fürst Galyzin in der Ver-
sammlung zum ersten mal erschienen und „zur Rechten des Herrn
Land mar schall" placirt worden war, traten zwei hochangesehene
„Mitbrüder", der Geheimerath v. Vietinghof*) und Baron Schoulte-
Rewold mit dem Antrage hervor:
Von Sr. K. M, die Wiederherstellung der Statthalterschafts-
Verfassung zu erbitten, sowie Sr. Majestät die Ritterschafts-
güter gegen Bezahlung der Ritters ehafts schulden wieder
zurückzugeben.
Ueber die Bedeutung dieses, nach kurzer Discussion zurück-
gewiesenen Doppelantrags sind alle Zweifel schon dadurch ausge-
schlossen, dass zwei an und für sich getrennte Materien, die Ver-
fassung und der Besitz der Ritterscbaftsgüter zusammengeworfen und
in einen Connex gebracht worden waren, dem es ebenso an äusseren,
wie an inneren Zwecken gebrach. Es war direct und in erster
*) Dieser Geheimerath von Vietinghof ist von dem bekannten Geheimerath
Otto Hermann t. Vietinghof, dem schon im Jahr 1793 verstorbenen Begründer
des rigaer Theaters nnd Valer der Juliane Barbara v. KrÜdener, wohl zu unter-
Bchdden.
Zur livländischen Landtagsgeschicbte. 97
Reihe darauf abgesehen, mit den liberalen Landräthen das Landraüifl!-
collegium und die zu einer Quelle finapzieller Verlegenheiten ge-
wordenen Güter los zu werden: die alte Verfassung wurde gleichsam
als blosser Appendix des Collegiums angesehen und, der Gesellschaft
wegen, mit diesem zu den Todten geworfen.
Wir können uns im vorliegenden Fall mit der Constatirung der
traurigen Thatsache, dass ein solcher Antrag im Jahre 1802 möglich
gewesen, um so eher begnügen, als derselbe ungeachtet der erfahrenen
Zurückweisung noch wiederholt wiederkehrte und zu eingehenden
Verhandlungen Anlass gab. — Wesentlich dem übeln Eindruck, den
die Vietinghof-Schoultzsche Bill auf den besseren Theil der versam-
melten Vertreter der livländischen Ritter- und Landschaft gemacht
haben mochte, muss die Verwerfung eines andern, wenige Tage
später gemachten Antrags auf Verfassungsänderung zugeschrieben
werden, dessen Annahme dem Lande wesentlich zu Gute gekommen
wäre. Der ehemalige Kreismarschall von Bock (die Führung der
statthalterschaftlichen Titel, sowie der Titulaturen aus der Rangliste
[Tschin], die mit jener verbunden gewesen waren, ist auch nach dem
Jahre 1796 üblich geblieben) wies in einem längeren, wohl motivirten
Vortrage darauf hin, dass der monatliche Wechsel in der Residirung
der Landräthe von so z.ahlreichen Uebelständen und so entschiedenen
Hemmnissen für einen ordentlichen und erspriesslichen Geschäftsgang
begleitet sei, dass die Einführung eines veränderten Residirungs-Modus
im Literesse des Landes durchaus wünschenswerth erscheine. Leider
wurde die beachtenswerthe Stimme überhört, welche — soweit mir
bekannt, zum ersten und letzten Mal — einen Uebelstand zur Sprache
brachte, der eigentlich auf der flachen Hand liegt. Dass die Rück-
sicht auf die verfassungsfeindlichen Pläne der Oppositionspartei
bei der Verwerfung des patriotischen v. Bock'schen Antrags mit-
gesprochen hat, geht schon aus dem Umstände hervor, dass die
Versammlung dem Herrn Kreismarschall auf Antrag des Hofraths
von Transehe ihren Dank für seine gute Absicht aussprach, wsus
dieser (wie der Reöess besagt) „empfindungsvoll" aufnahm.
Der nächste wichtigere Antrag, der auf dem Landtage von 1802
zur Discussion kam, beweist, dass Livland am Wendepunkt des
Jahrhunderts nicht nur „ empfindungsvoll ", sondern zugleich „aufge-
klärt'' war. Gestützt auf die „neuesten Erfahrungen der national-
ökonomischen Wissenschaften" (das anderwärts bereits ziemlich über-
lebte physiokratische System galt unter unseren Vätern wahrscheinlich
noch im Jahre 1802 für neu) brachte ein Major von Sivers einen
Baltische Monatsschrift, 10. Jahrg., Bd. XIX, Hefe 1. 7
86 Znr livläadischeD Landtagsgeschichte.
Plan zur Umgestaltung des gesammten, bis heute üblichen llTländischen
bäuerlichen Wirthsehaftssyatems vor. „Die moderne Wissenschaft" —
so meinte der treffliche und sicher von den edelsten Motiven ge-
leitete Schüler Quesnay's und Türgot's — „habe zweifellos lestgestellf,
daBS die Ertragsfähigkeit des Bodens wesentlich gesteigert werde,
'wenn derselbe mbglichst zertheilt und in viele Hände gebracht
werde. Ebenso stehe fest, Aaas wahre Productionslust und Arbeitseifer
nur da zu finden seien, wo der Producent für eigene Rechnung
wirtbschafte. Aus diesem gewichtigen Grunde ei^ebe sich mit Noth-
wendigkeit und logischer Consequenz, dsiss dsts in Livland herr-
schende System der grossen geschlossenen Bauernhöfe, die nur mit
Hülfe zahlreicher Knechte bewirthschaftet werden könnten, unvor-
theilhaft und unproductiv sei. Er, Antragsteller, schlage der Ver-
sammlung daher vor, eine einschneidende Reform voi'zunehmen, alle
Viertelhäknergesinde zu zerschlagen und unter Zwei- und Eintags-
wirthe zu vertheilen. Auf diese Weise werde der doppelte Vortheil
möglichster Bodenparcellirung und der Etablirung zahlreicher selb-
ständiger kleiner Wirthschafta-Untemehmer erreicht werden." Das
Geschick dieses Antrags in unserem urpraktischen, auch nicht ent-
fernt von der Blässe doctrinörer Gedanken angekränkelten Altliv-
land erräth sich von selbst. Der Antragsteller blieb mit seinen
Wünschen für Gehorsam gegen die „unwidersprechlichen Lehren der
ökonomischen Wissenschaft'"' durchaus allein — schwerlich ist ihm
filr seinen zweifellos guten Willen auch nur gedankt worden. Uns,
die wir von diesem vereinzelten Versuch zur Betheiligung bereits
etwas abgestandener Zeitideen lesen, ist die Sache in mehr wie einer
Beziehung von Interesse. An und für sich ist dieses Zeugniss für
die Macht gewisser Zeitideen, dieser Versuch, den „Cultivateur" in
einen „Eintagswirthen" zu übersetzen, bedeutsam und es lohnte wohl
der Mühe, den Spuren weiter nachzugehen, welche den W^ des
physiokra tischen Systems nach Livland hin bezeichnen. Von noch grösse-
rem Interesse ist die Wahrnehmung, dass die heute von Osten her
vernehmbaren Klagen über das Vorhandensein „landloser Bauern"
und grosser geschlossener Höfe, ihrer Zeit aus Westen zu uns ge-
wandert waren und schon damals an dem praktischen Sinn unserer
Landsleute abprallten. Freilieb gehört bei uns im Norden ein nur
geringes Maass von Menschenverstand dazu, um auszurechnen, dass
der GiTind und Boden nur durch die Capitalien, welche auf ihn ver-
wendet werden, Werth erhält und dass diese Capitalien allenfalls
von „Viertelhäknem", aber niemals von „Eintagswirthen" erworben
Zur livländischen Landtagsgeschichte. « 99
und richtig verwendet werden können. Dieses hat man seitdem auch
im Westen einsehen gelernt und die neuesten Anhänger der Lehre
Ton der „möglichsten Bodenparcellirung" haben nicht einmal den Vot-
theil, unter die ehrlichen doctrinären Schwärmer gerechnet zu wer-
den, zu denen der wackere, „auf der Höhe seiner Zeit** stehende Major
von Sivers gehörte. — Bezüglich der übrigen Vorgänge von 1802
können wir uns kurz fassen da der meisten damals gefassten Be-
schlüsse bereits gedacht worden ist. Zu erwähnen wäre, dass in
Ansehung der bei allen Landesbehörden fühlbaren Zunahme der
Geschäfte jedem der vier Landgerichte ein neuer Cancellist (das
rigasche Landgericht erhielt die doppelte Anzahl neuer Beamten)
zugelegt und ausserdem die Beibehaltung der schon im Jahre 1797
bewilligten neun Ordnungsgerichte ausgesprochen wurde. Das vacante
Amt des Ritterschaftsnotärs wurde einige Tage vor dem Schluss
der Versammlung einem Manne übertragen, der die vier darauf
folgenden Decennien hindurch eine wichtige Rolle gespielt hat und
über dessen Bedeutung die Urtheile,* je länger er tqflt ist, desto
schärfer auseinandergehen — dem kürzlich von Leipzig zurückge-
kehrten jungen Rechtsgelehrten Johann Reinhold Ludwig Samson
von Himmelstierna.
[SchluBS im nächsten Heft.]
Notizen./)
Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Von Alex. v. Oettingen,
ProfesBor der Theologie in Dorpat I. Theil. Erlangen 1868—1869.
Jcis ist eine höchst erfreuliche Erscheinung, das in unsern nächsten
Kreisen ein Theologe, welcher im Rufe strengster Orthodoxie steht,
sich herabgelassen hat, mit Ruhe die Ergebnisse der realen Natur-
forschung zu studiren und sie, wenn auch nach gewissen, nicht
plötzlich abAistreifenden Ansichten erklärend, als berechtigt anzuer-
kennen. Seit mehr als 50 Jahren ist Referent den Wandlungen,
welche in den Lehren der theologischen Facultät zu Dorpat sich
kund gegeben haben, mit Interesse gefolgt. Auch dieser Zweig des
Baumes der Erkenntniss hat, wie alle übrigen Facultäten, bald nach
oben, bald nach unten, bald nach rechts, bald nach links sich be-
wegt, je nach der Richtung der wissenschaftlichen Strömungen im
wärme- und luftreicheren Abendlande Europas. Der frischen Brise
des „gemeinen Rationalismus'' (ofßcieller Name!) folgte der feucht-
warme Sirocco des Pietismus, welcher auch auf die naturwissen-
schaftliche Gebiete hinüberwehte, und wenn später hier das saft-
reiche Kraut der Empirie üppig wucherte, so wuchsen auf den
theologischen Aeckern knorrige Eichen zur Stütze und zum archi-
tektonischen Schmucke der Kirchlichkeit herauf. In solchen
Domen konnte nur eine starke Lehre gepredigt werden, eine Lehre
mit Luther's Worten und durchgreifender Stimme, glaubensstark und
*) Unter dieser Üeberschrift gedenken wir, wie es auch schon in früheren
Jahrgängen der Balt. Monatsschr. der Fall war, vorzugsweise Bücheranzeigen
zu bringen, und zwar werden wir uns bemühen, eine nach Möglichkeit voll-
ständige und regelmässige Berücksichtigung aller derjenigen literarischen
Novitäten eintreten zu lassen, welche als dem speciell baltischen Interesse zu-
nächst liegend anzusehen sein werden. Hiezu aber bedarf es berufener Mit-
arbeiter auf vielen und verschiedenen Gebieten des Wissens, und daher bitten
wir ganz besonders für diese Rubrik um thätige Unterstützung. D. Red.
^^Hii's. -'
Notizen. 101
mit imponirender Autorität! So auch in Dorpat, wo überdiefl die
theologisclie Facultat, begünstigt rom einem frommen Curo^tor, vor
einem Dutzend Jahren das Primat besass. Unterdess hatten natura
forschende Wühler im Westen den festgetretenen empirisehen Acker
aufgepflügt, gelockert und dem belebenden Sonnenlichte zugänglicher
gemacht. Die Elemente der Beobachtung wurden kritisch unterw
sucht, man stiess auf eine Menge Höhlen und Lücken im sogenannten
Fundamente praktischer Erfahrungen, und gewöhnte sich dftyw, alles
Reden und Behaupten nicht blos in den realen, sondern auch in den
idealen Wissenschaften durchzusieben und zu wägen. Philosophen
und Theologen sträubten sich wohl g^en dergleichen Verfehren.
Sie schritten scheinbar ruhig, als ob sich gar nichts unter den
Jüngern der realen Wissenschaften rege, auf ihren eingetretenen
Wegen hin. Immer zudringlicher fragten* die Naturforscher nQ.ch de^f
Begründung der philosophischen und theologischen Eingebungen und
Traditionen, erhielten aber die wegwerfende Antwort, dass sie da-
von nichts verständen und verstehen könnten, da ihnen ja der sechste
Sinn, der Glaube, fehle. Während Jene sich immer mehr erdreisteten,
von mancher buchstäblichen Auffassung traditioneller Schöpfungs-
und anderer Geschichten Abstand zii nehmen, welche die lebhafte
Phantasie morgenländischer Schriftsteller in überschwänglich poeti-
scher Redeweise ausgeschmückt haben könne, fragte man auf der
anderen Seite noch ernsthaft nach der numerischen Stärke der himm-*
lischen Heerschaaren, nach der ^Ausschmückung des Thronsaales im
neuen Jerusalem u. dgl. m. Auch war das grössere Publikum hie^:
zu Lande noch mit besserem Erfolge als in andel^n westlichen odey
östlichen Gegenden vor dem Anhören von Beden der Material istei^
Cgieichfalls officieller Name I) und vor dem Lesen auf iJen Jnd^x ge-
setzter Bücher ausgehütet worden. Da geschah es, dass Schleidei^
nach Dorpat kam und öffentlich Reden hielt, wie man sie wohl in
Deutschland zu hören schon gewohnt war^ aber hier nur in den
engern Kreisen der Verständigen führte : Reden von der gs^nz; natür-
lichen Entwickelung des Lebens auf dem Erdball, von dem hohen
Alter des Menschengeschlechtes, von dem auf halbem Wege zur
Vernunft stecken gebliebenen Vetter Gorilla u. dgl. m. Gross war
die Aufregung, theils für, theils gegen den ungebetenen Gast. Er
wurde seines Hierseins nicht froh, und verliess nach Jahresfrist
schon wieder Embach-Athen. Seine Dörpt-hisjiorische Mission hatte
er aber erfüllt: man that sich keinen Zwang mehr an, von der
Berechtigung naturgesetzücher Forschungen selbst auf den Gebiete^
102 Kotizen,
der Philosophie und Theologie laut zu sprechen. Wir glauben nicht
zu irren, wenn wir annehmen, dass die Ideen Über christliche Sitten-
lehre bei dem Verfaaser des in der Ueberschrift genannten Werkes
gerade durch die auf einander platzenden Ansichten dieser Periode
eine Läuterung erfahren haben. Die „christliche Sittenlehre" erhielt
den zweiten Titel „Versuch einer Social-Ethik auf empirischer
Grundlage", Dank den Studien, welche er beim Kampfe gegen
die Katurforscher in seiner Nähe und Ferne zu machen sich nicht
Terdriessen liess. Dabei ging es ihm gewissermaassen wie dem
Paulus, der aus einem Verfolger der Christen ein Bekenner ihrer
Principien wurde. „Wir Manner der Geisteswissenschaft", sagt
Verf. p. 2, „erkennen, dass wir dem Materialismus zu grossem Danke
verpflichtet sind. Er hat uns nolens rolens realistisch denken ge-
lehrt, und der Dienst wäre ein gegenseitiger, wenn er von uns es
lernen wollte, die Weit des Geistes auch als eine grosse Welt zu-
sammenhangEToller, nur anders gearteter Realitäten zu erkennen".
— „Dem Theologen ist es eine gute Zucht und Schule, wenn er
sich an exacte, pi^cise and messbare Bestimmungen gewöhnen und
Thatsachen reden lassen muss" Cp- '5). „Auch die Furcht vor einem
alle Freiheit verschlingenden Naturdeterminismus darf uns nicht ab-
halten, die Wirklichkeit eines oi^anisch gearteten Causal-Nexus in
der moraliÄChen Welt anzuerkennen und der Sache mit Wahrheits-
liebe auf den Grund zn schauen" (jp. 24J. Noch aber will Verf. es
mit seinen. Paehgenossen nicht ganz verderben: „es könne ihm
schlechterdings nicht in den Sinn kommen, die Theologie in irgend
welche Abhängigkeit von der Statistik zu setzen, oder gar die Sta-^
üstik von theologischen Principien aus zu meistern. Die Statistik
soll nur das anderweitig schon Feststehende, das biblisch und kirch-
lich Gonstatirte von einer anderen Seite beleuchten" (p. 75). Wir,
die wir nicht das Glück haben, vom Verfasser zu „den Männern der
Geisteswissenschaft" gerechnet zu werden, machen aber einen Unter-
schied zwischen dem „anderweitig Feststehenden" und dem „bib-
lisch und kirchlich Constatirten". Es ist ein Unterschied, wie
zwischen „Gesetz" und „Satzung" — jenes existirt durch sich selbst,
„von Anfang an" — dieses ist von Menschen gemacht, oft leider
jenen „Gesetzen" zum Hohn. Der zweite Theil des vorliegenden
Werkes wird uns wohl belehren, welche Erscheinungen im Sich-
darleben der Menschheit der Verfasser zu Erscheinungen „maassen-
des Gesetzes" und welche er zu denen „maassen-der Satzungen"
rechnet, — Wenn die Statistik nur ein Mittel sein soll, etwas schon
Notizen. 108
Feststehendes, etwas scHon Constatirtes von einer anderen Seite zu
beleuchten, so wäre sie ja gleichwie das gegenwärtige ökumenische
Bejahen v^rab redigirter Beschlüsse. Wir sehen aber, dass Verf.
einen würdigeren Gebrauch von den, auch aus den Beobachtungen
der Männer, die keine „Männer der Geisteswissenschaft" sind, her-
stammenden Resultaten macht, dass er es nicht scheut, „gleichsam
müde geworden von fruchtloser, moralischer Denkarbeit als ein er-
löster uud bekehrter Sisyphus sich auf die nüchterne Wirklichkeit
zu besinnen, und statt ethischer Speculationen und theologischer Dia-
lektik die Gesetze der sittlichen Bewegungen in mathematischer
Unwiderlegbarkeit zu entwickeln'' (p. 2). Das ist es gerade, warum
wir die „Moralstatistik etc.", von einem Professor der Theologie in
Dorpat verfasst, als eine erfreuliche Erscheinung begrüssen, wenn er
auch der Naturwissenschaft noch einige Seitenhiebe giebt: „sie wolle,
obgleich jüngstes Kind der Minerva (?), sich von allen philosophi-
schen Disciplinen emancipiren (?). Die Grenzenlosigkeit ihres An-
spruches (?) sei gerade kein Beweis ihrer Erudition; das bene
distingueresei durchaus nicht ihre starke Seite (?): das berechtigte
Ethos der Naturwissenschaft werde oft zum unberechtigten Pathos,
zur leeren, unwissenschaftlichen Phrase (?), wenn sie die empiri-
schen (?) Naturgesetze in das Gebiet geistigen Lebens hinein esca-
motire" (pg. 13). Quot Verba, tot saxa!
Lange bevor Vater Zeus und die übrigen Väter sich den Kopf
zerspalteten zur Beglückung der Menschheit mit hartgepanzerten, an
allen Gliedern geschienten Hirn-Gespenstern, ist Naturforschung geübt
worden von den ersten unscheinbaren Lebewesen durch Erfühlung
der Aussenwelt, welche nothwendigerweise zur Unterscheidung des
Ich von dem Nicht-Ich führte, was sie, wenn auch nicht mit wohl-
gesetzter Rede und DruckerschwärzJe, so doch durch freie Bewegungen
und durch selbständige, aus Innern Zuständen entspringende Hand-
lungen ausdrückten. Als Naturforscher hat sich die ganze
unendliche Reihe der lebenden Wesen durchgearbeitet von den
ersten aus zartem organischen Plasma geformten Amöben bis zum
Menschen hinauf, immer prüfend und erkennend, was die Aussenwelt
ihnen entgegenstellte. Die erste und mächtigste und folgenreichste
Eigenschaft der organisirten Wesen, die Vererbung, drückte den
Forschungstrieb so tief in die Wesenheit alles Lebendigen, häufte
so unmerklich das gewonnene Material der Erkenntnisse in den
Wesen auf, dass sie unbewusst einen ungeheuren Vorrath von natüi*-
lichem Wissen als durch Aeonen hindurch angesammeltes Kapital
104 Notizen.
mit sich auf die Welt brachten, wenn sie geboren wurden. Anch
die Menschen, welche die reichsten Erben geistiger Braparnisse ihrer
Ahnen sind, schwelgen im Genüsse der schwer und langsam durch
Milliarden von Jahren ermngenen Schätze, geniessen die durch
bewunderungswürdigste Conseriuenz nicht bloss festgehaltenen, son-
dern stetig vermehrten Privilegien ihrer Leibesorganisation und
Thatigkeit, und wollen es, wenn sie sieh für recht was Ausge-
zeichnetes und Vornehmea im Range unter dem übrigen Volke
der Lebewesen halten, den Ür-Ur-Ahnen doch nicht mal Dank
wissen, dass sie geworden sind, was sie sind. Allein so gebahren
sich nur die Vornehmsten unter den Vornehmen, die „M&nner der
Geisteewissenachaft" ; wem die Erinnerung im Seelenorgane auf-
blitzt, dass er am Ariadnefaden der realen stofQichen Entwickelnng
von niedrigster plebejer Herkunft stamme, den nennen Jene einen
„Materialisten", einen Menschen „ohne Erudition" — einen „Athe-
isten" — und weil er sich von der Polizei geheim - philosophischer
Bisciplinen emancipiren will, einen Attentäter auf die Vernunft!
SeinWissen soll nur a posteriori kommen, hintennach laufen, während
es doch vorangeht, denn nihil est in intellectu quod non antea
fuerit in sensu. Mit weit grösserem Rechte könnte man sagen:
es kommt her a prioribus, d. h. von allem seit Aeonen im Ver-
mächtnisse der Dahingeschiedenen überantworteten Empfiindenen,
Gewollten und Gedachten. Wer sieh auf Verification seiner ange-
erbten Reichthümer, seiner „immanenten" Lebensschatze, elnlasst,
dessen Ansprüche sind also nicht „grenzenlose", sondern legitime.
Was das bene distinguere anlangt, so haben die Naturforscher
darin eine grosse Thätigkeit bewiesen. Sie haben durch Errichtung
von Systemen-Phalanxen, durch Erfindung der schärfsten diagnostischen
Waffen, selbst durch wiederholte Versuche, feilgebotene philosophische
und theosophische Windlichter anzuwenden, ihr Streben nach dem
bene distinguere seit Jahrhunderten an den Tag gelegt. Und das
Pathos? die leere Phrase? Dazu mangeln bei Philosophen und
Theologen , selbst im vorliegenden Buche , nicht die Beispiele.
Empirische Naturgesetze? Wir bescheiden uns gern, aus hervor-
gegrabenen Grundmauerresten Vermuthungen auf architektonische
Regeln, nach denen die alte und neue Welt sich aufgebaut haben,
zu bilden; umgekehrt verfahren diejenigen, welche aller Erfahrung
leere Geistesgesetze in das Gebiet der Natur hineinescamotiren wollen,
sehr anspruchsvoll „denn es ist sehr was Ungereimtes, von der
Vernunft Aufklärung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben,
Notizen. 108
auf welche Seite sie nothwendig ausfallen müsse", sagt Kant (Kritik
der reinen Vernunft, 8. Aufl., pag. 775). Mit der Erudition — wenn
das viel-gelesen-haben bedeutet — sieht es freilich, das müssten wir
zugeben, manchmal bei den Naturforschem schlimm aus: sie treiben
sich in der Welt herum, sie gucken und horchen überall hin, in die
Tiefen der Erde und des Meeres, in die Höhen der Lüfte und des
Himmelsäthers, sie wägen und betasten, sie analysiren und componiren,
80 dass Ihnen keine Zeit übrig bleibt zum gemüthlichen Lesen in
vergilbten Schriften und Documenten menschlicher Verirrungen —
sie denken nicht nach Andern, sondern selbst!
Doch wollen wir uns nicht „unnütz befehden noch gegenseitig
aufzehren", sondern „tendenzlos" einander zu verstehen suchen.
Täuscht uns nicht alle Lebenserfahrung, so werden nach ein paar
Jahrzehnten die Zollgrenzen zwischen Materialismus und Idealismus
im grossen Bundesstaate der Wissenschaften gefallen sein und man
wird, weder dort noch hier mehr nöthig haben, materielle Causalität
und geistige Causalität als Fabrikate verschiedener Gebiete herüber
und hinüber zu escamotiren.
Das ganze Werk: „Versuch einer Socialethik nach empirischer
Grundlage", ist nach einem grossartigen Plane angelegt. Der erste
Theil, welcher die empirische Grundlage der später nachfolgenden
Socialethik herzustellen bestimmt ist und daher den Namen „Moral-
statistik" (sollte heissen Moralitäts- oder richtiger Lnmoralitätsstatistik)
führt, umfasst in zwei ungleich grossen Heften 994 Seiten; ausserdem
noch Tabellen nebst Quellenangaben auf 194 Seiten. Dass dieser
erste Theil zu einem solchen Umfange angeschwollen, beweist, dass
der Verf, wohl so etwas von Befriedigung nach fruditloser Sisyphus-
Arbeit empfunden haben mag, als er in die nüchterne Wirklichkeit
eingetreten war, und nun doch, was er schöpfte, im Gefässe behielt.
Das Material ist ihm denn auch wider Erwarten übergeflossen, wes-^
halb er uns wohl zumuihet, sämmtliche 1183 Seiten in einem Bande
zusammenzubinden. Dadurch aber wird das Zuviel um nichts weniger.
Statistiker von Profession mögen sich über die mit grosser Liberalität
und Genauigkeit wörtlich in allen möglichen lebenden und todten
Sprachen abgedruckten Citaten freuen , und wem der grosse literarische
Apparat nicht zu Gebote steht, der wird es mit Dank anerkennen,
dass ihm hier ohne Geld und Müh6 eine Masse Thatsachen und Be-
trachtungen, sogar alphabetisch registrirt, zur Benutzung vorgelegt
sind. Nur- den Fachgenossen des Verfassers, den Theologen, scheint
die Ptille von ziffermässig beglaubigtem Material ausserhalb des
10^ Notizen.
Bereiches ihrer GeisteBarbeit gelegen zu haben, — denn in der Vor-
rede zur zwßiten Hälfte des Werkes beklagt er es achnierzlich, daes
seiner statistisch zu begründenden christlichen Sittenlehre in der
theologischen Welt die erwünschte Gunst noch nicht entgegen ge-
bracht werde. Es sollte uns leid thun, wenn die Beachtung und An-
erkennung, welche die Methode und der Charakter der ganzen Arbeit
bei uns, die wir nicht zu den „Männern der Geiateswissenachaft"
gehören, finden muss und finden wird, ihm seine alten 4ieben Genossen
abwendig machen sollte. Allein wir können nicht anders, als ihm
dafür dankbar sein, dass er dem Realismua auf dem Gebiete der
Geisteswissenschaften überhaupt seine Aufmerksamkeit zugewendet
hat (Einleitung p. 1—29) — es bleibt immer Etwas hangen — und
freuen uns, dass er in den nachfolgenden 20 Seiten „das Bedürfniss
einer Socialethik auf empirischer Grundlage" fühlt.
Im 3. Abschnitte der Einleitung (pag. 57—80) räumt Verfasser
der Statistik einen wiaseuschattliehen Werth für die christliche Sitten-
lehre ein und macht auf den Unterschied aufmerksam, welcher
zwischen Gesetzen existirt, die von Menschen in Wort und Schrift
ausgedrückt, und Gesetzen, die von der Natur in die Menschheit ein-
gepflanzt sind. Erstere sollten doch, des bene distinguere halber,
ein für allemal Satzungen, Ukase, genannt werden, letztere aber
Gesetze, welche durch diesen Namen an den über- und vormensch-
lißhen, gleichsam paläontologiachen Ursprung erinnern. Der Natur-
forscher, der Gesetzeskundige vom reinsten Wasser, zieht aus den
/iflforn i^Pr Tmmm-nlitötgatatiatik manchmal einen andern Sehluss als
r Gerichtsverwalter,
folgt nun eine historisch-kiitische Umschau
itatistiscben Leistungen über die moralischen
Menschheit. Diese vier Capitel müssen selbst
äkern von höchstem Interesse sein. Es werden
tik überhaupt — dieser in der That jüngsten
- besprochen; dann wird als Begründer der
3h, „ein schlichter, ehrlicher Theologe" vor-
den „delstisch gefärbten, sonst aber ehrlich
las naive Zöpflein des 18. Jahrhunderts" zugut
rfasser mit, wie die statistischen Tendenzen
isen Einfluse auf die Entstehung einer „Moral-
— wie, nach einem Zwischenräume von zweien
jien und Frankreich durch Qu^telet, Villerm^
eschichte des Menschen als GeseUschaftslehre,
physique sociale, eine neue Bearbeitung auf mathematischer Grund-
lage erfahren habe und wie somit das Grundgesetz aller Logik der
Erscheinungen : dass die Wirkungen den Ursachen proportional sind,
auch in dem menschlichen Thun und Treiben zu voller Bedeutung
erhoben worden sei. Das war ein glücklicher Schnitt in das „naive
Zöpflein'^ wodurch ,^ unserer Ansicht nach. Naturwüchsigkeit und
natürliche Färbung da oben am Himschädel wieder zur Geltung
kamen!— Obgleich Qu^telets^toutepuissance'' und sein „crdateur*^
nicht den dogmatischen persönlichen Gott decken — indem er beide
vom Naturgesetze beherrscht sein lässt, — so kann Verf. doch nicht
leugnen, dass der in den Schriften Qu^telets sich durchziehende
Hauptgedanke auf alle Moralstatistiker, sowie auf ihn selber, einen
unverkennbaren Eindruck gemacht habe. Dieser Gedanke, dass der
einzelne Mensch sich in seinen sinnlich materiellen wie in seinen
geistigen Kundgebungen nach naturnothwendigen Gesetzen bewege,
fand immer mehr Boden. Wenn der Mensch auch , gleich dem an
die Erde gefesselten Monde, sich bald rechts, bald links, bald vor,
bald hinter dem Schwerpunkte seiner Anziehung bewegt, und mithin
in seinem Sichdarleben eine Cycloide beschreibt, so bilden doch alle
einzelne Menschen-Cycloiden , mit Kreide auf einer Tafel zusammen
gezeichnet, eine Linie^ innerhalb deren Breite sich eine regelmässige
ideale Figur erkennen lässt: die Richtlinie der Menschheit, in einer
Form, wie seit Millionen von Jahrhunderten sie durch Selbstbestimmung
geworden, nicht esoterisch gewollt ist. Diese Form hat, eben
weil Alles und Alles, immer und immer auf der Erde Eins aus dem
Andern entstanden und geschehen ist, das Ansehen von innerer
Zweckmässigkeit und durch den millionenmal von Generation auf
Generation vererbten Usus die Kraft und den Namen eines Natur-
gesetzes erhalten. Ohnmächtig sind im Verhältniss zu dieser Legitimität
die „causes perturbatrices" und die schmächtigen Velleitäten des
Einzelnen. Ohne Furcht und mit Gewissensruhe unterschreiben wir
die ironisch gemeinte Phrase des Verfassers: „Die Riesenschlange
eines pantheistisch oder realistisch gedachten Causalzusammenhanges
droht mit ihren Windungen nicht bloss in der Statistik, sondern auch
in aller Naturphilosophie die kleine und grosse Willensfreiheit zu
Tode zu drücken." (p. 126.) ^
Hierauf kommen wir zu den englischen Leistungen auf dem
Gebiete der Statistik der Willenshandlungen. Sie tragen, wie Verf.
bemerkt, einen durch und durch andern Charakter als die französischen,
einen praktischen — wir möchten sagen kaufmännischen der doppelten
1(Ä Notizen.
Buchführung, ohne alle Gemüthlichkeit. Porfcer's, Miirs, Lewes, wird
lobend gedj^cht; Buckle geht es, wie zu erwarten war, Bchlimm —
der ist auch gar zu erbosst auf clericalen Dogmatiamus I — Den
„Moralstatistikern" Deutschlands räumt Verfasser in Betreff der
kritischen und philosophischen Beleuchtung der Controversen den
Vorrang vor den belgischen und französischen ein, obgleich ßie die
eigentliche Moralstatistik etwas stiefmütterlich behandeln, (p. 185.)
Die Arbeiten Dieterici's, Engel's, Hoffmann's, Wappaeus, Drobisch's
und seines Collegen an der Dorpater Universität A. Wagner's (gegen-
wärtig Professor in Freiburg) bespricht er ausführlich, wobei er
manchen Fehdehandschuh auf die Arena wirft, welchen die Statistiker
von Profession aufeuheben nicht ermangeln werden.
Im 3. Abschnitte (p. 235—312) zeigt Verfasser, dass die Statistik
als numerische Methode nicht Selbstzweck sei, sondern nur Mittel,
um die Verursachung gewisser Phänomene zu erkennen. Sie solle in
»einem Werke mitbin als Hülfswissenechaft zur Erkenntniss der
geistig-sittlichen Natur des Menschen angewendet werden, sie solle
die Aetiologie des gesunden wie des kranken moralischen Zustandes
der Menschengruppen aufklären, auch durch Zahlen einen Wink geben:
ob und wie Staatskünstler ihre Aufgabe, den Staat gesund zu erhalten,
den kranken zu heilen, lösen. Das statistische Material dürfe weder
absichtlich, noch unabsichtlich gefälscht und missbraucht werden;
die officiellen Documenta systematischer Massenbeobachtung müssten
eine fides publica haben, nkilit zu enge Zeiträume umfassen.
Mit den arithmetischen Mittel werüien allein lasse sich Nichts ergründen,
es müssten die Verhältnisszahlen der moralischen (resp. immoralischen)
Thaten zu der Menscbenzahl , die moralischen Werthmesser der
Nationen gegen einander verglichen werden. Sehr richtig tadelt er
den Missbrauch der Wahrscheinlichkeitsrechnung, wenn man danach
das Moralitäts- Conto des einzelnen Menschen belasten wolle. Bei
dieser Gelegenheit müssen wir doch als Beispiel, wie schwer es ist,
das „naive" Glaubens-Zöpflein von dem Hinterhaupte an die Stelle der
Wissensglatze nach vom zu drehen, folgende Betrachtung des Verf.
mittheilen. „Wer will das wirklich Mögliche und Unmögliche be-
rechnen! Es bleibt immer möglich, dass der einzelne Mensch, trotz
der allgemeinen -entgegenstehenden Erfahrung, doch nicht stirbt,
d. h. etwa verwandelt oder in den Himmel gerückt werden
kann, wie Henoch und Elias; allein für mich bleibt es immer
absolut unwahrscheinlich , und ich habe empirisch die Gewissheit
zu sterben." (p. 257.) Wenn das am klassisch und mathematisch
Notizen. 109
gebildeten Kopfe unseres verehrten Professors der Theologie an der
Hochschule geschieht — was mögen da an den Köpfen geringerer
Religionslehrer für Zöpflein hinten bammeln?!
Nachdem Verf. über Gebrauch und Missbrauch des sogen. Ge-
setzes der grossen Zahl und von der Analyse und der technischen
Gruppirung der statistischen Daten gesprochen, fasst er im 6. Capitel
dieses Abschnittes seine Gedanken über den inductiven Nachweis der
Gesetzmässigkeit sittlicher Lebensbewegung aus statistischen Daten,
über den Begriff der Gesetzmässigkeit und der Freiheit nochmals zusam-
men. Dass er über Personen, welche ein Causalgesetz überhaupt nicht
anerkennen wollen, oder welche eines gewissen philosophischen An-
striches halber vorgeben zweifeln zu müssen, dass morgen die Sonne
aufgehen werde oder dass eine Aussenwelt wirklich existire, noch
Worte verliert (pag. 236) ist ganz unnütz: die „Social -Ethik" hat
nur Sinn und Werth unter Menschen, die wirklich neben dem
Verfasser existiren; seine Methode, seine Resultate werden geschätzt
werden, gleichviel für welche Hypothese von den letzten Ursachen,
von absolutem Willen, von Freiheit und dergl. die Leser sich erklären
mögen.
Von pag. 300 an stellt er sich wieder auf den praktischen
Standpunkt. ^Um aus dem allgemeinen Raisonnement herauszu-
kommen, will ich das den angegebenen Principien entsprechende
Verursachungssystem anzugeben und zu begründen suchen." So
gruppirt er denn die Einflüsse auf die sittliche Lebensbewegung der
Menschheit, wie die Arzneigelehrten die Krankheitsanlagen und die
GelegenheitÄui:sachen zu Krankheiten in den Handbüchern der Patho-
logie. Diese Moralitäts- oder Immoralitäts - Aetiologie scheint uns
erschöpfend zu sein. Nur der zwingenden Vererbungskraft, dieser
Grundeigenschaft der pflanzlichen und thierischen Organismen, hat
Verf. nirgends in seinem Schema gedacht. Dieses umfasst:
L Physische Einflüsse.
a. unversell bedingende und bedingte (planetarische, terrestrische
Verhältnisse) ;
b. social bedingende und bedingte (Nationalität, geographische,
hygieinische Verhältnisse) ;
c. individuell bedingte und bedingende (Alter, physisch-leibliche
Beschaflfenheit).
n. Geistig-sittliche Einflüsse :
a. universell wirkende (allgemeine Intelligenz, allgemeines
Ethos) ;
110 Notizen.
b. social wirkende (Familie, Staatsverfassung, Administration,
Kirche) ;
c. individuell wirkende (Herkunft, geistige Begabung, intellectu-
eller und religiöser Bildungsstand, Berufsstellung).
Verf. will in der nun folgenden Analyse der moralstatistischen
Daten jene schematische Gruppirung stets im Auge behalten; wir
finden aber, dass er in dieser über 680 Seiten starken Hälfte des
ersten Theils das reiche Material anders gruppirt. Er handelt im
I. Abschnitt von der Lebenserzeugung im Organismus der Menschheit:
a. Polarität und Gleichgewicht der Geschlechter;
b. Geschlechtsgemeinschaft;
c. Progenitur;
im n. Abschnitte von der Lebensbethätigung im Organismus der
Menshheit :
a. social-ethische Lebensbethätigung in der bürgerlichen Rechts-
sphäre ;
b. social-ethische Lebensbethätigung in der intellectuell-ethischen
Bildungssphäre;
c. social-ethische Lebensbethätigung innerhalb der religiös-sitt-
lichen Sphäre;
im ni. Abschnitte vom Tode im Organismus der Menschheit:
a. Siechthum und Sterblichkeit im Zusammenhange mit sittlichen
Factoren ;
b. das Verbrechen des Mordes, als Ausdruck einer CoUectivschuld;
c. der Selbstmord.
Die „Schlusserörterung" auf 50 Seiten endet mit der „Bedeutung
der gefundenen ethischen Gesetze für das praktische Leben*.
Alles das bietet viel, sehr viel Stoff zum Nachdenken und zur
Besprechung in einem zweiten Artikel.
— cz.
Eaifcurpilanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus Asien nach Griechenland
und Italien sowie in das übrige Europa. Historisch -linguistische Skizzen
von Victor Hehn. BerHn 1870.
Die Baltische Monatsschrift hatte in früheren Jahren das Glück,
den Verfasser des hier angezeigten Buches zu ihren Mitarbeitern zu
zählen, und wohl alle ihre Leser werden darin einig sein, dass seine
Beiträge — mit oder ohne Namensunterschrift — zu dem Allerbesten
gehörten, was diese Zeitschrift überhaupt gebracht hat. Konnte man
doch auch, so oft als im Publicum von den späteren Umständen und
Notizen. 111
Nötlien der Monatsschrift die Rede war, fast sicher auf den Seufzer
gefasst sein: „Warum schreibt Hehn nicht mehr?"*
Eine genügende Antwort auf diese Frage giebt, abgesehen von
allen andern etwa noch möglichen Gründen, eben das Erscheinen
dieses grösseren Werkes von ihm, füi' dessen Herstellung es ebenso
mühsamer Sammlung eines weitverstreuten Materials, als tief ein-
dringender Gedankenarbeit bedurft hat.
Es ist nicht etwa bloss eine geschmackvoll populäre Verarbeitung
und Darstellung von wissenschaftlichen Ergebnissen, die den betreffen-
den Fachgelehrten schon vorher fest standen, sondern vielmehr selbst
eine streng wissenschaftliche und die bisherigen Gränzen der Er-
kenntniss erweiternde Forschung, die ihrerseits ohne Zweifel alsbald
eine Fundgrube für die populären Verarbeiter und Darsteller ab-
geben wird. Demnach ist es auch ein Werk, dessen Leetüre eine
bestimmte Art von Vorkenntnissen erfordert. Die lateinischen und
griechischen Citate, mit denen es angefüllt ist, und noch mehr die
sprachvergleichenden Demonstrationen, von denen freilich schon zur
Erleichterung des Lesens ein grosser Theil in den „Anmerkungen"
am Ende des Buches abgesetzt ist, können nicht jedem Gebildeten
als solchem anstehen. Ja, von dem letzteren, sprachvergleichen-
den Momente der Untersuchung muss gesagt werden, dass es volle
Beweiskraft überhaupt nur für Denjenigen hat, der schon mehr oder
weniger mit der Methode und den Ergebnissen der neueren Sprach-
wissenschaft vertraut ist. Während der Linguist von Fach aner-
kennnen wird, dass Hehn sich auf diesem Gebiete mit der äussersten
Vorsicht verhalten und nur die sichersten Schlussfolgerungen ent-
weder von Anderen angenommen oder selbst gemacht hat, dürfte
dem Uneingeweihten das Meiste davon höchstens als geistreiche
Hypothese erscheinen. So aber erschien einst den . Zeitgenossen
auch das Copernicanische System und noch vieles Andere, was jetzt
als unerschütterliche Wahrheit in die allgemeinere Erkenntnissmasse
der Menschen übergegangen ist. Nur weil diese Art von Sprach-
forschung noch neu ist,* macht sie auf die darin Ungeschulten den
Eindruck nicht exact zu sein.
Immerhin empfehlen wir auch den unphilologischen unter den
Lesern, ja Leserinnen der Baltischen Monatsschrift sich durch das
ihnen zunächst entgegentretende Stachelwerk von Gelehrsamkait nicht
abschrecken zu lassen. Bei näherer Durchsicht werden sie sich durch
viele auch ihrem Verständniss offen liegende einzelne Stellen und
grössere Partien des Buches überreichlich belohnt finden. Auch
denke niemand, dass „Kulturpflanzen und Hausthiere** ein gar zu
specielles und dem breiteren Bildungsinteresse gleichgültiges Thema
sei. Wir können gegen eine solche Vorstellung von der Sache nichts
Besseres thun als des Verfassers eigene Worte anführen.
„Zunächst — so lesen wir bei ihm — ist die Bodenkultur, die
Garten- und Hauswirthschaft nur der Theil eines Ganzen, ein blosser
Ausschnitt aus der allseitig sich vollziehenden Bildungs- und Ver-
edelungsgeschichte der Menschheit. Dennoch spiegelt sich auch
112 Notizen.
wieder im Einzelnen das Allgemeine, und wie die Kulturpflanzen
von Volk zu Volk, von Ost nach West, von Süd nach Nord ge-
wandert sind, so in derselben Richtung und Zeit auch die Freiheit
und Kultur selbst in jeder Gestalt. Aus Indien und Persien, aus
Syrien und Armenien stammen unsere Feld- und Baumfrüchte, eben
daher auch unsere Märchen und Sagen, unsere religiösen Systeme,
alle primitiven Erfindungen und grundlegenden technischen Künste.
Griechenland und Italien führten uns die Nähr- und Nutzpflanzen
zu, mit denen wir im mittleren und nördlichen Europa unsere An-
siedelungen umgeben, und eben diese Länder lehrten uns in eben
dieser Reihenfolge edlere Sitte, tieferes Denken, ideale Kunst, humane
Zwecke und die höheren Formen politischer und socialer Gemein-
schaft. Was die Pflanzengeschichte bezeugt, würde auch von der
Kulturgeschichte im umfassenden Sinne nicht anders ausgesagt werden."
Mit andern Worten : die Geschichte der Culturpflanzen und Haus-
thiere ist in gewissem Maasse zugleich die Geschichte des Herrn
über dieselben, des Menschen. Insbesondere aber — so möchten wir
noch hinzusetzen — ist die älteste Geschichte der Culturpflanzen
und Hausthiere fast gleichbedeutend mit der Geschichte der ältesten
menschlichen Cultur überhaupt; denn je ursprünglicher die Zustände
der Menschheit waren, desto vorwiegender unter den sie zu That
und Arbeit treibenden Bedürfnissen war das einfache Nahrungs-
bedürfniss, welches eben die Zähmung und Züchtung von Thieren
und den Anbau fruchttragender Gewächse gelehrt, den wilden Jäger
in den socialeren Nomaden und diesen in den' aller weiteren Civili-
sation fähigen Acker- und Gartenbauer umgewandelt hat.
Daher sind es denn auch die Urzustände der europäischen Völker,
ihre ersten Wanderungen und ihr ältester Verkehr, bei denen die Dar-
stellung verhältnissmässig am eingehendsten verweilt, ohne jedoch
in dieser Vorhalle der Ges'chichte stehen zu bleiben. Vielmehr werden
alle Fäden der Untersuchung durch das ganze griechisch-römische
Alterthum , manche auch bis in die Neuzeit , über die Entdeckung
Amerikas hinaus, fortgesponnen; ja, in besonderen Excursen wird fast
das ganze Geschichtsbild des europäischen Culturprocesses mit grossen
aber scharfen Zügen umrissen, so dass wir eigentlich finden, der
Titel des Buches sei etwas zu eng für seinen Inhalt.
Wir bedauern nicht auch einige der merkwürdigsten Ergebnisse
dieser geistvollen Arbeit hier herausheben zu können: der dem
Referenten am Schlüsse des ersten Heftes „neuer Folge" zur Ver-
fügung gestellte Raum ist dafür zu knapp ausgefallen. Kaum aber
liegt etwas daran, dass wir uns ebenso wenig über die formellen
Vorzüge der Darstellung auslassen können : diese sind unsern Lesern
an dem . Verfasser nichts Neues. — z.
Von der Censur erlaubt. Riga, den 19. Februar 1870.
Druck der Livländischen Gouvernements-Typographie.
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
n.*3
las W^hoHttgsbedarfniss^ «den Wie viel giebt itr leiseh fiir gfine W«hnug aHs!
Ciin Hauptbestreben der neueren wisseng^phaftlichen Statistik ist darauf
gerichtet, die Gesetzmässigkeiten in den scheinbar willkürlichsten
Handlungen des Menschen nachzuweisen. So ist gerade in der jüngsten
Zeit in unserm Livland ein Hauptwerk dieser Richtung, Oettingen's
Moralßtatistik erschienen,**) für die baltischen Provinzen interessant
als das Werk eines Livl'anders, für die Statistik von Werth durch den,
soviel wir wissen, ersten Versuch, die vielen statistischen Daten über
die moralische Seite des Menschen nicht nur aus ihrer Zerstreuung
äusserlich zu sammeln, sondern auf die Frage nach der Gesetz-
mässigkeit hin in innerlichen Zusammenhang zu bringen, und für die
ganze Wissenschaft von Bedeutung, weil das Werk von einem Theo-
logen ausgeht, welcher der Ethik die Vorzüge der inductiv- statisti-
schen Methode zuwenden will.
Ein anderes, materielleres Gebiet auf welchem man neuerdings
die Entdeckung von Gesetzmässigkeiten anstrebt, ist die Consumtions-
statistik, Consumtion verstanden als die Befriedigung aller mensch-
lichen Bedürfnisse. Unter allen Bedürftiissen des Menschen, d. h.
unter all seinen Neigungen, deren Befriedigung er wünscht, haben
wir uns das, sich gegen die Unbilde der Witterung und gegen
andere Fatalitäten durch ein Obdach zu schützen, gewählt, dasjenige
•) Vgl. Baltische Monatsschrift, Jahrgang 1868, Band XVIII, Heft 1, S. 1:
I. Die Wohnungen Riga*s. Später werden folgen:
in. Der Einfluss der Wohnung auf die Sittlichkeit.
IV. Die Wohnung in ihrer Abhängigkeit vom Geschäftslocal.
**) Alexander v. Oettingen, Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre,
Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage. I. Theil. Die Moral Statistik.
Erlangen 1868, 1869.
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 2. 8
114 Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
BedürfbisB materieller Natur, welches mit dem Menschen das Thier
nur ausnahmsweise gemeinsam hat: sein Wohnungsbedürfniss.
Ein erster Versuch, Gesetzmässigkeiten in der Befriedigung eines
Bedürfnisses zu finden, ist auf dem Gebiete desjenigen Bedürfnisses
gemacht, welches von allen Menschen und allen Thieren in erster
Linie befriedigt werden muas, auf dem des Nahrungsbedürfnisses.
Einleitungs weise müssen wir auch dieser Untersuchung gedenken.
Zuvor ein Wort über die BeschafiFimg des statistisclien Materials.
Mit wenigen Ausnahmen wird ein grösseres statistisches Material
nur zwangsweise durch den Staat in seinen s. g. „statistischen
Erhebungen" beschafft, „Staat", etwas weit genommen, als
totum pro parte, in dem ja auch kleine Gemeinschaften, wie z. B.
Kreise oder Gemeinden in mehr oder minder grosser Abhängigkeit
vom Staat statistische Erhebungen machen. Den Gegensatz zu diesen
zwangsweisen staatlichen Ermittelungen bilden die statistischen Daten,
welche man jedem beliebigen fragenden Privatstatistiker giebt. Während
die Zwangsstatistik des Staates in erster Linie praktischen, admini-
strativen Zwecken dient, ist die Privatstatistik meistens wissenschaft-
lichen Motiven entsprungen. Noch liegt die Privatatatistik in den
Windeln, ja vielleicht mttsste man sagen, dass sie kaum schon so weit
sei; es sind einzelne Bruchstücke ohne Zusammenhang unter einander,
und noch, weniger nach einem allgemeinen Plan ermittelt, als die
ohl giebt es an vielen Orten Privatvereine für
Beschäftigung ist mehr, das staatlieh beigebrachte
eiten, als selbst Material ^u sammeln. In diesen
ch von Engel , dem Director des preussischen
118 der Plan zu einem grossen Netze statistischer
n deutscher Zunge ausgegangen*}. Möchte doch
in den deutschen Gauen rechten Anklang und
g finden, damit, wie es überall meteorologische
nwarten giebt, auch bald „Menschenwarten",
istiscben Bureaus öflCentlicher und privater Natur
mS welche Genüsse die Menschen verschiedener
Einkommen vertheilen, oder in welchem Verhält-
für verschiedene Bedürfnisse zu einander stehen,
^gründang eines statistischen VereinsDetzes für die Länder
iilage EU Heft T, 8, 9 der Zeitschrift des prensaiachen
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
115
kann bisher lange nicht so gut beantwortet werden, als man bei der
Bedeutung dieser Frage, welche eine der Hauptgrundlagen für eine
wahrhaft wissenschaftliche, d. h. für eine auf methodischen Massen-
beobachtungen uild nicht bloss auf zufäUiger Einzelbeobachtung aufge-
baute Ethnographie ist, erwarten -sollte.
Jeder einzelne Mensch kann, wenn er nur einigermaassfen Buch
führt über seine Ausgaben, die genauesten Daten mit leichter Mühe
geben, er muss nur dazu angeleitet werden. Damit die Daten statistisch
brauchbar, d. h. vergleichbar sind, müssen sie nach denselben Grund-
gedanken ermittelt und verzeichnet werden. Es fehlt nur an der
Initiative. Dass diese Ermittelung für jeden richtig Geleiteten ein
Leichtes ist, wird wohl durch Nichts besser bewiesen als* dadurch,
dass gerade aus den untersten, ungebildetsten Volksclassen die Daten
hierüber ermittelt sind durch die Bemühungen des Belgiers Ducpätiaux
und des Franzosen Le Play. Beide haben, unabhängig von einander,
unter Beihülfe anderer Privatstatistiker die Ausgaben der unteren
Volksclassen, wenn ich so sagen darf, quantitativ analysirt, indem
sie den Arbeitern eine rationelle Wirthschafts- und Haushaltungs-
Buchführung beibrachten, deren Ausübung tiberwachten und deren
Resultate publicirten.
Das von Ducp^tiaux gesammelte statistische Material hat nun
Engel in einer seiner geistvollsten Abhandlungen*) zu einem Gesammt-
bilde verarbeitet. Wir dürfen auf diese statistische Arbeit hier leider
nicht weiter eingehen, als dass wir die Daten mittheilen, welche sich
auf das Verhältniss zwischen den Gesammtausgaben und den Aus-
gaben für Wohnung beziehen:
Arbeiterfamilien.
*
Gesammt-
Ausgaben
per Familie.
Fr.
Nahmngs-
Ausgaben
per Familie.
Fr.
Nahrungs-
Ausgaben
von allen
Ausgaben,
%
48
51
54
LI Carm) , .
U. \ Kategorie (dürftig). .
m.' (behäbig) .
648,68
845,44
1214,44
459,45
569,55
757,08
70,80
67,37
62,42
16a
I. TT. TIT. Kategorie . . .
913,95
601,64
65,83
*
Engel kommt hiernach zu dem auf dem Wege ächter Induction
gefundenen Satze: „Je ärmer eine Familie ist, ein desto
•) Die vorherrschenden Gewerbszweige in Sachsen. Zeitschrift des sächsischen
statistischen Bureaus. 1857.
8*
im Statifltisctie Studien zur Wohnungsfrage.
grösserer Antheil an der Gesamm tausgabe muss zur Be-
schaffung der Nahrung aufgewendet werden", bei den ärmstoi
Arbeiterfamilien 71%, bei den schon wohlhabenderen 67 Vo wnd bei
den wohlhabendsten 62 "/o- Obigen Satz von Engel darf man jedoch
keineswegs so verstehen, als ob jede ärmere Familie verhältniss-
mässig mehr auf Wohnung verwendet wie jede wohlhabendere, sondern
BO, dass in den meisten Familien einer Wohlhabenheitsciasse sich
dieses zeigt.
Diese Abnahme der Nahrungsprocente mit steigender Wohlhaben-
heit ist keine zufällige, denn sie zeigt sich überall wieder. Z, B. wenn
man zu den obigen 153 Arbeiterfamilien noch die 47 andern von
Ducp^tiaux beobachteten Familien hin^unimmt, und wenn man diese
Arbeiterfamilien streng nach den Ausgaben in Geld ordnet, erhält
man dieselbe Erscheinung:
ZiOd der Puuliiii.
Durchschnitt aller
Ausgaben.
Fr,
DurchBchnitt der
Nahrungeausgaben.
Fr.
in V, aller
Ausgaben.
50
60
60
60
620,,,
764,,
960,.,
1500,j„
3e6„
613,,
Ml,..
936,0,
70„
68„
66„
62,
200
933,,,
614,,.
56,,
Reducirt man die Geldausgaben auf Brodwerth, d. h, setzt man
an die Stelle der Franken die Anzahl Kilogramm Brort, welche
man für das Geld kaufen kann, (welche Rechnung fiir 130 der
obigen 200 Familien möglich war,) so bleibt auch dann die Gesetz-
mässigkeit :
130 Familien geordnet nach ihren Geldausgaben wie oben:
Zahl der Familien.
Alle Ausgaben.
Fr.
Hahrungs-
Ausgaben.
Fr.
Kahrung von allen
Ausgaben.
40
40
60
655,«
848,,,
1326,,, ■
386,,,
667,0,
848,,,
69,1
66«
64
130
942„,
1616,.,
66„
statistische Stadien zur Wohnungsifrage.
117
Dieselben 130 Familien geordnet nach dem Brodwerth ihrer Geld-
ansgaben :
Zahl der Familien.
Alle Ausgaben.
Fr.
Nahrnngs-
Ausgabon.
Fr.
Nabrang von allen
Ausgaben.
V.
40
40
50
624,, 0
848,88
435^0
663,10
804,0«
69«
66,a
63«
130
942,31
616,38
65,5
Ebenso macht es, ob wir nach den drei Kategorien geordnet Land-
bewohner oder Städter vor uns haben, nichts aus; immer dieselbe
Erscheinung :
Städter . . . 69,5, 68,5, 59,« 7o,
Landbewohner 71,8, 67, 63,8 7o.
Auch ist nicht etwa auf Belgien dieses Ausgaben -Verhältniss
beschränkt. Für 39 Familien aus Frankreich und den zunächst an
Frankreich grenzenden Theilen Deutschlands, der Schweiz und Sa-
voyens haben wir nach den Airbeiterbudgets von Le Pltfy Dasselbe
gefunden, und zwar schon wenn wir nur je 10 Familien in eine
Gruppe zusammennehmen:
Zahl
der Familien.
Alle Ausgaben
pr. Familie.
Fr.
Nahrungsaufigaben
pr. Familie.
Fr.
Nahrung von allen
Ausgaben.
V..
9
10
10
10
638,60
1,100^0
1,564,00
2,527,10
404,to
647,00
879,10
1,312^90
63,ae
58,71
56,21
51^4
39
1,478^0
821,10
55,53
Dieselbe Abnahme der Procente unter den französischen Ar-
beitern! Ja wir können jetzt auch die sämmtlichen 200 belgischen
Arbeiter mit den 39 französischen vergleichen. Eine belgische
118
Statistiscfae Studien zur Wohnungsfrage.
Arbeiterfamilie hat nnr 933,gg Fr. zu verauegabeu, eine der firan-
zösiachen aber l,478,eo Fr. Bei den Belgiern nimmt der Magen
65rt % davon, bei den Franzosen nur 55,33 %, d. h. bei den durch-
schnittlich Wohlhabenderen weniger Procente.
Ebenso gilt die Regel nicht nur für die unteren Claasen, sondern
durch alle Stände hindurch bis zu sehr wohlhabenden Familien.
Diesen Beweis erbringt eine Hamburger Consumtionsstatistik, gleich-
falls eine Privatarbeit. *) Wir übertragen die Mark Gourant in
Franken (1 Mark = 1,5 Fr.):
Z&bl
Alle AuBgaben
Nahrnng von eilen
derFamitien.
pr. F&miUe.
pr. Familie.
Anegeben.
Fr.
Fr.
•/..
17,833
760
603
67
10,189
1,125
760
66,,
5,031
1,800
1,020
56,,
4,037
3,760
1,600
40
1,648
6,700
1,960
34„
»
3,910-
21„
>0
918
. 40,.
rankreich zusammengestellt:
Fr. Gesammtausgabe, Nahrung
= 65,8 7c,
= 55,3 Vo,
= 40,8 %.
il%keit dieses Gesetzes kann man nicht mehr
lun aber gemeint, nur aus den Daten bei
^fassenden vor längerer Zeit und auf Grund des
Verfasser angestellten Untersuchungen" **) (?)
idene Wohlhabenbeiteclaesen das Procentver-
len; er giebt eine Reihe, aus der wir der
& dritte Datum nehmen:
tellung der Hamburgiechen GoneamtionsverhäUnisBe
turtheiluag der Frage nach der Tertheilung der pro-
e über die verBchiedenen ClasBen der itevölkerung.
alender 1S68: die Industrie der grosBen Städte, S. 137.
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
119
. Wenn das gesammte
so nehmen die
Einkommen einer Familie
Aasgaben für Nahrang
beträgt Fr.
davon in Anspruch:
300
71,48
600
67,,,
900
64.8,
1,200
62,55
1,500 ,
60„5
1,800
69,,,
2,100
88,35
2,400
67„3
2,700
57,.,
3,000
56,90
Wir möchten bezweifeln, ob das qualitativ gefundene Gesetz
bei dem jetzigen Material schon quantitativ festgestellt werden
kann, wir kennen aber allerdings das Material nicht, von welchem
Engel fast geheimnissvoll redet. Mit unseren Daten, ßo weit sie
vergleichbar gemacht werden können, stimmt seine grosse Reihe
in der That schlecht genug. Z. B. :
Hamburg.
Engel.
Ausgabe.
Vo für
Fr.
Nahrung.
750
67
1,125
66„
1,800
56„
3,750
40
Ausgabe.
^0 für
Fr.
Nahrung.
750
66,17
1,100
63,25
1,800
69,31
3,000
56;0O
oder:
Belgien, Frankreich, Hamburg.
Engel.
Ausgabe.
Fr.-
Vo für
Nahrung.
Belgien 934
Frankreich 1,479
Hamburg 2,250
64,8
60,75
58,08
65,8 900
55,3 1»500
40,8 2,200
Engel scheint darnach die Abnahme zu gering geschätzt zu haben.
Wir wissen nun zwar recht wohl, dass die hamburger Angaben
nur sehr approximativ richtig sind, und dass auch die Daten aus
Belgien, Frankreich und Hamburg nicht unmittelbar mit einander
verglichen werden können, doch genügen die Beispiele, um zu zeigen.
120 Statistische Studien zur Wohnungsfirage.
dassEngel's quantitative Analysen noch aicbt ganz auf y
Induction" beruhten.
Kann man nun für das Wohnungsbedürfniss dasselbe Gesetz
finden oder überhaupt ii^end ein Gesetz, wenn auch vielleicht eia
gerade entgegengesetztes, dass je wohlhabender die Familie ist, um
80 mehr Procente aller Ausgaben auf Nahrung verwendet werden,
oder aber ein mittleres Gesetz, dass die Wohnung in allen Wohl-
habenbeitsclassen gleichviel Vo beansprucht?
Die Ausgabebudgets, welche wir im Vor^en auf „Nahrung"
analysirt haben, geben uns für „Wohnung" keine bestimmte Ant-
wort; am meisten scheint es noch nach diesem Material, als ob ver-
schiedene Wohlhabenheitsclassen nahezu die gleichen Procente auf
Wohnung ausgeben. Engel ermittelte für die belgischen Arbeiter :
Arbeiterfamilien.
AUe
Auflgaben.
Fr.
WohmingB-
aua gaben.
Fr.
gaben von allen
Ausgaben •/(,.
48 I.]
51 II. \ Kategorie.
648^6
845,„
1214^4
56,54
199,s,
8„2
8,33
0,04
913/M
79,ae
8„9
t jede Arbeiter-Kategorie fast genau die
lg, und Engel scheint das auch für höhere
mzunebmen, er giebt auf einer Tabelle im
der *) 8. 137 an:
s unter den Ausgaben einer Familie :
Tbeiter-
300 bis ^^* Mittelstandes des Wohlstandes
ahres- mit 600 bis 800 Thlr. mittOOO bislSOOThlr.
12 7o
12%
Annahmen hat Engel leider nicht milgetheilt.
;en Berechnungen der belgischen Arbeiter-
ich keinen sichern Anfschluss, aber die
<B Übrigens lidssen: „So wird z. B. in Berlin sicher
gt als 12% des Einkommens", statt wie dort steht
Yo ist Beleuchtung und Heizung.
statistische Studien tnr Wohnungsfrage.
121
Wohnungsausgaben scheinen mit der Wohlhabenheit in 7o ^^«r zu
sinken als zu steigen.
Zahl der Familien.
=xr = , — r
Gesammt-
Ausgaben.
Fr.
WobnungS"
Ausgaben.
Fr.
Wohnungsaus-
gaben von allen
Aasgaben %.
50
50
50
50
820„4
754,n
960m,
1500,20
48,54
68,25
83,24
131,55
93
91
87
88
4
100
100
637,42
1230,30
58,40
107,34
92
87
200
933,85
82,97
89
Die 13Ö Familien, welche nach dem Brodwerth geordnet werden
können, ergeben in Wohnungsprocenten :
Faxnilien.
nach dem Brodwerth
geordnet.
nach dem Geldwerth
geordnet.
40 arme.
40 mittel.
50 reiche.
9,6
9,6
8,0
9,5
9^5
9,3
9,2
9/2
Wir führen diese Resultate nur an, damit man nicht glaube, wir
verheimlichen die auf diesem Wege geAindenen Resultate absichtlich,
weil sie uns nicht passen ; ein Bild können diese Daten nicht geben, da
für diese Frage die Ordnung nach dem Brodwerth keinen Sinn hat.
Anders die- Trennung in Stadt und Landvolk wieder nach der
EngePschen Gruppirung in drei Kategorien.
Die Landbevölkerung giebt uns:
Familien.
Alle'
Ausgaben.
Fr.
Wobnungs-
Ausgaben.
Fr.
Wohnungs- •
Ausgaben.
%•
I. Kategorie . . .
11. ^ ...
III. „ ...
37
41
42
610,48
803,gg
1111,64
51/02
63,52
91.8,
8,4
7,9
8,2
L, II., 111. Kategorie
120
851,94
69,52
8/^
122
Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
Also, wie oben, fast gleiche Procente, aber eher mit der Wohl-
habenheit abnehmende Procente. •
Die Stadtbevölkerung hingegen scheint auf eine Zunahme der
Procente mit zunehiiiender Wolilhabenheit zu deuten:
Familien.
Alle
Ausgaben.
Fr.
Wohnungs-
Ausgaben.
Fr.
WolinungB-
Ausgaben.
7o.
I. Kategorie . . .
1 X» a& ...
m. „ ...
11
10
12
775„o
1015,9,
1571,j9
75,99
95,23
173,50
9/8 .
9,4
11,2
L, II.,, TIT. Kategorie .
33
1137„e
117,28
10,3
Auf die Resultate dieser Tabelle möchten wir jedoch wenig geben,
da der Beobachtungen zu wenige sind, um daraus sichere Schlüsse
ziehen zu können.
Giebt uns die französische Arbeiterbevölkerung bessere Auf-
schlüsse? Leider nein.
Alle
Wohnungs-
Wohnungs-
Familien.
Ausgaben.
Ausgaben.
Ausgaben.
Fr.
Fr.
%
9
638,6
46,53
7/29
10
1100,9
61,80
5i63
10
1564,0
123,,,
7/9
10
2527,,
210,89
8/35
19
881,4
54„6
6/21
20
2045,5
167,20
8n7
39
1478,e
112,45
•
7/61
Die wohlhabenderen Familien scheinen hier nicht unbedeutend
mehr Procente auf Wohnung zu verwenden als die Aermeren, allein
zum Theil kommen die höheren Wolmungsprocente daher, dass unter
den 19 ärmeren Familien nur 2, unter den 20 wohlhabenderen aber
8 aus der Stadt Paris sind. In den Städten schluckt die Wohnung
natürlich mehr Pi'ocente der Ausgaben, als auf dem Lande, und in
den grossen Städten mehr als in den kleinen. Unsere wenigen fran-
zösischen Ausgabebudgets zeigen das freilich kaum. Die 10 Pariser
Familien geben nämlich für Wohnung 7,9% aus bei durchschnittlich
1^
statistische Stadien zur Wohnungsfrage.
123
2131;84 Fr. Ausgabe, die 29 Nichtpariser aber bei 1263,4o Fr. Ausgabe
7,4%. Die Zahlen sind jedoch für solche Beobachtungen wieder zu
unsicher, weil zu klein. Dass in den Städten -durchweg mehr für
Wohnung darauf geht als auf dem platten Lande, zeigen die 10,3%
ftii* Wohnung bei den belgischen Städtern und die nur 8,2% bei den
belgischen Landbewohnern bei ziemlich gleicher Wohlhabenheit Beider.
Es bleibt uns noch das Hamburger Material übrig. Das Resultat
dieser Beobachtungen für die Wohnungsausgaben ist folgendes:
Zahl der Familien.
Alle Aasgaben
per Familie.
Fr.
WohnungB-
Ansgaben (Miethe)
per Familie.
Fr.
Wohnungs-
Ansgaben von allen
Ausgaben.
%
17,833
10,189
5,031
4,037
1,648
2,070
750
1,125
1,800
5,750
5,700
18,000
112
200
330
675
1,422
3,750
16
16
18„
18
19„
20,s
40,808
2,250
423
18,8
Das ergäbe mit zunehmender Wohlh^enheit die Verwendung
eines iminer grösseren Einkommentheils auf Miethe.
Wir hätten somit geftmden bald constante Bruchtheile für
Wohnung bei v.erschiedener Wohlhabenheit, bald abnehmende, bald
zunehmende, allein sowohl wo wir zunehmende, als wo wir ab-
nehmende Procente fanden, ist die Abnahme nicht bedeutend, am
meisten sieht es darnach aus, als ob auf Wohnung Jedermann durch-
schnittlich die gleichen Procente verwendete, wie das auch Engel
dargestellt hat. Allein wir möchten behaupten, dass das ganze bisher
betrachtete, durch Privatstatistik beigebrachte Material für sich allein
ungenügend ist, um unsere Frage zu entscheiden. Wir haben zum
Glück ein anderes Material, welches die Frage viel gründlicher dar-
stellt, nämlich eine amtliche Statistik und zwar einmal gerade für
die Stadt Hamburg, aus welcher wir auch die Privatstatistik hatten.
Steuerzwecke haben hier, wie so oft, *) den Stoff für wissenschaft-
liche Untersuchungen geliefert. Wo dieselben Menschen zugleich
mit einer Einkommensteuer und mit einer Miethsteuer getroffen
•) Vgl. Bd. VIII. der Monatsschrift: Die Wohnungen Riga's. S. 4.
124 Statistische Studien mr Wohnungsfrage.
werden, da kann aus den Steueracten, wenn auch mit vieler Arbeit,
der Antheil, den Jedermann von seinem Einkommen auf Wohnung
verwendet, ermittelt werden. Das ist im ausgedehntesten Maasse' für
Hamburg geschehen, in einer offlciellen Publication über Hamburger
Bevölkerungs- und Wohnungs -Verhältnisse*). Daselbst ist auf
13,084 Haushaltungen Einkommen und Ausgabe für Miethe nach der
allgemeinen Einkommensteuer und der Miethsteuer ermittelt, lieber
letztere sagt der Text der Publication S. XXXVni: „Zum Zweck
eines Ueberblicks über das Verhältniss der Miethen zum Einkommen
sind für 13,084 Personen Einkommen und Miethe ermittelt und die
Resultate in Tabelle LXIV. zusammengestellt. Um richtige Ver-
hältnisse störende Momente fern zu halten, konnten nur solche
Mietben benutzt werden, welche den rein persönlichen Wohnungs-
bedarf der betreifenden Personen oder Familien anschaulich machen.
Es sind demnach alle diejenigen Fälle unberücksichtigt geblieben,
in welchen ein Theil der Miethe als zu gewerblichen Zwecken
erforderlich angesehen werden musste. Wenn dieses Verhältniss aus
dem vorhandenen Material nicht deutlich zu ersehen war, sind die
Fälle nicht benutzt, z. B. sind die Angaben derjenigen Handwerker,
bei denen nicht vorauszusehen war, dass sie ihr Gewerbe nur allein
in abgesonderten Localen oder wenigstens ausserhalb ihrer Wohnung
betreiben würden, nich^ aufgenommen. Femer sind die Miethen
durch Abzug der von Aftermiethern oder Einlogierem gezahlten
Miethe auf das richtige Nettoverhältniss zurückgeführt worden, und
haben die Miethen, welchen Wiedervermiethungen von Wohnungs-
antheilen an Schläfer und andere Mitbewohner gegenüberstanden,
weil in der Miethe Vergütung für ganze oder theilweise Beköstigung,
Mobüien und andere Naturalleistungen enthalten war, keine Auf-
nahme gefunden."
Diese Arbeit führt nun wohl unwiderleglich zu dem Satz, dass,
wenn man den Umfang der Wohlhabenheitsclassen nicht gar zu klein
annimmt, die Familien durchschnittlich um so mehr Pro-
cente des Einkommens auf Wohnung verwenden, je ärmer
sie sind, also dasselbe Gesetz, welches für die Nahrung g^ftmden
wurde. Warum die Einschränkung gemacht ist, „wenn man den
*) Statistik des Hamburgischen Staats, zusammengestellt voiti statistischen
Bureau der Deputation für directe Steuern. Heft II. Ergebnisse der Volks-
■^— -HjÄflurig vom 3. December 1867, Bevölkerungs- und Wohnungs -Verhältnisse.
Stati^ik der Unterrichts -Anstalten, 1869. — Hamburg, Otto Meissner, 1869.
a X^Vm f. S. 106, 107,
statistische Stadien zur Wohnungsfrage.
125
Umfang der Wohlhabenheitsclassen nicht gar zu klein annimmt^^
kann erst später erläutert werden. In Zahlen, wie wir sie bisheir
angewendet, ist unser obiger Satz der folgende:
Znhl der
Familien.
Alle Ausgaben pr.
Familie.
Thlr. Pr. Cour.
Wohnungsaus-
gaben pr. Familie.
Thlr. Pr. Cour.
WohnnngsauBg^ben
von allen Ausgaben.
92
113
35
31
401
157
39
24„
8,844
252
51
20„
1,606
602
120
19h,
568
1,050
205
19,5
129
1,338
258
19,3
210
1,562
295
18,9
221
1,881
349
18,e
487
2,939
470
16
372
6,379
734
11,5
98
14,004
935
6„
43
27,105
1,189
4,4
13
56,013
1,488
2„
13,048
906
124
13,6
Bei stetig steigender Reihe aller Ausgaben in Thalem ist auch
die Ausgabe für Wohnung in Thalern . stetig steigend, aber in ge-
ringerem Maasse, so dass die Reihe der für Wohnung verausgabten
Procente aller Ausgaben ununterbrochen durch alle 13 Wohlhaben-
heitsclassen sinkt.
Die Zahlen sprechen hier so klar, dass weitere Worte die Sache
nur unklarer machen könnten. Die 'obige unvollständige Privat-
statistik über Hamburg verliert daneben alle Bedeutung.
Es kann sich nur fragen, ob diese Gesetzmässigkeit einzig für
Hamburg gilt oder auch für andere Städte. Schwabe *) hat dasselbe
schon 2 Jahre früher für Berlin nachgewiesen, ja er ist es, der das
Gesetz zuerst aufgestellt hat, obwohl, wie wir zeigen wollen, er
eigentlich dieses Gesetz als allgemein für alle Wohlhabenheitsclassen
Berlins gültig nicht aufstellen durfte.
Schwabe konnte nicht für die Berliner allgemein das aus der Ein-
kommensteuer berechnete Einkommen mit den aus der Miethsteuer
*) Das Yerbältniss von Miethe und Einkommen in Berlin. Berliner Ge-
meind^kalender fdr 186S. II. Jahrgang, Berlin, sine anno, S. 264 — 267.
L,...
126
Statistische Studieii zur WohiiuDgalrage.
berechneten Wohnungsausgaben vei^leiehen, sondern nur für Leute
der höheren Wohlhabenheitsclassen. Das Einkommen unter 1000 Thlr,
wird in Berlin nicht mit der classiflcirten Einkommensteuer getroffen,
- sondern mit der Mahl- und Seh lach ts teuer, welche als eine sogen,
indirecte Steuer keine ^Schätzung" des Einkommens oder anderer
wirthschaftlicher Erscheinungen zur Basis hat. Einkommen und
Wohnungsausgaben künnen aus den Steueracten also nur für Familien
mit nielir als 1000 Thlr. Einkommen ermittelt und verglichen wer-
den. Die Eiukommensclassen bei Schwabe haben wir so weit in
grössere Claesen zusammengelegt, dass wir auch hier eine ohne
Unterbrechung mit der Wohlhabenheit abnehmende Procentreihe
der Wohnungsansgaben erhielten.
Alle Ausgaben pr.
Wobnungaaus-
F* t"'
Familie.
gaben pr. Familie.
von allen Ausgaben.
TUr. Fr. Coilrt.
Tiilr. Pr. Court.
•/..
1,861
1.100
303
27»
1.137
1,300
320
H.
1,070
1,500
369
23„
1,232
1,800
386
21,.
1,024
2,200
451
20„
702
2,600
612
19„
931
3,200
664
17«,
654
4,180
670
16
288
6,400
774
14„
271
6,600
836
12„
210
8,400
978
U„
222 ■
12,1S0
1,080
8,.
73
19,100
1,610
8,.
21
28,000
1,658
6„
40
55,800
2,740
4»
Auch hier läuft die Procentreihe der Wohnungsausgaben ununtei^
brochen bergab. Resultat in Worten: Je wohlhabender die-
jenigen Berliner sind, welche überhaupt 1000 Thlr. und
mehr Einkommen haben, um so weniger Procente ihres
Einkommens verwenden sie auf Wohnung.
Für das Einkommen unter 1000 Thaler hat Schwabe sich aber
auch Rath geschafft, er hat sich aus den Acten der sogen. „Servis-
Deputation" die Gehalte von 4281 Staats- und Communalbeamten
mit weniger als 1000 Thalera Gehalt excerpirt und dieselben in
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
127
ihrem Einkommen mit der Wohnungsmiethe, welche alle Berliner
versteuern müssen, verglichen. Aus Schwabens Tabelle haben wir
wiederum die folgende umgerechnet:
Zahl der Familien.
Alle Ausgaben
per Familie.
Wohnungs-
Ausgaben
~ per Familie.
Thlr. Pr. Conr.
Thlr. Pr. Cour.
151
96
56
5
121
49
94
175
48
1469
250
66
588
307
74
829
375
84
291
474
107
331
598
128
334
749
155
190
895
156
Wohnungs-
Ausgaben von allen
Ausgaben.
%
58
40
27,,
26,j
24
22,4
22»3
21 3
20,,
Also auch für die Berliner mit weniger als tausend Thaler Ein-
kommen gilt der mit der Wohlhabenheit abnehmende Procent-
satz der Wohnungsausgaben. Wie konnten wir dann weiter
oben behaupten, Schwabe hätte das Gesetz als für die Berliner jeder
Wohlhabenheit gültig nicht aufstellen dürfen?
Das Gesetz scheint für die Aermeren zu stimmen und auch für die
Reichen, nicht aber für Alle zusammen; man füge die beiden Procent-
reihen aneinander, und die also componirte Procentreihe erleidet eine
gewaltige Unterbrechung gerade bei einem Einkommen von tausend
Thalern. Der Wohnungsantheil springt von 17,4^0 bei 900 Thlr. Ein-
kommen auf 27,6 % bei 1100 Thlr. Einkommen, und erst bei einem
Einkommen von 3200 Thlr. ist der Wohnungsantheil wieder 17,2 %.
58
40
27,2
26,2
24
22,4
22,3
•21,3
20„
117/4
Abnehmende Wohnüngsprocente
bei Staats- und Commuualbeamten
mit Einkommen unter 1000 Thlr.
129
Statistische Stadien zur Wohnungsfrage.
Abnehmende Wohnungsprocente
bei Einkommensteuerpflichtigen mit
Einkommen über 1000 Thlr. . .
a7,e
23^
21„
20,5
17,3
16
14,3
12„
8^
8,4
5,9
Merkwürdiger Weise ist dieser Sprung dem Bearbeiter nicht
aufgefallen, er erwähnt desselben wenigstens gar nicht. Dass der
Sprung eine baare Unmöglichkeit ist, hat ein neuer Bearbeiter des
vorliegenden Materials, Bruch,*) auch gefühlt und gesagt, es muss
hier ein Fehler im Beobachtungsmaterial sein. Bruch macht eine ähn-
liche Aneinanderreihung der beiden Beobachtungsgruppen und be-
merkt dann: „Die durch den Strich angedeutete Kluft ist, wie man
sich leicht durch Vergleichung der Differenzen überzeugen kann, so
bedeutend, dass man in diesen Angaben ein die unteren und die
oberen Classen gleichmässig umfassendes Gesetz noch nicht gefunden
hat. Es ist darin zugleich eine Verschiedenheit der verglichenen
Subjecte und Objecte ausgesprochen, indem einerseits ein bestimmter
Stand, andererseits eine aus allen möglichen Ständen zusammenge-
setzte Bevölkerungsciasse, und femer einerseits eine bestimmte,
officiell feststehende Qualität des Einkommens, welches freilich zum
grössten Theile das ganze Einkommen dieser Personen absorbiren
wird, anderseits ein nach den allgemeinen Einschätzungsregeln
geschätztes Einkommen, endlich bei den Beamten die aus deren
ausschliesslichem Wohnungsbedürfiiiss, bei den Einkommensteuer-
Pflichtigen die aus deren nothwendigen geschäftlichen Ansprüchen her-
vorgehende Miethe sich gegenübersteht. Diese dreifache, unter sich
•) lieber die Haus- und Miethsteuer in Berlin in: Berlin und seine
Entwickelang. Städtisches Jahrbuch fdr Volkswirthschaft und Statistik.
Dritter Jahrgang 1869. S. 2—34.
k^
L
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 129
aber eng zusammenhängende Ungleichmässigkeit hat sich in der
Reihe obiger Verhältnisszahlen zu Gunsten der Beamtengehälter und
zu Ungunsten der Einkommensclassen der Einkommensteuerpflichtigen
geltend gemacht, d. h. abgesehen von dem in jeder Reihe für sich hervor-
tretenden Sinken des Procentsatzes mit der Höhe des Einkommens,
brauchen scheinbar die Beamten verhältnissmässig für ihre Wohnungen
weniger zu verausgaben, als die Einkommensteuerpflichtigen, Der
entscheidende Grund für diese üngleichmässigkeit ist unseres Erach-
tens darin zu suchen, dass in den Miethen der Beamten nur die
reinen Wohnungsräume, in den Miethen der Einkommensteuer-
pflichtigen, unter denen grössere Handwerker, Kaufleute und Fabri-
kanten eine hervorragende Rolle spielen, die zur Wohnung und die
zu Geschäftszwecken benutzten Räumlichkeiten zusammen auftreten.
Das für die Beamten sich ergebende Verhältniss ist also der reinere
Ausdruck der Bedeutung des allgemeinsten menschlichen Bedürfiusses
nach einer Wohnung für den Familienhaushalt, der für die Ein-
kommensteuerpflichtigen berechnete Procentsatz hat dagegen nur das
äusserliche Interesse eines Durchschnitts.
Es kam nun zunächst darauf an, auch für die höheren Ein-
kommenclassen über 1000 Thlr. das reine Verhältniss des Wohnungs-
beldarfs zum Einkommen zu finden, um in einer Reihe gleichmässiger
Beobachtungen aus allen Stufen der Bevölkerung die allgemeine
Giltigkeit des oben erwähnten Gesetzes zu prüfen. Zu diesem Zweck
bot sich der einfache Weg, dass die bezüglichen Daten nach den
feststehenden Steuerstufen für die Einkommensteuerpflichtigen in sich
zusammen gezogen wurden, aus deren Stand als Beamter, Offizier,
Pensionär, Secretär etc. mit Sicherheit geschlossen werden, konnte,
dass in der Miethszahlung lediglich das reine Wohnungsbedürftiiss
ausgesprochen war. Auf diese Weise wurden aus den 9741 Ein-
kommensteuerpflichtigen, deren Miethe schon beobachtet war, 7852
ausgeschieden und es verblieben 1889 Fälle, bei denen die obige
Annahme gerechtfertigt erschien.*
Soweit Bruch. Aus der Tabelle, welche er hierfür zusammen-
stellt, nehmen wir nur die auch bisher mitgetheilten Spalten, setzen
aber dazu die Grenzen der Binkonimensclassen, aus welchen der
nebenstehende Durchschnitt resultirt. *)
•) Dieser Durchshnitt des Einkommens stimmt bis zu 1000 Thlr. Ge-
sammtausgabe niclit mit dem, welchen Bruch in seiner Tabelle angiebt. Bruch
hat nämlich als Durchschnitt seiner Einkommengruppen die Mitte zwischen
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 2. 9
Statistiache Studien zur Wohnungsfrage.
Zabl der
Einkommen-
Alle AuagBbeo
Wohoung..»..
WobnuuB,.u..
Familfeii.
daiwen.
pr. Familie.
gaben pr. Farn.
gaben von allen
Thlr. Pr. Court.
Thlr. Pr. Court.
Tlilr. Pr. Court.
Auegaben. %.
161
96- 99
üü
66,»
58,„
4
100— 124
106
47
40,,.
1
125— 149
136
55
40„,
45
150- 174
162
43
26,„
49
175- 199
187
52
27„,
441
200- 249
226
61„
27„,
1,028
250— 299
260
67,
26„.
588
300- 349
307
73„
23,,,
492
350- 399
366
79,.
22„,
337
400- 449
403
90„
22,1, •
147
450- 499
462
101»
22„,
144
500— 549
502
111,1
22„,
81
550— 599
563
102«,
22,,,
249
600— 699
616
132,,
22„.-
192
700— 799
710
149,,
21«n
332
800— 999
857
159,,
18,.,»J
327
1,000- 1,199
1,100
234,.
21,1,
237
1,200- 1,399
1,300
243„
18„,
242
1,400— 1,599
1,600
278,,
18„.
231
1,600- 1,999
1,800
322,,
1'«,
190
2,000— 2,399
2,200
360,,
ie„. ■
146
2,400— 2,799
2,600
410,,
16„o
118
2,800- 3,199
3,000
437,,
14„.
80
3,200- 3,599
3,400
462„
13„,
56
3,600- 3,999
3,800
511,,
13».
90
4,000- 4799
4,400
686,,
13,..
60
4,800- 6,999
6,400
616,,
11«
53
6,000- 7,199
6,600
731,,
11.0,
27
7,200— 9,599
8,400
846,,
io,„
17
9,600-11,999
10,800
1,035,,
9„.
9
12,000-15,999
14,000
1,168.1
8,.,
1
16,000-19,999
18,000
820,),
4,»
1
20,000-23,999
22,000
1,393«
»„a
2
24000—31,999
28.000
1,344,,
4,.o
2
32,000—30,999
36,000
2,246„
e„.
1
40,000-52,000
46,000
920,0
2.00
6,170
■ 96—52,000
1,060
176
16„
beiden Extremen genommen, i. B. fiir die Familien mit 800 — 999 Thlr. ist
genommen 900. Das ist aber nnr der „ideelle" Durchscbnittabetrag, wie Schwabe
ihn nennt. Der ^wirkliche'' Dnrcliacbnittsbetrag ist die Eiukommena-Sunime
aller 333 in diesen Einkommenagrenzen stehenden Familien, aämlich 264,510 Thlr.
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 131
Zu der Tabelle bemerkt dann Bruch: ^Eine Verfolgung der in
der letzten Colonne der vorstehenden Tabelle enthaltenen Procentsätze
von oben nach unten lässt ohne Weiteres erkennen, dass darin der
bedeutende in der obigen kleinen Reihe hervortretende
Sprung bei 1000 Thlr. Einkommen vollständig verschwun-
den ist. Es ist, abgesehen von einigen ganz unerheblichen
Ungleichmässigkeiten ein consequentes und allmähliches Sinken
des Procentsatzes von einer Stufe zur andern wahrzunehmen.**
Diesen Ausführungen von Bruch müssen wir in Einigem entgegen-
treten. Einmal ist denn doch der Sprung so vollständig nicht ver-
schwunden, da es von 18,37 auf 21,32 wieder hinaufj^eht, allein lassen
wir das als eine der „ganz unerheblichen Ungleichmässig-
keiten" gelten. Zweitens aber glauben wir, dass für den Sprung
in den Procenten der Wohnung, wenn man alle Einkommensteuer-
pflichtigen nimmt, der „entscheidende" Grund nur zu einem kleinen
Theile in dem liegt, w^s Bruch dafür anführt Worin der ent-
scheidende Grund zu suchen sein wird, mag die folgende Auseinander-
setzung lehren. Leider ist mir hier das Berliner Miethsteuerreglement
nicht zur Hand, ich weiss daher nicht wie weit Räumlichkeiten,
welche nicht der Oonsumtion, dem Genuss, sondern der Production,
der Arbeit, dienen, von der Miethsteuer nicht getroffen werden.
Gebäude, welche ausschliesslich der Production dienen sind von
der Miethsteuer nicht getroffen. Wird min nicht dem entsprechend,
auch wenn das Geschäftslocal mit der Wohnung mehr oder minder
verbunden ist, bei der Abschätzung des Miethwerthes darauf schon
Rücksicht genommen und ein entsprechender Abzug von der Steuer-
behörde gewährt? Nehmen wir einmal an, dass die Miethsteuer
dividirt durch die Zahl der Familien ~ 857 Thlr. Wir müssen den wirklichen
Durchschnitt nehmen, denn sonst stimmt die Procentzahl der Wohnungsmiethe
nicht, z. B. :
Wirkliches Einkommen: Miethe — 857 : 159,, — 100 : 18,8.
Ideelles Einkommen: Miethe ^ 900 : 159,, -^ 100 : 17,7.
*} In der Tabelle von Bruch sind 2 Druck- oder Rechenfehler zu verbessern.
1) In der Kategorie 350—399 Thlr. ist der Durchschnittsbetrag der Miethe nicht
47,9 Thlr., sondern 79,0. 2) Die Miethe beträgt in der Kategorie 800—999 nicht
19,00, sondern 18,57. Hoffentlich ist es ein Druck- oder Rechenfehler, denn in
einem .einzigen Falle, wo es mit dem gewünschten Resultat stimmt, die Decimale
abzurunden, ist doch nicht erlaubt, gerade hier scheint bei 19,oo7o der Sprung
in den Einkomms-Procenten vollständiger verschwunden, als bei 18,57%. Vergl.
den Text.
9*
V
iBi statistische Stadien zur Wohnungsfrage.
überall hwt die Wohnr&ume belastete und die Geschäftsräume alle-
sammt freiliesse, gäbe es dann etwa keine Deutung für den Sprung
in den Wohnüngsprocenten bei dem Einkommen von 1000 Thlr.?
O ja! der hohe Procentsatz, welchen die Miethe bei einem Einkommen
von lOOÖ Thlr. und rtieht austhacht, braucht nicht darin zu liegen,
dass in der biestenerten Miethe ausser Wohnungsräumen auch Geschäfts-
täum^ mit ferstenert Wferden, er kann auch darin liegen, dass bei
nur besteuerter Wo hhungsmiethe das Einkommen über 1000 Thlr.
zu niedrig angenommen wird. Liegt hierfär einige Wahrscheinlichkeit
vor? Nicht nut* eiiiige, sondern eine sehr bedeutende. Unter den
9741 Einkommensteuerpflichtigen, welche Schwabe seiner Berechnung
zu Grunde gelegt hat, sind nach Bruch's Ermittelungen 7852 Gewerbe-
treibende^ Kaufleute etc., und nur 1886 Beamte, Officiere, Pensionäre,
Bientiers. Nur bei diesen Letztern, mit Ausnahme aber noch der
Rentiers, kann das Einkommen zum Behuf der classificirten Ein-
kommensteuer genau aus den städtischen und staatlichen Akten der
sogenannten Serris-Deputation ermittelt werden. Bei den Gewerbe-
treibenden, Eaufleuten etc. ist man auf Schätzung angewiesen. In
Preussen findet nicht eigene Schätzung durch den Steuerpflichtigen
selbst statt, sondern eine Einschätzung durch den Staat in bestimmte
Classen der „classificirten Einkommensteuer''. Nun weiss
Jedermann, wie schwer das reine Einkommen aus gewerblichen oder
Handelsuntemehmungen schon vom Geschäftsherm selbst berechnet
werden kann^ und nun gar vom Steuerbeamten! Das Einkommen
wird bald zu hoch, bald zu niedrig geschätzt werden. Nehmen wir
einmal an, dass der Irrthum der einschätzenden Beamten nach Oben
und nach Unten gleich gross ist, dass also wenigstens der Durch-
schnitt aller Steuerpflichtigen einer Classe mit der Wirklichkeit über-
einstimmt, . dann wird die Einkommensteuer ganz sicher von weniger
als dem wahren Einkommen bezahlt, denn wer von der Behörde zu
niedrig eingeschätzt ist, wird mit wenigen Ausnahmen nicht verrathen,
dass sein Einkommen grösser ist, als die Steuerbehörde es schätzte,
wer aber zu hoch angesetzt war, wird reklamiren, und falls er den
Beweis zu hoher Einschätzung el*bringen kann, heruntergeschätzt
wenden müssen. Wenn alle zu niedrigen Schätzungen unverbessert
bleiben, alle zu hohen aber corrigirt werden, dann wird der
Durchschnitt des Einkommens nach den Schätzungen geringer sein
als der wahre Durchschnitt. Nun richtet sich, was Jemand von
seinem Einkommen auf Miethe verwendet, doch nach dem grösseren
y wahren**, nicht nach dem kleineren „abgeschätzten" Einkommen,
>
\
Statistisel^e Stjudie» zur WohnuDgsfirage. 188
beträgt also von dem eingeschätzten Einkommen mehr
Procente als von dem wahren Einkommen. Das Einkommen
wird zu niedrig geschätzt bei der Mehrzahl d^r Familien mit i^ehr
als 1000 Thlr. Einkommen, die Familien mit weniger als 1000 Thlr.
Einkommen sind lauter solche, deren J5i?ikommen a^teni^^^ig fest-
gestellt wird. In den Gang der Wohnungsprocente muss, wenn aueh
für ei« Einkommen über 1000 Thaler nur actenmässig ermittelte
Einkommen (jler Betrachtung unterworfen werden, üebereinstimmung
kommen. Das hat nun Bruch halb unbewusst ziemlich genau ge-
than. Unter seinen Beamten, Offizieren, Pensionären und Rentiers
sind die drei Ersteren Leute mit actenmässig ermitteltem Einkommen.
Die Procentreihe der Wohnungsausgaben würde, wenn nicht unter
den 1889 Familien noch pine bedeutende Anzahl Rentiei*s wäre,
ganz ohne einen Sprung abwärts gehen. Der kleine Sprung,
welcher bei Bruch noch bleibt, fällt den Rentiers zur Last, deren
Einkommen am allerunschätzbarsten ist. Ihr Einkommen wird
sehr viel höher sein, als (las Einkommen, welches sie versteuern.
Zu ihrem geschätzten Einkommen wäre also ein gewisser Zu-
schlag zu machen, um ein richtiges Verhältniss zwischen ihren
Ausgaben oder ihrem wahren Einkomipaen und ihren Wohnungs-
ausgaben zu finden, oder auch diese Rentiers müssten noch ausge-
merzt werden.
Dafür, dass die Rentiers den noch bleibenden Sprung auf sich
nehmeo müssen, haben wir noch einen anderen atatistisohen Beweis.
Auf der folgenden TaJbelle ist berechnet, wie ftür die gleichen
Einkommensclassen 'über 1000 Thlr. die Wobnungsproceote sich ge-
stalten, 1) für alle 9741 Einkominenstetterpflicbtiigeii, 3) für die
1888 Offiziere, Beamten, Pensionäre , Rentiers, mii 3) für die
Einkommensteuerpflichtigen nach Abzug der 1889 nicht Gewerbe-
treibenden, d. h. füi* die 7852 Gewerbetreibende, Kaufleaite, La^d-
wirthe etc. Dabei ist angegeben, wie viel % ersteiis alle Bin-
kommensteuerpAichtigen und zweitens die Gewerbetreibenden
mehr für Wohnung ausgeben als die Beamten in jeder Einkommen-
steuerclasse:
134
Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
Prooentverhältniss der Mie^the bei
Auf Wohnung verwenden
mehr % als die Beamten:
aIIavi TP'l'Vkly/WVh . /XA«arA«»lvA_
j steaerpflicbtig. treibend«n
alle Ein-
1^ ^WV\ lrV\ A Yl O r All A k*
die
Kommcnoiicu.61 *■ vvcwciuc
mit über 1000 Thlr. Einkommen.
Pflichtigen, treibenden.
1
21«
27,6
28/9
6/3
7,5
18„
24,6
26„
6,0
7,4
18,6
28/9
25,5
5,3
6„
17,0
21,5
22,2 .
3,6
4,3
16,4
20,5
21,4
4„
5
16,8
19,T
20„
3,0
4,0
14„
17,a
18,0
2^
3,4
13,6
17.5
18,3
3«
4,7
18,5
15«
15,5
1,5
2
13,3
16;4
17,3
3„
4
11,4
14,3
15„
2,9
3„
11,0
12„
13„
0,8
1,2
io„
11,6
11,9
1,5
U
9,6
9„
9^0
-0,5
-0,6
"»3
8„
8/8
0,4
0,5
.4^
7,6
7,6
3,0
3,Q
Wie kann diese Tabelle beweisen, dass der unmögliche Sprung,
der nach Ausscheidung aller Gewerbetreibenden aus den Einkommen-
steuerpflichtigen noch bleibt, den Pensionären zur Last fällt? Sehr
einfach : Die Differenz in den Wohnungsprocenten der Beamten etc.
und der Gewerbetreibenden ist bedeutend in den Einkommensclassen,
in denen die Rentiers von den Beamten noch stark überwogen
werden. Das ist natürlich nur in den unteren Classen der Fall mit
' wenig über 1000 Thlr. Einkommen, welches Gehalt viele Beamte haben,
mit welchem Einkommen aber noch nicht viele Leute sich soweit
begnügen, um ohne' Gewerbe nur von Zinsen, nicht auch von Arbeit
^u leben. Li den oberen Einkommensclassen, z. B. über 5000 Thlr.
giebt es selbst in Berlin wenig Beamte und Offiziere, hingegen lassen
sich hier viele Rentiers vermuthen. In den höheren Einkommens-
classen nun, wo den Gewerbetreibenden, deren Einkommen schwer
schätzbar ist, fast nur solche Rentiers gegenüberstehen, deren Ein-
kommen auch nicht genau geschätzt werden kann, fällt die Differenz
in den Wohnungsprocenten dieser beiden Classen fort. Es stehen
L
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 186
den unschätzbaren Gewerbetreibenden nicht mehr gegenüber: viele
sicher zu schatzende Beamte plus wenigen unsicher zu schätzenden
Rentiers, sondern: sehr wenig sicher zu schätzende Beamte plus
sehr vielen unsicher zu schätzenden Rentiers. Da muss wohl die
Differenz in den Wohnungsprocenten bei den oberen Einkommens-
classen fortfallen.
Bei den gesammten obigen Auseinandersetzungen ist nun noch
nicht einmal in Betracht gezogen, dass notorisch die Einschätzung
in die verschiedenen Einkommensclassen in Preussen ungemein
milde geschieht, was an sich nichts schadete, wenn es nicht
gegen die Beamten, deren Einkommen genau ermittelt wird, unge-
recht wäre.
Nach allem Gesagten kann es kaum einem Zweifel unterliegen,
dass das Durchschnitts-Einkommen Aller, welche Einkommensteuer
zahlen^ höher angenommen werden muss, als die Steuerbehörde thut^
es fragt sich nur, ob man aus den Miethen, welche die Gewerbe-
treibenden zahlen, ilickschliessen kann auf das Einkommen? Es kann
folgenderweise geschehen : In der ersten Einkoinmensteuerclasse (1000
bis 1199 Thlr.) stehen 1861 Familien mit 563,919 Thlr. Miethe, davon
gehen 327 Beamtenfamilien mit zusammen 359,700 Thlr. Einkommen
und 76,630 Thlr. Miethe ab, die Miethe der Beamten beträgt 21,, 7o des
Einkommens, und ist 234,3 Thlr. per Familie. Die übrig bleibenden
1534 gewerbetreibenden Familien zahlen zusammen 487,289 Thlr.,
d. h. 317 Thlr. per !Pamilie. Eine Miethe von durchschnittlich
317 Thlr. finden wir auch unter den Beamten wieder. Es haben
nämlich 231 Familien eine Miethe von durchschnittlich 322,5 Thlr.
Diese Miethe entspricht einem Einkommen von durchschnittlich
1800 Thlr. Darnach wären also die Gewerbetreibenden, welche
auf 1200 Thlr. Durchschnitts -Einkommen geschätzt wurden, um
100 Thlr. höher zu schätzen. Weiter! Von den 1137 Familien mit
durchschnittlich 1200—1399 Thlr. Einkommen gehen 237 Beamten-
familien ab, es bleiben 900 Gewerbetreibende mit zusammen
305,848 Thlr. Miethe oder durchschnittlich mit 339 Thlr. Miethe.
Diese 339 Thlr. Miethe würden nach der Beamten tabelle entsprechen
einem Einkommen von circa 2000 Thlr., denn 322 Thlr. Miethe
entspricht 1800 Thlr. Einkommen, 361 Thlr. entsprechen 2200 Thlr.
und 339 sind fast genau das Mittel aus 361 und 322 Thlr., ent-
sprechen also dem Mittel aus 2200 und 1800 Thlr. Einkommen, d. h.
2000 Thlr. Einkommen. So kann man weiter gehen, indem man
aus der wirklichen Miethe der Gewerbetreibenden, aus dem wirk-
136
Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
liehen Einkommen und der wirklichen Miethe der Beamt^i;i, das virk-
liche Einkommen der Gewerbetreibenden ermittelt nach der Proportion :
Mißthe der Beamten: Gehalt der Beamten = Miethe der Gewerbe-
treibenden: dem wirklichen Einkommen der Gewerbetreibenden.
Das gäbe ungefähr folgende Tabelle:
Mit Ein-
kommen
von
durch -
Bchnittl.
ThJr.
sind
taxirt
Familien
über-
haupt.
haben
wirklich
dieses
Ein-
kommen,
Beam-
ten- etc.
Familien.
bleiben
nach
Familien
der
Gewerbe-
trei*
benden.
zahlen
Miethe
die
Be-
amten.
Tbk.
zahlen
Miethe
die
Gewerbe-
trei-
benden.
Tbl».
' Vor-
stehende
Mietliend.
Geifverbe-
treiben-
den ent-
gp rechen
einem
Einkom-
men voi^
Thlr.
Differenz
zwBsehaB
dem ver-
steuerten
und dem
wirklich.
Einkom-
BOiSn der
Gewerbe-
trei-
benden.
Thb.
1100
1861
327
1534
1300
1187
287
700
1600
1070
242
828
1900
1282
231
1001
2200
1024
190
934
2600
702
145
557
3000
475
118
357
8400
456
80
376
38QQ
440O
5400
1800
2000
2400
2600
3000
I .
) 4100 I \
5400
700
700
900
800
800
1500
1100
2000
Wir gestehen nun allei'dings ganz offen, d?w3s wir nicht glauben
mit dem Rückschluss aus der Miethe das Einkommen der Gewerbe-
treibenden richtig gefunden zu haben, die Tabelle mag mehr nur
zeigen, wie bei genügendem statistischem Material die Frage zu be-
handeln wäre. Um nur ein^ Fehlerquelle anzuführen : Die ganze
Behandlung geht von der Pr^i^misse aus, dass alle St^de und Be^
rufsclassen für wahre Wohnungsräumlichkeiten, also mit AufiseUuss
ajler GeschäftslocaUtätep, bei gleichem Einkommen dieselben Pro-
cente verwenden, allein eben diese Prämisse ist noch keineswegs
bewiesen, ja sie ist vermuthlich aus nachstehendem Grunde falsch.
statistische Studien ?jur Wohuungsftag«. 137
Verschiedene Berufsarten verstehen unter ^standesge^äss wäh-
nen** «ehr Verschiedenes, ein Beamter z. B., gleicher Einnahme wie
ein IJandwerker pder gutbezahlter Fabrikarbeiter, wird auf eine gute
Wohni^ig mehr sehen, als die Letzteren, und wird lieber m der
Nahrung ßich etwas abdarben. Diese Behauptung beruht einmal auf
der allgemeinen Beobachtung, da^s mit der Bildung das Gefühl für
eine anständige Wohnung wiäuchst, sodann dürfte es vielleicht aus
den bisher betrachteten Pa^en statistisch plausibel gemacht werden
könne» :
Bei einem Einkammen unter 1000 Thlr., d. h. bei durchschnittlich
385 Thlr. verbraucht der Berliner fOr Miethe Zit^ 7o seines Ein-
kommens. Das ist ein Einkommen von nur wenig mehr als in 4^r
obersten (Ilt) Kategorie der belgischen Arbeiter mit 1214 Fr. oder
334 Thlr. per Familie. Diese Familien verwenden aber nur 9,o^ 7o
auf Wohnung, d. h. noch nicht einn^al halb so viel als die berliner
Beamten. Oder nehmen wir die 39 französischen Arbeiterfamilien,
mit durchschnittlich 1478;6 Fr. oder 314 Thlr., d. h. mit so grossem
Einkommen als die berliner Familien, so verwenden diese auf
Wohnung sogar nur 7,qi %. Ausserdem umfassen diese Verwendungen
von 9,04 Vo der belgischen und 7^i % der pariser Arbeiter für
Wohnung nicht nur die Miethe, sondern auch die Kosten für Aus-
besserung des Mobiliars und Ersetzung der abgängigen Stücke durch
neue. Allein lassen wir diesen allerdings unbedeutenden Posten
einmal ausser Acht, und nehmen wir die Wohnungsausgaben für reine
Miethe an, so beti-^ägt sie nur Va bis V2 von den Ausgaben der
Berliner. Und wende man nicht ein, die Berliner geben für Woh-
nung nur so viel mehr aus weil eine gleiche Wohnung in Berlin,
der grossen Stadt, mehr kostet als in Belgien und Frankreich, Stadt
und Land Zusammengenommen; wir können .>a die 10 pariser
Familien mit 2131«e4 Fr. oder 568 Thaler zur Vergleichung nehmen.
Gleiche Wohnungsräumlichkeiten dürften in Pa^is wohl kaum billige^-
seia:i ajs in Berlin, im Gegenthei}. thewrer, und doch verwenden die
10 pariser FamilieM unter den 39 französischen nur 7^ °/o auf
Wohnung^ de h. nur V3 von dem, was für die bierliner Beamten gilt.
Damit soll wieder nicht behauptet sein, dass der Beamte dreimal
mehr auf Wohnung verwendet als der Gewerbetreibende, aber ein
gut Theil mehr scheint es allerdings zu sein.
Dreimal so viel geben die Berliner schon darum nicht für Woh-
nung aus, weil die Beamtengehälter nicht die gaoize Einnahme der
B^amtenfamilien ausmachen, sondern nur den allerdings überwiegenden
138 Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
Theil. Damit kommen wir zu einem ungemein wichtigen, bisher
noch zurückgestellten Punkt, den schon Schwabe mit vollem Rechte
betont. Schwabe sagt zu der Tabelle mit den Beamten unter
1000 Thaler Einkommen: „Um -die richtigen Verhältnisse aus
dieser Tabelle herauszulesen, empfiehlt es sich, dieselbe zunächst zu
rectificiren. Betrachtet man nämlich die Beamtengehälter, welche
weniger als 300 Thlr. betragen, so bestehen diese vielfach aus solchen
niederer Postbeamten, namentlich Briefträger, niederer Justizbeamten,
Boten, Canzleidiener, Nachtwächter etc. Gegenüber den Preisver-
hältnissen der unentbehrlichsten Nahrungs- und Unterhai tsiüittel in
Berlin dürfte wohl bei geringen Gehältern anzunehmen sein, dass
entweder die Frau durch Arbeit oder der Mann durch Nebenver-
dienste oder beide zusammen das Einkommen höher bringen, als es
der Gehalt bezeichnet. Dieses ergiebt sich am augenscheinlichsten
bei den untersten Gehaltsclassen, in denen Einkommen und Mieöie
nahezu gleich stehen etc." Gewiss hat Schwabe mit dieser Be-
hauptung vollkommen Recht, es muss ein bedeutender Zuschuss zum
Gehalt aus anderen Quellen angenommen werden, und zwar ein
um so grösserer, je geringer das Gehalt ist. Wie hoch man den
Zuschlag anzunehmen hat, wagen wir nicht zu entscheiden. Man
könnte etwa daran denken, den Zuschuss zu finden aus dem, was
von dem Gesammt-Einkommen der belgischen und französischen
Arbeiterfamilien aus der Arbeit des Mannes, der Frau, der Kinder
und aus sonstigen Quellen, Almosen oder Capitalbesrtz herrührt.
Dafür haben wir die Daten bei Engel, dass z. B. in den belgischen
Arbeiterfamilien aller drei Kategorien der Hausvater nur circa die
Hälfte des Gesammt -Familien-Einkommens aufbringt. Die Zahlen
lassen sich leider nicht übertragen auf die berliner Beamten. Ein
so bedeutender Antheil am Gesammt-Einkömmen, wie in den sogen,
arbeitenden Classen kommt in den niederen Beamtenclassen auf Frau
und Kinder höchstens in den alleruntersten Classen ; schon bei noch recht
mangelhaftem Gehalt des subalternsten Beamten verbietet die Standes-
ehre, dass die Frau und die Kinder die lohnende Arbeit in Fabriken
aufsuchen, nur die schlechtbezahlten sogenannten Nebenerwerbszweige:
Nähen, Stricken, Waschen, Unterrichten „dürfe^n" nach den Standes-
gefühlen Frau und Kinder des Beamten betreiben.
Genug, die Einnahmen der Beamtenfamilien sind um so mehr
durch solche Einnahmen zu erhöhen, je niedriger die Gehälter sind.
Wie hoch man den Zuschuss ansetzen muss, lassen wir unentschieden.
Selbst wenn wir annehmen wollten, das Einkommen der Beamten
iL.
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 189
unter 1000 Thlr. betrüge durchschnittlich nicht 385 Thlr., sondern
die Hälfte mehr, d.^ h. 577 Thlr., so wären die durchschnittlich
88 Thh-. Miethe 15,2%, also fast noch der doppelte Procentsatz des
pariser Arbeiters. Aber nicht einmal so hoch kann der Zuschuss aus
den anderen Quellen sein, denn sonst wären die Wohnungsprocente
bei dem Einkommen unter 1000 Thaler und über 1000 Thaler ein-
ander gleich. Nur bei den unteren Gehalten bis etwa 800 — 400 Thlr.
möchten wir nennenswerthe anderweitige Einnahmequellen annehmen.
Je mehr nun nach unten zu die Einnahmen höher anzusetzen sind
als die Gehalte, um so mehr werden die Wohnungsprocente reducirt,
namentlich die ganz unmöglichen 57,5% auf Wohnung in der Ein-
kommensclasse von 96 — 99 Thlr., die auch als Gesammt-Ein-
kommensclasse unmöglich ist.
Durch die vorstehende Beti*achtung gelangt man dazu, die Ab-
nahme in der Procentreihe für Wohnung bedeutend in den untern
Classen abschwächen zu müssen, so dass eine namhafte Abnahme
der Procente etwa erst in den oberen Einnahmestufen über 1500 Thlr.
hinaus Statt hätte. In den unteren Classen wäre die Procentabnahme
sehr unbedeutend oder hörte gar in den mittleren Regionen von 300
bis 1500 gß,nz auf, wo dann 18 — 20% auf Wohnung fallen dürften.
. Das würde Uebereinstimmung schaffen mit den constanten Wohnungs-
prbeenten, welche wir für die belgischen so wie für die französischen
Arbeiter fanden und mit den constanten 12 Wohnungsprocenten,
welche Engel in drei Wohlhabenheitsclassen von 300 — 400 Thlr.,
600—800 Thlr., 1000 — 1500 Thb. annimmt. Es sollte uns nicht
wundern, wenn Engels so oft richtiger Blick auch hier das Richtige
getroffen hätte, wo die Annahme von 12% für Wohnung allerdings
mehr auf Intuition als Induction zu beruhen scheint 3 nichts ist ja für
einen Mann der Wissenschaft ehrenvoller, als wenn eine Hypothese
oder Intuition später inductiv bewiesen wird.
Mag man übrigens auf die obige Art den Sprung aus der
Wohnungs-Procentreihe entfernen, oder auf die Art wie Bruch es
thut, oder endlich, was wohl das Richtigste sein dürfte, durch Com-
binirung beider Deutungsarten, immer bekommt man qualitativ
für Berlin dasselbe Gesetz wie für Hamburg, „je ärmer durch-
schnittlich die Familien sind, um so mehr Procente ihrer
Ausgaben verwenden sie auf die Wohnung". Gegenüber
dem so reichhaltigen Material aus diesen beiden Städten fällt das
andere Material nicht ins Gewicht.
140
Statistische Studi^p zur Wohnungsfrage.
^ur quantitativ stimmen in beiden Städten d^e Prooei^treilien
nicht genai^. Am Sohluss dieser Abhandlung findet sich in einer grössere
TabeUe der Versv»ich, die Wohlhabenheitsclassen von Berlin mit denen
Uamburgs in U^bereinstimmung ?ju bringen. Es wurde dies dadurch
ernUiglicht, daas für Berlin der Wohlhabenheitsstufen genug gemacht
waren, um am diesen kleineren Gruppen grössere, den HamburgiBchen
a^äqual^e zu bilden. Für Einzelheiten sei auf diese Tabelle verwiesen,
hier geben wir nur die absteigenden Pixicentreihen bei bestimmtem
Durchschnittseinkommen :
Hamburg.
— — ^- 1
Perlin.
Durchschnittseinkommen.
r
Wohnung. %.
Wohnung. %.
Durohscbnlttseinkommen.
f 113
31
57,5
100 X
IST
24„
26„
162
193
22,3
27„ •
187
unter 1000^
293
18„
24„
284
• unter 1000
523
19,9
21,8
451
735
20,3
21,6
656
^ 941
19,5
18,6
900 ^
1,338
19«
19,3
21,3
18„
1,100 1
1,300
über 1000 ^
1,562
1,881
2,939
18„
1«<«
16
18„
17„
15
1,500
1,800
2,770
. über 1000
6,379
11«
11,1
5,630
14,004
6«
8«
12,150
27,105
4,4
5«
30,000
56,013
2„
2
46,000
Uehier die <malitative Uebereinstinmiung ist kei^ W^ort ipebf ^u
verlieren. Aber auch quantitativ sind die Resultate (e^gentlic»h mr
rß}t 4^asnahme der ersten Linien bei ganz geringem Einkommen) auf-
fallend übereinstimmend, namentlich wenn man Folgi^ndes bedenkst:
In Berlin werden difirchschnlttlich mehr Procente auf WoJin^^g ver-
wendet, (nämlich 16,(j7o) als in Hamburg (IS^eVoO ^^^ eii;ieB| Durch-
schnittseinkommen, das in Berlin höher ist (1,060) als in Hambuj^
(906), also eigentlich g^eringere Proceji^te verlangen ^Ute. Die Grösse
statistische Studifcn zur Wohnungsfrage. 141
der Stadt Berlin bedingt dieses: die Wohnungen sind im Verhältniss
zu den anderen Gütern des Lebens um so theurer, je grösser unter
sonst gleichen Umständen die Städte sind. Nur in 7 Classen unter
den 16 sind die berliner Wohnungsprocente geringer, und zwar sehr
wenig geringer, in den übrigen 9 Fällen höher, und zwar bedeutend
höher. Bei dem Einkommen bis 1000 Thlr. sind in Berlin die
Wohnungsprocente nur in einem einzigen Falle geringer, in allen
anderen 6 bedeutender. Die Wohnungsprocente sind in Berlin für
die unteren Einkommensclassen so viel höher, weil wie oben gezeigt,
diese Angabe sich nur auf das Einkommen aus dem Gehalt des
Familienvaters bezieht , nicht aber auf die Nebeneinnahmen. In
Hamburg sind aber die arbeitenden Classen mit inbegriffen, was
schon daraus erhellt, dass in Hamburg auf ca. 200,000 Einwohner
11,230 Fälle mit Einkommen unter 1000 Thlr. beobachtet sind, in
Berlin auf die dreifache Bevölkerung nur 4281 Fälle.
Unter solchen Umständen kann man sich höchstens wundern, dass
die Uebereinstimmung noch so gross ist.
Wenn man* übrigens nur vergleicht alle Einkommen unter 1000
und über 1000 Thlr., so könnte nach dem oben. Gesagten auffallen,
dass in Berlin die Leute mit über 1000 Thlr. Einkommen so sehr
viel mehr % auf Wohnung verwenden, nämlich 14,», in Hamburg
nur 10,8, allein man berücksichtige, dass die Hamburger über
1000 Thlr. ein Einkommen von durchschnittlich 4,494 Thlr., die Ber-
liner von nur 2590 Thlr. beziehen, das geringere Einkommen muss
ja mehr Procente hinwegnehmen. Umgekehrt ist in Berlin das Ein-
kommen unter 1000 Thlr. grösser (385 Thlr.) als in Hamburg
(315 Thlr.). Von diesem grösseren Einkommen in Berlin müssen
verhältnissmässig niedrigere Procente für Wohnung abgehen , als
von dem geringeren Einkommen der Hamburger. Darum ist bis
1000 Thlr. Einkommen der Wohnungsprocentsatz in Berlin U2,g%,
in Hamburg 20,2 j *wäre der Einkommensatz in Hamburg höher, dann
würde auch der Procentsatz niedriger sein.
Wie sehr beide Procentreihen, mit einander parallel gehen,
erhellt, wenn man nicht graphisch die Sätze darstellen will, aus
einer Uebertragung beider Zahlenreihen auf gleichen Maassstab. Das
geschieht indem man die Durchschnittsprocente von Hamburg
13,e = •lOO setzt, und die lÖ,« 7o von Berlin gleichfalls = 100
nimmt.
Dann verhalten sich die einzelnen Wohlhabenheitsclassen in
den Wohnungsprocenten zum Durchschnitt wie ;
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
Hamburg. Berlin.
Berlin — . Hambui^. Berlin +•
228 118
182
161
21
182
164
167
164
3
137
149
137
12
146
131
16
146
12
149
130
19
149
143 ,
112
21
143
144
. 128
14
144
142
113
29
142
139
112 _
27
139
137
108
29
137
118
»0
28
118
85
70
15
85
49
53
49
4
32
34
30
2
20
12
20
Durchschnitt lUO
100
1 Durchschnitt. 100
Rftmp.rkftnawfirth ist hier unter vielem Andern namentlich, dass
tbenheitgclassen unter dem Durchschnitt und
litt das Mittel sich bildet, in Hambui^ sogar
durchschnitt und 12 darüber. In Berlin sind
852 Familien oder 14%, in Hamburg nur
Hamburg sind jedoch in den beiden obersten
Berlin nur 6, Wer überhaupt auf statistischen
Igen — spazieren zu gehen versteht, wird für
er beiden gross ten und wicht^sten Städte
beobachten finden. Hier ist -nicht der Ort,
; sondern es war nur unsere Absicht, zum
ISS Jemand, dem eine wissenschaftlich inter-
ügt, iragen, wozu man solch wissenschaftliche
i verwerthen könne, so kann gerade in diesem
ende Antwort gegeben werden: Zu Steuer-
rde von uns gezeigt, dass in Preueeen für
ommen, welches nicht actenmässig l(lar vor-
tzt wird, was gleich bedeutend ist mit einer
, welche ein actenmässig bekanntes Ein-
tdann aber hat Bruch unzweifelhaft nach-
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
143
gewiesen, dass eine Besteuerung der Miethe mit gleichen Procenten
nicht, wie man bisher ziemlich allgemein annahm, auch das Ein-
kommen mit nahezu gleichen Procenten trifift. Eine einfache Rechnung
hat ihm vielmehr ergeben, dass eine gleichprocentige Miethsteuer die
Familie um so härter trifft, je ärmer sie ist, da diese mehr Procente
ihres Finkommens auf Wohnung verwendet. Man ist bei der ber-
liner Miethsteuer davon ausgegang.en, dass durchschnittlich die Miethe
20% oder V5 des Einkommens beansprucht, und hat gemeint, dass
dem entsprechend die berliner Miethsteuer von 6,05% der Miethe
6 V
gleich sei einer Einkommensteuer von '" ^^ oder 1,333 %• ^^ der
folgenden Tabelle haben wir nach Bruch zusammengestellt, wie viele
Procente des Einkommens die Miethsteuer von 6,6» Vo wirklich fort-
nimmt, um wie viel % niehr also das Einkommen der unteren
Classen, und um wie viel % weniger das Einkommen der oberen
Classen belastet ist durch eine gleichprocentige Miethsteuer:
Die Miethsteuer
Die Miethsteuer trifft das Ein-
von 6^6Q % des Miethzinses belastet
kommen um %
das Einkommen
mehr weniger
von Thlr.
mit %.
als im Durchschnitt von 1/S33%-
1
96— 99
3/87
2,54
100 124
2/78
1
1 1
125— 149
2/04
l»«!
—
150— 174
1/77
0,44
175 199
1'85
0,52
200 249
1/81
o,„
—
250— 299
1#73
0,40
300 349
1^60
0,jj
350— 399
1/49
0„6 1 -
400— 449
1/50
0,„
450 499
1/51
0„8
—
500 549
1/48
0„5
— .
550 599
1/45
0„2
600 699
1/48
o,„
—
700 799
1/40
0,oj
—
(Fortsetzung auf der folgenden Seite.)
144
Statistische Studien zur Wöhuangsfhige.
31,000—39,999
40,000
51,999
Die Miethsteuer
■ ' 11 " " '■ ' r '' ■ ■ •
Die Miethsteuer trifft das Ein-
von G,%^% des Miethzinses belastet
1 kommen um %
das Einkommen
mehr
vfeniger
von Thlr. mit %.
1
als im Durchschnitt von 1,333%-
800— 999
Im
0/09
1,000 1,199
1^«
0,0.
1,200 1,399
1/25
0/08
1,400— 1,599
1^
—
0,09
1,600 1,999
1/19
O/U
2,000 2,399
1/00
0,24 •
2,400 2,799
1/05
0,28
2,800 3,199
0/072
0,361
3,200 3,599
O^OT
0h26
3,600 3,999
0/898
0,435
4,000 4,790
0/889
0,444
4,800— 5,999
Oriei
'
0,572
6,000— 7,199
0/T89
0,594
7.200 9,599
0,672
0,661
9,600—11,999
0/639
0/694
12,000—15,999
• 0,551
0,702
16,000 19,999
•
0,306
■
l/ü27
20,000—23,999
0»f23
0,910
24,000—31,999
0/320
1/013
0,415
0,132
0,918
1/210
Die berliner Miethsteuer ist also eine Progressivsteuer nach
unten. Diese ist aber gewiss nicht zu rechtfertigen, wenn sie nicht
durch andere Steuern mit der gleichen Progression nach oben aus-
geglichen wird.
Dieser Nachweis der Progression nach unten ist ein praktisches
Ergebniss der Statistik, wie man es in ähnlichet* Bestimmtheit und
Unanfechtbarkeit selten findet.
statistische Studien zur "Wohnungsfrage.
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S
Dorpat, im December 3
Laspeyres.
Baltische Motiatsachrirt, N. Folge, Bd. I, Hefi 3.
Zur livländischen Landtegsgeschichte.
S. 11« BuerTerttTdüHng t*i 1894 aid die YerfusüDgafrage.
(ForUetzung.)
Der denkwürdige Landtag, der zwölf Monate später, im Februar
1803, zu Riga aligehalteu wurde, hat sich in der Bauerverordnung
von 1804 ein zu dauerndes Gedäclitnias gesetzt, als dass die Bekannt-
schaft mit dem Hauptinhalt seiner sechswöchentlichen Berathungen
nicht bei dem weitaus grössten Theil der Freunde unserer Landea-
geschichte vorausgesetzt werden müsste. Ueberdies besitzen wir in
Gariieb Merkel's Erinnerungsschrift: „Die freien Letten und Ehsteu"
(Riga und Leipzig 1820) eine ziemlich eingehende Darstellung der
Hauptmomente jener denkwürdigen Versammlung. Was den Inhalt
des damals discutirten Bauei^esetzbuches anlangt,, verweise ich auf
Merkel's Schrift, welche nach den Akten gearbeitet und wegen wört-
licher Mittheilung eines Theils der eingebrachten Sentiments und
Anträge von bleibendem Werth ist. Freilich geht die Beurtlieilung
des alten livländischen Aufklärers in mehreren wiclitigen Punkten
entschieden falsche Wege, und die Hauptstationen derselben njich-
zuweisen, ist eine Pflicht, der wir uns nicht entziehen können.
Auch Merkel hat gewusst, dass im Februar 1803 verschiedene
Anträge auf Wiederherstellung der Statthalterschaftsverfassung ge-
stellt worden sind und dass dieselben mit der Agrarfrage und den
durch sie geschaffenen Parteiungen im Zusammenhang standen, Vor-
eingenomi;ienheit für die Institutionen Kathariua's und Mangel an
historischein Sinn haben ihn aber daran verhindert, hinter das Wesen
dieses Zusammenhangs zu kommen und das eigentliche Geheimniss
der Situation von 1803 zu errathen. Dem Manne, der einige Jahre
später die seitdem häufig genug nai:hgesprochene famose Lehre ßwf-
stellte: «Nur durch die Nachwirkung der Statthalterachafts- Verfassung
ist die Bauernfreiheit auf dem flachen Lande möglich geworden"
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 147
musste naturgemäss daran gelegen sein, das Gewicht gegen diese
Hypothese sprechender Thatsachen abzuschwächen und die Freunde
der einen Gattung von Freiheit nicht als Gegner einer anderen, der
wirklichen Freiheit, zu compromittiren. Ausserdem war der Ver-
fasser „der freien Letten und Ehsten" durch die Art und Weise
seiner Arbeit von einem Verständnii?s der einzelnen neben- und durch-
einanderlaufenden Thatsachen geradezu ausgeschlossen gewesen. Er
hat nur diejenigen Theile des Recesses und der Akten benutzt, die
ihm zu der Agrarfrage iu directer Beziehung zu stehen schienen,
alles Uebrige aber ignorirt und dadurch verschuldet, dass seine Dar-
stellung widerspruchsvoll und zusammenhangslos erscheint und in
vielen wichtigen Punkten geradezu unrichtig ist.
Kurz vor dem Zusammentritt des Landtags von 1802 war der
Führer der Reform- und-Emancipationspartei Landrath Friedrich von
Sivers vom Kaiser Alexander zum Zweck einer eingehenden Be-
rathung nach Petersburg berufen worden und als Träger der Re-
gierungsanträge zurückgekehrt. Als solcher wurdö er von dem
damaligen Landmarschall v. Buddenbrock in einer etwas schwülstigen
Rede besonders begilisst. Nach einem Eingang, der sich in Ergüssen
begeisterter Verehrung gegen den Monarchen erging, wandte Budden-
brock sich mit folgenden Worten an Sivers: „Willkommen, herzlich
willkommen sind Sie bei uns, edler Menschenfreund, der Sie, wenn
es das Vaterland gilt, keine hindernde Rücksicht scheuen und uns
als Bote der frohesten Nachrichten erscheinen. Empfangen Sie diesen
treuen Gruss und brüderlichen Dank zugleich von mir im Namen
Aller aus froh die Brust belebenden wahren Gefühlen. Sie ent-
wickelten dem Allgeliebten mit Ihrer schätzenswerthen Offenheit
unsere Land^sverhältnisse. Von Ihnen, in welchem Er uns Seines Zu-
trauens, wie wir es noch in keinem unserer Regenten besessen haben,
würdigt, — erwarten wir zu erfahren, wie wir es verdienen können."
Aus dem weitere;i Verlauf dieser etwas überschwänglichen Rede
ersehen wir, dass das Vertrauen und der gute Wille, von denen der
Landmarschall geredet, ihre sehr bestimmten Grenzen hatten: er
constatirt, dass die Verhandlungen über die Bauerangelegenheiten
seit Jahren eine heftige Gährung ini Lande hervorgebracht, viele
alte Freundschaften zerrissen, Erkaltung zwischen alten Genössen
hervorgerufen haben u. s. w. Aus dem Beriöht, den Graf Meilin in
seiner Selbstbiographie hinterlassen hat, wissen wir, dass diese Worte'
mit einer' sehr concreten Beziehung auf die Verhältnisse des Augen-
blicks gesprochen worden waren: der Landtag war ausserordentlich
10*
148 Zur livländischen Landtagsgeschichte.
stark besucht, und zwar von Leuten, ^die sonst nie auf einem Land-
tage zu sehen gewesen waren" ; die dorpater Reactionäre hatten mit
einer Taktik, die später erfolgreich wiederholt worden ist, ein all-
gemeines Aufgebot erlassen und aus allen Ecken und Enden des
Landes Gutsbesitzer zusammengetrommelt, von denen man sich ent-
schiedener Feindschaft gegen jede freiheitliche Concession an das
Landvolk versehen konnte.
Nachdem Sivers die ihm vom Kaiser übergebenen Propositiouen
verlesen hatte, regte sich sofort die Partei, die es nur darauf absah,
den verdienten Patrioten um das Vertrauen seiner Landsleute zu
bringen. Bei Gelegenheit der Recessirung der von ihm verlesenen
Propositionen wurden verschiedene Anträge gestellt, deren verdäch-
tigender Absicht nur dadurch vorgebeugt werden konnte, dass Sivers
^ich besonders bescheinigen liess, dass ihm .aus seinen dem Kaiser
vorgelegten und dem* Saal namens der Regiei-ung übergebenen An-
träoren kein Vorwurf erwachsen solle. Kaum war beschlossen
worden, diese Anträge von dem durch 12 ausserordentliche Mitglieder
verstärkten engeren Ausschuss, d. h. der Deputirtenkammer und dem
Landrathscollegium berathen zu lassen, so trat die reactionäre
Opposition sofort wieder mit dem famosen Vorschlage hervor, durch
welchen sie bereits zwölf Monate früher den Einfluss des verhassten
liberalen CoUegiums zu brechen versucht hatte. Ein von den Herren
Geheimerath v. Löwenstern, General v. Knorring, Baron Rosen-
Palloper, General von Günzel und siebenunddreissig anderen Land-
tagsgliedern unterzeichneter Antrag schlug der Versammlung vor,
die sofortige Wiederherstellung der Statthalterschafts-Verfassung und
die Niedersetzung einer Commission zur Vornahme etwaiger Modi-
ficationen derselben zu votiren. An den engeren Ausschuss ver-
wiesen. Wurde dieser Antrag (wie es bei Merkel heisst) „beseitigt
ohne eine Störung in der Bauerangelegenheit zu machen''. Schon
dieses halbe Zugeständniss lässt auf die eigentliche Absicht der
Antragsteller schliessen; im weiteren Verlauf der Debatten sollte
vollends klar werden, worauf es mit demselben abgesehen war.
Vorher sei ein interessanter Zwischenfall erwähnt, der für die an
ihm betheiligten Personen und deren Anschauungen höchst charakte-
ristisch ist Als die Berathungen eben in vollem Gange waren, am
26. Februar, wurde Sivers plötzlich nach Petersburg berufen. Sechs
Tage später stellte ein Major von Eckesparre, offenbar in der Ab-
sicht, die Arbeit des engeren Ausschusses zu unterbrechen und den
Landtag von der Verpflichtung zu befreien, selbst' die Initiative zu
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 149
einer gesetzlichen Regelung der bäuerlichen Verhältnisse zu ergreifen,
den Antrag: „es sollten keine Majoritätsbeschlüsse über die Agrarfrage
gefasst, sondern sämmtliche verlautbarte Sentiments Kaiserlicher
Majestät zur allendlichen Entscheidung vorgelegt werden!''
Dass dieser Vorschlag, der den Landtag um eines seiner wich-
tigsten Rechte gebracht hätte, v^erworfen wurde, «versteht sich für
uns von selbst : Merkel freilich war so wenig im Stande die Trag-
weite desselben zu verstehen, dass er achselzuckend die Verwerfung
desselben mit der in der Versammlung herrschenden „Vorstellung
von ihrer gesetzgebenden Gewalt" motivirte und Herrn v. Eckesparre
(dem doch nur darum zu thun sein könnte, die ihrer Vollendung
entgegen gehenden Arbeiten zu unterbrechen), blos weil derselbe die
Macht seiner Corporation schwächen wollte, bauernfreundliche Ab-
sichten imputirte.
Inzwischen war ein definitiver Beschluss über den Löwenstern-
Rosen-Günzel-Knorringschen Antrag auf Wiederherstellung der Statt-
halterschaftsordnung nicht gefasst worden. Die Reactionspartei,
der daran gelegen sein musste, ihre Pläne durchzuführen ehe der
„Eichbaum" Sivers aus Petersburg zurückgekehrt war, wagte nun-
mehr einen zweiten Sturm gegen die alte Verfassung. Einer der
Antragsteller von 1802, der Hofrath Baron Schoultz-Rewold forderte
in Anbetracht der Unhaltbarkeit der bestehenden Verfassung die
Niedersetzung eines Cömit^'s, welches die gänzliche Umgestaltung
derselben binnen 24 Stunden berathen und darüber dem Saal
berichten sollte. Aber selbst dieser Vorschlag^ der die Absicht seiner
Urheber nur allzu deutlich verrieth, genügte den Heisspornen der
Reaction noch nicht, ' welche in dem Sturz des Landrathscollegiums
die Rettung der bäuerlichen Unfreiheit zu sehen glaubten. General
von Günzel überbot den schoultzschen Antrag noch indem ei*
vorschlug, sofort von dem Herrn General -Gouverneur die Wieder-
herstellung der Statthalterschafts- Verfassung zu erbitten. Trotz der
Bewahrung des Landraths von Richter (der an Stelle des erkrankten
Landmarschalls den . Vorsitz führte) kam dieses unsinnige Verlangen
wirklich zur Abstimmung. Erst als dasselbe mit 110 gegen 36 Stimmen
gefallen war, schienen die Urheber desselben einlenken zu wollen.
Sie setzten indessen noch durch, dass ein aus 8 Gliedern bestehendes
Coniitö „zur Verbesserung der Verfassung" unter Vorsitz des Hof-
raths von Liphart niedergesetzt wurde.*) Freilich hatten Richter
*) Unter den Gliedern des Comit^'s sind zu nennen : Geheimerath v. Vieting-
hof, Genigross, Graf Münnich, Sivers, v. Bock u. A.
ISO Zur Uvländischen Landtagsgeschichte.
und die übrigen Liberalen ausdrücktich gtipulirt, dasa zum Behuf
der Prüfung der Comit^-Vorechläge kein besonderer Landtag einbe-
rufen werden sollte; bei der Kurzathm^keit, welche die Machi-
nationen einer gewissen Gattung „conservativer" Politiker zu allen
Zeiten gekennzeichnet hat, war die eigentliche Gefahr durch diesen
klagen Zusatz zunächst beseitigt.
Auf die Hartnäckigkeit, mit welcher die liberalen Reformyor-
Bchläge im weiteren Verlauf bekämpft wurden und welche Sivers
und dessen Freunde nötbigte, Position für Position gleichsam mit
Sturm zu nehmen, gehen wir hier nicht näher ein, indem wir noch-
mals auf die in dieser Beziehung ziemlich vollständige, wenngleich
nii^end erschöpfende merkelsche Darstellung verweisen. Für den
hier verfolgten Zweck, den inneren Zusammenhang zwischen der
Feindschaft gegen die Bauernfreiheit und den statthalterschaftlichen
Sympathien nachzuweisen, genügt der Hinweis darauf, dass Sivers
durch die Bitterkeit der gegnerischen Angriffe provocirt v^urde, die
heikele Frage nach dem wahren Besitzer der Ritterschaftsgüter auf-
zuwerfen und an dieser die unwiderstehliche Gewalt seines Ein-
flusses zu erproben. Nur durch die „Achtung gegen seine Collegen
und den Hofrath von Transehe'' liess der kühne und stolze Mann
sich von seiner Absicht abbringen, beim Kaiser darum zu sollicitiren,
dass die Ritterschaßs guter förmlich und allendlich als Güter des
LandrathscoUegiums anerkannt würden. Diese Drohung war offenbar
nur an die Adresse der Stürmer gegen die alte Verfassung gerichtet,
welche Sivers ein für alle mal um den Preis zu bringen gedachte,
den sie sich von der Niederwerfung der alten Ordnung der Dinge
versprachen; unter den Gegnern, die sich durch besonders feindliche
! Haltung hervorgethan und Sivers persönlich
ein Assessor v. Weiss genannt. So gross war
imüther, dass Landrath Richter in der Rede,
Versammlung am 31. März schloss, für noth-
treitenden Parteien zur Versöhnung und zum
kungen aufzufordern, die man sich gegenseitig
dringend bat, „der Bruder möchte dem Bruder
chen." Bezüglich der gefassten Beschlüsse hiess
e, dieselben würden aller Wahrscheinlichkeit
melten ebenso wichtig sein, wie für ihre Nach-
i letzte Bemerkung war (aus den Beschlüssen
'ste, vom Jahre 1804 datirte Bauer Verordnung
Zur livländischen Landtagsgeschichte. , 151
hervorgegangen), so gründlich hatte der würdige Redner sich geirrt,
als er seine Hoffnungen für eine versöhnlichere Stimmung der streitenden
Gegensätze ausgesprochen hatte. Im Gegentheil scheint der glänzende
Erfolg, den die Vorschläge der liberalen Majorität gehabt hatten, den
Haas der reactionären Opposition über das bisherige Maass hinaus
gesteigert zu haben, und schon zwei Jahre später, im Jahre 1805
brach derselbe in wilden Flammen hei'vor. Als der Landtag wieder
zusammengetreten war, ergriff der neue Landmarschall Samson zu
längerer Rede das Wort, um wiederum zu Eintracht und Ruhe zu
ermahnen. Der Eingang dieser Rede ist interessant genug, um im
Wortlaut mitgetheilt zu werden: „Die bedeutendste Beschäftigung
unseres Lebens, Abstellung der Willkür und Realisirung der dem
Menschenrechte gemachten Zusagen, ist während der Periode seit
dem letzten Landtage ins Leben getreten. Wir vor Europas Augen
Geächteten haben mit anständigem Schweigen aber thätigem Streben
die Ausfälle widerlegt, die die giltigste und eigentlichste Ablehnung
in dem Geist des zurückgelegten Zeitalters linden, dessen rauhe
Eigenthümlichkeiten uns von denen nicht als Verbrechen aufgebürdet
werden können, welche den fortschreitenden Gang der Menschheit
denkend betrachten.'' Dann folgte die oben erwähnte Mahnung „zur
Gelassenheit bei Differenzen", welche mit den Worten schloss: „Er-
warten Sie den Ausgang nj^t der unbefangenen Ruhe, welche auf
jeden Fall Erhabenheit des Geistes ausdrückt."
Diese Worte fielen auf eben so unfruchtbaren Boden wie die
früheren Ermahnungen des Landraths v. Richter: Die Opposition
ergriff die erste sich darbietende Gelegenheit, um das Landraths-
collegium und dessen freisinnigen Führer das ganze Gewicht ihres
UebelwoUens fühlen zu lassen. Die Gelegenheit dazu wurde gerade
zu vom Zaun gebrochen. Friedrich Sivers machte nämlich darauf
aufmerksam, dass die Landräthe capitulationsmässig nicht, wie bisher
üblich gewesen, vom General-Gouverneur, sondern direct vom Kaiser
zu bestätigen seien, wie solches auch auf dem ersten, unter russischer
Herrschaft abgehaltenen Landtage der Fall gewesen. Die Gegner,
denen daran gelegen war, die Bedeutung des Landrathsamts mög-
lichst herab zu drücken, erklärten sich mit Entschiedenheit dagegen,
und als Sivers geltend machte, dass angesichts der Bestimmungen
der löwenwoldeschen Capitulation dem LandrathscoUegium das
Recht, sich cfurch den Kaiser bestätigen zu lassen, eigentlich gar
nicht bestritten werden könne und dieses auf seine Gerechtsame be-
stehen müsse, erklärte eines der Häupter der statthalterschaftlichen
152 Zur livländischeu Landtagsgeachichte.
Partei, der Geheimerath t. Vietinghof, emphatisch, auch die Gerecht-
eame der Ritterschaft müsse gewahrt werden. — Was mit dieser
„Gerechtsame der Ritterschaft" gemeint war, sollte sicli schon tags
darauf zeigen. General v. Gfinzel kam auf seinen bei Gelegenheit
des vorigen Landtags gemachten Vorschlag zur Annahme einer
modifieirten Statthalterschafts-Verfassung zurück und verlangte, die
Arbeiten des zum Zweck der Verfaß sungsrevision niedergesetzten
Comit^B sollten sammt seinen Sentiments dem Convent übergeben
und dem nächeten Landtage zur Beschluesfassung vorgelegt werden.
Aber es gab Leute, denen dieser günzelsche Antrag noch nicht
genügte und die über denselbea hinausgehen wollten. Ermuthigt
durch einen vom Plenum gefassten Beschluss, an den Kaiser zu gehen
und bei diesem um förmliche Anerkennung des Rechtes der ge-
eammten Ritterschaft an den sogen. Ritterschaftsgütern zu supplicireii,
erklärte der Baron Schoultz, „er und seine Committenten", d. h. die
36 Landtagsglieder, welche den auf dem vorigen , Landtage ver-
worfenen Antrag behufs Einführung einer modifieirten Statthalter-
schaft eingebracht hatten, würden sich mit ihrem pium desiderium
direct an den Kaiser wenden und diesen um sofortige Erfüllung
desselben angehen. Dieser Erklärung setzte der Landrath Richter
den Antrag entgegen, das Vorgehen des Baron Schoultz und seiner
Genossen für gesetzwidrig zu erklären^ Als man sich zur Abstim-
mung darüber anschickte, trat der Geheimerath v. Vietinghof auf
und erklärte, — um das Maass rücksiehteloser Verfassungsverletzung
voll zu machen — er werde beim General- Gouverneur dafür Sorge
tr^en, dass auch die Stimmen der abwesenden Landtagsglieder über
die vorliegende Frage eingezogen würden. Diese Herausforderung
war denn doch zu stark, ura ohne Eindruck auf den unbefangenen
Theil der Versammlung zu bleiben und diese nahm den richterschen
Anti'ag mit überwiegender Majorität an. Selbst der General v, Günzel,
den wir als Vorkämpfer für die modificirte Statthalterschaftsord-
nung kennen gelernt haben, schien zu fühlen, dass ein Unternehmen,
.wie das des Baron Schoultz- Rewold landesgefährlich und von un-
berechenbaren Folgen sein könne. Zwischen beiden extremen
Parteien stehend mochte er sieh für das Amt eines Vermittlers be-
sonders geeignet halten, und als solcher trat er in der That auf. Mit
einer Offenheit, die auf die gesammte Lage ein klsteliehes Schlag-
lieht wirft, gestand er ein, dass der eigentliche Kern des Streits der
Besitz der Ritterschaftsgüter sei. Wenn das Land rathscol legi um
declariren wolle, auf diesen Besitz nicht weiter zu reflectiren, so
Zur livländischen Landtagsgeschichte. 153
würden die Herren v. Schoultz und Vietinghof sammt ihrer ^Gesell-
schaft" sich wohl zufrieden geben und einlenken ; auch würde solchen
FaJls die beschlossene Supplik des Plenums an den Kaiser gegen-
standslos werden.
Die Sache lag für das LandrathscoUegiuui kritisch genug, um
eine Ausgleichung wünschenswerth erscheinen zu lassen. In Sachen
der Ritterschaftsgüter hatte man. wie die Abstimmung über die
Supplik ausgewiesen, die Majorität gegen sich. Die Entschiedenheit,
mit welcher das CoUegium sich mit der Sache der Bauernfreiheit
identificirt hatte, war überdies der Grund zu ernsthaften Verstim-
mungen auch sonst zuverlässiger und verfassungstreuer Freunde ge-
wesen. Wer konnte wissen, ob es den Machinationen der 37 Sonder-
bündler nicht am Ende gelingen werde, in die Verfassung ein Loch
zu bohren und die durch ihr Interesse engagirten Massen zu dem
Entschluss zu bewegen, die Ritterschaftsgüter um jeden Preis, auch
um den der Vernichtung der Rechtscontinuität zu erlangen? Unter
dem Gewicht dieser Bedenken beschloss das LandrathscoUegium, bis
an die Grenze des Möglichen zu gehen und die dargebotene Gelegen-
heit zum Ausgleich zu benutzen, so weit das ohne Beeinträchtigung
der eigenen Würde und des klaren Rechtes geschehen konnte. Im
Namen des Collegiums wurde die Erklärung abgegeben, dasselbe
wolle die „Quästion wegen der Güter und deren Revenuen nicht weiter
moviren wenn alle weiteren Schritte zur Abänderung der Ver-
fassung resp. zur Wiedereinführung der Statthalterschaftsordnung
unterlassen würden; werde dem LandrathscoUegium die Initiative
zur Abänderung der Verfassung überlassen, so werde es eine solche
in Erwägung ziehen".
Dass diese Erklärung angenommen, der auf die Supplik bezüg-
liche Beschluss zurückgenommen, ja schliesslich dem Landraths-
coUegium und dem Landmarschall zur besonderen Pflicht gemacht
wurde, über die Conservirung der alten Verfassung strengstens zu
wachen, wäre aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geschehen, wenn
die Gegner sich nicht eine neue Blosse gegeben und handgreiflich
bewiesen hätten, wie weit es mit der Verwirrung^ aller, auch der
elementarsten Rechtsbegriflfe bei ihnen gekommen war. Baron
Schoultz erklärte nämlich seine und seiner Genossen ^Schrift", d. h.
die Petition wegen der Statthalterschaftsordnung, sei dem Herrn
General-Gouverneur bereits übergeben worden ; Geheimerath v. Vie-
tinghof erbot sich, diese Declaration ausser Effect zu setzen, wenn
derselben untpr den Materialien für die künftige Landtagsberathung
154 Zur lirl&nilischeD Landtagßgeechichte.
ein Platz angewiesen werde und wenn daa Landrathscollegium auf
die Ritterachaft«gOter förmlich verzichte.
Auf dieee Art von polltiachen Weehsel- und Tauachgeschäften
einzugehen, war für Männer, die auf ihre und des Landtags Ehre
ii^end etwas hielten, unmöglich. Daa Landrathscollegium ant-
wortete darum mit der Erklärung, von der Statthalterschafts-Ver-
fafsung könne, wenn sein Vorschl^ angenommen worden, nicht
mehr die Rede sein und über diesen Vorschlag vermöge es nicht
hinauszugehen. Obgleich Vietinghof auf seiner Fortuulirung bestand,
trat Üie Majorität dem Consilium des Collegiums bei und war der
widrige Zwist auf diese Weise für immer beigelegt. Als Geheime-
rath V. Vietinghof zwölf Monate später zum vierten mal einen An-
trag auf Wiederherstellung der Statthalterschafts-Verfassung ein-
bi-achte, hatten die Leidenschaften sich bereits beruhigt und fiel dieses
Attentat auf die Continuität des Landesrechts und seines besten
Stücks machtlos zu Boden.
Wo die Thatsachen so klar wie im vorliegenden Fall dafür
zeugen, was man vor siebenzig und vor sechszig Jahren bei uns
unter den „conservativen Interessen* verstand, und welcher Dinge
man f&hig war wo es sich um die Behauptung verjährter Misstände
handelte — sind alle weiteren Ausführungen überflüssig. Als Pa-
rallele aber für die bekannten, ziemlich gleichzeitigen Voi^änge in
der rigaer Oildstube (December 1802), als Denkzettel für künftige
Tage und als Beleg dafür, dass in unserem Lande Rechts- und Vater-
landsgefühl in demselben Maasse erstarkt sind, in welchem die öffent-
lichen Zustände mit den Forderungen der Zeit und des Gewissens
in Einklang gesetzt wurden, werden diese Mittheilungen „aus der
guten alten Zeit" vielleicht nicht ganz ohne Nutzen und nicht ohne
Berechtigung gewesen sein.
Marie Therese und Louise de La Vaiiiöre.
Am nördlichen Fusse der Pyrenäen, da wo das Flüsschen Nivelle
in den Meerbusen von Biscaya mündet, liegt eine kleine Stadt, St.
Jean-de-Luz, ehemals mit nicht unbedeutendem Handel nach Amerika,
heute fast ganz verödet. Hier, an der Grenze Frankreichs und
Spaniens, herrschte im Juni des Jahres 1660 ein lebhaftes Treiben,
denn Frankreicjis junger König feierte in dem Orte seine Hochzeit
mit der spanischen Infantin Maria Theresa; kein Wunder, wenn die
Bewohner von St. Luz ganz Auge und Ohr waren, richtete doch
ganz Europa seine Blicke auf den berühmten „Frieden der Pyrenäen^\
der in dieser Hochzeit seine Besiegelung finden und zugleich der
Markstein einer neuen Zeit werden sollte. Ob die beiden Neuver-
mählten zu einander passten oder nicht, darnach zu fragen musste
lächerlich erscheinen, denn, wo so viel Rücksichten politischer Natur
mitspielten, hatte das Herz keine Stimme: genug, dass man nichts
Schlimmes von der jungen Königin zu sagen wusste, genug, dass der
junge Ludwig XIV., damals in der Blüthe seiner Kraft, nicht ohne
Eindruck auf sie blieb. Ob auch ein dunkles Gefühl nahenden Un-
glücks ihre Stimme bei dem feierlichen ^Ja" vor dem Bischof von
Bayonne erzittern machte, man schilderte ihr die Schönheit der neuen
Heimat zu verlockend, die Poeten sagten ihr zu viel Glück voraus,
als dass diese kleinen Schatten den jugendlichen Sinn dauernd hätten
verdüstern können. Ihre Reise durch Frankreich glich einem Triumph-
zuge, ihr Einzug in Paris am 26. August und die folgenden Festlich-
keiten waren so glänzend, dass noch 20 Jahre später der grösste
Redner des 17. Jahrhunderts, Bossuet davon fabelte. Unter 'fler
erregten Menge befand sich auch eine geistvolle Frau, seit 2 Monaten
verwittwet, welche mit aufmerksamem Auge all diesen Festlichkeiten
folgte und der Königin glückwünschte, den schönsten Cavalier der
156 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
Welt zniii Gatten erwählt zu haben; — hatte denn die Wlttwe
Scarron nie etwas von dem Roman mit Olympia und Maria Mancini
gehört? Stiegen in der Seele der jungen Königin keine bangen
Sorgen auf als die jubelnde Hauptstadt ihr immer und immer wieder
die Worte vorhielt: Du bist nicht nur Königin, du bist auch Gattin?
Wir wissen es nicht — das aber wissen wir, dass Marie Therese
vom Louvre kaum Besitz ergriffen hat, als schon, wenn auch mit
leiser Stimme, ein Frauenname genannt wird, der für Frankreich
und Frankreichs Königin gleich rerhängnissvoU werden sollte; und
kaum ist die Königin am 1. November 1661 Mutter eines Sohnes
geworden, des vermeintlichen Erben zweier Kronen, so weiss es der
ganze Hof, ganz Frankreich, dass das Herz des Gemahls und Königs
nicht mehr der Königin gehört, sondern einem bescheidenen Ehren-
fränlein — Louise Fran^oise de La Valliöre. .
Es ist die Aufgabe dieser. Zeilen nicht, eine der Liebschaften
des „grossen Königs" zu schildern — über ihn hat die Geschichte
längst ihr Schuldig gesprochen — , aber auch eitie Ehrenrettung der
schönen Sünderin soll nicht versucht werden — Freunde und Feinde
haben sie schon oft der Welt vorgestellt; was wir zunächst erstreben,
ist, die Beziehungen der beiden Frauen, der Gattin und Geliebten,
zu einander in helleres Licht zu setzen. Nicht weil eine königliche
Sonne diesen beiden Frauen geschienen nehmen sie unsere Theil-
nahme in Anspruch, sondern weil wir unter der vornehmen Hülle
menschliche Herzen erkennen, welche den ewig schweren Kampf
zwischen Pflicht und Neigung kämpfen: die Namen und Thaten
grosser Kaiser und Könige vergisst die Nachwelt, aber noch nach
Jahrhunderten fühlt sie die heftigen Schläge eines menschlichen
Herzens. „Wenn wir mit Königen Mitleid haben, sagt Lessing, so
haben wir es mit ihnen als mit Menschen und nicht als mit Königen;
macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie
darum nicht interessanter." Ausserdem haben wir ein langgeübtes
gut- zu machen; denn während die rechtmässige
;essenheit fast gänzlich verfallen ist, hat Mit- und
istalt der Geliebten mit ewiger Frische und Jugend
;m sie in ihr nicht nur das Jdeal einer Liebenden
!ue und Hingebung sah, sondeni auch die reine und
1 ihrer vollkommensten Gestalt; und es wird nicht
in, wenn ihr Leben, in der Nähe und Wirklichkeit
r That jenem reizenden Bilde entspricht, welches die
die „Glorie des Heiligenscheins" sich von ihr
Mai'ie Therese und Louise de La Vallifere. 157
gemacht hat. Unsere Zurechtstellungen werden nur die Gattin
betreffen. —
Louise Frangoise de la Baume le Blanc, spätere Herzogin von
La Vallifere, ist am 6. August 1644, wahrscheinlich in Tours ge-
boren, doch streiten sich noch heute fünf Orte um ihre Wiege;
sie entstammte einem altadeligen Geschlechte, das zwar nicht bis
„Melchisedeck" hinaufreichte, wie ein Pamphlet jener Zeit sich aus-
drückt, aber doch bis in das 14. Jahrhundert. Der Vater,* ein
tapferer Offizier, starb früh, und die Mutter verheirathete sich wieder
mit Jacques de Courtavel, Marquis de Saint-Remy, erstem Haushof-
meister Gaston*s von Orleans. Zu Blois, auf dem Schlosse Gaston*s,
einem der litterärischen Mittelpunkte des damaligen Frankreich, ver-
brachte Louise ihre Jugend; allein als der Herzog starb, zog die
JVIarquise von St. Remy mit ihren Kindern nach Paris, und als bald
darauf Philipp von Frankreich, Monsieur, der einzige Bruder Lud-
wig XIV., Henriette von England, die Tochter KarPs L heirathete,
verschaffte die Mutter des Abtes Choisy der La Vallifere eine Stelle
als Ehrenfräulein bei Madame. Dies Amt der Ehrenfräulein, durch
Katharina von Medici zuerst eingerichtet, hatte unter Anna von
Oestreich, der Mutter Ludwig's XIV. eine neue Bedeutung erhalten ;
die spanische Sitte stellte um jede Prinzessin eine Schaar keuscher
Jungfrauen (las ninas d'onor) aus dem alten Adel Castiliens, Arra-
goniens und Asturiens, welche die Ehre der königlichen Töchter
hüten mussten. In Spanien eine reine Institution wurde sie in Frank-
reich bald die Quelle tiefgreifender Unordnung. In den Gemächern
dieser Ehrendamen entwickelten sich, durch die Umstände begünstigt,
jene zahllosen Liebschaften, welche ebenso viel Bände zeitgenössischer
Memoiren füllen ohne sie zu erschöpfen, dort knüpften sich jene
Verbindungen, welche eine so bedeutende Rolle in den Geschicht^en
des französischen Königreichs zu spielen bestimmt waren, dort ent-
falteten sich jene Leidenschaften, welche einen so verhängnissvollen
Einfluss auf die Sitten der europäischen Welt üben sollten. Ein
gefährlicher Boden für die siebenzehnjährige, in der Stille des Land-
lebens auferzog^ne kleine La Vallifere! Und dazu kam, dass insbe-
sondere die Salons Henriettens, einer geistvollen, aber nicht allzu
ängstlichen, ränkesüchtigen Frau bald der Mittelpunkt aller Hof-
cabalen wurden. Bei solchen Verhältnissen würde es uns nun nicht
Wunder nehmen, wenn wir hören, dass der junge leidenschaftliche
König unter der Schaar anmuthiger Ehrenfräulein . die anmuthigste
bald herausgefunden habe — allein schon die Mitwelt hat ein
158 Marie Therese und Louise de La Valliire.
besonderes Interesse darin gefunden, den ersten Spuren dieser
königlichen Neigung nachzugehen und uns darüber Mittheilungen
zu machen.
Es war an einem mondhellen Sommerabend, als der König mit
Beringhen und dem Grafen Guiche während eines Spazierganges im
Park von St. Germain drei junge Mädchen, welche vor der Statue
Diana's sich lebhaft unterhielten, von ungefähr belauschte. „Ich habe
Diana, immer geliebt", sagte die Jüngste von ihnen, „und ich," fügte
die Ch^merault hinzu, „ich liebe Endymion mehr" ; „ihr seid beide
toll," unterbricht die Schwärmerinnen Fräulein von Pons, „ihr liebt
fabelhafte Wesen, ich dagegen liebe in der Wirklichkeit." „Und
wen lieben Sie?" fragt die zweite — der König macht seinen Be-
gleitern ein Zeichen, denn er hofft interessante Erklärungen zu hören.
„Wenn ich überhaupt Jemand lieben soll," lautet die Antwort, „so
würde ich den Baron von Candale lieben..." „Aha!" 'unterbricht
sie die Neugierige, „Sie lieben ihn in Wirklichkeit, nun, ich mag
ihn nicht, aber der Marquis von Alincourt ist sehr nach meinem
Geschmack, er ist der beste Tänzer — doch", fügt sie mit einem
Seitenblick hinzu, „Fräulein La Vallifere sagt uns nichts, aber viel-
leicht könnte sie uns etwas von dem Grafen Guiche erzählen"; aber
die Jüngste schweigt und lächelt verächtlich, indessen die beiden
anderen wollen ihr Geheimniss auf jeden Fall wissen. „Ich kenne
ihren Geliebten," ruft Fräulein von Pons, „denn sie sagt mit ihrem
Schweigen mehr als wir mit unseren langen Erzählungen." „Ich
habe durch mein Schweigen nichts gesagt," bricht endlich die Ge-
reifte hervor, „aber ich kann nicht umhin, euch ein wenig toll zu
finden, indem ihr für den ganzen Hof Lobeserhebungen habt, nur nicht
für den König selbst, und doch, ich frage euch, giebt es nur einen
einzigen, den man ihm vergleichen könnte, selbst wenn es sich nur
ums Tanzen im Ballet handelte."*) „Ah!" ich begreife," sagt die
Chämerault, „der König gefällt Dir, weil er der König ist". „Im
Gegentheil, die Krone verdirbt ihn mir ein wenig, da sie ihn aus
der Reihe derjenigen hebt, die man lieben darf: ach! wenn er nicht
der König wäre!" Die Blätter rauschten und die erschreckten
Ehrenfräulein entflohen vor dem Schatten des Königs, der sich der
*) Es war bekanntlicli eins der ersten Vergnügen Ludwig XIV., im Ballet
n[iitzu tanzen, nnd wir wissen, dass er gerade kurz vorher in dem berühmten
Ballet der „vier Jahreszeiten** eine blonde Ceres vorgestellt hatte, während die
La Valliere eine der ÜTymphen machte. Feuillet de Couches: Caiiseries d'un
curieux 3,232.
Marie Therese und Louise de La Yallifere. 159
unbekannten Freundin zu Füssen werfen wollte. „Wie!" rief er, „sie
will den König nicht lieben, sie wird mich lieben". Und als er
noch an demselben Abend bei Madame die La Vallifere irgend einen
Roman der Scudery vorlesen hörte, erkannte er sogleich an der Stimme
die spröde Freundin wieder; er war so erregt, dass er von dem
Roman selbst kein Wort verstand, dennoch behauptete er später, dass
dies der einzige Roman gewesen, den er mit Vergnügen gehört habe.
Nach einer anderen Erzählung hätte die königliche Leiden-
schaft einen weniger haiunlosen Ursprung gehabt. Der König
ennuyirte sich schon lange mit der Königin, Madame mit Monsieur,
was also war natürlicher, als dass der König und Madame sich zu
entschädigen suchten ! Allein man fürchtete ein wenig den Zorn der
Königinmutter und um die wahre Ursache der häufigen Besuche
Ludwigs bei Henrietten zu verdecken, wurde ausgemacht, der König
solle für eine der Ehrendamen — das Loos fiel auf die La Valli^re
— eine Leidenschaft heucheln: doch aus der scheinbaren wurde eine
wirkliche Neigung. Und einmal die Richtung gefunden, that Zufall
und Berechnung das Uebrige. Als der König einmal, in einem An-
falle schlechter Laune, über seine mangelhafte Gesundheit klagte,
zeigte die junge La Valliöre sich sehr theilnehmend. „Ach!'' sagte
der König, „wie sind Sie gut, dass Sie sich für die Gesundheit eines
elendön Prinzen interessirqn , der nicht eine einzige Ihrer Klagen
verdiente, wenn er nicht mit seinem ganzen Leben Ihnen gehörte";
das Fräulein fühlte sich tief getroflfen und sprach den ganzen Tag
kein Wort mehr. Ein anderes Mal, als der Hof bei einem Spazier-
gange im Park zu Vincennes durch ein^n plötzlichen Regen überrascht
wurde und Alles in wilder Hast sich zerstreute, fügte es sich, dass
der König die La Vallifere auf einem einsamen Wege traf; er ergriff
die Gelegenheit, sich zu erklären. „Mein Herz erwartete diesen
Sturm," sagte er erblassend, „wissen Sie denn noch nicht, dass ich
Sie liebe?" „Still! still!" flüsterte die junge Dame erröthend, „ich
könnte Sie verstehen, indessen," fügte sie ausweichend hinzu, „wir
haben den Weg verloren". „Nein, ich gehe, wo ich gehen will".
„Aber Majestät, sehen Sie denn nicht, dass mich der Regen ganz
durchnässt hat?" „Zählen Sie die Tropfen," rief der leidenschaft-
liche Liebhaber, „ich schwöre, ich gebe Ihnen eben so viel Perlen."
Den mündlichen Erklärungen folgten die schriftlichen. Den
ersten Brief*), welchen der König sendet, will sie nicht einmal
•) Derselbe befindet ßich augenblicklich in den Händen der Wittwe eines
Advocaten Roiix in Chartres, welche sich aber in der Hoffnung bedeutenden
160 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
lesen — der üeberbringer, Beringhen, liesst ihn vor, den zweiten
birgt sie an ihrem Herzen, auf den dritten antwortet sie. Es wird
erzählt, dass beide sich des Dichters Benserade bedient hätten, die
betreffenden Briefe zu schreiben, natürlich ohne demselben die wirk-
liche Adresse zu verrathen ; als die junge Dame eines schönen Tages
den vorübergehenden Poeten hinaufrief und ihn mit dem schelmischsten
Lächeln empfing, glaubte der Verliebte, es gelte ihm; er warf sich
aufs Knie und überreichte ihr ein Sonnet; „nein, nein!" rief die
junge Dame laut auflachend, „darum handelt es sich nicjit, sondern
um eine Antwort, denn man hat mir wieder geschrieben." Der.
Dichter sah den Brief und erkannte sein eigenes Machwerk, aber als
kluger Mann sagte er nichts und verfertigte die verlangte Antwort.
So nahm derin der Roman seinen weiteren Verlauf, wenn auch nicht
ohne mannigfache Störungen und heftige Kämpfe. Aber wer hatte
Macht über den starrköpfigen Sinn des Monarchen, seit Mazarin ins
Grab gestiegen? Dennoch wagte man von verschiedenen Seiten
Vorstellungen zu machen. Der Herzog von Mazarin, Befehlshaber
der Artillerie, theilte dem Könige eines Tages mit, dass der Engel
Gabriel ihm erschienen sei und den Untergang des ganzen franzö-
sischen Reiches geweissagt habe, wenn der König von seiner ge-
fährlichen Liebe nicht lasse ; „und ich,'^ antwortete dieser, „prophezeie
Ihnen, dass man Sie für verrückt halten wird, wenn Sie noch mit
Anderen darüber sprechen werden." Nicht besser ging es dem
Beichtiger des Königs, Annat, der erklärte, seinen Abschied nehmen
zu müssen, wenn Ludwig sich nicht bessere — dieser aber lachte,
gab den verlangten Abschied und meinte, er habe an seinem Prediger
ohnehin genug. Endlich kam noch die Mutter Anna, und redete
ernst und lebhaft für ihre Schwiegertochter, denn sie selbst hatte
unter der Kälte Ludwig's XIH. zu empfindlich gelitten, um die Leiden
jener nicht vollständig zu würdigen — allein was konnten Vernunft-
gründe gegen die Leidenschaft helfen! Der Sohn durchschnitt das
Gespräch mit gewohnter Impertinenz, er meinte, „das sei immer so
gewesen," und führte aus der Geschichte eine Anzahl Beispiele zu
seiner Entschuldigung an, ja, er hatte die Bosheit, der Mutter selbst
Vorwürfe zu machen: „Und wie, Madame, muss man denn Alles
Gewinnes entschieden weigert, den Inhalt desselben zu veröffentlichen. £inige
Glückliche, die denselben haben lesen dürfen, versichern, dass er mit hinreissender
Leidenschaft geschrieben sei, er soll folgenden pikanten Anfang haben: „parblea!
Mademoiselle, si je vous aime ..."
Marie Therese und Louise, de La Valliöre. 181
glauben, was man erzählt? Ich glaubte, dass Sie weniger als ii^gend
Jemand Grund hätten, dieses Evangelium zu predigen." Erst kurz
vor ihrem Tode hat der Sohn ein halbes Geständniss seines Un-
rechts abgelegt.
Und welche Rolle spielte die Königin in diesem ersten Theil
des Romans? — Man suchte sie möglichst fem zu halten. Marie
Therese war, wie sich das am Madrider Hofe von selbst verstand,
von Theologen theologisch erzogen worden, doch wissen wir im
Einzelnen aus ihrer Jugendzeit so gut wie gar nichts ; die kaiserliche
Bibliothek in Paris besitzt kaum ein Schriftzeichen von ihr, die
Archive von Madrid sollen nur dürftige Ausbeute gewähren. Von
ihrem A\3usseren geben uns die zahlreichen Bilder in Versailles einen
genügenden Begriff. Eine kleine Gestalt, aber wohl geformt, ein
ovales, ziemlich langes Gesicht mit schönem Teint, eine hohe Stirn,
umflossen von blonden vollen Haaren, ein Paar blauer Augen, welche
mehr harmlos als königlich in die Welt blickten: alles das stimmt
uns günstig, und selbst die dicken, vorstehenden Lippen, ein Erbtheil
des Hauses Oestreich, nehmen dem Gesicht im Ganzen wenig von
seiner Anmuth. So wenig Besonderes uns dieses Aeussere zeigt, so
wenig nehmen wir in Marie Therese hervorragende innere Eigen-
schaften wahr. Im Allgemeinen wird sie uns sogar als ziemlich
unbedeutend geschildert. Einen Ruhm wird man ihr aber nicht
nehmen können, das ist: die einzige, in Wahrheit ehrenhafte Frau
am Hofe Ludwig*s XIV. gejA^esen zu sein. Sie besass nicht jene kalte
Berechnung so vieler Frauen, welche im ernsten Kampf wie im
leichten Geplänkel mit Sicherheit ihre Pläne machen, geschickt die
Mittel vertheilen ; sie kannte keine andere Politik, als rein zu lieben
und geradeaus zu gehen. Dabei war sie stolz wie alle Castiliane-
rinnen; als die Beichtigerin eines pariser Nonnenklosters sie einmal
fragte, ob sie in ihrer Jugend nie danach gestrebt habe, geliebt zu
werden, fuhr die Königin mit einer gewissen Heftigkeit auf: „Nein,
nie! Konnte ich denn Jemand in Spanien lieben? — An dem Hofe
meines Vaters gab es keine Könige." Und zu ihrer einseitigen Er-
ziehung fügte Philipp IV. noch die Rathschläge einer beschränkten
Politik. Als sie die spanische Heimat verliess, gab ihr der könig-
liche Vater eine Reihe von Verhaltungsmaassregeln mit auf den Weg,
welche alle auf den einen Grundsatz hinausliefen : „Schweigen und
abwarten'^ — und in der That, nie hat sie gegen dieses Gebot ge-
sündigt; allein wir wollen darüber nicht streiten, ob jene Schweig-
samkeit wirklich immer eine Folge festen Willens gewesen ist, oder
Baltische Monatsschrift, Neue Folge, Bd. I, Heft 2. 11
162 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
ob Äicht auch bisweilen der Grund für dieses Verhalten in einer
gewissen Oleichgiltigkeit, wenn nicht gar Dummheit gesucht werden
muss. Es ist begreiflich, dass man am französischen Hofe, wo es in
erster Reihe darauf ankan^ geistreich und witzig zu sein, wo An-
ständigkeit zwar als angenehmes aber entbehrliches Gut betrachtet
wurde, eine Natur, wie die Marie Theresen's so gut wie gar nicht
rerstand ; dazu kam, dass sie bei ihrer Heirath ausser „allons k Paris"
kein Wort französisch kannte. Ihrer Schwiegermutter war sie innig
ergeben und den König liebte sie mit einer Leidenschaft, welche
diesem oft unbequem wurde. In den ruhigen Verhältnissen eines
bürgerlichen Daseins lebend hätte Marie Therese weder die Augen
der Mit- noch Nachwelt auf sich gezogen, als Gattin eines zügellosen
Königs inmitten eines zügellosen Hofes muss sie, wenn auch unter-
liegend, unsere Theilnahme erregen. Wie lange sie sich von dem
Könige wirklich geliebt glaubte, wer vermag es zu sagen? Gewiss
ist, dass, als sie im Sommer 1661 in stiller Zurückgezogenheit zu
St. Germain ihre Tage verlebte, schon heftige Zweifel in ihrer Seele
aufstiegen; den Namen ihrer Nebenbuhlerin hat sie zwar erst viel
später erfahren, denn die Königinmutter trug alle Sorge, die Qualen
dieses empfindsamen Herzens so viel als möglich zu mildern. In
Wirklichkeit lag aber die Entscheidung des unseligen Kampfes weder
in ihren, noch in der Mutter Händen, sondern einzig und allein in
denen der jugendlichen Nebenbuhlerin; alles hing von der Antwort
ab, welche die La Vallifere auf den köni|:lichen Brief gab.
Nichts ist leichter, als in der Stille der Studirstube oder in der
Harmlosigkeit des Kaflfeekränzchens den Weg vorzusehreiben, wel-
chen ein gesunder Sinn in dem Kampf der Leidenschaften hätte
gehen müssen; gewiss, der König wie die Geliebte, sie sind beide
für ihre Thaten verantwortlich, aber um sie gerecht zu beurtheilen,
muss man die Umstände berücksichtigen. Ein frommer Mann hat
es bedauert, dass der König nicht mehr in einem kurz vorher (1647)
erschienenen Buche „über die Pflichten des Fürsten" (von Hardonin
de Beaumont de P^r^fixe) studirt hatte — wex will denn sagen, dass
der König sich dessen nicht bewusst war, Unrecht zu thun? Andere
haben alle Schuld der verführerischen La Vallifere zugeschrieben —
sollte das junge achtzehnjährige Mädchen dem mächtigen Könige
etwa Vorlesungen halten über seine Pflichten als Regent, als Gatte?
Ludwig XIV., sagen sie, hatte einen empfänglichen Sinn, sie musste
in ihrem Briefe ihn auf seine Pflichten gegen seine Unterthanen,
gegen sich selbst aufmerksam machen, sie hätte das Bild der Königin
I Marie Therese und Louise de La Valliöre. 163
eiDti yQj. seine Seele zaubern, ihn an die beschworene Gattentreue erinnern
^^^j sollen — und hätte der König nicht wie die Franzosen des 19. Jahr-
^^' hunderts über solch albernen Einfall gelacht! Sie hätte dem Zu-
^ dringlichen ferner in Erinnerung bringen sollen, welche Anstrengungen
die europäischen Mächte gemacht, die Hand Marie Theresens zu er-
halten, d. h. welchen unverdienten Schatz er in ihr besitze — so
unzweifelhaft dieser Excurs in die politische und diplomatische Ge-
schichte der Jahre 58 und 59 dem Ehrenfräulein zur Ehre gereichen
musste, dem Könige hätte sie damit noch weniger imponirt. Aber
— wir wollen mit dem frommen Historiker diese Unterlassungssünde
herzlich bedauern — das junge Mädchen machte diese kleine histo-
rische Studie nicht, sie schrieb diesen Brief nicht, sondern nahm
vielmehr den Kampf, welchen sie weder hervorgerufen noch ge-
wünscht, gegen die Königin auf.
Unerfahrenem Mädchenherz! Vielleipht glaubte sie ihr ganzes
Leben hindurch so leidenschaftlich geliebt zu werden? Wer will
bestimmen, welchen Antheil an diesem Irrthum einfache Unkenntniss
der Bedingungen der Wirklichkeit hatte, und wie viel der Ver-
blendung leidenschaftlicher Liebe zugeschrieben werden muss. Man
weiss, welche bedeutsame Rolle in der Erziehung junger Mädchen
damals die Romane spielten : die Königin soll einmal darüber geklagt
haben, dass der ganze Hof aus den Fugen gerissen werde durch ein
junges Mädchen, dessen Köpfchen durch spanische und italienische
Romane verdorben sei. Mir scheint, dass die La Vallifere vielmehr zu
jenen jungen Mädchen götsählt werden muss, die sich ihren Roman
selbst zusammen setzen, in welchem sie mit grösserem Vergnügen lesen
und träumen als in den geschriebenen ; und wenn diese romantischen
Träumereien ihren Willen auch nicht völlig entnervten, so haben sie
doch sicher ihre Widerstandskraft eingeschläfert. Die Romane der
Scudery vor allem beherrschten damals die „gute Gesellschaft", ihr
„Grand Cyrus", ihre „Cldlie" fehlten in den Bibliotheken auf den
Schlössern der Edelleute so wenig wie in den Salons zu Marly und
Versailles, und wir erfahren durch einen Freund ihrer Jugend, dass die
kleine La Vallifere in diesen Büchern fleissig las. Diese Leetüre wie
das sie umgebende Leben mussten auf ihre lebhafte Phantasie von
grossem Einfluss sein. Als sie einst zufällig ein Blatt der „Gazette
officielle" in die Hände bekam und darin von dem grossen persön-
lichen Muth des Königs in der Schlacht bei Dünkirchen las, fühlte
sie sich sogleich zu dem tapfem Manne hingezogen. Und wenn auch
damals noch das Leben auf den Schlössern der Provinz weniger
11 •
164 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
frivol war als bei Hofe, so konnte es doch nicht fehlen, dass viel-
fache Liebesverhältnisse angeknüpft wurden ; auch von einer Jugend-
liebe Louisens auf Schloss Blois hat man gesprochen, doch lässt sich
nichts erweisen. Dagegen hat das Ehrenfräulein sehr bald die Augen
der jungen Cavaliere bei Hofe auf sich gezogen. Ein junger Minister
des Königs, Löm^nie de Brienne, erzählt uns, dass er auf dem Punkte
gewesen sei, sich zu erklären, als er noch glücklicher Weise und zur
rechten Zeit die Neigung des Königs bemerkt habe: die Wahl
zwischen seinem Amt und dem Gegenstand seiner Neigung fiel ihm
nicht schwer. Und doch war dieses Mädchen, das er liebte, von
der Natur mit Gaben ausgestattet, welche selbst einen unbeständigen
und wählerischen König, wie Ludwig XIV., sieben volle Jahre
fesseln konnten !
Das Museum zu Versailles, welches in so wunderbarer Fülle die
berühmten und unberühmten Gestalten des „grossen Jahrhunderts"
uns vor die Augen führt, über die La Valliöre ist es fast stumm.
Nur ein bild unter den vorhandenen fünf stammt aus ihrer Zeit
selbst; und diese Bilder entsprechen nur schlecht den Beschreibungen,
welche die Zeitgenossen von ihr gemacht haben. Zahlreiche Schilde-
rungen ihrer Persönlichkeit sind uns in den Mdmoiren überliefert,
viele von Frauen, und man kann dem Zeugniss der Frauen, eifer-
süchtiger Frauen, wohl Glauben schenken. Stellen Sie sich ein
junges Mädchen vor, von zartem Körperbau, fast zu schlank, mit einer
Taille „weder gross noch klein", welche aber ihre graziösen Be-
wegungen in keiner Weise störte ; aus einöm feingeschnittenen Köpf-
chen mit hochblondem Lockenhaar schaute ein Paar hellblauer
Augen hervor, mit einem Blick, so sanft und so bescheiden, dass er
in demselben Augenblick das Herz und die Achtung gewann; wir
wissen schon, das anmuthige Lächeln des schönen Mundes hatte selbst
einen Mann wie den ältlichen Benserade zu einem Fussfall verführt;
obgleich sie ein wenig hinkte, so stand ihr das doch nicht schlecht,
denn schritt sie langsam einher, so wusste sie diesen Fehler zu ver-
bergen, ging sie schnell, wie gewöhnlich, so entsprach das leise
Schwanken ihrer Lebendigkeit; sie tanzte gut, sass vortrefflich zu
Pferde. Frau von Lafayette, ein missgünstiges, der Königin ganz er-
gebenes Weib hat für die La Vallifere nur drei «ehr bezeichnende
Ausdrücke „fort jolie, fort douce, fort naive". Sie ist nicht eine
von jenen vollkommenen Schönheiten, welche man bewundert ohne
sie zu lieben, wie etwa Frau von Montespan; auf die La Vallifere
scheint der Vers La Fontaine's gemacht zu sein: „la gräce plus
Marie Therese und Louise de La Valliire. 166
belle encor que la beaut^^^ Und in dieser anmuthigen Hülle herrschte
eine wahrhaft grosse Seele. An Geist und Witz steht sie gewiss
weit hinter ihren Nachfolgerinnen, der Mont'espan und Maintenon
zurück, obgleich sie ernstlich bemüht war, diesen Mangel durch
fleissige Leetüre zu heben*); und selbst an Schönheit wurde sie
von der ersteren übertroflfen. Aber ihr ist eine Originalität eigen,
welche sie von vielen Frauen unterscheidet: sie kannte und hörte nur
die Sprache ihres Herzens seit sie Ludwig liebte, Triumph und Fall
berühren nur dieses ; erhaben über jedes persönliche Interesse kennt
sie nur eine Freude: zu lieben und geliebt zu werden; ohne Ehr-
geiz, ohne einen weiten Gesichtskreis ist sie mehr darauf bedacht, an
den zu denken den sie liebte, als ihm zu gefallen. Man weiss,
welche Gewalt im Kampf und Feldlager gestählte Gestalten mit
grossen Schnurbärten auf ein weibliches Herz ausüben können, welche
Anziehungskraft ein mächtiger und nun gar schöner König besitzt —
allein alles das reizte die La Vallifere nicht mehr, alle diese Aeusser-
lichkeiten erloschen vor der einen Ueberzeugung, dass in dem Herzen
des Geliebten eine sympathische Flamme lodere. Sie nährte sich
nicht mit dem stolzen Gedanken, den allmächtigen Ludwig XIV. ge-
zähmt zu haben, und nie hat sie diese Gewalt zum eigenen oder
zum Besten ihrer Verwandten und Freunde ausgenutzt; die Diamanten,
mit welchen der König sie überschüttete, hat sie nur auf seinen aus-
drücklichen Wunsch getragen, ja, die hohe Stellung des Geliebten
hat sie selbst bisweilen gedrückt. ^Ah, Sire,^ sagte sie eines Tages,
„wären Sie doch nur der einfache GardeoflBzier, zu welchem die
holländischen Zeitungen Sie machen, wie würden wir uns in irgend
einem verborgenen Winkel der Welt lieben!** In ähnlichem Sinne
sagt von ihr Bussy-Rabutin (m^m. H. 3. edit. LaianneJ einer der
zweifelsüchtigsten Zeitgenossen: „Sie liebte die Person des Königs
ohne Grenzen, und man sah wohl, dass sie ihn eben so geliebt haben
*) Mit dieser Darstellung im Widerspruch steht die Kotiz einer Handschrift,
welche sich auf der kaiserlichen Bibliothek in St. Peterburg befinden und gerade
den feinen Geist der La Valli^re besonders hervorheben soll; so lange wir den
Werth jener Handschrift nicht genügend kennen, müssen wir schon bei der bisheri-
gen Anschauung bleiben. (L^ouzun Leduc, Etudes sur la Russie, p 298.) Uebrigens
gestehe ich bereitwillig die Möglichkeit einer Modification dieser Anschauung
zu, da mir selbst schon Zweifel aufgestiegen sind: es scheint nämlich aus einer
Stelle der Reüexions hervorzugehen, dass es eine Zeit gegeben, in welcher auch
die La Valli^re, wie etwa Elisabeth Charlotte, vom Skepticismus angehaucht
worden; dahin zu gelangen würde aber wohl ein einfacher Ehrenfräuleinwitz
nicht genügen.
166 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
würde, wenn sie eine grosse Königin oder er ein einfacher Edel-
mann gewesen wäre.** Alles ist für sie in dieser einzigen Liebe
ihres Lebens eingeschlossen, und sie ist allezeit bereit gewesen,
lieber zu sterben, als auch nur den leisesten Verdacht an ihrer
Treue aufltommen zu lassen. Aber die Welt begriff diese absolute
Liebe nicht, und der Kampf, den sie deshalb mit dieser Welt führte,
das ist ihr Leben. „Ich fühle," schrieb sie selbst später einmal,
„dass trotz der grossen Fehler, die ich fast zu jeder Zeit be-
gangen, die Liebe doch mehr Antheil an meinem Opfer hat (näm-
lich dem Eintritt ins Kloster), als die Pflicht, Busse zu thun." So
war diese Seele beschaffen, welche wider ihren Willen und fast ohne
es zu wissen eines der heiligsten Gesetze der Menschheit verletzte.
Doch vergesse man nicht, welche eigenthümlichen Anschauungen
über die Liebe selbst in den gebildetsten Köpfen jenes Jahrhunderts
spukten. Es ist schon erwähnt, dass die Romane der Scudery
damals überall gelesen wurden; dieses Interesse erregten sie aber nur
deshalb, weil sie ein leicht erkennbares Bild des damaligen Lebens
und Treibens bei Hofe und im Bürgerhause gaben, welche Schilde-
rungen um so mehr auf lebhafte und phantasievolle Köpfe, wie den
der La Vallifere, wirken mussten, je mehr das wirkliche Leben darin
verschönert wurde. Grand Cyrus ist eben niemand anders als der
grosse Cond^, Mandane mit den blonden Haaren und blauen Augen
Madame de Longueville, „die grösste Sünderin des XVH. Jahr-
hunderts**, die schönen Damen der Höfe zu Ekbatana, Sardes und
Babylon sind die Ehrendamen Anna's von Oestreich; es ist bekannt,
mit welcher Leidenschaft selbst die besonnene Frau von Sövign^ jene
zehn dicken Bände des Grand Cyrus . verschlang, jene Bände, die
jetzt in den Bibliotheken einzelner Alterthümler den wohlthuenden
Schlaf der Jahrhunderte schlafen und vor deren Wiedererwachen
uns der Himmel bewahren möge. In der That, jenem Geschlechte
galt die Liebe als ein Zeichen besonderer Erhebung und Bildung
der Seele; nach dem Sittencodex jener Zeit konnte man kein
„honneter" Mann sein, ohne besondere Empfindlichkeit für die
Schönheit des weiblichen Geschlechts zu zeigen. Dieses Spiel war
nicht ohne Gefahr, tmd wo sollte ein junges Mädchen Kenntniss und
Kraft hernehmen, der doppelten Macht zu widerstehen: der Macht
der Sitte auf der einen, der Gewalt eines verführerischen Königs
und der Unerfahrenheit des eigenen Herzens auf der anderen Seite?
So sind wir denn vom ersten Augenblick an nicht zweifelhaft,
wohin der harmlose Anfang des Romans, den wir oben geschildert,
k
Marie Therese und Louise de La Vallifere. 167
endlich führen musste, nur der erste Schritt kostet Mühe — das
Uebrige macht sich von selbst. Und während das ^^bescheidene
Veilchen" Qein Ausdruck der S^vignö für die La Vallifere) immer
höher sein Köpfchen aus dem Grase erhob, welkte eine andere Blume
am Hofe Ludwig's rasch und unbemerkt dahin. Kaum zwei Jahre
waren vergangen seit jener Hochzeitsfeier und die feierlichen Schwüre
des königlichen Gemahls, alle die Zeichen des Glückes, mit welchen
Frankreich Marie Therese überschüttet, waren nichts mehr als Erinne-
rungen. Und dieses Unglück im eigenen Hause musste sie um so
empfindlicher treffen, je weniger sie geeignet war, auf anderen Ge-
bieten eine^ Entschädigung zu finden, denn mit den hohen Abenteuern
des öffentlichen Lebens sich zu befassen schien sie völlig unfähig.
Rein in der Seele und im Leben, fast bürgerlich ein&tch im Ge-
schmack, doch nicht ungeschickt in ihrer Art Hof zu halten, in
dem Könige zugleich den Herrn und Gatten verehrend, sah sie sich
plötzlich hineingesissen in eine ihr völlig fremde Sphäre. Ein Ge-
fühl rechtmässiger Eifersucht ergriff sie, und da bei Hofe sie niemand
verstand, niemand sie hören wollte, stürzte sie sich der Kirche ganz
in die Arme um dort auch den letzten Rest von Selbstgefühl zu
verlieren. Beide Frauen, die Gattin wie die Geliebte, fallen als
Opfer der orientalischen Willkür ihres Königs, und die unparteiisehe
Geschichtschreibung wird die Ehrendame nicht belasten indem sie
die Königin beklagt.
Schon in den Sommermonaten, welche Marie Therese vor der
Geburt ihres ersten Sohnes einsam in St. Germain verbrachte, war
der Verdacht in ihr rege geworden, und bald musste das Gerücht
auch den Namen der Nebenbuhlerin ihr zu Ohren bringen. Als
eines Abends^ es war. gegen Ende des Jahres 1662, die La Valliäre
durch das Zimmer der Königin ging, zeigte diese mit dem Finger
auf sie und sagte leise zu Frau von Motteville: „Jenes Mädchen mit
den Diamant- Ohrringen ist es, welche der König liebt." Und bald
sollte ein unerwartetes Ereigniss ihre Unruhe in voller Stärke zum
Ausbruch bringen. Es war grosser Empfang des spaiüschen Ge-
8£^dten, eine Anzahl hochgestellter Personen befand sich im Audienz-
saale, und unter ihnen auch Saint- Aignan, d«r sich mit dem Marquis
von Sourdis lebhaft unterhielt. „Wie!" rief plötzlich der letztere
laut, „die La Vallifere eine Nonne! das ist nicht möglich!" Der
König hatte die Worte gehört und verlangte erregt eine Erklärung,
allein man tvusste nichts Genaueres, als dass das genannte Ehren-
fräulein in der Frühe des Tages in das Nonnenkloster nach St Gioud
168 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
geflohen sei. Sogleich entlässt der König die Versammlung und
verlangt einen Wagen ; die Königin, welche in Madrid an die strengste
Etiquette bei feierlichen Gelegenheiten gewöhnt worden war, wagt
ihm zu "sagen, da^a er nicht Herr seiner selbst sei. „Und wenn ich
es nicht über mich selbst bin," lautet die barsche Antwort, „so werde
ich es doch über diejenigen sein, welche meinem Willen entgegen-
treten wollen." Li einen grauen Mantel gehüllt und von dem Herzog
von Roqueloure begleitet, jagt er zum Kloster und verlangt Einlass.
Man will ihn anfangs nicht sprechen, die Oberin wird gerufen und
endlich erscheint auch die Flüchtige, sie will reden, allein Thränen
und Schluchzen ersticken ihre Stimme, der König weint, die anwe-
senden Nonnen weinen und der Begleiter fand alles so komisch, dass
er Mühe hatte ernst zu bleiben. „Ich bin entschlossen," nimmt end-
lich Ludwig das Wort, „selbst das Kloster zu verbrennen.*' Das
war nun nicht mehr die Sprache eines Königs, sondern eines rasend
Liebenden, und solcher Leidenschaft gegenüber konnte denn auch
die La Vallifere- nicht widerstehen ; beide stiegen in den Wagen und
der König führte die Geliebte wie im Triumph zurück. — Es sind
verschiedene Motive für diese seltsame Flucht angegeben worden: die
Einen sprechen von Gewissensbissen, hervorgerufen durch die Vor-
würfe der Königinmutter, nach Anderen, und zwar ist diese Erzäh-
lung wahrscheinlicher, war die La Vallifere durch ihre Freundin
Montalais in die unerlaubten Beziehungen Henrietten's und des
Grafen Guiche eingeweiht worden ; allein, zu ehrenhaft die Angeberin
zu spielen, -hatte sie dem Könige darüber nie ein Wort verloren;
der Scharfsinn dieses hatte sie jedoch durchschaut, und ärgerlich über
diese Geheimnisse hatte er ihr Vorwürfe gemacht; in der Geliebten
aber erweckten diese Vorwürfe den Verdacht, dass sie nicht mehr
geliebt werde, und in dem ersten Schreck darüber suchte sie Hülfe
im Kloster. Marie Therese fühlte sich durch diesen Zwischenfall
aufs Tiefste beleidigt. Allein man wollte ihr nun auch den Namen
der Nebenbuhlerin öffentlich mittheilen ; es bildete sich zu dem Zweck
eine förmliche Verschwörung.
In den Sälen der Gräfin von Soissons, geb. Olympia Mancini
hatte sich allmälig eine kleine Gesellschaft abgesetzter Mätressen
des Königs zusammengefunden. Olympia und Marie Mancini konnten
es nicht vei^essen, dass der König sie einst geliebt, Henriette von
Engl^tnd, der schönste Schmuck dieses Kreises, grollte unversöhnlich,
dass sie ihrem Ehrenfräulein hatte weichen müssen; und unter diese
unzufriedene Gesellschaft mischten sich bald Abenteurer verschie-
k
• Marie Therese und Louise de La Vallifere. 169
denster Art, wie der Maxquis von Varde^, der komische, aber cynische
Herzog von Lorraine mit den Katzenaugen. Die Königin und
Königinmutter zogen sich immer mehr zurück, desto häufiger kam
Ludwig selbst. Hier nun kam man auf den Gedanken, die neue
Grösse am Himmel königlicher Gunst zu verderben; der Graf von
Guiche — er hat es später selbst gestanden — fasste ein Schreiben
an die Königin ab, welches, im Namen des Vaters in Madrid ge-
schrieben, in ein Packet spanischer Briefe geschoben wurde und
worin man Marie Therese aufforderte, sich über das Benehmen des
Königs laut zu beklagen. „Dieser sei", hiess es dort, „ein Prahler,
der zu Kreuz kriechen werde wenn man sich ihm ernstlich wider-
setze." Der Brief kam nun zwar an, erreichte aber seinen Zweck
nicht, denn die dienstthuende Ehrendame, Senora La Molina, wel-
cher das Siegel verdächtig erschien, öShete denselben und gab ihn
nicht der Königin, sondern dem König. Dieser schäumte, suchte sich
zunächst aber zu verstellen um sichere Nachrichten einzuziehen;
dann folgte ein strenges Strafgericht. Der Königin freilich war
damit wenig geholfen, und ob auch ihre Klagen sich verdoppelten —
der König liebte darum die La Vallifere nicht weniger. Marie Therese
hat mit ihren ewigen Thränen der Königinmutter viel zu schaffen
gemacht, Ludwig XIV. selbst sah und kannte ihre Schmerzen, aber er
wollte sich nicht ändern. Als sie ihm einst Vorwürfe machte, dass
er erst um vier Uhr morgens sich zur Ruhe begebe, erklärte er, dass
er so lange Depeschen lese und die Antworten verfertige. — „Aber,"
wandte die Königin ein, „dazu kann man doch eine andere Zeit
wählen". — Der König lachte, und Fräulein von Montpensier, die
zufällig zugegen war, fand diese Sorgfalt der Königin für das
Wohl ihres Gatten ebenfalls sehr ergötzlich. (M^m. de Mont-
pensier, IV, 52.)
Während dieses betrogene Herz zu brechen drohte, feierte
ein anderes seine höchsten Triumphe. Es ist notorisch, dass wäh-
rend der beiden Jahre 1663 und 1664 die La Vallifere das Ziel aller
Festlichkeiten des Hofes war, von dem berühmten* Carrousel des
Jahres 1662 und den ^plaisirs de Ttle enchant^e" (Mai 1664) bis zu
den kleinen Spaziergängen in Versailles. Die Königin war der Vor-
wand, die Geliebte der geheime Grund. Dies war die Zeit, wo die
La Vallifere dem Könige schrieb, dass sie mehr in ihm, als in sich
selbst lebe und dass das Vergnügen ohne dass man liebe kein Ver-
gnügen sei, es ist die Zeit, in welcher er ihr folgende Verse mit
einem schönen Blumenstraus übersandte:
170 Marie Therese und Louise de La Vallifere!
AUez Yoir cet objet si charmant et si donz,
allez, petites Heurs, mourir poiir cette belle;
mille autres youdraient bien en faire ai^tant pour eile,
« qui n'en auront jamais le plaisir comme vous.
Es ist endlich die Zeit, in der selbst ein Molifere, der geschickte, aber
wenig wählerische Parteigänger, diese Liebe in seinen Schöpfungen
verherrlichte, und das sogar in Gegenwart der Königin. Aber die
Rosen und Diamanten, mit welchen der König seine Geliebte umgab,
waren verhängnissvoll. Am 19. December 1663 wurde in der Kirche zu
St. Leu ein Knabe getauft, der den Namen Karl erhielt, als Sohn
M. de Lincour's, eines alten und treuen Dieners von Colbert. Aus
dem Halbdunkel heimlicher Liebe trat man an das helle Licht des
Tages, auf die kurzen mystischen Jahre folgte die lange Periode
der OefFentlichkeit.
Um eben jene Zeit, da die Seele der Geliebten dem moralischen
Tode verfallen schien, gerieth das physische Leben der Gattin in
Gefahr. Noch einmal erwachte die Theilnahme der Bevölkerung,
selbst der König zeigte sich besorgt: in Begleitung des ganzen Hofes
geleitete er beim Schein von tausend Fackeln das heilige Sacrament
zur Schwerkranken. Diese aber dachte nur an die Untreue ihres
Gatten, an das Glück der Nebenbuhlerin. „Dieses Weib wird mich
noch auf das Todtenbett bringen^^ hatte sie oft gesagt, und um sie
zu beruhigen musste man ihr versprechen, die La Vallifere zu ver-
heirathen — als sie genesen, schien man daran nicht mehr zu
denken. Sie erinnerte den König an sein Versprechen; „wenn die
La ValUfere damit einverstanden ist", antwortete er, „werde ich nicht
dagegen sein." Doch die La Vallifere schien das Glück völlig verwirrt
zu haben: sie, die bescheidene, verlangte plötzlich äussere Ehrenbe-
zeugungen, denn es war ihr unerträglich, als- „femme malhoniißte"
zu gelten. Die, Königinmutter nahm sie in ihren Kreis auf und einige
Zeit darnach, auf das bestimmteste Verlangen des Königs, empfing sie
selbst Marie Therese. Die unglückliche Königin stand, seit die
Schwiegermutter Anna von Oestreich im Januar 1666 ins Grab ge-
stiegen, völlig vereinsamt; um so freier fühlte sich nun Ludwig XIV.
Aber wie sehr Marie Therese auch durch die La Vallifere gelitten
hat, nie stellte sie ihrer Nebenbuhlerin Schlingen, andere. Waffen
als Geduld und Thränen hat sie nicht gekannt.
Der Feldzug in Flandern sieht die La Vallifere auf der Höbe.
Ehe der König zum Heere abreiste, übersandte er dem Parlament
zur Einregistrirung eine Schrift, welche die Geliebte zur Herzogin
^
Marie Therese und Louise de La Vallifere. l'^l
von La Vallifere erhob und sie mit den Lündem von Vaujour und
Saint-Christophe in Tourraine und Anjou begabte; gleichzeitig er-
kannte er ihre Tochter als legitim an, in der Geschichte bekannt unter
dem Namen einer Mademoiselle de Blois, nachmaligen Gräfin Conti.
Ein später geborener Sohn ist gleichfalls, legitimirt worden und
führte den Titel eines Grafen von Vermandois. *) Das Erhebungs-
patent selbst ist ein bedeutsames Zeugniss für die schlimmer als
orientalische Sittenlosigkeit Ludwig's XIV. und seines Hofes. „Die
Wohlthaten," heisst es darin gleich zu Anfang, „welche die Könige
in ihren Staaten ausüben, sind ein äusseres Zeichen des Verdienstes
für diejenigen, welche dieselben empfangen, das grösste Lob, durch
welches die Unt'erthanen geehrt werden können. Wir haben daher
geglaubt, nicht besser unsere ganz besondere Achtung ftir die Person
unserer theuren, sehr geliebten, sehr verehrten Louise Frangoise de
La Vallifere öffentlich ausdrücken zu können, als indem wir ihr die
höchsten Ehrentitel verleihen, da eine ganz ausserordentliche Zu-
neigung, hervorgerufen in unsörem Herzen durch eine endlose Reihe
seltener Vollkommenheiten, uns seit einer Reihe von Jahren beseelt.
Und obgleich sie selbst in ihrer Bescheidenheit sich uns oft wider-
setzt hat als wir schon viel früher sie in eine Höhe rücken wollten,
welche unserer Achtung und ihren vortrefflichen Eigenschaften ent-
spricht, so erlauben doch die Zuneigung, welche wir für sie hegen,
und die Gerechtigkeit nicht länger, mit den Zeugnissen unserer
Dankbarkeit zurückzuhalten . . . und wir ernennen sie u. s. w.^^ Und
das Parlament registrirte gehorsam; hoher und niederer Adel sahen
in der Herzogin-Mätresse fortan ein höheres Wesen.
Und die neue Herzogin, wie dachte sie selbst über diese neue
Würde? Ein viel citirtes Wort der Frau von S^vign^ kennzeichnet
am besten ihre Stellung zu dieser Frage > sie nannte die La Vallifere
„ein demüthiges Veilchen, welches sich im Grase versteckte und sich
schämte, Geliebte, Mutter und Herzogin zu sein." Wir haben ausser-
dem das vollwiegende Zeugniss Elisabeth Charlotten's von der Pfalz,
dass die Geliebte in Verzweiflung war als man sie zur Duchesse und
ihre Sander legitim machte, denn sie glaubte, dass man von denselben
bis dahin nichts gewusßt habe. Das Schamgefühl verfolgte sie selbst
bis in die Trunkenheit der Freuden, der Vorzug, welchen der König
ihr über die Königin gab, verletzte sie, und häufig klagt sie, zu sehr
geliebt zu sein, während sie selbst glaubt, nicht genug zu lieben. Sie
*) Jener oben genannte erste Sohn Karl und eine zweite Tochter sind früh
gestorben.
172 Marie Therese und Louise de La Valli^re.
achtete die öffentliche Meinung, und hierin, gegenüber den offenen
Erklärungen des Königs, liegt eine gewisse Scham, eine Scheu vor
der Schamlosigkeit. Sie opferte sich ganz und gar der Liebe, wie sie
sich später der Wiederherstellung verkannter Pflicht hingegeben hat.
^Ich bitte Sie, Sire", schreibt sie dem Könige, „nehmen Sie mehr
Rücksicht auf Ihren Ruhm und dulden Sie ein wenig, dass man Sie
im Geheimen liebt." Es existirt ein Brief, den sie nach ihrer Er-
hebung an eine Freundin, die Montausier, geschrieben haben soll;
ich halte denselben zwar aus verschiedeneu Gründen für unterge-
schoben, allein ihre Gesinnung kennzeichnet er vortrefflich. Mit
grosser Bitterkeit klagt sie dort über die neue Würde und sieht in
dieser neuen königlichen Gnade nichts anderes als ein erstes Zeichen
der Verabschiedung; „das Herzogthum,** heisst es an einer Stelle,
„ist ein königliches Gkschenk an meine Tochter, anerkannt und legi-
timirt durch ihren Vater .... man wird ihr alles geben müssen wenn
sie das gehörige Alter erreicht haben wird, und ich bleibe nichts als
die La Vallifere." Jch glaube sie zu sehen, wie sie nach einem grossen
Empfang bei Hofe in ihre Gemächer zurückkehrt und sich beeilt,
den prächtigen Mantel, die herzogliche Kopfbinde abzulegen, ihrör
Vertrauten weinend um den Hals fällt und ihr die Worte Monime's
im Mithridates zuflüstert:
Si tu m^aimas, Phoedime, 11 faUait me pleurer
Quand d*un titre fatal on me vient honorer.
Mitten in den hellsten Tagen des neuen Glanzes liess sie sich
von Mignard malen, zwischen ihren beiden Kindern sitzend, in der
Hand einen Strohhalm, an welchem eine Seifenblase, hängt mit der
Umschrift „sie transit gloria mundi"* (so vergeht der Ruhm der
Welt). Und wie die letzte Hoffnung nur langsam stirbt, so konnte
auch sie nur schwer die volle Grösse ihres Verlustes fassen. Die
Harmlose, sie ruft die Poesie zu Hülfe und sendet dem König ein
Sonnet — aber wann hat ein Sonnet einen liebenden König festge-
halten ! Ludwig las das Gedicht, lobte die Verse und liebte die Ver-
fasserin nicht mehr. Sie ist verwirrt, und nur in der unmittelbaren
Nähe des Geliebten findet sie sich wieder, dort beherrscht sie noch
einzig die alte Leidenschaft. Der König war zum Heere gereist und
die Königin folgte ihm mit dem ganzen Hof in grossen vergoldeten
Carrossen: es war ein amüsanter Krieg, diese „Promenade nach
Flandern** ! Auch die La Vallifere hatte sich aufgemacht, obgleich
weder vom Könige noch von der Königin aufgefordert, und wie der
Hof vor den Thoren von Avesnes die Truppen zu Gesicht bekam,
Marie Therese und Louise de La Valliäre. 173
liess die neue Herzogin ihre Rosse mitten durch die Ebene jagen
zur Stelle, wo sie den Geliebten vermuthete. Marie Therese, welche
ausdrücklich verboten hatte, dass irgend jemand vor ihr dem Könige
sich nähere, gerieth in so heftigen Zorn, dass sie die Nebenbuhlerin
arretiren lassen wollte, selbst Ludwig XIV. war über diese Kühnheit
seiner Geliebten so erstaunt, dass er, der Etiquette' genug zu thun,
die leidenschaftlich Erregte mit der vorwurfsvollen Frage empfing:
„Wie, Madame, vor der Königin?" Das erlaubte sich das bescheidene
Veilchen im Angesicht des ganzen Hofes, der durch dieses Ereigniss
in grosse Erregung gerieth. „Behüte mich Gott," rief bei dieser
Gelegenheit die keusche Montespan, „behüte mich Gott, Geliebte des
Königs zu sein! Aber sollte ich doch so unglücklich sein, es zu wer-
den, so würde ich doch nie die Unverschämtheit besitzen, mich vor
der Königin vorzustellen." Von solcher Heuchelei freilich war die
kleine La Vallifere selbst in den Tagen tiefster' Erniedrigung frei.
So sehr ist es wahr, dass selbst die Furchtsamsten es nicht mehr
sind sobald die Leidenschaft sie fortreisst: wohl hattß sie Recht alß
sie selbst später einmal mit einer Anspielung auf dieses Ereigniss
von sich sagte, dass „ihr Ehrgeiz und die Freude geliebt zu werden
wie die wilden Pferde gewesen seien, welche ihre Seele in den Ab-
grund gezogen hätten." — Seit fünf Jahren befand sich dieses jugend-
liche Herz in der wildesten Erregung; aus dem schüchternen Ehren-
fräulein war eine Herzogin und Mutter geworden, aber in unver-
änderter Stärke, fast wie in den ersten Tagen, beherrschte sie noch
die Liebe, die Liebe zu demjenigen, der sie nicht mehr liebte. Konnte
dieser furchtbare Zustand lange andauern?
Am 11. Februar 1671 war grosser Fastnachtsball im Louvre und
die anwesenden Damen und Herren zischelten sich interessante Neuig-
keiten in die Ohren, denn sowohl die Montespan als die La Vallifere
fehlten auf dem Balle: die eine lag in den Wochen und die andere
war wieder in der Frühe des Tages in das Kloster geflohen. Vor
einigen Jahren, bei einer ähnlichen Nachricht hatte König Ludwig
die Staatsgeschäfte unterbrochen und war selbst gegangen die Ver-
lorene zu suchen, jetzt schickte er seinen Minister Colbert, die Un-
glückliche aus dem Nonnenkloster Sainte Marie de Chaillot zurück-
zuführen. Diese weigerte sich anfangs zu folgen: .„sie habe Versailles
verlassen um den König nicht wieder zu sehen, und sie werde Busse
thun für die Liebe, welche sie noch für ihn hege; nachdem sie ihre
ganze Jugend ihm geopfert, sei es nicht zu viel, den kurzen Rest
174 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
des Lebens seinem Seelenheil zu widmen.^ Dennoch siegte die
Raison des Hofes noch einmal, sie kehrte nach Versailles zurück,
zwar nicht im Triumph, wie aus St. Cloud, sondern wie ein gedul-
diges Opfer. Eine ganze Stunde sprach sie mit dem König, er weinte
wiederum sehr — es sind die letzten Thränen ; die Montespan empfing
sie mit offenen Armen, auch sie hatte Thränen in den Augen —
„devinez de quoi" sagt Madame S^vign^. Und es hatte wirklich
den Anschein, als ob die Herrschaft der La Vallifere neue Stützen
erhalten hätte. Allein sie selßst dachte anders, still und einfach
lebte sie in dem angewiesenen Hause. Eines Tages schickte ihr
Ludwig sein Bild : „Ich liebe Ihr Portrait mehr," schreibt sie ihm,
„als Sie selbst, seit mein Herz mir sagt, dass es zwischen uns beiden
nur noch Erinnerungen giebt." Der König aber meinte, sie sei wie
alle Frauen — er kannte sie noch nicht, er hat sie nie gekannt.
Nur wenige Jahre sind seit jenem Feldzuge in Flandern verflossen,
aber in der Seele der Geliebten ist eine grosse Veränderung vor sich
gegangen. Zwar ist sie sich zu allen Zeiten dessen bewusst gewesen,
dass sie übel handelte, immer hat sie die Hoffnung und den leb-
haften Wunsch bewahrt, wieder auf den rechten Weg zurück zu
kommen; auch in den glücklichsten Tagen ihrer Liebe hat sie den
Dienst Gottes nicht vergessen, und der König wünschte oft, die
Stunden, welche diesem Dienst geweiht waren, abgeschafft zu sehen,
denn er erhielt immer erst nach Gott Audienz. Gott und der König
haben ihr Herz immer besessen: als sie nur den König liebte, da
liebte sie noch Gott, und als sie nur Gott liebte, da liebte sie noch
den König. Nichts hatte sie gethan, diesem zu missfallen — sie ge-
fiel ihm nicht mehr, denn der Stern der Montespan war im Steigen,
und „gross" wie er war hoffte Ludwig in zwei Herzen zugleich
wohnen zu können. Für ihn kamen die Jahre- kriegerischen Glanzes,
die Jahre, in welchen jedem Siege, jedem Friedensschlüsse glänzende
Festlichkeiten in Versailles folgten, immer höher stieg der Ruhm
Ludwig's XIV., immer grösser wurde die Verehrung des Hofes —
nur zwei Frauen beweinten in der Stille ihrer Gemächer gebrochenen
Herzens was sie nicht mehr besassen : die Liebe ihres Königs. Man
hat die Fragen oft aufgeworfen, aber nicht immer beantwortet: warum
blieb die La Vallifere noch länger bei Hofe, und warum that Marie
Therese nichts, ihre Stellung zu bessern? In der That, der Sturz der
La Valliere brachte der Königin keinen Gewinn, ihre Leiden blieben
dieselben, denn auf die La Vallifere folgte die Montespan, auf die
Montespan die Maintenon, kleine Zwischenspiele, welche die Ge-
i.
Marie Therese und Louise de La Vallifere. 175
schichte mit den Namen Fontanges, Soubise u. s. w.. bezeichnet,
nicht gerechnet. Unter diesen Umständen konnte selbst, was sonst
ein Mutterherz wohl tröstet, die Geburt eines Kindes ihr wenig
Freude bereiten ; zudem starben die meisten ihrer Kinder frühzeitig.
Wer es weiss, welche fast unüberwindliche Schwierigkeiten die ka-
tholische Kirche einer Scheidung entgegenstellt, wer dann noch er-
wägt, welchen Abscheu jene höchsten Kreise vor jedem pff entlichen
Scandal hegen, dem wird leicht klar werden, warum Marie Therese
an eine wirkliche und vollständige Trennung von ihrem Gemahl
nicht denken konnte. Man hat ihr vorgeworfen, dass sie nichts
weiter verstanden, als zu weinen, — man hätte noch hinzusetzen
können: und zu beten — allein ich wüsste nicht, was sie sonst anderes
hätte thun können. Als sie sich anfangs über ihre eigene Rolle be-
klagte, hiess der König sie schweigen und in die Politik durfte sie sich
nicht mischen da der König schon in heftigen Zorn gerathen konnte
wenn die Damen des Hofes nur von Politik sprachen. Dennoch ver-
traute er ihr zu Anfang der 70er Jahre die Regentschaft an. An
sie richtet er die Berichte über die Errungenschaften seiner Waffen,
sie war es, der er Rechenschaft gab über geplünderte und niederge-
brannte Städte, die Grossthaten seiner Armee. Im Uebrigen be-
schäftigte sie niemanden und niemand beschäftigte sich mit ihr, selbst
bei Hofe nicht. Die offizielle Zeitung erinnerte nur an ihre Existenz,
an ihren Rang jedesmal wenn sie in der Kirche ihre religiösen
Pflichten erfüllte oder in dem Carmeliterinnenkloster der Rue Bouloy
einen ganzen Tag verbrachte. Es ist schon wahr, diese Frömmigkeit
streift hart an Pedanterie: die Ehrendamen waren nicht selten in
Verzweiflung, alle Tage mit ihr zur Messe, zur Vesper, zum Sermon,
zum Salut gehen zu müssen, die besonderen Heilswege an Sonn- und
Festtagen noch gar nicht gerechnet. ^So ist nichts rein in dieser
Welt", fügt Madame S^,vign^ im Hinblick auf diese Ehrendamen
spöttisch hinzu. Wer sich etwas eingehender mit der Geschichte
dieser unglücklichen Prinzessin beschäftigt hat, wird gewiss mit uns
zu diesem Resultat kommen: eine tugendhafte Gattin, dem li^önig in
Liebe innig ergeben, geduldig ohne Grenzen, nicht so schön wie die
Montespan, nicht so geistreich wie die Maintenon, nicht so anziehend
wie die La Vallifere, im Uebrigen etwas unwissend, d. h. spanisch
erzogen, war sie doch nicht unfähig, den Hof Ludwig's XIV. ge-
nügend zu vertreten. Sicher aber ist: wäre sie auch weniger ernst,
weniger fromm und langweilig gewesen, einen Ludwig XIV. hätte
sie doch nicht in den Grenzen guter Sitte gehalten, einen Ludwig XIV.,
176 Marie Tberese und Louise de La Valliäre.
in welchem Mazarin zwar den Stoflf für vier Könige, aber nur für
einen honneten Menschen zu haben glaubte und von dem der
Marschall Noailles schon 1658 sagte, dass ^man ihn sobald als möglich
standesgemäss verheirathen müsse, damit er nicht die erste beste
Wäscherin, die ihm gefällt, eheliche/ (Duclos M^moires VL 151.)
Und neben jener Märtyrerin aus Noth sehen wir jene andere
reizendere Gestalt ähnliche, wenn nicht schwerere Leiden geduldig
ertragen — und zwar freiwillig. Man hat sich mit Recht gewundert, —
die frivolen Männer und Frauen jener Zeit am meisten — , warum die
La Vallifere, als auch die letzte Hoffnung auf des Königs Liebe ihrena
Herzen entschwand, noch eine Stunde länger am Hofe desselben
Königs verweilte. Wir wissen es heute, warum, und unsere Ver-
wunderung verwandelt sich in eine Art Bewunderung. Man hat ofk
von der Kühnheit des Entschlusses gesprochen wenn eine Jener
grossen Sünderinnen des XVH. Jahrhunderts aus der betäubenden
Lust des Hofes in die unheimliche Todtenstille eines Klosters trat;
allein was wollen die strengsten Fasten, die harten Busskleider, die
endlosen Gebete, kurz alle die körperlichen Leiden inmitten heiliger,
aber fast stummer Nonnen sagen gegen die furchtbaren Seelenleiden
derjenigen, welche nach sieben Jahren leidenschaftlicher Liebe,
höchster Ehren und höchsten Glückes, sieben andere Jahre lang, welche
ihr zu Jahrhunderten werden mussten, dem Schauspiel zusah, welches
derselhe König, der auch sie geliebt, in fast ähnlicher Weise mit einer
anderen Geliebten aufführte! Seite für Seite las sie diesen neuen
Roman königlicher Leidenschaft! Derselbe Hof, in dem sie noch
gestern ihr Paradies gesehen, heute ist er ihre Hölle! Gott — das
war noch der König, noch war ihre Seele Sclavin des eigenen
Herzens, aber dieser Gott hatte sie verlassen, und der andere Gott,
vor dem sie in krampfhaftem Gebete lag, hatte für sie noch keinen
Trost, — und . sie konnte fliehen, aber sie verehrte das Geräusch
ihrer Ketten. Doch nur Geduld, heute noch eine halbirrsinnige,
lächelnde Ophelia, — morgen wird sie eine Magdalena sein! Sie
selbst hat uns den Schlüssel zu ihrem Herzen gegeben. „Sie sagte
mir**, schreibt Elisabeth Charlotte, „dass Gott ihr Herz berührt habe
und dass sie ihm ihre Sünden gestanden, dass sie aber geglaubt
habe Busse thun zu müssen und zu' leiden d a , wo sie es am schmerz-
lichsten empfinden musste (d. h. bei Hofe), und da ihre Sünden aller
Welt bekannt waren,* so müsste es auch ihre Busse werden; sie habe
Gott alle ihre Schmerzen geklagt und er habe ihr eingegeben, nur
ihm zu dienen, aber sie habe sich für unwürdig gehalten, unter den
k
Marie Therese und Louise de La Valliire. 177
reinen Seelen der Oarmeliterinnen zu leben". Man sah, fügt die
Herzogin hinzu, dass das alles von Herzen kam. Wie viele werden
eine solche Kraft des Willens besitzen ! Und dass man bei Hofe dieses
ausserordentliche Selbstopfer nicht begriff, kaiin uns am wenigsten
wundern; der König selbst that nichts, die Verrathene zu schonen,
die Montespan alles, die Nebenbuhlerin unter die Füsse zu treten;
„wenn ich bei den Oarmeliterinnen Schmerzen empfinden werde,*
sagte diese zur Maintenon, „dann werde ich mich dessen erinnern,
was ich durch jene Menschen gelitten habe." Es wird erzählt, dass
die Montespan bei ihrer Toilette häufig den Geschmack der La
Vallifere zu Rath gezogen und sie dann gewissermaassen genöthigt
habe, selbst mit Hand anzulegen und sie zu schmücken — damit sie
dem Könige gefalle ! Die Verständigsten des Hofes wurden an dieser
Geduld irre; „Frau von La Valliere," schreibt die S^vignö den
15. December 1673 spottend ihrer Tochter, „denkt gar nicht mehr
an ihren Rückzug, ihre Kammerfrau hat sich ihr zu Füssen geworfen,
um sie davon abzubringen; kann man da widerstehen?'' Und doch,
Frau von La Vallifere hatte seit jenem Tage, da sie am Arme Col-
bert's der Oberin die Worte zurief: „das ist kein Abschied auf
immer, ich komme bald wieder", an nichts anderes gedacht, als an
diesen Rückzug; aber freilich, es sind Jahre verflossen bis jener Ge-
danke zum festen Entschlüsse wurde. Wer mit Interesse psycho-
logischen Entwickelungen zu folgen im Stande ist, wird in der
Geschichte dieser Seele volle Genüge finden. Die Briefe der La
Vallifere an den Marschall Bellefonds und Bossuet's an ebendenselben,
ferner die „Reflexionen über die Barmherzigkeit Gottes", gleichfalls
von der La Vallifere, geben uns ein ziemlich vollständiges Bild dieser
Entwickelung.*)
Als die neue Geliebte des Königs mit lauter Stimme ihre Herr-
Schaft verkündete, da endlich erstarb in dem langgequälten Herzen
der älteren auch die letzte Hoffnung, und wie die Pflanze dahin-
welkt wenn sie der Saft verlädst, so schien auch ihre sterbliche Hülle
*} Aus den Jahren 1661—1670 findet sich kein einziger Brief, — hat Ludwig
sie verbrannt? — Die „Reflexions sür la Misericorde de Dien*', durchaus nicht
für die Oeffentlichkeit hestimmt, wurden der Verfasserin durch eine Freundin
entwandt, und zuerst 1680 anonym, dann mit ihrem Namen herausgegeben.
Schon 1682 ist eine deutsche üebersetzung zu Frankfurt erschienen, ein seltenes
und interessantes Buch mit zwei bildlichen Darstellungen, deren eine die La
Valli^re als Weltdame wiedergiebt mit der Unterschrift „Sünderin", die andere
sie als Nonne vorführt mit der Bezeichnung „Büsserin".
Baltische Monatsschrift, N. Folge, I. Bnd., Heft 2. 12
178 Marie Therese nad Lonise de La Valllire.
der Auflösung entgegen zu gehen ^ eine lange und schwere Krank-
heit warf sie nieder. Aber sie genas: die sinkende Natur wieder
zu beleben wehte sie ein neuer Geist an, und von dem Sterbelager
der Sünderin erhob sich die christliche Büsserin; und wie sie vom
Himmel, wohin sie ihre Blicke gerichtet, neue Liebe in sich strömen
fühlt, ist Dankbarkeit ihr erstes Gefühl; mit Schaudern sieht sie was
sie war, aber sie weiss jetzt was sie sein soll: sie schreibt die Re-
flexionen, ein Zeichen der wiederkehrenden Besinnung.
Diese „Reflexionen über die Barmherzigkeit Gattes", bekannt-
lich kein ganz neues Thema, sind, von der ästhetischen Seite
betrachtet, sicher ein ziemlich mittelmässiges Machwerk, aber man
trifft dort häufig jene Anrauth, so ähnlich ihrer Schönheit, welche
Sainte-Beuve vortrefflich bezeichnet „als eine rührende, nicht tri-
umphirende Schönheit, eine von jenen Schönheiten, welche nie zu
Grunde gehen." Diese Reflexionen sind die Geschichte einer schwachen,
aber edlen Seele, welche in höchster Angst für eine lang bestrittene
Bekehrung kämpft,. Ei^sae einer reuigen Seele, welche sich auf
immer von den Menschen trennt und sich vor Gott entlastet von
allen Leidenschaften, welche sie beherrschen, von allen Schwächen,
welch« sie erniedrigen, wie von allen Schmerzen, welche sie zerreissen
(Kap. XIX}. Kein Name, keine Thatsache wird erwähnt, und doch
erkennen wir hinter diesen bald leidenschaftlichen, bald ruhig-heiteren
Ergüssen Personen und Ereignisse, welche auf das Leben der Ver-
fasserin von Einfluss waren. —
Wir haben unsere Heldin Schritt für Schritt von den Tagen
unschuldiger Kindheit bis an den Abgrund tiefster Entsittlichung be-
gleitet und ich hoffe den Leser nicht zu ermüden, wenn ich ihm nun
auch zeige, wie ihre Seele, welche in den Augen der Zeitgenossen
so schwach erschien, mit bewunderungswürdiger Kraft sich aus der
Tiefe des Lasters wieder erhob. Als zu Anfang unseres Jahrhunderte
Prau von Genlis ihren Roman über die La Vallifere schrieb, da
verehrte man in ihr nur die leidenschaftlich, ob auch unglücklich
Liebende. Napoleon soll Thränen vei^ossen haben bei dem Lesen
dieses Buches, die jungen Damen studirten in demselben ohne Unter-
lass und träumten sieh in die Rolle einer La Valli^re am Hofe des
grossen Kaisers. Eine andere Zeit ist gekommen, man hat sie die
der Romantiker genannt, und das Leben der La Vallifere schien nur
denkwürdig weil sie der Erde den Himmel abgerungen; wie einst,
da sie noch hoch in königlicher Gunst stand, Poeten und Maler sich
drängten sie durch ihre Kunst und ihre Kunst durch sie zu rer-
Marie Therese und Louise de La Valliäre. 179
ewigen, so haben auch in unserer Zeit Dichter, Philosophen und
Geschichtschreiber sich dieser poesievollen Gestalt bemächtigt, und
jeder hat in ihrem Leben etwas für sich gefunden. —
Zu Ende des Jahres 1673 verbreitete sich bei Hofe plötzlich
das Gerücht, die La Vallifere werde in das Kloster der Carmeliterinnen
der Strasse St. Jacques eintreten, aber man wollte daran nicht recht
glauben. Wird der König zustimmen? war die allgemeine Frage,
und in der That, hier schon schienen die Schwierigkeiten unüber-
steiglich, denn die damals allmächtige Mätresse, Madame Montespan,
erklärte sich entschieden dagegen — sei es, weil sie in diesem Schritt
eine blosse Falle für den König argwöhnte, sei es, weil die neue
Favoritin in dieser Einsargung der alten ein allzu strenges Exempel
und einen zu gefährlichen Präcedenzfall sah; selbst die Maintenon,
vor allem aber die Mutter der La Vallifere waren gegen jenes beab-
sichtigte Opfer. Es scheint, dass zwischen der Mutter und Tochter
so gut wie gar keine Beziehungen bestanden haben, denn jene hegte
nur den einen Wunsch, den Reich thum und hohen Rang der Tochter
auszunutzen, und es war begreiflich, dass sie vor allem wünschte,
Louise anständig zu verheirathen ; es fehlte auch nicht an Heiraths-
lustigen, aber wir wissen schon, dass die La Vallifere gar nicht fähig
war an das eigene Literesse zu denken. Es ist wahr, ihre Leiden-
schaft hatte über ihre Schamhaftigkeit triumphirt, aber die Seele
war im innersten Grunde rein und keusch geblieben und sie hätte
es für eine Schmach gehalten, sich mit einem anderen Manne zu ver-
einigen als mit dem Einzigen, welchem sie ihre Ehre geopfert hatte ;
und sonderbarer Weise war dieser Einzige selbst gegen eine Heirath,
denn, wenn wir St. Simon glauben dürfen, so hat er gesagt, das nach
ihm sie nur Gott besitzen könne. — Nachdem die La Vallifere ein-
mal den Gedanken an das Kloster gefasst hatte, liess sie ihn nicht
mehr fallen, und doch unterliegt es keinem Zweifel, dass sie die
grössten Hindernisse mehr in der eigenen Seele als ausserhalb fand.
^Ich war für die Ehe geschaflfen," sagte sie einst, „warum hat sich
auf meinem Wege ein Prinz gefunden? Es ist wahr, ich liebte ihn*
mit jener Liebe, welche das Herz schlagen macht bei jedem Schritt
des Geliebten, welche beim geringsten Laut seiner Stimme die innerste
Seele erregt, und welche das Herz in Freude schwimmen lässt wenn
die Blicke sich begegnen ; aber dennoch, mein Vater hatte mich dazu
bestimmt, meine Kräfte für das Wohl einer Familie zu entfalten.''
Und sie hatte einen Sohn, sie hatte eine Tochter, welche das Eben-
bild und die Freude der Mutter und aller Bekannten war, und nicht
12*
[.
180 Marie Therese und Louise de La Valliäre.
blos diese sollte sie noch in der Blüthe ihrer Jahre verlassen, sie
musste auch dem Vater, den sie noch immer liebte, trotzen. „Die
Welt zu verlassen, kostet mir nichts," schreibt sie, „aber ihn, den
Herrn muss ich beleidigen, und Sie wissen, was das für' mich be-
deutet". Sie erinnerte sich der ersten Regungen des Herzens, sie
sah ihre Jugend auf dem Schlosse zu Blois, sie träumte von ihrer
eigenen bescheidenen Burg La Vallifere mit dem kleinen aber an-
muthigen Forst, und alles, alles sollte sie nun verlassen, verlassen
— um in ein Kloster zu treten. Wer es weiss, was so ein Carmel-
iterinnenkloster bedeutet, wird die Grösse ihres Entschlusses be-
greifen. Kein Mann dringt in dieses Qrab, ausser etwa der Arzt,
nur eine kleine Kapelle ist der Frömmigkeit oder richtiger, der
Neugier des Publicums geöffnet und in dieser ahnt man nichts von
dem mysteriösen Leben hinter den düsteren Mauern ; an dem Gitter
sieht man bisweilen dunkle Schatten vorüberziehen, man sieht einen
Sitz, auf welchem der Beichtiger mit den Abgeschlossenen verkehrt,
man hört die Stimme, aber sieht niemand, das Abendmahl wird
durch eine kleine Oeffnung verabreicht, welche kaum einen geöffneten
Mund und eine vorgestreckte Zunge sehen lässt, welche die Hostie
empfängt Die strengen Klosterregeln der heiligen Theresa machen
selbst die glühendste Frömmigkeit erblassen. Die Nächte sind kurz,
die Tage lang, kein Wein, kein Fleisch, keine Schuhe, keine Strümpfe,
in allen Jahreszeiten barfuss auf dem kalten Fussboden und für die
kurze Ruhe kein Bett, denn so kann man die betreffenden Holz-
instrumente nicht nennen, — Und hier nicht nur büssen, sondern
selbst ein „neues wahres" Leben beginnen zu wollen, das verstehen
wir kleinen Weltkinder freilich schwer. Für sie aber, deren Leben
in Luxus und Weichlichkeit verflossen war, mitten aus dem Pomp
und einer angesehenen Stellung sich in ein solches Carmel zu
stürzen, bedeutete es sich lebendig begraben zu lassen wie jene
verbrecherischen Vestalinnen alter Zeiten, aber ohne die Hoffnung
dieser, durch den Tod ein schnelles Ende der Leiden zu finden; und
man wird merkwürdig alt in dieser irdischen Hölle! Die La Vallifere
hat 36 Jahre in diesem Leben hingebracht! „Ein König", sagt
Voltaire, „welcher solch ein Leben seinem schuldigen Weibe aufer-
legen würde, wäre ein Tyrani^ und doch werden alle Frauen so be-
straft dafür dass sie geliebt haben."
In ihrem Vorhaben wird die La Vallifere durch zwei Männer
unterstützt, welche in der Geschichte Frankreichs eine Rolle gespielt
haben : der eine ist der berühmte Bischof von Condom, Bossuet, der
k
Marie Therese und Louise de La Vallifere. 181
andere der Marschall Bellefonds ; es ist schon oben erwähnt^ welchen
werthvollen Beitrag in dieser Bekehrungsgeschichte wir in dem Brief-
wechsel der drei Personen unter einander besitzen. Zu Ende dts
Jahres 1673 ist die Reuige noch sehr unsicher: „ich bin so schwach,^^
schreibt sie an Bellefonds, „dass ich die Gnade Gottes gar nicht ver-
diene, aber ich habe ein festes Vertrauen in seine Güte". Vier
Wochen darauf: „endlich fange ich an das ireine Vergnügen zu
empfinden, welches mir der Dienst Gottes bereitet, und die kurzen
Stunden, welche ich zu meiner völligen Heilung noch am Hofe
zu verbringen verpflichtet bin, erscheinen mir wie eben so viele
Jahrhunderte"; denn sie fürchtet beständig einen Rückfall. 29. No-
vember: „und wie ist die Gnade Gottes über mich gekommen? ich
habe sie nicht gesucht, sie ist mir zuvorgekommen indem sie mir
•
Ekel einflösste vor der Welt und den falschen Vergnügungen, von
denen meine Seele trunken war ; ich bebe beim Anblick des schreck-
lichen Zustandes, in welchem ich mich befand und ich zittere bei
dem Gedanken, wieder in denselben zu fallen; ich bin die ver-
brecherischeste aller Creaturen — werde ich auch noch die undank-
barste sein?" Dem Bischof scheint sie aber doch noch zu längsam
vorzuschreiten, denn er glaubt, eine stärkere Natur werde schneller
zum Ziel kommen. „Sie ist", schreibt er an Bellefonds den 8. Fe-
bruar 1674, „immer in demselben Zustand, und mir scheint, dass
sie ihre „Affaire" weiter schiebt nach „ihrer Manier", d. h. langsam
und unmerklich, aber wenn ich mich nicht täusche, so erhält die Kraft
Gattes ihre innere Entwickelung in beständigem Fluss, und die ent-
schlossene Haltung ihres Herzens wird sie auch noch weiter bringen."
In der That, so geschah es. Es kam der Frühling mit
seinen Blumen, der König und sein Hof stiegen zu Ross, auf den
Schlössern der Reihe nach das neuerwachende Leben in der Natur
zu begrüssen, aber die einstige Geliebte freute sich nicht mehr der
Blumen, die den König ergötzen, denn sie reden ihr nur von Untreue
— und sie nimmt Abschied von dieser Welt. „Endlich," schreibt
sie am 19. März, „endlich verlasse ich die Welt, und zwar ohne Be-
dauern, wenn auch nicht ohne Mühe; meine Schwäche hat mich
hier so lange zurückgehalten, wo ich keine Freuden mehr, wohl aber
tausend Schmerzen empfand. Sie kennen meine Empfindlichkeit^ sie
ist nicht verringert und ich leide alle Tage darunter, daher ich wohl,
sehe, dass die Zukunft mir nicht mehr Genüge geben wird als die
Vergangenheit und Gegenwart. Sie urtheilen richtig: nach der
Meinung der Welt müsste ich glücklich sein, ich fühle mich lebhaft
182 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
getrieben, der Onade, die Gott mir angethan, gerecht zu werden und
mich ganz auf ihn zu verlassen. Alle Welt verreist gegen Ende
April und auch ich werde eine Reise unternehmen, aber nur um den
sichersten Weg zum Himmel zu gehen. Meine Seele schwimmt in
Freude und Qual und strebt zugleich so bestimmt zum Ziel — ver-
einigen Sie diesen Widerspruch, wenn Sie können, aber es ist wie
ich sage." Und Bossuet ist plötzlich überrascht durch diese Be-
stimmtheit in ihrem Wesen. „Ich spreche," ruft der grosse Redner
aus, „und sie handelt, ich halte Reden und sie vollbringt Werke,
und wenn ich die Dinge genau betrachte, so fühle ich mich fast
versucht zu schweigen und mich zu verbergen .... pauvre canal oü
les eaux du ciel passent, et qui k peine en retient quelques gouttes !"
— Es war am 19. April als die La Vallifere zu den Füssen der
Königin diese um Verzeihung bat. Marie Therese zog sie mit
Thränen in den Augen an ihr Herz: sollten wir der Geliebten nicht
verzeihen, der die Gattin selbst verzieh? Der Abschied vom Könige
war kurz, denn als sie merkte, dass derselbe in Thränen auszubrechen
drohte, erhob sie sich, um nichts zu hören, was sie in ihrem EntschlUss
hätte wankend machen können ; den Kelch bis zur Hefe zu leeren,
speiste sie noch am letzten Abend bei der Montespan. Nachdem sie
am folgenden Morgen der Messe beigewohnt, welche der König vor
seiner Abreise zum Heere in die Franche Comt^ hörte, trat sie in
das Kloster, und zu den Füssen der Oberin sprach sie die vielbe-
rufenen Worte : „meine Mutter, ich lege meine Freiheit, von der ich
mein ganzes Leben hindurch einen so schlechten Gebrauch gemacht
habe, in Ihre Hände, um sie nie wieder zurückzuverlangen", und am
Fusse des Altars legte sie den prächtigen Schmuck ihres Haupt^
nieder. Als man ihr dann die schönen blonden Haare, welche die
Freude des Königs und die Bewunderung des ganzen Hofes gewesen
waren, abschnitt, sah man auf allen Gesichtern der Anwesenden den
Ausdruck einer schmerzlichen Empfindung. „Ich musste so bitterlich
weinen," schreibt die keineswegs sentimentale Elisabeth Charlotte,
„dass ich mich nicht mehr sehen lassen konnte", und als sie dann
aus der Hand des Erzbischofs von Paris das geweihte Gewand em-
pfing, flössen die Thränen reichlich; an dem Gitter küsste sie ihre
beiden Kinder zum letzten mal — die Herzogin von La Vallifere war
für diese Welt todt und man wusste nur noch von der Schwester
Louise de La Mis^ricorde zu erzählen.
Und kaum umschliessen sie die Klostermauern, so ist auch die
Ruhe wieder in ihre Seele eingekehrt. „Erst zwei Tage bin ich
Marie Therese und Louise de La Valliäre. 183
hier," schreibt sie am 22. April, „und doch geniesse ich eine so
reine und vollständige Ruhe! so dass ich die Güte Gottes in einem
Zustande bewundere, der fast an Enthusiasmus grenzt; durch seine
Güte sind meine Fesseln gebrochen und ich will arbeiten, mein
ganzes übriges Leben ihm angenehm zu machen und ihm meine
Dankbarkeit zu beweisen." Wie ernst gemeint diese Absicht war,
das beweisen am besten die nachfolgenden 36 Jahre, in welchen sie
auch nicht einen Augenblick ihren Entschluss bereut hat. Ein Jahr
nach jener „Gewandnahme" erfolgte die „Profession", d. h. die voll-
ständige und unwiderrufliche Aufnahme der Novize^ — Es war am
dritten Pfingstfeiertage des Jahres 1675, als das Volk sich wieder
neugierig um die kleine Klosterkirche der Strasse St. Jacques
drängte, denn Niemand wollte fehlen bei dem letzten Act des herz-
zerreissenden Drama's. Einen Hauptspieler jfreilich vermisste man :
der König jagte an jenem Tage im Walde zu Fontainebleau, für ihn
war die Zeit noch nicht gekommen, in welcher er sich wegen der
Bekehrung der Seelen zu Gott beunruhigte, und von 1675 bis zur
Aufhebung des Edictes von Nantes zählt die Geschichte noch zehn
volle Jahre! Vielleicht war er auch damals schon durch den Ge-
danken vollauf beschäftigt, dass die Montespan eigentlich weniger
schön sei als Fräulein von Soubise. Aber die Ejönigin, die vor-
nehmsten Damen des Hofes waren anwesend, kaum getrennt
durch ein kleines Gitter von seiner Eminenz dem Erzbischof; nur
nebenbei sei es erwähnt, dass Frau von Longueville, „die grösste
Sünderin'' dieses XVH. Jahrhunderts, hochbetagt und schon seit
Jahren Nonne in demselben Carmeliterinnenkloster, gleichfalls dieser
Ceremonie beiwohnte. Bossuet, der mächtige Kanzelredner, lieh der
Feier seine besten Gaben.*) Madame Sövign^ schreibt zwar ihrer
Tochter, dass der Bisehof den allgemeinen Erwartungen der fiofleute
nicht entsprochen habe: um so schlimmer für diese. Bossuet war
bedeutender Redner, aber vor allem war er religiöser Mensch, ein
wahrer Bischof, und in den gegenwärtigen Umständen fühlte er nur
zu wohl, wie sehr er es vermeiden musste, durch Anspielungen
*) Weil er den König in die Franche-Comt^ hakte begleiten müssen, war
er verhindert gewesen, schon bei der „vötufe" zu reden, wie die La Valliöre wohl
gewünscht hatte. An seiner Stelle sprach der Bischof von Aire, Fromenti^res,
und diese Rede, vor einigen Monaten zum ersten mal veröffentlicht, ist mit ihrem
vorschriftmässigen Exordium, ihren Präparationen, Divisionen, Repetitionen u. s.
w. allen Liebhabern ungeheuerlicher Kanzelberedsamkeit als Muster aufs Wärmste
zu empfehlen.
184 Marie Thereee und Louise de La Yalli&re.
ii^end wie Stoff zu bieten jenen heimlich schadenfrohen Herzen,
welche an gewissen Erinnerungen dae grOeete Vergnügen gefunden
hätten ; ihm, der die Leiden der Weltdame und die Aufopferung der
Novize gesehen hatte, lag nur daran, dieser selbst „ein gutes Wort"
mit auf den Weg zu geben und nicht, in den Augen der Profanen zu
glänzen durch eines jener Wunder der Beredsamkeit, die ihm so
leicht fielen. An die Worte der Apokalypse 21, B; „und es spricht
der da sitzet auf dem Thron : siehe, ich mache alle Dinge neu" an-
knüpfend, führt er in seiner Rede die Zuhörer sogleich in die reinsten
und höchsten B^glonen; er schildert die Greschichte einer Seele,
welche durch die Eitelkeiten der Welt und allzu grosses Vertrauen
geblendet und irre geleitet, lange Zeit im Pfuhl irdischer Leidenschaft
zu ersticken droht, und doch inmitten der berauschendsten Freuden
sich tief unglücklich fühlt, welche endlich, ob auch zu spät, in diesen
Freuden selbst die Quelle ihrer Unzufriedenheit erkennt, sich all-
mäJig befreit und endlich in dem Dienste Gottes das langersehnte
Glück Sndet. „Wahrlich," heisst es gleich im Anfang, „Christen,
giebt es Wunderbareres als diese Umwandlung — was haben wir ge-
sehen, und was sehen wir? Welch ein Znstand, und wiederum, welch
ein Zustand! Ich brauche nicht zu sprechen, die Dinge sprechen für
eich selbst." Eine Aospielung auf ihr schönes Haar mögen die Damen
des Hofes besondere rührend gefunden haben. „Ja," rief der Bischof,
„sie befindet sich in einem Zustande, die Worte zu verstehen, welche
der heilige Geist durch den Mund des Propheten Jesaias an die Welt-
damen richtet: ich habe die Töchter Ziona gesehen, wie sie mit erhobe-
nem Haupte, affectirten Schritten und berechneter Haltung einher-
stolzieren, mit den Augen nach links und rechts Zeicheu gebend; des-
halb, sagt der Herr, werde ich ihre Haare fallen machen ! — Was für
eine Strafe!" Und als er endlich am Schlüsse in die Worte aasbrach:
„Und Sie, meine Schwester, die Sie angefangen haben, jene reinen
Freuden zu geniessen, steigen Sie nieder und treten Sie zum Altar,
reuige Sünderin, treten Sie heran, Ihr Opfer zu vollenden; das Feuer
ist entzündet, der Weihrauch ist bereit, das Schwert ist gezückt, das
Schwei't, das ist das Wort, welches die Seele von sich selbst scheidet
um sie Gott allein zuzuwenden; der ehrwürdigeErzbischof erwartet
Sie mit jenem mysteriösen Schleier, den Sie verlangen, hüllen Sie
Sich ein in diesen Schleier und leben Sie in tiefster Stille, sich selbst
und aller Welt verborgen, nur von Gott gekannt; entfliehen Sie eich
selbst und schwingen Sie sich auf, dass Sie endlich Ruhe finden in
dem Vater, in dem Sohn und in dem heiligen Geist", da empfanden
Marie Therese und Louise de La Valliäre. 185
die Anwesenden eine tiefe Bewunderung. Und als dann Schwester
Louise, bleich und blass, aber vielleicht stärker als irgend eine
der gegenwärtigen Personen, sich vor dem Erzbischof niederwarf,
die Erde küsste und aus den Händen der Königin selbst das geweihte
Gewand empfing, welches sie wie ein Leichentuch des Vergessens
empfangen sollte, da hörte man nur lautes Schluchzen. — Nur die
Schwester Louise weinte nicht. Sie hatte nur den einen Gedanken:
endlich in Sicherheit zu sein, sie hatte nur den einen Wunsch : nie
wieder diese stillen Elostermauem verlassen zu dürfen. Man kann
es beklagen, dass sie diesen Weg ins Kloster eingeschlagen hat, aber
man muss selbst diese Flucht bewundem. „In dieser Stunde erst,^^
schreibt sie am 24. Juni 1675, „kann ich sagen, dass ich in Wahr-
heit und ganz Gott gehöre — und für immer; ich fühle es, ich bin
durch unauflösliche Bande an ihn geknüpft und ich habe nun nichts
mehr zu wünschen, als den Verlust meines Gedächtnisses.^^
Aber man machte es ihr schwer, dieses Gedächtnissen verlieren,
denn die Schwester Louise wurde bald das Ziel endloser Pilgerfahrten.
Wenn schon die schroflBe Wandlung vom üppigen Hof- zum strengsten
Klosterleben pikant genug war, fremde Gesandte und Cardinäle zu
interessiren, so kam doch noch manches hinzu, ihr Lehen selbst im
Volke bekannt^ zu machen. Man erzählte sich draussen, dass die
strengsten Klosterregeln ihr nicht streng genug seien, dass sie nur
bei Wasser und Brod leben wolle, dass das, was den Weltkindem
sonst am. nächsten liegt, die Gesundheit, sie völlig gleichgültig lasse;
hundert Geschichten gingen von Mund zu Mund, ihre Briefe cursirten
bei Hofe. An einem Charfreitage erinnert sie sich zufällig, dass
sie einmal auf der Jagd ausgesuchte Erfrischungen und Liqueure
vortreflflich gefunden habe — zur Strafe für jene alte Sünde trinkt
sie drei Wochen lang keinen Tropfen Wasser; als die Herzogin von
Orleans ihr zu einer Zeit, da das Mutterherz noch blutete, unbemerkt
den Sohn zuführen wollte, weigerte sie sich bestimmt, denselben zu
sehen — so streng war sie gegen sich selbst! Was musste sie
empfinden, als einige Jahre später die Damen des Hofes in hellen
Haufen kamen, zur Verheirathung der Tochter mit dem Grafen Conti
ihr Glück zu wünschen ! Als der Sohn, ein frühzeitiges Opfer aus-
schweifenden Lebens, in der Blüthe der Jahre «tarb, sagte sie, ob
auch weinend, dem Bischof Bossuet, der ihr die Todesnachricht über-
brachte: „Man muss alles opfern, aber es ist zu viel, den Tod
eines Sohnes zu beweinen , dessen Geburt man noch nicht genug
beweint haf
186 Marie Tberese iind Louise de La Yalli^re.
Unter den zahlreichen Beeuchen am häufigsten erschien nnd ver-
brachte oft Stunden mit der Schwester Louise eine Frau, welche
allen Grund hatte sie zu verabscheuen — Marie Thereee. Die
Königin hatte seit ihrer Ankunft in Paris mit den Carmeiiterinnen
der Strasse Bonloy, einem kleinen Kloster unmittelbar tot den
Pforten des Louvre, die intimsten Beziehungen unterhalten und jenes
grössere Kloster der Strasse St. Jacques war ihre Schöpfung, Sie
hatte keine Rathschläge gegeben als in der La Vallifere der Ent-
schlusB reifte, hier einzutreten, aber sie hat freudigen Herzens diesen
EntschluBB gebilligt, und als dann der Eintritt wirklich erfolgt war,
nicht blosse „Comödie" blieb, wie man bei Hofe anfangs glaubte,
so entsprossen diesem Opfer die lebendigsten Freundschaftßbeziehungen
zwischen der Gattin und Geliebten. Diese beiden Frauen schienen
bestimmt, inmitten einer Familie ein Leben in Ehren zu verbringen
— ein schöner, aber nichtswürdiger König hat beide aus ihrer Be-
stimmung gerissen und sie, die in den Tagen des, Glückes Neben-
buhlerinnen, Nebenbuhlerinnen ohne es zu wollen waren, fanden im
Unglück daa, was sie tröstete und zu fester Freundschaft vereinigte:
eine glühende Liebe zu Gott. Beide Frauen legen Zeugniss ab für
eine tiefe moralische Kraft, die eine in dei- Reue, die andere im
Leiden. Aber auch diese Leiden gingen endlich zu Ende. Es ist
schon ei'wfthnt, dass für die Königin keine Veränderung eintrat als
lern Herzen Ludwig's schied; vergebens suchten
)ue das Gewissen desselben rege zu. machen,
Königin den' Gemahl wieder auf den rechten
man hielt sie mit Versprechungen hin, man
einmal. Als dann endlich die Maintenon (vom
leigentlich Madame Maintenant genannt) den
ten ein Ziel setzte, brach eine andere Zeit an:
! des Herzens folgte der sinnliche Mystieismus.
von Maintenon daran gearbeitet hat, den König
zur Moral zu führen nnd es hatte wirkUch den
rig XIV, endlich guter Ehemann werden wollte,
; nach seiner Manier — aber selbst dieser Um-
, das Leben der Gattin vom Niedergange zunick-
en Versailles, wo sie so viele Leidensjahre ver-
ging des Jahres 1683 ihr den Anfang einer
Zeit zu bringen und die Hoffnung machte sie
oben Tage wären kurz. Am 26. Juli erkrankte
r Tage später, am 30, Juli um drei Uhr Nach-
Marie Therese und Louise de La Vallifere. 187
mittags gab sie den Geist auf in demselben Schlafzimmer, in welchem
Marie Leezinska und Marie Antoinette schlimmere Tage sehen sollten.
„Voilä le premier chagrin, qu'elle m'ait causö", sagte Ludwig XIV.
beim Empfang der Todesnachricht — ein frostiges, aber doch ein
Lob; und der alternde Ludwig weinte beim Verlust der Gattin wie
der junge geweint hatte beim Verlust der ersten Geliebten, immer
aber bald vergessend, denn schon fünf Tage später bezog Frau von
Maintenon die königlichen Gemächer. — Ob Louise de la Mis^ricorde
beim Tode derjenigen, in deren Seele sie zuerst den Keim der Ver-
zweiflung gepflanzt, heftiger ihre Gewissensbisse sich regen fühlte,
weiss ich nicht, glaube es aber kaum, da schon seit Jahren die Ereig-
nisse draussen in ihrer Seele keinen Nachhall mehr fanden; nichts
kann sie mehr aus dem Gleichgewicht bringen. „Gestern", schreibt
die Sövignä ihrer Tochter, „war ich bei den Carmeliterinnen ....
ich war entzückt über den Geist der Mutter Agnes (Judith Belle-
fonds), ich sah M. Stuart, schön und zufrieden, ich sah Mademoiselle
Epernon — aber welch ein Engel erschien mir zuletzt! (die La
Vallifere). Sie besitzt noch alle Reize, welche wir sonst ap ihr be-
wunderten, ich fand sie weder gedunsen noch gelb, ein wenig
magerer, aber mehr zufrieden, sie hat dieselben Augen, denselben
Blick, sie ist nicht bescheidener, als da sie der Welt eine Gräfin
Conti gab ~ das ist aber genug für eine demüthige Carmeliterin ;
die strengen Klosterregeln, die schlechte Nahrung, der kurze Schlaf
haben sie weder hohlwangig gemacht noch gebeugt, das ihr so fremde
Gewand nimmt nichts von ihrer früheren Anmuth .... in der That,
dieses Kleid, dieser Rückzug gereichen ihr sehr zur Ehre." Als die
Montespan, eine der zudringlichsten Freundinnen der Schwester
Louise, diese einst fragte, ob sie sich denn wirklich so wohl und
leicht fühle wie man erzähle, antwortete sie: „meine Pflichten werden
mir nicht leicht, aber ich bin zufrieden" ; und diese Zufriedenheit
erlangte sie indem sie, wie sie sich selbst ausdrückte, „die Augen schloas
und sich zum Gehorsam führen liess". Nur einmal noch hören wir
sie klagen, dass sie nicht vergessen könne : „Dieses unglückliche Ge-
dächtniss, welches ich so fern als möglich haben möchte, zerstreut
mich und überliefert mich beständigen Kämpfen .... denn wahrlich,
alle Leiden des Körpers sind nichts gegen die Erniedrigung und
Pein, welche die Sünde uns bereitet; ich werde mein ganzes Leben
hindurch leiden müssen, und ich bin damit einverstanden wenn ich
nur nicht wieder meinen Gott beleidige; die Zeit flieht und die
Ewigkeit naht — die Ewigkeit, das Wort macht mich zagen". Aber
188 Marie Therese und Louise de La Valliire.
es vergingen noch lange Jahre und dies muthige Herz erreichte doch
endlich was es so sehnsüchtig wünschte, sie hatte der Welt nichts
mehr zu sagen*), und als dann die Ewigkeit sich wirklich nahte,
da zitterte sie auch nicht mehr. Und Schwester Louise hatte sich
, nicht geschont: unter den ersten erhob sie sich des Morgens, die
niedrigsten und anstrengendsten Verrichtungen waren ihr die liebsten,
oft haben die Schwestern sie vor Kälte halb erstarrt in der Kirche
oder in den Wirthschaftsräumen gefunden. Endlich musste freilich
auch für diese Willenskraft der Körper zu schwach werden; als sie
sich eines Morgens, es war der 5. Juni 1710, wieder wie gewöhnlich
um drei Uhr erhob, ihren Andachtsübungen obzuliegen, wurde sie
so schwach, dass man sie in's Krankenzimmer bringen musste.
Doch die Kunst der Aerzte vermochte nichts mehr; unter heftigen
Schmerzen sah die Kranke ihr Ende kommen, aber sie klagte nicht.
„Unter den stärksten Schmerzen die Seele aufgeben,** sagte sie, „das
schickt sich für eine Sünderin'* . Die Nacht brachte Verschlimmerung
und ab sie am anderen Morgen das heilige Abendmahl empfing,
konnte sie kaum noch sprechen. „Gott hat alles für mich gethan,
er hat einst die Beichte meiner Sünden empfangen, ich hoffe, er
wird auch mein Leben empfangen, dieses letzte Opfer, welches ich
seiner Gerechtigkeit zu bringen bereit bin**; es waren ihre letzten
Worte. Nachdem sie noch bei vollem ßewusstsein die letzte Oelung
erhalten, gab sie um Mittag ihren Geist auf. Der König hatte für
sie keine Thränen mehr — es wäre auch zu viel, beim Tode jeder
Geliebten zu weinen. Er hat die La Vallifere, seit die Klosterpforten
sich hinter ihr geschlossen, nie wieder gesehen und von einem schrift-
lichen Verkehr wissen wir ebenso wenig; nur einmal, beim Tode des
Sohnes, liess er ihr sagen, dass er selbst kommen werde, seine
Trauer auszusprechen, wenn er „gut genug" sei, eine so heilige
Carmeliterin, wie sie sei, zu sehen. Und wozu sie der König in
einem Anfall von sentimentaler Stimmung machte, das hat die Be-
völkerung von Paris in viel höherem Grade in ihr gesehen; schon
den Zeitgenossen schien sie mehr als ein bloss frommes Weib zu
sein: eine christliche Heroine; der venezianische Gesandte wünschte
sie nur noch so lange zu überleben, bis er bei dem Papst in Rom
ihre Heiligsprechung erwirkt habe. Diese Heiligsprechung ist nun
zwar meines Wissens nie erfolgt, aber die Menge sah trotzdem in
•) Nur ihre Tochter überlebte sie, die Mutter, die Freunde starben alle Tor
ihr; seit 1697 besitzen wir keine Briefe mehr von ihr.
X
i
Marie Therese und Louise de La Valliire. 189
ihr eine Heilige und man hatte grosse Mühe die Wundergläubigen
fern zu halten. Sie ist bei den Garmeliterinnen beerdigt, und als
man im Jahre 1793 die -Asche der Könige zu St. Denis in die Luft
streute, begab sich auch ein Haufe Sansculotten zu diesem Grabe;
man hoffte Edelsteine zu finden — man fand ein paar Lappen und
Knochen imd liess sie ruhen; ihr letzter Edelstein war das Crucifix
von Ebenholz gewesen, welches sie in der Hand hielt als sie ihre
Seele Gott empfahl. —
Aus der Tiefe des Carmeliterinnenklosters und dem Schlafzimmer
der Königin von Frankreich ziehen zwei verschiedene Ströme durch
die Geschichte: der eine derselben hat den Namen der Gattin in
das Meer der Vergessenheit geführt, auf dem anderen schwimmt
leuchtend und lockend wie in den Tagen des Glanzes und der Leiden
noch heute der Name der Geliebten. Aber es ist die Pflicht der
Geschichtschreibung, den Namen jener in gewissem Sinne wieder
herzustellen, sie muss es mit lauter Stimme erklären, dass man nicht
ungestraft das geheiligte Gesetz der Ehe zerstören darf. Nicht weil
er ein reizendes Mädchen liebte, sondern weil er die Gattentreue
verletzte, hat die Geschichte über Ludwig XIV. den Stab gebrochen,
Es giebt kein Recht d6r Leidenschaft. Die Rolle Marie There-
sen's ist es gewesen, wenn nicht den Thron der Bourbonen zu
retten, so doch das Banner der Ehe hoch zu halten. Für sie
war es ein Unglück, dass eine Maintenon ihr folgte und durch
ausserordentliche Eigenschaften des Geistes die Vorgängerin in den
Schatten stellte; indem sie den König zur Moral zurückführte, er-
schien sie den Zeitgenossen um so grösser, je weniger die Königin
das gekonnt hatte; indem man die Versöhnerin ins Auge fasste,
vergass man die Versöhnte, und indem die nachfolgenden Historiker
die glänzenden Fähigkeiten der Maintenon bewunderten, vergassen sie
die guten Eigenschaften Marie Theresen's, indem sie die zügellosen
Leidenschaften Ludwig's XIV. entschuldigten, brachten sie die recht-
mässige Gattin in Vergessenheit. — Anders haben Mit- und Nach-
welt die Geliebte behandelt; Liebe und Reue nahmen in den Er-
innerungen des „grossen Jahrhunderts" eine bedeutsame Stelle ein,
und so setzte sich die schöne Gestalt der La Valliäre trotz derselben
den Zeitgenossen vor die Augen. Aber die Nachwelt ist an Sym-
pathien noch reicher, oder vielmehr sie bleibt die Zeitgenossin aller
empfindlichen und edlen Herzen; man vergass in ihrem Leben die
Periode von 1661 — 1670 und erinnerte sich nur der letzten Hälfte
derselben, und als der Abt Lequeul 1767 zum ersten Mal ihre Briefe
L
190 Marie Therese und Louise de La Vallifere.
/■
Teröffentlichte, bewies die ausserordentliche und allgemeine Sensation,
welche diese hervorriefen, dass man die Verfasserin noch in gutem
Andenken hielt. Selbst ihre Flecken sind die eines Sternes, der uns
leuchtet; es knüpft sich eine Art Frömmigkeit in die Erinnerungen
an dieses reizende Wesen und sie wird immer mehr Ruhm haben
als sie gesucht hat. Eine natürlich fromme und' demüthige Seele,
welche bei der Geburt alle Tugenden eines Weibes empfing, ihre
Anmuth, aber auch ihre Schwäche, ist sie eine von denen, welchen
Erde und Himmel verzeihen weil sie viel geliebt haben ; und indem
man an «ie denkt, bewundert man die Gerechtigkeit jenes göttlichen
Versprechens, welches den reuigen Sündern den schönsten Platz neben
Gott bereitet hat. — Man hat sie mit Heloise verglichen, doch mit
Unrecht, denn sie hat nichts von der Heftigkeit und dem Feuer
jener, wenn auch der letzte Theil ihres Lebens und ihr christlicher
Heroismus vielfach an jenes muthige Weib erinnern; ihre Zartheit
stellt sie viel mehr neben Berenice. Und welchen Reiz endlich ge-
winnt diese uninteressirte, reine Liebe durch den Contrast mit den
Sitten des beutigen Tages, vor allem in Frankreich! Die Freuden
dort haben selten jene Entschuldigung der Reinheit und Uninteressirt-
heit für sich; selten nur keimt die Leidenschaft,, seltener noch die
Reue in den durch religiösen und moralischen Skepticismus ausge-
trockneten Herzen. Das Leben der La Vallifere ist vielfach legenden-
haft geworden und noch heutigen Tages knüpft sich die Erinnerung
an verschiedene Orte in Paris; noch heute zeigt man die Stelle, wo
sie 36 Jahre lang lebte und litt und nach schwerem Todeskampfe
ihre Seele Gott' empfahl; hier ruht sie unter einer Todtenkapelle, dem
letzten Rest des ehemaligen Carmeliterinnenklosters, im verborgenen
Winkel eines Faubourg von Paris, hier ruht' sie unter Rosen, wie
wenn der Himmel selbst das Grab der reizenden Büsserin gesegnet
hätte; Paris hat die bescheidene Stätte geachtet und auf den ge-
weihten Ort seine buntesten und duftigsten Blumen gepflanzt; un-
zählige Rosensträucher umgeben die Todtenkapelle, und unter dem
Duft all dieser Rosen athmet die schöne Seele der Schwester Louise
de la Mis^ricorde. ^
H. Sewigh.
Notizen.
i2is ist vor Kurzem seitens der Censurbehörde der Verkauf eines
Buches freigegeben worden, welches in unseren Provinzen ohne
Zweifel die weiteste Verbreitung finden und mit dem lebhaftesten
Interesse aufgenommen werden wird. Wir müssen dem Verfasser
dankbar dafür sein, dass er den Kreis der Theiluehmer, für den
seine Vorträge „aus baltischer Vorzeit" *) ursprünglich bestimmt waren,
durch den Druck erweitert hat. Denn es sind alle die Gründe vor-
handen, welche ein derartiges Unternehmen zu rechtfertigen ver-*
mögen. Wir besitzen mancherlei Monographien über einzelne Gegen-
stände baltischer Geschichte und ein paar Werke von umfassender
Anlage. Jene sind eben nur das was sie sein sollen, einzelne Steine
eines Mosaiks, diese sind kaum mehr als Haufen von Mosaiksteinen,
von denen die meisten noch der Politur bedürfen. Sie enthalten
werttvoUes Material, welches dem Historiker die Arbeit erleichtert;
aber der Laie, das grosse Publicum vermag kein lebensvolles Bild
des Ganzen daraus zu entwickeln. Es ist das Bedürfniss vorhanden,
und in unserer Zeit mehr als je, das Orakel der Geschichte zu hören,
und der Historiker, welcher es unternähme, in zusammenfassender,
lebendiger Darstellung die Ergebnisse der seitherigen Forschungen
dem baltischen Publicum vorzuführen, erwürbe sich den Anspruch
auf allgemeine Erkenntlichkeit. So lange wir ein solches Buch nicht
haben, wird der Versuch, in einzelnen Hauptzügen eine Skizze des
Ganzen zu geben, wie er in diesen 6 Vorträgen enthalten ist, uns
stets als aufmerksame Hörer finden. Und diese Skizze ist solchen
Erfolges um so gewisser, als sie auch nach Form und Stil geeignet
ist, das warme Interesse unseres heutigen Lesers zu wecken und zu
erhalten.
Das Jahr 1869 ist für den baltischen Leser so reichhaltig an
Schriften vaterländisch-geschichtlichen Charakters gewesen, als viel-
leicht keines seit etwa einem Jahrdreissig. Der Patriot aus Bildung
und der Patriot aus Mode sehen ihre Regale in der Rubrik der
vaterländischen Werke um ein Erkleckliches weiter gefüllt. Sie sehen
*) Aus baltischer Vorzeit. Sechs Vorträge von Fr. Biene mann. Leipzig,
1870. Dunker und Humblot.
1
192 Notizen.
in dieser Rubrik zum ersten Male neben einander gereiht Titel in
deutscher, englischer, russischer, französischer Sprache. Aber mit
anderen Augen schaut der Politiker unter ihnen und mit anderen
der Historiker auf sein Regal. Jener findet vielleicht, dass viel ge-
schehen, dieser, dass wenig geleistet ist Jener freut sich der
historischen Armatur, die er neu geputzfc und geschärft vor sich sieht,
• dieser liest rasch und missmuthig das nicht sehr umfangreiche Material
heraus, welches als neues, gutes Metall ihm verwerthbar erscheint.
Der Historiker hielt sich im Nachtheil gegenüber dem Politiker, und
es müsste eine starke Meinungsdiflferenz entstehen, wenn beide starr
auf ihrem Standpunkte stehen zu bleiben gesonnen wären. Zum
Glück sind sie zu gute Freunde um sich nicht die Hand zu reichen.
Denn beide bedürfen einander und die Thätigkeit des einen ergänzt
die des andern.
Was für eine Periode recht ist, das wird oft von einer andern
verdammt, und wenn wir unserer Zeit und denen gerecht werden
wollen, die in ihrem Geiste arbeiten, so bedarf es zuvor des vollen
Verständnisses für diesen Geist, um zu beurtheilen, was auf diesem
oder jenem Gebiete geleistet wird. Aber auch umgekehrt mag man
aus der Weise, wie gearbeitet wird, auf das Ziel schliessen, nach
welchem wir hindrängen, und das vorliegende Buch ist uns auch
deshalb interessant, weil es neben anderen die Stellung bezeichnet,
die Politik und Geschichtsforschung heute bei uns zu einander ein-
nehmen. Denn nicht immer und überall ist diese Stellung eine
ergänzende, freundliche, und es fehlt nicht an Beispielen, wo die
Freundschaft sich löste, ja zu offener Feindschaft ward. Zu Zeiten
wandte der Politiker dem Historiker den Rücken und begann ohne
ihn zu handeln: es waren die Zeiten politischer Revolutionen. Zu
Zeiten war der Politiker zu träge, zu unfähig zum Handeln, und es
erkaltete seine Freundschaft zu dem Historiker : es waren die Perioden
der Stagnation, des Rückschrittes. Als die Männer des Terrorismus
in Frankreich es unternahmen, den Adel, die Geistlichkeit, Recht,
Sitte, Religion zu hassen und zu stürzen, alles Dasjenige anzugreifen,
was die Geschichte Frankreichs ausmachte, als Napoleon es wagte,
die gewordenen Zustände Europas hinter sich zu werfen, da führte
die Feindschaft zwischen Politik und Geschichte die grössten und
blutigsten Greuelthaten herbei. Alles was Deutschland seit Jahr-
hunderten von seinen Fürstenheerden erduldete, und was in jedem
Schulbuche zu lesen war, konnte die Verbindung zwischen seinen
Politikern und seinen Historikern nicht soweit erwärmen, dass die
T^
Notizen. 193
nothwendige That zur Ausführung kam. Dort wie hier hatte die
Trennung beider die Folge, dass der Politiker grosse Opfer bringen
musste, um da wieder anzuknüpfen, wo seine Wege ihn von dem
Historiker geschieden hatten. Frankreich musste zurückgreifen in
[pJ die Zeit der Despotie, um allmälig in das Geleise des Constitutiona-
l[ lismus einzukehren, und Deutschland mussfce die Blüthe des Ab-
solutismus nachholen, um seine Früchte zu ernten.
Das war die Rache, die die Geschichte an der Politik für deren
Treulosigkeit nahm. Darum haben Communisten und Socialisten
eine Aussicht auf dauernde Herrschaft, weil sie im Grunde jene
Trennung heiligen. Darum hat der Nihilismus eine eigene Lebens-
fähigkeit, weil jene Trennung ein Lebensprincip ist.
Um also gleich weit von einem Rückschreiten wie von einem
Revolutioniren zu bleiben, ist es nöthig, dass sowohl Gleichgültigkeit
als offene Feindschaft zwischen jenen Beiden vermieden werden, und
wo wir sie in enger Verbindung mit einander sehen, da dürfen wir
hoffen, dass der Weg, den sie wandeln, der richtige sei.
Soweit der Weg eben ist, so lange die staatlichen Dinge einen
gleichmässigen ruhigen Verlauf nehmen, mögen auch die Beiden
ruhig fortschreiten. Der Historiker sammelt, ordnet, sichtet; der
Politiker sucht zu entwickeln, was die Hand ohne Mühe zu erreichen
vermag. Jener kümmert sich wenig um diesen, denn er liebt es,
weit zurückzugreifen in der Zeit, an Orte sich zu versetzen, wo
vielleicht fremde Gestalten seinem forschenden Auge sich entdecken,
mit denen er ein weises Zwiegespräch zu halten vermöchte, unbe-
lauscht und ungestört von der lärmenden Menge der Gegenwart.
Dort vermag er auch eher von der Beurtheilung des Werdenden
die eigenen Wünsche zu sondern, die ihm durch die Möglichkeit noch
verwirklicht zu werden den Blick auf die nahe Gegenwart färben.
Das Jetzt ist dem Historiker nicht bequem, denn wo fände er ein
Zeugniss, das nicht angestritten würde, wo unter der Menge der
redenden Stimmen die allein wahre? Das Einst ist ihm bequem,
denn nur wenige Zeugen, von einem gütigen Zufall oder von klug
wählender Hand den späteren Zeiten erhalten, sprechen davon, und
die wenigen begehen nicht, ,wie häufig die Zeugen der Gegenwart,
den Fehler, ihre Meinung zu ändern und so den Forscher zu nöthi-
gen, eine lange Reihe von Schlüssen, die er miihsam auf die erste
Meinung gethürmt hatte, wieder umzuwerfen, weil der Grundstein
nicht taugte. Denn von dem, was das geflügelte Wort des Zeitge-
nossen uns zuführt, gehört das Meiste nicht uns : der es uns brachte
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 2. 13
194 Notizen.
ist der Eigenthümer und er darf es uns wieder nehmen. Aber wenn
wir uns um hundert Jahre zurückversetzen, so sind wir in der
glücklichen Lage, dass Diejenigen, welche uns etwas mittheilen, nicht
mehr leben und daher ausser Stande sind, das zurückzufordern, was
sie einmal gaben. So sind wir in gesichertenj Besitz des Empfan-
genen, und nur ein besserer Gewährsmann als der erste darf uns
darin stören. Und es kommt das hinzu, dass unser Urtheil über die
Glaubwürdigkeit des mitlebenden Gewährsmannes hin und her ge-
zerrt wird durch den Leumund, dessen bald in diesen bald in jenen
Dingen weithin verborgene Wurzeln zu erforschen uns weder Zeit
noch Gelegenheit erlauben, während die Treue des Gewährsmannes
vor hundert Jahren heute nur nach wenigen Merkmalen bemessen
werden kann. Denn wenn wir von sachlichen oder von Parteidiffe-
renzen absehen, so ist das zeitgenössische Urtheil so sehr von den
geringsten persönlichen Motiven abhängig, dass wir häufig die Arats-
thätigkeit eines Beamten schelten hören, wozu der innerste Grund ein
Missfallen an seiner Nase war, oder die eines anderen loben, weil
ein gewinnendes Lächeln seinen Mund umschwebt. Solcherlei Hinder-
nissB umringen nicht unser Urtheil über einen Mann, dessen Thätig-
keit vor hundert Jahren wir kennen, dessen persönliche Eigenthüm-
lichkeiten aber uns weder zu bestechen noch abzustossen vermögen.
Wir feierten jüngst mit aufrichtiger Anerkennung seiner Verdienste
den Gedächtnisstag Merkel's und wurden nicht durch das unange-
nehme Gefühl gestört, welches seine besten Bekannten aufathmen
liess, wenn der unheimliche, unvertrauliche Mann abends von ihrem
Theetische sich erhob. Für uns ist Merkel nicht anmaassend, wie
Lenz nicht wahnsinnig; wir kennen diese Eigenschaften an ihnen,
aber sie stören uns nicht.
Während aber .der Historiker geneigt ist, sich zu entfernen, reizt
der friedliche Gang der Ereignisse den Politiker zum entgegen-
gesetzten Verfahren. Da keine tiefgreifenden Neuerungen ihn nöthigen,
den Dingen auf den Grund zn gehen, und da seine hauptsächliche
Beschäftigung darin besteht, das Alte zu erhalten, so lernt er nur
Dasjenige kennen, was an der Oberfläche sich ihm täglich zeigt. Er
lernt die Lastitutionen behandeln Wie sie einmal erwachsen sind, die
einzelnen Zweige, die Blüthe, die Frucht. Diese zu pflegen, ist seine
tägliche Arbeit, so fand er den Baum vor und so hinterlässt er ihn ;
von oben kam der befruchtende Regen, die treibende Sonne, er
w-uchs langsam fort, die Gewohnheit der Pflege erhielt nur, was die
Natur schuf. So scheint in gewöhnlichen Zeiten das staatliche Dasein
Notizen. 195
sich selbst zu erhalten, Alles entwickelt sich wie von selbst, nur das
täglich werdende Ereigniss scheint zu leben. Es fällt dem Politiker
nicht schwer, aus der Blüthe die Frucht vorherzusagen, und wie er
mit einiger Sicherheit in die nächste Zukunft zu schauen vermag, so
übersieht er leicht die jüngste Vergangenheit. Praktische Rück-
sichten verlocken ihn weder sehr weit voraus noch zurück zu blicken,
denn die ganze Ursache des Heute scheint in dem Gestern beschlossen
und er wird mehr von den augenblicklichen Verhältnissen getragen,
als dass er sie bestimmte. Daher sieht er sich leicht an den
äussersten Rand der Ereignisse gedrängt, in umgekehrter Rücksicht
zu der des Historikers, welöher sich von den werdenden Gebilden
ab- und den gewordenen zuwendet.
Aber anders gestaltet sich ihr Verhältniss, wenn das bürgerliche
und staatliche Leben von den Bahnen des Alltäglichen abgeleitet
und durch grosse Strebungen si-usserer oder innerer Kräfte bewegt
wird. Denn die Wünsche, welche der Historiker bei seinen
Forschungen als störend für seine Arbeit zu beseitigen bemüht war,
werden gesteigert, wachsen zu Leidenschaften und zwingen ihn so,
den Dingen, auf welche jene Wünsche gerichtet sind, sich zu nähern.
Wie unser ganzes Leben von Wünschen erfüllt ist, so vermag der
Historiker zwar nie sich derselben ganz zu entschlagen. Aber bei
der Darstellung einer weiten Vergangenheit, die umzugestalten der
stärkste Wille nicht mehr im Stande ist, sieht der Forscher leicht
ein, dass wenn er in derselben seinen Wünschen in Bezug auf jene
Zeit Raum gäbe, dieses nur auf Kosten seiner Einsicht oder gar
seiner Ehrlichkeit geschehen könnte. In Absicht auf das noch
Werdende dagegen mag er seine Wünsche sehr wohl zur Geltung
bringen und indem er mittheilt, was frühere Geschlechter unternom-
men, die Handlungen der Lebenden beeinflussen. Da jene Wünsche
auf die Gegenwart gerichtet sind, das Feld seiner eigentlichen Arbeit
aber in der Vergangenheit liegt, so hat er zwei Mittel, um seine
Zwecke zu erreichen: er nähert sich dem Heute der Zeit nach und
deckt die nächsten Beziehungen auf, welche noch unmittelbar wirk-
sam sind, oder er vermittelt zwischen dem Heute und dem Einst durch
indirecte* Beziehungen. Er stellt den realen oder aber einen idealen
Zusammenhang zwischen beiden dar. — Solche historische Dar-
stellungen machen häufig mehr Geschichte als dass sie sie erzählten
Und wie die Historik politisch wird, wird die Politik historisch.
Es genügt nicht mehr die Kenntniss der Listitutionen in ihren augen-
blicklichen Formen und Wirkungen, denn ihre Existenz ist in Frage
13»
196 Noüaen.
gestellt. Es genügt nicht, die Blätter, Bliithen und Früchte des
Baumes zu kenueii, denn en handelt sich um wesentlich Neues.
Der Politiker mnes die Natur des Baumes und des Bodens, in
welchem er wurzelt, fi:enau erforschen, er muss aus der Geschichte
die Bedingungen und Wirkungen der Reformen bemessen, die be-
vorstehen.
So ist es natürlich, dass wir heute unsere Historiker politisiren
und unsere Politiker nach alten Pei^menten suchen sehen. Wäh-
rend noch vor wenigen Jahren beide Gebiet« im Allgemeinen so weit
aus einander lagen, als dem Bonvivant die Gedanken an die Unsterb-
lichkeit zu liegen pflegen, können wir beute kaum einen Schritt thun,
ohne beide zugleich zu berühren, und ihre Grenzen sind so ineinander
geräckt, dass es schwer fällt, sie zu unterscheiden. Selbst officiell
wird heute für politisch fragwürdig gehalten, was noch vor 20 and
einigen Jahren für harmlos historisch galt. Dieses aber ist der Um-
stand, der unsere politisch - historischen Schriftsteller zwingt, mit
jenem idealen Zusammenhange zu operiien, von dem wir oben
sprachen. Wie weit die Wissenschaft, das kosmopolitische Doeenten-
thum dabei gewinnt, mag dahingestellt bleiben: der praktischen
Hiatorik des Lebens sind weite Bahnen geötTnet. Wir haben in
Zeiten den Verfasser des vorliegenden Buches in
Gegenden unserer Vorzelt thätig gesehen , die
leil des Publicums eines Behrens ermangeln,
eher erst die eigene Arbeit schafft. Wir ver-
eröffentliehung einer Reihe von Urkunden aus der
ite und bedauern nur, dass diese sehätzeuswerthe
len Jahre keine Fortsetzung erlebt hat. Der Ver-
a den Ereignissen ergriffen worden, die unsere
n, der Historiker hat sich dem Politiker genähert.
in den ersten Vorträgen mit Ausnahme einiger
.mentlicfa die Stadt Reval bezüglichen Dinge nicht
Die letzten, auf selbständ^em Quellenstudium
bringen uns manche werthvolle Mi tth ei langen
igende Zeit. Sie erregen unser lebhaftes Interesse,
mpf zwischen Gewissen und Vergewaltigung, die
chöpften Landes inmitten streitender fremder Mächte
I gedruckte Vorträge, welche vor einem grösseren
rochen wurden, und müssen als solche beurtheilt
eitk^em Tadel entgehen wollen. Denn es ist dem
irlaubt, was dem Schriftsteller sich verachliesst
Notizen. 187
Der Zuhörer l&sst sich gern von dem Effect des Worts hinreissen
und beachtet nicht zu genau die Grenze der Rhetorik, die auf ihn
wirkt. Der Leser prüft diese Grenze sorgfältiger, ohne jedoch auf
die Rhetorik in dem geschriebenen Worte und in der Geschichts-
schreibung gänzlich verzichten zu wollen. Wenn die Behauptung
des geehrten Verfassers begründet wäre, dass Rhetoriker noch immer
schlechte Historiker gewesen seien (p. 102), so befänden wir uns
allerdings diesem Buche gegenüber in einiger Verlegenheit. Zum
Glück sind wir gänzlich anderer Meinung in dieser Sache. Wir
glauben, der Sprache keiner Wissenschaft, und so auch nicht der
der Geschichtsforschung das Recht auf den Schmuck absprechen zu
dürfen, welcher die Wirkung des Worts erhöht, ohne seiner ursprüng-
lichen Bedeutung zu nahe zu treten. Soweit der Sinn nicht Gefahr
läuft, durch die Menge des Schmucks verdeckt oder in eine falsche
Richtung gebracht zu werden, hat auch die Sprache der Wissen-
schaft den Anspruch auf den Genuss des Reichthums, dessen sich
die Sprache überhaupt erfreut. Die Ueberhäufung ist so verwerflich
als der falsche Schmuck, die Phrase; aber die Armuth bleibt gleich-
wohl ein Mangel. Und wir können uns zu jener Anschauung des
geehrten Verfassers um so weniger verstehen, als sie einen Historiker
scharf trifft, den wir als solchen einen Meister nennen und zugleich
als Rhetoriker höchlich schätzen, und der, wo wir nicht irren, dem
geehrten Verfasser selbst beim Schreiben dieses Buches in Absicht
auf Charakter und Form stets sehr lebendig, wo nicht allzu sehr
vorgeschwebt hat
Indessen dieses Buch enthält nicht bloss einfache Geschichts-
schreibung, sondern diese ist vielmehr nur sein Hintergrund. Es
spricht' der Politiker zu uns in politisch bewegter Zeit und sucht
jenen idealen Zusammenhang zwischen dem Jetzt und dem Einst her-
zustellen, durch welchen die lehrhafte Seite der Geschichte wirksam
wird. Die warme Liebe zur Heimat und das innige Verständniss
für ihre Schicksale sind es, was dieses Buch uns werth macht und
was ihm den Dank weiterer Kreise sichert. Wir haben in dieser
Richtung einen Vorgänger erlebt, dessen Fusse zu folgen fast ge-
fährlich scheint. Wer es aber mit Geschick unternimmt, der erwirbt
sich ein Verdienst. Denn nicht um abzuschliessen, sondern um auf-
zuschliessen, um Verständniss und Kraft zu entfalten wurden grosse
Mittel verwandt, und eine Bahn gebrochen wurde nicht damit sie veröde.
Es sei uns gestattet, an diesem Orte eine Frage zur Sprache
zu bringen, die häufig berührt wurde^ und von der wir wünschen.
198 ITotizen.
dass ihre pracdsche Erledigung gerade heute von weiteren Kreisen
im Auge behalten werde.
Das Verstandnifls fttr die Bedingungen unserer Existenz ist noch
eben so weit entfernt, ein allgemeines oder tiefes zu sein, als die
KenntnisB unserer Vorzeit. Die Mittel aber, und gerade die mate-
riellen Mittel, welche nöthig sind um diese zu mehren und damit
jene zu fördern fliessen äusserst spärlich, Wohl haben wir historische
Gesellschaften, aber mit leeren Kassen, wir haben einige Historiker
und viel geschichtliches Material. Aber das Bindemittel zwischen
beiden, die materielle Unterstützung der Arbeit, fehlt. Es fehlt noch
an dem Interesse für diese Arbeit, und dieser Mangel ist selbst da
fühlbar, vfo nicht die materielle Seite in Frage kommt. Denn noch
liegen ungezählte, nur durch ihre Verarbeitung werthvoUe Schätze
an Urkunden, Briefschaften, Zeugnisse verschiedenster Art In priva-
tem Besitz, die aus mancherlei, und nicht den triftigsten Gründen
sich der Verwerthung verschliessen. Wir hoffen gerade in dieser
Beziehung viel von der engeren Verbindung der Politik und der
Geschichtsforschung. Die Politik ist bei uns noch mehr als anderswo
auf verhältnissmässig wenige Träger vertheilt und der Einzelne ist
daher mehr als anderswo verpflichtet, selbstthätig zu wirken. Wir
erfreuen uns nicht staatlicher Unterstützung zur Erforschung unserer
Quellen. Wir müssen selbst öffentliche Summen herbeischaffen, um
vor Allem unsere reichhaltigen Archive zugänglich zu machen. Und
die Opfer, die erforderlich wären, dürften nicht gar gross sein, zu-
mal wenn eine Vereinigung aller Kräfte zugleich die Ordnung in
der Arbeit sicherte.
„Ihre Anzeige des Oettingenschen Werkes *) im ersten Hefte der
neuen Folge Baltischer Monatsschrift" — schreibt uns ein Fremid —
„macht nach beiden Seiten hin einen lebhaften Eindruck. Auf der
einen erregt sie Aerger, auf der anderen beifällige Zustimmung,"
Wir haben weder das Eine noch das Andere zu erregen ge-
strebt, und auch nicht erwartet, dass unser beiläufiger Protest gegen
die wie ein Ceterum censeo wiederkehrende Verurtheilung der
Naturwissenschaft die „Männer der Geisteswissenschaft" in Harnisch
bringen kßnnte Wenn der Arzt einen Kranken berührt, und die
leiseste Berührung schon Schmerzen und Zuckungen erregt, so schliesst
*) DiP Moralfl tätig tik unil die christliche Sittenlehre. Ton Alex. v. Oet-
tingen, ProfeBflor der Theologie in Dorpat. I. TLeil, Erlangen 1868—1869.
Notizen. 199
er, dass das ganze Nervensystem seines Patienten an übermässiger
Empfindlichkeit leide^ oder dass die berührte Stelle wund gerieben
sei.. Der Glaube wuchert gern auf historisch gesteigerter Gefühls-
Innervation, und der übergläubige Körper wird leicht zif einem Noli
me tangere! Auch dem wunden Flecke fehlt oft nichts, als der
Schutz einer natürlichen Oberhaut, in unserm Bilde als Vernunft zu
bezeichnen. Sollte Aehnliches an dem theologischen Organismus
stattfinden, welcher wieder, an die Stelle von Toleranz und ratio,
in römische Unfehlbarkeit sich einhüllen möchte? Detgegen zu wir-
ken, wird vielleicht Schicksal vorliegenden Werkes sein, wenn die
theologischen Fachgenossen des Verfassers es nur fleissig lesen
wollten. Die particula veri ist wie ein Hefepilz, welcher auch
wider Willen in trägen Teigmassen Bewegung anregt.
Die zweite Hälfte des ersten Theiles unserer Socialethik ist der
Analyse der moralstatistischen Daten gewidmet. Die mitgetheilten
Thatsachen gruppiren sich in physiologische und psychologische.
Jene sind Ereignisse, welche im Organismus der Menschheit eben
so unbewusst geschehen, wie im Organismus der Thierwelt. £>ahin
gehören die Constanz der Empfängnisse und Sterbefälle in den
Jahresumläufen, die Constanz der Knabenmehrgeburten , die Her-
stellung des Gleichgewichtes zwischen weiblicher und männlicher
Bevölkerung vom 20. Lebensalter bis zum 50. u. s. w. Diese, die
psychologischen, sind Handlungen, welche mit verschiedenen Graden
des Bewusstseins fast ausnahmlos nur von Menschen vollzogen 'wer-
den. Verfasser hat sie in den Capiteln über Eheschliessung, ver-
brecherische Geschlechtsgemeinschaft, Prostitution, in den Abschnitten
von Stand, Schule, Elirche, Eigenthum, Criminalität u. s. w. betrachtet.
Den physiologischen Erscheinungen im Organismus der
Menschheit liegen organische, in dem einzelnen Menschen nach
morphologischen Gesetzen sich abwickelnde Functionen zum Grunde.
Ihre Causation muss rückwärts auf vorangegangene organisirende
Bildungs- und Wachsthumsthätigkeiten der zur Species h o m o
sapiens gewordenen Lebewesen zurückgeführt werden, bis wir
als ersten Grund auf organische Molecularbewegungen stossen, welche
Compositen sind von mechanisch -chemischen Elementarbewegungen.
Hier ist der Punkt, auf welchem Theologen und Naturphilosophen
Stirn gegen Stirn auf einander stossen und in entgegengesetzter
Richtung zurückprallend, die Reise durch die vorliegende Begrififs-
welt antreten. Jene, so zu sagen, auf Eisenbahnen, die ihre Jn-
genieure schon vor Alters abgesteckt und erbaut haben, zu einem
200 Notizen.
vorausbestimmten Ziele; Diese auf natürlichen und oft beschwerlichen
Wegen, von eigenen Bewegungs-Apparaten getragen, vom eigenen
Genius geleitet, zu unbetretenen, neuzuentdeckenden Gebieten.
Die physiologischen Vorgänge in den einzelnen Menschen con-
glomeriren sich zu den eben so genaturten Gruppen im, bildlich,
Organismus genannten Körper der Menschheit. Wie im kleinen
realen, so sind im grossen idealen Organismus die Naturgesetze im
Momente der zusammentretenden Elemente geworden, nicht aber
vorausbestimmt oder vorausbedacht. An den sogenannten mathe-
mathischen Gesetzen könnten wir diese Entstehung im Augenblicke der
Vorstellung einer mathematischen Figur erläutern. Nach formulirter
Vorstellung: wa« eine Kreislinie, was Parallelismus zweier geraden
Linien sein solle, entspringen aus diesen also gedachten Figuren
die Gesetze des Kreises, des Parallelismus. Aus der Vorstellung des
Kreises erst fliesst die Vorstellung eines Diameters, die Vorstellung,
dass alle möglichen vom Diameter senkrecht bis zur Peripherie sich
erhebenden geraden Linien die mittleren Proportionalen zwischen
den Abschnitten des Diameters seien u. s. w. An dem Mathematiker
ist es, in den idealen, vor seiner Phantasie zu Realitäten gewordenen
Figuren die Folgen, als Eigenschaften der Figuren, herauszufinden
und zu notiren. Auch Er ist Naturforscher, aber gleichsam in einer,
von ihm selber erst phantastisch geschaffenen Welt, während in der
materiellen, unorganischen wie organischen Welt alle möglichen
Combinationen der realen Elemente sich von selbst in richtiger Auf-
einanderfolge gebildet haben und nun an Uns, die wir nicht zu den
„Männern der Geisteswissenschaft" gehören sollen, die Aufgabe ge-
stellt ist, die entstandenen Dinge in ihre Grundformen zu zerlegen
und die Logik ihrer Entstehung aufzufinden. Scalpell und Mikros-
kop, Wagschale und Reagentienapparat, Erdbohrer und Sternen-
teleskop, — sie alle sind aus unseren Sinnorganen, nach Grundsätzen
des sinnlichen Erforschungstriebes der Aussenwelt, herausgewachsene
VervoUkommnungs- Werkzeuge von Finger und Auge, von Nase und
Zunge, sie sind Theile unseres Leibes; ihre Keimanlage, ihr
Wachsthum, ihr Gebrauch, selbst der schulgewohnte, sind nicht ohne
ein wenig „Geistesarbeit" denkbar, die unsere Mitgift gewesen ist,
gleichviel von wem wir gezeugt worden sind. Die Logik der Ent-
stehung aller Dinge sehen wir an als den Inbegriff der Natur-
gesetze; das Reich, in welchem sie Geltung haben, als das herr-
liche Reich der Physiokratie, wo nicht gemaassregelt wird, sondern
Alles durch sich selbst sich regelt. Unter dem Schutze der Physiokratie
NotizeiL 201
entsteht und vergeht das Leben maassen der Naturgesetze, werden
Naturrechte und Naturpflichten mit Würde geübt. So verstehen wir
die „providentielle Naturordnung", welche trotz tausendfältiger
Störungen und sogenannter Zufälligkeiten sich durchsetzt, ohne nach-
helfend oder abwehrend hineingreifen zu wollen, wenn sie von einem
unvorhergesehenen Ereignisse überrascht wird.
Die Gruppe der psychologischen Thatsachen im Organismus
der Menschheit ist aber die Summe von Willenshandlungen wiederum
der einzelnen Menschen, insofern ihr Wollen als Motiv oder neues
Causationsmoment an die physiokratische Ordnung der Dinge heran-
tritt, sie maassregelt und somit künstliche, menschengewoUte Ver-
hältnisse schafft. Gewisslich geschehen auch hier die sittlichen und
unsittlichen Lebensbewegungen der Menschheit nach Formeln, welche,
gleichwie im mathematisch gedachten Kreise, durch die menschen-
gewoUten Verhältnisse selber entstehen; die Formeln sind aber so
schwankend, mit so vielen unbekannten x, y, z durchwirkt, dass sie
die Correctheit der Naturgesetze nicht an sich haben, und nur be-
dingungsweise Gesetze genannt werden sollten. In dem letzten
Capitel „Schlussfolgerung" finden wir gegen dreissig solcher Gesetze
namentlich angeführt, welche Verfasser selber (pg. 967) hypothe-
tische Gesetze nennt, denen keine ewige Nothwendigkeit zu
Grunde liege, die nur Ausdruck zeitlicher Empirie öeien, aufgefunden
mittelst einer die Thatsachen combinirenden und ihren Zusammen-
hang deutenden Denkoperation. Und diese Resultate, die Darstellung
der empirisch existirenden Abhängigkeit psychologischer Vorgänge
im Oi^anismus der Menschheit von Ur- Sachen — das möchten wir
betonen — ist der Kern in vorliegendem Werke, welcher zu einem
fruchttragenden Baume heranwachsen wird; was von einem Ur-
Willen gesagt ist, gehört nur zur verlockenden Schale der Frucht,
über welche Sehale wir uns weiter nicht auslasseh wollen.
Betrachten wir nun von diesem Standpunkte aus einige in den
Berrich der Physiokratie schlagende Capitel der ^Socialethik."
Verfasser entschuldigt sich, dass er die Frage nach dem statisti-
schen Verhältnisse der beiden Geschlechter, nach der constanten
Mehrgeburt der Knaben, nach dem eintretenden Gleichgewicht zwischen
der Zahl der Männer und Frauen zur Zeit der Geschlechtsreife,
in den Bereich sei^r Moralstatistik gezogen, da sie doch mit dem
Willen des Menschen, also auch mit der Moralität desselben, gar
nichts zu thun habe. Er glaubt aber, „in der vortrefflichen Ordnung
in der Fortpflanzung beider Geschlechter die Bestimmung des
202 Notizen.
Menschen zur Monogamie, die gottgewollte Einheit des
Menschengeschlechtes und die gliedliche Zusammenge-
hörigkeit desselben, wenn auch nicht geradezu bewiesen, so
doch eigenthümlich und interessant beleuchtet zu sehen" (p. 316) —
und deshalb thue er es.
Wir möchten an den von Kant citirten Ausspruch (s. Heft 1,
pg. 105) erinnern, und ihn hier, in Bezug auf Statistik, so abändern:
es ist nicht richtig, von der Statistik Aufklärung zu erwarten und
ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welcher Seite sie nothwendig
ausfallen müsse.
Die Statistik hat berechnet, dass in 17 europäischen Staaten
mit nur wenigen Schwankungen 4 bis 7 Procent mehr Knaben als
Mädchen geboren werden (s. Tabelle 1), dass in elf Staaten durch
grössere Mortalität der Knaben und Jünglinge die Zahl beider Ge-
schlechter im Alter von 20 Jahren gleich gross wird (s. Tab. 3, 4).
Woraus sind diese Daten erhoben? Doch wohl ,aus Staaten, aus
einer Menschengesellschaft, in welcher seit Jahrhunderten die Mono-
gamie gesetzlich eingeführt ist, wo also, um . das perhorrescirte Wort
erläuternd zu gebrauchen, eine künstlich geregelte Züchtung des
Menschengeschlechtes stattgefunden hat. Aus den verkümmerten
Füssen der chinesischen Frauen auf die Bestimmung des Weibes,
verkrüppelte Füsse zu haben, schliessen zu wollen, wäre nicht zu-
lässig. Die Schwankung zwischen 4 bis 7 Procent, trotz streng
beobachteter Monogamie, ist gar nicht gering anzuschlagen, woher
Verfasser denn auch mit Recht zeitliche und örtliche Veranlassungen
aufgesucht und gefunden hat, sie zu erklären. In Weltgegenden,
wo keine Monogamie decretirt ist, wird das Verhältniss anders sich
gestaltet haben. Glaubwürdige Reisende haben von Ueberschuss
der weiblichen Geburten in orientalischen Ländern erzählt. Süss-
milch soll „diese veraltete Behauptung gründlich widerlegt haben" —
doch wohl auch aus Erzählungen von Reisenden und aus seiner
Conjecturalstatistik. Nicht wegen Mangels an weiblichen Individuen
lassen vornehme und wohlthäiige Türken sich Mädchen, und zwar
Halbwächslinge, aus Tscherkassien, Georgien und anderen Gegenden
einführen, sondern weil die genannten Länder, ihren Begriffen ge-
mäss, appetitlichere Weiber liefern. In China, in Japan und anderen
übervölkerten Staaten, wo nicht einmal die mänijichen Individuen zu
Kanonenfutter ausgelesen werden, tödtet man die neugeborenen Mäd-
chen als überflüssig gleich nach der Geburt. Das scheint für con-
stantes Ueberge wicht des weiblichen Geschlechts über das männliche
k
Notizen. 203
zu sprechen. Dass die Monogamie durch andere als durch euro-
päische statistische Gründe motivirt werden könne, und vielleicht
müsse, darin wird jeder Naturforscher, welcher in staatlicher Gemein-
schaft lebt, dem Verfasser beistimmen. Allein die Beistimmung wird
wieder durch eine Voraussetzung : „in staatlicher Gemeinschaft" mo-
tivirt. Naturhistorisch wissen wir gar nicht, ob das Menschenge-
schlecht monogamisch oder polygamisch, monandrisch oder poly-
andrisch sich fortzupflanzen genaturt war oder in vorgeschichtlichen
Zeiten gewohnt gewesen ist. Bei andern, mit eben so strenger
morphologischer Consequenz, wie der Mensch, in fortgehender Ad-
scendenz (nicht Descendenz) aufgebildeten Thiergeschlechtern wird's
bald so, bald anders gehalten. Monogamie, Gattenliebe ist unter
manchen Vögeln (Papageyen, Sumpfvögeln), unter manchen colossalen
Säugethieren CElephanten) in der Ordnung. Monogamie wird unter
den Bienen sogar soweit getrieben, dass das einzige befruchtungs-
fähige weibliche Wesen im Staate, trotz der Gegenwart von Tausenden
männlicher Bewerber, nur ein einzigmal im Leben und nur mit
einem einzigen Auserwählten sich verehelicht, worauf dieser Glück-
liche dann auch gleich verendet. Polygamie ist an und für sich so
wenig der Erhaltung und Vermehrung einer Thierspecies entgegen,
dass in den staatswirthschafklich nicht gemaassregelten Pampas und
Prairien Amerikas einige wenige versprengte Pferde und Rinder im
Laufe von drei Jahrhunderten bis zu mehreren hunderttausenden
FanJllien, mit je einem Bullen oder Hengste als Oberhaupt, sich ver-
mehrt haben. Nach Dr. Bleek, welcher seit 20 Jahren in der Kap-
stadt lebt, sind fast alle Kaffern, Negerstämme des tropischen Afrika,
ihre oceanischen Verwandten bis nach Neuseeland und den Sand-
wichinseln hin, Polygamisten. Sie bilden mitunter grosse politische
Verbände. Die Zahl der nach Muhammed's Koran lebenden Men-
schen übertrifft die ^ahl der christlichen Monogamisten. Und alle
diese Sünder wider das „Urgesetz der Monogamie" sind fruchtbar und
haben sich einen grossen Theil der Erde unterthan gemacht. Dass
Monogamie in manchen zur staatlichen Gemeinschaft zusammenge-
tretenen Nationen decretirt worden ist, das war lediglich Folge ge-
wisser ethischer Absichten eines Gesetzgebers.
Die Knabenmehi'geburt findet in den morphologischen Vor-
gängen ihre genügende Erklärung: sie muss bei gewissen geschlecht-
lich sich fortpflanzenden Species eintreten, so wie bei anderen die
Zahl der weiblichen Geburten überwiegt. In concreto kann es
nie und nimmer zur Herstellung zweier ganz gleicher Dinge kommen.
204 Nötigen.
So wie an Millionen gleichnamigen Bäumen nicht zwei genau gleiche
Blätter gefunden werden, so giebt es nicht zwei genau gleiche Keim-
bläschen in einem Individuum weder des Pflanzen- noch des Thier-
reichs *) Selbst da, wo die geschlechtlose Fortpflanzung durch blosse
körperliche Theilung sattfindet, sind die Theile verschieden begabt,
und ebenso verschieden, wenngleich innerhalb der vererbten elter-
lichen Anlage beharrend, fallen die Gebilde des „Ueber-sich-hinaus-
wachsens", nämlich die Fortpflanzungskeinie, aus. Unter den Fort-
pflanzungskeimen, wollen wir annehmen eines zum erstenmal sich
zur geschlechtlichen Fortpflanzung anschickienden Lebewesens, konn-
ten nicht zwei Keime von absolut gleicher Dignität entstehen. Der
eine hatte ein Plus, der andere ein Minus von irgend welchen Eigen-
schaften und Kräften; damit war nicht nur das Naturgesetz der in-
dividuellen Variation, sondern auch der Wegweiser hingestellt, ron
welchem aus die kräftiger und dem entsprechend eigenthümlich
organisirten Keime auf der einen Bahn, die schwächer und anders
genaturten auf der andern Bahn sich weiter von Generation zu Gene-
*ration entwickelten; durch Vererbung impfte sich die Eigenschaft:
vorwiegend männliche oder vorwiegend weibliche Keime im Keim-
Stocke erwachsen zu lassen, den verschiedenen Arten ein; durch die,
aus der Trennung in zwei Geschlechter folgende Nothwendigkeit,
Fortpflanzung- immer nur durch Zusammentreten von weiblichen und
männlichen ^über-sich-hinauswachsenden organischen Stoßen** (resp.
Ei und Sperma) zu besorgen, ist der Gefahr, dass irgend ein** Ge-
schlecht die absolute Oberhand erhalte, vorgebeugt, denn erwüchsen
nach einigen Generationen nur männliche oder nur weibliche Keime,
so wäre es aus mit der Fortpflanzung einer solchen Species. Wer
mag bestimmen, wie viele derartig unlogisch sich gebahrende Thier-
species spurlos zu Grunde gegangen sind! An Majorats-Familien —
wo der Familien-Name gleichsam eine gesonderte Species bezeichnet
— hat die Statistik ermittelt, dass keine directe männliche Progenitur
über 250 Jahre sich in wohlverbürgter Reihe fortgesetzt habe. Die
•) Dr. G. Jacger hat durch vier Jahre hindurch jeden Winter etwa 30,000
Forellen-Eier ausbrüten lassen. Abgesehen davon, dass ein regelmässiges Ab-
sterben in den verschiedenen Altersperioden stattfand, kamen ganz sonderbare
individuelle Variationen vor. Da waren Missgeb arten am Bauche zasammenge-
wachsen, wie die siamesischen Brüder, — andere, mit zwei Köpfen und einem
^eibe, andere mit einem Kopfe und zwei Schwänzen *, einige kreisförmig gebogen,
andere spiralförmig gedi'eht, mit dreigabligen Schwänzen. Es gelang nur wenigen
Fischlein ihren Kampf um*8 Dasein glüeklich zu bestehen
_j
Nc^tiaexL. 205
gegenwöxtig in den Katalogen der Zoologie verzeichneten Thierspecies
haben jede auf rein empirischem Wege ein gewisses Abkommen
gefunden, wonach das mehr oder weniger nach Umständen schwan-
kende Verhältniss zwischen männlichen und weiblichen Geburten
landes- und zeit-üblich festgesetzt erscheint. Wie sehr in dieser
Hinsicht die Ei^ebniss« des natürlichen Compromisses verschieden
ausgefallen sind, kennen wir an einigen Thierspecies, welche sogar
scheinbar bis zu einer sogen. Parthenogenesis sich emancipirt haben.
Diese Entdeckung, welche von der päpstlichen Curie so hoch aufge-
nommen wurde, dass sie sich von dem Entdecker eine detaillirte
Beschreibung eines solchen wohlzuverwerthenden Fortpflanzungs-
modus erbat, ist unlängst durch v. Siebold und Leuckart noch da-
durch ausser allen Zweifel gestellt, dass eine durchaus jungfräuliche
Bienenkönigin, wenn .man sie vor aller Berührung mit männlichen
Bienen in einem Bienenstock absperrt, dennoch sich gedrungen fühlt,
viele tausend Eier zu legen, welche allesammt, ohne von männlichem
Sperma befruchtet worden zu sein, regelrecht zu Maden und Larven
sich ausbilden: sie werden aber ausnahmslos Männchen, (Drohnen)!
Wie niederschlagend für das. stolze, „starke Geschlecht", dass in dem
angeführten Falle die männliche Kraft nichts weiter vermag, als die
zu männlichen Wesen angelegten Bienenkeime in weibliche abzu-
schwächen. Die statistisch für Europa auf 5 bis 10 Procent be-
zifferte Knabenmehrgebui't ist kein Naturgesetz: manche Familien
brii^en nur Knaben, manche nur Mädchen hervor. Aus der grossen
Zahl stellt sich dann ein arithmetisches Mittel heraus, wenn Nach-
frage und Angebot eine Ausgleichung hervorgebracht haben» Schliess-
lich bleibt doch von beiden Geschlechtern eine gleiche Zahl, gleich-
sam als brakirtes Züchtungsmaterial, unverheirathet nach.
Die Frage: wodurch können wohl Knabengeburten befördert
werden? hat auch den Verf. der „Socialethik" beschäftigt. In § 75
bespricht er die von verschiedenen Autoren muthmasslich angeführten
Ursachen. Jede derselben wird aber von direct entgegengesetzten
neutralisirt. Weder Klima noch Jahreszeit, weder Nationalität noch
Rasse, weder kräftigere Constitution des Vaters noch stärkere Er-
nährung der Mutter während der Schwangerschaft haben einen nach-
weisbaren Einfluss auf Knabenmehrgeburt gehabt. Nur das scheint
Thatsache zu sein, dass auf dem Lande in der Regel Va — 1 Procent
mehr Knaben als Mädchen geboren werden, dass unter Erstgeburten
8 bis 10 bis 12 Procent mehr Knaben sind als Mädchen und dass
in Ehen, wo der Vater jünger war als die Mutter, gegen 10 % mehr
206 ; Notizen.
Mädchen als Knaben erzeugt werden, dass aber mit dem verhältniss-
mässig grösseren Alter des Mannes die männliche Nachkommenschaft
steigt, ja in extremen Fällen in England das Verhältniss von 166
Knaben auf 100 Mädchen erreicht hat.
Noch ein anderes physiologisches Phänomen in der menschlichen
Gesellschaft zieht Verf. heran, um die Bestimmung der Menschen
zur Monogamie darzuthun. Das ist die keineswegs so allgemein, wie
die Knabenmehrgeburt, gemachte Beobachtung, dass nach Kriegen,
Epidemien, Auswanderung und dgl. m. der Abgang der männlichen
Individuen durch verstärkte Knabenmehrgeburt und verminderte
Mortalität der Männer ersetzt werde. Die Statistiker zählen das zu
den Naturgesetzen und nennen die Ursache: Conpensaiionstendenz
der Bevölkerung, allein mit Unrecht. Compensirende Thätigkeiten
in Naturprocessen stehen in einem ursächlichen Verhältnisse zu ein-
ander, der Regulator gestörten Gleichgewichtes ist einer und der-
selbe in der verminderten wie in der vermehrten Thätigkeit und
zwar eines und desselben Organismus. Das Magerwerden von A.
kann aber keine Compensationstendenz, auf physiologischem Wege,
in B. hervorrufen, es sei denn etwa auf psychologischem Betrieb,
wenn A. grosse Genugthuung über B.'s Magerwerden empfände. Die
Fruchtbarkeit und Zeuguügskraft der nach einer CalamitÄt am
Leben gebliebenen Ehepaare kann eben so wenig durch die aufge-
hobene Zeugungskraft der getödteten Menschen berührt noch speciell
auf Knabenmehrgeburt concentrirt werden. „In Frankreich fand 1811
ein abnormer Ueberschuss von 372 Procent an Weibern statt — da
stieg plötzlich die Knabenmehrgeburt um 2 Procent, nämlich von
573 auf 773 Procent." Unter den 36, Millionen Franzosen hatten
damals weder die lebenden Ehepaare noch die Statistiker von dieser
Abnormität eine Ahnung, um sich sofort zur Compensation zu rüsten.
Wenn im Bienenstaate das Volk nach zufälliger Entwickelung sich
ohne Zaudern daran macht, den Verlust der Königin durch künst-
liche Auffütterung einer gewöhnlichen Made mit königlichem Futter
zu ersetzen, so wissen alle Bewohner des Stockes, dass ihnen die
Mutter fehlt, dass ihnen Untergang droht, wenn sie keine neue er-
ziehen; in Frankreich hatten, wie gesagt, nur einige Statistiker,
vielleicht auch erst nach Jahren, von dem Ueberwiegen des weib-
lichen Geschlechts Kenntniss erhalten. Verf. hat sich die grosse
Mühe gegeben, als schlagendes Compensationsbeispiel den Parallelis-
mus zwischen Abnahme des Weiberüberschusses und Zunahme der
Knabenmehrgeburt von 1811 bis 1854 zu berechnen und stellt
Notizen.
208
darüber Tabellen zusiaminen.. Das Resultat heisst: Der Weiberüber-
schuss sank allmälig um 5,o7 %, die Knabenmehrgeburt nahm zu um
l»23Vo- I^er Parallelismus ist eben nicht sehr correct.
Wir können einen, gewiss zufälligen, d. h. ohne alle gegenseitige
Gausation sich ergebenden correcteren Parallelismus zwischen Knaben-
mehrgeburten in Frankreich und denen in Russland vorführen.
Auf 100 Mädchen wurden Knaben geboren:
In Frankreich (Soc.-Ethik 342), in Russland (akadem. Berichte):
1827 31 . .
106,33,
1831 36 . .
. . 106,,,,
1837 41 . .
. . 105„6,
1842 — 46 . .
. . 105,5«,
1847 51 . .
. . 105,30,
1851 54 . .
. . 105„s,
T
107,,,,
105,„,
105,28^
105,05,
105,20,
104,90.
Wer wird in diesem Parallelismus eine Wirkung französischer
Knabenbedürftigkeit im Volke auf russische Knabenproduction von
1811 bis 1827, und darauf folgende gleichlaufende Abnahme der
Zeugungskraft beider Nationen sehen wollen?
Noch ein anderes Beispiel können wir anführen, worin man
gleichfalls an Compensations- Tendenz nicht denken darf. Das
procentale Verhältniss der Selbstmorde in Oesterreich und der un-
ehelichen Conceptionen daselböt bildet in beiden Vorkommnissen eine
gleichartig absteigende Linie von den heissen Monaten durch die
mittleren zu den kalten Monaten:
Mai, Juni, Juli, Aug. — März, April, Sept. Oct. ^— Jan. Febr. Nov. Dec.
Selbstmordfrequenz 11,3 ~ 7,^, — 6,o (Tab. 160)
Uneheliche Con-
ceptionsfrequenz 8.92 — 8,29, — 8,0* (p. 557).
Selbst nach Jahreszeiten berechnet, zeigt sich eine ähnliche
Bewegung:
Winter. Frühling. Sommer. Herbst.
Nov., Dec, Jan. ; Febr., März, April; Mai, Juni, Juli; Aug. Sept. Oct.
Selbstmord-
r93'i
8
t23'i
8
fOl
frequenz: 6,33, 7,93, 10
Uneheliche
Conceptfreq. 7,62, 8,50, 9,oo,
Sollen vermehrte Conceptionen den Verlust durch Selbstmord
compensiren? — oder soll der Selbstmord gegen den Ueberschuss
vermehrter Conceptionen tendiren?! Der Zu- und Abnahme in
beiden Vorgängen dürfte wohl derselbe Grund als Erklärung dienen :
208 NoüzeB.
stärkere Innervation im Zeugungsapparate wie im Seelenorgane durch
erhöhte jahreszeitliche Temperatur — geringere durcli verminderte
Temperatur. — So würden wir denn auch das Steigen in der
Knabenmehr gehurt, von dem oben die Rede war, ganz einfach aus
dem nach Kriegen „frei gewordenen Heirathstrieb" im Verein mit
der Erfahrung, dass Erstlings-Ehen 10 Vo mehr Knaben als Madchen
geben, berechnen können. Von 105 würde die Ziffer der Knaben-
mehi^eburt steigen:
im ersten Jahre auf 105,g(,
im zweiten „ „ 106,j|,
im dritten „ „ 106^, per 100 Mädchen,
und da haben wir dieselbe Steigerung, welche von 1811 an in Frank-
reich das Gesetz der Compensationstendenz beweisen sollte. Wir
brauchen nicht an „die mathematisch genaue Buchführung des unend-
lichen Arithmetikus^', nicht an eine „Compensationstendenz'", nicht
an „die Ehe als Quellpunkt" zu appelliren, „um welchen sich, wie
um ein pulsirendes Herz alle Venen und Arterien des coloasalec
Organismus sammeln, um lebenerzeugend immer wieder neues und
doch dasselbe Blut in warmhaltender Bewegung durch alle Glied-
maassen strömen zu lassen." Im Gesamm^efühl des Volkes vermag
kein gesteigerter Wunsch, keine intensivere Willensrichtung auf com-
peosirende Knabengeburten einzuwirken ; denn physiologische
Processe compenslren sich unbewusst nur im individuellen
Organismus.
Das zweite Gapitel ist psychologiechen Voi^ängen im Organismus
der Menschheit gewidmet. Es handelt auf 150 Seiten von der Ge-
schlechtsgemeinschaft, von der Zeugung in ihrer Bedeutung für die
Socialethik, von der Messbarkeit der Heirathstendenz , von der
Heirathsfrequenz nach Stand und Alter; dann von Ehescheidungen,
wilder Ehe, Prostitution, Nothzucht, Sodomie. Der Nachweis, wie
gewisse materielle und geistige Ursachen constant oder periodisch
bestimmend auf alle diese. Handlungen einwirken und ihnen eine
merkwürdige Regelmässigkeit aufdrücken, ist ausserordentlich be-
lehrend. Das Alles mues studirt und nachberecbnet werden, wozu
wir dringend die Theologen auffordern, „denn es handelt sich im
Grunde um etwas Hohes und Heiliges", sagt Verf. pg. 352.
Wir umgehen dieses Capitel , ' obgleich dasselbe besonderer
W er tb Schätzung empfohlen wird : „Ziehe deine Schuhe aus, denn
der Ort, da du auf stehest, ist heiliges Landl" und begeben uns auf
das physiologische Terrain der „Progenitur", welches von
Notizen. 209
pag. 505 bis 591 sich erstreckt und die Tabellen 88 bis 110
uinfasst.
Die Betrachtungen über eheliche Fruchtbarkeit und Bevölke-
rungsbewegung leitet Verfasser wieder mit einer Verwahrung gegen
Missdeutung ein, als handele es sich hier gar nicht um eine sittlich
bedeutsame Frage, sondern lediglich um physische Gesetze der Volks-
vermehrung. Die sittliche Bedeutung der Ehe ist in den Worten
der Einleitung zu diesem Capitel ausgedrückt: „Allerdings liegt die
Fruchtbarkeit der Ehen oder der Kindersegen ald solcher ausserhalb
des Kreises individueller Willkür. Niemandem wird es in den Sinn
kommen, Kinderlosigkeit ohne weiteres unter den Gesichtspunkt einer
sittlichen Verschuldung zu stellen, sofern dieselbe rein physische, vom
menschlichen Willen unabhängige Gründe haben kann und in tau-
send Fällen nachweisbar hat. Auch stimmen alle jEthiker darin überein,
dass die Kindererzeugung zwar gemäss gottgesetzter Naturordnung
in der Tendenz der ehelichen Gemeinschaft liegt, und als solche nicht
ohne sittliche Verschuldung desavouirt oder gar hintertrieben werden
darf. Allein nimmermehr beruht auf derselben die sittliche Idee der
Ehe, noch auch verliert die letztere, da sie ihren Zweck in sich
selbst trägt, in der vollen geistleibigen Gegenseitigkeit der. beiden
Geschlechter, durch mangelnden Kindersegen ihren Werth und ihr
Wesen. Unter Umständen kann sogar die Versagung die^s Segens
vertiefend und läuternd auf die individuelle Lebensgemeinschaft
wirken." Auf die Betrachtung der physischen Gesetze der Volks-
vermehrung übergehend, werden die Theorien von Carey, Walther,
Bastiat, Dühring. Röscher und anderen National-Oekonomen kritisch
beleuchtet. Darauf berechnet Verf. die eheliche Fruchtbarkeit in
den verschiedenen Ländern, welche nach Ort und Zeit so bedeutend
verschieden ist, dass keine Durchschnitts-ZifFer als die physiologische
Normale für das Menschengeschlecht proclamirt werden kann. Noch
heutzutage beweisen einzelne Fälle, dass das menschliche Weib bis
24 Kinder in*seinem Schoosse entwickeln und reif zur Welt bringen
kann, der Fälle von Zwillingen, Drillingen, selbst von Vierlingen
nicht zu gedenken; aber diese vielleicht ursprüngliche Fruchtbarkeit
ist bis in die Gegenwart so heruntergekommen, dass eine Menge
weiblicher Individuen es zu viel weniger Sprösslingen, viele auch
zu gar keinen bringen. Das arithmetische Mittel der Fruchtbarkeit
gepaarter Menschen ist aus statistischen Mittheilungen in 12 Staaten
Europas angegeben, absteigend von den Niederlanden mit 4,8g Kindern
per Ehe bis Frankreich mit 8,45 Kindern (p. 531), (jRussland Jtann
Baltische Monatsschrift, Neu» Folge, Bd. T, Heft 2. 14
il6 Notizen.
mit 4,81 beziffert werden); der Gcsammt-Durchschnitt (eigentlicli eine
arithmetische Spielerei) stellt sich auf 4,42 Kinder per Ehe. Inter*
essant wäre es von Statistikern zu erfahren, wie riele Ehen in den
resp. Staaten kinderlos, wie viele mit 1, mit 2, mit 3 u. s. w. Kin-
dern existiren, und zuzusehen,- ob die empirisch gefundene Curve
sich einer theoretischen anschlösse, welche sich wie eine logarith-
mische Linie ausnähme. Denn bei der Voraussetzung, dass das vollste
Maass der ehelichen Fruchtbarkeit auf 12 Kinder angesetzt werden
könnte, und die Kinderzahl durch alle Nummern bis zu 0 sich ab-
stufte, ergäbe sich, um als Durchschnittszahl 4,42 auf 100, Ehen zu
erlangen, folgende Reihe:
2 Ehen würden zu je 12 Kindern = 24 Kinder haben.
Mit grossem Verständniss und Nachdruck weist Verfasser auf
die moralischen und .physischen Ursachen dieser, gestehen .wir nur,
erschreckenden Abnahme der ursprünglich viel höher angelegten
Fruchtbarkeit des Menschengeschlechts; in einzelnen Familien ist sie
bis zum Aussterben herabgekommen. Die Heilkunde thut ihr Mög-
lichstes und rühmt sich, den vernichtenden Einfluss mancher der
complicirten Ursachen erkannt zu haben ^ welche auf eine Ver-
kümmerung des menschlichen Organismus hinwirken ; allein die hel-
fenden Factoren steigen in arithmetischer — die zerstörenden in
geometrischer Progression! Herzzerreissend ist das Bild, welches
Verf. nach Dr. Allen von der Abnahme ehelicher Fruchtbarkeit in
Nord-Amerika entwirft. Wenn wir Europäer meinen, dass die in
der neuen Welt aufsteigenden Dünste der sittlichen Brechruhr noch
nicht bis zu uns gedrungen seien, so verweisen wir auf die ziflfer-
mässig constatirte Thatsache, dass in Frankreich, diesem Lande der
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442 Kinder.
Notis^en. 2X1
^civilisation" und der ^gloire**, das Fruchtabtreiben seit 1881 sich
vervierfacht hat und dass die Zahl der wilden Ehen, der unehelichen
Kinder (welche natürlich wieder zu Grunde gehen) mit der Eman-
cipation der Frauen fast in allen Staaten gleich grosse Fortschritte
macht. Der Procenttheil der unehelicken Geburten ist z. B. in den
letzten 25 Jahren in Schweden und Norwegen von 6% auf 9%> ^^
Preussei^ von 6 auf 8, in ßachsen von 13 auf 15, in Bayern von 19
auf 21 gestiegen ! Was die autorisirte Prostitution in Bezug auf ver-
minderte Fruchtbarkeit des weiblichen Individuums, was die selbstver-
schuldeten, die vererbten Geschlechtskrankheiten auf Vernichtung der
Fortpflanzungskraft des Menschen leisten, darüber sind in vorliegendem
Buche genügende Belege aus verschiedenen lAndern niedergelegt.
In einer Moralstatistik hat die aussereheliche Fruchtbarkeit vor-
wiegend moralische Bedeutung als Maassstab der Volksunsittlichkeit
Unleugbar aber ist, dass das zunehmende Verhältniss der unehelichen
Geburten zu den ehelichen von gewissen socialen und administrativen
Umständen mitbedingt wird. Daher hat die angezogene Erscheinung
nur einen relativen Werth als Sittlichkeitsmesser. Für den Natur-
forscher bietet der vom Verfasser auf die Zeit geschehener Coa-
ceptionen reducirte Naturprocess einiges Interesse, insofern die un-
gebundene aussereheliche Geschlechtsgemeinschaft sich dem natürlichen
Einflüsse des jahreszeitlichen Lebens der Erde freier überlässt, als
die durch Familienleben, Arbeitsnoth, Gewohnheiten u. s. w. be-
schränkte eheliche, und wiederum beweist, dass der M^en^ch die Summe
sei von Ort und Zeit, Luft und Wetter, Schall und Licht" (C. Vogt).
Verfasser nennt das wohl (pag. 355) einen „rohen und einseitigen"
Trugs chluss, wir glauben jedoch mit Unrecht. Reproduciren wir in
verkleinertem Maasstabe und in astronomische Jahreszeiten, nicht in
Kalenderquartale, abgetheilt des Verfassers graphische Illustration
zur Tabelle über das Verhältniss der ausserehelichen und ehelichen
Gonceptionen, so dürfte der parallele Gang zwischen menschlicher
Fortpflanzungslust und Sonnenschein leicht in die Augen springen.
Monate der Con- Procentverhältoiss :
legitime. illegitime.
ception :
März.
1
7/76
April.
Mai.
8/78
9/23
Juni.
Juli.
8/77
8,29
August.
'/88
25
m
24
/04
27,22 Frühling.
26^)5 Sommer.
Monate der Con-
ProcentTerhättniBs :
ception:
legitime.
illegitime.
September.
October.
',70
'.9. 23,,,
'«„1
7,,,} 23„i Herb.t.
November.
8«.
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December.
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Januar.
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Februar.
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Juui. Juli. Aug.
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Jan. Febr.
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M.. ""x
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Auf- und nieder-geliende Bewegungen der beiden CurTen —
von welchen die pnnktirte die auasereheliohen Conceptionen , die
gezogene die ehelichen bedeutet — eind gleichartig, wenn auch nicht
parallel. Ungebundener lässt der Trieb zur ausserehelichen Menechen-
production im Friihlinge, wo die Natur Knospen und Blüthen treibt,
sich gehen, und extravagirt bis zum Anfange des Herbstes; im Herbste
und Winter wird's kalt und dunkel, der auasereheliche Verkehr
stockt. Schon im Februar wärmt die Sonne, der Schnee schmilzt,
die Lerchen singen , die Schneeglöckchen blühen — die Ziffer der
unehelichen Coneeptionen steigt wieder. Die Curve ehelicher Con-
ceptionen zeigt gemässigtere T hei In ahme am Naturprocesse, folgt
aber gleichem Aufschwunge bis zum Mai, filUt dann nach geschehener
Sättigung — auch hier wie die Schwestercurve, bis zum September
ab — herbstliche und Winterkälte werden in geheizten Zimmern
der Eheleute kein Hinderniss — im Gegentheil, die Nächte werden
lang, Familienfeste treten ein, Erndten sind eingeheimst, Ehen
werden geschlossen — überwunden wird das Naturgesetz, das sich
Notizen. 213
in der punktirten Linie physiokratisch richtiger ausspricht. So
schwächen also auch hier Factoren psychischer Herkunft die physio-
logischen ab. Die Totalsumme der ehelichen Conceptionen be-
trägt im Sommerhalbjahr 50,7 1%, iui Winterhalbjahr 49,29 Vo^ der
Unterschied ist nicht gross — das Verhältniss für uneheliche
Conceptionen ist 53,2? Vo zu 46,73 % — ganz wie bei den übrigen
Naturwesen !
Die Abschnitte pg. 592—847 betreffen Handlungen der Mensch-
heit aus der psychologischen Gruppe, socialethische Lebensbethätigung
in der bürgerlichen Rechtssphäre, in der intellectuell ästhetischen
BUdungssphäre, in der religiös-sittlichen Sphäre, über welche zu be-
richten wir den Gelehrten vom Fache empfehlen.
Ueber den dritten Abschnitt, der vom Tode im Organismujs der
Menschheit und dem durchgreifenden Einflüsse des menschlichen
Willens und der socialen Einrichtungen auf die ^Absterbe-Ordnung**
handelt, haben wir von. unserem Standpunkte aus nichts zu sagen, da
er von deijenigen Sorte Tod spricht, wo „der Einzelne in Folge einer
solidarischen Verkettung mit dem menschlichen Collectiv- Verderben
(der Sünde) dem Geschick des Sterbens unterworfen ist^ (pg. 850) .
Nur eine letzte Bemerkung sei uns gegen das auch hier wieder be-
liebte ceterumcenseo unseres theologischen Statistikers erlaubt.
Er sagt gleich zu Anfang des dritten Abschnittes: „Noch hat keine
Physiologie den Tod als „natürliche Erscheinung" zu erklären ver-
mocht. Er waltet freilich als ein empirisches Naturgesetz, dem alle
Creatur unterworfen ist. Aber ohne Zusammenhang mit der Sünde,
mit der menschlichen Collectiv- Schuld kann das allgemeine Ver-
hängniss des Todes schlechterdings nicht verstanden werden." Im
gewöhnlichen Gespräche mögen wir mit dem Worte „Tod" herum-
spielen, als ob's ein Ding von Gutta-Percha wäre, wenn man aber
den Physiologen zumuthet^ das „Tod" genannte Ding zu erklären, so
prüfe man ernstlich, was man verlangt. Nachdem ein musikalisches
Concert beendet- ist — was kann davon in die „natürliche Er-
scheinung" treten? Wenn eine Linie von bestimmter Länge aufhört,
Linie zu sein — was tritt danach in die „natürliche Erscheinung"?
Das Leben ist eine Summe von gewissen Erscheinungen an einem
als lebend bezeichneten Organismus, ein Concert von sehr vielen
harmonisch gestimmten Molecularbewegungen der organischen Ele-
mente. Das Concert ist beendet, was kann von dem Nichtmehr-
Dasein eines gewesenen „So-Seins" übrig bleiben?: ein mit dem
Worte „Tod" zum Substantivum erhobenes Nichts, eine banale
214 Notizen.
Phrase, wie „Herr N. N. wird abwesend angetroffen"! Den Phy*
Biologen tritt ein Leben, das „abwesend angetroffen wird" nicht in
die „natürliche Erscheinung", aber der grosse Process, welcher
zur Auflösung des zu Lebensäusserungen befähigten Körpers führt,
das „Absterben" ist ihnen nicht unbekannt, sie reden sogar von
Ursachen, von Gesetzen des Hinwelkens, Siechens, Sterbens der
Lebewesen, von einer Euthanasie. Woher kommt den Theologen
der Tod, der einen Leib, einen Stachel hat, der da herrschte von
Adam an bis auf Mose (Brief an die Römer 6, 14)? Von der Ge-
wohnheit aller redenden Menschen, von Kindesbeinen an, mit
Worten, welche Abstractionen bezeichnen, umzugehen als repräsen-
sirten sie läuter Realitäten! Wir haben sprachlich aus allen Bei-
wörtern, welche Eigenschaften oder Thätigkeiten bezeichnen, Sub-
stantive gemacht, z. B. Schwere, Licht, Wärme, Kraft, Seele, Geist
und hundert andere; wir stellen sie als materielle, mit verschiedenen
Würden umkleidete Schachfiguren auf unser Gedankenbrett, wir
lassen sie gegen einander manövriren nach vorausbedachten Zielen
in regelrechten Figuren. Dieses Spielen mit tönenden Repräsentanten
von Phantasiegebilden ist uns dermaassen zur Gewohnheit, zum
mechanischen Lautenschlagen auf einem mit Luft besaiteten Instru-
mente geworden, dass wir allmälig es garnicht mehr merken, wenn
wir mit imaginären Grössen operiren, und reelle zu denken ver-
meinen. So sind in allen Wissenschaften, Philosophie und Theologie
nicht ausgenommen, Wortphantome hineingerathen , welche bei
näherer Prüfung in Nichts zerstieben.
Wer an ihr reales „Dasein" und „Sosein" zweifelt, wird sofort
als geistesschwach von denen proclamirt, vor deren aufgeregter
Phantasie sie in die „natürliche Erscheinung" treten ; der Dintenklex
an der Wand beweise ja ihre Existenz!
Dichtern sei gestattet zu singen:
„Wage nur zu irren und zu träumen,
Hoher Sinn liegt oft in kindischem Spiele I*'
— doch nimmer den Arbeitern auf dem Felde der Wissenschaft
hohen Sinn im Schöpfen aus dem Leeren in's Bodenlose zu finden.
Solch Schöpfen täglich wiederholt, ohne dazwischen geschobene
solide Leistung, bringt nach dem morphologischen Gesetze von an-
haltendem Missbrauch organischer Thätigkeiten für immer die Hirn-
function in eine schiefe Richtung, welche als die somatische Grund-
lage des Irrsinns in allen seinen Formen angesehen werden muss.
Notizen* 216
Die herkömmliche Sehlusssentenz fassen wir kurz in die Worte
zusammen: die Socialethik des Professors der Theologie A. v. Oet-
tingen ist ein Ereigniss auf unserem vorgeschobenen Posten deutscher
Wissenschaft — wir können in allen Ehren stolz sein auf solch' ein
bei uns gereiftes Geistesproduct 1 — cz.
Der Name Livland reichte einst von dem finnischen Meerbusen
bis zur littauischen Grenze. Seit dem Untergange des selbständigen
livländischen Ordens- und Bischofsstaates wurde seine Geltung so-
wohl um einen Strich Landes im Norden als auch im Süden ver-
kürzt. Und dieses verldeinerte Livland unterlag im folgenden
17. Jahrhundert noch einer Theilung in der Richtung von West nach
Ost: in Schwedisch- und Polnisch -Livland. Beide sind nun schon
längst russisch geworden (das eine seit 1710, das andere seit 1772)
— aber das anderthalbhundertjährige Intermezzo ihrer Zugehörig-
keit zu verschiedenen Staaten hat hingereicht, sie gründlichst ein-
ander zu entfremden. Niemand wird leugnen , dass diese Ent-
fremdung weit mehr durch das Schicksal des kleineren östlichen als
durch das des grösseren westlichen Theiles verschuldet worden ist,
denn nur dort hat zu einer gewissen Zeit ein Abbrechen der ge-
schichtlichen Continuität und ein plötzlicher Uebergang in ein anderes
genus stattgefunden. Daher erscheint denn auch das dortige Wesen
der diessseitigen, deutsch-livländischen Auflfassung leicht als ein ab-
gefallenes und entartetes, und als solches ist es denn auch von
J. Eckardt in seinem Aufsatze „Polnisch - Livland" (in Desselben
„Baltischen Provinzen Russlands" S. 319 — 334) behandelt worden.
Auf ganz entgegengesetztem Standpunkt steht der ungenannte Ver-
fasser einer unlängst erschienenen Schrift über denselben Gegenstand,
die der Aufmerksamkeit unserer Leser empfohlen zu werden verdient.
„Polnisch-Livland, Riga 1869, bei N. Kymmel" (95 S.
4°.) — so heisst diese sich mit Bescheidenheit als „Separatabdruck
aus der Livländischen Gouvernements- Zeitung" ankündigende, aber
durch spätere Zusätze erweiterte und durch Beigabe von Karten und
Abbildungen zu einem kleinen Prachtwerk ausgestattete Monographie.
Sie besteht nicht in feuilletonistisch-geistreichen Apergu's, sondern in
dem ernsthaft gemeinten Versuch einer allseitigen Schilderung der
Zustände des betreffenden Landstrichs. Zwar bietet sie weder die
Fülle einer erschöpfenden statistischen Behandlung, noch die einer
quellenmässigen Geschichtsforschung; aber wenigstens lässt sie überall
erkennen, dass der Verfasser bei den geschilderten Dingen selbst zu
216 Notizen.
Hause ist und aus Anschauung redet. Ja, obgleich er sich fast
durchweg von allem tendenziösen Pathos freigehalten hat, so fühlt
man seiner Arbeit doch an, dass sie wesentlich von der Liebe zur
Heiniath und von dem Wmische, über sie richtige Begriffe zn ver-
breiten, eingegeben ist. Ein solches Motiv aber gereicht offenbar
nicht nur dem Büchlein, welches daraus hervoi^egangen ist, sondei
auch dem Ländchen selbst, auf welches es sich bezieht, zur Em-
pfehlung; denn so lange als ein Land, eine Stadt von ihren Ange-
hörigen geliebt wird , muss doch noch etwas Gutes daran , einige l
Lebenskraft darin sein. ^ '
Die einzige Stelle, in welcher die Stimmung ausnahmsweise eine
pathologische geworden ist (S, 72), bezieht sieh auf Eckardt's oben
erwähnten Aufsatz, Das hier ohne nähere Begründung gefällte
Urtheil ist vielmehr nur eine erbitterte Invective, und dabei ist der
Verf. so unvorsichtig gewesen, selbst (S. 54) einen Passus aus Eckardt
anzuführen, der sofort dessen überlegenes Darstellungstalent empfinden
läset. Unsrerseits mögen wir — abgesehen von einigen speciellen
Irrthümern Eckardt's — nur noch soviel zugeben, dass er neben den
uns abstossenden Seiten seines Gegenstandes allerdings auch die uns
anziehenden mehr hätte zur Geltung bringen können. Der letzteren
aber giebt es namentlich zwei: 1) die dem einen und dem anderen
Livland gemeinsame ältere Geschichte, und 2) die Einheit des
lettischen Volkstamms hüben und drüben. Sowol der diesseitige
Historiker als auch der diesseit^e „Lettenfreund" (in Jedem mög-
lichen Sinne dieses Wortes) werden immer auch das sogenannte
polnische Livland in den Kreis ihrer Studien und Sympathien ein-
schliessen wollen. Unsere lettisch-litterärische Gesellschaft ist froh
gewesen letztens ia ihrem „Magazin", eine Sammlung lettischer
Volkslieder im Dialekt Polnisch -Livlands drucken zu können, und
unseren Historikern würde kein kleiner Gefallen geschehen, wenn
Jemand auch für Polnisch-Livland eine „Brieflade'' nach Art unserer
Baron-Tollschen herausgeben wollte. Wie viele und wie alte Guts-
und Familienurkunden auch dort noch aufbewahrt werden, darüber
giebt in vorliegendem Werke das ihm angehängte „Verzeichniss der
r und Kirchen in Polnisch-Livland'' schätzbare
nsurerlaubt^ Riga, den 29. April 1870.
liTläDdiachea Goavernements-Tfp ographie.
Briefkasten.
Herrn B. in R. Die in den „Mittheilungen und Nachrichten für die evan-
gelische Kirche in Russland" (Aprilheft S. 191 des laufenden Jahrganges) in
Rücksicht auf das Januar-Februarheft der B. M. von dem Herrn J. Bacmeister
abgegebene Erklärung hat — wie es sich schon aus der Unterschrift ergiebt —
einen blos persönlichen Charakter, und wird auf das bisherige Verhältniss der
Redaction der B. M. zu der Verlagshandlung „Bacmeister & Brutzer** von
keinem Einfluss sein.
■IIA
v/A in^iiiiici i^muöi^euugsamKeic von üer Vergangenheit abkehren,
die wir doch nun einmal aus unserer ganzen Entwickelung nicht
fortdecretiren können.
Aber das Leben Konradin's, welcher noch nicht siebzehn Jahre
erreicht hatte, als er sein Schicksal erfüllte, was kann das bieten?
Wie kann, so höre ich Sie fragen, dieser Jüngling', der vielleicht
nie selbständig geworden ist, ein würdiger Gegenstand der histori-
schen Betrachtung werden, die es doch vorzugsweise mit dem Han-
deln, mit dem bewussten Schaffen des Mannes zu thun hat? Gewiss,
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 5 u. 6. 15
^
Kotizen.
Ha„.e i.t und .«. Anschauung redel '-^j '^^^ ^l,"^ fühlt
durchweg von .Uen, tcnden.iM.u P.lh» <'''f^^l^^\,,b, zur
„„ .einer Arbeit doch », d... .ic ""»"«' ""'' ff. ™ ver-
Heimath und von dem Wun.che, über "- "»'«b; "fj " „ff^nb«
breiten, etagegeben i.t. Em solche, Motrv aber gereicht _
nicht nur dem Büchlein
ver- ,
.^.„ UHU. wie aiie uuts-
„rfen auch dort noch aufbewahrt werden, darüber
.---. """"''^''^" Werke das ihm augehängte „V erzeichniss der
sCe:y;etr^i^^- -^ ^'^^'^" ^" PoWh-LivWd^' schM.b.re
Andeutungen. -r.
.^j^j. erlaubt^ Kiga,_deD_29^ April_J._870^
,__Jonder Cf ^^j^^ndischen Goävemements-Typographie.
\
Die Politik der Papste und Konradin.
Kin "Vortraar*
gehalten am 17. Februar im Museum zu Bern.
Als ich das Leben Konradin*s zum Ausgangspunkte meines histori-
schen Vortrags wählte, war ich mir der Schwierigkeiten und der
Bedenken einer solchen Wahl sehr wohl bewusst, und namentlich,
dass man in weiten Kreisen von dem Mittelalter überhaupt, als von
einer barbarischen Zeit und einem längst überwundenen Standpunkte
durchaus nichts mehr wissen will, durchaus nichts hören mag. Wie
wenig eine solche Ansicht berechtigt ist, will ich jetzt gerade nicht
weiter ausführen, obwohl es sich sehr leicht nachweisen lässt, wie
ein gutes Stück dieses verachteten, angeblich längst überwundenen
Mittelalters noch immer unter uns fortlebt, ja sogar noch in die Ge-
setzgebung der neuesten Zeit hineinragt. Oder, um ein anderes Ge-
biet zu berühren: sind nicht die Gedanken, welche aus den Ent-
würfen des jetzigen Concils zu uns sprechen, noch so sehr dieselben,
von denen die hierarchischen Bestrebungen des Mittelalters bestimmt
wurden, dass am Ende der ganze Unterschied nur in der Form
liegt, in welcher sie ausgesprochen werden? Wir berauben nur uns
selbst der besten Waffe zur Vertheidigung der berechtigten Er-
scheinungen der Neuzeit gegen antiquirte Ansprüche, wenn wir uns
in vornehmer Selbstgenügsamkeit von der Vergangenheit abkehren,
die wir doch nun einmal aus unserer ganzen Entwickelung nicht
fortdecretiren können.
Aber das Leben Konradin's, welcher noch nicht siebzehn Jahre
erreicht hatte, als er sein Schicksal erfüllte, was kann das bieten?
Wie kann, so höre ich Sie fragen, dieser Jüngling", der vielleicht
. nie selbständig geworden ist, ein würdiger Gegenstand der histori-
schen Betrachtung werden, die es doch vorzugsweise mit dem Han-
deln, mit dem bewussten Schaffen des Mannes zu thun hat? Gewiss,
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 5 u. 6. 15
218 Die Politik der Päpste und Konradin.
von Konradin'B Thaten wird nicht allzuviel zu melden sein und
wollte ich ihn zum Helden meiner Darstellung machen, so mtisEte
ich an derselben Klippe scheitern, an welcher die zahllosen Versuche
der Dichter, dieses Leben dramatisch zu gestalten, mit Fug und
Recht zu nicbte geworden sind, an der allzngrossen Jugendlichkeit
und der dadurch bedingten Passivität des Helden. Konradin aber
gehört, wie mir scheint, der allgemeinen Geschichte an weniger durch
sein ThuD, als dnr«h sein Leiden, insofern in dem Kampfe für und
wider seine Existenz sich der gewaltige Conflict zwischen, Kaiaer-
thura und Papstthnm, zwischen Staat und Kirche gleichsam krystalli-
sirte, — jener Conflict, der das hohenetau fische Geschlecht verschlang
und dadurch über die Zukunfl. Italiens und Deutschlands entschied.
Das ist der Hintergrund, vor welchem das Leben Konradin's sich
abspielt; das sind die welthistorischen Frf^en, welche das verhäng-
nissvolle Ende dieses Lebens beantwortet bat. Es wäre mir leicht,
Ihr Mitteiden wachzurufen mit dem Schicksale des letzten Staufers,
der zur Erlangung seines ihm von den Päpsten vorenlbalteneu väter-
lichen Erbes auszieht und dabei kläglich in jungen Jahren zu Grunde
gebt. Aber mehr als Mitleid beansprucht der Umstand, dass dieser
staufische Jüngling der anerkannten Allgewalt des Papstthums ent-
gegenzutreten und dem maasslosen Uebei^reifen der Hierarchie auf
das rein weltliche Gebiet Schranken zu setzen berufen war. leh
brauche nicht daran zu erinnern, dass dieser Jüngling, dessen ganze
Existenz ein Widerspruch gegen Roms Dictatur war, wenigstens
einem Theile des Scbweizerlandes als sein letzter Herzog nahe stand;
aber um nicht in den Verdacht zu kommen, dass ich Ihnen bloa
längst Bekanntes zu bringen beabsichtige, darf ich wohl im Voraus
erwähnen, dass ich über einiges ungedruckte Material verfl^en
konnte , welches auf einzelne Partieen dieser Zeit neues Licht
werfen wird.
Es wird manchem auffallend erscheinen, wenn ich behaupte, dass
der Keim zu dem Untergange der Hohenstaufen schon in den glän-
zenden Erfolgen Barbarossa's und seines Sohnes Heinrich VI. lag;
doch lässt sich die Wahrheit dieser Behauptung leicht nachweisen
wenn man sich die durch diese Erfolge in Italien geschaffene Situation
vergegenwärtigt. — Sie wissen, dass Friedrich Barbarossa zuletzt
im Kampfe gegen die lombardischen Städte unterlag und dass er
durch den Abfall Heinrich 's des Löwen genöthigt wurde, sich mit
Die Politik der Päpste und Konradin. 219
seinen italienischen Gegnern auseinanderzusetzen und die freiheitliche
Entwickelung der Städte anzuerkennen. Weniger bekannt ist es
aber, dass er für dieses Aufgeben mehr oder weniger alter Ansprüche
von den lombardischen Städten sehr reelle Machtmittel eintauschte,
nämlich Geld und Truppen, und dass er somit dem Kaiserthume
wieder einen festep Boden in Italien gab, nachdem es vorher in
Gefahr gewesen war, sich zu einer rein idealen Gewalt zu ver-
flüchtigen. Aber noch mehr: Mittelitalien Hess er zum grossen Theile
geradezu durch seine Beamten regieren, und da in Betreflf derjenigen
Landschaften, über welche neben dem Reiche auch der Kirche An-
rechte zustanden, eine befriedigende Vereinbarung nicht erzielt wer-
den konnte, so behielt der Kaiser diese Gebiete eben auch in seiner
eigenen .Verwaltung. Wenn die Kirche ihre Ansprüche auch ni6ht
aufgab, so hat sie damals doch nicht gewagt, sie nachdrücklich gel-
tend zu machen, oder gar ihr Rüstzeug an Bann und Interdict zu
gebrauchen. Die kaiserliche Obergewalt in Italien war damals so
gross, dass jeder Gedanke an Widerstand erlahmte, und sie war auf
dem besten Wege, den Nachfolger eines Gregor's VII. und Alexan-
der's ni. in die Stellung eines ersten Bischofs des römischen Reichs
herabzudrücken, in der die universale Geltung des Papstthums sich
schwerlich hätte erhalten lassen. Diese Uebermacht des Kaiserthums
wuchs endlich noch mehr, als Heinrich VI. sich auch in den Besitz
des normannischen Reiches von Unteritalien setzte und nun, zum
ersten male seit den Zeiten der Römer die gesammte Halbinsel
wieder unter einer Herrschaft vereinigte, als ein Glied des gewaltigen
Ländercomplexes, der nun den Staufern gehorchte und von der Süd-
spitze Siciliens bis zur Eider, von der Rhone bis zur Oder reichte.
Von drei Seiten umspannte er das kleine Gebiet, welches dem Papste
verblieben war — ungefähr in derselben Ausdehnung, wie der jetzige
Kirchenstaat — ; von drei Seiten konnte er seine Mannschaften ein-
rücken lassen, sobald das Verhalten des Papstes nicht seinem Wollen
und Wünschen entsprach. Denken Sie sich heute die französische
Besatzung aus Rom fort, so haben Sie wenigstens annähernd die
politische Lage, in der sich am Ende des 12. Jahrhunderts der Papst
dem Kaiser gegenüber befand. Gleiche Ursachen müssen aber auch
gleiche Wirkungen haben. Wie heute also die Curie der Mittelpunkt
aller reactionären Gelüste ist, welche auf die Zertrümmerung des
italienischen Königreichs speculiren, so war sie damals und so fortan
die grundsätzliche Gegnerin der über die ganze Halbinsel sich er-
streckenden kaiserlichen Gewalt. Nur wenn dieses Kaiserthum
15*
220 Die Politik der Päpste und Konradin.
zerbrochen ward durfte sie hoffen, die ihr, wie sie es ansah, mit
Unrecht vorenthaltenen Provinzen zurück zu erlangen; nur wenn
es ihr glückte, die schwere Hand der Staufer abzuschütteln, welche
auf ihr lastete, konnte sie sich wieder frei bewegen, wieder selb-
ständige Entschlüsse fassen und wieder der Weltherrschaft nachgehen.
Der Zufall war ihr günstig. Heinrich VI. starb plötzlich und
der alleinige Umstand, dass er nur einen unmündigen Sohn hinter-
liess, genügte vollkommen, um das gewaltige Reich der Staufer, das
eben noch- so gut begründet, so fest geschlossen geschienen hatte,
mit einem Schlage in allgemeine Anarchie zu stürzen, fast in dem-
selben Augenblicke, in welchem an die Stelle altersschwacher Greise
ein jugendlich kräftiger Mann auf den päpstlichen Thron erhoben
wurde, der in sich Befähigung und Muth genug. Wissen und Können
fühlte, um die umfassendsten Ansprüche des Papstthums, namentlich
den weltlichen Gewalten gegenüber, aufzustellen, durchzuführen:
Innocenz HI. Keinen Augenblick zögerte er, die Gunst der Umstände,
welche der Tod Heinrich's geschaffen hatte, für sich auszunutzen.
In Italien war dieser Tod das Signal zu einer gegen die deutsche
Herrschaft gerichteten Bewegung geworden: Innocenz machte sich
zu ihrem Führer und wusste die nationale Regung vortrefflich für
die Interessen des Papstthums zu verwerthen. Das normannische
Reich liess er zwar dem Sohn des verstorbenen Kaisers, aber unter
seiner eigenen Vormundschaft und als ein Lehen der römischen
Kirche. Ueberall liess er die deutschen Beamten und Herren ver-
treiben; er ersetzte sie durch Cardinäle und Legaten. Hier durch
kluge Ueberredung, dort durch militärische Gewalt brachte er es
dahin, dass er selbst auch in Mittelitalien ganz die Stelle des Kaisers
einnahm und jetzt erst einen wirklichen Kirchenstaat gründete, etwa
in dem Umfange, in welchem derselbe bis vor zehn Jahren be-
standen hat. Ueber die Kräfte Toscanas verfügte er als eine Art
Präsident des dortigen Städtebundes, der schon zur Zeit seines Vor-
gängers ins Leben getreten war. Und aus Oberitalien und der Lom-
bardei wusste er wenigstens die Entscheidung aller wichtigeren
Fragen vor sein Tribunal zu ziehen. Als Mittel zu allen diesen
Zwecken diente ihm die schlaue Vermischung des Geistlichen und Welt-
lichen, in der die römische Curie immer Meister gewesen ist, vielleicht
niemals aber feiner operirte und grössere Erfolge erreichte, als unter
Innocenz III. Er brachte es dahin, dass das von der deutschen
Herrschaft befreite Italien sich um ihn gruppirte. Der Traum der
vierziger Jahre unseres Jahrhunderts: ein nationales Italien in der
Die Politik der Päpste und Eonradin. 221
Form eines Staatenbundes unter dem Vorsitz und Leitung des Papst-
Könij^s, war schon ara Anfange des 13. Jahrhunderts seiner Verwirk-
lichung nahe. Dass er nicht zur Verwirklichung kam, wurde hauptsäch-
lich durch die Abneigung der mittelalterlichen Italiener gegen jede über
die Gemeinde hinausgehende staatliche Ordnung veranlasst, und eine
dauernde Unterordnung zu erzwingen war auch Innocenz nicht stark
genug. Ja, zuletzt sah er sich durch eben den weifischen Kaiser Otto IV.,
den er gegen die Staufer j^efordert hatte, selbst wieder in dem Besitz
des Kirchenstaates und in der Lehnshoheit über Sicilien bedroht, und
das Auskunftsmittel, zu dem er nothgedrungen griff, war für seine
italienische Politik mindestens ebenso bedenklich als die Gefahr,
welche er' dadurch bekämpfte. Denn wenn er nun durch seinen
Einfluss auf die deutschen Bischöfe es durchsetzte, dass man den
allein noc : übrigen Staufer, jenen Sohn Heinrich's, Friedrich IL, den
päpstlichen Lehnskönig von Sicilien , zum deutschen Gegenkönig
gegen Otto IV. und zum künftigen Kaiser erwählte: was war das
anders, als dass der Papst in offener Verleugnung der von ihm in
frühereu Jahren befolgten Grundsätze selbst die Hand bot, dass die
Vereinigung von Deutschland und Neapel unter einem Herrscher,
unter Friedrich IL, nun wieder hergestellt wurde. Während es seit
Jahrhunderten Grundsatz der päpstlichen Politik gewesen war,
darauf zu achten, dass in Deutschland immer ein anderer Herrscher
gebot als im Süden, dass somit der eine nöthigenfalls gegen den
anderen gebraucht werden konnte, war es ein eigen thümliches Ver-
hängniss, dass gerade der staatsmännisch begabteste aller Päpste
diesem Grundsatze untreu werden musste. Oder glaubte er seine
politische Selbständigkeit dadurch genügend gewahrt zu haben, dass
er sich von Friedrich IL die annectirten Landschaften Mittelitaliens
förmlich abtreten Hess? Meinte er im Besitze des sich quer durch
die Halbinsel von Meer zu Meer erstreckenden Kirchenstaates selbst
militärisch mächtig genug zu sein, um die beiden dem einem Herr-
scher gehorchenden Reiche des Nordens und Südens auseinander
halten zu können? In dieser Beziehung hat der sonst so feine
Politiker sich vollständig getäuscht und unter seinen Nachfolgern
zeigte es sich sehr bald, dass jene Landschaften des Kirchenstaates,
deren Treue überdies nie eine sonderlich feste war, keinen Rück-
halt, keine Stütze gegen die gewaltige Uebermacht Friedrich's IL
abgeben konnten. So lange der Kaiser zugleich von Norden und von
Süden her anzurücken vermochte, so lange selbst der Bestand des
Kirchenstaates ganz und gar von dem Belieben des Kaisers abhing,
'
222 Die Politik der Päpste und Konradin.
konnte von . einer politischen Selbständigkeit des Papstthums nicht
die Rede sein. Mochte der Nachfolger Petri sich auch damit brüsten,
dass die Könige von Portugal, Arragonien und England seine Lehns-
mannen seien, zu Hause selbst hatte er weniger Macht als der ge-
ringste deutsche Reichsbischof und er kam aus der argwöhnischen
Angst über die Absichten des Kaisers gar nicht heraus. Die Einsicht
in die eigene Ohnmacht und in die kaiserliche Uebermacht brach
sich am päpstlichen Hofe zugleich mit der Ueberzeugung Bahn, dass
es überhaupt keine Sicherung, keine Abhülfe gebe, als die Zertrüm-
merung dieser zugleich Deutschland und Italien, das Kaiserreich und
das Königreich Sicilien umfassenden Herrschaft, und als Mittel zu
diesem Zwecke kein anderes, als die Vernichtung des staufischen
Geschlechts. Nicht dass die Staufer Kaiser waren, wurde der Anlass
zu dem erbitterten Kampfe der Päpste gegen sie ; aber dass sie zu-
gleich auch Sicilien beherrschten, das konnten die Nachfolger Inno-
cenz HL. nicht ertragen. Das Weh und der Jammer eines halben
Jahrhunderts lae darin beschlossen.
Natürlich haben die Päpste, ich meine zunächst Gregor ES. und
Innocenz IV., nicht ausdrücklich gesagt, dass so rein weltliche Fra-
gen, wie die politischen Verhältnisse Italiens die hauptsächlichste
Veranlassung ihres Auftretens seien, als sie bunt durcheinander ein
ganzes Arsenal von Waffen gegen Friedrich H. ausleerten, Bann-
sprüche und demagogische Wühlereien, Kreuzpredigten und politische
Coalitionen in Anwendung brachten, den Himmel und seine Heer-
schaaren für die gerechte Sache aufboten und die Strafen der Hölle
auf den Gegner herabfluchten. Ueberdies wussten sie und ihre
Agenten mit grosser Geschicklichkeit den Schein kirchlicher Unbot-
mässigkeit auf den Kaiser zu werfen und aus dieser dann die Be-
rechtigung ihres Auftretens herzuleiten. Einmal hatte er eine ge-
lobte Kreuzfahrt einer Krankheit wegen nicht zur rechten Zeit
antreten können, und er wurde gebannt; dann machte er wirklich
den Kreuzzug, und der Bann wurde jetzt wiederholt, weil er als ein
Gebannter gewagt, seinen Fuss auf den Boden des heiligen Landes
zu setzen. Einmal nennt ihn Gregor IX. einen Jünger des Muhammed
und ein anderes mal wirft er ihm vor, dass er Moses, J^esus und
Muhammed drei Betrüger genannt habe. Gründe sind in Rom immer
höchst wohlfeil gewesen. Und wie hätte es auch an Gründen fehlen
können? Denn, wenn auch kein besonders schreiender Fall vorlag,
gab es nicht tausend Fälle des täglichen Lebens, in welchen die An-
sprüche einer anspruchsvollen Kirche in Conflict geriethen mit den
Die Politik der Päpste und Eonradin. 223
Ansprüchen einer ebenso anspruchsvollen Staatsgewalt? Es waren
ja gerade jene Jahrzehnte, in welchen das canonische Recht, dieses
Gebirge von übereinander gethürmten Verdrehungen und Fälschungen^
in der Weise weiter ausgebaut wurde, dass es am .Ende kaum liegend
eine menschliche Handlung gab, der sich nicht eine kirchliche Seite
abgewinnen liess, und war diese Handhabe erst gewonnen, dann
hatte die Kirche auch die ausschliessliche Befugniss, darüber zu rich-
ten und zu entscheiden. Es waren aber auch dieselben Jahrzehnte,
in welchen Friedrich 11. in seiner für das Königreich Sicilien be-
stimmten Gesetzgebung zum ersten male wieder die Autorität des
Staates zur Geltung brachte, als eine Gewalt selbständigen Ursprungs,
nicht als einen Ausfluss, nicht als ein Gnadengeschenk aus der alles
verschlingenden Gewalt der Kirche. Ich kann auf dieses merk-
würdige Auftauchen fast moderner Staatsgrundsätze mitten in einer
Welt von durchaus hierarchischem Gepräge nicht näher eingehen;
aber es ist offenbar, dass durch das Hinzutreten dieses principiellen
Gegensatzes der politische Conflict zwischen dem Kaiser und den
Päpsten bis zur absoluten Unversöhnbarkeit geschärft werden musste.
Ein Mittelweg war nicht mehr möglich: entweder musste das Kaiser-
thum da gebrochen werden, wo es am gefährlichsten war, nämlich
in Italien, oder der Papst musste sich mit der Stellung eines ersten
Bischofs im Kaiserreiche zufrieden geben; entweder das Papstthum
seine durch Jahrhunderte consequent fortgesetzten Bestrebungen zur
Ueberflügelung des Staates in demselben Augenblicke aufgeben, da
der in der Theorie schon längst gewonnene Sieg in der Praxis ver-
werthet werden sollte, oder es musste der moderne Staat schon in
seinen Anfängen erstickt werden. Der Sieg der einen konnte nur
durch Vernichtung der anderen Partei entschieden werden und man
war im 13. Jahrhundert noch naturwüchsig genug, um dies kurzweg
and offen auszusprechen. Eben deshalb ist jener Kampf zwischen
Kaiserthum und Papstthum so interessant, weil man sich damals noch
nicht daran gewöhnt hatte, die Gegensätze zu überkleistern; eben
deshalb ist er aber auch für heutige Verhältnisse noch lehrreich, weil
unverhüllt die Ziele hingestellt werden, auf welche Rom hinsteuert.
Auf der Seite der Curie wird heute immer mit einer gewissen Osten-
tation behauptet, dass gar nichts Neues erstrebt werde; nun, ein Blick
' in die päpstlichen Bullen jener Zeit zeigt, dass auch das Alte nicht
gerade harmlos ist; und wenn man heute nicht leicht so gewaltsame
Mittel in Anwendung bringen wird, als im 13. Jahrhundert, so liegt das,
da ja die Grundsätze selbst dieselben geblieben sind, nicht sowohl am
324 Die Politik iler Päpste und Konradin.
Wollea als vielmehr daran, dass das KöDnen glücklicherweise mehr
beschränkt ist.
Innocenz IV., welcher sich dem Drucke der kaiserlichen Ueber-
ma«ht entzog und nach Lyon flüchtete, hat auf dem dorthin berufenen
Concil nicht bloa den von seinem Vor^^änger verhänf^ten Bann in
der schärfsten Form erneuert, sondern auch die Absetzung des Kaisers
und seiner Söhne ausgesprochen, Kläger und Richter in einer PereoD.
Zur Ausführung dieses Urtheüs Hess er Deutschland und Italien durch
seine Emissäre unterwühlen, den übrigen Ländern unter allen ii^end
erdenklichen Verwänden colossale Geldsummen abpressen, mit diesem
Gelde und unter Zusicherunt; des Ablasses Kreuzfahrer bewaffnen.
Es gab kein kirchliches Vei^ehen, welches nicht dadurch gebüsst
werden konnte, dass man für die Gegenkönige — das Volk nannte
sie sehr bezeichnend „Pfaffenkönige" — gegen Friedrich II. und seinen
Sohn Konrad IV. zum Sehwerte griff. So wurde der Büi^erkrieg syste-
matisch in jede Provinz, in jeden Gau, in je<ie Ortschaft hineinge-
tragen, jede Gewaltthat geheiligt wenn sie im Namen des Papstes
geschah, jede Abwehr zu einem Verbrechen gestempelt, welches neue
Gewaltthaten rechtfertigte; neben dem otfenen Kriege wurde auch der
versteckte Weg der Verschwörung, ja, wie der Kaiser behauptete, selbst
die Anstiftung des Meuchelmordes nicht gescheut. Und damit den Zeit-
genossen kein Zweifel an dem Ernste des Papstes bleibe, wird
Innocenz nicht müde seinen Anhängern immer wieder zu versichern,
dsiss er nicht eher vom Kampfe abstehen werde, als bis Friedrich
und sein Sohn der kaiserlichen Gewalt, der deutschen und der sici-
lischen Krone beraubt seien: von der Erde vertilgt müssten die
Staufer werden, dies Otterngezücht, diese Vipernbrut. An Deutlich-
keit lässt das Programm nichts zu wünschen übrig, und man ist Rom
das Zeugniss schuldig, dass es nicht eher geruht hat, als bis die
Verheissung zur furchtbaren Wahrheit gemacht worden war. Denn,
hat einmal Papst Alexander IV. gesagt, in diesem verworfenen Gc-
schlechte erbt sich in dem Blute die Bosheit der Väter auf die Söhne
fort; von Schlangen kommen keine Tauben her und ein schleehter
ßanm kann nur arge Früchte bringen. So waren mit der über
Friedrich II. ergangenen Verdammung auch alle seine Nachkommen
verdammt, und Konradin war so schon bevor er geboren war durch
Herrschsucht und Hass dem Verderben geweiht. Das göthesche
„Weh dir, dass du ein Enkel bist", kam bei ihm im vollsten
nn dass er der Enkel des verfluchten
upt das Leben erblickt hatte, das war
Die Politik der Päpste und Konradin. 225
es, was die Päpste ihm nie verzeihen konnten, jenes Leben, welches
von seinem ersten Ursprünge an mit dem Unglücke verschwistert war.
Konradin wurde am 25. März 1252 auf dem Wolfstein bei Lands-
hut in Baiern geboren, ein Sohn Konrad's IV. und der bairischen
Princessin Elisabeth. Er hat seinen Vater nie gesehen, der zur Zeit
der Geburt auf italienischem Boden den Kampf seines Hauses gegen
das Papstthum ausfocht. Das Glück war demselben dort günstig,
er durfte hoflfen Innocenz IV. den Frieden aufzuzwingen, er hielt
alles zum entscheidenden Ausmarsche bereit, — da raffte die
Wirkung des ungewohnten und verführerischen Klimas den 26jährigen
König mitten aus seiner Siegeslaufbahn fort (20. Mai 1254). Auf
dem Todbette hat er seinen Sohn, den zweijährigen Konradin, der
jenseits der Alpen unter der Obhut der Mutter und ihrer Brüder,
der bairischen Herzöge, heranwuchs, ausdrücklich der vormund-
schaftlichen Fürsorge der Kirche empfohlen. Er starb nämlich in
dem festen Glauben, dass mit seinem Tode der Hass des Papstes
Innocenz IV. getilgt sein werde, weil dieser Hass nun jede sachliche
Berechtigung verlor. Denn wenn das Papstthum vornehmlich durch
die ihm unerträgliche Vereinigung der deutschen und sicilischen
Kröne in den Kampf auf Leben und Tod hineingetrieben worden
war, so fiel jeder Grund zur Fortführung desselben gegen die Reste
des staufischen Geschlechts nun fort, da eben mit dem Tode Konrad's IV.
jene verhängnissvolle Verbindung in der That sich von selbst löste.
Sicilien, welches ein Erbreich war, ging allerdings von Rechts wegen
auf Konradin über; über Deutschland aber entschied die Wahl der
Fürsten, und bei dem dermaligen Stande der Dinge war erstens eine
einmüthige Wahl nicht sehr wahrscheinlich, und selbst wenn es zu
einer solchen kommen sollte, war es zweitens für den Papst eine
Kleinigkeit, zu verhindern, dass die Wahl auf den Erben Siciliens
fiel, auf Konradin. Die Machtstellung der Kirche aber, und darauf
kam es ja hauptsächlich an, konnte daduich durchaus nichts ver-
lieren, wenn der Papst ehrlich und aufrichtig die Vormundschaft des
staufischen Kindes übernahm und demselben nach Kräften sein Erbe
zu schützen sich bemühte: das Königreich Sicilien, die herzogliche
Würde von Schwaben, die höchst geschmälerten Familiengüter in
Deutschland und den inhaltlosen Titel eines Königs von Jerusalem.
Mit einem Worte: nach dem Tode Konrad's IV. im Jahre 1254 lag
es in der Hand des Papstes, der tief ^zerrütteten Welt den Frieden
wiederzuschenken, und er konnte es ohne den wirklichen oder ge-
glaubten Interessen der Kirche irgend etwas zu vergeben. Das ist
236 Die Politik der Päpste uod Konisdin.
der historisch allein berechtigte Standpunkt, von welchem aus das
weitere Verhalten der Päpste gegen den in gutem Glauben ihrer
Obhut empfohlenen Konradin beurtheJU werden muss.
Da ist nun zunächst bemerkenswerth, dass Innocenz IV. nicht
etwa die Vormundschaft über den Enkel und Sohn seiner verstorbenen
Gegner abgelehnt, sondern im Oegentlieil sie förmlich und feierlich
auf sich genommen hat; er bemerkt ausdrücklich, daes es recht
eigentlich die Aufgabe der Kirche sei, den Unmündigen mit ^hrer
Gunst zu Hülfe zu kommen und die Schutzbedürftigen mit ihrem
Schutze zu vertheidigpn. Was er seinem Mündel gelobt, entspricht
ganz dieser erhabenen AuGTasaung von den Pflichten seiner Stellung.
Er will die Rechte Eonradin's auf Jerusalem und Schwaben unver-
kürzt bewahren-, er erkennt sogar an, dass derselbe auch Anrechte
auf das sicilische Königreich besitze, und wenn er während der Un-
mündigkeit desselben hier sich selbst die Regentschaft beilegt, so ist
auch das durohatis correct, nur dem Lehnreehte gemäss, und überdies
durch den Präcedenzfall aus der Zeit Innocenz III, vorgezeichnet.
Rührend würde diese bedächtige Fürsoi^e des Papstes für den Enkel
und den Sohn der von ihm selbst im Diesseits und Jenseits verfluchten
Staiifer genannt werden müssen, wenn sie nicht von Anfang bis zum
Ende eine Lüge, eine auf die Täuschung der Welt berechnete Maske
gewesen wäre. Der Name Konradin's wurde nur deshalb an die
Spitze gestellt, um unter der Fahne der Legitimität gegen Konradin's
Oheim, den Fürsten Manfred von Tarent, ins Feld zu ziehen, der
vorläuäg noch das sicilische KOni^eich gegen die Päpstlichen be-
hauptete, und dem Papste war es so wenig Ernst mit dem, was er
zu Gunsten Konradin's Öffentlich versprach, dass er zu derselben Zeit
im Geheimen mit verschiedenen Fürsten daraufhin unterbandelte,
dass sie sich von ihm mit der sicilischen Krone, dem Erbe seines
Mündels sollten beschenken lassen. Die Aktenstücke dieses Handels
liegen uns in grösster Yollständ^keit vor; sie bieten mehr als
genügende Belege für das, was zu betonen ich hier nicht umhin
izüngigkeit der päpstlichen Politik, für
Wahl ihrer Mittel. Hatte Konradin
Hinblick auf diesen von Innocenz IV.
Betrug seinem Herzen mit dem bittem
tlche Liebe er uns erwiesen hat; seht,
der Vormundschaft Genüge gethan hat!''
254. Aber als ob die Seele nur den Leib
Cfachfolger Alexander IV. das trügerische
Die Politik der Päpste und Konradin. 227
Spiel fort. Unmittelbar nach seiner Erwählung schreibt er an die
Mutter und Grossmutter des schwäbischen Knaben, sein Mund fliesst
über von Wohlwollen, immer wieder betheuert er seine guten Ab-
sichten: „Von solchen Absichten werden wir in Betreflf desselben
geleitet, dass wir nicht allein alle seine Rechte unverkürzt erhalten,
sondern ihn obendrein durch ganz besondere Gunst auszeichnen und
aus dem Schatze apostolischen Wohlwollens mit passendeii Gnaden
erhöhen wollen." Wenn ich nun behaupte, dass alles nichts anderes
war als eine heuchlerische Redensart, so soll man mich nicht einer
besonderen Voreingenommenheit zeihen. Denn zum Unglücke für
den guten Ruf des Papstes Alexander haben wir noch einen von
ihm wenige Tage später geschriebenen Brief an die Edlen und
Lehnsleute des Herzogthums Schwaben, in welchem er sie anweist,
sich von eben dem Konradin loszusagen, auf den er den Born seiner
Gnaden zu ergiessen verheissen hatte. Das ist nicht mehr der
dämonische Hass, der in früheren Jahren aus den päpstlichen Er-
lassen unverhüllt hervorleuchtet; das ist nicht mehr wilde Leiden-
schaft, die geradenwegs auf ihr Ziel losstürmt; das ist auch nicht
diplomatische Gewandtheit, die in ihren Mitteln nicht immer wählerisch
sein mag; es ist einfach eine bodenlose Gemeinheit der Gesinnung,
und um so widerlicher, als die höchste Autorität der Christenheit
sich in ihr versucht gegen ein wehrloses Opfer, gegen ein Kind!
Zum Glück für Konradin hat man am bairischen Hofe auf die
gleissnerischen Freundschaftsversicherungen der römischen Curie nicht
viel gegeben, wahrscheinlich sie bald durchschaut. In jedem Falle
üessen sich die Herzöge Ludwig und Heinrich von Baiern dadurch
in der liebevoll -thätigen Fürsorge nicht beirren, welche sie ihrem
Neffen unausgesetzt widmeten. Wenn sie zunächst auch nichts thun
konnten, um ihm sein Recht auf Sicilien zu sichern, wo sich jener
Manfred im Jahre 1258 zum Könige ausrufen liess, so haben sie doch
alles daran gesetzt, ihm seine Rechte diesseits der Alpen, die herzog-
liche Würde in Schwaben und die Familiengüter zu bewahren. Nur
unter dieser Bedingung gaben sie an Richard von Cornwal ihre
Wabistimme, als eine Anzahl Fürsten während des sogenannten
Literregnums den Engländer zum deutschen Königthum berief. In
jenen Jaliren der allgemeinen Anarchie, als die Mächtigen nach dem
Gute der Wehrlosen ungestraft ihre räuberischen Hände glaubten
ausstrecken zu dürfen, da wollte der Schutz der bairischen Oheime
für Konradin etwas bedeuten, und kaum hatte er das zehnte Jahr
vollendet, als Herzog Ludwig ihn selbst nach Schwaben führte zur
228 Die Politik der Päpate und Konradio. -
persönlichen liesitznahme des Landes. Damals, im October 1262
hat Koni'Hdin zu St. Gallen den letzten HoHtag eines schwäbischen
HerzoKB gehalten, von dem die Geschichte zu erzählen weiss. Glück-
lich wäre er gewesen, wenn ihn niemals berauschende Stimmen vom
Süden her aus dem Lande i'ortgelockt hätten, wo die Wiege seines
Geschlechtes gestanden!
Es ist dem Mittelalter eigenthfimlich, daas es eich — ganz im
Gegensatze zu der neugierigen Neuzeit — um die Entwickelung der
einzelnen Persönlichkeit gar nicht bekümmert. Nur das, was jemand
!;ethan, wodurch er sieh aus der Masse der Glüchartigen hervorhob,
wurde allenfalls der schriftlichen Aufzeichnung werth erachtet, und
auch dies nur mit wenigen Worten überliefert. So wissen wir auch
nicht, wie Konradin vom Kinde zum Knaben, vom Knaben zum Jüng-
linge herangereift ist; ja wir wissen von seinem Wesen überhaupt
nicht viel me'ir, als dass er, wie eine Chronik sagt, „schön war wie
Absalon und gut Lateinisch sprach'" Aber wir dürfen mit einigem
Rechte annehmen, dass er der Umgebung, in der er als Fürstensohn
aufwuchs, den schwäbischen und bairischen Rittern und Dienstmannen
nicht gar unähnlich gewesen sein wird, kecken Gesellen, die ihr
■ Vertrauen auf Gott und ihr Schwert setzen und im Grunde lieber
mit dem letzteren zu thun haben als mit dem anderen. Trotzig und
herausfordernd schauen sie drein, als ob die Welt nur für sie da sei.
damit sie sich tummeln können. Aber sobald sie datf Kriegskleid
abgelegt haben, treten sie wie Verwandelte uns entgegen. In den
xartesten, sinnigsten Tönen besingen sie das ewig junge Geheimniss
der Liebe und wetteifern, wie sonst in ritterlicher Waftenführung,
so nun im Preise ihrer Schonen, in der Herrschalt Über den Wohl-
laut der Sprache. Gerade in Konradin's Umgebung tinden wir jenen
Schenken von Limpurg, der „mit seinen jugendlichen zarten Liedei'n"
die Ausbildung des Minnegesangs unter den letzten Hohenstaufen
beurkundet. Gleich ihm und andern lasst denn auch Konradin die
erste Liebessehnsucht seines Herzens in Versen ausströmen, die nicht
besser, aber aui-h nicht schlechter sind, als die meisten, welche junge
Leute in ähnlichen freudvoll-leid vollen Situationen zu machen ptlegen,
aber ein mal mit dem höchst charakteristischen Ausrufe enden:
„Mich lässt die Liebe eehr entgelten,
D&s§ ich an. Jahren bin ein Kind."
„Dass ich an Jahren bin ein Kind." In diese« Seufzer presst
sich der ganze Jammer über das Unglück seines Lebens zusammen,
dass ihm, dem Kinde gegenüber jedermann sich jedes glaubte erlauben
Die Politik der Päpste und Konradin. 229
m
syi dürfen. Hier kehrte ihm eine Dame den Rücken, weil sie wahrschein-
lich um ein paar Jahre ihm voraus war; dort griff ein kecker Dynast
nach dem Gute seines Hauses ; hier schneidet ihm des Papstes Macht-
spruch die Fäden seiner Zukunft in Deutschland ab, indem er denftHut-
schen Fürsten nach alter Sitte den Sohn des Königs wieder zum Könige
zu wählen verbietet, und dort benutzt der Oheim Manfred die Jugend
des entfernten Neffen, dessen Tod er aussprengt, um sich selbst die
Krone Siciliens aufs Haupt zu drücken. — „Dass ich an Jahren bin ein
Kind!'' Er murrt über seine Jugend, die ihn immer wieder und wieder
zum trägen Dulden verurtheilt, während doch alles in ihm zum Handeln
drängt. Will er auch unter der Last des Unrechts, welches auf seine
jungen Schultern gehäuft ist, manchmal zusammenbrechen, er kann
nicht vergessen, wozu ihn seine Geburt als Staufer beruft. Selbst
der Königstitel, den er führt, für den Augenblick leer und gleichsam
ein Spott auf seine gegenwärtige unbedeutende Stellung, weist seine
Gedanken auf die Zukunft und auf das südliche Land, wo er ihm
einen Inhalt geben soll. Und will er sich vor seiner eigenen Un-
ruhe in den Kreis jener Ritter und Dienstmannen flüchten, denen er
die Kunst der Dichtung abgelauscht, sie sprechen wie<ler von keiner
Sache lieber als von Italien, wo Stadt und Land, Weg und Steg
ihnen kaum minder gut bekannt ist, als in der eigenen Heimat.
Haben sie doch unter Konradin's Grossvater und Vater, unter Frie-
drich n. und Konrad IV. dort für das Kaiserthum und, wenn es sich
so traf, auch zum eigenen Besten gestritten, manches schöne Beute-
stück heimgebracht und manche schmerzende Narbe sich geholt.
Thut es Noth, so sitzen sie auch wohl noch ein mal auf zum Ritt
über den Brenner, wenn die Wälschen unter sich ohne die Deutschen
nicht mehr fertig zu werden wissen oder an Stelle des Papstes es
zur Abwechselung wieder mit dem Staufer versuchen wollen.
Merkwüi'digerweise waren die Weifen die ersten, welche im
Jahre 1261 Konradin's Herüberkommen verlangten, und der Papst
Alexander hielt es damals für angemessen, diesen Wunsch bei dem
Herzoge Ludwig von Baiern zu befürworten. Der Grund für dieses
auffallende Benehmen ist nicht eben weit zu suchen. Beide, die
Weifen und der Papst, waren durch Manfred aufs Aeusserste be-
drängt und sie hielten es deshalb für vortheilhaft, ihm, dem Usur-
pator, vorläufig den wahren Erben der sicilischen Krone entgegen-
zustellen. Aber auch dieses mal hat der gesunde Sinn des Herzogs
Ludwig sich durch solche Lockungen nicht beirren lassen; er dankte
den Weifen von Toskana für die seinem Neffen bewiesene Zuneigung,
230 Die Politik der Päpste und Konradio.
aber er weigerte sich^ das Schicksal des Knaben in ihre Hände 911
legen. Was die Anerbietungen der Kirche betrifft, so hat Konradin
später mit feiner Ironie und höchst treffend von ihr gesagt: ^Es war
mir von Gott nicht gegeben, dass ich durch sie Gnadea und Ehren
erlangen sollte" — denn während noch Alexander's BeTollmächtigter
am bairischen Hofe verweilte, sah sich Alexander selbst schon
wieder nach anderen Candidaten für die sicilische Krone um, und
als sich solche nicht finden wollten, hat sein Nachfolger Urban IV.
sogar wieder mit Manfred verhandelt, und als auch diese Verhand-
lungen sich zerschlugen, endlich den Grafen der Provence Karl von
Anjou zur Annahme des nach der Auffassung der Curie herrenlosen
Königreichs willig gemacht. Als Manfred im Kampfe gegen Karl von
Anjou im Jahre 1266 gefallen war, stand der Papst Clemens IV.
endlich an dem Ziele, welches seine Voi^änger in allen Schlangen-
winduugen ihrer politischen Künste niemals aus dem Auge verloren
hatten. Die Hohenstaufen waren aus Italien vertilgt, und gestutzt
auf den neuen sicilischen König von Papstes Gnaden und seine fran-
zösischen Ritter konnte Clemens getrost abwarten, ob der letzte
Spross des Otterngezüchts von jenseits der Alpen kommen werde,
um sein Recht auf Sicilien geltend zu machen. Er verlangte, dass
EonradiD die yoUendete Thatsache anerkenne ; er drohte ihm mit
dem Banne wenn er ferner nocli den Titel eines Königs von Sici-
lien führe.
Mit dieser Wendung der Dinge war aber auch der Augenblick
gekommen, in welchem Herzog Ludwig seinem Neffen nicht mehr
die Erlanbniss zum Zuge nach Italien verweigern durfte. Weder die
Rii/.irai»iit o.if Aio K'i.v.i.fl^ nocj, die Rücksicht auf Konradin's Jugend
tnd sein. Denn, was die erstere betrifft, so
tner Aussöhnung mit dem Papste, wie sie
ann aufgetaucht war, jetzt vollkommen ver-
r Papst sich selbst durch die Inthronisation
!ände gebunden hatte. Selbst wenn er ge-
icht mehr zurück. Da ruft denn Konradin
dir, heilige Mutter Kirche, jemals Uebels
Lieh, deinen ergebenen Sohn, den einst deiner
idel, so stiefmütterlich-feindlich durch deine
in habe ich dich, heiliger Vater, jemals ge-
' alle Weise und ungerecht verfolgest? Doch
I das für eine schwere Beleidigung, dass ich
Erde bin, denn einen anderen Grund, Gott
Die Politik der Pöip$te mi Konradin. 331
weiBS es, kenile ich nicht." Von der Bürche war für Eonradin nie
mehr etwas zu hoffen, wenn er sie nicht durch die Niederwerfung
ihres Vorkämpfers zu einer Sinnesänderung zwang: ihrer Feindschaft
war er gewiss, gleichviel ob er nach Italien kam oder nicht. Noch
weniger aber konnte die Rücksicht auf seine Jugend maassgebend
sein, da, wenn überhaupt noch etwas zu seinem Besten geschehen
sollte, das bald geschehen musste^ bevor die Herrschaft Karl's von
Anjou sich in dem eroberten Lande befestigte.
Noch standen im Süden einzelne tapfere Parteiführer für den
staufischen Erben unter Waffen, die ganze Insel Sicilien erhob sich
wie ein Mann für ihn, in der Lombardei und in Toscanä war die
Zahl der Gemeinden und Herren, auf deren Unterstützung er rechnen
durfte, gar nicht gering — kurz es schien nur des pej'sönlichen Er-
scheinens Konradin's zu bedürfen, nur eines sichtbaren Mittelpunkts
für die Opposition gegen die französischen Eroberer, welche, weil
sie m^t der Autorität der Kirche bewehrt waren, die ganze Halb-
insel mit einer durchgreifenderen Herrschaft bedrohten, als je die
der staufischen Kaiser hatte sein können.
Im Herbste des . Jahres 1267 zog Konradin über den Brenner.
Er hatte, als er nach Verona kam, etwa 3000 Ritter bei sich, zu
deren Anwerbung er die Mittel theils aus Italien selbst erhalten,
theils durch Verpfändung seiner Familiengüter gewonnen hatte. In
einem Manifeste, aus welchem vorher schon einzelne Stellen mit-
getheilt sind, hat er die Gründe seines Kommens aus einander ge-
setzt, ebensoviele Anklagen gegen das Papstthum, das auf ihn von
seiner Geburt Unrecht auf Unrecht gehäuft habe^ und ihn nun nöthige,
gegen den Usurpator seines Eigenthums die Entscheidung des Schwer-
tes anzurufen. Ich habe die Waffen ei^riffen, sagt er am Schlüsse,
damit mein herrliches Geschlecht, das seit langer Zeit auf dem Kai-
serthrone gesessen, in mir nicht entarte und nicht durch Unrecht
zu Grunde gehe, sondern damit die Macht meines Hauses, so Gott
will, wieder sich erhebe." Er betheuert, nichts sehnlicher zu wün-
schen, als dass der Papst ihn als seinen devoten Sohn anerkenne,
er hält unbedingt an dem allgemeinen geistlichen Principate des
Papstes fest, aber ebenso unbedingt bestreitet er in allem, was rein
weltliche und staatliche Dinge betrifft, die vom Papste in Anspruch
genommene und wie ein . Glaubenssatz vertheidigte Befugniss , auch
über diese mit absoluter Willkür zu entscheiden. Im Einzelnen wird
er sich schwerlich von den Gründen Rechenschaft gegeben haben,
welche die Unabhängigkeit des Staates von der Kirche beweisen ;
232 Die Politik der Päpste und Konradin.
aber seine ganze Zukunft war mit dieser Frage so enge verwachsen,
dass die eine nicht ohne die andere entschieden werden konnte.
Nach sechszigjähriger Arbeit war es dem Papstthume endlich
gelungen, die seinem weltlichen Bestände gefährliche Union Deutsch-
land's und Sicilien's zu sprengen : Konradin dachte nur an ihre Her-
stellung. Das Papstthum beschränkte die Wahlfreiheit der deutschen
Fürsten, indem es von vorne herein verbot, die Wahl auf den
Staufer zu lenken: Konradin trat unbekümmert um dieses Verbot
als Candidat auch für den deutschen Thron auf. Das Papstthum
nahm das Recht in Anspruch, unbequeme oder missliebige Fürsten
durch seinen Urtheilsspruch ihres Erbrechts berauben zu können:
Konradin hielt an der Unvertilgbarkeit des Erbrechts fest. Das
Papstthum behauptete, über die Güter derer, die es als seine Wider-
sacher erklärte, nach Belieben verfügen zu dürfen und hatte so
Sicilien an Karl von Anjou verschenkt: Konradin erkannte selbst-
verständlich die Befugniss zu einer solchen Schenkung nicht an,
betrachtete sich als den allein legitimen König und vertheilte seiner-
seits sicilische Fürsteuthümer und Grafschaften an die Legitimisten,
welche sich vor Karl's Gewaltthaten zu ihm flüchteten. Er war
noch jung und lebte des Glaubens, dass das Recht zuletzt doch
immer über das Unrecht triumphiren müsse, auch wenn dieses die
Sanetion der Kirche erhalten haben sollte: er zweifelte nicht an
seinem schli esslichen Siege über die feindliche Macht, welche damals
wie jetzt zu ihrer Aufrechterhaltung der französischen Waffen bedurfte.
Man mag nun heute, da wir das Schlussergebniss seiner Unter-
nehmung kennen, klug und weise über die Zuversicht, mit der sie
begonnen wurde, die Achseln zucken, aber man darf doch auch
daran erinnern, dass sehr praktische und sehr nüchterne Leute, wie
Rudolf von Habsburg und der Burggraf von Nürnberg Friedrich von
Zollern diese Zuversicht theilten. Ja sie hielten es sogar nicht für
unmöglich, dass Konradin nach der Zurückeroberung Sicilien's auch
die deutsche Kaiserkrone seinem Geschlechte wieder zuwende und
Hessen sich schon im Voraus für diesen Fall allei'lei Versprechungen
von ihm verbriefen. Rudolf von Habsburg ahnte nicht, dass er eben
diese Krone nach wenigen Jahren sein Eigen nennen würde, und
Friedrich von Zollem konnte keinen Blick in die ferne Zukunft
werfen, in der seine Nachkommen in Deutschland mächtiger dastehen
sollten, als je die Staufer und die Habsburger.
Auf der anderen Seite versäumte der Papst nicht das gesammte
Rüstzeug der Kirche zu Gunsten KarPs von Anjon in Anwendung
Bit Politik der fhpie und Konradin. Sdd
zu bringen. In einem merkwürdigen, bisher nicht gedruckten Auf-
rufe mahnt er zunächst Konradin von seinem gottlosen Unternehmen
ab; er m5ge bedenken, dass die Itirche, welcbe seinem Qrosilvater
das Kaiserthum genonimen habe, auch die Macht bedtze ihn der
Würde eines Königs von Jerusalem äu berauben — beil&ufig bemerkt,
des einzigen Titels, welchen die Kirche bis dahin imerkonnt hatte,
weil er ganz bedeutungslos geworden war — ; dieser Würde und
aller sonstigen Rechte werde sie ihn berauben, wenn er nichi in
sich gehe und den Wünschen des apostolischen Stuhles si<^h füge.
Alle, welche sich dem Prätendenten anschliessen und ihn als König
vonSicilien gelten lassen würden, werden mit Bann und Interdikt,
daneben auch mit dem Verluste ihrer zeltlichen Güter bedroht. Mit
einem Worte, der Papst verfährt ganz jener Definition seinei* Ge-
walt gemäss, welche auf dem jetzigen Concil zum Glaubenssätze
erhoben werden soll (Kanon XTT) : „So Einer sagt: ton unsei^m
Herrn und Heiland sei seiner Kirche nur die Gewalt übei'tragen
worden, durch Rath und Ueberredung zu leiten, nicht aber auch
durch Gesetze zu befehlen und die Verirrten und Halsstarrigen durch
äusseren Urtheilsspruch und heilsame Strafen zu züchtigen und zu
zwingen — der sei verflucht.'' Ein Verirrter und Halsstarriger ist
nun Konradin nach der Auffassung der Curie ganz gewiss gewesen,
da er sich auch durch jene Mahnung nicht bekehren Hess, und so
wurde er denn nicht nur förmlich in den Bann gethan, sondern es
wurde auch gegen ihn zu heilsamem Zwange das Kreuz gepredigt
und den Streitern für die Kirche Sündenvergebung verheissen.
Anfangs wollte Konradin's Unternehmung, so lange er sich in
der Lombardei aufhielt, nicht recht in Fluss kommen; aber je weiter
er nach Süden vordrang, um so besser gestalteten sich seine Aus-
. sichten. Während die Schiffe der Pisaner nach einem Siege über
die französisch -anjovinisehe Flotte dem Aufstande auf der Insel
Sicilien neue Nahrung zuführten, schlug er im Arnothale die Mann-
schaften Karl's von Anjou, welche der Papst auf ihrem Durchmai'sche
durch seine Residenz Viterbo zum heiligen Kriege gesegnet hatte.
Jeder Schritt vorwärts vermehrte sein Heer; in der ewigen Stadt
bereitete ihm der Senator Prinz Heinrich von Castilien einen Empfang
wie einem Kaiser und führte ihm 800 spanische Söldner zu, und als
Konradin im August des Jahres 1268 mit fast 6000 Reitern die
neapolitanische Grenze überschritt und als gleichzeitig fast alle Pro-
vinzen des Königreichs zu seinen Gunsten gegen die französische
Herrschaft aufstanden, da gab man, wie ein ganz klerikaler Chronist
Baltische Monatsschrift, N. Folge, I. Bnd., Heft 5 u. 6. 16
234 Die Politik der Päpste imd Konradin.
versichert, sogar am päpstlichen Hofe zu Viterbo die Sache Karl's
von Anjou und mit ihr die eigene verloren. Wie es scheint, fand
Papst Clemens bei den Kardinälen wenig Glauben, als er den hand-
greiflichen Erfolgen Konradin's zum Trotz Trost spendete mit den
Worten des Propheten: ^Wie ein Rauch wird er verschwinden und
wie ein Lamm wird er zur Schlachtbank geführt".
Und doch sollte er Recht behalten. In der entscheidenden
Schlacht bei Tagliacozzo am 23. August 1268 trug die Disciplin der
französischen Ritter den Sieg über Konradin's buntgemischte Söldner-
schaar davon. Mit dieser einen Schlacht war der Würfel über
Konradin's Zukunft geworfen und zugleich der Bestand der von den
Päpsten geschaffenen staatlichen Ordnung Italiens, ' die Fortdauer
der päpstlichen Allgewalt entschieden. Als Karl gleich am Abende
des Schlachttages dem Papste Bericht über seinen vollkommenen
Sieg abstattete, schloss er diesen Bericht mit den charakteristischen
Worten: „Nun freue sich die heilige Kirche und erhebe sich zum
jubelnden Lobe des Höchsten, der ihr durch die Hand ihrer Vor-
kämpfer einen solchen Triumph gewährt hat. Denn der allmächtige
Gott hat sie aus dem gierigen Rachen ihrer Verfolger gerissen und
den Angriffen auf sie jetzt ein Ziel gesetzt.." Ob Konradin und
der Prinz Heinrich entkommen oder gefallen seien, konnte er im
Augenblicke noch nicht melden; auch am nächsten Tage hatte er
keine Gewissheit; für alle Fälle schickte er an seine Anhänger im
Norden den Befehl, die Strassen und Pässe sorgfältig zu überwachen
und die versprengten Flüchtlinge aufzugreifen. Was er mit ihnen
beabsichtigte, lässt sich aus der beiläufigen Mittheilung entnehmen,
dass die gefangenen Genossen Konradin's, welche aus dem König-
reiche stammten, gleich am Abende der Schlacht zum Tode ver-
urtheilt worden seien.
Was in den nächsten Tagen geschah, zeigte immer deutlicher,
dass mit dem einen Schlage der ganze Krieg beendet war. Die
Anführer der Besiegten wurden nach und nach auf der Flucht fest-
gjenommen, aus ihren Verstecken hervorgeholt. Zunächst fiel Prinz
Heinrich in die Hände der Verfolger : er hatte in einem Kloster eine
Zuflucht gefunden, aber der Befehl des Papstes erzwang seine Aus-
lieferung. Endlich am 12. September konnte Karl seinem Bruder,
dem Könige von Frankreich, anzeigen, dass auch Konradin mit
seinen' letzten Begleitern hinter Schloss und Riegel sei. „Der all-
mächtige Gott hat unsere Trübsal gnädig geendet und alle haupt-
sächlichste Feinde in unseren Händen beschlossen.^
Die Politik der Päpste und Konradin. 235
Der unglückliche Jüngling war nach der Schlacht nach Rom
zurückgeeilt, erkannte aber gar bald, dass mit seinem Glücke auch
die Volksstimmung in's Gegen th eil umgeschlagen sei und dass seines
Bleibens hier nicht sein könne. Da die Wege nach Norden ver-
muthlich schon gesperrt waren, dachte er die Küste zu gewinnen,
um wo möglich auf dem Seewege Pisa zu erreichen, wo er geborgen
gewesen wäre. Es gelang ihm in der That, sich in Astura, einem
Städtchen südöstlich von Rom, heimlich einzuschiffen, seine Rettung
schien unzweifelhaft, da wurde die Barke von dem aufmerksam ge-
wordenen Burgherren des Ortes eingeholt und mit ihren Insassen
wieder nach Astura zurückgeführt. Diesei:, Burgherr gehörte einem
Geschlechte an, welches nicht am Wenigsten durch die Gunst der
Staufer in die Höhe gekommen war; er selbst, Johann Frangigani,
hatte von Konradin's Grossjjiater den Ritterschlag empfangen und es
war immerhin noch möglich, dass die Dankbarkeit die Berechnungen
des Eigennutzes besiegte. Doch das Unglück Konradin's, der stete
Begleiter seiner jungen Jahre, führte zufällig einen hohen Beamten
Karl's von Anjou nach Astura, die Anwesenheit der Gefangenen
konnte ihm nicht verborgen bleiben und durch Drohungen mit der
Rache des Siegers erpresste er ihre Auslieferung.
Die Sage erzählt, dass nun Karl bei dem Papste Clemens ange-
fragt, was mit Konradin und seinen Genossen zu thun sei, und dass
der Papst geantwortet habe: ^Konradin's Leben ist Karl's Tod und
Konradin's Tod ist Karl's Leben." In Wirklichkeit lässt sich nicht
nachweisen, dass über das Schicksal der Gefangenen zwischen dem
Papste und dem Sieger verhandelt worden ist, also auch nicht, dass
der Papst zur Vernichtung der Gefangenen gerathen hat; aher ebenso
wenig lässt sich behaupten, dass er irgend etwas gethan hat, um
Karl von seinem blutigen Entschlüsse abzubringen. Und wie sollte
er auch? War doch von Seiten des Papstthums seit mehr als
zwanzig Jahren eingestandener Maassen nichts Anderes beabsichtigt
worden, als die Vernichtung des staufischen Geschlechts: wie hätte
also Papst Clemens jetzt, da er am Ziele stand, Milde und Schonung
predigen sollen? Von dem Augenblicke an, da er die Gefangen-
nahme Konradin's und seiner Genossen erfuhr, wusste er auch, dass
sie verlorene Leute waren, und konnte deshalb es ablehnen, weiter
mit Kirchenstrafen gegen sie einzuschreiten. In einem noch unge-
druckten Briefe an den König Ottokar von Böhmen schreibt er
diesem: „Der Herr der Vergeltung ist unserem Strafen mit seiner
Strafe zuvorgekommen und hat uns so jeden Grund zu weiterem
16*
286 Die Politik der Päpste and Eouradin.
Verf^rtn genommen." Hat er dies zunächat auch nur in Bezag auf
Eonradin's mitgefangenen Freund, den Titutarherzog Friedrich von
Oeeterreich, gesagt, eo gilt das Gleiche selbstv erstand tich auch in
Bezug auf Konradin. Er durfte allerdinge nicht selbst das Werk der
Rache vollziehen, aber er konnte auf dem seit langer Zeit von der
Curie eingenommenen Standpunkte nur Befriedigung .empfinden, wenn
sein Vasall der staufischen Hydra den letzten Kopf abschlug.
Wie ich nicht beabeichtigt habe, Ihnen eine Biographie
Konradin'a vorzuführen, eonderu hauptsächlich darlegen wollte, dass
dieses Leben von Anfang bis zu Ende durch die traditionelle Feind-
schaft der römischen Curie gegen das staufiscbe Haus bestimmt wor-
den ist, so darf ich auch wohl, ohne mich auf sentimentale Erwä-
gungen einzulassen, über den Schluseact rasch hinweggehen, über
das racbgierige Wüthen Karl's von Aqjpu, dem an tausend Leben
zum Opfer gefallen sein sollen, über die blutigen Scenep, welche
der Mereato Yecbio Neapels am 29. October 1268 gesehen hat, als
Eonradin und zehn seiner nächsten Genossen auf dem Schaffotte endeten.
Nur die eine Frage sei mir noch gestattet, ob das Papstthum nun, als
seine grossen Widersacher auf dem politischen Gebiete mit Stumpf
und Stiel ausgerottet waren, die erwarteten Früchte wirklich geemtet
bat, und diese Frage muss mit einem entschiedenen Nein beantwortet
werden.
Unerträglich war es den Päpsten gewesen, dass die Staufer ihre
Herrschaft über die ganze Halbinsel erstreckten, aber sie haben diese
doch nicht anders zu beseitigen vermocht, als indem sie zuletzt ein
anderes Geschlecht, die Anjou's, an ihre Stelle setzten und mit noch
grösserer Macht ausstatteten. Gestützt auf das eroberte Königreich
Sicilien im Süden und auf seinen erheiratheten provengalischen Besitz
~ " ~~ rl auf Gmnd des ihm vom Papste über-
des Kaiserthums seinen Einfluss auch
aus ; den Papst zwang er, ihm die Ver-
1 überlassen, Rom selbst regierte er als
le Besatzungen. Für die Päpste wurde
iü Macht um so drückender, als sie nun
rankreich hatten. Die Deutschen hatten
drängt, dafür aber sich die Franzosen
auf den Nacken gesetzt. Es ist mehr
Geschichte, als man gewöhnlich glaubt,
itung der Staufer mit der Ueberführung
lantwortet. —
Die Politik der Päpste und Konradin. 237
Das prachtvolle Cisterzienserkloster Santa Maria della Vittoria,
welches Karl von Anjou auf dem Schlachtfelde von Tagliacozzo
erbaute, liegt seit Jahrhunderten in Trümmern; die Kapelle Santa
Croce, welche Konradin's Mutter auf dei^ Stelle auflHihren liess, wo
er endete, ist längst abgetragen; die Porphyrsäule, welche ein ehr-
samer Gerbermeister von Neapel dem Andenken Konradin's auf-
richtete, hat ihren Platz gewechselt und sie ist nicht leicht zu finden.
Aber das Kloster Santa Maria del Carmine, von Konradin's Mutter
für das Seelenheil ihres Sohnes am Mercato vecchio gegründet, steht
noch und die Klosterkirche ziert seit 1847 ein schönes von Thor-
waldsen modellirtes Denkmal, welches der damalige Kronprinz
Maximilian von Baiem an derjenigen Stelle errichten liess, wo man
die Gebeine Konradin's und seines Freundes Friedrich's von Oester-
reich aufgefunden hat. Wer an dem herrlichen Strande von Neapel
nicht nur der Gegenwart leben mag, sollte nicht versäumen, diesen
in seiner Art classischen Ort aufzusuchen, der die Consequenzen des
päpstlichen Absolutismus, wie ich meine, eindringlich genug ver-
kündet.
Winkelmann.
I I I I — ^^HTT-
statistische Studien zur Wohnungsfrage.
m.
Eialui der W«hiiwig aif die Sittllekkeit«)
(Ein Vortrag.)
JPür meinen Vortrag habe ich ein Thema gewählt, welches ich seit
einiger Zeit zum Gegenstand sehr eingehender Studien gemacht habe;
ich halte es nämlich für sehr wünschenswerth, dass die Gebildeten
einer Universitätsstadt einen Einblick in das gewinnen, was die Mit-
glieder der Universität beschäftigt, und in die Methode, durch welche
dieselben zu ihren Resultaten gelangen. Kann man dieses zugleich
an einem Beispiele thun wie Moralstatistik, welche Jedem und
namentlich seit dem Erscheinen der Oettingen'schen Moralstatistik
jedem Dorpater so nahe liegt, um so besser. So hoffe ich denn für
eine trockene statistische Untersuchung bei den Einen durch den
Gegenstand, bei den Änderen durch die Behandlungs weise Interesse
•) Wie wir in unserem ersten Artikel das neu erschienene Werk des Herrn
V. Jong-Stilling über die Wohnungen Riga*s dem grösseren Publicum näher
bringen wollten, indem wir die Resultate aus dem für viele Leser zu weitläufigen
Material herauslösten, so wollen wir im vorliegenden Artikel dasselbe an un-
serem eigenen statistischen Werke thun. Das Werk ist: Einfluss der Woh-
nung auf die Sittlichkeit, eine mora}-statistische Studie über die
arbeitenden Classen der Stadt Paris, 111 S. und 42 Tabellen. Berlin,
Dümmler 1869. Diese Bearbeitung für einen grösseren Leserkreis dürfte um
so nöthiger sein, als das Werk mit seiner gesammten, im methodologischen Inter-
esse nöthigen Ausführlichkeit und mit seinen vielen Tabellen manchen Leser von
dem an und für sich gewiss interessanten moralischen Thema abschrecken mag.
Gerade um uns in Zahlen dieses Mal recht zu massigen, haben wir diesem Artikel
die* Form belassen, welche er für einen im Februar 1870 vor Damen und Herren
gehaltenen Vortrag angenommen hatte. Wer manche für ein tieferes Eindringen
wünschenswerthe Zahl hier vermisst, der findet ja mehr als ihm vielleicht lieb
ist in dem grösseren Werke, welches wir selbst am allerwenigsten durch diese
Bearbeitung unnütz machen mochten.
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 239
zu erregen oder wenigstens die Langeweile fernzuhalten. Auch ver-
spreche ich, Sie nicht viel mit Zahlen zu behelligen. Bei gründlich
verarbeitetem statistischen Material ist das Endresultat mit wenigen
Zahlen auszudrücken, der wissenschaftlichen Statistik ist die Zahl
nicht Zweck, sondern nur Mittel. Wäre mein statistisches Material
völlig genügend, so könnten die Zahlen fast ganz fehlen, aber die
brauchbare Statistik liegt leider noch in den Windeln, auch für
unsere Frage.
Unter den vielfachen Bemühungen unserer Zeit, die Lage der
unteren Volksclassen zu verbessern, steht bei denen, welche nicht
Hirngespinnsten nachjagen und nicht politische Zwecke verfolgen,
mit Recht in einer der ersten Reihen die Agitation für Wohnungs-
reform. Sie ist auch obenan zu stellen, weil hier schon mehr als
in anderen Versuchen die unteren Volksclassen zu heben, der richtige
Gedanke durchgedrungen ist, dass das Hauptübel, an dem die unteren,
nur nicht die alleruntersten, Schichten der Bevölkerung kranken, nicht
der mangelnde Erwerb, sondern der verkehrte Consum ist. Seneca
sagt: ^Wenn du Jemand reich machen willst, musst du
nicht seine Güter vermehren, sondern seine Bedürfnisse
verringern.*' Ich halte weder den von Seneca bekämpften, noch
den von ihm aufgestellten Satz für den unbedingt richtigen, das
Wichtigste ist weder Vermehrung der Reichthümer noch Verringerung
der Bedürfnisse, sondern Steigerung gewisser Bedürfnisse, nämlich
der vom sittlichÄi 'Standpunkte aus wünschenswerthesten, also eine
besondere Form der Erziehung. Unter den zu steigernden Bedürf-
nissen steht das Wohnungsbedürfniss obenan, denn eine gute Woh-
nung ist die Mutter aller häuslichen und öffentlichen Tugenden.
Ganz richtig erstrebt demnach die Humanität unserer Zeit nicht,
den untersten Volksclassen eine Wohnung wie dieselben sie bisher
hatten, nur für einen billigeren Preis zu beschaffen, damit wäre wenig
g€iwonnen, sondern sie bemüht sich, ihnen Lust an Wohnungen zu
schaffen, welche zwar theurer als die bisherigen, aber in weit höherem
Grade besser sind, als sie mehr kosten. Die zu erzielende Ersparniss
liegt darin, dass eine gute Wohnung die Bewohner von einer Menge
Ausgaben ausserhalb des Hauses zurückhält, zu denen bisher die
ünbehagliclikeit der eigenen Wohnung trieb. Darum kann die Woh-
nungsreform auch nicht da ihre Hebel ansetzen, wo es am Wichtigsten
wäre, bei den untersten Volksclassen, sondern muss auf einer etwas
höheren Stufe beginnen. Auf der untersten Stufe fühlen die Men-
schen das Bedürfniss nach einer Wohnung, die über ein Obdach gegen
240 Statistische Stadien zur Wohnungsfrage. .
Kälte und Nässe hinausgeht, nicht, fa«t möchte man sagen, Qott sei '
Dank, denp, wenn sie es ftihlten, fehlten ihnen doch die Mittel das-
selbe zu befriedigen: die Nahrungssorgen and Nahrungaausgaben
überwücherD Altes. Bei den Ständen, welche ihre BedürfhlBse
mancherlei Art schon reichlicher beMedigen können, muss die Be-
mühung, das Wohnangsbedürfniss auf Kosten ' der anderen Bedürf-
nisse zu erweitem, angreifen: die Befriedigung anderer dringender
und wÜDBchenswerther Bedürfhisse wird darunter nicht lange, wenn
überhaupt leiden, denn den schädlichen BedOrßiiseen des Lebens,
deren Befriedigung man in der Kneipe oder in anderen schlimmeren
Häusern sucht, wird dadurch Abbmch gethan. Meiner innersten,
auch wirthechaftlichen Ueberzengung nach tritt aber * diese ethische
Seite der Bemühungen für. die unteren Classen nicht nur in der
WohnUngsreform in den Vordergrund, sondern bei allen Bemühaugen,
welche sich an den Namen des grossen Volkgfrenndes Scholze-
Delitsch knüpfen. Hebung der Sittlichkeit steht mir bei allen
Associationen, mögen sie RohstoffTereine , Consumyereine, Yolks-
banken oder wie immer heissen, in erster Linie. Damit vergÜcfaen
sind die freilich auch nicht zu unterschätzenden wirthschaftlichen
Vortheile gering, und werden immer geringer werden je mehr die
Association durch die Concurrenz die anderen Geschäfte (reibt, den
ärmeren Classen ebenso günstige Kaufs- und Verkaufsbedingnugen
zu. stellen, als die Associationen ihnen gewähren und als sie selbst
den Wohlhabenderen schon stellen. Auch diese -Adociationen aller
Art sind bisher vorzugsweise noch nicht iür die allerunterste Classe,
die sogen. Arbeiterclasse, berechnet, oder wo sie es sind, wie die
Consumvereine werden doch die von ihnen gebotenen Vortheile noch
mehr von den oberen Classen des Arbeiterstandes, sowie von dem
Handwerker- und kleinen Beamtenstande benutzt. Sittliche Hebung
dea Volkes steht mir, wenn es auch der weiteste Weg zum Ziel
scheint, am höchsten, der Weg ist jedenfalls der sicherste. Sittliche
Hebung erreicht man meiner Ueberzeugung nach jedoch nicht durch
blosses Moralpredigen, sondern auch durch äussere Vortheile, und ein
Solcher äusserer Vortheil, durch welchen man einen inneren an-
streben soll, ist die BeachafFung menschenwürdiger Wohnungen. Ist
denn aber, könnte man fragen, der Einfluss der Wohnung auf die
Sittlichkeit wirklich so sicher, als Diejenigen annehmen, welche für
die Wohnungsreform allerwärts so sehr agitiren? Zur Beantwortung
dieser Vorfrage der Wohnungsfrage möchte ich im Folgenden eines
ffl
statistisch^ 6tiuiieii zur Wobnmigdfrage. 341
Kann man nachweisen, daas bestimmte Arten zu wohnen, die
^ Sittlichkeit mehr fördern, als andere Arten, und dass innerhalb einer
j bestimmten Wohnungsart die Sittlichkeit mit der Güte der Wohnung
' steigt Und fällt ?
Man kann den Nachweis führen, einmal rein philosophisch,
individuell psychologisch, indem man nachspürt, welche Effecte einzelne
durch die Wohnungsart gegebene Reize auf die Seele des Menschen
aasüben müssen, und man kann zur Illustrirung Einzelerfahrungen
characteristischer Art anführen, wie diese oder jene Veränderung
in der Wohnungsweise auf einen Einzelnen oder eine Familie ein-
gewirkt hat. So könnte ich Ihnen Beispiele genug vorbringen,
welchen Einfluss die Wohnungsreform z. B. in Mühlhausen im Elsass
auf die Arbeiterbevölkerung ausgeübt hat. Geschichtchen, sehr erbau-
lich, vielleicht sehr rührsam, aber nicht beweisend, da man ihnen
vielleicht eben so viele, ja mehr Histörchen gegenüberstellen könnte,
in denen die guten Erfolge der Wohnungsreform nicht eintreten wollten.
Die zweite Art, den Nachweis zu führen, ist die statistische,
d. h. die systematische Massenbeobachtung. Wir können psychologi-
sche Erscheinungen an einem einzelnen Menschen, ausser an uns
selbst, weder dttrch Beobachtung noch gar durch Experiment erfor-
schen. Der Mensch ist von allen Beobachtungsgegenständen das-
jenige Product der Natur, welches am allerwenigsten typisch ist,
d. h. welches am allerwenigsten in einer genau gleichen Form wieder
vorkommen kann. Gilt das schon vom Aeusseren des Menschen,
wie ja niemals mehrere Leute einander wirklich zum Verwechseln
ähnlich sind, so gilt es natürlich in weit höherem Grade von
seinem Inneren.
Das sittliche Gebahren eines Menschen ist etwas sehr Complicirtes,
^s ist die complexe Wirkung von so ungemein vielen körperlichen
und geistigen Ursachen, dass es fast unmöglich erscheinen muss,
den Einfluss, welcher einer einzelnen Ursache an der compücirten
Undwirkung zuzuschreiben ist, isolirt zu beobachten. Am einzelnen
Menschen können wir das auch nicht beobachten, aber wenn uns
eine sehr grosse Anzahl von Menschen zu Gebote steht, bietet die
Statistik, d. h. die methodische Massenbeobachtung, die Möglich-
keit dazu.
Um das gleich an unserer Frage zu illustriren : Wenn unter
vielen Tausenden von Menschen, welche in guten Wohnungen
leben, sich ein bedeutend grösserer Theil gut aufführt, als
242 Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
unter anderen vielen Tausenden, welche in schlechten Wohnungen
sich aufhalten, so müssen wir schliessen entweder,
1) dfiuss die bessere Wohnung die Ursache der besseren Auf-
führung ist, oder
2) dass die bessere Aufführung der Grund ist, aus welchem die
Leute eine bessere Wohnung wählen, oder endlich
3) dass die beiden Erscheinungen, bessere Wohnung und besseres
Betragen, einen gemeinsamen Grund haben.
Ein Viertes kann nicht stattfinden. Im einzelnen Fall oder in
wenigen Fällen wäre als Viertes an sich denkbar, dass zufällig die
Leute mit guter Wohnung sich gut auflführen, oder die mit guter
Auffuhrung gut wohnen. Dieser Zufall kann aber nur in einzelnen
Fällen walten. In einer genügend grossen Anzahl ton Fällen gleichen
alle zufälligen Erscheinungen sich gegen einander aus, nur nicht
die Erscheinungen, welche in einem Causalzusammenhang mit ein-
ander stehen. Vermögen wir also in einer grossen Menge von
Fällen die Zufälle gegen einander auszugleichen, sie gewissermaassen
zu neutralisiren, so erhalten wir die Erscheinungen, welche wir in
ihrem Causalzusammenhang erforschen wollten, isolirfc, und diese
Isolirung wurde oben zur . Beobachtung verlangt. Eine genügend
grosse Anzahl von Fällen liegt uns für die Frage nach dem Causal-
zusammenhang zwischen Wohnung und Sittlichkeit aus Paris vor.
In Paris wurde anno 1860 von der Handelskammer eine officielle
statistische Untersuchung, eine EnquSte über die gesammte Pariser
Industrie veranstaltet, deren Resultate 1864 in einem stattlichen
Quartanten, der Statistique de l'industrie b> Paris, einem der
besten statistischen Werke, das wir überhaupt besitzen, niedergelegt
wurden. Unter den vielen Angaben, welche die 101,000 Arbeitgeber
in 270 verschiedenen Gewerben über ihre fast 400,000 Arbeiter^ge-
macht haben, interessiren uns hier zunächst nur zwei; Einmal die
Angabe, wie viele ihrer Arbeiter in eigenen Möbeln wohnen, wie viele
in fremden Möbeln (in Chambregarnie) und wie viele in fremden Mö-
beln und fremder Kost, also bei ihnen selbst, bei den Meistern. Für
die Leute dieser Wohnungsarten muss ich kurze Ausdrücke bilden,
mögen sie Ihnen auch sehr barbarisch vorkommen. Der Ausdruck
Chambregarnisten freilich Ist in Berlin wenigstens schon eingebürgert,
aber nicht der Ausdruck Eigenmöbler für die in eigenen Möbeln
Wohnenden und Meisterwohner für die beim Meister Wohnenden.
Ich weiss aber keine besseren kurzen Namen zu bilden und kurzer
Namen bedarf ich. Die zweite Angabe ist die, wie viele der Arbeiter
statistische Stadien zur Wohnungsfrage. 248
sich gut, mittelmässig oder zweifelhaft und schlecht betragen. Welche
Art von Betragen als gut, zweifelhaft oder mittelmässig, und schlecht
gelten soll, dafür ist sehr wenig Anhalt in den Instructionen zur
IndustrieenquSte gegeben. In den von den Arbeitgebern* auszufüllen-
den Bulletins heisst es, „man erforsche, ob die Arbeiter sparsam
oder verschwenderisch, ordentlich oder unordentlich, ruhig oder auf-
sässig, arbeitsam oder faul sind, wie viel Tage der Woche 6ie
arbeiten, und ob sie freiwilliger oder gezwungener Weise feiern*'.
Nach welchem Maasstabe der Arbeitgeber seine Leute in gut, zweifel-
haft und schlecht getheilt hat, darüber fehlt uns alle Kunde. Die
Beurtheilung des Betragens ist eine sehr subjective Sache. An einem
Arbeiter, den ein Fabrikant wegen seines Betragens lobt, findet ein
Anderer sehr viel auszusetzen, ja derselbe Fabrikant würde an einem
anderen Tage sein Urtheil vielleicht wesentlich verschieden abgeben.
Auch ist noch zu bedenken, dass in verschiedenen Gewerben das
Betragen ganz anders zu beurtheilen ist. Ein Betragen, das in einem
gewissen Gewerbe als schlecht gilt, kann in einem anderen, welches eine
gewisse Rohheit naturgemäss erzeugt, noch als leidlich gelten. Ein
s
unregelmässiger Arbeiter ist weniger zu tadeln in Gewerben, bei
welchen periodische oder zufällige Unterbrechungen gegen den Willen
der Arbeiter oft vorkommen, denn der Arbeiter muss dadurch lüder-
lich werden. Das Betragen der weiblichen Arbeiter muss wieder
ganz anders beurtheilt werden als das der männlichen. Und tau-
senderlei andere Momente.
Doch das ist noch der geringere Uebelstand. Ein viel schlim-
merer trifft die ganze Art der Publication. Leider ist nicht für jeden
einzelnen Arbeiter angegeben, wie er wohnt und wie er sich beträgt
sondern immer nur wie viele innerhalb eines Gewerbes beim Meister,
in eigenen Möbeln, in Chambregarnie wohnen, und daneben, wie
viele sich gut, zweifelhaft und schlecht aufführen. Damit wissen wir
also nicht direct, wie viele von denen, welche beim Meister leben,
sich gut, zweifelhaft oder schlecht betragen, wie viele von denen,
welche in eigenen Möbeln wohnen, und wie viele von den Chambre-
garnisten. Ob ein Zusammenhang zwischen der Wohnungsart und
dem Betragen stattfindet, müssen wir auf umständlicherem Wege zu
ermitteln suchen. Wii* müssen forschen, ob um so mehr Arbeiter in
einer bestimmten Anzahl von Gewerben sich schlecht oder gut auf-
führen, je mehr Cbambregarnisten unter den Arbeitern sich befinden,
sodann, je mehr Eigenmöbler und endlich, je mehr Meisterwohner
in diesen Gewerben vorkommen. Zu dem Zweck habe ich alle
244 Slifttistiscbe Studien znr Wohnungsfrage*
270 Gewerbe geordnet nach dem Procentantheil^ den die Chambre-
garnisten an al^mmtlichen Arbeitern eines Gewerbes ausmachen, an-
fangend mit den Gewerben, welche gar keine Chambregarnisten und
endend mit denen, welche sehr viele haben. • Dann wurden ebenso
die 270 Gewerbe geordnet nach dem Antheil der Meisterwohner in
jedem Gewerbe und endlich nach dem Antheil der Eigenmöbler.
Jedesmal wurde erforscht, wie dazu der Antheil jeder Betragensart
sich verhält und zwar getrennt für das mannliche und für das weib-
liche Geschlecht. Folgendes ist das Ergebniss der mühsamen Be-
rechnungen, in denen der üebersichtlichkeit halber zweifelhaftes und
schlechtes Betragen gegenüber dem ausgesprochen guten Benehmen
als sohlecht zusammengefasst ist:
1) Je mehr Procente die • Chambregai'nisten mtonlichen Ge-
schlechtes von allen männlichen Arbeitern ausmachen, um so mehr
betragen sich schlecht. 90 Gewerbe mit 5 % Chambregarnisten hatten
3 Vo schlechter Aufführung. 90 Gewerbe mit 14 Vo Chambregarnisten
9 Vo schlechter Aufführung und 90 Gewerbe mit 28 7o Chambregar-
nisten 12% schlechter Aufführung. Wo die Reihe der Chambregarnisten
steigt: 5,14,28, steigt die Reihe des schlechten Betragens: 3,9,12.
Bei den Frauen ebenso : bei 0 % Chambregarnisten 3 % schlecliten
Betragens, bei 4% Chambregarnisten Q% schlecht, bei 14%
Chambregarnisten 15 % schlecht. Die Chambregamistenreihe 0, 4,
14, die des schlechten Betragens 3, 6, 15. Je mehr Chambregarnisten
in den Gewerben, um so schlechter das Betragen. Chambregarnie-
wohnen wirkt schlecht.
2) Gerade umgekehrt verhält es sich mit den Meisterwohnern.
Je mehr Meisterwohner, um so weniger haben schlechtes Betragen.
Bei 0% männlicher Meisterwohner 14 7o schlechtes Betragen, bei
1 7o Meisterwohner nur 9 % schlechtes Betragen , und • bei 51 %
Meisterwohner nur 5 % schlechtes Betragen. Bei den. Weibern wieder
ebenso, nur dass es im Betragen keinen Unterschied macht, ob gar
keine oder 2% beim Meister wohnen, in beiden Fällen sind 9V2V0
schlechten Betragens ; allein wo 40 7o beim Meister wohnen, betragen
sich nur 6% Aller schlecht. Bei den Frauen wirkt das Wohnen
beim Meister nicht in demselben Grade gut" als bei den Männern.
Endlich 3) bleiben noch die Arbeiter in eigenen Möbeln nach.
Das Wohnen in eigenen Möbeln wirkt gut, denn je mehr Eigen-
möbler in den Gewerben, um so besser das Betragen, aber dieses
Mal ist die Einwirkung auf das weibliche Geschlecht stärker als auf
das männliche. Bei 70 % weiblichen Eigenmöblern betragen 12 %
Statigtische Stadien zur Wohnmigsfrage. 245
sich schlecht, bei 94 % Eigenmöblern 6 Vo schlecht, und bei lauter
Eigenmöblern oder 100 % nur 3 % schlecht. Bei den Männern hin-
gegen bewirkt ein Unterschied von ö6 7o Eigenmöblern gegen 90 7o
nur einen Unterschied von 9 % schlecht gegen 7 Voi j^. die in der Mitte
stehenden Gewerbe mit 80 Vo Eigenmöblern haben 12 % schlechtes
Betragen.
So kommen wir zu folgenden 3 Hauptsätzen:
1) Je mehr Arbeiter oder Arbeiterinnen Chambregamie. wohnen,
um so schlechter ist das Betragen, und zwar für beide Geschlechter
ziemlich gleichmässig.
2) Je mehr Arbeiter oder Arbeiterinnen beim Meister wohnen,
um so besser ist das Betragen bei beiden Geschlechtern; diese Art
zu wohnen, hat also guten Einfluss, jedoch in höherem Maeusse bei
dem männlichen als bei dem weiblichen Geschlecht.
3) Je mehr Arbeiter oder Arbeiterinnen in eignen Möbeln
wohnen, um so besser ist das Betragen, diese Wohnungsart wirkt
also auch gut, aber hier, umgekehrt als im vorigen Falle, auf die
Frauen in einem viel höheren Grade als auf die Männer.
So sehen Sie eine grosse qualitative, aber nicht quantitative
Regelmässigkeit der Einwirkung verschiedener Wohnungsart auf
beide Geschlechter. Sollte nun aber Jemand meinen, dass diese
Regelmässigkeit nur eine scheinbare wäre, also statt eines tieferen
Grundes hier der sogen. Zufall gewaltet hätte, den kann ich durch
Experiment überzeugen, dass ein ursächlicher Zusammenhang existirt.
Ordnen Sie die 270 Gewerbe nämlich nicht nach dem Antheil einer
Wohnungsart, sondern theilen Sie diese 270 Gewerbe rein dui^ch
das Loos in 3 Gruppen von je 90 Gewerben, so dass alle 3 Gruppen
ungefähr gleiche Procente jeder Wohnungsart^enthalten, so enthalten
sie auch gleiche Procente des Betragens. Ich habe eine Reihe von
Versuchen der Art angestellt. Hier nur der Eine : Bei 23 % Cham-
bergarnisten 9,3 % schlechtes Betragen, bei 19 % Chambergarnisten
9,1°/ schlechtes Betragen, bei 21% Chambergarnisten 9,4% schlechtes
Betragen, also bei fast genau gleich vertheilten Chambergarnisten
fast genau gleich vertheilt das schlechte Betragen. Wenn bei einer
solchen Ausloosung in eine Gruppe einmal durch Zufall wenig Cham-
bergarnisten kamen, dann war auch gleich ein Ausfall in der An-
zahl des schlechten Betragens.
Dass Wohnungsart und Betragen mit einander parallel geht,
kann nicht geleugnet werden, fraglich dürfte nur sein, ob eine der
beiden Erscheinungen die Ursache der andern ist, oder ob sie parallel
246 Statistische Studien zur Wohnungsirage.
geben, weil beide ErscbelnUDgen eine gemeinsame Ursache haben,
die wir noch nicht kennen.
Um diese Frage zu beantworten, muss untersucht werden, ob
in einer bestimmten Wohnungsart ein Qrund für eine bestimmte
Güte des Betragens zu finden ist, und ob OrUnde dafür sich finden
lassen, dass die Art zu wohnen auf die verschiedenen Geschlechter
verschieden wirkt. Nehmen wir in dieser Untersuchung zuerst die-
jenigen, welche beim Meister, also besonders unselbstständig wohnen,
dann diejenigen, welche nur 4 Wände von dem Vermiether
miethen, und endlich diejenigen, welche in Immobilien und Uo-
bitien unselbständig sind, die Chambergamisten. Eine solche Unter-
suchung würde viel leichter sein wenn wir wüssten, wie viele Ar-
beiter jeder Wohnungsart sich gut oder schlecht betragen. Direct •
sagt uns dieses die IndustrieenquSte nicht, diese sagt uns nur, dass
von allen Männern 9'A% sich schlecht betragen, von den Frauen
aber 8Vio % d. h. in beiden Geschlechtem fast gleich viel. Durch
eine sehr complicirte Rechnung, mit der ich Sie hier nicht lang-
weilen will, konnte aber ermittelt werden, wie viel in jeder Woh-
nungsart sich schlecht betragen.
Je mehr mit verschiedenem Procentantheit einer Wohnungsart
das Betragen steigt oder fällt, um so grösser ist der Einfluss dieser
Art zu wohnen, um so mehr weicht das Betragen also von dem
Mittel der 9Vo ah. So fanden wir, dass die Gewerbe mit viel
männlichen Meisterwohnern sehr viel schlechteres Betragen aufwiesen,
als bei den Frauen , und mit wenigen Meisterwohnern sehr viel
besseres als bei den Frauen; der Einfluss dieser Wohnung ist dem-
nach bei den Männern grösser als bei den Frauen. Unsere Rech-
nung ergiebt nur 47o der männlichen, aber fast 8% der weiblichen
Meisterwohner für schlechtes Betragen. Gerade umgekehrt ist es
beim Wohnen in eigenen Möbeln. Hier finden wir die Männer mit
fQoi ..■<.»».. ;i<.™ Tt.....t.<.»i.r.:tt entsprechendem Betragen 9,j "/oi hin-
; Betragen viel besser als der Durch-
Endlich unter den Chambergamisten
"rauen sehr schlecht, aber die Frauen
ner. Von den Männern betragen sich
uen 23 Vo-
lmer 4Vo schlecht, weibliche 8Vo,
irnisten 13% schlecht, weibl, 23%,^
er 9a 7o schlecht, weibliche 7,(%,
statistische Stadien zur Wohnungsfrage. 247
Warum nun betragen die Meisterwohner, mit denen wir
anfangen wollten, sich im Ganzen so gut, und warum die
männlichen Arbeiter mehr als die weiblichen, während in allen
Wohnungsarten zusammen beide Geschlechter fast gleich im Be-
tragen sind?
Der Grund für das über durchschnittlich gute Betragen beider
Geschlechter muss namentlich in der Beaufsichtigung durch den
Arbeitgeber, den „Herrn Meister^ und die „Frau Meisterin"
liegen. Das spricht denn allerdings sehr für den früheren hand-
werksmässig patriarchalischen Gewerbebetrieb-, bei welchem das
Wohnen der Gesellen und Lehrlinge in der Familie des Meisters die
Regel war, und gegen das Fabriksystem unserer Zeit mit selbst-
ständigen dem Fabrikanten fem stehenden Arbeitern. Dennoch darf
uns diese Beobachtung nicht dazu bestimmen, alle Vortheile der
heutigen Grossindustrie zu Gunsten dieses einen moralischen Vor-
theils der Kleinindustrie über Bord zu werfem Ja, wenn der mo-
ralische Nachtheil auf anderem Wege nicht wieder einzubringen
wäre, dann müsste man alle materiellen Vortheile, seien sie noch so
gross, diesem einen moralischen Vortheile opfern, denn besser dass
der Leib als die Seele Schaden leide. Allein dem ist, Gott sei Dank,
nicht so. Wir können die Erziehung statt durch den Meister auf
andere Weise erreichen, man macht leider nur noch nicht den gehöri-
gen Gebrauch davon. Das Wichtigste ist ein besserer allgemeiner
Schulunterricht. Wenn nun auch Anzeichen genug vorliegen, wie
Alexander von Oettingen in seiner Moralstatistik gezeigt hat, dass
nicht nach allen Richtungen hin die Moralität da höher ist, wo die
Bildung höher steht, so habe ich doch bei Gelegenheit einer anderen
Arbeit für die 250,000 männlichen pariser Arbeiter gefunden, dass
ihr Betragen um so besser war, je grösser die Zahl derer, welche
lesen und schreiben können. In den 130 Gewerben, in denen
14 — 15 Vo nicht lesen nnd nicht schreiben konnten, betragen 11 — 12 %
sich schlecht, in den anderen 130 Gewerben aber, in denen nur
2 — 3% des Lesens Unkundige waren, betragen nur 7 — 8% sich
schlecht. Ausser und nach dem Unterricht der Volksschule biete
man dem Arbeiter billige Bildungslhittel und billige anstäiyiige Ver-
gnügungen in den Fortbildungs- und Handwerkerschulen einerseits,
und in den Gewerbe-, Handwerker- und Arbeitervereinen anderer-
seits, namentlich nehme man ihnen aber nicht des Sonntags, wie in
England, alle anständigen Vergnügen, was die unteren Volksclassen
imfehlbar dem Branntwein in die Arme treibt.
248 Statifttisehe Studien ixkt Wohnungsfrage.
Mögen diese Andeutungen hier, wo ich ja mit den Öründen
der Immoralität, nicht den Besserungsversuchen nachzugehen habe,
genügen.
Warum aber, werden namentlich die Damen lange Lust gehabt
haben, mich zu fragen, entzieht das weibliche Geschlecht sich diesem
wohlth'ätigen Einfluss der Zucht durch den Arbeitgeber? Warum?
weil es zu einem grossen Theile nicht mehr ziehbar ist, weil es zu
alt ist. Auch das zeigt unsere IndustrieenquSte.
Paris kennt die Meisterwohner fast nur in den Gewerben, welche
dem gesunden und dem kranken Magen dienen, in den Nahrungs-
gewerben und dem Apothekergewerbe. Von allen 26,628 männlichen
Meisterwohnern fallen auf die Nahrungsgewerbe allein 18,682, von
allen 9785 Frauen allein 7610, d. h beide Male ungefähr 70—80 %.
Von den männlichen Meisterwohnern sind nun 1372 Knaben unter
16 Jahren, von den weiblichen Meisterwohnern nur 35 Mädchen
unter 16 Jahren. Sehr natürlich: im eigenen Hause lässt man be-
sonders nur die „Lehrlinge" wohnen, der Begriff „Lehrling*
stammt aber aus einer Zeit, in welcher das weibliche Geschlecht in
den Gewerben fast noch gar keine Verwendung fand. Die jnngen
Mädchen werden leider besonders in die Fabriken gebracht, wo nur
von Abnutzung, niemals von Erziehung die Rede ist. Die weiblichen
Arbeiter, welche im Hause der Arbeitgeber wohnen, sind fast alle
erwachsen, die männlichen nur zum grösseren Theil; die Meister-
wohner schlechten Betragens werden wohl fast ganz unter den älteren
zu finden sein, unter den Kindern mögen besonders die guten stecken,
Kinder sind beim Meister aber, wie gesagt, fast nur solche männlichen
Geschlechtes. Die Einwirkung auf das jungendliche Alter i»t der
Hauptgrund für den guten Einfluss des Wohnens beim Meister, daruni
tritt er bei den durchschnittlich jüngeren männlichen Meisterwohnern
mehr hervor als bei den älteren weiblichen. Neben dieser Haupt-
ursache existiren sicher noch andere, minder wichtige. Wir haben
uns hier nur an die Hauptmomente zu halten. Einen Puiikt, die
Güte der Wohnung haben wir noch hervorzuheben, doch dieses erst
später, für alle 3 Wohnungsarten zusammen.
Die zweite Art zu wohnen/ welche wir betrachten wollen, ist
die in eigenen Möbeln. Unser Resultat war gewesen: Je mehr
Eigenmöbler, um so besser das Betragen, aber bei den Männern viel
unbedeutender als bei den Frauen, also in dieser Beziehung umge-
kehrt wie bei den Meisterwohnern. Damit stimmt die Rechnung,
dass die männlichen Eigenmöbler fast genau dem Durchschnitt aller
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 249
Männer entsprechen mit 9,2 %, die weiblichen dagegen günstiger
stehen als der Durchschnitt, nämlich 7,6% schlechten Betragens statt
8,9 %. Die Classe der Eigenmöbler ist weitaus die stärkste, 176,484
Männer oder 69 7o Aller, und gar 95,650 Weiber = 84 7o Aller.
Was bedeutet aber für uns das „in eigenen Möbeln wohnen''?
^s ist der scheinbar sehr einfache Ausdruck für sehr complexe Ver-
hältnisse. In eigenen Möbeln wohnen heisst selbstverständlich immer
Eigenthum und zwar eben an Mobiliar, an den Möbeln im weitesten
Sinn, haben. Darum brauchen die Eigenmöbler aber noch nicht zu
den Wohlhabenderen zu gehören, denn die in fremden Möbeln so-
wohl als die in fremden Möbeln und in fremder Kost können leicht
Vermögen in anderer Gestalt haben. Jedenfalls gehören die Eigen-
möbler aber nicht zu den Aermsten. Unstreitig gewährt nun das
Eigenthum einen auch moralischen Rückhalt, welcher dem ganz ab-
gehen kann, der nichts zu verlieren hat. Ich erinnere nur an
die Erfahrung, dass unter denjenigen, welche in der letzten französi-
schen Revolution auf den Barricaden fielen, kein einziger Sparcassen-
buchinhaber sich befand. Unter denen, welche vor einigen Wochen
um Rocheforts willen in Paris Barricaden bauten und im Stich
Hessen, mögen auch nicht zu viel Sparcassenbuchinhaber gewesen sein.
Auf der anderen Seite heisst „in eigenen Möbeln wohnen** in
der überwiegenden Anzahl von Fällen verheirathet sein und Familie
haben. Einmal pflegt man sich durchschnittlich mit Mobiliar nicht
zu beschweren so lange man noch jung ist, noch nicht heirathen
kann. Nur der alte Junggesell und die alte Jungfer pflegen in
eigenen Möbeln zu wohnen. Speciell für unsere Pariser Arbeiter können
wir das nachweisen aus mancherlei Indicien. Die Chambregarnisten,
worüber wir positive Daten haben, sind in Paris fast alle unver-
heirathet; unter den beim Meister Wohnenden sind unbestritten die
vielen Lehrlinge unter 16 Jahren auch ledig, und dass die Arbeiter
oder Arbeiterinnen über 16 Jahre verheirathet sein sollten, dürfte
keiner glauben. Welcher Handwerker oder Fabrikant mag ganze
Familien mit vielen Kindern nicht nur in sein Haus, sondern
auch an seinen Tisch nehmen? Das müssten sehr absonderliche
Kinderliebhaber sein. Wenn unter den Chambregarnisten und den
Meisterwohnern die Verheiratheten sich nicht befinden können, dann
müssen sie unter den Eigenmöblern anzutreffen sein. Auch aus den
Lohnverhältnissen von Paris und dem Antheil, den Mann, Frau und
Kinder an dem gemeinsamen Erwerb zu haben pflegen, kann der
Nachweis geführt werden, dass circa 77 % der Männer in eigenen
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 5 u. 6. 17
2St> StaÜBtüche Studien znr Wohnungsfrage.
Möbeln rerheiratbet sind, und ebenso, das» unter den weiblichen
EigenmÖblern mehr UnTerheirathete sich befinden als unter den
uiknnlicheD. *}
Ergiebt sich sonach, daw unter den männlichen Kigenmöblem
aehx viele Verheirathete, unter den weibücheu aber sehr wenige
sich befinden, so kann die Ehe auf daa Betragen nicht sehr grossen
Einilugs <ibea. Dafür, dass die Ehe aber überhaupt guten Elntluss
hat, werden wir später ganz positive Daten aus der Cbambergamie>
Statistik beibringen. Wie kaoin es da nun aber kommen, d^sa
das Leben mit ebenem Mobiliar auf das weibliche Geschlecht
einen so viel bedeutsameren Eindruck macht, als auf das männliche?
Dreierlei Erklärungsweiseu wären denkbar. £s könnte die Güte
der Wohnung auf den weiblichen Organismus mehr einwirken, als
auf den männlichen. Das wäre denkbar, wird aber, wie später be-
wiesen werden soll, durch die Thateachen widerlegt, Oder der
Besitz giebt den Frauen einen grösseren Halt als den Männem'
Liesse sich dieses, was freilich manches Frauengemüth als eine zu
materielle Antfassung empören würde, beweisen, und dafür spricht
uns gar Manches, was hier zu behandeln undelicat wäre, dann wäre
Aas sehr gute Betr^en der weiblichen Eigenmöbler erklärt. Oder
endlich drittens: unter dem Einfluss der Ehe und des Familienlebens
könnten die verheiratheten Eigenmöblerinnen sich so brillant auf-
führen, dass sie der ganzen Gruppe der weiblichen ledigen und
— i.-!„-ii._i__ T7: -"jler das Gepräge eines guten Durch-
cen. Ich möchte mich besondere für die
in; die wahre Lebensfreude und Charakter-
)e erst durch die Ehe, während der Mann
illung seines privaten Berufes oder in der
len politischen Pflichten Festigkeit gewinnen
der Ehe und der mütterlichen Pßichten so
nit die von den Männem fast immer be-
Frauen so oft bestrittene Theorie der durch
i Existenz des weiblichen Geschlechts für
iclassen wenigstens eine Bestätigung finden,
eswegs bewiesen, ja nicht einmal behauptet,
Ichen Eigenmäblem aber viel Ledige Bein müssen,
len. Ton den vielen Weibern des Arbeiterstandes
aller ChambregamiBtiniien ■= 657S und etwa die
mer zuBammen nur 16,35B hinweg. Die übrigen
genmöblem zu sachen sein.
statistische Stadien zur Wohnungsfrage. 2&1
dass auch in den oberen Schichten der Bevölkernng die Frau erst
in der Ehe ihre Weltaufgabe vollständig erfüllte. Ich meinerseits
glaube freilich, dass es auch für die höheren Stände gilt, da das
Weib nicht in gleicher Weise wie der Mann in der Oeffentlichkeit
und im Beruf Befriedigung und theilweisen Ersatz ftir das mangelnde
Familienleben finden kann, wenigstens nicht nach der bisher in der
Welt noch geltenden socialen Stellung der Frau. Wie wenige
Menschen, welche von Statistik viel reden, ahnen wohl, dass diese
trockene Wissenschaft so hohe Fragen anregen und dermaleinst,
wie ich nicht zweifle, beantworten kann, zum mindesten besser be-
antworten kann, als das Räsonnement mit allgemeinen Gründen.
Doch eilen wir von diesen Problemen wieder zu unseren Woh-
mingsarten, und zwar zur dritten, dem Wohnen in Chambregarnie.
Unser Resultat lautete : je mehr Chambregarnisten in den Gewerben^
um so mehr schlechtes Betragen, und zwar bei den Frauen so viel
stärker als bei den Männern, daas unter je 100 weiblichen Chambre-
garnisten 23 sich schlecht aufführen, unter je 100 Männern nur Id.
Was heisst nun in Chambregarnie wohnen? Unzweifelhaft: eigene
Mdbel in geringerem Maasse besitzen als die Eigenmöbler, womit
zwar wieder keineswegs ausgesprochen sein soll, dass die Chambre^
gamisten arm sein müssen^ wohl aber dass sie es in den meisten
Fällen sein werden, da die Habe der unteren Yolksclassen haupt-
sächlich in ihrem Hausgeräth weitesten Sinnes besteht. Hierin
haben sie ihren Sparpfennig, der zugleich Genussgut ist, und nicht
in Geld oder Werthpapieren. Besonders das weibliche Ge-
schlecht unter den Chambregarnisten wird arm sein, da wir gleich
hören sollen, dass die meisten unverheirathet sind, und in Paris die
Frau durchschnittlich nur 2^02 Frcs. verdient gegen 4^] Frcs. des
m'ännlidien Arbiters.
Ueber Verheirathet- oder Unverheirathetsein haben wir
nun für die Chambregarnisten, zum mindesten für einen grossen
Theil derselben, statistische Erhebungen,, wenn auch aus etwas
früherer Zeit, nämlich aus dem Jahre 1849. In diesem Jahre, einem
NoUijahre für die arbeitenden Classen des damals revolutionären Ps^is,
wurde eine Chambregarnieenqu^te gemacht, deren wesentlichste Er-
hebungen hier mitberücksichtigt werden sollen. Die Erhebungen
erstrecken sich auf 2360 Chambregarnies mit 31,567 männlichen
und 6,262 weiblichen Einwohnern, und zwar waren die untersuchten
liOgis vorwiegend solche, welche immer als Chambregarnies im Grossen
vermietbet werden, und blieben all die Einzellogies unberücksichtigt,
17'
252 Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
welche man als Ueberfluss einer zu grossen eigenen oder gemietheten
Wohnung, und zwar meistens, da dieselben keine eigene Küche ent-
halten, an Unverheirathete, und da diese wieder meistens keine
eigenen Möbel haben, möblirt vermiethet.
Von den genannten 21,567 männlichen und 6,262 weiblichen
Chambregamisten ist nun gleichfalls das Betragen ermittelt, als gut,
passabel, schlecht und sehr schlecht. Diese Chambregarnieenqudte
spricht sich auch etwas deutlicher darüber aus, was unter diesen
4 Qualitäten des Betragens zu verstehen ist. Die erste Kategorie
„gut" enthält die Arbeiter, die in ihrer Aufführung regelmässig
sind, arbeitsam, sparsam, nüchtern und sich selten von ihrer Arbeit
abziehen lassen. In der zweiten Kategorie „passabel" hat man
zusammengefasst die Individuen, deren Betragen, ohne besonders
regelmässig zu sein, doch nicht eingewurzelte lasterhafte Gewohn-
heiten und sehr häufige Unordnungen zeigt, Arbeiter, welche zu-
weilen feiern, um sich ein Vergnügen zu machen, die Frauen, welche
ohne in ihren Sitten tadellos zu sein, doch nicht Anstoss erregen,
und zu arbeiten pflegen. Die dritte Kategorie „schlecht" umfasst
die Individuen, welche sich häufig der Faulheit, Trunkenheit und
Ausschweifung überlassen, die Frauen, welche offen von Lüderlich-
keit. Schuldenmachen und Betrügereien leben. Die vierte Kategorie
endlich umfasst den gesunkensten, verworfensten und gefährlichsten
Theil der Chambregamisten, Leute, welche von schändlichen oder
unbekannten Mitteln leben, welche offenbar fast niemals arbeiten
und die meiste Zeit verbringen mit Trinken, Zanken, Raufen, mit
einem Worte Menschen, deren Leben nichts als eine Reihe von
Schlechtigkeiten uüd Excessen aller Art ist.
Von diesen 4 Kategorien mögen „schlecht und sehr schlecht"
mit unseren früheren Kategorien „zweifelhaft und schlecht"
ungefähr zusammenfallen. Dass die jener ChambregarnieenquÖte
unterworfenen Chambregamisten nach der schlimmeren Seite dieser
Gattung von Menschen neigen, geht schon daraus hervor, dass von
den Männern wie von den Frauen genau noch einmal so viel als
unter allen Arbeitern im Jahre 1860 sich schlecht aufführten, nämlich
Männer 26 7o statt 13 %, Frauen 47 % statt 23 7o. Uebrigens war
auch der Beurtheilungsmaasstab ein anderer, nämlich nicht der des
Arbeitgebers, sondern der des Vermiethers.
Diese Chambregarnieenqu^te ergiebt sehr deutlich, dass die
Chambregamisten fast alle ledig sind, nämlich von den Frauen 92%^
von den Männern gar 96 7ü» Diese Enqußte giebt auch directen
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 263
Äufschluss, dass die Ehe als solche das Betragen gut gestaltet, denn
je mehr der Chambregarnisten verheirathet sind, um so besser ist
die Aufführung. Die Beobachtung der sich begleitenden Veränderungen,
vermittelst welcher wir den ursächlichen Zusammenhang mehrerer
Erscheinungen nachweisen, ist hier nicht möglich wie oben für die
verschiedenen Gewerbe, sondern für die 12 Arrondissements oder
die 48 Quartiere, in welche Paris 1847 getheilt war. Je grösser
in der einen Gruppe von Stadt-Quartieren die Zahl der verheiratheten
Chambregarnisten ist, um so besser stellt sich das Betragen. Wo
fast alle Männer ledig sind, nämlich 98 %, da betragen sich 53 %
schlecht, wo aber 91 % Ehelose sich befinden, betragen sich 48 %
schlecht. Ebenso bei 96 7o ledigen Frauen 80 7o schlecht, bei 86%
Ehelosen nur 76% schlecht (wenn man hier von „nur** reden
darf!). Auffallend dürfte Ihnen hier sein, dass der Unterschied in
dem Betragen nicht noch grösser ist, allein ich gebe Ihnen zu be-
denken, ob etwa die Ehe erziehend wirken kann, wenn die nothr
wendige Ergänzung zum behaglichen Haushalt, das eigene Mobiliar
und der eigene Kochheerd, fehlt. Ehe und Eigen thum sowohl als
Ehe und eigener Heerd müssen nothwendig zusammengehen. Dass
junge Ehepaare auch der wohlhabenderen Classen die ersten Jahre
ihrer Ehe im Hdtelgarni verleben, wie in Amerika vielfach vor-
kommt, kommt uns eben zu amerikanisch vor.
Von den vielen neuen Seiten der Betrachtung, welche die ge-
nannte Chambregarnieenquete für Beurtheilung des Betragens eröffnet,
wollen wir vorzugsweise diejenigen ins Auge fassen, welche mit der
Wohnungsart einen gewissen Zusammenhang haben.
Einmal können wir untersuchen, ob es auf das Betragen ein-
wirkt, dass in einzelnen Stadttheilen die Chambregarnisten einen
grösseren Bruchtheil der Bevölkerung ausmachen als in anderen.
Bei den Männern macht dieser Umstand so gut wie gar nichts aus,
denn bei sehr bedeutenden Unterschieden in dem Antheil an der
Gesammtbevölkerung ist das Betragen fast ganz gleich. Bei den
Frauen ist das Betragen um so besser, je mehr Procente die weib-
lichen Chambregarnisten von der Gesammtbevölkerung ausmachen,
oder auf je weniger Einwohner eine Chambregarnistin kommt, Sollte
das zufällig sein? Ich glaube nicht. Bei diesen ist es nämlich wohl
denkbar, dass das Betragen um so schlechter ist, auf je weniger
ledige Chämbregarnistinnen die etwaige Verfährung jedes Stadt-
theiles sich vertheilt, oder je mehr Leute, welche Verführer sein
können, auf eine Chambregarnistin kommen. Hiermit stimmt auch
t$i StstiBtische Studien zur Wobaungsfräge.
anfallend, dass wo auf jede Chambreganiistin 40 in den Stadttheilea
besdiäftigte Arbeiter kommen, das Betragen schleebter ist, a,]ß da,
wo nur 81 anf jede Chambregamistin fallen. Die bei wiesens^aft-
lichen Untersnchungen allerdings etwas zu wei^ehende livländische
Prüderie läset mich hier den Gegenstand Dicht weiter verfolgen.
Feiner ist das Betragen bei beiden-Geschleohtem um so besser,
je mehr Chambregamisten auf einem bestimmten Flächenraum woh-
nen oder je dichter sie wohnen, zwar nicht dem Hause, aber dem
Stadttheile nach. Es läset sich nun absolut kein Grund finden, dsfis
das Hahezusammenwohnen der Chambregarnisten einen so'gnten Ein-
fluss ausüben sollte. Hier li^t, wie man leicht nachweisen kann, ein
Fall vor, wo nicht eine der beiden einander begleitenden Erscheinungen
die Wirkung der anderen ist, sondern wo beide die gemeinsame
Wirkung einer dritten Erscheinung sind. Die dichte Chambre-
gamiebeTölkemng mit gutem Betragen und die dünnere mit gehlechtem
hdben ihren gemeinsamen Grund darin, dass die (hegenden mit viel
Chambregarnisten die industrielleren, die, mit wenigen die wen^er
industriellen Stadttheile sind. Also die Arbeit ist hier, was die
Bevölkerung anlockt, und was zugleich ihr Beaten wohlthätig be-
einflusst. Die erziehende Macht der Arbeit wird gewiss keiner unter
Ihnen leugnen, ich habe aber auch noch andere Beweise dafür, da
die Chambregarnieenqn^te uns Auskunft über die Einnahmequellen
ertheilt, welche in jedem der 48 Pariser Quartiere besonders stai'k
vertreten sind, namentlich Einkommen aus Arbeit, aus Almosen, aus
unsittlichem Erwerb. Wo nur 37 "/•> der männlichen Chambregarnisten
von ihrer Arbeit leben, betragen diese Leute sich zu 42 Vo gut, wo
68 «/• von Arbeit leben, sind etwa 56 o/, zu loben. Bei den Frauen
h&ngt das Betragen auch von der Arbelt ab, nur nicht in gleichem
Grade. Bei einer Differenz von 18 gegen 48 "/« arbeitender Frauen
variirt das Betragen nur von 17 auf 26 %. Die Frau ist eben nicht
in gleichem Grade auf den Erwerb hii^ewiesen, und hängt darum in
ihrem ganzen Verhalten auch weniger davon ab. Diesen Satz können
wir sogleich wieder von einer anderen Seite illustriren. Bei dem
Hanne nämlich, der auf Erwerb hingewiesen ist, übt das Leben von
Almosen einen viel schlimmeren Druck auf den Charakter aus, als
bei dem Weibe, welches ja auch sonst vom Erwerb der Männer
lebt Wo von den Männern nur 15 % Almosen empfangen, betragen
52 7o sich gut, wo 49 % auf fremde Kosten leben, nur 46 %, für di*
Frauen bei 14 gegen 56 V« Almosen ist der Betragensunterschied nur
21 gegen 19 V*. Wo nun gar die Chambregarnisten über ihre
statistische Stadien zur Woimnngöftrage. lJ55
Einnahmequellen nicht Auskunft geben wollten, oder wo sie unsitt-
lidien Erwerb oflften eingestanden, dft ist natürlich daÄ Betragen
viel schlimmer in den Stadttheilen, wo solche Erwerbsquellen über-
kriegen, als wo man wenig davon Gebrauch macht. *)
Mit diesem wohlthätigen Einfluss des Arbeitens steht auch ni^ht
im Widerspruch, daiss in den Stadttheilen, in denen viele M&nner und
Weiber zur Zeit der Enquete unbeschäftigt waren, das Beträgen ein
besseres war, als in den Stadtheilen, wo nur wenige ohne Arbeit
isich Vorfanden. Die Angaben über die Erwerbsquellen beliehen
feich auf die Lebensregel, die Angaben über die Arbeits-
stockung auf eine vorübergehende Erscheinung in dem
Leben des Arbeiters. Die Quartiere, in denen 1849 viele Chambre-
gamisten ohne Arbeit waren, sind diejenigen, welche in guten Zeiten
viele gute Arbeiter beschäftigen und eben desshalb in schlechten
Zeiten mehr Arbeiter ausser Thätigkeit setzen können und setzen
müssen , als die weniger arbeitsamen Stadttheile. Der Zeitpunkt
der Wohnungsenqu^te, Anfang 1849, war nun der einer allgemeinen
Verkehrsstockung, wie in der ganzen Welt, so besonders in Paris,
welches hauptsächlich Luxusartikel fttbricirt. Gerade die Fabrikation
dieser Luxusartikel ist auf wenige Stadttheile coneentrirt. Das Unbe-
schäftigtsein so vieler Chambregarnisten rührte also nicht her von an-
dauernder Arbeitsscheu, sondern von augenblicklichem Arbeits-
mangel. Nur wo in guten Zeiten viel Leute Arbeit finden, können
in schlechten viele ausser Brod gesetzt werden, die einmal guten
Stadtviertel werden dadurch nicht gleich in ihrer Moralität sinken.
Auch hier ist übrigens wieder bei den Frauen, weil sie in ihrem
ganzen Wesen nicht so sehr von der Arbeit abhängen, die Differenz
der Stadttheile im Betragen viel geringer. Mit dieser Andeutung,
welche für gutes statistisches Material die Perspective auf sehr werth-
voUe Forschungsgebiete eröffnet, müssen wir uns hier begnügen, da
diese Punkte nicht unmittelbar mit der Wohnungsfrage zusammen-
hängen. Für die Wohnungsfrage sind uns aber noch durch eine
Erhebung der Enquöte werthvolle Aufschlüsse gegeben. Bei der
Errichtung von Arbeiterwohnungen stehen sich 2 Gesichtspunkte
gegenüber: 1) Arbeiterwohnungen sind um so billiger herzustellen,
je mehr Leute man in ein Haus unterbringt, sogen. Casernenbau,
2) für die Arbeiter ist namentlich in sittlicher Beziehung das
*) Verjfl. E. Laspeyreö: die Gruppirung der Industrie in deÄ grossen
Stiidton. Berliner statistisches Jahrbuch. III. Jahrgang 1869.
256 Statistische Studien zur Wühnungsfrage.
Wohnen in einem eigenen Häuschen, HutteuBystem , namentlich mit
der hier allein möglichen Aussicht des Eigenthumserwerbes vorzu-
ziehen. Diese Behauptung beruhte bisher auf allgemeinem RÄsonnement
und einer Anzahl Ginzelerfahrungen. Unsere Indus trieenquSte giebt
uns Anltinge einer Massenbeobachtung. Wir wissen, wie viel Miether
durchschnittlich in jedem Stadtquartier auf einen Vermiether oder
ein Haus kommen, und können dieses -wieder mit den Ermittlungen
über das Betragen vergleichen.
In den Stadttheilen mit nur 7 männlichen Miethern auf eia
Haus betragen sieh nur 46% schlecht, in den Stadttheilen mit 11
Miethern auf ein Haus aber 55 %. Die Anhäufung von Chambre-
garnisteti auf ein Haus wirkt also schlecht. Wo wenig Frauen,
ungefähr 2 durchschuittüuh, auf einen Vermiether kommen, betragen
sich 77 "/o schlecht, wo hingegen ungelahr 4 Frauen, ist die Auffüh-
rung von 80% zu tadeln. Der Einfluss scheint geringer bei den
Frauen, allein er scheint es auch nur, faßt jeder Vermiether hat
wohl Männer in seinen Chambregarnies , nicht aber, wie wir aus
Einzeldaten der Ericiu^te wissen, auch jeder Vermiether Frauen.
Die Ermittlung der durchschnittlichen Menge von Mietherinnen per
Haus ist eine für uns verkehrte wenn wir alle Mietherinnen durch
die Zahl aller Vermiether dividiren, während viele Vermiether eben
nur an Männer vermiethen.
Bei dieser ganzen Frage nach Einfluss der Chambregarnies auf
das Betragen, haben wir noch ausser Betracht gelassen, warum der
Einfluss auf das zartere Geschlecht (welcher Name für die Meisten
des Pariser Chambregarniegesindels allerdings wenig passt) ein so
viel schlimmerer ist als auf das männliche. Wie wir früher die
Gründe für den wirksameren Einfluss der Wohnung in eigenen
Möbeln und den weniger wirksamen Einfluss des Wohnens beim
Meister herausänden konnten, so können wir es auch hier.
Unter den Chambregarnisten sind 2 Kategorien scharf zu trennen:
diejenigen, welche mehr freiwillig diese Art zu wohnen wählen, und
die, welche dazu durch äussere Umstände gezwungen sind. Die
ersteren sind grösstentheils die in Paris ansässigen Arbeiter, welche
nicht den Willen haben zu heirathen und in eigenen Möbeln zu
wohnen, oder beim Meister in Kost und Logis sich zu geben. Dass
dieses eine niedrigere Stufe der Pariser Arbeiterbevölkerung ist, leuchtet
ein, ebenso ist leicht ersichtlich, dass dieser Theil der Arbeiter
Statiatische Studien zur Wohnungsfrage. 257
unter dem weiblichen Geschlecht verhältnissmässig viel schlim-
mere Repräsentanten aufzuweisen haben wird, als unter dem männ-
lichen. Von einem weiblichen Wesen der unteren Classen wenigstens,
das entweder nicht heirathen will, oder nicht heirathen kann, und
das aus einem dieser zwei Gründe ledig bleibend beim Arbeitgeber
Aufnahme in Kost und Logis entweder nicht findeü will oder nicht
finden kann, und das ohne eigenes Mobiliar gezwungen ist, Chambre-
garnie zu wohnen, darf man moralisch meistens wenig erwarten.
Anders vielfach bei den Männern: Der Unabhängigkeitssinn, der es
verschmäht, beim Meister Wohnung und Nahrung zu suchen, und
dadurch auch sonst der Hausordnung sich zu fügen, ist beim erwach-
senen Manne ungleich berechtigter, als bei der Frau, desgleichen
ist bei ihm das Nichtheirathen mehr die Aeusserung eigenen frei-
willigen Entschlusses, und ist endlich bei dem durchschnittlich in
späterem Lebensalter heirathenden Manne die natürliche Junggesellen-
zeit vom 16. Lebensjahre an eine längere als beim weiblichen Ge-
schlecht. Nehmen wir aber selbst an, dass vermöge der vielleicht
besseren Natur des Weibes die in Paris ansässigen Chambre-
garnisten beiderlei Geschlechts auf gleicher sittlicher Stufe stehen,
so muss unter den sämmtlichen männlichen Chambregarnisten den-
noch ein grösserer Theil sich gut aufführen, als unter den weib-
lichen, denn zu den ansässigen Chambregarnisten des weiblichen
Geschlechts treten fast gar keine, zu denen des männlichen Ge-
schlechts aber eine sehr beträchtliche Anzahl nicht ansässiger,
sondern nur zeitweilig in Paris sich aufhaltender Arbeiter hinzu.
Nach der IndustrieenquSte gab es 1860 nur - 26 nicht ansässige
Arbeiterinnen, aber 3553 nicht ansässige Arbeiter. Dass solche
nicht ansässige Arbeiter nicht in eigenen Möbeln wohnen werden,
ist selbstverständlich, aber auch dass der Arbeitgeber dieselben nicht
leicht in seine Wohnung und an seinen Tisch auAiimmt, wird nie-
mand verwundern, denn der Arbeitgeber wird schon, um die in
Paris so hohen Wohnungsmiethen wieder einzubringen, ständige
Hauseinwohner den unständigen vorziehen. Die unständigen Arbeiter
sind also fast ausnahmslos Candidaten für die möblirt vermietheten
Wohnungen. Zu den männlichen und weiblichen, sittlich vielleicht aber
sehr unwahrscheinlich gleich tief stehenden ständigen Chambregarnisten
tritt noch eine grosse Anzahl nicht ständiger männlicher Chambregar-
nisten hinzu, aber keine weiblichen. Das Betragen dieser unständigen
Arbeiter ist weitaus über dem Durchschnittsbetragen der Chambregar-
nisten. Die Wohnungsenquöte selbst stellt z. B. den Maurern, welche
Ö86 Stfttistißche Studifen zur Wohhung«frage.
zwei Drittel aller Nichtanfeässigen bilden, ein gutes Zeugniss äuö,
an dessen Spit«^ die Bemerkung steht: „Sie sind meist guter
Äufffihrung**, während unter allen Chambregamisten nur 47%
feioh gut betragen, von den Frauen sogar nur 21 Vo. Dann heisst
es ferner : „Ihr Betragen ist im Allgemeinen ausgezeichnet; sie sind
ordentlich, ruhig, fleissig und besonders sehr sparsam. Die Meisten
arbeiten viel und verbrauchen möglichst wenig, um einige Erspar*
nisse mit nach Haus zu bringen, auch sind sie häufig als sehr geizig
verschrieen, was bei Arbeitern dieser Classe jedenfalls ein Lob ist.
Fast alle kommen Abends früh nach Hause. Die meisten gehen
gftr nicht in die Kneipen, und sie sind jedenfalls nicht trunksüchtig. •^
Diese Maurer sind nun zwar in unserer Enquete, was Wohnungeart
und Betragen betrifft, nicht mit enthalten, aber was von dieser
fluctuirenden Bevölkerung gilt, wird zum Theil wenigstens auch von
den andern Nichtansässigen gelten, welche fast alle dem im Winter
darniederliegenden Baugewerbe angehören. *) Von den Steinschnei-
dern wird dieses sogar ausdrücklich bemerkt. Das sind Momente
genug, das bessere Durchschnittsbetragen der männlichen Chambre-
garnisten zu erklären. Die Arrondissements, in denen die Chambre-
gamisten mit dem besseren Betragen wohnen, sind die Aufenthalts-
orte der natürlichen Chambregamisten und der Chambregamisten
höherer Ordnung. Das 11. Arrondissement, mit dem besten Betragen,
beherbergt viele nicht zum sogen. Arbeiterstande gehörige Chambre-
gamisten, sondern Studenten, Gommis, Handlungsdiener, ausgediente
Militärs, Rentiers u. s. w. Das 5. Arrondissement mit dem darauf
folgenden Procentsatz guten Betragens ist hauptsächlich die Gegend
der Zimmerleute, welche zum grossen Theil nicht ansässig sind.
Im 7., 9. und 10. Arrondissement, welche dann im Betragen folgen,
wohnen die Tausende von Maurern, welche aus dem Limousin und
andern Gegenden Frankreichs periodisch kommen und deren Betra-
gen in der Chambregamieenquöte ganz besonders belobt wird.
Doch genug von Einzelbeispielen über den bösen Einfluss des
Chambregarniewohnens, besonders für das weibliche Geschlecht, wir
haben noch andere Massenbeobachtungen anzustellen für die Woh-
nungsfrage.
Wir haben bisher untersucht, wie die verschiedenen Arten
zu wohnen auf den Menschen wirken, aber noch nicht wie eine
•) Nor 583 der 10,763 nicht ansässigen männlichen Arbeiter gehören nieht
tvL dem Baugewerbe.
\
Statistisehe Studien zur Wohnang«fi^age. 3ft9
tass^rlich tersehiedene Wohnung wirkt, also ob ein gutes Ghambre-
garnie einen besseren Einfluss hat, als ein schlechtes, dunkles,
schmutziges, übelriechendes. Wenn man sieht, wie wenig manche
sehr gute Menschen auf Wohnung geben, und welche gräuliche
Subjecte in Palästen hausen, da könnte maki zweifeln, ob von der
Güte der Wohnung viel abhängt; in Wahrheit ist es aber nur wieder
eine Warnung, von Einzelerscheinungen sieh nicht täuschen zu lassen^^
sondern auf die Masse zu sehen.
Dass eine behagliche Wohnung den Menschen mehr an das
Haus fesselt, werden die meisten Menschen zugeben, aber darüber,
was eine behagliche Wohnung ist, wird Streit herrschen. Der Liv-
länder hat kein Gefühl dafür, wenigst^is nicht im Sommer, oft
auch nicht im Winter, dass eine Wohnung ohne Rouleaux und
ohne Gardinen unbehaglich ist, während man in Deutschland
glaubt, in den öden FeAsterhöhlen wohne das Grauen. Der Hol-
länder ahnt nicht, wie unbehaglich es uns Deutschen vorkommt,
dass der Mynheer im Winter vor seinen schönen Kamin sich einen
eisernen Ofen setzt, während wir wohl unten in den Ofen, der Be-
haglichkeit halber, einen Kamin einsetzen. Auf der andern Seite
begreift der Livländer mit vollem Recht nicht, warum die Deutschan
ihre besten Zimmer nicht benutzen, sondern in kleinen Nebenräumen
für gewöhnlich sich zusammendrängen u. s. w.
Mag man nun aber über solche Sachen skeiten, in den
meisten Fällen haben wir für die Güte der Wohnung, nament-
lich der Wohnungen fär die unteren Classen gewisse äussere
Kennzeichen. Können wir jedoch aus der Angabe, ob Jemand in
eigenen Möbeln, beim Meister, in* Chambregarnie wohnt, schon
Bchliessen, ob die Wohnung gut oder schlecht ist? Nicht allemal,
doch meine ich, dass die schlechtesten durchschnittlich die Chambre-
gsumies sind, die besten die unmöblirten Wohnungen, in der Mitte
mögen die Wohhungen stehe, welche der Arbeitgeber seinen Koet-
nnd Logisgängem anweist. Einen bestimmten Grund für diese
meine Meinung kann ich Ihnen allerdings nicht angeben, es ist das
80 mein Gefühl, das sich herausgebildet hat aus einzelnen Kriterien,
Welche die Industrieenqu6te bietet, und aus allgelheinen Räsönne-
ments. So kann ich mir nicht denken, dass viele Arbeiterfamilien
so wohnen mögen, wie uns die InduBtrieenqu§te die Chambregarnies
schildert. Höhlen, die man Wohnungen nicht einmal mehr nennen
kaM. Ebenso kann ich mir nicht denken, dass viele Arbeitgeber
ihren Haus- und Tischgenossen so gräuliche Aufenthalte anweisen.
260 Statistische Studien zur Wohnungsfrage.
zum mindesten werden sie im eigenen Interesse auf Reinlichkeit
sehen. Das würde der Vermiether von möblirten Wohnungen
zwar vielleicht auch thun wollen, aber er kann die Reinlich-
keit von seinen Chambregarnisten nicht erzwingen, er hat über
die Wohnung erst wieder Macht, um sie zu reinigen und zu
lüften, wenn der Miether an die Luft gesetzt ist. Dass die Woh-
nungen freundlicher aussehen werden, wenn man sie selbst möblirt,
kann schon daraus abgeleitet werden, dass ein Jeder seine Geräthe
und Möbel mehr schont, als die, welche er gemiethet hat; der erstere
wird jeden Schaden bald selbst zu repariren suchen, woran er kein Inter-
esse Hat wenn er mit der Wohnung zugleich die Sachen hinter sich
lässt. Geht etwa der Student mit den Möbeln seines Philisteriums
besonders schonend um? Dass in den verschiedenen Arten zu
wohnen die Güte eine nicht unwesentliche Rolle spielt, können wir
zum Glück nun aber auch direct beweisen. Für die eine Wohnungsart,
die Ohambregarnies, lehrt uns die OhambregarnieenquSte die äussere
Güte kennen. Sie scheidet die möblirten Wohnungen in 4 Classen :
Die erste »gute" vereinigt die ordentlich gehaltenen Zimmer, reinlich,
gesund, von guter Luft, das nöthige Mobiliar in gutem Stand. Die
zweite Kategorie „passabel" umfasst die, welche zu wünschen
übrig lassen nach Seite der Reinlichkeit, Gesundheit und Möblirung,
aber welche nichts desto weniger in Rücksicht auf Lebensstellung
und Gewohnheiten ihrer Bewohner in erträglicher Verfassung sind.
Die dritte Kategorie „schlecht" enthält schlecht gelüftete, schlecht
erleuchtete, schlecht gereinigte, mit wurmstichigen Möbeln oder
Lumpen ausgestattete Wohnungen. Die vierte Kategorie endlich,
„sehr schlecht", ist zusammengesetzt aus wahren Löchern, zu-
weilen alles Lichtes und aller Luft entbehrend, voll Schmuz und
Ungeziefer, mit keinem anderen Mobiliar als Fetzen und Lumpen,
mit einem pestartigen erstickenden Gerüche, den nur eine lange
Uebung ertragen lehrt. Die Einzelbeschreibung solcher Wohnungen
will ich Ihnen ersparen, es würde Ihnen beim Hören der Athem
vergehen. Von diesen 4 Wohnungsgüten kennen wir auch die Ver-
theilung über alle 12 Arrondissements, leider aber nicht über alle
48 Quartiere det Stadt Paris. Da uns ferner, wie Sie wissen, aus
jedem Stadttheil das Betragen der Einwohner, ob ^gut", „passabel",
„schlecht" oder „sehr schlecht" bekannt ist, so können wir nun
direct fragen, wie Wohnungsgüte auf Betragensgüte influirt; doch ist
auch hier wieder die Untersuchung unvollkommen, da wir nicht
zu ermitteln vermögen, wie das Betragen auf jede einzelne Woh-
statistische Studien zur Wohnungsfirage. 261
nung sieh vertheilt. Wir sind auf die Forschungsmethode der sich
begleitenden Veränderungen angewiesen, haben also zu untersuchen,
ob, je mehr gute AV^^^^^^^^g^^^ i^ bestimmten Arrondissements sind,
auch das Betragen in diesen Stadttheilen ein besseres ist, und
umgekehrt. Die Beobachtung kann hier eine sehr mannigfaltige
sein. Einmal können wir vergleichen, wie die guten und erträg-
lichen Logis zusammengenommen auf das Betragen wirken. Wo die
guten und erträglichen Logis nur 75 % ausmachen, betragen nur 70 Vo
der männlichen Chambregarnisten sich gut und erträglich, wo aber 86%
gute und erträgliche Chambregarnies sich finden, ist das Betragen von
81 Vo zu loben, also bei 11 Vo Unterschied in der Wohnung auch 11 Vo
Unterschied im Betragen. Bei den Frauen ist der Betragensunter-
schied nur 8Vo, nämlich 50 Vo gut bei wenigen guten, und 58 Vo gut
bei vielen guten Wohnungen.
Man kann aber auch die Extreme allein vergleichen: Sehr
schlechte Wohnung und sehr schlecht'es Betragen. So be-
tragen sich bei 14 Vo sehr schlechten Chambregarnies sehr schlecht
9 Vo der Männer und 20 Vo der Frauen, hingegen sind bei nur 6 Vo
sehr schlechten Logis auch nur 2 Vo Männer und 12 Vo Frauen sehr
schlechter Aufführung. Das andere Extrem ist die Wirkung guter
Wohnung auf das Betragen. Bei 35 Vo guten Chambregarnies be-
tragen sich 46 Vo der Männer gut, bei 45 Vo guten Logis aber 50 Vo
der Männer. Für die Frauen ist der Unterschied im Betragen viel
geringer bei der gleichen Wohnungsverschiedenheit, nämlich bei
wenigen guten Logis zwischen 20 und 21 Vo guten Betragens, bei
vielen zwischen 21 und 22 Vo.
Ueberall stimmt Wohnungsgüte und Betragen bei diesen Chambre-
garnies, wir dürfen also wohl schliessen, dass auch bei den anderen
Wohnungsarten in eigenen Möbeln und beim Meister die Güte der
Wohnung eine Rolle spielt, und zwar nach unseren Procentzahlen
keine unbedeutende.
Auffallend ist bei dieser Betrachtung mir gewesen, wie .viel
genauer Wohnungsgüte und Betragen hei dem männlichen Gesehlecht
zusammenfällt als bei den Frauen. Bei einem durchschnittlichen
Verhältniss der schlimmeren Stadttheile zu den besseren von 100 : 145
ist das Betragen der Männer verschieden, wie 100 : 173, hingegen
das Betragen der Frauen nur wie 100 : 121. Dass die Güte der
Wohnung auf den Mann so viel stärker einwirkt, darf uns nicht
wundern. Die Frau ist nach unserer ganzen Lebensweise und
Lebensanschauung viel mehr auf das Haus angewiesen als der Mann.
262 Statistische Studien zar Wohnungsfrage«
•
Loekt den Mann nicht die Behaglichkeit der Wohnung, zu Hause zu
bleiben, so hat er ausserhalb ,Yiel mehr Ressourcen als .die Frau.
Für die Frau, welche, mag die Wohnung sein wie sie will, me)ir im
Haus^ bleibt, ist die Beschaffenheit der Wohnung von viel geringerer
Bedeutung. Ihr fehlen meistens die Mittel, um den Vergnügungen
ausser dem Hause nachzugehen, für welche der Mann, namentlich
der unverheirathete, bei seinem viel höheren Lohne die Mittel hat
Will die Frau aber auf unsittlichem Wege sich Erwerb suchen, wird
sie eine zu schlechte Wohnung gar nicht nehmen dürfen. Der
Mann, welcher viel häufiger aus dem Hause arbeitet, isst und sich
erholt, braucht eigentlich nur eine Schlafstelle. Eine solche Schlaf-
stelle sind die meisten Ghambregarnies aber auch. nur. So kommt
es, dass von den männlichen Arbeitern 20 7o in Chambregarnie
wohnen, von den Frauen nur 8 %, obwohl auch schon mehr Männer
als Frauen beim Meister wohnen. Desgleieh^i ist beispielsweise
auch in Berlin die Zahl der männlichen Chambregarnisteo dreimal
so gros^ als die der weiblichen, die Zahl der männlichen sogen. Schlaf-
gänger mehr als viermal so gross. ^)
Wenn Mancher unter Ihnen die Resultate, welche aus dem Ge-
sagten gewonnen worden sind, unbedeutend finden sollte, so will ich
nicht mit demselben rechten, sondern nur zu bedenken geben, dass
daran nicht die statistische Untersuchungsmethode, sondern das
statistische Material, wie es gedruckt vorliegt, schuld ist. Aus den
ursprünglichen handschriftlichen Listen, nach welchen die Tabellen
der Pariser Industiiestatistik zusammengestellt sind, würde man aller-
dings vielfach bessere Resultate gewinnen.
Aber mit mehr Recht dürfte Mancher einwenden, wie man mir
gegen meine Schrift über denselben Gegenstand wirklich schon ein-
gewandt hat, dass die Sache viel einfacher wäre, als ich sie auf-
fasste: „Nicht weil die Menschen in Chambregarnie, in eigenen
Möbeln, beim Meister wohnen, ferner nicht weil die Wohnungen
gut. oder schlecht sind, ist das Betragen auch gut oder schlecht,
sondern die Leute, wejche fleissig, ordentlich, brav sind, suchen bei-
stimmte Arten von Wohnungen auf, und unter diesen wiederum die
von besserer Qualität."
Feopn sei es von mir, zu leugnen, dass die ordentlicheren Leute
sich ordentlichere Wohnungen suchen, als die lüderlichen und faulen,
•) Vergl. die vortreffliche Berliner Volkszählung, herausgegeben von
Schwabe, Berlin 1869.
Statistiache Studien zur Wohuuugafrage, %ßß
ßUeia d£|.s würde den Zusammeuhojxg zwiachen Wohnungsamt uu4
Wohuungsgüte auf der einen und getragen auf der anderen 8eit^
noch nicht völlig erl^lären. Ein Theil des Zusammenhanges, und
zwar der grössere, f^Ut auf die Wohnungsart als Ursache nnd d^
Betragen als Wirkung, nicht umgekehrt auf das Betragen als Ursache
und Wohnupgswabl als Wirkung.
Eine Wechselwirkung leugne ich keineswegs, im G^gentheil iat
dieselbe besonders fördernd in dem erziehenden Sinne, welch^i ich
der Wohnung vindicire. Ein massig ordentlicher Mensch kommt in
eine gute Wohnung, er wird durch diese ordentliche Wohnung noch
ordentlicher, noch ordentlicher geworden sucht er eine noch ordentlichere
Wohnung u. a. f. Auf der anderen Seite ist diese Kett^nwirkung
allerdinga auch zum Schlimmen möglich, der Arbeiter kann durch
schlechte Wohnung zu schlechtem Betragen, dadurch zu noch schleck*
terer Wohnung u. s. w. gelangen. H^bt sich dann der Nutzen aolr
eher Wechselwirkung mit dem Schaden derselben auf? Ja, wenn
wir nicht dem entgegenarbeiten, wenn wir nicht den bösen Einfluas
bannen und den guten fördern. Das haben wir aber in der Gewalt
mit der Wohnungsreform.
Lassen Sie mich jetzt Ihnen einige Andeutungen darüber machen,
dass das Betragen mehr unter dem Einfluss der Wohnung steht, als
die Wohnungswahl unter dem Einfluss der Moralität»
An und für sich wäre es ja denkbar, dass die Arbeiter guten
Betragens besonders die Stadttheile aufsuchen, in denen viele gute
Chambregarnies sich befinden, weil sie gut wohnen wollen, allein
die Oertlichkeit, in welche der Arbeiter zieht, wird vielmehr durch
die Stätte bedingt, an welcher er Arbeit findet. *) Höchstens dürfte
man meinen, dass in den Stadtgegenden, in welchen regelmässig viele
gute Arbeiter Nachfrage nach guten Chambregarnies halten, auch
viele gute Chambregarnies -werden angeboten werden. Unsere
Statistik zeigt das nicht. Trennt man die 12 pariser Arrondisse-
ments wieder in 6 Arrondissements mit den mehreren und in 6 mit
den wenigeren Arbeitern guten Betragens, so entspricht dem die
Menge der guten Logis sehr wenig. Bei durchschnittlich 85 % guten
Arbeitern sind 82% der Wohnungen gut, bei nur 69% guten Ar-
beitern aber fast ebenso viel Vo gute Wohnungen, nämlich 78%.
*) Davon soll unsere vierte Studie: die Wohnung des Ar))eiter8 und ihrer
Abhängigkeit vom Geschäftslocal handeln.
364 Statistische Studien znr Wohnungsfr^e.
Bei noch grösseren Differenzen im Betragen der Arbeiterinnen ist
die Differenz in der Menge guter Wohnungen die gleiche wie bei
den Männern. Da^s das gute Betragen gute Wohnung sucht, kann
man mit dem besten Willen aus der ChambregamieänquSte nicht
herauslesen,
Eb bleibt aber noch übrig, zu entscheiden, ob die Arbeiter
guten Betragens mit Vorliebe bestimmte Arten von Wohnungen auf-
suchen. Zu dem Behuf sind alle 270 Gewerbe geordnet worden
nach den % guten Betragene und ist dazu die Wohnung in eigenen
Möbeln, fremden Mbbein und beim Meister gesetzt. Da findet sieb
allerdings,, dass, je mehr % der männlichen Arbeiter sich schlecht
aufführen, um so mehr in Chambregarnie wohnen, und um so weniger
beim Meister. Das scheint für den Einfluss des Betri^ens auf die
Wohnnngswahl zu sprechen, allein einmal hat, was das Wohnen
beim Meister betrifft, der Meister bedeutend mehr zu reden, als der
Kostgänger, und daiin mtisste vor Allem bei vielen Leuten guten
Betragens das Wohnen in eigenen Möbeln überwiegen. Es ist aber
das gerade Gegeutheil der Fall : je mehr schlechtes Betreten, um so
mehr Leute in eigenen Möbeln, Alle Erscheinungen sind bei den
Frauen die gleichen, nur in abgeschwächter Form, Das Wohnen in
eigenen Möbeln ist bei allen Betragensgüten fast gleich, aber bei
' einer kleinen Neigung, mit dem guten Betragen abzunehmen statt
zuzunehmen.
Mögen wir die Zahlen betrachten wie wir wollen, immer findet
sich der Einfluss der Wohnung auf das Betragen grösser, als der
Einfluss des moralischen Verhaltens auf die Wohnnngswahl.
Leider sind wir nicht im Stande die vorausgehenden Unter-
suchungen, in denen noch viel mehr hypothetisch ist, als ich zeigen durfte,
weiter auszudehnen auf andere Zeiten und Orte. Allerdings hat fiir
Paris schon 1847 eine IndustrieenquSte Nachrichten über das Betragen
der pariser Arbeiter und über ihre Wohnungen mit^etheilt, allein
die Kunde über das Betragen ist so vage und allgemein, dass sie
eben so gut fehlen dürfte. Denn was ist damit gesagt, wenn es
heisst : „Im Ganzen ist das Betragen gut, ein Theil aber der Arbeiter
betritt sich schlecht, einige sind dem Trunk ergeben." Dass die
Angaben nicht quantitativ messbar sind, ist sehr zu bedauern weil
ngsart des Jahres 1847 ebenso genau und nach
dungsmoduB unterrichtet sind, wie für das Jahr
teressante was wir jn Ve^leichung thun können,
ob die dem Betragen günstigen Wohnungs-
statistische Studien zur Wohnungsfrage. 2d$
arten sich vermehrt haben oder die ungünstigen, um daraus rück*
wärts auf Hebung oder Senkung der Pariser Moralität sehliessen zu
können. Die Untersuchung giebt günstige Resultate für das männ-
liche Geschlecht, ungünstige für das weibliche, wenn unser Rück-
schluss richtig ist. d. h. wenn in der Beziehung zwischen Wohnungsart
und Betragen seit 1847 keine Veränderung eingetreten ist. Die
Zahl derer, welche in eigenen Möbeln wohnen, hat verhaltnissmässig
abgenommen, sie war bei den Männern 75 % und ist gesunken auf
71, bei den Frauen gesunken von 91 auf 85 V2 **/o, also Beides un-
günstig. Das Wohnen in Chambregarnie hat bei den Männern ab-
genommen von 31 auf 20 %, das ist günstig, bei den Frauen zuge-
nommen von 6 auf 7 %, das ist doppelt ungünstig, denn bei den
Frauen war das Wohnen in Chambre garnie besonders schädlich.
Endlich das Wohnen beim Meister hat in beiden Geschlechtern
bedeutend zugenommen, aber bei den Männern, wo es besonders
wohlthätig wirkt, stärker, von 4 auf 9Vo, bei den Frauen, wo der
Einfluss geringer ist, von 3 auf l^/^k. Setzen wir nun auf jede
Wohnungsart ebensoviel Procente schlechtes Betragen als im Jahre
1860, dann finden wir durch Rechnung, dass das Betragen der
Männer sich gehoben hat von 9,8 % schlecht auf 9,3 Vo, das der
Frauen aber sich verschlechtert von 8,5 % auf 8,© %. Wie lange
wird es dauern, dass wir für Paris wenigstens nicht mehr behaupten
können, dass das zarte Geschlecht moralisch höher steht als das
starke? Im Interesse der Menschheit müssen wir hoffen, dass unsere
Rechnung, was die Männer angeht, richtig, was die Frauen angeht,
gründlich falsch ist. Für mich persönlich wäre das freilich sehr
übel, aber ich muss doch selbst wünschen, dass lieber ich mich ver-
fahren hätte, als dass wir ein moralisches Sinken des weiblichen
Geschlechtes finden.
Und bitte glauben Sie nicht, dass ich irgendwie parteiisch die
Frauen behandelt habe, ich vertrete im Gegentheil immer die
Meinung, dass die Frauen besser sind als die Männer. Was wir
stärker an Körper und reicher an Verstand, das sind die Frauen
schöner an Körper und reicher an Gemüth. Die neueren Versuche,
das Weib auch auf die Verstandeshöhe des Mannes su bringen, das
Weib vom Manne zu emancipiren, muss geschehen auf Kosten des
Herzens. Das Weibliche verschwinden zu machen, das
kann zur Noth erreicht werden, aber ohne damit die auf ganz
anderer Seite liegenden Vorzüge der Männer zu erwerben. Wie
dem aber auch sein mag, daran werden Sie Alle hoffentlich nicht
Baltische Monatsschrift. N. Folge. Bd. I, Heft 5 u. 6. 18
266 StatistiBclie Stadien zur Wohnungsfrage.
mehr zweifeln, dass die Wohnungsfrage eine eminent ernste nad
wichtige für die Entwickelung der Menschheit ist und zwar noch
Tiel mehr als für die Männer für die Frauen, denn ihre natürliche
Stätte ist des Mannes Herz, und so prosaisch es Manchem klingen
mag, des Mannes Heerd.
Dorpat, im Februar 1870.
E. Laspeyres.
Expropriation nach provinziellem Recht.
i/urch den Bau der Eisenbahnen ist, wie überall, so auch in unseren
Provinzen die Frage der Expropriation auf die Tagesordnung ge-
langt. Man hat die Bestimmungen des Provinzialcodex und der
Rechtsquellen für unzureichend zur Erledigung der concreten Fälle
im Rechtswege erklären und die vermeintliche Lücke durch die ein-
schlägigen Paragraphen der Reichsgesetzgebung ausfüllen wollen.
Von anderer Seite ist dem widersprochen worden, und so sehen wir
unser Rechtsleben um eine Controverse von weittragender Bedeutung
bereichert. Den Versuch, dieselbe öffentlich zu erörtern, wird der
Vorwurf, er sei nicht zeitgemäsö, schwerlich treffen. Je mehi: die
Ueberzeugung sich Bahn bricht, dass die Eisenbahnen ein Speculations-
object in ganz eminentem Sinne sind-, desto geringer wird auch die
Zahl derjenigen Grundeigenthümer werden, welche, festhaltend an
dem so oft angerufenen Standpunkte der „patriotischen Opferwillig-
keit", keinen Theil zu haben begehren an dem colossalen Gewinne
der Gründer und Erbauer und demgemäss, zufriedengestellt durch
die vollendete Thatsache des Bahnbaues, sich wegen der Entschädi-
gung für ihren Grund und Boden leicht abfinden lassen. Als unver-
meidliche Folge dieser Wendung wird* eine starke Zunahme der
Expropriationsstreitigkeiten eintreten und dadurch die Frage über
den Weg zu ihrer Lösung, zumal bei den hohen Werthen, die ins
Spiel kommen, eine brennende werden. Demnach dürfte die Erör-
terung dieser Frage mit dem Zwecke, möglichste Klarheit über
dieselbe zu verbreiten, schon jetzt am Platze sein. Dass sie in
diesen Blättern und in einer Form erscheint, welche auf fach-
männischer Seite Bedenken erregen könnte, hat seinen Grund darin,
dass sie in der Verfolgung praktischer Ziele an einen grösseren
Leserkreis sich wenden wollte, als ihn ein Fachblatt in der
Regel bietet.
Die Expropriation von Eigenthum — und zwar kann darunter
immer nur Grundeigen thum mit allen daran haftenden dinglichen
Rechten verstanden werden — ist Gegenstand der Gesetzgebung ge-
18*
268 Die Expropriation oacfa provinziellem Recht.
worden, ehe die Lehre von derselben durch die Doctrin ausgebildet
war. Diesem Umstände ist es zuzuschreiben, dass ans den verschie-
denen'legislativen Acten über die Expropriation ein festes Princip
der Zwangrsenteignung, eine allgemein anerkannte Begründung des
Rechte zu derselben sich nicht ableiten l&sst. Es wird angenommen,
dass der Staat den Staatsangehilrigen, die Gemeinde den Oemeinde-
angebörigen gegenüber das Recht habe, tiberalt dort, wo das öffent-
liche Interesse, das sogenannte allgemeine Beste in Collision tritt mit
Privatrechten, die Abtretung dieser Rechte gegen volle Entschädigung
zu fordern. Allein über den Rechtsgruud der Abtretungspilicht
herrschen ebenso verschiedene Ansichten, wie über den Begriff und
die Grenzen des öffentlichen Nutzens. Es ist hier nicht der Ort, den
interessanten Untersuchnngen über diese Fragen nachzugehen. Am
nächsten dürfte diejenige Auffassung der Wahrheit kommen, welche
dem Staate nur insoweit das Recht zugesteht, die Abtretung von
Privatrechten zu fordern, als ohne dieselbe die Erfüllung seiner
Zwecke unmöglich wäre, und dieses Recht aus der Pflicht der ein-
zelnen Staatsangehörigen zur Uebemahme der Lasten, welche der
Staat ihnen auferlegt, herleitet, die Entschädigung aber auf den
Grundsatz zurückführt, dass kein Mitglied des Staats vor den übrigen
belastet werden soll, demnach dort, wo es zu besonderen Leistungen
herangezogen wird, schadlos zu halten ist. *} Ausreichend ist diese
Erklärung nicht, denn auch der Staatszweek läset verschiedene Deu-
tungen zu. Immerhin aber verdient sie den Vorzug vor deig'enigen,
welche ihre Stütze in dem Begriff „öffentliche Interessen" sucht.
Mag auch die Präcisirung des Staatszweckes oft Schwierigkeiten be-
reiten, so schwankend und unbestimmt, wie die öffentlichen Inter-
essen ist er nicht, und bietet daher eine sicherere Handhabe für die
rechtliche Begründung der Opfer, die in seinem Namen den Staats-
angehörigen auferlegt werden.
In den Expropriations gesetzen der verschiedenen Staaten
finden wir, dass die Abtretung des Eigentbums den Staatsangehörigen
t) entweder überall dort zur Pflicht gemacht wird, wo das Be-
dürfhiss des Staats, das allgemeine Beste, das öffentliche Interesse
u. 8. w. die Abtretung erfordere; 2) oder für gewisse Unternehmungen,
wie den Bau von Strassen, Eisenbahnen, Festungen u. dei^l. ange-
ordnet, oder endlich 3) durch speciellen legislativen Act in jedem
einzelnen Fall bestimmt wird. Im ersten Falle ist ein Streit über
u Recht der Expropriation. Leipsig 1868, Seite 1
Die Expropriation nach provinziellem Recht. 269
das Dasein der Expropriationspflicht immer denkbar, im zweiten und
dritten nur insofern, als die Nothwendigkeit des zu enteignenden
Grundstücks zu einem mit Expropriationsr^chten ausgestatteten Unter-
nehmen negirt wird.
Im Provinzialcodex ist unter den Gründen für das Aufhören
des Eigenthums die Zwangsenteignung oder Expropriation
angeführt, „wenn eine solche zum Wohle des Staates oder
Gemeinwesens ünerlässlich, und in jedem einzelnem Falle
durch ein Allerhöchstes Gesetz angeordnet ist.^ j^Ihi*
geht,^ so heisst es weiter, „die vollständige Entschädigung
des zu Expropriirenden voraus.*) — Hierin finden wir das
Staats- resp. Gemeinwohl als Zweck der Expropriation hingestellt,
das Recht des zu Expropriirenden auf volle Entschädigung anerkannt
and die Abtretung nur zufolge Specialgesetzes zur Pflicht gemacht.
Wir befinden uns also im dritten der oben angeführten Fälle, d. h.
wir können über das Dasein der Expropriationspflicht zu Gunsten
eines bestimmten Unternehmens überhaupt niemals im Zweifel sein,
sondern diese Pflicht höchstens nur in Betreflf einzelner Grundstücke,
resp. Theile von denselben verneinen.
Nicht unberührt dürfen hier die in den Bauerrechten Liv- und
Estlands statuirten Ausnahmen von der allgemeinen Regel bleiben.
Dieselben gestehen den Rittergutsbesitzern ein Recht auf Zwangs-
enteignung in den von den Gütern abgetheilten Grundstücken in be-
stimmten Fällen zu (zum Zweck der Zu- und Ableitung von Wasser,
Anlage und Erweiterung von Wegen u, s. w,). Ueber die Abtretung
entscheidet in Estland das lürchspielsgericht, in Livland die „com-
petente Behörde nach stattgehabtem summarischem Verfahren^, die
Feststellung der Entschädigung erfolgt in Estland, wenn die Inter-
essenten sich nicht gütlich einigen, auf schiedsrichterlichem Wege, in
Livland auf dem Wege Rechtens vor dem ordinären Richter. **) Da
über die Constituirung und das Verfahren des Schiedsgerichts sich
keine speciellen Bestimmungen finden, so dürfte dafür in Estland
die auch in die Bauerverordnung vom Jahre 1856 aufgenommene.
Allerhöchst im Jahre 1828 bestätigte Verordnung hinsichtlich der
Entscheidung von Rechtsstreiten über Grenzen und Servituten zwi-
*) Provinzialrecht Thl. m. art. 868, Punkt 6.
•*) Livländische Bauerverordnung vom 13. November 1860, §§ 42^-45, und
estländisohe Bauerverordnung vom 6. Ju)i 1856, §§ 204 — 207. AnmeriiLung 2 zum
art. 868 a. a. 0.
370 Die Expropriation nach provinziellem Recht.
sehen estländiechen Gnindbesitzem maaesgebend Bein. Diese Aus-
nahmebestimmungen sind insofern für die Beurtheiliing der gesamiutea
Materie nicht ohne Bedeutung als auch in ihnen das dem provinziellen
Rechte e^enthümliche Princip, zufolge dessen das Verfahren bei der
Expropriation den Gerichten zu überweisen ist, Anwendung ge-
fanden hat.
Aus dem citirten Artikel 868 ist ersichtlich, dass das Provinzial-
recht sich mit genügender Klarheit darüber ausspricht, wann und
unter welcher Bedingung die Expropriation einzutreten habe. Es
fVagt sich nnn weiter, welches Verfahren bei der Zwangsenteignung
zu beobachten sei. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem Ver-
fahren einmal bei der Abtretung und dann bei der Feststellung
der Entschädigung.
Der Provinzialcodex sagt in seinem lH. Theile *) hierüber nichts
weiter als: „Das bei der Zwangsenteigoung zu beobachtende
Verfahren schreibt die Ordnung des Civllgerichtsver-
fafarens vor."
Hier glauben die Gegner des Provinzialrechts seine Achillesferse
entdeckt zu haben. Die mangelnde CodiScation des Ciyilprocesees
giebt ihnen willkommene Veranlassung , das Vorbandensein hin-
reichender Rechtsbestimmungen, an deren Hand die Expropriations-
streitigkeitea zum Austrag gebracht werden könnten, einfach zu
leugnen. Mit wie viel Recht, werden wir später sehen. Vorerst
mögen die §§ des Swod der Reichsgesetze, welche in die vermeint-
liche Lücke ein- und dem lahmen Provinzialrecht als Stütze unter-
geschoben werden sollen, Revue passiren. **) Sie enthalten, was
nicht ausser Acht zu lassen ist, keine besonderen Bestimmungen über
das Verfahren bei der Abtretung, sondern nur die Grundsätze,
nach welchen der durch die Expropriation entstandene Schaden zu
schätzen ist, sowie die Regeln des dabei zu beobachtenden Ver-
~ folgendes Gesammtbild.
Besten des Staats- oder des Gemein-
unumgänglich nöthig ist, muss dem
iH^Hoe) Entschädigung gewährt werden.
ige Enteignung einzutreten hat, werden
itliche Allerhöchste Befehle bestimmt.
arung wegen der zu leistenden Ent-
a. a. 0.
»d. i, Thl. 1 (Civilgesetae) Art. 575 — 593
1919 und 1920, 1972, folgende.
Die Expropriation nach provinziellem Recht. 271
Schädigung nicht zu Stande, so wird eine Schätzung des betreffenden
Vermögensobjects vorgenommen. Diese Schätzung wird bewerk-
stelligt: a. in den Städten durch die städtischen Taxatore von einer
Commission, bestehend aus dem Stadthaupt^ wenn das Grundstück
einem Kaufmann oder Bürger, aus dem Ereisadelsmarschall , wenn
es einer Person adeligen Standes zugehört, ferner aus dem Gouverne-
mentsarchitekten oder, wo ein solcher nicht vorhanden, aus dem
Gouvernements- resp. Kreisgeometer, und in den Gouvemements-
städten aus dem Gouverneur, in den Kreisstädten aus dem Polizei-
meister; b. in den Kreisen durch Taxatore. aus der Zahl der um-
wohnenden Gründbesitzer von einer Commission, bestehend unter
dem Vorsitz des Kreisadelsmarschalls resp. Kreisrichters aus je einem
Gliede des Kreis- und des Landgerichts. Diese Commissionen haben
der Schätzung folgende Regeln zu Grunde zu legen:
Unbewegliches Vermögen, welches Revenuen trägt, wird nach
dem Durchschnittsbetrage dieser Revenuen taxirt. Zu diesem Zwecke
werden die reinen Revenuen, welche das Immobil im Verlaufe der
letzten 10 Jahre wirklich eingebracht hat, d. h. diejenigen Einkünfte,
welche nach Abzug der Abgaben und Unterhaltungskosten übrig
bleiben, zusammengezählt und von dieser Generalsu^me der zehnte
Theil als die durchschnittliche Nettorevenüe des Jahres angenommen.
Bei Ländereien wird der zehnfache Betrag der Jahresrevenüe, ebenso
bei unbebauten Ländereien, Weiden, Heuschlägen etc. der zehnfache
Betrag des Obroks als Werth des Immobils anerkannt. Bei steinernen
noch nicht alten Gebären wird die Jahresrevenüe nur verachtfacht^
bei neuen hölzernen Gebäuden, die noch nicht 5 Jahre stehen, ver-
sechsfacht. Alle alten (B-feTxie) Gebäude, sowohl von Stein als von
Holz, werden um die Hälfte geringer taxirt. Unbewegliches Ver-
mögen, das keine Revenuen trägt, wird nach den örtlichen Umständen
und den Vortheilen, welche durch ihre Erwerbung entstehen können,
abgeschätzt. Bleiben wir einen Augenblick bei diesen Taxations-
regeln stehen, um zu prüfen, in wieweit durch dieselben der Zweck
einer „angemessenen" Entschädigung erreicht wird.
A besitzt ein Landgut, das ihm im Verlaufe von 10 Jahren eine
durchschnittliche Nettorevenüe von 1000 Rbl. Silb. jährlich einge-
tragen hat. Bei der Expropriation desselben erhält er 10,000 Rbl.
Silb., die ihm besten Falles eine Jahresrente von 600 Rbl. Silb.
geben. Er wird demnach zum „allgemeinen Besten" um 400 Rbl.
Silb. jährlich, oder um ein Capital von circa 6500 Rbl. Silb. ärmer.
Oder: B besitzt ein hölzernes Haus, das mehr als 5 Jahre steht,
272 Die Expropriation nach provinziellem Recht.
mithin nach der vom Gesetze gegebenen Definition nicht in die
Kategorie der neuen, sondern der alten GeblUide fällt. Es hat ihm
jlihrlich im Durchschnitt 300 Rbl. Silb. eingebracht. Bei der Ex-
propriation eriiält er für dasselbe 900 Rbl. Silb., von v^relchem
Capital er eine Rente von 54 Rbl. Silb. jährlich bezieht. Das Haus
reprä.6entirte für ihn einen Werth von 5000 Rbl. Silb.; er büsst
demnach 4100 Rbl. Silb., d. h. vier Fünftheile seines Vermögens
ein. Diese Ziflfern reden deutlich genug. Eine wirkliche Ent-
schädigung wird auf diesem Wege nicht erreicht. Ueberraschen
können diese Resultate indessen nicht, wenn man bedenkt, dass
die mitgetheilten Schätzungsregeln keineswegs die Ermittelung des
wahren Werthes bezwecken, sondern die Anleitung zu der Taxation
bieten soll^i, welche nach russischem Recht der Subhastation der
zum öffentlichen Verkauf gestellten Immobilien vorauszugehen
hat. In ihrer Unvollständigkeit einerseits und bei dem Zwange
andererseits, den sie den Taxatoren auferlegen, mögen sie für
ihren ursprünglichen Zweck einer annähernden und möglichst
billigen Schätzung genügen, ihre Anwendung in ExpropriationslUUen
dagegen bedroht den zu Expropriirenden mit den grössten Nach-
theilen und macht die ihm durch das Gesetz zugesicherte ange-
messene Entschädigung ganz illusorisch. Dcuss das Gesetz hinzufügt,
es seien bei der Taxation ausserdem die örtlichen Umstände zu be-
rücksichtigen, wie z. B. ob durch theilweise Enteignung des Grund-
stücks die Rentabilität des übrigbleibenden Theiles verringert oder ganz
aufgehoben wird etc., ändert an der Sache Am Besten des zu Ex-
propriirenden gar nichts. Das ihn benachtheiligende Verhältniss
zwischen dem verursachten Schaden und dem zu leistenden Ersatz
bleibt in dem einen, wie in dem anderen Falle dasselbe. Doch
weiter im Verfahren. Dem Eigen thümer resp. dessen Bevollmäch-
tigten steht das Recht zu, während der Taxation selbst dasjenige binnen
8 Tagen mündlich oder schriftlich anzubringen, was er seinem Inter-
esse für dienlich erachtet. Die Commission, wenn sie derartige Be-
merkungen für berücksichtigenswerth hält, kann zu einer üm-
sehätzung schreiten, worauf sie, mag nun diese letztere vorgenommen
oder unterblieben sein, die ganze Sache höheren Orts zur weiteren
Verfügung und zwar an dasjenige Ministerium, aus dessen Ressort
die Schätzung beantragt worden, vorstellt. üebersteigt die
Schätzungssumme nicht den Betrag von 3000 Rbl. Silb. und ist der
Eigenthümer mit derselben zufrieden, so endigt die Sache mit der
ministeriellen Bestätigung; entgegengesetzten Falles geht sie nach
Die Expropriation nach provinziellem Recht. 273
Beprtifting im Conseil des bezüglichen Ministeriums an den Reichsrath
und mit dessen Gutachten zur allendlichen Bestätigung an Se. Majestät
den Kaiser selbst. Zu bemerken ist noch, dass nach Erlass der Final-
entscheidung dem Grundbesitzer unter gewissen Bedingungen noch ein
Ftinfkheil der bestätigten Taxationssumme als Zuschuss bewilligt wird.
Soweit das russische Gesetz. Vom Landesherrn bis zum städtischen
Taxator sind alle legislativen resp. administrativen Instanzen durch
dasselbe in Bewegung gesetzt, nur eine Gattung von Staatsbe-
amten fehlt ganz dabei und das sind: die Richter. Abgesehen
von allen so klar und unverkennbar zu Tage liegenden Mängeln
des dargestellten Verfahrens, zu gesehweigen dessen, dass nach den-
selben die Hauptentscheidung in den Händen des einen Parten, d. h.
der bezüglichen Ministerien resp. Hauptverwaltungen liegt, dass die
höchsten Würdenträger des Reichs in Bewegung gesetzt werden
müssen, um die Entscheidung in einfachen Schadensersatzsachen zu
treffen, bleibt der Hauptfehler des ganzen Verfahrens der, dass diese
Sachen der Cognition der Gerichte entzogen sind. Da die Differenz
in allen derartigen Fällen nur den Betrag der Entschädigungs-
summen betrifft, so handelt es sich immer blos um Privatsachen,
die ihrer Natur nach vor den Civilgerichten zum Austrag zu bringen
sind, und in der That wird der Entschädigungsstreit fast überall
an die Civilgerichte verwiesen, in Frankreich an eine Jury. Dieses
Princip ist neuerlich von der Reichsgesetzgebung selbst anerkannt
worden. Ein Allerhöchst bestätigtes Gutachten des Reichsraths aus
dem Jahre 1869*), welches sich auf Gebäude, Niederlagen, An-
pflanzungen in der Nähe von Eisenbahnlinien, somit auch ein ganz
analoges Gebiet bezieht, verordnet, dass alle derartigen Anlagen
in der Nähe der Eisenbahnen, wenn sie denselben Gefahr drohen
oder wirklichen Schaden bringen, beseitigt oder an einen andern
Platz verlegt werden sollen, jedoch nur für Rechnung der Eisen-
bahn, jedoch nachdem die Besitzer auf Grund einer zwischen
ihnen und der Bahnverwaltung abgeschlossenen Vereinbarung für
ihre Verluste entschädigt worden sind, dass die Bahnverwaltung,
wenn sie sich mit den Besitzern nicht einigen kann, an die örtliche
Gerichtsbehörde, zu deren Ressort das ßesitzthum gehört, sich
zu wenden hat und dass die Gerichtsbehörde den Betrag der dem
Besitzer zu zahlenden Entschädigung bestimmt. Hier begegnen wir
schon dem Einlenken in die richtige Bahn. Jedes Abweichen von
*) Promulgirt durch Senatsakas vom 25, Januar 1869,
374 Die Expropriation nach prorinzieUeni Recht.
derselben beraubt dae Privatrecht deijenigen Qarantieen, welche zur
Änfrechterhaltnng einer heileamen Rechtsordnong unentbehrlich siod.
Diesee ist die Reichsgesetzgebnng. Sie bietet den Zwang unzu-
reichender, die Ermittelung des wahren Werthes der Expropriations-
objecte'vereitelnder SchätzuDgsgrundsätze, ein überaus umBtändliches
Verfahren ohne die Garantie, welche allemal in der richterlichen
Entscheidui^ liegt, und giebt durchaus keinen Anhaltspunkt füii die
Erledigung solcher Fälle, in denen die Nothwendigkeit eines Gi-und-
etücks zu einem Expropriationsrechte genieesenden Unternehmen
bestritten wird.
Anders das Provinzialrecht. Es gewährt dem Einzelnen in
vollem Umfange den Rechtsschutz, welchen er vom Staate bean-
spruchen darf. Möge nie vergessen werden, dass die Hauptaufgabe
des Staates, sobald er sich der Bedingungen für sein Bestehen ver-
sichert hat, ist: seine Angehörigen nicht nur in ihren öffentlichen,
sondern auch In ihren privaten Rechten zu schützen. Darom beginnt
in dem Augenblicke, wo das private Recht dem Staatsinteresse
weichen muss, die Pflicht des Staates auf volle Entschädigung für
das ihm geopferte Recht, und kommt er dieser Pflicht nicht nach, so
ist er von deijenigen Instanz dazu anzuhalten, welcher die Wieder-
herstellung gestörter Rechtsverhältnisse gebührt, d. h. der richter-
lichen. Kicht allein in Betreff der Entschädigung, sondern auch
hinsichtlich der Streitigkeiten bei der Abtretung hat die richterliche
Entscheidung einzutreten. Im ersten Falle handelt es sich um
eine blosse Privatsache. Der in Espropriationssachen geltend zu
machende Entschädigungsanspruch unterscheidet sich seinem Wesen
nach in nichts von Entschädigungsansprüchen im Allgemeinen, es
haften ihm keinerlei rechtliche Besonderheiten an, die betreffende
Klage gehört somit unzweifelhaft vor die Civilgerichte. Letzteren
Falles wird in Grundlage eines Specialgesetzes die Abtretung von
Eigenthum beansprucht. Wenn ein Streit darüber entsteht, ob im
gegebenen Falle ein bestimmtes Eigenthumsobject von der Wirkung
dieses Gesetzes ergriffen werde, so gebührt die Entscheidung hier-
über der Natar der Sache nach auch nur den Gerichten. Die staats-
rechtliche Seite der Sache ßndet ihre Erled^ung durch die im legis- ^
villigung des Expropriationsrechtes. Die
[lese Befugniss ausgedehnt werden könne,
ikters. Hierüber wird man nicht im
nn man erwägt, dass es sich um die
handelt Die rechtliche Grundlage dafür
Die Expropriation nach proYinziellem Recht 275
ist in dem Specialgesetz enthalten, ob dieselbe dem concreten Falle
anpassend ist, darüber kann, da der Verlust von Privätrechten in
Frage kommt, nur der Richter erkennen. Wird eingewendet, dass
die Beurtheilung dessen, ob ein Grundstück zu einem bestimmten
Unternehmen erforderlich sei, nicht sowohl Rechts- als technische
Kenntnisse voraussetze und demnach einer technisch-kiindigen Autorität
zuzuweisen sei, so ist dagegen ;5u bemerken, dass in dem Institut der
Sachverstöndigen das völlig zureichende Mittel zur Ergänzung der
dem Richter abgehenden technischen Qualification gegeben ist Durch
dasselbe wird der gerügte Mangel an technischer Befähigung ohne
jegliche Verrückung der rechtlichen Lage der Sache ausgeglichen.
Wenn daher das Provinzialrecht hinsichtlich des bei der Zwangs-
enteignung zu beobachtenden Verfahrens auf die Civilprocessordnung
verweist*), so ist dadurch ganz im Sinne der obigen Darlegung
unverkennbar ein gerichtliches Verfahren mit gerichtlichem Erkennt-
niss indicirt. Mag sein, sagt man, aber wie soll das ausgesprochene
Princip zur praktischen Anwendung gelangen? Wo sind die Regeln
für das Expropriationsverfahren nach provinziellem Recht, wo sind
die unerlässlichen Paragraphen zur bequemen Berufung für die
Richter? Das Provinzialrecht kennt gar kein Expropriationsver-
fahren, die Sache ist neu, weder die Rechtsquellen noch der Gerichts-
gebrauch bieten auch nur einigermaassen genügende Grundlagen für
die Verhandlung und Entscheidung der Streitfälle dar. Was bleibt
demnach übrig, als das Reichsrecfat ergänzend eintreten zu lassen?
Hierauf zur Antwort: Ein Gesetz, welches *das Verfahren
in Expropriationssachen regelte, haben wir allerdings nicht, wir
bekennen es, aber was uns nicht fehlt, ist ein Recht, für dessen
Aufrechterhaltung einzutreten uns nicht nur die Beäorgniss vor
Vermögensverlusten, sondern vor Allem das Bewusstsein der Pflicht
treiben möge, nichts von uni^eren provinziellen Rechtsinstitutionen
unbedacht bei Seite zu werfen, selbst wenn sie, weil nicht an der
Oberfläche schwimmend, dem ungeübten Auge zuerst verborgen
sein sollten.
Wenden wir uns zuerst der formellen Seite der Sache zu. Nach
dem namentlichen Allerhöchsten Befehl an den Sepat vom 1. Juli
1845, durct welchen die beiden ersten Theile des Provinzialcodex
promulgirt wurden, zerfällt das Provinzialrecht in 5 Theile, dessen
dritter die Civilgesetze und dessen vierter die Regeln des Civilpro-
*) Anmerkung 1 zum arfc. 868. des ProvinzialreAnts, Theil m.
276 Die Expropriation nach provinziellem Recht.
cesses bilden. Demnach gehört die Frage wegen der Expropriation
eineni Rechtsgebiete an, das den Ost^eeprovinzen cigenthtimlich und
in dieser Eigenthümlichkeit durch den allegirten Kaiserlichen Befehl
ausdrücklich anerkannt ist. Der dritte Theil des Provinzialrechts,
enthaltend das Priratrecht oder die Civilgesetze, ist bereits codificirt.
Der Einwand, dass im Civilprocess keine Regeln für das Zwangs-
enteignungsverfahren vorhanden und dass in Folge dessen die
bezüglichen Bestimmungen des Reichsrechts in Anwendung zu
bringen .seien, ist vom juristischen Standpunkt betrachtet, nicht statt-
haft. Seine Erklärung, keineswegs aber seine Begründung mag
dieser Einwand in der noch mangelnden Codiflcation des vierten
Theiles des Provinzialrechts finden. Allein sollte dieses Criterium
entscheidend sein, dann hätten wir überhaupt keinen Civilprocess,
wir hätten bis vor zehn Jahren keih Privatrecht gehabt und erst
vom Jahre 1845 an begonnen, uns einer Rechtsbasis für das öffent-
liche Leben zu erfreuen. Zu verzeihen ist das Verfallen in derartige
Irrthümer vielleicht Denjenigen, die kein Verständniss haben, für die
Entstehung und Ausbildung des provinziellen Rechts, für seine Quellen
und historischen Grundlagen, für seinen innigen Zusammenhang mit
verwandten Rechtssystemen deutschen und römischen Ursprungs und
für die unerschöpflichen Hülfsquellen, die sich hierin sowie in den
Schätzen der ewig lebendigen und unausgesetzt fortarbeitenden
Wissenschaft darbieten. Es sei vergönnt, an diesemx Punkte einen
Augenblick zu verweilen. Unser Privat- und Processrecht, steht
ja nicht da isolirt und einzig angewiesen auf eine mehr oder
weniger künstliche Pflege durch die Gesetzgebung, welche in
den meisten Fällen auch nur auf blosse Nachahmung sich be-
schränkt. Es wurzelt in einem reichen Boden, ein warmer Lebens-
strom dringt aus demselben befruchtend ein in alle seine Zweige
und schützt den knorrigen Stamm vor Verdorren und Absterben.
Alles, was die Wissenschaft auf verwandten Rechtsgebieten überall
arbeitet, ist auch für uns gearbeitet, die Resultate dieses fleissigen
und unablässigen Forschens, sie gehören uns, nicht in Folge rein
äusserlicher Aneignung, nein durch organisches Verbundensein, in
welchem die .Lebensadern eines Theiles hinüberreichen in den
andern. Diese Wahrheit möge der Wegweiser sein für alle Diejenigen,
welche mit dem einheimischen Recht sich zu beschäftigen, es zu pfle-
gen und zu üben berufen sind. Um auf den oben für zulässig er-
klärten Entschuldigungsgrund der Unkenntniss zurückzukommen, so
kann derselbe doch imlner nur bis zu einem gewissen Grade gelten,
Pie Expropriation nach proTinziellemlReeht 377
denn aueh für Solche^ welche der Sache femer stehen, iit der ange-
führte Promulgationsukas vom 1. Juli 1845 nicht misszuverstehen,
worin es zum Schluad heisst, dast in Beziehung auf die noch nicht
codificirten Theile der Prorinzialgesetze bis zu ihrer Veröffentlichung
die Verwaltunga- und Gerichtsbehörden sowie Privatpersonen, fort-
fahrend sich nach den geltenden Rechtsbestimmungen am
richten, — in der Geschäftsverhandlung wie bisher auf die ein-
zelnen Verordnungen, Befehle und andere Rechtsbestimmungen
sich berufen sollen. Hiernach kann es wenigstens Niemandem ver-
borgen sein, dasa es einen provinziellen Civilprocess, wenn auch
keinen Codex desselben giebt.
Die nächste Frage ist, welche Regeln für das gerichtliche Ver-
fahren in Expropriationasachen dem provinziellen Civilprocess sich
entnehmen lassen. Etwa entstehende Differenzen werden in den
meisten Fällen die zu leistende Entschädigung zum Gegenstande
haben, und so möge uns diese Seite der Sache zunächst beschäftigen.
Die zu entrichtende Entschädigung bildet ihrem Wesen nach eine
Schuld des Enteigners gegen den zu Expropriirenden, welche Letzterer
zur Ausklage zu bringen und nöthigenfalls zu beweisen hat. Hier-
nach stellt sich der Kern der Sache in grösster Einfachheit dar.
Das ordentliche processualische Verfahren wäre, wie bei jeder andern
Klage auf Schadloshaltung, zur Anwendung zu bringen und durch
dasselbe würde die Sache ohne weitere Schwierigkeiten zur End-
Schaft gebracht werden können. Allein es giebt hierbei noch ein
besonderes, durch das eigenartige Wesen der Expropriation bedingtes
Moment zu berücksichtigen^ welches in den Rahmen des Civilpro-
cesses scheinbar nicht hineinpasst. Bei dem — wer wollte es leug^
nen — schleppenden Gange unseres Gerichtsverfahrens steht zu
erwarten, dass, sollte die Besitzergreifung der zu enteignenden Im-
mobilien bis zur wirklich erfolgten Entschädigung des zu Expro-
priirenden nicht stattfinden dürfen, in streitigen Fällen Jahre ver-
gehen könnten, ehe die Concessionäre eines mit Expropriationsrechten
ausgestatteten Unternehmens dazu kämen, über das ihnen nöthige
Terrain zu disponiren. Nicht in Abrede zu stellen ist, dass, falls
die Ausführung no th wendiger JBauten etc. durch das Expropriations-
verfahren sollte aufgehalten werden können, hierdurch dem Staate,
wie den Unternehmern unabsehbare Nachtheile zugefügt, die vielge-
staltigen und weitverzweigten, an Eisenbahnuntemehmungen z. B»,
geknüpften Interessen auf's Aeusserste gefährdet werden würden.
Der ordentliche Process bietet zwar auch in dieser Beziehung ein
278 Die Expropriation nacli prOTinzieUem R«cbt.
Aaskunftemittel dar. Wie bei Arreatl^iDogeD jeder Art, mögen sie
Personen oder Sachen betreffen, die arretirte Person reep. das arre-
tirte Vermögensobject durch gerichtliche Deponimng der Streiteumme,
zu deren Sicherung der Arrest decretirt worden, ia jedem Stadium
des Processes liberirt werden kann, so bat es auch der Enteigner
in seiner Hand, durch Hinterlegung der Entschädigungssumme bei
Gericht, unverzüglich in den Besitz und die Disposition des za ex-
propriirenden Gnindstttcks zu gelangen. Allein es entsteht dabei die
Frage: welcher Betrt^ ist zu deponiren? Soll es der vom Kläger
geforderte sein, so kann von ihm die bezweckte Beschleunigung des
Besitzüberganges in leichter Weise durch Erhebung einer Über-
triebenen Forderung vereitelt werden. Und soll aus diesem Grunde
ein derartiges Verlangen an den Expropriator als Beklagten nicht
gestellt werden dürfen, welcher Betrag ist dann bei Gericht zu de-
poniren? Hier bietet sich ein ausreichendes Hälfemittel dar in dem
unserem provinziellen Civilgerichts verfahren keineswegs fremden
Institut der gerichtlichen Taxation. Aus den vielen denkbaren und
zum Theil -auch vorkommenden Fällen, wo diese zur Ermittelung
des Werthes von Sachen, über welche gerichtlich zu entscheiden
sein wird, eintritt, sei es erlaubt, nur einige wenige, dem vorliegen-
den Falle besonders nah verwandte, herauszuheben. Aus einem
Nachlaes sollen z. B, gewisse Gegenetände Personen zur Disposition
-übergeben werden^ deren Eigenthumsrecht an diesen Gegenständen
noch von einem gerichtlichen Erkenntniss abhängt. In solchem
Falle ^st das Gericht die fraglichen Sachen durch gerichtlich er-
nannte Tsxatore abschätzen und verfügt unter Vorbehalt der Rück-
forderung die Auslieferung der Sachen an die Interessenten gegen
Deponimng des Taxwerthes oder Bestellung einer annehmbaren, als
Sichemngsnfittel dem Depositum gleichkommenden Bürgschaft. Oder
ein Schiff ist auf Grund gestossen, wird mit fremder Hülfe ab- und
in den Hafen eingebracht. Es wird Bergelohn, bestehend in einem
bestimmten Antheil an Schiff und Ladung, beansprucht. Die Herren
iung bestreiten den Anspruch und deponiren,
wischen auf da* ganze Streitobject gelegten
den beanspruchten Antheil nach Bestimmung
tsbebörde bis zur Entscheidung der Sache,
rtbbestimmung in der etwa%en Assecuranz-
in Anhaltspunkte dar, so ist auch hier die
lirte Sachverständige zu bewerkstelligende
I geeignete Mittel, um ziuu Ziele zn gelangen.
Die Expropriation nach proyinziellem Recht. 279
Ebenso beim Expropriationsrerfahren. Dem Process über den Be-
trag der Entschädigungssumme kann behufs Uebergabe des zu ent-
eignenden Grundstücks an den Expropriator gegen Deponirung einer
dem Werthe entsprechenden Summe, eine vorläufige Werthermittelung
vorausgehen. Hiernach lässt sich für das Verfahren in Expropriations-
fällen^ wo der Streit nicht die Abtretung selbst, sondern die zu
leistende Entschädigung betrifft, ohne Abweichung von den im pro-
vinziellen Civilprocesse schon eingebürgerten Grundsätzen und
Instituten, folgende Ordnung aufstellen:
I. Vorverfahren.
In jedem zur gerichtlichen Verhandlung gelangenden Expro-
priationsfalle findet zunächst eine gerichtliche Schätzung des zu ent-
eignenden Gegenstandes durch vom Gerichte ernannte Sachver-
ständige, d. h. Taxatore, statt. Eine derartige Schätzung wird vom
Gericht auf Antrag sowohl des Enteigners als auch des zu Expro-
priirenäen angeordnet, indem beide Parteien zu der Bitte um ge-
richtliche Schätzung berechtigt sind. Die vom Gerichte ernannten
Sachverständigen können von den Betheiligten aus denselben Gründen
abgelehnt werden, welche in dieser Beziehung für die Zeugen gelten.
Die Sachverständigen vollziehen zufolge des vom Gericht erhaltenen
Auftrags die Schätzung unter Hinzuziehung der Betheiligten nach
den im HI. Theile des Provinzialrechts angedeuteten Grundsätzen
und berichten über das Ergebniss, unter Angabe der Taxationsgründe
in jedem einzelnen Falle, dem Gerichte, indem sie gleichzeitig von
diesem Ergebniss die Betheiligten in Eenntniss setzen. Falls die
letzteren mit dem Ausspruche der Sachverständigen sich zufrieden
erklären, so findet die Entschädigung des zu Expropriirenden in
Grundlage dieses Ausspruches statt und der Expropriationsfall hat
seine definitive Erledigung gefunden. Sobald dagegen beide Be-
theiligte oder auch nur einer, derselben mit dem Resultate der von
den Sachverständigen bewerkstelligten Schätzung sich nicht einver-
standen erklären, so erfolgt die Feststellung der Entschädigungsan-
sprüche durch gerichtliches Erkenntniss in Folge stattgehabten ordent-
lichen processualischen Verfahrens. Dieses hier sogenannte Vor-
verfahren kann übrigens auch im Verlaufe des Entschädigungsprocesses
unabhängig vom Gange der Hauptverhandlung stattfinden. Durch
dasselbe soll eben nur jederzeit die Besitznahme des zu enteig-
nenden Grundstückes seitens des Expropriirenden ermöglicht werden.
280 IMe ExpropriatioB nach proTÜizieUem Recht.
Sobald es etattgefundeD, wird ihm diee« Betdtznabme auf seinen Azi-
trag durch gerichtliche Verfügung sowohl vor Erhebung der Klage,
wie auch in jedem Stadium des etwa begonnenen Processes gestattet,
sobald die volle Entschädigung des zu Exproprürenden durch ge-
richtliche Deponirung einer Summe aichergesteUt ist, welche dem
durch die Schätzung der Sachverständigen ermittelten Werthe des
zu exproprürenden ImmobiU entspricht.
Nun könnte zwar behauptet werden, daes das ganze eben dar-
gestellte Verfahren künetlich conatruirt sei und seine Begründung
nii^ends in den Quellen finde. Allein eine Bolche Auffassung ent-
spräche dem wahren Sachverhalt nicht. Welches sind denn die
vornehmsten Quellen für den provinziellen Civilprocess ? Sind es
nächst den Land- and Stadtrechten nicht gerade Producte der Autonomie
oder der rechtaerzeugenden Kraft der Gewohnheit? Und sind diese nicht
bei der Codiflcation der drei ersten Theile des Provinzialrechts ak voll-
gültige Rechtsquellen, belehre der Quellenallegate unter zahlreichen
Artikeln des Gesetzbuches, anerkannt worden? Ein Codex ist keines-
wegs die nothwendige Voraussetzung einer festen Rechtsordnung, eine
solche ist vielmehr auch ohne zusammenfassende codificatorische
Arbeiten denkbar, und, wie die Erfahrung lehrt, vorhanden. Beqenmer
ist ein Codex immer, als zerstreute Rechtebestimmangen, ob besser,
ob namentlich dort, wo er lediglich bestehendes Recht darstellen
soll, richtiger, darüber muss die Entscheidung in jedem einzelnen
iTnllö 0.,-aahe.n iTnser ProcesB ist nicht nur eine Summe factisch in
T Rechtenurmen, wie sie auf Grund der Special-
iären gemeinen Rechts und einer ständigen Ob-
ckelt haben, er repr&sentirt auch ein festes System
icipiellen Grundlagen und eigenartigen Institutionen.
Ausbildung und Ent Wickelung derselben durch
ist ohne ernste Gefahr für den ganzen Organis-
kbar. Das hier dargestellte Vorverfahren,
izelnen Theile desselben specielle Belege in den
nicht entdecken lassen, passt vollkommen in das
rocesses, weist nirgends fremde oder auch bloss
;lich die Benutzung bereits vorhandener Elemente
eng an analoge in Uebung befindliche Formen, ist
i Anwendung bereits bestehender Principien. Es
n oi^aniBCher Bestandtheil des provinziellen Ot-
iten. Was sollte uns hinderD, Institute, welche in
eingebürgert sind, auf die beschriebene Weise in
Die Kxpro^priation ^ach^proiriiizieUem ReohtL 281
Anwendung zu bringen? Hat ja doch in dem codificirteii Tkeile des
Provinzialrechts der Grundsatz, dass in Grundlage der beatehend^i
Gesetze ausführliche Vorschriften für die innere Ordnung des Ge*
Schäftsganges in den Gerichtsbehörden rom Obergerichte zu erlassen
seien, für Liv- und Estland Anerkennung gefunden.*) Mag die
rechtsbildende und fügende Kraft in uns auch nicht mehr so mächtig
sein, wie in unseren Vorfahren: so ganz wird der alte Geist doch
nicht von uns gewichen sein, dass wir uns scheuen, die zerstreujien
Bauhölzer zu sammeln, um auf dem alten, festen Fundamente den in
dieser Hinsicht nothwendigen Anbau auszuführen.
n. Das ordentliche processualische Verfahren.
Zum definitiven Austrage ist der Streit über die zu leistende
Entschädigung nur im Wege des ordentlichen Processes zu bringen.
Das Verflfthren dabei bewegt sich in den herkömmlichen Formen.
Die Klage wird immer von dem zu Expropriirenden in seiner Eigen-
schaft als Beschädigter zu erheben sein, Verweigert oder verzögert
er die Erhebung der Klage, so kann er von dem Expropriirenden
dazu nach den Regeln des Provocationsprocesses gezwungen werden.
Im Verlaufe des Processes hat der Kläger Gelegenheit seine Ent-
schädigungsforderung durch alle gesetzlich gestatteten Beweismittel
nachzuweisen, während dem Gegner der Gegenbeweis auf ebenso
geräumiger Grundlage offen steht. Welche Fülle von Rechtsbehejfen,
aus Praxis und Doctrin, die sich zur Erweisung der Ent-
schädigungsansprüche darbieten ! Soll von einer wirklichen Schad-
loshaltung, einej> „vollen Entschädigung" die Rede sein, so kann in
der That nur auf dem Wege einer umfassenden Beweisführung dem
Richter das Material zur Bestimmung ihres Betrages geboten
werden. Es ^mag an dieser ^ Stelle erwähnt werden, dass das
reichsgesetzliche Verfahren eine totale Abweichung von einer der.
Hauptgrundlagen unseres processualischen Systems involvirt, indem
es der mit der Bestimmung der Entschädigung betrauten Commission
die ganze Instruction des Falles zuweist. Das steht in diametralem
Gegensatz zu der dem provinziellen Civilprocess eigenthümlichen
Verhandlungsmaxime, welche die Thätigkeit des Richters auf die
Leitung des Processes beschränkt, die Beschaffung der materiellen
Grundlage für die Entscheidung dagegen den Parteien auferlegt. Die
mit der Finalentscheidung der ersten Instanz Unzufriedenen können
•) Provinziah-echt, Theü I, Art. 310, Pct 5; Art. 458, Pct. 17; Art. 857, Pct. 5 5
Art. 1014, Pct. 15.
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 5 u. 6. 19
282 Die Expropriation nach provinziellem Recht,
ihre Ansprüche im Rechtsmittel weiter verfolgen, ebenso sind
Beschwerden über Zwischenbescheide gestattet. Es bietet das Ver-
fahren nichts Aussergewöhnliches dar, immer aber bleibt die Ent-
scheidung in der Hand der Gerichte.
Was schliesslich die materielle Seite der Sache betrifft, so
ist vor Allem in Erwägung zu ziehen, dass die Lehre von der hier
zu bietenden Entschädigung keine der Expropriation eigenthümliche
ist. Nach dem Provinzialrecht steht, wie wir gesehen, fest, dass
volle Entschädigung, d. h. nicht blos der gemeine Sachwerth, son-
dern das ganze Interesse prästirt werden muss. Mithin fragt es sich,
woriii das ganze Interesse bestehe, und diese Frage beantwortet sich
nach Civilrecht, d. h. für uns nach den Bestimmungen des III. Theiles
des Provinzialrechts. Diese Bestimmungen *) sind ziemlich reich-
haltig. Sie handeln von dem Begriff und den Arten des Schadens,
von der Berechtigung zur Forderung des Schadensersatzes* von der
Verpflichtung zur Leistung desselben, von dem Umfange der Ersatz-
pflicht und der Schätzung des Schadens. Von den hier aufgestellten
Bestimmungen über die Schätzung des Schadens haben sich auch die
Sachv^erständigen sowohl im Vorverfahren, wie auch im ordentlichen
processualischen Verfahren, wenn ein solches stattfindet und der Be-
weis durch Sachverständige in Anwendung gebracht worden, leiten
zu lassen. Da in diesen Bestimmungen allgemeine leitende Prin-
cipien ihren Ausdruck gefanden haben, so sind sie den einzelnen
Fällen, und mögen diese noch so vielgestaltig sein, unschwer anzu-
passen. Jedenfalls bieten sie die sichere Gewähr dafür, dass kein
Moment unberücksichtigt bleiben wird, welches zui' Ermittelung der
den Grundeigenthümern gebührenden vollen Entschädigung dienlich
sein kann und dass die Ermittelung selbst immer nach Rechtsnormen
stattfinden wird, die dem Provinzialrecht nicht nur äusserlich ange-
hören, sondern mii den Grundlagen und dem ganzen System des-
selben innerlich verwachsen sind. Fände sich aber auch in unserem
Civilrechts-Codex in der That einmal für eine einzelne Rechtsfrage
keine Vorschrift, so wäre nach Art. XXI der Einleitung eine solche
Frage nach denjenigen Bestimmungen des Privatrephts zu beurtheilen,
mit denen sie durch die Gleichheit des Grundes innerlich verwandt
erscheint. Nicht zu vergessen ist dabei, dass, wie überhaupt neben
den einheimischen Rechtsbüchern und Statuten isowie dem Gewohn-
heitsrecht das römische Recht die vornehmste Quelle des provinziellen
•) Provinziab-echt Theil III., Axt. 3435 bis 3460.
Die Expropriation nach provinziellem Rechte 283
Privatrechts bildet, — dasselbe für das Recht der Forderungen, wel-
chem die hier behandelte Materie angehört, fast die einaige Grund-
lage ist. Mithin wird der Richter, dem hier in der gemeinrechtlichen,
von der Wissenschaft vorzüglich bearbeiteten Lehre vom Schadens-
ersatz ein überreiches Hülfsmittel zu Gebote steht, niemals in Ver-
legenheit über das seiner Entscheidung unterzulegende Fundamei^t
sein können.
Fassen wir den zweiten Fall ins Auge, in welchem die Hülfe
der Gerichte bei der Expropriation in Anspinich genommen werden
kann, den Fall von Streitigkeiten über die Abtretungspflicht,
so lässt sich nicht verkennen, dass hier in noch höherem Grade als
bei der Entschädigungsfrage der Schwerpunkt in dem Ausspruch der
Sachverständigen liegt. Ob ein Grundstück ganz oder theilweise zur
Ausführung eines Unternehmens wirklich erforderlich ist, wird zu-
meist nach technischen Gesichtspunkten zu bei;irtheilen sein. Dar-
nach könnte es, wie schon oben angedeutet worden, scheinei;i, als
ob die Gerichte nicht die geeigneten Instanzen zur Entscheidung der
hierüber entstehenden Streitigkeiten seien. Allein ein Rechtsstreit^
und ein solcher liegt doch unzweifelhaft vor, bei dem es sich um die
Ab- resp. Zuerkennung von Eigenthumsrechten handelt, kann der
Cognition der Gerichte füglich nicht entzogen werden, blos weil den
Richtern die technische Qualification abgeht. Sollte diese Annahme
gelten, so wären z. B. alle Fälle, in denen der objective Thatbe-
stand sich nur auf Grundlage medicinischer Gutachten, wie bei
Tödtung durch Gift, constatiren lässt, oder wo die Zurechnung eines
Vergehens zweifelhaft erscheint, wie bei vorgeschütztem Irrsinn, den
Gerichten zu entziehen und medicinischen Collegien zu überweisen.
In solchen Fällen findet das Gericht die Stütze für sein Erkenn tniss
in dem Ausspruche Sachverständiger. Bei Streitigkeiten über die
Abtretungspflicht in Expropriationsfällen tritt nach den Grundsätzen
der unsern Process beherrschenden Verhandlungsmax;ime für die Be-
theiligten noch der Vortheil hinzu, dass es ihnen unbenommen ist,
selbst die Sachverständigen zu bezeichnen, dass sie folglich immer
solche Männer zu Experten wählen können, zu deren Kenntnissen
und ilinsicht sie Vertrauen haben. Es wird dawider vielleicht der
Einwand erhoben werden, dass die hier vertretene Ansicht durch
die neueren Gesetzgebungen und auch durch die Wissenschaft wider-
legt sei. Indessen träfe dieser Einwand nicht zu. Er entstammt
einem Gebiet, das noch sehr reich ist ^n Controversen, auf welchem
weder Legislative noch Doctrin bis jetzt zu einer einheitlichen prin-
19*
284 Die Expropriation nach provinziellem Recht.
cipiellen Auffasönng gelangt sind. Das Eingehen auf derartige Contro-
versen liegt uns ebenso fem, wie überhaupt die Erörterung des
Expropriationsrechts im Allgemeinen. Wo in diesen Zeilen eine
Berührung mit allgemeinen Rechtssätzen gesucht wurde, geschah es
nur um dei- Orientirung willen. Im Uebrigen ist die Beschränkung
auf das Gebiet dör einheimischen Rechtsverhältnisse aufrecht erhalten
worden. Dabei handelt es sich ledigUch um das bestehende
Recht und um die Oonse<lUenzen , welche sich aus einer richtigen
Auffassung desselben ergeben, um die vergleichende Zusammen-
stellung des provinziellen mit dem R^ichsrecht, um den Nachweis
der Vorzüge des ersteren vor dem letzteren^-^-^J^Weiteres wurde
nicht bezweckt und möge daher auch nicht beanspru)^!' werden.
Das- Verfahren in Streitfällen über die Abtretung bi'efe* ^^'^"^
Besonderheiten dar. Es wird der Natur der Sache nach deS ^^'
propriant als Kläger auftreten müssen, der Beweis in der ISfo^
durch Sachverständige geführt werden, und der reguläre Instan*®^'
zug auch hier in Geltung bleiben. Unvermeidlich wird es sein, ^
Kläger die Besitznahme des streitigen Objectes auf seinen Anti*.
4
auch t^or Entscheidung der Sache zu gestatten, weil sonst die Aus
ftihrung eines nothwendigen oder gemeinnützigen Unternehmens durch
die Willkür Einzelner vereitelt werden könnte. Jedoch müssten
alsdann vorher nicht nur die etwaigen Entschädigungsansprüche des
Beklagten für den Fall seiner Succumbenz im Abtretungsstreit nach
stattgehabtem Vorverfahren sichergestellt werden, sondern es wä^n
auch für den Eintritt des entgegengesetzten Falles dem Beklagtqi
das Rückforderungsrecht und völlige Schadloshaltung richterlich ^^,
vorzubehalten.
Das Reichsrecht enthält, wie schon oben bemerkt, über das Ver-
fahren in den Fällen, wo die Abtretungspflicht verneint wird, keinerlei
Bestimmungen, bietet demnach, w^nn nicht aus dieser Lücke gefolgert
werden soll, der Expropriant könne, sobald er einen Allerhöchsten
Befehl für sich habe, nach eigenem Gutdünken in Beziehung auf das
der Zwangsenteignung zu unterwerfende Grundeigenthum verfahren,
keine Handhaben für die Erledigung derartiger Fälle dar.
^ Von ii^end hervorragender Bedeutung in der Praxis dürften
übrigens die zuletzt erwähnten Fälle kaum werden, da der Ex-
propriant wohl nur höchst selten Grundstücke sich wird aneignen
wollen, die er nicht braucht, und umgekehrt von den Grundbesitzern
eine Verweigerung der Abtretungspflicht in Fällen wirklichen Be-
dürfiiisses nicht ^u erwarten ist.
Die Expropriation nach provinziellem Recht. 286
Der Vollständigkeit wegen sei schliesslich noch erwähnt, dass
für den Exproprianten das Eigenthum an dem im Wege der Ex-
propriation ihm zugefallenen Immobil erst durch gerichtliche Ver-
zeichnung desselben auf seinen Namen begründet wird. *) Als
Rechtsgrund für die Erwerbung kann fliglich der Kauf angesehen
werden, wobei die gütlich vereinbarte oder richterlich festgesetzte
Entschädigungssumme als Kaufpreis gilt, lieber das Geschäft wird
in jedem Falle ein schriftlicher Vertrag abzuschliessen sein. *)
Können diese Zeilen etwa« dazu beitragen, den hier und da
erschütterten Glauben an die Integrität des Proi^i^zialrechts auf
einem wichtigen Gebiete herzustellen, so haben sie ihren Zweck
vollständig erreicht. Wir Haben gesehen, dass das bestehende locale
Recht bei richtiger Benutzung nicht nur keine Lücke in Betreff der
Verhandlung und Entscheidung der bei der Expropriation denkbaren
Streitfälle darbietet, sondern auch die Rechte der Grundeigenthümer
mit vollständigeren Gafantieen umgiebt, als das Reichsrecht, dass es
vollständiger ist und sicherer, ja erforderlichen Falls rascher zum
Ziele führt, als jenes.
T—
•) Provlnxialrecht Theil III, Art. 809.
••) Art. 3026, Punct 3 a. a. 0..
S.
Correspondenzen.
Mitau, im Juni. Ueber die Beschlüsse, welche die zu einer
ausserordentlichen brüderlichen Conferenz im März d. J. versammelt
gewesene kurländische Ritterschaft gefasst hat, sind wir in der
Lage, nachstehende Mittheilung zu machen:
Die kurländische Ritterschaft hat sich bei ihren Verhandlungen
und Beschlüssen von dem Gedanken leiten lassen, dass sie heute
mehr denn je zur Arbeit im eigeneh Hause, — und koste solches
auch manches Opfer, — die Aufforderung und den Beruf in sich
finden müsse. Dies eigene Haus muss bei Zeiten für alle Bewohner
möglichst wohnlich hergerichtet werden, damit es jedem Einzelnen
die Möglichkeit gewähre, in Frieden und Eintracht mit seinem
Nachbar zu leben. Hat die kurländische Ritterschaft diesen Zweck,
den sie vor Augen gehabt, mit ihren Beschlüssen erreicht, darf sie
die Ueberzeugung aussprechen, dass den irgend berechtigten An-
sprüchen innerhalb unseres Landes ihrerseits die entsprechende Be-
rücksichtigung zu Theil geworden: so wird sie auch der gegrün-
deten Erwartung Raum geben können, dass sich hier kein innerlich
berechtigter Widerspruch gegen das von ihr eingehaltene Verfahren
zur Geltung zu bringen suchen werde, dass Frieden im Lande
sein werde.
Kaum ein Gebiet unserer socialen Existenz ist unberührt
geblieben«
In kirchlicher Beziehung ist zunächst für solche Parochien,
in denen die Seelsorge durch den räumlichen Umfang der Parochie
oder sonst aus localen Gründen nicht in erwünscht wirksamer Weise
geübt werden kann, die Beseitigung solcher Uebelstände angebahnt
worden; in einem bereits vorliegenden Falle dieser Art (Tuckum)
ist seitens der Ritterschaft eine Beisteuer zu den namhaften Kosten
Correspondenzen. 287
der von den Kirchspiels -Einsassen beabsichtigten Gründung einer
neuen Pfarre bewilligt worden.
Die wirksamste Förderung des Landvolkschul wesens ist
als dringende Pflicht erkannt, die auf die Sicherstellung der materi-
ellen Existenz der Volksschulen abzielenden Maassnahmen sind be-
stimmt worden. •
Für die in Goldingen bereits bestehende mittlere Lehranstalt,*
welche zum grossen Theil aus ritterschaftlichen Mitteln erhalten
wird, ist eventuell eine erhebliche Vergrösserung der Landessub-
vention zugestanden worden.
Im Jahre 1866 ward bekanntlich auf Antrag der kurländischen
Ritterschaft von der St^atsregierung ein Gesetz emanirt, nach welchem
es Jedermann in Kurland gestattet ist, Grundstücke jeglicher Art zu
vollem Eigenthum zu erwerben. In Gonsequenz dieser Freigabe des
Grundbesitzes hat die kurländische Ritterschaft jetzt bei der Staats-
regierung darauf angetragen, ein Gesetz zu erlassen, nach welchem die
Eigenthümer von Rittergütern, ohne Rücksicht auf ihre persönlichen
Standesverhältnisse, berechtigt werden sollen, das ihren Rittergütern
inhärirende Stimmrecht auf allen Landesversammlungen auszu-
üben, und sich demgemäss an allen Beschlüssen, welche allgemeine
Landesinteressen, die Steuerverhältnisse und die Landeswahlen — so-
wohl zu den Aemtern der Landesvertretung, als denen der Justiz, des
Polizei- und Kirchen wesens — betreiFen, zu betheiligen; desgleichen
sollen alle stimmberechtigten Eigenthümer von Rittergütern zu Land-
tagsdeputirten wählbar sein. Der Beschlussfassung ausschliesslich
durch die zur Ritterschaft gehörenden Rittergutsbesitzer vorbehalten
sind nur die speciell die Interessen der ritterschaftlichen Corporation,
(z. B. Aufnähme in die Matrikel, Ausschliessung aus derselben) und
ihren Vermögensetat (z. B. die Ritterschaftsgüter, die ritterschaft-
lichen Stiftungen) betreffenden Angelegenheiten.
Ein fernerer wichtiger Berathungsgegenstand war die Frage der
Verkäuflichkeit von Gesinden der kurländischen Fidei-
commissgüter. Das kurländische Agrargesetz von' 1863 hatte unter
Anderm auch den Verkauf von Gesinden der Privatgüter ermöglicht
und das dabei zu beobachtende Verfahren festgestellt. Die fideicom-
missarisch gebundenen Güter, — und diese bilden ungefähr den dritten
Theil des gesammten Privatgrundbesitzes von Kurland, — konnten bis
hierzu ihrer Gebundenheit wegen von dem Agrargesetz von 1863, so-
weit es die Verkäuflichkeit der Gesinde betrifft, nicht Gebrauch machen.
Um den kleinen Grundbesitz auf sämmtlichen Privatgütem Kurlqpds
I^ Correapondenzen.
%ii ermöglichen, hat die kurländische Ritterschaft auf der letzten
brüderlichen Conferenz beschlossen, den Brlass eines Gesetzes zu
beantragen, welches die zu Familienfideicommissen gehörenden
Gesinde als verkäuflich erklärt, und die für den Verkauf von Ge-
sinden freier Güter bestehenden örtlichen Gesetze auch für jene in
Kraft treten lässt. Der Erlös aus^dem Verkaufe der Gesinde soll
alsdann entweder zum Ankauf von Landgütern, auf welche die fidei-
commissarische Eigenschaft übergehen würde, oder zum Ankauf von
Werthpapieren mit Metallwährung, oder endlich zur theilweisen oder
ganzen Tilgung und Ablösung des Antrittspreises verwandt werden;
bei der ganzen Operation sowohl des Verkaufs der Gesinde, als der
Anlage des Erlöses, als auch endlich bei der Aufbewahrung des
Fideicommisscapitals soll ferner die Mitwirkung resp. Zustimmung des
Ritterschaftscomitö's — welchem zu dem Behufe eine ausführliche
Instruction ertheilt worden — erforderlich sein; endlich sollen die
Zinsen des Fideicommisscapitals, wie auch die Renten des etwaigen
Eaufresidui dem jeweiligen Fideicommissinhaber ausgekehrt werden.
Sowohl jenes, die Verfassungsänderung betreffende Project, als
dieser hier erwähnte Antrag hinsichtlich der Verkäuflichkeit der
Fideicommisgesinde sind bereits, nach vorausgegangener Begutachtung
durch den Ostseecomit^ Allerhöchst bestätigt worden und sollen
durch betreffende Senatsukase demnächst zur Publication gelangen.
Es hat die kurländische Ritterschaft ferner im Interesse des sich
nur allmälig entwickelnden kleinen Grundbesitzes für noth wendig
erachtet, ein Gesetzesproject, betreffend die ungetheilte Vererbung
des Eigenthums an den Bauergesinden, zu entwerfen. Ueber den
näheren Inhalt dieser, zur Zeit noch nicht abgeschlossenen Arbeit
wird erst unser nächster Bericht sich auslassen können.
Das Interesse der gesammten ländlichen Bevölkerung Kurlands
hat femer eine Berathung und Beschlussfassung darüber hervorge-
rufen, in welcher Weise das ländliche Sanitätswesen zu verbessern
wäre. Es mag zur Erläuterung Erwähnung finden, dass die aller-
meii&ten Privatgüter Kurlands allerdings mit Landärzten versorgt
sind; jedoch haben sich in letzter Zeit, seit Einführung der neuen
Gemeindeordnug, mehrere Landgemeinden von jeglicher Beisteuer
zu den Kosten der ärztlichen Verpflegung losgesagt; und vollends
auf den meisten Krongütera sind weder für die Höfe noch für die
Landgemeinden feste Vereinbarungen zur ärztlichen Verpflegung ge-
troffen. Den hieraus nicht allein für die einzelnen Oertlichkeiten,
soi|dem für das Allgemeine entspringenden Uebelständen soll nun
OerrespondonBen. 980
durch ein G^etaesprojeot Abhülfe gesdiafft werden, welches die
edlörtliche Instaüirung von Landärzten zur Pflicht macht and die
verhältnissmässige Betheiligung an den Kosten normirt. Die Ver-
handlungen über dieses höheren Orts eingereichte Project sind indess
noch zu keinem Absohluss gelangt.
Schon seit ungefähr 20 Jahren hat die kurländidche Ritterschaft
sich für die Aufhebung eines ihr bisher zustehenden Privilegiums,
nämlich der sogenannten freien Jagd ausgesprochen; die wiederholt
mit der Staatsregierung hierüber gepflogenen Verhandlungen sind
indess nie tsu eineih Abschluss gekommen. Auf der letzten allge-
meinen Conferenz hat nun die kurländische Ritterschaft, um ihrer-
seits alle Hindernisse wegzuräumen, sich mit einem, schon vor
mehreren Jahren im Ministerium des Innern umredigirten Jagdge-
setz-Entwurf, welches das Jagdrecht als ein Realrecht jedes Orund-
eigenthümers hinstellt, — in üebereinstimmung erklärt, mit alleiniger
Hinzufügung einer dem Interesse der Wildschonung, entsprechenden
Bestimmung über eine Minimalgrenze, von welcher ab erst ein
Grundstück das Recht zur Ausübung der Jagd gewähren solle.
Die Verhandlungen über diesen Gegenstand sind zur Zeit noch
schwebend.
Für das seit mehreren Jahren bereits in Kurland in Kraft
stehende Reglement gegen die Weiterverbreitung der Rindei^est sind
einige, dem Associationswesen entsprechende Ergänzungen beantragt,
und sind die erforderlichen Geldmittel, um die für die Kreis-
Associationen gegen die Rinderpest noth wendigen Kanzelleiausgaben
zu bestreiten, bewilligt worden.
Zur Verstärkung der längst als ungenügend sich herausgestellt
habenden Kanzelleimittel der Hauptmannsgerichte und der Kreisge-
richte hat die allgemeine Conferenz 10,000 Rbl. jährlich bewilligt.
Die Misstände, welche aus der solidarischen Haft unserer
Landgemeinden för die den einzelnen Gemeindegliedern obliegende
Zahlung der Kronsabgaben entspringen, insbesondere bei der neuerdings
Torkotomenden Auswanderung von Landgemeindegliedern nach djm
Innern des Reidüs, — sollen femer in eindringlicher Weise zur
Kenntniss der Staatsregierung gebracht werden, und nach Möglichkeit
die Umschreibung der Fortgewanderten, resp. die Liberirang der Ge-
meinden von der Abgabenzahlung für die Abwesenden erwirkt werden.
Für die Verpflegung hülfisbedürftiger Glieder von Landgemeinden
in dem Marien** Hospiz des Badeortes Kemmern sind die erforder-
lichem jährlichen Geldmittel bewilligt worden.
290 Correspondenzen.
Einige fernere Beschlüsse der Ritterschaft, welche Indigenats-
ertheilungen und Ausschliessung aus der Matrikel betreffen; des-
gleichen andere Beschlüsse, welche die Niedersetzung von Com-
missionen zu gewissen Vorarbeiten für den nächsten ordinären Land-
tag angeordnet haben; ferner einige Richterwahlen, die Ton der
versammelten Ritterschaft zur Besetzung entstandener Vacanzeri
getroffen worden sind; ferner Beschlüsse, welche das Rechnungs-
wesen der Rittei^schaffcsrentei in einigen Beziehungen zn ändern
bestimmen; endlich Beschlüsse, welche die Geschäftsordnung bei
unseren Landesversammlungen, insbesondere das Capitel von der
Vollmachtsertheilung einigen nothwendigen Modificationen unter-
worfen — finden hier nur der Vollständigkeit halber Erwähnung.
Das Nähere hierüber dürfte dem grösseren Leserkreise der Baltischen
Monatsschrift gegenüber kein eingehendes Interesse beanspruchen,
wenngleich jede einzelne Vorlage, abgesehen von den oben skizzirten
wichtigeren Fragen in erheblicher Weise die Arbeitskraft der
Versammlung während ihrer nur 15tägigen Dauer in Anspruch ge-
nommen hat.
Riga, im Mai. Im Laufe eines nicht vollen Jahres hat die
livl. Ritter- und Landschaft zwei Landtage abgehalten, von denen
nur Weniges, und dieses Wenige nur in der Form von Gerüchten
an die Oeffentlichkeit gedrungen ist. Die Wichtigkeit der in diesem
kurzen Zeiträume gefassten Beschlüsse steht in keinem Verhältnisse
zu dem öffentlichen Schweigen, und im Stillen bahnen sich Reformen
an, welche jedenfalls geeignet sind, das Interesse Ihrer Leser in
Anspruch zu nehmen.
Wenn ich, aus zuverlässiger Quelle schöpfend, Ihnen die Er-
gebnisse dieser beiden letzten Landtage kurz skizzire, so muss ich
vorausschicken, dass die gefassten Beschlüsse bisher noch nicht ihre
definitive Bestätigung gefunden haben. Vor Allem muss desjenigen
Beschlusses erwähnt werden, welcher einen vollständigen Ausbau
der Kirchs pielsconvente bezweckt.. Die Kirchspiele in Livland
bilden tibgesonderte Leistungsverbände, welche von jeher in einer
gewissen autonomen Weise die in ihre Competenz fallenden Ange-
legenheiten nach dem Bedürftiisse des Kirchspieles regelten. Zu
diesen Angelegenheiten gehören Wegesachen, die Anstellung von
Kirchspielsärzten, das ganze Kirchen- und Schulwesen. Wenn maa
erwägt, von wie grosser Bedeutung die erwähnten Gegenstände für
Correspondenzen. 291
jede communale Entwickelang sind^ und dass das Kirchen- und Schul-
wesen zn den Grundlagen jeder staatlichen Existenz gehören, so
kann man daraus auf die Wichtigkeit der Eirchspielsconvente
schliessen.
Bisher bestanden die Eirchspielsconvente aus den beiden
Kirehenvorstehem, den Gutsbesitzern des Kirchspiels oder deren
Stellvertretern, femer aus den Kirchspielspredigem und den Kirchen-
vormündern, jedoch ohne Stimmrecht, endlich aus den mit einer con-
sultativen Stimme versehenen Gemeindevorstehern, wenn über
Bewilligungen der Bauergemeinde zu verhandeln war. Seit der Ein-
führung der Landgemeinde^Ordnung, welche die bäuerlichen Ge-
meinden von der gutsherrlichen Gewalt emancipirte und denselben
ein grösseres Maass autonomer Freiheit überwies, musste der
Kirchspielsconvent in seiner alten Constituirung immer unzu-
reichender werden. Es bildete sich unter diesen Verhältnissen still-
schweigend die Praxis aus, dass bei Bewilligungen die Gemeinde-
Aeltesten hinzugezogen wurden und die Oberkirchenvorsteherämter,
die obere Instanz für Kirchspielsangelegenheiten, empfahlen oft ein
solches Verfahren.
Diesem so oflfen daliegenden realen Bedürfnisse konnte der livl.
Landtag sich nicht entziehen. Bereits ini März 1869 hatte man sich
mit dieser Frage in eingehender Weise beschäftigt, war jedoch zu
keinem Abschluss gelangt. Der Januar -Landtag d. J. nahm diese
Angelegenheit von Neuem auf, und ging vor Allem von dem Grund-
satze aus, dass die Leistungs- Verpflichtung die Basis für eine voll-
berechtigte Theilnahme der bäuerlichen Gemeinden* an den Kirch-
spielsconventen abgeben müsse. Hiernach musste consequenterweise
der Kirchspielsconvent, dessen Functionen verschiedene Leistungs-
Verbände zu Grunde liegen, verschieden zusammengesetzt werden.
Seit den Conversionen der 40er Jahre fällt die politische Landge-
meinde nicht mehr mit der kirchlichen zusammen, diese musste daher
eine besondere Vertretung auf dem Convent erhalten, wenn es sich
um Kirchen- oder Schulsachen handelt. Demgemäss beschloss der
Landtag den Kirchen- und Schulconvent durch einen bäuer-
lichen Delegirten beschicken zu lassen, an dessen Wahl sämmtliche
für die lutherische Kirche und Schule zahlenden Gesindesinhaber
theilnähmen, — und bestimmte ferner, dass zu den Functionen eines
Delegirten nur ein Lutheraner wählbar sei.
Auf dem Kirchspiels convente, der nunmehr sich mit allen
übrigen Angelegenheiten, die nicht die Kirche und Schule betreffen,
befasaen aoU, wird die Landgemelad« durch den Cremeindeältesten
vertreten.
Sowohl dem Vertreter der £i^cbea- als dem der politisch»!
Gemeinde ist ein roUes Stimmrecht eingeräumt worden, wobei selbst-
verstÄndlich die Patronatsrechte nicht alterirt werdön sollen, w&hrend
jedem Gutsbeöitier soviel Stimmen zustehen sollen, als er Rittergüter
im Eirehspiele besitzt. Von den beiden Kirchenvorstehern ist der
eine vom Kirchen- resp. Schulconvente,- der a;ndere vom Kirch-
spielsconvente zu erwählen.
Ein öicht weniger wichfeiger Beschluss betrifft die Erweiterung
der Stimmberechtigung der sog. Landsassen, d. h. derjenigen
nicht zum immatriculirten Theil gehörigen Personen, welche Ritter-
güter besitzen.
Seit der Aufhebung des privilegirten Rittergutsbesitzes war auch
in dieser Beziehung eine Verschiebung der realen und verfassungs-
mässigen Grundlagen eingetreten. Während vor der Aufhebung des
privilegirten Rittergutsbesitzes Rittergüter, sei «s durch Pfand-,
Arrende- oder Kaufcontracte nur von Personen adeligen oder bürger-
lichen Standes im engeren Sinne erworben werden konnten, war
seit jenem Momente die freie Concurrenz sämmtlicher Stände zuge-
lassen worden. Die combinirte Qualification des Rittergutsbesitzes
und der livl. Adelsmatrikel war bisher die Basis für die volle politische
Berechtigung gewesen. In Anerkennung jedoch der nicht geringen
Verpflichtungen, welche der Besitz eines Rittergutes mit sich bringt,
besehloös der Landtag, nicht allein das WiUigungsrecht, weldies dem
Landsassenthunf im engeren Sinne seit jeher zugestanden hat, auf
alle nicht indigenen Rittergutsbesitzer auszudehnen, sondern auch
denselben das Wahlrecht, sowohl in activer, als passiver Bedeutung,
für sämmtliche Justiz- und Verwaltungsämter, mit Ausnahme jedoch
der sogen. Repräsentationsämter zu verleihen.
In kirchlicher Beziehung hat bereits der vorigjährige Land-
tag sein Gewicht in der vom hiesigen Consistorium angeregten Frage
der Theüung zu grosser Pfarren in die Wagschale- geworfen und
beschlossen, durch Localcommissionen diese Angelegenheit in ernsten
Angriff zu nehmen, und mit pecuniären Unterstützungen helfend
einzutreten wo die Mittel des Kirchspiels nicht mehr ausreichen.
Einer reiflichen und eingehenden Berathung ist femer das
hiesige Schulwesen unterzogen worden. Bereits der Landtag vom
Jahre 1869 hatte den beiden Privatlehranstalten zu Birkenruh und
Fellin zur Aufbesserung der Lehrergehalte jährliche Subventionen
Oorres|K)nden2en. 293
zugeöichert, Öer diesjährige Jantiar- Landtag hat die Errichtung
von Seminarclassen zur Bildung von Gemeindeschnllehrem be-
sehlosseü, und zu diesem Zwecke eine jährliche Subvention ausgesetzt.
Endlich sollen die Kreislandschulbehörden durch 2 bäuerliche Bei-
sitzer verstärkt Vretden, um auf diese Weise den Bauerstand immer
inniger mit den lateressen der Schule zu verbinden.
Es mag auch noch des Beschlusses gedacht werden, welcher
zu Bildungszwecken des Landvolkes ein Capital von 10,000 Rbl.
ausgesetzt hat. Die Verwendung dieser Schenkung, welche zum
Gedächtniss der vor 60 Jahren erfolgten Aufhebung der Leibeigen-
schaft in Livland dargebracht wurde, ist noch nicht definitiv festge-
setzt Worden.
Schliesslich darf eine Angelegenheit nicht unerwähnt gelassen
werden, welche allerdings noch zu keinem völligen Abschluss
gelangt ist, in ihrer Tragweite jedoch von grösster Bedeutung sein
dürfte. Die livl. Ritterschaft hat die Nothwendigkeit der Ver-
tretung der kleinen Städte auf dem Landtage anerkannt und
eine Commission niedergesetzt, welche die Modalitäten der Zulassung
des städtischen Elementes zu prüfen hat.
Alle diese Beschlüsse und Bestrebungen enthalten Keime zu
einer normalen Weiterentwickelung, und es kann hier nur der
Wunsch ausgesprochen werden, dass man fortfahren möge an reale
Bedürfnisse anzuknüpfen, der Entwickelung eine Richtung tu geben,
wo dieselbe erforderlich ist, und durch Gesetze zu formuliren, was
im politischen wie im Rechtsbewusstsein bereits eine Existenz ge-
wonnen hat.
Reval, im Mai. Einem grossen Theile des Leserkreises der
Baltischen Monatsschrift werden aus Veröffentlichungen, welche die
Revaler Zeitung ihrer Zeit (vgl. Nr, 58, 60 der Rev. Ztg. d. J.) brachte,
die meisten der Gegenstände bekannt sein, welche den im März d. J.
in Reval versammelt gewesenen estländischen Landtag beschäftigt
haben. Ich beschränke mich in Nachstehendem darauf, die wenigen,
aber gewichtigen Verhandlungen zu berühren, welche auf den Ausbau
und die Unterstützung der inneren Verhältnisse der Provinz abzielten:
Ausser einigen Willigungsfragen untergeordneterer Bedeutung
(Unterstützung zum Bau des evangelisch-lutherischen Hospitals in St.
Petersburg und der estnischen Karlskirche in Reval) beschäftigte den
Landtag ein Antrag, welcher die Garantie der Ritter- und Landschaft
?94 Correspondenzen.
für die Emission von Obligationen bis zum Betrage von 2 Uillionen
Rubel beanspruchen, um mit diesen Mitteln die Darlehen zd
erhöben, welche von der estländischen Creditcasse auf die Hypothek
von Grundstücken des Banerlandes vergeben werden, und so den Ver-
kauf derselben nach Möglichkeit zu fördern. Dieser Antrag wurde
einer Commission überwiesen, welche darüber dem ritf^rschaftUchen
Äusschuss behufs weiterer Beschlussfassung zu berichten bat.
Ein Antrag, welcher den Bauerlandgemeinden eine Betheiligung an 1
den Predigerwahlen einzuräumen bezweckte, welche bisher, wo '
keine ausschliesslichen Patronatsrecbte besteben, von den eingepfarrten
Rittergutsbesitzern auf den Eirchspielsconventen vollzogen werden —
wurde dem Provinzialconsistorium überwiesen und behielt sich der
Landt^ vor, falls letzteres eine solche Veränderung des bestehenden
Wahlmodus ftlr zweckmässig und dem kirchlichen Bedürfniss ent-
sprechend erachten sollte, auf den Antrag näher einzugeben.
Schliesslich gelangte noch ein Antrag zur Verhandlung, welcher
eine Vertretung des Bauernstandes und der Städte auf dem
Landtage bezweckte. Wie Sie wissen werden, haben die nicht zur
Adelsmatrikel gehörigen Rittergutsbesitzer und diejenigen unserer |
Städte, welche Rittei^üter besitzen, bereits eine Vertretung auf dem
Landtage gefunden, — und immer mehr fasst die Idee Wurzel, auch dem
kleinen Grundeigenthum (Landstellen- und Bauergesindeseigenthttmem)
eine adäquate, nach der Steuerverpflichtung (Hakenzahl) bemessene
Vertretung zu gewähren. Der erwähnte Antrag wollte den Städten '
als Municipalkörpern und der Bauerschaft als Stand eine Vertretung '
sichern, abgesehen von ihrem Besitz and ihrer Steuerverpflichtung,
und somit eine ganz neue Basis für die Landesvertretung schaffen.
Dieser schneidende Gegensatz zu der bisherigen historischen Ver-
tretungsbasis , sowie die unreife Form , in weicher er vorgebracht
war, hatten seine Abweisung zur Folge.
Die Bestätigung dieser Beschlüsse ist noch nicht erfolgt.
N o t \ z e n.
Die Abschaflfung des privaten Grundeigentliums, von Dr. A. Wagner, Leipzig.
Duncker u. Humblot. 1870, 48 S.
A/as wüste Treiben des internationalen Arbeiterbundes auf seinem
vierten, im September 1869 zu Basel abgehaltenen Congresse h^t der
jedem baltischen Leser von Dorpat her wohlbekannten Feder des
jüngst von Fredburg nach Berlin berufenen Professors A. Wagner
ein.« Schrift entlockt, welche dazu bestimmt ist, die durch die Toll-
heiten jenes Congresses etwa erhitzten Köpfe zu ernüchtern. Es
handelt sich um nichts Geringeres, als die Abschaffung des Privat-
eigenthums an Grund und Boden und die Einführung eines CoUectiv-
oder Gesammteigenthums an demselben. Das, neben ähnlichen Merk^
Würdigkeiten, wie z. B. der Beseitigung des Erbrechts, ist das Ziel
jener social-demokratischen Schwärmer, ein Ziel, eben so barok und
ausschweifend, wie etwa das Verlangen J. J. Rousseau's es war, die
Menschheit zum Ur- und; Naturzustanjde zurückzuführen, nur ohne
den Geist und die Poesie, die diesem Verlangen den Zauber liehen,
Die Schrift wendet sich zunächst gegen den blinden Doctrina-
rismus des Congresses , welcher , wie früher dem Capital, so nun
dem privaten Grundeigenthum den Krieg erklärt, und bei seinem
Sturmlauf gegen die gewordene Ungleichheit in der Vertheilung des
Bodens, gegen ^alle Begriffe von Moral und Gerechtigkeit des lebenden
Geschlechts'', gegen den proudhonschen Diebstahl an der Mutter Erde
sich's wenig kümmern lässt, dass er dabei unwandelbare Grundregeln
der menschlichen Natur und zwingende Gesetze der Bodencultur mit
über den Haufen zu rennen sich bepiüht. Hierzu gehören vor
Allem die verschiedene Tüchtigkeit der einzelnen Men-
schen und die mit höherer Bevölkerung und Cultur noth wendig
steigende Jntensität der Bodenbebauung. Auf diesem zwin-
genden -Zusammenhang zwischen der Steigerung der Bevölkerung
i^id*J der intensiveren Bodenbebauung ruht die ökonomische Ent-
wickelung Europa's und die Ausbildung des Privateigenthums am
296 Notizen.
Boden, und der Nachweis hiefür ergiebt sich eben so deutlich der
Zeit, als dem Räume nach. Wie wir Jim Westen durch zeitliches
Zurückgehen von dem heutigen intensivsten zu einem äusserst exten-
siven Landbau, und damit zugleich von dem abgeschlossensten
Privateigenthum zur Gemeinsamkeit . des Bodens gelangen, so führt
uns eine räumliche Wanderung von Westen nach Osten heute aus
volkreichen Gegenden, in denen kaum mebr die Spuren der früheren
gemeinsamen Bodenbenutzung zu finden sind, in die dünnbevölkerten
Länder der russischen Dorfgemeinden. Unseren germanischen Vor-
fahren waren die Gemeindeeinrichtungen wohlbekannt, welche der
Dorfgemeinschaft das Eigenthum an den Ländereien des Dorfes zu-
wiesen und dann, im Laufe der Zeit, allmälig ein Privateigenthum
an der Hofstätte, an dem Garten, dann am Acker, dann an der
Weide herausbildeten, während der Wald noch heute gross tentheils
im Gemeineigenthum geblieben ist. Der Flurzwang stellte die gleich-
massige Bearbeitung der einzelnen Landloose — in unserer land-
wirthschaftlichen Terminologie einen gleichmässigen ^Turnus* —
h€r; die Landloose wurden in sogenannten Kämpen oder Gewannen
jedem Dorfgenossen in möglichst gleicher Grösse zugetheilt, und in
der Mark wurde dem Einzelnen sein Antheil an Wald und Weide,
die Were, bestimmt.
In England finden wir zur Zeit der Angelsachsen und Nor-
mannen dieselben landwirthschaftlichen Verhältnisse wieder. Die
Gemenglage der von den Dorfgenossen bearbeiteten Ackerparzellen
machten den Flurzwang nöthig, nur Haus und Hof waren eingehegt,
die Weide war gemeinschaftlich auch mit dem Grundherrn. Dieser
aber hatte an der Weide bedeutende Vorrechte, aus denen sich
später, besonders durch das System der Einhegungen und die Ver-
ordnungen Heinrich's VHL das Uebergewicht des Grossgrundbesitzes
entwickelte. Mit dem Umsichgreifen der Geldpacht im 14. Jahr-
hundert begann bereits die alte Feldgemeinschaft zu verschwinden.
Doch giebt es noch heute in England Dorfschaften, welche die alte
gemeinschaftliche Dreifelderwirthschaft erhalten haben. *)
In Irland war in ältester Zeit gleichfalls der Landbesitz gemein-^
schaftlich. Hier vertrat die altirische Sept, welche sämmtliche An-
gehörige eines Geschlechts umfasste, die germanische Dorfgenossen-
schaft. Ihr gehörte der Boden, and starb ein Glied der Sept, so
wurde das Land, welches es innegehabt, nicht blos unter seine
*) Vergl. Erwin Kasse: üeber die mittelalterliche Feldgefmeinsehaft und
die Einheguhgen des sechszehnten Jahrhunderts in England. Bonn 1869.
k
Notizen. 297
Bänder, sondern unter alle Septgenossen getheilt. Immer neue
Theilungen des alten Septlandes führten allmälig die Sonderung des
privaten Grundeigenthums herbei. Die dem Ackerbau verderbliche
Erbfolge der Sept wurde gesetzlich erst durch Jacob L aufgehoben.
Was vor 1000 Jahren. im Westen bestanden hat, das ist heute
im Osten Europa's noch möglich. Nur ist die russische Gemeinde-
verfassung weder „ein Urphänomen des slavischen Volksgpistes",
noch ein Phänomen gerade des Volksgeistes, sondern eine Schöpfung
der Staats gesetze des 17, und 18. Jahrhunderts. Slavophilen
und andere russische und nichtrussische Schwärmer haben lange
dieses Dogma gepredigt und darauf welthistorische Missionen ge-
baut, ja selbst grosse Staatsmänner des Westens, wie Cavour, haben
sich davon blenden lassen. Die Apostel dieses Evangeliums, welches
namentlich durch v. Haxthausen in Deutschland Eingang fand und
vertreten ward, entwaffnet zu haben ist vor Allem das Verdienst
des russischen Historikers Tschitscherin *). „Keine Spur^, sagt
er, „von dem jetzt allgemeinen Gemeindebesitz mit den Gemeinde-
theilungen findet sich in der Zeit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts.
Der Hervorgang des russischen Gemeindebesitzes aus der russischen
Leibeigenschaft und der Kopfsteuer lässt sich historisch nachweisen."
Behufs Entrichtung der gleichen Leistungen wurden den Bauern ihre
gleichen Landantheile gegeben. Als dann die glebae adscriptio
eingeführt ward, befestigte sich damit dieses wirthschaftliche System
und bekam seine heutige Gestalt durch die Decretirung des Kopf-
steuersystems und der Seelenrevisionen Peters des Grossen. Die Ver-
pflichtungen, die der Staat dem Bauer auferlegte, haben den Zwang der
Gemeinde zur Uebernahme des Gemeindelandes, die Solidarhaft der-
selben für Leistungen, besonders für die Kopfsteuer, herbeigeführt.
So hat sich die russische Dorfgemeinde entwickelt, welche aller-
dings vieles Gemeinsame mit den a],tgermanischen Institutionen auf-
weist. Wir finden auch hier zuerst Hof und Garten ausgeschieden,
-das Uebrige gemeinsam ; wir finden die Landloose mit dem Flur-
zwang, die Gewanne (denen bei uns die sogen. Schnurländereien,
in Russland qepecaojiocHbiH scmjih genannt in landwirthschaftlicher
Hinsicht entsprechen), endlich die gemeine Weide. Der socialistische
Charakter, den die russische Dorfgemeinde heute an sich trägt,
macht sie dem Socialdemokraten des Westens werth, und die
•) Vgl. Staatswörterbuch von Bluntschli u. Brater, VI., Art. Leibeigenschaft
in Russland.
Baltische Monatsschrift, N. Folge, I. Bnd., Heft 5 u. 6. 20
298 Notizen.
Erfahrungen des Westens verdammen sie. „In dem einen entscheiden-
den Hauptpunkte treffen beide „ Landsysteme " (die russische und die
social-demokratische Agrarverfassung) zusammen und unterscheiden
sie sich gemeinsam gleichmä^sig von unserem geltenden System des
privaten Grundeigenthums: dass beide das persönliche Privat-
interesse, welches in unserem System den Eigen thümer und Be-
wirthsfhafter an seinen Boden fesselt, für entbehrlich zum
Zwecke ordentlicher Bewirthschaftung und für positiv
schädlich in allgemeiner ökonomischer und socialer Be-
ziehung halten."
Wie das Collectiveigenthum des baseler Congresses, so verkennt
die russische Agrarverfassung jene beiden Gesetze von der verschie-
denen Tüchtigkeit des Menschen und von der Steigerung der Inten-
sität der Bodencultur mit der Zunahme der Bevölkerung. Wie sehr
der bessere, arbeitsamere Theil der Landbevölkerung in Russland
durch die wachsende Masse der Faullenzer und Taugenichtse, für
die er verantwortlich ist, leidet, wissen wir aus täglich und tiberall
wiederkehrenden Klagen. Dabei tritt ein bedeutender Unterschied
zwischen dem Norden Russlands und dem Stiden mit seiner Schwarz-
erde hervor. Denn hier erfordert der bis jetzt wenigstens noch reiche
Boden und die noch spärliche Bevölkerung nicht einen intensiveren
Ackerbau. „Aber bald muss der schlechte, immer mehr selbst der
gute Boden erschöpft werden, weil das Interesse fehlt, ihn in gutem
Zustande zu erhalten."
„Nur die extensivste Bewirthschaftung" — dieser obzwar sonnen-
klare Satz kann dennoch nicht genug betont werden — „duldet die
Gemeinschaft des Grundbesitzes". Beide Begriffe bilden zwei Paral-
lelen in der Geschichte. Mag die Bodengemeinschaft, von der wir
sprechen, auch historisch nicht mit dem Nomadenthum zusammen-
hängen — sie erinnert im südlichen Russland doch in manchen
Stücken an dasselbe. Der Nomade hat eigentlich mit dem Boden
selbst so wenig zu thun, als der Jäger mit den Bäumen des Waldes
oder der Angler mit den Steinen im Bache; er dient ihm höchstens
als Wegweiser für seine Ziele, die guten Weideplätze. Der Nomade
geniesst nur was ohne sein Zuthun, völlig unabhängig von ihm der
Boden erzeugte, ihm ist der Begriff der Scholle in unserem Sinne
fremd, er findet seine Nahrung heute hier, morgen dort. Im Lande
der Schwarzerde erinnert der Ackerbau an diese Thätigkeit: er be-
steht vorwiegend im Ernten, ein Bebauen des Bodens im Sinne des
westlichen Europa findet kaum statt. Es wird anTUapital und Arbeit
k.
Notizen. 299
nar so weoig in den Boden hineingethan, als derselbe in demselben
Jahre zurückgiebt, und im nächsten Jnhre wandert der Landmann
rnhig weiter ohne von dem Seinen dort etwas zurückzulassen.
Die Eogik, die ihn leitet, ist diese: weil ich nichts von dem Meinen .
— an Arbeit oder Geld — in den Boden hineingethan habe, so habe
ich auch nichts zurückzufordern, und was er von selbst geben will,
das nehme heute ich, morgen ein Änderer. Unser Begriff der Scholle
aber ruht auf der anderen Schlnssfolgerung: weil ich in den Boden
' von dem Meinen etwas hineinthue, so darf ich es zurück-
fordern; erst dadurch erhält das bestimmte Stück Erde für mich
seinen Werth, erst diese Forderung, die ich an den Boden habe,
bindet mich an denselben. Erst Arbeit und Capital binden an die
Scholle, bilden den Ackerbauer. So verwerflich die glebae ad-
scriptio ist, so nothwend^ für die Gultur ist — man gestatte den
Ausdruck: die glebae adlaboratio.
Das äussere Band, durch welches die Staatsgesetze den Leib-
eigenen in Russland an den Boden fesseln, mnss durch das innere
Band der Arbeit und des Capitals ersetzt werden. Dieses ist aber
nur möglich, wenn der aus der Leibeigenschaft befreite Bauer auch
von der „Zwangegewalt der tiemeinschall" befreit wird, wenn der
individuellen Tüchtigkeit, der Arbeit, dem Capital das Feld ange-
wiesen wird au selbständiger Wirksamkeit, Pass die Verhältnisse
selbst danach hindrängen, lehren uns die mannigfachen Misstände,
die sich im Lauf dieser 9 Jahre seit dem Februarmanifest in Russ-
land herausgestellt haben, und wenn der Reichthum des Südens die
heutige Agrarverfassung noch leidlich zu ertragen vermag, so steht
die Zukunft des Nordens doch sehr in Frage.
Im März d. J. brachte der „Golos" die Nachricht, dass, nachdem
schon früher von dem Landamt des Petersburger Gouvernements die
Aufhebung des Gemeindebesitzes auf dem Wege der Gesetzgebung
ai^eregt worden sei, dasselbe gegenwärtig ein dahin zielendes Pro-
ject der Landschaft vorgelegt habe. —
Hjttheilangen aua den nachgelasBenen Papieren eines preusaischen Diplomaten,
heraoagegeben von dessen Keffeu L. v. L., 1. Bnd., Berlin 1868, Fr. Eort-
kampf, 395 S.
Dieser erste Band enthält eine Reihe von Schriftstücken aus der
viftihftwefftpn Zeit von 1773 bis 17flß. Er o-ehen ihm einip-e Nnfih-
300 Notizen.
voraus, dessen Kachlasse diese Mittheilungen entnommen sind. Die
von dem Herrn von Schladen in höherem Auftrage ai^efertigtea
historischen Auszüge aus den Berichten der preuseischen Gesandt-
schaft am wiener Hofe in den Jahren 1779 bie 1787 filhren uns
in das rege diplomatische Treiben jener Zeit. Die letzten Tage
Maria Theresia's, der despotische Reformator Joseph IL gegenüber
der abwehrenden Politik Preussens, die Complicationeo des deutschen
FürstenbundeB, die orientalischen, polnischen, niederländischen Ver-
wifikelungen werden uns in kurzen Streiflichtern vom diplomatiecben
Gesichtspunkte aus vorgeführt. Eine Denkschrift des Ministers Lnche-
sini richtet sich gegen den immer wieder auftauchenden Versuch
des wiener Hofes, durch einen Tausch Bayerns gegen die öster-
reichischen Niederlande seine Stellung im Reich zu verstärken.
Weitere officielle und private Aufzeichnungen lassen uns bald in
die militSrischen Operationen des französischen Revolutionskrieges,
bald in die diplomatischen des baseler Friedens einen Blick werfen.
Verschiedene Actenstucke, die dritte Theilung Polens betreffend, und
eine zwischen den Gesandten in Wien und Basel, Hardenberg und
Luohesini geführte Correspondenz lassen uns auf der einen Seite den
rasch wachsenden Elnfluss des russischen Hofes auf die europäischen
Dinge, auf der anderen die schwanke Haltung der europäischen
Mächte gegenüber dem revolutionären Frankreich wahrnehmen.
Von besonderem Interesse für unsere Provinzen ist aber die
unter Nummer V, eingereihte Entzifferung einer Reihe von Berichten
der preussischen Gesandten in Polen und Kurland aus dem Jahre
1791, an das preussische Ministerium gerichtet.
£s sind 9 Berichte, von denen der letzte am 1. November, die
übrigen sämmtUch im Monat October 1791 geschrieben sind. Sechs
dieser Berichte sind aus Warschau, drei aus Mitau datirt, alle ohne
Unterschrift. Es sind Bruchstücke einer umfassenderen Correspon-
denz, deren weitere Veröffentlichung von grossem Interesse wäre.
Sie fallen in die Zeit, da der grosse Umschwung in der preussi-
schen Politik bereits erfolgt, die traditionelle Politik Friedrich's H.
aufgegeben war. Drei Monate früher war der Träger dieser Politik,
ir™-*„K„_~ «... j„™ "'"isterium entlassen worden und an seine
[er und Haugwitz getreten. Nur ein Jahr
Einfluss in Polen Überwiegend. Hertzbei^'s
buttert, suchte noch die Eingriffe des durch
pften Rassland abzuwehren und zugleich
'olens zu verhindern. Während Graf Goltz
Notizen. 301
Gesandter in Warschau war, erachtete Prenssen es fät nöthig, einen
eigenen GeechäfCflführer nach MitaQ an den Hof Herzog Peter's zu
senden. Mit einem von Hertzberg nnd Finkenetein unterm 21. Februar
1791 ausgestellten Beglaubigungsschreiben versehen war der Geheime
Finanzrath Karl Ludwig von Hätte 1 in Uitau angelangt und am
5. März als preussischer Ministerresident von der Landesregierung
empfangen worden. Damals vielleicht mag Hertzberg mit dieser
Mission die weitgehenden Pläne verbunden haben, von denen diese
Berichte Zeugniss ablegen. Die Ideen, die sich in Hütters Berichten
aussprechen, stimmen wohl zu der Politik Hertzbei^'s, nicht aber zu
der seiner Nachfolger. — Wenige Monate später musete Finkenstein
abtreten und Hertzberg verlor den Rest seines Einflusses. Gerade
um diese Zeit wurde. der Systemwechsel offen erklärt. Polen wurde
durch Annahme der Verfassung vom 3. Mai 1791 Erbkön^eieh
und man war bemüht, das, Kurhaus Sachsen für den Todesfall
Poniatowsky's zur Annahme der Krone zu bewegen.
Freussens Einfluss in Polen war dahin, das hertzbei^sche System
au%egeben. Aber einzelne Ausläufer dieses Systems blieben noch
lebendig und wurden, wenn auch trJ^e und ohne Nachdruck ver-
folgt. Zu diesen mögen auch die Pläne auf Kurland gehört haben.
Kurland und Pillen standen unter polnischer Lehnshoheit. Aber eben
war der piltener Kreis in der grössten Aufregung wegen der in
Warschau wieder auftauchen den Absicht, ihn dem Königreiche einzu-
verleiben. König Friedrich Wilhelm U. bevollmächtigte den Grafen
Goltz in Warschau, die Geschäfte dieses Kreises zu unterstützen
und Hess den piltenschen Ständen durch den beim Herzoge von Kur-
land accreditirten Minister seinen Schutz versprechen. Auch in Kur-
land war die Besorgnisa vor einer Einverleibung in Polen durch
Pläne wachgerufen, die man in Warschau im Hinblick auf das Ab-
leben des alternden Herzogs Peter schmiedete, welcher ein Jahr zuvor
den einzigen Sohn verloren hatte. Der russische Hof, durch die.
303 Kotizen.
einer Tochter des Herzogs sollte die pereönliclLe Verbindung herstellen,
und dieser Plan scheint so sehr Anklang gefunden zu haben, dass
der Minister bereite Im zweiten Bericht melden kann, wie der Herzog
ihn fortwährend dränge, für die Erfüllung diesem liebsten seiner
Wünsche weitere Sehritte zu thun. Der Minister selbst, vor kurzem
erst von diesem Project durch einen Brief der in Warschau weilenden
Herzogin an ihren Qemahl In Kenntniss gesetzt, wird ebenfalls von
dem lebhaftesten Elifer für dasselbe entzündet. Er unterstützt es
beim Kbuige durch eine Auseinandersetzung der politischen Bedeu-
tung und Lage Kurlands, der Vortheile und Nachtheile, welche sich
an die eine oder andere Lösung dieser Thronfolgefrage knüpfen
würden. Mit vieler Wärme kommt er in jedem Bericht auf diesen
Gegenstand zurück und sucht das Interesse des Königs für denselben ■
lebhafter anzufachen. Er sticht den Herzog zu überreden, hier-
für eine Partei im Lande sich zu verschaffen, ja, da er den Herzog
für unfähig hält, seine Rathschläge durchzuführen, so will er, wahr-
scheinlich des Einverständnisses mit der einilussreichen, eben in War-
schau tbätigen Herzogin gewiss, ohne, sogar gegen den Herzog eine
Partei für den Prinzen von Oranien im Lande organislren. Der
ganze Plan scheint indess sehr geheim, mit zaudernder Vorsicht durch
Vermittelung der Herzogin angeregt worden zu sein, denn von Hüttel
beklagt sich, noch immer bestimmter Befehle des Königs in dieser
Hinsicht zu entbehren. —
Das Verhalten der preusskchen Diplomaten in Mitau und War-
schau in Bezug auf die inneren Verhältnisse Kurlands wurde "tlurch
jene Fri^e natürlich sehr wesentlich bestimmt. Der alte Hader
zwischen Herzog und Adel reifte damals dem endlichen Schicksal
ag wurde polnischer von Jahr zu
ch nicht mehr auf die Politik be-
Ehre ei^riff. Auch hiervon finden
ise in diesen Berichten. — In jenen
;s und des Adels stellte sich das
Ute des ersteren. „Seitdem ich die
l kenne," schreibt von Hüttel, „dahin
Herzogthume Sr. Durchlaucht dem
L verschaffen, so werden diese (d. h.
meinen Augen doppelt wichtig, weil
id unendlich dabei verlieren würde,
gegründeten Hechte verminderte oder
Notiiien. 308
den Widerstand des jetzigen Herzogs gegen die Cabalen des Ritter-
standes und gegen die Absichten oder geheimen Pläne der Polen.**
In diesem Sinne wirkten von Hüttel in Mitau und Graf Goltz
in Warschau. Während jener unter dem kurischen Adel warb,
wachte Goltz über den Verhandlungen, welche in Warschau vor der
fUr die Schlichtung der kurischen Streitigkeiten niedergesetzten Com-
mission stattfanden. „Obgleich**, wie Goltz sich ausdrückt, „die De-
pntirten des Adels Himmel und Erde, ja alle Springfedem der
schlauesten Intrigue in Bewegung setzten**, in der Commission die
Mehrheit der Stimmen zu erringen, hoffte der Gesandte doch, dass
das zu fällende Urtheil den Reichstag bewegen werde, sich einmal
zu Gunsten eines Vergleiches auszusprechen, „welcher die Einigkeit
zwischen dem Oberhaupte und den vorzüglichsten Gliedern der
Nation wiederherstellen, Kurland von der Gefahr der gegen dasselbe
gefassten Pläne befreien würde.** Er rechnet hierbei ebenso sehr
auf den Beistand der Herzogin, als zu derselben Zeit Hüttel ihre
Macht „die Gemüther zu lenken,** in Kurland zu verwenden hofft.
Es scheint, dass auch in dieser Sache, wie in so vielen, die Her-
zogin die Seele der Action war.
Wie und wann der Plan, für welchen Hüttel so warm eintrat,
zerstob, ist aus den vorliegenden Berichten nicht zu ersehen. Ob
„die voreilige Mittheilung**, welche dem polnischen Gesandten zu
Warschau, Fürsten Jablonowsky gemacht wurde, und welche Hüttel
beunruhigte, das Ganze scheitern machte, wissen wir nicht. Es
scheint wahrscheinlich, dass dieser Plan, unter dem System Hertz-
berg's, vielleicht von ihm selbst ersonnen, zugleich mit dem System
zerfloss als Preussen, aus so vielen durch Friedrich H. und die
Träger seiner Politik gewonnenen Stellungen hinausgeworfen, dem
unglücklichen Kreuzzuge der conservativen Interessen gegen das
revolutionäre Prankreich entgegenschwankte. —
E. B.
Leitfaden der vaterländischen Geschichte der Ostseeprovinzen. Dorpat. W. Gläser
1869. 208 S., kl. 8o. Cart. 90 Kop.
Unter den im letzten Jahre zahlreich erschienenen literarischen
Productionen auf dem Felde baltischer Geschichte ist eine bedacht
gewesen, dem Bedürfniss des Schulunterrichts Rechnung zu tragen.
Denn, wenngleich noch lange nicht an allen, so doch an den höheren
und mittleren Schulen ist die Heimatsgeschichce unter die Lehr-
gegenstände aufgenommen worden.
804 Notizen.
Freilich als nicht vollberechtigtes Fach und in sehr verschiedener
Weise: als Anhang zur Heimatskunde, wo diese gepflegt wird; als
Episode des Unterrichts in der allgemeinen Geschichte, oder selb-
ständig, aber in knappem Zeitmaass ;^ hier jährlich, dort in freien
Perioden ; hier in dieser, dort in jener Classe, und endlich verschieden
je nach den Kenntnissen des Lehrers. Denn die ihm gestellte Auf-
gabe ist von besonderer Schwierigkeit. Während die anderen Lehr-
fächer, durch die pädagogische Erfahrung mancher Jahrzehnte
schulgerecht gemacht, in ein gewisses Schema gezwängt sind, dessen
Gerippe allgemein für nothwendig erkannt, dessen Belebung dann
der Individualität des Lehrers anheimgegeben ist, muss dieser aus
dem. Stoflf der vaterländischen Geschichte die dem jugendlichen Ver-
stände fassbaren und für das jugendliche Gemüth wirksamen Momente
sich erst selbst hervorheben ; er muss sich klar werden über die
Tragweite der einzelnen Ereignisse, ob sie Motore der Entwickelung
sind oder accidentellen Charakter tragen; er muss zwischen den
vielfach sich entgegenstehenden Angaben seine Entscheidung treffen
und verschiedene verwickelte Verhältnisse unter einen dem Re-
ceptionsvermögen seiner jungen Zuhörer adäquaten Ausdruck bringen.
Es gehört dazu keine geringe Vertrautheit mit der zu bewältigenden
Materie, zumal die vorhandenen umfassenderen Darstellungen fast
keine Handhabe für diese Sichtungsarbeit gewähren und ausserdem
nur eine derselbeu, Richter's bekanntes Werk, das sich nicht gerade
durch scharfe Gliederung des Stoffes auszeichnet, die Geschichte der
Provinzen bis auf den Beginn der russischen Herrschaft führt. Und
doch scheint uns die provinzielle Geschichte auf der Schule noth-
. wendig bis wenigstens zu dem bezeichneten Zeitpunkt herabgeführt
werden zu müssen, wiewohl auch die weitere Verfolgung bis zum
Jahre 1819, wo thunlich, sehr wünsch enswerth wäre. Denn bei den
letzten Jahrhunderten erwächst der lernenden Jugend ein neues
Interesse am Unterricht durch die Wahrnehmung, dass die Geschicke
der Heimat sich nun so vielfältig mit denen des übrigen Europa
berühren und ihr anderswo bekannt gewordene Persönlichkeiten auch
auf livländischem Boden eine Rolle gespielt haben, die an sich schon
ihre Aufmerksamkeit spannen würde.
In den diesem Lehrvortrag gewidmeten Stunden hat Referent,
welchem gerade bei diesem Fach mit der Erzielung eines möglichst
ungestörten Eindrucks auf die Zuhörer am meisten gedient wäre, die
Behinderung eines solchen durch die so erklärbare Sucht zum Nach-
schreiben am schmerzlichsten empfunden, ohne doch selbst an die
Ab^aui^ eii^ßs geeigneten LeIirlM;i4ie9 gebe^ f&u ^(^^en, WW^ P^
sicher wäre, es nac^ der YoUendung ungeiiüg;ep4 ^^ jt)^fiudei;i. Denn
abgesehen tqhi GriLiidsa<tz, das8 die Vortragsweise in je^m Schul-
jahr Bach dejQPi DurcbschnitUstaade der jCla/s&e aicji richten pn^^, ^pd
fticti^ich jährlich eine andere Geslialt gewinnt , bat I?^. rijjcl^sicJWUph
eineß geßchiditMehen Jahrbu^chß heßondere Princ^piep, dere^ D^rcji-
führbarkeit oder Brauchbarkeit jiich erst mit ^r Zeit e^prpj^ep mus^*
Den^ leicht au erbebenden Vorschlag , in jeder S<;]i^n4e eip Ifjor^^es
Dictat ^^ geben, stehen ajach triftige Gründe entg^^en, »u ^x^ix
Anfiihrui]^ hier nicht der Ort sein dürfte.
Unter solchen Erfahrungen und Gesichtspunkten ist das oben
genannte Büchlein vom Referenten willkommen geheissen, wenn-
gleich er nicht verhehlen mag, dass er mit einigem Vojpurtheil, her-
vorgerufen durch eine ihm eigene Idiosynkrasie gegen scfaleohtes
Papier, zahlreiche Druckfehler und — Anonymität, an die Duroh-
sicht desselben gegangen ist. Die Druckfehler sind namenttiefa in
einem Schulbuch, auf welches die Schüler doch, so zu sagen, schwö-
ren sollen, nicht wenig zu rügen. Und wie viel Unrecht kann der
Lehrer durch sie den armen Jungen zufügen! — Der Leitfaden ist
vermuthlich für Kreisschulen und mittlere Classen der Gymnasien
bestimmt — nach der Schale der Historie ^des weiteren Vaterlandes"
zu schliessen, die vorn und hinten den Kern dieses Geschiohtgfeuohs
einschliesst, — und da dürfte jene ihren Zweck erreichen; denn für die
oberen Classen wäre sie unnütz, da sie ja in ihnen in genuiner
Sprache hinreichend tractirt wird.
Sein eigentliches Thema verfolgt der Verfasser auf 158 Seiten
in im Ganzen zweckentsprechender Weise. Die Darstellung ist knapp
gehalten, ergeht sich nur bei der älteren Geschiphte bis zur Ver-
einigung der beiden Orden, auch bei Einführung der Reformation
und dem nordischep Kriege in breiterer Erzählung und lö-sßt den
Fluss der Ereignisse meist in genügender Klarheit hervortreten.
Selten trifft man auf ein Zuviel; dagegen wird Manches vermißst
werden. Anderes ist zwar erwähnt, doch — vielleicht im Streben
nach Kürze — nicht zu seiner Geltung gebracht. Der Ergänzung
des Lehrers ist freier Raum geboten: so ist Estland sehr stief-
mütterlich bßhandelt, und in Riga wird der Kalenderstreit sieber
nicht befriedigen; Karl IX. von Schweden wird ganz über's Knie
gebrochen, w4 P^tkul \^w^i gfl^ dürftjg d^-yq?!; 4ie gao^^l^i) Ver-
hältnisse werden kaum gestreift. Aber nicht nur Stoff ist hinzu zu
thun, er muss auch \m Vortrage erst i?iit Geist durchcjruugßn, mit
warmem Herzblut beseelt werden — und 4^' ist der Leitfaden ganz
geeignet, den verschiedensten Anschauungen und Stimi^upgeq gerecht
zu werden, d^ er selbst durch eiue ganz ausserordentliche Fa^blpsig-
keit sich auszeichnet und in keinem Falle irgend welchen A.nsichten
des Lehrers entgegen zu treten vermöchte. — Ne|.ch Vßrbepserung
der Druckfehler würdeu nicbt viele Unrichtigkeiten und i^chiefe
\Vendungen nachbleiben; einige (ausser fiem noch ipanaer picht
806 Notizen.
schwindenden Gebrauch des Wortes „Heermeister** für „Herrmeister"
— dominus magister) erlaubt sich Ref. hervorzuheben.
S. 20 sind die Kuren zum litauischen Stamme gezählt, während
sie mit den Liven eng verwandt waren. S. 25 ist Nowgorod's Ein-
wohnerzahl für das 12. Jahrhundert wohl zu stark mit 40,000 an-
gegeben. Meinhard kam sicherer um oder vor 1184 nach Livland
und Bertold starb 1198. Der Ausdruck des Chronisten Heinrich,
welcher jetzt nicht mehr für einen Letten gehalten wird, Wiatschko
von Kokenhusen sei geflohen um nie wieder heimzukehren, wirkt
im Leitfaden verwirrend, weil er später doch in Dorpat erscheint.
S. 46 lässt der Verfasser iäischof Albert den König Waldemar zu
Hülfe bitten, nachdem derselbe vom Papst die EJrlaubniss, die den
Heiden abzugewinnenden Länder zu behalten, sich ausgewirkt, wäh-
rend die Zeitfolge umgekehrt ist. S. 65 ist die Phrase: „Es war
ein bedeutungsvoller Augenblick in Albert's Leben, als er über die
rauchenden Trümmer siegesfroh in die Stadt Dorpat einzog**, wohl
nicht ganz glücklich aus Cröger's Geschichte Liv-, Est- und Kur-
land's (S. 71) entlehnt, da die Trümmer selbst wohl die ganze
„Stadt** repräsentirt haben werden. Für Tarapilla ist Taraphita zu
lesen. Warum der Semgallenhäuptling Wester S. 60 ein „grober**
Heide genannt wird, ist nicht klar. S. 72 ist die Bezeichnung der
estländischen Vasallen in der Schlacht bei Wesenberg als est-
ländisches Volksheer auffallend, und S. 83 die Auffassung, Riga sei
durch die Eroberung im Jahre 1330 aus einem „mächtigen Handels-
staate** nur eine Handelsstadt geworden, nicht haltbar. Die Sage
vom 50jährigen Frieden Plettenberg's ist noch nicht völlig ausgemerzt.
Die revalschen Reformatoren Joh. Lange und Massien werden missver-
ständlich „zwei Einwohner** genannt. Das dem Ordensmeister Fürsten-
berg beigelegte Epitheton „fehdefroh** wird der Verf. schwer recht-
fertigen können. Sigismund August hat nicht erst durch Estland's Hinfall
zu Schweden veranlasst die Unterwerfung Livland's unter Polen ge-
fordert. — Doch genug! Es sind nur Winke für Diejenigen, die ihrer
beim Gebrauch des Büchleins bedürftig sein sollten. Denn in Er-
mangelung eines besseren Leitfadens ist der besprochene als mit Erfolg
anwendbar zu empfehlen und der Verf. hat Anspruch auf Dank dafür,
dass durch Darreichung des Memorirstoffs den Schülern die Freude am
Hören, dem Lehrer die Lust am Erzählen unverkümmert erhalten wird.
Carl Cr öger, Geschichte Liv-, Est- und Kurlands. St. Petersburg, H. Schmitz-
dorff. 2 Bnde. 1867, 70.
lieber das vorliegende Buch, das nach Inhalt und Umfang dem
baltischen Leserkreis vorgeführt werden muss, ein Urtheil zu fällen,
ist keine leichte Aufgabe. Darum mag auch der erste Band, der
schon vor längerer Zeit ausgegeben wurde, noch keine Besprechung
in der inländischen Presse gefunden haben. Denn es streitet bei
der Leetüre die getäuschte Hoffnung, das ersehnte Volksbuch der
Heimatsgeschichte zu finden, mit der Wahrnehmung, dass dieses
neueste Werk doch immer noch die" beste der vorhandenen um-
k.
Notizen. 307
fassenden Darstellungen ist, um den bleibenden Eindruck. Es ist
meist lesbar wie Rutenberg's Buch; aber sein Erscheinen ist kein
Anachronismus, wie jenes; es ist mit Liebe geschrieben und von
warmer Sympathie mit dem Lande, dessen Geschicke es erzählen
will, getragen; die Betrachtung d^r Ereignisse zeugt mehrfach von
historischem Sinn. Diese Eigenschaft theilt es mit Richter's Ge-
schichte der Ostseeprovinzen, welch letztere als zwar zweckdienliches
Compendium, jedoch ungeniessbares Lesebuch hier nicht berücksichtigt
werden kann. Es sind zu schätzende Momente, die wir hervorgehoben,
und um ihretwillen haben wir das Buch — cum grano salis — em-
pfohlen und werden auch ferner darauf hinweiseu; aber sie reichen nicht
aus, ihm einen grösseren Werth als den eines Lückenbüssers zu verleihen.
„Das Bestreben, die Jugend mit den Hauptmomenten der Ge-
schichte des Landes, das ihrer Ahnen Schwert und Blut erwarben,
bekannt zu machen und dadurch in ihr wahre Liebe zur Heimat zu
erwecken, trieb den Verf. zu eingehenderer Forschung. Er hat eine
klare Darstellung der allmälig sich entwickelnden Verhältnisse
unseres Landes nach den verschiedenen charakteristischen Merkmalen
der jedesmaligen Zeitlage bieten wollen.^
Dieses Ziel hat der Verf. unserer Meinung nach allerdings nicht er-
reicht, was er selbst fühlt; aber wenn wir auch von einer strengen Beur-
theilung absehen und zugeben, dass, so wie es vorliegt, das Buch immer-
hin nicht geringen Nutzen bringen wird, indem es Vielen eine ihnen sonst
nicht zugängliche Kenntniss der Heimatsgeschichte zu vermitteln ver-
mag, so glauben wir doch, dass der Verf. auch bei dem Mangel historisch-
wissenschaftlicher Vorbildung mit grösserem Fleisse mehr hätte leisten
können. Das Buch ist nicht Seite nach Seite, sondern sozusagen
Seite In Seite geschrieben. Es scheint, dass der Verf., bekanntlich
Ausländer, nach seinem anfänglichen Wissen den Grundriss ent-
worfen und diesen bei ^ fortschreitendem , wenngleich nicht sehr
systematischem Studium allmälig ausgefüllt und ausgeweitet habe.
Da dieser Process aber lange gedauert hat, ist eine bedeutende Un-
gleichmässigkeit in der Behandlung zu spüren; nicht immer sind Ab-
schnitte, die frühzeitig entstanden, nach neueren Ergebnissen der
Forschung revidirt; andererseits sind solche hineingetragen, die dem
ganzen Tenor des Buches nach nicht in dasselbe passen. Da es
weder ein Lehrbuch, noch eine wissenschaftliche Leistung ist, würde
es weder am Platze sein, den gerügten Missstand zu exemplificiren,
noch die mannigfachen einzelnen Unrichtigkeiten anzuführen.
Ein gutes Werk kann — nach sorgfältigster Vorbereitung —
nur in einem Gusse geschrieben werden, oder es muss bei allmäligem
Entstehen die peinlichste Aufmerksamkeit, die feinste Feile angelegt
werden. Diese hat gefehlt. Das Urtheil des Verfassers hat sich
zuweilen im Laufe der Zeit geändert, und es erscheinen Wider-
sprüche. Oder liegt ein solcher nicht in den folgenden Sätzen?
Bnd. I. S. 80 heisst es von der reichsunmittelbaren Stellung, in die
der Orden 1228 getreten: „dieser letzte Schritt zur Unabhängigkeit
gab dem greisen Bischof (Albert) die schmerzliche Lehre mit in das
1
aOS Notizen.
Grab, dass er sein ganzes Leben hindurch etwas Unerreichbai*es an-
gestrebt habe." Auf der folgenden Seite aber steht: „der ruhige, sich
und die Verhältnisse beherrschende Geist, der niemals über die
Schranken des Erfüllbaren hinausgriff, sondern dem Plane, der ihm
Lebensaufgabe geworden. Alles unterordnete; alle diese Eigenschaften
finden sich bei Albert eng und harmonisch verbunden."
Wir vermissen die Sorgfalt ferner in der Namenschreibung;
denn nicht alle Fehler sind auf Rechnung der höchst nachlässig ge-
übten Correctur zu setzen, und diese muss ordentlich gelesen werden.
Durchweg findet sich Yxküll, Werden für Uexküll, Verden; aber
auch Ltküll erscheint; Ulrich Beks für ßehr, Prutz für Purz, Niedau
für Nitau, der Tatarenchan Detlaw Gerei (!), Müggen für Nüggen ;
den Herzog Magnus lässt der Verf. am 16. Sept. 1560 statt am
16. April nach Oesel kommen u. a. m. — Auch fehlt es nicht an
phrasenhaften Sätzen, die theils jedes Inhalts entbehren, theils völlig
Falsches ausdrücken. Wir haben bereits in der vorhergehenden Re-
cension auf einen solchen Fehler in diesem Buche hingewiesen. Denn
was soll das heissen im I. Bnd. S. 71 : „Es war ein grosser Moment in
Bischof Albert's Leben, als er über die rauchenden Trümmer in die Stadt
(Dorpat, im Jahre 1224) zog."? Wo steht denn in Heinrichs Chronik
nur ein Wort von der Stadt? Es war eine Burg da und die war zerstört.
Da schwebte dem Verf. etwa Tilly's Einzug in Magdeburg vor oder
etwas dergleichen. Oder in Bnd. II, S. 14 wi^d „durch Hedwigs (von
Polen) dem deutschen Orden und Glauben geneigte Gesinnung der
Ausbruch der Feindseligkeiten verzögert." Welch feinen Unterschied
macht denn der Verf. zwischen dem Glauben der Deutschen und Polen
im 14. Jahrhundert? — S. 97: „Nur das Volk, welches das Land, die
Domäne des Adels und der Geistlichkeit, im Schweisse des Angesichtes
zu bauen verpflichtet war, begrüsste in der neuen Lehre (der Re-
formatoren) ein Gut, das ihm bei den Mühen seines kummervollen
Daseins einen höheren, geistigen Trost und Stärkung gewährte.''
Und docji heisst es einen Absatz zuvor, dass in Riga und Dorpat
die Bürger Träger und Pfleger des Kleinods wurden!!.
Die Anordnung und Eintheilung können wir nicht übersichtlich
und klar finden ; für die Beibehaltung der üblichen Perioden spricht
Vieles, sie ist aber fallen gelassen. Ohne auf die einzelnen Capitel
einzugehen, wollen wir nur hervorheben , dass die Zeit des Unter-
ganges des livländischen Ordensstaates die am besten behandelte ist
und namentlich der russisch -livländische Krieg eine auf Grund der
von Schirren herausgegebenen „Quellen'' selbständige Bearbeitung
erfahren zu haben scheint, der es im Ganzen gelungen ist, die
wichtigen Gesichtspunkte zur Beurtheilung der Katastrophe zu finden.
Wer mit dem Stande der baltischen Geschichtsforschung vertraut
ist, hat keine genügende umfassende Darstellung erwarten können;
aber die angezogenen Mängel hätten sich vermindern lassen. Dass
dieses nicht geschehen, thut uns aufrichtig leid. Mel.
Von der Censur erlaubt. Riga, den 2. Juli 1870.
Druck der Livländischen Gouvernements -Typographie.
Der Anjalabund in Finnland, 1788.
Der Uebergang von den mittelalterlich-ständischen Verfassungen zu
dem modernen Staatsrecht ist oft vermittelt worden durch die absolute
Monarchie. So auch in Schweden, wo Gustaf HE., der Meister in
der Kunst der Staatsstreiche, mit dem Vorsatze den Thron besteigt,
seinem Lande das Loos zu ersparen, welches Polen getroffen. Gustafs
auswärtige Politik, seine „rettenden Thaten" innerhalb Schwedens
bezwecken die Emancipation des Eönigthums vom Adelsregiment,
Schwedens vom Einfluss übermächtiger Nachbarn. Man muss zu-
geben, dass er dabei systematisch verfuhr.
Nach dem Tode Karl's XII. war Schweden eine Adelsrepublik.
Nicht nur keinen politischen Einfluss hatten die Scheinkönige Schwe-
dens : selbst ihre Dienerschaft konnten sie ohne Mitwirkung des Adels
nicht wechseln. Ein Stempel mit der eingegrabenen Unterschrift
des Königs Friedrich Adolph gab dem Geheimen Ausschuss die Be-
fdgniss, die wichtigsten Dinge ohne das Staatsoberhaupt in seinem
Namen zu vollziehen.
Gleich den polnischen Reichstagen boten die schwedischen Ge-
legenheit zur Bestechung. - An der Schwelle des Saales, wo der Adel
seine Zusammenkünfte hielt, sind offenkundig Stimmen gekauft
und verkauft worden. Regelmässig wurden beträchtliche Summen
aus Frankreich, aus Russland bezogen. Dem Meistbietenden fiel der
entscheidende Einfluss zu. Als der Bürgermeister von Siptuna, wel-
cher eine Besoldung von 300 Thalern jährlich hatte, starb, hinter-
liess er ein Vermögen von über 1 Million Thalern.
Als Kronprinz schon hatte Gustaf Gelegenheit diese Misstände
zu beobachten. Als er während des Krieges in Pommern es erlebte,
dass viele adelige Offiziere, auf ihre Adelsrechte pochend, allen
strengen Verboten des Königs zum Trotz nach Schweden reisten,
um dort dem Reichstage beizuwohnen und in Stockholm mit ihrem
Ungehorsam zu prahlen, wallte er auf. Er bemerkte später, dass
Baltische Monatsschrift, N. Folge, I. Bnd., Heft 7 u. 8. 21
310 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
er seitdem Diejenigen tief verachten gelernt habe, welche ihren
eigenen Interessen die Macht und die Ehre des, Staates %u opfern
bereit seien.
Die Schicksale des Königs Stanislaus Poniatowsky schienen ihm
ernste Lehren für Schweden zu enthalten. Er sagte wohl, dass
Schweden unfehlbar von demselben Loose betroffen werden würde,
wenn man nicht zeitig vorbeuge. Friedrich der Grosse schalt in
Briefen an seinen Neffen den Leichtsinn, die Unbeständigkeit, die
Käuflichkeit der schwedischen Grossen. Für einige tausend Thaler,
sagte Friedrich's Schwester, Gustafs Mutter, seien sie stets bereit
das Vaterland zu verkaufen.
Daher ging die Absicht Gustafs dahin, gleich nach seiner Thron-
besteigung die Leitung der auswärtigen Politik in seine Hand zu
bekommen. Durch den Staatsstreich von 1772 ward er gleichsam
sein eigener Minister des Auswärtigen. Die folgenden Jahre
brachten neue Reformen, welche auf eine Steigerung der Königsge-
walt abzielten. Der Adel grollte und lauerte auf eine Gelegenheit,
die Staatsumwälzung von 1772 ungeschehen zu machen. Auch in
den anderen Ständen herrschte Unzufriedenheit. In einzelnen Pro-
vinzen tauchten separatistische Gelüste auf. Vornehmlich in Finnland.
Es gab in Finnland eine russischgesinnte Partei, welcher die
schwedische Regierung nachspürte. Bald nach dem Friedensschlüsse
von Abo,^ welcher den Kymmenefluss als Grenze zwischen Schweden
und Russland bestimmte, sind in dem schwedischen Finnland einige
Personen verhaftet worden ; die Anklage gegen sie lautete, dass sie
den russischen Grossfürsten Peter zum König von Finnland hätten
ausrufen wollen. Einer der Angeklagten, Wijkman, wurde am
7. S^tember 1751 enthauptet; seine Frau blieb sechs Monate in
Haft. Noch andere Verhaftungen wurden vorgenommen; die Unter-
suchungen wurden mit grosser Heimlichkeit betrieben und führten
später zu dem Ergebniss, dass der russische Gesandte Simolin seine
Hand im Spiele gehabt habe; die schwedische Regierung bestand
darauf, dass er abreise. Er bekleidete später die Gesandtschaftsposten
in Paris und London.
Die Modethorheit der geheimen Gesellschaften mit harmlosen
und nicht harmlosen Zwecken hatte auch in Finnland Eingang ge-
funden. Man schrieb dem dort verbreiteten Freimaurerwesen politische
Bedeutung zu. Den Mittelpuntkt desselben bildete die Loge ^La
constance**. Der Bruder des Königs Gustaf, Herzog Karl von
Südermannland, war der Gönner des Ordens. Grössere Bedeutung
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 311
*
hatte der Orden „Walhalla*, der in weitverzweigtem Netze das
ganze Land bedeckte. Die ganze Provinz war in Ordensbezirke mit
besonderen Vorstehern getheilt. Die Mitglieder waren meist adelige
Militärs, berauscht von der französischen Aufklärungsliteratur, in dem
naiven Irrthum befangen, als liessen sich die Ergebnisse dieser
modernen Aufklärung sehr wohl vereinen mit Adelsvorrechten und
anderen mittelalterlichen Institutionen. Als Stifter des Ordens ist
der Baxon Jöran Magnus Bprengtporten genannt worden, welcher
jahrelang in Finnland bedeutenden EiniluBs übte und schliesslich in
russischen Diensten stehend für die Annexion Finnlands an Russ-
land .thätig war. Andere behaupteten, der Stifter des Ordens sei
der Major von Jägerhorn gewesen, welcher im Jahre 1788 im Auf-
trage der Conföderation von Anjala nach Petersburg reiste, um dort
persönlich mit der Kaiserin zu verhandeln. Sprengtporten, meinte
man, sei nicht einmal Mitglied, sondern nur ein geheimer Gönner
des Ordens gewesen. Gewiss ist, dass einerseits Sprengi^orten als
das Haupt der separatistischen Partei in Finnland bezeichnet werden
konnte, dass andererseits viele einflussreiche Mitglieder dieser Partei
gleichzeitig dem Walhalla- Orden angehörten, darunter die Offiziere
Jägerhorn, Klick, Glansensljerna, Tendefeldt, Ramsö, Essen, Ladau u. a.
Was es mit den Declamationen von Freiheit und allgemeiner
Wohlfahrt in diesem Orden auf sich hatte, ist daraus zu ersehen,
dasB nur Edelleute darin aufgenommen wurden, und ferner aus der
Verfassung, welche Sprengtporten für die finnische Republik ent-
worfen hatte. Nur der Adel, nicht aber die Geistlichkeit oder der
Bürgerstand, sollte Antheil an der Regierung haben. Die Bauern
sollten in vollständiger Abhängigkeit verbleiben. Das Amt eines
Oberfeldherren in dem neu zu gründenden Staate hatte Sprengt-
porten sich vorbehalten 0»
Jöran Magnus Sprengtporten, der Stiefbruder jenes Sprengt-
porten, welcher bei dem Staatsstreich von 1772 zu Gunsten des
Königs eifrig thätig gewesen war und im Jahre 1774 seinen Abschied
genommen hatte, befand sich zur Zeit des Staatsstreichs in Finnland,
mit militärischen, insbesondere topographischen Studien beschäftigt.
*) Üeber diese Umtriebe und Entwürfe in Finnland s. die Werke von Rein,
Kriget 1 Finland Iren 1788, 1789 och 1790. Bidrag tili Kämedom of Finlands
Natur och Folk utgifna af Finska Vetenskaps-Societäten. Tredje heftet. Hel-
singfors 1860, und Maunu Malmanen, Anjalaforbundet, bidrag tili des« historia.
Stockholm, 1^848.
21»
312 , ' Der Anjalabund in Finnland, 1788.
Er übte Einfluss auf die Besetzung der meisten Stellen in der Armee.
Als er sich im Jahre 1776 in Stockholm befand, hatte er fast täglich
Verkehr mit dem russischen Gesandten. Der König wollte ihn des-
halb entfernen und ertheilte ihm den Auftrag, die französischen
Festungen zu besichtigen, um später bei der Befestigung Finnlands
mitwirken zu können. Sprengtporten sollte, dem Wunsche des
Königs gemäss, über Russland reisen, um seine Anwesenheit auf dem
in Stockholm versammelten Reichstage zu verhindern. Sprengtporten
hatte gewünscht, aus Finnland, wo er sich befand, nach Schweden zu
gehen und von da aus nach Frankreich zu reisen. Der König hatte
Bedenken, dem Einflüsse des ränkevollen Edelmannes auf dem Reichs-
tage Raum zu geben. So erschien denn Sprengtporten im russischen
Finnland, wo er in den Städten Frederikshamm und Wiborg glän-
zend empfangen wurde. Man veranstaltete ihm zu Ehren Bälle,
Maskeraden, Festessen. In Petersburg wurden ihm ebenfalls man-
cherlei Aufmerksamkeiten erwiesen. In Paris, wo er mit Franklin
zusammentraf, entwarf er den Plan, an dem amerikanischen Frei-
heitskampfe Theil zu nehmen. Geldverlegenheit vereitelte denselben.
Mehrmals bezahlte der König Gustaf die Schulden Sprenptportens.
Als aber der König einmal die Zahlung verweigerte, trat Sprengt-
porten grollend aus dem Staatsdienste und erschien 1780 in Stockholm.
Damals gingen Gerüchte von einer bevorstehenden Trennung
Finnlands von Schweden. Man erzählte, Gustaf selbst sei geneigt,
diese Provinz an Katharina abzutreten, unter der Bedingung, dass
ihm Norwegen und ein Theil des Sundzolles zufalle. Einem andern
Gerüchte zufolge gedachte die Königinmutter Louise Ulrike ihren
Lieblingssohn, den Herzog von Ostgothland, Friedrich Adolf auf den
Thron eines selbständigen Herzogthums Finnland zu erheben. In
den Jahren 1783 und 1784 war Gustaf in Italien und Frankreich.
Am 6. Januar 1784 war Sprengtporten beim Herzog Karl von
Südermannland und bot ihm die Krone Finnlands an. Seitdem hörte
er nicht auf, für die Selbständigkeit Finnland's zu wirken. Stets
war er von jungen Männern umgeben, die ihm für die Verwirk-
lichung seiner Pläne ihren Arm zu leihen bereit waren.
Es ist auffallend, dass der König nicht gegen Sprengtporten
einschritt. Statt ihn verhaften zu lassen, begnügte sich Gustaf da-^
mit, ihn ausser Landes zu schicken, indem er ihm einen Posten in
holländischen Diensten verschaffte. Im Haag soll Sprengtporten im
Verkehr -^ mit dem dort weilenden russischen Gesandten für die Un-
abhängigkeit Finnlands gewirkt haben. Im Jahre 1786 war er
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 313
wieder in Stockholm, wo er auf dem Reichstage eine vorsichtige
und gemässigte Haltung beobachtete nnd persönlich mit dem Könige
verkehrte. In einer ihm bewilligten Audienz bat er um Gnaden
und Stellen: der König ermahnte ihn, fürderhin von allen verräthe-
rischen Anschlägen abzustehen. Man versichert, dass Sprengtporten,
welcher sah, dass dem Könige seine Anschläge nicht unbekannt
waren, jetzt erst recht entschlossen war, für die Unabhängigkeit Finn-
lands zu wirken. Aus den Papieren eines Zeitgenossen ergiebt sich,
dass Sprengtporten wenige Stunden nach der Audienz beim Könige
eine Zusammenkunft mit dem russischen Gesandten in Stockholm,
Morkow, hatte, wo dann die Entwürfe,, welche bereits im Haag
thätig betrieben worden waren, des Weiteren verabredet worden
sein sollen. Wenige Tage' darauf befand sich Sprengtporten in
Finnland, wo er seinen Parteigenossen den Entwurf zu einer Ver-
fassung vorlegte. Er sicherte seinen Anhängern die Hülfe Russ-
lands zu, welches 20 Schiffe, 2000 Kosaken und 2000 Mann Fuss-
volk zur Unterstützung der finnischen Patrioten senden werde. 0
Hierauf verliess er Finnland und erschien in St. Petersburig, wo er
alsbald von der Kaiserin mit Gnadengeschenken und Ehrenstellen
überschüttet wurde. Es erregte Aufsehen, dass der Neuangekommene
innerhalb zweier Wochen den Rang eines Obristen im russischen
Kriegsdienst, das Amt eines Kammerherrn erhielt, nach einigen
Tagen schon Generalmajor ward, 600 Bauern und 3000 Rubel zum
Geschenk bekam und ausser seinem Gehalt noch eine Pension von
2000 Rubeln genoss. ^) Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass
Sprengtporten nur um seiner Entwürfe in Betreff Finnlands willen
in russische Dienste trat« ^Um so auffallender ist es, dass König
Gustaf damals ausdrücklich diesen Uebergang genehmigte, dass der
schwedische Gesandte in St. Petersburg dem Baron Sprengtporten
zum Eintritt in russische Dienste Glück wünschte. Die Agitationen
wurden doch wohl sehr heimlich betrieben.
Der Secretär Sprengtportens, Barfod, vergleicht ihn mit einem
reissenden Strome, der alles ibm in den Weg Kommende in seinen
Fluthen begräbt, gleichsam wie dazu geschaffen. Throne umzustürzen,
Staatsordnungen zu vernichten. In Rom wäre er, sagt Barfod, ein
zweiter Marius geworden ; in Schweden ward er ein zweiter Patkul. ^)
0 8. Rein, a. a. 0., 35-48.
^) Herrmann, Geschichte des russischen Staats. Ergänzungsband. Gotha,
1866. S. 643.
3) Malmanen, S. 38.
314 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
Mittlerweile war die separatistische Partei in Finnland nicht
unthätig. Man verbreitete im Geiste der Aufklärungsliteratur ver-^
fasste Flugschriften, in denen die bekannte Vertragstheorie entwickelt
wurde. Man hetzte die Finnen gegen den König und gegen Schweden
überhaupt: der Geheime Ausschuss verhindere geflissentlich alles
Gedeihen Finnlands ; der König habe bei dem grossartigen Bau seines
Schlosses Haga gesagt^ wenn es ihm an Menschen zur Arbeit fehle,
werde er Finnen dazu nehmen; niemals werde Finnland zur Blüthe
gelangen, da es stets den Schauplatz der Kriege zwischen Schweden
und Russland abgeben müsse; die ungeheure Last der Befestigungs-
arbeiten, Servituten, Frohnden und Steuern, welche Schweden den
Finnen auferlege, sei unerträglich. ^)
Bei alledem gesteht einer der Anhänger der Selbständigkeits-
partei, nur eine Minorität in Finnland sei für eine Trennung von
Schweden gewesen: er selbst aber rechne es sich zur Ehre an, zu
dieser Partei gehört zu haben* Er bemerkt dazu, dass der Gedanke
an ein selbständiges Finnland zuerst von Russland aus verbreitet
worden sei, dass die Agitationen sehr im Geheimen betrieben wurden.
Der König suchte denselben auf die Spur zu kommen. Einer
seiner Secretäre, Johann Albert Ehrenström erhielt den Auftrag,
Sprengtporten zu beobachten und dem Könige Bericht zu erstatten,
auch sollte er die Stimmungen in Russland, namentlich aber des
Adels in Liv- tmd Estland auskundschaften. Man sagt. Ehrenström
sei nach Russland gekommen, habe dort das Vertrauen Sprengtporten's
gewonnen, sei dessen Secretär geworden und habe sich dann mit
dessen geheimen Papieren nach Schweden zurückbegeben. Später ward
er Geheimschreiber des Königs; die dem Könige feindliche Adels-
partßi war ihm abgeneigt, denn man schrieb ihm einen Antheil an
dem Entschlüsse Gustafs zu, im Jahre 1788 Russland anzugreifen.
Es ist wahrscheinlich, dass die Nachrichten von revolutionären
Umtrieben den König zum Kriege drängten. Zu Anfang des Jahres 1788
ging das Gerücht, die Erhebung Finnlands werde im Mai erfolgen.^)
Mit einem raschen entscheidenden Schlage wollte der König der
Insurrection zuvorkommen, der Einmischung Russlands in die An-
gelegenheiten Schwedens ein Ziel setzen.
In Finnland herrschte übrigens grosse Meinungsverschiedenheit.
Die Agitatoren selbst erzählen, dass das Volk, die Masse durchaus
1) 8. das Memoire des Majors Klick bei Malmanen S. 37. wo eine lanee
Reihe von Klagen aufgeführt wird.
^ Kein 51—52. Malmanen 53.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 315
stumpf und gleichgültig geblieben sei, dass die Eaufleute und Indu-
striellen schon um ihrer Geschäftsverbindungen mit Schweden willen
gegen eine Abtrennung vom Mutterlande protestirt hätten. Viele vom
Hofe und der Hofpartei Abhängige, Conservativgesinnte, welche an
keine Verbesserung des Schicksals Finnlands glaubten. Furchtsame,
welche alle Gefahren einer Umwälzung scheuten, die Geistlichen,
welche gegen eine republikanische Verfassung stimmten , die Bauern
endlich^ welche von einer Aristokratie und Oligarchie in einer Re-
publik noch mehr Unterdrückung zu erwarten hatten, als in einer
Monarchie, selb&t die Soldaten, auf welche die adeligen Offiziere im
Sinne ihrer Entwürfe zu wirken suchten — alle diese waren gegen
einen Aufstand. 0
Was man aber auch in Finnland gegen Gustaf UI. im Schilde
führen mochte — die Einen eine Beschränkung der Königsgewalt,
die Anderen eine Lostrennung ^on Schweden — man konnte bei
solchen Unternehmungen auf die Unterstützung Russlands rechnen.
Es war das Bündniss zwischen einer Macht ersten Ranges und einer
mächtigen und weitverzweigten Insurrectionspartei, welches Gustaf UI.,
indem er der Kaiserin den Fehdehandschuh hinwarf, zu zerreissen
hoffte. Ein Sieg über Russland war zugleich ein Triumph der Mo-
narchie über den Adel, der Staatseinheit über den Separatismus.
Die ungeheure Gefahr, in welche das Bündniss jener dem Könige
feindlichen Elemente Gustaf III. stürzte, ist der Gegenstand der
folgenden Darstellung.
Dem Staatsrecht des Jahres 1772 zufolge durfte der König ohne
Genehmigung der Stände keinen Angriffskrieg führen. Man weiss,
mit welchen Mitteln Gustaf sich den Schein zu geben strebte, als
führe er nur einen Vertheidigungskrieg. ^ Die Bemühungen des
Königs waren vergeblich. In Finnland und in Schweden wusste
man es so gut wie in Russland und ganz Europa, dass Gustaf der
angreifende Theil war. Somit war der Krieg eine Verletzung des
schwedischen Staatsrechts. Nach den damals herrschenden Begriffen
konnten die Offiziere und Soldaten für ihre Mitwirkung an einem
solchen ungesetzlichen Kriege verantwortliqh gemacht werden. Das-
selbe Heer, welches zu dem Staatsstreich von 1772 seine» Arm geliehen
'} Malmanen 58.
^) 8. meine Abhandlang ,^cIiwe<l0Q mid RnMlfti^4. 1788" in der hißtoiischen
Zeitschrift 1869 4. Heft.
316 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
hatte, konnte jetzt für die Gesetzlichkeit gegen den König in die
Schranken treten. Die schwedischen und finnischen Militärs waren
in einer seltsamen Lage: sie wünschten weder einen Sieg Gustafs,
weil ein solcher die Königsgewalt steigerte, den Einfluss des Adels
schwächte, noch wünschten» sie einen Sieg Katharina's, weil die
Kaiserin in einem solchen Falle die Entschädigung für die Kriegs-
kosten in Finnland zu suchen hatte. Sie wollten zunächst Frieden.
Sogleich bei Eröflfhung des Feldzuges zeigten die Truppen
Widersetzlichkeit. Die Garnison der Festung Sweaborg erklärte,
sie sei nicht gesonnen, an einem Angriffskriege Theil zu nehmen.
Als die Truppen die Grenze überschreiten sollten, baten viele Offiziere
um ihren Abschied. 0 Anfangs gab es wenig Verkehr zwischen den
schwedischen und finnischen Truppen ; in dem Maasse als sich während
des Feldzuges Gelegenheit zu einem gesteigerten Verkehr zwischen
den oppositionellen Elementen in diesen beiden Troippentheilen bot,
stieg die Unzufriedenheit^ ^) Der Mangel an militärischen Erfolgen,
die schlechte Verpflegung, das geringe Feldherrn talent des Königs
Hessen eine Verschwörung zur Reife kommen, welche den König
leicht um Thron und Freiheit hätte bringen können.
Waren die Soldaten beim Beginn loyal, so wankte ihre Treue
immer mehr, je furchtbareren Entbehrungen' sie ausgesetzt waren.
Gleich in der ersten Zeit des Feldzuges fehlte es an Lebensmitteln,
das Lazarethwesen war schlecht organisirt, die Kranken waren in
leinenen Zelten untergebracht.^) Das Schuhwerk der Soldaten war
so mangelhaft, dass Viele barfiiss gingen. Die Offiziere erhielten
ihre Besoldung nicht, die Soldaten fütterte jnan mit verfaulten Fischen.
Unsere Soldaten, wenn sie hungrig sind, schrieb Stedingk an den
König, sind mehr Landstreicher als Soldaten, mehr Russen als
Schweden.*) Es ist unerhört, schrieb der Generallieutenant Piper
an den Grafen Armfeldt, ein grosses Heer zusammenzubringen ohne
für die Verpflegung desselben gesorgt zu haben. Ein Artillerieoffizier
schrieb nach Stockholm, es fehle an Brod, die Uniformen der Sol-
daten seien zerlumpt, viele Soldaten hätten gar keine Kopfbekleidung,
0 Bei dem Abmarsch einer Trupp enabtheilung zur Grenze sagte die Frau
des Hauptverschwörers Hästesko zu einem Offizier, dass die Truppen die Grenze
nie überschreiten würden.
^) s. Klick*8 Memoire bei Malmanen 73 und die Memoires d'un ofßcier su^dofS)
Handschiift in der Kais. Bibl. zu St. Petersburg.
3) 8. Herrmann in Raumer's Taschenbuch 1857 S. 454.
«) Ebend. 422. Stedingk, Memoires I. 108.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 317
ein völliger Geldmangel herrsche bei Soldaten und Offizieren. Wenn
nicht bald geholfen werde, schrieb Graf Meyerfeldt, einer der Befehls-
haber, an den König, sei auf keine Mannszucht zu rechnen. 0
Ein solcher Zustand lieferte günstigen Boden für eine revolutionäre
Propaganda. Die Offiziere, welche die Opposition vertraten, hörten
nicht auf, die Soldaten zu hetzen. Von Hästesko erzählte man, dass
er Gelder, die für die Soldaten bestimmt waren, zurückbehielt, um
die Erbitterung gegen den König zu steigern.^) Ist ein solches
Gerücht auch nicht gut verbürgt, so besteht doch kein Zweifel, dass
er besonders eifrig die revolutionäre Propaganda betrieb. Es gingen
Schriften von Hand zu Hand, in. welchen die Soldaten vor einer
Theilnahme am Kriege gewarnt wurden. Zwei Fähnriche wurden
später zum Tode verurtheilt, weil sie die Soldaten zum Rückzuge
verleitet hatten.^)
Das wichtigste Ziel der militärischen Operationen der Schweden
beim Einfall in das russische Finnland war die Einnahme der
Festung Frederikshamm. Im Juni erfolgte die Besetzung mehrerer
Dörfer in der Umgegend dieses Ortes, aber erst Ende Juli war man
endlich so weit, zu dem eigentlichen Angriff auf die Festung über-
gehen zu können. Die Langsamkeit dieser Operationen gab den
Gegnern des Königs Zeit und Gelegenheit, für ihre Zwecke zu arbeiten.
Geflissentlich wurden u. A. falsche Gerüchte von dem Herannahen
beträchtlicher russischer Truppenabtheilungen ausgesprengt. Bald
sollten 20,000, bald 30,000 Russen zur Verstärkung der in der Nähe
von Frederikshamm unter dem Oberbefehl des Grafen Mussin-Puschkin
aufgestellten russischen Truppen unterwegs sein. Die moralische
Haltung der Schweden sollte mit welchen Mitteln immer erschüttert
werden.
Die bei dem Dorfe Husula postirten schwedischen Regimenter
waren dem Könige am gefährlichsten. Hier gab es viele Anhänger
Sprengtportens, hier befehligte der- alte Graf Karl Gustaf Armfeldt,
der in ganz Finnland viel Achtung und Einfluss besass und der be-
sonders eifrig gegen den Krieg wirkte.
Als der König in Husula eintraf, stellten die Offiziere ihm vor,
dass bei dem Mangel an Kriegsvorräthen keinerlei Erfolg zu hoffen
sei; sie riethen dem Könige, sich persönlich von der dem Kriege
abgeneigten Stimmung der Soldaten zu überzeugen. Gleichzeitig
0 Malmanen 81—87. Rein 61—73.
3) Malmanen 99. Rein 76.
318 Der Anjalaband in Finnland, 1788.
gingen die Offiziere unter den Soldaten umher, traten in deren Zelte
und suchten sie zu überreden, jede weitere Theilnahme an dem Kriege
zu verweigern und sofortige Rückkehr in das schwedische Finnland
zu verlangen. Es wurden Drohungen gegen den König laut. Man
hörte wohl die Äeusserung: ein König, der seine Unterthanen einem
gewissen Tode entgegenführe, wie Ochsen zur Schlachtbank, sei nicht
werth zu herrschen. ■ Wiederum ward das Mährchen aufgetischt, das«
der russische Oeneral Michelson mit einem Heere im Anzüge sei. ')
Der König entschloss sich in der That, zu den Soldaten zu reden.
Am 1. August (21, Juli) erschien er mitten unter ihnen und fragte
sie, ob sie ihm weiter zu folgen bereit seien. Sie erklärten, dass
sie ihr Leben fdr ihn zn opfern bereit seien und schwuren ihn nicht
vefrathen zu wollen •) Hierauf beschloss der König, zu dem Angriff
auf die Festung überzugeben und befahl dem Obersten Häetesko, die
nöthigen Maassregeln zu treffen. Dieser stellte dem Könige die
Schwierigkeit des Unternehmens vor, welches nur unnütze Opfer
fordern werde. Auch andere Offiziere erklärten nicht fechten zu
wollen. Hästesko bemerkte, der Augenblick sei entscheidend, ein
solcher Schritt könne dem Könige die Krone rauben. Noch einmal
beriefen sich die OfBziere auf die Bestimmung, dass Angriffskriege
ohne Einwilligung der Stände ungesetzlich seien. ')
Spätere Schriftsteller behaupten, die Festung sei in der That bei
der Unzulänglichkeit der Mittel Gustafs uneinnehmbar gewesen.
Andere veraichem, dass dieselbe, wenn nur im schwedischen Lager
Einigkeit geherrscht hätte, dem ersten enei^schen Angriff würde
haben weichen müssen. Noch andere tadeln den König, dass der-
selbe sich bei so unbedeutenden Festungen wie Nyflott und Frederiks-
hamm aufgehalten habe: er hätte sie umgehen und gerade auf St.
Petersburg losgehen sollen.
Am anderen Tage, den 22. JuU (2. August) und vornehmlich
am 23. JuU (3. August) erfolgte dann der Angriff. Oustaf wollte
die Festung gleichzeitig von allen Seiten überfallen. Von der See-
seite kam die Galeerenflotte mit 6000 Mann Landungstruppen. Sie
■) Rein 77 und 78. Em Veteran, der im preaMischen Heere gedient h*tte,
wunderte eich, dass man die Soldaten nach ihrer Meinung fragte, in Prenesen
hätten die Soldaten nur zn gehorchen, nicht Uire Heinusg zu sagen.
') Die Angabe Pa^aalfB, das« ein Regiment die WafFen hingelegt and zu
kämpfen sich geweigert liabe, welche auch in anderen Büchern, z. B. bei ScUoseer
wiederholt wird, liftlt Rein für unbegründet.
1) S. Rain, Herrmann a. A.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 319
hatte mit einem Sturm zu kämpfen, die Truppen wurden bei der
Landung von den Russen empfingen. Der Mangel an Geschützen
grösseren Kalibers machte sich bei der Beschiessung der Stadt fühl-
bar: Die Opposition des adeligen Ofßziercorps that das Uebrige und
der Angriff musste aufgegeben werden. Der König befahl dem Be-
fehlshaber der Landungstruppen, General Siegroth, sich schleunigst
wieder einzuschiffen, so dass am Abend des 24. Juli (4. August) die
Truppen schon wieder an Bord gingen und absegelten.
In der Nacht wurde Kriegsrath gehalten. Einige Anhänger des
Königs wollten darauf bestehen, dass die Belagerung fortgesetzt
werde, indem sie behaupteten, dass die Stadt sich schon nach
wenigen Stunden ergeben müsse. Der dem König befreundete jüngere
Armfeldt versicherte, er wisse durch Kundschafter, dass es in der
Stadt an Munition fehle, dass der Commandant der Festung zu deren
Uebergabe ermächtigt sei, falls ihm freier Abzug nach Wiborg
zugestanden werde, dass das Gerücht von einer Annäherung Michel-
son's alles Grundes entbehre. Der Kriegsrath, welcher bereits für
den Rückzug entschieden hatte, schwankte. Man beschloss, noch ein-
mal vorzugehen und Armfeldt eilte schon die nöthigen Dispositionen
zu treffen, als er einen Zettel vom Könige mit dem Befehl zum
Rückzuge an die Grenze erhielt. Ohne den Befehl zum Rückzuge ab-
zuwarten war der ältere Armfeldt mit seinen Truppen bereits west-
wärts gegangen.
Noch am 25. Juli (5. Aug.) wollte Gustaf mit den Resten des
Heeres, die ihm zur Verfügung blieben, 0 eine Anstrengung machen,
gegen Milmenstrand vorrücken, den General Michelson angreifen.
Er gab es auf und zog selbst zur Grenze. Der Feldzug war beendet.
„Das Glück der Kaiserin macht alle meine Bemühungen zu nichte*,
schrieb er an Stedingk.
Die Vorgänge bei der Festung Nyflott, deren Belagerung dem
Brigadier Hastfehr übertragen war, stehen im engsten Zusammen-
hange mit diesen Ereignissen bei Frederikshamm; sie zeugen von
grosser Planmässigkeit in der Militärrevolte. Auch hier ward das
Gerücht von der Annäherung russischer Truppen verbreitet; eine
gedrückte Stimmung herrschte im Lager. Graf ökedingk, der Freund
des Königs, schrieb diesem am 24. Juli (4. Aug.), die Truppen Hielten
sich für geopfert, trete der Feind entschiedener auf, so sei zu erwarten,
dass die Soldaten auseinanderliefen.^)
0 S6gVLr HL 155, 387, 388. Rein 72.
*) Stedingk I. 111—113.
320 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
Bald darnach trafen in dem schwedischen Lager bei Ny flott
Emissäre aus dem Centrum der Agitation ein und veranlassten den
Rückzug der Truppen.
Mittlerweile hatten, sogleich nachdem die Belagerung von
Frederikshamm aufgegeben worden war, gegen 100 Offiziere ihren
Abschied gefordert. Unter ihnen war auch der ältere Graf Armfeldt,
der nur so lange im Amte bleiben sollte, als bis er durch einen
anderen ersetzt wäre. Alle diese Offiziere schickten sich an, in ihre
Heimat abzureisen.
Der König war in einer verzweifelten Lage. Er bemerkte gegen
seine Umgebung, er habe schon lange von einer gegen ihn gerichteten
Verschwörung gewusst, aber seinen Freunden nichts mitgetheilt, um
ihnen die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang des Krieges nicht
zu rauben. 0 Die Aufforderung, rasch Frieden zu schliessen wies
der König als einen „Selbstmord^ zurück.^) Vielmehr beschäftigte
er sich mit Entwürfen zur Fortsetzung des Feldzuges. 0
Der Graf K. G. Armfeldt war mit seinen Truppen nach dem
D< rfe Likaln und von da nach Anjala gezogen.. In diesen beiden
Dörfern wurde die Opposition gegen den König organisirt. Hier
entstand die Conföderation von Anjala, die sich durch nichts von
jenen Conföderationen in Polen unterscheidet, die zu den Theilungen
führten. Hier ward zuerst der Gedanke ausgesprochen, man müsse
sich an die Kaiserin Katharina wenden.
In den ersten Tagen des August fanden die entscheidenden
Berathungen statt. Der Majqr Jägerhorn soll der erste gewesen
sein, welcher eine Adresse an die Kaiserin zu entwerfen vorschlug.
Der Oberst Hästesko, Major Klingspor und Lieutenant Otter unter-
stützten den Vorschlag, Armfeldt war dagegen. Die Anderen über-
redeten ihn dazu, seine Einwilligung zu geben, indem sie ihm vor-
stellten, dass nur durch eine Adresse an die Kaiserin der König Ge-
leigenheit erhalte die Priedensunterhandlungen zu eröfl&ien, was er so
sehr wünsche, dass aber ausserdem die schwere Verantwortlichkeit
wegen des ungesetzlichen Krieges sie zu einem solchen Schritte
nöthigen müsse.*)
^ Handschrift in der Kais. Bibl. zu St. Petersburg. Memoires d'un officier
su^dois etc.
2) Rein 86.
3) Handschrift.
^) Armfeldt hat sich später entschuldigt, seine „sötte credulit^** habe ihn
veranlagst, seine Einwilligung zu dem Briefe zu gehen. Auch hahe er Briefe
Der Anjalabund in Finnland, 1788. S21 .
Am 8. August erhielt Armfeld t seine Entlassung und wurde
durch den Grafen Meyerfeldt ersetzt. An demselben Tage fand eine
Besprechung der Conföderirten in Armfeldt's Zelte statt. Ausser den
Obengenannten waren Major Klick, Pehr Ehnehjelm und Baron
Gustaf Kothen zugegen. Wiederum ward geltend gemacht, der
König wünsche den Frieden, man müsse ihm Gelegenheit geben, .
darüber zu unterhandeln. Jägerhorn's bereit gehaltener Elntwurf
einer Adresse an die Kaiserin ward verlesen, aber verworfen. In
der folgenden Nacht einigte man sich dahin, einen von Major Klick
verfassten Adressentwurf anzunehmen. Die genannten sieben Offiziere
unterschrieben. 0 Der Inhalt war in Kurzem folgender:
Die Schweden baten den Krieg begonnen ohne die Bedeutung
desselben zu würdigen. Erst vor den Mauern Frederikshamms sei
ihnen klar geworden, dass damit ein Grundgesetz verletzt werde.
Ausser seinen militärischen Pflichten habe Jeder die Pflicht, die
Gesetze des Landes zu schirmen. Daher erklären die Unterzeichner
der Kaiserin, dass Finnland in Frieden mit Russland zu leben
wünsche, während nur einige unruhige Köpfe den Krieg unter dem
Verwände herbeigeführt hätten, er sei durch die Vertheidigung des
Landes geboten. Die Berufung eines Reichstages sei unerlässlich.
Ferner wurde der Kaiserin der Vorschlag gemacht, den Theil
Finnlands, welcher dem Frieden von 1743 zufolge russisch geworden
war, wieder herauszugeben, wogegen das Versprechen gegeben wurde,
dass Finnland stets ein treuer Freund und Bundesgenosse Russlands
sein werde. Von der Antwort der Kaiserin, hiess es zum Schlüsse,
hänge Krieg oder Frieden ab.^)
bekommen, in denen er vor der schweren Verantwortlichkeit wegen des Krieges
gewarnt wurde. Rein 86.
1) Bie schwankende . Haltung, welche Armfeldt behauptete, wird dadurch
gekennzeichnet, dass er seinem Schwiegersohn, Major Klick, abrieth das Acten-
stüek zu unterzeichnen, worauf indessen Jener erwiderte, wo die Anderen
Patriotismus zeigten, werde er nicht zurückbleiben.
') Die Adresse war in französischer Sprache verfasst. Wir benutzen schwedi-
sche und russische üebersetzungen. Ob das französische Original je gedruckt
wurde, ist uns unbekannt. Rein zweifelt daran, bemerkt aber, dass aus demselben
zu ersehen sein müsste, ob die Conföderirten die Berufung eines allgemeiuen
schwedischen, oder eines finnischen Reichstages wollten. In einer schwedischen
Üebersetzung ist von „rikets", in einer anderen von „nationens" Ständen die
Rede. Aus der Antwort der Kaiserin geht hervor, dass sie die Berufung eines
finnischen Reichstages meinte, die Urkunde der Conföderirten mit den For-
derungen an den König spricht von einem allgemeinen Reichstage.
832 Der Anjalaband in Finnland, 1788.
Somit hatten sieben Offiziere, welche nur einem Theile des
finnischen Heeres angehörten^ es unternommen, im Namen des ganzen
Volkes zu der Kaiserin zu reden, über Ejrieg und Frieden und die
Abtretung einer vor Jahrzehnten von Russland erworbenen Provinz
zu unterhandeln. Man muthete der Kaiserin zu, diese Provinz ohne
Krieg, ohne Zwang, gegen das blosse Versprechen eines künftigeii
Bündnisses herauszugeben.
Jägerhorn sollte mit der Adresse nach St. Petersburg reisen.
Ein Bauer hatte aus der Festung Frederikshamm einen Brief eines
russischen Offiziers an den schwedischen Major Dähn gebracht, so
weit waren schon alle Bande der Disciplin und des militärischen
Anstandes gelöst. Jägerhorn benutzte die Rückkehr dieses Boten
ins russische Lager, um dem Commandanten von Frederikshamm,
Lewaschow, seine bevorstehende Ankunft anzuzeigen. Noch einmal,
in der Nacht, erschien derselbe Bauer mit einem Schreiben aus
Frederikshamm im schwedischen Lager. Vielleicht riethen die Russen,
keine Zeit zu verlieren.
Vor. Sonnenaufgang ritten Klingspor und Jägerhorn aus, wie um
das Lager zu besichtigen. Sie entfernten sich aus dem Lager und
man vernahm bald darauf zwei Pistolenschüsse. Ein schwedischer
Offizier Knorring, welcher vermuthete, dass die beiden Offiziere mit
einer russischen Patrouille handgemein geworden seien, schickte
eine Abtheilung Soldaten zu Fuss und zu Pferde zu ihrem Beistande
aus. Nach zwei Stunden kehrten letztere zurück : sie hinten Niemand
angetroffen. Bald darauf sprengte Klingspor mit der Nachricht ins
Lager, der Major Jägerhorn sei von herumstreifenden Russen ge&ingen
genommen worden.
Drei Tage später, am 12 August, unterrichtete Graf Armfeldt
den König von dem an die Kaiserin gerichteten Schreiben, welches
er damit motivirte, dass man auf diesem Wege habe in Erfahrung
bringen wollen, ob etwa von Unterhandlungen ein günstiger Ausgang
zu hoffen sei. Dem Briefe Armfeldt's war die von etwa hundert
Offizieren unterzeichnete Urkunde beigefügt, welche das Programm
der Conföderirten enthielt Man verlangte darin von dem Könige:
1) Friedensschluss mit Russland, 2) die Berufung des Reichstages,
3) die genaue Feststellung der Regierungsform durch den Reichstag,
4) sofortigen Abschluss eines WafiFenstillstandes, 5) Rückkehr der
Truppen auf schwedisches Gebiet, 6) die Erklärung, dass der König
die gesetzlichen Forderungen erfüllen werde. Man wolle, hiess es,
keine Revolution, sondern Gesetzlichkeit, Herstellung alter Rechte u, s. w.
ik
Der Anjalabnnd in Finnland, 1788. 328
Qleicliaeitig yeröffentlichten die Confbderirften eine Declaration
an ihre V aterlandsgenossen : der Krieg sei ungesetzlich, Jeder müsse
znr Rettung des Vaterlandes bereit sein, das bei dem Mangel an
Kriegsvorräthen, bei dem Uebergewi(Jht der russischen Flotte über
die schwedische, bei der Unzufriedenheit des Heeres leicht eine
Beute des Feindes werden könne« Von der Erkenntniss dieser
Sachlage und reiner Yaterlcuidsliebe geleitet hätten einige Offiziere
sich an Katharina mit dem Vorschlage gewandt, die Friedens-
unterhandlungen zu eröähen.
Ein ferneres an das ganze Heer gerichtetes Manifest stellte
folgende Forderungen einer Aenderung der Verfassung auf: 1) zu
den Reichstagen sollen Deputirte des Heeres eingeladen werden;
2) das Steuermaass soll wie früher von dem Kammercollegium und
dem Reichscomptoir bestimmt, das Finanzministerium, das nur zu
einer geheimen Finanzwirthschaft gefuhrt habe, abgeschafft werden;
3) die Reichsschuld wird durch die Bankeinlagen ftindirt, unter Ga-
rantie des Reichstages ; 4) die Einnahmen des Königs sollen geregelt
sein, für die Schulden des Königs ist der Staatsschatz nicht haftbar;
5) der Reichsrath soll in der Form, wie er vor 1772 bestand,
hergestellt werden; 6) der König soll keinen Angriffskrieg ohne
Genehmigung des Reichstags führen dürfen, für einen Vertheidigungs-
krieg bedarf es der Genehmigung des Reichsraths; 7) die Stellen-
vertheilung findet nur nach vorläufiger Vereinbarung statt; 8) der
Reichs t-ag wird alle drei Jahre berufen; 9) Pressfreiheit; 10) Abschaffung
der Polizeibehörde in Stockholm; 11) Bestrafung der Urheber des
Krieges ; 12) Frieden und Bündnisse mit anderen Staaten ohne Sub-
sidien von denselben. ')
Es war ein Programm, das an die Prätorianer in Rom, an die
Janitscharen in der Türkei, an die Strelzy in Russland, an die pol-
nischen Conf(>derationen und an die spanischen Militärrevolutionen
erinnert. Es war eine Revolution gegen den Staatsstreich von 1772.
Der Major Klick hatte den Hauptantheil an der Redaction aller
dieser Actenstücke. Die Berathungen fanden meist im Zelte des
Barons Mannerheim statt, wo auch die Papiere zur Unterschrift aus-
lagen. Von andereren Theilen Finnlands kamen Offiziere, um an
dem Bunde Theil zu nehmen. So kamen Leionhufvut aus Ummeljocki,
0 Rein 86—98.
824 Der Änjalabund in Finnland, 17Ö8.
Leionstedt aas Eeltis, welche alsbald wieder abreisten, um in ih]:en
Kreisen Proselyfcen zu machen. 0
Der Freund des Königs, Graf Stedingk, schrieb diesem aus-
führlich von der Propaganda der Contöderirten in dem Lager der
Schweden bei Nyilott. Die Emissäre aus Anjala, sagt er, hätten
mit lebhafken Farben die Gefahren geschildert, welche den Balagerern
einerseits von den Rassen, andererseits von dem Vaterlande aus
drohe, indem die Theilnahme an einem ungesetzlichen Kriege als ein
todeswürdiges Verbrechen betrachtet werden könne. So schwebte
man ein paar Wochen „zwischen dem Henkerbeil und dem Schwerte
des Feindes''. Mittlerweile Hess sich der Brigadier Hastfehr in eine
geheime und verrätherische Correspondenz mit den russischen Gene-
ralen Sprengtporten und Güntzel ein, welche die Annäherung russischer
Truppen in grosser Menge in Aussicht stellten, die Schweden auf
alle Weise zum Abzüge beredeten und eine Art Waffenstillstand mit
Hastfehr abschlössen. Am 8. (19.) August zogen denn auch die Schwe-
den, obgleich Stedingk dagegen zu wirken bemuht gewesen war,, wirk-
lich ab. Erst später erfuhr man die Verbindungen Hastfehr's mit den
Russen. Vorläufig rechtfertigte er seinen Rückzug mit seiner gefähr-
lichen Lage, dem Mangel an Truppen und Belagerungsgeschütz, dem
Mangel an Instructionen vom Könige und mit dem Umstände, dass das
Belagerungsheer bei Nyflott, seit der König westwärts gezogen war,
als ein zu weit vorgeschobener Posten leicht verloren gewesen wäre.
So hatte der Änjalabund in kurzer Zeit dem Feldzuge ein Ende
gemaqht. Die Confbderirten traten um so entschiedener auf, als ihnen
nirgends ernstlichere Hindernisse in den Weg gelegt wurden. Die
Schwäche, mit welcher man ihnen begegnete, zeichnet am beredtesten
die eigenthümlichen Zustände, unter denen eine solche Revolte
möglich war.
Der Oberbefehlshaber der in der Nähe der Grenze concentrirten
Truppen, Graf Meyerfehit, begnügte sich damit, die Offiziere seiner
nächsten Umgebung vor dem Beitritt zu der Conföderation zu warnen.
Gegen die Verschworenen benahm er sich so zurückhaltend und
vorsichtig, dass Niemand wusste, wie er eigentlich denke. General
Kaulbarz dagegen sprach sich sehr entschieden und offen gegen das
Gebahren der Conföderirten aus, und unter den letzteren wurde der
Vorschlag laut, Kaulbarz und Meyerfeldt zu verhaften und sie als
0 In d. Handschr. wird die Propaganda geschildert. Klick suchte umsonst
den Verfasser derselben zur Unterschrift zu bewegen.
Det Anjalabund in Finnland, 1788. 325
I
I
\m Kriegsgefangene den Russen zu überliefern. Es unterblieb, weil der
alte Armfeldt dagegen war. Eaulbarz aber fuhr fort die Confföde-
afljj rirten zu tadeln, er verbot seinen Offizieren allen Verkehr mit diesen
„Rebellen''. 0
Niemand dachte aber im ersten Augenblicke daran, die Confö-
'tii derirten zu verhaften. Man liess ihnen Zeit, Anhänger zu werben,
'üi mit den Russen in Briefwechsel zu treten. Nachdem der König
c Armfeldt's Schreiben mit der Anzeige von der Entstehung des Bundes
erhalten hatte, bezeichnete er die Handlungsweise der Theilnehmer
als „unbesonnen".^) In engeren Kreisen schalt er sie „Rebellen"
und sprach von dem Siege, den er ohne Zweifel über die Russen
erfochten hätte, wenn er nicht verrathen worden wäre. Die Nation
sei beschimpft, schrieb er dem Grafen Stedingk; wenn auf alle
Anderen so zu bauen gewesen wäre wie auf Stedingk und Hastfehr
(sie), so hätte, fügte der König hinzu, Katharina längst um Frieden
gebeten.^) „Unser Ruhm ist auf immer vernichtet", soll Gustaf
ausgerufen haben, „ich erwarte jetzt den Tod von Mörderhand".
Es kamen immer schlimmere^ Nachrichten von der Ausbreitung des
Aufstandes. Die Umgebung des Königs war in sehr gedrückter
Stimmung. Der König galt nichts mehr in seinem eigenen Lager.
Er war bereit zu unterhandeln. Durch den Obersten Lautingshauöen
liess er den Conföderirten Verzeihung anbieten, wenn sie nur zur
Treue zurückkehrten.
Dem Könige konnten sowohl die separatistischen Gelüste der
Finnen, als die Hoffnung des Adels in Finnland und Schweden, die
Ergebnisse des Staatsstreiches von 1772 in Frage zu stellen, gefähr-
lich werden. Besonders aber die letztere. In den oben angeführten
Manifesten und Adressen war ein genaues Programm der Adelspartei
enthalten. Nur in dem Schreiben an die Kaiserin liegt in den
Aeusserungen von dem ewigen Bündniss zwischen Finnland und
Russland eine Andeutung, dass man wohl an ein selbständiges
Finnland dachte. Das Wesentlichste war doch die Herstellung der
Adelsrechte. Hier trafen die Wünsche des schwedischen und finni-
schen Adels zusammen, während nur der letztere den Separatismus
vertreten konnte. Gustaf hat später, um die Schweden gegen die
Conföderirten aufzubringen, T}esonderes Gewicht gelegt auf die Pläne
') Handschrift.
2) Ebend. „rentreprise de la confed^ration finoise — une demarche im"
prudehte".
3) Stedihgk, M6m. I. 116.
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 7 u. 8. 22
326 Der Anjalabund in Fionland, 1788.
der letzteren FinnlaDd von Schweden zu trennen, aber man kanD
nicht eagen, dass der Anjalabund die Selbständigkeit Finnlands zum
Zweck gehabt habe. Während Klick das an die KaiBeriu gerichtete
Sehreiben als ein Project der Lostrennung Finnlands von Schweden
bezeichnet, '} sagt er ausdrücklich, dass nur. sehr Wenige diesen
Gedanken gehegt hätten j unmöglich, sa^t er, könne man die Adresse
an die Kaiserin als den Ausdruck der Stimmungen der „Nation"
bezeichnen, sonst hätte ja dieselbe viel mehr Unterschriften zählen
inüssen. Man habe doch eigentlich nur die Berufung eines Reichs-
tages, die Beseitigung der Regierungsfurm von 1772 beabsichtigt.
Graf Meyerfeldt schrieb an den König, dasa viele Offiziere gegen
die Bescbuldignng protestirten, als wollten sie ein unabhängiges
Finnland. Im Verhör hat Kästesko später erklärt, er habe den Baron
Sprengtporten von der Unmöglichkeit einer Vereinigung der finnischen
Truppen mit den russischen zum Zweck einer Emancipation Finnlands
von Schweden zu Überzeugen gesucht und ausdrücklich die Behauptung
aufrecht erhalten, dass der Anjalabund nur die Herstellung des Friedens,
die Wiedererlangung der verlorenen Theile Finnlands und die Be-
i-utung eines Reichstages zum Zweck gehabt habe. Ebenso sagte
LeioQStedt während des ihm gemachten Processes aus, Sprengtporten
habe sich auf die Adresse der sieben Offiziere an die Kaiserin berufen,
Finnlands von Schweden beabsichtigt hätten,
äich erbot, ihm eine schriftliche Versicherung
finnische Heer nicht die Unabhängigkeit Finn-
Lass an eine solche zu denken besonders deshalb
;, weil ja gerade damals das schwedische Heer
md. Der Graf K. G. Armfeldt, der allerding.s
arina mit unterzeichnet hatte, erklärte wenigstens
len Baron Sprengtporten, daes von einem Abfall
den nicht wohl die Rede sein könne. Ebenso
astfehr im Gespräch mit Sprengtporten, es sei
herrschenden Stimmungen nicht auf eine Ver-
bhängigkeitspläne, welche sie beide wünschten,
;hrieb dem Könige am 19. August, Alle seien
it und wollten Sprengtporten's Entwurf gemäss
publik verwandein. Der- König schrieb zurück
mt soit pea aaihentique: pour avoir la prolection de
einer le plan de rind^pendence." Halmaneii 67.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 327
(23. August), das üebel sei noch nicht ganz allgeüiein, die Schweden
seien höchst aufgebracht über die Separatisten; die Anjalaner aber
protestirten gegen die Anschuldigung des Separatismus. ')
Somit war die Separatistenpartei, wenn man überhaupt von einer
solchen sprechen kann, dem Könige ungleich weniger gefährlich als
ein Reichstag, welcher die ganze Arbeit des Königs seit seiner Thron-
besteigung vernichten konnte.^) Andererseits konnte eine Fort-
setzung des Krieges bei Nichtberufung des Reichstages den König
bei der allgemein herrschenden Unzufriedenheit ebenfalls in Gefahren
stürzen.
-Eine unmittelbare Gefahr aber drohte dem Könige von den
Mitgliedern des Anjalabundes. Man sprach davon, Gustaf HI. zu
verhaften und ihn auf diese Weise entweder zur Berufung eines
Reichstages oder zur Abdankung zu nöthigen. Der Offizier Kothen,
nach anderen Berichten Hästesko, soll mit der Ausführung dieses
Vorhabens betraut gewesen sein. Aber Gustaf hielt sich aus Vorsicht
meist auf seiner Fregatte Amphion auf, suchte sich mit den treuesten
Truppen zu umgeben, treue Generale wie Platen und Hamilton
waren stets zu seinem Schutze bereit. Wie durch ein Wunder, sagt
ein Zeitgenosse, entrann der König der Gefahr, seiner Freiheit beraubt
zu werden.^) Unter den Verschworenen herrschte in diesem Punkte
Uneinigkeit. Einer von ihnen bestand darauf, dass der König ver-
haftet werde, ein anderer erklärte, er selbst werde den König in
einem solchen Falle befreien helfen. Beim Glase Punsch ist davon
die Rede gewesen. Ein Offizier, der abends an dem Zelte der Ver-
schworeneij vorüberging, hat später während des Processes Eröffnungen
über das von ihm belauschte Gespräch gemacht. Dies geschah im
e
Lager von Kymmenegard in der Nähe der schwedisch - russischen
Grenze, unweit der Fregatte „Amphion'', die an der Küste lag. Zu
grösserer Vorsicht Hess der König sogar in der Regel die Bretter
abnehmen, welche das Fahrzeug mit dem Ufer verbanden. Bald
reiste er ab. Auf seiner Durchreise in Lovisa sagte ein Offizier zu
einem anderen, auf die Fenster des königlichen Absteigequartiers
o
deutend: „Jenen da müsste man in den Thurm zu Abo sperren, in
welchem Erich XIV. gesessen, und zwar lebenslänglich.''
Schon im Juli soll Gustaf daran gedacht haben, im Falle eines
Misslingens seiner Kriegsunternehmungen abzudanken, in ländlicher
1) Stedingk, M6m. I. 129, 185.
*) Heirmann in Raumer's Taschenbuch 1857 S. 421.
3) Malmanen 92, 93. Rein 99, 100.
22*
328 Der ÄDJalabund in Finnland, 1788.
Abgeschiedenheit, etwa in Italien oder SUdfrankreicb, seine Tage za
yerbringen. Jetzt in dem Missgescbick, das ihn betroffen, tauchte
der Gedanke, das Beispiel der Königin Christine nacbzuahmeri, nocb
einmal in ihm auf. Er liees ihn fallen. ') Nocb hatte er Freunde ;
der junge Graf Armfeldt, dem man 2000 Tbaler bot, falls er den
König verliesse, harrte treu bei ihm aus. Er hatte dem Könige ge-
rathen die Conföderirten verhaften zu lassen, aber der König wollte
Mässigung zeigen. In seiner etwas tückischen Welse sagte er zu
Armfeldt, durch Verstellung sei auf Rettung zu hoffen.^)
Indessen gab der König auch nicht nach. Weder versprach er
die Berufung eines Reichstags, noch zeigte er eich geneigt Frieden
zu machen mit der Kaiserin. Dagegen Hess er den Conföderirten
melden, er erwarte, dase sie sich entschuldigten. Dem Grafen Stedingk
schrieb er, er wolle lieber seinen inneren Feinden zum Opfer fallen,
als sich unter das Joch der Kaiserin beugen; aber er baue darauf^
dass grosse Reiche nicht so leicht zusammenbrechen; mit Franz I.
sagte er: Alles sei verloren, nur die Ehre nicht.')
Auf der Durchreise nach Schweden, in Lovisa, hatte der König
ein Gespräch mit Leionhufvudt, welcher ihm einen Brief von dem
älteren Grafen Armfeldt brachte. Der letztere erinnerte an die
Berufung des Reichstages. Der König soll sich heftig gegen die
Conföderirten ausgesprochen, auf einem Fetzen Papier die Formel
einer Bitte um Vergebung aufgeschrieben haben, welche die Schuldigen
en. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel mit
taf sagte ihm, er könne sich Glück wünschen
t sogleich der Kopf vor die Füsse gelegt werde,
der Conföderirten gekommen; es sei nicht Brauch,
terhandeln. Den Brief K. G. Armfeldt's gab der
zurück. — Einer anderen Version zufolge soll
ankungspUn b. Qeffroy in der Revue des denx mondes
König habe im Sommer 1788 mit Mad. StaSl über den
n Paris correapondirt. Dort wolle er den Rest seines
SBC verbringen. In Sctweden sagte man, dass ein Theil
[Achten gezahlten Subeidien ins Ausland gesendet worden
ih bald ganz nach Montpellier zarückzaziehen gedenke;
ig wolle katholisch werden und in Italien leben, schreibt
1 Tagebuch 28. Juni 1788, wie man ans aufgefangenen
Katharina schrieb an Potemkin darüber, s. Lebedew,
Bch) 1863 S. 307 u. 308.
iler", Handschrift.
I. 121.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 329
Leionhufvudt sich sehr vorsichtig benommen und insbesondere dem
Könige vorgestellt haben, dass die Conföderirten den Vorschlägen
des Barons Sprengtporten, Finnland von Schweden zu trennen, eine
entschiedene Weigerung entgegengesetzt hätten. Der Umstand, dass
Leionhufvudt später straffrei ausging, zeugt doch wohl von einigem
diplomatischen Geschick seinerseits. Er. hat später behauptet, dass
insbesondere Jägerhorn die angebotene Amnestie, falls die Schuldigen
um Vergebung bitten wollten, zurückgewiesen habe. Aber auch die
Anderen, auch Armfeldt, waren entschlossen, auf der einmal betretenen
Bahn weiterzugehen. ^)
Das Schicksal des Königs hing wesentlich von seinen Beziehungen
zu den mittleren und unteren Ständen in Schweden und von dem
Erfolge seines nun beginnenden dänischen Krieges ab. Für die
Anjalaner dagegen war die Frage von allergrösster Wichtigkeit, wie
die Kaiserin sich zu der Militärverschwörung verhalten werde.
Wiederholt ist die Vermuthung ausgesprochen worden, der Bund
in Anjala sei unter russischen Anspielen entstanden. Gustaf selbst
sagte im September 1788 seinen Käthen in Stockholm, seit zehn
Jahren arbeite Russland daran, etwas Derartiges zu Stande zu bringen.
Der Verfasser der wiederholt von uns angeführten Handschrift nennt
den Bund von Anjala ein „Meisterstück** des Cabinets von St. Peters-
burg, das sich auf keine andere Weise zu helfen gewusst habe.
Gleichwohl finden wir nicht, dass eine solche Behauptung von
Thatsachen unterstützt würde. So viel wir sehen, hatte man vor
der Ankunft des Majors Jägerhorn in St. Petersburg am Hofe Katharina's
so gut wie gar keine genauere Kunde von den Ereignissen im schwe-
dischen Lager. ^)
0 Rein 111, 112.
2) Rein (85) vermuthet, es seien schon vor dem Ahschluss der ConfÖderation
zwischen russischen und schwedischen Offizieren Verabredungen getroffen worden.
Der obenangefiihrte Briefwechsel zwischen dem schwedischen Major Dähn und
einem Offizier in der Festung Frederikshamm könnte so gedeutet werden. Des-
halb brauchte man aber doch in Petersburg nichts yon der entstehenden Con-
fÖderation zu wissen. Man ist sogar so weit gegangen zu behaupten, dass
ßasumowski schon seit lange von dem Bunde gewusst habe. Dies wird durch
den Umstand widerlegt, dass der Bund, wie man sieht, doch nur in kurzer Zeit
^tstand und namentlich, dass die Nachricht von der Entstehung desselben in Öt.
Petersburg ganz unerwartet kam. Proclamationen, welche man für die Finnen
in Bereitschaft gehalten hatt^, beweisen nichts gfsgen unsere Behauptung.
880 Der Aiijalabund in Finnland, 1788.
Von allem was in dieser Zeit Taj^ für Tag an dem russischen
Hofe vorging, was die Kaiserin sagte und thnt, wissen wir aus dem
Tagebuche ihres Schreibers Chrapowitzki. Hatten die Russen irgend
eine Initiative bei den Ereignissen in Finnland, so müssten bei
Chrapowitzki darüber Angaben zu linden sein. Nach der, Ankunft
Jägerhorn's in St. Petersburg ist sehr oft von den Maassregeln der
russischen Regierung die Rede, welche die Ausbeutung des Haders
im schwedischen Lager zum Nutzen Russlands bezweckten. Die
Nachricht aber von der Opposition der Offiziere und dem dadurch
bewirkten Rückzüge war in St. Petersburg eine sehr angenehme
üeberrascbung.
Am 26. Juli (6. August) morgens war Chrapowitzki bei der
Kaiserin gewesen. Man sprach über verschiedene Dinge, ohne beson-
dere Nachrichten aus Finnland zu erwarten. Um 4 Uhr nachmittags
Hess sie ihn auffordern, schnell herüberzukommen, worauf sie ihm
mit sichtlicher Freude von dem Rückzuge der Schweden erzählte,
den sie der Besorgniss der Schweden zuschrieb, dass ein russisches
Corps ihnen in den Rücken fallen könne. Den anderen Tag erst
kamen genauere Nachrichten, denen zufolge der Ungehorsam des
finnischen Heeres die Ursache des Rückzuges gewesen sein sollte.
Katharina sah diesen Umstand als eine ihr unmittelbar von Gott
gesandte Hülfe an. ') Sogleich wurden Maassregeln ergriffen , die
revolutionäre Stimmung in Finnland zu benutzen. Zunächst sollte
der Baron Srengtporten auf die Pinnen zu wirken suchen. Es wurden
ihifi Manifeste zur Verbreitung zugestellt, in denen die Finnen
rnssiscbereeits ermahnt wurden, nicht mehr zu kämpfen, sondern
ruhig in ihren Häusern zu verbleiben. Etwas später erfuhr man,
daSB Armfeldt ia einem an den russischen General Fürsten Lobanow-
Rostowski gerichteten, die Auswechselung der Gefangenen betreffenden
Schreiben die Hoffnung auf baldige Herstellung des Friedens geäussert
und den Krieg als durch Missverständnisse und unruhige Köpfe
herbeigeführt bezeichnet hatte. ^)
Die Kaiserin war in einer seltsamen Lage. Trat sie mit den
Feinden in Unterhandlung über den Frieden, so hatten die Gegner
des Könige gewonnenes Spiel. Die Friedenspartei in Schweden und
Finnland war der natürliche Bundesgenosee Russlands. Dagegen
■) Genau so drückt eich Ohrapowitzki aus.
0 Der Krieg sei herbeigeführt „plas-peut-Stre per des m&lentendueB et des
eepritB que par la volonte des deux sonverains, nnia par lee lieae de
et si faits tous les deux pour e'ajmer". Chrapowitzki.
. Der Anjalabund in Finnland, 1788. 331
konnte die Eröffnung der Friedensunterhandlungen die Kaiserin
leicht um alle die Vortheile bringen, welche sie gerade in diesem
Zeitpunkte von dem Angriffe der Dänen auf die Westgrenzen Schwe-
dens zu erwarten berechtigt war. Man beschloss vorläufig, nicht vom
Frieden zu reden.
Da kam der Major Jägerhorn nach Petersburg. Er stieg bei
dem Commandanten von Petersburg, Grafen Bruce, ab, wurde von
diesem auf das Zuvorkommendste empfangen und von dem Günstling
Mamonow bei der Kaiserin eingeführt. 0 Er war am 31. Juli (11. Aug.)
angekommen. Die Audienz aber fand erst den 3. (14.) August statt.
Von dem Inhalt des Schreibens der Offiziere wusste man schon am
31. Juli (11. Aug.) in Petersburg durch den Oberbefehlshaber der
russischen Truppen in Finnland, Grafen Mussin-Puschkin. Dass die
Anwesenheit Jägerhorn's geheimgehalten wurde, dürfte vielleicht aus
dem Umstände hervorgehen, dass in S^gur's Memoiren derselben
gar nicht erwähnt wird. Was den Inhalt des Gespräches der Kai-
serin mit Jägerhorn anbetrifft, so ist aus den Aufzeichnungön
Chrapowitzki's zu ersehen, dass von ^er Unabhängigkeit Finnlands
die Rede war, dass Jägerhorn den Wunsch äusserte, mit dem Baron
Sprengtporten zusammenzutreffen, dass diö Kaiserin keinerlei be-
stimmte Antwort ertheilte, sondern den Major an den Vice-Kanzler
Ostermann verwies.^) Aus dem der Kaiserin erstatteten Berichte
Osterraann's ist zu ersehen, dass Jägerhorn eine von der Kaiserin
oder wenigstens vom Vice-Kanzler unterschriebene Antwort auf das
Schreiben der Offiziere verlangte. Man hielt es nicht für angemessen,
einem solchen Wünsche zu entsprechen.
Mittlerweile kam der Baron Sprengtporten in St. Petersburg an.
Er hatte an der Grenze militärische Operationen geleitet und beeilte
sich auf das Geheiss der Kaiserin mit Jägerhorn zusammenzutreffen.
Hierauf hatte er eine Besprechung mit Katharina, welche sich gleich
darauf lobend über ihn aussprach. Sogleich reiste er wieder nach
Finnland ab, „um bei dem beabsichtigten Vorhaben mitzuwirken," wie
Chrapowitzki sich pleonästisch ausdrückt. In der unmittelbar darauf
folgenden Zeit wechselte Katharina einige Briefe mit Sprengtporten. In
einem derselben führt sie Klage über die Zweizüngigkeit Jägerhorns. ^)
^) Keller's Bericht bei Herrmann, Gesch. d. russ. Staats VI. 194.
2) An Potemkin schrieb die Kaiserin, sie werde den Finnen antworten, sie
sollten sioh von Schweden frei machen, dann werde sie sich verpflichten, sie in
Frieden zu lassen. Solowjew, Fall Polens (russisch) S. 189.
3) Malmanen 61.
332 Der AnjalabuDd in Finnland, 1788.
Es ist ebenso gewiss, daas Jägerhorn in Petersburg für eine Los-
trennung Finnlands von Schweden gewirkt hat, als daas er nicht
eigentlich bevollmächtigt sein konnte , für dieselbe zu wirken. 'J
Eatharioa erfaeste den Entwurf einer Lostrennung Finnlands von
Schweden mit Lebhaftigkeit und Sprengtporten war für die Verwirk-
lichung dieser Idee thatig. Auch andere russische Offiziere handelten,
wie wir sehen werden, in diesem Sinne. Es war nicht lange her, dass
die „Unabhängigkeit" der Krim zu einer Annexion dieser Halbinsel
geführt halte. Aehnlicbes konnte man im Norden veranstalten.
Am 8. (19.) August war die Antwort, welche Jägerhorn nach
Finnland bringen sollte, fertig. Denselben Tag reiste er mit einem
kostbaren Ringe und 500 Dukaten beschenkt ab. Die Antwort war
ohne Unterschrift, wie Chrapowitzki bemerkt, damit nicht Jemand
aus Missgunst dieselbe dem Könige zustelle. Der Inhalt dieses Acten-
stücks war kurz folgender: Die Kaiserin erinnert die Finnen an die
ihnen während der Hungersnoth im Jahre 1785 erwiesenen Wohl-
thaten, indem sie bedeutende Kornspenden nach Finnland geschickt
habe. Den gegenwärtigen Krieg sehe sie als ungerecht und un-
gesetzlich an, aber sie wisse sehr wohl die Handlungsweise des
Königs von der Gesinnung des Volkes zu unterscheiden. Sie wünsche,
dass das Verlangen nach Frieden und Freundschaft zwischen Finnland
und Russland von einer grösseren Anzahl finnischer Staatsangehöriger
ausgesprochen werde und durch einen Reichstag in geeelzlicher Form
zum Ausdruck gelange. Alle diejenigen, welche die in dem Von
Jägerhorn überbrachten Schreiben geäusserten Ansichten th eilten,
sollten einen Reichstag bilden, welcher sodann mit Russland in for-
meller Weise verhandeln und das Wohl des Vaterlandes mehren könne.')
■) Helbig In ArchenhoU' Minerva, 1T98 IT. 480, sagt von Jägerhorn: „Die
Depnttttion wuaate eigentlich selbst nicht, was sie wollte. Man Bah in ihrem
Anliegen, dass sie ans gednngeoen Miethlingen ohne Kenntnies und Ueberzeugang
bestand; sie klagte in ellgemeinen Ausdrückea über den König, verlangte Schutz
vor deaaen Feinden, wollte Finnland in eine Republik verwandeln oder verlangte
den Groa&fiirBten Conatantin aU souveränen Qrosafürsteo von Finnland zu haben.
Letztere Angabe wird durch nichts bestätigt,
") Que le voeu de la nation ünoiBe pour le retablisseoient d'nn bou voisinage
et Vancienne bonne harmonie soit manifeste par !a räunion d'un plus grand
nombre de citoyens et i^evStu ile la, forme repräseutative , qui puisae lui donner
une sancLion legale et authentiqiie, Pour cet efTet et ea considerant la d^licateese
de la Position des affaires, tous eeux, qui participent aux intenCions salutaireE
Snonc^es dans le memoire present^ & S. M. J. pai* le m^or de Jägerhorn ne
doivent pas differer 4 se concertei' enaemble et de ae l'ormer en un corps repri-
Der Anjalabuttd in Finnland, 1788. 333
Katharina war sehr befriedigt. Sie theilte einigep vertrauten
Freunden die Nachricht von dem Ungßhorsam der finnischen Truppen
mit. Aus ihrei^ Bpefen ist zu ersehen, dass es ihr eine Genugthuuqg
gewährte. 0 Baron Sprengtporten erhielt Befehl, in directe Verhajj41ung
mit IJastfeJir und K. G. Armfeldt zu treten. Der Commandant von
Wiborg, Güntzel, schrieb : den Soldaten der finnischen Armee sei von
ihren Befehlshabern bei Todesstrafe verbotjen worden, auf die Russen
zu schiessen. Graf Mussin-Puschkin erhielt den Auftrag, jedem von
d,em Könige abfallenden schwedischen Soldaten 10 — 15 Rubel aus-
zahlen ^u lassen. Bei solchen Maassregeln erfuhr man sehr bald,
daßs diese Mittel verfingen. Die Belagerer von Nyflott zogen ab,
nachdem sie ausdrücklich mit den Russen verabredet hatten, dass
man nicht ß.uf sie schiessen werde. Die Kaiserin war vergnügt,
lachte über den König : das sei die Heimzahlung für seine der Kaiserin
zugefügten Kränkungen. ^)
Die verrätherische Haltung Hastfehr's verdiente besondere Auf-
merksamkeit. Schon am 25. Juli (5. Aug.) schreibt Graf Stedingk an
den K^önig von dem Eintreffen eines Deputirten aus dem Lager der
Conföderirten , von der Unzufriedenheit, von den Hetzereien, mit
denen die Offiziere die Soldaten bearbeiteten ^ es sei nicht unwahr-
scheinlich, * dass schon Verhandlungen mit den Russen gepflogen
würden. Am 26. Juli (6. Aug.) schrieb der russische General Güntzel
an Hastfehr: bei dem Ausbruch der Verschwörung gegen den Krieg
sei es ganz nutzlos sich noch länger im russischen Finnland aufzuhalten,
er fordere H^slfehr'n auf, sich sogleich zurückzuziehen. ^) Einige Tctge
noch schwankt/e Hastfehr, während Stedingk ihn für treu hielt und
sentant, qui puisse traiter Ugalement des interßts de la patrie et les regier
d^finitivement de la mani^re la plus analogue k son bien-dtre präsent et h venir."
Rein 106 thellt einen Auszug aus dem Briefe mit. In der von uns angeführten
Handschrift der Memoiren eines schwedischen Offiziers ist ebenfalls ein Auszug
mitgethcilt, in welchem u. A. die Hoffnung ausgesprochen wird, daas Gustaf III.
die Handlungsweise der Finnen billigen werde und in welchem der Vorschlag
gemacht wird, im Verein mit russischen Truppen, die zu- dem Zwecke in Finnland
aufgenommen werden sollten, „k ^tablir une existence politique teile que tous
les bons citoyens d^sirent ou doivent desirer." Der Verfasser n^nt das „une
espece de reponse^ in „formes ambigues^, deren Anonymität die Finnen auf-
gebracht habe. Es sei unmöglich, fügt er hinzu, „d'une mani^re- moins öquivoque"
von dem Unabhängigkeitsentwurf zu reden.
1) So schrieb sie an Jaropkiu/ s. d. Schriften Katharina*s UI. 358 (russisch),
so an Pohlmann in Reval, s. Blum, Ein ^u^s. Staats];n^n ^. 502.
^) Chrapowitzki passim.
3) Rein 93 und 94. M^m. Stedingk's passim.
834 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
von Beinern Verkehr mit den Russen nichts Bestimmtes wusste. Als
aber der Schwager Sprengtporten's , Glansenstjerna, und noch ein
anderer Offizier aus Anjala, RamsÖ, bei Nyflott anlangten und noch
energischer zum Rückzuge riethen, da schien dem Grafen Stedingk
die Sache des Königs verloren zu sein. Man rede, schreibt er an
ätage, von einem unabhängigen Finnland, ohne zu
an dadurch nur Russlands Uebermacht steigere;
m Gotteswillen auf seine Rettung bedacht sein;
von Zündstoffen umgeben sei der Graf Rasumowski,
i Stockholm verweile. Immer neue Deputationen
immer klarer wurde es, dass directe Verbindungen
;standen ; aber noch zu Anfang September schrieb
für Hastfehr's Treue. ') Wir wissen, dass Hastfehr
Hauptvertretem der Conföderation, Klingspor,
mit den vornehmsten Vertretern des unzufnedenen
1, Stackeiberg, de Geer u. A., andererseits mit den
len in lebhaftem Verkehr stand, dass er daran
1 BaWißprengtporten in russische Dienste zu treten,
Kaiserin äie^^ßg^e Belohnung für den Abzug von
;h nahm. ^'^•, ,
pannung erwartete man'"af;-*"*'*^°''' ^^'' Kaiserin,
ntreffen Jägerhorn's in FinnTal'* ««^hrieb Sprengt-
Wen K. G. Armfeldt, die KaUl"° **'"*^^ ^''^
'■r Finnen, könne aber nicht form^^" '■;"'"
le Conföderation eine gesetzliche Form^^ "'
ich nicht iii die Angelegenheiten Finnland'"'
se aber in Pinnland die Ruhe herstellen, we\j
enschen gestört worden sei.^j X
August kam Major Jägerhorn in das Lager deÄ
sk. Da das Actenstück, welches er brachte, keine ^
wies er als Zeugniss für dessen Aechtheit den ""
.eschenk erhaltenen Ring auf. Sogleich verbreite)
n den Dukaten, welche Jögerhoru in St. Petersbu
einem officiellen Berichte an seine Vorgesetzten
in russischer Gefangenschaft gewesen und habe
t>en müssen, nicht mehr gegen die Russen kämpfen
, 116, 117, 123, 12&
iinft '
POH
tetA
urgl
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 335
Die Antwort der Kaiserin erschien unbefriedigend. Es fehlte
die Unterschrift und ausserdem waren die Andeutungen über die
Unabhängigkeit Finnlands geeignet die Conföderirten zu corapromit-
tiren. In bitteren Ausdrücken klagt K. G. Armfeldt in einem Briefe
an Sprengtporten darüber, dass die Antwort aus Petersburg so unbe-
friedigend ausgefallen sei. Sprengiporten übernahm es, die Handlungs-
weise der Kaiserin zu erläutern. Er versicherte Armfeldt in einem
ausführlichen Schreiben: die Kaiserin denke nicht daran, die Bande,
welche Finnland an Schweden knüpften, lockern zu wollen; sie wolle
nur zum Nutzen eines grossherzigen und leidenden Volkes den Krieg
beendigt wissen; dass sich die Kaiserin zunächst an die Finnen allein
und nicht auch an die Schweden wende, sei eine natürliche Folge
des Umstandes, dass sich die erstereli an sie gewandt hätten; den
Schweden werde sie dasselbe sagen, was sie gegen die Finnen
geäussert habe; nur um die Beseitigung usurpirter Rechte handle
es sich ; nur ein verfassungsmässiger Reichstag könne allem Unglück
ein ■ Ende machen, das durch einen ungerechten und willkürlich
begonnenen Krieg herbeigeführt worden sei.
Ein Zeitgenosse versichert uns, der Graf Meyerfeldt sei Zeuge
gewesen, wie Graf Armfeldt dieses Schreiben erhielt und dahin be-
antwortete, dass die Mittheilungen Sprengtporten's zu allgemeiner
Beruhigung gereicht hätten, da man durchaus die Erhaltung des
Bandes wünsche, welches Finnland und Schweden vereinige. 0
Am 12. (23.) August hatte Sprengtporten eine Zusammenkunft
mit Leionhufvudt: er schlug vor, Armfeldt solle seine Truppen mit
den russischen vereinigen. Auf die Bemerkung, Armfeldt sei ent-
lassen und durch den Grafen Meyerfeldt ersetzt, erwiderte Sprengt-
porten: Meyerfeldt sei unbeliebt, man solle sich gegen ihn auflehnen.
I
|Die Aeusserung Sprengtporten's, dass man an eine Selbständigkeit
"^^Finnlands nicht denken solle, erklärte sich vielleicht dadurch, dass
iDejer-vermuthen konnte, Leionhufvudt, ein geborener Schwede, werde
^^keinesfalls für eine Trennung Finnlands von Schweden stimmen.
Bald darauf, am 15. (26.) Aug., fand eine Zusammenkunft zwischen
's I Sprengtporten einerseits und den finnischen Offizieren Armfeldt,
-^ Hästesko und Taube statt. Hier sprach Sprengtporten wiederum
^^ j von der Unabhängigkeit Finnlands : er stelle den Offizieren vor,
dass sie sich den grössten Gefahren aussetzten, wenn «ie auf halbem
*) Die Briefe Annfeldt's werden in der Handschrift des schwedischen
Offiziers mitgetheilt.
336 Der ÄnjalabuDd in Finnland, 1788.
Wege stehen blieben. Besonders Armfeldt widersprach lebhaft. Man
trennte sich in völliger Meinungsverschiedenheit. 'J
^uch der Baron Hastfehr hatte eine Zusammenkunft mit Sprengt-
porten. Dieselbe fand zu Anfang. Sept. in dem Dorfe Kayhkä statt. *)
Hier war zunächst von der Berufung eines finnischen Reichstages
die Rede, welcher unweit der russischen Grenze in der Provinz
Savolax zusammentreten sollte. Gegen Hastfehr konnte Sprengtportea
ofifener sein; ohne zum Anjalabunde zu gehören war Hastfehr ein
entschiedener Anhänger der Adelspartei und vertrat die Idee des
Separatismus. Eine Zeitlang erschien er dem Könige loyal Um so
rückhaltloser gab er sich den Einflüsterungen der rassischen Militärs
hin. Bei diesem Zusammentreffen hat er einen Revers ausgestellt:
er werde, sobald er durch authentische Papiere von den Intentionen
der Ifaisefin Eenntniss haben werde, seinerseits nach Kräften filr
die Verwirklichung des Planes mitwirken, Finnland zu einem un-
abhängigen Grossherzogthnm zu machen. 0 Später, als ihm der
Procees gemacht wurde, erklärte Hastfehr, er habe jenen Revers
ausgestellt, um die russischen Entwürfe zu erfahren und dieselben
sogleich dem Könige mittheilen zu können. Allerdings theilte er
dem pönige sowohl als dem . Herzoge Karl von Südermannland
mancherlei über seine Beziehungen zu Sprengtporten mit, aber es
geschah wohl wesentlich, um nach beiden Seiten hin gedeckt zu sein.
Gewiss ist, dass er bei dieser Zusammenkunft dem Baron Sprengt-
porten Briefe einhändigte, welche er vom Könige erhalten hatte. *)
Ein Zeitgenosse bemerkt etwas spitz, die Schweden hätten in
diesem Kriege nicht sowohl Soldaten gebraucht, als Trompeter, um
bei dem ewigen Parlamentiren und den gegenseitigen Besuchen
schwedischer und russischer Offiziere Dienste zu leisten.
') Rein 109-111.
") Rein sagt, die ZusammenkunfC habe zwischen dem 7. (18.) n'. 9. (20.) Aug
Btattgefundea. Haimanen spricht vom 7. (18.) und 9. (20.) September. Hätte
Rein Recht, so könnte man den am S, (19. i August bewerkstelligten Rückzug
von NyÜott als eine Wirkung der Besprechung ansehen. Dass indessen Ualmanen
Recht hat, wird erstens dadurch bezeugt, dass Sprengtporten den 7. (18.) oder
8. (19.) August in St. Petersburg ankam, und zweitens dadurch, dass die Nachricht
von der- Ausstellnng des Revoi'ses und dessen Inhalt, nach Chi'apowitzki, am
12. (23.J ijder 13. (24.) September iu Petersburg angelangt sein muBS.
') Der Revers lautetei Je soussignf prometa da cuneourir, autaat que je
puis, au projet d'independance du grand duchä de Finlande, auseitdt que je
serais pourvu des papiers authentiques de la part de sa M. J. de toutes les
Rasaies pour en apprejidre sa haute voloutö." s. Rein 115, 156. Haimanen 119.
*) Tagebuch Chrapowitski's am 13. September 1788.
Der Anjakbund in Finnland, 1788. 337
Katharina war von Allem genau unterrichtet was vorging. In
ihrem leider nicht herausgegebenen Briefwechsel mit Sprengtporten
müssen wichtige Aufschlösse über diese Verhandlungen enthalten
sein. Indessen auch das in dieser Zeit besonders reichhaltige Tage-
buch Chrapowitzki's bietet vielfache Angaben über den Verkehr
zwischen den russischen Militärs und den Gegnern des Königs.
General Güntzel schrieb über die Stimmung und Haltutig des Grafen
K. G. Armfeldt, der „den Russen sehr gewogen sei", er bedauerte,
dass Schweden und Finnen sich noch nicht endgültig wegen der
Berufung des Reichstages geeinigt hätten. Graf Mussin- Puschkin
meldete, dass Sprengtporten, da die Sache sich in die Länge ziehe,
russische Truppen in der Nähe der schwedisch-finnischen Grenze zu
concentriren wünsche. Aus Petersburg wurde der Auftrag gegeben,
man solle die Finnen, für den Fall, dass der König sie nach Schweden
hinüberführen lassen wolle, zum Ungehorsam reizen; es galt Gustaf III.
Streitkräfte gegen Dänemark möglichst zu verringern. Neuen Nach-
richten zufolge sollte der König das Verlangen eines Reichstages mit
den entschiedenen Worten zurückgewiesen haben: er werde nie von
seinen Unterthanen Befehle annehmen. Wiederum ging von Peters-
burg die Instruction ab, man solle doch die Bestimmung des Jahres 1772
geltend machen, dass ein Angriffskrieg ohne Einwilligung des Reichs-
tages ungesetzlich sei. Der Major Jägerhorn schrieb an Sprengtporten,
man solle nicht zu sehr drängen und eilen; man müsse noch die
Antworten über die Stimmungen entfernt- stationirter schwedischer
Regimenter abwarten. Derselben Meinung, d^ss* man' die Dinge
allmälig reifen lassen müsse, war auch der Vicekan zier Ostermann,
welcher dem Baron Sprengtporten rathen liess, persönliche Be-
sprechungen, welche ihn der Gefahr der GefangenneTimung aussetzten,
zu vermeiden und sich auf brieflichen Verkehr zu beschränken.
Sprengtporten erhielt 1000 Dukaten von der Kaiserin zum Geschenk ;
4000 Dukaten wurden dem Grafen Mussin-Puschkin zur Verfügung
gestellt, „zu Belohnungen an die Finnen je nach den geleisteten
Diensten". Die Kaiserin leitete alle diese Angelegenheiten persönlich.
Chrapowitzki erwähnt am 25. August (5. Sept.) eines Briefes der
Kaiserin an Sprengtporten, worin ausdrücklich die Absicht mitgetheilt
werde, die Finnen ganz von Schweden zu trennen: er solle den
Finnen vorstellen, welchen Gefahren sie sich aussetzten wenn es
nicht dazu käme, und wie dringend es sei, einen solchen Entschluss
zu fassen; dann solle Sprengtporten den Oberbefehl übernehmen: es
werde sowohl den Finnen als Russland Vortheile bieten.
338 Der Änjalabund ia Finnland, 1788.
Der Verrath Hastfehr's flösste indesBen der Kaiserin doch Ver-
acbtang ein. „Was für Verräther!" sagte sie als Hastfehr den oben
erwähnten Revers unterschrieben und des Königs Briefe ausgeliefert
hatte, „wäre der König anders, so könnte man fast Mitleid mit ihm
haben; aber was soll man machen? man muss die Gelegenheit
benutzen, dem Feinde, wenn es sein kann, die Mütze vom Kopfe
werfen. Fast fürchte ich mich, solche Papiere zu zeigen." „Wie
der Pfaffe, so die Beichtkinder," bemerkte Chrapowitzki, und der
Günstling Dmitrijew Maraonow fügte hin7.u: „D^r Pfaffe ist ein Narr
und die Beichtkinder smd Schelme." — Vier Wochen später langte
ein Brief des Barons Hastfehr an Sprengtporten tin, worin der erstere
bemerkte, Gustaf habe ihm, falls er Nyflott nehme, 10,000 Thaler
versprochen, jetzt bitte er um Auszahlung dieser Summe durch Russ-
land ; gleichzeitig bat er um Aufnahme in russische Dienste, um gegen '
die Türken oder gegen die Preussßn zu kämpfen. Katharina sagte:
„Ein schöner Diener, der sich dem Meistbietenden verkauft; aber
bezahlen muss man ihn doch." ')
Mittlerweile erfuhr man, dass der Bruder des Königs in Finnland
eingetroffen sei und den Oberbefehl über die Truppen übernommen
habe. Es war eine Frage von der grössten Wichtigkeit, wie er sich
zu den Dingen stellen würde.
Die Beziehungen des Königs zu seinen Brüdern waren nicht
eigentlich sehr, innig und. offen. Man hielt den Herzog Karl von
Südermann land für einen gefährlichen Nebenbuhler des Königs.
Man traute ihm zu, er werde gemeinsam mit der Opposition gegen
den König vorgehen. Schon früher hatte er mit dem Adel Ver-
bindungen unterhalten. Wir sahen, wie Sprengtporten es wagen
konnte, ihm Finnlands Krone anzutragen. Man wusste, dass er
persönlich gegen den Krieg gestimmt war und konnte somit
erwarten, dass er die Conföderirten gewähren lassen werde. Bei
hrend der Seeschlacht ungewöhnlichen Muth
dem Könige Vorwürfe gemacht: der Krieg
Vorbereitung begonnen worden. In der Kunst
er dem Könige. Keine Partei wusste, als er
)efehl übernahm, wie sie mit ihm daran war.
iberraschend , wenn die Conföderirten, deren
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 339
Beziehungen zu Russland doch zu keinem Resultate führten, mit
dem jüngsten Bruder des Königs, dem Herzog Friedrich Adolph von
Ostgothland anzuknüpfen suchten.
Dieser, der Lieblingssohn der Königin-Mutter, welche bekanntlich
in stetem Zerwürfniss mit Gustaf lebte, hatte sich Hoffnungen gemacht,
dass der König ihm den Oberbefehl in Finnland übertragen werde.
Es war bereits früher, wie wir oben bemerkten, davon die Rede
gewesen, die Königin-Mutter beabsichtige ihm den Thron eines selb-
ständigen Herzogthums Finnland zuzuwenden. Jetzt hofften die
Conföderirten ihn als Oberbefehlshaber begrüssen zu können. Ver-
treter des Anjalabundes, Montgommery und Mannerheim, hatten ihm
ihre Freude darüber ausgedrückt, ihn an der Spitze des Heeres zu
sehen. Die obenerwähnten Actenstücke der Conföderirten waren ihm
mitgetheilt worden. 0
Indessen nicht er, sondern Herzog Karl ward zum Oberbefehls-
haber in Finnland ernannt. Es^ charakterisirt die Beziehungen
zwischen den Brüdern, dass hierauf Herzog Friedrich Adolph seine
Entlassung forderte mit dem Bemerken, er halte es für unangemessen,
unter der gegenwärtigen Regierung an den Geschäften irgend welchen
Antheil zu nehmen. Es ist wahrscheinlich, dass der König die
Entfernung des Herzogs aus Finnland wünschte und veranlasste.
.Missmuthig, grollend zog sich Friedrich Adolph zurück; er lebte fortan
in der ländlichen Abgeschiedenheit seines Gutes bei Stockholm.
Gustaf hatte dem Herzog Karl eingeschärft: 1) dem Verlangen
der Berufung eines Reichstags nicht nachzugeben ; 2) keinen Waffen-
sillstand zu schliessen ; 3) keinesfalls das schwedische Lager in der
Südwestecke des russischen Finnlands zu räumen.
Allerdings begann der Herzog mit der Bekanntmachung, da^s
er jeden Ungehorsamen sogleich erschiessen lassen werd^. Gleich-
zeitig aber verlegte er sein Hauptquartier nach Lovisa im schwedischen
Finnland, während der Heerd der Conföderation in der Nähe der
Grenze im russischen Finnland verblieb. Der Obercommandirende
der Flotte, Ankarswärd, welcher bereits dem Könige die Nothwendig-
keit Frieden zu machen vorgestellt hatte, bemerkte dem Herzog, er
müsse mildere Saiten aufziehen, die Gefahr der Situation erheische
die grösste Vorsicht. Ankarswärd berief seine Offiziere zu einer
Besprechung; sie erklärten, dass sie das Benehmen der Conföderirten
tadeln, aber auf der Berufung eines Reichstags bestehen müssten.
1) 8. Malmanen passim.
340 Der Ahjälabund iü Pinnland, 1788.
In Anjala fand ebenfalls eine Besprechung der Coölöderirten ötait:
man beschloss eine Deputation, Montgommery an deren Spitze, an
den Herzog zu senden und ihn um die Berufung eines Reichstags,
den Abschluss eines Waffenstillstandes, die Räumung des russischen
Finnlands zu ersuchen. Die Deputation ward anfangs von dem
Herzog mit Vorwürfen empfangen, aber er versprach mit Russland
in Unterhandlungen zu treten: er sehe ein, man müsse Frieden haben.
Es kamen Deputationen von den Seeoffizieren, von den Gardeofßzieren
mit denselben Forderungen. Ausdrücklich bemerkt einer der eifrig-
sten Anhänger der Conföderirten, Klick, der Herzog habe den
Antragstellern Versprechungen gemacht. ') Ein anderer Zeitgenosse,
der dem Könige anhing, sagt, es sei auffallend gewesen, dass Meyer-
feldt seinen Offizieren die Besprechungen mit den russischen Offizieren
gestattete und dass Herzog Karl mit denselben Personen freundlich
verkehrte, die der König hätte verhaften lassen sollen. Es galt
damals, sagt derselbe Berichterstatter, für ausgemacht, dass Karl auf
alle Anträge der Opposition eingehen werde, aber, fügt er hinzu,
Karl glich seinem Bruder in der Kunst der Verstellung. ^) Er wollte
Zeit gewinnen.
So wich denn Herzog Karl vorläufig wenigstens von den ihm
vom Könige gegebenen Instructionen ab. Nicht nur, dass er dem
unmittelbaren Verkehr mit den Russen kein Ziel setzte: er selbsfe
äusserte den Wunsch, mit dem Grossfürsten Paul von Russland,
welcher damals sich in Finnland befand, zur Eröfliiung von
Unterhandlungen zusammenzutreffen. Dieses konnte in den Augen
der Königlichen um so eher Bedenken erregen, als der Herzog
dem Grossfürsten durch solche Persönlichkeiten Anträge machen Hess,
welche in der Confoderation von Anjala von grösstem Einflüsse
waren. Zuerst schickte er den Major Jägerhom an den Grossfürsten,
um ihn zu einer Zusammenkunft aufzufordern. Der Grossfürst ant-
wortete ausweichend, fragte bei der Kaiserin an und erhielt die
Weisung, eine Zusammenkunft; abzulehnen. ^) Ein zweites Mal schickte
der Herzog den Obersten Montgommery, der besonders eifrig den
Verkehr zwischen den verschiedeilen Regimentern zur Verbreitung der
Confoderation vermittelt hatte und im t^ssischen Lager Freunde besass.
Aber der Grossftirst empfing ihn kalt und verwies dier Schweden
0 Malmanen 107—109.
^) Handschrift in der Bibl. zu St. Petersburg.
3) Chrapowitzki*s Tagebuch, 25. August.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 341
behufs der Eröffnung von Friedensunterhandlungen an den Ober-
befehlshaber der russischen Truppen, Grafen-Mussin-Puschkin, ^>
*
Indessen, wenn es auch nicht zu einer persönlichen Begegnung
zwischen dem Herzog und dem Grossfürsten kam, so hatte doch jener
eine Zusammenkunft mit russischen Offizieren und dieser gedachte
eine wie zufällig herbeigeführte Besprechung mit schwedischen Offi-
zieren zu veranstalten. Ueber diese Vorgänge giebt unsere Hand-
schrift in der kaiserlichen .Bibliothek zu St. Petersburg folgende»
Aufschluss :
In einem an den Grafen K. G. Armfeldt gerichteten Schreiben,
welches indessen zufällig dem Grafen Meyerfeldt übergeben wurde,
schrieb Baron Sprengtporten , der Grossfürst werde wie zufällig
zwischen 10 und 11 Uhr als auf einer Recognoscirung begriffen im
Dorfe Memmelä eintreffen : es würde ihm lieb sein, dort mit schwe-
dischen Offizieren zusammenzutreffen.^) Sobald ein Trompeter mit
einem Schreiben Sprengtportens erscheinen werde, sei dieses als ein
Zeichen anzusehen, dass der Grossfürst mit seinem Gefolge sich
nähere. Bald darauf langte der Trompeter mit der Nachricht an,
dass der Grossfürst in Memmelä warte, aber die schwedischen
Offiziere lehnten in den höflichsten Ausdrücken eine Zsammenkunft
ab. Der Offizier, welcher dem russischen Parlamentär diesen Bescheid
gab, geleitete denselben bis zu den russischen Vorposten. Während
sie miteinander ritten, bemerkte der russische Offizier: der Thron-
folger, die Kaiserin und alle Russen seien untröstlich darüber, mit
den Schweden kämpfen zu müssen. Er lud den schwedischen
Offizier ein, bei dem Grossfürsten zu speisen, aber auch dieses ward
abgelehnt. Der Grossfürst ritt zurück ins russische Lager.
Noch einmal versicherte Baron Sprengtporten in dem vom Trom-
peter übergebenen Schreiben, wie sehr die Kaiserin den Edelmuth
und Patriotismus der Conföderirten zu würdigen wisse, wie sehr sie
die Berufiing eines Reichstages billigen würde, wie lebhaft sie eine
innige Freundschaft zwischen Russland und Finnland wünsche. Sie
unterscheide, fügt er hinzu, die Sympathien einer unschuldigen Nation
von dem Verrath eines leichtsinnigen und seinen eigenen Vortheil
nicht kennenden Fürsten.^) Noch einmal werden die Conföderirten
1) Chrapowitzki. Rein 127. Handschrift des schw. Off.
.*) „Son projet n'est que de voir votre position, mais s'il noas arrivait de
vous rencontrer par hazard, cela lui serait agr^able."
3) „Sacbant parfaitement distinguer les dispositions d*une nation innocente
d^avec la trahison politique d'un prince leger et m^connaisant ses interSts.^ Hndschr.
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 7 u. 8. 23
Mi I>er ADJalttbnnd in Pinnlaiid, 1788.
anfgefordtirt, in einen „corps repr^sentant de toute la Dation" zilsam-
meazutreten , worauf denn die Friedensunterhandlungen sogleich
begannen könnten. Mittlerweile bat Sprengtporten, ihm die MögSch-
keit fortdauernden persönlichen und brieflicheo Verkehrs mit den
schwedischen OilGzieren zu bieten.
Herzog Karl gestattete bald darnach eine Zusammenkunft zwischen
mehreren Vertretern beider Heerlager, Sprengtporten begann die
Unterredung in schwedischer Sprache; die Schweden antworteten
französisch. Sprengtporten schlug eioen kameradschafl:Iichen Ton an,
stellte seinen Sobn dem Grafen Meyerfeldt vor, scherzte mit dem
Obersten Hästesko, mnsste aber vom General Kaulbarz Vorwürfe
hören. Dem letzteren wurde der Antrag gemacht, nach Frederiks-
hamm zu gehen, um dort die Unterhandlungeo wegen des Friedens
zu eröffnen. Er lehnte es ab. Man schied ohne zu einem Ergebniss
gekommen zu sein.
Einer Euideren Zusammenkunft mit russischen Oiißzieren wohnte
der Herzog Karl selbst bei. Gegen Sprengtporten, welclier wieder
eine Hauptrolle spielte, äusserte er seine Verwunderung ihn hier zu
finden, worauf dieser die Tactlosigkeit hatte, die Schweden mit der
Bemerkiing zu reizen, dass die Schlacht bei Hogland ein Sieg der
Russen, nicht der Schweden gewesen sei. Ohne darauf Acht zu geben
unterhielt sich der Herzog mit anderen russischen Offizieren. '}
Aus diesen Angaben, an deren Glaubwürdigkeit zu zweifeln wir
keinen Grund haben, geht hervor, dass ausser den Vertretern der
Gonföderation der Herzog Karl, Graf Meyerfeldt, General Kaulbarz
persönlichen Verkehr mit den Russen hatten. Es waren Männer,
welche das Interesse des Königs vertraten oder vertreten sollten; sie
Terlefzten die gemessensten Befehle Gustafs indem sie wegen des
Friedens oder Wadenstillstandes unterbandelten.
Zu dem förmlichen Abschluss eines Waffenstillstandes, von
welchem wohl hier and da. in historischen Werken die Rede ist,
kam es nicht. Dagegen ward eine Uebereinkunft über den freien,
unbehinderten Abzug der Schweden aus der Südwestecke des nissl-
"■ ' ' ' cofFen. Aus dem Tagebuche Chrapowitzki'e geht
iachen Truppen von Petersburg aus Befehl hatten,
em Lager bei Kymmenegard und Högfoi-s in der
sischen Finnlands zu vertreiben, dass mancherlei
Angriff auf die Schweden getroffen wurden, dass
B&r Anjalabuiid in Finnland, 1788- 343
Man aber trotzd^fo die ganze Zeit hindurch hin und her parlamentirte.
Beiden Theilen erschien ee angemessener, unnützes Blutvergiessen
25U vermeiden, sich wegen des Abzuges der Schweden zu ver-
gleichen.
Die ConfÖderirten konnten sich für berechtigt halten, den Herzog
Karl als ihren Bundesgenossen anzusehen. Auch nachdem die
Schweden das russische Pinnland geräumt hatten (14. (25.) Septbr.),
scheint derselbe die Unterhandlungen fortgesetzt zu haben. Ein paar
Tage später (16. (27.) September) schrieb er an Reuterholm, er hoffe
d^n Waffenstillstand mit seiner lieben Cousine in drei bis vier Tagen
abzuschliessen. Man sagte damals, Karl beabsichtige das Heer nach
Schweden hinüberzuführen und den König zu entthronen. So hofften
die Conföderirten, unter denen indessen auch Stimmen laut wurden,
es sei dem Herzog nicht zu trauen, er könne die Mitglieder des
Anjalabundes sicher machen wollen, um sie um so gewisser zu ver-
derben. Man erwartete übrigens, dass die Generale Platen und
Meyerfeldt allenfalls für den König gegen den Herzog in die Schranken
treten würden.
Die Nachrichten von Gustafs entschiedenen Erfolgen in Schweden,
von seinen Siegen im Kampfe mit den Dänen ändertet sichtlich die
Haltung des Herzogs. Hatte derselbe bis dahin gestattet, dass die
Confbderirten in seiner Gegenwart in wegwerfendem Tone von dem
Könige sprachen, so verbot er dieses, nachdem er die Nachrichten
von dem heroischen Auftreten Gustafs in Gothenburg erhalten hatte^
auf das Entschiedenste. Ende October veröffentlichte er einen Tages-
befehl, alle Pflichten gegen den König genau zu erfüllen, gleichzeitig
warnte er vor böswillig verbreiteten Gerüchten. Ende November
verliess er Finnland, wo zuerst Graf Posse, sodann Graf Meyerfeldt
als Oberbefehlshaber zurückblieben. ')
In Schweden selbst gährte es. Der Adel hatte keinen Krieg
gewollt. Man spottete über die Eitelkeit des Königs, über dessen
Prahlerei bei Eröffnung des Feldzuges. ^) Lieder von Freiheit und
Gesetzmässigkeit, in denen der König als Despot bezeichnet wird,
0 Rein 130-139.
*) 8. u. A. S^gur M^m.
23*
344 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
gingen von Hand zu Hand. 0 So oft Unfälle aus Finnland gemeldet
wurden, gab es Feste und Gastereien bei den schwedischen Grossen ;
bei den Nachrichten von errungenen Vortheilen Erschien man in
Trauerkleidern. ^) Man suchte, als die Rjsgierung neues Papiergeld
ausgab, dasselbe bei dem Volke in Misscredit zu bringen, ^) Stedingk
warnte den König wiederholt vor den lauernden Feinden in der
Hauptstadt. ^)
Es bestanden Einverständnisse des oppositionellen Adels mit dem
Grafen Rasumowski, der Anfang August noch in der Hauptstadt
weilte, und mit den Conföderirten. *) Letztere forderten die Häupter
der Opposition in Schweden, den Grafen Fersen und den Baron
de Geer auf, den König zur Berufung eines Reichstages zu zwingen.
Ein Emissär, der verabschiedete Capitän Elmen, kam im Auftrage
der Unzufriedenen nach Finnland, stand dort im Verkehr mit den
Conföderirten, sollte sogar nach St. Petersburg reisen, um die Inten-
tionen der Kaiserin auszukundschaften, doch liess ihn Graf Meyerfeldt
warnen und er erschien alsbald wieder auf schwedischem Gebiete. ^)
Doch hatte der König noch bedeutenden Anhang in Schweden,
Er verstand es, durch Reden und Manifeste auf die allgemeine Stim-
mung zu wirken. Offiziere, welche plötzlich ihren Abschied ge-
nommen hatten und in Finnland erschienen, sollen in Stockholm
insultirt worden sein. Das Volk nannte sie Retter ihres eigenen
Lebens. 0 Ebenso gab es in Finnland Demonstrationen von Seiten
') 8. ein solches Lied bei Malmanen 113 — 115.
') Arndt, Schwedische Geschichten 108.
3) Rein 100.-
*) Stedingk, Mem. I. 118, 132.
») Poßselt, Gesch. Gustafs III. Karlsruhe 1702. S. 371 u. 372.
*) Malmanen 101, bemerkt, Elmen sei gegen den 25. — 26. September im
finnischen Lager gewesen. Rein sagt 125, Stjemald habe Elmen nach Finnland
geschickt. S^ernald aber Ward im Frühling 1789 eine Zeitlang in einer Festung
an der Grenze Norwegens in Haft gehalten, s. d'Aquila IL 439.
y) Ueber die Wirkung der ersten Mittheilungen des Königs nach dessen
Rückkehr nach Schweden s. d'Aquila a. a. 0. II. 137 u. 159. Ueber die Auf-
regung des Pöbels in Stockholm s. d'Aquila II. 129, Malmanen 100. Auch Gustaf
schrieb darüber an Stedingk, s. Stedingk, Mem. 1. 116. — Es ist nicht unmöglich,
dass die Gegner des Königs in Stockholm von dem Plane, den König zu ver-
haften, Kenntniss hatten. Eine Stunde vor dem Eintreffen des Königs &us Finnland
wettete ein Gardecapitän mit einem anderen Offizier, der König werde nie wieder
in Schweden erscheinen ; s. Malmanen 102. Gustaf vermied es sich in der Haupt-
stadt lange aufzuhalten. Er mochte sich doch nicht sicher fühlen*, s. u. A.
GeflEi-oy a. a. 0. 665.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 345
des Volkes gegen die Conföderirten. Man nannte sie Feiglinge.
An einzelnen Orten, wo der Oberst Hästesko erschien, hat man
Galgen errichtet und Hufeisen (schwedisch Pferdeschuh — Häs-
tesko) daran genagelt. ') Wahrscheinlich nicht ohne Theilnahme
des Königs erschienen Schmähschriften gegen die Gegner des
Königs. Dichter besangen die Heldenthaten in der Schlacht bei
Hogland; Prediger bezeichneten die Conföderirten auf der Kanzel
als Verräther. In verschiedenen Pamphlets klagte man sie der
Feigheit, Bestechlichkeit lÄid des Eigennutzes an; sie hätten be-
deutende Erfolge im Kriege mit den Russen verhindert; der Ent-
wurf, ein unabhängiges Finnland herzustellen, bedeute eine noch
schlimmere Bedrückung der mittleren und unteren Stände durch die
Privilegirten. ^) Besonders war man aufgebracht über Jägerhorn und
Spreügtporten. ^)
Die Anhänger des Königs im Heere gaben ihrem Unwillen
gegen die Conföderirten Ausdruck. Als man dem Grafen Schwerin
die Urkunde des Bundes brachte, zerriss er dieselbe in Stücke und
bedrohte jeden seiner Ofßziere, der beitreten wollte, mit strenger
Strafe. Aehnliches that General Platen. Andere schlugen vor,
Mannerheim, welcher den Herzog von Ostgothland auf den finnischen
Thron erheben wollte, verhaften zu lassen. Graf Stedingk ver-
öflFentlichte eine Ergebenheitsadresse, von vielen Offizieren unter-
schrieben. Es gab Beispiele, dass OfSziere, welche die Urkunde des
Anjalabundes unterschrieben hatten, ihren Namen auslöschten.*)
Kaulbarz sagte, die Conföderirten hätten das schwedische Volk entehrt,
sie seien Feiglinge.^)
. Die Lage der Conföderirten verschlimmerte sich. Der Baron
Sprengtporten, so zufrieden er auch mit dem Erfolge seiner Umtriebe
in Finnland schien, ®) meldete bald aus Petiörsburg, eine Fortsetzung
der Unterhandlungen sei unthunlich, weil der Bund noQh keine
ORein 133.
«) Malmanen 63, 64. Rein 134.
3) M^moires d*un ofßcler su^dois. Handschrift Der Verfasser überzeugte
sich auf seiner Reise durch das schwedische Finnland von der den Conföderirten
ungünstigen Stimmung. Ebenso schreibt Stedingk, I. 123, 132, allgemein werde
er wegen seiner Treue gegen den König gelobt; die Gegner des Königs erführen
bitteren Tadel.
*) Rein 123—125.
*) M^moires d'un officier. Handschrift.
•) Sacken's Brief aus St. Petersburg vc^m 6. (17.) October 1788 bei Herrmann,
Gesch. des russ. Staats, VI. 195, 196.
343 Der AQJalabuad in Finnlaad, 1788.
gesetzliche Form erlangt habe. ') Ein trübe Stimmnug bemiclitigte
sich der Conföderirten, ja man sah den alten Armfeldt in Thränen.
Der Anhang des Eönigs ward zahlreicher, die nationalen und mon-
archischen Tendenzen icewannen die Oberhand. Von allen Seilen
waren die finnischen Regimenter von echwediscben umgeben. In
Petersburg erzählte man, die Conföderirten hätten bereits sich reuig
der Gnade des Königs empfohlen.')
So weit war es allerdings noch nicht. Der Verkehr mit dem
Baron Hastfehr und den russischen Generalen dauerte noch fort.
Russischerseits wurden 16,000 Dukaten, Zobelfelle und andere Ge-
schenke an die Conföderirten abgeschickt. Man bediente eich dabei
eines ehemals in schwedischen Diensten gewesenen OilSziers Tome *).
Thiesen hausen, in russischen Diensten stehend, verbreitete durch
einen Prediger im schwedischen Finnland BrochUren, w^che gegen
Schweden gerichtet waren. Gleichzeitig sprengte er aus, es seien
10,000 Mann frischer russischer Truppen und 4000 Baschkiren auf
dem Wege nach Finnland: es werde tou den Finnen abhängen, ob
sie als Feinde oder als Beschützer kämen. Er forderte die Finnen
aaf, aus dem schwedischen in das russische Finnland Überzusiedeln,
wo die Kaiserin ihnen viele Vorrechte und Freiheiten gewähren
wolle. *) Noch andere Agenten trieben ihr Wesen in Finnland. ')
Einem von ihnen war der Auftrag gegeben, einige Fässer mit
Fischen, unter denen beträchtliche Summen, zu Geschenken für die
Finnen beeÜmmt, verborgen waren, über die Grenze zu bringen.
Der preossische Gesandte in St. Petersburg, Baron Keller, erfuhr
davon undbewirkte, dass die Schweden sich der Fässer bemächtigteit ^J.
Immer noch konnten die Russen darauf zählen, in Finnland Anhänger
<) Handschrift.
') Am 17. (2S.) October schreibt Chrftpowitzhi, der Verkehr der RaaBeu mit
den Finnui sei anterbrochea. Am IS. Ifovember Bthz&ibt er von der aus Däne-
mark eingetroffenen Nachricht, „que les FinlandaiB ont (ait un acte de BDumifaloD
et de repentir enrera S, M. Su^doise et se sont räconcili^B avec £Ue-^
>) Fast Bclieint es, dass Tome ein aimliches Doppelspiel gespielt, wie
Hastfetir, s. Rein 117. Ans unserer Handschrift geht hervor, dass ein Tome im
Winter in Stockholm war und dem Könige von der Siellnng der RnsRen bei
Kezbolm und SerdomoUa Bericht erstattete.
•) üeber Thiesenhanaen b. Rein 126, und d'Aqnila n, 212. 213.
*) Ueber den Pastor Karl Andreas Ejrulf, dei sich sp&ter unter dem Kiumb
„HüUer" in Nowgorod and Twer anfliielt, bedeuteade Jahi^elder besog ond
schliesslich in die Schweiz auswandert«, s. das russisehe Archiv i,rnssis«h) 1664,
906—917, Briefwechsel der Kaiserin aut Archarow.
•) B. d'Aquil» II, 187-188.
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 347
zu finden. Der Bürgermeister von Björaeborg ward angeklagt, im
Rathhause einen revolutionären Aufruf verlesen zu haben; dasselbe
hatte ein Assessor Böse in der Stadt Wasa gethan. Der Graf Meyer-
fleldt liess im Winter eine ^das Vaterland" betitelte Schmähschrift
in 1500 Exemplaren auf dem Markte von Lovisa durch den Henker
verbrennen. Auch von einer Flugschrift des Barons Sprengtporten
wird berichtet; er schmähte darin in den heftigsten Ausdrücken die
dem Könige treugebliebenen Truppentheile und lobte die Con*
fwlerirten 0»
Der König verstand es vortrefiflich, die Stimmungen zu seioen
Guns^ten auszubeuten* Schon im August hatte er in Bekannt-
machungen an die Finnen den Gang der Ereignisse erläutert, Russ-
lands Handlungsweise aufgedeckt. Nach den Ereignissen bei Gotben-
burg, wo es ihm gelungen war den Dänen entgegenzutreten, richtete
er (6. December) wieder einen Aufruf an die Finnen, in welchem
er an die Vaterlandsliebe der Finnen appellirte, vor den Russen
warnte, seine Bereitwilligkeit erklärte, sein Leben zu lassen für die
Vertheidigung Finnlands ^). Die Finnen ^antworteten mit einer Er-
gebenheitsadresse, in welcher der Unwille über die Verrätherei und
Bestechlichkeit der Conföderirten zum Ausdruck kam; man hasse
das Fremdenjoch und erkenne die Weisheit der Regierung Gustafs
an ^). Hier und da boten die Bauern in Finnland ihre Dienste ^ur
Vertheidigung der Grenzen an *). In ganz Finnland fanden mili-
tärische Uebungen statt ^). Ein richtiger Instinkt leitete die Massen:
man wollte statt der Adelsrepublik eine Monarchie.
Die Kaiserin trat den Rückzi^ an. In den letzten Tagen des
Jahres 1788 befahl sie, man solle durch Vermittelung des Departe-
ments der auswärtigen Angelegenheiten cten „Russlsrnd zugeneigten^
Finnen den Rath ertheilen, auf ihre Stellung bedacht zu sein, da sie
9uf Russland zu bauen keinen Grund mehr hätten. „Sie mögen um
Gnade bitten. Wir wollen sie nicht täuschen, ich kann ihnen nicht
helfen", sagte Katharina. ^)
») Rein 145. Mem. d'nn off. su6d. D'Aquila ü, 168, 169. Heibig erzählt
in seiner Biographie Potemkln's, die rassische Regierung habe die SehriÜ
$prengtporten*6 ins Finnische übersetzen und in IXKK) £xempUten verbreitien
lassen. Minerva 1798, IV. 483 und 484.
2) d'Aquüa U, 160—163.
3} d'Aquila n, 214—216.
^>d'Aquila n, 212.
*) Rein 143.
«) Chrapowitzki, Tagebuch, 30. December 178>S.
348 Der ÄDJalabuiid in Finnland; 1788.
Und in der That sannen die Conföderirten auf Rettung. Der
KOn^ hatte Jägerhorn zu sich beBcheiden lassen, um ihn im Kampfe
gegen die Dänen zu verwenden. Er stellte eich nicht nnd schützte
Krankheit vor. Da setzte der König einen Preis von 3000 Thalern
auf Jägerhom's Kopf')- Ebenso ward ein Preis von 3— 5000 Thalern
auf Sprengtporten'fl Kopf gesetzt'). Graf Meyerfeldt machte wohl
den Versuch, den Baron auf dessen Gute in der Nähe von Borga zu
verhaften, aber dieser rettete sich durch die Flucht. Jt^erhorn blieb
noch eine Zeitlang im schwedischen Finnland und hielt sich auf den
Gütern seiner Verwandten auf. Hier entwarf er noch den Plan eines
nordischen Bundes zwischen Schweden, Russland und Dänemark.
Finnland sollte, durch die Zurückgabe von Frederikshamm, Wilmen-
strand nnd Nyflott durch Russland vergrössert, eine Republik bilden;
Preussen sollte durch Pommerns Abtretung zur Gutheissung einer
solchen Umgestaltung bewogen werden. Klick und andere Con-
föderirten nahmen an den Berathungen Theil, die auf von Essen's
Gute PaasQ stattfanden. Eine Dame, Fräulein Krook, machte den
Schriftfflhier auf diesem „ Unabhängigkeitsreichstage", wie man wohl
diese Sitzungen bezeichnete ^}
Bald darauf erschien Jägerbom in St. Petersburg. Als Chrapo-
witzki der Kaiserin davon als von einer Stadtneuigkeit erzählte,
B^te sie: „Ich weiss schoni Sei still! Dir kann man's schon sagen;
er ist an verschiedenen Orten gewesen, hat mit den Finnen unter-
handelt und einen grossen Haufen chiffrirter Briefe mitgebracht,
welche Sprengtporten jetzt entziffert. . Sprengtporten und Jägerhorn
sind jetzt völlig unser. Die Finnen, vom Prinzen Karl bedrängt,
haben uns alles mi^etheilt: die Stärke und Position der schwedischen
Trappen. Sie sind bereit^ im Verein mit uns die Schweden aus
Finnland zu vertreiben" *).
Indessen standen die Dinge ganz anders. Während man in St.
Petersburg Sprengtporten belohnte, ihm Aemter und Titel verlieh,
ihm zu seiner damals stattfindenden Vermählung 2000 Rbl. schenkte,
Hess Gustat ihn steckbrieflich verfolgen. Während die verzweifeltsten
Anhänger des Bundes sich mit kühnen Entwürfen über die Selb-
ständigkeit Finnlands ergingen und eine Vertreibung der Schweden
') ChrapowiUki, 16. Aug. 1788. M6m. d'un off. Bufid. Hein 119. Weidemeier,
der ruBB. Hof n. s. w. (rusa.) 1846. II. 63.
') Minerva 1796, IV. 484. Weidemeier II. 63.
•) Rein 119.
*) Chrapowitzki, 33. November 1788.
Der Anjalabimd in Finnland, 1788. 349
aus Finnland für möglich hielten, war bereits ein geheimer Befehl
zu ihrer Verhaftung gegeben. 0 Erst im Februar 1789 traf der Graf
Meyerfeldt seine Anstalten, sich der Personen der Hauptanstifter der
Conföderation zu bemächtigen. Jägerhorn war bereits in Sicherheit.
Major Klick erschien im Januar plötzlich auf dem Gute des Capitäns
Aminoff, trat in dessen Zimmer, warf einen Packen Briefschafken
auf den Tisch und bemerkte: „Man will uns verhaften. Verbergen
Sie diese Papiere, davon hängt das Leben vieler hundert Menschen ab.
Ich gehe nach Russland!'' Gleichzeitig mit Klick begaben sich Ladau,
Glansensijema und "Essen über die Grenze auf russisches Gebiet.^)
Kothen stellte sich freiwillig. Am 7. (18.) Januar wurden ver-
haftet: Armfeldt, Hästesko, von Otter, Montgommery, Leionstedt,
Ehnehjelm, Klingspor. Im Vorgefühl seiner Katastrophe schied Häs-
tesko von seiner Gattin, als scheide er aus dem Leben. Armfeldt
schien ruhig der Zukunft entgegenzublicken ; Leionstedt heuchelte in
dem Augenblicke seiner Verhaftung übermüthige Lustigkeit beim
Champagnel^lase : man könne doch nicht öfter als ein einziges mal
hingerichtet werden, sagte er. ^)
Stedingk erhielt den Auftrag, Hastfehr zu verhaften. Er erfüllte
ungern diese Pflicht gegen seinen Vorgesetzten. In Briefen an den
König hat er ihn noch in dieser Zeit zu rechtfertigen gesucht. Ausser
einigen geheimnissvollen Wendungen in seinen Briefen an die russi-
schen Generale Schultz und Günzel, welche von den Schweden auf-
gefangen worden waren, lag augenblicklich nichts Schlimmeres gegen
Hastfehr vor. Aber seine Zusammenkünfte und sein Briefwechsel
boten Stoff genug zur Anklage. *)
Das Schicksal der Verhafteten erregte Theilnahme in den Kreisen
aller Offiziere. Das Volk dagegen insultirte sie während des Trans-
portes nach Schweden. In den Strassen der schwedischen Haupt-
stadt hat man sie Vaterlandsfeinde und Verräther geschmäht.*)«
In Stockholm wurden mehrere Personen verhaftet, welche nach-
weislich mit den Conföderirten in Verkehr gestanden hatten. Alle
1) Der Verf. der Hs. behauptet, schon vor seiner Abreise habe Gustaf den
Befehl zur Verhaftung der Hauptverschworenen gegeben.
») Malmanen 97, 98, s. d. M6m. Sted. I, 148.
3) Rein 144, 147. Malmanen 64. Chrapowitzkl 12. (23.) Januar 1789.
*) s. Stedingk, M^m. I, 141, 144, 148. — Sandeis, der einen solchen Brief
erwischt hatte, erhielt einen Orden.
*) Kaulbarz weinte beim Abzüge der Verhafteten. Handschrift. S. den Brief
des Bruders Klingspor's an den Grafen Meyerfeldt bei Rein 174. — d'Aquila 11, 159.
350 Der Anjalabund in Finnland, 1788.
Angeklagten wurden im Schlosse Frederikshof bei Stockholm unter-
geforaoht Dort trat das Gericht zusammen, welches auf Grund der
Verfassung von 1772 das ürtheil sprechen sollte. 0
Man sagt wohl, Gustaf habe in Finnland, als er in. seiner
grössten Bedrängniss von dem Angriflf Dänemarks auf Schweden
hörte, ausgerufen: jetzt sei er gerettet. Gewiss ist, dass er den
dänischen Krieg dazu benutzte, das Nationalgefühi in den Massen
zu entflammen* Man weiss, wie er, seinem Ahnherrn Gustaf Wasa
gleich, bei den Dalekarliem erschien, sie mit leidenschaftlicher Rede
begeisterte. Die Frage vom Kriege gegen Schwedens Feinde war
eins mit der Frage von der Bestrafung der Verräther zu Hause. In
dem Dorfe Mora hat Gustaf im September von der Bestechlichkeit
der finnischen Offiziere gesprochen. — Mit den in Folge der per-
sönlichen Einwirkung auf das Volk zusammengerafften Freiwilligen-
schaaren entsetzte er das von den Dänen bedrängte Gothenburg.
Der Zauber des Erfolges war auf seiner Seite. Jetzt konnte er an
einen Reichstag denken, der in demselben Jahre, da ii^ Frankreich
die Monarchie vor der Autorität der „Constituante** zusammen-
brach, die Ergebnisse des Staatsstreichs von 1772 sicherstellte, eine
Steigerung der königlichen Gewalt bewirkte.
Mit Spannung sahen die Zeitgenossen diesem Reichstage ent-
gegen. Man sah ihn als ein Wagstück an. Die ausländischen Ge-
sandten schrieben aus Stockholm, die Gähmng des Adels könne denj
Könige sehr gefährlich werden. In Petersburg hofifte man, da^s in
Stockholm der König eine Katastrophe erleben werde. Die Ange-
klagten in Frederikshof erwarteten von dem Siege ihrer Gesinnungs-
gienossen a^if dem Reichstage Rettung für sich. Es bezeichnet die
Spannung der Lage, dass während des Reichstages im Auslande
wiederholt Gerüchte von einer in Schweden ausgebrochenen Revo-
lution, von der Verhaftung und Entfernung des Königs auftauchten. ^)
Der König liess Flugschriften verbreiten, in denen die Con-
föderirten geschmäht wurden. *Den Anhängern der nationalen Sache
verlieh er Orden und Belohnungen. Die öffentliche Meinung wurde
amf alle Weise zu Gunst^i des Königs beaa'beitet. So gerüstet er-
öffnete Gustaf den Reichstag mit den Worten, dass innere Zwietracfet
der Bundesgenosse auswärtiger Feinde sei: man solle den König
1) s. d'Apnila H, 172 ff., wo von swei russischen Oeifitlicheii die Rede ist,
welche als Spione und Agenten der russischen Regienrng v«[*hafket worden sein
sollten.
#) Chmpowitzki.
k
Der ABJ«ila;bund in Finnimd, 1788. 361
nicht vom Vaierlande trennen. Seine Feinde seien zugleieh die
des Vaterlandes. Grieioh darauf fiel der Antrag einer Minderheit:
zu 4intersuchen, ob der Krieg gegen Russland ein Vertheidigungskrieg
gewesen sei. Besonders unterstützten die finnischen Deputirten 4eQ
entgegengesetzten Anlarag: in einer Dankadresse dem Könige die
Anerkennung des •Volkes für seine Haltung während der Gefahr
auszusprechen. — Einerseits wurde der Vorschlag gemacht, die Ver-
fasser der gegen die Conföderirten gerichteten Schmähschriften zu
bestrafen, andererseits wurden Reformen zu Gunsten des Borger-
und Bauernstandes, welche • die Vorrechte des Adels beschif^ikten,
durchgesetzt. Der kaiseriiche Generalconsul Bozenhard mochte
immerhin dem Adel in Schweden im Namen Joseph'«- 11. die Anf-
re^terhaltung der Privilegien gewährleisten, fikr die Praxis war es
entscheidend, dass Gustaf dalekarlische Freiwillige in Stockholm
coneentrirte, die Verhandlungen auf dem Reichstage in der Weise
eines Staatsstreichs leitete, die Hauptführer der Adeisopposition rer-
haften Uees, die GeldbewiUigungen ertrotzte, deren er zur Fortsetzung
des Krieges bedurfte. Eher werde sein Arm yerdorren, sagte der
König, als dass er einen schmachYoUen Frieden mit der Kaiserin
unterzeichne.
So kamep äiß Gesetze zu Stande, welche dem Könige noch
fueiere Hand Hessen. Die Macht des Reicbsraths war beseitigt.
Diese Versammlung, in welcher recht eigentlich der oligarchische
Charakter de^ schwedischen Verfassung zum Ausdruck gekommen
war,, musstß ih^e Competenzj^n zum Theil an den {leichsrath ab-
treten, mit wel(:;h^m, zuijual da 4ie ßedxte 4er anderen StSoiMle er^
weitert wurden, ftclw^^ leichter zu regiereu war. Einige Milliouen
wurden bewilligt. Mit Gewalt war die Opposition, in deren Auf-
treten der König eine Fortsetzung des Gebahrens der Conföderation
von Anjala sah, zum Schweigen gebracht. Der Reichstag war ein
Werkzeug des Königs. Die Waflfe, welche die Conföderirten gegen
den König zu richten gedachten, richtete sich gegexi sie ßelbst. Endq
April 8chU)i8S der K^öftig 4ep Reiphgtag. *)
37och wen^ Tage zuvor hatte die Kaos^in EMXhms^mi Spre^gt^
p^ten gesagt, so lange auch nur oin Edelmann in Schweden nachbieibe,
werde . sie als dessen Beschützerin- handeln. *) Die in Petersburg
^ üjBbsr die Gba^iiehte des BMcbstags 8. a. A, Possah, ^'A^aila. Aiudt,
Geffiroy.
352 Der Anjalabund in Finnland, 1788*
befindlichen Schweden hofiften noch auf einen Umschwung, als schon
alles zu Gunsten des Königs entschieden war. 0
Für den König kam indessen doch viel darauf an, wie das
finnische Heer die Nachrichten aus Stockholm auftiehmen werde.
Die Conföderirten hatten die übrigen Offiziere vor den kommenden
Uebergriflfen des Königs gewarnt. ^) Die Stimmung im Heere war
keineswegs befriedigend. Der Geldmangel dauerte immer noch fort
und man litt Entbehrungen aller Art. Die Flugschriften gegen die
Conföderirten hatten böses Blut gemacht. Wenn u. A. darin die
Behauptung aufgestellt worden war, dass von allen Offizieren nur
Platen und Meyerfeld t dem Könige treu geblieben seien, so miussten
Männer wie Kaulbarz und andere, die von der Conföderation nichts
hatten wissen wollen, dadurch verstimmt werden. Leicht konnten
sie, wenn anders noch Erfolg zu erwarten war, in das Lager der
Opposition hinübergehen. Die Flugschriften, welche zur Recht-
fertigung des Heeres erschienen, wurden sehr gern gelesen. ^)
Gustaf schrieb an die Oberoffiziere in Finnland während der
Sitzungen des Reichstags, sie sollten auf die Haltung des Heeres
achten und demselben zu bedenken geben, dass jetzt der geeignete
Moment. sei Frieden zu machen mit dem Könige. *)
Sehr verschieden wirkte die Nachricht von den Ereignissen in
Stockholm auf die verschiedenen Elemente im Heere. Graf Stedingk
schrieb dem Könige, er sei unwohl gewesen^ aber die Botschaft von
dem Siege des Königs über den Adel habe ihn gesund gemacht.
Uebrigens, fügt er hinzu, gefällt mir die Stimmung im Heere nicht.
Alle wollen Frieden. Er ermahnte den König zur Nachsicht. Gustaf
schrieb zurück, die Zeit der Mässigung sei vorüber. ')
Wir dürfen dem Berichte eines Augenzeugen, eines Anhängers
des Königs, Glauben schenken, dass die Ergebnisse des Reichstages
^) Chrapowitzki.
*) M6m. d'un offi sa^dois. Handschrift.
3) üeber den Mangel im Heere s. u. A. Stedingk 1. 135, 148, 155, 167.
Ueber die "Wirkung -der Flugschriften s. die M6m. d*un off. Hs. Der Verfasser,
Adjutant des Generals Kaulbarz, theilt interessante Einzelnheiten über das Be-
nehmen desselben . mit. Von den Flugschriften der königlichen Partei sagte
Kaulbarz: „Avouez, qu*il est atroce d*imprimer de telles miseres".
*} „II faut veiller dans ce moment plus que jamais sur Tesprit de l'arm^e
efc lui faire comprendre, que voici le moment de se raccommoder avec moi et
de reparer ses fautes pass^s.^ Hs
•) Sted. I, 155, 162. „Les temps des m^nagements sont passes V
Der Anjalabund in Finnland, 1788. 363
im finnischen Heere keine günstige Aufnahme fanden. Die entschie-
denen Anhänger des Königs wurden von ihren Kameraden mit Miss-
trauen betrachtet; man behandelte sie mit aufifallender Kälte. Als
der Verfasser unserer Handschrift Urlaub verlangte, um nach Stock-
holm zu reisen, verweigerte ihm der General Kaulbarz, dessen Treue
zu schwanken schien, den Urlaub; man fürchtete, der Offizier werde
in persönlichem Verkehr mit dem Könige demselben allzugenaue
Rechenschaft von der Stimmung im Heere ablegen. Als derselbe in
Stockholm in der That zum Könige hielt, wurden von Seiten des
Adels Drohungen gegen ihn laut. Als der König verlangte, das
Heer solle die auf dem Reichstage durchgesetzten Verfassungs-
änderungen durch einen neuen Huldigungseid anerkennen, lehnte der
Oraf Meyerfeldt eine solche Maassregel unter dem Vorwande ab,
dass es überhaupt unangemessen sei. dass das Heer sich allzuviel
mit der Politik befasse. Dagegen meinte man, der eigentliche Grund
der Ablehnung sei die Besorgniss vor der Rache des Adels gewesen). *
Wir verweilen nicht bei den Einzelnheiten des Processes der
Angeklagten im Schlosse Frederikshof. Erst im Jahre 1790 wurden
die Acten der Untersuchung geschlossen. Jägerhom, Sprengtporten,.
Hastfehr, Lädau, Glansenstjerna, Hästesko, Otter, Ehnehjelm, Kling-
spor und Kothen wurden zum Tode verurtheilt. Der König bestätigte
kaum die Hälfte dieser Urtheile. Nur Hästesko ward hingerichtet,
die anderen mit Verbannung oder Gefängniss bestraft. Der alte
Graf Armfeldt blieb bis an seinen Tod in der Haft. Hastfehr lebte
internirt auf seinem Gute in Finnland.
Es erregte in Schweden Unwillen, dass der König den Obersten
Hästesko nicht begnadigte. In Ausdrücken heftiger Erregung schrieb
der Gesandte über die Hinrichtung. ^) Mit scharfen Worten liess
Katharina, die soeben den Frieden von Werelä geschlossen hatte,
dem schwedischen Gesandten in St. Petersburg, Grafen Stedingk, ihre
Unzufriedenheit bezeigen. Igelström, der dem Gesandten darüber
Bemerkungen zu machen hatte, erwähnte, es seien vor wenig Jahren
)) Mag immerhin d*Aquila von dem Jubel reden, mit dem man die Nachricht
von der Vereinignngs- und Sicherheitsnote in Finnland aufgenommen haben soll!
Wir folgen der Darstellung des Verfassers der Handschrift.
*) s. Geflfroy in der Revue des deux mondes LIX., S. 670. Man verdachte
CS dem Könige, dass er am Abend vor der Hinrichtung auf der Hochzeit eines
Hoflräuleins besonders fröhlich erschien.
8&4 I><# AnJB^büäd in Fmnlaiid, 1788.
id der toq ihm i^epWalteten Prorinl drei Usurpstoren nacIi«iiiAiideT
erschienen, vrelcbe sieb ftlr den Eaiaep Pefer HI. ausgaben, und
keiner derselben sei hingerichtet worden. Obnebin, bemerkte er,
gab es viele Unzufriedene in Sehwaden. ,Um so nötbiger war es,
ein Beispiel der Strenge zu geben", sagte bierauf Graf Stedingk.
So schloss die Gonföderation mit völligem Mlsslingeu. Sie batte
B^issland genützt indem sie die Fortsetzung des Krieges vertagte und
der Kaiserin Zeit liess zu rüsten. Sie hatte dem Könige zu einem
ferneren Staatsstreiche Gelegenheit geboten. Mochte immerhin die
Unzufriedenheit des Adels hier und da Ausdruck finden, u. Ä, in
der bald darauf erfolgten Katastrophe des Königs : die Institutionen
des letzteren blieben. Kicht nur war es nicht gelungen, den Staats-
streich von 1772 ungeschehen zu machen — , es verstand sich wie
von selbst, dass, als nach dem Tode Gustafs der Regent, Karl von
Südermannland, die Huldigung des Adels entgegennahm, die nenen
staatsrechtlichen Bestimmungen des Jahres 1789 beschworen wurden.
Die Zeit der Adelsberrschaft war fiär immer zu Ende.
Eine Lostrennung Finnland's von Schweden ist dann wohl
später erfolgt, aber doch in anderer Weise als die Conföderirten
beabsichtigten. An ein selbständiges Finnland war nicht zu denken.
A. Brückner.
Ueber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft.
Ein Worfc zur Abwehr und Veratändigung von Prof. Dr. A. v. Oel^ngen.
JJis ist häufig das Geschick grosser sachlicher Fragen, dass sie durch
den Kampf, durch das Aufeinanderplatzen der Geister wachgerufen,
gefördert und der Entscheidung näher geführt werden. Zwar will
der Mahnruf, bei der Sache zu bleiben und persönliche Attaquen zu
vermeiden, stets beherzigt sein, wenn die kritische Auseinander-
setzung der Gegner erspriessliche Früchte, d. h. die Klärung des
w^issenschaftlichen Problems zu Tage fördern soll. Aber man darf
in dieser Hinsicht auch nicht zu scrupulös sein. Selbst bjei ten-
denziöser und rücksichtsloser Polemik, die dem Feinde auf den Leib
rückt, wird doch ein bleibendes Resultat für die Culturgeschichte
der Menschheit gewonnen, wenn nur das Motiv und der Zweck der
Befehdung nicht Hass und Verunglimpfung des Gegners, sondern
Liebe zur Wahrheit und Vertheidigung des Rechts ist Kann doch
auch im grossen historischen Kampf der Völker, wie im Streit der
Individuen, ein Siegespreis nicht ohne Rüstung und Waflfen, nicht
ohne Blut und Wunden errungen werden. Wir, — ich meine
namentlich wir Baltiker, — sollten uns hüten vor jener zimpferlichen
Sentimentalität, die sich im „noli me tangere" gefällt und nur mit
Glacäehandschuhen angefasst sein will. Wir müssten es lernen, uns
zu freuen über jeden Fehdehandschuh, der auf der Arena des Geistes
uns hingeworfen wird. Wir sollten jeden ehrlichen Krieg dem faulen
Frieden vorziehen. Si vis pacem, para bellum, sagten die
Römer. So soll auch jegliche „Abwehr'' die feierliche Verständigung
im Auge behalten, nach dem alten wohlbewährten Satz des griechi-
schen Kirchenretors : 6 iXI^X^'^v jisTä irapptjo&tc efpTjvoiroiet, ein Satz, der
im Deutschen, sich am besten ausdrücken liesse durch das Wort:
ehrlicher Kampf bringt soliden Frieden.
Deshalb hebe ich auch gern den Fehdehandschuh auf, den mir,
dem jüngeren Kämpen, ein hochbetagter Greis auf dem Felde der
356 üeber.das VerhäUniss von Natur- und Geisteswissenschaft.
Wissenschaft in diesen Blättern vor die Füsse geworfen. Ich kann
es der verehrl. Red. nur danken, dass sie nicht, wie ea manche in
falscher Aengstlichkeit für nöthig und angemessen gehalten zu haben
scheinen, aus irgend welcher Rücksicht jenem ergrauten Manne das
Wort versagt hat, welcher selbst von sich bekennt, dass er „den
Verhandlungen, die in den Lehren der dorpater theologischen Facultät
sich kund gegeben, seit mehr denn einem halben Jahrhundert gefolgt
sei." Ich kann es auch diesem meinem würdigen Gegner nur Dank
wissen, dass er von seinem Standpunkte aus offen und schonungs-
los mein Buch über ^die Moralstatistik und die christliche Sitten-
lehre", dass er meine „Socialethik auf empirischer Grundlage" einer
Kritik unterzogen hat*), die gewiss in weiteren Kreisen für die
hier vorliegende Streitfrage, für das riesige Problem über das Ver-
hältniss von Nothwendigkeit und Freiheit, von Natur und Geist, von
physischem und sittlichem Gesetz das Interesse wach gerufen und
gefördert hat.
Bedauern muss ich es freilich, dass er nicht mit aufgeschlagenem
Visir ins Feld rückt, wie das bei jeder kritischen Arbeit, welche die
Person des Gegners nicht schont, selbst dann wünschenswerth er-
scheint, wenn an dem Hinterhaupt des letzteren noch so lange Zöpfe
„bammeln" sollten. Ich lasse zunächst ruhig die Zöpfe „hinten
hängen", die mein Gegner in offenbarer Theilnahme und liebevollem
Mitleid an mir erschaut zu haben glaubt, und will wenigstens in der
Hoffnung, daös der Zopfschmuck mich im Aufsetzen des Helmes nicht
hindert, mit offenem Visir ihm entgegentreten und dabei die Pietät
nicht aus dem Auge lassen, die einem, wenn auch in Anonymität
gehüllten Gegner gebührt, der bereits ein Jahrzehent vor meiner
Geburt mit reifem Urtheil das Wachsthum der Wissenschaft verfolgt,
und nicht blos die gegenwärtigen „knorrigen Eichen" der dorpater
„Kirchlichkeit" genau kennt, sondern auch dem „feuchtwarmen Sirocco
des Pietismus" wie der „frischen Brise des gemeinen Rationalismus"
gelauscht hat. Ich weiss kaum einen zweiten Nestor der Wissen-
schaft unter uns, dem ein solcher Gesichtskreis für die zurück-
'schauende Beobachtung zu Gebote stünde. Ich will daher den Werth
seiner Worte nicht unterschätzen, noch auch stillschweigend an
ihnen vorübergehen. Sie sollen mir sein — „quot verba, tot saxa",
falls sie ihrem Materiale nach solide und auf ihrem Fundamente
fest gefugt erscheinen. Aber das Recht der Prüfung, resp. der
*) Vergl. Balt. Monatsschr. Neue Folge, 1870. S. 100—110 u. S. 198—215.
üeber das Verhältniss von Natur- unH Geisteswissenschaft. 357
Selbstvertheidigung, wenn jene verba wie saxa einem an den Kopf
fliegen, wird mir durch die Rücksicht auf das Alter meines unbe-
kannten Gegners nicht streitig gemacht werden können. Ja, der
wissenschaftliche Selbsterhaltungstrieb zwingt mich, zunächst per-
sönlich mich mit ihm auseinanderzusetzen, um durch Wegräumung
von Missdeutungen, Missverständnissen und offenen Selbstwider-
sprüchen, die ich bei meinem Gegner glaube nachweisen zu können,
mir den Boden zu ebenen für die Klarlegung des sachlichen Haupt-
problems, das nicht blos uns beide, sondern hoffentlich alle Leser
der Balt. Monatsschrift interessirt, ich meine das Verhältniss zwischen
Natur und Geschichte "und die demselben entsprechende Be-
ziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft,
Zunächst sei es mir gestattet, meine eigene wirkliche Ueber-
zeugung von dem Beiwerk zu säubern, das sich in der Darstellung
meines Gegners gewiss unbewusst eingeschlichen. Denn er muthet
mir hier und da Gedanken zu, die mir gänzlich fremd sind, und
spricht mir Gedanken ab, die fast auf jeder Seite meines Buches zu
lesen sind.
Zu der ersteren Gruppe gehören solche Aussprüche, die mein
Gegner, sie aus dem Zusammenhange herausreissend und dadurch
in ihr Gegentheil umdeutend, dazu verwendet, um mich bei meinen
theologischen Fachgenossen als einen Apostaten, als einen Jünger
der Naturwissenschaft, der so zu sagen, fremdes Feuer auf den
orthodoxen Altar trage, zu verdächtigen. Ich werde meinen dog-
matischen CoUegen denuncirt als ein Abtrünniger, dem es „gewisser-
maassen wie dem Paulus ergangen sei, der aus einem Verfolger der
Christen (hier der Naturforscher) ein Bekenner ihrer Principien
wurde." Denn ich „scheue'^ mich ja nicht zu bekennen, dass ich
„gleichsam müde geworden von fruchtloser moralischer Denkarbeit
als ein erlöster und bekehrter Sisyphus mich auf die nüchterne
Wirklichkeit besonnen, und statt ethischer Speculationen und theo-
logischer Dialektik die Gesetze der sinnlichen Bewegungen in mathe-
matischer Unwiderlegbarkeit zu entwickeln" unternommen habe!
„Das ist es gerade'", — so fügt .mein naturwissenschaftlicher Freund
hinzu (S. 103), — „warum wir die Moralstatistik, von einem Pro-
fessor der Theologie in Dbrpat verfasst, als eine erfreuliqhe Er-
scheinung begrüssen."
Ich möchte meinen Freund doch bitten, die hier durchschimmernde
Schadenfreude noch ein wenig zu suspendiren und erst an der beti^effen-
den Stelle, S. 2 meiner Socialethik, nachzulesen, was ich eigentlich
Baltische Monatsschrift. N. Folge. Bd. I, Heft 7 u. 8. 24
368 Ueber das Verhältoiss von Natur- und GeisteswisBenschaft.
gesagt Die Worte stehen allerdinge in meinem Buche, aber — der
Unterschied ist gewaltig — nicht als meine Ansicht, sondern als
Meinung und Erwartung jener ngrossen Menge der Gebildeten", bei
welchen ich auf Zustimmung glaube rechnen zu können, wenn ich
jenes thäte oder also mich verhielte, wie jener Satz es ausspricht.
„Ungemeine Kraft in dem Wenn", sagt Probstein der Narr. Ich habe
jenen in bedingter Form des Conjunctivs ausgesprocheneu Sätzen
ausdrücklich hinzugefügt: „allein-so einfach liegt die Sache nicht!"
— und deaavouire also jene Erwartung und Voraussetzung. So kann
dem Leser nur zu leicht ein X für ein ü gemacht werden durch
blosse Weglassung eines „Wenn" und' durch Umbeugung des Con-
junctivs in den Indicatir! Auch weiss mein Gegner es sehr wohl,
dass ich meine „Gesetze sinnlicher Bewegung" nicht „in mathemati-
scher ünwiderlegbarkeit zu entwickeln" die Absicht habe oder für
möglich erachte, sondern er führt es selbst an (S. 201), dass ich
auf diesem Wege der inductiven Schlussfolgerung lediglich „hypo-
thetische Gesetze" gewinnen wolle, die nur „Ausdruck zeitlicher
Empirie seien, aufgefunden mittelst einer die Thatsachen combini-
renden und ihren Znsammenhang deutenden Denk Operation."
Noch also bin ich kein bekehrter Sisyphus, ier etwa aus dem
Lager der Theologie in der Art auf da« Feld der Naturforscfaung
übergegangen wäre, dass er die Spreu theologischer Principien und
Ueberzeugnngen gegen das Gold der experimentellen Methode ein-
zutauschen fiir seine Aufgabe kielte. Es läast sich für solch einen
Schluss auch kein einziges Wort meines Buches anführen oder ver-
wenden. Lernen will ich nur. und daa mit Freuden, von den Hesultaten
der empirischen Beobachtung und realistisch ist mein Streben durch
und durch. Aber ich betone es ausdrücklich, dass „die Welt des
Geistes auch als eine grosse Welt zusammenhangsvoller, nur anders
gearteter Realitäten" erkannt sein wolle. Und wenn ich es fiir den
Theologen eine gute „Zucht und Schule" nenne, an exacte, präcise
und messhare Bestimnrungen sich zu gewöhnen und die Thatsacheo
reden zu lassen, so brauche ich zu solch einem Besti'eben wahrlich
nicht, wie mein Gegner voraussetzt (S. 101 f ), durch die in jeder
Hinsicht phrasenhaften Reden eines Schieiden erst angeregt worden
zu sein. Wenn ii^end jemand oder irgend etwas von der natur-
wissenschaftlichen Methode abschrecken konnte, so waren es die
schleidenschen Nebelgebilde von dem „auf halbem Wege zur Vernunft
stecken gebliebenen Vetter Gorilla" u. dergl. m. Nicht jene engereu
Kreise der Verständigen, in welchen man früher schon „ähnliche
Ueber das VerhäUniss von Natur- und Geisteswiseeuschafl. 359
Beden'' geführt haben soll, sondern der gesunde wissenschaftliche
Sinn unsiiper Universität und ihrer studirenden Jugend hat die Hohl-
heit dieser trivialen Hypothesensucht, di^ alles eher ist als exacte
Naturwissenschaft, fast instinctiv durchschaut. Schieiden wich nach
Jahresfrist aus Embach- Athen mit einem „Weh mir, ich bin erkannt" !
Und er soll der Apostel gewesen sein, der mich armen theologischen
Saulus zu einem naturwissenschaftlichen Paulus umgewandelt und
bekehrt hat ; oder die Hebamme, welche mit ihrer „dörpt-historischen
Mission" mein Werk als ^gereiftes Geistesproduct" hat zur Welt
bringen helfen! Risum teneatis amici!
Aber mein greiser Gegner scheint es mit dieser „Anerkennung"
meiner wissenschaftlichen Umkehr zur naturwissenschaftlichen Fahne
auch keineswegs ernst gemeint zu haben. Wenigstens bewegt er
sich in dieser Hinsicht in einem ähnlichen Selbstwiderspruch, wie
überhaupt in der Beurtheilung meiner Leistung, wofür ich viele
Beispiele anführen könnte. Wenn er zuerst (S. 105) mein Werk
nach einem „grossartigen Plane angelegt" findet, und doch bald
darauf (S. IIOJ erklärt, dass in diesem Plane selbst das Material
durchgehends anders gruppirt sei, als nach meinem eigenen Schema
zu erwarten stand;*) so lässt sich, meiner Ansicht nach, beides
kaum mit einander vereinigen. Oder wenn er am Schluss seiner
Deduction bei Gelegenheit meiner Beurtheilung des Todes unbewie-
sener Maassen nur ein „Spielen mit tönenden Repräsentanten von
Phantasiegebilden und ein „Schöpfen aus dem Leeren ins Bodenlose"
zum Vorwurf macht, ja durch solch ein „Schöpfen" die „Hirnfunction
in eine derart bedenkliche schiefe Richtung" gebracht sieht, dass er
bereite „die somatische Grundlage des Irrsinns" (S. 215) in schauer-
•) Wen es interessirt, diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen, der blicke
nur in das Inhaltsyer^eichniss meines Buches. Auf den ersten Blick muss dem
aufmerksamen und wohlwollenden Les^r klar werden, dass die eine Grappirung
(der Einflüsse) formaler, die andere Eintheilung (Lebenserzeugung, Lebens-
bethätigung, Tod im Organismus der Menschheit) sachlicher Art ist. In jedem
dieser sachlich geordneten Abschnitte gehe ich aber bei der Detailausfiihrung
auf die vorher gruppirten „Einflüsse" in soweit näher ein, als das statistische
Material es erlaubt, indem ich sowohl die physischen als auch die geistig-
sittlichen Einflüsse, nach ihrem universellen, socialen und individuellen
Charakter in Beziehung auf das zu untersuchende Phänomen stets unterschiedlich
ins Auge fasse, wie ich das ausdrücklich bereits S. 312 dargelegt und motivirt
habe. Das Quidproquo meines Gegners ergiebt sich durch den logischen Fehler,
welcher oft begangen wird, dass man nämlich verschiedene Kategorien in ein-
ander mengt. Die Logiker bezeichnen das als eine jisTOcßaaic dz äKkh ^ivo^.
24*
360 Ueber das VerhältniBs von Natur- und GeisteswisseiiBcbaft.
lieber Ahnung vorauBSiebt, so läset sich nicht rerstehen, wie er in
der gleich darauf folgenden Scblusssentenz sich dahin aussprechen
kann, dass mau „in allen Ehren auf solch ein bei uns gereiftes
Geistesproduct stolz sein könne" (S. 215)?
In gleichartigem Sic et Non , Ja und Nein , hewegt er sich in
Betreff meiner Stellung zur Naturwissenschaft. Nachdem er im ersten
Artikel, wie wir sehen, ft-eundlicb der wundersamen Thatsache zu-
gelächelt, dass „der Orthodoxe mit Ruhe die Ei^ebnisse der Natur-
forschung stndire und als berechtigt anerkenne" (S. 100), geht der
zweite Artikel (S. 198 f.) von der Voraussetzung aus, dass „gegen
die wie ein eeterum c enseo wiederkehrende VenirtheilungderNatur-
wissenscbatl" Prolest erhoben werden müsse. Dass zu jenen „Männern
der Geistes wisBenechaft", die sich solcher refrainartigen Verurtheilung
schuldig machen, nach der Meinung des Yerf. auch ich gehören soll,
gebt nicht bloss aus dem Tenor der ganzen Argumentation berror,
sondern ist auch auf S. 213 ausdrücklich zu lesen, wo die „letzte
Bemerkun ggegen das beliebte eeterum censeo uneeres theologi-
schen Statistikers^ — das bin ich doch? — zu lesen ist. Derselbe
Mann, der mit Ruhe die Ergebnisse der Naturforscbung studirt und
als berechtigt anerkennt", erhebt ein Zetergeschrei gegen dieselbe, um
sie zerstört zu. sehen; -- ein wahres Monstrum, das sein eigenes Kind
frisst, ein Wahnsinniger, der in seinen eigenen Eingeweiden wühltl
Meine Fachgenossen mögen sich also beruhigen. Das hie niger
est klingt stärker durch, als die Anerkennung der Geistesgemeinschaft
mit dem Deserteur, leb bin und bleibe eben der voreingenommene
Theologe, der keinen ächten naturwissenschaftlichen Instinct hat.
Jene freudig begrüsste Bekehrung hat im Handumdrehen einem
Renegatenthum Platz gemacht. Mag mein ganzes Werk den Ernst
beweisen, mit dem ich den naturwissenschaftlich errungenen Resul-
taten lausche, — ich bin und bleibe eben ein Theologe, bei dem es
SD einem Manne wie Buckle „schlimm gehen" muss, weil derselbe
„auch gar zu erbost ist auf elericalen Dogmatismus" (S, 108). Als
ob ich in meiner ersten wissenschaftlichen Kritik dieses vielgerUhniten
und meist überschätzten Buches irgend andere Argumente zur Dar-
legung der durchgehenden Begriffsverwirrung desselben gebraucht
habe, als die mir in der buckleschen Deduction selbst an die Hand
gegebenen Momente! Meinen dogmatischen Standpunkt habe ich
dabei gänzlich bei Seite liegen lassen. Das muss mir auch der
schroffste Gegner zugeben, es sei denn, dass er das Gegentheil be-
weise und meine streng sachliche Argumentation entkräfte.
Ueber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft, 361
Indessen hätte die Behauptung, dass ich der Naturforschung
feindlich gegenüberstehe, wenigstens einen Schein von Berechtigung,
wenn es wahr wäre, was mein Gegner (S. 108) ausspricht, dass ich
„der Vererbungskraft, dieser Grundeigenschaft der pflanzlichen
und thierischen Organisation"" nirgends in dem Schema meines
Werkes gedacht haben soll. Das ist beispielsweise solch ein Gedanke,
der niir abgesprochen wird, obwohl er fast aus jedem Blatte meines
Buches zu lesen ist. Bereits in jenem grundlegenden Schema,
das mein geehrter Gegner selbst eine „erschöpfende Aetiologie"
nennt, fehlt jenes Moment keineswegs. Sowohl unter den „physischen
Einflüssen^**, unter denen die angeborenen Momente der „Nationalität,
Rasse, Abstammung, physische Anlage, Temperament, Geschlecht'^
aufgezählt werden und, wie sich von selbst versteht, auf Vererbungs-
kräft zurückgeführt sein wollen, sondern auch in der Kategorie der
„geistig-sittlichen Einflüsse" (S. 310) finden sich diejenigen Ursachen
ethischen Verhaltens angeführt, welche in der „Gattung", in dem
„Familientypus" und in dem durchschlagenden „Einfluss der Aeltern"
vorliegen. Sogar in der Schlussrubrik, welche die „individuell wir-
kenden, den Charakter des Einzelnen bedingenden Ursachen geistiger
Art" aufzählt, findet jeder Leser obenan die „persönliche Herkunft,
Geburt (ehelich oder unehelich), Stand der Aeltern, geistige An-
lage" etc. hervorgehoben.
Wie sollte auch in einem Buche, das die bisherige Ethik aus
dem Individualismus und Atomismus zu befreien sich zur Haupt-
aufgabe macht, das die sittliche Verschuldung stets als eine CoUectiv-
und Erbschuld auffasst und das Gesetz der Solidarität überall in
den Vordergrund stellt, die Vererbungskraft ignorirt werden? Ich
gehe in meinem Glauben an Vererbung sogar so weit, dass ich den
von Vogt ausgesprochenen, von Moleschott utiliter acceptirten Ge-
danken, dass „der Mensch die Summe sei von Aeltern und Amme,
von Ort und Zeit, von Luft und Wetter, Schall und Licht" keines-
wegs — wie mein Gegner mir S. 211 fälschlich vorwirft — als einen
„Trugschluss" bezeichnet habe, sondern im geraden Gegentheil als
eine, wenn auch roh und einseitig formulirle „Bezeichnung für die
unleugbare Wahrheit, dass kein Mensch sich selbst erzeugen
oder gestalten kann, weder geistig noch leiblich, sondern als Glied
eines vielgestaltigen Organismus nach Gottes Weltordnung ins Dasein
tritt und sich dem ihm eigenen Typus gemäss entwickelt" (S. 356).
Selbst die geüiale Anlage, die sogenannte „Originalität" eines
Menschen führe ich auf die origo, auf den eigen thümlichen Ursprung
362 Ueber da« Verhältaise von Natar- und GeieteswisBenschaft.
in Zeugung und Anlage zurück. „Schiller und Shakespeare, Mozart
^und Beethoven, sie waren Dichter und Musiker in der Wiege und
Rafael wäre auch ohne Hände ein Maler gewesen. Die Behauptung,
dasB dem entsprechend auch sein physiBcher Organiainua ale Träger
der Seele geartet war, kann nicht Bedenken erregen. Hat ein
Mensch Geist, so sehe ich das an seinem Leibe, seinem Auge, seiner
ganzen Bewegung und Erscheinung ... Ist doch überall — bis auf
Worte und Geberde — die Materie der Triger, das Medium für die
Geistesmittheilung innerhalb menschlich geschichtlicher Lebensver-
hältnisse. Warum sollten wir vor dem Gedanken zurückschrecken,
dasB unser persönliches Dasein und Sosein, unsere ganze geistig-
seelische Natur durch die Zeugung von Vater und Mutter zunächst
bedingt sei, dass durch göttliche Erhaltungsordnung auf dem Wege
der Emp{tognies und Geburt die einzelnen Seelen entstehen und
daher auch eine eigen thümliche geistige Mitgift auf den Weg be-
kommen. Jede eigentbümliche Begabung ist als Anlage durch die
Erzeugung bedingt. Man spricht mit Recht von angeborenen Quali-
täten. Selbst in der rechtlieh - socialen Sphäre ruht -das, was wir
Erbrecht (näher: Intestaterbfolge der Descendenten) nennen, ent-
sprechend der allgemeinen Wahrheit, dass all unser geistiger Besitz
der Anlage nach von unseren Erzeugern stammt, darauf, dass die
Kinder ein Theil des älterlicben Wesens sind und dass die Aeltem
mit ihrem Natnrleben auch ihr Personleben gewissermoassen in jenen
fortsetzen, ohne es selbst zu verlieren. Warum sollte nicht auch auf
ethischem Gebiete, in Betreff der Qualität des individuellen Willens,
eine Mit^ft, ein Erbrecht oder eine Erbechuld zugestanden werden
können, da alle sittlichen Fragen den Charakter solidarischer Ver-
haftung innerhalb menschlichen Gemeinschaftslebens an sich tragen?
Die Ueberzeugung ,. dass jeder Einzelne die sittliche Entartung
(Degeneration) in Folge der Artung (Generation), also von Vater
und Mutter an sich trägt, ja die speciflschen älterlicben Schooss-
sUnden in eigenthümlichen Mischungsverhältnissen wieder darstellt,
— sie ruht auf unleugbarer und greifbarer Erfahrung, mag man sie
anerkennen und begreifen oder nicht.'*
Ich habe mit Absicht einen, diese Frage berührenden Hanpt-
ibe hergesetzt, damit jeder Leser, auch der
,nte, es mit Augen sehen und mit Händen
echt mein Gegner mich behandelt. Ja ich
1 zu müssen. Er hat, trotz seiner darwini-
Qzelner dahin zielenden Behauptungen, selbst
ifeber das'Verhältniss von Natur- und Geistes wisseHsehait. 368
I
keine Abnuag von der Macht geistiget Vererbung auf dem Wege
geschichtlicher Tradition, wenigstens bleibt er sich nicht consequent
und bewegt sich auch hier fast harmlos in klaffendem Selbstwider-
spruch. Auf S. 103 f. betont er „den ungeheuren Vorrath von
natürlichem Wissen'^ das der Einzelne ^^als durch Aeonen hindurch
angesammeltes Kapital mit sich auf die Welt gebracht" habe^ gleich-
sam „eine Erbschaft geistiger Ersparnisse". Je bereitwilliger ich
solch ein schönes und wahres Wort als mir aus der Seele gesprochen
anerkennen niuss, desto mehr muss ich es bedauern ^ dass mein
darwinistischer Freund jenen Gedanken nicht consequent durchdenkt.
Uns „Männern der Gesteswissenschaft" macht er zum Vorwurf^ dass
wir es „den Ur-Ur- Ahnen nicht einmal Dank wissen wollen, dass
wir geworden sind, was wir sind"! Allein bereit© ein paar Seiten
später (S. 105) finden wir das erstaunliche Bekenntniss : ,yden Natur-
forschern bleibe keine Zeit übrig zum gemüthlichen Lesen in ver-
gilbten Schriften und Docuraenten menschlicher Verirrungen; — sie
denken nicht nach Anderen, sondern selbst"!
So scheinen also nicht die „Männer der Geisteswissenschaft" tn
den „Vornehmsten unter den Vornehm:en" gerechnet werden zu
müssen, wie mein geehrter Gegner spöttisch will und thut, sondern
das Prestige bleibt jenen Männern der Naturforschung, welche
„Selbstdenker" in des Worts verwegenster Bedeutung sind. Wer
wird sich nicht beugen vor der Majestät dieser schlechthin originellen
Autodidacten ! Wer wagte es an der Souveränetät des „Selbstdenkers'^
zu kritteln und zu rütteln? Makellos steht sie vor uns, ein Bild aus
Erz, imponirend jedem Staübgeborenen, die „eigenen" Gedanken
werden aus ihr geboren, wie Minerva aus dem Haupte Jupiters.
Wir gerathen in Versuchung, wie einst Tiberius nach der Meldung
des Tacitus von Curtius Rufus sagte, in das bewundernde ßekennt-
niss auszubrechen: Ex se mihi natus esse videtur ille! Ohne
Vater, ohne Mutter, ein moderner Melchisedek, steht der unheimliche
Naturforscher da, der sein originelles Gemüth nicht durch „Lesen in
vergilbten Schriften" degradiren möchte, um nicht den Ruhm des
Selbstdenkens einzubüssen. Wird man nicht unwillkürlich dabei an
das alte Dichterwort errinnert: „Ein Quidam sagt: ich bin von keiner
Schule, kein Meister ist mit dem ich buhle" u. s. w. u. s. w.
Doch brechen wir ab. Die Sache ist zu eriist zürn Scherz,
obwohl bei solcher Gelegenheit es einem schwer fällt: satiram
non scribere.
364 Ueber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft.
Sollte wirklich jener „eigene Genius", von welchem nach der
Behauptung meines Gegners (S. 200) die „Männer der Naturwissen-
schaft" geleitet werden, während die „Männer der Geisteswissen-
schaft^* auf „Eisenbahnen, die ihre Ingenieure schon vor Alters
abgesteckt und erbaut haben", zu einem „vorausbestimmten Ziele"
die Reise antreten, — sollte jener „Genius" nicht dem Gesetz der
Vererbung, hier der geschichtlichen Tradition, mit unterworfen sein?
Ich glaube, der „theologische Moralstatistiker*''' ist in diser Hinsicht
der berechtigten Grundidee des Darwinismus treuer geblieben als
der Naturforscher, wenn jener in seinem Buche den Gedanken durch-
führt und inductiv zu beweisen unternimmt, den er schliesslich im
„Gesetz der geschichtlichen Tradition" (S. 961 f.) zu formuliren sucht.
Ihm erscheint, wie im Rechtsleben, so auch in dem gesammten
geistigen Culturleben die „Zeit- und Fachbildung bis auf die einfachste
Kunsttechnik herab als eine Ablagerung des gesunden Menschen-
verstandes unzähliger Individuen, als ein Schatz von Erfahrungssätzen,
von denen jeder tausendfältig die Kritik des denkenden Geistes und
des praktischen Lebens hat bestehen müssen". Und: „wer sich
dieses Schatzes zu bemächtigen weiss, der operirt nicht mehr mit
seinem eigenen schwachen Verstände, der stützt sich nicht bloss auf*
seine eigene schwache Erfahrung, sondern er arbeitet mit der Denk-
kraft vergangener Geschlechter und der Erfahrung verflossener
Jahrhunderte".
Mit Recht spricht sich der Gelehrte, von dem ich diesen Satz
in meine Socialethik tS. 769) herübergenommen, dahin aus:*) „er
kenne kein Gebiet des menschlichen Wissens und Könnens, auf dem
nicht der schwächste, der mit der Intelligenz und Erfahrung von
Jahrhunderten operirt, dem Genie, das dieser Beihilfe entbehrte,
tiberlegen wäre."
Wir brauchen ja bloss daran zu erinnern, dass jeder Mensch in
seinem geistig-sittlichen Typus bereits bedingt erscheint durch die
Volks- und Muttersprache, die ihn umgiebt und ihm vom Moment
der Geburt ab die geistigen Lebenselemente zuführt, die er einathmet
und von denen er so viel assimilirt und, sei es auch unbewusst, ver-
*) Vergl. Ihering, Geist des röm. Rechts, Bd. U, Abthl. 2, S. 331 f. Mir
aus dem Herzen gesprochen und meiner wissenschaftlichen Denkerfahrung voll-
kommen entsprechend ist auch das Wort, das sich in der Vorrede zu der genannten
Abtheilung findet: „das Beste von dem, was wir zu finden glauben und das
Unsrige nennen, schwebt in der Atmosphäre, — eine reife Frucht am Baume
der Zeit, die wir nur brechen, nicht erzeugen."
Ueber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft. 365
arbeitet, in eigenes Fleisch und Blut verwandelt, als seine Natur
Receptivität dafür hat und seine eigen thümliche Begabung es ermög-
licht. Wie wir mit der Muttermilch unser leibliches, so erhalten
und mehren wir mit der Muttersprache unser geistiges Lebensblut
und werden also ohne unser Wissen und Wollen als Familienglieder
bereits eingesenkt in ein volksthümliches Ganzes, und lernen mit der
Muttersprache zugleich das Vaterland als den geistigen Schooss
unseres Daseins mit innerlicher Pietät verehren, als den Schooss,
der uns gleichsam zur Culturwelt geboren. Selbst das Sprechen der
Kinder ist nicht, wie sich Lazarus missverständlich ausdrückte,*)
eine wirkliche „Sprach Schöpfung", sondern immer nur individualin
sirte Sprach an eignung im Zusammenhange mit Sprach anläge.
Das Wort und die Sprache ist also der grosse Culturträger, der
uns die Gewissheit verbürgt, dass es nicht bloss eine individuelle,
sondern eine Völkerpsychologie giebt, in der unsere geistige Einzel-
existenz nicht aufgehoben, sondern warm geborgen erscheint, so dass
alle geistigen Leiden und Freuden, die Selbstquälerei und die Be-
geisterung, der Jammer und die Freude der Bildung, wie sie im
Ganzen pulsirt, von dem Einzelnen als einem integrirenden Theile
in wundersamer Vibration mitempfunden wird.
So ist es die Bildung, welche die Kluft zwischen den einzelnen
Staaten und Völkern überbrückt und den Humanitätsgedanken aus
sich heraus gebiert. Und wir Einzelne verdanken, was wir erwerben
und was wir besitzen, ja selbst was wir produciren und geistig
schafTen, zum grossen Theile der Tradition. Die Wurzeln unseres
geistigen Wachsthums sind eingesenkt in den Boden der Geschichte
und saugen aus diesem ihre Nahrung. Wenn wir irgend ein einzelnes
Gebiet der Bildungssphäre unbefangen und ohne Vorurtheil ins Auge
fassen, so muss ebenso der Wahn des Autodidakten, der die Weis-
heit, die er reproducirt, aus seinem Hirn meint erzeugt zu haben,
als auch — wenn ich so sagen darf — die Einbildung des Auto-
theleten schwinden, der die Selbstthätigkeit als unbedingte Freiheit
der Selbstbestimmung rühmt. Beide legen aber damit ein Zeugniss
ihrer Unbildung oder Einbildung ab; denn* wahre Bildung macht
•) Vergl. Lazarus, „Ursprung der Sitten", 1867, S. 9; und desselben
„Leben der Seele" 11., 3. Sagt doch* Lazarus selbst (Urspr. der Sitten S. 19):
„Die Ausbildung der Ladividualität ist das Product der Geschichte". Vergl. auch
Schleicher, „Zur vergleichenden Sprachengeschichte", 1848, S. 17; und des-
selben: „Sprachen Europa*s", woselbst es S. 12 unter Anderem heisst: „Geschichte
und Sprachbildung sind sich ablösende Thätigkeiten des menschlichen Geistes".
366 Ueber da» Verbältniss von Natur- und Geistesvrissenscbftfl.
bescheiden. Beide vei^essen, dads die geistige CoUectivbewegüng,
wie sie in Sprache und Cultur, Religion und Sitten «ich geset^t&äBsig
d. h. organisch for Schreitend gestaltet, sie geboren und gross gezogen;
dass der Geist der Muttersprache und Volksdichtung sie umwoben
hat wie eine unabweisliche, lebenbedingende Lult; da>ss sie, wie
durch Sprechen-, so namentlich durdi Lesenlemen mit anderen
Menschen von Jugend auf in Berührung kamen, mit welchen sie in
einen unwillkürlichen und oft unbewussten geistigen Rapport traten ;
ja dass das geschriebene Wort, das zu verstehen sie allmälig an-
gewiesen wurden, und welches, um die gegenwärtige Vollkommenheit
zu erlangen eine vieltausendjährige Entwickelungsgeschiohte in der
gesammten Menschheit durchmachen musste, sie erst in den Stand
setzte, über Raum und Zeit hinaus mit den Gedanken und Erfah-
rungen von millionen von Menschen in geistigen Contact zu kommen,
von ihnen zu lernen, und geistige Verkehrswege zu bauen, wie über
Land und Meer, so über Jahrhunderte und Jahrtausende.
Wenn also die Aussaat geistigen Lebens auf dem Culturboden
der Menschheit durch Generationen hindurch keimt und wächst, so
dass tausende von zarten Fäden zu einem reichen Gewebe geistigen
Lebens mit tief motivirtem, typisch-volksthümlichem Charakter sich
vereinigen, — wer wollte dann noch seine geistig -sittliche Eigen-
.thümlichkeit als Selbsterwerb verherrlichen und sich durch soleh
eingebildete Originalität zu einem „Narren auf eigene Hand" degra^
diren? Darin liegt eben die sittigende Macht auch der intellectuellen
Bildung, dass sie den einzelnen aus seinem eingebildeten Fürsichsein
herauSreisGt, dass sie ihn erhöht indem sie ihn bescheiden und klein
macht, dass sie ihn über sich selbst erhebt in dem Bewusstsein ge-
meinsamer Errungenschaft auf dem Boden geistiger Cultur. *)
Ich habe meinerseits auch die Hoffnung, dass mein anonymer
Gegner dieser Grundanschauung im Grossen und Ganzen zustimmen
wird. Ich darf es wenigstens aus der oben angeführten Aeusserung
über die „Erbschaft geistiger Ersparnisse'^ schliessen und will daher
hoffen, der verächtliche Seitenblick auf das „Lesen der vergilbten
Documente m'enschlicher Verirrungen", sowie die stolze Betonung
des schlechtsinnigen Selbstdenkens seien nur Folge eines im Eifer
des Gefechte leicht vorkommenden lapsus calstmi.
Aber blicke ich tiefer in seine Argumentation hinein, so wird diese
Hoffnung leider wieder zu Wasser. Denn in der That scheint hier
0 ^ergL obige Worte in meiner Socialethik S. 770 ff.
lieber das Verhältais» von Natur- und Geisteswissenschaft, 367
eine Verkennung der Bedeutung geschichtlicher Tradition vor-
zuliegen^ wie udr dieselbe kaum je in so exorbitantem Maasse ent-
gegengetreten ist. Sonst wäre es auch unerklärlich, wie der Miss-
veratadid, wie die Unklarheit über das Verhältniss von „Geistes- und
Naturwissenschaft" geradezu als schwarzer Faden durch seine
ganze Argumentation sick hindurchziehen könnte, ich meine jenen
grO'besk Missverstand, als handele es sich bei diesem Gegensatz um
eine Herab&ietzung oder Entgeistigung der naturwissenschaftliehen
Arbeit und ihrer Pfleger. Der Verf. scheint mit dem wiederholten,
gleichsam aus einem Gefühl des Verkanntseins herausgeborenen
Refrain: „wir, die wir nicht zu den Männern der Geisteswissen-
schaft gehören", — in der That sagen oder voraussetzen zu wollen,
dass wir, als Männer der Geisteswissenschaft uns brüstend, den
Naturforschern den Geist oder die Energie der Geistesarbeit *abzfti-
sprecfaen gesonnen sind. Im Gegentheil. Wir müssen gestehen, uns
fehlt oft die Hingabe des Geistes, die Begeisterung für das Unter-
suchungsobject, wie sie den exaeten Naturforscher »eist auszeichnet.
— Das aber, denke ich, weiss doch jeder, dass es sich beim Gegen-
satz von Natur- und Geist es- Wissenschaft lediglich um die zu
untersuchende Sphäre, nicht aber um die Art und Weise der Unter-
suchung oder den Charakter der untersuchenden Subjecte handelt.
Wer unter den „Männern der Geisteswissenschaft" hat es je ge-
leugnet, dass der Gebrauch jener Instrumente und Werkzeuge der
Beobachtung eine Geistesarbeit sei? Ist denn Wissenschaft, also auch
Naturwissenschaft je ohne logische Thäfeigkeife dankbar? In diesem
Sinne ist sie also selbstverständlich auch Geisteswissenschaft.
Sollte es nicht daher ein blosser Beweis „gesteigerter Gefühls-
Innervation" sein, auf welcher der naturwissenschaftliche Aberglaube
mit seimer Vornehmheit in- der Behauptung unbewiesener Hypotiiesen
so gern wuchert, wenn mein geehrter Gegner jenes Quidproquo durch
seine ganze Gedankenentwickelung sich hindurchziehen lässt? Fühlt
er sich vielleicht empfindlich getroffen durch Berührung seiner
Achillesferse, die wir als Geringschätzung der geistigen Errungen-
schaften der Geschichte bezeichnen könnten? Oder fehlt nicht etwa
gerade dem Naturibrsoher auf jenem wunden Flecke, den nian häufig
schon als Mangel an historischem Sinn charakterisirt hat, der „Schutz
einer natürlichen Oberhaut", welche man ohne Bild als ^Vernunft"
bezeichnen könnte?
Wir kommen bei dieser gelegentlichen Berührung der natur-
wissenschaftlichen Empfindlichkeit über ihr angebliches Excludirtsein
368 Ueber das Verhältniss von Natur- und Geisteßwissenschaffc.
aus den Kreisen der „Geisteswissenschaft" auf den Kernpunkt der
Frage, die uns hier noch näher beschäftigen soll; die richtige Ver-
bal tnissbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaft; eine Frage,
welche ohne Zurückgehen auf die Begriffe : Natur und Geist, Natur-
en twickelung und Menschheitsgeschichte, Natur- und Sittengesetz,
Noth wendigkeit und Freiheit gar nicht gelöst werden kann. Es sei
mir jedoch erlaubt, bevor ich durch diese ernstere Untersuchung
meinem Gegner in Betreff unserer Hauptdifferenz gerecht zu werden
suche, noch eine Nebenfrage kurz zu erledigen, die vielleicht auf
jene Hauptfrage ein Licht wirft.
Mein Gegner sucht nämlich unter Anderem meine Schlussfolgerung
aus dem statistisch beweisbaren Gleichgewicht der Geschlechter auf
die Berechtigung und Nothwendigkeit der Monogamie dadurch zu
entkräften, dass er meint: „in Weltgegenden, wo keine Monogamie
decretirt ist, wird das Verhältniss anders sich gestaltet haben ** (S. 202).
Der positive Nachweis für die letztere Behauptung fehlt. Ueber das
genauere Geschlefehtsverhältniss in orientalischen Staaten schweigt
die auf statistische Beobachtung gegründete Geschichte. Ein sol-
ches argumentum e silentio dürfte also gegenüber einem directen
Nachweis aus mehr als 1 V2 millionen Knaben- und Mädchengeburten
doch kaum ausreichen, die Monogamie als „eine künstlich geregelte
Züchtung des Menschengeschlechts*' zu brandmarken. Ich habe es
bereits in meinem Buche, ohne dass mein geehrter Gegner es er-
wähnt oder widerlegt hat, hervorgehoben, wie in Folge der Polygamie
in orientalischen Ländern ein Mangel an Frauen eintritt, der sich
namentlich (ausser der nothwendigen Zufuhr derselben von aussen)
jn der Unmöglichkeit bei den ärmeren Classen, überhaupt Frauen zur
Ehe zu finden, kund giebt. Dass in China und Japan viele Mädchen
ausgesetzt werden, kann nicht einmal als Stsheingrund für „const-antes
Uebergewicht des weiblichen über das männliche Geschlecht" gelten,
da bekanntlich gerade unter polygamisch lebenden Völkern das Leben
des Weibes unterschätzt und in Folge der Unnatur jener Sitte das
Verständniss für den persönlichen Werth eines solchen Wesens in
dem Einzelfall verloren geht. Es kann also höchstens zugegeben
werden, dass für jene orientalischen Länder der exacte statistische
Nachweis noch nicht vorliegt, dass sie also weder pro noch contra
angeführt werden können, obwohl die Voraussetzung nach den bis-
herigen Reiseberichten berechtigt erscheint, dass auch dort die
Polarität der Geschlechter sich trotz der polygamischen Extravaganzen
in dem Verhältniss der Knaben- und Mädchengeburten durchsetzt.
Ueber das Verhältniss yon Natur- und Geisteswissenschaft. 369
Wenn ich dieses empirische Gesetz bei eventueller Störung durch
ausserordentliche Kriegsereignisse in Folge einer Compensations-
tendenz sich realisiren oder durchsetzen sehe, welche letztere ich
namentlich aus den französischen Berichten über Knaben- und Mäd-
chengeburten Yom Jahre 1806 — 1854 nachzuweisen suche, so ist damit
selbstverständlich nicht gemeint, dass die in Prankreich damals
lebenden Ehepaare im Bewusstsein der geschehenen Störung sich
^sofort zur Compensation rüsteten**. Ich habe ausdrücklich gesagt,
dass die Ausgleichung, den Einzelnen und dem Ganzen unbewusst, aber
in merkwürdiger Stetigkeit vor sich geht. Dabei habe ich nirgends
behauptet, dass der Weiberüberschuss und die Knabenmehrgeburt in
gleichem procentalen Verhältniss ab- und zunahm. Es ist wahr, dass
der Weiberüberschuss allmälig um 5 % sank, die Knabenmehrgeburt
aber um 1,28% stieg. Diese beiden Procentangaben sind aber durch-
aus nicht commensurabel, da ja das eine Procent in der Knaben-
mehrgeburt, wie ich ausdrücklich betone* erst in allmäligem Fortschritt
durch Jahre hindurch die durch den Krieg entstandene Männerlücke
auszufüllen oder den Weiberüberschuss zu neutralisiren im Stande war.
Ueberhaupt scheint meinem geehrten Gegner das Verständniss
für statistische Parallelen abzugehen; wie könnte er sonst den all-
gemein anerkannten, aus million und aber millionen Fällen auf in-
ductivem Wege gewonnenen Schluss von der Knaben- und Mädchen-
geburt auf das nothwendige Gleichgewicht der Geschlechter in
Parallele stellen mit einem hinkenden Schluss aus den verkrüppelten
Füssen der Chinesinnen auf die menschliche Fussbildung? Ja, wie
könnte er als auf eine ^ähnliche Compensationstendenz" auf die
Parallele der Selbstmorde und unehelichen Conceptionen in den ein-
zelnen Monaten und Quartalen des Jahres hinweisen. Dass in der
heissen Jahreszeit ebensowohl die Selbstmordfrequenz als die Zahl
der unehelichen Geburten steigt, kann wohl eine gemeinsame Ursache
haben und hat sie aqf h höchst wahrscheinlich ; wie sich aber beides
„compensiren'' kann und soll, bin ich nicht im Stande nachzudenken
oder zu verstehen. Es liegt hier wiederum eine „iieiaßaat? ek dXlh
'Yivoc" vor, während der vorhandene Männermangel in einem Staate
mit ersichtlich steigender Knabenmehrgeburt und zwar bis zu dem
Moment des wieder eintretenden Gleichgewichts beider Geschlechter
gewiss von tiefer Bedeutung für die Erhaltung der Progenitur in
dem socialen CoUectiv-Organismus ist.
Wenn ich das eine „Tendenz", nenne, so ist dieser Begriff doch
wohl von „Intention** scharf zu unterscheiden. Man redet doch auch
370 üeber da« Verhältflisi von Natur- und QeisteBwissenachaft.
rot) der „TBndenz** des Barometers, zu steigen oder zu fallen, and
niemand ßiUt ee ein, ihm deshalb eine bewusst aweeksetzende
Thät^keit zuzuschreiben. In der Statistik namentlich, wie jedem
Saehkenner bekannt ist, versteht maa unter „Tendenz" eine in der
Afasseebewegung sich kundgebende coustante ßiohtung oder Neigung
zum Sinken oder Steigen, zur Verminderung oder Vermehrung eines
Phänomens. Ich habe daher auch die physikalischen und physio-
logisch-morphologiachen Gründe für jene merkwürdige Erscheinung
der in solchen Zeiten gesteigerten Knabenmehrgeburt allseitig ge-
prüft und darzulegen gesucht, ohne dass mein Oegner die Tragweite
und Ver Wickel theit dieser Frage auch nur zu würdigen sich die
Mühe gegeben hat. Er weiss blos von dem Oeschlechtsrerhältniss
in den Bienenschwärmen zn sagen und bei der Parthenogenesls der-
selben frivole Anspielungen zu machen, aber in Betreff der Menschen
bleibt er bei der Behauptung: „Na,turhistorisch wissen wir gar nicht,
ob das Menschengeschlecht monogamisch oder polygamisch, mon-
andrisch oder poiyandrisck sich fortzupflanzen genaturt war." Also
— die Monogamie ist eine willkürliche menschliche Satzung, keine
auf höherer natürlicher und sittlicher Nothwendigkeit ruhende Ord-
nung, ßass hiermit zugleich das Familienleben ale Basis und
Fundament der socialethischen Lebensbewegung in Frage gestellt ist,
li^t auf der Hand.. Das Sittengesetz überhaupt erscheiftt als will-
kürliche ^Satzung'-.
■ Wir sind hier bei dem Funkte in der Aigumentation meines
Gegners angelangt, der mir den Kern des Problems zu berühren
scheint, — ich meine das Verhältniss von physischer und geistigsitt-
licher Ordnung, von Natur und Geschichte. Ans der Beleuchtung dessel-
ben wird das zur Orlentimng über das Verhältniss von Natur- und
Geisteswissenschaft Nöthige sich uns zum Scbluss von selbst ergeben.
Wenn ich Natur und Geist nach ihrer inneren Grenzbestimmung,
in ihrer wesentlichen Unterschiedenheit und Be^ogenheit untersuchen,
d. h, wesQ ich metaphysisch jenes Verhältniss erörtern und fest-
stellen wollte, 90 müsste ich nicht blos auf die gesammte Geschichte
der Philosophie zurückgehen, die sich so zu sagen immer und überall
um die Lösung dieses riesigen Problems bemüht hat, sondern ich
tnüsst« mich in abstracte und schwierige Speculationen einlassen,
welche kaum vor den Leserkreis dieser Zeitachrift gehören dürften,
Und doch ist, wie mein geehrter Gegner richtig gesehen, hier „der
Punkt, auf welchem Theologen und Naturphilosophen", die Männer
der Geistes- und der Naturwissenschaft, „Stirn gegen Stirn aufeinander
. Ueber das Verbärltniss von liiTatur- und Geisteswissenecbafl. 371
stm^n imd in enlgegengeeetzter Richtung zurtickprallend die Re^e
d«rißh die vorliegende Begriffswelt antretßn" (S. 199). Bei so be-
wa^dt^i Umständen würde eine metaphysische Deduction shle^jhter-
dings nichts halfen. Dei^n die Prämissen sind zu vei'schiedeoe* Die
SiQen machen die Materie, den Urstoff mit ßeinen ,, mechanisch-
iQhemißchen Molecularbewegungen" zum ewigen Ausgangspunkte,
von welchem aus durch Vermittelung „organischer Molecnlarbe-
wegungen" die „Lebewesen" zu Stande kommen sollen, unter wel-
chen der homo S9*piens, der nach morphologischen Gesetzen der
Artung lind Entwickelupg lediglich auf dem Wege nothwendigen
Waßbsthums im Kampf ums Dasein zu dem geworden, was er ist,
den uns bekannten Höhepunkt bildet. Die Anderen bezeichnen den
gchöpferischen Geist als das schlechthin Ursprüngliche, welcher als
UrwiUe die sichtbaren Dinge geschaflfen und geordnet, um auf dem
Boden der Natur eine Geschichte sich vollziehen zu lassen, deren Sub-
ject der Mensch ist, sofern er sich nicht bloss nach immanenten
Gesetzen der Na turnoth wendigkeit entwickelt, sondern in zweck-
setzender Willensbethätigung sich der Normen bewusst zu werden
sucht, nach welchen sein persönliches, wie sein Gemeinschaftsleben
sich freiheitlich regeln und fortschreiten soll.
Welche der beiden Anschauungen die vernünftigere ist, müssen-
wir zunächst auf sich beruhen lassen. Denn die Untersuchung wie
die Entscheidung darüber sind um so schwieriger , als es sich
im letzten Grunde um geheimnissreiche Probleme handelt, die weit
über unseren Horizont gehen. Was wissen wir über das innere
Functions verhältnisa zwischen Leib und Geist? Die Materie als Ur-
kraft (oder als Summe von Atomen, Molecülen oder Dynamiden)
bleibt uns ihrem innersten Wesen nach ein vielleicht noch unlös-
bareres Räthsel als der Geist, der als selbstbewusster persönlicher
Wille unserem Denken und Wollen näher steht und eben deshalb
in gewissem Sinne fasabarer und verständlicher ist. Hier kann es
uns nur darauf ankommen zu prüfen, von welchen Prämissen aus
wir das Welträthsel, die reiche Mannigfaltigkeit der sich unserer
Beobachtung darstellenden Erscheinungen leichter lösen und annähernd
verstehen können. Und da acheint es mir sonnenklar und hand-
greiflich, dass weder jener naturalistische Materialismus, der kein
anderes Gesetz des Werdens kennt als das der chemisch-mechanischen
Mblecularbewegung, noch auch der spiritualistische Idealismus, der
mit Verkennung der objectiven Naturordnung nur willkürliche Be-
wegungen des Ichs annimmt. Recht haben können. Jener, der heut
372 Ueber das Verhältnis^ von Natur- und Geisteswissenschaft.
zu Tage besonders in der Luft liegt, obwohl alle soliden Mö-nner
exacter Naturforschung ihn als willkürlichen Dogmatismus auf phy-
sikalischem Gebiete desavouiren, wird der unleugbaren Thatsache
des Sittengesetzes und der geschichtlichen Entwickelung nicht ge-
recht; dieser, der meist nur die krankhafte Kehrseite jenes anderen
Extrems ist, verkennt den innerlich nothwendigen Zusammenhang wie
in der Naturordnung, so auch in der geistigen Willensbewegung des
Menschen. Wer weist uns den Weg zur wahren, goldenen Mitte?
Fassen wir die Sache rein praktisch und empirisch an. An dem
kleinsten, scheinbar unbedeutendsten Endpunkt unserer Erfahrung
und Beobachtung lässt sich oft mehr für die Lösung des Welträthsels
lernen als aus abstracten Speculationen, die von unbewiesenen und
unklaren metaphysischen Begriffen ihren Ausgangspunkt nehmen.
Ich pflege den Kindern in der Schule den Unterschied von Natur und
Geschichte, von Welterhaltung und Weltregierung, von blossrem
Wachsthum und fortschreitender Civilisation an dem klar zu machen,
was Luther in seiner feinen Erklärung des ersten Artikels, nachdem
er „Leib und Seele, Augen, Ohren, Vernunft und alle Sinne" als
von Gott gegeben und erhalten genannt hat, noch speciell hervor-
hebt, nämlich „Kleider, Schuh, Essen, Trinken, Haus .und Hof' etc.
Nicht die abstracte Beleuchtung dessen, was man oft ohne Ver-
ständniss seine „Vernunft" nennt, lehrt uns den Menschen vom Thier,
die Geschichte von der Natur richtig und praktisch unterscheiden;
denn was heisst Vernunft, wo fängt sie an, wo hört sie auf? Ist
sie auch im Grashalm, im Baum, in der Mücke, im Elephanten, im
Regen und Sonnenschein, ja im Planetensystem und Fixsternhimmel?
Ich glaube, so paradox das klingen mag, jeder zerfetzte Schuh, jedes
zerrissene Kleid, jede gebratene Kartoffel und jede vertrocknete
Brodrinde lehrt uns deutlicher die Wirkungen zwecksetzender und
zweckbewusster Vernunft beobachten, als alle grossartigen Natur-
phänomene. Denn bei letzteren kann ich mir immer noch, wie die
Erfahrung im Gebiete heidnischer Religionen lehrt, eine irgendwie
ordnende Weltmacht oder Urkraft denken ohne persönlich zweck-
setzenden Willen. Wenn ich aber auf einer wüsten Insel, vom
tobenden Ocean des Lebens an dieselbe verschlagen, einen zerfetzten
Schuh oder zerlumpten Rock mitten im prächtig blühenden tropischen
Walde finde, so wird mich das tiefer ergreifen als alle Naturpracht;
ich werde jubelnd auQauchzen: hier sind Menschen gewesen, hier
ist eine Spur, ein Document der Civilisation, der Geschichte. Die
Männer der Geisteswissenschaft, welche wir Archäologen nennen,
Ueber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft. 373
werden mir das ohne weiteres nachzufühlen im Stande sein. Wir
ahnen etwas von der Schwärmerei derselben für jedes noch so ge-
ringfügige Ueberbleibsel menschlicher Arbeit und Thätigkeit aus
alten Zeiten. Denn ein Schuh, auch der allergeringste und zer-
rissenste, kann schlechterdings nicht gewachsen sein ! ein Kleid, auch
das zerfetzteste, kann nicht durch generatio aequivoca erzeugt
oder aus einer Zelle kraft elementarer Molecularbewegung sich aus-
gebildet haben. — Und wenn jener arme Schiffbrüchige weiter geht
und findet an dem Waldrande eine gebratene Kartoffel oder ein
Stück vertrockneter Brodrinde, so wird solch ein Fund ihm von
grösserem Werthe sein, als die köstlichsten Südfrüchte, die ihm von
den Bäumen entgegenduften Denn er weiss nun sicher, dass in
diesem Walde nicht blos Tiger und Affen gehaust haben, dass viel-
mehr jenes Wesen, von welchem Sophokles seinen Chor singen
lässt: „nichts ist gewaltiger als der Mensch," — seinen civilisatorischen
Beruf auch auf dieses Eiland erstreckt, in seiner Weitmission auch
hier gearbeitet hat* Selbst in dem feuerbachschen Gedanken: „der
Mensch ist, was er isst,*^ liegt ein Körnlein Wahrheit, wenn man
„Essen und Trinken^" unter den Gesichtspunkt der bewusst zweck-
setzenden Civilisation und Sitte stellt; wenn man nicht bloss an die
verzweigten Regeln der Kochkunst denkt, sondern sich die Thatsache
in ihrer weittragenden Bedeutung vergegenwärtigt, dass — wie man
es bezeichnet hat, — der Mensch „ein kochendes Thier", d. h. eben
kein blosses Thier ist. Denn kein Thier macht Feuer, kein Thier
kennt das Heiligthum des Heerdes, kein Thier hat in diesem Sinne
„Haus und Hof'' und nennt „Acker, Vieh und alle Güter" sein Eigen-
thum, d. h. ahnt etwas von einer durch Arbeit bedingten Rechts-
ordnung und Rechtsentwickelung. Daher auch, beiläufig gesagt, die
Nationalökonomie, welche die Vermögensproduction auf dem Wege
der Arbeit zum Gegenstande ihrer Untersuchung macht, selbst bei
physiokratischer Grundanschauung vorzugsweise eine geschichtswissen-
schaftliche Disciplin ist.
Bahr lässt in der Wildniss einen Hottentotten ein Blatt aus
eine!" beethovenschen Sonate finden; und in der stufenweise fort-
schreitenden Beurtheilung dieses Stückes Papier sieht er ein Docu-
ment dafür, dass der Mensch eine civilisatorische Mission, dass er
eine Geschichte hat, deren Resultate, deren geistig und ästhetisch
geartete Producte dem crassen Materialisten lauter unlösbare Räthsel
bleiben müssen. Wir brauchen aber nicht einmal bis zum Kunst-
werk aufzusteigen. „Kleider, Schuh, Essen, Trinken, Haus und Hof,
Baltische Monatsschrift, N. Falge, Bd. I, Heft 7 u. 8. 25
374 Heber dm yerbältulee von Natur- und Geisteswissenschaft.
Acker, Vieh und alle Güter", sie beweisen uns in der.That, daes
der Mensch kein blosses Naturweeen ist, das naturgesetzlich sich
entwickelt und wadiat, sondern ein Geschichtsweeen , das Zwecke
verfolgt und dieselben nach geistigen Gesetzen in der Form gesitteten
und rechtlichen Zusammenlebens erreichen und erarbeiten lehrt.
Zeige mir, lieber Darvinist, einen AlVen, der je zum Schubmachen
die Neigung documentirt oder auch nur annähernd fähig ist, und ich
will mich dir mit Leib und Seele gefangen geben auf «wig.
„Kleider und Schuh" sind aber auch durch Menschen nicht von
Anfang an so vollkommen gemacht worden, wie die jetzigen pariser
uud berliner Schuster sie fertigen. * Woher der Fortschtitt? Woher
die Vervollkommnung? Ein „gebildeter" Schuster wird dir es s^eii
können.' Der Meister föllt weder vom Himmel, noch auch hat er
seine Geschicklichkeit als physische Erbschaft überkommen. Und,
— nicht der einzelne Meister hat seinem zufällig aufgefangenen Ge-
selleu in „affenähnlicher Geschwindigkeit" das Lederstück, — das
auch noch seine Gerb-Civiliaation durchmachen musste, — gewiesen,
um es so und so zu verarbeiten. Wie der Geselle, so hat auch der
Meister seine Schule durchgemacht. Er weiss, was und wie die
Menschheit bisher an Schuhleistung au Tage gefördert; er weiss es
nicht blos durch die bisherigen Schuhexeinplare, die er gesehen und
studirt, er weiss es — durch geschichtliche Tradition.
Huxley hat Recht, wenn er trotz seines Darvinismua bekennt:
„der Berg der' Geschichte, den wir Tradition nennen, sei für den
blossen Naturforscher ein bisher noch unerklärtes RAthsel." Weder
der „Kampf um das Dasein", noch der „Atavismus", noch die
,. Variabilität", — erklären das Wesen der Tradition, welche be-
dingt ist nicht blos durch civilisatorischen Fortschritt, sondern vor
allem — durch die Sprache.
Mag der Materialist noch so viel träumen von der „Sprache,
durch welche auch die Thiere sich unter einander verständigen" und
in welcher dieselben durch „Züchtung", wie die Vögel im Singen,
auch Fortachritte machen können, — noch nie ist der Erweis ge-
führt worden, dass thierische Laute sich zu einem Gedankenbau
gestalten kOunen, durch welchen nicht blos die gleichneitigeD
Generationen sich gegenseitig verstehen, sondern die Geistesarbeit
der .Tahrhnnderte eich in Form der Ueberliefei'ung den kommenden
Geschlechtem vermittelt. Und, wie die Sprache selbst ein Mittel
für Geschieh tßüberlieferuug ist, so ist sie auch selbst eine Geschichte,
d. h. sie hat sich je nach den volkathiimlichen Gemeinschaften in
Ueber das Verhältniss von Natur- und Qeisteswissenscbaft. 876
verschiedenen, gruppenartigen Typen zu höherer Vollkommenheit
entwickelt, so dass sich aus dem inneren zusammenhängenden Com-
plex der Laut- und Sprachbildung auch Laut- und Sprach regeln
ausgestaltet haben, die der Einzelne befolgen soll und muss, wenn er
normal sich ausdrücken oder verstanden sein will.
Um aber die sprachliche Ueberlieferung nicht verwischt werden
zu lassen, um zugleich über Raum und Zeit seine ins Wort gefassten
Gedanken, ^Erfahrungen und sittlichen Normen mittheilen zu können,
hat der Mensch in Jahrhunderte langer Arbeit die Schrift- und Druck-
sprache erfunden und ausgebildet, so dass er nicht blos in „ver-
gilbten Documenten^' seine „Verirrungen" zu verewigen, sondern
durch urkundliche Fixirung seiner wenn auch unvollkommenen
Erfahrungen und einseitigen Gedanken den nachkommenden Ge-
schlechtern eine Basis und eine Anregung für den geistig-civilisato-
rischen Weiterbau zu geben vermag. Die Menschheit, ihre Cultur-
und Sittengeschichte spiegelt sich in der Literatur ! Und die Literatur
vor allem und jegliche in literarischen Documenten sich ausprägende
menschliche Arbeit ist der grosse und eigenartige Gegenstand der
Erforschung für die Männer der Geisteswissenschaft. Zwar wird
auch der Naturforscher, wie ich bereits oben berührte, nie ohne
Literaturkenntniss, ohne Aneignung und Verarbeitung des bisher in
seinem Fache geleisteten, wissenschaftliche Erfolge erringen können.
Aber das Object seines Studiums ist und bleibt die ihn umgebende
sinnlich wahrnehmbai'e Welt, sofern sie auf unwandelbaren Gesetzen
ruhend sich noch heute ihren elementaren Kräften nach genau ebenso
bewegt und dasselbe leistet, wie vor tausenden von Jahren. Die
Arbeit des Geschichtsforschers oder der Geisteswissenschaft beginnt
eben dort, wo in Sprache und Literatur sich eine geistige Fortent-
wickelung documentirt, der Mensch also über die constant sich
gleichbleibende Naturspähre erhaben erscheint.
Mit der geistigen Culturbewegung geht aber die sittliche stets
und nothwendig Hand in Hand. '
Beides, Sprache und Schrift, sind dem Menschen zugleich die
Mittel, innerhalb der verschieden sich artenden und gliedernden Ge-
meinschaftskreise die inneren Impulse seiner Lebensbewegung zu
Normen auszugestalten. Es bilden sich „Gesetze'^ die das recht-
liche, sittliche, intellectuelle, religiöse Gemeinschaftsleben zu regeln
die Aufgabe haben^ Gesetze, welche immerhin als „Satzungen" von
den Naturordnungen mit ihrer immanenten, unabänderlichen Noth-
wendigkeit unterschieden werden mögen. Auch das will ich mit
25*
376 Ueber da« VerhältniBB von Natui- und GeisteswisseDsehafl.
meinem geehrten Gegner zunächst als empirische Wahrheit acceptiren,
welche cum grano salis verstanden unbedenklich erscheint, dass
diese (die Naturordnungen) „durch sich selbst existiren" und jene
(die Satzungen) „von Menschen gemacht sind'^; wie auch der Baum,
aus dem Samen gewachsen, in gewissem Sinne „durch eich selbst
existirt", das Haus aber, als familienhafter Bergeort der Sitte zum
gemeinsamen Wohnen bestimmt, von Menschen „gemacht" ist. Aber
ich bitte ihn nur, consequent weiter zu denken und seine natur-
wissenschaftliche Begabung in dem bene distinguere zu erweisen,
d. h. anzuerkennen, dass hier und dort auch verschieden geartete,
ja in der That materielle und geistige Causalität vorliegt.
Ich rede hier noch keineswegs von religiösen und theologischen
Dingen. Nicht der göttliche Urwille oder der schöpferische Urge-
danke beschäftigt ans zunächst, sondern der Mensch; der Mensch,
dieses wundersame doppelseitige Wesen, welches einerseits mit der
Natur, die ihn umgiebt und seine Organisation bedingt, in noth-
wendigem Zusammenhange steht und als Lebewesen jenen Gesetzen
unterworfen ist, welche in dem ein für allemal geordneten physisch-
elementaren Zusammenhange nothwendig begründet liegen; und
welches andererseits mit der Fähigkeit fortschreitender geistiger Ent-
wickelung und Zwecksetzung auch den unwiderstehlichen Impuls
in sich fühlt, sein Gemeinschaftsleben bewusst zu normiren und
geistig-sittlich, sowie rechtlich und religiös auszugestalten nach Ge-
setzen, die als Gebote hingestellt den Anspruch macheu befolgt zu
werden oder gegen den Uebertreter reagiren. Daher begegnen sich
im Menschen Natur und Geist, Nothwendigkeit und Freiheit, Gesetz
und Satzung.
Stehen denn nun beide in solchem Widerspruch mit einander,
daas man in einseitiger Beschränktheit nur die Natur apotheosiren
nnd alle geistig-sittliche Bestrebung und Zwecksetzung als Illusion
bezeichnen, zu einem blossen Schein verflüchtigen darf, wie der cra^s
materialistische Naturforscher will und thut? Hiesse das exact sein
in der Beobachtung des Erfahrungsmässigen ? Gewiss nicht. Eine
ganze Reihe der geschichtlich sich ans darstellenden Thatsachen
ücksichtigt oder unerklärt. Das Welträthsel wäre
irn die Welt der Geschichte zerschlagen mit roher
soll man in ähnlicher Einseitigkeit oder Bornirt-
st" zu verherrlichen und die „Freiheit" zu retten,
en und die Satzungen, sowie die Handlungen der
von dem realen Boden einer in sich zusammen-
lieber das Verhättniss von Natur- imd Geisteswissenschaft. 377
hängenden Entwickelung, einer höheren objectiven Noth wendigkeit,
die von keiner Satzung umgestossen oder gemaassregelt werden kann?
Gewiss nicht. Auch bei dieser crass spiritualistischen Auffassung
müsste man sich verschliessen gegen die zu beobachtenden That-
sachen, d. h. hier gegen den überall hindurch leuchtenden Zusammen-
hang von Ursache und Wirkung, sowie gegen den durchschlagenden
Einfluss der Naturmächte und Ordnungen auf das menschliche Geistes-
leben. Das Welträthsel würde sonst zum Weltchaos, zum sinn- und
ziellosen Durcheinander willkürlicher Strebungen und individuell
persönlicher Velleitäten.
vSollte denn wirklich eine Weltanschauung unmöglich sein, welche
Natur und Geschichte, Nothwendigkeit und Freiheit, Gesetz und
Satzung in inneren Zusammenhang brächte, ohne doch ihren Unter-
schied zu verkennen odBr zu zerstören?
Es scheint mir eben die Aufgabe der Wissenschaft zu sein, an
diesem Problem fort und fort zu arbeiten, ohne, von der einen oder
anderen Seite ausgehend, das Kind mit dem Bade auszuschütten. In
unserer populären Anschauung, in der unmittelbaren Gewissheit des
denkenden oder in dem Gewissen de]s sittlichen Menschen liegt be-
reits der Ansatz zur Lösung des Problems enthalten, sobald wir,
befruchtet von dem Geiste des Christenthums, die Ursache der
Welt als den Urwillen fassen, welcher die Natur mit ihren un-
wandelbaren Gesetzen zum Boden für die Geschichte mit ihren un-
umgänglichen Satzungen geschaffen hat. Auch die wissenschaftliche
Beobachtung menschlichen Gemeinlebens führt zu diesem Schluss,
wenngleich derselbe noch keineswegs den Charakter mathematischer
Gewissheit, sondern den der höheren Wahrscheinlichkeit hat. Wir
könnten in der Sphäre menschlich-geschichtlicher Lebensbewegung
uns die Möglichkeit und das Entstehen sittlicher und rechtlicher
Normen gar nicht erklären, wenn wir nicht, durch einen naheliegenden
Rückschluss vom Mikrokosmos des Menschen auf den Makrokosmos
Gottes, auch in der gesammten Weltordnung eine gebietende Macht
voraussetzten, die das All bewusst und zweckvoll regelt.
Freilich will mein geehrter Gegner nur von Ursachen etwas
wissen und rechnet den „Ur- Willen" nur zur ^verlockenden Schale
der Frucht*' (S. 201). Ich bedauere, dass er über diesen wie mir
scheint wichtigsten Kernpunkt sich „nicht weiter auslassen zu wollen"
erklärt. Durch Verkennung oder Ignoiirung des gesetzgebenden
Willens verschliesst man sich das V^rständniss für die geistig-sitt-
liche Signatur der Weltordnung.
378 lieber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschafk.
Nur der persönliche Gott, der in sich selbst Noth wendigkeit und
Freiheit zusammenschliesst, ermöglicht es uns, bei der Weltentwicke-
lung an eine immanente Nothwendigkeit zu denken, die innerhalb
der Menschheit und ihrer Geschichte sich ebenfalls mit Nothwendig-
keit zu Normen, zu Geboten ausgestaltet, welche die Handlungen
der Menschen zu regeln haben; nur der persönliche Gott, der als
der Urgeist und die Urliebe sich selbst zu beschränken und eben
dadurch der Freiheit auch des menschlichen Personwillens Raum zu
geben vermag, ohne doch sein Wesen und Gesetz aufzugeben, ist als
der allmächtige Ordner und Erhalter der Natur zugleich der Gott
der Geschichte, der ein geistiges und sittliches Ringen der Völker
und Individuen ermöglicht und nach dem Gesetz der Teleologie die
Welt regiert. Ueberall wo eine Naturkraft oder ein naturgesetzlich
geordnetes Phänomen einem persönlichen Zwecke dienstbar gemacht
erscheint, überall wo die Naturgemeinschafl; in Rechtsgimeinschaft
übergeht, überall wo die Naturlaute sich zu einem sinnvollen Sprach-
bau ausgestalten, überall wo die Naturbeziehungen menschlicher Ge-
nossenschaft zu religiös - sittlicher Gemeinschaft sich gliedern und
demgemäss normiren, — geht die Natur in die Geschichte über, d. h.
gestalten sich nothwendig die immanenten Gesetze der . Lebensbe-
wegung nach göttlicher Weltordnung zu normirenden Gesetzen, um
die Freiheit in den Dienst der Ordnung zu stellen, oder gegen die
Freiheit, welche die Ordnung eigenwillig zu stören sucht, durch die
Strafe zu reagiren. Daher finden wir auch überall — und mein
Werk soll ein kleiner Beitrag dazu sein, solche Erkenntniss zu
fördern, — dass auch in der sittlich und geistig gearteten Geschichts-
ordnung sich ein innerer ursächlicher Zusammenhang nachweisen
lässt, vor welchem jede Annahme eines Zufalls, einer blossen Will-
kür in nichts zerrinnt. Darin liegt die Analogie zwischen Natur-
und Geschichtsgesetz. Gleichzeitig gestaltet sich aber nur auf dem
Gebiete der Geschichte das innere Gesetz der Causalität zum ge-
bietenden, Freiheit beanspruchenden Gesetz in Geboten. Der „kate-
gorische Imperativ^ ist die Domäne der Geschichte. Darin liegt der
durchgreifende Unterschied zwischen Natur- und Geschieh tsgesetz.
Genau die Grenzen zwischen beiden zu bestimmen, wird uns viel-
leicht nie ganz gelingen. Aber wehe uns, wenn wir in schwäch-
licher Verkennung unserer Ohnmacht und Einseitigkeit nur das
Naturgesetz oder die Ursachen als real anerkennen und den ür-
willen und sein gewaltiges, in unserem Innern wiederhallendes „Du
sollst" verkennen. Das Messe über dem Wissenwollen das Ge^wissen
k:
lieber das Verhältniss von Natur- und Geistfeswisseüs^haft. 379
vergessen und zerstören. Und wehe uns, w^nn wir in übermüthiger
Selbstvei^herrlichung das Recht und die Macht unsel^es' Willens über-
schätzen und durch Maassregeln und Satzungen von den ewigen
Ordnungen der Natur und der inneren Weltordnung der Geschichte
uns lossagten. Das Messe über dem Machenwollen das ewig Ge-
machte und Gewollte verkennen und zerstören.
Aus alle dem geht hervor, dass, wie Natur und Geist, so auch
Physik und Ethik, Natur- und Geisteswissenschaft sich weder unnütz
zu befehden, noch sich zu verschlingen und aufzuzehren haben.
Vielmehr sollen und können sie sich, bei aller Anerkennung ihres
speciiSschen Unterschiedes, zu gegenseitiger Stütze und Bewahrung
vor einseitigen Extravaganzen zusammenzustellen, rcsj). zu coötroliren
und zu corrigiren suchen. Das aut au t ist nirgends bedenklicher
als hier. Ich fürchte, mein Gegner hat sich vor dieser Gefahr nicht
ausreichend bewahrt und kommt, da er trotz seiner Betonung der
Naturwissenschaft als einzig wahrer Wissenschaft mit der Geschichts-
wissenschaft und ihren Begriffen doch nicht gänzlich tabula rasa
machen will, in bedenkliche Inconsequenzen und schreiende Selbst-
widersprüche. Ich will nicht davon reden, dass er die Naturforscher
allein als die „Gesetzeskundigen vom reinsten Wasser" (S. 106) ver-
herrlicht •, ich glaube nicht, dass das mit wissenschaftlich coUegialischer
Bescheidenheit stimmt; ich will hier auch davon absehen, dass er
die Geschichtskundigen auf die klägliche Aufgabe beschränkt, ver-
gilbte Documente, papierne Satzungen zur Pest«tellung „leerer
Geistesgesetze" zu untersuchen, dass es für ihn, wie es scheint, neben
der Naturwissenschaft nur eine höchst unnütze Maculaturwissenschaft
giebt. Aber wie steht es denn mit der Reinheit und Consequenz
seiner eigenen naturalistischen Weltanschauung, seiner Apotheose der
angeblich einzigen Wissenschaft?
„Die Logik der Entstehung aller Dinge", — so äussert er sich
a. a. O. S. 200, — „sehen wir als den Inbegriff aller Naturgesetze
an.^' Ich acceptire den Satz. Aber, znr „Logik" gehört doch ein
denkendes Subject oder jedenfalls ein Gedankenzusammenhang. Der
Verf. sagt selbst, es sei die Aufgabe der Naturforseher, die Logik
der Entstehung der Dinge „aufzufinden". Die Logik ist also den
Dingen immanent. Es wäre unlogisch, zu behaupten: in der Ent-
stehung der Dinge liege eine Logik enthalten, und doch seien die
Naturgesetze nicht „vorausgedacht", sondern lediglich durch sich
selbst geworden. Das letztere aber behauptet mein Gegner S. 200
ausdrücklich. Wie stimmt das mit der ersteren Behauptung? Wenn
3B0 lieber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft.
sie von „selbst" geworden sind, so muss doch im Hinblick auf die
unleugbare „Logik" jenes „Selbst" nicht blos Urkraft oder Ursache,
sondern der Urgedanke und Urwille sein. Wo finde ich beide?
Vielleicht ist unser wissenschaftlicher Freund der Meinung, dass
die Naturgesetze eine Art Logik erst durch das menschliche Denken
gewonnen hätten, sofern der Mensch aus der beobachteten Bewegung
und aus der Analyse der Elemente auf gewisse constante _Causal-
zusammenhänge, die er Gesetze nennt, den Schluss macht? Allein
dem widerspricht wieder seine eigene Behauptung (S. 106) '
dass im Gegensatz zu allen Geboten, Satzungen die Naturgesetze
,,über - und vormenschlich" seien. LTnd doch sollen , wie es
auf S. 200 wiederum heisst: „die Naturgesetze im Momente (!) der
zusammentretenden Elemente erst geworden" sein! Wer will aus
solcher Verwirrung der Gedanken sich herausfinden? Die Naturge-
setze sind „ewig" und doch momentan „geworden"; sie sind die
,, Logik der Entstehung aller Dinge" und doch nicht „vorausgedacht"!
Um schliesslich das Begriffschaos vollständig zu machen, redet der
Verf noch von „Naturrechten" und „Naturpflichten", welche ,,mit
Würde geübt" werden sollen (S. 201); was von seinem Standpunkte
aus schlechterdings unverständlich bleibt, da Rechte und Pflichten
nicht ohne jene von ihm perhorrescirten „Satzungen" denkbar sind
und die Natur, in welcher ewig immanente Nothwendigkeit der Be-
wegung d. h. lediglich Ursachen, kein Urwille thätig ist, den im-
perativen Modus nicht kennt. Wer giebt uns den Ariadnefaden aus
diesem naturwissenschaftlichen Labyrinth?
Ich glaube, wir finden ihn nur, wenn wir in der Argumentation
meines geehrten Kritikers denjenigen Momenten zu ihrem Recht ver-
helfen, in welchem so- zu sagen seine „anima naturaliter
Christian a" durchblickt, ich meine jene von ihm anerkannte
Logik in der Entstehung der Dinge und jene Naturrechte und
-Pflichten, welche auf unser Gewissen und, im Zusammenhange
mit jener Urlogik, auf einen UrwiUen, d. h. auf eine zweck- und
normsetzende Geistesmacht hinweisen. So baut sich in das Gebiet
der Nothwendigkeit eine Freiheit, in die Sphäre der Natur eine Ge-
schichte hinein, beide geregelt durch ein consequentes Verursachungs-
system, welches dort den Charakter physischen Wachsthums, hier
den Charakter geistig-bewusster Entwickelung trägt. Das Grenzge-
biet ist da zu suchen, wo mit dein Wort, mit der Sprache auch der
kategorische Imperativ, das „Du sollst", d. h. nicht die willkürliche
Satzung, nicht zufällig beschriebene Maculatur zu Tage tritt, sondern
k
lieber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft. 381
der gewaltige Gegensatz von Gut und Böse, das Gesetz der Pflicht,
das Gesetz der Schuld, das Gesetz der Gewissensnöthigung, mitr
einem Wort das Gesetz der heiligen Liebe, welches so wenig „will-
kürliche Satzung'' ist, dass wir vielmehr ohne dasselbe weder eine
Welt der Natur noch eine Welt der Geschichte uns denken könnten,
ein wahrer ^rocher'' von Bronze, auf welchem die Souveränetät Gottes
stabilirt ist; ein unbeweglicher Sinai, der nicht wanken wird, auch
wenn tausend und abertausend Naturforscher seine Donner mit ver-
taubten Ohren überhören oder wegdemonstriren wollten.
So wird also meiner Ueberzeugung nach die Naturwissenschaft
auf das „herrliche Reich der Physiokratie" (S. 200) sich zu be-
schränken haben, auf jene Erforschung der Logik in der Entstehung
und Entwicklung der .materiellen Dinge nach ihrem elementaren
Bestände und ihrer organischen Bewegung. Wo aber mit der Sprache
das Gebiet der Tradition, der Geschichte, der normgebenden Satzungen,
der zwecksetzenden Thätigkeit im menschlichen Gemeinlelben zu
Tage tritt, da beginnt die Domäne der Geisteswissenschaft, die nicht
vor jener den Vorzug des Geistreichthums hat. sondern nur die
apecißsche Aufgabe, das Object des freien und wollenden Geistes,
so zu sagen die Ethik in der Entstehung und Entwickelung der
socialen Gemeinschaftsgebilde ebenfalls nach ihrem elementaren Be-
stände und gesetzlichen Zusammenhange zu erforschen.
Trotz des klaren und unzweifelhaften Unterschiedes beider
Forschungsgebiete, ja eben durch die Klarheit der Grenzregulirung
kann und soll unnützer Streit vermieden werden. Beide Zweige
menschlichen Wissens entspriessen einer Wurzel, dem Bedürfniss
des Geistes, durch seine Denkarbeit das innere Gesetz der Er-
scheinungen zu erforschen, dort der Natur, hier der Geschichte, um
so eine Weltanschauung zu begründen, die es uns verständlich macht,
wie und warum der Schöpfer seiner Schöpfung eine Welt Ordnung
eingeprägt, die mit der Nolhwendigkejt (dem Gesetz) ihrer Reali-
sation auch eine Nöthigung (Satzung) für unser Denken und Wollen,
Reden und Handeln in sich schliesst.
Wegen dieser inneren Verwandtschaft des wissenschaftlichen
Forschens in beiden Gebieten können die Methoden der Untersuchung,
trotz der Verschiedenheit des Beobachtungsobjectes, doch sich gegen-
seitig ergänzen, stützen und fördern. Der Naturforscher, der vor
allem die Beobachtung und das Experiment gebraucht, wird bei
seinem inductiven Schliessen die Deduction aus allgemein logischen
Prämissen, schon zum Zweck der System atisirung, nicht entbehren
382 lieber das Verhältniss von Natur- nnd Geisteswissenschaft.
können; und der Mann der Geisteswissenschaft, der den Zusammen-
hang culturgeschichtlicher Lebensbewegung erforscht, der auf Sprache
und Literatur, auf Handel und Wandel, Kunst und Gewerbe, sociales
und politisches, sittliches und religiöses Gemeinschaftsleben der
Menschen sein forschendes Auge richtet, wird neben der Deductian
aus allgemeineren, ihm innewohnenden Ideen und Denkgesetzen, nie
der verificirenden Controle entbehren können, die durch die empirische
Beobachtung und mathematische Zusammenstellung der Thatsachen
ihm an die Hand gegeben wird. Li diesem Sinne habe auch ich
es versucht, auf dem schwierigen Felde ethischer Untersuchung die
vorzugsweise naturwissenschaftliche Methode inductiver Schlussfol-
gerung herbei zu ziehen, ohne doch — wie hoffentlich der zweite
Theil meines Werkes beweisen wird — der systematischen Deduction
Valet zu sagen und in das Lager der Naturforscher überzugehen.
Auch in Betreff des Alters beider Hauptdisciplinen brauchen
wir uns nicht in die Haare zu gerathen. Ich gestehe gern meinem
Kriticus mit einem aufrichtigen pater peccavi zu, dass ich in der
Einleitung meines Werkes an jener Stelle zu weit gegangen bin, wo
ich die Naturwissenschaft ohne weiteres ^als das jüngste Kind der
Minerva'^ zum Respect gegen ihre älteren Vorläufer, namentlich die
Theologie, ermahne (S. 13). Zwar kann ich meinem geehrten Gegner
in seiner Gegenargumentation nicht Recht geben, wenn er bereits
die erste, noch kindliche „Erfühlung der Aussenwelt" als Natur-
wissenschaft bezeichnet. Auch das lässt sich nicht sagen, dass „die
ganze unendliche Reihe der lebenden Wesen sich als Naturforscher
hindurchgearbeitet habe, immer prüfend und erkennend, was die
Aussenwelt ihnen entgegenstellte" (S. 103). Es ist und bleibt immer-
hin merkwürdig, dass die Geisteswissenschaften, die Philosophie und
Ethik etc. sich zu geschlossenen Systemen früher entwickelt haben,
als die Erforschung der Natur, als die Physik der elementaren
Dinge, ein Erweis für die Wahrheit des alien Satzes: mens notior
corpore. Allein zugeben muss ich meinem Gegner, dass kein Ge-
' biet der Wissenschaft als solches die Priorität auch nur dem Alter
nach vor dem anderen beanspruchen darf Denn auch die keim-
artigen Anfänge der bewussten und systematischen Naturerforsehung
gehen in die Zeiten der ältesten Weisen, eines Thaies und Zeno,
eines Euklid und Pythagoras zurück.
So gestehe ich denn meinerseits gern, auch von den Natur-
forschern namentlich in Bejtreff der exacten Methodik viel geternt zu
haben. Meine ganze vorliegende wissenschaftliche Arbeit hat ja
lieber das Verhältniss von Natur- und Geisteswissenschaft. 383
den ausgesprochenen Zweck; „eine Orientirung auf dem weitver-
zweigten Gebiete zu versuchen, auf welchem Realismus und Idealis-
mus sich so vielfach unnütz befehden, ja zum Theil sich gegenseitig
aufzehren, statt sich zu associiren und dadurch gegenseitig zu
corrigiren."
Ich hoflfe der Zustimmung meines geehrten Kritikers gewiss sein
zu könneB) wenn ich mit jenem Satze meiner Soeialetbik gchliesse,
welcher dem unberechtigten Pathos, der leeren unwissenschaftlichen
Phi:ase gegenüber die saubere Grenzreguliruug auf dem seien tifischen
Arbeitsfelde fordert und also lautet (S. .13): Sich aufsein Object be-
sinnen und in dem Bewusstsein seiner Schranke sich frei, d. h.
bescheiden bewegen, sich seiner Sphäre gegenüber nicht überheben,
sondern ihr mit der Treue im Kleinen und zugleich in begeisterter
Hingebung dienen, das ist ins wahre Ethos — wie der Natur-, so
der Geisteswissenschaft. —
Die drei grossen Siege preussiseh-deutscher Staatskunst.
Jjs giebt wenige Epochen der Geschichte, die von grösserer Be-
deutung wären für das Leben der Völker, als die, in welcher wir
uns heute befinden, und es gab kaum eine politische Umwälzung in
Europa, deren Eintritt durch geringfügigere äussere Umstände ein-
geleitet worden wäre. Kaum vermögen wir das Bild zu fassen,
welches sich in der kurzen Spanne weniger Wochen vor unserem
politischen Auge aufgerichtet hat, übergrpss sind die Verhältnisse, zu
denen es anwächst, zu gewaltig für den Blick, welcher gewohnt war,
unter dem. schwülen Druck der Atmosphäre nur das Nächste, Ge-
ringe zu übersehen. Wenn der Nebel zerreisst, spähen wir gierig
aus nach dem Horizont, nach den reineren, klareren Bildern der
Ferne. —
Die jüngsten Wochen haben plötzlich wie mit magischem Licht
die Zeit seit 1866 und weit darüber hinaus übergegossen, und unter
diesem Licht treten uns die Gestalten in vielfach neuer, oft fast un-
kenntlich veränderter Form entgegen. Wir glauben Traumbilder
gesehen zu haben und fragen uns verwundert, ob das das Deutsch-
land von '1866, von 1848, von 1812 sei, welches wir vor uns sehen,
ob das Preussenvolk von heute wirklich auf dem Boden erwachsen,
auf welchem es 1862 stand, ob das Volk von 1870 dasselbe sei,
welches den Krieg von 1850 führte, welches Olmtitz und Bronzell,
Jena und Tilsit erlebte! — Wir,. deren erstes politisches Bewusst-
sein unter dem Einfluss der Bewegungen von 1848 erwachte, haben
schneller als die Generation der metternichschen Periode das Ver-
ständniss für den neuen Gang der Dinge in Deutschland gewonnen,
und dennoch vermögen wir kaum Schritt zu halten mit dem unge-
heueren Schwünge der Thatsachen, dennoch ist unser politisches
Verständniss nicht elastisch genug, um von dem gewaltigen Auf-
gange Deutschlands nicht überrascht zu werden.
Diese letzten 8 Jahre preussischer Politik sind eine Zeit der
Enttäuschungen und Ueberraschungen für die Mehrheit der Deutschen
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 385
gewesen, und doch wiegen sie die Schmach von eben so viel Jahr-
zehnten auf, sie erschienen den Meisten als eine fortdauernde Reihe
von Vergewaltigungen an den politischen Ideen unserer Zeit, und
doch brachten sie die grösste dieser Ideen zur Reife. — Es scheint,
dass noch immer, selbst in den civilisirtesten Staaten der Gegensatz
nicht ganz vermieden werden kann, welcher aus der Unfähigkeit der
Völker, grosse äussere Politik zu treiben, entspringt und jene merk-
würdige Erscheinung hervorruft, dass, während in der inneren
Politik das Volk wesentlich revolutionär, die Regierung dagegen
conservativ ist, die Rollen in Fragen des äusseren Staatslebens voll-
ständig gewechselt wenden. Jedenfalls war bis jüngst bei dem
deutschen Volke, dessen Nationalgefühl im Laufe von Jahrhunderten
so systematisch unterdrückt worden, das Bewusstsein der nationalen
und der Volksrechte nicht stark genug, um durch selbständige Action
die altgewohnten Fesseln abzuwerfen. Was aber in der Hand der
Nation berechtigt ist, das erscheint in der des Einzelnen leicht als
Frevel, und so bedarf die Geschichte solcher grossen Sünder an den
althergebrachten Heiligthümern des Particularismus und der Legi-
timität um die an den Rechten der Völker begangenen Verbrechen
früherer Geschlechter zu sühnen. Eine lange mediatisirte Nation,
wie die deutsche, besass jenes stolze und kräftigende Bewusstsein
ihrer Rechte nicht, welches ihr den Muth und die Macht des Willens
gegeben hätte, dieselben praktisch zu verwerthen durch rücksichts-
l(^e Vernichtung der Institutionen und Gewohnheiten, welche im
Innern die Fürsten, nach aussen die traditionelle Politik Europas
gross gezogen und sanctionirt hatten. Dieser Coalition selbstsüchtiger
äusserer und innerer dynastischer Interessen vermochte nur der un-
getheilte, vollkräftige Wille des ganzen Volkes die Spitze zu bieten,
wenn auf dem Wege der Volksrevolution das Ziel erreicht werden
sollte. Aber es lag in der Natur der Sache, dass auf diesem Wege
keine der beiden nationalen Forderungen erfüllt werden konnte, denn
die innere Zersplitterung hinderte die Einigkeit nach aussen und der
Einfluss von aussen vermehrte die innere Zersplitterung. Für eine
defensive Politik, und namentlich für die Abwehr eines äusseren
Feindes war das deutsche Volk allerdings — wir haben daran nie
gezweifelt — seit lange gereift. Seit 1815 ist sich die Nation in
dieser Hinsicht ihres Rechtes und ihrer Macht bewusst, und einen
solchen defensiv thatkräftigen Willen hätte jeder Feind gefunden,
der es gewagt hätte, die deutschen Grenzen zu überschreiten. Und
doch, wer vermag zu sagen, ob dieser Wille des Volkes vor 1866
1
386 ' Die drei grossen Siege preussisch-dentecher Staatekunst.
stärk genug geweaen wäre, die eotgegenstehendeo dynastischen
Neigungen soweit zu überwinden, dass er die deutschen Eteinfürsten
und ihre Truppen einem Frankreich selbst gegenüber zu einem ge-
achlussenen Geere gleich dem heutigen zusammengeballt hätte? Die
Defensivkraft nach aussen wäre ohne Königgrätz and die Vertt^e
des Nordbundes noch heute von mehr als fraglichem Werthe, der
Wille des Volkes hatte zwei Feinde zugleich zu überwinden. Aber
offensiv gegenüber Europa und gegenüber den Erben deutscher Klein-
staaterei die nationalen Ideen zur Greltung zu bringen, rerroochte
kein deutsches Parlament weder 1848 noch 1870 aus «igener Kraft.
Dazu war Preussen berufen. Seit Friedrich djm Grossen hat Preusaen
nicht gewagt, die Offensive für die deutsche Sache zu ergreifen,
selbst damals nicht, als ihm das Volk die deutsche Kaiserkrone an-
bot, und erst in unseren Tagen knüpfte Bismarck wieder an die
grosse Politik des vergangenen Jahrhunderts an. Das ist das monu-
mentnm aere perennius, welches ihn in die Reihe der schöpferi-
schen Männer der Wel^eschichte stellt
Der als conservatjv, als feudal gehasste Gegner der preussi-
sehen Liberalen von 1862 ergriff die Initiativ^ einer die deutschen
Verhältnisse von Grund aus umgestaltenden Politik, und diese
Initiative der prenssischen Regierung führte zu deip Kriege von 1866,
welcher dem deutsehen Volke endlich deutlich den Weg wies,
auf dem es fortan das Kiel zu erstreben hatte. Dieser conserva-
tive Minister unternahm eine Revolution, so folgenschwer und so
tief berechtigt, wie nur je eine von einem Volke ausgegangen ist.
Er stand einem Volke gegenüber, dem gebildefaten in Europa, das
nur in dem Einen, in der Politik gegenüber den übrigen Nationen
Europa's zurückgeblieben war, das freiheitlich überall war, nnr
nicht in der grossen nationalen Sache. — Schauen wir zurück
auf die Siegeslaufbahn der bismarckschen Politik, deren grösste
Eroberung sich eben vor unseren Augen zu vollziehen im Begriff
ist, und rufen wir uns kurz die Stellung Prenssens vor 1866 ins
Gedächtniss zurück.
Die alte deutsche Misere hatte damals zwei mächtige Beschützer
innerhalb der deutschen Grenzen selbst. Der eine war der darch
die Kleinfür&ten genährte conservative Geist des Volks. Jede Action
nach aussen, über die kleinstaatlichen Pfähle hinaus vergröseerte
die Lasten des Volks, kostete Geld, möglicherweise auch Blut, und
indem man diese scheute, strebte man durch Verbesserung der
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskuust. 387
inneren Verhältnisse die entfernt liegenden Vortheile zu ersetzen,
welche das Volk seit lange zu entbehren gewöhnt worden war. Die
deutsche Arbeitsamkeit hatte durchgängig blühende wirthschaftliche
Verhältnisse erzeugt, die alten engen Staatsgrenzen hatten die ein-
zelnen Stämme gelehrt, innerhalb derselben thätig zu schaffen und
zu vergessen was drüber hinaus lag. Fanden sich Uebeistände, die
in die Augen sprangen, aussergewöhnlich drückende Lagen, so suchte
man zu helfen so weit es augenblicklich möglich war und fügte sich
in das Unvermeidliche bis auf günstigere Zeit. Die Regierungen
waren meist human genug, um den Bedürfnissen ihrer Länder einiger-
maassen nachzugehen, Gesetz und Recht zu respectiren, und ereignete
sich einmal das Unglück, dass ein Fürst den Thron bestieg, der auf
Kosten des Volkes seinen Säckel füllte, jede Freiheit unterdrückte,
oder gar seine Unterthanen verrieth und verkaufte — nun so liess
sich dagegen wenig machen, denn dann ward man daran erinnert,
dass man in einem deutschen Kleinstaate lebte, dass es noch andere
Fürsten in Deutschland gab, die, wenn im äussersten Falle die
Revolution ausbrach, das Volk durch nachbarliche Kanonen zur
Pflicht zurückrufen würden. So war es begreiflich, dass wohl der
Einheitsgedanke, nicht aber der entsprechende Wille im Volke vor-
handen war.
Der andere Beschützer dieses Wesens war Oesterreich. Seit der
glorreichen Zeit, da die Sonne nicht unterging in den Ländern des
deutschen Kaisers hatte Oesterreich für Deutschland nichts gethan,
hatte es dasselbe knechten lassen von unzähligen Tyrannen, hatte
es die Anarchie aufgerichtet, weil Italien. Spanien, Niederland ihm
mehr werth waren als die Ordnung in Deutschland; und als der
Kaiser später nicht mehr die Kraft besass, die deutschen Fürsten zu
bändigen, da wurde es Oesterreich's Lebensprincip , jene Anarchie zu
erhalten, zu befestigen. Nie hatte Oesterreich wß,hrhaftv deutsch sein
können, weil es nie die Zeiten Karl's V. vergessen wollte, weil es stets
den römischen Kaiser höher stellte, als den Kaiser deutscher Nation.
Dieser undeutschen Politik Oesterreich's verdankte Preussen
sein Wachsthum. Aus der österreichischen Schöpfung staatlicher
Zerfahrenheit hatte sich Preussen mühsam und stetig emporgerichtet,
sich selbst alles verdankend. Preussen war die erste Verkörperung
des deutschen Einheitsgedankens, denn es war die staatliche Ord-
nung gegenüber der haltlosen Anarchie des Mittelalters. Was von
dieser Anarchie^ was von den kleinen deutschen Fürsten zu erwarten
war, wusste man seit der französischen Invasion des ersten Napoleon.
388 Die drei grossen Siege preassiscb-deutsciier Staatskunst.
Wollte man nicht der AussterbepoUtik huldigen, oder warten bis
Deutschland durch ein Wunder seine Gestalt und Wesen änderte,
oder Oesterreieh sieh seibat auflöste, so musste man von Preussen
die Ergreifung der Initiative hoffen.
Diese Initiative hatte somit als natürliche Gegner die ganze
Militärmacht Oesterreich's und der meisten deutschen Fürsten, sie
hatte das Volk gegen sich, und die Vorbedingung derselben war da-
her eine in der Hand der Regierung fest concentrirte, ausserordentliche
Macht Preussens. Ja, Preussen musate sogar in seiner Armee die
Aussicht haben, den Krieg ra^ch und mit bedeutenden Erfolgen zu
führen, wenn es nicht der Neutralit&,t der auswärtigen Mächte sicher
war. Diese Macht galt es zu schaffen, oder sie zu erhalten wenn
sie schon vorhanden war. Auch der liberalste preussische Minister
hätte erfolglos darnach gestrebt, im preussischen Volke oder in der
deutschen Nation sich eine volksthflmliche Stütze zu erwerben , die
dem Angriffe Oesterreich's und seiner Vasallen Stand gehalten hätte.
Der süddeutsche Bürger wäre nicht aufgestanden gegen das Haus
Oesterreieh, der Norddeutsche hätte freiwillig das Schwert nicht ge-
zückt gegen den Süddeutschen — soweit waren die Stämme sich
noch nicht entfremdet. Die Politik der moralischen Eroberungen
in dem damaligen Sinne hätte Preussen dahin ' gebracht, dass es
von Oesterreieh bei der nächsten günstigen europäischen Lage in
Stücke geschlagen worden wäre. Preussen musste eine stets kampf-
fertige Kriegsmacht haben, die der Oesterreich's gewachsen war,
es durfte zugleich nicht wagen, sich in eine ausserordentliche kriege-
rische Action zu verwickeln, in der es seine Grenzen gegen Oester-
reieh hätte entblössen müssen. Erst musste Oesterreieh unschäd-
lich gemacht sein ehe Preussen an eine Offensive nach aussen
hin denken durfte. Alle diese Verhältnisse zwangen Preussen, eine
Militärlast zu tragen, die mit seiner Grösse und Einwohnerzahl
im Missverhältniss stand. Diese Mililärtast musste um so grösser
sein, als Preussen — dank den Bemühungen Metternieh's — vom
strategischen Gesichtspunkte aus höchst ungünstige, offene und zer-
rissene Grenzen zu vertheidigen hatte. Kurz — Preussen musste
Militärstaat sein mit allen den Lasten und Unfreiheiten, die sich
damit verbinden, oder es musste aufhören Grossmaeht zu sein,
aufhören erster deutscher Staat zu sein, und damit seiner nationalen
Aufgabe, seiner ganzen Zukunft entsagen. Hier aber hatte die
preussische Regierung einen Gegner im eigenen Volke zu über-
winden. Denn wie es ihre Pflicht war., die Militärmacht, der
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staabskunst. 389
seit den Zeiten des grossen Kurrürsten Preussen haaptaftchlich
die Möglichkeif seines Wachsthums verdankte, zu erhalten, so war es
andererseits natürlich, dass das Volk nngewöbnlicbe Lasten von sich
abzuwälzen suchte, nach der Freiheit der Bewegung strebte, welche
der Militärstaat hindert. Es ist ein vom Standpunkte des ¥olkes
ganz billiges Verlangen, dass die Militärlast auf ein möglichst nie-
driges MaasB beschränkt werde, und zugleich, dass das Heer ein
volkathümliehes sei. Das Volk macht eben keine äussere Politik,
es will daher nur eine Last tragen, wie sie zur Erhaltung, zur Ab-
wehr eines Angriffes unumgänglich nothwendig ist, und will auch,
daaa das Heer eine Macht sei, die nur für das Volk, nicht auch
gegen dasselbe gebraucht werden könne. Dieses Bestreben steigert
sich natürlich einer Regierung gegenüber, die zu dem Verdacht An-
läse giebt, die Rechte des Volkes nicht zu achten, einer freiheitlichen
Portent Wickelung auf dem Boden der Verfassung entgegentreten zu
wollen; die Gefahr der Knechtung des Volkes ruft In demselben das
Bestreben wach, mit aller Kraft der Regierung das Mittel dazu aus
den Händen zu reissen. — So sehen wir in der Natur ^er Dinge selbst
jenen Widei-sprueh gegeben, welcher sieb zu Anfang der sechsziger
Jahre immer schroffer in Preussen herausbildete. Der moderne Staat
ist nicht Militärstaat, und nicht der Soldat ist der Träger derCivilisation.
Je kräftiger und tüchtiger die Volksvertretung in Preussen wurde, um
so stärker wurde die Opposition gegen die Regierung, um so energischer
musste diese die Interessen der äusseren Politik vertreten.
Als eben der Angriff gegen die wichtigste Institution der Gross-
macht Preussen begonnen hatte, trat Bismarck an die Spitze der
Geschäfte. Die Forderung des Volkes nach grösserer Freiheit und
geringerer Heereslast war berechtigt, sie musste sich mit der Zeit
immer steigern und endlich den Sieg davontragen. Jetzt oder nie
musste daher die Regierung die Initiative ergreifen, die Waffen be-
nutzen, die sie noch in der Hand hielt. Damals wurde Bismarck
die Arbeit erleichtert durch die nach innen absolutistische Ten-
denz des Königs und seines Hofes. Es ist ein Stück Mittelalter,
welches uns in dieser Periode der preussischen Geschichte entgegen-
tritt, ein Stück Mittelalter, das die deutsche Nation zu seiner Zeit
nicht hat überwinden können und nun als Anachronismus in unsere
Zeit herübergeschleppt hat. Als im Ausgange des Mittelalters aus
dem Chaos ständischen Verfassungslebens sich der Absolutismus
erhob, als die Auflösung aller staatlichen Begriffe die Kräfte
der Völker so geschwächt hatte, dass es zuletzt als eine Wohlthat
BaltiBche Monateachrift, N. Folge, Bd. I, Heft T u. 8. 26
390 Die drei grossen Siege preuseisch-deutscher Staatskunst.
erschien, wenn ein Ludwig XIV. in seiner Person die Majestät des
Staates sah -- damals war Oesterreich nicht im Stande, die Einigung
der Nation herbeizuführen, die in Frankreich erreicht wurde. Es
war zu schwach, die Vasallen schon zu mächtig, und an die Stelle
eines «monarchisch- absoluten Kaiserreichs traten unzählige kleine
Monarchen, die, jeder auf seinem Stückchen Erde, eifrig danach
strebten, sich zu der Grösse und dem Glanz des französischen Muster-
königs aufzublähen. Unsere Zeit hat den Absolutismus hinter sich
gelassen, aber Deutschland das Verdienst desselben, die grosse staat-
liche Einigung, nicht mit herübergenommen. Das zu sühnen war die
Aufgabe der ersten deutschen Macht, Preussen's. Preussen musste
zurückgreifen in die Verhältnisse des goldenen Zeitalters der Mon-
archen und mit absolutistischer Gewalt die Repräsentanten mittel-
alterlicher nationaler, staatlicher und gesellschaftlicher Zerfahrenheit
niederschmettern. Erkannte der preussische Ministerpräsident diese
Noth wendigkeit, so musste er diesen mittelalterlichen Feinden gegen-
über auch die Kraft eines absoluten Königs schaffen. Das preussische
Volk bot ihm diese Gewalt unmittelbar nicht, denn das Volk ist
eben stets Volk^ seiner Zeit, und konnte er nicht mit dem Volke, so
musste er ohne dasselbe handeln, denn es galt die Zukunft Preussen's
und Deutschland's. Um die ungelöste Aufgabe des Absolutismus
in Deutschland zu lösen, um nach aussen hin Absolutist sein zu
können musste er es in gewissem Grade auch nach innen hin sein.
— Von diesem Gesichtspunkte aus - aber freilich auch nur von
diesem — erscheint uns das Verfahi'en erklärlich, welches die Re-
gierung des Grafen Bismarck jener Zeit kennzeichnet. Mit grosser
Energie sammelte er seit seinem Eintritt ins Ministerium alle die
Machtmittel, welche das junge Verfassungsleben in Preussen der Re-
gierung gelassen, und erhielt sie trotz der Welt, die sich ihm ent-
gegenstellte. Die Aufgabe war keine leichte. Gegenüber einer
Volksvertretung, wie sie Deutschland so kräftig und- tüchtig noch
nicht gesehen, gegenüber einem Volke, das im Bewusstsein seines
Rechtes auf Erweiterung und Fortentwickelung des Constitutionalis-
mus durch jeden Angriff der Regierung nur um so fester und zäher
sein Ziel ins Auge fasste, musste Bismarck eine Politik vertheidigen,
die an sich dem gebildeten Europa unserer Zeit ins Gesicht schlug,
die jeder durch die öffentliche Meinung anerkannten Berechtigung
ermangelte, weil ihr tieferer Grund die Oeflfentlichkeit scheute. So
trug das Ministerium Bismarck den Schein des rücksichtslosesten,
frivolsten Spielens mit den heiligsten Rechten des Volkes, den Schein
■1.4.
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 391
einer principiell absolutistischen Gewaltherrschaft, die um so ver-
letzender sein musste, als sie in einer Zeit und einem Volke gegen-
übüer auftrat, welche der Willkür und Despotie entwachsen waren.
Trotz dieser ungünstigen Verhältnisse gelang es dem Grafen Bismarck,
durch seltene Energie und richtige Beurtheilung der Widerstands-
fähigkeit des Volkes sich die Gewaftstellung im Innern zu sichern,
die das Substrat seiner äussern Politik werden sollte.
Mitten in dieses Ringen der Regierungsgewalt und der Volks-
rechte hinein trat die holsteinsche Erbfolgefrage. All jenen unge-
heuren Schwierigkeiten gegenüber eröffnete ein günstiges Geschick
Bismarck hier die Möglichkeit, eine nationale offensive Politik
anzuknüpfen. Unter dem Titel des Schutzes deutscher Bundesange-
höriger und trotz des Widerspruchs des deutschen Volks in seiner
grossen Mehrheit wurde über den Bund hinweg der erste Schritt
in der Offensive gemacht. Der alte Bund und Oesterreich stellten
sich entgegen. Aber es gelang dem Grafen Bismarck, diese Feinde
dadurch zu par^lysiren, dass er Oesterreich vom Bunde trennte, aus
dem strengen Richter preussischer Bundes Verletzungen durch An-
stachelung der alten Eifersucht und Vorspiegelung reicher Beute
einen Genossen jenes sogenannten Frevels machte. Der Krieg wurde
eröffnet unter dem Titel der Wahrung der Rechte der Herzogthümer
auf Grund der Verträge von 1852. War Oesterreich auch unschäd-
lich-gemacht, so erstanden doch überall Feinde der verborgenen
Annexionspläne Preussen's während des Kampfes selbst und durch
ihn, denn in alter spiessbürgerlicher Kurzsichtigkeit erhob sich in
Deutschland und den bedrohten Herzogthümern der Enthusiasmus
für den angestammten Augustenburger, man sehnte sich danach, den
Kranz fürstlich deutscher Blumen noch um eine zu vermehren, das
Blut sollte vergossen sein, damit der deutsche Wirrwarr durch ein
neu gekröntes Haupt noch vergrössert werde.
Diese ersten äusseren Verwickelungen scheinen uns die schwersten
Anfangsschritte der bismarck'schen Politik gewesen zu sein. Denn
noch durfte Preussen mit seinen letzten Plänen nicht heraustreten,
noch durfte die nationale Fahne nicht entfaltet werden, noch hatte
die preussische Heeresmacht sich nicht in der Kraft gezeigt, die
später so nachdrücklich die diplomatischen Verhandliingen beeinflusste.
Das Auftreten Preussens gegenüber Dänemark und Deutschland
erschien Europa anmaassend weil durch zu geringe Machtmittel
unterstützt, und Deutschland unberechtigt weil man wohl die Ver-
letzung der Rechte des Bundes ^und des Erbfürsten, nicht aber das
26*
392 Die drei grosseo Siege preussisch-deutsc-her Staatekunst.
Recht der Nation sah, welches über jenen stand. So warf diese
widerspruchsvolle Stellung Preussens in jener Zeit auf seiae Politik
utaocheD Schatten, der auch heute noch unvergessen geblieben ist.
£8 ward zuerst die Candidatur des Prinzen Friedrich stillschweigend
anerkannt, [die Schleswig-Holstein er gewöhnten sich daran, in ihm ihr
nationales und freiheitliches Recht verkörpert zu sehen ^ dann begann
Preusaen gegen dieses Ideal anzukämpfen, erst versteckt, durch er-
bitternde Maa^sregelungen, Pressionen, dann offener mit seinen Hinter-
gedanken hervortretend. Als das doppelte Spiel allmälig ans Lieht trat,
da waren es denn nur einzelne klarblickende Köpfe, die auf Preussen's
Seite standen, die Masse des Volkes sah in dem Grafen Bismarck nur
den falschen, abBolutietischen preussiscben Diplomaten, nicht den Be-
freier vom dänischen Joch, den Vertreter deutsch-nationaler Interessen,
Glücklicher noch als auf diesem Felde war Preussen gegenüber
seinen anderen Gegnern gewesen. Jn schmachvoller Unthätigkeit hatte
der Bund den Vorgängen in Dänemark zugeschaut, nicht das Geringste
wagte er zu unternehmen für die nationale Sache, vor dem kräftigen
Handeln Preussen's schien seine Thatkraft völlig zu erlahmen. Zu
sehwach um eine bedeutende Rolle im Kriege zu spielen wachte er
mit ängstlicher Sorgfalt über dem hohlen Schein äusserer Grösse und
Würde, ein treuer Nachfolger und Universalerbe des heiligen deutschua
Reiches. Den Fürsten wurde die unternehmungslustige Offensivpolitik
Preussen's unheimlich, es begann ihnen zu grauen vor diesem Geiste
des Handelns, dessen Haupte eine so kampfestüchtige Minerva ent-
sprungen war. Sie zogen es vor, ihre Truppen ruhmlos und thatenlos
nach Hause zurückkehren zu lassen, sie verdrängen zu lassen aus dem
Felde der Ehre, ja sie Uessen sich geduldig wie offene Feinde von
den Dänen behandeln und schützten nicht einmal ihre neutrale Flagge.
Das durll« noch vor wenigen Jahren ein Dänemark den Deutschen
bieten ! Erst als der Kampf mit Worten an die Stelle des Schwerter-
tanzes trat, wurde es in Frankftirt wieder geschäftig und Herr von
Beust vertrat schwungvoll und kühn die Herzogthümer und die
'"-'■'-- " tu hatte, wie bei der Eröffnung der Feindseligkeiten,
sr Conferenz sehr milde Bedingungen gestellt. Wäre
I auf die Bedingungen eingegangen, so hätte es fast
s wäre durch den Krieg nicht viel mehr als durch
ion erzielt worden, für Deutschland wäre wenig,
s gewonnen gewesen. Dies aber war sicher nicht
k's. Er hatte genau berechnet, wie weit die Hoff-
auf eine günstige Ayenduug des Kriegsglttcks ging,
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 393
wie weit es auf auswärtige und namentlich auf englische Hülfe
rechnete, wie gross die Hartnäckigkeit der dänischen Regierung sein
würde: er wusste, dass seine Bedingungen vom dänischen Cabinet
würden verworfen werden. Es geschah was er wollte : so gemässigt
die preussischen Forderungen waren — sie waren gerade streng
genug um dem dänischen Uebermuthe unannehmbar zu erscheinen,
um dann mit jedem neuen Annäherungsversuche von Seiten Preussen's
und Oesterreich's gesteigert zu werden, endlich um den Krieg wieder
fortzusetzen und das friedliebende, maassvolle Preussen wiederum
zur Erhöhung seiner Ansprüche zu drängen. Während der Ver-
handlungen waren alle Vorbereitungen zur energischen Fortführung
des Kampfes getroffen worden, und kaum waren beide beendet, so
erfolgte ein zerschmetternder Schlag — der Uebergang nach Alsen.
Trotz der eifrigen Bemühungen gelang es Dänemark nicht, eine eng-
lische Intervention herbeizuführen, weil Napoleon die wiederholten
Aufforderungen England's dazu abwies; mit der grössten Kühnheit
und gewandten Benutzung der Verhältnisse wies Bismarck die
Drohungen des englischen Cabinets zurück bis Jütland in den
Händen Preussen's war und ein Schritt weiter die dänischen Inseln
in die Gewalt der Sieger, das dänische Reich an den Rand des
Unterganges gebracht hätte. Nun dictirte Bismarck den dänischen
Gesandten in Wien den Frieden, der Schleswig-Holstein für immer
von Dänemark losriss und zugleich Bismarck ein Material in die
Hand gab, geschmeidig genug um unter einer kundigien Hand jede
gewünschte Form anzuAehmen. In unbegreiflicher Blindheit Hess
sich Oesterreich durch dieselben Mittel, die es in den Krieg hinein-
gezogen hatten, nun auch weiter drängen. Wie am Anfange des
Krieges so war Oesterreich auch jetzt bereit, auf die preussischen
Annexionsgedanken einzugehen gegen ein Aequivalent auf deutschem
Gebiet, aber es fand das berliner Cabinet diesem Handel nicht mehr
geneigt, und das Misstrauen begann in der Hofburg rege zu werden.
Man schwankte rathlos hin und her, man konnte sich nicht ent-
schliessen, den einmal gefassten Plan territorialer Erwerbungen in
Deutschland wieder fahren zu lassen, und Hess sich endlich zu einer
neuen Thorheit verleiten. Die gasteiner Convention befestigte den
Widerspruch, in welchen die beiden Grossmächte mit dem Bunde
getreten waren, sie trennte Oesterreich von Deutschland und brachte
es um vieles weiter in der schlüpfrigen Gewaltstellung zu den
Herzogthümern , die auch Preussen innehielt. Hier aber war
Preussen's Lage eine weit günstigere. Beide hatten einen gleichen
394 Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst.
Antheil an dem Frevel, sie waren gleich schuldig an demselben
Verbrechen, aber während für Oesterreich dauernde Erwerbungen
in Schleswig -Holstein von keinemt Nutzen sein konnten, war der
Vortheil, der für Deutschland aus einer engen Verbindung Schleswig-
Holsteins mit Preussen erwachsen musste, allein genügend, um die
von Preussen in dieser Hinsicht gestellten Forderungen als berechtigt
erscheinen zu lassen. Während die That Oesterreich's, selbst wenn
dieses leer ausging, ungerechtfertigt erscheinen musste, wurde
Preussen gerade durch die Beute, die es bei derselben That davon-
trug, in einem grossen Theile der öffentlichen Meinung gerechtfertigt.
Die Ansprüche Preussen's wurden in den sogenannten Februarbe-
dingungen formulirt und Bismarck trat ^ immer offener mit seinen
Wünschen nach Machterweiterung hervor. — Hatte die österreichische
Diplomatie früher geglaubt, durch Zusammengehen piit Preussen
einseitige Machterweiterung desselben zu hindern, so sah sie sich
bitter getäuscht: Oesterreich war durch die Theiinahme an der Ge-
waltthat von Deutschland wie von Europa isolirt und die Beute
drohte jetzt der einzige Freund in ziemlich rücksichtsloser Weise
sich allein zuzueignen. Der Freund zeigte sich etwas selbstsüchtig
und unfreundlich, aber Oesterreich war durch den gasteiner Vertrag
aufs Neue an ihn gefesselt wie es durch den Krieg und den wiener
Frieden von Deutschland gelöst war. Grossmüthig bot Graf Bis-
marck eine Geldentschädigung für Oesterreich's Ansprüche auf die
Herzogthümer. 40 Millionen war eine hübsche Summe für einen
Gegenstand von so ungewissem Werth wie die österreichischen
Rechte. Aber diese österreichischen Condominalrechte konnten bei
•
der Lage der Dinge und in der Hand eines Grafen Bismarck wohl
verwerthet werden, Preussen konnte dauernd gestärkt werden wäh-
rend die österreichischen Finanzen durch 40 Millionen nicht wesent-
lich sich besserten. Hatte die alte Eifersucht schon bisher Oester-
reich übel genug mitgespielt, so begann Graf Mensdorff nun blind-
lings ihren Eingebungen zu folgen. Immer schroffer traten sich die
Cabinete gegenüber. Die maassvollen, mit grossem diplomatischen
Tact abgefassten preussischen Noten wurden mit immer grösserer
Leidenschaftlichkeit, immer steigendem Unverstände beantwortet.
Preussen wollte das gute Einvernehmen erhalten, oder gab sich doch
den Schein dieses Willens, indem * es sich unter Aufrechterhaltung
der Februarbedingungen zu Concessionen erbot. Dieser Machtzu-
wachs Preussens aber war der Pfahl im Fleische Oesterreich's, der
das wiener Cabinet in eine immer tollere Haltlosigkeit hineintrieb.
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskuniit. 396
Kamen die Februarbediögungen zur AusfUhrung, so war ein grosser
Schritt zu einer consolidirten Macht Preussen's in Norddeutschland
geschehen; dass sie aber zur Ausftihrung kommen würden, dafür
sprachen die preussiscben und die deutschen Interessen, die für sie
eintraten, dafür sprach die jetzt anerkennende Stimmung Deutsch-
land's und der europäischen Mächte.
Nur die deutschen Fürsten sahen wieder misstrauisch und be-
sorgt auf die Machtpolitik Preussen's »hin. Wurde der Augusten-
burger so behandelt, so ganz schonungslos bei Seite gesetzt — es
bedurfte keines besonderen Scharfblicks, um sorgenvoll in die Zukunft
zu schauen. Es liess sich nicht leugnen, dass die Februarbedingungen
auf Kosten kleinstaatlicher, dynastischer Interessen die nationalen
vertraten; sie enthielten eine Thatsache, die, zum Princip erhoben,
in den Augen der Fürsten verdammungswürdiger als die Sünde selbst
war. In dieser Anschauung begegneten sie sich mit Oesterreich, und
der gemeinsame Hass begann die erkaltete Freundschaft neu zu be-
leben. Oesterreich fing an sich dem Bunde wieder zu nähern, und
dieser verga«s angesichts der neuen Gefahren die Kränkungen des
Krieges und des wiener Friedens. Noch einmal zeigten die Fürsten
Deutschland's, dass ihnen nichts heilig war, wenn es galt ihre per-
sönlichen Interessen, ihre Throne zu vertheidigen.
Oesterreich entschloss sich Hals über Kopf, durch Waffengewalt
^ die gasteiner Fesseln zu brechen, Preussen's Vergrösserung zu hinter-
treiben, womöglich Preussen aus seiner jetzt mehr als je gehassten
• und geftirchteten Grossmachtstellung zu werfen. — Ein geheimer
Vehmbund wurde geschlossen, mit dem grössten Eifer ergriffen die
Leute vom Schlage des Herrn von Beust die Gelegenheit, um von
ihrem engen Standpunkte aus grosse Politik zu treiben. Im Schatten-
dunkel eines Lügengewebes, dem nur das des folgenden Krieges und
des heutigen Frankreich's würdig an die Seite gestellt werden kann,
wurden die Waffen geschmiedet, die den Markgrafen von Brandenburg,
den treulosen Vasallen des Kaiserhauses Oesterreich für immer unschäd-
lich machen, dem Räuber von 1815 seine sächsische Beute entreissen,
den Frevler an der Legitimität und dem Fürstenthum niederschmettern
sollten. Judenverfogungen, italienische Unruhen gaben den nothdürfti-
gen Vorwand, und fand man keinen, so entblödete man sich nicht,
notorisch bekannte Thatsachen einfach abzuleugnen und die Vorwürfe
Preussen's durch Gegenbeschuldigungen zu tiberschreien. Durch den
lächerlichen Streit wegen der Priorität der Rüstungen sollte die
preussische Rechtsbasis des wiener Friedens und der gasteiner
396 Die drei grossen Siege preussisch-dentecher Staatekunst.
Convention durchlöchert, alle die bisherigen Thorheiten, zu denen
das wiener Cabinet sich hatte Mnreisseu lasseo, verwischt and wo-
möglich Prenssen als Friedensbrecher nach Form nnd Recht hinge-
stellt werden. Freilich wurde Oesterreich in den Krieg hineinge-
trieben, aber nicht durch preussisches Waffengerassel, sondern durch
die Jämmerlichkeit seiner eigenen Politik und die Ueberlegenheit
der preussischen Diplomatie.
So war für Prenssen der Äugenblick gekommen, entweder auf
lange Zeit einer Lösung seiner Aufgabe zu entsagen, oder mit Auf-
bietung aller Kräfte einen zerschmetternden Schlag zu führen gegen
die mittelalterlichen Götzentempel des Dynastencultus und Parti-
cularismus. Preussen wich nicht zurück, denn die Lage war äusserst
günstig. Zwar gaben die wiederholten Verletzungen der Verfassung
und die ganze absolutistische Gewaltherrschaft des Grafen Bismarck
dem preussischen Volke Grund zu einer tiefen Verstimmung gegen
die Regierung; noch in jüngster Zeit waren wiederum Aus-
schreitungen vorgekommen, die zu rechtfertigen wohl nie gelingen
wird. Diese Vorgänge hatten zu gleieher Zeit die prenssischen
Sympathieen im deutschen Volke ebenso sehr wie die äussere
politische Haltung die der Fürsten herabgedrückt, so dass voraus-
sichtlich Preussen keinerlei Unterstützung der nationalen Sache durch
te. Bismarck wusste aber, da^s das
s gegen das Ministerium nicht über das
irde.
lee, deren wahre Grösse wohl erst jetzt .
it aber auch schon vor dem Kriege von
prüfenden Staatsmannes richtig bemessen
ister reichisch er und süddeutscher Helden
1 können vermeinte. In Italien bot sich
i'erhältnisse ein durch gleichartige Inter-
ner Waffen genösse dar, mit dem es nur
isen, der ihn Preussen in die Hand gab.
sen und Italien von seiner französischen
st und so eng mit Preussen verbundeo,
gegen dieses auch jenes treffen musste.
! Hülfe konnte Oesterreich nicht rechnen.
i Preussen nun den französischen Antrag
denn zu den alten preussischen Forde-
iche getreten und es war offenbar, dass
geben und durch solche Hartnäckigkeit
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 397
sich eine neue Schuld in den Augen Europa's aufbürden würde. Die
Verhandlungen zerschlugen sich und die Kriegsrüsfcungen nahten
ihrem Ende. Oesterreich war in Bezug auf den Beginn der Feind-
seligkeiten wieder in einem Dilemma. Ging die Kriegserklärung
von ihm aus, so konnte diese neue Sünde ihm empfindlich schaden,
überliess es Preussen die Initiative, wollte es den gasteiner Vertrag
noch respectiren, so blieb diese Scheidewand zwischen ihm und den
Bundesfürsten und- es war in Holstein einer üeberrumpelung ausge-
setzt. Das wiener Cabinet entschied sich für den ersten Schritt und
brach den gasteiner Vertrag indem es die schleswig-holsteinischen
Angelegenheiten in die Hände des Bundes legte, in Holstein eigen-
mächtig die Stände einberief. Sofort rückten äie preussischen
Truppen in Holstein ein, vertrieben die Oesterreicher und mit ihnen
die Ständeversammlungen, während im Süden der grosse Kampf
begann. —
Unterdessen war Preussen zum ersten male offen mit einem
nationalen Programme hervorgetreten. Der Vorschlag zur Bundes-
reform und zur Einberufung des deutschen Parlaments auf Grund
des Reichswahlgesetzes von 1849 setzte die Welt in Erstaunen. Es
war ein Blitz, greller und stärker als alle vorhergehenden, der aus
jener unheilschwangeren, undurchdringlichen Wolke auf die gekrönten
Häupter der Preussenfeinde betäubend hemiederfuhr, und mit dämoni-
schem Hohne stieg . vor den -Augen der geängsteten Fürsten das
Schreckgespenst von 1848 in neuer Beleuchtung hervor. Die einzige
Tugend, die Graf Bismarck in den Augen der Fürsten noch gehabt
hatte, die Tugend, ein Feind des Volkes zu sein, war nun abgestreift,
und der preussische Premier offenbarte sich in seiner ganzen fluch-
würdigen Gestalt. Aber wie diese, so war auch das preussische
und deutsche Volk geblendet von dem ungewohnten Anblick des so
lange entbehrten und nun so plötzlich hereinbrechenden Lichtes.
Ihm fehlte der Uebergang einer allmäligen Dämmerung, ihm fehlte
auch das vermittelnde Band zwischen dem Absolutisten Bismarck,
als welcher er bisher gehandelt hatte, und dem lib^alen Vertreter
des Volkes, als welcher er sich plötzlich darstellte. Nie hatte Graf
Bismarck in näherer Beziehung zu der nationalen Partei in Deutsch-
land gestanden, nie eine Annäherung an dieselbe gesucht, er hatte
nie offen feste politische Gründsätze gezeigt, sein einziges Princip
schien die Gewalt zu sein. Wohl war es da erklärlich, dass das
Volk sich anfangs misstrauisch von dem Dargebotenen abwandte, denn
Gewohnheit und Stetigkeit in der Entwickelung sind Grundelemente
398 Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst.
der Volksmoral. Und doch war es hier zuerst, wo Bismarck seine
Pläne enthüllen konnte: alles war bereit, um ihrer Eröffnung sofort
mit grösstem Nachdruck die Ausfühming folgen zu lassen. Jetzt war
der Zeitpunkt gekommen, die ganze Wucht absoluter Gewalt für die
nationale Sache einzusetzen, mit ofifenem Visir und entfaltetem Banner
in die Schranken zu treten.
Der Krieg wurde mit der bekannten Energie geführt, Oesterreicli
geschlagen, dann in den diplomatischen Verhandlungen von Deutsch-
land getrennt und diese Trennung durch den prager Frieden ftlr
immer befestigt. Zugleich wurde der Nordbund gegründet und da-
mit Ziel und Zweck Preussen's offen proclamirt. — So war der
eine Feind, Oesterreich, beseitigt, der andere, die Kleinstaaterei,
schwer geschädigt.
Wie stand nun Frankreich zu allen diesen Vorgängen, Frank-
reich, der berufene Hort deutscher Schwäche, der Mitvormund
Oesterreichs für die deutschen Bundeskinder, mit seinem Prestige,
seiner europäischen Hegemonie?
Vier Jahre lang hat Europa ein Räthsel in sich ümhergetragen,
pin bisher unlösbar scheinendes Räthsel, und erst jetzt fand sich
der Schlüssel dazu, erst jetzt haben wir die Documente in Händen^
die beweisen was die meisten ahnten, viele glaubten, wenige wussten.
Hatte wirklich Napoleon in wahrhaft staatsmännischer Weise von
einem weiteren Gesichtspunkte aus die traditionelle Politik Frank-
reich's verlassen und als Haupt der „grossen Nation'' sich auch zum
Vertreter der grossen Ideen, des grossen nationalen Princips in
Europa gemacht?
Fast hatte es diesen Anschein. Dafür schienen die Thatsachen
zu sprechen, dass, als England in dem dänischen Kriege interveniren
wollte, es durch die Weigerung Frankreich's, an dieser Intervention
Theil zu nehmen, verhindert wurde; dass der deutsche Krieg von
1866, der Frankreich hundert Gelegenheiten zum Eingreifen bot,
dennoch kein französisches Heer an der Grenze sah. Erst die
Cession Veneti^s, dann die Friedensvermittelungen Frankreich's, die
diplomatischen Verhandlungen von Nikolsburg und Prag Hessen
einiges durchblicken, was auf einen anderen Geist der französischen
Politik zu schliessen zwang. Es wurden Stimmen laut, welche Ver-
rath schrieen über den Frevler Bismarck, der Frankreich's Neutralität
mit deutschen Gebietstheilen erkauft habe und dem Minister nicht
glauben wollten, wenn er behauptete, er könne keinen Fuss deut-
scher Erde den Wälschcn abtreten. Wie war es möglich, dass
Die- drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 399
Frankreich schwieg als 1866 die politischen Verhältnisse Mittel-
europas herumgeworfen und der Grundstein zu der deutschen Eini-
gung mit gewaflfheter Hand gelegt wurde, dass der Mann, ohne
de^ssen Willen keine Kanone in Europa gelöst werden durfte, der
überfeine Diplomat, auf dessen Stirnrunzeln ganz Europa ängst-
lich hingeblickt, schwieg als die preussischen Colonnen im Ttägigen
Kriege deutlich erwiesen, welche ungeheuere Kraft in dem preussi^
sehen Heere und Staate steckte? Heute wissen wir es: Napoleon
wollte hier ohne Kosten dasselbe erreichen, was ihm 1859 in Italien
gelungen war, er hoffte für seine Neutralität durch deutsche Erde
entschädigt zu werden. Aber 1866 wie 1870 hat er das Böse ge-
wollt und das Gute geschafft, er hat 1866 auf dem Felde der
Diplomatie einen Stärkeren gefunden, wie er 1870 auf dem Schlacht-
felde niedergeworfen worden ist. — Die wenigen, aber schlagenden
Zeugnisse, welche von dem berliner Cabinet in diesen letzten Wochen
veröffentlicht wurden, besonders die Circulardepesche des Grafen
Bismarck vom 29. Juli d. J., ebenso glänzend als diplomatisches Acten-
stück wie inhaltschwer und bedeutend für die Beurtheilung der
Politik ihres Verfassers, haben den Schleier von diesen Verhält-
nissen so weit gehoben, dass wir die Umrisse der bisher verborgenen
diplomatischen Geschichte deutlicher zu erkennen vermögen.
Wir haben den Gang der preussischen Politik gegenüber Oester-
reich ausführlich genug uns ins Gedächtniss zurückgerufen, um die auf-
fallende Parallele hervortreten zulassen, welche zwischen 1865 und
1870, zwischen dem diplomatischen Vorspiel jenes und dieses Krieges
sich zeigt. Eifersucht auf Preussen und Hoffnung auf Beute haben
ina deutsch -dänischen Kriege so Oesterreich zum activen Bündniss,
wie Frankreich zu einer neutral zustimmenden Haltung gegenüber
Preussen verleitet. Eroberungslust und Furcht vor der von Preussen
in den deutschen Dingen gefassten Offensivstellung haben Oesterreich
1866 in den Krieg getrieben und Frankreich auf eine abschüssige
Bahn gebracht, auf der es endlich in sein Verderben raste. Die seit
1862 ins Aug§ gefassten Pläne einer Vergrösserung Frankreich's mit
Hülfe Preussen's sollten 1864 nicht zu Gunsten eines Staates zerstört
werden, von dem noch jüngst der um seine Hülfe bettelnde fran-
zösische Abgesandte Cadore meinte: „Mais son tout.^ c'est donc si
peu de cbose!" Wie Oesterreich durch Hoffnungen auf Theile von
Bayern oder Preussen, so liess sich Fl*ankreich durch eventuelle Be*
lohnungen auf dem Jinken Rheinufer hinhalten, und als die öster-
reichischen Hoffnungen zu schwinden begannen, da glaubte Napoleon
400 Die drei grossen Siege preusaisch-deutacher StaatskuQst.
die seinigeo um so sicherer erfüllt zu sehen. Je böser d»s Ver-
hältniss der beiden deutschen Mächte zu einander ward, um so .mehr
näherte sich Frankreich der preussischen Regierung. Es -wurden
die verschiedensten Vorschläge zu Gehietserweiterungeu beider Mächte
gemacht, es wurde für Frankreich die Grenze von 1814, oder Luxem-
burg, ja Theile der Schweiz oder Piemont's in Aussicht genommen.
Im Mai 1866 seheint Napoleon seiner Sache so sicher sich geglaubt
zu haben, dass er vor ganz Europa auf seine Pläne hinzudeuten
und in seiner berühmten Sensationsrede zu Auxerre seinen Abscheu
vor den Verträgen T()n 1815 laut zu proclaniiren wagen durfte.
Zugleich ward im geheimen Preussen ein Offensiv- und Defensiv-
bündniss augetragen, welches als Aequivalent für die Consolidirung
Preussen's in Deutschland eine bedeutende Vergrössernng Frank-
reich's auf Kosten Preussen's, Bayern 's, Hessen "s beanspruchte. Nach
dem gegenwärtigen, von Bisniarck veröffentlichten Auszuge aus jenem
Project scheint Frankreich auch in dieser Sache den Vorschlsig einer
Conferenz der Grossmächte nur gemacht zu haben, um seine eigent-
lichen Absichten zu verheilten. Denn während im April die Mächte
von Drouyn de l'Huys mit dem Project zu einer Friedens eonferenz
erfreut wurden, stipulirte jenes Bündniss mit Preussen für Frankreich
nur in dem Falle einen Vortheil, wenn der Congress resultatloe
bleiben würde. Die Zwecke dieses doppelten Spiels gegenüber den
f^abineten Europa's waren offenbar die Entkräftung des preussisch-
italienischen Bündnisses und Zeitf^ew Innung zu eilten Rüstungen.
Wie bishei', so behandelte Graf Bisniarck auch noch jetzt im letzten
Augenblick die Sache ■ — nach seinem trefTenden Ausdrucke — di-
latorisch. Er hatte die preussische Regierung bisher Frankreich
gegenüber in keiner Weise gebunden, keinerlei directe Zusicherungen
gegeben, aber auch nicht strict abgewiesen. Er liess die französische
Diplomatie, er erhielt sie vielleicht in dem Wahn, dass ein Augen-
blick kommen werde, wo die französischen Wünsche Wahrheit wer-
den würden, und er zerstörte diesen Wahn genau nur in dem
Maasse, als die vorschreitenden realen Verhältnisse es mit sich
brachten. Erst nach tnehrfaehen, drohenden Mahnungen Frankreieh's
— t — 1 — » — i..i.„ ~-,hon der Krieg ausgebrochen, im letzten
i zurück. Frankreich war kaum zum
n, dass diese Hoffnungen zu Wasser
htm die Schlacht von Königgrätz am
hatte, ein thätiges Eingreifen Frank-
%r. Jener Vertragsentwurf war der
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 401
Schild, der damals Rheinprovinz und Westphalen deckte und ge-
stattete, dass Priussen seine Westgrenze völlig von Truppen ent-
blösste. Kaum war Frankreich gewiss, getäuscht worden zu sein,
oder sich getäuscht zu haben, so warf es sich in grösster Eile auf
die feindliche Seite. Hatte Napoleon vorher die thiers'sche Kriegs-
partei im Vertrauen auf seine geheimen Entwürfe zur Ruhe ge-
zwungen, so suchte er nun durch die Posse mit der Cession Venetiens
zu bekunden, dass Frankreich nicht unthätig geblieben sei, und drängte
während der Friedensverhandlungen in den Grafen Bismarck mit
seinen alten Forderungen. Nach den zu Nikolsburg am 26* Juli
abgeschlossenen Friedenspräliminarien und während der Kaiser
Napoleon zu Vichy war, theilte Benedetti dem Grafen Bismarck einen
ihm aus Vichy zugegangenen Entwurf zu einer geheimen Convention
mit. Frankreich sollte die Grenze von 1814, die bayerischen und
hessischen Länder am linken Rheinufer bekommen, Luxemburg von
Deutschland getrennt werden. Nun wies Bismarck diese Propositionen
mit dem Bemerken rund ab, dass Preussen's nationale Politik und
das augenblicklich gesteigerte Selbstbewusstsein des Volkes ihm die
Annahme unmöglich mache. Endlich forderte Napoleon, unter An-
drohung des Krieges für den Fall der Weigerung, wenigstens die
Festung Mainz. Auch das geschah nicht. Vielmehr wurden nun
jene ersten Propositionen veröffentlicht, und kaum waren sie am
5. August gestellt worden, so hatte die Veröffentlichung auf die süd-
deutschen Staaten die Wirkung, dass auf ihre eigene Initiative am
13., 17., 22. August die Schutz- und Trutzbündnisse derselben mit
Preussen zugleich mit den Friedensverträgen unterzeichnet wurden»
Trotzdem, und während diese Bündnisse vorläufig geheim blie-
ben, fuhr Frankreich fort, an seine einmal gefassten fixen Ideen zu
glauben. Preussen nahm die Vermittelung Frankreich's beim prager
Frieden an, und das äussere Verhältniss blieb leidlich gut. Preussen
hatte seine Hauptzwecke erreicht, Oesterreich wurde aus Deutsch-
land endlich ausgeschlossen, und während Frankreich, indem es vor-
läufig die Entwürfe vom 5. August zurückzog, wenigstens meinte,
zu Prag die Mainlinie gerettet zu haben, war dieselbe thatsächlicli
bereits überschritten, zulefzt durch das Bündniss mit Bayern, am
Tag«; vor dem prager Frieden.
Erneute Propositionen seitens der französischen Regierung liessen
nicht lange auf sich warten, und Graf Bismarck verfehlte nicht, die
französischen Diplomaten wieder in die schönsten Hoffnungen einzu-
wiegen, um während dieses süssen Schlafes die Verhältnisse im
402 Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Stäatskunst.
Innern Deutschland's sich gestalten zu lassen. Im September athmete
Napoleon's Circulardepesche wieder den tiefsten Frieden. Der Kaiser
glaubte nicht, „dass die Grösse eines Landes von der Schwächung
der Völker, welche es umgeben, abhängt, und er sieht das wahr-
hafte Gleichgewicht nur in den befriedigten Wünschen der Völker
Europa's.** Frankreich's Politik war wieder die der grossen und
grossmüthigen Nation, welche sich über ^engherzige und missgünstige
Vorurtheile eines anderen Zeitalters erhaben" fühlte. —
Aber schon im Januar 1867 trat in Frankreich eine Veränderung
im Cabinet ein, welche den Marschal Niel in's Kriegsministeriu^m
brachte und damit grosse und fortgesetzte Rüstungen sowie eine voll-
ständige Reorganisation des Militärwesens einleitete. Schon um-
gaukelten neue Traumbilder das Haupt des erfindungsreichen Dul-
ders. War deutsch-preussische Erde nicht verkäuflich, so liess sich
vielleicht Holland zu einem Handel herbei. Es gelang, das Geld
war bereit zum Ankauf von Luxemburg. Preussen wurde im Ge-
heimen geschmeichelt, wieder wurden Vorschläge und zugleich der
Versuch zu einer Einschüchterung gemacht. Thiers und die niel-
sche Kriegspartei donnerte im gesetzgebenden Körper gegen Preussen,
E. Ollivier war während der Debatten vom 14. bis zum 18. März der
einzige, der für die Freiheit Deutschland's, sich selbst nach eigenem
Belieben zu gestalten, eintrat und in der Consolidirung desselben
für Frankreich keine Gefahr sah. Am folgenden Tage, den 19. März,
wurden die geheimen Verträge Preussen's mit den süddeutschen
Staaten veröffentlicht, eine bündige Antwort auf den Kriegslärm des
gesetzgebenden Körpers. Frankreich nahm sie stillschweigend hin
und brachte sofort die Verhandlungen wegen Luxemburg zur Reife.
Das Bekanntwerden dieses Handels hatte dann das Eingreifen der
europäischen Diplomatie zur Folge. Hier gab Preussen nach, räumte
die Festung Luxemburg und gab sich mit der Neutralisirung des
Ländchens zufrieden. — Es wich zurück weil es die europäischen
Mächte, selbst England gegen sich hatte und seine Rechte zweifel-
haft waren.
Aber auch Frankreich war wenigstens die Annexion Luxem-
burg's nicht gelungen. Sogleich stürzte es," wohl durch die preussische
Nachgiebkeit verleitet, wieder in neue Conjecturen. Es näherte sich
wieder vertraulich dem preussischen Minister und sang das alte
Lied in neuer Weise. Graf Benedetti formulirte einen Ver-
tragsentwurf, der nicht mehr, wie die beiden vorhergehenden, eine
Beraubung Deutschland's, sondern die Annexion Luxemburg's und
■■■■
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 408
die Eroberung Belgien's bezweckte. Ein Schutz- und Trutzbündniss
mit Preussen sollte Europa niederdrücken, Preussen die süddeutschen
Staaten in den Nordbund zwängen. Wiederum ward auch dieser
Antrag von Bismarck zurückgewiesen, aber wieder, wie es scheint,
nicht so kategorisch, dass das pariser Cabinet nicht bei der Meinung
geblieben wäre, es könne eine gelegenere Zeit .besseren Erfolg
bringen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben! dachten Rouher und
Moustier, während damals, am 23. December, E. Ollivier im ge-
setzgebenden Körper gegen die „abscheuliche, in gewissen Gemüthern
allmächtige Ueberzeugung" kämpfte, „dass man nur durch Siege
und Eroberungen neue Dynastien gründe."
Nachdem die Rheingrenze und Luxemburg durch die Erklärun-
gen Bismarck's aus dem Programm ausgeschieden worden waren,
blieb nun noch Belgien übrig, das, wie aus dem Briefe Benedetti's
vom 29. Juli d. J. hervorzugehen scheint, schon vor dem Kriege
von 1866 die Augen Napoleon's auf sich gezogen hatte, und das, wie
Graf Benedetti kühn behauptet, vom Grafen Bismarck dem. Kaiser
Napoleon gegen dessen Willen im Jahre 1866 aufgedrungen wurde.
Damals, so sagt der Graf, habe BisAiarck aufs n^ue den lebhaftesten
Wunsch bekundet, das durch den Krieg gestörte Gleichgewicht für
Frankreich durch einige Annexionen wiederherzustellen. Diese Be-
sorgniss Bismarck's für die Grösse Frankreich's wäre iii der That
rührend, wie die politische Resignation des diese Vorschläge ab-
weisenden Kaisers erhaben. Indessen ging die französische Politik
nicht so sehr aus dem Geleise, als man heute uns einreden will, und
im Frühjahr 1868 spann sich in aller Stille die belgische Eisenbabn-
frage an. Im März trat Prinz Napoleon zu Berlin mit der Ver-
sicherung hervor, dass im Falle einer französischen Occupation
Belgien's Preussen „sein Belgien wo anders finden würde." Auch
die orientalische Frage ward mit einer Grenzberichtigung Frank-
reich's in Verbindung gebracht. — Der energische Widerstand
Preussen's ^und Belgien's zerstörte auch diesen Plan. —
Nun war das Maa&s voll. Wie Preussen vor 1866 das wiener
Cabinet durch die Aussicht auf Ländererwerb zum AUiirten gemacht,
von Deutschland, von Europa schrittweise, allmälig gelöst, dann end-
lich . als Oesterreich, die begangenen Thorheiten einsehend, zum
Schwert griff, mit raschen, furchtbaren Schlägen niederschmetterte,
noch ehe Europa die scharfe Klinge des gewandten Fechters vom
letzten, tödtlichen Streiche zurückzuhalten die Zeit hatte, so auch
jetzt. Das alte Verlangen Frankreich's nach dem linken Rheinufer
404 Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst.
und das Bedürfniss des Kaiserreichs, durch Eroberungen zu glänzen,
durch grosse Thaten sich zu befestigen, erfüllten die Phantasie der
französischen Diplomaten mit Bildern, die. zu erhalten es dem Grafen
Bismarck nicht gar schwer wurde, und die zu zerstören er sich
hütete, so lange er dadurch den klaren Blick des französischen
Cabinets von anderen Gegenständen abzulenken für nöthig fand.
Er sagt in seiner Depesche vom 29. Juli : „Ich vermuthete, dass die
Vernichtung jeder französischen Hoffnung den Frieden, den zu erhalten
Deutschland's und Europa's Interesse war, gefährden würde. Ich war
nicht der Meinung derjenigen Politiker, welche dazu riethen, dem
Kriege mit Prankreich' deshalb nicht nach Kräften vorzubeugen, weil
er doch unvermeidlich sei. So sicher durchschaut niemand die Ab-
sichten göttlicher Vorsehung bezüglich der Zukunft, und ich betrachte
auch einen siegreichen Krieg an sich immer als ein Uebel, welches
die Staatskunst den Völkern zu ersparen bemüht sein muss. Ich
durfte nicht ohne die Idöglichkeit rechnen, dass in Frankreich's Ver-
fassung und Politik Veränderungen eintreten könnten, welche beide
grosse Nachbarvölker über die Nothwendigkeit eines Krieges hinweg-
geführt hätten — eifie Hoffnung, welcher jeder Aufschub des Bruches
zu Gute kam." Während er stets im bestmöglichsten Vernehmen mit
dem französischen Cabinet zu bleiben suchte, gelang es ihm, bei jedem
bedeutenden Schritte, den er in seiner deutschen Politik vorwärts that,
Frankreich soweit zu blenden, dass es immer mit einem Programm
hervortrat, welches die europäischen Mächte gegen sich hatte und
damit die diplomatische Lage des berliner Gabinets für die Zukunft
unterstützte. Während Bismarck 1866 in Deutschland den ersten
Stoss gegen Frankreich führte, ward ihm von demselben Frank-
reich das Vertragsproject vom 5. August anvertraut, während er
die Annexion Luxemburg's verhinderte, nahm er aus der Hand
Frankreich's das Project zur Annexion dieses Landes, während
er sich der Ueberrumpelung ^Belgiens entgegenwarf, legte Bene-
detti den Entwurf zur Vergewaltigung dieses Landes und der
europäischen Verträge im preussischen Staatsarchiv nieder — jeder
Offensivstoss Frankreich's endete damit, dass seine Spitze von dem
Grafen -Bismarck gegen Frankreich gewandt ward, und bei jedem
Siege Preussen's lieferte Frankreich eine neue Waffe gegen sich dem
preussischen Cabinet in die Hände. Wahrlich, ein Meisterstück der
Diplomatie! Immer und immer wieder stösst der erhitzte Stier in
das rothe Tuch, welches ihm vorgehalten wird, und bei jedem Stoss
senkt der Matador sicher seinen Dolch in den Nacken des rasenden
)
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 406
Thieres. — Man hat von einigen Seiten her in diesem diplomatischen
Kampfe nicht nur" die französische, sondern auch die preussische
Politik als eine unmoralische, betrügerische darstellen wollen. Es
ist kaum der Mühe werth, auf diese unverständige Anschauung hin-
zuweisen. Wir sind weit entfernt, die sprüchwörtliche Lüge der
Diplomatie in Schutz zu nehmen* Aber noch giebt es keinen Staats-
mann in Europa, der stets sprechen dürfte wie das Kind zur Mutter.
Was das französische Cabinet verdammt, ist das seinen Absichten zu
Grunde liegende Princip des Unrechts, der Vergewaltigung, Er-
oberung; was die dem Grafen Bismarck gelungene Tä-uschung recht-
fertigt, ist das von ihm vertretene Recht der Zurückweisung fremder
Eingriffe in die deutschen Verhältnisse und der Verwirklichung der
grössten politischen und Culturidee seiner Zeit, der Einigung Deutsch-
land's. Die so sprechen wie Jene sind consequenter Weise verpflichtet,
dem Diebe, der in ihr Haus dringen will, das Thor zu öflfhen und auf
seine Frage ihm rasch mitzutheilen, wo ihre Schätze liegen. Hätte Graf
Bismarck anders gehandelt, als er es gethan, er hätte den Verdacht auf
sich geladen, mit Frankreich verschworen zu sein. Jenes Recht, das
er vertritt, sichert ihm den stolzen Ruhm, nicht nur der gewandteste
und glücklichste, sondern der grösste Staatsmann neuerer Zeit zu sein.
Von einer diplomatischen Thorheit zur anderen liess Frankreich
sich fortreissen, und rüstfete gewaltig zur endlichen Entscheidung. Auch
Deutschland blieb nicht unthätig. Zuletzt vertraute Graf Bismarck doch
auf das gute deutsche Schwert, und die Militärmacht des Bundes wurde
vervollständigt, mit fast allen Staaten desselben und mit einigen Süd-
staaten wurden mehr oder weniger enge militärische Verträge ge-
schlossen. Wie das österreichische Cabinet von 1865 und 1866, so gerieth
das französische jetzt in eine immer tollere Ueberstürzung und Kriegs-
wuth, nachdem es die üeberzeiigung gewonnen, dass es getäuscht
worden war. So erstaunlich die Verblendung ist, mit der es die
bismarck'sche Politik beurtheilte, so fast unglaublich ist die Unkennt-
niss, der völlige Mangel an Verständniss für die neuere Entwickelung,
den Umschwung der Dinge in Deutschland selbst. Während über
ganz Deutschland ein Netz von Spionen organisirt wurde, welches
die Stimmung des Volks und der kleineren Staaten, die militärischen
Mittel des Nordbundes auskundschafteten, hatten die Berichte dieses
Corps den Erfolg, dass Frankreich am Ende das gerade Gegentheil
von dem glaubte, was in Wahrheit vorhanden war. Mit einem
Aufwand ungewöhnlicher Mittel zur Erforschung der wirklichen
Lage kam es dahin, beim Ausbruch des Krieges sich in allen Stücken
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 7 u. 8. 27
406 Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunet.
getäuscht zu sehen. Blind und wie ein schon geschlagener Heer-
führer stürmte Napoleon wie einst Graf Mensdorf in den Krieg.
In völliger Verkennung der gegenseitigen Machtverhältnisse vermaass
er sich, die überspanntesten Forderungen von dem alten Prügel-
jungen Europa's spielend einzutreiben. Mit Gewalt sollten die
Fesseln gesprengt werden, die Graf Bismarck allmälig und leise lann
seine Füsse geschlungen hatte, und die erste, alle Würde und
politische Logik verletzende Gelegenheit wurde beim Schöpfe gefasst
und zum casus belli gestempelt. Wie damals Oesterreich, so
erklärte auch jetzt Frankreich den Krieg, und das unter einem
Vorwande und in einer Weise, die ganz Europa in Staunen und
Entrüstung versetzten, Frankreich das ganze Odium dieser That
auf die Schulter luden. Wie damals, als die unklug sich steigernden
Forderungen der Dänen auf der londoner Conferenz den Uebei-gaog
von Alsen zur Folge hatten, und wie später, als der österreichische
Waffenlärm allmälig alle politische Rücksicht auf Europa und die
eigenen Kräfte übertäubte, so wartete Graf Bismai'ck auch jetzt kalt
und ruhig, bis der Gegner in höchster Leidenschaft zum Schwerte
griff. Sofort war auch die altbewährte preussische Klinge aus der
Scheide und bevor Frankreich noch den ersten Hieb führen honnte,
blutete es aus mehreren Wunden.
Das Vorspiel des Krieges und die durch die Enthüllungen des
berliner Cabinets aufgedeckte diplomatische Vorgeschichte desselben
lähmte selbst den guten Willen derjenigen Mächte, die einer Allianz
mit Frankreich nicht abgeneigt waren. Noch ist hierüber wenig
zur allgemeinen Kenntniss gelangt. Russland drückte auf das toll-
kühne Dänemark und das im Innern zwiespältige Oesterreich, dessen
ruheloser, depeschenlustiger Reichskanzler gern eine grössere Rolle
wieder einmal zu spielen versucht hätte. In der Hofburg scheint
der Grossmachtsschwindel noch immer nicht verbannt zu sein. Der
hohe Preis der österreichischen Kaiserkrone und der Stellung, welche
er noch im Osten und in der orientalischen Frage einnimmt, scheint
den König von Ungarn von dem mehr als zweifelhaften Spiele nicht
abzuschrecken, in welches die fortgesetzten Rüstungen ihn hinein-
ziehen können. — England ist schon lange nicht mehr viel daran
gelegen, seine europäische Politik und Bedeutung aufrecht zu erhalten,
für seine Grossmachtstellung Geld zu opfern. Um so mehr sucht
es seine wirthschaftliche, industrielle Präponderanz zu wahren, und
wenn seine Haltung im gegenwärtigen Kriege, in ihrer Schwäche
und kleinlichem Egoismus an die schlimmsten Zeiten des Ministeriums
I>ie drei grossen Siege preussisch-deuftscher Staatsknnst. 407
Liverpool - Castlereagh erinnernd, einen nenen Alabamastreit su
schaffen droht, so mag nicht zum geringsten Theil die Eifersucht
d€m zu Grunde liegen. Es muss sich wohl oder übel damit trösten^
dass sein alter Gegner Frankreich nun seinen Meister gefunden hat,
dass die Welt, nicht Europa der Schauplatz der englischen Thaten
ist, dass London — wie der verstorbene Lord Derby im wehmüthigen
Tone eines Europamüden einst sagte — die Metropole der Welt sei!
Was England durch die Niederwerfung des zu einer Seemacht auf-
strebenden Frankreich gewinnen kann, das wird es auf einem
anderen Gebiete wieder einbüssen: die Stärke England's liegt in
seinen inneren Verhältjiissen, in seiner Cultufstellung, und diese
dürfte in Deutschland bald einen gefährlicheren Rivalen erwachsen
sehen, als die politische Rivalität Frankreich's für England war.
Die Einigkeit Deutschland's gefährdet ebenso sehr den Einfluss der
englischen Politik in Europa, als die Hegemonie seiner wirthschaft-
lichen Macht*
Spanien, ohne feste Regierung, vom Volk und von den An-
lässen des Krieges auf Preussen's Seite gedrängt, hat kein reales
Interesse daran, sich zu betheiligen, und würde den letzten Rest von
staatlicher Ordnung aufs Spiel setzen. Nur Italien steht einiger-
maassen unbeeinflusst von neutralen Mächten da. Von einem ver-
bündeten Frankreich hat es wenig zu hoffen, was es nicht auch ohne
Kraftansirengung erhalten könnte; ein Bündnis» mit Deutschland
würde ihm fast mühelos Rom, Savoyen, Nizza eintragen. Dennoch
hat es — wenn die Gerüchte wahr sind — erst kurz vor einem
Abgrunde seine Schritte aufgehalten^ Die von Paris her beein-
flusste Regierung soll trotz des raschen Eingreifens des Gesandten
Brassier de St. Simon erst durch die ersten deutschen Siege von
der Allianz mit dem romanischen Nachbar zurückgeschreckt worden
sein, und auch heute noch weist die Reise des Prinzen Napoleon
darauf hin, dass der Plan nicht völlig aufgegeben ist. Die deutschen
Schlachten in Frankreich werden sich mit Bleigewicht an diese Ver-
handlungen hängen, und was diese nicht bewirken, das wird die
Revolution thun, die einer solchen Allianz drohend gegenübersteht.
Gegen die erstere, weniger für die letztere mögen die Rüstungen
betrieben werden, die dem darniederliegenden Militärwesen Italiens
wieder aufhelfen sollen.
Die äussere Lage Deutschland's ist trotz der umlaufenden Inter-
ventionsgerü^hte überaus günstig. Und im Innern, wie anders ist's
als ehedem ! Wie mit der Kraft eines Naturgesetzes ist die flüssige
27*
408 Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst.
Masse, die vormals der Strömung jedes fremden Windhauchs ausge-
setzt war, durch die Kriegserklärung Frankreieh's plötzlich geronnen
und hat sieh um Preussen zu einem unüberwindlichen Felsen geeint
und gehärtet! Welche Zuversicht, welches Vertrauen zur diploma-
tischen und militärischen Führung Preussen's!
So unübertrefflich die diplomatische Leitung des berliner Cabinets
ist, so gross, so im* höchsten und edelsten Sinne unserer Zeit gross
ist die militärische Haltung und Führung der nun deutschen Armee.
Das Schwerste ist bereits geschehen, und in einer Weise, die mit
Zuversicht auf den Ausgang blicken lässt. Weissenburg und Saar-
brücken, dann Wörth,. endlich Metz — der deutsche Kaiserschnitt!
Wahrlich, es sind Wehen, so blutig, so thränenreioh, als Ig^ropa sie
lange nicht "sah, aber auch so gewaltig an geistiger und sittlicher
Grösse, als die Frucht es ist, die zum Leben geboren ward. —
Diese Kriege, die unter preussischer Leitung gekämpft wurden —
wir finden nicht ihres Gleichen in der Kriegsgeschichte der neueren
Culturvölker! Dreimal haben nun die preussischen Generale ihre
Armeen gegen den Feind geführt, und dreimal ist er zerschmettert
worden ohne auch nur ein Lorbeerblatt von ihren Häuptern, ein
siegreiches Treffen von Bedeutung gewonnen zu haben ! Diplomatisch
losgelöst von ganz Europa, an den Pranger gestellt durch die bis-
marck'schen Veröffentlichungen wird nun Frankreich in einem mächti-
gen Anlauf zu Boden geworfen. Gebrandmarkt in seiner äusseren
Politik wird die innere Fäulniss des Kaiserreichs durch das scharfe
Schwert Deutschland's vor Aller Augen heute blos gelegt. Und
wie niemand die hülfesuchende Hand Oesterreich's erfasste, als es
hinsank, so wird heute Frankreich vergeblich um Rettung von aussen
flehen. Deutschland wird vor Paris den Frieden dictiren, wie
Preussen 1864 vor Kopenhagen, wie 1866 vor Wien, und die euro-
päischen Mächte, die Deutschland allein Hessen als es überfallen
ward, werden es auch allein die Früchte seiner Siege bestimmen
lassen müssen. Frankreich verlangte die Grenzen von 1814, das
berliner Cabinet wird seine Ansprüche von 1815 wiederholen. Wenn
Graf Bismarck die Forderung Preussen's beim 2. Pariser Frieden,
Lothringen und Elsass mit Deutschland wieder zu vereinigen, heute
erneuern sollte, so dürfte schwerlich ein gleicher Widerspruch wie
damals ihm entgegentreten. Und das berliner Cabinet wird diese
Forderung zum grossen Theil stellen müssen. Selbst wenn König
Wilhelm es nicht wollte, er könnte nicht anders um# der Fahne
willen die erführt, um Deutschländ's willen. Was vor 1866 möglich
Die drei grossen Siege preussisch-deutscher Staatskunst. 409
war, ist heute unmöglich geworden. Er muss „die That vollbringen,
weil er sie gedacht**, weil er die volle Sühne deutscher Schmach
auf sich genommen. Elsass wird sicher wieder deutsch werden,
denn das Heer, welches, dank dem preussischen Militärsystem, das
Volk repräsentirt , wird es sich nicht nehmen lassen. Wie weit
darüber hinaus Gr. Bismarck dem nationalen Druck wird Rechnung
tragen müssen, wer vermag es zu sagen? Dess sind wir sicher, dass
endlich neben dem altbewährten deutschen Soldaten eine ebenbürtige
Diplomatie steht, die weiss, dass sie an der Spitze der Nation zu
schreiten hat, lntellige^z, sittlicher Ernst, nüchterne Kraft haben
das "^preussische , jetzt das deutsche Volk und Heer an die Spitze
Europa's gestellt, und die diplomatischen Verhandlungen des ber-
liner Cabinets sind das Widerspiel zu jenem 'Treiben des wiener
Congresses, von welchem einst der Prinz von Ligne höhnte: „Le
congrfes danse Wen, mais il ne marche pas, pourvu qu'il ne saute."
So hat die preussisch-deutsche Staatskunst im Laufe von fünf
Jahren die drei mächtigen Feinde Deutechland's niedergeworfen:
Oesterreich mit seinem deutschen Afterkaiserthum, Frankreich mit
den europäischen Gleichgewichtstraditionen und die deutsche Misfere
des Particularismus und der Kleinstaaterei. 1866 wurde der eine
Schritt gethan, 1870 wird das Werk vollenden.
Dieser innere, gehässigste Feind deutscher Grösse, er ist auf den
französischen Schlachtfeldern mit geschlagen, und wie heiss heute
wieder der Zorn gegen Frankreich in Deutschland entbrannt sei,
wie so oft, so ist Frankreich die widerwillige Veranlassung auch
zu dieser grössten That für die Wohlfahrt Deutschland's geworden.
Wird der innere Feind je wieder sich regen? Napoleon hat bei
seinem Eroberungszuge den verhängnissvollen Fehler sich zu Schul-
den kommen lassen, das Deutschland von heute für das des Rhein-
bundes zn halten, er hat nur mit den Erinnerungen des ersten
Kaiserreichs, nicht mit den^n des neuen Deutschland gerechnet.
Möge das neue Deutschland bedenken, dass es seit 1813 nur einen
Bismarck besessen und zweimal die Sünde des Rheinbundes gebüsst
hat, möge es im Glanz der Siegesfreude nicht die Gefahren des
Friedens, die alten Schattenseiten des eigenen Charakters unter-
schätzen oder gar übersehen, möge es nicht seinerseits, in umge-
kehrter Weise wie Napoleon, den Fehler begehen, über dem jubeln-
den Deutschland von 1870 das Deutschland von 1866, von 1849, von
1820 und von 1806 zu vergessen ! Grossmuth ist eine schöne Sache,
aber sie hat ihren Preis. Die Dalberg's sind todt, mögen die Hassen-
810 Die drei grossen Siege preussiscTi-deutficher Staatskun&t.
pflug's und Beusfs nie wiederkehren! Wenn wir binbUeken amf
Deutschland und sehen, wie in so kurzer Spanne Zeit eine so ung^e-
heurer Revolution sich vollzogen hat, so können wir an die Wieder-
kehr dieser Zeiten und MiSbnner nicht glauben, so schauen wir mit
Vertrauen in die Zukunft. Wie wenn in die Köpfe der Parti-
cularisten eine neue Denkmethode gesenkt wäre, se anders sind in
wenigen Wochen die Anschauungen derselben geworden. Aus die-
sem Deutschland lässt sich ein einiges und auch ein freies Deutseh-
land bilden, und heate ist der Bildner Bismarck, nicht Metternich.
Bismarck steht am Vorabend der Krönung seines grossen Werkes.
In kurzem wird zur Wirklichkeit was seither vor den verlangenden
Händen von Generationen, vor der Phantasie des Knaben und des
Jünglings als ein heiliger Schatten aus der Kaisergruft einherfloh.
„Novus saeclorum nascitur ordo!"
Riga, den 10./22. August 1870.
E. B.
Von der Censur erlaubt. Riga, den 29. August 1870.
Pruck der Livländischen Gouvernements-Typographie.
I
i
Die Frauenbewegung in Deutschland.
Vortrag, gehalten in der Aula des Polytechnikums zu Riga am 26. Februar
(10. März) 1870 von G. Co hn.
H. A.
In ähnlicher Weise wie die wirthschaftliche und gesellschaftliche
Entwickelung England's dem continentalen Westeuropa um Menschen-
alter, in mancher Hinsicht um Jahrhunderte voran geschritten und
dadurch zum lehrreichen Vorbilde geworden ist, welches den lang-
samer nachfolgenden Ländern manches Kommende im Voraus an-
deutet — ähnlich geht Deutschland der Entwickelung der baltischen
Provinzen vorauf. In der Stufenfolge der norddeutschen Provinzen,
die je weiter nach Osten gelegen einen um so einfacheren Cultur-
zustand, gleichsam eine rückwärts gehende Reihe von wirthschaftlichen
Epochen darstellen, bilden diese drei — last not hast — den Abschluss.
Ein analoger Unterschied besteht zwischen ihnen und den östlichen
der preussischen Provinzen , wie zwischen diesen und den mehr
nach Westen gelegenen: Vorherrschen der Landwirthschaft, Zurück-
treten der Städte, geringe Industrie, wenig entwickelte Concurrenz,
dünne Bevölkerung:
die Rheinprovinz . . • zählt rund 7000 Seelen auf die D-M.,
y, Prov. Sachsen . . „ „ 4400 „ » » n
[ y> r> Westpreusen . „ „ 2800 ^ ^ » »
„ „ Ostpreussen . „ „ 2600 n v n t
ji y> Curland . . „ „ 1160 » „ » »
r> » Livland ... „ ^ 1070 „ ^ „ »
Diese Ziffern sagen weitaus nicht alles, aber sie sagen viel:
Durcheilen Sie in selbst flüchtiger Fahrt diese Länder und Sie wer-
den sich überzeugen, dass diese Zahlen verschiedene wirthschaftliche
Welten bedeuten, verschiedene Zeitalter, welche lehrreich genug in
demselben Augenblicke sich an einander reihen. Die Zustände,
welche Sie in der einen dieser Welten als bestehend vorgefunden,
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 9 u. 10. 28
414 Die Frauenbewegung in Deutschland.
sehen'^Sie in der anderen Welt überwunden, Interessen, welche in
dieser letzteren die Leidenschaften und die Gedanken beschäftigen,
dort noch nicht empfunden, Probleme, deren Lösung weiter im
Westen die Masse des Publicums beschäftigt, hier kaum als literarische
Neuigkeit bekannt
In dieser Richtung ist der Abstand der Provinz Preussen von
der Provinz Sachsen oder gar der Rheinprovinz durchaus gleichartig
dem Unterschiede unserer Provinzen vo^i allen westlicher gelegenen
deutschen Provinzen überhaupt. Wie dort drüben von Westen her
die neue Zeit immer näher herandringt und ihre Wogen immer
tiefer ins Land hinein den Boden einfacherer Cultur bespülen, ebenso
wird allmälig, aber unwiderstehlich, auch dieser Küstenstrich hinein-
gezogen in das grössere Treiben der westlichen Welt : die staatlichen
Grenzen sind nur ein relatives Hinderniss.
Es bedarf einer solchen Motivirung zur Rechtfertigung, wenn
ich mir erlaube, in dieser Stunde Ihre Blicke auf eine Seite der
socialen Bewegung zu lenken, für welche die hiesigen Zustände, ver-
schieden von denen in Deutschland, bisher, soviel ich bemerkt, nur
wenig sympathische Stimmung haben erwecken können — nämlich
die Bewegung zur Erweiterung und Erhöhung des weib-
lichen Lebensberufes.
Wenn irgend eine Reformfrage, so ist diese dazu angethan, erst
in dem Augenblicke erörtert zu werden, wo weit verbreitete und
tief empfundene Interessen an ihrer Lösung betheiligt sind. Die bloss
theoretischen Betrachtungen über die anderweite Lebensstellung
des weiblichen Geschlechtes reichen weit in die Vergangenheit zurück:
namentlich das achtzehnte Jahrhundert hat, zusammen mit den
anderen Gegenständen des socialen und politischen Lebens, auch
diesen der unerbittlichen Schärfe seiner Kritik unterzogen. Seitdem
hat es niemals an Stimmen gefehlt, welche dafür eintraten: aber
erst der neuesten Zeit, da^ heisst unserer unmittelbaren Gegenwart war
es vorbehalten, daraus ein Thema praktischer Discussionen, eine
Bewegung zu machen. Die realen Verhältnisse mussten sich für das
weibliche Geschlecht, oder doch einen Theil desselben, zuvor der-
9xtig gestalten, dass in der bisherigen Enge und Beschränktheit der
weiblichen Lebensbethätigung kein genügender Raum war; der
Druck der Nothwendigkeit Vieler musste sich mit den Ideen der
wenigen Denker verbinden, um die Stimme der Einzelnen zu einem
Chor der Massen anschwellen zu lassen. So lange jedes weibliche
Die Frauenbewegung in Deutsdiland. 415
Wesen in einer Ehe seine rechtzeitige und gesicherte Unterkunft zur
Verwirklichung seines natürlichsten und wünschenswerthesten Lebens-
berufes fand, war aus den am meisten bei der Frage betheiligten
Kreisen, aus den Kreisen des weiblichen Geschlechts, keine irgend
erhebliche Theilnahme zu erwarten. In dem Maasse als sich dies
änderte, wuchs auch die Zahl der Kampfgenossen für die Frauenfrage.
Es gilt in Deutschland als eine ausgemachte Thatsache, dass die
Zahl der unverheirathet bleibenden Mädchen — wenigstens in den
Mittelst-änden — in steter Zunahme begriffen ist: dieser Eindruck
is.t hie und da so lebhaft, dass man gelegentlich die Behauptung hören
kann, die Zahl der weiblichen Geburten sei doppelt so gross als die
der männlichen, auf je 2 Mädchen werde 1 Knabe geboren. Das
ist freilich ein Traum! Die Natur hat besser für die Harmonie ge-
sorgt: die Zahl der männlichen Geburten umgekehrt überschreitet
regelmässig die Zahl der weiblichen um mehrere Procent, dafür ist
aber die Knabensterblichkeit grösser, so dass in dem heirathsfähigen
Alter sich das Zahlenverhältniss beider Hälften im Grossen und
Ganzen vollkommen deckt. Nicht die Natur trifft der Vorwurf,
sondern die socialen Zustände. Die Möglichkeit, einen Hausstand
zu begründen, tritt, je länger je mehr, erst so spät für den Mann
ein, dass hierdurch, gegen frühere Zeiten gehalten, ein entsprechender
Ausfall, an Heirathsgelegenheit bedingt wird: je langsamer aber die
jungen Männer zur Begründung eines eigenen Haushalts gelangen,
um so mehr junge Mädchen harren vergebens des Gatten. Ein Bei-
spiel dieser veränderten Zustände naag hier Erwähnung finden. In
der preussischen Monarchie erreichte, noch vor etwa einem Menschen-
alter, der studirte Beamte, im Gerichts- oder Verwaltungsdienst,
meist im Alter von 26 Jahren oder früher eine Anstellung, welche
ihn befähigte, einen Hausstand zu gründen — heute ist er vielfach
zehn Jahre später noch nicht in der Lage. Die Leiden des preussi-
schen Referendarius sind inzwischen sprichwörtlich geworden. Nach
einem drei- bis vierjährigen akademischen Studium hat er sich durch
ein erstes Staatsexamen zum unentgeltlichen Vorbereitungsdienst in
der Praxis auszuweisen. Dieser Vorbereitungsdienst dauert zum
mindesten vier bis fünf Jahre, oft sechs Jahre und mehr; jeder Er-
werb eines eigenen Einkommens in dieser Zeit ist grundsätzlich un-
möglich gemacht; dagegen ist am Schlüsse dieser Frist ein ferneres
grosses Staatsexamen zu machen, welches der Regel nach ein volles
Jahr in Anspruch nimmt; bis vor kurzem war auch ein Examen in
der Mitte der praktischen Vorbereitungszeit erforderlich, so dass es
28*
416 Die Frauenbewegung in Deutschland.
^ im Ganzen drei Examina gab. Nach Absolvirung des grossen
Staatsexamens erwirbt der Referendar den Titel eines Gerichts-
assessors mit der Qualification, als Richter angestellt zu werden.
Die wirkliche Anstellung aber erfolgt, da regelmässig 500 — 1000
wartende Assessoren als überzählig disponibel sind, gewöhnlich drei
Jahre oder länger nach Absolvirung des Assessorexamens, und zwar
auch nur dann so schnell, wenn der Anzustellende mit einer Richter-
stelle in einem Landstädtchen fürlieb nimmt; macht er Ansprüche
auf die Vorzüge einer leidlichen Mittelstadt oder gar eine^r Provinzial-
hauptstadt, so wird er doppelt so lange und länger zu warten haben.
Und das Gehalt beträgt sechshundert Thlr. jährlich. Die Advocatur
ist in Preussen, sehr verschieden von den hiesigen und auch sonst
üblichen Einrichtungen, nicht etwa dem eben absolvirten Cand. jur.
oder auch nur dem durch die unentgeltlichen fünf Dienstjahre und
die Staatsprüfungen gegangenen Manne offen : vielmehr ist sie Mono-
pol der vom Staate Angestellten und als solches von bejahrten Richtern
sehr gesucht. — Die Verwaltungscarriere ist eine ähnliche wie die
juristische, nur noch dornenvoller und unergiebiger.
Das erwähnte Beispiel ist beweisend, nicht blos für die Zustände
in dem bestimmten Berufszweige, sondern für die Zustände in allen
social daneben laufenden Berufszweigen überhaupt; — wenn in einem
grossen Staate sich unablässig eine Ueberzahl junger Männer zu einer
Laufbahn drängt, welche so traurige Aussichten für die Begründung
der Selbständigkeit des Mannes bietet, so muss die Concurrenz um
ein Unterkommen in irgend einem Berufe, wenigstens in allen, welche
von den Mittelständen gesucht werden, bis zu einem ängstlichen
Grade gesteigert sein.
Aus den entsprechenden weiblichen Kreisen des deutschen Mittel-
standes ist es denn auch, von wo in neuester Zeit die lebhafte
Forderung hervorgetreten ist, die Erwerbsfähigkeit des weiblichen
Geschlechts zu erhöhen, neue Gebiete anzuweisen, auf denen sich die
Arbeit des Weibes bethätigen und damit einen von männlicher
Versorgung unabhängigen, selbständigen Unterhalt für das Leben
schaffen könne.
Indem diese Frage aus unverkennbar praktischen Anlässen also
gestellt war, kam es auf eine entsprechende praktische Lösung an.
Die unreifen Phantasien der sogen. Frauenemancipation, welche
in Deutschland während der vierziger Jahre, gelegentlich mit Hosen
und Stiefeln, mit Bier und Cigarren, ihr Wesen trieb, haben hiermit
eben so wenig zu theilen, als auf der anderen Seite mit Riehrscher
Die Frauenbewegung in Deutschland. 417
Romantik geholfen ist. Alle abwehrenden Declamationen von der
„wahren Bestimmung der Frau* sind vollkommen unerspriesslich
für unsere Frage, so lange sie nicht allen Mädchen zu ihrer wahren
Bestimmung, daß heisst in dem Sinne jener Leute zu einem Manne
verhelfen können. Unter Vermeidung beider Extreme wird man
nur dadurch weiter kommen, dass man auf Grundlage des Bestehen-
den und namentlich unter Anerkennung der bestehenden neuen Be-
dürfnisse nach neuen Einrichtungen sucht, welche helfen können.
Unter Vermeidung offenbar unausführbarer radicaler Forderungen
auf unbedingte Gleichstellung, wie andererseits eines falsch conser-
vativen Festhaltens an der vermeintlich erwiesenen „Natur** des
Weibes, wird man fragen müssen: welche Berufsarten können dem
weiblichen Geschlechte nach seinem dermaligen Culturstande eröffnet
werden? Daran wird sich dann die weitere, allgemeinere Frage
knüpfen: welche Berufsarten, wo nicht jetzt, so doch später oder
künftig überhaupt?
Die letztere Frage ist eben so schwierig zu beantworten, als
sie heutzutage meist leichthin beantwortet wird. Es ist ein bedenk-
licher Irrthum, wenn man auf der Grundlage der bisherigen Er-
fahrungen von der angeblich erwiesenen „Natur** des Weibes spricht.
Was man heute Natur des Weibes nennt, ist ein Ding nichts weniger ?
als natürlich, ein historisches Product von Jahrtausenden. Natürlich,
das wissen wir, ist die mit dem geschlechtlichen Unterschiede zu-
sammenhängende körperliche Organisation; was darüber hinaus
natürlich an dem Weibe ist, das wissen wir nicht; jede Behauptung,
die mehr zu wissen vorgiebt, wagt aus beschränktem Erfahrungs-»
gebiet einen Schluss von unberechtigter Allgemeinheit, ähnlich wie
derjenige, welcher aus den Grenzen seiner heimathlichen Provinz
noch nicht herausgekommen, nach dem Dialekte dieser Provinz allein
über die wahre Aussprache urtheilt, was denn zur Folge hat, dass
es für die Masse der Provinzialen eben so viele Arten der allein
berechtigten oder natürlich erscheinenden Aussprache giebt, als es
Provinzen giebt: — in jeder deutschen Provinz sprechen die Be-
wohner nach ihrer innigsten Ueberzeugung das einzig richtige natür-
liche Hochdeutsch. Bei den Dialekten der Muttersprache sind wir
leicht in der Lage, bescheidener zu werden: wir brauchen nur die
Grenzpfähle unserer Provinz zu verlassen, und eine Weile an anderen
Enden des Vaterlandes zu leben; doch um zu erkennen, was die
Natur des Weibes sei, dazu ist der Weg nicht eben so leicht; denn
hiezu wäre eine Reise bis ans Ende der Geschichte der Menschheit
I
418 Die Frauenbewegung in Deutschland.
nnd damit des Weibes erforderlich. Auf welcher Stufe sind^wir
denn angelangt? Wie klein im Verhältniss mag der Abschnitt sein,
den wir überblicken, wie unendlich gross und voll unbegrenzter
Entwickelungen die Zeit, die da kommen soll, tausende, hundert-
tausende von Jahren?
Um solchen Zweifeln gegenüber einen festeren Anhalt zu be-
sitzen, hat man wohl ein körperliches Merkmal, ein Physisches, also
in den Wandlungen der Geschichte relativ Unwandelbares, zu finden
geglaubt, indem man die Behauptung aufstellte, die geistige Ueber-
legenheit des männlichen Geschlechts sei durch die überlegene Grösse
des männlichen Gehirns erwiesen. Diese Behauptung steht aber auf
schwachen Füssen. Es muss erst bewiesen werden, dass von der
Grösse des Gehirns allein das Maass der geistigen Fähigkeiten ab-
hängt. Und wäre das bewiesen, so fiele die Entscheidung noch
immer nicht zu Ungunsten des weiblichen Geschlechts aus. Man
weiss nämlich noch gar nicht, ob denn wirklich das weibliche Ge-
hirn kleiner ist als das männliche. Folgert man es etwa aus der
kleineren Gestalt des Weibes, so muss dieses Kriterium zu sonder-
baren Schlüssen führen : kleine Leute hätten danach ein kleines, grosse
ein grosses Gehirn. So viel aber steht fest, dass viele Frsuien ein
eben so grosses Gehirn haben als die Männer: ja, aus der Unter-
suchung eines Fachmannes, welcher viele menschliche Gehirne ge-
wogen hatte, ergab sich, dass das schwerste Gehirn, welches ihm
vorgekommen war, schwerer selbst als das Gehirn Guvier's (das
schwerste das man bisher gewogen) das Gehirn einer Frau war.*)
Unzweifelhaft hat das weibliche Geschlecht bisher im Gebiete
des Geistes wenig geleistet, was an die Seite der höchsten männlichen
Leistungen gestellt werden könnte. Um von anderem zu schweigen :
kein Erzeugniss in der Wissenschaft oder einer Kunst, welches auf
den ersten Rang Ansprüche machen dürfte^ ist das Werk einer Frau
gewesen. Aber ist es erlaubt, nun zu behaupten, die Frauen seien
von Natur nicht fähig dazu? Es ist kaum drei Generationen her,
mit seltenen Ausnahmen länger, dass die Frauen überhaupt begonnen
haben ihre Fähigkeiten in Wissenschaft und Kunst zu versuchen.
Erst in dem gegenwärtigen Menschenalter sind ihre Versuche zahl-
reicher geworden, und auch jetzt sind sie noch vereinsamt, ausge-
nommen etwa in Frankreich, England, Nordamerika. Was man
nach der Kürze dieses Zeitraums von ihnen erwarten kann, das
*) Vgl. Stuart Hill, Subjection of Women, 1869, passim.
Die Frauenbewegung in Deutschland. 419
*
haben sie geleistet. Vergleicht man aber diese Leistungen in Wissen-
schaft und Kunst mit denen der Männer, so tritt ein Hauptmerkmal
hervor: es fehlt ihnen die Originalität, wenigstens in dem Sinne
einer neuen grossen weithin leuchtenden Idee. Was die Frauen
bisher geschaffen, ist meistens auf den schon vorhandenen Fonds
von Gedanken beschränkt, ihre Schöpfungen entfernen sich nicht
weit von den vorhandenen Typen. Warum aber das? Weil die
Originalität bei dem heutigen Stande der Dinge vor allem ein be-
deutendes Umfieissen alles bisher Geleisteten " voraussetzt. Fast alle
Gedanken, welche durch die blosse Kraft ursprünglicher Fähigkeiten
erfasst werden können, sind längst gedacht worden, und wahre
Originalität in irgend einem wahren Sinne des Wortes ist heutzu-
tage kaum jemals von anderen Geistern zu erreichen als von solchen,
welche sich einer gründlichen Schuldisciplin unterworfen und sich
mit den Ergebnissen des früheren Denkens tief vertraut gemacht
haben. Ein geistreicher Gelehrter hat gesagt: die originellsten
Denker seien heute diejenigen, welche am gründlichsten gelernt, was
ihre Vorgänger gedacht habem J^der neue Stein an dem Gebäude
muss jetzt auf so viele andere gelegt werden, dass ein langer Pro-
cess des Hinanklimmens und Hinauftragens durchzumachen ist, wenn
man sich überhaupt an dem gegenwärtigen Schaffen des Wahren
und Schönen betheiligen will. Wie viele Frauen aber giebt es
heute, welche diese Voraussetzungen verwirklicht haben oder ver-
wirklicht haben können?
Hierdurch will ich meinerseits keine positive Behauptung auf-
stellen : es kommt vielmehr nur darauf an, die Hinfälligkeit der ent-
gegenstehenden Behauptungen zu kennzeichnen; es kommt darauf an,
wiederholt und nachdrücklich zu betonen: es ist noch kein bindender
Beweis geliefert und ist auch so bald noch nicht zu liefern für
die Ansicht, welche die natürlichen Fähigkeiten des weiblichen Ge-
schlechts verglichen mit dem männlichen in die oder die engen
Grenzen bannt — Nicht der geringste Fortschiitt in der Erkenntniss
ist es zu wissen, was man nicht weiss: namentlich in unserer
von flachen Allgemeinheiten und Schlagwörtern erfüllten Zeit ist auf
Schiitt und Tritt eine solche Erkenntniss das Heilsame und Noth-
wendige. —
So viel ist sicher, und darüber ist heute ernsthaft nicht mehr
zu streiten, dass die bisherige Erziehung des weiblichen Geschlechts
weder selber die natürliche ist, noch geeignet ist, die natürlichen
Fähigkeiten hinreichend zu entwickeln. Der thüringische Bauer hat
420 Die Frauenbewegung in Deutschland.
einen drastischen Ausdruck: er nennt die höhere Töchterschule
„Mannsbenehmige"; wenn er an seine Töchter etwas wendet, so
schickt er sie auf die „Mannsbenehmige'*. Das naive Wort sagt mehr
als es will: es ist ein Verdammungsurtheil über die bisher übliche
Ausbildung des weiblichen Geistes. Es versteht sich ja von selbst,
dass* es auch hier Ausnahmen giebt, und diese Ausnahmen werden
immer zahlreicher; aber mit den Ausnahmen ist noch nicht gedient.
Allgemach beginnt man denn auch in weiteren Kreisen einzusehen,
dass der weibliche Geist, so gut wie der männliche, Zucht und Pflege
um seiner selbst willen verdient, dass der Abschluss der Bildung
in einem Alter, wo regelmässig der Geist erst reif genug zu werden
beginnt, um ernst und erfolgreich zu lernen, als eine dauernde Ein-
richtung der weiblichen Erziehung durch nichts begründet ist, dass
die Ausstattung des sechszehnjährigen Mädchens mit einem Wenigen
von allem und etwas Tüchtigem von nichts und die demnächstige
Zurdispositionstellung im Ballkleide nicht ganz der natürlichen
Bestimmung des Weibes entspreche.
Dass es damit besser werde, und zwar für jeden Beruf eines
weiblichen Wesens, sei es nun, dass ihm der wünschenswertheste
Beruf, des Hauses Ehre zu sein, oder ein anderer beschieden ist, —
dazu ist das dringende Bedürfniss nach einer Erweiterung der
Erwerbsgebiete für das weibliche Geschlecht ein erspriess-
licher Antrieb geworden. Indem die Noth veranlasste, nach einem
weiteren Kreise von Berufsarten fiir die Verwendung weiblicher
Arbeitskräfte zu suchen, war damit zugleich die Aufgabe gegeben,
den dermaligen Stand der Bildung dieser weiblichen Kräfte, als
Voraussetzung jener Berufsübungen, prüfend ins Auge zu fassen.
Man nahm sofort wahr, dass in jenen niederen Thätigkeiten,
welche keine irgend nennenswerthe Bildung des Geistes verlangen,
die Frauen ganz von selber neben den Männern ihre Stellung ge-
nommen haben: in den mechanischen Verrichtungen des Landbaues
und der Industrie herrscht vollkommene Gleichstellung des weib-
'lichen Geschlechts mit dem männlichen. Ein ernster Widerspruch
hat sich hiergegen niemals erhoben, es sei denn, dass man solchen
in Forderungen, wie denen der berliner Schneiderrevolution vom^
Jahre 1830, finden will, welche von dem Könige neben zweierlei
das sie selber noch nicht wussten zuerst und vor allem die Ab-
schaffung der Schneidermamsellen verlangten. Heute arbeiten in
den wirthschaftlich am, meisten entwickelten Ländern hunderttausende
von weiblichen Arbeitern neben den männlichen in den mannigfachen
Die Frauenbewegung in Deutschland. 421
Zweigen ihrer Grossindustrie. *) Und die neulich (am 21. Juni
1869) zu Stande gekommene Gewerbeordnung für den norddeutschen
Bund**) bestimmt: „das Geschlecht begründet in Bezug auf die Be-
fiigniss zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes keinen Unter-
schied". — In diesen der Zahl nach überwiegenden Schichten giebt
es gar keine Frauenfrage in dem heute üblichen Sinne : was hier für
das weibliche Geschlecht zu thun ist, mag zur lebhaftesten Abhülfe
aufrufen, es mag sich hier um viel grössere Misstände, viel tieferes
Elend, das zu heilen ist, handeln, aber hier fällt es mit dem zu-
sammen, was für beide Geschlechter zu thun ist — es ist die ge-
meinsame Frage der Hebung des Arbeiterproletariats. Anders in
denjenigen Lagen der Gesellschaft, welche man als die Mittelklassen
zu bezeichnen gewohnt ist. Wenn man in jenen untersten Schichten
die Gleichheit der Erwerbsstellung auf die Gleichheit der niedrigen
Bildung oder Bildungslosigkeit begründet sieht, so zeigt sich hier
entsprechend die Verschiedenheit der Erwerbsstellung auf die Ver-
schiedenheit der Bildungshöhe gegründet. Erst eine Veränderung
dieser Grundlage kann eine Veränderung der wirthschaftlichen
Stellung, der Berufsstellung des weiblichen Geschlechts herbeiführen.
Es kommt darauf an, hiermit einen Anfang zu machen und dann
getrost vorwärts zu gehen — wie weit, das muss der Zeit, das
muss Menschenaltern, das muss einer unbegrenzten Zukunft über-
lassen bleiben.
Es zeichnet die deutsche Frauenbewegung, welche im Laufe der
sechsziger Jahre begonnen, vortheilhaft vor der englischen und
namentlich vor der nordamerikanischen aus, dass sie sich auf das
zunäf^hst praktisch Wichtige uud Ausführbare beschränkt hat. Man
wird auf der anderen Seite den englischen und amerikanischen
Frauenbestrebungen, welche die sofortige politische Emancipation,
namentlich die Verleihung des Stimmrechts zu den öffentlichen
Wahlen fordern ***), zu gute halten müssen, dass die Frauen dort
allerdings Grösseres, und zwar auf den verschiedensten Gebieten des
Lebens, zu Wege gebracht haben als unsere deutschen Schwestern,
*) Die englische Baumwoll- und Leinenindustrie beschäftigt nach dem letzten
Census von 1861 unter überhaupt 563,014 Arbeitern allein 324,371 weibliche.
•*) Berlin, Decker 1869, S. 8.
***) Bereits 1851 erschien in der Westminster-Review ein Aufsatz der Gattin
von Stuart Mill für das Enfranchisement of Women. Keuerdings abgedruckt
(London, 1867). Vgl. dazu John Stuart Miirs Parlamentsrede über denselben
Gegenstand, ebenfalls London 1867 im Druck erschienen.
422 Di« Frauenbewegung in Deutschland.
dags sie also zu einem kühneren Selbstbewusstsein und einem uner-
schrockeneren Verlangen mehr Berechtigung haben. Um uns auf
England zu beschränken, so giebt es dort wenige Gebiete der inneren
Staatsverwaltung, denen nicht die Theilnahme und die Thatkraft
englischer Frauen Förderung gebracht hätte. Miss Fry*) zählt zu
den Reformatoren des englischen Gefängnisswesens; nächst Howard
hat sie vielleicht die stärksten Anregungen zur Verbesserung der
Lage der Gefangenen gegeben. Frau Chisholm's Name ist unver-
gänglich in der Geschichte der australischen Colonisation verzeichnet.
Ihr war es zu danken, dass auswandernden Frauen Schutz gewährt
wurde gegen Entsittlichung und Rohheit einer halbverwilderten Be-
völkerung. Miss Mary Carp enter zählt zu den gründlichsten
Kennern des Strafanstaltswesens. Ihre Hauptschrift wurde jenseits
des Oceans nachgedruckt. Von der Wittwe Lord Byron 's unter-
stützt, gründete sie eine Besserungsschule für verwahrloste Kinder
in Bristol, deren Einrichtungen und Erfolge allgemein anerkannt
sind. Sie besuchte vor kurzem Indien und untersuchte, von den
Regierungsbehörden unterstützt, die Kerker Bengalen's. Sie versuchte
durch Reform der Bildungsanstalten die Frauen Indien's aus jahr-
tausendlanger Herabwürdigung zu befreien und zum Bewusstsein
ihrer menschlichen Würde emporzuheben. Englische Staatsmänner
gewähren ihren Rathschlägen Gehör und Achtung. — Miss Florence
Hill betreibt die Einbürgerung der in Mettray zur Besserung jugend-
licher Verbrecher befolgten Grundsätze, die Anerkennung der in
Irland bewährten Regeln des Strafvollzuges, die Verbesserung der
englischen Waisenpflege. Eine ihrer Schwestern wirkt der Bettelei
und dem Herumziehen arbeitsscheuer Kinder durch Anlegung einer
Arbeitsschule entgegen. Das Problem der Arbeiterwohnungen wird
von Miss Burdett Couts in drfe Hand genommen. Miss Louise
Twining bemüht sich um die Verbesserung der englischen Armen-
hausverwaltung durch Stiftung von Besuchs- und Aufsichtsgesell-
schaften. Miss Francis Power Cobbe und Miss Bessie Parkes
erstreben eine Reform des Gesindewesens. Ohne den Vorwurf
der Unweiblichkeit irgendwie befürchten zu müssen, begleitet
die Gattin des berühmten Reisenden Baker den Forscher bis zu
den Quellen des Nil. Dass der Miss Nightingale höchst bedeu-
•) Vgl. V. Holtzendorff, die Verbesserungen in der gesellschaftliehen und
wirthschftftliehen Stellung* der Frauen (Sammlung gemeinverständlicher wissen-
schaftlicher Vorträge, Heft 40, 1667), S..20 ff.
Die Frauenbewegung in Deutschland. 423
teiide Verdienste um die Verbesserung der Krankenpflege und des
Lazarethwesens zuerkannt werden müssen, ist keinem Sachverstän-
digen zweilelhafL Ihr Schajrfblick entdeckte* während des Krimkriega
in. den Hospitälern der englischen Armee die wahren Veranlassungen
einer unerhört zu nennenden Sterblichkeit. Sie erkannte, was dem
geübten Auge alter Praktiker verborgen geblieben war, was der
Schlendrian eines gewohnheitsmässig eingeübten BeamteAthums über-
sah, wa£ selbst ängstlich gewordene Aufsichtsbehörden nicht zu ent-
decken vermochten.
Die Verhandlungen des alljährlich zusammentretenden Congresses
zur Förderung der socialen Wissenschaften legen davon Zeugniss ab,
was englische Frauen für die Reform mangelhafter Gesellschafts-
zustände leisten und wirken.
Die Reibe jener Namen, die nur beispielsweise von mir ange-
führt wurden, liesse sich leicht und ansehnlich vermehren ; es könnte
daran erinnert werden, dass Frauen insbesondere der erzählenden
LiterSitur und dem Roman eine bessere und höher zielende Rich-
tung gaben.
In diesen allgemein, wahrnehmbaren Thatsachen liegt dije Be-
gründung jener Ansprüche auf politische Geltung. In England sind
die Frauen bereits ein bedeutender Factor des staatlichen Lebens,
und niemand vermag zu leugnen, dass ihre Leistungen von höchstem
Wenthe sind. Es wäre ungerecht, die Verdienste deutscher Frauen
um die Wohlthätigkeitspflege und um gemeinnützige Angelegenheiten
zu. verkennen* Aber dieses Wirken geschieht doch viel mehr in
der Stille. —
Seit dem Herbste 1865, wo die Frauenfrage von dem jetzt ver-
ewigten hochverdienten Präsidenten Lette im „Berliner Central-
verein für das Wohl der arbeitenden Classen" angeregt wurde, haben
sich in Berlin, Wien, Hamburg, Breslau, Bremen, Leipzig, Hannover
und anderen Orten Vereine gebildet, deren Zweck es ist, die Er-
werbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts zu befördiern.
Schon ehe diese Vereine sich bildeten, waren mehrere als Schrift-
stellerinnen bekannte Frauen, öfifentlich zusammengetreten, um die
Beschwerdepunkte ihres Geschlechts zu besprechen, indem sie davon
ausgingen, dass die Frauen selbst die öffentliche Meinung in Be-
wegung zu setzen hätten.
Wie weit man nun über die Grenzen der gewohnheitsmässigen
Ueherlieferung hinausgehen soll und. darf — das läset sich offenbar
nicht von vornherein genau bemessen. Als wünsehenswertha und
424 Die Frauenbewegung in Deutecbland.
den Interessen der Frauen entsprechende Ziele bat man vorzugsweise
bezeicbnet: die Ausbildung zu allen feineren Kunstgewerben, zur
kaufmännischen Buchführung und zum Handelsbetriebe, zur genaueren
Kenntniss der ländlichen Wirthschaftsmethoden — Ziele, welche in
einem gewissen Grade bereits in den bestehenden Zuständen
erreicht sind. Weiter aber wird verlangt die Zulassung der Frauen
zur ärztlichen Praxis, wofür sich in Amerika <fie leitenden Bei-
spiele finden, seitdem durch ein Gesetz des Staates Newyork vom
Jahre 1863, und schon früher in Boston, besondere wissenschaftliche
Unterrichtsanstalten für Frauen eingerichtet wurden und mehrere
weiblichen Aerzte eine anerkannt tüchtige Thätigkeit entwickeln.
Endlich die Zulassung zu gewissen für Frauen besonders, geeigneten
Staatsämtern, wie Post- und Telegraphendienst.*)
Die hiermit zunächst angestrebten Ziele sind so massig gefasst,
dass sie bereits in mehr oder weniger zahlreichen Beispielen als
verwirklicht sich darstellen. — In Süddeutschland findet man längst
junge Damen in den Eisenbahn- und Telegraphenbüreaux thätig;
weibliche Aerzte sind zwar bisher noch an keiner deutschen Uni-
versität, wohl aber an der Züricher Universität promovirt worden;
auf eine neuerdings ergangene Anfrage haben sich auch mehrere
deutsche Universität^en dahin erklärt, dass ihre Statuten dem Col-
legienbesuche seitens des weiblichen Geschlechts nichts entgegen-
stellen; in Heidelberg studirte bereits im Wintersemester 1868/1869
eine russische Dame Medicin. — Für die lebendige Wirksamkeit
jener jungen Vereine legt ein Ereigniss der letzten Monate Zeugniss
ab, die Frauenvereins-Conferenz vom 5. und 6. November
des vorigen Jahres zu Berlin. Unter dem Vorsitze des Pro-
fessors V. Holtzendorfi" traten hier Delegirte der Vereine von Bremen,
Breslau, Braunschweig, Brieg, Cassel, Carlsruhe, Dresden, Darmstadt,
Glogau, Hamburg, Hannover, Leipzig, Wien und ferner von sieben
berliner Vereinen zusammen, im Ganzen 48 Delegirte, davon 12 Frauen,
21 Fräulein, 15 Männer. **) Es waren femer dazu erschienen De-
legirte aus Boston, drei Frauen nnd ein Mann, aus Chicago ein Ehe-
paar, endlich eine Frau aus Newyork.
Der Zweck dieser Conferenz war in erster Reihe die Anbahnung
eines regelmässigen Verkehrs und Meinungsaustausches unter den in
Deutschland und im Auslande bestehenden Vereinen. Der zweite
•) Vgl. V. Holtzendorff, S. 32.
*•} Vgl. die berliner Frauenvereins-Conferenz am 5. und 6. November 1869.
Stenograph. Aufzeiclmung, Berlin, 1869.
Die Frauenbewegung in Deutschland. 425
Gegenstand der Verhandlungen war die Einrichtung der für Frauen
bestimmten Fachschulen.^ der dritte Gegenstand die Arbeits -Nach-
weisungs- Anstalten für Frauen; ferner die Erwerbsgenossenschaflien
der Frauen und die Verkaufshallen für weibliche Arbeitserzeugnisse ;
endlich die berufsmässige Ausbildung der Frauen zur Krankenpflege
auch ausserhalb der bestehenden kirchlichen Organisationen. Für die
beiden letzterwähnten Gegenstände waren Schulze-Delitzsch und
Virehow Referenten.
Sie sehen, es handelte sich hier in diesem Mittelpunkte der gegen-
wärtigen deutschen Bestrebungen für die Erweiterung des weiblichen
Berufes um keine Utopien, um keine fem liegenden Wünsche und
Träume, sondern um unmittelbar in die Hand zu nehmende oder
weiter zu führende Maassregeln, welche durchaus an die gegebenen
Zustände anknüpften. Ja man möchte mit etwas idealen Ansprüchen
fast enttäuscht sein durch die Prosa dieses ausschliesslich nur das
nächste, alltägliche ins Auge fassenden Programms. Um so sicherer
aber dürfen wir überzeugt sein, dass ein Werk gethan wurde, bei
welchem man vorwärts kam und vorwärts kommt. Fürs erste ist
die Gefahr viel grösser, dass man zu vieles, zu fern liegendes auf
einmal ergreift oder ergreifen will, als dass man in zu engem Kreise
stehen bleibt. Man darf getrost vertrauen, dass, wenn einmal die
Bewegung in Gang gekommen, es nach und nach an einem be-
schleunigten Tempo und einem erweiterten Kreise der Ziele nicht
fehlen wird. Für den Anfang liegt es vielmehr daran, an den nächst-
liegenden Aufgaben, in beschränktem Kreise aber mit desto unzweifel-
hafterem Erfolge, in dem weiblichen Geschlechte das Bewusstsein
zu erwecken und zu erhöhen, dass es durch eine höchstmög-
liche Entwickelung seiner Anlagen es dahin bringen muss,
auf sich selber gestellt, gleich dem männlichen Geschlechte einen
Lebensberuf würdig ausfüllen zu können.
Erst, dann, auf solchen Voraussetzungen, wird die Ehe in gleicher
Gesinnung und mit gleichen Kräften von beiden Theilen geschlossen
werden, sie wird nicht mehr der Endpunkt bangen Harrens und
einer inhaltlosen Passivität des Daseins auf der einen Seite sein, der
Act überlegener Wahlfreiheit auf der anderen Seite. Der Beruf
ausserhalb der Ehe wird für das weibliche Geschlecht nicht mehr
eine Niete in der Lotterie seines Lebens sein, ebenso wenig wie für
das männliche Geschlecht. —
Um von den Gegenständen der Verhandlungen der berliner
Conferenz einen hervorzuheben, die Krankenpflege, welch edler
426 Die Frauenbewegung in Deutoohland.
Beruf, wie ganz gemacht Mr die besten Anlagen, die man dem Weibe
vorzugsweise zuzuschreiben gewohnt ist, welch reiches Feld zur Bc-
tbätigung eines wohl entwickelten Verstandes, eines fein gebildeten
Herzens, sorgsamer Umsicht wie warmen Mitgefühls — und wie
ganz gemacht, diejenigen Tugenden gross zu ziehen und zu stärken,
welche in der Ehe die nothwendigsten sind. Der Krieg des Jahres
1866 hat in Deutschland zur Linderung des vielen Ungemachs, das
er heraufbeschworen, in wahrhaft grossartiger Weise die Aufopferung
und Selbstverleugnung der deutschen Frauen zur Entfaltung gebracht.
Was man bis dahin für eine Mission gehalten, welche nur die engere
Familienliebe oder eine höhere religiöse Begeisterung einzuflössen
vermöge — den Beruf zur Pflege von Kranken und Verwundeten —
den erfüllten nun hunderte und tausende mit rücksichtsloser Hin-
gebung. Von verschiedenen Punkten her hat man sich bemüht, den
Eifer für diese Sache nicht mit dem grossen Augenblicke, für den er
sich entflammte, verlöschen zu lassen. In Darmstadt unter anderem
ist durch besondere Mitwirkung der Gattin des Thronfolgers (der
zweiten Tochter der Königin Victoria) ein Verein für Krankenpflege
und zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen ins Leben gerufen
worden, welcher in den wenigen Jahren seines Bestehens die erfreu-
lichsten Resultate geliefert hat. Actives Mitglied des Vereins ist
jede in der Krankenpflege vollständig ausgebildete Pflegerin, welche
dieselbe entweder als Lebens- und Erwerbsberuf ausübt oder sich
zur zeitweisen Aushülfe in Noth- und Kriegsfällen verpflichtet hat.
Die sämmtlichen gegenwärtigen activen Mitglieder gehören den ge-
bildeten Ständen an. Für die mütterliche Sorgfalt und Stütze, welche
den Pflegerinnen seitens des Vereins zu Theil wird, sind sie dem
Comit^ zur strengsten Pflichterfüllung verbunden und geloben ihm
bei ihrer Anstellung feierlichst pünktliches Befolgen der ärztlichen
Vorschriften und Anordnungen, sowie für alle Zeiten ein unverbrüch-
liches Stillschweigen in Bezug auf alles, was sie während der Aus-
übung der Pflege in der Familie des Patienten sehen und hören. —
Es ist bekannt, wie viele Kranke Anstoss an deli ernsten Ordens-
trachten der sonst aus den Klöstern oder ähnlichen Anstalten zur
Pflege gestellten barmherzigen Schwestern nehmen und dadurch oft
in hohem Grade beunruhigt werden. Die Damen jenes Vereins kenn-
zeichnet nur eine Busennadel mit dem rotben Kreuze der Johanniter.
Und nicht blos durch keine Ordenstracht, auch im Wesen der Sache
sind sie in keiner Weise vom Leben abgetrennt: in den Pausen, die
ihnen zur Erholung gegönnt sind, haben sie Gelegenheit, ein gutes
Die Frauenbewegung in Deutscnland. 427
Concert, eine Theatervorstellung oder Freunde zu besuchen, Leetüre
nach ihrer Wahl vorzunehmen; dies bietet ihnen Stofif genug zur
Unterhaltung und Aufmunterung der Patienten und Reconvalescenten.
— Eine höhere geistige Weihe empfängt die Berufspflegerin jenes
Vereins durch die wissenschaftliche Ausbildung, welche man zui*
Grundlage ihres Wirkens zu machen mehr und mehr anstrebt. Schon
seit dem Bestehen des Vereins hat zweimal monatlich während des
Winters eine Anzahl von Aerzten populäre Vorträge für Damen ge-
halten, über Gesundheitspflege, Ernährungsmittel, die bekanntesten
Kinderkrankheiten, den Bau und die Functionen des menschlichen
Körpers u. s. w. Diese Vorträge haben vielfach unter der Frauen-
welt das Interesse für Dinge erregt, die so höchst wichtig sind und
doch, so nahe sie liegen, in der Regel den Damen so fremd sind wie
ein femer Weltkörper. Aus diesen Vorträgen sind reguläre wissen-
schaftliche Curse hervorgegangen: über Anatomie und Physiologie
des menschlichen Körpers mit Demonstrationen und mit besonderer
Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Krankenpflege;
weiter über allgemeine Krankheitslehre und Krankenbehandlung mit
besonderer Rücksicht auf die häufigsten und wichtigsten Krankheiten;
dann über öffentliche Gesundheitspflege, Einfluss der Nahrung,
Wohnung u. s. w.; endlich über die Aufgabe der freiwilligen Kranken-
pflege im Kriege, über die hauptsächlichsten Verletzungen und ihi'e
Behandlung, dann Beschaffung von Verbandmaterial und praktische
Uebung in der Verbandlehre.
Diese kleine ärztliche Akademie für Damen hat ihren Sitz in
dem städtischen Hospital aufgeschlagen und wird nicht nur von den
activen Mitgliedern, sondern auch von einer ziemlichen Anzahl der
inactiven Mitglieder des Vereins besucht. *)
Der erwähnte Anfang ist einer der zahlreicheh möglichen und
zum Theile verwirklichten Anfänge., die gebundenen Kräfte des weib-
lichen Geschlechts zu entfesseln, der weiblichen Thätigkeit zum
eigenen Heile und zum Heile der Gesammtheit Raum zu bereiten.
Je weiter sich in dieser Richtung der Gesichtskreis erweitert, je all-
gemeiner die Ueberzeugung von den ernsten Zwecken des Lebens
durchdringt, um so gründlicher wird mit der bisher vielfach üblichen*
Oberflächlichkeit und Leichtfertigkeit der weiblichen Bildung ge-
brochen werden : denn man wird einsehen , dass diese Art von Bil-
dung für keinen ernsten Zweck ausreicht. Nicht in ein paar Jahren,
*) Berliner Frauen vereins-Conferenz, S. 97 ff.
428 Die Frauenbewegung in Deutschland.
auch nicht in einem Menschenalter wird sich der ganze Umschwung
vollziehen •, wie lange es dauert, wie weit es in dem oder dem Zeit-
raum geht, das lässt sich nicht votausbestimmen. Nur so viel er-
scheint sicher: je mehr und mehr wird die Vorbereitung des weib-
lichen Geschlechtes für das Leben, die Entwickelung seiner Anlagen
durch die Mittel der Bildung und Erziehung sich demjenigen anzu-
nähern haben, was fiir das männliche Geschlecht theils besteht, theils
als nothwendig anerkannt wird. Eine Bildung für junge Damen,
eine Philosophie für Damen, eine Wissenschaft; für Damen, ist eben
ein Irrthum an sich, hervorgewachsen aus den bestehenden mangel-
haften Zuständen der weiblichen Bildung.
Eine solche fundamentalere Wendung der Dinge ist in Deutsch-
land bis jetzt noch nicht eingetreten: anderswo ist sie es. In den
Vereinigten Staaten von Nordamerika hat vor einigen Jahren ein
schlichter Bürger der Union, Matthew Vassar, *) welcher in einem
langen Geschäftsleben ansehnlichen Reichthum erworben, einen be-
deutenden Theil seines Vermögens (mehr als eine halbe Million
Dollar) darauf verwandt.^ eine Anstalt zu gründen, welche für das
weibliche Geschlecht dasselbe leisten sollte, was Akademien für junge
Männer leisten, nämlich ihnen eine gründliche, harmonische und
liberale Bildung zu gewähren. Bei Poughkeepsie, einer romantisch
am Hudson gelegenen Stadt im Staate Newyork, erhebt sich seit
dem Jahre 1865 das schlossähnliche im Tuilerienstile gebaute
Vassar-College. Dasselbe liegt in der Mitte von weiten park-
ähnlichen Anlagen; 500 Fuss lang und 4 Etagen hoch bietet es
Raum für 500 Studirende und nahezu 40 Professoren. Kaum ins
Leben getreten hat es für diesen Raum auch Bewohnerinnen gefunden.
In Amerika glauben -die Eltern nicht, dass es genug sei, ein Mäd-
chen bis zu seiner Einsegnung in eine höhere Töchterschule zu
schicken, sie dann zum Ueberfluss noch ein wenig in Musik und
neuen Sprachen unterrichten zu lassen, damit endlich mit 17 Jahren
die Erziehung für vollendet erklärt werden kann, in einem Alter,
wo der Geist erst reif genug ist, um mit dem rechten Lernen zu
beginnen. In Amerika ist es der Ehrgeiz des geringsten wie des
^' reichsten Mannes, seinen Kindern, und zwar den Töchtern wie den
1 Söhnen, eine möglichst vollkommene Erziehung zu geben, eine Mit-
gift fürs Leben, welche ihnen kein Glückswechsel rauben kann; und
•) Vgl. den Artikel über „Vassar-College" in „Unsere Zeit", 1870, S. 269 ff.,
(Heft 4).
Die Frauenbewegung in Deutschland. 429
diesem Ehrgeize bringen sie freudig die unvermeidlichen Opfer, der
Aermere das oft nicht leicht erschwingbare Geld, der Reiche wie
der Aermere die jahrelange Entbehrung des geliebten Kindes von
dem Hause, in dem es bis zum 20. Jahre und länger nur als Ferien-
gast erscheint. Der Gründer des Vassar-College war der Ansicht,
dass der weibliche Geist dieselbe Fähigkeit und dieselbe Berechtigung
zur Ausbildung wie der männliche habe, und er wollte helfen, ihm
durch solche Ausbildung alle diejenigen Vorzüge zu verschaffen,
welche bisher das eine Geschlecht allein besessen. Er hielt die
höhere Bildung der Frauen schon deshalb für eine Sache von der
grössten Wichtigkeit, weil, abgesehen von jedem anderen möglichen
Berufe, sie unabänderlich den nothwendigen Beruf haben, die Mütter
zu sein des heranwachsenden Geschlechts, die Erzieherinnen der
Bürger einer freien Nation. — In das Vassar-College dürfen nur
solche junge Mädchen zugelassen werden, welche mindestens 15 Jahre
alt sind. Das gesammte Studium zerfällt dort in zwei geschiedene
Curse, erstens den classisch-philosophischen Curs und zweitens den-
jenigen für Naturwissenschaften und neuere Sprachen. Dem Eintritt
in jeden von beiden geht eine Prüfung voraus und zwar in folgenden
Gegenständen gemeinsam: Cäsar vier Bücher, Cicero vier Reden,
Virgil sechs Bücher, sowie die ganze lateinische Grammatik; ausser-
dem höhere Algebra, Rhetorik und allgemeine Weltgeschichte.
Das Studium jedes der beiden Curse ist auf vier Jahre bemessen;
am Schlüsse derselben wird ein Diplomexamen gemacht. Der
Studiengang und die in jedem Jahre zu hörenden Fächer sind fest
vorgeschrieben, erst im dritten und vierten Jahre tritt einige Freiheit
der Auswahl ein.
Die Fächer des classischen Cursus sind folgende: Erstes Se-
mester: Livius, lateinische Aufsätze, griechische Syntax und griechische
Aufsätze, höhere Algebra, englische Aufsätze. Zweites Semester:
Cicero de senectute und de amicitia, lateinische Aufsätze, Homer's
Iliade, sechs Bücher, griechische Grammatik und Aufsätze, Geo-
metrie, englische Stilübungen. Drittes Semester: Sophokles Ajax,
griechische Aufsätze, Trigonometrie, Rhetorik. Viertes Semester:
Horaz's Oden und de arte poetica^ Aeschylus Agamemnon, grie-
chische Aufsätze, Botanik und Zoologie, im Englischen etymo-
logische Uebungen. Fünftes Semester: Tacitus' Germania und-4^W-
cola, französische Grammatik, Physik, Geologie und physikalische
Geographie, Logik und Nationalöionogiie, Vorlesungen über die
Geschichte der englischen Sprache. Sechstes Semester: Molifere's
Baltische Monatsschrift. K. Folge. Bd. I, Heft 9 u. 10. 29
430 Die Frauenbewegung in Deutschland.
Tartuffe oder Racine's Athalie, Plato's Phädon, analytische Geo-
metrie, Physik letzter Theil, englische Literaturgeschichte. Sieben-
tes Semester: Metaphysik, Anatomie, Chemie, Astronomie, Deutsch,
Italienisch; Cicero's Tusculanen; endlich achtes Semester: Moral-
philosophie, Physiologie, Astronomie, Goethe's Iphigenie, Dante,
griechische Lyriker.
Die Fächer des Cursus der Naturwissenschaften und neueren
Sprachen sind folgende: Erstes Semester: Livius, lateinische Auf-
sätze, französische Grammatik, Scribe und Racine, höhere Algebra,
englische Aufsätze. Zweites Semester: Cicero de senectute und de
amicitia^ lateinische Aufsätze, französische Lexikologie, Racine und
Souvestre, Geometrie, Botanik mit Excursionen, englische Stil-
übungen. Drittes Semester: französische Syntax und Uebungen,
Corneille, Trigonometrie, Geologie und Mineralogie verbunden mit
Uebungen im Laboratorium und Excursionen, englische Aufsätze.
Viertes Semester: deutsche Grammatik, französische Lexikologie,
Molifere und Töpffer, analytische Geometrie, Zoologie mit Arbeiten
im Laboratorium. Fünftes Semester: deutsche Grammatik, Schil-
ler's Wilhelm Teil, französische Stilistik und Literaturgeschichte,
Physik und physikalische Geographie, .Astronomie. Sechstes Se-
mester: deutsche Grammatik (Schluss), Schiller's Wallenstein, fran-
zösische Grammatik (Schluss), freie Ausarbeitungen, Astronomie und
Physik (letzter Theil), englische Literaturgeschichte. Siebentes
Semester:. Metaphysik, Anatomie, Chemie, sphärische Astronomie;
im Deutschen Goethe's Torquato Tasso und freie Ausarbeitungen,
italienische Grammatik und Leetüre, Logik und Nationalökonomie.
Achtes Semester : Moralphilosophie , Physiologie , Astronomie,
deutsche, französische und italienische Literatur.
Für diejenigen, welche nach Vollendung des vierjährigen Cursus
ihre Bildung noch ferner vervollständigen wollen, ist ein fünftes Jahr
hinzugethan, während dessen die, zuvor etwa ausgelassenen Studien
aufgenommen, sowie auch Specialstudien unter besonderer Leitung
des Fachprofessors vorgenommen werden können. — Diejenigen
jungen Damen, welche den regulären Cursus absolviren, erhalten ein
Diplom des ersten Grades oder des Baccalaureats ; diejenigen, welche
einen weiteren Curs nach Erlangung des ersten Grades daran knüpfen,
erhalten ein Diplom des zweiten Grades.
Das Lehrpersonal setzt sich zu ansehnlichem jTheile aus Damen
zusammen; an der Spitze steht neben dem Director, der zugleich
Professor der Philosophie, die Vorsteherin (Lady Principal); neben
Die Frauenbewegung in Deutschland. 481
ihr stehen für folgende Fächer weibliche Professoren : für AstrT>nomie
und die Leitung des Observatoriums, für Physiologie und Hygiene
(zugleich Arzt der Anstalt), für das Turnen, für Latein (2), für
Mathematik, .für Naturwissenschaft, für Musik (8), für Qesang, für
englische Sprache und Literatur (4), für griechische Sprache, filr
deutsche Sprache und Literatur, für französische Sprache (2), für
Botanik, für die Bibliothek; d. h. im Ganzen 26 Lehrkräfte weib-
lichen Geschlechts neben 6 — 8 Lehrern männlichen Geschlechts. Unter
den Lehrkräften namentlich unter den Damen sind mehrere Deutsche.
Die Musik wird fleissig cultivirt und es wird darin wahrhaft
Respectables geleistet: namentlich wird die deutsche Musik bevor-
zugt, von den alten Meistern bis auf die neuesten, Schumann und
Franz. — Neben den geistigen Studien wird die Entwickelung des
Körpers durch Turnen , Reiten , Bootfahren , Schlittschuhlauf eifrig
befördert : an den Turn- und Reitübungen sind alle Studirenden ver-
pflichtet sich zu betheiligen.
In den wenigen Jahren sind die freien Vereinigungen der jungen
Damen zu ansehnlicher Blüthe gelangt: da besteht eine Gartenbau-
gesellschaft, eine französische Gesellschaft. Mit besonderer Liebe
aber erfasst man die deutsche Literatur; das Motto des Cursus des
vierten Jahres in den Studienjahren 1868—1869 war Goethe's „Mehr
Licht**, jedes Mitglied trug diesen Wahlspruch auf goldener Nadel
in Emaille an der Brust. An den deutschen Abenden wurden
Scenen aus goetheschen und schillerschen Dramen aufgeführt. Con-
certe von bedeutendem künstlerischem Werthe erhöhen die Feier
der festlichen Tage des Jahres. Den feierlichsten Augenblick aber
bietet der letzte Tag des Studienjahres, wenn die jungen Damen wie
Bräute in Weiss gekleidet über die Plattform schreiten, um aus der
Hand des Directors ihre Diplome zu empfangen, den Lohn ernsten
Strebens, Freibriefe für ein Leben mit würdigem Inhalt, mit höher
verstandenem Beruf.
So viel über das Vassar-College. Ein so erfreulicher Vorgang
^ dieses Institut ist, es fehlt viel, dass dieses oder etwas der Art das
Letzte und Höchste sei, was für die höhere Entwickelung des weib-
lichen Geschlechts geleistet werden kann. Es ist nur ein Schritt
weiter auf einem Wege, auf welchem in eine unbegrenzte Ferne
der Fortschritt weist, in eine Ferne, deren Aussicht erst die Zuver-
sicht gewährt, welche in dem eng bemessenen Räume des einzelnen
Daseins so leicht ermattet. —
29*
432 Die Frauenbewegung in Deutschland.
Ich Bchliesse mit einer captath benevolentiae bei den Damen:
besser hätte ich damit vielleicht beginnen sollen. Sie mögen, meine
Damen, huldvoll verzeihen, wenn in allem, was ich hier gesagt,
wenig Galantes gesagt worden; Sie mögen es entschuldigen durch
die Nothwendigkeit, welche von der Wissenschaft die Wahrheit allein
und nicht die Galanterie verlangt; Sie mögen aber die freundliche
Gewissheit mitnehmen, dass derjenige, welcher so gesprochen, soviel
als irgend einer alle das Schöne und Beseligende, welches unserem
Geschlechte durch das Ihrige bereitet wird, hochhält und verehrungs-
voll bewundert. Suchen Sie, wenn mein schwaches Können nicht
vermocht hat eine Harmonie zwischen uns herzustellen, in schönerer
Form den Kern dessen, was ich Ihnen habe sagen wollen, in dem
anmuthigen Gedicht Paul Heyse's^J; was darin enthalten ist,
kommt wesentlich auf eines hinaus mit dem Ihnen heute in nüch-
terner Prosa Vorgetragenen. — —
Einer captatio benevolentiae bedarf es n i c h t gegenüber jenem
männlichen Philisterthum, welches sich allerorten den wohl-
feilen Beifall zu gewinnen weiss, der dem gedankenlosen Wider-
streben wider das Neue und Bessere sicher ist. —
*) Frauen - Emancipation in dessen „Gesammelte Novellen in Yersen^,
Berlin, 1870.
Winkeimann und Reinhold von Berg.
Im Leben Winkelmann's. dieses grossen Kenners der Kunst und der
Schönheit haben die Frauen, die ^ir gern als die natürlichen Verbünde-
ten der Musen betrachten, wie es scheint keine besonders einflussreiche
Rolle gespielt. Unter den zahlreichen Briefen, die uns von Winkelmann
erhalten sind, ist ein einziger an eine Frau adressirt, und von die-
sem, den Winkelmann als Vierzigjähriger an die Gattin des Malers
Mengs richtete, gesteht er selbst: e la prima lettera acritta dl hei aesao.
Von Angelegenheiten der Liebe und der leidenschaftlichen Auf-
regungen, mit denen sie, wie man glaubt, Naturen von lebhafter
ästhetischer Reizbarkeit am sichersten bedroht, hat die Biographie
Winkelmann's nichts zu berichten. Am meisten befriedigte sich sein
persönliches Empfinden in den Beziehungen der Freundschaft. Göthe
deutet in der berühmten Charakteristik Winkelmann's an, dass auch
hierin bei den classischen Interpreten des Alterthums ein Zug innerer
Gefühlsverwandtschaft mit der Sii^nesart der antiken Welt zu er-
kennen sei. Das Verhältniss zu den Frauen im Alterthum, das ge-
recht zu würdigen nicht eben leicht fällt, erinnert sehr wenig an
den leidenschaftlichen Cultus, den die Stimmung der neueren Zeit
den Frauen gegenüber begünstigt hat; jedenfalls erhob es sich nie-
mals so hoch als die Freundschait unter Männern und Jünglingen,
die ja in vielfachen, berühmt gewordenen Beispielen Gegenstand
dichterischer Verherrlichung war. Dem ethischen Moment gesellte
sich in dem begeisterten Gefühl solcher Freundschaft gern ein anderes
ästhetischer Art, welches dießem Gefühl einen eigenthümlichen, mit
der Poesie der Liebe in(i edelsten Sinne verwandten Reiz verlieh.
Jene classi^che Freundschaft des Sokrates und Alcibiades würden wir
in der .That unrichtig beurtheilen, wenn wir den Antheil dieses
ästhetischen Momentes übersähen: in der Neigung, welche den
„Weisesten der Griechen** mit dem schönsten Jüngling Athens ver-
band, war mit einem tief sittlichen, in gewissem Sinne pädagogischen
434 Winkelmann und Reinhold von Berg.
Interesse, dem eigentlich „sokratischen^, das eüthusiastische Interesse
jener Liebe vereinigt, von welcher Plato spricht, wenn er die An-
schauung des Schönen und seiner begeisternden Wirkungen schildert.
Eine merkwürdige Aeusserung Winkelmann*s, welche in dem Schön-
heitsideal der Antike den Typus männlicher Schönheit als den be-
vorzugten bezeichnet, muss in diesem Zusammenhang von besonderem
Interesse erscheinen. „Bei denen, sagt er, welche hauptsächlich auf
Schönheiten des weiblichen Geschlechts aufmerksam sind und durch
Schönheiten in unserem Geschlecht wenig oder gar nicht gerührt
werden, wird die Empfindung des Schönen nicht leicht eine lebhafte
und wirklich eingeborene sein. Das Verstäodniss in der Kunst der
Griechen wird bei diesen mangelhaft bleiben, da die grössten Schön-
heiten derselben mehr von unserem, als von dem anderen Ge-
schlecht sind."
Wie tief in Winkelmann das Bedürfniss der Freundschaft lebte,
wie er, nach Goethe's Worten, sein eignes Selbst nur unter der Form
der Freundschaft empfand, bezeugen in oft ergreifender Weise schon
einige seiner Briefe aus früher Zeit. Es war in dieser Jugendepoche
ein vielleicht unwürdiger Gegenstand; aber er widmete sich ihm
mit der ganzen Leidenschaft seiner Empfindung, ,jer fand für ihn
selbst in seiner Armuth Mittel reich zu sein, zu geben, aufzuopfern,
ja er zweifelte nicht, sein Dasein, sein Leben für ihn zu verpfänden.**
Wie auch das äussere Schicksal wechselte, das edle Bedürfniss dieser
Hingebung, die stets mehr schenkte als sie empfing, erhielt sich ihm
dauernd in gleicher Lebendigkeit und Wärme. In reichem Maasse
beweisen dies die mannigfachen freundschaftlichen Beziehungen, in
denen sich später, namentlich in der römischen Zeit, sein Leben
schön und glücklich erweiterte. Kein Verhältniss aber unter a,llen
verdient so sehr den Namen einer idealen Freundschaft in jenem
antiken Sinne, als das zu dem livländischen Edelmanne Reinhold
von Berg. *)
•) Friedrich Reinhold von Berg, jüngster Sohn des Landraths Gott-
hard Wilhelm v. Berg auf Erlaa und Sepküll und der Eva Helene, geb. v. Hel-
mersen, welche 24 Kinder hatte, Enkel des Herrn auf Luist und Kattentak in
Estland Gustav v. Berg und der Agnese Wilhelmine geb. von der Pahlen, war
geboren den 26. October 1736, starb den 5. Januar 1809 als Hofgerichtspräsident,
Geh.-Rath und Ritter; verheirathet mit Eatharine Dorothea Baronesse von Campen-
hausen, Miterbin von Rodenpois. Die Söhne derselben sind: 1) Christoph
Wilhelm, geb. den 17. October 1765, Artillerie-Mcgor, verheirathet mit Amalie
Margarethe Baronesse v. Weissmann, welche ihm Fistehlen zubrachte. Er besass
ausserdem bis 1829 Rüssel bei Lemsal und seit 1820 Meyershof bei Wenden. Die
Winkelmann und Reinhold von Berg. 435
Rom gab diesem Verhältniss seine classische Weihe. Hier, wo
Winkelmann schon seit längerer Zeit eine zweite Heimat gefunden
hatte, lernte er den um 20 Jahre jüngeren Mann — er selbst war
45 Jahre alt — im Frühling 1762 kennen. Nur kurze Frist, nur
einen Monat verweilte jener in Rom; abei* diese kurze Zeit des
persönlichen Umgangs genügte, um ein ebenso inniges, als dauerndes
Verhältjiiss zu begründen. Obschon Winkelmann den schönen jungen
Freund, den wir mit grösserem Recht seinen Liebling nennen dürfen,
niemals in seinem Leben wiedersah, so blieb doch die leidenschaft-
liche Neigung, die er seit den Tagen der ersten Bekanntschaft für
ihn empfand, unverändert, und büsste nichts ein von ihrer ursprüng-
lichen Wärme. Die an denselben gerichteten Briefe, die zu den
interessantesten Documenten von Winkelmann's Leben gehören, sind
von einer seltenen Idealität und Jugendlichkeit der Empfindung, voll
zärtlicher Hingebung, enthusiastisch bis zur Schwärmerei. Der
Name Freundschaft will zu kühl erscheinen für diese begeisterte,
ihren Gegenstand zum Ideal verherrlichenden Liebe.
Eine schöne Befriedigung war es für Winkelmann's Gefühl, den
jungen Freund fortdauernd an dem geistigen Erwerb des eigenen
Lebens theilnehmen zu lassen, auf die Entwickelung seiner reichbe-
gabten Natur durch Rath und Lehre fördernd einzuwirken. Die
Schrift über die Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst
verdankt wesentlich dieser Freundschaft ihre Entstehung. Winkel-
mann widmete sie dem Freunde mit einer Zuschrift, .die mit fol-
genden Worten schliesst:
Ehe blieb kinderlos. 2) Balthasar Dietrich, geb. den 21. November 1766,
gest. zu Walk den 10. December 1839, Landrath, designirter Hofgerichtsprä-
sident etc. (Seine Biographie von Th. Beise in den Mittheilungen aus der liv-
ländischen Geschichte, Bd. II, S. 192 ff.). Verheirathet mit Charlotte Bayer
von Weissfeldt, wurde er Vater dreier, noch unverheiratheter (?) Töchter. Er
besass Posendorf, seine Gemahlin Könhof. 3) Friedrich August, geb. den
1. März 1768, Oberlandgerichts- Assessor. Verheirathet 1794 mit Katharine Elisa-
beth Baronesse Budberg. Kinder: a. Gotthard, geb. den 9. November 1798 (Dr.
med. auf WohlfahrtslindeJ. b. Sophie Charlotte Amalie, geb. den 23. September
1801. -A) Ernst Reinhold, geb. den 19. Juli 1771, Herr von Neu-Salis seit
1800, besass auch Kadfer, welches aber sein Vater schon 1806 an D. v. Zimmer-
mann verkaufte. Verheirathet mit Henriette Gertrud Wilhelmine von Rauten-
feld. Zwei Töchter : Dorothea Charlotte Henriette, geb. 1803 und Sophie Henri-
ette, geb. 1809. Eine Tochter Friedrich Reinhold v. Berg's und der Baronesse
von Campenhausen: Sophie Julianne Katharine, geb. den 6. Juni 1774, war ver-
heirathet an Landrichter Otto Christoph Baron Budberg (geb. 1771, gest. 1857).
436 Winkelmann und Reinhold von Berg.
„Der Inhalt dieser Schrift ist von Ihnen selbst, hergenommen.
Unser Umgang ist kurz und zu kurz für Sie und für mich gewesen;
aber die Uebereinstimmung der Geister meldete sich bei mir, da ich
Sie das erste mal erblickte. Ihre Bildung liess mich auf das, was
ich wünschte, schliessen, und ich fand in einem schönen Körper eine
zur Tugend geschaflfene Seele, die mit der Empfindung des Schönen
begabt ist. Es war. mir daher der Abschied von Ihnen einer der
schmerzlichsten meines Lebens, und unser gemeinschaftlicher Freund*)
ist Zeuge davon, auch nach Ihrer Abreise, denn Ihre Entfernung
unter einen entlegenen Himmel lässt mir keine Hoffnung übrig, Sie
wiederzusehen. Es sei dieser Aufsatz ein Denkmal unserer Freund-
schaft, die bei mir rein ist von allen ersinnlichen Absichten, und
Ihnen beständig unterhalten und geweiht bleibt."
Im Uebrigen kennzeichnet sich der Charakter dieser seltenen
Freundschaft am besten durch Winkelmann's Briefe, deren haupt-
sächlichen Inhalt wir in Nachfolgendem mittheilen.
Der erste Brief ist bald nach des Freundes Abreise von Rom
geschrieben, er datirt vom 9. Juni 1762 und ist nach Florenz
adressirt, wohin sich v. Berg zunächst begeben hatte. Er beginnt:
„Sowie eine zärtliche Mutter untröstlich weint um ein geliebtes
Elind, welches ihr ein gewaltthätiger Prinz entreisst und zum gegen-
wärtigen Tod in das Schlachtfeld stellt, ebenso bejammere ich die
Trennung von Ihnen, mein süsser Freund, mit Thränen, die aus der
Seele selbst fliessen. Ein unbegreiflicher Zug zu Ihnen, den nicht
Gestalt und Gewächs **) allein erweckt, liess mir von dem ersten
Augenblicke an, da ich Sie sah, eine Spur von derjenigen Harmonie
fühlen, die über menschliche Begriffe geht, und von der ewigen Ver-
bindung der Dinge angestimmt wird. In 40 Jahren meines Lebens
ist dieses der zweite Fall, in welchem ich mich befinde und es wird
vermuthlich der letzte sein . . . Eine völlige Uebereinstimmung der
Seele ist nur allein zwischen zweien möglich ; alle anderen Neigungen
sind nur Absenker aus diesem edlen Stamme. Aber dieser gött-
liche Trieb ist den mehrsten Menschen unbekannt, und wird daher
von vielen übelverstanden gedeutet. Die Liebe in dem höchsten
Grad ihrer Stärke muss sich nach allen möglichen Fähigkeiten äusaern :
*) Wer hier gemeint ist, lässt sich nicht mit Bestimmtheit angeben. Mengs,
an den man zunächst denken möchte, hatte schon 1761 Rom verlassen.
**) Ein von Winkelmann mit Vorliebe, namentlich anch in Bezug auf
plastische Schönheit, gebrauchter Ausdruck: Körper wuchs, Körperbildung.
Winkelmann und Reinhold von Berg. 437
I thee both as Man uid Woman prise
For a yerfect love implies
Love in all capaclties. — Cowley.
und diese ist der Grund, worauf die unsterbliehen Freundschaften
der alten Welt, eines Theseus und Pirithous, eines Achilles und Pa-
troklus gebaut sind. Freundschaft ohne Liebe ist nur Bekanntschaft;.
Jene aber ist heroisch und über alles erhaben . . . Alle Tugenden
sind theils durch- andere Neigungen geschwächt, theils eines falschen
Scheins fähige eine solche Freundschaft ist über alles mächtig, sie ist
di€ höchste Tugend, die jetzt unter den Menschenkindern unbekannt
ist, und also auch das höchste Gut. Die christliche Moral lehrt dieselbe
nicht; aber die Alten beteten sie an und die grössten Thaten des Alter-
thums sind durch dieselbe vollbracht."
In einer Nachschrift heisst es :
„Lassen Sie sich noch, theurer Freund, des Gravina ragione pbetica
anbefohlen sein, lesen Sie dieselbe zehn mal bis zum Auswendig-
lernen. Von den Alten lesen Sie den Homer ^ in der Uebersetzung
des Pope, den Phädrus des Plato und diesen mit grosser Ruhe . . .
Von den Neueren lesen Sie des Pope Essay on man und suchen ihn
auswendig zu lernen, ich selbst konnte denselben fast auswendig."
Die Antwort des Herrn v. Berg verzögerte sich durch eipen
Unfall; erst nach mehreren Monaten schreibt derselbe von Paris aus.
Dieser, sowie ein zweiter Brief, sind in der Sammlung der Winkel-
raann'scben mit enthalten. Beide geben einer wahrhaften Verehrung
Ausdruck und bezeugen, wie tief und lebhaft der jüngere Mann den
Werth des schönen Verhältnisses empfand.
Winkelmann, dem das Schweigen des Freundes schon Zweifel
und ernstliche Sorge erregt hatte, erwidert auf jenen ersten Brief
am 3. November. Er klagt lebhaft darüber, dass v. Berg auf seiner
Reise mehr Zeit auf Florenz verwandt habe, als auf Rom. „Ich
habe mich äusserst gekränkt, dass ich nicht einmal einen einzigen
Tag ganz gewinnen können, um Ihnen (bezüglich der römischen
Kunstdenkmäler) besondere Unterweisung zu geben, wie ich mir
doch beständig ausgebeten hatte." Dann kommt er auf die Studien
des Freundes zu sprechen: „Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrem
Studium in den Sprachen; nur verlieren Sie keine Zeit in Lesung
mittelmässiger Dichter - und kleiner, nichtswürdiger französischer
Toilettenschriften. Gewöhnen Sie sich an das eigene Denken, und
suchen Sie Ihre eigenen Gedanken zu entwerfen: ein einziger
eigener Gedanke, welcher Ihnen neu scheint, ist einen ganzen Tag
438 Winkelmann und Reinhold von Berg.
werth. Alsdann werden Sie gewiss eine selten empfundene Wollust
schmecken, die in der Zeugung im Verstand^e besteht. Doch es sei
genug mit dieser Predigt u. s. w."
Der dritte Brief Winkelmann's vom 22. März 1763, wie der
vorhergehende nach Paris adressirt, enthält vorwiegend Mittheilungen
über verschiedene literarische Unternehmungen, welche Winkelmann
damals beschäftigten, ausserdem Empfehlungen nach Dresden, welches
V. Berg auf seiner Rückreise nach Livland zu besuchen dachte.
Die übrigen Briefe sind nach Livland gerichtet; in dem vierten
(vom 21. Juni 1763) kündigt Winkelmann dem Freunde die ihm zu-
gedachte Schrift an und seinen Entschluss, für immer in Rom blei-
ben zu wollen; er war damals zum „Präsidenten 'der Alterthümer
in Rom** ernannt worden und hatte eben seine Wohnung in der
schönen Villa des Cardinais Albani aufgeschlagen.
Der folgende, fast ein Jahr später geschriebene Brief (vom
10. Februar 1764) ist nun wieder ein voller Erguss der freundschaft-
lichen Liebe, je länger sie sich zurückgehalten, um so lebhafter und
begeisterter gab sie sich nun kund: „Alle Namen, die ich Dinen
geben könnte, sind nicht süss genug und reichen nicht an meine
Liebe, und alles, was ich Ihnen sagen könnte, ist viel zu schwach,
mein Herz und meine Seele reden zu lassen. Vom Himmel kam
die Freundschaft und nicht aus menschlichen Regungen. Mit einer
gewissen Ehrfurcht näherte ich mich Ihnen; daher ich bei Ihrer Ab-
reise des höchsten Gutes beraubt zu sein schien . . . Mein theuerster
Freund, ich liebe Sie mehr als alle Creatur, und keine Zeit, kein
Alter kann diese Liebe mindern; aber entfernt zu sein, ohne sich
mit Briefen erreichen zu können, ist mir schmerzhafter als selbst der
Abschied . . . Ich gedenke bald nach Neapel zu gehen, wo ich mich
auf dem Wege mit der geliebten Idee meines Freundes unterhalten
werde. Wie glücklich würde ich sein, Sie zur Seite zu haben! Sie
stehen mit mir auf, Sie gehen mit mir schlafen, Sie sind der Traum
meiner Nacht ! . . . Machen Sie mich bald durch eine Antwort be-
glückt. Eine jede Zeile von Ihrer Hand ist mir eine heilige Reliquie.**
Der sechste Brief ist vom 20. Mai 1767 datirt; wie sich aus dem
Anfang desselben ergiebt, ist zwischen diesem und dem vorigen ein
Brief verloren gegangen. „Ich will", schreibt Winkelmann, „zum
zweiten mal versuchen, auf Ihr geliebtes Schreiben vom August 1765
zu antworten; denn aus Ihrem Stillschweigen zweifle ich, ob meine
erste Antwort angekommen sei." In jenem Brief hatte v. Berg dem
Freunde seine inzwischen erfolgte Vermählung angezeigt. Winkel-
Winkelmann und Reinhold von Berg. 439
mann erwidert darauf: „Ich glaube aus dem, was Sie mir von Ihrer
glücklichen Verbindung melden, dass Sie eines der glücklichsten
Menschenkinder auf Erden sein müssen, und ich wäre im Stande,
einige Tagereisen zu machen, um Zeuge von allem zu sein. Denn
da ich Sie über alles auf Erden geliebt habe, und Sie willig als Ihr
Schatten begleitet hätte, würde die Wollust, Sie in den Armen der
schönen Ehegattin zu sehen, für mich selbst ein reizender Genuss
sein. Ich gehe im künftigen Sommer bis Berlin; aber ich kann von
dorther nur schreiben; werde mir aber vorstellen, dass ich von
neuem Ihre Fusstapfen betrete. In Frascati ist leider der Platano,
in dessen Rinde ich den süssen Namen meines Freundes schnitt,
umgehauen . . . Sie werden nunmeh'r Vater von schönen Kindern
nach Ihrem geliebten und mir ewig gegenwärtigen Bilde sein, und
ich freue mich, dass mein Wunsch zu Ende meiner Schrift erfüllt
worden.*) Ich ktlsse Sie im Geist und wünsche künftig den Sohn
eines so geliebten Freundes, wohin ich den Vater begleitet habe,
führen zu können.**
Der auf diesen folgende Brief ist gleichfalls verloren gegangen.
Der letzte, vom 25. Juli 1767, ist nicht ganz ein Jahr vor Winkel-
mann's Tode geschrieben; eine eigenthümliche Melancholie spricht
aus den letzten Worten desselben: „Wie glücklich sind Sie, mein
Freund, Ihr Leben, das sehr kurze Leben, mit einer schönen ge-
liebten Gesellin, patriis in arvü, und weit von den Thorheiten der
Höfe, nach meinem Wunsche zuzubringen. Ich komme nicht eher
zur Ruhe, als bis ich blind werde . . . Mit Herz und Geist der Ihrige."
Charakteristisch vor allem für Winkelmann's eigene Persönlich-
keit erinnert der Freundschaftsenthusiasmus dieser Briefe zugleich
auch in merkwürdiger Weise an die Gesammtstimmung der damaligen
Zeit, in der es an noch anderen Erscheinungen eines derartigen
Freundschaftscultus nicht fehlte; wir erinnern an den klopstockschen
Freundeskreis, den göttinger Dichterbund. Auch hier waren es
*) Die oben ervsrähnte Schrift über die Empfindung des Scfiönen schliesst
mit den Worten : „Ihnen aber, mein Freund, wünsche ich wieder (nach Rom) zu
kommen. Dieses war Ihr Versprechen, da ich Ihren Namen in die Rinde einer
mächtigen Platane zu Frascati schnitt, wo ich meine nicht genutzte Jugend in
Ihrer Gesellschaft zurückrief und dem Genius opferte. Erinnern Sie sich dessel-
ben nnd Ihres Freundes; gemessen Sie Ihre schöne Jugend in einer edlen Be-
lustigung und ferne von der Thorheit der Höfe, damit Sie sich selbst leben, weil
Sie es können, und erwecken Sie Söhne und Enkel nach Ihrem*Bilde."
440 Winkelmann und Reinhold von Berg.
Anschauungen des antiken Lebens, die Vorbilder römischer und
griechischer Poeten, welche, zwar nicht in so entscheidender Weise,
wie bei Winkelmann, dem classischen Vertrauten des Alterthums, und
in etwas anderer Nuance, mit einer grösseren Dosis Sentimentalität
versetzt, aber doch sehr wesentlich auf die Gestaltung eines ähn-
lichen Freündschaftscultus einwirkten.
Noch eines anderen, vielleicht überraschenden Beispiels möchten
wir gedenken: jener Freundschaft, welche Shakspeare in einer Reihe
seiner berühmten Sonette besingt. So sehr auch die Gefühlswelt des
britischen Dichters von der verschieden ist, in welcher Winkelmann
lebte, so bewegen sich doch in der That jene Sonette und die oben
mitgetheilten Briefe in einem ganz ähnlichen Kreis von Empfindungen ;
sie stimmen, von den eigentlich poetischen Vorzügen der shak-
spearischen Sonette natürlich abgesehen, in der Idealität der Ge-
sinnung ebenso sehr überein, wie in dem Ausdruck jener Zärtlichkeit,
welche sich die Sprache der Liebe sonst vorzubehalten pflegt. —
Uebrigens ist ja nicht unbekannt, dass auch auf Shakspeare in seiner
früheren Zeit die damals, namentlich in italienischen Uebersetzungen
eürig gelesenen Classiker des Alterthums einen wichtigen Ein-
fluss übten.
Den Eindruck einer gewissen Fremdartigkeit werden wir dem
Freündschaftscultus gegenüber, der uns in dem Verhältniss Winkel-
mann's zu dem jungen Livländer entgegentritt, nicht ganz von uns
fern halten können; zugleich aber lehrt uns dieses Verhältniss das
Wesen des seltenen Mannes auch tiefer schätzen. Die Begeisterungs-
fähigkeit, die sich seiner Freundschaft ungeschwächt bis zuletzt
erhielt, die Treue und warme Hingebung derselben, die unverwelk-
liche Geistesjugend, aus der sie entsprang, sind der Bewunderung
und des edelsten Lobes werth. Und, wie es das Vorrecht erwählter
Geister ist, da^s sie adeln und unsterblich machen, was sie in ihre
Kreise hereinziehen, so besitzt nun auch der junge Freund dauernden
Antheil an dem Ruhme dessen, der ihn zu seinem Freunde erkor.
Leipzig. Dr. Hermann Lücke.
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
X assion und Drama sind Gegensätze. Letzteres hat seinen Namen
vom Handeln, erstere vom Leiden. Christi Leidensgeschichte ist
demnach im Grunde undramatisch, ein Stoff für viele andere Künste
geeigneter als für die Bühne. Und doch ist dieser Stoff Jahrhunderte
lang bühnenmässig behandelt worden. Das geistliche Schauspiel ist
eines der wichtigsten Capitel in der Geschichte des Dramas. Von
den Zeiten an, da die Tragödie vom leidenden Christus, ein
Werk, das dem heiligen Gregor von Noziams zugeschrieben wird,
erstand, bis zu dem dem modernen Geschmack einigermaassen an-
gepassten „Grossen Versöhnungsopfer auf Golgatha**, das
auch jetzt noch in einem der »tillen Thäler Oberbayerns gegeben
wird, giebt es eine lange Reihe religiöser Dramen, in denen wahre
Poesie und barocke Geschmacklosigkeit, tiefer Ernst und plumper
Scherz, wahrhaft religiöse Weihe und Innigkeit und frivole Spitz-
findigkeit und glatter Witz sich finden. *) In lateinischen Comödien
verherrlichte im zehnten Jahrhundert die Nonne Hroswitha das
Märtyrerthum, den Sieg der himmlischen Liebe über die irdische.
In einem Stück aus dem 11. Jahrhundert von jden weisen und
thörichten Jungfrauen spricht und singt Christus in den Worten
der lateinischen Bibel und wiederholt es in provengalischen Versen.
Nach Ostern 1322 wurde dieser Stoff vor dem Landgrafen Friedrich
mit der gebissenen Wange von Klerikern und Schülern im Thier-
garten sehr drastisch aufgeführt Die thörichten Jungfrauen fanden
auch durch die Fürbitte der heiligen Jungfrau Maria keine Gnade
und wurden durch den ganzen Zuschauerraum von Teufeln an
Stricken in die Hölle geschleppt. Eine Gemüthskrankheit erfasste
den Landgrafen bei dem Eindruck dieses entsetzlichen Schauspiels.
Au8 jenen Gegenden, wo bis heute sich das Passionsspiel erhalten
hat, stammt ein Osterspiel, im zwölften Jahrhundert im Kloster
•) 8. Haee'ß vortreffliche Monographie „Das geistliche Schauspiel", Leipz. 1858.
442 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
Tegernsee gedichtet. Dieses Singspiel „vom Aufgange und Unter-
gange des Antichrist's** soll vor dem Kaiser Friedrich Barbarossa
gegeben worden sein. Wie heute noch das eigentliche Stück in
Oberammergau von musikalischen Auffuhrungen und lebenden Bil-
dern unterbrochen wird, so wurden auch damals alttestamentliche
Scenen als weissagende Vorbilder der Leidensgeschichte eingestreut.
Als kirchliche Feier betrachtete man solche Aufführungen. Pro-
cessionen hatten einen dramatischen Charakter. In Orleans, am
Jahrestage der Befreiung, führte den Festzug ein Jüngling in der
ritterlichen Tracht der Jungfrau. Zu Quedlinburg pflegte der Bischof
von Halberstadt am Palmensonntag einen feierlichen Einzug zu
halten: Priester, Kinder und Volk riefen Hosianna und streuten,
wenn nicht Palmen, so doch Weiden- und Fichtenzweige auf den
Weg. Hier und da erschienen Adam und Eva, den Baum der Er-
kenntniss zwischen sich tragend, Johannes als Herold mit der Fahne
Christi und dem Banner, Judas mit dem Geldsacke und gleich dazu
der Teufel mit der Galgenleiter, der heilige Georg auf dem Streit-
rosse den erlegten Drachen nach sich ziehend u. dgl. m. Englische
Bischöfe fiilirten in Constanz auf dem Concil vor Kaiser Sigismund
ein Weihnachtsspiel auf, das tragisch mit dem Kindermorde schloss.
Besonders volksthümlich wurden solche Spiele im fünfzehnten Jahr-
hundert, wo u. a. in Kaufbeuern mehrere hundert Menschen an einer
Aufführung theilnahmen, welche die dramatisirte Apostelgeschichte
zum Gegenstande hatte. Der bescheidene Mittelstand .ergriff die
Sache mit Eifer. In Antwerpen verbündete sich die Brüderschaft
des heiligen Lukas, meist aus Künstlern bestehend, zur Aufführung
solcher Stücke ; in Paris erhielt die Confrerie de la passion, aus Hand-
werkern bestehend, von Carl VI. 1402 einen Freibrief zur alleinigen
Aufführung geistlicher Schauspiele für die Stadt und die Bannmeile;
in Rom spielte, und zwar in der Arena des Colosseums, die Brüder-
schaft del Gonfalone in der Charwoche das Leiden des Erlösers. Oft
geschah es, dass, wenn eine ganze Stadt die Aufführung beschlossen
hatte, ein feierlicher Aufruf unter Trompetenschall an alle erging,
die mitspielen wollten. Die Erscheinung des Volkes auf der Bühne,
als Israeliten in der Wüste, bei dem Palmeneinzuge, vor Pilatus
und bei der Kreuzigung zog grosse Massen zur Mitwirkung herbei,
so dass zuweilen fast die eine Hälfte der Stadt spielte, die andere
' Hälfte und die umliegenden Ortschaften zuschauten.
So lange vornehmlich Aebte und Mönche derartige Spiele ord-
neten, behaupteten sie den Charakter einer kirchlichen Feier. Die
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 443
Tracht der Mitspielenden war das Messgewand, die handelnden
Personen erschienen im byzantinischen Kleide. Hier und da brach
sich aber der Volkshumor in solchen Stücken Bahn. Es erschien
der Teufel zuweilen als die lustige Person. Allerlei kurzweilige
Anekdoten von Petrus kamen auf die Bühne. Besonders in Frank-
reich ergötzten die diableries das Publicum, aber auch in einem deut-
schen Mysterium aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das durch die
hochpoetische Klage der Frauen am Grabe des Heilandes rührend
wirkt, erscheint ein Salbenhändler, geschwätzig wie ein Quacksalber
seine Geschichte erzählend, im Zwist mit seiner Ehehälfte. Das
Stück artet in eine Harlekinade aus, um jedoch bald wieder zu dem
tiefernsten, religiös wehmüthigen Tone der Marienklage zurückzu-
kehren. In dem von dem Priester Theodorich Scharnbeck im Jahre
1480 gedichteten Stück von der Päpstin Johanna oder der „Frau
Jutta" ist alles durchaus ernst gemeint und die diesesmal wirksame
Fürbitte der Jungfrau Maria bei dem „Salvator" von poetischem
Werthe; daneben aber sind Lucifer mit seinen Genossen Unversün,
Spiegelglanz, Fledderwisch, Astrot, Krentzelein, namentlich aber des
Teufels hüpfende Grossmutter Billis der lebhafte Ausdruck eines
unverwüstlichen, zwerchfellerschütternden Humors.
In der Reformationszeit, wo es gal t die Schäden der Kirche an
den Pranger zu stellen, geschah es wohl, dass die grotesken Scenen
im geistlichen Schauspiel eine noch grössere Stelle einnahmen. Der
Gegensatz der Reinheit und Hoheit des ersten Christenthums einer-
seits und der Völlerei und Verweltlichung der Kirche andererseits
wurde auf die Bühne gebracht. Christus von Armen und Kranken
umgeben, der Papst von Schergen, Söldnern, unsittlichen Geistlichen
und Mönchen umdrängt; die Apostel Petrus und Paulus Kritik übend
bei Gelegenheit dieses Schauspiels — solcher Art waren die belieb-
testen Stoffe jener "Zeit. Schliesslich drängte sich das satyrische
Element ganz in den Vordergrund. Nicolaus Manuel, der Maler,
Dichter, Publicist und Reisläufer brachte seine „sterbende Beichte''
auf die Bühne und trug durch seinen schonungslosen Witz, Spott
und Hohn zur Vertreibung der Reformation in der Schweiz bei; in
ähnlichem Tone waren Burkard Waldis Parabel vom verlorenen
Sohne und einige Stücke gehalten, in denen die Reformation selbst
den Gegenstand des Dramas lieferte.
Es war natürlich, dass die Kirche derartige Schauspiele zu ver-
bieten bemüht war. Selbst die halbernsten Mysterien erschienen ihr
anstössig. Paul HI. verbot 1549 die Aufführungen im Colosseum;
444 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
das Parlament in Paris verbot diejenigen der Passionsbrüderschaft,
welche 1548 sogar ein steinernes Theater gebaut hatte.
Doch war es mit den geistlichen Spielen keineswegs zu Ende.
Als ein heiteres Kinderspiel wurde u. A. 1589 im Schlosse zu Berlin
von den Kindern des Kurfürsten und deren Gespielen ein Neujahrs-
spiel: „die Geburt des Herrn'' aufgeführt. Der anderthalbjährige
Markgraf Friedrich spielte das . Christkind, Elisabeth von Mansfeld
die Jungfrau Maria. Es wurde in den Schulen Sitte, von den Zög-
lingen geistliche Stücke, die sich durch maasslose Länge auszeich-
neten, aufführen zu lassen. Das Opfer Abrahams, der Untergang
Sodoms, Daniel in der Löwengrube, der weise Salomo, die tapfere
Judith, der ehrbare Tobias, die Geschichte von d«r Susanne wurden
dramatisirt und, oft in lateinischer Sprache, aufgeführt. *) Auf allen
Schulen in Sachsen und Schlesien spielten die Schüler die ihrem
Stoffe nach aus der heiligen Geschichte entnommenen Schauspiele
des Schulrectors Christian Weise (1642 — 1700). Wenn dieser auch
gegen die Einführung Jesu und des Satans auf die Bühne war, weil
man zu der Rolle des letzteren niemand verdammen sollte, die des
ersteren aber von niemand würdig gespielt werden könne, so trug
er doch kein Bedenken, in seinen alttestamentlichen Stücken „Hans-
wurste, Pickelhäringsspässe, galante Prinzen, Forstgerechtigkeiten und
Grenzstreitigkeiten in die alte patriarchalische Zeit" einzulegen. Der
Bräutigam Christus holt in verschiedenen dieser Stücke seine Braut
•
Ecclesia wie im Lustspiele heim. Knorr von Rosenroth verfasste
ein allegorisches Lustspiel von der Vermählung Christi mit der
Seele. Die Seele, die Leidenschaft, die Tugend, Christus werden
mit arabischen Namen Nasima, Adibe, Fedil, Mamsuh bezeichnet.
Die geistlichen Stücke des berühmten Pegnitzschäfers Johann Klai
lehnten sich förmlich an den kirchlichen Gottesdienst an und wurden
in der Kirche aufgeführt. Eine frostige Tragödie war des berühmten
Publicisten Hugo Grotius ^leidender Christus", in der fast nichts
geschieht, und alles nur in rhetorischen Monologen oder durch Boten
erzählt wird. Der grösste Dramatiker der Niederländer, van der
Nondel, suchte die geistliche Poesie auszubilden, dichtete einen „Lu-
cifer", in welchem der Fall der Engel dramatisirt wurde und brachte
die Geschichte des Erzvaters Joseph in eine dramatische Trilogie.
In des fruchtbaren protestantischen Dichters Dedekind geistlicher
Oper „der sterbende Christus" aus dem 17. Jahrhundert erhenkt sich
*) 8. Hase, „das geistliche Schauspiel^, 1858.
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 445
Judas auf der Bühne urfd Satan singt das Echo dazu. Judas zer-
platzt am Stricke hängend, Satan fasst die Eingeweide in einen
Korb und singt dazu. Bei der Verkündigung der drei Könige erfolgt
ein musikalischer Zornesausbruch Satans in folgenden Worten:
Donner und Hagel, Hammer und Nagel
Schneidendes Eisen,
Stechende Spitzen, Messer zum Schlitzen
Will ich dir weisen. *)
Volksmässiger als diese Schulexercitien und in vornehmen Kreisen
aufgeführten Stücke war die heilige Christfahrt, ein Umzug Christi
I^it seinen Engeln und Knechten in der Weihnachtszeit, wobei in
allerlei Masken Moses, David, Jesaias, Joseph und Maria erscheinen.
Diese Sitte findet sich im 16. und 17. Jahrhundert vornehmlich in
Thüringen. — Derbkomische Bauernstücke finden sich in Tirol, wo
sie in einzelnen Gemeinden als stetig wiederkehrendes Fest aufge-
führt wurden und wo sie sich bis in die letzten Zeiten erhielten, so
dass seit dem Jahre 1791 weltliche und geistliche Behörden gegen
die dabei stattfindenden Ausschreitungen mit pplizeilichen Maass-
regeln vorgingen.
Es werden mehrere Orte in Bayern namhaft gemacht, wo die
Sitte bestand, das Passionsspiel in der Fastenzeit aufzuführen. So
geschah dies in Aidenbach, Eichendorf, Deining, Flintspach, Peissen-
berg u. s. f. Wann und wie diese Sitte begann, ist in den meisten
Fällen nicht bekannt. Dagegen wird von dem Dorfe Oberammer-
gau Folgendes berichtet:
Während einer bösen Seuche im Jahre 1633, afe sehr viele m
Oberammergau und der Umgegend starben, gelobten die Oberammer-
gauer dem Herrn das bittere Leiden seines lieben Sohnes öffentlich
darzustellen. Als dieser Beschluss gefasst war, starb niemand mehr
in Oberammergau, obgleich es noch viele bereits von der Krankheit
Ergriffene gab. **) Zum ersten male wurde die Passions tragödie im
Jahre 1634 aufgeführt. Bis 1674 erfolgte die Darstellung alle zehn
Jahre; dann wieder schon nach einem Zeitraum von 6 Jahren, im
Jahre 1680 wurde wieder gespielt und von da an fand das Spiel
mit wenigen Unterbrechungen alle zehn Jahre statt.
•) Ludwig Clarus, „das Passionsspiel", München 1860, S. 70.
•*) Clarus sucht darzuthun, dass wahrscheinlich schon vor 1633 die Sitte
solcher Aufführungen in Oberammergau bestand und dass das Gelübde sich nur
auf die regelmässige zehnjährige Periode bezogen habe.
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Hefi 9 u. 10. 3a
446 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
Der Verfasser des Stücks ist unbekannt geblieben. Gewiss ist
aber, dass einige Geistliche aus dem unweit von Oberammergau ge-
legenen Kloster Ettal bei den Aufführungen thätig waren, an dem
Texte feilten und an der Anordnung Theil nahmen. Das Stück, wie
es ursprünglich gespielt wurde, ist wesentlich verschieden gewesen
von der Form, in welcher das Passionsspiel gegenwärtig gegeben
wird. Nimmt man die plumpen Scherze aus, welche sich heute noch
die römischen Kriegsknechte mit dem Heiland, dem Barnabas und
den Schachern erlauben, welche indessen sehr maassvoll gehalten
sind und keineswegs eine wirklich komische Wirkung zum Zwecke
haben, so ist die Passion in ihrer gegenwärtigen Fassung durchaus
ernst und würdig im Tone der Mysterien gehalten, während die
früheren Redactionen und Inscenirungen mit Humoresken gewürzt
waren. Ueberhaupt verhielt sich das Publicum früherer Jahrhunderte
einer solchen Bühne gegenüber viel naiver als heute. In Frankreich
war die Bühne in drei Stockwerke getheilt: oben das Paradies mit
dem dreieinigen Gott, seinen Engeln und Heiligen , möglichst mit
Teppichen verziert, unter Bäumen, dazu eine Orgel; in der Mitte
der irdische Schauplatz; darunter die Hölle, zuweilen als der offene
Höllenrachen dargestellt, der auf- und niedergehende Rachen eines
Ungeheuers. — Im donaueschinger Osterspiele wird Judas vom
Beelzebub förmlich gehängt: „der Teufel soll ihn wohl am Haken
versorgen und sich hinter ihn auf den Sprengel setzen." Judas soll
im Kleide einen schwarzen Vogel und Gedärme von einem Thiere
haben, also, 'dass der Yogel fortfliegt und die Gedärme herausfallen
wenn ihm der Teufel das Kleid aufreisst, worauf denn beide auf
dem schräg gespannten Seile zur Hölle rutschen. *) So erschien
denn auch in Oberammergau im siebenzehnten Jahrhundert Lucifer
mit seinem ganzen Hofstaat auf der Bühne. Bei der Katastrophe
des Judas sprangen Teufelchen hervor und schmausten des Erhenkten
auf die Erde fallenden Eingeweide. — Teufel, Tod und Sünde treten
auf und fassen den Entschluss, das höllische Reich durch den Tod
Christi zu befestigen, zu welchem Zwecke sie den Hass und Neid
absenden, um durch diesen die jüdische Priesterschaft, durch jenen
den Judas gegen Christus aufzuhetzen. Sehr realistisch mussten die
Prügel, mit welchen den beiden Schachern die Glieder gebrochen
werden, in rothe Farbe getaucht sein, damit sie bluttriefend aus-
sähen. Die Engel führten die Schacher ins Paradies. Wie der
•) 8. Hase a. a. 0., 36, 37, 40,
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 447
Rabbi dem Judas die Silberlinge übergiebt, „streicht ein Teifl hint an
ihm- und tanzt hinter ihm". Nachdem Judas sich erhenkt^ hat
„nebmen ihn die Teifl vom Panele herab und tragen ihn mit
Greinen in die Hölle." Bei der Seitenöffnung Christi fiel dem blin-
den Longinus das Blut auf die Augen und er wurde sehend, worauf
denn zwei Engel kamen und das Blut mit zwei Schwämmen auf-
trockneten. Nach der Auferstehung ging Christus mit den Engeln
zur Vorhölle. Adam führte ihm die Seelen entgegen; drei Teufel
liefen voran und klagten, sie seien überwunden, worauf denn Christus
eine Anrede an die Teufel hielt. Gott Vater, der heilige Geist
erschienen auf der Bühne, ausserdem allerlei Gespenster. Das Stück
war in geschmacklosen Knittelversen geschrieben.
Bei Gelegenheit von Osterspielen im sechszehnten Jahrhundert
wird erzählt, dass der Magistrat den Schauspielern eine Mahlzeit
ausrichtete oder ein paar Tonnen Bier verehrte. Das Pfarramt zu
Breslau klagt 1582: „die Actores der Gomödie haben sich als die
Bestien betrunken." — Aehnliche Extravaganzen ereigneten sich auch
später. Die Obrigkeiten begannen diese Spiele mit scheelen Augen
anzusehen. Man sah es als ein Aergerniss an, dass mit dem Heiligen
gespielt wurde, man bemerkte, in den Passionsspielen werde der
Herr Christus noch einmal gekreuzigt. Ernstere Bedenken ergaben
sich gegen die Entleerung des Gottesdienstes durch die Sonntagsauf-
führungen und gegen die nachfolgenden Gelage. Man übte Censur,
indem man die komischen Stellen unterdrückte; man verbot Geist-
lichen und Schullehrern an den Spielen Theil zu nehmen; man
machte Abzüge von der Einnahme zu Gunsten der Armenkasse.
Eine kurfürstliche Verordnung vom 31. März 1763 gestattet die Auf-
führung der „Passionstragödien" zwar an Orten, wo dieselben bisher
üblich gewesen und unter der Bedingung, dass dieselbe frühzeitig
am Tage abgehalten werde, damit „das Bauern- und anderes zu-
läufende Volk vor der Nacht wieder zu Hause sein könnte" und
Excesse vermieden würden. Der geistliche Rath hatte 1762 sein
Gutachten dahin abgegeben, „dass das grosse Geheimniss unserer
heiligen Religion einmal nicht auf die Schaubühne gehöre." Nament-
lich fand der geistliche Rath den Charfreitag und die Pastenzeit zu
der Aufführung der Passionstragödie nicht geeignet. So erfolgte
denn im Jahre 1770 ein allgemeines Verbot dieser Tragödien. Mit
Mühe erlangten die Oberammergauer durch zwei nach München ge-
sandte Deputirte eine Ausnahme von diesem Verbote für ihre Ge-
meinde, so dass im Jahre 1770 die Aufführung wie früher erfolgte.
30*
448 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
Im Jahre 1780 erhielt die Gemeinde Oberammergau auf ihr Ansuchen
ein, Privilegium, die Passion alle zehn Jahre aufzuführen. Die Auf-
ftihrung geistlicher Schau- und Trauerspiele während der Fastenzeit
und in der Charwoche war verboten. Es mochten auch bei den
Passionsspielen starke Missbräuche vorgekommen sein. Der Erz-
bischof von Sal/bunr versichert in einem Erlasse vom Jahre 1779:
^^Kin seUsameres Gemenge von Religion und Possenspiel, als die
sogenannten Passionsspiele kann nicht erdacht werden. Zu gleicher
Zoits als ein Theil der Schauspieler die betrübten Auftritte des
Leidens Christi auf das Beweglichste vorzustellen bemüht sind, und
bei aller ihrer Erastliaftigkeit schon öfters aus Plumpheit und Unver-
sUiud ins Lächerliche und Possierliche verfallen, erscheinen ganze
Rotton in Juden-, Teufels- und andere Larven verkappter Possen-
reisser^ die das zuschauende Volk duroh tausenderlei Muth willen und
Äusgolassonsfe Gaukeleien tu dorn bn^usendsten Gelächter verleiten.
Und l.ierniit sind auf einmal alle frctnimen Eindrücke, welche
die beiieutunsrsvo/.on Ceremoiüen dt-r heiliiren Charwoche. das
rührende Klagptprängo in den Gou geweihten Tempeln, die eifrigsten
Prctligten geniÄiht brühen nuKhu-n, n/^e diese Eindrücke und Er-
wtvkuuiTon sind «us dem Herzen auf einmal henmsfferissen : die
yÄrilioh Wk um n: orten naiiior liehen Eh4.ai:nni!rn der beiliiren Kirche
ÄU kinu.ivhen Bussthräiien und ai: fr] th Tiger Bekehrung verschallen
«Tigeh.iru uie Otmo-shauser sind a*fT tiid verlassen; das öffentlich
STasgt^serrie Ay.trheir.;rsi^ sichi oh:.e AnlHt^r da: das zur Lustigkeit
»Ttd Ge.jii'hteT xor'lxreiioie Vo,k fr.7.i die "V^irihfi- und Zechhäuser
xi»n iir*U'n bis i^lvrij^r.: u:e Säi::i:t'.:*4re Chutm Ms in die spateste
X s^'h T fori ; die ü a : h H , . us^e te r. ir f. u d en Truük enln^Ide . erfüllen
StrÄ5J<i^ori iiTid F flu er n/ii ihrem Jsnch7en nr^c Schau iireschrei : auf
ri»5 XoT?e kroi^j^Ttn s'e aen Si-Lr* iTiMies tic Li'J*^-!! ihn zum Spott:
y*f .Tjf^he ^^vLst^< :i:}j ;j Ä.jiex. slf lUn gfkT^XL7,icM*ii Christas den Juden
7x.m Af^g<"n;i?5S n ^ «'>ti Kiii^.ci. zur Tl^.M:»rbt : i. und gelten den Frei-
c^':is*f-rr, ri) c K t . ic: ro sst»v m i err, Xz: \ u^>^ c^ i*> k i, : ii v lische Christen thnni
(urc <»f »iÄ^i. »^sUT. iT-i^pitrrr t:T.,i K/'^.r^tliiv'X.j^T '^ie im Triumphe
) • - . tsi u^Ji . i i T* , "^ y t K ii i f u ere Kt s 1 1 . k toi ^ trij t -t ceiK-n d c emacht :
^i:r<i L.t PÄssji»T.s>|i!t'ji ^«rt-rrlf lii*^ Vi.:k vot c-fi Arl»eit, Tom Gebet
I.DC i.iji'»;'rt'i: t^'^:}!}.:^?*!! . ??/. # i«:o'iij,.;;ai iiur min ^ussigjrange ge-
^ nj.n, >;j,r n.^K'i ?t ^.»li^r Siv.\ uit- 1-ii.Suss* fcr. (V* ,c aufmerksam,
^'f '«<■})< -.»/■ V ;-jiirjt'ii-Tr. i':-.:'*:-!.. - Tr<»i7 }.. ciu-iii erhitli die Ge-
ajt'.i'iu i»'*- rs.ii IM*'*:,: r ihr i^-;^ ^tv^ji.ii. &c.:tv iiL wki^rtOiC sl R, Landau
V c-lh j f.i»*^ f'ir; üüfT'ct i»;.jtN('i. >jiift> Ivk J*i'ii*JtsUi**jw SäJäTc ziiüen
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 449
musste^ und ein Erlass aus München vom 20. Juli 1793 wiederum
hervorhob, dass die grossen Geheimnisse der Religion kein Gegen-
stand für die Bühne seien, dass das Volk durch solche Spiele von
der wahren Andacht und Anbetung abgehalten, von seinen Berufs-
geschäften entfernt, zu Müssiggang und Ausschweiftingen verleitet
werde. Den Oberammergauern wurde wiederholt eingeschärft, ihre
Spiele sollten ^auf schickliche Weise** eingerichtet sein; nur zu „be-
scheidenen und passenden Aufführungen^ von Passions-Tragödien
wurde ihnen Erlaubniss ertheilt. Auf Grund dieses Privilegiums
hatte auch im Jahre 1800 das Passionsspiel in Oberammergau statt-
gefunden und war sogar, da die Kriegsereignisse nur einen schwachen
Besuch gestattet hatten, im Jahre 1801 noch vier mal wiederholt
worden. Als aber im Jahre 1810 — es war die Zeit des aufge-
klärten Ministeriums Montgelas — die Oberammergauer die Auf-
führung vorbereiteten, machten die Kirchen- und Polizeisection bei
dem Ministerium in München geltend, dass solche Vorstellungen die
^Würde der Religion beeinträchtigen, dass sie unschicklich seien, dass
schon die Idee, auf der sie beruhen, eine grosse Indecenz sei. Aber-
mals ging eine Deputation von Oberamraergau nach München. Sie
musste sich dort sagen lassen: die Oberammergauer möchten sich
von ihrem Pfarrer das Leiden Christi predigen lassen ; das sei besser,
als wenn sie den Herrgott auf ihrem Theater herumschleppten. Sie
stellten dagegen vor, dass jede schöne und rührende Geschichte ein-
dringlicher wirke, wenn man sie leibhaftig vor sich sehe; dass ihre
Passionsaufführung sich immer als ein heilsames Mittel bewährt
habe, das Leiden und Sterben des Erlösers ihnen selbst und ihren
zuschauenden Nachbarn tiefer einzuprägen zur Heiligung ihres Lebens.
Man drohte, die Deputation, wenn sie ihr Queruliren fortsetze, aus
der Stadt zu weisen. Die Energie des Sprechers der Deputation,
Georg Lang, und die Fürsprache des geistlichen Rathes Sambuga
bei dem König Max hatten trotz aller Schwierigkeiten zur Folge,
dass das Oberammergauer Passionsspiel dennoch gestattet wurde.
1811 fanden fünf Aufführungen statt, denen im Jahre 1815 eilf andere
folgten. Der Minister Graf Montgelas war selbst unter den Zu-
schauern; ebenso der Herzog von Leuchtenberg; später der Kron-
prinz von Bayern, der König und die Königin von Sachsen u .A.
In den letzten Jahrzehnten sind hier und da ähnliche Spiele vor-
gekommen, aber sie haben nicht die Bedeutung des Oberammergauer
Theaters gewonnen. Trot^ aller Verbote fanden in Tirol derartige
Aufführungen statt. So sind denn auch dieselben 184i8 und 1849, als
450 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
jedermann that was er wollte, an einigen Orten versuchsweise wieder
aufgetaucht. Zu Liesing in Eärnthen wurde noch in der Charwoche
des Jahres 1852 auf dem Dorfplatze ein altes Passionsspiel von
56 Personen aufgeführt. Aehnliche Spiele fanden dann und wann
in Schwaben, in Salzburg, in Tirol und in der Schweiz statt. Von
den Aufführungen, welche in den fünfziger Jahren ein gewisser
Schneider in der Neubaukirche in Würzburg veranstaltet haben soll,
bemerkt ein Augenzeuge, sie seien nur eine jämmerliche Carricatur
der eigentlichen Passionsspiele gewesen.
Berühmte Schriftsteller, die ein mehr oder minder unbefangenes
Urtheil haben konnten, trugen in den letzten Zeiten dazu bei, das
Oberammergauer Passionsspiel in weiteren Kreisen bekannt zu machen.
So veröffentlichte der bekannte Naturforscher Oken als Augenzeuge
ein Referat über eine Aufführung im Jahre 1830; so erschien im
Jahre 1840 eine Abhandlung über denselben Gegenstand in den
historisch-politischen Blättern von Guido Görres; so gab endlich im
Jahre 1851 Eduard Devrient sein Buch „das Passionsspiel in Ober-
ammergau und seine Bedeutung für die neuere Zeit" heraus. Alle
berichteten von einer grossen Wirkung des Spiels, von einem hohen
ästhetischen Genüsse; alle sehen darin eine culturhistorisch- wichtige
Erscheinung.
Dass das Oberammergauer Passionsspiel so viele andere ähnliche
Spiele überlebt hat; dass es auch jetzt noch von so mächtig er-
greifender Wirkung ist; dass es von Jahrzehent zu Jahrzehent eine
immer grössere Zuschauermenge heranlockt, ist vornehmlich daraus
zu erklären, dass es sich ja nach den ästhetischen Anforderungen
der Zeit modificirt hat, dass sowohl der Text des Stückes als die
Musik des Oratoriums immer neue Ueberarbieitungen erfahren haben,
dass das stille, abgelegene Thal im oberbayerischen Gebirge unter
dem Einflüsse der modernen Geschmacksrichtung gestanden, dass
jene Gemeinde von dramatischen Dilettanten auf die Rathschläge
de'r Städter, namentlich der Münchener Acht gegeben hat.
Was die Aenderungen der Textbücher anbetrifft, so sind dieselben
in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts durch den Pfarrer Ottmar
Weiss zu Jesewang (t 1843) und später (1860) durch den Pfarrer
und geistlichen Rath Joh. Alois Daisenberger von Oberammergau
besorgt worden. Die Musik des Oratoriums componirte der Lehrer
Rochus Dedler (t 1822); neu instrumentirt wurde dieselbe (1860)
durch den Capellmeister Hünn in Landshut. Isi also auch die
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 451
Thatsache eines solchen geistlichen Schauspiels gleichsam eine Er-
scheinung aus früheren Jahrhunderten, so hat sich doch die Form
desselben wenigstens einigermaassen d^n Anforderungen der modernen
Zeit anbequemt. Erscheint einem das Passionsspiel auch als ein
Anachronismus, so findet man doch in der Aufführung vieles unserem
Geschmack, unserer ästhetischen Erfahrung Entsprechende. Ist auch
das culturhistorische Interesse an diesem Volkstheater überwiegend,
so wird doch auch in vieler Beziehung unseren Anforderungen an
die Kunst Genüge gethan. Es giebt da für den Zuschauer und Zu-
hörer Momente der höchsten ästhetischen Befriedigung.
Oberammergau lag Jahrhunderte lang an der grossen Handels-
strasse, welche die oberitalienischen Handelsstädte mit den grossen
deutschen Republiken Augsburg und Nürnberg verband. üeber
Innspruck und Partenkirchen, durch das schmale und steil ansteigende
Defil^ bei Ettal zogen lange Wagenzüge über Oberammergau nach
Schongau und von dort weiterhin nordwärts. — Bei - Ettal hatte
Ludwig der Bayer bereits im 14. Jahrhundert jenes Kloster gegründet,
dessen übrigens neuere Kirche mit stattlicher Kuppel und im Ver-
hältniss zur abgelegenen Wald- und Berglandschaffc etwas zu an-
spruchsvolle Architectur dem Reisenden auffallt. — Die Zeiten der
Herrlichkeit der Klöster sind vorbei und auch Ettal hat an Be-
deutung verloren. Die weitläufigen Klostergebäude sind, wie Aehn-
liches in den letzten Zeiten oft auch anderswo geschehen ist, in eine
grosse Brauerei verwandelt. Auch das Fuhrwesen früherer Jahr-
hunderte konnte nicht ein Haupterwerbszweig Oberammergau's
bleiben. Neue Strassen ebneten sich, directere Verkehrslinien wur-
den eröffnet, raschere Transportmittel erschienen. Die Bilder-
schnitzerei, schon früher ein sehr entwickelter Erwerbszweig in
Ammergau, ist in den letzten Zeiten die Hauptindustrie geworden.
Die feinen, geschmackvollen Erzeugnisse des Dorfes finden sich auf
vielen Märkten Europa's. Dadurch gewinnt jenes von grossen Ver-
kehrsstrassen und lebhaften Eisenbahnlinien weit entfernte Thal eine
Art kosmopolitischer Bedeutung. Die, kleinen holzgeschnitzten Kunst-
werke Oberammergau's gehen in alle Welt und fast das ganze Dorf
betheiligt sich an deren Production, aus allen Weltgegenden kommen
die Fremden nach Oberammergau zum Passionsspiel und wiederum
fast das ganze Dorf betheiligt sich an dieser dramatischen Production,
welche in naher Beziehung steht zu der Schnitzkunst. Holzwaaren
452 Das Oberammergauer Passioiisspiel im Jahre 1870.
und Passionsspiel haben vorwiegend geistliche Motive. In dem
Industriezweige wie in der Kunst streben die Oberammergauer da-
nach, die ausgezeichneten Vorbilder der Albrecht Dürer, Lionardo
da Vinci, Rafael, Rubens u. s. f. nachzuahmen. Die Leistungen
dieser einfachen Landleute stehen im Zusammenhange mit den
schönsten Epochen der Kunstgeschichte. Von Kindesbeinen an
erwerben die Mitglieder der Gemeinde als Holzschnitzer und Schau-
spieler einen Kunstsinn, wie er anderswo an so entlegenen Orten
nicht leicht angetroffen wird. Eine traditionelle Geschmacksrichtung
erbt sich von Geschlecht zu Geschlecht fort. Die meisten spielen
ihr Leben hindurch auf der Bühne des Passionsspiels, wenn auch
von Jahrzehent zu Jahrzehent in anderen Rollen. Mit drei Jahren
kommt manches Kind schon an der Hand seiner Mutter, die eine
Matrone aus Jerusalem darstellt, mitten im Volkshaufen, der den
Erlöser nach Golgatha ^begleitet, auf die Scene, spielt nach zehn
Jahren aber den Isaak in dem Bilde von dem Opfer Abraham's,
übernimmt nach wiederum zehn Jahren etwa die Rolle eines römi-
schen Legionärs, sitzt nach zehn Jahren in dem Synedrium, welches
den Process des Heilandes einleitet, oder schwingt sich zu der Rolle
eines Apostels auf, um schliesslich als Greis sich noch an zwei oder
drei Spielen mit irgend einer Statistenrolle zu begnügen. Sowohl
in den alttestamenjtlichen Bildern als in dem eigentlichen Drama
sind hunderte von Rollen zu vergeben, und wer von den Ober-
ammergauern nicht mitspielen kann oder mag, findet anderweitige
Verwendung bei dem Bau des Theaters oder der treppenartig an-
steigenden Zuschauertribünen, oder bei der Kasse oder bei dem
Orchester oder bei der Insceniriing, den Verwandlungen der De-
corationen, bei der Garderobe u. s. f. Ein so gross angelegtes
Unternehmen bedarf einer grossen Zahl von Anordnern, Aufsehern,
Thürstehern u. dgl. m. Die Zahl der Mitspielenden wird auf 400
Personen angegeben, darunter Kinder von drei Jahren und in höch-
stem Lebensalter stehende Greise; über 40 Personen stark ist das
Orchester. Ueber hundert Personen sind anderweitig bei dem Spiele
beschäftigt. Nur Oberammergauer werden bei dem Spiele zuge-
lassen. Mit fast mittelalterlich-corporativer Zähigkeit hält in dieser
Hinsicht die Gemeinde an ihren Privilegien fest. Einerseits behauptet
sich das Selbstgefühl der Gemeinde allen umwohnenden Bayern und
Tirolern gegenüber; andererseits urdnet sich der einzelne Ober-
ammergauer dem Gesammtwillen der Gemeinde unter. Die An-
ordnung des Spieles, die Vertheilung der Rollen, die wirthschaftliche
Das Oberainmergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 453
Seite des ganzen Unternehmens — alles wird als Gemeindesache
angesehen und behandelt. Der Gemeinsinn — eine der Hauptbe-
dingungen der Erfolge der dramatischen Kunst — zeichnet die Be-
strebungen der Oberammergauer aus. Eö handelt sich nicht um
Gewinnantheile fiLr die einzelnen Mitwirkenden bei einer etwaigen
Reineinnahme, sondern allerhöchstens um ein verschwindend kleines
Spielhonorar. Der grösste Theil der Reineinnahme wird zu Ge-
meindezwecken, zur Tilgung der Gemeindeschulden, zum Unterhalt
der Zeichnen- und Modellirschule verwendet. Die Oberammergauer
betrachten die Mitwirkung als die Erfüllung eines Gelübdes, als ein
Dank- und Bittopfer. Daher erklärt es sich, dass man bei den Auf-
führungen darüber staunt, wie alle Mitwirkenden so durchaus bei
der Sache sind, wie keinerlei Zerstreutheit oder getheilte Aufmerk-
samkeit wahrzunehmen ist. Nie wird man hier, wie so oft auf gewöhn-
lichen Bühnen, im Hintergrunde heiter plaudernde Statisten bemerken.
Ein auf den Zuschauer wohlthuend wirkender Eifer zeichnet das
Spiel und die ganze Anordnung aus. Jeder thut seine Pflicht. Es
ist wie eine straflfe Disciplin, die dem Ganzen eine grosse Sicherheit
verleiht. Versehen, Fehler, Verspätungen, Misslingen irgend einer
Art — das alles kann nicht vorkommen. Indem die Kinder vom
zartesten Alter für das Passionsspiel nait erzogen werden, wächst das
Personal völlig ins Spiel hinein und es entsteht eine gewisse
Tradition der Darstellungen in Familien, so dass in solchen einzelne
Rollen erblich werden. Zweimal schon, 1860 und jetzt stellt der
Bilderschnitzer Georg Lachner den Judas dar ; sein Vater spielte in
dem Jahre 1840 diese Rolle. Auch die Rolle des Petrus hat sich
vererbt. Die Bildung der Schauspieler wird durch eine Art Bühne im
Schulhause erzielt, auf welcher viele dramatische Spiele aufgeführt
werden. Man spielt etwa „die heilige Agathe", „die Brüder Jo-
seph's", „die Eroberung des heiligen Grabes*^ auch wohl Lustspiele.
Mit unermüdlichem Eifer werden Sänger und Sängerinnen von dem
Lehrer, der als Capellmeister wirkt, eingeübt. Die Kinder üben sich
in der Darstellung lebender Bilder. Recht früh findet schon die
Vertheilung der Rollen zum Passionsspiel statt; sie wird mit einer
gottesdienstlichen Handlung eingeleitet. In der Frühe schon ruft
dann die grosse Glocke die Gemeinde zu einem Hochamte in die
Pfarrkirche; die ganze Gemeinde betet, dass ihr das Unternehmen
gelingen, dass die Wahl bei der Rolleuvertheilung eine glückliche
sein möge. Die Rollen werden mittelst Abstimmung aller Theil-
nehmenden vergeben. In diesem Jahre fiel das Resultat so aus, dass
454 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
Joseph Meyr, Besitzer einer Handlung von Spirituosen und feinen
Liqueuren und ausserdem Holzschnitzer, die Rolle des Christus er-
hielt, die Rolle der Maria musste ein siebenzehnjähriges, durch
Schönheit und Sittenreinheit ausgezeichnetes Mädchen, Franziska
Flunzer, Tochter des Zeichnenlehrers Flunzer übernehmen, welcher
selbst in diesem Jahre zum zweiten male in der Rolle des Pilatus
erscheint. Der Hafner oder Töpfermeister Lang spielte den Herodes,
der Handelsmann Lang den Kaiphas ; der Malerssohn und Photograph
Johann Zwink den Johannes u. s. f. Von einem der Schutzgeister,
einem bildschönen Mädchen, welches durch ihre reizende Stimme in
diesem Sommer die Zuhörer entzückte, erzählte man, sie habe sich
zum geistlichen Berufe entschlossen und werde sogleich nach Be-
endigung des Spiels ins Kloster gehen. Mittlerweile hat sich indessen
ihr Schicksal anders gestaltet: sie hat sich verlobt. — Es sind also
nicht Bauern, welche spielen, sondern Industrielle und Handwerker,
zum Theil solche Handwerker, welche halbwegs Künstler sind. Von
eigentlichen Landleuten, von Personen, die nur mit Pflug, Egge und
Dreschflegel umgehen, wären schwerlich solche Leistungen zu er-
warten. Erinnert man sich aber der Handwerker in Shakespeare's
Sommernachtstraum, der bäuerisch-täppischen Rüpel.» die das Stück
von Pyramus und Thisbe „tragiren^\ so muss man gestehen, dass
die Oberammergauer auch nicht das allergeringste mit dem Schnock
und Zettel und Squenz gemein haben. Auf dieser Bühne ist jeder
der ihm gestellten Aufgabe gewachsen. Theaterintendanten und
Schauspieler, Decorateur und Regisseur — darüber herrscht nur eine
Stimme auch in den Kreisen Sachkundiger — können von den Ober-
ammergauern lernen. Frische Stimmen und anmuthiges Aeussere
vereinigen sich mit grossem Eifer und tiefem Studium; Hoheit und
Würde, Innigkeit und Wärme, ein richtiges Erfassen der in den
Rollen vertretenen Ideen, ein sorgfältiges Achtfei auf die gering-
fügigsten Aeusserlichkeiten — ' alles dieses bringt ein Ensemble zu
Wege, welches auf anderen Bühnen in dem Maasse sehr selten an-
getroffen werden dürfte. Von dem Augenblick der Rollenv er th eilung
bis zu der Aufführung vergehen mehrere Monate. Das Aussehen der
Persönlichkeit, Haare, Bart u. s. w. wird nach classischen Vorbildern
der Malerei der Rolle gemäss geformt, zugestutzt. Man bedarf keiner
Perrüken, keiner Schminke. An den Sonntagen werden probeweise
einzelne Stücke des ganzen Dramas aufgeführt; diB musikalischen
Proben werden regelmässig fortgesetzt; so rüstet man sich, vor dem
mehrere tausend Menschen zählenden Auditorium zu erscheinen. Es
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 455
scheint, dass die Ausstattung von mal zu mal reicher, großsartigerwird,
was aus der Vergleichung der Budgets der Aufiführungen zu entnehmen
sein dürfte. Im Jahre 1800 beliefen sich sämmtliche Ausgaben auf
655 Gulden, während die Einnahmen bei fünf Vorstellungen nur
450 Gulden betrugen ; 1801 betrugen die Ausgaben 672 Gulden und
die Einnahmen von vier Vorstellungen 1015 Gulden. *) Im Jahre
1850 betrug die Gesammteinnahme 24,000 Gulden. Die mitwirkenden
Personen erhielten 10,000 Gulden; die Kosten für Herstellung des
Theaters, für Garderobe, Malerei, musikalische Instrumente 7500
Gulden, so dass zu gemeinnützigen Zwecken noch 6500 Gulden ver-
wendet werden konnten. Der bei der Vertheilung bedachten mit-
wirkenden Personen waren 464, welche in sechs Classen geordnet
waren. Jede in die erste Classe eingereihte Person erhielt 80 Gul-
den; die andern Classen 50, 40, 30, 22, 15 Gulden. Ausserdem
erhielt jeder bei dem Passionsspiel betheiligte Feiertagsschüler
9 Gulden; kleinere Kinder und Werktagsschüler 6 Gulden: bei
vierzehn Vorstellungen, welche in dem genannten Jahre stattgefunden
hatten, jedenfalls ein sehr bescheidenes Spielhonorar. Im Jahre 1860
betrug die Gesammteinnahme bei einundzwanzig Vorstellungen und
60,000 Besuchern 54,000 Gulden. Davon wurden 14,000 Gulden für
die Garderobe und Baueinrichtung und 20,000 Gulden an Spiel-
honorar verausgabt. Der Rest wurde für den Armenfonds^ die Aus-
besserung der Kirche, für Wasserbauten, zu Darlehen an unbemittelte
Gemeindeglieder u. s. w. verwendet. Die höchste Prämie an die
Schauspieler (bei 21 Vorstellungen) betrug nur 120 Gulden. **)
In dem gegenwärtigen Passionsjahre, in welchem leider die Dar-
steüungeu durch den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges
unterbrochen worden sind, ***) haben die Ausgaben für Inscenirung^
Garderobe u. s. f. bereits die bedeutende Summe von 33,000 Gulden
betragen, und diese Unkosten sollen denn auch durch die bisher in
diesem Jahre stattgehabten Vorstellungen nahezu gedeckt sein.
Die Reise nach Oberammergau bietet mancherlei Abwechselung.
Die meisten der Fremden und Städter brechen von München mit der
Eisenbahn auf. Ich benutzte dieselbe bis Starnberg, wo das Dampf-
schiff die sehr zahlreiche Eisenbahngesellschaft aufnahm. Die Fahrt
•) Ludwig Clarus a. a. 0., S. 56.
••) J. Forsch, das Passionsspiel, Bamberg 1870, S. 32 u. 33.
***) Geschrieben Ende Juli.
456 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
nach Seeshaupt dauert etwas über eine Stunde. Etwa 12 — 15 grosse
Omnibus erwarteten uns an dem letzteren Orte und brachten uns
nach etwa 7-sttindiger Fahrt nach Oberanimergau. Das herrliche
Panorama der Gebirge, die stattlichen Dörfer, deren zwei- bis drei-
stöckige Häuser bereits ganz an die schweizerische Bauart erinnern,
das freundliche Städtchen Murnau, die oben bereits erwähnte, steil
den Berg hinan führende Strasse von Oberau nach Ettal, die Kirche
an dem letzteren Orte — solcher Art waren die Bilder, die den
Reisenden umgaben. In den hochgelegenen kahlen Schluchten der
Berge sah man hier und da noch Schnee liegen; die Loisach schäumte
neben der hohen nach Ettal führenden Strasse tief unten im
waldigen Grunde. — Ein buntes Leben und Treiben auf dem Wege.
Die Omnibusgesellschaft bestand aus etwa 150 Personen, zum
grösseren Theile wohl München er: mehrere Engländer und Eng-
länderinnen zeichneten sich dazwischen durch absolute Unkenntniss
der deutschen Sprache aus. Einige geistliche Herren hielten Gebet-
bücher in den Händen; andere weltlicher Gesinnte studirten eifrig
in dem unvermeidlichen und unentbehrlichen Bädeker; wie eine
grosse Wallfahrt sah es aus, so oft diese geputzten Herren und
Damen, wenn die Strasse sich hob, aus den Wagen steigen und eine
Strecke zu Fuss gehen mussten.
Je mehr man sich dem Bestimmungsorte näherte, desto lebendiger
ivurde es auf der Strasse. Luxusequipagen mit Insassen aus den
höheren Kreisen fuhren in scharfem Trabe recht vornehm an den
Omnibus vorüber. Eine grosse Menge Stellwagen mit darüber ge-
spannten Leinendächern enthielt unzählige Dorfbewohner aus der
Umgegend und- Tirol. Jubelnd und singend zogen auch sie zum
geistlichen Schauspiel. Lange Züge von Fusswanderern mit Rosen-
kränzen und schwarzen Büchern kamen vorüber; Männer, Frauen,
alt und jung, die meisten murmelten Gebete, rastlos dieselben Formeln
wiederholend. In diesem Anblick tritt uns die Doppelart des Passions-
spiels entgegen; es ist Theater und Kirche zugleich; es dient zur
Erbauung und zum Vergnügen; die Reise dahin ist eine Wallfahrt
und ein Pickenick; in allen Sprachen scherzende Touristen, die den
Kosmopolitismus vertreten, und bayerische und tirolische Alpenbe-
wohner, die in dem „G'spiel" eine Art Gottesdienst verehren; die
einen trachten vorzugsweise nach ästhetischer Anregung oder be-
zwecken culturhistorische Studien; die anderen wollen ihren „Herr-
gott'^ leibhaftig schauen, „durch die sinnbildliche Vorstellung seiner
erhabenen Tugenden sich zu dem Entschlüsse entflammen, in Demuth,
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 457
Geduld, Sanftmuth und Liebe ihm nachzufolgen." *) In der Vorrede
zum Textbuche, welches die Oberammergauer haben dioicken lassen,
werden diese Vorstellungen nur als „zur Betrachtung und Erbauung"
veranstaltet bezeichnet. Dem Beschauer soll Gelegenheit gegeben
werden „sich die grosse Wahrheit zu vergegenwärtigen, dass die
ganze heilige Geschichte nur ein Ziel habe — Jesum Christum";
alle die „das göttliche Urbild beschauen und bewundern, sollen es
zum Anlasse nehmen, sich zu seinen Nachbildern umzugestalten" u.
s. f. — Man muss gestehen, dass das Publicum der Logenreihen
auch andere Zwecke verfolgt. Dass aber der tiefe Ernst und die
Würde des Stoffes und der Darstellung auf alle ohne Ausnahme
wirkt, wird jeder, der einer Aufführung beiwohnte, bezeugen. Man
hört keine lauten Aeusserungen des Lobes oder Tadels. Die Zu-
schauer verhalten sich mehr betrachtend als kritisch. Es herrscht
eine lautlose Stille. Nur ausnahmsweise bricht für Augenblicke, wir
werden darauf noch zurückkommen, eine etwas heitere Stimmung
hervor, und stört in peinlicher Weise den allgemeinen Eindruck.
Ausserhalb des Theaters aber herrscht eine ungezwungene FröhJich-
keit. Die allermeisten Zuschauer sind schon am Vorabend der Auf-
führung i» Oberammergau eingetroffen. In allen Wirthshäusern ist
jedes Plätzchen besetzt, alle Privathäuser, die mit bescheidener Ein-
fachheit meist die grösste Sauberkeit vereinigen, strotzen von Frem-
den. Ganz Oberammergau verwandelt sich in einen Gasthof. Eine
bunte Menschenmenge drängt sich in den Strassen. Sowohl am Sonn-
abend abends als auch am Sonntag morgens verkünden Böllerschüsse,
deren zwölffaches Echo^von den nächsten steilen Felsmassen wieder-
hallt, das Schauspiel. Die Dorfmusikanten in Joppe und spitzem
Federhut ziehen durch die Strassen; geschäftig sieht man einzelne
Stücke der Costüme der Mitspielenden, den bunten Flitter der
Israeliten, die langen Gewänder der Schutzgeister vorbeitragen; da-
zwischen kommen denn wohl auch Rinderheerden mit harmonisch
gestimmten Glocken vorbei. Besonders belebt ist es am Vorabend
der Aufführung bei „Lang's Erben", wo ein ausserordentlich reiches
Lager von Holzschnitzwaaren ausgestellt ist.
Am Sonnabend hatten wir schönes, heiteres Wetter gehabt.
Schon in der Nacht aber fing es an zu regnen. Es regnete mit
wenigen Unterbrechungen den ganzen Sonntag hindurch — ein fataler
Umstand, da ein grosser Theil der Handlung auf dem Proscenium
•) Das grosse Versöhnungsopfer auf Golgatha oder die Leidens- und Todes-
Geschichte Jesu etc. Mülheim 1870. "Vorrede.
458 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
und in den Strassen von Jerusalem unter freiem Himmel stattfand
und auch die Schutzgeister ihre Chöre, Soli und Duette auf dem
Proscenium vortrugen. Auch weitaus der grösste Theil der Zu-
schauer befindet sich unter freiem Himmel. Es war zu verwundern,
dass die achtstündige Aufführung trotz des dazwischen arg strömen-
den Regens zu Ende gebracht werden konnte. Man erzählt von
einer Aufführung im Jahre 1750 am Pfingstfeste, wobei „man den
Schnee vom Theatrum abkehren muste," *) auch wird berichtet, dass
bei schlechtem Wetter die Spielenden zur Schonung ihrer Garderobe
und ohne Rücksicht auf die Rolle rothwollene Regenschirme ausge-
spannt und so fortgespielt hätten **), — bei der Aufführung aber,
der wir beiwohnten, hielten die Spielenden ohne Regenschirm tapfer
aus; sie schienen so ergriffen von ihren Rollen, namentlich die
Schutzgeister so erhaben über so kleine Leiden des Erdenlebens,
dass das Ausspannen rothw ollen er Regenschirme auf der Bühne
geradezu als eine baare Unmöglichkeit erscheinen musste.
Schon der Anblick der Bühne hat etwas Imponirendes. Es sind
grosse breite Räume, die eine freie Entfaltung der lebensvollen Volks-
scenen zulassen. Sehr geschickt von oberammergauer Künstlern
gemalte Decorationen, Vorhänge lassen hier und da einige übrigens
sehr verzeihliche Anachronismen entdecken. Die Strassen von Je-
rusalem zn beiden Seiten des eigentlichen Theaters sind in etwas
modernem Kasernenstil gehalten. Unmittelbar neben „der Bühne
auf der Bühne" sinjd auf der einen Seite das Haus des Kaiphas, auf
der anderen das des Pilatus, im Renaissancestil mit Balconen. Auf
den letztem spielen sich einige Verhörscenen ab ; von seinem Balcon
herab spricht auch Pilatus mit dem Volk^ und den Männern der
Synagoge. Auf dem nach den Regeln und Mustern der griechischen
Baukunst etwas zu hohen dreieckigen Giebelfelde, welches sich über
dem Vorhange der eigentlichen Bühne erhebt, sind Glaube, Hoffnung
und Liebe gemalt. Die txiebelspitze krönt das Bild eines Pelikans
mit seinen Jungen. Ueber das Theater hinweg erblickt man die
anmuthigen Höhen des oberammergauer Thaies, welche an jenem
Regentage von schwerem dicken Nebel bedeckt waren. Das Mit-
spielen eines Gewitters, wie solche in jenen Berggegenden oft vor-
kommen, zur entscheidenden Stunde der Kreuzigung, — ^ ein früherer
Zuschauer erzählt von der ergreifenden Wirkung die]ser Erscheinung
— wurde uns nicht zu Theil. - Dagegen plätscherte der Regen fast
•) Clarus a. a. 0., S. 86.
••) Hase a. a.* O., S. 136.
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 459
unaufhörlich und war besonders in der meisterhaft angeordneten
Seene der Kreuztragung, welche langsam über das Proscenium ging,
besonders stark. Es ist jedenfalls ein sprechendes Zeugniss von der
mächtigen Wirkung, dass das abscheuliche Wetter den Genuss der
Aufführung nur in sehr geringem Maasse beeinträchtigte und dass
nur sehr wenige Personen den bis auf den letzten Platz besetzten
Zuschauerraum verliessen. Unter anderen Verhältnissen, in einem
gewöhnlichen Theater wäre eine solche Ausdauer der Spielenden
und Zuschauer nicht denkbar. Allerdings hat das Drama einige
Längen, welche vielleicht vermieden werden könnten, wie denn
namentlich die Verhandlungen vor den verschiedenen Geridits-
instanzen: Kaiphas, Pilatus, Herodes zu weit ausgesponnen sind;
allerdings könnte man sich einige Recitative des Prologs gekürzt,
einige lebende Bilder fortgelassen wünschen, im Ganzen aber hält
das Interesse an der Musik, an den Bildern, an dem Stücke bis zu-
letzt an.
Diese drei Formen des Passionsspiels wollen wir gesondert
betrachten.
Das Drama ist in achtzehn „Vorstellungen'^ getheilt und jede
derselben wird durch Gesang und lebende Bilder eingeleitet. Dieses
von den neunzehn „Schutzgeistern" gesungene Oratorium unter-
bricht also die Handlung in jedem Zwischenact. Der Chor ver-
mittelt einerseits zwischen den lebenden Bildern, deren Stoffe aus
dem alten Testament entlehnt sind, und dem eigentlichen Passions-
spiel, andererseits zwischen dem Publicum und allem, was auf der
Bühne vorgeht. In früheren Zeiten erschien ausser dem Prolog,
welcher sich bis jetzt als Chorführer erhalten hat, und in diesem
Jahre durch einen bildschönen Mann und ausgezeichnet tüchtigen
Sänger vertreten ist, noch ein Passionsgenius oder „Argumentator",
welcher die bedeutendsten Scenen dem Publicum erklärte. Eine
ähnliche Stellung nimmt jetzt der Chor der Schutzgeister ein. Er
zieht die Summe, er fällt das Urtheil, er klagt, tadelt, jauchzt,^
triumphirt in lyrischen Ergüssen bei Gelegenheit der Vorgänge auf
der Bühne, erläutert die lebenden Bilder sowohl als die einzelnen
Phasen der Leidensgeschichte, macht auf den Zusammenhang beider
aufmerksam; er steht über der Handlung, reflectirt in hohem, pro-
phetischem Predigtton über dieselbe. Recitativisch, an einzelnen
Stellen, namentlich vor der 16. Vorstellung, welche den Gang nach
Golgatha zum Gegenstande hat, melodramatisch, stellweise choralartig
und mit Begleitung von Blasinstrumenten wie z. B. unmittelbar vor
460 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
der Kreuzigung, mit steter Abwechselung von Duetten, Soli und
Chören ist die Musik der Zwischenacte ein vollständiges Oratorium.
Sie ist einfach gehalten und dürfte in Stil und Charakter am aller-
meisten sich mit den Haydn'schen Compositionen dieser Gattung
vergleichen lassen. Oft wird man unwillkürlich an die „Schöpfung'
oder die „Jahreszeiten" erinnert. Heiter und weltlich, dazwischen
froh und jubelnd sind diese Arien gehalten, deren Melodien leicht
fasslich, bisweilen etwas trivial sind, die aber, bis auf einige Soli,
welche schwächer und nicht ganz correct gesungen wurden, durch-
gängig meisterhaft eingeübt und vorgetragen, die Wirkung des ganzen
Passionsspiels erhöhen, wir möchten sagen, wesentlich bedingen. Es
ist wohl über die Länge dieser musikalischen Zwischenacte geklagt
worden, man hat die Bemerkung gemacht, das's (tes Interesse an
der Handlung, je näher dieselbe der Katastrophe komme, diese lyri-
schen Pausen des Dramas fast lästig erscheinen lasse; wir können
diese Ansicht nicht theilen und haben bis zum Schlüsse mit beson-
derer Genugthuung die Schutzgeister immer wieder auf dem Pro-
scenium erscheinen sehen. Auch erregte diese Leistung der Ober-
ammergauer als solche am meisten unsere Bewunderung. In dem
Drama erfordern nur die hervorragenden Rollen ein tieferes Studium,
während die Rolle der grossen Masse des Volks, die Rollen der
Kriegsknechte u. dgl. den Fähigkeiten so mancher einfacher Land-
leute leicht entsprechen mögen; bei den lebenden Bildern wird nur
von denjenigen Kunstverständniss und Kunstübung erfordert, welche
die Gruppen ersinnen und aufstellen, die Anordnungen wegen der
Decorationen und Costüme treffen, während es sich bei der grossen
Masse der Darsteller in den lebenden Bildern um nicht viel mehr
als um einige Dressur handelt; bei der Musik dagegen ist es ein
Orchester von etwa 70 Personen und ein Chor von neunzehn
Sängern und Sängerinnen, welche ein prächtiges , ungemein ent-
sprechendes Ensemble zu Wege bringen, und dazu gehört sowohl
viel Anlage und Talent, als auch unermüdlicher Eifer bei jedem Ein-
zelnen. Man muss die Präcision der Ausführung bewundern. In
einem so grossen, unbedeckten Raum, vor einem Publicum von
6000 Personen erscheint der Chor aus nur neunzehn Stimmen be-
stehend uns daher so überraschend voll und stark, weil da eben ein
jeder so überaus gewissenhaft das Seine dazuthut um die Gesammt-
Wirkung zu erhöhen. Einzelne der Stimmen setzen durch ihre Kraft,
Sicherheit und Frische in Erstaunen. Der Chorführer oder Prolog
imponirt durch die Würde seiner Haltung, den Adel seiner Erscheinung,
DnB Oberammergauer Passions^piel im Jahre 1870. 46%
die Energie seiner Stimmmittel; zwei weibliche' Schutzgeißter, eine
Alt- und eine Sopranstimme, leisten in der That Ungewöhnliches. Der
Chor bringt eine weihevolle Stimmung in das Ganze; er weist hin
sowohl auf das Detail der einzelnen Vorgänge in den Bildern und
im Drama, ak auch auf die ewigen Wahrheiten, die grossen Ideen,
welche dem Passionsspiel zu Grunde liegen. Er hat eine prieater-
liche Stellung. Mit einem steifen, aber eben deshalb wirkungs-
reichen Ceremoniell erscheinen die Schutzgeister von rechts und
links in langer Reihe auf dem Proscenium, in geschlechtslosem
Costüm, in langen bunten aber einfarbigen Gewändern, wie im
königlich-priesterlichen Staate mit Diademen geschmückt. Mano)^
reizender Lockenkopf dieser Landmädchen trägt diesen Reif mit
Hoheit und Demuth zugleich. Würdevoll und angemessen sind die,
vielleicht etwas zu gehäuften, Declamationsbewegungen der Arme,
mit denen die Schutzgeister ihren Gesang begleiten. Bei jedesmaligem
Hervortreten macht der Prolog mit einigen gesprochenen Worten
den Anfang; hierauf folgt der Chor, der von einer Arie oder von
einem Duett unterbrochen wird. Letztere Gesangsstücke begleiten
die lebenden Bilder, während der Chor auseinandertritt, um sich zu
beiden Seiten der Mittelbühne aufzustellen* Ist dann nach einig^a
Minuten der Vorhang der Mittelbühne wieder gefallen, so tritt die
Reihe der Schutzgeister wieder in den Vordergrund und es folgt
wiederum der ununterbrochene Chorgesang, nach dessen Beendigung
die Schutzgeister wiederum in langer Reihe zu beiden Seiten ab-
gehen. *) Von den Muisikstücken sind besonders hervorzuheben, das
Sopransolo vor der dritten Vorstellung „Wo ist er hin?*, das unbe-
schreiblich ergreifend gesungen wurde, der Chor vor der 17. Vor-
stellung:' „Liebe ! Liebe! in dem Blute," ein Duett aus dem Halle-
lüja der Schluss Vorstellung, der Gesang bei der Fusswaschung vor
dem Abendmahl u. s. f. Es ist sehr zu beklagen, dass das Oratorium
nicht im Druck erschienen ißt, also weiteren Kreisen ganz unzu-
gänglich bleibt, während es in der That Verbreitung verdiente. Als
Grund der Nichtveröflfentlichung dieser Composition wird die Be-
sorgniss der Oberammergauer angeführt, es möchte, wenn auch das
Oratorium allgemein bekannt würde, leicht eine Nachahmung des
Passionsspiels an anderen Orten versucht werden. Diese Besorgniss
erscheint völlig unbegründet. Es gehört die Tradition und Ktmst-
übung von Jahrzehnten und Jahrhunderten dazu, anderer Bedingungen
*) Die Zahl der Schatzgeister nimmt zu. 1860 gab es deren nur 17.
Baltische Monatsschrift, K. Folge, Bd. I, Heft 9 u. 10. 31
463 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
zu geschweige!!, am das za Stande zu bringen, was die Oberammer-
gauer leisten. An eine irgendwie gelungene Nachahmung des
ganzen Unternehmens wäre nicht zu denken. Es wäre zu wünschen,
dass solche zünftische Bedenken beseitigt würden. Wir sind im
Qegentheil überzeugt, dass die Verbreitung der Eenntniss des Ora-
toriums dazu beitragen würde, die Frequenz des Besuchs der Spiele
zu steigern.
Der Chor der Schutzgeister ist durchaus undramatisch. Er ist
rein lyrisch und didaktisch. Früher erschienen diese Genien mit
den Werkzeugen des Leidens Christi in den Händen. Jetzt ist auch
dieses Beiwerk beseitigt. Recht wirkungsvoll ist das Erscheinen
des Chors zu der Vorstellung der Kreuzigung in schwarzen Mänteln
mit schwarzen Diademen.
Was den Text der Gesänge anbetrifft, so ist er nur zum Theil
ansprechend. Es kommen viele alttestamentliche Specialitäten zu
Tage^ man muss mit der jüdischen Geschichte recht vertraut sein,
um mit Namen wie Gabaa, Amasa, Vasthi, Dothaim, Ramoth,
Naboth u. s. w. Begriffe zu verbinden. — Die Dichtung er-
innert bisweilen an den Ton BQopstock's; sie ist pathetisch, rhetorisch.
An einzelnen Stellen geht sie über die Mittelmässigkeit gewöhnlicher
Oratorientexte zu grösserer Höhe hinauf. Sehr ansprechend ist z. B.
der Text zu dem Bilde „die liebende Braut beklagt den Verlust
ihres Bräutigams". (Hohelied 5, 17.)
Solo: Wo ist er hin? Wo ist er hin
Der Schöne aller Schönen?
Mein Ange weinet, achl nm ihn
Der Liebe heisse Thränen.
Ach komme dochl ach komme doch,
Sieh* diese Thränen fliessen,
Geliebter I wie du zögerst noch,
Dich an mein Herz zu schliessen.
Mein Auge forschet überall
• Käch dir auf allen Wegen;
Und mit der Sonne erstem Strahl
Eilt dir mein Herz entgegen.
Weehselgesang: Geliebter! ach, was fühle ich?.
Wie ist mein Herz beklommen!
Geliebte Freundin, tröste dich!
Dein Freund wird wieder kommen.
Das Oberammergaaer Passionsspiel im Jahre 1870. 468
0 harre Freundin I bald kommt er,
Schliesat sich an deine Seite,
Dann trübet keine Wolke mehr
Des Wiedersehens Freude. — u. s, f.
Der Gesang der Schutzgeister und die dem alten Testamente
entlehnten lebenden Bilder gehören zusammen. Die letzteren,
zwischen die Vorstellungen des eigentlichen Dramas hineingeschoben,
vermitteln so den Zusammenhang des alten und neuen Bundes. Die
Analogien sind oft etwas keck gewählt, wie denn z. B. die Rettung
des Jonas aus dem Bauche des Wallfisches mit der Auferstehung,
die Verstossung der Vesthi und Erhebung der Esther durch König
Ahasver mit dem letzten Gange nach Jerusalem, die Arbeit Adam's,
der im Schweisse seines Angesichtes sein Brod essen muss, mit dem
Gebet in Gethsemane zusammengestellt wurden. — Im Ganzen wer-
den acht und zwanzig Bilder gezeigt, darunter einige, in denen etwa
300 Personen, darunter viele Kinder, auf der Bühne erscheinen.
Ein solches Gedränge auf relativ engem Räume, wie es bei dem
Bilde „Joseph wird als Landesvater dem Volke vorgestellt'* oder
bei dem vorletzten Bild „das Volk Israel zieht trockenen Fusses
durch das Rothe Meer" vorkommt, wirkt nicht malerisch. Indessen
muss man erstaunen über die Geschwindigkeit, mit welcher so grosse
complicirte Gruppen sich aufstellen und über die Ausdauer, mit
welcher selbst die kleinen Kinder mehrere Minuten lang in der vor-
geschriebenen Stellung verharren. Kein Glied regt sich, keine
Wimper zuckt. Wie Wachsfiguren stehen diese Menschen da, die
sich zum Theil durch ungewöhnliche Schönheit auszeichnen, wie
z. B. Joseph in dem soeben erwähnten Bilde, oder Adam. Mögen
auch einige Bilder weniger geschmackvoll sein, wie z. B. Jonas mit
dem Wallfische, die Losung zwischen zwei Böcken, von denen der
eine entlassen, der andere für die Sünden des Volkes geschlachtet
wird, oder der Untergang der Feinde des Volkes Israel im Rothen
Meere, so sind doch andere von überraschender Wirkung. Ein
prächtiges Bild, „der Herr giebt dem Volke das Manna und die
Weintrauben aus Kanaan'^ zeugt ganz besonders von einer sehr
grossen Geschicklichkeit in Inscenirung und Gruppirung. Sehr ge-
lungene Bilder sind „die Vertreibung Adam's und Eva's aus dem
Paradiese", „der Abschied des jungen Tobias von seinen Aeltem",
„die liebende Braut beklagt den Verlust ihres Bräutigams^*, „die
Söhne Jakob's verkaufen ihren Bruder um zwanzig Silberlinge".
Man merkt es wohl, dass diesen Bildern herrliche Schöpfungen von
31*
4iM JHm Oberammergaaer Passionsspiel im Jahre 1870.
ran Eyck, Dürer, Holbein u. s. w. zuxp Muster gedient haben. Von
wahrhaft; grossartiger Wirkung ist die Himmelfahrt Christi, wobei
die versammelte Gemeinde in massiger und daher um so malerischer
wirkender Menge von Personen in Verehrung sich vor dem erhabenen
Schauspiel des Auferstandenen beugt; Christus mit rothseidenem
Mantel, die grosse Fahne mit dem rothen Kreuze in der Hand schwebt
empor, unbeschreiblich rührende Kindergestalten, Greise, Männer und
Frauen stehen und knien umher. Es ist dieses zugleich das letzte
lebende Bild und die letzte Scene im Drama, von dem Halleluja
der Schutzgeister begleitet.
Das eigentliche Drama hält sich möglichst an die Bibel worte,
vornehmlich in der Rolle des Christus. Volksscenen, die Satzungen
in der Synagoge, die Verhöre und Verhandlungen vor Kaiphas,
Pilatus, Herodes sind freier behandelt, und von geringerem poetischen
Werthe. Dazwischen giebt es Plattheiten und Trivialitäten, wenn
es z. B. vom Judas heisst, er habe wahrscheinlich schon ^ da er
Seekelmeister sei, „sein Schäflein im Trocknen''. Auch bei dem
Drama hat man übrigens in den letzten Zeiten noch manche passende
Aenderungen gemacht Petrus in der Verleugnungsscene, welche
übrigens vortrefflich genrebildartig dargestellt wird, schwor früher
recht cavaUermässig: „bei meiner Ehre", was jetzt nicht mehr vor-
kommt. Die Mitwirkung der Engel reducirt sich jetzt auf nur sehr
wenige Augenblicke; während früher z. B. zwei Engel in weissen
Kleidern und mit wollenen weissen Handschuhen den Grabstein vor
der Auferstehung umwarfen, fällt der Stein jetzt von selbst um. Es
ist lobend anzuerkennen, dass die Direction allzu drastische Effecte
zu vermeiden sucht. Ein edles Maasshalten ist die Regel. Beson-
ders vor einem Auditorium, welches seinem grössten Theile nach den
niederen Volksclassen angehört, wäre es sehr gefährlich, irgendwie
stark aufzutragen. Obgleich die Stimmung der Zuhörer im Ganzen
»ehr ruhig und würdig ist, kommen doch Momente der Unter-
brechung dieser Stimmung durch Heiterkeit vor und solche Störungen
beeinträchtigen in peinlichster Weise die Wirkung des Passionsspiels.
Als Christus die Krämer au& dem Tempel verjagt und die befreiten
Tauben lustig fortflattern, wird gelacht. Mag Christus mit noch so
viel Würde und Mässigung einem der Wechsler einen leichten Schlag
versetzen, — das Publicum wird heiter. Als Petrus dem Malchuf
das Ohr abhaut, •— entsteht Gelächter. Das Krähen des Hahnes, in
der Verleugnungsscene erregt eine frohe Stimmung; ebehso wirkte
das gierige Einstreichen der Silberlinge durch Judas auf das Publicum
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 46S
als eine Burleske, während es durchaus nicht allzu chargirt gespielt
wurde. Die grösste Heiterkeit aber erregte der Pudel in dem Bilde
ron Tobias. Kaum hatte der Vorhang sich zur Hälfte gesenkt, als
das Thier, welches mehrere Minuten lang wie ausgestopft gelegen
hatte, aufsprang und mit dem Schwänze wedelte. Ein schallendes
Gelächter war die Folge. Solche Episoden sind gefährlich.
Dass hier und da der oberammergauer Dialect, namentlich in
den Volksscenen, auch wohl in den Sitzungen der Synagogen das
Hochdeutsch unterbricht, in welchem sonst gesprochen wird, ist nicht
störend. Die Hauptpersonen lassen sich übrigens dergleichen nie zu
Schulden kommen.
Das stumme Spiel aller, der Hauptschauspieler sowohl als der
Statisten ist bewundernswürdig. Jeder thut seine Pflicht mit grösstem
Eifer; das Zusammenspiel ist vortreflflich. Wenn die Volksmenge
ruft, schreit, jauchzt, fordert, klagt, so ist jedes Wort zu rerstehen.
Wenn das Volk schreit: „er sterbe" oder „gieb uns den Barrabas
los", so ist die Wirkung bei einer so gewaltigen Zahl von Statisten
und solcher Virtuosität imposant. Hier wie in den lebenden Bildern
muss man die Aufstellung in Gruppen bewundern. Bei einem so
gewaltigen Gedränge kommt nie irgend eine Unordnung vor. Es
muss ein bedeutendes Studium der Darstellung dieser Volksscenen
vorausgehen, deren vollendete Technik selbst einen so gewiegten
Kenner wie Eduard Devrient überraschte. Einen ungemein fesselnden
Anblick bietet gleich die erste Scene des Einzuges Christi in Jeru-
salem, wo sich alle Räume der Bühne mit malerischen Gruppen
ftlllen und die Buntheit der Costüme, die Schönheit des Gesanges
„Hosianna", die Hoheit und Würde, die Milde und Sanftmuth des
Heilandes, der nach Frauenart auf einer Eselin reitet, die vielen
reizenden Kindergestalten — einen wunderbaren Eindruck hervor-
bringen. Sehr beachtenswerth ist die Schnelligkeit, mit welcher,
während der Zug sich aus der Strasse rechts auf die Mittelbühne,
von da in die Strasse links und auf das Proscenium fortbewegt, auf
der Mittelbühne die Decoration der Landschaft, welche Jerusalem
umgiebt, in den Tempel verwandelt wird, wo Christus, als er von
der Eselin absteigt, sogleich die Wechsler antrifft.
Hier folgt dann gleich die Schürzung des Knotens im Drama.
In imposanter Haltung tadelt Christus die Wechsler. Mit unnach-
ahmlicher Würde, an die Kraft des Spiels eines Davison oder Dessoir
bei ähnlichen Gelegenheiten erinnernd, wirft er einen Wechslertisch
um und verjagt alle Krämer. Damit ist sein Schicksal beschlossen.
466 Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870.
fjin solcher Eclat dient als Handhabe ihn zu verderben. Alles dreht
sich nachher etwas „gemein pragmatisirend^, wie Hase treffend be-
merkt, um diese Episode mit den Wechslern^ und die Elatastrophe
entwickelt sich so gut wie ausschliesslich aus dem Zorn der Schacher-
juden und der Habsucht des Judas. Die Sitzungen der Synagoge,
welche übrigens vortrefflich gespielt werden, geben uns nicht eigent-
lich den Eindruck, dass es sich hier um zwei grosse, einander feind-
liche Principien handelt, welche für die Welt entscheidend waren.
Die neuen Ideen des Christenthums im Gegensatz zum Judenthume
kommen nicht zur Geltung. Sie sind dramatisch nicht zu verwerthen.
Die eigentliche Handlung muss daher ihren Angelpunkt in der Ge-
schichte mit den Schacherjuden und der Geldspeculation des Judas
haben. In diesem Punkte ist das eigentliche Passionsspiel, das
Drama, wenn man sich des grossen Stoffes erinnert, unbefriedigend.
Man empfindet, wie nothwendig es ist, das Drama durch die Lyrik
der Schutzgeister zu ergänzen.
Denn die Rolle des Christus selbst ist undramatisch. Er ist der
Held eines Trauerspiels oder soll es sein, aber er handelt mit der
einzigen Ausnahme dieses Vorgehens gegen das Unwesen im Tempel
gamicht. Er leidet nur; er spricht wenig. Selbst sein stummes
Spiel ist dadurch sehr beeinträchtigt, dass sein^ Hände während
des grössten Theiles des Stückes gebunden sind. Eben weil die
Rolle des Christus sonst durchweg lyrisch ist, wirkt die Scene mit
den Schacherjuden ausserordentlich dramatisch. Aber damit ist es
denn mit der eigentlichen Handlung der Hauptperson zu Ende. Er
sieht seine Katastrophe an sich herankommen ; er ist nur stimmungs-
voll bewegt, ohne alle Leidenschaft, ohne Affect, wie dieses natürlich
der Rolle entspricht. Der klagende Ton seiner metallreichen Stimme
rührt uns, aber wirkt nicht dramatisch; der Held des Trauerspiels
erscheint sogar welk, lebensmüde, während der Verhöre, die mit
ihm angestellt werden, ohne allen Schwung. Er leidet. Es ist
eben ein Passionsspiel, kein Drama.
Dabei wird aber Jedermann das Spiel dieses Christus bewundem
müssen. Es zeugt von nicht geringer Begabung und tief eingehendem
Studium. Schon das Aeussere dieser hoheitblickenden Erscheinung
erinnert an die herrlichsten Schöpfungen der Malerei. Die Auf-
fassung auch dieser Rolle ist ohne Zweifel in Oberammei^u
traditionell. Die Darsteller der verschiedenen Jahrzehnte werden
sich vermuthlich mehr durch Aussehen und Stimme, als durch ihr
Spiel von einander unterscheiden. Das Erscheinen des Christus auf
Das Oberammergauer Passionsspiel im Jahre 1870. 467
der Bühne übt eine mächtige Wirkung auf den Zuschauer. Devrient
bemerkt in seinem Buche über das Passionsspiel folgendes: ,yDen
wunderbarsten Eindruck macht es, den Heiland, diesen vertrautesten
Gegenstand unserer Einbildungskraft von Kindheit an, diese Qestalt,
die schon in unzähligen Bildwerken vor uns gestanden, leibhaftig
vor uns wandeln zu sehen; zu hören, wie er das Volk belehrt, dieses
ihn dafür preist, und wie er den Anfechtungen der Schrifgeiehrten
begegnet. — Hier konnte von keiner Entweihung unserer Vorstellung
vom Erlöser die Rede sein, sondern sein geistiges Bild erhielt durch
sein leibhaftiges Dasein unter den anderen Menschen eine so über-
zeugende Wirklichkeit, das alles, was ich längst von seinem Erden-
wandel und Leiden mir klar gemacht zu haben glaubte, doch nun
erst eigentliche Lebendigkeit erhielt.^
Von grosser Weichheit und Zartheit ist das Spiel des Christus
in der Scene des Abschiedes von Bethanien; besonders ergreifend
das Qebet in Gethsemane. Der Vorwurf an die schlafenden Jünger:
„Vermöget Ihr nicht eine Stunde mit mir zu wachen**, wird meister-
haft gesprochen. Ausgezeichnet ist das stumme Spiel bei der Fuss-
waschung und dem durchaus an Lionardo da Vinci's Bild erinnernden
Abendmahl, bei der Geisselung und der Versöhnung durch die
^iegsknecht^ sowie in den letzten Scenen der Katastrophe. — Von
ungewöhnlicher Wirkung ist es, wenn Christus auf die Frage, ob
^r der Messias sei, antwortet: „Ich bin es, Ihr seht es,** und wenn
er bei der Gefangennehmung mit seinem würdevoll gesprochenen
^Ich bin es^^ sich zu erkennen giebt, als nach dem Jesus von Naza-
reth gefragt wird. Mit unvergleichlichem Anstand behauptet er seine
Würde bei allen Misshandlungen, auch dann, als er, wie die Kriegs-
knechte ihn als König verspotten, vom Stuhle gestürzt wird.
Es ist wohl gesagt worden, dass das dramatische Interesse gegen
das Ende des Stückes hin sich steigere.- Man ist allerdings begierig
zu sehen, wie die Inscenirung der Kreuzigung und Auferstehiuig aus-
falleji werde; sonst ist man in dem Stoffe zu sehr zu Hause, um
auf die Vorgänge als solche gespannt zu sein. Die Ejreuzigung ge-
währt einen eigenthümlichen Anblick. Als der Vorhang bei der
16. Vorstellung sich hebt, erblickt man die Schacher bereits an ihren
Kreuzen hängend. Christus ist an ein Kreuz genagelt, das am Boden
liegt und das während der Action aufgerichtet wird. Man muss die
Technik bewundern, mit welcher der Körper an dem Holze be-
festigt ist und ebenso die Ausdauer des Darstellers, welcher 22 Mi-
nuten hindurch in einer solchen Stellung verbleibt. Die Worte am
468 Dm Oberammergaaer Pamonsspiel im Jahre 1870.
Eremze werdea besonders ergreifend gesprochen, das Sterben und
der Tod sehr naturwahr gespielt. Das Leiden ist roUendei Was
damit fär die Menschheit gethan ist, erkennt man, wie schon ge-
sagt, weit weniger ans dem Stück selbst als aus den Bildern und
dem Oratorium.
Im Gegensatz zu der mehr lyrischen Rolle des Christas ist die
des Judas entschieden dramatisch. Die letztere ist mit feiner Cha-
rakteristik, mit psychologischer Wahrheit gezeichnet. Der schroffe
Gegensatz des Judas zu den übrigen Aposteln und der nächsten
Umgebung des Heilandes überhaupt ist sehr drastisch dadurch
wiedergegeben, dass alle anderen Figuren ebensowenig dramatisch
sind, wie die des Christus selbst, während bei dem Judas eine That
ist, eine Schuld und eine Sühne. In längeren Monologen des Judas»
in manchen Aeusserungen desselben im Verkehr mit Christus und
den Aposteln, in seinem Gebahren während der Verhandlungen mit
dem hohen Rathe wird seine Handlungsweise als im Einzelnen
motivirt dargestellt. Er ist durchaus menschlich gehalten, während
die anderen Personen einer überirdischen Sphäre anzugehören
scheinen. Gespielt wird diese Rolle zum Theil vorzüglich. Die
Selbstmordscene findet fast bis zu Ende auf der Bühne statt. Judas
erscheint in einer wüsten, unheimlichen Gegend; man sieht den
Baum, an welchem er sich erhängen will; er legt die Schlinge nach
einem recht wirkungsvollen Monolog an den Baum — der Vorhang
fällt. Es wäre heutzutage schlechterdings unmöglich, ohne vollstän-
dige Umwandlung des ganzen Charakters des Passionsspiels bei
dieser Gelegenheit Teufel auf der Bühne erscheinen zu sehen.
Die anderen Apostel sind treue Copien sehr bekannter Gemälde
und erinnern namentlich an die dürerschen Bilder in der alten
Pinakothek zu München. Die Jungfrau Maria wird von einem sehr
jungen, bildschönen Mädchen gespielt. Sie hat nur eine kleine
Rolle und erscheint in den meisten Scenen nicht anders als aufge-
löst von Schmerz. Die verhältnissmässig sehr bescheidene Bedeutung
dieser Rolle in der Oekonomie des Stückes liefert den besten Be-
weis, dass das Passionsspiel überhaupt nicht irgendwie als eine
künstlich erhaltene Treibhauspflanze des Ultramontanismus angesehen
werden darf. Von irgendwelchem Mariencultus ist hier keine Spur
zu finden. In früheren Spielen hatte die Maria eine grössere Rolle.
Für die Marienklage gab es firüher besondere Gedichte. Jetzt ist sie
nur die mater dolorosa mit vorwiegend stummem Spiel. Sie erinnert
an Madonnen von Holbein und Dürer; das Aufschlagen ihrer Augen
Das Oberammerganer Passionsspiel im Jahre 1870. 469
an Guido Reni's Bilder. Wie die Kreuzabnahme nach einem Bilde
von Rubens in dem Dome zu Antwerpen inscenirt ist, so erinnert
auch die Gruppe der Maria mit der Leiche des Christus an die
Pietä so manches bedeutenden Meisters. Der Höhepunkt der Rolle
der Maria ist der Augenblick, als sie dem sich auf dem Wege nach
G-olgatha befindenden Zuge mit dem kreuztragenden Christus be-
gegnet, ihn erkennt und mit dem Jammerrufe: „er ist's, mein
Jesus^^ der Maria Magdalena in die Arme sinkt.
Gut gespielt wurden die Rollen des vornehmen staatsmännischen
Pilatus, des frivolen, egoistischen Herodes, der fanatischen Hohen-
priester. Weniger gut die Rollen der anderen Frauen und des Johannes.
Solcher Art ist das Passionsspiel in Oberammergau. Es er^
scheint als eine „vorsündflutliche Rarität*\ als ein Stück Culturge-
schichte aus früheren Jahrhunderten, und ist doch ebenso wenig
antiquirt, als etwa RafaePs sixtinische Madonna oder van Dyk's
Bild von der Kreuzabnahme je veralten werden. Hat sich einerseits
dieses Spiel in Oberammergau, nachdem der ganze Brauch solcher
Dramen überall anderswo untergegangen ist, gleichsam künstlich
wie unter einer Glasglocke erhalten und erinnert so etwa an die
Ausgrabungen in Pompeji, so ist es doch andererseits dem modernen
Geschmack mundgerecht gemacht und weist die Spuren der ge-
schichtlichen Entwickelung der letzten Jahrhunderte auf. Es erscheint
als ein geistliches locales Volksfest für die von dem bunten
Treiben der Hauptstä.dte weitentfemten Bergbewohner und wendet
sich zugleich als ein wirklich bedeutendes Kunstwerk an den Ge-
schmack des gesammten gebildeten Publicums. Es giebt uns einen
Begriff von der Volksmässigkeit des Theaters in früheren Jahr-
hunderten; es verleiht uns ein kleines Verständniss für die Wirkung
und Bedeutung des Chors in der griechischen Tragödie. Ob man
Stiidter oder schlichter Landmann, ob Fachmann in der Schauspiel-
kunst oder anspruchsloser Laie, man wird sich stets mächtig
ergriflfen fühlen von diesem Oberammerganer Passionsspiel. *)
*) Wie wir hören, sollen die durch den Krieg unterbrochenen Aufführungen
in dem nächsten Jahre wieder aufgenommen werden. Die Frequenz ist im
Steigen begriffen. Ein Amerikaner, der dem Passionsspiele beiwohnte, soll in
etwas derber Weise gesagt haben: „Ihr Deutsche seid dieses Passionsspiels gar
nicht werth; ihr wisst «s gar nicht zu würdigen. Würde es in Amerika gegeben,
selbst der Aermste würde zu demselben reisen.** Forsch, a. a. 0., Bamberg,
1870, S. 3. —
A. Brückner.
Correspondenzen.
Riga, den 19. (31.) October.
))Xolitik und immer wieder Politik! Das Nächste wird vergessen
über dem Weiten, die Erde, auf der wir stehen, über der Sonne am
fernen Horizont!** So werden Sie vielleicht ausrufen beim Lesen dieser
Zeilen. Und wirklich scheint alles stillzustehen gegenüber der Be-
wegung, die in die grosse Politik gekommen ist. Wie sollte ein
denkender Deutscher auch anders gestimmt sein, was hätte noch
Raum neben den Gedanken, die auch bei uns Alle ausschliesslich
beschäftigen? Haben wir nicht Grund genug, den täglichen Ereig-
nissen mit gespanntester Aufmerksamkeit zu folgen und ist es nicht
unsere Pflicht als Erdenbewohner, auch über die Bewegung der
Sonne nach Möglichkeit uns klar zu werden, nach vollem Verständ-
niss des Werdenden zu streben? Und endlich wissen Sie ja: die
Gestirne angucken ist ein harmloses Vergnügen, das man sich er-
lauben darf, wenn auch manches Andere nützlicher wäre. —
Eine Dame meiner Bekanntschaft sagte vor einiger Zeit, sie
habe schon oft gewünscht, zu sterben; nun danke sie Gott, dass
sie noch lebe, diese Zeit zu sehen. So schleicht eine Ahnung von
der Bedeutung der Gegenwart umher und erfasst hie und da eine
kluge Frau, einen Mann mit weiterem als dem gewöhnlichen Ge-
sichtskreise. Dass aber jetzt schon bei der Mehrheit aus der Ahnung
eine klare Vorstellung, aus dem Merken ein Verstehen geworden
wäre — da ist man noch weit von entfernt. So geht es immer.
Wenn man im Meere steht, und es stürmt, dass die Wellen hoch
gehen ^ dann erwarten fröstelnde Naturen die heranschäumenden
Wasser gern mit dem Rücken zu ihnen gewandt. Die Welle geht
ihnen über den Kopf, sie empfinden die Nässe, aber erst wenn die
Welle längst vorüber ist, sehen sie, wie gross sie war, wie viel
Wasser an ihnen vorüberfloss; und nur die aufrecht mit dem Ge-
sicht gegen den Sturm stehen, sehen die Höhe der herankommenden
Woge und J^önnen den Kopf darüber erheben. — So trivial das Bild
— 1
Correspondrasen. 471
aus dem Badeleben in Dnbbeln ist, und so viele Bilder auf diesen
Gegenstand schon gemacht wurden, ein Qutes hat es: der nackte
Mensch gegenüber dem Element deutet die Verhältnisse an,
die den grossen geschichtlichen Ereigidssen eigen sind; und dann:
es ist ein Bild, von einem Balten am sandig-flachen Strande der
Ostsee aufgelesen,^ von der Heimat genommen und heimatlich ge-
dacht. Die da drüben über der Qrenze würden dem kaum zu-
stimmen. Die grossen Leute an der Weltmaschine glauben den
Aeolusschlauch in der Hand zu haben, und sie öfi&ien ihn so oder
so, und jagen das Wasser bergehoch vor sich her. Aber, weiss Oott,
sie irren sich dennoch! Sie mögen in dem Meere hie und da die
Richtung der Wellen ändern, bestimmen, es mag die Brandung an
manchem Felsen lange sich brechen — die Strömung entsteht doch
aus dem Qanzen und im Oanzen. Freilich darf man sich dadurch
nicht soweit irre leiten lassen, den Einzelnen in der Bedeutung seiner
Thätigkeit zu unterschätzen. Wir sind dazu geneigt wenn wir ein-
mal den Blick erhoben haben und weither das Herabkommen sehen,
was im nächsten Augenblick uns und alles um uns her bewegt, und
so freuen wir uns fast der Nothwendigkeit in der Massenbewegung,
weil wir dem Einzelwillen zu viel zumuthen und uns gewöhnt haben,
von seiner realen Freiheit zu reden.
Um nun auf die Thatsachen zu kommen: welche Widersprüche
stehen sich wieder einmal in Deutschland gegenüber, welch ein
Wirrwarr im Einzelnen unter der im Allgemeinen und Ganzen un-
verkennbar in einer Richtung treibenden Strömung! Sieht man nur
das Nächste an, sq könnte man an der Richtung des Qanzen fast irre
werden. Ich spreche nur von den Thatsachen, nicht von den
Phrasen, an denen Deutschland leider noch immer reich ist, nicht
von den Einigkeitsphrasen, die am Ende doch nur ^o lange im
Munde geführt werden, als die Hand sich nicht dafür zu rühren
braucht.
Da hört man wieder das alte Gezwitscher dieser Männer mit
den Zeisigköpfen von den berechtigten Eigenthümlichkeiten und der
berechtigten Sonderstellung; da will der für sein Bier eine besondere
Steuer, der will die Militärhoheit in seinem „engeren Vaterlande**
in zwei Theile zerschneiden, ein Stück behalten und das andere
Deutschland überlassen, der will wenigstens die zweite Stimme
singen wenn der Bundesgesandte im Auslande seinen Mund aufthut,
der will gar nichts von einem einigen Deutschland wissen wenn
die Deutsch-Oesterreicher nicht gleich auch drin sind, der endlich
473 Conv^pondenseii.
Terbittdt sieh jede Verbindung des Sttdene mit dem Korden. Dann
wieder die Bebel nnd Liebknecht und Jacoby, die es für eine Schmaoh
halten, gegen die französischen „Brüder^ anders als mit Worten zu
hftmpfen und ihnen etwas zu* nehmen was sie nicht gutwillig geben
wollen I
Und doch sagen fast alle diese Leute, sie wollten ein einiges
Deutschland, und man muss, so schwer Einem ^das wird, es ihnen
glauben, sie wollen es in der That. Was man ihnen einwenden kann,
ist nur dies, dass sie einen nicht ganz oorrecten Ausdruck gebrauchen,
dass sie von festem Wollen sprechen, wo es sich um schwache Vel-
Uitäten, unklare, unreife Wünsche handelt, dass sie sich einbilden,
einen Zweck zu wollen, zu dem sie die einzig möglichen Mittel rer-
abseheuen. Unklar und schwächlich sind diese Willensregungen, die
sidi nie auf den einen Punkt ooncentriren und daher nie zum Ent-
schluss und zur That werden, und Jacoby, dessen politischem Ge-
wissen nach die deutschen Heere die französische Grenze nicht über-
schreiten durften, wird der Gedanke als ein Verbrechen erscheinen,
den die Prov.-Correspondenz neulich aussprach, dass jede Woche,
um die der Krieg heute verlängert wird, ein Jahr mehr des Friedens
eintragen werde, dass die Verlängerung daher wohlthätig sei. Aller-
dings, es ist ein hartes Wort, aber heutzutage stürzen die Mauern
von Jericho nicht von Trompetenblasen ein und der deutsche Staat
würde von Leuten nie erbaut werden, die unfähig wären eines sol-
chen Wortes und eines solchen Willens. Heute heisst es wieder
einmal: „Wat walsch is valsch is, sla dood!"
Aber zu dieser harten, geschlossenen Willensrichtung auf das
eine Ziel kommen jene Leute nie. Und sie stehen nicht vereinzelt.
Da zieht nun schon seit mehr denn 8 Monaten dieses herrliche Volk
über die Grenze hinaus aufs Schlachtfeld, und die zu Hause opfern
willig Väter, Brüder und häusliches Glück. Und wofür das alles?
Pro patritty wie die bannale Redensart lautet! Zur Abwehr des
Feindes. Was aber das heisst, warum wieder, seit 60 Jahren zum
dritten male, es ans mori pro patria geht, darnach wird ernstlich
wenig, zu wenig gefragt — als ob dieses moH an sich das duke d
decus wäre I Die Masse fiihlt es wohl instinctiv, dass es wieder einmal
um die Einheit Deutschlands geht — aber sie denkt daran nreist ohne
festes Ziel und festen Entschluss. Gross in der Defensive, klein in
der Offensive, wie alle Deutschen. 'Ist es die berechtigte Furcht vor
ertödtender Uniformirung, was sie ins andere Extrem treibt? Ist
es ein innerer Gegensatz, der die Blli.mme Israels unter einander
trennt, der den Hass gegen den berorsagteii jüngsten Stamm nährt?
Wer geschiehtB-philosophisch dreinschaut, könnte auf folgende Ge-
danken kommen. Die Territorialhoheit, die im Mittelalter Deutsch-
land zersetzte, zeugte die Kleinstaaten, diese zeugten den Particula-
rismus. Auf die Reichsfürsten hat man ihrerzeit gehörig geschmUit
und öiut es noch, man stürmte gegen ihre Throne an und suchte
stets ihnen die Gewalt zu entreissen. Aber die alte Territorialhoheit
der Reichsfürsten wurde nur verdrängt zu Gunsten der Landeshoheit
der Bundesfürsten und modernen Souveräne, und nun ging es gegen
diese, — um zuletzt eine Art Territorialhoheit der Völkerschaften her^
zustellen — die Nation fuhr dabei nicht besser. Die Leute, die den
Einheitsstaat nicht wollen, sind die Erben der Territorialherren und
vertheidigen nun ihr Erbe, mit so guten oder so schlechten Wa£fen
als die. Erblasser. So hat man lange gegen den Adel gekämpft und
thut es noch, und wenn seine Privil^en und nachher seine sociale
Bedeutung gebrochen sind von dem Bürgerstande, dann übernimmt
die Bourgeoisie das Erbe, bis auch sie es wieder db mtestato Andern
hinterlässt. Das ist der alte Gang in so vielen Dingen: ein ur«
menschliches Princip, das von Geschlecht zu Geschlecht fortlebt, nur
von Zeit zu Zeit eine andere Form annimmt, und dann in der
neuen Gestalt von der Menge nicht wiedererkannt und als etwas
ganz Neues, beglückend Grosses angestaunt und bejubelt wird! —
Die berechtigte Selbständigkeit Bayem's, die von den Herren Dr.
Weiss, Jörg u. s. w. gefordert wird als nothwendig zum Wohlergehen
Bayem's, zum Heil des Volkes, das sie in seiner Eigen thümlichr
keit erst ganz erkannt haben wollen; die Unantastbarkeit des Elsass
und Lothringen's, die die Bebel und Jacoby im Namen der freien
Selbstbestimmung verlang^i — es ist die alte Selbständigkeit, die schon
vor 500 und mehr Jahren gegen Kaiser und Reich vertheidigt ward,
dieselbe — vom nationalen Gesichtspunkte Skus gesehen, die diesen
Herren von eben diesem Gesichtspunkte aus dort höchst abscheulich
vorkommt. Oder war diese Selbständigkeit nicht seither der Haupt-
grund des deutschen Elends, und darum mittelbar der der vielen
französischen und anderen Kriege, die bis auf diese Stunde herab
geführt werden müssen? Und war damals diese Selbständigkeit den
Fürsten und ihren Mannen nicht eine Quelle des Wohlergehens?
Sassen Otto von Witteisbach und Heinrich Jasomii^ott von Baben-
berg mit ihren Vasallen nicht höchst zufrieden in ihren neuen
bayerisch^schw'äJbisch^ Fürstenthümem, mochten der Kaufherr und
das Bäuerlein draussen geplündert und todtgesohlagea werden, mochte
474 CSorrespondenssen.
aus dem Reich werden was wollte? Dann kam freilich die Reihe
des Todtgeschlagenwerdens gelegentlich anch einmal an sie oder
doch an ihre Enkel.
Der Ministerpräsident des letzten national-deutschen Bundes sagte
einst am 11. Januar 1849 in der Paulskirche : „Haben die Beschlüsse
der Nationalversammlung sich dieser Zustimmung der öffentlichen
Meinung zu erfreuen, dann zweifeln Sie nicht, die Nation besitzt die
Energie, diesen Beschlüssen ihre Wirksamkeit zu sichern.^ Grerade
in dieser Energie hat sich Heinrich von Gagem arg getäuscht: sie
war nicht vorhanden und ist nicht vorhanden. Dem Ministerpi^-
sidenten des neuen Bundes mag diese und manche andere Erinnerung
an seinen Amtsvorgänger förderlich und dienstlich sein, upd er fasst
sein Amt anders als jener auf. Er springt mit der sogenannten
öffentlichen Meinung manchmal etwas barsch um und kümmert sich
wenig um die neuen Wahrheiten, die das „Volk von Denkern*' ihm
gelegentlich entgegenhält. Aber sein Thun umweht doch der Msche
Hauch einer kräftigen Natur, während jene Wahrheiten wie das
Licht der Studierlampe flackern. — Wir sind — gestehen wir's
nur — in dieser Zeit alle, der eine mehr, der andere weniger, ent-
täuscht worden. Haben wir nicht gesagt? : So kann das nicht fort-
gehen mit dem Militarismus in Europa; dazu arbeiten und quälen
wir, die productive Bevölkerung, uns nicht, dass von unserem
Schweisse der grösste Theil auf die Erhaltung einer ungeheuren un-
productiven Masse verwandt wird, die nur besteht weil die euro-
päischen Diplomaten und Regierungen von den alten faulen Ge-
danken nicht lassen wollen. Haben wir sieht ferner gesagt?: Das
constitutionelle Eönigthum ist gut, aber doch treibt Europa der Re-
publik entgegen; und, man mag sie wollen oder nicht, sie wird
kommen und ist schon dicht vor der Thür. Haben wir nicht ge-
sagt?: Allerdings sind viele Fesseln der Freiheit schon gefallen, aber
der Zeitgeist drängt noch viel weiter und im 19. Jahrhundert kann
man seinen Forderungen nicht widerstehen, das Princip der Selbst-
bestimmung der Völker, der Selbstverwaltung u. s. w. ist schon so
weit eingewurzelt, dass sich daran ein gebildeter und klarblickender
Staatsmann nicht mehr so leicht vergreifen wird.
So oder ähnlich hat wenigstens die Mehrzahl der Gebildeten
geurtheilt, die die grossen, noch ungelösten Gegensätze übersah oder
unterschätzte, welche — allerdings vielleicht anachronistisch — bis
heute in den politischen Verhältnissen Europa's und besonders Deutsch-
land's bestehen und zuerst gelöst sein wollen. Nun ist man plötzlich
Corresponden^en. 475
aii9 den Träumen gestört und meint häufig in der Zeit um vieles
zurtLckgeschleudert worden zu sein, weil die Begriffe von Volks-
Wohlfahrt, von Republik, Freiheit, Völkerfrieden etwas hart mit den
Beinen auf die Erde gestellt wurden, die sie in überkühnem Fluge
verlassen wollten. Enttäuschung und Ernüchterung, das sind trotz
des Geschreies über deutschen Chauvinismus Folgen — und wahr-
lich nicht die übelsten — der etwas eigenthümlichen Behandlungs-
weise, die der grosse Patholog und Chirurg den Dingen angedeihen
lässt« Bismarck ist dem Chauvinismus jedenfalls so fremd als dem
„Gouvernement de la defense nationale'' oder dem Chauvinisten
Katkow. Eher könnte man von einem Chauvinismus sprechen,
der die Deutschen gar zu blind Herrn v. Bismarck vertrauen, von
ihm nun eben alles erwarten lässt. Dieses alles gilt nun allerdings
zunächst von der Hauptsache, der deutschen Frage, wie man es jetzt
nennt. In dieser Frage aber steht Bismarck auf so nüchternen Füssen,
so unchauvinistisch real da, dass man ihm zu glauben und zu ver-
trauen geneigt ist wie man dem Quecksilber im Barometer glaubt,
wenn es von Veränderlich auf Schönwetter steigt. Und die Mehr-
heit der Nation fühlt es, dass dieser Mann gleichsam eine Ergänzung
ihrer selbst, dass er das Bindeglied zwischen ihrem Kopf und ihrer
Hand ist, welches sie nothwendig braucht.
Erlauben Sie mir, bei diesem Verhältniss von Kopf und Hand
in Deutschland etwas zu verweilen. Das Verhältniss von Wille und
That, von Kopf, Herz und Hand bei uns Deutschen ist, glaube ich,
wirklich ein anderes, als bei anderen Völkern; der Leitungsdraht,
welcher sie verbindet, welcher sonst blitzschnell vom Gehirn zur
Hand telegraphirt und diese in Bewegung setzt, scheint bei uns eine
nur relative, nicht, wie sonst, absolute Leitungskraft zu haben. Es
ist bei uns nicht nothwendig, dass was der Kopf denkt, direct auf
die Hand, den Fuss u. s« w. reagire, dass aus dem Denken ein
Wollen, aus dem Wollen ein Handeln unmittelbar, nothwendig sich
ergeben, aneinander reihen 'müsse. Haben die Deutschen nun nicht
bereits seit 60 und mehr Jahren von deutscher Einheit gesprochen,
geschrieben, geträumt, getrunken und gesungen? Und wie hat das
alles im Verhältniss gestanden zu der That? Haben sie nicht
sprechen können, erhaben wie die Götter vom Olymp? — und die
Hand blieb ruhig, als ob sie nicht zu demselben Körper gehörte, als
ob das grosse Räthsel von dem psychisch-physischen Zusammenhang
zwischen Wollen und Handeln, der grosse Grenzstreit zwischen
Geist und Materie für uns gar nicht existirte* Es ist bei uns eben
476 CarrespoadenMii.
etwas krank, tmd dieses etwas liegt in jener Drahtleitung, die alles
zusammenhalten soU, in der Sehne, die stark und schmal den Geist
mit dem KOrper verbindet und aus beiden erst ein Ganzes ,. einen
Organismus macht. Diese Yerbiadung ist lahm. Maaa nennt eine
solche. träge Leitung wohl Phlegma — aber bei uns ist es etwas
mehr als das, bei uns. bleibt die Wirkung in der Mitte des Drahtes
häufig ganz stecken, ein Rostflecken hat sich da bei den Deutschen
mit der Zeit hineingefressen, eingeätzt durch Weltkaiserthum, Klein-
staaterei, Particularismus. — Da gehören starke Erschütterungen
dazu, dass die Schwingungen bis zum Ende, bis zur Hand fortvibriren.
Wer nun aber diesen Mangel im Zusammenhang zwischen Wollen
und Thun im deutschen Volke zu ergänzen versteht, wer den trennen-
den Rostfleck zu überbrücken, wer die Schwingungen des Volksge-
hirns bis zu den Gliedern zu leiten vermag — der ist der grösste
Mann unserer Zeit, und vor ihm soll sich beugen was deutsch ist!
Die Psyche und die Physis des Volks in genaue Verbindung mit ein-
ander zu setzen, dort im Kopf und Herzen die Gedanken zum Willen
zu sammeln, sich gestalten zu lassen, und dann die Leitung zu ver-
mitteln hieher zur physischen Handlung, das, nur das ist seine Be-
deutung. Aber dieses ist grösser, als dass ein Mensch es ganz und
allein ausführen könnte, und wer es auch nur theilweise und für die
bedeutendsten Gehirnschwingungen vollführt — er ist ein Moses!
Ja, ein Moses an Kraft und Grösse, der sein Volk hinausführen soll
aus der Knechtschaft in das Land der Verheissung, vor dem das
Meer zurücktritt zu beiden Seiten und dann hinten zusammen-
brechend Pharao und sein Volk verschlingt, der im Volke den
Glauben an ^sich selbst, das Vertrauen in seine Aufgabe und
seine Kraft wieder weckt, so dass es nicht zurückbebt vor dem
Gange, auf welchem die Natur selbst sich ihm entgegenzustellen
scheint! Ein Moses, der unverwandt auf das Ziel des müh-
seligen Weges hinblickt und unentwegt der grossen Idee, die ihn
leitet, der Wolke bei Tag und der Feuersäule bei Nacht, folgt, seinem
Arm vertrauend wenn- die Feinde den grossen Siegeszug aufzuhalten
drohen. Ein Moses endlich, der unter Donner und Blitz mit den
Tafeln des Gesetzes in der Hand vom Sinai herabsteigt, den grossen
Bund zu gründen auf Jahrhunderte!
Nur schade I Der Mann war wohl ein Moses, aber das Volk war
nicht besser als andere Völker, und noch dazu ein deutsches Volk! Und
während es donnerte und blitzte liess es sich verführen durch Social-
demokraten und Jaeoby, durch Höflinge und Pfaffen, diirch bayerische
Correspondenzen. 477
Patrioten und würtembergische Volkspartei, und als der Mann mit
den ehernen Tafeln und dem ehernen Gesetze darauf von der Höhe
herabstieg — da tanzte wieder eine tolle Schaar lustig um das
goldene Kalb der Kleinstaaterei und des Particularismus, als ob nichts
geschehen wäre und Stuttgart und München statt in Deutschland im
Monde lägen. Sie fluchten den Tafeln und schrien nach Freiheit.
Aber sie meinten die Fleischtöpfe Aegyptens und die gewohnten
Frohnknechte dazu. Sie fürchteten sich vor dem Mann mit den
ehernen Tafeln, denn ihr Blick war nicht gewöhnt, emporzuschauen
zur leitenden Wolke — „veluti . . . quae natura prona . . finooif^,
O, es ist das alte Lied, das goldene Kalb, ein Kind des Ochsen
Apis in Aegyptenlaud, dessen verjüngtes Ebenbild hier angesichts
des neuen deutschien Bundes aufgerichtet wird, während man sich
einbildet, der Knechtschaft entronnen zu sein!
Der Rostfleck liegt wieder offen vor aller Augen, an dem nun
schon so lange mit dem Blut und Schweiss von vielen tausenden
vergeblich herumge waschen wird.
In jenes anthropologisch gedachte Verhältniss zur Nation ist
Bismarck durch den Krieg um ein gewaltiges Stück weiter hinein-
gewachsen. Als man jüngst hinüber und herüber complimentirte,
wer denn eigentlich das noch in der Küche befindliche Gericht,
Elsass und Lothringen, wenn es auf den Tisch kommen werde, ver-
zehren sollte, da trug man sich unter den Nationalliberalen in Berlin
mit dem Gedanken, das Gericht solle keinem der südlichen oder
nördlichen Tischgenossen vorgesetzt werden, sondern Elsass und
Lothringen sollten Bundesprovinzen, oder reichsunmittelbar, oder wie
man es sonst nennen wollte, d. h. eigentlich „bismairckisch" werden.
Ein sonderbarer Gedanke, der aber von unserem eben bezeichneten
Gesichtspunkte aus' seine gute Bedeutung hat. Bismarck soll ganz
sachte aus Preussen herausgehoben und mit seiner Bundesgewalt
weiter nach Süden, ins Centrum versetzt werden, es soll der Ansatz
zu einem Reich der Mitte geschaffen werden, in dem der Bundesherr
nicht über Throne und Thrönchen zu stolpern braucht, und in dem
nicht Mühler's und Eulenburg's und Dalwigk's herumpfuschen können.
Nicht übel! Und im Süden dürfte wenigstens das Motiv dieses
Planes erst recht annehmbar erscheinen. Bismarck's Schwerpunkt
ruht schon jetzt mehr im Ceritrum Deutschland's, er ist schon jetzt
mehr der Mann und der Minister der Nation als Preussen's, und sähe
man nicht hinter ihm die alten, bösen Gesichter aus der Conflictszeit,
so würde das mit grosser Geschwindigkeit sich steigern. Die extremen
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Hefi 9 u. 10. 32
478 Correspondeiu&en.
Parteien, die nichts gelernt und nichts vergessen haben, stehen ihm
im Norden wie im Süden gegenüber — ich meine die alten Parteien
der ehemaligen Liberalen und Conservativen. Und es ist fa«t er-
götzlich, zu sehen, wie auch die Kreuzzeitung sich immer mehr von
dem ungerathenen Sohne zurückzieht und neuerdings sogar offen
preussischen Particularismus zu predigen anfängt. So weit ist Bis-
marck schon aus Preussen herausgewachsen, dass die Gespielen
seiner Jugend, die Amme, die ihn nährte, sich gegen ihn und seine
grösste That erheben. Doch im Grunde mit Unrecht. Denn leider
ist auch ein Moses nur ein Mensch, der den Aeolusschlauch nicht
in der Hand hält. So gross diese Revolution von oben ist, die Bis-
marck leitet, sie wird und kann die vielen Gegensätze nicht besei-
tigen, die im Innern sich zeigen, weil sie nicht so radical sein kann
als eine Revolution von unten es ist Das ist der natürliche Schatten
dieses Lichtes. Wie kleinlich erscheint es neben der grossen Ge-
schichte der Nation, wenn ein Dalwigk den Augenblick, in dem er
zur Errichtung des deutschen Staates nach Versailles abreist, be-
nutzt, um seinen Hessen-Darmstädtern in der allgemeinen Erregung
ungestraft eine unliebsame reactionäre Kirchenverfassung zu octroiren ;
oder auch v^nu man, dem allerdings berechtigten Zorn Ausdruck
gebend, mit Verhaftung und Maassregelung gegen die Schwärmereien
und den Unsinn der Demokraten und Lassalleaner vorgeht! Wenn
die jetzige Zeit diese Leute mit den eingetrockneten Ideen nicht
sollte ertragen können, was wird dann morgen geschehen müssen?
Es giebt zweierlei Arten von Feinden des Einheitsstaates: die
einen sind die, welche mit vollem Bewusstsein in der Einheit den Feind
ihrer persönlichen Interessen bekämpfen — das sind hauptsächlich —
man gestatte die Scheidung — die Kleinstaailer •, die andern, und das ist
numerisch die grosse Masse, thun dasselbe, aber aus einem Mangel der
politischen Logik und des Willens — das sind zumeist die Particularisten.
Jene sind vorwiegend aristokratisch, diese meist demokratisch. Zu
jenen gehören die Fürsten und Ihre Höfe, der frondirende Adel und die
ultramontane Hierarchie, zu diesen die Volksparteien verschiedenster
Benennung, die für Selbstregierung und Freiheit blind schwärmen.
Der Junker und der J)emagog reichen sich auch hier wieder wider-
willig die Hand. Und doch ist heute dem tüchtigen Theil des Adels
in Deutschland und besonders in Preussen wieder einmal die Ge-
legenheit geboten, sich seine Stellung im Staate zu schaffen und zu
befestigen. Das Blut, das der preussische Adel in diesem Kriege
geopfert, könnte ihn versöhnen mit dem Volke, wenn er es versteht,
uioht nur den Säbel zu fahren^ sondern .^aoh gesohlossenem Frieden
aueh in der friedlichen Arbeit sich /an die SpUze des dtaiseltea
Volks ZXL stellen. Nur in der Arbeit für die gemeinde Sache T«r-
mag der Adel überall seine besonderen Interessen au. wahren, und
wo er, wie jetzt in Hannover, seine Sache von der des Yolke'trennt,
da muss auch ein Bismarok über ihn weggehen. Denn die iVer-
irrung des Partioularkmus ist heilbar, die bewusite Op^^sition der
Eleinstaatletf gegen die eulturlichen^i und die Volk sinteressen nicht. Die
Particularifiten werden von den Thatsaehen überzeugt werden oder
sich ihnen und dem Volkswillen freiwillig, fügen;, die Eleinstaatlev
werden nie überzeugt werden weil es «ich hier nicht um daa Denken,
sondern um das Wollen, nicht um die Personen, sondern um die
Verhältnisse handelt. Sie alle werden nur gebändigt durch die ein*
fache Logik und die Wucht, mit der Bismarek die nationale Idee,
und sie allein vertritt. —
Einheiti und. Freiheit -^ sie haben sich in Deutschland sa lange
gegenseitig im Wege gestanden, und werden auch jetzt nicht zu-
sammen das Capitol besteigen! Ich glaube, man täuscht sich sehr,
wenn man von der nächsten Zukunft grosse Erfolgender Freiheit
hofft Die Einheit zu gründen ist ein Werk,, gross genug für den
ganzen Willen und das Leben eines Mannes. Bismarek ist Diatator,
nicht Volkstribun, er könnte eher ein Sulla, nie ein Gracchus werden
Er wird, die liberalen in Deutschland benutzen weil und soweit sie
national sind — dann trennen sich ihre W^e, und wollten die Li*
beralen, da das Ei gelegt ist, nun auch sofort das Freiheitsküchlein
drinnen von seinen Fesseln vorzeitig lösen -r- sie würden eben Ei
und Küchlein zerstören, statt eines lebenden Wesens eitel Dotter
finden. Wo es zur Unterstützung, zur Klärung, ^rägnirung des
nationalen O^edankens ihm erforderlich oder nützlich scheint, da
scheut Bismarek — das hat die demokratische Wahlordnung deö
Reichßtages gezeigt — vor, den liberalsten Schritten nidht zurück.
Abßr wir wüssten keine von ihm ins Leben gerufene liberale Ini^
stitution zu nepnen, deren Einführung der Ausdruck:einer:be80dEideren
Vorliebß des Grafen Bismarek für . Volksfreiheit gewesen wäre. Sie
ist ihm gelegentlich das. Mittel zu. seinem Zweck gewesen ;— zu
ihrem Ritter aber hat er sich bisher nicht qrklärt. Ich will damit
keineswegs gesagt haben, dasa ich ihn für einen Feind der Volks^
Creiheit halte. Vor drei und einem halben Jahre sagte 6ismar<ik im
Reichste^e: „Jch habe niemals in meinem Leben gesagt; dass ich
der Volksfreibeit mich feindlich gegenüberstelle, sondern nur gesagt
32*
480 CorreBpondenzen.
— und natürlich unter der Voraussetzung rebus sie stantibus — meine
Interessen an den auswärtigen Angelegenheiten sind nicht nur st&rkere,
sondern zur Zeit allein maassgebende und fortreissende, so dass ich,
so viel ich kann, jedes Hindemiss durchbreche, welches mir im Wege
steht, um zu dem Ziele zu gelangen, welches, wie ich glaube, zum
Wohle des Vaterlandes erreicht werden muss. Das schliesst nicht
aus, dass auch ich die Ueberzeugung des Herrn Vorredners theile,
dass den höchsten Qrad von Freiheit des Volkes, des Individuums,
der mit der Sicherheit und gemeinsamen Wohlfahrt des Staates ver-
träglich ist, jederzeit zu erstreben, die Pflicht jeder ehrlichen Re-
gierung ist/ Das ist noch heute Bismarck*s Standpunkt: er steht
den inneren Angelegenheiten als solchen fern, da schalten andere,
und, nicht die besten Kräfte. Dennoch glaube ich, dass, wenn der
deutsche Bund erst geschlossen ist, Bismarck selbst dazu gelangen
wird, auf der einen Seite die Centralgewalt zu stärken, auf der
anderen, besonders in Süddeutschland, die Volksfreiheit zu unter-
stützen. Dass die Einheit nicht sehr fest gegründet ist, wenn sie
nur auf den Thronen ruht, weiss Bismarck sehr wohl, und lebten
wir ein oder mehrere Jahrhunderte früher, so würde eine solche
Einheit täglich von jedem der Fürsten gesprengt werden können,
weil eben jeder damals ganz unabhängig vom Willen seiner Unter-
thanen handelte. Der Wille der Unterthanen wird heute an den
Bund durch starke Interessen gebunden und der Bestand des Bundes
wird daher nur möglich, wenn dieser Wille in ihm mehr wiegt als
der der Fürsten. Darum muss der Einfluss des Volkes in den kleinen
Bundesstaaten gehoben und gekräftigt werden gegenüber den Fürsten,
aber zugleich mit fester Hand unter die Centralgewalt gebeugt wer-
den. Die complicirten Verhältnisse dieses Bundes werden so Bismarck
in eine gleich complicirte Doppelstellung in der Sache der Volks-
freiheit zwängen, er wird diese vertreten müssen als ein Mittel
zum Zweck und soweit sie dazu dient, das Vertrauen und die Ge-
walt, die er hat, zu stärken. Dieses Vertrauen und diese Gewalt
aber macht er umgekehrt nur jenem Einheitsgedanken, nicht den
inneren Angelegenheiten als solchen und um ihrer selbst wdllen
dienstbar. Daher könnte es kommen, dass die Centralgewalt auf
Preussen, in dessen Spitze sie ruht, schwer drückte, während in
Süddeutschland die Volksfreiheit gepflegt würde.
Noch lange wird die Einheit der Gewalt bedürfen, wenn sie
auch bald eine äussere Form annehmen wird. Gäbe Bismarck seine
Gewalt heute auf, so gäbe er damit sein Werk auf — oder die
.1
CorrespondeiizeD. 481
Einigung wäre auf das Volk und die Revolution v^on unten ver-
wiesen. Wie wenig aber dieser Weg der Sinnesart Bismarck's
entspricht, wissen wir längst und zeigen uns wieder die begonnenen
Verhandlungen über die deutsche Frage in Versailles. Dieselben
Leute, die Dalwigk, Prankh, Vambüler, die, wenn auch nicht alle
persönlich, so doch in ihren Stellungen als Minister derKleinstaaten
die Feinde Bismarck's sind, mit ihnen und trotz ihnen will Bismarck
den neuen Staat aufrichten. Es gehört wahrlich viel Glaube an
Bismarck dazu, um dem Ende ruhig entgegenzusehen.
Da — während ich Ihnen dieses schreibe — kommt die Nach-
richt an, dass zu Versailles der Beschluss gefasst worden ist, das
Kaissereich zu gründen.
Welch wunderbare Gänge geht doch die Geschichte! Als vor
nun 21 Jahren die besten Männer im Namen der Nation Friedrich
Wilhelm IV. die Kaiserkrone anboten, ward sie zurückgewiesen, und
man wandte sich ab von dem Fürsten, der die Rechte der gekrönten
Häupter über die Rechte der Nation stellte. Nun, da das „freie
Einverständniss der gekrönten Häupter**, welches Friedrich Wil-
helm IV. damals forderte, erreicht ist, scheint die Handlungsweise
des letzteren fast gerechtfertigt zu werden. Wie merkwürdigt Das
Kaisserreich sollte nicht anders als durch seine Feinde errichtet
werden von der gewaltigen Hand eines Mannes, der alles für die
Nation, und in gewissem Sinne nichts durch sie that. Er vollendete
ihren Willen tum grossen Theil trotz der Nation und durch ihre
Gegner. Wenn Ludwig XIV. sagte: »der Staat bin ich**, so ist man
versucht, für diesen Mann den Satz zu verändern in: »die Nation
bin* ich**. Und weil der Staat wechselnd ist, die Nation aber
dauernd, darum schrumpft das Bild^des Königs für uns zusammen
und darum wird die Nachwelt Bismarck mehr bewundern als die
Gegenwart ihm gerecht wird.
Riga, den 19./31. Oct. E. B.
Revaler Corespondenz. Herr Redacteur! Wollen Sie gütigst
mir ein paar Seiten Ihrer geschätzten Zeitschrift gestatten, einige
etwas verspätete Bemerkungen in ihnen wiederzugeben über das ver-
dammende Urtheil, das über »unsere literarisch-historischen Gesell-
schaften** im Schlussheft der alten Serie der »Baltischen Monat»-
schrift** ausgesprochen worden ist. Einige beipflichtende Worte in der
483 CSonre^pond^zQn.
„Dörpt. Ztg.* abgerechnet, hat jenes Verdict, so weit ich sehe, bei
uns zu Lande keine öffentliche Berücksichtigung erfahren, und das
scheint mir ebenso unbillig, wie andererseits das Verfahren des
Kritik^ri^, der durch seine Arbeitslust verleitet, üieils das von den
Gesellschaften Oeschehene nicht gewürdigt^ resp. nicht gekannt, theils
die Schwierigkeit des zu Thuenden unterschätzt hat.
In der Fixirung der Aufgabe unserer localen Gesellschaften, „die
Mittel zu liefern, neues Material herbeizuschaffen und zu veröffent-
lichen, Gelegenheit und Möglichkeit zu bieten, einzelne Untere
suchungen anzustellen und bekannt zu machen, die sonst nicht ge-
macht würden oder ungedruckt blieben^, stimme ich ganz mit dem
beregten Aufsatz überein, wie ich die Wahrnehmung äieile, dass
diese Aufgabe matt erfüllt wird. Es ist gewiss richtig: „gegen das,
was ein einzelner Mann in den letzten Jahren geleistet, verschwindet
die gesammte Thätigkeit aller unserer historischen Vereine'' — aber
nur wenn man das Wirken dieses Mannes und auch anderer Ar-
beiter auf dem Felde baJtischer Geschichte lostrennt vom Leben d^
Vereine, deren Miiiglieder sie doch auch sind, und sie zu den übrigen
in Gegensatz stellt, t Wenn ; das Gedeihen und die Th&tigfceit der
Vereine — auch wohl jeder Körperschaft — wesentlich von eiur
zelnen Personen abhängt, so ist es nicht recht, diese auszunehmen
von der Gesammtheit und den ßest allein einer Beurtheilung zu
unterziehen.
Und um so weniger in diesem Falle, als, Schirren seine älteren
kleineren Meisterstücke historischer Kntik (und ß.uch noch neuer-
dings seine Bemerkungen zum sogen. Bericht Heldrungen's), den
Codex Zamoscianus und seine Urkunden- und Begestenwerke in den
Schriften dreier Gesellschaften llerausgegeben hat. D^asselbe trifft bei
Winkelmann zu, der in seinem kurzen^ aber erfolgreichen Wirken unter
uns nur eine Publication (die estl. Gapitulationen) ohne Hülfe der
Vereine hat aiftgehen lassen. Dass Schirren so viel mehr Schriften hat
in Verlag geben können, liegt theils in der Natur derselben, theils
zeugt es von einem erfreulichen Wachsen des Interesses im Publicum;
wie namentlich bei dem — wenn ich nicht irre — vollständigen Aus-
verkatif der livl. Recesse von 1681—1712.
Ich verstehe nicht die Behauptung, dass die Auffindung des
Hermann von Wartberge und des Codex Zamosoianu» an unseren
Geeellschaften spurlos vorübergegangen sein solle. Hermann von
Wartberge wurde ' von E. Strehlke so vorzüglich edirt, dass nichts
weiter mehr zn thun war; die Gesellschaft für Geschichte der Ost-
Correepondenzen. 483
seeprovinzen hatte schon vorher die erste Kunde des Chronisten durch
Aufnahme eines betreffenden Aufsatzes vom Herausgeber in ihre
Mittheilungen vermittelt. Dass auf die Nachricht von der Auf-
findung einer bis dato ältesten Handschrift Heinrich's von Lettland in
der zamoyskischen Bibliothek in Warschau der Landrath Baron v. Toll
mit altbewährter Opferfreudigkeit selbst die Reise nach Polen unter-
nahm und den unschätzbaren Fund nach Dorpat brachte, musste
wohl den Dank der Vereine hervorrufen, kann ihnen aber doch
nicht zum Tadel gereichen. Die gelehrte estnische Gesellschaft hat
sodann die von Schirren verfasste Beschreibung des Codex und die
Darstellung desselben in seinen Varianten veröflTentlicht. Die estl.
literär. Gesellschaft hat ferner zu der Uebersetzung des Chronisten
mit Berücksichtigung dieser Varianten durch Ed. Pabst die Mittel
geboten. — In diesem Jahre sind von Riga und Reval aus sofort
Schritte gethan, der in Bremen neuentdeckten Chronik Renner's
habhaft zu werden oder eine Abschrift zu erlangen, natürlich auf
Kosten der Vereine.
Oder hat der Verfasser jenes Aufsatzes eine neue Ausgabe
Heinrich's erwartet? Die wäre wohl schön, aber wir können uns
freuen, dass sie noch nicht erfolgt ist, da jetzt nach dem Hinsinken
der weltlichen' Herrschaft des Papstes Aussicht sein dürfte, dass die
königliche Regierung von Italien die vaticanische Bibliothek öflfne,
welche doch möglicherweise nicht nur eine noch ältere Handschrift,
sondern auch manche Urkunden zur Aufhellung unserer Geschichte
bieten wird. Und wenn vor fünf Jahren diese Hoffnung noch in weiter
Ferne lag, so war es doch bekannt, dass in Berlin eine Ausgabe
unseres Chronisten für die Scriptor, rer. germ, vorbereitet wird —
wo sollte in dieser Erwartung der Absatz für die livländische
Edition zu beschaffen feein!
Sehe ich ab von der nicht einmal ganz begründeten Klage, dass
„das in der neuesten Zeit lebendiger denn je in der jüngeren Gene-
ration erweckte Interesse für die Geschichte Livlands noch zu keiner
selbständigen Production geführt haf, dass nicht einmal eingehende
kritische Untersuchungen über die Zeit Bischof Albert's *) oder Pletten-
berg's vorhanden sind, dass die Reformationszeit einer Sichtung bedarf
— sehe ich davon und von vielen anderen berechtigten Wünschen mehr
ab, weil der Kritiker selbst zu Anfang seines Artikels die Production
•) Dr. Hildebrand*s vorzigliche Arbeit ist seit 1865 vorhanden; das 11. Heft
der Mittheilangen brachte schon 1868 Winkelmann's und Bienemann's Forschungen.
484 CorrespondenzeD.
als Aufgabe der historischen Gesellschaften nicht hingestellt hat, so
ist doch der nächste Satz nicht unerörtert zu lassen : „Angenommen, es
fehle wirklich an geeigneten Kräften, welche geschichtliche Studien in
der oben angedeuteten Art machen könnten, so bleibt immer noch die
Bekanntmachung ungedruckten Materials. Wie viel StoflF ist noch vor-
handen zu einem dritten und vierten Bande Scriptores und vielen
Bänden Monumenta!^ „Man vergleiche doch nur den regen Eifer
im Veröffentlichen von Urkunden, im Sammeln zerstreuten Materials,
wie er sich in den Jahren 1840 bis 1856 zeigt, mit der jetzigen
Unfruchtbarkeit und Oede!'' In der That, etwas seltsam! Kann
denn ein Mann, der dem Portschritt, den die Geschichtswissenschaft
genommen, folgt, glauben, dass zur Herausgabe historischen Materials
weniger wissenschaftliche Befähigung gehört, als zur Geschicht-
schreibung? dass die Edition einer Chronik, eines Urkundenbandes
anders denn als Resultat sorglichster Studien Werth hat und Nutzen
bringt? Ein .dritter und vierter Band von Scriptores, die ebenso wie
die beiden ersten ausfielen, wäre bei Leibe keine erwünschte Be-
reicherung. Das lehrt eine Vergleichung der Script rerum Llvoni-
carum mit den vier Bänden der Script rerum Pruasicarum, Das
wird in den nächsten Monaten die Veröffentlichung des ältesten
rigaschen Schuldbuchs zeigen. Zu solchen Arbeiten aber fehlen die
Kräfte in der That. Die wenigen Historiker unseres Landes haben
meist ihre Arbeiten; ein jüngerer Nachwuchs, der sich jetzt bildet,
wird in kürzerer oder längerer Zeit zur Verfügung stehen. Denen
sind dann von den Gesellschaften, deren Mitgliederzahl — und wo
möglich deren Einkommen — sich steigern muss, die Mittel zu ge-
währen, umfassende Publicationen vorzunehmen; darunter verstehe
ich nicht nur die Druckkosten, sondern die Subsistenzmittel für den
betreffenden Historiker ; denn solche Arbeiten nehmen die ganze Zeit
eines Mannes in Anspruch.- So müsste schon im Augenblick die
Portführung des Bunge'schen Urkundenbuchs, worauf neulich in der
„Rig. Ztg.'' Jegor v. Sievers aufmerksam machte, durch eine jüngere
Kraft, die vorhanden ist, Augenmerk der Vereine sein. Da handelt
es sich zunächst, abgesehen von der Auseinandersetzung mit dem
bisherigen Herausgeber, um die Beschaffung von mindestens jährlich
800 Rubeln, die sich doch herbeischaffen Hessen*
Dass die Publicationen, wie sie bis 1856 betrieben wurden, aufge-
hört haben, darf wohl nicht tadelnswerth erscheinen; es war in den
Monumentis doch wenig mehr als ein einfaches Abschreiben des ge-
rade Vorliegenden mit oft unglaublicher Flüchtigkeit ohne Kritik
Correspondenzen. 485
verbunden, wobei vielleicht Paucker am meisten gefehlt hat. Dass die
Gesellschaften davon abstanden, ist vielmehr ein Zeichen dafür, dass
sie erkannt, was noth thue. Die Wirksamkeit Schirren's in Riga bis
1856 mag nicht ohne Einfluss darauf gewesen sein. Fortan haben
sie nur zu tüchtigen Drucken ihre Hülfe gewährt, wenn diese auch
nur selten erbeten wurde.
Aber von allem Vorwurf spreche auch ich sie nicht frei. Dem
vorzüglichen Vorschlag einer allgemeinen Registrirung der in den
localen Archiven vorhandenen Urkunden etc., welcher im Jahre 1861
von unserem .Meister an sie erging, haben sie nicht entsprochen (wie
viel vielleicht in letzter Zeit in Riga geschehen, ist mir unbekannt),
und dies hätte die Kräfte der meisten Mitglieder nicht überstiegen.
Das ist die Mattheit, deren auch ich sie geziehen.
Ueber die einzelnen Gesellsehaften noch ein paar Worte.
Was der Verfasser über die kurländische Gesellschaft für
Literatur und Kunst zu Mitau sagt, hat er jedenfalls durch Autopsie
gewonnen; es fällt mir nicht ein, das zu bestreiten; ebenso wenig
seine Anerkennung der lettisch-literarischen Gesellschaft. Die meisten
Erwartungen sollte man von der Gesellschaft für Geschichte und
Alterthumskunde der Ostseeprovinzen zu Riga hegen; sie hat ihr
Gebiet genau bezeichnet und indem sie es sachlich enger begrenzt,
es zugleich räumlich weiter ausgedehnt, als die übrigen Vereine.
Diese Erwartungen werden in der That nicht voll befriedigt. In
dem fleissigen und regsamen Riga wird für die Geschichte weniger
gearbeitet, als — — als es gut ist, wenigstens als in Dorpat und
ich muss sagen, auch in ^val gethan wird. Mag sein, dass das
kräftig blühende Vereinsleben für seine Vorträge eine grössere
Kraftmenge in Anspruch nimmt, dass das bewegte Treiben der
Grossstadt überhaupt die Müsse mehr aufzehrt: Sie, Herr Redacteur^
werden selbst die Bemerkung gemacht haben, dass in Ihrer Um-
gebung eine Reihe von Männern sich befindet, die sehr wohl auf
dem Felde der Geschichte sich in einer oder der anderen Weise
bethätigen könnten, von denen man aber nichts oder wenig erhält.
So werden die Mittheilungen der Gesellschaft von Riga aus freilich
spärlich bedacht. Aber der Vorwurf triflft nicht eigentlich die Ge-
sellschaft, sie kann doch keinen Zwang über ihre Glieder ausüben;
er trifft die Einzelnen. Die Gesellschaft kann nur durch gute
Organisation, regen Verkehr, reiche Darbietungen auf dieselben
wirken und sie zur Thätigkeit ermuntern ; dann hat sie die erwachende
Neigung zur Arbeit zu leiten und zu unterstützen. Es ist nicht, wie
486 X^orrespondenzen.
es im TJelberegften Artikel heisst, eine echt baltische Abneigang,
praktisch einscngreifeD : ansere Selbstverwaltang und Selbsthilfe zeigt
das; nur selbständig zu theoretisiren ist so zn sagen anbaltisch.
An der sehr rerdienstvollen Arbeit der Registrimng der rigaschen
Archive würden vielleicht Viele sich betheiligen, wenn die Organi-
sation vom Directorinm der Gesellschaft in die Hand genommen würde.
Die gelehrte estnische Gesellschaft zu Dorpat findet einiger-
maassen die Anerkennung des Verfassers. Die monatlichen Sitzungs-
berichte in den dorpater Zeitungen und die Pnblicationen machen
die Art und Weise, wie die Resultate ihrer Thätigkeit allgemein
bekannt. Mir scheint es, dass sie zu den befriedigendsten gehören,
welche unsere historischen Vereine aufzuweisen haben.
Unsere estländische literarische Gesellschaft endlich, von der
jener Aufsatz am wenigsten zu sagen vermag, dürfte ich etwas ein-
gehender besprechen. Denn wir hier im Norden sind Ihnen an der
Dttna und über diese hinaus doch noch immer fast eine terra in-
cognüa, oder für den, der es zu kennen meint, nur etwa
das blonde Land, in dem das ^s^o^ erklingt,
wenn ich mit einem Anklang an dorpater Erinnerungen schlecht
genug parodiren wollte. Sagt doch der Kritiker von unserer Ge-
sellschaft: ^Sie soll auch einige Sitzungsberichte herausgegeben haben,
die wir aber aller Bemühungen ungeachtet nicht zu Gesichte be^
kommen haben.^ Dcts kann ich ihm kaum verdenken, obgleich seit
dem zehnjährigen Bestehen der „Rev^ Ztg.^ in jedem September oder
October ein Jahresbericht in derselben veröflfentlicht wird ; denn
besagtes Blatt dürfte in Riga kaum in ^em halben Dutzend Exem-
plare vertreten sein , wenn schon es seit seiner Gründung sich einer
recht geachteten Stellung erfreut hat, und nach Kurland gelangt es
vermuthlich gar nicht. Dass aber keine monatlichen Berichte er-
scheinen, liegt im Charakter der Gesellschaft. Ihr Programm ist —
hierin entspricht sie der kurländischen ftir Literatur und Kunst —
«ehr weit, sie ist wirklich eine „literarische^ Gesellschaft, d. h. ein
Verein von Literaten und gebildeten Männern überhaupt zum Zweck
gegenseitiger geistiger Anregung. Dieser Zweck, ich gestehe es, ist
sehr allgemein j aber, was doch die Hauptsache ist, er wird erreicht
Unsere Gesellschaft wurzelt thatsächlich in den hiesigen Kreisen;
ihre zweiwöchentlichen Versammlungen sind recht besucht. Die in
denselben gehaltenen Vorträge leiten das Interesse Vieler auf Ver-
hältnisse und Bestrebungen, die ihnen bis dahin fern lagen. Nach
den Statuten zerfällt die Gesellschaft in verschiedene (früher 9,
Oon^ponden^en. 487
jetet 6) Seetionen ; in früheren Jahren, zur Zeit der Bunge, Paucker,
Neuss, Wiedemann, waren die Sitzungen zum Theil durch Discussion
ausgefüllt, es wurde in den Sitzungen selbst wissenschaftlich ge-
arbeitet und diese waren daher auch nur von Fachgenossen besucht.
In neuerer Zeit hat die Scheidung factisch aufgehört; alle Berufs-
zweige vereinigen sich gemeinsam. Gemeinhin trägt das nicht zur
Vertiefung der Vorträge bei; aber ich möchte das nicht tadeln, wir
besitzen eben keinen Gewerbeverein und all die anderen Medien,
über die Sie in Riga gebieten können. Und andererseits wird vom
•
Katheder auch noch immer sehr Tüchtiges und Gründliches geboten.
Die „Halt Monatsschrift^ hat das Eine oder Andere davon ihren
Liesem gebracht.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Pflege der Landes-
gesebichte nicht die ausschliessliche Aufgabe des Vereins ist; jedoch
ist ihm stets eine besondere Theilnahme gewidmet worden. Die
Vorträge unseres verdienten Ed. Pabst werden wie vor dreissig
Jahren noch immer am zahlreichsten besucht und er, einer der
Veteranen unserer heimischen Geschichtsforschung, führt ohne Rück-
sicht auf Qualität und Neigung seiner Zuhörer dieselben durch alles
Dickicht und Gestrüpp der Hypothesen und Errata zu den sauberen
Waldrainen eines urkundlich sichergestellten Factums. In der That,
nie hat mich ein altes Diploma oder der Passus eines Chronisten
mehr in den Geist vergangener Zeiten versetzt, als wenn ich es von
Pabst vorlesen gehört. Und von Mehreren habe ich vernommen,
dass durch ihn sie Vorliebe für geschichtliche Studien gewonnen.
Als Publicationen der Gesellschaft sind ausser mehreren Einzel-
sqjiriften die 13 Bände des von Bunge begründeien „Archivs" bekannt,
von denen die fünf letzten die von Schirren herausgegebenen
„Quellen etc." enthalten. Die sehr bedauerliche Einstellung der
Verausgabe ist lediglich durch Missverständnisse veranlasst. Die
Gesellschaft hatte eben fünf Bände, auf sov^iel schätzte der Heraus-
geber anfönglich den Umfang des Werkes, demselben zur Verftlgung
dargeboten; eine dritte Person hatte die Sache vermittelt. Der
fiiixfte Band war erschienen ; und da kein weiteres Ansuchen gestellt
wurde, verfügte die Gesellschaft über ihre freigewordenen Geldmittel
anderweitig. Der Herausgeber wiederum hatte keine Ahnung, dass
die Fünfzahl das punctum saliens war und war nicht wenig und nicht
angenehm überrascht, in seiner so wichtigen Arbeit plötzlich Halt
machen zu müssen. Das damalige Directorium scheint immerhin
von dem Vorwurf nicht frei zu sprechen, die Förderung jenes so
488 Correspondenzen.
bedeutenden Unternehmens nicht als sein Hauptaugenmerk betrachtet
zu haben. . An die Stelle des „Archivs* traten nun die „Beiträge zur
Kunde Est-, Liv- und Kurlands'', von Pabst herausgegeben, deren
drittes Heft wohl zu Ende dieses Jahres erscheinen wird. In ihnen
sind Arbeiten des Herausgebers selbst, auch kleinere Mittheilungen
von C. Russwurm u. A. aufgenommen^ deren grösster Theil in den
Sitzungen des Vereins zum Vortrag gekommen ist. So erfreulich
und dankenswerth die gediegenen grösseren Aufsätze, vie „über die
Schwarzenhäupter zu Reval", über „die Komturei deutschen Ordens
zu Bremen'', oder die Zerstörung der Sage vo» dem Sieg Pletten-
berg's bei Maholm und manche andere Untersuchungen sind; so
wenig kann ich mich toit dem krausen Allerlei befreunden, das ohne
Zusammenhang daran gereiht ist und dessen Verzeichniss eher an
die Inhaltsangabe des „Lahrer hinkenden Boten'' und dergl. als an
ein wissenschaftliches Werk erinnert. Diese Liebhaberei hat der
Herausgeber aber schon in seinen „Bunten Bildern" an den Tag
gelegt und daran wird wohl nichts mehr geändert werden können.
Soviel von der Wirksamkeit der literarischen Gesellschaft.
Nun sind auch ausser derselben einige ihrer Glieder recht anhaltend
mit historischen Arbeiten beschäftigt. Von Pabst abgesehen, der seit
vielen Jahren für das estländische Ritterschaftsarchiv copirt und
regestrirt hat, ist durch des Baron Toll unablässigen Fleiss die in der
Vorrede zur „Brieflade" verheissene, üach den Siegeln der Landes-
herren festgesetzte Chronologie derselben der Vollendung entgegen-
gereift. Russwurm arbeitet an der Regestrirung der Urkunden des
alten Rathsarchivs ; Bienemann hat zwei Bände der „Briefe etc." in
Reval herausgegeben^ und wenn die Vollendung des Werkes f{iat
etwas lange auf sich warten lässt, so dürfte man dieses Zögern viel-
leicht durch seine inzwischen erschienenen „Vorlesungen" entschuldigen.
Es ist hier durchaus ein gewisser historischer Sinn vorhanden — r
wurde doch sogar ein armer junger Mensch, der eine ganz geschichts-
lose Vergangenheit gehabt, hierher berufen und in das Studium der
Vorzeit getrieben, um seine entfernten Landsleute aus dem ffuide de
lUval über diese gute Stadt zu belehren und wachte doch eine
getreue Obiigkeit so wacker über dem wissenschaftlichen Ruf der
hiesigen Gelehrten, dass sie es hinderte, benannten Schmöker als
Quelle zu citiren.
Reval, den 23. October. *
Notizen.
W. Rossmann, vom Gestade der Syrenen und Gyklopen, Leipzig, Heigel, 1869.
Der Verfasser, Historiker aus Droysen's Schule, Erzieher des
Erbprinzen von Meiningen, hat sich durch vielseitige schriftstellerische
Thätigkeit hervorgethan. Sein Buch über das Reformationszeitalter
ist reich an geistvollen Bemerkungen über Kunst und Literatur und
zeugt von feiner Beobachtungsgabe und gründlicher ästhetischer Bil-
dung. Auch das vorliegende Werk zeichnet sich durch geschmack-
volle Form sowie durch gediegenen Inhalt aus. Sehr verschiedene
Leserkreise werden daran Gefallen haben. Hier ist die leichte
spielende Form der Erzählung eines Touristen verbunden mit dem
Scharfsinn eines Aesthetikers und der Gelehrsamkeit des Archäologen.
Der Aufenthalt in Neapel und auf der Lisel Sicilien ist reizend ge-
schildert. Ueberall begegnet man in dem Buche sehr treffenden
antiquarischen Bemerkungen. Sehr geschickt angelegte Citate aus
älteren und neueren Dichtem u|id Schriftstellern schmücken die
Schilderung in prächtigster Weise. Man merkt wohl, welchen
Genuss ihm die italienische Reise eben darum gewährte, weil er
eine schöne Bildung, einen ausgebildeten Schönheitssinn und eine
Ungewöhnliche Belesenheit mitbrachte. Die poetischen Citate sind
oft Uebersetzungen des Verfassers, der sich als Dichter wiederholt
versucht hat.
Sehr anregend sind mancherlei historisch-philosophische Paral-
lelen, auf welche Rossmann aufmerksam macht; so vergleicht er
den Jsiscultus mit dem Mariencultus und weist nach, wie vieles der
letztere dem ersteren entliehen habe, wie z. B. das Ave Maria, die
Entlustungsformel, das weisse Priestergewand, die Tonsur der Mönche,
vielleicht auch das Weihwasser. — Sehr farbenreich ist der Gegen-
satz zwischen den Zeitgenossen Christus und Tiberius, zwischen
Golgatha und Misenum geschildert.
490 Notizen.
lieber die Ausgrabungen in Pompeji, die Museen und Alter-
thümer Süditaliens hören wir hier einen Kenner urtheilen. TreflFend
und anziehend sind die Bemerkungen über das Treiben des Volkes,
die Physiognomie der neapolitanischen und sicilischen Städte und
Landschaften, über das Räuberwesen, über die Universität in Neapel,
das moderne Theater u. s. w. Man darf sich zu solchen Büchern
Glück wünschen: sie bieten eine belehrende und erfrischende
Leetüre. Es ist ihr Vorzug, dass eine besonders glückliche Mischung
von Wissen und Können da^u gehört *ie zu schreiben, und zugleich
ist es ihr Vorzug, dass man ihnen kaum anmerkt, wie viel mühsam
erworbenes Wissen dazu gehört; das Talent solcher Schreibweise
lässt uns über dem Vergnügen, solche frische, farbenprächtige Bilder
zu schauen, die stille Arbeit der Gelehrtenstube vergessen.
Wattenbaoh, eme Ferienreise nach Spanien, 1869.
Auch eine Reisebeschreibung, aber von ganz anderer Art als die
vorhergehende. Spanien ist in der letzten Zeit vielfadi von deutschen
Gelehrten bereist worden. Manche haben als Geschichtsforscher
die Archive, namentlich dasjenige von Simancas ausgebeutet, wie
Ranke, Maurenbrecher, Bergenroth, andere sind als ächte Touristen
gereist, wie Willkomm, Hackländer, Wolzogen u. s, f . Zu der Classe
der letzteren gehört der Verfasser, der als Professor der Geschichte
in Heidelbei^, früher in Breslau wohl als grundgelehrter Forscher
auf dem Gebiete des Mittelalters Eminentes geleistet hat, jetzt aber
unseres Wissens zum eirsten male i^iit einer leichten Reisebeschreibung
hervortritt. Es ist ein hora d'oewvre, wie es einem so fleissigen
Stubengelehrten von Herzen zu gönnen ist, wie die Spazierfahrt
selbst, von welcher das Büchlein handelt»
Li der Schilderung der Städte und Landschaften, in welcher der
Verfasser mit behaglicher Breite und in etwas hausbackener Weise
von seinen Reiseeindrücken erzählt, finden wir nichts von der
spielenden Grazie, durch welche Rossmann's Buch sich auszeichnet,
nichts von poetischen Ergüssen oder langathmigen Citaten, nidits
von ausführlichen wissenschaftliehen Erörterungen. Es war dem
Verfasser um eine Ferienreise, um Erholung zu thun; er will auch
seinen Lesern keinerlei Anstrengung zumuthen. Recht behäbig be*
richtet er vom Gasthausleben, vom Essen und Trinken, vom köst-
lichen Nachtisch an einzelnen Orten Spaniens, von Obst und Weinen.
Er last sich's unterwegs recht wohl sein und bleibt dabei sehr
N#tizefl. , 4»!
nüchtern, wie es einem Historiker desi Mittelalters, eii^em Keimer
der Paläographie wohl ansteht. Hier und da treffen wir auf
historische Notizen, aber sie sind, nicht erheblich. Verwundert waren
wir darüber, dass Wattenbacb, indem er Bergenroth's Darstellung
der Geschichte der Johanna, Mutter KarPs V., erwähnt, an die Rich-
tigkeit der Resultate von Bei^enroth's Untersuchung glaubt. Letzterer
hatte aus bisher unbekannten Aktenstücken die Nachricht schöpfen
zu können gemeint, dass die Qemahlin Philipp*6 des Schönen von
Oesterreich nie geisteskrank gewesen sei und daher fälschlich als
Johanna „die Wahnsinnige^^ bezeichnet werde; er glaubte ferner
herausgebracht zu haben, dass Karl V. seine Mutter böswillig für
geisteskrank ausgegeben habe und sie sogar habe foltern lassen.
Diese Erzählung ist indessen von anderen Forschern, u. a. von
Maurenbrecher widerlegt worden und man hat erfahren, dass Bergen-
roth den spanischen Ausdnjck, den er mit Folter übersetzt hatte^
falsch Terstanden habe, indem derselbe auch Sorge, Mühe, Pein, Ge-
müthsqual bedeutet.
Anziehende Aeusserungen finden sich in Wattenbach*s Buche
über den materiellen und geistigen Fortschritt, der sich in Spanien
in den letzten Zeiten voUzieht und der dem VerfasseV besonders
durch Vergleichung früherer Reisebeschreibungen mit dem, was er
selbst beobachtete, in die Augen fiel. Mit Recht bemerkt er, es sei
wenig bekannt, dass man in Spanien keine Mönche mehr sehe, keine
Heiligenbilder mehr an den Strassen, kaum einmal ein Crucifix. —
Ebenso verdient die Vergleichung zwischen Spanien und Portugal
Beachtung. In dem letzteren Lande finde man keine Bettler, kein
müssig herumlungerndes Gesindel, es gebe dort eine gute Polizei
und r^nliche Strassen, bei den Stiergefechten in Portugal würden
die Stiere nicht getödtet, die Homer derselben würden mit Kugeln
unschädlich gemacht; in den Fabriken PortugaPs sei überall der
Stücklohn eingeführt u. s. f. Ein Schlussuttheil über Land und
Leute auf der pyrenäischen Halbinsel fällt der Verfasser, indem er
bemerkt, es sei ein sehr wohlthuendes Gefühl, auf der Heim*
reise an der französischen Grenze anzulangen; man nehme den
üebergang in ein civilisirtes Land wahr; man freue sich über
den wohlUiuenden Eindruck , den die Ankunft in Bordeaux
hervorbringe.
492 Notizen.
L. Ranke: „WaUenBtein''. Duncker 4k Humblot, 1869.
Seitdem in den zwanziger Jahren Ranke's erste Publicationen, die
^Geschichte der romanischen und germanischen Völker", „zur Kritik
neuerer Geschieh tschreiber** u. s. w. erschienen, ist etwa ein Men-
schenalter vergangen. Ununterbrochen hat der Altmeister, der jetzt
75 Jahre zählt, weitergearbeitet und verfügt über unermesslich reiche
Materialiensammlungen. Wenn man mit so grossartiger historischer
Bildung, mit solcher kritischen Schärfe, mit so unermüdlicher Arbeits-
kraft und mit so viel Geschmack und Genuss eine grosse Menge
Archive durchforscht hat, wie Ranke, so muss natürlich im Verlaufe
einiger Jahrzehnte ein ungeheurer Stoflf angesammelt werden. Ranke's
Bücher lasseji den Leser es sogleich empfinden, dass überall Original-
forschung zu Grunde liegt. Er ergeht sich nie in unnützer Breite
in dem Material, er benutzt nie in unverarbeiteter Form die Ergeb-
nisse der Forschungen seiner Vorgängei;^ Er darf an allen Punkten
seiner Darstellungen mit vollen Händen Eigenes, selbständig Er-
arbeitetes bieten.
Man durfte daher, als man schon vor dem Erscheinen des vor-
liegenden Buches vernahm, Ranke sei damit beschäftigt, einen wesent-
lichen Beitrag zur Geschichte des dreissigj ährigen Kriegs zu liefern,
mit Spannung einem solchen Werke entgegensehen. Der „Wallen-
stein'' ist wahrlich nicht hinter den Erwartungen zurückgeblieben.
Dieselbe Fülle von Stoflf, derselbe gedrungene, markige Stil, dieselbe
Knappheit der Form, die bei anderen als Manier erscheinen würde,
bei Ranke' indessen einen grossen Reiz übt, dieselbe feine Detail-
malerei mit grossartigem historischen Hintergrunde, dieselbe Frische
und Energie der Darstellung, dieselbe künstlerische Vollendung in
der Anordnung, wie in den vorhergegangenen Werken des berühmten
Historikers. Es ist in dem „Wallenstein" nichts von einer Abnahme
der Kräfte zu spüren. Als Ranke vor einem halben Jahrhundert
über Macchiavelli und Guicciardini, über die Osmanen und übei
Spanien, über Karl VHI. und die Medicis schrieb, mochte man die
vollendete Reife seines Geistes, die Ruhe und Objectivität seines
Urtheils, die souveräne Ueberlegenheit, mit der er Massen historischen
Materials bewältigte, beleuchtete, bewundern. Jetzt hat man Grund
über die Frische zu staunen, die er sich bewahrt hat, über die
jugendliche Theilnahme, die er seinem Stoffe widmet, über die
grosse. Spannkraft, mit welcher er das Kleinste wie das Grösste
behandelt, über die nicht im mindesten nachlassende Virtuosität in
der Form, welche stets seine Werke auszeichnete. Er ist immer noch
Notizen. 4d3
der alfce Sybailt, der in dem Genüsse schwelgt, die Bilder der Ver-
gangenheit an seinem geistigen Auge vorüberziehen zu lassen, der
keine grössere Wonne kennt, als in grossen Haufen von Actenstücken,
in dem Gewirr diplomatischer Geschäfte den Faden eines politischen
Gedankens zu verfolgen, in die Geheimnisse der Gabinete einzu-
dringen, Zug für Zug historische Charaktere zu zergliedern, grosse
Zusammenhänge in den internationalen Beziehungen zu erkennen.
Man weiss, welche reiche und widerspruchsvolle Literatur über
Wallenstein^ vorhanden ist. Einige , wie Förster, vertheidigen ihn,
andere, wie Hurter, klagen ihn an. Ranke will weder vertheidigen
noch anklagen: er will erklären. Allem demjenigen, was von Pa-
lacky, Dudik, Chlumecky, Mailath, A retin u. A. über diese Zeit
mitgetheilt worden ist, hat Ranke viel neues hinzuzufügen. Manche
Flugschriften jener Zeit, welche auch anderen zugänglich waren,
erhalten durch den Reich thum von allerlei archivalischem Material,
über welches Ranke verfügt, grössere Bedeutung als Geschichts-
quellen. Nicht umsonst hat der Verfasser in den letzten Jahrzehnten
die Archive von Simancas, Wien, Rom, Venedig, Brüssel, München,
Berlin, Dresden, London und Magdeburg durchforscht. Besonders
lehrreich erwiesen sich die Berichte des brandenburgischen Ge-
sandten in London. Das dresdener Archiv bot ausnehmend reiche
Auskunft über die Verhandlungen Wallenstein's mit Sachsen. Viele
handschriitliche Briefe aus dem schwedischen Hauptquartier standen
dem Verfasser zu Gebote. Die Venetianer gebfen in^ihren diploma-
tischen Berichten nicht so reichliche Auskunft über die Wallenstein
betreffenden Ereignisse. Dagegen mussten sich in Rom sehr kost-
bare Mittheilungen finden lassen, weil die geistlichen Nuntien ihit
•
viel lebhafterem Literesse als die Vertreter der venetianischen Re-
gierung allen Momenten zu folgen pflegten, welche mit der Her-
stellung des Eatholicismus zusammenhingen. Schon früher in seiner
„Französischen Geschichte" hatte Ranke mancherlei wichtige An-
gaben über die Beziehungen Wallenstein's zu Frankreich mitgetheilt:
auch in dem vorliegenden Buche haben sich die französischen
Materialien in Bezug auf die Unterhandlungen mit Frankreich sehr
fruchtbar erwiesen. Die grosse Aufmerksamkeit, welche die Ge-
sandten Spanien's Wallenstein widmeten, erklärt die reiche Ausbeute,
welche der Verfasser im Archive von Brüssel machte, wo die Pa-
piere der spanischen Monarchie gutentheils aufbewahrt werden.
Noch viele andere Documente hat Ranke aus Privatarchiven ent-
nommen. Von sehr grossem Werthe sind die dem Werke beigefügten
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 9 u. 10. 33
.404 )^ß^i(ifi^.
firörtorunge» Aber die Bedeutung, den Ursprung, di« Tattdenz ein-
selueir Q]leU^n. Wir machen z. B. /auf die schöne JKritik von
jLhevenbillers Annalen aufmerksam, und auf die Bemerkungen über
:die Teiaden^^iChrift y^Alberfi Friedlandi eJmoB perduellianis'' , als djereo
MttelleotueUen Urheber der Verfasser deu FeiAd Wallenstßins, Slawata,
verinuthe^-
Mit Recht bemerkt Ranke, Wallensteins Katastrophe sei bishör
noch immer unverständlich geblieben. Mit allen neuerdings nament-
lich in den Wiener Archiven angestellten Forschungen sei man doch
nicht über Anklage und Vertheidigung, wie sie im ersten Moment
einander gegenüberstanden, hinausgekommen, der Standpunkt des
Argwohns, auf welchem manche Zeitgenossen verblieben, könne für
die Nachwelt nicht maassgebend sein. Der Verfasser kommt zu
viel bestimmteren Ergebnissen. Indem er eine Biographie im Zu-
sammenhange mit der Zeitgeschichte schreibt, erhebt er sich hoch
ttber den Parteistandpunkt, der die meisten Schriften seiner Vorgänger
auszeichnet.
Jn grossen Zügen schildert der Verfasser zuerst Wallensteins
Emporkommjen in den österreichischen Erblanden, wie derselbe
durch Herkunft und Landesart der evangelischen Partei angehört
habje, wie er sich vom national-czechischen Element losgerissen und
jsich mehr dem italienischen Charakter und der allgemewen Cultur
55ugew^ndt habe, ohne dabei zupi streng katholischen System über-
zugehen, wie er dann die Rekatholisirung Böhpiens unterstützt und
zur Entfernung von Pfarrern und Lehrerfi beigetragen habe. — Bei
ider Schilderung der allgemeinen europäischen Ereignissein den zw^-
^i^ev Jahren kon^mt dexa. Verfasser seine ausgedehnte K^enntnifis der
Stimmupg ßller Cabinete sCjhr zu Statten. In a]ile Verhältpisse sehen
wir Wß^llenstein energisch eingreifen. Bald paeint er, man könne
von Elbe i^nd Weser aus die rebellischen Holländer im Zaiim
hellten, ßie vom Norden trennen, von wo das Holz zu ihren SchifiGs-
bauten komme, der Kaiser könne sich des Sundzolles bemächtigen,
er könne Polen gewinnen ; bald stellt er dem Könige Güsttaf Adolf
die Erwerbung Norwegens in Aussicht, wenn er mit dem Kaiser
und Spanien gemeinschaftliche Sache mache; der Besitz von Däne-
mark sollte ihm unter kaiserlicher Lehjasherrlichkeit zufallen; der
König von Polen werde seine Ansprüche auf die schwedische Krone
fallen lassen, Livland solle bei Schweden bleiben. Der Kaiser,
sagte Wallenstein, dürfe als Haupt der Christenheit die Fortsetzung
Notizen» 48fti
des Kriegeis zwischen Polen und Seiiweden nioW dulden. So» erhobt
sich die Idee des Kaiser» zu ein«r universellen Autorität Merk-
wördig sind die aus' den Berichten de» päpstlicheB Nuntius Garafia
über den Plan,, die Waffen der Christenheit gegen die Osnianen asu
wenden, geschöpften Mittheilungen: Wallenstein sc^te, es werde
sieben millionen Thaler kosten gegen die Osnianen zu kämpfen; eine
Flotte, von Spanien^, Venedig und dem Papst ausgerüstet, sollte^ im
Archipelagus erscheinen, ein Feldzug in Albanien war entworfen;
Constantinopel sollte erobert werden. Es war ein Plani, der dem
Q^meingefühl der Christenheit enttspracb.
Doch war vorläufig in Deutschland selbst genug zu thun. Wie
sehr bald der Krieg den Charakter einer religiösen Verfolgung ver-
lor, ersieht man aus dem Umstände, dass Wallenstein sich ausbe-
dungen hatte sein Heer aus Katholiken und Protestanten zusammen-
setzen zu dürfen. Ihm galt es die alten Ordnungen im Reiche um-
zustürzen. Seine Werbungen und Durchzüge hatten Conflicte mit
den Fürsten der Liga zur Folge. Sein Contributionssystem, die Art,
wie er mit den Territorialregierungen umsprang, stellte die Ver-
fassung in Frage. Wallenstein sagte, der Kaiser müsse Herr in
Deutschland werden, wie die Könige von Spanien und Frankreich
Herren seien in ihren Länxlern-, die Wahl sei abzuschaflffen. Ebenso
revolutionär stand er der Geistlichkeit gegenüber: er meinte, man
müsse einige Bischöfe hinrichten. Er war gegen die religiöse Ver-
folgung' und versprach den mecklenburgischen Ständen ihre Con-
fession zu schützen. Er verlangte vom Kaiser die Aufhebung des
Restitutionsedicts (die Angaben darüber schöpfte Ranke aus dem
dresdener Archiv). Ihm standen der geistliche Einfluss, die Prä-
tensionen des hohen Klerus im Wege. Er wollte das Gleichgewicht
der Parteien wiederherstellen, ein Verständniss mit den Protestanten
zii Stande bringen. Gewissensfreiheit sei das Privilegium der Deutschen,
sagte er wohl. Man wusste es, dass er dem jesuitischen und spani-
schen Einfluss gegenüber Front machen wollte. Sein Tod war für
die Protestanten ein schweres Missgeschick.
Eben darum waren ihm die spanischen und römischen Bot-
sehafter mit ängstlicher Spannung auf der Spur. Von ihm konnte
man alle» erwarten: er hat wohl die Aeusserung gethan, es seien
schon hundert Jahre her, dass man Rom nicht geplündert habe, und
jetzt sei es noch viel reicher als ehemals. Sein Leben war eine
Reihe von Verschwörungen. Als man ihn aufforderte nach Regens-
486 Notizen.
borg zu kommen^ sagte er, er habe dort nichts zu suchen : sein
wahres Quartier werde er vielleicht in Paris finden. Mit allen
Parteien hing er zusammen , um schliesslich überall und immer nur
seinem eigenen Interesse zu folgen. Ihm diente die Idee der Con-
fiscation der Güter der Protestanten, insofern die Hoffnung an diesem
Raube Theil zu nehmen sein Heer zusammenhielt. Und dann wieder
suchte er die Herrschaft der Katholischen im Reiche zu verhindern.
Als der Kaiser ihn entliess, weil die Kurfürsten drohten sonst lieber
Ludwig XTTT. als den Sohn Ferdinand's zum römischen Könige
wählen zu wollen, war keine Spur von persönlicher Ungnade bei
dieser Entlassung. Als er wieder in Thätigkeit kam, waren es
^antiferdinandeische Phantasien^ des mächtigen Kriegsfürsten, wenn
er durch den Grafen Trzka in Verhandlungen mit Gustaf Adolf
trat, und ihm anbot, er werde die Güter der Jesuiten den Offizieren
des kaiserlichen Heeres geben und sie so an sich ziehen: es sei
Thorheit gewesen, dass die Böhmen Martiniz und Slawata nur aus
dem Fenster geworfen hätten, man hätte ihnen den Degen durch
den Leib rennen sollen. Es ist Gustaf Adolf der Vorschlag gemacht
worden, 12000 Mann und 12 Kanonen an Wallenstein zu überlassen
und ihn Vicekönig von Böhmen werden zu lassen. Er hätte dann
den Krieg in den Erblanden geführt. Noch bei Nürnbei^ Hess
Gustaf Adolf Wallenstein einladen persönlich zu kommen und zu
unterhandeln. »Wer hätte sich," fragt Ranke, „dem widersetzen
können, worüber sie übereingekommen wären**? Auch mit Oxen-
stjerna blieb er in Unterhandlung.« Er strebte höher und höher.
Schon in den zwanziger Jahren ging das Gerücht, Wallenstein sei
für den dänischen, Schlick für den schwedischen Thron bestimmt
Später wollte er, dass nach Kurfürst MaximilMn's Tode die Kurwürde
auf «ihn übertragen würde; dann meinte er Würtemberg, Baden-
Durlach hinzuerwerben und so bei dem Friedensschlüsse das ent-
scheidende Wort sprechen zu können (aus dem Archiv von Brüssel).
Der Cardinal von Richelieu sollte Kurfürst von Trier werden. Der
Gedanke, Ludwig XIH. zum Kaiser der Deutschen zu erheben, tauchte
auf. „Welch eine neue Gestaltung des Reichs", sagt Ranke in seiner
„französischen Geschichte" (H. 441), „wenn diese beiden geistes-
gewaltigen, ehrgeizigen, nach Unternehmungen dürstenden Menschen,
Wallenstein und Richelieu, unter einem Kaiser wie Ludwig XTTT.
geworden wäre, die Reichsgewalt ausgeübt hätten. Ob sich alsdann
von den alten territorialen Dynastien im Reich auch nur eine einzige
wiLrde behauptet haben?"
Notizen* 497
So war denn der Gonflict zwischen dem Kaiser und dem «Im-
presario des Krieges'' unvermeidlich. „Im Orient/ sagt Ranke, „ist
es fast Regel, dass grosse Bjiegführer den Fürsten ^die Gewalt ent-
reissen. Die ganze Geschichte des Kalifats beruht darauf." Wie
einst Kurfürst Moritz von Sachsen, so ging Wallenstein von der engen
Verbindung mit dem Kaiser zur. entgegengesetzten Politik über. Noch
weniger als Moritz fühlte er sich auf die Wahrung der katholischen
Interessen angewiesen. So reifte die Absicht einer autonomen Er-
hebung, bei welcher insbesondere die Unterhandlungen mit Sq.chsen
von grosser Bedeutung sind. Ueber diese Verhandlungen theilt Ranke
im Anhange wichtige Materialien mit. Wallenstein wollte römischer
König werden. In Paris ist davon* die Rede gewesen. Der Schritt
zur römischen Ejrone war, wenn er einmal in Böhmen herrschte, leicht
zu vollziehen. Und gleichzeitig mit diesen Entwürfen sprach er von
seiner Abdankung, vorausgesetzt, dass man ihm die Vorschüsse,
die er seinen Generalen gemacht habe, ersetze. In Betreff des be-
rühmten Banketts in Pilsen bemerkt Ranke, der bekannte Revers
habe auch schon vor demselben die Clause! von einem Vorbehalt
über den Dienst des Kaisers nicht enthalten. Wallenstein hatte sie
früher ausgestrichen: die Generale wussten was sie unterschrieben.
Wallenstein dachte mit Hülfe der beiden norddeutschen Kurfürsten
die Angelegenheiten des Reiches auf der Grundlage des Religions-
friedens zu ordnen. Er wollt^ die Ansprüche der Armee befriedigen
und dann vielleicht abdanken. Sein Vorhaben erinnert, wie gesagt,
an die Unternehmung Moritz' von Sachsen. Sein Ziel ist immer
die Gleichberechtigung der Bekenntnisse im Reich und die Ent-
fernung des spanischen Einflusses. Der Unterschied ist nur, dass
Moritz selbst ein Kriegsherr ist. Wallenstein aber ein vom Kaiser
eingesetzter General. Er hoffte auf Schweden für seinen Religions-
frieden. Noch Anfang Februar 1634 hat er mit Oxens^erna cor-
respondirt. Dieser wie Bernhard von Weimar sagten ihm, er solle
zuerst das Wunder thun, seinen Abfall ins Werk setzen ; dann wür-
den sie ihm beistehen. Wallenstein äusserte wohl: man müsse der
Welt zeigen, dass es Kaiser auch noch aus einem anderen Hause als
dem össterreichischen gebe; und ferner: weim der Kaiser ihn nicht
als seinen General anerkenne, so werde er. Wallenstein, ihn auch
nicht zum Herrn haben wollen; er werde leicht einen anderen
Fürsten finden, oder auch gar keinen Herrn über sich haben.
Nicht in dem Maasse, als man bisher gemeint hat, ist dem
Elaiser Ferdineuid Wallenstein's Sturz zuzuschreiben. Besonders aus-
führiich deckt Rauke die Thäfcigkeit Aet Späüiei^ iii dieser Beziehung
auf. Namentlich der Gesandte Onate warnte schon frühzeitig' vor
Wallenstein. Die Kurfürsten erhielten spanische Pensionen. Die
Einträge der südamerikanischen Bergwerke wirkten auf die deutecheil
Verhaltnisse; auch der römische König (Ferdinand IIT.) erhielt yiel
spanisches Geld. Onate schrieb: wenn man Priedländ hätte weiter
fortschreiten lassen, so würde er gewiss den Kaiser in einem Monat
aus Deutschland reijagt haben. Er und der bayerische Gesandte
beinerkteii, als man sich entschlossen hatte gegen Wallenstein vor-
zugehen, eö werde leichter sein Wallenstein zu tödten als äü
verhaften. — So Hess denn Ferdinand dieser Partei freien Lauf. Es
Wurden Gebete in den Kirchen gesprochen, dass Gott den Kaiser
erleuchten solle. So wurde zuerst ein Absetzungspatent erlassen;
miari wollte Wallenstein gefangen nehmen und ihm den Pi-oceds
machen. Zuletzt galt das Losungswort: ihn lebendig oder todt zu
fangen. Nach der Katastrophe in Eger sagte OÄate: „Eine grosse
Gnade, die Gott dem Hause Oesterreich erzeigt hat.'^ Dass die Ver-
bindung Spanieti's mit Oesterreich nun erst recht stark war, und was
Wallenstein's Tod bedeutete, zeigt die Reihe von Erfolgen der
Kaiserlichen bald nach der Ermordung Priedland's: die Einnahme
von Regensburg, die Schlacht bei Nördlingen. Wallensteiü, Betgt der
Verfasser, hatte den Krieg mit Frankreich vermeiden wollen. Jetzt
wüthete dieser Krieg noch lange fort und gelangte die Entscheidutfg
in europäischen Angelegenheiten an Frankreich.
Sehr anziehend sind die Schlussbetrachtungen Ranke's, der die
Bedeutung Wallenstein's so zusammenfasst: Wallensteiü steht zwi-
schen Essex in Englaüd uüd Biron in Frankreich einerseits, und
Cromwell und Napoleon andererseits. Essex, Biron und Wallenstein
scheiterten an der Legitimität, Cromwell und Napoleon fanden die
Legitimität bereits gestürzt.
Pont...x.
ly^r Staatijdtreioh vom 2. D^cembet 1851 und sMne Mek Wirkung atif Europ».
Leipidg 1870. Dnntfker ä Hamblot.
Der Fall Louis Napoleon's hat das Lsiteresse für seine Erhebang
wieder gesteigert, uad es kommt eine Menge von Material zur 66*
sebiehte des zweitea Kaiserreichs zu Tage. Darunter ist obiger
kttraen Skizze der diplomalisehen YerhlÜtaisse Eüropa's Erwähnung
Notizen. 499
zu thun, wie sie sich dem Staatsstreich Yom 2. December 1861 und
der späteren Annahme des Kaisertitels seitens Napoleon's gegenüber
gestalteten* Diese ^auf Grund zuverlässigen diplomatischen Materials
unternommene* Arbeit schildert klar und gedrängt einige Haupt-
momente, welche damals die Cabinete der Grossmächte bewegten,
und belegt diese Schilderung durch 17 bisher ungedruckte Acten-
stücke, welche ihr angeschlossen sind. Wir empfehlen das 134 Seiten
starke Buch unseren Lesern.
Fem er ist soeben bei J. Bac meist er in Eisenach eine kurze
Biographie des Bischofs Dr. Ferdinand Walter erschienen.
Das Leben eines Mannes, dessen Geist und Thätigkeit so tief in die
baltischen Dinge eingegriffen haben und in dessen Stellung sich ein
so bedeutender Theil der Geschicke unseres Landes spiegelt, ist dazu
angethan, unsere Aufmerksamkeit auf die schlichte und warme Dar-
stellung zu lenken, die ein langjähriger Freund und Genosse mancher
heiteren und dunklen Lose ihm gewidmet hat.
E. B.
Von der Censur erlaubt. Riga, den 3. November 1870.
Druck der Livländischen Gouvernements-Typographie.
Potemkin'8 GiOck und Ende.
Die letzten Phasen von Potemkin's vielbewegtem Leben fallen in
eine ereignissreiche Zeit. Die französische Revolution hatte mehr und
mehr die Aufmerksamkeit Europa's auf sich zu lenken begonnen, der
Türkenkrieg erforderte die grössten Anstrengungen Russland's, um
einen leidlichen Frieden zu ermöglichen ; hatte man auch mit Schwe-
den in Werelä eine Uebereinkunft erzielt (1790), so nahmen doch
die polnischen Dinge gerade um diese Zeit eine Wendung, welche
die vy-eiteren Theilungen Polens zur Folge hatte. So häuften sich
die Geschäfte am Hofe Katharina's, ohne dass sie von solchen Staats-
männern umgeben gewesen wäre, die ihr volles, unbedingtes Ver-
trauen verdient hätten. Ostermann war in dieser Zeit nur wenig
eingeweiht in die Geschäfte; Besborodko's Talent war einseitig: es
beschränkte sich auf eine bewunderungswürdige Kunst, amtliche
Papiere zu redigiren ; der junge Subow war ehrgeizig, unternehmend,
aber zu wenig vorgebildet, zu gewöhnlich begabt, um einen hervor-
ragenden Antheil an der Politik zu nehmen. Potemkin war im
Süden als Verwalter, als Diplomat, als Feldherr und Admiral thätig.
Die Leitung des Türkenkrieges, die Anbahnung von Friedensunter-
handlungen waren ihm überlassen. Ungeheure Mittel standen ihm zu
Gebote. Er verfügte über die Machtquellen des Reiches, fast als
Souverän herrschte der Satrap in seinen Palästen zu Krementschug
und Cherson und in den soeben dem Feinde entrissenen Städten
Bender und Jassy. Sein Privatvermögen war unermesslich. Sein
Ehrgeiz träumte von einer souveränen fürstlichen Stellung. Aber
gerade als er sich auf dieser schwindelnden Höhe befand, fühlte er
den Boden unter seinen Füssen wanken; jeden Augenblick konnte
ihm die Hofgunst entzogen werden ; er konnte in das Nichts zurück-
sinken, aus welchem die Kaiserin ihn einst emporgehoben hatte. Da
starb er im Herbst 1791. Ein in Glanz und Pracht verschwelgtes,
Baltische Monatsschrift, H. Folge, Bd.I, Heft 11 u. 12. 34
502 Potemkin's Glück und Ende.
durch Macht und Einfluss, durch grosse politische Entwürfe ge-
schmücktes Leben ging zu Ende unter freiem Himmel, auf der kahlen
Steppe. Man weiss kaum, wo seine Leiche geblieben ist.
Solche Gegensatze, solche Fälle von orientalischem Glücks-
wechsel waren nicht selten in Russland. Menschikow war in Si-
birien gestorben, der alte Ostermann und Münnich waren dem Tode
durch Benkershand nahe gewesen, Biron hatte die Schrecken der
Verbannung gekostet. So schroffer Wechsel. gehörte einer früheren
Periode an. Wer unter Katharina bei Hofe Gunst genossen hatte,
konnte nicht leicht so tief fallen. Die vom Hofe entfernten Günst-
linge der Kaiserin, die Orlow und Mamonow lebten in fürstlich-
reicher Zurückgezogenheit. Auch Potemkin erhielt sich bis an seinen
Tod auf der Höhe. Er blieb dem Mittelpunkte der Geschäfte nahe
und Katharina hat ihn in aufrichtiger Trauer beweint. Dennoch be-
zeichneten Stürme das Ende diese? wechselvollen Lebens. Verwöhnt
vom Schicksal, verhätschelt von der Kaiserin selbst, konnte Potemkin
nicht die geringste Schmälerung seines Glückes, nicht die geringste
Abnahme des Vertrauens der Kaiserin ertragen. Er ging daran zu
Grunde, dass seine hochfliegenden Entwürfe nicht in ihrem vollen
Umfange sich verwirklichten, dass sein Einfluss auf die Kaiserin
sank, dass er nicht noch eine höhere Stufe zu erklimmen vermochte.
Wir haben es in der gegenwärtigen Skizze nicht mit den früheren
Epochen von Potemkin's Wirken zu thun, sondern betrachten nur den
Abend seines Lebens. Ungleich wichtiger als die Geschichte seine«
raschen Emporkommens, seines Lebens bei Hofe, ist sein Antheil an
dem sogenannten „griechischen Project", an dem ersten und zweiten
Türkenkriege, an der Besetzung der Krim, besonders an den Ent-
würfen, welche sich an den Krieg der Jahre 1787 bis 1791 knüpften.
Hier hatte er Spielraum: hier gebot er über ein weites Reich im
Süden^, hier hatte er ein Heer und eine Flotte, hier konnte er für
Russland und für sich Politik machen im grössten Stil.
Man weiss, welch seltsames Gemisch in Potemkin sich ddrstellt
von Genie und Cynismus, von Bildung und Rohheit, von europäischer
Hypercultur und asiatischer Barbarei, von grossartigen Entwürfen
für den Staat und von selbstsüchtiger Rücksicht auf seine Tasche,
von Humanität und Egoismus, von Thatkraft und Schlaffheit, von
Strebsamkeit und Indolenz; — ein Charakter, welchen der Fürst
von Ligne als von der Natur so verschwenderisch ausgestattet be-
zeichnet, dass hundert Menschen von gewöhnlichem Geist und Ge-
müth aus diesem Stoffe hätten gemacht werden können, — ein
Potemkin's Glück und Ende. 503
Charakter, welcher ^dlen Menschen wie Katharina, wie Sdgur, wie
Ligne tiefes Interesse einflö^ste und der zu gleicher Zeit der Gegen*
stand der schärfsten Anfeindung, des bittersten Tadels, des giftigsten
Hasses geworden ist, — eine Persönlichkeit, welche als Held und
Staatsmann gepriesen, als Verbrecher verurtheilt worden ist von der
Geschichtsschreibung; ein Mann von kindischem Ehrgeiz, dem man
wohl nachsagte, dass er um den Georgsorden zu erhalten, tausende
von Menschen bei Otschakow zu opfern bereit gewesen sei, dem
selbst der Fürst von Ligne, der zu Zeiten für ihn schwärmte, wohl
zutraute, dass er um eines österreichischen Ordens \yillen sich aus der
faulen Schwäche capuanischen Lagerlebens herauszureissen vermocht
hätte; aber zugleich ein Mann, aus dessen zahllosen Briefen und
Geechäftspapieren, aus dessen organisatorischer Thätigkeit und Viel-
seitigkeit uns grosse Strebsamkeit, ein reicher Geist, hier und da Ge-
müthswärme entgegentreten. Sein Doppelwesen charakterisirt sich
am besten in der Aeusserung, die vpn verschiedenen seiner Zeitge-
nossen gethan worden ist: Potemkin erscheine stets müssig, obgleich
er stets mit schwerer Gedankenarbeit beschäftigt sei. Mochte er
noch so oft halbnackt und halbträumend auf einer Ottomane ruhend
gesehen werden: die grosse Zahl seiner Handbillets an viele Be-
amte, deren Arbeiten er überwachte, zeigt, dass er eine ungewöhn-
liche Arbeitskraft besass, dass viel Stoff zu Grossem und Hohem
in ihm war. Der Gesammteindruck indessen, den der Geschichts-
forscher nach Durchmusterung vieler Urtheile von Zeitgenossen über
ihn, vieler handschriftlichen Urkunden von ihm selbst, nach genauer
Einsicht in das Leben und Treiben Potemkin's gewinnt, ist der, dass
wir es hier mehr mit einem Abenteurer als mit einem wahren
Staatsmann, mehr mit einem Glücksritter als mit einem ächten
Patrioten, mehr mit einem Hofmann als mit einem Helden, mehr
mit theatralischer als wirklicher Grösse, mehr mit Flittergold als
gediegenem Metall, mehr mit aussenglänzender Begabung als eigent-
licher Tiefe zu thun haben. Die spätere Zeit verdankt ihm weniger
als seine Lobredner meinen; seine Schöpfungen sind ephemer, seine
Handlungen nur mehr von augenblicklicher Wirkung gewesen. Seine
Träume von reichen, dichtangebauten Gegenden, von bevölkerten
Städten, von Glück und Wohlstand, Handel und Industrie, Kunst
und Wissenschaft im Süden von Russland und in der Krim, welche
wie mit einem Zauberschlage sich verwirklichen sollten, sind eben
Träume geblieben. Nur auf Augenblicke gelang es, einzelne Punkte
der unermesslichen Gegenden, die er jahrelang beherrschte, in eine
34*
604 Potemkin's Glück und Ende.
höhere Culturstufe zu rücken. Nach wie vor berührten sich hier
Steppe und Garten, Lehmhütte und Palast, raffinirtester Luxus und
nacktes Elend, Wilder und Sybarit. Nur auf Augenblicke liess sich
aus dem Nichts etwas schaffen. Bei der völlig unhistorischen Art
Städte zu bauen, Gegenden zu cultiviren, konnte es keine organischen
Gründungen, keine soliden Existenzen geben. Wo die historische
Geduld fehlte, da konnten die Gärten und Paläste, die Fabriken und
Kasernen, die Dörfer und Schulen nur kurze Zeit wie durch einen
Zauber scheinbar bestehen. Wie Potemkin selbst keiner Schule von
Staatsmännerp, keinem politisch bedeutenden Geschlecht entstammte,
wie er selbst aus dem Nichts zu der zweiten Stelle im Staate empor-
gehoT)en war, so knüpften auch seine Schöpfungen nicht an irgend
ein historisch Gegebenes an; sie waren unvermittelt, als Treibhaus-
pflanze, als äusserer Zierrath schmückten sie die Regierung Katha-
rina's; kümmerlich vegetirten sie in späterer Zeit.* Mit ungeheuren
Grössen hat Potemkin als Organisator, als Feldherr, als Diplomat
gerechnet: die Rechenschaft, welche man von ihm fordern darf, bietet
keine grossen Ergebnisse. Der rothe Faden, der sich durch sein
Leben hinzieht, ist das Gefühl der Verantwortlichkeit nur der
Kaiserin gegenüber, die Besorgniss, dass sie, die ihn erhob, ihn auch
stürzen könne. Solchen Naturen fehlt es an Selbstgefühl, an Ver-
trauen auf wirklich geleistete Dienste, solche Pflanzen gedeihen nur
in der Hofluft: es giebt keine andere Welt für sie ausser dieser.
Und doch hatte Potemkin grosse Bedeutung für Russland's
Politik. Keiner der Günstlinge Kätharina's hatte so tief in das
politische Leben jener Zeit eingegriffen, keiner hatte den europäischen
Fragen so nahe gestanden, wie er. Mit den ausländischen Diplo-
maten am St. Petersburger Hofe stand er, so oft er sich in der
Hauptstadt aufhielt, in lebhaftem Verkehr. Er hatte seine eigene
Art die Geschäfte zu betrachten. Nicht immer zeichnete er die Ge-
sandten aus, welche Katharina bevorzugte. Während Katharina
mehr zu Frankreich hielt, suchte Potemkin ein nahes Verhältniss
zu England anzubahnen. Der innigen Freundschaft der Kaiserin
zu Joseph n. gegenüber erinnerte er wohl an die Nothwendigkeit,
die Beziehungen zu Preussen zu pflegen. In der orientalischen Frage
scheint er oft eine Art Initiative gehabt zu haben, lieber die Be-
ziehungen zur Türkei, die Nothwendigkeit einer Besitzergreifung der
Krim, die Haltung Russland's im Kaukasus, die Gründung russischer
Kriegshäfen am Schwarzen Meere verfasste er Gutachten. Sein
langjähriger Aufenthalt im Süden hatte ihn eine Terrainkenntnist^
Potemkin's Glück und Ende. 606
erwerben lassen, welche ihn in Stand setzte, die Wichtigkeit einer
Grenzerweiterung gegen die Türkei, der Befestigung mancher Grenz-
punkte genauer zu erkennen, als mancher andere es vermocht hätte.
Nicht blos auf die rein politische Bedeutung solcher Erwerbungen
wies er hin, sondern auch auf die wirthschaftliche Wichtigkeit der
Colonisation in Südrussland, des russischen Handels auf dem Schwarzen
Meere, auf die Vortheile, welche für das Christenthum aus einem
Vordringen gegen die Türkei erwachsen müssten. Aus verschiedenen
Zeiten stammen solche Vorschläge und Aeusserungen Potemkin's. 0
Stets war er beschäftigt, Angaben zu sammeln über den Stand der
Fragen, die ihn in Anspruch nahmen. In den Archiven Südruss-
land's finden sich umfassende Memoiren über mancherlei Verwaltungs-
gegenstände, welche davon zeugen, dass Potemkin es verstand, sich
mit Sachkundigen zu umgeben, ihre Dienste zu verwerthen und ge-
naue EnquÖten anstellen zu lassen. ^)
Potemkin's ungewöhnliche Fähigkeiten, sein Gedächtniss setzten
ihn in Stand, spielend das zu erlernen, worauf andere viel Zeit ver-
wenden. Als er Grossadmiral auf dem Schwarzen Meere geworden
war, suchte er in kurzer Zeit sich die Einzelnheiten der Technik
zur See anzueignen. Die Umwandlung der für die Vergnügungsreise
der Kaiserin im Jahre 1787 gebauten Galeeren in Kriegsfahrzeuge
ist nach seinen Angaben erfolgt. Zahllose eigenhändige Schreiben
von ihm bekunden sein Interesse am Schiffsbau, der während des
Türkenkrieges im Süden eifrig betrieben wurde. Seine Universal-
bildung hat manchen seiner Zeitgenossen in Erstaunen gesetzt. Ohne
sich durch einen hohen und reinen Kunstgeschmack auszuzeichnen,
liebte er es, sich mit Künstlern und Kunsterzeugnissen zu umgeben.
In seiner Erdhöhle vor der Festung Otschakow war er mit der
Uebersetzung französischer Werke beschäftigt. Manchen wichtigen
politischen Fragen gegenüber schien er gleichgültiger als er war.
Sein dolce far niente war oft nur ein scheinbares. Der Fürst von
Ligne, der ihn wochenlang während des Feldzuges von 1788 beob-
achtete, bezeugt, dass Potemkin, der immer nur zu ruhen scheine,
0 S. u. a. die Biographie Potemkin's von Samoilow in der Zeitschrift
„Russisches Archiv" 1867, S. 1011 ff. Solowjew, Polen's Fall (russisch) S. 156.
2) Auf dem Gute der Nachkommen von Potemkin's Secretär Popow, Rescbe-
tilowka, in der Umgebung von Poltawa u. a. findet sich eine grosse Menge von
Geschäftspapieren aus der Canzlei Potemkin's. Nur ein geringer Theil derselben
ist gedruckt worden. S. u. a. PyccKitt ApxHBt, 1865, S. 535.
506 Potemkin's Glück und Ende.
sieh Tag und Nacht keine Ruhe gönne, weil ihn das Gefühl der Ver-
antwortlichkeit für das Interesse der Kaiserin erfülle.
Die Behauptung, dass der Bruch mit der Pforte im Jahre 1787
wesentlich durch Potemkin herbeigeführt worden sei, der dem russi-
schen Gesandten in Constantinopel eine allzu drohende Haltung an-
empfohlen habe, ist nicht unbegründet. Mitten im Kriegslärm war
er möglichst genau unterrichtet über die verschiedenen Fragen, welche
Katharina beschäftigten, und theilte ihr in ausführlichen Briefen seine
Ansichten über das Verfahren mit, welches man den Polen, den
Schweden, den Cabineten der Westmächte gegenüber einzuschlagen
habe. So oft die Kriegsereignisse ^s gestatteten, kam er nach
Petersburg, um durch persönlichen Verkehr mit der Kaiserin auf die
politischen Verhältnisse einzuwirken. In vertraulichem Gespräch
klagte dann wohl die Kaiserin über die Schwierigkeiten, denen sie
begegne, und dass dieselben grösser, schwerer zu überwinden seien
als sonst; fast glaube sie, dass ihr zunehmendes Alter ihr alles in
dunkleren Farben erscheinen lasse.
Er tröstete sie: das Reich werde grösser; die politischen Fragen
seien schon durch den gewaltigen Umfang desselben complicirter ; man
brauche in demselben Verhältniss mehr Hülfsmittel als andere Staaten. 0
Die Ansicht, dass Katharina gegen das Ende von Potemkin's
Leben ihre günstige Meinung über ihn völlig geändert habe, ist
falsch. Es gab Momente der Verstimmung; von einer eigentlichen
Ungnade war keine Rede. Vielfache Aeusserungen der Kaiserin
bei Potemkin's Tode zeugen von aufrichtiger Anhänglichkeit. Freilich
mochte es nicht viel bedeuten, wenn sie in Briefen an Zimmermann
und andere Zeitgenossen Potemkin überhaupt lobte oder ihn etwa
gegen den Vorwurf in Schutz nahm, er hätte die Einnahme von
Otschakow beeilen können, sogar wenn sie in Briefen an ihn selbst
ihn ihren Freund nannte, oder wenn sie ihn mit Gnadengeschenken
und Belohnungen überschüttete. Dagegen werden uns Aeusserungen
von Katharina aus engstem Hofkreise mitgetheilt, welche wir als
ungeschminkt ansehen dürfen und welche schwerer wiegen als die ihm
verliehenen Millionen und Paläste, Orden, Ehrendegen und Sieges-
kränze. Mehr als solche Zeichen äusseren Glanzes gelten die man-
cherlei kurzen, aber herzlichen Handbillets Katharina's an ihn und
der Schmerz, mit dem sie ihn beweinte.
0 Tagebach Chrapowitz^'s, 22. Mai 1789.
Poterokin'a Glück und Ende. 507
Nicht, so günfitig beartheilte man ihn in der Umgebung der
Kaiserin uad im Auslande. Das Wortspiel, mit welchem man ihn
als den „Fürsten der Pinsterniss*' bezeichnete, deutet schon darauf
hin, dass man in dem Gewaltigen einen bösen Dämon Ru&sland's
sah. Männer wie S^gur und Joseph haben mit grosser Unbefangen-
heit seine Schöpfungen in Südrussland betrachtet und nur sehr ge-
ringe Bewunderung dabei empfunden. Ihre Aeusserungen gegen-
einander oder S^gur's Aufzeichnungen darüber in seinen Memoiren
oder des Kaisers Mittheilungen an den Feldmarschall Lacy waren
aufrichtiger als das Lob, welches sie der Kaiserin in Betreff der
neuen Städte, Festungen, Kriegshäfen spendeten. Sie staunten wohl
über die Schnelligkeit, mit welcher so viel neues in Südrussland
und der Krim geschaffen war, aber sie erkannten sehr wohl, dass
ein solcher Erfolg nur mit einem unermesslichen Aufwände von
MenschenUraft und Mitteln möglich gewesen sei, und dass derselbe
keinerlei dauernden Bestand haben werde. Für den Fürsten von
Ligne, der wirkliche Theilnahme für Potemkin empfand, war er
eine Art psychologischer Abnormität, die eingehenden Studiums werth
schien. In dem Feldzuge von 1788 mochte der Heisssporn Ligne
entsetzlich darunter leiden, wenn der verzärtelte Orientale in ver-
düsterter Stimmung, einem Hamlet zu vergleichen, ein entscheidendes
Vorgehen gegen den Feind vermied, von allerlei angeblichen Ge-
fahren sprach, Menschen schonen zu mibssen vorgab und lange Zeit
in einer Art Lethargie verharrte. Bald erschien er ihm wie ein
Held, bald wie ein eigensinniges Kind, bald verglich er ihn mit
Achill, bald mit Thersites ; bald spottete Ligne über Potemkin's Bi-
gotterie und Aberglauben, bald bewunderte er dessen rastlose Thätig-
keit. Er nannte ihn den ausserordentlichsten Menschen, der ihm je
vorgekommen sei, einen „Koloss", das „Emblem Russland's mit
Wüsten und Goldminen*' ; er staunte über den Weichling, der sich
ohne Ende mit wohlriechenden Essenzen zu waschen püegte, der bis-
weilen einen Monat lang sich nicht dazu aufraffen konnte, ein wich-
tiges Papier zu unterzeichnen, und der dann wieder im dichtesten
Kugelregen einen bewunderungswürdigen Gleichmuth an den Tag
legte — eine Sonderlingsnatur durch und durch, die oft abgespannt
war wo der Augenblick rasche Thätigkeit erforderte, und die dann
zur Unzeit in rastlosem, überstürzendem Eifer manches verdarb» 0
Am heftigsten ist die Verschleuderung von Staatsgeldern durch
0 Oeuvres du prince de LignC) 1860, II. passim.
608 Potemkm*0 Glück und Ende.
Potemkin getadelt worden. Die ausländischen Diplomaten in Peters-
burg haben manches Anekdotische darüber mitgetheilt. ') Seine
politischen Fehler in Bezug auf die orientalische Frage haben in
dem zeitgenössischen Geschichtschreiber und Publicisten, dem Fürsten
Schtscherbatow, einen strengen Beurtheiler gefunden. Ausführlich
erörtert Schtscherbatow, wie Potemkin die Zeit der Vorbereitung
auf einen Krieg nicht genügend ausgebeutet habe, wie die Eriegs-
anstalten im Süden, welche der Kaiserin im Jahre 1787 gezeigt
wurden, zum Theil nur leerer Schein gewesen seien, wie leichtsinnig
man die Pforte unnöthigerweise gereizt habe, wie wenig die Erfolge
den Hoffnungen und dem Hochmuth entsprachen, mit denen man
sich in diesen Krieg gestürzt habe u. s. w. ^)
Wir haben Grund zu vermuthen, dass Schtscherbatow's^ Aus-
lassungen damals nicht in weiteren Kreisen verbreitet wurden. Die
Publicistik war noch in ihren Anfängen. Nur etwa im vertrautesten
Kreise mochte man ungestraft die Handlungen hochgestellter Per-
sonen einer Kritik unterwerfen. Wohl aber ist der gegen Potemkin
gerichtete Tadel oft genug in der unmittelbaren Umgebung der
Kaiserin laut geworden. Es gab viele persönliche Widersacher des
Fürsten. Unter den Gründen für die Reise der Kaiserin in den
Süden wird angeführt, dass Katharina über Potemkin's Verwaltung
Nachtheiliges vernommen und sich entschlossen habe, diese Ver-
waltung einer Controle zu unterwerfen. Beim Ausbruche des Krieges
mit der Pforte hat man die Kaiserin davon zu überzeugen gesucht,
dass Potemkin die Kräfte des Reiches überschätze, da«s er die
Kaiserin durch falsche Berichte über den Stand der Armee täusche.
Der Dichter Derschawin, welcher in dieser Zeit als Augenzeuge den
Ereignissen nahestand, erzählt, man habe während der Zeit der Be-
lagerung von Otschakow bei Hofe ernstlich daran gedacht, Potemkin
den Oberbefehl zu nehmen. ^)
Potemkin verstand es, seine Gegner in Schach zn halten. Sein
zügelloser Ehrgeiz vertrug es nicht, dass Andere das Vertrauen der
Kaiserin genossen. Jene Einflüsterungen vor der Reise im Jahre
1787 wusste er durch die glänzenden Ergebnisse der Reise zu nichts
zu machen. Otschakow wurde genommen. Eifersüchtig trachtete
0 8. a. A. b. Herrmann, Blum, Heibig in Archenholz' Minerva etc.
«) HTCHiH MocK. 06n^. Hot. h flpeBH. Pocc. 1860. I. 79 ff.
') Commentar Derschawin's zu einem seiner Gedichte in der Ausgabe yon
DerBchawin*8 Schriften von Grot I, 232, (russisch).
Potemkin*8 Glück und Ende. 509
er darnach, den Ruhm anderer Generale zu schmälern. Seine Hand-
Jungsweise gegenüber Rumänzow und Suworow ist kleinlich. Schon
während der Reise im Jahre 1787 hatte er es verstanden, seine Ver-
waltung in einem unyergleichlich günstigeren Lichte darzustellen
als diejenige Rumänzow's. Allerlei Chicanen gegen Rumänzow als
Feldherrn während des Feldzuges im Jahre 1788 veranlassten den
greisen Helden um seinen Abschied zu bitten; durch österreichische
Offiziere hatte Potemkin den ihm an militärischem Ruhm weit über-
legenen Rumänzow überwachen lassen. Die Berichte derselben be«
nutzte er, um ihn zur Niederlegung des Oberbefehls zu nöthigen.
Potemkin's Verhältniss zu Suworow war fast fortwährepd ein ge-
spanntes. Es verschlimmerte sich in dem Maasse, als Suworow's
Ruhm sich mehrte. Als Subow in seiner Günstlingsstellung mehr
und mehr Einfluss zu gewinnen drohte, schien es Potemkin's Haupt-
aufgabe zu sein, diesen Einfluss zu paralysiren. Der Gedanke, den
neuen Emporkömmling aus dem Sattel zu heben^ hat den Fürsten
Potemkin die letzten Monate seines Lebens unablässig beschäftigt.
In der That hat Potemkin während des Türkenkrieges nur
ausnahmsweise die Haltung eines Kriegshelden beobachtet. Aller-
dings geschah es wohl, dass er mit grosser Lebensgefahr Recog-
noscirungen in unmittelbarer Nähe der Feinde unternahm, dass er
zu ^V asser und zu Lande sich den Kugeln der Türken aussetzte, dass
an seiner Seite russische Offiziere getödtet wurden, dass er in Mo-
menten* der Gefahr eine ungewöhnliche Kaltblütigkeit an den Tag
legte. Fast immer aber lebte er als Sonderling von Günstlingen,
Schranzen, auch wohl Mönchen umgeben, veranstaltete für die Frauen,
welche in seinem Gefolge nie fehlten, glänzende Festlichkeiten und
schien meist an alles andere eher zu denken, als an einen glück-
lichen, erfolgreichen Krieg. Ueber seinen Kleinmuth am Anfange
des Türkenkrieges, als sich herausstellte, dass Russland nicht ge-
rüstet sei, als die neugeschaffene Flotte im Schwarzen Meere von
den Aequinoctionalstürmen arg mitgenommen worden war, geben seine
Briefe an die Kaiserin, die wir besitzen, ein sprechendes Zeugniss.
Seine Unentschlossenheit und Langsamkeit in dem Feldzuge von
1788 ist auch von unbefangenen Zeitgenossen einstimmig verurtheilt
worden. Die wenig ritterliche Art, mit welcher er, in lebhafte
Klagen ausbrechend, der Kaiserin vorschlagen konnte die Krim auf-
zugeben, entspricht dem Sybaritismus, mit welchem er während der
Prunkreise im Jahre 1787 fh Kiew ebenso gut als während seiner
Feldzüge von einem gewaltigen Tross und zahllosen Luxusgegen-
Süe Potomkin's Glück und Emde.
BitedeB umgeben war. Hundert Pfevde, spottet ria Zeitgenosse, seiea
epforderlicb, um das Gepäek, die Comödianten u. dgl. m. foxtsu-
schaife&, die Potemkin während des Feldzuges mit sich führte. Einem
Sardanapal zu vergleichen, hat er in seinem Lager in Bessarabi^
dreihundert Sänger und Musiker; Feste aller Art, Bälle und Theater,
Feuerwerk und Illuminationen wurden reranstaltet. Selbst die Erd-
hütten, in denen das Hauptquartier vor Otschakow und später in
Bessarabien seinen Sitz aufschlug, wurden durch prachtvolle Dra-
perien, glänzende Kronleuchter, kostbares Hausgeräth aller Art m
palast4lhnliche Räume verwandelt, in denen Potemkin bald in nach-
lässigstem, phantastischem Aufputz^ bald in grosser Uniform mit
Sternen und Ordensbändern, von schönen Frauen, Gauklern und
Offizieren umgeben, Hof hielt.
Er hatte es verstanden^ bei den Soldaten einige Popukürität zu
erlangen. Sie wussten ihm Dank dafür, dass er Zopf und Puder
abgeschafft, eine zweckmässigere Kleidung und Bewaflfnung eingeführt
hatte. So oft er im Heere erschien, machte er tiefen Eindruck auf
die Soldaten. Man sagte ihm nach, dass er die Disciplin gelockert
habe; dem widersprechen aber zahlreiche urkundlich aufbehaltene
Verordnungen und Tagesbefehle des Fürsten. Gewiss ist, dass, so
viele Menschen auch im Türkenkriege, mehr noch durch schlechte
Verwaltung als im Blutvergiessen, umgekommen sind, Potemkin* oft
von fast sentimentalen Anwandlungen in Bezug auf Schonung von
Menschenleben ergriffen wurde. Zum Theil dadurch erklärt sich die
Langsamkeit und Spärlichkeit seiner Erfolge im Kriege. Er war
keine Soldatennatur wie Suworow. Wäre er es gewesen, er hätte
leicht eine souveräne Stellung gewinnen können. Bei den grosses
Mitteln, über welche Potemkin verfügte, bei seiner thatsächlich un-
abhängigen Stellung, bei seiner vielseitigen Begabung hätte er, wenn
er zum Kriegshelden geschaffen gewesen wäre, ein Walleastein, ein
Crom well, ein Napoleon werden können. Es war die Zeit, wo
manche zerfallende Staaten das Material für ein unabhängiges Reich
Potemkin's hätten liefern können. Es ist davon die Rede gewesen,
ihn zum Herzoge von Kurland zu erheben. Die polnische Krone,
welche auf dem Haupte Stanislaus Poniatowski's wankte, mochte
ihm vielleicht zu Theil werden, wenn er die Hand danach ausstreckte.
Nach einer souveränen Stellung als Fürst der Moldau hat er sicher
gestrebt. Leicht konnte da seinem Ehrgeiz der Gedanke kommen,
ein Königreich Dacien für sich zu gewinnen, in der Ferne mochte
dann das griechische Kaiserthum winken ... Es waren Entwürfe, an
PQtomkm's Glück und Ende. 511
deaea er für die Dynastie Katharina's selbst gearbeitet hatte. Aber
nicht zum MilitlU*dictator, noch zum eigentlichen Staatsmanne war
Potemkin geboren. Er war Yor allem Höfling. Die Gnade der
Kaiserin war ihm alles. Dafür liefert seine letzte Zeit ein sprechendes
Zeugniss.
In drei Feldzügen bereits hatte Russland mit wechselndem
Glücke gegen die Türken gekämpft. Die Einnahme von Otschakow
zu Ende des Jahres 1788, die Siege Suworow*s bei Fokscharfy und
Rymnik, die Einnahme Bender's und Akkerman's durch Potemkin
im Jahre 1789 waren die Glanzpunkte dieser Peldzüge. Da brachte
endlich das Jahr 1790 nach unsäglichen Anstrengungen die Ein-
nahme von Ismail. Es war eine glänzende Waffenthat. Hatte Po-
temkin die Belagerung und die Erstürmung Otschakow's geleitet, so
war die Einnahme von Ismail das Verdienst Suworow's.
Man erzählt wohl, Potemkin habe im Gespräche mit einer Dame,
der Gemahlin eines polnischen Generals, deren Prophezeihung,
Ismail werde erst in drei Wochen genommen werden, Lügen strafen
wollen und die Behauptung aufgestellt, Ismail werde innerhalb dreier
Tage erstürmt werden, und von seiner damaligen Residenz, Jassy,
aus dem Grafen Suworow die Weisung zukommen lassen, zu
stürmen. 0 Einer anderen Erzählung zufolge soll Potemkin den
Grafen Suworow vor einem allzugewagten Versuche die Festung zu
stürmen gewarnt haben : der Ruhm der russischen Waffen stehe auf
dem Spiele. ^ Wie dem auch sei, Potemkin hatte an diesem Er-
folge keinen unmittelbaren Antheil. Als er den Grafen Suworow
fragte, wie er ihn für seinen Heldenmuth belohnen könne, antwortete
jener, „er sei mit seinem Berichte über die Einnahme der Festung
zum Fürsten gekommen, nicht aber wie ein Krämer, der um den
Preis der Waare feilsche, Gott und die Kaiserin würden ihn be-
lohnen, sonst könne es niemand." Tief verletzt behandelte Potemkin
den Grafen mit eisiger Kälte. Er soll es zu hintertreiben gewusst
haben, dass Suworow damals den Peldmarschallsrang erhielt. Mehr
aber als die kostbaren Epaulettes und ein Ring im Werthe von
60,000 Rubeln mochte für Suworow der Wünsch der Kaiserin gelten,
den Besieger von Ismail in St. Petersburg zu begrüssen. Nach einem
^) Hm9sxhh'i>, KBflSb ÜOTeiifKHH'b-TaBpMHecKii, in dem O^eeciitt Ajuiiaa5x*b aa
1839 7. ß. 76.
») 0. d. Biographie SEwrioroür'B i« dem Le>uk<Mi„Bantyfo]i^KaMenafei*fi 111^3^«.
512 Potemkin's Glück und Ende.
solchen Erfolge hoffte die Kaiserin endlich einen Frieden schliessen
zu können. Es sollte Potemkin's Aufgabe sein mit den Türken zu
unterhandeln und abzuschliessen. Aber er war anderer Ansicht, denn
es galt noch andere Erfolge zu erringen. Jetzt war der Augenblik
gekommen, wo Potemkin einen Staat für sich erringen zu können
hoffte. Der moldauer Adel war ihm günstig gestimmt. Die Ge-
neigtheit des Petersburger Hofes zum Frieden passte nicht zu seinen
Entwürfen»
finde December kam die Nachricht von der Erstürmung Ismail's
nach St. Petersbui'g. In ihrem Schreiben an Potemkin meinte die
Kaiserin, kaum irgend eine Waflfenthat in der Geschichte sei dieser
zur Seite zu stellen. „Gott gebe", fuhr sie fort, „dass Eure Erfolge
die Türken zur Vernunft bringen und sie veranlassen mögen, schnell
Frieden zu schliessen . . . Ich danke Dir, mein lieber und herzlicher
Freund, für alle guten und nützlichen Thaten, für die Ordnung und
Unerschrockenheit des Heeres." 0
Trotz solcher Freundschaftsbeweise der Kaiserin war Potemkin
in dieser Zeit verstimmt und trübsinnig. Die Unruhe, dass etwa in
Petersburg allzusehr der Friede gewünscht werde, verzehrte ihn.
Es war die Zeit, wo Subow besonderen Einfluss gewonnen hatte.
Wahrscheinlich vor Empfang des Briefes der Kaiserin schrieb er:
„Mein Mütterchen ^), allergnädigste Kaiserin; lassen Sie mich nicht
ohne Nachrichten. Kennen Sie denn das Maass meiner Anhänglich-
keit nicht? Wie soll mir dabei zu Muthe sein, wenn ich von allen
Seiten allerlei ungereimte Neuigkeiten höre und nicht weiss, ob ich
daran glauben soll oder nicht? Die Bekümmerniss durch solche
Ungewissheit raubt mir alle Kraft. Ich bin schlaflos und nehme
keine Speise ; ich bin schlimmer als ein Kind. Alle sehen meine
Erschöpfung. So nöthig es ist nach Cherson zu reisen: ich kann
mich nicht entschliessen dahin aufzubrechen. Wenn mein Leben
nicht ganz werthlos ist, so sagen Sie mir wenigstens das Eine: dass
Sie gesund sind. So lange ich lebe, bin ich Ihr allertreuester und
dankbarster Unterthan." ^)
0 Grot, Derschawin, I. 377.
>) Der Ausdruck „MaTyiuRa . . . MaTymKa po^Han" ist kaum zu übersetzen.
3) Wir entnehmen dieses Schreiben der leider nicht überall mit Quellenan-
gaben versehenen ^.Biographie Potemkin's von Bantysch - Eamenski in dessen
Lexikon (CjOBapb AOCTonanflTHBix'b Jioxett, MocRna 1836, IV. S. 214). Fast scheint
es, als sei der Brief nach der Rückkehr aus Petersburg geschrieben, wo Krank-
heit und GemüUiszerrüttung den Fürsten ergriffen hatten.
Pofemkin's Glück und Ende. 513
Nach der Einnahme der Festung Otschakow war Potemkin
sogleich nach Petersburg geeilt, um als Sieger im Triumphe bei Hofe
zu erscheinen. Damals war die Strasse, auf welcher er in die
Hauptstadt einziehen sollte, mehrere Nächte hindurch drei Meilen
weit erleuchtet gewesen. In seinem Palaste hatte die Kaiserin, noch
ehe er sich vollständig hatte umkleiden können, ihn besucht. Zahl-
lose Feste zeichneten seine Anwesenheit aus. Nur des Günstlings
Mamonow Stellung hatte die stolze Siegesfreude getrübt. In persön-
lichem Verkehr mit den ausländischen Gesandten hatte Potemkin
die politische Sachlage besprochen; er hatte der Kaiserin für den
schwedischen Krieg gute Rathschläge ertheilt; für den türkischen
Krieg war er mit grossen Summen Geldes ausgestattet worden!
Jetzt, nach der Einnahme von Ismail, wollte er wiederum in
die Residenz. Er wandte sich an die Kaiserin mit der Bitte, ihm
zu gestatten nach Petersburg zu kommen. Katharina schrieb zurück,
wie immer so auch diesesmal würde sie sich freuen ihn zu sehen,
aber sie gebe ihm zu bedenken, ob nicht seine Abwesenheit vom
Kriegsschauplatz leicht eine Versäumniss in der Apgelegenheit der
Herstellung des Friedens zur Folge haben könne; wenigstens solle
er doch abwarten und erfahren, welchen Eindruck die Einnahme
der Festung auf den Divan gemacht haben werde. Nur unter der
Bedingung dürfe er kommen, wenn er überzeugt sei, dass seine Ab-
reise das Friedenswerk nicht stören oder die Eröffnung des neuen
Feldzuges nicht verschleppen werde; die Geschäfte gingen allem
anderen vor; am besten sei, er nöthige die Türken zum Frieden
und komme dann als Friedenstifter nach Petersburg. 0
Der Lobredner Potemkin's, sein Verwandter und Biograph
Samoilow bemerkt, der Fürst sei durch die Verwickelungen der
politischen Sachlage genöthigt worden nach Petersburg aufzubrechen.
Die Verhandlungen mit den auswärtigen Diplomaten, heisst es
weiter, hätten Potemkin so lange aufgehalten, dass er darüber ver-
säumt, bei der Eröffnung des letzten Feldzuges im Türkenkriege
zugegen zu sein. ^) Es waren Gründe sehr verschiedener Art, welche
ihn vermochten, gegen den Wunsch der Kaiserin sich zu der Reise
zu entschliessen. Man erzählt, er habe scherzend gesagt, er habe
Zahnschmerzen und hoffe in Petersburg Heilung zu finden, und in
Petersburg habe er erklärt, er werde nicht eher abreisen, als bis er
>) Orot a. a. 0.
0 Pj^ccKÜl ApxHB-B, 1867, S. 1551, 1554.
514 Potemkiti's Otttck nnd Ende.
den Zafan, der ihn schmerze, an8g:eri8sen habe. Es war ein Wort-
spiel mit dem Namen des Günstlings Snbow. 0
In dieser Zeit tagte bereits der Congress von Szistowo. Die
Bevollmächtigten Oesterreich's, Preassen's, England's, Hollandes and
der Pforte unterhandelten. Es war eine Folge des Reichenbacher
Vertrages. Oesterreich's Politik hätte seit dem Tode des Kaisers
Joseph einen Umschwung erfahren. Gegenüber diesen Unterhand-
lungen verhielt sich Potemkin ablehnend. Auf die Frage der ver-
sammelten Diplomaten, ob der Fürst den Ort des Congresses als
einen neutralen Punkt zu respectiren geneigt sein wärde, soll er
hochmüthig geantwortet haben, er wisse von keinem Friedenscon-
gress, seine leichten Truppen hätten Befehl, den Feind anzugreifea
wo sie ihn fänden; er rathe den Diplomaten, das feindliche Gebiet
zu verlassen. ^) Mag man auch einigen Grund haben, an diesen
Rodomontaden zu zweifeln, weil wir aus anderen Quellen mancherlei
Angaben über die Verhandlungen in Szistowo bis zu dem Zeitpunkte
der Abreise Potemkin's nach dem Norden besitzen ^) — soviel ist
sicher, dass Potemkin nicht in einer dem Frieden geneigten Stim-
mung in Petersburg auftrat.
Von dem Aufenthalte des Fürsten in St. Petersburg, der vom
28. Februar bis zum 24. Juli 1791 (alten Stils) währte, wissen wir
einiges aus dem Tagebuche des Secretärs der Kaiserin Katharina,
Chrapowitzki. Aus demselben ist zu ersehen, dass Potemkin's Be-
ziehungen zu dem Hofe wenigstens äusserlich sehr freundliche waren.
Gleich in den ersten Tagen seines Aufenthaltes in der Hauptstadt
erschienen bei einem Abendessen, welches der Fürst gab, der Gross-
fürst Paul mit seiner Gemahlin. Als Katharina von einem Unwohl-
sein befallen wurde, sprach der Fürst mit ihr von ihrer Krankheit,
rieth ihr, sich einer ernstlicheren Kur zu unterwerfen. Wiederholt
findet sich die Notiz, dass der Fürst die Kaiserin besucht habe.
Nachdem er einmal bei ihr verweilt hatte, ging er gerade aus ihren
Gemächern zur Beichte. Andern Tags empfing er die Communion
in der Hofkirche. Nicht blos bei Gelegenheit des glänzenden Festes,
welches Potemkin am 28. April (a. St.) zu Ehren der Kaiserin gab,
sondern auch bei Gelegenheit des Empfanges der Nachricht von der
0 Castera, Vie de Catherine II., 172. BaHTMuit-KaMeHCKifi IV. 214.
^) KojOTOBT», /i;taHiH EKaTepHHu U. Cn6. ISll, Bnd. IV. S. 167.
^) 8. Herrmann's grändliche Darstellung in dessen Gesdnckte dee iniBatocbeD
Staats IV., S. 401—407.
PMeihkiii'B Oltick und End«. 515
Einnahme der Festung Anäpa war die Kaiserin bei Potemkin zu
Gaste. Das letzte mal kam sie von ihrem Lustschlosse Peteiliaf
eigens zur Stadt, um im Palaste des Fürsten zu Abend zu essen,
worauf sie noch an demselben Abend sich auf eines ihrer Lust-
schlösser, Äarskoje Selo, verfügte. 0
Das Haus, welches Potemkin bewohnte, war ihm von der Kaiserin
geschenkt und nach den von ihm entworfenen Plänen erbaut
worden. Es ist dasselbe, welches, seit dem Jahre 1792 unter dem
Namen „Taurisehee Palais'' bekannt, nach Potemkin's Tode von der
Krone erworben wurde. An derselben Stelle hatte früher ein be-
scheidenes Gebäude gestanden. Jetzt war es ein Prachtbau, mit
grossem Luxus ausgestattet.
War aber Potemkin in dieser Beziehung auch noch so reichlich
von der Kaiserin bedacht worden, so schien er doch noch grössere
Gnadenbezeugungen erwarten zu dürfen. Am 25. März 1791 erliess
die Kaiserin an den Senat einen Befehl : dem Fürsten Potemkin zur
Belohnung für seine wichtigen, dem Vaterlande geleisteten Dienste,
die namentlich aufgeführt werden, ein Haus und ein Denkmal zu
errichten. Alles sollte auf Kosten des Staatsschatzes erbaut, das
Haus mit allem nothwendigen Hausgeräth ausgestattet^ das Denkmal
mit Darstellungen der Siege und Eroberungen des Fürsten versehe
werden. Seiner Entscheidung sei anheimzustellen, ob er diese Bauten
in der Hauptstadt oder an einem anderen Orte ^) ausgeführt sehen
wolle. ^) Potemkin, welcher soeben seinen Palast der Krone für
die Summe von 460,000 Rubel verkauft hatte, bat sich ebendasselbe
Gebäude statt eines neuen aus und erhielt somit ausser dem Hause
nahezu eine halbe Million Rubel ausgezahlt. In diesem ^Taurischen
Palais" pflegte Katharina während der letzten Jahre ihres Lebens
alljährlich einen Theil des Frühlings und des Herbstes zu verleben. *)
Bei alledem sah Potemkin, dass die Gerüchte von einem über-
wiegenden Einflüsse Subow's auf die Kaiserin gegründet gewesen
waren. Hatte früher der Günstling Mamonow schon seine Eifersucht
erregt , so war die Nebenbuhlerschaft Subow's noch schlimmer.
Mamonow hatte sich in ein Kammerfräulein der Kaiserin verliebt,
hatte der letzteren, als diese ihm eine Partie vorschlug, seine Liebe
') s. das Tagebuch Chrapowitzki's, herausg. in den ^Temn Mockobcr. 06-
mecTBa HcTopiH h ÄpeBHOCTeä, 1862, am 6. und 22. März, 28. April, 2. Juli 1791
') „B-b CTOÄRUfb HJLH «e BT» ÄGP^BH*" (sic).
^) s. die vollständige Gesetzsammlung Nr. 16953.
♦) Orot a. a 0., I. 377.
516 Potemkin's Glück und Ende.
gestanden, und war dann nach einer heftigen Gemüthserschütterung
Eatharina's, welche es tief geschmerzt hatte, dass ein solcher Roman
in ihrer unmittelbaren Nähe ohne ihr Wissen gespielt hatte, — ent-
lassen worden. Die Kaiserin selbst richtete die Hochzeit Mamonow's
aus, verzieh ihm grossmüthig und beschenkte ihn reichlich. Jetzt
war Potemkin bitterböse auf Mamonow, weil derselbe „ihn nicht
erwartet, sondern auf so dumme Weise seinen Posten aufgegeben
hatte." 0
Die Memoiren Derschawin's, des berühmten Dichters, der seiner-
seits ebenfalls mit grosser Geschmeidigkeit eine Stellung bei Hofe
erlangt hatte, enthalten manche Einzelheiten über diese kleinlichen^
unerquicklichen Verhältnisse. Er erzählt recht ausführlich, wie
der junge Subow jenes Wortspiel vom „Zähne - Ausziehen" mochte
erfahren haben, wie zwischen ihm und Potemkin eine eisige Kälte
herrschte, wie Potemkin für einen Offizier, der von Subow's Vater
betrügerischer Weise um sein ganzes Vermögen gebracht worden
war, sich verwendete, wie die Spannung dadurch sich steigerte, und
wie bei alledem Potemkin, da Subow doch eine so hohe Stelle ein-
nahm, alles that um das Publicum über dieses gespannte Verhältniss
zu täuschen, so dass er Subow wiederholt besuchte, — wie er auch
die Nebenbuhlerschaft Derschawin's gefürchtet und die Besorgniss ge-
hegt habe, die Kaiserin möchte Derschawin zum Berichterstatter in
Kriegsangelegenheiten ernennen, wie er deshalb mit der Kaiserin
geschmollt, sich krank gestellt habe, nicht in die kleine Gesellschaft
der Eremitage gekommen sei u. dgl. m. ^)
Es war schon wiederholt vorgekommen, dass die russischen
Grossen zu Ehren der Kaiserin Feste veranstalteten. Potemkin selbst
hatte in früherer Zeit ein solches Schauspiel gegeben, und zwar im
Jahre 1779 bei Gelegenheit der Geburt der Grossfürstin Katharina.
Auf seinem Landgute „Oserki" am Ufer der Newa, unweit des
Alexander -Newski-Kloster's hatte er damals zu diesem Feste ver-
schiedene Bauten aufführen lassen: auf dem See eine reich ge-
schmückte Fregatte, am Ufer desselben einen Tanzsaal. Eine auf
dem Wasser schwimmende Decoration stellte einen Tempel dar,
an welchem die Namenszüge der Mitglieder der Kaiserlichen Familie
angebracht waren. Bei der Illumination erschienen die Umrisse
verschiedener phantastischer Gebäude in bunten Farben. Das Souper
1) XpanoBiiqRitt, 17. März 1791.
^ /^epaiaBHHi», 3anHCKH 302 — 306.
Potemkin's Glück und finde. 517
nahm man in einer Grotte -ein, welche ganz genau einer Grotte in
den Bergen des Kaukasus nachgebildet, mit Myrten- und Lorbeer-
bäumen, Rosen und anderen Blumen geschmückt und mit einem
malerischen Wasserfall versehen war. Ein Sängerchor trug Lieder
in griechischer Sprache vor. In all dem Rausch und Scherz — der
tiefe Ernst der orientalisch-slavischen Frage. 0
Ln Jahre 1776 hatte der Fürst Wäsemsky einen Ball und eine
theatralische Vorstellung veranstaltet, bei welcher seine siebenjährige
Tochter eine Rede zum Lobe der Kaiserin in französischer Sprache
vortrug. — Als die Kaiserin im Jahre 1787 aus der Krim zurück-
kehrte, veranstaltete der Graf Scheremetjew in Moskau ein überaus
glänzendes Fest, das u. A. S^gur beschreibt. Nie habe er, erzählt
der französische Gesandte, so reiches Tafelgeschirr von Gold und
Silber, Porzellan, Alabaster und Porphyr gesehen, als bei dieser Ge-
legenheit. Unzählige Krystallvasen, mit den kostbarsten Edelsteinen
geschmückt, zierten die Tafel. Ein ungewöhnlich grosser Tafelauf-
satz, ein Füllhorn von gediegenem Golde darstellend, mit den Namens-
zügen der Kaiserin in grossen Brillanten ausgeführt, war vor dem
Couvert Katharina's aufgestellt und erregte das Erstaunen der An-
wesenden. ^) Nicht genug konnte Sögur sich darüber verwundem,
dass der Dichter und der Gomponist einer grossen russischen Oper,
die gegeben wurde, der Baumeister, welcher den Festsaal erbaut,
der Maler, welcher denselben mit Fresken geschmückt hatte, die
Schauspieler und Schauspielerinnen auf der Bühne, die Musiker im
Orchester — Leibeigene des Grafen Scheremetjew waren. ^) — Der
Graf Besborodko, welcher unermessliche Reichthümer gesammelt
hatte und sich bisweilen in den Strassen der Hauptstadt in einem
goldenen Wagen fahrend sehen liess, gab zur Feier des türkischen
Friedens und dann bei Gelegenheit der Anwesenheit des schwedischen
Königs Gustafs IV. in St. Petersburg glänzende Feste; in vielen
Sälen waren dann Pyramiden von sechs Ellen Höhe und drei Ellen
Breite aufgestellt, auf denen zahllose Gegenstände von Gold und
Silber von ungewöhnlicher Grösse und Kostbarkeit prangten. *)
Potemkin wollte alles bisher Dagewesene verdunkeln. Alsbald
schritt er zu den Vorbereitungen des ungewöhnlichen Schauspiels,
^) Grot a. a. 0., I. 381.
^ 3anHCRH rpa«a KoMapoBCRaro. OcMHQAA^Tuft B'bR'B, hs;^. BapTeneBa I. 377.
3) S^gur, M6moires et Souvenirs III. 233.
^) rpHÖOBCRitt 3anHCRH 70.
Baltische Monatsschrift. K. Folge. Bd. I, Heft 11 u. 12. 35
516 Potemkin's Olttck and Ende.
welches er der Kaiserin, dem Hofe, dei^ Hauptstadt bieten wollte.
Er war von den Grossen der Residenz nach seiner Ankunft aus dem
Süden glänzend empfangen worden; sehr oft nahm er sie auch bei
sich auf. Bei solchen Gastmahlen gab es, wie ein Zeitgenosse er-
zSlhlt, 0 ^ii^o eigenthümliche Art Luxus. Man suchte einander in
der Grösse und in dem hohen Preise der Störe zu überbieten, aus
denen die den Glanzpunkt eines jeden Gastmahls bildende Fischsuppe
bereitet wurde. Zu 100, 200, 300 Rubel gab man für diese Fisch-
suppe aus. Bei Gelegenheit der BäUe, welche Potemkin noch vor
dem grossen Feste gab, und von denen man versicherte, däss jeder
Abend ungefähr 14,000 Rubel kostete, erschien auf der Tafel jedes-
mal eine Fischsuppe im Werthe von 1000 Rubeln in einem unge-
heuer grossen Silbergefäss, welches gegen 300 Pfund wog. Selten
verging ein Tag ohne solche Schmausereien. Es erregte Aufsehen,
dass dieser Rausch von Vergnügen gerade in die Fastenzeit fiel
„Die ganze Zeit war mir eine Butterwoche", sagt ein Zeitgenosse.
Bald hörte man von ausserordentlichen Zurüstungen zu einem
grossartigen Feste im Hause Potemkin's. Es erschienen dort in
grosser Zahl Künstler und Industrielle, welche die Räume aus-
schmücken sollten. Neue Möbel wurden geliefert, Teppiche, Gobe-
lins^ Draperien aller Art. Aus den Luxusmagazinen der Hauptstadt
wurden 200 Kronleuchter und eine grosse Menge Spiegel entliehen.
Das Hofcomptoir lieferte gegen 16,000 Pfund Wachs für die Illumi-
nation. Man erzählte sich, die in der Hauptstadt befindlichen Vor-
räthe hätten nicht gereicht, man habe auch aus Moskau Wachs für
die Summe von 70,000 Rubel kommen lassen. Solche und andere
märchenhafte Zahlen gingen von Mund zu Mund. Sie mahnen an
die Märchen von .,Tausend und eine Nacht" und an die Fabeln von
Monte-Christo. — Die Dienerschaft des Fürsten, gegen 100 Personen
stark, wurde vollständig neu gekleidet. In dem Garten und in den
Hofräumen wurden sehr ausgedehnte Anstalten getroffen. Grosse
Gerüste erschienen für die Illumination. Eine lange Estrade wurde
gebaut mit allerlei Buden zu Volksbelustigungen. Bis zu dem letzten
Tage wurden diese Bauten fortgesetzt, wobei während der Arbeit
die Baupläne wiederholt verändert wurden. Mehrere Nebengebäude,
welche zu Wagenschuppen, Ställen und Wohnungen für das Gesinde
dienten, wurden noch in den letzten Tagen vor dem Feste nieder-
gerissen, -weil sie die Aussicht aus den Fenstern des Palastes einiger-
*) PyccKiJt ApzüB-b 1867. S. 675 ff.
/
Potemkin's Glück und Ende. 619
maassen beeinträchtigten. Eine Triumphpforte wurde für die Kaiserin
erbaut. Auf dem Platze vor dem Hause sah man Schaukeln. — Die
Glasfabriken Petersburg's hatten vollauf zu thun, um eine genügende
Menge von Laternen in Form von allerlei Obst und Blumen au
liefern. — Die Jugend der höchsten Kreise, darunter die Grosa*
fdrsten Alexander und Gonstantin, studirten eine Quadrille ein, welche
im Maskenaufzuge getanzt werden sollte^ die Herren spanisch, die
Damen griechisch.
Am 28. April gab es kaltes, unfreundliches Wetter. Morgens
Schnee, den Tag über Regen: es war empfindlich kalt. Txotsdem
sammelten sich schon früh grosse Massen Volkes in der Nähe des
Palastes. Man staunte die für das Volk bereitstehenden Esswaaren
und die Geschenke an Kleidern, Stiefeln u. dgl. an, welche für
mehrere tausend Rubel angeschafft worden waren, um im Augen-
blicke des Erscheinens der Kaiserin, da das Volksfest beginnen
sollte, an das Volk vertheilt zu werden. Schüchtern drängte sich
der Pöbel in die Nähe der schönen Sachen: es ging das Gerücht,
dass wer vor der Zeit etwas nähme, sogleich zum Soldatenstande
verurtheilt werden würde.
Als die Gäste in endlosen Wagenreihen zu erscheinen begannen,
gab es plötzlich* eine heillose Verwirrung. Es verbreitete sich die
Kunde^ die Kaiserin sei da. In einem Nu stürzte sich das Volk auf
die Esswaaren und Geschenke. Die Tische und Buden wurden ge-
plündert. Vergebens suchten die Schergen Potemkin's mit Kolben*-
stössen, Peitschenhieben, endlich mit Wasserpumpen dm Volk in
Ordnung zu halten, der Knäuel von Menschen, Pferden und Wagen
war nicht mehr so bald zu entwirren. Bei dem Erscheinen der
Equipagen des Hofes war das Gedränge so arg, dass die Kaiserin
eine volle Viertelstunde warten muäste, ehe sie aus ihrem Wagen
steigen konnte.
Die prachtvollsten Räume des Palastes waren der Tanzsaal, in
welchem nur für die Kaiserin und deren Umgebung Sitze hingestellt
waren, während es ausser zwei enormen Vasen von carrarischem
Marmor keinerlei Geräth darin gab, und ein durch eine Säulenreihe
von demselben getrennter Wintergarten. In dem Tanzsaal erschien
ausser allen Gästen in Maskenanzügen eine Tänzergruppe, aus 74
tanzenden Paaren bestehend. Zunächst wurden Gesänge zum Lobe
der Kaiserin, von Derschawin gedichtet, vorgetragen. Der Sängerchor
mit dem Orchester waxen verborgen auf den Galerien des Saales
aufgestellt. Die Triumphe des Türkenkrieges bildeten den Gegend-
520 Potemkin's Glück und Ende.
stand dieser gespreizten, phrasenreichen, in volltönenden Worten
strömenden Dichtungen. Mahomed, hiess es darin, sei bezwungen,
die Donau sei in den Händen der Russen seit man das Todesröcheln
von Ismail her vernommen. Die Kaiserin wird mit Minerva ver-
glichen, Potemkin mit Mars, der eine Grossfürst mahnt an Alexander
den Grossen, der andere, zum Hersteller von Byzanz bestimmt, an
den grossen Constantin; der Glanz des alten Hellas, die Macht des
alten Rom kehre wieder seit der Halbmond untergegangen sei u. s. w.
Eine eigen thümli che Lust an Spielzeugartigem, eine kleinliche
Eflfecthascherei, eine übertünchte, an die Schaubuden des Jahrmarktes
erinnernde Art von Kunstgeschmack geht Hand in Hand mit diesen
stolzen Dimensionen im Baustil der Räume und mit dem Pomp der
patriotischen Verse, welche zum Theil wirklich künstlerischen Werth
haben. Da giebt es unermessliche Porzellanöfen mit allerlei chine-
sischen Nippsachen bestellt. Da giebt es am Eingange hölzerne
Pfosten, die wie Marmorsäulen bemalt sind; da lenkt eine Uhr mit
besonderem Schlagwerk und kunstreichem Mechanismus (42,000 Rbl.
an Werth) die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich ; da ladet eine
einen Perser darstellende und auf einem Elephanten- reitende Puppe,
nachdem die Tänze in dem grossen Saale beendet sind und auch der
berühmte La Picq sein Meistersolo zum Besten gegeben hat 0? in
einem anderen Saal durch Anschlagen an eine Glocke zum Schauspiel
ein. Hier gab es ein Lustspiel, ^^Lea fauoo amards^\ und eine Art
phantastischer Pantomime, „der Kaufmann von Smyrna". In dem
letzteren stellte die Bühne einen Sclavenmarkt dar; als Sclaven er-
schienen Vertreter aus allen Völkern — das russische ausgenommen.
Hierauf verfügte sich alles in den feenhaft erleuchteten Wintergarten.
Die Vorstellung hatte gerade so lange gedauert, als nöthig war, um
140,000 Lampen und 20,000 Lichter anzustecken. Die Kaiserin war
betroflfen über den Anblick. Der Garten übertraf den Wintergarten
im kaiserlichen Palais sechs mal an Grösse. Künstlicher Rasen, mit
Kies bestreute Wege, zahllose Fruchtbäume, zum Theil allerdings
mit gelungen nachgeahmten gläsernen Früchten — Citronen, Pflau-
men, Trauben, Kirschen behangen, Jasminsträuche, Grotten mit ge-
schickt angebrachten Spiegeln, ein Springbrunnen mit eau de lavande,
ein Obelisk mit Krystallen und Edelsteinen geschmückt, im Rasen
Nester mit Singvögeln und grosse Glaskugeln mit Goldfischen, La-
0 Die Tänze sollen zum Theil von Potemkin ersonnen worden sein. Die
Balletmelster La Picq und Oanziani erhielten je 6000 und 5000 Rubel.
i
. Potemkin's Glück und Ende. 621 .
lernen in Form von Melonen, Wassermelonen, Ananas, ein Tempel,
dessen himmelblaue Decke, von sechs Säulen getragen, das marmorne
Standbild der Kaiserin tiberwölbte : Katharina war im Purpurmantel
mit einem Ftillhorn dargestellt, aus welchem ein Strom von Gt)ld-
münzen und Orden hervorquoll. Die Inschrift lautete: „Der Mutter
des Vaterlandes und meiner Wohlthäterin."
An den Stufen dieses Tempels soll Potemkin, der an diesem
Abend in einem carmoisinrothen Frack und kostbaren Ueberwurf
von schwarten Spitzen erschien, und dessen betresster, von Brillanten
strotzender Hut so schwer war, dass ein Adjutant ihm denselben
tiberall nachtragen musste, sich vor der Kaiserin auf die Knie ge-
worfen und ihr ein angeblich von ihm verfasstes französisches Ge-
dicht declamirt haben, in welchem er u. a. sagte:
Que puls — je t'oflfrir en hommage?
Je snis moi'inSme ton ouvrage,
Mon pouYoir et mon sort sont sortis de ta main n. s. w. 0
Die Kaiserin küsste Potemkin auf die Stirne, hob ihn auf, litt
nicht, dass er sie bei Tische bediente, lud ihn neben sich zum Sitzen
ein. Noch einmal, als die Kaiserin sich zur Heimfahrt anschickte
und ein rauschender Chor ihr das Geleite gab, stürzte Potemkin ihr
zu Ftissen. Einige Stunden länger als sie blieben die anderen
Gäste, welche gegen 3000 Personen zählten, zusammen.
Ein Zeitgenosse schätzt die Umkosten des Festes auf 200,000 Rbl.
Wahrscheinlich ist diese Ziffer noch zu niedrig gegriffen. ^)
1) 8. d. Gedicht in russ. üebersetzung bei Kolotow, IV, 276—278.
') lieber die Quellen zar Geschichte des Festes hat Grot, I, 377 — 383, be-
richtet. Dort findet sich auch Derschawin's Schilderung nebst allen für diese
Gelegenheit verfassten Versen, S. 383 — 419. Der Bericht eines ungenannten Zeit-
genossen findet sich in einer handschriftlichen Lebensbeschreibung des Fürsten
Potemkin in der Kaiserlichen Bibliothek zu St. Petersburg. Daraus sind einzelne
Abschnitte gedruckt im Journal Mockbhtahhh'b, 1852, Nr. 3. — Von grossem
Interesse ist das Schreiben eines Zeitgenossen, Timofei Eirjak an den Fürsten
Dolgoruki in Moskau, vom 6. (8.) Mai 1791 über das ganze Fest. Es ist abge-
druckt im PyccKiö ApxHB-B, 1867, S. 657—694. — Das Schreiben ist im Ton der
Malice gegen Potemkin gehalten, im Gegensatze zum officiellen Lobe Derscha-
wins U. a. hält sich der Verfasser des Schreibens darüber auf, dass in einem
Saale eine Menge Bilder, frivole Gegenstände wie badende Nymphen, Leda mit dem
Schwane u. dgl. darstellend, das Bild des Erlösers umgaben, dass gute und schlechte
Stahlstiche durcheinander erschienen. Ferner erzählt er, wie ein Hund die
Volksmenge in Verwirrung gebracht hätte, wie manche Inschriften wenig Sinn
gehabt hätten u. dgl. m. — Sonstige Schilderungen in Archenholz* Minerva, von
Heibig in dessen Aufsätzen über Potemkin^ bei Mossou, M^moires secrets u. A,
tau PotettkSa's GltLok und Ende.
Anch nach dem Feste lebte Potemkin in seiner fürstliehen Pntcht
weiter fort, erschien stets von Generalen, Offizieren, gefangenen
Pascha's umgeben. So oft er in den Gärten von Katharinenhof, im
Sommergarten oder an anderen .öffentlichen Orten spazieren fuhr,
grttsste das Volk ehrerbietig. Er bestellte bei dem Dichter Derschawin
eine Schilderung des Festes, war aber mit dem literarischen Erzeug-
nis« des Dichters nicht zufrieden, weil Derschawin ihn nicht ge-
nügend gelobt hatte. 0
Ein sehr auffallender Umstand war, dass obgleich das Fest doch
grosses Aufsehen erregt haben muss, die Zeitungen der beiden Hanpt-
stlidte damals nicht ein Wort über dasselbe enthielten, während das
obenerwähnte Fest in „Oserki'** vom Jahre 1779 seiner Zeit aus-
führlich in der petersburgischen Zeitung geschildert worden war.
Ein solches Stillschweigen erklärt sich durch die Macht und den
Einfluss Subow's. ^) Fast drei Monate hindurch verweilte Potemkin
nach dem Feste in der Hauptstadt. Derschawin, der in seinen Me-
moiren nur für Hofgeschichten Sinn hat • und . von der Politik zu
jener Zeit kaum mit einem Worte spricht, erzählt, wie Potemkin es
während der letzten Zeit seines Aufenthaltes in der Hauptstadt „bei
Hofe sehr schlecht gehabt habe^\ wie er stets in grosser Aufregung
und zu Zeiten „wie verrückt" gewesen sei, wie man sich erzählte,
dass er oft sich berauscht und allerlei Ungereimtheiten gesprochen habe.
Gewiss ist, dass Potemkin in dieser Zeit nicht ohne Einfluss auf
die politische Lage gewesen ist. Es war die Zeit, wo Polen sich
zu dem letzten Versuche aufraffte, durch eine Verfassungsveränderung
die Selbständigkeit zu retten, wo die orientalische Frage das be-
sondere Interesse England's herausforderte, wo die Haltung dieser
letzteren Macht gegenüber Russland, welches bei den Friedensunter-
handlungen keine Nachgiebigkeit zu zeigen geneigt war, eine sehr
drohende wurde. Man meinte damals nicht ohne Grund, dass ein
Krieg mit England vor der Thüre sei*, man erwartete alles Ernstes
die englische Flotte alsbald in der Ostsee und im finnischen Meer-
busen zu erblicken. Dabei sehnte man sich namentlich hei Hofe
nach Frieden. Auch das Publicum war in einiger Aufregung. Bei
0 3anHCKH JlepsaBHHa, S. 307.
0 8. Orot, t. S. 382, dessen Angabe als die eines ausgezeichneten Kenners
der pnblicistischen Literatur jener Zeit mehr Glauben verdient als die Bemerkung
Samoilow's, S. 1552 a. a. 0.: das Fest habe die Zeitungsschreiber jener Zeit viel-
fach beschäftigt.
Potemkin's Glück und Ende. 628
den Vorbereitungen zu dem Feste Potemkin's meinten einige, es
werde zum Zweck der Feier des Friedens mit der Türkei veran-
staltet. Andere dagegen wollten behaupten, dass die Regierung be-
absichtige, den Ernst der Sachlage zu verdecken, die Aufmerksamkeit
des Publicums von dem bevorstehenden Bruch mit England abzulenken.
Aus den Berichten der englischen Diplomaten jener Zeit, welche
Uerrmann in seiner „Geschichte des russischen Staats^ mittheilt, ist
zu ersehen, däss Potemkin in dem pei^sönlichen Verkehr mit den
Gesandten ^eine trotzige, hochfahrende Haltung beobachtete. Sie
klagen darüber, dass er, sobald man mit ihm auf die Geschäfte zu
sprechen komme, der Unterhaltung sogleich eine andere Wendung
zu geben pflege, dass er nur an Festlichkeiten und Gastereien zu denken
scheine, dass er vermuthlich einen vernichtenden Streich gegen die
Pforte zu führen und in der Zeit, wo die kleinasiatischen Soldaten
in ihre Heimat beurlaubt würden, einen Angriff auf Eonstantinopel
zu unternehmen beabsichtige. Er hoffe, heisst es weiter, noch die
türkischen Unterthanen am Mittelmeer und im Archipelagus zu
einem allgemeinen Aufstande zu bewegen und zum Lohn für solche
Thaten von der Kaiserin die Ukraine, Neuserbien und den District
von Otschakow als Lehnfürstenthum zu erhalten. Man könne ihn
nicht anders zur Vernunft bringen, als indem man ^ihm das Messer
an die Kehle setze.^ — Am 27. Mai schrieb der ausserordentliche
Bevollmächtigte England's, Fawkener, wie ungeberdig Potemkin
sich gegen ihn, Whitworth und Goltz nacK einer Conferenz, die
sie auf Potemkin's Villa gehabt, benommen habe: „Er behielt uns
zu Mittag. Seine Unterhaltung war sonderbar und höchst charakte-
ristisch. Im Verlaufe derselben sagte er, er könne nicht die Be-
dingungen des statiis quo dulden; er würde den Grossvezier, wenn
er ihn gefangen nähme, mit einem Denkzettel über dem Kopf an
dem ersten besten Baum aufhängen ; seiner Meinung nach sollte Russ-
land einen ewigen Krieg mit diesen Ungläubigen führen; ihn habe
das Glück nie verlassen und es sei unvernünftig, zu erwarten, er
werde der Kaiserin zum Frieden rathen; er sei ein junger Feld-
marschall und hoflfe wohl noch Aegypten zu erobern. — Diese Reden
waren übrigens mit vielen Preundschaftsbezeugungen für die Ver-
bündeten untermischt und mit dem Wunsch, dass wir über kurz
oder lang, alle auf einer Seite stehend, den Krieg führen möchten." 0
0 Herrmann YL 404^ 412.
524 PotemkiD'8 Glück und Ende.
Im Ganzen indessen vertrat Potemkin Prenssen and England
gegenüber den Frieden. Ans einzelnen nicht ganz klaren Aeossemngen
in Chrapowitzki*8 Tagebuche ist zu ersehen, dass Katharina den
Westmächten gegenüber noch weniger Nachgiebigkeit zu zeigen ge-
neigt war als Potemkin. Der letztere scheint die Kaiserin beredet
zu haben, an den König von Preussen zu schreiben. Mit dem Grafen
Besborodko zusammen arbeitete Potemkin im April an einer Note,
^welche den Krieg verhindern sollte." Einen Hofbeamten fragte
Potemkin spöttisch : ^Wie können unsere Rekruten denn sich mit den
Engländern schlagen! Hat man denn hier nicht genug gehabt an
dem Donner der schwedischen Kanonen?" Im Mai noch findet sich
die Notiz, dass Potemkin mit Besborodko, wahrscheinlich im Beisein
der Kaiserin, mit der Landkarte in der Hand die Friedensfri^e er-
örtert habe. 0
Zum Kriege mit England und Preussen kam es nicht. Dagegen
näherte man sich rasch dem Frieden mit der Türkei.
Als Potemkin den Süden verliess, traf er ein^e Anstalten für
die Eröffnung des Feldzugs im Frühling. Anfangs wusste man nicht,
wem er während der Zeit seiner Abwesenheit den Oberbefehl über
das Heer übertragen würde. Erst nach seiner Abreise langte der
Befehl an, der Fürst Repnin sollte seine Stelle vertreten. Dieser
hatte anfangs, weil ör nicht unter Potemkin dienen wollte, jede
Theilnahme am Türkenkriege abgelehnt, aber schon bald nach dem
Ausbruche der Feindseligkeiten der Kaiserin seine Dienste unbe-
dingt zur Verfügung gestellt. Nun war er der Stellvertreter des
Fürsten Potemkin. Die schwere Verantwortung, welche auf ihm
lastete, suchte er dadurch zu verringern, dass er sehr oft Couriere
mit ausführlichen Nachrichten über die Sachlage an den Fürsten
Potemkin absandte. Wie gewöhnlich bei Friedensunterhandlungen,
welche gepflogen werden während man die militärischen Operationen
fortsetzt, war die Kaiserin diese ganze Zeit von der Hoffnung er-
füllt, durch militärische Erfolge einen günstigen Friedensschluss her-
beiführen zu können. Daher hatte sie mit besonderer Freude die
Nachricht von der "Einnahme der Festung Anapa empfangen, daher
war ihr jede Nachricht von dem Heere im Süden von grösstem
0 Chrapowitzki, 17. März, 9. und 15. April, 17. Mai. Der persönlichen
Erörterungen des Fürsten mit Fawkener erwähnt auch Samoilow.
^ Potemkin's Glück und Ende. 525
Interesse. Sie war nun sehr erstaunt, als sie erAihr, dass Potemkin
zahlreiche Berichte von Repnin erhalte, dieselben vor der Kaiserin
verheimliche und mit der Absendung von Instructionen an Repnin
zögere. Sogleich Hess sie den Chef der Kanzlei Potemkin's, Popow,
rufen und durch denselben dem Fürsten den Befehl zugehen, un-
verzüglich einen Courier mit Verhaltungsregeln an den Fürsten
Repnin abzufertigen. 0 Wahrscheinlich in diesem Augenblicke
schrieb sie einen im Reichsarchiv aufbewahrten Zettel an Potemkin
folgenden Inhaltes: „Wenn Du einen Stein von meinem Herzen
wl^lzen — , wenn Du mich von einem schweren Alpdrücken be-
freien willst, so schicke sogleich einen Courier mit der Weisung zur
Armee ab, möglichst schnell zur See und zu Lande die Operationen
zu beginnen, sonst ziehst Du den Krieg noch mehr in die Länge,
und dieses kannst Du doch ebenso wenig wünschen als ich''. ^)
Somit war die Kaiserin ungeduldig, aufgeregt. Mit ängstlicher
Spannung sah sie einer Entscheidung entgegen. Da empfing sie am
11. Juli die Nachricht von der am 28. Juni stattgehabten Schlacht
bei Matschin. Der Fürst Repnin hatte die Zeit zu benutzen ver-
standen, fast täglich das ihm anvertraute Heer in Manövern und
Evolutionen geübt, war gegen Galacz gezogen und hatte in der
Nähe dieser Stadt den Vezir mit einem Heere, welches an Grösse
das russische um mehr als das Doppelte übertraf^ aufs Haupt ge-
schlagen, 40 Kanonen, eine Menge Trophäen und das reiche Türken-
lager erbeutet.
Bei Hofe war man voll Lobes über Repnin's Kriegfiihrung, die
einen Gegensatz bildete zu der Langsamkeit, mit welcher Potemkin
zu verfahren pflegte. ^) Für den letzteren war die Nachricht von
diesem Ereigniss ein schwerer Schlag. Repnin's Ruhm erregte seine
Eifersucht. Hatte er doch, wie uns von zuverlässiger Seite berichtet
wird, um die Zeit des Festes und weil er damals eine Anzahl ge-
fangener Pascha's der Kaiserin vorstellen wollte, dafür gesorgt, dass
Suworow gerade damals nach Finnland geschickt wurde, um die
dortigen Festungen zu besichtigen. *) Jetzt, nach dem Siege bei
*) Erzählung eines ehemaligen Adjutanten des Fürsten Repnin an Orot.
S. des letzteren Ausgabe der Werke Derschawin's I, 429.
2) Materialien zur Geschichte der Regierung Katharina ü., gesammelt von
Lebedew, bei Orot a. a O.
3) Masson, M^moires secrets, I. 295.
0 Chrapowitzki am 26. April 1791.
636 Potemkin*8 Glück und Ende.
Matschin, war der Friedentschluss wahrscheinlicher. Seine künftige
Souveräne Stellung stand auf dem Spiele.
Es wird uns einiges von einer ungnädigen Haltung der Kaiserin
in der letzten Zeit von Potemkin's Aufenthalt in St. Petersburg be-
richtet. Derschawin erzählt, Potemkin habe ihn gefragt, ob er nicht
etwas für Derschawin thun, ihm irgend eine Gnade erweisen könne;
durch Subow indessen habe die Kaiserin Allen verbieten lassen, Po-
temkin um irgend etwas zu bitten. 0 Katharina wurde ungeduldig
wegen der verzögerten Abreise des Fürsten. Sie soll, da niemand
den Muth hatte, ihm den gemessenen Befehl zur Abreise zu über-
bringen, ihm persönlich die Weisung gegeben haben, er solle auf-
brechen. Am 24. Juli reiste er ab.
In der Hauptstadt bereits hatten Todesgedanken den Fürsten
beschäftigt. Er hatte sich durch rauschende Vergnügungen zu zer-
streuen gesucht. Jetzt auf der Reise in den Süden meldeten sich
Symptome ernstlicher Krankheit. Er fühlte eine allgemeine Schwäche
und schrieb an die Kaiserin, dass er auf keine Genesung hoffe. Sie
antwortete: ^Ich bete zu Gott, dass er diese Trauer von Dir ab-
wenden und mir diesen Schlag ersparen möge, an den ich nicht
ohne tiefsten Schmerz denken kann." ^) In Krementschug und Niko-
lajew suchte er sich durch kalte Bäder zu stärken. ^) Zu diesen
körperlichen Leiden kam die Nachricht von den Friedensunterhand-
lungen, welche Repnin sogleich nach der Schlacht bei Matschin er-
öffnet hatte. Diese durchkreuzten seine Pläne. Er schrieb aus
Krementschug am 1. August an die Kaiserin, der Vezir habe dem
Fürsten Repnin gemeldet, es sei das Gerücht bis zum Sultan ge-
drungen, dass die Russen um Frieden bäten, worauf denn Repnin
habe antworten lassen, er sei zu unterhandeln bereit, wenn die
Türken die Präliminarpunkte acceptirten. *) Fast scheint es^ als
habe Potemkin der Kaiserin den Gedanken eingeben wollen, dass
Repnin Russland's Ehre compromittire und zu hitzig für den Frieden
wirke. Am 31. Juli wurden die Friedenspräliminarien von Repnin
unterzeichnet; einige Tage später ers(jhien Potemkin in Jassy. Wir
haben keinen Grund, an der gewöhnlichen Ueberlieferung zu zweifeln,
dass es zwischen ihm und Repnin zu einem heftigen Auftritte ge-
kommen sei: Potemkin habe ihm wegen der Bereitwilligkeit, Frieden
0 Dersohawüi a. a. 0.
>) Grot a. a. 0, 451.
3) Samoilow a. a. 0., 1555.
Ghrapowitzki, 1. August 1791.
Potemkin^s Glück tmd Ende. 627
SU schliesBen, Vorwürfe gemacht, Repnin habe entgegnet, dass er nicht
dem Fürsten, sondern dem Vaterlande diene und dass er den ersteren
nicht fürchte. Repnin zog sich bald darauf zurück und war bereits
zu Anfang September in Moskau, wie aus einem Briefe Popow*6 an
die Kaiserin hervorgeht. 0
Noch hoffte Potemkin der Sache eine andere Wendung zu geben.
In dem Präliminarfrieden war der Donaufürstenthümer nicht erwähnt.
Er erklärte jetzt, dass Russland auf der Abtretung derselben bestehen
werde. Manches Widersprechende über diese Verhandlungen wird
berichtet. Ein Zeitgenosse erzählt, der Bevollmächtigte des Vezirs
habe sogar das linke Ufer des Dnjestr nicht abtreten wollen, worauf
denn Potemkin im heftigsten Zornesausbruch den türkischen Diplo-
maten fortgejagt und dem Vezir gemeldet habe, dass er bei solchen
Vorschlägen die Unterhandlungen gleich abbrechen werde. Hierauf
habe der Vezir sogleich am folgenden Tage einen anderen Bevoll-
mächtigten mit vielen Entschuldigungen wegen des Unverstandes
des Unt-erhändlers an Potemkin gesandt und sich erboten, denselben
hinrichten zu IsMssen. ^) Gewiss ist, dass die Frage der Donaupro-
vinzen Potemkin noch die allerletzte Zeit beschäftigte und dass die-
selbe den Abschluss des Friedens hinausschob. Potemkin erlebte
den Frieden nicht.
Am 28. August erfuhr Katharina, dass Potemkin sehr bedenklich
krank sei. Sie vergoss Thränen bei dieser Nachricht. ^) Einige
Tage später kam die Nachricht, es gehe dem Fürsten besser. Ein
seltsamer Zwischenfall hatte sich ereignet. Am 13. August starb der
Prinz Karl Alexander von* Württemberg, welcher in dem Heere
diente. *} Bei der Bestattung desselben, welcher Potemkin beiwohnte,
war der letztere so in Gedanken verloren, dass er, als der Leichen-
wagen bei der Kirche erschien, im Begriff war denselben zu be-
steigen, indem er meinte, es sei seine Equipage. Der Vorfall
machte auf ihn einen erschütternden Eindruck. *)
0 Massen I., 173, 295. S. die Materialien Lebedew's bei Grot a. a. 0. Die
Angabe, dass Potemkin am 1. Auf ast in Jassy angelangt sei, iBt falsch, da er an die-
sem Tage ans Krementschug an Katharina schrieb, dieser Ort gegen 500 Werst und
darüber von Jassy entfernt ist, nnd Potemkin noch über Kikolt^ew nach Jassy reiste.
>) Samoilow, S. 1556.
0 Ohrapowitzki, 28. Augnst.
*} Es war der Bruder der Gemahlin des Grossfürsten Paul, Marie Feodoroinia.
0 So erzählt Engelhardt in seinen Memoiren (rnssiseh). S. 124. Derseha-
vrin meint sogar, Potemkin habe in der Zerstreutheit den Leichenwagen bestiegen,
s. Grot a. a. 0.
528 Potemkin's Glück und Ende.
Potemkin's Zustand verschlimmerte sich. In seiner gewohnten
Weise verschmähte er den Rath der Aerzte, badete den Meinungen
der letzteren zum Trotz seinen Kopf in eiskaltem Wasser, nahm
grosse Mengen fetter Speisen zu sich. Eine fieberhafte Unruhe ver-
zehrte ihn. Er meinte nicht in Jassy bleiben zu dürfen: es werde
sein Grab sein. Es trieb ihn nach Nikolajew, wo die Gründung
der neuen Stadt, der Schiffsbau in Folge der Bemühungen des unter-
nehmenden und thätigen Commissärs Falejew einen raschen Auf-
schwung genommen hatten. Falejew kam gerade nach Jassy, als
Potemkin bereits dem Tode nahe war. Er berichtete ihm von dem
Gedeihen des neuen Hafens und der Fürst beschloss zu reisen. Das
Fieber, welches 40 Tage angehalten hatte, rieb die letzten Lebens-
kräfte auf. Er musste in den Wagen getragen werden. Hier unter-
zeichnete er noch ein kurzes Schreiben an die Kaiserin, welches er
seinem Kanzleichef Popow in die Feder dictirt hatte und welches
folgendermaassen lautete : „Mütterchen, allergnädigste Kaiserin! Ich
kann die Leiden nicht mehr ertragen; die einzige Rettung ist noch:
diese Stadt zu verlassen. Ich lasse mich nach Nikolajew fahren.
Ich weiss nicht, was mit mir werden wird. Der allertreueste und dank-
barste Unterthan." Eigenhändig fügte Potemkin noch mit zitternder
Hand hinzu: „die einzige Rettung ist, von hier wegzufahren."
Auf der ersten Station, 25 Werst von Jassy entfernt, angelangt,
liess sich Potemkin in ein Haus tragen und schlief drei Stunden.
Dann unterhielt er sich lebhaft mit seinen Begleitern, bemühte sich
heiter zu scheinen, scherzte, er habe sieinen Sarg in Jassy zurück-
gelassen. Die Nacht brachte er schlaflos und von Schmerzen ge-
quält zu. Beim Anbruch der Morgendämmerung verlangte er den
Wagen. Man suchte die Abreise bis zum hellen Tage zu verschieben
musste aber seinem Willen nachgeben. Langsam bewegte sich der
Zug vorwärts. Alle Augenblicke musste man halten, weil der Biranke
die Bewegung nicht ertragen konnte. Endlich sagte Potemkin: „Es
ist genug; ich sterbe; nehmt mich aus dem Wagen, ich will auf
dem Felde sterben.'' Man legte ihn auf den Rasen. Nach etwa
einer Stunde verschied er.O Es war am 5. October 1791. Die Leiche
0 Ueber die Ejrankheit und den Tod Potemkin*s s. u. a. die Schilderung
in dem Briefe eines Zeitgenossen aus Jassy (MasRi» 1842, Bd. IV. CMdbCB) bei
Grot a. a. 0. 452. £bendort einige Angaben aus den Materialien zur Geschichte
der Regierung der Kaiserin Katharina, gesammelt von Lebedew. In dem Auf-
sätze „IlyTcmecTBie no HoBopocciäcROicy Kpaio Iohu MHTponojuiTa'^ in den
Potemkin's Glück und Ende. 529
ward nach Jassy zurückgebracht und später mit grossem Pomp in
Cherson in der Hauptkirche beigesetzt. ')
Wie falsch ist doch die Erzählung eines Zeitgenossen, Katharina
habe die Nachricht von dem Tode Potemkin's sehr gleichgültig hin-
genommen. Das Tagebuch Chrapowitzki*s belehrt uns eines anderen.
Er verzeichnete jede Nachricht, welche aus dem Süden über Po-
temkin kam; häufig trafen Bulletins der Aerzte ein, welche den
Fürsten umgaben. Als man am 11. October die Nachricht erhielt,
dass es dem Fürsten schlimmer gehe, da trug Chrapowitzki, der die
Kaiserin fortwährend beobachtete, in sein Tagebuch ein: „Wieder
Thränen und Verzweiflung. Um 8 Uhr liess man (der Kaiserin)
zur Ader; um 10 Uhr legte sie sich zu Bette." — Anderen Tages
kam die Todesnachricht. Chrapowitzki schreibt: „Thränen. — Sie
klagte, dass sie nicht damit zurechtkomme, zeitig Menschen vorzu-
bilden, jetzt sei niemand da, auf den man sich stützen könne." Am
16. October: „Fortgesetzte Thränen. Sie sagte mir: ,Wie kann ich
Potemkin ersetzen, er war ein echter Edelmann, ein kluger Mensch ;
ihn konnte man nicht kaufen. Jetzt wird doch alles anders sein.
Wer hätte denken können, dass Tschemyschew und andere alte
Leute ihn überleben würden. Und jetzt werden alle wie die Schnecken
ihre Köpfe in die Höhe emporrecken.' Ich erwiderte : ,Ew. Majestät
sind darüber erhaben.' Sie darauf: ,Das wohl, aber ich bin alt. Er
war ein echter Edelmann, ein kluger Mensch; er verkaufte mich
nicht; ihn konnte man nicht kaufen'.^ ^) Manche Zeugnisse anderer
Zeitgenossen bestätigen diese Mittheilungen. Derschawin sagt: Alle
seien bei der Nachricht wie vom Donner gerührt gewesen, am
meisten aber die Kaiserin. ^) Masson spricht von drei Ohnmächten,
welche Katharina gehabt habe. *) Der. Graf Estarhazy, welcher
sich als Emigrant am russischen Hofe aufhielt, schreibt an seine
Frau: „Seit dem Tode Potemkin's ist hier alles in Trauer versenkt.
Schriften der odessaer Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer Neurussland's
Bd, III. S. 559—561 sind einige Angaben. Derschawin's prachtvolle Ode „Bo^o-
naÄ-L" 8. bei Grot I, 457—488.
0 Der Leichenzug war 5 Werst lang (?), erzählt der Metropolit Jonas. Das
Ceremoniell s. bei Kolotow, Geschichte Katharina's II., 279—283. 600 Menschen
arbeiteten in Jassy an den Vorbereitungen auf die Leichenfeierlichkeiten. — An
der b teile, wo er verschied, ward ein Denkmal errichtet, s. Grot a. a. 0. 454.
^ Chrapowitzki am 11., 12. and 16. October.
3) Derschawin, Memoiren 312. Seine Bemerkungen bei Grot a. a. 0. X. 480.
^) Masson, M^moires secrets. I, 153.
530 Potemkin's Glück und Ende.
Noch keinmal ist die Kaiserin ausgegangen ; es gab keine Eremitage
(d. h. keinen Hofzirkel); sogar hat sie nicht in ihren Gemächern
Karten gespielt. Daraus/ fügt Estarhazy hinzu^ »folg* noch nicht,
dass alle allzutraurig sind. Viele sind, so viel man weiss, sehr zu-
frieden, dass dieser Koloss umstürzte.** ')
Welcher Art Gerüchte über Potemkin's Tod damals umliefen,
zeigt ein Brief des bekannten Job. Jak. Sievers: „So ist denn doch
der fürchterliche Mann, der im Scherze einmal sagte, er werde noch
einst Mönch und Erzbischof werden — todt — aber wie? natürlich?
oder hat die Vorsehung eine rächende Hand geftinden? oder war*s
ein moldauisches Fieber? Ein Geschenk des Landes, das er höchst
unglücklich machte, ehe er es zu beherrschen bekam?" ^
Bei dem Fest, das Potemkin im Taurischen Palais gab, schwie-
gen die Zeitungen in Russland; dasselbe geschah bei seinem Tode.
Nur einzelne Gedichte, bei dieser Gelegenheit verfasst, erschienen
im Drucke. Erst im Jahre 1798 erschien Derschawin's Ode: „der
Wasserfall**. Er hatte dieselbe bald nach Potemkin's Tode be-
gonnen, aber erst 1794 beendet. ')
Wie weit Potemkin's Pläne gingen? Wer weiss es? Ob er
sich mit der Moldau und Walachei begnügt haben würde, ob er
nach der Würde eines unabhängigen Kosakenhetmans , nach der
polnischen Königskrone, nach der Regentschaft während der Minder-
jährigkeit des für den Thron von Byzanz bestimmten Grossfürsten
Constantin gestrebt habe, um schliesslich alle bei Seite zu schieben
und auch Russland nach dem Tode der Kaiserin an sich zu reissen?
Es sind Vermuthungen. „Von ihm war alles denkbar", sagt Blum*
„er hatte . . . alle bei Seite gedrückt und geschafft, die ihm im Wege
standen« Er hatte die Hülfsquellen des Landes erschöpft, und was
irgend von Kraft noch vorhanden war, in kecker Faust zusammen-
gefasst .Wozu das alles? Offenbar, um als' Verräther ][einen Schlag
zu führen, wozu im entscheidenden Augenblicke ihm der Muth ver-
sagte. Kattiarina kannte den Helden, sie wusste, was sie gegen ihn
wagen durfte, und warf ihn, als die Stunde gekommen war, mit
Anstand über Bord." Blum schrieb unter dem Einfluss der Meinungen
von Ausländern, namentlich des sächsischen Legationssecretärs Hei-
big, dessen Lebensbeschreibung Potemkin's in Archenholtz' Minerva
1) OcMHa^i^aTuft B^Rb, EapTeHesa I, 357.
^ Blum, „ein russischer Staatsmann*' 11, 541.
•) Orot a. a. O., I, 455—456.
Potemkin's Glück und Ende. 531
in der That nicht eine allseitige Würdigung des Lebens und Wirkens
dieses Mannes genannt werden kann. Vielmehr darf man sagen,
dass die Acten über Potemkin's Leben und Wirken noch nicht ge-
schlossen sind. Die Urtheile der Zeitgenossen und der unmittel-
baren Nachwelt lauten widersprechend. Dass das Volk den Fürsten
„als Nationalhelden im Gedächtniss bewahrt" habe, wie Blum be-
merkt, ist sehr zu bezweifeln. Gewiss ist, dass bald nach seinem
Tode mancherlei geschah, sein Andenken zu verwischen.
Man ist in einiger Ungewissheit über den Ort, wo die Gebeine
Potemkin's ruhen. Die Leiche wurde von Jassy nach Cherson ge-
bracht und dort in der Katharinenkirche beigesetzt. Es gingen
später verschiedene Gerüchte über das Schicksal dieser Ueberreste.
Man erzählte, dass unter Kaiser Paul's Regierung einige Maassregeln
getroffen wurden, um die Spuren von Potemkin's Grab zu tilgen.
Wie damals die griechisch benannten Städte Eupatoria, Sewastopol,
Grigoriopol u. a. wiederum mit tatarischen Namen, Koslow, Akmet-
schet, Kisikerman bezeichnet wurden, so erschienen einige Re-
gierungsbefehle in Betreff der Leiche Potemkin's, des Hauptvertreters
der byzantinischen Entwürfe. Aus der Kirche verschwand das
Denkmal, welches Katharina dem Fürsten hatte stellen lassen; ein
geheimer Befehl verfügte, dass der Sarg Potemkin's aus dem Ge-
wölbe unter dem Fussboden der Kirche entfernt und in der Nähe
der Kirche in aller Stille vergraben werden sollte. Man sprach da-
von, dass nur die Leiche entfernt worden sei, der Sarg aber noch
in dem Gewölbe sich befinde. Noch andere erzählten, ein Ver-
wandter Potemkin's, der Erzbischof Hiob, habe im Jahre 1819 oder
1820 die Leiche Potemkin's jener Gruft entnommen und dieselbe auf
dem Gute der Branicki's bestattet.
In späterer Zeit haben Reisende in Cherson an Ort und Stelle
Nachforschungen angestellt, ohne zu sehr bestimmten Ergebnissen zu
gelangen. Man glaubte den Sarg gefunden zu haben, nachdem man
die Erde, welche jenes unter der Kirche zu Cherson befindliche
Gewölbe anfüllte, wegschaufeln liess, man stiess auf einzelne Kno-
chen und verschiedene andere Ueberreste eines menschlichen
Körpers und menschlicher Kleidung. Von einer Inschrift, von
irgend welchen deutlichen Indicien, dass man es hierbei mit
den Ueberresten Potemkin's zu thun habe, wird nichts gemeldet.
582 Potemkin's Glück und Ende.
Diese sich übrigens zum Theil untereinander widersprechenden
Angaben stimmen nicht einmal mit den ofBciellen Actenstücken, die in
dieser Angelegenheit erlassen und in letzter Zeit bekannt geworden
sind, überein. Es wäre auch von nur secundärem Interesse, der
Sache auf den Grund zu kommen. 0
*) üeber diese Frage 8. Andngewski's Aufsatz in den Schriften der odessaer
Gesellschaft für Geschichte und Alterthümer Keurosslands. Bd. V, S. 1006—1010.
Femer Schugorow's Untersuchung in dem „Russischen Archiv" 1867, S. 203 bis
218 und die Ergänzung dazu yon ebendemselben, S. 1181 — 1182. — St. Peters-
burger Zeitung (russ.) 19. Jan. 1860. Odessaer Zeitung (russ.) 1867. (Kr. 132).
A. Brückner.
J
Die Rfgaer Volkszahlung vom 3. Mirz 1867.
1/ie in einem Theile Westeuropa's namentlich seit dem Ende des
vorigen Jahrhunderts eingetretene rapide Entwiekelung auf allen
Gebieten des socialen und politischen Lebens zwingt diejenigen Völker
und Staaten, die, von modernem Bewusstsein getragen, die Absicht
und den Willen haben, mit den Hauptvertretern jener Entwiekelung
gleichen Schritt zu halten, — bei sich selbst einzukehren und sorg-
fältig die Zustände und Kräfte zu studiren, die bei jenem Cultur-
wettstreit naturgemäss dazu berufen sind, die Grundlage und das
Fundament für den Weiterbau zu bilden.
Auch Russland hat neuerdings zur Ueberzeugung kommen
müssen, dass eine solche möglichst rationelle und systematische lu-
ven tarisirung jener Zustände und Kräfte des Staates eine dringende
und unaufschiebbare Nothwendigkeit sei. Es liat sich diese Ueber-
zeugung freilich erst seit sehr kurzer Zeit in Russland Bahn gebrochen:
wir erinnern daran, dass noch im Jahre 1853, als von Brüssel aus
an die europäischen Regierungen die Einladungen zum ersten sta-
tistischen Gongress ergingen, seitens Russland's geantwortet wurde,
es sei die Theilnahme an diesem Gongress für unnöthig befunden
worden, indem die statistischen Erhebungen der militärischen und
Verwaltungsbehörden vollkommen für die administrativen Bedürf-
nisse des Staates ausreichten.
Es hat nun seitdem bekanntlich in dieser Beziehung ein colossaler
Umschwung und Fortschritt stattgefunden: die Theilnahme Russ-
land's an den späteren statistischen Congressen ist eine sehr lebhafte
gewesen, der nächste Gongress wird (1872) in St. Petersburg ta^en.
Die Orgauisirung der statistischen Behörden und ihrer Thätigkeit
hat, in Anlehnung an die bewährten Einrichtungen des Auslandes,
im ganzen Reiche stattgefunden und überall wird energisch an der
Verarbeitung und Publication des massenhaften Materials gearbeitet;
es ist endlich für das Jahr 1875 die erste allgemeine Volkszählung
Baltische Monatsschrift. N. Folge. Bd. I, Heft 11 u. 12. 36
534 Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867.
für ganz Russland beschlossen worden, — eine riesige Operation,
sowohl in Anbetracht der Dimensionen des Reichs und der grossen
Bewohnerzahl, als auch der in diesem Falle zu überwindenden be-
sonderen Schwierigkeiten.
Wir sind der Ansicht, dass in Folge dieser Schwierigkeiten, die
wir hauptsächlich in der Unbildung der grossen Masse sehen, sowie
in dem eigenthümlichen, zu passivem Widerstände verleitenden Miss-
trauen des niederen russischen Volks gegen alle solche Maassn ahmen
der Behörden, hinter denen allenfalls fiskalische Zwecke vermuthet
werden können, jene erste allgemeine Volkszählung in den aller-
meisten Gouvernements jedenfalls nur Resultate von höchst zweifel-
hafter Richtigkeit ergeben wird; sie wird nur den Charakter einer
Probezählung haben, aber auch als solche von unschätzbarem Werthe
sein zur Sammlung von Erfahrungen, Einübung der activ sich Be-
theiligenden und zur Gewöhnung des Volkes an diese Operation.
Diesen Charakter einer Vorschule für künftige Volkszählungen
wird jedoch die 1875er Zählung durchaus nicht in allen Theilen
des Reichs haben: in Petersburg und in einem Theile der Ostsee-
provinzen fin welchen überdem die in den niederen Schichten des
Volkes allgemein verbreitete Elementarbildung als hochwichtiges
begünstigendes Moment hinzukommt), sind bereits durch Veran-
staltung und Durchführung von umsichtig und nach allen Regeln
der Kunst geleiteten Volkszählungen nicht nur Erfahrungen gesam-
melt, sondern auch Resultate erzielt worden, die sowo)il in Betracht
der Exactheit der Ergebnisse als des wissenschaftlichen Geistes der
Verarbeitung derselben, sich ebenbürtig dem Besten anreihen, was
die in statistischer Routine vorgeschrittensten Länder Europa's ge-
leistet haben.
In Nachstehendem wird es unsere Aufgabe sein, die Geschichte
und die Hauptergebnisse der rigaer Volkszählung vom 3. März 1867,
für welche das soeben Gesagte gewiss seine volle Geltung hat, —
in kurzen Umrissen darzustellen. Als Quelle für die Geschichte und
als Grundlage für die Darstellung der Ergebnisse der genannten
Zählung wird uns dienen das vor kurzem erschienene Werk: „Die
Resultate der am 3. März 1867 in der Stadt Riga ausgeführten Volks-
zählung. Zusammengestellt und herausgegeben im Auftrage des
statistischen Comit^'s der Stadt Riga vom Secretär Fr. v. Jung-
Stilling*. Das Werk, ein stattlicher Quartant, enthält ausser dem
überaus reichhaltigen und vielseitigen Tabellenmaterial noch ein über
die Geschichte der Zählung und die Verarbeitung ihrer Ergebnisse
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867. 535
orientirendes Vorwort, den „Plan der Volkszählung" und einen
offenen Brief an die Redaction der ,,Moskauer Zeitung*.
Nach dem ursprünglichen Beschlüsse des livländischen statisti-
schen Comit^'s sollte gleichzeitig durch ganz Livland gezählt werden,
doch wurde bekanntlieh dieser Plan aus hier nicht weiter zu
erörternden Gründen aufgegeben und die Zählung auf die Städte
allein beschränkt.
Die Organisation der Zählung in den Städten finden wir aus-
führlich dargelegt in dem bezüglichen Theile des genannten, von
dem livländischen statistischen Comit^ auf Grund bewährter Er-
fahrungen entworfenen und beschlossenen „Planes der Volkszählung".
Nach demselben hatten die Magistrate durch Wahl geeigneter Per-
sonen die Central -Zählungs-Commission zu constituiren, und zwar
aus soviel Personen, als zur Ausführung der ihnen aufzuerlegenden
Arbeit erforderlich schien. Aus der Zahl der Mitglieder wurde
sodann, durch den Magistrat der Vorsitzende bestimmt. Diese Com-
mission bildete zunächst die aus je drei Personen bestehenden Quartal-
Zählungs-Commissionen, und bestimmte deren Vorsitzer. Central- und
Quartal - Zählungs - Commissionen hatten endlich in gemeinsamer
Sitzung die Quartal-Zählungs-Commissäre und die Zählungs-Agenten
(Zähler) zu erwählen, und zwar in solcher Zahl, dass wo möglich
auf jeden der ersteren höchstens 20 Grundstücke, auf jeden der
letzteren höchstens 100 einzutragende Individuen entfielen.
Die Functionen dieser Zählungsorgane waren im Wesentlichen
folgende :
1) Die Centralcommission erlässt einen Aufruf an die Bewohner
der Stadt mit der Aufforderung, sich an der Ausführung der Zählung
möglichst zahlreich durch Freiwillige zu betheiligen, aus denen sie dann
gemeinschaftlich mit den Quartalcommissionen die Quartalcommissäre
und die. Zähler erwählte. Ferner gehörte zu ihren Functionen die
Instruirung der Quartalcommissionen, die Ausreichung der Listen an
dieselben und deren spätere Inempfangnahme, s.owie die oberste
Controle und Revision der vorläufigen Zählungsergebnisse.
2) Die Quartalcommissionen th eilen ihr Quartal in Zählungs-
districte von wo möglich höchstens je 20 Grundstücken, und be-
stimmen gemeinschaftlich mit den für jeden derselben bestimmten
Quartalcommissären die Anzahl der Zählungsbezirke, in welche jeder
District zu zerfallen hat. Für jeden der Bezirke wird sodann je
ein Zähler gewählt. Die Quartalcommissionen haben ferner die fünf
ersten Rubriken der Grundstückliste eines jeden Districtes durch den
36*
636 Die Rigaer Volkssählung vom 3. März 1867.
örtlichen PolizeiofSzier ausfüllen zu lassen und dieselben, nachdem
sie die gemachten Angaben geprüft und wo nöthig berichtigt, sanimt
den zugehörigen Haushaltungslisten den betreffenden Quartalcom-
missionen einzuhändigen und (letztere) nach der Zählung wieder in
Empfang zu nehmen, um ihre richtige Ausfüllung zu controliren und
sie sodann der Centralcommission wieder zuzustellen.
3) Die Quartalcommissäre haben durch persönliche
Inspection die den Quartalcommissionen obliegende Controle
über die richtige Ausfüllung der Grundstücklisten durch die Polizei-
offiziere zu unterstützen und zu vermitteln, und die berichtigten
Listen sodann, wie gesagt, den Quartalcommissionen einzuliefern,
von denen sie dieselben, versehen mit der zugehörigen Zahl Haus-
haltungslisten, spätestens drei Tage vor der Zählung wieder zurück-
erhalten. Die für einen jeden Bezirk bestimmten Haushaltungslisten
werden den betreffenden Zählern übergeben und sofort nach voll-
endeter Zählung durch dieselbe den Quartalcommissären wieder zu-
gestellt, welche die Vollständigkeit und Richtigkeit ihrer Ausfüllung
controliren, die vorläufigen Summiniugen für eine jede Haushaltungs-
liste sowie für ihren ganzen District vornehmen, und sodann den
ganzen Zählungsapparat den Quartalcommissionen wiederum zustellen.
4) Die Zähler führen innerhalb ihrer Bezirke die Zählung
selbst vorschriftmässig durch, indem sie den Vorständen derjenigen
Haushaltungen, wo Selbsteintragung stattfinden soll, die bezüglichen
Haushaltungslisten bereit« am Tage vor der Zählung einhändigen
und sie am Zählungstage ausgefüllt und nöthigenfalls berichtigt
wieder einsammeln; indem sie ferner in denjenigen Haushaltungen,
wo wegen mangelnder Bildung die Selbsteintragung nicht statt-
haben konnte, die Eintragung der Notizen am Zählungstage selbst
besorgen und endlich sämmtliche Haushaltungslisten ihres Bezirks
sofort nach Beendigung der Zählungsoperation ihren Quartalcom-
missären vollständig ausgefüllt persönlich überbringen.
Besondere Bestimmungen regeln sodann noch das Eintrs^ungs-
verfahren für die in der Zähiungsnacht in den Gasthäusern, Hdtels
und Einfahrten Logirenden, sowie ftir die Bewohnerschaft der Ka-
sernen, Gefängnisse, Kranken- und Armenhäuser, und anderer der-
artiger Anstalten.
Von den beiden mehrfach genannten Listen, der Grundstück-
liste und der Haushaltungsliste, enthält erstere 8 Rubriken : 1) Name
der Strasse, an welcher das Grundstück gelegen ist; 2) Polizei-
nummer des Grundstückes; 3) Zahl der auf denselben befindlichen
Die Rigfi^er Volkszählung vom 3. März 1867. $87
bewoboteii und unbewohnten Häuser; 4) Belegenheit der bewohnten
Häuser zur Strasse oder im Hofe; 5) Laufende Nummer und Be-
nennung jeder einzelnen Haushaltung; ferner 6} Name der Zähler
und Angabe der Selbsteintragung; 7) Name des Quartalcommissärs
und 8) Bemerkungen. Die zweite Liste, die Haushaltungsurliste,
enthält ausser den auf der Vorderseite derselben durch die Quartal-
commission auszufüllenden Rubriken mit genauer Angabe über die
Haushaltung, für welche die Liste i)estimmt ist, auf der Innenseite
11 Rubriken : 1) Laufende Nummer der einzelnen Glieder der Haus-
haltung; 2) Vorname und Name der Glieder der Haushaltung;
3) Alter, 4) Civilstand; 5> Confession oder Religion; 6) Uebliche
Sprache (Nationalität); 7) Stand; 8) Beruf oder Gewerbe; 9) An-
sässigkeit; 10) Hingehörigkeit; 11) Bemerkungen. Die Columnen-
köpfe enthalten Erläuterungen, um einer etwaigen missverständlichen
• Auffassung der Bedeutung der Rubriken yorzubeugen.
Nach Anleitung des „Planes der Volkszählung" sollten gleich-
zeitig sämmtliche zur Zeit der Zählung anwesende
Personen verzeichnet werden, d. h. es wurde der Bestand der
„factischen'^ Bevölkerung zu ermitteln gesucht, — im Gegensatz zu
den „Revisionen", die nur die „rechtliche" Bevölkerung, und auch
diese nicht vollständig, festzustellen streben. Ueber das eigenthtim-
liche Verfahren^ das zur Beseitigung der in Folge der nie ganz
rastenden räumlichen Bewegung der Bevölkerung leicht möglichen
Doppelz^hlungen, und zwar durch systematische doppelte Ein-
zeichnung, angewandt wurde, lassen wir hier die (für Land und
Stadt gemeinsam geltende) treffliche Erläuterung aus dem „Plan der
Volkszählung" wörtlich folgen:
„Um den durch die räumliche Bewegung der Bevölkerung ver-
anlassten Auslassungen und Doppelzählungen zu begegnen, pflegt
jede Volkszählung — sofern sie diesen Namen verdient — auf einen
bestimmten Zeitmoment, und zwar den Moment verhältnissmässig
grösster Ruhe, die Mitternacht, bezogen zu werden. Allein selbßit in
der Nacht ist ein immerhin nicht unbeträchtlicher Theil der Bevöl-
kerung in Bewegung: auf Feldwachten, auf Reisen, in oft schwer
controlirbarem Anlasse. Es ist, wenn Jeder strenge nur an dem
Orte verschrieben werden darf, wo er die d^m Zählungstag einleitende
Mitternacht zugebracht hat, nicht anzunehmen, dass Niemand den
Zahlern entgeht. Bei einer den Umständen angemessenen nicht hin-
reichend controlirbaren Inconsequenz am Principe liegt andererseits
die Gefahr nahe, dass Viele doppelt, vielleicht dreifach verzeichnet
538 Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867.
werden. Es mossten daher gewisse Abweichungen vom Princip in
ein System gebracht werden und, um der angedeuteten Fehlerquelle
zu begegnen, ist folgendes Verfahren z\yeckmäfi8ig erachtet worden.
Im Allgemeinen ist Jeder nur dort in die Liste einzutragen, wo
er die vorausgegangene Nacht zugebracht hat. Dies gilt namentlich
für solche Hausgenossen, welche auf längere Zeit auswärts in Diensten
stehen. Für die nur vorübergehend oder zufällig Abwesenden da-
gegen empfiehlt sich eine Abweichung von der Regel. Sie müssen
als zum Hausstand gehörig angesehen und, schon um Befremden
und Verwirrung zu vermeiden^ in der Liste ihres Hauses verzeichnet
werden, auch wenn sie die Nacht ausser Hause zugebracht haben.
Allein nicht minder sind sie in der Liste desjenigen Hauses zu ver-
zeichnen, in welchem sie um Mittemacht anwesend waren. Es bilden
sich damit Doppeleinzeichnungen, welche sofern Doppelzählungen
vermieden werden sollen, zu reduciren sind.
Dies nun wird zunächst durch ein eigenes auf solche Fälle be-
rechnetes Verfahren bei der Einzeichnung ermöglicht. Wer in der
Liste seines Hauses verzeichnet wird, ohne die Nacht in demselben
zugebracht zn haben, dessen Nummer wird durchstrichen. Auf solche
Weise wird der in der Zählungsnacht in Bewegung befindlidhe
Theil der Bevölkerung als (vom Hause) abwesend gekennzeichnet.
Ein ähnliches Kennzeichen hat nunmehr auch den in der Zählungs-
nacht in Bewegung befindlichen Theil der Bevölkerung als irgendwo
(ausser Hause) anwesend zu notiren. Daher die weitere den Zäh-
lern zu ertheilende Instruction, die Nummer eines Jeden, welcher
die Nacht an fremdem Orte zugebracht hat, zu unterstreichen.
Zieht man ferner die in den Gasthäusern, Krügen und Stationen
auszufüllenden Listen der Reisenden bei, so erhält man eine so voll-
ständige Uebersicht des gesammten in Bewegung gewesenen Theils
der Bevölkerung, als irgend durch Mittel der Zählung erlangt wer-
den kann. Auslassungen sind bei einem solchen Verfahren kaum
zu besorgen. Es handelt sich somit eben nur um Reduction der
Doppeltverschriebenen.
Diese Reduction wird durch Vergleichung angebahnt. Die
Vergleichung fasst einerseits die als vom Hause abwesend Ge-
kennzeichneten, andererseits die als ausser Hause anwesend Ge-
kennzeichneten ins Auge. Zu dem Zwecke solcher Vergleichung
werden sämmtliche in die letztere Kategorie gehörenden Namen in
alphabetische Ordnung gebracht. Das weitere Verfahren leuchtet
ohne Eröterung ein. So oft ein vom Hause abwesend Verzeichneter
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867. Ö39
mit einem ausser Hause anwesend Verzeichneten identisch befunden
wird, ist sein Name aus seiner Hausliste zu streichen und dort
weiter nicht zu berücksichtigen, in der Liste seines Nachtlagers da-
gegen beizubehalten und in dessen Summen zu verrechnen. Die
betreffende Arbeit wird in den Städten je nach Districten, Quartalen
und schliesslich für die ganze Stadt ausgeführt"
Die hier in allgemeinen Untrissen entwickelte^ Bestimmungen
des ,,Plans der Volkszählung" kamen mit einigen unwesentlichen
Modificationen bei der Ausführung der rigaer Zählung zur Anwen-
dung, und wäre als die erheblichste dieser Abweichungen nur 'zu
verzeichnen das Verzichten der Centralcommission auf die Herbei-
ziehung der örtlichen Polizeioffiziere zur Ausfüllung der Grundstück-
listen, indem auch diese Arbeit den Quartalcommissären zugewiesen
wurde und somit die ganze Zählungsoperation ausschliesslich den
FreiwiDigen oblag. Das Publicum betheiligte sich in erfreulichster
Weise, so dass eine mehr als genügende Anzahl von Zählern, und
zwar aus den verschiedensten Ständen und Berufsclassen sich zur
Verfügung stellte; besonders zahlreich waren die sogenannten ge-
lehrten Stände und der Handwerkerstand vertreten. Die aus den
Gliedern des städtischen statistischen Comit^'s und den Präsidenten
der sechszehn Quartalcommissionen bestehende Centralcommission
hatte daher über ein zahlreiches intelligentes Zählungspersonal zu
verfügen, welcher Umstand natürlich den günstigsten Einfluss auf die
Genauigkeit der Ergebnisse ausüben musste.
Die Zählung selbst, die nach den Bestimmungen des Zählungs-
planes in allen Theilen der Stadt an einem und demselben Tage, und
zwar innerhalb weniger Stunden desselben durchzuführen war, be-
gann in den ärmeren Stadttheilen, um die zum Theil von Tagelohn
lebende Bevölkerung möglichst noch zu Hause anzutreffen, bereits
um 4 Uhr morgens, was um bo nöthiger war, da die hier vorwiegend
durch die Zähler zu bewerkstelligende Eintragung der Angaben
natürlich mehr Zeit absorbirte, als das einfache Abholen der bereits
ausgefüllten Haushaltungslisten in den vorzugsweise von der gebilde-
teren Bevölkerung bewohnten Stadttheilen, in welchen in Folge
dessen meistens Selbsteintragung stattgefunden hatte.
Die zu zählende Bevölkerung bewies, selbst in den verrufensten
Stadttheilen, den Zählern gegenüber das grösste Entgegenkommen,
so dass, abgesehen von der auch berücksichtigten Abneigung gegen
die Registrirung durch Militärpersonen, nur ein Fall von Renitenz
bekannt geworden ist. Wenn daher alle Zähler gleichermaassen
540 Die Rigaer Volktzähloiig vom 8. Man 1867.
über den ihnen %n Theil gewordenen Empfang sich in anerkennendster
Weise aassprechen konnton, so wirkten zn diesem günstigen Resnl-
tate ohne Zweifel nicht minder die lebhafte Besprechung der Be-
deutung und des Werthes der bevorstehenden Zählung in der Presse,
als die sonstigen mehrseitigen Bemühungen mit, das Misstrauen eines
Theiles der Bevölkerung gegen diese Operation zu beseitigen. So
wurde von den Kanzeln der Kirchen herab bekannt gemacht, dass
die Zählung keinerlei Steuer- und Rekrutirungsz wecke im Auge
habe ; es wurde femer auf Veranlassung des derzeitigen livländisohen
Gouverneurs Dr. Aug. von Oettingen von Seiten des rigaschen RAthes
publicirt, dass niemand bei der Zählung ^nach einer Legitimation
gefragt werden würde, wie auch dass Personen, welche etwa Ver-
anlassung haben sollten, ihre Anwesenheit zu verbergen, in Folge
ihrer Einzeichnung in den Zählungslisten zu keinerlei Verantwortung
gezogen werden würden und mithin ohne jede Befürchtung sich
könnten mitzählen lassen.^ Es war im Interesse der Zählung eine
solche Pnblication um so nöthiger, als unser anerkanntermaasen in
hohem Grade reformbedürftiges Passwesen zu der ohne Zweifel sehr
begründeten Befürchtung Veranlassung gab, dass viele Individuen
der untern Volksclassen, aus Furcht, wegen ganz mangelnder oder
bereits ungültig gewordener Legitimationen belangt zu werden, sich
der Einzeichnung durch zeitweilige Entfernung aus der Stadt ganz
entziehen würden; diese Publication zerstreute in endgültiger Weise
die in den verrufeneren Stadttheilen anfänglich allgemein verbreiteten
Gerüchte, welche aus der bevorstehenden Zählung eine nur verkappte,
seitens der Behörden beabsichtigte grosse Razzia auf alles irgend
Gesetzwidrige zu machen geneigt waren. Wenn aber dennoch die
in Riga erscheinende russische Zeitung zu berichten weiss, dass trotz
aller jener Maassnahmen zur Beseitigung des Misstrauens, nicht
weniger als 2 — 3000 Individuen, welche aus den verschiedenartigsten
Gründen, namentlich aber wegen Passlosigkeit und verdächtiges
Erwerbes ihres Lebensunterhaltes triftigen Anlass gehabt, eine jede
Berührung mit den Behörden sorgfältig zu vermeiden, — mit Mundvor-
rath versehen, bereits mehrere Tage vor der Zählung aus der Stadt
in die umliegenden Wälder und Ortschaften gewandert seien, um
erst nach 10 — 14 Tagen aus ihren Verstecken wieder zurückzukehren,
so rechnen wir diese Mittheilung getrost zu den vielen Hallucinationen,
von denen das genannte, an überreicher Phantasie laborirende Blatt
bekanntlich nur zu oft heimgesucht wird, und durch die dasselbe
bisweilen^ wie auch im vorliegenden Falle, sehr unabsichtlicher
Die Rigaer Volkszählung vem 3. Ml^ 1867.
641
Weise die von ihr vertretene Nationalität compromittirt : schwerlich
wird die compacte russische Bewohnerschaft der bekanntlich vor-
zugsweise verrufenen Moskauer Vorstadt dem „Rigaer Westnik* für
die Zumuthung^ eine so colosaale Masse von Vagabunden un4 Spitz-
buben zu beherbergen, sehr dankbar sein dürfen. Sorgfältige Nach-
forschungen an Ort und Stelle haben im Gegentheil stets die völlige
Grundlosigkeit aller Gerüchte der obigen Art zur Evidenz nachge-
wiesen, und" die erwähnten Maassnahmen der Behörden haben somit
gewiss nicht wenig dazu beigetragen, die Exactheit des Zählungs-
ergebnisses zu sichern.
Einen nicht minder günstigen Einfluss auf den ganzen Verlauf
der Zählung übten die Anordnung des Gouverneurs v. Oettingen,
dass die Behördeif am Zählungstage geschlossen bleiben sollten, und
der / Beschluss der Kaufmannschaft und des Handwerkerstandes, die
Verkaufslocale und sonstigen Stätten des täglichen Handels und
Wandels nicht vor 12 Uhr zu eröfl&ien. Es waren diese Anordnungen
sowohl dadurch von höchster Wichtigkeit, dass die störende räum-
liche Bewegung der Bevölkerung sehr gemindert wurde, als auch
durch die nur auf diesem Wege zu ermöglichende zahlreiche Bethäti-
gung der Beamten, Eaufleute und Handwerker als freiwillige Zähler.
Nachdem wir im Bisherigen die wichtigsten Bestimmungen des
Planes der Volkszählung erörtert und über den Verlauf derselben
berichtet, gehen wir in Folgendem über zur Darstellung der haupt-
sächlichsten Zählungsergebnisse, die wir unseren Lesern zunächst
in der kürzesten Darstellungsform, der tabellarischen vorführen, um
sodann unsere Bemerkungen und Erläuterungen daran^zu knüpfen«
Tabelle L
Summarische Gliederung der Einwohner nach Civil- und
Militär - Bevölkerung :
In der
Oesammt-
Bevdlkemng.
1^8. i in Vo«
Cinl-
Bevölk^nng.
s)>s. I m %.
Militär-
3eyQlkeruiif.
abs.
in %.
Stadt. .
Petersß. Vörst.
Mosk. VoTst.
Mitauer Vorst.
18,216
27,155
41,348
15,871
17,T
36/5
15,5
17,094
34,493
89,338
14,894
17,8
3$,6
41„
15,5
1,133
3,662
2,030
977
16«
Zda
39„
14h
Total
103,590 100,0 95,809
100
10
6,781
100
>o
542
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867.
Tabelle IL
Gliederung <ier Gesammtbevölkerung nach dem Geschlecht.
In der
Stadt . . .
Petersb. Vorst.
Mosk. Vorst.
Mitauer Vorst.
Männliches Ge-
schlecht
abs. I in %.
17„
27,0
39,4
16,0
Weibliches Ge-
schlecht.
abs. 1 in %
Auf je 100 kommen
somit
männl. i weibl.
9,180
14,033
20,510
8,324
9,036
13,122
20,838
7,547
17,0
26,0
41„
14,9
49,«
48,3
50,4
47,6
Total .
52,047
100
>o
50,543
100
to
50„
49
/3
100
'0
Tabelle III.
Summarische Gliederung der Bevölkerung nach dem Familienstande,
für Civil und Militär geschieden.
Gesammt-Be-
Civil-
MiUtär-
Familienstand.
völkening.
Bevölkerung.
Bevölkernng.
abs. in %•
abs. in %.
abs. in %.
Ledig ....
59,746
58,a
55,453
57,9
4,293
63,3
Verheirathet . .
34,065
33,j
31,650
33,0
2,415
35,6
Verwittwet . .
8,402
8,a
8,333
8„
69
1,0
Geschieden . .
377
0,4
373
0,4
4
0„
^ Total . . .
102,590
100,0
95,809
100,0
6,781
100,0
Tabelle IV.
Gliederung der Bevölkerung nach Familienstand und Geschlecht,
für Civil und Militär geschieden.
Familienstand.
Gesammt-Be-
völkerung.
[ inännl. | weibl.
CivU-
Bevölkerung.
männl. I weibl.
Uilitär-
Bevölkerung.
männl. | weibl
Ledig . . .
Verheirathet .
Verwittwet .
Geschieden .
32,535
18,134
1,262
116
27,211
15,931
7,140
261
28,768
16,437
1,209
112
26,685
15,213
7,124
261
3,767
1,697
53
4
526
718
16
Total . .
52,047 50,543 46,526 49,283 5,521 1,260
Die Rigae^ Volkszählung vom 3. März 1867.
543
Tabelle V.
Gliederung der Bevölkerung nach Familienstand und Geschlecht, für
Civil und Militär geschieden, in Proc. auf Grundlage der Tab. IV.
Gesammt'Be-
Civil-
Hilitär-
Familienstand.
völkerung.
BevÖlkemng.
Bevölkerang.
männl.
weibl.
männl. weibl.
m&nnl.
1 weibl.
Ledig ....
62,5
53,0
61,8
54„
68,a
41„
Verheirathet . .
34,0
31,5
35;3
30,9
30„ i 57,0
Verwittwet . .
2.4
14m
2/6
14,5
1.0
1.3
Geschieden . .
0,2
0,5
0,3
0„
o„
Total . . .
IOOk,
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Tabelle VI.
Gliederung der Bevölkerung nach Familienstand und Geschlecht, für
Civil und Militär geschieden,
in Prfccenten auf Grundlage der Tabelle IV.
Familienstand.
Es kom^men auf je 100 Individuen der
Gesammt-Be-
völkerung
Civil-
Bevölkerung
Militär-
Bevölkerung
männl. I weibl. 1 männl. , weibl. . männl. j weibl.
Ledig . .
Verheirathet
Verwittwet
Geschieden
54„
53,j
15,0
30,8
45,5
46,8
85,0
69,j
51,9
48„
87„
51,»
48„
70,3
14,5
85,5
76,8
: 30,3
69„
100,0
12,3
29„
23,2
Total .
50,7 I 49.3
100
,0
48
,6
51,4
100,0
81,4
18
/S
100,0
Tabelle VII.
Summarische Gliederung der Bevölkerung nach ihrer Nationalität:
In der
Deutsche.
Roggen.
Letten.
Egten.
Jaden.
Andere.
Total.
Stadt. . . .
Pet. Vorst. . .
Mosk. Vorst. .
Mitauer Vorst.
12,300
11,896
13,022
6,762
2,072
4,901
16,408
2,391
2,790
8,633
7,363
5,413
191
389
242
50
388
602
3,385
879
475
734
928
376
18,216
27,155
41,348
15,871
Total . .
43,980
25,772
24,199
872
5,254
2,513
102,590
»44
Die Rigaer Volks^sählung vom 3. U^rz 1867.
Tabelle VIII.
Sanimarische Gliederung der Berölkerung nach ihrer Nationalität,
in Procenten auf Grundlage der Tabelle VII.
la der
Deutsche.
Kassen.
Letten.
Esten. Juden.
Andere.
Total.
Staat. . , .
28,0
8,0
11«
2U
7,4
18„
17rt
Pet. Vorst. . .
<
27,0
19,0
35„
44„
11,5
29«
26,5
Mosk. Vorst. .
29,«
68„
30,4
27,8
64,4
36„
40,3
Hitauer Vorst.
15,5
"f3
22,4
5n
16„
15,0
18,5
Total . . .
100,0
100«,
100,0
100,0
100,0
100«,
100«,
Tabelle IX.
Summarische Gliederung der Bevölkerung nach ihrer Nationalität
in Procenten auf Grundlage der Tabelle VII.
In der
Deutsehe.
Russen.
Letten.
Esten.
Juden.
Andere.
Total.
Stadt. . . .
67,5
11,4
15« •
1,.
2„
2,6
100h,
Pet. Vorst.. .
43,8
18„
31,8
u
2,2
2„
100,0
Mosk. Vorst. .
31,5
39„
17,8
0,e
8,2
2,2
100k,
Mitauer Vorst.
42,8
15„
34„
0,,
5«,
2,4
100,0
Total . . .
42„
25„
23«,
0,8
5„
2'»
100,0
Tabelle X.
Gliederung der Bevölkerung nach Nationalität und Geschlecht,
für Civil und Militär geschieden.
■
Civil-Be-
Militär-
Civü-
Uilitttr-
Kationalitttt.
völ-
Bevöl-
Berölkerang.
Bevölkerong.
kerung.
kerung.
mftnnl. weibl.
nüuuil. 1 weibl.
Deutsche . . .
43,(S46
434
20.410
28,136
262
172
Russen. . . .
21,275
4,497
10,573
10,702
3,847
650
Letten ....
23,264
935
11,473
11,791
701
234
Esten . ....
628
244
369
259
204
40
Juden ....
4,990
264
2,612
2,376
157
107
Andere . . .
2,106
407
1,089
1,017
350
57
Total . . .
95,809
6,781
46,526
49,283
5,521
1,260
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 186T.
545
Tabelle XL
Gliederung der Bevölkerung nach Nationalität und Geschlecht, fär
Civil und Militär geschieden,
in Procedten auf Grundlage der Tabelle X.
=s=MBi Mr-n-H'f==
Von der Gesammt-
CivU-
Mili-
Civil-
HUitär-
Ifl^ationalität.
Bevölkernng
kommen auf
Be-
völke-
tärbe-
völke-
Be-
völkerung.
Be-
▼ülkerung.
Civil. Militär.
i-ang.
rung.
niännl. weibl.
männl. weibl.
Deutsche . .
42,,
0,4
45,4
6,4
43„
47,0
4.8
13.,
Russen . . .
20„
4,4
22„
66,3
22„
21„
69„
51,6
Letten . . .
22,,
0,9
24,3
13,«
24„
23,9
12„
18,5
Esten . . .
0;6
0,a
o„
3,6
0,8
0,5
3„
3,2
Juden . . .
4„
o„
5,2
3„
5,6
4,e
2,8
8,5
Andere^ , .
2,,
0,4
2,2
6rt>
2,3
2„
6,3
4,5
Total . .
93,4
6/6
100,0
100«.
lOOrt,
100,«
100,0
100,0
10
Ort»
Tabelle XIL
Gliederung der Bevölkerung nach Nationalität und Geschlecht,
für Civil und Militär geschieden,
in Procenten auf Grundlage del* Tabelle X.
Von je 100 Jndividi
uen
Bei den
d. Gesammtbevöl-
der Civilbevöl-
der Militärbevöl-
kerung kommen auf
kerung sind
kerung sind
Civü. Militär:
männl. weibl.
männl. weibl.
Deutschen . .
99,0
1,0
46rt,
53„
76,0
24,0
Russen. . . .
82,5
17,4
49„
50,3
85,5
14,5
Letten ....
96„
3,9
49,3
ßo„
75k>
25rt)
Esten ....
72,0
28,0
58,8
41„
83,e
16,4
Juden ....
95,0
.5,,
52,3
47„
59,5
40,8
Anderen . . .
83,8
16„
51,7
48,3
86,0
14rt>
Total . . .
93,4
6rti
48.6,
51,4
81,4
18,,
10
0,e
10
0,0
10
0,.
546
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867.
Tabelle XIII.
Gliederung der Bevölkerung nach ihrer Confession.
'Es wurden gezählt:
In der
Pro-
testan-
ten.
Griech.
Ortho-
doxe.
Alt-
gläu-
bige.
Röm.-
Katholi-
sche.
Juden.
Anderer
Religion
u. ohne
Angabe.
Total.
Stadt . . .
Pet. Vorst. .
Mosk. Vorst.
Mit. Vorst. .
14,560
19,518
18,730
11,430
2,231
5,141
9,604
2,068
112
255
6,738
487
897
1,627
2,872
988
388
602
3,385
879
28
12
19
19
18,216
27,155
41,348
15,871
Männlich
Weiblich
31,137
33,101
11,679
7,365
3^021
4,571
3,372
3,012
2,779
2,475
59
19
52,047
50,543
Total .
64.238 19,044
7,592
6,384
6,5
6/0
5,254
78
102.590
Männlich .
Weiblich .
•
•
0
0
o
d
(—1
59,8
65,5
22,»
14,6
5,8
9,0
5,4
4,9
0,0-
100,0
100,0
Total .
62,5
18,6
7,4
6,2
5,.
0,,'
100.0
Männlich .^
Weiblich .
48,5
51,5
100,0
61,3
38„
39, g
60„
52,8
47 „
52,0
47„
75,6
24,4
50„
49,3
Total .
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
Tabelle XIV.
Gliederung der Bevölkerung nach ihrer Hingehörigkeit.
Es waren hingehörig nach:
In der
•
Riga.
Liv-,Est-
und
Kurland.
Anderen
Gouv.
Russl.
Deutsch-
land.
Dem
sonstig.
Ausland.
Un-
bekannt.
Total.
Stadt . . .
Pet. Vorst. .
Mosk. Vorst.
Mit. Vorst. .
11,298
17,143
27,337
9,950
4,155
6,864
7,921
4.046
1,162
1,509
4,257
986
1,087
1.244
1,403
• 693
245
254
260
160
269
141
170
36
18,216
27,155
41.348
15,871
Männlich
Weiblich
30,990
34,738
12,388
10,598
5,234
5,680
2,486
1,941
480
439
469
147
52,047
50^543
Total .
65,728
22,986
7,914
4,427
919
616
102,590
Männlich .
Weiblich .
•
0
o
o
u
0
>
59,5
68„
23,8
21,0
io„
5,3
4,8
3^8
0,9
0,9
0,9
P,3
100«,
100,0
Total .
64„
22,4
7,7
4,3
0,9
0,6
100,0
Männlich .
Weiblich .
47„
52^
53,9
46„
66„
33,9
56,2
43,8
52,2
47.8
76„
23,9
50„
49,3
Total .
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0
100,0 100,0
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867.
Tabelle XV.
Gliederung der Bevölkerung nach dem Alter.
547
Alters-
classen.
Gesammt-Bevölkerang.
Auf je 100 Individuen
Beide €te-
schlechter.
männliche.
1
weibliche.
kommen
männliche, weibliche.
0— 1 Jahr.
2,566
1,258
1,308
49,0
51,0
1- 2 „
2,016
982
1,034
48„
51,3
2- 3 „
2,105
1,046
1,059
49„
50,3
3-4 „
2,099
1,058
1,041
50,4
49„
4- 5 ,
2,017
1,023
994
50„
49,3
0 — 5 Jahr.
10,803
5,367
5,436
49„
50,3
5-10 „
8,831
4,391
4,440
49„
50,3
10 15 „
7,918
4,070
3,848
51,4
48,6
15 20 „
8,965
4,494
4,471
50„
49,0
20 25 „
9,302
4,963
4,339
53,4
46,6
25—30 „
10,127
5,659
4,468
55,9
44,.
30—35 ,
9,316
5,046
4,270
54,j
45,8
35-40 „
8,629
4,606
4,023
53,4
46,6
0—10 Jahr.
19,634
9,758
9,876
49„
50,3
10 20 ,
16,883
8,564
8,319
50„
49,3
20-30 ,
19,429
10,^22
8,807
54„
45„
30 40 ,
17,945
9,652
8,293
53,8
46,2
40 50 „
13,178
6,779
6,399
51,4
48,6
50 60 „
8,076
3,776
4,300
46,8
53,2
60 70 „
4,772
1,889
2,883
39,e
60,4
70 80 ,
1,902
632
1,270
33,2
66,8
80—90 „
463
144
319
31„
68,9
über 90 „
79
18
61
22,8
77,2
ohne Angabe
229
213
16
9ö,o
7,0
0 15 Jahr.
27,552
13,828
13,724
50,,
49,8
15—60 „
67,593
35,323
32,270
52,3
47„
über 60 „
7,445
2,896
4,549
38,9
61,,
Total .
102,590
52,047
50,543
SO^TI
49,3
IC
•0,0
646
Die Bigaer VolkBzfthlang vom 3. Mars 1807.
Tabelle XVL
Gliederung der BeTölkerung nach dem Alter, in Procenten auf
Grundlage der Tabelle XV*
Altett-
GeMOubt-Bevölk^raüg«
Von der Geaammt-
Bevölkemng kommen in
elassen.
beide Ge-
schlechter.
männlich.
weiblich.
Procenten anf
männlich. weiblich
0— 1 Jahr.
2.5
2,4
2„
u
1,3
1- 2 ,
2,0
1.«
2,0
u
Irt.
2- 3 ,
2/0
2,0
2„
1,0
Irt.
3- 4 ,
2,0
2#o
2.,
Irt)
Irt,
4- 6 ,
2.0
K
1
^19
1,0
Irt.
0—5 Jahr,
10,
io„
10.,
5.,
6,3
5-10 ,
8m,
8,4
8/8
4„
4,3
10-15 ^
7^
7,8
7„
4rt)
8n
15-20 ,
8«
8,«
8rt,
4,4
4,.
20—25 „
9„
9,5
8.«
4rt,
4,3
25—30 „
9„
10.,
8/9
5,5
4.«
30—35 „
9„
9„
8,4
4„
4.3
35—40 „
8,4
8„
8/0
4*
3,.
0—10 Jahr.
19.,
18„
19,5
9,5
9rt,
10-20 ,
16.4
16,4
16,5
8„
8„
20-30 „
19,0
20,4
• 17,4
10^
- 8rt,
30—40 «
17,5
18„
16.4
9.4
8„
40-50 ^
12.«
13,0
12„
6rt,
6,2
50—60 „
7„
7,3
8,5
3„
*n
60—70 „
4„
3-,
5„
U
K
70—80 ^
1.9
U
2,5
Ort,
1.3
80—90 ,
Om
0„
o„
0.,
0,3
über 90 ,
o„
Ort)
0,.
Ort)
o„
ohne Angabe
0,»
0,4
Ort)
o„
0,0
0-15 Jahr.
26,s
26,9
27,1
13,4
13,4
15-60 „
65„
67„
69^
34,4
31,5
über eo „
7,3
5,«
^/O
i.s
4,5
Total .
100h»
100,«
100,0
50„
49h
IC
•Ort,
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867. 549
Die vorstehenden 16 Tabellen geben Aufschluss über eine An-
zahl der interessantesten allgemeinen Ergebnisse der rigaer Volks-
zählung; auf die auszugsweise Wiedergabe der in den ^Resultaten**
in äusserst speciellen Combinationen durchgeführten Gliederung der
Bevölkerung nach dem Beioif, sowie auf eine Anzahl anderer com-
binirter Darstellungen musste hier aus räumlichen Gründen ver-
zichtet werden. — Es wird nun in Folgendem unsere Aufgabe sein,
durch einige kurze Erläuterungen und ergänzende Bemerkungen
den im Lesen statistischer Tabellen weniger Geübten das Verständniss
der mitgetheilten Zählungsergebniöse zn erleichtern.
Es wurden (s. Tabelle I und II) am 3. März 1867 in allem
102,590 Bewohner Riga's gezählt. Diese Zahl weicht ziemlich be-
deutend ab von den auf anderem Wege ermittelten amtlichen An-
gaben, welche für das Jahr 1866 die Bevölkerungszahl auf nur
81,750, für 1867 freilich aber schon auf 97.672 Einwohner feststellen.
Die bedeutende Verschiedenheit der beiden letzteren Angaben lässt
auf grosse Unzuverlässigkeit der amtlichen Ermittelungen, wenigstens
für die früheren Jahre, schliessen; doch verdient bemerkt zu wer-
den, dass die polizeiliche Angabe für die männliche Bevölkerung
des Jahres 1867 fast völlig übereinstimmt mit den Zählungsergeb-
nissen (52,056 gegen 52,047), die Differenz der Gesammtzahlen somit
nur durch die unvollständige Ermittelung der weiblichen Be-
wohnerschaft (45,616 statt 50,543) bedingt worden ist. Wir begegnen
hier wiederum jener eigenthümlichen amtlichen Vernachlässigung
des weiblichen Geschlechtes, die schon zu manchen Irrthümern in
der Populationistik Veranlassung gegeben hat: so wurden beispiels-
weise zwei der Hauptbegründer dieser Wissenschaft, Hoffmann und
Gioja, durch unrichtige Angaben über das Geschlechtsverhältniss der
Geborenen und Gestorbenen, und zwar ersterer in Betreff der jüdi-
schen Neugeborenen Preussens, letzterer durch die älteren Daten
des Synods über die Bevölkerungsbewegung Russlands getäuscht und
zu falschen Folgerungen verleitet.
Auffallen muss die relativ geringe Bevölkerung der eigentlichen
Stadt im Vergleich zu den Vorstädten: abgerechnet die in der
Citadelle wohnhaften 1,215 Personen betrug die Bewohnerzahl der
Stadt nur 17,001, d. h. 16^% der Gesammtbevölkerung Riga's, —
und auch mit Einrechnung der Citadelle entfallen auf die Stadt (nach
Tabelle I) nur 17,7 7o« Der Grund hierfür ist vorzugsweise in
dem Umstände zu suchen, dass der genannte Theil Riga's von der
durchschnittlich relativ weitaus wohlhabendsten und daher gesteigerte
Baltische Monat08ehrif^ K. Folge, Bd. I, Heft 11 u. 12. 37
550 Die Rigaer Volkszählung vom 8. März 1867.
Ansprüche ron Wohnungsbequemlichkeit machenden Bevölkerung
bewohnt wird,- dass femer die zahlreichen und weitläufigen Ge-
schäftslocale und öffentlichen Gebäude einen grossen Theil des
Raumes absorbiren. *)
Die Militärbevölkerung ist nicht ganz gleichförmig über die ge-
sammte Stadt verbreitet : die petersburger Vorstadt beherbergt relativ
(und absolut) am meisten Militär, die moskauer Vorstadt relativ am
wenigsten, üebrigens unterliegt bei der grossen Beweglichkeit der
Militärbevölkerung dieses Verhältniss häufigen Veränderungen.
Das Geschlechtsverhältniss der Gesammtbevölkerung (50^7 %
männl. gegen 49,3% weibl.) weicht stark von dem aus der amtlichen
Angabe über die gleichzeitige Bevölkerung ganz Livland's resultirenden
Verhältniss (48,4% männl. gegen hl^ % weibl.) ab; letzteres stimmt
dagegen fast genau mit den für die Civilbevölkerung Riga's gelten-
den (4S^ % männl. gegen 51,4 % weibl.) überein, während die
Militärbevölk <^rung erklärlicherweise ein überaus starkes Ueber-
wiegen des männlichen Geschlechtes (81,4 % männl. gegen 18,« %
weibl.) aufweist (vergl. Tab. XII). — Die einzelnen Theile Riga*s
zeigen auch hier grosse Verschiedenheiten, und zwar weichen die
moskauer und die mitauer Vorstadt am meisten vom Mittel ab,
erstere mit einem Minus, letztere mit einem Plus für die männüche
Bevölkerung. Für die moskauer Vorstadt liegt der Grund dafür
in der besonders zahlreichen altgläubigen Bevölkerung derselben
(s. Tab. XIII.), die (für ganz Riga) das eigenthümliche Verhältniss
von 39,8 % männl. gegen 60,2 % weibl. zeigt. Das relativ starke
Ueberwiegen des männlichen Geschlechts in der mitauer Vorstadt
erklärt sich dagegen vorzugsweise durch das besonders ungünstige
Geschlechtsverhältniss bei der dortigen Militärbevölkerung (90,9 %
männl. gegen nur 9,i % weibl.) sowie durch das Zuströmen männ-
Ucfaer Schiffsarbeiter.
Die Gliederung der Bevölkerung nach dem Familienstande
(Tab. in — VI) zeigt manche Abnormitäten, und zwar nicht nur beim
Militär, wo abweichende Verhältnisse nicht auffallen können, sondern
auch bei der Civilbevölkerung. Gehen wir zunächst auf die letztere
ein, so ist es jedenfalls als Unnatur zu bezeichnen, dass bei den
Verfaeiratheten an Zahl das männliche Geschlecht, und zwar
•) Ueber die grellen Yerschiedenheiten der Wohnungsverhältnisse der ein-
zelnen Theile Riga's vergl. die „Gebäudestatistik der Stadt Riga für das Jahr
1866, herausgegeben von Fr. v. Jung-Stilling.«
Die Rigaer YolksEählung vom 8. Mära 1867. 551
bedeutend, tiberwiegt (51,9 % männl. gegen 48,i % weibl.), so da«
selbst unter der ohne Zweifel nicht zutreffenden Voraussetzung, dass
sämmtliche Männer der 15,213 Frauen ebenfalls in Riga lebten,
sich doch noch 1,224 verheirathete , von ihren Familien getrennte
Männer daselbst aufhielten. — In genau demselben Verhältniss tiber-
wiegt auch bei den Ledigen das männliche Geschlecht. Der Zu-
wachs, den die Bevölkerung Riga's durch von auswärts herstam-
mende Schüler, Lehrlinge, Arbeiter u. s. w. erfährt, veranlasst ohne
Zweifel diese Verhältnisse: Tabelle XtV zeigt, däss bei allen nach
Riga nicht hingehörigen Einwohnern das männliche Geschlecht sehr
stark tiberwiegt, während für die eigentlichen Hingehörigen der Stadt
das gerade entgegengesetzte Verhältniss eintritt. — Wenn nun aber
trotz alledem bei der Civilbevölkerung im Ganzen dennoch das
weibliche Geschlecht überwiegt, so wird (abgesehen von den 0,4%
der Geschiedenen) dieser Effect hervorgerufen durch den Umstand,
dass von den zahlreichen (8^333) Verwittweten nicht weniger als
8Ö/5 % (7,124) auf das weibliche Geschlecht entfallen, d. h. es wur-
den nahezu sechsfach mehr Wittwen als Wittwer gezählt« Auch der
Geschiedenen, die aber ihrer relativ geringeren Zahl wegen hier
weniger ins Gewicht fallen, giebt es 'noch nicht halb so viel Männer
als Frauen. Trotz der bekannten Thatsache, dass Wittwer und ge-
schiedene Männer, selbst vorgerückteren Alters, selir viel häufiger
zu erneuten Ehen schreiten, als die Frauen der entsprechenden
Kategorie, — muss doch die grosse Anzahl der letzteren (15 % der
weiblichen Civilbevölkerung) auffallen, und zwar um so mehr, als
beispielsweise in Reval, wo nach Kluge's „Biostatik" von 1834 bis
1862 gegen 1,383 Wittwer nicht weniger als 1192 Wittwen von
neuem heiratheten, offenbar in dieser Hinsicht ganz andere Verhält-
nisse herrschen.
Wenden wir uns nun zu der Militärbevölkerung, so bemerken
wir im Voraus, dass zu derselben bei der Zählung jedenfalls nur
das aetive Militär (mit Ausschluss der Urlauber und der Verabschie-
deten) sowie entsprechend die Frauen und Kinder solcher Militär-
personen (a^ich der nicht in Riga anwesenden) gerechnet worden
sind. Nur unter der Voraussetzung, dass dieses, wenn consequent
durchgeföhrt, wohl auch nicht unrichtige Princip bei der Registrirung
eingehalten worden, lassen sich die Zählungsergebnisse und die Ab-
weichungen derselben von der, im Uebrigen offenbar noch höchst
Itickenhaften polizeilichen Angabe tiber die Militärbevölkerung des
Jahres 1867 erklären. Die letztere entziffert: reguläre Truppen:
37*
552 Die Bigaer Yolkszählnng vom 3. März 1867.
5,401 m., Beurlaubte: 1^32 m., verabschiedete Untermilitärs mit ihren
Familien: 1,345 männl. und 3,286 weibl., endlich Soldatenkinder
und Cantonisten: 827 männl., — zusammen: 8,705 männl. und 3,286
weibl. Es fehlen aber in dieser Aufzählung die in Riga sich auf-
haltenden Familien der zu den aufgeführten „regulären Truppen"
gehörigen Personen und der Beurlaubten, sowie die zurückgebliebenen
Familien der nicht in Riga stationirten Militärs. Als „reguläre
Truppen" werden in den Polizeiberichten für die Jahre 1864 — 1869
in veränderlicher Zahl 4,764 — 6,322 Mann aufgeführt, — die bei
der Zählung registrirten 5,521 Militärpersonen gehören daher wohl
ausschliesslich den „regulären Truppen* (incl. die Soldatenkinder
und Cantonisten?) an^ und sind demgemäss die als zur weiblichen
Militärbevölkerung Riga's gehörig verzeichneten 1,260 Personen zu
betrachten als die Frauen und Töchter der zu den (in- und ausser-
halb Riga's stationirten) „regulären Truppen" Gehörigen ; die Söhne
derselben wären darnach mit enthalten in der Rubrik der ledigen
männlichen Militärbevölkerung. Die „Beurlaubten^ und „Verab-
schiedeten" der Polizeiberichte, sowie deren Familien sind ersicht-
licher Weise einfach nur in derjenigen Berufskategorie (der Mehrzahl
nach wohl als „Arbeiter") verzeichnet worden, der sie sich vorzugs-
weise gewidmet hatten.
Die Familienstandsverhältnisse der gezählten Militärbevölkerung
sind ganz abnormer Natur: die weibliche Bewohnerschaft kann nur
zum Theil als zu der stationirten männlichen gehörig betrachtet
werden, und ist daher der im Vergleich zur weiblichen Civilbevöl-
kerung colossal hohe Procentantheil der Verheiratheten (57^®/o gegen
30;9%) nur durch das temporäre Cölibat eines Theiles der „Soldaten-
weiber", und aus deren daher nur geringer Einderzahl zu erklären.
Der Procentantheil der ledigen Männer übersteigt begreiflicherweise
bedeutend die Angabe der entsprechenden Rubrik für die Civilbe-
völkerung (68^ 7o gegen 61^8 7o).
Die Darstellung der Gliederung der Bevölkerung Riga's nach
Nationalitäten (in den Tabellen VII— XIV) bedarf nur weniger er-
läuternder Bemerkungen. Wir ersehen zunächst, dass die deutsche
Bevölkerung (43,990) in wechselnden Antheilen (15,* % — 29^ 7o)
über alle Theile Riga's verbreitet ist, da^s sie ferner mit 67,5% die
absolute Majorität hat in der in allen Stücken maassgebenden
eigentlichen Stadt (incl. Citadelle), und ausserdem, die relative in
der Gesammtbevölkerung und in zwei Vorstädten: der Petersburger
und der mitauer. — Die russische Bevölkerung (25,772) wohnt
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867. 553
vorzugsweise in der moskauer Vorstadt (63,x VoJ, und hat in der-
selben auch mit 39,7% die relative Majorität. — Die Vertheilung
der lettischen Bevölkerung (24,199) bietet wenig Charakteristisches ;
relativ der grösste Procentantheil derselben (35;7 %) wohnt in der
Petersburger Vorstadt, — die relative Majorität hat sie, wie aus
Obigem hervorgeht, in keinem der Theile der Gesammtstadt. — Die
jüdische Bevölkerung (5,254) ist (mit 64,4% derselben) vorzugs-
weise in der moskauer Vorstadt concentrirt. — Die Esten und
„Anderen^ kommen wenig in Betracht. — Die absolute Majorität
der Deutschen in der eigentlichen Stadt tritt noch auffälliger hervor,
wenn die einzig nur militärischen Zwecken dienende Citadelle aus-
geschieden wird: es kommen dann auf eine Bevölkerung von 17,001
Personen 12^210 (71,8 7o) Deutsche, 1,257 (7,^ 7o) Russen, 2,632
(15,5%) Letten (meist der dienenden Classe angehörig: vergl. Tab. 43
der „Resultate**) und 902 (5,8 %) Personen verschiedener sonstiger
Nationalität.
Von der Civilbevölkerung bilden (mit 45,4 %) die Deutschen
die relative Majorität, — es folgen dann die Letten (24,3%), ^^
dritter Reihe die Russen (22,2 Vo)- Dagegen haben die letzteren
eine starke absolute Majorität (mit 66,3 7o) bei der Militärbevölke-
rung, — auf sie folgen die Letten (mit 13,8 %) ußd die Deutschen
(mit nui' 6,47o)* ^^^ Militär gehören somit 17,4 % der Russen,
3/9 % der Letten, aber nur l,o % der Deutschen Riga's an.
Nach Confessionen (s. Tab. XIII) gliedert sich die Bevölkerung
Riga's in der Weise, dass 62,«% den Protestanten angehören; die-
selben bilden daher eine starke absolute Majorität. Es wurden zu
dieser Bezeichnuhg zusammengefasst 63,127 Lutheraner, 1,028 Re-
formirte, 77 Anglikaner, 4 einfach als ^Protestanten" Eingetragene,
und 2 Baptisten. — Der griechisch-orthodoxen Confession ge-
hörten (mit Einschluss von 45 Eingläubigen und 1 Griechisch-
Unirten) 18,« % ^^^ Bevölkerung an. Auffällig ist bei den Griechisch-
Orthodoxen das starke Ueberwiegen des männlichen Geschlechtes
(61,3 7o männl. gegen 38,7 % weibl), erklärt wird dasselbe durch
die zahlreiche Vertretung dieser Confession beim Militär. Weniger
leicht zu erklären ist das abnorme entgegengesetzte Gesqhlechtsver-
hältniss (39,8% männl. gegen 60,2 7o weibl.) bei den Altgläubigen
(7/4 7o dör Bevölkerung). Die Juden bilden, trotz der nicht sehr
alten unbeschränkten Ansiedelungsberechtigung derselben , bereits
5/1 7o d^r Bevölkerung.
SÖ4 Die Rigaer Volkazählung vom 3. MMz 1867.
Die politische Hingehörigkeit der Bewohner Riga's veranschaa-
licht Tab. XIV. Nach derselben gehörten nach Riga selbst 64,iVo
der Gesammtbevölkerung ; das weibliche Geschlecht übei wiegt ziem-
lich starke theilweise erklärlich durch die zahlreichen Altgläubigen
mit einem Plus von 1,550 Personen für jenes Geschlecht. Es ge-
hörten ferner den Provinzen Liv-^ Est- und Kurland zusammen
22,986 Personen (22,4 % ^^^ Bevölkerung) an, und zwar dem Patri-
monium Riga's: 284, dem übrigen Livland: 12,487, Kurland: 9,893
und Estland: 322. — Aus anderen Gouvernements Russlands stami^-
ten 1,1 % ^^^ Bevölkerung; hier überwiegt aus dem bereits obe^
angeführten Grunde des starken Antheils am Militär sehr bedeutend
das männliche Geschlecht (66,| % männl. gegen 33^9 7« weibl.). —
Dem Auslande gehörten 5,346 Personen (5,2 V» der Bevölkerung) an,
und swar stammten aus Deutschland 4,427 (4,3 Vo) und aus dem
übrigen Auslande (incl. 160 einfach als „Ausländer^ Eingetragene)
919 Personen (O^^VO- — Ohne Bezeichnung der Hingehörigkeit
waren endlich 616 Personen geblieben (0,6 Vo der Bevölkerung).
Ausnahmslos bei allen nicht nach Riga Hingehörigen überwiegt,
und zwar zum Theil sehr stark, das männliche Geschlecht, eine Er-
scheinung, die stets beobachtet wird bei zu geschäftlichen Zwecken
Einwandernden.
Die summarische Gliederung der Bewohnerschaft Riga*s nach
dem Alter vergegenwärtigen die Tabellen XV und XVI. Es sei
hier die Bemerkung vorausgeschickt, dass bei solchen Bevölkerungen,
die durch Aus- und Einwanderung keine Veränderungen erleiden,
wo somit Geburt und Tod die einzigen Factoren des Bestandes und
der Altersvertheilung bilden, als normal angesehen wird, dass der
bei den Neugeborenen stets^beobachtete üeberschuss von 4 — 7 7» a^
Knaben durch etwas stärkere Sterblichkeit des männlichen Geschlechts
in der ersten Kindheit ungefähr bis zum 15. Lebensjahre ange-
glichen wird; die sodann eingetretene numerische Gleichheit der
beiden Geschlechter dauert etwa 30 Jahre lang, also während der
Hauptperiode der Zeugungsthätigkeit^ worauf, etwa vom 45. bis zum
50. Lebensjahre an, durch stärkere Sterblichkeit des männlichen Ge-
schlechtes ein nach den höheren Altersclassen zu stets sich steigernden
numerisches üeberwiegen der gleichalterigen weiblichen Bevölkerung
eintritt. Es dürfte hier zu weit führen und beim Mangel fester An-
haltspunkte auch kaum räthlich erscheinen, den muthmaasslichen
oder wahrscheinlichen Ursachen der einzelnen Abweichungen ,v(m
obiger Norm, die uns bereits ein flüchtiger Blick auf die beiden
Die Rigaer Volkszählung vom 3. März 1867. 555
Tabellen an der Bevölkerung Riga's erkennen lässt, im Speciellen
nachspüren zu wollen, — es werden daher einige Andeutungen ge-
nügen müssen. Zunächst scheint^ und zwar ist das ein ungünstiges
Anzeichen für die allgemeinen Erü'ährungsbedingungen, und daher
für die Sterblichkeits Verhältnisse im ersten Lebensalter — dass die
numerische Gleichheit der beiden Geschlechter sich schon sehr
früh herstellt; vom 10. bis zum 15. Jahre stellt sich sodann ein
Ueberwiegen des männlichen Geschlechts ein (in Folge des Zu-
str Omens von auswärtigen 6chülem zu den Lehranstalten der Stadt?),
welches während der 2. Hälfte des 2. Jahrzehents sich wiederum
verringert (durch Abzug jener Schüler?); vom 20. Lebensjahre an
beginnt ein starkes, in der Periode vom 25. bis zum 30. Jahre seinen
Höhepunkt erreichendes Ueberwiegen des männlichen Geschlechtes,
ohne Zweifel in Folge der Stationirung des nicht aus Riga herstam-
menden zahlreichen Militärs und des Zuströmens von Arbeitern vom
Lande her* Dieses Ueberwiegen gleicht sich erst in der Alters-
periode von 40 bis 50 Jahren durch Abzug der Fremden und nach
den allgemeinen Gesetzen der Sterblichkeit wiederum aus, und es
beginnt in Folge der grösseren Lebenszähigkeit des weiblichen Ge-
schlechtes ein schnell sich steigerndes numerisches Ueberwiegen
desselben. Als älteste Bewohner Riga's sind verzeichnet eine
103 Jahre alte lettische Wittwe und zwei russische Wittwen im
Alter von sogar 107 Jahren.
Zum Schluss glauben wir auf die kurze Darstellung der Berufs-
verhältnisse der Bevölkerung Riga's in der ^Nordischen Presse^
(Nr. 198 des Jahrgangs 1870) aufmerksam machen zu sollen. Die
daselbst veröffentlichten Tabellen sind zum Theil auszugsweise den
einen werthvollen BestandtheM des Archivs des städtischen statisti-
schen Btbreaus bildenden Bearbeitungen des Materials der ^Resultate^
entnommen, welche, in sehr umfangreichen und daher zur voUstäiir
digen Veröffentlichung wenig geeigneten Tabellen verschiedener Art,
graphischen Darstellungen etc. bestehend, stets in liberalster Weise
einem jeden Interessenten zur Einsicht und Benutzung mitgetheilt
worden sind.
Dr. O. Brasche,
Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.
Unter dem Titel: ^Bischof Dr. Ferdinand Walter, Super-
intendent von Livland, ein kurzer Abriss seines Lebens und Wirkens,
mit Portrait", ist endlich eine Biographie Walter's in Eise-
nach bei Bacmeister erschienen, deren ungenannter Verfasser
augenscheinlich zu den ältesten Freunden und Amtsgenossen des
Verstorbenen gezählt hat. In der Hoffnung, dass die Zukunft eine
ausführliche Biographie Walter's bringen werde, wünscht der Ver-
fasser dem bisherigen Mangel einer solchen durch diesen Lebens-
abriss, als einer Vorarbeit zu jener, zu begegnen.
Die 60 Druckseiten lange Brochüre ist mit Liebe und Hingebung
für den Verstorbenen, aber auch mit Ernst und Kritik geschrieben,
wie es dem Freunde und Biographen geziemt, der nicht nur lobt,
sondern auch sichtet und säubert. Wer Walter gekannt hat, weiss
es, dass auch er, wie alle bedeutenderen Naturen, viel mit sich selbst,
mit seinen starken und heftigen Neigungen zu kämpfen hatte, ehe
er zum primua inter pares heranreifte. In die Tiefe der walterschen
Natur eingehend zeichnet dieser Leb^sabriss den Verstorbenen von
der Wiege bis zum Grabe als Kämpfer und Arbeiter, nicht nur in
Pflicht und Amt, sondern auch in seinem eigenen Selbst, und be-
gleitet ihn durch Schule, Universität und Candidatenleben bis zur
ersten Pfarre in Neuermühlen, als der ersten besonderen Liebe und
Idylle seiner damit abschliessenden Jugend; erzählt dann von Wal-
ter's grossartigem Wirken in Wolmar, seiner Geburtsstadt, welche
ihn 1833 zum Pastor prim. vocirt hatte, behandelt weiter Walters
Wirksamkeit in Petersburg als Mitglied des General-Consistoriums
und endlich sein Leben und seine Arbeit an der Spitze der livlän-
dischen evangelisch -lutherischen Geistlichkeit in Riga, — bis dann
nach erfolgtem Rücktritt vom Amte des Superintendenten der alternde
und gebrochene Greis im Juni 1869 seine Erdenlaufbahn abschliesst.
Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter. 567
Fast 69 Jahre dieses Jahrhunderts, in dessen erstes Jahr Walter's
Geburt fällt, ziehen hier |an dem Leser vorüber und recapituliren
den älteren Zeitgenossen längst vergangene Zeiten früherer livlän-
discher Harmlosigkeit, dann schweren ernsten Kampfes und noch
fortgehender Arbeit. Schwerlich dürfte jemand diese Lebensskizze
anders als mit besonderer Befriedigung in dem Gedenken der eigenen
Erfahrungen aus der Hand legen ; gehört es doch zur Lieblingslectüre
der Aelteren, Biographieen und gerade solche der Zeitgenossen zu
lesen und sie sich zu eigen zu machen, indem sie dabei auf den
eigenen Lebensgang mit zurückschauen.
Als Ferdinand Walter am 29. Juni 1869 plötzlich verstarb und
die Kunde hiervon auch zu mir gedrungen war, schrieb ich .das-
jenige eiligst nieder, was in meiner Erinnerung von dem theuren
Todten lebte ; war es mir doch vergönnt gewesen, 13 Jahre lang mit
ihm an einem Orte zu leben und zusammen zu wirken; ich hoffte
dabei beim- Erscheinen einer walterschen Biographie vielleicht mit
dieser Aufzeichnung dienlich zu werden. Dieser Augenblick scheint
jetzt gekommen zu sein, und indem ich den Lebensabriss Walter's
hiermit seinen Freunden und Anhängern empfehle, füge ich selbiger
als Ergänzung hier nachfolgend hinzu, was an sich nur Bedeutung
haben kann wenn man dazu die Brochüre selbst in ersten Be-
tracht zieht.
Während diese den Lebensgang, die Entwickelung und Be-
deutung des Theologen und Philosophen Walter in biographischer
Ordnung und objectiver Darstellung vorführt, sollen meine Aufzeich-
nungen, unmittelbar aus der Erinnerung gegriffen und miterlebt, die-
jenigen, welche Walter garnicht oder nur wenig gekannt haben,
dazu anregen, dessen Leben und Bedeutung durch die Leetüre des
vorliegenden Lebensabrisses näher kennen zu lernen und vielleicht
durch einige charakteristische Lebenszüge das Bild des Verstorbenen
dem Leser im Einzelnen weiter ausmalen.
Von solchem Wunsche getrieben folgen denn hier Erinnerungen
an Bischof Dr. Ferdinand Walter aus den Jahren 1834 bis 1869.
Wolmar, auf dem 'hohen, rechten Ufer der liv ländischen Aa
gelegen, ein kleiner Ort von etwas über 1000 Einwohnern, war der
Geburtsort Walter's, wo dessen Familie seit vielen Jahren durch
Verwaltung des Pfarramtes und der medicinischen Praxis eines be-
sonderen Ansehens genoss, zwei seiner Schwäger in den 30er Jahren
dieses Jahrhunderts überdies an äer örtlichen Kreisschule als Lehrer
fungirten und 4 seiner Schwestern lebten.
8S8 Eriimerutigen an Bisehof Dr.* Ferdinand Walter.
Wenn daher der Verfasser der vorliegenden Lebensskizse es
ausspricht: ^der Name Walter ist besonders für die Stadt Wolmar
in einer langen Reihe von Jahren zu reichem Segen geworden, dessen
sie sich noch heute erfreut^ — , so kann ich dazu ergänzend an-
führen, dass der spätere Professor Julius Walter ebenso wie der
noch lebende Professor Piers Walter — ersterer als Prediger, letzterer
als Stadtarzt von Wolmar thätig gewesen sind, ' dass ferner der
hallesche Professor Eduard Erdmann, der als Stadtprediger Wolmar
verliess um als Professor der Philosophie nach Deutschland überzu-
siedeln, und dessen Bruder Johann (Wanha) Erdmann, der als
wolmarscher Stadtarzt im Jahre 1847 die Professur der Therapie
in Dorpat antrat, die Schwestersöhne Walters waren.
So war seit längerer Zeit Wolmar der Sitz der zahlreichen wal-
terschen Familie, wie diese wiederum den Mittelpunkt für die Ein-
wohnerschaft und Umgebung des kleinen Ortes selbst bildete. Reges
geistiges Leben zeichnete das Städtchen vor andern aus. Tüchtige
musikalische Eräfde lebten und wirkten hier und eine geschätzte
Schul- und PensiQnsanstalt zog Schüler aus weiteren Kreisen hierher,
so dass diese kleine Stadt bald zu dem Ehrennamen „Neu-Athen^
gelangte, in welchem Kunst und Wissenschaft, kirchliches Leben und
gesellige Freuden reichlich zu finden waren und besondere Pflege
genossen. In diesen Kreis trat ich im September 1834 ein, als
gerade in allen erwähnten Beziehungen eine besondere geistige
Blüthe sich entfaltet hatte. Walter selbst, damals 33 Jahre alt, auf
der Höhe seines Lebens, war ein Jahr zuvor als Pastor primaxius
von Neuermühlen in seine Vaterstadt vocirt worden. — Er zeigte
sich in seiner vollen Kraft, hoch und stark gewachsen, mit edlem
Gesichtsausdruck, einer sonoren Basstimme und tiefblickenden blauen
Augen, deren Ausdruck ernst und freundlich zugleich war. In dem,
der Lebensskizze vorangestellten Portrait zeigt sich dieser Ausdruck
in sofern nicht zutreffend, als hier die Augen dunkel erschein^
während sie heller ausschauten und auch so in den bekannten Bil-
dern wiedergegeben sind. Walter's Name hatte damals bereits einen
besonders guten Klang, aber noch war er nicht der erste unter den
Gleichen, noch stand er auf der ersten Stufe jugendlichen Strebens
and riss sein stürmischer Charakter ihn zuweilen fort. Auf der
Kanzel und den Predigersynoden zeigte sich bereits seine Be-
deutung, aber auch mancher Anstoss wurde an ihm gerügt, wenn er
im Feuer seiner Rede ausschritt. ' Auf einer der Predigersynoden,
als Walter wieder einmal seinen Amtsbrüdem schonongslos au Leibe
Erixüii6»iiigeii ta Bisehof Dr. Ferdinand Walier. M9
I
gegai^en war, hatte deshalb der ältere ^ Bruder Julius zu rechter
Zeit das Wort ergriffen und den Bruder als Ritter ohne. Furcht,
abejr nicht ohne Tadel bezeichnet, was Heiterkeit erregt und die
Gemüther wieder besänftigt und ausgeglichen hatte. Die Sturm-
und Drangperiode seines Lebens war zwar grösstentheils über-
wunden als ich Walter im Jahre 1834 kennen lernte, aber die
Löwennatur zeigte sich denn doch noch und kannte dann weder
fremde noch eigene Schonung.
Seine Amtsbrüder blickten mit Staunen und Verwunderung auf
seine Amtsthätigkeit, und ich habe es oft genug von ihnen aus-
sprechen faOren, dass sie schon um der körperlichen Kräfte willen
nicht im Stande seien, es ihm einigermaassen nachzuthun. — Es war
für ihn der Sonntag ein Arbeitstag rom frühen Morgen bis an den
Abend; um 9 Uhr morgens deutscher Gottesdienst, um 12 Uhr
lettischer, demnächst oftmals estnischer für diejenigen wenigen Esten,
die in einem Tbeile des miteingepfarrten Gutes Eokenhof lebten.
Eskiisch hatte Walter eigens soweit für diese Esten erlernt^ um
ihnen gelesene Predigt und Abendmahl bieten zu können. Weiter
folgten dann die Ämtshandlungen, der Gefängnissgottesdienst, und
endlich noch in der Zwischenzeit Chorstunden in der sogenannten
„Kambur**, Ton welcher weiter unten die Rede sein soll. Da be-
greift es sich denn, dass wenn Walter abends noch in Gesellschaft
erschien, er vollkommen heiser und erschöpft war; — und jene
H^serkeit, die später niemals gänzlich aus seiner Stimme schwand,
daürt aus dieser Zeit der Ueberanstrengung. Redete man ihn darauf
an: er solle sich schonen, auf diese Weise könn» er es denn doch
nieht lange mehr treiben, so antwortete er: „lebt man nicht in die
Länge, so lebt man doch in die Breite,^ und zog er sich dann Sonn-
tags abends erschöpft zurück, so erbat er sich noch leichte Leetüre,
deren er bedürfe, um seinen erregten Geist zu beruhigen und andere
Mndrücke aufzunehmen.
Walter's oft bewunderte Beredsamkeit und Gewalt der Rede
war ihm nicht angeboren, sie war das Productr grossen Fleisses, der
übrigen Fülle seiner Gaben und seiner Ueberzeugungstreue , was
alles der Verfasser der walterschen Lebensskizze trefSich zuis^mmen-
gestellt und im Einzelnen nachgewiesen hat. Seine Predigt war
oftmals das Product seiner Erlebnisse aus dem Laufe der zwischen-
liegenden Woche und man konnte geradezu darin zuweilen die Ant-
wort auf ihm Torgelegte Fragen und Zweifel erkennen. Der Satz*
bau seiner Reden war meist schwerfällig und rersohoben^ weshalb
660 Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.
sich die Reden beim Lesen nicht wohlthuend zeigten; aber aas
seinem Munde gehört und wenn er warm sie vortrug, riss Walter
alles mit sich fort und ward dann jenes eigenthümliche Brausen in
der Gemeinde vernehmlich, welches bei besonderer Erregung grösserer
Versammlungen zuweilen entsteht und dann den Redner selbst
weiter hebt und anregt. Walter's vorwiegend philosophische Bildung
verleitete ihn oftmals, religionsphilosophische Themata auf die Kanzel
zu bringen, aber sein praktischer Sinn wusste dann zu rechter Zeit
auch dem anderen Theile der Gemeinde sich zuzuwenden und An-
wendung aufs Leben zu machen. Im Disput aber zeigte sich bald
seine Ueberlegenheit in Beherrschung der Logik, Dialektik und
Psychologie. Diese Erfahrung konnte jeder machen, der den Mitt-
woch-Abenden im wolmarschen Pastorate beigewohnt hatte. An
diesen Abenden versammelte sich nämlich ein Kreis von Literaten
des Ortes, um gemeinschaftlich „schwere Leetüre zu machen**.
Solche schwere Lecttlre war die Bedingung, von welcher Walter
nicht abging, denn, sagte er, bei leichter Leetüre verziehe sich all-
mälig der Leserkreis, liege aber philosophisches Material vor, so
müsse besondere Aufmerksamkeit und gemeinschaftliches Denken
wach bleiben und zusammenhalten. Auf diese Weise wurden dann
Hegel, Herbart, Humboldt, Strauss, Erdmann u. s. w. gelesen und
von den weniger Geübten fleissig zuvor und nachher bearbeitet,^ um
der Leetüre folgen zu können. Gab dann aber eine dabei zur
Sprache gebrachte Frage besonderen Anlass, so eröffnete sich die
Debatte, welche oftmals bis in die Nacht währte und Walter's Dia-'
lektik aufs Glänzendste ins Licht stellte.
Mancher unklare Zweifler hat aus diesen unvergesslichen Aben-
den, welchen sich zumeist auch Auswärtige anschlössen, reiche Frucht
für sein inneres Leben heimgetragen, wozu sich mehrfache Beispiele
aufzählen Hessen. Walter aber war und blieb stets dis Seele dieser
Abende und mochte derselben auch für sich selbst nicht entbehren.
In Walter's Gottesdiensten fehlte nicht leicht ein Bewohner oder
Umwohner Wolmar's,^nd trieb nicht alle Gottesfurcht und religiöses
Bedürfhiss dahin, so doch die stets tiefe Lebensanschauung und der
Reichthum walterscher Aus- und Durchführung der Glaubenslehren.
Dieses allseitige Eingreifen Walter's in die Gemeinde nach oben
und nach unten brachte es denn auch von selbst zu Wege, dass alle
Autoritäten des Ortes einander in die Hand arbeiteten und am
Mittwoch- Abend sich ihre Erfahrungen und Wünsche mittheilten;
und nicht leicht konnte, wo Geistlichkeit, Lehrer, Aerzte und Obrig-
Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter. 661
«
keit in stetem Austausche lebten, sich jemand am Orte verlassen
fühlen, böse Saat unbeachtet aufwuchern, oder brauchbare Kraft
unberücksichtigt bleiben.
Aus den vielen dabei mitunterlaufenden Curiosis, welche ein-
zelne am Leseabend zum Besten gaben, möchte ich hier zur Cha-
rakteristik des ernsten Walter eines Vorgangs Erwähnung thun,
welcher ihn als Ritter ohne Furcht zeigt. Ein kirchenfeindlicher,
neuansässig gewordener städtischer Handwerksmeister excellirte
darin, sein Eheweib zu malträtiren, seine Lehrburschen vom Kirchen-
besuch abzuhalten und sonst damit grosszutbun, wie er dem Pastor
Walter dessen Standpunkt begreiflich machen würde, wenn dieser
ihm einmal in den Weg käme. Als nun Walter hiervon Kunde
erhielt, erschien er eines Tages in der Werkstube, bot dem Meister
einen guten Morgen, und erbat sich bei ihm eine Unterredung. Der
Meister erwiderte mürrisch, er habe nichts mit ihm zu sprechen,
zündete sich eine Pfeife Tabak an, warf seinen Arbeitsrock ab, zog
sich seinen Oberrock an, that sonst als ob Walter gamicht erschienen
wäre, und schickte sich an, seine Behausung zu verlassen. Der
hochgewachsene baumstarke geistliche Herr vertrat ihm aber die
Thüre und erklärte sich zum Kampfe um dieselbe bereit. Als
der tapfere Meister verblüfft vor Walter stehen blieb, bedeutete ihn
dieser, dass er keinen solchen Spass verstehe, hiess ihn sich nieder-
setzen und anhören, was er ihm zu sagen habe. Anfangs noch
abgewandt liess jener dann den Pastor, reden und meinte: er solle
sprechen, so viel er für gut fände, er bedürfe dessen nicht. Nach
Verlauf einer Stunde aber waren beide die besten Freunde und der
Meister versprach sein Weib in Ehren zu halten, seine Lehrlinge in
die Kirche zu schicken, und hielt Wort. •
In jene Zeit fiel auch die Gründung des lettischen Lehrer-
seminars, das anfangs in Wolmar, späterhin aber in Walk von der
livländischen Ritterschaft fundirt wurde, und wobei Walter den
Anstoss gegeben und eifrigst mitgewirkt hatte.
Ebenso gründete der unermüdliche, erfindungsreiche Walter jene
Verpflegungsanstalt mittelloser deutscher Kinder, welche noch gegen-
wärtig besteht und vielen hülflosen Familien geholfen hat, ihre
Eänder zu erziehen und zu tüchtigen Arbeitern auszubilden. Der
Weg, den Walter dabei einschlug, musste anfangs Zweifel erregen,
zeigte sich aber alsbald als practisoh und angemessen. Unter den
vielen Walter's Hülfe und Zuspruch fordernden Personen des Ortes
befand sich nämlich auch eine ältere wohlhäbige Dame mit ihrer
562 Erinneruiig^A an Bisehof Dr. Ferdinand Walter.
Tochter, welche erstere an fixen Ideen litt, unbeschäftigt dastand,
sonst aber nodi denk- und leistungsfähig war, wenn es eben nicht
ihre kranken Ideen betraf. „Die muss uns zu einer Einderschule
rerhelfen^, sagte Walter, „hilft sie sich doch selber damit^ wenn sie
auf andere rechte Gedanken kommt^. Und in der That, diese an^
scheinend nutzlose Frau fasste den Plan mit besonderem Eifer auf,
beschaffte hübsche Arbeiten, diese wurden verlost und aUmälig ein
Capital angesammelt, aus dessen Jahreserträgen^ als ich Wolmar im
Jahre 1847 verliess, bereits 33 Kinder erzogen wurden, wobei das
Princip beobachtet wurde, keine selbständige Anstalt herzurichten,
in welcher dieselben untergebracht und unterrichtet werden sollten,
sondern diese Kinder vielmehr bei wohlbekannten achtbaren Familien
zu placiren und die Ortsschulen zu benutzen. Auf diese Weise kam
den Kindern das Leben in der Familie, und den einzelnen unbe-
mittelten Familien eine kleine Beihülfe an Einnahme zu Gute, und
blieben sowohl die Kostspieligkeit einer zu unterhaltenden Anstalt,
als auch deren leicht unterlaufenden anderen Naohtheile erspart.
Zu den angenehmsten Erinnerungen aus dieser h€u*mloseii
idyllischen Periode meines Lebens im Zusammenwirken mit Walter
zählen auch jene Tage, welche eine Anzahl gleichgesinnter Männer
im JuU'Monat jeden Jahres anfangs auf Treyden, späterhin aber in
Cremen im schönen Aathale zusammenführten. Walter, Ulmann,
Hollander aus Birkenruh und andere Jugend^eunde, zu welchen
anfangs auch der jetzige Professor Eduard Erdmann zählte,
hatten verabredet, am 1. Montage nach dem 1. Sonnts^e im
Juli-Monate jeden Jahres sich im Aatiiale zusammenzufinden, gleich-
gesinnte jüngere Zeitgenossen mitzubringen und dcuin einige Tage
harmlosen Zusammenlel^ns in der schönen Umgebung der Aa zu
verbringen.
Dieser Kreis hatte sich allmälig erweitert und erschienen zu-
weilen 30 — 40 Personen, während zu Zeiten auch, je nach den
jedesmaligen Conjuncturen, nur wenige Theilnehmer «ich einfanden.
Walter fehlte meines Wissens niemals und war auch hier die Eiche,
um die sich alles schaarte und von ihm Anregung emj^ng. Ein
feststehendes Programm oder dergleichen existirte dabei in keiner
Weise, ein jeder that und liess, was er gerade wollte. So fehlte es
denn auch nicht an Heiterkeit und Ue1)ermuth ; wesentlich aber be-
wegte sich das Gespräch und die Discussion immer um die Ti^^es-
fragen und der Ernst der älteren Männer waltete vor, wenn Fragen,
wie die aufgetauchten Mässigkeitsvereine, oder die 48er Js^e, Axts*
Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter. 563
wanderungs- und andere brennende Zeitfragen vorlagen; auch ein
Stipendium für dörptsche Studenten gng aus diesen Tagen hervor,
welches noch gegenwärtig existirt.
In diesen Erholungstagen war unser Walter stets besonders
animirt und zufrieden, oftmals auch launig und übermüthig den über-
schwenglichen Mässigkeitsvereinlern gegenüber, denen er übrigens
in thesi beipflichtete.
Am interessantesten war es aber, wenn der fast um 20 Jahre
ältere Walter mit dem geistvollen Amtsbruder und bekannten Eanzel-
redner Emil Sokolowski zusammentraf. Dieser hatte fast kindliche
Pietät und Verehrung für den Veteran Walter, während letzterer
den hochbegabten jungen Freund gleichfalls besonders gern sah und
zum Geisteskampfe herausforderte. Platzten dann die Geister auf-
einander^ so sah man dem jungen, genialen und schlagfertigen Soko-
lowski die Herzensfreude über jedes derbe Kraftwort seines väter-
lichen Freundes an den Augen ab. Walter aber nickte in seiner
eigenthümlichen Weise mit dem Kopfe, wenn dem originellen Geiste
Sokolowski's ein Kernwort oder eine heitere liebenswürdige Bemer-
kung wie unwillkürlich herausftihr. Als ich bei solcher Gelegenheit
einmal die Frage dazwischen warf: „Worin liegt eigentlich der
Grundunterschied Eurer theologischen Lebens- und Lehranschauung ?"
antwortete Sokolowski: „Um es kurz zu sagen, so predigt Walter
mehr die Liebe, und ich den Glauben^. Walter aber meinte, das
könne wohl so richtig sein. Neben solchen Erinnerungen harmlosen
Zusammenlebens und Wirkens brachten dann aber die Jahre 1844
und die darauf folgenden auch schwerste Zeiten für Livland und
Wolmar: „Misswachs, Hungersnoth, erste Auswanderungsgelüste
der Letten, und alles was in diesen Mühsalen mitzählt, berührten zumeist
auch die wolmarsche Gemeinde und nahmen die ganze Thatkraft
Walter's um so mehr in Anspruch, als ausser in seiner eigenen
Gemeinde auch von auswärts her der starke, felsenfeste Mann um
Hülfe und Beistand angegangen ward. Gutsbesitzer und Amtsbrüder,
Nothleidende und Glaubensschwache, alles wandte sich an ihn, und
er erlahmte und verzagte nimmer.
Aus der Zeit seiner Consistorialpraxis am General-Consistorium
in St. Petersburg (1842) kannte er das Terrain ganz genau, und
wusste deshalb, wie die vorliegenden Sachen zu handhaben waren.
Sein Einfluss und seine Beziehungen gingen weit über Livland hin-
aus. Zuletzt war er aber auch jeder Zeit bereit, sich selbst und
564 Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.
seine ganze Stellung für das Gemeinwohl hinzuopfern, doch leicht-
fertig spielte er. dabei keinen Trumpf aus.
Walter aber erlebte für seine Gemeinde die Satisfaction, dass aus
dieser keine Auswanderer hervorgingen. Unter den umständen jener
Zeit konnte es kaum ausbleiben, dass der* tapfere, überall thätige
wolmarsche Pastor nicht direet angegriffen ward.
In seiner Gemeindewirksamkeit bereiteten die Herrnhuter der
wolmarschen Gemeinde Waltern gleichfalls vielfache Kämpfe und
Anfechtungen; aus den Zeiten Zinzendorflfs war ein Theil der wol-
marschen Letten dieser religiösen Richtung zugeneigt und hing nur
noch äusserlich der lutherischen Confession an, während die Bet-
stunden und Chorstunden in den separirten Bethäusern (lettisch:
„Kambur") eifrigst besucht und hochgehalten wurden.
Walter, welchem der Besuch dieser Versammlungen vorschrlffc-
mässig oblag, erkannte bald die kranke Seite dieser Aussonderung
sich höher dünkender Gläubigen, und so entschloss er sich, in der
zunächst dem Pastorate belegenenen Confirmandenkämmer gleich-
falls Chorstunden, jedoch in kirchlich -lutherischer Richtung einzu-
führen, womit er dann dem Separatismus Herrnhuts allmälig den
Boden entzog, seine Gemeindeglieder der Kirche wiedergewann und
brauchbare Institutionen für diese nutzbar machte.
Diese allseitige Thätigkeit Walter's war um so erstaunlicher, als
er es sich zum Grundsatz gemacht hatte, seine Reden stets nieder-
zuschreiben, es sei denn, dass er unvorhergesehen eine Amtshand-
lung zu vollziehen oder auszuhelfen hatte. Er hielt, wie er sagte,
vom „aus dem Aermel schütteln^' nichts, und ich hatte Gelegenheit
zu erfahren, wie ihm diese Amtsregel einmal zu Nutzen gereichte.
Walter schaute bei seinen Reden zwar nur selten in sein Con-
cept, aber es begleitete ihn stets auf die Kanzel ; so auch als er einst
in seiner wolmarschen Kirche den Gottesdienst hielt und eine seiner
feurigen Reden hielt, der man nicht anmerkte, dass sie niederge-
schrieben und fleissig zuvor bearbeitet und memorirt war. Inmitten
dieser die Gemeinde fortreissenden Predigt erschallten plötzlich laute
Tritte im Hauptgange der Kirche und zeigten sich mehrere Junker
des am Orte einquartirten Militärregiments, welche sich ungenirl;
an die Kirchenstühle stellten, rücksichtslos sich damit beschäftigten
die Frauen und Jungfrauen zu beschauen und ihre Ergebnisse dar-
über einander mitzutheilen. Die Störung der andächtigen Gemeinde
war eclatant, von Walter's Rede nichts mehr zu hören — der Redner
schwieg, über die ganze Gemeinde verbreitete sich eine Beklemmung,
Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter. 865
man kannte den heftigen Charakter des Pastors, alles lag für den
Moment in seiner Hand; auch die jungen Militärs schienen betroffen
und beriethen, was zu thun sei; da bedeutete ihnen Walter russisch
von der Kanzel, sie möchten die Kirche nicht stören, und dieselben
verliessen beschämt das Gotteshaus. Wiederum erfolgte eine kürzere
peinliche Pause, während man den Kampf des heftigen Mannes mit
sich sah — dann nahm er sein Concept zur Hand und sprach:
fliehe Gemeinde, ich werde Dir nunmehr den Rest meiner Predigt
vorlesen*, und schloss dann den Gottesdienst baldigst ab.
Als er dann aus der Kirche trat, erschien und empfing ihn der
Adjutant des als überaus streng bekannten coramandirenden Obrist-
lieutenants Maslow und entbot den Herrn Pastor zu diesem, da der-
selbe etwas äusserst Dringendes in seiner Wohnung mit ihm zu be-
sprechen hätte. Walter begab sich sofort zum Commandirenden, wo
er die jungen Sünder bereits gebeugt seitab aufgestellt fand. Der
Obristlieutenant ging mit hastigen Schritten im Zimmer auf und ab
und beim Erscheinen Walter's in der Amtstracht sofort auf diesen
zu: „Herr Pastor", redete er ihn an, „die Zukunft dieser jungen
leichtsinnigen Leute ruht ganz in Ihrer Hand, verlangen sie gesetz-
liche Beahndung, so werden sie sämmlich cum infamia cassirt und
verfallen der Strenge der Gesetze für Störung und Schändung des
Gottesdienstes ; wollen Sie ihnen Vergebung und Nachsicht zu Theil
werden lassen, so bestimmen Sie selbst, wie ich dieselben von mir
aus disciplin arisch bestrafen solP. — Walter trat dann auf die
jungen Leute zu und hielt ihnen ernst und milde ihr Unrecht so
Herz bewegend vor, dass dieselben zerknirscht um Vergebung
baten. , — Da aber Walter's Gemüth begreiflich schon durch die
treffliche Haltung des Obristlieutenants besänftigt war, legte er selbst
Bitte um Nachsicht und Milde beim ergrimmten Regimentschef ein,
welcher Arrest auf 14 Tage bei Wasser und Brod als Strafe de-
cretirte und die jungen Leute sofort abführen Hess, mit dem Be-
deuten, dass nach überstandener Strafe dieselben sich nochmals zu
Waltern zu begeben hätten, um diesem zu danken.
Sowie dieser Vorgang gewiss noch in den Traditionen der wol-
marschen Gemeinde lebt, wenn von dem „lieben Pastor Walter" die
Rede kommt, so weiss man aber auch ausserhalb Wolmar's von clem
Gottesmanne zu erzählen, welcher aus der Ferne hergereist bei
mancher Gelegenheit sich besonders hervorgethan und von sich reden
gemacht hat. Petersburg, Riga, Dorpat, Fellin und manche einsame
Landgemeinde wissen von dem wolmärschen Pastor dergleichen
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 11 n. 12. 38
566 Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.
Rande zu geben. Aber nicht nur in der Heimat, auch fem ab,
im Böhmerlande, als ich Carlsbad im J^re 1868 besuchte, wurde
ich an den damals schon als Superintendent fungirenden Freund
erinnert und fand die Spuren seiner Thätigkeit und Wirksamkeit
wieder, wo es am wenigsten zu erwarten stand. Als ich eines
Sonntags morgens, noch fremd mit den Einzelheiten der schönen
Thalstadt auf der ins Carlsbaderthal hinabführenden sogenannten
„prager Kunststrasse^ dahin wandelte, schallte von der Stadt herauf
ein fernes Eirchenglöckchen, das zum Morgengottesdienste einlud.
Auf meine Frage an einen daherfahrenden Frachtführer, was das
für ein Kirchlein sei, welches da drüben läuten liess, erwiderte der
Fuhrmann: „das ist unsere evangelische Kirche." „Unsere"? wand
ich ein, „seid Ihr denn evangelisch in diesem ganz katholischen
Lande?" ,,Ja, Herr, war die Antwort, ich bin stolz darauf zu den
wenigen Evangelischen zu gehören, die sich hier finden lassen". Wir
machten als Glaubensgenossen weitere Bekanntschaft und der schlichte
Mann theilte mir mit, wie ein wackerer fremder evangelischer
Pfarrer aus weitem Norden dieses Kirchlein gestiftet, der König von
Hannover Patron der Kirche sei und jährlich zur Badezeit einen
hannoverschen Pfarrer hierher delegire. Ich stieg rasch bergab, zum
Kirchlein an der Tepel. Ein eigenthümlich^s Wohlbehagen erfüllte
mich, als ich wieder, nach langer Zeit, Glaubensgenossen an einem
Orte um mich fand, der sonst nur katholisches Gepräge zur Schau
trägt. Als ich in besonderer Stimmung aus der erbaulichen An-
dachtsstunde längs der Wiese heimging, fügte es sich, dass ich
mit einem langen hageren* fremden Manne zusammentraf, welcher,
ein carlsbader Kunsttischler (ich denke, er hiess Wagner), mir er-
zählte, nachdem er in mir aus dem Dialekt den Nordländer erkannt*
hatte, dass Pastor Ty alter aus Wolmar in Livland diese carlsbader
evangelische Kirche gegründet habe, indem er die Feier des Ge-
burtstages des Kaisers Nicolaus benutzend eine damals gerade an-
wesende grössere Anzahl seiner Landläleute und sonst gegenwärtigen
Glaubensgenossen vermocht habe, sich dazu zusammenzuthun. —
Einige höher stehende Personen hätten denn auch sofort die CoUecte
begonnen, die Concession beim Kaiser von Oesterreich erwirkt, und
nach Verlauf einiger Jahre, während welcher Walter immer wieder
in Carlsbad erschienen, wäre in der That die evangelische Kirche
erbaut worden, Walter selbst aber, welchen der Erzähler „seinen
theuren Freund und Hausgenossen" nannte, da er stets bei ihm ge-
wohnt habe, Walter selbst, obgleich er Mitkirchenvorsteher der
Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.* B67
Kirche sei, kenne deren gänzlichen Aufbau noch nicht; was mich
veranlasste sofort ein Bild derselben anzukaufen und Waltern brief-
lich zuzustellen. Er hat grosse Freude darüber empfunden und mir
oftmals dafür gedankt.
Aber nicht nur diese evangelische Kirche verdankt dem fernen
Pastor aus dem Norden ihre Entstehung, auch in anderer Weise hat
sich Walter ein Andenken in Carlsbad gesetzt, das nicht leicht aus
dem Gedächtnisse der dortigen Katholiken schwinden dürfte.
In Carlsbad war nämlich während Walter's Anwesenheit ein
evangelischer Badegast zur Zeit^ als es eben noch keine einzige
evangelische Kirche daselbst gab, gestorben und ein Landsmann
hatte einen gerade daselbst . anwesenden evangelischen Pfarrer ge-
beten, die Beerdigung zu vollziehen; die katholische Geistlichkeit
hatte solches aber nicht gestatten wollen. Als Walter hiervon Kunde
erhielt, begab er sich zu dem Amtsbruder und bot alles auf, den-
selben zu veranlassen, nicht zurückzutreten; dieser aber erklärte,
dass er es nicht wage, gegen die katholische Geistlickeit aufzutreten.
Die Beerdigungsceremonie der Katholiken begann bereits, als Walter
sich das geistliche Ornat vom zaghaften Amtsbruder erbat und sich
dem Trauerzuge anschloss. Als dann der Sarg am Grabe angelangt
war und eben die katholische Geistlichkeit die Function beginnen
wollte, trat plötzlich Walter an die Gruft, dankte den überraschten
katholischen Brüdern dafür, dass sie in der Meinung, es sei kein
evangelischer Pfarrer vorhanden, den Todten zur Erde bestatten
wollten, und vollzog zum Erstaunen und zu grösster Erbauung aller
Anwesenden in seiner herzgewinnenden Weise die Leichenbestattung,
darauf hinweisend, wie Gott in Gnaden ihn aus fernem Norden her-
beschieden und ihm vergönnt habe, seinem im fremden Lande ver-
storbenen unbekannten Glaubensgenossen die letzte Ehre zu erweisen.
Die Wirkung, so erzählte man in Carlsbald, war eine ausser-
ordentliche gewesen, selbst die Katholiken hätten den wackeren
Gottesmann aus dem Norden beglückwünscht und ihm Verehrung
gezollt.
Aber Walter war nicht nur stark und tapfer, sondern überaus
bescheiden und demüthig, und es ist mir vergönnt gewesen, auch bei
solchen Gelegenheiten ihm nahe zu sein.
Auf einem Besuche im wolmarschen Pastorate, als ich nicht
mehr in Wolmar lebte, fand ich mich gerade bei ihm ein^ als seine
eben auf dem Landtage erfolgte Wahl zum Generalsuperintendenten
ihm officiell angezeigt worden war. Ich fand ihn in seinem Studier-
38*
668 Erinnörungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.
Zimmer mit dem offlciellen Papier in der Hand^ ernst und bewegt
dasitzen. „Lies einmal^^, sagte er, ,,ich mag darauf nicht eingehen,
ich kenne die Welt und auch mich selbst genug, meine starken und
auch meine schwachen Seiten; ich tauge nicht zum Führer der Geist-
lichkeit.'*
Eis folgte zwischen uns eine längere Discussion und als darauf
mehrere Prediger eintrafen, und unter andern auch der obenerwähnte,
viel bei ihm geltende Sokolowski, und alle ihm die Pflicht der
Amtsannahme yorhielten — da sagte er traurig, indem er auf seinen
selbstgepflegten Garten* hinwies : „es ist schwer, seinen lieben stillen
Fleck Erde aufzugeben und ein Ftlhrer zu werden, wo man sich
lieber führen lassen möchte^ — und als dann weiter seine Intro-
duction als Generalsuperintendent in der rigaschen Jacobskirche statt-
fand, begann er seine Ansprache an die Gemeinde tiefbewegt nach
längerer Kampfespause mit den Worten : „So ist es denn geschehen,
ich stehe 'jetzt als Euer neuer Oberhirte vor Euch, Gott wolle mir
'und Euch dabei gnädig sein.''
Walters grossartige Thätigkeit in dieser seiner neuen Stellung
ist seinem Lande bekannt, vom Verfasser der Brochüre ausführlichst
behandelt und mit amtlichen Daten belegt; es ist aber vielleicht
weniger bekannt, dass er dabei mit vielen und namentlich auch mit
Nahrungssorgen zu kämpfen hatte, da das Einkommen des General-
superintendenten in keinem Verhältnisse zu seiner Stellung steht.
Man wusste das, obgleich er dessen niemals auch nur andeutend
erwähnt hatte. Der nächste Landtag beschloss deshalb, ihm jährlich
eine Subvention von 1000 Rbln. aus der Rittercasse zu bewilligen.
Einige seiner Freunde verehrten ihm eine bequeme Kutsche zu
seinen Reisen.
Als ich gerade an dem Tage Walter in Riga besuchte, da ihm
durch eine Zuschrift des livländischen LandrathscoUegiums die vor-
erwähnte jährliche Subvention von 1000 Rbln. officiell eröffiiet wor-
den war, zeigte er mir diese Zuschrift und zugleich seine absagende
Antwort, welche zwar bescheiden aber entschieden eine Gratification
zurückweisen zu müssen erklärte, die er weder verdient habe, noch
mit seiner Stellung als Verkündiger freien Wortes vereinbar halte.
Ich bat ihn einfach, jedenfalls hierin nichts zu übereilen und sich
die Sache noch zu überlegen. Inzwischen fanden sich auch andere
Besucher bei ihm ein und als ör von allen Seiten hörte, wie die
Ritterschaft es mit dieser Bewilligung nur wohl gemeint habe und die
Freude über diese Bewilligung allgemein sei, schrieb er eine dankende
Ermnerungei?i an Bischof Dr. Ferdinand Walter. 569
Antwort, bei welcher er sich aber seine freie Stellung wahrte, und
er erklärte mir später, ihn habe der Umstand zumeist zu dieser
Antwort bewogen, dass er jener Unterstützung, die ihm während
der Zeit seiner schweren Subsistenzsorgen von verschiedenen nicht
genannten Gönnern zuflössen, nunmehr enth9ben sei.
Beweisen diese' Züge unseres Walter dessen bescheidenes Ver-
halten gegenüber 4er ihm gewordenen Anerkennung und Hocb-
stellung, so kann ich auch nicht unerwähnt lassen, wie er gerade
in Zeiten höchsten Arbeitslebens oftmals sich so sehr abgespannt
und erschöpft fühlte, dass man sich des Mitleids nicht erwehren
konnte. Er gedachte dann gelegentlich des horazschen i,heatu8 ille
gui procul negotÜ8^\
Walter hatte, wie auch die vorliegende Lebensskizze dessen
erwähnt, als Student in Dorpat nicht einer der Landsmannschaften
angehört, sondern der allgemeinen, in Facultäten gesonderten Bur-
schenschaft. Bei der 50jährigen Jubelfeier der Universität im Jahre
1852 erschien auch er und zählte zu den wenigen Veteranen aus
jenen Zeiten, deren in der Studentenwelt nur noch traditionell erwähnt
ward. Die Verbindung der „Livonia" hatte an alle diejenigen,
welche aus früheren Zeiten der Burschenschaft angehört hatten, die
Aufforderung erlassen, sich in ihrem Versammluugslocale einzufinden.
Dort fand ich in jenen Tagen den alten Burschenschafter unter
jungen und alten Comilitonen, wo er dann auf Aufforderung alsbald
das Wort ergriff und den Anwesenden ein Bild einer Zeit gab,
welche andere Ziele und Zwecke verfolgt hatte und längst verklungen
war. Alles horchte gespannt und begierig den Mittheilungen des
ehemaligen Studenten und endlich brachte man stürmisch das Wohl
des Ehrengastes aus, der jetzt auch Ehrencurator der Universität
geworden war. Denn als in der Aula die Festrede des Rectors zum
Schluss kam, verkündigte dieser die vom Conseil der Universität
erwählten Ehrenmitglieder derselben, und als er neben den anderen
Personen auch den Namen des allgefeierten Dr. Ferdinand Walter,
Pastors zu Wolmar, abrief, ging ein dumpfes Brausen durch den
überfüllten Raum, und aller Augen richteten sich auf den seitab in
einer Fensternische dasitzenden Walter, der ein wenig ob der nicht
geahnten Ehre erröthete und dem vielseitigen freundlichen Zunicken
entgegenlächelte.
Wo Walter sich in diesen Tagen öffentlich zeigte, trug man ihm
besondere Huldigung entgegen ; so denn auch als er eines Mittags
später als die schon erheiterte Gesellschaft im gemeinschaftlichen
^70 Erinnerungen an Bischof Dr. Ferdinand Walter.
Speisesaale erschien. Der bekannte Nordpolreisende, Akademiker
and Staatsrath M. hatte ihn kaam erschaut, als er mit gehobenem
Glase einen Stuhl bestieg, sich „silentium" erwirkte und dann aus-
rief: „Seht da den Pastor aller Pastoren, Ferdinand Walter — er
lebe hoch!**
Haben die vorerzählten Züge aus dem Leben des verewigten
Freundes auch ursprünglich nicht der OeflFentlichkeit übergeben wer-
den sollen , so glaubte ich der deshalb an mich ergangenea Auf-
forderung jetzt nicht mehr renitent gegenübertreten zu dürfen, da
es galt, den Lebensabriss des Freundes hier anzuzeigen und zu em-
pfehlen, und auch meinerseits für eine zu hoffende ausführliche Bio-
graphie Walter's Einzelheiten zu geben, welche vielleicht weniger
bekannt sind, dennoch aber dem vollen Lebensbilde nicht fehlen
dürften. Es bleibt zu wünschen und zu hoffen, dass auch andere
mit dem nicht zurückhalten werden, was ihnen aus dem reichen
Leben Ferdinand Walter's Bedeutungsvolles bekannt ist, —
Auch von ihm konnte man sagen: „wer ihn kannte, der liebte
ihn, wer ihn aber nicht liebte, hat ihn nicht gekannt^ — ihn, der
das schöne Lebens wort unter sein erstes Bild schrieb:
„Soviel Einer liebet, soviel lebt er!**
Mitau, den 1. Dec. 1870. Assessor J. Eckardt.
Notizen.
Viel Liebe, grosses Interesse hat die heimische Geschicht-
schreibung alle Zeit der Colonisationsepoche entgegengetragen. Die
Geschicke des mannhaften Bischofs und seines streitbaren Gefolges
an Rittern, Priestern, Kaufleuten, ihr jugendlicher Thatendrang, ihre
nie ermüdende Lust des Schaffens, sind häufig Gegenstand der Be-
handlung geworden. Wie sollte man auch des klugen Bauherrn^ ver-
gessen, so lange das Werk, das er gegründet, trotz aller Wetter,
welche über dasselbe hingezogen, noch in die Luft strebt und
selbst den Meister lobt, der Dauerndes, Lebensfähiges hervorzurufen
wusste !
So gross der Eifer gewesen, das Gründungswerk zur Darstellung
und zum Yerständniss zu bringen, will es doch scheinen, dass
dabei die Aufgabe des Historikers nicht häufig richtig erfasst, dass
weder die Vorarbeit der Prüfung zu Gebote stehender Mittel,
noch die Hauptarbeit der Formung des StoflFs befriedigend vollbracht
wurden. Wir erlauben uns dieses zum eigenen Bedauern so pessi-
mistisch ausfallende Urtheil im Einzelnen näher zu begründen.
Ein günstiges Geschick hatte jener Periode einen gleichzeitigen,
ihrer werthen Darsteller gegeben. Das Werk des Lettenpriesters
Heinrich ist unter zeitgenössischen unerreicht durch frische, lebens-
warme, ausführliche Schilderung. Es ist uns lange nicht vergönnt
gewesen, dieses Glückes ungetrübt zu geniessen: ein Unstern waltete
über der ersten Herausgabe und liess dem verdienten Gruber die
schlechteste der schlechten Handschriften in die Hand fallen, in wel-
cher durch die commentirenden und irrig ergänzenden Bemerkungen
von Lesern einer weit späteren Zeit der reine Wein des ursprüng-
lichen Werkes arg verfälscht geboten wurde.
672 Notizen.
An Anhaltspunkten, die verriethen, wie schwankend die Grund-
lage sei, auf welcher man sich hier bewegte, fehlte es hier nun
keineswegs. Es schienen sich auch in einer revalschen Handschrift
schon vor geraumer Zeit die Mittel zu bieten, ein festeres Fundament
zu legen. Gleichwohl entschlug man sich dieser Bedenken als
1853 — hundert und dreizehn Jahre waren seit der ersten Ver-
öffentlichung verflossen — in den Scriptores verum lAvonicarum zur
erneuten Herausgabe geschritten wurde. Mit einer leider gar zu
grossen Genügsamkeit beschränkte man sich auf den Abdruck der
gruber'schen Arbeit. Der ^Pietät gegen die Manen" des letzteren
war vollauf Rechnung getragen und gleichzeitig ein Vergehen gegen
die livländische Geschichtsforschung begangen, die Verwirklichung
der damals schon vorhandenen Möglichkeit, zu einer reineren Erkennt-
niss jener Zeit durchzudringen, abermals ins Unbestimmte vertagt.
Die heilsame Revolution vollzog sich endlich durch Veröffent-
lichung jener unverfälschten Handschrift, die Jahrhunderte lang unter
den literarischen Schätzen eines polnischen Magnaten verborgen ge-
legen. Gar manches, was als des Schriftstellers ureigenster Gedanke
erschienen, was charakteristisch gefunden war für seine Auffassung
der Dinge, ergab sich als die irreleitende Bemerkung der späteren
Commentatoren ; gar viele weitausgesponnene Combinationen, die sich
auf sie gründetien,'*fielen zusammen gleich Kartenhäusern.
Doch der zamoyskische Codex war ein Torso, das letzte Dritt-
theil der Chronik fehlte ihm. Hatte man nun biaher einige in un-
seren Provinzen vorhandene Handschriften — namenclich jene re-
valsche und die scodaiskische in Riga — wegen ihrer Jugend
verächtlich über die Achsel angesehen, obgleich das reiner erhaltene
Geblüt deutlich aus ihnen sprach, so erkannte man jetzt wenigstens
äusserlich an der näheren Verwandtschaft mit der warschauer
ihren relativ ausserordentlichen Werth. Mit ihrer Hülfe konnten,
wenn nicht alle, so doch die meisten und gefährlichsten Irrthümer
aus dem Rest des Textes ausgeschieden werden. Auf dieser Grund-
lage erhielten wir eine deutsche Uebersetzung des Schriftstellers,
welche zwar unser Verlangen nach der kritischen Ausgabe in der
Ursprache nicht zum Vollen befriedigen kann, aber doch dem einst-
weiligen Bedürfniss nach einer gesicherteren Basis Genüge thut.
War es schwach um den Text bis in die neuere Zeit bestellt,
so hatte die Kritik auch in anderer Richtung sich nicht gerade reg-
sam gezeigt. Man war gewohnt, Heinrich, der in der That ein ver-
trauenerweckender Führer zu sein scheint, auf guten Glauben über-
Notisen. 678
allhin zu folgen. Schien es dodi beinahe unberechtigtes Misstrauen,
ihn, der selbst so treuherzig versichert^ nicht um Schmeichelei oder
äusseren Vortheils willen, sondern zu Christi und der «eligen Jung-
frau Ehren sein Werk niedergeschrieben zu haben, dem Kreuzfeuer
der Kritik auszusetzen. Selten hatte man sich die Frage vorgelegt,
noch weniger sie beantwortet, ob denn der Schriftsteller überall und
für alle von ihm berührten Verhältnisse äusserlich und innerlich ge-
nügend ausgerüstet war, ob er die volle, ungeschminkte Wahrheit
zugestehen, sie allenthalben sagen konnte, ob er sie sagen wollte.
Neuere Untersuchungen konnten nun zwar zeigen, dass es ihm
in der That um die Wahrheit Ernst ist, dass er sich nur selten, ver-
führt durch persönliche Vorliebe oder Abneigung, ein Abweichen von
ihr erlaubt, aber auch^ dass wesentliche, uns heutzutage höchlichst
inieressirende Theile seines Berichts unter besonderen Bedingungen
entstanden und daher ganz anders ausgefallen sind.
Der Verfasser ist durchaus ein Mann der geistlich-praktischen
Wirksamkeit. Sein Lebtag war er den siegreichen Heeren taufend
gefolgt oder hatte fem dem Mittelpunkte deutscher Herrschaft Neu-
bekehrten „die Glückseligkeit des ewigen Lebens dargelegt**. Der
hohen Politik seiner Zeit hat er stets fern gestanden; weder ist er
ihren Acten je näher getreten, noch zeigt er überhaupt für sie Ver-
ständniss und Interesse. Als weiteres wesentliches Moment tritt
hinzu, dass sein Werk nicht persönlichem Antriebe seine Entstehung
dankt, nicht etwa bestimmt war, lange im Verborgenen zu bleiben.
Es ward hervorgerufen durch die Aufforderung des Landesherr» und
wohl in der ausgesprochenen Absicht, ihm sofort weite Verbreitung
zu geben. Um uns eines modernen Ausdrucks zu bedienen: Heinrich
ist ein officiöser Schriftsteller.
Da^it erklärt siQh's, dass er, der sonst so gern in breiter, be-
hg^licher Darstellung sich bewegt, die Vorgänge und Handlungen
aus staatlichem Bereich oft ungenau, selbst unrichtig erzählt^ sie in
kaum verständlicher Anspielung andeutet oder völlig verschweigt.
Weder zeigt er genügend, wie sich die Machthaber in dem neuge-
gründeten Bau staatlich einrichteten, noch wie sie in demselben mit
einander lebten, wie sie zu seinem Schutze Dritten gegenübertraten.
Zuweilen ist es das eigene mangelnde Interesse, häufiger die Rück-
sicht auf die Herrscher, welche ihn hier veranlassen, wenn nicht die
Wahrheit zu entstellen, so doch das ihm bekannte Wahre zu über-
gehen, abzuschwächen, zu verstecken. Das Ergebniss ist, dass wir
auf diesem Gebiete unserem nicht immer scharfsichtigen oder unbe-
674 Notizen.
fangenen Führer nur mit Vorbehalt folgen dürfen, dass wir uns selbst
noch fleissiger als sonst nach den hier und da am Wege ausge-
steckten Wahrzeichen umzuschauen haben. Als solche dienen vor
allem die gleichzeitigen Urkunden, welche ebenso häufig seine An-
gaben berichtigen, als sie dieselben venrollständigen.
Leider giebt es auf diesem oft verschlungenen Pfade auch viele
falsche Geleitsmänner, die eine selbständige Eenntniss desselben
zu besitzen schienen, während sie doch nur den Spuren, welche
jener hinterlassen, nachtraten, dabei häufig von denselben abirren
und ins Grundlose führen. Die Chroniken der späteren Jahrhunderte,
vor anderen die des Moritz Brandis, haben lange Zeit keine derartige
Verurtheilung erfahren. In ihren von dem Bericht Heinrich's oft
abweichenden, denselben scheinbar ergänzenden Angaben hat man
eine in ihrem Ursprünge von jenem unabhängige Ueberlieferung er-
kennen wollen, die bis zu jenen späteren Chronikenschreibern noch
durchgedrungen, uns Nachgeborenen aber verloren gegangen wäre.
Auch hier hat neuerlich die entgegengesetzte Ansicht sich gel-
tend machen dürfen, es sei uns in jenen Compilationen keineswegs
Werthvolles erhalten, in der Hauptsache vielmehr die durch aus-
schweifende Phantasie und abenteuernde Combination entstellte Er-
zählung des Lettenpriesters. Nicht zwei neben einander fliessende
Ströme führen uns also Erkenntniss jener fernen Zeit zu: es ist stets
der eine Strom, der dort klar und rein, hier ai^ getrübt und ver-
sc!hlammt zu uns gelangt. Durch diese Darlegung ist manche selt-
sam klingende Mär ins Fabelreich verwiesen worden.
Auf solcher Grundlage erhoben sich die Darstellungen unserer
ältesten Geschichte. Sehen wir hier auf diese selbst, man wird ge-
stehen, dass die nothwendige Selbständigkeit des Geschichtschreibers
gegenüber seinen Quellen nicht häufig vorhanden war. Li der Regel
bedeuteten sie demselben mehr als blossen Stoff, welchem erst die
Form zu geben sei. Man bequemte sich völlig den Neigungen und
Anschauungen des Gewährsmannes, und die Aufgaben des Historikers
nach Verarbeitung, nach Durchdringung des Gegebenen traten davor
zurück. Heinrich hat seine Lust am Erzählen mannhafter Eriegs-
thaten, und es ist eine Lust, bei ihm zu lesen von kühner Recken
Streiten. Doch der Historiker, der sich darauf beschränkt, jene ein-
zelnen Schilderungen zu wiederholen, leistet dem Leser schlechten
Dienst. Er vermag es nicht, letzteren von der subjectiven Auffassung
der Quelle zu einer freieren, allgemeineren zu erheben, und kann
Notizen. 575
für den unter seinen Händen zerrinnenden, nur jener anhaftenden
Duft der Unmittelbarkeit gleichzeitig nicht entschädigen.
So sind unsere Behandlungen erfüllt von Kriegsgeschrei und
Waflfengetöse. Jedes einzelne Jahr eröffnet die wohlbekannte Per-
spective auf verwüstete Gaue, verbrannte, Dörfer, Mord und Ge-
fangennahme des Volkes , unendlichen Kriegsraub. Deutsche
Tapferkeit, lettischer Blutdurst, Arglist der Liven, zähe Widerstands-
kraft des Estenvolkes werden durch immer neue Beispiele illustrirt.
So sehr uns die Erzählung der einzelnen Kriegsfahrten mit ihren
anschaulichen Details anmuthet, so ermüdend, das Interesse zer-
störend wirken sie in ihrer steten Wiederkehr. Fehlt es dazu, wie
gar häufig, an der passenden Gruppirung, wird der Leser ohne Ruhe,
ohne Rast, ohne Erbarmen auf dem blutigen Kriegspfade vorwärts
gedrängt, wird ihm nie in einer dazwischentretenden Beurtheilung
der Ereignisse Gelegenheit geboten, den Blick prüfend rückwärts
und aufschauend zur Öeite zu wenden, so steht er endlich da, er-
mattet, ohne Klarheit der Dinge, die vorgegangen, vergebens die
Feuersäule erspähend, welche nach vorwärts diesen Wüstenweg er-
hellen soll.
Wir glauben uns bei dieser Art von Geschichtschreibung auf
einem weiten Felde zu befinden, das mit zerstreuten Baustücken
besäet ist: machen wir den mühseligen Versuch, diese in ein Ganzes zu
fügen, gar häufig wird der richtige Stein, der eine Hauptverbindung
herstellt, nicht selten auch der Schlussstein, der das Gebäude krönt,
vermisst werden. •
Entsprechend der Geschmacksrichtung des Priesters aus Lettland
bieten auch die seiner Darstellung folgenden Bearbeitungen gar wenig
über das eigentliche staatliche Leben. Wir sehen fort und fort das
Werk einer grossen, oft grausamen Zerstörung vorschreiten, eine
jener unvollendeten Bildungen nach der anderen in Trümmer sinken;
welches aber die vollkommeneren Organisationen waren, welche auf
den Trüinmern sich erhoben, welche Früchte ftir Civilisation und
Humanität diesem blutgetränkten Boden danach entsprossen, bleibt
meist unserem Gesichtskreis entrückt. Wird schon der christlich-
deutsche Staatsbau an sich mit den an ihm arbeitenden Kräften, sei
es in ihrem Widerstreit, sei es in einmüthigem Zusammengehen,
unserem Verständniss wenig näher gebracht, in geringerem Grade
dürfen wir das in Bezug auf die Bedeutung erwarten, welche jene
Ereignisse in Verbindung mit den Strefoungen der Kirche, davon im
576 Notizen.
dentadieQ Volk fllr die damalige Zeit haben, und welehe sie für
die Zukunft beanspruchen dürfen.
Auf allen diesen Gebieten musste rüstig fortgeschritten werden
— und mancher Schritt ist, wie angedeutet worden, bereits vorwärts
getban — sollte die heimische Geschichtsmuse nicht auch fernerhin
als das Aschenbrödel unter den anderen deutschen Landesgeschichten,
ihren Schwestern, erscheinen. Uebertriflft sie ja doch gleich jenem
Aschenbrödel des Volksmärchens die anderen reichgeschmückten
Fürstentöchter an Schönheit und edler Fülle, nur fehlt ihr das schim-
mernde Prachtkleid, die Glieder umhüllt ein eintönig Alltagsgewand.
Solch erfreulichen Fortschritt zum Bessern und Guten bekundet
auch die Schrift Richard Hausmann's: ^Das Ringen der
Deutschen und Dänen um den Besitz Estland's bis 1227.''
Jene zeitweilige Erwerbung für das Dänenreich hat ein Anrecht,
auch in ihrer Selbständigkeit aufgefasst zu werden, obgleich sie nur
als Bruchstück der gleichzeitig von Deutschland ausgehenden Coloni-
sation erscheint. Anfänglich zwar im Gegensatz zu dieser, vollzog
sie sich doch weiterhin ganz im Anschluss an dieselbe. Die den
Zug Waldemar's von 1219 vorbereitenden Ereignisse, die Gründung
der dänischen Colonie und ihr erstes Wachsthum (1219 — 1220), ihr
Uebergewicht über das Deutschthum (1220—1222), ihr Sinken durch
den Estenaufstand und die Gefangenschaft des Königs (1222 — 1225),
ihr Untergang (1225 — 1227), sind die fünf Abschnitte, in welche die
neue Schrift angemessen ihren Stoff gliedert. An sie reihen sich
drei speciellere Ausführungen, welchen unseres Dafürhaltens durch
weit knappere Fassung kein Abbruch geschehet wäre.
Den Traditionen seines Reiches folgend, deren hochstrebendste
es war, die baltischen Uferlande herrschend zu umspannen, aus dem
Baltischen Meere einen dänischen See zu machen, hatte König Wal«
demar seine Flotte §cfaon häufig nach Osten geführt. Die Bitte der
Uvlätndischen Bischöfe um Beistand gegen die Wuth der Heiden, das
Andringen der Russen gab nach längerer Unterbrechung neuen er-
wünschten Anlass, in jene Verhältnisse einzugreifen. Die Bitte, sie
erscheint als schwerster politischer Fehler, der von livländischer
Seite begangen ist. Die Unterwerfung des BJstenvolks wturd nun von
Nord und Süd zugleich angegriffen, doch zum geringsten Theile von
dänischer, mit entschiedenem Glücke von deutscher Seite vollführt.
Herrschte über beiderseitigen Anspruch keine Klarheit, oder gingen
die der einen Partei dem grösseren Erfolge der Waffen ent-
sprechend jetzt weiter: bei der Besetzung des Erworb^ien tritt die
Notissen* 577
Zwietracht der Sieger so auf weltliohem, wie auf geistlichem Ge-
biete gleich heftig hervor. Auch in der diplomatischen Verhandlung
bleibt der sieggewohnte König zunächst Sieger. Der schmähliche
Abfall des Ordens von der deutschen Sache sichert dem Dänen das
ganze nördliche Estenland* Der Erfolg steigert seine Kühnheit, seine
Begehrlichkeit; auch nach Livland's Freiheit streckt er verlangend
die Hand aus. Zwar vereitelt der nationale Widerstand das Be^
ginnen, doch seine Herrschaft über das Estenland scheint durch
die erzwungene deutsche Bundesgenossenschaft gesicherter als je.
Da erschütterte der blutige Aufstand der Unterdrückten die Fremd-
herrschaft in ihren Grundfesten, die kühne That des Schweriner
Grafen lässt sie vollends zusammenbrechen. Durch Niedertretung
der Revolution hatten sich die Deutschen hier neues Anrecht blutig
erworben, bald gaben sie demselben Ausdruck : mit d'em Jahre 1227
ist der Danebrog aus diesem Lande verschwunden.
Auf dem festen Grunde einer fleissigen Verarbeitung der Quellen,
in strenger Scheidung des Werthv ollen vom Unbrauchbaren, des
Gesicherten vom Zweifelhaften, mit umfassender Kenntniss der Er-
gebnisse bisheriger Forschungen, denen das Urtheil des Verfassers
stets selbständig zur Seite tritt, sind die oben zusammengefassten
Ereignisse hier dargestellt. Die fleissige Rücksichtnahme auf frühere
Leistungen verdient besonders betont zu werden. Schien es ja auch
in dieser Beziehung lan^e, als wälze die livländische Geschicht-
schreibung den Stein des Sisyphos: war dort ein Schritt vorwärts
gethan, hier that man ihn alsbald zurück.
Der Leser wird es zuweilen im Interesse des Verfassers zu be-
dauern haben, wenn die neu zu Tage geförderten Resultate den
darauf verwandten Mühen nicht zu entsprechens cheinen. Aber nicht
entfernt erwächst letzterem daraus ein Vorwurf. Geschehene Arbeit
liess sich eben nicht nochmals thun. Gewissenhafte, methodische
Forschung, ansprechende Auffassung des Gangs der Ereignisse im
Grossen, fliessende, lichtvolle Darstellung verbürgen der Schrift eine
achtbare Stellung in der historischen Literatur, ein gutes Andenken
bei den Lesern unserer Lande.
Auf die Ausführung unseres Wunsches, mit dem Verfasser über
diese und jene Einzelheit zu rechten, verzichten wir hier billig im
Interesse der Leser. Nur den Umstand glauben wir von seinem
Werke scheidend hervorheben zn müssen, dass der Abbruch mit dem
Jahre 1227 den innerlichen Abschluss der Ereignisse in der vorbe-
reitenden Periode nicht enthält. Die begonnene Folge derselben
578 Notizen
war nur zeitweilig gehemmt, erst mit dem Vertrage von Stenby sind
die Grundlagen für die nächstfolgende Entwickelung des Landes ge-
legt : äussere Befestigung der Dänenherrschaft und gleichzeitige innere
Durchdringung durch das Deutschthum. Hier eröffnet sich eine
durch die Beschaffenheit der Quellen zwar schwierigere, aber auch
lohnendere Ausbeute versprechende Aufgabe. Wir wünschten, der
Verfasser würde in Zukunft seinen Lesern auch darin gerecht.
Hermann Hildebrand.
„Wasily Andrejewitscli JonkoffiBky. Ein russisclies Dichterleben von Dr. Carl
V. Seidlitz.« Mitau, E. Behre's Verlag, 1870.
Wasily Andrej e witsch Joukoffsky — mit cyrillischen Buchstaben
^yKOBCKift geschrieben — gehört vor Allem in die russische Literatur-
geschichte, und wer nur soviel von ihm weiss und zugleich erfährt,
dass es noch keine original-russische Arbeit ebenso eingehender
Art, wie die hier angezeigte, über ihn geben soll, der dürfte sich
mit Recht über diese Erscheinung verwundern.
Aber die Sache hat ihren Grund. Joukoffsky hat eine Zeit lang in
Dorpat gelebt, dort tiefe Eindrücke aufgenommen und feste Herzens-
beziehungen hinterlassen. Er kam dahin, schon berühmt aber noch
jung und empfänglich. Wir begegnen in seiner Biographie den
Namen Moier, Ewers, Parrot, Morgenstern, Asmuss, Weyrauch, Pe-
tersen *) und so vielen anderen in der Tradition unserer Musen-
stadt Fortlebenden. Wir sehen ihn in alle Kreise der damaligen
dorpater Gesellschaft sich einbürgern, auch den Fuchscommers (es
gab damals jährlich nur einen) besuchen und SmoUis mit Pro-
fessoren und Studenten trinken. Er findet Gelegenheit, die ange-
klagte und gefährdete Universität im Ministerium der Volksauf-
klärung zu vertheidigen, und thut es mit einem Eifer, wie ihn nur
die aufrichtigste Theilnahme eingeben konnte. Später zum Erzieher
der Söhne des Grossfürsten, nachherigen Kaisers Nikolaus nach
Petersburg berufen, kommt er doch möglichst oft zu längeren oder
kürzeren Besuchen wieder nach Dorpat; ja er kauft sich ein Land-
gut in der Nähe dieser Stadt, und auch als er dieses schon längst
*) Der bekannte „Dicke", wenn er auch in dem Buche durchgängig aU
Petersen auftritt.
Notizen. 579
wieder verkauft, schon mehrere Jahre, alternd und pensionirt, an
den Ufern des Rheins verlebt hat, — auch da noch denkt er an
Dorpat als den Ort, wo er den Rest* seiner Tage verbringen und
zur Erde bestattet werden wolle. Hier auch knüpfte sich das Freund-
schaftsbaud zwischjen dem russischen Dichter und seinem baltischen
Biographen, der aus dem reichen Schatz seiner persönlichen Erinne-
rungen und schriftlichen Materialien dem nun schon vor 18 Jahren
Verschiedenen ein Denkmal gesetzt hat, wie offenbar nur er es
konnte. - •
Durch das vorstehend Gesagte ist zugleich angedeutet, in
welcher Hinsicht dieses Buch dem speciell baltischen Leserinteresse
empfohlen sein muss. Aber auch alles Uebrige daran wird jedem,
auch nicht-russischen Leser wenigstens in dem Grade anziehend sein,
als es das gut ausgeführte Lebensbild eines bedeutenderen Menschen
überhaupt zu sein pflegt.
Es ist eine empfindsame und von Haus aus elegisch gestimmte
Dichterseele, die uns hier entgegentritt. Schwärmend in Idealen ge-
niesst sie zuerst in vollen Zügen dasselbe reine Glück, welches sie
auf ihre Umgebung ausstrahlt. Dann in Conflicte mit der „rauhen*
Wirklichkeit gerathend, wird ihr Zustand zwar kein verbitterter aber
wenigstens ein schmerzhafter. Als Alter und Kränklichkeit hinzu-
kommen, gewinnen deu^sch-pietistische Einflüsse Macht über sie, und
diesen wieder sich entziehend, sucht sie endlich Hülfe bei den ihr
bisher fremd gebliebenen Dogmen der angeerbten Kirche, bei der
unbedingten Unterwerfung unter das von dieser „ein für allemal"
Festgesetzte — wie Joukoffsky selbst (S. 220) den Inhalt dieser
^seiner letzten Phase definirt hat. Der Dichter Joukoffsky freilich
blieb ziemlich unberührt von den religiösen Umstimmungen seiner
späteren Tage. Noch eine seiner letzten. und mit der innigsten Ver-
tiefung ausgeführten Arbeiten war eine zum specifisch Christlichen
in gar keinem Verhältniss stehende: eine Uebersetzung der Odyssee.
Nicht ohne Bedacht aber sagten wir, dass* ihm früher die Dog-
matik fremd geblieben sei, obgleich wir damit in Widerspruch
zu einem bestimmten Ausspruch des Biographen zu gerathen scheinen.
Erlauben wir uns diesen Punkt genauer zu erörtern.
Joukoffsky schreibt, in einem Briefe an den durch französische
Schriften zu Gunsten der griechisch -orthodoxen Kirche bekannten
Stourdza (S. 219): „Ihre kleine Broschüre „le double pcuralUW habe
ich mit vielem Vergnügen gelesen und ein wahres Heimweh nach
Ihnen selber bekommen, um über einen Gegenstand zu sprechen,
680 Notisen
welcher Tbaen ron jeher so klar sich gezeigt hat, mir aber seit
sehr Kurzem erst aus dem Nebel herrorzatreten beginnt, seitdem
ich mich einsam in das Heiligthom des Familienlebens zurückgezogen
habe. Das reine Licht des Christenthums — ich liebte es von
Kindesbeinen an 1 — ward meinen Augen durch einen mit poetischen
Bildern bemalten Vorhang yerhüllt, diese nahmen eine Zeit lang
meine Aufmerksamkeit in Anspruch, beirrten meine Seele durch ihre
poetische Lüsternheit.^ — So Joukoffsky, und unser Verf. bemerkt
dazu : dieser Vorhang bedeute die pietistische Phase Joukoffsky's,
und weiter: man könne aus der angeführten Briefstelle entnehmen,
„dass ihm das alte Licht des Christenthums, wie es seine Pfade in
der Jugend, im Mannesalter, am Hofe, kurz im Vaterlande, erleuchtet
hatte, jetzt wieder ungetrübt zu scheinen anfing." *) Wir dagegen
meinen: der mit poetischen Bildern bemalte Vorhemg bedeutet
nichts anderes als eben die Poesie selbst, deren Phantasiegebilde
ihn, Joukoffsky, so voreingenommen hatten, dass er auf die Lehr-
sätze des Christenthums nicht näher einging, obgleich er dieses
letztere auch „im Nebel**, d. h. in der unbestimmten Vorstellung,
die er davon hatte, liebte. Es ist sicherlich nicht ohne Wagniss,
irgendwelche Worte Joukoffsky's anders zu deuten, als der mit ihm
so vertraute und überhaupt so fein beobachtende Biograph sie ge-
deutet hat ; aber die ganze Biographie selbst spricht für unsere Aus-
legung und gegen die des Verfassers« Joukoffsky hatte bis auf seine
letzten Lebensjahre gerade soviel oder sowenig Christenthum als
etwa der von ihm bewunderte, nachgeahmte und übersetzte Schiller.
Seine Lehrjahre fielen in die Zeit der aufgeklärten Humanitätsideale,
und wer damals das Christenthum „liebte^, identificirte es eben mit .
diesen Humanitö.tsidealen.
Das Schicksal Joukoffsky's hat manchen romanhaften Zug. Ge-
boren von einer türkischen Grefangenen, erhält er nicht den Namen
seines Vaters, eines wohlhabenden Gutsbesitzers im Gouvernement
Tula, sondern den eines benachbarten armen Edelmanns, der ihn
adoptirt. Er bleibt aber bei dem eigentlichen Vater und wird als
Kind des Hauses erzogen. Es entwickelt sich bei ihm eine tiefe
Leidenschaft für die Tochter einer seiner natürlichen Schwestern. In
Folge der Satzungen seiner Kirche, welche die Ehe zwischen Oheim
*) Beiläufig bemerkt : zeigt sich nicht in diesem Satze ein grösseres Wohl-
wollen des Verfassers gegen dasjenige Element, welchem die letzte Phase Jou-
koffsky'd angehörte, als gegen das seiner vorletzten? — Warum eigentlich das?
pTi.l
Notizen. 581
und Nichte verbietet, oder vielmehr nur in Folge einer unbegründeten
Anwendung derselben auf den gegebenen Fall — denn vor dem Ge-
setz war ja Jene gar nicht mit ihm verwandt — muss er der Heiss-
geliebten entsagen und sie die Gattin eines Anderen (des dorpatschen
Professors Moier) werden sehen. Von der dadurch geschlagenen
Herzenswunde hat er nimmer zu genesen vermocht. Zwar heirathet
er noch, er schon ein Greis, die 19jährige Tochter des livländischen
Malers v. Reutern in Düsseldorf, aber bei allen Lobsprüchen, die er
seiner jungen, kränklichen und pietistischen Gattin ertheilt, seufzt
er im Stillen über das „theuer erkaufte Familienglück** und denkt
er immer wieder mit Sehnsucht an das Grab seiner ersten Liebe
auf dem dorpater Kirchhof. So ist denn^ was sich vor uns hier ab-
spinnt, ein Menschenleben gewesen voll Liebe, Freundschaft und Poesie,
bestrahlt vom Ruhme und getragen von Fürstengunst, und dennoch
in ein dauerndes Leid auslaufend — eine Herzensgeschichte rührender
als die vieler Romane, ein Diöhterschicksal, das selbst wieder zum
Stoff und Gegenstand künftiger Dichtung zu werden vermöchte.
Was den Werth dieser Lebensbeschreibung für die russische
Literaturgeschichte betrifft, so wird derselbe gewiss nicht gering an-
zuschlagen sein. Für den deutschen Leser freilich fehlt in dieser
Hinsicht etwas — nämlich die gehörige Ausmalung der Nebenfiguren.
Da kommen und gehen sie, diese Bludow, Wäsemsky, Neledinsky,
J. und A. Turgeneflf, Stourdza, Chomäkoflf u. A., alle ohne dass der
Verf. sie ordentlich einführte und uns vorstellte, als ob es lauter alte
Bekannte wären. Nur einmal, bei Gogol, weicht der Verf. von
dieser Regel ab, und da glaubt er sich merkwürdiger Weise wegen
der beigebrachten „Speci^litäten'* entschuldigen zu müssen. Man
sieht, er scheint sich vorzugsweise russische Leser gedacht zu haben,
und doch, glauben wir, hätte er selbst unter dieser Voraussetzung in
der angegebenen Beziehung freigebiger sein dürfen. Ein Hinter-
grund ist immer gut, bei jedem Bilde und selbst für den, der sich
ihn allenfalls hinzuzudenken vermag. Indessen, auch so wie es ist,
gewährt das Buch uns lichtvolle Einblicke in die Geschichte der
russischen Literatur. Wenigstens von Joukoflfsky's eigener schrift-
stellerischen Thätigkeit und von dem Inhalt seiner hauptsächlichsten
Werke erhalten wir eine Vorstellung, die nichts an Klarheit zu
wünschen übrig lässt. Damit ist aber zugleich das allgemeine Wesen
der russischen Literatur in den ersten Jahrzehnten dieses Jahr-
hunderts (mit dem Historiker Karamsin an ihrer Spitze) gekenn-
zeichnet. Dieser empfindsame Idealismus, schwärmend für Liebe,
Baltische Monatsschrift, N. Folge, Bd. I, Heft 11 n. 12. 39
»82 Notbra.
HoffiiUBg, Poesiei Ahnuag einer besseren Welt a. 8. w. — durch
welche ungeheure Kluft ist er doch geschieden von dem gegenwärtig
herrschenden und oft so arg übertriebenen Realismus der russi*
sehen Schriftsteller. Das Mittelglied zwischen beiden bildete be-
kanntlich der Byronismus eines Puschkin und Lermontow. Jou-
koffsky hat nicht nur diese beiden überlebt, [sondern ist auch noch
zu Gogol, dem Anfänger der realistischen Epoche, in nahe Beziehung
gekommen. Aber natürlich ist er immer ein Kind seiner Zeit, der
Zeit seiner blühenden' Jahre, geblieben; die Modificationen seiner
Dichtung konnten nicht gleichen Schritt halten mit den Wandlungen
des Zeitgeschmacks, und so musste er es selbst ansehen, wie die
höchste Gunst des lesenden Publicums sich von ihm auf andere Lieb-
linge übertrug. Nichts aber ehrt ihn vielleicht so sehr als die neid-
lose Unbefangenheit, mit welcher er diese Wendung sich vollziehen
sah und z. B. Puschkin für einen Höherbegabten als sich selbst er-
klärte. Bei d^u gegenwärtigen Geschlechte seiner Landsleute stehen
Joukouffsky's Werke wahrscheinlich in noch niedrigerer Werth-
schätzung als bei dem der dreissiger und vierziger Jahre. Was
gilt der Cultus der Schönheit und Humanität in dem Zeitalter der
Nationalitäten! Eine kosmopolitische Abstraction, eine abgethane
Kinderei !
Aber dieser nämliche idealistische Joukoffsky ist auch Erzieher
des Herrschers gewesen, von dem die „neue Aera** Russlands datirt,
und es könnte daher sehr wohl sein, dass ihm eine weit über das
blos Literarische hinausgehende Bedeutung für die Geschichte Russ-
lands zuzuschreiben ist. Ist doch in dieser Beziehung unter anderem
z. B. auch das merkwürdig, dass Joukoflfsky, wie S. 111 erzählt
wird, förmlich „in Geschmack kam* Leibeigene frei zu lassen und
frei zu kaufen. Es war dieses im Anfang der zwanziger Jahre, ge-
rade zu gleicher Zeit als die Censur dem berühmten und auch schon
bei Hofe beliebten Dichter seine Uebersetzung von Schiller's: „Der
Mensch ist frei geschaffen, ist frei'' etc. nicht zu drucken erlaubte.
„Vierzig Jahre später* — so bemerkt dazu der Verfasser — „liess
die Censur den kaiserlichen Ukas von der Befreiung der Bauern in
Russland wohl durch". Joukoffsky gehörte natürlich zu den Frei-
sinnigeren im damaligen Russland, und sammt seinen Gesinnungs-
genossen wurde auch er von der doniinirenden Partei gehasst und
verdächtigt. Mit der Thronbesteigung des Kaisers Nikolaus änderten
sich alle diese Dinge und Joukoffsky ist seitdem wegen seiner religi-
ösen und politischen Ansichten unangefochten geblieben. Das Ver-
Notnsen. 683
trauen^ mit welchem ihm die Erziehung des Thronerben ttbergeben
war, ist niemals erschüttert worden. Den künftigen Geschieht-
Schreibern Russlands und wohl auch schon vielen gegenw&rtigep
Lesarn wird Joukoflfsky's Biographie vor allem in Betracht dieser
seiner pädagogischen Wirksamkeit interessant sein.
Dem bedeutenden Inhalt des Buches entspricht die schöne Dar-
stelluBgBgabe des Terfossers. Er versteht es lebendig 2u erzählen
and anschaulich zu schildern — eine Eigenschaft, die bei uns zu
Lande bekanntlich nicht zu den gewöhnlichen gehört. Dem warmen
Hauche, welcher das Werk durchweht, fühlt man den Herzensantheil
des Verf. an seinem Gegenstande an. Es ist aber nicht blos der
Ausfluss persönlicher Liebe und Pietät, sondern zugleich auch das
Erzeugbiss einer höher zielenden Absieht, die allerdings nur ^zwi-
schen den Zeilen^ zu lesen ist, gemäss einer ohne Zweifel hierauf
zu beziehenden Andeutung des* Verf. am Schlüsse seines Budies. Um
keine Indiscretion zu begehen, hat auch der Referent hier dem
Leser das Vergnügen des eigenen Ergrtndens zu gönnen.
— z.
Li der berliner statistischen Zeitschrift (1870, Heft 1 u. 2) und
in Hildebrand's Jahrbüchern (1870, Heft 4) treffen wir ein paar Ab-
handlungen des bereits durch seine „Biostatik der Stadt Reval" be-
kannt gewordenen Statistikers Herrn E. Kluge, und obgleich
keinerlei einheimische Literessen durch jene beiden Aufsätze be-
rührt werden, so glauben wir derselben hier dennoch kurz Er-
wähnung thun zu sollen, da der Verfasser bekanntlich unseren bal-
tischen Provinzen angehört.
Die erstere Abhandlung: „lieber die Errichtung statistischer
Büreaux für grössere Städte** hat sich die Aufgabe gestellt, allen
städtischen Communen von über 50,000 Einwohnern eine praktische
Anleitung zur Errichtung der genannten Anstalten zu geben. Da
Riga bereits versorgt ist, und keine der übrigen baltischen Städte
die angegebene Bevölkerungshöhe auch nur annähernd erreicht, so
glauben wir von dem Inhalte des Aufsatzes um so eher, absehen zu
können, als der bis in die kleinsten Details eingehenden Anweisung
speciell die „Städteordnung für die sechs östlichen Provinzen der
preussischen Monarchie vom 30. Mai 1853''* zu Grunde gelegt ist
und wir auch sonst die allgemeinere Anwendbarkeit solcher genauen,
die örtlichen Bedürfnisse und Umstände unberücksichtigt lassenden
89«
^(84 Notizen.
Recepte sehr in Zweifel ziehen möchten. Die allgemeinen, in dem
Aufsatze berührten Gesichtspunkte bieten nichts Neues.
, Die zweite Abhandlung in Hildebrand's Jahrbüchern: ^^Die
7. Sitzungsperiode des internationalen statistischen Congresses . im
Haag^^ ist ein dankenswerther Bericht über den Verlauf, die Ver-
handlungen und Beschlüsse des genannten Congresses. Gern hätten
wir, trotz unserer Abneigung gegen Citate, in diesem Falle von
Abschnitt zu Abschnitt auf das Genaueste die jedesmaligen Quellen
citirt gesehen; denn wenn ein solcher Auszug auch als Ueber-
sicht genügt, so muss jedenfalls demjenigen, der über specielle Punkte
sich auf Grund der eigentlichen Quellen ausführlicher Orientiren will,
die Gelegenheit dazu geboten sein.
Da wir in der vorerwähnten Abhandlung die „Biostatik der
Stadt Reval von E. Kluge, Reval 1867^' citirt finden, so können wir
der Versuchung nicht widerstehen, bei dieser Gelegenheit den Herrn
Verfasser dringend zu mahnen, den von ihm gewählten Titel jener
Schrift durch Veröffentlichung des die Statistik der Verstorbenen
behandelnden Theiles doch endlich zur Wahrheit zu machen: der an
sich bereits etwas gezwungene Titel „Biostatik" verliert vollends allen
Sinn^ wenn der Statistik der Geborenen keine Darstellung der Sterb-
lichkeitsverhäjtnisse gegenüber gestellt ist.
Am Jahr688chlu88.
Riga, den 31. December.
JNeujahr ist vor der Thür und wir gleiten aus einem Zeitabschnitt
hinüber in einen anderen, kaum merklich, wie wenn das ablaufende
Jahr ein Jahr wie andere auch gewesei^wäre. Wenn ein Nach-
bar dem anderen nicht sein „prosit Neujahr' zuriefe, so mahnte uns
kaum etwas an die Bedeutung des morgenden Tages. Denn er trägt
seine Bedeutsamkeit nicht an der Stirn, sie wurde ihm vielmehr von
einer Wissenschaft verliehen, die, weit erhaben über den kleinen
Maasse des Menschenlebens, aus den Gesetzen des Weltalls ihre
grossen Satzungen unserem Tagesleben gab. So wird einst auch das
Jahr 1870, an dessen Schluss wir, sei es mit üblichem Spiel im Kreise
der Familie, sei es mit dem Choral, den die Posaunen vom Thurme
des rigaschen Rathhauses blasen, das neue Jahr in althergebrachter
Weise knüpfen, erst von der Geschichte mit der Bedeutsamkeit ge-
nannt werden, die nur wenige Jahre auszeichne^.
Nach Frankreich weist uns die Erinnerung vorwiegend hin wenn
wir dieser von der Geschichte ausgezeichneten Jahre gedenken, und
von Blut und Gewalttjiat finden wir sie erfüllt. Aber 1789 und
1848 tragen für uns doch ein Gepräge, welches uns mit den Gräueln
versöhnt, die sie aufweiset: wir sehen in ihnen die Geburtsfeste
eines grossen Theiles der Ideen, in denen wir heute leben. Unser
geistiges Leben blüht und wurzelt in den Errungenschaften jener
Jahre. Mehr von negativer Bedeutung war die Zeit von 1813. Es
wurde Gewalt durch Gewalt vertrieben, und als dann im Innern
der westlichen Staaten die Freiheit ihr Haupt erheben wollte, ward
auch sie gewaltsam niedergeschmettert.
Wer wollte es leugnen, dass heute das Jahr 1870 mehr der Zeit
der Befreiungskriege mit ihrem negativen Charakter, als den Perioden
der Revolutionen mit ihren positiven SchöpAingen gleicht! Denn
586 Am Jahresschluss.
selbst das Grösste, was dieses Jahr uds gebracht hat, Kaiser und
Reich, ist eine Form, deren segensreichen Inhalt wir erst von der
Zakunft erwarten. Vernichten und Zerstören ist die Arbeit des
Jahres 1870 gewesen, das Schaffen und JAufbauen hoffen wir von
den kommenden Jahren.
Zunächst freilich gleicht diese Hoffnung mehr den Wünschen,
die wir in der eigenen Brust umhertragen, unbekümmert um
die thatsächlichen Verhältnisse der Aussenwelt, dem Ausdruck der
eigenen, subjectiven Bedürfnisse. Denn was heute am meisten
unseren Geist ^beschäftigt, sind die Mittel der Vernichtung, nicht die
des Schaffens. Zu Anfang des Jahres 1870 meinte man, es sei die
Zeit gekommen, wo die civilisirte Welt den Tomahawk begraben
und sich sicher niedersetzen könne, die Friedenspfeifte im Kreise der
Mächtigen der Erde umhergehen zu lassen. Man erörterte eifrig die
Abrüstungsfrage und ei^e Schwärmer glaubten an die baldige
Lösung derselben. Heute hat die Bevölkerung zweier grossen Länder
den Pflug zum Schwerte verwandelt und eben wird die Stadt, die
sich gern fiir den Mittelpunkt der Civilisation hält, von dem ersten
Culturvolke unserer Zeit mit den gewaltigsten Zerstörungsmitteln,
die die Kriegsgeschichte aufeuweisen hat, angegriffen. Und wo wir
hinblicken in Europa, da finden wir diesen selben 'Geist der Zer-
störung thätig. Fast alle Staaten scheinen aus dem Gleichgewicht
gebracht zu sein, welches die Bürgschaft für die Sicherheit des
nächsten Tages bietet, und die binnen kurzem zusammentretende
londoner Conferenz wird den getreuen Ausdruck der Umwälzungen
bieten, welche in den staatlichen Verhältnissen unseres Welttheiles
innerhalb eines halben Jahres zum Ausbruch gekommen ist. Dennoch
wird diese Conferenz von hoher Bedeutung sein, denn was der grosse
deutsche Kriieg an positiven Schöpfungen bisher aufzuweisen hat,
wird dort zuerst seine Probe zu bestehen haben, das umgestaltete
Europa wird sich in ihr spiegeln. Zwei Thatsachen spannen hierbei
hauptsächlich unsere Aufmerksamkeit: erstens die Stellung, welche
das neue deutsche Reich einftehmen wird, und dann das demnächst
grösste Ereigniss jüngster Zeit, die plötzlich imprevisirte Annäherung
zwischen Deutsehland und Oesterreich. Oesterreich- seheint en:dlieb
aus der Politik der trügerischen Ideen und Traditionen zu der der
realen Verhältnisse übergegangen zu sein, und während es vor
wenigen Monaten gegen Deutschland rüstete, hat der Fall Frank-
reichs rasch andere Gefühle in der Seele des freundschaftebedürf-
tigsien der Staaten angefacht.
Am Jahresachluss. 587
Diesen grossen Ereignissen des Westens reiht sich ebenbürtig
an Wichtigkeit für uns ein anderes im Osten an, auf welches sich
unser Auge richtet, wenn es die Bilder des Kampfes in Frankreich
verlässt. Dort stehen zwei Nationen Europas in Waffen, und eine
dritte schickt sich an, es ihnen an kriegerischem Geiste gleich zu
thun. Soeben brachten uns die Zeitungen die Grundzüge einer neuen
Wehrverfassung für Russland, die dem preussischen Muster der Volks-
bewaffnung folgt. Auch bei uns soll der Bürger, während er den Pflug
führt oder die Feder, während er den Hammer oder das Weber-
schifflein bewegt, zugleich mit dem Schwert umgürtet werden, das er
mit kundiger Hand zu schwingen weiss. Diese rEntwurf zu einer Re-
form, deren Einführung wir schon in nächster Zukunft entgegensehen,
ist nicht das Project zu einer zusammenhangslosen, unvorbereiteten
Institution, sondern der Abschluss einer Reihe von Maassregeln, die
die Verstärkung der Militärmacht Russland's im Auge hatten. Schon
seit dem Krimkriege wurde auf dieses Ziel hingearbeitet. Die Er-
fahrungen jenes Krieges mögen zuerst die Nothwendigkeit einer
Eisenbahnverbindung der weiten Grenzen des Reichs nahe gelegt
haben. Strategische Rücksichten riefen die grosse Thätigkeit der
Staatsregierung zuerst hervor, die dieselbe in den letzten 15 Jahren
in dieser Beziehung entfaltet hat, mercantile Gründe traten hinzu, und
so sehen wir heute Russland von der Ostsee bis zum Schwarzen
Meere, von der Wolga bis zur Weichsel von den Hauptadern einer
Schienenverbindung durchzogen, auf deren Herstellung der Staat un-
geheure Mittel verwandt hat. Während Russland im Jahre 1850
nur 468 Werst Schienenweg hatte, waren am 1. Januar d. J. bereits
7,748 Werst im Betriebe, deren Anlagecapital sich auf 700 Millionen
Rubel belief. Grosse Opfer wurden zur Anlage von Gewehrfabriken
und Geschützgiessereien, und in letzter Zeit zur Neubewaffnung des
Heeres gebracht.
Russland ist weniger als andere Länder einem äusseren Angriffe
ausgesetzt und ein solcher Angriff ist ihm schon um deswillen weniger
verderblich, weil seine weiten Gebiete von geringer Bevölkerung und
Cultur belebt sind, gegen deren Leben ein Angriff gerichtet wäre.
Mit dem Steigen der Cultur aber mehren sich die verletzbaren Theile
des Körpers und mehrt sich das Bedürihiss nach ausreichendem
Schutze.
Nachdem im Jahre 1861 die Leibeigenschaft in Russland auf-
gehoben war, schritt man alsbald zu den Vorbereitungen eines
anderen Mittels der Verstärkung der Wehrkraft des Reichs. Die
588 Am JahresschlaM.
Rekratenaoshebangen, die bisher nur in längeren Perioden wieder-
kehrten, wurden seit 1863 alljährlich wiederholt, die Dienstzeit wurde
verkürzt, die Masse der jährlich auf unbestimmte Zeit entlassenen
Urlauber vermehrt, die Stellvertretung durch Loskauf erschwert. E8
wurde auf diese Weise der allmälige. Uebergang zu dem jetzt ins
Leben tretenden Wehrsystem angebahnt. Es mag auch hierbei nicht
der militärische Gesichtspunkt allein maassgebend gewesen sein. Die
Aufhebung der Leibeigenschaft löste überall die harten, aber starken
und einfachen Fesseln, welche im Volke die Ordnung aufrechthielten.
Bei der quantitativen und qualitativen Unzulänglichkeit anderer Ele-
mente der Ordnung mag auf die militärische Zucht und Disciplin
ein Theil der früheren Zucht des Erbherm übertragen worden sein.
Das Wehrgesetz, welches gegenwärtig von einer Allerhöchst nieder-
gesetzten Oommission ausgearbeitet werden soll, wird auch mit seiner
Einführung noch nicht die Vollständigkeit der preussischen Wehr-
verfassung unserer Tage erreichen, und es werden noch Jahre ver-
gehen ehe das Princip der allgemeinen Militärpflichtigkeit in seinen
weiteren Consequenzen in Russland zur Geltung gelangen und die
Frucht der seitherigen Reformen gereift sein wird. Lidessen ver-
liert dieser Schritt dadurch nicht an seiner ungeheuren Bedeutung
besonders für das wirthschaftliche und culturliche Leben des Volks.
Wie in Preussen in die Zeit vor und während der Befreiungs-
kriege die meisten grossen Reformen fallen und an die Abolition
der Erbunterthänigkeit und die Schöpfung des kleinen Grundbesitzes
sich die Volksbewafl&iung reihte, so schliessen sich diese Reformen
auch in Russland eng aneinander. Und als ob die Parallele zwischen
den grossen Reformperioden der beiden Nachbarvölker bis zuletzt
eingehalten werden sollte, fällt, wie in Preussen die Städteordnung
Stein's, so auch bei uns die im ablaufenden Jahre zum Gesetz ge-
wordene neue Städteverfassung zeitlich mitten in die anderen grossen
Neuerungen hinein.
Mit wie lebhaftem Interesse wir Balten allen den bisher berührten
Fragen folgen, stehen wir zu der letzteren doch anders als zu
den übrigen. Denn während wir uns zu den äusseren politischen
Verhältnissen und auch zu der neuen russischen Wehrverfassung in
gewissem Sinne passiv verhalten, reicht die Frage nach der neuen
Stadtverfassung in den Bereich unserer Thätigkeit, unseres Mit-
schaffens hinein. Die von den Verhältnissen der Städte des übrigen
Reichs abweichenden Zustände in den Städten unserer haltiscbeu
Provinzen fordern Modificationen in der neuen Stadtverfassung, die
Am Jahresyefohlusa. S80
dieflen Zustäaden gerecht werden. Bereits seit vielen Jahren mit
der Regierung geführte Verhandlungen über eine neue Verfassung
d,er baltis.chen Städte haben biBher kein definitives Resultat er-
zielt. Unsere städtischen Vertretungen arbeiten an dieser wichtigen
Aufgabe uQ,d wir erwarten von dem kommenden Jahre endlich auch
in i^n^ere^ Provinzen auf örund dieser Arbeiten eine Stadtverfajssung
eingeführt zu sehen, welche der weiteren freien E»twickelung unseres
Städtewesens mit objectiver Würdigung der bisbevigen Bedingungen
ikreB Gedeihens den Weg ebnet.
Eine fernere Angelegenheit, die eben alle gebildeten Clasaen bei
Uf^s beschäftigt und die ausiitchliesslich baltische Bedeutung hat, ist
die Justizreformi. Auch sie gleicht leidier dem sisyphischtcn Stein, den
wir sieit Jahxeiii den Berg hinaui^ollen, um dann wieder unten an-
zufaii^en« Auch um ihretwillen sind jahrelange Verhandlungen
resuljt^^loi? gepflogen, umiassende und gründliche Entwürfe umsonst
ausgearbeitet worden. Wieder wälzen die vereinten Kräfte der
Provinzen d9^an, das lange gefühlte \mA immer dringender werdende
Bedürfiaiss nach einem verbesserten Gerichtswesen und Process-
verlahren befriedigt zu sehen.
Noch manche andere ungelöste Fragen von hoher Bedeutung
für baltiachprovinzielles Leben nehmen wir aus dem alten ins neue
Jahr hinüber. Der Beginn des Jahres 1870 war ausgezeichnet durcJ^
biesooders rege Thätigkeit unserer drei leitenden politischen Körper-
schaften. Aus den Landtagen der drei Ritterschaften gingen ebenso
zahlreiche als wichtige Reformen und andere Beschlüsse hervor, deren
viele bereits als Gesetze in Wirksamkeit getreten sind. Wiar heben
hier besonders den von der liviändisicben Ritterschaft geschaffenen,
von dein alten Kirchspielsconvente al^ezweigten Kirchesr und Schul-
convent hervor, der von den bäuerlichen Gemeinden durch selbst-
gewählte Delegirte beschickt T^erden soll. Zum ersten mal am
Schlüsse dieses Jahres hat dier livländische Bauer einen allgemeinen
Wahlact vorzunehmen gehaJM und zum ersten mal werden Herr und
Bauer gemeinsame Angelegenheiten völlig coordinirt mit einander
berathen und ordnen. Die^e und mt^iche wdere neue Einidehtung
werden im beginnenden Jahre ihre erste Prohe zu bestehen haben.
Wenn wir im nächsten Jahre keine Reformlandtage wie heuer zu
erwarten h^'ben, so werden wir doch vollauf an der piraktiaehen
Verwerthung der gefassten Beschlüsse, der vielen neuen Institutionen
590 Am JahreMchhiM.
zu arbeiten und auf eine weitere Entwiekelong des (jegebenen uns
Torznbereiten haben. Denn ansere agraren wie stadtischen Ver-
hältnisse drängen mit fast ongestfimer Gewalt vorwärts. Wir er-
wähnen der von der Staatsregierang projectirten Abolition der Kopf-
steuer und Ersetzung derselben durch eine Grondsteaer. Diese
Maassregel, verbanden mit der allgemeinen Wehrpflicht stellt die Auf-
hebung einer Einrichtung in Aussicht, deren Misstände seit lange zu
vielen Beschwerden und zu entsprechenden Abolitionsvorschlägen
seitens der Landtage Veranlassung gegeben haben. Der solidarischen
Haft der Gemeinden fär ihre Leistungen gegenüber der Krone wer-
den ihre hauptsächlichsten Objecte, Rekrutenlast und Kopfsteuer
entzogen und damit ihr Zweck und ihre Fortdauer au%ehoben wer-
den. Für die Entwickelung unserer Gemeindeverh'ältnisse wird da-
durch eine äusserst drückende Fessel beseitigt werden. — Femer
dürfte sehr bald sich die Nothwendigkeit herausstellen, den Verkauf
der Bauerländereien für Herren und Bauern zu erleichtem und da-
durch mit zu beschleunigen. Diese Angelegenheit gewinnt von Tage
zu Tage an Bedeutung und muss in kurzer Zeit die Aufmerksamkeit
und Thätigkeit der Landtage unserer Provinzen in Anspruch nehmen
wenn nicht bedeutende Schäden sich verallgemeinem sollen. — Eine
andere Angelegenheit, welche das flache Land bewegt, ist das
Kirchenpatronat, das Verlangen der bäuerlichen Bevölkerung nach
Mitwirkung bei der Besetzung der Pfarren. Diesem Verlangen ist
jedoch die Anschauung einiger unserer maassgebenden öffentlichen
Factore — wie wir meinen, mit Recht — entgegengetreten und wir
hoffen, dass sich diese Anschauung auch in der bäuerlichen Bevöl-
kerung allmälig Bahn brechen wird. — Die agraren Verhältnisse
überhaupt, wie sie sich auf Grund der neuen Landgemeindeverord-
nung seit vier Jahren bei uns herauszubilden im Begriff sind und
trotz mancher Misstände uns zu den besten Hoffnungen für die Zu-
kunft berechtigen, werden noch lange unsere rege Theilnahme und
Arbeit in Anspruch nehmen.
Dieses sind die vornehmsten Gegenstände, auf welche als Hinter-
lassenschaft des Jahres 1870 in dem kommenden Jahre voraussicht-
lich unser öffentliches Interesse gerichtet sein wird. Es sind vielerlei
und schwerwiegende Dinge und wir dürfen nicht annehmen, dass
wir einer „stillen Zeit** entgegengehen. Wenn wir vom Biiege ver-
schont wurden und unsere Sylvesternacht nicht auf Vorposten zu
verbringen haben, so bleiben wir doch auch fernerhin f^toujours en
Am JahresschloBS. 591
Auch die „Baltische Monatsschrift^ wird fortfahren, nach Möglich-
keit das Ihrige zur Förderung der schwebenden baltischen Fragen
beizutragen. Denn was auch die Zukunft; bringen möge, es bleibt
die Pflicht eines Jeden, auf dem ihm gewordenen, wenn auch un-
günstigen Posten auszuharren.
E. B.
Berlcktlgong.
Im September-Octoberheft der „Baltischen Monatsschrif!;^ dieses Jahrgangs,
S. 483) Zeile 13 von unten hat es zn heissen: statt „Scriptor. rer. germ.^ —
„Monamenta germ. hist.**
Von der Censnr erlaubt pfifft» ^sn 8. Januar 1871.
Druek der Livländisehen Gonvemements-Typographie.
^.^L.
Baltische Monatsschrift.
Herausgegeben
von
unter Mitwirkung von Bibliothekar Cl. Berkholi in Riga,
Oberlehi-er H. Diedericlis in Mitau, Professor E. Laspeyres in
Dorpat, Oberlehrer fr. Bienemann in Reval.
19. Band.
Neue Folge. — Erster Band.
<iT^^'^'
Inhalt: Zur Lage Seite 1.
Beitrag zur Geachichte des baltischen Poly-
technicuma . n 20.
Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigen-
schaft und seine Vorgänger ..... »38.
Zur livländischen Landtagsgeschichte ... »84*
Notizen . „ 100.
RIGA, 1870.
Verlag von Bacmeister St Brutzer.
Preis pro Jahrgang 4 Rbl. 50 Kop.
Per Post: Postgebühren 45 Kop., Verpackungskosten 5 Kop. = 6 Ebl.
In Deutachland 5 Thaler.
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sind: ■^.
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Ton der Redaction*
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erschiedene Umstände haben die Herausgabe dieses
Heftes aufgehalten. Diese Verspätung wird jedoch um so wend^#
eine Störung des regelmässigen Erscheinens unserer Zeitschrift z^
Folge haben, als vorläufig für diesen Jahrgang der Modus WW^
monatUcIier Hefte eingehalten werden soll. ■;
Jedes dieser Doppelhefte wird nur aus 6 bis 7 Druckbogen hÜ^
stehen, also dem Umfang je zweier bisheriger Hefte nicht glei<äb
kommen, dem entsprechend auch der Preis um 2 Rbl. pro Jahi^fLif^
d. i. auf 4 Rbl. 50 Kop. ermässigt worden ist.
Hinsichtlich des Inhalts der hiemit beginnenden „Neuen Fo]
der Baltischen Monatsschrift brauchen wir kein Programm aufzustellö%.
weil wir im Ganzen in derselben Art und Weise fortzufahren |^
denken, welche dieser Zeitschrift schon seit Jahren eigen gew<
ist und daher als zur Genüge bekannt vorausgesetzt werden
Die im Titelblatt als „mitwirkend" genannten Herren wei
die Gefälligkeit haben, geeignete Beiträge für die Baltische Mosta^
Schrift anzunehmen und überhaupt alle Beziehungen zwischen diÄ
Mitarbeitern und der Redaction vermitteln zu helfen. Selbstversttoä!^*
lieh aber können Beiträge auch direct an die Redaction oder an di^
Verlagshandlung von Bacmedster & Br.utzer in Riga eingesanäl
werden.
Unsere nächsten Hefte werden unter Anderem folgende Auftä^^.
enthalten : . . * ä'
„Statistische Studien zur Wohnungsfrage**, von Laspeyre«» 'i^i
Portsetzung des im vorliegenden Heft abgebrochenen AaM^mf
„Zur livländischen Landtagsgeschichte .
„Marie Therese und Louise de La Vallifere" von H. Sewi-äg
„Winkelmann und der livländische Landrath von Berg**. V.
„lieber lettische Urgeschichte und Mythologie** von G. Berfch^li^;
„Garlieb Merkel als ästhetischer Kritiker, poHtischer Sdb^l^
steller und Journalist** von H. Diederichs.
. •■ •
-•a!»**
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äA A''y^;
Baltische Monatsschrift.
Herausgegeben
von
unter Mitwirkung von Bibliothekar «I. BerkhoU in Riga,
Oberlehrer H. Diederick in Mitau, Professor E. Laspeyres in
Dorpat, Oberlehrer Fr. Bieneiiiann in Reval.
19. Band.
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Neue Folge. — ZweHer Band.
März nuLdlApril IS^O.
Inhalt: Statistische Studien zur Wohnungsfrage . .
Zur livländischen Landtagsgeschichte. Forts.
Marie Therese und Louise de La Valliere .
Notizen
»
Seite 113.
146.
155.
191.
-e%»tf?\
RIGA, 1870.
Verlag von Bacmeister ^ Brutzer.
Preis pro Jahrganjg 4 Rbl. 50 Kop.
Per Post: Postgebühren 45 Kop., Verpackungskosten 5 Kop. = 5 Rbl.
In Deutschland 5 Thaler.
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Literarischer Bericht
pro •Januar-Febniar 189^0.
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Mitgetheilt von der Buchhandlung Bacmeister t Bmtcer in Klga» diii^
welche alle hier verzeichneten Schriften zu beziehen sind : . V
r.f-
I. Enoyklopfidie. Literaturwissensohaff. '^
Bloatschirs Staatswörterbach in 3 Bdn. hersg. von -Löning. 6. Heft. (Zl
Schulthess.]
Handbuch, politisches. Staatslexikon für das deutsche Volk. 7. Heft. [Le^B^,
Brockhaus.] -^ i|ö.
Pfleiderer, E., Leibnitz als Verfasser von 12 anonymen, meist deutsch - poUtitfli^
Flugschriften. [Leipzig, Fues.] 1/ 8.
f. SWers, J., Humboldt und die deutsche Bildimgsquelle in Livland. Rede.
Steinacker.]
Genee, R., Geschichte der Shakespeare'schen Dramen in Deutschland. (Lell
Engelmann.] 3,
WIechinann, ^C. M., Mecklenburgs altniedersächsische Literatur. Ein bibl
Repertorium der seit Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum SQjähr. . ...^.
in Mecklenburg gedruckten nie^ersächs. oder plattdeutschen Bücher. 2;^ H^
Zweite Hälfte des 16. Jahrh. [Schwerin, Stiller.] ' Jr^S^-
Ebreoberg, C. G., Gedächtnissrede auf Alex. v. Humboldt gehalten am 7. Juli ^j^.
[Berlin, Oppenheim.] '"^$^-
II. Philosophie. ^' ;
Meissner, C, die Natur aufgefasst nach ihren Aeusserungen und Ableitung^ flfr^
Begriffs. [Jena, F. Frommann.] --^OT.
Müller, M., im Lande der Denker! oder: werden die Gelehrten, namentlich tilSne
lieben Landsleute, noch nicht bald einig in Bezug einer Neugestaltung mu^es
Culturideals? [Berlin, Loewenstein.] — ^:1il.
Brasch, M., ßened. v. Spinoza's System der Philosophie nach - der £tliik t^ ^en
übrigen Tractaten desselben in genetischer Entwickelung dargestellt. EBedin,
Wruck.] * ^sJ
B&chner, L., die Stellung dei^ Menschen in der Natur etc. 2. Liefg Ül^^iff
Thomas.] ^' -it^i
Onckea^ W., die Staatslehi-e des Aristoteles in historisch -politischen üi
1. Hälfte. [Leipzig, Engelmann.]
Daanier, G. F., Charakteristiken und Kritiken, betr. die wisse nschaftlzche^L^li
f lösen und socialen Denkarten, Systeme, Projekte und Zustände der ti^#tcn
eit. [Hannover, Rümpler.] ^ ^bv B.
111. Rechts- und Staatswissenschafl. Nationaloekonomie. ' C^^>'
Rofflberg, H., das Strassenrecht auf See. Mit 6 Taf. in Farbendr uek. fBi^hiL
Heyse.] ^^
(toaritsch, Institutionen und Rechtsgeschichte. Lehrbuch und Repititozii
römischen Privatrechts und Civilprocesses. 2. Ausg. [Berlin, Weber 1 * •
WIrth, Max, Grundzüge der National-Oekonomie. [Cöln, Du Mont-Sl *
Handbuch des Bankwesens. ■ '^ *2
Bernau, die Abschaffung der Todesstrafe. Anmerkungen zu deni Bntift:
Strafgesetzbuches für den norddeutschen Bund. [Berlin, v. DeekerV
Biscbof, A., Katechismus der Finanzwissenschaft. [Leipzig, Webjör.J 'föj
Tbudicbutu, F., Verfassungsrecht des norddeutschen Bundes und dea ^oL
2. Oetzte) Abth. [Tübingen, Laupp,] . - ^V^t
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