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Full text of "Baltische Monatsschrift"

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Baltische  Monatsschrift. 


19.  Band. 


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IVeiief  F'olg'e 


I.  Band. 


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Riff«,  1890. 

Yerli^  von  H.  Brutzer  k  Co. 


THE  NEW  YORK 

PUBLIC  LIBRARY 


ASTOa,    LF^'OX    AND 
TILDLN    FT  •     ■  ;..t'|0N3 

R  1903  L 


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lihalt. 


Zur  Lage,  (E.  B.) Seite     1 

Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicams),  (E.  Hol- 
länder)  t „      20 

Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft  and  seine  Vor- 
gänger, (H.  Diederichs) »38 

Znr  livländischen  Landtagsgeschichte „      84 

Notizen  .     .    .    « , „    100 

Statistische  Stadien  zar  Wohnangsfrage,  (E.  Laspeyres).    .    .  »    113 

Zar  livländischen  Landtagsgeschichte  (Forts.)  ........  f,    146 

Marie  Therese  and  Loaise  de  La  Valli^re,  (H.  Sewigh)     .    .    .  ,,    155 

Notizen »191 

Die  Politik  der  Päpste  and  Konradin,  (Winkelmann)  ....  „    217 

Statistische  Stadien  zar  Wohnangsfrage,  (E.  Laspeyres).    .    .  „    288 

Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht „    267 

Correspondenzen „    286 

Notizen „    294 

Der  Anjalaband  in  Finnland,  1788,  (A.  Brückner) „    309 

üeber  das  Yerhältniss  von  Natar-  and  Geisteswissenschaft,  (Prof. 

Dr.  A.  V.  Oettingen) „    355 

Die  drei  grossen  Siege  preassisch-deatscher  Staatskanst,  (E.  B.)  .  „    384 

Die  Fraaenbewegang  in  Deatschland,  (G   Cohn) „    413 

Winkelmann  and  Reinhold  von  Berg,  (Dr.  Her m.  Lücke)     .    .  ^    433 

Das  Oberammergaaer  Passionsspiel  im  Jahre  1870,  (A.  Brückner)  „    441 

Correspondenzen „    470 

Notizen „    491 

Potemkin's  Glück  and  Ende.  (A.  Brückner) »501 

Die  Rigaer  Volkszählang  vom  3.  März  1867,   (Dr.  0.  Brasche)  »    532 

Erinner angen  an  Dr.  Ferd.  Walter,  (Ass.  J.  Eckard t)    .    .    .    .  „    556 

Notizen ' »571 

Am  Jahresschlass,  (E.  B.) »    585 


Zur    Lage. 


Bei  der  Buchhandlung 
bestelle : 
Exempl.    IBaltische  IMonat^sclifift. 

Neue  Folge.    1870.    Mfirz  u.  ff. 

Preis  des  Jahrgangs  4  Rbl.  50  Kop.,  nach  auswärts  5  Rbl. 

(Verlag  von  Bacmeister  &  Brutzer  in  Riga.) 

Ort  und  Datum:  Name: 


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Die  Ueffentlichkeit  giebt  so  wenig  als  der  Einzelne  etwas  umsonst, 
und  mit  dem  Vertrauen  selbst,  welches  sie  schenkt,  verbindet  sie 
Ansprüche.  Die  „Baltische  Monatsschrift"  wurde  gegründet  als  Organ 
einer  Partei  und  durchlebte  eine  Zeit  der  öffentlichen  Parteifehdeu, 
wie  in  unsem  Provinzen  noch  keine  ausgefochten  worden  waren.  Wenn 
sie  dennoch,  der  Meinung  ihrer  Gründer  treu,  von  dem  Schatten  der 
Parteileidenschaft  unberührt  blieb,  so  war  dieses  vorzüglich  der  maass- 
vollen Persönlichkeit  zu  danken,  welche  sie  leitete.  Anzuregen  ohne 
zu  agitiren,  aufzuklären  ohne  aufzureizen  war  ihr  Streben,  und  indem 
sie  hieran  festhielt,  gelang  es  ihr,  die  Anerkennung  streitender  Parteien 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  1 


Zur    Lage. 


Indem  wir  dieses  erste  Heft  einer  neuen  Folge  der  „Baltischen 
Monatsschrift"  herausgeben  wünschen  wir  einigen  der  Fragen,  die 
in  unsem  Lesern  beim  Anblick  des  veränderten  Gewandes  dieser 
Zeitschrift  vielleicht  wach  gerufen  werden,  zu  begegnen.  Auch  scheint 
es  geboten,  gleichwie  der  Verwalter  fremden  Gutes  bei  seinem  Ein- 
tritt eine  Inventarisation  des  Vorhandenen  vornimmt,  in  kurzer  Ueber- 
schau  die  augenblickliche  Lage  uns  zu  vergegenwärtigen,  das  Ge- 
gebene, soweit  es  möglich  ist,  zu  prüfen,  um  einst  vielleicht  von  dem 
Gewordenen  Rechenschaft  ablegen  zu  können.  Denn  wir  sind  uns 
der  Schwierigkeit  bewusst,  in  ein  Unternehmen  hineinzuleben,  hinein- 
zuwachsen, welches  zum  grössten  Theil  dem  allgemeinen,  öffentlichen 
Vertrauen  sein  Entstehen,  der  öffentlichen  Anerkennung  sein  Wachs- 
thum  verdankt,  zum  andern  Theil  seine  Spannkraft  darin  fand,  dass 
es  ihrerzeit  gegebene,  erreichbare  und  greifbare  Ziele  verfolgte,  von 
denen  einige  erreicht  wurden,  andere  heute  ihre  Bedeutung  verloren 
haben.  Dass  die  Ziele  wechseln,  ist  natürlich.  Dass  das  öffentliche 
Vertrauen  möglichst  wenig  wechsele,  ist  unser  Wunsch. 

Wir  können  diese  Zeitschrift  nicht  ohne  Bedauern  aus  der  Hand 
eines  Mannes  empfangen,  ,der  dieses  Vertrauen  in  hohem  Grade  besitzt. 
Die  Oeflfentlichkeit  giebt  so  wenig  als  der  Einzelne  etwas  umsonst, 
und  mit  dem  Vertrauen  selbst,  welches  sie  schenkt,  verbindet  sie 
Ansprüche.  Die  „Baltische  Monatsschrift"  wurde  gegründet  als  Organ 
einer  Partei  und  durchlebte  eine  Zeit  der  öffentlichen  Parteifehden, 
wie  in  unsem  Provinzen  noch  keine  ausgefochten  worden  waren.  Wenn 
sie  dennoch,  der  Meinung  ihrer  Gründer  treu,  von  dem  Schatten  der 
Parteileidenschaft  unberührt  blieb,  so  war  dieses  vorzüglich  der  maass- 
vollen Persönlichkeit  zu  danken,  \^elche  sie  leitete.  Anzuregen  ohne 
zu  agitiren,  aufzuklären  ohne  aufzureizen  war  ihr  Streben,  und  indem 
sie  hieran  festhielt,  gelang  es  ihr,  die  Anerkennung  streitender  Parteien 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  1 


2  Zur  Lage. 

inmitten  derselben  zu  erwerben.  Dieses  aber  ist  ein  nicht  gemeines 
Lob.  Wer  in  einer  solchen  Zeit,  wie  die  von  1862 — 1869  es  für 
uns  gewesen  ist,  und  in  einer  Thätigkeit  wie  der  der  Leitung  einer 
vorwiegend  politischen  ZeitscM-ift  sich  dieses  Lobes  würdig  gezeigt 
hat,  der  ist  nicht  nur  mit  der  „Baltischen  Monatsschrift",  sondern 
auch  mit  den  baltischen  Landen  viel  zu  sehr  „verwachsen",  um  sich 
je  von  jener  wie  von  diesen  ganz  lösen  zu  können.  Wenn  daher  die 
„Baltische  Monatsschrift"  in  unserm  sehr  geehrten  Vorgänger  einen 
Leiter  verlor,  welchen  wir  stets  beklagen  werden,  so  gereicht  es  uns 
zur  grossen  Befriedigung,  von  ihm  beim  Abschiede  das  Versprechen 
erhalten  zu. haben:   non  alius,  sed  aliter. 

Zehn  Jahre  sind  verflossen  seit  die  „Baltische  Monatschrift"  ins 
Leben  trat.  Was  dieses  Decennium  für  Russland,  was  es  ins- 
besondere für  die  baltischen  Provinzen  bedeutete,  vermögen  wir  heute 
noch  nicht  zu  ermessen.  Nur  dass  es  von  grosser  Bedeutung  ge- 
wesen, fühlt  ein  Jeder. 

Man  hat  von  dieser  Zeit  als  von  einer  neuen  Aera  für  Russland 
gesprochen;  und  allerdings  erscheint  es  bei'echtigt,  ihr  eine  so  hphe 
Wichtigkeit  beizulegen.  Denn  das  Russland  von  1849  gleicht  dem  von 
1869  so  wenig  als  das  Preussen  Friedrich  Wilhelm's  II  dem  Preussen 
von  181S  gleicht.  —  Seit  den  Tagen  der  heiligen  Allianz  war 
für  die  dominirende  Stellung  Russlands  im  europäischen  Staatensystem 
kein  Ereigniss  folgenschwerer  als  der  Krimkrieg.  Die  „alte  Ordnung 
der  Dinge",  zu  deren  Erhaltung  das  kaiserliche  Manifest  vom  26.  Juni 
1853  die  Unterthanen  des  Reiches  aufrief,  erlitt  mit  und  seit  diesem 
Kriege  eine  so  tiefgreifende  Erschütterung,  als  nur  je  durch  die 
Wechselwirkung  äusserer  Politik  und  innerer  Reformen  in  einem  Staate 
hervorgebracht  wurde. 

Eine '  lange  Zeit  des  Friedens  hatte  Russland  als  erste  Kriegs- 
macht Europas  verlebt.  Alle  Kräfte  waren  nach  Aussen  gerichtet, 
alle  Sorgfalt  wandte  sich  dem  Glänze  des  Harnisches  zu,  der  sich  in 
der  Beresina  und  der  Elster  gespiegelt  hatte.  Es  gab  kein  Cabinet 
in  Europa,  in  dem  das  Flüstern  des  russischen  Gesandten  nicht  besser 
vernommen  worden  wäre,  als  das  Poltern  irgend  eines  andern  Mannes, 
der  seinem  Beruf  gemäss  französisch  redete.  Legitimität  und  Abso- 
lutismus fanden  Russland  stets  geneigt,  seine  Kräfte  zu  ihrer  Erhaltung 
aufzubieten  und  die  europäische  Demokratie  ballte  machtlos  die  Faust 
in  der  Tasche. 

Dann  kam  der  Bruch  mit  den  Westmächten,  und  mit  ihm  die 
Zeit  der  Umkehr  nach  Innen.     Seit  dem  Jahre  1855  hat  Russland 


Zur  Lage.  3 

Reformen  erlebt,  wie  sie  umfassender  weder  von  einem  Peel,  noch 
einem  Turgot  inaugurirt  worden  sind.  Man  hörte  auf,  ohne  Unterlass 
auszuschauen  nach  den  Lorbeeren  des  Krieges  oder  der  Diplomatie, 
die  draussen  zu  pflücken  sich  etwa  eine  Gelegenheit  darböte,  und  man 
begann  zu  Hause  den  Boden  zu  bereiten,  auf  welchem  der  heimische 
Lorbeer  des  Friedens  einst  gedeihen  könnte.  Ein  kräftig  jugendliches 
Leben  zeigte  sich  überall.  Jeder  wollte  sich  betheiligen  bei  der  Innern 
Arbeit.  Die  Presse  gelangte  plötzlich  zu  einer  Bedeutung,  welche 
diejenige  in  Schatten  stellte,  die  vor  100  Jahren  die  Briefe  des  Junius 
sich  in  England  errangen.  Ja  man  kann  sagen,  dass  noch  nie  ein 
grösserer  Triumph  der  Presse  in  politischen  Fragen  gefeiert  worden 
ißt,  als  in  Russland  zu  unserer  Zeit,  dass  ihre  absolute  Wirkung  nirgend 
*  eine  grössere  gewesen  ist.  Denn  die  Macht  der  politischen  Presse 
Englands  ist  durch  die  staatlichen  und  socialen  Verhältnisse  des  Landes 
sanctionirt,  sie  ist  ein  so  nothwendiges  und  anex'kanntes  Glied  des 
englischen  Staatskörpers,  als  eines  der  beiden  Häuser  des  Parlaments. 
Die  Stellung  der  Presse  in  Russland  war  und  ist  eine  weitaus  hievon 
verschiedene,  und  dennoch  war  ihr  Einfluss  zu  Zeiten  mindestens 
ebenso  gross,  als  nur  je  der  der  englischen  Presse  in  England  es 
gewesen  ist.  —  Man  mag  diese  seltsame  Erscheinung  erklären,  be- 
urtheilen  wie  man  will,  die  Thatsache  ist  unleugbar,  und  wer  in  den 
Rechnungen  dieser  Zeit  diese  grösste  Ziffer  tibersieht,  der  wird  sich 
verrechnen.  Die  ungeheure  Gewalt  der  Presse  in  Russland  zu  er- 
klären erscheint  uns  indessen  nicht  schwierig.  Denn  die  Gewalt  des 
Gedankens,  die  Leidenschaften  sich  dienstbar  zu  machen,  wird  überall 
weniger  durch  äussere  Schranken,  als  durch  das  gleichartige  Mittel 
des  Denkens  bestimmt.  Wo  geistige  oder  materielle  Interessen  der 
Massen  angetastet,  erregt  werden,  da  hängt  von  der  Bildung  oder 
Unbildung  der  letzteren  die  Macht  der  Presse  ab.  Der  Unbildung 
gegenüber  wird  sie  zum  Despotismus  neigen,  mit  der  Bildung  wird 
sie  in  innige  Wechselwirkung  treten.  Und  umgekehrt:  wo  Bildung 
vorhanden  ist,  und  diese  Wechselwirkung  dennoch  nicht  Platz  greift, 
die  Presse  sich  isolirt,  da  ist  man  gezwungen,  anzunehmen,  dass  das 
Pubücujn  sich  einer  Berührung  seiner  Interessen  nicht  bewusst  ist. 
—  Die  äusseren  Umstände  waren  der  englischen  Presse  noch  stets 
weitaus  günstiger  als  der  russischen  •,  jene  wird  durch  keine  Censur 
gezügelt:  aber  sie  ist  darum  keineswegs  zügellos,  denn  sie  wird  in 
Schranken  gehalten  durch  ihr  eigenes,  politisch  gebildetes  Publicum. 
Die  freisinnigen  Maassregeln  unserer  Regierung  schufen  eine  politische 

Presse  um  die  Massen  politisch  zu  bilden.     Die  Presse  erhielt  eine 

1* 


4  Zur  Lage. 

bisher  unerhörte  Freiheit  der  Bewegung,  die  Controle  der  Censur 
verringerte  sich  in  hohem  Maasse :  aber  an  ihre  Stelle  trat  keine  Controle 
eines  selbstdenkenden  Publicums.  Die  Presse  stand  nicht  mehr  unter  dem 
äussern  Zwang  der  Regierung,  und  sie  stand  noch  nicht  unter  dem 
einer  in  geistiger  Thätigkeit  ihi*  paritätischen  öffentlichen  Meinung. 
Sie  war  sich  selbst  überlassen  einer  Menge  gegenüber,  die  nicht  das 
selbständige  Urtheil,  die  Mittel  besass,  ihr  zu  widerstehen,  und  daher 
haltlos  von  ihr  fortgerissen  wurde. 

Dem  Umschwünge  der  ganzen  Richtung  des  Staatslebens  folgte 
bald  eine  Periode  des  Sturmes.  Auf  den  Fahnen  der  Publicisten 
wechselten  die  mannigfaltigsten  Devisen,  Gremeindebesitz,  Panslavis- 
mus,  nationale  Wissenschaft  einander  ab.  Daneben  wurde  Alles  und 
Jedes  im  Staate,  die  entlegensten  Winkel  durchforscht,  geprüft.  Es 
wurden  viele  Verbesserungen  durchgeführt,  weit  mehr  unternommen 
und  wieder  bei  Seite  geworfen.  Zahlreiche  Zeitschriften  entstanden 
und  gingen  ein,  ein  Jeder  that  den  Mund  weit  auf,  schrie  in  das 
Gewühl  hinein,  schrie  den  Nachbar  an  und  hörte  nie  auf  eine  Ant- 
wort. Die  Regierung  hatte  die  Kräfte  entfesselt,  und  bald  glaubte 
Alles,  was  ohne  Fessel  sich  fühlte,  eine  grosse  Kraft  zu  sein.  Eine 
rastlose  Geschäftigkeit  ergriff  immer  weitere  Kreise,  und  zugleich 
erscholl  ein  Jubel  durch  das  weite  Reich,  der  Ausdruck  freudiger  Ver- 
wunderung über  die  eigene  Thatkraft  und  Thätigkeit. 

Damals,  im  Jahre  1859,  schrieb  die  Moskauer  Zeitung:  „Nicht 
ohne  freudige  Regung  und  gerechten  Stolz  lasen  wir  in  letzter  Zeit 
die  Urtheile  der  auswärtigen  Journale  über  die  gegenwärtigen  Zu- 
stände unseres  Vaterlandes.  Bei  der  grossen  -Annäherung  zwischen 
Russland  und  dem  Westen  Europas  können  der  Aufmerksamkeit  des 
letzteren  jene  frische  Kraft,  jener  gesunde,  unerschütterliche  Glaube 
an  eine  Zukunft,  jene  Abwesenheit  krankhafter  Extravaganzen,  welche 
eine  beneidenswerthe  Eigen thümlichkeit  jugendkräftiger  Völker  bilden, 
die  ein  ernstes,  inneres  Dasein  zu  leben  beginnen,  keinesfalls  ent- 
gangen sein.'' 

Es  ist  natürlich,  dass  von  den  vielen  Fragen,  die  mit  Nutzen 
vor  der  OefFentlichkeit  hätten  besprochen  werden  können,  nur  sehr 
wenige  mit  Verständniss,  und  noch  weniger  mit  Gründlichkeit  erörtert 
wurden.  Indessen  wurde  doch  manches  Gute  geleistet,  und  man  durfte 
hoffen,  dass  nach  dem  Feiertagsjubel  eine  Zeit  ernster  häuslicher 
Arbeit  eintreten  werde.  Denn  das  Haus  war  bis  zum  Giebel  gefüllt 
mit  Material,,  welches  der  Verarbeitung  harrte.  Die  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft  allein  reichte  hin,    alle  tüchtigen  Kräfte  auf  lange 


Zur  Lage.  5 

hinaus  zu  beschäftigen  und  es  schien,  als  ob  wirklich  dem  Streben  der 
Staatsregierung  nach  Förderung  der  häuslichen  Arbeit  reiche  Mittel 
sich  darbieten  würden. 

Auch  wir  begrüssten  freudig  diese  ersten  Anfänge  eines  ernsten 
Innern  Schaffens,  und  wenn  jenes  der  dauernde  Charakter  der  Be- 
wegung gewesen,  geblieben  wäre,  wir  wären  stolz,  mit  ihr  die  Arbeit 
zu  theilen.  Aber  es  kam  anders.  Der  leichte  Ruhm,  von  den  Uebeln 
gesprochen  zu  haben,  welcher  der  Regierung  zukam  die  es  gestattete, 
wurde  von  der  Presse  zum  eigenen,  höchsten  Verdienst  erhoben. 
Man  schmückte  sich  die  Stirn  mit  der  Glorie  des  Reformators  weil 
man  die  Erlaubniss  erhalten  hatte,  von  Reformen  zu  reden.  Ein  effect- 
haschender  Dilettantismus  machte  sich  breit.  Die  Presse  wollte  nur 
herrschen  und  vergass  das  Arbeiten,  sie  reizte  auf  statt  zu  ordnen; 
sie  stachelte  das  heilsame  Selbstbewusstsein  des  Volkes  nicht  nur  an, 
sondern  führte  es  zu  Selbstüberhebung.  Man  glaubte  Alles  zu  können 
weil  man  über  Alles  reden  durfte.  Man  glaubte  Alles  gethan  zu 
haben,  wenn  man  über  Alles  geredet  hatte.  Bald  wurde  aus  der  Arbeit 
ein  Spiel.  Anstatt  den  Boden  für  den  heimischen  Lorbeer  zu  ackern, 
holte  man  sich  fremde  Lorbeerreiser  und  pflanzte  sie  in  eine  Erde, 
in  der  sie  nicht  gedeihen  konnten,  in  der  sie  nicht  Wurzel  fassten. 
Dann  riss  man  mit  knabenhafter  Ungeduld  die  Reiser  aus  der  Erde, 
und  trug  sie  triumphirend  als  eigenste  Erzeugnisse  der  Heimath  umher. 
Man  fand  es  ermüdend,  die  vorhandenen  Listitutionen,  die  realen  Ver- 
hältnisse zu  bessern,  und  fand  es  leichter,  für  Alles  Universalmittel 
zu  erfinden.  Statt  praktisch  hier  niederzubrechen,  dort  aufzubauen, 
wirklich  Schlechtes  durch  Besseres  zu  ersetzen,  begnügte  man  sich, 
mit  grossen  Principien  zu  spielen. 

So  kam  man  bald  dazu,  von  der  ersten,  segenverheissenden 
Richtung  abzuspringen,  die  langsam  reifenden  Früchte  häuslicher 
Arbeit  zu  schädigen,  die  Blicke  wieder  nach  Aussen  zu  richten.  Man 
fand  in  dem  Nationalitätsprincip  ein  bequemes  Mittel  mit  Thaten  zu 
glänzen,  und  suchte  eifrig  nach  Objecten,  auf  die  sich  dieses  grosse 
Princip  ruhmreich  appliciren  liesse. 

Es  war  die  polnische  Lisurrection  ausgebrochen  und  hatte  ihr 
verderbliches  und  nachhaltiges  Gift  in  die  grosse  Bewegung  hinein- 
gegossen. Die  weitgreifenden,  wohlmeinenden  Pläne  der  Regierung 
wurden  theils  paralysirt,  theils  auf  lange  hinaus  in  einem  grossen 
Theile  des  Reiches  in  ihren  wohlthätigen  Wirkungen  gestört.  Die 
Macht  des  Parteiwesens  wurde  durch  die  Insurrection  gestärkt. 
Seitdem    ist   das    Staatsleben    immer    mehr    mit    den    öffentlichen 


6  Zur  Lage. 

Strömungen  versöhnt  worden  und  mit  dem  höchsten  Erstaunen  blicken 
wir  heute  auf  das  Gewordene.  Innerhalb  eines  Zeitraumes  von 
15  Jahren  hat  sich  in  einem  absolut  monarchischen,  ja  dem  abso- 
lutesten Staate  Europas  eine  Oeffentlichkeit  herausgebildet,  deren 
Gewalt  stets  bis  in  die  entferntesten  Grenzen  des  Reichs,  ja  weit 
drüber  hinaus   verspürt  wird. 

Im  Lichte  dieser  Oeffentlichkeit,  im  Schatten  dieses  Parteigetriebes 
sind  die  Dinge  im  Reich  während  dieser  Zeit  zu  betrachten  wenn 
man  sie  richtig  verstehen  will.  Es  giebt  noch  heute  eine  Partei,- 
oder  besser  eine  Klasse  von  Menschen  im  Reiche,  die  mit  souveräner 
Verachtung  auf  diese  neuen  Kräfte  herabblickt ^  die  sich  von  den 
hominesnovi,  den  Aksakow,  Katkow,  Leonijew  mit  nur  einem  Stirn- 
runzeln abwendet.  Diese  Klasse  begeht  das  Unrecht,  den  aufsteigen- 
den Qualm,  die  aufgeworfene  Asche  von  der  treibenden  Kraft  nicht 
zu  trennen,  ja  sie  begeht  den  grösseren  Fehler.,  diese  Kräfte  zu 
ignoriren.  Es  ist  ein  fürwitziges  Unternehmen,  staatliche  Umwälzungen 
niederrunzeln  zu  wollen  weil  sie'  Von  Zeitungsschreibern  gemacht 
werden,  und  eine  tragische  Komik  liegt  in  dem  vornehmen  Lächeln 
eines  Mannes,  den  die  unsanften  Räder  einer  stürmischen  Zeit  zu 
Boden  geworfen  haben.  Weil  die  alte  Aristokratie  Russlands  bisher 
unterhalb  des  Thrones  sich  allein  sah,  ist  der  grosse  Theil  derselben 
unvermögend,  dort  jetzt  etwas  Anderes  zu  erblicken.  Dieser  Theil 
schaut  bei  dem  Getöse,  welches  an  sein  Ohr  schlägt,  verwundert 
um  sich,  und  da  er  nicht  bemerkt,  dass  das  Getöse  in  den  Reihen 
der  Seinigen  entspringt,  meint  er,  es  sei  eine  Täuschung  des  Ohres, 
die  keine  Beachtung  verdiene.  Dieser  specifisch  aristokratische  Fehler 
ist  so  alt  als  die  Aristokratie,  und  wo  eine  Aristokratie  von  jungen 
Volkskräften  für  immer,  oder  doch  für  lange  Zeit  überflutet  worden 
ist,  da  ist,  wenn  sie  noch  einigen  Innern  Werth  besass,  diese  politische 
Kurzsichtigkeit  und  deren  Folge,  politische  Unthätigkeit,  die  Ursache 
gewesen. 

Nach  diesem  flüchtigen  Blick  in  die  Ferne  senken  wir  das  Auge 
auf  unsere  nächste  Umgebung. 

Der  Sturm,  der  den  grossen  Baum  erschüttert,  schleudert  die 
äussersten  Zweige  gewaltig  hinüber  und  herüber.  Dort  wurden 
manche  gute  Früchte  vor  der  Reife  herabgeworfen,  hier  wurden 
manche  schon  in  der  Knospe  erstickt,  für  welche  die  Eigenart  des 
Pfropfreises  andere  Zeitigung,  andere  Sonne  und  Regen  verlangte. 
Dennoch  ist  diese  Zeit  für  die  baltischen  Provinzen  nicht  nur  von 
höchster  Bedeutung,  sötfdern  auch  von  einigem  Nutzen  gewesen. 


Zur  Lage.  7 

Bis  vor  etwa  16  Jahren  gehörten  die  baltischen  Provinzen  in 
gewissem  Sinne  zu  den  glücklichsten  Landstrichen,  die  man  sehen 
konnte.  Seit  langer  Zeit  unter  dem  Scepter  eines  mächtigen  Reiches 
blieben  sie  von  Kriegen  und  Fehden  verschont,  deren  häufige  Opfer 
sie  früher  geworden  waren.  Während  blutige  Kämpfe  manch  schönen 
Landstrich  im  Westen  Europas  verheiörten,  betrat  kein  feindlicher 
Seldat.den  Boden  Liv-  und  Estlands,  konnte  Kurland  mit  nicht  er- 
heblichen Unterbrechungen  sich  dauernd  von  den  früheren  Schlägen 
erholen. 

Die  russischen  Herrscher  zeigten  in  der  That  meist  eine  den 
deutschen  Unterthanen  freundliche  Gesinnung.  Nicht  dass  diese  Lande 
verhätschelt  worden  wären  auf  Kosten  der  übrigen  Provinzen  des 
Reichs.  Sie  Äaten  redlich  das  Ihrige,  ja  sie  trugen  mehr  zu  den 
öffentlichen  Lasten  bei  als  die  Andern,  und  sie  konnten  mehr  bei- 
tragen weil  sie  mehr  arbeiteten,  mehr  erwarben.  Aber  ihnen  wurde 
die  Möglichkeit  erhalten,  in  ihrer  Weise  zu  arbeiten,  sie  zahlten  ihre 
Steuern,  und  man  fragte  nicht  viel  darnach,  wie  sie  sie  aufbrachten. 
Durch  ihre  Vergangenheit  waren  sie  in  die  Lage  versetzt,  mit  einiger 
Selbstgenügsamkeit  auf  der  Folie  der  übrigen  Provinzen  sich  stets 
für  auf  der  Höhe  ihrer  Zeit  stehend  anzusehen.  Kein  unruhiger  Zeit- 
geist drängte  sie  ungeduldig  vorwärts,  denn  Dank  ihrer  Geschichte 
erblickte  der  Zeitgeist  des  Reichs  stets  ihren  Rücken,  und  der  des 
Auslandes  hatte  keine  Macht  über  sie.  Die  grossen  Erschütterungen 
der  Wende  des  Jahrhunderts  und  der  Mitte  des  neuen  wurden  zwar 
auch  bei  uns  verspürt.  Besonders  in  Kurland  schlugen  die  Pulse 
stärker  weil  dort  der  Blutwechsel  mit  dem  Westen  noch  in  genauerer 
Verbindung  stand.  Man  hatte  dort  seine  Zeit  der  Romantik,  des 
Rationalismus,  der  demokratischen  Ideen.  Man  las  in  Livland  die 
Schriften  Garlieb  Merkels,  und  den  besten  Köpfen  blendete  der  Schim- 
mer des  Humanismus  das  politische  Auge.  Aber  die  Unruhen  der 
bürgerlichen  Union  in  den  neunziger  Jahren  waren  in  Kurland  ebenso 
ein  Sturm  in  einem  Glase  Wasser  als  die  der  vierziger  Jahre  es 
später  in  den  drei  Provinzen  waren.     Das  Wasser  wurde  wohl  ge- 

■s.        ^ 

kräuselt,  aber  das  Gefäss  war  zu  klein,  zu  abgeschlossen,  um  nach- 
haltige Wirkungen  aufzunehmen. 

So  kam  es,  dass  der  Zeitgeist  des  Westens  dieses  Land  ein  wenig 
bei  Seite  liegen  liess.  Die  Initiative  der  Stände  begann  zu  hinken, 
der  politische  Blick  verdunkelte  sich. 

Mit  dem  Deutschthum  bei  uns  sahen  wir  alles  das  verbunden, 
was  unsere  glückliche  Existenz  förderte.      Was  irgend  sociale  oder 


1. 


8  Zur  Lage, 

politische  Macht  im  Lande  hatte,  war  deutsch,  und  was  deutsch  war, 
konnte  sicher  sein,  im  Reich  zu  Macht  und  Ansehen,  oder  doch  zu 
leidlicher  Stellung  zu  gelangen.  So  entstand  die  Verwechselung:  die 
tüchtige,  selbständig  schaffende  Kraft,  die  unter  günstigen  Umständen 
uns  Deutsche  zu  Macht  und  Ansehen  hatte  gelangen  lassen,  ver- 
wechselte man  mit  dem  baltischen  Deutschthum  selbst,  man  vertauschte 
die  nationale  Abkunft  mit  dem  nationalen  Charakter.  Weil  unsere 
glänzendsten  Traditionen  mit  der  Macht  unseres  Deutschthums  zu- 
sammenfielen, meinte  man,  zum  Glänze  keines  weiteren  Umstandes 
zu  bedürfen,  als  zur  leitenden  Nationalität  bei  uns  zu  gehören.  Weil 
wir  gewohnt  waren,  zu  Hause  zu  leiten,  im  Reiche  grosse  Erfolge  zu 
erzielen,  glaubten  wir  einen  Anspruch  auf  Leitung  und  Erfolg  dadurch 
begründet,  dass  wir  Deutsche,  oder  besser,  dass  wir  Edelleute  oder 
Bürger  Kur-,  Liv-  oder  Estlands  waren. 

Wenn  wir  nach  Westen  schauten,  so  fühlten  wir  uns  gehoben 
durch  ein  dunkles  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  mit  einem  Volke, 
welches  durch  Kampf  und  Arbeit  zu  grossen  Zielen  strebte,  grosse 
Erfolge  errang.  Wir  Hessen  uns  diese  Errungenschaften  der  Civili- 
sation  Wohlgefallen  soweit  sie  uns  behagten  und  hatten  eine  leise 
Empfindung  als  ob  wir  selbst  sie  mit  verdient  hätten.  Auf  die 
socialen  Kämpfe,  den  ständischen  Hader  der  Zeit  .von  1848  sahen 
wir  mit  eijiiger  Verachtung  hin,  und  dankten  Gott,  dass  wir  nicht 
waren  wie  andere  Leute.  Denn  bei  uns  herrschte  tiefer  Friede 
und  leidliche  Zufriedenheit.  Während  wir  in  jenen  Bewegungen 
den  Unfrieden  klar  erkannten,  vermochten  wir  die  segensreiche 
Entwicklung  nicht  zu  erkennen,  die  sie  im  Schoosse  bargen,  und 
als  die  Fehlgeburten  jener  Zeit  zu  Tage  kamen  waren  sie  nicht 
geeignet,  unsere  Achtung  und  unser  Verständniss  für  den  Westen  zu 
mehren.  Wir  sahen  dort  Unordnungen,  die  das  Aufstreben  unbe- 
rechtigter Mächte  hervorbrachte,  und  bemerkten  mit  Befriedigung,  dass 
bei  uns  Ordnung  und  Recht  unerschüttert  aufrecht  standen.  Dass  wir 
so  urth eilten,  dass  wir  die  Berechtigung  jener  Mächte  nicht  anerkannten, 
war  natürlich:  wir  urtheilten  so  wie  damals  und  stets  alle  diejenigen 
Klassen  es  gethan  haben,  die  Vorrechte  zu  vertheidigen  hatten. 

Schauten  wir  nach  Osten,  so  sahen  wir  einen  starken  Herrscher, 
dessen  Arm  uns  vor  jenen  Unordnungen  bewahrte,  den  Segen  des 
Friedens  uns  erhielt.  Wir  sahen  fernervcin  weites  Feld,  auf  welchem 
unsere  Söhne,  die  jüngeren  Brüder,  noch  stets  mit  leichter  Mühe  sich 
Geltung  und  Stellung  verschafft  hatten,  und  wo  ein  gnädiger  Monarch 
mit  grossem  und  verdientem  Vertrauen  uns  entgegenkam.     Wir  sahen 


i 


Zur  Lage.  9 

ein  grosses  Reich,  von  dessen  Einrichtungen  wir  kaum  mehr  wussten, 
.als    dass   keine   den  unseren   an  Autonomie  und   zeitgemässer  Auf- 
geklärtheit gleich  kam, 

Unsere  Religion  und  unsere  Geistlichkeit  waren  unter  aufge- 
klärtem Scepter  geschützt  und  geachtet.  Ein  hervorragender  Mann 
dieses  Berufs  konnte  —  es  war  im  Jahre  1810  —  mit  Ueberzeugung 
sagen:  „Ungerechtigkeit  wäre  es,  nicht  ausdrücklich  darauf  hinzu- 
weisen, dass  die  evangelisch  -  lutherische  Kirche  nie  und  nirgends 
neben  einer  andern  christlichen  Confession  gestanden  hat,  insbesondere 
wo  diese  die  Reichsconfession  war,  von  der  sie  so  wenig  beein- 
trächtiget, und  auch  nur  gefährdet  worden  wäre,  als  wir  bis  jetzt 
von  der  orthodox  -  griechischen  Kirche.*  Er  hielt  es  für  eine  Ver- 
sündigung an  der  Gerechtigkeit  des  Monarchen,  von  Gnade  und  Dul- 
dung zu  reden  wo  monarchische  Zusicherungen  die  vollstaatsbürger- 
liche Existenz  unserer  Kirche  und  evangelische  Gewissensfreiheit  auf 
so  sichere  Grundlagen  stellten. 

Die  Zustände  in  Deutschland  konnten  uns  nicht  behagen,  denn 
sie  drängten  gegen  den  Absolutismus  der  Monarchen  und  der  Adels- 
aristokratien an,  und  unsere  Gesinnungen  waren  völlig  monarchisch 
und  aristokratisch,  sie  bedrohten  die  Autorität  der  Kirche,  und  wir 
waren  streng  kirchlich.  Die  Zustände  im  Reich  behagten  uns  in 
so  weit  sehr  wohl,  als  sie  durch  die  Thätigkeit  zahlreicher  Söhne 
unserer  Lande  uns  näher  gerückt  wurden.  Hier  leisteten  wir  Einiges 
und  galten  viel.  So  zeigte  sich  uns  der  Westen  wenig  beneidens- 
werth,  und  im  Osten  wurden  wir  mit  Grund  beneidet. 

Aber  unser  Blick  war  nur  selten  nach  Aussen  gerichtet  und 
unserem  Auge  genügte  der  massige  Kreis,  der  die  Literessen  alther- 
gebrachten provinziellen  Lebens  umgrenzte.  Wir  trieben  keine  grosse 
Politik.  Es  war  unsere^  vornehmste  Sorge,  die  Dinge  in  der  Provinz 
zu  erhalten  wie  sie  waren,  denn  indem  wir  dieses  thaten,  schienen 
wir  ein  glückliches  Dasein  uns  ajif  lange  Zeit  hinaus  zu  sichern. 
Geringeren  Neuerungen  widerstrebten  wir  nicht:  den  Wohlstand  der 
Bauern  zu  mehren,  ihre  Litelligenz  zu  fördern,  dem  Fabrikwesen 
Vorschub,  dem  Gewerbe  Unterstützung  zu  leisten,  die  Aemter  recht- 
schaffen zu  verwalten,  die  Justiz  unparteiisch  zu  üben  —  dieses  Alles 
zu  fördern  soweit  die  augenblicklichen  Bedürfnisse  es  erheischten, 
Hessen  wir  uns  angelegen  -  sein.  Doch  obwohl  es  weder  an  gutem 
Willen  noch  an  Fleiss  allzusehr  gebrach,  solcherlei  zwar  werthvoUe, 
jedoch  nicht  stets  genügende  Arbeit  zu  vollbringen,   so  hegten  wir 


1 
10  Zur  Lage.  j 

doch  einen  grossen  Abscheu  vor  tiefgreifenden  Veränderungen,  allge-  ' 
meinen  Umgestaltungen.  —  Wir  glichen  dem  Besitzer  eines  geräumigen, 
behäbig  und  wohnlich  eingerichteten  alten  Hauses,  der  mit  Freude 
und  aus  Gewohnheit  die  jährlichen  Reparaturen  vornimmt,  mit  ver- 
ständigem Sinn  hier  einem  rauchenden  Ofen  zu  frischem  Luftzuge, 
dort  einer  knarrenden  Thür  zu  schmeidiger  Bewegung  verhilft,  hier 
eine  neue,  einfache  Erfindung,  dort  eine  praktische  Verbesserung  an- 
bringt; aber  während  er  sehr  geneigt  ist,  auf  solche  Weise  die  alte 
Wohnlichkeit  zu  vermehren,  es  fast  für  einen  Frevel  ansähe  wenn 
man  ihm  anmuthete,  das  Fundament,  die  Wände,  das  Dach  zu  erneuern. 
Denn  ihm  verschwände  die  Wohnlichkeit  mit  dem  Alten,  und  das  Alte 
mit  den  Haupttheilen  des  Hauses.  —  Er  fügt  dem  Ganzen  ein  Stück 
nach  dem  andern  langsam  und  bedächtig  ein,  und  bei  jedem  neuen 
ist  das  vorhergehende  letzte  ein  längst  vertrauter  und  geprüfter  Freund ; 
und  so  erscheint  ihm  wohnlich  und  ehrwürdig  was  doch  nur  wenig 
älter  ist  als  das  Neue.  Denn  indem  er  das  eine  Stück  dem  andern 
folgen  lässt,  knüpft  sich  ihm  eine  ganze  Reihe  aneinander,  und  das 
jüngste  deucht  ihm  alt  Weil  es  eine  Geschichte  hat,  es  deucht  ihm 
ehrwürdig  weil  es  von  vielem  Ehrwürdigen  umgeben  ist.  Wollte 
man  ganze  Wände  auf  einmal  einreissen ,  dem  Ganzen  plötzlich  in 
grossen  Dingen  zu  nahe  treten ,  so  wäre  ^des  Neuen  zu  viel  um  von 
der  Würde  des  Alten  den  Schein  zu  borgen,  es  wäre  um  die  Wohn- 
lichkeit geschehen. 

So  lebten  wir  behaglich  in  den  alten  Räumen,  über  unsere  Schwelle 
trat  selten  die  Leidenschaft,  und  der  häusliche  Zwist,  so  alt  als  wir 
selbst,  diente  dem  Hausstande  fast  mehr  «ur  Würze,  ajs  dass  er  ernst- 
liche Besorgnisse  erweckt  hätte. 

Dieses  war  unsere  Lage  und  sie  war  in  der  That  in  gewissem 
Sinne  eine  glückliche  zu  nennen.  Es  war,  was  man  in  unruhigen 
Perioden  die  gute,  alte  Zeit  zu  nennen  liebt. 

„Die  Welt  war  damals  noch  „gemüthlich", 
Und  ruhig  lebten  hin  die  Leut'  — ". 

Dass  wir  uns  selbst  aus  dieser  gemüthlichen  Ruhe  nicht  aufstörten, 
hat  man  uns  schwer  verargt.  Aber,  wie  wir  meinen,  mit  Unrecht. 
Es  ist  eine  etwas  doctriöäre,  unhistorische  Anforderung,  dass  in  einem 
grossen,  monarchisch  regierten  Reiche  eine  kleine  Provinz  sich  ganz 
unabhängig  von  den  augenblicklichen,  staatlichen  Principien  des  Ganzen, 
ja  gegen  dieselben,  aus  ständischen  Verhältnissen  nach  eigenen,  grossen 
Ideen  der  Politik  entwickele.  Li  ganz  Russland  durfte  unter  der  Re- 
gierung des  Kaisers  Nikolaus  Niemand  im  Ernst  verlangen,  dass  die 


\ 


Zur  Lage.  11 

Vorrechte  der  herrschenden  Klassen  beseitigt  würden.  Es  ist  eine 
menschlich  und  politisch  im  Allgemeinen  unrechtfertige  Zumuthung, 
dass  man  eine  Macht  aufgebe,  deren  Berechtigung  nicht  angestritten 
wird.  Uns  trifft  der  Vorwurf  nicht,  dem  Drängen  der  minder  be- 
rechtigten Klassen  in  feudaler  Weise  uns  zu  widersetzen.  Nur  räumen 
wir  Eines  ein :  Wir  müssen  von  uns  selbst  ein  grösseres  Maass  politischen 
Scharfblicks,  ein  weiter  sehendes  Auge  verlangen,  als  von  den  Massen 
oder  von  politischen  Ständen  im  Allgemeinen.  Wir  haben  für  unsere 
Vorrechte  mehr  zu  verantworten  als  Andere.  Wir  dürfen  uns  nicht 
darauf  verlassen,  dass  zu  rechter  Zeit  die  realen  Kräfte  sich  finden 
werden,  das  Substrat  einer  Idee  zu  bilden,  unsere  Existenz,  unsere 
Entwickelung  zu  stützen.  —  Kurzsichtig  zu  sein  ist  ein  Fehler,  kein 
Vergehen.  Daraus  einen  Vorwurf  uns  zu  machen  sind  wir  allein 
berechtigt  und  verpflichtet,  aber  kein  Anderer. 

Damals  machte  Niemand  uns  den  Vorwurf,  dass  unsere  Ent- 
wickelung still  stehe  und  die  Schritte,  die  wir  vorwärts  thaten,  ge- 
schahen meist  aus  eigenem,  freiwilligen  Antriebe.  Als  in  Preussen, 
in  Oesterreich  die  Leibeigenschaft  der  Bauern  aufgehoben  wurde, 
wirkten  grosse  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zieles  mit.  Li  Oesterreich 
gingen  die  Kriege  gegen  Friedrich  11,  die  Reformen  Maria  Theresia's 
dem  Schritte  voraus,  den  Joseph  II  in  reformatorischem  Feuereifer, 
und  dennoch  unvollständig  that.  In  Preussen  bedurfte  es  des  Elendes 
de»  napoleonischen  Bedrückung,  und  es  gehörte  ein  Stein  dazu,,  um 
nach  hartnäckigem  Widerstände  die  Abolition  der  Leibeigenschaft  und 
Erbunterthänigkeit  herbeizuführen.  Im  Herzogthum  Warschau  wurde 
diese  Reform  im  Jahre  1807  von  Napoleon  mit  dem  Code  civil 
decretirt.  So  ausserordentliche  Kräfte  erst  konnten  den  Widerstand 
der  Gewohnheit  brechen.  Was  dort  durch  die  Vereinigung  unge- 
wöhnlicher äusserer  Verhältnisse  und  ungewöhnlicher  Männer  dem 
Adel  abgerungen  wurde,  das  geschah  hier  um  dieselbe  Zeit  durch  die 
Initiative  des  Adels,  gegen  den  die  Spitze  dieser  Reform  gewandt 
war.  Ja  die  Anfänge  zu  derselben  sehen  wjr  hier  schon  1764,  1753 
auftauchen,  und  die  Zeit  Stein's  und  Hardenberg's  fand  diese  Ritter- 
schaften bereits  in  einem  Grade  für  die  Durchführung  dieses  grossen  Acts 
gereift,  der  einer  thatkräftigen  Initiative  den  fast  einmüthigen  Beschluss 
folgen  Hess.  Und  im  Zusammenhang  mit  diesem  politisch  be wussteh 
Leben  ging  eine  geistige  Bewegung  auch  auf  andern,  verwandten 
Gebieten  durch  unser  Land,  an  die  sich  unsere  besten  Namen  knüpfen. 

Auf  jene  Zeit  mit  Stolz  zurückzublicken  sind  wir  berechtigt. 
Damals  besassen  wir,  zum  Mindesten  in  einer  Richtung  die  Schärfe 


12  Zur  Lage. 

des  politischen  Blicks  und  die  selbständige,  muthige  Thatkraft,  welche 
den  Vorwurf  des  Feudalismus  und  Junkerthums  weit  zurückweisen, 
und  deren  Vorhandensein  die  Bedingung  ist,  die  uns  befähigt,  zu  sein 
was  wir  sein  sollen.  —  Die  Verhältnisse,  die  wir  oben  berührten, 
haben  uns  seitdem  andere  Wege  geführt.  Niemand  drängte  uns  zur 
Arbeit,  und  wir  wurden  gemüthlich.  Niemand  warf  uns  vor,  dass 
wir  gemüthlich  seien,  und  wir  wurden  kurzsichtig.  Denn  es  ziemte 
uns  nicht,  an  der  Thätigkeit  jenes  Haushaltes  Genüge  zu  finden.  Eine 
verhängnissvolle  Trägheit  und  Indolenz,  eine  kleinliche  Selbstgenüg- 
samkeit drohte  unsere  ffuten  Kräfte  im  Lande  werth-  und  würdelos 
zu  machen.  Man  kümmerte  sich  wenig  um  den  Nachbar,  und  wenn 
man  es  that,  so  geschah  es  meist  in  der  Weise  der  Kaflfeeschwestem. 
Unsere  Pglitik  drohte  in  jene  Cavalierspolitik  auszuarten,  die  eine 
gefährliche  Klippe  aristokratisch -corporativer  Verhältnisse  ist.  Wo 
in  Aristokratien  das  Bewusstsein  grosser  Pflichten,  deren  Erfüllung 
ihnen  obliegt,  erlischt,  da  nimmt  das  politische  Leben  leicht  den 
Charakter  des  Persönlichen  an.  Eine  gewisse  Würde  und  Ehre  wird 
gewahrt,  aber  es  ist  die  gesellschaftliche  Ehre  des  Cavaliers,  die  man 
darunter  versteht  und  die  man  mit  der  des  politischen  Körpers  ver- 
wechselt. Man  wacht  darüber,  dass  der  Einzelne  das  Ganze  nicht 
verunziere,  dass  er  eine  würdige  Gesinnung  an  den  Tag  lege,  dass 
er  nicht  des  persönlichen  Muthes  ermangele,  dass  die  corporativen 
Aemter  nicht  bestechlich  seien;  man  sorgt,  dass  die  Vertreter  der 
Körperschaften  Leute  seien,  die  ihrer  Stellung  nichts  vergeben,  man 
thut  Alles  f(lr  ein  anständiges  Benehmen  des  Einzelnen  und  des 
Ganzen  —  und  damit  endigt  der  politische  Katechismus.  Aber  dieses 
anständige  Benehmen  wiegt  zwar  viel  in  den  leichten  Beziehungen 
des  Einzelnen  zu  dem  geselligen  Verkehr;  wir  verlangen  im  gewöhn- 
lichen bürgerlichen  Leben  von  der  Mehrzahl  der  Menschen  nicht  mehr, 
als  dass  sie  die  Bewegung  des  Ganzen  nicht  hemmen,  die  Kreise  der 
einzelnen  Nebenmenschen  nicht  stören,  und  sind  im  Allgemeinen  zu 
der  Voraussetzung  berechtigt,  dass  wer  sich  würdig  und  ohne  Anstoss 
in  der  Gesellschaft  und  in  seinen  Geschäften  zu  benehmen  weiss,  ein 
guter  Staatsbürger  sei.  Von  dem  politischen  Körper  müssen  wir  mehr 
verlangen.  Wir  können  uns  mit  jenem  negativen  Maassstabe  nicht 
begnügen  und  fordern  positive  Tüchtigkeit.  Wir  können  uns  nicht 
zufrieden  geben  wenn  die  Körperschaft  nur  ihre  äussere  Würde  auf- 
recht hält,  wenn  sie  keine  Niederlage  erleidet,  weil  sie  sich  der  Ver- 
legenheit des  Kampfes  nicht  aussetzt,  wenn  sie  nicht  irrt,  weil  sie 
nicht  handelt.    Es  mag  ein  höchst  würdiges  Bild  gewesen  sein,  welches 


Zur  Lage.  13 

die  auf  dem  Forum  versammelten  Senatoren  von  Rom  dem  eindringen- 
den Fremdling  darboten,  und  wir  bewundem  die  erhabene  Vater- 
landsliebe der  Greise,  wel^e,  um  die  erzürnten  Götter  Roms  zu  ver- 
söhnen, auf  den  curulischen  Sesseln  sitzend,  sich  zu  gewissem  Tode 
dem  Feinde  überlieferten.  Aber  dieses  Opfer  kann  uns  nicht  mit  der 
Schmach  versöhnen,  die  jene  selben  Senatoren  und  Häupter  von  Rom 
verschuldeten  als  sie  durch  Unthätigkeit  und  Zwietracht  den  dies 
Alliensis  herbeiführten. 

Je  grösseres  und  ausschliesslicheres  Gewicht  man  den  individuell 
persönlichen  Seiten  des  corporativen  Lebens  beilegt,  um  so  enger 
wird  der  Kreis  des  wahren  politischen  Schaffens.  Denn  immer  mehr 
und  zwar  im  selben  Yerhältniss  als  die  Thatkraft  abnimmt,  wächst 
die  Furcht,  dass  wenn  eine  Verbesserung,  eine  Reform,  eine  politische 
That  unternommen  wird,  ihr  Misslingen  der  Körperschaft  zur  Unehre 
gereichen  möchte,  und  man  kommt  dahin,  dass  die  Körperschaft  als 
solche  und  der  Einzelne  innerhalb  derselben  vor  allem  Handeln  zurück- 
scheuen, nur  um  der  Gefahr  zu  entgehen  sich  vielleicht  eine  Blosse 
zu  geben.  Und  es  kommt  dieses  hinzu,  dass  eine  schöne  und  wichtige 
Eigenschaft  corporativer  Gemeinwesen  durch  jene  Veräusserlichung 
des  politischen  Lebens  geschwächt  wird,  nämlich  die  in  der  alten 
Devise  enthalten  ist:  concordia  res  parvae  crescunt.  Denndaman 
in  misslichen  Lagen  Andere  neben  sich  erblickt,  die,  ähnlichen  oder 
gleichen,  schwierigen  Fragen  gegenüberstehend  dem  Thun  des  Nachbars 
erwartungsvoll  zuschauen,  so  wird  man  einerseits  nur  um  so  vor- 
sichtiger, unthätiger,  zum  Verdecken  seines  Handelns  geneigter,  weil 
viel  daran  liegt,  dass  jene  es  nicht  etwa  besser  machen  und  klüger 
erscheinen ;  anderseits  ist  man  im  Handeln  so  zurückhaltend  als  mög- 
lich, damit  man  durch  einen  die  Andern  etwa  treffenden  Schaden 
rechtzeitig  gewarnt  werde,  und  vielleicht,  indem  man  sich  hiernach 
richtet,  aus  dem  Nichtsthun  noch  den  Vortheil  ziehen  könne,  für  den 
Weiseren,  Scharfblickenderen  zu  gelten.  Es  gebricht  die  Kraft,  jene 
vermeintliche  Ehre  zu -wagen  für  die  Gemeinsamkeit  der  That,  und 
man  übersieht,  dass  indem  man  so  diesen  äussern  Schein  der  Würde, 
der  Klugkeit  wahrt,  weit  wesentlichere  Dinge,  nämlich  die  Thatkraft 
auf  dem  Boden  des  einzelnen'Gemeinwesens  selbst,  und  die  Stärkung 
durch  Gemeinsamkeit  der  Arbeit  gefährdet  und  verloren  werden. 

Diesem  Geiste  fallen  leicht  Aristokratien  anheim,  die  'nicht  durch 
ernste  und  würdige  Pflichten  und  durch  das  lebendige  Bewusstsein 
derselben  zur  Arbeit  und  Thätigkeit  gespornt,  gezwungen  werden. 
Wenn  unser  politisches  Leben  diesem  Geiste  entging,  so  danken  wir 


14  Zur  Lage. 

es  der  ihm  zugeführten  Arbeit,  und  je  weiter  wir  uns  von  jenem 
Geiste  entfernen,  für  um  so  gesunder  werden  wir  unsere  politischen 
Gemeinwesen  galten  dürfen. 

In  jenen  Jahrzehnten  nach  der  Bauernemancipation  begann  es 
an  Arbeit  zu  fehlen  weil  man  sie  nicht  sah,  weil  wir  kurzsichtig  ge- 
worden waren,  und  das  Blut  in  den  Körpern  wurde  dick.  Wir  er- 
freuten uns  eines  massigen  Wohlstandes  und  einer  noch  massigeren 
deutschen  Bildung.  Weil  diese  deutsche  Bildung  und  deutsche  Sitte 
eine  Quelle  der  Befähigung  zu  grossen  Erfolgen  für  uns  war,  wachten 
wir  fast  eifersüchtig  darüber,  nicht  dass  sie  reichlicher  flösse,  sondern 
dass  wir  allein  daraus  schöpften.  Wir  sahen  unser  Deutschthum  nicht 
anders  denn  als  ein  Privilegium  gleich  den  übrigen  Privilegien  des 
Grundeigenthums,  der  Richterwahl  an,  und  gönnten  es  den  Andern 
ebenso  wenig  als  diese.  Es  fehlte  nicht  an  dem  Verständniss  für  die 
Nothwendigkeit  der  Verbreitung  geistiger  Bildung  unter  dem  Land- 
volke ;  es  fehlte  aber  wohl  an  dem  Verständniss  für  die  Geistesrichtung 
in  der  Bildung.  Wir  hielten  dasjenige  im  engen  Raum  verschlossen, 
was  nur  gedeiht  bei  vollem  Licht  und  freiem  Leben.  Die  Ritterschaften 
haderten  mit  den  Städten,  dem  Edelmann  stand  Jedermann  in  der 
Welt  näher,  als  der  Bürger  seines  Landes  und  Stammes.  Denn  was 
die  Stammeshingehörigkeit  dem  Edelmann  werth  machte,  wurde  von 
aussen  nicht  angefeindet,  und  die  einzige  Concurrenz  drohte  ihm  inner- 
halb des  Stammes  aus  dem  Bürgerthum.  Und  umgekehrt:  je  ungünstiger 
die  politische  Lage  des  Bürgerstandes  bei  uns  wurde,  um  so  mehr 
musste  in  den  Augen  des  Einzelnen  aus  diesem  Stande  der  Werth 
unseres  Bürgerthums  hier  schwinden  um  dort  auf  socialem  Gebiet 
eine  Entschädigung  zu  finden,  wo  die  bürgerliche  Arbeit  des  Deutschen 
allgemeine  Anerkennuii^  genoss.  Mit  der  Regierung  und  im  Reich 
standen  wir  gut.  'Wenn  wir  aber  politisirten,  so  war  die  Entdeckung 
neuer  Goldadern  in  Perm  von  grösserer  Fragwürdigkeit,  als  die  Ab- 
schaffung der  Korngesetze  in  England  oder  eine  Verfassungsänderung 
in  einer  Schwesterprovinz.  Denn  dort  war  unser  Vetter  Gouverneur 
und  unser  Neffe  hatte  Aussicht,  die  Verwaltung  der  neuen  Gold- 
wäschereien zu  erhalten,  und  hier  waren  wir  oft  Kirchthurmspolitiker 
genug,  um  in  knabenhafter  Eitelkeit  d,en  Gefährten  die  Sache  aus- 
baden zu  lassen,  höchst  selbstzufrieden,  sich  so  klug  aus  der  Affaire 
gezogen  zu  haben.  Das  Interesse,  welches  der  Kurländer  für  das 
Starodubsche  Uhlanenregiment  oder  das  3.  Seeregiment  hatte  war 
grösser  als  dasjenige,  welches  er  für  die  Dorpater  Hochschule  oder 
der  Livländer  für  die  Verhandlungen  des  kurischen  Landtages  hatte, 


( 


Zur  Lage.  15 

denn  alle  Namen  des  kurischen.  Adels  waren  in  den  OfBzierslisten 
jener  Regimenter  zu  lesen.  Der  Kurländer,  der  die  Namen  Leal  oder 
Harrien  nennen  hörte,  Hess  sein  Gedächtniss  unsicher  über  sämmtliche 
Längen-  und  Breiteugrade  der  Erdkugel  hingleiten,  und  der  Estländer 
wusste  von  den  Kurländern  nur  zu  erzählen,  dass  die  Unterländer 
gesittete  Menschen  seien,  die  Weizen  säten,  die  Oberländer  aber  «ich 
alle  unter  einander  duzten;  dass  jene  ihr  halbes,  diese  ihr  ganzes  Leben 
damit  hinbrächten,  Hunde  zu  erziehen  und  Hasen  zu  schiessen.  So 
mangelhafte  gegenseitige  Urtheile  und  Kenntniss  waren  natürlich  mit 
geringem  Interesse  verbunden.  —  Den  Erfolgen  der  europäischen 
Politik  Russlands  schenkten  wir  ein  wachsames  Auge,  denn  unsere 

Gesandtschaften  in  aller  Herren  Ländern  waren  fast  ausschliesslich  in 

« 

den  gewandten  Händen  von  Diplomaten,  die  wir  beim  Vornamen 
nannten.  Russland  war  die  erste  unter  den  Grossmächten,  und  seine 
Diplomatie,  unsere  Vettern,  die  erste  im  europäischen  Concert.  Ihre 
Siege  waren  unsere  Siege,  ihre  Feinde  hassten  wir  mit  persönlichem 
Hasse. 

Aber  während  dieser  ganzen  Zeit  seit  jenen  zwanziger  Jahren 
zeigt  unser  inneres  Leben  eine  auffallende  Oede.  Es  fanden  sich  hie 
und  da  Männer,  die  wohl  im  Stande  waren  eine  kräftige  Entwickelung 
zu  leiten.  Sie  hatten  den  Muth  der  Initiative  von  den  Mannen^  der 
zwanziger  Jahre  überkommen ,  aber  soweit  nicht  äussere  Mittel  sie 
unterstützten,  vermochten  sie  wenig  einer  Masse  gegenüber,  die  gemüth- 
lich  war.  Es  fehlte  uns  nicht  an  Männern  von  hohem  Geist,  von 
hervorragenden  Talenten :  aber  dieser  Geist  entzückte  meist  die  Gesell- 
schaft zu  St.  James  und  Versailles,  diese  Talente  glänzten  im  Winter- 
palast und  auf  der  Maiparade.  Sie  erhielten  und  mehrten  das  Ansehen, 
welches  die  Ritterschaften  bei  Kaiser  und  Reich  genossen.  Aber 
unterdessen  ging  ein  halbes  Jahrhundert  durch  das  Land  ehe  die 
Consequenzen  der  Bauememancipation  in  der  Agrarreform  gezogen 
wurden,  unterdessen  ward  ein  grosser  und  wichtiger  Theil  der  pro- 
vinziellen Verwältungsmaschine  leer  an  Talenten  und  Geist,  und  die 
Kronbehörden  entfremdeten  den  Landesbehörden.  Man  war  sehr 
geschmeichelt  und  sehr  befriedigt  wenn  der  Repräsentant  der  pro- 
vinziellen Ritterschaft  eine  „ganz  exceptionelle  Stellung"  in  den  Kreisen 
des  Hofes  einnahm,  und  Hess  sichs  wenig  kümmern,  ob  diese  Stellung 
auf  dem  Parquet  der  Residenz  oder  auf  dem  heimathlichen  Boden  der 
Provinz  errungen  war,  ob  diese  Ehren  exceptionell  persönliche  waren, 
oder  in  der  That  mit  aussergewöhnlicben,  realen  Verdiensten  um  die 
repräsentirte -Provinz  zusammenhingen.     Mau  war  entzückt,  als  etwas 


16  Zur  Lage. 

Absonderliches  zu  erscheinen,  und  war  wenig  bestrebt,  etwas  Sonder- 
liches zu  sein.  So  waren  Gewohnheit  und  die  eigene  Schwere  die 
wohlthätigen  Kräfte,  denen  wir  fast  allein  die  Erhaltung  dessen  zu 
verdanken  haben,  was  heute  uns  von  grossem  Werth  scheint. 

Wir  erreichten  allerdings  auf  jenem  Wege  und  in  einer  Richtung 
viel:  wir  waren  sehr  gute  Patrioten  und  hatten  vortreffliche  Ver- 
bindungen; der  Schwerpunkt  unserer  Interessen  verlegte  sich  immer 
mehr  in  die  Residenz  und  das  Reich. 

Als  im  Jahre  1853  die  ersten  Feindseligkeiten  gegen  die  Pforte 
begannen,  als  das  kaiserliche  Manifest  vom  1.  November  die  Unter- 
thanen  zum  Religionskriege,  zur  Vertheidigung  der  geheiligten  Rechte 
der  orthodoxen  {[irche  aufrief,  da  entflammte  das  kaiserliche  Wort 
zur  allgemeinen  Begeisterung.  Reiche  Geldspenden  wurden  aufgebracht 
und  wanderten  in  die  Kassen,  die  dann  die  Hospitäler  und  Ma- 
gazine von  Sewastopol  versorgten.  Unsere  Frauen  und  Jungfrauen 
zupften  eifrig  Charpie  für  die .  Verwundeten ;  die  einquartierten 
Truppen  wurden  freudig  begrüsst  und  freigebig  beherbergt;  unsere 
Pfarrer  hielten  feurige  Gebete  für  die  Kämpfenden  und  für  den  Sieg 
der  gerechten  Sache;  unsere  Jünglinge  verliessen  in  Schaaren  die 
Schulen  und  die  Universität,  empfingen  gemeinsam  die  kirchliche 
Weihe  für  das  Vaterl^d,  und  wurden  von  den  Häuptern  der  Provinz 
Sr.  Majestät  zugeführt,  welche  sie  der  Sorge  des  damaligen  Thron- 
folgers, unseres  heutigen  Kaisers,  übergab.  Mit  der  grössten  Spannung 
folgten  wir  den  Ereignissen  des  Krieges,  mit  Jubel  empfingen  wir 
jede  Siegesnachricht,  mit  tiefem  Schmerz  und  gekränktem  Ehrgefühl 
erfüllte  uns  der  Ausgang. 

Zehn  Jahre  der  äusseren  Ruhe  gingen  vorüber.  Andere  Thaten, 
als  die  der  Diplomaten  und  Heerführer  haben  während  dieses  De- 
cenniums  unsern  Geist  beschäftigt  und  bestimmt.  Manche  exceptionelle 
Stellungen  erwiesen  sich  als  Seifenblasen,  und  manch  saftigen  Lorbeer 
sahen  wir  mit  schmerzlichem  Erstaunen  in  unserer  Hand  verdorren. 
Aber  der  Wirbel  des  ganzen  Reichs  hat  uns  Bewegung  und  Richtung 
gegeben,  jene  Umkehr  des  Ganzen  bahnte  eine  Wendung  auch  unseres 
Geistes  an.  Ein  Vergleich  unseres  Heute  mit  der  guten,  alten  Zeit 
führt  sorgenvolle  Linien  auf  unsere  Stirn,  aber  sie  lässt  uns  zugleich 
in  mancherlei  Beziehungen  wohlthätiger  Folgen  der  grossen  Reformen 
unseres  Monarchen  und  der  wechselnden  Ideen  des  öffentlichen  Geistes 
im  Reiche  mit  Dankbarkeit  bewusst  werden.  Die  oft  veränderte  Stellung, 
welche  in  dieser  Zeit  jener  Geist  zu  uns  genommen,  hat  wesentlich 
unsere  Kenntniss  desselben  gefordert,  unsere  Selbsterkenn tniss  geschärft. 


!\ 


Zur  Lasre.  17 


"O 


Mit  Befriedigung  vernahmen  wir  die  ersten  Reden,  welche  die 
Moskausche  Zeitung  an  uns  richtete.  Es  war  im  Jahre  1864,  nach- 
dem wir  schon  längere  Zeit  mit  Ueberraschung  bemerkt  hatten,  welche 
Wichtigkeit  man  den  Zuständen,  der  baltischen  Provinzen  beizulegen 
begann,  als  jenes  Blatt  uns  die  Hand  bot  zur  friedlichen  innern 
Assimilation.  Wir  waren  erstaunt  über  die  geöffneten  Armö,  die 
sehnlichsf  uns  ans  Herz  zu  drücken  begehrten,  und  waren  zweifelhaft, 
welche  Gefühle  diesen  Busen  bewegten,  der  für  die  deutsche  Cultur 
in  den  baltischen  Provinzen  alle  nur  möglichen  ^Immunitäten**  be- 
anspruchte, dessen  höchster  Wunsch  es  war,  in  diesem  abgelegenen, 
unbeachteten  Küstenlande  das  Verlangen  nach  freier  Verschmelzung 
zu  erwecken.  Wir  sahen  uns  plötzlich  als  vielumCreite  Jungfrau, 
und  wussten  nicht,  was  uns  der  Menge  stürmischer  Freier  so  werth 
machte. 

„Keine  Nationalität  überwindet  die  ihr  beigemischten  fremden 
Elemente  durch  die  blosse  Steigerung  ihrer  äussern  Machtstellung.** 
So  sprach'  die  Moskausche  Zeitung  zu  Anfang  des  Jahres  1864,  und 
noch  hieute  sind  wir  ihr  dankbar  für  diese  gute  und  von  uns  stets 
zu  beherzigende  Lehre.  Am  Schlüsse  desselben  Jahres  schon  sprach 
die  „Baltische  Monatsschrift**  ihr  letztes  Wort  zu  jenem  Blatte.  Seitdem 
hat  die  Moskauer  Zeitung  nicht  mehr  zu  uns,  sondern  nur  über  uns 
gesprochen.  Wir  aber  haben  uns  belehren  lassen,  oder  noch  zu  lernen : 
wie  das  ganze  Reich  alle  Kräfte  an  die  innere  Arbeit  gesetzt  hat, 
so  dürfen  auch  wir  von  dem  Wege,  den  das  Ganze  geht,  nicht 
weichen,  so  haben  auch  wir,  ein  Jeder  an  seiner  Stelle  im  Hause  zu 
arbeiten,  angestrengt  zu  wachen  und  zu  wirken,  ne  respublica 
quid  detrimenti  capiat. 

Mit  den  Reformphantasien,  wqlche  das  Reich  durchschwärmen 
sind  auch  uns  viele  Reformgedanken  und  einige  Ausführungen  der- 
selben gekommen.  Wir  haben  innerhalb  weniger  Jahre  grössere  Um- 
wälzungen unserer  Institutionen  erfahren,  als  in  den  50  Jahren  vor 
dieser  Zeit.  Es  ist  freilich  wakr :  diesen  50  Jahren  der  Ruhe  haben 
wir  es  zu  verdanken,  dass  die  Bewegung  uns  nicht  schädlicher  wurde, 
als  sie  es  hätte  werden  können.  Wir  hatten  lange  stille  gesessen 
und  uns  gepflegt  in  patriarchalischer  Wirthschaftlichkeit  und  bürger- 
meisterlicher Fürsorge,  und  als  wir  aufgestört  wurden,  reichten  die 
Kräfte  aus,  um  auf  unsern  Füssen  zu  stehen  und  zu  gehen»  So  machten 
wir,  anfangs  zaudernd,  schwankend,  einige  grosse  Schritte.  Der 
Grundbesitz  wurde  frei  gegeben,  die  Zunftschranken  gebrochen,  dem 
Bauer  wurde   persönlich    und   in    den    Gemeindeverbänden   völlige 

Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  2 


^  1= . 


18  Zur  Lage. 

Selbständigkeit  gesichert.  Diese  und  andere  Neuerungen  wurden 
nicht  blos  unternommen  um  Aushängeschilder  eines  modernen  Libe- 
ralismus zu  bleiben,  sie  waren  nicht  Concessionen,  die  den  Anforde- 
rungen der  augenblicklichen  Verhältnisse  gegenüber  widerwillig 
gemacht  worden  wären  um  zu  gelegener  Zeit  thatsächlich  vereitelt 
zu  werden.  Wir  thaten  ehrlich  was  wii*  thaten,  und  es  genügt  ein 
Blick  auf  die  heutigen  agraren  Zustände  um  zu  erkennen,  dass  bei 
uns  Reform  nicht  Phrase  ist.  Und  dieses  Alles  vollzog  sich  ohne 
wesentliche  störende  Rückschläge.  Doch  ist  aber  die  Gewohnheit  der 
Ruhe  nicht  geeignet,  für  Anstrengungen  und  Ausdauer  auf  unebenen 
und  ungewöhnlichen  Pfaden  vorzubereiten,  Da«s  wir  uns  nicht  wieder 
still  niedersetzen,  dafür  ist  gesorgt,  und  es  wäre  gleich  thöricht  zu 
glauben ,  dass  man  auf  rollenden  Steinen  sitzen  oder  stehen  könne, 
wie  auf  einen  Zauberstab  zu  hoffen,  der  dem  tobenden  Wetter  ge- 
böte. Weitere  einschneidende  Neuerungen  stehen  uns  bevor,  und 
es  ist  unsere  Sache,  dafür  zu  sorgen,  dass  sie  Reformen  bleiben. 
Die  feindliche  Presse  thut  das  Ihrige,  um  bei  uns  das  Gute  zu 
hindern,  einen  ruhigen  Gang  zu  stören,  und  wir  müssen  vorsichtig 
auftreten,  aber  wir  müssen  gehen.  Was  uns  eigen  und  werthvoU 
ist,  ist  nicht  ein  geschenkter  Schatz  in  der  Truhe,  der  gegeben  und 
genommen  wird,  und  wir  werden  es  nur  bewahren  indem  wir  es 
täglich  erwerben,  erweitern.  Denn  was  lebendig  ist,  unterliegt 
stetigem  Stoffwechsel,  und  das  nennen  wir  lebenskräftig,  was  die 
Eigenart  des  Stoffes  in  sich  stets  wieder  herzustellen  im  Stande  ist. 
Zu  einer  Zeit,  wo  in  ganz  Europa  die  Gegensätze  sich  in  einer 
Weise  schärfen,  die,  wie  wir  meinen,  einer  völligen  Verrückung  der 
politischen  Centren  zuführen  muss;  wo  in  dem  grossen  Reiche,  dem 
wir  angehören,  Wandlungen  sich  vollziehen,  die  wir  eher  Geschicke 
als  Reformen  nennen  möchten,  haben  auch  diese  Provinzen  schwere, 
böse  Tage  gesehen.  Wo  eine  langjährige  Gewohnheit  uns  gelehrt 
hatte,  die  Vertheidigung  unserer  Interessen  zu  suchen,  da  fanden  wir 
die  Waffen  stumpf,  und  wir  bemerkien,  dass  sich  in  unsere  Rech- 
nungen Fajßtore  eingedrängt  hatten,  auf  die  die  althergebrachten 
Formeln  nicht  mehr  passen  wollten.  Aber  wir  müssen  mit  diesen 
Factoren  rechnen,  wir  müssen  neue  Formeln  finden.  Folgen  wir  dem 
Beispiel  unserer  Reichsgenossen,  gehen  wir,  wenn  auch  mit  andern 
Mitteln  als  jene  ausgerüstet,  in  kleineren  häuslichen  Verhältnissen 
an  die  häusliche  Arbeit.  Benutzen  wir  die  Kräfte,  die  wir  sonst 
anderswo  verwandt  haben,  zur  friedlichen  innem  Entwicklung.  Be- 
reiten wir  für  kommende  Neuerungen  unser  Material.    Wenn  der 


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Zur  Lage.  19 

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Landmann  den  Boden  ackert  und  düngt  und  wieder  ackert,  dann  weiss 
er  nicht  ob  einst  eine  günstige  Sonne  den  Weizen  gedeihen  oder  böses 
Wetter  das  Unkraut  wuchern  lassen  wird.  Dennoch  bearbeitet  er 
unverdrossen  den  Boden  für  den  Weizen.  Wir  sind  mehr  als  Andere 
in  engen  Räumen  auf  uns  selbst,  auf  einander  angewiesen.  Aber 
schränken  wir  die  Bewegung,  den  Gesichtskreis  nicht  noch  mehr  ein 
als  der  Raum  es  erfordert. 

Mit  diesen  Wünschen  übergeben  wir  unsem  Lesern  das  vor- 
liegende Heft  und  fügen  nur  noch  den  hinzu,  dass  es  der  „Baltischen 
Monatsschrift"  vergönnt  sein  möge,  unter  vielen,  erfolgreich  schaffen- 
den Kräften  eine  zu  sein. 

E.  B. 


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Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums. 


XI  e  d  e» 

gehalten  zur  Einweihungsfeier  des  Gebäudes  des  baltischen  Polytechnicums  zu 
Riga  aml.  September  1869  yon  E.  Hollander  als  derzeitigem  stellvertretenden 

Vorsitzenden  des  Verwaltungsraths. 


Hochverehrte  Anwesende! 


U: 


nsere  Hochschule  ist  an  einen  bedeutungsvollen  Abschnitt  ihres 
Lebens  angelangt:  sie  hat  eine  bleibende  Stätte  gefunden. 

Nachdem  bereits  vor  einem  Jahre'  der  innere  Ausbau  zum  Ab- 
schluss  gediehen  war,  so  weit  bei  einem  lebendigen  Organismus  über- 
haupt von  Abschluss  die  Rede  sein  kann,  steht  nun  auch  der  äussere 
Bau  vollendet  da.  Die  Ausführung  desselben  hat  4  Baujahre  in  An- 
spruch genommen.  Sie  haben  den  zunächst  Betheiligten  viel  Mühe 
und  Arbeit  gekostet.  Wir  sind  ihnen  dafür  zu  dem  lebhaftesten  Dank 
verpflichtet.  Vor  Allem  gilt  dieser  Dank  dem  Manne,  der  den  Plan 
zu  dem  Bau  entworfen  und  denselben  dann  mit  unermüdlicher  Sorg- 
falt geleitet  hat,  unserem  verdienten  Professor  Hilbig.  Seiner  weisen 
Sparsamkeit  ist  es  auch  am  meisten  zu  danken,  dass  es  möglich  ge- 
wesen, die  Baukosten,  welche,  abgesehen  von  den  Kosten  der  inneren 
Einrichtung  und  des  Laboratoriums  auf  180,000  Rbl.  veranschlagt 
waren,  nur  um  die  verhältnissmässig  nicht  bedeutende  Summe  von 
ca.  5000  Rbl.  zu  überschreiten. 

In  seiner  im  Rundbogenstyl  ausgeführten  schönen  Architectur 
repräsentirt  der  monumentale  Ziegelrohbau  unsere  Anstalt  in  wahr- 
haft würdiger  Weise,  während  im  Innern  überall  eine  den  Verhält- 
nissen entsprechende  edle  Einfachheit  und  Zweckmässigkeit  sich  zeigt. 

Indem  der  Verwaltungsrath  dieses  also  für  seinen  erhabenen 
Zweck  ausgerüstete  Haus  hiermit  dem  geehrten  Lehrer-CoUegium  und 
den  Herren  Studirenden  seiner  Bestimmung  gemäss  zur  Benutzung 


I 


Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums.         21 

überweist,  lebt  er  der  Hoffnung,  dass  in  diesen  Räumen  alle  Zeit  der 
Geist  'ächter  Wissenschaftlichkeit  bei  Lehrenden  und  Lernenden  herr-  ' 
sehen  und  sich  aus  diesem  Geiste  heraus  immer  mehr  alle  die  Früchte 
entwickeln  werden,  die  man  von  einer  Hochschule  zu  erwarten  be- 
rechtigt ist. 

Der  Verwaltungsrath  hofft,  dass  unsere  Anstalt  fortan  fröhlicher 
noch  emporblühen  und  gedeihen  wird.  Er  hofft,  dass  diese  starken 
Mauern  sie  schützen  werden  gegen  manchen  Sturm  von  innen  und 
von  aussen. 

So  sind  unsere  Herzen  in  dieser  Feierstunde  erfüllt  von  Dank 
bei  dem  Blick  in  die  Vergangenheit,  beseelt  von  Hoffnung  bei  dem 
Blick  in  die  Zukunft.  Beide  Richtungen  führen  uns  vor  Allem  zu 
Gott,  dem  allmächtigen  Beschützer  und  Lenker  aller  Dinge. 

Wir  haben  solchem  Danke  bereits  Ausdruck  verliehen  in  dem 
gemeinsam  gesungenen  Liede.  Es  ist  uns  aber  nicht  minder  Be- 
dürfniss,  diese  unsere  Anstalt  auch  für  die  Zukunft  dem  Schutze  und 
der  Gnade  des  Allmächtigen  zu  befehlen,  der  bei  allem  Wechsel  der 
Dinge  allein  unveränderlich  bleibt. 

Erst?  Jahre  sind  vergangen  seit  ihrer  Begründung.  Und  doch 
welche  Veränderung  in  dem  Kreise  der  Männer,  die  für  sie  gewirkt 
und  gearbeitet!  Welcher  Wechsel  der  ihr  vorgesetzten  Curatoren, 
welcher  Wechsel  in  dem  Personal  des  Verwaltungsrathes  und  des 
Lehrer-CoUegiums !  Die  meisten  gingen  in  andere  Lebensstellungen 
über,  ein  Thefl  ging  bereits  zur  ewigen  Heimath  ein.  Unter  ihnen 
vor  Allem  der  Mitbegründer  und  erste  Präsident  des  Verwaltungs- 
raths,  der  Bürgermeister  Otto  Müller.  Es  kann  der  Name  dieses 
Mannes  hier  nicht  genannt  werden,  ohne  dabei  seiner  hiervorragenden 
Verdienste  um  die  Begründung  unserer  Hochschule  zu  gedenken  und 
ohne  dem  tiefen  Schmerze  Ausdruck  zu  verleihen,  den  sein  allzu 
früher  Heimgang  so  wie  überall  in  Stadt  und  Land,  so  namentlich 
auch  bei  allen  denen  finden  muss,  die  ein  richtiges  Verständniss  einer- 
seits fär  die  Bedeutung  unserer  Anstalt,  anderseits  aber  für  die 
grossen  Schwierigkeiten  haben,  die  der  Begründung  derselben  ent- 
gegenstanden und  deren  Fortbestehen  noch  immer  bedrohen. 

Freilich  ist  unsere  Anstalt  nicht  auf  die  einzelnen  Personen  an- 
gewiesen, sondern  auf  die  Stände  unserer  Provinzen.  Sie  haben  in 
richtiger  Erkenntniss  dessen,  was  uns  noth  ist,  dieselbe  begründet, 
sie  werden  —  des  sind  wir  überzeugt  —  was  mit  so  vielen  Opfern 
ins  Leben  gerufen  worden  ist,  nicht  wieder  fallen  lassen.  Nicht  jedes 
Blatt  unserer  heimischen  Geschichte  giebt  Zeugniss  von  der  Einigkeit 


ir 


22        Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums. 

der  Stände,  hier  aber  liegt  ein  solches  vor.  Einmüthig  haben  sie 
das  edle  Werk  begonnen,  einmüthig  dasselbe  bisher  gepflegt.  Auch 
in  Zukunft  wird  es  den  betheiligten  Ständen  nicht  an  Männern  fehlen, 
die  bereit  sind,  das  hoffnungsvoll  begonnene  Werk  mit  Liebe  und 
Begeisterung  fortzuführen. 

Auf  dieser  Ueberzeugung  beruht  vor  Allem  die  Zukunft  unserer 
Anstalt,  die  in  dem  Augenblicke,  in  welchem  sie  im  Begriffe  steht 
die  Kinderjahre  hinter  sich  zu  lassen,  uns  zu  dieser  erhebenden  Feier 
hier  versammelt  hat. 

Soll  aber  aus  dieser  Feier  eine  Anregung  hervorgehen  für  die 
künftige  Handhabung  der  Administration  unserer  Anstalt  —  und  das 
muss  im  letzten  Grunde  doch  mit  ihre  Aufgabe  sein  —  so  wird  das 
nur  geschehen  können  auf  den  Grund  der  Erfahrungen,  die  im  Laufe 
der  Jahre  gemacht  worden  sind.  Darin  liegt  die  Berechtigung,  dass 
bei  dieser  Feier  einer  wissenschaftlichen  Anstalt  neben  den  Männern 
der  Wissenschaft  ein  Glied  des  Verwaltungsraths  das  Wort  ergreift. 

Indem  es  sonach  meine  Aufgabe  ist,  Ihnen,  hochgeehrte  An- 
wesende, in  knappen  Zügen  das  Wesentliche  aus  der  Geschichte 
unserer  Anstalt  in  das  Gedächtniss  zurückzurufen,  brauche  ich  kaum 
hinzuzufügen,  dass  Sie  nicht  werden  erwarten  können,  von  mir  etwas 
Neues  zu  hören. 

Es  ist  Niemand  hier,  der  zu  unserer  Anstalt  nicht  in  einer  ge- 
wissen Beziehung  stände.  Was  ich  Ihnen  zu  sagen  habe,  haben  Sie 
mit  erlebt.  Zugleich  aber  will  ich  versuchen,  die  Stellung,  die  der 
Verwaltungsrath  zu  den  einzelnen  Fragen  einnimmt,  kurz  zu  charak- 
terisiren. 

Die  kritische  Lage,  in  welche  die  3  Hauptfactoren  unseres  wirth- 
schaftlichen  Lebens,  Handel,  Industrie  und  Landwirthschaft  in  Folge 
des  Mangels  einer  localen  Bildungsanstalt  für  industrielle  und  tech- 
nische Berufssphären  gegen  Ende  der  fünfziger  Jahre  gerathen  war; 
die  dadurch  herbeigeführte  Abhängigkeit  von  dem  Auslande,  welche 
die  wirthschaftliche  Entwickelung  unserer  Provinzen  nach  allen  Seiten 
in  wahrhaft  besorglicher  Weise  zu  hemmen  und  zu  beeinträchtigen 
drohte,  veranlasste  im  Jahre  1857  einen  Kreis  patriotischer  Männer 
verschiedener  Berufszweige,  den  Plan  zur  Errichtung  einer  polytech- 
nischen Schule  in  ernste  Berathung  zu  nehmen.  Das  Resultat  dieser 
Verhandlungen  war  der  Plan  zur  Errichtung  einer  Schule,  welche 
mit  einem  Ausgabeetat  von  14,000  Rbl.  nur  die  allgemeinste  Vor- 
bildung für  höhere  technische  Lehranstalten  bezweckte.  Der  Börsen- 
Comitö,  welcheni  dieser  Plan  zur  weiteren  Wahrnehmung  übergeben 


Beitrag  zui*  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums.         23 

wurde,  gelangte  jedoch  bald  zu  der  Ueberzeugung,  dass  die  projectirte 
Schule  den  Bedürftiissen  der  Zeit  und  des  Landes  nicht  entspreche, 
dass  es  sich  vielmehr,  solle  anders  der  beabsichtigte  Zweck  erreicht 
werden,  um  die  Gründung  einer  polytechnischen  Hochschule  handele, 
welche  geeignet  wäre,  eine  vollständige  Ausbildung  für  den  technischen 
und  industriellen  Beruf,  nach  dem  damaligen  Stande  der  Wissenschaft 
zu  geben.  Zu  Anfang  des  Jahres  1859  entschloss  man  sich,  den  Pro- 
fessor Franke,  den  zweiten  Director  des  Polytechnicums  zu  Hannover 
hierher  zu  berufen,  um  dessen  sachkundigen  Rath  einzuholen.  Aus 
den  mit  ihm  gepflogenen  Berathungen  ging  ein  Entwurf  hervor,  welcher 
im  Wesentlichen  unserer  Anstalt  zur  Grundlage  gedient  hat.  Nur  in 
dem  Ausgabeetat  hatte  Franke  sich  stark  vergriflfen,  indem  er  meinte, 
denselben  mit  ca.  20,000  Rbl.  bestreiten  zu  können.  Den  mit  den 
hiesigen  Verhältnissen  genau  bekannten  Gliedern  des  Börsen-Comit^'s 
konnte  jedoch  dieser  Fehlgriff  nicht  entgehen.  Man  erkannte  bald, 
dass  die  Anstalt  in  ihrem  vollen  Betriebe,  mit  Hinzuschlagung  der 
Renten  für  das  Baucapital  des  auf  die  Dauer  nicht  zu  entmissenden 
eigenen  Gebäudes,  jedenfalls  das  Doppelte  der  veranschlagten  Summe 
noch  um  ein  sehr  Bedeutendes  übersteigen  müsse.  Dass  der  Börsen- 
Comite  sich  durch  die  Höhe  der  dadurch  bedingten  Opfer  nicht  ab- 
schrecken liess,  sondern  energisch  weiter  vorging,  werden  ihm  unseire 
Provinzen  niemals  genug  danken  können.  In  der  That  lässt  sich 
behaupten,  dass  ohne  die  hochherzige  und  opferfreudige  Initiative 
unserer  Kaufmannschaft  und  ihrer  Vertretung  die  Sache  schwerlich 
den  erwünschten  Erfolg  gehabt  hätte.  Ihnen  ist  es  auch  hauptsächlich 
zuzuschreiben,  dass  die  um  ihre  Mitwirkung  und  Betheiligung  ange- 
gangenen Corporationen  und  Autoritäten  sich  einstimmig  bereit 
erklärten  die  Sache  als  die  ihrige  in  die  Hand  zu  nehmen  und  mit 
Geldbeiträgen  zu  unterstützen. 

Am  1.  Mai  1861  erhielt  das  vorgestellte  Statut  die  Allerhöchste 
Bestätigung. 

Die  Grundzüge  dieses  Statuts  darf  ich  wohl  bei  Ihnen  Allen  als 
bekannt  voraussetzen. 

Ich  begnüge  mich  daher  mit  der  Bemerkung,  dass  das  Statut  sich 
durchaus  als  lebensfähig  erwiesen  hat.  Nach  der  bisherigen  Erfahrung 
dürfte  kaum  irgend  eine  wesentliche  Abänderung  dringend  geboten 
erscheinen.  Freilich  beruht  das  zum  Theil  darauf,  dass  das  Statut, 
in  der  richtigen  Erkenntniss  der  Neuheit  der  Sache  und  ihrer  Ent- 
wickelungsfähigkeit,  eine  ziemlich  allgemeine  Fassung  erhalten  hat, 
welche  gewissen  Modificationen  freien  Spielraum  gestattet.    Es  handelt 


24        Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums.' 

sich  jetzt  nur  noch,  wie  eine  Denkschrift  vom  Februar  1865  besagt, 
um  die  Fortführung  des  Begonnenen,  und  die  praktische  Ausführung 
dessen,  was  nach  dem  Allerhöchsten  "Willen  den  Ständen  des  Landes, 
ihrem  eigenen  Wunsche  gemäss,  gewährt  und  überlassen  war.  Der- 
gleichen Modificationen  sind  hinsichtlich  des  Lehrplanes  im  Laufe  der 
Jahre  vielfach  nothwendig  geworden. 

Man  hatte  anfangs  8  Fachabtheilungen  in  das  Auge  gefasst: 

1.  Die  Handels-Abtheilung; 

2.  Die  landwirthschaftliche  Abtheilung; 

3.  Die  chemisch-technische  Abtheilung; 

4.  Die  mechanisch-technische  Abtheilung  für  Fabrikanten; 

5.  Die  Abtheilung  für  Feldmesser  und  Geodäten; 

6.  Die  Ligenieur- Abtheilung; 

7.  Die  Abtheilung  für  Maschinen-Ingenieure; 

8.  Die  Abtheüung  für  Architecten. 

Zunächst  möchte  ich  constatiren,  dass  ein  so  vollständiges  Poly- 
technicum  bis  hiezu  nirgend  existirt,  indem  eine  Fachabtheilung  für 
Kaufleute  mit  keinem  auswärtigen  Polytechnicum  verbunden  ist.  Die 
Kaufleute  sind  mithin  von  dem  Segen  academischer  Bildung  und 
academischen  Lebens  bisher  völlig  ausgeschlossen  gewesen,  da  die 
sogenannten  Handels- Academien  fast  durchgängig  diesem  Namen  ganz 
und  gar  nicht  entsprechen,  unter  allen  Umständen  aber  ihrer  Isolirt- 
heit  wegen  nicht  mit  den  Universitäten  verglichen  werden  können. 
Der  Weg,  den  unsere  Hochschule  eingeschlagen  hat,  ist  daher  in 
dieser  Beziehung  ein  ganz  neuer.  Da  die  Handelsabtheilung  erst 
im  vorigen  Jahre  in's  Leben  getreten  ist,  lässt  sich  von  Resultaten 
allerdings  noch  nicht  sprechen.  So  viel  ist  aber  gewiss ,  dass  das 
Bedürfiiiss  nach  einer  mit  dem  Polytechnicum  verbundenen  Handels- 
fachschule durch  die  Opfer,  welcher  der  Handelsstand  die  Sache  werth 
erachtet  hat,  als  constatirt  angesehen  "werden  muss.  Und  wenn  es 
gestattet  ist,  einen  Blick  in  die  Zukunft  zu  werfen,  so  dürfte  man 
sich  kaum  der  Ueberzeugung  entschlagen  können,  dass  eine  Ver- 
theilung  der  Zöglinge  der  Handelsabtheilung,  welche  mit  Erfolg  ihren 
Cursus  beendet  haben,  auf  sämmtliche  Zweige  unseres  Handels  von 
maassgebender  Bedeutung  für  die  Entwickelung  desselben,  ja  für  die 
unseres  gesammten  communalen  und  socialen  Lebens  werden  müsste, 
denn,  m.  H.,  das  ist  doch  klar,  dass  in  einer  Handelsstadt  alles  Ge- 
deihen  zunächst  von    der  Tüchtigkeit   des  Handelsstandes    abhängt. 

Allein  die  Handelsabtheilung  hat  keineswegs  die  Aufgabe,  nur 
dieser  Stadt  oder  unseren  Provinzen  zu  gut  zu  kommen,  vielmehr  soll 


Beitrag   zur  Geschichte  des  baltischen   Polytechnicums.         25 

und  wird  sie,  wie  unsere  Anstalt  ttberhaupT;,  dem  gesammten  Reich  zum 
Nutzen  gereichen.  Dabei  ist  noch  zu  berücksichtigen,  dass  die  Handels- 
abtheilung an  unserer  Hochschule  zugleich  nach  Maassgabe  der  Mög- 
lichkeit die  Aufgabe  zu  übernehmen  haben  wird,  welche  in  Zürich 
die  sogenannte  philosophische  und  volkswirthschaftliche  Abtheilung 
zu  erfüllen  hat,  indem  sie  durch  facultative  Vorträge  aiis  dem  Gebiete 
der  Religion,  der  Philosophie,  der  Geschichte,  Literatur  und  Kunst 
den  Studirenden  der  übrigen  Abtheilungen  zur  Erlangung  eines  höheren 
Grades  allgemeiner  Bildung  verhilft. 

Anerkannte  Autoritäten,  wie  namentlich  der  Director  Redten- 
bacher  in  Carlsruhe,  wamön  so  eindringlich  vor  der  Vernachlässigung 
der  humanistischen  Studien,  welche  die  Techniker  den  ideellen 
Interessen  entfremde,  dass  es  durchaus  geboten  erscheint,  diesen  Gegen- 
stand fortwährend  im  Auge  zu  behalten. 

Die  landwirthschaftliche  Abtheilung  sollte  anfangs  keine 
specifisch  agronomische  Lehranstalt  repräsentiren,  sondern  sich  auf 
den  Vortrag  der  für  den  rationellen  Landwirth  unentbehrlichen  natur- 
wissenschaftlichen und  technischen  Fächer  beschränken.  Dagegen 
war  man  von  vornherein  darauf  bedacht,  eine  landwirthschaftliche 
Versuchsstation  einzurichten,  deren  Aufgabe  darin  besteht,  durch  natur- 
wissenschaftliche Untersuchungen  auf  dem  Gebiete  der  Bodenkunde, 
Agriculturchemie ,  Pflanzenphysiologie  etc.  zur  Förderung  der  Land- 
wirthschaft  beizutragen.  Im  Laufe  der  Zeit  hat  es  sich  indessen  als 
nothwendig  herausgestellt,  die  landwirthschaftliche  Abtheilung  durch 
Gründung  einer  Professur  für  die  Specialfächer  und  durch 'Hinzu- 
fügung eines  dritten  Jahrescursus  zu  vervollständigen.  Die  Besetzung 
dieser  Professur  hat  vor  einem  Jahre  stattgefunden. 

Hinsichtlich  der  übrigen  Fachabtheilungen  ist  nur  zu  bemerken, 
dass  die  mechanisch-technische  Abtheilung  für  Fabrikanten  und  nicht 
minder  auch  die  Abtheilung  für  Geodäten  im  engeren  Sinne  für  über- 
flüssig erkannt  wurden.  In  allemeuester  Zeit  ist  auch  die  Architecten- 
Abtheilung  in  Frage  gestellt  worden,  wegen  der  Ooncurrenz  der  St. 
Petersburger  Bauschule,  welche  den  Studirenden  pecuniäre  Erleich- 
terungen und  Aussichten  auf  staatliche  Anstellungen  bietet,  wie  sie 
unser  Polytechnicum  zur  Zeit  nicht  gewährt.  Die  Verhandlungen 
hierüber  sind  noch  nicht  eingeleitet. 

Was  den  eigentlichen  Lehrplan  anbetrifft,  so  hatte  das  Frankesche 
Project  nach  dem  Beispiel  der  polytechnischen  Schulen  in  Dresden, 
Carlsruhe  und  Zürich  den  Grundsatz  fester  Curse  aufgestellt  und  zwar 


26        Beitrag  zur  Geschichte  des   baltischen  Polytechnxcums. 

um  so  inehl',  als  man  in  Hannover,  wo  man  den  Studirendeü  die  Aus- 
wahl der  Fächer  überlassen  hatte,  davon  zurückkam. 

Aus  finanziellen  Rücksichten  und  um  den  Studirenden  so  lange 
als  möglich  die  Entscheidung  für  ein  bestimmtes  Specialfach  offen  zu 
lassen,  wurden  bei  Eröffnung  der  ersten  Facheurse  am  1.  September 
1863  Combinationen  der  einzelnen  Abtheilungen  in  den  Studienplan 
aufgenommen,  so  weit  dieselben  ohne  Benachtheiligung  der  Fach- 
studien niöglich  schienen.  Ausserdem  aber  erwies  es  sich  als  noth- 
wendig,  die  nur  auf  2  und  resp.  3  Jahre  bemessenen  Curse  für  einzelne 
Abtheilungen  durch  facultative  Supplementcurse  zu  ergänzen.  Allein 
schon  in  den  ersten  Monaten  erkannte  map  die  Nothwendigkeit,  dass 
die  in  diesem  Sinne  au^estellten,  nur  eventuell  projectirten  faculta- 
tiven  Supplementcurse  als  obligatorische  in  den  Lehrplap  aufge- 
nommen würden  und  der  Uebergang  von  den  combinirten  zu  den 
nach  Specialfächern  gesonderten  Lehrcursen  geboten  sei.  Man  sah 
sich  demnach  genöthigt,  auf  den  ursprünglichen  Plan  fester  Curse 
zurückzukommen.  Allein  nachdem  dieser  Grundsatz  vollständig  durch- 
geführt war,  erwies  auch  das  System  der  geschlossenen  obligatorischen 
Curse  sich  als  mangelhaft.  Gegen  Schluss  des  vorigen  Studienjahres 
brachte  das  Lehrer -Collegium  die  Einführung  einer  beschränkten 
Studienfreiheit  in  Vorschlag,  welche,  nachdem  der  Verwaltungsrath 
sie  acceptirt  hatte,  auch  bereits  die  Genehmigung  Sr.  Excellenz  des 
Herrn  Curators  erhalten  hat.  Die  beschränkte  Studienfreiheit  gewährt 
dem  wissenschaftlichen  Eifer  der  studirenden  Jugend  den  nöthigen 
Spielraum.  Es  lassen  sich  demnach  von  ihr  die  besten  Resultate  erwarten, 
ohne  dass  deshalb  die  Sache  irgend  wie  als  abgeschlossen  gelten  kann. 

Dieser  häufige  Systemwechsel  gereicht  der  Plenarconferenz  ganz 
und  gar  nicht  zum  Vorwurf.  Bei  einer  Sache,  die  überall  noch  neu 
und  im  Flusse  ist,  kann  das  Richtige  erst  nach  vielfachen  Erfahrungen 
gefunden  werden.  Von  der  Conferenz  eben  ist  Nichts  weiter  zu  ver- 
langen, als  dass  sie  mit  lebendigem  Interesse  und  gewissenhafter  Sorg- 
falt das  Richtige  suche.  Dass  sie  es  daran  nicht  hat  fehlen  lassen, 
dafür  spricht  der  Umstand,  dass  die  Programme  unserer  Anstalt  auch 
in  auswärtigen  ZeitscBriften  anerkennende  Würdigung  gefunden  haben. 

Nachdem  das  Allerhöchst,  bestätigte  Statut  unserer  Anstalt  ver- 
öffentlicht worden  war  und  die  zunächst  betheiligten  Corporationen, 
die  livländische  Ritterschaft,  die  Stände  der  Stadt  Riga  und  die 
rigasche  Kaufmannschaft  ihre  Delegirte  zum  Verwaltungsrathe  ge- 
wählt hatten,  veranlasste  der  Börsen  -  Comitö,  welcher  die  Sache  bis 
dahin  betrieben  hatte,  den  Zusammentritt  des  Verwaltungsraths. 


Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums.        27 

Derselbe  constituirte  sich  am  7.  August  1861  und  wählte  den 
Bürgermeister  Otto  Müller  zu  seinem  Präsidenten. 

Der  Verwaltungsrath  glaubte  seine  Thä^tigkeit  nicht  früher  be- 
ginnen zu  können,  als  bis  er  durch  eine  in  das  Ausland  zu  entsen- 
dende Delegation  noch  genauere  Kenntniss  von  den  Einrichtungen  der 
vorzüglichsten  polytechnischen  und  Handelsschulen,  namentlich  auch 
in  baulicher  Hinsicht  erhalten  hätte. 

Erst  als  diese  Delegation,  bestehend  aus  dem  Bürgermeister  Müller 
und  dem  Secretär  des  Verwaltungsraths  Herrn  v.  Stein,  zurückgekehrt 
war  und  ihren  Bericht  erstattet  hatte,  fand  der  Verwaltungsrath  sich 
in  der  Lage,  weitere  Beschlüsse  zu  fassen. 

Man  schritt  vor  Allem  zur  Wahl  des  Directors,  und  handelte 
fortan  nur  im  Einverständniss  mit  demselben. 

Von  dem  Bau  eines  eigenen  Hauses  sollte  einstweilen  abgesehen 
und  die  Anstalt  .im  Herbste  1862  mit  einem  auf  die  mathematischen 
und  naturwissenschaftlichen  Vorbereitungsdisciplinen  zu  beschränken- 
den Cursus  eröffnet,  sodann  aber  succesive  je  nach  dem  Bedürfniss 
der  Special-  oder  Facheurse  vorgeschritten  werden. 

Am  2.  October  1862  wurde  die  technische  Vorbereitungsschule 
mit  15  Schülern,  zu  denen  im  Laufe  des  Jahres  noch  8  hinzukamen, 
eröffnet.  Dieselbe  bedarf  keiner  weiteren  Rechtfertigung,  da  weder  bei 
ihrer  Entstehung  noch  auch  jetzt  eine  hinreichende  Anzahl  von  Schulen 
vorhanden  war  und  ist,  welche  geeignet  wären  die  Vorbildung  für  das 
Polytechnicum  zu  übernehmen.  Denn  wollte  man  auch  zugeben,  dass 
eine  solche  Vorbereitungsschule  für  Riga  entbehrlich  sei,  so  doch 
gewiss  nicht  für  Diejenigen,  welche  ihre  Vorbildung  ausserhalb  Riga's 
zu  suchen  genöthigt  sind.  In  Ländern,  in  welchen  das  Schulwesen 
auf  einem  ungleich  höheren  Standpunkte  steht  als  bei  uns,  wie  z.  B. 
in  der  Schweiz,  hat  man  zwar  anfangs  geglaubt,  eines  solchen  vor- 
bereitenden Cursus  entbehren  zu  können,  sich  jedoch  bald  von  der 
Nothwendigkeit  desselben  überzeugt.  Die  Inconvenienzen,  welche  die 
Verbindung  der  Vorbereitungsschule 'mit  dem  Polytechnicum  anfangs 
herbeiführten,  dürften  als  beseitigt  anzusehen  sein  seitdem  man  die 
Unterscheidung  zwischen  dem  Vorbereitungscursus  und  dem  Polytech- 
nicum schärfer  in  das  Auge  gefasst  hat. 

Die  Einwürfe  aber,  welche  man  von  dem  Standpunkte  der 
Pädagogik  gegen  die  Vorbereitungsschule  geltend  gemacht  hat, 
beruhen  auf  dem  Irrthume,  als  ob  dieselbe  mit  ilirem  einjährigen 
Cursus  etwas  Anderes  als  ein  Nothbehelf  sein  könne  und  w(»lle. 
Der  Zweck  derselben  besieht  eben  nur  darin,  den  Candidaten  für  das 


28        Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums. 

Polytechnicum  Gelegenheit  zu  bieten,  sich  in  den  wesentlichsten 
Fächern  so  viele  Kenntnisse  zu  yerschafifen,  als  sie  nothwendig  nöthig 
haben  um  den  Vorträgen  folgen  zu  können.  So  lange  das  Bedürftiiss 
eines  solchen  Vorbereitungscursus  vorhanden  ist  wird  derselbe  daher 
nicht  entbehrt  werden  können.  Die  nothwendige  Voraussetzung  ist 
aber  ein  gewisses  Maass  allgemeiner  Bildung.  Meint  man  es  ernst 
damit,  unser  Polytechnicum  den  Universitäten  gleich  zu  stellen  — 
und  über  die  Gleichheit  ihrer  Zielpunkte  existirt  kein  Zweifel  —  so 
wird  man  sich  entschliessen  müssen,  auch  dieselben  Ausgangspunkte 
zu  wählen,  d.  h.  man  wird  als  Bedingung  des  Eintrittes  in  das  Poly- 
technicum diejenige  Reife  verlangen  müssen,  die  auf  den  Gymnasien 
erlangt  wird  ui>d  mithin  für  die  Vorbereitungsclasse  die  Reife  eines 
Primaners.  Wenn  das  bei  der  Begründung  unserer  Anstalt  zu  hoch 
gegriffen  schien  und  auch  für  den  Augenblick  noch  ist,  so  wird  man 
eine  allmälige  Steigerung  der  Ansprüche  doch  fortwährend  im  Auge 
behalten  m^üssen. 

Aus  der  technischen  Vorbereitungsschule  ging  für  das  zweite 
Studienjahr  am  1.  Sept.  1863  ein  vereinigter  Cursus  für  Landwirthe 
und  Chemiker  und  ein  Cursus  für  Architecten,  Ingenieure  und  Geodäten 
hervor.  Dem  ersteren  schlössen  sich  im  darauf  folgenden  Jahre  die 
Fabrikanten  an,  die  später  in  Wegfall  gekommen  sind,  dem  letzteren 
die  Maschinenbauer.  So  waren  bereits  im  dritten  Jahre  des  Bestehens 
der  Anstalt  alle  Abtheilungen  bis  auf  die  Handels- Abtheilung,  welche 
mit  ihrer  besonderen  Vorbereitungsclasse  erst  vor  einem  Jahre  in's 
Leben  gerufen  werden  konnte,  vertreten. 

Die  Frequenz  unserer  Anstalt  hat  bis  jetzt  nicht  ganz   den  ge- 
hegten Erwartungen  entsprochen,  indessen  hat  dbch  immer,  namentlich 
in  den  Facheursen  eine  regelmässige  Steigerung  siattgefunden. 
lö^Vea  gab  es  23  Schüler  des  technischen  Vorcursus  und  —  Studirende, 
IS^Vei     „„29„         „  „  ^  »16 

IS^Vßs     „    „  18       „         ^  .  „  ^  »30 

IS^Vee     »«34„^  „  „  »37 

IS^Vei     ,    ,  31       „         ,  ,  ,  ,45 

18  Ves     »    »  24       „         5,  „  „  »02 

18^769     ^    „  36       „         „  \  „  „•  14desHandels- 

vorcursus  und  59  Studirende, 
18®7to  gab  es  46  Schüler  des  technischen  Vorcursus,  13  des  Handels- 
vorcursus  und  90  Studirende. 

Die  Gesammtzahl  der  bis  zum  1.  Septbr.  1869  in  den  Vorbereitungs- 
classen  und  in  das  Polytechnicum  Eingetretenen  beläuft  sich  auf  271. 


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Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums.         29 

Im  Jahre  1865  wurden  die  ersten  Zöglinge  nach  absolvirten 
Studien  und  bestandener  Diplomprüfung  entlassen.  Seitdem  haben 
in  jedem  Jahre  Diplomprüfungen  stattgehabt.  Im  Ganzen  sind  aus 
unserer  Hochschule  bereits  hervorgegangen: 

5  Landwirthe,  ' 
1  Fabrikant, 
4  Chemiker, 
7  Ingenieure, 
2  Maschinen  -  Ingenieure, 

überhaupt  also  19. 

Das  Regulativ  für  die  Diplomprüflingen  ist  bereits  auf  den  Grund 
der  gemachten  Erfahrungen  mehrfachen  Umarbeitungen  unterzogen 
worden,  ohne  doch  zu  einem  völligen  Abschluss  gekommen  zu  sein, 
was  schon  deshalb  nicht  möglich  war,  weil  die  Handelsabtheilung 
erst  in  zwei  Jahren  ihre  ersten  Zöglinge  entlassen  wird. 

Wie  sehr  aber  unsere  Anstalt  einem  wirklichen  praktischen  Be- 
dürfniss  entspricht,  dürfte  sich  am  schlagendsten  daraus  ergeben,  dass 
die  Entlassenen  meist  gleich  nach  bestandener  Prüfung  Anstellungen 
finden.  So  hatte  namentlich  von  den  8  im  Juni  1869  Entlassenen 
die  Hälfte  schon  nach  einigen  Wochen  feste  Beschäftigung  gefunden. 

In  dem  Letrer-CoUegium  hat  im  Laufe  der  Jahre  ein  vielfacher 
Wechsel  stattfinden  müssen.  Ein  Theil  unserer  Professoren  ist  von 
hier  aus  ehrenvollen  an  sie  ergj^ngenen  Berufungen  gefolgt.  Immer 
aber  ist  es  uns  bis  jetzt  noch  gelungen,  aufs  Neue  tüchtige  Kräfte 
zu  gewinnen.  Es  gereicht  das  dem  Verwaltungsrathe  um  so  mehr  zur 
Genugthuung,  als  er  auf  das  Lebendigste  von  der  Ueberzeugung  durch- 
drungen ist,  dass  in  der  Tüchtigkeit  des  Lehrer-CoUegiums  der  Schwer- 
punkt der  Sache  liegt  und  mithin  von  ihr  auch  das  Gedeihen  der 
Anstalt  abhängt. 

Die  finanziellen  Schwierigkeiten,  mit  denen  unsere  Hochschule 
zu  kämpfen  gehabt  hat,  sind  von  Anfang  an  sehr  gross  gewesen. 
Voraussichtlich  werden  sie  auch  noch  längere  Zeit  fortdauern.  Es  ist 
eben  ohne  Beispiel,  dass  eine  solche  Anstalt  mit  einem  so  bedeutenden 
Ausgabeetat  ohne  Herbeiziehung  der  Mittel  des  Staates  unterhalten 
wird.  Die  Stände  konnten  sich  zur  Uebernahme  einer  derartigen 
Verpflichtung  nur  verstehen  in  der  richtigen  Erkenntniss,  dass  eine 
solche  Hochschule  in  einer  Zeit,  welche  mehr  als  je  nach  Verständniss 
der  wirthschaftlichen  Interessen  ringt,  welche  die  technischen  und 
naturwissenschaftlichen  Disciplinen  immer  mehr  in  den  Vordergrund 


30         Beitrag  zur  , Geschichte  des   baltischen  Polytechriicunis. 

stellt,  in  der  That  eine  Lebensfrage  für  unsere  Provinzen  geworden 
sei.  Zwar  trat  im  Jahre  1865  eine  Finanzkrisis  ein,  welche  die 
Existenz  der  Anstalt  bedrohte,  allein  die  zunächst  betU^iljgie^n  Cor- 
porationen  verdoppelten  ihre  Beiträge  und  ermöglichten  auf  diese  Weise 
die  Fortführung.  Das  aber  darf  man  sich  freilich  nicht  verhehlen, 
dass  immer  noch  neue  Opfer  erforderlich  sind.  Der  Ausgabeetat 
stellt  sich  für  die  nächsten  Jahre  incl.  der  Summen,  welche  für  die 
Verzinsung  und  Tilgung  der  auf  dieses  Haus  von  den»  Creditvereine 
aufgenommenen  Capitalien  erforderlich  sind,  auf  circa  48,000  Rbl. 
heraus.  Die  Einnahmen  belaufen  sich  aber  nur  an  Beiträgen  der 
Corporationen  auf  circa  27,000  Rbl.  und  an  Schul-  und  CoUegien- 
geldern  circa  16,000  Rbl.  Es  ergiebt  sich  demnach  ein  Zukurzschuss 
von  circa  5,000  Rbl.,  dessen  Deckung  augenblicklich  nur  durch  den 
Zuwachs  an  Schülern  und  Studirenden  zu  erwarten  steht.  Dass  diese 
aber  immer  nur  allmälig  eintreten  und  daher,  insofern  es  nicht  gelingt, 
die  Beiträge  der  contribuirenden  Corporationen  zu  erhöhen,  noch  eine 
extraordinaire  Deckung  nothwendig  werden  wird,  liegt  auf  der  Hand. 
Die  Stände  werden  demnach  jedenfalls  darauf  gefasst  sein  müssen, 
die  Anstalt  noch  eine  Reihe  von  Jahren  zu  subventionireu  und  es 
fragt  sich,  ob  die  Beiträge  jemals  ganz  werden  in  Wegfall  kommen 
können.  Möglich  wird  dies  wohl  nur  dann  sein,  wenn  unsere  Anstalt 
einst  nicht  ausschliesslich  auf  die  Schul-  und  Colleglengelder  ange- 
wiesen, sondern  ausserdem  noch  durch  Capitalien,  welche  ihr  auf  dem 
Wege  der  Vermächtnisse,  der  Schenkung  oder  sonst  irgendwie  zufallen 
könnten,  sicher  gestellt  sein  sollte.  Ein  kleiner  Anfang  ist  dazu  aller- 
dings bereits  gemacht,  indem  ein  v.  Wulffsches  und  zwei  Otto  Müllersche 
Stipendien  existiren,  welche  die  Bestimmung  haben,  bedürftigen  Poly- 
technikern '  die  Mittel  zur  Entrichtung  von  CoUegiengeldern  zu  ge- 
währen und  auf  diese  Weise  zugleich  der  Anstalt  zu  gut  kommen. 
Ausserdem  existiren  noch  9  Freistellen,  für  welche  denjenigen 
Corporationen  das  Repräsentationsrecht  zusteht,  die  die  höchsten 
Jahresbeiträge  zur  Unterhaltung  des.  Polytechnicums  zahlen.  Und 
zwar  so,  dass  auf  je  2,000  Rbl.  eine  Freistelle  kommt,  dieselbe  Cor- 
poration aber  höchstens  3  Freistellen  zu  vergeben  hat.  Demnach  hat 
gegenwärtig  die  kurländische  Ritterschaft  1  Freistelle,  die  livländische 
Ritterschaft  2,  die  Rigasche  Commune  und  die  Rigasche  Kaufmarin- 
schaft  je  3  Freistellen  zu  vergeben.  Die  Zahl  sämmtlicher  Freistellen 
beträgt  somit  15,  von  denen  3  in  halbe  Freistellen  getheilt  sind,  so 
dass  zur  Zeit  18  Polytechniker  das  Beneficium  des  vollen  oder  theil- 
weisen  Erlasses  der  Colleglengelder  gemessen. 


Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums.         31 

ZuT  Sicherstellung  der  etatmässigen  Docenten  für  den  Fall  des 
Eintritts  der  Unfähigkeit  durch  Alter  oder  Krankheit  ist  ein  Pensions- 
fond gegründet,  der  sich  bereits  auf  mehr  als  7,000  Rbl.  belauft. 
Die  Reformbedürftigkeit  des  demselben  zu  Grunde  liegenden  Reglements 
ist  jedoch  sowohl  von  dem  Verwaltungsrathe,  als  auch  dem  Lehrer- 
Collegium  anerkannt  worden.  Die  Verhandlungen  sind  zwar  noch 
nicht  vollständig  geschlossen,  indessen  liegt  die  Sache  so,  dass  eine 
alle  Theile  zufriedenstellende  Lösung  derselben  schon  in  der  nächsten 
Zeit  zu  erwarten  steht.  Es  lässt  sich  hoffen,  dass  alsdann  jedenfalls 
eine  grössere,  wenn  nicht  allseitige  Betheiligung  der  Docenten,  die 
überdies  für  die  Zukunft  obligatorisch  sein  soll,  stattfinden  und  auf 
diese  Weise  der  Pensionsfond  rasch  anwachsen  wird.  Der  Segen, 
welcher  daraus  auch  der  Anstalt  erwächst  indem  ihr  dadurch  die  Ge- 
winnung tüchtiger  Kräfte  erleichtert  wird,  ist  ersichtlich. 

Erwähnung  verdienen  ferner  noch  diejenigen  Leistungen  des 
Polytechnicums,  welche  nicht  gerade  zu  seiner  eigentlichen  Aufgabe 
gerechnet  werden  können. 

Es  gehört  namentlich  dahin  die  Handwerkerfortbildungsclasse,  der 
Wintercursus  für  Handelslehrlinge,  und  die  öffentlichen  Vorträge. 

Die  beiden  ersten  sind  bereits  eingegangen.  Der  Wintercursus  für 
Handelslehrlinge  erst  seit  einem  Jahre  weil  derselbe  nach  Eröffnung 
der  Handelsabtheilung  und  ihrer  Vorbereitungsciasse  nicht  weiter 
erforderlich  erschien.  Die  Handwerkerciasse  dagegen  kam  schon  nach 
3  Jahren  in  Wegfall,  einmal  weil  man  die  Noth wendigkeit  erkannte, 
zumal  bei  der  Unzulänglichkeit  der  Mittel,  das  Polytechnicum  auf 
seine  eigentlichen  Zwecke  zu  beschränken,  sodann  aber  weil  es  an- 
gemessen erschien,  diese  Sache  der  Initiative  des  Gewerbestandes  zu 
überlassen.  Der  Gewerbeverein  hat  denn  auch  seitdem  die  Sache  in 
die  Hand  genommen  und  auch  bereits  einen  hoffnungsreichen  Anfang 
gemacht.  -Die  öffentlichen  Vorträge,  welche  in  den  ersten  Jahren 
von  den  Docenten  des  Polytechnicums  im  Börsensaale  für  das  Pu- 
blicum gegen  eine  Zahlung  zum  Besten  des  Pensionsfonds  gehalten 
wurden,  haben  in  den  letzten  beiden  Jahren  wegen  mangelnder  Theil- 
nahme  von  Seiten  des  Publicums  nicht  mehr  stattgefunden.  Statt 
dessen  hat  der  Professor  der  Nationalöconomie  in  dem  Gewerbeverein 
Vorträge  über  Themata  seiner  Wissenschaft  gehalten,  an  welchen 
auch  den  dem  Polytechnicum  nahestehenden  Kreisen  die  Theilnahme 
gesichert  war.  Im  Laufe  des  bevorstehenden  Winters  beabsichtigt 
man  indessen  einen  abermaligen  Versuch  zu  machen,  die  früheren 
Vorträge  wiederum  aufzunehmen.    Dieselben  sollen  in  der  Aula  des 


32         Beitrag  zur  Geschichte  des.  baltischen  Polytechnicums. 

Polytechnicums  gehalten  werden.  Es  wird  diese  Angelegenheit  nicht 
nur  aus  sachlichen  Gründen,  sondern  auch  um  des  guten  Zweckes 
willen,  für  welchen  die  zu  erzielende  Einnahme  bestimmt  ist,  im 
Auge  zu  behalten  sein. 

Mit  diesen  aus  dem  eigentlichen  Berufskreise  der  Anstalt  heraus- 
tretenden Lebensäusserungen  des  Polytechnicums  ist  aber  seine  Be- 
deutung keineswegs  erschöpft.  Sein  Einfluss  erstreckt  sich  vielmehr 
auf  die  Praxis  der  gesammten  Technik.  In  neuerer  Zeit  ist  auf  diesem 
Gebiete  kaum  eine  Sache  von  Wichtigkeit  aufgetaucht,  bei  welcher 
nicht  unsere  Professore  zu  Rathe  gezogen  und  mit  thätig  gewesen 
wären.  Am  wohlthätigsten  aber  hat  sich  dieser  Einfluss  in  dem  tech- 
nischen Vereine  geltend  gemacht,  innerhalb  welches  die  Verbindung 
zwischen  Theorie  und  Praxis  auf  das  AUerglücklichste  zur  Erscheinung 
kam.  Ueberhaupt  aber  ist  nicht  zu  unterschätzen,  welchen  Zuwachs 
an  Intelligenz  wir  in  einem  zahlreichen  Professoren-  und  Lehrer- 
Collegium  und  in  den  schon  jetzt  nach  Hunderten  zu  zählenden  Zög- 
lingen unserer  Anstalt  erhalten  haben.  Wenn  man  mit  Recht  sagt, 
Geld  sei  Macht,  so  gilt  das  sicher  doch  noch  mehr  von  der  Intelli- 
genz. Der  Krieg  des  Jahres  1866,  in  welchem  das  Urtheil  sach- 
kundiger Ausländer  den  Schulmeistern  den  Sieg  zuschreibt,  hat'  das 
so  klar  demonstrirt,  dass  heute  zu  Tage  Niemand  mehr  die  Bedeu- 
tung der  Intelligenz  nach  dieser  Seite  hin  zu  bezweifeln  wagt.  Es 
lässt  sich  hiernach  der  Nutzen  unserer  Anstalt  für  das  gesammte 
Reich  ermessen,  welchem  sie  im  Laufe  der  Zeit  eine  grosse  Anzahl 
von  Männern  mit  wissenschaftlicher  Ausbildung  für  alle  Berufszweige 
der  Technik  und  Industrie  zu  stellen  verspricht. 

Es  »ist  noch  ein  Punkt  von  Wichtigkeit  zu  berühren,  nämlich  die 
Stellung  der  Schüler  und  der  Studirenden.  Ich  meine  nicht  zu  ein- 
ander, denn  abgesehen  von  der  Gemeinsamkeit  der  Localitäten  und 
eines  Theiles  des  Lehrpersonals  stehen  dieselben  in  keiner  näheren 
Beziehung  zu  einaQder  als  die  Prima  der  Gymnasien  zu  der  Univer- 
sität, sondern  die  Stellung  jeder  der  beiden  Theile  für  sich/ 

Zwar  scheint  die  Beantwortung  der  Frage  sehr  leicht  und  man 
ist  eigentlich  auch  nie  darüber  im  Zweifel  gewesen,  dass  die  ersten 
eben  wie  Schüler,  die  letzten  dagegen  wie  die  Studenten  der  Uni- 
versitäten zu  behandeln  seien.  In  der  Praxis  ist  die  Sache  jedoch 
nicht  so  einfach  und  die  verschiedenen  Verhältnisse  machen  Modi- 
ficationen  durchaus  nothwendig.  Bei  den  Schülern  der  Vorbereitungs- 
Classen  liegt  die  besondere  Schwierigkeit  darin,  dass  dieselben  mit 
ihrem  blos  einjährigen  Cursus  als  eine  wirkliche  Schule  kaum  gelten 


Beitrag  zur  Geschichte   des   baltischen  Polytechuicunis.         33 

können  und  daher  eine  geregelte  Schuldisciplin  nicht  durchführbar 
erscheint.  Dazu  kommt  noch,  dass  die  jungen  Leute  häufig  in  schon 
vorgerücktem  Alter  eintreten  und  dass  bei  der  Neuheit  der  technischen 
Studien  zur  Zeit  noch  ein  grosser  Andrang  auch  solcher  jungen  Leute 
stattfindet,  die  für  andere  Berufszweige  meist  aus  Mangel  an  Fleiss 
nicht  tauglich  erscheinen.  Allen  diesen  Erscheinungen  gegenüber  hat 
die  Anstalt  sich  darauf  zu  beschränken,  von  den  Schülern  den  regel- 
mässigen Besuch  der  Classe  und  die  Bekundung  von  Fortschritten,  so 
wie  selbstverständlich  ein  gesittetes  Betragen  innerhalb  und  ausserhalb 
der  Schule  zu  beanspruchen.  Eine  eigentliche  pädagogische  Beein- 
flussung der  Schüler  liegt  ausser  dem  Bereiche  der  Möglichkeit.  Es 
muss  daher  den  Aeltern  und  Vormündern  anheimgestellt  werden,  in 
dieser  Beziehung  von  sich  aus  die  nöthige  Vorsorge  zu  treffen,  indem 
der  Anstalt  kaum  ein  anderer  Weg  übrig  bleibt,  als  die  Schüler, 
welche  den  Ansprüchen  derselben  nicht  genügen,  zu  entfernen,  wobei 
indessen,  falls  nichts  weiter  auszusetzen  ist  als  der  Mangel  an  Fort- 
schritten, die  einmalige  Wiederholung  des  Cursus  gestattet  ist. 

Den  Studirenden  dagegen  ist  unzweifelhaft  die  volle  akademische 
Freiheit  einzuräumen,  jedoch  ist  auch  von  ihnen  der  regelmässige 
Besuch  der  Collegia  unbedingt  zu  verlangen.  Es  liegt  in  der  Natur 
der  technischen  Wissenschaften,  die  in  so  genauem  Zusammenhange 
stehen,  dass  nur  bei  einem  regelmässigen  Besuch  der  Collegia  ein 
erfolgreiches  Studium  möglich  ist.  Unsere  Anstalt  hat  die  Beobach- 
tung* dieser  Grundsätze  in  keiner  Weise  zu  bedauern  gehabt.  Dis- 
ciplinarvergehen  sind  im  Ganzen  nur  selten  vorgekommen  und  die 
studirende  Jugend  hat  die  ihr  gewährte  Freiheit  durchaus  in  keiner 
Weise  missbraucht.  Im  Laufe  von  7  Jahren  sind  nur  2  Studirende 
wegen  Disciplinarvergehen  ausgeschieden,  während  aus  der  Vorschule 
allerdings  13  ausgeschlossen  werden  mussten. 

Eine  besondere  Schwierigkeit  lag  für  die  Studirenden  darin, 
dass  sie  im  Anfange  des  Beiraths  älterer  Collegen  gänzlich  entbehren 
mussten,  die  Jeder,  welcher  die  Universität  bezieht,  sonst  so  leicht 
finden  kann,  und  deren  er  gewöhnlich  so  sehr  bedarf.  Die  Bedeutung 
des  akademischen  Lebens  liegt  eben  nicht  ausschliesslich  in  dem 
Studium  der  Wissenschaften,  sie  liegt  vielmehr  wesentlich  darin,  dass 
dieses  Studium  gemeinsam  betrieben  wird,  dass  die  studirende 
Jugend  Gelegenheit  hat,  in  täglichem  Zusammensein  in  ungezwun- 
gener Weise  ihre  Gedanken  über  das,  was  sie  auf  den  verschiedenen 
Disciplinen  des  Wissens  sich  *  aneignet  und  was  sie  erlebt,  auszu- 
tauschen \  das  ist  ein  wesentliches  Moment  in  dem  Universitätsleben. 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  3 


34        Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicums. 

• 

Dieser  gesellige  Verkehr  unter  den  Studirenden  in  Ernst  und  jugend- 
licher Fröhlichkeit  bedarf  einer  gewissen  Regelung,  die  ihnen  von 
oben  her  nicht  gegeben  werden  kann;  sie  müssen  sie  sich  selbst 
schaffen.  Nur  wenn  die  Jugend  frühe  schon  lernt,  sich  selbst  zu  re- 
gieren, werden  aus  ihr  Staatsbürger  hervorgehen,  die  von  Achtung 
für  das  Gesetz  erfüllt,  es  verstehen,  vor  allen  Dingen  sich  selbst  unter 
dasselbe  zu  beugen,  dann  aber  auch  geschickt  sind,  die  Massen  zu 
leiten  und  überall  die  bestehende  Ordnung  aufrecht  zu  erhalten.  Man 
muss  es  unserer  studirenden  Jugend  nachrühmen,  dass  sie  ^s  ver- 
standen hat,  diesen  Weg  der  Selbstzucht  und.  des  Selbstregiments 
zur  Geltung  zu  bringen.  In  der  ersten  Zeit  nach  Begründung  des 
Polytechnicums  war  die  Sittlichkeit  der  polytechnischen  Jugend  keines- 
Vveges  durchweg  befriedigend  zu  nennen.  Die  jungen  Leute,  welche 
derselben  damals  angehörten,  sind  längst  ausgetreten  und  ich  kann 
daher  mit  aller  Offenheit  darüber  sprechen.  Die  Sache  war  so  offen- 
kundig geworden,  dass  der  Verwaltungsrath  sich  genöthigt  sah,  mit 
aller  Energie  dagegen  einzuschreiten. 

Sicher  hätten  die  von  dem  Verwaltungsrathe  ergriffenen  Mass- 
regeln äussere  Ausschreitungen  beseitigt.  Das  Wesen  hätten  sie  kaum 
gebessert.  Das  konnte  blos  geschehen,  wenn  die  studirende  Jugend 
die  Sache  selbst  in  die  Hand  nahm.  Sie  hat  es  gethan.  Und  seit- 
dem die  Poly technikerschaft  sich  entschlossen  hat,  das  Princip  der 
Sittlichkeit  auf  ihre  Fahne  zu  schreiben  und  als  das  oberste  Heilig- 
thum  der  Jugend  sich  selbst  zu  wahren,  seitdem  ist  immer  mehr  der 
Geist  ernsten  Strebens,  wissenschaftlichen  Sinnes  und  rechter  jugend- 
licher Fröhlichkeit  in  unserer  studirenden  Jugend  zur  Geltung  ge- 
kommen.    Wolle  Gott,  dass  es  immerdar  so  bliebe! 

Es  giebt  reicher  dotirte  polytechnische  Schulen,  als  die  unsrige. 
Sie  wird  sich  daher  niemals  in  jeder  Beziehung  mit  diesen  messen 
können,  allein,  wie  sie  schon  jetzt  eine  ehrenvolle  Stellung  unter  den 
Schwesteranstalten  einnimmt,  so  wird  sie,  des  .  sind  wir  überzeugt, 
eine  solche  immer  zu  behaupten  wissen;  für  die  Ausbildung  der 
heimischen  Techniker  wird  sie  aber,  wie  das  Beispiel  unserer  Lan- 
desuniversität lehrt,  immer  die  geeigneteste  Pflanzstätte  sein. 

Jeder  Baum  gedeiht  am  besten  in  dem  heimischen  Boden.  Die 
Verpflanzung  ist  mitunter  zweckmässig,  bisweilen  sogar  geboten, 
Regel  aber  darf  sie  nie  werden,  sie  kostet  zu  vielen  Bäumen  das  Leben. 

Das  Leben  des  Menschen  wurzelt  in  seinem  tiefsten  Grunde 
nicht  in  dem  Wissen,  sondern  in  dem  Können.  Nicht  die  Aneig- 
nung der  Schätze  der  Wissenschaft,  wie  hoch  wir  dieselbe  auch  stellen 


Beitrag  zur  Greschichte  des  baltischen  Polyteehnicums.         35. 

mögen,  zumal  für  ihre  Jünger,  ist  daher  vor  Allem  anzustreben,  son- 
dern die  Bildung  des  Herzens  und  des  Charakters.  Aber  nur,  wo 
diese  Hand  in  Hand  geht  mit  jener,  gelangt  der  Mensch  zu  der  har- 
monischen Ausbildung  aller  seiner  Anlagen,  welche  wir  eben  so 
passend  als  schön  mit  dem  Worte  „Humanität"  bezeichnen.  Was 
man  auch  reden  mag  von  dem  Gegensatz  des  Humanismus  und  des 
Dualismus,  diese  Humanität  muss  doch  das  letzte  Ziel  auch  unserer 
Anstalt  sein. 

Der  Weg,  den  wir  bis  daher  zurückgelegt  haben,  war  nicht 
immer  glatt  und  eben.  An  Schwierigkeiten  von  aussen  und  innen 
hat  es  nicht  gefehlt.  Sie  werden  auch  in  Zukunft  nicht  ganz  auf- 
hören.    Die  inneren  Schwierigkeiten  aber  sind  die  bedenklicheren. 

Dem  Allerhöchst  bestätigten  Statut  gemäss  ist  die  Leitung  un- 
serer Anstalt  dem  Verwaltungsrathe,  und  in  Bezug  auf  die  inneren 
Angelegenheiten  derselben,  d.  h.  die  Lehrthätigkeit  und  die  Disciplin, 
zunächst  dem  Director  und  der  Lehrerschaft  übertragen.  Es  kann 
nicht  fehlen,  dass  bei  einer  Berathung  derselben  Gegenstände  in  zwei 
Collegien  von  so  verschiedenartiger  Zusammensetzung  die  Anschauun- 
gen nicht  selten  gar  sehr  von  einander  abweichen.  Grade  darin 
liegt  eine  Garantie,  dass  die  Sache-  allseitig  beleuchtet  und  erwogen 
wird.  Auf  der  anderen  Seite  kann  dabei  und  zwar  dann  am  aller- 
meisten, wenn  beide  Körperschaften  sich  der  Sache  mit  wirklichem 
Interesse  annehmen,  eine  gewisse  Collision  nicht  ausbleiben.  Eine 
•solche  ist  an  und  für  sich  noch  nicht  gefährlich,  im  Gegentheil  ich 
halte  sie  für  nothwendig  und  wünschenswerth.  Wo  Leben  ist,  muss 
Gegensatz  sein,  nur  im  Tode  hört  derselbe  auf.  Gefährlich  aber  ist 
es,  wenn  dieser  Gegensatz  ein  bleibender  wird  und  sich  daraus  ein 
Antagonismus  entwickelt,  der  jeder  unbefangenen  Prüfung  von  vorn- 
herein die  Spitze  abzubrechen  droht.  Das  darf  nicht  sein.  Wer  je 
Mitglied  eines  Collegiums  gewesen  ist,  wird  wissen,  wie  leicht  ein 
solches  dazu  kommen  kann,  Missgriflfe  zu  begehen.  So  lange  Menschen 
verwalten  sind  sie  vorgekommen,  und  sie  werden  niemals  aufhören. 

Ohne  also  hier  auf  specielle  Fälle  irgend  eingehen  zu  können, 

muss  von  vornherein  zugegeben  werden,  dass  bei  der  Lösung  einer 

eben  so  neuen  als  schwierigen  Aufgabe  Fehler  und  Missgriffe  sicher 

sowol  von  dem  Verwaltungsrathe,  als  auch  von  dem  Lehrercollegium 

begangen  worden  sind,  so  wie   es  andererseits  als  selbstverständlich 

gelten  muss,  dq,ss  beide  Theile  niemals  anders,  als  in  gutem  Glauben 

gehandelt  haben, 

3* 


I 


36         Beitrag  zur  Geschichte  des   baltischen  Polytechnicuins. 

Nach  diesen  Zugeständnissen  bleibt  in  der  That  Nichts  übrig, 
was  der  Befürchtung  eines  dauernden  Gegensatzes  Raum  zu  geben 
geeignet  wäre. 

Der  Verwaltungsrath  wird  in  der  richtigen  Erkenntniss  dessen, 
dass  in  dem  LehrercoUegium  der  S(!hwerpunkt  der  ganzen  Sache 
liegt,  auf  dasselbe  alle  mögliehe  Rücksicht  zu  nehmen  haben,  er 
wird  sich  namentlich  davor  hüten  müssen,  diese  auf  dem  Gebiete 
des  Geisteslebens  liegende  Angelegenheit  in  büreaukratische  Formen 
zwingen  zu  wollen. 

Auf  der  anderen  Seite  aber  wird  er  unbedingt  die  Zügel  des 
Regiments  in  fester  Hand  behalten  müssen. 

Nur  wenn  es  ihm  gelingt,  dieser  seiner  Aufgabe  nach  beiden 
Seiten  hin  gerecht  zu  werden,  wird  er  dem  Vertrauen  entsprechen, 
das  seine  Committenten  und  das  Land  ihm  geschenkt  haben. 

Ich  glaube  in  dem  Vorstehenden  an  der  Hand  der  Erfahrungen 
welche  im  Laufe  der  Jahre  gemacht  worden  sind,  das  Wesentlichste 
aus  der  Geschichte  unserer  Hochschule  wenigstens  angedeutet  und 
den  Standpunkt  des  Verwaltungsraths  dabei  kurz  gekennzeichnet 
zu  haben. 

So  treten  wir  nach  allen  Seiten  hin  mit  guten  Hoffnungen  in 
das  neue  Stadium  unserer  Anstalt  ein.  Wir  befehlen  sie  dem  Schutze 
unseres  Herrn  und  Kaisers,  der  nicht  nur  deshalb  ein  Befreier  ge- 
nannt zu  werden  verdient,  weil  er  die  äusseren  Banden  von  Millionen 
seiner  Unterthanen  gelöst  hat,  sondern  nicht  minder  darum,  weil. er 
das  Signal  gegeben  hat,  dass  überall  im  weiten  Reiche  sich  Leben 
und  Bewegung  und  daraus  wieder  Licht  und  Wahrheit  entwickeln; 
wir  befehlen  sie  der  einflussreichen  Fürsorge  unseres  verehrten  Herrn 
Curators  *). 

Wir  haben  das  Glück  gehabt,  dass  unsere  Herren  Curatore  sich 
sämmtlich  unserer  jungen  Anstalt  mit  warmem  Eifer  angenommen 
haben.  Wir  sind  ihnen  allen  und  insbesondere  auch  unserem  gegen- 
wärtigen Herrn  Curator  deshalb  zu  dem  lebhaftesten  Dank  verpflichtet. 
Gestatten  Sie,  Excellenz,  dass  wir  solchem  Danke  hiermit  Ausdruck 
verleihen.  Wir  danken  Ihnen  aber  namentlich  auch  dafür,  dass  sie 
der  selbstthätigen  Entwickelung  unserer  Anstalt  freien  Spielraum 
gegönnt  haben. 


•)  Sowohl  der  Herr  General- Gouverneur  der  Ostseegouvemements  als  Curator 
des  halt.  Polytechnikums,  als  auch  die  in  Biga  anwesenden  Repräsentanten  der 
betheiligten  Körperschaften  wohnten  der  Feier  bei. 


Beitrag  zur  Geschichte  des  baltischen  Polytechnicuuis.        37 

Als  Ew.  Excellenz  Vorgänger,  der  Graf  Schuwalow,  sein  Amt  an- 
trat, da  war  es  der  verstorbene  Bürgermeister  Müller,  der  in  einer 
Begrüssungsrede  die  Bitte  an  ihn  richtete:  „Geben  Sie  Raum  der  freien 
Entwickelung!''  Ich  habe  ein  Recht,  mich  in  dieser  Stunde  auf  das 
Wort  dieses  Mannes  zu  beziehen  und  Ihnen,  Excellenz,  dieselbe  Bitte 
an  das  Herz  zu  legen. 

Geben  Sie,  Excellenz,  wie  bisher  so  auch  in  Zukunft  Raum  der 
selbstthätigen  Administration  des  Verwaltupgsrathes ;  gewähren  Sie, 
wie  bisher,  der  Lehrthätigkeit  den  erforderlichen  Spielraum ;  gestatten 
Sie,  wie  bisher,  der  studirenden  Jugend  die  freie  Bewegung! 

An  Sie  aber,  hochverehrte  Vertreter  der  baltischen  Stände,  richte 
ich  die  ergebenste  Bitte:  Gehen  Sie  nicht  hinweg  von  dieser  Stätte 
ohne  den  Entschluss  gefasst  zu  haben,  diese  unsere  gute  Sache  ihren 
Committenten  aufs  Neue  an  das  Herz  zu  legen,  damit  diese  nicht 
müde  werden,  immer  noch  weitere  Opfer  zu  bringen  und  uns  fort 
und  fort  Männer  zu  senden,  die  bereit  sind  mit  uns  gemeinsam  das 
Werk  an  unserer  Anstalt  zu  treiben,  welche  uns,  je  fröhlicher  sie 
emporblüht,  desto  mehr  in  das  Herz  hineinwächst  und  immer  mehr 
unser  Stolz  und  unsere  Freude  wird. 

Und  Sie,  verehrte  Herren  Professore  und  Lehrer, .  Sie  sind  es, 
—  das  kann  nicht  genug  betont  werden  —  von  denen  vor  Allem 
das  Gedeihen  der  Anstalt  abhängt.  Lassen  Sie  uns  alle  Zeit  das 
Auge  fest  gerichtet  halten -auf  das  eine  Ziel,  das  wir  Alle  wollen, 
das  Wohl  unserer  Hochschule. 

Endlich  aber  wende  ich  mich  an  Euch,  Commilitonen.  Ihr  seid 
es,  für  welche  die  Anstalt  in  das  Leben  gerufen  worden  ist.  Haltet 
in  jugendlicher  Begeisterung  immerdar  hoch  die  Fahne,  die  Ihr  selbst 
aufgepflanzt  habt,  die  Fahne  des  Selbstregiments,  des  ernsten  sitt- 
lichen Strebens,  der  echten  Wissenschaftlichkeit  und  der  rechten 
Jugendfröhlichkeit ! 

Dann  wird  in  Erfüllung  gehen,  was  jene  edlen  Männer,  die 
einst  den  Plan  zur  Begründung  unserer  Anstalt  fassten,  beabsich- 
tigten. Es  wird  unsere  Hochschule  eine  Pflanzstätte  werden  tüchtig 
gebildeter  Männer  und  Staatsbürger  zum  Segen  unserer  engeren 
Heimath  und  des  gesammten  grossen  Vaterlandes!  Das  walte  Gott! 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft 

und  seine  Vorgänger. 


JJer  Name  keines  baltischen  Schriftstellers  aus  älterer  Zeit  ist  in 
unseren  Tagen  so  häufig  genannt  wie  der  Garlieb  Merkel's.  Seit- 
dem sein  Andenken  in  der  „Rigaschen  Zeitung"  und  dann  in  Eckardt's 
„Baltischen  Provinzen  Russlands"  erneuert  worden,  hat  besonders 
die  Feier  seines  hundertjährigen  Geburtstages  in  weiteren  Kreisen 
lebhaftes  Interesse  für  den  Mann  erregt,  der  zur  Zeit  unserer  Väter 
so  viel  besprochen,  so  sehr  bewundert  und  so  heftig  angeklagt,  uns 
fast  fremd  geworden  und  lange  ganz  vergessen  war.  Die  gesamrate 
Presse,  viele  wissenschaftliche  und  praktische  Vereine  unseres  Landes 
haben  sich  in  Veranlassung  des  21.  October  mit  dem  leidenschaft- 
lichen Vertheidiger  der  Menschenrechte,  dem  unermüdlichen  Be- 
kämpfer der  Leibeigenschaft  eingehend  beschäftigt.  Stimmen  des 
Lobes  und  der  Anerkennung,,  lebhafter  Dankbarkeit,  wie  pietätvoller 
Verehrung  haben  sich  da  vernehmen  lassen,  auch  an  Versuchen 
tendenziöser  Ausbeutung  hat  e&  nicht  gefehlt.  Wie  natürlich  und 
der  Aufgabe  solcher  Gedächtnissreden  entsprechend,  traten  die  Licht- 
seiten des  gefeierten  Mannes  stark  hervor,  wurde  auf  den  Schatten 
in  seinem  Wesen  nur  mehr  leise  hingewiesen;  lag  es  doch  nicht  in 
der  Absicht  dieser  Darstellungen,  eine  rein  geschichtliche  Würdigung 
zu  geben.  Jetzt  erst,  da  die  Feierstimmung  selbst  verrauscht,  aber 
die  Theilnahme  für  die  Bestrebungen  des  Mannes  neu  angeregt  ist, 
scheint  der  Augenblick  gekommen,  eine  solche  zu  versuchen. 

Auch  scheinen  alle  Bedingungen  zu  einer  unbefangenen  Beur- 
theilung  Merkel's  gegeben  zu  sein:  wir  stehen  ihm  fern  genug,  um 
das  Urtheil  frei  zu  halten  von  den  Parteianschauungen  seiner  Zeit, 
und  er  steht  uns  nahe  genug,  um  uns  in  seinem  Wirken  und  Streben 
verständlich  zu  sein.     Die  unbefangene  historische  Betrachtung  wird 


Garlieb  Merkel  als  Bek'ämpfer  der  Leibeigenschaft.  39 

sich  aber  nicht  durch  blosse  Nüchternheit  und  kühle  Gleichgiltigkeit 
gegenüber  den  Kämpfen  und  Forderungen  des  Tages  kennzeichnen, 
sondern  durch  das  Streben  nach  möglichst  umfassender  Einsicht  in 
das  Werden  und  den  Zusammenhang  der  Dinge  und  durch  die  volle 
Klarheit  über  den  eigenen  Standpunkt.  Dadurch  allein  wird  es  dem 
denkenden  Beschauer  möglich,  auch  den  seinigen  entgegengesetzte 
Anschauungen  zu  verstehen,  die  Entstehung  und  den  Verlauf  längst 
entschwundener  Geistesrichtungen  zu  erfassen  und  sie  in  ihrer  Eigen- 
thümlichkeit  zu  fixiren.  Von  diesen  Gesichtspunkten  aus  soll  auf 
den  folgenden  Blättern  G.  Merkel  geschildert  werden. 

So  vielgeschäftig  aber  ist  die  Thätigkeit  dieses  Mannes  gewesen, 
auf  so  heterogenen  Gebieten  hat  sie  sich  bewegt,  dass  es  unmöglich 
erscheint,  sie  in  deti  engen  Rahmen  eines  Aufsatzes  zusammenzu- 
drängen, ohne  die  Deutlichkeit  des  Bildes  zu  schädigen.  Daher  soll 
zunächst  entsprechend  der  Veranlassung  dieses  Aufsatzes  und  der 
Bedeutung  des  Gegenstandes  Merkel's  Wirken  für  die  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft  dargestellt  werden;  einer  folgenden  Betrachtung 
bleibt  es  vorbehalten,  seine  Stellung  als  Kritiker  und  politischer 
Schriftsteller  sowie  als  Journalist  zu  schildern. 

Betrachten  wir  Merkel's  berühmtes  Buch  „die  Letten  am  Ende 
des  philosophischen  Jahrhunderts**  ftir  sich  allein  und  isolirt  von  den 
Werken,  .welche  ihm  vorausgegangen,  so  wird  uns  der  wahre  Maass- 
stab zu  einer  gerechten  Abschätzung  seiner  Verdienste  und  seiner 
Schwächen  fehlen.  Erst  im  Zusammenhange  mit  allen  früheren 
Bestrebungen  dieser  Art  und  als  Schlussstein  derselben  aufgefasst 
wird  das  Buch  die  ihm  gebührende  Stelle  einnehmen.  Es  kann 
hier  natürlich  nicht  anf  eine  Geschichte  der  Leibeigenschaft  in  Liv- 
land  abgesehen  sein.  Zu  einer  solchen,  wie  wünschenswerth  sie 
auch  sei,  fehlt  es  noch  an  den  wichtigsten  Vorarbeiten,  auch  der 
urkundliche  Stoflf  ist  noch  nicht  genügend  für  alle  drei  Provinzen 
zusammengebracht.  Was  darüber  bisher  geschrieben,  beruht  von 
Jannau  bis  auf  Samson  fiir  die  ältere  Zeit  auf  sehr  ungenügendem, 
Tsritisch  ni6ht  gesichtetem  Material.  Namentlich  die  für  die  Aus- 
bildung der  Leibeigenschaft  so  wichtige  Epoche  von  der  Mitte  des 
ftinfzehnten  bis  zuiä  Ende  des  sechszehnten  Jahrhunderts  harrt  noch 
der  rechtsgeschichtlichen  Erforschung  ebenso  wie  eine  Untersuchung 
des  Zustandes  uhd  der  Verhältnisse  der  Bauern  in  der  früheren 
Ordenszeit  ein  dringendes  Bedürfniss,  weit  über  den  engen  Kreis 
streng  geschichtlicher  Forscher  hinaus,  ist.  Bunge's  Arbeiten  bieten 
bis    jetzt    darüber     die    einzige,    bei    weitem    nicht    ausreichende 


40  Garlieb  Merkel  als  Bekärapfer  der  Leibeigenschaft, 

Belehrung.  Auch  auf  die  von  den  Königen  Polens  und  Schwedens 
gemachten  Versuche,  die  Leibeigenschaft  zu  beschränken  oder  ganz 
aufzuheben,  kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  Nur  die  literarische 
Bekämpfung  der  Leibeigenschaft  von  Seiten  einzelner  patriotischer 
Männer  wird  uns  beschäftigen.  Diese  Angriffe  beginnen  erst  um  die 
Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts.  Es  war  dies  die  Zeit,  in  der,  wie 
schon  mehrfach  hervorgehoben  worden,  die  ständischen  Corporationen 
des  J^andes  mit  der  grössten  Schärfe  und  Härte  ausschliesslich  ihre 
Standesinteressen  vertraten  und  mehr  denn  lemals  vorher  oder 
nachher  die  Landesinteressen  preisgaben  und  hintansetzten.  Ins- 
besondere der  Adel  Livlands,  der  sich  nur  langsam  von  den  furcht- 
baren Schlägen,  die  ihn  seit  der  Reduction  Karl  XI.  bis  zum  Ende 
des  nordischen  Krieges  getroffen,  erholte,  schloss  sich  ganz  in  sich 
ab  und  hielt,  im  Bewusstsein  mehr  gelitten,  auch  wohl  mehr  gethan 
zu  haben  als  die  andern  Bewohner  des  Landes,  den  kleinsten  Titel 
seiner  Privilegien  mit  zäher,  unnachgiebiger  Hartnäckigkeit  fest. 
Er  suchte  seine  Vorrechte  noch  zu  erweitern  und  fürchtete  sich 
vor  jedem  Zugeständniss  an  höhere  oder  gleichstehende  Gewalten,  da 
er  erfahren  hatte,  wie  leicht  dadurch  eine  Handhabe  gefunden  sei, 
auch  seine  theuersten  und  höchsten  Güter  anzutasten. 

Dasselbe  gilt  in  nicht  geringerem  Grade  von  den  Städten,  die 
womöglich  noch  engherziger  als  der  Adel  jedes  fremde  Element 
fernhielten  und  ihren  Stolz  darin  setzten,  stets  andere  Ansichten  zu 
vertreten  als  die  Ritterschaft.  Selbst  Riga  sah  kaum  über  die 
Grenzen  des  städtischen  Weichbildes  hinaus.  Man  mag  das  be- 
klagen und  es  mit  Recht  kurzsichtig  nennen,  so  das  Wesentliche 
und  Bleibende  einer  Verfassung  mit  dem  Unwesentlichen  und  Ver- 
gänglichen zu  identificiren,  da,  wenn  nun  doch  einmal  dieses  fallen 
muss,  auch  jenes  nur  allzu  leicht  in  Frage  gestellt  wird-,  aber  man 
wird  zugeben  müssen,  dass  eine  solche  Reaction  nach  grossen  nieder- 
schmetternden Katastrophen  alle  Zeit  in  der  Geschichte  sich  zeigt. 
Auch  die  Stellung  der  Herren  zu  den  leibeigenen  Bauern  wurde 
von  dieser  Umwandlung  betroffen.  Alle  die  Beschränkungen  der 
schrankenlosen  Macht  der  Gutsherren,  welche  die  Könige  Schwedens 
durchgesetzt,  fielen  jetzt  weg,  und  die  zerrütteten  Vermögensverhält- 
nisse der  meisten  Glieder  des  Adels  machten  es  fast  nothwendig,  dass 
die  Rechte  des  Herrn  über  seine  Leibeigenen  in  der  strengsten  und 
härtesten  Weise  ausgeübt  wurden.  Fühlte  man  sich  doch  in 
seinem  Rechte,  jetzt,  wo  man  zum  grossen  russischen  Reiche,  in 
dem    die   Leibeigenschaft   wie   in  Livland  herrschte,    gehörte,   erst 


.a-JUJ 


Garlieb  Merkel  als  Bekftmpfer  der  Leibeigrenschaft.  41 

vollkommen  sicher  und  geschützt.  Daher  erklärt  es  sich,  dass  der  Adel 
nie  so  schroflf  und  unumwunden  die  Leibeigenschaft  als  eines  seiner 
unveräusserlichen  Rechte  vertheidigt  hat  wie  in  der  ersten  Hälfte 
des  18.  Jahrhunderts.  Das  wird  jeder  sofort  erkennen,  der  z.  B.  das 
Rosen  sehe  Memorial  von  1739  mit  den  früheren  Rechtfertigungen 
und  Vorstellungen  des  livländischen  Adels  vergleicht.  Eine  solche 
übermässige  Spannung  ohnehin  schon  harter  und  grausamer  Rechte 
konnte  nicht  ohne  die  traurigsten  Folgen  bleiben.  Aber  auch  diese 
brachten  keine  richtige  Erkenntniss  zu  Wege.  Da  geschah,  was  im 
Verlauf  der  Dinge  stets  zu  geschehen  pflegt,  wenn  Corporationen  zur 
Abhilfe  schreiender  Missstände  Hand  anzulegen  nicht  im  Stande  sind 
oder  nicht  den  Willen  haben:  es  trat  die  Nöthigung  zu  reformiren 
von  aussen  an  den  Adel  heran.  Das  ist  die  Bedeutung  des  denk- 
würdigen Landtags  von  1765.  Und  um  diese  Zeit  traten  uns  auch  in  Liv- 
land  die  ersten  Bestrebungen,  der  Leibeigenschaft  ihre  Härte  zu  nehmen, 
ja  sie  ganz  zu  beseitigen,  entgegen.  Wer  denkt  nicht  sogleich  an 
den  edlen  Namen  Schoultz  von  Ascheraden?  Neben  ihm  gebührt 
ein  Ehrenplatz  dem  Pastor  Eisen  auf  Torma.  Mit  Stolz  können  wir 
es  aussprechen:  Am  Eingang  der  neuem  Zeit  stehen  als  Väter  des 
Gedankens  der  Bauernemancipation  ein  deutscher  Edelmann  und 
ein  deutscher  Prediger.  Und  beiden  gereicht  es  zur  hohen  Ehre, 
dass  sie  den  Gedanken  gefasst,  ehe  noch  die  drängende  Nothwendig- 
keit  an  dieThüren  des  Ritterhauses  geklopft  hatte.  Diese  beiden  Männer, 
jeder  in  seiner  Art  ausgezeichnet  und  merkwürdig,  hätten  längst  eine 
eingehende  Schilderung  verdient,  bei  d^r  die  zweifellos  zahlreich 
vorhandenen.  Familienpapiere  und  Briefe  zu  Grunde  gelegt  Verden 
müssten.  Schoultz  würde  in  einer  Geschichte  der  Aufhebung  der 
Leibeigenschaft  eine  Hauptstelle  einnehmen:  hier  können  nur  An- 
deutungen über  den  Zusammenhang  und  die  Einwirkung,  welche  er 
auf  die  literarische  Bekämpfung  der  Unfreiheit  geübt,  gegeben  wer- 
den, Wüssten  wir  Genaueres,  als  die  gedruckten  Auszüge  aus  seiner 
Selbstbiographie  uns  bieten,  über  seine  Entwickelung,  dann  würde  es 
ims  wahrscheinlich  weniger  räthselhaft  erscheinen,  wie  aus  dem  ver- 
abschiedeten Capitän  von  massiger  Bildung,  hinter  dem  ein  wüstes 
Jugendleben  lag,  der  wahrhaft  freisinnige  und  edle  Patriot,  der 
warme  Vertreter  des  Landesrechtes  und  der  genaue  Kenner  der 
Landesgeschichte  geworden.  Mit  bewunderungswürdiger  Geistes- 
klarheit hat  er  die  Schäden  der  Bauerverhältnisse  erkannt!  Sein 
Ascheradensches  und  Römershofsches  Bauerrecht  wird  für  alle  Zeit 
ein -Denkmal    seiner  wahrhaft   väterlichen    Gesinnung   gegen    seine 


42  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibelgenschait. 

Batiern  und  noch  mehr  seiner  politischen  Einsicht  bleiben.  Nicht 
eine  plötzliche  völlige  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  wollte  er, 
sondern  darin  besteht  sein  grosses  Verdienst,  dass  er  die  Pflichten 
des  Bauern  dem  Herrn  gegenüber  scharf  und  genau  fixirte  und 
ihm  bestimmte  unveräusserliche  Rechte  zugestand.  Und  er  that 
dies  allein  seinem  Herzen  und  seiner  richtigen  Einsicht  folgend. 
Denn  was  Met-kel  in  seinen  ^freien  Letten*  annimmt,  Schoultz  habe 
seiij  Baüerrfecht  in  Folge  höherer  Anregung  gegeben,  entbehrt  aller 
Begründung  und  passt  durchaus  nicht  zu  dem  klaren  Charakter  des 
Mannes,  der  wahrhaft  adelig  von  den  Pflichten  des  Adels  dachte, 
nein,  nicht  nur  dachte,  sondern  auch  so  handelte.  Werfen  wir  einen 
Blick  in  seinen  „Versuch  den  Adelstand  zu  entwickeln'',  so  finden 
wii*  in  diesem  kleinen  Hefte  nicht  tiefe  Weisheit  oder  geistreiche 
Gedanken,  nichts  von  alle  dem,  aber  wir  finden  darin  eine  klare 
und  volle  Einsicht  in  die  Pflichten  des  einzelnen  Standes,  wie  wir 
sie  allen  Ständen  unseres  Landes  wünschen  möchten.  Lesen  wir  da 
^.  B. :  Alle  Stände  eines  Staates  sind  zur  allgemeinen  Wohlfahrt 
gleich  unentbehrlich.  Jeder  Stand  ist  also  dem  andern  als  dem 
Werkzeuge  seiner  Wohlftihrt  Achtung  schuldig,"  so  werden  wir  die 
Bfedeutung  solcher  Aussprüche  ermessen  wenn  wir  bedenken,  dass 
sie  ein  livländischer  Baron  in  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts 
gethaii.  Oder  wenn  Schoultz,  nachdem  er  gezeigt,  dass  die  Vorzüge 
des  Adels  nur  durch  grössere  Verpflichtungen  gegen  den  Staat  begründet 
seien,  erklärt:  „entweder  müssen  diese  die  währen  Grundsätze  des 
Adelsstandes  sein  oder  es  tst  kein  Adelsstand,''  so  werden  wir*  ver- 
stehen, warum  gerade  dieser  Mann  es  gewesen,  der  für  die 
„Menschenrechte"  der  Bauern  aufgetreten. 

Ein  Jahr  nachdem  das  Ascheradehsche  Bauerrecht  gedruckt 
worden,  trat  der  Landtag  zusammen,  jener  Landtag  von  1765,  der 
noch  seines  Geschichtsschreibers  harrt.  Graf  Browne  machte  der 
versammelten  Ritterschaft  die  bekannten  Propositionen  über  den 
gedrückten  Zustand  der  Biauern  und  verurtheilte  in  der  Motivirung 
derselben  das  bisherige  Verfahren  der  Herren  aufs  Schärfste.  Der 
Mangel  an  Eigenthum,  die  Unbestimmtheit  der  Abgaben  und 
Leistungen  und  die  harte  Ausübung  des  Rechtes  der  Hauszucht  be- 
zeichnete er  als  die  Hauptgründe  des  Elendes  der  Bauern  und  ver- 
langte in  drohendem  Tone  von  dem  Landtage  schleunige  Abhilfe. 
Die  Ritterschaft  glaubte  sich  in  ihrem  festbegründeten  Rechte  ange- 
pfiffen und  wollte  sich  anfangs  ganz  ablehnend  gegen  die  Forderung 
beS^tiromter  gesetzlicher  Normen  in  den  angegebenen  Stücken  erklären 


Gaxlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  48 

und  nur.  geloben,  nach  Ehre  und  Gewissen  in  Zukunft  so  zu  ver- 
fahren, wie  es  einem  christlichen  Edelmanne  gebühre.  Erst  als 
Schoultz  sein  berühmtes  Gutachten  abgegeben  und  der  Graf  Browne 
unbedingt  auf  seiner  Forderung  gesetzlicher  Regelung  bestand,  kamen 
jene  Bestimmungen  zu  Stande,  die  dann  die  Grundlagen  geworden 
sind,  auf  denen  all^  Späteren  Verbesserungen  fortbauten.  Das  Recht 
des  ^axiziti  auf  bewegliches  Eigenthum,  festbestimmte  Leistungen  und 
ein  gewisses  Klagerecht  gegen  die  Herren  sind  die  Hauptpunkte  der 
Verordnungen  von  1765.  Dürftig  genug  waren  freilich  diese  Be»- 
Stimmungen  und  boten  der  Willkür  und  Härte  noch  grossen  Spiel- 
raum. Daher  ein  der  früheren  Zustände  unkundiger  Beurtheiler  wie 
A.  L,  Schlözer  sie  in  seinen  Staatsanzeigen  von  1782  als  unerhört 
grausam  und  barbarisch  verdammen  konnte.  Aber  dass  auch  nur 
soviel  «rlangt  vs^orden,  ist  nicht  am  wenigsten  Schoultz's  Verdienst. 
Sein  Gutachten,  das  mit  Erbitterung  und  Grimm  aufgenommen 
wurde,  wii*d  man  auch  heute  noch  trotz  der  uns  so  fremd  geworde- 
nen Ausdrucksweise  jener  Tage  nicht  ohne  Bewegung  lesen.  Reine 
Menschenliebe  und  politische  Einsicht  finden  sich  da  in  ergreifender 
Vereinigung.  Wir  müssen  für  den  Bauern  ein  festes  Recht  schaffen, 
und  zwar  so  rasch  als  möglich;  denn  thun  wir  es  nicht  freiwillig^ 
so  werden  wir  dazu  gezwungen:  diese  Gedanken  durchziehen  seine 
ganze  Auseinandersetzung.  Gelang  es  ihm  auch  nicht  seine  Standes- 
genossen zur  richtigen  Auffassung  der  ganzen  Situation  zu  erheben, 
die  nothdürftigsten  Anfänge  freierer  Entwickelung  waren  gefunden. 
An  eine  Aufhebung  der  bestehenden  Leibeigenschaft  wurde  dabei 
von  keiner  Seite  gedacht.  Ein  solcher  Gedanke  wurde  aber  voü 
Schoultz's  Zeitgenossen,  dem  Pastor  Eisen,  gefasst.  In  seinem  Gut- 
achten hatte  Schoultz  unter  Anderem  auf  die  eben  erschienene  „Be- 
schreibung der  Leibeigenschaft  in  Liefland  von  einem  liefländischen 
Patrioten^  in  MüUer's  Sammlung  russischer^  Geschichte  als  auf  eine 
letzte  Wamungsstimme  hingewiesen,  dabei  aber  dem  Verfasser  jenes 
Aufsatzes  starke  Uebertreibungen  vorgeworfen.  Dieser  Aufsatz  nun 
rührt  von  Eisen  her. 

Johann  GeorgEisen  vonSchwarzenberg,  über  dessen  merk- 
würdige, wechselvolle  Lebensverhältnisse  Gadebusch  in  seiner  liv- 
ländischen  Bibliothek  sehr  ausführliche  Auskunft  giebt,  stammte  aus 
Franken  und  w.ar  seit  1745  Pastor  zu  Torma  und  Lohusu.  Er  hat 
sich  durch  die  Eiftftihrung  der  Blatternimpfung  in  Livland  grosse 
Verdienste  erworbeti  und  war  durch  seine  verschiedenen  Versuche 
der  Kräutertrocknung  so  bekannt  geworden,  dass  der  berühmte  Graf 


44  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

Wilhelm  von  Schaumburg -Lippe  eine  Denkmünze  auf  ihn  prägen 
liess  und  mit  ihm  correspondirte.  Auch  in  Petersburg  genoss  er 
grosses  Ansehen  und  wurde  namentlich  von  Peter  IIL  sehr  gnädig 
aufgenommen.  Dieser  Mann  nun  hat  sich  lange  Zeit  mit  den  Zu- 
ständen der  Bauern  in  Livland  und  der  Verbesserung  des  Ackerbaues 
beschäftigt  und  wurde  bald  darauf  geführt,  dass  ^die  Leibeigenschaft 
die  erste  Ursache  aller  UnvoUkommenheiten  eines  Staates  'sei**. 
Diesen  Gedanken  durchzuführen  arbeitete  er  ein  ganzes  System  der 
Staatswirthschaft  aus  und  der  geringe  Anklang,  den  er  mit  seinen 
Ansichten  in  seiner  Umgebung  fand,  machte  ihn  nur  noch  eifriger. 
Seine  Arbeiten  wurden  in  Petersburg  und  am  Hofe  bekannt  und  ge- 
lesen und  da  dies  besonders  im  Jahre  1760  bis  1763  geschah,  liegt 
der  Gedanke  nahe,  dass  auch  Katharina  11.  mit  ihnen  nicht  unbe- 
kannt geblieben  und  dieselben  so  mittelbar  oder  unmittelbar  auf  jene 
Vorschläge,  die  Graf  Browne  dem  Landtage  machte,  von  Einfluss 
gewesen,  eine  Vermuthung,  die  durch  einige  Andeutungen  von 
Schoultz  bekräftigt  wird.  Gedruckt  ist  von  allen  diesen  Aufsätzen 
nur  jener  eine  im  Jahre  1764.  Der  Herausgeber  der  Sammlung 
russischer  Geschichte,  Professor  Müller,  war  mit  Eisen's  Manuscript 
so  willkürlich  umgegangen,  hatte  so  viele  Zusätze  und  Einschiebungen 
gemacht,  alle  mit  der  Tendenz,  die  ohnehin  schon  unverhüllte  Schil- 
derung der  Leibeigenschaft  in  Livland  zu  verstärken  und  den  Ein- 
druck noch  empörender  zu  machen,,  dass  Eisen  sich  veranlasst  sah, 
in  der  Vossischen  Zeitung  von  1765  eine  Erklärung  abzugeben,  in 
der  er  nur  für  einen  Theil  des  Aufsatzes  die  Verantwortung  übernahm. 
Diese  in  sehr  gemässigtem  Tone  gehaltene  „Beschreibung  der  Leib- 
eigenschaft inLiefland''  enthält  schon  alle  die  Gründe  gegen  die  Leibeigen- 
schaft, welche  später,  nur  mit  grösserer  Schärfe,  geltend  gemacht  worden 
sind.  Auch  die  Anklage  gegen  die  deutschen  Ritter,  welche  das 
Land  nur  aus  Eigennutz  erobert,  als  die  Urheber  .der  Leibeigenschaft, 
und  die  At)leitung  aller  Fehler  und  schlimmen  Eigenschaften  des 
lettischen  und  estnischen  Bauern  aus  seiner  Knechtschaft  findet  sich 
schon  hier.  Der  Mangel  des  Eigenthums,  die  Rechtlosigkeit  dem 
Herrn  gegenüber,  die  Unbestimmtheit  der  Leistungen  sind  die  Quellen 
des  Elends.  Die  niedrige  Stufe  der  Landwirthschaft  in  Livland,  die 
Gleichgiltigkeit  des  Bauern  gegen  alle  Verbesserungen,  gegen  alles, 
was  ihm  nicht  für  den  Augenblick  nützt,  sein  unbedingtes  Misstrauen 
gegen  den  Herrn  sind  die  natürliche  Folge  davon.  Daran  schliesst 
sich  eine  lebhafte  Schilderung  der  Armuth  und  der  elenden  Lebens- 
weise der  Bauern,  ihrer  armseligen  Hütten  und  ihrer  aus  Mangel  an 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  45 

Eifer  und  an  Zeit  nur  ungenügend  bebauten  Aecker.  Richtig  wird 
auch  auf  die  immer  schroffere  Scheidung  zwischen  Adel  und  Bürger- 
thum  als  Folge  der  herrschenden  Leibeigenschaft  hingewiesen.  Dennoch 
spricht  sich  der  Aufsatz  gegen  eine  plötzliche  Aufhebung  derselben 
auf  obrigkeitlichen  Befehl  aus,  jedoch  mit  so  schwachen  Gründen,  dass 
man  sogleich  erkennt,  wie  das  nur  geschieht,  um  die  Wirkung  des 
Ganzen  in  Livland  nicht  abzuschwächen.  Ueberhaupt  wird  fast  aus- 
schliesslich vom  Standpunkt  der  Nützlichkeit  argumentirt,  dem  Herrn 
plausibel  zu  machen  gesucht,  wie  er  bei  der  Erleichterung  der  Leib- 
eigenschaft nur  gewinnen  könne,  der  Ertrag  der  Güter  sich  ver- 
doppeln, ja  verdreifachen  müsse  und  wie  er  für  den  Bauern  viel 
weniger  zu  sorgen  haben  werde.  Die  positiven  Vorschläge  sind  nur 
karz  angedeutet.  Es  sollen  dem  Bauern  alle  Bauerstellen  und 
-ländereien  eigenthümlich  und  erblich  überlassen  werden,  von  unbe- 
bauten oder  morastigen  Landstücken  jedem  soviel  als  Eigenthum  auf- 
zunehmen gestattet  sein,  als  er  zu  bearbeiten  vermag,  ferner  solle 
es  jedem  freistehen,  den  Ueberfluss  seines  Getreides  wo  und  an 
wen  er  wolle  zu  verkaufen,  endlich  jeder  Bauer  ein  Handwerk  lernen 
und  ausüben  dürfen.  Wenn  das  alles  geschieht,  verspricht  sich  der 
Verfasser  eine  neue  Blüthe  des  Landes.  Auf  die  Frage,  wanim  der  Adel 
die  zu  erwartenden  Vortheile  nicht  schon  längst  eingesehen,  antwortet 
Eisen  ausweichend:  „als  Patriot  muss  ich  nichts  sagen,  was  jemand 
beleidigen  und  wovon  der  gewisse  Nutzen  nicht  offenbar  isf  Doch 
mit  dieser  Arbeit  waren  Eisen's  Bemühungen  auf  diesem  Gebietie 
nicht  zu  Ende.  Mit  rastlosem  Eifer  suchte  er  seine  Gedanken  in 
immer  klarere  und  einleuchtendere  Form  zu  bringen.  Im  Jahre  1767 
hatte  er  ein  neues  System  der  Staatswissenschaft  ausgearbeitet,  das 
sich  ganz  besonders  mit  der  Leibeigenschaft  und  der  Art  und  Weise 
wie  sie  abzuschaffen  sei  beschäftigte,  und  war  fest  überzeugt,  die 
Ausführung  seiner  Gedanken  werde  gelingen,  wenn  er  es  auch  selbst 
nicht  mehr  erleben  sollte.  Diese  grössere  Schrift  ist  leider  unge- 
druckt geblieben  und  verschollen.  Mir  liegt  eine  vor  einiger  Zeit 
aufgefundene  Handschrift  Eisen's  unter  dem  Titel:  „Begriff  der  drey 
verschiedenen  Verfassungen  der  Bewohner  eines  Staates,  so  auf  das 
Bauer-Landeigenthum,  auf  den  Zeitpacht  imd  auf  die  Leibeigenschaft 
des  Bauers  gegründet  sind"  vor.  Obgleich  der  Lihalt  derselben  nicht 
vollständig  mit  allen  Angaben  Gadebusch's  über  die  oben  angeführte 
Schrift  übereinstimmt,  glaube  ich  doch  in  derselben  jenes  System  zu 
finden,  da  die  Aehnlichkeit  in  allen  wesentlichen  Punkten  entscheidend 
ist.    In  streng  syllogistischer  Form  und  auf  der  Grundlage  Wolffischer 


46  O^arlieb  Merkel  als  Bekäinpfer  der  Leibeigenschaft. 

Anschauungen  enthält  die  Abhandlung  ein  populäres  Naturrecht  undeirie 
Art  praktischer  Politik.  Sie  verdiente  wohl  immer  noch,  ^veuigstens  aus- 
zugsweise, bekannt  gemacht  zu  werden.  Für  uns  kommt  der  von  der 
Leibeigenschaft  l^andelnde  Theil  haupts'^hlich  in  Betracht.  Das  Ganze 
ist  rein  aprioristisch  construirt  und  sieht  meist  von  den  geschichtlich 
gewordenen  Verhältnissen  ganz  ab.  Dennoch  wird  immer  Livland 
in's  Auge  gefasst.  Aber  wie  ganz  anders  als  in  dem  gedruckten 
Aufsatze,  wie  frei  und  ungebunden  bewegt  sich  hier  der  Verfaßser. 
Eigentlich  giebt  es  nur  zwei  Stände  im  Staate:  Büxger  und  Baußr, 
der  Adeliche  ist  nur  ein  zu  vorzüglichen  Ehrenämtern  erjioben^r 
Bürgen  Damit  der  Staat  seinen  Zweck  erfülle,  müssen  die  Stände 
in  einem  richtigen  Verhpiltnisse  unter  einander  und  ftir  sich  stehen^ 
d.  h.  der  Staat  muss  eine  Verfassung  haben.  Sein  Zweck  aber  ist 
Wohlfahrt  und  Glückseligkeit.  Ei?ie  voUkomn^ene  Verfassung  ist  nur 
da,  wo  der  letzte  Stand  sich  in  der  rechten  Stellung  befindet,  d.  h. 
der  Bauer  muss  frei  sei^  und  Eigenthum  haben.  Das  Eigßnthum 
erhält  er  von  seinem  Herrn,  wofür  er  ihm  und  seinen  Nachkommen 
einen  Erbzins  zahlt;  dieser  muss  so  gross  sein,  dass  der  Herr  durch 
die  Freilassung  nichts  verliert  und  muss  sicH  piit  dem  steigenden 
Wohlstand  des  Bauern  vergrössern,  aber  andererseits  dem  Bauern 
nicht  drückend  sein.  Er  wird  daher  durch  Gesetze  festgestellt.  So 
behält  der  Adel  das  Obereigenthui^  der  Bauergüter.  Das  ist  die 
einzig  richtige  Verfassung.  Freiheit  der  Bauern  mit  Zeitpacht  ist 
scheinbar  eine  nützliche  Stufe  zwischen  Mangel  an  allem  Besitz  und 
dem  vollen  Eigenthum,  aber  in  Wirl^liijhkeit  dem  Staate  nur 
schädlich,  weil  der  Bauer  dann  nichts  für  die  Verbesserung  des 
Grund  und  Bodens  thun  wird  und  weil  der  Ackerbau  dabei  niemals 
zu  grösserer  Blüthe  gedeihen  kann.  Mit  voller  Schärfe  wendet  sich 
der  Verfasser  dann  gegen  die  Verfassung,  welche  auf  die  Leibeigen- 
schaft des  Bauern  gegründet  ist.  Bei  der  Leibeigenschaft  kann  weder 
der  Staat  seinen  Zweck  erfüllen,  noch  kß,nn  es  dabei  wirkliche 
Stände  geben.  Der  Bauer  ist  hier  nicht  Bauer,  d.  h.  selbständiger 
Ackerbauer,  sondern  ein  Knecht,  der  mit  den  anderen  Ständen  nichts 
gemein  hat.  Der  Bürger  kann  nie  aus  dem  leibeigenen  Knechte 
hervorgehen  und  ist  auch  vom  Adel  gänzlich  geschieden,  hat  also 
keine  Wurzel  und  keinen  Boden.  Der  Edelmann  allein  ist  ein 
Stand  und  zwar  vereinigt  er  in  sich  alle  drei,  er  ist  4er  wahre 
Bauer,  der  seine  Aecker  durch  Knechte  bestellt,  er  ist  auch  Bürger, 
da  er  alle  bürgerlichen  Geschäfte  auf  seinem  Gute  selbst  verrichtet. 
t)a  aber  im  Lande  doch  Städte  und  Bürger  nothwendig  sind,  so  ist 


Garlieb  Merlfel  als  Bekänipfer  der  Leibeigenschaft,  47 

»eben  den  Adel  der  ausländische  Bürger  getreten,  statt  dass  sich 
naturgemäss  ein  Stand  aus  dem  andern  im  Lande  selbst  entwickeln 
sollte.  Und  was  sind  die  Folgen  der  Leibeigenschaft  für  das  Land 
und  für  die  Herren?  Durchaus  schädliche.  D^r  Leibeigene  sorgt 
nur  für  die  nächste  Zukunft,  er  arbeitet  nur  soviel,  als  er  zum  Leben 
nothdürftig  muss;  daher  ist  das  Land  voll  von  Morästen,  Sümpfen, 
wüsten  Orten,  unbebauten  Gegenden.  Die  Wohnungen  sind  elend, 
sein  Vieh  erbärmlich,  Wiesencultur  und  Gartenzucht  sieht  man  fast 
nirgend.  Andererseits  muss  jler  Herr  alles  selbst  verstehen,  von 
allem  Kenntniss  haben,  alles  überwachen,  weil  sonst  seine  Knechte 
ihm  bei  jeder  Gelegenheit  Schaden  thun  und  alle  Arbeit  hassen,  da 
sie  von  ihr  keinen  Vortheil  haben.  „Er  ist  nur  der  Wirth  von 
hundert  Knechten,  von.  hundert  Feinden  seiner  Wirthschaft,  von 
hundert  Bettlerp.''  Alle  Fehler  und  Laster  der  Leibeigenen  ent- 
stehen aus  ihrer  jammervollen  Lage.  Sie  sind  diebisch,  faul,  nieder- 
trächtig^ verschwenderisch  und  boshaft,  dazu  dem  Trünke  ergeben. 
Sie  haben  keinen  anderen  Gedanken  als  die  auf  ihrem  Lan4e  haf- 
tenden Dienste  und.  Abgaben  zu  entrichten  und  jeder  Trieb  zum 
Fortschritt  fehlt  ihnen.  Streben  nach  Reichthum  und  Ehrbegierde, 
die  Hauptursachen  höherer  Cultur,  gehen  ihi^en  ganz  ab.  Solche 
Verhältnisse  müssen  auf  den  Zustand  des  ganzen  Landes  einwirken. 
Daher  „hat  die  Leibeigenschaft  Bürger,  aber  keinen  Bürgerstand, 
Gelehrte  und  Künstler,  aber  weder  Wissenschaften  noch  Künste." 
Kurz,  die  Leibeigenschaft  gleicht  einer  Krankheit,  die  den  ganzen 
Körper  bis  auf  das  Mark  durchdrungen  hat;  sie  hat  nicht  nur  alle 
politischen  Grundlagen  des  Staates  zerfressen,  sondern  auch  Herz 
und  Geist  aller  Bewohner  vergiftet.  Darum  Aufhebung  der  Leib- 
eigenschaft um  jeden  Preis.  Aber  man  verfahre  dabei  ruhig  und 
vorsichtig,  lasse  die  Sache  mehr  sich  selbst  entwickeln,  als  dass 
man  tumultuarisch  eingriffe.  Hat  der  Bauer  erst  Eigenthum,  so  wird 
sich  alles  andere  schon  machen.  Viele  Edelleute  meinen,  der  leib- 
eigene Bauer  müsse  erst  durch  Schule  und  Unterricht  herangebildet 
sein,  ehe  man  ihm  die  Freiheit  gehen  könne. '  Das  würde  noch  sehr 
lange  dauern,  und  wie  wüsste  man,  wann  der  Augenblick  der  voU- 
'  kommenen  Reife  gekommen.  Und  was  soll  der  Leibeigene,  ehe  er 
frei  ist,  mit  den  menschlichen  Begriffen  und  Empfindungen?  Also 
erst  Freiheit  und  dann  Schulen.  Der  neue  Zustand  muss  aus  einem 
natürlichen  SamSn  hervorgehen  und  nicht  durch  äussere  Gewalt 
mühsam  gehalten  werden.  ^Dieser  Same  aber  heisst  Freiheit  und 
Eigenthum.      Hieraus    entstehen   die    der  Natur   der   Geschäfte   des 


48  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

Staates  angemessene  Stände  und  aus  diesen  wachset  wieder  die  all- 
gemeine Glückseligkeit." 

Soweit  der  alte  Pastor  von  Torma.'  Niemand  wird  die  richtigen 
und  treffenden  Ansichten  und  Bemerkungen  in  dieser  Auseinander- 
setzung verkennen  können.  Ist  auch  manches  wichtige  Moment  über- 
gangen, manches  nur  flüchtig  berührt,  ist  auch  die  dem  Ganzen  zu 
Grunde  liegende  Anschauung  vom  Wesen  und  von  den  Aufgaben 
des  Staates  veraltet,  —  die  Leibeigenschaft  inLivland  ist  hier  zuerst 
principiell  bekämpft.  Und  wer  erkennt  nicht,  wie  fast  alle  Argu- 
mente und  Anklagen  der  späteren  Schriftisteller  sich  schon  hier,  nur 
in  ruhiger  Zusammenfassung,  finden.  Im  Wesentlichen  kommen  alle 
Folgenden  kaum  über  die  hier  ausgesprochenen  Gedanken  hinaus. 
Auch  ihnen  fehlt  das,  was  sich  in  Eisen's  Darlegungen  am  meisten 
vermissen  lässt,  der  Gesichtspunkt  der  Landespolilik.  Obgleich  Eisen's 
Schrift  ungedruckt  blieb,  können  wir  doch  annehmen,  dass  sie,  wie 
seine  Bestrebungen  liberhaupt,  in  weitern  Kreisen  bekannt  geworden  ist. 
Merkel  kennt  merkwürdiger  Weise  diesen  seinen  bedeutendsten  Vor- 
gänger gar  nicht,  obgleich  er  oft  fast  wörtlich  mit  Eisen  übereinstimmt. 

Nachdem  einmal  der  auf  dem  Bauerstande  lastende  Druck 
Gegenstand  öffentlicher  Besprechung  geworden  und  vom  Adel  selbst 
indirect  zugestanden  worden  war,  seit  die  ersten  Schritte  zur  Ver- 
besserung der  Lage  der  Leibeigenen  in  Livland  geschehen  waren  konnte 
es  nicht  fehlen,  dass  immer  wieder  wohlmeinende  und  einsichtige 
Männer  sich  mit  der  Frage  beschäftigten,  ob  und  wie  die  Leibeigen- 
schaft gemildert  und  beschränkt  werden  könne.  Die  für  das  ganze 
Land  so  hochwichtige  Bauerfrage  konnte  jetzt  nicht  mehr  ganz  zurück- 
treten oder  bei  Seite  geschoben  werden.  In  keinem  der  auf  1765 
folgenden  Jahrzehnte  hat  es  an  Mahnungen  gefehlt;  die  stets 
erneuerten  Besprechungen  der  Bauerfrohnen,  der  Zweckmässigkeit 
neue  Hoflagen  einzurichten,  der  Bauerländereien  zeigen,  dass  die 
Leibeigenschaft  nicht  mehr  als  etwas  Selbstverständliches  und  Natür- 
liches angesehen  wurde,  sondern  die  Herren  im  Lande  selbst  fühlten, 
es  werde  auf  dem  Wege  der  Reformen  noch  weiter  gegangen  werden 
•müssen.  Aus  der  Zeit  nun,  in  welcher  die  Aufklärung  in  Livland 
einzudringen  begann,  haben  wir  eine  sehr  eingehende  Schilderung 
der  estnischen  und  lettischen  Bauern  von  Hupel  im  zweiten  Bande 
seiner  topographischen  Nachrichten  v^on  Lief-  und  Ehstland,  1777. 
Sie  ist  wie  das  Buch,  worin  sie  steht,  ohne  klare  Ordnung  und 
geistige  Durchdringung,  aber  eine  sehr  werthvolle  Materialiensamm- 
lung.    Wir  gewinnen  daraus  ein  lebendiges  Bild  des  leiblichen  und 


Garlieb  Merkel  als  Bekam pfei*  der  Leibeigensehaft.  49 

geistigen  Ziistandes  der  Bauern,  vor  hundert  Jahren.  Die  guten  und 
noch  mehr  die  schlimmen  Eigenschaften  des  lettischen  und  estnischen 
Volkscharakters,  der  Aberglaube  und  die  Rohheit,  die  Schlauheit 
und  die  Arbeitsscheu  der  Bauern  werden  weitläufig  von  Hupel  abge- 
handelt. Er  kommt  dann  natürlich  auch  auf  die  Leibeigensehaft 
zu  sprechen.  Dabei  geht  er  jedoch  sehr  vorsichtig  zu  Werke. 
Persönlich  ist  er,  wie  das  auch  aus  anderen  seiner  Schriften  hervor- 
geht, durchaus  davon  überzeugt,  dass.  die  Leibeigenschaft  verwerflich 
und  dem  Lande  wie  den  Bauern  sehr  schädlich  ist,  aber  er  spricht 
diese  seine  Ueberzeugung  nirgend  direct  aus.  Charakterfeste  Ge- 
sinnung und  männlicher  Muth  waren  überhaupt  den  Predigern  und 
Jüngern  der  Aufklärung  nicht  eben  sehr  eigen,  sie  halfen  sich  wo  es 
ging,  mit  zweckmässiger  Accomodation.  Dazu  machte  der  wohlwollende, 
aber  flache  Optimismus,  der  Hupel's  ganze  literarische  Wirksamkeit 
kennzeichnet,  ihn  am  wenigsten  zum  Vertreter  eines  Princips  ge- 
eignet. In  seiner  Darstellung  der  Bauerverhältnisse  hilft  er  sich  so, 
dass  er  die  gegen  den  bestehenden  Zustand  gerichteten  Ansichten 
ohne  eigenes  Urtheil  referirt  und  die  einzelnien  Thatsachen,  Be- 
stimmungen, Gesetze  in  der  Art  zusammenstellt,  dass  man  seine 
Nichtübereinstimmung  mit  Vielem  leicht  erkennen  kann.  Charakte- 
ristisch für  seine  Weise  ist  gleich  der  Anfang  seiner  Schilderung. 
Beide  Völker  sind  Sclaven,  das  wahre  Eigenthum  eines  andern 
Menschen;  Waare,  Sachen  sind  Erbmenschen!  Welcher  Anblick, 
einen  Menschen  wegen  eines  kleinen  Vergehens  unter  Ruthenstrafe 
zu  sehen!  Wie  oft  wird  der  Bauer  misshandelt,  nichts  ist  sein 
eigen!  Klingt  das  nicht  ganz  wie  eine  Stelle  aus  Merkel?  Hupel 
aber  fügt  gleich  hinzu:  so  wird  ein  Ausländer  urtheilen.  Und  nun 
wird  das  Gesagte  limitirt  und  nach  Kräften  abgeschwächt.  Nicht 
jeder  Sclave  ist  unglücklich,  es  giebt  auch  milde  Erbherren  und  Amt- 
leute, wie  theuer  wird  nicht  die  hochgerühmte  Freiheit  anderer 
Länder  bezahlt !  Die  Bauern  in  Livland  fühlen  meistens  die  Knecht- 
schaft nicht,  in  der  Noth  muss  sie  der  Herr  unterhalten  und  am  Ende 
ist  es  einerlei,  als  Sclave  oder  als  freier  Mensch  zu  hungern.  ^Die 
Frage,  ob  e^s  gut  wäre,  dass  der  Bauer  frei  würde,  ist  viel  zu  unbe- 
stimmt und  gehört  nicht  hierher;  ohnehin  setzt  sie  viele  andere  vor- 
aus, die  eine  strenge  Untersuchung  erheischen."  Dann  wieder  wird 
erzählt,  ein  Herr  habe  sein  ganzes  Gut  an  seine  Bauern  verarrendirt 
, und.  alles  gehe  gut,  von  der  alten  Liebe  zur  Freiheit  sei  bei  den 
Bauern    immer    noch    etwas    übrig.      Sofort    aber   bemerkt    Hupel, 

durch    die  Freiheit  würden    sehr    viele  Bauern  liederlich   oder    gar 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  4 


50  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

Strassenräuber  werden.  Und  so  geht  es  mit  ja  und  nein  in  einem  Athem 
bis  zu  Ende  fort.  Entschiedener  spricht  sich  Hupel  gegen  die  Will- 
kürlichkeit und  Eigenmächtigkeit  aus,  mit  der  viele  Herren  die  Frohn- 
dienste  der  Bauern  erhöhen  oder  verwandeln  und  wünscht  sehr  die 
Verordnungen  von  1765  möchten  überall  streng  gehalten  und  be- 
obachtet werden.  Dass  das  Recht  der  Bauern,  gegen  ihre  Herren 
vor  dem  Ordnungsgericht  zu  klagen  fast  illusorisch  gemacht  sei  durch 
die  harten  Strafen,  mit  denen  jede  nicht  strict  beweisbare  Klage  gezüchtigt 
werde,  giebt  er  deutlich  zu  verstehen.  Gleichmässige  Fixirung  der 
Frohnen  und  Abgaben  auf  allen  Gütern  erscheint  ihm  durchaus  noth- 
wendig,  um  den  Bauern  in  eine  bessere  Lage  zu  bringen.  Ich  muss 
darauf  verzichten,  hier  weiter  in  das  Detail  seiner  Darstellung  ein- 
zugehen und  viele  interessante  Einzelnheiten  hervorzuheben;  das 
würde  zu  weit  vom  eigentlichen  Gegenstand  dieser  Betrachtung  ab- 
führen. Bezeichnender  als  alles  Einzelne  ist  die  Auffassung  und  der 
Standpunkt  der  ganzen  Abhandlung  für  die  schroffe  Scheidung, 
welche  auch  den  menschenfreundlichen  Mann  der  Aufklärung  von 
dem  leibeigenen  estnischen  und  lettischen  Bauern  trennte.  Mit  einer 
Art  neugierigen  Interesses  hat  Hupel  die  Esten  und  Letten  beob- 
achtet, ihre  Sitten  und  Gewohnheiten  kennen  gelernt,  in  ihre  Denk- 
und  Empfindungsweise  einzudringen  gesucht  und  findet  zu  seiner 
Freude  als  Resultat,  dass  sie  viele  Eigenschaften  mit  dem  gebildeten 
Deutschen  gemein  haben  und  andere  nur  in  Folge  ihres  gedrückten 
Lebens  nicht  ausgebildet  sind,  kurz  er  schildert  die  Bauern,  in  deren 
Mitte  er  lebt,  so,  wie  man  etwa  heut  zu  Tage  die  wilden  Völkerr 
schaften  fremder  Welttheile  dem  Leser  vorführt.  Doch  das  ist  kein 
eigenthümlich  livländischer  Standpunkt,  eine  solche  Stellung  nahm  die 
ganze  gebildete  Gesellschaft  im  vorigen  Jahrhundert  zu  dem  Bauer- 
stande ein.  Die  humansten  Vertreter  der  Aufklärung  in  Deutschland 
standen  den  Bauern  ihres  eigenen  Volkes  ebenso  fremd  gegenüber, 
wie  Hupel  den  Letten  und  Esten.  Davon  wird  sich  jeder  über- 
zeugen, der  z.  B.  Gawes  Schrift  über  den  Charakter  der  Bauern  auch 
nur  aus  den  Auszügen  in  Freytags  Bildern  aus  der  deutschen  Ver- 
gangenheit kennt. 

Von  grossem  Interesse  sind  aus  den  folgenden  Jahren  die  Ge- 
danken über  den  Sclavenstand  der  Bauern  von  einem  livländischen 
Landrath,  der  sich  leider  nicht  genannt  hat,  aber  doch  wohl  noch 
möchte  ermittelt  werden  ^können.  Dieser  Aufsatz  nimmt  vielfach 
Bezug  auf  HupePs  Darstellung,  und  findet  sich  versteckt  in  den  Zu- 
sätzen des  dritten  Bandes  seiner  Nachrichten  vom  Jahre  1782.    Hier 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  51 

wird  schon  die  Möglichkeit  einer  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  ins 
Auge  gefasst,  aber  grosse  Bedenken  dagegen  geltend  gemacht.     Ein 
Recht,  seinen  Bauern  willkürlich    zu  behandeln,    existirt  seit  1765 
nicht  mehr  in  Livland.     Es  bleibt  aber  noch  zu  wünschen,  dass  dem 
Bauern   der  erbliche  Besitz  seines  Landes   gesichert  sei,  dessen   ihn 
nur  unbezahlte   Schulden    oder  die  Nichtleistung  seiner  bestimmten 
Pflichten  verbistig  machen  könnten;    auch   in    diesem  Falle  müsste 
nicht  der  Gutsherr,  sondern  die  Gebietsältesten  Richter  sein.    Weiter 
könne    man    zunächst   in    der    Verbesserung   der  Lage  der  Bauern 
nicht  gehen,  meint  der  Landrath.      Denn  Bewilligung  des  völligen 
Eigenthums  könnte  doch  nur  mit  Vorbehalt  aller  am  Lande  haftenden 
Pflichten  und  Abgaben  zugestanden  werden.     Es  könnten  also  nur 
Bauern  Käufer  sein  und   ohne  persönliche  Freiheit  wäre  ein  solcher 
Verkauf  ganz  illusorisch.     In  Bezug  auf  die  völlige  Freilassung  wäre 
sehr  fraglich,  ob  es  dem  Staate  zuträglich  sei,  dass  der  Bauer  will- 
kürlich seinen  Beruf  verlassen  könne.     Ferner  ist  die  Abschaffung 
der  Leibesstrafen  bei  den  noch  zu  rohen  Sitten  der  Bauern  nicht  gut 
thunlich.     Doch  müsste  Maass  und  Ziel  darin  gesetzt  werden.     Der 
Vorschlag,  diese  Strafen  in  Geldabgaben  zu  verwandeln,  sei  von  den 
Bauern   selbst  mit  Recht  abgelehnt  worden,  denn  „ein  habsüchtiger 
Herr  würde  den  wohlhabenden  Bauern  nur  desto   öfterer  straffällig 
gefunden  haben.''    Auch  dem  ^die  Menschheit  herabwürdigenden  Ver- 
kauf einzelner  Personen  oder  ganzer  Familien  muss  noch  für  eine 
Zeit  nachgesehen  werden  wegen  der  ungleichen  Bevölkerung  vieler 
Gegenden.      Doch    müsste    bestimmt   werden ,    dass    der    auf  Land 
sitzende  Bauer  nicht  verkauft  werden  könnte,  wenigstens  nicht  wider 
seinen   eigenen    Willen    und  ohne   Erkenn tniss   der    Gebietsältesten. 
Die    persönliche    Freiheit    des    Bauern    endlich    könnte    in    Livland 
„noch  nicht  Statt  finden".      Die  Besorgniss,   wie  der  Bauer   die 
Freiheit    ertragen  würde   und    dass  viele  Unordnungen    bei    dieser 
grossen  Veränderung  eintreten   könnten,  wäre  leicht  zu  beseitigen. 
Aber  entscheidend  seien  die  Fragen,  was   denn  aus  dem   Ackerbau 
werden  sollte  und  wie  es  um  den  Bauer  selbst  stehen  würde.     Die 
Bauern    würden    gleich    nach    erhaltener    Freilassung    den   Feldbau 
schaarenweise  verlassen  und  sich  leichteren  Gewerben  widmen,  und 
das  flache  Land  somit  ganz  veröden.    Die  Bauern  aber,  welche  beim 
Ackerbau  blieben,  würden  die  ihnen  angebotene  Freiheit  schwerlich 
annehmen,  wenn  sie  erführen,  sie  wären  fortan  in  Noth  und  Unglücks- 
fällen auf  sich  allein  angewiesen  ohne  Unterstützung  vom  Gutsherrn. 

„Wenn  Liefland  sowohl  als  auch  alle  umliegende  Länder  hinreichend 

4* 


52  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

bevölkert  sein  werden,  so  kann  und  wird  auch  den  liefiändischen 
Bauern  die  Freiheit  ertheilt  werden.  Und  dieser  Zeitpunkt  ist  gewiss 
nicht  mehr  so  weit  entfernt".  Doch  wäre  zunächst  auch  dann  eine 
beschränkte  Freiheit  der  Bauern  wie  in  Dänemark  (die  war  freilich 
nur  eine  mildere  Form  der  Leibeigenschaft)  zweckmässig.  „Im 
Grunde  besteht  die  Freiheit  des  Pöbels  doch  nur  in  der  Einbildung." 
Und  der  Bauer  im  Herzogthum  Livland  ist  seit  dem  Gesetze  von 
1765  nicht  mehrSclave,  sondern  glebae  adscriptus.  Und  nun  fährt 
der  Landrath  fort:  „Hier  sehe  ich  auch  schon  der  grossen  Einwendung 
entgegen,  dass  nemlich  diesem  Gesetze  nicht  so  genau  nachgelebt 
werde.  Das  ist  freilich  wahr,  leider!  nur  zu  wahr.  Aber  welches 
Gesetz  in  der  Welt  wird  nicht  auch  übertreten?"  Er  tröstet  sich 
damit,  dass  solche  Uebertretungen  nach  geschehener  Anzeige  gehörig 
bestraft  werden.  Nur  schade,  dass  die  Bauern  ihre  Klagen  fast 
immer  mit  „ungehörigen  Ausschweifungen"  vorbringen,  die  noth- 
wendig  bestraft  werden  müssen.  Andere  Bauern  lassen  sich  dadurch 
abschrecken,  ihre  gerechten  Klagen  gehörig  anzubringen.  Doch 
werden  mit  der  Zeit  Herren  und  Bauern  ihre  wechselseitigen  Rechte 
und  Pflichten  besser  kennen  lern'en.  Dass  die  Bauern  keine  Kapi- 
talien sammeln,  ist  nach  ihrem  Zustande  natürlich,  wo  es  reiche 
Bauern  giebt,  müssen  sie  ihr  Vermögen  durch  Handel,  Wucher  und 
andere  Gewerbe  erworben  haben.  „Und  das  würde  ich  in  meinem 
Gebiete  nicht  verstatten",  weil  der  Ackerbau  dadurch  geschädigt 
wird,  erklärt  der  Landrath  und  fügt  höchst  bezeichnend  hinzu:  ein 
zureichliches  Auskommen  nach  seinem  Stande  muss  der  hiesige 
Bauer  von  seinem  Land  haben,  und  wenn  er  das  hat,  so  hat  er 
gerade  so  viel,  als  der  grösste  Theil  des  übrigen  Pöbels  in  der 
ganzen  Welt  nur  immer  wünschen  kann  und  mag."  Entschieden 
erklärt  er  sich  schliesslich  gegen  die  Einrichtung  von  Hoflagen  aus 
Bauerländern,  weil  sie  die  Bevölkerung  verringert  und  die  Lasten 
der  Bauern  erschwert.  Es  wäre  dringend  zu  wünschen,  dass  man 
bestimmte:  von  nun  an  keine  BauerstelleA  mehr  unter  die  Hofes- 
felder gezogen! 

Welche  Mischung  wohlmeinender  Gesinnung  und  engherziger 
Beschränktheit  bietet  doch  dieser  Aufsatz!  Man  erblickt  in  ihm 
recht  deutlich  den  Kampf  der  alten  harten  Ansichten  früherer  Zeit  mit 
den  neuen  Ideen.  Und  wie  gross  erscheint  hier  schon  der  Einfluss 
der  Gedanken  Schoultz's  von  Ascheraden,  die  noch  nicht  "zwanzig 
Jahre  früher  mit  so  heftigem  Unwillen  vom  Adel  Livlands  aufge- 
nommen worden  waren.    In  langsamem  und  allmäligem,  aber  desto 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  63 

sicherem  Fortschreiten  gewannen  sie  immer  mehr  Anhänger  und 
brachen  milderen  und  humanen  Bestimmungen  die  Bahn.  Das  stand 
in  engem  Zusammenhang  mit  der  immer  weiteren  Ausbreitung  der 
Aufklärung  in  den  achtziger  Jahren.  Was  vor  einem  Menschenalter 
nur  vereinzelte  Menschenfreunde  gedacht  und  gefühlt,  drang  jetzt  in 
alle  gebildeten  Kreise  des  Landes  ein.  Obgleich  die  Lage  der  Bauern 
rechtlich  unverändert  blieb  und  nach  wie  vor  die  einzelnen  Leib- 
eigenen der  Willkür  ihrer  Herren  in  hohem  Grade  preisgegeben 
waren,  begannen  doch  die  einsichtigen  Vertreter  des  Adels  das  Un- 
natürliche der  bestehenden  Verhältnisse  immer  klarer  zu  erkennen. 
Der  guten  und  wohlwollenden  Herren  wurden  immer  mehr  im  Lande. 
Aber  auch  äussere  Ereignisse  trugen  nicht  wenig  zu  einer  richtigem 
Auffassung  der  Bauerverhältnisse  bei.  Die  Bauernunruhen  von  1783 
und  1784  wegen  der  Kopfsteuer,  welche  von  der  Krone  statt  der 
früheren  Naturallieferungen  eingeführt  wurde,  und  die  dabei  zu  Tage 
tretenden  Erscheinungen  mussten  alle  Einsichtigen  nachdenklich 
stimmen.  Man  sah,  dass  der  Boden,  auf  dem  man  für  alle  Zeit  un- 
gestört fortzuleben  gedachte,  doch  nicht  so  ganz  sicher  sei,  dass  man 
sich  auf  einem  Vulkan  bewege,  gegen  dessen  Ausbrüche  man  sich 
doch  etwas  mehr  vorsehen  müsse.  Sodann  die  Einführung  einer 
neuen  Landesverfassung  und  die  Zustimmung,  welche  dieselbe  von 
vielen  Seiten  fand,  musste  eine  immer  dringender  werdende  Mahnung 
an  den  Adel  sein,  ob  es  nicht  an  der  Zeit  sei,  aus  eigenem  An- 
triebe auf  harte  und  mit  dem  sittlichen  Bewusstsein  der  Menschen  in 
schreiendem  Widerspruch  stehenden  Rechte  zu  verzichten.  Unter 
solchen  Zeitverhältnissen  erhob  sich  abermals  eine  Stimme  wider  die 
herrschende  Leibeigenschaft.  Und  wieder  war  es  ein  deutscher 
Prediger.  Im  Jahre  1786  veröffentlichte  Heinrich  Johann  Jannau, 
Pastor  zu  Lais,  einer  der  eifrigsten  Vertheidiger  der  neuen  Ver- 
fassung, anonym  seine  „Geschichte  der  Sclaverey  und  Charakter  der 
Bauern  in  Lief-  und  Ehstland". 

Er  verfolgte  darin  einen  doppelten  Zweck.  In  dem  historischen 
Theile,  dem  ersten  Versuche  einer  Geschichte  der  Leibeigenschaft 
giebt  er  eine  Uebersicht  der  Schicksale  der  Urbewohner  bis  auf  seine 
Zeit.  Schon  der  Titel  des  Buches:  Geschichte  der  So-laverei,  zeigt 
wie  wenig  klar  dem  Verfasser  der  Begriff  und  das  Wesen  der  Leib- 
eigenschaft geworden.  Die  Tendenz  des  ganzen  Abschnittes  ist,  zu 
zeigen,  wie  Letten  und  Esten  in  Knechtschaft  geriethen  als  „Aben- 
theurer  Trug  und  Eigennutz  mit  dem  geheiligten  Namen  der  Religion 
vertheidigten"  und  wie    der  Bauer    erst   nach  dem  Untergange   des 


54  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft, 

Ordensstaats  „unter  ordentlicher  Regierung''  wieder  menschlicher 
behandelt  worden  und  einzelne  Rechte  erlangt  hat.  Die  Ordensritter 
waren  nur  Barbaren  und  Peiniger  des  Volkes,  „Herrschsucht  war 
ihr  Beginnen  und  Dummheit  die  Fessel,  die  den  Letten  und  den  Esten 
in  Sclaverei  erhielt";  der  Bauer  hatte  in  der  ganzen  Zeit,  in  dem 
eigentlichsten  Verstände  noch  gar  keine  Religion,  „Gehorsam  gegen 
den  Erbherrn  war  seine  Religion."  Erst  Stephan  Bathory,  Gustav 
Adolf  und  Karl  XI  erbarmen  sich  der  Bauern  und  obgleich  es  ihnen 
nicht  gelingt  den  Leibeigenen  die  Freiheit  zu  verschaffen,  bereiten 
sie  denselben  doch  ein  erträglicheres  Dasein.  AUenVersuchen  der  Könige, 
die  Lage  der  Leibeignen  zu  bessern,  setzt  sich  der  Adel  entgegen 
und  weiss  die  Ausführung  der  erlassenen  Gesetze  zu  vereiteln. 
Schliesslich  wird  ziemlich  deutlich  die  Hoffnung  ausgesprochen,  von 
oben  her  möchten  noch  weitere  Beschränkungen  der  gutsherrlichen 
Rechte  angeordnet  werden.  Obgleich  sich  Jannau  selbst  zuweilen 
die  Erkenntniss  aufdrängt,  dass  die  Bemühungen  Stephans  und  Karls  XI 
die  Rechte  des  Adels  über  die  Bauern  zu  beschränken,  gewiss  nicht 
aus  reiner  Humanität  hervorgegangen  sind,  sondern  dass  dabei  sehr 
bestimmte,  leicht  erkennbare  politische  Motive  vorgewaltet  haben, 
so  sieht  er  doch  in  allem  Widerstände  des  Adels  nur  Trotz  und 
Hartnäckigkeit.  Daher  ist  er  auch  mit  der  Reduction  Karls  XI  im 
Grunde  ganz  einverstanden.  Im  zweiten  Theile,  der  von  dem  Charakter 
der  Bauern  handelt,  zeigt  er  wie  zwar  im  Herzen  des  Leibeignen 
in  Folge  seiner  Knechtschaft  tiefer  Hass  gegen  den  Deutschen  er- 
wachsen sei  und  wie  er  auf  einer  sehr  niedrigen  Stufe  der  Cultur 
stehe,  dass  er  aber  dennoch  Ehrlichkeit,  Stolz,  Verstand  besitze. 
Durch  welche  Mittel  nun  soll  der  Bauer  in  eine  bessere  Lage  gebracht 
werden  ?  Entschieden  spricht  sich  Jannau  gegen  eine  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft  aus.  „Die  Freiheit  wäre  nach  jetziger  Denkart  der 
Bauern  das  schädlichste  Geschenk,  das  man  ihnen  machen  könnte." 
Nein,  darauf  kommt  es  an,  ihm  die  Leibeigenschaft  angenehm  und 
ihn  mit  seinem  Willen  eigen  zu  machen.  Das  würde  erreicht  werden 
durch  Aufklärung  über  seine  Bestimmung  in  der  menschlichen  Gesell- 
schaft, durch  die  vollständige  Sicherung  seines  Eigenthums  und  durch 
ein  für  alle  Zeit  festgesetztes  Maass  von  Pflichten ,  die  er  zu  erfüllen 
hat.  Zu  diesem  Zwecke  wäre  es  sehr  dienlich,  wenn  alle  Streitig- 
keiten zwischen  einem  Bauern  und  seinem  Herrn  stets  unter  Hinzu- 
ziehung seiner  Standesgenossen  entschieden  würden  und  wenn  man 
alle  Gesetze  und  Verordnungen ,  welche  die  Bauern  betreffen ,  ins 
Lettische   und  Estnische  übersetzte   und   ihnen  in    die  Hände  gäbe. 


Garlieb  Merkel  als  Bekampfer  der  Leibeigenschaft.  86 

Ferner  müsste  die  willkürliche  Sprengung  der  Gesinde  und  die  unbe- 
schränkte Einrichtung  von  Hoflagen  untersagt  werden.  Alle  Arbeiten 
und  alle  Leistungen,  zu  denen  der  Bauer  nicht  ausdrücklich  ver- 
pflichtet ist,  sollen  nach  einem  festen  Maassstabe  vergütet  werden; 
endlich  das  in  einem  Gute  eingeführte  Wakkenbuch  gedruckt  und  in 
jedem  Gesinde  ein  Exemplar  niedergelegt  werden.  Es  kann  nicht 
geleugnet  werden,  dass  viele  Herren  in  allen  diesen  Beziehungen 
sich  sehr  wohlwollend  beweisen  und  namentlich  viel  für  die  Schulen 
thun,  aber  gesetzliche  Bestimmungen  sind  doch  sicherer.  Dann  erst 
würde  der  Bauer  mit  Eifer  dem  Erwerbe  nachgehen,  Handwerke 
lernen  und  höhere  Bildung  sich  aneignen,  wenn  er  sicher  wäre  im 
unveränderlichen  Besitz  seines  väterlichen  Gesindes  zu  bleiben  und 
aufhören  könnte  zu  fürchten,  durch  seine  Geschicklichkeit  in  noch 
grössere  Abhängigkeit  zu  gerathen.  Alle  diese  Ausführungen  werden 
mit  Beispielen  erläutert. 

Man  sieht,  es  sind,  im  Wesentlichen  nur  etwas  erweitert,  Forderungen, 
welche  eigentlich  durch  die  Patente  von  1765  schon  erledigt  waren. 
Bei  der  vielfachen  Unbestimmtheit  der  damaligen  Festsetzungen  ist 
es  aber  leicht  erklärlich,  wie  viele  eingewurzelte  Missstände  immer 
noch  fortbestanden.  Andere,  später  leidenschaftlich  angegriffene 
Rechte,  wie  das  Hauszuchtsrecht  des  Gutsherrn  werden  von  Jannau 
kaum  berührt.  Praktische  Vorschläge  wie  dem  Bauer  Eigenthum 
gegeben  werden  solle,  ohne  doch  den  Gutsherrn  gar  zu  sehr  zu 
benachtheiligen,  vermisst  man  ganz.  Obgleich  in  ziemlich  maassvollen 
Ton  geschrieben,  namentlich  wo  die  Rede  auf  die  Gegenwart  kommt, 
machte  das  Buch  doch  grosses  Aufsehen,  erregte  aber  auch  viel 
Unzufriedenheit  im  Lande.  Unter  den  Entgegnungen  ist  eine  be- 
merkenswerth.  Der  Wendensche  Kreismarschall  Alexis  v.  Böttiger, 
liess  gegen  Jannau  ein  Schriftchen  unter  dem  Titel:  „Der  lief-  und 
ehstländische  Bauer  ist  nicht  der  so  gedrückte  Sclave  für  den  man 
ihn  hält,"  1786  drucken.  In  sehr  ruhigem  Tone  unternimmt  es  der 
Verfasser  seinen  Gegner  zu  widerlegen.  Er  zeigt  zuerst  durch  eine 
angestellt^  Vergleichung ,  dass  der  Gehorch  des  russischen  Bauern 
viel  drückender  ist  als  der  des  livländischen.  Sodann  versucht  er 
den  Nachweis^  dass  ein  liv-  und  estländischer  Bauer  reichlich  soviel 
Getreide,  als  zu  seinem  und  der  GesindebewohnerLebensunterhalte  nöthig 
ist,  von  seinem  Lande  gewinnen  kann  und  dass  ihm  noch  genug  „zum 
Wohlleben"  übrig  bleibt.  Endlich  glaubt  er  erweisen  zu  können, 
dass  die  vom  Wakkenbuch  eines  Gutes  festgesetzten  Bauerarbeitstage 
hinreichend  sind  um  alle  bei  einem  Gute  erforderlichen  Arbeiten  zu 


66  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft, 

bestreiten  und  dass  der  Herr  also  nicht  nöthig  hat^  seine  Bauern 
ausser  ihrer  pflicbtmässigen  Arbeit  weiter  anzustrengen.  Die  ganze 
Auseinandersetzung  gründet  sich  auf  angefügte  tabellarische  Zu- 
sammenstellungen und  Vergleichungen.  80  meint  Böttiger  den  Lesern 
und  Jannau  selbst  einen  bessern  Begriff  von  der  Verfassung  des.liv- 
und  estländischen  Bauers  gegeben  und  ihn  überzeugt  zu  haben,  man 
könne  auch  mit  den  besten  Absichten,  von  Vorurtheilen  geleitet,  oft 
in  einer  Sache  zu  weit  gehen.  Gegen  Jannau's  Meinung,  der  Bauer 
müsse  das  Recht  haben,  sich  jederzeit  über  seinen  Herrn  zu  beklagen, 
erklärt  sich  Böttiger  entschieden.  Denn  >,der  Bauer  wüi'de  allemal 
über  etwas  zu  klagen  haben,  und  wer  würde  bei  einem  erbitterten 
Herrn  wohl  der  leidende  Theil  bis  zur  neuen  Liquisition  sein  V*^ 
Und  das  patriarchalische  Band,  das  den  Herrn  mit  seinen  Leibeigenen 
wie  den  Vater  mit  seinen  Kindern  verbinde,  würde  durch  die  fort- 
währenden Klagen  der  Bauern  unfehlbar  zerrissen  werden.  Also 
überlasse  man  es  der  Zeit,  die  Verfassung  Livlands  auf  den  voll- 
kommensten Grad  menschlicher  Ordnung  und  Glückseligkeit  zu 
bringen.  Der  Verfasser  bemerkt  noch,  dass  in  schlechten  Jahren 
der  Herr  viel  schlimmer  daran  sei  als  der  Bauer,  ja  oft  in  das  grösste 
Elend  gerathe  und  schliesst  dann  damit,  dass  er  gar  nicht  gegen  die 
Aufhebung  der  Leibeigenschaft  sei.  „Man  gebe  dem  Bauern,  wenn 
man  will,  seine  Freiheit  und  entlasse  ihn  aller  seiner  Pflichten ;  aber 
man  nehme  auch  nicht  demjenigen  sein  Eigenthum,  der  es  für  sein 
baares  Geld  gekauft,  ererbt  oder  auch  für  die  dem  Staate  geleisteten 
Dienste  als  eine  Belohnung  erhalten  hat."  Diese  Aeusserung  ist  sehr 
bemerkenswerth  weil  sie  zuerst  den  Gedanken  ausspricht,  den  Leib- 
eigenen die  Freiheit  zu  geben  ohne  ihm  zugleich  Grundbesitz  zu 
verleihen.  Die  ganze  Beweisführung  Böttigers  wird  Niemanden  über- 
zeugen. Im  besten  Falle  erweist  sie  nur  die  Möglichkeit  einer  erträg- 
lichen Lage  der  Bauern  in  der  Leibeigenschaft,  keinesfalls  aber  ihre 
Wirklichkeit.  Die  Berechnung  geht  von  den  normalen  Verhältnissen 
eines  mittelgrossen  Gutes  aus,  nimmt  das  höchste  Maass  des  Ertrages 
an  und  schlägt  die  Leistungen  an  den  Hof  auf  das  geringste  Maass 
an ;  dabei  ist  strenge  Gerechtigkeit  von  Seiten  des  Herrn  und  eifrige 
Arbeit  beim  Bauern  selbstverständliche  Voraussetzung.  Wie  oft  konnte 
das  alles  zusammentreffen  und  wie  viele  Güter  entsprechen  diesen 
Voraussetzungen!  Und  wenn  nun  schlechte  Jahre  und  Missernten 
eintreten,  der  Herr  seinen  eignen  Vortheil  in  der  möglichsten 
Schonung  der  Bauern  nicht  ,  erkannte?  Mit  solchen. Beweisen  und 
Widerlegungen    war    eben   nichts   erreicht,   nur    die    wohlmeinende 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpi'er  der  Leibeigenschaft.  57 

Gesinnung  des  8chi*eibers  dai'getlian.    Doch  war  durch  diese  Schriften 
die  Zweckmässigkeit  und  Berechtigung   der  Leibeigenschaft    wieder 
eine  Frage  des  Tages  geworden.     Wie  sehr  sie  im  Widerspruche  mit 
den  überall  gepredigten  Ideen  der  Aufklärung,  der  mit  Begeisterung 
aus    Frankreich    aufgenommenen    Lehre    von    der    Gleichheit    aller 
Menschen  stehe,  konnte  sich  doch  kein  Einsichtiger  verbergen.    Aber 
man  fand  einen  Ausweg  aus  diesem  Dilemma.     Nicht  ewig  solle  der 
estnische  und  lettische  Bauer  in  Leibeigenschaft  schmachten,  nein  nur 
solange  bis  er  zur  nötbigen  Bildung,  zur  Fähigkeit  seine  Pflichten  zu 
begreifen  und  der  Stimme  seines  Gewissens  stets  zu  folgen,  erzogen 
sei.     Dann,  so  meinten  viele  wohlmeinende  Männer  aus  dem  Adel, 
wollten  sie  mit  Freuden  auf  alle  ihre  Rechte  über  die  Bauern  ver- 
zichten  und    der  Leibeigenschaft    ein  Ende  machen.      Bis    es  dahin 
komme,  werde  freilich  noch  viel  Zeit  vergehen,  aber  einmal  werde 
doch    der  Tag    der   Freiheit,  anbrechen.      Auch   andere    menschen- 
freundliche Männer  meinten,  auf  die  Freilassung  der  Bauern  komme 
es  weniger  an 5  vielmehr  sei  darauf  alle  Sorge  zu  richten,  dass  der 
Bauer   die  Freiheit  gar  nicht  vermisse.     Von   solchen  Gedanken  ist 
der  Aufsatz  erfüllt,  den  der  bekannte  öconomische  Schriftsteller  und 
Geschichtsschreiber    Livlands  W.  C.  F  riebe   in  Hupeis    nordischen 
Miscellaneen  vom  Jahre  1788    unter  dem  Titel:    Etwas    über  Leib- 
eigenschaft und  Freiheit  einrücken  Hess.     Hier  wird  physische  und 
politische  Freiheit  unterschieden ;  zu  jener  ist  der  livländische  Bauer 
nach   dem  Rechte    der  Natur    so  gewiss   berufen    als  jeder   andere 
Mensch,  ob  auch  zu  dieser,  ist  zweifelhaft.     Die  Entscheidung  dax-über 
hängt   von  der  Beantwortung  der  Frage  ab,    ob   die  Aufliebuug  der 
Leibeigenschaft  nicht  vortheilhafter  für  den  Staat  und  die  Erbherren 
ist,  als  ihr  Fortbestehen?    Die  Antwort  darauf  wird  bejahend  aus- 
fallen.    Dennoch  ist  nicht  daran  zu  denken,  dem  Bauern  sofort  die 
Freiheit  zu  geben  und  ihn  sich  selbst  zu  überlassen.     Bei  den  Haupt- 
eigenschaften  seines  Charakters:   Unwissenheit,  Faulheit,  Liederlich- 
keit,  Unehrlichkeit   müsste  er   bald   zu  Grunde  gehen.      Durch  die 
lange  Unterjochung   ist    die  Natur    der  Letten    und  Esten  verderbt, 
zumal  da  es  Grundsatz  der  frühern  Landesherren  war,  ^das  Volk  in 
Dummheit  zu  erhalten".     Nun  folgen  wieder  die  bekannten  heftigen 
Anklagen  gegen  die  deutschen  Eroberer  und  Frömmigkeit  heucheln- 
den Ritter.     Ehe  die  physische  Lage   des  Bauern  sich   zum  Bessern 
gestaltet,  ist  an  eine  höhere  Cultur  und  moralische  Ausbildung  des- 
selben nicht    zu  denken.     Auch  Friebe  sieht   in   dem  Zugeständniss 
unentreissbaren    Eigenthums    die    nothwendige    Voraussetzung    aller 


88  Garlieb  Merkel  als  BekÄmpfer  der  Leibeigenschaft. 

Reformen.  Er  sucht  zu  zeigen,  dass  der  leibeigene  Bauer  seinem 
Herrn  ebenso  viel  koste,  als  dieser  freien  Arbeitern  zahlen  mttsste. 
Ueberhaupt  würden  die  Nachtheile  einer  Freilassung  der  Bauern  für 
den  Herrn  durchaus  nicht  so  gross  sein,  wie  man  meistens  glaube. 
Ein  einsichtiger  Herr  müsse  ja  auch  schon  jetzt  um  seines  eignen 
Vortheils  willen  für  das  Wohlergehen  der  Leibeignen  sorgen.  Aber 
auch  im  schlimmsten  Falle  sei  der  Bauer  kein  Sclave,  wie  Jannau 
ihn  nenne.  Die  Hauptsache  ist,  Selbstbewusstsein  im  Landmann  zu 
erwecken,  damit  er  über  den  nächsten  Augenblick  hinaussehen 
lernt.  Dies  Jahrhundert  wird  das  Eintreten  einer  so  grossen  und 
viele  Vorbereitungen  erfordernden  Umwälzung  wie  die  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft  ist,  nicht  mehr  sehen.  Friebe  schliesst  mit  der 
Frage:  „Wer  ist  physisch  glücklicher,  ein  livländischer  oder  ein 
deutscher  freier  Bauer?"  und  antwortet  darauf: '„politisch  ist  es  der 
letztere.  Würde  aber  ein  hiesiger  das  ertragen  können  was  jener 
erträgt?" 

Diese  letzte  Stimme  vor  Merkel  verhallte  ungehört;  sie  war  auch 
nicht  klar  und  scharf  genug  um  Eindruck  zu  machen.  Aber  auch 
mächtigere  und  kühnere  Worte  hätten  in  jener  traurigen  Zeit  kein 
Echo  im  Lande  gefunden.  Waren  es  doch  jene  Jahre,  in  denen  man 
die  Früchte  der  politischen  Zerklüftung  und  Entfremdung  aller  Stände 
des  Landes  erntete.  So  lange  hatte  man  sich  beargwöhnt,  kleinlich 
gestritten  und  gehadert,  so  verschoben  und  in  so  unnatürlichen 
Gegensatz  gebracht  waren  alle  Interessen,  so  fremd  war  man  dem 
Ursprünge  und  dem  Geiste  der  Väter  geworden,  dass  man  gar  keinen 
gemeinsamen  Boden  mehr  A,nd,  dass  die  Schädigung  eines  Standes 
mit  Jubel  von  dem  andern  begrüsst  wurde.  Niemals  sind  die  deutschen 
Bewohner  dieser  Lande  ihren  Aufgaben  und  ihrem  Beruf  mehr  untreu 
geworden,  als  in  jenen  dunkeln  Tagen.  Die  allem  historischen  Be- 
wusstsein  feindselige  Richtung  der  Aufklärung,  die  Uebertragung  fremd- 
artiger politischer  Gesichtspunkte  und  Anschauungen  auf  unsere  ganz 
eigenartigen  Verhältnisse,  machten  in  Verbindung  mit  der  herrschenden 
starren  Abgeschlossenheit  aller  Kreise  die  einfachste  politische  Einsicht, 
jeden  Versuch  einer  Verständigung  unmöglich.  Was  Wunder  also,  dass 
die  alte  Landesverfassung  unter  dem  Freudengeschrei  der  grossen 
Masse  zusammenbrach^  kannten  doch  längst  die  Einzelnen  für  die 
Verhältnisse  im  Lande  keinen  andern  Maassstab,  als  den  ihres  persön- 
lichen Wohlergehens  und  selbstischen  Interesses.  Und  Livland,  ein 
Land  das  mit  allen  Fasern  seiner  Existenz  in  geschichtlichem  Boden 
wurzelt,  Livland  hatte  damals  alles  Verständniss  seiner  Vergangenheit 


Garlieb  Merjcel  als  Bekampfer  der  Leibeigenschaft.  59 

völlig  verloren.  Je  mehr  man  vom  Erbe  der  Vö-ter  bei  Seite  warf, 
um  so  zuversichtlicher  meinte  man  auf  der  Bahn  des  Fortschrittes 
zu  wandeln.  Schlagen  wir  eines  der  Geschichtsbücher  jener  Zeit 
auf,  überall  finden  wir  jene  Anschauungen,  von  denen  uns  im  Verlauf 
dieses  Aufsatzes  schon  häufig  Beispiele  entgegengetreten,  in  aller 
Breite  vorgetragen.  War  die  deutsche  Herrschaft  an  der  Ostseeküste 
nur  gegründet  um  „Menschen  zu  schlachten",  Knechtschaft  freien 
Völkern  zu  bringen,  hatten  der  grausame  Ritter,  der  tückische  Priester, 
der  habgierige  Kaufherr  hier  ihre  Gewalt  aufgerichtet  nur  um 
gemeinsam  unter  unmenschlichen  Gräueln  den  Letten  und  Esten 
das  Mark  auszusaugen,  war  die  ganze  Ordenszeit  eine  Periode, 
die  jeder  aufrichtige  Freund  der  Menschheit  aus  der  Geschichte 
gestrichen  wünschte  —  dann  war  über  das  Recht  der  deutschen 
Niederlassung  und  dfer  deutschen  Bewohner  Livlands  der  Stab  ge- 
brochen, dann  mussten  sie  zufrieden  sein  ruhig  fortvegetiren  zu 
dürfen.  Die  Hupel,  Jannau  und  wie  die  Verurtheiler  der  Vorzeit  alle 
heissen,  sie  bedachten  nicht,  dass  sie  sich  mit  ihren  Argumentationen 
und  Declamationen  den  Boden  unter  den  Füssen  wegzogen,  dass  auch 
für  sie  kein  berechtigter  Platz  mehr  im  Lande  war  wenn  nur  Trug 
imd  Gewalt  die  Ordnungen  gegründet,  in  denen  sie  wirkten  und 
lebten.  Aber  scharfes  und  consequentes  Denken  lag  der  Aufklärung 
fern.  Sie  heftete  den  Blick  stets  nur  auf  die  augenblickliche  Gegen- 
wart ohne  Rücksicht  auf  Vergangenheit  und  Zukunft.  Von  der  Ver- 
wirrung und  Verwüstung,  welche  sie  angerichtet,  hat  sicli  das  ge'öunde 
politische  Bewusstsein  erst  sehr  allmälig  erholt  und  auch  heute^  noch 
stehen  viele  Richtungen  unbewusst  unter  ihrem  nachwirkenden  Ein- 
flüsse. Sollen  wir  also  der  Aufklärungsperiode  jedes  Werk  und  jedes 
Verdienst  absprechen?  Nein,  das  wird  selbst  ihr  entschiedenster 
Gegner  nicht  thun.  Auch  von  ihr  gilt  der  Satz,  dass  keine  Richtung 
jemals  Gewalt  über  die  Menschen  gewonnen,  die  nicht  bestimmte 
Wahrheitsmomente  enthielt.  Freilich  ist  ihr  Verdienst  mehr  negativer 
Natur.  Sie  hat  vieles  Unbrauchbare  beseitigt  und  den  Boden  von 
vielem  Schutte  gereinigt..  In  zweierlei  aber  möchte  ich  den  Haupt- 
werth  der  Aufklärungszeit  für  unser  Land  setzen.  Aus  dem  alten 
Zustande  des  Hasses  und  der  Erstarrung  konnte  sich  nur  durch  die 
Infragestellung  und  Antastung  der  berechtigsten  wie  der  willkürlichen, 
der  uQveräusserlichsten  wie  der  zufälligen  Rechte  und  Ordnungen 
eine  neue  Gestaltung  herausbilden,  die  durch  die  allgemeine  Zerstörung 
auf  die  eigentlichen  Quellen  der  Lebenskraft  des  Landes  gewaltsam 
hingewiesen  wurde  und  sich  des  reichen,  von  der  Vorzeit  überlieferten 


60  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

Schatzes  allmälig  neu  bewusst  zu  werden  begann.  In  dieser  Um- 
bildung der  Anschauungen  und  Formen  stehen  wir  noch  heute.  So- 
dann richteten  sich  die  berechtigten  Angriffe  der  Aufklärung  gegen 
einzelne  grosse  Missstände  der  Gesellschaft,  die  früher  als  eng  ver- 
wachsen mit  alten  theuern  Rechten  geduldet  und  entschuldigt  wurden, 
nun  aber,  losgelöst  aus  dem  früheren  Zusammenhang,  grell  aller 
Menschlichkeit  und  allem  natürlichen  Gefühle  widersprachen.  Solch 
ein  schreiendes  Uebel  war  die  Leibeigenschaft.  Alle  die  Gründe, 
welche  früher  für  ihre  Aufrechftialtung  vom  Adel  geltend  gemacht 
worden  waren,  fielen  jetzt  fort  und  es  blieb  nur  die  gehässige  Wirk- 
^lichkeit  bestehen.  In  ihrer  Bekämpfung  haben  sich  die  Männer  der 
Aufklärung  den  meisten,  auch  heute  noch  anerkannten  Ruhm  erworben. 
Freilich  haben  sie  auch  bei  dieser  verdienstlichen  Thätigkeit  dieselbe 
gefährliche  Einseitigkeit  gezeigt,  die  allem  ihYen  Wirken  anhaftet. 
Da  giebt  es  nun  keine  Persönlichkeit,  in  der  sich  alle  Anschauungen 
und  Bestrebungen  der  AuMärung  im  guten  wie  im  gchlimmen  Sinne 
so  vereinigt  finden,  wie  Garlieb  Merkel.  Es  ist  der  Typus  dieser 
ganzen  Richtung  in  unserem  Lande,  in  keinem  spiegelt  sie  sich  so 
klar  und  rein  ab.  Darin  besteht  seine  Bedeutung  und  seine  Schwäche. 
Bis  zum  letzten  Augenblicke  ist  er  ganz  das  Kind  seiner  Zeit  geblieben. 
Mit  leidenschaftlicher  Begeisterung  des  Verstandes  unternahm  er  den 
Kampf  für  Menschenrechte  und  Vernunft  wider  Knechtschaft  und 
historisch  überlieferte  Gerechtsame.  Seiner  ganzen  Entwickelung 
nach  war  er, dazu  angelegt  wie  kein  anderer.  Von  Kindheit  an  hatte 
eine  rjein  verstandesmässige  Ausbildung  alle  jugendlichen  Stimmungen 
und  Gefühle  in  ihm  verdrängt;  ein  Sonderling,  sein  Vater,  die  zersetzende 
Skepsis  -der  Encyklopädisten,  der  ätzende  Spott  Voltaires  waren  seine 
Lehrmeister.  Was  wusste  der  grübelnde,  allem  wirklichen  Leben 
fernstehende  Predigers§ohn  von  den  Geschicken  des  Landes  dem  er 
angehörte,  den  ruhmvollen  Thaten  und  den  schweren  Leiden  ver- 
gangener Geschlechter!  Er  verglich  die  Zustände  ringsum  mit  den 
Lehrsätzen  und  Forderungen  seiner  Meister  und  sah  überall  nur 
Zerrbilder.  Er  schwärmte  für  die  retablirten  Menschenrechte,  für 
die  grösste  Entdeckung  des  Jahrhunderts,  den  unsterblichen  contrat 
social  und  als  er  ins  Leben  trat,  sah  er  sich  von  Heerden  willen- 
loser unselbständiger  Sclaven  umgeben,  traf  er  nicht  selten  auf  harte, 
grausame  Herren  und  zum  Viehe  erniedrigte,  heimlich  knirschende 
Knechte.  Und  bald  glaubte  er  überall  nur  solche  Herren  zu  sölien. 
Er  fühlt  den  Zorn  der  empörten  Menschheit  in  seinem  Herzen. 
Wird  denn  keiner  aufstehen  gegen  diese  Schmach  und  dieses  Elend? 


Garlieb  Merkel  als  Rekämpfer  der  Leibeis^enschaft.  61 

Und  als  es  keiner  thut,  da  fühlt  er  in  sich  den  Beruf  Advocat  der 
Menschheit  zu  werden,  diie  Schande  des  Jahrhunderts  zu  brandmarken, 
am  Throne '  der  grössten  Herrscherin  seine  Anklage  wider  das  un- 
menschliche Verbrechen  niederzulegen.  Aber  wer  kann  es  wagen 
in  der  Löwenhöhle  den  Löwen  anzugreifen?  Er  eilt  erst  hinaus  in 
das  Land,  wo  man  frei  denken  und  schreiben  kann,  und  von  da 
schleudert  er  dem  Adel  Livlands,  den  Ritterschaften  der  Ostsee- 
provinzen vor  dem  gebildeten  Publicum  Europas  seine  furchtbaren 
Anklagen  in's  Gesicht.  Das  sind  die  „Letten  am  Ende  des  philoso- 
phischen Jahrhunderts,  1797."  Vergegenwärtigen  wir  uns  die  damalige 
Lage.  Zwischen  den  frühern  Schriften  und  Merkel's  Buch  liegt  die 
französische  Revolution.  Die  Wirkungen  dieser  furchtbaren  Katastrophe 
blieben  auch  auf  die  baltischen  Provinzen  nicht  ohne  Einfluss.  Die 
Frage  von  den  Menschenrechten  war  keine  theoretische  Geistesübung 
mehr,  sondern,  verlangte  unerbittlich  praktische  Erledigung.  Schroflf 
gegenüber  stehende  Parteien  bildeten  sich,  von  denen  die  einen  nur  in 
der  unbedingten  Aufrechterhaltung  des  Alten  Heil  sahen  und  jeden  Ver^ 
such  einer  Reform  als  revolutionär  anklagten,  die  andern  aber  nur  durch 
zeitgemässe  Zugeständnisse  und  durch  die  Beseitigung  verhasster  Vor- 
rechte den  Gefahren  der  Zukunft  zu  entgehen  meinten.  Das  musste  vor 
allem  seine  Anwendung  auf  die  Leibeigenschaft  finden.  Man  erkannte, 
dass  hier  in  erster  Linie  Umgestaltungen  eintreten  mussten,  und  als  der 
livländische  Landtag  von  1795  zusammentrat,  da  erwartete  man 
allgemein  von  ihm  eine  eingreifende  Reforni  der  Bauernverhältnisse. 
Solche  Erwartungen  spricht  auch  die  berühmte  Landtagspredigt  von 
Sonntag:  „Ermunterung  zum  Gemeingeist "  aus.  Daraus  erklärt  sich 
die  ihr  beigemessene  Bedeutung  und  ihr  gewaltiger  Eindruck.  Wenn 
wir  sie  heute  lesen  ist  uns  eine  solche  Wirkung  kaum  verständlich. 
Es  ist  eine  ziemlich  trockene,  oft  triviale  moralische  Abhandlung,  die 
nur  bei  der  Ermahnung  an  den  Adel,  für  das  Wohlergehen  der  Bauern 
zu  sorgen  und  ihnen  Eigenthum  zu  schaffen,  sich  über  das  ganz  Ge- 
wöhnliche etwas  erhebt.  Die  Ritterschaft  war  so  befriedigt  von  ihr, 
dass  sie  ihren  Druck  verfügte,  aber  auf  dem  Landtage  kam  gar  kein 
Beschluss  zu  Stande,  sondern  dem  Convent  wurde  es  überlassen,  feste 
Principien  für  eine  neue  Ordnung  der  Bauernverhältnisse  zu  finden 
und  mit  den  einzelnen  Kreisconventen  darüber  zu  verhandeln.  Die 
Enttäuschung  über  dieses  Resultat  der  Verhandlungen  war  gross  im 
Lande.  Zur  Betrübniss  aller  wohlmeinenden  Reformfreunde  war 
.damit  die  Sache  in  das  Unbestimmte  vertagt.  Zu  den  bitter 
Enttäuschten  gehörte  der  junge  Merkel.  Er,  der  Sonntag  schon  vor  der 


62  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

Eröffnung  des  Landtages  seine  Schrift  mitgetheilt,  beschloss  jetzt,  sie 
drucken  zu  lassen.  Ob  bei  der  Abfassung  und  Veröff'entlichung  seines 
Buches  ihn  auch  persönliche  Missstimmung  gegen  einzelne  Personen 
aus  dem  Adel  geleitet,  wie  man  damals  allgemein  glaubte,  lässt  sich 
nicht  beweisen,  wenn  es  auch  manche  Umstände  wahrscheinlich 
machen.  Die  Letten  machten  den  gewaltigsten  Eindruck,  in  Deutsch- 
land fast  noch  mehr  als  in  Livland.  Der  furchtbare  Lihalt,  die  leiden- 
s<;haftliche  Erregtheit  der  Darstellung,  die  Gewandtheit  des  Stiles 
und  die,  wie  es  schien,  unwiderlegliche  Deduction  wirkten  zu- 
sammen um  diesem  Werk  eine  hervorragende  Bedeutung  zu  geben. 
Der  junge  unbekannte  Hauslehrer  erwarb  sich  mit  einem  Schlage 
einen  angesehenen  und  gefürchteten  Namen,  und  lange  galt  M'erkel 
als  der  erste  Schriftsteller  der  Ostseeprpvinzen.  Heute  werden 
die, Letten  viel  genannt  und  gerühmt,  aber  sehr  wenig  gelesen.  Es 
erscheint  daher  am  Platze  eine  Uebersicht  des  Inhalts  in  kurzen 
Zügen  vorzulegen.  Plan  und  Composition  des  Ganzen  sind  vorzüglich 
berechnet,  die  Gruppirung  höchst  wirkungsvoll.  Eine  Widmung  an 
den  Fürsten  Repnin,  den  Statthalter  von  Liv-  und  Estland,  bildet 
den  Eingang.  Nachdem  seine  Grösse  im  Kriege  und  Frieden  gefeiert, 
wird  an  ihn  die  Bitte  gerichtet,  Fürsprecher  der  vielen  Hundert- 
tausende von  Unglücklichen,  die,  aller  Menschenrechte  beraubt,  in 
unaussprechlichem  Elende  schmachten ,  am  Throne  der  grossen 
Monarchin  zu  werden.  Ein  Wort  aus  dem  Munde  der  unsterblichen 
Katharina,  und  sie  sind  frei.  Alle  Hoffnung  der  Unterdrückten  beruht 
auf  dem  Fürsten.  Die  darauf  folgende  Einleitung  soll  die  Stimmung 
des  Lesers  erregen  und  auf  das  Schlimmste  vorbereiten.  „Die  Ver- 
nunft -hat  gesiegt  und  das  Jahrhundert  der  Gerechtigkeit  beginnt'', 
so  wird  sie  mit  selbstbewusstem  Stolz  der  Aufklärung  eröffnet. 
Das  Jahrhundert  hat  Throne  umgestürzt,  Reiche  zertrümmert,  die 
ältesten  Rechte  der  Grossen  vernichtet,  nur  in  einem  Winkel  Europas 
thront  noch  die  härteste  Despotie.  Noch  seufzen  die  Letten  und  Esten 
unter  dem  Joche  der  Knechtschaft.  Aber  auch  für  sie  wird  die 
Stunde  der  Befreiung  kommen,  früh  oder  spät,  und  dann  wehe  den 
Herrn,  wenn  sie  nicht  freiwillig  auf  ihre  „Ungerechtsame"  verzichten. 
Das  werden  sie  nur  wenn  die  gebildete  Menschheit  ihre  Gewalt 
brandmarkt.  Darum  soll  hier  dem  Adel  und  der  Geistlichkeit  Liv- 
lands  ein  Spiegelbild  vorgehalten  werden,  vor  dem  sie  sich  entsetzen. 
Es  soll  aber  auch  die  Aufmerksamkeit  der  Landesregierung  auf  die 
Unglücklichen  hingelenkt  werden,  damit  sie  eingreife  wenn  es 
Noth  thut.     Manche  haben  schon  früher  über  denselben  Gegenstand 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  63 

geschrieben,  aber  schonend  und  rücksichtsvoll.  Ohne  Schonung  und 
ohne  Rücksicht  will  ich  schreiben,  erklärt  der  Verfasser,  aber  un- 
parteiisch. Und  sein  Beruf  dazu?  Acht  Jahre  hat  er  täglich  mit 
Edelleuten  und  Bauern  verkehrt,  das  Meiste  selbst  erlebt,  vieles 
selbst  gesehen.  Er  weiss,  dass  er  heftig  schreibt,  er  weiss,  dass  er 
sich  Gefahren  aussetzt,  aber  was  ücht  ihn  das  an?  Er  erfüllt  nur  seine 
Pflicht.  ^Vaterlandsliebe  ist  mein  Beruf  undWahrheitsliebe  mein  Talent". 
Und  nun  entrollt  sich  uns  das  Bild.  Was  waren  die  Letten  einst  und 
was  sind  sie  geworden?  „Nach  allen  Nachrichten  aus  alten  Liedern 
und  Chroniken"  war  ihr  Leben  vor  dem  Eindringen  der  Deutschen 
ein  dauerndes  Idyll;  alle  Tugenden  unverdorbener  Naturmenschen 
besassen  sie,  fast  keine  Laster.  Am  Anfange  des  12.  Jahrhunderts 
standen  Letten  und  Esten  schon  auf  einer  hohen  Stufe  der  Cultur 
und  wenn  sie  ruhig  ihrer  Entwickelung  überlassen  geblieben  wären, 
„glänzten  sie  heute  vielleicht  schon  unter  den  Bewohnern  Europas, 
hätten  ihre  Kante,  ihre  Herder,  ihre  Wielande  etc.  gehabt  und  spielten 
eine  wichtige  Rolle  im  Reiche  der  Wissenschaften  und  der  Politik." 
Da  brachen  plötzlich  Schaaren  geweihter  Mörder  und  hinterlistiger 
Pfaffen  über  sie  herein,  badeten  in  Blut  und  machten  Livland  zu  einer 
Mordhöhle  der  Pfaffen.  Aller  Menschenrechte  beraubt  sind  die  Ein- 
geborenen jetzt  zum  Stumpfsinn  herabgesunken,  hausen  mit  Schweinen 
und  Hühnern  zusammen  in  elenden  dunkeln  raucherfüllten  Hütten 
und  schleppen  mühselig  ihr  armes  Leben  hin.  Aber  was  ist  die 
Vernichtung  des  äussern  Wohlstandes  gegen  die  Verwüstung,  welche 
die  Jahrhundert  lange  Sclaverei  im  Charakter  der  Letten  angerichtet 
hat.  Und  nun  entwirft  der  Vertheidiger  und  Vorkämpfer  der  Letten 
und  Esten  ein  Bild  von  diesen  Volksstämmen,  das  die  ungünstigen 
Schilderungen  aller  Frühem  weit  hinter  sich  lässt  und  für  das  ihm 
seine  heutigen  Verehrer  wohl  nicht  ganz  dankbar  sein  werden. 
Unbedingtes  Misstrauen  und  sclavische  Furcht  vor  dem  Herrn  ver- 
binden sich  mit  erschreckender  Fühllosigkeit  ^egen  ihre  hächsten 
Angehörigen.  Freilich  wohnt  in  ihrem  Herzen  auch  grimmiger  Hass 
gegen  alle  Deutschen,  vor  dessen  Ausbruch,  diese  zittern.  Aber  roher 
Aberglauben  und^unmässige  Trunksucht,  die  soweit  geht,  dass  Mütter 
das  Glas  Branntwein  mit  ihren  Säuglingen  theilen,  sind  doch  wieder 
starke  Schatten.  Dazu  erscheint  Unredlichkeit  als  ein  Hauptzug 
ihres  Charakters,  diebisch  und  betrügerisch  gegen  den  Herrn  zu  sein 
ist  ihnen  natürlich.  Und  schliesslich  das  Schlimmste :  die  Letten  haben 
keinen  Nationalstolz!  Kann  es  dafür  einen  bessern  Beweis  geben 
als  dass  „jeder  Einzelne,  dem  es  gelingt  in  einen  andern  Stand  zu 


64  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

treten  es  für  die  bitterste  Beleidigung  hält,  wenn  man  ihn  erinnert, 
dass  er  ein  Lette  sei!''  Alle  Laster  und  Fehler  des  Letten  werden 
aber  erst  verständlich  und  zum  Theil  erklärlich  auf  dem  Grunde  der 
Frohndienste  und  Abgaben,  die  er  zu  leisten  hat.  Und  nun  überläset 
sich  Merkel  ganz  dem  Zuge  seines  rhetorischen  Talents.  Auch  das 
Verhältniss  der  Leibeignen  zu  ihrem  Herrn  beruht  auf  einem  contra  t 
social;  aber  wie  ist  dieser  von  dem  Herrn  gehalten  worden  I  Die 
Leistungen  der  Bauern  sind  nach  den  Gütern  verschieden,  sagt  Merkel, 
und  dennoch  giebt  er  eine  Entsetzen  erregende  Schilderung  der  Pflichten 
des  leibeignen  Bauerwirthen  schlechthin.  Da  erhalten  wir  denn  eine 
Berechnung,  nach  der  der  Bauerwirth  in  jedem  gewöhnlichen  Jahre 
12  Loof  weniger  erntet,  als  zum  Lebensunterhalt  der  Bewohner  eines 
Gesindes  nöthig  sind.  Und  dazu  muss  er  noch  dem  HofeJ  dem 
Prediger,  dem  Schulmeister  seine  Abgaben  entrichten  und  die  Schulden 
vom  vorhergehenden  Jahre  bezahlen!  Aber  wie  ist  denn  das  möglich? 
fragt  der  entsetzte  Leser.  Dadurch,  dass  er  Spreubrod  isst  und  im  April 
Vorschuss  vom  Hofe  erhält,  antwortet  Merkel  und  überlässt  ihn 
seinem  Zweifel.  Und  nun  dieFrohnen.  Zum  Düngen,  zur  Saat,  zur  Ernte 
stellt  jeder  Wirth  3  bis  5  Menschen  oder  —  soviel  der  Hof  will,  Bauholz 
und  Brennholz  muss  er  zum  Hofe  führen,  25  Wochen  im  Jahre  einen 
Knecht  mit  einem  Pferde  und  einen  zu  Fuss  stellen.  -Wann  bestellt 
denn  der  Bauer  seine  eigenen  Felder?  fragt  man  wieder  und  erhält 
zur  Antwort:-  an  Sonn-  und  Festtagen.  Ferner  das  Verführen  der 
Hofesgefälle  30  bis  40  Meilen  weit,  endlich  die  zahllosen  Abgaben 
an  Naturalien !  Und  trotz  aller  dieser  Lasten  kann  der  Bauer  nichts 
sein  eigen  nennen.  Der  Herr  kann  jeden  Hausvater  zum  Knechte, 
jeden  Knecht  zum  Hausvater  machen,  ihm  Haus  und  Hof  nehmen,  ihn 
unter  das  Militär  stecken.  Kurz  „die  Bauern  haben  nichts  als  was 
der  Erbherr  iMien  lässt  und  sind  nichts,  als  was  ihm  gefällt."  Jeder 
mit  den  Bauerverhältnissen  jener  Zeit  auch  nur  oberflächlich  Be- 
kannte weiss  nur  z]i  gut,  wie  drückend  und  hart'  die  materielle  Lage 
der  Leibeigenen  war  und  dass  die  herrschenden  Missstände  gebiete- 
rische Abhilfe  verlangten.  Aber,  dass  die  Allgemeingiltigkeit  der 
obigen  Darstellung  undenkbar  und  unmöglich  ist,  liegt  auf  der  Hand. 
Und  der  Hauptfehler  der  ganzen  Darstellung  zeigt  sich  hier  zuerst 
in  grellem  Lichte,  das  beständige  Gerieralisiren  specieller  Thatsachen 
und  Erfahrungen.  So  musste  aus  der  ohnehin  schon  argen  Wirk- 
lichkeit ein  grausiges  Zerrbild  werden.  Die  Frage,  ob  sich  demi 
Niemand  bisher  um  die  furchtbare  Lage  der  Leibeigenen  gekümmert, 
führt  zu  einer  Schilderung  der  bisher  von  Stephan  Bathory  bis  1765 


Qarlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  65 

• 

gemachten  Versuche  Abhilfe  zu  schaffen.  Hier  ist  Jannau  ganz  zu 
Grunde  gelegt.  Nur  ist  alles  mit  brennenden  Farben  gemalt  und  die 
List  und  Tücke  des  Adels,  durch  die  er  stets  alle  edlen  Absichten  der 
Regenten  vereitelt,  mit  breitem  Behagen  geschildert.  Mit  bitterem 
Hohne  wird  sodann  von  den  Rechten  der  Bauern  in  Livland  ge- 
handelt und  an  der  Ausführung  der  Patente  von  1765  gezeigt,  dass 
sie  keine  haben.  Die  Bestimmung  z.  B.,  der  Bauer  kann  Eigenthum 
haben,  heisst  nur,  was  er  besitzt,  darf  ihm  nicht  ohne  Vorwand  un- 
bezahlt genommen  werden.  Wie  es  mit  der  Bestimmung  gehalten 
werde,  dass  die  Leibeigenen  am  Heirathen  nicht  gehindert  werden 
sollen,  beleuchten  grauenerregende  Beispiele,  und  wenn  die  Bauern 
krank  sind,  werden  sie  von  den  Herren  „zu  Tode  gequacksalberf, 
denn  die  ihnen  gereichten  Heilmittel  bestimmen  sich  nach  ihrem 
geringeren  oder  grösseren  Vorhandensein  in  der  Hausapotheke  der 
Edelfrauen.  An  Aerzte  ist  natürlich  auf  den  Privatgütern  nicht  zu 
denken.  Die  Berechtigung  des  Bauern,  über  seinen  Herrn  zu  klagen, 
zeigt  sich  als' eine  Berechtigung  Ruthenhiebe  zu  erhalten^  die  Ein- 
führung von  Bauergerichten  ist  vereitelt  und  so  das  wirksamste 
Mittel,  dem  Sclaven  Muth  und  Selbstvertrauen  wieder  zu  gebeii, 
nämlich  ihm  den  Weg  zu  Ehrenstellen  zu  öffnen,  beseitigt.  Kann 
es  ein  ärmlicheres  Volksrecht  in  irgend  einem  Staate  „in  der  poli- 
cirten  Welt"  geben?  schliesst  Merkel  diesen  Abschnitt.  Was  für  ein 
Blick  eröffnet  sich  uns  aus  solchen  Verhältnissen  in  die  Zukunft? 
Schrecklich*  und  fürchterlich  sind  die  kommenden  Zeiten  für  die 
Despoten  und  ihre  Nachkommen.  Und  nun  entwirft  Merkel  ein 
fiirchtbares  grausiges  Bild  der  Umwälzungen,  der  Gewaltakte,  der 
Rachegräuel  die  eintreten  müssen,  wenn  die  ^Grossherren"  nicht 
noch  im  letzten  Augenblicke  freiwillig  auf  ihre  durch  Mord  und  List 
erworbenen  Rechte  über  die  Letten  verzichten.  Diese  Schilderung,  die 
wir  nicht  mittheilen  können,  ist  höchst  lesenswerth ;  sie  ist  die  Quelle 
vieler  späteren  Schriften  und  Broschüren  geworden,  von  denen  nur  keine 
so  unumwunden  zu  sprechen  gewagt  hat  wie  ihr  Meister.  Aber  von 
der  Seite  des  Rechtes,  fährt  Merkel  fort,  wird  der  Adel  nie  zur  Auf- 
hebung der  Leibeigenschaft  bewogen  werden;  man  muss  versuchen, 
ihm  zu  zeigen,  dass  die  gefürchteten  schädlichen  Folgen  der  Frei- 
lassung blosse  Einbildung  sind,  dass  vielmehr  die  bedeutendsten 
Vortheile  daraus  auch  für  die  Gutsherren  erwachsen.  Also  wider- 
legen wir  „die  seichten  Scheingründe  der  heuchlerischen  Schwätzer." 
Sie   lauten:    Der   Lette   ist   noch   nicht   reif  zur  Freiheit,    sein 

Volkscharakter  macht  die   strengste   Behandlung  und  die  Sclaverei 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  5 


66  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

• 

nothwendig,  seine  Lage  würde  durch  die  Freilassung  sehr  unsicher  und 
traurig  werden.  Wie  leicht  ist  die  Nichtigkeit  aller  dieser  Ein- 
wendungen gezeigt.  Mit  dem  ersten  Grunde  lässt  sich  die  Ereilassung 
in  unabsehbare  Zeit  hinausschieben,  denn  der  Herr  wird  immer 
sagen,  dass  sein  Sklave  nicht  reif  ist,  in  den  Besitz  seiner  Menschen- 
rechte zu  kommen.  Die  gegenwärtigen  Nationalfehler  der  Letten 
werden  durch  die  Freilassung  vernichtet  werden  und  die  Besorgniss 
wegen  ihrer  Zukunft  wird  dadurch  wegfallen,  dass  sie  gegen  Ent- 
richtung bestimmter  Abgaben  und  gegen  bestimmte  Frohnen  den 
Erbbesitz  ihrer  Gesinde  erlangen.  Indem  sich  Merkel  im  Namen  der 
Letten  bei  den  Gutsherren  für  ihre  zarte  Fürsorge  bedankt,  schliesst 
er  mit  den  höhn  vollen  Worten :  „Ich  möchte  fast  annehmen,  dass  die 
Letten  Geschöpfe  von  einer  den  Edelleuten  wenigstens  sehr  ähnlichen 
Gattung  seien  und  so  gut  als  diese  endlieh  aufhören  müssen,  wie 
Kinder  behandelt  zu  werden  und  fremder  Leitung  zu  bedürfen." 
Wer  ermisst  aber  erst  den  unendlichen  Schaden,  den  die  Leibeigen- 
schaft jedem  Staate,  in  dem  sie  herrscht,  zufügt.  Weder  Gesetz  noch 
Recht  können  da  bestehen,  weder  Vaterlandsliebe  noch  Bürgertugend 
da  erblühen,  wo  ihr  Fluch  lastet.  Das  Schicksal  Polens  dient  dazu 
als  warnender  Beleg.  Zu  welcher  Blüthe  könnte  Livland  gelangen, 
welchen  Aufschwung  würde  seine  Cultur  nehmen,  sässe  nicht  in 
seinem  Innern  das  eine  Grundübel  der  Leibeigenschaft,  die  alles  ver- 
giftet und  zerstört.  Darum  schliesst  Merkel  mit  der  absichtsvollen 
Wendung:  Wird  der  Beherrscher  Russlands  es  immer  dulden,  dass 
einige  tausend  Sklavenhändler  grosse  Menschenheerden  besitzen? 
Nein,  das  wird  er  nicht. 

Das  Schlusskapitel  des  Buches,  charakteristisch  genug,  das 
kürzeste  von  allen,  bespricht  die  Mittel,  den  Letten  Bildung  und 
Freiheit  zu  geben.  Freiheit  und  Wohlstand  des  Bauern  sind  das 
letzte  Ziel,  das  durch  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  erreicht 
werden  soll.  Dazu  bedarf  es,  um  die  Sache  nicht  zu  überstürzen, 
vorbereitender  Schritte,  von  denen  zwei  sofort  gethan  werden  müssen. 
Man  stelle  den  Bauern  fortan  unter  Schutz  eines  Tribunals,  dessen 
Mitglieder  zum  Theil  aus  seinen  Brüdern  bestehen,  d.  h.  man  richte 
Bauergerichte  für  Streitigkeiten  zwischen  den  Herren  und  ihren 
Bauern  ein  und  bilde  daneben  Gutsgerichte  für  Streitigkeiten  der 
Bauern  untereinander  und  zum  Schutz  vor  der  Willkür  des  Herrn. 
Sodann  muss  eine  Revision  der  Leistungen  auf  jedem  Gute  vor- 
genommen und  dieselben  für  die  Zukunft  unabänderlich  festgestellt 
werden.     Ferner  schlägt  Merkel  zur  grösseren  Sicherung  der  Bauern- 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  67 

mehrere  Gesetze  vor  oder  will  sie  vielmehr  wieder  erneuert  wissen. 
Die  wichtigsten  darunter  sind:  Kein  Gutsherr  darf  einen  Bauern 
ohne  Zustimmung  des  Gutsgerichts  aus  seinem  Besitz  weisen,  er  darf 
keinen  Leibeigenen  verkaufen,  nicht  er,  sondern  allein  das  Gutsge- 
richt darf  Leibesstrafen  verhängen,  zur  Eheschliessung  bedarf  es 
nicht  mehr  der  Einwilligung  der  Gutsherrschaft.  Werden,  alle  diese 
Vorschläge  verwircklicht,  dann  bedarf  es  nur  einer  Vorbereitungsfrist 
von  höchstens  5  Jahren  zur  völligen  Aufhebung  der  Leibeigenschaft. 
Auf  diesem  Wege  werden  die  Letten  schneller  reif  für  die  Freiheit 
sein  als  sie  durch  Schulen,  Katechismusunterricht  und  Gesangbücher 
es  je  werden  können.  Nach  Ablauf  der  angegebenen  Zeit  muss  der 
Erbherr  jedem  Letten  für  höchstens  vierzig  Thaler  die  Freiheit  zu 
geben  verpflichtet  sein.  Jeder  Hausvater  bleibt  dabei  im  ewigen,  ver-" 
käuflichen,  nur  durch  Frohndienste  beschwerten  Besitz  seines  Güt- 
chens. „Das  sind  die  leicht  ausführbaren  Vorschläge  meines 
Entwurfes,''  sagt  Merkel.  „Aber  wer  wird  ihre  Ausführung  über- 
nehmen? Der  Adel  —  niemals,  die  Regierung  —  wird  lange  noch 
durch  andere  dringende  Geschäfte  in  Anspruch  genommen  sein. 
Darum  ergeht  an  die  Edlern  aus  allen  Völkern  der  Ruf,  ihre  Stimme 
zu  erheben  gegen  diese  Entwürdigung  der  Menschheit,  so  laut  und 
so  lange  sie  zu  erheben,  bis  sie  gehört  wird."  Stolz  und  drohend 
wie  der  Anfang  ist  der  Schluss  des  Werkes. 

Ein  Anhang  schildert  in  einer  aus  dem  Leben  gegriffenen, 
drastischen  Darstellung  die  Landgeistlichen  in  Livland.  An  dem 
vorausgeschickten  Ideal  eines  Geistlichen,  freilich  eines  Geistlichen 
der  Aufklärung,  bemisst  Merkel  die  Wirklichkeit.  Es  fehlt  auch  hier 
nicht  an  starken  Uebertreibungen  und  dem  leidigen  Generalisiren. 
So  wird  den  Pastoren  der  Vorwurf  gemacht,  sie,  deren  heilige  Pflicht 
es  wäre,  sich  der  Leibeigenen  anzunehmen,  für  sie  gegen  die  Herren 
einzutreten,  unterschieden  sich  in  nichts  von  den  Grossherren,  sie 
seien  gegen  ihre  Bauern  ebenso  hart  und  streng  wie  diese.  Und  doch 
waren  gerade  die  ersten  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft  Pastoren! 
Aber  im  Ganzen  spricht  Merkel  hier  ruhiger  und.  unbefangener  und 
der  vielfache  scharfe  Tadel  gegen  das  Leben  und  Treiben  der 
Geistlichkeit  ist  nicht  unbegründet.  So  giebt  dieser  Abschnitt  eine 
culturhistorische  Schilderung  von  bleibendem  Werthe  und  ist  einer 
der  lehrreichsten  des  ganzen  Buches.  Das  ist  in  flüchtigen  Umrissen 
der  Inhalt  des  berühmten  Werkes. 

So  grossen  Eindruck  machte  dasselbe,  dass  schon  im  Jahre  1800 

eine  zweite  verbesserte  Auflage  erschien,  die  sich  von  der  ersten  nur 

5* 


68  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

dadurch  unterscheidet,  dass  sie  noch  mehr  mit  pseudophilosophischen 
Betrachtungen  aufgeputzt  ist.  Was  war  es  denn  nun  was  diesem 
Werke  eine  solche  Bedeutung  gab,  worin  besteht  seine  Kraft  ?  Auch 
wer  die  Letten  nur  flüchtig  durchblättert,  wird  bemerken,  dass  weder 
neue  Gesichtspunkte  noch  Tiefe  und  Grösse  der  Auffassung  sie  vor 
den  frühern  Versuchen  auszeichnen.  Sieht  man  genauer  zu,  so  wird 
man  kaum  ein  Argument,  kaum  eine  Auseinandersetzung  darin  ent- 
decken, die  nicht  schpn  bei  den  frühem  Gegnern  der  Leibeigenschaft 
sich  finden.  Noch  mehr,  was  man  bisher  gar  nicht  bemerkt  hat, 
der  grösste-  Theil  der  Schilderungen  vom  Leben  und  Charakter  der 
Letten,  ihrem  Elend  und  ihre  Sitten  ist  fast  wörtlich  aus  Hupel  ent- 
lehnt. Nur  wird  alles  schwarz  ausgemalt  und  noch  mehr  zu  Un- 
gunsten der  Herren  zugestutzt  und  die  unbefangene  und  naive  Dar- 
stellung Hupeis  überall  tendenziös  überarbeitet  Dass  alle  Bauern 
Kaflfbrod  essen,  dass  die  Leibeigenen  oft  gegen  Hunde,  Pferde  u.  s.  w. 
ausgetauscht  werden,  dass  schon  die  kleinen  Kinder  von  ihren  Müttern 
Brantwein  bekommen,  alles  dieses  und  vieles  Andere,  was  Merkel 
wie -aus  eigner  Kenntniss  geschöpft  mit  den  kräftigsten  Farben  darstellt, 
stammt  aus  Hupel.  Gegen  die  Richtigkeit  mancher  dieser  Angaben  und 
gegen  ihre  allgemeine  Giltigkeit  hatte  schon  der  ungenannte  livländische 
Landrath  Einwendungen  gemächt,  die  der  Verfasser  der  Letten 
natürlich  unbeachtet  gelassen  hat.  So  ist  auch  im  Thatsächlichen 
Merkels  Originalität  gering.  Nur  die  Erzählungen  einzelner  Grau- 
samkeiten, Barbareien,  Misshandljingen  sind  sein  Eigenthum.  Aber 
wie  erklärt  sich,  denn  der  Erfolg  des  Buches?  Einzig  aus  der  Art 
und  Weise,  wie  die  schon  früher  so  vielfach  angegriffenen  Miss- 
stände darin  behandelt  wurden  und  durch  die  Heftigkeit  und  Rück- 
sichtslosigkeit seiner  Sprache.'  So  hatte  es  noch  Niemand  bisher 
gewagt  über  livländische  Dinge  zu  reden,  so  schneidenden  Ausdruck 
noch  Niemand  seiner  Unzufriedenheit  mit  den  bestehenden  Verhält- 
nissen des  Landes  zu  geben  sich  erlaubt.  Und  der  das  that  war 
kein  Fremder,  sondern  ein  Sohn  des  Landes,  von  Jugend  auf  mit 
den  Zuständen  seiner  Heimath  vertraut.  Wenn  ein  solcher  sich 
gedruifgen  fühlte  so  zu  sprechen,  wie  furchtbar  musste  dann  die  Lage 
der  leibeigenen  Bauern  in  Livland  sein!  Solche  und  ähnliche 
Erwägungen  waren  es,  welche  Merkels  Anklagen  und  Schilderungen  in 
Deutschland  überall  und  auch  in  Livland  vielfach  unbedingten  Glauben 
und  dauernde  Wirkung  verschafften.  Die  Letten  schienen  einen 
Abgrund  von  Barbarei  und  Unmenschlichkeit  aufzudecken,  wie  man 
ihn  in  Europa  nicht  für  möglich  gehalten  hätte.    Die  Beispiele  von 


Cfaplieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  69 

Verbrechen  und  brutalen  Gewaltthaten  der  Herren  waren  mit  grosser 
Geschicklichkeit  so  gewählt  und  gruppirt,  dass  sie  nur  aufs  Gerade- 
wohl   aus    einer    zahllosen    Masse    herausgegriflfen    erschienen    und 
dadurch  um  so  mehr  Schauder  und  Entsetzen  erregen  mussten.     Man 
sah  die  Leibeignen  in  dem  aller  elendesten  Zustande,  ohne  Eigen- 
thum,   ohne  Recht,  ohne  sittlichen  Halt,   reine  Sachen,  durch  das 
Recht   der  Hauszucht  ganz  ihren   Peinigern  in    die  Hände  gegeben 
und  musste  es  fast  unbegreiflich  finden,  wie  menschliche  Wesen  unter 
solchem  Drucke  überhaupt  existiren  konnten.    Und  diese  Verhältnisse 
waren  in  einer  Sprache  geschilfert,   die   alle  Stufenleiter  sittlicher 
Entrüstung,  höhnischen  Spottes,  schmerzlicher  Klage  durchlief.     So 
musste  in  der  That  beim  ersten  Anblick  diese  scharfe,  energische, 
überall   auf  Thatsachen  sich   gründende  Darstellung  unwiderleglich 
erscheinen,  wie  es  ihr  Merkel  so  oft  nachrühmt.     Und  in  gewisser 
Beziehung  ist   sie  es  auch.      Aber   furchtbar  einseitig   und   bis    zur 
Unwahrheit   absichtsvoll   zugespitzt   ist  dennoch    das  Ganze.      Man 
darf  nie  vergessen,   dass   hier  nicht  bloss  ein  Angreifer  der  Sache, 
sondern  auch  ein  Ankläger  der  Personen  und  des   Standes  spricht, 
der  mit  allen  Mitteln  sein  Ziel  zu  erreichen  kein  Bedenken   trägt. 
Man    würde   sehr  irren,   wenn   man    glaubte,    es    seien    allein    die 
Leidenschaft   und    der   Zorn    des    empörten   Menschenfreundes,    die 
Merkel    seine   Anklagen    erheben    liessen ;    es    wirkte    dabei    nicht 
zum   geringsten  Theile   der   schroffe   Gegensatz   des  Bürgers    gegen 
den  Adel  mit.     An  vielen   Stellen   bricht   dieser  hervor.      Fürwahr 
es  klingt  wie   der  bitterste  Spott,    wenn   sich  Merkel  in   der  Ein- 
leitung  der   Unparteilichkeit '  rühmt.      Dass  er    absolut   unfähig   ist 
die  Entstehung,  Ausbildung  und  Ausbreitung  der  Leibeigenschaft  als 
einen  geschichtlichen  Process  der  menschlichen  Entwickelung  zu  be- 
greifen, das  wollen  wir  einem  Manne  der  Aufklärung  nicht  besonders 
zum  Vorwurf  machen;    wird  es  doch  noch  heute  der  gewöhnlichen 
TagesauflFassung  schwer.     Aber  mit  diesem  Mangel  alles  historischen 
Sinnes  und  auch  aller  geschichtlichen  Kenntniss  hängt  ein  Hauptfehler 
seines  ganzen  Buches  zusammen.     Merkel  behandelt  die  Leibeigen- 
schaft in  Livland  so,  als  ob  das  Land  in  völliger  Isolirung  von  der 
ganzen  übrigen  Welt  sich  befände,  als  herrschten  hier  Zustände,  die 
ohne  Analogie  in  der  Geschichte  und  in  dem  gegenwärtigen  Europa 
seien.     Es  kommt  ihm  gar  nicht  in  den  Sinn  die  Leibeigenschaft  der 
livländischen  Bauern  mit  der  in  andern  Ländern  herrschenden  Un- 
freiheit der  Landbewohner  zu  vergleichen.     Auf  diesem  Wege  allein 
hätte  sich  gezeigt,  worin  die  Bauernverhältnisse  Livlands  sich  von 


70  Garlieb.  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

denen  anderer  Staaten  unterschieden.  Es  lag  doch  auf  der  Hand 
die  sehr  ähnlichen  Zustände  in  Pommern,  Mecklenburg  und  Schleswig- 
Holstein  zur  Vergleichung  herbeizuziehen.  Davon  aber  findet  sich 
nirgend  eine  Spur.  Wer  nun  die  sorgfältigen  Zusammenstellungen 
darüber  in  Sagenheims  Geschichte  der  Leibeigenschaft  sich  vergegen- 
wärtigt, oder  etwa  die  sehr  interessanten  Actenstücke  zur  Geschichte 
der  Leibeigenschaft  in  Schleswig-Holstein  1798  liest,  der  wird  finden, 
dass  es  am  Ende  des  philosophischen  Jahrhunderts  in  deutschen 
Ländern  nicht  viel  anders  aussah  als  in  Livland.  Die  von  dem 
Ausschuss  der  schleswig-holsteinischen  Gutsbesitzer  1796  gegebene 
Darstellung  der  Rechte  eines  Herrn  über  seine  Leibeignen  und  der 
Pflichten  dieser  hat  nur  zu  viel  Verwandtschaft  mit  den  in  Livland 
herrschenden  Bestimmungen.  Freilich  wurden  sie  dort  immer  seltener 
geltend  gemacht.  Noch  bis  in  den  Anfang  dieses  Jahrhunderts  waren 
in  Pommern  die  Klagen  über  willkürliches  Lagen  der  Bauern,  Ver- 
tauschung und  Verkauf  der  Leibeignen,  Hinderung  der  Ehe- 
schliessungen häufig  genug.  Auch  Beispiele  brutaler  Misshandlung 
und  blutiger  Strenge  finden  sich  in  den  deutschen  Ostseeländern  nicht 
selten.  Dadurch  können  die  Missstände  in  Livland  natürlich  nicht 
gerechtfertigt  werden,  aber  sie  erscheinen  der  unerhörten  Singularität 
enthoben  doch  in  anderem  Lichte  als  Merkel  sie  darstellt.  Und  wie 
viel  schwieriger  war  hier  alles  durch  die  schroffen  Racenunterschiede 
und  die  dadurch  mitbedingte  eigenthümliche  Gestaltung  der  innem 
und  äussern  Landesverhältnisse!  Gelang  in  Deutschland  und  in 
andern  Staaten  wo  die  gesammte  Bevölkerung,  Herren  wie  Leib- 
eigene, einem  Volksstamme  angehörten,  die  Aufhebung  der  Leib- 
eigenschaft nur  aUmälig  und  nach  vielen  Schwankungen,  wie  gross 
waren  erst  in  Livland,  wo  eingewurzelte  Vorurtheile  und  nationale 
Gegensätze,  hochmüthige  Geringschätzung  und  finsteres  Misstrauen 
sich  entgegenstanden,  die  zu  überwindenden  Hindernisse.  Die  grelle 
Unnatur  der  herrschenden  Zustände  zu  erkennen  und  sie  zu  ver- 
urtheilen,  war  nicht  schwer,  aber  etwas  ganz  anderes  war  es 
praktische  Vorschläge  zu  einer  wesentlichen  Umgestaltung  der  länd- 
lichen Verhältnisse  zu  machen,  ohne  doch  alles  Bestehende  gewaltsam 
zu  zertrümmern.  Und  hier  zeigt  sich  Merkels  ganze  Schwäche.  Er 
hatte  weder  politische  noch  nationalöconomische  Bildung  genug  um 
die  ganze  Tragweite  und  die  grosse  Schwierigkeit  der  von  ihm  ge- 
forderten Umwälzung  zu  übersehen  und  die  Mittel  und  Wege  dazu 
klar  ins  Auge  zu  fassen.  Alle  seine  Weisheit  stammt  aus  Rousseau 
und  seine  politischen   und  socialen   Grundsätze  und  Ansichten    sind 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  71 

die  der  Redner  in  der  französischen  Nationalversammlung  und  im 
Nationalconvent,  nur  soweit  gemildert  als  es  die  staatlichen  Verhältnisse, 
unter  denen  er  lebte,   geboten.     Er  glaubt  alles  gethan   zu   haben 
wenn   er  unermüdlich  gegen  Knechtschaft  und  Sclaverei   declamirt, 
die  abstrakte  Freiheit  predigt  und    die  Selbstsucht   und  Härte    des 
Adels  anklagt.     Wenn  er  aber  dazu  kommt  auszusprechen,  was  denn 
nun  geschehen  soll,  wie  dürftig  sind  da  seine  Vorschläge  I    Und  doch 
glaubt  er  mit  seinen  wenigen  flüchtigen  Bemerkungen  alles  Nöthige 
erschöpft  zu  haben.     Auch  darin  ist  er  ein  echter  Repräsentant  der 
Aufklärung  und  ihres  flachen  Optimismus.     Er  ist  sich  nicht  einmal 
darüber  klar  geworden,  welche  Stellung  der  freigelassene  Bauer  zu 
seinem  bisherigen  Herrn  einnehmen  soll:    er  redet  davon,   dass  der 
Bauer  sein  Land  als  freies  Eigenthum  haben  müsse  und  bald  darauf 
spricht  er  wieder  von  der  Erbpacht,  in  der  er  es  behalten  soll.     So 
schwankend  und  unsicher  dachte  und  schrieb   der  heftigste  Gegner 
der  Leibeigenschaft.     Was  Wunder  also,  dass  die  Ritterschaften,  in 
denen  die  widerstreitendsten  Literessen  mit  einander  kämpften,  bei 
der    allmäligen    Einführung    der    Bauernfreiheit    manchen   Fehlgrifif 
gethan  haben.     Ein  anderer  schwerer  Vorwurf,  der  Merkel's  ganze 
Darstellung  trifft,  ist  die  schon  berührte  Verallgemeinerung  der  ein- 
zelnen von  ihm  vorgeführten  Beispiele.     Er  hatte   nur    einen  sehr 
kleinen  Theil  Livlands  aus  eigner  Anschauung  kennen  gelernt,  gesteht 
selbst  zu,  dass  die  Behandlung  und  die  Lage  der  Bauern  auf  jedem 
Gute  verschieden  sei  und  behauptet  trotzdem,  seine  Schilderung  gelte 
nicht  nur  für  ganz  Livland,  sondern  in  ganz  gleicher  Weise  auch  für 
Estland  und  Kurland,  obgleich  er  diese  Provinzen  gar  nicht  kannte. 
Von  anderer  Seite  wissen  wir  ziemlich  genau,  welche  Unterschiede 
in  der  Behandlung  der  Leibeignen  in  den  verschiedenen  Gegenden 
Livlands  stattfanden.     Die  härtesten  Herren  z.  B.  und  die  heftigsten 
Gegner  der  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  wohnten  um  Dorpat  herum, 
die  humansten  und  freisinnigsten  in  der  Gegend  von  Wenden  und 
nach  Riga  hin.     Auch  die  Abgaben  und  Frohnen  waren  sehr  mannig- 
fach abgestuft  nach  den  einzelnen  Gütern.    Es  wäre  nun  doch  darauf 
angekommen  durch   sorgfältige  Zusammenstellung  und  Vergleichung 
die  durchschnittliche  Höhe  der  Frohnen  und  Abgaben  zu  finden  und 
darum  die  Lage  des  Bauernstandes  zu  prüfen.     Das  hätte  aber  nur 
nach  sorgfältigen  Vorarbeiten  auf  dem  Wege  methodischer  Statistik 
geschehen  können  und  von  dieser  hatte  jene  Zeit  und  mit  ihr  Merkel 
kaum  eine  Ahnung.     Dennoch  hat  er  auch  vom  Standpunkte  jener 
Tage  aus  weniger  dafür  gethan  als  er  bei  so  heftigen  Anklagen  zu 


/ 


72  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

thun  verpflichtet  war.  Er  begnügt  sich  stets  damit  irgend  eine  Härte 
und  Grausamkeit  eines  Herrn  zu  erzählen  und  dann  empört  atis- 
zurufen:  so  behandelt  man  die  Bauern  in  Livlandl  Die  Gegner 
blieben  ihm  in  derselben  Weise  die  Antwort  nicht  schuldig.  Sie 
führten  eine  grosse  Anzahl  wohlthätiger,.  menschenfreundlicher 
Herren  und  eine  Menge  Güter  auf,  deren  Bauern  wohlhabend  und 
zufrieden  seien  und  erklärten  dann  triumphirend:  das  ist  der  wirk- 
liche Zustand  der  Bauern  in  Lirland!  Das  eine  war  so  einseitig 
und  unbeweisend  als  das  andere  und  in  solcher  Weise  konnte  der 
Streit  in's  Unendliche  fortgeführt  werden.  Dabei  hatte  Merkel  aber 
das  voraus,  dass  er  die  Sympathien  aller  Unbetheiligten  zweifellos 
auf  seiner  Seite  hatte,  obgleich  die  •  Vertheidiger  der  bestehenden 
Verhältnisse  sich  unzweifelhaft  durch  weit  grössere  Sachkenntniss 
auszeichneten.  Aber  mit  vollem  Rechte  erscheint  uns  Modernen  die 
persönliche  Freiheit  als  das  natürlichste  und  einfachste  Menschenrecht 
und  als  die  Grundbedingung  aller  höheren  Gesittung  und  selbst  die 
gehässigste  und  ungerechteste  Vertretung  derselben  wird  mehr  auf 
unsere  Zustimmung  rechnen  können,  als  die  gewandtesten  und  kennt- 
nissreichsten Gegner.  Nichts  zeigt  uns  die  Unnatur  der  damaligen 
Zustände  in  grellerem  Lichte,  als  die  eine  Thatsache,  dass  die  Vor- 
kämpfer der  Bauemfreiheit  ihr  Ziel  nur  durch  völlige  Zertrümmerung 
des  Bestehenden  und  die  Vernichtung  aller  geschichtlich  begründeten 
Ordnungen  meinten  erreichen  zu  können  und  dass  andererseits  die 
meisten  Anhänger  der  alten  Verfassung  auch  die  Leibeigenschaft 
mit  aller  Kraft  als  integrirenden  Bestandtheil  des  alten  Landes- 
rechts vertheidigen  zu  müssen  glaubten.  Wir  können  uns  heute  nur 
mit  Mühe  in  diese  völlige  Verkehrung  und  Verrückung  der  einfachsten 
politischen  und  sittlichen  BegriflFe  jener  bösen  Tage  hineindenken, 
so  weit  liegen  sie  hinter  uns.  —  Merkels  „Letten"  geben  nur  ein  Zerrbild 
der  Wirklichkeit,  sie  sind  oft  mehr  eine  perfide  und  höhnische  An- 
klageschrift, als  eine  wahrheitsgetreue  Schilderung,  alles  darin  ist 
mit  gehässiger  Absicht  zusammengestellt  und  willkürlich  zugestutzt 
Dennoch  haben  sie  eine  heilsame  Wirkung  ausgeübt.  Die  Aufhebung 
der  Leibeigenschaft  war  eine  sittliche  und  politische  Nothwendigkeit 
für  das  Land.  So  lange  die  Knechtschaft  bestand  war  jede  ernste 
innere  Reform  eine  Unmöglichkeit.  Dieser  auf  dem  Lande  liegende 
Bann  musste  durchbrochen  werden  —  um  jeden  Preis.  Ob  die  Ge- 
schichten, welche  Merkel  erzählt,  wahr  waren  oder  nicht,  darauf 
kommt  es  nicht  an;  die  Thatsache  der  beinahe  völligen  Rechtlosig- 
keit der  Bauern  stand  fest   und    diese  musste  principiell  beseitigt 


Gwlieb  Merkel  ab  Bekärnj^fei^  der  Leibeigenschaft.  73 

werden.  Das  klar  gemacht  zu  haben,  darauf  ener^ch  und  rück<- 
sichtsloB  hingewiesen  zu  haben,  ist  Merkels  eigentliches,  freilich  mehr 
indirectes  Verdienst.  Man  möchte  wünschen,  dass  ein  edlerer  Geist 
mit  tieferem  Verständniss  der  Landesgeschichte  und  lauterer  Ueber- 
zeugung  die  Vertretung  der  gerechten  Sache  übernommen  hätte,  wir 
würden  uns  seines  Werkes  dann  \ingestörter  und  ohne  gemischte 
Gefühle  freuen  können.  Aber  es  ist  ja  eine  alte  Erfahrung,  dass 
die  berechtigsten  Forderungen,  so  lange  sie  mit  Ruhe  und  Mässigung 
geltend  gemacht  werden,  meistens  unbeachtet  bleiben  oder  gaf  Ab* 
Weisung  erfahren,  bis  sie  zuletzt  Vertreter  finden,  die  mit  l^enschaft* 
lichem  Ungestüm  und  schroffer  Uebertreibung  sich  Gehör  erzwingen. 
So  ging  es  in  Livland  mit  der  Frage  der  Leibeigenschaft  und  darin 
findet  Merkel  seine  Erklärung  und  theilweise  Entschuldigung,  wenn 
auch  keine  Rechtfertigung.  Denn  man  sage  nicht,  in  solchen  leiden- 
schaftlich erregten  Tagen  sei  es  unmöglich  für  den  Einzelnen,  gerecht 
und  sorgfältig  alle  Momente  abzuwägen,  die  Schärfe  des  Gegensatzes 
mache  stets  eine  gewisse  einseitige  Uebertreibung  nothwendig  und 
ohne  starke  Einseitigkeit  werde  nie  etwas  Bedeutendes  erreicht. 
Wohl!  aber  zwischen  der  leidenschaftlichen  Einseitigkeit  eines  von 
seinen  Ideen  fortgerissenen  Geistes  und  der  blinden  Beschränktheit  des 
Parteieifers,  der  kein  Mittel  verschmäht,  sein  Ziel  zu  erreichen,  ist 
doch  ein  gewaltiger  Unterschied.  Es  liegt  nahe,  Merkel  und  seinen 
Kampf  gegen  die  Leibeigenschaft  mit  einem  anderen  sehr  bekannten 
Manne,  der  in  derselben  Richtung  gewirkt,  zu  vergleichen.  Unser 
E.  M.  Arndt  hat  wenige  Jahre  nach  Merkel  in  eiüer  seiner  frühesten 
Schriften  die  Leibeigenschaft  in  Pommern  und  Rügen  energisch  an- 
gegriffen. Wir  sehen  aus  seiner  Darstellung,  wie  die  Bauern  sich 
dorj;  ziemlich  unter  demselben  Druck  befanden  wie  bei  uns  und  dass 
die  Herren  für  das  Fortbestehen  der  Leibeigenschaft  genau  dieselben 
Gründe  geltend  machten,  wie  bei  uns.  Mit  den  schärfsten  und 
klarsten  Gründen  widerlegt  Arndt  alle  Schutzreden,  mit  kräftigem 
Zorne  schildert  er  die  Gewaltthaten  der  Herren,  die  hohen  Frohnen 
und  die  Rechtlosigkeit  der  Bauern,  das  abscheulige  Bauernlegen, 
mit  leidenschaftlicher  Erreguüg  fordert  er  die  Freiheit  für  die  Land- 
leute. Aber  in  wie  ganz  anderer  Weise  geschieht  das  als  bei  Merkel ! 
Auf  dem  Boden  der  Geschichte,  mit  historischem  Blick  wird  die 
Frage  behandelt,  kein  unlauteres  Motiv,  keine  kleinliche  Standeseifer« 
sucht  mischt  sich  da  ein.  Und  wie  viel  besser  kannte  Arndt  alle 
einschlagenden  Verhältnisse,  er  der  Sohn  eines  früher  leibeigenen 
Pächters.    Die  wahre  Sachkenntniss  machte  hier  wie  immer  gerechter 


L  ^ 


74  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

und  billiger.  Ausserdem  war  Arndt  eine  durchaus  geschichtlich  und 
politisch  angelegte  Natur,  Merkel  ein  Tagesschriftsteller,  der  den 
Stimmungen  und  Richtungen  des  Augenblicks  huldigt.  Darum  hat 
Arndts  Buch  nicht  nur  zu  seiner  Zeit  gewirkt,  was  es  sollte,  sondern 
ist  noch  heute  ein  schönes  Denkmal  eines  freiheitsliebenden,  mann- 
haften Herzens,  Merkels  Letten  dagegen  machen  heute,  nachdem  sie 
auf  seine  Zeitgenossen  gewirkt,  einen  abstossenden ,  durchaus  uner- 
freulichen Eindruck.  Denn  es  war  die  Sache,  welche  damals  auf 
die  Menschen  wirkte,  nicht  ihr  Vertreter,  vielmehr  die  Sache  trotz 
ihres  Vertreters.  Auch  diejenigen,  welche  mit  einzelnen  oder  den 
meisten  Ausführungen  des  Buches  nicht  übereinstimmten,  fanden  doch 
in  ihm  eine  Stütze  für  ihre  Reformpläne  und  konnten  darauf  als  auf 
eine  ernste  Drohung  der  Zukunft  hinweisen.  Daraus  erklärt  es  sich 
auch,  dass  ein  Mann  wie  Samson  in  dem  Vorwort  zu  seinem  Versuch 
Merkel  so  glänzendes  Lob  ertheilen  konnte.  Es  war  das  Gefühl  der 
Dankbarkeit  gegen  einen  ehemaligen  sehr  wirksamen  Alliirten.  Die 
spätere  unbefangene  Betrachtung  kann  ungleich  weniger  günstig  über 
Merkels  Letten  urtheilen  und  in  ihnen  nur  den  lebendigen  Ausdruck 
einer,  vergangenen  Zeitrichtung  mit  aller  ihrer  Einseitigkeit  und  aller 
ihren  Vorurtheilen  erblicken.  Es  ist  mit  den  Letten,  wie  mit 
Merkel's  ganzer  Wirksamkeit:  nachdem  er  zeitweilig  bald  grösseren 
bald  geringeren  Einfluss  geübt,  ist  er  vorübergegangen  und  vergessen. 
Nicht  einen  neuen  Gedanken,  nicht  eine  Idee  hat  er  in  seinem  ganzen 
Leben  aufgestellt,  immer  ist  er  nur  von  den  Wogen  der  Zeitströmung 
getragen  worden.  Darum  kennt  ihn  die  Nachwelt  nicht  mehr.  Doch 
das  weiter  auszufahren,  bleibt  einer  anderen  Gelegenheit  überlassen. 
Für  Livland  waren  „die  Letten"  damals  nach  der  ganzen  Art 
ihres  Hervortretens  und  durch  die  darin  enthaltenen  Drohungen .  ein 
nicht  zu  überhörender  letzter  Warnungsruf.  GriflF  auch  jetzt  noch  die 
Ritterschaft  nicht  mit  allem  Ernste  die  Erledigung  dieser  wichtigsten 
Angelegenheit  des  Landes  an,  so  war  es  so  gut,  als  ob  sie  als 
politische  Corporation  abdicirte  und  die  Ordnung  der  Landesverhält- 
nisse fremden  Gewalten  überliess.  Dass  sie  sich  noch  im  letzten 
Augenblicke  auf  sich  selbst  besann  und  auf  den  Landtagen  von  1797 
bis  1803  die  Umbildung  der  Leibeigenschaft  zu  Stande  brachte, 
welche  in  der  Bauerverordnung  von  1804  ihren  Ausdruck  fand,  — 
das  zeigte,  dass  sie  trotz  alles  innern  Haders  und  Zwiespalts  noch 
Lebenskraft  und  politische  Einsicht  genug  hatte,  um  die  Vertretung 
der  Landesinteressen  auch  weiter  noch  wahrzunehmen.  Ob  auf  das  Zu- 
standekommen dieser  Beschlüsse  äussere  Einflüsse  eingewirkt  und  wie 


Oarlieb  Merkel  als  Bek&mpfer  der  Leibeigenschaft.  75 

weit  sie  es  gethan,  ist  ziemlich  gleichgiltig.  Bei  Reformen,  welche 
von  politischen  Corporationen  ausgehen  und  ihre  wesentlichsten  Inter* 
essen  berühren,  werden  immer  complicirte  Motive  bestimmend  sein. 
Wesentlich  ist  nur,  ob  sie  selbst  zu  handeln  sich  entschliesst,  ehe 
förmlicher  Zwang  von  Aussen  sie  nöthigt.  Und  die  livländische 
Ritterschaft  hat,  wenn  auch  nach  längeren  Kämpfen,  gehandelt,  ehe 
es  zu  spät  war.  Die  nothwendige  Reform  wurde,  wenn  auch  in 
langsamem;  so  doch  sicherem  Fortschreiten  durchgeführt.  Damit 
waren  freilich  Leute,  welche  alles  plötzlich  und  mit  einem  Schlage 
umgewandelt  sehen  wollten,  nicht  zufrieden.  So  vor  Allem  Merkel. 
So  wenig  politische  Einsicht  er  besass,  so  gross  war  sein  Talent  als 
Agitator.  Es  ist  wirklich  bewundernswürdig,  wie  er  in  immer  neuen 
Wendungen,  in  immer  neuen  Schriften  bei  jeder  sich  ihm  darbieten- 
den Gelegenheit  auf  das  in  dem  Letten  behandelte  Thema  zurück- 
kommt und  es  stets  von  Neuem  dem  Leser  vorführt.  Der  Ton  wird 
dabei  noch  schärfer,  die  Leidenschaft  und  Uebertreibung  noch  mass- 
loser. In  demselben  Jahre  noch  wie  die  Letten  erschien  von  ihm  Humes 
und  Rousseaus  Abhandlungen  über  den  Urvertrag  nebst  einem  Versuch 
über  Leibeigenschaft,  den  Liefländischen  Erbherren  gewidmet.  Der 
Versuch  lüber  die  Leibeigenschaft  ist  eine  philosophisch-historische 
Abhandlung  voll  der  sonderbarsten  Theorien  und  Einfälle,  ohne 
Sachkenntniss,  flach  und  breit.  Merkel  will  darin  beweisen,  dass 
die  Sclaverei  viel  erträglicher  sei  als  die  Jjeibeigenschaft  und  stützt 
sich  dabei  auf  die  Geschichte  der  Griechen  und  Römer  (!),  versucht 
den  Lehnsadel  aus  dem  Orient  abzuleiten,  und  bringt  dann  mit 
anderen  Worten  dieselben  Gründe  gegen  die  Leibeigenschaft  vor,  die  er 
schon  in  dem  Letten  entwickelt.  Das  Ganze  endigt  auch  hier  mit 
einer  Anrufung  der  Regierung  einzuschreiten  und  einer  Drohung 
von  Empörung  und  Mord  an  die  Herren. 

Im  folgenden  Jahre,  1798,  liess  er  das  Supplement  zu  den  Letten, 
drucken,  worin  er  sich  gegen  eine  Anfrage  des  Herrn  von  Brasch 
seine  Letten  betreffend  und  gegen  den  Landtagsschluss  von  1797 
wendet.  Der  letztere,  die  ersten  wesentlichen  Erleichterungen  der 
Leibeigenschaft  enthaltend,  war  ganz  unter  dem  Einflüsse  Friedrich 
von  Sivers  zu  Stande  gekommen  und  dadurch  allein  schon  hinreichend 
als  Portschritt  charakterisirt.  Merkel  aber  versucht  mit  wahrhaft 
sophistischer  Verdrehung  an  jedem  einzelnen  Paragraphen  zu 
zeigen,  dass  darin  nicht  eine  Verbesserung,  sondern  eine  Ver- 
schlechterung der  Lage  der  Bauern  enthalten  sei.  Noch  wider- 
wärtiger ist  die  rachgierige  Erbitterung,  mit  der  er  sich  gegen  Brasch 


L  _ 


78  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenseliafl. 

wendet  und  aelbat  ror  eigentlichen  Verleumdungen  nicht  zurück- 
sdireekt.  So  wirft  er  ihm  vor^  die  Bauern  auf  seinem  eigenen  Gute 
seien  von  ihm  ausgeplünderte  Bettler  und  ein  Gegenstand  des  Mit- 
leidens fär  die  Nachbarn,  wahrend  es  doch  bekannt  war  und  sich 
leicht  feststellen  liess,  dass  Brasch  gegen  seine  Bauern  stets  wie  ein 
Vater  handelte»  So  erzählt  er,  nach  dem  Berichte  eines  von  allen 
seinen  Standesgenossen  verachteten,  Merkel  selbst  als  scheusslicher 
Misshandler  seiner  Bauern  bekannten  Edelmanns  von  Sivers,  den  er 
d<!>ch  hochzuachten  ui»d  wahrhaft  zu  schätzen  erklärt,  eine  Geschichte, 
nach  der  dieser  als  ein  wahrer  Tyrann  gegen  seine  Leibeigenen 
erscheint,  und  sucht  sich  gegen  alle  Beweise,  dass  sie  ungegründet 
sei,  durch  Schmähungen  zu  vertheidigen. 

Auch  die  „Rückkehr  ins  Vaterland^,  ein  Halbroman,  1798,  hat 
die  Tendenz,  die  Abscheulichkeit  der  Leibeigenschaft  und  die  heuch- 
lerische Menschenliebe  der  livländischen  Herren  zu  brandmarken. 
Das  Büchlein  enthält  ausserdem  viel  kulturgeschichtlichen  Stoff  über 
das  damalige  Biga  und  seine  gesellschaftlichen  Verhältnisse,  der 
nicht  ohne  Interesse  ist  und  nur  zum  kleinsten  Theile  in  den 
Charakteristiken  und  Kritiken  Verwendung  gefunden  hat. 

Ein  Werk  grösseren  Umfanges  und  höherer  Bedeutung  war: 
Die  Vorzeit  Lieflands,  ein  Denkmahl  des  Pfaffen-  und  Rittergeistes, 
1798 ;  nächst  den  Letten  das  Bedeutendste,  was  Merkel  geschrieben. 
Seiner  ganzen  Tendenz  pach  gehört  es  hierher.  Nicht  eine  Ge- 
schichte Livlands  soll  und  will  das  Buch  sein,  sondern  eine  historische 
Darlegung,  wie  aus  dem  freien  und  von  der  Natur  mit  allen  Gaben 
des  Leibes  und  Geistes  ausgestatteten  Letten  durch  das  Eindringen 
der  deutschen  „Räuber^  im  Laufe  der  Jahrhunderte  das  gedrückte 
und  stumpfsinnige  Volk  geworden,  das  sie  jetzt  seien.  Also  eine 
Ausführung  des  ersten  Abschnitts  „der  Letten"  will  Merkel  geben. 
Ohne  ii^end  welches  Quellenstudium,  ohne  die  geringste  Ahnung 
historischer  Kritik,  ohne  wirkliche  Sprachkenntniss  hat  sich  Merkel 
in  diesem  Werke  mit  beispielloser  Leichtfertigkeit  an  die  Lösung 
einer  Aufgabe  gemacht,  die  auch  der  gründlichsten  und  besonnensten 
Forschung  die  grössten,  oft  unüberwindliche  Schwierigkeiten  bietet. 
Ohne  alle  ernste  und  gründliche  Vorbereitung  ging  er  an  die 
Arbeit,  deren  Resultat  ihm  schon  vorher  feststand.  Die  Geschichte 
der  Knechtung  der  ursprünglich  freien  und  edlen  Letten  und  Esten 
und  ihrer  Herabwürdigung  bis  zur  Thierheit  —  das  ist  die  Ge- 
schichte des  livländischen  Ordensstaates.  Mit  Erstaunen  und  mit 
Unwillen  hat   er  wahrgenommen,   dass  alle  bisherigen  Geschichten 


Oarlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  77 

nur  die  Tllate^  der  grausamen  Unterdrtioker  behandeln,  selbst  „der 
sonst  so  brauchbare  Jannau.^  Da  treibt  ihn  der  Unwille,  die  eigent- 
liche Geschichte  „der  wahren  Liefländer"  zu  schreiben  und  darin  zu 
zeigen,  wie  kein  Recht  und  kein  Vertrag  den  livländischen  Herren 
ihre  Stellung  gegeben,  „nicht  dnmal  die  Gunst  eines  Fürsten,  son- 
dern allein  die  nackte  Gewalt."  Er  will  den  livländischen  Ord^nß- 
staat  „als  ein  gleichgiltiges  aber  merkwürdiges  Phänomen  behandeln, 
das  nicht  wiederkehrt".  Und  so  macht  sich  der  halbgebildete  junge 
Aufklärer  frischweg  daran,  diese  so  schwer  verständliche  und  eigen- 
thümliche  Staatsbildung  in  ihrem  Entstehen,  Wachsen  und  Untergß-i^ 
dem  Leser  vorzuführen.  Ihn  beschwert  weder  Quellenstudium  noch 
Kenntniss  der  politischen  Institutionen  seiner  Heimath,  weder  natio- 
nales Bewusstsein  noch  geschichtliches  Yerständniss,  dafür  durchdringt 
ihn  eine  sehr  fortgeschrittene  liberale  Gesinnung  und  überall  bricht 
der  entschiedene  Hass  gegen  alle  Grundlagen  des  deuteohen  Lebens 
in  Livland  hervor.  Den  grössten  Theil  dßs  ersten  Bandes  nimmt 
eine  Beschreibung  der  lettischen  und  estnischen  Vorzeit,  ihrer  Religion 
und  Gebräuche  ein.  Enthielt  schon  die  Schilderung  im  erstem  Ab- 
schnitte der  Letten  des  Abenteuerlichen  und  Sonderbaren  genug,  so 
erscheint  sie  doch  wie  eine  nüchterne  kptische  Abhandlung  gegen 
das  wüste  Chaos  von  Phantasien,  leeren  Combinationen  und  albernen 
Fabeln,  das  sich  hier  vor  uns  aufthut.  Alle  jene  ungeheuerlichen 
und  weit  ausgesponnenen  Erfindungen  der  preussischen  Schriftsteller 
des  16.  Jahrhunderts,  aus  denen  sie  ein  ganzes  System  des  Götter- 
glaubens der  alten  Preussen  und  Littauer  bildeten,  werden  von 
Merkel  mit  Hinzufügung  der  seltsamsten  Missverständnisse  wieder 
aufgetischt,  einfach  auf  die  Letten  übertragen  und  mit  einigen  luftigen 
Hypothesen  ausgeschmückt.  Und  diese  ganz  unkritische,  und  ver- 
worrene, durch  und  durch  unzuverlässige  und  unbrauchbare  Zu- 
sammenstellung ist  Jahrzehnte  hindurch,  ja  vielfach  noch  bis  auf  den 
heutigen  Tag  die  Quelle  gewesen,  aus  der  die  Kenntniss  der  lettischen 
Mythologie  geschöpft  und  in  weitern  Kreisen  verbreitet  worden  ist. 
Aus  den  dreisten  Erfindungen  des  Erasmus  Stella  und  den  um  nichts 
mehr  glaubwürdigen  Angaben  Stryjkowki's  oder  vielmehr  seines 
Uebersetzers  Kojalowicz  hat  z.  B.  Merkel  die  bekannte  Erzählung 
von  Widewut,  dem  ^Moses  der  Letten",  seinen  Thaten  und  Schicksalen 
geschöpft  und  sie  in  einer  Weise  ausgeschmückt,  dass  ein  Unkundiger 
meinen  sollte,  alles  sei  den  zuverlässigsten  Quellen  entnommen.  Und 
doch,  ist  in  der  ganzen  Geschichte  von  Widewut,  „dem  alanischen 
Greise",  nicht  ein  wahres  Wort!     Was  soll  man  aber  dazu  sagen, 


78  öarlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigen3chaft. 

wenn  solche  Märchen  auch  heute  noch  den  Letten  selbst  als  wahre 
Begebenheiten  erzählt  werden,  heute,  wo  es  doch  nicht  so  schwer 
ist,  sich  in  diesen  Dingen  Raths  zu  erholen.  Um  so  mehr  freuen 
wir  uns  zu  hören,  dass  zwei  ausgezeichnete  Kenner  dieser  Ur- 
geschichten nächstens  die  völlige  Unzuverlässigkeit  der  bisherigen 
darüber  handelnden  Darstellungen  eingehend  nachweisen  und  damit 
hojBfentüch  dem  ganzen  Schwindel,  der  bisher  mit  der  lettischen 
Mythologie  getrieben  worden,  für  immer  ein  Ende  machen  werden. 
Wie  wenig  befähigt  Merkel  zur  Erfassung  der  Religionsgeschichte 
vergangenem  Zeiten  war,  davon  gibt,  ganz  abgesehen  von  dem  Stand- 
punkte flachster  Aufklärung,  den  er  mit  den  meisten  seiner  Zeitge- 
nossen theilt,  namentlich  die  Betrachtung  über  Monotheismus  und 
Polytheismus  redendes  Zeugniss.  Indem  er  den  Satz  an  die  Spitze 
stellt :  ^Die  Menschen  erschaffen  ihren  Gott  und  dieser  erschafft  ihnen 
dann  einen  Charakter'',  kommt  er  zu  dem  Resultat,  dass  der  Mono- 
theist „nach  langem  Grübeln  und  Tappen  nur  eine  gleichgültige 
Wahrscheinlichkeit  verbreitet,  die  nie  sein  Herz  auch  nur  für  einen 
Augenblick  mehr  erwärmen  kann",  während*  dem  Polytheisten  sein 
Glaube  Muth,  Selbstvertrauen, .  Energie  und  Festigkeit  gibt.  „Ja," 
sagt  Merkel,  „der  Polytheist  kann  rauher,  grausamer,  gefühlloser 
seyn  als  der  Eingöttler,  aber  er  wird  auch  treuer,  edler,  stärker, 
muthiger,  tugendhafter  seyn  als  dieser!"  Bei  solchen  Anschauungen 
über  Wesen  und  Inhalt  der  Religion  muss  denn  freilich  die  Christiani- 
sirung  Livlands  als  ein  Verbrechen  und  ein  trauriger  Rückschritt  gegen 
den  Polytheismus  der  Letten  erscheinen.  Auch  die  Reformation 
findet  wenig  Gnade  vor  Merkels  Augen,  es  war  nicht  ein  Kampf 
des  Lichtes,  sondern  nur  die  Dämmerung  gegen  mitternächtliche 
Finsterniss.  „Jetzt,  im  18.  Jahrhundert,  würde  Luthers  .Streit  eine 
Erörterung  scheinen,  ob  das  Gras  roth  oder  weiss  sey,  aber  im 
18.  Jahrhundert  wäre  Luther  auch  nicht  Luther,  er  wäre  Teutsch- 
lands Rousseau  gewesen."  Man  kann  sich  darum  vorstellen,  was 
für  ein  abscheuliches  Zerrbild  von  dem  grossen  Gründer  des  liv- 
ländischen  Staates,  dem  Bischof  Albert  entworfen  wird.  Dieser 
gefühllose  Tyrann  und  ehrgeizige  Räuber  soll  nicht  einmal  an  die 
Phantome  geglaubt  haben,  für  die  er  doch  eiferte.  Hier  wie  fast 
Überali  im  Buche  fühlt  man  sich  empört  von  der  Gewissenlosigkeit 
und  Keckheit,  mit  denen  den  Menschen  vergangener  Tage  Zwecke 
und  Motive  angedichtet  werden,  auf  Grund  deren  sie  dann  verur- 
theilt  werden.  Dagegen  wird  man  im  ganzen  Buche  auch  nicht  den 
leisesten  Versuch  finden,   die  innere .  Verfassung  des  Ordensstaates 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  79 

darzustellen.  Die  „einförmige''  Ordensgeschichte  wird  möglichst 
dürftig  abgefertigt,  und  die  beständigen  Schmähungen  wechseln  ab 
mit  Erzählungen  aus  der  Geschichte  des  Ordens  in  Preussen,  der 
Littauer  und  Russen.  Verfasser  und  Leser  sind  froh,  als  es  endlich 
mit  dem  Orden  zu  Ende  geht  nnd  Iwan  der  Schreckliche  der  liv- 
ländischen  Selbstständigkeit  den  Untergang  bereitet.  Würdig  des 
ganzen  Buches  ist  der  Schluss:  „Unstreitig  erwarb  sich  Iwan  ein 
grosses  Verdienst  um  die  Menschheit  durch  die  Zerstörung  eines 
Staate&j  der  hoffentlich  immer  der  einzige  seiner  Art  bleiben  wird: 
denn  gewisser  gar  zu  wahnsinniger  Verirrungen  sind  die  Menschen, 
wie  die  Blattern  nur  Einmal  fähig.  Diejenige,  deren  Geschichte 
wir  durchgegangen  sind,  liess  ein  scheussliches  Denkmal  zurück: 
die  liefländische  Grossherrlichkeit.'' 

Entsprechend  dem  Inhalt  ist  auch  Form  und  Stil  der  Darstel- 
lung. Ein  hohles  Pathos  und  ermüdende  declamatorische  Sprache 
machen  die  Leetüre  unerträglich.  Wir  würden  nicht  so  lange  bei 
diesem  traur^en  Machwerke  verweilt  haben,  wenn  es  nicht  leider 
grossen  Einfluss  auf  die  Beurtheilung  und  Auffassung  unserer  älteren 
Geschichte  geübt  hätte  und  mittelbar  noch  jetzt  übte.  Die  weit  ver- 
breitete Ansicht:  es  fehle  der  Geschichte  Livlands  der  interessante 
und  anziehende  Inhalt,  sie  sei  einförmig  und  öde,  geht  ganz  auf 
Merkel  zurück.  In  Wahrheit  kann  es  unsere  ältere  Geschichte  mit 
jeder  Provinzialgeschichte  an  Interesse  aufnehmen,  ja  den  meisten 
ist  sie  darin  überlegen.  Man  hat  es  diesem  Buche  wohl  als  Ver- 
dienst angerechnet,  dass  darin  die  Vorzeit  Livlands  zuerst  in  popu- 
lärer allgemein  verständlicher  Form  lesbar  dargestellt  worden,  wäh- 
rend die  früheren  Geschichtswerke  nur  für  gelehrte  Forscher  in 
schwerfälliger  Darstellung  geschrieben  worden.  Aber  das  angebliche 
Verdienst  fällt  in  sich  zusammen,  wenn  man  sich  erinnisrt,  dass 
schon  einige  Jahre  früher  Friebe  sein  Handbuch  der  Geschichte  Lief-, 
Est-  und  Kurlands  herausgegeben  hatte.  Er  nimmt  darin  einen 
nicht  weniger  aufgeklärten  Standpunkt  ein  als  Merkel  und  schreibt 
sehr  gewandt  und  anziehend,  nur  ist  er  tausendmal  gründlicher 
als  dieser. 

Auch  mit  diesem  seinem  Buche  glaubte  Merkel  noch  nicht  genug 
gethan  zu  haben.  Als  er  schon  seinen  Streifzug  gegen  die  Romantik 
und  die  systematische  Verunglimpfung  Göthe's  begonnen,  mitten  aus 
seinen  Streitigkeiten  mit  den  Schlegel  heraus  machte  er  noch  einen 
Angriff  auf  die  Leibeigenschaft  in  poetischer  Form.  Das  ist  sein 
Wannem  Ymanta,  eine  lettische  Sage,  1802."     Wie  wir  aus  einem 


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80  Oarlieb  Merkel  ab  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

kürzlich  bekannt  gewordenen  Briefe  erfahren,  war  ihm  der  Oedanke 
zu  diesem  Büchlein  noch  vor  der  Abfassung  ^der  Letten^  aufgetaucht. 
In  poetischer  Prosa  wird  darin  das  Eindringen  der  christlichen  Ritter 
und  Priester  mit  den  bekannten  Farben  geschildert  und  das  Ganze 
gipfelt  in  dem  Gegensatze  zwischen  dem  seinem  Volke  und  Glauben 
treuen  Lettenführer  Ymanta  und  dem  aus  Eitelkeit  und  Ehrgeiz  zum 
Christenthum  übergetretenen  Kaupo.  Li  einem  Kampfe  zwischen  beiden 
der  über  die  Zukunft  des  Landes  entscheiden  soll,  fällt  Kaupo,  aber 
Ymanta  stirbt  ebenfalls  an  der  Wunde,  die  ihm  Kaupos  vergiftetes 
Schwert  geschlagen.  Sagte  es  uns  auch  Merkel  in  Vor-  und  Nachwort 
ijicht  ausdrücklich,  aus  der  Anlage  des  ganzen  Gedichts  würden  wir 
sofoüt  erkennen,  dass  es  ein  Tendenzpi*odukt  gegen  die  Leibeigenschaft 
ist..  Daher  nimmt  einen  grossen  Raum  darin  die  Vision  Ymantas  über 
die  zukünftigen  Schicksale  seines  Volkes  ein,  worin  nun  alles  Gräss- 
liche  und  Schreckliche  gehäuft  ist  bis  Alexander  sich  ihm  als  Befreier 
zeigt.  Ein«  dichterisch  nicht  eben  sehr  geistreiche  Wendung.  Doch 
das  Ziel  ist  Abscheu  gegen  die  deutschen.  Ritter  und  ihre  Nach- 
kommen zu  erregen  und  diesen  Zweck  erreicht  das  Produkt,  bei  dem 
4iatürlich  von  einem  eigentlich  poetischen  Werth  keine  Rede  sein  kann. 

Mit  dem  Wannem  Ymanta  ist  Merkels  Thätigkeit  gegen  die 
Leibeigenschaft  zu  Ende;  alles  was  er  später  noch  in  dieser  Richtung 
veröffentlicht,  sind  nur  Nachklänge.  Und  mit  dem  Jahre  1804  trat 
ja  auch  jene  wohlthätige  durchgreifende  Umgestaltung  der  Bauern- 
verhältnisse ein,  auf  die  alle  Patrioten  solange  gehofft.  .Damit  war 
den  heftigsten  Anklagen  der  Grund  entzogen  und  Merkel  lebte 
damals  auch  schon  läiigere  Zeit  fern  von  Livlond  in  erbittertem 
literarischem  und  bald  auch  politischem  Kampfe,  der  ihm  keine  Zeit 
Uess  weiter   auf  die  Leibeigenschaft   in   Livland   zurückzukommen. 

Es  wird  aber  wohl  manchem  Leser  dieses  Aufsatzes  wie  vielen 
damalgen  Zeitgenossen  in  Deutschland  sich  die  Frage  aufgedrängt 
haben :  warum  antworteten  die  Livländer.  nicht  auf  Merkels  Angriffiß, 
wenn  sich  doch  das  Unb^ründete  und  Verkehi'te  der  meisten  leicht 
zeigen  Uess?  Die  Antwort  ist  einfach:  weil  sie  nicht  durften.  Der 
Herr  von  Brasch,  der  im  Intelligenzblatt  der  AUg.  Literaturzeitung 
von  1798  eine  polemische  Anfrage  an  Merkel  gerichtet,  auf  welche 
dieser  mit  seinem  Supplement  geantwortet,  hatte  den  Plan  gefasst, 
eine  eingehende  Widerlegung  Merkels  zu  schreiben  und  wurde  von 
allen  Seiten,  auch  von  Sivers,  mit  Materialien  unterstützt,  da  zwang 
ihn  die  Nothwendigkeit  von  seinem  Vorhaben  abzustehen  und  zu 
schweigen.     Keine  Stimme   aus   dem  Adel   durfte    sich   vernehmen 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  81 

lassen,  der  Gegner  mochte  sagfen,  was  er  wollte.     Das  Nähere  darüber 
findet    man    in    Tiebes    Ehrenrettung   Lief-   und   Ehstlands.      Die 
Sensation  die  Merkels  Schriften  erregten,   wurde  durch  den   Schein 
der  Unwiderleglichkeit  noch  verstärkt  und  das  unfreiwillige  Schweigen 
.    der  Livländer  gab  ihm   die  Möglichkeit  sich  immer  von  Neuem  als 
;    den  unüberwindlichen  Vertheidiger  der  Letten  triumphirend  hinzu- 
stellen.    So  erfolgreich  und  bedeutend  erschien  seine  Thätigkeit,  dass 
sein  Ruhm  eifrige  Nachahmer  erweckte.     Ein  ehemaliger  Hauslehrer 
I    in  Estland,  Herr  Petri,  unternahm  es  ganz  im  Stile  Merkels  Vor- 
kämpfer der  Esten  zu  werden  und  folgt  seinem  Vorbilde  so  getreu, 
dass  er  ganze  Seiten    aus  Merkel   abschreibt  und  nur    die  Esten  an 
Stelle  der  Letten  setzt.     Auch  vor  persönlichen  Verläumdungen  gegen 
bekannte  Personen  schreckte  er  nicht  zurück,  wodurch  er  sich  schwere 
Verfolgungen  zuzog.    Doch  enthält  sein  dreibändiges  Werk  „Ehstland 
und  die  Ehsten"  auch  vieles  Beachtenswerthe  und  jetzt  nochLateressante. 
Als  es  den  Livländern  wieder  möglich  war  zu  schreiben  und  zu 
sprechen,  haben  sie  es  an  Entgegnungen  nicht  fehlen  lassen.    Nament- 
lich   Tiebes    Ehrenrettung   und    der   Nachtrag   dazu    sind   sehr   gut 
geschrieben  und  an   Kenntniss   der  Verhältnisse  Merkel  weit  über- 
legen, wenn  auch  nach  der  andern  Seite  hin  etwas  einseitig,    lieber 
die  wirkliche  Lage  der  Bauern  vor  1804  erfährt  man  daraus  jeden- 
falls   Genaueres    und  Richtigeres    als    aus    allen    Schriften    Merkels 
zusammengenommen.     Niemand  hat  diesem  soviel  Blossen  und  Un- 
richtigkeiten nachgewiesen  als  Tiebe.     Ihm  hat  Merkel  auch  nicht 
geantwortet. 

Das  Jahr  1819  brachte  endlich  die  völlige  Aufhebung  der  Leib- 
eigenschaft, freilich  mit  bedauernswerther  Entfernung  von  den 
richtigen  Grundsätzen  von  1804.  Jedoch  daran  dachte  damals 
Niemand,  am  wenigsten  Merkel,  der  die  Erreichung  dieses  Zieles 
nicht  zum  wenigsten  seiner  einflussreichen  literarischen  Thätigkeit 
zuschrieb.  So  fühlte  er  sich  denn  auch  gedrungen  die  Freilassung 
der  Bauern  auf  seine  Art  zu  feiern  und  noch  einmal,  zum  letzten  Mal, 
auf  den  so  oft  von  ihm  behandelten  Gegenstand  zurückzukommen. 
„Die  freien  Letten  und  Ehsten,  Riga  1820*^  unterscheiden  sich  nun 
freilich  sehr  von  seinen  frühern  Schriften.  Er  schrieb  sie  in  Riga 
mit  Benutzung  mancher  handschriftlichen  Aktenstücke  aus  städtischen 
und  andern  Archiven  und  sah  sich  schon  dadurch  zu  grösserer 
Mässigung  bewogen.  Das  Ganze  ist  eine  Geschichte  der  Leibeigen- 
schaft in  den  Ostseeprovinzen  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur  Auf- 
hebung derselben,  bis  zum  Jahre  1797  Erzählung  und  beurtheilendes 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Heft  1.  6 


L.^,^ 


82  Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft. 

Raisonnement ,  von  da  an  fast  nur  'Zusammenstellung  von  Acten- 
stücken.  Der  Ton.  der  Schrift,  ihre  Darstellung  ist  ruhiger  und 
gehaltener,  dafür  auch  trockener  und  einförmiger,  dagegen  die  Auf- 
fassung und  der  Standpunkt  in  nichts  gegen  früher  verändert.  Die 
Begründung  der  deutsehen  Herrschaft  in  Livland  wird  mit  demselben 
Mangel  an  allem  geschichtlichen  Verständniss  erzählt  wie  in  den 
frühern  Schriften,  die  Ausbildung  der  Leibeigenschaft  auch  hier  nur 
in  der  Grausamkeit  und  Habsucht  der  fremden  Räuber  gesucht.  Die 
Stellung  zum  Adel  ist  hier  keine  freundlichere,  das  Widerstreben  der 
Ritterschaften  gegen  die  Massregeln  der  polnischen  und  schwedischen 
Könige  mit  der  alten  feindseligen  Abneigung  geschildert,  ihre  Ver- 
dienste um  die  endliche  Aufhebung  der  Leibeigenschaft  möglichst 
beschränkt  und  gegen  die  Thätigkeit  der  Regierung  in  dieser  Sache 
zurückgesetzt.  Das  ganze  Buch  ist  eben  doch  nur  eine  einseitige 
Parteischrift,  die  wohl  in  mittelbarem  Auftrage  des  Marquis  Paulucci 
verfasst  ist.  Und  doch  erschien  das  Buch  dem  liberalen  Bürgerthum 
jener  Tage  wegen  seiner  ruhigem  Sprache,  die  doch  nur  eine  leicht 
zu  durchschauende  Hülle  ist,  wie  ein  Abfall  Merkels  von  seinem 
frühern  Standpunkt  und  fand  wenig  Beifall.  So  feindlich  standen 
sich  damals  noch  immer  die  Stände  des  Landes  gegenüber.  Aber 
auch  von  Seiten  des  Adels  unternahm  es  Jemand  noch  einmal  Ab- 
rechnung zu  halten  mit  dem  zudringlichen  und  übereifrigen  Publicisten. 
Der  Landrichter  H.  A.  v.  Bock  griff  in  seinem  „Denkzettel  zu  der 
Erinnerungsschrift  des  Dr.  G.  Merkel",  1821,  die  Schwächen  des 
Buches  und  Merkels  überhaupt,  seine  immer  stärker  hervortretende 
masslose  Eitelkeit  mit  vielem  Witze  und  grosser  Schärfe  an  und 
yertheidigte  den  Adel  nicht  ohne  gute  Gründe  gegen  die  beständig 
wider  ihn  erhobenen  Anklagen.  Auf  die  Frage,  wie  sich  die  Bauer- 
verordnung von  18 j  9  zu  der  von  1804  verhält,  ob  denn  wirklich 
jene  in  allen  Stücken  einen  Portschritt  über  diese  bezeichnet,  ist  weder 
Merkel  noch  sein  Gegner  auch  nur  mit  einem  Worte  eingegangen. 

Wir  stehen  am  Schlüsse  unserer  Betrachtung.  Fünfzig  Jahre 
liegen  zwischen  uns  und  der  letzten  Schrift  Merkels.  Die  Lebens- 
interessen unseres  Landes  haben  tiefe  Umwandlungen  erfahren 
und  ein  Resultat  steht  fest:  ein  Schriftsteller  wie  Merkel  wäre  heute 
nicht  möglich.  Auch  die  ähnliche  Gesinnungen  und  Anschauungen 
hegen,  scheuen  sich  so  zu  reden  wie  er.  So  wie  er  reden  heute  nur 
unsere  Gegner.  Und  wir  schöpfen  Trost  und  ernste  Mahnung  zu- 
gleich aus  der  Vergegenwärtigung  jener  Zeit  und  ihres .  Repräsen- 
tanten.    So  weit  konnten  wir  abfallen,  so  untreu  werden  unserem 


Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigenschaft.  88 

Berufe  und  unserer  Pflicht,  so  völlig  verschwinden  konnte  jede  Er- 
innerung an  das,  was  einst  gewesen  —  und  wir  sind  nicht  unter- 
gegangen. Aber  es  bürgt  uns  nichts  dafür,  dass  wenn  es  wieder 
einmal  so  weit  käme,  wenn  wieder  tiefer  Schlaf  und  sorglose 
Fahrlässigkeit  sich  über  uns  ausbreitete,  dass  dann  noch,  einmal  ein 
gnädiges  Geschick  uns  erweckt.  Wir  fangen  heute  an  von  unserer 
Geschichte  zu  lernen,  wir  beginnen  die  grossartige  Arbeit  der  Ver- 
gangenheit zu  begreifen,  auch  manches  auf  den  ersten  Anblick 
Fremdartige  und  Wunderliche  wird  uns  verständlich.  Eins  aber  kann 
jeder  aus  den  seltsam  verschlungenen  Schicksalen  unseres  Landes 
lernen:  niemals  hat  seinen  Bewohnern  ein  bequemer  ruhiger  Friede 
gefrommt,  in  harter  Noth  und  schwerem  Kampf  ist  alles  gegründet, 
worauf  unser  Leben  steht.  In  dem  schweren  Ringen  um  die  Existenz 
erstarkt  die  politische  Kraft  und  Einsicht,  mi^  der  Grösse  des  Ein- 
satzes wächst  auch  die  Stärke. 

H.  Diederichs. 


6^ 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte. 


3.    Die  Bauerrerordnung  ron  I8A4  und  die  Terfassungsfrage. 

(Vgl.  Balt.  Monatsschr.  Bd.  XVm,  Heft  4  u.  6.) 

Die  acht  Jahre,  welche  zwischen  der  am  28.  November  1796  er- 
folgten Wiederherstellung  der  alten  Verfassung  Livlands  und  der 
Promulgation  der  Bauerverordnung  von  1804  liegen,  bilden  einen  der 
anziehendsten  und  interessantesten  Abschnitte  unserer  neuen  Landes- 
geschichte. Sie  sind  ebenso  denkwürdig  durch  den  Sieg,  welchen 
die  Sache  der  Humanität  über  mittelalterliche  Vorurtheile  und  bar- 
barische Gewohnheiten  erfochten,  wie  durch  die  Kämpfe,  in  welchen 
Anhänger  des  aufgeklärten  Despotismus  und  Vertreter  des  historischen 
Rechts  noch  ein  Mal  ihre  Kräfte  massen.  Ungleich  der  Partei- 
gruppirung  in  andern  Ländern  waren  es  bei  uns  die  Letzteren,  welche 
sich  als  Vorkämpfer  der  liberalen  Zeitideen  gerirten,  während  die 
Männer  der  Statthalterschaftsverfassung  darauf  ausgingen,  mit  Hülfe 
dieser  Ordnung  die  Thätigkeit  der  liberalen  Führer  lahm  zu  legen. 
Die  Gegensätze,  welche  das  livländische  öffentliche  Leben  ein 
Menschenalter  lang  bewegt  hatten,  traten  sich  in  dem  kurzen  Zeit- 
raum dieser  acht  Jahre  schroffer  entgegen  als  jemals  früher  und  die 
geheimen  Gedanken  derer,  welche  sich  den  Forderungen  der  Ver- 
nunft und  des  Gewissens  widersetzt  hatten,  enthüllten  sich,  kurz 
bevor  sie  zu  Grabe  getragen  wurden,  mit  einer  Offenheit,  welche 
alle  Zweifel  an  ihrer  wahren  Bedeutung  ausschloss. 

Bevor  wir  auf  die  Landtagsverhandlungen  näher  eingehen,  welche 
den  Schauplatz  dieses  Kampfes  bildeten,  wird  es  nothw endig  sein, 
auf  die  allgemeine  Signatur  der  Zeit  und  auf  die  Männer,  welche 
während,  derselben  an  der  Spitze  unserer  öffentlichen  Angelegenheiten 
standen  einen  flüchtigen  Blick  zu  werfen. 

Der  Zeitraum,  von  welchem  hier  die  Rede  ist,  zerfällt  in  zwei 
scharf  geschiedene  Hälften,  deren  Grenze  durch  den  21.  März  1801, 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  8ö 

den  Todestag  des  Kaisers  Pfiiul,  bezeichnet  wird.  Während  der  fünf- 
jährigen Regierung  dieses  Monarchen  fand,  wie  in  den  meisten  Pro- 
vinzen Russlands,  auch  bei  uns  wiederholter  Personenwechsel  in  der 
Oberverwaltung  statt.  Bis  zum  Jahr  1798  blieb  Fürst  Repnin,  der 
Nachfolger  Browne's,  General -Gouverneur  der  drei  Provinzen;  ihm 
folgte  im  Amte  (1798—1800)  der  Generallieutenant  v.  Benkendprff 
mit  dem  Titel  eines  Militär- Gouverneurs,  während  die  Civil- 
Verwaltung  von  dem -wirklichen  Geheimerath  Ludwig  v.  Nagel 
geleitet  wurde.  Baron  Campenhausen  hatte  dieses  Amt  eine  kurze 
Zeit  geführt.  Der  Nachfolger  dieses  Beamten,  Graf  Mengden,  war 
nach  kaum  viermonatlicher  Amtsführung  gestorben.  Aber  schon  im 
Jahre  1800  trat  ein  neuer  Wechsel  ein :  Benkendorff  verlor  sein  Amt, 
Nagel  starb,  der  neue  Gouverneur  Rehbinder  konnte  sich  nicht  be- 
haupten und  des  Kaisers  Günstling  Baron  (später  Graf)  Peter  v.  d. 
Fahlen,  Militär-Gouverneur  von  Petersburg  und  Alt-Finnland,  wurde 
mit  der  Oberverwaltung  der  Ostseeprovinzen  betraut  nachdem  er 
vorher  einige  Jahre  lang  General  -  Gouverneur  von  Kurland  ge- 
wesen war.  Wie  wir  aus  der  Bulmerincqschen  Chronik  wissen, 
hat  dieser  einflussreiche  Staatsmann  niemals  in  Riga  residirt, 
sondern  die  wichtigeren  Geschäfte  seines  Amtsbezirks  von  Peters- 
burg aus  besorgt,  die  laufenden  Sachen  durch  den  Gouverneur 
V.  Richter  und  die  localen  Beamten  erledigen  lassen.  Das  Land- 
marschalls-Amt  wurde  während  dieses  Zeitraums  von  Friedrich 
V.  Sivers  (der  aber  schon  1797  nach  einem  heftigen  Conflict  mit 
Repnin  abdicirte)  dem  Baron  Ungern-Sternberg  (1798 — 1800), 
Gustav  Johann  v.  Buddenbrock  (bis  1803),  dann  von  einem 
Herrn  v.  S am son  verwaltet.  Während  des  Interimisticums,  das 
zwischen  Sivers*  Rücktritt  und  Ungern -Sternberg's  Wahl  lag  und 
fast  ein  Jahr  lang  dauerte,  vicarirten  der  Reihe  nach  Landrath  v.  Berg, 
ein  Sivers,  Samson  und  Richter.  General -Superintendent  war  seit 
dem  Tode  des  alten  Christian  David  Lenz  (+  1798)  der  Dr.  Johann 
Dankwarth,  der  sich  im  Jahre  1803  Kränklichkeits  halber  seinen  aus- 
gezeichneten Freund  und  späteren  Nachfolger,  den  Oberpastor  zu 
St.  Jacob  Carl  Gottlob  Sonntag  (f  1827)  adjungiren  liess. 

Soviel  von  den  Personen,  die  damals  das  Heft  in  Händen  hatten. 
Als  bekannt  kann  vorausgesetzt  werden,  dass  die  in  Rede  stehende 
Periode  einen  schwankenden,  unsteten  Charakter  trug,  und  dass 
eine  Consolidation  der  Verhältnisse  in  Stadt  und  Land  trotz  der  mit 
uJbel  aufgenommenen  Wiederherstellung  der  alten  Verfassung  erst 
nach  dem  Jahre  1801  möglich  wurde.     Als  mindestens  mitwirkende 


86  Zur  livländischen  Landtagsgeschichte. 

Ursache  sind  die  häufigen  Wechsel  in  4er  Verwaltung  anzusehen, 
die  sehr  heterogenen  Einflüssen  Spielraum  boten.  Repnin  wird  als 
stolzer  reiner  Charakter  geschildert,  der  das  Beste  wollte,  an  der 
Erreicl^ung  desselben  aber  häufig  durch  leidenschaftliches  Temperament 
und  ungenügende  Kenntniss  der  Verhältnisse  gehindert  wurde; 
y.  Benkendorflf  und  v.  Richter  waren  als  humane,  einsichtige  Männer 
bald  heimisch  und  allgemein  beliebt,  dem  Letzteren  wurde  ausser 
diesen  Eigenschaften  noch  ungewöhnliche  Geschäftskenntniss  nach- 
gerühmt. Graf  Pahlen,  der,  wie  wir  wissen,  niemals  naph  Riga  kam, 
blieb  dem  grösseren  Publicum  völlig  fremd,  sein  Vorgänger,  der  er- 
wähnte Civil-General-Gouvemeur  v.  Nagel  galt  für  hart  und  für  einen 
beschränkten  Kopf,  dessen  Unkenntniss  der  Geschäfte  (er  hatte  den 
grössten  Theil  seines  Lebens  in  nord- russischen  Gouvernements  zu- 
gebracht) namentlich  dem  rigaschen  Rath  vielfache  Unannehmlich- 
keiten bereitete;  Herr  v.  Rehbinder  verlor  schon  bald  nach  seinem 
Amtsantritt  das  Vertrauen  des  Kaisers  und  der  Regierung  weil  er 
nicht  Geschäftsmann  war  und  ausserdem  mit  Nagel  häufig  in  Competenz- 
conflicte  gerieth. 

Der  Charakter  des  Schwankens  und  der  Widersprüche,  welcher 
durch  difeen  häufigen  Wechsel  in  der  Verwaltung  sich  kennzeichnet, 
scheint  sich  auch  den  Landtagen,  welche  während  dieser  Periode 
abgehalten  wurden,  mitgetheilt  zu  haben.  Schon  zwölf  Monate 
nach  dem  Restilutions- Landtage  von  1797  wurde  eine  neue  Ver- 
sammlung einberufen.  Gleich  die  ersten  von  derselben  behandelten 
Fragen  sind  für  die  damaligen  Zeitumstände  höchst  bezeichnend. 
Der  Kaiser  hatte  die  alte  Verfassung  wiederhergestellt,  aber  die 
Privilegien,  welche  die  Grundlagen  derselben  bildeten,  waren  nicht 
bestätigt  worden.  Sprach  der  Restitutions  -  Ukas  implicite  eine 
Privilegienbestätigung  aus,  oder  musste  dieselbe  noch  ausdrücklich 
eingeholt  werden?  War  es  opportun,  diese  Bestätigung  von  dem 
Kaiser  zu  erbitten,  dem  man  schon  so  viel  zu  danken  hatte, 
oder  empfahl  es  sich,  das  bezügliche  Gesuch  sammt  den  übrigen 
„Sollicitationen*'  einfach  dem  Senat  zu  unterbreiten?  Kaum  war 
man  über  diese  schwierige  Frage  schlüssig  geworden  (der  Land- 
tag entschied  sich  dafür,  dieses  mal  keine  besondere  Privilegien- 
bestätigung zu  erbitten),  so  tauchte  eine  andere  grössere  Schwierig- 
keit auf.  Der  Civil-General-Gouverneur  Geheimerath  v.  Nagel  zeigte 
dem  Landmarschall  an,  dass  ihm  Allerhöchst  „Theilnahme  an  dem 
abzuhaltenden  Landtage"  aufgegeben  worden  sei.  Nach  der  Statt- 
halterschaftsordnung war  gegen  diese  Zumuthung  nichts  einzuwenden: 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  87 

dem  Geist  und  Buchstaben  der  eben  restituirten  alten  Verfassung  lief 
eine  solche  ^Theilnahme"  des  höchsten  Verwaltungsbeamten  des 
Landes  direct  zuwider.  Sollte  das  dem  Monarchen  gegenüber 
geltend  gemacht  werden  —  ihm,  der  selbst  der  grossmüthige  Urheber 
der  Restitution  gewesen  war,  der  aber  die  Privilegien,  auf  welche  man 
sich  berufen  wollte,  «och  nicht  anerkannt  hatte?  Dazu  kam  noch, 
dass  das  Herrn  v.  Nagel  gewordene  Mandat  ein  doppeltes  Gesicht 
zeigte.  Wie  er  mitgetheilt  hatte,  war  ihm  einerseits  aufgegeben 
worden,  einen  Beitrag  des  Landes  für  die  Canalverbindung  der  Düna 
mit  der  Aa,  sowie  die  Aufbringung  von  3300  Rbl.  B.  für  Erhaltung 
der  adligen  Behörden  zu  verlangen ;  gleichzeitig  hatte  derselbe  aber 
auch  den  Auftrag  erhalten,  dem  Landtage  mitzutheilen,  Se.  Majestät 
habe  die  „Einrichtung"  der  seit  Jahrzehnten  sehnlich  gewünschten 
Universität  verfügt.  . 

Wesentlich  dem  Eindruck,  den  der  widerspruchsvolle  Charakter 
der  Lage  erregte,  wird  es  zuzuschreiben  sein,  dass  es  auf  dem  Land- 
tage von  1798  zu  keinerlei  Beschlüssen  kam,  welche  für  die  Folgezeit 
von  Wichtigkeit  gewesen  wären.  Dem  durch  die  Umstände  der  Zeit 
bedingten  Beschluss,  im  Hinblick  auf  die  Restitution  dieses  mal  keine 
besondere  Privilegienbestätigung  zu  erbitten,  folgte  ein  zweiter  Be- 
schluss, beim  Senat  (der  an  die  Stelle  des  JustizcoUegiums  für  liv-, 
est-  und  finnländische  Sachen  getreten  war)  um  Abfassung  eines  Ge- 
setzbuchs für  das  Land  zu  bitten  und  gleichzeitig  auf  Erhöhung  der 
Vorspanngelder  und  Bestätigung  der  „ökonomischen  Societät'*  anzu- 
tragen. Wie  wir  in  der  Folge  sehen  werden,  wurde  nur  in  Bezug 
auf  dieses  letzte  Desiderium  etwas  erreicht,  die  beiden  anderen 
Wünscie  der  Landesrepräsentation  blieben  noch  lange  auf  der  Tages- 
ordnung, und  die  bereits  seit  einem  Menschenalter  betriebene  Codi- 
fication  der  Landesverfassung  und  des  Landesrechts  kam  erst  nach 
einem  halben  Jahrhundert  zur  Ausführung.  Dass  Baron  Ungern- 
Sternberg  auf  diesem  Landtage  zum  Landmarschall  gewählt  wurde, 
ist  bereits  früher  gesagt  worden.  Die  übrigen  Verhandlungen 
drehten  sich  meist  um  kleine  innere  Fragen  und  Händel.  Das  Land 
war  in  Folge  der  Einziehung  der  Ritterschaftsgüter  (deren  Schulden 
von  der  Krone  nicht  übernommen  worden  waren),  der  Türkensteuer 
und  anderer  schwerer  Auflagen  früherer  Jahre  mit  einer  Schulden- 
masse von  11  Millionen  Rbl.  B.  belastet.  In  Rücksicht  hierauf  wurde 
beschlossen,  den  von  der  Regierung  gemachten  Vorschlag,  durch 
den  Bau  von  Kasernen  die  Einquartierungslast  zu  beseitigen,  nicht 
anzunehmen.     Für  das   Land,  dem  die  Aufbringung  der  Auslagen 


88  Zur  livländischen  Landtagsgeschichte, 

für  diese  Bauten  unmöglich  war,  erschien  die  fernere  Tragung  der 
Einquartierung  in  natura  bequemer  und  minder  -drückend  —  den 
Städten  konnte  überlassen  bleiben,  sich  ihrerseits  durch  Anlegung 
von  Kasernen  von  der  Quartierlast  zu  befreien.  Dagegen  erhob  der 
Vertreter  Riga's,  Rathsherr .  Rolssen,  Protest,  indem  er  geltend 
machte,  dass  ein  allgemeiner  Kasernenbau,  dessen  Umkosten  pro  Seele 
repartirt  würden,  den  Städten  günstiger  sei,  als  isoUrtes  Vorgehen 
derselben.  Obgleich  noch  andere  Verhandlungsgegenstände  vor- 
lagen, die  den  Hader  mit  den  Städten  neu  zu  beleben  geeignet 
waren,  blieb  es  bei  dieser  Episode.  In  Sachen  der  zahlreichen 
Competenzconflicte  zwischen  dem  rigaschen  Landgericht  und  dem 
Rathe  dieser  Stadt,  welche  durch  die  widerspruchsvollen  Bestim- 
mungen der  Statthalterschaftsordnung  hervorgerufen  worden  waren, 
beschloss  man  einfach,  die  Jurisdiction  von  1783  wieder  herzustellen. 
Auch  die  ziemlich  gleichzeitig  zur  Sprache  gebrachten  Beschwerden 
über  den  Transitzoll,  den  die  Stadt  Pemau  von  durchgehenden 
Waaren  erhob,  wurden  rasch  erledigt  indem  man  sich  für  Ver- 
weisung der  bezüglichen  Streitfrage  an  den  Senat  entschloss.  Das 
gleiche  Geschick  hatte  eine  Beschwerde  der  Stadt  Riga  über  die 
Verwendung  landischer  Handwerker  beim  Bau  des  Ritterhauses. 
Gleich  hier  bemerken  wir,  dass  die  Entscheidung  des  Senats  zu 
Gunsten  der  Ritterschaft  ausfiel. 

Wir  übergehen  die  obigen  Verhandlungsgegenstände  (Abfassung 
eines  Wappenbuchs  durch  den  alten  Historiker  Brotze,  Verhandlungen 
über  gegenseitige  Auslieferung  liv-  und  kurländischer  Läuflinge 
u.  s.  w.),  weil  sie  kein  ernsteres  Interesse  in  Anspruch  nehmen. 
Das  Gleiche  gilt  von  der  Agrarfrage,  die  während  der  ges&mmten 
Eegierungszeit  Kaiser  Paul's  in  ein  Stocken  kam,  das  zu  dem  Eifer 
in  directem  Contrast  stand,  welchen  die  vorige  Regierung  dieser 
Angelegenheit  gewidmet  hatte.  Die  Berathung  über  ein  bezügliches 
Sentiment,  welches  einzelne  vom  Kaiser  zu  Rathe  gezogene  „deutsche 
Senateurs"  abgefasst  hatten,  gab  der  reactionären  Partei,  (welche 
rasch  eine  Witterung  von  der  veränderten  Lage  bekam)  zur  Ver- 
lautbarung von  Wünschen  Veranlassung,  welche  wesentlich  darauf 
abzielten,  die  Bestimmungen  des  Landtags  von  1797  abzuschwächen. 
Friedrich  Sivers,  der  treue  Wächter  der  bäuerlichen  Interessen,  trat 
diesen  Tendenzen  mit  der  ganzen  Entschiedenheit  seines  energischen 
Wesens  entgegen.  Er  erklärte,  jedes  Zurückgehen  über  die  vorig- 
jährigen Bestimmungen  als  Competenzüberschreitung  des  Landtags 
ansehen  und  vor   den  Stufen   des   Thrones  zur  Sprache  bringen  zu 


Zu  livländisehen  Landtagsgeschichte,  89 

wollen.  Bei  dieser  Erklärung  blieb  er  trotz  allen  Widerspruchs  der 
Gegner,  und  wir  haben  allen  Grund  zu  der  Annahme,  dass  wesent- 
lich nur  diesem  Umstände  die  Erfolglosigkeit  der  reactionören 
Bestrebungen  dieses  Landtags  zuzuschreiben  ist.  ,Dass  der  Sitz  der- 
selben im  estnischen  Livland  war,  und  dass  die  Opposition  sich  vor- 
zugsweise gegen  die  ^  Kreiscommissionen  zur  Untersuchung  bäuerlicher 
Klagen**  richtete,  ist  bereits  früher  (vgl.  S.  371  des  vorigen  Jahrg. 
der  Balt.  Monatsschr.)  erörtert  worden. 

Noch  steriler  filr  die  brennenden  Fragen,  als  die  Versammlung 
von  1798,  war  der  im  Jahre  1800  einberufene  Landtag.  Wenn  wir 
erwähnen,  dass  dem  behufs  Einrichtung  der  Universität  gewählten 
Curator  und  dessen  Adjuncten  Diäten  bewilligt  wurden,  (Curator 
wurde  Hofrath  von  Liphart  an  Stelle  Transehe's),  dass  man  diesen 
Adelsvertretern  eine  Instruction  ertheilte,  dass  mit  Errichtung  der 
schon  früher  beschlossenen  bäuerlichen  Vorrathsmagazine  Ernst 
gemacht  wurde,  dass  man  die  Ritterschaftsgüter  neu  taxireh  liess, 
zum  Zweck  der  Tilgung  der  Ritterschaftsschulden  eine  Steuer  von 
5  Rbl.  pr.  Haken  ausschrieb  und  die  Ordnungsgerichte  neu  organi- 
sirte,  *)  so  sind  die  Hauptpunkte,  welche  im  Jahr  l&X)  zur  Sprache 
kamen,  genannt.  **)  Auf  die  immer  wiederkehrenden  Streitigkeiten 
über  die  Quartierlast  und  das  Stationswesen,  die  auch  dieses  mal 
nicht  ausblieben,  näher  einzugehen,  liegt  kein  Grund  vor,  da  die- 
selben sich  genau  in  dem  Cirkel  bewegten,  den  wir  früher  kennen 
gelernt  haben.  Erwähnt  sei  dagegen,  dass  auch  der  Landtag  von 
1800  von  dem  damaligen  Civil -General- Gouverneur  von  Nagel  be- 
sucht wurde,  ohne  dass  man  eine  Discussion  dieser  Anomalie  für 
opportun  gebalten  hätte. 

Als  die  Ritterschaft  sich  zwei  Jahre  später  wiederum  zu  den 
gewohnten  Berathungen  versammelte,  war  die  äussere  und  innere 
Lage  des  Landes  vollständig  verändert.  Mit  dem  folgenreichen 
Thronwechsel  vom  28.  März  1801  hatte  auch  für  Livland  eine  neue 
Periode,  eine  Zeit  rüstigen  Aufschwungs  und  allgemeiner  Streb- 
samkeit begonnen,    eine    Reaction   gegen    den    eben    geschilderten 


*)  Bei  Einfübrung  der  Statthalterschafts- Verfassung  war  das  Land  in  9  Kreise 
getheilt  worden,  deren  jeder  eine  besondere  Landpolizeibebörde  erhielt.  Obgleich 
die  alte  Kreisein theilung  wieder  hergestellt  wurde,  behielt  man  die  9  Landpolizei- 
bezirke und  deren  auf  altem  Fuss  organisirte  Behörden  bei. 

**)  Auf  die  Verhandlungen  und  Beschlüsse  über  die  Universität  gehen  wir 
nicht  näher  «in,  da  die  Geschichte  derselben  bereits  eine  ausführliche  Dar- 
8t«llaiig  gefanden  hat 


L__. 


90  Zur  lirl&ndiBchen  Landtagsgeschichte. 

Znetand  der  Jahre  1796  — 1801.  Schon  vier  Monate  nachdem 
Alexander  I.  unter  dem  Jubel  des  gesatninten  Reiche  den  Thron 
bestiegen  hatte,  war  Fürst  Galyzin,  ein  wohlgesinnter,  wenn  andi 
nicht  bedeutender  Jtfann,  mit  dem  General  -  Gouvernement  betraut 
worden ;  dann  halte  der  Kaiser  die  Provinz  besucht  und  durch  seine 
glänzende  Erscheinung,  sein  leutseliges  Wesen  alle  Glassen  der 
Gesellschaft  in  frohe  Erregung  versetzt.  So  war  begreiflich,  dass 
der  Landtag  von  1802  in  gehobener  Stimmung  und  mit  einer  Rede 
des  1800  gewählten  Landmai'schalls  v.  Buddenbrock  erötfhet  wurde, 
welche  von  Begeisterung  fär  den  humanen  jungen  Herrscher  und 
von  Vertrauen  in  eine  bessere  Zukunft  des  Landes  überfloss.  Gleich 
die  ersten  Mittheilungen,  mit  denen  der  Landmarschall  vor  den 
Saal  trat,  waren  geeignet,  diese  Stimmung  zu  befestigen.  Dem 
Eifer  des  Universitäts-Curators  Grafen  Mannteuffel  und  seiner  Collegen, 
der  Landräthe  Sivers  und  Richter,  war  es  gelungen,  die  Sache  der 
„den  Ritterschaften  von  Liv-  und  Estland  übergebenen  Universität 
Dorpat"  so  weit  zu  fördern,  dass  die  Eröffnung  der  Vorlesungen 
schon  für  die  nächsten  Wochen  bevorstand.  Die  Bestätigung  der 
Privilegien  war  ohne  alle  Schwierigkeit  erfolgt;  schon  als  die  Ver- 
treter' der  Ritterschaft  dem  jungen  Kaiser  ihre  erste  Gratulation 
dargebracht  hatten,  war  ihnen  (L.  R.  Sivere,  L.  R.  Richter,  Graf 
Mannteuffel  und  v.  Oettingen}  dieselbe  zugesagt  worden.  Gleichzeitig 
mit  der  eigentlichen  Bestätigung,  welche  zu  Moskau  bei  Gelegenheit 
der  Krönung  erfolgte,  war  der  Krönungsdeputation  (Landräthe 
Richter  und  Sivera)  die  erfolgreiche  Durchführung  eines  anderen 
Desideriums  geglückt,  welches  das  Land  schon  lange  auf  dem 
Herzen  trug:  jene  Naturallieferungen  an  die  in  Livland  staüonirten 
Truppen,  welche,  an  und  für  sich  lästig,  durch  die  beständigen  Händel 
mit  den  Empfängern  eine  Quelle  zahlloser  Galamitäten  bildeten, 
waren  aufgehoben  worden. 

Die  ersten  Beschlüsse,  welche  die  Versammlung  unter  dem  Ein- 
druck dieser  willkommenen  Botschaft  fasste,  waren:  sofortige  Be- 
will^ung  der  5  Rbl.  B.  pr,  Haken,  welche  der  Kaiser  als  Zuschuss 
für  eine  neu  zu  begründende  Militärechule  gewünscht  hatte,  und  Be- 
nutjiung  „der  günstigen  Chancen"  des  Augenblicks  behufs  Erwirkung 
der  Bestätigung  des  seit  Jahren  geplanten  Credilvereins.  Es  wurden 
femer  6  Kopeken  pr.  Seele  behufs  Unterstützung  des  Universitäts- 
planes  bewilligt,  „fürs  Künftige"  eine  Erhöhung  dieses  Betrages  auf 
14  Kop.  in  Aussicht  genommen.  —  Zwei  fernere  Beschlüsse  bezogen 
sich  auf  das  Justizwesen :  die  Zahl  der  Landgerichtscancellisten  wurde 


Zur  liyl&ndischen  Landtagsgeschichte,  91 

vermehrt,  die  Noöiwendigkeit  der  Erhaltung  der  8  Ordnungsgerichte 
anerkannt  (den  neunten  Ordnungsgerichtsbezirk  bild^e  die  Insel 
Oesel),  und  eine  aus  Hofgerichtsgliedern  bestehende  Commission 
behufs  Codification  des  Landrechtes  niedergesetzt;  der  Entwurf  des 
neuen  Gesetzbuchs  sollte  sodann  der  Juristenfacultät  der  neubegrün- 
deten Landesuniversität  zur  Durchsicht  übergeben  werden. 

Die  wichtigsten  der  Landtagsverhandlungen  von  1802  betrafen 
eine  Frage,  die  nur  selten  auf  der  Tagesordnung  Livlands  gewesen  ist 
und  über  welche  zu  allen  Zeiten  ein  gleich  ungünstiger  Stern  gewaltet 
hat:  die  Reform  der  Landesverfassung,  oder  genauer  gesagt 
der  Landesvertretung.  Wer  in  der  neueren  Provinzialgeschichte 
Bescheid  weiss,  dem  wird  nicht  zweifelhaft  sein  können,  warum  die 
Gedanken  an  eine  derartige  Umgestaltung  jedesmal  in  der  Geburt 
erstickt  worden  sind:  weil  man  niemals  den  Muth  hatte,  auf  den 
Kern  der  Uebel  einzugehen,  welche  die  Landesrepräsentation  zum 
Schatten  dessen  machen,  was  sie  sein  könnte,  weil  man  sich  vor 
dem  Eingeständniss  fürchtete,  dass  die  fast  ausschliessliche  Vertretung 
eines  Standes  keine  Solidarität  der  Interessen  möglich  werden  lässt, 
und  dass  eine  Versammlung,  deren  Mitgliederzahl  lediglich  vom  Zufall 
abhängt,  überhaupt  Zufälligkeiten  unterworfen  ist  —  darum  hat  man 
es  niemals  zu  einer  Reform,  nicht  einmal  zu  energischen  Reformver- 
suchen gebracht.  Es  hat  sich,  namentlich  in  früherer  Zeit,  bei  den 
sogenannten  Umgestaltungsversuchen  immer  nur  darum  gehandelt, 
einer  grösseren  Zahl  von  Gutsbesitzern  die  Landstandschaft  zu  sichern 
und  diese  von  der  Zugehörigkeit  zur  Matrikel  unabhängig  zu 
machen.  Aus  diesem  Grunde  haben  die  Manöver  der  Landsassen- 
partei des  18.  Jahrhunderts  immer  nur  den  Charakter  cliquenhafter 
Usurpationen  getragen,  und  sind  die  Versuche  der  kleineren  Städte, 
Landstandschaft  zu  gewinnen,  niemals  von  energischen  Sympathien 
des  gebildeten  Theils  der  Bevölkerung  begleitet  gewesen. 

Was  sich  im  Jahre  1802  als  Versuch  zur  Veränderung  der 
Verfassung  gebärdete,  steht  aber  noch  tief  unter  den  Versuchen, 
welche  Landsassen  und  Städte  ihrer  Zeit  unternommen  hatten,  um 
die  Provinzialvertretung  zu  erweitern.  Eine  Schaar  verbitterter, 
engherziger  Egoisten  versuchte  gegen  die  alte  Verfassung  Sturm  zu 
laufen,  weil  die  Männer,  welche  Dank  derselben  im  Amt  waren  und 
maassgebenden  Einfluss  übten,  gestürzt  und  um  die  Möglichkeit 
gebracht  werden  sollten,  das  Selbstbestimmungsrecht  des  Landes 
im  liberalen  Sinne  zu  gebrauchen.  Bevor  wir  auf  dieses  Attentat 
genauer  eingehen,  wird  es  nothwendig  sein,  eine  Frage  näher  in's 


L. 


92  Zur  livländischen  Landtagsgeschichte. 

Auge  zu  fassen,  die  anscheinend  nichts  mit  der  Verfassung  zu  thun  hat, 
thatsächlich  aber  auf  die  Entwickelung  derselben  den  nachtheiligsten 
Einfluss  übte:  die  Frage,  wem  die  sogen.  Ritterschaftsgüter  donirt 
worden  waren  und  wer  als  rechtlicher  Inhaber  derselben  anzu- 
sehen war. 

Schon  zu  schwedischer  Zeit  war  der  livländischen  Ritterschaft 
wiederholt  die  Donation  von  Gütern  zur  Erhaltung  des  Landraths- 
coUegiums  verheissen  worden.  Bei  der.Armuth  des  Landes,  der 
Kostspieligkeit  des  Reisens  und  bei  längerem  Aufenthalte  in  der  ver- 
hältnissmässig  theuren  Landeshauptstadt  war  es  natürlich,  dass  man 
den  Männern,  welche  ihre  Zeit  und  Arbeitskraft '  dem  öffentlichen 
Literesse  widmeten,  eine  Art  Entschädigung  zuwenden  -wollte,  und 
da  dieselben  zahlreiche  Functionen  versahen,  welche  direct  dem 
Staatsinteresse  dienten,  lag  es  nah,  von  dem  Staat  eine  Subvention  zu 
verlangen.  Obgleich  die  schwedische  Verheissung  vom  Jahre  1663 
her  datirte,  war  sie  während  der  letzten  fünfzig  Jahre  schwedischen 
Regiments  in  Livland  nicht  erfüllt  worden.  Bei  dem  Geiz  Karls  XL 
und  den  steten  finanziellen  Verlegenheiten  seines  kriegerischen 
Sohnes  verstand  es  sich  gleichsam  von  selbst,  dass  man  der  ver- 
liassten,  aufsässigen  Provinz  am  rigaschen  Meerbusen  nicht  Wort 
hielt.  Schon  in  den  ersten  Jahren  nach  der  russischen  Eroberung 
(1711,  1712,  1714  und  1721),  wurde  Peter  der  Grosse  wiederholt 
gebeten,  das  Versprechen  zu  erfüllen,  das  seine  Rechtsvorgänger 
gegeben  und  nicht  gehalten  hatten.  Peter  war  nicht  abgeneigt,  dem 
Wunsch  der  livländischen  Ritterschaft  zu  willfahren  und  bereits  im 
Anfang  der  zwanziger  Jahre  war  der  Ritterschaftsrepräsentation  der 
Besitz  der  Güter  Bersohn  und  Laudohn  zugesagt  worden.  Als  man 
im  Jahre  1724  auf  die  Sache  zurückkam,  fand  sich  indessen,  dass 
die  genannten  Güter  inzwischen  dem  Grafen  Sava  Ragesinsky  ver- 
liehen worden  waren.  Katharina  L  entschloss  sich  daher,  das  Ver- 
sprechen ihres  Gemahls  durch  Verleihung  der  Güter  Trikaten, 
Planhof,  Sackenhof  und  Wiezenhof,  (zusammen  55  V2  Haken  gross) 
zu  lösen,  und  diese  wurden  der  Ritterschaft  wirklich  im  Jahre  1725 
zugewiesen,  freilich  erst  nachdem  dieselbe  die  ingrossirten  Pfand- 
schulden (4807  Thaler)  refundirt  und  ausserdem  300  Dukaten  an 
das  „Arrangement''  gewandt  hatte;  einzelne  Theile  dieser  Güter 
wurden  überdies  der  Krone  vorläufig  reservirt. 

Kaum  war  man  in  den  Besitz  dieses  neuen  Eigenthums  getreten, 
so  tauchte  auch  schon  die  heikele  Frage  auf,  ob  die  Renten  desselben 
ausschliesslich  zu  Gunsten  der  Landesrepräsentation  (Landräthe  und 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  93 

•  * 

Landmarschall)  verwendet  oder  zwischen  dieser  und  der  Ritterschaft 
getheilt  werden  sollten.  Wie  bereits  früher  erwähnt  worden  (B.  M. 
ß.  XVm.,  H.  4.  S.  267  und  a.  a.  O.  H.  6,  S.  473),  war  auf  dem 
Landtage  von  1727  festgesetzt  worden,  jeder  Landrath  habe  für  seine 
Residirung  100  Thaler,  der  Landmarschall  denselben  Betrag,  der 
Ritterschaftssecretär  (in  Ansehung  seiner  vielen  Reisen)  300  Thlr., 
der  Notar  50  Thaler  zu  erhalten.  Die  Ueberschüsse  aus  dem  Be- 
trage dieser  Güter  sollten  zum  Nutzen  der  Ritterschaft,  namentlich 
zur  Bezahlung  der  Landesbeamten  (es  erhielt  z.  B.  jeder  der  vier 
bei  den  Oberkirchenvorstehern  angestellten  Notare  50  Thaler)  ver- 
wendet werden.  —  Ueber  die  Einzelheiten  der  Verwendung  in 
späteren  Jahren  liegen  uns  keine  Daten  vor,  zweifellos  ist  nur,  dass 
der  steigende  Ertrag  der  Güter  wesentlich  der  Ritterschaf tscasse 
zu  Gute  kam,  und  einen  nicht  unbeträchtlichen  Theil  der  Ausgaben 
für  die  Landesbehörden  deckte.  Als  1786,  nach  Aufhebung  des 
LandrathscoUegiums  die  Einziehung  der  trikatenschen  Güter  zum 
Besten  der  Krone  verfügt  worden  war,  gerieth  die  Ritterschaftscasse 
(Vgl.  a.  a.  0.  S.  258)  in  eine  Reihe  der  grössten  Verlegenheiten. 
Nicht  nur,  dass  die  Bewilligungen  beträchtlich  erhöht  werden 
mussten,  um  den  Ausfall  zu  decken  und  die  Last  der  Bezahlung  de? 
Landesbeamten  fortan  allein  zu  tragen,  —  die  Krone  hatte  sich  ge- 
weigert, die  auf  den  Gütern  lastenden  Schulden  zu  übernehmen  und 
die  Forderung  sofortiger  Lnmission  in  dieselben  ausgesprochen. 
Tausende  von  Thalern  mussten  verausgabt  werden,  um  die  Arren- 
datore  zu  entschädigen,  an  welche  man  die  Güter  verpachtet  hatte, 
andere  Tausende  wurden  durch  die  Processe  verschlungen,  welche 
ein  so  unerwartetes  und  überstürztes  Verfahren  der  Ritterschaft 
bereitete,  ohne  dass  diese  die  geringste  Schuld  traf.  Gleichzeitig 
drängten  die  gefährdeten  Hypothekengläubiger,  indem  sie  Sicher- 
stellung oder  volle  Befriedigung  ihrer  Ansprüche  verlangten  —  kurz 
das  gesammte  Land  war  durch  einen  Besitz,  der  ihm  nur  für  kurze 
-Zeit  und  nur  zum  Theil  von  directem  Nutzen  gewesen  war,  in  ;ernst- 
hafte  Verlegenheit  gebracht  worden. 

Wie  g^oss  dieselben  gewesen,  sollte  erst  klar  werden,  als  der 
eigentliche  Grund  der  Calamität  wegfiel.  Bei  Gelegenheit  der  Wieder- 
herstellung der  alten  Verfassung  wurden  auch  die  Ritterschaftsgüter 
restituirt;  die  17  anderweitig  verschenkten  Haken,  welche  an  dem 
früheren  Besitzthum  fehlten,  wurden  einige  Jahre  später  durch  Ein- 
weisung des  Gutes  Wiezenhof  (um  welches  ein  Landtagsschluss  speciell 
gebeten  hatte)  ersetzt.     Nichts  desto  weniger  war  die  finanzielle  Lage 


94  .  Zur  livländischen  Landtagsgeschichte. 

der  Ritterschaft  auch  nach  dieser  Restitution  eine  ausserordentlich 
schwierige,  und  es  liegt  die  Annahme  nah,  dass  die  Wiedertibemahme 
der  Güter  zunächst  auch  nur  mit  Umkosten  (für  Neubeschafiung  von 
Inventar  u.  s.  w.)  verbunden  war.  Im  Jahre  1798  war  constatirt 
worden,  dass  das  Land  nicht  weniger  als  11  Millionen  Rbl.  B. 
Schulden  habe,  und  dass  viele  Jahre  vergehen  würden  ehe  dieselben 
getilgt  worden.  Im  Jahre  1800  wurde  eine  besondere  Steuer  im  Betrage 
von  6  Rbl.  pr.  Haken  ausgeschrieben,  deren  Erlös  ausschliesslich  zur 
Tilgung  von  „Renten  und  Schulden"  bestimmt  war;  1802  musste 
dieselbe  erhöht  werden,  damit  wenigstens  die  dringendsten  Schulden 
gedeckt  würden.  Sehr  bezeichnend  für  die  Schwierigkeit  der  Lage 
ist  eine  in  den  Recessen  von  1802  enthaltene  Bemerkung,  dahin 
lautend,  dass  die  Aufbringung  von  2372  Rbl.  B.  pr.  Haken  —  wie 
sie  angesichts  der  Forderungen  für  den  Tilgungsfond,  die  Universität 
Dorpat  und  die  projectirte  Petersburger  Militärschule  nothwendig 
erscheine  —  für  das  Land  zu  drückend  sein  würde. 

Bei  so  bewandten  Umständen  lag  die  Frage  nach  dem  Modus 
der  Verwendung  der  Einnahmen  aus  den  Ritterschaftsgütem  in  der 
Natur  der  Sache.  Donirt  waren  dieselben,  wie  wir  oben  gesehen 
haben,  zum  Zweck  der  Erhaltung  des  LandrathscoUegiums  und  dieses 
hatte  wenigstens  einen  Theil  der  Revenuen  regelmässig  bezogen^ 
während  der  Rest  zur  Bezahlung  von  Landesbeamten  verwendet 
worden  war.  In  der  Noth  der  Verwirrung,  welche  der  Einziehung 
von  1786  gefolgt  war,  hatte  man  indessen  die  Beihülfe  der  gesammten 
Corporation  in  Anspruch  nehmen  müssen;  die  Ritterschaft  war  mit 
Abgaben  und  Schulden  belastet  worden,  um  die  auf  diesem  Besitz 
ruhenden  Verpflichtungen  zu  erfüllen  und  hatte  demselben  so  grosse 
Opfer  gebracht,  dass  seine  Restitution  ihr  einen  Anspruch  auf  Theil- 
nahme  an  den  Revenuen  sichern  zu  müssen  schien.  Aller  Wahr- 
scheinlichkeit  nach  wäre  ein  bezügliches  Arrangement  zwischen 
LandrathscoUegium  und  Plenum  mühelos,  wenigstens  ohne  ernstere 
Schwierigkeiten  herbeizuführen  gewesen  wenij  beide  Theile  guten 
Willen  und  Unbefangenheit  des  Urtheils  mitgebracht  hätten. 

Diese  Unbefangenheit  war  indessen  längst  abhanden  gekommen 
seit  die  zur  Lösung  drängende  Agrarfrage  die  Ritterschaft  in  zwei 
feindliche  Parteien,  eine  bauemfreundliche-liberale  und  eine  reactionäre 
gespalten  hatte.  Wie  dem  Leser  aus  den  früher  veröffentlichen  Mit- 
theilungen erinnerlich  sein  wird,  wären  die  hervorragendsten  Führer 
der  liberalen  Partei,  namentlich  Friedrich  v.  Sivers,  der  ehemalige 
Gouvernements  -  Adelsmarschall  v.   Gersdorf   und    Graf  Meilin    bei 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  95 

Gelegenheit  der  Wiederherstellung  der  alten  Verfassung  zu  Land- 
räthen  gewählt  und  so  an  die  Spitze  der  Geschäfte  gebracht  worden. 
Diese  Männer,  auf  denen  damals  die  Zukunft  des  Landes  ruhte, 
waren  von  ihren  Gegnern  mit  einer  Erbitterung  angefeindet  worden, 
von  deren  Brutalität  man  sich  in  unserer  verfeinerten  und  formen- 
glatten Zeit  kaum  eine  Vorstellung  machen  kann.  Die  Opposition, 
welche  im  dörptschen  Kreise  ihren  Sitz  und  an  den  Freiherrn 
V.  Taube  und  Schoultz-Rewold  ihre  Führer  hatte,  liess  keine  Mittel 
unversucht,  um  die  liberalen  Wortführer  zu  stürzen  und  verhasst  zu 
machen.  Die  in  den  Jahren  1797  und  1798  vergeblich  unternommenen 
Versuche,  das  bäuerliche  Regulativ  von  1797  auf  Lettland  zu  be- 
schränken, hatten  nur  dazu  geführt,  den  vorhandenen  Zwiespalt  zu 
verschärfen.  Wohl  gelang  es  später,  die  an  der  Spitze  der  zur  An- 
nahme von  Bauerbeschwejrden  bestimmten  Kreiscommissionen  stehen- 
den drei  liberalen  Landräthe  unter  Gericht  zu  bringen  —  aber  auch 
dieser  „Coup"  war  ohne  eigentlichen  Erfolg  weil  die  bezügliche 
Vorschrift  des  General  -  Gouvernements  sehr  bald  wieder  zurück- 
genommen werden  musste.  Auf  dem  Landtage  von  1803  wurde  nun 
ein  neuer  Angriff  unternommen ,  zu  dem  die  Ritterschaftsgüter  den 
Vorwand  hergeben  mussten.  Die  Reactionspartei  wusste  das  Land- 
rathscoUegium  unter  ein  doppeltes  Odium  zu  stellen :  dieses  Collegium 
—  hiess  es  —  concentrire  auf  Umkosten  des  Plenums  allen  Einfluss 
in  sich,  um  das  Land  zu  agrarischen  Reformen  zu  zwingen,  welche 
den  Adelsinteressen  zuwiderliefen,  und  geberde  sich  ausserdem  als 
der  Inhaber  jener  Güter,  für  welche  die  Rittercasse  immer  wieder 
in  Anspruch  genommen  werde  und  um  deren  willen  das  Land  am 
Rande  des  Bankerotts  stehe.  Werde  man  —  hiess  es  weiter  —  das 
LändrathscoUegium  los,  so  sei.  Aussicht  vorhanden,  die  Landes- 
schulden von  der  Krone  übernommen  und  die  liberalen  Ideen  mit 
jenem  verhassten  Collegium  für  immer  begraben  zu  sehen. 

Der  Plan  war  nicht  übel  ausgesonnen,  und  es  kam  nur  noch 
darauf  an,  ihm  möglichst  zahlreiche  Anhänger  zu  werben.  Zu  diesem 
Zweck  wurde  das  Stichwort  „Wiederherstellung  der  Statthalterschafts- 
Verfassung"  ausgegeben  und  daran  erinnert,  dass  während  der  drei- 
zehn Jahre,  in  denen  diese  in  Kraft  gewesen,  die  leidige  Agrarfrage 
brach  gelegen  habe,  der  Adel  bloss  zur  Vertretung  seiner  Standes- 
interessen verpflichtet  gewesen  sei,  der  Betrag  der  Bewilligungen  sich 
geringer  gestellt  habe  als  gegenwärtig  u.  s.  w.  Dieselben  Argumente 
egoistischer  Engherzigkeit,  mit  denen  ungefähr  gleichzeitig  eine  Hand- 
voll rigascher  Spiessbürger  dazu  vermocht  worden  war,  gegen  die 


1 

L  _ 


96  Zur  livländischen  Landtagsgeschicbte. 

angebliche  Tyrannei  des  rigaschen  Raths  Sturm  zu  laufen  und  fllr 
Wiederherstellung  der  demokratischen  Städteordnung  zu  agitiren, 
wurden  jetzt  dem  unzurechnunfisfahigen  Theil  des  Landadels  vor- 
gesetzt, um  denselben  zur  „Abwerfung  des  Jochs  der  Landräthe" 
Muth  zu  machen.  Die  Kreise,  denen  die  Landesprivilegien  nie  mehr 
als  Aushängeschilder  für  den  Cultus  egoistischer  ÖonderinteresBen 
gewesen  waren,  fanden  es  durchaus  natürlich,  dass  man  diese  Schilder 
wegwarf  sobald  dieselben  der  ständischen  Selbstsucht  unbequem 
wurden,  und  binnen  Kurzem  hatte  sich  eine  Anzahl  von  Uännem 
zusammengefunden,  um  mit  dem  liberalen  LandrathscoUeglum  zu- 
gleich die  conservatire  alte  Verfassung  über  den  Haufen  zu  werfen. 
Die  einzige  „conservative"  Idee,  welche  von  diesem  Schl^e  liv- 
ländischer  Patrioten  anerkannt  und  verstanden  wurde,  war  die  Idee, 
dass  der  Bauer  verpflichtet  sei,  bis  an  das  Ende  der  Tage  dem  Herrn 
„Gehorch"  und  „Gerechtigkeiten"  zu  pr&stiren,  und  zwar  in  dem 
Betrage,  den  dieser  für  gut  hielt.  Der  Befestigung  dieser  Kern-  und 
Centralidee  alleä  Andere  zu  opfern,  mochte  es  Namen  haben,  welche 
es  wollte,  war  die  einzige  wahrhaft  „conservative  Politik". 

Inmitten  der  Landtagsverhandlungen  von  1802,  bei  denen  wir 
Btehen  blieben,  wurde  der  erste  Versuch  gemacht,  diesen  im  Stillen 
ausgebrüteten  Plan  zu  verwirklichen.  Tags  nachdem  der  neu- 
recipirte  „Mitbruder"  General-Gouverneur  Fürst  Galyzin  in  der  Ver- 
sammlung zum  ersten  mal  erschienen  und  „zur  Rechten  des  Herrn 
Land  mar  schall"  placirt  worden  war,  traten  zwei  hochangesehene 
„Mitbrüder",  der  Geheimerath  v.  Vietinghof*)  und  Baron  Schoulte- 
Rewold  mit  dem  Antrage  hervor: 

Von  Sr.  K.  M,  die  Wiederherstellung  der  Statthalterschafts- 
Verfassung  zu  erbitten,  sowie  Sr.  Majestät  die  Ritterschafts- 
güter  gegen  Bezahlung  der  Ritters ehafts schulden  wieder 
zurückzugeben. 

Ueber  die  Bedeutung  dieses,  nach  kurzer  Discussion  zurück- 
gewiesenen Doppelantrags  sind  alle  Zweifel  schon  dadurch  ausge- 
schlossen, dass  zwei  an  und  für  sich  getrennte  Materien,  die  Ver- 
fassung und  der  Besitz  der  Ritterscbaftsgüter  zusammengeworfen  und 
in  einen  Connex  gebracht  worden  waren,  dem  es  ebenso  an  äusseren, 
wie    an    inneren   Zwecken  gebrach.      Es  war  direct  und   in    erster 

*)  Dieser  Geheimerath  von  Vietinghof  ist  von  dem  bekannten  Geheimerath 
Otto  Hermann  t.  Vietinghof,  dem  schon  im  Jahr  1793  verstorbenen  Begründer 
des  rigaer  Theaters  nnd  Valer  der  Juliane  Barbara  v.  KrÜdener,  wohl  zu  unter- 
Bchdden. 


Zur  livländischen  Landtagsgeschicbte.  97 

Reihe  darauf  abgesehen,  mit  den  liberalen  Landräthen  das  Landraüifl!- 
collegium  und  die  zu  einer  Quelle  finapzieller  Verlegenheiten  ge- 
wordenen Güter  los  zu  werden:  die  alte  Verfassung  wurde  gleichsam 
als  blosser  Appendix  des  Collegiums  angesehen  und,  der  Gesellschaft 
wegen,  mit  diesem  zu  den  Todten  geworfen. 

Wir  können  uns  im  vorliegenden  Fall  mit  der  Constatirung  der 
traurigen  Thatsache,  dass  ein  solcher  Antrag  im  Jahre  1802  möglich 
gewesen,  um  so  eher  begnügen,  als  derselbe  ungeachtet  der  erfahrenen 
Zurückweisung  noch  wiederholt  wiederkehrte  und  zu  eingehenden 
Verhandlungen  Anlass  gab.  —  Wesentlich  dem  übeln  Eindruck,  den 
die  Vietinghof-Schoultzsche  Bill  auf  den  besseren  Theil  der  versam- 
melten Vertreter  der  livländischen  Ritter-  und  Landschaft  gemacht 
haben  mochte,  muss  die  Verwerfung  eines  andern,  wenige  Tage 
später  gemachten  Antrags  auf  Verfassungsänderung  zugeschrieben 
werden,  dessen  Annahme  dem  Lande  wesentlich  zu  Gute  gekommen 
wäre.  Der  ehemalige  Kreismarschall  von  Bock  (die  Führung  der 
statthalterschaftlichen  Titel,  sowie  der  Titulaturen  aus  der  Rangliste 
[Tschin],  die  mit  jener  verbunden  gewesen  waren,  ist  auch  nach  dem 
Jahre  1796  üblich  geblieben)  wies  in  einem  längeren,  wohl  motivirten 
Vortrage  darauf  hin,  dass  der  monatliche  Wechsel  in  der  Residirung 
der  Landräthe  von  so  z.ahlreichen  Uebelständen  und  so  entschiedenen 
Hemmnissen  für  einen  ordentlichen  und  erspriesslichen  Geschäftsgang 
begleitet  sei,  dass  die  Einführung  eines  veränderten  Residirungs-Modus 
im  Literesse  des  Landes  durchaus  wünschenswerth  erscheine.  Leider 
wurde  die  beachtenswerthe  Stimme  überhört,  welche  —  soweit  mir 
bekannt,  zum  ersten  und  letzten  Mal  —  einen  Uebelstand  zur  Sprache 
brachte,  der  eigentlich  auf  der  flachen  Hand  liegt.  Dass  die  Rück- 
sicht auf  die  verfassungsfeindlichen  Pläne  der  Oppositionspartei 
bei  der  Verwerfung  des  patriotischen  v.  Bock'schen  Antrags  mit- 
gesprochen hat,  geht  schon  aus  dem  Umstände  hervor,  dass  die 
Versammlung  dem  Herrn  Kreismarschall  auf  Antrag  des  Hofraths 
von  Transehe  ihren  Dank  für  seine  gute  Absicht  aussprach,  wsus 
dieser  (wie  der  Reöess  besagt)  „empfindungsvoll"  aufnahm. 

Der  nächste  wichtigere  Antrag,  der  auf  dem  Landtage  von  1802 
zur  Discussion  kam,  beweist,  dass  Livland  am  Wendepunkt  des 
Jahrhunderts  nicht  nur  „ empfindungsvoll ",  sondern  zugleich  „aufge- 
klärt'' war.  Gestützt  auf  die  „neuesten  Erfahrungen  der  national- 
ökonomischen Wissenschaften"  (das  anderwärts  bereits  ziemlich  über- 
lebte physiokratische  System  galt  unter  unseren  Vätern  wahrscheinlich 
noch  im  Jahre  1802  für  neu)  brachte  ein  Major  von  Sivers  einen 
Baltische  Monatsschrift,  10.  Jahrg.,  Bd.  XIX,  Hefe  1.  7 


86  Znr  livläadischeD  Landtagsgeschichte. 

Plan  zur  Umgestaltung  des  gesammten,  bis  heute  üblichen  llTländischen 
bäuerlichen  Wirthsehaftssyatems  vor.  „Die  moderne  Wissenschaft"  — 
so  meinte  der  treffliche  und  sicher  von  den  edelsten  Motiven  ge- 
leitete Schüler  Quesnay's  und  Türgot's  —  „habe  zweifellos  lestgestellf, 
daBS  die  Ertragsfähigkeit  des  Bodens  wesentlich  gesteigert  werde, 
'wenn  derselbe  mbglichst  zertheilt  und  in  viele  Hände  gebracht 
werde.  Ebenso  stehe  fest,  Aaas  wahre  Productionslust  und  Arbeitseifer 
nur  da  zu  finden  seien,  wo  der  Producent  für  eigene  Rechnung 
wirtbschafte.  Aus  diesem  gewichtigen  Grunde  ei^ebe  sich  mit  Noth- 
wendigkeit  und  logischer  Consequenz,  dsiss  dsts  in  Livland  herr- 
schende System  der  grossen  geschlossenen  Bauernhöfe,  die  nur  mit 
Hülfe  zahlreicher  Knechte  bewirthschaftet  werden  könnten,  unvor- 
theilhaft  und  unproductiv  sei.  Er,  Antragsteller,  schlage  der  Ver- 
sammlung daher  vor,  eine  einschneidende  Reform  voi'zunehmen,  alle 
Viertelhäknergesinde  zu  zerschlagen  und  unter  Zwei-  und  Eintags- 
wirthe  zu  vertheilen.  Auf  diese  Weise  werde  der  doppelte  Vortheil 
möglichster  Bodenparcellirung  und  der  Etablirung  zahlreicher  selb- 
ständiger kleiner  Wirthschafta-Untemehmer  erreicht  werden."  Das 
Geschick  dieses  Antrags  in  unserem  urpraktischen,  auch  nicht  ent- 
fernt von  der  Blässe  doctrinörer  Gedanken  angekränkelten  Altliv- 
land  erräth  sich  von  selbst.  Der  Antragsteller  blieb  mit  seinen 
Wünschen  für  Gehorsam  gegen  die  „unwidersprechlichen  Lehren  der 
ökonomischen  Wissenschaft'"'  durchaus  allein  —  schwerlich  ist  ihm 
filr  seinen  zweifellos  guten  Willen  auch  nur  gedankt  worden.  Uns, 
die  wir  von  diesem  vereinzelten  Versuch  zur  Betheiligung  bereits 
etwas  abgestandener  Zeitideen  lesen,  ist  die  Sache  in  mehr  wie  einer 
Beziehung  von  Interesse.  An  und  für  sich  ist  dieses  Zeugniss  für 
die  Macht  gewisser  Zeitideen,  dieser  Versuch,  den  „Cultivateur"  in 
einen  „Eintagswirthen"  zu  übersetzen,  bedeutsam  und  es  lohnte  wohl 
der  Mühe,  den  Spuren  weiter  nachzugehen,  welche  den  W^  des 
physiokra tischen  Systems  nach  Livland  hin  bezeichnen.  Von  noch  grösse- 
rem Interesse  ist  die  Wahrnehmung,  dass  die  heute  von  Osten  her 
vernehmbaren  Klagen  über  das  Vorhandensein  „landloser  Bauern" 
und  grosser  geschlossener  Höfe,  ihrer  Zeit  aus  Westen  zu  uns  ge- 
wandert waren  und  schon  damals  an  dem  praktischen  Sinn  unserer 
Landsleute  abprallten.  Freilieb  gehört  bei  uns  im  Norden  ein  nur 
geringes  Maass  von  Menschenverstand  dazu,  um  auszurechnen,  dass 
der  GiTind  und  Boden  nur  durch  die  Capitalien,  welche  auf  ihn  ver- 
wendet werden,  Werth  erhält  und  dass  diese  Capitalien  allenfalls 
von  „Viertelhäknem",  aber  niemals  von  „Eintagswirthen"  erworben 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  «  99 

und  richtig  verwendet  werden  können.  Dieses  hat  man  seitdem  auch 
im  Westen  einsehen  gelernt  und  die  neuesten  Anhänger  der  Lehre 
Ton  der  „möglichsten  Bodenparcellirung"  haben  nicht  einmal  den  Vot- 
theil,  unter  die  ehrlichen  doctrinären  Schwärmer  gerechnet  zu  wer- 
den, zu  denen  der  wackere,  „auf  der  Höhe  seiner  Zeit**  stehende  Major 
von  Sivers  gehörte.  —  Bezüglich  der  übrigen  Vorgänge  von  1802 
können  wir  uns  kurz  fassen  da  der  meisten  damals  gefassten  Be- 
schlüsse bereits  gedacht  worden  ist.  Zu  erwähnen  wäre,  dass  in 
Ansehung  der  bei  allen  Landesbehörden  fühlbaren  Zunahme  der 
Geschäfte  jedem  der  vier  Landgerichte  ein  neuer  Cancellist  (das 
rigasche  Landgericht  erhielt  die  doppelte  Anzahl  neuer  Beamten) 
zugelegt  und  ausserdem  die  Beibehaltung  der  schon  im  Jahre  1797 
bewilligten  neun  Ordnungsgerichte  ausgesprochen  wurde.  Das  vacante 
Amt  des  Ritterschaftsnotärs  wurde  einige  Tage  vor  dem  Schluss 
der  Versammlung  einem  Manne  übertragen,  der  die  vier  darauf 
folgenden  Decennien  hindurch  eine  wichtige  Rolle  gespielt  hat  und 
über  dessen  Bedeutung  die  Urtheile,*  je  länger  er  tqflt  ist,  desto 
schärfer  auseinandergehen  —  dem  kürzlich  von  Leipzig  zurückge- 
kehrten jungen  Rechtsgelehrten  Johann  Reinhold  Ludwig  Samson 
von  Himmelstierna. 

[SchluBS  im  nächsten  Heft.] 


Notizen./) 


Die  Moralstatistik  und  die  christliche  Sittenlehre.    Von  Alex.  v.  Oettingen, 
ProfesBor  der  Theologie  in  Dorpat    I.  Theil.    Erlangen  1868—1869. 

Jcis  ist  eine  höchst  erfreuliche  Erscheinung,  das  in  unsern  nächsten 
Kreisen  ein  Theologe,  welcher  im  Rufe  strengster  Orthodoxie  steht, 
sich  herabgelassen  hat,  mit  Ruhe  die  Ergebnisse  der  realen  Natur- 
forschung zu  studiren  und  sie,  wenn  auch  nach  gewissen,  nicht 
plötzlich  abAistreifenden  Ansichten  erklärend,  als  berechtigt  anzuer- 
kennen. Seit  mehr  als  50  Jahren  ist  Referent  den  Wandlungen, 
welche  in  den  Lehren  der  theologischen  Facultät  zu  Dorpat  sich 
kund  gegeben  haben,  mit  Interesse  gefolgt.  Auch  dieser  Zweig  des 
Baumes  der  Erkenntniss  hat,  wie  alle  übrigen  Facultäten,  bald  nach 
oben,  bald  nach  unten,  bald  nach  rechts,  bald  nach  links  sich  be- 
wegt, je  nach  der  Richtung  der  wissenschaftlichen  Strömungen  im 
wärme-  und  luftreicheren  Abendlande  Europas.  Der  frischen  Brise 
des  „gemeinen  Rationalismus''  (ofßcieller  Name!)  folgte  der  feucht- 
warme Sirocco  des  Pietismus,  welcher  auch  auf  die  naturwissen- 
schaftliche Gebiete  hinüberwehte,  und  wenn  später  hier  das  saft- 
reiche Kraut  der  Empirie  üppig  wucherte,  so  wuchsen  auf  den 
theologischen  Aeckern  knorrige  Eichen  zur  Stütze  und  zum  archi- 
tektonischen Schmucke  der  Kirchlichkeit  herauf.  In  solchen 
Domen  konnte  nur  eine  starke  Lehre  gepredigt  werden,  eine  Lehre 
mit  Luther's  Worten  und  durchgreifender  Stimme,  glaubensstark  und 

*)  Unter  dieser  Üeberschrift  gedenken  wir,  wie  es  auch  schon  in  früheren 
Jahrgängen  der  Balt.  Monatsschr.  der  Fall  war,  vorzugsweise  Bücheranzeigen 
zu  bringen,  und  zwar  werden  wir  uns  bemühen,  eine  nach  Möglichkeit  voll- 
ständige und  regelmässige  Berücksichtigung  aller  derjenigen  literarischen 
Novitäten  eintreten  zu  lassen,  welche  als  dem  speciell  baltischen  Interesse  zu- 
nächst liegend  anzusehen  sein  werden.  Hiezu  aber  bedarf  es  berufener  Mit- 
arbeiter auf  vielen  und  verschiedenen  Gebieten  des  Wissens,  und  daher  bitten 
wir  ganz  besonders  für  diese  Rubrik  um  thätige  Unterstützung.        D.  Red. 


^^Hii's.  -' 


Notizen.  101 

mit  imponirender  Autorität!     So  auch   in  Dorpat,   wo  überdiefl  die 
theologisclie  Facultat,  begünstigt  rom  einem  frommen  Curo^tor,  vor 
einem  Dutzend  Jahren  das  Primat  besass.     Unterdess  hatten  natura 
forschende  Wühler  im  Westen  den  festgetretenen  empirisehen  Acker 
aufgepflügt,  gelockert  und  dem  belebenden  Sonnenlichte  zugänglicher 
gemacht.      Die  Elemente    der  Beobachtung  wurden  kritisch  unterw 
sucht,  man  stiess  auf  eine  Menge  Höhlen  und  Lücken  im  sogenannten 
Fundamente  praktischer  Erfahrungen,  und  gewöhnte  sich  dftyw,  alles 
Reden  und  Behaupten  nicht  blos  in  den  realen,  sondern  auch  in  den 
idealen  Wissenschaften   durchzusieben  und  zu  wägen.     Philosophen 
und  Theologen  sträubten  sich   wohl   g^en   dergleichen  Verfehren. 
Sie   schritten    scheinbar  ruhig,    als    ob   sich  gar  nichts  unter   den 
Jüngern    der  realen  Wissenschaften   rege,    auf  ihren    eingetretenen 
Wegen  hin.     Immer  zudringlicher  fragten*  die  Naturforscher  nQ.ch  de^f 
Begründung  der  philosophischen  und  theologischen  Eingebungen  und 
Traditionen,  erhielten  aber  die  wegwerfende  Antwort,  dass  sie  da- 
von nichts  verständen  und  verstehen  könnten,  da  ihnen  ja  der  sechste 
Sinn,  der  Glaube,  fehle.   Während  Jene  sich  immer  mehr  erdreisteten, 
von    mancher   buchstäblichen   Auffassung    traditioneller   Schöpfungs- 
und anderer  Geschichten  Abstand   zii  nehmen,  welche  die  lebhafte 
Phantasie  morgenländischer  Schriftsteller  in  überschwänglich  poeti- 
scher Redeweise  ausgeschmückt  haben  könne,  fragte  man  auf  der 
anderen  Seite  noch  ernsthaft  nach  der  numerischen  Stärke  der  himm-* 
lischen  Heerschaaren,  nach  der  ^Ausschmückung  des  Thronsaales  im 
neuen  Jerusalem  u.  dgl.  m.     Auch  war  das  grössere  Publikum  hie^: 
zu  Lande  noch  mit  besserem  Erfolge  als  in  andel^n  westlichen  odey 
östlichen  Gegenden  vor  dem  Anhören  von  Beden  der  Material istei^ 
Cgieichfalls  officieller  Name  I)  und  vor  dem  Lesen  auf  iJen  Jnd^x  ge- 
setzter Bücher  ausgehütet  worden.     Da  geschah  es,  dass  Schleidei^ 
nach  Dorpat  kam  und  öffentlich  Reden  hielt,    wie  man  sie  wohl  in 
Deutschland  zu  hören  schon    gewohnt  war^    aber  hier  nur  in  den 
engern  Kreisen  der  Verständigen  führte :  Reden  von  der  gs^nz;  natür- 
lichen Entwickelung  des  Lebens  auf  dem  Erdball,  von  dem  hohen 
Alter  des   Menschengeschlechtes,    von    dem   auf   halbem  Wege   zur 
Vernunft  stecken   gebliebenen  Vetter  Gorilla  u.  dgl.  m.     Gross  war 
die  Aufregung,  theils  für,  theils  gegen  den  ungebetenen  Gast.     Er 
wurde   seines    Hierseins  nicht   froh,    und    verliess    nach  Jahresfrist 
schon  wieder  Embach-Athen.     Seine  Dörpt-hisjiorische  Mission  hatte 
er  aber    erfüllt:    man    that    sich  keinen  Zwang  mehr  an,    von  der 
Berechtigung  naturgesetzücher  Forschungen  selbst  auf  den  Gebiete^ 


102  Kotizen, 

der  Philosophie  und  Theologie  laut  zu  sprechen.  Wir  glauben  nicht 
zu  irren,  wenn  wir  annehmen,  dass  die  Ideen  Über  christliche  Sitten- 
lehre bei  dem  Verfaaser  des  in  der  Ueberschrift  genannten  Werkes 
gerade  durch  die  auf  einander  platzenden  Ansichten  dieser  Periode 
eine  Läuterung  erfahren  haben.  Die  „christliche  Sittenlehre"  erhielt 
den  zweiten  Titel  „Versuch  einer  Social-Ethik  auf  empirischer 
Grundlage",  Dank  den  Studien,  welche  er  beim  Kampfe  gegen 
die  Katurforscher  in  seiner  Nähe  und  Ferne  zu  machen  sich  nicht 
Terdriessen  liess.  Dabei  ging  es  ihm  gewissermaassen  wie  dem 
Paulus,  der  aus  einem  Verfolger  der  Christen  ein  Bekenner  ihrer 
Principien  wurde.  „Wir  Manner  der  Geisteswissenschaft",  sagt 
Verf.  p.  2,  „erkennen,  dass  wir  dem  Materialismus  zu  grossem  Danke 
verpflichtet  sind.  Er  hat  uns  nolens  rolens  realistisch  denken  ge- 
lehrt, und  der  Dienst  wäre  ein  gegenseitiger,  wenn  er  von  uns  es 
lernen  wollte,  die  Weit  des  Geistes  auch  als  eine  grosse  Welt  zu- 
sammenhangEToller,  nur  anders  gearteter  Realitäten  zu  erkennen". 
—  „Dem  Theologen  ist  es  eine  gute  Zucht  und  Schule,  wenn  er 
sich  an  exacte,  pi^cise  and  messbare  Bestimmungen  gewöhnen  und 
Thatsachen  reden  lassen  muss"  Cp-  '5).  „Auch  die  Furcht  vor  einem 
alle  Freiheit  verschlingenden  Naturdeterminismus  darf  uns  nicht  ab- 
halten, die  Wirklichkeit  eines  oi^anisch  gearteten  Causal-Nexus  in 
der  moraliÄChen  Welt  anzuerkennen  und  der  Sache  mit  Wahrheits- 
liebe auf  den  Grund  zn  schauen"  (jp.  24J.  Noch  aber  will  Verf.  es 
mit  seinen.  Paehgenossen  nicht  ganz  verderben:  „es  könne  ihm 
schlechterdings  nicht  in  den  Sinn  kommen,  die  Theologie  in  irgend 
welche  Abhängigkeit  von  der  Statistik  zu  setzen,  oder  gar  die  Sta-^ 
üstik  von  theologischen  Principien  aus  zu  meistern.  Die  Statistik 
soll  nur  das  anderweitig  schon  Feststehende,  das  biblisch  und  kirch- 
lich Gonstatirte  von  einer  anderen  Seite  beleuchten"  (p.  75).  Wir, 
die  wir  nicht  das  Glück  haben,  vom  Verfasser  zu  „den  Männern  der 
Geisteswissenschaft"  gerechnet  zu  werden,  machen  aber  einen  Unter- 
schied zwischen  dem  „anderweitig  Feststehenden"  und  dem  „bib- 
lisch und  kirchlich  Constatirten".  Es  ist  ein  Unterschied,  wie 
zwischen  „Gesetz"  und  „Satzung"  — jenes  existirt  durch  sich  selbst, 
„von  Anfang  an"  —  dieses  ist  von  Menschen  gemacht,  oft  leider 
jenen  „Gesetzen"  zum  Hohn.  Der  zweite  Theil  des  vorliegenden 
Werkes  wird  uns  wohl  belehren,  welche  Erscheinungen  im  Sich- 
darleben der  Menschheit  der  Verfasser  zu  Erscheinungen  „maassen- 
des  Gesetzes"  und  welche  er  zu  denen  „maassen-der  Satzungen" 
rechnet,  —  Wenn  die  Statistik  nur  ein  Mittel  sein  soll,  etwas  schon 


Notizen.  108 

Feststehendes,  etwas  scHon  Constatirtes  von  einer  anderen  Seite  zu 
beleuchten,  so  wäre  sie  ja  gleichwie  das  gegenwärtige  ökumenische 
Bejahen  v^rab  redigirter  Beschlüsse.  Wir  sehen  aber,  dass  Verf. 
einen  würdigeren  Gebrauch  von  den,  auch  aus  den  Beobachtungen 
der  Männer,  die  keine  „Männer  der  Geisteswissenschaft"  sind,  her- 
stammenden Resultaten  macht,  dass  er  es  nicht  scheut,  „gleichsam 
müde  geworden  von  fruchtloser,  moralischer  Denkarbeit  als  ein  er- 
löster uud  bekehrter  Sisyphus  sich  auf  die  nüchterne  Wirklichkeit 
zu  besinnen,  und  statt  ethischer  Speculationen  und  theologischer  Dia- 
lektik die  Gesetze  der  sittlichen  Bewegungen  in  mathematischer 
Unwiderlegbarkeit  zu  entwickeln''  (p.  2).  Das  ist  es  gerade,  warum 
wir  die  „Moralstatistik  etc.",  von  einem  Professor  der  Theologie  in 
Dorpat  verfasst,  als  eine  erfreuliche  Erscheinung  begrüssen,  wenn  er 
auch  der  Naturwissenschaft  noch  einige  Seitenhiebe  giebt:  „sie  wolle, 
obgleich  jüngstes  Kind  der  Minerva  (?),  sich  von  allen  philosophi- 
schen Disciplinen  emancipiren  (?).  Die  Grenzenlosigkeit  ihres  An- 
spruches (?)  sei  gerade  kein  Beweis  ihrer  Erudition;  das  bene 
distingueresei  durchaus  nicht  ihre  starke  Seite  (?):  das  berechtigte 
Ethos  der  Naturwissenschaft  werde  oft  zum  unberechtigten  Pathos, 
zur  leeren,  unwissenschaftlichen  Phrase  (?),  wenn  sie  die  empiri- 
schen (?)  Naturgesetze  in  das  Gebiet  geistigen  Lebens  hinein  esca- 
motire"  (pg.  13).     Quot  Verba,  tot  saxa! 

Lange  bevor  Vater  Zeus  und  die  übrigen  Väter  sich  den  Kopf 
zerspalteten  zur  Beglückung  der  Menschheit  mit  hartgepanzerten,  an 
allen  Gliedern  geschienten  Hirn-Gespenstern,  ist  Naturforschung  geübt 
worden  von  den  ersten  unscheinbaren  Lebewesen  durch  Erfühlung 
der  Aussenwelt,  welche  nothwendigerweise  zur  Unterscheidung  des 
Ich  von  dem  Nicht-Ich  führte,  was  sie,  wenn  auch  nicht  mit  wohl- 
gesetzter Rede  und  DruckerschwärzJe,  so  doch  durch  freie  Bewegungen 
und  durch  selbständige,  aus  Innern  Zuständen  entspringende  Hand- 
lungen ausdrückten.  Als  Naturforscher  hat  sich  die  ganze 
unendliche  Reihe  der  lebenden  Wesen  durchgearbeitet  von  den 
ersten  aus  zartem  organischen  Plasma  geformten  Amöben  bis  zum 
Menschen  hinauf,  immer  prüfend  und  erkennend,  was  die  Aussenwelt 
ihnen  entgegenstellte.  Die  erste  und  mächtigste  und  folgenreichste 
Eigenschaft  der  organisirten  Wesen,  die  Vererbung,  drückte  den 
Forschungstrieb  so  tief  in  die  Wesenheit  alles  Lebendigen,  häufte 
so  unmerklich  das  gewonnene  Material  der  Erkenntnisse  in  den 
Wesen  auf,  dass  sie  unbewusst  einen  ungeheuren  Vorrath  von  natüi*- 
lichem   Wissen  als  durch  Aeonen   hindurch    angesammeltes  Kapital 


104  Notizen. 

mit  sich  auf  die  Welt  brachten,  wenn  sie  geboren  wurden.  Anch 
die  Menschen,  welche  die  reichsten  Erben  geistiger  Braparnisse  ihrer 
Ahnen  sind,  schwelgen  im  Genüsse  der  schwer  und  langsam  durch 
Milliarden  von  Jahren  ermngenen  Schätze,  geniessen  die  durch 
bewunderungswürdigste  Conseriuenz  nicht  bloss  festgehaltenen,  son- 
dern stetig  vermehrten  Privilegien  ihrer  Leibesorganisation  und 
Thatigkeit,  und  wollen  es,  wenn  sie  sieh  für  recht  was  Ausge- 
zeichnetes und  Vornehmea  im  Range  unter  dem  übrigen  Volke 
der  Lebewesen  halten,  den  Ür-Ur-Ahnen  doch  nicht  mal  Dank 
wissen,  dass  sie  geworden  sind,  was  sie  sind.  Allein  so  gebahren 
sich  nur  die  Vornehmsten  unter  den  Vornehmen,  die  „M&nner  der 
Geisteewissenachaft" ;  wem  die  Erinnerung  im  Seelenorgane  auf- 
blitzt, dass  er  am  Ariadnefaden  der  realen  stofQichen  Entwickelnng 
von  niedrigster  plebejer  Herkunft  stamme,  den  nennen  Jene  einen 
„Materialisten",  einen  Menschen  „ohne  Erudition"  —  einen  „Athe- 
isten" —  und  weil  er  sich  von  der  Polizei  geheim  -  philosophischer 
Bisciplinen  emancipiren  will,  einen  Attentäter  auf  die  Vernunft! 
SeinWissen  soll  nur  a  posteriori  kommen,  hintennach  laufen,  während 
es  doch  vorangeht,  denn  nihil  est  in  intellectu  quod  non  antea 
fuerit  in  sensu.  Mit  weit  grösserem  Rechte  könnte  man  sagen: 
es  kommt  her  a  prioribus,  d.  h.  von  allem  seit  Aeonen  im  Ver- 
mächtnisse der  Dahingeschiedenen  überantworteten  Empfiindenen, 
Gewollten  und  Gedachten.  Wer  sieh  auf  Verification  seiner  ange- 
erbten Reichthümer,  seiner  „immanenten"  Lebensschatze,  elnlasst, 
dessen  Ansprüche  sind  also  nicht  „grenzenlose",  sondern  legitime. 
Was  das  bene  distinguere  anlangt,  so  haben  die  Naturforscher 
darin  eine  grosse  Thätigkeit  bewiesen.  Sie  haben  durch  Errichtung 
von  Systemen-Phalanxen,  durch  Erfindung  der  schärfsten  diagnostischen 
Waffen,  selbst  durch  wiederholte  Versuche,  feilgebotene  philosophische 
und  theosophische  Windlichter  anzuwenden,  ihr  Streben  nach  dem 
bene  distinguere  seit  Jahrhunderten  an  den  Tag  gelegt.  Und  das 
Pathos?  die  leere  Phrase?  Dazu  mangeln  bei  Philosophen  und 
Theologen ,  selbst  im  vorliegenden  Buche ,  nicht  die  Beispiele. 
Empirische  Naturgesetze?  Wir  bescheiden  uns  gern,  aus  hervor- 
gegrabenen Grundmauerresten  Vermuthungen  auf  architektonische 
Regeln,  nach  denen  die  alte  und  neue  Welt  sich  aufgebaut  haben, 
zu  bilden;  umgekehrt  verfahren  diejenigen,  welche  aller  Erfahrung 
leere  Geistesgesetze  in  das  Gebiet  der  Natur  hineinescamotiren  wollen, 
sehr  anspruchsvoll  „denn  es  ist  sehr  was  Ungereimtes,  von  der 
Vernunft  Aufklärung  zu  erwarten  und  ihr  doch  vorher  vorzuschreiben, 


Notizen.  108 

auf  welche  Seite  sie  nothwendig  ausfallen  müsse",  sagt  Kant  (Kritik 
der  reinen  Vernunft,  8.  Aufl.,  pag.  775).  Mit  der  Erudition  —  wenn 
das  viel-gelesen-haben  bedeutet  —  sieht  es  freilich,  das  müssten  wir 
zugeben,  manchmal  bei  den  Naturforschem  schlimm  aus:  sie  treiben 
sich  in  der  Welt  herum,  sie  gucken  und  horchen  überall  hin,  in  die 
Tiefen  der  Erde  und  des  Meeres,  in  die  Höhen  der  Lüfte  und  des 
Himmelsäthers,  sie  wägen  und  betasten,  sie  analysiren  und  componiren, 
80  dass  Ihnen  keine  Zeit  übrig  bleibt  zum  gemüthlichen  Lesen  in 
vergilbten  Schriften  und  Documenten  menschlicher  Verirrungen  — 
sie  denken  nicht  nach  Andern,  sondern  selbst! 

Doch  wollen  wir  uns  nicht  „unnütz  befehden  noch  gegenseitig 
aufzehren",  sondern  „tendenzlos"  einander  zu  verstehen  suchen. 
Täuscht  uns  nicht  alle  Lebenserfahrung,  so  werden  nach  ein  paar 
Jahrzehnten  die  Zollgrenzen  zwischen  Materialismus  und  Idealismus 
im  grossen  Bundesstaate  der  Wissenschaften  gefallen  sein  und  man 
wird,  weder  dort  noch  hier  mehr  nöthig  haben,  materielle  Causalität 
und  geistige  Causalität  als  Fabrikate  verschiedener  Gebiete  herüber 
und  hinüber  zu  escamotiren. 

Das  ganze  Werk:  „Versuch  einer  Socialethik  nach  empirischer 
Grundlage",  ist  nach  einem  grossartigen  Plane  angelegt.  Der  erste 
Theil,  welcher  die  empirische  Grundlage  der  später  nachfolgenden 
Socialethik  herzustellen  bestimmt  ist  und  daher  den  Namen  „Moral- 
statistik" (sollte  heissen  Moralitäts-  oder  richtiger  Lnmoralitätsstatistik) 
führt,  umfasst  in  zwei  ungleich  grossen  Heften  994  Seiten;  ausserdem 
noch  Tabellen  nebst  Quellenangaben  auf  194  Seiten.  Dass  dieser 
erste  Theil  zu  einem  solchen  Umfange  angeschwollen,  beweist,  dass 
der  Verf,  wohl  so  etwas  von  Befriedigung  nach  fruditloser  Sisyphus- 
Arbeit  empfunden  haben  mag,  als  er  in  die  nüchterne  Wirklichkeit 
eingetreten  war,  und  nun  doch,  was  er  schöpfte,  im  Gefässe  behielt. 
Das  Material  ist  ihm  denn  auch  wider  Erwarten  übergeflossen,  wes-^ 
halb  er  uns  wohl  zumuihet,  sämmtliche  1183  Seiten  in  einem  Bande 
zusammenzubinden.  Dadurch  aber  wird  das  Zuviel  um  nichts  weniger. 
Statistiker  von  Profession  mögen  sich  über  die  mit  grosser  Liberalität 
und  Genauigkeit  wörtlich  in  allen  möglichen  lebenden  und  todten 
Sprachen  abgedruckten  Citaten  freuen ,  und  wem  der  grosse  literarische 
Apparat  nicht  zu  Gebote  steht,  der  wird  es  mit  Dank  anerkennen, 
dass  ihm  hier  ohne  Geld  und  Müh6  eine  Masse  Thatsachen  und  Be- 
trachtungen, sogar  alphabetisch  registrirt,  zur  Benutzung  vorgelegt 
sind.  Nur- den  Fachgenossen  des  Verfassers,  den  Theologen,  scheint 
die   Ptille   von    ziffermässig   beglaubigtem   Material    ausserhalb    des 


10^  Notizen. 

Bereiches  ihrer  GeisteBarbeit  gelegen  zu  haben,  —  denn  in  der  Vor- 
rede zur  zwßiten  Hälfte  des  Werkes  beklagt  er  es  achnierzlich,  daes 
seiner  statistisch  zu  begründenden  christlichen  Sittenlehre  in  der 
theologischen  Welt  die  erwünschte  Gunst  noch  nicht  entgegen  ge- 
bracht werde.  Es  sollte  uns  leid  thun,  wenn  die  Beachtung  und  An- 
erkennung, welche  die  Methode  und  der  Charakter  der  ganzen  Arbeit 
bei  uns,  die  wir  nicht  zu  den  „Männern  der  Geiateswissenachaft" 
gehören,  finden  muss  und  finden  wird,  ihm  seine  alten  4ieben  Genossen 
abwendig  machen  sollte.  Allein  wir  können  nicht  anders,  als  ihm 
dafür  dankbar  sein,  dass  er  dem  Realismua  auf  dem  Gebiete  der 
Geisteswissenschaften  überhaupt  seine  Aufmerksamkeit  zugewendet 
hat  (Einleitung  p.  1—29)  —  es  bleibt  immer  Etwas  hangen  —  und 
freuen  uns,  dass  er  in  den  nachfolgenden  20  Seiten  „das  Bedürfniss 
einer  Socialethik  auf  empirischer  Grundlage"  fühlt. 

Im  3.  Abschnitte  der  Einleitung  (pag.  57—80)  räumt  Verfasser 
der  Statistik  einen  wiaseuschattliehen  Werth  für  die  christliche  Sitten- 
lehre ein  und  macht  auf  den  Unterschied  aufmerksam,  welcher 
zwischen  Gesetzen  existirt,  die  von  Menschen  in  Wort  und  Schrift 
ausgedrückt,  und  Gesetzen,  die  von  der  Natur  in  die  Menschheit  ein- 
gepflanzt sind.  Erstere  sollten  doch,  des  bene  distinguere  halber, 
ein  für  allemal  Satzungen,  Ukase,  genannt  werden,  letztere  aber 
Gesetze,  welche  durch  diesen  Namen  an  den  über- und  vormensch- 
lißhen,  gleichsam  paläontologiachen  Ursprung  erinnern.  Der  Natur- 
forscher, der  Gesetzeskundige  vom  reinsten  Wasser,  zieht  aus  den 
/iflforn  i^Pr  Tmmm-nlitötgatatiatik  manchmal  einen  andern  Sehluss  als 
r  Gerichtsverwalter, 

folgt  nun  eine  historisch-kiitische  Umschau 
itatistiscben  Leistungen  über  die  moralischen 
Menschheit.  Diese  vier  Capitel  müssen  selbst 
äkern  von  höchstem  Interesse  sein.  Es  werden 
tik  überhaupt  —  dieser  in  der  That  jüngsten 

-  besprochen;  dann  wird  als  Begründer  der 
3h,   „ein  schlichter,   ehrlicher  Theologe"  vor- 

den  „delstisch  gefärbten,  sonst  aber  ehrlich 
las  naive  Zöpflein  des  18.  Jahrhunderts"  zugut 
rfasser  mit,  wie  die  statistischen  Tendenzen 
isen  Einfluse  auf  die  Entstehung  einer  „Moral- 

—  wie,  nach  einem  Zwischenräume  von  zweien 
jien  und  Frankreich  durch  Qu^telet,  Villerm^ 
eschichte  des  Menschen  als  GeseUschaftslehre, 


physique  sociale,  eine  neue  Bearbeitung  auf  mathematischer  Grund- 
lage erfahren  habe  und  wie  somit  das  Grundgesetz  aller  Logik  der 
Erscheinungen :  dass  die  Wirkungen  den  Ursachen  proportional  sind, 
auch  in  dem  menschlichen  Thun  und  Treiben  zu  voller  Bedeutung 
erhoben  worden  sei.  Das  war  ein  glücklicher  Schnitt  in  das  „naive 
Zöpflein'^  wodurch ,^  unserer  Ansicht  nach.  Naturwüchsigkeit  und 
natürliche  Färbung  da  oben  am  Himschädel  wieder  zur  Geltung 
kamen!— Obgleich Qu^telets^toutepuissance'' und  sein  „crdateur*^ 
nicht  den  dogmatischen  persönlichen  Gott  decken  —  indem  er  beide 
vom  Naturgesetze  beherrscht  sein  lässt,  —  so  kann  Verf.  doch  nicht 
leugnen,  dass  der  in  den  Schriften  Qu^telets  sich  durchziehende 
Hauptgedanke  auf  alle  Moralstatistiker,  sowie  auf  ihn  selber,  einen 
unverkennbaren  Eindruck  gemacht  habe.  Dieser  Gedanke,  dass  der 
einzelne  Mensch  sich  in  seinen  sinnlich  materiellen  wie  in  seinen 
geistigen  Kundgebungen  nach  naturnothwendigen  Gesetzen  bewege, 
fand  immer  mehr  Boden.  Wenn  der  Mensch  auch ,  gleich  dem  an 
die  Erde  gefesselten  Monde,  sich  bald  rechts,  bald  links,  bald  vor, 
bald  hinter  dem  Schwerpunkte  seiner  Anziehung  bewegt,  und  mithin 
in  seinem  Sichdarleben  eine  Cycloide  beschreibt,  so  bilden  doch  alle 
einzelne  Menschen-Cycloiden ,  mit  Kreide  auf  einer  Tafel  zusammen 
gezeichnet,  eine  Linie^  innerhalb  deren  Breite  sich  eine  regelmässige 
ideale  Figur  erkennen  lässt:  die  Richtlinie  der  Menschheit,  in  einer 
Form,  wie  seit  Millionen  von  Jahrhunderten  sie  durch  Selbstbestimmung 
geworden,  nicht  esoterisch  gewollt  ist.  Diese  Form  hat,  eben 
weil  Alles  und  Alles,  immer  und  immer  auf  der  Erde  Eins  aus  dem 
Andern  entstanden  und  geschehen  ist,  das  Ansehen  von  innerer 
Zweckmässigkeit  und  durch  den  millionenmal  von  Generation  auf 
Generation  vererbten  Usus  die  Kraft  und  den  Namen  eines  Natur- 
gesetzes erhalten.  Ohnmächtig  sind  im  Verhältniss  zu  dieser  Legitimität 
die  „causes  perturbatrices"  und  die  schmächtigen  Velleitäten  des 
Einzelnen.  Ohne  Furcht  und  mit  Gewissensruhe  unterschreiben  wir 
die  ironisch  gemeinte  Phrase  des  Verfassers:  „Die  Riesenschlange 
eines  pantheistisch  oder  realistisch  gedachten  Causalzusammenhanges 
droht  mit  ihren  Windungen  nicht  bloss  in  der  Statistik,  sondern  auch 
in  aller  Naturphilosophie  die  kleine  und  grosse  Willensfreiheit  zu 
Tode  zu  drücken."    (p.  126.)  ^ 

Hierauf  kommen  wir  zu  den  englischen  Leistungen  auf  dem 
Gebiete  der  Statistik  der  Willenshandlungen.  Sie  tragen,  wie  Verf. 
bemerkt,  einen  durch  und  durch  andern  Charakter  als  die  französischen, 
einen  praktischen  —  wir  möchten  sagen  kaufmännischen  der  doppelten 


1(Ä  Notizen. 

Buchführung,  ohne  alle  Gemüthlichkeit.  Porfcer's,  Miirs,  Lewes,  wird 
lobend  gedj^cht;  Buckle  geht  es,  wie  zu  erwarten  war,  Bchlimm  — 
der  ist  auch  gar  zu  erbosst  auf  clericalen  Dogmatiamus  I  —  Den 
„Moralstatistikern"  Deutschlands  räumt  Verfasser  in  Betreff  der 
kritischen  und  philosophischen  Beleuchtung  der  Controversen  den 
Vorrang  vor  den  belgischen  und  französischen  ein,  obgleich  ßie  die 
eigentliche  Moralstatistik  etwas  stiefmütterlich  behandeln,  (p.  185.) 
Die  Arbeiten  Dieterici's,  Engel's,  Hoffmann's,  Wappaeus,  Drobisch's 
und  seines  Collegen  an  der  Dorpater  Universität  A.  Wagner's  (gegen- 
wärtig Professor  in  Freiburg)  bespricht  er  ausführlich,  wobei  er 
manchen  Fehdehandschuh  auf  die  Arena  wirft,  welchen  die  Statistiker 
von  Profession  aufeuheben  nicht  ermangeln  werden. 

Im  3.  Abschnitte  (p.  235—312)  zeigt  Verfasser,  dass  die  Statistik 
als  numerische  Methode  nicht  Selbstzweck  sei,  sondern  nur  Mittel, 
um  die  Verursachung  gewisser  Phänomene  zu  erkennen.  Sie  solle  in 
»einem  Werke  mitbin  als  Hülfswissenechaft  zur  Erkenntniss  der 
geistig-sittlichen  Natur  des  Menschen  angewendet  werden,  sie  solle 
die  Aetiologie  des  gesunden  wie  des  kranken  moralischen  Zustandes 
der  Menschengruppen  aufklären,  auch  durch  Zahlen  einen  Wink  geben: 
ob  und  wie  Staatskünstler  ihre  Aufgabe,  den  Staat  gesund  zu  erhalten, 
den  kranken  zu  heilen,  lösen.  Das  statistische  Material  dürfe  weder 
absichtlich,  noch  unabsichtlich  gefälscht  und  missbraucht  werden; 
die  officiellen  Documenta  systematischer  Massenbeobachtung  müssten 
eine  fides  publica  haben,  nkilit  zu  enge  Zeiträume  umfassen. 
Mit  den  arithmetischen  Mittel werüien  allein  lasse  sich  Nichts  ergründen, 
es  müssten  die  Verhältnisszahlen  der  moralischen  (resp.  immoralischen) 
Thaten  zu  der  Menscbenzahl ,  die  moralischen  Werthmesser  der 
Nationen  gegen  einander  verglichen  werden.  Sehr  richtig  tadelt  er 
den  Missbrauch  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  wenn  man  danach 
das  Moralitäts- Conto  des  einzelnen  Menschen  belasten  wolle.  Bei 
dieser  Gelegenheit  müssen  wir  doch  als  Beispiel,  wie  schwer  es  ist, 
das  „naive"  Glaubens-Zöpflein  von  dem  Hinterhaupte  an  die  Stelle  der 
Wissensglatze  nach  vom  zu  drehen,  folgende  Betrachtung  des  Verf. 
mittheilen.  „Wer  will  das  wirklich  Mögliche  und  Unmögliche  be- 
rechnen! Es  bleibt  immer  möglich,  dass  der  einzelne  Mensch,  trotz 
der  allgemeinen -entgegenstehenden  Erfahrung,  doch  nicht  stirbt, 
d.  h.  etwa  verwandelt  oder  in  den  Himmel  gerückt  werden 
kann,  wie  Henoch  und  Elias;  allein  für  mich  bleibt  es  immer 
absolut  unwahrscheinlich  , und  ich  habe  empirisch  die  Gewissheit 
zu  sterben."    (p.  257.)    Wenn   das    am  klassisch   und  mathematisch 


Notizen.  109 

gebildeten  Kopfe  unseres  verehrten  Professors  der  Theologie  an  der 
Hochschule  geschieht  —  was  mögen  da  an  den  Köpfen  geringerer 
Religionslehrer  für  Zöpflein  hinten  bammeln?! 

Nachdem  Verf.  über  Gebrauch  und  Missbrauch  des  sogen.  Ge- 
setzes der  grossen  Zahl  und  von  der  Analyse  und  der  technischen 
Gruppirung  der  statistischen  Daten  gesprochen,  fasst  er  im  6.  Capitel 
dieses  Abschnittes  seine  Gedanken  über  den  inductiven  Nachweis  der 
Gesetzmässigkeit  sittlicher  Lebensbewegung  aus  statistischen  Daten, 
über  den  Begriff  der  Gesetzmässigkeit  und  der  Freiheit  nochmals  zusam- 
men. Dass  er  über  Personen,  welche  ein  Causalgesetz  überhaupt  nicht 
anerkennen  wollen,  oder  welche  eines  gewissen  philosophischen  An- 
striches halber  vorgeben  zweifeln  zu  müssen,  dass  morgen  die  Sonne 
aufgehen  werde  oder  dass  eine  Aussenwelt  wirklich  existire,  noch 
Worte  verliert  (pag.  236)  ist  ganz  unnütz:  die  „Social -Ethik"  hat 
nur  Sinn  und  Werth  unter  Menschen,  die  wirklich  neben  dem 
Verfasser  existiren;  seine  Methode,  seine  Resultate  werden  geschätzt 
werden,  gleichviel  für  welche  Hypothese  von  den  letzten  Ursachen, 
von  absolutem  Willen,  von  Freiheit  und  dergl.  die  Leser  sich  erklären 

mögen. 

Von  pag.  300  an  stellt  er  sich  wieder  auf  den  praktischen 
Standpunkt.  ^Um  aus  dem  allgemeinen  Raisonnement  herauszu- 
kommen, will  ich  das  den  angegebenen  Principien  entsprechende 
Verursachungssystem  anzugeben  und  zu  begründen  suchen."  So 
gruppirt  er  denn  die  Einflüsse  auf  die  sittliche  Lebensbewegung  der 
Menschheit,  wie  die  Arzneigelehrten  die  Krankheitsanlagen  und  die 
GelegenheitÄui:sachen  zu  Krankheiten  in  den  Handbüchern  der  Patho- 
logie. Diese  Moralitäts-  oder  Immoralitäts  - Aetiologie  scheint  uns 
erschöpfend  zu  sein.  Nur  der  zwingenden  Vererbungskraft,  dieser 
Grundeigenschaft  der  pflanzlichen  und  thierischen  Organismen,  hat 
Verf.  nirgends  in  seinem  Schema  gedacht.  Dieses  umfasst: 
L   Physische  Einflüsse. 

a.  unversell  bedingende  und  bedingte  (planetarische,  terrestrische 
Verhältnisse) ; 

b.  social  bedingende  und  bedingte  (Nationalität,  geographische, 
hygieinische  Verhältnisse) ; 

c.  individuell  bedingte  und  bedingende  (Alter,  physisch-leibliche 
Beschaflfenheit). 

n.    Geistig-sittliche  Einflüsse : 

a.   universell    wirkende     (allgemeine    Intelligenz,    allgemeines 
Ethos) ; 


110  Notizen. 

b.  social  wirkende   (Familie,  Staatsverfassung,  Administration, 
Kirche) ; 

c.  individuell  wirkende  (Herkunft,  geistige  Begabung,  intellectu- 
eller  und  religiöser  Bildungsstand,  Berufsstellung). 

Verf.  will  in  der  nun  folgenden  Analyse  der  moralstatistischen 
Daten  jene  schematische  Gruppirung  stets  im  Auge  behalten;  wir 
finden  aber,  dass  er  in  dieser  über  680  Seiten  starken  Hälfte  des 
ersten  Theils  das  reiche  Material  anders  gruppirt.  Er  handelt  im 
I.  Abschnitt  von  der  Lebenserzeugung  im  Organismus  der  Menschheit: 

a.  Polarität  und  Gleichgewicht  der  Geschlechter; 

b.  Geschlechtsgemeinschaft; 

c.  Progenitur; 

im   n.  Abschnitte  von  der  Lebensbethätigung    im   Organismus    der 
Menshheit : 

a.  social-ethische  Lebensbethätigung  in  der  bürgerlichen  Rechts- 
sphäre ; 

b.  social-ethische  Lebensbethätigung  in  der  intellectuell-ethischen 
Bildungssphäre; 

c.  social-ethische  Lebensbethätigung  innerhalb  der  religiös-sitt- 
lichen Sphäre; 

im  ni.  Abschnitte  vom  Tode  im  Organismus  der  Menschheit: 

a.  Siechthum  und  Sterblichkeit  im  Zusammenhange  mit  sittlichen 
Factoren ; 

b.  das  Verbrechen  des  Mordes,  als  Ausdruck  einer  CoUectivschuld; 

c.  der  Selbstmord. 

Die  „Schlusserörterung"  auf  50  Seiten  endet  mit  der  „Bedeutung 
der  gefundenen  ethischen  Gesetze  für  das  praktische  Leben*. 

Alles  das  bietet  viel,  sehr  viel  Stoff  zum  Nachdenken  und  zur 
Besprechung  in  einem  zweiten  Artikel. 

—  cz. 


Eaifcurpilanzen  und  Hausthiere  in  ihrem  Uebergang  aus  Asien  nach  Griechenland 
und  Italien  sowie  in  das  übrige  Europa.  Historisch -linguistische  Skizzen 
von  Victor  Hehn.    BerHn  1870. 

Die  Baltische  Monatsschrift  hatte  in  früheren  Jahren  das  Glück, 
den  Verfasser  des  hier  angezeigten  Buches  zu  ihren  Mitarbeitern  zu 
zählen,  und  wohl  alle  ihre  Leser  werden  darin  einig  sein,  dass  seine 
Beiträge  —  mit  oder  ohne  Namensunterschrift  —  zu  dem  Allerbesten 
gehörten,  was  diese  Zeitschrift  überhaupt  gebracht  hat.  Konnte  man 
doch  auch,  so  oft  als  im  Publicum  von  den  späteren  Umständen  und 


Notizen.  111 

Nötlien  der  Monatsschrift  die  Rede  war,  fast  sicher  auf  den  Seufzer 
gefasst  sein:  „Warum  schreibt  Hehn  nicht  mehr?"* 

Eine  genügende  Antwort  auf  diese  Frage  giebt,  abgesehen  von 
allen  andern  etwa  noch  möglichen  Gründen,  eben  das  Erscheinen 
dieses  grösseren  Werkes  von  ihm,  füi'  dessen  Herstellung  es  ebenso 
mühsamer  Sammlung  eines  weitverstreuten  Materials,  als  tief  ein- 
dringender Gedankenarbeit  bedurft  hat. 

Es  ist  nicht  etwa  bloss  eine  geschmackvoll  populäre  Verarbeitung 
und  Darstellung  von  wissenschaftlichen  Ergebnissen,  die  den  betreffen- 
den Fachgelehrten  schon  vorher  fest  standen,  sondern  vielmehr  selbst 
eine  streng  wissenschaftliche  und  die  bisherigen  Gränzen  der  Er- 
kenntniss  erweiternde  Forschung,  die  ihrerseits  ohne  Zweifel  alsbald 
eine  Fundgrube  für  die  populären  Verarbeiter  und  Darsteller  ab- 
geben wird.  Demnach  ist  es  auch  ein  Werk,  dessen  Leetüre  eine 
bestimmte  Art  von  Vorkenntnissen  erfordert.  Die  lateinischen  und 
griechischen  Citate,  mit  denen  es  angefüllt  ist,  und  noch  mehr  die 
sprachvergleichenden  Demonstrationen,  von  denen  freilich  schon  zur 
Erleichterung  des  Lesens  ein  grosser  Theil  in  den  „Anmerkungen" 
am  Ende  des  Buches  abgesetzt  ist,  können  nicht  jedem  Gebildeten 
als  solchem  anstehen.  Ja,  von  dem  letzteren,  sprachvergleichen- 
den Momente  der  Untersuchung  muss  gesagt  werden,  dass  es  volle 
Beweiskraft  überhaupt  nur  für  Denjenigen  hat,  der  schon  mehr  oder 
weniger  mit  der  Methode  und  den  Ergebnissen  der  neueren  Sprach- 
wissenschaft vertraut  ist.  Während  der  Linguist  von  Fach  aner- 
kennnen  wird,  dass  Hehn  sich  auf  diesem  Gebiete  mit  der  äussersten 
Vorsicht  verhalten  und  nur  die  sichersten  Schlussfolgerungen  ent- 
weder von  Anderen  angenommen  oder  selbst  gemacht  hat,  dürfte 
dem  Uneingeweihten  das  Meiste  davon  höchstens  als  geistreiche 
Hypothese  erscheinen.  So  aber  erschien  einst  den .  Zeitgenossen 
auch  das  Copernicanische  System  und  noch  vieles  Andere,  was  jetzt 
als  unerschütterliche  Wahrheit  in  die  allgemeinere  Erkenntnissmasse 
der  Menschen  übergegangen  ist.  Nur  weil  diese  Art  von  Sprach- 
forschung noch  neu  ist,*  macht  sie  auf  die  darin  Ungeschulten  den 
Eindruck  nicht  exact  zu  sein. 

Immerhin  empfehlen  wir  auch  den  unphilologischen  unter  den 
Lesern,  ja  Leserinnen  der  Baltischen  Monatsschrift  sich  durch  das 
ihnen  zunächst  entgegentretende  Stachelwerk  von  Gelehrsamkait  nicht 
abschrecken  zu  lassen.  Bei  näherer  Durchsicht  werden  sie  sich  durch 
viele  auch  ihrem  Verständniss  offen  liegende  einzelne  Stellen  und 
grössere  Partien  des  Buches  überreichlich  belohnt  finden.  Auch 
denke  niemand,  dass  „Kulturpflanzen  und  Hausthiere**  ein  gar  zu 
specielles  und  dem  breiteren  Bildungsinteresse  gleichgültiges  Thema 
sei.  Wir  können  gegen  eine  solche  Vorstellung  von  der  Sache  nichts 
Besseres  thun  als  des  Verfassers  eigene  Worte  anführen. 

„Zunächst  —  so  lesen  wir  bei  ihm  —  ist  die  Bodenkultur,  die 
Garten-  und  Hauswirthschaft  nur  der  Theil  eines  Ganzen,  ein  blosser 
Ausschnitt  aus  der  allseitig  sich  vollziehenden  Bildungs-  und  Ver- 
edelungsgeschichte  der  Menschheit.      Dennoch    spiegelt    sich   auch 


112  Notizen. 

wieder  im  Einzelnen  das  Allgemeine,  und  wie  die  Kulturpflanzen 
von  Volk  zu  Volk,  von  Ost  nach  West,  von  Süd  nach  Nord  ge- 
wandert sind,  so  in  derselben  Richtung  und  Zeit  auch  die  Freiheit 
und  Kultur  selbst  in  jeder  Gestalt.  Aus  Indien  und  Persien,  aus 
Syrien  und  Armenien  stammen  unsere  Feld-  und  Baumfrüchte,  eben 
daher  auch  unsere  Märchen  und  Sagen,  unsere  religiösen  Systeme, 
alle  primitiven  Erfindungen  und  grundlegenden  technischen  Künste. 
Griechenland  und  Italien  führten  uns  die  Nähr-  und  Nutzpflanzen 
zu,  mit  denen  wir  im  mittleren  und  nördlichen  Europa  unsere  An- 
siedelungen umgeben,  und  eben  diese  Länder  lehrten  uns  in  eben 
dieser  Reihenfolge  edlere  Sitte,  tieferes  Denken,  ideale  Kunst,  humane 
Zwecke  und  die  höheren  Formen  politischer  und  socialer  Gemein- 
schaft. Was  die  Pflanzengeschichte  bezeugt,  würde  auch  von  der 
Kulturgeschichte  im  umfassenden  Sinne  nicht  anders  ausgesagt  werden." 

Mit  andern  Worten :  die  Geschichte  der  Culturpflanzen  und  Haus- 
thiere  ist  in  gewissem  Maasse  zugleich  die  Geschichte  des  Herrn 
über  dieselben,  des  Menschen.  Insbesondere  aber  —  so  möchten  wir 
noch  hinzusetzen  —  ist  die  älteste  Geschichte  der  Culturpflanzen 
und  Hausthiere  fast  gleichbedeutend  mit  der  Geschichte  der  ältesten 
menschlichen  Cultur  überhaupt;  denn  je  ursprünglicher  die  Zustände 
der  Menschheit  waren,  desto  vorwiegender  unter  den  sie  zu  That 
und  Arbeit  treibenden  Bedürfnissen  war  das  einfache  Nahrungs- 
bedürfniss,  welches  eben  die  Zähmung  und  Züchtung  von  Thieren 
und  den  Anbau  fruchttragender  Gewächse  gelehrt,  den  wilden  Jäger 
in  den  socialeren  Nomaden  und  diesen  in  den' aller  weiteren  Civili- 
sation  fähigen  Acker-  und  Gartenbauer  umgewandelt  hat. 

Daher  sind  es  denn  auch  die  Urzustände  der  europäischen  Völker, 
ihre  ersten  Wanderungen  und  ihr  ältester  Verkehr,  bei  denen  die  Dar- 
stellung verhältnissmässig  am  eingehendsten  verweilt,  ohne  jedoch 
in  dieser  Vorhalle  der  Ges'chichte  stehen  zu  bleiben.  Vielmehr  werden 
alle  Fäden  der  Untersuchung  durch  das  ganze  griechisch-römische 
Alterthum ,  manche  auch  bis  in  die  Neuzeit ,  über  die  Entdeckung 
Amerikas  hinaus,  fortgesponnen;  ja,  in  besonderen  Excursen  wird  fast 
das  ganze  Geschichtsbild  des  europäischen  Culturprocesses  mit  grossen 
aber  scharfen  Zügen  umrissen,  so  dass  wir  eigentlich  finden,  der 
Titel  des  Buches  sei  etwas  zu  eng  für  seinen  Inhalt. 

Wir  bedauern  nicht  auch  einige  der  merkwürdigsten  Ergebnisse 
dieser  geistvollen  Arbeit  hier  herausheben  zu  können:  der  dem 
Referenten  am  Schlüsse  des  ersten  Heftes  „neuer  Folge"  zur  Ver- 
fügung gestellte  Raum  ist  dafür  zu  knapp  ausgefallen.  Kaum  aber 
liegt  etwas  daran,  dass  wir  uns  ebenso  wenig  über  die  formellen 
Vorzüge  der  Darstellung  auslassen  können :  diese  sind  unsern  Lesern 
an  dem .  Verfasser  nichts  Neues.  — z. 


Von  der  Censur  erlaubt.      Riga,  den  19.  Februar  1870. 
Druck  der  Livländischen  Gouvernements-Typographie. 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


n.*3 

las  W^hoHttgsbedarfniss^  «den  Wie  viel  giebt  itr  leiseh  fiir  gfine  W«hnug  aHs! 

Ciin  Hauptbestreben  der  neueren  wisseng^phaftlichen  Statistik  ist  darauf 
gerichtet,  die  Gesetzmässigkeiten  in  den  scheinbar  willkürlichsten 
Handlungen  des  Menschen  nachzuweisen.  So  ist  gerade  in  der  jüngsten 
Zeit  in  unserm  Livland  ein  Hauptwerk  dieser  Richtung,  Oettingen's 
Moralßtatistik  erschienen,**)  für  die  baltischen  Provinzen  interessant 
als  das  Werk  eines  Livl'anders,  für  die  Statistik  von  Werth  durch  den, 
soviel  wir  wissen,  ersten  Versuch,  die  vielen  statistischen  Daten  über 
die  moralische  Seite  des  Menschen  nicht  nur  aus  ihrer  Zerstreuung 
äusserlich  zu  sammeln,  sondern  auf  die  Frage  nach  der  Gesetz- 
mässigkeit hin  in  innerlichen  Zusammenhang  zu  bringen,  und  für  die 
ganze  Wissenschaft  von  Bedeutung,  weil  das  Werk  von  einem  Theo- 
logen ausgeht,  welcher  der  Ethik  die  Vorzüge  der  inductiv- statisti- 
schen Methode  zuwenden  will. 

Ein  anderes,  materielleres  Gebiet  auf  welchem  man  neuerdings 
die  Entdeckung  von  Gesetzmässigkeiten  anstrebt,  ist  die  Consumtions- 
statistik,  Consumtion  verstanden  als  die  Befriedigung  aller  mensch- 
lichen Bedürfnisse.  Unter  allen  Bedürftiissen  des  Menschen,  d.  h. 
unter  all  seinen  Neigungen,  deren  Befriedigung  er  wünscht,  haben 
wir  uns  das,  sich  gegen  die  Unbilde  der  Witterung  und  gegen 
andere  Fatalitäten  durch  ein  Obdach  zu  schützen,  gewählt,  dasjenige 

•)   Vgl.  Baltische  Monatsschrift,  Jahrgang  1868,  Band  XVIII,  Heft  1,  S.  1: 

I.  Die  Wohnungen  Riga*s.    Später  werden  folgen: 
in.  Der  Einfluss  der  Wohnung  auf  die  Sittlichkeit. 
IV.  Die  Wohnung  in  ihrer  Abhängigkeit  vom  Geschäftslocal. 
**)  Alexander  v.  Oettingen,  Die  Moralstatistik  und  die  christliche  Sittenlehre, 
Versuch  einer  Socialethik  auf  empirischer  Grundlage.  I.  Theil.  Die  Moral  Statistik. 
Erlangen  1868,  1869. 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  2.  8 


114  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 

BedürfbisB  materieller  Natur,  welches  mit   dem  Menschen  das   Thier 
nur   ausnahmsweise   gemeinsam   hat:  sein  Wohnungsbedürfniss. 

Ein  erster  Versuch,  Gesetzmässigkeiten  in  der  Befriedigung  eines 
Bedürfnisses  zu  finden,  ist  auf  dem   Gebiete   desjenigen  Bedürfnisses 
gemacht,   welches  von   allen  Menschen   und   allen  Thieren  in    erster 
Linie  befriedigt  werden   muas,    auf   dem    des   Nahrungsbedürfnisses. 
Einleitungs weise  müssen  wir  auch  dieser  Untersuchung  gedenken. 
Zuvor  ein  Wort  über  die  BeschafiFimg  des  statistisclien  Materials. 
Mit  wenigen  Ausnahmen  wird  ein  grösseres  statistisches  Material 
nur  zwangsweise   durch    den  Staat  in   seinen   s.  g.   „statistischen 
Erhebungen"    beschafft,     „Staat",    etwas    weit    genommen,    als 
totum  pro  parte,  in  dem  ja  auch  kleine  Gemeinschaften,  wie  z.  B. 
Kreise  oder  Gemeinden  in   mehr  oder  minder  grosser  Abhängigkeit 
vom  Staat  statistische  Erhebungen  machen.     Den  Gegensatz  zu  diesen 
zwangsweisen  staatlichen  Ermittelungen  bilden  die  statistischen  Daten, 
welche  man  jedem  beliebigen  fragenden  Privatstatistiker  giebt.  Während 
die  Zwangsstatistik  des  Staates  in  erster  Linie  praktischen,  admini- 
strativen Zwecken  dient,  ist  die  Privatstatistik  meistens  wissenschaft- 
lichen Motiven  entsprungen.     Noch   liegt    die  Privatatatistik   in  den 
Windeln,  ja  vielleicht  mttsste  man  sagen,  dass  sie  kaum  schon  so  weit 
sei;  es  sind  einzelne  Bruchstücke  ohne  Zusammenhang  unter  einander, 
und  noch,  weniger   nach    einem  allgemeinen  Plan   ermittelt,    als  die 
ohl   giebt    es    an   vielen  Orten  Privatvereine    für 
Beschäftigung  ist  mehr,  das  staatlieh  beigebrachte 
eiten,  als  selbst  Material  ^u  sammeln.     In  diesen 
ch    von    Engel ,    dem    Director    des    preussischen 
118   der  Plan   zu  einem  grossen  Netze  statistischer 
n   deutscher  Zunge  ausgegangen*}.     Möchte  doch 
in    den   deutschen   Gauen   rechten  Anklang   und 
g   finden,    damit,   wie   es  überall   meteorologische 
nwarten  giebt,   auch  bald  „Menschenwarten", 
istiscben  Bureaus   öflCentlicher  und  privater  Natur 

mS  welche  Genüsse  die  Menschen  verschiedener 
Einkommen  vertheilen,  oder  in  welchem  Verhält- 
für verschiedene  Bedürfnisse   zu  einander   stehen, 

^gründang  eines  statistischen  VereinsDetzes  für  die  Länder 
iilage   EU   Heft   T,  8,   9   der  Zeitschrift   des  prensaiachen 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


115 


kann  bisher  lange  nicht  so  gut  beantwortet  werden,  als  man  bei  der 
Bedeutung  dieser  Frage,  welche  eine  der  Hauptgrundlagen  für  eine 
wahrhaft  wissenschaftliche,  d.  h.  für  eine  auf  methodischen  Massen- 
beobachtungen uild  nicht  bloss  auf  zufäUiger  Einzelbeobachtung  aufge- 
baute Ethnographie  ist,  erwarten  -sollte. 

Jeder  einzelne  Mensch  kann,  wenn  er  nur  einigermaassfen  Buch 
führt  über  seine  Ausgaben,  die  genauesten  Daten  mit  leichter  Mühe 
geben,  er  muss  nur  dazu  angeleitet  werden.  Damit  die  Daten  statistisch 
brauchbar,  d.  h.  vergleichbar  sind,  müssen  sie  nach  denselben  Grund- 
gedanken ermittelt  und  verzeichnet  werden.  Es  fehlt  nur  an  der 
Initiative.  Dass  diese  Ermittelung  für  jeden  richtig  Geleiteten  ein 
Leichtes  ist,  wird  wohl  durch  Nichts  besser  bewiesen  als*  dadurch, 
dass  gerade  aus  den  untersten,  ungebildetsten  Volksclassen  die  Daten 
hierüber  ermittelt  sind  durch  die  Bemühungen  des  Belgiers  Ducpätiaux 
und  des  Franzosen  Le  Play.  Beide  haben,  unabhängig  von  einander, 
unter  Beihülfe  anderer  Privatstatistiker  die  Ausgaben  der  unteren 
Volksclassen,  wenn  ich  so  sagen  darf,  quantitativ  analysirt,  indem 
sie  den  Arbeitern  eine  rationelle  Wirthschafts-  und  Haushaltungs- 
Buchführung  beibrachten,  deren  Ausübung  tiberwachten  und  deren 
Resultate  publicirten. 

Das  von  Ducp^tiaux  gesammelte  statistische  Material  hat  nun 
Engel  in  einer  seiner  geistvollsten  Abhandlungen*)  zu  einem  Gesammt- 
bilde  verarbeitet.  Wir  dürfen  auf  diese  statistische  Arbeit  hier  leider 
nicht  weiter  eingehen,  als  dass  wir  die  Daten  mittheilen,  welche  sich 
auf  das  Verhältniss  zwischen  den  Gesammtausgaben  und  den  Aus- 
gaben für  Wohnung  beziehen: 


Arbeiterfamilien. 

* 

Gesammt- 

Ausgaben 

per  Familie. 

Fr. 

Nahmngs- 

Ausgaben 

per  Familie. 

Fr. 

Nahrungs- 
Ausgaben 
von  allen 
Ausgaben, 

% 

48 
51 
54 

LI                      Carm)     ,     . 

U.  \  Kategorie  (dürftig).     . 

m.'                    (behäbig)    . 

648,68 
845,44 

1214,44 

459,45 
569,55 

757,08 

70,80 

67,37 

62,42 

16a 

I.  TT.  TIT.  Kategorie  .     .     . 

913,95 

601,64 

65,83 

* 

Engel  kommt  hiernach  zu  dem  auf  dem  Wege  ächter  Induction 
gefundenen    Satze:     „Je    ärmer   eine    Familie   ist,    ein    desto 


•)  Die  vorherrschenden  Gewerbszweige  in  Sachsen.  Zeitschrift  des  sächsischen 
statistischen  Bureaus.    1857. 

8* 


im  Statifltisctie  Studien  zur  Wohnungsfrage. 

grösserer  Antheil  an  der  Gesamm tausgabe  muss  zur  Be- 
schaffung der  Nahrung  aufgewendet  werden",  bei  den  ärmstoi 
Arbeiterfamilien  71%,  bei  den  schon  wohlhabenderen  67  Vo  wnd  bei 
den  wohlhabendsten  62  "/o-  Obigen  Satz  von  Engel  darf  man  jedoch 
keineswegs  so  verstehen,  als  ob  jede  ärmere  Familie  verhältniss- 
mässig  mehr  auf  Wohnung  verwendet  wie  jede  wohlhabendere,  sondern 
BO,  dass  in  den  meisten  Familien  einer  Wohlhabenheitsciasse  sich 
dieses  zeigt. 

Diese  Abnahme  der  Nahrungsprocente  mit  steigender  Wohlhaben- 
heit  ist  keine  zufällige,  denn  sie  zeigt  sich  überall  wieder.  Z,  B.  wenn 
man  zu  den  obigen  153  Arbeiterfamilien  noch  die  47  andern  von 
Ducp^tiaux  beobachteten  Familien  hin^unimmt,  und  wenn  man  diese 
Arbeiterfamilien  streng  nach  den  Ausgaben  in  Geld  ordnet,  erhält 
man  dieselbe  Erscheinung: 


ZiOd  der  Puuliiii. 

Durchschnitt  aller 

Ausgaben. 

Fr, 

DurchBchnitt  der 

Nahrungeausgaben. 

Fr. 

in  V,  aller 
Ausgaben. 

50 
60 
60 
60 

620,,, 
764,, 
960,., 
1500,j„ 

3e6„ 

613,, 
Ml,.. 
936,0, 

70„ 
68„ 
66„ 
62, 

200 

933,,, 

614,,. 

56,, 

Reducirt  man  die  Geldausgaben  auf  Brodwerth,  d.  h,  setzt  man 
an  die  Stelle  der  Franken  die  Anzahl  Kilogramm  Brort,  welche 
man  für  das  Geld  kaufen  kann,  (welche  Rechnung  fiir  130  der 
obigen  200  Familien  möglich  war,)  so  bleibt  auch  dann  die  Gesetz- 
mässigkeit : 

130  Familien  geordnet  nach  ihren  Geldausgaben  wie  oben: 


Zahl  der  Familien. 

Alle  Ausgaben. 
Fr. 

Hahrungs- 

Ausgaben. 

Fr. 

Kahrung  von  allen 
Ausgaben. 

40 
40 
60 

655,« 
848,,, 
1326,,,  ■ 

386,,, 

667,0, 
848,,, 

69,1 
66« 
64 

130 

942„, 

1616,., 

66„ 

statistische  Stadien  zur  Wohnungsifrage. 


117 


Dieselben  130  Familien  geordnet  nach  dem  Brodwerth  ihrer  Geld- 
ansgaben : 


Zahl  der  Familien. 

Alle  Ausgaben. 
Fr. 

Nahrnngs- 
Ausgabon. 

Fr. 

Nabrang  von  allen 
Ausgaben. 

V. 

40 
40 
50 

624,,  0 
848,88 

435^0 
663,10 

804,0« 

69« 
66,a 
63« 

130 

942,31 

616,38 

65,5 

Ebenso  macht  es,  ob  wir  nach  den  drei  Kategorien  geordnet  Land- 
bewohner oder  Städter  vor  uns  haben,  nichts  aus;  immer  dieselbe 
Erscheinung : 

Städter  .     .     .     69,5,  68,5,  59,«  7o, 

Landbewohner     71,8,  67,  63,8  7o. 

Auch  ist  nicht  etwa  auf  Belgien  dieses  Ausgaben -Verhältniss 
beschränkt.  Für  39  Familien  aus  Frankreich  und  den  zunächst  an 
Frankreich  grenzenden  Theilen  Deutschlands,  der  Schweiz  und  Sa- 
voyens  haben  wir  nach  den  Airbeiterbudgets  von  Le  Pltfy  Dasselbe 
gefunden,  und  zwar  schon  wenn  wir  nur  je  10  Familien  in  eine 
Gruppe  zusammennehmen: 


Zahl 
der  Familien. 

Alle  Ausgaben 
pr.  Familie. 

Fr. 

Nahrungsaufigaben 

pr.  Familie. 

Fr. 

Nahrung  von  allen 
Ausgaben. 

V.. 

9 

10 
10 
10 

638,60 
1,100^0 
1,564,00 

2,527,10 

404,to 

647,00 
879,10 

1,312^90 

63,ae 

58,71 
56,21 

51^4 

39 

1,478^0 

821,10 

55,53 

Dieselbe  Abnahme  der  Procente  unter  den  französischen  Ar- 
beitern! Ja  wir  können  jetzt  auch  die  sämmtlichen  200  belgischen 
Arbeiter    mit   den   39   französischen    vergleichen.     Eine    belgische 


118 


Statistiscfae  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


Arbeiterfamilie  hat  nnr  933,gg  Fr.  zu  verauegabeu,  eine  der  firan- 
zösiachen  aber  l,478,eo  Fr.  Bei  den  Belgiern  nimmt  der  Magen 
65rt  %  davon,  bei  den  Franzosen  nur  55,33  %,  d.  h.  bei  den  durch- 
schnittlich Wohlhabenderen  weniger  Procente. 

Ebenso  gilt  die  Regel  nicht  nur  für  die  unteren  Claasen,  sondern 
durch  alle  Stände  hindurch  bis  zu  sehr  wohlhabenden  Familien. 
Diesen  Beweis  erbringt  eine  Hamburger  Consumtionsstatistik,  gleich- 
falls eine  Privatarbeit.  *)  Wir  übertragen  die  Mark  Gourant  in 
Franken  (1  Mark  =  1,5  Fr.): 


Z&bl 

Alle  AuBgaben 

Nahrnng  von  eilen 

derFamitien. 

pr.  F&miUe. 

pr.  Familie. 

Anegeben. 

Fr. 

Fr. 

•/.. 

17,833 

760 

603 

67 

10,189 

1,125 

760 

66,, 

5,031 

1,800 

1,020 

56,, 

4,037 

3,760 

1,600 

40 

1,648 

6,700 

1,960 

34„ 

» 

3,910- 

21„ 

>0 

918 

.    40,. 

rankreich  zusammengestellt: 
Fr.    Gesammtausgabe,  Nahrung 


=  65,8  7c, 
=  55,3  Vo, 
=  40,8  %. 


il%keit  dieses  Gesetzes  kann  man  nicht  mehr 
lun  aber  gemeint,  nur  aus  den  Daten  bei 
^fassenden  vor  längerer  Zeit  und  auf  Grund  des 
Verfasser  angestellten  Untersuchungen"  **)  (?) 
idene  Wohlhabenbeiteclaesen  das  Procentver- 
len;  er  giebt  eine  Reihe,  aus  der  wir  der 
&  dritte  Datum  nehmen: 


tellung  der  Hamburgiechen  GoneamtionsverhäUnisBe 
turtheiluag  der  Frage  nach  der  Tertheilung  der  pro- 
e  über  die   verBchiedenen   ClasBen  der  itevölkerung. 

alender  1S68:  die  Industrie  der  grosBen  Städte,  S.  137. 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


119 


.  Wenn  das  gesammte 

so  nehmen  die 

Einkommen  einer  Familie 

Aasgaben  für  Nahrang 

beträgt  Fr. 

davon  in  Anspruch: 

300 

71,48 

600 

67,,, 

900 

64.8, 

1,200 

62,55 

1,500      , 

60„5 

1,800 

69,,, 

2,100 

88,35 

2,400 

67„3 

2,700 

57,., 

3,000 

56,90 

Wir  möchten  bezweifeln,  ob  das  qualitativ  gefundene  Gesetz 
bei  dem  jetzigen  Material  schon  quantitativ  festgestellt  werden 
kann,  wir  kennen  aber  allerdings  das  Material  nicht,  von  welchem 
Engel  fast  geheimnissvoll  redet.  Mit  unseren  Daten,  ßo  weit  sie 
vergleichbar  gemacht  werden  können,  stimmt  seine  grosse  Reihe 
in  der  That  schlecht  genug.     Z.  B. : 


Hamburg. 


Engel. 


Ausgabe. 

Vo  für 

Fr. 

Nahrung. 

750 

67 

1,125 

66„ 

1,800 

56„ 

3,750 

40 

Ausgabe. 

^0  für 

Fr. 

Nahrung. 

750 

66,17 

1,100 

63,25 

1,800 

69,31 

3,000 

56;0O 

oder: 


Belgien,  Frankreich,  Hamburg. 


Engel. 


Ausgabe. 
Fr.- 


Vo  für 
Nahrung. 


Belgien  934 

Frankreich  1,479 
Hamburg      2,250 


64,8 

60,75 

58,08 


65,8  900 

55,3  1»500 

40,8  2,200 

Engel  scheint  darnach  die  Abnahme  zu  gering  geschätzt  zu  haben. 

Wir  wissen  nun  zwar  recht  wohl,  dass  die  hamburger  Angaben 
nur  sehr  approximativ  richtig  sind,  und  dass  auch  die  Daten  aus 
Belgien,  Frankreich  und  Hamburg  nicht  unmittelbar  mit  einander 
verglichen  werden  können,  doch  genügen  die  Beispiele,  um  zu  zeigen. 


120  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfirage. 

dassEngel's  quantitative  Analysen  noch  aicbt  ganz  auf  y 
Induction"  beruhten. 


Kann  man  nun  für  das  Wohnungsbedürfniss  dasselbe  Gesetz 
finden  oder  überhaupt  ii^end  ein  Gesetz,  wenn  auch  vielleicht  eia 
gerade  entgegengesetztes,  dass  je  wohlhabender  die  Familie  ist,  um 
80  mehr  Procente  aller  Ausgaben  auf  Nahrung  verwendet  werden, 
oder  aber  ein  mittleres  Gesetz,  dass  die  Wohnung  in  allen  Wohl- 
habenbeitsclassen  gleichviel  Vo  beansprucht? 

Die  Ausgabebudgets,  welche  wir  im  Vor^en  auf  „Nahrung" 
analysirt  haben,  geben  uns  für  „Wohnung"  keine  bestimmte  Ant- 
wort; am  meisten  scheint  es  noch  nach  diesem  Material,  als  ob  ver- 
schiedene Wohlhabenheitsclassen  nahezu  die  gleichen  Procente  auf 
Wohnung  ausgeben.     Engel  ermittelte  für  die  belgischen  Arbeiter : 


Arbeiterfamilien. 

AUe 

Auflgaben. 
Fr. 

WohmingB- 

aua gaben. 

Fr. 

gaben  von  allen 
Ausgaben  •/(,. 

48      I.] 

51    II.  \  Kategorie. 

648^6 
845,„ 
1214^4 

56,54 

199,s, 

8„2 

8,33 
0,04 

913/M 

79,ae 

8„9 

t  jede  Arbeiter-Kategorie    fast    genau    die 
lg,  und  Engel  scheint  das   auch   für   höhere 
mzunebmen,   er  giebt  auf  einer   Tabelle  im 
der  *)  8.  137  an: 
s  unter  den  Ausgaben  einer  Familie : 


Tbeiter- 

300  bis       ^^*  Mittelstandes  des  Wohlstandes 

ahres-       mit  600  bis  800  Thlr.  mittOOO  bislSOOThlr. 


12  7o 


12% 


Annahmen  hat  Engel  leider  nicht  milgetheilt. 
;en  Berechnungen  der  belgischen  Arbeiter- 
ich     keinen     sichern    Anfschluss,     aber     die 

<B  Übrigens  lidssen:  „So  wird  z.  B.  in  Berlin  sicher 
gt  als  12%  des  Einkommens",  statt  wie  dort  steht 
Yo  ist  Beleuchtung  und  Heizung. 


statistische  Studien  tnr  Wohnungsfrage. 


121 


Wohnungsausgaben  scheinen  mit  der  Wohlhabenheit  in  7o  ^^«r  zu 
sinken  als  zu  steigen. 


Zahl  der  Familien. 

=xr = , — r 

Gesammt- 

Ausgaben. 

Fr. 

WobnungS" 

Ausgaben. 

Fr. 

Wohnungsaus- 
gaben  von  allen 
Aasgaben  %. 

50 
50 
50 
50 

820„4 

754,n 

960m, 

1500,20 

48,54 

68,25 

83,24 

131,55 

93 
91 
87 
88 

4 

100 
100 

637,42 
1230,30 

58,40 

107,34 

92 
87 

200 

933,85 

82,97 

89 

Die  13Ö  Familien,  welche  nach  dem  Brodwerth  geordnet  werden 
können,  ergeben  in  Wohnungsprocenten : 


Faxnilien. 

nach  dem  Brodwerth 
geordnet. 

nach  dem  Geldwerth 
geordnet. 

40  arme. 
40  mittel. 
50  reiche. 

9,6 

9,6 

8,0 

9,5 

9^5 
9,3 

9,2 

9/2 

Wir  führen  diese  Resultate  nur  an,  damit  man  nicht  glaube,  wir 
verheimlichen  die  auf  diesem  Wege  geAindenen  Resultate  absichtlich, 
weil  sie  uns  nicht  passen ;  ein  Bild  können  diese  Daten  nicht  geben,  da 
für  diese  Frage  die  Ordnung  nach  dem  Brodwerth  keinen  Sinn  hat. 

Anders  die-  Trennung  in  Stadt  und  Landvolk  wieder  nach  der 
EngePschen  Gruppirung  in  drei  Kategorien. 

Die  Landbevölkerung  giebt  uns: 


Familien. 

Alle' 

Ausgaben. 

Fr. 

Wobnungs- 

Ausgaben. 

Fr. 

Wohnungs-  • 
Ausgaben. 

%• 

I.  Kategorie     .     .     . 
11.         ^              ... 

III.     „       ... 

37 
41 
42 

610,48 

803,gg 

1111,64 

51/02 
63,52 

91.8, 

8,4 

7,9 
8,2 

L,  II.,  111.  Kategorie 

120 

851,94 

69,52 

8/^ 

122 


Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


Also,  wie  oben,  fast  gleiche  Procente,  aber  eher  mit  der  Wohl- 
habenheit abnehmende  Procente.  • 

Die  Stadtbevölkerung  hingegen  scheint  auf  eine  Zunahme   der 
Procente  mit  zunehiiiender  Wolilhabenheit  zu  deuten: 


Familien. 

Alle 

Ausgaben. 

Fr. 

Wohnungs- 

Ausgaben. 

Fr. 

WolinungB- 
Ausgaben. 

7o. 

I.  Kategorie     .     .     . 

1  X»                                  a&                                     ... 

m.       „        ... 

11 
10 
12 

775„o 
1015,9, 

1571,j9 

75,99 
95,23 

173,50 

9/8  . 
9,4 

11,2 

L,  II.,,  TIT.  Kategorie  . 

33 

1137„e 

117,28 

10,3 

Auf  die  Resultate  dieser  Tabelle  möchten  wir  jedoch  wenig  geben, 
da  der  Beobachtungen  zu  wenige  sind,  um  daraus  sichere  Schlüsse 
ziehen  zu  können. 

Giebt  uns  die  französische  Arbeiterbevölkerung  bessere  Auf- 
schlüsse?    Leider  nein. 


Alle 

Wohnungs- 

Wohnungs- 

Familien. 

Ausgaben. 

Ausgaben. 

Ausgaben. 

Fr. 

Fr. 

% 

9 

638,6 

46,53 

7/29 

10 

1100,9 

61,80 

5i63 

10 

1564,0 

123,,, 

7/9 

10 

2527,, 

210,89 

8/35 

19 

881,4 

54„6 

6/21 

20 

2045,5 

167,20 

8n7 

39 

1478,e 

112,45 

• 
7/61 

Die  wohlhabenderen  Familien  scheinen  hier  nicht  unbedeutend 
mehr  Procente  auf  Wohnung  zu  verwenden  als  die  Aermeren,  allein 
zum  Theil  kommen  die  höheren  Wolmungsprocente  daher,  dass  unter 
den  19  ärmeren  Familien  nur  2,  unter  den  20  wohlhabenderen  aber 
8  aus  der  Stadt  Paris  sind.  In  den  Städten  schluckt  die  Wohnung 
natürlich  mehr  Pi'ocente  der  Ausgaben,  als  auf  dem  Lande,  und  in 
den  grossen  Städten  mehr  als  in  den  kleinen.  Unsere  wenigen  fran- 
zösischen Ausgabebudgets  zeigen  das  freilich  kaum.  Die  10  Pariser 
Familien  geben  nämlich  für  Wohnung  7,9%  aus  bei  durchschnittlich 


1^ 


statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage. 


123 


2131;84  Fr.  Ausgabe,  die  29  Nichtpariser  aber  bei  1263,4o  Fr.  Ausgabe 
7,4%.  Die  Zahlen  sind  jedoch  für  solche  Beobachtungen  wieder  zu 
unsicher,  weil  zu  klein.  Dass  in  den  Städten  -durchweg  mehr  für 
Wohnung  darauf  geht  als  auf  dem  platten  Lande,  zeigen  die  10,3% 
ftii*  Wohnung  bei  den  belgischen  Städtern  und  die  nur  8,2%  bei  den 
belgischen  Landbewohnern  bei  ziemlich  gleicher  Wohlhabenheit  Beider. 
Es  bleibt  uns  noch  das  Hamburger  Material  übrig.  Das  Resultat 
dieser  Beobachtungen  für  die  Wohnungsausgaben  ist  folgendes: 


Zahl  der  Familien. 

Alle  Aasgaben 
per  Familie. 

Fr. 

WohnungB- 

Ansgaben  (Miethe) 

per  Familie. 

Fr. 

Wohnungs- 

Ansgaben  von  allen 

Ausgaben. 

% 

17,833 
10,189 
5,031 
4,037 
1,648 
2,070 

750 
1,125 
1,800 
5,750 
5,700 
18,000 

112 
200 
330 
675 
1,422 
3,750 

16 

16 

18„ 

18 

19„ 

20,s 

40,808 

2,250 

423 

18,8 

Das  ergäbe  mit  zunehmender  Wohlh^enheit  die  Verwendung 
eines  iminer  grösseren  Einkommentheils  auf  Miethe. 

Wir  hätten  somit  geftmden  bald  constante  Bruchtheile  für 
Wohnung  bei  v.erschiedener  Wohlhabenheit,  bald  abnehmende,  bald 
zunehmende,  allein  sowohl  wo  wir  zunehmende,  als  wo  wir  ab- 
nehmende Procente  fanden,  ist  die  Abnahme  nicht  bedeutend,  am 
meisten  sieht  es  darnach  aus,  als  ob  auf  Wohnung  Jedermann  durch- 
schnittlich die  gleichen  Procente  verwendete,  wie  das  auch  Engel 
dargestellt  hat.  Allein  wir  möchten  behaupten,  dass  das  ganze  bisher 
betrachtete,  durch  Privatstatistik  beigebrachte  Material  für  sich  allein 
ungenügend  ist,  um  unsere  Frage  zu  entscheiden.  Wir  haben  zum 
Glück  ein  anderes  Material,  welches  die  Frage  viel  gründlicher  dar- 
stellt, nämlich  eine  amtliche  Statistik  und  zwar  einmal  gerade  für 
die  Stadt  Hamburg,  aus  welcher  wir  auch  die  Privatstatistik  hatten. 
Steuerzwecke  haben  hier,  wie  so  oft,  *)  den  Stoff  für  wissenschaft- 
liche Untersuchungen  geliefert.  Wo  dieselben  Menschen  zugleich 
mit  einer   Einkommensteuer    und    mit    einer    Miethsteuer    getroffen 


•)  Vgl.  Bd.  VIII.  der  Monatsschrift:  Die  Wohnungen  Riga's.    S.  4. 


124  Statistische  Studien  mr  Wohnungsfrage. 

werden,  da  kann  aus  den  Steueracten,  wenn  auch  mit  vieler  Arbeit, 
der  Antheil,  den  Jedermann  von  seinem  Einkommen  auf  Wohnung 
verwendet,  ermittelt  werden.  Das  ist  im  ausgedehntesten  Maasse'  für 
Hamburg  geschehen,  in  einer  offlciellen  Publication  über  Hamburger 
Bevölkerungs-  und  Wohnungs -Verhältnisse*).  Daselbst  ist  auf 
13,084  Haushaltungen  Einkommen  und  Ausgabe  für  Miethe  nach  der 
allgemeinen  Einkommensteuer  und  der  Miethsteuer  ermittelt,  lieber 
letztere  sagt  der  Text  der  Publication  S.  XXXVni:  „Zum  Zweck 
eines  Ueberblicks  über  das  Verhältniss  der  Miethen  zum  Einkommen 
sind  für  13,084  Personen  Einkommen  und  Miethe  ermittelt  und  die 
Resultate  in  Tabelle  LXIV.  zusammengestellt.  Um  richtige  Ver- 
hältnisse störende  Momente  fern  zu  halten,  konnten  nur  solche 
Mietben  benutzt  werden,  welche  den  rein  persönlichen  Wohnungs- 
bedarf der  betreifenden  Personen  oder  Familien  anschaulich  machen. 
Es  sind  demnach  alle  diejenigen  Fälle  unberücksichtigt  geblieben, 
in  welchen  ein  Theil  der  Miethe  als  zu  gewerblichen  Zwecken 
erforderlich  angesehen  werden  musste.  Wenn  dieses  Verhältniss  aus 
dem  vorhandenen  Material  nicht  deutlich  zu  ersehen  war,  sind  die 
Fälle  nicht  benutzt,  z.  B.  sind  die  Angaben  derjenigen  Handwerker, 
bei  denen  nicht  vorauszusehen  war,  dass  sie  ihr  Gewerbe  nur  allein 
in  abgesonderten  Localen  oder  wenigstens  ausserhalb  ihrer  Wohnung 
betreiben  würden,  nich^  aufgenommen.  Femer  sind  die  Miethen 
durch  Abzug  der  von  Aftermiethern  oder  Einlogierem  gezahlten 
Miethe  auf  das  richtige  Nettoverhältniss  zurückgeführt  worden,  und 
haben  die  Miethen,  welchen  Wiedervermiethungen  von  Wohnungs- 
antheilen  an  Schläfer  und  andere  Mitbewohner  gegenüberstanden, 
weil  in  der  Miethe  Vergütung  für  ganze  oder  theilweise  Beköstigung, 
Mobüien  und  andere  Naturalleistungen  enthalten  war,  keine  Auf- 
nahme gefunden." 

Diese  Arbeit  führt  nun  wohl  unwiderleglich  zu  dem  Satz,  dass, 
wenn  man  den  Umfang  der  Wohlhabenheitsclassen  nicht  gar  zu  klein 
annimmt,  die  Familien  durchschnittlich  um  so  mehr  Pro- 
cente  des  Einkommens  auf  Wohnung  verwenden,  je  ärmer 
sie  sind,  also  dasselbe  Gesetz,  welches  für  die  Nahrung  g^ftmden 
wurde.     Warum  die  Einschränkung  gemacht  ist,   „wenn  man  den 


*)  Statistik  des  Hamburgischen  Staats,  zusammengestellt  voiti  statistischen 

Bureau  der  Deputation  für  directe  Steuern.    Heft  II.      Ergebnisse    der  Volks- 

■^— -HjÄflurig   vom   3.  December   1867,    Bevölkerungs-    und    Wohnungs -Verhältnisse. 

Stati^ik    der    Unterrichts -Anstalten,    1869.  —  Hamburg,    Otto    Meissner,    1869. 

a  X^Vm  f.    S.  106,  107, 


statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage. 


125 


Umfang  der  Wohlhabenheitsclassen  nicht  gar  zu  klein  annimmt^^ 
kann  erst  später  erläutert  werden.  In  Zahlen,  wie  wir  sie  bisheir 
angewendet,  ist  unser  obiger  Satz  der  folgende: 


Znhl  der 
Familien. 

Alle  Ausgaben  pr. 

Familie. 

Thlr.  Pr.  Cour. 

Wohnungsaus- 

gaben  pr.  Familie. 

Thlr.  Pr.  Cour. 

WohnnngsauBg^ben 
von  allen  Ausgaben. 

92 

113 

35 

31 

401 

157 

39 

24„ 

8,844 

252 

51 

20„ 

1,606 

602 

120 

19h, 

568 

1,050 

205 

19,5 

129 

1,338 

258 

19,3 

210 

1,562 

295 

18,9 

221 

1,881 

349 

18,e 

487 

2,939 

470 

16 

372 

6,379 

734 

11,5 

98 

14,004 

935 

6„ 

43 

27,105 

1,189 

4,4 

13 

56,013 

1,488 

2„ 

13,048 

906 

124 

13,6 

Bei  stetig  steigender  Reihe  aller  Ausgaben  in  Thalem  ist  auch 
die  Ausgabe  für  Wohnung  in  Thalern .  stetig  steigend,  aber  in  ge- 
ringerem Maasse,  so  dass  die  Reihe  der  für  Wohnung  verausgabten 
Procente  aller  Ausgaben  ununterbrochen  durch  alle  13  Wohlhaben- 
heitsclassen sinkt. 

Die  Zahlen  sprechen  hier  so  klar,  dass  weitere  Worte  die  Sache 
nur  unklarer  machen  könnten.  Die  'obige  unvollständige  Privat- 
statistik über  Hamburg  verliert  daneben  alle  Bedeutung. 

Es  kann  sich  nur  fragen,  ob  diese  Gesetzmässigkeit  einzig  für 
Hamburg  gilt  oder  auch  für  andere  Städte.  Schwabe  *)  hat  dasselbe 
schon  2  Jahre  früher  für  Berlin  nachgewiesen,  ja  er  ist  es,  der  das 
Gesetz  zuerst  aufgestellt  hat,  obwohl,  wie  wir  zeigen  wollen,  er 
eigentlich  dieses  Gesetz  als  allgemein  für  alle  Wohlhabenheitsclassen 
Berlins  gültig  nicht  aufstellen  durfte. 

Schwabe  konnte  nicht  für  die  Berliner  allgemein  das  aus  der  Ein- 
kommensteuer berechnete  Einkommen  mit  den  aus  der  Miethsteuer 


*)  Das  Yerbältniss  von  Miethe   und  Einkommen  in  Berlin.     Berliner  Ge- 
meind^kalender  fdr  186S.    II.  Jahrgang,  Berlin,  sine  anno,  S.  264 — 267. 


L,... 


126 


Statistische  Studieii  zur  WohiiuDgalrage. 


berechneten  Wohnungsausgaben  vei^leiehen,  sondern  nur  für  Leute 
der  höheren  Wohlhabenheitsclassen.  Das  Einkommen  unter  1000  Thlr, 
wird  in  Berlin  nicht  mit  der  classiflcirten  Einkommensteuer  getroffen, 
-  sondern  mit  der  Mahl-  und  Seh  lach  ts  teuer,  welche  als  eine  sogen, 
indirecte  Steuer  keine  ^Schätzung"  des  Einkommens  oder  anderer 
wirthschaftlicher  Erscheinungen  zur  Basis  hat.  Einkommen  und 
Wohnungsausgaben  künnen  aus  den  Steueracten  also  nur  für  Familien 
mit  nielir  als  1000  Thlr.  Einkommen  ermittelt  und  verglichen  wer- 
den. Die  Eiukommensclassen  bei  Schwabe  haben  wir  so  weit  in 
grössere  Claesen  zusammengelegt,  dass  wir  auch  hier  eine  ohne 
Unterbrechung  mit  der  Wohlhabenheit  abnehmende  Procentreihe 
der  Wohnungsansgaben  erhielten. 


Alle  Ausgaben  pr. 

Wobnungaaus- 

F*   t"' 

Familie. 

gaben  pr.  Familie. 

von  allen  Ausgaben. 

TUr.  Fr.  Coilrt. 

Tiilr.  Pr.  Court. 

•/.. 

1,861 

1.100 

303 

27» 

1.137 

1,300 

320 

H. 

1,070 

1,500 

369 

23„ 

1,232 

1,800 

386 

21,. 

1,024 

2,200 

451 

20„ 

702 

2,600 

612 

19„ 

931 

3,200 

664 

17«, 

654 

4,180 

670 

16 

288 

6,400 

774 

14„ 

271 

6,600 

836 

12„ 

210 

8,400 

978 

U„ 

222     ■ 

12,1S0 

1,080 

8,. 

73 

19,100 

1,610 

8,. 

21 

28,000 

1,658 

6„ 

40 

55,800 

2,740 

4» 

Auch  hier  läuft  die  Procentreihe  der  Wohnungsausgaben  ununtei^ 
brochen  bergab.  Resultat  in  Worten:  Je  wohlhabender  die- 
jenigen Berliner  sind,  welche  überhaupt  1000  Thlr.  und 
mehr  Einkommen  haben,  um  so  weniger  Procente  ihres 
Einkommens  verwenden  sie  auf  Wohnung. 

Für  das  Einkommen  unter  1000  Thaler  hat  Schwabe  sich  aber 
auch  Rath  geschafft,  er  hat  sich  aus  den  Acten  der  sogen.  „Servis- 
Deputation"  die  Gehalte  von  4281  Staats-  und  Communalbeamten 
mit  weniger   als  1000  Thalera  Gehalt  excerpirt  und  dieselben   in 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


127 


ihrem  Einkommen  mit  der  Wohnungsmiethe,  welche  alle  Berliner 
versteuern  müssen,  verglichen.  Aus  Schwabens  Tabelle  haben  wir 
wiederum  die  folgende  umgerechnet: 


Zahl  der  Familien. 

Alle  Ausgaben 
per  Familie. 

Wohnungs- 
Ausgaben 
~     per  Familie. 

Thlr.  Pr.  Conr. 

Thlr.  Pr.  Cour. 

151 

96 

56 

5 

121 

49 

94 

175 

48 

1469 

250 

66 

588 

307 

74 

829 

375 

84 

291 

474 

107 

331 

598 

128 

334 

749 

155 

190 

895 

156 

Wohnungs- 
Ausgaben  von  allen 
Ausgaben. 

% 


58 

40 

27,, 

26,j 

24 

22,4 

22»3 

21  3 

20,, 

Also  auch  für  die  Berliner  mit  weniger  als  tausend  Thaler  Ein- 
kommen gilt  der  mit  der  Wohlhabenheit  abnehmende  Procent- 
satz der  Wohnungsausgaben.  Wie  konnten  wir  dann  weiter 
oben  behaupten,  Schwabe  hätte  das  Gesetz  als  für  die  Berliner  jeder 
Wohlhabenheit  gültig  nicht  aufstellen  dürfen? 

Das  Gesetz  scheint  für  die  Aermeren  zu  stimmen  und  auch  für  die 
Reichen,  nicht  aber  für  Alle  zusammen;  man  füge  die  beiden  Procent- 
reihen aneinander,  und  die  also  componirte  Procentreihe  erleidet  eine 
gewaltige  Unterbrechung  gerade  bei  einem  Einkommen  von  tausend 
Thalern.  Der  Wohnungsantheil  springt  von  17,4^0  bei  900  Thlr.  Ein- 
kommen auf  27,6  %  bei  1100  Thlr.  Einkommen,  und  erst  bei  einem 
Einkommen  von  3200  Thlr.  ist  der  Wohnungsantheil  wieder  17,2  %. 

58 
40 
27,2 

26,2 
24 

22,4 

22,3 

•21,3 
20„ 

117/4 


Abnehmende  Wohnüngsprocente 
bei  Staats-  und  Commuualbeamten 
mit  Einkommen  unter  1000  Thlr. 


129 


Statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage. 


Abnehmende  Wohnungsprocente 
bei  Einkommensteuerpflichtigen  mit 
Einkommen  über  1000  Thlr.     .     . 


a7,e 

23^ 
21„ 
20,5 

17,3 

16 

14,3 

12„ 

8^ 

8,4 
5,9 

Merkwürdiger  Weise  ist  dieser  Sprung  dem  Bearbeiter  nicht 
aufgefallen,  er  erwähnt  desselben  wenigstens  gar  nicht.  Dass  der 
Sprung  eine  baare  Unmöglichkeit  ist,  hat  ein  neuer  Bearbeiter  des 
vorliegenden  Materials,  Bruch,*)  auch  gefühlt  und  gesagt,  es  muss 
hier  ein  Fehler  im  Beobachtungsmaterial  sein.  Bruch  macht  eine  ähn- 
liche Aneinanderreihung  der  beiden  Beobachtungsgruppen  und  be- 
merkt dann:  „Die  durch  den  Strich  angedeutete  Kluft  ist,  wie  man 
sich  leicht  durch  Vergleichung  der  Differenzen  überzeugen  kann,  so 
bedeutend,  dass  man  in  diesen  Angaben  ein  die  unteren  und  die 
oberen  Classen  gleichmässig  umfassendes  Gesetz  noch  nicht  gefunden 
hat.  Es  ist  darin  zugleich  eine  Verschiedenheit  der  verglichenen 
Subjecte  und  Objecte  ausgesprochen,  indem  einerseits  ein  bestimmter 
Stand,  andererseits  eine  aus  allen  möglichen  Ständen  zusammenge- 
setzte Bevölkerungsciasse,  und  femer  einerseits  eine  bestimmte, 
officiell  feststehende  Qualität  des  Einkommens,  welches  freilich  zum 
grössten  Theile  das  ganze  Einkommen  dieser  Personen  absorbiren 
wird,  anderseits  ein  nach  den  allgemeinen  Einschätzungsregeln 
geschätztes  Einkommen,  endlich  bei  den  Beamten  die  aus  deren 
ausschliesslichem  Wohnungsbedürfiiiss,  bei  den  Einkommensteuer- 
Pflichtigen  die  aus  deren  nothwendigen  geschäftlichen  Ansprüchen  her- 
vorgehende Miethe  sich  gegenübersteht.     Diese  dreifache,  unter  sich 


•)  lieber  die  Haus-  und  Miethsteuer  in  Berlin  in:  Berlin  und  seine 
Entwickelang.  Städtisches  Jahrbuch  fdr  Volkswirthschaft  und  Statistik. 
Dritter  Jahrgang  1869.    S.  2—34. 


k^ 


L 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  129 

aber  eng  zusammenhängende  Ungleichmässigkeit  hat  sich  in  der 
Reihe  obiger  Verhältnisszahlen  zu  Gunsten  der  Beamtengehälter  und 
zu  Ungunsten  der  Einkommensclassen  der  Einkommensteuerpflichtigen 
geltend  gemacht,  d.  h.  abgesehen  von  dem  in  jeder  Reihe  für  sich  hervor- 
tretenden Sinken  des  Procentsatzes  mit  der  Höhe  des  Einkommens, 
brauchen  scheinbar  die  Beamten  verhältnissmässig  für  ihre  Wohnungen 
weniger  zu  verausgaben,  als  die  Einkommensteuerpflichtigen,  Der 
entscheidende  Grund  für  diese  üngleichmässigkeit  ist  unseres  Erach- 
tens  darin  zu  suchen,  dass  in  den  Miethen  der  Beamten  nur  die 
reinen  Wohnungsräume,  in  den  Miethen  der  Einkommensteuer- 
pflichtigen, unter  denen  grössere  Handwerker,  Kaufleute  und  Fabri- 
kanten eine  hervorragende  Rolle  spielen,  die  zur  Wohnung  und  die 
zu  Geschäftszwecken  benutzten  Räumlichkeiten  zusammen  auftreten. 
Das  für  die  Beamten  sich  ergebende  Verhältniss  ist  also  der  reinere 
Ausdruck  der  Bedeutung  des  allgemeinsten  menschlichen  Bedürfiusses 
nach  einer  Wohnung  für  den  Familienhaushalt,  der  für  die  Ein- 
kommensteuerpflichtigen berechnete  Procentsatz  hat  dagegen  nur  das 
äusserliche  Interesse  eines  Durchschnitts. 

Es  kam  nun  zunächst  darauf  an,  auch  für  die  höheren  Ein- 
kommenclassen  über  1000  Thlr.  das  reine  Verhältniss  des  Wohnungs- 
beldarfs  zum  Einkommen  zu  finden,  um  in  einer  Reihe  gleichmässiger 
Beobachtungen  aus  allen  Stufen  der  Bevölkerung  die  allgemeine 
Giltigkeit  des  oben  erwähnten  Gesetzes  zu  prüfen.  Zu  diesem  Zweck 
bot  sich  der  einfache  Weg,  dass  die  bezüglichen  Daten  nach  den 
feststehenden  Steuerstufen  für  die  Einkommensteuerpflichtigen  in  sich 
zusammen  gezogen  wurden,  aus  deren  Stand  als  Beamter,  Offizier, 
Pensionär,  Secretär  etc.  mit  Sicherheit  geschlossen  werden,  konnte, 
dass  in  der  Miethszahlung  lediglich  das  reine  Wohnungsbedürftiiss 
ausgesprochen  war.  Auf  diese  Weise  wurden  aus  den  9741  Ein- 
kommensteuerpflichtigen, deren  Miethe  schon  beobachtet  war,  7852 
ausgeschieden  und  es  verblieben  1889  Fälle,  bei  denen  die  obige 
Annahme  gerechtfertigt  erschien.* 

Soweit  Bruch.  Aus  der  Tabelle,  welche  er  hierfür  zusammen- 
stellt, nehmen  wir  nur  die  auch  bisher  mitgetheilten  Spalten,  setzen 
aber  dazu  die  Grenzen  der  Binkonimensclassen,  aus  welchen  der 
nebenstehende  Durchschnitt  resultirt.  *) 


•)  Dieser    Durchshnitt   des    Einkommens    stimmt    bis   zu   1000  Thlr.    Ge- 
sammtausgabe  niclit  mit  dem,  welchen  Bruch  in  seiner  Tabelle  angiebt.     Bruch 
hat  nämlich  als    Durchschnitt   seiner    Einkommengruppen  die   Mitte  zwischen 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  2.  9 


Statistiache  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


Zabl  der 

Einkommen- 

Alle  AuagBbeo 

Wohoung..».. 

WobnuuB,.u.. 

Familfeii. 

daiwen. 

pr.  Familie. 

gaben  pr.  Farn. 

gaben  von  allen 

Thlr.  Pr.  Court. 

Thlr.  Pr.  Court. 

Tlilr.  Pr.  Court. 

Auegaben.    %. 

161 

96-        99 

üü 

66,» 

58,„ 

4 

100—      124 

106 

47 

40,,. 

1 

125—      149 

136 

55 

40„, 

45 

150-      174 

162 

43 

26,„ 

49 

175-      199 

187 

52 

27„, 

441 

200-      249 

226 

61„ 

27„, 

1,028 

250—      299 

260 

67, 

26„. 

588 

300-      349 

307 

73„ 

23,,, 

492 

350-      399 

366 

79,. 

22„, 

337 

400-      449 

403 

90„ 

22,1,     • 

147 

450-      499 

462 

101» 

22„, 

144 

500—      549 

502 

111,1 

22„, 

81 

550—      599 

563 

102«, 

22,,, 

249 

600—      699 

616 

132,, 

22„.- 

192 

700—      799 

710 

149,, 

21«n 

332 

800—      999 

857 

159,, 

18,.,»J 

327 

1,000-  1,199 

1,100 

234,. 

21,1, 

237 

1,200-  1,399 

1,300 

243„ 

18„, 

242 

1,400—  1,599 

1,600 

278,, 

18„. 

231 

1,600-  1,999 

1,800 

322,, 

1'«, 

190 

2,000—  2,399 

2,200 

360,, 

ie„.  ■ 

146 

2,400—  2,799 

2,600 

410,, 

16„o 

118 

2,800-  3,199 

3,000 

437,, 

14„. 

80 

3,200-  3,599 

3,400 

462„ 

13„, 

56 

3,600-  3,999 

3,800 

511,, 

13». 

90 

4,000-  4799 

4,400 

686,, 

13,.. 

60 

4,800-  6,999 

6,400 

616,, 

11« 

53 

6,000-  7,199 

6,600 

731,, 

11.0, 

27 

7,200—  9,599 

8,400 

846,, 

io,„ 

17 

9,600-11,999 

10,800 

1,035,, 

9„. 

9 

12,000-15,999 

14,000 

1,168.1 

8,., 

1 

16,000-19,999 

18,000 

820,), 

4,» 

1 

20,000-23,999 

22,000 

1,393« 

»„a 

2 

24000—31,999 

28.000 

1,344,, 

4,.o 

2 

32,000—30,999 

36,000 

2,246„ 

e„. 

1 

40,000-52,000 

46,000 

920,0 

2.00 

6,170 

■    96—52,000 

1,060 

176 

16„ 

beiden  Extremen  genommen,  i.  B.  fiir  die  Familien  mit  800  —  999  Thlr.  ist 
genommen  900.  Das  ist  aber  nnr  der  „ideelle"  Durchscbnittabetrag,  wie  Schwabe 
ihn  nennt.  Der  ^wirkliche''  Dnrcliacbnittsbetrag  ist  die  Eiukommena-Sunime 
aller  333  in  diesen  Einkommenagrenzen  stehenden  Familien,  aämlich  264,510  Thlr. 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  131 

Zu  der  Tabelle  bemerkt  dann  Bruch:  ^Eine  Verfolgung  der  in 
der  letzten  Colonne  der  vorstehenden  Tabelle  enthaltenen  Procentsätze 
von  oben  nach  unten  lässt  ohne  Weiteres  erkennen,  dass  darin  der 
bedeutende  in  der  obigen  kleinen  Reihe  hervortretende 
Sprung  bei  1000  Thlr.  Einkommen  vollständig  verschwun- 
den ist.  Es  ist,  abgesehen  von  einigen  ganz  unerheblichen 
Ungleichmässigkeiten  ein  consequentes  und  allmähliches  Sinken 
des  Procentsatzes  von  einer  Stufe  zur  andern  wahrzunehmen.** 

Diesen  Ausführungen  von  Bruch  müssen  wir  in  Einigem  entgegen- 
treten. Einmal  ist  denn  doch  der  Sprung  so  vollständig  nicht  ver- 
schwunden, da  es  von  18,37  auf  21,32  wieder  hinaufj^eht,  allein  lassen 
wir  das  als  eine  der  „ganz  unerheblichen  Ungleichmässig- 
keiten" gelten.  Zweitens  aber  glauben  wir,  dass  für  den  Sprung 
in  den  Procenten  der  Wohnung,  wenn  man  alle  Einkommensteuer- 
pflichtigen nimmt,  der  „entscheidende"  Grund  nur  zu  einem  kleinen 
Theile  in  dem  liegt,  w^s  Bruch  dafür  anführt  Worin  der  ent- 
scheidende Grund  zu  suchen  sein  wird,  mag  die  folgende  Auseinander- 
setzung lehren.  Leider  ist  mir  hier  das  Berliner  Miethsteuerreglement 
nicht  zur  Hand,  ich  weiss  daher  nicht  wie  weit  Räumlichkeiten, 
welche  nicht  der  Oonsumtion,  dem  Genuss,  sondern  der  Production, 
der  Arbeit,  dienen,  von  der  Miethsteuer  nicht  getroffen  werden. 
Gebäude,  welche  ausschliesslich  der  Production  dienen  sind  von 
der  Miethsteuer  nicht  getroffen.  Wird  min  nicht  dem  entsprechend, 
auch  wenn  das  Geschäftslocal  mit  der  Wohnung  mehr  oder  minder 
verbunden  ist,  bei  der  Abschätzung  des  Miethwerthes  darauf  schon 
Rücksicht  genommen  und  ein  entsprechender  Abzug  von  der  Steuer- 
behörde  gewährt?     Nehmen   wir  einmal   an,    dass   die  Miethsteuer 


dividirt  durch  die  Zahl  der  Familien  ~  857  Thlr.  Wir  müssen  den  wirklichen 
Durchschnitt  nehmen,  denn  sonst  stimmt  die  Procentzahl  der  Wohnungsmiethe 
nicht,  z.  B. : 

Wirkliches  Einkommen:   Miethe  —  857  :  159,,  —  100  :  18,8. 

Ideelles  Einkommen:         Miethe  ^  900  :  159,,  -^  100  :  17,7. 

*}  In  der  Tabelle  von  Bruch  sind  2  Druck-  oder  Rechenfehler  zu  verbessern. 
1)  In  der  Kategorie  350—399  Thlr.  ist  der  Durchschnittsbetrag  der  Miethe  nicht 
47,9  Thlr.,  sondern  79,0.  2)  Die  Miethe  beträgt  in  der  Kategorie  800—999  nicht 
19,00,  sondern  18,57.  Hoffentlich  ist  es  ein  Druck-  oder  Rechenfehler,  denn  in 
einem  .einzigen  Falle,  wo  es  mit  dem  gewünschten  Resultat  stimmt,  die  Decimale 
abzurunden,  ist  doch  nicht  erlaubt,  gerade  hier  scheint  bei  19,oo7o  der  Sprung 
in  den  Einkomms-Procenten  vollständiger  verschwunden,  als  bei  18,57%.  Vergl. 
den  Text. 

9* 


V 


iBi  statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage. 

überall  hwt  die  Wohnr&ume  belastete  und  die  Geschäftsräume  alle- 
sammt  freiliesse,  gäbe  es  dann  etwa  keine  Deutung  für  den  Sprung 
in  den  Wohnüngsprocenten  bei  dem  Einkommen  von  1000  Thlr.? 
O  ja!  der  hohe  Procentsatz,  welchen  die  Miethe  bei  einem  Einkommen 
von  lOOÖ  Thlr.  und  rtieht  austhacht,  braucht  nicht  darin  zu  liegen, 
dass  in  der  biestenerten  Miethe  ausser  Wohnungsräumen  auch  Geschäfts- 
täum^  mit  ferstenert  Wferden,  er  kann  auch  darin  liegen,  dass  bei 
nur  besteuerter  Wo hhungsmiethe  das  Einkommen  über  1000  Thlr. 
zu  niedrig  angenommen  wird.  Liegt  hierfär  einige  Wahrscheinlichkeit 
vor?  Nicht  nut*  eiiiige,  sondern  eine  sehr  bedeutende.  Unter  den 
9741  Einkommensteuerpflichtigen,  welche  Schwabe  seiner  Berechnung 
zu  Grunde  gelegt  hat,  sind  nach  Bruch's  Ermittelungen  7852  Gewerbe- 
treibende^ Kaufleute  etc.,  und  nur  1886  Beamte,  Officiere,  Pensionäre, 
Bientiers.  Nur  bei  diesen  Letztern,  mit  Ausnahme  aber  noch  der 
Rentiers,  kann  das  Einkommen  zum  Behuf  der  classificirten  Ein- 
kommensteuer genau  aus  den  städtischen  und  staatlichen  Akten  der 
sogenannten  Serris-Deputation  ermittelt  werden.  Bei  den  Gewerbe- 
treibenden, Eaufleuten  etc.  ist  man  auf  Schätzung  angewiesen.  In 
Preussen  findet  nicht  eigene  Schätzung  durch  den  Steuerpflichtigen 
selbst  statt,  sondern  eine  Einschätzung  durch  den  Staat  in  bestimmte 
Classen  der  „classificirten  Einkommensteuer''.  Nun  weiss 
Jedermann,  wie  schwer  das  reine  Einkommen  aus  gewerblichen  oder 
Handelsuntemehmungen  schon  vom  Geschäftsherm  selbst  berechnet 
werden  kann^  und  nun  gar  vom  Steuerbeamten!  Das  Einkommen 
wird  bald  zu  hoch,  bald  zu  niedrig  geschätzt  werden.  Nehmen  wir 
einmal  an,  dass  der  Irrthum  der  einschätzenden  Beamten  nach  Oben 
und  nach  Unten  gleich  gross  ist,  dass  also  wenigstens  der  Durch- 
schnitt aller  Steuerpflichtigen  einer  Classe  mit  der  Wirklichkeit  über- 
einstimmt, .  dann  wird  die  Einkommensteuer  ganz  sicher  von  weniger 
als  dem  wahren  Einkommen  bezahlt,  denn  wer  von  der  Behörde  zu 
niedrig  eingeschätzt  ist,  wird  mit  wenigen  Ausnahmen  nicht  verrathen, 
dass  sein  Einkommen  grösser  ist,  als  die  Steuerbehörde  es  schätzte, 
wer  aber  zu  hoch  angesetzt  war,  wird  reklamiren,  und  falls  er  den 
Beweis  zu  hoher  Einschätzung  el*bringen  kann,  heruntergeschätzt 
wenden  müssen.  Wenn  alle  zu  niedrigen  Schätzungen  unverbessert 
bleiben,  alle  zu  hohen  aber  corrigirt  werden,  dann  wird  der 
Durchschnitt  des  Einkommens  nach  den  Schätzungen  geringer  sein 
als  der  wahre  Durchschnitt.  Nun  richtet  sich,  was  Jemand  von 
seinem  Einkommen  auf  Miethe  verwendet,  doch  nach  dem  grösseren 
y  wahren**,  nicht  nach  dem  kleineren  „abgeschätzten"  Einkommen, 


> 

\ 


Statistisel^e  Stjudie»  zur  WohnuDgsfirage.  188 

beträgt  also  von  dem  eingeschätzten  Einkommen  mehr 
Procente  als  von  dem  wahren  Einkommen.  Das  Einkommen 
wird  zu  niedrig  geschätzt  bei  der  Mehrzahl  d^r  Familien  mit  i^ehr 
als  1000  Thlr.  Einkommen,  die  Familien  mit  weniger  als  1000  Thlr. 
Einkommen  sind  lauter  solche,  deren  J5i?ikommen  a^teni^^^ig  fest- 
gestellt wird.  In  den  Gang  der  Wohnungsprocente  muss,  wenn  aueh 
für  ei«  Einkommen  über  1000  Thaler  nur  actenmässig  ermittelte 
Einkommen  (jler  Betrachtung  unterworfen  werden,  üebereinstimmung 
kommen.  Das  hat  nun  Bruch  halb  unbewusst  ziemlich  genau  ge- 
than.  Unter  seinen  Beamten,  Offizieren,  Pensionären  und  Rentiers 
sind  die  drei  Ersteren  Leute  mit  actenmässig  ermitteltem  Einkommen. 
Die  Procentreihe  der  Wohnungsausgaben  würde,  wenn  nicht  unter 
den  1889  Familien  noch  pine  bedeutende  Anzahl  Rentiei*s  wäre, 
ganz  ohne  einen  Sprung  abwärts  gehen.  Der  kleine  Sprung, 
welcher  bei  Bruch  noch  bleibt,  fällt  den  Rentiers  zur  Last,  deren 
Einkommen  am  allerunschätzbarsten  ist.  Ihr  Einkommen  wird 
sehr  viel  höher  sein,  als  (las  Einkommen,  welches  sie  versteuern. 
Zu  ihrem  geschätzten  Einkommen  wäre  also  ein  gewisser  Zu- 
schlag zu  machen,  um  ein  richtiges  Verhältniss  zwischen  ihren 
Ausgaben  oder  ihrem  wahren  Einkomipaen  und  ihren  Wohnungs- 
ausgaben zu  finden,  oder  auch  diese  Rentiers  müssten  noch  ausge- 
merzt werden. 

Dafür,  dass  die  Rentiers  den  noch  bleibenden  Sprung  auf  sich 
nehmeo  müssen,  haben  wir  noch  einen  anderen  atatistisohen  Beweis. 
Auf  der  folgenden  TaJbelle  ist  berechnet,  wie  ftür  die  gleichen 
Einkommensclassen  'über  1000  Thlr.  die  Wobnungsproceote  sich  ge- 
stalten, 1)  für  alle  9741  Einkominenstetterpflicbtiigeii,  3)  für  die 
1888  Offiziere,  Beamten,  Pensionäre ,  Rentiers,  mii  3)  für  die 
Einkommensteuerpflichtigen  nach  Abzug  der  1889  nicht  Gewerbe- 
treibenden, d.  h.  füi*  die  7852  Gewerbetreibende,  Kaufleaite,  La^d- 
wirthe  etc.  Dabei  ist  angegeben,  wie  viel  %  ersteiis  alle  Bin- 
kommensteuerpAichtigen  und  zweitens  die  Gewerbetreibenden 
mehr  für  Wohnung  ausgeben  als  die  Beamten  in  jeder  Einkommen- 
steuerclasse: 


134 


Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


Prooentverhältniss  der  Mie^the  bei 

Auf  Wohnung  verwenden 
mehr  %  als   die  Beamten: 

aIIavi     TP'l'Vkly/WVh    .                      /XA«arA«»lvA_ 

j  steaerpflicbtig.       treibend«n 

alle  Ein- 

1^  ^WV\  lrV\  A  Yl  O  r  All  A  k* 

die 

Kommcnoiicu.61  *■         vvcwciuc 

mit  über  1000  Thlr.  Einkommen. 

Pflichtigen,          treibenden. 

1 

21« 

27,6 

28/9 

6/3 

7,5 

18„ 

24,6 

26„ 

6,0 

7,4 

18,6 

28/9 

25,5 

5,3 

6„ 

17,0 

21,5 

22,2     . 

3,6 

4,3 

16,4 

20,5 

21,4 

4„ 

5 

16,8 

19,T 

20„ 

3,0 

4,0 

14„ 

17,a 

18,0 

2^ 

3,4 

13,6 

17.5 

18,3 

3« 

4,7 

18,5 

15« 

15,5 

1,5 

2 

13,3 

16;4 

17,3 

3„ 

4 

11,4 

14,3 

15„ 

2,9 

3„ 

11,0 

12„ 

13„ 

0,8 

1,2 

io„ 

11,6 

11,9 

1,5 

U 

9,6 

9„ 

9^0 

-0,5 

-0,6 

"»3 

8„ 

8/8 

0,4 

0,5 

.4^ 

7,6 

7,6 

3,0 

3,Q 

Wie  kann  diese  Tabelle  beweisen,  dass  der  unmögliche  Sprung, 
der  nach  Ausscheidung  aller  Gewerbetreibenden  aus  den  Einkommen- 
steuerpflichtigen  noch  bleibt,  den  Pensionären  zur  Last  fällt?  Sehr 
einfach :  Die  Differenz  in  den  Wohnungsprocenten  der  Beamten  etc. 
und  der  Gewerbetreibenden  ist  bedeutend  in  den  Einkommensclassen, 
in  denen  die  Rentiers  von  den  Beamten  noch  stark  überwogen 
werden.     Das  ist  natürlich  nur  in  den  unteren  Classen  der  Fall  mit 

'  wenig  über  1000  Thlr.  Einkommen,  welches  Gehalt  viele  Beamte  haben, 
mit  welchem  Einkommen  aber  noch  nicht  viele  Leute  sich  soweit 
begnügen,  um  ohne'  Gewerbe  nur  von  Zinsen,  nicht  auch  von  Arbeit 

^u  leben.  Li  den  oberen  Einkommensclassen,  z.  B.  über  5000  Thlr. 
giebt  es  selbst  in  Berlin  wenig  Beamte  und  Offiziere,  hingegen  lassen 
sich  hier  viele  Rentiers  vermuthen.  In  den  höheren  Einkommens- 
classen nun,  wo  den  Gewerbetreibenden,  deren  Einkommen  schwer 
schätzbar  ist,  fast  nur  solche  Rentiers  gegenüberstehen,  deren  Ein- 
kommen auch  nicht  genau  geschätzt  werden  kann,  fällt  die  Differenz 
in  den  Wohnungsprocenten  dieser  beiden   Classen  fort.     Es   stehen 


L 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  186 

den  unschätzbaren  Gewerbetreibenden  nicht  mehr  gegenüber:  viele 
sicher  zu  schatzende  Beamte  plus  wenigen  unsicher  zu  schätzenden 
Rentiers,  sondern:  sehr  wenig  sicher  zu  schätzende  Beamte  plus 
sehr  vielen  unsicher  zu  schätzenden  Rentiers.  Da  muss  wohl  die 
Differenz  in  den  Wohnungsprocenten  bei  den  oberen  Einkommens- 
classen  fortfallen. 

Bei  den  gesammten  obigen  Auseinandersetzungen  ist  nun  noch 
nicht  einmal  in  Betracht  gezogen,  dass  notorisch  die  Einschätzung 
in  die  verschiedenen  Einkommensclassen  in  Preussen  ungemein 
milde  geschieht,  was  an  sich  nichts  schadete,  wenn  es  nicht 
gegen  die  Beamten,  deren  Einkommen  genau  ermittelt  wird,  unge- 
recht wäre. 

Nach  allem  Gesagten  kann  es  kaum  einem  Zweifel  unterliegen, 
dass  das  Durchschnitts-Einkommen  Aller,  welche  Einkommensteuer 
zahlen^  höher  angenommen  werden  muss,  als  die  Steuerbehörde  thut^ 
es  fragt  sich  nur,  ob  man  aus  den  Miethen,  welche  die  Gewerbe- 
treibenden zahlen,  ilickschliessen  kann  auf  das  Einkommen?  Es  kann 
folgenderweise  geschehen :  In  der  ersten  Einkoinmensteuerclasse  (1000 
bis  1199  Thlr.)  stehen  1861  Familien  mit  563,919  Thlr.  Miethe,  davon 
gehen  327  Beamtenfamilien  mit  zusammen  359,700  Thlr.  Einkommen 
und  76,630  Thlr.  Miethe  ab,  die  Miethe  der  Beamten  beträgt  21,,  7o  des 
Einkommens,  und  ist  234,3  Thlr.  per  Familie.  Die  übrig  bleibenden 
1534  gewerbetreibenden  Familien  zahlen  zusammen  487,289  Thlr., 
d.  h.  317  Thlr.  per  !Pamilie.  Eine  Miethe  von  durchschnittlich 
317  Thlr.  finden  wir  auch  unter  den  Beamten  wieder.  Es  haben 
nämlich  231  Familien  eine  Miethe  von  durchschnittlich  322,5  Thlr. 
Diese  Miethe  entspricht  einem  Einkommen  von  durchschnittlich 
1800  Thlr.  Darnach  wären  also  die  Gewerbetreibenden,  welche 
auf  1200  Thlr.  Durchschnitts -Einkommen  geschätzt  wurden,  um 
100  Thlr.  höher  zu  schätzen.  Weiter!  Von  den  1137  Familien  mit 
durchschnittlich  1200—1399  Thlr.  Einkommen  gehen  237  Beamten- 
familien ab,  es  bleiben  900  Gewerbetreibende  mit  zusammen 
305,848  Thlr.  Miethe  oder  durchschnittlich  mit  339  Thlr.  Miethe. 
Diese  339  Thlr.  Miethe  würden  nach  der  Beamten  tabelle  entsprechen 
einem  Einkommen  von  circa  2000  Thlr.,  denn  322  Thlr.  Miethe 
entspricht  1800  Thlr.  Einkommen,  361  Thlr.  entsprechen  2200  Thlr. 
und  339  sind  fast  genau  das  Mittel  aus  361  und  322  Thlr.,  ent- 
sprechen also  dem  Mittel  aus  2200  und  1800  Thlr.  Einkommen,  d.  h. 
2000  Thlr.  Einkommen.  So  kann  man  weiter  gehen,  indem  man 
aus  der  wirklichen  Miethe  der  Gewerbetreibenden,  aus  dem  wirk- 


136 


Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


liehen  Einkommen  und  der  wirklichen  Miethe  der  Beamt^i;i,  das  virk- 
liche Einkommen  der  Gewerbetreibenden  ermittelt  nach  der  Proportion : 
Mißthe  der  Beamten:  Gehalt  der  Beamten  =  Miethe  der  Gewerbe- 
treibenden: dem  wirklichen  Einkommen  der  Gewerbetreibenden. 
Das  gäbe  ungefähr  folgende  Tabelle: 


Mit  Ein- 
kommen 

von 

durch - 

Bchnittl. 


ThJr. 


sind 
taxirt 
Familien 
über- 
haupt. 


haben 
wirklich 

dieses 
Ein- 
kommen, 

Beam- 
ten- etc. 
Familien. 


bleiben 

nach 

Familien 

der 
Gewerbe- 

trei* 
benden. 


zahlen 
Miethe 
die 
Be- 
amten. 


Tbk. 


zahlen 
Miethe 
die 
Gewerbe- 
trei- 
benden. 


Tbl». 


'    Vor- 
stehende 
Mietliend. 
Geifverbe- 
treiben- 
den ent- 
gp  rechen 

einem 
Einkom- 
men   voi^ 

Thlr. 


Differenz 
zwBsehaB 
dem  ver- 
steuerten 
und  dem 
wirklich. 
Einkom- 
BOiSn  der 
Gewerbe- 
trei- 
benden. 

Thb. 


1100 

1861 

327 

1534 

1300 

1187 

287 

700 

1600 

1070 

242 

828 

1900 

1282 

231 

1001 

2200 

1024 

190 

934 

2600 

702 

145 

557 

3000 

475 

118 

357 

8400 

456 

80 

376 

38QQ 

440O 

5400 

1800 
2000 
2400 
2600 
3000 


I  . 
)  4100  I  \ 


5400 


700 
700 
900 
800 

800 

1500 

1100 
2000 


Wir  gestehen  nun  allei'dings  ganz  offen,  d?w3s  wir  nicht  glauben 
mit  dem  Rückschluss  aus  der  Miethe  das  Einkommen  der  Gewerbe- 
treibenden richtig  gefunden  zu  haben,  die  Tabelle  mag  mehr  nur 
zeigen,  wie  bei  genügendem  statistischem  Material  die  Frage  zu  be- 
handeln wäre.  Um  nur  ein^  Fehlerquelle  anzuführen :  Die  ganze 
Behandlung  geht  von  der  Pr^i^misse  aus,  dass  alle  St^de  und  Be^ 
rufsclassen  für  wahre  Wohnungsräumlichkeiten,  also  mit  AufiseUuss 
ajler  GeschäftslocaUtätep,  bei  gleichem  Einkommen  dieselben  Pro- 
cente  verwenden,  allein  eben  diese  Prämisse  ist  noch  keineswegs 
bewiesen,  ja  sie  ist  vermuthlich  aus  nachstehendem  Grunde    falsch. 


statistische  Studien  ?jur  Wohuungsftag«.  137 

Verschiedene  Berufsarten  verstehen  unter  ^standesge^äss  wäh- 
nen** «ehr  Verschiedenes,  ein  Beamter  z.  B.,  gleicher  Einnahme  wie 
ein  IJandwerker  pder  gutbezahlter  Fabrikarbeiter,  wird  auf  eine  gute 
Wohni^ig  mehr  sehen,  als  die  Letzteren,  und  wird  lieber  m  der 
Nahrung  ßich  etwas  abdarben.  Diese  Behauptung  beruht  einmal  auf 
der  allgemeinen  Beobachtung,  da^s  mit  der  Bildung  das  Gefühl  für 
eine  anständige  Wohnung  wiäuchst,  sodann  dürfte  es  vielleicht  aus 
den  bisher  betrachteten  Pa^en  statistisch  plausibel  gemacht  werden 
könne» : 

Bei  einem  Einkammen  unter  1000  Thlr.,  d.  h.  bei  durchschnittlich 
385   Thlr.  verbraucht  der  Berliner   fOr  Miethe  Zit^  7o  seines  Ein- 
kommens.   Das  ist  ein  Einkommen  von  nur  wenig  mehr  als  in  4^r 
obersten  (Ilt)  Kategorie  der  belgischen  Arbeiter  mit  1214  Fr.  oder 
334  Thlr.  per  Familie.    Diese  Familien  verwenden  aber  nur  9,o^  7o 
auf  Wohnung,  d.  h.  noch  nicht  einn^al  halb  so  viel  als  die  berliner 
Beamten.     Oder  nehmen  wir  die  39  französischen  Arbeiterfamilien, 
mit  durchschnittlich  1478;6  Fr.  oder  314  Thlr.,  d.  h.  mit  so  grossem 
Einkommen    als    die   berliner  Familien,    so    verwenden    diese    auf 
Wohnung  sogar  nur  7,qi  %.    Ausserdem  umfassen  diese  Verwendungen 
von    9,04  Vo    der    belgischen  und    7^i  %    der   pariser  Arbeiter   für 
Wohnung  nicht  nur  die  Miethe,  sondern   auch   die  Kosten   für  Aus- 
besserung des  Mobiliars  und  Ersetzung  der  abgängigen  Stücke  durch 
neue.      Allein  lassen  wir    diesen   allerdings   unbedeutenden   Posten 
einmal  ausser  Acht,  und  nehmen  wir  die  Wohnungsausgaben  für  reine 
Miethe  an,    so   beti-^ägt   sie  nur    Va   bis   V2    von   den  Ausgaben    der 
Berliner.     Und  wende  man  nicht  ein,  die  Berliner  geben  für  Woh- 
nung nur  so  viel  mehr  aus   weil  eine  gleiche  Wohnung  in  Berlin, 
der  grossen  Stadt,  mehr  kostet  als  in  Belgien  und  Frankreich,  Stadt 
und    Land   Zusammengenommen;   wir    können  .>a   die    10   pariser 
Familien  mit  2131«e4  Fr.  oder  568  Thaler  zur  Vergleichung  nehmen. 
Gleiche  Wohnungsräumlichkeiten  dürften  in  Pa^is  wohl  kaum  billige^- 
seia:i  ajs  in  Berlin,  im  Gegenthei}.  thewrer,  und  doch  verwenden  die 
10    pariser  FamilieM    unter   den   39    französischen   nur  7^  °/o   auf 
Wohnung^  de  h.  nur  V3  von  dem,  was  für  die  bierliner  Beamten  gilt. 
Damit  soll  wieder  nicht  behauptet  sein,  dass  der  Beamte  dreimal 
mehr  auf  Wohnung  verwendet  als  der  Gewerbetreibende,  aber  ein 
gut  Theil  mehr  scheint  es  allerdings  zu  sein. 

Dreimal  so  viel  geben  die  Berliner  schon  darum  nicht  für  Woh- 
nung aus,  weil  die  Beamtengehälter  nicht  die  gaoize  Einnahme  der 
B^amtenfamilien  ausmachen,  sondern  nur  den  allerdings  überwiegenden 


138  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 

Theil.  Damit  kommen  wir  zu  einem  ungemein  wichtigen,  bisher 
noch  zurückgestellten  Punkt,  den  schon  Schwabe  mit  vollem  Rechte 
betont.  Schwabe  sagt  zu  der  Tabelle  mit  den  Beamten  unter 
1000  Thaler  Einkommen:  „Um  -die  richtigen  Verhältnisse  aus 
dieser  Tabelle  herauszulesen,  empfiehlt  es  sich,  dieselbe  zunächst  zu 
rectificiren.  Betrachtet  man  nämlich  die  Beamtengehälter,  welche 
weniger  als  300  Thlr.  betragen,  so  bestehen  diese  vielfach  aus  solchen 
niederer  Postbeamten,  namentlich  Briefträger,  niederer  Justizbeamten, 
Boten,  Canzleidiener,  Nachtwächter  etc.  Gegenüber  den  Preisver- 
hältnissen der  unentbehrlichsten  Nahrungs-  und  Unterhai tsiüittel  in 
Berlin  dürfte  wohl  bei  geringen  Gehältern  anzunehmen  sein,  dass 
entweder  die  Frau  durch  Arbeit  oder  der  Mann  durch  Nebenver- 
dienste oder  beide  zusammen  das  Einkommen  höher  bringen,  als  es 
der  Gehalt  bezeichnet.  Dieses  ergiebt  sich  am  augenscheinlichsten 
bei  den  untersten  Gehaltsclassen,  in  denen  Einkommen  und  Mieöie 
nahezu  gleich  stehen  etc."  Gewiss  hat  Schwabe  mit  dieser  Be- 
hauptung vollkommen  Recht,  es  muss  ein  bedeutender  Zuschuss  zum 
Gehalt  aus  anderen  Quellen  angenommen  werden,  und  zwar  ein 
um  so  grösserer,  je  geringer  das  Gehalt  ist.  Wie  hoch  man  den 
Zuschlag  anzunehmen  hat,  wagen  wir  nicht  zu  entscheiden.  Man 
könnte  etwa  daran  denken,  den  Zuschuss  zu  finden  aus  dem,  was 
von  dem  Gesammt-Einkommen  der  belgischen  und  französischen 
Arbeiterfamilien  aus  der  Arbeit  des  Mannes,  der  Frau,  der  Kinder 
und  aus  sonstigen  Quellen,  Almosen  oder  Capitalbesrtz  herrührt. 
Dafür  haben  wir  die  Daten  bei  Engel,  dass  z.  B.  in  den  belgischen 
Arbeiterfamilien  aller  drei  Kategorien  der  Hausvater  nur  circa  die 
Hälfte  des  Gesammt -Familien-Einkommens  aufbringt.  Die  Zahlen 
lassen  sich  leider  nicht  übertragen  auf  die  berliner  Beamten.  Ein 
so  bedeutender  Antheil  am  Gesammt-Einkömmen,  wie  in  den  sogen, 
arbeitenden  Classen  kommt  in  den  niederen  Beamtenclassen  auf  Frau 
und  Kinder  höchstens  in  den  alleruntersten  Classen ;  schon  bei  noch  recht 
mangelhaftem  Gehalt  des  subalternsten  Beamten  verbietet  die  Standes- 
ehre, dass  die  Frau  und  die  Kinder  die  lohnende  Arbeit  in  Fabriken 
aufsuchen,  nur  die  schlechtbezahlten  sogenannten  Nebenerwerbszweige: 
Nähen,  Stricken,  Waschen,  Unterrichten  „dürfe^n"  nach  den  Standes- 
gefühlen Frau  und  Kinder  des  Beamten  betreiben. 

Genug,  die  Einnahmen  der  Beamtenfamilien  sind  um  so  mehr 
durch  solche  Einnahmen  zu  erhöhen,  je  niedriger  die  Gehälter  sind. 
Wie  hoch  man  den  Zuschuss  ansetzen  muss,  lassen  wir  unentschieden. 
Selbst  wenn  wir  annehmen  wollten,    das  Einkommen  der  Beamten 


iL. 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  189 

unter  1000  Thlr.  betrüge  durchschnittlich  nicht  385  Thlr.,  sondern 
die  Hälfte  mehr,  d.^  h.  577  Thlr.,  so  wären  die  durchschnittlich 
88  Thh-.  Miethe  15,2%,  also  fast  noch  der  doppelte  Procentsatz  des 
pariser  Arbeiters.  Aber  nicht  einmal  so  hoch  kann  der  Zuschuss  aus 
den  anderen  Quellen  sein,  denn  sonst  wären  die  Wohnungsprocente 
bei  dem  Einkommen  unter  1000  Thaler  und  über  1000  Thaler  ein- 
ander gleich.  Nur  bei  den  unteren  Gehalten  bis  etwa  800 — 400  Thlr. 
möchten  wir  nennenswerthe  anderweitige  Einnahmequellen  annehmen. 
Je  mehr  nun  nach  unten  zu  die  Einnahmen  höher  anzusetzen  sind 
als  die  Gehalte,  um  so  mehr  werden  die  Wohnungsprocente  reducirt, 
namentlich  die  ganz  unmöglichen  57,5%  auf  Wohnung  in  der  Ein- 
kommensclasse  von  96  —  99  Thlr.,  die  auch  als  Gesammt-Ein- 
kommensclasse  unmöglich  ist. 

Durch  die  vorstehende  Beti*achtung  gelangt  man  dazu,  die  Ab- 
nahme in  der  Procentreihe  für  Wohnung  bedeutend  in  den  untern 
Classen  abschwächen  zu  müssen,  so  dass  eine  namhafte  Abnahme 
der  Procente  etwa  erst  in  den  oberen  Einnahmestufen  über  1500  Thlr. 
hinaus  Statt  hätte.  In  den  unteren  Classen  wäre  die  Procentabnahme 
sehr  unbedeutend  oder  hörte  gar  in  den  mittleren  Regionen  von  300 
bis  1500  gß,nz  auf,  wo  dann  18 — 20%  auf  Wohnung  fallen  dürften. 
.  Das  würde  Uebereinstimmung  schaffen  mit  den  constanten  Wohnungs- 
prbeenten,  welche  wir  für  die  belgischen  so  wie  für  die  französischen 
Arbeiter  fanden  und  mit  den  constanten  12  Wohnungsprocenten, 
welche  Engel  in  drei  Wohlhabenheitsclassen  von  300  —  400  Thlr., 
600—800  Thlr.,  1000  —  1500  Thb.  annimmt.  Es  sollte  uns  nicht 
wundern,  wenn  Engels  so  oft  richtiger  Blick  auch  hier  das  Richtige 
getroffen  hätte,  wo  die  Annahme  von  12%  für  Wohnung  allerdings 
mehr  auf  Intuition  als  Induction  zu  beruhen  scheint  3  nichts  ist  ja  für 
einen  Mann  der  Wissenschaft  ehrenvoller,  als  wenn  eine  Hypothese 
oder  Intuition  später  inductiv  bewiesen  wird. 

Mag  man  übrigens  auf  die  obige  Art  den  Sprung  aus  der 
Wohnungs-Procentreihe  entfernen,  oder  auf  die  Art  wie  Bruch  es 
thut,  oder  endlich,  was  wohl  das  Richtigste  sein  dürfte,  durch  Com- 
binirung  beider  Deutungsarten,  immer  bekommt  man  qualitativ 
für  Berlin  dasselbe  Gesetz  wie  für  Hamburg,  „je  ärmer  durch- 
schnittlich die  Familien  sind,  um  so  mehr  Procente  ihrer 
Ausgaben  verwenden  sie  auf  die  Wohnung".  Gegenüber 
dem  so  reichhaltigen  Material  aus  diesen  beiden  Städten  fällt  das 
andere  Material  nicht  ins  Gewicht. 


140 


Statistische  Studi^p  zur  Wohnungsfrage. 


^ur  quantitativ  stimmen  in  beiden  Städten  d^e  Prooei^treilien 
nicht  genai^.  Am  Sohluss  dieser  Abhandlung  findet  sich  in  einer  grössere 
TabeUe  der  Versv»ich,  die  Wohlhabenheitsclassen  von  Berlin  mit  denen 
Uamburgs  in  U^bereinstimmung  ?ju  bringen.  Es  wurde  dies  dadurch 
ernUiglicht,  daas  für  Berlin  der  Wohlhabenheitsstufen  genug  gemacht 
waren,  um  am  diesen  kleineren  Gruppen  grössere,  den  HamburgiBchen 
a^äqual^e  zu  bilden.  Für  Einzelheiten  sei  auf  diese  Tabelle  verwiesen, 
hier  geben  wir  nur  die  absteigenden  Pixicentreihen  bei  bestimmtem 
Durchschnittseinkommen : 


Hamburg. 

— — ^-          1 

Perlin. 

Durchschnittseinkommen. 

r 

Wohnung.  %. 

Wohnung.  %. 

Durohscbnlttseinkommen. 

f       113 

31 

57,5 

100    X 

IST 

24„ 

26„ 

162 

193 

22,3 

27„    • 

187 

unter  1000^ 

293 

18„ 

24„ 

284 

•  unter  1000 

523 

19,9 

21,8 

451 

735 

20,3 

21,6 

656 

^       941 

19,5 

18,6 

900    ^ 

1,338 

19« 

19,3 

21,3 

18„ 

1,100    1 
1,300 

über  1000  ^ 

1,562 
1,881 
2,939 

18„ 

1«<« 
16 

18„ 
17„ 
15 

1,500 
1,800 
2,770 

.  über  1000 

6,379 

11« 

11,1 

5,630 

14,004 

6« 

8« 

12,150 

27,105 

4,4 

5« 

30,000 

56,013 

2„ 

2 

46,000 

Uehier  die  <malitative  Uebereinstinmiung  ist  kei^  W^ort  ipebf  ^u 
verlieren.  Aber  auch  quantitativ  sind  die  Resultate  (e^gentlic»h  mr 
rß}t  4^asnahme  der  ersten  Linien  bei  ganz  geringem  Einkommen)  auf- 
fallend übereinstimmend,  namentlich  wenn  man  Folgi^ndes  bedenkst: 
In  Berlin  werden  difirchschnlttlich  mehr  Procente  auf  WoJin^^g  ver- 
wendet, (nämlich  16,(j7o)  als  in  Hamburg  (IS^eVoO  ^^^  eii;ieB|  Durch- 
schnittseinkommen, das  in  Berlin  höher  ist  (1,060)  als  in  Hambuj^ 
(906),  also  eigentlich  g^eringere  Proceji^te  verlangen  ^Ute.    Die  Grösse 


statistische  Studifcn  zur  Wohnungsfrage.  141 

der  Stadt  Berlin  bedingt  dieses:  die  Wohnungen  sind  im  Verhältniss 
zu  den  anderen  Gütern  des  Lebens  um  so  theurer,  je  grösser  unter 
sonst  gleichen  Umständen  die  Städte  sind.  Nur  in  7  Classen  unter 
den  16  sind  die  berliner  Wohnungsprocente  geringer,  und  zwar  sehr 
wenig  geringer,  in  den  übrigen  9  Fällen  höher,  und  zwar  bedeutend 
höher.  Bei  dem  Einkommen  bis  1000  Thlr.  sind  in  Berlin  die 
Wohnungsprocente  nur  in  einem  einzigen  Falle  geringer,  in  allen 
anderen  6  bedeutender.  Die  Wohnungsprocente  sind  in  Berlin  für 
die  unteren  Einkommensclassen  so  viel  höher,  weil  wie  oben  gezeigt, 
diese  Angabe  sich  nur  auf  das  Einkommen  aus  dem  Gehalt  des 
Familienvaters  bezieht ,  nicht  aber  auf  die  Nebeneinnahmen.  In 
Hamburg  sind  aber  die  arbeitenden  Classen  mit  inbegriffen,  was 
schon  daraus  erhellt,  dass  in  Hamburg  auf  ca.  200,000  Einwohner 
11,230  Fälle  mit  Einkommen  unter  1000  Thlr.  beobachtet  sind,  in 
Berlin  auf  die  dreifache  Bevölkerung  nur  4281  Fälle. 

Unter  solchen  Umständen  kann  man  sich  höchstens  wundern,  dass 
die  Uebereinstimmung  noch  so  gross  ist. 

Wenn  man*  übrigens  nur  vergleicht  alle  Einkommen  unter  1000 
und  über  1000  Thlr.,  so  könnte  nach  dem  oben.  Gesagten  auffallen, 
dass  in  Berlin  die  Leute  mit  über  1000  Thlr.  Einkommen  so  sehr 
viel  mehr  %  auf  Wohnung  verwenden,  nämlich  14,»,  in  Hamburg 
nur  10,8,  allein  man  berücksichtige,  dass  die  Hamburger  über 
1000  Thlr.  ein  Einkommen  von  durchschnittlich  4,494  Thlr.,  die  Ber- 
liner von  nur  2590  Thlr.  beziehen,  das  geringere  Einkommen  muss 
ja  mehr  Procente  hinwegnehmen.  Umgekehrt  ist  in  Berlin  das  Ein- 
kommen unter  1000  Thlr.  grösser  (385  Thlr.)  als  in  Hamburg 
(315  Thlr.).  Von  diesem  grösseren  Einkommen  in  Berlin  müssen 
verhältnissmässig  niedrigere  Procente  für  Wohnung  abgehen ,  als 
von  dem  geringeren  Einkommen  der  Hamburger.  Darum  ist  bis 
1000  Thlr.  Einkommen  der  Wohnungsprocentsatz  in  Berlin  U2,g%, 
in  Hamburg  20,2  j  *wäre  der  Einkommensatz  in  Hamburg  höher,  dann 
würde  auch  der  Procentsatz  niedriger  sein. 

Wie  sehr  beide  Procentreihen,  mit  einander  parallel  gehen, 
erhellt,  wenn  man  nicht  graphisch  die  Sätze  darstellen  will,  aus 
einer  Uebertragung  beider  Zahlenreihen  auf  gleichen  Maassstab.  Das 
geschieht  indem  man  die  Durchschnittsprocente  von  Hamburg 
13,e  =  •lOO  setzt,  und  die  lÖ,«  7o  von  Berlin  gleichfalls  =  100 
nimmt. 

Dann  verhalten  sich  die  einzelnen  Wohlhabenheitsclassen  in 
den  Wohnungsprocenten  zum  Durchschnitt  wie ; 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


Hamburg.      Berlin. 


Berlin  — .    Hambui^.    Berlin  +• 
228  118 


182 

161 

21 

182 

164 

167 

164 

3 

137 

149 

137 

12 

146 

131 

16 

146 

12 

149 

130 

19 

149 

143  , 

112 

21 

143 

144 

.   128 

14 

144 

142 

113 

29 

142 

139 

112  _ 

27 

139 

137 

108 

29 

137 

118 

»0 

28 

118 

85 

70 

15 

85 

49 

53 

49 

4 

32 

34 

30 

2 

20 

12 

20 

Durchschnitt  lUO 


100 


1  Durchschnitt.    100 


Rftmp.rkftnawfirth  ist  hier  unter  vielem  Andern  namentlich,  dass 
tbenheitgclassen  unter  dem  Durchschnitt  und 
litt  das  Mittel  sich  bildet,  in  Hambui^  sogar 
durchschnitt  und  12  darüber.  In  Berlin  sind 
852  Familien  oder  14%,  in  Hamburg  nur 
Hamburg  sind  jedoch  in  den  beiden  obersten 
Berlin  nur  6,  Wer  überhaupt  auf  statistischen 
Igen  —  spazieren  zu  gehen  versteht,  wird  für 
er  beiden  gross ten  und  wicht^sten  Städte 
beobachten  finden.  Hier  ist -nicht  der  Ort, 
;   sondern   es  war   nur  unsere   Absicht,   zum 


ISS  Jemand,  dem  eine  wissenschaftlich  inter- 
ügt,  iragen,  wozu  man  solch  wissenschaftliche 
i  verwerthen  könne,  so  kann  gerade  in  diesem 
ende  Antwort  gegeben  werden:  Zu  Steuer- 
rde  von  uns  gezeigt,  dass  in  Preueeen  für 
ommen,  welches  nicht  actenmässig  l(lar  vor- 
tzt  wird,  was  gleich  bedeutend  ist  mit  einer 
,  welche  ein  actenmässig  bekanntes  Ein- 
tdann    aber  hat    Bruch    unzweifelhaft   nach- 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


143 


gewiesen,  dass  eine  Besteuerung  der  Miethe  mit  gleichen  Procenten 
nicht,  wie  man  bisher  ziemlich  allgemein  annahm,  auch  das  Ein- 
kommen mit  nahezu  gleichen  Procenten  trifift.  Eine  einfache  Rechnung 
hat  ihm  vielmehr  ergeben,  dass  eine  gleichprocentige  Miethsteuer  die 
Familie  um  so  härter  trifft,  je  ärmer  sie  ist,  da  diese  mehr  Procente 
ihres  Finkommens  auf  Wohnung  verwendet.  Man  ist  bei  der  ber- 
liner Miethsteuer  davon  ausgegang.en,  dass  durchschnittlich  die  Miethe 
20%  oder  V5  des  Einkommens  beansprucht,  und  hat  gemeint,  dass 

dem   entsprechend    die    berliner  Miethsteuer  von  6,05%  der  Miethe 

6    V 
gleich  sei  einer  Einkommensteuer  von    '"  ^^   oder  1,333  %•     ^^   der 

folgenden  Tabelle  haben  wir  nach  Bruch  zusammengestellt,  wie  viele 
Procente  des  Einkommens  die  Miethsteuer  von  6,6»  Vo  wirklich  fort- 
nimmt, um  wie  viel  %  niehr  also  das  Einkommen  der  unteren 
Classen,  und  um  wie  viel  %  weniger  das  Einkommen  der  oberen 
Classen  belastet  ist  durch  eine  gleichprocentige  Miethsteuer: 


Die  Miethsteuer 

Die  Miethsteuer  trifft  das  Ein- 

von 6^6Q  %  des  Miethzinses  belastet 

kommen  um  % 

das  Einkommen 

mehr                       weniger 

von  Thlr. 

mit  %. 

als  im  Durchschnitt  von  1/S33%- 

1 

96—        99 

3/87 

2,54 

100         124 

2/78 

1 

1        1 

125—      149 

2/04 

l»«! 

— 

150—      174 

1/77 

0,44 

175          199 

1'85 

0,52 

200         249 

1/81 

o,„ 

— 

250—      299 

1#73 

0,40 

300         349 

1^60 

0,jj 

350—      399 

1/49 

0„6             1             - 

400—      449 

1/50 

0,„ 

450         499 

1/51 

0„8 

— 

500         549 

1/48 

0„5 

— . 

550         599 

1/45 

0„2 

600         699 

1/48 

o,„ 

— 

700         799 

1/40 

0,oj 

— 

(Fortsetzung  auf  der  folgenden  Seite.) 


144 


Statistische  Studien  zur  Wöhuangsfhige. 


31,000—39,999 
40,000 


51,999 


Die  Miethsteuer 

■  '  11  " "  '■  '  r     ''      ■       ■    • 

Die  Miethsteuer  trifft  das  Ein- 

von  G,%^%  des  Miethzinses  belastet 

1                    kommen  um  % 

das  Einkommen 

mehr 

vfeniger 

von  Thlr.                      mit  %. 

1 

als  im  Durchschnitt  von  1,333%- 

800—      999 

Im 

0/09 

1,000      1,199 

1^« 

0,0. 



1,200      1,399 

1/25 



0/08 

1,400—  1,599 

1^ 

— 

0,09 

1,600      1,999 

1/19 

O/U 

2,000      2,399 

1/00 

0,24     • 

2,400       2,799 

1/05 

0,28 

2,800      3,199 

0/072 

0,361 

3,200      3,599 

O^OT 



0h26 

3,600      3,999 

0/898 

0,435 

4,000      4,790 

0/889 

0,444 

4,800—  5,999 

Oriei 

' 

0,572 

6,000—  7,199 

0/T89 

0,594 

7.200      9,599 

0,672 



0,661 

9,600—11,999 

0/639 



0/694 

12,000—15,999 

•    0,551 

0,702 

16,000    19,999 

• 

0,306 

■ 

l/ü27 

20,000—23,999 

0»f23 



0,910 

24,000—31,999 

0/320 

1/013 

0,415 
0,132 


0,918 
1/210 


Die  berliner  Miethsteuer  ist  also  eine  Progressivsteuer  nach 
unten.  Diese  ist  aber  gewiss  nicht  zu  rechtfertigen,  wenn  sie  nicht 
durch  andere  Steuern  mit  der  gleichen  Progression  nach  oben  aus- 
geglichen wird. 

Dieser  Nachweis  der  Progression  nach  unten  ist  ein  praktisches 
Ergebniss  der  Statistik,  wie  man  es  in  ähnlichet*  Bestimmtheit  und 
Unanfechtbarkeit  selten  findet. 


statistische  Studien  zur  "Wohnungsfrage. 


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Dorpat,  im  December  3 


Laspeyres. 


Baltische  Motiatsachrirt,  N.  Folge,  Bd.  I,  Hefi  3. 


Zur  livländischen  Landtegsgeschichte. 


S.     11«  BuerTerttTdüHng  t*i  1894  aid  die  YerfusüDgafrage. 
(ForUetzung.) 

Der  denkwürdige  Landtag,  der  zwölf  Monate  später,  im  Februar 
1803,  zu  Riga  aligehalteu  wurde,  hat  sich  in  der  Bauerverordnung 
von  1804  ein  zu  dauerndes  Gedäclitnias  gesetzt,  als  dass  die  Bekannt- 
schaft mit  dem  Hauptinhalt  seiner  sechswöchentlichen  Berathungen 
nicht  bei  dem  weitaus  grössten  Theil  der  Freunde  unserer  Landea- 
geschichte  vorausgesetzt  werden  müsste.  Ueberdies  besitzen  wir  in 
Gariieb  Merkel's  Erinnerungsschrift:  „Die  freien  Letten  und  Ehsteu" 
(Riga  und  Leipzig  1820)  eine  ziemlich  eingehende  Darstellung  der 
Hauptmomente  jener  denkwürdigen  Versammlung.  Was  den  Inhalt 
des  damals  discutirten  Bauei^esetzbuches  anlangt,,  verweise  ich  auf 
Merkel's  Schrift,  welche  nach  den  Akten  gearbeitet  und  wegen  wört- 
licher Mittheilung  eines  Theils  der  eingebrachten  Sentiments  und 
Anträge  von  bleibendem  Werth  ist.  Freilich  geht  die  Beurtlieilung 
des  alten  livländischen  Aufklärers  in  mehreren  wiclitigen  Punkten 
entschieden  falsche  Wege,  und  die  Hauptstationen  derselben  njich- 
zuweisen,  ist  eine  Pflicht,  der  wir  uns  nicht  entziehen  können. 

Auch  Merkel  hat  gewusst,  dass  im  Februar  1803  verschiedene 
Anträge  auf  Wiederherstellung  der  Statthalterschaftsverfassung  ge- 
stellt worden  sind  und  dass  dieselben  mit  der  Agrarfrage  und  den 
durch  sie  geschaffenen  Parteiungen  im  Zusammenhang  standen,  Vor- 
eingenomi;ienheit  für  die  Institutionen  Kathariua's  und  Mangel  an 
historischein  Sinn  haben  ihn  aber  daran  verhindert,  hinter  das  Wesen 
dieses  Zusammenhangs  zu  kommen  und  das  eigentliche  Geheimniss 
der  Situation  von  1803  zu  errathen.  Dem  Manne,  der  einige  Jahre 
später  die  seitdem  häufig  genug  nai:hgesprochene  famose  Lehre  ßwf- 
stellte:  «Nur  durch  die  Nachwirkung  der  Statthalterachafts- Verfassung 
ist  die    Bauernfreiheit  auf  dem   flachen   Lande    möglich  geworden" 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  147 

musste  naturgemäss  daran  gelegen  sein,  das  Gewicht  gegen  diese 
Hypothese  sprechender  Thatsachen  abzuschwächen  und  die  Freunde 
der  einen  Gattung  von  Freiheit  nicht  als  Gegner  einer  anderen,  der 
wirklichen  Freiheit,  zu  compromittiren.  Ausserdem  war  der  Ver- 
fasser „der  freien  Letten  und  Ehsten"  durch  die  Art  und  Weise 
seiner  Arbeit  von  einem  Verständnii?s  der  einzelnen  neben-  und  durch- 
einanderlaufenden Thatsachen  geradezu  ausgeschlossen  gewesen.  Er 
hat  nur  diejenigen  Theile  des  Recesses  und  der  Akten  benutzt,  die 
ihm  zu  der  Agrarfrage  iu  directer  Beziehung  zu  stehen  schienen, 
alles  Uebrige  aber  ignorirt  und  dadurch  verschuldet,  dass  seine  Dar- 
stellung widerspruchsvoll  und  zusammenhangslos  erscheint  und  in 
vielen  wichtigen  Punkten  geradezu  unrichtig  ist. 

Kurz  vor  dem  Zusammentritt  des  Landtags  von  1802  war  der 
Führer  der  Reform-  und-Emancipationspartei  Landrath  Friedrich  von 
Sivers  vom  Kaiser  Alexander  zum  Zweck  einer  eingehenden  Be- 
rathung  nach  Petersburg  berufen  worden  und  als  Träger  der  Re- 
gierungsanträge zurückgekehrt.  Als  solcher  wurdö  er  von  dem 
damaligen  Landmarschall  v.  Buddenbrock  in  einer  etwas  schwülstigen 
Rede  besonders  begilisst.  Nach  einem  Eingang,  der  sich  in  Ergüssen 
begeisterter  Verehrung  gegen  den  Monarchen  erging,  wandte  Budden- 
brock sich  mit  folgenden  Worten  an  Sivers:  „Willkommen,  herzlich 
willkommen  sind  Sie  bei  uns,  edler  Menschenfreund,  der  Sie,  wenn 
es  das  Vaterland  gilt,  keine  hindernde  Rücksicht  scheuen  und  uns 
als  Bote  der  frohesten  Nachrichten  erscheinen.  Empfangen  Sie  diesen 
treuen  Gruss  und  brüderlichen  Dank  zugleich  von  mir  im  Namen 
Aller  aus  froh  die  Brust  belebenden  wahren  Gefühlen.  Sie  ent- 
wickelten dem  Allgeliebten  mit  Ihrer  schätzenswerthen  Offenheit 
unsere  Land^sverhältnisse.  Von  Ihnen,  in  welchem  Er  uns  Seines  Zu- 
trauens, wie  wir  es  noch  in  keinem  unserer  Regenten  besessen  haben, 
würdigt,  —  erwarten  wir  zu  erfahren,  wie  wir  es  verdienen  können." 
Aus  dem  weitere;i  Verlauf  dieser  etwas  überschwänglichen  Rede 
ersehen  wir,  dass  das  Vertrauen  und  der  gute  Wille,  von  denen  der 
Landmarschall  geredet,  ihre  sehr  bestimmten  Grenzen  hatten:  er 
constatirt,  dass  die  Verhandlungen  über  die  Bauerangelegenheiten 
seit  Jahren  eine  heftige  Gährung  ini  Lande  hervorgebracht,  viele 
alte  Freundschaften  zerrissen,  Erkaltung  zwischen  alten  Genössen 
hervorgerufen  haben  u.  s.  w.  Aus  dem  Beriöht,  den  Graf  Meilin  in 
seiner  Selbstbiographie  hinterlassen  hat,  wissen  wir,  dass  diese  Worte' 
mit  einer'  sehr  concreten  Beziehung  auf  die  Verhältnisse  des  Augen- 
blicks gesprochen  worden  waren:  der  Landtag  war  ausserordentlich 

10* 


148  Zur  livländischen  Landtagsgeschichte. 

stark  besucht,  und  zwar  von  Leuten,  ^die  sonst  nie  auf  einem  Land- 
tage zu  sehen  gewesen  waren" ;  die  dorpater  Reactionäre  hatten  mit 
einer  Taktik,  die  später  erfolgreich  wiederholt  worden  ist,  ein  all- 
gemeines Aufgebot  erlassen  und  aus  allen  Ecken  und  Enden  des 
Landes  Gutsbesitzer  zusammengetrommelt,  von  denen  man  sich  ent- 
schiedener Feindschaft  gegen  jede  freiheitliche  Concession  an  das 
Landvolk  versehen  konnte. 

Nachdem  Sivers  die  ihm  vom  Kaiser  übergebenen  Propositiouen 
verlesen  hatte,  regte  sich  sofort  die  Partei,  die  es  nur  darauf  absah, 
den  verdienten  Patrioten  um  das  Vertrauen  seiner  Landsleute  zu 
bringen.  Bei  Gelegenheit  der  Recessirung  der  von  ihm  verlesenen 
Propositionen  wurden  verschiedene  Anträge  gestellt,  deren  verdäch- 
tigender Absicht  nur  dadurch  vorgebeugt  werden  konnte,  dass  Sivers 
^ich  besonders  bescheinigen  liess,  dass  ihm  .aus  seinen  dem  Kaiser 
vorgelegten  und  dem*  Saal  namens  der  Regiei-ung  übergebenen  An- 
träoren  kein  Vorwurf  erwachsen  solle.  Kaum  war  beschlossen 
worden,  diese  Anträge  von  dem  durch  12  ausserordentliche  Mitglieder 
verstärkten  engeren  Ausschuss,  d.  h.  der  Deputirtenkammer  und  dem 
Landrathscollegium  berathen  zu  lassen,  so  trat  die  reactionäre 
Opposition  sofort  wieder  mit  dem  famosen  Vorschlage  hervor,  durch 
welchen  sie  bereits  zwölf  Monate  früher  den  Einfluss  des  verhassten 
liberalen  CoUegiums  zu  brechen  versucht  hatte.  Ein  von  den  Herren 
Geheimerath  v.  Löwenstern,  General  v.  Knorring,  Baron  Rosen- 
Palloper,  General  von  Günzel  und  siebenunddreissig  anderen  Land- 
tagsgliedern unterzeichneter  Antrag  schlug  der  Versammlung  vor, 
die  sofortige  Wiederherstellung  der  Statthalterschafts-Verfassung  und 
die  Niedersetzung  einer  Commission  zur  Vornahme  etwaiger  Modi- 
ficationen  derselben  zu  votiren.  An  den  engeren  Ausschuss  ver- 
wiesen. Wurde  dieser  Antrag  (wie  es  bei  Merkel  heisst)  „beseitigt 
ohne  eine  Störung  in  der  Bauerangelegenheit  zu  machen''.  Schon 
dieses  halbe  Zugeständniss  lässt  auf  die  eigentliche  Absicht  der 
Antragsteller  schliessen;  im  weiteren  Verlauf  der  Debatten  sollte 
vollends  klar  werden,  worauf  es  mit  demselben  abgesehen  war. 

Vorher  sei  ein  interessanter  Zwischenfall  erwähnt,  der  für  die  an 
ihm  betheiligten  Personen  und  deren  Anschauungen  höchst  charakte- 
ristisch ist  Als  die  Berathungen  eben  in  vollem  Gange  waren,  am 
26.  Februar,  wurde  Sivers  plötzlich  nach  Petersburg  berufen.  Sechs 
Tage  später  stellte  ein  Major  von  Eckesparre,  offenbar  in  der  Ab- 
sicht, die  Arbeit  des  engeren  Ausschusses  zu  unterbrechen  und  den 
Landtag  von  der  Verpflichtung  zu  befreien,  selbst'  die  Initiative  zu 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  149 

einer  gesetzlichen  Regelung  der  bäuerlichen  Verhältnisse  zu  ergreifen, 
den  Antrag:  „es  sollten  keine  Majoritätsbeschlüsse  über  die  Agrarfrage 
gefasst,  sondern  sämmtliche  verlautbarte  Sentiments  Kaiserlicher 
Majestät  zur  allendlichen  Entscheidung  vorgelegt  werden!'' 

Dass  dieser  Vorschlag,  der  den  Landtag  um  eines  seiner  wich- 
tigsten Rechte  gebracht  hätte,  v^erworfen  wurde,  «versteht  sich  für 
uns  von  selbst :  Merkel  freilich  war  so  wenig  im  Stande  die  Trag- 
weite desselben  zu  verstehen,  dass  er  achselzuckend  die  Verwerfung 
desselben  mit  der  in  der  Versammlung  herrschenden  „Vorstellung 
von  ihrer  gesetzgebenden  Gewalt"  motivirte  und  Herrn  v.  Eckesparre 
(dem  doch  nur  darum  zu  thun  sein  könnte,  die  ihrer  Vollendung 
entgegen  gehenden  Arbeiten  zu  unterbrechen),  blos  weil  derselbe  die 
Macht  seiner  Corporation  schwächen  wollte,  bauernfreundliche  Ab- 
sichten imputirte. 

Inzwischen  war  ein  definitiver  Beschluss  über  den  Löwenstern- 
Rosen-Günzel-Knorringschen  Antrag  auf  Wiederherstellung  der  Statt- 
halterschaftsordnung nicht  gefasst  worden.  Die  Reactionspartei, 
der  daran  gelegen  sein  musste,  ihre  Pläne  durchzuführen  ehe  der 
„Eichbaum"  Sivers  aus  Petersburg  zurückgekehrt  war,  wagte  nun- 
mehr einen  zweiten  Sturm  gegen  die  alte  Verfassung.  Einer  der 
Antragsteller  von  1802,  der  Hofrath  Baron  Schoultz-Rewold  forderte 
in  Anbetracht  der  Unhaltbarkeit  der  bestehenden  Verfassung  die 
Niedersetzung  eines  Cömit^'s,  welches  die  gänzliche  Umgestaltung 
derselben  binnen  24  Stunden  berathen  und  darüber  dem  Saal 
berichten  sollte.  Aber  selbst  dieser  Vorschlag^  der  die  Absicht  seiner 
Urheber  nur  allzu  deutlich  verrieth,  genügte  den  Heisspornen  der 
Reaction  noch  nicht, '  welche  in  dem  Sturz  des  Landrathscollegiums 
die  Rettung  der  bäuerlichen  Unfreiheit  zu  sehen  glaubten.  General 
von  Günzel  überbot  den  schoultzschen  Antrag  noch  indem  ei* 
vorschlug,  sofort  von  dem  Herrn  General -Gouverneur  die  Wieder- 
herstellung der  Statthalterschafts- Verfassung  zu  erbitten.  Trotz  der 
Bewahrung  des  Landraths  von  Richter  (der  an  Stelle  des  erkrankten 
Landmarschalls  den .  Vorsitz  führte)  kam  dieses  unsinnige  Verlangen 
wirklich  zur  Abstimmung.  Erst  als  dasselbe  mit  110  gegen  36  Stimmen 
gefallen  war,  schienen  die  Urheber  desselben  einlenken  zu  wollen. 
Sie  setzten  indessen  noch  durch,  dass  ein  aus  8  Gliedern  bestehendes 
Coniitö  „zur  Verbesserung  der  Verfassung"  unter  Vorsitz  des  Hof- 
raths   von  Liphart  niedergesetzt  wurde.*)     Freilich   hatten  Richter 

*)  Unter  den  Gliedern  des  Comit^'s  sind  zu  nennen :  Geheimerath  v.  Vieting- 
hof,  Genigross,  Graf  Münnich,  Sivers,  v.  Bock  u.  A. 


ISO  Zur  Uvländischen  Landtagsgeschichte. 

und  die  übrigen  Liberalen  ausdrücktich  gtipulirt,  dasa  zum  Behuf 
der  Prüfung  der  Comit^-Vorechläge  kein  besonderer  Landtag  einbe- 
rufen werden  sollte;  bei  der  Kurzathm^keit,  welche  die  Machi- 
nationen einer  gewissen  Gattung  „conservativer"  Politiker  zu  allen 
Zeiten  gekennzeichnet  hat,  war  die  eigentliche  Gefahr  durch  diesen 
klagen  Zusatz  zunächst  beseitigt. 

Auf  die  Hartnäckigkeit,   mit  welcher   die  liberalen  Reformyor- 
Bchläge   im   weiteren  Verlauf  bekämpft   wurden   und   welche   Sivers 
und  dessen   Freunde  nötbigte,  Position   für  Position   gleichsam   mit 
Sturm  zu  nehmen,  gehen  wir  hier  nicht  näher  ein,  indem  wir  noch- 
mals auf  die  in   dieser  Beziehung   ziemlich  vollständige,  wenngleich 
nii^end  erschöpfende  merkelsche  Darstellung  verweisen.     Für  den 
hier   verfolgten  Zweck,   den   inneren    Zusammenhang    zwischen    der 
Feindschaft  gegen  die  Bauernfreiheit  und   den   statthalterschaftlichen 
Sympathien  nachzuweisen,   genügt  der  Hinweis    darauf,  dass   Sivers 
durch  die  Bitterkeit  der  gegnerischen  Angriffe  provocirt  v^urde,  die 
heikele  Frage  nach  dem  wahren  Besitzer  der  Ritterschaftsgüter  auf- 
zuwerfen  und    an    dieser    die   unwiderstehliche   Gewalt   seines   Ein- 
flusses zu  erproben.     Nur  durch  die  „Achtung  gegen  seine  Collegen 
und  den  Hofrath   von  Transehe''  liess   der  kühne  und   stolze  Mann 
sich  von  seiner  Absicht  abbringen,  beim  Kaiser  darum  zu  sollicitiren, 
dass   die    Ritterschaßs guter    förmlich   und    allendlich   als   Güter   des 
LandrathscoUegiums  anerkannt  würden.    Diese  Drohung  war  offenbar 
nur  an  die  Adresse  der  Stürmer  gegen  die  alte  Verfassung  gerichtet, 
welche  Sivers  ein   für  alle  mal  um   den  Preis  zu  bringen  gedachte, 
den  sie  sich   von   der  Niederwerfung  der  alten  Ordnung  der  Dinge 
versprachen;  unter  den  Gegnern,  die  sich  durch  besonders  feindliche 
!  Haltung   hervorgethan    und   Sivers    persönlich 
ein  Assessor  v.  Weiss  genannt.     So  gross  war 
imüther,   dass  Landrath    Richter   in    der    Rede, 
Versammlung  am  31.   März  schloss,  für   noth- 
treitenden    Parteien    zur    Versöhnung   und   zum 
kungen   aufzufordern,    die   man  sich   gegenseitig 
dringend  bat,  „der   Bruder  möchte  dem  Bruder 
chen."     Bezüglich  der  gefassten  Beschlüsse  hiess 
e,    dieselben    würden    aller    Wahrscheinlichkeit 
melten  ebenso  wichtig  sein,  wie  für  ihre  Nach- 

i   letzte  Bemerkung   war   (aus    den  Beschlüssen 
'ste,  vom  Jahre  1804  datirte  Bauer  Verordnung 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.       ,  151 

hervorgegangen),  so  gründlich  hatte  der  würdige  Redner  sich  geirrt, 
als  er  seine  Hoffnungen  für  eine  versöhnlichere  Stimmung  der  streitenden 
Gegensätze  ausgesprochen  hatte.  Im  Gegentheil  scheint  der  glänzende 
Erfolg,  den  die  Vorschläge  der  liberalen  Majorität  gehabt  hatten,  den 
Haas  der  reactionären  Opposition  über  das  bisherige  Maass  hinaus 
gesteigert  zu  haben,  und  schon  zwei  Jahre  später,  im  Jahre  1805 
brach  derselbe  in  wilden  Flammen  hei'vor.  Als  der  Landtag  wieder 
zusammengetreten  war,  ergriff  der  neue  Landmarschall  Samson  zu 
längerer  Rede  das  Wort,  um  wiederum  zu  Eintracht  und  Ruhe  zu 
ermahnen.  Der  Eingang  dieser  Rede  ist  interessant  genug,  um  im 
Wortlaut  mitgetheilt  zu  werden:  „Die  bedeutendste  Beschäftigung 
unseres  Lebens,  Abstellung  der  Willkür  und  Realisirung  der  dem 
Menschenrechte  gemachten  Zusagen,  ist  während  der  Periode  seit 
dem  letzten  Landtage  ins  Leben  getreten.  Wir  vor  Europas  Augen 
Geächteten  haben  mit  anständigem  Schweigen  aber  thätigem  Streben 
die  Ausfälle  widerlegt,  die  die  giltigste  und  eigentlichste  Ablehnung 
in  dem  Geist  des  zurückgelegten  Zeitalters  linden,  dessen  rauhe 
Eigenthümlichkeiten  uns  von  denen  nicht  als  Verbrechen  aufgebürdet 
werden  können,  welche  den  fortschreitenden  Gang  der  Menschheit 
denkend  betrachten.''  Dann  folgte  die  oben  erwähnte  Mahnung  „zur 
Gelassenheit  bei  Differenzen",  welche  mit  den  Worten  schloss:  „Er- 
warten Sie  den  Ausgang  nj^t  der  unbefangenen  Ruhe,  welche  auf 
jeden  Fall  Erhabenheit  des  Geistes  ausdrückt." 

Diese  Worte  fielen  auf  eben  so  unfruchtbaren  Boden  wie  die 
früheren  Ermahnungen  des  Landraths  v.  Richter:  Die  Opposition 
ergriff  die  erste  sich  darbietende  Gelegenheit,  um  das  Landraths- 
collegium  und  dessen  freisinnigen  Führer  das  ganze  Gewicht  ihres 
UebelwoUens  fühlen  zu  lassen.  Die  Gelegenheit  dazu  wurde  gerade 
zu  vom  Zaun  gebrochen.  Friedrich  Sivers  machte  nämlich  darauf 
aufmerksam,  dass  die  Landräthe  capitulationsmässig  nicht,  wie  bisher 
üblich  gewesen,  vom  General-Gouverneur,  sondern  direct  vom  Kaiser 
zu  bestätigen  seien,  wie  solches  auch  auf  dem  ersten,  unter  russischer 
Herrschaft  abgehaltenen  Landtage  der  Fall  gewesen.  Die  Gegner, 
denen  daran  gelegen  war,  die  Bedeutung  des  Landrathsamts  mög- 
lichst herab  zu  drücken,  erklärten  sich  mit  Entschiedenheit  dagegen, 
und  als  Sivers  geltend  machte,  dass  angesichts  der  Bestimmungen 
der  löwenwoldeschen  Capitulation  dem  LandrathscoUegium  das 
Recht,  sich  cfurch  den  Kaiser  bestätigen  zu  lassen,  eigentlich  gar 
nicht  bestritten  werden  könne  und  dieses  auf  seine  Gerechtsame  be- 
stehen müsse,    erklärte  eines  der  Häupter  der  statthalterschaftlichen 


152  Zur  livländischeu  Landtagsgeachichte. 

Partei,  der  Geheimerath  t.  Vietinghof,  emphatisch,  auch  die  Gerecht- 
eame  der  Ritterschaft  müsse  gewahrt  werden.  —  Was  mit  dieser 
„Gerechtsame  der  Ritterschaft"  gemeint  war,  sollte  sicli  schon  tags 
darauf  zeigen.  General  v.  Gfinzel  kam  auf  seinen  bei  Gelegenheit 
des  vorigen  Landtags  gemachten  Vorschlag  zur  Annahme  einer 
modifieirten  Statthalterschafts-Verfassung  zurück  und  verlangte,  die 
Arbeiten  des  zum  Zweck  der  Verfaß sungsrevision  niedergesetzten 
Comit^B  sollten  sammt  seinen  Sentiments  dem  Convent  übergeben 
und  dem  nächeten  Landtage  zur  Beschluesfassung  vorgelegt  werden. 
Aber  es  gab  Leute,  denen  dieser  günzelsche  Antrag  noch  nicht 
genügte  und  die  über  denselbea  hinausgehen  wollten.  Ermuthigt 
durch  einen  vom  Plenum  gefassten  Beschluss,  an  den  Kaiser  zu  gehen 
und  bei  diesem  um  förmliche  Anerkennung  des  Rechtes  der  ge- 
eammten  Ritterschaft  an  den  sogen.  Ritterschaftsgütern  zu  supplicireii, 
erklärte  der  Baron  Schoultz,  „er  und  seine  Committenten",  d.  h.  die 
36  Landtagsglieder,  welche  den  auf  dem  vorigen  ,  Landtage  ver- 
worfenen Antrag  behufs  Einführung  einer  modifieirten  Statthalter- 
schaft eingebracht  hatten,  würden  sich  mit  ihrem  pium  desiderium 
direct  an  den  Kaiser  wenden  und  diesen  um  sofortige  Erfüllung 
desselben  angehen.  Dieser  Erklärung  setzte  der  Landrath  Richter 
den  Antrag  entgegen,  das  Vorgehen  des  Baron  Schoultz  und  seiner 
Genossen  für  gesetzwidrig  zu  erklären^  Als  man  sich  zur  Abstim- 
mung darüber  anschickte,  trat  der  Geheimerath  v.  Vietinghof  auf 
und  erklärte,  —  um  das  Maass  rücksiehteloser  Verfassungsverletzung 
voll  zu  machen  —  er  werde  beim  General- Gouverneur  dafür  Sorge 
tr^en,  dass  auch  die  Stimmen  der  abwesenden  Landtagsglieder  über 
die  vorliegende  Frage  eingezogen  würden.  Diese  Herausforderung 
war  denn  doch  zu  stark,  ura  ohne  Eindruck  auf  den  unbefangenen 
Theil  der  Versammlung  zu  bleiben  und  diese  nahm  den  richterschen 
Anti'ag  mit  überwiegender  Majorität  an.  Selbst  der  General  v,  Günzel, 
den  wir  als  Vorkämpfer  für  die  modificirte  Statthalterschaftsord- 
nung kennen  gelernt  haben,  schien  zu  fühlen,  dass  ein  Unternehmen, 
.wie  das  des  Baron  Schoultz- Rewold  landesgefährlich  und  von  un- 
berechenbaren Folgen  sein  könne.  Zwischen  beiden  extremen 
Parteien  stehend  mochte  er  sieh  für  das  Amt  eines  Vermittlers  be- 
sonders geeignet  halten,  und  als  solcher  trat  er  in  der  That  auf.  Mit 
einer  Offenheit,  die  auf  die  gesammte  Lage  ein  klsteliehes  Schlag- 
lieht wirft,  gestand  er  ein,  dass  der  eigentliche  Kern  des  Streits  der 
Besitz  der  Ritterschaftsgüter  sei.  Wenn  das  Land  rathscol  legi  um 
declariren   wolle,  auf  diesen  Besitz    nicht  weiter  zu   reflectiren,  so 


Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  153 

würden  die  Herren  v.  Schoultz  und  Vietinghof  sammt  ihrer  ^Gesell- 
schaft" sich  wohl  zufrieden  geben  und  einlenken ;  auch  würde  solchen 
FaJls  die  beschlossene  Supplik  des  Plenums  an  den  Kaiser  gegen- 
standslos werden. 

Die  Sache  lag  für  das  LandrathscoUegiuui  kritisch  genug,  um 
eine  Ausgleichung  wünschenswerth  erscheinen  zu  lassen.  In  Sachen 
der  Ritterschaftsgüter  hatte  man.  wie  die  Abstimmung  über  die 
Supplik  ausgewiesen,  die  Majorität  gegen  sich.  Die  Entschiedenheit, 
mit  welcher  das  CoUegium  sich  mit  der  Sache  der  Bauernfreiheit 
identificirt  hatte,  war  überdies  der  Grund  zu  ernsthaften  Verstim- 
mungen auch  sonst  zuverlässiger  und  verfassungstreuer  Freunde  ge- 
wesen. Wer  konnte  wissen,  ob  es  den  Machinationen  der  37  Sonder- 
bündler  nicht  am  Ende  gelingen  werde,  in  die  Verfassung  ein  Loch 
zu  bohren  und  die  durch  ihr  Interesse  engagirten  Massen  zu  dem 
Entschluss  zu  bewegen,  die  Ritterschaftsgüter  um  jeden  Preis,  auch 
um  den  der  Vernichtung  der  Rechtscontinuität  zu  erlangen?  Unter 
dem  Gewicht  dieser  Bedenken  beschloss  das  LandrathscoUegium,  bis 
an  die  Grenze  des  Möglichen  zu  gehen  und  die  dargebotene  Gelegen- 
heit zum  Ausgleich  zu  benutzen,  so  weit  das  ohne  Beeinträchtigung 
der  eigenen  Würde  und  des  klaren  Rechtes  geschehen  konnte.  Im 
Namen  des  Collegiums  wurde  die  Erklärung  abgegeben,  dasselbe 
wolle  die  „Quästion  wegen  der  Güter  und  deren  Revenuen  nicht  weiter 
moviren  wenn  alle  weiteren  Schritte  zur  Abänderung  der  Ver- 
fassung resp.  zur  Wiedereinführung  der  Statthalterschaftsordnung 
unterlassen  würden;  werde  dem  LandrathscoUegium  die  Initiative 
zur  Abänderung  der  Verfassung  überlassen,  so  werde  es  eine  solche 
in  Erwägung  ziehen". 

Dass  diese  Erklärung  angenommen,  der  auf  die  Supplik  bezüg- 
liche Beschluss  zurückgenommen,  ja  schliesslich  dem  Landraths- 
coUegium und  dem  Landmarschall  zur  besonderen  Pflicht  gemacht 
wurde,  über  die  Conservirung  der  alten  Verfassung  strengstens  zu 
wachen,  wäre  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  nicht  geschehen,  wenn 
die  Gegner  sich  nicht  eine  neue  Blosse  gegeben  und  handgreiflich 
bewiesen  hätten,  wie  weit  es  mit  der  Verwirrung^  aller,  auch  der 
elementarsten  Rechtsbegriflfe  bei  ihnen  gekommen  war.  Baron 
Schoultz  erklärte  nämlich  seine  und  seiner  Genossen  ^Schrift",  d.  h. 
die  Petition  wegen  der  Statthalterschaftsordnung,  sei  dem  Herrn 
General-Gouverneur  bereits  übergeben  worden ;  Geheimerath  v.  Vie- 
tinghof erbot  sich,  diese  Declaration  ausser  Effect  zu  setzen,  wenn 
derselben  untpr  den  Materialien  für  die  künftige  Landtagsberathung 


154  Zur  lirl&nilischeD  Landtagßgeechichte. 

ein  Platz  angewiesen  werde  und  wenn  daa  Landrathscollegium  auf 
die  Ritterachaft«gOter  förmlich  verzichte. 

Auf  dieee  Art  von  polltiachen  Weehsel-  und  Tauachgeschäften 
einzugehen,  war  für  Männer,  die  auf  ihre  und  des  Landtags  Ehre 
ii^end  etwas  hielten,  unmöglich.  Daa  Landrathscollegium  ant- 
wortete darum  mit  der  Erklärung,  von  der  Statthalterschafts-Ver- 
fafsung  könne,  wenn  sein  Vorschl^  angenommen  worden,  nicht 
mehr  die  Rede  sein  und  über  diesen  Vorschlag  vermöge  es  nicht 
hinauszugehen.  Obgleich  Vietinghof  auf  seiner  Fortuulirung  bestand, 
trat  Üie  Majorität  dem  Consilium  des  Collegiums  bei  und  war  der 
widrige  Zwist  auf  diese  Weise  für  immer  beigelegt.  Als  Geheime- 
rath  V.  Vietinghof  zwölf  Monate  später  zum  vierten  mal  einen  An- 
trag auf  Wiederherstellung  der  Statthalterschafts-Verfassung  ein- 
bi-achte,  hatten  die  Leidenschaften  sich  bereits  beruhigt  und  fiel  dieses 
Attentat  auf  die  Continuität  des  Landesrechts  und  seines  besten 
Stücks  machtlos  zu  Boden. 

Wo  die  Thatsachen  so  klar  wie  im  vorliegenden  Fall  dafür 
zeugen,  was  man  vor  siebenzig  und  vor  sechszig  Jahren  bei  uns 
unter  den  „conservativen  Interessen*  verstand,  und  welcher  Dinge 
man  f&hig  war  wo  es  sich  um  die  Behauptung  verjährter  Misstände 
handelte  —  sind  alle  weiteren  Ausführungen  überflüssig.  Als  Pa- 
rallele aber  für  die  bekannten,  ziemlich  gleichzeitigen  Voi^änge  in 
der  rigaer  Oildstube  (December  1802),  als  Denkzettel  für  künftige 
Tage  und  als  Beleg  dafür,  dass  in  unserem  Lande  Rechts-  und  Vater- 
landsgefühl in  demselben  Maasse  erstarkt  sind,  in  welchem  die  öffent- 
lichen Zustände  mit  den  Forderungen  der  Zeit  und  des  Gewissens 
in  Einklang  gesetzt  wurden,  werden  diese  Mittheilungen  „aus  der 
guten  alten  Zeit"  vielleicht  nicht  ganz  ohne  Nutzen  und  nicht  ohne 
Berechtigung  gewesen  sein. 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vaiiiöre. 


Am  nördlichen  Fusse  der  Pyrenäen,  da  wo  das  Flüsschen  Nivelle 
in  den  Meerbusen  von  Biscaya  mündet,  liegt  eine  kleine  Stadt,  St. 
Jean-de-Luz,  ehemals  mit  nicht  unbedeutendem  Handel  nach  Amerika, 
heute  fast  ganz  verödet.  Hier,  an  der  Grenze  Frankreichs  und 
Spaniens,  herrschte  im  Juni  des  Jahres  1660  ein  lebhaftes  Treiben, 
denn  Frankreicjis  junger  König  feierte  in  dem  Orte  seine  Hochzeit 
mit  der  spanischen  Infantin  Maria  Theresa;  kein  Wunder,  wenn  die 
Bewohner  von  St.  Luz  ganz  Auge  und  Ohr  waren,  richtete  doch 
ganz  Europa  seine  Blicke  auf  den  berühmten  „Frieden  der  Pyrenäen^\ 
der  in  dieser  Hochzeit  seine  Besiegelung  finden  und  zugleich  der 
Markstein  einer  neuen  Zeit  werden  sollte.  Ob  die  beiden  Neuver- 
mählten zu  einander  passten  oder  nicht,  darnach  zu  fragen  musste 
lächerlich  erscheinen,  denn,  wo  so  viel  Rücksichten  politischer  Natur 
mitspielten,  hatte  das  Herz  keine  Stimme:  genug,  dass  man  nichts 
Schlimmes  von  der  jungen  Königin  zu  sagen  wusste,  genug,  dass  der 
junge  Ludwig  XIV.,  damals  in  der  Blüthe  seiner  Kraft,  nicht  ohne 
Eindruck  auf  sie  blieb.  Ob  auch  ein  dunkles  Gefühl  nahenden  Un- 
glücks ihre  Stimme  bei  dem  feierlichen  ^Ja"  vor  dem  Bischof  von 
Bayonne  erzittern  machte,  man  schilderte  ihr  die  Schönheit  der  neuen 
Heimat  zu  verlockend,  die  Poeten  sagten  ihr  zu  viel  Glück  voraus, 
als  dass  diese  kleinen  Schatten  den  jugendlichen  Sinn  dauernd  hätten 
verdüstern  können.  Ihre  Reise  durch  Frankreich  glich  einem  Triumph- 
zuge, ihr  Einzug  in  Paris  am  26.  August  und  die  folgenden  Festlich- 
keiten waren  so  glänzend,  dass  noch  20  Jahre  später  der  grösste 
Redner  des  17.  Jahrhunderts,  Bossuet  davon  fabelte.  Unter  'fler 
erregten  Menge  befand  sich  auch  eine  geistvolle  Frau,  seit  2  Monaten 
verwittwet,  welche  mit  aufmerksamem  Auge  all  diesen  Festlichkeiten 
folgte  und  der  Königin  glückwünschte,  den  schönsten  Cavalier  der 


156  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

Welt  zniii  Gatten  erwählt  zu  haben;  —  hatte  denn  die  Wlttwe 
Scarron  nie  etwas  von  dem  Roman  mit  Olympia  und  Maria  Mancini 
gehört?  Stiegen  in  der  Seele  der  jungen  Königin  keine  bangen 
Sorgen  auf  als  die  jubelnde  Hauptstadt  ihr  immer  und  immer  wieder 
die  Worte  vorhielt:  Du  bist  nicht  nur  Königin,  du  bist  auch  Gattin? 
Wir  wissen  es  nicht  —  das  aber  wissen  wir,  dass  Marie  Therese 
vom  Louvre  kaum  Besitz  ergriffen  hat,  als  schon,  wenn  auch  mit 
leiser  Stimme,  ein  Frauenname  genannt  wird,  der  für  Frankreich 
und  Frankreichs  Königin  gleich  rerhängnissvoU  werden  sollte;  und 
kaum  ist  die  Königin  am  1.  November  1661  Mutter  eines  Sohnes 
geworden,  des  vermeintlichen  Erben  zweier  Kronen,  so  weiss  es  der 
ganze  Hof,  ganz  Frankreich,  dass  das  Herz  des  Gemahls  und  Königs 
nicht  mehr  der  Königin  gehört,  sondern  einem  bescheidenen  Ehren- 
fränlein  —  Louise  Fran^oise  de  La  Valliöre.  . 

Es   ist  die   Aufgabe   dieser.  Zeilen  nicht,   eine   der  Liebschaften 

des  „grossen  Königs"  zu   schildern  —  über  ihn   hat  die   Geschichte 

längst  ihr  Schuldig  gesprochen  — ,  aber  auch  eitie  Ehrenrettung  der 

schönen  Sünderin  soll  nicht  versucht  werden  —  Freunde  und  Feinde 

haben  sie  schon  oft  der  Welt  vorgestellt;  was  wir  zunächst  erstreben, 

ist,  die  Beziehungen    der  beiden  Frauen,   der  Gattin  und  Geliebten, 

zu  einander  in  helleres  Licht  zu  setzen.     Nicht  weil  eine  königliche 

Sonne  diesen   beiden  Frauen   geschienen   nehmen   sie   unsere   Theil- 

nahme   in   Anspruch,  sondern   weil    wir  unter  der  vornehmen  Hülle 

menschliche  Herzen    erkennen,    welche   den   ewig   schweren   Kampf 

zwischen   Pflicht    und   Neigung    kämpfen:    die    Namen    und    Thaten 

grosser  Kaiser  und  Könige   vergisst  die  Nachwelt,   aber   noch    nach 

Jahrhunderten    fühlt    sie    die    heftigen    Schläge    eines    menschlichen 

Herzens.     „Wenn  wir  mit  Königen  Mitleid   haben,  sagt  Lessing,   so 

haben  wir  es  mit  ihnen  als  mit  Menschen  und  nicht  als  mit  Königen; 

macht  ihr  Stand  schon  öfters  ihre  Unfälle  wichtiger,  so  macht  er  sie 

darum  nicht  interessanter."     Ausserdem   haben   wir   ein  langgeübtes 

gut-  zu  machen;   denn  während    die   rechtmässige 

;essenheit   fast   gänzlich   verfallen  ist,  hat  Mit-   und 

istalt  der  Geliebten  mit  ewiger  Frische   und  Jugend 

;m  sie   in   ihr   nicht  nur  das  Jdeal  einer  Liebenden 

!ue  und  Hingebung  sah,  sondeni  auch  die  reine  und 

1  ihrer  vollkommensten  Gestalt;   und  es  wird  nicht 

in,  wenn  ihr  Leben,  in  der  Nähe  und  Wirklichkeit 

r  That  jenem  reizenden  Bilde  entspricht,  welches  die 

die    „Glorie    des    Heiligenscheins"     sich    von    ihr 


Mai'ie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  157 

gemacht    hat.      Unsere    Zurechtstellungen    werden    nur    die    Gattin 
betreffen.  — 

Louise  Frangoise  de  la  Baume  le  Blanc,  spätere  Herzogin  von 
La  Vallifere,  ist  am  6.  August  1644,  wahrscheinlich  in  Tours  ge- 
boren, doch  streiten  sich  noch  heute  fünf  Orte  um  ihre  Wiege; 
sie  entstammte  einem  altadeligen  Geschlechte,  das  zwar  nicht  bis 
„Melchisedeck"  hinaufreichte,  wie  ein  Pamphlet  jener  Zeit  sich  aus- 
drückt, aber  doch  bis  in  das  14.  Jahrhundert.  Der  Vater,*  ein 
tapferer  Offizier,  starb  früh,  und  die  Mutter  verheirathete  sich  wieder 
mit  Jacques  de  Courtavel,  Marquis  de  Saint-Remy,  erstem  Haushof- 
meister Gaston*s  von  Orleans.  Zu  Blois,  auf  dem  Schlosse  Gaston*s, 
einem  der  litterärischen  Mittelpunkte  des  damaligen  Frankreich,  ver- 
brachte Louise  ihre  Jugend;  allein  als  der  Herzog  starb,  zog  die 
JVIarquise  von  St.  Remy  mit  ihren  Kindern  nach  Paris,  und  als  bald 
darauf  Philipp  von  Frankreich,  Monsieur,  der  einzige  Bruder  Lud- 
wig XIV.,  Henriette  von  England,  die  Tochter  KarPs  L  heirathete, 
verschaffte  die  Mutter  des  Abtes  Choisy  der  La  Vallifere  eine  Stelle 
als  Ehrenfräulein  bei  Madame.  Dies  Amt  der  Ehrenfräulein,  durch 
Katharina  von  Medici  zuerst  eingerichtet,  hatte  unter  Anna  von 
Oestreich,  der  Mutter  Ludwig's  XIV.  eine  neue  Bedeutung  erhalten ; 
die  spanische  Sitte  stellte  um  jede  Prinzessin  eine  Schaar  keuscher 
Jungfrauen  (las  ninas  d'onor)  aus  dem  alten  Adel  Castiliens,  Arra- 
goniens  und  Asturiens,  welche  die  Ehre  der  königlichen  Töchter 
hüten  mussten.  In  Spanien  eine  reine  Institution  wurde  sie  in  Frank- 
reich bald  die  Quelle  tiefgreifender  Unordnung.  In  den  Gemächern 
dieser  Ehrendamen  entwickelten  sich,  durch  die  Umstände  begünstigt, 
jene  zahllosen  Liebschaften,  welche  ebenso  viel  Bände  zeitgenössischer 
Memoiren  füllen  ohne  sie  zu  erschöpfen,  dort  knüpften  sich  jene 
Verbindungen,  welche  eine  so  bedeutende  Rolle  in  den  Geschicht^en 
des  französischen  Königreichs  zu  spielen  bestimmt  waren,  dort  ent- 
falteten sich  jene  Leidenschaften,  welche  einen  so  verhängnissvollen 
Einfluss  auf  die  Sitten  der  europäischen  Welt  üben  sollten.  Ein 
gefährlicher  Boden  für  die  siebenzehnjährige,  in  der  Stille  des  Land- 
lebens auferzog^ne  kleine  La  Vallifere!  Und  dazu  kam,  dass  insbe- 
sondere die  Salons  Henriettens,  einer  geistvollen,  aber  nicht  allzu 
ängstlichen,  ränkesüchtigen  Frau  bald  der  Mittelpunkt  aller  Hof- 
cabalen  wurden.  Bei  solchen  Verhältnissen  würde  es  uns  nun  nicht 
Wunder  nehmen,  wenn  wir  hören,  dass  der  junge  leidenschaftliche 
König  unter  der  Schaar  anmuthiger  Ehrenfräulein .  die  anmuthigste 
bald   herausgefunden    habe    —    allein    schon    die    Mitwelt    hat    ein 


158  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliire. 

besonderes  Interesse  darin  gefunden,  den  ersten  Spuren  dieser 
königlichen  Neigung  nachzugehen  und  uns  darüber  Mittheilungen 
zu  machen. 

Es  war  an  einem  mondhellen  Sommerabend,  als  der  König  mit 
Beringhen  und  dem  Grafen  Guiche  während  eines  Spazierganges  im 
Park  von  St.  Germain  drei  junge  Mädchen,  welche  vor  der  Statue 
Diana's  sich  lebhaft  unterhielten,  von  ungefähr  belauschte.  „Ich  habe 
Diana,  immer  geliebt",  sagte  die  Jüngste  von  ihnen,  „und  ich,"  fügte 
die  Ch^merault  hinzu,  „ich  liebe  Endymion  mehr" ;  „ihr  seid  beide 
toll,"  unterbricht  die  Schwärmerinnen  Fräulein  von  Pons,  „ihr  liebt 
fabelhafte  Wesen,  ich  dagegen  liebe  in  der  Wirklichkeit."  „Und 
wen  lieben  Sie?"  fragt  die  zweite  —  der  König  macht  seinen  Be- 
gleitern ein  Zeichen,  denn  er  hofft  interessante  Erklärungen  zu  hören. 
„Wenn  ich  überhaupt  Jemand  lieben  soll,"  lautet  die  Antwort,  „so 
würde  ich  den  Baron  von  Candale  lieben..."  „Aha!" 'unterbricht 
sie  die  Neugierige,  „Sie  lieben  ihn  in  Wirklichkeit,  nun,  ich  mag 
ihn  nicht,  aber  der  Marquis  von  Alincourt  ist  sehr  nach  meinem 
Geschmack,  er  ist  der  beste  Tänzer  —  doch",  fügt  sie  mit  einem 
Seitenblick  hinzu,  „Fräulein  La  Vallifere  sagt  uns  nichts,  aber  viel- 
leicht könnte  sie  uns  etwas  von  dem  Grafen  Guiche  erzählen";  aber 
die  Jüngste  schweigt  und  lächelt  verächtlich,  indessen  die  beiden 
anderen  wollen  ihr  Geheimniss  auf  jeden  Fall  wissen.  „Ich  kenne 
ihren  Geliebten,"  ruft  Fräulein  von  Pons,  „denn  sie  sagt  mit  ihrem 
Schweigen  mehr  als  wir  mit  unseren  langen  Erzählungen."  „Ich 
habe  durch  mein  Schweigen  nichts  gesagt,"  bricht  endlich  die  Ge- 
reifte hervor,  „aber  ich  kann  nicht  umhin,  euch  ein  wenig  toll  zu 
finden,  indem  ihr  für  den  ganzen  Hof  Lobeserhebungen  habt,  nur  nicht 
für  den  König  selbst,  und  doch,  ich  frage  euch,  giebt  es  nur  einen 
einzigen,  den  man  ihm  vergleichen  könnte,  selbst  wenn  es  sich  nur 
ums  Tanzen  im  Ballet  handelte."*)  „Ah!"  ich  begreife,"  sagt  die 
Chämerault,  „der  König  gefällt  Dir,  weil  er  der  König  ist".  „Im 
Gegentheil,  die  Krone  verdirbt  ihn  mir  ein  wenig,  da  sie  ihn  aus 
der  Reihe  derjenigen  hebt,  die  man  lieben  darf:  ach!  wenn  er  nicht 

der  König  wäre!" Die  Blätter  rauschten  und  die  erschreckten 

Ehrenfräulein   entflohen  vor  dem  Schatten   des  Königs,  der  sich  der 

*)  Es  war  bekanntlicli  eins  der  ersten  Vergnügen  Ludwig  XIV.,  im  Ballet 
n[iitzu tanzen,  nnd  wir  wissen,  dass  er  gerade  kurz  vorher  in  dem  berühmten 
Ballet  der  „vier  Jahreszeiten**  eine  blonde  Ceres  vorgestellt  hatte,  während  die 
La  Valliere  eine  der  ÜTymphen  machte.  Feuillet  de  Couches:  Caiiseries  d'un 
curieux  3,232. 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Yallifere.  159 

unbekannten  Freundin  zu  Füssen  werfen  wollte.  „Wie!"  rief  er,  „sie 
will  den  König  nicht  lieben,  sie  wird  mich  lieben".  Und  als  er 
noch  an  demselben  Abend  bei  Madame  die  La  Vallifere  irgend  einen 
Roman  der  Scudery  vorlesen  hörte,  erkannte  er  sogleich  an  der  Stimme 
die  spröde  Freundin  wieder;  er  war  so  erregt,  dass  er  von  dem 
Roman  selbst  kein  Wort  verstand,  dennoch  behauptete  er  später,  dass 
dies  der  einzige  Roman  gewesen,  den  er  mit  Vergnügen  gehört  habe. 

Nach  einer  anderen  Erzählung  hätte  die  königliche  Leiden- 
schaft einen  weniger  haiunlosen  Ursprung  gehabt.  Der  König 
ennuyirte  sich  schon  lange  mit  der  Königin,  Madame  mit  Monsieur, 
was  also  war  natürlicher,  als  dass  der  König  und  Madame  sich  zu 
entschädigen  suchten !  Allein  man  fürchtete  ein  wenig  den  Zorn  der 
Königinmutter  und  um  die  wahre  Ursache  der  häufigen  Besuche 
Ludwigs  bei  Henrietten  zu  verdecken,  wurde  ausgemacht,  der  König 
solle  für  eine  der  Ehrendamen  —  das  Loos  fiel  auf  die  La  Valli^re 
—  eine  Leidenschaft  heucheln:  doch  aus  der  scheinbaren  wurde  eine 
wirkliche  Neigung.  Und  einmal  die  Richtung  gefunden,  that  Zufall 
und  Berechnung  das  Uebrige.  Als  der  König  einmal,  in  einem  An- 
falle schlechter  Laune,  über  seine  mangelhafte  Gesundheit  klagte, 
zeigte  die  junge  La  Valliöre  sich  sehr  theilnehmend.  „Ach!''  sagte 
der  König,  „wie  sind  Sie  gut,  dass  Sie  sich  für  die  Gesundheit  eines 
elendön  Prinzen  interessirqn ,  der  nicht  eine  einzige  Ihrer  Klagen 
verdiente,  wenn  er  nicht  mit  seinem  ganzen  Leben  Ihnen  gehörte"; 
das  Fräulein  fühlte  sich  tief  getroflfen  und  sprach  den  ganzen  Tag 
kein  Wort  mehr.  Ein  anderes  Mal,  als  der  Hof  bei  einem  Spazier- 
gange im  Park  zu  Vincennes  durch  ein^n  plötzlichen  Regen  überrascht 
wurde  und  Alles  in  wilder  Hast  sich  zerstreute,  fügte  es  sich,  dass 
der  König  die  La  Vallifere  auf  einem  einsamen  Wege  traf;  er  ergriff 
die  Gelegenheit,  sich  zu  erklären.  „Mein  Herz  erwartete  diesen 
Sturm,"  sagte  er  erblassend,  „wissen  Sie  denn  noch  nicht,  dass  ich 
Sie  liebe?"  „Still!  still!"  flüsterte  die  junge  Dame  erröthend,  „ich 
könnte  Sie  verstehen,  indessen,"  fügte  sie  ausweichend  hinzu,  „wir 
haben  den  Weg  verloren".  „Nein,  ich  gehe,  wo  ich  gehen  will". 
„Aber  Majestät,  sehen  Sie  denn  nicht,  dass  mich  der  Regen  ganz 
durchnässt  hat?"  „Zählen  Sie  die  Tropfen,"  rief  der  leidenschaft- 
liche Liebhaber,  „ich  schwöre,  ich  gebe  Ihnen  eben  so  viel  Perlen." 

Den  mündlichen  Erklärungen  folgten  die  schriftlichen.  Den 
ersten  Brief*),   welchen    der  König   sendet,    will    sie    nicht   einmal 

•)  Derselbe  befindet  ßich  augenblicklich  in  den  Händen  der  Wittwe  eines 
Advocaten  Roiix  in  Chartres,    welche   sich  aber  in   der  Hoffnung   bedeutenden 


160  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

lesen  —  der  üeberbringer,  Beringhen,  liesst  ihn  vor,  den  zweiten 
birgt  sie  an  ihrem  Herzen,  auf  den  dritten  antwortet  sie.  Es  wird 
erzählt,  dass  beide  sich  des  Dichters  Benserade  bedient  hätten,  die 
betreffenden  Briefe  zu  schreiben,  natürlich  ohne  demselben  die  wirk- 
liche Adresse  zu  verrathen ;  als  die  junge  Dame  eines  schönen  Tages 
den  vorübergehenden  Poeten  hinaufrief  und  ihn  mit  dem  schelmischsten 
Lächeln  empfing,  glaubte  der  Verliebte,  es  gelte  ihm;  er  warf  sich 
aufs  Knie  und  überreichte  ihr  ein  Sonnet;  „nein,  nein!"  rief  die 
junge  Dame  laut  auflachend,  „darum  handelt  es  sich  nicjit,  sondern 
um  eine  Antwort,  denn  man  hat  mir  wieder  geschrieben."  Der. 
Dichter  sah  den  Brief  und  erkannte  sein  eigenes  Machwerk,  aber  als 
kluger  Mann  sagte  er  nichts  und  verfertigte  die  verlangte  Antwort. 
So  nahm  derin  der  Roman  seinen  weiteren  Verlauf,  wenn  auch  nicht 
ohne  mannigfache  Störungen  und  heftige  Kämpfe.  Aber  wer  hatte 
Macht  über  den  starrköpfigen  Sinn  des  Monarchen,  seit  Mazarin  ins 
Grab  gestiegen?  Dennoch  wagte  man  von  verschiedenen  Seiten 
Vorstellungen  zu  machen.  Der  Herzog  von  Mazarin,  Befehlshaber 
der  Artillerie,  theilte  dem  Könige  eines  Tages  mit,  dass  der  Engel 
Gabriel  ihm  erschienen  sei  und  den  Untergang  des  ganzen  franzö- 
sischen Reiches  geweissagt  habe,  wenn  der  König  von  seiner  ge- 
fährlichen Liebe  nicht  lasse ;  „und  ich,'^  antwortete  dieser,  „prophezeie 
Ihnen,  dass  man  Sie  für  verrückt  halten  wird,  wenn  Sie  noch  mit 
Anderen  darüber  sprechen  werden."  Nicht  besser  ging  es  dem 
Beichtiger  des  Königs,  Annat,  der  erklärte,  seinen  Abschied  nehmen 
zu  müssen,  wenn  Ludwig  sich  nicht  bessere  —  dieser  aber  lachte, 
gab  den  verlangten  Abschied  und  meinte,  er  habe  an  seinem  Prediger 
ohnehin  genug.  Endlich  kam  noch  die  Mutter  Anna,  und  redete 
ernst  und  lebhaft  für  ihre  Schwiegertochter,  denn  sie  selbst  hatte 
unter  der  Kälte  Ludwig's  XIH.  zu  empfindlich  gelitten,  um  die  Leiden 
jener  nicht  vollständig  zu  würdigen  —  allein  was  konnten  Vernunft- 
gründe gegen  die  Leidenschaft  helfen!  Der  Sohn  durchschnitt  das 
Gespräch  mit  gewohnter  Impertinenz,  er  meinte,  „das  sei  immer  so 
gewesen,"  und  führte  aus  der  Geschichte  eine  Anzahl  Beispiele  zu 
seiner  Entschuldigung  an,  ja,  er  hatte  die  Bosheit,  der  Mutter  selbst 
Vorwürfe  zu  machen:   „Und  wie,  Madame,   muss  man   denn  Alles 


Gewinnes  entschieden  weigert,  den  Inhalt  desselben  zu  veröffentlichen.  £inige 
Glückliche,  die  denselben  haben  lesen  dürfen,  versichern,  dass  er  mit  hinreissender 
Leidenschaft  geschrieben  sei,  er  soll  folgenden  pikanten  Anfang  haben:  „parblea! 
Mademoiselle,  si  je  vous  aime  ..." 


Marie  Therese  und  Louise,  de  La  Valliöre.  181 

glauben,  was  man  erzählt?  Ich  glaubte,  dass  Sie  weniger  als  ii^gend 
Jemand  Grund  hätten,  dieses  Evangelium  zu  predigen."  Erst  kurz 
vor  ihrem  Tode  hat  der  Sohn  ein  halbes  Geständniss  seines  Un- 
rechts abgelegt. 

Und  welche  Rolle  spielte  die  Königin  in  diesem  ersten  Theil 
des  Romans?  —  Man  suchte  sie  möglichst  fem  zu  halten.  Marie 
Therese  war,  wie  sich  das  am  Madrider  Hofe  von  selbst  verstand, 
von  Theologen  theologisch  erzogen  worden,  doch  wissen  wir  im 
Einzelnen  aus  ihrer  Jugendzeit  so  gut  wie  gar  nichts ;  die  kaiserliche 
Bibliothek  in  Paris  besitzt  kaum  ein  Schriftzeichen  von  ihr,  die 
Archive  von  Madrid  sollen  nur  dürftige  Ausbeute  gewähren.  Von 
ihrem  A\3usseren  geben  uns  die  zahlreichen  Bilder  in  Versailles  einen 
genügenden  Begriff.  Eine  kleine  Gestalt,  aber  wohl  geformt,  ein 
ovales,  ziemlich  langes  Gesicht  mit  schönem  Teint,  eine  hohe  Stirn, 
umflossen  von  blonden  vollen  Haaren,  ein  Paar  blauer  Augen,  welche 
mehr  harmlos  als  königlich  in  die  Welt  blickten:  alles  das  stimmt 
uns  günstig,  und  selbst  die  dicken,  vorstehenden  Lippen,  ein  Erbtheil 
des  Hauses  Oestreich,  nehmen  dem  Gesicht  im  Ganzen  wenig  von 
seiner  Anmuth.  So  wenig  Besonderes  uns  dieses  Aeussere  zeigt,  so 
wenig  nehmen  wir  in  Marie  Therese  hervorragende  innere  Eigen- 
schaften wahr.  Im  Allgemeinen  wird  sie  uns  sogar  als  ziemlich 
unbedeutend  geschildert.  Einen  Ruhm  wird  man  ihr  aber  nicht 
nehmen  können,  das  ist:  die  einzige,  in  Wahrheit  ehrenhafte  Frau 
am  Hofe  Ludwig*s  XIV.  gejA^esen  zu  sein.  Sie  besass  nicht  jene  kalte 
Berechnung  so  vieler  Frauen,  welche  im  ernsten  Kampf  wie  im 
leichten  Geplänkel  mit  Sicherheit  ihre  Pläne  machen,  geschickt  die 
Mittel  vertheilen ;  sie  kannte  keine  andere  Politik,  als  rein  zu  lieben 
und  geradeaus  zu  gehen.  Dabei  war  sie  stolz  wie  alle  Castiliane- 
rinnen;  als  die  Beichtigerin  eines  pariser  Nonnenklosters  sie  einmal 
fragte,  ob  sie  in  ihrer  Jugend  nie  danach  gestrebt  habe,  geliebt  zu 
werden,  fuhr  die  Königin  mit  einer  gewissen  Heftigkeit  auf:  „Nein, 
nie!  Konnte  ich  denn  Jemand  in  Spanien  lieben?  —  An  dem  Hofe 
meines  Vaters  gab  es  keine  Könige."  Und  zu  ihrer  einseitigen  Er- 
ziehung fügte  Philipp  IV.  noch  die  Rathschläge  einer  beschränkten 
Politik.  Als  sie  die  spanische  Heimat  verliess,  gab  ihr  der  könig- 
liche Vater  eine  Reihe  von  Verhaltungsmaassregeln  mit  auf  den  Weg, 
welche  alle  auf  den  einen  Grundsatz  hinausliefen :  „Schweigen  und 
abwarten'^  —  und  in  der  That,  nie  hat  sie  gegen  dieses  Gebot  ge- 
sündigt; allein  wir  wollen  darüber  nicht  streiten,  ob  jene  Schweig- 
samkeit wirklich  immer  eine  Folge  festen  Willens  gewesen  ist,  oder 
Baltische  Monatsschrift,  Neue  Folge,  Bd.  I,  Heft  2.  11 


162  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

ob  Äicht  auch   bisweilen   der  Grund  für  dieses  Verhalten  in   einer 
gewissen  Oleichgiltigkeit,  wenn  nicht  gar  Dummheit  gesucht  werden 
muss.     Es  ist  begreiflich,  dass  man  am  französischen  Hofe,  wo  es  in 
erster  Reihe  darauf  ankan^  geistreich   und  witzig  zu  sein,  wo  An- 
ständigkeit zwar  als   angenehmes  aber  entbehrliches  Gut  betrachtet 
wurde,  eine  Natur,  wie  die  Marie  Theresen's  so  gut  wie  gar  nicht 
rerstand ;  dazu  kam,  dass  sie  bei  ihrer  Heirath  ausser  „allons  k  Paris" 
kein  Wort  französisch  kannte.     Ihrer  Schwiegermutter  war  sie  innig 
ergeben  und  den  König  liebte   sie  mit   einer  Leidenschaft,    welche 
diesem   oft  unbequem  wurde.     In  den  ruhigen   Verhältnissen   eines 
bürgerlichen  Daseins  lebend  hätte  Marie  Therese  weder  die  Augen 
der  Mit-  noch  Nachwelt  auf  sich  gezogen,  als  Gattin  eines  zügellosen 
Königs  inmitten  eines  zügellosen  Hofes  muss  sie,   wenn  auch  unter- 
liegend, unsere  Theilnahme  erregen.     Wie  lange  sie  sich  von  dem 
Könige  wirklich  geliebt  glaubte,  wer  vermag  es  zu  sagen?     Gewiss 
ist,  dass,   als  sie  im   Sommer  1661    in  stiller  Zurückgezogenheit  zu 
St.  Germain  ihre  Tage  verlebte,  schon  heftige  Zweifel  in  ihrer  Seele 
aufstiegen;  den  Namen  ihrer  Nebenbuhlerin   hat  sie  zwar  erst  viel 
später  erfahren,  denn  die  Königinmutter  trug  alle  Sorge,  die  Qualen 
dieses  empfindsamen  Herzens  so   viel   als  möglich  zu  mildern.    In 
Wirklichkeit  lag  aber  die  Entscheidung  des  unseligen  Kampfes  weder 
in  ihren,  noch  in  der  Mutter  Händen,  sondern  einzig  und    allein   in 
denen  der  jugendlichen  Nebenbuhlerin;  alles  hing  von  der  Antwort 
ab,  welche  die  La  Vallifere  auf  den  köni|:lichen  Brief  gab. 

Nichts  ist  leichter,  als  in  der  Stille  der  Studirstube  oder  in  der 
Harmlosigkeit  des  Kaflfeekränzchens  den  Weg  vorzusehreiben,  wel- 
chen ein  gesunder  Sinn  in  dem  Kampf  der  Leidenschaften  hätte 
gehen  müssen;  gewiss,  der  König  wie  die  Geliebte,  sie  sind  beide 
für  ihre  Thaten  verantwortlich,  aber  um  sie  gerecht  zu  beurtheilen, 
muss  man  die  Umstände  berücksichtigen.  Ein  frommer  Mann  hat 
es  bedauert,  dass  der  König  nicht  mehr  in  einem  kurz  vorher  (1647) 
erschienenen  Buche  „über  die  Pflichten  des  Fürsten"  (von  Hardonin 
de  Beaumont  de  P^r^fixe)  studirt  hatte  —  wex  will  denn  sagen,  dass 
der  König  sich  dessen  nicht  bewusst  war,  Unrecht  zu  thun?  Andere 
haben  alle  Schuld  der  verführerischen  La  Vallifere  zugeschrieben  — 
sollte  das  junge  achtzehnjährige  Mädchen  dem  mächtigen  Könige 
etwa  Vorlesungen  halten  über  seine  Pflichten  als  Regent,  als  Gatte? 
Ludwig  XIV.,  sagen  sie,  hatte  einen  empfänglichen  Sinn,  sie  musste 
in  ihrem  Briefe  ihn  auf  seine  Pflichten  gegen  seine  Unterthanen, 
gegen  sich  selbst  aufmerksam  machen,  sie  hätte  das  Bild  der  Königin 


I  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliöre.  163 

eiDti  yQj.  seine  Seele  zaubern,  ihn  an  die  beschworene  Gattentreue  erinnern 
^^^j  sollen  —  und  hätte  der  König  nicht  wie  die  Franzosen  des  19.  Jahr- 
^^'  hunderts  über  solch  albernen  Einfall  gelacht!  Sie  hätte  dem  Zu- 
^  dringlichen  ferner  in  Erinnerung  bringen  sollen,  welche  Anstrengungen 
die  europäischen  Mächte  gemacht,  die  Hand  Marie  Theresens  zu  er- 
halten, d.  h.  welchen  unverdienten  Schatz  er  in  ihr  besitze  —  so 
unzweifelhaft  dieser  Excurs  in  die  politische  und  diplomatische  Ge- 
schichte der  Jahre  58  und  59  dem  Ehrenfräulein  zur  Ehre  gereichen 
musste,  dem  Könige  hätte  sie  damit  noch  weniger  imponirt.  Aber 
—  wir  wollen  mit  dem  frommen  Historiker  diese  Unterlassungssünde 
herzlich  bedauern  —  das  junge  Mädchen  machte  diese  kleine  histo- 
rische Studie  nicht,  sie  schrieb  diesen  Brief  nicht,  sondern  nahm 
vielmehr  den  Kampf,  welchen  sie  weder  hervorgerufen  noch  ge- 
wünscht, gegen  die  Königin  auf. 

Unerfahrenem  Mädchenherz!  Vielleipht  glaubte  sie  ihr  ganzes 
Leben  hindurch  so  leidenschaftlich  geliebt  zu  werden?  Wer  will 
bestimmen,  welchen  Antheil  an  diesem  Irrthum  einfache  Unkenntniss 
der  Bedingungen  der  Wirklichkeit  hatte,  und  wie  viel  der  Ver- 
blendung leidenschaftlicher  Liebe  zugeschrieben  werden  muss.  Man 
weiss,  welche  bedeutsame  Rolle  in  der  Erziehung  junger  Mädchen 
damals  die  Romane  spielten :  die  Königin  soll  einmal  darüber  geklagt 
haben,  dass  der  ganze  Hof  aus  den  Fugen  gerissen  werde  durch  ein 
junges  Mädchen,  dessen  Köpfchen  durch  spanische  und  italienische 
Romane  verdorben  sei.  Mir  scheint,  dass  die  La  Vallifere  vielmehr  zu 
jenen  jungen  Mädchen  götsählt  werden  muss,  die  sich  ihren  Roman 
selbst  zusammen  setzen,  in  welchem  sie  mit  grösserem  Vergnügen  lesen 
und  träumen  als  in  den  geschriebenen ;  und  wenn  diese  romantischen 
Träumereien  ihren  Willen  auch  nicht  völlig  entnervten,  so  haben  sie 
doch  sicher  ihre  Widerstandskraft  eingeschläfert.  Die  Romane  der 
Scudery  vor  allem  beherrschten  damals  die  „gute  Gesellschaft",  ihr 
„Grand  Cyrus",  ihre  „Cldlie"  fehlten  in  den  Bibliotheken  auf  den 
Schlössern  der  Edelleute  so  wenig  wie  in  den  Salons  zu  Marly  und 
Versailles,  und  wir  erfahren  durch  einen  Freund  ihrer  Jugend,  dass  die 
kleine  La  Vallifere  in  diesen  Büchern  fleissig  las.  Diese  Leetüre  wie 
das  sie  umgebende  Leben  mussten  auf  ihre  lebhafte  Phantasie  von 
grossem  Einfluss  sein.  Als  sie  einst  zufällig  ein  Blatt  der  „Gazette 
officielle"  in  die  Hände  bekam  und  darin  von  dem  grossen  persön- 
lichen Muth  des  Königs  in  der  Schlacht  bei  Dünkirchen  las,  fühlte 
sie  sich  sogleich  zu  dem  tapfem  Manne  hingezogen.     Und  wenn  auch 

damals  noch  das  Leben  auf  den  Schlössern    der  Provinz    weniger 

11  • 


164  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

frivol  war  als  bei  Hofe,  so  konnte  es  doch  nicht  fehlen,  dass  viel- 
fache Liebesverhältnisse  angeknüpft  wurden ;  auch  von  einer  Jugend- 
liebe Louisens  auf  Schloss  Blois  hat  man  gesprochen,  doch  lässt  sich 
nichts  erweisen.  Dagegen  hat  das  Ehrenfräulein  sehr  bald  die  Augen 
der  jungen  Cavaliere  bei  Hofe  auf  sich  gezogen.  Ein  junger  Minister 
des  Königs,  Löm^nie  de  Brienne,  erzählt  uns,  dass  er  auf  dem  Punkte 
gewesen  sei,  sich  zu  erklären,  als  er  noch  glücklicher  Weise  und  zur 
rechten  Zeit  die  Neigung  des  Königs  bemerkt  habe:  die  Wahl 
zwischen  seinem  Amt  und  dem  Gegenstand  seiner  Neigung  fiel  ihm 
nicht  schwer.  Und  doch  war  dieses  Mädchen,  das  er  liebte,  von 
der  Natur  mit  Gaben  ausgestattet,  welche  selbst  einen  unbeständigen 
und  wählerischen  König,  wie  Ludwig  XIV.,  sieben  volle  Jahre 
fesseln  konnten ! 

Das  Museum  zu  Versailles,  welches  in  so  wunderbarer  Fülle  die 
berühmten  und  unberühmten  Gestalten  des  „grossen  Jahrhunderts" 
uns  vor  die  Augen  führt,  über  die  La  Valliöre  ist  es  fast  stumm. 
Nur  ein  bild  unter  den  vorhandenen  fünf  stammt  aus  ihrer  Zeit 
selbst;  und  diese  Bilder  entsprechen  nur  schlecht  den  Beschreibungen, 
welche  die  Zeitgenossen  von  ihr  gemacht  haben.  Zahlreiche  Schilde- 
rungen ihrer  Persönlichkeit  sind  uns  in  den  Mdmoiren  überliefert, 
viele  von  Frauen,  und  man  kann  dem  Zeugniss  der  Frauen,  eifer- 
süchtiger Frauen,  wohl  Glauben  schenken.  Stellen  Sie  sich  ein 
junges  Mädchen  vor,  von  zartem  Körperbau,  fast  zu  schlank,  mit  einer 
Taille  „weder  gross  noch  klein",  welche  aber  ihre  graziösen  Be- 
wegungen in  keiner  Weise  störte ;  aus  einöm  feingeschnittenen  Köpf- 
chen mit  hochblondem  Lockenhaar  schaute  ein  Paar  hellblauer 
Augen  hervor,  mit  einem  Blick,  so  sanft  und  so  bescheiden,  dass  er 
in  demselben  Augenblick  das  Herz  und  die  Achtung  gewann;  wir 
wissen  schon,  das  anmuthige  Lächeln  des  schönen  Mundes  hatte  selbst 
einen  Mann  wie  den  ältlichen  Benserade  zu  einem  Fussfall  verführt; 
obgleich  sie  ein  wenig  hinkte,  so  stand  ihr  das  doch  nicht  schlecht, 
denn  schritt  sie  langsam  einher,  so  wusste  sie  diesen  Fehler  zu  ver- 
bergen, ging  sie  schnell,  wie  gewöhnlich,  so  entsprach  das  leise 
Schwanken  ihrer  Lebendigkeit;  sie  tanzte  gut,  sass  vortrefflich  zu 
Pferde.  Frau  von  Lafayette,  ein  missgünstiges,  der  Königin  ganz  er- 
gebenes Weib  hat  für  die  La  Vallifere  nur  drei  «ehr  bezeichnende 
Ausdrücke  „fort  jolie,  fort  douce,  fort  naive".  Sie  ist  nicht  eine 
von  jenen  vollkommenen  Schönheiten,  welche  man  bewundert  ohne 
sie  zu  lieben,  wie  etwa  Frau  von  Montespan;  auf  die  La  Vallifere 
scheint  der  Vers   La  Fontaine's    gemacht   zu  sein:    „la  gräce  plus 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliire.  166 

belle  encor  que  la  beaut^^^  Und  in  dieser  anmuthigen  Hülle  herrschte 
eine  wahrhaft  grosse  Seele.  An  Geist  und  Witz  steht  sie  gewiss 
weit  hinter  ihren  Nachfolgerinnen,  der  Mont'espan  und  Maintenon 
zurück,  obgleich  sie  ernstlich  bemüht  war,  diesen  Mangel  durch 
fleissige  Leetüre  zu  heben*);  und  selbst  an  Schönheit  wurde  sie 
von  der  ersteren  übertroflfen.  Aber  ihr  ist  eine  Originalität  eigen, 
welche  sie  von  vielen  Frauen  unterscheidet:  sie  kannte  und  hörte  nur 
die  Sprache  ihres  Herzens  seit  sie  Ludwig  liebte,  Triumph  und  Fall 
berühren  nur  dieses ;  erhaben  über  jedes  persönliche  Interesse  kennt 
sie  nur  eine  Freude:  zu  lieben  und  geliebt  zu  werden;  ohne  Ehr- 
geiz, ohne  einen  weiten  Gesichtskreis  ist  sie  mehr  darauf  bedacht,  an 
den  zu  denken  den  sie  liebte,  als  ihm  zu  gefallen.  Man  weiss, 
welche  Gewalt  im  Kampf  und  Feldlager  gestählte  Gestalten  mit 
grossen  Schnurbärten  auf  ein  weibliches  Herz  ausüben  können,  welche 
Anziehungskraft  ein  mächtiger  und  nun  gar  schöner  König  besitzt  — 
allein  alles  das  reizte  die  La  Vallifere  nicht  mehr,  alle  diese  Aeusser- 
lichkeiten  erloschen  vor  der  einen  Ueberzeugung,  dass  in  dem  Herzen 
des  Geliebten  eine  sympathische  Flamme  lodere.  Sie  nährte  sich 
nicht  mit  dem  stolzen  Gedanken,  den  allmächtigen  Ludwig  XIV.  ge- 
zähmt zu  haben,  und  nie  hat  sie  diese  Gewalt  zum  eigenen  oder 
zum  Besten  ihrer  Verwandten  und  Freunde  ausgenutzt;  die  Diamanten, 
mit  welchen  der  König  sie  überschüttete,  hat  sie  nur  auf  seinen  aus- 
drücklichen Wunsch  getragen,  ja,  die  hohe  Stellung  des  Geliebten 
hat  sie  selbst  bisweilen  gedrückt.  ^Ah,  Sire,^  sagte  sie  eines  Tages, 
„wären  Sie  doch  nur  der  einfache  GardeoflBzier,  zu  welchem  die 
holländischen  Zeitungen  Sie  machen,  wie  würden  wir  uns  in  irgend 
einem  verborgenen  Winkel  der  Welt  lieben!**  In  ähnlichem  Sinne 
sagt  von  ihr  Bussy-Rabutin  (m^m.  H.  3.  edit.  LaianneJ  einer  der 
zweifelsüchtigsten  Zeitgenossen:  „Sie  liebte  die  Person  des  Königs 
ohne  Grenzen,  und  man  sah  wohl,  dass  sie  ihn  eben  so  geliebt  haben 


*)  Mit  dieser  Darstellung  im  Widerspruch  steht  die  Kotiz  einer  Handschrift, 
welche  sich  auf  der  kaiserlichen  Bibliothek  in  St.  Peterburg  befinden  und  gerade 
den  feinen  Geist  der  La  Valli^re  besonders  hervorheben  soll;  so  lange  wir  den 
Werth  jener  Handschrift  nicht  genügend  kennen,  müssen  wir  schon  bei  der  bisheri- 
gen Anschauung  bleiben.  (L^ouzun  Leduc,  Etudes  sur  la  Russie,  p  298.)  Uebrigens 
gestehe  ich  bereitwillig  die  Möglichkeit  einer  Modification  dieser  Anschauung 
zu,  da  mir  selbst  schon  Zweifel  aufgestiegen  sind:  es  scheint  nämlich  aus  einer 
Stelle  der  Reüexions  hervorzugehen,  dass  es  eine  Zeit  gegeben,  in  welcher  auch 
die  La  Valli^re,  wie  etwa  Elisabeth  Charlotte,  vom  Skepticismus  angehaucht 
worden;  dahin  zu  gelangen  würde  aber  wohl  ein  einfacher  Ehrenfräuleinwitz 
nicht  genügen. 


166  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

würde,  wenn  sie  eine  grosse  Königin  oder  er  ein  einfacher  Edel- 
mann gewesen  wäre.**  Alles  ist  für  sie  in  dieser  einzigen  Liebe 
ihres  Lebens  eingeschlossen,  und  sie  ist  allezeit  bereit  gewesen, 
lieber  zu  sterben,  als  auch  nur  den  leisesten  Verdacht  an  ihrer 
Treue  aufltommen  zu  lassen.  Aber  die  Welt  begriff  diese  absolute 
Liebe  nicht,  und  der  Kampf,  den  sie  deshalb  mit  dieser  Welt  führte, 
das  ist  ihr  Leben.  „Ich  fühle,"  schrieb  sie  selbst  später  einmal, 
„dass  trotz  der  grossen  Fehler,  die  ich  fast  zu  jeder  Zeit  be- 
gangen, die  Liebe  doch  mehr  Antheil  an  meinem  Opfer  hat  (näm- 
lich dem  Eintritt  ins  Kloster),  als  die  Pflicht,  Busse  zu  thun."  So 
war  diese  Seele  beschaffen,  welche  wider  ihren  Willen  und  fast  ohne 
es  zu  wissen  eines  der  heiligsten  Gesetze  der  Menschheit  verletzte. 
Doch  vergesse  man  nicht,  welche  eigenthümlichen  Anschauungen 
über  die  Liebe  selbst  in  den  gebildetsten  Köpfen  jenes  Jahrhunderts 
spukten.  Es  ist  schon  erwähnt,  dass  die  Romane  der  Scudery 
damals  überall  gelesen  wurden;  dieses  Interesse  erregten  sie  aber  nur 
deshalb,  weil  sie  ein  leicht  erkennbares  Bild  des  damaligen  Lebens 
und  Treibens  bei  Hofe  und  im  Bürgerhause  gaben,  welche  Schilde- 
rungen um  so  mehr  auf  lebhafte  und  phantasievolle  Köpfe,  wie  den 
der  La  Vallifere,  wirken  mussten,  je  mehr  das  wirkliche  Leben  darin 
verschönert  wurde.  Grand  Cyrus  ist  eben  niemand  anders  als  der 
grosse  Cond^,  Mandane  mit  den  blonden  Haaren  und  blauen  Augen 
Madame  de  Longueville,  „die  grösste  Sünderin  des  XVH.  Jahr- 
hunderts**, die  schönen  Damen  der  Höfe  zu  Ekbatana,  Sardes  und 
Babylon  sind  die  Ehrendamen  Anna's  von  Oestreich;  es  ist  bekannt, 
mit  welcher  Leidenschaft  selbst  die  besonnene  Frau  von  Sövign^  jene 
zehn  dicken  Bände  des  Grand  Cyrus .  verschlang,  jene  Bände,  die 
jetzt  in  den  Bibliotheken  einzelner  Alterthümler  den  wohlthuenden 
Schlaf  der  Jahrhunderte  schlafen  und  vor  deren  Wiedererwachen 
uns  der  Himmel  bewahren  möge.  In  der  That,  jenem  Geschlechte 
galt  die  Liebe  als  ein  Zeichen  besonderer  Erhebung  und  Bildung 
der  Seele;  nach  dem  Sittencodex  jener  Zeit  konnte  man  kein 
„honneter"  Mann  sein,  ohne  besondere  Empfindlichkeit  für  die 
Schönheit  des  weiblichen  Geschlechts  zu  zeigen.  Dieses  Spiel  war 
nicht  ohne  Gefahr,  tmd  wo  sollte  ein  junges  Mädchen  Kenntniss  und 
Kraft  hernehmen,  der  doppelten  Macht  zu  widerstehen:  der  Macht 
der  Sitte  auf  der  einen,  der  Gewalt  eines  verführerischen  Königs 
und  der  Unerfahrenheit  des  eigenen  Herzens  auf  der  anderen  Seite? 
So  sind  wir  denn  vom  ersten  Augenblick  an  nicht  zweifelhaft, 
wohin  der  harmlose  Anfang  des  Romans,  den  wir  oben  geschildert, 


k 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  167 

endlich  führen  musste,  nur  der  erste  Schritt  kostet  Mühe  —  das 
Uebrige  macht  sich  von  selbst.  Und  während  das  ^^bescheidene 
Veilchen"  Qein  Ausdruck  der  S^vignö  für  die  La  Vallifere)  immer 
höher  sein  Köpfchen  aus  dem  Grase  erhob,  welkte  eine  andere  Blume 
am  Hofe  Ludwig's  rasch  und  unbemerkt  dahin.  Kaum  zwei  Jahre 
waren  vergangen  seit  jener  Hochzeitsfeier  und  die  feierlichen  Schwüre 
des  königlichen  Gemahls,  alle  die  Zeichen  des  Glückes,  mit  welchen 
Frankreich  Marie  Therese  überschüttet,  waren  nichts  mehr  als  Erinne- 
rungen. Und  dieses  Unglück  im  eigenen  Hause  musste  sie  um  so 
empfindlicher  treffen,  je  weniger  sie  geeignet  war,  auf  anderen  Ge- 
bieten eine^  Entschädigung  zu  finden,  denn  mit  den  hohen  Abenteuern 
des  öffentlichen  Lebens  sich  zu  befassen  schien  sie  völlig  unfähig. 
Rein  in  der  Seele  und  im  Leben,  fast  bürgerlich  ein&tch  im  Ge- 
schmack, doch  nicht  ungeschickt  in  ihrer  Art  Hof  zu  halten,  in 
dem  Könige  zugleich  den  Herrn  und  Gatten  verehrend,  sah  sie  sich 
plötzlich  hineingesissen  in  eine  ihr  völlig  fremde  Sphäre.  Ein  Ge- 
fühl rechtmässiger  Eifersucht  ergriff  sie,  und  da  bei  Hofe  sie  niemand 
verstand,  niemand  sie  hören  wollte,  stürzte  sie  sich  der  Kirche  ganz 
in  die  Arme  um  dort  auch  den  letzten  Rest  von  Selbstgefühl  zu 
verlieren.  Beide  Frauen,  die  Gattin  wie  die  Geliebte,  fallen  als 
Opfer  der  orientalischen  Willkür  ihres  Königs,  und  die  unparteiisehe 
Geschichtschreibung  wird  die  Ehrendame  nicht  belasten  indem  sie 
die  Königin  beklagt. 

Schon  in  den  Sommermonaten,  welche  Marie  Therese  vor  der 
Geburt  ihres  ersten  Sohnes  einsam  in  St.  Germain  verbrachte,  war 
der  Verdacht  in  ihr  rege  geworden,  und  bald  musste  das  Gerücht 
auch  den  Namen  der  Nebenbuhlerin  ihr  zu  Ohren  bringen.  Als 
eines  Abends^  es  war.  gegen  Ende  des  Jahres  1662,  die  La  Valliäre 
durch  das  Zimmer  der  Königin  ging,  zeigte  diese  mit  dem  Finger 
auf  sie  und  sagte  leise  zu  Frau  von  Motteville:  „Jenes  Mädchen  mit 
den  Diamant- Ohrringen  ist  es,  welche  der  König  liebt."  Und  bald 
sollte  ein  unerwartetes  Ereigniss  ihre  Unruhe  in  voller  Stärke  zum 
Ausbruch  bringen.  Es  war  grosser  Empfang  des  spaiüschen  Ge- 
8£^dten,  eine  Anzahl  hochgestellter  Personen  befand  sich  im  Audienz- 
saale, und  unter  ihnen  auch  Saint- Aignan,  d«r  sich  mit  dem  Marquis 
von  Sourdis  lebhaft  unterhielt.  „Wie!"  rief  plötzlich  der  letztere 
laut,  „die  La  Vallifere  eine  Nonne!  das  ist  nicht  möglich!"  Der 
König  hatte  die  Worte  gehört  und  verlangte  erregt  eine  Erklärung, 
allein  man  tvusste  nichts  Genaueres,  als  dass  das  genannte  Ehren- 
fräulein  in  der  Frühe  des  Tages  in  das  Nonnenkloster  nach  St  Gioud 


168  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

geflohen  sei.  Sogleich  entlässt  der  König  die  Versammlung  und 
verlangt  einen  Wagen ;  die  Königin,  welche  in  Madrid  an  die  strengste 
Etiquette  bei  feierlichen  Gelegenheiten  gewöhnt  worden  war,  wagt 
ihm  zu  "sagen,  da^a  er  nicht  Herr  seiner  selbst  sei.  „Und  wenn  ich 
es  nicht  über  mich  selbst  bin,"  lautet  die  barsche  Antwort,  „so  werde 
ich  es  doch  über  diejenigen  sein,  welche  meinem  Willen  entgegen- 
treten wollen."  Li  einen  grauen  Mantel  gehüllt  und  von  dem  Herzog 
von  Roqueloure  begleitet,  jagt  er  zum  Kloster  und  verlangt  Einlass. 
Man  will  ihn  anfangs  nicht  sprechen,  die  Oberin  wird  gerufen  und 
endlich  erscheint  auch  die  Flüchtige,  sie  will  reden,  allein  Thränen 
und  Schluchzen  ersticken  ihre  Stimme,  der  König  weint,  die  anwe- 
senden Nonnen  weinen  und  der  Begleiter  fand  alles  so  komisch,  dass 
er  Mühe  hatte  ernst  zu  bleiben.  „Ich  bin  entschlossen,"  nimmt  end- 
lich Ludwig  das  Wort,  „selbst  das  Kloster  zu  verbrennen.*'  Das 
war  nun  nicht  mehr  die  Sprache  eines  Königs,  sondern  eines  rasend 
Liebenden,  und  solcher  Leidenschaft  gegenüber  konnte  denn  auch 
die  La  Vallifere-  nicht  widerstehen ;  beide  stiegen  in  den  Wagen  und 
der  König  führte  die  Geliebte  wie  im  Triumph  zurück.  —  Es  sind 
verschiedene  Motive  für  diese  seltsame  Flucht  angegeben  worden:  die 
Einen  sprechen  von  Gewissensbissen,  hervorgerufen  durch  die  Vor- 
würfe der  Königinmutter,  nach  Anderen,  und  zwar  ist  diese  Erzäh- 
lung wahrscheinlicher,  war  die  La  Vallifere  durch  ihre  Freundin 
Montalais  in  die  unerlaubten  Beziehungen  Henrietten's  und  des 
Grafen  Guiche  eingeweiht  worden ;  allein,  zu  ehrenhaft  die  Angeberin 
zu  spielen,  -hatte  sie  dem  Könige  darüber  nie  ein  Wort  verloren; 
der  Scharfsinn  dieses  hatte  sie  jedoch  durchschaut,  und  ärgerlich  über 
diese  Geheimnisse  hatte  er  ihr  Vorwürfe  gemacht;  in  der  Geliebten 
aber  erweckten  diese  Vorwürfe  den  Verdacht,  dass  sie  nicht  mehr 
geliebt  werde,  und  in  dem  ersten  Schreck  darüber  suchte  sie  Hülfe 
im  Kloster.  Marie  Therese  fühlte  sich  durch  diesen  Zwischenfall 
aufs  Tiefste  beleidigt.  Allein  man  wollte  ihr  nun  auch  den  Namen 
der  Nebenbuhlerin  öffentlich  mittheilen ;  es  bildete  sich  zu  dem  Zweck 
eine  förmliche  Verschwörung. 

In  den  Sälen  der  Gräfin  von  Soissons,  geb.  Olympia  Mancini 
hatte  sich  allmälig  eine  kleine  Gesellschaft  abgesetzter  Mätressen 
des  Königs  zusammengefunden.  Olympia  und  Marie  Mancini  konnten 
es  nicht  vei^essen,  dass  der  König  sie  einst  geliebt,  Henriette  von 
Engl^tnd,  der  schönste  Schmuck  dieses  Kreises,  grollte  unversöhnlich, 
dass  sie  ihrem  Ehrenfräulein  hatte  weichen  müssen;  und  unter  diese 
unzufriedene   Gesellschaft   mischten   sich   bald   Abenteurer  verschie- 


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•  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  169 

denster  Art,  wie  der  Maxquis  von  Varde^,  der  komische,  aber  cynische 
Herzog  von  Lorraine  mit  den  Katzenaugen.  Die  Königin  und 
Königinmutter  zogen  sich  immer  mehr  zurück,  desto  häufiger  kam 
Ludwig  selbst.  Hier  nun  kam  man  auf  den  Gedanken,  die  neue 
Grösse  am  Himmel  königlicher  Gunst  zu  verderben;  der  Graf  von 
Guiche  —  er  hat  es  später  selbst  gestanden  —  fasste  ein  Schreiben 
an  die  Königin  ab,  welches,  im  Namen  des  Vaters  in  Madrid  ge- 
schrieben, in  ein  Packet  spanischer  Briefe  geschoben  wurde  und 
worin  man  Marie  Therese  aufforderte,  sich  über  das  Benehmen  des 
Königs  laut  zu  beklagen.  „Dieser  sei",  hiess  es  dort,  „ein  Prahler, 
der  zu  Kreuz  kriechen  werde  wenn  man  sich  ihm  ernstlich  wider- 
setze." Der  Brief  kam  nun  zwar  an,  erreichte  aber  seinen  Zweck 
nicht,  denn  die  dienstthuende  Ehrendame,  Senora  La  Molina,  wel- 
cher das  Siegel  verdächtig  erschien,  öShete  denselben  und  gab  ihn 
nicht  der  Königin,  sondern  dem  König.  Dieser  schäumte,  suchte  sich 
zunächst  aber  zu  verstellen  um  sichere  Nachrichten  einzuziehen; 
dann  folgte  ein  strenges  Strafgericht.  Der  Königin  freilich  war 
damit  wenig  geholfen,  und  ob  auch  ihre  Klagen  sich  verdoppelten  — 
der  König  liebte  darum  die  La  Vallifere  nicht  weniger.  Marie  Therese 
hat  mit  ihren  ewigen  Thränen  der  Königinmutter  viel  zu  schaffen 
gemacht,  Ludwig  XIV.  selbst  sah  und  kannte  ihre  Schmerzen,  aber  er 
wollte  sich  nicht  ändern.  Als  sie  ihm  einst  Vorwürfe  machte,  dass 
er  erst  um  vier  Uhr  morgens  sich  zur  Ruhe  begebe,  erklärte  er,  dass 
er  so  lange  Depeschen  lese  und  die  Antworten  verfertige.  —  „Aber," 
wandte  die  Königin  ein,  „dazu  kann  man  doch  eine  andere  Zeit 
wählen".  —  Der  König  lachte,  und  Fräulein  von  Montpensier,  die 
zufällig  zugegen  war,  fand  diese  Sorgfalt  der  Königin  für  das 
Wohl  ihres  Gatten  ebenfalls  sehr  ergötzlich.  (M^m.  de  Mont- 
pensier, IV,  52.) 

Während  dieses  betrogene  Herz  zu  brechen  drohte,  feierte 
ein  anderes  seine  höchsten  Triumphe.  Es  ist  notorisch,  dass  wäh- 
rend der  beiden  Jahre  1663  und  1664  die  La  Vallifere  das  Ziel  aller 
Festlichkeiten  des  Hofes  war,  von  dem  berühmten*  Carrousel  des 
Jahres  1662  und  den  ^plaisirs  de  Ttle  enchant^e"  (Mai  1664)  bis  zu 
den  kleinen  Spaziergängen  in  Versailles.  Die  Königin  war  der  Vor- 
wand, die  Geliebte  der  geheime  Grund.  Dies  war  die  Zeit,  wo  die 
La  Vallifere  dem  Könige  schrieb,  dass  sie  mehr  in  ihm,  als  in  sich 
selbst  lebe  und  dass  das  Vergnügen  ohne  dass  man  liebe  kein  Ver- 
gnügen sei,  es  ist  die  Zeit,  in  welcher  er  ihr  folgende  Verse  mit 
einem  schönen  Blumenstraus  übersandte: 


170  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere! 

AUez  Yoir  cet  objet  si  charmant  et  si  donz, 
allez,  petites  Heurs,  mourir  poiir  cette  belle; 
mille  autres  youdraient  bien  en  faire  ai^tant  pour  eile, 
«    qui  n'en  auront  jamais  le  plaisir  comme  vous. 

Es  ist  endlich  die  Zeit,  in  der  selbst  ein  Molifere,  der  geschickte,  aber 
wenig  wählerische  Parteigänger,  diese  Liebe  in  seinen  Schöpfungen 
verherrlichte,  und  das  sogar  in  Gegenwart  der  Königin.  Aber  die 
Rosen  und  Diamanten,  mit  welchen  der  König  seine  Geliebte  umgab, 
waren  verhängnissvoll.  Am  19.  December  1663  wurde  in  der  Kirche  zu 
St.  Leu  ein  Knabe  getauft,  der  den  Namen  Karl  erhielt,  als  Sohn 
M.  de  Lincour's,  eines  alten  und  treuen  Dieners  von  Colbert.  Aus 
dem  Halbdunkel  heimlicher  Liebe  trat  man  an  das  helle  Licht  des 
Tages,  auf  die  kurzen  mystischen  Jahre  folgte  die  lange  Periode 
der  OefFentlichkeit. 

Um  eben  jene  Zeit,  da  die  Seele  der  Geliebten  dem  moralischen 
Tode  verfallen  schien,  gerieth  das  physische  Leben  der  Gattin  in 
Gefahr.  Noch  einmal  erwachte  die  Theilnahme  der  Bevölkerung, 
selbst  der  König  zeigte  sich  besorgt:  in  Begleitung  des  ganzen  Hofes 
geleitete  er  beim  Schein  von  tausend  Fackeln  das  heilige  Sacrament 
zur  Schwerkranken.  Diese  aber  dachte  nur  an  die  Untreue  ihres 
Gatten,  an  das  Glück  der  Nebenbuhlerin.  „Dieses  Weib  wird  mich 
noch  auf  das  Todtenbett  bringen^^  hatte  sie  oft  gesagt,  und  um  sie 
zu  beruhigen  musste  man  ihr  versprechen,  die  La  Vallifere  zu  ver- 
heirathen  —  als  sie  genesen,  schien  man  daran  nicht  mehr  zu 
denken.  Sie  erinnerte  den  König  an  sein  Versprechen;  „wenn  die 
La  ValUfere  damit  einverstanden  ist",  antwortete  er,  „werde  ich  nicht 
dagegen  sein."  Doch  die  La  Vallifere  schien  das  Glück  völlig  verwirrt 
zu  haben:  sie,  die  bescheidene,  verlangte  plötzlich  äussere  Ehrenbe- 
zeugungen, denn  es  war  ihr  unerträglich,  als-  „femme  malhoniißte" 
zu  gelten.  Die,  Königinmutter  nahm  sie  in  ihren  Kreis  auf  und  einige 
Zeit  darnach,  auf  das  bestimmteste  Verlangen  des  Königs,  empfing  sie 
selbst  Marie  Therese.  Die  unglückliche  Königin  stand,  seit  die 
Schwiegermutter  Anna  von  Oestreich  im  Januar  1666  ins  Grab  ge- 
stiegen, völlig  vereinsamt;  um  so  freier  fühlte  sich  nun  Ludwig  XIV. 
Aber  wie  sehr  Marie  Therese  auch  durch  die  La  Vallifere  gelitten 
hat,  nie  stellte  sie  ihrer  Nebenbuhlerin  Schlingen,  andere.  Waffen 
als  Geduld  und  Thränen  hat  sie  nicht  gekannt. 

Der  Feldzug  in  Flandern  sieht  die  La  Vallifere  auf  der  Höbe. 
Ehe  der  König  zum  Heere  abreiste,  übersandte  er  dem  Parlament 
zur  Einregistrirung  eine  Schrift,  welche  die  Geliebte  zur  Herzogin 


^ 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  l'^l 

von  La  Vallifere  erhob  und  sie  mit  den  Lündem  von  Vaujour  und 
Saint-Christophe  in  Tourraine  und  Anjou  begabte;  gleichzeitig  er- 
kannte er  ihre  Tochter  als  legitim  an,  in  der  Geschichte  bekannt  unter 
dem  Namen  einer  Mademoiselle  de  Blois,  nachmaligen  Gräfin  Conti. 
Ein  später  geborener  Sohn  ist  gleichfalls,  legitimirt  worden  und 
führte  den  Titel  eines  Grafen  von  Vermandois.  *)  Das  Erhebungs- 
patent selbst  ist  ein  bedeutsames  Zeugniss  für  die  schlimmer  als 
orientalische  Sittenlosigkeit  Ludwig's  XIV.  und  seines  Hofes.  „Die 
Wohlthaten,"  heisst  es  darin  gleich  zu  Anfang,  „welche  die  Könige 
in  ihren  Staaten  ausüben,  sind  ein  äusseres  Zeichen  des  Verdienstes 
für  diejenigen,  welche  dieselben  empfangen,  das  grösste  Lob,  durch 
welches  die  Unt'erthanen  geehrt  werden  können.  Wir  haben  daher 
geglaubt,  nicht  besser  unsere  ganz  besondere  Achtung  ftir  die  Person 
unserer  theuren,  sehr  geliebten,  sehr  verehrten  Louise  Frangoise  de 
La  Vallifere  öffentlich  ausdrücken  zu  können,  als  indem  wir  ihr  die 
höchsten  Ehrentitel  verleihen,  da  eine  ganz  ausserordentliche  Zu- 
neigung, hervorgerufen  in  unsörem  Herzen  durch  eine  endlose  Reihe 
seltener  Vollkommenheiten,  uns  seit  einer  Reihe  von  Jahren  beseelt. 
Und  obgleich  sie  selbst  in  ihrer  Bescheidenheit  sich  uns  oft  wider- 
setzt hat  als  wir  schon  viel  früher  sie  in  eine  Höhe  rücken  wollten, 
welche  unserer  Achtung  und  ihren  vortrefflichen  Eigenschaften  ent- 
spricht,  so  erlauben  doch  die  Zuneigung,  welche  wir  für  sie  hegen, 
und  die  Gerechtigkeit  nicht  länger,  mit  den  Zeugnissen  unserer 
Dankbarkeit  zurückzuhalten  . .  .  und  wir  ernennen  sie  u.  s.  w.^^  Und 
das  Parlament  registrirte  gehorsam;  hoher  und  niederer  Adel  sahen 
in  der  Herzogin-Mätresse  fortan  ein  höheres  Wesen. 

Und  die  neue  Herzogin,  wie  dachte  sie  selbst  über  diese  neue 
Würde?  Ein  viel  citirtes  Wort  der  Frau  von  S^vign^  kennzeichnet 
am  besten  ihre  Stellung  zu  dieser  Frage  >  sie  nannte  die  La  Vallifere 
„ein  demüthiges  Veilchen,  welches  sich  im  Grase  versteckte  und  sich 
schämte,  Geliebte,  Mutter  und  Herzogin  zu  sein."  Wir  haben  ausser- 
dem das  vollwiegende  Zeugniss  Elisabeth  Charlotten's  von  der  Pfalz, 
dass  die  Geliebte  in  Verzweiflung  war  als  man  sie  zur  Duchesse  und 
ihre  Sander  legitim  machte,  denn  sie  glaubte,  dass  man  von  denselben 
bis  dahin  nichts  gewusßt  habe.  Das  Schamgefühl  verfolgte  sie  selbst 
bis  in  die  Trunkenheit  der  Freuden,  der  Vorzug,  welchen  der  König 
ihr  über  die  Königin  gab,  verletzte  sie,  und  häufig  klagt  sie,  zu  sehr 
geliebt  zu  sein,  während  sie  selbst  glaubt,  nicht  genug  zu  lieben.    Sie 

*)  Jener  oben  genannte  erste  Sohn  Karl  und  eine  zweite  Tochter  sind  früh 
gestorben. 


172  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valli^re. 

achtete  die  öffentliche  Meinung,  und  hierin,  gegenüber  den  offenen 
Erklärungen  des  Königs,  liegt  eine  gewisse  Scham,  eine  Scheu  vor 
der  Schamlosigkeit.  Sie  opferte  sich  ganz  und  gar  der  Liebe,  wie  sie 
sich  später  der  Wiederherstellung  verkannter  Pflicht  hingegeben  hat. 
^Ich  bitte  Sie,  Sire",  schreibt  sie  dem  Könige,  „nehmen  Sie  mehr 
Rücksicht  auf  Ihren  Ruhm  und  dulden  Sie  ein  wenig,  dass  man  Sie 
im  Geheimen  liebt."  Es  existirt  ein  Brief,  den  sie  nach  ihrer  Er- 
hebung an  eine  Freundin,  die  Montausier,  geschrieben  haben  soll; 
ich  halte  denselben  zwar  aus  verschiedeneu  Gründen  für  unterge- 
schoben, allein  ihre  Gesinnung  kennzeichnet  er  vortrefflich.  Mit 
grosser  Bitterkeit  klagt  sie  dort  über  die  neue  Würde  und  sieht  in 
dieser  neuen  königlichen  Gnade  nichts  anderes  als  ein  erstes  Zeichen 
der  Verabschiedung;  „das  Herzogthum,**  heisst  es  an  einer  Stelle, 
„ist  ein  königliches  Gkschenk  an  meine  Tochter,  anerkannt  und  legi- 
timirt  durch  ihren  Vater ....  man  wird  ihr  alles  geben  müssen  wenn 
sie  das  gehörige  Alter  erreicht  haben  wird,  und  ich  bleibe  nichts  als 
die  La  Vallifere."  Jch  glaube  sie  zu  sehen,  wie  sie  nach  einem  grossen 
Empfang  bei  Hofe  in  ihre  Gemächer  zurückkehrt  und  sich  beeilt, 
den  prächtigen  Mantel,  die  herzogliche  Kopfbinde  abzulegen,  ihrör 
Vertrauten  weinend  um  den  Hals  fällt  und  ihr  die  Worte  Monime's 
im  Mithridates  zuflüstert: 

Si  tu  m^aimas,  Phoedime,  11  faUait  me  pleurer 
Quand  d*un  titre  fatal  on  me  vient  honorer. 

Mitten  in  den  hellsten  Tagen  des  neuen  Glanzes  liess  sie  sich 
von  Mignard  malen,  zwischen  ihren  beiden  Kindern  sitzend,  in  der 
Hand  einen  Strohhalm,  an  welchem  eine  Seifenblase,  hängt  mit  der 
Umschrift  „sie  transit  gloria  mundi"*  (so  vergeht  der  Ruhm  der 
Welt).  Und  wie  die  letzte  Hoffnung  nur  langsam  stirbt,  so  konnte 
auch  sie  nur  schwer  die  volle  Grösse  ihres  Verlustes  fassen.  Die 
Harmlose,  sie  ruft  die  Poesie  zu  Hülfe  und  sendet  dem  König  ein 
Sonnet  —  aber  wann  hat  ein  Sonnet  einen  liebenden  König  festge- 
halten !  Ludwig  las  das  Gedicht,  lobte  die  Verse  und  liebte  die  Ver- 
fasserin nicht  mehr.  Sie  ist  verwirrt,  und  nur  in  der  unmittelbaren 
Nähe  des  Geliebten  findet  sie  sich  wieder,  dort  beherrscht  sie  noch 
einzig  die  alte  Leidenschaft.  Der  König  war  zum  Heere  gereist  und 
die  Königin  folgte  ihm  mit  dem  ganzen  Hof  in  grossen  vergoldeten 
Carrossen:  es  war  ein  amüsanter  Krieg,  diese  „Promenade  nach 
Flandern** !  Auch  die  La  Vallifere  hatte  sich  aufgemacht,  obgleich 
weder  vom  Könige  noch  von  der  Königin  aufgefordert,  und  wie  der 
Hof  vor  den  Thoren  von  Avesnes  die  Truppen  zu  Gesicht  bekam, 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliäre.  173 

liess  die  neue  Herzogin  ihre  Rosse  mitten  durch  die  Ebene  jagen 
zur  Stelle,  wo  sie  den  Geliebten  vermuthete.  Marie  Therese,  welche 
ausdrücklich  verboten  hatte,  dass  irgend  jemand  vor  ihr  dem  Könige 
sich  nähere,  gerieth  in  so  heftigen  Zorn,  dass  sie  die  Nebenbuhlerin 
arretiren  lassen  wollte,  selbst  Ludwig  XIV.  war  über  diese  Kühnheit 
seiner  Geliebten  so  erstaunt,  dass  er,  der  Etiquette'  genug  zu  thun, 
die  leidenschaftlich  Erregte  mit  der  vorwurfsvollen  Frage  empfing: 
„Wie,  Madame,  vor  der  Königin?"  Das  erlaubte  sich  das  bescheidene 
Veilchen  im  Angesicht  des  ganzen  Hofes,  der  durch  dieses  Ereigniss 
in  grosse  Erregung  gerieth.  „Behüte  mich  Gott,"  rief  bei  dieser 
Gelegenheit  die  keusche  Montespan,  „behüte  mich  Gott,  Geliebte  des 
Königs  zu  sein!  Aber  sollte  ich  doch  so  unglücklich  sein,  es  zu  wer- 
den, so  würde  ich  doch  nie  die  Unverschämtheit  besitzen,  mich  vor 
der  Königin  vorzustellen."  Von  solcher  Heuchelei  freilich  war  die 
kleine  La  Vallifere  selbst  in  den  Tagen  tiefster'  Erniedrigung  frei. 
So  sehr  ist  es  wahr,  dass  selbst  die  Furchtsamsten  es  nicht  mehr 
sind  sobald  die  Leidenschaft  sie  fortreisst:  wohl  hattß  sie  Recht  alß 
sie  selbst  später  einmal  mit  einer  Anspielung  auf  dieses  Ereigniss 
von  sich  sagte,  dass  „ihr  Ehrgeiz  und  die  Freude  geliebt  zu  werden 
wie  die  wilden  Pferde  gewesen  seien,  welche  ihre  Seele  in  den  Ab- 
grund gezogen  hätten."  —  Seit  fünf  Jahren  befand  sich  dieses  jugend- 
liche Herz  in  der  wildesten  Erregung;  aus  dem  schüchternen  Ehren- 
fräulein war  eine  Herzogin  und  Mutter  geworden,  aber  in  unver- 
änderter Stärke,  fast  wie  in  den  ersten  Tagen,  beherrschte  sie  noch 
die  Liebe,  die  Liebe  zu  demjenigen,  der  sie  nicht  mehr  liebte.  Konnte 
dieser  furchtbare  Zustand  lange  andauern? 


Am  11.  Februar  1671  war  grosser  Fastnachtsball  im  Louvre  und 
die  anwesenden  Damen  und  Herren  zischelten  sich  interessante  Neuig- 
keiten in  die  Ohren,  denn  sowohl  die  Montespan  als  die  La  Vallifere 
fehlten  auf  dem  Balle:  die  eine  lag  in  den  Wochen  und  die  andere 
war  wieder  in  der  Frühe  des  Tages  in  das  Kloster  geflohen.  Vor 
einigen  Jahren,  bei  einer  ähnlichen  Nachricht  hatte  König  Ludwig 
die  Staatsgeschäfte  unterbrochen  und  war  selbst  gegangen  die  Ver- 
lorene zu  suchen,  jetzt  schickte  er  seinen  Minister  Colbert,  die  Un- 
glückliche aus  dem  Nonnenkloster  Sainte  Marie  de  Chaillot  zurück- 
zuführen. Diese  weigerte  sich  anfangs  zu  folgen:  .„sie  habe  Versailles 
verlassen  um  den  König  nicht  wieder  zu  sehen,  und  sie  werde  Busse 
thun  für  die  Liebe,  welche  sie  noch  für  ihn  hege;  nachdem  sie  ihre 
ganze  Jugend  ihm  geopfert,   sei  es   nicht  zu  viel,  den  kurzen  Rest 


174  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

des  Lebens  seinem  Seelenheil  zu  widmen.^  Dennoch  siegte  die 
Raison  des  Hofes  noch  einmal,  sie  kehrte  nach  Versailles  zurück, 
zwar  nicht  im  Triumph,  wie  aus  St.  Cloud,  sondern  wie  ein  gedul- 
diges Opfer.  Eine  ganze  Stunde  sprach  sie  mit  dem  König,  er  weinte 
wiederum  sehr  —  es  sind  die  letzten  Thränen ;  die  Montespan  empfing 
sie  mit  offenen  Armen,  auch  sie  hatte  Thränen  in  den  Augen  — 
„devinez  de  quoi"  sagt  Madame  S^vign^.  Und  es  hatte  wirklich 
den  Anschein,  als  ob  die  Herrschaft  der  La  Vallifere  neue  Stützen 
erhalten  hätte.  Allein  sie  selßst  dachte  anders,  still  und  einfach 
lebte  sie  in  dem  angewiesenen  Hause.  Eines  Tages  schickte  ihr 
Ludwig  sein  Bild :  „Ich  liebe  Ihr  Portrait  mehr,"  schreibt  sie  ihm, 
„als  Sie  selbst,  seit  mein  Herz  mir  sagt,  dass  es  zwischen  uns  beiden 
nur  noch  Erinnerungen  giebt."  Der  König  aber  meinte,  sie  sei  wie 
alle  Frauen  —  er  kannte  sie  noch  nicht,  er  hat  sie  nie  gekannt. 
Nur  wenige  Jahre  sind  seit  jenem  Feldzuge  in  Flandern  verflossen, 
aber  in  der  Seele  der  Geliebten  ist  eine  grosse  Veränderung  vor  sich 
gegangen.  Zwar  ist  sie  sich  zu  allen  Zeiten  dessen  bewusst  gewesen, 
dass  sie  übel  handelte,  immer  hat  sie  die  Hoffnung  und  den  leb- 
haften Wunsch  bewahrt,  wieder  auf  den  rechten  Weg  zurück  zu 
kommen;  auch  in  den  glücklichsten  Tagen  ihrer  Liebe  hat  sie  den 
Dienst  Gottes  nicht  vergessen,  und  der  König  wünschte  oft,  die 
Stunden,  welche  diesem  Dienst  geweiht  waren,  abgeschafft  zu  sehen, 
denn  er  erhielt  immer  erst  nach  Gott  Audienz.  Gott  und  der  König 
haben  ihr  Herz  immer  besessen:  als  sie  nur  den  König  liebte,  da 
liebte  sie  noch  Gott,  und  als  sie  nur  Gott  liebte,  da  liebte  sie  noch 
den  König.  Nichts  hatte  sie  gethan,  diesem  zu  missfallen  —  sie  ge- 
fiel ihm  nicht  mehr,  denn  der  Stern  der  Montespan  war  im  Steigen, 
und  „gross"  wie  er  war  hoffte  Ludwig  in  zwei  Herzen  zugleich 
wohnen  zu  können.  Für  ihn  kamen  die  Jahre- kriegerischen  Glanzes, 
die  Jahre,  in  welchen  jedem  Siege,  jedem  Friedensschlüsse  glänzende 
Festlichkeiten  in  Versailles  folgten,  immer  höher  stieg  der  Ruhm 
Ludwig's  XIV.,  immer  grösser  wurde  die  Verehrung  des  Hofes  — 
nur  zwei  Frauen  beweinten  in  der  Stille  ihrer  Gemächer  gebrochenen 
Herzens  was  sie  nicht  mehr  besassen :  die  Liebe  ihres  Königs.  Man 
hat  die  Fragen  oft  aufgeworfen,  aber  nicht  immer  beantwortet:  warum 
blieb  die  La  Vallifere  noch  länger  bei  Hofe,  und  warum  that  Marie 
Therese  nichts,  ihre  Stellung  zu  bessern?  In  der  That,  der  Sturz  der 
La  Valliere  brachte  der  Königin  keinen  Gewinn,  ihre  Leiden  blieben 
dieselben,  denn  auf  die  La  Vallifere  folgte  die  Montespan,  auf  die 
Montespan   die  Maintenon,   kleine  Zwischenspiele,   welche    die    Ge- 


i. 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  175 

schichte   mit   den  Namen  Fontanges,    Soubise  u.   s.  w..  bezeichnet, 
nicht  gerechnet.      Unter  diesen  Umständen  konnte  selbst,  was  sonst 
ein    Mutterherz    wohl    tröstet,    die   Geburt  eines  Kindes    ihr  wenig 
Freude  bereiten ;  zudem  starben  die  meisten  ihrer  Kinder  frühzeitig. 
Wer  es  weiss,  welche  fast  unüberwindliche  Schwierigkeiten  die  ka- 
tholische Kirche  einer  Scheidung  entgegenstellt,  wer  dann  noch  er- 
wägt, welchen  Abscheu  jene  höchsten  Kreise  vor  jedem  pff entlichen 
Scandal  hegen,  dem  wird  leicht  klar  werden,  warum  Marie  Therese 
an    eine   wirkliche    und  vollständige  Trennung  von  ihrem   Gemahl 
nicht  denken   konnte.     Man    hat  ihr  vorgeworfen,    dass    sie    nichts 
weiter  verstanden,  als  zu  weinen,  —  man   hätte    noch    hinzusetzen 
können:  und  zu  beten  —  allein  ich  wüsste  nicht,  was  sie  sonst  anderes 
hätte  thun  können.     Als  sie  sich  anfangs  über  ihre  eigene  Rolle  be- 
klagte, hiess  der  König  sie  schweigen  und  in  die  Politik  durfte  sie  sich 
nicht  mischen  da  der  König  schon  in  heftigen  Zorn  gerathen  konnte 
wenn  die  Damen  des  Hofes  nur  von  Politik  sprachen.     Dennoch  ver- 
traute  er  ihr  zu  Anfang   der  70er  Jahre  die  Regentschaft  an.    An 
sie  richtet  er  die  Berichte  über  die  Errungenschaften  seiner  Waffen, 
sie  war  es,  der  er  Rechenschaft  gab  über  geplünderte  und  niederge- 
brannte Städte,    die  Grossthaten    seiner    Armee.      Im   Uebrigen   be- 
schäftigte sie  niemanden  und  niemand  beschäftigte  sich  mit  ihr,  selbst 
bei  Hofe  nicht.     Die  offizielle  Zeitung  erinnerte  nur  an  ihre  Existenz, 
an    ihren  Rang  jedesmal   wenn    sie  in    der  Kirche   ihre    religiösen 
Pflichten  erfüllte  oder  in  dem  Carmeliterinnenkloster  der  Rue  Bouloy 
einen  ganzen  Tag  verbrachte.   Es  ist  schon  wahr,  diese  Frömmigkeit 
streift  hart   an  Pedanterie:   die   Ehrendamen  waren  nicht  selten  in 
Verzweiflung,  alle  Tage  mit  ihr  zur  Messe,  zur  Vesper,  zum  Sermon, 
zum  Salut  gehen  zu  müssen,  die  besonderen  Heilswege  an  Sonn-  und 
Festtagen  noch  gar  nicht  gerechnet.     ^So   ist   nichts    rein  in  dieser 
Welt",    fügt  Madame  S^,vign^    im   Hinblick    auf   diese    Ehrendamen 
spöttisch  hinzu.      Wer   sich   etwas   eingehender  mit  der  Geschichte 
dieser  unglücklichen  Prinzessin  beschäftigt  hat,  wird  gewiss  mit  uns 
zu  diesem  Resultat  kommen:  eine  tugendhafte  Gattin,  dem  li^önig  in 
Liebe  innig  ergeben,  geduldig  ohne  Grenzen,  nicht  so  schön  wie  die 
Montespan,  nicht  so  geistreich  wie  die  Maintenon,  nicht  so  anziehend 
wie  die  La  Vallifere,  im  Uebrigen  etwas  unwissend,   d.  h.   spanisch 
erzogen,  war  sie  doch  nicht  unfähig,  den  Hof  Ludwig's  XIV.  ge- 
nügend zu  vertreten.     Sicher  aber  ist:  wäre  sie  auch  weniger  ernst, 
weniger  fromm   und  langweilig  gewesen,  einen  Ludwig  XIV.  hätte 
sie  doch  nicht  in  den  Grenzen  guter  Sitte  gehalten,  einen  Ludwig  XIV., 


176  Marie  Tberese  und  Louise  de  La  Valliäre. 

in  welchem  Mazarin  zwar  den  Stoflf  für  vier  Könige,  aber  nur  für 
einen  honneten  Menschen  zu  haben  glaubte  und  von  dem  der 
Marschall  Noailles  schon  1658  sagte,  dass  ^man  ihn  sobald  als  möglich 
standesgemäss  verheirathen  müsse,  damit  er  nicht  die  erste  beste 
Wäscherin,  die  ihm  gefällt,  eheliche/    (Duclos  M^moires  VL  151.) 

Und  neben  jener  Märtyrerin  aus  Noth  sehen  wir  jene  andere 
reizendere  Gestalt  ähnliche,  wenn  nicht  schwerere  Leiden  geduldig 
ertragen  —  und  zwar  freiwillig.  Man  hat  sich  mit  Recht  gewundert,  — 
die  frivolen  Männer  und  Frauen  jener  Zeit  am  meisten  — ,  warum  die 
La  Vallifere,  als  auch  die  letzte  Hoffnung  auf  des  Königs  Liebe  ihrena 
Herzen  entschwand,  noch  eine  Stunde  länger  am  Hofe  desselben 
Königs  verweilte.  Wir  wissen  es  heute,  warum,  und  unsere  Ver- 
wunderung verwandelt  sich  in  eine  Art  Bewunderung.  Man  hat  ofk 
von  der  Kühnheit  des  Entschlusses  gesprochen  wenn  eine  Jener 
grossen  Sünderinnen  des  XVH.  Jahrhunderts  aus  der  betäubenden 
Lust  des  Hofes  in  die  unheimliche  Todtenstille  eines  Klosters  trat; 
allein  was  wollen  die  strengsten  Fasten,  die  harten  Busskleider,  die 
endlosen  Gebete,  kurz  alle  die  körperlichen  Leiden  inmitten  heiliger, 
aber  fast  stummer  Nonnen  sagen  gegen  die  furchtbaren  Seelenleiden 
derjenigen,  welche  nach  sieben  Jahren  leidenschaftlicher  Liebe, 
höchster  Ehren  und  höchsten  Glückes,  sieben  andere  Jahre  lang,  welche 
ihr  zu  Jahrhunderten  werden  mussten,  dem  Schauspiel  zusah,  welches 
derselhe  König,  der  auch  sie  geliebt,  in  fast  ähnlicher  Weise  mit  einer 
anderen  Geliebten  aufführte!  Seite  für  Seite  las  sie  diesen  neuen 
Roman  königlicher  Leidenschaft!  Derselbe  Hof,  in  dem  sie  noch 
gestern  ihr  Paradies  gesehen,  heute  ist  er  ihre  Hölle!  Gott  —  das 
war  noch  der  König,  noch  war  ihre  Seele  Sclavin  des  eigenen 
Herzens,  aber  dieser  Gott  hatte  sie  verlassen,  und  der  andere  Gott, 
vor  dem  sie  in  krampfhaftem  Gebete  lag,  hatte  für  sie  noch  keinen 
Trost,  —  und .  sie  konnte  fliehen,  aber  sie  verehrte  das  Geräusch 
ihrer  Ketten.  Doch  nur  Geduld,  heute  noch  eine  halbirrsinnige, 
lächelnde  Ophelia,  —  morgen  wird  sie  eine  Magdalena  sein!  Sie 
selbst  hat  uns  den  Schlüssel  zu  ihrem  Herzen  gegeben.  „Sie  sagte 
mir**,  schreibt  Elisabeth  Charlotte,  „dass  Gott  ihr  Herz  berührt  habe 
und  dass  sie  ihm  ihre  Sünden  gestanden,  dass  sie  aber  geglaubt 
habe  Busse  thun  zu  müssen  und  zu'  leiden  d  a ,  wo  sie  es  am  schmerz- 
lichsten empfinden  musste  (d.  h.  bei  Hofe),  und  da  ihre  Sünden  aller 
Welt  bekannt  waren,*  so  müsste  es  auch  ihre  Busse  werden;  sie  habe 
Gott  alle  ihre  Schmerzen  geklagt  und  er  habe  ihr  eingegeben,  nur 
ihm  zu  dienen,  aber  sie  habe  sich  für  unwürdig  gehalten,  unter  den 


k 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliire.  177 

reinen  Seelen  der  Oarmeliterinnen  zu  leben".  Man  sah,  fügt  die 
Herzogin  hinzu,  dass  das  alles  von  Herzen  kam.  Wie  viele  werden 
eine  solche  Kraft  des  Willens  besitzen !  Und  dass  man  bei  Hofe  dieses 
ausserordentliche  Selbstopfer  nicht  begriff,  kaiin  uns  am  wenigsten 
wundern;  der  König  selbst  that  nichts,  die  Verrathene  zu  schonen, 
die  Montespan  alles,  die  Nebenbuhlerin  unter  die  Füsse  zu  treten; 
„wenn  ich  bei  den  Oarmeliterinnen  Schmerzen  empfinden  werde,* 
sagte  diese  zur  Maintenon,  „dann  werde  ich  mich  dessen  erinnern, 
was  ich  durch  jene  Menschen  gelitten  habe."  Es  wird  erzählt,  dass 
die  Montespan  bei  ihrer  Toilette  häufig  den  Geschmack  der  La 
Vallifere  zu  Rath  gezogen  und  sie  dann  gewissermaassen  genöthigt 
habe,  selbst  mit  Hand  anzulegen  und  sie  zu  schmücken  —  damit  sie 
dem  Könige  gefalle !  Die  Verständigsten  des  Hofes  wurden  an  dieser 
Geduld  irre;  „Frau  von  La  Valliere,"  schreibt  die  S^vignö  den 
15.  December  1673  spottend  ihrer  Tochter,  „denkt  gar  nicht  mehr 
an  ihren  Rückzug,  ihre  Kammerfrau  hat  sich  ihr  zu  Füssen  geworfen, 
um  sie  davon  abzubringen;  kann  man  da  widerstehen?''  Und  doch, 
Frau  von  La  Vallifere  hatte  seit  jenem  Tage,  da  sie  am  Arme  Col- 
bert's  der  Oberin  die  Worte  zurief:  „das  ist  kein  Abschied  auf 
immer,  ich  komme  bald  wieder",  an  nichts  anderes  gedacht,  als  an 
diesen  Rückzug;  aber  freilich,  es  sind  Jahre  verflossen  bis  jener  Ge- 
danke zum  festen  Entschlüsse  wurde.  Wer  mit  Interesse  psycho- 
logischen Entwickelungen  zu  folgen  im  Stande  ist,  wird  in  der 
Geschichte  dieser  Seele  volle  Genüge  finden.  Die  Briefe  der  La 
Vallifere  an  den  Marschall  Bellefonds  und  Bossuet's  an  ebendenselben, 
ferner  die  „Reflexionen  über  die  Barmherzigkeit  Gottes",  gleichfalls 
von  der  La  Vallifere,  geben  uns  ein  ziemlich  vollständiges  Bild  dieser 
Entwickelung.*) 

Als  die  neue  Geliebte  des  Königs  mit  lauter  Stimme  ihre  Herr- 
Schaft  verkündete,  da  endlich  erstarb  in  dem  langgequälten  Herzen 
der  älteren  auch  die  letzte  Hoffnung,  und  wie  die  Pflanze  dahin- 
welkt wenn  sie  der  Saft  verlädst,  so  schien  auch  ihre  sterbliche  Hülle 


*}  Aus  den  Jahren  1661—1670  findet  sich  kein  einziger  Brief,  —  hat  Ludwig 
sie  verbrannt?  —  Die  „Reflexions  sür  la  Misericorde  de  Dien*',  durchaus  nicht 
für  die  Oeffentlichkeit  hestimmt,  wurden  der  Verfasserin  durch  eine  Freundin 
entwandt,  und  zuerst  1680  anonym,  dann  mit  ihrem  Namen  herausgegeben. 
Schon  1682  ist  eine  deutsche  üebersetzung  zu  Frankfurt  erschienen,  ein  seltenes 
und  interessantes  Buch  mit  zwei  bildlichen  Darstellungen,  deren  eine  die  La 
Valli^re  als  Weltdame  wiedergiebt  mit  der  Unterschrift  „Sünderin",  die  andere 
sie  als  Nonne  vorführt  mit  der  Bezeichnung  „Büsserin". 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  I.  Bnd.,  Heft  2.  12 


178  Marie  Therese  nad  Lonise  de  La  Valllire. 

der  Auflösung  entgegen  zu  gehen  ^  eine  lange  und  schwere  Krank- 
heit warf  sie  nieder.  Aber  sie  genas:  die  sinkende  Natur  wieder 
zu  beleben  wehte  sie  ein  neuer  Geist  an,  und  von  dem  Sterbelager 
der  Sünderin  erhob  sich  die  christliche  Büsserin;  und  wie  sie  vom 
Himmel,  wohin  sie  ihre  Blicke  gerichtet,  neue  Liebe  in  sich  strömen 
fühlt,  ist  Dankbarkeit  ihr  erstes  Gefühl;  mit  Schaudern  sieht  sie  was 
sie  war,  aber  sie  weiss  jetzt  was  sie  sein  soll:  sie  schreibt  die  Re- 
flexionen, ein  Zeichen  der  wiederkehrenden  Besinnung. 

Diese  „Reflexionen  über  die  Barmherzigkeit  Gattes",  bekannt- 
lich kein  ganz  neues  Thema,  sind,  von  der  ästhetischen  Seite 
betrachtet,  sicher  ein  ziemlich  mittelmässiges  Machwerk,  aber  man 
trifft  dort  häufig  jene  Anrauth,  so  ähnlich  ihrer  Schönheit,  welche 
Sainte-Beuve  vortrefflich  bezeichnet  „als  eine  rührende,  nicht  tri- 
umphirende  Schönheit,  eine  von  jenen  Schönheiten,  welche  nie  zu 
Grunde  gehen."  Diese  Reflexionen  sind  die  Geschichte  einer  schwachen, 
aber  edlen  Seele,  welche  in  höchster  Angst  für  eine  lang  bestrittene 
Bekehrung  kämpft,.  Ei^sae  einer  reuigen  Seele,  welche  sich  auf 
immer  von  den  Menschen  trennt  und  sich  vor  Gott  entlastet  von 
allen  Leidenschaften,  welche  sie  beherrschen,  von  allen  Schwächen, 
welch«  sie  erniedrigen,  wie  von  allen  Schmerzen,  welche  sie  zerreissen 
(Kap.  XIX}.  Kein  Name,  keine  Thatsache  wird  erwähnt,  und  doch 
erkennen  wir  hinter  diesen  bald  leidenschaftlichen,  bald  ruhig-heiteren 
Ergüssen  Personen  und  Ereignisse,  welche  auf  das  Leben  der  Ver- 
fasserin von  Einfluss  waren.  — 

Wir  haben  unsere  Heldin  Schritt  für  Schritt  von  den  Tagen 
unschuldiger  Kindheit  bis  an  den  Abgrund  tiefster  Entsittlichung  be- 
gleitet und  ich  hoffe  den  Leser  nicht  zu  ermüden,  wenn  ich  ihm  nun 
auch  zeige,  wie  ihre  Seele,  welche  in  den  Augen  der  Zeitgenossen 
so  schwach  erschien,  mit  bewunderungswürdiger  Kraft  sich  aus  der 
Tiefe  des  Lasters  wieder  erhob.  Als  zu  Anfang  unseres  Jahrhunderte 
Prau  von  Genlis  ihren  Roman  über  die  La  Vallifere  schrieb,  da 
verehrte  man  in  ihr  nur  die  leidenschaftlich,  ob  auch  unglücklich 
Liebende.  Napoleon  soll  Thränen  vei^ossen  haben  bei  dem  Lesen 
dieses  Buches,  die  jungen  Damen  studirten  in  demselben  ohne  Unter- 
lass  und  träumten  sieh  in  die  Rolle  einer  La  Valli^re  am  Hofe  des 
grossen  Kaisers.  Eine  andere  Zeit  ist  gekommen,  man  hat  sie  die 
der  Romantiker  genannt,  und  das  Leben  der  La  Vallifere  schien  nur 
denkwürdig  weil  sie  der  Erde  den  Himmel  abgerungen;  wie  einst, 
da  sie  noch  hoch  in  königlicher  Gunst  stand,  Poeten  und  Maler  sich 
drängten   sie  durch  ihre  Kunst  und  ihre  Kunst   durch   sie   zu   rer- 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliäre.  179 

ewigen,  so  haben  auch  in  unserer  Zeit  Dichter,  Philosophen  und 
Geschichtschreiber  sich  dieser  poesievollen  Gestalt  bemächtigt,  und 
jeder  hat  in  ihrem  Leben  etwas  für  sich  gefunden.  — 

Zu  Ende  des  Jahres  1673  verbreitete  sich  bei  Hofe  plötzlich 
das  Gerücht,  die  La  Vallifere  werde  in  das  Kloster  der  Carmeliterinnen 
der  Strasse  St.  Jacques  eintreten,  aber  man  wollte  daran  nicht  recht 
glauben.  Wird  der  König  zustimmen?  war  die  allgemeine  Frage, 
und  in  der  That,  hier  schon  schienen  die  Schwierigkeiten  unüber- 
steiglich,  denn  die  damals  allmächtige  Mätresse,  Madame  Montespan, 
erklärte  sich  entschieden  dagegen  —  sei  es,  weil  sie  in  diesem  Schritt 
eine  blosse  Falle  für  den  König  argwöhnte,  sei  es,  weil  die  neue 
Favoritin  in  dieser  Einsargung  der  alten  ein  allzu  strenges  Exempel 
und  einen  zu  gefährlichen  Präcedenzfall  sah;  selbst  die  Maintenon, 
vor  allem  aber  die  Mutter  der  La  Vallifere  waren  gegen  jenes  beab- 
sichtigte Opfer.  Es  scheint,  dass  zwischen  der  Mutter  und  Tochter 
so  gut  wie  gar  keine  Beziehungen  bestanden  haben,  denn  jene  hegte 
nur  den  einen  Wunsch,  den  Reich thum  und  hohen  Rang  der  Tochter 
auszunutzen,  und  es  war  begreiflich,  dass  sie  vor  allem  wünschte, 
Louise  anständig  zu  verheirathen ;  es  fehlte  auch  nicht  an  Heiraths- 
lustigen,  aber  wir  wissen  schon,  dass  die  La  Vallifere  gar  nicht  fähig 
war  an  das  eigene  Literesse  zu  denken.  Es  ist  wahr,  ihre  Leiden- 
schaft hatte  über  ihre  Schamhaftigkeit  triumphirt,  aber  die  Seele 
war  im  innersten  Grunde  rein  und  keusch  geblieben  und  sie  hätte 
es  für  eine  Schmach  gehalten,  sich  mit  einem  anderen  Manne  zu  ver- 
einigen als  mit  dem  Einzigen,  welchem  sie  ihre  Ehre  geopfert  hatte ; 
und  sonderbarer  Weise  war  dieser  Einzige  selbst  gegen  eine  Heirath, 
denn,  wenn  wir  St.  Simon  glauben  dürfen,  so  hat  er  gesagt,  das  nach 
ihm  sie  nur  Gott  besitzen  könne.  —  Nachdem  die  La  Vallifere  ein- 
mal den  Gedanken  an  das  Kloster  gefasst  hatte,  liess  sie  ihn  nicht 
mehr  fallen,  und  doch  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  sie  die 
grössten  Hindernisse  mehr  in  der  eigenen  Seele  als  ausserhalb  fand. 
^Ich  war  für  die  Ehe  geschaflfen,"  sagte  sie  einst,  „warum  hat  sich 
auf  meinem  Wege  ein  Prinz  gefunden?  Es  ist  wahr,  ich  liebte  ihn* 
mit  jener  Liebe,  welche  das  Herz  schlagen  macht  bei  jedem  Schritt 
des  Geliebten,  welche  beim  geringsten  Laut  seiner  Stimme  die  innerste 
Seele  erregt,  und  welche  das  Herz  in  Freude  schwimmen  lässt  wenn 
die  Blicke  sich  begegnen ;  aber  dennoch,  mein  Vater  hatte  mich  dazu 
bestimmt,  meine  Kräfte  für  das  Wohl  einer  Familie  zu  entfalten.'' 
Und  sie  hatte  einen  Sohn,  sie  hatte  eine  Tochter,  welche  das  Eben- 
bild und  die  Freude  der  Mutter  und  aller  Bekannten  war,  und  nicht 

12* 


[. 


180  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliäre. 

blos  diese  sollte  sie  noch  in  der  Blüthe  ihrer  Jahre  verlassen,  sie 
musste  auch  dem  Vater,  den  sie  noch  immer  liebte,  trotzen.  „Die 
Welt  zu  verlassen,  kostet  mir  nichts,"  schreibt  sie,  „aber  ihn,  den 
Herrn  muss  ich  beleidigen,  und  Sie  wissen,  was  das  für' mich  be- 
deutet". Sie  erinnerte  sich  der  ersten  Regungen  des  Herzens,  sie 
sah  ihre  Jugend  auf  dem  Schlosse  zu  Blois,  sie  träumte  von  ihrer 
eigenen  bescheidenen  Burg  La  Vallifere  mit  dem  kleinen  aber  an- 
muthigen  Forst,  und  alles,  alles  sollte  sie  nun  verlassen,  verlassen 
—  um  in  ein  Kloster  zu  treten.  Wer  es  weiss,  was  so  ein  Carmel- 
iterinnenkloster  bedeutet,  wird  die  Grösse  ihres  Entschlusses  be- 
greifen. Kein  Mann  dringt  in  dieses  Qrab,  ausser  etwa  der  Arzt, 
nur  eine  kleine  Kapelle  ist  der  Frömmigkeit  oder  richtiger,  der 
Neugier  des  Publicums  geöffnet  und  in  dieser  ahnt  man  nichts  von 
dem  mysteriösen  Leben  hinter  den  düsteren  Mauern ;  an  dem  Gitter 
sieht  man  bisweilen  dunkle  Schatten  vorüberziehen,  man  sieht  einen 
Sitz,  auf  welchem  der  Beichtiger  mit  den  Abgeschlossenen  verkehrt, 
man  hört  die  Stimme,  aber  sieht  niemand,  das  Abendmahl  wird 
durch  eine  kleine  Oeffnung  verabreicht,  welche  kaum  einen  geöffneten 
Mund  und  eine  vorgestreckte  Zunge  sehen  lässt,  welche  die  Hostie 
empfängt  Die  strengen  Klosterregeln  der  heiligen  Theresa  machen 
selbst  die  glühendste  Frömmigkeit  erblassen.  Die  Nächte  sind  kurz, 
die  Tage  lang,  kein  Wein,  kein  Fleisch,  keine  Schuhe,  keine  Strümpfe, 
in  allen  Jahreszeiten  barfuss  auf  dem  kalten  Fussboden  und  für  die 
kurze  Ruhe  kein  Bett,  denn  so  kann  man  die  betreffenden  Holz- 
instrumente nicht  nennen,  —  Und  hier  nicht  nur  büssen,  sondern 
selbst  ein  „neues  wahres"  Leben  beginnen  zu  wollen,  das  verstehen 
wir  kleinen  Weltkinder  freilich  schwer.  Für  sie  aber,  deren  Leben 
in  Luxus  und  Weichlichkeit  verflossen  war,  mitten  aus  dem  Pomp 
und  einer  angesehenen  Stellung  sich  in  ein  solches  Carmel  zu 
stürzen,  bedeutete  es  sich  lebendig  begraben  zu  lassen  wie  jene 
verbrecherischen  Vestalinnen  alter  Zeiten,  aber  ohne  die  Hoffnung 
dieser,  durch  den  Tod  ein  schnelles  Ende  der  Leiden  zu  finden;  und 
man  wird  merkwürdig  alt  in  dieser  irdischen  Hölle!  Die  La  Vallifere 
hat  36  Jahre  in  diesem  Leben  hingebracht!  „Ein  König",  sagt 
Voltaire,  „welcher  solch  ein  Leben  seinem  schuldigen  Weibe  aufer- 
legen würde,  wäre  ein  Tyrani^  und  doch  werden  alle  Frauen  so  be- 
straft dafür  dass  sie  geliebt  haben." 

In  ihrem  Vorhaben  wird  die  La  Vallifere  durch  zwei  Männer 
unterstützt,  welche  in  der  Geschichte  Frankreichs  eine  Rolle  gespielt 
haben :  der  eine  ist  der  berühmte  Bischof  von  Condom,  Bossuet,  der 


k 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  181 

andere  der  Marschall  Bellefonds ;  es  ist  schon  oben  erwähnt^  welchen 
werthvollen  Beitrag  in  dieser  Bekehrungsgeschichte  wir  in  dem  Brief- 
wechsel der  drei  Personen  unter  einander  besitzen.  Zu  Ende  dts 
Jahres  1673  ist  die  Reuige  noch  sehr  unsicher:  „ich  bin  so  schwach,^^ 
schreibt  sie  an  Bellefonds,  „dass  ich  die  Gnade  Gottes  gar  nicht  ver- 
diene, aber  ich  habe  ein  festes  Vertrauen  in  seine  Güte".  Vier 
Wochen  darauf:  „endlich  fange  ich  an  das  ireine  Vergnügen  zu 
empfinden,  welches  mir  der  Dienst  Gottes  bereitet,  und  die  kurzen 
Stunden,  welche  ich  zu  meiner  völligen  Heilung  noch  am  Hofe 
zu  verbringen  verpflichtet  bin,  erscheinen  mir  wie  eben  so  viele 
Jahrhunderte";  denn  sie  fürchtet  beständig  einen  Rückfall.  29.  No- 
vember: „und  wie  ist  die  Gnade  Gottes  über  mich  gekommen?  ich 
habe  sie  nicht  gesucht,    sie  ist  mir  zuvorgekommen  indem   sie  mir 

• 

Ekel  einflösste  vor  der  Welt  und  den  falschen  Vergnügungen,  von 
denen  meine  Seele  trunken  war ;  ich  bebe  beim  Anblick  des  schreck- 
lichen Zustandes,  in  welchem  ich  mich  befand  und  ich  zittere  bei 
dem  Gedanken,  wieder  in  denselben  zu  fallen;  ich  bin  die  ver- 
brecherischeste aller  Creaturen  —  werde  ich  auch  noch  die  undank- 
barste sein?"  Dem  Bischof  scheint  sie  aber  doch  noch  zu  längsam 
vorzuschreiten,  denn  er  glaubt,  eine  stärkere  Natur  werde  schneller 
zum  Ziel  kommen.  „Sie  ist",  schreibt  er  an  Bellefonds  den  8.  Fe- 
bruar 1674,  „immer  in  demselben  Zustand,  und  mir  scheint,  dass 
sie  ihre  „Affaire"  weiter  schiebt  nach  „ihrer  Manier",  d.  h.  langsam 
und  unmerklich,  aber  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  so  erhält  die  Kraft 
Gattes  ihre  innere  Entwickelung  in  beständigem  Fluss,  und  die  ent- 
schlossene Haltung  ihres  Herzens  wird  sie  auch  noch  weiter  bringen." 
In  der  That,  so  geschah  es.  Es  kam  der  Frühling  mit 
seinen  Blumen,  der  König  und  sein  Hof  stiegen  zu  Ross,  auf  den 
Schlössern  der  Reihe  nach  das  neuerwachende  Leben  in  der  Natur 
zu  begrüssen,  aber  die  einstige  Geliebte  freute  sich  nicht  mehr  der 
Blumen,  die  den  König  ergötzen,  denn  sie  reden  ihr  nur  von  Untreue 
—  und  sie  nimmt  Abschied  von  dieser  Welt.  „Endlich,"  schreibt 
sie  am  19.  März,  „endlich  verlasse  ich  die  Welt,  und  zwar  ohne  Be- 
dauern, wenn  auch  nicht  ohne  Mühe;  meine  Schwäche  hat  mich 
hier  so  lange  zurückgehalten,  wo  ich  keine  Freuden  mehr,  wohl  aber 
tausend  Schmerzen  empfand.  Sie  kennen  meine  Empfindlichkeit^  sie 
ist  nicht  verringert  und  ich  leide  alle  Tage  darunter,  daher  ich  wohl, 
sehe,  dass  die  Zukunft  mir  nicht  mehr  Genüge  geben  wird  als  die 
Vergangenheit  und  Gegenwart.  Sie  urtheilen  richtig:  nach  der 
Meinung  der  Welt  müsste  ich  glücklich  sein,   ich  fühle  mich  lebhaft 


182  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

getrieben,  der  Onade,  die  Gott  mir  angethan,  gerecht  zu  werden  und 
mich  ganz  auf  ihn  zu  verlassen.  Alle  Welt  verreist  gegen  Ende 
April  und  auch  ich  werde  eine  Reise  unternehmen,  aber  nur  um  den 
sichersten  Weg  zum  Himmel  zu  gehen.  Meine  Seele  schwimmt  in 
Freude  und  Qual  und  strebt  zugleich  so  bestimmt  zum  Ziel  —  ver- 
einigen Sie  diesen  Widerspruch,  wenn  Sie  können,  aber  es  ist  wie 
ich  sage."  Und  Bossuet  ist  plötzlich  überrascht  durch  diese  Be- 
stimmtheit in  ihrem  Wesen.  „Ich  spreche,"  ruft  der  grosse  Redner 
aus,  „und  sie  handelt,  ich  halte  Reden  und  sie  vollbringt  Werke, 
und  wenn  ich  die  Dinge  genau  betrachte,  so  fühle  ich  mich  fast 
versucht  zu  schweigen  und  mich  zu  verbergen ....  pauvre  canal  oü 
les  eaux  du  ciel  passent,  et  qui  k  peine  en  retient  quelques  gouttes !" 
—  Es  war  am  19.  April  als  die  La  Vallifere  zu  den  Füssen  der 
Königin  diese  um  Verzeihung  bat.  Marie  Therese  zog  sie  mit 
Thränen  in  den  Augen  an  ihr  Herz:  sollten  wir  der  Geliebten  nicht 
verzeihen,  der  die  Gattin  selbst  verzieh?  Der  Abschied  vom  Könige 
war  kurz,  denn  als  sie  merkte,  dass  derselbe  in  Thränen  auszubrechen 
drohte,  erhob  sie  sich,  um  nichts  zu  hören,  was  sie  in  ihrem  EntschlUss 
hätte  wankend  machen  können ;  den  Kelch  bis  zur  Hefe  zu  leeren, 
speiste  sie  noch  am  letzten  Abend  bei  der  Montespan.  Nachdem  sie 
am  folgenden  Morgen  der  Messe  beigewohnt,  welche  der  König  vor 
seiner  Abreise  zum  Heere  in  die  Franche  Comt^  hörte,  trat  sie  in 
das  Kloster,  und  zu  den  Füssen  der  Oberin  sprach  sie  die  vielbe- 
rufenen Worte :  „meine  Mutter,  ich  lege  meine  Freiheit,  von  der  ich 
mein  ganzes  Leben  hindurch  einen  so  schlechten  Gebrauch  gemacht 
habe,  in  Ihre  Hände,  um  sie  nie  wieder  zurückzuverlangen",  und  am 
Fusse  des  Altars  legte  sie  den  prächtigen  Schmuck  ihres  Haupt^ 
nieder.  Als  man  ihr  dann  die  schönen  blonden  Haare,  welche  die 
Freude  des  Königs  und  die  Bewunderung  des  ganzen  Hofes  gewesen 
waren,  abschnitt,  sah  man  auf  allen  Gesichtern  der  Anwesenden  den 
Ausdruck  einer  schmerzlichen  Empfindung.  „Ich  musste  so  bitterlich 
weinen,"  schreibt  die  keineswegs  sentimentale  Elisabeth  Charlotte, 
„dass  ich  mich  nicht  mehr  sehen  lassen  konnte",  und  als  sie  dann 
aus  der  Hand  des  Erzbischofs  von  Paris  das  geweihte  Gewand  em- 
pfing, flössen  die  Thränen  reichlich;  an  dem  Gitter  küsste  sie  ihre 
beiden  Kinder  zum  letzten  mal  —  die  Herzogin  von  La  Vallifere  war 
für  diese  Welt  todt  und  man  wusste  nur  noch  von  der  Schwester 
Louise  de  La  Mis^ricorde  zu  erzählen. 

Und  kaum  umschliessen  sie  die  Klostermauern,  so  ist  auch  die 
Ruhe  wieder  in   ihre  Seele  eingekehrt.     „Erst  zwei  Tage  bin  ich 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliäre.  183 

hier,"  schreibt  sie  am  22.  April,  „und  doch  geniesse  ich  eine  so 
reine  und  vollständige  Ruhe!  so  dass  ich  die  Güte  Gottes  in  einem 
Zustande  bewundere,  der  fast  an  Enthusiasmus  grenzt;  durch  seine 
Güte  sind  meine  Fesseln  gebrochen  und  ich  will  arbeiten,  mein 
ganzes  übriges  Leben  ihm  angenehm  zu  machen  und  ihm  meine 
Dankbarkeit  zu  beweisen."  Wie  ernst  gemeint  diese  Absicht  war, 
das  beweisen  am  besten  die  nachfolgenden  36  Jahre,  in  welchen  sie 
auch  nicht  einen  Augenblick  ihren  Entschluss  bereut  hat.  Ein  Jahr 
nach  jener  „Gewandnahme"  erfolgte  die  „Profession",  d.  h.  die  voll- 
ständige und  unwiderrufliche  Aufnahme  der  Novize^  —  Es  war  am 
dritten  Pfingstfeiertage  des  Jahres  1675,  als  das  Volk  sich  wieder 
neugierig  um  die  kleine  Klosterkirche  der  Strasse  St.  Jacques 
drängte,  denn  Niemand  wollte  fehlen  bei  dem  letzten  Act  des  herz- 
zerreissenden  Drama's.  Einen  Hauptspieler  jfreilich  vermisste  man : 
der  König  jagte  an  jenem  Tage  im  Walde  zu  Fontainebleau,  für  ihn 
war  die  Zeit  noch  nicht  gekommen,  in  welcher  er  sich  wegen  der 
Bekehrung  der  Seelen  zu  Gott  beunruhigte,  und  von  1675  bis  zur 
Aufhebung  des  Edictes  von  Nantes  zählt  die  Geschichte  noch  zehn 
volle  Jahre!  Vielleicht  war  er  auch  damals  schon  durch  den  Ge- 
danken vollauf  beschäftigt,  dass  die  Montespan  eigentlich  weniger 
schön  sei  als  Fräulein  von  Soubise.  Aber  die  Ejönigin,  die  vor- 
nehmsten Damen  des  Hofes  waren  anwesend,  kaum  getrennt 
durch  ein  kleines  Gitter  von  seiner  Eminenz  dem  Erzbischof;  nur 
nebenbei  sei  es  erwähnt,  dass  Frau  von  Longueville,  „die  grösste 
Sünderin''  dieses  XVH.  Jahrhunderts,  hochbetagt  und  schon  seit 
Jahren  Nonne  in  demselben  Carmeliterinnenkloster,  gleichfalls  dieser 
Ceremonie  beiwohnte.  Bossuet,  der  mächtige  Kanzelredner,  lieh  der 
Feier  seine  besten  Gaben.*)  Madame  Sövign^  schreibt  zwar  ihrer 
Tochter,  dass  der  Bisehof  den  allgemeinen  Erwartungen  der  fiofleute 
nicht  entsprochen  habe:  um  so  schlimmer  für  diese.  Bossuet  war 
bedeutender  Redner,  aber  vor  allem  war  er  religiöser  Mensch,  ein 
wahrer  Bischof,  und  in  den  gegenwärtigen  Umständen  fühlte  er  nur 
zu    wohl,    wie   sehr  er  es  vermeiden   musste,    durch    Anspielungen 


*)  Weil  er  den  König  in  die  Franche-Comt^  hakte  begleiten  müssen,  war 
er  verhindert  gewesen,  schon  bei  der  „vötufe"  zu  reden,  wie  die  La  Valliöre  wohl 
gewünscht  hatte.  An  seiner  Stelle  sprach  der  Bischof  von  Aire,  Fromenti^res, 
und  diese  Rede,  vor  einigen  Monaten  zum  ersten  mal  veröffentlicht,  ist  mit  ihrem 
vorschriftmässigen  Exordium,  ihren  Präparationen,  Divisionen,  Repetitionen  u.  s. 
w.  allen  Liebhabern  ungeheuerlicher  Kanzelberedsamkeit  als  Muster  aufs  Wärmste 
zu  empfehlen. 


184  Marie  Thereee  und  Louise  de  La  Yalli&re. 

ii^end  wie  Stoff  zu  bieten  jenen  heimlich  schadenfrohen  Herzen, 
welche  an  gewissen  Erinnerungen  dae  grOeete  Vergnügen  gefunden 
hätten ;  ihm,  der  die  Leiden  der  Weltdame  und  die  Aufopferung  der 
Novize  gesehen  hatte,  lag  nur  daran,  dieser  selbst  „ein  gutes  Wort" 
mit  auf  den  Weg  zu  geben  und  nicht,  in  den  Augen  der  Profanen  zu 
glänzen  durch  eines  jener  Wunder  der  Beredsamkeit,  die  ihm  so 
leicht  fielen.  An  die  Worte  der  Apokalypse  21,  B;  „und  es  spricht 
der  da  sitzet  auf  dem  Thron :  siehe,  ich  mache  alle  Dinge  neu"  an- 
knüpfend, führt  er  in  seiner  Rede  die  Zuhörer  sogleich  in  die  reinsten 
und  höchsten  B^glonen;  er  schildert  die  Greschichte  einer  Seele, 
welche  durch  die  Eitelkeiten  der  Welt  und  allzu  grosses  Vertrauen 
geblendet  und  irre  geleitet,  lange  Zeit  im  Pfuhl  irdischer  Leidenschaft 
zu  ersticken  droht,  und  doch  inmitten  der  berauschendsten  Freuden 
sich  tief  unglücklich  fühlt,  welche  endlich,  ob  auch  zu  spät,  in  diesen 
Freuden  selbst  die  Quelle  ihrer  Unzufriedenheit  erkennt,  sich  all- 
mäJig  befreit  und  endlich  in  dem  Dienste  Gottes  das  langersehnte 
Glück  Sndet.  „Wahrlich,"  heisst  es  gleich  im  Anfang,  „Christen, 
giebt  es  Wunderbareres  als  diese  Umwandlung  —  was  haben  wir  ge- 
sehen, und  was  sehen  wir?  Welch  ein  Znstand,  und  wiederum,  welch 
ein  Zustand!  Ich  brauche  nicht  zu  sprechen,  die  Dinge  sprechen  für 
eich  selbst."  Eine  Aospielung  auf  ihr  schönes  Haar  mögen  die  Damen 
des  Hofes  besondere  rührend  gefunden  haben.  „Ja,"  rief  der  Bischof, 
„sie  befindet  sich  in  einem  Zustande,  die  Worte  zu  verstehen,  welche 
der  heilige  Geist  durch  den  Mund  des  Propheten  Jesaias  an  die  Welt- 
damen richtet:  ich  habe  die  Töchter  Ziona  gesehen,  wie  sie  mit  erhobe- 
nem Haupte,  affectirten  Schritten  und  berechneter  Haltung  einher- 
stolzieren, mit  den  Augen  nach  links  und  rechts  Zeicheu  gebend;  des- 
halb, sagt  der  Herr,  werde  ich  ihre  Haare  fallen  machen !  —  Was  für 
eine  Strafe!"  Und  als  er  endlich  am  Schlüsse  in  die  Worte  aasbrach: 
„Und  Sie,  meine  Schwester,  die  Sie  angefangen  haben,  jene  reinen 
Freuden  zu  geniessen,  steigen  Sie  nieder  und  treten  Sie  zum  Altar, 
reuige  Sünderin,  treten  Sie  heran,  Ihr  Opfer  zu  vollenden;  das  Feuer 
ist  entzündet,  der  Weihrauch  ist  bereit,  das  Schwert  ist  gezückt,  das 
Schwei't,  das  ist  das  Wort,  welches  die  Seele  von  sich  selbst  scheidet 
um  sie  Gott  allein  zuzuwenden;  der  ehrwürdigeErzbischof  erwartet 
Sie  mit  jenem  mysteriösen  Schleier,  den  Sie  verlangen,  hüllen  Sie 
Sich  ein  in  diesen  Schleier  und  leben  Sie  in  tiefster  Stille,  sich  selbst 
und  aller  Welt  verborgen,  nur  von  Gott  gekannt;  entfliehen  Sie  eich 
selbst  und  schwingen  Sie  sich  auf,  dass  Sie  endlich  Ruhe  finden  in 
dem  Vater,  in  dem  Sohn  und  in  dem  heiligen  Geist",  da  empfanden 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliäre.  185 

die  Anwesenden  eine  tiefe  Bewunderung.  Und  als  dann  Schwester 
Louise,  bleich  und  blass,  aber  vielleicht  stärker  als  irgend  eine 
der  gegenwärtigen  Personen,  sich  vor  dem  Erzbischof  niederwarf, 
die  Erde  küsste  und  aus  den  Händen  der  Königin  selbst  das  geweihte 
Gewand  empfing,  welches  sie  wie  ein  Leichentuch  des  Vergessens 
empfangen  sollte,  da  hörte  man  nur  lautes  Schluchzen.  —  Nur  die 
Schwester  Louise  weinte  nicht.  Sie  hatte  nur  den  einen  Gedanken: 
endlich  in  Sicherheit  zu  sein,  sie  hatte  nur  den  einen  Wunsch :  nie 
wieder  diese  stillen  Elostermauem  verlassen  zu  dürfen.  Man  kann 
es  beklagen,  dass  sie  diesen  Weg  ins  Kloster  eingeschlagen  hat,  aber 
man  muss  selbst  diese  Flucht  bewundem.  „In  dieser  Stunde  erst,^^ 
schreibt  sie  am  24.  Juni  1675,  „kann  ich  sagen,  dass  ich  in  Wahr- 
heit und  ganz  Gott  gehöre  —  und  für  immer;  ich  fühle  es,  ich  bin 
durch  unauflösliche  Bande  an  ihn  geknüpft  und  ich  habe  nun  nichts 
mehr  zu  wünschen,   als   den  Verlust   meines  Gedächtnisses.^^ 

Aber  man  machte  es  ihr  schwer,  dieses  Gedächtnissen  verlieren, 
denn  die  Schwester  Louise  wurde  bald  das  Ziel  endloser  Pilgerfahrten. 
Wenn  schon  die  schroflBe  Wandlung  vom  üppigen  Hof-  zum  strengsten 
Klosterleben  pikant  genug  war,  fremde  Gesandte  und  Cardinäle  zu 
interessiren,  so  kam  doch  noch  manches  hinzu,  ihr  Lehen  selbst  im 
Volke  bekannt^  zu  machen.  Man  erzählte  sich  draussen,  dass  die 
strengsten  Klosterregeln  ihr  nicht  streng  genug  seien,  dass  sie  nur 
bei  Wasser  und  Brod  leben  wolle,  dass  das,  was  den  Weltkindem 
sonst  am.  nächsten  liegt,  die  Gesundheit,  sie  völlig  gleichgültig  lasse; 
hundert  Geschichten  gingen  von  Mund  zu  Mund,  ihre  Briefe  cursirten 
bei  Hofe.  An  einem  Charfreitage  erinnert  sie  sich  zufällig,  dass 
sie  einmal  auf  der  Jagd  ausgesuchte  Erfrischungen  und  Liqueure 
vortreflflich  gefunden  habe  —  zur  Strafe  für  jene  alte  Sünde  trinkt 
sie  drei  Wochen  lang  keinen  Tropfen  Wasser;  als  die  Herzogin  von 
Orleans  ihr  zu  einer  Zeit,  da  das  Mutterherz  noch  blutete,  unbemerkt 
den  Sohn  zuführen  wollte,  weigerte  sie  sich  bestimmt,  denselben  zu 
sehen  —  so  streng  war  sie  gegen  sich  selbst!  Was  musste  sie 
empfinden,  als  einige  Jahre  später  die  Damen  des  Hofes  in  hellen 
Haufen  kamen,  zur  Verheirathung  der  Tochter  mit  dem  Grafen  Conti 
ihr  Glück  zu  wünschen !  Als  der  Sohn,  ein  frühzeitiges  Opfer  aus- 
schweifenden Lebens,  in  der  Blüthe  der  Jahre  «tarb,  sagte  sie,  ob 
auch  weinend,  dem  Bischof  Bossuet,  der  ihr  die  Todesnachricht  über- 
brachte: „Man  muss  alles  opfern,  aber  es  ist  zu  viel,  den  Tod 
eines  Sohnes  zu  beweinen ,  dessen  Geburt  man  noch  nicht  genug 
beweint  haf 


186  Marie  Tberese  iind  Louise  de  La  Yalli^re. 

Unter  den  zahlreichen  Beeuchen  am  häufigsten  erschien  nnd  ver- 
brachte oft  Stunden  mit  der  Schwester  Louise  eine  Frau,    welche 
allen   Grund    hatte   sie    zu   verabscheuen    —   Marie    Thereee.      Die 
Königin  hatte  seit  ihrer  Ankunft  in  Paris   mit  den   Carmeiiterinnen 
der    Strasse    Bonloy,    einem    kleinen    Kloster    unmittelbar    tot   den 
Pforten  des  Louvre,  die  intimsten  Beziehungen  unterhalten  und  jenes 
grössere  Kloster  der  Strasse   St.  Jacques  war  ihre   Schöpfung,     Sie 
hatte   keine  Rathschläge    gegeben   als  in  der  La   Vallifere  der  Ent- 
schlusB  reifte,  hier  einzutreten,  aber  sie  hat  freudigen  Herzens  diesen 
EntschluBB  gebilligt,  und  als  dann  der  Eintritt  wirklich  erfolgt  war, 
nicht  blosse   „Comödie"  blieb,  wie  man  bei  Hofe    anfangs  glaubte, 
so  entsprossen  diesem  Opfer  die  lebendigsten  Freundschaftßbeziehungen 
zwischen  der  Gattin  und  Geliebten.     Diese   beiden  Frauen  schienen 
bestimmt,  inmitten  einer  Familie  ein  Leben  in  Ehren  zu  verbringen 
—  ein  schöner,  aber  nichtswürdiger  König  hat  beide  aus  ihrer  Be- 
stimmung gerissen  und  sie,  die   in   den   Tagen  des, Glückes  Neben- 
buhlerinnen, Nebenbuhlerinnen  ohne  es  zu  wollen  waren,  fanden  im 
Unglück  daa,  was  sie  tröstete  und  zu  fester  Freundschaft  vereinigte: 
eine  glühende  Liebe  zu  Gott.     Beide  Frauen  legen  Zeugniss  ab  für 
eine   tiefe   moralische   Kraft,  die   eine  in  dei-  Reue,   die   andere  im 
Leiden.     Aber  auch  diese  Leiden   gingen  endlich  zu   Ende.     Es  ist 
schon  ei'wfthnt,   dass  für  die  Königin  keine  Veränderung  eintrat  als 
lern  Herzen  Ludwig's  schied;  vergebens  suchten 
)ue   das   Gewissen   desselben   rege   zu.  machen, 
Königin  den'  Gemahl  wieder  auf  den  rechten 
man  hielt  sie  mit  Versprechungen  hin,    man 
einmal.     Als  dann  endlich  die  Maintenon  (vom 
leigentlich    Madame  Maintenant  genannt)   den 
ten  ein  Ziel  setzte,  brach  eine  andere  Zeit  an: 
!  des  Herzens  folgte  der  sinnliche  Mystieismus. 
von  Maintenon  daran  gearbeitet  hat,  den  König 
zur  Moral  zu  führen  nnd  es  hatte  wirkUch  den 
rig  XIV,  endlich  guter  Ehemann  werden  wollte, 
;  nach  seiner  Manier  —  aber  selbst  dieser  Um- 
,  das  Leben  der  Gattin  vom  Niedergange  zunick- 
en Versailles,  wo  sie  so  viele  Leidensjahre  ver- 
ging des    Jahres  1683  ihr  den    Anfang    einer 
Zeit   zu  bringen  und  die  Hoffnung  machte  sie 
oben  Tage  wären  kurz.    Am  26.  Juli  erkrankte 
r  Tage  später,  am  30,  Juli  um  drei  Uhr  Nach- 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere.  187 

mittags  gab  sie  den  Geist  auf  in  demselben  Schlafzimmer,  in  welchem 
Marie  Leezinska  und  Marie  Antoinette  schlimmere  Tage  sehen  sollten. 
„Voilä  le  premier  chagrin,  qu'elle  m'ait  causö",  sagte  Ludwig  XIV. 
beim  Empfang  der  Todesnachricht  —  ein  frostiges,  aber  doch  ein 
Lob;  und  der  alternde  Ludwig  weinte  beim  Verlust  der  Gattin  wie 
der  junge  geweint  hatte  beim  Verlust  der  ersten  Geliebten,  immer 
aber  bald  vergessend,  denn  schon  fünf  Tage  später  bezog  Frau  von 
Maintenon  die  königlichen  Gemächer.  —  Ob  Louise  de  la  Mis^ricorde 
beim  Tode  derjenigen,  in  deren  Seele  sie  zuerst  den  Keim  der  Ver- 
zweiflung gepflanzt,  heftiger  ihre  Gewissensbisse  sich  regen  fühlte, 
weiss  ich  nicht,  glaube  es  aber  kaum,  da  schon  seit  Jahren  die  Ereig- 
nisse draussen  in  ihrer  Seele  keinen  Nachhall  mehr  fanden;  nichts 
kann  sie  mehr  aus  dem  Gleichgewicht  bringen.  „Gestern",  schreibt 
die  Sövignä  ihrer  Tochter,  „war  ich  bei  den  Carmeliterinnen  .... 
ich  war  entzückt  über  den  Geist  der  Mutter  Agnes  (Judith  Belle- 
fonds), ich  sah  M.  Stuart,  schön  und  zufrieden,  ich  sah  Mademoiselle 
Epernon  —  aber  welch  ein  Engel  erschien  mir  zuletzt!  (die  La 
Vallifere).  Sie  besitzt  noch  alle  Reize,  welche  wir  sonst  ap  ihr  be- 
wunderten, ich  fand  sie  weder  gedunsen  noch  gelb,  ein  wenig 
magerer,  aber  mehr  zufrieden,  sie  hat  dieselben  Augen,  denselben 
Blick,  sie  ist  nicht  bescheidener,  als  da  sie  der  Welt  eine  Gräfin 
Conti  gab  ~  das  ist  aber  genug  für  eine  demüthige  Carmeliterin ; 
die  strengen  Klosterregeln,  die  schlechte  Nahrung,  der  kurze  Schlaf 
haben  sie  weder  hohlwangig  gemacht  noch  gebeugt,  das  ihr  so  fremde 
Gewand  nimmt  nichts  von  ihrer  früheren  Anmuth ....  in  der  That, 
dieses  Kleid,  dieser  Rückzug  gereichen  ihr  sehr  zur  Ehre."  Als  die 
Montespan,  eine  der  zudringlichsten  Freundinnen  der  Schwester 
Louise,  diese  einst  fragte,  ob  sie  sich  denn  wirklich  so  wohl  und 
leicht  fühle  wie  man  erzähle,  antwortete  sie:  „meine  Pflichten  werden 
mir  nicht  leicht,  aber  ich  bin  zufrieden" ;  und  diese  Zufriedenheit 
erlangte  sie  indem  sie,  wie  sie  sich  selbst  ausdrückte,  „die  Augen  schloas 
und  sich  zum  Gehorsam  führen  liess".  Nur  einmal  noch  hören  wir 
sie  klagen,  dass  sie  nicht  vergessen  könne :  „Dieses  unglückliche  Ge- 
dächtniss,  welches  ich  so  fern  als  möglich  haben  möchte,  zerstreut 
mich  und  überliefert  mich  beständigen  Kämpfen  ....  denn  wahrlich, 
alle  Leiden  des  Körpers  sind  nichts  gegen  die  Erniedrigung  und 
Pein,  welche  die  Sünde  uns  bereitet;  ich  werde  mein  ganzes  Leben 
hindurch  leiden  müssen,  und  ich  bin  damit  einverstanden  wenn  ich 
nur  nicht  wieder  meinen  Gott  beleidige;  die  Zeit  flieht  und  die 
Ewigkeit  naht  —  die  Ewigkeit,  das  Wort  macht  mich  zagen".   Aber 


188  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliire. 

es  vergingen  noch  lange  Jahre  und  dies  muthige  Herz  erreichte  doch 
endlich  was  es  so  sehnsüchtig  wünschte,  sie  hatte  der  Welt  nichts 
mehr  zu  sagen*),  und  als  dann  die  Ewigkeit  sich  wirklich  nahte, 
da  zitterte  sie  auch  nicht  mehr.  Und  Schwester  Louise  hatte  sich 
,  nicht  geschont:  unter  den  ersten  erhob  sie  sich  des  Morgens,  die 
niedrigsten  und  anstrengendsten  Verrichtungen  waren  ihr  die  liebsten, 
oft  haben  die  Schwestern  sie  vor  Kälte  halb  erstarrt  in  der  Kirche 
oder  in  den  Wirthschaftsräumen  gefunden.  Endlich  musste  freilich 
auch  für  diese  Willenskraft  der  Körper  zu  schwach  werden;  als  sie 
sich  eines  Morgens,  es  war  der  5.  Juni  1710,  wieder  wie  gewöhnlich 
um  drei  Uhr  erhob,  ihren  Andachtsübungen  obzuliegen,  wurde  sie 
so  schwach,  dass  man  sie  in's  Krankenzimmer  bringen  musste. 
Doch  die  Kunst  der  Aerzte  vermochte  nichts  mehr;  unter  heftigen 
Schmerzen  sah  die  Kranke  ihr  Ende  kommen,  aber  sie  klagte  nicht. 
„Unter  den  stärksten  Schmerzen  die  Seele  aufgeben,**  sagte  sie,  „das 
schickt  sich  für  eine  Sünderin'* .  Die  Nacht  brachte  Verschlimmerung 
und  ab  sie  am  anderen  Morgen  das  heilige  Abendmahl  empfing, 
konnte  sie  kaum  noch  sprechen.  „Gott  hat  alles  für  mich  gethan, 
er  hat  einst  die  Beichte  meiner  Sünden  empfangen,  ich  hoffe,  er 
wird  auch  mein  Leben  empfangen,  dieses  letzte  Opfer,  welches  ich 
seiner  Gerechtigkeit  zu  bringen  bereit  bin**;  es  waren  ihre  letzten 
Worte.  Nachdem  sie  noch  bei  vollem  ßewusstsein  die  letzte  Oelung 
erhalten,  gab  sie  um  Mittag  ihren  Geist  auf.  Der  König  hatte  für 
sie  keine  Thränen  mehr  —  es  wäre  auch  zu  viel,  beim  Tode  jeder 
Geliebten  zu  weinen.  Er  hat  die  La  Vallifere,  seit  die  Klosterpforten 
sich  hinter  ihr  geschlossen,  nie  wieder  gesehen  und  von  einem  schrift- 
lichen Verkehr  wissen  wir  ebenso  wenig;  nur  einmal,  beim  Tode  des 
Sohnes,  liess  er  ihr  sagen,  dass  er  selbst  kommen  werde,  seine 
Trauer  auszusprechen,  wenn  er  „gut  genug"  sei,  eine  so  heilige 
Carmeliterin,  wie  sie  sei,  zu  sehen.  Und  wozu  sie  der  König  in 
einem  Anfall  von  sentimentaler  Stimmung  machte,  das  hat  die  Be- 
völkerung von  Paris  in  viel  höherem  Grade  in  ihr  gesehen;  schon 
den  Zeitgenossen  schien  sie  mehr  als  ein  bloss  frommes  Weib  zu 
sein:  eine  christliche  Heroine;  der  venezianische  Gesandte  wünschte 
sie  nur  noch  so  lange  zu  überleben,  bis  er  bei  dem  Papst  in  Rom 
ihre  Heiligsprechung  erwirkt  habe.  Diese  Heiligsprechung  ist  nun 
zwar  meines  Wissens   nie   erfolgt,  aber   die  Menge  sah  trotzdem  in 


•)  Nur  ihre  Tochter  überlebte  sie,  die  Mutter,  die  Freunde  starben  alle  Tor 
ihr;  seit  1697  besitzen  wir  keine  Briefe  mehr  von  ihr. 


X 
i 


Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliire.  189 

ihr  eine  Heilige  und  man  hatte  grosse  Mühe  die  Wundergläubigen 
fern  zu  halten.  Sie  ist  bei  den  Garmeliterinnen  beerdigt,  und  als 
man  im  Jahre  1793  die -Asche  der  Könige  zu  St.  Denis  in  die  Luft 
streute,  begab  sich  auch  ein  Haufe  Sansculotten  zu  diesem  Grabe; 
man  hoffte  Edelsteine  zu  finden  —  man  fand  ein  paar  Lappen  und 
Knochen  imd  liess  sie  ruhen;  ihr  letzter  Edelstein  war  das  Crucifix 
von  Ebenholz  gewesen,  welches  sie  in  der  Hand  hielt  als  sie  ihre 
Seele  Gott  empfahl.  — 

Aus  der  Tiefe  des  Carmeliterinnenklosters  und  dem  Schlafzimmer 
der  Königin  von  Frankreich  ziehen  zwei  verschiedene  Ströme  durch 
die  Geschichte:  der  eine  derselben  hat  den  Namen  der  Gattin  in 
das  Meer  der  Vergessenheit  geführt,  auf  dem  anderen  schwimmt 
leuchtend  und  lockend  wie  in  den  Tagen  des  Glanzes  und  der  Leiden 
noch  heute  der  Name  der  Geliebten.  Aber  es  ist  die  Pflicht  der 
Geschichtschreibung,  den  Namen  jener  in  gewissem  Sinne  wieder 
herzustellen,  sie  muss  es  mit  lauter  Stimme  erklären,  dass  man  nicht 
ungestraft  das  geheiligte  Gesetz  der  Ehe  zerstören  darf.  Nicht  weil 
er  ein  reizendes  Mädchen  liebte,  sondern  weil  er  die  Gattentreue 
verletzte,  hat  die  Geschichte  über  Ludwig  XIV.  den  Stab  gebrochen, 
Es  giebt  kein  Recht  d6r  Leidenschaft.  Die  Rolle  Marie  There- 
sen's  ist  es  gewesen,  wenn  nicht  den  Thron  der  Bourbonen  zu 
retten,  so  doch  das  Banner  der  Ehe  hoch  zu  halten.  Für  sie 
war  es  ein  Unglück,  dass  eine  Maintenon  ihr  folgte  und  durch 
ausserordentliche  Eigenschaften  des  Geistes  die  Vorgängerin  in  den 
Schatten  stellte;  indem  sie  den  König  zur  Moral  zurückführte,  er- 
schien sie  den  Zeitgenossen  um  so  grösser,  je  weniger  die  Königin 
das  gekonnt  hatte;  indem  man  die  Versöhnerin  ins  Auge  fasste, 
vergass  man  die  Versöhnte,  und  indem  die  nachfolgenden  Historiker 
die  glänzenden  Fähigkeiten  der  Maintenon  bewunderten,  vergassen  sie 
die  guten  Eigenschaften  Marie  Theresen's,  indem  sie  die  zügellosen 
Leidenschaften  Ludwig's  XIV.  entschuldigten,  brachten  sie  die  recht- 
mässige Gattin  in  Vergessenheit.  —  Anders  haben  Mit-  und  Nach- 
welt die  Geliebte  behandelt;  Liebe  und  Reue  nahmen  in  den  Er- 
innerungen des  „grossen  Jahrhunderts"  eine  bedeutsame  Stelle  ein, 
und  so  setzte  sich  die  schöne  Gestalt  der  La  Valliäre  trotz  derselben 
den  Zeitgenossen  vor  die  Augen.  Aber  die  Nachwelt  ist  an  Sym- 
pathien noch  reicher,  oder  vielmehr  sie  bleibt  die  Zeitgenossin  aller 
empfindlichen  und  edlen  Herzen;  man  vergass  in  ihrem  Leben  die 
Periode  von  1661  —  1670  und  erinnerte  sich  nur  der  letzten  Hälfte 
derselben,  und  als  der  Abt  Lequeul  1767  zum  ersten  Mal  ihre  Briefe 


L 


190  Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere. 

/■ 

Teröffentlichte,  bewies  die  ausserordentliche  und  allgemeine  Sensation, 
welche  diese  hervorriefen,  dass  man  die  Verfasserin  noch  in  gutem 
Andenken  hielt.  Selbst  ihre  Flecken  sind  die  eines  Sternes,  der  uns 
leuchtet;  es  knüpft  sich  eine  Art  Frömmigkeit  in  die  Erinnerungen 
an  dieses  reizende  Wesen  und  sie  wird  immer  mehr  Ruhm  haben 
als  sie  gesucht  hat.  Eine  natürlich  fromme  und'  demüthige  Seele, 
welche  bei  der  Geburt  alle  Tugenden  eines  Weibes  empfing,  ihre 
Anmuth,  aber  auch  ihre  Schwäche,  ist  sie  eine  von  denen,  welchen 
Erde  und  Himmel  verzeihen  weil  sie  viel  geliebt  haben ;  und  indem 
man  an  «ie  denkt,  bewundert  man  die  Gerechtigkeit  jenes  göttlichen 
Versprechens,  welches  den  reuigen  Sündern  den  schönsten  Platz  neben 
Gott  bereitet  hat.  —  Man  hat  sie  mit  Heloise  verglichen,  doch  mit 
Unrecht,  denn  sie  hat  nichts  von  der  Heftigkeit  und  dem  Feuer 
jener,  wenn  auch  der  letzte  Theil  ihres  Lebens  und  ihr  christlicher 
Heroismus  vielfach  an  jenes  muthige  Weib  erinnern;  ihre  Zartheit 
stellt  sie  viel  mehr  neben  Berenice.  Und  welchen  Reiz  endlich  ge- 
winnt diese  uninteressirte,  reine  Liebe  durch  den  Contrast  mit  den 
Sitten  des  beutigen  Tages,  vor  allem  in  Frankreich!  Die  Freuden 
dort  haben  selten  jene  Entschuldigung  der  Reinheit  und  Uninteressirt- 
heit  für  sich;  selten  nur  keimt  die  Leidenschaft,,  seltener  noch  die 
Reue  in  den  durch  religiösen  und  moralischen  Skepticismus  ausge- 
trockneten  Herzen.  Das  Leben  der  La  Vallifere  ist  vielfach  legenden- 
haft geworden  und  noch  heutigen  Tages  knüpft  sich  die  Erinnerung 
an  verschiedene  Orte  in  Paris;  noch  heute  zeigt  man  die  Stelle,  wo 
sie  36  Jahre  lang  lebte  und  litt  und  nach  schwerem  Todeskampfe 
ihre  Seele  Gott'  empfahl;  hier  ruht  sie  unter  einer  Todtenkapelle,  dem 
letzten  Rest  des  ehemaligen  Carmeliterinnenklosters,  im  verborgenen 
Winkel  eines  Faubourg  von  Paris,  hier  ruht'  sie  unter  Rosen,  wie 
wenn  der  Himmel  selbst  das  Grab  der  reizenden  Büsserin  gesegnet 
hätte;  Paris  hat  die  bescheidene  Stätte  geachtet  und  auf  den  ge- 
weihten Ort  seine  buntesten  und  duftigsten  Blumen  gepflanzt;  un- 
zählige Rosensträucher  umgeben  die  Todtenkapelle,  und  unter  dem 
Duft  all  dieser  Rosen  athmet  die  schöne  Seele  der  Schwester  Louise 
de  la  Mis^ricorde.  ^ 

H.  Sewigh. 


Notizen. 

i2is  ist  vor  Kurzem  seitens  der  Censurbehörde  der  Verkauf  eines 
Buches  freigegeben  worden,  welches  in  unseren  Provinzen  ohne 
Zweifel  die  weiteste  Verbreitung  finden  und  mit  dem  lebhaftesten 
Interesse  aufgenommen  werden  wird.  Wir  müssen  dem  Verfasser 
dankbar  dafür  sein,  dass  er  den  Kreis  der  Theiluehmer,  für  den 
seine  Vorträge  „aus  baltischer  Vorzeit"  *)  ursprünglich  bestimmt  waren, 
durch  den  Druck  erweitert  hat.  Denn  es  sind  alle  die  Gründe  vor- 
handen, welche  ein  derartiges  Unternehmen  zu  rechtfertigen  ver-* 
mögen.  Wir  besitzen  mancherlei  Monographien  über  einzelne  Gegen- 
stände baltischer  Geschichte  und  ein  paar  Werke  von  umfassender 
Anlage.  Jene  sind  eben  nur  das  was  sie  sein  sollen,  einzelne  Steine 
eines  Mosaiks,  diese  sind  kaum  mehr  als  Haufen  von  Mosaiksteinen, 
von  denen  die  meisten  noch  der  Politur  bedürfen.  Sie  enthalten 
werttvoUes  Material,  welches  dem  Historiker  die  Arbeit  erleichtert; 
aber  der  Laie,  das  grosse  Publicum  vermag  kein  lebensvolles  Bild 
des  Ganzen  daraus  zu  entwickeln.  Es  ist  das  Bedürfniss  vorhanden, 
und  in  unserer  Zeit  mehr  als  je,  das  Orakel  der  Geschichte  zu  hören, 
und  der  Historiker,  welcher  es  unternähme,  in  zusammenfassender, 
lebendiger  Darstellung  die  Ergebnisse  der  seitherigen  Forschungen 
dem  baltischen  Publicum  vorzuführen,  erwürbe  sich  den  Anspruch 
auf  allgemeine  Erkenntlichkeit.  So  lange  wir  ein  solches  Buch  nicht 
haben,  wird  der  Versuch,  in  einzelnen  Hauptzügen  eine  Skizze  des 
Ganzen  zu  geben,  wie  er  in  diesen  6  Vorträgen  enthalten  ist,  uns 
stets  als  aufmerksame  Hörer  finden.  Und  diese  Skizze  ist  solchen 
Erfolges  um  so  gewisser,  als  sie  auch  nach  Form  und  Stil  geeignet 
ist,  das  warme  Interesse  unseres  heutigen  Lesers  zu  wecken  und  zu 
erhalten. 

Das  Jahr  1869  ist  für  den  baltischen  Leser  so  reichhaltig  an 
Schriften  vaterländisch-geschichtlichen  Charakters  gewesen,  als  viel- 
leicht keines  seit  etwa  einem  Jahrdreissig.  Der  Patriot  aus  Bildung 
und  der  Patriot  aus  Mode  sehen  ihre  Regale  in  der  Rubrik  der 
vaterländischen  Werke  um  ein  Erkleckliches  weiter  gefüllt.    Sie  sehen 

*)  Aus  baltischer  Vorzeit.  Sechs  Vorträge  von  Fr.  Biene  mann.  Leipzig, 
1870.    Dunker  und  Humblot. 


1 


192  Notizen. 

in  dieser  Rubrik  zum  ersten  Male  neben  einander  gereiht  Titel  in 
deutscher,  englischer,  russischer,  französischer  Sprache.  Aber  mit 
anderen  Augen  schaut  der  Politiker  unter  ihnen  und  mit  anderen 
der  Historiker  auf  sein  Regal.  Jener  findet  vielleicht,  dass  viel  ge- 
schehen, dieser,  dass  wenig  geleistet  ist  Jener  freut  sich  der 
historischen  Armatur,  die  er  neu  geputzfc  und  geschärft  vor  sich  sieht, 
•  dieser  liest  rasch  und  missmuthig  das  nicht  sehr  umfangreiche  Material 
heraus,  welches  als  neues,  gutes  Metall  ihm  verwerthbar  erscheint. 
Der  Historiker  hielt  sich  im  Nachtheil  gegenüber  dem  Politiker,  und 
es  müsste  eine  starke  Meinungsdiflferenz  entstehen,  wenn  beide  starr 
auf  ihrem  Standpunkte  stehen  zu  bleiben  gesonnen  wären.  Zum 
Glück  sind  sie  zu  gute  Freunde  um  sich  nicht  die  Hand  zu  reichen. 
Denn  beide  bedürfen  einander  und  die  Thätigkeit  des  einen  ergänzt 
die  des  andern. 

Was  für  eine  Periode  recht  ist,  das  wird  oft  von  einer  andern 
verdammt,  und  wenn  wir  unserer  Zeit  und  denen  gerecht  werden 
wollen,  die  in  ihrem  Geiste  arbeiten,  so  bedarf  es  zuvor  des  vollen 
Verständnisses  für  diesen  Geist,  um  zu  beurtheilen,  was  auf  diesem 
oder  jenem  Gebiete  geleistet  wird.  Aber  auch  umgekehrt  mag  man 
aus  der  Weise,  wie  gearbeitet  wird,  auf  das  Ziel  schliessen,  nach 
welchem  wir  hindrängen,  und  das  vorliegende  Buch  ist  uns  auch 
deshalb  interessant,  weil  es  neben  anderen  die  Stellung  bezeichnet, 
die  Politik  und  Geschichtsforschung  heute  bei  uns  zu  einander  ein- 
nehmen. Denn  nicht  immer  und  überall  ist  diese  Stellung  eine 
ergänzende,  freundliche,  und  es  fehlt  nicht  an  Beispielen,  wo  die 
Freundschaft  sich  löste,  ja  zu  offener  Feindschaft  ward.  Zu  Zeiten 
wandte  der  Politiker  dem  Historiker  den  Rücken  und  begann  ohne 
ihn  zu  handeln:  es  waren  die  Zeiten  politischer  Revolutionen.  Zu 
Zeiten  war  der  Politiker  zu  träge,  zu  unfähig  zum  Handeln,  und  es 
erkaltete  seine  Freundschaft  zu  dem  Historiker :  es  waren  die  Perioden 
der  Stagnation,  des  Rückschrittes.  Als  die  Männer  des  Terrorismus 
in  Frankreich  es  unternahmen,  den  Adel,  die  Geistlichkeit,  Recht, 
Sitte,  Religion  zu  hassen  und  zu  stürzen,  alles  Dasjenige  anzugreifen, 
was  die  Geschichte  Frankreichs  ausmachte,  als  Napoleon  es  wagte, 
die  gewordenen  Zustände  Europas  hinter  sich  zu  werfen,  da  führte 
die  Feindschaft  zwischen  Politik  und  Geschichte  die  grössten  und 
blutigsten  Greuelthaten  herbei.  Alles  was  Deutschland  seit  Jahr- 
hunderten von  seinen  Fürstenheerden  erduldete,  und  was  in  jedem 
Schulbuche  zu  lesen  war,  konnte  die  Verbindung  zwischen  seinen 
Politikern  und  seinen  Historikern  nicht  soweit  erwärmen,  dass  die 


T^ 


Notizen.  193 

nothwendige  That  zur  Ausführung  kam.  Dort  wie  hier  hatte  die 
Trennung  beider  die  Folge,  dass  der  Politiker  grosse  Opfer  bringen 
musste,  um  da  wieder  anzuknüpfen,  wo  seine  Wege  ihn  von  dem 
Historiker  geschieden  hatten.  Frankreich  musste  zurückgreifen  in 
[pJ  die  Zeit  der  Despotie,  um  allmälig  in  das  Geleise  des  Constitutiona- 
l[  lismus  einzukehren,  und  Deutschland  mussfce  die  Blüthe  des  Ab- 
solutismus nachholen,  um  seine  Früchte  zu  ernten. 

Das  war  die  Rache,  die  die  Geschichte  an  der  Politik  für  deren 
Treulosigkeit  nahm.  Darum  haben  Communisten  und  Socialisten 
eine  Aussicht  auf  dauernde  Herrschaft,  weil  sie  im  Grunde  jene 
Trennung  heiligen.  Darum  hat  der  Nihilismus  eine  eigene  Lebens- 
fähigkeit, weil  jene  Trennung  ein  Lebensprincip  ist. 

Um  also  gleich  weit  von  einem  Rückschreiten  wie  von  einem 
Revolutioniren  zu  bleiben,  ist  es  nöthig,  dass  sowohl  Gleichgültigkeit 
als  offene  Feindschaft  zwischen  jenen  Beiden  vermieden  werden,  und 
wo  wir  sie  in  enger  Verbindung  mit  einander  sehen,  da  dürfen  wir 
hoffen,  dass  der  Weg,  den  sie  wandeln,  der  richtige  sei. 

Soweit  der  Weg  eben  ist,  so  lange  die  staatlichen  Dinge  einen 
gleichmässigen  ruhigen  Verlauf  nehmen,  mögen  auch  die  Beiden 
ruhig  fortschreiten.  Der  Historiker  sammelt,  ordnet,  sichtet;  der 
Politiker  sucht  zu  entwickeln,  was  die  Hand  ohne  Mühe  zu  erreichen 
vermag.  Jener  kümmert  sich  wenig  um  diesen,  denn  er  liebt  es, 
weit  zurückzugreifen  in  der  Zeit,  an  Orte  sich  zu  versetzen,  wo 
vielleicht  fremde  Gestalten  seinem  forschenden  Auge  sich  entdecken, 
mit  denen  er  ein  weises  Zwiegespräch  zu  halten  vermöchte,  unbe- 
lauscht  und  ungestört  von  der  lärmenden  Menge  der  Gegenwart. 
Dort  vermag  er  auch  eher  von  der  Beurtheilung  des  Werdenden 
die  eigenen  Wünsche  zu  sondern,  die  ihm  durch  die  Möglichkeit  noch 
verwirklicht  zu  werden  den  Blick  auf  die  nahe  Gegenwart  färben. 
Das  Jetzt  ist  dem  Historiker  nicht  bequem,  denn  wo  fände  er  ein 
Zeugniss,  das  nicht  angestritten  würde,  wo  unter  der  Menge  der 
redenden  Stimmen  die  allein  wahre?  Das  Einst  ist  ihm  bequem, 
denn  nur  wenige  Zeugen,  von  einem  gütigen  Zufall  oder  von  klug 
wählender  Hand  den  späteren  Zeiten  erhalten,  sprechen  davon,  und 
die  wenigen  begehen  nicht,  ,wie  häufig  die  Zeugen  der  Gegenwart, 
den  Fehler,  ihre  Meinung  zu  ändern  und  so  den  Forscher  zu  nöthi- 
gen,  eine  lange  Reihe  von  Schlüssen,  die  er  miihsam  auf  die  erste 
Meinung  gethürmt  hatte,  wieder  umzuwerfen,  weil  der  Grundstein 
nicht  taugte.  Denn  von  dem,  was  das  geflügelte  Wort  des  Zeitge- 
nossen uns  zuführt,  gehört  das  Meiste  nicht  uns :  der  es  uns  brachte 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  2.  13 


194  Notizen. 

ist  der  Eigenthümer  und  er  darf  es  uns  wieder  nehmen.  Aber  wenn 
wir  uns  um  hundert  Jahre  zurückversetzen,  so  sind  wir  in  der 
glücklichen  Lage,  dass  Diejenigen,  welche  uns  etwas  mittheilen,  nicht 
mehr  leben  und  daher  ausser  Stande  sind,  das  zurückzufordern,  was 
sie  einmal  gaben.  So  sind  wir  in  gesichertenj  Besitz  des  Empfan- 
genen, und  nur  ein  besserer  Gewährsmann  als  der  erste  darf  uns 
darin  stören.  Und  es  kommt  das  hinzu,  dass  unser  Urtheil  über  die 
Glaubwürdigkeit  des  mitlebenden  Gewährsmannes  hin  und  her  ge- 
zerrt wird  durch  den  Leumund,  dessen  bald  in  diesen  bald  in  jenen 
Dingen  weithin  verborgene  Wurzeln  zu  erforschen  uns  weder  Zeit 
noch  Gelegenheit  erlauben,  während  die  Treue  des  Gewährsmannes 
vor  hundert  Jahren  heute  nur  nach  wenigen  Merkmalen  bemessen 
werden  kann.  Denn  wenn  wir  von  sachlichen  oder  von  Parteidiffe- 
renzen absehen,  so  ist  das  zeitgenössische  Urtheil  so  sehr  von  den 
geringsten  persönlichen  Motiven  abhängig,  dass  wir  häufig  die  Arats- 
thätigkeit  eines  Beamten  schelten  hören,  wozu  der  innerste  Grund  ein 
Missfallen  an  seiner  Nase  war,  oder  die  eines  anderen  loben,  weil 
ein  gewinnendes  Lächeln  seinen  Mund  umschwebt.  Solcherlei  Hinder- 
nissB  umringen  nicht  unser  Urtheil  über  einen  Mann,  dessen  Thätig- 
keit  vor  hundert  Jahren  wir  kennen,  dessen  persönliche  Eigenthüm- 
lichkeiten  aber  uns  weder  zu  bestechen  noch  abzustossen  vermögen. 
Wir  feierten  jüngst  mit  aufrichtiger  Anerkennung  seiner  Verdienste 
den  Gedächtnisstag  Merkel's  und  wurden  nicht  durch  das  unange- 
nehme Gefühl  gestört,  welches  seine  besten  Bekannten  aufathmen 
liess,  wenn  der  unheimliche,  unvertrauliche  Mann  abends  von  ihrem 
Theetische  sich  erhob.  Für  uns  ist  Merkel  nicht  anmaassend,  wie 
Lenz  nicht  wahnsinnig;  wir  kennen  diese  Eigenschaften  an  ihnen, 
aber  sie  stören  uns  nicht. 

Während  aber  .der  Historiker  geneigt  ist,  sich  zu  entfernen,  reizt 
der  friedliche  Gang  der  Ereignisse  den  Politiker  zum  entgegen- 
gesetzten Verfahren.  Da  keine  tiefgreifenden  Neuerungen  ihn  nöthigen, 
den  Dingen  auf  den  Grund  zn  gehen,  und  da  seine  hauptsächliche 
Beschäftigung  darin  besteht,  das  Alte  zu  erhalten,  so  lernt  er  nur 
Dasjenige  kennen,  was  an  der  Oberfläche  sich  ihm  täglich  zeigt.  Er 
lernt  die  Lastitutionen  behandeln  Wie  sie  einmal  erwachsen  sind,  die 
einzelnen  Zweige,  die  Blüthe,  die  Frucht.  Diese  zu  pflegen,  ist  seine 
tägliche  Arbeit,  so  fand  er  den  Baum  vor  und  so  hinterlässt  er  ihn ; 
von  oben  kam  der  befruchtende  Regen,  die  treibende  Sonne,  er 
w-uchs  langsam  fort,  die  Gewohnheit  der  Pflege  erhielt  nur,  was  die 
Natur  schuf.     So  scheint  in  gewöhnlichen  Zeiten  das  staatliche  Dasein 


Notizen.  195 

sich  selbst  zu  erhalten,  Alles  entwickelt  sich  wie  von  selbst,  nur  das 
täglich  werdende  Ereigniss  scheint  zu  leben.  Es  fällt  dem  Politiker 
nicht  schwer,  aus  der  Blüthe  die  Frucht  vorherzusagen,  und  wie  er 
mit  einiger  Sicherheit  in  die  nächste  Zukunft  zu  schauen  vermag,  so 
übersieht  er  leicht  die  jüngste  Vergangenheit.  Praktische  Rück- 
sichten verlocken  ihn  weder  sehr  weit  voraus  noch  zurück  zu  blicken, 
denn  die  ganze  Ursache  des  Heute  scheint  in  dem  Gestern  beschlossen 
und  er  wird  mehr  von  den  augenblicklichen  Verhältnissen  getragen, 
als  dass  er  sie  bestimmte.  Daher  sieht  er  sich  leicht  an  den 
äussersten  Rand  der  Ereignisse  gedrängt,  in  umgekehrter  Rücksicht 
zu  der  des  Historikers,  welöher  sich  von  den  werdenden  Gebilden 
ab-  und  den  gewordenen  zuwendet. 

Aber  anders  gestaltet  sich  ihr  Verhältniss,  wenn  das  bürgerliche 
und  staatliche  Leben  von  den  Bahnen  des  Alltäglichen  abgeleitet 
und  durch  grosse  Strebungen  si-usserer  oder  innerer  Kräfte  bewegt 
wird.  Denn  die  Wünsche,  welche  der  Historiker  bei  seinen 
Forschungen  als  störend  für  seine  Arbeit  zu  beseitigen  bemüht  war, 
werden  gesteigert,  wachsen  zu  Leidenschaften  und  zwingen  ihn  so, 
den  Dingen,  auf  welche  jene  Wünsche  gerichtet  sind,  sich  zu  nähern. 
Wie  unser  ganzes  Leben  von  Wünschen  erfüllt  ist,  so  vermag  der 
Historiker  zwar  nie  sich  derselben  ganz  zu  entschlagen.  Aber  bei 
der  Darstellung  einer  weiten  Vergangenheit,  die  umzugestalten  der 
stärkste  Wille  nicht  mehr  im  Stande  ist,  sieht  der  Forscher  leicht 
ein,  dass  wenn  er  in  derselben  seinen  Wünschen  in  Bezug  auf  jene 
Zeit  Raum  gäbe,  dieses  nur  auf  Kosten  seiner  Einsicht  oder  gar 
seiner  Ehrlichkeit  geschehen  könnte.  In  Absicht  auf  das  noch 
Werdende  dagegen  mag  er  seine  Wünsche  sehr  wohl  zur  Geltung 
bringen  und  indem  er  mittheilt,  was  frühere  Geschlechter  unternom- 
men, die  Handlungen  der  Lebenden  beeinflussen.  Da  jene  Wünsche 
auf  die  Gegenwart  gerichtet  sind,  das  Feld  seiner  eigentlichen  Arbeit 
aber  in  der  Vergangenheit  liegt,  so  hat  er  zwei  Mittel,  um  seine 
Zwecke  zu  erreichen:  er  nähert  sich  dem  Heute  der  Zeit  nach  und 
deckt  die  nächsten  Beziehungen  auf,  welche  noch  unmittelbar  wirk- 
sam sind,  oder  er  vermittelt  zwischen  dem  Heute  und  dem  Einst  durch 
indirecte*  Beziehungen.  Er  stellt  den  realen  oder  aber  einen  idealen 
Zusammenhang  zwischen  beiden  dar.  —  Solche  historische  Dar- 
stellungen machen  häufig  mehr  Geschichte  als  dass  sie  sie  erzählten 

Und  wie  die  Historik  politisch  wird,  wird  die  Politik  historisch. 
Es  genügt  nicht  mehr  die  Kenntniss  der  Listitutionen  in  ihren  augen- 
blicklichen Formen  und  Wirkungen,  denn  ihre  Existenz  ist  in  Frage 

13» 


196  Noüaen. 

gestellt.  Es  genügt  nicht,  die  Blätter,  Bliithen  und  Früchte  des 
Baumes  zu  kenueii,  denn  en  handelt  sich  um  wesentlich  Neues. 
Der  Politiker  mnes  die  Natur  des  Baumes  und  des  Bodens,  in 
welchem  er  wurzelt,  fi:enau  erforschen,  er  muss  aus  der  Geschichte 
die  Bedingungen  und  Wirkungen  der  Reformen  bemessen,  die  be- 
vorstehen. 

So  ist  es  natürlich,  dass  wir  heute  unsere  Historiker  politisiren 
und  unsere  Politiker  nach  alten  Pei^menten  suchen  sehen.     Wäh- 
rend noch  vor  wenigen  Jahren  beide  Gebiet«  im  Allgemeinen  so  weit 
aus  einander  lagen,  als  dem  Bonvivant  die  Gedanken  an  die  Unsterb- 
lichkeit zu  liegen  pflegen,  können  wir  beute  kaum  einen  Schritt  thun, 
ohne  beide  zugleich  zu  berühren,  und  ihre  Grenzen  sind  so  ineinander 
geräckt,   dass   es  schwer  fällt,   sie  zu  unterscheiden.     Selbst  officiell 
wird  heute  für  politisch  fragwürdig  gehalten,    was  noch  vor  20  and 
einigen  Jahren  für  harmlos  historisch  galt.     Dieses  aber  ist  der  Um- 
stand,   der    unsere    politisch  -  historischen   Schriftsteller   zwingt,    mit 
jenem    idealen    Zusammenhange    zu    operiien,    von    dem    wir    oben 
sprachen.     Wie  weit  die  Wissenschaft,  das  kosmopolitische  Doeenten- 
thum    dabei   gewinnt,    mag   dahingestellt   bleiben:    der    praktischen 
Hiatorik  des  Lebens  sind  weite  Bahnen  geötTnet.      Wir  haben    in 
Zeiten  den  Verfasser  des  vorliegenden  Buches   in 
Gegenden    unserer   Vorzelt    thätig    gesehen ,    die 
leil    des    Publicums    eines    Behrens    ermangeln, 
eher    erst    die    eigene  Arbeit   schafft.      Wir   ver- 
eröffentliehung  einer  Reihe  von  Urkunden  aus  der 
ite  und  bedauern  nur,  dass  diese  sehätzeuswerthe 
len  Jahre  keine  Fortsetzung  erlebt  hat.     Der  Ver- 
a    den   Ereignissen   ergriffen   worden,   die   unsere 
n,  der  Historiker  hat  sich  dem  Politiker  genähert. 
in    den  ersten   Vorträgen   mit   Ausnahme   einiger 
.mentlicfa  die  Stadt  Reval  bezüglichen  Dinge  nicht 
Die  letzten,    auf  selbständ^em    Quellenstudium 
bringen    uns    manche   werthvolle   Mi  tth  ei  langen 
igende  Zeit.    Sie  erregen  unser  lebhaftes  Interesse, 
mpf  zwischen  Gewissen  und  Vergewaltigung,   die 
chöpften  Landes  inmitten  streitender  fremder  Mächte 
I  gedruckte  Vorträge,  welche  vor  einem  grösseren 
rochen  wurden,  und  müssen  als  solche  beurtheilt 
eitk^em  Tadel  entgehen  wollen.     Denn  es  ist  dem 
irlaubt,   was    dem   Schriftsteller    sich    verachliesst 


Notizen.  187 

Der  Zuhörer  l&sst  sich  gern  von  dem  Effect  des  Worts  hinreissen 
und  beachtet  nicht  zu  genau  die  Grenze  der  Rhetorik,  die  auf  ihn 
wirkt.  Der  Leser  prüft  diese  Grenze  sorgfältiger,  ohne  jedoch  auf 
die  Rhetorik  in  dem  geschriebenen  Worte  und  in  der  Geschichts- 
schreibung gänzlich  verzichten  zu  wollen.  Wenn  die  Behauptung 
des  geehrten  Verfassers  begründet  wäre,  dass  Rhetoriker  noch  immer 
schlechte  Historiker  gewesen  seien  (p.  102),  so  befänden  wir  uns 
allerdings  diesem  Buche  gegenüber  in  einiger  Verlegenheit.  Zum 
Glück  sind  wir  gänzlich  anderer  Meinung  in  dieser  Sache.  Wir 
glauben,  der  Sprache  keiner  Wissenschaft,  und  so  auch  nicht  der 
der  Geschichtsforschung  das  Recht  auf  den  Schmuck  absprechen  zu 
dürfen,  welcher  die  Wirkung  des  Worts  erhöht,  ohne  seiner  ursprüng- 
lichen Bedeutung  zu  nahe  zu  treten.  Soweit  der  Sinn  nicht  Gefahr 
läuft,  durch  die  Menge  des  Schmucks  verdeckt  oder  in  eine  falsche 
Richtung  gebracht  zu  werden,  hat  auch  die  Sprache  der  Wissen- 
schaft den  Anspruch  auf  den  Genuss  des  Reichthums,  dessen  sich 
die  Sprache  überhaupt  erfreut.  Die  Ueberhäufung  ist  so  verwerflich 
als  der  falsche  Schmuck,  die  Phrase;  aber  die  Armuth  bleibt  gleich- 
wohl ein  Mangel.  Und  wir  können  uns  zu  jener  Anschauung  des 
geehrten  Verfassers  um  so  weniger  verstehen,  als  sie  einen  Historiker 
scharf  trifft,  den  wir  als  solchen  einen  Meister  nennen  und  zugleich 
als  Rhetoriker  höchlich  schätzen,  und  der,  wo  wir  nicht  irren,  dem 
geehrten  Verfasser  selbst  beim  Schreiben  dieses  Buches  in  Absicht 
auf  Charakter  und  Form  stets  sehr  lebendig,  wo  nicht  allzu  sehr 
vorgeschwebt  hat 

Indessen  dieses  Buch  enthält  nicht  bloss  einfache  Geschichts- 
schreibung, sondern  diese  ist  vielmehr  nur  sein  Hintergrund.  Es 
spricht'  der  Politiker  zu  uns  in  politisch  bewegter  Zeit  und  sucht 
jenen  idealen  Zusammenhang  zwischen  dem  Jetzt  und  dem  Einst  her- 
zustellen, durch  welchen  die  lehrhafte  Seite  der  Geschichte  wirksam 
wird.  Die  warme  Liebe  zur  Heimat  und  das  innige  Verständniss 
für  ihre  Schicksale  sind  es,  was  dieses  Buch  uns  werth  macht  und 
was  ihm  den  Dank  weiterer  Kreise  sichert.  Wir  haben  in  dieser 
Richtung  einen  Vorgänger  erlebt,  dessen  Fusse  zu  folgen  fast  ge- 
fährlich scheint.  Wer  es  aber  mit  Geschick  unternimmt,  der  erwirbt 
sich  ein  Verdienst.  Denn  nicht  um  abzuschliessen,  sondern  um  auf- 
zuschliessen,  um  Verständniss  und  Kraft  zu  entfalten  wurden  grosse 
Mittel  verwandt,  und  eine  Bahn  gebrochen  wurde  nicht  damit  sie  veröde. 

Es  sei  uns  gestattet,  an  diesem  Orte  eine  Frage  zur  Sprache 
zu  bringen,  die  häufig  berührt  wurde^  und  von   der  wir  wünschen. 


198  ITotizen. 

dass  ihre  pracdsche  Erledigung  gerade  heute  von  weiteren  Kreisen 
im  Auge  behalten  werde. 

Das  Verstandnifls  fttr  die  Bedingungen  unserer  Existenz  ist  noch 
eben  so  weit  entfernt,  ein  allgemeines  oder  tiefes  zu  sein,  als  die 
KenntnisB  unserer  Vorzeit.  Die  Mittel  aber,  und  gerade  die  mate- 
riellen Mittel,  welche  nöthig  sind  um  diese  zu  mehren  und  damit 
jene  zu  fördern  fliessen  äusserst  spärlich,  Wohl  haben  wir  historische 
Gesellschaften,  aber  mit  leeren  Kassen,  wir  haben  einige  Historiker 
und  viel  geschichtliches  Material.  Aber  das  Bindemittel  zwischen 
beiden,  die  materielle  Unterstützung  der  Arbeit,  fehlt.  Es  fehlt  noch 
an  dem  Interesse  für  diese  Arbeit,  und  dieser  Mangel  ist  selbst  da 
fühlbar,  vfo  nicht  die  materielle  Seite  in  Frage  kommt.  Denn  noch 
liegen  ungezählte,  nur  durch  ihre  Verarbeitung  werthvoUe  Schätze 
an  Urkunden,  Briefschaften,  Zeugnisse  verschiedenster  Art  In  priva- 
tem Besitz,  die  aus  mancherlei,  und  nicht  den  triftigsten  Gründen 
sich  der  Verwerthung  verschliessen.  Wir  hoffen  gerade  in  dieser 
Beziehung  viel  von  der  engeren  Verbindung  der  Politik  und  der 
Geschichtsforschung.  Die  Politik  ist  bei  uns  noch  mehr  als  anderswo 
auf  verhältnissmässig  wenige  Träger  vertheilt  und  der  Einzelne  ist 
daher  mehr  als  anderswo  verpflichtet,  selbstthätig  zu  wirken.  Wir 
erfreuen  uns  nicht  staatlicher  Unterstützung  zur  Erforschung  unserer 
Quellen.  Wir  müssen  selbst  öffentliche  Summen  herbeischaffen,  um 
vor  Allem  unsere  reichhaltigen  Archive  zugänglich  zu  machen.  Und 
die  Opfer,  die  erforderlich  wären,  dürften  nicht  gar  gross  sein,  zu- 
mal wenn  eine  Vereinigung  aller  Kräfte  zugleich  die  Ordnung  in 
der  Arbeit  sicherte. 


„Ihre  Anzeige  des  Oettingenschen  Werkes  *)  im  ersten  Hefte  der 
neuen  Folge  Baltischer  Monatsschrift"  —  schreibt  uns  ein  Fremid  — 
„macht  nach  beiden  Seiten  hin  einen  lebhaften  Eindruck.  Auf  der 
einen  erregt  sie  Aerger,  auf  der  anderen  beifällige  Zustimmung," 

Wir  haben  weder  das  Eine  noch  das  Andere  zu  erregen  ge- 
strebt, und  auch  nicht  erwartet,  dass  unser  beiläufiger  Protest  gegen 
die  wie  ein  Ceterum  censeo  wiederkehrende  Verurtheilung  der 
Naturwissenschaft  die  „Männer  der  Geisteswissenschaft"  in  Harnisch 
bringen  kßnnte  Wenn  der  Arzt  einen  Kranken  berührt,  und  die 
leiseste  Berührung  schon  Schmerzen  und  Zuckungen  erregt,  so  schliesst 

*)  DiP  Moralfl tätig tik  unil  die  christliche  Sittenlehre.  Ton  Alex.  v.  Oet- 
tingen,  ProfeBflor  der  Theologie  in  Dorpat.    I.  TLeil,  Erlangen  1868—1869. 


Notizen.  199 

er,  dass  das  ganze  Nervensystem  seines  Patienten  an  übermässiger 
Empfindlichkeit  leide^  oder  dass  die  berührte  Stelle  wund  gerieben 
sei..  Der  Glaube  wuchert  gern  auf  historisch  gesteigerter  Gefühls- 
Innervation,  und  der  übergläubige  Körper  wird  leicht  zif  einem  Noli 
me  tangere!  Auch  dem  wunden  Flecke  fehlt  oft  nichts,  als  der 
Schutz  einer  natürlichen  Oberhaut,  in  unserm  Bilde  als  Vernunft  zu 
bezeichnen.  Sollte  Aehnliches  an  dem  theologischen  Organismus 
stattfinden,  welcher  wieder,  an  die  Stelle  von  Toleranz  und  ratio, 
in  römische  Unfehlbarkeit  sich  einhüllen  möchte?  Detgegen  zu  wir- 
ken,  wird  vielleicht  Schicksal  vorliegenden  Werkes  sein,  wenn  die 
theologischen  Fachgenossen  des  Verfassers  es  nur  fleissig  lesen 
wollten.  Die  particula  veri  ist  wie  ein  Hefepilz,  welcher  auch 
wider  Willen  in  trägen  Teigmassen  Bewegung  anregt. 

Die  zweite  Hälfte  des  ersten  Theiles  unserer  Socialethik  ist  der 
Analyse  der  moralstatistischen  Daten  gewidmet.  Die  mitgetheilten 
Thatsachen  gruppiren  sich  in  physiologische  und  psychologische. 
Jene  sind  Ereignisse,  welche  im  Organismus  der  Menschheit  eben 
so  unbewusst  geschehen,  wie  im  Organismus  der  Thierwelt.  £>ahin 
gehören  die  Constanz  der  Empfängnisse  und  Sterbefälle  in  den 
Jahresumläufen,  die  Constanz  der  Knabenmehrgeburten ,  die  Her- 
stellung des  Gleichgewichtes  zwischen  weiblicher  und  männlicher 
Bevölkerung  vom  20.  Lebensalter  bis  zum  50.  u.  s.  w.  Diese,  die 
psychologischen,  sind  Handlungen,  welche  mit  verschiedenen  Graden 
des  Bewusstseins  fast  ausnahmlos  nur  von  Menschen  vollzogen 'wer- 
den. Verfasser  hat  sie  in  den  Capiteln  über  Eheschliessung,  ver- 
brecherische Geschlechtsgemeinschaft,  Prostitution,  in  den  Abschnitten 
von  Stand,  Schule,  Elirche,  Eigenthum,  Criminalität  u.  s.  w.  betrachtet. 

Den  physiologischen  Erscheinungen  im  Organismus  der 
Menschheit  liegen  organische,  in  dem  einzelnen  Menschen  nach 
morphologischen  Gesetzen  sich  abwickelnde  Functionen  zum  Grunde. 
Ihre  Causation  muss  rückwärts  auf  vorangegangene  organisirende 
Bildungs-  und  Wachsthumsthätigkeiten  der  zur  Species  h  o  m  o 
sapiens  gewordenen  Lebewesen  zurückgeführt  werden,  bis  wir 
als  ersten  Grund  auf  organische  Molecularbewegungen  stossen,  welche 
Compositen  sind  von  mechanisch -chemischen  Elementarbewegungen. 
Hier  ist  der  Punkt,  auf  welchem  Theologen  und  Naturphilosophen 
Stirn  gegen  Stirn  auf  einander  stossen  und  in  entgegengesetzter 
Richtung  zurückprallend,  die  Reise  durch  die  vorliegende  Begrififs- 
welt  antreten.  Jene,  so  zu  sagen,  auf  Eisenbahnen,  die  ihre  Jn- 
genieure  schon  vor  Alters  abgesteckt  und  erbaut  haben,  zu  einem 


200  Notizen. 

vorausbestimmten  Ziele;  Diese  auf  natürlichen  und  oft  beschwerlichen 
Wegen,  von  eigenen  Bewegungs-Apparaten  getragen,  vom  eigenen 
Genius  geleitet,  zu  unbetretenen,  neuzuentdeckenden  Gebieten. 

Die  physiologischen  Vorgänge  in  den  einzelnen  Menschen  con- 
glomeriren  sich  zu  den  eben  so  genaturten  Gruppen  im,  bildlich, 
Organismus  genannten  Körper  der  Menschheit.  Wie  im  kleinen 
realen,  so  sind  im  grossen  idealen  Organismus  die  Naturgesetze  im 
Momente  der  zusammentretenden  Elemente  geworden,  nicht  aber 
vorausbestimmt  oder  vorausbedacht.  An  den  sogenannten  mathe- 
mathischen  Gesetzen  könnten  wir  diese  Entstehung  im  Augenblicke  der 
Vorstellung  einer  mathematischen  Figur  erläutern.  Nach  formulirter 
Vorstellung:  wa«  eine  Kreislinie,  was  Parallelismus  zweier  geraden 
Linien  sein  solle,  entspringen  aus  diesen  also  gedachten  Figuren 
die  Gesetze  des  Kreises,  des  Parallelismus.  Aus  der  Vorstellung  des 
Kreises  erst  fliesst  die  Vorstellung  eines  Diameters,  die  Vorstellung, 
dass  alle  möglichen  vom  Diameter  senkrecht  bis  zur  Peripherie  sich 
erhebenden  geraden  Linien  die  mittleren  Proportionalen  zwischen 
den  Abschnitten  des  Diameters  seien  u.  s.  w.  An  dem  Mathematiker 
ist  es,  in  den  idealen,  vor  seiner  Phantasie  zu  Realitäten  gewordenen 
Figuren  die  Folgen,  als  Eigenschaften  der  Figuren,  herauszufinden 
und  zu  notiren.  Auch  Er  ist  Naturforscher,  aber  gleichsam  in  einer, 
von  ihm  selber  erst  phantastisch  geschaffenen  Welt,  während  in  der 
materiellen,  unorganischen  wie  organischen  Welt  alle  möglichen 
Combinationen  der  realen  Elemente  sich  von  selbst  in  richtiger  Auf- 
einanderfolge gebildet  haben  und  nun  an  Uns,  die  wir  nicht  zu  den 
„Männern  der  Geisteswissenschaft"  gehören  sollen,  die  Aufgabe  ge- 
stellt ist,  die  entstandenen  Dinge  in  ihre  Grundformen  zu  zerlegen 
und  die  Logik  ihrer  Entstehung  aufzufinden.  Scalpell  und  Mikros- 
kop, Wagschale  und  Reagentienapparat,  Erdbohrer  und  Sternen- 
teleskop, —  sie  alle  sind  aus  unseren  Sinnorganen,  nach  Grundsätzen 
des  sinnlichen  Erforschungstriebes  der  Aussenwelt,  herausgewachsene 
VervoUkommnungs- Werkzeuge  von  Finger  und  Auge,  von  Nase  und 
Zunge,  sie  sind  Theile  unseres  Leibes;  ihre  Keimanlage,  ihr 
Wachsthum,  ihr  Gebrauch,  selbst  der  schulgewohnte,  sind  nicht  ohne 
ein  wenig  „Geistesarbeit"  denkbar,  die  unsere  Mitgift  gewesen  ist, 
gleichviel  von  wem  wir  gezeugt  worden  sind.  Die  Logik  der  Ent- 
stehung aller  Dinge  sehen  wir  an  als  den  Inbegriff  der  Natur- 
gesetze; das  Reich,  in  welchem  sie  Geltung  haben,  als  das  herr- 
liche Reich  der  Physiokratie,  wo  nicht  gemaassregelt  wird,  sondern 
Alles  durch  sich  selbst  sich  regelt.    Unter  dem  Schutze  der  Physiokratie 


NotizeiL  201 

entsteht  und  vergeht  das  Leben  maassen  der  Naturgesetze,  werden 
Naturrechte  und  Naturpflichten  mit  Würde  geübt.  So  verstehen  wir 
die  „providentielle  Naturordnung",  welche  trotz  tausendfältiger 
Störungen  und  sogenannter  Zufälligkeiten  sich  durchsetzt,  ohne  nach- 
helfend oder  abwehrend  hineingreifen  zu  wollen,  wenn  sie  von  einem 
unvorhergesehenen  Ereignisse  überrascht  wird. 

Die  Gruppe  der  psychologischen  Thatsachen  im  Organismus 
der  Menschheit  ist  aber  die  Summe  von  Willenshandlungen  wiederum 
der  einzelnen  Menschen,  insofern  ihr  Wollen  als  Motiv  oder  neues 
Causationsmoment  an  die  physiokratische  Ordnung  der  Dinge  heran- 
tritt, sie  maassregelt  und  somit  künstliche,  menschengewoUte  Ver- 
hältnisse schafft.  Gewisslich  geschehen  auch  hier  die  sittlichen  und 
unsittlichen  Lebensbewegungen  der  Menschheit  nach  Formeln,  welche, 
gleichwie  im  mathematisch  gedachten  Kreise,  durch  die  menschen- 
gewoUten  Verhältnisse  selber  entstehen;  die  Formeln  sind  aber  so 
schwankend,  mit  so  vielen  unbekannten  x,  y,  z  durchwirkt,  dass  sie 
die  Correctheit  der  Naturgesetze  nicht  an  sich  haben,  und  nur  be- 
dingungsweise Gesetze  genannt  werden  sollten.  In  dem  letzten 
Capitel  „Schlussfolgerung"  finden  wir  gegen  dreissig  solcher  Gesetze 
namentlich  angeführt,  welche  Verfasser  selber  (pg.  967)  hypothe- 
tische Gesetze  nennt,  denen  keine  ewige  Nothwendigkeit  zu 
Grunde  liege,  die  nur  Ausdruck  zeitlicher  Empirie  öeien,  aufgefunden 
mittelst  einer  die  Thatsachen  combinirenden  und  ihren  Zusammen- 
hang deutenden  Denkoperation.  Und  diese  Resultate,  die  Darstellung 
der  empirisch  existirenden  Abhängigkeit  psychologischer  Vorgänge 
im  Oi^anismus  der  Menschheit  von  Ur- Sachen  —  das  möchten  wir 
betonen  —  ist  der  Kern  in  vorliegendem  Werke,  welcher  zu  einem 
fruchttragenden  Baume  heranwachsen  wird;  was  von  einem  Ur- 
Willen  gesagt  ist,  gehört  nur  zur  verlockenden  Schale  der  Frucht, 
über  welche  Sehale  wir  uns  weiter  nicht  auslasseh  wollen. 

Betrachten  wir  nun  von  diesem  Standpunkte  aus  einige  in  den 
Berrich  der  Physiokratie  schlagende  Capitel  der  ^Socialethik." 

Verfasser  entschuldigt  sich,  dass  er  die  Frage  nach  dem  statisti- 
schen Verhältnisse  der  beiden  Geschlechter,  nach  der  constanten 
Mehrgeburt  der  Knaben,  nach  dem  eintretenden  Gleichgewicht  zwischen 
der  Zahl  der  Männer  und  Frauen  zur  Zeit  der  Geschlechtsreife, 
in  den  Bereich  sei^r  Moralstatistik  gezogen,  da  sie  doch  mit  dem 
Willen  des  Menschen,  also  auch  mit  der  Moralität  desselben,  gar 
nichts  zu  thun  habe.  Er  glaubt  aber,  „in  der  vortrefflichen  Ordnung 
in  der    Fortpflanzung    beider  Geschlechter   die  Bestimmung   des 


202  Notizen. 

Menschen  zur  Monogamie,  die  gottgewollte  Einheit  des 
Menschengeschlechtes  und  die  gliedliche  Zusammenge- 
hörigkeit desselben,  wenn  auch  nicht  geradezu  bewiesen,  so 
doch  eigenthümlich  und  interessant  beleuchtet  zu  sehen"  (p.  316)  — 
und  deshalb  thue  er  es. 

Wir  möchten  an  den  von  Kant  citirten  Ausspruch  (s.  Heft  1, 
pg.  105)  erinnern,  und  ihn  hier,  in  Bezug  auf  Statistik,  so  abändern: 
es  ist  nicht  richtig,  von  der  Statistik  Aufklärung  zu  erwarten  und 
ihr  doch  vorher  vorzuschreiben,  auf  welcher  Seite  sie  nothwendig 
ausfallen  müsse. 

Die  Statistik  hat  berechnet,  dass  in  17  europäischen  Staaten 
mit  nur  wenigen  Schwankungen  4  bis  7  Procent  mehr  Knaben  als 
Mädchen  geboren  werden  (s.  Tabelle  1),  dass  in  elf  Staaten  durch 
grössere  Mortalität  der  Knaben  und  Jünglinge  die  Zahl  beider  Ge- 
schlechter im  Alter  von  20  Jahren  gleich  gross  wird  (s.  Tab.  3,  4). 
Woraus  sind  diese  Daten  erhoben?  Doch  wohl  ,aus  Staaten,  aus 
einer  Menschengesellschaft,  in  welcher  seit  Jahrhunderten  die  Mono- 
gamie gesetzlich  eingeführt  ist,  wo  also,  um .  das  perhorrescirte  Wort 
erläuternd  zu  gebrauchen,  eine  künstlich  geregelte  Züchtung  des 
Menschengeschlechtes  stattgefunden  hat.  Aus  den  verkümmerten 
Füssen  der  chinesischen  Frauen  auf  die  Bestimmung  des  Weibes, 
verkrüppelte  Füsse  zu  haben,  schliessen  zu  wollen,  wäre  nicht  zu- 
lässig. Die  Schwankung  zwischen  4  bis  7  Procent,  trotz  streng 
beobachteter  Monogamie,  ist  gar  nicht  gering  anzuschlagen,  woher 
Verfasser  denn  auch  mit  Recht  zeitliche  und  örtliche  Veranlassungen 
aufgesucht  und  gefunden  hat,  sie  zu  erklären.  In  Weltgegenden, 
wo  keine  Monogamie  decretirt  ist,  wird  das  Verhältniss  anders  sich 
gestaltet  haben.  Glaubwürdige  Reisende  haben  von  Ueberschuss 
der  weiblichen  Geburten  in  orientalischen  Ländern  erzählt.  Süss- 
milch  soll  „diese  veraltete  Behauptung  gründlich  widerlegt  haben"  — 
doch  wohl  auch  aus  Erzählungen  von  Reisenden  und  aus  seiner 
Conjecturalstatistik.  Nicht  wegen  Mangels  an  weiblichen  Individuen 
lassen  vornehme  und  wohlthäiige  Türken  sich  Mädchen,  und  zwar 
Halbwächslinge,  aus  Tscherkassien,  Georgien  und  anderen  Gegenden 
einführen,  sondern  weil  die  genannten  Länder,  ihren  Begriffen  ge- 
mäss, appetitlichere  Weiber  liefern.  In  China,  in  Japan  und  anderen 
übervölkerten  Staaten,  wo  nicht  einmal  die  mänijichen  Individuen  zu 
Kanonenfutter  ausgelesen  werden,  tödtet  man  die  neugeborenen  Mäd- 
chen als  überflüssig  gleich  nach  der  Geburt.  Das  scheint  für  con- 
stantes  Ueberge wicht  des  weiblichen  Geschlechts  über  das  männliche 


k 


Notizen.  203 

zu  sprechen.  Dass  die  Monogamie  durch  andere  als  durch  euro- 
päische statistische  Gründe  motivirt  werden  könne,  und  vielleicht 
müsse,  darin  wird  jeder  Naturforscher,  welcher  in  staatlicher  Gemein- 
schaft lebt,  dem  Verfasser  beistimmen.  Allein  die  Beistimmung  wird 
wieder  durch  eine  Voraussetzung :  „in  staatlicher  Gemeinschaft"  mo- 
tivirt. Naturhistorisch  wissen  wir  gar  nicht,  ob  das  Menschenge- 
schlecht monogamisch  oder  polygamisch,  monandrisch  oder  poly- 
andrisch  sich  fortzupflanzen  genaturt  war  oder  in  vorgeschichtlichen 
Zeiten  gewohnt  gewesen  ist.  Bei  andern,  mit  eben  so  strenger 
morphologischer  Consequenz,  wie  der  Mensch,  in  fortgehender  Ad- 
scendenz  (nicht  Descendenz)  aufgebildeten  Thiergeschlechtern  wird's 
bald  so,  bald  anders  gehalten.  Monogamie,  Gattenliebe  ist  unter 
manchen  Vögeln  (Papageyen,  Sumpfvögeln),  unter  manchen  colossalen 
Säugethieren  CElephanten)  in  der  Ordnung.  Monogamie  wird  unter 
den  Bienen  sogar  soweit  getrieben,  dass  das  einzige  befruchtungs- 
fähige weibliche  Wesen  im  Staate,  trotz  der  Gegenwart  von  Tausenden 
männlicher  Bewerber,  nur  ein  einzigmal  im  Leben  und  nur  mit 
einem  einzigen  Auserwählten  sich  verehelicht,  worauf  dieser  Glück- 
liche dann  auch  gleich  verendet.  Polygamie  ist  an  und  für  sich  so 
wenig  der  Erhaltung  und  Vermehrung  einer  Thierspecies  entgegen, 
dass  in  den  staatswirthschafklich  nicht  gemaassregelten  Pampas  und 
Prairien  Amerikas  einige  wenige  versprengte  Pferde  und  Rinder  im 
Laufe  von  drei  Jahrhunderten  bis  zu  mehreren  hunderttausenden 
FanJllien,  mit  je  einem  Bullen  oder  Hengste  als  Oberhaupt,  sich  ver- 
mehrt haben.  Nach  Dr.  Bleek,  welcher  seit  20  Jahren  in  der  Kap- 
stadt lebt,  sind  fast  alle  Kaffern,  Negerstämme  des  tropischen  Afrika, 
ihre  oceanischen  Verwandten  bis  nach  Neuseeland  und  den  Sand- 
wichinseln hin,  Polygamisten.  Sie  bilden  mitunter  grosse  politische 
Verbände.  Die  Zahl  der  nach  Muhammed's  Koran  lebenden  Men- 
schen übertrifft  die  ^ahl  der  christlichen  Monogamisten.  Und  alle 
diese  Sünder  wider  das  „Urgesetz  der  Monogamie"  sind  fruchtbar  und 
haben  sich  einen  grossen  Theil  der  Erde  unterthan  gemacht.  Dass 
Monogamie  in  manchen  zur  staatlichen  Gemeinschaft  zusammenge- 
tretenen Nationen  decretirt  worden  ist,  das  war  lediglich  Folge  ge- 
wisser ethischer  Absichten  eines  Gesetzgebers. 

Die  Knabenmehi'geburt  findet  in  den  morphologischen  Vor- 
gängen ihre  genügende  Erklärung:  sie  muss  bei  gewissen  geschlecht- 
lich sich  fortpflanzenden  Species  eintreten,  so  wie  bei  anderen  die 
Zahl  der  weiblichen  Geburten  überwiegt.  In  concreto  kann  es 
nie  und  nimmer  zur  Herstellung  zweier  ganz  gleicher  Dinge  kommen. 


204  Nötigen. 

So  wie  an  Millionen  gleichnamigen  Bäumen  nicht  zwei  genau  gleiche 
Blätter  gefunden  werden,  so  giebt  es  nicht  zwei  genau  gleiche  Keim- 
bläschen in  einem  Individuum  weder  des  Pflanzen-  noch  des  Thier- 
reichs  *)  Selbst  da,  wo  die  geschlechtlose  Fortpflanzung  durch  blosse 
körperliche  Theilung  sattfindet,  sind  die  Theile  verschieden  begabt, 
und  ebenso  verschieden,  wenngleich  innerhalb  der  vererbten  elter- 
lichen Anlage  beharrend,  fallen  die  Gebilde  des  „Ueber-sich-hinaus- 
wachsens",  nämlich  die  Fortpflanzungskeinie,  aus.  Unter  den  Fort- 
pflanzungskeimen, wollen  wir  annehmen  eines  zum  erstenmal  sich 
zur  geschlechtlichen  Fortpflanzung  anschickienden  Lebewesens,  konn- 
ten nicht  zwei  Keime  von  absolut  gleicher  Dignität  entstehen.  Der 
eine  hatte  ein  Plus,  der  andere  ein  Minus  von  irgend  welchen  Eigen- 
schaften und  Kräften;  damit  war  nicht  nur  das  Naturgesetz  der  in- 
dividuellen Variation,  sondern  auch  der  Wegweiser  hingestellt,  ron 
welchem  aus  die  kräftiger  und  dem  entsprechend  eigenthümlich 
organisirten  Keime  auf  der  einen  Bahn,  die  schwächer  und  anders 
genaturten  auf  der  andern  Bahn  sich  weiter  von  Generation  zu  Gene- 
*ration  entwickelten;  durch  Vererbung  impfte  sich  die  Eigenschaft: 
vorwiegend  männliche  oder  vorwiegend  weibliche  Keime  im  Keim- 
Stocke  erwachsen  zu  lassen,  den  verschiedenen  Arten  ein;  durch  die, 
aus  der  Trennung  in  zwei  Geschlechter  folgende  Nothwendigkeit, 
Fortpflanzung-  immer  nur  durch  Zusammentreten  von  weiblichen  und 
männlichen  ^über-sich-hinauswachsenden  organischen  Stoßen**  (resp. 
Ei  und  Sperma)  zu  besorgen,  ist  der  Gefahr,  dass  irgend  ein**  Ge- 
schlecht die  absolute  Oberhand  erhalte,  vorgebeugt,  denn  erwüchsen 
nach  einigen  Generationen  nur  männliche  oder  nur  weibliche  Keime, 
so  wäre  es  aus  mit  der  Fortpflanzung  einer  solchen  Species.  Wer 
mag  bestimmen,  wie  viele  derartig  unlogisch  sich  gebahrende  Thier- 
species  spurlos  zu  Grunde  gegangen  sind!  An  Majorats-Familien  — 
wo  der  Familien-Name  gleichsam  eine  gesonderte  Species  bezeichnet 
—  hat  die  Statistik  ermittelt,  dass  keine  directe  männliche  Progenitur 
über  250  Jahre  sich  in  wohlverbürgter  Reihe  fortgesetzt  habe.     Die 


•)  Dr.  G.  Jacger  hat  durch  vier  Jahre  hindurch  jeden  Winter  etwa  30,000 
Forellen-Eier  ausbrüten  lassen.  Abgesehen  davon,  dass  ein  regelmässiges  Ab- 
sterben in  den  verschiedenen  Altersperioden  stattfand,  kamen  ganz  sonderbare 
individuelle  Variationen  vor.  Da  waren  Missgeb arten  am  Bauche  zasammenge- 
wachsen,  wie  die  siamesischen  Brüder,  —  andere,  mit  zwei  Köpfen  und  einem 
^eibe,  andere  mit  einem  Kopfe  und  zwei  Schwänzen  *,  einige  kreisförmig  gebogen, 
andere  spiralförmig  gedi'eht,  mit  dreigabligen  Schwänzen.  Es  gelang  nur  wenigen 
Fischlein  ihren  Kampf  um*8  Dasein  glüeklich  zu  bestehen 


_j 


Nc^tiaexL.  205 

gegenwöxtig  in  den  Katalogen  der  Zoologie  verzeichneten  Thierspecies 
haben  jede  auf  rein  empirischem  Wege  ein  gewisses  Abkommen 
gefunden,  wonach  das  mehr  oder  weniger  nach  Umständen  schwan- 
kende Verhältniss  zwischen  männlichen  und  weiblichen  Geburten 
landes-  und  zeit-üblich  festgesetzt  erscheint.  Wie  sehr  in  dieser 
Hinsicht  die  Ei^ebniss«  des  natürlichen  Compromisses  verschieden 
ausgefallen  sind,  kennen  wir  an  einigen  Thierspecies,  welche  sogar 
scheinbar  bis  zu  einer  sogen.  Parthenogenesis  sich  emancipirt  haben. 
Diese  Entdeckung,  welche  von  der  päpstlichen  Curie  so  hoch  aufge- 
nommen wurde,  dass  sie  sich  von  dem  Entdecker  eine  detaillirte 
Beschreibung  eines  solchen  wohlzuverwerthenden  Fortpflanzungs- 
modus erbat,  ist  unlängst  durch  v.  Siebold  und  Leuckart  noch  da- 
durch ausser  allen  Zweifel  gestellt,  dass  eine  durchaus  jungfräuliche 
Bienenkönigin,  wenn  .man  sie  vor  aller  Berührung  mit  männlichen 
Bienen  in  einem  Bienenstock  absperrt,  dennoch  sich  gedrungen  fühlt, 
viele  tausend  Eier  zu  legen,  welche  allesammt,  ohne  von  männlichem 
Sperma  befruchtet  worden  zu  sein,  regelrecht  zu  Maden  und  Larven 
sich  ausbilden:  sie  werden  aber  ausnahmslos  Männchen,  (Drohnen)! 
Wie  niederschlagend  für  das. stolze,  „starke  Geschlecht",  dass  in  dem 
angeführten  Falle  die  männliche  Kraft  nichts  weiter  vermag,  als  die 
zu  männlichen  Wesen  angelegten  Bienenkeime  in  weibliche  abzu- 
schwächen. Die  statistisch  für  Europa  auf  5  bis  10  Procent  be- 
zifferte Knabenmehrgebui't  ist  kein  Naturgesetz:  manche  Familien 
brii^en  nur  Knaben,  manche  nur  Mädchen  hervor.  Aus  der  grossen 
Zahl  stellt  sich  dann  ein  arithmetisches  Mittel  heraus,  wenn  Nach- 
frage und  Angebot  eine  Ausgleichung  hervorgebracht  haben»  Schliess- 
lich bleibt  doch  von  beiden  Geschlechtern  eine  gleiche  Zahl,  gleich- 
sam als  brakirtes  Züchtungsmaterial,  unverheirathet  nach. 

Die  Frage:  wodurch  können  wohl  Knabengeburten  befördert 
werden?  hat  auch  den  Verf.  der  „Socialethik"  beschäftigt.  In  §  75 
bespricht  er  die  von  verschiedenen  Autoren  muthmasslich  angeführten 
Ursachen.  Jede  derselben  wird  aber  von  direct  entgegengesetzten 
neutralisirt.  Weder  Klima  noch  Jahreszeit,  weder  Nationalität  noch 
Rasse,  weder  kräftigere  Constitution  des  Vaters  noch  stärkere  Er- 
nährung der  Mutter  während  der  Schwangerschaft  haben  einen  nach- 
weisbaren Einfluss  auf  Knabenmehrgeburt  gehabt.  Nur  das  scheint 
Thatsache  zu  sein,  dass  auf  dem  Lande  in  der  Regel  Va — 1  Procent 
mehr  Knaben  als  Mädchen  geboren  werden,  dass  unter  Erstgeburten 
8  bis  10  bis  12  Procent  mehr  Knaben  sind  als  Mädchen  und  dass 
in  Ehen,  wo  der  Vater  jünger  war  als  die  Mutter,  gegen  10  %  mehr 


206  ;     Notizen. 

Mädchen  als  Knaben  erzeugt  werden,  dass  aber  mit  dem  verhältniss- 
mässig  grösseren  Alter  des  Mannes  die  männliche  Nachkommenschaft 
steigt,  ja  in  extremen  Fällen  in  England  das  Verhältniss  von  166 
Knaben  auf  100  Mädchen  erreicht  hat. 

Noch  ein  anderes  physiologisches  Phänomen  in  der  menschlichen 
Gesellschaft  zieht  Verf.  heran,  um  die  Bestimmung  der  Menschen 
zur  Monogamie  darzuthun.  Das  ist  die  keineswegs  so  allgemein,  wie 
die  Knabenmehrgeburt,  gemachte  Beobachtung,  dass  nach  Kriegen, 
Epidemien,  Auswanderung  und  dgl.  m.  der  Abgang  der  männlichen 
Individuen  durch  verstärkte  Knabenmehrgeburt  und  verminderte 
Mortalität  der  Männer  ersetzt  werde.  Die  Statistiker  zählen  das  zu 
den  Naturgesetzen  und  nennen  die  Ursache:  Conpensaiionstendenz 
der  Bevölkerung,  allein  mit  Unrecht.  Compensirende  Thätigkeiten 
in  Naturprocessen  stehen  in  einem  ursächlichen  Verhältnisse  zu  ein- 
ander, der  Regulator  gestörten  Gleichgewichtes  ist  einer  und  der- 
selbe in  der  verminderten  wie  in  der  vermehrten  Thätigkeit  und 
zwar  eines  und  desselben  Organismus.  Das  Magerwerden  von  A. 
kann  aber  keine  Compensationstendenz,  auf  physiologischem  Wege, 
in  B.  hervorrufen,  es  sei  denn  etwa  auf  psychologischem  Betrieb, 
wenn  A.  grosse  Genugthuung  über  B.'s  Magerwerden  empfände.  Die 
Fruchtbarkeit  und  Zeuguügskraft  der  nach  einer  CalamitÄt  am 
Leben  gebliebenen  Ehepaare  kann  eben  so  wenig  durch  die  aufge- 
hobene Zeugungskraft  der  getödteten  Menschen  berührt  noch  speciell 
auf  Knabenmehrgeburt  concentrirt  werden.  „In  Frankreich  fand  1811 
ein  abnormer  Ueberschuss  von  372  Procent  an  Weibern  statt  —  da 
stieg  plötzlich  die  Knabenmehrgeburt  um  2  Procent,  nämlich  von 
573  auf  773  Procent."  Unter  den  36,  Millionen  Franzosen  hatten 
damals  weder  die  lebenden  Ehepaare  noch  die  Statistiker  von  dieser 
Abnormität  eine  Ahnung,  um  sich  sofort  zur  Compensation  zu  rüsten. 
Wenn  im  Bienenstaate  das  Volk  nach  zufälliger  Entwickelung  sich 
ohne  Zaudern  daran  macht,  den  Verlust  der  Königin  durch  künst- 
liche Auffütterung  einer  gewöhnlichen  Made  mit  königlichem  Futter 
zu  ersetzen,  so  wissen  alle  Bewohner  des  Stockes,  dass  ihnen  die 
Mutter  fehlt,  dass  ihnen  Untergang  droht,  wenn  sie  keine  neue  er- 
ziehen; in  Frankreich  hatten,  wie  gesagt,  nur  einige  Statistiker, 
vielleicht  auch  erst  nach  Jahren,  von  dem  Ueberwiegen  des  weib- 
lichen Geschlechts  Kenntniss  erhalten.  Verf.  hat  sich  die  grosse 
Mühe  gegeben,  als  schlagendes  Compensationsbeispiel  den  Parallelis- 
mus zwischen  Abnahme  des  Weiberüberschusses  und  Zunahme  der 
Knabenmehrgeburt    von    1811   bis    1854   zu    berechnen     und    stellt 


Notizen. 


208 


darüber  Tabellen  zusiaminen..  Das  Resultat  heisst:  Der  Weiberüber- 
schuss  sank  allmälig  um  5,o7  %,  die  Knabenmehrgeburt  nahm  zu  um 
l»23Vo-     I^er  Parallelismus  ist  eben  nicht  sehr  correct. 

Wir  können  einen,  gewiss  zufälligen,  d.  h.  ohne  alle  gegenseitige 
Gausation  sich  ergebenden  correcteren  Parallelismus  zwischen  Knaben- 
mehrgeburten  in  Frankreich  und  denen  in  Russland  vorführen. 

Auf  100  Mädchen  wurden  Knaben  geboren: 
In  Frankreich  (Soc.-Ethik  342),      in  Russland  (akadem.  Berichte): 


1827   31  .  . 

106,33, 

1831   36  .  . 

.  .  106,,,, 

1837   41  .  . 

.  .  105„6, 

1842  —  46  .  . 

.  .  105,5«, 

1847   51  .  . 

.  .  105,30, 

1851  54  .  . 

.  .  105„s, 

T 


107,,,, 
105,„, 

105,28^ 

105,05, 
105,20, 
104,90. 


Wer  wird  in  diesem  Parallelismus  eine  Wirkung  französischer 
Knabenbedürftigkeit  im  Volke  auf  russische  Knabenproduction  von 
1811  bis  1827,  und  darauf  folgende  gleichlaufende  Abnahme  der 
Zeugungskraft  beider  Nationen  sehen  wollen? 

Noch  ein  anderes  Beispiel  können  wir  anführen,  worin  man 
gleichfalls  an  Compensations- Tendenz  nicht  denken  darf.  Das 
procentale  Verhältniss  der  Selbstmorde  in  Oesterreich  und  der  un- 
ehelichen Conceptionen  daselböt  bildet  in  beiden  Vorkommnissen  eine 
gleichartig  absteigende  Linie  von  den  heissen  Monaten  durch  die 
mittleren  zu  den  kalten  Monaten: 

Mai,  Juni,  Juli,  Aug.  —  März,  April,  Sept.  Oct.  ^—  Jan.  Febr.  Nov.  Dec. 
Selbstmordfrequenz  11,3 ~  7,^,  —  6,o  (Tab.  160) 

Uneheliche     Con- 

ceptionsfrequenz  8.92 —  8,29,  —  8,0*  (p.  557). 

Selbst  nach  Jahreszeiten  berechnet,  zeigt  sich  eine  ähnliche 
Bewegung: 

Winter.  Frühling.  Sommer.  Herbst. 

Nov., Dec,  Jan. ;  Febr., März, April;  Mai,  Juni,  Juli;  Aug.  Sept.  Oct. 
Selbstmord- 


r93'i 


8 


t23'i 


8 


fOl 


frequenz:        6,33,  7,93,  10 

Uneheliche 

Conceptfreq.  7,62,  8,50,  9,oo, 

Sollen  vermehrte  Conceptionen  den  Verlust  durch  Selbstmord 
compensiren?  —  oder  soll  der  Selbstmord  gegen  den  Ueberschuss 
vermehrter  Conceptionen  tendiren?!  Der  Zu-  und  Abnahme  in 
beiden  Vorgängen  dürfte  wohl  derselbe  Grund  als  Erklärung  dienen : 


208  NoüzeB. 

stärkere  Innervation  im  Zeugungsapparate  wie  im  Seelenorgane  durch 
erhöhte  jahreszeitliche  Temperatur  —  geringere  durcli  verminderte 
Temperatur.  —  So  würden  wir  denn  auch  das  Steigen  in  der 
Knabenmehr  gehurt,  von  dem  oben  die  Rede  war,  ganz  einfach  aus 
dem  nach  Kriegen  „frei  gewordenen  Heirathstrieb"  im  Verein  mit 
der  Erfahrung,  dass  Erstlings-Ehen  10  Vo  mehr  Knaben  als  Madchen 
geben,  berechnen  können.  Von  105  würde  die  Ziffer  der  Knaben- 
mehi^eburt  steigen: 

im  ersten  Jahre  auf  105,g(, 

im  zweiten     „       „    106,j|, 

im  dritten  „  „  106^,  per  100  Mädchen, 
und  da  haben  wir  dieselbe  Steigerung,  welche  von  1811  an  in  Frank- 
reich das  Gesetz  der  Compensationstendenz  beweisen  sollte.  Wir 
brauchen  nicht  an  „die  mathematisch  genaue  Buchführung  des  unend- 
lichen Arithmetikus^',  nicht  an  eine  „Compensationstendenz'",  nicht 
an  „die  Ehe  als  Quellpunkt"  zu  appelliren,  „um  welchen  sich,  wie 
um  ein  pulsirendes  Herz  alle  Venen  und  Arterien  des  coloasalec 
Organismus  sammeln,  um  lebenerzeugend  immer  wieder  neues  und 
doch  dasselbe  Blut  in  warmhaltender  Bewegung  durch  alle  Glied- 
maassen  strömen  zu  lassen."  Im  Gesamm^efühl  des  Volkes  vermag 
kein  gesteigerter  Wunsch,  keine  intensivere  Willensrichtung  auf  com- 
peosirende  Knabengeburten  einzuwirken ;  denn  physiologische 
Processe  compenslren  sich  unbewusst  nur  im  individuellen 
Organismus. 

Das  zweite  Gapitel  ist  psychologiechen  Voi^ängen  im  Organismus 
der  Menschheit  gewidmet.  Es  handelt  auf  150  Seiten  von  der  Ge- 
schlechtsgemeinschaft, von  der  Zeugung  in  ihrer  Bedeutung  für  die 
Socialethik,  von  der  Messbarkeit  der  Heirathstendenz ,  von  der 
Heirathsfrequenz  nach  Stand  und  Alter;  dann  von  Ehescheidungen, 
wilder  Ehe,  Prostitution,  Nothzucht,  Sodomie.  Der  Nachweis,  wie 
gewisse  materielle  und  geistige  Ursachen  constant  oder  periodisch 
bestimmend  auf  alle  diese.  Handlungen  einwirken  und  ihnen  eine 
merkwürdige  Regelmässigkeit  aufdrücken,  ist  ausserordentlich  be- 
lehrend. Das  Alles  mues  studirt  und  nachberecbnet  werden,  wozu 
wir  dringend  die  Theologen  auffordern,  „denn  es  handelt  sich  im 
Grunde  um  etwas  Hohes  und  Heiliges",  sagt  Verf.  pg.  352. 

Wir  umgehen  dieses  Capitel , '  obgleich  dasselbe  besonderer 
W er tb Schätzung  empfohlen  wird :  „Ziehe  deine  Schuhe  aus,  denn 
der  Ort,  da  du  auf  stehest,  ist  heiliges  Landl"  und  begeben  uns  auf 
das    physiologische    Terrain     der    „Progenitur",     welches     von 


Notizen.  209 

pag.    505    bis    591    sich    erstreckt    und    die  Tabellen   88    bis   110 
uinfasst. 

Die  Betrachtungen  über  eheliche  Fruchtbarkeit  und  Bevölke- 
rungsbewegung leitet  Verfasser  wieder  mit  einer  Verwahrung  gegen 
Missdeutung  ein,  als  handele  es  sich  hier  gar  nicht  um  eine  sittlich 
bedeutsame  Frage,  sondern  lediglich  um  physische  Gesetze  der  Volks- 
vermehrung.  Die  sittliche  Bedeutung  der  Ehe  ist  in  den  Worten 
der  Einleitung  zu  diesem  Capitel  ausgedrückt:  „Allerdings  liegt  die 
Fruchtbarkeit  der  Ehen  oder  der  Kindersegen  ald  solcher  ausserhalb 
des  Kreises  individueller  Willkür.  Niemandem  wird  es  in  den  Sinn 
kommen,  Kinderlosigkeit  ohne  weiteres  unter  den  Gesichtspunkt  einer 
sittlichen  Verschuldung  zu  stellen,  sofern  dieselbe  rein  physische,  vom 
menschlichen  Willen  unabhängige  Gründe  haben  kann  und  in  tau- 
send Fällen  nachweisbar  hat.  Auch  stimmen  alle  jEthiker  darin  überein, 
dass  die  Kindererzeugung  zwar  gemäss  gottgesetzter  Naturordnung 
in  der  Tendenz  der  ehelichen  Gemeinschaft  liegt,  und  als  solche  nicht 
ohne  sittliche  Verschuldung  desavouirt  oder  gar  hintertrieben  werden 
darf.  Allein  nimmermehr  beruht  auf  derselben  die  sittliche  Idee  der 
Ehe,  noch  auch  verliert  die  letztere,  da  sie  ihren  Zweck  in  sich 
selbst  trägt,  in  der  vollen  geistleibigen  Gegenseitigkeit  der.  beiden 
Geschlechter,  durch  mangelnden  Kindersegen  ihren  Werth  und  ihr 
Wesen.  Unter  Umständen  kann  sogar  die  Versagung  die^s  Segens 
vertiefend  und  läuternd  auf  die  individuelle  Lebensgemeinschaft 
wirken."  Auf  die  Betrachtung  der  physischen  Gesetze  der  Volks- 
vermehrung übergehend,  werden  die  Theorien  von  Carey,  Walther, 
Bastiat,  Dühring.  Röscher  und  anderen  National-Oekonomen  kritisch 
beleuchtet.  Darauf  berechnet  Verf.  die  eheliche  Fruchtbarkeit  in 
den  verschiedenen  Ländern,  welche  nach  Ort  und  Zeit  so  bedeutend 
verschieden  ist,  dass  keine  Durchschnitts-ZifFer  als  die  physiologische 
Normale  für  das  Menschengeschlecht  proclamirt  werden  kann.  Noch 
heutzutage  beweisen  einzelne  Fälle,  dass  das  menschliche  Weib  bis 
24  Kinder  in*seinem  Schoosse  entwickeln  und  reif  zur  Welt  bringen 
kann,  der  Fälle  von  Zwillingen,  Drillingen,  selbst  von  Vierlingen 
nicht  zu  gedenken;  aber  diese  vielleicht  ursprüngliche  Fruchtbarkeit 
ist  bis  in  die  Gegenwart  so  heruntergekommen,  dass  eine  Menge 
weiblicher  Individuen  es  zu  viel  weniger  Sprösslingen,  viele  auch 
zu  gar  keinen  bringen.  Das  arithmetische  Mittel  der  Fruchtbarkeit 
gepaarter  Menschen  ist  aus  statistischen  Mittheilungen  in  12  Staaten 
Europas  angegeben,  absteigend  von  den  Niederlanden  mit  4,8g  Kindern 

per  Ehe  bis  Frankreich  mit  8,45  Kindern  (p.  531),    (jRussland  Jtann 
Baltische  Monatsschrift,  Neu»  Folge,  Bd.  T,  Heft  2.  14 


il6  Notizen. 

mit  4,81  beziffert  werden);  der  Gcsammt-Durchschnitt  (eigentlicli  eine 
arithmetische  Spielerei)  stellt  sich  auf  4,42  Kinder  per  Ehe.  Inter* 
essant  wäre  es  von  Statistikern  zu  erfahren,  wie  riele  Ehen  in  den 
resp.  Staaten  kinderlos,  wie  viele  mit  1,  mit  2,  mit  3  u.  s.  w.  Kin- 
dern existiren,  und  zuzusehen,-  ob  die  empirisch  gefundene  Curve 
sich  einer  theoretischen  anschlösse,  welche  sich  wie  eine  logarith- 
mische Linie  ausnähme.  Denn  bei  der  Voraussetzung,  dass  das  vollste 
Maass  der  ehelichen  Fruchtbarkeit  auf  12  Kinder  angesetzt  werden 
könnte,  und  die  Kinderzahl  durch  alle  Nummern  bis  zu  0  sich  ab- 
stufte, ergäbe  sich,  um  als  Durchschnittszahl  4,42  auf  100,  Ehen  zu 
erlangen,  folgende  Reihe: 

2  Ehen  würden  zu  je  12  Kindern  =  24  Kinder  haben. 


Mit  grossem  Verständniss  und  Nachdruck  weist  Verfasser  auf 
die  moralischen  und  .physischen  Ursachen  dieser,  gestehen  .wir  nur, 
erschreckenden  Abnahme  der  ursprünglich  viel  höher  angelegten 
Fruchtbarkeit  des  Menschengeschlechts;  in  einzelnen  Familien  ist  sie 
bis  zum  Aussterben  herabgekommen.  Die  Heilkunde  thut  ihr  Mög- 
lichstes und  rühmt  sich,  den  vernichtenden  Einfluss  mancher  der 
complicirten  Ursachen  erkannt  zu  haben  ^  welche  auf  eine  Ver- 
kümmerung des  menschlichen  Organismus  hinwirken ;  allein  die  hel- 
fenden Factoren  steigen  in  arithmetischer  —  die  zerstörenden  in 
geometrischer  Progression!  Herzzerreissend  ist  das  Bild,  welches 
Verf.  nach  Dr.  Allen  von  der  Abnahme  ehelicher  Fruchtbarkeit  in 
Nord-Amerika  entwirft.  Wenn  wir  Europäer  meinen,  dass  die  in 
der  neuen  Welt  aufsteigenden  Dünste  der  sittlichen  Brechruhr  noch 
nicht  bis  zu  uns  gedrungen  seien,  so  verweisen  wir  auf  die  ziflfer- 
mässig  constatirte  Thatsache,  dass  in  Frankreich,  diesem  Lande  der 


3 

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11 

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11 

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11 

11 

10 

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11 

11 

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11 

0 

11 

11 

100 

Ehen. 

442  Kinder. 

Notis^en.  2X1 

^civilisation"  und  der  ^gloire**,  das  Fruchtabtreiben  seit  1881  sich 
vervierfacht  hat  und  dass  die  Zahl  der  wilden  Ehen,  der  unehelichen 
Kinder  (welche  natürlich  wieder  zu  Grunde  gehen)  mit  der  Eman- 
cipation  der  Frauen  fast  in  allen  Staaten  gleich  grosse  Fortschritte 
macht.  Der  Procenttheil  der  unehelicken  Geburten  ist  z.  B.  in  den 
letzten  25  Jahren  in  Schweden  und  Norwegen  von  6%  auf  9%>  ^^ 
Preussei^  von  6  auf  8,  in  ßachsen  von  13  auf  15,  in  Bayern  von  19 
auf  21  gestiegen !  Was  die  autorisirte  Prostitution  in  Bezug  auf  ver- 
minderte Fruchtbarkeit  des  weiblichen  Individuums,  was  die  selbstver- 
schuldeten, die  vererbten  Geschlechtskrankheiten  auf  Vernichtung  der 
Fortpflanzungskraft  des  Menschen  leisten,  darüber  sind  in  vorliegendem 
Buche  genügende  Belege  aus  verschiedenen  lAndern  niedergelegt. 

In  einer  Moralstatistik  hat  die  aussereheliche  Fruchtbarkeit  vor- 
wiegend moralische  Bedeutung  als  Maassstab  der  Volksunsittlichkeit 
Unleugbar  aber  ist,  dass  das  zunehmende  Verhältniss  der  unehelichen 
Geburten  zu  den  ehelichen  von  gewissen  socialen  und  administrativen 
Umständen  mitbedingt  wird.  Daher  hat  die  angezogene  Erscheinung 
nur  einen  relativen  Werth  als  Sittlichkeitsmesser.  Für  den  Natur- 
forscher bietet  der  vom  Verfasser  auf  die  Zeit  geschehener  Coa- 
ceptionen  reducirte  Naturprocess  einiges  Interesse,  insofern  die  un- 
gebundene aussereheliche  Geschlechtsgemeinschaft  sich  dem  natürlichen 
Einflüsse  des  jahreszeitlichen  Lebens  der  Erde  freier  überlässt,  als 
die  durch  Familienleben,  Arbeitsnoth,  Gewohnheiten  u.  s.  w.  be- 
schränkte eheliche,  und  wiederum  beweist,  dass  der  M^en^ch  die  Summe 
sei  von  Ort  und  Zeit,  Luft  und  Wetter,  Schall  und  Licht"  (C.  Vogt). 
Verfasser  nennt  das  wohl  (pag.  355)  einen  „rohen  und  einseitigen" 
Trugs chluss,  wir  glauben  jedoch  mit  Unrecht.  Reproduciren  wir  in 
verkleinertem  Maasstabe  und  in  astronomische  Jahreszeiten,  nicht  in 
Kalenderquartale,  abgetheilt  des  Verfassers  graphische  Illustration 
zur  Tabelle  über  das  Verhältniss  der  ausserehelichen  und  ehelichen 
Gonceptionen,  so  dürfte  der  parallele  Gang  zwischen  menschlicher 
Fortpflanzungslust  und  Sonnenschein  leicht  in  die  Augen  springen. 

Monate  der  Con-  Procentverhältoiss : 

legitime.  illegitime. 


ception : 
März. 

1 

7/76 

April. 
Mai. 

8/78 
9/23 

Juni. 
Juli. 

8/77 
8,29 

August. 

'/88 

25 


m 


24 


/04 


27,22  Frühling. 


26^)5  Sommer. 


Monate  der  Con- 

ProcentTerhättniBs : 

ception: 

legitime. 

illegitime. 

September. 
October. 

',70 

'.9.       23,,, 

'«„1 

7,,,}    23„i  Herb.t. 

November. 

8«. 

7,.J 

December. 

8„.l 

7,..l 

Januar. 

8,1.       2S,„ 

■  '..0  \    23„j  Winter 

Februar. 

8,., 

8„.( 

Fr 

ihlin 
April 

Sommer: 
Juui.    Juli.    Aug. 

H 

S.,l. 

erbst 
Od. 

Nov. 

W 
Deo. 

inter: 
Jan.     Febr. 

■-1.1 

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27ßa 

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■ 

23,0 

27,,, 

Auf-  und  nieder-geliende  Bewegungen  der  beiden  CurTen  — 
von  welchen  die  pnnktirte  die  auasereheliohen  Conceptionen ,  die 
gezogene  die  ehelichen  bedeutet  —  eind  gleichartig,  wenn  auch  nicht 
parallel.  Ungebundener  lässt  der  Trieb  zur  ausserehelichen  Menechen- 
production  im  Friihlinge,  wo  die  Natur  Knospen  und  Blüthen  treibt, 
sich  gehen,  und  extravagirt  bis  zum  Anfange  des  Herbstes;  im  Herbste 
und  Winter  wird's  kalt  und  dunkel,  der  auasereheliche  Verkehr 
stockt.  Schon  im  Februar  wärmt  die  Sonne,  der  Schnee  schmilzt, 
die  Lerchen  singen ,  die  Schneeglöckchen  blühen  —  die  Ziffer  der 
unehelichen  Coneeptionen  steigt  wieder.  Die  Curve  ehelicher  Con- 
ceptionen  zeigt  gemässigtere  T  hei  In  ahme  am  Naturprocesse,  folgt 
aber  gleichem  Aufschwunge  bis  zum  Mai,  filUt  dann  nach  geschehener 
Sättigung  —  auch  hier  wie  die  Schwestercurve,  bis  zum  September 
ab  —  herbstliche  und  Winterkälte  werden  in  geheizten  Zimmern 
der  Eheleute  kein  Hinderniss  —  im  Gegentheil,  die  Nächte  werden 
lang,  Familienfeste  treten  ein,  Erndten  sind  eingeheimst,  Ehen 
werden  geschlossen  —  überwunden   wird  das  Naturgesetz,  das   sich 


Notizen.  213 

in  der  punktirten  Linie  physiokratisch  richtiger  ausspricht.  So 
schwächen  also  auch  hier  Factoren  psychischer  Herkunft  die  physio- 
logischen ab.  Die  Totalsumme  der  ehelichen  Conceptionen  be- 
trägt im  Sommerhalbjahr  50,7 1%,  iui  Winterhalbjahr  49,29  Vo^  der 
Unterschied  ist  nicht  gross  —  das  Verhältniss  für  uneheliche 
Conceptionen  ist  53,2?  Vo  zu  46,73  %  —  ganz  wie  bei  den  übrigen 
Naturwesen ! 

Die  Abschnitte  pg.  592—847  betreffen  Handlungen  der  Mensch- 
heit aus  der  psychologischen  Gruppe,  socialethische  Lebensbethätigung 
in  der  bürgerlichen  Rechtssphäre,  in  der  intellectuell  ästhetischen 
BUdungssphäre,  in  der  religiös-sittlichen  Sphäre,  über  welche  zu  be- 
richten wir  den  Gelehrten  vom  Fache  empfehlen. 

Ueber  den  dritten  Abschnitt,  der  vom  Tode  im  Organismujs  der 
Menschheit  und  dem  durchgreifenden  Einflüsse  des  menschlichen 
Willens  und  der  socialen  Einrichtungen  auf  die  ^Absterbe-Ordnung** 
handelt,  haben  wir  von. unserem  Standpunkte  aus  nichts  zu  sagen,  da 
er  von  deijenigen  Sorte  Tod  spricht,  wo  „der  Einzelne  in  Folge  einer 
solidarischen  Verkettung  mit  dem  menschlichen  Collectiv- Verderben 
(der  Sünde)  dem  Geschick  des  Sterbens  unterworfen  ist^  (pg.  850) . 
Nur  eine  letzte  Bemerkung  sei  uns  gegen  das  auch  hier  wieder  be- 
liebte ceterumcenseo  unseres  theologischen  Statistikers  erlaubt. 
Er  sagt  gleich  zu  Anfang  des  dritten  Abschnittes:  „Noch  hat  keine 
Physiologie  den  Tod  als  „natürliche  Erscheinung"  zu  erklären  ver- 
mocht. Er  waltet  freilich  als  ein  empirisches  Naturgesetz,  dem  alle 
Creatur  unterworfen  ist.  Aber  ohne  Zusammenhang  mit  der  Sünde, 
mit  der  menschlichen  Collectiv- Schuld  kann  das  allgemeine  Ver- 
hängniss  des  Todes  schlechterdings  nicht  verstanden  werden."  Im 
gewöhnlichen  Gespräche  mögen  wir  mit  dem  Worte  „Tod"  herum- 
spielen, als  ob's  ein  Ding  von  Gutta-Percha  wäre,  wenn  man  aber 
den  Physiologen  zumuthet^  das  „Tod"  genannte  Ding  zu  erklären,  so 
prüfe  man  ernstlich,  was  man  verlangt.  Nachdem  ein  musikalisches 
Concert  beendet-  ist  —  was  kann  davon  in  die  „natürliche  Er- 
scheinung" treten?  Wenn  eine  Linie  von  bestimmter  Länge  aufhört, 
Linie  zu  sein  —  was  tritt  danach  in  die  „natürliche  Erscheinung"? 
Das  Leben  ist  eine  Summe  von  gewissen  Erscheinungen  an  einem 
als  lebend  bezeichneten  Organismus,  ein  Concert  von  sehr  vielen 
harmonisch  gestimmten  Molecularbewegungen  der  organischen  Ele- 
mente. Das  Concert  ist  beendet,  was  kann  von  dem  Nichtmehr- 
Dasein  eines  gewesenen  „So-Seins"  übrig  bleiben?:  ein  mit  dem 
Worte  „Tod"   zum   Substantivum    erhobenes    Nichts,    eine    banale 


214  Notizen. 

Phrase,  wie  „Herr  N.  N.  wird  abwesend  angetroffen"!  Den  Phy* 
Biologen  tritt  ein  Leben,  das  „abwesend  angetroffen  wird"  nicht  in 
die  „natürliche  Erscheinung",  aber  der  grosse  Process,  welcher 
zur  Auflösung  des  zu  Lebensäusserungen  befähigten  Körpers  führt, 
das  „Absterben"  ist  ihnen  nicht  unbekannt,  sie  reden  sogar  von 
Ursachen,  von  Gesetzen  des  Hinwelkens,  Siechens,  Sterbens  der 
Lebewesen,  von  einer  Euthanasie.  Woher  kommt  den  Theologen 
der  Tod,  der  einen  Leib,  einen  Stachel  hat,  der  da  herrschte  von 
Adam  an  bis  auf  Mose  (Brief  an  die  Römer  6,  14)?  Von  der  Ge- 
wohnheit aller  redenden  Menschen,  von  Kindesbeinen  an,  mit 
Worten,  welche  Abstractionen  bezeichnen,  umzugehen  als  repräsen- 
sirten  sie  läuter  Realitäten!  Wir  haben  sprachlich  aus  allen  Bei- 
wörtern, welche  Eigenschaften  oder  Thätigkeiten  bezeichnen,  Sub- 
stantive gemacht,  z.  B.  Schwere,  Licht,  Wärme,  Kraft,  Seele,  Geist 
und  hundert  andere;  wir  stellen  sie  als  materielle,  mit  verschiedenen 
Würden  umkleidete  Schachfiguren  auf  unser  Gedankenbrett,  wir 
lassen  sie  gegen  einander  manövriren  nach  vorausbedachten  Zielen 
in  regelrechten  Figuren.  Dieses  Spielen  mit  tönenden  Repräsentanten 
von  Phantasiegebilden  ist  uns  dermaassen  zur  Gewohnheit,  zum 
mechanischen  Lautenschlagen  auf  einem  mit  Luft  besaiteten  Instru- 
mente geworden,  dass  wir  allmälig  es  garnicht  mehr  merken,  wenn 
wir  mit  imaginären  Grössen  operiren,  und  reelle  zu  denken  ver- 
meinen. So  sind  in  allen  Wissenschaften,  Philosophie  und  Theologie 
nicht  ausgenommen,  Wortphantome  hineingerathen ,  welche  bei 
näherer  Prüfung  in  Nichts  zerstieben. 

Wer  an  ihr  reales  „Dasein"  und  „Sosein"  zweifelt,  wird  sofort 
als  geistesschwach  von  denen  proclamirt,  vor  deren  aufgeregter 
Phantasie  sie  in  die  „natürliche  Erscheinung"  treten ;  der  Dintenklex 
an  der  Wand  beweise  ja  ihre  Existenz! 

Dichtern  sei  gestattet  zu  singen: 

„Wage  nur  zu  irren  und  zu  träumen, 
Hoher  Sinn  liegt  oft  in  kindischem  Spiele  I*' 

—  doch  nimmer  den  Arbeitern  auf  dem  Felde  der  Wissenschaft 
hohen  Sinn  im  Schöpfen  aus  dem  Leeren  in's  Bodenlose  zu  finden. 
Solch  Schöpfen  täglich  wiederholt,  ohne  dazwischen  geschobene 
solide  Leistung,  bringt  nach  dem  morphologischen  Gesetze  von  an- 
haltendem Missbrauch  organischer  Thätigkeiten  für  immer  die  Hirn- 
function  in  eine  schiefe  Richtung,  welche  als  die  somatische  Grund- 
lage des  Irrsinns  in  allen  seinen  Formen  angesehen  werden  muss. 


Notizen*  216 

Die  herkömmliche  Sehlusssentenz  fassen  wir  kurz  in  die  Worte 
zusammen:  die  Socialethik  des  Professors  der  Theologie  A.  v.  Oet- 
tingen  ist  ein  Ereigniss  auf  unserem  vorgeschobenen  Posten  deutscher 
Wissenschaft  —  wir  können  in  allen  Ehren  stolz  sein  auf  solch'  ein 
bei  uns  gereiftes  Geistesproduct  1  — cz. 


Der  Name  Livland  reichte  einst  von  dem  finnischen  Meerbusen 
bis  zur  littauischen  Grenze.  Seit  dem  Untergange  des  selbständigen 
livländischen  Ordens-  und  Bischofsstaates  wurde  seine  Geltung  so- 
wohl um  einen  Strich  Landes  im  Norden  als  auch  im  Süden  ver- 
kürzt. Und  dieses  verldeinerte  Livland  unterlag  im  folgenden 
17.  Jahrhundert  noch  einer  Theilung  in  der  Richtung  von  West  nach 
Ost:  in  Schwedisch-  und  Polnisch -Livland.  Beide  sind  nun  schon 
längst  russisch  geworden  (das  eine  seit  1710,  das  andere  seit  1772) 
—  aber  das  anderthalbhundertjährige  Intermezzo  ihrer  Zugehörig- 
keit zu  verschiedenen  Staaten  hat  hingereicht,  sie  gründlichst  ein- 
ander zu  entfremden.  Niemand  wird  leugnen ,  dass  diese  Ent- 
fremdung weit  mehr  durch  das  Schicksal  des  kleineren  östlichen  als 
durch  das  des  grösseren  westlichen  Theiles  verschuldet  worden  ist, 
denn  nur  dort  hat  zu  einer  gewissen  Zeit  ein  Abbrechen  der  ge- 
schichtlichen Continuität  und  ein  plötzlicher  Uebergang  in  ein  anderes 
genus  stattgefunden.  Daher  erscheint  denn  auch  das  dortige  Wesen 
der  diessseitigen,  deutsch-livländischen  Auflfassung  leicht  als  ein  ab- 
gefallenes und  entartetes,  und  als  solches  ist  es  denn  auch  von 
J.  Eckardt  in  seinem  Aufsatze  „Polnisch  -  Livland"  (in  Desselben 
„Baltischen  Provinzen  Russlands"  S.  319  —  334)  behandelt  worden. 
Auf  ganz  entgegengesetztem  Standpunkt  steht  der  ungenannte  Ver- 
fasser einer  unlängst  erschienenen  Schrift  über  denselben  Gegenstand, 
die  der  Aufmerksamkeit  unserer  Leser  empfohlen  zu  werden  verdient. 

„Polnisch-Livland,  Riga  1869,  bei  N.  Kymmel"  (95  S. 
4°.)  —  so  heisst  diese  sich  mit  Bescheidenheit  als  „Separatabdruck 
aus  der  Livländischen  Gouvernements- Zeitung"  ankündigende,  aber 
durch  spätere  Zusätze  erweiterte  und  durch  Beigabe  von  Karten  und 
Abbildungen  zu  einem  kleinen  Prachtwerk  ausgestattete  Monographie. 
Sie  besteht  nicht  in  feuilletonistisch-geistreichen  Apergu's,  sondern  in 
dem  ernsthaft  gemeinten  Versuch  einer  allseitigen  Schilderung  der 
Zustände  des  betreffenden  Landstrichs.  Zwar  bietet  sie  weder  die 
Fülle  einer  erschöpfenden  statistischen  Behandlung,  noch  die  einer 
quellenmässigen  Geschichtsforschung;  aber  wenigstens  lässt  sie  überall 
erkennen,  dass  der  Verfasser  bei  den  geschilderten  Dingen  selbst  zu 


216  Notizen. 

Hause  ist  und  aus  Anschauung  redet.  Ja,  obgleich  er  sich  fast 
durchweg  von  allem  tendenziösen  Pathos  freigehalten  hat,  so  fühlt 
man  seiner  Arbeit  doch  an,  dass  sie  wesentlich  von  der  Liebe  zur 
Heiniath  und  von  dem  Wmische,  über  sie  richtige  Begriffe  zn  ver- 
breiten, eingegeben  ist.  Ein  solches  Motiv  aber  gereicht  offenbar 
nicht  nur  dem  Büchlein,  welches  daraus  hervoi^egangen  ist,  sondei 
auch  dem  Ländchen  selbst,  auf  welches  es  sich  bezieht,  zur  Em- 
pfehlung; denn  so  lange  als  ein  Land,  eine  Stadt  von  ihren  Ange- 
hörigen geliebt  wird ,  muss  doch  noch  etwas  Gutes  daran ,  einige  l 
Lebenskraft  darin  sein.  ^  ' 

Die  einzige  Stelle,  in  welcher  die  Stimmung  ausnahmsweise  eine 
pathologische  geworden  ist  (S,  72),  bezieht  sieh  auf  Eckardt's  oben 
erwähnten  Aufsatz,  Das  hier  ohne  nähere  Begründung  gefällte 
Urtheil  ist  vielmehr  nur  eine  erbitterte  Invective,  und  dabei  ist  der 
Verf.  so  unvorsichtig  gewesen,  selbst  (S.  54)  einen  Passus  aus  Eckardt 
anzuführen,  der  sofort  dessen  überlegenes  Darstellungstalent  empfinden 
läset.  Unsrerseits  mögen  wir  —  abgesehen  von  einigen  speciellen 
Irrthümern  Eckardt's  —  nur  noch  soviel  zugeben,  dass  er  neben  den 
uns  abstossenden  Seiten  seines  Gegenstandes  allerdings  auch  die  uns 
anziehenden  mehr  hätte  zur  Geltung  bringen  können.  Der  letzteren 
aber  giebt  es  namentlich  zwei:  1)  die  dem  einen  und  dem  anderen 
Livland  gemeinsame  ältere  Geschichte,  und  2)  die  Einheit  des 
lettischen  Volkstamms  hüben  und  drüben.  Sowol  der  diesseitige 
Historiker  als  auch  der  diesseit^e  „Lettenfreund"  (in  Jedem  mög- 
lichen Sinne  dieses  Wortes)  werden  immer  auch  das  sogenannte 
polnische  Livland  in  den  Kreis  ihrer  Studien  und  Sympathien  ein- 
schliessen  wollen.  Unsere  lettisch-litterärische  Gesellschaft  ist  froh 
gewesen  letztens  ia  ihrem  „Magazin",  eine  Sammlung  lettischer 
Volkslieder  im  Dialekt  Polnisch -Livlands  drucken  zu  können,  und 
unseren  Historikern  würde  kein  kleiner  Gefallen  geschehen,  wenn 
Jemand  auch  für  Polnisch-Livland  eine  „Brieflade''  nach  Art  unserer 
Baron-Tollschen  herausgeben  wollte.  Wie  viele  und  wie  alte  Guts- 
und Familienurkunden  auch  dort  noch  aufbewahrt  werden,  darüber 
giebt  in  vorliegendem  Werke  das  ihm  angehängte  „Verzeichniss  der 
r  und  Kirchen  in  Polnisch-Livland''  schätzbare 


nsurerlaubt^     Riga,  den  29.  April  1870. 
liTläDdiachea  Goavernements-Tfp  ographie. 


Briefkasten. 


Herrn  B.  in  R.  Die  in  den  „Mittheilungen  und  Nachrichten  für  die  evan- 
gelische Kirche  in  Russland"  (Aprilheft  S.  191  des  laufenden  Jahrganges)  in 
Rücksicht  auf  das  Januar-Februarheft  der  B.  M.  von  dem  Herrn  J.  Bacmeister 
abgegebene  Erklärung  hat  —  wie  es  sich  schon  aus  der  Unterschrift  ergiebt  — 
einen  blos  persönlichen  Charakter,  und  wird  auf  das  bisherige  Verhältniss  der 
Redaction  der  B.  M.  zu  der  Verlagshandlung  „Bacmeister  &  Brutzer**  von 
keinem  Einfluss  sein. 


■IIA 


v/A in^iiiiici  i^muöi^euugsamKeic  von  üer  Vergangenheit  abkehren, 
die  wir  doch  nun  einmal  aus  unserer  ganzen  Entwickelung  nicht 
fortdecretiren  können. 

Aber  das  Leben  Konradin's,  welcher  noch  nicht  siebzehn  Jahre 
erreicht  hatte,  als  er  sein  Schicksal  erfüllte,  was  kann  das  bieten? 
Wie  kann,  so  höre  ich  Sie  fragen,  dieser  Jüngling',  der  vielleicht 
nie  selbständig  geworden  ist,  ein  würdiger  Gegenstand  der  histori- 
schen Betrachtung  werden,  die  es  doch  vorzugsweise  mit  dem  Han- 
deln, mit  dem  bewussten  Schaffen  des  Mannes  zu  thun  hat?  Gewiss, 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  5  u.  6.  15 


^ 


Kotizen. 


Ha„.e  i.t  und  .«.  Anschauung  redel  '-^j  '^^^  ^l,"^  fühlt 
durchweg  von  .Uen,  tcnden.iM.u  P.lh»  <'''f^^l^^\,,b,  zur 
„„  .einer  Arbeit  doch  »,  d...  .ic  ""»"«'  ""''  ff.  ™  ver- 
Heimath  und  von  dem  Wun.che,  über  "-  "»'«b;  "fj  "    „ff^nb« 

breiten,  etagegeben  i.t.     Em  solche,  Motrv  aber  gereicht _ 

nicht  nur  dem  Büchlein 


ver-       , 


.^.„  UHU.    wie  aiie  uuts- 
„rfen  auch  dort  noch  aufbewahrt  werden,  darüber 

.---. """"''^''^"      Werke  das  ihm  augehängte  „V erzeichniss  der 

sCe:y;etr^i^^-  -^  ^'^^'^"  ^"  PoWh-LivWd^'  schM.b.re 
Andeutungen.  -r. 

.^j^j.  erlaubt^    Kiga,_deD_29^  April_J._870^ 
,__Jonder  Cf  ^^j^^ndischen  Goävemements-Typographie. 


\ 


Die  Politik  der  Papste  und  Konradin. 


Kin  "Vortraar* 

gehalten  am  17.  Februar  im  Museum  zu  Bern. 


Als  ich  das  Leben  Konradin*s  zum  Ausgangspunkte  meines  histori- 
schen Vortrags  wählte,  war  ich  mir  der  Schwierigkeiten  und  der 
Bedenken  einer  solchen  Wahl  sehr  wohl  bewusst,  und  namentlich, 
dass  man  in  weiten  Kreisen  von  dem  Mittelalter  überhaupt,  als  von 
einer  barbarischen  Zeit  und  einem  längst  überwundenen  Standpunkte 
durchaus  nichts  mehr  wissen  will,  durchaus  nichts  hören  mag.  Wie 
wenig  eine  solche  Ansicht  berechtigt  ist,  will  ich  jetzt  gerade  nicht 
weiter  ausführen,  obwohl  es  sich  sehr  leicht  nachweisen  lässt,  wie 
ein  gutes  Stück  dieses  verachteten,  angeblich  längst  überwundenen 
Mittelalters  noch  immer  unter  uns  fortlebt,  ja  sogar  noch  in  die  Ge- 
setzgebung der  neuesten  Zeit  hineinragt.  Oder,  um  ein  anderes  Ge- 
biet zu  berühren:  sind  nicht  die  Gedanken,  welche  aus  den  Ent- 
würfen des  jetzigen  Concils  zu  uns  sprechen,  noch  so  sehr  dieselben, 
von  denen  die  hierarchischen  Bestrebungen  des  Mittelalters  bestimmt 
wurden,  dass  am  Ende  der  ganze  Unterschied  nur  in  der  Form 
liegt,  in  welcher  sie  ausgesprochen  werden?  Wir  berauben  nur  uns 
selbst  der  besten  Waffe  zur  Vertheidigung  der  berechtigten  Er- 
scheinungen der  Neuzeit  gegen  antiquirte  Ansprüche,  wenn  wir  uns 
in  vornehmer  Selbstgenügsamkeit  von  der  Vergangenheit  abkehren, 
die  wir  doch  nun  einmal  aus  unserer  ganzen  Entwickelung  nicht 
fortdecretiren  können. 

Aber  das  Leben  Konradin's,  welcher  noch  nicht  siebzehn  Jahre 
erreicht  hatte,  als  er  sein  Schicksal  erfüllte,  was  kann  das  bieten? 
Wie  kann,  so  höre  ich  Sie  fragen,  dieser  Jüngling",  der  vielleicht 
.  nie  selbständig  geworden  ist,  ein  würdiger  Gegenstand  der  histori- 
schen Betrachtung  werden,  die  es  doch  vorzugsweise  mit  dem  Han- 
deln, mit  dem  bewussten  Schaffen  des  Mannes  zu  thun  hat?  Gewiss, 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  5  u.  6.  15 


218  Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin. 

von  Konradin'B  Thaten  wird  nicht  allzuviel  zu  melden  sein  und 
wollte  ich  ihn  zum  Helden  meiner  Darstellung  machen,  so  mtisEte 
ich  an  derselben  Klippe  scheitern,  an  welcher  die  zahllosen  Versuche 
der  Dichter,  dieses  Leben  dramatisch  zu  gestalten,  mit  Fug  und 
Recht  zu  nicbte  geworden  sind,  an  der  allzngrossen  Jugendlichkeit 
und  der  dadurch  bedingten  Passivität  des  Helden.  Konradin  aber 
gehört,  wie  mir  scheint,  der  allgemeinen  Geschichte  an  weniger  durch 
sein  ThuD,  als  dnr«h  sein  Leiden,  insofern  in  dem  Kampfe  für  und 
wider  seine  Existenz  sich  der  gewaltige  Conflict  zwischen,  Kaiaer- 
thura  und  Papstthnm,  zwischen  Staat  und  Kirche  gleichsam  krystalli- 
sirte,  —  jener  Conflict,  der  das  hohenetau  fische  Geschlecht  verschlang 
und  dadurch  über  die  Zukunfl.  Italiens  und  Deutschlands  entschied. 
Das  ist  der  Hintergrund,  vor  welchem  das  Leben  Konradin's  sich 
abspielt;  das  sind  die  welthistorischen  Frf^en,  welche  das  verhäng- 
nissvolle Ende  dieses  Lebens  beantwortet  bat.  Es  wäre  mir  leicht, 
Ihr  Mitteiden  wachzurufen  mit  dem  Schicksale  des  letzten  Staufers, 
der  zur  Erlangung  seines  ihm  von  den  Päpsten  vorenlbalteneu  väter- 
lichen Erbes  auszieht  und  dabei  kläglich  in  jungen  Jahren  zu  Grunde 
gebt.  Aber  mehr  als  Mitleid  beansprucht  der  Umstand,  dass  dieser 
staufische  Jüngling  der  anerkannten  Allgewalt  des  Papstthums  ent- 
gegenzutreten und  dem  maasslosen  Uebei^reifen  der  Hierarchie  auf 
das  rein  weltliche  Gebiet  Schranken  zu  setzen  berufen  war.  leh 
brauche  nicht  daran  zu  erinnern,  dass  dieser  Jüngling,  dessen  ganze 
Existenz  ein  Widerspruch  gegen  Roms  Dictatur  war,  wenigstens 
einem  Theile  des  Scbweizerlandes  als  sein  letzter  Herzog  nahe  stand; 
aber  um  nicht  in  den  Verdacht  zu  kommen,  dass  ich  Ihnen  bloa 
längst  Bekanntes  zu  bringen  beabsichtige,  darf  ich  wohl  im  Voraus 
erwähnen,  dass  ich  über  einiges  ungedruckte  Material  verfl^en 
konnte ,  welches  auf  einzelne  Partieen  dieser  Zeit  neues  Licht 
werfen  wird. 


Es  wird  manchem  auffallend  erscheinen,  wenn  ich  behaupte,  dass 
der  Keim  zu  dem  Untergange  der  Hohenstaufen  schon  in  den  glän- 
zenden Erfolgen  Barbarossa's  und  seines  Sohnes  Heinrich  VI.  lag; 
doch  lässt  sich  die  Wahrheit  dieser  Behauptung  leicht  nachweisen 
wenn  man  sich  die  durch  diese  Erfolge  in  Italien  geschaffene  Situation 
vergegenwärtigt.  —  Sie  wissen,  dass  Friedrich  Barbarossa  zuletzt 
im  Kampfe  gegen  die  lombardischen  Städte  unterlag  und  dass  er 
durch   den  Abfall  Heinrich 's  des  Löwen  genöthigt  wurde,    sich   mit 


Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin.  219 

seinen  italienischen  Gegnern  auseinanderzusetzen  und  die  freiheitliche 
Entwickelung  der  Städte  anzuerkennen.  Weniger  bekannt  ist  es 
aber,  dass  er  für  dieses  Aufgeben  mehr  oder  weniger  alter  Ansprüche 
von  den  lombardischen  Städten  sehr  reelle  Machtmittel  eintauschte, 
nämlich  Geld  und  Truppen,  und  dass  er  somit  dem  Kaiserthume 
wieder  einen  festep  Boden  in  Italien  gab,  nachdem  es  vorher  in 
Gefahr  gewesen  war,  sich  zu  einer  rein  idealen  Gewalt  zu  ver- 
flüchtigen. Aber  noch  mehr:  Mittelitalien  Hess  er  zum  grossen  Theile 
geradezu  durch  seine  Beamten  regieren,  und  da  in  Betreflf  derjenigen 
Landschaften,  über  welche  neben  dem  Reiche  auch  der  Kirche  An- 
rechte zustanden,  eine  befriedigende  Vereinbarung  nicht  erzielt  wer- 
den konnte,  so  behielt  der  Kaiser  diese  Gebiete  eben  auch  in  seiner 
eigenen  .Verwaltung.  Wenn  die  Kirche  ihre  Ansprüche  auch  ni6ht 
aufgab,  so  hat  sie  damals  doch  nicht  gewagt,  sie  nachdrücklich  gel- 
tend zu  machen,  oder  gar  ihr  Rüstzeug  an  Bann  und  Interdict  zu 
gebrauchen.  Die  kaiserliche  Obergewalt  in  Italien  war  damals  so 
gross,  dass  jeder  Gedanke  an  Widerstand  erlahmte,  und  sie  war  auf 
dem  besten  Wege,  den  Nachfolger  eines  Gregor's  VII.  und  Alexan- 
der's  ni.  in  die  Stellung  eines  ersten  Bischofs  des  römischen  Reichs 
herabzudrücken,  in  der  die  universale  Geltung  des  Papstthums  sich 
schwerlich  hätte  erhalten  lassen.  Diese  Uebermacht  des  Kaiserthums 
wuchs  endlich  noch  mehr,  als  Heinrich  VI.  sich  auch  in  den  Besitz 
des  normannischen  Reiches  von  Unteritalien  setzte  und  nun,  zum 
ersten  male  seit  den  Zeiten  der  Römer  die  gesammte  Halbinsel 
wieder  unter  einer  Herrschaft  vereinigte,  als  ein  Glied  des  gewaltigen 
Ländercomplexes,  der  nun  den  Staufern  gehorchte  und  von  der  Süd- 
spitze Siciliens  bis  zur  Eider,  von  der  Rhone  bis  zur  Oder  reichte. 
Von  drei  Seiten  umspannte  er  das  kleine  Gebiet,  welches  dem  Papste 
verblieben  war  —  ungefähr  in  derselben  Ausdehnung,  wie  der  jetzige 
Kirchenstaat  — ;  von  drei  Seiten  konnte  er  seine  Mannschaften  ein- 
rücken lassen,  sobald  das  Verhalten  des  Papstes  nicht  seinem  Wollen 
und  Wünschen  entsprach.  Denken  Sie  sich  heute  die  französische 
Besatzung  aus  Rom  fort,  so  haben  Sie  wenigstens  annähernd  die 
politische  Lage,  in  der  sich  am  Ende  des  12.  Jahrhunderts  der  Papst 
dem  Kaiser  gegenüber  befand.  Gleiche  Ursachen  müssen  aber  auch 
gleiche  Wirkungen  haben.  Wie  heute  also  die  Curie  der  Mittelpunkt 
aller  reactionären  Gelüste  ist,  welche  auf  die  Zertrümmerung  des 
italienischen  Königreichs  speculiren,  so  war  sie  damals  und  so  fortan 
die  grundsätzliche  Gegnerin  der  über  die  ganze  Halbinsel  sich  er- 
streckenden  kaiserlichen    Gewalt.      Nur    wenn    dieses    Kaiserthum 

15* 


220  Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin. 

zerbrochen  ward  durfte  sie  hoffen,  die  ihr,  wie  sie  es  ansah,  mit 
Unrecht  vorenthaltenen  Provinzen  zurück  zu  erlangen;  nur  wenn 
es  ihr  glückte,  die  schwere  Hand  der  Staufer  abzuschütteln,  welche 
auf  ihr  lastete,  konnte  sie  sich  wieder  frei  bewegen,  wieder  selb- 
ständige Entschlüsse  fassen  und  wieder  der  Weltherrschaft  nachgehen. 
Der  Zufall  war  ihr  günstig.  Heinrich  VI.  starb  plötzlich  und 
der  alleinige  Umstand,  dass  er  nur  einen  unmündigen  Sohn  hinter- 
liess,  genügte  vollkommen,  um  das  gewaltige  Reich  der  Staufer,  das 
eben  noch-  so  gut  begründet,  so  fest  geschlossen  geschienen  hatte, 
mit  einem  Schlage  in  allgemeine  Anarchie  zu  stürzen,  fast  in  dem- 
selben Augenblicke,  in  welchem  an  die  Stelle  altersschwacher  Greise 
ein  jugendlich  kräftiger  Mann  auf  den  päpstlichen  Thron  erhoben 
wurde,  der  in  sich  Befähigung  und  Muth  genug.  Wissen  und  Können 
fühlte,  um  die  umfassendsten  Ansprüche  des  Papstthums,  namentlich 
den  weltlichen  Gewalten  gegenüber,  aufzustellen,  durchzuführen: 
Innocenz  HI.  Keinen  Augenblick  zögerte  er,  die  Gunst  der  Umstände, 
welche  der  Tod  Heinrich's  geschaffen  hatte,  für  sich  auszunutzen. 
In  Italien  war  dieser  Tod  das  Signal  zu  einer  gegen  die  deutsche 
Herrschaft  gerichteten  Bewegung  geworden:  Innocenz  machte  sich 
zu  ihrem  Führer  und  wusste  die  nationale  Regung  vortrefflich  für 
die  Interessen  des  Papstthums  zu  verwerthen.  Das  normannische 
Reich  liess  er  zwar  dem  Sohn  des  verstorbenen  Kaisers,  aber  unter 
seiner  eigenen  Vormundschaft  und  als  ein  Lehen  der  römischen 
Kirche.  Ueberall  liess  er  die  deutschen  Beamten  und  Herren  ver- 
treiben;  er  ersetzte  sie  durch  Cardinäle  und  Legaten.  Hier  durch 
kluge  Ueberredung,  dort  durch  militärische  Gewalt  brachte  er  es 
dahin,  dass  er  selbst  auch  in  Mittelitalien  ganz  die  Stelle  des  Kaisers 
einnahm  und  jetzt  erst  einen  wirklichen  Kirchenstaat  gründete,  etwa 
in  dem  Umfange,  in  welchem  derselbe  bis  vor  zehn  Jahren  be- 
standen hat.  Ueber  die  Kräfte  Toscanas  verfügte  er  als  eine  Art 
Präsident  des  dortigen  Städtebundes,  der  schon  zur  Zeit  seines  Vor- 
gängers ins  Leben  getreten  war.  Und  aus  Oberitalien  und  der  Lom- 
bardei wusste  er  wenigstens  die  Entscheidung  aller  wichtigeren 
Fragen  vor  sein  Tribunal  zu  ziehen.  Als  Mittel  zu  allen  diesen 
Zwecken  diente  ihm  die  schlaue  Vermischung  des  Geistlichen  und  Welt- 
lichen, in  der  die  römische  Curie  immer  Meister  gewesen  ist,  vielleicht 
niemals  aber  feiner  operirte  und  grössere  Erfolge  erreichte,  als  unter 
Innocenz  III.  Er  brachte  es  dahin,  dass  das  von  der  deutschen 
Herrschaft  befreite  Italien  sich  um  ihn  gruppirte.  Der  Traum  der 
vierziger  Jahre  unseres  Jahrhunderts:    ein   nationales   Italien  in   der 


Die  Politik  der  Päpste  und  Eonradin.  221 

Form  eines  Staatenbundes  unter  dem  Vorsitz  und  Leitung  des  Papst- 
Könij^s,  war  schon  ara  Anfange  des  13.  Jahrhunderts  seiner  Verwirk- 
lichung nahe.  Dass  er  nicht  zur  Verwirklichung  kam,  wurde  hauptsäch- 
lich durch  die  Abneigung  der  mittelalterlichen  Italiener  gegen  jede  über 
die  Gemeinde  hinausgehende  staatliche  Ordnung  veranlasst,  und  eine 
dauernde  Unterordnung  zu  erzwingen  war  auch  Innocenz  nicht  stark 
genug.  Ja,  zuletzt  sah  er  sich  durch  eben  den  weifischen  Kaiser  Otto  IV., 
den  er  gegen  die  Staufer  j^efordert  hatte,  selbst  wieder  in  dem  Besitz 
des  Kirchenstaates  und  in  der  Lehnshoheit  über  Sicilien  bedroht,  und 
das  Auskunftsmittel,  zu  dem  er  nothgedrungen  griff,  war  für  seine 
italienische  Politik  mindestens  ebenso  bedenklich  als  die  Gefahr, 
welche  er'  dadurch  bekämpfte.  Denn  wenn  er  nun  durch  seinen 
Einfluss  auf  die  deutschen  Bischöfe  es  durchsetzte,  dass  man  den 
allein  noc  :  übrigen  Staufer,  jenen  Sohn  Heinrich's,  Friedrich  IL,  den 
päpstlichen  Lehnskönig  von  Sicilien ,  zum  deutschen  Gegenkönig 
gegen  Otto  IV.  und  zum  künftigen  Kaiser  erwählte:  was  war  das 
anders,  als  dass  der  Papst  in  offener  Verleugnung  der  von  ihm  in 
frühereu  Jahren  befolgten  Grundsätze  selbst  die  Hand  bot,  dass  die 
Vereinigung  von  Deutschland  und  Neapel  unter  einem  Herrscher, 
unter  Friedrich  IL,  nun  wieder  hergestellt  wurde.  Während  es  seit 
Jahrhunderten  Grundsatz  der  päpstlichen  Politik  gewesen  war, 
darauf  zu  achten,  dass  in  Deutschland  immer  ein  anderer  Herrscher 
gebot  als  im  Süden,  dass  somit  der  eine  nöthigenfalls  gegen  den 
anderen  gebraucht  werden  konnte,  war  es  ein  eigen thümliches  Ver- 
hängniss,  dass  gerade  der  staatsmännisch  begabteste  aller  Päpste 
diesem  Grundsatze  untreu  werden  musste.  Oder  glaubte  er  seine 
politische  Selbständigkeit  dadurch  genügend  gewahrt  zu  haben,  dass 
er  sich  von  Friedrich  IL  die  annectirten  Landschaften  Mittelitaliens 
förmlich  abtreten  Hess?  Meinte  er  im  Besitze  des  sich  quer  durch 
die  Halbinsel  von  Meer  zu  Meer  erstreckenden  Kirchenstaates  selbst 
militärisch  mächtig  genug  zu  sein,  um  die  beiden  dem  einem  Herr- 
scher gehorchenden  Reiche  des  Nordens  und  Südens  auseinander 
halten  zu  können?  In  dieser  Beziehung  hat  der  sonst  so  feine 
Politiker  sich  vollständig  getäuscht  und  unter  seinen  Nachfolgern 
zeigte  es  sich  sehr  bald,  dass  jene  Landschaften  des  Kirchenstaates, 
deren  Treue  überdies  nie  eine  sonderlich  feste  war,  keinen  Rück- 
halt, keine  Stütze  gegen  die  gewaltige  Uebermacht  Friedrich's  IL 
abgeben  konnten.  So  lange  der  Kaiser  zugleich  von  Norden  und  von 
Süden  her  anzurücken  vermochte,  so  lange  selbst  der  Bestand  des 
Kirchenstaates  ganz  und  gar  von  dem  Belieben  des  Kaisers  abhing, 


' 


222  Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin. 

konnte  von .  einer  politischen  Selbständigkeit  des  Papstthums  nicht 
die  Rede  sein.  Mochte  der  Nachfolger  Petri  sich  auch  damit  brüsten, 
dass  die  Könige  von  Portugal,  Arragonien  und  England  seine  Lehns- 
mannen seien,  zu  Hause  selbst  hatte  er  weniger  Macht  als  der  ge- 
ringste deutsche  Reichsbischof  und  er  kam  aus  der  argwöhnischen 
Angst  über  die  Absichten  des  Kaisers  gar  nicht  heraus.  Die  Einsicht 
in  die  eigene  Ohnmacht  und  in  die  kaiserliche  Uebermacht  brach 
sich  am  päpstlichen  Hofe  zugleich  mit  der  Ueberzeugung  Bahn,  dass 
es  überhaupt  keine  Sicherung,  keine  Abhülfe  gebe,  als  die  Zertrüm- 
merung dieser  zugleich  Deutschland  und  Italien,  das  Kaiserreich  und 
das  Königreich  Sicilien  umfassenden  Herrschaft,  und  als  Mittel  zu 
diesem  Zwecke  kein  anderes,  als  die  Vernichtung  des  staufischen 
Geschlechts.  Nicht  dass  die  Staufer  Kaiser  waren,  wurde  der  Anlass 
zu  dem  erbitterten  Kampfe  der  Päpste  gegen  sie ;  aber  dass  sie  zu- 
gleich auch  Sicilien  beherrschten,  das  konnten  die  Nachfolger  Inno- 
cenz  HL.  nicht  ertragen.  Das  Weh  und  der  Jammer  eines  halben 
Jahrhunderts  lae  darin  beschlossen. 

Natürlich  haben  die  Päpste,  ich  meine  zunächst  Gregor  ES.  und 
Innocenz  IV.,  nicht  ausdrücklich  gesagt,  dass  so  rein  weltliche  Fra- 
gen, wie  die  politischen  Verhältnisse  Italiens  die  hauptsächlichste 
Veranlassung  ihres  Auftretens  seien,  als  sie  bunt  durcheinander  ein 
ganzes  Arsenal  von  Waffen  gegen  Friedrich  H.  ausleerten,  Bann- 
sprüche und  demagogische  Wühlereien,  Kreuzpredigten  und  politische 
Coalitionen  in  Anwendung  brachten,  den  Himmel  und  seine  Heer- 
schaaren  für  die  gerechte  Sache  aufboten  und  die  Strafen  der  Hölle 
auf  den  Gegner  herabfluchten.  Ueberdies  wussten  sie  und  ihre 
Agenten  mit  grosser  Geschicklichkeit  den  Schein  kirchlicher  Unbot- 
mässigkeit  auf  den  Kaiser  zu  werfen  und  aus  dieser  dann  die  Be- 
rechtigung ihres  Auftretens  herzuleiten.  Einmal  hatte  er  eine  ge- 
lobte Kreuzfahrt  einer  Krankheit  wegen  nicht  zur  rechten  Zeit 
antreten  können,  und  er  wurde  gebannt;  dann  machte  er  wirklich 
den  Kreuzzug,  und  der  Bann  wurde  jetzt  wiederholt,  weil  er  als  ein 
Gebannter  gewagt,  seinen  Fuss  auf  den  Boden  des  heiligen  Landes 
zu  setzen.  Einmal  nennt  ihn  Gregor  IX.  einen  Jünger  des  Muhammed 
und  ein  anderes  mal  wirft  er  ihm  vor,  dass  er  Moses,  J^esus  und 
Muhammed  drei  Betrüger  genannt  habe.  Gründe  sind  in  Rom  immer 
höchst  wohlfeil  gewesen.  Und  wie  hätte  es  auch  an  Gründen  fehlen 
können?  Denn,  wenn  auch  kein  besonders  schreiender  Fall  vorlag, 
gab  es  nicht  tausend  Fälle  des  täglichen  Lebens,  in  welchen  die  An- 
sprüche einer  anspruchsvollen  Kirche  in  Conflict  geriethen  mit  den 


Die  Politik  der  Päpste  und  Eonradin.  223 

Ansprüchen  einer  ebenso  anspruchsvollen  Staatsgewalt?     Es  waren 
ja  gerade  jene  Jahrzehnte,  in  welchen  das  canonische  Recht,  dieses 
Gebirge  von  übereinander  gethürmten  Verdrehungen  und  Fälschungen^ 
in  der  Weise  weiter  ausgebaut  wurde,  dass  es  am  .Ende  kaum  liegend 
eine  menschliche  Handlung  gab,  der  sich  nicht  eine  kirchliche  Seite 
abgewinnen   liess,  und   war   diese    Handhabe    erst  gewonnen,  dann 
hatte  die  Kirche  auch  die  ausschliessliche  Befugniss,  darüber  zu  rich- 
ten und  zu  entscheiden.     Es  waren  aber  auch  dieselben  Jahrzehnte, 
in  welchen  Friedrich  11.   in   seiner  für  das   Königreich  Sicilien  be- 
stimmten Gesetzgebung  zum  ersten  male  wieder  die  Autorität  des 
Staates  zur  Geltung  brachte,  als  eine  Gewalt  selbständigen  Ursprungs, 
nicht  als  einen  Ausfluss,  nicht  als  ein  Gnadengeschenk  aus  der  alles 
verschlingenden    Gewalt  der  Kirche.      Ich  kann    auf   dieses   merk- 
würdige Auftauchen  fast  moderner  Staatsgrundsätze  mitten  in  einer 
Welt  von  durchaus  hierarchischem  Gepräge  nicht  näher  eingehen; 
aber  es  ist  offenbar,   dass  durch  das  Hinzutreten  dieses  principiellen 
Gegensatzes  der  politische   Conflict   zwischen  dem   Kaiser  und  den 
Päpsten  bis  zur  absoluten  Unversöhnbarkeit  geschärft  werden  musste. 
Ein  Mittelweg  war  nicht  mehr  möglich:  entweder  musste  das  Kaiser- 
thum  da  gebrochen  werden,    wo  es  am  gefährlichsten  war,  nämlich 
in  Italien,  oder  der  Papst  musste  sich  mit  der  Stellung  eines  ersten 
Bischofs  im  Kaiserreiche  zufrieden  geben;    entweder  das  Papstthum 
seine  durch  Jahrhunderte  consequent  fortgesetzten  Bestrebungen  zur 
Ueberflügelung  des  Staates  in  demselben  Augenblicke  aufgeben,  da 
der  in  der  Theorie  schon  längst  gewonnene  Sieg  in  der  Praxis  ver- 
werthet  werden  sollte,   oder  es  musste  der  moderne  Staat  schon  in 
seinen  Anfängen  erstickt  werden.      Der  Sieg  der  einen  konnte  nur 
durch  Vernichtung  der  anderen  Partei  entschieden  werden  und  man 
war  im  13.  Jahrhundert  noch  naturwüchsig  genug,  um  dies  kurzweg 
and  offen   auszusprechen.     Eben  deshalb  ist  jener  Kampf  zwischen 
Kaiserthum  und  Papstthum  so  interessant,  weil  man  sich  damals  noch 
nicht  daran  gewöhnt  hatte,   die  Gegensätze  zu  überkleistern;  eben 
deshalb  ist  er  aber  auch  für  heutige  Verhältnisse  noch  lehrreich,  weil 
unverhüllt  die  Ziele  hingestellt  werden,  auf  welche  Rom  hinsteuert. 
Auf  der  Seite  der  Curie  wird  heute  immer  mit  einer  gewissen  Osten- 
tation behauptet,  dass  gar  nichts  Neues  erstrebt  werde;  nun,  ein  Blick 
'  in  die  päpstlichen  Bullen  jener  Zeit  zeigt,  dass  auch  das  Alte  nicht 
gerade  harmlos  ist;  und  wenn  man  heute  nicht  leicht  so  gewaltsame 
Mittel  in  Anwendung  bringen  wird,  als  im  13.  Jahrhundert,  so  liegt  das, 
da  ja  die  Grundsätze  selbst  dieselben  geblieben  sind,  nicht  sowohl  am 


324  Die  Politik  iler  Päpste  und  Konradin. 

Wollea  als  vielmehr  daran,  dass  das  KöDnen  glücklicherweise  mehr 
beschränkt  ist. 

Innocenz  IV.,  welcher  sich  dem  Drucke  der  kaiserlichen  Ueber- 
ma«ht  entzog  und  nach  Lyon  flüchtete,  hat  auf  dem  dorthin  berufenen 
Concil  nicht  bloa  den  von  seinem  Vor^^änger  verhänf^ten  Bann  in 
der  schärfsten  Form  erneuert,  sondern  auch  die  Absetzung  des  Kaisers 
und  seiner  Söhne  ausgesprochen,  Kläger  und  Richter  in  einer  PereoD. 
Zur  Ausführung  dieses  Urtheüs  Hess  er  Deutschland  und  Italien  durch 
seine  Emissäre  unterwühlen,  den  übrigen  Ländern  unter  allen  ii^end 
erdenklichen  Verwänden  colossale  Geldsummen  abpressen,  mit  diesem 
Gelde  und  unter  Zusicherunt;  des  Ablasses  Kreuzfahrer  bewaffnen. 
Es  gab  kein  kirchliches  Vei^ehen,  welches  nicht  dadurch  gebüsst 
werden  konnte,  dass  man  für  die  Gegenkönige  —  das  Volk  nannte 
sie  sehr  bezeichnend  „Pfaffenkönige"  —  gegen  Friedrich  II.  und  seinen 
Sohn  Konrad  IV.  zum  Sehwerte  griff.  So  wurde  der  Büi^erkrieg  syste- 
matisch in  jede  Provinz,  in  jeden  Gau,  in  je<ie  Ortschaft  hineinge- 
tragen, jede  Gewaltthat  geheiligt  wenn  sie  im  Namen  des  Papstes 
geschah,  jede  Abwehr  zu  einem  Verbrechen  gestempelt,  welches  neue 
Gewaltthaten  rechtfertigte;  neben  dem  otfenen  Kriege  wurde  auch  der 
versteckte  Weg  der  Verschwörung,  ja,  wie  der  Kaiser  behauptete,  selbst 
die  Anstiftung  des  Meuchelmordes  nicht  gescheut.  Und  damit  den  Zeit- 
genossen kein  Zweifel  an  dem  Ernste  des  Papstes  bleibe,  wird 
Innocenz  nicht  müde  seinen  Anhängern  immer  wieder  zu  versichern, 
dsiss  er  nicht  eher  vom  Kampfe  abstehen  werde,  als  bis  Friedrich 
und  sein  Sohn  der  kaiserlichen  Gewalt,  der  deutschen  und  der  sici- 
lischen  Krone  beraubt  seien:  von  der  Erde  vertilgt  müssten  die 
Staufer  werden,  dies  Otterngezücht,  diese  Vipernbrut.  An  Deutlich- 
keit lässt  das  Programm  nichts  zu  wünschen  übrig,  und  man  ist  Rom 
das  Zeugniss  schuldig,  dass  es  nicht  eher  geruht  hat,  als  bis  die 
Verheissung  zur  furchtbaren  Wahrheit  gemacht  worden  war.  Denn, 
hat  einmal  Papst  Alexander  IV.  gesagt,  in  diesem  verworfenen  Gc- 
schlechte  erbt  sich  in  dem  Blute  die  Bosheit  der  Väter  auf  die  Söhne 
fort;  von  Schlangen  kommen  keine  Tauben  her  und  ein  schleehter 
ßanm  kann  nur  arge  Früchte  bringen.  So  waren  mit  der  über 
Friedrich  II.  ergangenen  Verdammung  auch  alle  seine  Nachkommen 
verdammt,  und  Konradin  war  so  schon  bevor  er  geboren  war  durch 
Herrschsucht  und  Hass  dem  Verderben  geweiht.  Das  göthesche 
„Weh  dir,  dass  du  ein  Enkel  bist",  kam  bei  ihm  im  vollsten 
nn  dass  er  der  Enkel  des  verfluchten 
upt  das  Leben  erblickt  hatte,  das  war 


Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin.  225 

es,  was  die  Päpste  ihm  nie  verzeihen  konnten,  jenes  Leben,  welches 
von  seinem  ersten  Ursprünge  an  mit  dem  Unglücke  verschwistert  war. 
Konradin  wurde  am  25.  März  1252  auf  dem  Wolfstein  bei  Lands- 
hut in  Baiern  geboren,  ein  Sohn  Konrad's  IV.  und  der  bairischen 
Princessin  Elisabeth.  Er  hat  seinen  Vater  nie  gesehen,  der  zur  Zeit 
der  Geburt  auf  italienischem  Boden  den  Kampf  seines  Hauses  gegen 
das  Papstthum  ausfocht.  Das  Glück  war  demselben  dort  günstig, 
er  durfte  hoflfen  Innocenz  IV.  den  Frieden  aufzuzwingen,  er  hielt 
alles  zum  entscheidenden  Ausmarsche  bereit,  —  da  raffte  die 
Wirkung  des  ungewohnten  und  verführerischen  Klimas  den  26jährigen 
König  mitten  aus  seiner  Siegeslaufbahn  fort  (20.  Mai  1254).  Auf 
dem  Todbette  hat  er  seinen  Sohn,  den  zweijährigen  Konradin,  der 
jenseits  der  Alpen  unter  der  Obhut  der  Mutter  und  ihrer  Brüder, 
der  bairischen  Herzöge,  heranwuchs,  ausdrücklich  der  vormund- 
schaftlichen Fürsorge  der  Kirche  empfohlen.  Er  starb  nämlich  in 
dem  festen  Glauben,  dass  mit  seinem  Tode  der  Hass  des  Papstes 
Innocenz  IV.  getilgt  sein  werde,  weil  dieser  Hass  nun  jede  sachliche 
Berechtigung  verlor.  Denn  wenn  das  Papstthum  vornehmlich  durch 
die  ihm  unerträgliche  Vereinigung  der  deutschen  und  sicilischen 
Kröne  in  den  Kampf  auf  Leben  und  Tod  hineingetrieben  worden 
war,  so  fiel  jeder  Grund  zur  Fortführung  desselben  gegen  die  Reste 
des  staufischen  Geschlechts  nun  fort,  da  eben  mit  dem  Tode  Konrad's  IV. 
jene  verhängnissvolle  Verbindung  in  der  That  sich  von  selbst  löste. 
Sicilien,  welches  ein  Erbreich  war,  ging  allerdings  von  Rechts  wegen 
auf  Konradin  über;  über  Deutschland  aber  entschied  die  Wahl  der 
Fürsten,  und  bei  dem  dermaligen  Stande  der  Dinge  war  erstens  eine 
einmüthige  Wahl  nicht  sehr  wahrscheinlich,  und  selbst  wenn  es  zu 
einer  solchen  kommen  sollte,  war  es  zweitens  für  den  Papst  eine 
Kleinigkeit,  zu  verhindern,  dass  die  Wahl  auf  den  Erben  Siciliens 
fiel,  auf  Konradin.  Die  Machtstellung  der  Kirche  aber,  und  darauf 
kam  es  ja  hauptsächlich  an,  konnte  daduich  durchaus  nichts  ver- 
lieren, wenn  der  Papst  ehrlich  und  aufrichtig  die  Vormundschaft  des 
staufischen  Kindes  übernahm  und  demselben  nach  Kräften  sein  Erbe 
zu  schützen  sich  bemühte:  das  Königreich  Sicilien,  die  herzogliche 
Würde  von  Schwaben,  die  höchst  geschmälerten  Familiengüter  in 
Deutschland  und  den  inhaltlosen  Titel  eines  Königs  von  Jerusalem. 
Mit  einem  Worte:  nach  dem  Tode  Konrad's  IV.  im  Jahre  1254  lag 
es  in  der  Hand  des  Papstes,  der  tief  ^zerrütteten  Welt  den  Frieden 
wiederzuschenken,  und  er  konnte  es  ohne  den  wirklichen  oder  ge- 
glaubten Interessen  der  Kirche  irgend  etwas  zu  vergeben.      Das  ist 


236  Die  Politik  der  Päpste  uod  Konisdin. 

der  historisch  allein  berechtigte  Standpunkt,  von  welchem  aus  das 
weitere  Verhalten  der  Päpste  gegen  den  in  gutem  Glauben  ihrer 
Obhut  empfohlenen  Konradin  beurtheJU  werden  muss. 

Da  ist  nun  zunächst  bemerkenswerth,  dass  Innocenz  IV.   nicht 
etwa  die  Vormundschaft  über  den  Enkel  und  Sohn  seiner  verstorbenen 
Gegner  abgelehnt,  sondern  im  Oegentlieil  sie  förmlich  und  feierlich 
auf  sich    genommen  hat;    er    bemerkt   ausdrücklich,    daes    es  recht 
eigentlich   die  Aufgabe  der  Kirche  sei,    den  Unmündigen  mit  ^hrer 
Gunst   zu  Hülfe  zu   kommen  und    die  Schutzbedürftigen    mit   ihrem 
Schutze  zu  vertheidigpn.     Was  er  seinem  Mündel  gelobt,  entspricht 
ganz  dieser  erhabenen  AuGTasaung  von  den  Pflichten  seiner  Stellung. 
Er  will  die  Rechte  Eonradin's  auf  Jerusalem  und  Schwaben  unver- 
kürzt bewahren-,  er  erkennt  sogar  an,  dass  derselbe  auch  Anrechte 
auf  das  sicilische  Königreich  besitze,  und  wenn  er  während  der  Un- 
mündigkeit desselben  hier  sich  selbst  die  Regentschaft  beilegt,  so  ist 
auch  das  durohatis  correct,  nur  dem  Lehnreehte  gemäss,  und  überdies 
durch    den  Präcedenzfall   aus    der  Zeit  Innocenz  III,   vorgezeichnet. 
Rührend  würde  diese  bedächtige  Fürsoi^e  des  Papstes  für  den  Enkel 
und  den  Sohn  der  von  ihm  selbst  im  Diesseits  und  Jenseits  verfluchten 
Staiifer  genannt  werden  müssen,  wenn  sie  nicht  von  Anfang  bis  zum 
Ende  eine  Lüge,  eine  auf  die  Täuschung  der  Welt  berechnete  Maske 
gewesen  wäre.      Der  Name  Konradin's  wurde    nur  deshalb    an    die 
Spitze  gestellt,  um  unter  der  Fahne  der  Legitimität  gegen  Konradin's 
Oheim,  den  Fürsten  Manfred   von  Tarent,   ins  Feld  zu  ziehen,  der 
vorläuäg  noch    das   sicilische  KOni^eich  gegen   die  Päpstlichen    be- 
hauptete, und  dem  Papste  war  es  so  wenig  Ernst  mit  dem,  was  er 
zu  Gunsten  Konradin's  Öffentlich  versprach,  dass  er  zu  derselben  Zeit 
im  Geheimen    mit   verschiedenen   Fürsten    daraufhin    unterbandelte, 
dass  sie  sich  von  ihm   mit  der  sicilischen  Krone,  dem  Erbe  seines 
Mündels  sollten  beschenken  lassen.     Die  Aktenstücke  dieses  Handels 
liegen    uns    in    grösster    Yollständ^keit    vor;    sie    bieten    mehr    als 
genügende  Belege  für    das,    was   zu    betonen   ich    hier  nicht  umhin 
izüngigkeit  der  päpstlichen  Politik,  für 
Wahl   ihrer  Mittel.      Hatte  Konradin 
Hinblick  auf  diesen   von  Innocenz  IV. 
Betrug  seinem  Herzen  mit  dem  bittem 
tlche  Liebe  er  uns  erwiesen  hat;   seht, 
der  Vormundschaft  Genüge  gethan  hat!'' 
254.     Aber  als  ob  die  Seele  nur  den  Leib 
Cfachfolger  Alexander  IV.  das  trügerische 


Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin.  227 

Spiel  fort.  Unmittelbar  nach  seiner  Erwählung  schreibt  er  an  die 
Mutter  und  Grossmutter  des  schwäbischen  Knaben,  sein  Mund  fliesst 
über  von  Wohlwollen,  immer  wieder  betheuert  er  seine  guten  Ab- 
sichten: „Von  solchen  Absichten  werden  wir  in  Betreflf  desselben 
geleitet,  dass  wir  nicht  allein  alle  seine  Rechte  unverkürzt  erhalten, 
sondern  ihn  obendrein  durch  ganz  besondere  Gunst  auszeichnen  und 
aus  dem  Schatze  apostolischen  Wohlwollens  mit  passendeii  Gnaden 
erhöhen  wollen."  Wenn  ich  nun  behaupte,  dass  alles  nichts  anderes 
war  als  eine  heuchlerische  Redensart,  so  soll  man  mich  nicht  einer 
besonderen  Voreingenommenheit  zeihen.  Denn  zum  Unglücke  für 
den  guten  Ruf  des  Papstes  Alexander  haben  wir  noch  einen  von 
ihm  wenige  Tage  später  geschriebenen  Brief  an  die  Edlen  und 
Lehnsleute  des  Herzogthums  Schwaben,  in  welchem  er  sie  anweist, 
sich  von  eben  dem  Konradin  loszusagen,  auf  den  er  den  Born  seiner 
Gnaden  zu  ergiessen  verheissen  hatte.  Das  ist  nicht  mehr  der 
dämonische  Hass,  der  in  früheren  Jahren  aus  den  päpstlichen  Er- 
lassen unverhüllt  hervorleuchtet;  das  ist  nicht  mehr  wilde  Leiden- 
schaft, die  geradenwegs  auf  ihr  Ziel  losstürmt;  das  ist  auch  nicht 
diplomatische  Gewandtheit,  die  in  ihren  Mitteln  nicht  immer  wählerisch 
sein  mag;  es  ist  einfach  eine  bodenlose  Gemeinheit  der  Gesinnung, 
und  um  so  widerlicher,  als  die  höchste  Autorität  der  Christenheit 
sich  in  ihr  versucht  gegen  ein  wehrloses  Opfer,  gegen  ein  Kind! 

Zum  Glück  für  Konradin  hat  man  am  bairischen  Hofe  auf  die 
gleissnerischen  Freundschaftsversicherungen  der  römischen  Curie  nicht 
viel  gegeben,  wahrscheinlich  sie  bald  durchschaut.  In  jedem  Falle 
üessen  sich  die  Herzöge  Ludwig  und  Heinrich  von  Baiern  dadurch 
in  der  liebevoll -thätigen  Fürsorge  nicht  beirren,  welche  sie  ihrem 
Neffen  unausgesetzt  widmeten.  Wenn  sie  zunächst  auch  nichts  thun 
konnten,  um  ihm  sein  Recht  auf  Sicilien  zu  sichern,  wo  sich  jener 
Manfred  im  Jahre  1258  zum  Könige  ausrufen  liess,  so  haben  sie  doch 
alles  daran  gesetzt,  ihm  seine  Rechte  diesseits  der  Alpen,  die  herzog- 
liche Würde  in  Schwaben  und  die  Familiengüter  zu  bewahren.  Nur 
unter  dieser  Bedingung  gaben  sie  an  Richard  von  Cornwal  ihre 
Wabistimme,  als  eine  Anzahl  Fürsten  während  des  sogenannten 
Literregnums  den  Engländer  zum  deutschen  Königthum  berief.  In 
jenen  Jaliren  der  allgemeinen  Anarchie,  als  die  Mächtigen  nach  dem 
Gute  der  Wehrlosen  ungestraft  ihre  räuberischen  Hände  glaubten 
ausstrecken  zu  dürfen,  da  wollte  der  Schutz  der  bairischen  Oheime 
für  Konradin  etwas  bedeuten,  und  kaum  hatte  er  das  zehnte  Jahr 
vollendet,  als  Herzog  Ludwig  ihn  selbst  nach  Schwaben  führte  zur 


228  Die  Politik  der  Päpate  und  Konradio.    - 

persönlichen  liesitznahme  des  Landes.  Damals,  im  October  1262 
hat  Koni'Hdin  zu  St.  Gallen  den  letzten  HoHtag  eines  schwäbischen 
HerzoKB  gehalten,  von  dem  die  Geschichte  zu  erzählen  weiss.  Glück- 
lich wäre  er  gewesen,  wenn  ihn  niemals  berauschende  Stimmen  vom 
Süden  her  aus  dem  Lande  i'ortgelockt  hätten,  wo  die  Wiege  seines 
Geschlechtes  gestanden! 

Es  ist  dem  Mittelalter  eigenthfimlich,  daas  es  eich  —  ganz  im 
Gegensatze  zu  der  neugierigen  Neuzeit  —  um  die  Entwickelung  der 
einzelnen  Persönlichkeit  gar  nicht  bekümmert.  Nur  das,  was  jemand 
!;ethan,  wodurch  er  sieh  aus  der  Masse  der  Glüchartigen  hervorhob, 
wurde  allenfalls  der  schriftlichen  Aufzeichnung  werth  erachtet,  und 
auch  dies  nur  mit  wenigen  Worten  überliefert.  So  wissen  wir  auch 
nicht,  wie  Konradin  vom  Kinde  zum  Knaben,  vom  Knaben  zum  Jüng- 
linge herangereift  ist;  ja  wir  wissen  von  seinem  Wesen  überhaupt 
nicht  viel  me'ir,  als  dass  er,  wie  eine  Chronik  sagt,  „schön  war  wie 
Absalon  und  gut  Lateinisch  sprach'"  Aber  wir  dürfen  mit  einigem 
Rechte  annehmen,  dass  er  der  Umgebung,  in  der  er  als  Fürstensohn 
aufwuchs,  den  schwäbischen  und  bairischen  Rittern  und  Dienstmannen 
nicht  gar  unähnlich  gewesen  sein  wird,  kecken  Gesellen,  die  ihr 
■  Vertrauen  auf  Gott  und  ihr  Schwert  setzen  und  im  Grunde  lieber 
mit  dem  letzteren  zu  thun  haben  als  mit  dem  anderen.  Trotzig  und 
herausfordernd  schauen  sie  drein,  als  ob  die  Welt  nur  für  sie  da  sei. 
damit  sie  sich  tummeln  können.  Aber  sobald  sie  datf  Kriegskleid 
abgelegt  haben,  treten  sie  wie  Verwandelte  uns  entgegen.  In  den 
xartesten,  sinnigsten  Tönen  besingen  sie  das  ewig  junge  Geheimniss 
der  Liebe  und  wetteifern,  wie  sonst  in  ritterlicher  Waftenführung, 
so  nun  im  Preise  ihrer  Schonen,  in  der  Herrschalt  Über  den  Wohl- 
laut der  Sprache.  Gerade  in  Konradin's  Umgebung  tinden  wir  jenen 
Schenken  von  Limpurg,  der  „mit  seinen  jugendlichen  zarten  Liedei'n" 
die  Ausbildung  des  Minnegesangs  unter  den  letzten  Hohenstaufen 
beurkundet.  Gleich  ihm  und  andern  lasst  denn  auch  Konradin  die 
erste  Liebessehnsucht  seines  Herzens  in  Versen  ausströmen,  die  nicht 
besser,  aber  aui-h  nicht  schlechter  sind,  als  die  meisten,  welche  junge 
Leute  in  ähnlichen  freudvoll-leid  vollen  Situationen  zu  machen  ptlegen, 
aber  ein  mal  mit  dem  höchst  charakteristischen  Ausrufe  enden: 
„Mich  lässt  die  Liebe  eehr  entgelten, 
D&s§  ich  an.  Jahren  bin  ein  Kind." 

„Dass  ich  an  Jahren  bin  ein  Kind."  In  diese«  Seufzer  presst 
sich  der  ganze  Jammer  über  das  Unglück  seines  Lebens  zusammen, 
dass  ihm,  dem  Kinde  gegenüber  jedermann  sich  jedes  glaubte  erlauben 


Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin.  229 

m 

syi  dürfen.  Hier  kehrte  ihm  eine  Dame  den  Rücken,  weil  sie  wahrschein- 
lich um  ein  paar  Jahre  ihm  voraus  war;  dort  griff  ein  kecker  Dynast 
nach  dem  Gute  seines  Hauses ;  hier  schneidet  ihm  des  Papstes  Macht- 
spruch die  Fäden  seiner  Zukunft  in  Deutschland  ab,  indem  er  denftHut- 
schen  Fürsten  nach  alter  Sitte  den  Sohn  des  Königs  wieder  zum  Könige 
zu  wählen  verbietet,  und  dort  benutzt  der  Oheim  Manfred  die  Jugend 
des  entfernten  Neffen,  dessen  Tod  er  aussprengt,  um  sich  selbst  die 
Krone  Siciliens  aufs  Haupt  zu  drücken.  —  „Dass  ich  an  Jahren  bin  ein 
Kind!''  Er  murrt  über  seine  Jugend,  die  ihn  immer  wieder  und  wieder 
zum  trägen  Dulden  verurtheilt,  während  doch  alles  in  ihm  zum  Handeln 
drängt.  Will  er  auch  unter  der  Last  des  Unrechts,  welches  auf  seine 
jungen  Schultern  gehäuft  ist,  manchmal  zusammenbrechen,  er  kann 
nicht  vergessen,  wozu  ihn  seine  Geburt  als  Staufer  beruft.  Selbst 
der  Königstitel,  den  er  führt,  für  den  Augenblick  leer  und  gleichsam 
ein  Spott  auf  seine  gegenwärtige  unbedeutende  Stellung,  weist  seine 
Gedanken  auf  die  Zukunft  und  auf  das  südliche  Land,  wo  er  ihm 
einen  Inhalt  geben  soll.  Und  will  er  sich  vor  seiner  eigenen  Un- 
ruhe in  den  Kreis  jener  Ritter  und  Dienstmannen  flüchten,  denen  er 
die  Kunst  der  Dichtung  abgelauscht,  sie  sprechen  wie<ler  von  keiner 
Sache  lieber  als  von  Italien,  wo  Stadt  und  Land,  Weg  und  Steg 
ihnen  kaum  minder  gut  bekannt  ist,  als  in  der  eigenen  Heimat. 
Haben  sie  doch  unter  Konradin's  Grossvater  und  Vater,  unter  Frie- 
drich n.  und  Konrad  IV.  dort  für  das  Kaiserthum  und,  wenn  es  sich 
so  traf,  auch  zum  eigenen  Besten  gestritten,  manches  schöne  Beute- 
stück heimgebracht  und  manche  schmerzende  Narbe  sich  geholt. 
Thut  es  Noth,  so  sitzen  sie  auch  wohl  noch  ein  mal  auf  zum  Ritt 
über  den  Brenner,  wenn  die  Wälschen  unter  sich  ohne  die  Deutschen 
nicht  mehr  fertig  zu  werden  wissen  oder  an  Stelle  des  Papstes  es 
zur  Abwechselung  wieder  mit  dem  Staufer  versuchen  wollen. 

Merkwüi'digerweise  waren  die  Weifen  die  ersten,  welche  im 
Jahre  1261  Konradin's  Herüberkommen  verlangten,  und  der  Papst 
Alexander  hielt  es  damals  für  angemessen,  diesen  Wunsch  bei  dem 
Herzoge  Ludwig  von  Baiern  zu  befürworten.  Der  Grund  für  dieses 
auffallende  Benehmen  ist  nicht  eben  weit  zu  suchen.  Beide,  die 
Weifen  und  der  Papst,  waren  durch  Manfred  aufs  Aeusserste  be- 
drängt und  sie  hielten  es  deshalb  für  vortheilhaft,  ihm,  dem  Usur- 
pator, vorläufig  den  wahren  Erben  der  sicilischen  Krone  entgegen- 
zustellen. Aber  auch  dieses  mal  hat  der  gesunde  Sinn  des  Herzogs 
Ludwig  sich  durch  solche  Lockungen  nicht  beirren  lassen;  er  dankte 
den  Weifen  von  Toskana  für  die  seinem  Neffen  bewiesene  Zuneigung, 


230  Die  Politik  der  Päpste  und  Konradio. 

aber  er  weigerte  sich^  das  Schicksal  des  Knaben  in  ihre  Hände  911 
legen.  Was  die  Anerbietungen  der  Kirche  betrifft,  so  hat  Konradin 
später  mit  feiner  Ironie  und  höchst  treffend  von  ihr  gesagt:  ^Es  war 
mir  von  Gott  nicht  gegeben,  dass  ich  durch  sie  Gnadea  und  Ehren 
erlangen  sollte"  —  denn  während  noch  Alexander's  BeTollmächtigter 
am  bairischen  Hofe  verweilte,  sah  sich  Alexander  selbst  schon 
wieder  nach  anderen  Candidaten  für  die  sicilische  Krone  um,  und 
als  sich  solche  nicht  finden  wollten,  hat  sein  Nachfolger  Urban  IV. 
sogar  wieder  mit  Manfred  verhandelt,  und  als  auch  diese  Verhand- 
lungen sich  zerschlugen,  endlich  den  Grafen  der  Provence  Karl  von 
Anjou  zur  Annahme  des  nach  der  Auffassung  der  Curie  herrenlosen 
Königreichs  willig  gemacht.  Als  Manfred  im  Kampfe  gegen  Karl  von 
Anjou  im  Jahre  1266  gefallen  war,  stand  der  Papst  Clemens  IV. 
endlich  an  dem  Ziele,  welches  seine  Voi^änger  in  allen  Schlangen- 
winduugen  ihrer  politischen  Künste  niemals  aus  dem  Auge  verloren 
hatten.  Die  Hohenstaufen  waren  aus  Italien  vertilgt,  und  gestutzt 
auf  den  neuen  sicilischen  König  von  Papstes  Gnaden  und  seine  fran- 
zösischen Ritter  konnte  Clemens  getrost  abwarten,  ob  der  letzte 
Spross  des  Otterngezüchts  von  jenseits  der  Alpen  kommen  werde, 
um  sein  Recht  auf  Sicilien  geltend  zu  machen.  Er  verlangte,  dass 
EonradiD  die  yoUendete  Thatsache  anerkenne ;  er  drohte  ihm  mit 
dem  Banne  wenn  er  ferner  nocli  den  Titel  eines  Königs  von  Sici- 
lien führe. 

Mit  dieser  Wendung  der  Dinge  war  aber  auch  der  Augenblick 
gekommen,  in  welchem  Herzog  Ludwig  seinem  Neffen  nicht  mehr 
die  Erlanbniss  zum  Zuge  nach  Italien  verweigern  durfte.  Weder  die 
Rii/.irai»iit  o.if  Aio  K'i.v.i.fl^  nocj,  die  Rücksicht  auf  Konradin's  Jugend 
tnd  sein.  Denn,  was  die  erstere  betrifft,  so 
tner  Aussöhnung  mit  dem  Papste,  wie  sie 
ann  aufgetaucht  war,  jetzt  vollkommen  ver- 
r  Papst  sich  selbst  durch  die  Inthronisation 
!ände  gebunden  hatte.  Selbst  wenn  er  ge- 
icht  mehr  zurück.  Da  ruft  denn  Konradin 
dir,  heilige  Mutter  Kirche,  jemals  Uebels 
Lieh,  deinen  ergebenen  Sohn,  den  einst  deiner 
idel,  so  stiefmütterlich-feindlich  durch  deine 
in  habe  ich  dich,  heiliger  Vater,  jemals  ge- 
'  alle  Weise  und  ungerecht  verfolgest?  Doch 
I  das  für  eine  schwere  Beleidigung,  dass  ich 
Erde  bin,  denn  einen  anderen  Grund,  Gott 


Die  Politik  der  Pöip$te  mi  Konradin.  331 

weiBS  es,  kenile  ich  nicht."  Von  der  Bürche  war  für  Eonradin  nie 
mehr  etwas  zu  hoffen,  wenn  er  sie  nicht  durch  die  Niederwerfung 
ihres  Vorkämpfers  zu  einer  Sinnesänderung  zwang:  ihrer  Feindschaft 
war  er  gewiss,  gleichviel  ob  er  nach  Italien  kam  oder  nicht.  Noch 
weniger  aber  konnte  die  Rücksicht  auf  seine  Jugend  maassgebend 
sein,  da,  wenn  überhaupt  noch  etwas  zu  seinem  Besten  geschehen 
sollte,  das  bald  geschehen  musste^  bevor  die  Herrschaft  Karl's  von 
Anjou  sich  in  dem  eroberten  Lande  befestigte. 

Noch  standen  im  Süden  einzelne  tapfere  Parteiführer  für  den 
staufischen  Erben  unter  Waffen,  die  ganze  Insel  Sicilien  erhob  sich 
wie  ein  Mann  für  ihn,  in  der  Lombardei  und  in  Toscanä  war  die 
Zahl  der  Gemeinden  und  Herren,  auf  deren  Unterstützung  er  rechnen 
durfte,  gar  nicht  gering  —  kurz  es  schien  nur  des  pej'sönlichen  Er- 
scheinens Konradin's  zu  bedürfen,  nur  eines  sichtbaren  Mittelpunkts 
für  die  Opposition  gegen  die  französischen  Eroberer,  welche,  weil 
sie  m^t  der  Autorität  der  Kirche  bewehrt  waren,  die  ganze  Halb- 
insel mit  einer  durchgreifenderen  Herrschaft  bedrohten,  als  je  die 
der  staufischen  Kaiser  hatte  sein  können. 

Im  Herbste  des .  Jahres  1267  zog  Konradin  über  den  Brenner. 
Er  hatte,  als  er  nach  Verona  kam,  etwa  3000  Ritter  bei  sich,  zu 
deren  Anwerbung  er  die  Mittel  theils  aus  Italien  selbst  erhalten, 
theils  durch  Verpfändung  seiner  Familiengüter  gewonnen  hatte.  In 
einem  Manifeste,  aus  welchem  vorher  schon  einzelne  Stellen  mit- 
getheilt  sind,  hat  er  die  Gründe  seines  Kommens  aus  einander  ge- 
setzt, ebensoviele  Anklagen  gegen  das  Papstthum,  das  auf  ihn  von 
seiner  Geburt  Unrecht  auf  Unrecht  gehäuft  habe^  und  ihn  nun  nöthige, 
gegen  den  Usurpator  seines  Eigenthums  die  Entscheidung  des  Schwer- 
tes anzurufen.  Ich  habe  die  Waffen  ei^riffen,  sagt  er  am  Schlüsse, 
damit  mein  herrliches  Geschlecht,  das  seit  langer  Zeit  auf  dem  Kai- 
serthrone gesessen,  in  mir  nicht  entarte  und  nicht  durch  Unrecht 
zu  Grunde  gehe,  sondern  damit  die  Macht  meines  Hauses,  so  Gott 
will,  wieder  sich  erhebe."  Er  betheuert,  nichts  sehnlicher  zu  wün- 
schen, als  dass  der  Papst  ihn  als  seinen  devoten  Sohn  anerkenne, 
er  hält  unbedingt  an  dem  allgemeinen  geistlichen  Principate  des 
Papstes  fest,  aber  ebenso  unbedingt  bestreitet  er  in  allem,  was  rein 
weltliche  und  staatliche  Dinge  betrifft,  die  vom  Papste  in  Anspruch 
genommene  und  wie  ein .  Glaubenssatz  vertheidigte  Befugniss ,  auch 
über  diese  mit  absoluter  Willkür  zu  entscheiden.  Im  Einzelnen  wird 
er  sich  schwerlich  von  den  Gründen  Rechenschaft  gegeben  haben, 
welche  die  Unabhängigkeit  des  Staates   von  der  Kirche  beweisen ; 


232  Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin. 

aber  seine  ganze  Zukunft  war  mit  dieser  Frage  so  enge  verwachsen, 
dass  die  eine  nicht  ohne  die  andere  entschieden  werden  konnte. 
Nach  sechszigjähriger  Arbeit  war  es  dem  Papstthume  endlich 
gelungen,  die  seinem  weltlichen  Bestände  gefährliche  Union  Deutsch- 
land's  und  Sicilien's  zu  sprengen :  Konradin  dachte  nur  an  ihre  Her- 
stellung. Das  Papstthum  beschränkte  die  Wahlfreiheit  der  deutschen 
Fürsten,  indem  es  von  vorne  herein  verbot,  die  Wahl  auf  den 
Staufer  zu  lenken:  Konradin  trat  unbekümmert  um  dieses  Verbot 
als  Candidat  auch  für  den  deutschen  Thron  auf.  Das  Papstthum 
nahm  das  Recht  in  Anspruch,  unbequeme  oder  missliebige  Fürsten 
durch  seinen  Urtheilsspruch  ihres  Erbrechts  berauben  zu  können: 
Konradin  hielt  an  der  Unvertilgbarkeit  des  Erbrechts  fest.  Das 
Papstthum  behauptete,  über  die  Güter  derer,  die  es  als  seine  Wider- 
sacher erklärte,  nach  Belieben  verfügen  zu  dürfen  und  hatte  so 
Sicilien  an  Karl  von  Anjou  verschenkt:  Konradin  erkannte  selbst- 
verständlich die  Befugniss  zu  einer  solchen  Schenkung  nicht  an, 
betrachtete  sich  als  den  allein  legitimen  König  und  vertheilte  seiner- 
seits sicilische  Fürsteuthümer  und  Grafschaften  an  die  Legitimisten, 
welche  sich  vor  Karl's  Gewaltthaten  zu  ihm  flüchteten.  Er  war 
noch  jung  und  lebte  des  Glaubens,  dass  das  Recht  zuletzt  doch 
immer  über  das  Unrecht  triumphiren  müsse,  auch  wenn  dieses  die 
Sanetion  der  Kirche  erhalten  haben  sollte:  er  zweifelte  nicht  an 
seinem  schli esslichen  Siege  über  die  feindliche  Macht,  welche  damals 
wie  jetzt  zu  ihrer  Aufrechterhaltung  der  französischen  Waffen  bedurfte. 

Man  mag  nun  heute,  da  wir  das  Schlussergebniss  seiner  Unter- 
nehmung kennen,  klug  und  weise  über  die  Zuversicht,  mit  der  sie 
begonnen  wurde,  die  Achseln  zucken,  aber  man  darf  doch  auch 
daran  erinnern,  dass  sehr  praktische  und  sehr  nüchterne  Leute,  wie 
Rudolf  von  Habsburg  und  der  Burggraf  von  Nürnberg  Friedrich  von 
Zollern  diese  Zuversicht  theilten.  Ja  sie  hielten  es  sogar  nicht  für 
unmöglich,  dass  Konradin  nach  der  Zurückeroberung  Sicilien's  auch 
die  deutsche  Kaiserkrone  seinem  Geschlechte  wieder  zuwende  und 
Hessen  sich  schon  im  Voraus  für  diesen  Fall  allei'lei  Versprechungen 
von  ihm  verbriefen.  Rudolf  von  Habsburg  ahnte  nicht,  dass  er  eben 
diese  Krone  nach  wenigen  Jahren  sein  Eigen  nennen  würde,  und 
Friedrich  von  Zollem  konnte  keinen  Blick  in  die  ferne  Zukunft 
werfen,  in  der  seine  Nachkommen  in  Deutschland  mächtiger  dastehen 
sollten,  als  je  die  Staufer  und  die  Habsburger. 

Auf  der  anderen  Seite  versäumte  der  Papst  nicht  das  gesammte 
Rüstzeug  der   Kirche   zu   Gunsten  KarPs   von  Anjon  in  Anwendung 


Bit  Politik  der  fhpie  und  Konradin.  Sdd 

zu  bringen.  In  einem  merkwürdigen,  bisher  nicht  gedruckten  Auf- 
rufe mahnt  er  zunächst  Konradin  von  seinem  gottlosen  Unternehmen 
ab;  er  m5ge  bedenken,  dass  die  Itirche,  welcbe  seinem  Qrosilvater 
das  Kaiserthum  genonimen  habe,  auch  die  Macht  bedtze  ihn  der 
Würde  eines  Königs  von  Jerusalem  äu  berauben  —  beil&ufig  bemerkt, 
des  einzigen  Titels,  welchen  die  Kirche  bis  dahin  imerkonnt  hatte, 
weil  er  ganz  bedeutungslos  geworden  war  — ;  dieser  Würde  und 
aller  sonstigen  Rechte  werde  sie  ihn  berauben,  wenn  er  nichi  in 
sich  gehe  und  den  Wünschen  des  apostolischen  Stuhles  si<^h  füge. 
Alle,  welche  sich  dem  Prätendenten  anschliessen  und  ihn  als  König 
vonSicilien  gelten  lassen  würden,  werden  mit  Bann  und  Interdikt, 
daneben  auch  mit  dem  Verluste  ihrer  zeltlichen  Güter  bedroht.  Mit 
einem  Worte,  der  Papst  verfährt  ganz  jener  Definition  seinei*  Ge- 
walt gemäss,  welche  auf  dem  jetzigen  Concil  zum  Glaubenssätze 
erhoben  werden  soll  (Kanon  XTT) :  „So  Einer  sagt:  ton  unsei^m 
Herrn  und  Heiland  sei  seiner  Kirche  nur  die  Gewalt  übei'tragen 
worden,  durch  Rath  und  Ueberredung  zu  leiten,  nicht  aber  auch 
durch  Gesetze  zu  befehlen  und  die  Verirrten  und  Halsstarrigen  durch 
äusseren  Urtheilsspruch  und  heilsame  Strafen  zu  züchtigen  und  zu 
zwingen  —  der  sei  verflucht.''  Ein  Verirrter  und  Halsstarriger  ist 
nun  Konradin  nach  der  Auffassung  der  Curie  ganz  gewiss  gewesen, 
da  er  sich  auch  durch  jene  Mahnung  nicht  bekehren  Hess,  und  so 
wurde  er  denn  nicht  nur  förmlich  in  den  Bann  gethan,  sondern  es 
wurde  auch  gegen  ihn  zu  heilsamem  Zwange  das  Kreuz  gepredigt 
und  den  Streitern  für  die  Kirche  Sündenvergebung  verheissen. 

Anfangs  wollte  Konradin's  Unternehmung,  so  lange  er  sich  in 
der  Lombardei  aufhielt,  nicht  recht  in  Fluss  kommen;  aber  je  weiter 
er  nach  Süden  vordrang,  um  so  besser  gestalteten  sich  seine  Aus- 
.  sichten.  Während  die  Schiffe  der  Pisaner  nach  einem  Siege  über 
die  französisch -anjovinisehe  Flotte  dem  Aufstande  auf  der  Insel 
Sicilien  neue  Nahrung  zuführten,  schlug  er  im  Arnothale  die  Mann- 
schaften Karl's  von  Anjou,  welche  der  Papst  auf  ihrem  Durchmai'sche 
durch  seine  Residenz  Viterbo  zum  heiligen  Kriege  gesegnet  hatte. 
Jeder  Schritt  vorwärts  vermehrte  sein  Heer;  in  der  ewigen  Stadt 
bereitete  ihm  der  Senator  Prinz  Heinrich  von  Castilien  einen  Empfang 
wie  einem  Kaiser  und  führte  ihm  800  spanische  Söldner  zu,  und  als 
Konradin  im  August  des  Jahres  1268  mit  fast  6000  Reitern  die 
neapolitanische  Grenze  überschritt  und  als  gleichzeitig  fast  alle  Pro- 
vinzen des  Königreichs  zu  seinen  Gunsten  gegen  die  französische 
Herrschaft  aufstanden,  da  gab  man,  wie  ein  ganz  klerikaler  Chronist 

Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  I.  Bnd.,  Heft  5  u.  6.  16 


234  Die  Politik  der  Päpste  imd  Konradin. 

versichert,  sogar  am  päpstlichen  Hofe  zu  Viterbo  die  Sache  Karl's 
von  Anjou  und  mit  ihr  die  eigene  verloren.  Wie  es  scheint,  fand 
Papst  Clemens  bei  den  Kardinälen  wenig  Glauben,  als  er  den  hand- 
greiflichen Erfolgen  Konradin's  zum  Trotz  Trost  spendete  mit  den 
Worten  des  Propheten:  ^Wie  ein  Rauch  wird  er  verschwinden  und 
wie  ein  Lamm  wird  er  zur  Schlachtbank  geführt". 

Und  doch  sollte  er  Recht  behalten.  In  der  entscheidenden 
Schlacht  bei  Tagliacozzo  am  23.  August  1268  trug  die  Disciplin  der 
französischen  Ritter  den  Sieg  über  Konradin's  buntgemischte  Söldner- 
schaar  davon.  Mit  dieser  einen  Schlacht  war  der  Würfel  über 
Konradin's  Zukunft  geworfen  und  zugleich  der  Bestand  der  von  den 
Päpsten  geschaffenen  staatlichen  Ordnung  Italiens, '  die  Fortdauer 
der  päpstlichen  Allgewalt  entschieden.  Als  Karl  gleich  am  Abende 
des  Schlachttages  dem  Papste  Bericht  über  seinen  vollkommenen 
Sieg  abstattete,  schloss  er  diesen  Bericht  mit  den  charakteristischen 
Worten:  „Nun  freue  sich  die  heilige  Kirche  und  erhebe  sich  zum 
jubelnden  Lobe  des  Höchsten,  der  ihr  durch  die  Hand  ihrer  Vor- 
kämpfer einen  solchen  Triumph  gewährt  hat.  Denn  der  allmächtige 
Gott  hat  sie  aus  dem  gierigen  Rachen  ihrer  Verfolger  gerissen  und 
den  Angriffen  auf  sie  jetzt  ein  Ziel  gesetzt.."  Ob  Konradin  und 
der  Prinz  Heinrich  entkommen  oder  gefallen  seien,  konnte  er  im 
Augenblicke  noch  nicht  melden;  auch  am  nächsten  Tage  hatte  er 
keine  Gewissheit;  für  alle  Fälle  schickte  er  an  seine  Anhänger  im 
Norden  den  Befehl,  die  Strassen  und  Pässe  sorgfältig  zu  überwachen 
und  die  versprengten  Flüchtlinge  aufzugreifen.  Was  er  mit  ihnen 
beabsichtigte,  lässt  sich  aus  der  beiläufigen  Mittheilung  entnehmen, 
dass  die  gefangenen  Genossen  Konradin's,  welche  aus  dem  König- 
reiche stammten,  gleich  am  Abende  der  Schlacht  zum  Tode  ver- 
urtheilt  worden  seien. 

Was  in  den  nächsten  Tagen  geschah,  zeigte  immer  deutlicher, 
dass  mit  dem  einen  Schlage  der  ganze  Krieg  beendet  war.  Die 
Anführer  der  Besiegten  wurden  nach  und  nach  auf  der  Flucht  fest- 
gjenommen,  aus  ihren  Verstecken  hervorgeholt.  Zunächst  fiel  Prinz 
Heinrich  in  die  Hände  der  Verfolger :  er  hatte  in  einem  Kloster  eine 
Zuflucht  gefunden,  aber  der  Befehl  des  Papstes  erzwang  seine  Aus- 
lieferung. Endlich  am  12.  September  konnte  Karl  seinem  Bruder, 
dem  Könige  von  Frankreich,  anzeigen,  dass  auch  Konradin  mit 
seinen'  letzten  Begleitern  hinter  Schloss  und  Riegel  sei.  „Der  all- 
mächtige Gott  hat  unsere  Trübsal  gnädig  geendet  und  alle  haupt- 
sächlichste Feinde  in  unseren  Händen  beschlossen.^ 


Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin.  235 

Der  unglückliche  Jüngling  war  nach  der  Schlacht  nach  Rom 
zurückgeeilt,  erkannte  aber  gar  bald,  dass  mit  seinem  Glücke  auch 
die  Volksstimmung  in's  Gegen th eil  umgeschlagen  sei  und  dass  seines 
Bleibens  hier  nicht  sein  könne.  Da  die  Wege  nach  Norden  ver- 
muthlich  schon  gesperrt  waren,  dachte  er  die  Küste  zu  gewinnen, 
um  wo  möglich  auf  dem  Seewege  Pisa  zu  erreichen,  wo  er  geborgen 
gewesen  wäre.  Es  gelang  ihm  in  der  That,  sich  in  Astura,  einem 
Städtchen  südöstlich  von  Rom,  heimlich  einzuschiffen,  seine  Rettung 
schien  unzweifelhaft,  da  wurde  die  Barke  von  dem  aufmerksam  ge- 
wordenen Burgherren  des  Ortes  eingeholt  und  mit  ihren  Insassen 
wieder  nach  Astura  zurückgeführt.  Diesei:,  Burgherr  gehörte  einem 
Geschlechte  an,  welches  nicht  am  Wenigsten  durch  die  Gunst  der 
Staufer  in  die  Höhe  gekommen  war;  er  selbst,  Johann  Frangigani, 
hatte  von  Konradin's  Grossjjiater  den  Ritterschlag  empfangen  und  es 
war  immerhin  noch  möglich,  dass  die  Dankbarkeit  die  Berechnungen 
des  Eigennutzes  besiegte.  Doch  das  Unglück  Konradin's,  der  stete 
Begleiter  seiner  jungen  Jahre,  führte  zufällig  einen  hohen  Beamten 
Karl's  von  Anjou  nach  Astura,  die  Anwesenheit  der  Gefangenen 
konnte  ihm  nicht  verborgen  bleiben  und  durch  Drohungen  mit  der 
Rache  des  Siegers  erpresste  er  ihre  Auslieferung. 

Die  Sage  erzählt,  dass  nun  Karl  bei  dem  Papste  Clemens  ange- 
fragt, was  mit  Konradin  und  seinen  Genossen  zu  thun  sei,  und  dass 
der  Papst  geantwortet  habe:  ^Konradin's  Leben  ist  Karl's  Tod  und 
Konradin's  Tod  ist  Karl's  Leben."  In  Wirklichkeit  lässt  sich  nicht 
nachweisen,  dass  über  das  Schicksal  der  Gefangenen  zwischen  dem 
Papste  und  dem  Sieger  verhandelt  worden  ist,  also  auch  nicht,  dass 
der  Papst  zur  Vernichtung  der  Gefangenen  gerathen  hat;  aher  ebenso 
wenig  lässt  sich  behaupten,  dass  er  irgend  etwas  gethan  hat,  um 
Karl  von  seinem  blutigen  Entschlüsse  abzubringen.  Und  wie  sollte 
er  auch?  War  doch  von  Seiten  des  Papstthums  seit  mehr  als 
zwanzig  Jahren  eingestandener  Maassen  nichts  Anderes  beabsichtigt 
worden,  als  die  Vernichtung  des  staufischen  Geschlechts:  wie  hätte 
also  Papst  Clemens  jetzt,  da  er  am  Ziele  stand,  Milde  und  Schonung 
predigen  sollen?  Von  dem  Augenblicke  an,  da  er  die  Gefangen- 
nahme Konradin's  und  seiner  Genossen  erfuhr,  wusste  er  auch,  dass 
sie  verlorene  Leute  waren,  und  konnte  deshalb  es  ablehnen,  weiter 
mit  Kirchenstrafen  gegen  sie  einzuschreiten.  In  einem  noch  unge- 
druckten Briefe  an  den  König  Ottokar  von  Böhmen  schreibt  er 
diesem:  „Der  Herr  der  Vergeltung  ist  unserem  Strafen  mit   seiner 

Strafe  zuvorgekommen   und  hat  uns   so  jeden  Grund  zu   weiterem 

16* 


286  Die  Politik  der  Päpste  and  Eouradin. 

Verf^rtn  genommen."  Hat  er  dies  zunächat  auch  nur  in  Bezag  auf 
Eonradin's  mitgefangenen  Freund,  den  Titutarherzog  Friedrich  von 
Oeeterreich,  gesagt,  eo  gilt  das  Gleiche  selbstv  erstand  tich  auch  in 
Bezug  auf  Konradin.  Er  durfte  allerdinge  nicht  selbst  das  Werk  der 
Rache  vollziehen,  aber  er  konnte  auf  dem  seit  langer  Zeit  von  der 
Curie  eingenommenen  Standpunkte  nur  Befriedigung  .empfinden,  wenn 
sein  Vasall  der  staufischen  Hydra  den  letzten  Kopf  abschlug. 

Wie  ich  nicht  beabeichtigt  habe,  Ihnen  eine  Biographie 
Konradin'a  vorzuführen,  eonderu  hauptsächlich  darlegen  wollte,  dass 
dieses  Leben  von  Anfang  bis  zu  Ende  durch  die  traditionelle  Feind- 
schaft der  römischen  Curie  gegen  das  staufiscbe  Haus  bestimmt  wor- 
den ist,  so  darf  ich  auch  wohl,  ohne  mich  auf  sentimentale  Erwä- 
gungen einzulassen,  über  den  Schluseact  rasch  hinweggehen,  über 
das  racbgierige  Wüthen  Karl's  von  Aqjpu,  dem  an  tausend  Leben 
zum  Opfer  gefallen  sein  sollen,  über  die  blutigen  Scenep,  welche 
der  Mereato  Yecbio  Neapels  am  29.  October  1268  gesehen  hat,  als 
Eonradin  und  zehn  seiner  nächsten  Genossen  auf  dem  Schaffotte  endeten. 
Nur  die  eine  Frage  sei  mir  noch  gestattet,  ob  das  Papstthum  nun,  als 
seine  grossen  Widersacher  auf  dem  politischen  Gebiete  mit  Stumpf 
und  Stiel  ausgerottet  waren,  die  erwarteten  Früchte  wirklich  geemtet 
bat,  und  diese  Frage  muss  mit  einem  entschiedenen  Nein  beantwortet 
werden. 

Unerträglich  war  es  den  Päpsten  gewesen,  dass  die  Staufer  ihre 

Herrschaft  über  die  ganze  Halbinsel  erstreckten,  aber  sie  haben  diese 

doch  nicht  anders  zu  beseitigen  vermocht,   als  indem  sie  zuletzt  ein 

anderes  Geschlecht,  die  Anjou's,  an  ihre  Stelle  setzten  und  mit  noch 

grösserer  Macht  ausstatteten.      Gestützt  auf  das  eroberte  Königreich 

Sicilien  im  Süden  und  auf  seinen  erheiratheten  provengalischen  Besitz 

~     "    ~~  rl  auf  Gmnd  des  ihm  vom  Papste  über- 

des  Kaiserthums   seinen  Einfluss   auch 

aus ;  den  Papst  zwang  er,  ihm  die  Ver- 

1  überlassen,  Rom  selbst  regierte  er  als 

le  Besatzungen.     Für  die  Päpste  wurde 

iü  Macht  um  so  drückender,  als  sie  nun 

rankreich  hatten.     Die  Deutschen  hatten 

drängt,    dafür    aber  sich   die  Franzosen 

auf  den  Nacken   gesetzt.     Es  ist  mehr 

Geschichte,  als  man  gewöhnlich  glaubt, 

itung  der  Staufer  mit  der  Ueberführung 

lantwortet.  — 


Die  Politik  der  Päpste  und  Konradin.  237 

Das  prachtvolle  Cisterzienserkloster  Santa  Maria  della  Vittoria, 
welches  Karl  von  Anjou  auf  dem  Schlachtfelde  von  Tagliacozzo 
erbaute,  liegt  seit  Jahrhunderten  in  Trümmern;  die  Kapelle  Santa 
Croce,  welche  Konradin's  Mutter  auf  dei^  Stelle  auflHihren  liess,  wo 
er  endete,  ist  längst  abgetragen;  die  Porphyrsäule,  welche  ein  ehr- 
samer Gerbermeister  von  Neapel  dem  Andenken  Konradin's  auf- 
richtete, hat  ihren  Platz  gewechselt  und  sie  ist  nicht  leicht  zu  finden. 
Aber  das  Kloster  Santa  Maria  del  Carmine,  von  Konradin's  Mutter 
für  das  Seelenheil  ihres  Sohnes  am  Mercato  vecchio  gegründet,  steht 
noch  und  die  Klosterkirche  ziert  seit  1847  ein  schönes  von  Thor- 
waldsen  modellirtes  Denkmal,  welches  der  damalige  Kronprinz 
Maximilian  von  Baiem  an  derjenigen  Stelle  errichten  liess,  wo  man 
die  Gebeine  Konradin's  und  seines  Freundes  Friedrich's  von  Oester- 
reich  aufgefunden  hat.  Wer  an  dem  herrlichen  Strande  von  Neapel 
nicht  nur  der  Gegenwart  leben  mag,  sollte  nicht  versäumen,  diesen 
in  seiner  Art  classischen  Ort  aufzusuchen,  der  die  Consequenzen  des 
päpstlichen  Absolutismus,  wie  ich  meine,  eindringlich  genug  ver- 
kündet. 

Winkelmann. 


I   I      I    I  — ^^HTT- 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 


m. 

Eialui  der  W«hiiwig  aif  die  Sittllekkeit«) 

(Ein  Vortrag.) 

JPür  meinen  Vortrag  habe  ich  ein  Thema  gewählt,  welches  ich  seit 
einiger  Zeit  zum  Gegenstand  sehr  eingehender  Studien  gemacht  habe; 
ich  halte  es  nämlich  für  sehr  wünschenswerth,  dass  die  Gebildeten 
einer  Universitätsstadt  einen  Einblick  in  das  gewinnen,  was  die  Mit- 
glieder der  Universität  beschäftigt,  und  in  die  Methode,  durch  welche 
dieselben  zu  ihren  Resultaten  gelangen.  Kann  man  dieses  zugleich 
an  einem  Beispiele  thun  wie  Moralstatistik,  welche  Jedem  und 
namentlich  seit  dem  Erscheinen  der  Oettingen'schen  Moralstatistik 
jedem  Dorpater  so  nahe  liegt,  um  so  besser.  So  hoffe  ich  denn  für 
eine  trockene  statistische  Untersuchung  bei  den  Einen  durch  den 
Gegenstand,  bei  den  Änderen  durch  die  Behandlungs weise  Interesse 


•)  Wie  wir  in  unserem  ersten  Artikel  das  neu  erschienene  Werk  des  Herrn 
V.  Jong-Stilling  über  die  Wohnungen  Riga*s  dem  grösseren  Publicum  näher 
bringen  wollten,  indem  wir  die  Resultate  aus  dem  für  viele  Leser  zu  weitläufigen 
Material  herauslösten,  so  wollen  wir  im  vorliegenden  Artikel  dasselbe  an  un- 
serem eigenen  statistischen  Werke  thun.  Das  Werk  ist:  Einfluss  der  Woh- 
nung auf  die  Sittlichkeit,  eine  mora}-statistische  Studie  über  die 
arbeitenden  Classen  der  Stadt  Paris,  111  S.  und  42  Tabellen.  Berlin, 
Dümmler  1869.  Diese  Bearbeitung  für  einen  grösseren  Leserkreis  dürfte  um 
so  nöthiger  sein,  als  das  Werk  mit  seiner  gesammten,  im  methodologischen  Inter- 
esse nöthigen  Ausführlichkeit  und  mit  seinen  vielen  Tabellen  manchen  Leser  von 
dem  an  und  für  sich  gewiss  interessanten  moralischen  Thema  abschrecken  mag. 
Gerade  um  uns  in  Zahlen  dieses  Mal  recht  zu  massigen,  haben  wir  diesem  Artikel 
die*  Form  belassen,  welche  er  für  einen  im  Februar  1870  vor  Damen  und  Herren 
gehaltenen  Vortrag  angenommen  hatte.  Wer  manche  für  ein  tieferes  Eindringen 
wünschenswerthe  Zahl  hier  vermisst,  der  findet  ja  mehr  als  ihm  vielleicht  lieb 
ist  in  dem  grösseren  Werke,  welches  wir  selbst  am  allerwenigsten  durch  diese 
Bearbeitung  unnütz  machen  mochten. 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  239 

zu  erregen  oder  wenigstens  die  Langeweile  fernzuhalten.  Auch  ver- 
spreche ich,  Sie  nicht  viel  mit  Zahlen  zu  behelligen.  Bei  gründlich 
verarbeitetem  statistischen  Material  ist  das  Endresultat  mit  wenigen 
Zahlen  auszudrücken,  der  wissenschaftlichen  Statistik  ist  die  Zahl 
nicht  Zweck,  sondern  nur  Mittel.  Wäre  mein  statistisches  Material 
völlig  genügend,  so  könnten  die  Zahlen  fast  ganz  fehlen,  aber  die 
brauchbare  Statistik  liegt  leider  noch  in  den  Windeln,  auch  für 
unsere  Frage. 

Unter  den  vielfachen  Bemühungen  unserer  Zeit,  die  Lage  der 
unteren  Volksclassen  zu  verbessern,  steht  bei  denen,  welche  nicht 
Hirngespinnsten  nachjagen  und  nicht  politische  Zwecke  verfolgen, 
mit  Recht  in  einer  der  ersten  Reihen  die  Agitation  für  Wohnungs- 
reform. Sie  ist  auch  obenan  zu  stellen,  weil  hier  schon  mehr  als 
in  anderen  Versuchen  die  unteren  Volksclassen  zu  heben,  der  richtige 
Gedanke  durchgedrungen  ist,  dass  das  Hauptübel,  an  dem  die  unteren, 
nur  nicht  die  alleruntersten,  Schichten  der  Bevölkerung  kranken,  nicht 
der  mangelnde  Erwerb,  sondern  der  verkehrte  Consum  ist.  Seneca 
sagt:  ^Wenn  du  Jemand  reich  machen  willst,  musst  du 
nicht  seine  Güter  vermehren,  sondern  seine  Bedürfnisse 
verringern.*'  Ich  halte  weder  den  von  Seneca  bekämpften,  noch 
den  von  ihm  aufgestellten  Satz  für  den  unbedingt  richtigen,  das 
Wichtigste  ist  weder  Vermehrung  der  Reichthümer  noch  Verringerung 
der  Bedürfnisse,  sondern  Steigerung  gewisser  Bedürfnisse,  nämlich 
der  vom  sittlichÄi 'Standpunkte  aus  wünschenswerthesten,  also  eine 
besondere  Form  der  Erziehung.  Unter  den  zu  steigernden  Bedürf- 
nissen steht  das  Wohnungsbedürfniss  obenan,  denn  eine  gute  Woh- 
nung ist  die  Mutter  aller  häuslichen  und  öffentlichen  Tugenden. 

Ganz  richtig  erstrebt  demnach  die  Humanität  unserer  Zeit  nicht, 
den  untersten  Volksclassen  eine  Wohnung  wie  dieselben  sie  bisher 
hatten,  nur  für  einen  billigeren  Preis  zu  beschaffen,  damit  wäre  wenig 
g€iwonnen,  sondern  sie  bemüht  sich,  ihnen  Lust  an  Wohnungen  zu 
schaffen,  welche  zwar  theurer  als  die  bisherigen,  aber  in  weit  höherem 
Grade  besser  sind,  als  sie  mehr  kosten.  Die  zu  erzielende  Ersparniss 
liegt  darin,  dass  eine  gute  Wohnung  die  Bewohner  von  einer  Menge 
Ausgaben  ausserhalb  des  Hauses  zurückhält,  zu  denen  bisher  die 
ünbehagliclikeit  der  eigenen  Wohnung  trieb.  Darum  kann  die  Woh- 
nungsreform auch  nicht  da  ihre  Hebel  ansetzen,  wo  es  am  Wichtigsten 
wäre,  bei  den  untersten  Volksclassen,  sondern  muss  auf  einer  etwas 
höheren  Stufe  beginnen.  Auf  der  untersten  Stufe  fühlen  die  Men- 
schen das  Bedürfniss  nach  einer  Wohnung,  die  über  ein  Obdach  gegen 


240  Statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage.  . 

Kälte  und  Nässe  hinausgeht,  nicht,  fa«t  möchte  man  sagen,  Qott  sei  ' 
Dank,  denp,  wenn  sie  es  ftihlten,  fehlten  ihnen  doch  die  Mittel  das- 
selbe zu  befriedigen:  die  Nahrungssorgen  and  Nahrungaausgaben 
überwücherD  Altes.  Bei  den  Ständen,  welche  ihre  BedürfhlBse 
mancherlei  Art  schon  reichlicher  beMedigen  können,  muss  die  Be- 
mühung, das  Wohnangsbedürfniss  auf  Kosten '  der  anderen  Bedürf- 
nisse zu  erweitem,  angreifen:  die  Befriedigung  anderer  dringender 
und  wÜDBchenswerther  Bedürfhisse  wird  darunter  nicht  lange,  wenn 
überhaupt  leiden,  denn  den  schädlichen  BedOrßiiseen  des  Lebens, 
deren  Befriedigung  man  in  der  Kneipe  oder  in  anderen  schlimmeren 
Häusern  sucht,  wird  dadurch  Abbmch  gethan.  Meiner  innersten, 
auch  wirthechaftlichen  Ueberzengung  nach  tritt  aber  *  diese  ethische 
Seite  der  Bemühungen  für.  die  unteren  Classen  nicht  nur  in  der 
WohnUngsreform  in  den  Vordergrund,  sondern  bei  allen  Bemühaugen, 
welche  sich  an  den  Namen  des  grossen  Volkgfrenndes  Scholze- 
Delitsch  knüpfen.  Hebung  der  Sittlichkeit  steht  mir  bei  allen 
Associationen,  mögen  sie  RohstoffTereine ,  Consumyereine,  Yolks- 
banken  oder  wie  immer  heissen,  in  erster  Linie.  Damit  vergÜcfaen 
sind  die  freilich  auch  nicht  zu  unterschätzenden  wirthschaftlichen 
Vortheile  gering,  und  werden  immer  geringer  werden  je  mehr  die 
Association  durch  die  Concurrenz  die  anderen  Geschäfte  (reibt,  den 
ärmeren  Classen  ebenso  günstige  Kaufs-  und  Verkaufsbedingnugen 
zu.  stellen,  als  die  Associationen  ihnen  gewähren  und  als  sie  selbst 
den  Wohlhabenderen  schon  stellen.  Auch  diese  -Adociationen  aller 
Art  sind  bisher  vorzugsweise  noch  nicht  iür  die  allerunterste  Classe, 
die  sogen.  Arbeiterclasse,  berechnet,  oder  wo  sie  es  sind,  wie  die 
Consumvereine  werden  doch  die  von  ihnen  gebotenen  Vortheile  noch 
mehr  von  den  oberen  Classen  des  Arbeiterstandes,  sowie  von  dem 
Handwerker-  und  kleinen  Beamtenstande  benutzt.  Sittliche  Hebung 
dea  Volkes  steht  mir,  wenn  es  auch  der  weiteste  Weg  zum  Ziel 
scheint,  am  höchsten,  der  Weg  ist  jedenfalls  der  sicherste.  Sittliche 
Hebung  erreicht  man  meiner  Ueberzeugung  nach  jedoch  nicht  durch 
blosses  Moralpredigen,  sondern  auch  durch  äussere  Vortheile,  und  ein 
Solcher  äusserer  Vortheil,  durch  welchen  man  einen  inneren  an- 
streben soll,  ist  die  BeachafFung  menschenwürdiger  Wohnungen.  Ist 
denn  aber,  könnte  man  fragen,  der  Einfluss  der  Wohnung  auf  die 
Sittlichkeit  wirklich  so  sicher,  als  Diejenigen  annehmen,  welche  für 
die  Wohnungsreform  allerwärts  so  sehr  agitiren?  Zur  Beantwortung 
dieser  Vorfrage  der  Wohnungsfrage  möchte  ich  im  Folgenden  eines 


ffl 


statistisch^  6tiuiieii  zur  Wobnmigdfrage.  341 

Kann  man  nachweisen,  daas  bestimmte  Arten  zu  wohnen,  die 
^     Sittlichkeit  mehr  fördern,  als  andere  Arten,  und  dass  innerhalb  einer 
j   bestimmten  Wohnungsart  die  Sittlichkeit  mit  der  Güte  der  Wohnung 
'    steigt  Und  fällt  ? 

Man  kann  den  Nachweis  führen,  einmal  rein  philosophisch, 
individuell  psychologisch,  indem  man  nachspürt,  welche  Effecte  einzelne 
durch  die  Wohnungsart  gegebene  Reize  auf  die  Seele  des  Menschen 
aasüben  müssen,  und  man  kann  zur  Illustrirung  Einzelerfahrungen 
characteristischer  Art  anführen,  wie  diese  oder  jene  Veränderung 
in  der  Wohnungsweise  auf  einen  Einzelnen  oder  eine  Familie  ein- 
gewirkt hat.  So  könnte  ich  Ihnen  Beispiele  genug  vorbringen, 
welchen  Einfluss  die  Wohnungsreform  z.  B.  in  Mühlhausen  im  Elsass 
auf  die  Arbeiterbevölkerung  ausgeübt  hat.  Geschichtchen,  sehr  erbau- 
lich, vielleicht  sehr  rührsam,  aber  nicht  beweisend,  da  man  ihnen 
vielleicht  eben  so  viele,  ja  mehr  Histörchen  gegenüberstellen  könnte, 
in  denen  die  guten  Erfolge  der  Wohnungsreform  nicht  eintreten  wollten. 

Die  zweite  Art,  den  Nachweis  zu  führen,  ist  die  statistische, 
d.  h.  die  systematische  Massenbeobachtung.  Wir  können  psychologi- 
sche Erscheinungen  an  einem  einzelnen  Menschen,  ausser  an  uns 
selbst,  weder  dttrch  Beobachtung  noch  gar  durch  Experiment  erfor- 
schen. Der  Mensch  ist  von  allen  Beobachtungsgegenständen  das- 
jenige Product  der  Natur,  welches  am  allerwenigsten  typisch  ist, 
d.  h.  welches  am  allerwenigsten  in  einer  genau  gleichen  Form  wieder 
vorkommen  kann.  Gilt  das  schon  vom  Aeusseren  des  Menschen, 
wie  ja  niemals  mehrere  Leute  einander  wirklich  zum  Verwechseln 
ähnlich  sind,  so  gilt  es  natürlich  in  weit  höherem  Grade  von 
seinem  Inneren. 

Das  sittliche  Gebahren  eines  Menschen  ist  etwas  sehr  Complicirtes, 
^s  ist  die  complexe  Wirkung  von  so  ungemein  vielen  körperlichen 
und  geistigen  Ursachen,  dass  es  fast  unmöglich  erscheinen  muss, 
den  Einfluss,  welcher  einer  einzelnen  Ursache  an  der  compücirten 
Undwirkung  zuzuschreiben  ist,  isolirt  zu  beobachten.  Am  einzelnen 
Menschen  können  wir  das  auch  nicht  beobachten,  aber  wenn  uns 
eine  sehr  grosse  Anzahl  von  Menschen  zu  Gebote  steht,  bietet  die 
Statistik,  d.  h.  die  methodische  Massenbeobachtung,  die  Möglich- 
keit dazu. 

Um  das  gleich  an  unserer  Frage  zu  illustriren :  Wenn  unter 
vielen  Tausenden  von  Menschen,  welche  in  guten  Wohnungen 
leben,     sich    ein    bedeutend    grösserer    Theil    gut    aufführt,    als 


242  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 

unter  anderen  vielen  Tausenden,  welche  in  schlechten  Wohnungen 
sich  aufhalten,  so  müssen  wir  schliessen  entweder, 

1)  dfiuss  die  bessere  Wohnung  die  Ursache   der  besseren   Auf- 
führung ist,  oder 

2)  dass  die  bessere  Aufführung  der  Grund  ist,  aus  welchem  die 
Leute  eine  bessere  Wohnung  wählen,  oder  endlich 

3)  dass  die  beiden  Erscheinungen,  bessere  Wohnung  und  besseres 
Betragen,  einen  gemeinsamen  Grund  haben. 

Ein  Viertes  kann  nicht  stattfinden.  Im  einzelnen  Fall  oder  in 
wenigen  Fällen  wäre  als  Viertes  an  sich  denkbar,  dass  zufällig  die 
Leute  mit  guter  Wohnung  sich  gut  auflführen,  oder  die  mit  guter 
Auffuhrung  gut  wohnen.  Dieser  Zufall  kann  aber  nur  in  einzelnen 
Fällen  walten.  In  einer  genügend  grossen  Anzahl  ton  Fällen  gleichen 
alle  zufälligen  Erscheinungen  sich  gegen  einander  aus,  nur  nicht 
die  Erscheinungen,  welche  in  einem  Causalzusammenhang  mit  ein- 
ander stehen.  Vermögen  wir  also  in  einer  grossen  Menge  von 
Fällen  die  Zufälle  gegen  einander  auszugleichen,  sie  gewissermaassen 
zu  neutralisiren,  so  erhalten  wir  die  Erscheinungen,  welche  wir  in 
ihrem  Causalzusammenhang  erforschen  wollten,  isolirfc,  und  diese 
Isolirung  wurde  oben  zur .  Beobachtung  verlangt.  Eine  genügend 
grosse  Anzahl  von  Fällen  liegt  uns  für  die  Frage  nach  dem  Causal- 
zusammenhang zwischen  Wohnung  und  Sittlichkeit  aus  Paris  vor. 
In  Paris  wurde  anno  1860  von  der  Handelskammer  eine  officielle 
statistische  Untersuchung,  eine  EnquSte  über  die  gesammte  Pariser 
Industrie  veranstaltet,  deren  Resultate  1864  in  einem  stattlichen 
Quartanten,  der  Statistique  de  l'industrie  b>  Paris,  einem  der 
besten  statistischen  Werke,  das  wir  überhaupt  besitzen,  niedergelegt 
wurden.  Unter  den  vielen  Angaben,  welche  die  101,000  Arbeitgeber 
in  270  verschiedenen  Gewerben  über  ihre  fast  400,000  Arbeiter^ge- 
macht  haben,  interessiren  uns  hier  zunächst  nur  zwei;  Einmal  die 
Angabe,  wie  viele  ihrer  Arbeiter  in  eigenen  Möbeln  wohnen,  wie  viele 
in  fremden  Möbeln  (in  Chambregarnie)  und  wie  viele  in  fremden  Mö- 
beln und  fremder  Kost,  also  bei  ihnen  selbst,  bei  den  Meistern.  Für 
die  Leute  dieser  Wohnungsarten  muss  ich  kurze  Ausdrücke  bilden, 
mögen  sie  Ihnen  auch  sehr  barbarisch  vorkommen.  Der  Ausdruck 
Chambregarnisten  freilich  Ist  in  Berlin  wenigstens  schon  eingebürgert, 
aber  nicht  der  Ausdruck  Eigenmöbler  für  die  in  eigenen  Möbeln 
Wohnenden  und  Meisterwohner  für  die  beim  Meister  Wohnenden. 
Ich  weiss  aber  keine  besseren  kurzen  Namen  zu  bilden  und  kurzer 
Namen  bedarf  ich.    Die  zweite  Angabe  ist  die,  wie  viele  der  Arbeiter 


statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage.  248 

sich  gut,  mittelmässig  oder  zweifelhaft  und  schlecht  betragen.  Welche 
Art  von  Betragen  als  gut,  zweifelhaft  oder  mittelmässig,  und  schlecht 
gelten  soll,  dafür  ist  sehr  wenig  Anhalt  in  den  Instructionen  zur 
IndustrieenquSte  gegeben.  In  den  von  den  Arbeitgebern*  auszufüllen- 
den Bulletins  heisst  es,  „man  erforsche,  ob  die  Arbeiter  sparsam 
oder  verschwenderisch,  ordentlich  oder  unordentlich,  ruhig  oder  auf- 
sässig, arbeitsam  oder  faul  sind,  wie  viel  Tage  der  Woche  6ie 
arbeiten,  und  ob  sie  freiwilliger  oder  gezwungener  Weise  feiern*'. 
Nach  welchem  Maasstabe  der  Arbeitgeber  seine  Leute  in  gut,  zweifel- 
haft und  schlecht  getheilt  hat,  darüber  fehlt  uns  alle  Kunde.  Die 
Beurtheilung  des  Betragens  ist  eine  sehr  subjective  Sache.  An  einem 
Arbeiter,  den  ein  Fabrikant  wegen  seines  Betragens  lobt,  findet  ein 
Anderer  sehr  viel  auszusetzen,  ja  derselbe  Fabrikant  würde  an  einem 
anderen  Tage  sein  Urtheil  vielleicht  wesentlich  verschieden  abgeben. 
Auch  ist  noch  zu  bedenken,  dass  in  verschiedenen  Gewerben  das 
Betragen  ganz  anders  zu  beurtheilen  ist.  Ein  Betragen,  das  in  einem 
gewissen  Gewerbe  als  schlecht  gilt,  kann  in  einem  anderen,  welches  eine 
gewisse  Rohheit  naturgemäss  erzeugt,  noch  als  leidlich  gelten.     Ein 

s 

unregelmässiger  Arbeiter  ist  weniger  zu  tadeln  in  Gewerben,  bei 
welchen  periodische  oder  zufällige  Unterbrechungen  gegen  den  Willen 
der  Arbeiter  oft  vorkommen,  denn  der  Arbeiter  muss  dadurch  lüder- 
lich  werden.  Das  Betragen  der  weiblichen  Arbeiter  muss  wieder 
ganz  anders  beurtheilt  werden  als  das  der  männlichen.  Und  tau- 
senderlei andere  Momente. 

Doch  das  ist  noch  der  geringere  Uebelstand.  Ein  viel  schlim- 
merer trifft  die  ganze  Art  der  Publication.  Leider  ist  nicht  für  jeden 
einzelnen  Arbeiter  angegeben,  wie  er  wohnt  und  wie  er  sich  beträgt 
sondern  immer  nur  wie  viele  innerhalb  eines  Gewerbes  beim  Meister, 
in  eigenen  Möbeln,  in  Chambregarnie  wohnen,  und  daneben,  wie 
viele  sich  gut,  zweifelhaft  und  schlecht  aufführen.  Damit  wissen  wir 
also  nicht  direct,  wie  viele  von  denen,  welche  beim  Meister  leben, 
sich  gut,  zweifelhaft  oder  schlecht  betragen,  wie  viele  von  denen, 
welche  in  eigenen  Möbeln  wohnen,  und  wie  viele  von  den  Chambre- 
garnisten.  Ob  ein  Zusammenhang  zwischen  der  Wohnungsart  und 
dem  Betragen  stattfindet,  müssen  wir  auf  umständlicherem  Wege  zu 
ermitteln  suchen.  Wii*  müssen  forschen,  ob  um  so  mehr  Arbeiter  in 
einer  bestimmten  Anzahl  von  Gewerben  sich  schlecht  oder  gut  auf- 
führen, je  mehr  Cbambregarnisten  unter  den  Arbeitern  sich  befinden, 
sodann,  je  mehr  Eigenmöbler  und  endlich,  je  mehr  Meisterwohner 
in    diesen    Gewerben    vorkommen.      Zu  dem  Zweck  habe  ich  alle 


244  Slifttistiscbe  Studien  znr  Wohnungsfrage* 

270  Gewerbe  geordnet  nach  dem  Procentantheil^  den  die  Chambre- 
garnisten  an  al^mmtlichen  Arbeitern  eines  Gewerbes  ausmachen,  an- 
fangend mit  den  Gewerben,  welche  gar  keine  Chambregarnisten  und 
endend  mit  denen,  welche  sehr  viele  haben.  •  Dann  wurden  ebenso 
die  270  Gewerbe  geordnet  nach  dem  Antheil  der  Meisterwohner  in 
jedem  Gewerbe  und  endlich  nach  dem  Antheil  der  Eigenmöbler. 
Jedesmal  wurde  erforscht,  wie  dazu  der  Antheil  jeder  Betragensart 
sich  verhält  und  zwar  getrennt  für  das  mannliche  und  für  das  weib- 
liche Geschlecht.  Folgendes  ist  das  Ergebniss  der  mühsamen  Be- 
rechnungen, in  denen  der  üebersichtlichkeit  halber  zweifelhaftes  und 
schlechtes  Betragen  gegenüber  dem  ausgesprochen  guten  Benehmen 
als  sohlecht  zusammengefasst  ist: 

1)  Je  mehr  Procente  die  •  Chambregai'nisten  mtonlichen  Ge- 
schlechtes von  allen  männlichen  Arbeitern  ausmachen,  um  so  mehr 
betragen  sich  schlecht.  90  Gewerbe  mit  5  %  Chambregarnisten  hatten 
3  Vo  schlechter  Aufführung.  90  Gewerbe  mit  14  Vo  Chambregarnisten 
9  Vo  schlechter  Aufführung  und  90  Gewerbe  mit  28  7o  Chambregar- 
nisten 12%  schlechter  Aufführung.  Wo  die  Reihe  der  Chambregarnisten 
steigt:  5,14,28,  steigt  die  Reihe  des  schlechten  Betragens:  3,9,12. 
Bei  den  Frauen  ebenso :  bei  0  %  Chambregarnisten  3  %  schlecliten 
Betragens,  bei  4%  Chambregarnisten  Q%  schlecht,  bei  14% 
Chambregarnisten  15  %  schlecht.  Die  Chambregamistenreihe  0,  4, 
14,  die  des  schlechten  Betragens  3,  6, 15.  Je  mehr  Chambregarnisten 
in  den  Gewerben,  um  so  schlechter  das  Betragen.  Chambregarnie- 
wohnen  wirkt  schlecht. 

2)  Gerade  umgekehrt  verhält  es  sich  mit  den  Meisterwohnern. 
Je  mehr  Meisterwohner,  um  so  weniger  haben  schlechtes  Betragen. 
Bei  0%  männlicher  Meisterwohner  14  7o  schlechtes  Betragen,  bei 
1  7o  Meisterwohner  nur  9  %  schlechtes  Betragen ,  und  •  bei  51  % 
Meisterwohner  nur  5  %  schlechtes  Betragen.  Bei  den.  Weibern  wieder 
ebenso,  nur  dass  es  im  Betragen  keinen  Unterschied  macht,  ob  gar 
keine  oder  2%  beim  Meister  wohnen,  in  beiden  Fällen  sind  9V2V0 
schlechten  Betragens ;  allein  wo  40  7o  beim  Meister  wohnen,  betragen 
sich  nur  6%  Aller  schlecht.  Bei  den  Frauen  wirkt  das  Wohnen 
beim  Meister  nicht  in  demselben  Grade  gut"  als  bei  den  Männern. 

Endlich  3)  bleiben  noch  die  Arbeiter  in  eigenen  Möbeln  nach. 
Das  Wohnen  in  eigenen  Möbeln  wirkt  gut,  denn  je  mehr  Eigen- 
möbler in  den  Gewerben,  um  so  besser  das  Betragen,  aber  dieses 
Mal  ist  die  Einwirkung  auf  das  weibliche  Geschlecht  stärker  als  auf 
das  männliche.     Bei  70  %  weiblichen  Eigenmöblern  betragen  12  % 


Statigtische  Stadien  zur  Wohnmigsfrage.  245 

sich  schlecht,  bei  94  %  Eigenmöblern  6  Vo  schlecht,  und  bei  lauter 
Eigenmöblern  oder  100  %  nur  3  %  schlecht.  Bei  den  Männern  hin- 
gegen bewirkt  ein  Unterschied  von  ö6  7o  Eigenmöblern  gegen  90  7o 
nur  einen  Unterschied  von  9  %  schlecht  gegen  7  Voi  j^.  die  in  der  Mitte 
stehenden  Gewerbe  mit  80  Vo  Eigenmöblern  haben  12  %  schlechtes 
Betragen. 

So  kommen  wir  zu  folgenden  3  Hauptsätzen: 

1)  Je  mehr  Arbeiter  oder  Arbeiterinnen  Chambregamie.  wohnen, 
um  so  schlechter  ist  das  Betragen,  und  zwar  für  beide  Geschlechter 
ziemlich  gleichmässig. 

2)  Je  mehr  Arbeiter  oder  Arbeiterinnen  beim  Meister  wohnen, 
um  so  besser  ist  das  Betragen  bei  beiden  Geschlechtern;  diese  Art 
zu  wohnen,  hat  also  guten  Einfluss,  jedoch  in  höherem  Maeusse  bei 
dem  männlichen  als  bei  dem  weiblichen  Geschlecht. 

3)  Je  mehr  Arbeiter  oder  Arbeiterinnen  in  eignen  Möbeln 
wohnen,  um  so  besser  ist  das  Betragen,  diese  Wohnungsart  wirkt 
also  auch  gut,  aber  hier,  umgekehrt  als  im  vorigen  Falle,  auf  die 
Frauen  in  einem  viel  höheren  Grade  als  auf  die  Männer. 

So  sehen  Sie  eine  grosse  qualitative,  aber  nicht  quantitative 
Regelmässigkeit  der  Einwirkung  verschiedener  Wohnungsart  auf 
beide  Geschlechter.  Sollte  nun  aber  Jemand  meinen,  dass  diese 
Regelmässigkeit  nur  eine  scheinbare  wäre,  also  statt  eines  tieferen 
Grundes  hier  der  sogen.  Zufall  gewaltet  hätte,  den  kann  ich  durch 
Experiment  überzeugen,  dass  ein  ursächlicher  Zusammenhang  existirt. 
Ordnen  Sie  die  270  Gewerbe  nämlich  nicht  nach  dem  Antheil  einer 
Wohnungsart,  sondern  theilen  Sie  diese  270  Gewerbe  rein  dui^ch 
das  Loos  in  3  Gruppen  von  je  90  Gewerben,  so  dass  alle  3  Gruppen 
ungefähr  gleiche  Procente  jeder  Wohnungsart^enthalten,  so  enthalten 
sie  auch  gleiche  Procente  des  Betragens.  Ich  habe  eine  Reihe  von 
Versuchen  der  Art  angestellt.  Hier  nur  der  Eine :  Bei  23  %  Cham- 
bergarnisten  9,3  %  schlechtes  Betragen,  bei  19  %  Chambergarnisten 
9,1°/  schlechtes  Betragen,  bei  21%  Chambergarnisten  9,4%  schlechtes 
Betragen,  also  bei  fast  genau  gleich  vertheilten  Chambergarnisten 
fast  genau  gleich  vertheilt  das  schlechte  Betragen.  Wenn  bei  einer 
solchen  Ausloosung  in  eine  Gruppe  einmal  durch  Zufall  wenig  Cham- 
bergarnisten kamen,  dann  war  auch  gleich  ein  Ausfall  in  der  An- 
zahl des  schlechten  Betragens. 

Dass  Wohnungsart  und  Betragen  mit  einander  parallel  geht, 
kann  nicht  geleugnet  werden,  fraglich  dürfte  nur  sein,  ob  eine  der 
beiden  Erscheinungen  die  Ursache  der  andern  ist,  oder  ob  sie  parallel 


246  Statistische  Studien  zur  Wohnungsirage. 

geben,   weil   beide  ErscbelnUDgen  eine  gemeinsame  Ursache  haben, 
die  wir  noch  nicht  kennen. 

Um  diese  Frage  zu  beantworten,  muss  untersucht  werden,  ob 
in  einer  bestimmten  Wohnungsart  ein  Qrund  für  eine  bestimmte 
Güte  des  Betragens  zu  finden  ist,  und  ob  OrUnde  dafür  sich  finden 
lassen,  dass  die  Art  zu  wohnen  auf  die  verschiedenen  Geschlechter 
verschieden  wirkt.  Nehmen  wir  in  dieser  Untersuchung  zuerst  die- 
jenigen, welche  beim  Meister,  also  besonders  unselbstständig  wohnen, 
dann  diejenigen,  welche  nur  4  Wände  von  dem  Vermiether 
miethen,  und  endlich  diejenigen,  welche  in  Immobilien  und  Uo- 
bitien  unselbständig  sind,  die  Chambergamisten.  Eine  solche  Unter- 
suchung würde  viel  leichter  sein  wenn  wir  wüssten,  wie  viele  Ar- 
beiter jeder  Wohnungsart  sich  gut  oder  schlecht  betragen.  Direct  • 
sagt  uns  dieses  die  IndustrieenquSte  nicht,  diese  sagt  uns  nur,  dass 
von  allen  Männern  9'A%  sich  schlecht  betragen,  von  den  Frauen 
aber  8Vio  %  d.  h.  in  beiden  Geschlechtem  fast  gleich  viel.  Durch 
eine  sehr  complicirte  Rechnung,  mit  der  ich  Sie  hier  nicht  lang- 
weilen will,  konnte  aber  ermittelt  werden,  wie  viel  in  jeder  Woh- 
nungsart sich  schlecht  betragen. 

Je    mehr   mit  verschiedenem   Procentantheit  einer  Wohnungsart 
das  Betragen  steigt  oder  fällt,  um  so  grösser  ist  der  Einfluss  dieser 
Art  zu  wohnen,   um  so   mehr   weicht  das   Betragen   also   von  dem 
Mittel  der  9Vo  ah.     So    fanden    wir,    dass   die    Gewerbe    mit    viel 
männlichen  Meisterwohnern  sehr  viel  schlechteres  Betragen  aufwiesen, 
als   bei    den    Frauen ,    und   mit  wenigen   Meisterwohnern   sehr  viel 
besseres  als  bei  den  Frauen;  der  Einfluss  dieser  Wohnung  ist  dem- 
nach   bei   den   Männern   grösser  als  bei  den  Frauen.     Unsere  Rech- 
nung ergiebt  nur  47o  der  männlichen,  aber  fast  8%  der  weiblichen 
Meisterwohner  für   schlechtes   Betragen.      Gerade  umgekehrt  ist  es 
beim  Wohnen  in  eigenen  Möbeln.    Hier  finden  wir  die  Männer  mit 
fQoi   ..■<.»»..    ;i<.™   Tt.....t.<.»i.r.:tt  entsprechendem   Betragen  9,j  "/oi  hin- 
;  Betragen  viel  besser  als  der  Durch- 
Endlich  unter  den  Chambergamisten 
"rauen  sehr  schlecht,   aber  die  Frauen 
ner.     Von   den  Männern  betragen  sich 
uen  23  Vo- 
lmer 4Vo  schlecht,  weibliche  8Vo, 
irnisten  13%  schlecht,  weibl,  23%,^ 
er  9a  7o  schlecht,  weibliche  7,(%, 


statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage.  247 

Warum  nun  betragen  die  Meisterwohner,  mit  denen  wir 
anfangen  wollten,  sich  im  Ganzen  so  gut,  und  warum  die 
männlichen  Arbeiter  mehr  als  die  weiblichen,  während  in  allen 
Wohnungsarten  zusammen  beide  Geschlechter  fast  gleich  im  Be- 
tragen sind? 

Der  Grund  für  das  über  durchschnittlich  gute  Betragen  beider 
Geschlechter  muss  namentlich  in  der  Beaufsichtigung  durch  den 
Arbeitgeber,  den  „Herrn  Meister^  und  die  „Frau  Meisterin" 
liegen.  Das  spricht  denn  allerdings  sehr  für  den  früheren  hand- 
werksmässig  patriarchalischen  Gewerbebetrieb-,  bei  welchem  das 
Wohnen  der  Gesellen  und  Lehrlinge  in  der  Familie  des  Meisters  die 
Regel  war,  und  gegen  das  Fabriksystem  unserer  Zeit  mit  selbst- 
ständigen dem  Fabrikanten  fem  stehenden  Arbeitern.  Dennoch  darf 
uns  diese  Beobachtung  nicht  dazu  bestimmen,  alle  Vortheile  der 
heutigen  Grossindustrie  zu  Gunsten  dieses  einen  moralischen  Vor- 
theils  der  Kleinindustrie  über  Bord  zu  werfem  Ja,  wenn  der  mo- 
ralische Nachtheil  auf  anderem  Wege  nicht  wieder  einzubringen 
wäre,  dann  müsste  man  alle  materiellen  Vortheile,  seien  sie  noch  so 
gross,  diesem  einen  moralischen  Vortheile  opfern,  denn  besser  dass 
der  Leib  als  die  Seele  Schaden  leide.  Allein  dem  ist,  Gott  sei  Dank, 
nicht  so.  Wir  können  die  Erziehung  statt  durch  den  Meister  auf 
andere  Weise  erreichen,  man  macht  leider  nur  noch  nicht  den  gehöri- 
gen Gebrauch  davon.  Das  Wichtigste  ist  ein  besserer  allgemeiner 
Schulunterricht.  Wenn  nun  auch  Anzeichen  genug  vorliegen,  wie 
Alexander  von  Oettingen  in  seiner  Moralstatistik  gezeigt  hat,  dass 
nicht  nach  allen  Richtungen  hin  die  Moralität  da  höher  ist,  wo  die 
Bildung  höher  steht,  so  habe  ich  doch  bei  Gelegenheit  einer  anderen 
Arbeit  für  die  250,000  männlichen  pariser  Arbeiter  gefunden,  dass 
ihr  Betragen  um  so  besser  war,  je  grösser  die  Zahl  derer,  welche 
lesen  und  schreiben  können.  In  den  130  Gewerben,  in  denen 
14 — 15  Vo  nicht  lesen  nnd  nicht  schreiben  konnten,  betragen  11 — 12  % 
sich  schlecht,  in  den  anderen  130  Gewerben  aber,  in  denen  nur 
2 — 3%  des  Lesens  Unkundige  waren,  betragen  nur  7 — 8%  sich 
schlecht.  Ausser  und  nach  dem  Unterricht  der  Volksschule  biete 
man  dem  Arbeiter  billige  Bildungslhittel  und  billige  anstäiyiige  Ver- 
gnügungen in  den  Fortbildungs-  und  Handwerkerschulen  einerseits, 
und  in  den  Gewerbe-,  Handwerker-  und  Arbeitervereinen  anderer- 
seits, namentlich  nehme  man  ihnen  aber  nicht  des  Sonntags,  wie  in 
England,  alle  anständigen  Vergnügen,  was  die  unteren  Volksclassen 
imfehlbar  dem  Branntwein  in  die  Arme  treibt. 


248  Statifttisehe  Studien  ixkt  Wohnungsfrage. 

Mögen  diese  Andeutungen  hier,  wo  ich  ja  mit  den  Öründen 
der  Immoralität,  nicht  den  Besserungsversuchen  nachzugehen  habe, 
genügen. 

Warum  aber,  werden  namentlich  die  Damen  lange  Lust  gehabt 
haben,  mich  zu  fragen,  entzieht  das  weibliche  Geschlecht  sich  diesem 
wohlth'ätigen  Einfluss  der  Zucht  durch  den  Arbeitgeber?  Warum? 
weil  es  zu  einem  grossen  Theile  nicht  mehr  ziehbar  ist,  weil  es  zu 
alt  ist.     Auch  das  zeigt  unsere  IndustrieenquSte. 

Paris  kennt  die  Meisterwohner  fast  nur  in  den  Gewerben,  welche 
dem  gesunden  und  dem  kranken  Magen  dienen,  in  den  Nahrungs- 
gewerben und  dem  Apothekergewerbe.  Von  allen  26,628  männlichen 
Meisterwohnern  fallen  auf  die  Nahrungsgewerbe  allein  18,682,  von 
allen  9785  Frauen  allein  7610,  d.  h  beide  Male  ungefähr  70—80  %. 
Von  den  männlichen  Meisterwohnern  sind  nun  1372  Knaben  unter 
16  Jahren,  von  den  weiblichen  Meisterwohnern  nur  35  Mädchen 
unter  16  Jahren.  Sehr  natürlich:  im  eigenen  Hause  lässt  man  be- 
sonders nur  die  „Lehrlinge"  wohnen,  der  Begriff  „Lehrling* 
stammt  aber  aus  einer  Zeit,  in  welcher  das  weibliche  Geschlecht  in 
den  Gewerben  fast  noch  gar  keine  Verwendung  fand.  Die  jnngen 
Mädchen  werden  leider  besonders  in  die  Fabriken  gebracht,  wo  nur 
von  Abnutzung,  niemals  von  Erziehung  die  Rede  ist.  Die  weiblichen 
Arbeiter,  welche  im  Hause  der  Arbeitgeber  wohnen,  sind  fast  alle 
erwachsen,  die  männlichen  nur  zum  grösseren  Theil;  die  Meister- 
wohner schlechten  Betragens  werden  wohl  fast  ganz  unter  den  älteren 
zu  finden  sein,  unter  den  Kindern  mögen  besonders  die  guten  stecken, 
Kinder  sind  beim  Meister  aber,  wie  gesagt,  fast  nur  solche  männlichen 
Geschlechtes.  Die  Einwirkung  auf  das  jungendliche  Alter  i»t  der 
Hauptgrund  für  den  guten  Einfluss  des  Wohnens  beim  Meister,  daruni 
tritt  er  bei  den  durchschnittlich  jüngeren  männlichen  Meisterwohnern 
mehr  hervor  als  bei  den  älteren  weiblichen.  Neben  dieser  Haupt- 
ursache existiren  sicher  noch  andere,  minder  wichtige.  Wir  haben 
uns  hier  nur  an  die  Hauptmomente  zu  halten.  Einen  Puiikt,  die 
Güte  der  Wohnung  haben  wir  noch  hervorzuheben,  doch  dieses  erst 
später,  für  alle  3  Wohnungsarten  zusammen. 

Die  zweite  Art  zu  wohnen/ welche  wir  betrachten  wollen,  ist 
die  in  eigenen  Möbeln.  Unser  Resultat  war  gewesen:  Je  mehr 
Eigenmöbler,  um  so  besser  das  Betragen,  aber  bei  den  Männern  viel 
unbedeutender  als  bei  den  Frauen,  also  in  dieser  Beziehung  umge- 
kehrt wie  bei  den  Meisterwohnern.  Damit  stimmt  die  Rechnung, 
dass  die  männlichen  Eigenmöbler  fast  genau  dem  Durchschnitt  aller 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  249 

Männer  entsprechen  mit  9,2  %,  die  weiblichen  dagegen  günstiger 
stehen  als  der  Durchschnitt,  nämlich  7,6%  schlechten  Betragens  statt 
8,9  %.  Die  Classe  der  Eigenmöbler  ist  weitaus  die  stärkste,  176,484 
Männer  oder  69  7o  Aller,  und  gar   95,650  Weiber  =  84  7o  Aller. 

Was  bedeutet  aber  für  uns  das  „in  eigenen  Möbeln  wohnen''? 
^s  ist  der  scheinbar  sehr  einfache  Ausdruck  für  sehr  complexe  Ver- 
hältnisse. In  eigenen  Möbeln  wohnen  heisst  selbstverständlich  immer 
Eigenthum  und  zwar  eben  an  Mobiliar,  an  den  Möbeln  im  weitesten 
Sinn,  haben.  Darum  brauchen  die  Eigenmöbler  aber  noch  nicht  zu 
den  Wohlhabenderen  zu  gehören,  denn  die  in  fremden  Möbeln  so- 
wohl als  die  in  fremden  Möbeln  und  in  fremder  Kost  können  leicht 
Vermögen  in  anderer  Gestalt  haben.  Jedenfalls  gehören  die  Eigen- 
möbler aber  nicht  zu  den  Aermsten.  Unstreitig  gewährt  nun  das 
Eigenthum  einen  auch  moralischen  Rückhalt,  welcher  dem  ganz  ab- 
gehen kann,  der  nichts  zu  verlieren  hat.  Ich  erinnere  nur  an 
die  Erfahrung,  dass  unter  denjenigen,  welche  in  der  letzten  französi- 
schen Revolution  auf  den  Barricaden  fielen,  kein  einziger  Sparcassen- 
buchinhaber  sich  befand.  Unter  denen,  welche  vor  einigen  Wochen 
um  Rocheforts  willen  in  Paris  Barricaden  bauten  und  im  Stich 
Hessen,  mögen  auch  nicht  zu  viel  Sparcassenbuchinhaber  gewesen  sein. 

Auf  der   anderen  Seite  heisst   „in  eigenen  Möbeln  wohnen**  in 

der  überwiegenden  Anzahl  von  Fällen  verheirathet  sein  und  Familie 

haben.     Einmal  pflegt  man  sich  durchschnittlich  mit  Mobiliar  nicht 

zu  beschweren    so  lange  man  noch  jung  ist,  noch  nicht  heirathen 

kann.     Nur  der    alte   Junggesell    und    die    alte  Jungfer  pflegen  in 

eigenen  Möbeln  zu  wohnen.  Speciell  für  unsere  Pariser  Arbeiter  können 

wir  das  nachweisen  aus  mancherlei  Indicien.     Die  Chambregarnisten, 

worüber  wir  positive  Daten  haben,   sind  in   Paris  fast  alle  unver- 

heirathet;  unter  den  beim  Meister  Wohnenden  sind  unbestritten  die 

vielen  Lehrlinge  unter  16  Jahren  auch  ledig,  und  dass  die  Arbeiter 

oder  Arbeiterinnen  über  16  Jahre  verheirathet  sein  sollten,  dürfte 

keiner  glauben.     Welcher  Handwerker  oder  Fabrikant  mag  ganze 

Familien    mit    vielen    Kindern    nicht    nur    in    sein    Haus,    sondern 

auch   an    seinen  Tisch  nehmen?     Das   müssten    sehr    absonderliche 

Kinderliebhaber  sein.     Wenn  unter  den  Chambregarnisten  und  den 

Meisterwohnern  die  Verheiratheten  sich  nicht  befinden  können,  dann 

müssen  sie  unter  den  Eigenmöblern  anzutreffen  sein.     Auch  aus  den 

Lohnverhältnissen  von  Paris  und  dem  Antheil,  den  Mann,  Frau  und 

Kinder  an   dem  gemeinsamen  Erwerb   zu  haben  pflegen,  kann  der 

Nachweis  geführt  werden,  dass   circa  77  %  der  Männer  in  eigenen 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  5  u.  6.  17 


2St>  StaÜBtüche  Studien  znr  Wohnungsfrage. 

Möbeln  rerheiratbet  sind,  und  ebenso,  das»  unter  den  weiblichen 
EigenmÖblern  mehr  UnTerheirathete  sich  befinden  als  unter  den 
uiknnlicheD.  *} 

Ergiebt  sich  sonach,  daw  unter  den  männlichen  Kigenmöblem 
aehx  viele  Verheirathete,  unter  den  weibücheu  aber  sehr  wenige 
sich  befinden,  so  kann  die  Ehe  auf  daa  Betragen  nicht  sehr  grossen 
Einilugs  <ibea.  Dafür,  dass  die  Ehe  aber  überhaupt  guten  Elntluss 
hat,  werden  wir  später  ganz  positive  Daten  aus  der  Cbambergamie> 
Statistik  beibringen.  Wie  kaoin  es  da  nun  aber  kommen,  d^sa 
das  Leben  mit  ebenem  Mobiliar  auf  das  weibliche  Geschlecht 
einen  so  viel  bedeutsameren  Eindruck  macht,  als  auf  das  männliche? 
Dreierlei  Erklärungsweiseu  wären  denkbar.  £s  könnte  die  Güte 
der  Wohnung  auf  den  weiblichen  Organismus  mehr  einwirken,  als 
auf  den  männlichen.  Das  wäre  denkbar,  wird  aber,  wie  später  be- 
wiesen werden  soll,  durch  die  Thateachen  widerlegt,  Oder  der 
Besitz  giebt  den  Frauen  einen  grösseren  Halt  als  den  Männem' 
Liesse  sich  dieses,  was  freilich  manches  Frauengemüth  als  eine  zu 
materielle  Antfassung  empören  würde,  beweisen,  und  dafür  spricht 
uns  gar  Manches,  was  hier  zu  behandeln  undelicat  wäre,  dann  wäre 
Aas  sehr  gute  Betr^en  der  weiblichen  Eigenmöbler  erklärt.  Oder 
endlich  drittens:  unter  dem  Einfluss  der  Ehe  und  des  Familienlebens 
könnten  die  verheiratheten  Eigenmöblerinnen  sich  so  brillant  auf- 
führen,   dass    sie    der    ganzen   Gruppe  der  weiblichen  ledigen   und 

— i.-!„-ii._i__     T7: -"jler     das     Gepräge     eines     guten     Durch- 

cen.  Ich  möchte  mich  besondere  für  die 
in;  die  wahre  Lebensfreude  und  Charakter- 
)e  erst  durch  die  Ehe,  während  der  Mann 
illung  seines  privaten  Berufes  oder  in  der 
len  politischen  Pflichten  Festigkeit  gewinnen 
der  Ehe  und  der  mütterlichen  Pßichten  so 
nit  die  von  den  Männem  fast  immer  be- 
Frauen so  oft  bestrittene  Theorie  der  durch 
i  Existenz  des  weiblichen  Geschlechts  für 
iclassen  wenigstens  eine  Bestätigung  finden, 
eswegs  bewiesen,  ja  nicht  einmal  behauptet, 

Ichen  Eigenmäblem  aber  viel  Ledige  Bein  müssen, 
len.  Ton  den  vielen  Weibern  des  Arbeiterstandes 
aller  ChambregamiBtiniien  ■=  657S  und  etwa  die 
mer  zuBammen  nur  16,35B  hinweg.  Die  übrigen 
genmöblem  zu  sachen  sein. 


statistische  Stadien  zur  Wohnungsfrage.  2&1 

dass  auch  in  den  oberen  Schichten  der  Bevölkernng  die  Frau  erst 
in  der  Ehe  ihre  Weltaufgabe  vollständig  erfüllte.  Ich  meinerseits 
glaube  freilich,  dass  es  auch  für  die  höheren  Stände  gilt,  da  das 
Weib  nicht  in  gleicher  Weise  wie  der  Mann  in  der  Oeffentlichkeit 
und  im  Beruf  Befriedigung  und  theilweisen  Ersatz  ftir  das  mangelnde 
Familienleben  finden  kann,  wenigstens  nicht  nach  der  bisher  in  der 
Welt  noch  geltenden  socialen  Stellung  der  Frau.  Wie  wenige 
Menschen,  welche  von  Statistik  viel  reden,  ahnen  wohl,  dass  diese 
trockene  Wissenschaft  so  hohe  Fragen  anregen  und  dermaleinst, 
wie  ich  nicht  zweifle,  beantworten  kann,  zum  mindesten  besser  be- 
antworten kann,  als  das  Räsonnement  mit  allgemeinen  Gründen. 

Doch  eilen  wir  von  diesen  Problemen  wieder  zu  unseren  Woh- 
mingsarten,  und  zwar  zur  dritten,  dem  Wohnen  in  Chambregarnie. 
Unser  Resultat  lautete :  je  mehr  Chambregarnisten  in  den  Gewerben^ 
um  so  mehr  schlechtes  Betragen,  und  zwar  bei  den  Frauen  so  viel 
stärker  als  bei  den  Männern,  daas  unter  je  100  weiblichen  Chambre- 
garnisten 23  sich  schlecht  aufführen,  unter  je  100  Männern  nur  Id. 
Was  heisst  nun  in  Chambregarnie  wohnen?  Unzweifelhaft:  eigene 
Mdbel  in  geringerem  Maasse  besitzen  als  die  Eigenmöbler,  womit 
zwar  wieder  keineswegs  ausgesprochen  sein  soll,  dass  die  Chambre^ 
gamisten  arm  sein  müssen^  wohl  aber  dass  sie  es  in  den  meisten 
Fällen  sein  werden,  da  die  Habe  der  unteren  Yolksclassen  haupt- 
sächlich in  ihrem  Hausgeräth  weitesten  Sinnes  besteht.  Hierin 
haben  sie  ihren  Sparpfennig,  der  zugleich  Genussgut  ist,  und  nicht 
in  Geld  oder  Werthpapieren.  Besonders  das  weibliche  Ge- 
schlecht unter  den  Chambregarnisten  wird  arm  sein,  da  wir  gleich 
hören  sollen,  dass  die  meisten  unverheirathet  sind,  und  in  Paris  die 
Frau  durchschnittlich  nur  2^02  Frcs.  verdient  gegen  4^]  Frcs.  des 
m'ännlidien  Arbiters. 

Ueber  Verheirathet-  oder  Unverheirathetsein  haben  wir 
nun  für  die  Chambregarnisten,  zum  mindesten  für  einen  grossen 
Theil  derselben,  statistische  Erhebungen,,  wenn  auch  aus  etwas 
früherer  Zeit,  nämlich  aus  dem  Jahre  1849.  In  diesem  Jahre,  einem 
NoUijahre  für  die  arbeitenden  Classen  des  damals  revolutionären  Ps^is, 
wurde  eine  Chambregarnieenqu^te  gemacht,  deren  wesentlichste  Er- 
hebungen hier  mitberücksichtigt  werden  sollen.  Die  Erhebungen 
erstrecken  sich  auf  2360  Chambregarnies  mit  31,567  männlichen 
und  6,262  weiblichen  Einwohnern,  und  zwar  waren  die  untersuchten 
liOgis  vorwiegend  solche,  welche  immer  als  Chambregarnies  im  Grossen 

vermietbet  werden,  und  blieben  all  die  Einzellogies  unberücksichtigt, 

17' 


252  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 

welche  man  als  Ueberfluss  einer  zu  grossen  eigenen  oder  gemietheten 
Wohnung,  und  zwar  meistens,  da  dieselben  keine  eigene  Küche  ent- 
halten, an  Unverheirathete,  und  da  diese  wieder  meistens  keine 
eigenen  Möbel  haben,  möblirt  vermiethet. 

Von  den  genannten  21,567  männlichen  und  6,262  weiblichen 
Chambregamisten  ist  nun  gleichfalls  das  Betragen  ermittelt,  als  gut, 
passabel,  schlecht  und  sehr  schlecht.  Diese  Chambregarnieenqudte 
spricht  sich  auch  etwas  deutlicher  darüber  aus,  was  unter  diesen 
4  Qualitäten  des  Betragens  zu  verstehen  ist.  Die  erste  Kategorie 
„gut"  enthält  die  Arbeiter,  die  in  ihrer  Aufführung  regelmässig 
sind,  arbeitsam,  sparsam,  nüchtern  und  sich  selten  von  ihrer  Arbeit 
abziehen  lassen.  In  der  zweiten  Kategorie  „passabel"  hat  man 
zusammengefasst  die  Individuen,  deren  Betragen,  ohne  besonders 
regelmässig  zu  sein,  doch  nicht  eingewurzelte  lasterhafte  Gewohn- 
heiten und  sehr  häufige  Unordnungen  zeigt,  Arbeiter,  welche  zu- 
weilen feiern,  um  sich  ein  Vergnügen  zu  machen,  die  Frauen,  welche 
ohne  in  ihren  Sitten  tadellos  zu  sein,  doch  nicht  Anstoss  erregen, 
und  zu  arbeiten  pflegen.  Die  dritte  Kategorie  „schlecht"  umfasst 
die  Individuen,  welche  sich  häufig  der  Faulheit,  Trunkenheit  und 
Ausschweifung  überlassen,  die  Frauen,  welche  offen  von  Lüderlich- 
keit.  Schuldenmachen  und  Betrügereien  leben.  Die  vierte  Kategorie 
endlich  umfasst  den  gesunkensten,  verworfensten  und  gefährlichsten 
Theil  der  Chambregamisten,  Leute,  welche  von  schändlichen  oder 
unbekannten  Mitteln  leben,  welche  offenbar  fast  niemals  arbeiten 
und  die  meiste  Zeit  verbringen  mit  Trinken,  Zanken,  Raufen,  mit 
einem  Worte  Menschen,  deren  Leben  nichts  als  eine  Reihe  von 
Schlechtigkeiten  uüd  Excessen  aller  Art  ist. 

Von  diesen  4  Kategorien  mögen  „schlecht  und  sehr  schlecht" 
mit  unseren  früheren  Kategorien  „zweifelhaft  und  schlecht" 
ungefähr  zusammenfallen.  Dass  die  jener  ChambregarnieenquÖte 
unterworfenen  Chambregamisten  nach  der  schlimmeren  Seite  dieser 
Gattung  von  Menschen  neigen,  geht  schon  daraus  hervor,  dass  von 
den  Männern  wie  von  den  Frauen  genau  noch  einmal  so  viel  als 
unter  allen  Arbeitern  im  Jahre  1860  sich  schlecht  aufführten,  nämlich 
Männer  26  7o  statt  13  %,  Frauen  47  %  statt  23  7o.  Uebrigens  war 
auch  der  Beurtheilungsmaasstab  ein  anderer,  nämlich  nicht  der  des 
Arbeitgebers,  sondern  der  des  Vermiethers. 

Diese  Chambregarnieenqu^te  ergiebt  sehr  deutlich,  dass  die 
Chambregamisten  fast  alle  ledig  sind,  nämlich  von  den  Frauen  92%^ 
von   den  Männern   gar  96  7ü»     Diese    Enqußte    giebt    auch    directen 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  263 

Äufschluss,  dass  die  Ehe  als  solche  das  Betragen  gut  gestaltet,  denn 
je  mehr  der  Chambregarnisten  verheirathet  sind,  um  so  besser  ist 
die  Aufführung.  Die  Beobachtung  der  sich  begleitenden  Veränderungen, 
vermittelst  welcher  wir  den  ursächlichen  Zusammenhang  mehrerer 
Erscheinungen  nachweisen,  ist  hier  nicht  möglich  wie  oben  für  die 
verschiedenen  Gewerbe,  sondern  für  die  12  Arrondissements  oder 
die  48  Quartiere,  in  welche  Paris  1847  getheilt  war.  Je  grösser 
in  der  einen  Gruppe  von  Stadt-Quartieren  die  Zahl  der  verheiratheten 
Chambregarnisten  ist,  um  so  besser  stellt  sich  das  Betragen.  Wo 
fast  alle  Männer  ledig  sind,  nämlich  98  %,  da  betragen  sich  53  % 
schlecht,  wo  aber  91  %  Ehelose  sich  befinden,  betragen  sich  48  % 
schlecht.  Ebenso  bei  96  7o  ledigen  Frauen  80  7o  schlecht,  bei  86% 
Ehelosen  nur  76%  schlecht  (wenn  man  hier  von  „nur**  reden 
darf!).  Auffallend  dürfte  Ihnen  hier  sein,  dass  der  Unterschied  in 
dem  Betragen  nicht  noch  grösser  ist,  allein  ich  gebe  Ihnen  zu  be- 
denken, ob  etwa  die  Ehe  erziehend  wirken  kann,  wenn  die  nothr 
wendige  Ergänzung  zum  behaglichen  Haushalt,  das  eigene  Mobiliar 
und  der  eigene  Kochheerd,  fehlt.  Ehe  und  Eigen thum  sowohl  als 
Ehe  und  eigener  Heerd  müssen  nothwendig  zusammengehen.  Dass 
junge  Ehepaare  auch  der  wohlhabenderen  Classen  die  ersten  Jahre 
ihrer  Ehe  im  Hdtelgarni  verleben,  wie  in  Amerika  vielfach  vor- 
kommt, kommt  uns  eben  zu  amerikanisch  vor. 

Von  den  vielen  neuen  Seiten  der  Betrachtung,  welche  die  ge- 
nannte Chambregarnieenquete  für  Beurtheilung  des  Betragens  eröffnet, 
wollen  wir  vorzugsweise  diejenigen  ins  Auge  fassen,  welche  mit  der 
Wohnungsart  einen  gewissen  Zusammenhang  haben. 

Einmal  können  wir  untersuchen,  ob  es  auf  das  Betragen  ein- 
wirkt, dass  in  einzelnen  Stadttheilen  die  Chambregarnisten  einen 
grösseren  Bruchtheil  der  Bevölkerung  ausmachen  als  in  anderen. 
Bei  den  Männern  macht  dieser  Umstand  so  gut  wie  gar  nichts  aus, 
denn  bei  sehr  bedeutenden  Unterschieden  in  dem  Antheil  an  der 
Gesammtbevölkerung  ist  das  Betragen  fast  ganz  gleich.  Bei  den 
Frauen  ist  das  Betragen  um  so  besser,  je  mehr  Procente  die  weib- 
lichen Chambregarnisten  von  der  Gesammtbevölkerung  ausmachen, 
oder  auf  je  weniger  Einwohner  eine  Chambregarnistin  kommt,  Sollte 
das  zufällig  sein?  Ich  glaube  nicht.  Bei  diesen  ist  es  nämlich  wohl 
denkbar,  dass  das  Betragen  um  so  schlechter  ist,  auf  je  weniger 
ledige  Chämbregarnistinnen  die  etwaige  Verfährung  jedes  Stadt- 
theiles  sich  vertheilt,  oder  je  mehr  Leute,  welche  Verführer  sein 
können,  auf  eine  Chambregarnistin  kommen.     Hiermit  stimmt  auch 


t$i  StstiBtische  Studien  zur  Wobaungsfräge. 

anfallend,  dass  wo  auf  jede  Chambreganiistin  40  in  den  Stadttheilea 
besdiäftigte  Arbeiter  kommen,  das  Betragen  schleebter  ist,  a,]ß  da, 
wo  nur  81  anf  jede  Chambregamistin  fallen.  Die  bei  wiesens^aft- 
lichen  Untersnchungen  allerdings  etwas  zu  wei^ehende  livländische 
Prüderie  läset  mich  hier  den  Gegenstand  Dicht  weiter  verfolgen. 

Feiner  ist  das  Betragen  bei  beiden-Geschleohtem  um  so  besser, 
je  mehr  Chambregamisten  auf  einem  bestimmten  Flächenraum  woh- 
nen oder  je  dichter  sie  wohnen,  zwar  nicht  dem  Hause,  aber  dem 
Stadttheile  nach.  Es  läset  sich  nun  absolut  kein  Grund  finden,  dsfis 
das  Hahezusammenwohnen  der  Chambregarnisten  einen  so'gnten  Ein- 
fluss  ausüben  sollte.  Hier  li^t,  wie  man  leicht  nachweisen  kann,  ein 
Fall  vor,  wo  nicht  eine  der  beiden  einander  begleitenden  Erscheinungen 
die  Wirkung  der  anderen  ist,  sondern  wo  beide  die  gemeinsame 
Wirkung  einer  dritten  Erscheinung  sind.  Die  dichte  Chambre- 
gamiebeTölkemng  mit  gutem  Betragen  und  die  dünnere  mit  gehlechtem 
hdben  ihren  gemeinsamen  Grund  darin,  dass  die  (hegenden  mit  viel 
Chambregarnisten  die  industrielleren,  die,  mit  wenigen  die  wen^er 
industriellen  Stadttheile  sind.  Also  die  Arbeit  ist  hier,  was  die 
Bevölkerung  anlockt,  und  was  zugleich  ihr  Beaten  wohlthätig  be- 
einflusst.  Die  erziehende  Macht  der  Arbeit  wird  gewiss  keiner  unter 
Ihnen  leugnen,  ich  habe  aber  auch  noch  andere  Beweise  dafür,  da 
die  Chambregarnieenqn^te  uns  Auskunft  über  die  Einnahmequellen 
ertheilt,  welche  in  jedem  der  48  Pariser  Quartiere  besonders  stai'k 
vertreten  sind,  namentlich  Einkommen  aus  Arbeit,  aus  Almosen,  aus 
unsittlichem  Erwerb.  Wo  nur  37  "/•>  der  männlichen  Chambregarnisten 
von  ihrer  Arbeit  leben,  betragen  diese  Leute  sich  zu  42  Vo  gut,  wo 
68  «/•  von  Arbeit  leben,  sind  etwa  56  o/,  zu  loben.  Bei  den  Frauen 
h&ngt  das  Betragen  auch  von  der  Arbelt  ab,  nur  nicht  in  gleichem 
Grade.  Bei  einer  Differenz  von  18  gegen  48 "/«  arbeitender  Frauen 
variirt  das  Betragen  nur  von  17  auf  26  %.  Die  Frau  ist  eben  nicht 
in  gleichem  Grade  auf  den  Erwerb  hii^ewiesen,  und  hängt  darum  in 
ihrem  ganzen  Verhalten  auch  weniger  davon  ab.  Diesen  Satz  können 
wir  sogleich  wieder  von  einer  anderen  Seite  illustriren.  Bei  dem 
Hanne  nämlich,  der  auf  Erwerb  hingewiesen  ist,  übt  das  Leben  von 
Almosen  einen  viel  schlimmeren  Druck  auf  den  Charakter  aus,  als 
bei  dem  Weibe,  welches  ja  auch  sonst  vom  Erwerb  der  Männer 
lebt  Wo  von  den  Männern  nur  15  %  Almosen  empfangen,  betragen 
52  7o  sich  gut,  wo  49  %  auf  fremde  Kosten  leben,  nur  46  %,  für  di* 
Frauen  bei  14  gegen  56  V«  Almosen  ist  der  Betragensunterschied  nur 
21  gegen    19  V*.      Wo   nun    gar    die    Chambregarnisten    über  ihre 


statistische  Stadien  zur  Woimnngöftrage.  lJ55 

Einnahmequellen  nicht  Auskunft  geben  wollten,  oder  wo  sie  unsitt- 
lidien  Erwerb  oflften  eingestanden,  dft  ist  natürlich  daÄ  Betragen 
viel  schlimmer  in  den  Stadttheilen,  wo  solche  Erwerbsquellen  über- 
kriegen, als  wo  man  wenig  davon  Gebrauch  macht.  *) 

Mit  diesem  wohlthätigen  Einfluss  des  Arbeitens  steht  auch  ni^ht 
im  Widerspruch,  daiss  in  den  Stadttheilen,  in  denen  viele  M&nner  und 
Weiber  zur  Zeit  der  Enquete  unbeschäftigt  waren,  das  Beträgen  ein 
besseres  war,  als  in  den  Stadtheilen,  wo  nur  wenige  ohne  Arbeit 
isich  Vorfanden.  Die  Angaben  über  die  Erwerbsquellen  beliehen 
feich  auf  die  Lebensregel,  die  Angaben  über  die  Arbeits- 
stockung auf  eine  vorübergehende  Erscheinung  in  dem 
Leben  des  Arbeiters.  Die  Quartiere,  in  denen  1849  viele  Chambre- 
gamisten  ohne  Arbeit  waren,  sind  diejenigen,  welche  in  guten  Zeiten 
viele  gute  Arbeiter  beschäftigen  und  eben  desshalb  in  schlechten 
Zeiten  mehr  Arbeiter  ausser  Thätigkeit  setzen  können  und  setzen 
müssen ,  als  die  weniger  arbeitsamen  Stadttheile.  Der  Zeitpunkt 
der  Wohnungsenqu^te,  Anfang  1849,  war  nun  der  einer  allgemeinen 
Verkehrsstockung,  wie  in  der  ganzen  Welt,  so  besonders  in  Paris, 
welches  hauptsächlich  Luxusartikel  fttbricirt.  Gerade  die  Fabrikation 
dieser  Luxusartikel  ist  auf  wenige  Stadttheile  coneentrirt.  Das  Unbe- 
schäftigtsein so  vieler  Chambregarnisten  rührte  also  nicht  her  von  an- 
dauernder Arbeitsscheu,  sondern  von  augenblicklichem  Arbeits- 
mangel. Nur  wo  in  guten  Zeiten  viel  Leute  Arbeit  finden,  können 
in  schlechten  viele  ausser  Brod  gesetzt  werden,  die  einmal  guten 
Stadtviertel  werden  dadurch  nicht  gleich  in  ihrer  Moralität  sinken. 
Auch  hier  ist  übrigens  wieder  bei  den  Frauen,  weil  sie  in  ihrem 
ganzen  Wesen  nicht  so  sehr  von  der  Arbeit  abhängen,  die  Differenz 
der  Stadttheile  im  Betragen  viel  geringer.  Mit  dieser  Andeutung, 
welche  für  gutes  statistisches  Material  die  Perspective  auf  sehr  werth- 
voUe  Forschungsgebiete  eröffnet,  müssen  wir  uns  hier  begnügen,  da 
diese  Punkte  nicht  unmittelbar  mit  der  Wohnungsfrage  zusammen- 
hängen. Für  die  Wohnungsfrage  sind  uns  aber  noch  durch  eine 
Erhebung  der  Enquöte  werthvolle  Aufschlüsse  gegeben.  Bei  der 
Errichtung  von  Arbeiterwohnungen  stehen  sich  2  Gesichtspunkte 
gegenüber:  1)  Arbeiterwohnungen  sind  um  so  billiger  herzustellen, 
je  mehr  Leute  man  in  ein  Haus  unterbringt,  sogen.  Casernenbau, 
2)  für  die  Arbeiter  ist  namentlich  in  sittlicher  Beziehung  das 


*)  Verjfl.  E.  Laspeyreö:    die  Gruppirung  der  Industrie  in  deÄ  grossen 
Stiidton.    Berliner  statistisches  Jahrbuch.  III.  Jahrgang  1869. 


256  Statistische  Studien  zur  Wühnungsfrage. 

Wohnen  in  einem  eigenen  Häuschen,  HutteuBystem ,  namentlich  mit 
der  hier  allein  möglichen  Aussicht  des  Eigenthumserwerbes  vorzu- 
ziehen. Diese  Behauptung  beruhte  bisher  auf  allgemeinem  RÄsonnement 
und  einer  Anzahl  Ginzelerfahrungen.  Unsere  Indus trieenquSte  giebt 
uns  Anltinge  einer  Massenbeobachtung.  Wir  wissen,  wie  viel  Miether 
durchschnittlich  in  jedem  Stadtquartier  auf  einen  Vermiether  oder 
ein  Haus  kommen,  und  können  dieses  -wieder  mit  den  Ermittlungen 
über  das  Betragen  vergleichen. 

In  den  Stadttheilen  mit  nur  7  männlichen  Miethern  auf  eia 
Haus  betragen  sieh  nur  46%  schlecht,  in  den  Stadttheilen  mit  11 
Miethern  auf  ein  Haus  aber  55  %.  Die  Anhäufung  von  Chambre- 
garnisteti  auf  ein  Haus  wirkt  also  schlecht.  Wo  wenig  Frauen, 
ungefähr  2  durchschuittüuh,  auf  einen  Vermiether  kommen,  betragen 
sich  77  "/o  schlecht,  wo  hingegen  ungelahr  4  Frauen,  ist  die  Auffüh- 
rung von  80%  zu  tadeln.  Der  Einfluss  scheint  geringer  bei  den 
Frauen,  allein  er  scheint  es  auch  nur,  faßt  jeder  Vermiether  hat 
wohl  Männer  in  seinen  Chambregarnies ,  nicht  aber,  wie  wir  aus 
Einzeldaten  der  Ericiu^te  wissen,  auch  jeder  Vermiether  Frauen. 
Die  Ermittlung  der  durchschnittlichen  Menge  von  Mietherinnen  per 
Haus  ist  eine  für  uns  verkehrte  wenn  wir  alle  Mietherinnen  durch 
die  Zahl  aller  Vermiether  dividiren,  während  viele  Vermiether  eben 
nur  an  Männer  vermiethen. 


Bei  dieser  ganzen  Frage  nach  Einfluss  der  Chambregarnies  auf 
das  Betragen,  haben  wir  noch  ausser  Betracht  gelassen,  warum  der 
Einfluss  auf  das  zartere  Geschlecht  (welcher  Name  für  die  Meisten 
des  Pariser  Chambregarniegesindels  allerdings  wenig  passt)  ein  so 
viel  schlimmerer  ist  als  auf  das  männliche.  Wie  wir  früher  die 
Gründe  für  den  wirksameren  Einfluss  der  Wohnung  in  eigenen 
Möbeln  und  den  weniger  wirksamen  Einfluss  des  Wohnens  beim 
Meister  herausänden  konnten,  so  können  wir  es  auch  hier. 

Unter  den  Chambregarnisten  sind  2  Kategorien  scharf  zu  trennen: 
diejenigen,  welche  mehr  freiwillig  diese  Art  zu  wohnen  wählen,  und 
die,  welche  dazu  durch  äussere  Umstände  gezwungen  sind.  Die 
ersteren  sind  grösstentheils  die  in  Paris  ansässigen  Arbeiter,  welche 
nicht  den  Willen  haben  zu  heirathen  und  in  eigenen  Möbeln  zu 
wohnen,  oder  beim  Meister  in  Kost  und  Logis  sich  zu  geben.  Dass 
dieses  eine  niedrigere  Stufe  der  Pariser  Arbeiterbevölkerung  ist,  leuchtet 
ein,  ebenso   ist    leicht    ersichtlich,    dass   dieser  Theil    der   Arbeiter 


Statiatische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  257 

unter   dem  weiblichen  Geschlecht  verhältnissmässig  viel   schlim- 
mere Repräsentanten  aufzuweisen  haben  wird,  als  unter  dem  männ- 
lichen.  Von  einem  weiblichen  Wesen  der  unteren  Classen  wenigstens, 
das   entweder  nicht  heirathen  will,  oder  nicht  heirathen  kann,  und 
das  aus  einem  dieser  zwei  Gründe  ledig  bleibend  beim  Arbeitgeber 
Aufnahme  in  Kost  und  Logis  entweder  nicht  findeü  will  oder  nicht 
finden  kann,  und  das  ohne  eigenes  Mobiliar  gezwungen  ist,  Chambre- 
garnie  zu  wohnen,   darf  man  moralisch  meistens  wenig   erwarten. 
Anders  vielfach  bei  den  Männern:  Der  Unabhängigkeitssinn,  der  es 
verschmäht,  beim  Meister  Wohnung  und  Nahrung  zu  suchen,  und 
dadurch  auch  sonst  der  Hausordnung  sich  zu  fügen,  ist  beim  erwach- 
senen Manne  ungleich  berechtigter,  als  bei   der  Frau,  desgleichen 
ist  bei  ihm  das  Nichtheirathen  mehr  die  Aeusserung  eigenen  frei- 
willigen Entschlusses,   und  ist  endlich  bei  dem    durchschnittlich   in 
späterem  Lebensalter  heirathenden  Manne  die  natürliche  Junggesellen- 
zeit vom  16.  Lebensjahre  an  eine  längere  als  beim  weiblichen  Ge- 
schlecht.    Nehmen  wir  aber  selbst  an,  dass  vermöge  der  vielleicht 
besseren   Natur   des  Weibes    die  in    Paris  ansässigen  Chambre- 
garnisten  beiderlei  Geschlechts  auf  gleicher  sittlicher  Stufe  stehen, 
so   muss   unter  den  sämmtlichen  männlichen  Chambregarnisten  den- 
noch  ein   grösserer  Theil  sich  gut  aufführen,  als  unter  den  weib- 
lichen, denn  zu  den  ansässigen  Chambregarnisten  des  weiblichen 
Geschlechts    treten   fast   gar   keine,    zu  denen  des  männlichen  Ge- 
schlechts aber  eine  sehr  beträchtliche  Anzahl  nicht  ansässiger, 
sondern   nur  zeitweilig  in  Paris  sich   aufhaltender  Arbeiter  hinzu. 
Nach    der   IndustrieenquSte    gab    es  1860   nur  -  26    nicht   ansässige 
Arbeiterinnen,  aber  3553  nicht  ansässige  Arbeiter.    Dass  solche 
nicht  ansässige  Arbeiter  nicht  in   eigenen  Möbeln  wohnen  werden, 
ist  selbstverständlich,  aber  auch  dass  der  Arbeitgeber  dieselben  nicht 
leicht  in  seine  Wohnung  und  an  seinen  Tisch  auAiimmt,   wird  nie- 
mand verwundern,  denn  der  Arbeitgeber  wird   schon,   um  die   in 
Paris    so   hohen   Wohnungsmiethen   wieder    einzubringen,    ständige 
Hauseinwohner  den  unständigen  vorziehen.    Die  unständigen  Arbeiter 
sind  also  fast  ausnahmslos  Candidaten  für  die  möblirt  vermietheten 
Wohnungen.  Zu  den  männlichen  und  weiblichen,  sittlich  vielleicht  aber 
sehr  unwahrscheinlich  gleich  tief  stehenden  ständigen  Chambregarnisten 
tritt  noch  eine  grosse  Anzahl  nicht  ständiger  männlicher  Chambregar- 
nisten hinzu,  aber  keine  weiblichen.   Das  Betragen  dieser  unständigen 
Arbeiter  ist  weitaus  über  dem  Durchschnittsbetragen  der  Chambregar- 
nisten. Die  Wohnungsenquöte  selbst  stellt  z.  B.  den  Maurern,  welche 


Ö86  Stfttistißche  Studifen  zur  Wohhung«frage. 

zwei  Drittel  aller  Nichtanfeässigen  bilden,  ein  gutes  Zeugniss  äuö, 
an  dessen  Spit«^  die  Bemerkung  steht:  „Sie  sind  meist  guter 
Äufffihrung**,  während  unter  allen  Chambregamisten  nur  47% 
feioh  gut  betragen,  von  den  Frauen  sogar  nur  21  Vo.  Dann  heisst 
es  ferner :  „Ihr  Betragen  ist  im  Allgemeinen  ausgezeichnet;  sie  sind 
ordentlich,  ruhig,  fleissig  und  besonders  sehr  sparsam.  Die  Meisten 
arbeiten  viel  und  verbrauchen  möglichst  wenig,  um  einige  Erspar* 
nisse  mit  nach  Haus  zu  bringen,  auch  sind  sie  häufig  als  sehr  geizig 
verschrieen,  was  bei  Arbeitern  dieser  Classe  jedenfalls  ein  Lob  ist. 
Fast  alle  kommen  Abends  früh  nach  Hause.  Die  meisten  gehen 
gftr  nicht  in  die  Kneipen,  und  sie  sind  jedenfalls  nicht  trunksüchtig. •^ 
Diese  Maurer  sind  nun  zwar  in  unserer  Enquete,  was  Wohnungeart 
und  Betragen  betrifft,  nicht  mit  enthalten,  aber  was  von  dieser 
fluctuirenden  Bevölkerung  gilt,  wird  zum  Theil  wenigstens  auch  von 
den  andern  Nichtansässigen  gelten,  welche  fast  alle  dem  im  Winter 
darniederliegenden  Baugewerbe  angehören.  *)  Von  den  Steinschnei- 
dern wird  dieses  sogar  ausdrücklich  bemerkt.  Das  sind  Momente 
genug,  das  bessere  Durchschnittsbetragen  der  männlichen  Chambre- 
garnisten  zu  erklären.  Die  Arrondissements,  in  denen  die  Chambre- 
gamisten mit  dem  besseren  Betragen  wohnen,  sind  die  Aufenthalts- 
orte der  natürlichen  Chambregamisten  und  der  Chambregamisten 
höherer  Ordnung.  Das  11.  Arrondissement,  mit  dem  besten  Betragen, 
beherbergt  viele  nicht  zum  sogen.  Arbeiterstande  gehörige  Chambre- 
gamisten, sondern  Studenten,  Gommis,  Handlungsdiener,  ausgediente 
Militärs,  Rentiers  u.  s.  w.  Das  5.  Arrondissement  mit  dem  darauf 
folgenden  Procentsatz  guten  Betragens  ist  hauptsächlich  die  Gegend 
der  Zimmerleute,  welche  zum  grossen  Theil  nicht  ansässig  sind. 
Im  7.,  9.  und  10.  Arrondissement,  welche  dann  im  Betragen  folgen, 
wohnen  die  Tausende  von  Maurern,  welche  aus  dem  Limousin  und 
andern  Gegenden  Frankreichs  periodisch  kommen  und  deren  Betra- 
gen in  der  Chambregamieenquöte  ganz  besonders  belobt  wird. 

Doch  genug  von  Einzelbeispielen  über  den  bösen  Einfluss  des 
Chambregarniewohnens,  besonders  für  das  weibliche  Geschlecht,  wir 
haben  noch  andere  Massenbeobachtungen  anzustellen  für  die  Woh- 
nungsfrage. 

Wir  haben  bisher  untersucht,  wie  die  verschiedenen  Arten 
zu  wohnen    auf  den  Menschen  wirken,    aber  noch  nicht  wie  eine 


•)    Nor  583  der  10,763  nicht  ansässigen  männlichen  Arbeiter  gehören  nieht 
tvL  dem  Baugewerbe. 


\ 


Statistisehe  Studien  zur  Wohnang«fi^age.  3ft9 

tass^rlich  tersehiedene  Wohnung  wirkt,  also  ob  ein  gutes  Ghambre- 
garnie  einen  besseren  Einfluss  hat,  als  ein  schlechtes,  dunkles, 
schmutziges,  übelriechendes.  Wenn  man  sieht,  wie  wenig  manche 
sehr  gute  Menschen  auf  Wohnung  geben,  und  welche  gräuliche 
Subjecte  in  Palästen  hausen,  da  könnte  maki  zweifeln,  ob  von  der 
Güte  der  Wohnung  viel  abhängt;  in  Wahrheit  ist  es  aber  nur  wieder 
eine  Warnung,  von  Einzelerscheinungen  sieh  nicht  täuschen  zu  lassen^^ 
sondern  auf  die  Masse  zu  sehen. 

Dass  eine  behagliche  Wohnung  den  Menschen  mehr  an  das 
Haus  fesselt,  werden  die  meisten  Menschen  zugeben,  aber  darüber, 
was  eine  behagliche  Wohnung  ist,  wird  Streit  herrschen.  Der  Liv- 
länder  hat  kein  Gefühl  dafür,  wenigst^is  nicht  im  Sommer,  oft 
auch  nicht  im  Winter,  dass  eine  Wohnung  ohne  Rouleaux  und 
ohne  Gardinen  unbehaglich  ist,  während  man  in  Deutschland 
glaubt,  in  den  öden  FeAsterhöhlen  wohne  das  Grauen.  Der  Hol- 
länder ahnt  nicht,  wie  unbehaglich  es  uns  Deutschen  vorkommt, 
dass  der  Mynheer  im  Winter  vor  seinen  schönen  Kamin  sich  einen 
eisernen  Ofen  setzt,  während  wir  wohl  unten  in  den  Ofen,  der  Be- 
haglichkeit halber,  einen  Kamin  einsetzen.  Auf  der  andern  Seite 
begreift  der  Livländer  mit  vollem  Recht  nicht,  warum  die  Deutschan 
ihre  besten  Zimmer  nicht  benutzen,  sondern  in  kleinen  Nebenräumen 
für  gewöhnlich  sich  zusammendrängen  u.  s.  w. 

Mag  man  nun  aber  über  solche  Sachen  skeiten,  in  den 
meisten  Fällen  haben  wir  für  die  Güte  der  Wohnung,  nament- 
lich der  Wohnungen  fär  die  unteren  Classen  gewisse  äussere 
Kennzeichen.  Können  wir  jedoch  aus  der  Angabe,  ob  Jemand  in 
eigenen  Möbeln,  beim  Meister,  in*  Chambregarnie  wohnt,  schon 
Bchliessen,  ob  die  Wohnung  gut  oder  schlecht  ist?  Nicht  allemal, 
doch  meine  ich,  dass  die  schlechtesten  durchschnittlich  die  Chambre- 
gsumies  sind,  die  besten  die  unmöblirten  Wohnungen,  in  der  Mitte 
mögen  die  Wohhungen  stehe,  welche  der  Arbeitgeber  seinen  Koet- 
nnd  Logisgängem  anweist.  Einen  bestimmten  Grund  für  diese 
meine  Meinung  kann  ich  Ihnen  allerdings  nicht  angeben,  es  ist  das 
80  mein  Gefühl,  das  sich  herausgebildet  hat  aus  einzelnen  Kriterien, 
Welche  die  Industrieenqu6te  bietet,  und  aus  allgelheinen  Räsönne- 
ments.  So  kann  ich  mir  nicht  denken,  dass  viele  Arbeiterfamilien 
so  wohnen  mögen,  wie  uns  die  InduBtrieenqu§te  die  Chambregarnies 
schildert.  Höhlen,  die  man  Wohnungen  nicht  einmal  mehr  nennen 
kaM.  Ebenso  kann  ich  mir  nicht  denken,  dass  viele  Arbeitgeber 
ihren  Haus-  und  Tischgenossen  so  gräuliche  Aufenthalte  anweisen. 


260  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage. 

zum  mindesten  werden  sie  im  eigenen  Interesse  auf  Reinlichkeit 
sehen.  Das  würde  der  Vermiether  von  möblirten  Wohnungen 
zwar  vielleicht  auch  thun  wollen,  aber  er  kann  die  Reinlich- 
keit von  seinen  Chambregarnisten  nicht  erzwingen,  er  hat  über 
die  Wohnung  erst  wieder  Macht,  um  sie  zu  reinigen  und  zu 
lüften,  wenn  der  Miether  an  die  Luft  gesetzt  ist.  Dass  die  Woh- 
nungen freundlicher  aussehen  werden,  wenn  man  sie  selbst  möblirt, 
kann  schon  daraus  abgeleitet  werden,  dass  ein  Jeder  seine  Geräthe 
und  Möbel  mehr  schont,  als  die,  welche  er  gemiethet  hat;  der  erstere 
wird  jeden  Schaden  bald  selbst  zu  repariren  suchen,  woran  er  kein  Inter- 
esse Hat  wenn  er  mit  der  Wohnung  zugleich  die  Sachen  hinter  sich 
lässt.  Geht  etwa  der  Student  mit  den  Möbeln  seines  Philisteriums 
besonders  schonend  um?  Dass  in  den  verschiedenen  Arten  zu 
wohnen  die  Güte  eine  nicht  unwesentliche  Rolle  spielt,  können  wir 
zum  Glück  nun  aber  auch  direct  beweisen.  Für  die  eine  Wohnungsart, 
die  Ohambregarnies,  lehrt  uns  die  OhambregarnieenquSte  die  äussere 
Güte  kennen.  Sie  scheidet  die  möblirten  Wohnungen  in  4  Classen : 
Die  erste  »gute"  vereinigt  die  ordentlich  gehaltenen  Zimmer,  reinlich, 
gesund,  von  guter  Luft,  das  nöthige  Mobiliar  in  gutem  Stand.  Die 
zweite  Kategorie  „passabel"  umfasst  die,  welche  zu  wünschen 
übrig  lassen  nach  Seite  der  Reinlichkeit,  Gesundheit  und  Möblirung, 
aber  welche  nichts  desto  weniger  in  Rücksicht  auf  Lebensstellung 
und  Gewohnheiten  ihrer  Bewohner  in  erträglicher  Verfassung  sind. 
Die  dritte  Kategorie  „schlecht"  enthält  schlecht  gelüftete,  schlecht 
erleuchtete,  schlecht  gereinigte,  mit  wurmstichigen  Möbeln  oder 
Lumpen  ausgestattete  Wohnungen.  Die  vierte  Kategorie  endlich, 
„sehr  schlecht",  ist  zusammengesetzt  aus  wahren  Löchern,  zu- 
weilen alles  Lichtes  und  aller  Luft  entbehrend,  voll  Schmuz  und 
Ungeziefer,  mit  keinem  anderen  Mobiliar  als  Fetzen  und  Lumpen, 
mit  einem  pestartigen  erstickenden  Gerüche,  den  nur  eine  lange 
Uebung  ertragen  lehrt.  Die  Einzelbeschreibung  solcher  Wohnungen 
will  ich  Ihnen  ersparen,  es  würde  Ihnen  beim  Hören  der  Athem 
vergehen.  Von  diesen  4  Wohnungsgüten  kennen  wir  auch  die  Ver- 
theilung  über  alle  12  Arrondissements,  leider  aber  nicht  über  alle 
48  Quartiere  det  Stadt  Paris.  Da  uns  ferner,  wie  Sie  wissen,  aus 
jedem  Stadttheil  das  Betragen  der  Einwohner,  ob  ^gut",  „passabel", 
„schlecht"  oder  „sehr  schlecht"  bekannt  ist,  so  können  wir  nun 
direct  fragen,  wie  Wohnungsgüte  auf  Betragensgüte  influirt;  doch  ist 
auch  hier  wieder  die  Untersuchung  unvollkommen,  da  wir  nicht 
zu  ermitteln  vermögen,    wie  das   Betragen   auf  jede  einzelne  Woh- 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfirage.  261 

nung  sieh  vertheilt.  Wir  sind  auf  die  Forschungsmethode  der  sich 
begleitenden  Veränderungen  angewiesen,  haben  also  zu  untersuchen, 
ob,  je  mehr  gute  AV^^^^^^^^g^^^  i^  bestimmten  Arrondissements  sind, 
auch  das  Betragen  in  diesen  Stadttheilen  ein  besseres  ist,  und 
umgekehrt.  Die  Beobachtung  kann  hier  eine  sehr  mannigfaltige 
sein.  Einmal  können  wir  vergleichen,  wie  die  guten  und  erträg- 
lichen Logis  zusammengenommen  auf  das  Betragen  wirken.  Wo  die 
guten  und  erträglichen  Logis  nur  75  %  ausmachen,  betragen  nur  70  Vo 
der  männlichen  Chambregarnisten  sich  gut  und  erträglich,  wo  aber  86% 
gute  und  erträgliche  Chambregarnies  sich  finden,  ist  das  Betragen  von 
81  Vo  zu  loben,  also  bei  11  Vo  Unterschied  in  der  Wohnung  auch  11  Vo 
Unterschied  im  Betragen.  Bei  den  Frauen  ist  der  Betragensunter- 
schied nur  8Vo,  nämlich  50  Vo  gut  bei  wenigen  guten,  und  58  Vo  gut 
bei  vielen  guten  Wohnungen. 

Man  kann  aber  auch  die  Extreme  allein  vergleichen:  Sehr 
schlechte  Wohnung  und  sehr  schlecht'es  Betragen.  So  be- 
tragen sich  bei  14  Vo  sehr  schlechten  Chambregarnies  sehr  schlecht 
9  Vo  der  Männer  und  20  Vo  der  Frauen,  hingegen  sind  bei  nur  6  Vo 
sehr  schlechten  Logis  auch  nur  2  Vo  Männer  und  12  Vo  Frauen  sehr 
schlechter  Aufführung.  Das  andere  Extrem  ist  die  Wirkung  guter 
Wohnung  auf  das  Betragen.  Bei  35  Vo  guten  Chambregarnies  be- 
tragen sich  46  Vo  der  Männer  gut,  bei  45  Vo  guten  Logis  aber  50  Vo 
der  Männer.  Für  die  Frauen  ist  der  Unterschied  im  Betragen  viel 
geringer  bei  der  gleichen  Wohnungsverschiedenheit,  nämlich  bei 
wenigen  guten  Logis  zwischen  20  und  21  Vo  guten  Betragens,  bei 
vielen  zwischen  21  und  22  Vo. 

Ueberall  stimmt  Wohnungsgüte  und  Betragen  bei  diesen  Chambre- 
garnies, wir  dürfen  also  wohl  schliessen,  dass  auch  bei  den  anderen 
Wohnungsarten  in  eigenen  Möbeln  und  beim  Meister  die  Güte  der 
Wohnung  eine  Rolle  spielt,  und  zwar  nach  unseren  Procentzahlen 
keine  unbedeutende. 

Auffallend  ist  bei  dieser  Betrachtung  mir  gewesen,  wie  .viel 
genauer  Wohnungsgüte  und  Betragen  hei  dem  männlichen  Gesehlecht 
zusammenfällt  als  bei  den  Frauen.  Bei  einem  durchschnittlichen 
Verhältniss  der  schlimmeren  Stadttheile  zu  den  besseren  von  100 :  145 
ist  das  Betragen  der  Männer  verschieden,  wie  100 :  173,  hingegen 
das  Betragen  der  Frauen  nur  wie  100 :  121.  Dass  die  Güte  der 
Wohnung  auf  den  Mann  so  viel  stärker  einwirkt,  darf  uns  nicht 
wundern.  Die  Frau  ist  nach  unserer  ganzen  Lebensweise  und 
Lebensanschauung  viel  mehr  auf  das  Haus  angewiesen  als  der  Mann. 


262  Statistische  Studien  zar  Wohnungsfrage« 

• 

Loekt  den  Mann  nicht  die  Behaglichkeit  der  Wohnung,  zu  Hause  zu 
bleiben,  so  hat  er  ausserhalb  ,Yiel  mehr  Ressourcen  als  .die  Frau. 
Für  die  Frau,  welche,  mag  die  Wohnung  sein  wie  sie  will,  me)ir  im 
Haus^  bleibt,  ist  die  Beschaffenheit  der  Wohnung  von  viel  geringerer 
Bedeutung.  Ihr  fehlen  meistens  die  Mittel,  um  den  Vergnügungen 
ausser  dem  Hause  nachzugehen,  für  welche  der  Mann,  namentlich 
der  unverheirathete,  bei  seinem  viel  höheren  Lohne  die  Mittel  hat 
Will  die  Frau  aber  auf  unsittlichem  Wege  sich  Erwerb  suchen,  wird 
sie  eine  zu  schlechte  Wohnung  gar  nicht  nehmen  dürfen.  Der 
Mann,  welcher  viel  häufiger  aus  dem  Hause  arbeitet,  isst  und  sich 
erholt,  braucht  eigentlich  nur  eine  Schlafstelle.  Eine  solche  Schlaf- 
stelle sind  die  meisten  Ghambregarnies  aber  auch.  nur.  So  kommt 
es,  dass  von  den  männlichen  Arbeitern  20  7o  in  Chambregarnie 
wohnen,  von  den  Frauen  nur  8  %,  obwohl  auch  schon  mehr  Männer 
als  Frauen  beim  Meister  wohnen.  Desgleieh^i  ist  beispielsweise 
auch  in  Berlin  die  Zahl  der  männlichen  Chambregarnisteo  dreimal 
so  gros^  als  die  der  weiblichen,  die  Zahl  der  männlichen  sogen.  Schlaf- 
gänger mehr  als  viermal  so  gross.  ^) 

Wenn  Mancher  unter  Ihnen  die  Resultate,  welche  aus  dem  Ge- 
sagten gewonnen  worden  sind,  unbedeutend  finden  sollte,  so  will  ich 
nicht  mit  demselben  rechten,  sondern  nur  zu  bedenken  geben,  dass 
daran  nicht  die  statistische  Untersuchungsmethode,  sondern  das 
statistische  Material,  wie  es  gedruckt  vorliegt,  schuld  ist.  Aus  den 
ursprünglichen  handschriftlichen  Listen,  nach  welchen  die  Tabellen 
der  Pariser  Industiiestatistik  zusammengestellt  sind,  würde  man  aller- 
dings vielfach  bessere  Resultate  gewinnen. 

Aber  mit  mehr  Recht  dürfte  Mancher  einwenden,  wie  man  mir 
gegen  meine  Schrift  über  denselben  Gegenstand  wirklich  schon  ein- 
gewandt hat,  dass  die  Sache  viel  einfacher  wäre,  als  ich  sie  auf- 
fasste:  „Nicht  weil  die  Menschen  in  Chambregarnie,  in  eigenen 
Möbeln,  beim  Meister  wohnen,  ferner  nicht  weil  die  Wohnungen 
gut.  oder  schlecht  sind,  ist  das  Betragen  auch  gut  oder  schlecht, 
sondern  die  Leute,  wejche  fleissig,  ordentlich,  brav  sind,  suchen  bei- 
stimmte Arten  von  Wohnungen  auf,  und  unter  diesen  wiederum  die 
von  besserer  Qualität." 

Feopn  sei  es  von  mir,  zu  leugnen,  dass  die  ordentlicheren  Leute 
sich  ordentlichere  Wohnungen  suchen,  als  die  lüderlichen  und  faulen, 


•)  Vergl.    die    vortreffliche    Berliner    Volkszählung,    herausgegeben    von 
Schwabe,  Berlin  1869. 


Statistiache  Studien  zur  Wohuuugafrage,  %ßß 

ßUeia  d£|.s  würde  den  Zusammeuhojxg  zwiachen  Wohnungsamt  uu4 
Wohuungsgüte  auf  der  einen  und  getragen  auf  der  anderen  8eit^ 
noch  nicht  völlig  erl^lären.  Ein  Theil  des  Zusammenhanges,  und 
zwar  der  grössere,  f^Ut  auf  die  Wohnungsart  als  Ursache  nnd  d^ 
Betragen  als  Wirkung,  nicht  umgekehrt  auf  das  Betragen  als  Ursache 
und  Wohnupgswabl  als  Wirkung. 

Eine  Wechselwirkung  leugne  ich  keineswegs,  im  G^gentheil  iat 
dieselbe  besonders  fördernd  in  dem  erziehenden  Sinne,  welch^i  ich 
der  Wohnung  vindicire.  Ein  massig  ordentlicher  Mensch  kommt  in 
eine  gute  Wohnung,  er  wird  durch  diese  ordentliche  Wohnung  noch 
ordentlicher,  noch  ordentlicher  geworden  sucht  er  eine  noch  ordentlichere 
Wohnung  u.  a.  f.  Auf  der  anderen  Seite  ist  diese  Kett^nwirkung 
allerdinga  auch  zum  Schlimmen  möglich,  der  Arbeiter  kann  durch 
schlechte  Wohnung  zu  schlechtem  Betragen,  dadurch  zu  noch  schleck* 
terer  Wohnung  u.  s.  w.  gelangen.  H^bt  sich  dann  der  Nutzen  aolr 
eher  Wechselwirkung  mit  dem  Schaden  derselben  auf?  Ja,  wenn 
wir  nicht  dem  entgegenarbeiten,  wenn  wir  nicht  den  bösen  Einfluas 
bannen  und  den  guten  fördern.  Das  haben  wir  aber  in  der  Gewalt 
mit  der  Wohnungsreform. 

Lassen  Sie  mich  jetzt  Ihnen  einige  Andeutungen  darüber  machen, 
dass  das  Betragen  mehr  unter  dem  Einfluss  der  Wohnung  steht,  als 
die  Wohnungswahl  unter  dem  Einfluss  der  Moralität» 

An  und  für  sich  wäre  es  ja  denkbar,  dass  die  Arbeiter  guten 
Betragens  besonders  die  Stadttheile  aufsuchen,  in  denen  viele  gute 
Chambregarnies  sich  befinden,  weil  sie  gut  wohnen  wollen,  allein 
die  Oertlichkeit,  in  welche  der  Arbeiter  zieht,  wird  vielmehr  durch 
die  Stätte  bedingt,  an  welcher  er  Arbeit  findet.  *)  Höchstens  dürfte 
man  meinen,  dass  in  den  Stadtgegenden,  in  welchen  regelmässig  viele 
gute  Arbeiter  Nachfrage  nach  guten  Chambregarnies  halten,  auch 
viele  gute  Chambregarnies  -werden  angeboten  werden.  Unsere 
Statistik  zeigt  das  nicht.  Trennt  man  die  12  pariser  Arrondisse- 
ments  wieder  in  6  Arrondissements  mit  den  mehreren  und  in  6  mit 
den  wenigeren  Arbeitern  guten  Betragens,  so  entspricht  dem  die 
Menge  der  guten  Logis  sehr  wenig.  Bei  durchschnittlich  85  %  guten 
Arbeitern  sind  82%  der  Wohnungen  gut,  bei  nur  69%  guten  Ar- 
beitern  aber  fast   ebenso  viel  Vo  gute  Wohnungen,    nämlich   78%. 


*)  Davon  soll  unsere  vierte  Studie:  die  Wohnung  des  Ar))eiter8  und  ihrer 
Abhängigkeit  vom  Geschäftslocal  handeln. 


364  Statistische  Studien  znr  Wohnungsfr^e. 

Bei  noch  grösseren  Differenzen  im  Betragen  der  Arbeiterinnen  ist 
die  Differenz  in  der  Menge  guter  Wohnungen  die  gleiche  wie  bei 
den  Männern.  Da^s  das  gute  Betragen  gute  Wohnung  sucht,  kann 
man  mit  dem  besten  Willen  aus  der  ChambregamieänquSte  nicht 
herauslesen, 

Eb  bleibt  aber  noch  übrig,  zu  entscheiden,  ob  die  Arbeiter 
guten  Betragens  mit  Vorliebe  bestimmte  Arten  von  Wohnungen  auf- 
suchen. Zu  dem  Behuf  sind  alle  270  Gewerbe  geordnet  worden 
nach  den  %  guten  Betragene  und  ist  dazu  die  Wohnung  in  eigenen 
Möbeln,  fremden  Mbbein  und  beim  Meister  gesetzt.  Da  findet  sieb 
allerdings,,  dass,  je  mehr  %  der  männlichen  Arbeiter  sich  schlecht 
aufführen,  um  so  mehr  in  Chambregarnie  wohnen,  und  um  so  weniger 
beim  Meister.  Das  scheint  für  den  Einfluss  des  Betri^ens  auf  die 
Wohnnngswahl  zu  sprechen,  allein  einmal  hat,  was  das  Wohnen 
beim  Meister  betrifft,  der  Meister  bedeutend  mehr  zu  reden,  als  der 
Kostgänger,  und  daiin  mtisste  vor  Allem  bei  vielen  Leuten  guten 
Betragens  das  Wohnen  in  eigenen  Möbeln  überwiegen.  Es  ist  aber 
das  gerade  Gegeutheil  der  Fall :  je  mehr  schlechtes  Betreten,  um  so 
mehr  Leute  in  eigenen  Möbeln,  Alle  Erscheinungen  sind  bei  den 
Frauen  die  gleichen,  nur  in  abgeschwächter  Form,  Das  Wohnen  in 
eigenen  Möbeln  ist  bei  allen  Betragensgüten  fast  gleich,  aber  bei 
'  einer  kleinen  Neigung,  mit  dem  guten  Betragen  abzunehmen  statt 
zuzunehmen. 

Mögen  wir  die  Zahlen  betrachten  wie  wir  wollen,  immer  findet 
sich  der  Einfluss  der  Wohnung  auf  das  Betragen  grösser,  als  der 
Einfluss  des  moralischen  Verhaltens  auf  die  Wohnnngswahl. 

Leider  sind  wir  nicht  im  Stande  die  vorausgehenden  Unter- 
suchungen, in  denen  noch  viel  mehr  hypothetisch  ist,  als  ich  zeigen  durfte, 
weiter  auszudehnen  auf  andere  Zeiten  und  Orte.  Allerdings  hat  fiir 
Paris  schon  1847  eine  IndustrieenquSte  Nachrichten  über  das  Betragen 
der  pariser  Arbeiter  und  über  ihre  Wohnungen  mit^etheilt,  allein 
die  Kunde  über  das  Betragen  ist  so  vage  und  allgemein,  dass  sie 
eben  so  gut  fehlen  dürfte.  Denn  was  ist  damit  gesagt,  wenn  es 
heisst :  „Im  Ganzen  ist  das  Betragen  gut,  ein  Theil  aber  der  Arbeiter 
betritt  sich  schlecht,  einige  sind  dem  Trunk  ergeben."  Dass  die 
Angaben  nicht  quantitativ  messbar  sind,  ist  sehr  zu  bedauern  weil 
ngsart  des  Jahres  1847  ebenso  genau  und  nach 
dungsmoduB  unterrichtet  sind,  wie  für  das  Jahr 
teressante  was  wir  jn  Ve^leichung  thun  können, 
ob   die   dem  Betragen  günstigen  Wohnungs- 


statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage.  2d$ 

arten  sich  vermehrt  haben  oder  die  ungünstigen,  um  daraus  rück* 
wärts  auf  Hebung  oder  Senkung  der  Pariser  Moralität  sehliessen  zu 
können.  Die  Untersuchung  giebt  günstige  Resultate  für  das  männ- 
liche Geschlecht,  ungünstige  für  das  weibliche,  wenn  unser  Rück- 
schluss  richtig  ist.  d.  h.  wenn  in  der  Beziehung  zwischen  Wohnungsart 
und  Betragen  seit  1847  keine  Veränderung  eingetreten  ist.  Die 
Zahl  derer,  welche  in  eigenen  Möbeln  wohnen,  hat  verhaltnissmässig 
abgenommen,  sie  war  bei  den  Männern  75  %  und  ist  gesunken  auf 
71,  bei  den  Frauen  gesunken  von  91  auf  85  V2  **/o,  also  Beides  un- 
günstig. Das  Wohnen  in  Chambregarnie  hat  bei  den  Männern  ab- 
genommen von  31  auf  20  %,  das  ist  günstig,  bei  den  Frauen  zuge- 
nommen von  6  auf  7  %,  das  ist  doppelt  ungünstig,  denn  bei  den 
Frauen  war  das  Wohnen  in  Chambre  garnie  besonders  schädlich. 
Endlich  das  Wohnen  beim  Meister  hat  in  beiden  Geschlechtern 
bedeutend  zugenommen,  aber  bei  den  Männern,  wo  es  besonders 
wohlthätig  wirkt,  stärker,  von  4  auf  9Vo,  bei  den  Frauen,  wo  der 
Einfluss  geringer  ist,  von  3  auf  l^/^k.  Setzen  wir  nun  auf  jede 
Wohnungsart  ebensoviel  Procente  schlechtes  Betragen  als  im  Jahre 
1860,  dann  finden  wir  durch  Rechnung,  dass  das  Betragen  der 
Männer  sich  gehoben  hat  von  9,8  %  schlecht  auf  9,3  Vo,  das  der 
Frauen  aber  sich  verschlechtert  von  8,5  %  auf  8,©  %.  Wie  lange 
wird  es  dauern,  dass  wir  für  Paris  wenigstens  nicht  mehr  behaupten 
können,  dass  das  zarte  Geschlecht  moralisch  höher  steht  als  das 
starke?  Im  Interesse  der  Menschheit  müssen  wir  hoffen,  dass  unsere 
Rechnung,  was  die  Männer  angeht,  richtig,  was  die  Frauen  angeht, 
gründlich  falsch  ist.  Für  mich  persönlich  wäre  das  freilich  sehr 
übel,  aber  ich  muss  doch  selbst  wünschen,  dass  lieber  ich  mich  ver- 
fahren hätte,  als  dass  wir  ein  moralisches  Sinken  des  weiblichen 
Geschlechtes  finden. 

Und  bitte  glauben  Sie  nicht,  dass  ich  irgendwie  parteiisch  die 
Frauen  behandelt  habe,  ich  vertrete  im  Gegentheil  immer  die 
Meinung,  dass  die  Frauen  besser  sind  als  die  Männer.  Was  wir 
stärker  an  Körper  und  reicher  an  Verstand,  das  sind  die  Frauen 
schöner  an  Körper  und  reicher  an  Gemüth.  Die  neueren  Versuche, 
das  Weib  auch  auf  die  Verstandeshöhe  des  Mannes  su  bringen,  das 
Weib  vom  Manne  zu  emancipiren,  muss  geschehen  auf  Kosten  des 
Herzens.  Das  Weibliche  verschwinden  zu  machen,  das 
kann  zur  Noth  erreicht  werden,  aber  ohne  damit  die  auf  ganz 
anderer   Seite  liegenden  Vorzüge   der  Männer  zu    erwerben.     Wie 

dem  aber  auch  sein  mag,   daran  werden   Sie  Alle    hoffentlich  nicht 
Baltische  Monatsschrift.  N.  Folge.  Bd.  I,  Heft  5  u.  6.  18 


266  StatistiBclie  Stadien  zur  Wohnungsfrage. 

mehr  zweifeln,  dass  die  Wohnungsfrage  eine  eminent  ernste  nad 
wichtige  für  die  Entwickelung  der  Menschheit  ist  und  zwar  noch 
Tiel  mehr  als  für  die  Männer  für  die  Frauen,  denn  ihre  natürliche 
Stätte  ist  des  Mannes  Herz,  und  so  prosaisch  es  Manchem  klingen 
mag,  des  Mannes  Heerd. 

Dorpat,  im  Februar  1870. 

E.  Laspeyres. 


Expropriation  nach  provinziellem  Recht. 


i/urch  den  Bau  der  Eisenbahnen  ist,  wie  überall,  so  auch  in  unseren 
Provinzen  die  Frage  der  Expropriation  auf  die  Tagesordnung  ge- 
langt. Man  hat  die  Bestimmungen  des  Provinzialcodex  und  der 
Rechtsquellen  für  unzureichend  zur  Erledigung  der  concreten  Fälle 
im  Rechtswege  erklären  und  die  vermeintliche  Lücke  durch  die  ein- 
schlägigen Paragraphen  der  Reichsgesetzgebung  ausfüllen  wollen. 
Von  anderer  Seite  ist  dem  widersprochen  worden,  und  so  sehen  wir 
unser  Rechtsleben  um  eine  Controverse  von  weittragender  Bedeutung 
bereichert.  Den  Versuch,  dieselbe  öffentlich  zu  erörtern,  wird  der 
Vorwurf,  er  sei  nicht  zeitgemäsö,  schwerlich  treffen.  Je  mehi:  die 
Ueberzeugung  sich  Bahn  bricht,  dass  die  Eisenbahnen  ein  Speculations- 
object  in  ganz  eminentem  Sinne  sind-,  desto  geringer  wird  auch  die 
Zahl  derjenigen  Grundeigenthümer  werden,  welche,  festhaltend  an 
dem  so  oft  angerufenen  Standpunkte  der  „patriotischen  Opferwillig- 
keit", keinen  Theil  zu  haben  begehren  an  dem  colossalen  Gewinne 
der  Gründer  und  Erbauer  und  demgemäss,  zufriedengestellt  durch 
die  vollendete  Thatsache  des  Bahnbaues,  sich  wegen  der  Entschädi- 
gung für  ihren  Grund  und  Boden  leicht  abfinden  lassen.  Als  unver- 
meidliche Folge  dieser  Wendung  wird*  eine  starke  Zunahme  der 
Expropriationsstreitigkeiten  eintreten  und  dadurch  die  Frage  über 
den  Weg  zu  ihrer  Lösung,  zumal  bei  den  hohen  Werthen,  die  ins 
Spiel  kommen,  eine  brennende  werden.  Demnach  dürfte  die  Erör- 
terung dieser  Frage  mit  dem  Zwecke,  möglichste  Klarheit  über 
dieselbe  zu  verbreiten,  schon  jetzt  am  Platze  sein.  Dass  sie  in 
diesen  Blättern  und  in  einer  Form  erscheint,  welche  auf  fach- 
männischer Seite  Bedenken  erregen  könnte,  hat  seinen  Grund  darin, 
dass  sie  in  der  Verfolgung  praktischer  Ziele  an  einen  grösseren 
Leserkreis  sich  wenden  wollte,  als  ihn  ein  Fachblatt  in  der 
Regel  bietet. 

Die  Expropriation  von  Eigenthum  —  und  zwar  kann  darunter 
immer  nur   Grundeigen thum   mit   allen    daran  haftenden  dinglichen 

Rechten  verstanden  werden  —  ist  Gegenstand  der  Gesetzgebung  ge- 

18* 


268  Die  Expropriation  oacfa  provinziellem  Recht. 

worden,  ehe  die  Lehre  von  derselben  durch  die  Doctrin  ausgebildet 
war.  Diesem  Umstände  ist  es  zuzuschreiben,  dass  ans  den  verschie- 
denen'legislativen  Acten  über  die  Expropriation  ein  festes  Princip 
der  Zwangrsenteignung,  eine  allgemein  anerkannte  Begründung  des 
Rechte  zu  derselben  sich  nicht  ableiten  l&sst.  Es  wird  angenommen, 
dass  der  Staat  den  Staatsangehilrigen,  die  Gemeinde  den  Oemeinde- 
angebörigen  gegenüber  das  Recht  habe,  tiberalt  dort,  wo  das  öffent- 
liche Interesse,  das  sogenannte  allgemeine  Beste  in  Collision  tritt  mit 
Privatrechten,  die  Abtretung  dieser  Rechte  gegen  volle  Entschädigung 
zu  fordern.  Allein  über  den  Rechtsgruud  der  Abtretungspilicht 
herrschen  ebenso  verschiedene  Ansichten,  wie  über  den  Begriff  und 
die  Grenzen  des  öffentlichen  Nutzens.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den 
interessanten  Untersuchnngen  über  diese  Fragen  nachzugehen.  Am 
nächsten  dürfte  diejenige  Auffassung  der  Wahrheit  kommen,  welche 
dem  Staate  nur  insoweit  das  Recht  zugesteht,  die  Abtretung  von 
Privatrechten  zu  fordern,  als  ohne  dieselbe  die  Erfüllung  seiner 
Zwecke  unmöglich  wäre,  und  dieses  Recht  aus  der  Pflicht  der  ein- 
zelnen Staatsangehörigen  zur  Uebemahme  der  Lasten,  welche  der 
Staat  ihnen  auferlegt,  herleitet,  die  Entschädigung  aber  auf  den 
Grundsatz  zurückführt,  dass  kein  Mitglied  des  Staats  vor  den  übrigen 
belastet  werden  soll,  demnach  dort,  wo  es  zu  besonderen  Leistungen 
herangezogen  wird,  schadlos  zu  halten  ist.  *}  Ausreichend  ist  diese 
Erklärung  nicht,  denn  auch  der  Staatszweek  läset  verschiedene  Deu- 
tungen zu.  Immerhin  aber  verdient  sie  den  Vorzug  vor  deig'enigen, 
welche  ihre  Stütze  in  dem  Begriff  „öffentliche  Interessen"  sucht. 
Mag  auch  die  Präcisirung  des  Staatszweckes  oft  Schwierigkeiten  be- 
reiten, so  schwankend  und  unbestimmt,  wie  die  öffentlichen  Inter- 
essen ist  er  nicht,  und  bietet  daher  eine  sicherere  Handhabe  für  die 
rechtliche  Begründung  der  Opfer,  die  in  seinem  Namen  den  Staats- 
angehörigen auferlegt  werden. 

In  den  Expropriations gesetzen  der  verschiedenen  Staaten 
finden  wir,  dass  die  Abtretung  des  Eigentbums  den  Staatsangehörigen 
t)  entweder  überall  dort  zur  Pflicht  gemacht  wird,  wo  das  Be- 
dürfhiss  des  Staats,  das  allgemeine  Beste,  das  öffentliche  Interesse 
u.  8.  w.  die  Abtretung  erfordere;  2)  oder  für  gewisse  Unternehmungen, 
wie  den  Bau  von  Strassen,  Eisenbahnen,  Festungen  u.  dei^l.  ange- 
ordnet,  oder  endlich  3)  durch  speciellen  legislativen  Act  in  jedem 
einzelnen  Fall  bestimmt  wird.     Im  ersten  Falle  ist   ein  Streit  über 


u  Recht  der  Expropriation.    Leipsig  1868,  Seite  1 


Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht.  269 

das  Dasein  der  Expropriationspflicht  immer  denkbar,  im  zweiten  und 
dritten  nur  insofern,  als  die  Nothwendigkeit  des  zu  enteignenden 
Grundstücks  zu  einem  mit  Expropriationsr^chten  ausgestatteten  Unter- 
nehmen negirt  wird. 

Im  Provinzialcodex  ist  unter  den  Gründen  für  das  Aufhören 
des  Eigenthums  die  Zwangsenteignung  oder  Expropriation 
angeführt,  „wenn  eine  solche  zum  Wohle  des  Staates  oder 
Gemeinwesens  ünerlässlich,  und  in  jedem  einzelnem  Falle 
durch  ein  Allerhöchstes  Gesetz  angeordnet  ist.^  j^Ihi* 
geht,^  so  heisst  es  weiter,  „die  vollständige  Entschädigung 
des  zu  Expropriirenden  voraus.*)  —  Hierin  finden  wir  das 
Staats-  resp.  Gemeinwohl  als  Zweck  der  Expropriation  hingestellt, 
das  Recht  des  zu  Expropriirenden  auf  volle  Entschädigung  anerkannt 
and  die  Abtretung  nur  zufolge  Specialgesetzes  zur  Pflicht  gemacht. 
Wir  befinden  uns  also  im  dritten  der  oben  angeführten  Fälle,  d.  h. 
wir  können  über  das  Dasein  der  Expropriationspflicht  zu  Gunsten 
eines  bestimmten  Unternehmens  überhaupt  niemals  im  Zweifel  sein, 
sondern  diese  Pflicht  höchstens  nur  in  Betreflf  einzelner  Grundstücke, 
resp.  Theile  von  denselben  verneinen. 

Nicht  unberührt  dürfen  hier  die  in  den  Bauerrechten  Liv-  und 
Estlands  statuirten  Ausnahmen  von  der  allgemeinen  Regel  bleiben. 
Dieselben  gestehen  den  Rittergutsbesitzern  ein  Recht  auf  Zwangs- 
enteignung in  den  von  den  Gütern  abgetheilten  Grundstücken  in  be- 
stimmten Fällen  zu  (zum  Zweck  der  Zu-  und  Ableitung  von  Wasser, 
Anlage  und  Erweiterung  von  Wegen  u,  s.  w,).  Ueber  die  Abtretung 
entscheidet  in  Estland  das  lürchspielsgericht,  in  Livland  die  „com- 
petente  Behörde  nach  stattgehabtem  summarischem  Verfahren^,  die 
Feststellung  der  Entschädigung  erfolgt  in  Estland,  wenn  die  Inter- 
essenten sich  nicht  gütlich  einigen,  auf  schiedsrichterlichem  Wege,  in 
Livland  auf  dem  Wege  Rechtens  vor  dem  ordinären  Richter.  **)  Da 
über  die  Constituirung  und  das  Verfahren  des  Schiedsgerichts  sich 
keine  speciellen  Bestimmungen  finden,  so  dürfte  dafür  in  Estland 
die  auch  in  die  Bauerverordnung  vom  Jahre  1856  aufgenommene. 
Allerhöchst  im  Jahre  1828  bestätigte  Verordnung  hinsichtlich  der 
Entscheidung  von  Rechtsstreiten   über  Grenzen  und  Servituten  zwi- 


*)  Provinzialrecht  Thl.  m.  art.  868,  Punkt  6. 

•*)  Livländische  Bauerverordnung  vom  13.  November  1860,  §§  42^-45,  und 
estländisohe  Bauerverordnung  vom  6.  Ju)i  1856,  §§  204  —  207.  AnmeriiLung  2  zum 
art.  868  a.  a.  0. 


370  Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht. 

sehen  estländiechen  Gnindbesitzem  maaesgebend  Bein.  Diese  Aus- 
nahmebestimmungen sind  insofern  für  die  Beurtheiliing  der  gesamiutea 
Materie  nicht  ohne  Bedeutung  als  auch  in  ihnen  das  dem  provinziellen 
Rechte  e^enthümliche  Princip,  zufolge  dessen  das  Verfahren  bei  der 
Expropriation  den  Gerichten  zu  überweisen  ist,  Anwendung  ge- 
fanden hat. 

Aus  dem  citirten  Artikel  868  ist  ersichtlich,  dass  das  Provinzial- 
recht  sich  mit  genügender  Klarheit  darüber  ausspricht,  wann  und 
unter  welcher  Bedingung  die  Expropriation  einzutreten  habe.  Es 
fVagt  sich  nnn  weiter,  welches  Verfahren  bei  der  Zwangsenteignung 
zu  beobachten  sei.  Hier  ist  zu  unterscheiden  zwischen  dem  Ver- 
fahren einmal  bei  der  Abtretung  und  dann  bei  der  Feststellung 
der  Entschädigung. 

Der  Provinzialcodex  sagt  in  seinem  lH.  Theile  *)  hierüber  nichts 
weiter  als:  „Das  bei  der  Zwangsenteigoung  zu  beobachtende 
Verfahren  schreibt  die  Ordnung  des  Civllgerichtsver- 
fafarens  vor." 

Hier  glauben  die  Gegner  des  Provinzialrechts  seine  Achillesferse 
entdeckt  zu  haben.  Die  mangelnde  CodiScation  des  Ciyilprocesees 
giebt  ihnen  willkommene  Veranlassung ,  das  Vorbandensein  hin- 
reichender Rechtsbestimmungen,  an  deren  Hand  die  Expropriations- 
streitigkeitea  zum  Austrag  gebracht  werden  könnten,  einfach  zu 
leugnen.  Mit  wie  viel  Recht,  werden  wir  später  sehen.  Vorerst 
mögen  die  §§  des  Swod  der  Reichsgesetze,  welche  in  die  vermeint- 
liche Lücke  ein-  und  dem  lahmen  Provinzialrecht  als  Stütze  unter- 
geschoben werden  sollen,  Revue  passiren.  **)  Sie  enthalten,  was 
nicht  ausser  Acht  zu  lassen  ist,  keine  besonderen  Bestimmungen  über 
das  Verfahren  bei  der  Abtretung,  sondern  nur  die  Grundsätze, 
nach  welchen  der  durch  die  Expropriation  entstandene  Schaden  zu 
schätzen  ist,  sowie  die  Regeln  des  dabei  zu  beobachtenden  Ver- 
~  folgendes  Gesammtbild. 

Besten  des  Staats-  oder  des  Gemein- 
unumgänglich  nöthig  ist,   muss   dem 

iH^Hoe)  Entschädigung  gewährt  werden. 

ige  Enteignung  einzutreten  hat,  werden 

itliche   Allerhöchste  Befehle   bestimmt. 

arung  wegen   der    zu   leistenden   Ent- 

a.  a.  0. 

»d.  i,   Thl.  1   (Civilgesetae)  Art.  575  —  593 
1919  und  1920,  1972,  folgende. 


Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht.  271 

Schädigung  nicht  zu  Stande,  so  wird  eine  Schätzung  des  betreffenden 
Vermögensobjects  vorgenommen.  Diese  Schätzung  wird  bewerk- 
stelligt: a.  in  den  Städten  durch  die  städtischen  Taxatore  von  einer 
Commission,  bestehend  aus  dem  Stadthaupt^  wenn  das  Grundstück 
einem  Kaufmann  oder  Bürger,  aus  dem  Ereisadelsmarschall ,  wenn 
es  einer  Person  adeligen  Standes  zugehört,  ferner  aus  dem  Gouverne- 
mentsarchitekten oder,  wo  ein  solcher  nicht  vorhanden,  aus  dem 
Gouvernements-  resp.  Kreisgeometer,  und  in  den  Gouvemements- 
städten  aus  dem  Gouverneur,  in  den  Kreisstädten  aus  dem  Polizei- 
meister; b.  in  den  Kreisen  durch  Taxatore.  aus  der  Zahl  der  um- 
wohnenden Gründbesitzer  von  einer  Commission,  bestehend  unter 
dem  Vorsitz  des  Kreisadelsmarschalls  resp.  Kreisrichters  aus  je  einem 
Gliede  des  Kreis-  und  des  Landgerichts.  Diese  Commissionen  haben 
der  Schätzung  folgende  Regeln  zu  Grunde  zu  legen: 

Unbewegliches  Vermögen,  welches  Revenuen  trägt,  wird  nach 
dem  Durchschnittsbetrage  dieser  Revenuen  taxirt.  Zu  diesem  Zwecke 
werden  die  reinen  Revenuen,  welche  das  Immobil  im  Verlaufe  der 
letzten  10  Jahre  wirklich  eingebracht  hat,  d.  h.  diejenigen  Einkünfte, 
welche  nach  Abzug  der  Abgaben  und  Unterhaltungskosten  übrig 
bleiben,  zusammengezählt  und  von  dieser  Generalsu^me  der  zehnte 
Theil  als  die  durchschnittliche  Nettorevenüe  des  Jahres  angenommen. 
Bei  Ländereien  wird  der  zehnfache  Betrag  der  Jahresrevenüe,  ebenso 
bei  unbebauten  Ländereien,  Weiden,  Heuschlägen  etc.  der  zehnfache 
Betrag  des  Obroks  als  Werth  des  Immobils  anerkannt.  Bei  steinernen 
noch  nicht  alten  Gebären  wird  die  Jahresrevenüe  nur  verachtfacht^ 
bei  neuen  hölzernen  Gebäuden,  die  noch  nicht  5  Jahre  stehen,  ver- 
sechsfacht. Alle  alten  (B-feTxie)  Gebäude,  sowohl  von  Stein  als  von 
Holz,  werden  um  die  Hälfte  geringer  taxirt.  Unbewegliches  Ver- 
mögen, das  keine  Revenuen  trägt,  wird  nach  den  örtlichen  Umständen 
und  den  Vortheilen,  welche  durch  ihre  Erwerbung  entstehen  können, 
abgeschätzt.  Bleiben  wir  einen  Augenblick  bei  diesen  Taxations- 
regeln stehen,  um  zu  prüfen,  in  wieweit  durch  dieselben  der  Zweck 
einer  „angemessenen"  Entschädigung  erreicht  wird. 

A  besitzt  ein  Landgut,  das  ihm  im  Verlaufe  von  10  Jahren  eine 
durchschnittliche  Nettorevenüe  von  1000  Rbl.  Silb.  jährlich  einge- 
tragen hat.  Bei  der  Expropriation  desselben  erhält  er  10,000  Rbl. 
Silb.,  die  ihm  besten  Falles  eine  Jahresrente  von  600  Rbl.  Silb. 
geben.  Er  wird  demnach  zum  „allgemeinen  Besten"  um  400  Rbl. 
Silb.  jährlich,  oder  um  ein  Capital  von  circa  6500  Rbl.  Silb.  ärmer. 
Oder:   B  besitzt  ein  hölzernes  Haus,    das  mehr    als  5  Jahre  steht, 


272  Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht. 

mithin  nach  der  vom  Gesetze  gegebenen  Definition  nicht  in  die 
Kategorie  der  neuen,  sondern  der  alten  GeblUide  fällt.  Es  hat  ihm 
jlihrlich  im  Durchschnitt  300  Rbl.  Silb.  eingebracht.  Bei  der  Ex- 
propriation eriiält  er  für  dasselbe  900  Rbl.  Silb.,  von  v^relchem 
Capital  er  eine  Rente  von  54  Rbl.  Silb.  jährlich  bezieht.  Das  Haus 
reprä.6entirte  für  ihn  einen  Werth  von  5000  Rbl.  Silb.;  er  büsst 
demnach  4100  Rbl.  Silb.,  d.  h.  vier  Fünftheile  seines  Vermögens 
ein.  Diese  Ziflfern  reden  deutlich  genug.  Eine  wirkliche  Ent- 
schädigung wird  auf  diesem  Wege  nicht  erreicht.  Ueberraschen 
können  diese  Resultate  indessen  nicht,  wenn  man  bedenkt,  dass 
die  mitgetheilten  Schätzungsregeln  keineswegs  die  Ermittelung  des 
wahren  Werthes  bezwecken,  sondern  die  Anleitung  zu  der  Taxation 
bieten  soll^i,  welche  nach  russischem  Recht  der  Subhastation  der 
zum  öffentlichen  Verkauf  gestellten  Immobilien  vorauszugehen 
hat.  In  ihrer  Unvollständigkeit  einerseits  und  bei  dem  Zwange 
andererseits,  den  sie  den  Taxatoren  auferlegen,  mögen  sie  für 
ihren  ursprünglichen  Zweck  einer  annähernden  und  möglichst 
billigen  Schätzung  genügen,  ihre  Anwendung  in  ExpropriationslUUen 
dagegen  bedroht  den  zu  Expropriirenden  mit  den  grössten  Nach- 
theilen und  macht  die  ihm  durch  das  Gesetz  zugesicherte  ange- 
messene Entschädigung  ganz  illusorisch.  Dcuss  das  Gesetz  hinzufügt, 
es  seien  bei  der  Taxation  ausserdem  die  örtlichen  Umstände  zu  be- 
rücksichtigen, wie  z.  B.  ob  durch  theilweise  Enteignung  des  Grund- 
stücks die  Rentabilität  des  übrigbleibenden  Theiles  verringert  oder  ganz 
aufgehoben  wird  etc.,  ändert  an  der  Sache  Am  Besten  des  zu  Ex- 
propriirenden gar  nichts.  Das  ihn  benachtheiligende  Verhältniss 
zwischen  dem  verursachten  Schaden  und  dem  zu  leistenden  Ersatz 
bleibt  in  dem  einen,  wie  in  dem  anderen  Falle  dasselbe.  Doch 
weiter  im  Verfahren.  Dem  Eigen thümer  resp.  dessen  Bevollmäch- 
tigten steht  das  Recht  zu,  während  der  Taxation  selbst  dasjenige  binnen 
8  Tagen  mündlich  oder  schriftlich  anzubringen,  was  er  seinem  Inter- 
esse für  dienlich  erachtet.  Die  Commission,  wenn  sie  derartige  Be- 
merkungen für  berücksichtigenswerth  hält,  kann  zu  einer  üm- 
sehätzung  schreiten,  worauf  sie,  mag  nun  diese  letztere  vorgenommen 
oder  unterblieben  sein,  die  ganze  Sache  höheren  Orts  zur  weiteren 
Verfügung  und  zwar  an  dasjenige  Ministerium,  aus  dessen  Ressort 
die  Schätzung  beantragt  worden,  vorstellt.  üebersteigt  die 
Schätzungssumme  nicht  den  Betrag  von  3000  Rbl.  Silb.  und  ist  der 
Eigenthümer  mit  derselben  zufrieden,  so  endigt  die  Sache  mit  der 
ministeriellen  Bestätigung;    entgegengesetzten  Falles    geht   sie  nach 


Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht.  273 

Beprtifting  im  Conseil  des  bezüglichen  Ministeriums  an  den  Reichsrath 
und  mit  dessen  Gutachten  zur  allendlichen  Bestätigung  an  Se.  Majestät 
den  Kaiser  selbst.  Zu  bemerken  ist  noch,  dass  nach  Erlass  der  Final- 
entscheidung dem  Grundbesitzer  unter  gewissen  Bedingungen  noch  ein 
Ftinfkheil  der  bestätigten  Taxationssumme  als  Zuschuss  bewilligt  wird. 
Soweit  das  russische  Gesetz.  Vom  Landesherrn  bis  zum  städtischen 
Taxator  sind  alle  legislativen  resp.  administrativen  Instanzen  durch 
dasselbe  in  Bewegung  gesetzt,  nur  eine  Gattung  von  Staatsbe- 
amten fehlt  ganz  dabei  und  das  sind:  die  Richter.  Abgesehen 
von  allen  so  klar  und  unverkennbar  zu  Tage  liegenden  Mängeln 
des  dargestellten  Verfahrens,  zu  gesehweigen  dessen,  dass  nach  den- 
selben die  Hauptentscheidung  in  den  Händen  des  einen  Parten,  d.  h. 
der  bezüglichen  Ministerien  resp.  Hauptverwaltungen  liegt,  dass  die 
höchsten  Würdenträger  des  Reichs  in  Bewegung  gesetzt  werden 
müssen,  um  die  Entscheidung  in  einfachen  Schadensersatzsachen  zu 
treffen,  bleibt  der  Hauptfehler  des  ganzen  Verfahrens  der,  dass  diese 
Sachen  der  Cognition  der  Gerichte  entzogen  sind.  Da  die  Differenz 
in  allen  derartigen  Fällen  nur  den  Betrag  der  Entschädigungs- 
summen betrifft,  so  handelt  es  sich  immer  blos  um  Privatsachen, 
die  ihrer  Natur  nach  vor  den  Civilgerichten  zum  Austrag  zu  bringen 
sind,  und  in  der  That  wird  der  Entschädigungsstreit  fast  überall 
an  die  Civilgerichte  verwiesen,  in  Frankreich  an  eine  Jury.  Dieses 
Princip  ist  neuerlich  von  der  Reichsgesetzgebung  selbst  anerkannt 
worden.  Ein  Allerhöchst  bestätigtes  Gutachten  des  Reichsraths  aus 
dem  Jahre  1869*),  welches  sich  auf  Gebäude,  Niederlagen,  An- 
pflanzungen in  der  Nähe  von  Eisenbahnlinien,  somit  auch  ein  ganz 
analoges  Gebiet  bezieht,  verordnet,  dass  alle  derartigen  Anlagen 
in  der  Nähe  der  Eisenbahnen,  wenn  sie  denselben  Gefahr  drohen 
oder  wirklichen  Schaden  bringen,  beseitigt  oder  an  einen  andern 
Platz  verlegt  werden  sollen,  jedoch  nur  für  Rechnung  der  Eisen- 
bahn, jedoch  nachdem  die  Besitzer  auf  Grund  einer  zwischen 
ihnen  und  der  Bahnverwaltung  abgeschlossenen  Vereinbarung  für 
ihre  Verluste  entschädigt  worden  sind,  dass  die  Bahnverwaltung, 
wenn  sie  sich  mit  den  Besitzern  nicht  einigen  kann,  an  die  örtliche 
Gerichtsbehörde,  zu  deren  Ressort  das  ßesitzthum  gehört,  sich 
zu  wenden  hat  und  dass  die  Gerichtsbehörde  den  Betrag  der  dem 
Besitzer  zu  zahlenden  Entschädigung  bestimmt.  Hier  begegnen  wir 
schon  dem  Einlenken  in  die  richtige  Bahn.     Jedes  Abweichen  von 


*)  Promulgirt  durch  Senatsakas  vom  25,  Januar  1869, 


374  Die  Expropriation  nach  prorinzieUeni  Recht. 

derselben  beraubt  dae  Privatrecht  deijenigen  Qarantieen,  welche  zur 
Änfrechterhaltnng  einer  heileamen  Rechtsordnong  unentbehrlich  siod. 
Diesee  ist  die  Reichsgesetzgebnng.  Sie  bietet  den  Zwang  unzu- 
reichender, die  Ermittelung  des  wahren  Werthes  der  Expropriations- 
objecte'vereitelnder  SchätzuDgsgrundsätze,  ein  überaus  umBtändliches 
Verfahren  ohne  die  Garantie,  welche  allemal  in  der  richterlichen 
Entscheidui^  liegt,  und  giebt  durchaus  keinen  Anhaltspunkt  füii  die 
Erledigung  solcher  Fälle,  in  denen  die  Nothwendigkeit  eines  Gi-und- 
etücks  zu  einem  Expropriationsrechte  genieesenden  Unternehmen 
bestritten  wird. 

Anders  das  Provinzialrecht.  Es  gewährt  dem  Einzelnen  in 
vollem  Umfange  den  Rechtsschutz,  welchen  er  vom  Staate  bean- 
spruchen darf.  Möge  nie  vergessen  werden,  dass  die  Hauptaufgabe 
des  Staates,  sobald  er  sich  der  Bedingungen  für  sein  Bestehen  ver- 
sichert hat,  ist:  seine  Angehörigen  nicht  nur  in  ihren  öffentlichen, 
sondern  auch  In  ihren  privaten  Rechten  zu  schützen.  Darom  beginnt 
in  dem  Augenblicke,  wo  das  private  Recht  dem  Staatsinteresse 
weichen  muss,  die  Pflicht  des  Staates  auf  volle  Entschädigung  für 
das  ihm  geopferte  Recht,  und  kommt  er  dieser  Pflicht  nicht  nach,  so 
ist  er  von  deijenigen  Instanz  dazu  anzuhalten,  welcher  die  Wieder- 
herstellung gestörter  Rechtsverhältnisse  gebührt,  d.  h.  der  richter- 
lichen. Kicht  allein  in  Betreff  der  Entschädigung,  sondern  auch 
hinsichtlich  der  Streitigkeiten  bei  der  Abtretung  hat  die  richterliche 
Entscheidung  einzutreten.  Im  ersten  Falle  handelt  es  sich  um 
eine  blosse  Privatsache.  Der  in  Espropriationssachen  geltend  zu 
machende  Entschädigungsanspruch  unterscheidet  sich  seinem  Wesen 
nach  in  nichts  von  Entschädigungsansprüchen  im  Allgemeinen,  es 
haften  ihm  keinerlei  rechtliche  Besonderheiten  an,  die  betreffende 
Klage  gehört  somit  unzweifelhaft  vor  die  Civilgerichte.  Letzteren 
Falles  wird  in  Grundlage  eines  Specialgesetzes  die  Abtretung  von 
Eigenthum  beansprucht.  Wenn  ein  Streit  darüber  entsteht,  ob  im 
gegebenen  Falle  ein  bestimmtes  Eigenthumsobject  von  der  Wirkung 
dieses  Gesetzes  ergriffen  werde,  so  gebührt  die  Entscheidung  hier- 
über der  Natar  der  Sache  nach  auch  nur  den  Gerichten.  Die  staats- 
rechtliche Seite  der  Sache  ßndet  ihre  Erled^ung  durch  die  im  legis- ^ 
villigung  des  Expropriationsrechtes.  Die 
[lese  Befugniss  ausgedehnt  werden  könne, 
ikters.  Hierüber  wird  man  nicht  im 
nn  man  erwägt,  dass  es  sich  um  die 
handelt    Die  rechtliche  Grundlage  dafür 


Die  Expropriation  nach  proYinziellem  Recht  275 

ist  in  dem  Specialgesetz  enthalten,  ob  dieselbe  dem  concreten  Falle 
anpassend  ist,  darüber  kann,  da  der  Verlust  von  Privätrechten  in 
Frage  kommt,  nur  der  Richter  erkennen.  Wird  eingewendet,  dass 
die  Beurtheilung  dessen,  ob  ein  Grundstück  zu  einem  bestimmten 
Unternehmen  erforderlich  sei,  nicht  sowohl  Rechts-  als  technische 
Kenntnisse  voraussetze  und  demnach  einer  technisch-kiindigen  Autorität 
zuzuweisen  sei,  so  ist  dagegen  ;5u  bemerken,  dass  in  dem  Institut  der 
Sachverstöndigen  das  völlig  zureichende  Mittel  zur  Ergänzung  der 
dem  Richter  abgehenden  technischen  Qualification  gegeben  ist  Durch 
dasselbe  wird  der  gerügte  Mangel  an  technischer  Befähigung  ohne 
jegliche  Verrückung  der  rechtlichen  Lage  der   Sache  ausgeglichen. 

Wenn  daher  das  Provinzialrecht  hinsichtlich  des  bei  der  Zwangs- 
enteignung zu  beobachtenden  Verfahrens  auf  die  Civilprocessordnung 
verweist*),  so  ist  dadurch  ganz  im  Sinne  der  obigen  Darlegung 
unverkennbar  ein  gerichtliches  Verfahren  mit  gerichtlichem  Erkennt- 
niss  indicirt.  Mag  sein,  sagt  man,  aber  wie  soll  das  ausgesprochene 
Princip  zur  praktischen  Anwendung  gelangen?  Wo  sind  die  Regeln 
für  das  Expropriationsverfahren  nach  provinziellem  Recht,  wo  sind 
die  unerlässlichen  Paragraphen  zur  bequemen  Berufung  für  die 
Richter?  Das  Provinzialrecht  kennt  gar  kein  Expropriationsver- 
fahren, die  Sache  ist  neu,  weder  die  Rechtsquellen  noch  der  Gerichts- 
gebrauch  bieten  auch  nur  einigermaassen  genügende  Grundlagen  für 
die  Verhandlung  und  Entscheidung  der  Streitfälle  dar.  Was  bleibt 
demnach  übrig,   als  das  Reichsrecfat  ergänzend  eintreten  zu  lassen? 

Hierauf  zur  Antwort:  Ein  Gesetz,  welches  *das  Verfahren 
in  Expropriationssachen  regelte,  haben  wir  allerdings  nicht,  wir 
bekennen  es,  aber  was  uns  nicht  fehlt,  ist  ein  Recht,  für  dessen 
Aufrechterhaltung  einzutreten  uns  nicht  nur  die  Beäorgniss  vor 
Vermögensverlusten,  sondern  vor  Allem  das  Bewusstsein  der  Pflicht 
treiben  möge,  nichts  von  uni^eren  provinziellen  Rechtsinstitutionen 
unbedacht  bei  Seite  zu  werfen,  selbst  wenn  sie,  weil  nicht  an  der 
Oberfläche  schwimmend,  dem  ungeübten  Auge  zuerst  verborgen 
sein  sollten. 

Wenden  wir  uns  zuerst  der  formellen  Seite  der  Sache  zu.  Nach 
dem  namentlichen  Allerhöchsten  Befehl  an  den  Sepat  vom  1.  Juli 
1845,  durct  welchen  die  beiden  ersten  Theile  des  Provinzialcodex 
promulgirt  wurden,  zerfällt  das  Provinzialrecht  in  5  Theile,  dessen 
dritter  die  Civilgesetze  und  dessen  vierter  die  Regeln  des  Civilpro- 


*)  Anmerkung  1  zum  arfc.  868.  des  ProvinzialreAnts,  Theil  m. 


276  Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht. 

cesses  bilden.  Demnach  gehört  die  Frage  wegen  der  Expropriation 
eineni  Rechtsgebiete  an,  das  den  Ost^eeprovinzen  cigenthtimlich  und 
in  dieser  Eigenthümlichkeit  durch  den  allegirten  Kaiserlichen  Befehl 
ausdrücklich  anerkannt  ist.  Der  dritte  Theil  des  Provinzialrechts, 
enthaltend  das  Priratrecht  oder  die  Civilgesetze,  ist  bereits  codificirt. 
Der  Einwand,  dass  im  Civilprocess  keine  Regeln  für  das  Zwangs- 
enteignungsverfahren vorhanden  und  dass  in  Folge  dessen  die 
bezüglichen  Bestimmungen  des  Reichsrechts  in  Anwendung  zu 
bringen  .seien,  ist  vom  juristischen  Standpunkt  betrachtet,  nicht  statt- 
haft. Seine  Erklärung,  keineswegs  aber  seine  Begründung  mag 
dieser  Einwand  in  der  noch  mangelnden  Codiflcation  des  vierten 
Theiles  des  Provinzialrechts  finden.  Allein  sollte  dieses  Criterium 
entscheidend  sein,  dann  hätten  wir  überhaupt  keinen  Civilprocess, 
wir  hätten  bis  vor  zehn  Jahren  keih  Privatrecht  gehabt  und  erst 
vom  Jahre  1845  an  begonnen,  uns  einer  Rechtsbasis  für  das  öffent- 
liche Leben  zu  erfreuen.  Zu  verzeihen  ist  das  Verfallen  in  derartige 
Irrthümer  vielleicht  Denjenigen,  die  kein  Verständniss  haben,  für  die 
Entstehung  und  Ausbildung  des  provinziellen  Rechts,  für  seine  Quellen 
und  historischen  Grundlagen,  für  seinen  innigen  Zusammenhang  mit 
verwandten  Rechtssystemen  deutschen  und  römischen  Ursprungs  und 
für  die  unerschöpflichen  Hülfsquellen,  die  sich  hierin  sowie  in  den 
Schätzen  der  ewig  lebendigen  und  unausgesetzt  fortarbeitenden 
Wissenschaft  darbieten.  Es  sei  vergönnt,  an  diesemx  Punkte  einen 
Augenblick  zu  verweilen.  Unser  Privat-  und  Processrecht,  steht 
ja  nicht  da  isolirt  und  einzig  angewiesen  auf  eine  mehr  oder 
weniger  künstliche  Pflege  durch  die  Gesetzgebung,  welche  in 
den  meisten  Fällen  auch  nur  auf  blosse  Nachahmung  sich  be- 
schränkt. Es  wurzelt  in  einem  reichen  Boden,  ein  warmer  Lebens- 
strom dringt  aus  demselben  befruchtend  ein  in  alle  seine  Zweige 
und  schützt  den  knorrigen  Stamm  vor  Verdorren  und  Absterben. 
Alles,  was  die  Wissenschaft  auf  verwandten  Rechtsgebieten  überall 
arbeitet,  ist  auch  für  uns  gearbeitet,  die  Resultate  dieses  fleissigen 
und  unablässigen  Forschens,  sie  gehören  uns,  nicht  in  Folge  rein 
äusserlicher  Aneignung,  nein  durch  organisches  Verbundensein,  in 
welchem  die  .Lebensadern  eines  Theiles  hinüberreichen  in  den 
andern.  Diese  Wahrheit  möge  der  Wegweiser  sein  für  alle  Diejenigen, 
welche  mit  dem  einheimischen  Recht  sich  zu  beschäftigen,  es  zu  pfle- 
gen und  zu  üben  berufen  sind.  Um  auf  den  oben  für  zulässig  er- 
klärten Entschuldigungsgrund  der  Unkenntniss  zurückzukommen,  so 
kann  derselbe  doch  imlner  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  gelten, 


Pie  Expropriation  nach  proTinziellemlReeht  377 

denn  aueh  für  Solche^  welche  der  Sache  femer  stehen,  iit  der  ange- 
führte Promulgationsukas  vom  1.  Juli  1845  nicht  misszuverstehen, 
worin  es  zum  Schluad  heisst,  dast  in  Beziehung  auf  die  noch  nicht 
codificirten  Theile  der  Prorinzialgesetze  bis  zu  ihrer  Veröffentlichung 
die  Verwaltunga-  und  Gerichtsbehörden  sowie  Privatpersonen,  fort- 
fahrend sich  nach  den  geltenden  Rechtsbestimmungen  am 
richten,  —  in  der  Geschäftsverhandlung  wie  bisher  auf  die  ein- 
zelnen Verordnungen,  Befehle  und  andere  Rechtsbestimmungen 
sich  berufen  sollen.  Hiernach  kann  es  wenigstens  Niemandem  ver- 
borgen sein,  dasa  es  einen  provinziellen  Civilprocess,  wenn  auch 
keinen  Codex  desselben  giebt. 

Die  nächste  Frage  ist,  welche  Regeln  für  das  gerichtliche  Ver- 
fahren in  Expropriationasachen  dem  provinziellen  Civilprocess  sich 
entnehmen  lassen.  Etwa  entstehende  Differenzen  werden  in  den 
meisten  Fällen  die  zu  leistende  Entschädigung  zum  Gegenstande 
haben,  und  so  möge  uns  diese  Seite  der  Sache  zunächst  beschäftigen. 
Die  zu  entrichtende  Entschädigung  bildet  ihrem  Wesen  nach  eine 
Schuld  des  Enteigners  gegen  den  zu  Expropriirenden,  welche  Letzterer 
zur  Ausklage  zu  bringen  und  nöthigenfalls  zu  beweisen  hat.  Hier- 
nach stellt  sich  der  Kern  der  Sache  in  grösster  Einfachheit  dar. 
Das  ordentliche  processualische  Verfahren  wäre,  wie  bei  jeder  andern 
Klage  auf  Schadloshaltung,  zur  Anwendung  zu  bringen  und  durch 
dasselbe  würde  die  Sache  ohne  weitere  Schwierigkeiten  zur  End- 
Schaft  gebracht  werden  können.  Allein  es  giebt  hierbei  noch  ein 
besonderes,  durch  das  eigenartige  Wesen  der  Expropriation  bedingtes 
Moment  zu  berücksichtigen^  welches  in  den  Rahmen  des  Civilpro- 
cesses  scheinbar  nicht  hineinpasst.  Bei  dem  —  wer  wollte  es  leug^ 
nen  —  schleppenden  Gange  unseres  Gerichtsverfahrens  steht  zu 
erwarten,  dass,  sollte  die  Besitzergreifung  der  zu  enteignenden  Im- 
mobilien bis  zur  wirklich  erfolgten  Entschädigung  des  zu  Expro- 
priirenden nicht  stattfinden  dürfen,  in  streitigen  Fällen  Jahre  ver- 
gehen könnten,  ehe  die  Concessionäre  eines  mit  Expropriationsrechten 
ausgestatteten  Unternehmens  dazu  kämen,  über  das  ihnen  nöthige 
Terrain  zu  disponiren.  Nicht  in  Abrede  zu  stellen  ist,  dass,  falls 
die  Ausführung  no th wendiger  JBauten  etc.  durch  das  Expropriations- 
verfahren sollte  aufgehalten  werden  können,  hierdurch  dem  Staate, 
wie  den  Unternehmern  unabsehbare  Nachtheile  zugefügt,  die  vielge- 
staltigen und  weitverzweigten,  an  Eisenbahnuntemehmungen  z.  B», 
geknüpften  Interessen  auf's  Aeusserste  gefährdet  werden  würden. 
Der    ordentliche  Process   bietet  zwar  auch  in  dieser  Beziehung  ein 


278  Die  Expropriation  nacli  prOTinzieUem  R«cbt. 

Aaskunftemittel  dar.  Wie  bei  Arreatl^iDogeD  jeder  Art,  mögen  sie 
Personen  oder  Sachen  betreffen,  die  arretirte  Person  reep.  das  arre- 
tirte  Vermögensobject  durch  gerichtliche  Deponimng  der  Streiteumme, 
zu  deren  Sicherung  der  Arrest  decretirt  worden,  ia  jedem  Stadium 
des  Processes  liberirt  werden  kann,  so  bat  es  auch  der  Enteigner 
in  seiner  Hand,  durch  Hinterlegung  der  Entschädigungssumme  bei 
Gericht,  unverzüglich  in  den  Besitz  und  die  Disposition  des  za  ex- 
propriirenden  Gnindstttcks  zu  gelangen.  Allein  es  entsteht  dabei  die 
Frage:  welcher  Betrt^  ist  zu  deponiren?  Soll  es  der  vom  Kläger 
geforderte  sein,  so  kann  von  ihm  die  bezweckte  Beschleunigung  des 
Besitzüberganges  in  leichter  Weise  durch  Erhebung  einer  Über- 
triebenen Forderung  vereitelt  werden.  Und  soll  aus  diesem  Grunde 
ein  derartiges  Verlangen  an  den  Expropriator  als  Beklagten  nicht 
gestellt  werden  dürfen,  welcher  Betrag  ist  dann  bei  Gericht  zu  de- 
poniren?  Hier  bietet  sich  ein  ausreichendes  Hälfemittel  dar  in  dem 
unserem  provinziellen  Civilgerichts verfahren  keineswegs  fremden 
Institut  der  gerichtlichen  Taxation.  Aus  den  vielen  denkbaren  und 
zum  Theil  -auch  vorkommenden  Fällen,  wo  diese  zur  Ermittelung 
des  Werthes  von  Sachen,  über  welche  gerichtlich  zu  entscheiden 
sein  wird,  eintritt,  sei  es  erlaubt,  nur  einige  wenige,  dem  vorliegen- 
den Falle  besonders  nah  verwandte,  herauszuheben.  Aus  einem 
Nachlaes  sollen  z.  B,  gewisse  Gegenetände  Personen  zur  Disposition 
-übergeben  werden^  deren  Eigenthumsrecht  an  diesen  Gegenständen 
noch  von  einem  gerichtlichen  Erkenntniss  abhängt.  In  solchem 
Falle  ^st  das  Gericht  die  fraglichen  Sachen  durch  gerichtlich  er- 
nannte Tsxatore  abschätzen  und  verfügt  unter  Vorbehalt  der  Rück- 
forderung die  Auslieferung  der  Sachen  an  die  Interessenten  gegen 
Deponimng  des  Taxwerthes  oder  Bestellung  einer  annehmbaren,  als 
Sichemngsnfittel  dem  Depositum  gleichkommenden  Bürgschaft.  Oder 
ein  Schiff  ist  auf  Grund  gestossen,  wird  mit  fremder  Hülfe  ab-  und 
in  den  Hafen  eingebracht.  Es  wird  Bergelohn,  bestehend  in  einem 
bestimmten  Antheil  an  Schiff  und  Ladung,  beansprucht.  Die  Herren 
iung  bestreiten  den  Anspruch  und  deponiren, 
wischen  auf  da*  ganze  Streitobject  gelegten 
den  beanspruchten  Antheil  nach  Bestimmung 
tsbebörde  bis  zur  Entscheidung  der  Sache, 
rtbbestimmung  in  der  etwa%en  Assecuranz- 
in  Anhaltspunkte  dar,  so  ist  auch  hier  die 
lirte  Sachverständige  zu  bewerkstelligende 
I  geeignete  Mittel,  um  ziuu  Ziele  zn  gelangen. 


Die  Expropriation  nach  proyinziellem  Recht.  279 

Ebenso  beim  Expropriationsrerfahren.  Dem  Process  über  den  Be- 
trag der  Entschädigungssumme  kann  behufs  Uebergabe  des  zu  ent- 
eignenden Grundstücks  an  den  Expropriator  gegen  Deponirung  einer 
dem  Werthe  entsprechenden  Summe,  eine  vorläufige  Werthermittelung 
vorausgehen.  Hiernach  lässt  sich  für  das  Verfahren  in  Expropriations- 
fällen^  wo  der  Streit  nicht  die  Abtretung  selbst,  sondern  die  zu 
leistende  Entschädigung  betrifft,  ohne  Abweichung  von  den  im  pro- 
vinziellen Civilprocesse  schon  eingebürgerten  Grundsätzen  und 
Instituten,  folgende  Ordnung  aufstellen: 

I.   Vorverfahren. 

In  jedem  zur  gerichtlichen  Verhandlung  gelangenden  Expro- 
priationsfalle findet  zunächst  eine  gerichtliche  Schätzung  des  zu  ent- 
eignenden Gegenstandes  durch  vom  Gerichte  ernannte  Sachver- 
ständige, d.  h.  Taxatore,  statt.  Eine  derartige  Schätzung  wird  vom 
Gericht  auf  Antrag  sowohl  des  Enteigners  als  auch  des  zu  Expro- 
priirenäen  angeordnet,  indem  beide  Parteien  zu  der  Bitte  um  ge- 
richtliche Schätzung  berechtigt  sind.  Die  vom  Gerichte  ernannten 
Sachverständigen  können  von  den  Betheiligten  aus  denselben  Gründen 
abgelehnt  werden,  welche  in  dieser  Beziehung  für  die  Zeugen  gelten. 
Die  Sachverständigen  vollziehen  zufolge  des  vom  Gericht  erhaltenen 
Auftrags  die  Schätzung  unter  Hinzuziehung  der  Betheiligten  nach 
den  im  HI.  Theile  des  Provinzialrechts  angedeuteten  Grundsätzen 
und  berichten  über  das  Ergebniss,  unter  Angabe  der  Taxationsgründe 
in  jedem  einzelnen  Falle,  dem  Gerichte,  indem  sie  gleichzeitig  von 
diesem  Ergebniss  die  Betheiligten  in  Eenntniss  setzen.  Falls  die 
letzteren  mit  dem  Ausspruche  der  Sachverständigen  sich  zufrieden 
erklären,  so  findet  die  Entschädigung  des  zu  Expropriirenden  in 
Grundlage  dieses  Ausspruches  statt  und  der  Expropriationsfall  hat 
seine  definitive  Erledigung  gefunden.  Sobald  dagegen  beide  Be- 
theiligte oder  auch  nur  einer,  derselben  mit  dem  Resultate  der  von 
den  Sachverständigen  bewerkstelligten  Schätzung  sich  nicht  einver- 
standen erklären,  so  erfolgt  die  Feststellung  der  Entschädigungsan- 
sprüche durch  gerichtliches  Erkenntniss  in  Folge  stattgehabten  ordent- 
lichen processualischen  Verfahrens.  Dieses  hier  sogenannte  Vor- 
verfahren kann  übrigens  auch  im  Verlaufe  des  Entschädigungsprocesses 
unabhängig  vom  Gange  der  Hauptverhandlung  stattfinden.  Durch 
dasselbe  soll  eben  nur  jederzeit  die  Besitznahme  des  zu  enteig- 
nenden Grundstückes  seitens  des  Expropriirenden  ermöglicht  werden. 


280  IMe  ExpropriatioB  nach  proTÜizieUem  Recht. 

Sobald  es  etattgefundeD,  wird  ihm  diee«  Betdtznabme  auf  seinen  Azi- 
trag  durch  gerichtliche  Verfügung  sowohl  vor  Erhebung  der  Klage, 
wie  auch  in  jedem  Stadium  des  etwa  begonnenen  Processes  gestattet, 
sobald  die  volle  Entschädigung  des  zu  Exproprürenden  durch  ge- 
richtliche Deponirung  einer  Summe  aichergesteUt  ist,  welche  dem 
durch  die  Schätzung  der  Sachverständigen  ermittelten  Werthe  des 
zu  exproprürenden  ImmobiU  entspricht. 

Nun  könnte  zwar  behauptet  werden,  daes  das  ganze  eben  dar- 
gestellte Verfahren  künetlich   conatruirt  sei    und    seine   Begründung 
nii^ends  in  den  Quellen  finde.     Allein   eine   Bolche   Auffassung    ent- 
spräche   dem    wahren    Sachverhalt    nicht.     Welches  sind   denn   die 
vornehmsten   Quellen   für   den   provinziellen   Civilprocess  ?      Sind  es 
nächst  den  Land-  and  Stadtrechten  nicht  gerade  Producte  der  Autonomie 
oder  der  rechtaerzeugenden  Kraft  der  Gewohnheit?  Und  sind  diese  nicht 
bei  der  Codiflcation  der  drei  ersten  Theile  des  Provinzialrechts  ak  voll- 
gültige Rechtsquellen,  belehre   der  Quellenallegate  unter  zahlreichen 
Artikeln  des  Gesetzbuches,  anerkannt  worden?   Ein  Codex  ist  keines- 
wegs die  nothwendige  Voraussetzung  einer  festen  Rechtsordnung,  eine 
solche   ist   vielmehr    auch    ohne    zusammenfassende    codificatorische 
Arbeiten  denkbar,  und,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  vorhanden.  Beqenmer 
ist  ein  Codex  immer,   als  zerstreute  Rechtebestimmangen,  ob  besser, 
ob  namentlich   dort,    wo   er  lediglich   bestehendes   Recht   darstellen 
soll,  richtiger,   darüber  muss  die   Entscheidung   in  jedem  einzelnen 
iTnllö  0.,-aahe.n      iTnser  ProcesB   ist  nicht  nur  eine  Summe  factisch  in 
T  Rechtenurmen,  wie  sie  auf  Grund    der  Special- 
iären   gemeinen  Rechts   und   einer  ständigen   Ob- 
ckelt  haben,  er  repr&sentirt  auch  ein  festes  System 
icipiellen  Grundlagen  und  eigenartigen  Institutionen. 
Ausbildung    und    Ent Wickelung    derselben    durch 
ist    ohne    ernste  Gefahr  für   den   ganzen  Organis- 
kbar.       Das    hier    dargestellte    Vorverfahren, 
izelnen  Theile  desselben  specielle  Belege  in  den 
nicht  entdecken  lassen,  passt  vollkommen   in  das 
rocesses,  weist    nirgends   fremde  oder  auch  bloss 
;lich  die  Benutzung  bereits  vorhandener  Elemente 
eng  an  analoge  in  Uebung  befindliche  Formen,  ist 
i  Anwendung   bereits   bestehender  Principien.     Es 
n   oi^aniBCher  Bestandtheil   des  provinziellen  Ot- 
iten.   Was  sollte  uns  hinderD,  Institute,  welche  in 
eingebürgert  sind,  auf  die  beschriebene  Weise  in 


Die  Kxpro^priation  ^ach^proiriiizieUem  ReohtL  281 

Anwendung  zu  bringen?  Hat  ja  doch  in  dem  codificirteii  Tkeile  des 
Provinzialrechts  der  Grundsatz,  dass  in  Grundlage  der  beatehend^i 
Gesetze  ausführliche  Vorschriften  für  die  innere  Ordnung  des  Ge* 
Schäftsganges  in  den  Gerichtsbehörden  rom  Obergerichte  zu  erlassen 
seien,  für  Liv-  und  Estland  Anerkennung  gefunden.*)  Mag  die 
rechtsbildende  und  fügende  Kraft  in  uns  auch  nicht  mehr  so  mächtig 
sein,  wie  in  unseren  Vorfahren:  so  ganz  wird  der  alte  Geist  doch 
nicht  von  uns  gewichen  sein,  dass  wir  uns  scheuen,  die  zerstreujien 
Bauhölzer  zu  sammeln,  um  auf  dem  alten,  festen  Fundamente  den  in 
dieser  Hinsicht  nothwendigen  Anbau  auszuführen. 

n.  Das  ordentliche  processualische  Verfahren. 
Zum  definitiven  Austrage  ist  der  Streit  über  die  zu  leistende 
Entschädigung  nur  im  Wege  des  ordentlichen  Processes  zu  bringen. 
Das  Verflfthren  dabei  bewegt  sich  in  den  herkömmlichen  Formen. 
Die  Klage  wird  immer  von  dem  zu  Expropriirenden  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Beschädigter  zu  erheben  sein,  Verweigert  oder  verzögert 
er  die  Erhebung  der  Klage,  so  kann  er  von  dem  Expropriirenden 
dazu  nach  den  Regeln  des  Provocationsprocesses  gezwungen  werden. 
Im  Verlaufe  des  Processes  hat  der  Kläger  Gelegenheit  seine  Ent- 
schädigungsforderung durch  alle  gesetzlich  gestatteten  Beweismittel 
nachzuweisen,  während  dem  Gegner  der  Gegenbeweis  auf  ebenso 
geräumiger  Grundlage  offen  steht.  Welche  Fülle  von  Rechtsbehejfen, 
aus  Praxis  und  Doctrin,  die  sich  zur  Erweisung  der  Ent- 
schädigungsansprüche darbieten !  Soll  von  einer  wirklichen  Schad- 
loshaltung, einej>  „vollen  Entschädigung"  die  Rede  sein,  so  kann  in 
der  That  nur  auf  dem  Wege  einer  umfassenden  Beweisführung  dem 
Richter  das  Material  zur  Bestimmung  ihres  Betrages  geboten 
werden.  Es  ^mag  an  dieser  ^  Stelle  erwähnt  werden,  dass  das 
reichsgesetzliche  Verfahren  eine  totale  Abweichung  von  einer  der. 
Hauptgrundlagen  unseres  processualischen  Systems  involvirt,  indem 
es  der  mit  der  Bestimmung  der  Entschädigung  betrauten  Commission 
die  ganze  Instruction  des  Falles  zuweist.  Das  steht  in  diametralem 
Gegensatz  zu  der  dem  provinziellen  Civilprocess  eigenthümlichen 
Verhandlungsmaxime,  welche  die  Thätigkeit  des  Richters  auf  die 
Leitung  des  Processes  beschränkt,  die  Beschaffung  der  materiellen 
Grundlage  für  die  Entscheidung  dagegen  den  Parteien  auferlegt.  Die 
mit  der  Finalentscheidung  der  ersten  Instanz  Unzufriedenen  können 


•)  Provinziah-echt,  Theü  I,  Art.  310,  Pct  5;  Art.  458,  Pct.  17;  Art.  857,  Pct.  5  5 
Art.  1014,  Pct.  15. 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  5  u.  6.  19 


282  Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht, 

ihre  Ansprüche  im  Rechtsmittel  weiter  verfolgen,  ebenso  sind 
Beschwerden  über  Zwischenbescheide  gestattet.  Es  bietet  das  Ver- 
fahren nichts  Aussergewöhnliches  dar,  immer  aber  bleibt  die  Ent- 
scheidung in  der  Hand  der  Gerichte. 

Was  schliesslich  die  materielle  Seite  der  Sache  betrifft,  so 
ist  vor  Allem  in  Erwägung  zu  ziehen,  dass  die  Lehre  von  der  hier 
zu  bietenden  Entschädigung  keine  der  Expropriation  eigenthümliche 
ist.  Nach  dem  Provinzialrecht  steht,  wie  wir  gesehen,  fest,  dass 
volle  Entschädigung,  d.  h.  nicht  blos  der  gemeine  Sachwerth,  son- 
dern das  ganze  Interesse  prästirt  werden  muss.  Mithin  fragt  es  sich, 
woriii  das  ganze  Interesse  bestehe,  und  diese  Frage  beantwortet  sich 
nach  Civilrecht,  d.  h.  für  uns  nach  den  Bestimmungen  des  III.  Theiles 
des  Provinzialrechts.  Diese  Bestimmungen  *)  sind  ziemlich  reich- 
haltig. Sie  handeln  von  dem  Begriff  und  den  Arten  des  Schadens, 
von  der  Berechtigung  zur  Forderung  des  Schadensersatzes*  von  der 
Verpflichtung  zur  Leistung  desselben,  von  dem  Umfange  der  Ersatz- 
pflicht und  der  Schätzung  des  Schadens.  Von  den  hier  aufgestellten 
Bestimmungen  über  die  Schätzung  des  Schadens  haben  sich  auch  die 
Sachv^erständigen  sowohl  im  Vorverfahren,  wie  auch  im  ordentlichen 
processualischen  Verfahren,  wenn  ein  solches  stattfindet  und  der  Be- 
weis durch  Sachverständige  in  Anwendung  gebracht  worden,  leiten 
zu  lassen.  Da  in  diesen  Bestimmungen  allgemeine  leitende  Prin- 
cipien  ihren  Ausdruck  gefanden  haben,  so  sind  sie  den  einzelnen 
Fällen,  und  mögen  diese  noch  so  vielgestaltig  sein,  unschwer  anzu- 
passen. Jedenfalls  bieten  sie  die  sichere  Gewähr  dafür,  dass  kein 
Moment  unberücksichtigt  bleiben  wird,  welches  zui' Ermittelung  der 
den  Grundeigenthümern  gebührenden  vollen  Entschädigung  dienlich 
sein  kann  und  dass  die  Ermittelung  selbst  immer  nach  Rechtsnormen 
stattfinden  wird,  die  dem  Provinzialrecht  nicht  nur  äusserlich  ange- 
hören, sondern  mii  den  Grundlagen  und  dem  ganzen  System  des- 
selben innerlich  verwachsen  sind.  Fände  sich  aber  auch  in  unserem 
Civilrechts-Codex  in  der  That  einmal  für  eine  einzelne  Rechtsfrage 
keine  Vorschrift,  so  wäre  nach  Art.  XXI  der  Einleitung  eine  solche 
Frage  nach  denjenigen  Bestimmungen  des  Privatrephts  zu  beurtheilen, 
mit  denen  sie  durch  die  Gleichheit  des  Grundes  innerlich  verwandt 
erscheint.  Nicht  zu  vergessen  ist  dabei,  dass,  wie  überhaupt  neben 
den  einheimischen  Rechtsbüchern  und  Statuten  isowie  dem  Gewohn- 
heitsrecht das  römische  Recht  die  vornehmste  Quelle  des  provinziellen 


•)  Provinziab-echt  Theil  III.,  Axt.  3435  bis  3460. 


Die  Expropriation  nach  provinziellem  Rechte  283 

Privatrechts  bildet,  —  dasselbe  für  das  Recht  der  Forderungen,  wel- 
chem die  hier  behandelte  Materie  angehört,  fast  die  einaige  Grund- 
lage ist.  Mithin  wird  der  Richter,  dem  hier  in  der  gemeinrechtlichen, 
von  der  Wissenschaft  vorzüglich  bearbeiteten  Lehre  vom  Schadens- 
ersatz ein  überreiches  Hülfsmittel  zu  Gebote  steht,  niemals  in  Ver- 
legenheit über  das  seiner  Entscheidung  unterzulegende  Fundamei^t 
sein  können. 

Fassen  wir  den  zweiten  Fall  ins  Auge,  in  welchem  die  Hülfe 
der  Gerichte  bei  der  Expropriation  in  Anspinich  genommen  werden 
kann,  den  Fall  von  Streitigkeiten  über  die  Abtretungspflicht, 
so  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  hier  in  noch  höherem  Grade  als 
bei  der  Entschädigungsfrage  der  Schwerpunkt  in  dem  Ausspruch  der 
Sachverständigen  liegt.  Ob  ein  Grundstück  ganz  oder  theilweise  zur 
Ausführung  eines  Unternehmens  wirklich  erforderlich  ist,  wird  zu- 
meist nach  technischen  Gesichtspunkten  zu  bei;irtheilen  sein.  Dar- 
nach könnte  es,  wie  schon  oben  angedeutet  worden,  scheinei;i,  als 
ob  die  Gerichte  nicht  die  geeigneten  Instanzen  zur  Entscheidung  der 
hierüber  entstehenden  Streitigkeiten  seien.  Allein  ein  Rechtsstreit^ 
und  ein  solcher  liegt  doch  unzweifelhaft  vor,  bei  dem  es  sich  um  die 
Ab-  resp.  Zuerkennung  von  Eigenthumsrechten  handelt,  kann  der 
Cognition  der  Gerichte  füglich  nicht  entzogen  werden,  blos  weil  den 
Richtern  die  technische  Qualification  abgeht.  Sollte  diese  Annahme 
gelten,  so  wären  z.  B.  alle  Fälle,  in  denen  der  objective  Thatbe- 
stand  sich  nur  auf  Grundlage  medicinischer  Gutachten,  wie  bei 
Tödtung  durch  Gift,  constatiren  lässt,  oder  wo  die  Zurechnung  eines 
Vergehens  zweifelhaft  erscheint,  wie  bei  vorgeschütztem  Irrsinn,  den 
Gerichten  zu  entziehen  und  medicinischen  Collegien  zu  überweisen. 
In  solchen  Fällen  findet  das  Gericht  die  Stütze  für  sein  Erkenn tniss 
in  dem  Ausspruche  Sachverständiger.  Bei  Streitigkeiten  über  die 
Abtretungspflicht  in  Expropriationsfällen  tritt  nach  den  Grundsätzen 
der  unsern  Process  beherrschenden  Verhandlungsmax;ime  für  die  Be- 
theiligten noch  der  Vortheil  hinzu,  dass  es  ihnen  unbenommen  ist, 
selbst  die  Sachverständigen  zu  bezeichnen,  dass  sie  folglich  immer 
solche  Männer  zu  Experten  wählen  können,  zu  deren  Kenntnissen 
und  ilinsicht  sie  Vertrauen  haben.  Es  wird  dawider  vielleicht  der 
Einwand  erhoben  werden,  dass  die  hier  vertretene  Ansicht  durch 
die  neueren  Gesetzgebungen  und  auch  durch  die  Wissenschaft  wider- 
legt sei.  Indessen  träfe  dieser  Einwand  nicht  zu.  Er  entstammt 
einem  Gebiet,  das  noch  sehr  reich  ist  ^n  Controversen,  auf  welchem 

weder  Legislative  noch  Doctrin  bis  jetzt  zu  einer  einheitlichen  prin- 

19* 


284  Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht. 

cipiellen  Auffasönng  gelangt  sind.  Das  Eingehen  auf  derartige  Contro- 
versen  liegt  uns  ebenso  fem,  wie  überhaupt  die  Erörterung  des 
Expropriationsrechts  im  Allgemeinen.  Wo  in  diesen  Zeilen  eine 
Berührung  mit  allgemeinen  Rechtssätzen  gesucht  wurde,  geschah  es 
nur  um  dei-  Orientirung  willen.  Im  Uebrigen  ist  die  Beschränkung 
auf  das  Gebiet  dör  einheimischen  Rechtsverhältnisse  aufrecht  erhalten 
worden.  Dabei  handelt  es  sich  ledigUch  um  das  bestehende 
Recht  und  um  die  Oonse<lUenzen ,  welche  sich  aus  einer  richtigen 
Auffassung  desselben  ergeben,  um  die  vergleichende  Zusammen- 
stellung des  provinziellen  mit  dem  R^ichsrecht,  um  den  Nachweis 
der  Vorzüge  des  ersteren  vor  dem  letzteren^-^-^J^Weiteres  wurde 
nicht  bezweckt  und  möge  daher  auch  nicht  beanspru)^!'  werden. 

Das-  Verfahren  in  Streitfällen  über  die  Abtretung  bi'efe*  ^^'^"^ 
Besonderheiten  dar.     Es  wird   der  Natur  der  Sache  nach   deS  ^^' 
propriant   als  Kläger  auftreten  müssen,    der  Beweis    in    der  ISfo^ 
durch  Sachverständige  geführt  werden,  und  der  reguläre  Instan*®^' 
zug  auch  hier  in  Geltung  bleiben.     Unvermeidlich  wird  es  sein,  ^ 
Kläger  die  Besitznahme  des   streitigen  Objectes  auf  seinen  Anti*. 


4 


auch  t^or  Entscheidung  der  Sache  zu  gestatten,  weil  sonst  die  Aus 
ftihrung  eines  nothwendigen  oder  gemeinnützigen  Unternehmens  durch 
die  Willkür  Einzelner  vereitelt  werden  könnte.  Jedoch  müssten 
alsdann  vorher  nicht  nur  die  etwaigen  Entschädigungsansprüche  des 
Beklagten  für  den  Fall  seiner  Succumbenz  im  Abtretungsstreit  nach 
stattgehabtem  Vorverfahren  sichergestellt  werden,  sondern  es  wä^n 
auch  für  den  Eintritt  des  entgegengesetzten  Falles  dem  Beklagtqi 
das  Rückforderungsrecht  und  völlige  Schadloshaltung  richterlich  ^^, 
vorzubehalten. 

Das  Reichsrecht  enthält,  wie  schon  oben  bemerkt,  über  das  Ver- 
fahren in  den  Fällen,  wo  die  Abtretungspflicht  verneint  wird,  keinerlei 
Bestimmungen,  bietet  demnach,  w^nn  nicht  aus  dieser  Lücke  gefolgert 
werden  soll,  der  Expropriant  könne,  sobald  er  einen  Allerhöchsten 
Befehl  für  sich  habe,  nach  eigenem  Gutdünken  in  Beziehung  auf  das 
der  Zwangsenteignung  zu  unterwerfende  Grundeigenthum  verfahren, 
keine  Handhaben  für  die  Erledigung  derartiger  Fälle  dar. 

^  Von  ii^end  hervorragender  Bedeutung  in  der  Praxis  dürften 
übrigens  die  zuletzt  erwähnten  Fälle  kaum  werden,  da  der  Ex- 
propriant wohl  nur  höchst  selten  Grundstücke  sich  wird  aneignen 
wollen,  die  er  nicht  braucht,  und  umgekehrt  von  den  Grundbesitzern 
eine  Verweigerung  der  Abtretungspflicht  in  Fällen  wirklichen  Be- 
dürfiiisses  nicht  ^u  erwarten  ist. 


Die  Expropriation  nach  provinziellem  Recht.  286 

Der  Vollständigkeit  wegen  sei  schliesslich  noch  erwähnt,  dass 
für  den  Exproprianten  das  Eigenthum  an  dem  im  Wege  der  Ex- 
propriation ihm  zugefallenen  Immobil  erst  durch  gerichtliche  Ver- 
zeichnung desselben  auf  seinen  Namen  begründet  wird.  *)  Als 
Rechtsgrund  für  die  Erwerbung  kann  fliglich  der  Kauf  angesehen 
werden,  wobei  die  gütlich  vereinbarte  oder  richterlich  festgesetzte 
Entschädigungssumme  als  Kaufpreis  gilt,  lieber  das  Geschäft  wird 
in  jedem  Falle  ein  schriftlicher  Vertrag  abzuschliessen  sein.  *) 

Können  diese  Zeilen  etwa«  dazu  beitragen,  den  hier  und  da 
erschütterten  Glauben  an  die  Integrität  des  Proi^i^zialrechts  auf 
einem  wichtigen  Gebiete  herzustellen,  so  haben  sie  ihren  Zweck 
vollständig  erreicht.  Wir  Haben  gesehen,  dass  das  bestehende  locale 
Recht  bei  richtiger  Benutzung  nicht  nur  keine  Lücke  in  Betreff  der 
Verhandlung  und  Entscheidung  der  bei  der  Expropriation  denkbaren 
Streitfälle  darbietet,  sondern  auch  die  Rechte  der  Grundeigenthümer 
mit  vollständigeren  Gafantieen  umgiebt,  als  das  Reichsrecht,  dass  es 
vollständiger  ist  und  sicherer,  ja  erforderlichen  Falls  rascher  zum 
Ziele  führt,  als  jenes. 


T— 


•)  Provlnxialrecht  Theil  III,  Art.  809. 
••)  Art.  3026,  Punct  3  a.  a.  0.. 


S. 


Correspondenzen. 


Mitau,  im  Juni.  Ueber  die  Beschlüsse,  welche  die  zu  einer 
ausserordentlichen  brüderlichen  Conferenz  im  März  d.  J.  versammelt 
gewesene  kurländische  Ritterschaft  gefasst  hat,  sind  wir  in  der 
Lage,  nachstehende  Mittheilung  zu  machen: 

Die  kurländische  Ritterschaft  hat  sich  bei  ihren  Verhandlungen 
und  Beschlüssen  von  dem  Gedanken  leiten  lassen,  dass  sie  heute 
mehr  denn  je  zur  Arbeit  im  eigeneh  Hause,  —  und  koste  solches 
auch  manches  Opfer,  —  die  Aufforderung  und  den  Beruf  in  sich 
finden  müsse.  Dies  eigene  Haus  muss  bei  Zeiten  für  alle  Bewohner 
möglichst  wohnlich  hergerichtet  werden,  damit  es  jedem  Einzelnen 
die  Möglichkeit  gewähre,  in  Frieden  und  Eintracht  mit  seinem 
Nachbar  zu  leben.  Hat  die  kurländische  Ritterschaft  diesen  Zweck, 
den  sie  vor  Augen  gehabt,  mit  ihren  Beschlüssen  erreicht,  darf  sie 
die  Ueberzeugung  aussprechen,  dass  den  irgend  berechtigten  An- 
sprüchen innerhalb  unseres  Landes  ihrerseits  die  entsprechende  Be- 
rücksichtigung zu  Theil  geworden:  so  wird  sie  auch  der  gegrün- 
deten Erwartung  Raum  geben  können,  dass  sich  hier  kein  innerlich 
berechtigter  Widerspruch  gegen  das  von  ihr  eingehaltene  Verfahren 
zur  Geltung  zu  bringen  suchen  werde,  dass  Frieden  im  Lande 
sein  werde. 

Kaum  ein  Gebiet  unserer  socialen  Existenz  ist  unberührt 
geblieben« 

In  kirchlicher  Beziehung  ist  zunächst  für  solche  Parochien, 
in  denen  die  Seelsorge  durch  den  räumlichen  Umfang  der  Parochie 
oder  sonst  aus  localen  Gründen  nicht  in  erwünscht  wirksamer  Weise 
geübt  werden  kann,  die  Beseitigung  solcher  Uebelstände  angebahnt 
worden;  in  einem  bereits  vorliegenden  Falle  dieser  Art  (Tuckum) 
ist  seitens  der  Ritterschaft  eine  Beisteuer  zu  den  namhaften  Kosten 


Correspondenzen.  287 

der   von   den  Kirchspiels -Einsassen  beabsichtigten   Gründung   einer 
neuen  Pfarre  bewilligt  worden. 

Die  wirksamste  Förderung  des  Landvolkschul wesens  ist 
als  dringende  Pflicht  erkannt,  die  auf  die  Sicherstellung  der  materi- 
ellen Existenz  der  Volksschulen  abzielenden  Maassnahmen  sind  be- 
stimmt worden.  • 

Für  die  in  Goldingen  bereits  bestehende  mittlere  Lehranstalt,* 
welche    zum    grossen   Theil    aus    ritterschaftlichen  Mitteln    erhalten 
wird,  ist  eventuell   eine   erhebliche    Vergrösserung  der   Landessub- 
vention zugestanden  worden. 

Im  Jahre  1866  ward  bekanntlich  auf  Antrag  der  kurländischen 
Ritterschaft  von  der  St^atsregierung  ein  Gesetz  emanirt,  nach  welchem 
es  Jedermann  in  Kurland  gestattet  ist,  Grundstücke  jeglicher  Art  zu 
vollem  Eigenthum  zu  erwerben.  In  Gonsequenz  dieser  Freigabe  des 
Grundbesitzes  hat  die  kurländische  Ritterschaft  jetzt  bei  der  Staats- 
regierung darauf  angetragen,  ein  Gesetz  zu  erlassen,  nach  welchem  die 
Eigenthümer  von  Rittergütern,  ohne  Rücksicht  auf  ihre  persönlichen 
Standesverhältnisse,  berechtigt  werden  sollen,  das  ihren  Rittergütern 
inhärirende  Stimmrecht  auf  allen  Landesversammlungen  auszu- 
üben, und  sich  demgemäss  an  allen  Beschlüssen,  welche  allgemeine 
Landesinteressen,  die  Steuerverhältnisse  und  die  Landeswahlen  —  so- 
wohl zu  den  Aemtern  der  Landesvertretung,  als  denen  der  Justiz,  des 
Polizei-  und  Kirchen  wesens  —  betreiFen,  zu  betheiligen;  desgleichen 
sollen  alle  stimmberechtigten  Eigenthümer  von  Rittergütern  zu  Land- 
tagsdeputirten  wählbar  sein.  Der  Beschlussfassung  ausschliesslich 
durch  die  zur  Ritterschaft  gehörenden  Rittergutsbesitzer  vorbehalten 
sind  nur  die  speciell  die  Interessen  der  ritterschaftlichen  Corporation, 
(z.  B.  Aufnähme  in  die  Matrikel,  Ausschliessung  aus  derselben)  und 
ihren  Vermögensetat  (z.  B.  die  Ritterschaftsgüter,  die  ritterschaft- 
lichen Stiftungen)  betreffenden  Angelegenheiten. 

Ein  fernerer  wichtiger  Berathungsgegenstand  war  die  Frage  der 
Verkäuflichkeit  von  Gesinden  der  kurländischen  Fidei- 
commissgüter.  Das  kurländische  Agrargesetz  von' 1863  hatte  unter 
Anderm  auch  den  Verkauf  von  Gesinden  der  Privatgüter  ermöglicht 
und  das  dabei  zu  beobachtende  Verfahren  festgestellt.  Die  fideicom- 
missarisch  gebundenen  Güter,  —  und  diese  bilden  ungefähr  den  dritten 
Theil  des  gesammten  Privatgrundbesitzes  von  Kurland,  —  konnten  bis 
hierzu  ihrer  Gebundenheit  wegen  von  dem  Agrargesetz  von  1863,  so- 
weit es  die  Verkäuflichkeit  der  Gesinde  betrifft,  nicht  Gebrauch  machen. 
Um  den  kleinen  Grundbesitz  auf  sämmtlichen  Privatgütem  Kurlqpds 


I^  Correapondenzen. 

%ii  ermöglichen,  hat  die  kurländische  Ritterschaft  auf  der  letzten 
brüderlichen  Conferenz  beschlossen,  den  Brlass  eines  Gesetzes  zu 
beantragen,  welches  die  zu  Familienfideicommissen  gehörenden 
Gesinde  als  verkäuflich  erklärt,  und  die  für  den  Verkauf  von  Ge- 
sinden freier  Güter  bestehenden  örtlichen  Gesetze  auch  für  jene  in 
Kraft  treten  lässt.  Der  Erlös  aus^dem  Verkaufe  der  Gesinde  soll 
alsdann  entweder  zum  Ankauf  von  Landgütern,  auf  welche  die  fidei- 
commissarische  Eigenschaft  übergehen  würde,  oder  zum  Ankauf  von 
Werthpapieren  mit  Metallwährung,  oder  endlich  zur  theilweisen  oder 
ganzen  Tilgung  und  Ablösung  des  Antrittspreises  verwandt  werden; 
bei  der  ganzen  Operation  sowohl  des  Verkaufs  der  Gesinde,  als  der 
Anlage  des  Erlöses,  als  auch  endlich  bei  der  Aufbewahrung  des 
Fideicommisscapitals  soll  ferner  die  Mitwirkung  resp.  Zustimmung  des 
Ritterschaftscomitö's  —  welchem  zu  dem  Behufe  eine  ausführliche 
Instruction  ertheilt  worden  —  erforderlich  sein;  endlich  sollen  die 
Zinsen  des  Fideicommisscapitals,  wie  auch  die  Renten  des  etwaigen 
Eaufresidui  dem  jeweiligen  Fideicommissinhaber  ausgekehrt  werden. 

Sowohl  jenes,  die  Verfassungsänderung  betreffende  Project,  als 
dieser  hier  erwähnte  Antrag  hinsichtlich  der  Verkäuflichkeit  der 
Fideicommisgesinde  sind  bereits,  nach  vorausgegangener  Begutachtung 
durch  den  Ostseecomit^  Allerhöchst  bestätigt  worden  und  sollen 
durch  betreffende  Senatsukase  demnächst  zur  Publication  gelangen. 

Es  hat  die  kurländische  Ritterschaft  ferner  im  Interesse  des  sich 
nur  allmälig  entwickelnden  kleinen  Grundbesitzes  für  noth wendig 
erachtet,  ein  Gesetzesproject,  betreffend  die  ungetheilte  Vererbung 
des  Eigenthums  an  den  Bauergesinden,  zu  entwerfen.  Ueber  den 
näheren  Inhalt  dieser,  zur  Zeit  noch  nicht  abgeschlossenen  Arbeit 
wird  erst  unser  nächster  Bericht  sich  auslassen  können. 

Das  Interesse  der  gesammten  ländlichen  Bevölkerung  Kurlands 
hat  femer  eine  Berathung  und  Beschlussfassung  darüber  hervorge- 
rufen, in  welcher  Weise  das  ländliche  Sanitätswesen  zu  verbessern 
wäre.  Es  mag  zur  Erläuterung  Erwähnung  finden,  dass  die  aller- 
meii&ten  Privatgüter  Kurlands  allerdings  mit  Landärzten  versorgt 
sind;  jedoch  haben  sich  in  letzter  Zeit,  seit  Einführung  der  neuen 
Gemeindeordnug,  mehrere  Landgemeinden  von  jeglicher  Beisteuer 
zu  den  Kosten  der  ärztlichen  Verpflegung  losgesagt;  und  vollends 
auf  den  meisten  Krongütera  sind  weder  für  die  Höfe  noch  für  die 
Landgemeinden  feste  Vereinbarungen  zur  ärztlichen  Verpflegung  ge- 
troffen. Den  hieraus  nicht  allein  für  die  einzelnen  Oertlichkeiten, 
soi|dem  für  das  Allgemeine  entspringenden   Uebelständen  soll  nun 


OerrespondonBen.  980 

durch  ein  G^etaesprojeot  Abhülfe  gesdiafft  werden,  welches  die 
edlörtliche  Instaüirung  von  Landärzten  zur  Pflicht  macht  and  die 
verhältnissmässige  Betheiligung  an  den  Kosten  normirt.  Die  Ver- 
handlungen über  dieses  höheren  Orts  eingereichte  Project  sind  indess 
noch  zu  keinem  Absohluss  gelangt. 

Schon  seit  ungefähr  20  Jahren  hat  die  kurländidche  Ritterschaft 
sich  für  die  Aufhebung  eines  ihr  bisher  zustehenden  Privilegiums, 
nämlich  der  sogenannten  freien  Jagd  ausgesprochen;  die  wiederholt 
mit  der  Staatsregierung  hierüber  gepflogenen  Verhandlungen  sind 
indess  nie  tsu  eineih  Abschluss  gekommen.  Auf  der  letzten  allge- 
meinen Conferenz  hat  nun  die  kurländische  Ritterschaft,  um  ihrer- 
seits alle  Hindernisse  wegzuräumen,  sich  mit  einem,  schon  vor 
mehreren  Jahren  im  Ministerium  des  Innern  umredigirten  Jagdge- 
setz-Entwurf, welches  das  Jagdrecht  als  ein  Realrecht  jedes  Orund- 
eigenthümers  hinstellt,  —  in  üebereinstimmung  erklärt,  mit  alleiniger 
Hinzufügung  einer  dem  Interesse  der  Wildschonung,  entsprechenden 
Bestimmung  über  eine  Minimalgrenze,  von  welcher  ab  erst  ein 
Grundstück  das  Recht  zur  Ausübung  der  Jagd  gewähren  solle. 
Die  Verhandlungen  über  diesen  Gegenstand  sind  zur  Zeit  noch 
schwebend. 

Für  das  seit  mehreren  Jahren  bereits  in  Kurland  in  Kraft 
stehende  Reglement  gegen  die  Weiterverbreitung  der  Rindei^est  sind 
einige,  dem  Associationswesen  entsprechende  Ergänzungen  beantragt, 
und  sind  die  erforderlichen  Geldmittel,  um  die  für  die  Kreis- 
Associationen  gegen  die  Rinderpest  noth wendigen  Kanzelleiausgaben 
zu  bestreiten,  bewilligt  worden. 

Zur  Verstärkung  der  längst  als  ungenügend  sich  herausgestellt 
habenden  Kanzelleimittel  der  Hauptmannsgerichte  und  der  Kreisge- 
richte hat  die  allgemeine  Conferenz  10,000  Rbl.  jährlich  bewilligt. 

Die  Misstände,  welche  aus  der  solidarischen  Haft  unserer 
Landgemeinden  för  die  den  einzelnen  Gemeindegliedern  obliegende 
Zahlung  der  Kronsabgaben  entspringen,  insbesondere  bei  der  neuerdings 
Torkotomenden  Auswanderung  von  Landgemeindegliedern  nach  djm 
Innern  des  Reidüs,  —  sollen  femer  in  eindringlicher  Weise  zur 
Kenntniss  der  Staatsregierung  gebracht  werden,  und  nach  Möglichkeit 
die  Umschreibung  der  Fortgewanderten,  resp.  die  Liberirang  der  Ge- 
meinden von  der  Abgabenzahlung  für  die  Abwesenden  erwirkt  werden. 

Für  die  Verpflegung  hülfisbedürftiger  Glieder  von  Landgemeinden 
in  dem  Marien** Hospiz  des  Badeortes  Kemmern  sind  die  erforder- 
lichem jährlichen  Geldmittel  bewilligt  worden. 


290  Correspondenzen. 

Einige  fernere  Beschlüsse  der  Ritterschaft,  welche  Indigenats- 
ertheilungen  und  Ausschliessung  aus  der  Matrikel  betreffen;  des- 
gleichen andere  Beschlüsse,  welche  die  Niedersetzung  von  Com- 
missionen  zu  gewissen  Vorarbeiten  für  den  nächsten  ordinären  Land- 
tag angeordnet  haben;  ferner  einige  Richterwahlen,  die  Ton  der 
versammelten  Ritterschaft  zur  Besetzung  entstandener  Vacanzeri 
getroffen  worden  sind;  ferner  Beschlüsse,  welche  das  Rechnungs- 
wesen der  Rittei^schaffcsrentei  in  einigen  Beziehungen  zn  ändern 
bestimmen;  endlich  Beschlüsse,  welche  die  Geschäftsordnung  bei 
unseren  Landesversammlungen,  insbesondere  das  Capitel  von  der 
Vollmachtsertheilung  einigen  nothwendigen  Modificationen  unter- 
worfen —  finden  hier  nur  der  Vollständigkeit  halber  Erwähnung. 
Das  Nähere  hierüber  dürfte  dem  grösseren  Leserkreise  der  Baltischen 
Monatsschrift  gegenüber  kein  eingehendes  Interesse  beanspruchen, 
wenngleich  jede  einzelne  Vorlage,  abgesehen  von  den  oben  skizzirten 
wichtigeren  Fragen  in  erheblicher  Weise  die  Arbeitskraft  der 
Versammlung  während  ihrer  nur  15tägigen  Dauer  in  Anspruch  ge- 
nommen hat. 


Riga,  im  Mai.  Im  Laufe  eines  nicht  vollen  Jahres  hat  die 
livl.  Ritter-  und  Landschaft  zwei  Landtage  abgehalten,  von  denen 
nur  Weniges,  und  dieses  Wenige  nur  in  der  Form  von  Gerüchten 
an  die  Oeffentlichkeit  gedrungen  ist.  Die  Wichtigkeit  der  in  diesem 
kurzen  Zeiträume  gefassten  Beschlüsse  steht  in  keinem  Verhältnisse 
zu  dem  öffentlichen  Schweigen,  und  im  Stillen  bahnen  sich  Reformen 
an,  welche  jedenfalls  geeignet  sind,  das  Interesse  Ihrer  Leser  in 
Anspruch  zu  nehmen. 

Wenn  ich,  aus  zuverlässiger  Quelle  schöpfend,  Ihnen  die  Er- 
gebnisse dieser  beiden  letzten  Landtage  kurz  skizzire,  so  muss  ich 
vorausschicken,  dass  die  gefassten  Beschlüsse  bisher  noch  nicht  ihre 
definitive  Bestätigung  gefunden  haben.  Vor  Allem  muss  desjenigen 
Beschlusses  erwähnt  werden,  welcher  einen  vollständigen  Ausbau 
der  Kirchs pielsconvente  bezweckt..  Die  Kirchspiele  in  Livland 
bilden  tibgesonderte  Leistungsverbände,  welche  von  jeher  in  einer 
gewissen  autonomen  Weise  die  in  ihre  Competenz  fallenden  Ange- 
legenheiten nach  dem  Bedürftiisse  des  Kirchspieles  regelten.  Zu 
diesen  Angelegenheiten  gehören  Wegesachen,  die  Anstellung  von 
Kirchspielsärzten,  das  ganze  Kirchen-  und  Schulwesen.  Wenn  maa 
erwägt,  von  wie  grosser  Bedeutung  die  erwähnten  Gegenstände  für 


Correspondenzen.  291 

jede  communale  Entwickelang  sind^  und  dass  das  Kirchen- und  Schul- 
wesen zn  den  Grundlagen  jeder  staatlichen  Existenz  gehören,  so 
kann  man  daraus  auf  die  Wichtigkeit  der  Eirchspielsconvente 
schliessen. 

Bisher  bestanden  die  Eirchspielsconvente  aus  den  beiden 
Kirehenvorstehem,  den  Gutsbesitzern  des  Kirchspiels  oder  deren 
Stellvertretern,  femer  aus  den  Kirchspielspredigem  und  den  Kirchen- 
vormündern, jedoch  ohne  Stimmrecht,  endlich  aus  den  mit  einer  con- 
sultativen  Stimme  versehenen  Gemeindevorstehern,  wenn  über 
Bewilligungen  der  Bauergemeinde  zu  verhandeln  war.  Seit  der  Ein- 
führung der  Landgemeinde^Ordnung,  welche  die  bäuerlichen  Ge- 
meinden von  der  gutsherrlichen  Gewalt  emancipirte  und  denselben 
ein  grösseres  Maass  autonomer  Freiheit  überwies,  musste  der 
Kirchspielsconvent  in  seiner  alten  Constituirung  immer  unzu- 
reichender werden.  Es  bildete  sich  unter  diesen  Verhältnissen  still- 
schweigend die  Praxis  aus,  dass  bei  Bewilligungen  die  Gemeinde- 
Aeltesten  hinzugezogen  wurden  und  die  Oberkirchenvorsteherämter, 
die  obere  Instanz  für  Kirchspielsangelegenheiten,  empfahlen  oft  ein 
solches  Verfahren. 

Diesem  so  oflfen  daliegenden  realen  Bedürfnisse  konnte  der  livl. 
Landtag  sich  nicht  entziehen.  Bereits  ini  März  1869  hatte  man  sich 
mit  dieser  Frage  in  eingehender  Weise  beschäftigt,  war  jedoch  zu 
keinem  Abschluss  gelangt.  Der  Januar -Landtag  d.  J.  nahm  diese 
Angelegenheit  von  Neuem  auf,  und  ging  vor  Allem  von  dem  Grund- 
satze aus,  dass  die  Leistungs- Verpflichtung  die  Basis  für  eine  voll- 
berechtigte Theilnahme  der  bäuerlichen  Gemeinden*  an  den  Kirch- 
spielsconventen  abgeben  müsse.  Hiernach  musste  consequenterweise 
der  Kirchspielsconvent,  dessen  Functionen  verschiedene  Leistungs- 
Verbände  zu  Grunde  liegen,  verschieden  zusammengesetzt  werden. 
Seit  den  Conversionen  der  40er  Jahre  fällt  die  politische  Landge- 
meinde nicht  mehr  mit  der  kirchlichen  zusammen,  diese  musste  daher 
eine  besondere  Vertretung  auf  dem  Convent  erhalten,  wenn  es  sich 
um  Kirchen-  oder  Schulsachen  handelt.  Demgemäss  beschloss  der 
Landtag  den  Kirchen-  und  Schulconvent  durch  einen  bäuer- 
lichen Delegirten  beschicken  zu  lassen,  an  dessen  Wahl  sämmtliche 
für  die  lutherische  Kirche  und  Schule  zahlenden  Gesindesinhaber 
theilnähmen,  —  und  bestimmte  ferner,  dass  zu  den  Functionen  eines 
Delegirten  nur  ein  Lutheraner  wählbar  sei. 

Auf  dem  Kirchspiels  convente,  der  nunmehr  sich  mit  allen 
übrigen  Angelegenheiten,  die  nicht  die  Kirche  und  Schule  betreffen, 


befasaen  aoU,  wird  die  Landgemelad«  durch  den  Cremeindeältesten 
vertreten. 

Sowohl  dem  Vertreter  der  £i^cbea-  als  dem  der  politisch»! 
Gemeinde  ist  ein  roUes  Stimmrecht  eingeräumt  worden,  wobei  selbst- 
verstÄndlich  die  Patronatsrechte  nicht  alterirt  werdön  sollen,  w&hrend 
jedem  Gutsbeöitier  soviel  Stimmen  zustehen  sollen,  als  er  Rittergüter 
im  Eirehspiele  besitzt.  Von  den  beiden  Kirchenvorstehern  ist  der 
eine  vom  Kirchen-  resp.  Schulconvente,-  der  a;ndere  vom  Kirch- 
spielsconvente  zu  erwählen. 

Ein  öicht  weniger  wichfeiger  Beschluss  betrifft  die  Erweiterung 
der  Stimmberechtigung  der  sog.  Landsassen,  d.  h.  derjenigen 
nicht  zum  immatriculirten  Theil  gehörigen  Personen,  welche  Ritter- 
güter besitzen. 

Seit  der  Aufhebung  des  privilegirten  Rittergutsbesitzes  war  auch 
in  dieser  Beziehung  eine  Verschiebung  der  realen  und  verfassungs- 
mässigen Grundlagen  eingetreten.  Während  vor  der  Aufhebung  des 
privilegirten  Rittergutsbesitzes  Rittergüter,  sei  «s  durch  Pfand-, 
Arrende-  oder  Kaufcontracte  nur  von  Personen  adeligen  oder  bürger- 
lichen Standes  im  engeren  Sinne  erworben  werden  konnten,  war 
seit  jenem  Momente  die  freie  Concurrenz  sämmtlicher  Stände  zuge- 
lassen worden.  Die  combinirte  Qualification  des  Rittergutsbesitzes 
und  der  livl.  Adelsmatrikel  war  bisher  die  Basis  für  die  volle  politische 
Berechtigung  gewesen.  In  Anerkennung  jedoch  der  nicht  geringen 
Verpflichtungen,  welche  der  Besitz  eines  Rittergutes  mit  sich  bringt, 
besehloös  der  Landtag,  nicht  allein  das  WiUigungsrecht,  weldies  dem 
Landsassenthunf  im  engeren  Sinne  seit  jeher  zugestanden  hat,  auf 
alle  nicht  indigenen  Rittergutsbesitzer  auszudehnen,  sondern  auch 
denselben  das  Wahlrecht,  sowohl  in  activer,  als  passiver  Bedeutung, 
für  sämmtliche  Justiz-  und  Verwaltungsämter,  mit  Ausnahme  jedoch 
der  sogen.  Repräsentationsämter  zu  verleihen. 

In  kirchlicher  Beziehung  hat  bereits  der  vorigjährige  Land- 
tag sein  Gewicht  in  der  vom  hiesigen  Consistorium  angeregten  Frage 
der  Theüung  zu  grosser  Pfarren  in  die  Wagschale-  geworfen  und 
beschlossen,  durch  Localcommissionen  diese  Angelegenheit  in  ernsten 
Angriff  zu  nehmen,  und  mit  pecuniären  Unterstützungen  helfend 
einzutreten  wo  die  Mittel  des  Kirchspiels  nicht  mehr  ausreichen. 

Einer  reiflichen  und  eingehenden  Berathung  ist  femer  das 
hiesige  Schulwesen  unterzogen  worden.  Bereits  der  Landtag  vom 
Jahre  1869  hatte  den  beiden  Privatlehranstalten  zu  Birkenruh  und 
Fellin  zur  Aufbesserung  der  Lehrergehalte   jährliche   Subventionen 


Oorres|K)nden2en.  293 

zugeöichert,  Öer  diesjährige  Jantiar- Landtag  hat  die  Errichtung 
von  Seminarclassen  zur  Bildung  von  Gemeindeschnllehrem  be- 
sehlosseü,  und  zu  diesem  Zwecke  eine  jährliche  Subvention  ausgesetzt. 
Endlich  sollen  die  Kreislandschulbehörden  durch  2  bäuerliche  Bei- 
sitzer verstärkt  Vretden,  um  auf  diese  Weise  den  Bauerstand  immer 
inniger  mit  den  lateressen  der  Schule  zu  verbinden. 

Es  mag  auch  noch  des  Beschlusses  gedacht  werden,  welcher 
zu  Bildungszwecken  des  Landvolkes  ein  Capital  von  10,000  Rbl. 
ausgesetzt  hat.  Die  Verwendung  dieser  Schenkung,  welche  zum 
Gedächtniss  der  vor  60  Jahren  erfolgten  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft in  Livland  dargebracht  wurde,  ist  noch  nicht  definitiv  festge- 
setzt Worden. 

Schliesslich  darf  eine  Angelegenheit  nicht  unerwähnt  gelassen 
werden,  welche  allerdings  noch  zu  keinem  völligen  Abschluss 
gelangt  ist,  in  ihrer  Tragweite  jedoch  von  grösster  Bedeutung  sein 
dürfte.  Die  livl.  Ritterschaft  hat  die  Nothwendigkeit  der  Ver- 
tretung der  kleinen  Städte  auf  dem  Landtage  anerkannt  und 
eine  Commission  niedergesetzt,  welche  die  Modalitäten  der  Zulassung 
des  städtischen  Elementes  zu  prüfen  hat. 

Alle  diese  Beschlüsse  und  Bestrebungen  enthalten  Keime  zu 
einer  normalen  Weiterentwickelung,  und  es  kann  hier  nur  der 
Wunsch  ausgesprochen  werden,  dass  man  fortfahren  möge  an  reale 
Bedürfnisse  anzuknüpfen,  der  Entwickelung  eine  Richtung  tu  geben, 
wo  dieselbe  erforderlich  ist,  und  durch  Gesetze  zu  formuliren,  was 
im  politischen  wie  im  Rechtsbewusstsein  bereits  eine  Existenz  ge- 
wonnen hat. 


Reval,  im  Mai.  Einem  grossen  Theile  des  Leserkreises  der 
Baltischen  Monatsschrift  werden  aus  Veröffentlichungen,  welche  die 
Revaler  Zeitung  ihrer  Zeit  (vgl.  Nr,  58,  60  der  Rev.  Ztg.  d.  J.)  brachte, 
die  meisten  der  Gegenstände  bekannt  sein,  welche  den  im  März  d.  J. 
in  Reval  versammelt  gewesenen  estländischen  Landtag  beschäftigt 
haben.  Ich  beschränke  mich  in  Nachstehendem  darauf,  die  wenigen, 
aber  gewichtigen  Verhandlungen  zu  berühren,  welche  auf  den  Ausbau 
und  die  Unterstützung  der  inneren  Verhältnisse  der  Provinz  abzielten: 

Ausser  einigen  Willigungsfragen  untergeordneterer  Bedeutung 
(Unterstützung  zum  Bau  des  evangelisch-lutherischen  Hospitals  in  St. 
Petersburg  und  der  estnischen  Karlskirche  in  Reval)  beschäftigte  den 
Landtag  ein  Antrag,  welcher  die  Garantie  der  Ritter-  und  Landschaft 


?94  Correspondenzen. 

für  die  Emission  von  Obligationen  bis  zum  Betrage  von  2  Uillionen 
Rubel  beanspruchen,  um  mit  diesen  Mitteln  die  Darlehen  zd 
erhöben,  welche  von  der  estländischen  Creditcasse  auf  die  Hypothek 
von  Grundstücken  des  Banerlandes  vergeben  werden,  und  so  den  Ver- 
kauf derselben  nach  Möglichkeit  zu  fördern.  Dieser  Antrag  wurde 
einer  Commission  überwiesen,  welche  darüber  dem  ritf^rschaftUchen 
Äusschuss  behufs  weiterer  Beschlussfassung  zu  berichten  bat. 

Ein  Antrag,  welcher  den  Bauerlandgemeinden  eine  Betheiligung  an  1 
den  Predigerwahlen  einzuräumen  bezweckte,  welche  bisher,  wo  ' 
keine  ausschliesslichen  Patronatsrecbte  besteben,  von  den  eingepfarrten 
Rittergutsbesitzern  auf  den  Eirchspielsconventen  vollzogen  werden  — 
wurde  dem  Provinzialconsistorium  überwiesen  und  behielt  sich  der 
Landt^  vor,  falls  letzteres  eine  solche  Veränderung  des  bestehenden 
Wahlmodus  ftlr  zweckmässig  und  dem  kirchlichen  Bedürfniss  ent- 
sprechend erachten  sollte,  auf  den  Antrag  näher  einzugeben. 

Schliesslich  gelangte  noch  ein  Antrag  zur  Verhandlung,  welcher 
eine  Vertretung  des  Bauernstandes  und  der  Städte  auf  dem 
Landtage  bezweckte.     Wie  Sie  wissen  werden,   haben  die  nicht  zur 
Adelsmatrikel    gehörigen  Rittergutsbesitzer    und    diejenigen    unserer    | 
Städte,  welche  Rittei^üter  besitzen,  bereits  eine  Vertretung  auf  dem 
Landtage  gefunden,  —  und  immer  mehr  fasst  die  Idee  Wurzel,  auch  dem 
kleinen  Grundeigenthum  (Landstellen-  und  Bauergesindeseigenthttmem) 
eine  adäquate,  nach  der  Steuerverpflichtung  (Hakenzahl)  bemessene 
Vertretung  zu  gewähren.     Der  erwähnte  Antrag  wollte  den  Städten    ' 
als  Municipalkörpern  und  der  Bauerschaft  als  Stand  eine  Vertretung    ' 
sichern,  abgesehen   von   ihrem  Besitz   and  ihrer  Steuerverpflichtung, 
und  somit  eine  ganz   neue  Basis  für  die  Landesvertretung  schaffen. 
Dieser  schneidende  Gegensatz    zu   der  bisherigen   historischen    Ver- 
tretungsbasis ,  sowie  die  unreife  Form ,  in  weicher  er  vorgebracht 
war,  hatten  seine  Abweisung  zur  Folge. 

Die  Bestätigung  dieser  Beschlüsse  ist  noch  nicht  erfolgt. 


N  o  t  \  z  e  n. 


Die  Abschaflfung  des  privaten  Grundeigentliums,  von  Dr.  A.  Wagner,  Leipzig. 

Duncker  u.  Humblot.  1870,  48  S. 

A/as  wüste  Treiben  des  internationalen  Arbeiterbundes  auf  seinem 
vierten,  im  September  1869  zu  Basel  abgehaltenen  Congresse  h^t  der 
jedem  baltischen  Leser  von  Dorpat  her  wohlbekannten  Feder  des 
jüngst  von  Fredburg  nach  Berlin  berufenen  Professors  A.  Wagner 
ein.«  Schrift  entlockt,  welche  dazu  bestimmt  ist,  die  durch  die  Toll- 
heiten jenes  Congresses  etwa  erhitzten  Köpfe  zu  ernüchtern.  Es 
handelt  sich  um  nichts  Geringeres,  als  die  Abschaffung  des  Privat- 
eigenthums  an  Grund  und  Boden  und  die  Einführung  eines  CoUectiv- 
oder  Gesammteigenthums  an  demselben.  Das,  neben  ähnlichen  Merk^ 
Würdigkeiten,  wie  z.  B.  der  Beseitigung  des  Erbrechts,  ist  das  Ziel 
jener  social-demokratischen  Schwärmer,  ein  Ziel,  eben  so  barok  und 
ausschweifend,  wie  etwa  das  Verlangen  J.  J.  Rousseau's  es  war,  die 
Menschheit  zum  Ur-  und;  Naturzustanjde  zurückzuführen,  nur  ohne 
den  Geist  und  die  Poesie,  die  diesem  Verlangen  den  Zauber  liehen, 
Die  Schrift  wendet  sich  zunächst  gegen  den  blinden  Doctrina- 
rismus  des  Congresses ,  welcher ,  wie  früher  dem  Capital,  so  nun 
dem  privaten  Grundeigenthum  den  Krieg  erklärt,  und  bei  seinem 
Sturmlauf  gegen  die  gewordene  Ungleichheit  in  der  Vertheilung  des 
Bodens,  gegen  ^alle  Begriffe  von  Moral  und  Gerechtigkeit  des  lebenden 
Geschlechts'',  gegen  den  proudhonschen  Diebstahl  an  der  Mutter  Erde 
sich's  wenig  kümmern  lässt,  dass  er  dabei  unwandelbare  Grundregeln 
der  menschlichen  Natur  und  zwingende  Gesetze  der  Bodencultur  mit 
über  den  Haufen  zu  rennen  sich  bepiüht.  Hierzu  gehören  vor 
Allem  die  verschiedene  Tüchtigkeit  der  einzelnen  Men- 
schen und  die  mit  höherer  Bevölkerung  und  Cultur  noth wendig 
steigende  Jntensität  der  Bodenbebauung.  Auf  diesem  zwin- 
genden -Zusammenhang  zwischen  der  Steigerung  der  Bevölkerung 
i^id*J  der  intensiveren  Bodenbebauung  ruht  die  ökonomische  Ent- 
wickelung   Europa's   und  die  Ausbildung  des  Privateigenthums  am 


296  Notizen. 

Boden,  und  der  Nachweis  hiefür  ergiebt  sich  eben  so  deutlich  der 
Zeit,  als  dem  Räume  nach.  Wie  wir  Jim  Westen  durch  zeitliches 
Zurückgehen  von  dem  heutigen  intensivsten  zu  einem  äusserst  exten- 
siven Landbau,  und  damit  zugleich  von  dem  abgeschlossensten 
Privateigenthum  zur  Gemeinsamkeit .  des  Bodens  gelangen,  so  führt 
uns  eine  räumliche  Wanderung  von  Westen  nach  Osten  heute  aus 
volkreichen  Gegenden,  in  denen  kaum  mebr  die  Spuren  der  früheren 
gemeinsamen  Bodenbenutzung  zu  finden  sind,  in  die  dünnbevölkerten 
Länder  der  russischen  Dorfgemeinden.  Unseren  germanischen  Vor- 
fahren waren  die  Gemeindeeinrichtungen  wohlbekannt,  welche  der 
Dorfgemeinschaft  das  Eigenthum  an  den  Ländereien  des  Dorfes  zu- 
wiesen und  dann,  im  Laufe  der  Zeit,  allmälig  ein  Privateigenthum 
an  der  Hofstätte,  an  dem  Garten,  dann  am  Acker,  dann  an  der 
Weide  herausbildeten,  während  der  Wald  noch  heute  gross tentheils 
im  Gemeineigenthum  geblieben  ist.  Der  Flurzwang  stellte  die  gleich- 
massige  Bearbeitung  der  einzelnen  Landloose  —  in  unserer  land- 
wirthschaftlichen  Terminologie  einen  gleichmässigen  ^Turnus*  — 
h€r;  die  Landloose  wurden  in  sogenannten  Kämpen  oder  Gewannen 
jedem  Dorfgenossen  in  möglichst  gleicher  Grösse  zugetheilt,  und  in 
der  Mark  wurde  dem  Einzelnen  sein  Antheil  an  Wald  und  Weide, 
die  Were,  bestimmt. 

In  England  finden  wir  zur  Zeit  der  Angelsachsen  und  Nor- 
mannen dieselben  landwirthschaftlichen  Verhältnisse  wieder.  Die 
Gemenglage  der  von  den  Dorfgenossen  bearbeiteten  Ackerparzellen 
machten  den  Flurzwang  nöthig,  nur  Haus  und  Hof  waren  eingehegt, 
die  Weide  war  gemeinschaftlich  auch  mit  dem  Grundherrn.  Dieser 
aber  hatte  an  der  Weide  bedeutende  Vorrechte,  aus  denen  sich 
später,  besonders  durch  das  System  der  Einhegungen  und  die  Ver- 
ordnungen Heinrich's  VHL  das  Uebergewicht  des  Grossgrundbesitzes 
entwickelte.  Mit  dem  Umsichgreifen  der  Geldpacht  im  14.  Jahr- 
hundert begann  bereits  die  alte  Feldgemeinschaft  zu  verschwinden. 
Doch  giebt  es  noch  heute  in  England  Dorfschaften,  welche  die  alte 
gemeinschaftliche  Dreifelderwirthschaft  erhalten  haben.  *) 

In  Irland  war  in  ältester  Zeit  gleichfalls  der  Landbesitz  gemein-^ 
schaftlich.  Hier  vertrat  die  altirische  Sept,  welche  sämmtliche  An- 
gehörige eines  Geschlechts  umfasste,  die  germanische  Dorfgenossen- 
schaft. Ihr  gehörte  der  Boden,  and  starb  ein  Glied  der  Sept,  so 
wurde    das    Land,    welches    es  innegehabt,    nicht   blos   unter  seine 

*)  Vergl.  Erwin  Kasse:  üeber  die  mittelalterliche  Feldgefmeinsehaft  und 
die  Einheguhgen  des  sechszehnten  Jahrhunderts  in  England.    Bonn  1869. 


k 


Notizen.  297 

Bänder,  sondern  unter  alle  Septgenossen  getheilt.  Immer  neue 
Theilungen  des  alten  Septlandes  führten  allmälig  die  Sonderung  des 
privaten  Grundeigenthums  herbei.  Die  dem  Ackerbau  verderbliche 
Erbfolge  der  Sept  wurde  gesetzlich  erst  durch  Jacob  L  aufgehoben. 

Was  vor  1000  Jahren. im  Westen  bestanden  hat,  das  ist  heute 
im  Osten  Europa's  noch  möglich.  Nur  ist  die  russische  Gemeinde- 
verfassung weder  „ein  Urphänomen  des  slavischen  Volksgpistes", 
noch  ein  Phänomen  gerade  des  Volksgeistes,  sondern  eine  Schöpfung 
der  Staats gesetze  des  17,  und  18.  Jahrhunderts.  Slavophilen 
und  andere  russische  und  nichtrussische  Schwärmer  haben  lange 
dieses  Dogma  gepredigt  und  darauf  welthistorische  Missionen  ge- 
baut, ja  selbst  grosse  Staatsmänner  des  Westens,  wie  Cavour,  haben 
sich  davon  blenden  lassen.  Die  Apostel  dieses  Evangeliums,  welches 
namentlich  durch  v.  Haxthausen  in  Deutschland  Eingang  fand  und 
vertreten  ward,  entwaffnet  zu  haben  ist  vor  Allem  das  Verdienst 
des  russischen  Historikers  Tschitscherin  *).  „Keine  Spur^,  sagt 
er,  „von  dem  jetzt  allgemeinen  Gemeindebesitz  mit  den  Gemeinde- 
theilungen  findet  sich  in  der  Zeit  bis  zum  Ende  des  16.  Jahrhunderts. 
Der  Hervorgang  des  russischen  Gemeindebesitzes  aus  der  russischen 
Leibeigenschaft  und  der  Kopfsteuer  lässt  sich  historisch  nachweisen." 
Behufs  Entrichtung  der  gleichen  Leistungen  wurden  den  Bauern  ihre 
gleichen  Landantheile  gegeben.  Als  dann  die  glebae  adscriptio 
eingeführt  ward,  befestigte  sich  damit  dieses  wirthschaftliche  System 
und  bekam  seine  heutige  Gestalt  durch  die  Decretirung  des  Kopf- 
steuersystems und  der  Seelenrevisionen  Peters  des  Grossen.  Die  Ver- 
pflichtungen, die  der  Staat  dem  Bauer  auferlegte,  haben  den  Zwang  der 
Gemeinde  zur  Uebernahme  des  Gemeindelandes,  die  Solidarhaft  der- 
selben  für  Leistungen,  besonders  für  die  Kopfsteuer,  herbeigeführt. 

So  hat  sich  die  russische  Dorfgemeinde  entwickelt,  welche  aller- 
dings vieles  Gemeinsame  mit  den  a],tgermanischen  Institutionen  auf- 
weist. Wir  finden  auch  hier  zuerst  Hof  und  Garten  ausgeschieden, 
-das  Uebrige  gemeinsam ;  wir  finden  die  Landloose  mit  dem  Flur- 
zwang, die  Gewanne  (denen  bei  uns  die  sogen.  Schnurländereien, 
in  Russland  qepecaojiocHbiH  scmjih  genannt  in  landwirthschaftlicher 
Hinsicht  entsprechen),  endlich  die  gemeine  Weide.  Der  socialistische 
Charakter,  den  die  russische  Dorfgemeinde  heute  an  sich  trägt, 
macht    sie    dem    Socialdemokraten    des    Westens    werth,    und    die 


•)  Vgl.  Staatswörterbuch  von  Bluntschli  u.  Brater,  VI.,  Art.  Leibeigenschaft 
in  Russland. 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  I.  Bnd.,  Heft  5  u.  6.  20 


298  Notizen. 

Erfahrungen  des  Westens  verdammen  sie.  „In  dem  einen  entscheiden- 
den Hauptpunkte  treffen  beide  „  Landsysteme "  (die  russische  und  die 
social-demokratische  Agrarverfassung)  zusammen  und  unterscheiden 
sie  sich  gemeinsam  gleichmä^sig  von  unserem  geltenden  System  des 
privaten  Grundeigenthums:  dass  beide  das  persönliche  Privat- 
interesse, welches  in  unserem  System  den  Eigen thümer  und  Be- 
wirthsfhafter  an  seinen  Boden  fesselt,  für  entbehrlich  zum 
Zwecke  ordentlicher  Bewirthschaftung  und  für  positiv 
schädlich  in  allgemeiner  ökonomischer  und  socialer  Be- 
ziehung halten." 

Wie  das  Collectiveigenthum  des  baseler  Congresses,  so  verkennt 
die  russische  Agrarverfassung  jene  beiden  Gesetze  von  der  verschie- 
denen Tüchtigkeit  des  Menschen  und  von  der  Steigerung  der  Inten- 
sität der  Bodencultur  mit  der  Zunahme  der  Bevölkerung.  Wie  sehr 
der  bessere,  arbeitsamere  Theil  der  Landbevölkerung  in  Russland 
durch  die  wachsende  Masse  der  Faullenzer  und  Taugenichtse,  für 
die  er  verantwortlich  ist,  leidet,  wissen  wir  aus  täglich  und  tiberall 
wiederkehrenden  Klagen.  Dabei  tritt  ein  bedeutender  Unterschied 
zwischen  dem  Norden  Russlands  und  dem  Stiden  mit  seiner  Schwarz- 
erde hervor.  Denn  hier  erfordert  der  bis  jetzt  wenigstens  noch  reiche 
Boden  und  die  noch  spärliche  Bevölkerung  nicht  einen  intensiveren 
Ackerbau.  „Aber  bald  muss  der  schlechte,  immer  mehr  selbst  der 
gute  Boden  erschöpft  werden,  weil  das  Interesse  fehlt,  ihn  in  gutem 
Zustande  zu  erhalten." 

„Nur  die  extensivste  Bewirthschaftung"  —  dieser  obzwar  sonnen- 
klare Satz  kann  dennoch  nicht  genug  betont  werden  —  „duldet  die 
Gemeinschaft  des  Grundbesitzes".  Beide  Begriffe  bilden  zwei  Paral- 
lelen in  der  Geschichte.  Mag  die  Bodengemeinschaft,  von  der  wir 
sprechen,  auch  historisch  nicht  mit  dem  Nomadenthum  zusammen- 
hängen —  sie  erinnert  im  südlichen  Russland  doch  in  manchen 
Stücken  an  dasselbe.  Der  Nomade  hat  eigentlich  mit  dem  Boden 
selbst  so  wenig  zu  thun,  als  der  Jäger  mit  den  Bäumen  des  Waldes 
oder  der  Angler  mit  den  Steinen  im  Bache;  er  dient  ihm  höchstens 
als  Wegweiser  für  seine  Ziele,  die  guten  Weideplätze.  Der  Nomade 
geniesst  nur  was  ohne  sein  Zuthun,  völlig  unabhängig  von  ihm  der 
Boden  erzeugte,  ihm  ist  der  Begriff  der  Scholle  in  unserem  Sinne 
fremd,  er  findet  seine  Nahrung  heute  hier,  morgen  dort.  Im  Lande 
der  Schwarzerde  erinnert  der  Ackerbau  an  diese  Thätigkeit:  er  be- 
steht vorwiegend  im  Ernten,  ein  Bebauen  des  Bodens  im  Sinne  des 
westlichen  Europa  findet  kaum  statt.     Es  wird  anTUapital  und  Arbeit 


k. 


Notizen.  299 

nar  so  weoig  in  den  Boden  hineingethan,  als  derselbe  in  demselben 
Jahre  zurückgiebt,  und  im  nächsten  Jnhre  wandert  der  Landmann 
rnhig  weiter  ohne  von  dem  Seinen  dort  etwas  zurückzulassen. 
Die  Eogik,  die  ihn  leitet,  ist  diese:  weil  ich  nichts  von  dem  Meinen  . 
—  an  Arbeit  oder  Geld  —  in  den  Boden  hineingethan  habe,  so  habe 
ich  auch  nichts  zurückzufordern,  und  was  er  von  selbst  geben  will, 
das  nehme  heute  ich,  morgen  ein  Änderer.  Unser  Begriff  der  Scholle 
aber  ruht  auf  der  anderen  Schlnssfolgerung:  weil  ich  in  den  Boden 
'  von  dem  Meinen  etwas  hineinthue,  so  darf  ich  es  zurück- 
fordern; erst  dadurch  erhält  das  bestimmte  Stück  Erde  für  mich 
seinen  Werth,  erst  diese  Forderung,  die  ich  an  den  Boden  habe, 
bindet  mich  an  denselben.  Erst  Arbeit  und  Capital  binden  an  die 
Scholle,  bilden  den  Ackerbauer.  So  verwerflich  die  glebae  ad- 
scriptio  ist,  so  nothwend^  für  die  Gultur  ist  —  man  gestatte  den 
Ausdruck:  die  glebae  adlaboratio. 

Das  äussere  Band,  durch  welches  die  Staatsgesetze  den  Leib- 
eigenen in  Russland  an  den  Boden  fesseln,  mnss  durch  das  innere 
Band  der  Arbeit  und  des  Capitals  ersetzt  werden.  Dieses  ist  aber 
nur  möglich,  wenn  der  aus  der  Leibeigenschaft  befreite  Bauer  auch 
von  der  „Zwangegewalt  der  tiemeinschall"  befreit  wird,  wenn  der 
individuellen  Tüchtigkeit,  der  Arbeit,  dem  Capital  das  Feld  ange- 
wiesen wird  au  selbständiger  Wirksamkeit,  Pass  die  Verhältnisse 
selbst  danach  hindrängen,  lehren  uns  die  mannigfachen  Misstände, 
die  sich  im  Lauf  dieser  9  Jahre  seit  dem  Februarmanifest  in  Russ- 
land herausgestellt  haben,  und  wenn  der  Reichthum  des  Südens  die 
heutige  Agrarverfassung  noch  leidlich  zu  ertragen  vermag,  so  steht 
die  Zukunft  des  Nordens  doch  sehr  in  Frage. 

Im  März  d.  J.  brachte  der  „Golos"  die  Nachricht,  dass,  nachdem 
schon  früher  von  dem  Landamt  des  Petersburger  Gouvernements  die 
Aufhebung  des  Gemeindebesitzes  auf  dem  Wege  der  Gesetzgebung 
ai^eregt  worden  sei,  dasselbe  gegenwärtig  ein  dahin  zielendes  Pro- 
ject  der  Landschaft  vorgelegt  habe.  — 


Hjttheilangen  aua  den  nachgelasBenen  Papieren  eines  preusaischen  Diplomaten, 
heraoagegeben  von  dessen  Keffeu  L.  v.  L.,  1.  Bnd.,  Berlin  1868,   Fr.  Eort- 
kampf,  395  S. 
Dieser  erste  Band  enthält  eine  Reihe  von  Schriftstücken  aus  der 

viftihftwefftpn  Zeit  von  1773  bis  17flß.      Er  o-ehen    ihm   einip-e  Nnfih- 


300  Notizen. 

voraus,  dessen  Kachlasse  diese  Mittheilungen  entnommen  sind.  Die 
von  dem  Herrn  von  Schladen  in  höherem  Auftrage  ai^efertigtea 
historischen  Auszüge  aus  den  Berichten  der  preuseischen  Gesandt- 
schaft am  wiener  Hofe  in  den  Jahren  1779  bie  1787  filhren  uns 
in  das  rege  diplomatische  Treiben  jener  Zeit.  Die  letzten  Tage 
Maria  Theresia's,  der  despotische  Reformator  Joseph  IL  gegenüber 
der  abwehrenden  Politik  Preussens,  die  Complicationeo  des  deutschen 
FürstenbundeB,  die  orientalischen,  polnischen,  niederländischen  Ver- 
wifikelungen  werden  uns  in  kurzen  Streiflichtern  vom  diplomatiecben 
Gesichtspunkte  aus  vorgeführt.  Eine  Denkschrift  des  Ministers  Lnche- 
sini  richtet  sich  gegen  den  immer  wieder  auftauchenden  Versuch 
des  wiener  Hofes,  durch  einen  Tausch  Bayerns  gegen  die  öster- 
reichischen Niederlande  seine  Stellung  im  Reich  zu  verstärken. 
Weitere  officielle  und  private  Aufzeichnungen  lassen  uns  bald  in 
die  militSrischen  Operationen  des  französischen  Revolutionskrieges, 
bald  in  die  diplomatischen  des  baseler  Friedens  einen  Blick  werfen. 
Verschiedene  Actenstucke,  die  dritte  Theilung  Polens  betreffend,  und 
eine  zwischen  den  Gesandten  in  Wien  und  Basel,  Hardenberg  und 
Luohesini  geführte  Correspondenz  lassen  uns  auf  der  einen  Seite  den 
rasch  wachsenden  Elnfluss  des  russischen  Hofes  auf  die  europäischen 
Dinge,  auf  der  anderen  die  schwanke  Haltung  der  europäischen 
Mächte  gegenüber  dem  revolutionären  Frankreich  wahrnehmen. 

Von  besonderem  Interesse  für  unsere  Provinzen  ist  aber  die 
unter  Nummer  V,  eingereihte  Entzifferung  einer  Reihe  von  Berichten 
der  preussischen  Gesandten  in  Polen  und  Kurland  aus  dem  Jahre 
1791,  an  das  preussische  Ministerium  gerichtet. 

£s  sind  9  Berichte,  von  denen  der  letzte  am  1.  November,  die 
übrigen  sämmtUch  im  Monat  October  1791  geschrieben  sind.  Sechs 
dieser  Berichte  sind  aus  Warschau,  drei  aus  Mitau  datirt,  alle  ohne 
Unterschrift.  Es  sind  Bruchstücke  einer  umfassenderen  Correspon- 
denz, deren  weitere  Veröffentlichung  von  grossem  Interesse  wäre. 

Sie  fallen  in  die  Zeit,  da  der  grosse  Umschwung  in  der  preussi- 
schen Politik  bereits  erfolgt,  die  traditionelle  Politik  Friedrich's  H. 
aufgegeben  war.     Drei  Monate  früher  war  der  Träger  dieser  Politik, 
ir™-*„K„_~     «...    j„™   "'"isterium    entlassen    worden    und    an    seine 
[er  und  Haugwitz  getreten.     Nur  ein  Jahr 
Einfluss  in  Polen  Überwiegend.  Hertzbei^'s 
buttert,  suchte  noch  die  Eingriffe  des  durch 
pften    Rassland    abzuwehren    und   zugleich 
'olens  zu  verhindern.     Während  Graf  Goltz 


Notizen.  301 

Gesandter  in  Warschau  war,  erachtete  Prenssen  es  fät  nöthig,  einen 
eigenen  GeechäfCflführer  nach  MitaQ  an  den  Hof  Herzog  Peter's  zu 
senden.  Mit  einem  von  Hertzberg  nnd  Finkenetein  unterm  21.  Februar 
1791  ausgestellten  Beglaubigungsschreiben  versehen  war  der  Geheime 
Finanzrath  Karl  Ludwig  von  Hätte  1  in  Uitau  angelangt  und  am 
5.  März  als  preussischer  Ministerresident  von  der  Landesregierung 
empfangen  worden.  Damals  vielleicht  mag  Hertzberg  mit  dieser 
Mission  die  weitgehenden  Pläne  verbunden  haben,  von  denen  diese 
Berichte  Zeugniss  ablegen.  Die  Ideen,  die  sich  in  Hütters  Berichten 
aussprechen,  stimmen  wohl  zu  der  Politik  Hertzbei^'s,  nicht  aber  zu 
der  seiner  Nachfolger.  —  Wenige  Monate  später  musete  Finkenstein 
abtreten  und  Hertzberg  verlor  den  Rest  seines  Einflusses.  Gerade 
um  diese  Zeit  wurde. der  Systemwechsel  offen  erklärt.  Polen  wurde 
durch  Annahme  der  Verfassung  vom  3.  Mai  1791  Erbkön^eieh 
und  man  war  bemüht,  das,  Kurhaus  Sachsen  für  den  Todesfall 
Poniatowsky's  zur  Annahme  der  Krone  zu  bewegen. 

Freussens  Einfluss  in  Polen  war  dahin,  das  hertzbei^sche  System 
au%egeben.  Aber  einzelne  Ausläufer  dieses  Systems  blieben  noch 
lebendig  und  wurden,  wenn  auch  trJ^e  und  ohne  Nachdruck  ver- 
folgt. Zu  diesen  mögen  auch  die  Pläne  auf  Kurland  gehört  haben. 
Kurland  und  Pillen  standen  unter  polnischer  Lehnshoheit.  Aber  eben 
war  der  piltener  Kreis  in  der  grössten  Aufregung  wegen  der  in 
Warschau  wieder  auftauchen  den  Absicht,  ihn  dem  Königreiche  einzu- 
verleiben. König  Friedrich  Wilhelm  U.  bevollmächtigte  den  Grafen 
Goltz  in  Warschau,  die  Geschäfte  dieses  Kreises  zu  unterstützen 
und  Hess  den  piltenschen  Ständen  durch  den  beim  Herzoge  von  Kur- 
land accreditirten  Minister  seinen  Schutz  versprechen.  Auch  in  Kur- 
land war  die  Besorgnisa  vor  einer  Einverleibung  in  Polen  durch 
Pläne  wachgerufen,  die  man  in  Warschau  im  Hinblick  auf  das  Ab- 
leben des  alternden  Herzogs  Peter  schmiedete,  welcher  ein  Jahr  zuvor 
den    einzigen   Sohn  verloren  hatte.      Der   russische   Hof,  durch   die. 


303  Kotizen. 

einer  Tochter  des  Herzogs  sollte  die  pereönliclLe  Verbindung  herstellen, 
und  dieser  Plan  scheint  so  sehr  Anklang  gefunden  zu  haben,  dass 
der  Minister  bereite  Im  zweiten  Bericht  melden  kann,  wie  der  Herzog 
ihn  fortwährend  dränge,  für  die  Erfüllung  diesem  liebsten  seiner 
Wünsche  weitere  Sehritte  zu  thun.  Der  Minister  selbst,  vor  kurzem 
erst  von  diesem  Project  durch  einen  Brief  der  in  Warschau  weilenden 
Herzogin  an  ihren  Qemahl  In  Kenntniss  gesetzt,  wird  ebenfalls  von 
dem  lebhaftesten  Elifer  für  dasselbe  entzündet.  Er  unterstützt  es 
beim  Kbuige  durch  eine  Auseinandersetzung  der  politischen  Bedeu- 
tung und  Lage  Kurlands,  der  Vortheile  und  Nachtheile,  welche  sich 
an  die  eine  oder  andere  Lösung  dieser  Thronfolgefrage  knüpfen 
würden.  Mit  vieler  Wärme  kommt  er  in  jedem  Bericht  auf  diesen 
Gegenstand  zurück  und  sucht  das  Interesse  des  Königs  für  denselben  ■ 
lebhafter  anzufachen.  Er  sticht  den  Herzog  zu  überreden,  hier- 
für eine  Partei  im  Lande  sich  zu  verschaffen,  ja,  da  er  den  Herzog 
für  unfähig  hält,  seine  Rathschläge  durchzuführen,  so  will  er,  wahr- 
scheinlich des  Einverständnisses  mit  der  einilussreichen,  eben  in  War- 
schau tbätigen  Herzogin  gewiss,  ohne,  sogar  gegen  den  Herzog  eine 
Partei  für  den  Prinzen  von  Oranien  im  Lande  organislren.  Der 
ganze  Plan  scheint  indess  sehr  geheim,  mit  zaudernder  Vorsicht  durch 
Vermittelung  der  Herzogin  angeregt  worden  zu  sein,  denn  von  Hüttel 
beklagt  sich,  noch  immer  bestimmter  Befehle  des  Königs  in  dieser 
Hinsicht  zu  entbehren.  — 

Das  Verhalten  der  preusskchen  Diplomaten  in  Mitau  und  War- 
schau in  Bezug  auf  die  inneren  Verhältnisse  Kurlands  wurde  "tlurch 
jene  Fri^e  natürlich  sehr  wesentlich  bestimmt.  Der  alte  Hader 
zwischen  Herzog  und  Adel  reifte  damals  dem  endlichen  Schicksal 
ag  wurde  polnischer  von  Jahr  zu 
ch  nicht  mehr  auf  die  Politik  be- 
Ehre  ei^riff.  Auch  hiervon  finden 
ise  in  diesen  Berichten.  —  In  jenen 
;s  und  des  Adels  stellte  sich  das 
Ute  des  ersteren.  „Seitdem  ich  die 
l  kenne,"  schreibt  von  Hüttel,  „dahin 
Herzogthume  Sr.  Durchlaucht  dem 
L  verschaffen,  so  werden  diese  (d.  h. 
meinen  Augen  doppelt  wichtig,  weil 
id  unendlich  dabei  verlieren  würde, 
gegründeten  Hechte  verminderte  oder 


Notiiien.  308 

den  Widerstand  des  jetzigen  Herzogs  gegen  die  Cabalen  des  Ritter- 
standes und  gegen  die  Absichten   oder  geheimen  Pläne  der  Polen.** 

In  diesem  Sinne  wirkten  von  Hüttel  in  Mitau  und  Graf  Goltz 
in  Warschau.  Während  jener  unter  dem  kurischen  Adel  warb, 
wachte  Goltz  über  den  Verhandlungen,  welche  in  Warschau  vor  der 
fUr  die  Schlichtung  der  kurischen  Streitigkeiten  niedergesetzten  Com- 
mission  stattfanden.  „Obgleich**,  wie  Goltz  sich  ausdrückt,  „die  De- 
pntirten  des  Adels  Himmel  und  Erde,  ja  alle  Springfedem  der 
schlauesten  Intrigue  in  Bewegung  setzten**,  in  der  Commission  die 
Mehrheit  der  Stimmen  zu  erringen,  hoffte  der  Gesandte  doch,  dass 
das  zu  fällende  Urtheil  den  Reichstag  bewegen  werde,  sich  einmal 
zu  Gunsten  eines  Vergleiches  auszusprechen,  „welcher  die  Einigkeit 
zwischen  dem  Oberhaupte  und  den  vorzüglichsten  Gliedern  der 
Nation  wiederherstellen,  Kurland  von  der  Gefahr  der  gegen  dasselbe 
gefassten  Pläne  befreien  würde.**  Er  rechnet  hierbei  ebenso  sehr 
auf  den  Beistand  der  Herzogin,  als  zu  derselben  Zeit  Hüttel  ihre 
Macht  „die  Gemüther  zu  lenken,**  in  Kurland  zu  verwenden  hofft. 
Es  scheint,  dass  auch  in  dieser  Sache,  wie  in  so  vielen,  die  Her- 
zogin die  Seele  der  Action  war. 

Wie  und  wann  der  Plan,   für  welchen  Hüttel  so  warm  eintrat, 

zerstob,  ist  aus  den  vorliegenden  Berichten  nicht  zu  ersehen.     Ob 

„die  voreilige  Mittheilung**,    welche   dem  polnischen  Gesandten    zu 

Warschau,  Fürsten  Jablonowsky  gemacht  wurde,  und  welche  Hüttel 

beunruhigte,  das   Ganze    scheitern  machte,    wissen   wir   nicht.     Es 

scheint  wahrscheinlich,  dass  dieser  Plan,  unter  dem  System  Hertz- 

berg's,  vielleicht  von  ihm  selbst  ersonnen,  zugleich  mit  dem  System 

zerfloss  als  Preussen,   aus   so  vielen    durch  Friedrich  H.    und    die 

Träger  seiner  Politik  gewonnenen   Stellungen  hinausgeworfen,  dem 

unglücklichen    Kreuzzuge   der   conservativen   Interessen    gegen    das 

revolutionäre  Prankreich  entgegenschwankte.  — 

E.  B. 


Leitfaden  der  vaterländischen  Geschichte  der  Ostseeprovinzen.  Dorpat.  W.  Gläser 
1869.  208  S.,  kl.  8o.    Cart.  90  Kop. 

Unter  den  im  letzten  Jahre  zahlreich  erschienenen  literarischen 
Productionen  auf  dem  Felde  baltischer  Geschichte  ist  eine  bedacht 
gewesen,  dem  Bedürfniss  des  Schulunterrichts  Rechnung  zu  tragen. 
Denn,  wenngleich  noch  lange  nicht  an  allen,  so  doch  an  den  höheren 
und  mittleren  Schulen  ist  die  Heimatsgeschichce  unter  die  Lehr- 
gegenstände aufgenommen  worden. 


804  Notizen. 

Freilich  als  nicht  vollberechtigtes  Fach  und  in  sehr  verschiedener 
Weise:  als  Anhang  zur  Heimatskunde,  wo  diese  gepflegt  wird;  als 
Episode  des  Unterrichts  in  der  allgemeinen  Geschichte,  oder  selb- 
ständig, aber  in  knappem  Zeitmaass  ;^  hier  jährlich,  dort  in  freien 
Perioden ;  hier  in  dieser,  dort  in  jener  Classe,  und  endlich  verschieden 
je  nach  den  Kenntnissen  des  Lehrers.  Denn  die  ihm  gestellte  Auf- 
gabe ist  von  besonderer  Schwierigkeit.  Während  die  anderen  Lehr- 
fächer, durch  die  pädagogische  Erfahrung  mancher  Jahrzehnte 
schulgerecht  gemacht,  in  ein  gewisses  Schema  gezwängt  sind,  dessen 
Gerippe  allgemein  für  nothwendig  erkannt,  dessen  Belebung  dann 
der  Individualität  des  Lehrers  anheimgegeben  ist,  muss  dieser  aus 
dem.  Stoflf  der  vaterländischen  Geschichte  die  dem  jugendlichen  Ver- 
stände fassbaren  und  für  das  jugendliche  Gemüth  wirksamen  Momente 
sich  erst  selbst  hervorheben ;  er  muss  sich  klar  werden  über  die 
Tragweite  der  einzelnen  Ereignisse,  ob  sie  Motore  der  Entwickelung 
sind  oder  accidentellen  Charakter  tragen;  er  muss  zwischen  den 
vielfach  sich  entgegenstehenden  Angaben  seine  Entscheidung  treffen 
und  verschiedene  verwickelte  Verhältnisse  unter  einen  dem  Re- 
ceptionsvermögen  seiner  jungen  Zuhörer  adäquaten  Ausdruck  bringen. 
Es  gehört  dazu  keine  geringe  Vertrautheit  mit  der  zu  bewältigenden 
Materie,  zumal  die  vorhandenen  umfassenderen  Darstellungen  fast 
keine  Handhabe  für  diese  Sichtungsarbeit  gewähren  und  ausserdem 
nur  eine  derselbeu,  Richter's  bekanntes  Werk,  das  sich  nicht  gerade 
durch  scharfe  Gliederung  des  Stoffes  auszeichnet,  die  Geschichte  der 
Provinzen  bis  auf  den  Beginn  der  russischen  Herrschaft  führt.  Und 
doch  scheint  uns  die  provinzielle  Geschichte  auf  der  Schule  noth- 
.  wendig  bis  wenigstens  zu  dem  bezeichneten  Zeitpunkt  herabgeführt 
werden  zu  müssen,  wiewohl  auch  die  weitere  Verfolgung  bis  zum 
Jahre  1819,  wo  thunlich,  sehr  wünsch enswerth  wäre.  Denn  bei  den 
letzten  Jahrhunderten  erwächst  der  lernenden  Jugend  ein  neues 
Interesse  am  Unterricht  durch  die  Wahrnehmung,  dass  die  Geschicke 
der  Heimat  sich  nun  so  vielfältig  mit  denen  des  übrigen  Europa 
berühren  und  ihr  anderswo  bekannt  gewordene  Persönlichkeiten  auch 
auf  livländischem  Boden  eine  Rolle  gespielt  haben,  die  an  sich  schon 
ihre  Aufmerksamkeit  spannen  würde. 

In  den  diesem  Lehrvortrag  gewidmeten  Stunden  hat  Referent, 
welchem  gerade  bei  diesem  Fach  mit  der  Erzielung  eines  möglichst 
ungestörten  Eindrucks  auf  die  Zuhörer  am  meisten  gedient  wäre,  die 
Behinderung  eines  solchen  durch  die  so  erklärbare  Sucht  zum  Nach- 
schreiben am   schmerzlichsten   empfunden,  ohne  doch  selbst  an  die 


Ab^aui^  eii^ßs  geeigneten  LeIirlM;i4ie9  gebe^  f&u  ^(^^en,  WW^  P^ 
sicher  wäre,  es  nac^  der  YoUendung  ungeiiüg;ep4  ^^  jt)^fiudei;i.  Denn 
abgesehen  tqhi  GriLiidsa<tz,  das8  die  Vortragsweise  in  je^m  Schul- 
jahr Bach  dejQPi  DurcbschnitUstaade  der  jCla/s&e  aicji  richten  pn^^,  ^pd 
fticti^ich  jährlich  eine  andere  Geslialt  gewinnt ,  bat  I?^.  rijjcl^sicJWUph 
eineß  geßchiditMehen  Jahrbu^chß  heßondere  Princ^piep,  dere^  D^rcji- 
führbarkeit  oder  Brauchbarkeit  jiich  erst  mit  ^r  Zeit  e^prpj^ep  mus^* 
Den^  leicht  au  erbebenden  Vorschlag ,  in  jeder  S<;]i^n4e  eip  Ifjor^^es 
Dictat  ^^  geben,  stehen  ajach  triftige  Gründe  entg^^en,  »u  ^x^ix 
Anfiihrui]^  hier  nicht  der  Ort  sein  dürfte. 

Unter  solchen  Erfahrungen  und  Gesichtspunkten  ist  das  oben 
genannte  Büchlein  vom  Referenten  willkommen  geheissen,  wenn- 
gleich er  nicht  verhehlen  mag,  dass  er  mit  einigem  Vojpurtheil,  her- 
vorgerufen durch  eine  ihm  eigene  Idiosynkrasie  gegen  scfaleohtes 
Papier,  zahlreiche  Druckfehler  und  —  Anonymität,  an  die  Duroh- 
sicht  desselben  gegangen  ist.  Die  Druckfehler  sind  namenttiefa  in 
einem  Schulbuch,  auf  welches  die  Schüler  doch,  so  zu  sagen,  schwö- 
ren sollen,  nicht  wenig  zu  rügen.  Und  wie  viel  Unrecht  kann  der 
Lehrer  durch  sie  den  armen  Jungen  zufügen!  —  Der  Leitfaden  ist 
vermuthlich  für  Kreisschulen  und  mittlere  Classen  der  Gymnasien 
bestimmt  —  nach  der  Schale  der  Historie  ^des  weiteren  Vaterlandes" 
zu  schliessen,  die  vorn  und  hinten  den  Kern  dieses  Geschiohtgfeuohs 
einschliesst,  —  und  da  dürfte  jene  ihren  Zweck  erreichen;  denn  für  die 
oberen  Classen  wäre  sie  unnütz,  da  sie  ja  in  ihnen  in  genuiner 
Sprache  hinreichend  tractirt  wird. 

Sein  eigentliches  Thema  verfolgt  der  Verfasser  auf  158  Seiten 
in  im  Ganzen  zweckentsprechender  Weise.  Die  Darstellung  ist  knapp 
gehalten,  ergeht  sich  nur  bei  der  älteren  Geschiphte  bis  zur  Ver- 
einigung der  beiden  Orden,  auch  bei  Einführung  der  Reformation 
und  dem  nordischep  Kriege  in  breiterer  Erzählung  und  lö-sßt  den 
Fluss  der  Ereignisse  meist  in  genügender  Klarheit  hervortreten. 
Selten  trifft  man  auf  ein  Zuviel;  dagegen  wird  Manches  vermißst 
werden.  Anderes  ist  zwar  erwähnt,  doch  —  vielleicht  im  Streben 
nach  Kürze  —  nicht  zu  seiner  Geltung  gebracht.  Der  Ergänzung 
des  Lehrers  ist  freier  Raum  geboten:  so  ist  Estland  sehr  stief- 
mütterlich bßhandelt,  und  in  Riga  wird  der  Kalenderstreit  sieber 
nicht  befriedigen;  Karl  IX.  von  Schweden  wird  ganz  über's  Knie 
gebrochen,  w4  P^tkul  \^w^i  gfl^  dürftjg  d^-yq?!;  4ie  gao^^l^i)  Ver- 
hältnisse werden  kaum  gestreift.  Aber  nicht  nur  Stoff  ist  hinzu  zu 
thun,  er  muss  auch  \m  Vortrage  erst  i?iit  Geist  durchcjruugßn,  mit 
warmem  Herzblut  beseelt  werden  —  und  4^'  ist  der  Leitfaden  ganz 
geeignet,  den  verschiedensten  Anschauungen  und  Stimi^upgeq  gerecht 
zu  werden,  d^  er  selbst  durch  eiue  ganz  ausserordentliche  Fa^blpsig- 
keit  sich  auszeichnet  und  in  keinem  Falle  irgend  welchen  A.nsichten 
des  Lehrers  entgegen  zu  treten  vermöchte.  —  Ne|.ch  Vßrbepserung 
der  Druckfehler  würdeu  nicbt  viele  Unrichtigkeiten  und  i^chiefe 
\Vendungen    nachbleiben;    einige    (ausser  fiem  noch   ipanaer   picht 


806  Notizen. 

schwindenden  Gebrauch  des  Wortes  „Heermeister**  für  „Herrmeister" 
—  dominus  magister)  erlaubt  sich  Ref.  hervorzuheben. 

S.  20  sind  die  Kuren  zum  litauischen  Stamme  gezählt,  während 
sie  mit  den  Liven  eng  verwandt  waren.  S.  25  ist  Nowgorod's  Ein- 
wohnerzahl für  das  12.  Jahrhundert  wohl  zu  stark  mit  40,000  an- 
gegeben. Meinhard  kam  sicherer  um  oder  vor  1184  nach  Livland 
und  Bertold  starb  1198.  Der  Ausdruck  des  Chronisten  Heinrich, 
welcher  jetzt  nicht  mehr  für  einen  Letten  gehalten  wird,  Wiatschko 
von  Kokenhusen  sei  geflohen  um  nie  wieder  heimzukehren,  wirkt 
im  Leitfaden  verwirrend,  weil  er  später  doch  in  Dorpat  erscheint. 
S.  46  lässt  der  Verfasser  iäischof  Albert  den  König  Waldemar  zu 
Hülfe  bitten,  nachdem  derselbe  vom  Papst  die  EJrlaubniss,  die  den 
Heiden  abzugewinnenden  Länder  zu  behalten,  sich  ausgewirkt,  wäh- 
rend die  Zeitfolge  umgekehrt  ist.  S.  65  ist  die  Phrase:  „Es  war 
ein  bedeutungsvoller  Augenblick  in  Albert's  Leben,  als  er  über  die 
rauchenden  Trümmer  siegesfroh  in  die  Stadt  Dorpat  einzog**,  wohl 
nicht  ganz  glücklich  aus  Cröger's  Geschichte  Liv-,  Est-  und  Kur- 
land's  (S.  71)  entlehnt,  da  die  Trümmer  selbst  wohl  die  ganze 
„Stadt**  repräsentirt  haben  werden.  Für  Tarapilla  ist  Taraphita  zu 
lesen.  Warum  der  Semgallenhäuptling  Wester  S.  60  ein  „grober** 
Heide  genannt  wird,  ist  nicht  klar.  S.  72  ist  die  Bezeichnung  der 
estländischen  Vasallen  in  der  Schlacht  bei  Wesenberg  als  est- 
ländisches  Volksheer  auffallend,  und  S.  83  die  Auffassung,  Riga  sei 
durch  die  Eroberung  im  Jahre  1330  aus  einem  „mächtigen  Handels- 
staate** nur  eine  Handelsstadt  geworden,  nicht  haltbar.  Die  Sage 
vom  50jährigen  Frieden  Plettenberg's  ist  noch  nicht  völlig  ausgemerzt. 
Die  revalschen  Reformatoren  Joh.  Lange  und  Massien  werden  missver- 
ständlich „zwei  Einwohner**  genannt.  Das  dem  Ordensmeister  Fürsten- 
berg beigelegte  Epitheton  „fehdefroh**  wird  der  Verf.  schwer  recht- 
fertigen können.  Sigismund  August  hat  nicht  erst  durch  Estland's  Hinfall 
zu  Schweden  veranlasst  die  Unterwerfung  Livland's  unter  Polen  ge- 
fordert. —  Doch  genug!  Es  sind  nur  Winke  für  Diejenigen,  die  ihrer 
beim  Gebrauch  des  Büchleins  bedürftig  sein  sollten.  Denn  in  Er- 
mangelung eines  besseren  Leitfadens  ist  der  besprochene  als  mit  Erfolg 
anwendbar  zu  empfehlen  und  der  Verf.  hat  Anspruch  auf  Dank  dafür, 
dass  durch  Darreichung  des  Memorirstoffs  den  Schülern  die  Freude  am 
Hören,  dem  Lehrer  die  Lust  am  Erzählen  unverkümmert  erhalten  wird. 

Carl  Cr  öger,  Geschichte  Liv-,  Est-  und  Kurlands.   St.  Petersburg,  H.  Schmitz- 
dorff.    2  Bnde.    1867,  70. 

lieber  das  vorliegende  Buch,  das  nach  Inhalt  und  Umfang  dem 
baltischen  Leserkreis  vorgeführt  werden  muss,  ein  Urtheil  zu  fällen, 
ist  keine  leichte  Aufgabe.  Darum  mag  auch  der  erste  Band,  der 
schon  vor  längerer  Zeit  ausgegeben  wurde,  noch  keine  Besprechung 
in  der  inländischen  Presse  gefunden  haben.  Denn  es  streitet  bei 
der  Leetüre  die  getäuschte  Hoffnung,  das  ersehnte  Volksbuch  der 
Heimatsgeschichte  zu  finden,  mit  der  Wahrnehmung,  dass  dieses 
neueste  Werk    doch   immer   noch  die"  beste    der   vorhandenen  um- 


k. 


Notizen.  307 

fassenden  Darstellungen  ist,  um  den  bleibenden  Eindruck.  Es  ist 
meist  lesbar  wie  Rutenberg's  Buch;  aber  sein  Erscheinen  ist  kein 
Anachronismus,  wie  jenes;  es  ist  mit  Liebe  geschrieben  und  von 
warmer  Sympathie  mit  dem  Lande,  dessen  Geschicke  es  erzählen 
will,  getragen;  die  Betrachtung  d^r  Ereignisse  zeugt  mehrfach  von 
historischem  Sinn.  Diese  Eigenschaft  theilt  es  mit  Richter's  Ge- 
schichte der  Ostseeprovinzen,  welch  letztere  als  zwar  zweckdienliches 
Compendium,  jedoch  ungeniessbares  Lesebuch  hier  nicht  berücksichtigt 
werden  kann.  Es  sind  zu  schätzende  Momente,  die  wir  hervorgehoben, 
und  um  ihretwillen  haben  wir  das  Buch  —  cum  grano  salis  —  em- 
pfohlen und  werden  auch  ferner  darauf  hinweiseu;  aber  sie  reichen  nicht 
aus,  ihm  einen  grösseren  Werth  als  den  eines  Lückenbüssers  zu  verleihen. 

„Das  Bestreben,  die  Jugend  mit  den  Hauptmomenten  der  Ge- 
schichte des  Landes,  das  ihrer  Ahnen  Schwert  und  Blut  erwarben, 
bekannt  zu  machen  und  dadurch  in  ihr  wahre  Liebe  zur  Heimat  zu 
erwecken,  trieb  den  Verf.  zu  eingehenderer  Forschung.  Er  hat  eine 
klare  Darstellung  der  allmälig  sich  entwickelnden  Verhältnisse 
unseres  Landes  nach  den  verschiedenen  charakteristischen  Merkmalen 
der  jedesmaligen  Zeitlage  bieten  wollen.^ 

Dieses  Ziel  hat  der  Verf.  unserer  Meinung  nach  allerdings  nicht  er- 
reicht, was  er  selbst  fühlt;  aber  wenn  wir  auch  von  einer  strengen  Beur- 
theilung  absehen  und  zugeben,  dass,  so  wie  es  vorliegt,  das  Buch  immer- 
hin nicht  geringen  Nutzen  bringen  wird,  indem  es  Vielen  eine  ihnen  sonst 
nicht  zugängliche  Kenntniss  der  Heimatsgeschichte  zu  vermitteln  ver- 
mag, so  glauben  wir  doch,  dass  der  Verf.  auch  bei  dem  Mangel  historisch- 
wissenschaftlicher Vorbildung  mit  grösserem  Fleisse  mehr  hätte  leisten 
können.  Das  Buch  ist  nicht  Seite  nach  Seite,  sondern  sozusagen 
Seite  In  Seite  geschrieben.  Es  scheint,  dass  der  Verf.,  bekanntlich 
Ausländer,  nach  seinem  anfänglichen  Wissen  den  Grundriss  ent- 
worfen und  diesen  bei  ^  fortschreitendem ,  wenngleich  nicht  sehr 
systematischem  Studium  allmälig  ausgefüllt  und  ausgeweitet  habe. 
Da  dieser  Process  aber  lange  gedauert  hat,  ist  eine  bedeutende  Un- 
gleichmässigkeit  in  der  Behandlung  zu  spüren;  nicht  immer  sind  Ab- 
schnitte, die  frühzeitig  entstanden,  nach  neueren  Ergebnissen  der 
Forschung  revidirt;  andererseits  sind  solche  hineingetragen,  die  dem 
ganzen  Tenor  des  Buches  nach  nicht  in  dasselbe  passen.  Da  es 
weder  ein  Lehrbuch,  noch  eine  wissenschaftliche  Leistung  ist,  würde 
es  weder  am  Platze  sein,  den  gerügten  Missstand  zu  exemplificiren, 
noch  die  mannigfachen  einzelnen  Unrichtigkeiten  anzuführen. 

Ein  gutes  Werk  kann  —  nach  sorgfältigster  Vorbereitung  — 
nur  in  einem  Gusse  geschrieben  werden,  oder  es  muss  bei  allmäligem 
Entstehen  die  peinlichste  Aufmerksamkeit,  die  feinste  Feile  angelegt 
werden.  Diese  hat  gefehlt.  Das  Urtheil  des  Verfassers  hat  sich 
zuweilen  im  Laufe  der  Zeit  geändert,  und  es  erscheinen  Wider- 
sprüche. Oder  liegt  ein  solcher  nicht  in  den  folgenden  Sätzen? 
Bnd.  I.  S.  80  heisst  es  von  der  reichsunmittelbaren  Stellung,  in  die 
der  Orden  1228  getreten:  „dieser  letzte  Schritt  zur  Unabhängigkeit 
gab  dem  greisen  Bischof  (Albert)  die  schmerzliche  Lehre  mit  in  das 


1 


aOS  Notizen. 

Grab,  dass  er  sein  ganzes  Leben  hindurch  etwas  Unerreichbai*es  an- 
gestrebt habe."  Auf  der  folgenden  Seite  aber  steht:  „der  ruhige,  sich 
und  die  Verhältnisse  beherrschende  Geist,  der  niemals  über  die 
Schranken  des  Erfüllbaren  hinausgriff,  sondern  dem  Plane,  der  ihm 
Lebensaufgabe  geworden.  Alles  unterordnete;  alle  diese  Eigenschaften 
finden  sich  bei  Albert  eng  und  harmonisch  verbunden." 

Wir  vermissen  die  Sorgfalt  ferner  in  der  Namenschreibung; 
denn  nicht  alle  Fehler  sind  auf  Rechnung  der  höchst  nachlässig  ge- 
übten Correctur  zu  setzen,  und  diese  muss  ordentlich  gelesen  werden. 
Durchweg  findet  sich  Yxküll,  Werden  für  Uexküll,  Verden;  aber 
auch  Ltküll  erscheint;  Ulrich  Beks  für  ßehr,  Prutz  für  Purz,  Niedau 
für  Nitau,  der  Tatarenchan  Detlaw  Gerei  (!),  Müggen  für  Nüggen ; 
den  Herzog  Magnus  lässt  der  Verf.  am  16.  Sept.  1560  statt  am 
16.  April  nach  Oesel  kommen  u.  a.  m.  —  Auch  fehlt  es  nicht  an 
phrasenhaften  Sätzen,  die  theils  jedes  Inhalts  entbehren,  theils  völlig 
Falsches  ausdrücken.  Wir  haben  bereits  in  der  vorhergehenden  Re- 
cension  auf  einen  solchen  Fehler  in  diesem  Buche  hingewiesen.  Denn 
was  soll  das  heissen  im  I.  Bnd.  S.  71 :  „Es  war  ein  grosser  Moment  in 
Bischof  Albert's  Leben,  als  er  über  die  rauchenden  Trümmer  in  die  Stadt 
(Dorpat,  im  Jahre  1224)  zog."?  Wo  steht  denn  in  Heinrichs  Chronik 
nur  ein  Wort  von  der  Stadt?  Es  war  eine  Burg  da  und  die  war  zerstört. 
Da  schwebte  dem  Verf.  etwa  Tilly's  Einzug  in  Magdeburg  vor  oder 
etwas  dergleichen.  Oder  in  Bnd.  II,  S.  14  wi^d  „durch  Hedwigs  (von 
Polen)  dem  deutschen  Orden  und  Glauben  geneigte  Gesinnung  der 
Ausbruch  der  Feindseligkeiten  verzögert."  Welch  feinen  Unterschied 
macht  denn  der  Verf.  zwischen  dem  Glauben  der  Deutschen  und  Polen 
im  14.  Jahrhundert?  —  S.  97:  „Nur  das  Volk,  welches  das  Land,  die 
Domäne  des  Adels  und  der  Geistlichkeit,  im  Schweisse  des  Angesichtes 
zu  bauen  verpflichtet  war,  begrüsste  in  der  neuen  Lehre  (der  Re- 
formatoren) ein  Gut,  das  ihm  bei  den  Mühen  seines  kummervollen 
Daseins  einen  höheren,  geistigen  Trost  und  Stärkung  gewährte.'' 
Und  docji  heisst  es  einen  Absatz  zuvor,  dass  in  Riga  und  Dorpat 
die  Bürger  Träger  und  Pfleger  des  Kleinods  wurden!!. 

Die  Anordnung  und  Eintheilung  können  wir  nicht  übersichtlich 
und  klar  finden ;  für  die  Beibehaltung  der  üblichen  Perioden  spricht 
Vieles,  sie  ist  aber  fallen  gelassen.  Ohne  auf  die  einzelnen  Capitel 
einzugehen,  wollen  wir  nur  hervorheben ,  dass  die  Zeit  des  Unter- 
ganges des  livländischen  Ordensstaates  die  am  besten  behandelte  ist 
und  namentlich  der  russisch -livländische  Krieg  eine  auf  Grund  der 
von  Schirren  herausgegebenen  „Quellen''  selbständige  Bearbeitung 
erfahren  zu  haben  scheint,  der  es  im  Ganzen  gelungen  ist,  die 
wichtigen  Gesichtspunkte  zur  Beurtheilung  der  Katastrophe  zu  finden. 

Wer  mit  dem  Stande  der  baltischen  Geschichtsforschung  vertraut 
ist,  hat  keine  genügende  umfassende  Darstellung  erwarten  können; 
aber  die  angezogenen  Mängel  hätten  sich  vermindern  lassen.  Dass 
dieses  nicht  geschehen,  thut  uns  aufrichtig  leid.  Mel. 

Von  der  Censur  erlaubt.  Riga,  den  2.  Juli  1870. 

Druck  der  Livländischen  Gouvernements -Typographie. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 


Der  Uebergang  von  den  mittelalterlich-ständischen  Verfassungen  zu 
dem  modernen  Staatsrecht  ist  oft  vermittelt  worden  durch  die  absolute 
Monarchie.  So  auch  in  Schweden,  wo  Gustaf  HE.,  der  Meister  in 
der  Kunst  der  Staatsstreiche,  mit  dem  Vorsatze  den  Thron  besteigt, 
seinem  Lande  das  Loos  zu  ersparen,  welches  Polen  getroffen.  Gustafs 
auswärtige  Politik,  seine  „rettenden  Thaten"  innerhalb  Schwedens 
bezwecken  die  Emancipation  des  Eönigthums  vom  Adelsregiment, 
Schwedens  vom  Einfluss  übermächtiger  Nachbarn.  Man  muss  zu- 
geben, dass  er  dabei  systematisch  verfuhr. 

Nach  dem  Tode  Karl's  XII.  war  Schweden  eine  Adelsrepublik. 
Nicht  nur  keinen  politischen  Einfluss  hatten  die  Scheinkönige  Schwe- 
dens :  selbst  ihre  Dienerschaft  konnten  sie  ohne  Mitwirkung  des  Adels 
nicht  wechseln.  Ein  Stempel  mit  der  eingegrabenen  Unterschrift 
des  Königs  Friedrich  Adolph  gab  dem  Geheimen  Ausschuss  die  Be- 
fdgniss,  die  wichtigsten  Dinge  ohne  das  Staatsoberhaupt  in  seinem 
Namen  zu  vollziehen. 

Gleich  den  polnischen  Reichstagen  boten  die  schwedischen  Ge- 
legenheit zur  Bestechung.  -  An  der  Schwelle  des  Saales,  wo  der  Adel 
seine  Zusammenkünfte  hielt,  sind  offenkundig  Stimmen  gekauft 
und  verkauft  worden.  Regelmässig  wurden  beträchtliche  Summen 
aus  Frankreich,  aus  Russland  bezogen.  Dem  Meistbietenden  fiel  der 
entscheidende  Einfluss  zu.  Als  der  Bürgermeister  von  Siptuna,  wel- 
cher eine  Besoldung  von  300  Thalern  jährlich  hatte,  starb,  hinter- 
liess  er  ein  Vermögen  von  über  1  Million  Thalern. 

Als  Kronprinz  schon  hatte  Gustaf  Gelegenheit  diese  Misstände 
zu  beobachten.  Als  er  während  des  Krieges  in  Pommern  es  erlebte, 
dass  viele  adelige  Offiziere,  auf  ihre  Adelsrechte  pochend,  allen 
strengen  Verboten  des  Königs  zum  Trotz  nach  Schweden  reisten, 
um  dort  dem  Reichstage  beizuwohnen  und  in  Stockholm  mit  ihrem 

Ungehorsam   zu  prahlen,  wallte  er  auf.     Er  bemerkte  später,   dass 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  I.  Bnd.,  Heft  7  u.  8.  21 


310  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

er  seitdem  Diejenigen  tief  verachten  gelernt  habe,  welche  ihren 
eigenen  Interessen  die  Macht  und  die  Ehre  des, Staates  %u  opfern 
bereit  seien. 

Die  Schicksale  des  Königs  Stanislaus  Poniatowsky  schienen  ihm 
ernste  Lehren  für  Schweden  zu  enthalten.  Er  sagte  wohl,  dass 
Schweden  unfehlbar  von  demselben  Loose  betroffen  werden  würde, 
wenn  man  nicht  zeitig  vorbeuge.  Friedrich  der  Grosse  schalt  in 
Briefen  an  seinen  Neffen  den  Leichtsinn,  die  Unbeständigkeit,  die 
Käuflichkeit  der  schwedischen  Grossen.  Für  einige  tausend  Thaler, 
sagte  Friedrich's  Schwester,  Gustafs  Mutter,  seien  sie  stets  bereit 
das  Vaterland  zu  verkaufen. 

Daher  ging  die  Absicht  Gustafs  dahin,  gleich  nach  seiner  Thron- 
besteigung die  Leitung  der  auswärtigen  Politik  in  seine  Hand  zu 
bekommen.  Durch  den  Staatsstreich  von  1772  ward  er  gleichsam 
sein  eigener  Minister  des  Auswärtigen.  Die  folgenden  Jahre 
brachten  neue  Reformen,  welche  auf  eine  Steigerung  der  Königsge- 
walt abzielten.  Der  Adel  grollte  und  lauerte  auf  eine  Gelegenheit, 
die  Staatsumwälzung  von  1772  ungeschehen  zu  machen.  Auch  in 
den  anderen  Ständen  herrschte  Unzufriedenheit.  In  einzelnen  Pro- 
vinzen tauchten  separatistische  Gelüste  auf.   Vornehmlich  in  Finnland. 

Es  gab  in  Finnland  eine  russischgesinnte  Partei,  welcher  die 
schwedische  Regierung  nachspürte.  Bald  nach  dem  Friedensschlüsse 
von  Abo,^  welcher  den  Kymmenefluss  als  Grenze  zwischen  Schweden 
und  Russland  bestimmte,  sind  in  dem  schwedischen  Finnland  einige 
Personen  verhaftet  worden ;  die  Anklage  gegen  sie  lautete,  dass  sie 
den  russischen  Grossfürsten  Peter  zum  König  von  Finnland  hätten 
ausrufen  wollen.  Einer  der  Angeklagten,  Wijkman,  wurde  am 
7.  S^tember  1751  enthauptet;  seine  Frau  blieb  sechs  Monate  in 
Haft.  Noch  andere  Verhaftungen  wurden  vorgenommen;  die  Unter- 
suchungen wurden  mit  grosser  Heimlichkeit  betrieben  und  führten 
später  zu  dem  Ergebniss,  dass  der  russische  Gesandte  Simolin  seine 
Hand  im  Spiele  gehabt  habe;  die  schwedische  Regierung  bestand 
darauf,  dass  er  abreise.  Er  bekleidete  später  die  Gesandtschaftsposten 
in  Paris  und  London. 

Die  Modethorheit  der  geheimen  Gesellschaften  mit  harmlosen 
und  nicht  harmlosen  Zwecken  hatte  auch  in  Finnland  Eingang  ge- 
funden. Man  schrieb  dem  dort  verbreiteten  Freimaurerwesen  politische 
Bedeutung  zu.  Den  Mittelpuntkt  desselben  bildete  die  Loge  ^La 
constance**.  Der  Bruder  des  Königs  Gustaf,  Herzog  Karl  von 
Südermannland,  war  der  Gönner  des  Ordens.     Grössere  Bedeutung 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  311 

* 

hatte  der  Orden  „Walhalla*,  der  in  weitverzweigtem  Netze  das 
ganze  Land  bedeckte.  Die  ganze  Provinz  war  in  Ordensbezirke  mit 
besonderen  Vorstehern  getheilt.  Die  Mitglieder  waren  meist  adelige 
Militärs,  berauscht  von  der  französischen  Aufklärungsliteratur,  in  dem 
naiven  Irrthum  befangen,  als  liessen  sich  die  Ergebnisse  dieser 
modernen  Aufklärung  sehr  wohl  vereinen  mit  Adelsvorrechten  und 
anderen  mittelalterlichen  Institutionen.  Als  Stifter  des  Ordens  ist 
der  Baxon  Jöran  Magnus  Bprengtporten  genannt  worden,  welcher 
jahrelang  in  Finnland  bedeutenden  EiniluBs  übte  und  schliesslich  in 
russischen  Diensten  stehend  für  die  Annexion  Finnlands  an  Russ- 
land .thätig  war.  Andere  behaupteten,  der  Stifter  des  Ordens  sei 
der  Major  von  Jägerhorn  gewesen,  welcher  im  Jahre  1788  im  Auf- 
trage der  Conföderation  von  Anjala  nach  Petersburg  reiste,  um  dort 
persönlich  mit  der  Kaiserin  zu  verhandeln.  Sprengtporten,  meinte 
man,  sei  nicht  einmal  Mitglied,  sondern  nur  ein  geheimer  Gönner 
des  Ordens  gewesen.  Gewiss  ist,  dass  einerseits  Sprengi^orten  als 
das  Haupt  der  separatistischen  Partei  in  Finnland  bezeichnet  werden 
konnte,  dass  andererseits  viele  einflussreiche  Mitglieder  dieser  Partei 
gleichzeitig  dem  Walhalla- Orden  angehörten,  darunter  die  Offiziere 
Jägerhorn,  Klick,  Glansensljerna,  Tendefeldt,  Ramsö,  Essen,  Ladau  u.  a. 

Was  es  mit  den  Declamationen  von  Freiheit  und  allgemeiner 
Wohlfahrt  in  diesem  Orden  auf  sich  hatte,  ist  daraus  zu  ersehen, 
dasB  nur  Edelleute  darin  aufgenommen  wurden,  und  ferner  aus  der 
Verfassung,  welche  Sprengtporten  für  die  finnische  Republik  ent- 
worfen hatte.  Nur  der  Adel,  nicht  aber  die  Geistlichkeit  oder  der 
Bürgerstand,  sollte  Antheil  an  der  Regierung  haben.  Die  Bauern 
sollten  in  vollständiger  Abhängigkeit  verbleiben.  Das  Amt  eines 
Oberfeldherren  in  dem  neu  zu  gründenden  Staate  hatte  Sprengt- 
porten sich  vorbehalten  0» 

Jöran  Magnus  Sprengtporten,  der  Stiefbruder  jenes  Sprengt- 
porten, welcher  bei  dem  Staatsstreich  von  1772  zu  Gunsten  des 
Königs  eifrig  thätig  gewesen  war  und  im  Jahre  1774  seinen  Abschied 
genommen  hatte,  befand  sich  zur  Zeit  des  Staatsstreichs  in  Finnland, 
mit  militärischen,  insbesondere  topographischen  Studien  beschäftigt. 


*)  Üeber  diese  Umtriebe  und  Entwürfe  in  Finnland  s.  die  Werke  von  Rein, 
Kriget  1  Finland  Iren  1788,  1789  och  1790.  Bidrag  tili  Kämedom  of  Finlands 
Natur  och  Folk  utgifna  af  Finska  Vetenskaps-Societäten.  Tredje  heftet.  Hel- 
singfors  1860,  und  Maunu  Malmanen,  Anjalaforbundet,  bidrag  tili  des«  historia. 
Stockholm,  1^848. 

21» 


312    ,         '  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

Er  übte  Einfluss  auf  die  Besetzung  der  meisten  Stellen  in  der  Armee. 
Als  er  sich  im  Jahre  1776  in  Stockholm  befand,  hatte  er  fast  täglich 
Verkehr  mit  dem  russischen  Gesandten.  Der  König  wollte  ihn  des- 
halb entfernen  und  ertheilte  ihm  den  Auftrag,  die  französischen 
Festungen  zu  besichtigen,  um  später  bei  der  Befestigung  Finnlands 
mitwirken  zu  können.  Sprengtporten  sollte,  dem  Wunsche  des 
Königs  gemäss,  über  Russland  reisen,  um  seine  Anwesenheit  auf  dem 
in  Stockholm  versammelten  Reichstage  zu  verhindern.  Sprengtporten 
hatte  gewünscht,  aus  Finnland,  wo  er  sich  befand,  nach  Schweden  zu 
gehen  und  von  da  aus  nach  Frankreich  zu  reisen.  Der  König  hatte 
Bedenken,  dem  Einflüsse  des  ränkevollen  Edelmannes  auf  dem  Reichs- 
tage Raum  zu  geben.  So  erschien  denn  Sprengtporten  im  russischen 
Finnland,  wo  er  in  den  Städten  Frederikshamm  und  Wiborg  glän- 
zend empfangen  wurde.  Man  veranstaltete  ihm  zu  Ehren  Bälle, 
Maskeraden,  Festessen.  In  Petersburg  wurden  ihm  ebenfalls  man- 
cherlei Aufmerksamkeiten  erwiesen.  In  Paris,  wo  er  mit  Franklin 
zusammentraf,  entwarf  er  den  Plan,  an  dem  amerikanischen  Frei- 
heitskampfe Theil  zu  nehmen.  Geldverlegenheit  vereitelte  denselben. 
Mehrmals  bezahlte  der  König  Gustaf  die  Schulden  Sprenptportens. 
Als  aber  der  König  einmal  die  Zahlung  verweigerte,  trat  Sprengt- 
porten grollend  aus  dem  Staatsdienste  und  erschien  1780  in  Stockholm. 

Damals  gingen  Gerüchte  von  einer  bevorstehenden  Trennung 
Finnlands  von  Schweden.  Man  erzählte,  Gustaf  selbst  sei  geneigt, 
diese  Provinz  an  Katharina  abzutreten,  unter  der  Bedingung,  dass 
ihm  Norwegen  und  ein  Theil  des  Sundzolles  zufalle.  Einem  andern 
Gerüchte  zufolge  gedachte  die  Königinmutter  Louise  Ulrike  ihren 
Lieblingssohn,  den  Herzog  von  Ostgothland,  Friedrich  Adolf  auf  den 
Thron  eines  selbständigen  Herzogthums  Finnland  zu  erheben.  In 
den  Jahren  1783  und  1784  war  Gustaf  in  Italien  und  Frankreich. 
Am  6.  Januar  1784  war  Sprengtporten  beim  Herzog  Karl  von 
Südermannland  und  bot  ihm  die  Krone  Finnlands  an.  Seitdem  hörte 
er  nicht  auf,  für  die  Selbständigkeit  Finnland's  zu  wirken.  Stets 
war  er  von  jungen  Männern  umgeben,  die  ihm  für  die  Verwirk- 
lichung seiner  Pläne  ihren  Arm  zu  leihen  bereit  waren. 

Es  ist  auffallend,  dass  der  König  nicht  gegen  Sprengtporten 
einschritt.  Statt  ihn  verhaften  zu  lassen,  begnügte  sich  Gustaf  da-^ 
mit,  ihn  ausser  Landes  zu  schicken,  indem  er  ihm  einen  Posten  in 
holländischen  Diensten  verschaffte.  Im  Haag  soll  Sprengtporten  im 
Verkehr -^ mit  dem  dort  weilenden  russischen  Gesandten  für  die  Un- 
abhängigkeit Finnlands    gewirkt  haben.      Im    Jahre    1786    war   er 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  313 

wieder  in  Stockholm,  wo  er  auf  dem  Reichstage  eine  vorsichtige 
und  gemässigte  Haltung  beobachtete  nnd  persönlich  mit  dem  Könige 
verkehrte.  In  einer  ihm  bewilligten  Audienz  bat  er  um  Gnaden 
und  Stellen:  der  König  ermahnte  ihn,  fürderhin  von  allen  verräthe- 
rischen  Anschlägen  abzustehen.  Man  versichert,  dass  Sprengtporten, 
welcher  sah,  dass  dem  Könige  seine  Anschläge  nicht  unbekannt 
waren,  jetzt  erst  recht  entschlossen  war,  für  die  Unabhängigkeit  Finn- 
lands zu  wirken.  Aus  den  Papieren  eines  Zeitgenossen  ergiebt  sich, 
dass  Sprengtporten  wenige  Stunden  nach  der  Audienz  beim  Könige 
eine  Zusammenkunft  mit  dem  russischen  Gesandten  in  Stockholm, 
Morkow,  hatte,  wo  dann  die  Entwürfe,,  welche  bereits  im  Haag 
thätig  betrieben  worden  waren,  des  Weiteren  verabredet  worden 
sein  sollen.  Wenige  Tage'  darauf  befand  sich  Sprengtporten  in 
Finnland,  wo  er  seinen  Parteigenossen  den  Entwurf  zu  einer  Ver- 
fassung vorlegte.  Er  sicherte  seinen  Anhängern  die  Hülfe  Russ- 
lands zu,  welches  20  Schiffe,  2000  Kosaken  und  2000  Mann  Fuss- 
volk  zur  Unterstützung  der  finnischen  Patrioten  senden  werde.  0 
Hierauf  verliess  er  Finnland  und  erschien  in  St.  Petersburig,  wo  er 
alsbald  von  der  Kaiserin  mit  Gnadengeschenken  und  Ehrenstellen 
überschüttet  wurde.  Es  erregte  Aufsehen,  dass  der  Neuangekommene 
innerhalb  zweier  Wochen  den  Rang  eines  Obristen  im  russischen 
Kriegsdienst,  das  Amt  eines  Kammerherrn  erhielt,  nach  einigen 
Tagen  schon  Generalmajor  ward,  600  Bauern  und  3000  Rubel  zum 
Geschenk  bekam  und  ausser  seinem  Gehalt  noch  eine  Pension  von 
2000  Rubeln  genoss.  ^)  Es  ist  wohl  kaum  zu  bezweifeln,  dass 
Sprengtporten  nur  um  seiner  Entwürfe  in  Betreff  Finnlands  willen 
in  russische  Dienste  trat«  ^Um  so  auffallender  ist  es,  dass  König 
Gustaf  damals  ausdrücklich  diesen  Uebergang  genehmigte,  dass  der 
schwedische  Gesandte  in  St.  Petersburg  dem  Baron  Sprengtporten 
zum  Eintritt  in  russische  Dienste  Glück  wünschte.  Die  Agitationen 
wurden  doch  wohl  sehr  heimlich  betrieben. 

Der  Secretär  Sprengtportens,  Barfod,  vergleicht  ihn  mit  einem 
reissenden  Strome,  der  alles  ibm  in  den  Weg  Kommende  in  seinen 
Fluthen  begräbt,  gleichsam  wie  dazu  geschaffen.  Throne  umzustürzen, 
Staatsordnungen  zu  vernichten.  In  Rom  wäre  er,  sagt  Barfod,  ein 
zweiter  Marius  geworden ;  in  Schweden  ward  er  ein  zweiter  Patkul.  ^) 

0  8.  Rein,  a.  a.  0.,  35-48. 

^)  Herrmann,  Geschichte  des  russischen  Staats.  Ergänzungsband.  Gotha, 
1866.     S.  643. 

3)  Malmanen,  S.  38. 


314  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

Mittlerweile  war  die  separatistische  Partei  in  Finnland  nicht 
unthätig.  Man  verbreitete  im  Geiste  der  Aufklärungsliteratur  ver-^ 
fasste  Flugschriften,  in  denen  die  bekannte  Vertragstheorie  entwickelt 
wurde.  Man  hetzte  die  Finnen  gegen  den  König  und  gegen  Schweden 
überhaupt:  der  Geheime  Ausschuss  verhindere  geflissentlich  alles 
Gedeihen  Finnlands ;  der  König  habe  bei  dem  grossartigen  Bau  seines 
Schlosses  Haga  gesagt^  wenn  es  ihm  an  Menschen  zur  Arbeit  fehle, 
werde  er  Finnen  dazu  nehmen;  niemals  werde  Finnland  zur  Blüthe 
gelangen,  da  es  stets  den  Schauplatz  der  Kriege  zwischen  Schweden 
und  Russland  abgeben  müsse;  die  ungeheure  Last  der  Befestigungs- 
arbeiten, Servituten,  Frohnden  und  Steuern,  welche  Schweden  den 
Finnen  auferlege,  sei  unerträglich.  ^) 

Bei  alledem  gesteht  einer  der  Anhänger  der  Selbständigkeits- 
partei, nur  eine  Minorität  in  Finnland  sei  für  eine  Trennung  von 
Schweden  gewesen:  er  selbst  aber  rechne  es  sich  zur  Ehre  an,  zu 
dieser  Partei  gehört  zu  haben*  Er  bemerkt  dazu,  dass  der  Gedanke 
an  ein  selbständiges  Finnland  zuerst  von  Russland  aus  verbreitet 
worden  sei,  dass  die  Agitationen  sehr  im  Geheimen  betrieben  wurden. 

Der  König  suchte  denselben  auf  die  Spur  zu  kommen.  Einer 
seiner  Secretäre,  Johann  Albert  Ehrenström  erhielt  den  Auftrag, 
Sprengtporten  zu  beobachten  und  dem  Könige  Bericht  zu  erstatten, 
auch  sollte  er  die  Stimmungen  in  Russland,  namentlich  aber  des 
Adels  in  Liv-  tmd  Estland  auskundschaften.  Man  sagt.  Ehrenström 
sei  nach  Russland  gekommen,  habe  dort  das  Vertrauen  Sprengtporten's 
gewonnen,  sei  dessen  Secretär  geworden  und  habe  sich  dann  mit 
dessen  geheimen  Papieren  nach  Schweden  zurückbegeben.  Später  ward 
er  Geheimschreiber  des  Königs;  die  dem  Könige  feindliche  Adels- 
partßi  war  ihm  abgeneigt,  denn  man  schrieb  ihm  einen  Antheil  an 
dem  Entschlüsse  Gustafs  zu,  im  Jahre  1788  Russland  anzugreifen. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  die  Nachrichten  von  revolutionären 
Umtrieben  den  König  zum  Kriege  drängten.  Zu  Anfang  des  Jahres  1788 
ging  das  Gerücht,  die  Erhebung  Finnlands  werde  im  Mai  erfolgen.^) 
Mit  einem  raschen  entscheidenden  Schlage  wollte  der  König  der 
Insurrection  zuvorkommen,  der  Einmischung  Russlands  in  die  An- 
gelegenheiten Schwedens  ein  Ziel  setzen. 

In  Finnland  herrschte  übrigens  grosse  Meinungsverschiedenheit. 
Die  Agitatoren  selbst  erzählen,  dass  das  Volk,  die  Masse  durchaus 


1)  8.  das  Memoire  des  Majors  Klick  bei  Malmanen   S.  37.  wo  eine  lanee 
Reihe  von  Klagen  aufgeführt  wird. 
^  Kein  51—52.    Malmanen  53. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  315 

stumpf  und  gleichgültig  geblieben  sei,  dass  die  Eaufleute  und  Indu- 
striellen schon  um  ihrer  Geschäftsverbindungen  mit  Schweden  willen 
gegen  eine  Abtrennung  vom  Mutterlande  protestirt  hätten.  Viele  vom 
Hofe  und  der  Hofpartei  Abhängige,  Conservativgesinnte,  welche  an 
keine  Verbesserung  des  Schicksals  Finnlands  glaubten.  Furchtsame, 
welche  alle  Gefahren  einer  Umwälzung  scheuten,  die  Geistlichen, 
welche  gegen  eine  republikanische  Verfassung  stimmten ,  die  Bauern 
endlich^  welche  von  einer  Aristokratie  und  Oligarchie  in  einer  Re- 
publik noch  mehr  Unterdrückung  zu  erwarten  hatten,  als  in  einer 
Monarchie,  selb&t  die  Soldaten,  auf  welche  die  adeligen  Offiziere  im 
Sinne  ihrer  Entwürfe  zu  wirken  suchten  —  alle  diese  waren  gegen 
einen  Aufstand.  0 

Was  man  aber  auch  in  Finnland  gegen  Gustaf  UI.  im  Schilde 
führen  mochte  —  die  Einen  eine  Beschränkung  der  Königsgewalt, 
die  Anderen  eine  Lostrennung  ^on  Schweden  —  man  konnte  bei 
solchen  Unternehmungen  auf  die  Unterstützung  Russlands  rechnen. 
Es  war  das  Bündniss  zwischen  einer  Macht  ersten  Ranges  und  einer 
mächtigen  und  weitverzweigten  Insurrectionspartei,  welches  Gustaf  UI., 
indem  er  der  Kaiserin  den  Fehdehandschuh  hinwarf,  zu  zerreissen 
hoffte.  Ein  Sieg  über  Russland  war  zugleich  ein  Triumph  der  Mo- 
narchie über  den  Adel,  der  Staatseinheit  über  den  Separatismus. 

Die  ungeheure  Gefahr,  in  welche  das  Bündniss  jener  dem  Könige 
feindlichen  Elemente  Gustaf  III.  stürzte,  ist  der  Gegenstand  der 
folgenden  Darstellung. 

Dem  Staatsrecht  des  Jahres  1772  zufolge  durfte  der  König  ohne 
Genehmigung  der  Stände  keinen  Angriffskrieg  führen.  Man  weiss, 
mit  welchen  Mitteln  Gustaf  sich  den  Schein  zu  geben  strebte,  als 
führe  er  nur  einen  Vertheidigungskrieg.  ^  Die  Bemühungen  des 
Königs  waren  vergeblich.  In  Finnland  und  in  Schweden  wusste 
man  es  so  gut  wie  in  Russland  und  ganz  Europa,  dass  Gustaf  der 
angreifende  Theil  war.  Somit  war  der  Krieg  eine  Verletzung  des 
schwedischen  Staatsrechts.  Nach  den  damals  herrschenden  Begriffen 
konnten  die  Offiziere  und  Soldaten  für  ihre  Mitwirkung  an  einem 
solchen  ungesetzlichen  Kriege  verantwortliqh  gemacht  werden.  Das- 
selbe Heer,  welches  zu  dem  Staatsstreich  von  1772  seine»  Arm  geliehen 

'}  Malmanen  58. 

^)  8.  meine  Abhandlang  ,^cIiwe<l0Q  mid  RnMlfti^4. 1788"  in  der  hißtoiischen 
Zeitschrift  1869  4.  Heft. 


316  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

hatte,  konnte  jetzt  für  die  Gesetzlichkeit  gegen  den  König  in  die 
Schranken  treten.  Die  schwedischen  und  finnischen  Militärs  waren 
in  einer  seltsamen  Lage:  sie  wünschten  weder  einen  Sieg  Gustafs, 
weil  ein  solcher  die  Königsgewalt  steigerte,  den  Einfluss  des  Adels 
schwächte,  noch  wünschten»  sie  einen  Sieg  Katharina's,  weil  die 
Kaiserin  in  einem  solchen  Falle  die  Entschädigung  für  die  Kriegs- 
kosten in  Finnland  zu  suchen  hatte.     Sie  wollten  zunächst  Frieden. 

Sogleich  bei  Eröflfhung  des  Feldzuges  zeigten  die  Truppen 
Widersetzlichkeit.  Die  Garnison  der  Festung  Sweaborg  erklärte, 
sie  sei  nicht  gesonnen,  an  einem  Angriffskriege  Theil  zu  nehmen. 
Als  die  Truppen  die  Grenze  überschreiten  sollten,  baten  viele  Offiziere 
um  ihren  Abschied.  0  Anfangs  gab  es  wenig  Verkehr  zwischen  den 
schwedischen  und  finnischen  Truppen ;  in  dem  Maasse  als  sich  während 
des  Feldzuges  Gelegenheit  zu  einem  gesteigerten  Verkehr  zwischen 
den  oppositionellen  Elementen  in  diesen  beiden  Troippentheilen  bot, 
stieg  die  Unzufriedenheit^  ^)  Der  Mangel  an  militärischen  Erfolgen, 
die  schlechte  Verpflegung,  das  geringe  Feldherrn talent  des  Königs 
Hessen  eine  Verschwörung  zur  Reife  kommen,  welche  den  König 
leicht  um  Thron  und  Freiheit  hätte  bringen  können. 

Waren  die  Soldaten  beim  Beginn  loyal,  so  wankte  ihre  Treue 
immer  mehr,  je  furchtbareren  Entbehrungen' sie  ausgesetzt  waren. 
Gleich  in  der  ersten  Zeit  des  Feldzuges  fehlte  es  an  Lebensmitteln, 
das  Lazarethwesen  war  schlecht  organisirt,  die  Kranken  waren  in 
leinenen  Zelten  untergebracht.^)  Das  Schuhwerk  der  Soldaten  war 
so  mangelhaft,  dass  Viele  barfiiss  gingen.  Die  Offiziere  erhielten 
ihre  Besoldung  nicht,  die  Soldaten  fütterte  jnan  mit  verfaulten  Fischen. 
Unsere  Soldaten,  wenn  sie  hungrig  sind,  schrieb  Stedingk  an  den 
König,  sind  mehr  Landstreicher  als  Soldaten,  mehr  Russen  als 
Schweden.*)  Es  ist  unerhört,  schrieb  der  Generallieutenant  Piper 
an  den  Grafen  Armfeldt,  ein  grosses  Heer  zusammenzubringen  ohne 
für  die  Verpflegung  desselben  gesorgt  zu  haben.  Ein  Artillerieoffizier 
schrieb  nach  Stockholm,  es  fehle  an  Brod,  die  Uniformen  der  Sol- 
daten seien  zerlumpt,  viele  Soldaten  hätten  gar  keine  Kopfbekleidung, 


0  Bei  dem  Abmarsch  einer  Trupp enabtheilung  zur  Grenze  sagte  die  Frau 
des  Hauptverschwörers  Hästesko  zu  einem  Offizier,  dass  die  Truppen  die  Grenze 
nie  überschreiten  würden. 

^)  s.  Klick*8  Memoire  bei  Malmanen  73  und  die  Memoires  d'un  ofßcier  su^dofS) 
Handschiift  in  der  Kais.  Bibl.  zu  St.  Petersburg. 

3)  8.  Herrmann  in  Raumer's  Taschenbuch  1857  S.  454. 

«)  Ebend.  422.    Stedingk,  Memoires  I.  108. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  317 

ein  völliger  Geldmangel  herrsche  bei  Soldaten  und  Offizieren.  Wenn 
nicht  bald  geholfen  werde,  schrieb  Graf  Meyerfeldt,  einer  der  Befehls- 
haber, an  den  König,  sei  auf  keine  Mannszucht  zu  rechnen.  0 

Ein  solcher  Zustand  lieferte  günstigen  Boden  für  eine  revolutionäre 
Propaganda.  Die  Offiziere,  welche  die  Opposition  vertraten,  hörten 
nicht  auf,  die  Soldaten  zu  hetzen.  Von  Hästesko  erzählte  man,  dass 
er  Gelder,  die  für  die  Soldaten  bestimmt  waren,  zurückbehielt,  um 
die  Erbitterung  gegen  den  König  zu  steigern.^)  Ist  ein  solches 
Gerücht  auch  nicht  gut  verbürgt,  so  besteht  doch  kein  Zweifel,  dass 
er  besonders  eifrig  die  revolutionäre  Propaganda  betrieb.  Es  gingen 
Schriften  von  Hand  zu  Hand,  in.  welchen  die  Soldaten  vor  einer 
Theilnahme  am  Kriege  gewarnt  wurden.  Zwei  Fähnriche  wurden 
später  zum  Tode  verurtheilt,  weil  sie  die  Soldaten  zum  Rückzuge 
verleitet  hatten.^) 

Das  wichtigste  Ziel  der  militärischen  Operationen  der  Schweden 
beim  Einfall  in  das  russische  Finnland  war  die  Einnahme  der 
Festung  Frederikshamm.  Im  Juni  erfolgte  die  Besetzung  mehrerer 
Dörfer  in  der  Umgegend  dieses  Ortes,  aber  erst  Ende  Juli  war  man 
endlich  so  weit,  zu  dem  eigentlichen  Angriff  auf  die  Festung  über- 
gehen zu  können.  Die  Langsamkeit  dieser  Operationen  gab  den 
Gegnern  des  Königs  Zeit  und  Gelegenheit,  für  ihre  Zwecke  zu  arbeiten. 
Geflissentlich  wurden  u.  A.  falsche  Gerüchte  von  dem  Herannahen 
beträchtlicher  russischer  Truppenabtheilungen  ausgesprengt.  Bald 
sollten  20,000,  bald  30,000  Russen  zur  Verstärkung  der  in  der  Nähe 
von  Frederikshamm  unter  dem  Oberbefehl  des  Grafen  Mussin-Puschkin 
aufgestellten  russischen  Truppen  unterwegs  sein.  Die  moralische 
Haltung  der  Schweden  sollte  mit  welchen  Mitteln  immer  erschüttert 
werden. 

Die  bei  dem  Dorfe  Husula  postirten  schwedischen  Regimenter 
waren  dem  Könige  am  gefährlichsten.  Hier  gab  es  viele  Anhänger 
Sprengtportens,  hier  befehligte  der-  alte  Graf  Karl  Gustaf  Armfeldt, 
der  in  ganz  Finnland  viel  Achtung  und  Einfluss  besass  und  der  be- 
sonders eifrig  gegen  den  Krieg  wirkte. 

Als  der  König  in  Husula  eintraf,  stellten  die  Offiziere  ihm  vor, 
dass  bei  dem  Mangel  an  Kriegsvorräthen  keinerlei  Erfolg  zu  hoffen 
sei;  sie  riethen  dem  Könige,  sich  persönlich  von  der  dem  Kriege 
abgeneigten    Stimmung   der   Soldaten   zu   überzeugen.     Gleichzeitig 


0  Malmanen  81—87.    Rein  61—73. 
3)  Malmanen  99.    Rein  76. 


318  Der  Anjalaband  in  Finnland,  1788. 

gingen  die  Offiziere  unter  den  Soldaten  umher,  traten  in  deren  Zelte 
und  suchten  sie  zu  überreden,  jede  weitere  Theilnahme  an  dem  Kriege 
zu  verweigern  und  sofortige  Rückkehr  in  das  schwedische  Finnland 
zu  verlangen.  Es  wurden  Drohungen  gegen  den  König  laut.  Man 
hörte  wohl  die  Äeusserung:  ein  König,  der  seine  Unterthanen  einem 
gewissen  Tode  entgegenführe,  wie  Ochsen  zur  Schlachtbank,  sei  nicht 
werth  zu  herrschen.  ■  Wiederum  ward  das  Mährchen  aufgetischt,  das« 
der  russische  Oeneral  Michelson  mit  einem  Heere  im  Anzüge  sei. ') 

Der  König  entschloss  sich  in  der  That,  zu  den  Soldaten  zu  reden. 
Am  1.  August  (21,  Juli)  erschien  er  mitten  unter  ihnen  und  fragte 
sie,  ob  sie  ihm  weiter  zu  folgen  bereit  seien.  Sie  erklärten,  dass 
sie  ihr  Leben  fdr  ihn  zn  opfern  bereit  seien  und  schwuren  ihn  nicht 
vefrathen  zu  wollen  •)  Hierauf  beschloss  der  König,  zu  dem  Angriff 
auf  die  Festung  überzugeben  und  befahl  dem  Obersten  Häetesko,  die 
nöthigen  Maassregeln  zu  treffen.  Dieser  stellte  dem  Könige  die 
Schwierigkeit  des  Unternehmens  vor,  welches  nur  unnütze  Opfer 
fordern  werde.  Auch  andere  Offiziere  erklärten  nicht  fechten  zu 
wollen.  Hästesko  bemerkte,  der  Augenblick  sei  entscheidend,  ein 
solcher  Schritt  könne  dem  Könige  die  Krone  rauben.  Noch  einmal 
beriefen  sich  die  OfBziere  auf  die  Bestimmung,  dass  Angriffskriege 
ohne  Einwilligung  der  Stände  ungesetzlich  seien. ') 

Spätere  Schriftsteller  behaupten,  die  Festung  sei  in  der  That  bei 
der  Unzulänglichkeit  der  Mittel  Gustafs  uneinnehmbar  gewesen. 
Andere  veraichem,  dass  dieselbe,  wenn  nur  im  schwedischen  Lager 
Einigkeit  geherrscht  hätte,  dem  ersten  enei^schen  Angriff  würde 
haben  weichen  müssen.  Noch  andere  tadeln  den  König,  dass  der- 
selbe sich  bei  so  unbedeutenden  Festungen  wie  Nyflott  und  Frederiks- 
hamm  aufgehalten  habe:  er  hätte  sie  umgehen  und  gerade  auf  St. 
Petersburg  losgehen  sollen. 

Am  anderen  Tage,  den  22.  JuU  (2.  August)  und  vornehmlich 
am  23.  JuU  (3.  August)  erfolgte  dann  der  Angriff.  Oustaf  wollte 
die  Festung  gleichzeitig  von  allen  Seiten  überfallen.  Von  der  See- 
seite kam  die  Galeerenflotte  mit  6000  Mann  Landungstruppen.     Sie 

■)  Rein  77  und  78.  Em  Veteran,  der  im  preaMischen  Heere  gedient  h*tte, 
wunderte  eich,  dass  man  die  Soldaten  nach  ihrer  Meinung  fragte,  in  Prenesen 
hätten  die  Soldaten  nur  zn  gehorchen,  nicht  Uire  Heinusg  zu  sagen. 

')  Die  Angabe  Pa^aalfB,  das«  ein  Regiment  die  WafFen  hingelegt  and  zu 
kämpfen  sich  geweigert  liabe,  welche  auch  in  anderen  Büchern,  z.  B.  bei  ScUoseer 
wiederholt  wird,  liftlt  Rein  für  unbegründet. 

1)  S.  Rain,  Herrmann  a.  A. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  319 

hatte  mit  einem  Sturm  zu  kämpfen,  die  Truppen  wurden  bei  der 
Landung  von  den  Russen  empfingen.  Der  Mangel  an  Geschützen 
grösseren  Kalibers  machte  sich  bei  der  Beschiessung  der  Stadt  fühl- 
bar: Die  Opposition  des  adeligen  Ofßziercorps  that  das  Uebrige  und 
der  Angriff  musste  aufgegeben  werden.  Der  König  befahl  dem  Be- 
fehlshaber der  Landungstruppen,  General  Siegroth,  sich  schleunigst 
wieder  einzuschiffen,  so  dass  am  Abend  des  24.  Juli  (4.  August)  die 
Truppen  schon  wieder  an  Bord  gingen  und  absegelten. 

In  der  Nacht  wurde  Kriegsrath  gehalten.  Einige  Anhänger  des 
Königs  wollten  darauf  bestehen,  dass  die  Belagerung  fortgesetzt 
werde,  indem  sie  behaupteten,  dass  die  Stadt  sich  schon  nach 
wenigen  Stunden  ergeben  müsse.  Der  dem  König  befreundete  jüngere 
Armfeldt  versicherte,  er  wisse  durch  Kundschafter,  dass  es  in  der 
Stadt  an  Munition  fehle,  dass  der  Commandant  der  Festung  zu  deren 
Uebergabe  ermächtigt  sei,  falls  ihm  freier  Abzug  nach  Wiborg 
zugestanden  werde,  dass  das  Gerücht  von  einer  Annäherung  Michel- 
son's  alles  Grundes  entbehre.  Der  Kriegsrath,  welcher  bereits  für 
den  Rückzug  entschieden  hatte,  schwankte.  Man  beschloss,  noch  ein- 
mal vorzugehen  und  Armfeldt  eilte  schon  die  nöthigen  Dispositionen 
zu  treffen,  als  er  einen  Zettel  vom  Könige  mit  dem  Befehl  zum 
Rückzuge  an  die  Grenze  erhielt.  Ohne  den  Befehl  zum  Rückzuge  ab- 
zuwarten war  der  ältere  Armfeldt  mit  seinen  Truppen  bereits  west- 
wärts gegangen. 

Noch  am  25.  Juli  (5.  Aug.)  wollte  Gustaf  mit  den  Resten  des 
Heeres,  die  ihm  zur  Verfügung  blieben,  0  eine  Anstrengung  machen, 
gegen  Milmenstrand  vorrücken,  den  General  Michelson  angreifen. 
Er  gab  es  auf  und  zog  selbst  zur  Grenze.  Der  Feldzug  war  beendet. 
„Das  Glück  der  Kaiserin  macht  alle  meine  Bemühungen  zu  nichte*, 
schrieb  er  an  Stedingk. 

Die  Vorgänge  bei  der  Festung  Nyflott,  deren  Belagerung  dem 
Brigadier  Hastfehr  übertragen  war,  stehen  im  engsten  Zusammen- 
hange mit  diesen  Ereignissen  bei  Frederikshamm;  sie  zeugen  von 
grosser  Planmässigkeit  in  der  Militärrevolte.  Auch  hier  ward  das 
Gerücht  von  der  Annäherung  russischer  Truppen  verbreitet;  eine 
gedrückte  Stimmung  herrschte  im  Lager.  Graf  ökedingk,  der  Freund 
des  Königs,  schrieb  diesem  am  24.  Juli  (4.  Aug.),  die  Truppen  Hielten 
sich  für  geopfert,  trete  der  Feind  entschiedener  auf,  so  sei  zu  erwarten, 
dass  die  Soldaten  auseinanderliefen.^) 


0  S6gVLr  HL  155,  387,  388.    Rein  72. 
*)  Stedingk  I.  111—113. 


320  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

Bald  darnach  trafen  in  dem  schwedischen  Lager  bei  Ny flott 
Emissäre  aus  dem  Centrum  der  Agitation  ein  und  veranlassten  den 
Rückzug  der  Truppen. 

Mittlerweile  hatten,  sogleich  nachdem  die  Belagerung  von 
Frederikshamm  aufgegeben  worden  war,  gegen  100  Offiziere  ihren 
Abschied  gefordert.  Unter  ihnen  war  auch  der  ältere  Graf  Armfeldt, 
der  nur  so  lange  im  Amte  bleiben  sollte,  als  bis  er  durch  einen 
anderen  ersetzt  wäre.  Alle  diese  Offiziere  schickten  sich  an,  in  ihre 
Heimat  abzureisen. 

Der  König  war  in  einer  verzweifelten  Lage.  Er  bemerkte  gegen 
seine  Umgebung,  er  habe  schon  lange  von  einer  gegen  ihn  gerichteten 
Verschwörung  gewusst,  aber  seinen  Freunden  nichts  mitgetheilt,  um 
ihnen  die  Hoffnung  auf  einen  glücklichen  Ausgang  des  Krieges  nicht 
zu  rauben.  0  Die  Aufforderung,  rasch  Frieden  zu  schliessen  wies 
der  König  als  einen  „Selbstmord^  zurück.^)  Vielmehr  beschäftigte 
er  sich  mit  Entwürfen  zur  Fortsetzung  des  Feldzuges.  0 

Der  Graf  K.  G.  Armfeldt  war  mit  seinen  Truppen  nach  dem 
D<  rfe  Likaln  und  von  da  nach  Anjala  gezogen..  In  diesen  beiden 
Dörfern  wurde  die  Opposition  gegen  den  König  organisirt.  Hier 
entstand  die  Conföderation  von  Anjala,  die  sich  durch  nichts  von 
jenen  Conföderationen  in  Polen  unterscheidet,  die  zu  den  Theilungen 
führten.  Hier  ward  zuerst  der  Gedanke  ausgesprochen,  man  müsse 
sich  an  die  Kaiserin  Katharina  wenden. 

In  den  ersten  Tagen  des  August  fanden  die  entscheidenden 
Berathungen  statt.  Der  Majqr  Jägerhorn  soll  der  erste  gewesen 
sein,  welcher  eine  Adresse  an  die  Kaiserin  zu  entwerfen  vorschlug. 
Der  Oberst  Hästesko,  Major  Klingspor  und  Lieutenant  Otter  unter- 
stützten den  Vorschlag,  Armfeldt  war  dagegen.  Die  Anderen  über- 
redeten ihn  dazu,  seine  Einwilligung  zu  geben,  indem  sie  ihm  vor- 
stellten, dass  nur  durch  eine  Adresse  an  die  Kaiserin  der  König  Ge- 
leigenheit  erhalte  die  Priedensunterhandlungen  zu  eröfl&ien,  was  er  so 
sehr  wünsche,  dass  aber  ausserdem  die  schwere  Verantwortlichkeit 
wegen  des  ungesetzlichen  Krieges  sie  zu  einem  solchen  Schritte 
nöthigen  müsse.*) 


^  Handschrift  in  der  Kais.  Bibl.  zu  St.  Petersburg.  Memoires  d'un  officier 
su^dois  etc. 

2)  Rein  86. 

3)  Handschrift. 

^)  Armfeldt  hat  sich  später  entschuldigt,  seine  „sötte  credulit^**  habe  ihn 
veranlagst,  seine  Einwilligung  zu  dem  Briefe  zu  gehen.    Auch  hahe  er  Briefe 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  S21  . 

Am  8.  August  erhielt  Armfeld t  seine  Entlassung  und  wurde 
durch  den  Grafen  Meyerfeldt  ersetzt.  An  demselben  Tage  fand  eine 
Besprechung  der  Conföderirten  in  Armfeldt's  Zelte  statt.  Ausser  den 
Obengenannten  waren  Major  Klick,  Pehr  Ehnehjelm  und  Baron 
Gustaf  Kothen  zugegen.  Wiederum  ward  geltend  gemacht,  der 
König  wünsche  den  Frieden,  man  müsse  ihm  Gelegenheit  geben,  . 
darüber  zu  unterhandeln.  Jägerhorn's  bereit  gehaltener  Elntwurf 
einer  Adresse  an  die  Kaiserin  ward  verlesen,  aber  verworfen.  In 
der  folgenden  Nacht  einigte  man  sich  dahin,  einen  von  Major  Klick 
verfassten  Adressentwurf  anzunehmen.  Die  genannten  sieben  Offiziere 
unterschrieben.  0     Der  Inhalt  war  in  Kurzem  folgender: 

Die  Schweden  baten  den  Krieg  begonnen  ohne  die  Bedeutung 
desselben  zu  würdigen.  Erst  vor  den  Mauern  Frederikshamms  sei 
ihnen  klar  geworden,  dass  damit  ein  Grundgesetz  verletzt  werde. 
Ausser  seinen  militärischen  Pflichten  habe  Jeder  die  Pflicht,  die 
Gesetze  des  Landes  zu  schirmen.  Daher  erklären  die  Unterzeichner 
der  Kaiserin,  dass  Finnland  in  Frieden  mit  Russland  zu  leben 
wünsche,  während  nur  einige  unruhige  Köpfe  den  Krieg  unter  dem 
Verwände  herbeigeführt  hätten,  er  sei  durch  die  Vertheidigung  des 
Landes  geboten.  Die  Berufung  eines  Reichstages  sei  unerlässlich. 
Ferner  wurde  der  Kaiserin  der  Vorschlag  gemacht,  den  Theil 
Finnlands,  welcher  dem  Frieden  von  1743  zufolge  russisch  geworden 
war,  wieder  herauszugeben,  wogegen  das  Versprechen  gegeben  wurde, 
dass  Finnland  stets  ein  treuer  Freund  und  Bundesgenosse  Russlands 
sein  werde.  Von  der  Antwort  der  Kaiserin,  hiess  es  zum  Schlüsse, 
hänge  Krieg  oder  Frieden  ab.^) 


bekommen,  in  denen  er  vor  der  schweren  Verantwortlichkeit  wegen  des  Krieges 
gewarnt  wurde.    Rein  86. 

1)  Bie  schwankende .  Haltung,  welche  Armfeldt  behauptete,  wird  dadurch 
gekennzeichnet,  dass  er  seinem  Schwiegersohn,  Major  Klick,  abrieth  das  Acten- 
stüek  zu  unterzeichnen,  worauf  indessen  Jener  erwiderte,  wo  die  Anderen 
Patriotismus  zeigten,  werde  er  nicht  zurückbleiben. 

')  Die  Adresse  war  in  französischer  Sprache  verfasst.  Wir  benutzen  schwedi- 
sche und  russische  üebersetzungen.  Ob  das  französische  Original  je  gedruckt 
wurde,  ist  uns  unbekannt.  Rein  zweifelt  daran,  bemerkt  aber,  dass  aus  demselben 
zu  ersehen  sein  müsste,  ob  die  Conföderirten  die  Berufung  eines  allgemeiuen 
schwedischen,  oder  eines  finnischen  Reichstages  wollten.  In  einer  schwedischen 
Üebersetzung  ist  von  „rikets",  in  einer  anderen  von  „nationens"  Ständen  die 
Rede.  Aus  der  Antwort  der  Kaiserin  geht  hervor,  dass  sie  die  Berufung  eines 
finnischen  Reichstages  meinte,  die  Urkunde  der  Conföderirten  mit  den  For- 
derungen an  den  König  spricht  von  einem  allgemeinen  Reichstage. 


832  Der  Anjalaband  in  Finnland,  1788. 

Somit  hatten  sieben  Offiziere,  welche  nur  einem  Theile  des 
finnischen  Heeres  angehörten^  es  unternommen,  im  Namen  des  ganzen 
Volkes  zu  der  Kaiserin  zu  reden,  über  Ejrieg  und  Frieden  und  die 
Abtretung  einer  vor  Jahrzehnten  von  Russland  erworbenen  Provinz 
zu  unterhandeln.  Man  muthete  der  Kaiserin  zu,  diese  Provinz  ohne 
Krieg,  ohne  Zwang,  gegen  das  blosse  Versprechen  eines  künftigeii 
Bündnisses  herauszugeben. 

Jägerhorn  sollte  mit  der  Adresse  nach  St.  Petersburg  reisen. 
Ein  Bauer  hatte  aus  der  Festung  Frederikshamm  einen  Brief  eines 
russischen  Offiziers  an  den  schwedischen  Major  Dähn  gebracht,  so 
weit  waren  schon  alle  Bande  der  Disciplin  und  des  militärischen 
Anstandes  gelöst.  Jägerhorn  benutzte  die  Rückkehr  dieses  Boten 
ins  russische  Lager,  um  dem  Commandanten  von  Frederikshamm, 
Lewaschow,  seine  bevorstehende  Ankunft  anzuzeigen.  Noch  einmal, 
in  der  Nacht,  erschien  derselbe  Bauer  mit  einem  Schreiben  aus 
Frederikshamm  im  schwedischen  Lager.  Vielleicht  riethen  die  Russen, 
keine  Zeit  zu  verlieren. 

Vor.  Sonnenaufgang  ritten  Klingspor  und  Jägerhorn  aus,  wie  um 
das  Lager  zu  besichtigen.  Sie  entfernten  sich  aus  dem  Lager  und 
man  vernahm  bald  darauf  zwei  Pistolenschüsse.  Ein  schwedischer 
Offizier  Knorring,  welcher  vermuthete,  dass  die  beiden  Offiziere  mit 
einer  russischen  Patrouille  handgemein  geworden  seien,  schickte 
eine  Abtheilung  Soldaten  zu  Fuss  und  zu  Pferde  zu  ihrem  Beistande 
aus.  Nach  zwei  Stunden  kehrten  letztere  zurück :  sie  hinten  Niemand 
angetroffen.  Bald  darauf  sprengte  Klingspor  mit  der  Nachricht  ins 
Lager,  der  Major  Jägerhorn  sei  von  herumstreifenden  Russen  ge&ingen 
genommen  worden. 

Drei  Tage  später,  am  12  August,  unterrichtete  Graf  Armfeldt 
den  König  von  dem  an  die  Kaiserin  gerichteten  Schreiben,  welches 
er  damit  motivirte,  dass  man  auf  diesem  Wege  habe  in  Erfahrung 
bringen  wollen,  ob  etwa  von  Unterhandlungen  ein  günstiger  Ausgang 
zu  hoffen  sei.  Dem  Briefe  Armfeldt's  war  die  von  etwa  hundert 
Offizieren  unterzeichnete  Urkunde  beigefügt,  welche  das  Programm 
der  Conföderirten  enthielt  Man  verlangte  darin  von  dem  Könige: 
1)  Friedensschluss  mit  Russland,  2)  die  Berufung  des  Reichstages, 

3)  die  genaue  Feststellung  der  Regierungsform  durch  den  Reichstag, 

4)  sofortigen  Abschluss  eines  WafiFenstillstandes,  5)  Rückkehr  der 
Truppen  auf  schwedisches  Gebiet,  6)  die  Erklärung,  dass  der  König 
die  gesetzlichen  Forderungen  erfüllen  werde.  Man  wolle,  hiess  es, 
keine  Revolution,  sondern  Gesetzlichkeit,  Herstellung  alter  Rechte  u,  s.  w. 


ik 


Der  Anjalabnnd  in  Finnland,  1788.  328 

Qleicliaeitig  yeröffentlichten  die  Confbderirften  eine  Declaration 
an  ihre  V aterlandsgenossen :  der  Krieg  sei  ungesetzlich,  Jeder  müsse 
znr  Rettung  des  Vaterlandes  bereit  sein,  das  bei  dem  Mangel  an 
Kriegsvorräthen,  bei  dem  Uebergewi(Jht  der  russischen  Flotte  über 
die  schwedische,  bei  der  Unzufriedenheit  des  Heeres  leicht  eine 
Beute  des  Feindes  werden  könne«  Von  der  Erkenntniss  dieser 
Sachlage  und  reiner  Yaterlcuidsliebe  geleitet  hätten  einige  Offiziere 
sich  an  Katharina  mit  dem  Vorschlage  gewandt,  die  Friedens- 
unterhandlungen  zu  eröähen. 

Ein  ferneres  an  das  ganze  Heer  gerichtetes  Manifest  stellte 
folgende  Forderungen  einer  Aenderung  der  Verfassung  auf:  1)  zu 
den  Reichstagen    sollen  Deputirte    des   Heeres    eingeladen    werden; 

2)  das  Steuermaass  soll  wie  früher  von  dem  Kammercollegium  und 
dem  Reichscomptoir  bestimmt,  das  Finanzministerium,  das  nur  zu 
einer  geheimen  Finanzwirthschaft  gefuhrt  habe,  abgeschafft  werden; 

3)  die  Reichsschuld  wird  durch  die  Bankeinlagen  ftindirt,  unter  Ga- 
rantie des  Reichstages ;  4)  die  Einnahmen  des  Königs  sollen  geregelt 
sein,  für  die  Schulden  des  Königs  ist  der  Staatsschatz  nicht  haftbar; 
5)  der  Reichsrath  soll  in  der  Form,  wie  er  vor  1772  bestand, 
hergestellt  werden;  6)  der  König  soll  keinen  Angriffskrieg  ohne 
Genehmigung  des  Reichstags  führen  dürfen,  für  einen  Vertheidigungs- 
krieg  bedarf  es  der  Genehmigung  des  Reichsraths;  7)  die  Stellen- 
vertheilung  findet  nur  nach  vorläufiger  Vereinbarung  statt;  8)  der 
Reichs  t-ag  wird  alle  drei  Jahre  berufen;  9)  Pressfreiheit;  10)  Abschaffung 
der  Polizeibehörde  in  Stockholm;  11)  Bestrafung  der  Urheber  des 
Krieges ;  12)  Frieden  und  Bündnisse  mit  anderen  Staaten  ohne  Sub- 
sidien  von  denselben. ') 

Es  war  ein  Programm,  das  an  die  Prätorianer  in  Rom,  an  die 
Janitscharen  in  der  Türkei,  an  die  Strelzy  in  Russland,  an  die  pol- 
nischen Conf(>derationen  und  an  die  spanischen  Militärrevolutionen 
erinnert.  Es  war  eine  Revolution  gegen  den  Staatsstreich  von  1772. 

Der  Major  Klick  hatte  den  Hauptantheil  an  der  Redaction  aller 
dieser  Actenstücke.  Die  Berathungen  fanden  meist  im  Zelte  des 
Barons  Mannerheim  statt,  wo  auch  die  Papiere  zur  Unterschrift  aus- 
lagen.  Von  andereren  Theilen  Finnlands  kamen  Offiziere,  um  an 
dem  Bunde  Theil  zu  nehmen.   So  kamen  Leionhufvut  aus  Ummeljocki, 


0  Rein  86—98. 


824  Der  Änjalabund  in  Finnland,  17Ö8. 

Leionstedt  aas  Eeltis,  welche  alsbald  wieder  abreisten,  um  in  ih]:en 
Kreisen  Proselyfcen  zu  machen.  0 

Der  Freund  des  Königs,  Graf  Stedingk,  schrieb  diesem  aus- 
führlich von  der  Propaganda  der  Contöderirten  in  dem  Lager  der 
Schweden  bei  Nyilott.  Die  Emissäre  aus  Anjala,  sagt  er,  hätten 
mit  lebhafken  Farben  die  Gefahren  geschildert,  welche  den  Balagerern 
einerseits  von  den  Rassen,  andererseits  von  dem  Vaterlande  aus 
drohe,  indem  die  Theilnahme  an  einem  ungesetzlichen  Kriege  als  ein 
todeswürdiges  Verbrechen  betrachtet  werden  könne.  So  schwebte 
man  ein  paar  Wochen  „zwischen  dem  Henkerbeil  und  dem  Schwerte 
des  Feindes''.  Mittlerweile  Hess  sich  der  Brigadier  Hastfehr  in  eine 
geheime  und  verrätherische  Correspondenz  mit  den  russischen  Gene- 
ralen Sprengtporten  und  Güntzel  ein,  welche  die  Annäherung  russischer 
Truppen  in  grosser  Menge  in  Aussicht  stellten,  die  Schweden  auf 
alle  Weise  zum  Abzüge  beredeten  und  eine  Art  Waffenstillstand  mit 
Hastfehr  abschlössen.  Am  8.  (19.)  August  zogen  denn  auch  die  Schwe- 
den, obgleich  Stedingk  dagegen  zu  wirken  bemuht  gewesen  war,,  wirk- 
lich ab.  Erst  später  erfuhr  man  die  Verbindungen  Hastfehr's  mit  den 
Russen.  Vorläufig  rechtfertigte  er  seinen  Rückzug  mit  seiner  gefähr- 
lichen Lage,  dem  Mangel  an  Truppen  und  Belagerungsgeschütz,  dem 
Mangel  an  Instructionen  vom  Könige  und  mit  dem  Umstände,  dass  das 
Belagerungsheer  bei  Nyflott,  seit  der  König  westwärts  gezogen  war, 
als  ein  zu  weit  vorgeschobener  Posten  leicht  verloren  gewesen  wäre. 

So  hatte  der  Änjalabund  in  kurzer  Zeit  dem  Feldzuge  ein  Ende 
gemaqht.  Die  Confbderirten  traten  um  so  entschiedener  auf,  als  ihnen 
nirgends  ernstlichere  Hindernisse  in  den  Weg  gelegt  wurden.  Die 
Schwäche,  mit  welcher  man  ihnen  begegnete,  zeichnet  am  beredtesten 
die  eigenthümlichen  Zustände,  unter  denen  eine  solche  Revolte 
möglich  war. 

Der  Oberbefehlshaber  der  in  der  Nähe  der  Grenze  concentrirten 
Truppen,  Graf  Meyerfehit,  begnügte  sich  damit,  die  Offiziere  seiner 
nächsten  Umgebung  vor  dem  Beitritt  zu  der  Conföderation  zu  warnen. 
Gegen  die  Verschworenen  benahm  er  sich  so  zurückhaltend  und 
vorsichtig,  dass  Niemand  wusste,  wie  er  eigentlich  denke.  General 
Kaulbarz  dagegen  sprach  sich  sehr  entschieden  und  offen  gegen  das 
Gebahren  der  Conföderirten  aus,  und  unter  den  letzteren  wurde  der 
Vorschlag  laut,  Kaulbarz  und  Meyerfeldt  zu  verhaften  und   sie  als 


0  In  d.  Handschr.  wird  die  Propaganda  geschildert.    Klick  suchte  umsonst 
den  Verfasser  derselben  zur  Unterschrift  zu  bewegen. 


Det  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  325 

I 

I 
\m  Kriegsgefangene  den  Russen  zu  überliefern.     Es  unterblieb,  weil  der 

alte  Armfeldt  dagegen   war.     Eaulbarz  aber  fuhr  fort  die  Confföde- 
afljj  rirten  zu  tadeln,  er  verbot  seinen  Offizieren  allen  Verkehr  mit  diesen 
„Rebellen''.  0 

Niemand  dachte  aber  im  ersten  Augenblicke  daran,  die  Confö- 
'tii  derirten  zu  verhaften.  Man  liess  ihnen  Zeit,  Anhänger  zu  werben, 
'üi  mit  den  Russen  in  Briefwechsel  zu  treten.  Nachdem  der  König 
c  Armfeldt's  Schreiben  mit  der  Anzeige  von  der  Entstehung  des  Bundes 
erhalten  hatte,  bezeichnete  er  die  Handlungsweise  der  Theilnehmer 
als  „unbesonnen".^)  In  engeren  Kreisen  schalt  er  sie  „Rebellen" 
und  sprach  von  dem  Siege,  den  er  ohne  Zweifel  über  die  Russen 
erfochten  hätte,  wenn  er  nicht  verrathen  worden  wäre.  Die  Nation 
sei  beschimpft,  schrieb  er  dem  Grafen  Stedingk;  wenn  auf  alle 
Anderen  so  zu  bauen  gewesen  wäre  wie  auf  Stedingk  und  Hastfehr 
(sie),  so  hätte,  fügte  der  König  hinzu,  Katharina  längst  um  Frieden 
gebeten.^)  „Unser  Ruhm  ist  auf  immer  vernichtet",  soll  Gustaf 
ausgerufen  haben,  „ich  erwarte  jetzt  den  Tod  von  Mörderhand". 
Es  kamen  immer  schlimmere^  Nachrichten  von  der  Ausbreitung  des 
Aufstandes.  Die  Umgebung  des  Königs  war  in  sehr  gedrückter 
Stimmung.  Der  König  galt  nichts  mehr  in  seinem  eigenen  Lager. 
Er  war  bereit  zu  unterhandeln.  Durch  den  Obersten  Lautingshauöen 
liess  er  den  Conföderirten  Verzeihung  anbieten,  wenn  sie  nur  zur 
Treue  zurückkehrten. 

Dem  Könige  konnten  sowohl  die  separatistischen  Gelüste  der 
Finnen,  als  die  Hoffnung  des  Adels  in  Finnland  und  Schweden,  die 
Ergebnisse  des  Staatsstreiches  von  1772  in  Frage  zu  stellen,  gefähr- 
lich werden.  Besonders  aber  die  letztere.  In  den  oben  angeführten 
Manifesten  und  Adressen  war  ein  genaues  Programm  der  Adelspartei 
enthalten.  Nur  in  dem  Schreiben  an  die  Kaiserin  liegt  in  den 
Aeusserungen  von  dem  ewigen  Bündniss  zwischen  Finnland  und 
Russland  eine  Andeutung,  dass  man  wohl  an  ein  selbständiges 
Finnland  dachte.  Das  Wesentlichste  war  doch  die  Herstellung  der 
Adelsrechte.  Hier  trafen  die  Wünsche  des  schwedischen  und  finni- 
schen Adels  zusammen,  während  nur  der  letztere  den  Separatismus 
vertreten  konnte.  Gustaf  hat  später,  um  die  Schweden  gegen  die 
Conföderirten  aufzubringen,  T}esonderes  Gewicht  gelegt  auf  die  Pläne 


')  Handschrift. 

2)  Ebend.   „rentreprise  de  la  confed^ration   finoise  —   une   demarche    im" 
prudehte". 

3)  Stedihgk,  M6m.  I.  116. 

Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  7  u.  8.  22 


326  Der  Anjalabund  in  Fionland,  1788. 

der  letzteren  FinnlaDd  von  Schweden  zu   trennen,    aber  man   kanD 
nicht  eagen,   dass  der  Anjalabund  die  Selbständigkeit  Finnlands  zum 
Zweck  gehabt  habe.     Während  Klick  das  an  die  KaiBeriu  gerichtete 
Sehreiben  als  ein  Project  der  Lostrennung  Finnlands  von  Schweden 
bezeichnet, '}    sagt    er    ausdrücklich,    dass    nur.  sehr  Wenige   diesen 
Gedanken  gehegt  hätten  j  unmöglich,  sa^t  er,  könne  man  die  Adresse 
an   die  Kaiserin   als   den   Ausdruck   der   Stimmungen   der   „Nation" 
bezeichnen,  sonst  hätte  ja  dieselbe  viel   mehr  Unterschriften  zählen 
inüssen.     Man  habe  doch  eigentlich   nur  die  Berufung  eines  Reichs- 
tages,   die   Beseitigung    der  Regierungsfurm   von   1772   beabsichtigt. 
Graf  Meyerfeldt  schrieb  an  den  König,  dasa  viele  Offiziere  gegen 
die    Bescbuldignng    protestirten,    als   wollten    sie    ein    unabhängiges 
Finnland.   Im  Verhör  hat  Kästesko  später  erklärt,  er  habe  den  Baron 
Sprengtporten  von  der  Unmöglichkeit  einer  Vereinigung  der  finnischen 
Truppen  mit  den  russischen  zum  Zweck  einer  Emancipation  Finnlands 
von  Schweden  zu  Überzeugen  gesucht  und  ausdrücklich  die  Behauptung 
aufrecht  erhalten,  dass  der  Anjalabund  nur  die  Herstellung  des  Friedens, 
die  Wiedererlangung   der  verlorenen  Theile  Finnlands   und  die  Be- 
i-utung   eines   Reichstages   zum   Zweck  gehabt  habe.     Ebenso   sagte 
LeioQStedt  während  des  ihm  gemachten  Processes  aus,  Sprengtporten 
habe  sich  auf  die  Adresse  der  sieben  Offiziere  an  die  Kaiserin  berufen, 
Finnlands   von   Schweden   beabsichtigt  hätten, 
äich  erbot,    ihm    eine   schriftliche  Versicherung 
finnische  Heer  nicht  die  Unabhängigkeit  Finn- 
Lass  an  eine  solche  zu  denken  besonders  deshalb 
;,  weil  ja  gerade  damals  das  schwedische  Heer 
md.     Der  Graf  K.  G.  Armfeldt,   der   allerding.s 
arina  mit  unterzeichnet  hatte,  erklärte  wenigstens 
len  Baron  Sprengtporten,  daes  von  einem  Abfall 
den  nicht  wohl  die  Rede  sein  könne.     Ebenso 
astfehr  im  Gespräch  mit  Sprengtporten,  es   sei 
herrschenden  Stimmungen   nicht  auf  eine  Ver- 
bhängigkeitspläne,  welche  sie  beide  wünschten, 

;hrieb  dem  Könige  am  19.  August,  Alle  seien 
it  und  wollten  Sprengtporten's  Entwurf  gemäss 
publik   verwandein.     Der-  König  schrieb  zurück 

mt  soit  pea  aaihentique:  pour  avoir  la  prolection  de 
einer  le  plan  de  rind^pendence."     Halmaneii  67. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  327 

(23.  August),  das  üebel  sei  noch  nicht  ganz  allgeüiein,  die  Schweden 
seien  höchst  aufgebracht  über  die  Separatisten;  die  Anjalaner  aber 
protestirten  gegen  die  Anschuldigung  des  Separatismus. ') 

Somit  war  die  Separatistenpartei,  wenn  man  überhaupt  von  einer 
solchen  sprechen  kann,  dem  Könige  ungleich  weniger  gefährlich  als 
ein  Reichstag,  welcher  die  ganze  Arbeit  des  Königs  seit  seiner  Thron- 
besteigung vernichten  konnte.^)  Andererseits  konnte  eine  Fort- 
setzung des  Krieges  bei  Nichtberufung  des  Reichstages  den  König 
bei  der  allgemein  herrschenden  Unzufriedenheit  ebenfalls  in  Gefahren 
stürzen. 

-Eine  unmittelbare  Gefahr  aber  drohte  dem  Könige  von  den 
Mitgliedern  des  Anjalabundes.  Man  sprach  davon,  Gustaf  HI.  zu 
verhaften  und  ihn  auf  diese  Weise  entweder  zur  Berufung  eines 
Reichstages  oder  zur  Abdankung  zu  nöthigen.  Der  Offizier  Kothen, 
nach  anderen  Berichten  Hästesko,  soll  mit  der  Ausführung  dieses 
Vorhabens  betraut  gewesen  sein.  Aber  Gustaf  hielt  sich  aus  Vorsicht 
meist  auf  seiner  Fregatte  Amphion  auf,  suchte  sich  mit  den  treuesten 
Truppen  zu  umgeben,  treue  Generale  wie  Platen  und  Hamilton 
waren  stets  zu  seinem  Schutze  bereit.  Wie  durch  ein  Wunder,  sagt 
ein  Zeitgenosse,  entrann  der  König  der  Gefahr,  seiner  Freiheit  beraubt 
zu  werden.^)  Unter  den  Verschworenen  herrschte  in  diesem  Punkte 
Uneinigkeit.  Einer  von  ihnen  bestand  darauf,  dass  der  König  ver- 
haftet werde,  ein  anderer  erklärte,  er  selbst  werde  den  König  in 
einem  solchen  Falle  befreien  helfen.  Beim  Glase  Punsch  ist  davon 
die  Rede  gewesen.  Ein  Offizier,  der  abends  an  dem  Zelte  der  Ver- 
schworeneij  vorüberging,  hat  später  während  des  Processes  Eröffnungen 
über   das  von  ihm  belauschte  Gespräch  gemacht.     Dies  geschah  im 

e 

Lager  von  Kymmenegard  in  der  Nähe  der  schwedisch  -  russischen 
Grenze,  unweit  der  Fregatte  „Amphion'',  die  an  der  Küste  lag.  Zu 
grösserer  Vorsicht  Hess  der  König  sogar  in  der  Regel  die  Bretter 
abnehmen,  welche  das  Fahrzeug  mit  dem  Ufer  verbanden.  Bald 
reiste  er  ab.  Auf  seiner  Durchreise  in  Lovisa  sagte  ein  Offizier  zu 
einem  anderen,    auf  die  Fenster   des   königlichen  Absteigequartiers 

o 

deutend:  „Jenen  da  müsste  man  in  den  Thurm  zu  Abo  sperren,  in 
welchem  Erich  XIV.  gesessen,  und  zwar  lebenslänglich.'' 

Schon  im  Juli  soll  Gustaf  daran  gedacht  haben,  im  Falle  eines 
Misslingens  seiner  Kriegsunternehmungen  abzudanken,   in  ländlicher 

1)  Stedingk,  M6m.  I.  129,  185. 

*)  Heirmann  in  Raumer's  Taschenbuch  1857  S.  421. 

3)  Malmanen  92,  93.    Rein  99,  100. 

22* 


328  Der  ÄDJalabund  in  Finnland,  1788. 

Abgeschiedenheit,  etwa  in  Italien  oder  SUdfrankreicb,  seine  Tage  za 
yerbringen.  Jetzt  in  dem  Missgescbick,  das  ihn  betroffen,  tauchte 
der  Gedanke,  das  Beispiel  der  Königin  Christine  nacbzuahmeri,  nocb 
einmal  in  ihm  auf.  Er  liees  ihn  fallen. ')  Nocb  hatte  er  Freunde ; 
der  junge  Graf  Armfeldt,  dem  man  2000  Tbaler  bot,  falls  er  den 
König  verliesse,  harrte  treu  bei  ihm  aus.  Er  hatte  dem  Könige  ge- 
rathen  die  Conföderirten  verhaften  zu  lassen,  aber  der  König  wollte 
Mässigung  zeigen.  In  seiner  etwas  tückischen  Welse  sagte  er  zu 
Armfeldt,  durch  Verstellung  sei  auf  Rettung  zu  hoffen.^) 

Indessen  gab  der  König  auch  nicht  nach.  Weder  versprach  er 
die  Berufung  eines  Reichstags,  noch  zeigte  er  eich  geneigt  Frieden 
zu  machen  mit  der  Kaiserin.  Dagegen  Hess  er  den  Conföderirten 
melden,  er  erwarte,  dase  sie  sich  entschuldigten.  Dem  Grafen  Stedingk 
schrieb  er,  er  wolle  lieber  seinen  inneren  Feinden  zum  Opfer  fallen, 
als  sich  unter  das  Joch  der  Kaiserin  beugen;  aber  er  baue  darauf^ 
dass  grosse  Reiche  nicht  so  leicht  zusammenbrechen;  mit  Franz  I. 
sagte  er:  Alles  sei  verloren,  nur  die  Ehre  nicht.') 

Auf  der  Durchreise  nach  Schweden,  in  Lovisa,  hatte  der  König 

ein  Gespräch  mit   Leionhufvudt,   welcher  ihm  einen  Brief  von  dem 

älteren    Grafen   Armfeldt   brachte.      Der    letztere    erinnerte   an    die 

Berufung   des   Reichstages.     Der   König    soll    sich    heftig   gegen   die 

Conföderirten  ausgesprochen,  auf  einem  Fetzen   Papier  die  Formel 

einer  Bitte  um  Vergebung  aufgeschrieben  haben,  welche  die  Schuldigen 

en.   Es  kam  zu  einem  heftigen  Wortwechsel  mit 

taf  sagte  ihm,    er   könne  sich   Glück   wünschen 

t  sogleich  der  Kopf  vor  die  Füsse  gelegt  werde, 

der  Conföderirten  gekommen;  es  sei  nicht  Brauch, 

terhandeln.     Den  Brief  K.  G.  Armfeldt's  gab  der 

zurück.   —  Einer   anderen  Version   zufolge    soll 

ankungspUn  b.  Qeffroy  in  der  Revue  des  denx  mondes 
König  habe  im  Sommer  1788  mit  Mad.  StaSl  über  den 
n  Paris  correapondirt.  Dort  wolle  er  den  Rest  seines 
SBC  verbringen.  In  Sctweden  sagte  man,  dass  ein  Theil 
[Achten  gezahlten  Subeidien  ins  Ausland  gesendet  worden 
ih  bald  ganz  nach  Montpellier  zarückzaziehen  gedenke; 
ig  wolle  katholisch  werden  und  in  Italien  leben,  schreibt 
1  Tagebuch  28.  Juni  1788,  wie  man  ans  aufgefangenen 
Katharina  schrieb  an  Potemkin  darüber,  s.  Lebedew, 
Bch)  1863  S.  307  u.  308. 
iler",  Handschrift. 
I.  121. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  329 

Leionhufvudt  sich  sehr  vorsichtig  benommen  und  insbesondere  dem 
Könige  vorgestellt  haben,  dass  die  Conföderirten  den  Vorschlägen 
des  Barons  Sprengtporten,  Finnland  von  Schweden  zu  trennen,  eine 
entschiedene  Weigerung  entgegengesetzt  hätten.  Der  Umstand,  dass 
Leionhufvudt  später  straffrei  ausging,  zeugt  doch  wohl  von  einigem 
diplomatischen  Geschick  seinerseits.  Er.  hat  später  behauptet,  dass 
insbesondere  Jägerhorn  die  angebotene  Amnestie,  falls  die  Schuldigen 
um  Vergebung  bitten  wollten,  zurückgewiesen  habe.  Aber  auch  die 
Anderen,  auch  Armfeldt,  waren  entschlossen,  auf  der  einmal  betretenen 
Bahn  weiterzugehen.  ^) 

Das  Schicksal  des  Königs  hing  wesentlich  von  seinen  Beziehungen 
zu  den  mittleren  und  unteren  Ständen  in  Schweden  und  von  dem 
Erfolge  seines  nun  beginnenden  dänischen  Krieges  ab.  Für  die 
Anjalaner  dagegen  war  die  Frage  von  allergrösster  Wichtigkeit,  wie 
die  Kaiserin  sich  zu  der  Militärverschwörung  verhalten  werde. 


Wiederholt  ist  die  Vermuthung  ausgesprochen  worden,  der  Bund 
in  Anjala  sei  unter  russischen  Anspielen  entstanden.  Gustaf  selbst 
sagte  im  September  1788  seinen  Käthen  in  Stockholm,  seit  zehn 
Jahren  arbeite  Russland  daran,  etwas  Derartiges  zu  Stande  zu  bringen. 
Der  Verfasser  der  wiederholt  von  uns  angeführten  Handschrift  nennt 
den  Bund  von  Anjala  ein  „Meisterstück**  des  Cabinets  von  St.  Peters- 
burg, das  sich  auf  keine  andere  Weise  zu  helfen  gewusst  habe. 

Gleichwohl  finden  wir  nicht,  dass  eine  solche  Behauptung  von 
Thatsachen  unterstützt  würde.  So  viel  wir  sehen,  hatte  man  vor 
der  Ankunft  des  Majors  Jägerhorn  in  St.  Petersburg  am  Hofe  Katharina's 
so  gut  wie  gar  keine  genauere  Kunde  von  den  Ereignissen  im  schwe- 
dischen Lager.  ^) 


0  Rein  111,  112. 

2)  Rein  (85)  vermuthet,  es  seien  schon  vor  dem  Ahschluss  der  ConfÖderation 
zwischen  russischen  und  schwedischen  Offizieren  Verabredungen  getroffen  worden. 
Der  obenangefiihrte  Briefwechsel  zwischen  dem  schwedischen  Major  Dähn  und 
einem  Offizier  in  der  Festung  Frederikshamm  könnte  so  gedeutet  werden.  Des- 
halb brauchte  man  aber  doch  in  Petersburg  nichts  yon  der  entstehenden  Con- 
fÖderation zu  wissen.  Man  ist  sogar  so  weit  gegangen  zu  behaupten,  dass 
ßasumowski  schon  seit  lange  von  dem  Bunde  gewusst  habe.  Dies  wird  durch 
den  Umstand  widerlegt,  dass  der  Bund,  wie  man  sieht,  doch  nur  in  kurzer  Zeit 
^tstand  und  namentlich,  dass  die  Nachricht  von  der  Entstehung  desselben  in  Öt. 
Petersburg  ganz  unerwartet  kam.  Proclamationen,  welche  man  für  die  Finnen 
in  Bereitschaft  gehalten  hatt^,  beweisen  nichts  gfsgen  unsere  Behauptung. 


880  Der  Aiijalabund  in  Finnland,  1788. 

Von  allem  was  in  dieser  Zeit  Taj^  für  Tag  an  dem  russischen 
Hofe  vorging,  was  die  Kaiserin  sagte  und  thnt,  wissen  wir  aus  dem 
Tagebuche  ihres  Schreibers  Chrapowitzki.  Hatten  die  Russen  irgend 
eine  Initiative  bei  den  Ereignissen  in  Finnland,  so  müssten  bei 
Chrapowitzki  darüber  Angaben  zu  linden  sein.  Nach  der,  Ankunft 
Jägerhorn's  in  St.  Petersburg  ist  sehr  oft  von  den  Maassregeln  der 
russischen  Regierung  die  Rede,  welche  die  Ausbeutung  des  Haders 
im  schwedischen  Lager  zum  Nutzen  Russlands  bezweckten.  Die 
Nachricht  aber  von  der  Opposition  der  Offiziere  und  dem  dadurch 
bewirkten  Rückzüge  war  in  St.  Petersburg  eine  sehr  angenehme 
üeberrascbung. 

Am  26.  Juli  (6.  August)  morgens  war  Chrapowitzki  bei  der 
Kaiserin  gewesen.  Man  sprach  über  verschiedene  Dinge,  ohne  beson- 
dere Nachrichten  aus  Finnland  zu  erwarten.  Um  4  Uhr  nachmittags 
Hess  sie  ihn  auffordern,  schnell  herüberzukommen,  worauf  sie  ihm 
mit  sichtlicher  Freude  von  dem  Rückzuge  der  Schweden  erzählte, 
den  sie  der  Besorgniss  der  Schweden  zuschrieb,  dass  ein  russisches 
Corps  ihnen  in  den  Rücken  fallen  könne.  Den  anderen  Tag  erst 
kamen  genauere  Nachrichten,  denen  zufolge  der  Ungehorsam  des 
finnischen  Heeres  die  Ursache  des  Rückzuges  gewesen  sein  sollte. 
Katharina  sah  diesen  Umstand  als  eine  ihr  unmittelbar  von  Gott 
gesandte  Hülfe  an. ')  Sogleich  wurden  Maassregeln  ergriffen ,  die 
revolutionäre  Stimmung  in  Finnland  zu  benutzen.  Zunächst  sollte 
der  Baron  Srengtporten  auf  die  Pinnen  zu  wirken  suchen.  Es  wurden 
ihifi  Manifeste  zur  Verbreitung  zugestellt,  in  denen  die  Finnen 
rnssiscbereeits  ermahnt  wurden,  nicht  mehr  zu  kämpfen,  sondern 
ruhig  in  ihren  Häusern  zu  verbleiben.  Etwas  später  erfuhr  man, 
daSB  Armfeldt  ia  einem  an  den  russischen  General  Fürsten  Lobanow- 
Rostowski  gerichteten,  die  Auswechselung  der  Gefangenen  betreffenden 
Schreiben  die  Hoffnung  auf  baldige  Herstellung  des  Friedens  geäussert 
und  den  Krieg  als  durch  Missverständnisse  und  unruhige  Köpfe 
herbeigeführt  bezeichnet  hatte.  ^) 

Die  Kaiserin  war  in  einer  seltsamen  Lage.  Trat  sie  mit  den 
Feinden  in  Unterhandlung  über  den  Frieden,  so  hatten  die  Gegner 
des  Könige  gewonnenes  Spiel.  Die  Friedenspartei  in  Schweden  und 
Finnland    war    der    natürliche   Bundesgenosee  Russlands.     Dagegen 


■)  Genau  so  drückt  eich  Ohrapowitzki  aus. 

0  Der  Krieg  sei  herbeigeführt  „plas-peut-Stre  per  des  m&lentendueB  et  des 
eepritB  que   par  la  volonte   des    deux  sonverains,   nnia   par  lee  lieae  de 
et  si  faits  tous  les  deux  pour  e'ajmer".    Chrapowitzki. 


.    Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  331 

konnte  die  Eröffnung  der  Friedensunterhandlungen  die  Kaiserin 
leicht  um  alle  die  Vortheile  bringen,  welche  sie  gerade  in  diesem 
Zeitpunkte  von  dem  Angriffe  der  Dänen  auf  die  Westgrenzen  Schwe- 
dens zu  erwarten  berechtigt  war.  Man  beschloss  vorläufig,  nicht  vom 
Frieden  zu  reden. 

Da  kam  der  Major  Jägerhorn  nach  Petersburg.  Er  stieg  bei 
dem  Commandanten  von  Petersburg,  Grafen  Bruce,  ab,  wurde  von 
diesem  auf  das  Zuvorkommendste  empfangen  und  von  dem  Günstling 
Mamonow  bei  der  Kaiserin  eingeführt.  0  Er  war  am  31.  Juli  (11.  Aug.) 
angekommen.  Die  Audienz  aber  fand  erst  den  3.  (14.)  August  statt. 
Von  dem  Inhalt  des  Schreibens  der  Offiziere  wusste  man  schon  am 
31.  Juli  (11.  Aug.)  in  Petersburg  durch  den  Oberbefehlshaber  der 
russischen  Truppen  in  Finnland,  Grafen  Mussin-Puschkin.  Dass  die 
Anwesenheit  Jägerhorn's  geheimgehalten  wurde,  dürfte  vielleicht  aus 
dem  Umstände  hervorgehen,  dass  in  S^gur's  Memoiren  derselben 
gar  nicht  erwähnt  wird.  Was  den  Inhalt  des  Gespräches  der  Kai- 
serin mit  Jägerhorn  anbetrifft,  so  ist  aus  den  Aufzeichnungön 
Chrapowitzki's  zu  ersehen,  dass  von  ^er  Unabhängigkeit  Finnlands 
die  Rede  war,  dass  Jägerhorn  den  Wunsch  äusserte,  mit  dem  Baron 
Sprengtporten  zusammenzutreffen,  dass  diö  Kaiserin  keinerlei  be- 
stimmte Antwort  ertheilte,  sondern  den  Major  an  den  Vice-Kanzler 
Ostermann  verwies.^)  Aus  dem  der  Kaiserin  erstatteten  Berichte 
Osterraann's  ist  zu  ersehen,  dass  Jägerhorn  eine  von  der  Kaiserin 
oder  wenigstens  vom  Vice-Kanzler  unterschriebene  Antwort  auf  das 
Schreiben  der  Offiziere  verlangte.  Man  hielt  es  nicht  für  angemessen, 
einem  solchen  Wünsche  zu  entsprechen. 

Mittlerweile  kam  der  Baron  Sprengtporten  in  St.  Petersburg  an. 
Er  hatte  an  der  Grenze  militärische  Operationen  geleitet  und  beeilte 
sich  auf  das  Geheiss  der  Kaiserin  mit  Jägerhorn  zusammenzutreffen. 
Hierauf  hatte  er  eine  Besprechung  mit  Katharina,  welche  sich  gleich 
darauf  lobend  über  ihn  aussprach.  Sogleich  reiste  er  wieder  nach 
Finnland  ab,  „um  bei  dem  beabsichtigten  Vorhaben  mitzuwirken,"  wie 
Chrapowitzki  sich  pleonästisch  ausdrückt.  In  der  unmittelbar  darauf 
folgenden  Zeit  wechselte  Katharina  einige  Briefe  mit  Sprengtporten.  In 
einem  derselben  führt  sie  Klage  über  die  Zweizüngigkeit  Jägerhorns.  ^) 


^)  Keller's  Bericht  bei  Herrmann,  Gesch.  d.  russ.  Staats  VI.  194. 

2)  An  Potemkin  schrieb  die  Kaiserin,  sie  werde  den  Finnen  antworten,  sie 
sollten  sioh  von  Schweden  frei  machen,  dann  werde  sie  sich  verpflichten,  sie  in 
Frieden  zu  lassen.    Solowjew,  Fall  Polens  (russisch)  S.  189. 

3)  Malmanen  61. 


332  Der  AnjalabuDd  in  Finnland,  1788. 

Es  ist  ebenso  gewiss,  daas  Jägerhorn  in  Petersburg  für  eine  Los- 
trennung  Finnlands  von  Schweden  gewirkt  hat,  als  daas  er  nicht 
eigentlich  bevollmächtigt  sein  konnte ,  für  dieselbe  zu  wirken.  'J 
Eatharioa  erfaeste  den  Entwurf  einer  Lostrennung  Finnlands  von 
Schweden  mit  Lebhaftigkeit  und  Sprengtporten  war  für  die  Verwirk- 
lichung dieser  Idee  thatig.  Auch  andere  russische  Offiziere  handelten, 
wie  wir  sehen  werden,  in  diesem  Sinne.  Es  war  nicht  lange  her,  dass 
die  „Unabhängigkeit"  der  Krim  zu  einer  Annexion  dieser  Halbinsel 
geführt  halte.     Aehnlicbes  konnte  man  im  Norden  veranstalten. 

Am  8.  (19.)  August  war  die  Antwort,  welche  Jägerhorn  nach 
Finnland  bringen  sollte,  fertig.  Denselben  Tag  reiste  er  mit  einem 
kostbaren  Ringe  und  500  Dukaten  beschenkt  ab.  Die  Antwort  war 
ohne  Unterschrift,  wie  Chrapowitzki  bemerkt,  damit  nicht  Jemand 
aus  Missgunst  dieselbe  dem  Könige  zustelle.  Der  Inhalt  dieses  Acten- 
stücks  war  kurz  folgender:  Die  Kaiserin  erinnert  die  Finnen  an  die 
ihnen  während  der  Hungersnoth  im  Jahre  1785  erwiesenen  Wohl- 
thaten,  indem  sie  bedeutende  Kornspenden  nach  Finnland  geschickt 
habe.  Den  gegenwärtigen  Krieg  sehe  sie  als  ungerecht  und  un- 
gesetzlich an,  aber  sie  wisse  sehr  wohl  die  Handlungsweise  des 
Königs  von  der  Gesinnung  des  Volkes  zu  unterscheiden.  Sie  wünsche, 
dass  das  Verlangen  nach  Frieden  und  Freundschaft  zwischen  Finnland 
und  Russland  von  einer  grösseren  Anzahl  finnischer  Staatsangehöriger 
ausgesprochen  werde  und  durch  einen  Reichstag  in  geeelzlicher  Form 
zum  Ausdruck  gelange.  Alle  diejenigen,  welche  die  in  dem  Von 
Jägerhorn  überbrachten  Schreiben  geäusserten  Ansichten  th eilten, 
sollten  einen  Reichstag  bilden,  welcher  sodann  mit  Russland  in  for- 
meller Weise  verhandeln  und  das  Wohl  des  Vaterlandes  mehren  könne.') 


■)  Helbig  In  ArchenhoU'  Minerva,  1T98  IT.  480,  sagt  von  Jägerhorn:  „Die 
Depnttttion  wuaate  eigentlich  selbst  nicht,  was  sie  wollte.  Man  Bah  in  ihrem 
Anliegen,  dass  sie  ans  gednngeoen  Miethlingen  ohne  Kenntnies  und  Ueberzeugang 
bestand;  sie  klagte  in  ellgemeinen  Ausdrückea  über  den  König,  verlangte  Schutz 
vor  deaaen  Feinden,  wollte  Finnland  in  eine  Republik  verwandeln  oder  verlangte 
den  Groa&fiirBten  Conatantin  aU  souveränen  Qrosafürsteo  von  Finnland  zu  haben. 
Letztere  Angabe  wird  durch  nichts  bestätigt, 

")  Que  le  voeu  de  la  nation  ünoiBe  pour  le  retablisseoient  d'nn  bou  voisinage 
et  Vancienne  bonne  harmonie  soit  manifeste  par  !a  räunion  d'un  plus  grand 
nombre  de  citoyens  et  i^evStu  ile  la,  forme  repräseutative ,  qui  puisae  lui  donner 
une  sancLion  legale  et  authentiqiie,  Pour  cet  efTet  et  ea  considerant  la  d^licateese 
de  la  Position  des  affaires,  tous  eeux,  qui  participent  aux  intenCions  salutaireE 
Snonc^es  dans  le  memoire  present^  &  S.  M.  J.  pai*  le  m^or  de  Jägerhorn  ne 
doivent  pas  differer  4  se  concertei'  enaemble  et  de  ae  l'ormer  en  un  corps  repri- 


Der  Anjalabuttd  in  Finnland,  1788.  333 

Katharina  war  sehr  befriedigt.  Sie  theilte  einigep  vertrauten 
Freunden  die  Nachricht  von  dem  Ungßhorsam  der  finnischen  Truppen 
mit.  Aus  ihrei^  Bpefen  ist  zu  ersehen,  dass  es  ihr  eine  Genugthuuqg 
gewährte.  0  Baron  Sprengtporten  erhielt  Befehl,  in  directe  Verhajj41ung 
mit  IJastfeJir  und  K.  G.  Armfeldt  zu  treten.  Der  Commandant  von 
Wiborg,  Güntzel,  schrieb :  den  Soldaten  der  finnischen  Armee  sei  von 
ihren  Befehlshabern  bei  Todesstrafe  verbotjen  worden,  auf  die  Russen 
zu  schiessen.  Graf  Mussin-Puschkin  erhielt  den  Auftrag,  jedem  von 
d,em  Könige  abfallenden  schwedischen  Soldaten  10 — 15  Rubel  aus- 
zahlen ^u  lassen.  Bei  solchen  Maassregeln  erfuhr  man  sehr  bald, 
daßs  diese  Mittel  verfingen.  Die  Belagerer  von  Nyflott  zogen  ab, 
nachdem  sie  ausdrücklich  mit  den  Russen  verabredet  hatten,  dass 
man  nicht  ß.uf  sie  schiessen  werde.  Die  Kaiserin  war  vergnügt, 
lachte  über  den  König :  das  sei  die  Heimzahlung  für  seine  der  Kaiserin 
zugefügten  Kränkungen.  ^) 

Die  verrätherische  Haltung  Hastfehr's  verdiente  besondere  Auf- 
merksamkeit. Schon  am  25.  Juli  (5.  Aug.)  schreibt  Graf  Stedingk  an 
den  K^önig  von  dem  Eintreffen  eines  Deputirten  aus  dem  Lager  der 
Conföderirten ,  von  der  Unzufriedenheit,  von  den  Hetzereien,  mit 
denen  die  Offiziere  die  Soldaten  bearbeiteten  ^  es  sei  nicht  unwahr- 
scheinlich, *  dass  schon  Verhandlungen  mit  den  Russen  gepflogen 
würden.  Am  26.  Juli  (6.  Aug.)  schrieb  der  russische  General  Güntzel 
an  Hastfehr:  bei  dem  Ausbruch  der  Verschwörung  gegen  den  Krieg 
sei  es  ganz  nutzlos  sich  noch  länger  im  russischen  Finnland  aufzuhalten, 
er  fordere  H^slfehr'n  auf,  sich  sogleich  zurückzuziehen.  ^)  Einige  Tctge 
noch  schwankt/e  Hastfehr,  während  Stedingk  ihn  für  treu  hielt  und 


sentant,  qui  puisse  traiter  Ugalement  des  interßts  de  la  patrie  et  les  regier 
d^finitivement  de  la  mani^re  la  plus  analogue  k  son  bien-dtre  präsent  et  h  venir." 
Rein  106  thellt  einen  Auszug  aus  dem  Briefe  mit.  In  der  von  uns  angeführten 
Handschrift  der  Memoiren  eines  schwedischen  Offiziers  ist  ebenfalls  ein  Auszug 
mitgethcilt,  in  welchem  u.  A.  die  Hoffnung  ausgesprochen  wird,  daas  Gustaf  III. 
die  Handlungsweise  der  Finnen  billigen  werde  und  in  welchem  der  Vorschlag 
gemacht  wird,  im  Verein  mit  russischen  Truppen,  die  zu-  dem  Zwecke  in  Finnland 
aufgenommen  werden  sollten,  „k  ^tablir  une  existence  politique  teile  que  tous 
les  bons  citoyens  d^sirent  ou  doivent  desirer."  Der  Verfasser  n^nt  das  „une 
espece  de  reponse^  in  „formes  ambigues^,  deren  Anonymität  die  Finnen  auf- 
gebracht habe.  Es  sei  unmöglich,  fügt  er  hinzu,  „d'une  mani^re-  moins  öquivoque" 
von  dem  Unabhängigkeitsentwurf  zu  reden. 

1)  So  schrieb  sie  an  Jaropkiu/  s.  d.  Schriften  Katharina*s  UI.  358  (russisch), 
so  an  Pohlmann  in  Reval,  s.  Blum,  Ein  ^u^s.  Staats];n^n  ^.  502. 

^)  Chrapowitzki  passim. 

3)  Rein  93  und  94.    M^m.  Stedingk's  passim. 


834  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

von  Beinern  Verkehr  mit  den  Russen  nichts  Bestimmtes  wusste.    Als 
aber  der  Schwager  Sprengtporten's ,    Glansenstjerna,    und   noch  ein 
anderer  Offizier  aus  Anjala,  RamsÖ,  bei  Nyflott  anlangten  und  noch 
energischer  zum  Rückzuge  riethen,   da  schien  dem  Grafen  Stedingk 
die  Sache  des  Königs  verloren   zu  sein.     Man  rede,   schreibt  er  an 
ätage,  von  einem  unabhängigen  Finnland,  ohne  zu 
an    dadurch   nur   Russlands   Uebermacht   steigere; 
m   Gotteswillen    auf  seine   Rettung   bedacht  sein; 
von  Zündstoffen  umgeben  sei  der  Graf  Rasumowski, 
i  Stockholm  verweile.     Immer  neue  Deputationen 
immer  klarer  wurde  es,  dass  directe  Verbindungen 
;standen ;  aber  noch  zu  Anfang  September  schrieb 
für  Hastfehr's  Treue.  ')   Wir  wissen,  dass  Hastfehr 
Hauptvertretem    der    Conföderation,    Klingspor, 
mit  den  vornehmsten  Vertretern  des  unzufnedenen 
1,  Stackeiberg,  de  Geer  u.  A.,  andererseits  mit  den 
len    in    lebhaftem    Verkehr    stand,    dass   er   daran 
1  BaWißprengtporten  in  russische  Dienste  zu  treten, 
Kaiserin  äie^^ßg^e  Belohnung  für  den  Abzug  von 
;h  nahm.  ^'^•,  , 

pannung  erwartete  man'"af;-*"*'*^°'''  ^^''  Kaiserin, 
ntreffen  Jägerhorn's  in  FinnTal'*  ««^hrieb  Sprengt- 
Wen  K.  G.  Armfeldt,  die  KaUl"°  **'"*^^  ^''^ 
'■r  Finnen,  könne  aber  nicht  form^^"  '■;"'" 
le  Conföderation  eine  gesetzliche  Form^^  "' 
ich  nicht  iii  die  Angelegenheiten  Finnland'"' 
se  aber  in  Pinnland  die  Ruhe  herstellen,  we\j 
enschen  gestört  worden  sei.^j  X 

August  kam  Major  Jägerhorn   in   das   Lager   deÄ 
sk.    Da  das  Actenstück,  welches  er  brachte,  keine  ^ 
wies  er  als  Zeugniss  für  dessen  Aechtheit  den       "" 
.eschenk  erhaltenen  Ring  auf.    Sogleich  verbreite) 
n  den  Dukaten,  welche  Jögerhoru  in  St.  Petersbu 
einem  officiellen  Berichte  an  seine  Vorgesetzten 
in   russischer  Gefangenschaft  gewesen   und  habe 
t>en  müssen,  nicht  mehr  gegen  die  Russen  kämpfen 

,  116,  117,  123,  12& 


iinft  ' 

POH 

tetA 
urgl 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  335 

Die  Antwort  der  Kaiserin  erschien  unbefriedigend.  Es  fehlte 
die  Unterschrift  und  ausserdem  waren  die  Andeutungen  über  die 
Unabhängigkeit  Finnlands  geeignet  die  Conföderirten  zu  corapromit- 
tiren.  In  bitteren  Ausdrücken  klagt  K.  G.  Armfeldt  in  einem  Briefe 
an  Sprengtporten  darüber,  dass  die  Antwort  aus  Petersburg  so  unbe- 
friedigend ausgefallen  sei.  Sprengiporten  übernahm  es,  die  Handlungs- 
weise der  Kaiserin  zu  erläutern.  Er  versicherte  Armfeldt  in  einem 
ausführlichen  Schreiben:  die  Kaiserin  denke  nicht  daran,  die  Bande, 
welche  Finnland  an  Schweden  knüpften,  lockern  zu  wollen;  sie  wolle 
nur  zum  Nutzen  eines  grossherzigen  und  leidenden  Volkes  den  Krieg 
beendigt  wissen;  dass  sich  die  Kaiserin  zunächst  an  die  Finnen  allein 
und  nicht  auch  an  die  Schweden  wende,  sei  eine  natürliche  Folge 
des  Umstandes,  dass  sich  die  erstereli  an  sie  gewandt  hätten;  den 
Schweden  werde  sie  dasselbe  sagen,  was  sie  gegen  die  Finnen 
geäussert  habe;  nur  um  die  Beseitigung  usurpirter  Rechte  handle 
es  sich ;  nur  ein  verfassungsmässiger  Reichstag  könne  allem  Unglück 
ein  ■  Ende  machen,  das  durch  einen  ungerechten  und  willkürlich 
begonnenen  Krieg  herbeigeführt  worden  sei. 

Ein  Zeitgenosse  versichert  uns,  der  Graf  Meyerfeldt  sei  Zeuge 
gewesen,  wie  Graf  Armfeldt  dieses  Schreiben  erhielt  und  dahin  be- 
antwortete, dass  die  Mittheilungen  Sprengtporten's  zu  allgemeiner 
Beruhigung  gereicht  hätten,  da  man  durchaus  die  Erhaltung  des 
Bandes  wünsche,  welches  Finnland  und  Schweden  vereinige.  0 

Am  12.  (23.)  August  hatte  Sprengtporten  eine  Zusammenkunft 
mit  Leionhufvudt:  er  schlug  vor,  Armfeldt  solle  seine  Truppen  mit 
den  russischen  vereinigen.  Auf  die  Bemerkung,  Armfeldt  sei  ent- 
lassen und  durch  den  Grafen  Meyerfeldt  ersetzt,  erwiderte  Sprengt- 
porten: Meyerfeldt  sei  unbeliebt,  man  solle  sich  gegen  ihn  auflehnen. 

I 

|Die  Aeusserung  Sprengtporten's,  dass  man  an  eine  Selbständigkeit 
"^^Finnlands  nicht  denken  solle,  erklärte  sich  vielleicht  dadurch,  dass 
iDejer-vermuthen  konnte,  Leionhufvudt,  ein  geborener  Schwede,  werde 
^^keinesfalls  für  eine  Trennung  Finnlands  von  Schweden  stimmen. 

Bald  darauf,  am  15.  (26.)  Aug.,  fand  eine  Zusammenkunft  zwischen 
's  I Sprengtporten  einerseits  und  den  finnischen  Offizieren  Armfeldt, 
-^  Hästesko  und  Taube  statt.  Hier  sprach  Sprengtporten  wiederum 
^^  j  von  der  Unabhängigkeit  Finnlands :  er  stelle  den  Offizieren  vor, 
dass  sie  sich  den  grössten  Gefahren  aussetzten,  wenn  «ie  auf  halbem 


*)   Die   Briefe   Annfeldt's   werden    in    der   Handschrift   des   schwedischen 
Offiziers  mitgetheilt. 


336  Der  ÄnjalabuDd  in  Finnland,  1788. 

Wege  stehen  blieben.  Besonders  Armfeldt  widersprach  lebhaft.  Man 
trennte  sich  in  völliger  Meinungsverschiedenheit.  'J 

^uch  der  Baron  Hastfehr  hatte  eine  Zusammenkunft  mit  Sprengt- 
porten.  Dieselbe  fand  zu  Anfang. Sept.  in  dem  Dorfe  Kayhkä  statt.  *) 
Hier  war  zunächst  von  der  Berufung  eines  finnischen  Reichstages 
die  Rede,  welcher  unweit  der  russischen  Grenze  in  der  Provinz 
Savolax  zusammentreten  sollte.  Gegen  Hastfehr  konnte  Sprengtportea 
ofifener  sein;  ohne  zum  Anjalabunde  zu  gehören  war  Hastfehr  ein 
entschiedener  Anhänger  der  Adelspartei  und  vertrat  die  Idee  des 
Separatismus.  Eine  Zeitlang  erschien  er  dem  Könige  loyal  Um  so 
rückhaltloser  gab  er  sich  den  Einflüsterungen  der  rassischen  Militärs 
hin.  Bei  diesem  Zusammentreffen  hat  er  einen  Revers  ausgestellt: 
er  werde,  sobald  er  durch  authentische  Papiere  von  den  Intentionen 
der  Ifaisefin  Eenntniss  haben  werde,  seinerseits  nach  Kräften  filr 
die  Verwirklichung  des  Planes  mitwirken,  Finnland  zu  einem  un- 
abhängigen Grossherzogthnm  zu  machen.  0  Später,  als  ihm  der 
Procees  gemacht  wurde,  erklärte  Hastfehr,  er  habe  jenen  Revers 
ausgestellt,  um  die  russischen  Entwürfe  zu  erfahren  und  dieselben 
sogleich  dem  Könige  mittheilen  zu  können.  Allerdings  theilte  er 
dem  pönige  sowohl  als  dem .  Herzoge  Karl  von  Südermannland 
mancherlei  über  seine  Beziehungen  zu  Sprengtporten  mit,  aber  es 
geschah  wohl  wesentlich,  um  nach  beiden  Seiten  hin  gedeckt  zu  sein. 
Gewiss  ist,  dass  er  bei  dieser  Zusammenkunft  dem  Baron  Sprengt- 
porten Briefe   einhändigte,   welche  er  vom  Könige   erhalten  hatte.  *) 

Ein  Zeitgenosse  bemerkt  etwas  spitz,  die  Schweden  hätten  in 
diesem  Kriege  nicht  sowohl  Soldaten  gebraucht,  als  Trompeter,  um 
bei  dem  ewigen  Parlamentiren  und  den  gegenseitigen  Besuchen 
schwedischer  und  russischer  Offiziere  Dienste  zu  leisten. 


')  Rein  109-111. 

")  Rein  sagt,  die  ZusammenkunfC  habe  zwischen  dem  7.  (18.)  n'.  9.  (20.)  Aug 
Btattgefundea.  Haimanen  spricht  vom  7.  (18.)  und  9.  (20.)  September.  Hätte 
Rein  Recht,  so  könnte  man  den  am  S,  (19.  i  August  bewerkstelligten  Rückzug 
von  NyÜott  als  eine  Wirkung  der  Besprechung  ansehen.  Dass  indessen  Ualmanen 
Recht  hat,  wird  erstens  dadurch  bezeugt,  dass  Sprengtporten  den  7.  (18.)  oder 
8.  (19.)  August  in  St.  Petersburg  ankam,  und  zweitens  dadurch,  dass  die  Nachricht 
von  der- Ausstellnng  des  Revoi'ses  und  dessen  Inhalt,  nach  Chi'apowitzki,  am 
12.  (23.J  ijder  13.  (24.)  September  iu  Petersburg  angelangt  sein  muBS. 

')  Der  Revers  lautetei  Je  soussignf  prometa  da  cuneourir,  autaat  que  je 
puis,  au  projet  d'independance  du  grand  duchä  de  Finlande,  auseitdt  que  je 
serais  pourvu  des  papiers  authentiques  de  la  part  de  sa  M.  J.  de  toutes  les 
Rasaies  pour  en  apprejidre  sa  haute  voloutö."    s.  Rein  115,  156.   Haimanen  119. 

*)  Tagebuch  Chrapowitski's  am  13.  September  1788. 


Der  Anjakbund  in  Finnland,  1788.  337 

Katharina  war  von  Allem  genau  unterrichtet  was  vorging.     In 
ihrem  leider  nicht  herausgegebenen  Briefwechsel   mit  Sprengtporten 
müssen    wichtige   Aufschlösse    über    diese   Verhandlungen    enthalten 
sein.     Indessen  auch  das  in  dieser  Zeit  besonders  reichhaltige  Tage- 
buch   Chrapowitzki's    bietet    vielfache    Angaben    über   den    Verkehr 
zwischen    den    russischen    Militärs    und    den    Gegnern    des    Königs. 
General  Güntzel  schrieb  über  die  Stimmung  und  Haltutig  des  Grafen 
K.  G.  Armfeldt,  der  „den  Russen  sehr  gewogen  sei",  er  bedauerte, 
dass   Schweden   und  Finnen    sich  noch  nicht  endgültig    wegen   der 
Berufung    des   Reichstages   geeinigt   hätten.     Graf  Mussin- Puschkin 
meldete,  dass  Sprengtporten,  da  die  Sache  sich  in  die  Länge  ziehe, 
russische  Truppen  in  der  Nähe  der  schwedisch-finnischen  Grenze  zu 
concentriren  wünsche.     Aus  Petersburg  wurde  der  Auftrag  gegeben, 
man  solle  die  Finnen,  für  den  Fall,  dass  der  König  sie  nach  Schweden 
hinüberführen  lassen  wolle,  zum  Ungehorsam  reizen;  es  galt  Gustaf  III. 
Streitkräfte  gegen  Dänemark  möglichst  zu  verringern.   Neuen  Nach- 
richten zufolge  sollte  der  König  das  Verlangen  eines  Reichstages  mit 
den   entschiedenen  Worten  zurückgewiesen  haben:  er  werde  nie  von 
seinen  Unterthanen  Befehle  annehmen.     Wiederum  ging  von  Peters- 
burg die  Instruction  ab,  man  solle  doch  die  Bestimmung  des  Jahres  1772 
geltend  machen,  dass  ein  Angriffskrieg  ohne  Einwilligung  des  Reichs- 
tages ungesetzlich  sei.   Der  Major  Jägerhorn  schrieb  an  Sprengtporten, 
man  solle   nicht  zu  sehr   drängen  und  eilen;   man  müsse  noch  die 
Antworten   über   die  Stimmungen  entfernt-  stationirter  schwedischer 
Regimenter    abwarten.     Derselben    Meinung,    d^ss*  man'  die    Dinge 
allmälig  reifen  lassen  müsse,  war  auch  der  Vicekan zier  Ostermann, 
welcher    dem    Baron    Sprengtporten    rathen    liess,    persönliche    Be- 
sprechungen, welche  ihn  der  Gefahr  der  GefangenneTimung  aussetzten, 
zu   vermeiden    und    sich    auf   brieflichen   Verkehr    zu    beschränken. 
Sprengtporten  erhielt  1000  Dukaten  von  der  Kaiserin  zum  Geschenk ; 
4000  Dukaten  wurden  dem  Grafen  Mussin-Puschkin  zur  Verfügung 
gestellt,   „zu  Belohnungen    an    die  Finnen  je   nach   den   geleisteten 
Diensten".   Die  Kaiserin  leitete  alle  diese  Angelegenheiten  persönlich. 
Chrapowitzki   erwähnt  am   25.  August  (5.  Sept.)   eines   Briefes  der 
Kaiserin  an  Sprengtporten,  worin  ausdrücklich  die  Absicht  mitgetheilt 
werde,  die  Finnen   ganz  von   Schweden  zu  trennen:    er   solle   den 
Finnen  vorstellen,   welchen   Gefahren    sie    sich  aussetzten  wenn  es 
nicht  dazu  käme,  und  wie  dringend  es  sei,  einen  solchen  Entschluss 
zu  fassen;  dann  solle  Sprengtporten  den  Oberbefehl  übernehmen:  es 
werde  sowohl  den  Finnen  als  Russland  Vortheile  bieten. 


338  Der  Änjalabund   ia  Finnland,  1788. 

Der  Verrath  Hastfehr's  flösste  indesBen  der  Kaiserin  doch  Ver- 
acbtang  ein.  „Was  für  Verräther!"  sagte  sie  als  Hastfehr  den  oben 
erwähnten  Revers  unterschrieben  und  des  Königs  Briefe  ausgeliefert 
hatte,  „wäre  der  König  anders,  so  könnte  man  fast  Mitleid  mit  ihm 
haben;  aber  was  soll  man  machen?  man  muss  die  Gelegenheit 
benutzen,  dem  Feinde,  wenn  es  sein  kann,  die  Mütze  vom  Kopfe 
werfen.  Fast  fürchte  ich  mich,  solche  Papiere  zu  zeigen."  „Wie 
der  Pfaffe,  so  die  Beichtkinder,"  bemerkte  Chrapowitzki,  und  der 
Günstling  Dmitrijew  Maraonow  fügte  hin7.u:  „D^r  Pfaffe  ist  ein  Narr 
und  die  Beichtkinder  smd  Schelme."  —  Vier  Wochen  später  langte 
ein  Brief  des  Barons  Hastfehr  an  Sprengtporten  tin,  worin  der  erstere 
bemerkte,  Gustaf  habe  ihm,  falls  er  Nyflott  nehme,  10,000  Thaler 
versprochen,  jetzt  bitte  er  um  Auszahlung  dieser  Summe  durch  Russ- 
land ;  gleichzeitig  bat  er  um  Aufnahme  in  russische  Dienste,  um  gegen ' 
die  Türken  oder  gegen  die  Preussßn  zu  kämpfen.  Katharina  sagte: 
„Ein  schöner  Diener,  der  sich  dem  Meistbietenden  verkauft;  aber 
bezahlen  muss  man  ihn  doch."  ') 

Mittlerweile  erfuhr  man,  dass  der  Bruder  des  Königs  in  Finnland 
eingetroffen  sei  und  den  Oberbefehl  über  die  Truppen  übernommen 
habe.  Es  war  eine  Frage  von  der  grössten  Wichtigkeit,  wie  er  sich 
zu  den  Dingen  stellen  würde. 


Die   Beziehungen   des  Königs    zu   seinen   Brüdern    waren   nicht 
eigentlich   sehr,  innig  und.  offen.     Man   hielt   den   Herzog  Karl   von 
Südermann land    für    einen    gefährlichen    Nebenbuhler    des    Königs. 
Man  traute  ihm  zu,  er  werde  gemeinsam  mit  der  Opposition  gegen 
den  König  vorgehen.      Schon   früher   hatte   er  mit   dem   Adel   Ver- 
bindungen unterhalten.     Wir  sahen,   wie  Sprengtporten   es   wagen 
konnte,    ihm    Finnlands    Krone    anzutragen.     Man    wusste,    dass    er 
persönlich     gegen    den     Krieg     gestimmt     war    und    konnte    somit 
erwarten,  dass   er   die   Conföderirten   gewähren   lassen  werde.      Bei 
hrend  der  Seeschlacht  ungewöhnlichen  Muth 
dem    Könige   Vorwürfe    gemacht:     der    Krieg 
Vorbereitung  begonnen  worden.   In  der  Kunst 
er  dem  Könige.     Keine  Partei  wusste,  als  er 
)efehl  übernahm,  wie  sie  mit  ihm  daran  war. 
iberraschend ,   wenn  die   Conföderirten,  deren 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  339 

Beziehungen  zu  Russland  doch  zu  keinem  Resultate  führten,  mit 
dem  jüngsten  Bruder  des  Königs,  dem  Herzog  Friedrich  Adolph  von 
Ostgothland  anzuknüpfen  suchten. 

Dieser,  der  Lieblingssohn  der  Königin-Mutter,  welche  bekanntlich 
in  stetem  Zerwürfniss  mit  Gustaf  lebte,  hatte  sich  Hoffnungen  gemacht, 
dass  der  König  ihm  den  Oberbefehl  in  Finnland  übertragen  werde. 
Es  war  bereits  früher,  wie  wir  oben  bemerkten,  davon  die  Rede 
gewesen,  die  Königin-Mutter  beabsichtige  ihm  den  Thron  eines  selb- 
ständigen Herzogthums  Finnland  zuzuwenden.  Jetzt  hofften  die 
Conföderirten  ihn  als  Oberbefehlshaber  begrüssen  zu  können.  Ver- 
treter  des  Anjalabundes,  Montgommery  und  Mannerheim,  hatten  ihm 
ihre  Freude  darüber  ausgedrückt,  ihn  an  der  Spitze  des  Heeres  zu 
sehen.  Die  obenerwähnten  Actenstücke  der  Conföderirten  waren  ihm 
mitgetheilt  worden.  0 

Indessen  nicht  er,  sondern  Herzog  Karl  ward  zum  Oberbefehls- 
haber in  Finnland  ernannt.  Es^  charakterisirt  die  Beziehungen 
zwischen  den  Brüdern,  dass  hierauf  Herzog  Friedrich  Adolph  seine 
Entlassung  forderte  mit  dem  Bemerken,  er  halte  es  für  unangemessen, 
unter  der  gegenwärtigen  Regierung  an  den  Geschäften  irgend  welchen 
Antheil  zu  nehmen.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  der  König  die 
Entfernung  des  Herzogs  aus  Finnland  wünschte  und  veranlasste. 
.Missmuthig,  grollend  zog  sich  Friedrich  Adolph  zurück;  er  lebte  fortan 
in  der  ländlichen  Abgeschiedenheit  seines  Gutes  bei  Stockholm. 

Gustaf  hatte  dem  Herzog  Karl  eingeschärft:  1)  dem  Verlangen 
der  Berufung  eines  Reichstags  nicht  nachzugeben ;  2)  keinen  Waffen- 
sillstand  zu  schliessen ;  3)  keinesfalls  das  schwedische  Lager  in  der 
Südwestecke  des  russischen  Finnlands  zu  räumen. 

Allerdings  begann  der  Herzog  mit  der  Bekanntmachung,  da^s 
er  jeden  Ungehorsamen  sogleich  erschiessen  lassen  werd^.  Gleich- 
zeitig aber  verlegte  er  sein  Hauptquartier  nach  Lovisa  im  schwedischen 
Finnland,  während  der  Heerd  der  Conföderation  in  der  Nähe  der 
Grenze  im  russischen  Finnland  verblieb.  Der  Obercommandirende 
der  Flotte,  Ankarswärd,  welcher  bereits  dem  Könige  die  Nothwendig- 
keit  Frieden  zu  machen  vorgestellt  hatte,  bemerkte  dem  Herzog,  er 
müsse  mildere  Saiten  aufziehen,  die  Gefahr  der  Situation  erheische 
die  grösste  Vorsicht.  Ankarswärd  berief  seine  Offiziere  zu  einer 
Besprechung;  sie  erklärten,  dass  sie  das  Benehmen  der  Conföderirten 
tadeln,   aber  auf  der  Berufung  eines  Reichstags  bestehen  müssten. 


1)  8.  Malmanen  passim. 


340  Der  Ahjälabund  iü  Pinnland,  1788. 

In  Anjala  fand  ebenfalls  eine  Besprechung  der  Coölöderirten  ötait: 
man  beschloss  eine  Deputation,  Montgommery  an  deren  Spitze,  an 
den  Herzog  zu  senden  und  ihn  um  die  Berufung  eines  Reichstags, 
den  Abschluss  eines  Waffenstillstandes,  die  Räumung  des  russischen 
Finnlands  zu  ersuchen.  Die  Deputation  ward  anfangs  von  dem 
Herzog  mit  Vorwürfen  empfangen,  aber  er  versprach  mit  Russland 
in  Unterhandlungen  zu  treten:  er  sehe  ein,  man  müsse  Frieden  haben. 
Es  kamen  Deputationen  von  den  Seeoffizieren,  von  den  Gardeofßzieren 
mit  denselben  Forderungen.  Ausdrücklich  bemerkt  einer  der  eifrig- 
sten Anhänger  der  Conföderirten,  Klick,  der  Herzog  habe  den 
Antragstellern  Versprechungen  gemacht. ')  Ein  anderer  Zeitgenosse, 
der  dem  Könige  anhing,  sagt,  es  sei  auffallend  gewesen,  dass  Meyer- 
feldt  seinen  Offizieren  die  Besprechungen  mit  den  russischen  Offizieren 
gestattete  und  dass  Herzog  Karl  mit  denselben  Personen  freundlich 
verkehrte,  die  der  König  hätte  verhaften  lassen  sollen.  Es  galt 
damals,  sagt  derselbe  Berichterstatter,  für  ausgemacht,  dass  Karl  auf 
alle  Anträge  der  Opposition  eingehen  werde,  aber,  fügt  er  hinzu, 
Karl  glich  seinem  Bruder  in  der  Kunst  der  Verstellung.  ^)  Er  wollte 
Zeit  gewinnen. 

So  wich  denn  Herzog  Karl  vorläufig  wenigstens  von  den  ihm 
vom  Könige  gegebenen  Instructionen  ab.  Nicht  nur,  dass  er  dem 
unmittelbaren  Verkehr  mit  den  Russen  kein  Ziel  setzte:  er  selbsfe 
äusserte  den  Wunsch,  mit  dem  Grossfürsten  Paul  von  Russland, 
welcher  damals  sich  in  Finnland  befand,  zur  Eröfliiung  von 
Unterhandlungen  zusammenzutreffen.  Dieses  konnte  in  den  Augen 
der  Königlichen  um  so  eher  Bedenken  erregen,  als  der  Herzog 
dem  Grossfürsten  durch  solche  Persönlichkeiten  Anträge  machen  Hess, 
welche  in  der  Confoderation  von  Anjala  von  grösstem  Einflüsse 
waren.  Zuerst  schickte  er  den  Major  Jägerhom  an  den  Grossfürsten, 
um  ihn  zu  einer  Zusammenkunft  aufzufordern.  Der  Grossfürst  ant- 
wortete ausweichend,  fragte  bei  der  Kaiserin  an  und  erhielt  die 
Weisung,  eine  Zusammenkunft;  abzulehnen.  ^)  Ein  zweites  Mal  schickte 
der  Herzog  den  Obersten  Montgommery,  der  besonders  eifrig  den 
Verkehr  zwischen  den  verschiedeilen  Regimentern  zur  Verbreitung  der 
Confoderation  vermittelt  hatte  und  im  t^ssischen  Lager  Freunde  besass. 
Aber  der  Grossftirst  empfing  ihn  kalt   und  verwies   dier  Schweden 


0  Malmanen  107—109. 

^)  Handschrift  in  der  Bibl.  zu  St.  Petersburg. 

3)  Chrapowitzki*s  Tagebuch,  25.  August. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  341 

behufs  der  Eröffnung  von  Friedensunterhandlungen    an  den   Ober- 
befehlshaber der  russischen  Truppen,  Grafen-Mussin-Puschkin,  ^> 

* 

Indessen,  wenn  es  auch  nicht  zu  einer  persönlichen  Begegnung 
zwischen  dem  Herzog  und  dem  Grossfürsten  kam,  so  hatte  doch  jener 
eine  Zusammenkunft  mit  russischen  Offizieren  und  dieser  gedachte 
eine  wie  zufällig  herbeigeführte  Besprechung  mit  schwedischen  Offi- 
zieren zu  veranstalten.  Ueber  diese  Vorgänge  giebt  unsere  Hand- 
schrift in  der  kaiserlichen  .Bibliothek  zu  St.  Petersburg  folgende» 
Aufschluss : 

In  einem  an  den  Grafen  K.  G.  Armfeldt  gerichteten  Schreiben, 
welches  indessen  zufällig  dem  Grafen  Meyerfeldt  übergeben  wurde, 
schrieb  Baron  Sprengtporten ,  der  Grossfürst  werde  wie  zufällig 
zwischen  10  und  11  Uhr  als  auf  einer  Recognoscirung  begriffen  im 
Dorfe  Memmelä  eintreffen :  es  würde  ihm  lieb  sein,  dort  mit  schwe- 
dischen Offizieren  zusammenzutreffen.^)  Sobald  ein  Trompeter  mit 
einem  Schreiben  Sprengtportens  erscheinen  werde,  sei  dieses  als  ein 
Zeichen  anzusehen,  dass  der  Grossfürst  mit  seinem  Gefolge  sich 
nähere.  Bald  darauf  langte  der  Trompeter  mit  der  Nachricht  an, 
dass  der  Grossfürst  in  Memmelä  warte,  aber  die  schwedischen 
Offiziere  lehnten  in  den  höflichsten  Ausdrücken  eine  Zsammenkunft 
ab.  Der  Offizier,  welcher  dem  russischen  Parlamentär  diesen  Bescheid 
gab,  geleitete  denselben  bis  zu  den  russischen  Vorposten.  Während 
sie  miteinander  ritten,  bemerkte  der  russische  Offizier:  der  Thron- 
folger, die  Kaiserin  und  alle  Russen  seien  untröstlich  darüber,  mit 
den  Schweden  kämpfen  zu  müssen.  Er  lud  den  schwedischen 
Offizier  ein,  bei  dem  Grossfürsten  zu  speisen,  aber  auch  dieses  ward 
abgelehnt.     Der  Grossfürst  ritt  zurück  ins  russische  Lager. 

Noch  einmal  versicherte  Baron  Sprengtporten  in  dem  vom  Trom- 
peter übergebenen  Schreiben,  wie  sehr  die  Kaiserin  den  Edelmuth 
und  Patriotismus  der  Conföderirten  zu  würdigen  wisse,  wie  sehr  sie 
die  Berufiing  eines  Reichstages  billigen  würde,  wie  lebhaft  sie  eine 
innige  Freundschaft  zwischen  Russland  und  Finnland  wünsche.  Sie 
unterscheide,  fügt  er  hinzu,  die  Sympathien  einer  unschuldigen  Nation 
von  dem  Verrath  eines  leichtsinnigen  und  seinen  eigenen  Vortheil 
nicht  kennenden  Fürsten.^)     Noch  einmal  werden  die  Conföderirten 


1)  Chrapowitzki.    Rein  127.    Handschrift  des  schw.  Off. 

.*)  „Son  projet  n'est  que  de  voir  votre  position,  mais  s'il  noas  arrivait  de 
vous  rencontrer  par  hazard,  cela  lui  serait  agr^able." 

3)  „Sacbant  parfaitement  distinguer  les  dispositions  d*une  nation  innocente 
d^avec  la  trahison  politique  d'un  prince  leger  et  m^connaisant  ses  interSts.^  Hndschr. 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  7  u.  8.  23 


Mi  I>er  ADJalttbnnd  in  Pinnlaiid,  1788. 

anfgefordtirt,  in  einen  „corps  repr^sentant  de  toute  la  Dation"  zilsam- 
meazutreten ,  worauf  denn  die  Friedensunterhandlungen  sogleich 
begannen  könnten.  Mittlerweile  bat  Sprengtporten,  ihm  die  MögSch- 
keit  fortdauernden  persönlichen  und  brieflicheo  Verkehrs  mit  den 
schwedischen  OilGzieren  zu  bieten. 

Herzog  Karl  gestattete  bald  darnach  eine  Zusammenkunft  zwischen 
mehreren  Vertretern  beider  Heerlager,  Sprengtporten  begann  die 
Unterredung  in  schwedischer  Sprache;  die  Schweden  antworteten 
französisch.  Sprengtporten  schlug  eioen  kameradschafl:Iichen  Ton  an, 
stellte  seinen  Sobn  dem  Grafen  Meyerfeldt  vor,  scherzte  mit  dem 
Obersten  Hästesko,  mnsste  aber  vom  General  Kaulbarz  Vorwürfe 
hören.  Dem  letzteren  wurde  der  Antrag  gemacht,  nach  Frederiks- 
hamm zu  gehen,  um  dort  die  Unterhandlungeo  wegen  des  Friedens 
zu  eröffnen.  Er  lehnte  es  ab.  Man  schied  ohne  zu  einem  Ergebniss 
gekommen  zu  sein. 

Einer  Euideren  Zusammenkunft  mit  russischen  Oiißzieren  wohnte 
der  Herzog  Karl  selbst  bei.  Gegen  Sprengtporten,  welclier  wieder 
eine  Hauptrolle  spielte,  äusserte  er  seine  Verwunderung  ihn  hier  zu 
finden,  worauf  dieser  die  Tactlosigkeit  hatte,  die  Schweden  mit  der 
Bemerkiing  zu  reizen,  dass  die  Schlacht  bei  Hogland  ein  Sieg  der 
Russen,  nicht  der  Schweden  gewesen  sei.  Ohne  darauf  Acht  zu  geben 
unterhielt  sich  der  Herzog  mit  anderen  russischen  Offizieren. '} 

Aus  diesen  Angaben,  an  deren  Glaubwürdigkeit  zu  zweifeln  wir 
keinen  Grund  haben,  geht  hervor,  dass  ausser  den  Vertretern  der 
Gonföderation  der  Herzog  Karl,  Graf  Meyerfeldt,  General  Kaulbarz 
persönlichen  Verkehr  mit  den  Russen  hatten.  Es  waren  Männer, 
welche  das  Interesse  des  Königs  vertraten  oder  vertreten  sollten;  sie 
Terlefzten  die  gemessensten  Befehle  Gustafs  indem  sie  wegen  des 
Friedens  oder  Wadenstillstandes  unterbandelten. 

Zu    dem     förmlichen    Abschluss     eines    Waffenstillstandes,    von 

welchem  wohl  hier  and   da.  in  historischen   Werken   die  Rede   ist, 

kam  es  nicht.     Dagegen  ward  eine  Uebereinkunft  über  den   freien, 

unbehinderten  Abzug  der  Schweden  aus  der  Südwestecke  des  nissl- 

"■     '      '         '  cofFen.     Aus  dem  Tagebuche  Chrapowitzki'e  geht 

iachen  Truppen  von  Petersburg  aus  Befehl  hatten, 

em  Lager  bei  Kymmenegard  und  Högfoi-s  in  der 

sischen  Finnlands  zu  vertreiben,  dass  mancherlei 

Angriff  auf  die  Schweden  getroffen  wurden,  dass 


B&r  Anjalabuiid  in  Finnland,  1788-  343 

Man  aber  trotzd^fo  die  ganze  Zeit  hindurch  hin  und  her  parlamentirte. 
Beiden  Theilen  erschien  ee  angemessener,  unnützes  Blutvergiessen 
25U  vermeiden,  sich  wegen  des  Abzuges  der  Schweden  zu  ver- 
gleichen. 

Die  ConfÖderirten  konnten  sich  für  berechtigt  halten,  den  Herzog 
Karl  als  ihren  Bundesgenossen  anzusehen.  Auch  nachdem  die 
Schweden  das  russische  Pinnland  geräumt  hatten  (14.  (25.)  Septbr.), 
scheint  derselbe  die  Unterhandlungen  fortgesetzt  zu  haben.  Ein  paar 
Tage  später  (16.  (27.)  September)  schrieb  er  an  Reuterholm,  er  hoffe 
d^n  Waffenstillstand  mit  seiner  lieben  Cousine  in  drei  bis  vier  Tagen 
abzuschliessen.  Man  sagte  damals,  Karl  beabsichtige  das  Heer  nach 
Schweden  hinüberzuführen  und  den  König  zu  entthronen.  So  hofften 
die  Conföderirten,  unter  denen  indessen  auch  Stimmen  laut  wurden, 
es  sei  dem  Herzog  nicht  zu  trauen,  er  könne  die  Mitglieder  des 
Anjalabundes  sicher  machen  wollen,  um  sie  um  so  gewisser  zu  ver- 
derben. Man  erwartete  übrigens,  dass  die  Generale  Platen  und 
Meyerfeldt  allenfalls  für  den  König  gegen  den  Herzog  in  die  Schranken 
treten  würden. 

Die  Nachrichten  von  Gustafs  entschiedenen  Erfolgen  in  Schweden, 
von  seinen  Siegen  im  Kampfe  mit  den  Dänen  ändertet  sichtlich  die 
Haltung  des  Herzogs.  Hatte  derselbe  bis  dahin  gestattet,  dass  die 
Confbderirten  in  seiner  Gegenwart  in  wegwerfendem  Tone  von  dem 
Könige  sprachen,  so  verbot  er  dieses,  nachdem  er  die  Nachrichten 
von  dem  heroischen  Auftreten  Gustafs  in  Gothenburg  erhalten  hatte^ 
auf  das  Entschiedenste.  Ende  October  veröffentlichte  er  einen  Tages- 
befehl, alle  Pflichten  gegen  den  König  genau  zu  erfüllen,  gleichzeitig 
warnte  er  vor  böswillig  verbreiteten  Gerüchten.  Ende  November 
verliess  er  Finnland,  wo  zuerst  Graf  Posse,  sodann  Graf  Meyerfeldt 
als  Oberbefehlshaber  zurückblieben. ') 


In  Schweden  selbst  gährte  es.  Der  Adel  hatte  keinen  Krieg 
gewollt.  Man  spottete  über  die  Eitelkeit  des  Königs,  über  dessen 
Prahlerei  bei  Eröffnung  des  Feldzuges.  ^)  Lieder  von  Freiheit  und 
Gesetzmässigkeit,   in  denen  der  König  als  Despot  bezeichnet  wird, 


0  Rein  130-139. 

*)  8.  u.  A.  S^gur  M^m. 

23* 


344  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

gingen  von  Hand  zu  Hand.  0  So  oft  Unfälle  aus  Finnland  gemeldet 
wurden,  gab  es  Feste  und  Gastereien  bei  den  schwedischen  Grossen ; 
bei  den  Nachrichten  von  errungenen  Vortheilen  Erschien  man  in 
Trauerkleidern.  ^)  Man  suchte,  als  die  Rjsgierung  neues  Papiergeld 
ausgab,  dasselbe  bei  dem  Volke  in  Misscredit  zu  bringen,  ^)  Stedingk 
warnte  den  König  wiederholt  vor  den  lauernden  Feinden  in  der 
Hauptstadt.  ^) 

Es  bestanden  Einverständnisse  des  oppositionellen  Adels  mit  dem 
Grafen  Rasumowski,  der  Anfang  August  noch  in  der  Hauptstadt 
weilte,  und  mit  den  Conföderirten.  *)  Letztere  forderten  die  Häupter 
der  Opposition  in  Schweden,  den  Grafen  Fersen  und  den  Baron 
de  Geer  auf,  den  König  zur  Berufung  eines  Reichstages  zu  zwingen. 
Ein  Emissär,  der  verabschiedete  Capitän  Elmen,  kam  im  Auftrage 
der  Unzufriedenen  nach  Finnland,  stand  dort  im  Verkehr  mit  den 
Conföderirten,  sollte  sogar  nach  St.  Petersburg  reisen,  um  die  Inten- 
tionen der  Kaiserin  auszukundschaften,  doch  liess  ihn  Graf  Meyerfeldt 
warnen  und  er  erschien  alsbald  wieder  auf  schwedischem  Gebiete.  ^) 

Doch  hatte  der  König  noch  bedeutenden  Anhang  in  Schweden, 
Er  verstand  es,  durch  Reden  und  Manifeste  auf  die  allgemeine  Stim- 
mung zu  wirken.  Offiziere,  welche  plötzlich  ihren  Abschied  ge- 
nommen hatten  und  in  Finnland  erschienen,  sollen  in  Stockholm 
insultirt  worden  sein.  Das  Volk  nannte  sie  Retter  ihres  eigenen 
Lebens.  0     Ebenso  gab  es  in  Finnland  Demonstrationen  von  Seiten 


')  8.  ein  solches  Lied  bei  Malmanen  113 — 115. 

')  Arndt,  Schwedische  Geschichten  108. 

3)  Rein  100.- 

*)  Stedingk,  Mem.  I.  118,  132. 

»)  Poßselt,  Gesch.  Gustafs  III.    Karlsruhe  1702.    S.  371  u.  372. 

*)  Malmanen  101,  bemerkt,  Elmen  sei  gegen  den  25. — 26.  September  im 
finnischen  Lager  gewesen.  Rein  sagt  125,  Stjemald  habe  Elmen  nach  Finnland 
geschickt.  S^ernald  aber  Ward  im  Frühling  1789  eine  Zeitlang  in  einer  Festung 
an  der  Grenze  Norwegens  in  Haft  gehalten,  s.  d'Aquila  IL  439. 

y)  Ueber  die  Wirkung  der  ersten  Mittheilungen  des  Königs  nach  dessen 
Rückkehr  nach  Schweden  s.  d'Aquila  a.  a.  0.  II.  137  u.  159.  Ueber  die  Auf- 
regung des  Pöbels  in  Stockholm  s.  d'Aquila  II.  129,  Malmanen  100.  Auch  Gustaf 
schrieb  darüber  an  Stedingk,  s.  Stedingk,  Mem.  1. 116.  —  Es  ist  nicht  unmöglich, 
dass  die  Gegner  des  Königs  in  Stockholm  von  dem  Plane,  den  König  zu  ver- 
haften, Kenntniss  hatten.  Eine  Stunde  vor  dem  Eintreffen  des  Königs  &us  Finnland 
wettete  ein  Gardecapitän  mit  einem  anderen  Offizier,  der  König  werde  nie  wieder 
in  Schweden  erscheinen ;  s.  Malmanen  102.  Gustaf  vermied  es  sich  in  der  Haupt- 
stadt lange  aufzuhalten.  Er  mochte  sich  doch  nicht  sicher  fühlen*,  s.  u.  A. 
GeflEi-oy  a.  a.  0.  665. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  345 

des  Volkes  gegen  die  Conföderirten.  Man  nannte  sie  Feiglinge. 
An  einzelnen  Orten,  wo  der  Oberst  Hästesko  erschien,  hat  man 
Galgen  errichtet  und  Hufeisen  (schwedisch  Pferdeschuh  —  Häs- 
tesko) daran  genagelt. ')  Wahrscheinlich  nicht  ohne  Theilnahme 
des  Königs  erschienen  Schmähschriften  gegen  die  Gegner  des 
Königs.  Dichter  besangen  die  Heldenthaten  in  der  Schlacht  bei 
Hogland;  Prediger  bezeichneten  die  Conföderirten  auf  der  Kanzel 
als  Verräther.  In  verschiedenen  Pamphlets  klagte  man  sie  der 
Feigheit,  Bestechlichkeit  lÄid  des  Eigennutzes  an;  sie  hätten  be- 
deutende Erfolge  im  Kriege  mit  den  Russen  verhindert;  der  Ent- 
wurf, ein  unabhängiges  Finnland  herzustellen,  bedeute  eine  noch 
schlimmere  Bedrückung  der  mittleren  und  unteren  Stände  durch  die 
Privilegirten.  ^)  Besonders  war  man  aufgebracht  über  Jägerhorn  und 
Spreügtporten.  ^) 

Die  Anhänger  des  Königs  im  Heere  gaben  ihrem  Unwillen 
gegen  die  Conföderirten  Ausdruck.  Als  man  dem  Grafen  Schwerin 
die  Urkunde  des  Bundes  brachte,  zerriss  er  dieselbe  in  Stücke  und 
bedrohte  jeden  seiner  Ofßziere,  der  beitreten  wollte,  mit  strenger 
Strafe.  Aehnliches  that  General  Platen.  Andere  schlugen  vor, 
Mannerheim,  welcher  den  Herzog  von  Ostgothland  auf  den  finnischen 
Thron  erheben  wollte,  verhaften  zu  lassen.  Graf  Stedingk  ver- 
öflFentlichte  eine  Ergebenheitsadresse,  von  vielen  Offizieren  unter- 
schrieben. Es  gab  Beispiele,  dass  OfSziere,  welche  die  Urkunde  des 
Anjalabundes  unterschrieben  hatten,  ihren  Namen  auslöschten.*) 
Kaulbarz  sagte,  die  Conföderirten  hätten  das  schwedische  Volk  entehrt, 
sie  seien  Feiglinge.^) 

.  Die  Lage  der  Conföderirten  verschlimmerte  sich.  Der  Baron 
Sprengtporten,  so  zufrieden  er  auch  mit  dem  Erfolge  seiner  Umtriebe 
in  Finnland  schien,  ®)  meldete  bald  aus  Petiörsburg,  eine  Fortsetzung 
der   Unterhandlungen    sei    unthunlich,    weil    der    Bund   noQh   keine 


ORein  133. 

«)  Malmanen  63,  64.    Rein  134. 

3)  M^moires  d*un  ofßcler  su^dois.  Handschrift  Der  Verfasser  überzeugte 
sich  auf  seiner  Reise  durch  das  schwedische  Finnland  von  der  den  Conföderirten 
ungünstigen  Stimmung.  Ebenso  schreibt  Stedingk,  I.  123,  132,  allgemein  werde 
er  wegen  seiner  Treue  gegen  den  König  gelobt;  die  Gegner  des  Königs  erführen 
bitteren  Tadel. 

*)  Rein  123—125. 

*)  M^moires  d'un  officier.    Handschrift. 

•)  Sacken's  Brief  aus  St.  Petersburg  vc^m  6.  (17.)  October  1788  bei  Herrmann, 
Gesch.  des  russ.  Staats,  VI.  195,  196. 


343  Der  AQJalabuad  in  Finnlaad,  1788. 

gesetzliche  Form  erlangt  habe. ')  Ein  trübe  Stimmnug  bemiclitigte 
sich  der  Conföderirten,  ja  man  sah  den  alten  Armfeldt  in  Thränen. 
Der  Anhang  des  Eönigs  ward  zahlreicher,  die  nationalen  und  mon- 
archischen Tendenzen  icewannen  die  Oberhand.  Von  allen  Seilen 
waren  die  finnischen  Regimenter  von  echwediscben  umgeben.  In 
Petersburg  erzählte  man,  die  Conföderirten  hätten  bereits  sich  reuig 
der  Gnade  des  Königs  empfohlen.') 

So  weit  war  es  allerdings  noch  nicht.  Der  Verkehr  mit  dem 
Baron  Hastfehr  und  den  russischen  Generalen  dauerte  noch  fort. 
Russischerseits  wurden  16,000  Dukaten,  Zobelfelle  und  andere  Ge- 
schenke an  die  Conföderirten  abgeschickt.  Man  bediente  eich  dabei 
eines  ehemals  in  schwedischen  Diensten  gewesenen  OilSziers  Tome  *). 
Thiesen hausen,  in  russischen  Diensten  stehend,  verbreitete  durch 
einen  Prediger  im  schwedischen  Finnland  BrochUren,  w^che  gegen 
Schweden  gerichtet  waren.  Gleichzeitig  sprengte  er  aus,  es  seien 
10,000  Mann  frischer  russischer  Truppen  und  4000  Baschkiren  auf 
dem  Wege  nach  Finnland:  es  werde  tou  den  Finnen  abhängen,  ob 
sie  als  Feinde  oder  als  Beschützer  kämen.  Er  forderte  die  Finnen 
aaf,  aus  dem  schwedischen  in  das  russische  Finnland  Überzusiedeln, 
wo  die  Kaiserin  ihnen  viele  Vorrechte  und  Freiheiten  gewähren 
wolle.  *)  Noch  andere  Agenten  trieben  ihr  Wesen  in  Finnland. ') 
Einem  von  ihnen  war  der  Auftrag  gegeben,  einige  Fässer  mit 
Fischen,  unter  denen  beträchtliche  Summen,  zu  Geschenken  für  die 
Finnen  beeÜmmt,  verborgen  waren,  über  die  Grenze  zu  bringen. 
Der  preossische  Gesandte  in  St.  Petersburg,  Baron  Keller,  erfuhr 
davon  undbewirkte,  dass  die  Schweden  sich  der  Fässer  bemächtigteit  ^J. 
Immer  noch  konnten  die  Russen  darauf  zählen,  in  Finnland  Anhänger 

<)  Handschrift. 

')  Am  17.  (2S.)  October  schreibt  Chrftpowitzhi,  der  Verkehr  der  RaaBeu  mit 
den  Finnui  sei  anterbrochea.  Am  IS.  Ifovember  Bthz&ibt  er  von  der  aus  Däne- 
mark eingetroffenen  Nachricht,  „que  les  FinlandaiB  ont  (ait  un  acte  de  BDumifaloD 
et  de  repentir  enrera  S,  M.  Su^doise  et  se  sont  räconcili^B  avec  £Ue-^ 

>)  Fast  Bclieint  es,  dass  Tome  ein  aimliches  Doppelspiel  gespielt,  wie 
Hastfetir,  s.  Rein  117.  Ans  unserer  Handschrift  geht  hervor,  dass  ein  Tome  im 
Winter  in  Stockholm  war  und  dem  Könige  von  der  Siellnng  der  RnsRen  bei 
Kezbolm  und  SerdomoUa  Bericht  erstattete. 

•)  üeber  Thiesenhanaen  b.  Rein  126,  und  d'Aqnila  n,  212.  213. 

*)  Ueber  den  Pastor  Karl  Andreas  Ejrulf,  dei  sich  sp&ter  unter  dem  Kiumb 
„HüUer"  in  Nowgorod  and  Twer  anfliielt,  bedeuteade  Jahi^elder  besog  ond 
schliesslich  in  die  Schweiz  auswandert«,  s.  das  russisehe  Archiv  i,rnssis«h)  1664, 
906—917,  Briefwechsel  der  Kaiserin  aut  Archarow. 

•)  B.  d'Aquil»  II,  187-188. 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  347 

zu  finden.  Der  Bürgermeister  von  Björaeborg  ward  angeklagt,  im 
Rathhause  einen  revolutionären  Aufruf  verlesen  zu  haben;  dasselbe 
hatte  ein  Assessor  Böse  in  der  Stadt  Wasa  gethan.  Der  Graf  Meyer- 
fleldt  liess  im  Winter  eine  ^das  Vaterland"  betitelte  Schmähschrift 
in  1500  Exemplaren  auf  dem  Markte  von  Lovisa  durch  den  Henker 
verbrennen.  Auch  von  einer  Flugschrift  des  Barons  Sprengtporten 
wird  berichtet;  er  schmähte  darin  in  den  heftigsten  Ausdrücken  die 
dem  Könige  treugebliebenen  Truppentheile  und  lobte  die  Con* 
fwlerirten  0» 

Der  König  verstand  es  vortrefiflich,  die  Stimmungen  zu  seioen 
Guns^ten  auszubeuten*  Schon  im  August  hatte  er  in  Bekannt- 
machungen an  die  Finnen  den  Gang  der  Ereignisse  erläutert,  Russ- 
lands Handlungsweise  aufgedeckt.  Nach  den  Ereignissen  bei  Gotben- 
burg,  wo  es  ihm  gelungen  war  den  Dänen  entgegenzutreten,  richtete 
er  (6.  December)  wieder  einen  Aufruf  an  die  Finnen,  in  welchem 
er  an  die  Vaterlandsliebe  der  Finnen  appellirte,  vor  den  Russen 
warnte,  seine  Bereitwilligkeit  erklärte,  sein  Leben  zu  lassen  für  die 
Vertheidigung  Finnlands  ^).  Die  Finnen  ^antworteten  mit  einer  Er- 
gebenheitsadresse, in  welcher  der  Unwille  über  die  Verrätherei  und 
Bestechlichkeit  der  Conföderirten  zum  Ausdruck  kam;  man  hasse 
das  Fremdenjoch  und  erkenne  die  Weisheit  der  Regierung  Gustafs 
an  ^).  Hier  und  da  boten  die  Bauern  in  Finnland  ihre  Dienste  ^ur 
Vertheidigung  der  Grenzen  an  *).  In  ganz  Finnland  fanden  mili- 
tärische Uebungen  statt  ^).  Ein  richtiger  Instinkt  leitete  die  Massen: 
man  wollte  statt  der  Adelsrepublik  eine  Monarchie. 

Die  Kaiserin  trat  den  Rückzi^  an.  In  den  letzten  Tagen  des 
Jahres  1788  befahl  sie,  man  solle  durch  Vermittelung  des  Departe- 
ments der  auswärtigen  Angelegenheiten  cten  „Russlsrnd  zugeneigten^ 
Finnen  den  Rath  ertheilen,  auf  ihre  Stellung  bedacht  zu  sein,  da  sie 
9uf  Russland  zu  bauen  keinen  Grund  mehr  hätten.  „Sie  mögen  um 
Gnade  bitten.  Wir  wollen  sie  nicht  täuschen,  ich  kann  ihnen  nicht 
helfen",  sagte  Katharina.  ^) 


»)  Rein  145.  Mem.  d'nn  off.  su6d.  D'Aquila  ü,  168,  169.  Heibig  erzählt 
in  seiner  Biographie  Potemkln's,  die  rassische  Regierung  habe  die  SehriÜ 
$prengtporten*6  ins  Finnische  übersetzen  und  in  IXKK)  £xempUten  verbreitien 
lassen.    Minerva  1798,  IV.  483  und  484. 

2)  d'Aquüa  U,  160—163. 

3}  d'Aquila  n,  214—216. 

^>d'Aquila  n,  212. 

*)  Rein  143. 

«)  Chrapowitzki,  Tagebuch,  30.  December  178>S. 


348  Der  ÄDJalabuiid  in  Finnland;  1788. 

Und  in  der  That  sannen  die  Conföderirten  auf  Rettung.  Der 
KOn^  hatte  Jägerhorn  zu  sich  beBcheiden  lassen,  um  ihn  im  Kampfe 
gegen  die  Dänen  zu  verwenden.  Er  stellte  eich  nicht  nnd  schützte 
Krankheit  vor.  Da  setzte  der  König  einen  Preis  von  3000  Thalern 
auf  Jägerhom's  Kopf')-  Ebenso  ward  ein  Preis  von  3— 5000  Thalern 
auf  Sprengtporten'fl  Kopf  gesetzt').  Graf  Meyerfeldt  machte  wohl 
den  Versuch,  den  Baron  auf  dessen  Gute  in  der  Nähe  von  Borga  zu 
verhaften,  aber  dieser  rettete  sich  durch  die  Flucht.  Jt^erhorn  blieb 
noch  eine  Zeitlang  im  schwedischen  Finnland  und  hielt  sich  auf  den 
Gütern  seiner  Verwandten  auf.  Hier  entwarf  er  noch  den  Plan  eines 
nordischen  Bundes  zwischen  Schweden,  Russland  und  Dänemark. 
Finnland  sollte,  durch  die  Zurückgabe  von  Frederikshamm,  Wilmen- 
strand  nnd  Nyflott  durch  Russland  vergrössert,  eine  Republik  bilden; 
Preussen  sollte  durch  Pommerns  Abtretung  zur  Gutheissung  einer 
solchen  Umgestaltung  bewogen  werden.  Klick  und  andere  Con- 
föderirten  nahmen  an  den  Berathungen  Theil,  die  auf  von  Essen's 
Gute  PaasQ  stattfanden.  Eine  Dame,  Fräulein  Krook,  machte  den 
Schriftfflhier  auf  diesem  „ Unabhängigkeitsreichstage",  wie  man  wohl 
diese  Sitzungen  bezeichnete  ^} 

Bald  darauf  erschien  Jägerbom  in  St.  Petersburg.  Als  Chrapo- 
witzki  der  Kaiserin  davon  als  von  einer  Stadtneuigkeit  erzählte, 
B^te  sie:  „Ich  weiss  schoni  Sei  still!  Dir  kann  man's  schon  sagen; 
er  ist  an  verschiedenen  Orten  gewesen,  hat  mit  den  Finnen  unter- 
handelt und  einen  grossen  Haufen  chiffrirter  Briefe  mitgebracht, 
welche  Sprengtporten  jetzt  entziffert.  .  Sprengtporten  und  Jägerhorn 
sind  jetzt  völlig  unser.  Die  Finnen,  vom  Prinzen  Karl  bedrängt, 
haben  uns  alles  mi^etheilt:  die  Stärke  und  Position  der  schwedischen 
Trappen.  Sie  sind  bereit^  im  Verein  mit  uns  die  Schweden  aus 
Finnland  zu  vertreiben"  *). 

Indessen  standen  die  Dinge  ganz  anders.  Während  man  in  St. 
Petersburg  Sprengtporten  belohnte,  ihm  Aemter  und  Titel  verlieh, 
ihm  zu  seiner  damals  stattfindenden  Vermählung  2000  Rbl.  schenkte, 
Hess  Gustat  ihn  steckbrieflich  verfolgen.  Während  die  verzweifeltsten 
Anhänger  des  Bundes  sich  mit  kühnen  Entwürfen  über  die  Selb- 
ständigkeit Finnlands  ergingen    und  eine  Vertreibung  der  Schweden 

')  ChrapowiUki,  16.  Aug.  1788.  M6m.  d'un  off.  Bufid.  Hein  119.  Weidemeier, 
der  ruBB.  Hof  n.  s.  w.  (rusa.)  1846.    II.  63. 

')  Minerva  1796,  IV.  484.     Weidemeier  II.  63. 

•)  Rein  119. 

*)  Chrapowitzki,  33.  November  1788. 


Der  Anjalabimd  in  Finnland,  1788.  349 

aus  Finnland  für  möglich  hielten,  war  bereits  ein  geheimer  Befehl 
zu  ihrer  Verhaftung  gegeben.  0  Erst  im  Februar  1789  traf  der  Graf 
Meyerfeldt  seine  Anstalten,  sich  der  Personen  der  Hauptanstifter  der 
Conföderation  zu  bemächtigen.  Jägerhorn  war  bereits  in  Sicherheit. 
Major  Klick  erschien  im  Januar  plötzlich  auf  dem  Gute  des  Capitäns 
Aminoff,  trat  in  dessen  Zimmer,  warf  einen  Packen  Briefschafken 
auf  den  Tisch  und  bemerkte:  „Man  will  uns  verhaften.  Verbergen 
Sie  diese  Papiere,  davon  hängt  das  Leben  vieler  hundert  Menschen  ab. 
Ich  gehe  nach  Russland!''  Gleichzeitig  mit  Klick  begaben  sich  Ladau, 
Glansensijema  und  "Essen  über  die  Grenze   auf  russisches  Gebiet.^) 

Kothen  stellte  sich  freiwillig.  Am  7.  (18.)  Januar  wurden  ver- 
haftet: Armfeldt,  Hästesko,  von  Otter,  Montgommery,  Leionstedt, 
Ehnehjelm,  Klingspor.  Im  Vorgefühl  seiner  Katastrophe  schied  Häs- 
tesko von  seiner  Gattin,  als  scheide  er  aus  dem  Leben.  Armfeldt 
schien  ruhig  der  Zukunft  entgegenzublicken ;  Leionstedt  heuchelte  in 
dem  Augenblicke  seiner  Verhaftung  übermüthige  Lustigkeit  beim 
Champagnel^lase :  man  könne  doch  nicht  öfter  als  ein  einziges  mal 
hingerichtet  werden,  sagte  er.  ^) 

Stedingk  erhielt  den  Auftrag,  Hastfehr  zu  verhaften.  Er  erfüllte 
ungern  diese  Pflicht  gegen  seinen  Vorgesetzten.  In  Briefen  an  den 
König  hat  er  ihn  noch  in  dieser  Zeit  zu  rechtfertigen  gesucht.  Ausser 
einigen  geheimnissvollen  Wendungen  in  seinen  Briefen  an  die  russi- 
schen Generale  Schultz  und  Günzel,  welche  von  den  Schweden  auf- 
gefangen  worden  waren,  lag  augenblicklich  nichts  Schlimmeres  gegen 
Hastfehr  vor.  Aber  seine  Zusammenkünfte  und  sein  Briefwechsel 
boten  Stoff  genug  zur  Anklage.  *) 

Das  Schicksal  der  Verhafteten  erregte  Theilnahme  in  den  Kreisen 
aller  Offiziere.  Das  Volk  dagegen  insultirte  sie  während  des  Trans- 
portes nach  Schweden.  In  den  Strassen  der  schwedischen  Haupt- 
stadt hat  man  sie  Vaterlandsfeinde  und  Verräther  geschmäht.*)« 

In  Stockholm  wurden  mehrere  Personen  verhaftet,  welche  nach- 
weislich mit  den  Conföderirten  in  Verkehr  gestanden  hatten.     Alle 


1)  Der  Verf.  der  Hs.  behauptet,  schon  vor  seiner  Abreise  habe  Gustaf  den 
Befehl  zur  Verhaftung  der  Hauptverschworenen  gegeben. 

»)  Malmanen  97,  98,  s.  d.  M6m.  Sted.  I,  148. 

3)  Rein  144,  147.    Malmanen  64.    Chrapowitzkl  12.  (23.)  Januar  1789. 

*)  s.  Stedingk,  M^m.  I,  141,  144,  148.  —  Sandeis,  der  einen  solchen  Brief 
erwischt  hatte,  erhielt  einen  Orden. 

*)  Kaulbarz  weinte  beim  Abzüge  der  Verhafteten.  Handschrift.  S.  den  Brief 
des  Bruders  Klingspor's  an  den  Grafen  Meyerfeldt  bei  Rein  174.  —  d'Aquila  11, 159. 


350  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788. 

Angeklagten  wurden  im  Schlosse  Frederikshof  bei  Stockholm  unter- 
geforaoht  Dort  trat  das  Gericht  zusammen,  welches  auf  Grund  der 
Verfassung  von  1772  das  ürtheil  sprechen  sollte.  0 

Man  sagt  wohl,  Gustaf  habe  in  Finnland,  als  er  in.  seiner 
grössten  Bedrängniss  von  dem  Angriflf  Dänemarks  auf  Schweden 
hörte,  ausgerufen:  jetzt  sei  er  gerettet.  Gewiss  ist,  dass  er  den 
dänischen  Krieg  dazu  benutzte,  das  Nationalgefühi  in  den  Massen 
zu  entflammen*  Man  weiss,  wie  er,  seinem  Ahnherrn  Gustaf  Wasa 
gleich,  bei  den  Dalekarliem  erschien,  sie  mit  leidenschaftlicher  Rede 
begeisterte.  Die  Frage  vom  Kriege  gegen  Schwedens  Feinde  war 
eins  mit  der  Frage  von  der  Bestrafung  der  Verräther  zu  Hause.  In 
dem  Dorfe  Mora  hat  Gustaf  im  September  von  der  Bestechlichkeit 
der  finnischen  Offiziere  gesprochen.  —  Mit  den  in  Folge  der  per- 
sönlichen Einwirkung  auf  das  Volk  zusammengerafften  Freiwilligen- 
schaaren  entsetzte  er  das  von  den  Dänen  bedrängte  Gothenburg. 
Der  Zauber  des  Erfolges  war  auf  seiner  Seite.  Jetzt  konnte  er  an 
einen  Reichstag  denken,  der  in  demselben  Jahre,  da  ii^  Frankreich 
die  Monarchie  vor  der  Autorität  der  „Constituante**  zusammen- 
brach, die  Ergebnisse  des  Staatsstreichs  von  1772  sicherstellte,  eine 
Steigerung  der  königlichen  Gewalt  bewirkte. 

Mit  Spannung  sahen  die  Zeitgenossen  diesem  Reichstage  ent- 
gegen. Man  sah  ihn  als  ein  Wagstück  an.  Die  ausländischen  Ge- 
sandten schrieben  aus  Stockholm,  die  Gähmng  des  Adels  könne  denj 
Könige  sehr  gefährlich  werden.  In  Petersburg  hofifte  man,  da^s  in 
Stockholm  der  König  eine  Katastrophe  erleben  werde.  Die  Ange- 
klagten in  Frederikshof  erwarteten  von  dem  Siege  ihrer  Gesinnungs- 
gienossen  a^if  dem  Reichstage  Rettung  für  sich.  Es  bezeichnet  die 
Spannung  der  Lage,  dass  während  des  Reichstages  im  Auslande 
wiederholt  Gerüchte  von  einer  in  Schweden  ausgebrochenen  Revo- 
lution, von  der  Verhaftung  und  Entfernung  des  Königs  auftauchten.  ^) 

Der  König  liess  Flugschriften  verbreiten,  in  denen  die  Con- 
föderirten  geschmäht  wurden.  *Den  Anhängern  der  nationalen  Sache 
verlieh  er  Orden  und  Belohnungen.  Die  öffentliche  Meinung  wurde 
amf  alle  Weise  zu  Gunst^i  des  Königs  beaa'beitet.  So  gerüstet  er- 
öffnete Gustaf  den  Reichstag  mit  den  Worten,  dass  innere  Zwietracfet 
der  Bundesgenosse  auswärtiger   Feinde  sei:    man  solle  den  König 

1)  s.  d'Apnila  H,  172  ff.,  wo  von  swei  russischen  Oeifitlicheii  die  Rede  ist, 

welche  als  Spione  und  Agenten  der  russischen  Regienrng  v«[*hafket  worden  sein 

sollten. 

#)  Chmpowitzki. 


k 


Der  ABJ«ila;bund  in  Finnimd,  1788.  361 

nicht  vom  Vaierlande  trennen.  Seine  Feinde  seien  zugleieh  die 
des  Vaterlandes.  Grieioh  darauf  fiel  der  Antrag  einer  Minderheit: 
zu  4intersuchen,  ob  der  Krieg  gegen  Russland  ein  Vertheidigungskrieg 
gewesen  sei.  Besonders  unterstützten  die  finnischen  Deputirten  4eQ 
entgegengesetzten  Anlarag:  in  einer  Dankadresse  dem  Könige  die 
Anerkennung  des  •Volkes  für  seine  Haltung  während  der  Gefahr 
auszusprechen.  —  Einerseits  wurde  der  Vorschlag  gemacht,  die  Ver- 
fasser der  gegen  die  Conföderirten  gerichteten  Schmähschriften  zu 
bestrafen,  andererseits  wurden  Reformen  zu  Gunsten  des  Borger- 
und  Bauernstandes,  welche  •  die  Vorrechte  des  Adels  beschif^ikten, 
durchgesetzt.  Der  kaiseriiche  Generalconsul  Bozenhard  mochte 
immerhin  dem  Adel  in  Schweden  im  Namen  Joseph'«- 11.  die  Anf- 
re^terhaltung  der  Privilegien  gewährleisten,  fikr  die  Praxis  war  es 
entscheidend,  dass  Gustaf  dalekarlische  Freiwillige  in  Stockholm 
coneentrirte,  die  Verhandlungen  auf  dem  Reichstage  in  der  Weise 
eines  Staatsstreichs  leitete,  die  Hauptführer  der  Adeisopposition  rer- 
haften  Uees,  die  GeldbewiUigungen  ertrotzte,  deren  er  zur  Fortsetzung 
des  Krieges  bedurfte.  Eher  werde  sein  Arm  yerdorren,  sagte  der 
König,  als  dass  er  einen  schmachYoUen  Frieden  mit  der  Kaiserin 
unterzeichne. 

So  kamep  äiß  Gesetze  zu  Stande,  welche  dem  Könige  noch 
fueiere  Hand  Hessen.  Die  Macht  des  Reicbsraths  war  beseitigt. 
Diese  Versammlung,  in  welcher  recht  eigentlich  der  oligarchische 
Charakter  de^  schwedischen  Verfassung  zum  Ausdruck  gekommen 
war,,  musstß  ih^e  Competenzj^n  zum  Theil  an  den  {leichsrath  ab- 
treten, mit  wel(:;h^m,  zuijual  da  4ie  ßedxte  4er  anderen  StSoiMle  er^ 
weitert  wurden,  ftclw^^  leichter  zu  regiereu  war.  Einige  Milliouen 
wurden  bewilligt.  Mit  Gewalt  war  die  Opposition,  in  deren  Auf- 
treten der  König  eine  Fortsetzung  des  Gebahrens  der  Conföderation 
von  Anjala  sah,  zum  Schweigen  gebracht.  Der  Reichstag  war  ein 
Werkzeug  des  Königs.  Die  Waflfe,  welche  die  Conföderirten  gegen 
den  König  zu  richten  gedachten,  richtete  sich  gegexi  sie  ßelbst.  Endq 
April  8chU)i8S  der  K^öftig  4ep  Reiphgtag.  *) 

37och  wen^  Tage  zuvor  hatte  die  Kaos^in  EMXhms^mi  Spre^gt^ 
p^ten  gesagt,  so  lange  auch  nur  oin  Edelmann  in  Schweden  nachbieibe, 
werde .  sie  als  dessen  Beschützerin-  handeln.  *)     Die   in  Petersburg 


^  üjBbsr  die  Gba^iiehte  des  BMcbstags   8.  a.  A,  Possah,  ^'A^aila.  Aiudt, 
Geffiroy. 


352  Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788* 

befindlichen  Schweden  hofiften  noch  auf  einen  Umschwung,  als  schon 
alles  zu  Gunsten  des  Königs  entschieden  war.  0 

Für  den  König  kam  indessen  doch  viel  darauf  an,  wie  das 
finnische  Heer  die  Nachrichten  aus  Stockholm  auftiehmen  werde. 
Die  Conföderirten  hatten  die  übrigen  Offiziere  vor  den  kommenden 
Uebergriflfen  des  Königs  gewarnt.  ^)  Die  Stimmung  im  Heere  war 
keineswegs  befriedigend.  Der  Geldmangel  dauerte  immer  noch  fort 
und  man  litt  Entbehrungen  aller  Art.  Die  Flugschriften  gegen  die 
Conföderirten  hatten  böses  Blut  gemacht.  Wenn  u.  A.  darin  die 
Behauptung  aufgestellt  worden  war,  dass  von  allen  Offizieren  nur 
Platen  und  Meyerfeld t  dem  Könige  treu  geblieben  seien,  so  miussten 
Männer  wie  Kaulbarz  und  andere,  die  von  der  Conföderation  nichts 
hatten  wissen  wollen,  dadurch  verstimmt  werden.  Leicht  konnten 
sie,  wenn  anders  noch  Erfolg  zu  erwarten  war,  in  das  Lager  der 
Opposition  hinübergehen.  Die  Flugschriften,  welche  zur  Recht- 
fertigung des  Heeres  erschienen,  wurden  sehr  gern  gelesen.  ^) 

Gustaf  schrieb  an  die  Oberoffiziere  in  Finnland  während  der 
Sitzungen  des  Reichstags,  sie  sollten  auf  die  Haltung  des  Heeres 
achten  und  demselben  zu  bedenken  geben,  dass  jetzt  der  geeignete 
Moment. sei  Frieden  zu  machen  mit  dem  Könige.  *) 

Sehr  verschieden  wirkte  die  Nachricht  von  den  Ereignissen  in 
Stockholm  auf  die  verschiedenen  Elemente  im  Heere.  Graf  Stedingk 
schrieb  dem  Könige,  er  sei  unwohl  gewesen^  aber  die  Botschaft  von 
dem  Siege  des  Königs  über  den  Adel  habe  ihn  gesund  gemacht. 
Uebrigens,  fügt  er  hinzu,  gefällt  mir  die  Stimmung  im  Heere  nicht. 
Alle  wollen  Frieden.  Er  ermahnte  den  König  zur  Nachsicht.  Gustaf 
schrieb  zurück,  die  Zeit  der  Mässigung  sei  vorüber.  ') 

Wir  dürfen  dem  Berichte  eines  Augenzeugen,  eines  Anhängers 
des  Königs,  Glauben  schenken,  dass  die  Ergebnisse  des  Reichstages 


^)  Chrapowitzki. 

*)  M6m.  d'un  offi  sa^dois.    Handschrift. 

3)  üeber  den  Mangel  im  Heere  s.  u.  A.  Stedingk  1.  135,  148,  155,  167. 
Ueber  die  "Wirkung  -der  Flugschriften  s.  die  M6m.  d*un  off.  Hs.  Der  Verfasser, 
Adjutant  des  Generals  Kaulbarz,  theilt  interessante  Einzelnheiten  über  das  Be- 
nehmen desselben  .  mit.  Von  den  Flugschriften  der  königlichen  Partei  sagte 
Kaulbarz:  „Avouez,  qu*il  est  atroce  d*imprimer  de  telles  miseres". 

*}  „II  faut  veiller  dans  ce  moment  plus  que  jamais  sur  Tesprit  de  l'arm^e 
efc  lui  faire  comprendre,  que  voici  le  moment  de  se  raccommoder  avec  moi  et 
de  reparer  ses  fautes  pass^s.^  Hs 

•)  Sted.  I,  155,  162.  „Les  temps  des  m^nagements  sont  passes V 


Der  Anjalabund  in  Finnland,  1788.  363 

im  finnischen  Heere  keine  günstige  Aufnahme  fanden.  Die  entschie- 
denen Anhänger  des  Königs  wurden  von  ihren  Kameraden  mit  Miss- 
trauen betrachtet;  man  behandelte  sie  mit  aufifallender  Kälte.  Als 
der  Verfasser  unserer  Handschrift  Urlaub  verlangte,  um  nach  Stock- 
holm zu  reisen,  verweigerte  ihm  der  General  Kaulbarz,  dessen  Treue 
zu  schwanken  schien,  den  Urlaub;  man  fürchtete,  der  Offizier  werde 
in  persönlichem  Verkehr  mit  dem  Könige  demselben  allzugenaue 
Rechenschaft  von  der  Stimmung  im  Heere  ablegen.  Als  derselbe  in 
Stockholm  in  der  That  zum  Könige  hielt,  wurden  von  Seiten  des 
Adels  Drohungen  gegen  ihn  laut.  Als  der  König  verlangte,  das 
Heer  solle  die  auf  dem  Reichstage  durchgesetzten  Verfassungs- 
änderungen durch  einen  neuen  Huldigungseid  anerkennen,  lehnte  der 
Oraf  Meyerfeldt  eine  solche  Maassregel  unter  dem  Vorwande  ab, 
dass  es  überhaupt  unangemessen  sei.  dass  das  Heer  sich  allzuviel 
mit  der  Politik  befasse.  Dagegen  meinte  man,  der  eigentliche  Grund 
der  Ablehnung  sei  die  Besorgniss  vor  der  Rache  des  Adels  gewesen).  * 


Wir  verweilen  nicht  bei  den  Einzelnheiten  des  Processes  der 
Angeklagten  im  Schlosse  Frederikshof.  Erst  im  Jahre  1790  wurden 
die  Acten  der  Untersuchung  geschlossen.  Jägerhom,  Sprengtporten,. 
Hastfehr,  Lädau,  Glansenstjerna,  Hästesko,  Otter,  Ehnehjelm,  Kling- 
spor  und  Kothen  wurden  zum  Tode  verurtheilt.  Der  König  bestätigte 
kaum  die  Hälfte  dieser  Urtheile.  Nur  Hästesko  ward  hingerichtet, 
die  anderen  mit  Verbannung  oder  Gefängniss  bestraft.  Der  alte 
Graf  Armfeldt  blieb  bis  an  seinen  Tod  in  der  Haft.  Hastfehr  lebte 
internirt  auf  seinem  Gute  in  Finnland. 

Es  erregte  in  Schweden  Unwillen,  dass  der  König  den  Obersten 
Hästesko  nicht  begnadigte.  In  Ausdrücken  heftiger  Erregung  schrieb 
der  Gesandte  über  die  Hinrichtung.  ^)  Mit  scharfen  Worten  liess 
Katharina,  die  soeben  den  Frieden  von  Werelä  geschlossen  hatte, 
dem  schwedischen  Gesandten  in  St.  Petersburg,  Grafen  Stedingk,  ihre 
Unzufriedenheit  bezeigen.  Igelström,  der  dem  Gesandten  darüber 
Bemerkungen  zu  machen  hatte,  erwähnte,  es  seien  vor  wenig  Jahren 


))  Mag  immerhin  d*Aquila  von  dem  Jubel  reden,  mit  dem  man  die  Nachricht 
von  der  Vereinignngs- und  Sicherheitsnote  in  Finnland  aufgenommen  haben  soll! 
Wir  folgen  der  Darstellung  des  Verfassers  der  Handschrift. 

*)  s.  Geflfroy  in  der  Revue  des  deux  mondes  LIX.,  S.  670.  Man  verdachte 
CS  dem  Könige,  dass  er  am  Abend  vor  der  Hinrichtung  auf  der  Hochzeit  eines 
Hoflräuleins  besonders  fröhlich  erschien. 


8&4  I><#  AnJB^büäd  in  Fmnlaiid,  1788. 

id  der  toq  ihm  i^epWalteten  Prorinl  drei  Usurpstoren  nacIi«iiiAiideT 
erschienen,  vrelcbe  sieb  ftlr  den  Eaiaep  Pefer  HI.  ausgaben,  und 
keiner  derselben  sei  hingerichtet  worden.  Obnebin,  bemerkte  er, 
gab  es  viele  Unzufriedene  in  Sehwaden.  ,Um  so  nötbiger  war  es, 
ein  Beispiel  der  Strenge  zu  geben",  sagte  bierauf  Graf  Stedingk. 


So  schloss  die  Gonföderation  mit  völligem  Mlsslingeu.  Sie  batte 
B^issland  genützt  indem  sie  die  Fortsetzung  des  Krieges  vertagte  und 
der  Kaiserin  Zeit  liess  zu  rüsten.  Sie  hatte  dem  Könige  zu  einem 
ferneren  Staatsstreiche  Gelegenheit  geboten.  Mochte  immerhin  die 
Unzufriedenheit  des  Adels  hier  und  da  Ausdruck  finden,  u.  Ä,  in 
der  bald  darauf  erfolgten  Katastrophe  des  Königs :  die  Institutionen 
des  letzteren  blieben.  Kicht  nur  war  es  nicht  gelungen,  den  Staats- 
streich von  1772  ungeschehen  zu  machen  — ,  es  verstand  sich  wie 
von  selbst,  dass,  als  nach  dem  Tode  Gustafs  der  Regent,  Karl  von 
Südermannland,  die  Huldigung  des  Adels  entgegennahm,  die  nenen 
staatsrechtlichen  Bestimmungen  des  Jahres  1789  beschworen  wurden. 
Die  Zeit  der  Adelsberrschaft  war  fiär  immer  zu  Ende. 

Eine  Lostrennung  Finnland's  von  Schweden  ist  dann  wohl 
später  erfolgt,  aber  doch  in  anderer  Weise  als  die  Conföderirten 
beabsichtigten.    An  ein  selbständiges  Finnland  war  nicht  zu  denken. 

A.  Brückner. 


Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft. 


Ein  Worfc  zur  Abwehr  und  Veratändigung  von  Prof.  Dr.  A.  v.  Oel^ngen. 

JJis  ist  häufig  das  Geschick  grosser  sachlicher  Fragen,  dass  sie  durch 
den  Kampf,  durch  das  Aufeinanderplatzen  der  Geister  wachgerufen, 
gefördert  und  der  Entscheidung  näher  geführt  werden.  Zwar  will 
der  Mahnruf,  bei  der  Sache  zu  bleiben  und  persönliche  Attaquen  zu 
vermeiden,  stets  beherzigt  sein,  wenn  die  kritische  Auseinander- 
setzung der  Gegner  erspriessliche  Früchte,  d.  h.  die  Klärung  des 
w^issenschaftlichen  Problems  zu  Tage  fördern  soll.  Aber  man  darf 
in  dieser  Hinsicht  auch  nicht  zu  scrupulös  sein.  Selbst  bjei  ten- 
denziöser und  rücksichtsloser  Polemik,  die  dem  Feinde  auf  den  Leib 
rückt,  wird  doch  ein  bleibendes  Resultat  für  die  Culturgeschichte 
der  Menschheit  gewonnen,  wenn  nur  das  Motiv  und  der  Zweck  der 
Befehdung  nicht  Hass  und  Verunglimpfung  des  Gegners,  sondern 
Liebe  zur  Wahrheit  und  Vertheidigung  des  Rechts  ist  Kann  doch 
auch  im  grossen  historischen  Kampf  der  Völker,  wie  im  Streit  der 
Individuen,  ein  Siegespreis  nicht  ohne  Rüstung  und  Waflfen,  nicht 
ohne  Blut  und  Wunden  errungen  werden.  Wir,  —  ich  meine 
namentlich  wir  Baltiker,  —  sollten  uns  hüten  vor  jener  zimpferlichen 
Sentimentalität,  die  sich  im  „noli  me  tangere"  gefällt  und  nur  mit 
Glacäehandschuhen  angefasst  sein  will.  Wir  müssten  es  lernen,  uns 
zu  freuen  über  jeden  Fehdehandschuh,  der  auf  der  Arena  des  Geistes 
uns  hingeworfen  wird.  Wir  sollten  jeden  ehrlichen  Krieg  dem  faulen 
Frieden  vorziehen.  Si  vis  pacem,  para  bellum,  sagten  die 
Römer.  So  soll  auch  jegliche  „Abwehr''  die  feierliche  Verständigung 
im  Auge  behalten,  nach  dem  alten  wohlbewährten  Satz  des  griechi- 
schen Kirchenretors :  6  iXI^X^'^v  jisTä  irapptjo&tc  efpTjvoiroiet,  ein  Satz,  der 
im  Deutschen,  sich  am  besten  ausdrücken  liesse  durch  das  Wort: 
ehrlicher  Kampf  bringt  soliden  Frieden. 

Deshalb  hebe  ich  auch  gern  den  Fehdehandschuh  auf,  den  mir, 
dem  jüngeren  Kämpen,  ein  hochbetagter  Greis  auf  dem  Felde  der 


356     üeber.das  VerhäUniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft. 

Wissenschaft  in  diesen  Blättern  vor  die  Füsse  geworfen.  Ich  kann 
es  der  verehrl.  Red.  nur  danken,  dass  sie  nicht,  wie  ea  manche  in 
falscher  Aengstlichkeit  für  nöthig  und  angemessen  gehalten  zu  haben 
scheinen,  aus  irgend  welcher  Rücksicht  jenem  ergrauten  Manne  das 
Wort  versagt  hat,  welcher  selbst  von  sich  bekennt,  dass  er  „den 
Verhandlungen,  die  in  den  Lehren  der  dorpater  theologischen  Facultät 
sich  kund  gegeben,  seit  mehr  denn  einem  halben  Jahrhundert  gefolgt 
sei."  Ich  kann  es  auch  diesem  meinem  würdigen  Gegner  nur  Dank 
wissen,  dass  er  von  seinem  Standpunkte  aus  offen  und  schonungs- 
los mein  Buch  über  ^die  Moralstatistik  und  die  christliche  Sitten- 
lehre", dass  er  meine  „Socialethik  auf  empirischer  Grundlage"  einer 
Kritik  unterzogen  hat*),  die  gewiss  in  weiteren  Kreisen  für  die 
hier  vorliegende  Streitfrage,  für  das  riesige  Problem  über  das  Ver- 
hältniss  von  Nothwendigkeit  und  Freiheit,  von  Natur  und  Geist,  von 
physischem  und  sittlichem  Gesetz  das  Interesse  wach  gerufen  und 
gefördert  hat. 

Bedauern  muss  ich  es  freilich,  dass  er  nicht  mit  aufgeschlagenem 
Visir  ins  Feld  rückt,  wie  das  bei  jeder  kritischen  Arbeit,  welche  die 
Person  des  Gegners  nicht  schont,  selbst  dann  wünschenswerth  er- 
scheint, wenn  an  dem  Hinterhaupt  des  letzteren  noch  so  lange  Zöpfe 
„bammeln"  sollten.  Ich  lasse  zunächst  ruhig  die  Zöpfe  „hinten 
hängen",  die  mein  Gegner  in  offenbarer  Theilnahme  und  liebevollem 
Mitleid  an  mir  erschaut  zu  haben  glaubt,  und  will  wenigstens  in  der 
Hoffnung,  daös  der  Zopfschmuck  mich  im  Aufsetzen  des  Helmes  nicht 
hindert,  mit  offenem  Visir  ihm  entgegentreten  und  dabei  die  Pietät 
nicht  aus  dem  Auge  lassen,  die  einem,  wenn  auch  in  Anonymität 
gehüllten  Gegner  gebührt,  der  bereits  ein  Jahrzehent  vor  meiner 
Geburt  mit  reifem  Urtheil  das  Wachsthum  der  Wissenschaft  verfolgt, 
und  nicht  blos  die  gegenwärtigen  „knorrigen  Eichen"  der  dorpater 
„Kirchlichkeit"  genau  kennt,  sondern  auch  dem  „feuchtwarmen  Sirocco 
des  Pietismus"  wie  der  „frischen  Brise  des  gemeinen  Rationalismus" 
gelauscht  hat.  Ich  weiss  kaum  einen  zweiten  Nestor  der  Wissen- 
schaft unter  uns,  dem  ein  solcher  Gesichtskreis  für  die  zurück- 
'schauende  Beobachtung  zu  Gebote  stünde.  Ich  will  daher  den  Werth 
seiner  Worte  nicht  unterschätzen,  noch  auch  stillschweigend  an 
ihnen  vorübergehen.  Sie  sollen  mir  sein  —  „quot  verba,  tot  saxa", 
falls  sie  ihrem  Materiale  nach  solide  und  auf  ihrem  Fundamente 
fest  gefugt  erscheinen.      Aber    das    Recht    der   Prüfung,   resp.    der 


*)  Vergl.  Balt.  Monatsschr.  Neue  Folge,  1870.   S.  100—110  u.  S.  198—215. 


üeber  das  Verhältniss  von  Natur-  unH  Geisteswissenschaft.     357 

Selbstvertheidigung,  wenn  jene  verba  wie  saxa  einem  an  den  Kopf 
fliegen,  wird  mir  durch  die  Rücksicht  auf  das  Alter  meines  unbe- 
kannten Gegners  nicht  streitig  gemacht  werden  können.  Ja,  der 
wissenschaftliche  Selbsterhaltungstrieb  zwingt  mich,  zunächst  per- 
sönlich mich  mit  ihm  auseinanderzusetzen,  um  durch  Wegräumung 
von  Missdeutungen,  Missverständnissen  und  offenen  Selbstwider- 
sprüchen, die  ich  bei  meinem  Gegner  glaube  nachweisen  zu  können, 
mir  den  Boden  zu  ebenen  für  die  Klarlegung  des  sachlichen  Haupt- 
problems, das  nicht  blos  uns  beide,  sondern  hoffentlich  alle  Leser 
der  Balt.  Monatsschrift  interessirt,  ich  meine  das  Verhältniss  zwischen 
Natur  und  Geschichte  "und  die  demselben  entsprechende  Be- 
ziehung zwischen  Natur-  und  Geisteswissenschaft, 

Zunächst  sei  es  mir  gestattet,  meine  eigene  wirkliche  Ueber- 
zeugung  von  dem  Beiwerk  zu  säubern,  das  sich  in  der  Darstellung 
meines  Gegners  gewiss  unbewusst  eingeschlichen.  Denn  er  muthet 
mir  hier  und  da  Gedanken  zu,  die  mir  gänzlich  fremd  sind,  und 
spricht  mir  Gedanken  ab,  die  fast  auf  jeder  Seite  meines  Buches  zu 
lesen  sind. 

Zu  der  ersteren  Gruppe  gehören  solche  Aussprüche,  die  mein 
Gegner,  sie  aus  dem  Zusammenhange  herausreissend  und  dadurch 
in  ihr  Gegentheil  umdeutend,  dazu  verwendet,  um  mich  bei  meinen 
theologischen  Fachgenossen  als  einen  Apostaten,  als  einen  Jünger 
der  Naturwissenschaft,  der  so  zu  sagen,  fremdes  Feuer  auf  den 
orthodoxen  Altar  trage,  zu  verdächtigen.  Ich  werde  meinen  dog- 
matischen CoUegen  denuncirt  als  ein  Abtrünniger,  dem  es  „gewisser- 
maassen  wie  dem  Paulus  ergangen  sei,  der  aus  einem  Verfolger  der 
Christen  (hier  der  Naturforscher)  ein  Bekenner  ihrer  Principien 
wurde."  Denn  ich  „scheue'^  mich  ja  nicht  zu  bekennen,  dass  ich 
„gleichsam  müde  geworden  von  fruchtloser  moralischer  Denkarbeit 
als  ein  erlöster  und  bekehrter  Sisyphus  mich  auf  die  nüchterne 
Wirklichkeit  besonnen,  und  statt  ethischer  Speculationen  und  theo- 
logischer Dialektik  die  Gesetze  der  sinnlichen  Bewegungen  in  mathe- 
matischer Unwiderlegbarkeit  zu  entwickeln"  unternommen  habe! 
„Das  ist  es  gerade'",  —  so  fügt  .mein  naturwissenschaftlicher  Freund 
hinzu  (S.  103),  —  „warum  wir  die  Moralstatistik,  von  einem  Pro- 
fessor der  Theologie  in  Dbrpat  verfasst,  als  eine  erfreuliqhe  Er- 
scheinung begrüssen." 

Ich  möchte  meinen  Freund  doch  bitten,  die  hier  durchschimmernde 
Schadenfreude  noch  ein  wenig  zu  suspendiren  und  erst  an  der  beti^effen- 
den  Stelle,  S.  2  meiner  Socialethik,  nachzulesen,  was  ich  eigentlich 
Baltische  Monatsschrift.  N.  Folge.  Bd.  I,  Heft  7  u.  8.  24 


368     Ueber  das  Verhältoiss  von  Natur-  und  GeisteswisBenschaft. 

gesagt  Die  Worte  stehen  allerdinge  in  meinem  Buche,  aber  —  der 
Unterschied  ist  gewaltig  —  nicht  als  meine  Ansicht,  sondern  als 
Meinung  und  Erwartung  jener  ngrossen  Menge  der  Gebildeten",  bei 
welchen  ich  auf  Zustimmung  glaube  rechnen  zu  können,  wenn  ich 
jenes  thäte  oder  also  mich  verhielte,  wie  jener  Satz  es  ausspricht. 
„Ungemeine  Kraft  in  dem  Wenn",  sagt  Probstein  der  Narr.  Ich  habe 
jenen  in  bedingter  Form  des  Conjunctivs  ausgesprocheneu  Sätzen 
ausdrücklich  hinzugefügt:  „allein-so  einfach  liegt  die  Sache  nicht!" 
—  und  deaavouire  also  jene  Erwartung  und  Voraussetzung.  So  kann 
dem  Leser  nur  zu  leicht  ein  X  für  ein  ü  gemacht  werden  durch 
blosse  Weglassung  eines  „Wenn"  und' durch  Umbeugung  des  Con- 
junctivs in  den  Indicatir!  Auch  weiss  mein  Gegner  es  sehr  wohl, 
dass  ich  meine  „Gesetze  sinnlicher  Bewegung"  nicht  „in  mathemati- 
scher ünwiderlegbarkeit  zu  entwickeln"  die  Absicht  habe  oder  für 
möglich  erachte,  sondern  er  führt  es  selbst  an  (S.  201),  dass  ich 
auf  diesem  Wege  der  inductiven  Schlussfolgerung  lediglich  „hypo- 
thetische Gesetze"  gewinnen  wolle,  die  nur  „Ausdruck  zeitlicher 
Empirie  seien,  aufgefunden  mittelst  einer  die  Thatsachen  combini- 
renden  und  ihren  Znsammenhang  deutenden  Denk  Operation." 

Noch  also  bin  ich  kein  bekehrter  Sisyphus,  ier  etwa  aus  dem 
Lager  der  Theologie  in  der  Art  auf  da«  Feld  der  Naturforscfaung 
übergegangen  wäre,  dass  er  die  Spreu  theologischer  Principien  und 
Ueberzeugnngen  gegen  das  Gold  der  experimentellen  Methode  ein- 
zutauschen fiir  seine  Aufgabe  kielte.  Es  läast  sich  für  solch  einen 
Schluss  auch  kein  einziges  Wort  meines  Buches  anführen  oder  ver- 
wenden. Lernen  will  ich  nur.  und  daa  mit  Freuden,  von  den  Hesultaten 
der  empirischen  Beobachtung  und  realistisch  ist  mein  Streben  durch 
und  durch.  Aber  ich  betone  es  ausdrücklich,  dass  „die  Welt  des 
Geistes  auch  als  eine  grosse  Welt  zusammenhangsvoller,  nur  anders 
gearteter  Realitäten"  erkannt  sein  wolle.  Und  wenn  ich  es  fiir  den 
Theologen  eine  gute  „Zucht  und  Schule"  nenne,  an  exacte,  präcise 
und  messhare  Bestimnrungen  sich  zu  gewöhnen  und  die  Thatsacheo 
reden  zu  lassen,  so  brauche  ich  zu  solch  einem  Besti'eben  wahrlich 
nicht,  wie  mein  Gegner  voraussetzt  (S.  101  f ),  durch  die  in  jeder 
Hinsicht  phrasenhaften  Reden  eines  Schieiden  erst  angeregt  worden 
zu  sein.  Wenn  ii^end  jemand  oder  irgend  etwas  von  der  natur- 
wissenschaftlichen Methode  abschrecken  konnte,  so  waren  es  die 
schleidenschen  Nebelgebilde  von  dem  „auf  halbem  Wege  zur  Vernunft 
stecken  gebliebenen  Vetter  Gorilla"  u.  dergl.  m.  Nicht  jene  engereu 
Kreise   der  Verständigen,    in   welchen   man   früher  schon   „ähnliche 


Ueber  das  VerhäUniss  von  Natur-  und  Geisteswiseeuschafl.     359 

Beden''  geführt  haben  soll,  sondern  der  gesunde  wissenschaftliche 
Sinn  unsiiper  Universität  und  ihrer  studirenden  Jugend  hat  die  Hohl- 
heit dieser  trivialen  Hypothesensucht,  di^  alles  eher  ist  als  exacte 
Naturwissenschaft,  fast  instinctiv  durchschaut.  Schieiden  wich  nach 
Jahresfrist  aus  Embach- Athen  mit  einem  „Weh  mir,  ich  bin  erkannt" ! 
Und  er  soll  der  Apostel  gewesen  sein,  der  mich  armen  theologischen 
Saulus  zu  einem  naturwissenschaftlichen  Paulus  umgewandelt  und 
bekehrt  hat ;  oder  die  Hebamme,  welche  mit  ihrer  „dörpt-historischen 
Mission"  mein  Werk  als  ^gereiftes  Geistesproduct"  hat  zur  Welt 
bringen  helfen!     Risum  teneatis  amici! 

Aber  mein  greiser  Gegner  scheint  es  mit  dieser  „Anerkennung" 
meiner  wissenschaftlichen  Umkehr  zur  naturwissenschaftlichen  Fahne 
auch  keineswegs  ernst  gemeint  zu  haben.  Wenigstens  bewegt  er 
sich  in  dieser  Hinsicht  in  einem  ähnlichen  Selbstwiderspruch,  wie 
überhaupt  in  der  Beurtheilung  meiner  Leistung,  wofür  ich  viele 
Beispiele  anführen  könnte.  Wenn  er  zuerst  (S.  105)  mein  Werk 
nach  einem  „grossartigen  Plane  angelegt"  findet,  und  doch  bald 
darauf  (S.  IIOJ  erklärt,  dass  in  diesem  Plane  selbst  das  Material 
durchgehends  anders  gruppirt  sei,  als  nach  meinem  eigenen  Schema 
zu  erwarten  stand;*)  so  lässt  sich,  meiner  Ansicht  nach,  beides 
kaum  mit  einander  vereinigen.  Oder  wenn  er  am  Schluss  seiner 
Deduction  bei  Gelegenheit  meiner  Beurtheilung  des  Todes  unbewie- 
sener Maassen  nur  ein  „Spielen  mit  tönenden  Repräsentanten  von 
Phantasiegebilden  und  ein  „Schöpfen  aus  dem  Leeren  ins  Bodenlose" 
zum  Vorwurf  macht,  ja  durch  solch  ein  „Schöpfen"  die  „Hirnfunction 
in  eine  derart  bedenkliche  schiefe  Richtung"  gebracht  sieht,  dass  er 
bereite  „die  somatische  Grundlage  des  Irrsinns"  (S.  215)  in  schauer- 


•)  Wen  es  interessirt,  diesen  scheinbaren  Widerspruch  zu  lösen,  der  blicke 
nur  in  das  Inhaltsyer^eichniss  meines  Buches.  Auf  den  ersten  Blick  muss  dem 
aufmerksamen  und  wohlwollenden  Les^r  klar  werden,  dass  die  eine  Grappirung 
(der  Einflüsse)  formaler,  die  andere  Eintheilung  (Lebenserzeugung,  Lebens- 
bethätigung,  Tod  im  Organismus  der  Menschheit)  sachlicher  Art  ist.  In  jedem 
dieser  sachlich  geordneten  Abschnitte  gehe  ich  aber  bei  der  Detailausfiihrung 
auf  die  vorher  gruppirten  „Einflüsse"  in  soweit  näher  ein,  als  das  statistische 
Material  es  erlaubt,  indem  ich  sowohl  die  physischen  als  auch  die  geistig- 
sittlichen Einflüsse,  nach  ihrem  universellen,  socialen  und  individuellen 
Charakter  in  Beziehung  auf  das  zu  untersuchende  Phänomen  stets  unterschiedlich 
ins  Auge  fasse,  wie  ich  das  ausdrücklich  bereits  S.  312  dargelegt  und  motivirt 
habe.  Das  Quidproquo  meines  Gegners  ergiebt  sich  durch  den  logischen  Fehler, 
welcher  oft  begangen  wird,  dass  man  nämlich  verschiedene  Kategorien  in  ein- 
ander mengt.     Die  Logiker  bezeichnen  das  als  eine  jisTOcßaaic  dz  äKkh  ^ivo^. 

24* 


360     Ueber  das  VerhältniBs  von  Natur-  und  GeisteswisseiiBcbaft. 

lieber  Ahnung  vorauBSiebt,  so  läset  sich  nicht  rerstehen,  wie  er  in 
der  gleich  darauf  folgenden  Scblusssentenz  sich  dahin  aussprechen 
kann,  dass  mau  „in  allen  Ehren  auf  solch  ein  bei  uns  gereiftes 
Geistesproduct  stolz  sein  könne"  (S.  215)? 

In  gleichartigem  Sic  et  Non ,  Ja  und  Nein ,  hewegt  er  sich  in 
Betreff  meiner  Stellung  zur  Naturwissenschaft.  Nachdem  er  im  ersten 
Artikel,  wie  wir  sehen,  ft-eundlicb  der  wundersamen  Thatsache  zu- 
gelächelt, dass  „der  Orthodoxe  mit  Ruhe  die  Ei^ebnisse  der  Natur- 
forschung stndire  und  als  berechtigt  anerkenne"  (S.  100),  geht  der 
zweite  Artikel  (S.  198  f.)  von  der  Voraussetzung  aus,  dass  „gegen 
die  wie  ein  eeterum  c  enseo  wiederkehrende  VenirtheilungderNatur- 
wissenscbatl"  Prolest  erhoben  werden  müsse.  Dass  zu  jenen  „Männern 
der  Geistes wisBenechaft",  die  sich  solcher  refrainartigen  Verurtheilung 
schuldig  machen,  nach  der  Meinung  des  Yerf.  auch  ich  gehören  soll, 
gebt  nicht  bloss  aus  dem  Tenor  der  ganzen  Argumentation  berror, 
sondern  ist  auch  auf  S.  213  ausdrücklich  zu  lesen,  wo  die  „letzte 
Bemerkun  ggegen  das  beliebte  eeterum  censeo  uneeres  theologi- 
schen Statistikers^  —  das  bin  ich  doch?  —  zu  lesen  ist.  Derselbe 
Mann,  der  mit  Ruhe  die  Ergebnisse  der  Naturforscbung  studirt  und 
als  berechtigt  anerkennt",  erhebt  ein  Zetergeschrei  gegen  dieselbe,  um 
sie  zerstört  zu. sehen;  --  ein  wahres  Monstrum,  das  sein  eigenes  Kind 
frisst,    ein  Wahnsinniger,  der  in  seinen  eigenen  Eingeweiden  wühltl 

Meine  Fachgenossen  mögen  sich  also  beruhigen.  Das  hie  niger 
est  klingt  stärker  durch,  als  die  Anerkennung  der  Geistesgemeinschaft 
mit  dem  Deserteur,  leb  bin  und  bleibe  eben  der  voreingenommene 
Theologe,  der  keinen  ächten  naturwissenschaftlichen  Instinct  hat. 
Jene  freudig  begrüsste  Bekehrung  hat  im  Handumdrehen  einem 
Renegatenthum  Platz  gemacht.  Mag  mein  ganzes  Werk  den  Ernst 
beweisen,  mit  dem  ich  den  naturwissenschaftlich  errungenen  Resul- 
taten lausche,  —  ich  bin  und  bleibe  eben  ein  Theologe,  bei  dem  es 
SD  einem  Manne  wie  Buckle  „schlimm  gehen"  muss,  weil  derselbe 
„auch  gar  zu  erbost  ist  auf  elericalen  Dogmatismus"  (S,  108).  Als 
ob  ich  in  meiner  ersten  wissenschaftlichen  Kritik  dieses  vielgerUhniten 
und  meist  überschätzten  Buches  irgend  andere  Argumente  zur  Dar- 
legung der  durchgehenden  Begriffsverwirrung  desselben  gebraucht 
habe,  als  die  mir  in  der  buckleschen  Deduction  selbst  an  die  Hand 
gegebenen  Momente!  Meinen  dogmatischen  Standpunkt  habe  ich 
dabei  gänzlich  bei  Seite  liegen  lassen.  Das  muss  mir  auch  der 
schroffste  Gegner  zugeben,  es  sei  denn,  dass  er  das  Gegentheil  be- 
weise und  meine  streng  sachliche  Argumentation  entkräfte. 


Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft,     361 

Indessen  hätte  die  Behauptung,  dass  ich  der  Naturforschung 
feindlich  gegenüberstehe,  wenigstens  einen  Schein  von  Berechtigung, 
wenn  es  wahr  wäre,  was  mein  Gegner  (S.  108)  ausspricht,  dass  ich 
„der  Vererbungskraft,  dieser  Grundeigenschaft  der  pflanzlichen 
und  thierischen  Organisation""  nirgends  in  dem  Schema  meines 
Werkes  gedacht  haben  soll.  Das  ist  beispielsweise  solch  ein  Gedanke, 
der  niir  abgesprochen  wird,  obwohl  er  fast  aus  jedem  Blatte  meines 
Buches  zu  lesen  ist.  Bereits  in  jenem  grundlegenden  Schema, 
das  mein  geehrter  Gegner  selbst  eine  „erschöpfende  Aetiologie" 
nennt,  fehlt  jenes  Moment  keineswegs.  Sowohl  unter  den  „physischen 
Einflüssen^**,  unter  denen  die  angeborenen  Momente  der  „Nationalität, 
Rasse,  Abstammung,  physische  Anlage,  Temperament,  Geschlecht'^ 
aufgezählt  werden  und,  wie  sich  von  selbst  versteht,  auf  Vererbungs- 
kräft  zurückgeführt  sein  wollen,  sondern  auch  in  der  Kategorie  der 
„geistig-sittlichen  Einflüsse"  (S.  310)  finden  sich  diejenigen  Ursachen 
ethischen  Verhaltens  angeführt,  welche  in  der  „Gattung",  in  dem 
„Familientypus"  und  in  dem  durchschlagenden  „Einfluss  der  Aeltern" 
vorliegen.  Sogar  in  der  Schlussrubrik,  welche  die  „individuell  wir- 
kenden, den  Charakter  des  Einzelnen  bedingenden  Ursachen  geistiger 
Art"  aufzählt,  findet  jeder  Leser  obenan  die  „persönliche  Herkunft, 
Geburt  (ehelich  oder  unehelich),  Stand  der  Aeltern,  geistige  An- 
lage" etc.  hervorgehoben. 

Wie  sollte  auch  in  einem  Buche,  das  die  bisherige  Ethik  aus 
dem  Individualismus  und  Atomismus  zu  befreien  sich  zur  Haupt- 
aufgabe macht,  das  die  sittliche  Verschuldung  stets  als  eine  CoUectiv- 
und  Erbschuld  auffasst  und  das  Gesetz  der  Solidarität  überall  in 
den  Vordergrund  stellt,  die  Vererbungskraft  ignorirt  werden?  Ich 
gehe  in  meinem  Glauben  an  Vererbung  sogar  so  weit,  dass  ich  den 
von  Vogt  ausgesprochenen,  von  Moleschott  utiliter  acceptirten  Ge- 
danken, dass  „der  Mensch  die  Summe  sei  von  Aeltern  und  Amme, 
von  Ort  und  Zeit,  von  Luft  und  Wetter,  Schall  und  Licht"  keines- 
wegs —  wie  mein  Gegner  mir  S.  211  fälschlich  vorwirft  —  als  einen 
„Trugschluss"  bezeichnet  habe,  sondern  im  geraden  Gegentheil  als 
eine,  wenn  auch  roh  und  einseitig  formulirle  „Bezeichnung  für  die 
unleugbare  Wahrheit,  dass  kein  Mensch  sich  selbst  erzeugen 
oder  gestalten  kann,  weder  geistig  noch  leiblich,  sondern  als  Glied 
eines  vielgestaltigen  Organismus  nach  Gottes  Weltordnung  ins  Dasein 
tritt  und  sich  dem  ihm  eigenen  Typus  gemäss  entwickelt"  (S.  356). 

Selbst  die  geüiale  Anlage,  die  sogenannte  „Originalität"  eines 
Menschen  führe  ich  auf  die  origo,  auf  den  eigen thümlichen  Ursprung 


362     Ueber  da«  Verhältaise  von  Natar-  und  GeieteswisBenschaft. 

in  Zeugung  und  Anlage  zurück.  „Schiller  und  Shakespeare,  Mozart 
^und  Beethoven,  sie  waren  Dichter  und  Musiker  in  der  Wiege  und 
Rafael  wäre  auch  ohne  Hände  ein  Maler  gewesen.  Die  Behauptung, 
dasB  dem  entsprechend  auch  sein  physiBcher  Organiainua  ale  Träger 
der  Seele  geartet  war,  kann  nicht  Bedenken  erregen.  Hat  ein 
Mensch  Geist,  so  sehe  ich  das  an  seinem  Leibe,  seinem  Auge,  seiner 
ganzen  Bewegung  und  Erscheinung  ...  Ist  doch  überall  —  bis  auf 
Worte  und  Geberde  —  die  Materie  der  Triger,  das  Medium  für  die 
Geistesmittheilung  innerhalb  menschlich  geschichtlicher  Lebensver- 
hältnisse. Warum  sollten  wir  vor  dem  Gedanken  zurückschrecken, 
dasB  unser  persönliches  Dasein  und  Sosein,  unsere  ganze  geistig- 
seelische Natur  durch  die  Zeugung  von  Vater  und  Mutter  zunächst 
bedingt  sei,  dass  durch  göttliche  Erhaltungsordnung  auf  dem  Wege 
der  Emp{tognies  und  Geburt  die  einzelnen  Seelen  entstehen  und 
daher  auch  eine  eigen  thümliche  geistige  Mitgift  auf  den  Weg  be- 
kommen. Jede  eigentbümliche  Begabung  ist  als  Anlage  durch  die 
Erzeugung  bedingt.  Man  spricht  mit  Recht  von  angeborenen  Quali- 
täten. Selbst  in  der  rechtlieh  -  socialen  Sphäre  ruht  -das,  was  wir 
Erbrecht  (näher:  Intestaterbfolge  der  Descendenten)  nennen,  ent- 
sprechend der  allgemeinen  Wahrheit,  dass  all  unser  geistiger  Besitz 
der  Anlage  nach  von  unseren  Erzeugern  stammt,  darauf,  dass  die 
Kinder  ein  Theil  des  älterlicben  Wesens  sind  und  dass  die  Aeltem 
mit  ihrem  Natnrleben  auch  ihr  Personleben  gewissermoassen  in  jenen 
fortsetzen,  ohne  es  selbst  zu  verlieren.  Warum  sollte  nicht  auch  auf 
ethischem  Gebiete,  in  Betreff  der  Qualität  des  individuellen  Willens, 
eine  Mit^ft,  ein  Erbrecht  oder  eine  Erbechuld  zugestanden  werden 
können,  da  alle  sittlichen  Fragen  den  Charakter  solidarischer  Ver- 
haftung innerhalb  menschlichen  Gemeinschaftslebens  an  sich  tragen? 
Die  Ueberzeugung ,.  dass  jeder  Einzelne  die  sittliche  Entartung 
(Degeneration)  in  Folge  der  Artung  (Generation),  also  von  Vater 
und  Mutter  an  sich  trägt,  ja  die  speciflschen  älterlicben  Schooss- 
sUnden  in  eigenthümlichen  Mischungsverhältnissen  wieder  darstellt, 
—  sie  ruht  auf  unleugbarer  und  greifbarer  Erfahrung,  mag  man  sie 
anerkennen  und  begreifen  oder  nicht.'* 

Ich  habe  mit  Absicht  einen,  diese  Frage  berührenden  Hanpt- 
ibe  hergesetzt,  damit  jeder  Leser,  auch  der 
,nte,  es  mit  Augen  sehen  und  mit  Händen 
echt  mein  Gegner  mich  behandelt.  Ja  ich 
1  zu  müssen.  Er  hat,  trotz  seiner  darwini- 
Qzelner  dahin  zielenden  Behauptungen,  selbst 


ifeber  das'Verhältniss  von  Natur-  und  Geistes wisseHsehait.     368 

I 

keine  Abnuag  von  der  Macht  geistiget  Vererbung  auf  dem  Wege 
geschichtlicher  Tradition,  wenigstens  bleibt  er  sich  nicht  consequent 
und  bewegt  sich  auch  hier  fast  harmlos  in  klaffendem  Selbstwider- 
spruch. Auf  S.  103  f.  betont  er  „den  ungeheuren  Vorrath  von 
natürlichem  Wissen'^  das  der  Einzelne  ^^als  durch  Aeonen  hindurch 
angesammeltes  Kapital  mit  sich  auf  die  Welt  gebracht"  habe^  gleich- 
sam „eine  Erbschaft  geistiger  Ersparnisse".  Je  bereitwilliger  ich 
solch  ein  schönes  und  wahres  Wort  als  mir  aus  der  Seele  gesprochen 
anerkennen  niuss,  desto  mehr  muss  ich  es  bedauern  ^  dass  mein 
darwinistischer  Freund  jenen  Gedanken  nicht  consequent  durchdenkt. 
Uns  „Männern  der  Gesteswissenschaft"  macht  er  zum  Vorwurf^  dass 
wir  es  „den  Ur-Ur- Ahnen  nicht  einmal  Dank  wissen  wollen,  dass 
wir  geworden  sind,  was  wir  sind"!  Allein  bereit©  ein  paar  Seiten 
später  (S.  105)  finden  wir  das  erstaunliche  Bekenntniss :  ,yden  Natur- 
forschern bleibe  keine  Zeit  übrig  zum  gemüthlichen  Lesen  in  ver- 
gilbten Schriften  und  Docuraenten  menschlicher  Verirrungen;  —  sie 
denken  nicht  nach  Anderen,  sondern  selbst"! 

So  scheinen  also  nicht  die  „Männer  der  Geisteswissenschaft"  tn 
den  „Vornehmsten  unter  den  Vornehm:en"  gerechnet  werden  zu 
müssen,  wie  mein  geehrter  Gegner  spöttisch  will  und  thut,  sondern 
das  Prestige  bleibt  jenen  Männern  der  Naturforschung,  welche 
„Selbstdenker"  in  des  Worts  verwegenster  Bedeutung  sind.  Wer 
wird  sich  nicht  beugen  vor  der  Majestät  dieser  schlechthin  originellen 
Autodidacten !  Wer  wagte  es  an  der  Souveränetät  des  „Selbstdenkers'^ 
zu  kritteln  und  zu  rütteln?  Makellos  steht  sie  vor  uns,  ein  Bild  aus 
Erz,  imponirend  jedem  Staübgeborenen,  die  „eigenen"  Gedanken 
werden  aus  ihr  geboren,  wie  Minerva  aus  dem  Haupte  Jupiters. 
Wir  gerathen  in  Versuchung,  wie  einst  Tiberius  nach  der  Meldung 
des  Tacitus  von  Curtius  Rufus  sagte,  in  das  bewundernde  ßekennt- 
niss  auszubrechen:  Ex  se  mihi  natus  esse  videtur  ille!  Ohne 
Vater,  ohne  Mutter,  ein  moderner  Melchisedek,  steht  der  unheimliche 
Naturforscher  da,  der  sein  originelles  Gemüth  nicht  durch  „Lesen  in 
vergilbten  Schriften"  degradiren  möchte,  um  nicht  den  Ruhm  des 
Selbstdenkens  einzubüssen.  Wird  man  nicht  unwillkürlich  dabei  an 
das  alte  Dichterwort  errinnert:  „Ein  Quidam  sagt:  ich  bin  von  keiner 
Schule,  kein  Meister  ist  mit  dem  ich  buhle"  u.  s.  w.  u.  s.  w. 

Doch  brechen  wir  ab.  Die  Sache  ist  zu  eriist  zürn  Scherz, 
obwohl  bei  solcher  Gelegenheit  es  einem  schwer  fällt:  satiram 
non  scribere. 


364    Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft. 

Sollte  wirklich  jener  „eigene  Genius",  von  welchem  nach  der 
Behauptung  meines  Gegners  (S.  200)  die  „Männer  der  Naturwissen- 
schaft" geleitet  werden,  während  die  „Männer  der  Geisteswissen- 
schaft^* auf  „Eisenbahnen,  die  ihre  Ingenieure  schon  vor  Alters 
abgesteckt  und  erbaut  haben",  zu  einem  „vorausbestimmten  Ziele" 
die  Reise  antreten,  —  sollte  jener  „Genius"  nicht  dem  Gesetz  der 
Vererbung,  hier  der  geschichtlichen  Tradition,  mit  unterworfen  sein? 
Ich  glaube,  der  „theologische  Moralstatistiker*'''  ist  in  diser  Hinsicht 
der  berechtigten  Grundidee  des  Darwinismus  treuer  geblieben  als 
der  Naturforscher,  wenn  jener  in  seinem  Buche  den  Gedanken  durch- 
führt und  inductiv  zu  beweisen  unternimmt,  den  er  schliesslich  im 
„Gesetz  der  geschichtlichen  Tradition"  (S.  961  f.)  zu  formuliren  sucht. 
Ihm  erscheint,  wie  im  Rechtsleben,  so  auch  in  dem  gesammten 
geistigen  Culturleben  die  „Zeit-  und  Fachbildung  bis  auf  die  einfachste 
Kunsttechnik  herab  als  eine  Ablagerung  des  gesunden  Menschen- 
verstandes unzähliger  Individuen,  als  ein  Schatz  von  Erfahrungssätzen, 
von  denen  jeder  tausendfältig  die  Kritik  des  denkenden  Geistes  und 
des  praktischen  Lebens  hat  bestehen  müssen".  Und:  „wer  sich 
dieses  Schatzes  zu  bemächtigen  weiss,  der  operirt  nicht  mehr  mit 
seinem  eigenen  schwachen  Verstände,  der  stützt  sich  nicht  bloss  auf* 
seine  eigene  schwache  Erfahrung,  sondern  er  arbeitet  mit  der  Denk- 
kraft vergangener  Geschlechter  und  der  Erfahrung  verflossener 
Jahrhunderte". 

Mit  Recht  spricht  sich  der  Gelehrte,  von  dem  ich  diesen  Satz 
in  meine  Socialethik  tS.  769)  herübergenommen,  dahin  aus:*)  „er 
kenne  kein  Gebiet  des  menschlichen  Wissens  und  Könnens,  auf  dem 
nicht  der  schwächste,  der  mit  der  Intelligenz  und  Erfahrung  von 
Jahrhunderten  operirt,  dem  Genie,  das  dieser  Beihilfe  entbehrte, 
tiberlegen  wäre." 

Wir  brauchen  ja  bloss  daran  zu  erinnern,  dass  jeder  Mensch  in 
seinem  geistig-sittlichen  Typus  bereits  bedingt  erscheint  durch  die 
Volks-  und  Muttersprache,  die  ihn  umgiebt  und  ihm  vom  Moment 
der  Geburt  ab  die  geistigen  Lebenselemente  zuführt,  die  er  einathmet 
und  von  denen  er  so  viel  assimilirt  und,  sei  es  auch  unbewusst,  ver- 


*)  Vergl.  Ihering,  Geist  des  röm.  Rechts,  Bd.  U,  Abthl.  2,  S.  331  f.  Mir 
aus  dem  Herzen  gesprochen  und  meiner  wissenschaftlichen  Denkerfahrung  voll- 
kommen entsprechend  ist  auch  das  Wort,  das  sich  in  der  Vorrede  zu  der  genannten 
Abtheilung  findet:  „das  Beste  von  dem,  was  wir  zu  finden  glauben  und  das 
Unsrige  nennen,  schwebt  in  der  Atmosphäre,  —  eine  reife  Frucht  am  Baume 
der  Zeit,  die  wir  nur  brechen,  nicht  erzeugen." 


Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft.     365 

arbeitet,  in  eigenes  Fleisch  und  Blut  verwandelt,  als  seine  Natur 
Receptivität  dafür  hat  und  seine  eigen thümliche  Begabung  es  ermög- 
licht. Wie  wir  mit  der  Muttermilch  unser  leibliches,  so  erhalten 
und  mehren  wir  mit  der  Muttersprache  unser  geistiges  Lebensblut 
und  werden  also  ohne  unser  Wissen  und  Wollen  als  Familienglieder 
bereits  eingesenkt  in  ein  volksthümliches  Ganzes,  und  lernen  mit  der 
Muttersprache  zugleich  das  Vaterland  als  den  geistigen  Schooss 
unseres  Daseins  mit  innerlicher  Pietät  verehren,  als  den  Schooss, 
der  uns  gleichsam  zur  Culturwelt  geboren.  Selbst  das  Sprechen  der 
Kinder  ist  nicht,  wie  sich  Lazarus  missverständlich  ausdrückte,*) 
eine  wirkliche  „Sprach Schöpfung",  sondern  immer  nur  individualin 
sirte  Sprach  an  eignung  im  Zusammenhange  mit  Sprach  anläge. 

Das  Wort  und  die  Sprache  ist  also  der  grosse  Culturträger,  der 
uns  die  Gewissheit  verbürgt,  dass  es  nicht  bloss  eine  individuelle, 
sondern  eine  Völkerpsychologie  giebt,  in  der  unsere  geistige  Einzel- 
existenz nicht  aufgehoben,  sondern  warm  geborgen  erscheint,  so  dass 
alle  geistigen  Leiden  und  Freuden,  die  Selbstquälerei  und  die  Be- 
geisterung, der  Jammer  und  die  Freude  der  Bildung,  wie  sie  im 
Ganzen  pulsirt,  von  dem  Einzelnen  als  einem  integrirenden  Theile 
in  wundersamer  Vibration  mitempfunden  wird. 

So  ist  es  die  Bildung,  welche  die  Kluft  zwischen  den  einzelnen 
Staaten  und  Völkern  überbrückt  und  den  Humanitätsgedanken  aus 
sich  heraus  gebiert.  Und  wir  Einzelne  verdanken,  was  wir  erwerben 
und  was  wir  besitzen,  ja  selbst  was  wir  produciren  und  geistig 
schafTen,  zum  grossen  Theile  der  Tradition.  Die  Wurzeln  unseres 
geistigen  Wachsthums  sind  eingesenkt  in  den  Boden  der  Geschichte 
und  saugen  aus  diesem  ihre  Nahrung.  Wenn  wir  irgend  ein  einzelnes 
Gebiet  der  Bildungssphäre  unbefangen  und  ohne  Vorurtheil  ins  Auge 
fassen,  so  muss  ebenso  der  Wahn  des  Autodidakten,  der  die  Weis- 
heit, die  er  reproducirt,  aus  seinem  Hirn  meint  erzeugt  zu  haben, 
als  auch  —  wenn  ich  so  sagen  darf  —  die  Einbildung  des  Auto- 
theleten  schwinden,  der  die  Selbstthätigkeit  als  unbedingte  Freiheit 
der  Selbstbestimmung  rühmt.  Beide  legen  aber  damit  ein  Zeugniss 
ihrer  Unbildung  oder  Einbildung  ab;  denn*  wahre  Bildung  macht 


•)  Vergl.  Lazarus,  „Ursprung  der  Sitten",  1867,  S.  9;  und  desselben 
„Leben  der  Seele"  11.,  3.  Sagt  doch*  Lazarus  selbst  (Urspr.  der  Sitten  S.  19): 
„Die  Ausbildung  der  Ladividualität  ist  das  Product  der  Geschichte".  Vergl.  auch 
Schleicher,  „Zur  vergleichenden  Sprachengeschichte",  1848,  S.  17;  und  des- 
selben: „Sprachen  Europa*s",  woselbst  es  S.  12  unter  Anderem  heisst:  „Geschichte 
und  Sprachbildung  sind  sich  ablösende  Thätigkeiten  des  menschlichen  Geistes". 


366    Ueber  da»  Verbältniss  von  Natur-  und  Geistesvrissenscbftfl. 

bescheiden.  Beide  vei^essen,  dads  die  geistige  CoUectivbewegüng, 
wie  sie  in  Sprache  und  Cultur,  Religion  und  Sitten  «ich  geset^t&äBsig 
d.  h.  organisch  for Schreitend  gestaltet,  sie  geboren  und  gross  gezogen; 
dass  der  Geist  der  Muttersprache  und  Volksdichtung  sie  umwoben 
hat  wie  eine  unabweisliche,  lebenbedingende  Lult;  da>ss  sie,  wie 
durch  Sprechen-,  so  namentlich  durdi  Lesenlemen  mit  anderen 
Menschen  von  Jugend  auf  in  Berührung  kamen,  mit  welchen  sie  in 
einen  unwillkürlichen  und  oft  unbewussten  geistigen  Rapport  traten ; 
ja  dass  das  geschriebene  Wort,  das  zu  verstehen  sie  allmälig  an- 
gewiesen wurden,  und  welches,  um  die  gegenwärtige  Vollkommenheit 
zu  erlangen  eine  vieltausendjährige  Entwickelungsgeschiohte  in  der 
gesammten  Menschheit  durchmachen  musste,  sie  erst  in  den  Stand 
setzte,  über  Raum  und  Zeit  hinaus  mit  den  Gedanken  und  Erfah- 
rungen von  millionen  von  Menschen  in  geistigen  Contact  zu  kommen, 
von  ihnen  zu  lernen,  und  geistige  Verkehrswege  zu  bauen,  wie  über 
Land  und  Meer,  so  über  Jahrhunderte  und  Jahrtausende. 

Wenn  also  die  Aussaat  geistigen  Lebens  auf  dem  Culturboden 
der  Menschheit  durch  Generationen  hindurch  keimt  und  wächst,  so 
dass  tausende  von  zarten  Fäden  zu  einem  reichen  Gewebe  geistigen 
Lebens  mit  tief  motivirtem,  typisch-volksthümlichem  Charakter  sich 
vereinigen,  —  wer  wollte  dann  noch  seine  geistig -sittliche  Eigen- 
.thümlichkeit  als  Selbsterwerb  verherrlichen  und  sich  durch  soleh 
eingebildete  Originalität  zu  einem  „Narren  auf  eigene  Hand"  degra^ 
diren?  Darin  liegt  eben  die  sittigende  Macht  auch  der  intellectuellen 
Bildung,  dass  sie  den  einzelnen  aus  seinem  eingebildeten  Fürsichsein 
herauSreisGt,  dass  sie  ihn  erhöht  indem  sie  ihn  bescheiden  und  klein 
macht,  dass  sie  ihn  über  sich  selbst  erhebt  in  dem  Bewusstsein  ge- 
meinsamer Errungenschaft  auf  dem  Boden  geistiger  Cultur.  *) 

Ich  habe  meinerseits  auch  die  Hoffnung,  dass  mein  anonymer 
Gegner  dieser  Grundanschauung  im  Grossen  und  Ganzen  zustimmen 
wird.  Ich  darf  es  wenigstens  aus  der  oben  angeführten  Aeusserung 
über  die  „Erbschaft  geistiger  Ersparnisse'^  schliessen  und  will  daher 
hoffen,  der  verächtliche  Seitenblick  auf  das  „Lesen  der  vergilbten 
Documente  m'enschlicher  Verirrungen",  sowie  die  stolze  Betonung 
des  schlechtsinnigen  Selbstdenkens  seien  nur  Folge  eines  im  Eifer 
des  Gefechte  leicht  vorkommenden  lapsus  calstmi. 

Aber  blicke  ich  tiefer  in  seine  Argumentation  hinein,  so  wird  diese 
Hoffnung  leider  wieder  zu  Wasser.     Denn  in  der  That  scheint  hier 


0  ^ergL  obige  Worte  in  meiner  Socialethik  S.  770  ff. 


lieber  das  Verhältais»  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft,     367 

eine  Verkennung  der  Bedeutung  geschichtlicher  Tradition  vor- 
zuliegen^ wie  udr  dieselbe  kaum  je  in  so  exorbitantem  Maasse  ent- 
gegengetreten ist.  Sonst  wäre  es  auch  unerklärlich,  wie  der  Miss- 
veratadid,  wie  die  Unklarheit  über  das  Verhältniss  von  „Geistes-  und 
Naturwissenschaft"  geradezu  als  schwarzer  Faden  durch  seine 
ganze  Argumentation  sick  hindurchziehen  könnte,  ich  meine  jenen 
grO'besk  Missverstand,  als  handele  es  sich  bei  diesem  Gegensatz  um 
eine  Herab&ietzung  oder  Entgeistigung  der  naturwissenschaftliehen 
Arbeit  und  ihrer  Pfleger.  Der  Verf.  scheint  mit  dem  wiederholten, 
gleichsam  aus  einem  Gefühl  des  Verkanntseins  herausgeborenen 
Refrain:  „wir,  die  wir  nicht  zu  den  Männern  der  Geisteswissen- 
schaft gehören",  —  in  der  That  sagen  oder  voraussetzen  zu  wollen, 
dass  wir,  als  Männer  der  Geisteswissenschaft  uns  brüstend,  den 
Naturforschern  den  Geist  oder  die  Energie  der  Geistesarbeit  *abzfti- 
sprecfaen  gesonnen  sind.  Im  Gegentheil.  Wir  müssen  gestehen,  uns 
fehlt  oft  die  Hingabe  des  Geistes,  die  Begeisterung  für  das  Unter- 
suchungsobject,  wie  sie  den  exaeten  Naturforscher  »eist  auszeichnet. 
—  Das  aber,  denke  ich,  weiss  doch  jeder,  dass  es  sich  beim  Gegen- 
satz von  Natur-  und  Geist  es- Wissenschaft  lediglich  um  die  zu 
untersuchende  Sphäre,  nicht  aber  um  die  Art  und  Weise  der  Unter- 
suchung oder  den  Charakter  der  untersuchenden  Subjecte  handelt. 
Wer  unter  den  „Männern  der  Geisteswissenschaft"  hat  es  je  ge- 
leugnet, dass  der  Gebrauch  jener  Instrumente  und  Werkzeuge  der 
Beobachtung  eine  Geistesarbeit  sei?  Ist  denn  Wissenschaft,  also  auch 
Naturwissenschaft  je  ohne  logische  Thäfeigkeife  dankbar?  In  diesem 
Sinne  ist  sie  also  selbstverständlich  auch  Geisteswissenschaft. 

Sollte  es  nicht  daher  ein  blosser  Beweis  „gesteigerter  Gefühls- 
Innervation"  sein,  auf  welcher  der  naturwissenschaftliche  Aberglaube 
mit  seimer  Vornehmheit  in- der  Behauptung  unbewiesener  Hypotiiesen 
so  gern  wuchert,  wenn  mein  geehrter  Gegner  jenes  Quidproquo  durch 
seine  ganze  Gedankenentwickelung  sich  hindurchziehen  lässt?  Fühlt 
er  sich  vielleicht  empfindlich  getroffen  durch  Berührung  seiner 
Achillesferse,  die  wir  als  Geringschätzung  der  geistigen  Errungen- 
schaften der  Geschichte  bezeichnen  könnten?  Oder  fehlt  nicht  etwa 
gerade  dem  Naturibrsoher  auf  jenem  wunden  Flecke,  den  nian  häufig 
schon  als  Mangel  an  historischem  Sinn  charakterisirt  hat,  der  „Schutz 
einer  natürlichen  Oberhaut",  welche  man  ohne  Bild  als  ^Vernunft" 
bezeichnen  könnte? 

Wir  kommen  bei  dieser  gelegentlichen  Berührung  der  natur- 
wissenschaftlichen Empfindlichkeit  über  ihr  angebliches  Excludirtsein 


368     Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteßwissenschaffc. 

aus  den  Kreisen  der  „Geisteswissenschaft"  auf  den  Kernpunkt  der 
Frage,  die  uns  hier  noch  näher  beschäftigen  soll;  die  richtige  Ver- 
bal tnissbestimmung  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft;  eine  Frage, 
welche  ohne  Zurückgehen  auf  die  Begriffe :  Natur  und  Geist,  Natur- 
en twickelung  und  Menschheitsgeschichte,  Natur-  und  Sittengesetz, 
Noth wendigkeit  und  Freiheit  gar  nicht  gelöst  werden  kann.  Es  sei 
mir  jedoch  erlaubt,  bevor  ich  durch  diese  ernstere  Untersuchung 
meinem  Gegner  in  Betreff  unserer  Hauptdifferenz  gerecht  zu  werden 
suche,  noch  eine  Nebenfrage  kurz  zu  erledigen,  die  vielleicht  auf 
jene  Hauptfrage  ein  Licht  wirft. 

Mein  Gegner  sucht  nämlich  unter  Anderem  meine  Schlussfolgerung 
aus  dem  statistisch  beweisbaren  Gleichgewicht  der  Geschlechter  auf 
die  Berechtigung  und  Nothwendigkeit  der  Monogamie  dadurch  zu 
entkräften,  dass  er  meint:  „in  Weltgegenden,  wo  keine  Monogamie 
decretirt  ist,  wird  das  Verhältniss  anders  sich  gestaltet  haben **  (S.  202). 
Der  positive  Nachweis  für  die  letztere  Behauptung  fehlt.  Ueber  das 
genauere  Geschlefehtsverhältniss  in  orientalischen  Staaten  schweigt 
die  auf  statistische  Beobachtung  gegründete  Geschichte.  Ein  sol- 
ches argumentum  e  silentio  dürfte  also  gegenüber  einem  directen 
Nachweis  aus  mehr  als  1 V2  millionen  Knaben-  und  Mädchengeburten 
doch  kaum  ausreichen,  die  Monogamie  als  „eine  künstlich  geregelte 
Züchtung  des  Menschengeschlechts*'  zu  brandmarken.  Ich  habe  es 
bereits  in  meinem  Buche,  ohne  dass  mein  geehrter  Gegner  es  er- 
wähnt oder  widerlegt  hat,  hervorgehoben,  wie  in  Folge  der  Polygamie 
in  orientalischen  Ländern  ein  Mangel  an  Frauen  eintritt,  der  sich 
namentlich  (ausser  der  nothwendigen  Zufuhr  derselben  von  aussen) 
jn  der  Unmöglichkeit  bei  den  ärmeren  Classen,  überhaupt  Frauen  zur 
Ehe  zu  finden,  kund  giebt.  Dass  in  China  und  Japan  viele  Mädchen 
ausgesetzt  werden,  kann  nicht  einmal  als  Stsheingrund  für  „const-antes 
Uebergewicht  des  weiblichen  über  das  männliche  Geschlecht"  gelten, 
da  bekanntlich  gerade  unter  polygamisch  lebenden  Völkern  das  Leben 
des  Weibes  unterschätzt  und  in  Folge  der  Unnatur  jener  Sitte  das 
Verständniss  für  den  persönlichen  Werth  eines  solchen  Wesens  in 
dem  Einzelfall  verloren  geht.  Es  kann  also  höchstens  zugegeben 
werden,  dass  für  jene  orientalischen  Länder  der  exacte  statistische 
Nachweis  noch  nicht  vorliegt,  dass  sie  also  weder  pro  noch  contra 
angeführt  werden  können,  obwohl  die  Voraussetzung  nach  den  bis- 
herigen Reiseberichten  berechtigt  erscheint,  dass  auch  dort  die 
Polarität  der  Geschlechter  sich  trotz  der  polygamischen  Extravaganzen 
in  dem  Verhältniss  der  Knaben-  und  Mädchengeburten  durchsetzt. 


Ueber  das  Verhältniss  yon  Natur-  und  Geisteswissenschaft.     369 

Wenn  ich  dieses  empirische  Gesetz  bei  eventueller  Störung  durch 
ausserordentliche  Kriegsereignisse  in  Folge  einer  Compensations- 
tendenz  sich  realisiren  oder  durchsetzen  sehe,  welche  letztere  ich 
namentlich  aus  den  französischen  Berichten  über  Knaben-  und  Mäd- 
chengeburten Yom  Jahre  1806 — 1854  nachzuweisen  suche,  so  ist  damit 
selbstverständlich  nicht  gemeint,  dass  die  in  Prankreich  damals 
lebenden  Ehepaare  im  Bewusstsein  der  geschehenen  Störung  sich 
^sofort  zur  Compensation  rüsteten**.  Ich  habe  ausdrücklich  gesagt, 
dass  die  Ausgleichung,  den  Einzelnen  und  dem  Ganzen  unbewusst,  aber 
in  merkwürdiger  Stetigkeit  vor  sich  geht.  Dabei  habe  ich  nirgends 
behauptet,  dass  der  Weiberüberschuss  und  die  Knabenmehrgeburt  in 
gleichem  procentalen  Verhältniss  ab-  und  zunahm.  Es  ist  wahr,  dass 
der  Weiberüberschuss  allmälig  um  5  %  sank,  die  Knabenmehrgeburt 
aber  um  1,28%  stieg.  Diese  beiden  Procentangaben  sind  aber  durch- 
aus nicht  commensurabel,  da  ja  das  eine  Procent  in  der  Knaben- 
mehrgeburt, wie  ich  ausdrücklich  betone*  erst  in  allmäligem  Fortschritt 
durch  Jahre  hindurch  die  durch  den  Krieg  entstandene  Männerlücke 
auszufüllen  oder  den  Weiberüberschuss  zu  neutralisiren  im  Stande  war. 

Ueberhaupt  scheint  meinem  geehrten  Gegner  das  Verständniss 
für  statistische  Parallelen  abzugehen;  wie  könnte  er  sonst  den  all- 
gemein anerkannten,  aus  million  und  aber  millionen  Fällen  auf  in- 
ductivem  Wege  gewonnenen  Schluss  von  der  Knaben-  und  Mädchen- 
geburt auf  das  nothwendige  Gleichgewicht  der  Geschlechter  in 
Parallele  stellen  mit  einem  hinkenden  Schluss  aus  den  verkrüppelten 
Füssen  der  Chinesinnen  auf  die  menschliche  Fussbildung?  Ja,  wie 
könnte  er  als  auf  eine  ^ähnliche  Compensationstendenz"  auf  die 
Parallele  der  Selbstmorde  und  unehelichen  Conceptionen  in  den  ein- 
zelnen Monaten  und  Quartalen  des  Jahres  hinweisen.  Dass  in  der 
heissen  Jahreszeit  ebensowohl  die  Selbstmordfrequenz  als  die  Zahl 
der  unehelichen  Geburten  steigt,  kann  wohl  eine  gemeinsame  Ursache 
haben  und  hat  sie  aqf  h  höchst  wahrscheinlich ;  wie  sich  aber  beides 
„compensiren''  kann  und  soll,  bin  ich  nicht  im  Stande  nachzudenken 
oder  zu  verstehen.  Es  liegt  hier  wiederum  eine  „iieiaßaat?  ek  dXlh 
'Yivoc"  vor,  während  der  vorhandene  Männermangel  in  einem  Staate 
mit  ersichtlich  steigender  Knabenmehrgeburt  und  zwar  bis  zu  dem 
Moment  des  wieder  eintretenden  Gleichgewichts  beider  Geschlechter 
gewiss  von  tiefer  Bedeutung  für  die  Erhaltung  der  Progenitur  in 
dem  socialen  CoUectiv-Organismus  ist. 

Wenn  ich  das  eine  „Tendenz",  nenne,  so  ist  dieser  Begriff  doch 
wohl  von  „Intention**  scharf  zu  unterscheiden.     Man  redet  doch  auch 


370    üeber  da«  Verhältflisi  von  Natur-  und  QeisteBwissenachaft. 

rot)  der  „TBndenz**  des  Barometers,  zu  steigen  oder  zu  fallen,  and 
niemand  ßiUt  ee  ein,  ihm  deshalb  eine  bewusst  aweeksetzende 
Thät^keit  zuzuschreiben.  In  der  Statistik  namentlich,  wie  jedem 
Saehkenner  bekannt  ist,  versteht  maa  unter  „Tendenz"  eine  in  der 
Afasseebewegung  sich  kundgebende  coustante  ßiohtung  oder  Neigung 
zum  Sinken  oder  Steigen,  zur  Verminderung  oder  Vermehrung  eines 
Phänomens.  Ich  habe  daher  auch  die  physikalischen  und  physio- 
logisch-morphologiachen  Gründe  für  jene  merkwürdige  Erscheinung 
der  in  solchen  Zeiten  gesteigerten  Knabenmehrgeburt  allseitig  ge- 
prüft und  darzulegen  gesucht,  ohne  dass  mein  Oegner  die  Tragweite 
und  Ver Wickel theit  dieser  Frage  auch  nur  zu  würdigen  sich  die 
Mühe  gegeben  hat.  Er  weiss  blos  von  dem  Oeschlechtsrerhältniss 
in  den  Bienenschwärmen  zn  sagen  und  bei  der  Parthenogenesls  der- 
selben frivole  Anspielungen  zu  machen,  aber  in  Betreff  der  Menschen 
bleibt  er  bei  der  Behauptung:  „Na,turhistorisch  wissen  wir  gar  nicht, 
ob  das  Menschengeschlecht  monogamisch  oder  polygamisch,  mon- 
andrisch  oder  poiyandrisck  sich  fortzupflanzen  genaturt  war."  Also 
—  die  Monogamie  ist  eine  willkürliche  menschliche  Satzung,  keine 
auf  höherer  natürlicher  und  sittlicher  Nothwendigkeit  ruhende  Ord- 
nung, ßass  hiermit  zugleich  das  Familienleben  ale  Basis  und 
Fundament  der  socialethischen  Lebensbewegung  in  Frage  gestellt  ist, 
li^t  auf  der  Hand..  Das  Sittengesetz  überhaupt  erscheiftt  als  will- 
kürliche ^Satzung'-. 

■  Wir  sind  hier  bei  dem  Funkte  in  der  Aigumentation  meines 
Gegners  angelangt,  der  mir  den  Kern  des  Problems  zu  berühren 
scheint,  —  ich  meine  das  Verhältniss  von  physischer  und  geistigsitt- 
licher Ordnung,  von  Natur  und  Geschichte.  Ans  der  Beleuchtung  dessel- 
ben wird  das  zur  Orlentimng  über  das  Verhältniss  von  Natur-  und 
Geisteswissenschaft  Nöthige  sich  uns  zum  Scbluss  von  selbst  ergeben. 
Wenn  ich  Natur  und  Geist  nach  ihrer  inneren  Grenzbestimmung, 
in  ihrer  wesentlichen  Unterschiedenheit  und  Be^ogenheit  untersuchen, 
d.  h,  wesQ  ich  metaphysisch  jenes  Verhältniss  erörtern  und  fest- 
stellen wollte,  90  müsste  ich  nicht  blos  auf  die  gesammte  Geschichte 
der  Philosophie  zurückgehen,  die  sich  so  zu  sagen  immer  und  überall 
um  die  Lösung  dieses  riesigen  Problems  bemüht  hat,  sondern  ich 
tnüsst«  mich  in  abstracte  und  schwierige  Speculationen  einlassen, 
welche  kaum  vor  den  Leserkreis  dieser  Zeitachrift  gehören  dürften, 
Und  doch  ist,  wie  mein  geehrter  Gegner  richtig  gesehen,  hier  „der 
Punkt,  auf  welchem  Theologen  und  Naturphilosophen",  die  Männer 
der  Geistes-  und  der  Naturwissenschaft,  „Stirn  gegen  Stirn  aufeinander 


.  Ueber  das  Verbärltniss  von  liiTatur-  und  Geisteswissenecbafl.     371 

stm^n  imd  in  enlgegengeeetzter  Richtung  zurtickprallend  die  Re^e 
d«rißh  die  vorliegende  Begriffswelt  antretßn"  (S.  199).  Bei  so  be- 
wa^dt^i  Umständen  würde  eine  metaphysische  Deduction  shle^jhter- 
dings  nichts  halfen.  Dei^n  die  Prämissen  sind  zu  vei'schiedeoe*  Die 
SiQen  machen  die  Materie,  den  Urstoff  mit  ßeinen  ,, mechanisch- 
iQhemißchen  Molecularbewegungen"  zum  ewigen  Ausgangspunkte, 
von  welchem  aus  durch  Vermittelung  „organischer  Molecnlarbe- 
wegungen"  die  „Lebewesen"  zu  Stande  kommen  sollen,  unter  wel- 
chen der  homo  S9*piens,  der  nach  morphologischen  Gesetzen  der 
Artung  lind  Entwickelupg  lediglich  auf  dem  Wege  nothwendigen 
Waßbsthums  im  Kampf  ums  Dasein  zu  dem  geworden,  was  er  ist, 
den  uns  bekannten  Höhepunkt  bildet.  Die  Anderen  bezeichnen  den 
gchöpferischen  Geist  als  das  schlechthin  Ursprüngliche,  welcher  als 
UrwiUe  die  sichtbaren  Dinge  geschaflfen  und  geordnet,  um  auf  dem 
Boden  der  Natur  eine  Geschichte  sich  vollziehen  zu  lassen,  deren  Sub- 
ject  der  Mensch  ist,  sofern  er  sich  nicht  bloss  nach  immanenten 
Gesetzen  der  Na turnoth wendigkeit  entwickelt,  sondern  in  zweck- 
setzender Willensbethätigung  sich  der  Normen  bewusst  zu  werden 
sucht,  nach  welchen  sein  persönliches,  wie  sein  Gemeinschaftsleben 
sich  freiheitlich  regeln  und  fortschreiten  soll. 

Welche  der  beiden  Anschauungen  die  vernünftigere  ist,  müssen- 
wir  zunächst  auf  sich  beruhen  lassen.  Denn  die  Untersuchung  wie 
die  Entscheidung  darüber  sind  um  so  schwieriger ,  als  es  sich 
im  letzten  Grunde  um  geheimnissreiche  Probleme  handelt,  die  weit 
über  unseren  Horizont  gehen.  Was  wissen  wir  über  das  innere 
Functions verhältnisa  zwischen  Leib  und  Geist?  Die  Materie  als  Ur- 
kraft  (oder  als  Summe  von  Atomen,  Molecülen  oder  Dynamiden) 
bleibt  uns  ihrem  innersten  Wesen  nach  ein  vielleicht  noch  unlös- 
bareres Räthsel  als  der  Geist,  der  als  selbstbewusster  persönlicher 
Wille  unserem  Denken  und  Wollen  näher  steht  und  eben  deshalb 
in  gewissem  Sinne  fasabarer  und  verständlicher  ist.  Hier  kann  es 
uns  nur  darauf  ankommen  zu  prüfen,  von  welchen  Prämissen  aus 
wir  das  Welträthsel,  die  reiche  Mannigfaltigkeit  der  sich  unserer 
Beobachtung  darstellenden  Erscheinungen  leichter  lösen  und  annähernd 
verstehen  können.  Und  da  acheint  es  mir  sonnenklar  und  hand- 
greiflich, dass  weder  jener  naturalistische  Materialismus,  der  kein 
anderes  Gesetz  des  Werdens  kennt  als  das  der  chemisch-mechanischen 
Mblecularbewegung,  noch  auch  der  spiritualistische  Idealismus,  der 
mit  Verkennung  der  objectiven  Naturordnung  nur  willkürliche  Be- 
wegungen des  Ichs  annimmt.  Recht  haben  können.   Jener,  der  heut 


372     Ueber  das  Verhältnis^  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft. 

zu  Tage  besonders  in  der  Luft  liegt,  obwohl  alle  soliden  Mö-nner 
exacter  Naturforschung  ihn  als  willkürlichen  Dogmatismus  auf  phy- 
sikalischem Gebiete  desavouiren,  wird  der  unleugbaren  Thatsache 
des  Sittengesetzes  und  der  geschichtlichen  Entwickelung  nicht  ge- 
recht; dieser,  der  meist  nur  die  krankhafte  Kehrseite  jenes  anderen 
Extrems  ist,  verkennt  den  innerlich  nothwendigen  Zusammenhang  wie 
in  der  Naturordnung,  so  auch  in  der  geistigen  Willensbewegung  des 
Menschen.  Wer  weist  uns  den  Weg  zur  wahren,  goldenen  Mitte? 
Fassen  wir  die  Sache  rein  praktisch  und  empirisch  an.  An  dem 
kleinsten,  scheinbar  unbedeutendsten  Endpunkt  unserer  Erfahrung 
und  Beobachtung  lässt  sich  oft  mehr  für  die  Lösung  des  Welträthsels 
lernen  als  aus  abstracten  Speculationen,  die  von  unbewiesenen  und 
unklaren  metaphysischen  Begriffen  ihren  Ausgangspunkt  nehmen. 
Ich  pflege  den  Kindern  in  der  Schule  den  Unterschied  von  Natur  und 
Geschichte,  von  Welterhaltung  und  Weltregierung,  von  blossrem 
Wachsthum  und  fortschreitender  Civilisation  an  dem  klar  zu  machen, 
was  Luther  in  seiner  feinen  Erklärung  des  ersten  Artikels,  nachdem 
er  „Leib  und  Seele,  Augen,  Ohren,  Vernunft  und  alle  Sinne"  als 
von  Gott  gegeben  und  erhalten  genannt  hat,  noch  speciell  hervor- 
hebt, nämlich  „Kleider,  Schuh,  Essen,  Trinken,  Haus  .und  Hof'  etc. 
Nicht  die  abstracte  Beleuchtung  dessen,  was  man  oft  ohne  Ver- 
ständniss  seine  „Vernunft"  nennt,  lehrt  uns  den  Menschen  vom  Thier, 
die  Geschichte  von  der  Natur  richtig  und  praktisch  unterscheiden; 
denn  was  heisst  Vernunft,  wo  fängt  sie  an,  wo  hört  sie  auf?  Ist 
sie  auch  im  Grashalm,  im  Baum,  in  der  Mücke,  im  Elephanten,  im 
Regen  und  Sonnenschein,  ja  im  Planetensystem  und  Fixsternhimmel? 
Ich  glaube,  so  paradox  das  klingen  mag,  jeder  zerfetzte  Schuh,  jedes 
zerrissene  Kleid,  jede  gebratene  Kartoffel  und  jede  vertrocknete 
Brodrinde  lehrt  uns  deutlicher  die  Wirkungen  zwecksetzender  und 
zweckbewusster  Vernunft  beobachten,  als  alle  grossartigen  Natur- 
phänomene. Denn  bei  letzteren  kann  ich  mir  immer  noch,  wie  die 
Erfahrung  im  Gebiete  heidnischer  Religionen  lehrt,  eine  irgendwie 
ordnende  Weltmacht  oder  Urkraft  denken  ohne  persönlich  zweck- 
setzenden Willen.  Wenn  ich  aber  auf  einer  wüsten  Insel,  vom 
tobenden  Ocean  des  Lebens  an  dieselbe  verschlagen,  einen  zerfetzten 
Schuh  oder  zerlumpten  Rock  mitten  im  prächtig  blühenden  tropischen 
Walde  finde,  so  wird  mich  das  tiefer  ergreifen  als  alle  Naturpracht; 
ich  werde  jubelnd  auQauchzen:  hier  sind  Menschen  gewesen,  hier 
ist  eine  Spur,  ein  Document  der  Civilisation,  der  Geschichte.  Die 
Männer   der   Geisteswissenschaft,   welche   wir  Archäologen  nennen, 


Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft.     373 

werden  mir  das   ohne  weiteres  nachzufühlen  im  Stande  sein.     Wir 
ahnen  etwas  von  der  Schwärmerei  derselben  für  jedes  noch   so  ge- 
ringfügige Ueberbleibsel   menschlicher    Arbeit  und    Thätigkeit    aus 
alten  Zeiten.      Denn   ein  Schuh,  auch  der  allergeringste  und  zer- 
rissenste, kann  schlechterdings  nicht  gewachsen  sein !  ein  Kleid,  auch 
das  zerfetzteste,  kann  nicht  durch  generatio  aequivoca  erzeugt 
oder  aus  einer  Zelle  kraft  elementarer  Molecularbewegung  sich  aus- 
gebildet haben.  —  Und  wenn  jener  arme  Schiffbrüchige  weiter  geht 
und  findet    an    dem  Waldrande  eine  gebratene   Kartoffel   oder    ein 
Stück  vertrockneter  Brodrinde,   so  wird  solch   ein  Fund  ihm    von 
grösserem  Werthe  sein,  als  die  köstlichsten  Südfrüchte,  die  ihm  von 
den  Bäumen   entgegenduften       Denn  er  weiss  nun  sicher,  dass  in 
diesem  Walde  nicht  blos  Tiger  und  Affen  gehaust  haben,  dass  viel- 
mehr jenes   Wesen,    von  welchem    Sophokles    seinen    Chor    singen 
lässt:  „nichts  ist  gewaltiger  als  der  Mensch,"  —  seinen  civilisatorischen 
Beruf  auch  auf  dieses  Eiland  erstreckt,  in    seiner  Weitmission  auch 
hier  gearbeitet  hat*     Selbst  in  dem  feuerbachschen  Gedanken:  „der 
Mensch  ist,   was  er  isst,*^  liegt   ein  Körnlein   Wahrheit,  wenn   man 
„Essen  und  Trinken^"   unter  den  Gesichtspunkt  der  bewusst  zweck- 
setzenden Civilisation  und  Sitte  stellt;  wenn  man  nicht  bloss  an  die 
verzweigten  Regeln  der  Kochkunst  denkt,  sondern  sich  die  Thatsache 
in  ihrer  weittragenden  Bedeutung  vergegenwärtigt,  dass  —  wie  man 
es  bezeichnet  hat,  —  der  Mensch  „ein  kochendes  Thier",  d.  h.  eben 
kein  blosses  Thier  ist.     Denn  kein  Thier  macht  Feuer,  kein  Thier 
kennt  das  Heiligthum  des  Heerdes,  kein  Thier  hat  in  diesem  Sinne 
„Haus  und  Hof''  und  nennt  „Acker,  Vieh  und  alle  Güter"  sein  Eigen- 
thum,   d.  h.  ahnt  etwas  von  einer  durch  Arbeit  bedingten  Rechts- 
ordnung und  Rechtsentwickelung.     Daher  auch,  beiläufig  gesagt,  die 
Nationalökonomie,  welche  die  Vermögensproduction  auf  dem  Wege 
der  Arbeit  zum  Gegenstande  ihrer  Untersuchung   macht,  selbst  bei 
physiokratischer  Grundanschauung  vorzugsweise  eine  geschichtswissen- 
schaftliche Disciplin  ist. 

Bahr  lässt  in  der  Wildniss  einen  Hottentotten  ein  Blatt  aus 
eine!"  beethovenschen  Sonate  finden;  und  in  der  stufenweise  fort- 
schreitenden Beurtheilung  dieses  Stückes  Papier  sieht  er  ein  Docu- 
ment  dafür,  dass  der  Mensch  eine  civilisatorische  Mission,  dass  er 
eine  Geschichte  hat,  deren  Resultate,  deren  geistig  und  ästhetisch 
geartete  Producte  dem  crassen  Materialisten  lauter  unlösbare  Räthsel 
bleiben  müssen.  Wir  brauchen  aber  nicht  einmal  bis  zum  Kunst- 
werk aufzusteigen.  „Kleider,  Schuh,  Essen,  Trinken,  Haus  und  Hof, 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Falge,  Bd.  I,  Heft  7  u.  8.  25 


374     Heber  dm  yerbältulee  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft. 

Acker,  Vieh  und  alle  Güter",  sie  beweisen  uns  in  der.That,  daes 
der  Mensch  kein  blosses  Naturweeen  ist,  das  naturgesetzlich  sich 
entwickelt  und  wadiat,  sondern  ein  Geschichtsweeen ,  das  Zwecke 
verfolgt  und  dieselben  nach  geistigen  Gesetzen  in  der  Form  gesitteten 
und  rechtlichen  Zusammenlebens  erreichen  und  erarbeiten  lehrt. 
Zeige  mir,  lieber  Darvinist,  einen  AlVen,  der  je  zum  Schubmachen 
die  Neigung  documentirt  oder  auch  nur  annähernd  fähig  ist,  und  ich 
will   mich  dir  mit  Leib  und  Seele  gefangen  geben  auf  «wig. 

„Kleider  und  Schuh"  sind  aber  auch  durch  Menschen  nicht  von 
Anfang  an  so  vollkommen  gemacht  worden,  wie  die  jetzigen  pariser 
uud  berliner  Schuster  sie  fertigen.  *  Woher  der  Fortschtitt?  Woher 
die  Vervollkommnung?  Ein  „gebildeter"  Schuster  wird  dir  es  s^eii 
können.'  Der  Meister  föllt  weder  vom  Himmel,  noch  auch  hat  er 
seine  Geschicklichkeit  als  physische  Erbschaft  überkommen.  Und, 
—  nicht  der  einzelne  Meister  hat  seinem  zufällig  aufgefangenen  Ge- 
selleu  in  „affenähnlicher  Geschwindigkeit"  das  Lederstück,  —  das 
auch  noch  seine  Gerb-Civiliaation  durchmachen  musste,  —  gewiesen, 
um  es  so  und  so  zu  verarbeiten.  Wie  der  Geselle,  so  hat  auch  der 
Meister  seine  Schule  durchgemacht.  Er  weiss,  was  und  wie  die 
Menschheit  bisher  an  Schuhleistung  au  Tage  gefördert;  er  weiss  es 
nicht  blos  durch  die  bisherigen  Schuhexeinplare,  die  er  gesehen  und 
studirt,  er  weiss  es  —  durch  geschichtliche  Tradition. 

Huxley  hat  Recht,  wenn  er  trotz  seines  Darvinismua  bekennt: 
„der  Berg  der' Geschichte,  den  wir  Tradition  nennen,  sei  für  den 
blossen  Naturforscher  ein  bisher  noch  unerklärtes  RAthsel."  Weder 
der  „Kampf  um  das  Dasein",  noch  der  „Atavismus",  noch  die 
,. Variabilität",  —  erklären  das  Wesen  der  Tradition,  welche  be- 
dingt ist  nicht  blos  durch  civilisatorischen  Fortschritt,  sondern  vor 
allem  —  durch  die  Sprache. 

Mag  der  Materialist  noch  so  viel  träumen  von  der  „Sprache, 
durch  welche  auch  die  Thiere  sich  unter  einander  verständigen"  und 
in  welcher  dieselben  durch  „Züchtung",  wie  die  Vögel  im  Singen, 
auch  Fortachritte  machen  können,  —  noch  nie  ist  der  Erweis  ge- 
führt worden,  dass  thierische  Laute  sich  zu  einem  Gedankenbau 
gestalten  kOunen,  durch  welchen  nicht  blos  die  gleichneitigeD 
Generationen  sich  gegenseitig  verstehen,  sondern  die  Geistesarbeit 
der  .Tahrhnnderte  eich  in  Form  der  Ueberliefei'ung  den  kommenden 
Geschlechtem  vermittelt.  Und,  wie  die  Sprache  selbst  ein  Mittel 
für  Geschieh tßüberlieferuug  ist,  so  ist  sie  auch  selbst  eine  Geschichte, 
d.  h.   sie  hat   sich  je   nach   den   volkathiimlichen  Gemeinschaften  in 


Ueber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Qeisteswissenscbaft.     876 

verschiedenen,  gruppenartigen  Typen  zu  höherer  Vollkommenheit 
entwickelt,  so  dass  sich  aus  dem  inneren  zusammenhängenden  Com- 
plex  der  Laut-  und  Sprachbildung  auch  Laut-  und  Sprach  regeln 
ausgestaltet  haben,  die  der  Einzelne  befolgen  soll  und  muss,  wenn  er 
normal  sich  ausdrücken  oder  verstanden  sein  will. 

Um  aber  die  sprachliche  Ueberlieferung  nicht  verwischt  werden 
zu  lassen,  um  zugleich  über  Raum  und  Zeit  seine  ins  Wort  gefassten 
Gedanken,  ^Erfahrungen  und  sittlichen  Normen  mittheilen  zu  können, 
hat  der  Mensch  in  Jahrhunderte  langer  Arbeit  die  Schrift-  und  Druck- 
sprache erfunden  und  ausgebildet,  so  dass  er  nicht  blos  in  „ver- 
gilbten Documenten^'  seine  „Verirrungen"  zu  verewigen,  sondern 
durch  urkundliche  Fixirung  seiner  wenn  auch  unvollkommenen 
Erfahrungen  und  einseitigen  Gedanken  den  nachkommenden  Ge- 
schlechtern eine  Basis  und  eine  Anregung  für  den  geistig-civilisato- 
rischen  Weiterbau  zu  geben  vermag.  Die  Menschheit,  ihre  Cultur- 
und  Sittengeschichte  spiegelt  sich  in  der  Literatur !  Und  die  Literatur 
vor  allem  und  jegliche  in  literarischen  Documenten  sich  ausprägende 
menschliche  Arbeit  ist  der  grosse  und  eigenartige  Gegenstand  der 
Erforschung  für  die  Männer  der  Geisteswissenschaft.  Zwar  wird 
auch  der  Naturforscher,  wie  ich  bereits  oben  berührte,  nie  ohne 
Literaturkenntniss,  ohne  Aneignung  und  Verarbeitung  des  bisher  in 
seinem  Fache  geleisteten,  wissenschaftliche  Erfolge  erringen  können. 
Aber  das  Object  seines  Studiums  ist  und  bleibt  die  ihn  umgebende 
sinnlich  wahrnehmbai'e  Welt,  sofern  sie  auf  unwandelbaren  Gesetzen 
ruhend  sich  noch  heute  ihren  elementaren  Kräften  nach  genau  ebenso 
bewegt  und  dasselbe  leistet,  wie  vor  tausenden  von  Jahren.  Die 
Arbeit  des  Geschichtsforschers  oder  der  Geisteswissenschaft  beginnt 
eben  dort,  wo  in  Sprache  und  Literatur  sich  eine  geistige  Fortent- 
wickelung documentirt,  der  Mensch  also  über  die  constant  sich 
gleichbleibende  Naturspähre  erhaben  erscheint. 

Mit  der  geistigen  Culturbewegung  geht  aber  die  sittliche  stets 
und  nothwendig  Hand  in  Hand.  ' 

Beides,  Sprache  und  Schrift,  sind  dem  Menschen  zugleich  die 
Mittel,  innerhalb  der  verschieden  sich  artenden  und  gliedernden  Ge- 
meinschaftskreise die  inneren  Impulse  seiner  Lebensbewegung  zu 
Normen  auszugestalten.  Es  bilden  sich  „Gesetze'^  die  das  recht- 
liche, sittliche,  intellectuelle,  religiöse  Gemeinschaftsleben  zu  regeln 
die  Aufgabe  haben^  Gesetze,  welche  immerhin  als  „Satzungen"  von 
den  Naturordnungen   mit  ihrer  immanenten,   unabänderlichen  Noth- 

wendigkeit  unterschieden   werden  mögen.      Auch   das  will  ich   mit 

25* 


376     Ueber  da«  VerhältniBB  von  Natui-  und  GeisteswisseDsehafl. 

meinem  geehrten  Gegner  zunächst  als  empirische  Wahrheit  acceptiren, 
welche  cum  grano  salis  verstanden  unbedenklich  erscheint,  dass 
diese  (die  Naturordnungen)  „durch  sich  selbst  existiren"  und  jene 
(die  Satzungen)  „von  Menschen  gemacht  sind'^;  wie  auch  der  Baum, 
aus  dem  Samen  gewachsen,  in  gewissem  Sinne  „durch  eich  selbst 
existirt",  das  Haus  aber,  als  familienhafter  Bergeort  der  Sitte  zum 
gemeinsamen  Wohnen  bestimmt,  von  Menschen  „gemacht"  ist.  Aber 
ich  bitte  ihn  nur,  consequent  weiter  zu  denken  und  seine  natur- 
wissenschaftliche Begabung  in  dem  bene  distinguere  zu  erweisen, 
d.  h.  anzuerkennen,  dass  hier  und  dort  auch  verschieden  geartete, 
ja  in  der  That  materielle  und  geistige  Causalität  vorliegt. 

Ich  rede  hier  noch  keineswegs  von  religiösen  und  theologischen 
Dingen.  Nicht  der  göttliche  Urwille  oder  der  schöpferische  Urge- 
danke  beschäftigt  ans  zunächst,  sondern  der  Mensch;  der  Mensch, 
dieses  wundersame  doppelseitige  Wesen,  welches  einerseits  mit  der 
Natur,  die  ihn  umgiebt  und  seine  Organisation  bedingt,  in  noth- 
wendigem  Zusammenhange  steht  und  als  Lebewesen  jenen  Gesetzen 
unterworfen  ist,  welche  in  dem  ein  für  allemal  geordneten  physisch- 
elementaren Zusammenhange  nothwendig  begründet  liegen;  und 
welches  andererseits  mit  der  Fähigkeit  fortschreitender  geistiger  Ent- 
wickelung  und  Zwecksetzung  auch  den  unwiderstehlichen  Impuls 
in  sich  fühlt,  sein  Gemeinschaftsleben  bewusst  zu  normiren  und 
geistig-sittlich,  sowie  rechtlich  und  religiös  auszugestalten  nach  Ge- 
setzen, die  als  Gebote  hingestellt  den  Anspruch  macheu  befolgt  zu 
werden  oder  gegen  den  Uebertreter  reagiren.  Daher  begegnen  sich 
im  Menschen  Natur  und  Geist,  Nothwendigkeit  und  Freiheit,  Gesetz 
und  Satzung. 

Stehen  denn  nun   beide  in   solchem  Widerspruch  mit  einander, 

daas    man   in  einseitiger  Beschränktheit  nur   die  Natur  apotheosiren 

nnd  alle   geistig-sittliche  Bestrebung   und   Zwecksetzung  als  Illusion 

bezeichnen,  zu  einem  blossen  Schein  verflüchtigen  darf,  wie  der  cra^s 

materialistische  Naturforscher  will  und  thut?     Hiesse  das  exact  sein 

in   der  Beobachtung   des  Erfahrungsmässigen ?     Gewiss  nicht.     Eine 

ganze   Reihe    der    geschichtlich    sich   ans   darstellenden   Thatsachen 

ücksichtigt  oder  unerklärt.     Das  Welträthsel  wäre 

irn  die  Welt  der  Geschichte  zerschlagen  mit  roher 

soll  man  in  ähnlicher  Einseitigkeit  oder  Bornirt- 

st"  zu  verherrlichen  und  die  „Freiheit"  zu  retten, 

en  und  die  Satzungen,  sowie  die  Handlungen  der 

von   dem  realen  Boden  einer  in  sich  zusammen- 


lieber  das  Verhättniss  von  Natur-  imd  Geisteswissenschaft.     377 

hängenden  Entwickelung,  einer  höheren  objectiven  Noth wendigkeit, 
die  von  keiner  Satzung  umgestossen  oder  gemaassregelt  werden  kann? 
Gewiss  nicht.  Auch  bei  dieser  crass  spiritualistischen  Auffassung 
müsste  man  sich  verschliessen  gegen  die  zu  beobachtenden  That- 
sachen,  d.  h.  hier  gegen  den  überall  hindurch  leuchtenden  Zusammen- 
hang von  Ursache  und  Wirkung,  sowie  gegen  den  durchschlagenden 
Einfluss  der  Naturmächte  und  Ordnungen  auf  das  menschliche  Geistes- 
leben. Das  Welträthsel  würde  sonst  zum  Weltchaos,  zum  sinn-  und 
ziellosen  Durcheinander  willkürlicher  Strebungen  und  individuell 
persönlicher  Velleitäten. 

vSollte  denn  wirklich  eine  Weltanschauung  unmöglich  sein,  welche 
Natur  und  Geschichte,  Nothwendigkeit  und  Freiheit,  Gesetz  und 
Satzung  in  inneren  Zusammenhang  brächte,  ohne  doch  ihren  Unter- 
schied zu  verkennen  odBr  zu  zerstören? 

Es  scheint  mir  eben  die  Aufgabe  der  Wissenschaft  zu  sein,  an 
diesem  Problem  fort  und  fort  zu  arbeiten,  ohne,  von  der  einen  oder 
anderen  Seite  ausgehend,  das  Kind  mit  dem  Bade  auszuschütten.  In 
unserer  populären  Anschauung,  in  der  unmittelbaren  Gewissheit  des 
denkenden  oder  in  dem  Gewissen  de]s  sittlichen  Menschen  liegt  be- 
reits der  Ansatz  zur  Lösung  des  Problems  enthalten,  sobald  wir, 
befruchtet  von  dem  Geiste  des  Christenthums,  die  Ursache  der 
Welt  als  den  Urwillen  fassen,  welcher  die  Natur  mit  ihren  un- 
wandelbaren  Gesetzen  zum  Boden  für  die  Geschichte  mit  ihren  un- 
umgänglichen Satzungen  geschaffen  hat.  Auch  die  wissenschaftliche 
Beobachtung  menschlichen  Gemeinlebens  führt  zu  diesem  Schluss, 
wenngleich  derselbe  noch  keineswegs  den  Charakter  mathematischer 
Gewissheit,  sondern  den  der  höheren  Wahrscheinlichkeit  hat.  Wir 
könnten  in  der  Sphäre  menschlich-geschichtlicher  Lebensbewegung 
uns  die  Möglichkeit  und  das  Entstehen  sittlicher  und  rechtlicher 
Normen  gar  nicht  erklären,  wenn  wir  nicht,  durch  einen  naheliegenden 
Rückschluss  vom  Mikrokosmos  des  Menschen  auf  den  Makrokosmos 
Gottes,  auch  in  der  gesammten  Weltordnung  eine  gebietende  Macht 
voraussetzten,  die  das  All  bewusst  und  zweckvoll  regelt. 

Freilich  will  mein  geehrter  Gegner  nur  von  Ursachen  etwas 
wissen  und  rechnet  den  „Ur- Willen"  nur  zur  ^verlockenden  Schale 
der  Frucht*'  (S.  201).  Ich  bedauere,  dass  er  über  diesen  wie  mir 
scheint  wichtigsten  Kernpunkt  sich  „nicht  weiter  auslassen  zu  wollen" 
erklärt.  Durch  Verkennung  oder  Ignoiirung  des  gesetzgebenden 
Willens  verschliesst  man  sich  das  V^rständniss  für  die  geistig-sitt- 
liche Signatur  der  Weltordnung. 


378     lieber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschafk. 

Nur  der  persönliche  Gott,  der  in  sich  selbst  Noth wendigkeit  und 
Freiheit  zusammenschliesst,  ermöglicht  es  uns,  bei  der  Weltentwicke- 
lung an  eine  immanente  Nothwendigkeit  zu  denken,  die  innerhalb 
der  Menschheit  und  ihrer  Geschichte  sich  ebenfalls  mit  Nothwendig- 
keit zu  Normen,  zu  Geboten  ausgestaltet,  welche  die  Handlungen 
der  Menschen  zu  regeln  haben;  nur  der  persönliche  Gott,  der  als 
der  Urgeist  und  die  Urliebe  sich  selbst  zu  beschränken  und  eben 
dadurch  der  Freiheit  auch  des  menschlichen  Personwillens  Raum  zu 
geben  vermag,  ohne  doch  sein  Wesen  und  Gesetz  aufzugeben,  ist  als 
der  allmächtige  Ordner  und  Erhalter  der  Natur  zugleich  der  Gott 
der  Geschichte,  der  ein  geistiges  und  sittliches  Ringen  der  Völker 
und  Individuen  ermöglicht  und  nach  dem  Gesetz  der  Teleologie  die 
Welt  regiert.  Ueberall  wo  eine  Naturkraft  oder  ein  naturgesetzlich 
geordnetes  Phänomen  einem  persönlichen  Zwecke  dienstbar  gemacht 
erscheint,  überall  wo  die  Naturgemeinschafl;  in  Rechtsgimeinschaft 
übergeht,  überall  wo  die  Naturlaute  sich  zu  einem  sinnvollen  Sprach- 
bau ausgestalten,  überall  wo  die  Naturbeziehungen  menschlicher  Ge- 
nossenschaft zu  religiös  -  sittlicher  Gemeinschaft  sich  gliedern  und 
demgemäss  normiren,  —  geht  die  Natur  in  die  Geschichte  über,  d.  h. 
gestalten  sich  nothwendig  die  immanenten  Gesetze  der .  Lebensbe- 
wegung nach  göttlicher  Weltordnung  zu  normirenden  Gesetzen,  um 
die  Freiheit  in  den  Dienst  der  Ordnung  zu  stellen,  oder  gegen  die 
Freiheit,  welche  die  Ordnung  eigenwillig  zu  stören  sucht,  durch  die 
Strafe  zu  reagiren.  Daher  finden  wir  auch  überall  —  und  mein 
Werk  soll  ein  kleiner  Beitrag  dazu  sein,  solche  Erkenntniss  zu 
fördern,  —  dass  auch  in  der  sittlich  und  geistig  gearteten  Geschichts- 
ordnung sich  ein  innerer  ursächlicher  Zusammenhang  nachweisen 
lässt,  vor  welchem  jede  Annahme  eines  Zufalls,  einer  blossen  Will- 
kür in  nichts  zerrinnt.  Darin  liegt  die  Analogie  zwischen  Natur- 
und  Geschichtsgesetz.  Gleichzeitig  gestaltet  sich  aber  nur  auf  dem 
Gebiete  der  Geschichte  das  innere  Gesetz  der  Causalität  zum  ge- 
bietenden, Freiheit  beanspruchenden  Gesetz  in  Geboten.  Der  „kate- 
gorische Imperativ^  ist  die  Domäne  der  Geschichte.  Darin  liegt  der 
durchgreifende  Unterschied  zwischen  Natur-  und  Geschieh tsgesetz. 
Genau  die  Grenzen  zwischen  beiden  zu  bestimmen,  wird  uns  viel- 
leicht nie  ganz  gelingen.  Aber  wehe  uns,  wenn  wir  in  schwäch- 
licher Verkennung  unserer  Ohnmacht  und  Einseitigkeit  nur  das 
Naturgesetz  oder  die  Ursachen  als  real  anerkennen  und  den  ür- 
willen  und  sein  gewaltiges,  in  unserem  Innern  wiederhallendes  „Du 
sollst"  verkennen.     Das  Messe  über  dem  Wissenwollen  das  Ge^wissen 


k: 


lieber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geistfeswisseüs^haft.     379 

vergessen  und  zerstören.  Und  wehe  uns,  w^nn  wir  in  übermüthiger 
Selbstvei^herrlichung  das  Recht  und  die  Macht  unsel^es' Willens  über- 
schätzen und  durch  Maassregeln  und  Satzungen  von  den  ewigen 
Ordnungen  der  Natur  und  der  inneren  Weltordnung  der  Geschichte 
uns  lossagten.  Das  Messe  über  dem  Machenwollen  das  ewig  Ge- 
machte und  Gewollte  verkennen  und  zerstören. 

Aus  alle  dem  geht  hervor,  dass,  wie  Natur  und  Geist,  so  auch 
Physik  und  Ethik,  Natur- und  Geisteswissenschaft  sich  weder  unnütz 
zu  befehden,  noch  sich  zu  verschlingen  und  aufzuzehren  haben. 
Vielmehr  sollen  und  können  sie  sich,  bei  aller  Anerkennung  ihres 
speciiSschen  Unterschiedes,  zu  gegenseitiger  Stütze  und  Bewahrung 
vor  einseitigen  Extravaganzen  zusammenzustellen,  rcsj).  zu  coötroliren 
und  zu  corrigiren  suchen.  Das  aut  au t  ist  nirgends  bedenklicher 
als  hier.  Ich  fürchte,  mein  Gegner  hat  sich  vor  dieser  Gefahr  nicht 
ausreichend  bewahrt  und  kommt,  da  er  trotz  seiner  Betonung  der 
Naturwissenschaft  als  einzig  wahrer  Wissenschaft  mit  der  Geschichts- 
wissenschaft und  ihren  Begriffen  doch  nicht  gänzlich  tabula  rasa 
machen  will,  in  bedenkliche  Inconsequenzen  und  schreiende  Selbst- 
widersprüche. Ich  will  nicht  davon  reden,  dass  er  die  Naturforscher 
allein  als  die  „Gesetzeskundigen  vom  reinsten  Wasser"  (S.  106)  ver- 
herrlicht •,  ich  glaube  nicht,  dass  das  mit  wissenschaftlich  coUegialischer 
Bescheidenheit  stimmt;  ich  will  hier  auch  davon  absehen,  dass  er 
die  Geschichtskundigen  auf  die  klägliche  Aufgabe  beschränkt,  ver- 
gilbte Documente,  papierne  Satzungen  zur  Pest«tellung  „leerer 
Geistesgesetze"  zu  untersuchen,  dass  es  für  ihn,  wie  es  scheint,  neben 
der  Naturwissenschaft  nur  eine  höchst  unnütze  Maculaturwissenschaft 
giebt.  Aber  wie  steht  es  denn  mit  der  Reinheit  und  Consequenz 
seiner  eigenen  naturalistischen  Weltanschauung,  seiner  Apotheose  der 
angeblich  einzigen  Wissenschaft? 

„Die  Logik  der  Entstehung  aller  Dinge",  —  so  äussert  er  sich 
a.  a.  O.  S.  200,  —  „sehen  wir  als  den  Inbegriff  aller  Naturgesetze 
an.^'  Ich  acceptire  den  Satz.  Aber,  znr  „Logik"  gehört  doch  ein 
denkendes  Subject  oder  jedenfalls  ein  Gedankenzusammenhang.  Der 
Verf.  sagt  selbst,  es  sei  die  Aufgabe  der  Naturforseher,  die  Logik 
der  Entstehung  der  Dinge  „aufzufinden".  Die  Logik  ist  also  den 
Dingen  immanent.  Es  wäre  unlogisch,  zu  behaupten:  in  der  Ent- 
stehung der  Dinge  liege  eine  Logik  enthalten,  und  doch  seien  die 
Naturgesetze  nicht  „vorausgedacht",  sondern  lediglich  durch  sich 
selbst  geworden.  Das  letztere  aber  behauptet  mein  Gegner  S.  200 
ausdrücklich.     Wie  stimmt  das  mit  der  ersteren  Behauptung?    Wenn 


3B0     lieber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft. 

sie  von  „selbst"  geworden  sind,  so  muss  doch  im  Hinblick  auf  die 
unleugbare  „Logik"  jenes  „Selbst"  nicht  blos  Urkraft  oder  Ursache, 
sondern  der  Urgedanke  und  Urwille  sein.     Wo  finde  ich  beide? 

Vielleicht  ist  unser  wissenschaftlicher  Freund  der  Meinung,  dass 
die  Naturgesetze  eine  Art  Logik  erst  durch  das  menschliche  Denken 
gewonnen  hätten,  sofern  der  Mensch  aus  der  beobachteten  Bewegung 
und  aus  der  Analyse  der  Elemente  auf  gewisse  constante  _Causal- 
zusammenhänge,  die  er  Gesetze  nennt,  den  Schluss  macht?  Allein 
dem  widerspricht  wieder  seine  eigene  Behauptung  (S.  106)  ' 
dass  im  Gegensatz  zu  allen  Geboten,  Satzungen  die  Naturgesetze 
,,über  -  und  vormenschlich"  seien.  LTnd  doch  sollen ,  wie  es 
auf  S.  200  wiederum  heisst:  „die  Naturgesetze  im  Momente  (!)  der 
zusammentretenden  Elemente  erst  geworden"  sein!  Wer  will  aus 
solcher  Verwirrung  der  Gedanken  sich  herausfinden?  Die  Naturge- 
setze sind  „ewig"  und  doch  momentan  „geworden";  sie  sind  die 
,, Logik  der  Entstehung  aller  Dinge"  und  doch  nicht  „vorausgedacht"! 
Um  schliesslich  das  Begriffschaos  vollständig  zu  machen,  redet  der 
Verf  noch  von  „Naturrechten"  und  „Naturpflichten",  welche  ,,mit 
Würde  geübt"  werden  sollen  (S.  201);  was  von  seinem  Standpunkte 
aus  schlechterdings  unverständlich  bleibt,  da  Rechte  und  Pflichten 
nicht  ohne  jene  von  ihm  perhorrescirten  „Satzungen"  denkbar  sind 
und  die  Natur,  in  welcher  ewig  immanente  Nothwendigkeit  der  Be- 
wegung d.  h.  lediglich  Ursachen,  kein  Urwille  thätig  ist,  den  im- 
perativen Modus  nicht  kennt.  Wer  giebt  uns  den  Ariadnefaden  aus 
diesem  naturwissenschaftlichen  Labyrinth? 

Ich  glaube,  wir  finden  ihn  nur,  wenn  wir  in  der  Argumentation 
meines  geehrten  Kritikers  denjenigen  Momenten  zu  ihrem  Recht  ver- 
helfen, in  welchem  so-  zu  sagen  seine  „anima  naturaliter 
Christian a"  durchblickt,  ich  meine  jene  von  ihm  anerkannte 
Logik  in  der  Entstehung  der  Dinge  und  jene  Naturrechte  und 
-Pflichten,  welche  auf  unser  Gewissen  und,  im  Zusammenhange 
mit  jener  Urlogik,  auf  einen  UrwiUen,  d.  h.  auf  eine  zweck-  und 
normsetzende  Geistesmacht  hinweisen.  So  baut  sich  in  das  Gebiet 
der  Nothwendigkeit  eine  Freiheit,  in  die  Sphäre  der  Natur  eine  Ge- 
schichte hinein,  beide  geregelt  durch  ein  consequentes  Verursachungs- 
system, welches  dort  den  Charakter  physischen  Wachsthums,  hier 
den  Charakter  geistig-bewusster  Entwickelung  trägt.  Das  Grenzge- 
biet ist  da  zu  suchen,  wo  mit  dein  Wort,  mit  der  Sprache  auch  der 
kategorische  Imperativ,  das  „Du  sollst",  d.  h.  nicht  die  willkürliche 
Satzung,  nicht  zufällig  beschriebene  Maculatur  zu  Tage  tritt,  sondern 


k 


lieber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft.     381 

der  gewaltige  Gegensatz  von  Gut  und  Böse,  das  Gesetz  der  Pflicht, 
das  Gesetz  der  Schuld,  das  Gesetz  der  Gewissensnöthigung,  mitr 
einem  Wort  das  Gesetz  der  heiligen  Liebe,  welches  so  wenig  „will- 
kürliche Satzung''  ist,  dass  wir  vielmehr  ohne  dasselbe  weder  eine 
Welt  der  Natur  noch  eine  Welt  der  Geschichte  uns  denken  könnten, 
ein  wahrer  ^rocher''  von  Bronze,  auf  welchem  die  Souveränetät  Gottes 
stabilirt  ist;  ein  unbeweglicher  Sinai,  der  nicht  wanken  wird,  auch 
wenn  tausend  und  abertausend  Naturforscher  seine  Donner  mit  ver- 
taubten  Ohren  überhören  oder  wegdemonstriren  wollten. 

So  wird  also  meiner  Ueberzeugung  nach  die  Naturwissenschaft 
auf  das  „herrliche  Reich  der  Physiokratie"  (S.  200)  sich  zu  be- 
schränken haben,  auf  jene  Erforschung  der  Logik  in  der  Entstehung 
und  Entwicklung  der  .materiellen  Dinge  nach  ihrem  elementaren 
Bestände  und  ihrer  organischen  Bewegung.  Wo  aber  mit  der  Sprache 
das  Gebiet  der  Tradition,  der  Geschichte,  der  normgebenden  Satzungen, 
der  zwecksetzenden  Thätigkeit  im  menschlichen  Gemeinlelben  zu 
Tage  tritt,  da  beginnt  die  Domäne  der  Geisteswissenschaft,  die  nicht 
vor  jener  den  Vorzug  des  Geistreichthums  hat.  sondern  nur  die 
apecißsche  Aufgabe,  das  Object  des  freien  und  wollenden  Geistes, 
so  zu  sagen  die  Ethik  in  der  Entstehung  und  Entwickelung  der 
socialen  Gemeinschaftsgebilde  ebenfalls  nach  ihrem  elementaren  Be- 
stände und  gesetzlichen  Zusammenhange  zu  erforschen. 

Trotz  des  klaren  und  unzweifelhaften  Unterschiedes  beider 
Forschungsgebiete,  ja  eben  durch  die  Klarheit  der  Grenzregulirung 
kann  und  soll  unnützer  Streit  vermieden  werden.  Beide  Zweige 
menschlichen  Wissens  entspriessen  einer  Wurzel,  dem  Bedürfniss 
des  Geistes,  durch  seine  Denkarbeit  das  innere  Gesetz  der  Er- 
scheinungen zu  erforschen,  dort  der  Natur,  hier  der  Geschichte,  um 
so  eine  Weltanschauung  zu  begründen,  die  es  uns  verständlich  macht, 
wie  und  warum  der  Schöpfer  seiner  Schöpfung  eine  Welt  Ordnung 
eingeprägt,  die  mit  der  Nolhwendigkejt  (dem  Gesetz)  ihrer  Reali- 
sation auch  eine  Nöthigung  (Satzung)  für  unser  Denken  und  Wollen, 
Reden  und  Handeln  in  sich  schliesst. 

Wegen  dieser  inneren  Verwandtschaft  des  wissenschaftlichen 
Forschens  in  beiden  Gebieten  können  die  Methoden  der  Untersuchung, 
trotz  der  Verschiedenheit  des  Beobachtungsobjectes,  doch  sich  gegen- 
seitig ergänzen,  stützen  und  fördern.  Der  Naturforscher,  der  vor 
allem  die  Beobachtung  und  das  Experiment  gebraucht,  wird  bei 
seinem  inductiven  Schliessen  die  Deduction  aus  allgemein  logischen 
Prämissen,  schon   zum  Zweck   der  System atisirung,  nicht  entbehren 


382     lieber  das  Verhältniss  von  Natur-  nnd  Geisteswissenschaft. 

können;  und  der  Mann  der  Geisteswissenschaft,  der  den  Zusammen- 
hang culturgeschichtlicher  Lebensbewegung  erforscht,  der  auf  Sprache 
und  Literatur,  auf  Handel  und  Wandel,  Kunst  und  Gewerbe,  sociales 
und  politisches,  sittliches  und  religiöses  Gemeinschaftsleben  der 
Menschen  sein  forschendes  Auge  richtet,  wird  neben  der  Deductian 
aus  allgemeineren,  ihm  innewohnenden  Ideen  und  Denkgesetzen,  nie 
der  verificirenden  Controle  entbehren  können,  die  durch  die  empirische 
Beobachtung  und  mathematische  Zusammenstellung  der  Thatsachen 
ihm  an  die  Hand  gegeben  wird.  Li  diesem  Sinne  habe  auch  ich 
es  versucht,  auf  dem  schwierigen  Felde  ethischer  Untersuchung  die 
vorzugsweise  naturwissenschaftliche  Methode  inductiver  Schlussfol- 
gerung herbei  zu  ziehen,  ohne  doch  —  wie  hoffentlich  der  zweite 
Theil  meines  Werkes  beweisen  wird  —  der  systematischen  Deduction 
Valet  zu  sagen  und  in  das  Lager  der  Naturforscher  überzugehen. 

Auch  in  Betreff  des  Alters  beider  Hauptdisciplinen  brauchen 
wir  uns  nicht  in  die  Haare  zu  gerathen.  Ich  gestehe  gern  meinem 
Kriticus  mit  einem  aufrichtigen  pater  peccavi  zu,  dass  ich  in  der 
Einleitung  meines  Werkes  an  jener  Stelle  zu  weit  gegangen  bin,  wo 
ich  die  Naturwissenschaft  ohne  weiteres  ^als  das  jüngste  Kind  der 
Minerva'^  zum  Respect  gegen  ihre  älteren  Vorläufer,  namentlich  die 
Theologie,  ermahne  (S.  13).  Zwar  kann  ich  meinem  geehrten  Gegner 
in  seiner  Gegenargumentation  nicht  Recht  geben,  wenn  er  bereits 
die  erste,  noch  kindliche  „Erfühlung  der  Aussenwelt"  als  Natur- 
wissenschaft bezeichnet.  Auch  das  lässt  sich  nicht  sagen,  dass  „die 
ganze  unendliche  Reihe  der  lebenden  Wesen  sich  als  Naturforscher 
hindurchgearbeitet  habe,  immer  prüfend  und  erkennend,  was  die 
Aussenwelt  ihnen  entgegenstellte"  (S.  103).  Es  ist  und  bleibt  immer- 
hin merkwürdig,  dass  die  Geisteswissenschaften,  die  Philosophie  und 
Ethik  etc.  sich  zu  geschlossenen  Systemen  früher  entwickelt  haben, 
als  die  Erforschung  der  Natur,  als  die  Physik  der  elementaren 
Dinge,  ein  Erweis  für  die  Wahrheit  des  alien  Satzes:  mens  notior 
corpore.  Allein  zugeben  muss  ich  meinem  Gegner,  dass  kein  Ge- 
'  biet  der  Wissenschaft  als  solches  die  Priorität  auch  nur  dem  Alter 
nach  vor  dem  anderen  beanspruchen  darf  Denn  auch  die  keim- 
artigen Anfänge  der  bewussten  und  systematischen  Naturerforsehung 
gehen  in  die  Zeiten  der  ältesten  Weisen,  eines  Thaies  und  Zeno, 
eines  Euklid  und  Pythagoras  zurück. 

So  gestehe  ich  denn  meinerseits  gern,  auch  von  den  Natur- 
forschern namentlich  in  Bejtreff  der  exacten  Methodik  viel  geternt  zu 
haben.      Meine   ganze    vorliegende  wissenschaftliche  Arbeit   hat   ja 


lieber  das  Verhältniss  von  Natur-  und  Geisteswissenschaft.     383 

den  ausgesprochenen  Zweck;  „eine  Orientirung  auf  dem  weitver- 
zweigten Gebiete  zu  versuchen,  auf  welchem  Realismus  und  Idealis- 
mus sich  so  vielfach  unnütz  befehden,  ja  zum  Theil  sich  gegenseitig 
aufzehren,  statt  sich  zu  associiren  und  dadurch  gegenseitig  zu 
corrigiren." 

Ich  hoflfe  der  Zustimmung  meines  geehrten  Kritikers  gewiss  sein 
zu  könneB)  wenn  ich  mit  jenem  Satze  meiner  Soeialetbik  gchliesse, 
welcher  dem  unberechtigten  Pathos,  der  leeren  unwissenschaftlichen 
Phi:ase  gegenüber  die  saubere  Grenzreguliruug  auf  dem  seien tifischen 
Arbeitsfelde  fordert  und  also  lautet  (S.  .13):  Sich  aufsein  Object  be- 
sinnen und  in  dem  Bewusstsein  seiner  Schranke  sich  frei,  d.  h. 
bescheiden  bewegen,  sich  seiner  Sphäre  gegenüber  nicht  überheben, 
sondern  ihr  mit  der  Treue  im  Kleinen  und  zugleich  in  begeisterter 
Hingebung  dienen,  das  ist  ins  wahre  Ethos  —  wie  der  Natur-,  so 
der  Geisteswissenschaft.  — 


Die  drei  grossen  Siege   preussiseh-deutscher  Staatskunst. 


Jjs  giebt  wenige  Epochen  der  Geschichte,  die  von  grösserer  Be- 
deutung wären  für  das  Leben  der  Völker,  als  die,  in  welcher  wir 
uns  heute  befinden,  und  es  gab  kaum  eine  politische  Umwälzung  in 
Europa,  deren  Eintritt  durch  geringfügigere  äussere  Umstände  ein- 
geleitet worden  wäre.  Kaum  vermögen  wir  das  Bild  zu  fassen, 
welches  sich  in  der  kurzen  Spanne  weniger  Wochen  vor  unserem 
politischen  Auge  aufgerichtet  hat,  übergrpss  sind  die  Verhältnisse,  zu 
denen  es  anwächst,  zu  gewaltig  für  den  Blick,  welcher  gewohnt  war, 
unter  dem.  schwülen  Druck  der  Atmosphäre  nur  das  Nächste,  Ge- 
ringe zu  übersehen.  Wenn  der  Nebel  zerreisst,  spähen  wir  gierig 
aus  nach  dem  Horizont,  nach  den  reineren,  klareren  Bildern  der 
Ferne.  — 

Die  jüngsten  Wochen  haben  plötzlich  wie  mit  magischem  Licht 
die  Zeit  seit  1866  und  weit  darüber  hinaus  übergegossen,  und  unter 
diesem  Licht  treten  uns  die  Gestalten  in  vielfach  neuer,  oft  fast  un- 
kenntlich veränderter  Form  entgegen.  Wir  glauben  Traumbilder 
gesehen  zu  haben  und  fragen  uns  verwundert,  ob  das  das  Deutsch- 
land von '1866,  von  1848,  von  1812  sei,  welches  wir  vor  uns  sehen, 
ob  das  Preussenvolk  von  heute  wirklich  auf  dem  Boden  erwachsen, 
auf  welchem  es  1862  stand,  ob  das  Volk  von  1870  dasselbe  sei, 
welches  den  Krieg  von  1850  führte,  welches  Olmtitz  und  Bronzell, 
Jena  und  Tilsit  erlebte!  —  Wir,. deren  erstes  politisches  Bewusst- 
sein  unter  dem  Einfluss  der  Bewegungen  von  1848  erwachte,  haben 
schneller  als  die  Generation  der  metternichschen  Periode  das  Ver- 
ständniss  für  den  neuen  Gang  der  Dinge  in  Deutschland  gewonnen, 
und  dennoch  vermögen  wir  kaum  Schritt  zu  halten  mit  dem  unge- 
heueren Schwünge  der  Thatsachen,  dennoch  ist  unser  politisches 
Verständniss  nicht  elastisch  genug,  um  von  dem  gewaltigen  Auf- 
gange Deutschlands  nicht  überrascht  zu  werden. 

Diese  letzten  8  Jahre  preussischer  Politik  sind  eine  Zeit  der 
Enttäuschungen  und  Ueberraschungen  für  die  Mehrheit  der  Deutschen 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.      385 

gewesen,  und  doch  wiegen  sie  die  Schmach  von  eben  so  viel  Jahr- 
zehnten auf,  sie  erschienen  den  Meisten  als  eine  fortdauernde  Reihe 
von  Vergewaltigungen  an  den  politischen  Ideen  unserer  Zeit,  und 
doch  brachten  sie  die  grösste  dieser  Ideen  zur  Reife.  —  Es  scheint, 
dass  noch  immer,  selbst  in  den  civilisirtesten  Staaten  der  Gegensatz 
nicht  ganz  vermieden  werden  kann,  welcher  aus  der  Unfähigkeit  der 
Völker,  grosse  äussere  Politik  zu  treiben,  entspringt  und  jene  merk- 
würdige Erscheinung  hervorruft,  dass,  während  in  der  inneren 
Politik  das  Volk  wesentlich  revolutionär,  die  Regierung  dagegen 
conservativ  ist,  die  Rollen  in  Fragen  des  äusseren  Staatslebens  voll- 
ständig gewechselt  wenden.  Jedenfalls  war  bis  jüngst  bei  dem 
deutschen  Volke,  dessen  Nationalgefühl  im  Laufe  von  Jahrhunderten 
so  systematisch  unterdrückt  worden,  das  Bewusstsein  der  nationalen 
und  der  Volksrechte  nicht  stark  genug,  um  durch  selbständige  Action 
die  altgewohnten  Fesseln  abzuwerfen.  Was  aber  in  der  Hand  der 
Nation  berechtigt  ist,  das  erscheint  in  der  des  Einzelnen  leicht  als 
Frevel,  und  so  bedarf  die  Geschichte  solcher  grossen  Sünder  an  den 
althergebrachten  Heiligthümern  des  Particularismus  und  der  Legi- 
timität um  die  an  den  Rechten  der  Völker  begangenen  Verbrechen 
früherer  Geschlechter  zu  sühnen.  Eine  lange  mediatisirte  Nation, 
wie  die  deutsche,  besass  jenes  stolze  und  kräftigende  Bewusstsein 
ihrer  Rechte  nicht,  welches  ihr  den  Muth  und  die  Macht  des  Willens 
gegeben  hätte,  dieselben  praktisch  zu  verwerthen  durch  rücksichts- 
l(^e  Vernichtung  der  Institutionen  und  Gewohnheiten,  welche  im 
Innern  die  Fürsten,  nach  aussen  die  traditionelle  Politik  Europas 
gross  gezogen  und  sanctionirt  hatten.  Dieser  Coalition  selbstsüchtiger 
äusserer  und  innerer  dynastischer  Interessen  vermochte  nur  der  un- 
getheilte,  vollkräftige  Wille  des  ganzen  Volkes  die  Spitze  zu  bieten, 
wenn  auf  dem  Wege  der  Volksrevolution  das  Ziel  erreicht  werden 
sollte.  Aber  es  lag  in  der  Natur  der  Sache,  dass  auf  diesem  Wege 
keine  der  beiden  nationalen  Forderungen  erfüllt  werden  konnte,  denn 
die  innere  Zersplitterung  hinderte  die  Einigkeit  nach  aussen  und  der 
Einfluss  von  aussen  vermehrte  die  innere  Zersplitterung.  Für  eine 
defensive  Politik,  und  namentlich  für  die  Abwehr  eines  äusseren 
Feindes  war  das  deutsche  Volk  allerdings  —  wir  haben  daran  nie 
gezweifelt  —  seit  lange  gereift.  Seit  1815  ist  sich  die  Nation  in 
dieser  Hinsicht  ihres  Rechtes  und  ihrer  Macht  bewusst,  und  einen 
solchen  defensiv  thatkräftigen  Willen  hätte  jeder  Feind  gefunden, 
der  es  gewagt  hätte,  die  deutschen  Grenzen  zu  überschreiten.  Und 
doch,  wer  vermag  zu  sagen,   ob  dieser  Wille  des  Volkes  vor  1866 


1 


386  '  Die  drei  grossen  Siege  preussisch-dentecher  Staatekunst. 

stärk  genug  geweaen  wäre,  die  eotgegenstehendeo  dynastischen 
Neigungen  soweit  zu  überwinden,  dass  er  die  deutschen  Eteinfürsten 
und  ihre  Truppen  einem  Frankreich  selbst  gegenüber  zu  einem  ge- 
achlussenen  Geere  gleich  dem  heutigen  zusammengeballt  hätte?  Die 
Defensivkraft  nach  aussen  wäre  ohne  Königgrätz  and  die  Vertt^e 
des  Nordbundes  noch  heute  von  mehr  als  fraglichem  Werthe,  der 
Wille  des  Volkes  hatte  zwei  Feinde  zugleich  zu  überwinden.  Aber 
offensiv  gegenüber  Europa  und  gegenüber  den  Erben  deutscher  Klein- 
staaterei die  nationalen  Ideen  zur  Greltung  zu  bringen,  rerroochte 
kein  deutsches  Parlament  weder  1848  noch  1870  aus  «igener  Kraft. 
Dazu  war  Preussen  berufen.  Seit  Friedrich  djm  Grossen  hat  Preusaen 
nicht  gewagt,  die  Offensive  für  die  deutsche  Sache  zu  ergreifen, 
selbst  damals  nicht,  als  ihm  das  Volk  die  deutsche  Kaiserkrone  an- 
bot, und  erst  in  unseren  Tagen  knüpfte  Bismarck  wieder  an  die 
grosse  Politik  des  vergangenen  Jahrhunderts  an.  Das  ist  das  monu- 
mentnm  aere  perennius,  welches  ihn  in  die  Reihe  der  schöpferi- 
schen Männer  der  Wel^eschichte  stellt 

Der  als  conservatjv,  als  feudal  gehasste  Gegner  der  preussi- 
sehen  Liberalen  von  1862  ergriff  die  Initiativ^  einer  die  deutschen 
Verhältnisse  von  Grund  aus  umgestaltenden  Politik,  und  diese 
Initiative  der  prenssischen  Regierung  führte  zu  deip  Kriege  von  1866, 
welcher  dem  deutsehen  Volke  endlich  deutlich  den  Weg  wies, 
auf  dem  es  fortan  das  Kiel  zu  erstreben  hatte.  Dieser  conserva- 
tive  Minister  unternahm  eine  Revolution,  so  folgenschwer  und  so 
tief  berechtigt,  wie  nur  je  eine  von  einem  Volke  ausgegangen  ist. 
Er  stand  einem  Volke  gegenüber,  dem  gebildefaten  in  Europa,  das 
nur  in  dem  Einen,  in  der  Politik  gegenüber  den  übrigen  Nationen 
Europa's  zurückgeblieben  war,  das  freiheitlich  überall  war,  nnr 
nicht  in  der  grossen  nationalen  Sache.  —  Schauen  wir  zurück 
auf  die  Siegeslaufbahn  der  bismarckschen  Politik,  deren  grösste 
Eroberung  sich  eben  vor  unseren  Augen  zu  vollziehen  im  Begriff 
ist,  und  rufen  wir  uns  kurz  die  Stellung  Prenssens  vor  1866  ins 
Gedächtniss  zurück. 

Die  alte  deutsche  Misere  hatte  damals  zwei  mächtige  Beschützer 
innerhalb  der  deutschen  Grenzen  selbst.  Der  eine  war  der  darch 
die  Kleinfür&ten  genährte  conservative  Geist  des  Volks.  Jede  Action 
nach  aussen,  über  die  kleinstaatlichen  Pfähle  hinaus  vergröseerte 
die  Lasten  des  Volks,  kostete  Geld,  möglicherweise  auch  Blut,  und 
indem   man   diese  scheute,    strebte   man    durch    Verbesserung    der 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskuust.      387 

inneren  Verhältnisse  die  entfernt  liegenden  Vortheile  zu  ersetzen, 
welche  das  Volk  seit  lange  zu  entbehren  gewöhnt  worden  war.  Die 
deutsche  Arbeitsamkeit  hatte  durchgängig  blühende  wirthschaftliche 
Verhältnisse  erzeugt,  die  alten  engen  Staatsgrenzen  hatten  die  ein- 
zelnen Stämme  gelehrt,  innerhalb  derselben  thätig  zu  schaffen  und 
zu  vergessen  was  drüber  hinaus  lag.  Fanden  sich  Uebeistände,  die 
in  die  Augen  sprangen,  aussergewöhnlich  drückende  Lagen,  so  suchte 
man  zu  helfen  so  weit  es  augenblicklich  möglich  war  und  fügte  sich 
in  das  Unvermeidliche  bis  auf  günstigere  Zeit.  Die  Regierungen 
waren  meist  human  genug,  um  den  Bedürfnissen  ihrer  Länder  einiger- 
maassen  nachzugehen,  Gesetz  und  Recht  zu  respectiren,  und  ereignete 
sich  einmal  das  Unglück,  dass  ein  Fürst  den  Thron  bestieg,  der  auf 
Kosten  des  Volkes  seinen  Säckel  füllte,  jede  Freiheit  unterdrückte, 
oder  gar  seine  Unterthanen  verrieth  und  verkaufte  —  nun  so  liess 
sich  dagegen  wenig  machen,  denn  dann  ward  man  daran  erinnert, 
dass  man  in  einem  deutschen  Kleinstaate  lebte,  dass  es  noch  andere 
Fürsten  in  Deutschland  gab,  die,  wenn  im  äussersten  Falle  die 
Revolution  ausbrach,  das  Volk  durch  nachbarliche  Kanonen  zur 
Pflicht  zurückrufen  würden.  So  war  es  begreiflich,  dass  wohl  der 
Einheitsgedanke,  nicht  aber  der  entsprechende  Wille  im  Volke  vor- 
handen war. 

Der  andere  Beschützer  dieses  Wesens  war  Oesterreich.  Seit  der 
glorreichen  Zeit,  da  die  Sonne  nicht  unterging  in  den  Ländern  des 
deutschen  Kaisers  hatte  Oesterreich  für  Deutschland  nichts  gethan, 
hatte  es  dasselbe  knechten  lassen  von  unzähligen  Tyrannen,  hatte 
es  die  Anarchie  aufgerichtet,  weil  Italien.  Spanien,  Niederland  ihm 
mehr  werth  waren  als  die  Ordnung  in  Deutschland;  und  als  der 
Kaiser  später  nicht  mehr  die  Kraft  besass,  die  deutschen  Fürsten  zu 
bändigen,  da  wurde  es  Oesterreich's  Lebensprincip ,  jene  Anarchie  zu 
erhalten,  zu  befestigen.  Nie  hatte  Oesterreich  wß,hrhaftv  deutsch  sein 
können,  weil  es  nie  die  Zeiten  Karl's  V.  vergessen  wollte,  weil  es  stets 
den  römischen  Kaiser  höher  stellte,  als  den  Kaiser  deutscher  Nation. 

Dieser  undeutschen  Politik  Oesterreich's  verdankte  Preussen 
sein  Wachsthum.  Aus  der  österreichischen  Schöpfung  staatlicher 
Zerfahrenheit  hatte  sich  Preussen  mühsam  und  stetig  emporgerichtet, 
sich  selbst  alles  verdankend.  Preussen  war  die  erste  Verkörperung 
des  deutschen  Einheitsgedankens,  denn  es  war  die  staatliche  Ord- 
nung gegenüber  der  haltlosen  Anarchie  des  Mittelalters.  Was  von 
dieser  Anarchie^  was  von  den  kleinen  deutschen  Fürsten  zu  erwarten 
war,  wusste  man  seit  der  französischen  Invasion  des  ersten  Napoleon. 


388     Die  drei  grossen  Siege  preassiscb-deutsciier  Staatskunst. 

Wollte  man  nicht  der  AussterbepoUtik  huldigen,  oder  warten  bis 
Deutschland  durch  ein  Wunder  seine  Gestalt  und  Wesen  änderte, 
oder  Oesterreieh  sieh  seibat  auflöste,  so  musste  man  von  Preussen 
die  Ergreifung  der  Initiative  hoffen. 

Diese  Initiative  hatte  somit  als  natürliche  Gegner  die  ganze 
Militärmacht  Oesterreich's  und  der  meisten  deutschen  Fürsten,  sie 
hatte  das  Volk  gegen  sich,  und  die  Vorbedingung  derselben  war  da- 
her eine  in  der  Hand  der  Regierung  fest  concentrirte,  ausserordentliche 
Macht  Preussens.  Ja,  Preussen  musate  sogar  in  seiner  Armee  die 
Aussicht  haben,  den  Krieg  ra^ch  und  mit  bedeutenden  Erfolgen  zu 
führen,  wenn  es  nicht  der  Neutralit&,t  der  auswärtigen  Mächte  sicher 
war.  Diese  Macht  galt  es  zu  schaffen,  oder  sie  zu  erhalten  wenn 
sie  schon  vorhanden  war.  Auch  der  liberalste  preussische  Minister 
hätte  erfolglos  darnach  gestrebt,  im  preussischen  Volke  oder  in  der 
deutschen  Nation  sich  eine  volksthflmliche  Stütze  zu  erwerben  ,  die 
dem  Angriffe  Oesterreich's  und  seiner  Vasallen  Stand  gehalten  hätte. 
Der  süddeutsche  Bürger  wäre  nicht  aufgestanden  gegen  das  Haus 
Oesterreieh,  der  Norddeutsche  hätte  freiwillig  das  Schwert  nicht  ge- 
zückt gegen  den  Süddeutschen  —  soweit  waren  die  Stämme  sich 
noch  nicht  entfremdet.  Die  Politik  der  moralischen  Eroberungen 
in  dem  damaligen  Sinne  hätte  Preussen  dahin '  gebracht,  dass  es 
von  Oesterreieh  bei  der  nächsten  günstigen  europäischen  Lage  in 
Stücke  geschlagen  worden  wäre.  Preussen  musste  eine  stets  kampf- 
fertige Kriegsmacht  haben,  die  der  Oesterreich's  gewachsen  war, 
es  durfte  zugleich  nicht  wagen,  sich  in  eine  ausserordentliche  kriege- 
rische Action  zu  verwickeln,  in  der  es  seine  Grenzen  gegen  Oester- 
reieh hätte  entblössen  müssen.  Erst  musste  Oesterreieh  unschäd- 
lich gemacht  sein  ehe  Preussen  an  eine  Offensive  nach  aussen 
hin  denken  durfte.  Alle  diese  Verhältnisse  zwangen  Preussen,  eine 
Militärlast  zu  tragen,  die  mit  seiner  Grösse  und  Einwohnerzahl 
im  Missverhältniss  stand.  Diese  Mililärtast  musste  um  so  grösser 
sein,  als  Preussen  —  dank  den  Bemühungen  Metternieh's  —  vom 
strategischen  Gesichtspunkte  aus  höchst  ungünstige,  offene  und  zer- 
rissene Grenzen  zu  vertheidigen  hatte.  Kurz  —  Preussen  musste 
Militärstaat  sein  mit  allen  den  Lasten  und  Unfreiheiten,  die  sich 
damit  verbinden,  oder  es  musste  aufhören  Grossmaeht  zu  sein, 
aufhören  erster  deutscher  Staat  zu  sein,  und  damit  seiner  nationalen 
Aufgabe,  seiner  ganzen  Zukunft  entsagen.  Hier  aber  hatte  die 
preussische  Regierung  einen  Gegner  im  eigenen  Volke  zu  über- 
winden.     Denn    wie    es    ihre    Pflicht    war.,    die    Militärmacht,    der 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staabskunst.      389 

seit  den  Zeiten  des  grossen  Kurrürsten  Preussen  haaptaftchlich 
die  Möglichkeif  seines  Wachsthums  verdankte,  zu  erhalten,  so  war  es 
andererseits  natürlich,  dass  das  Volk  nngewöbnlicbe  Lasten  von  sich 
abzuwälzen  suchte,  nach  der  Freiheit  der  Bewegung  strebte,  welche 
der  Militärstaat  hindert.  Es  ist  ein  vom  Standpunkte  des  ¥olkes 
ganz  billiges  Verlangen,  dass  die  Militärlast  auf  ein  möglichst  nie- 
driges MaasB  beschränkt  werde,  und  zugleich,  dass  das  Heer  ein 
volkathümliehes  sei.  Das  Volk  macht  eben  keine  äussere  Politik, 
es  will  daher  nur  eine  Last  tragen,  wie  sie  zur  Erhaltung,  zur  Ab- 
wehr eines  Angriffes  unumgänglich  nothwendig  ist,  und  will  auch, 
daaa  das  Heer  eine  Macht  sei,  die  nur  für  das  Volk,  nicht  auch 
gegen  dasselbe  gebraucht  werden  könne.  Dieses  Bestreben  steigert 
sich  natürlich  einer  Regierung  gegenüber,  die  zu  dem  Verdacht  An- 
läse giebt,  die  Rechte  des  Volkes  nicht  zu  achten,  einer  freiheitlichen 
Portent Wickelung  auf  dem  Boden  der  Verfassung  entgegentreten  zu 
wollen;  die  Gefahr  der  Knechtung  des  Volkes  ruft  In  demselben  das 
Bestreben  wach,  mit  aller  Kraft  der  Regierung  das  Mittel  dazu  aus 
den  Händen  zu  reissen.  —  So  sehen  wir  in  der  Natur  ^er  Dinge  selbst 
jenen  Widei-sprueh  gegeben,  welcher  sieb  zu  Anfang  der  sechsziger 
Jahre  immer  schroffer  in  Preussen  herausbildete.  Der  moderne  Staat 
ist  nicht  Militärstaat,  und  nicht  der  Soldat  ist  der  Träger  derCivilisation. 
Je  kräftiger  und  tüchtiger  die  Volksvertretung  in  Preussen  wurde,  um 
so  stärker  wurde  die  Opposition  gegen  die  Regierung,  um  so  energischer 
musste  diese  die  Interessen  der  äusseren  Politik  vertreten. 

Als  eben  der  Angriff  gegen  die  wichtigste  Institution  der  Gross- 
macht Preussen  begonnen  hatte,  trat  Bismarck  an  die  Spitze  der 
Geschäfte.  Die  Forderung  des  Volkes  nach  grösserer  Freiheit  und 
geringerer  Heereslast  war  berechtigt,  sie  musste  sich  mit  der  Zeit 
immer  steigern  und  endlich  den  Sieg  davontragen.  Jetzt  oder  nie 
musste  daher  die  Regierung  die  Initiative  ergreifen,  die  Waffen  be- 
nutzen, die  sie  noch  in  der  Hand  hielt.  Damals  wurde  Bismarck 
die  Arbeit  erleichtert  durch  die  nach  innen  absolutistische  Ten- 
denz des  Königs  und  seines  Hofes.  Es  ist  ein  Stück  Mittelalter, 
welches  uns  in  dieser  Periode  der  preussischen  Geschichte  entgegen- 
tritt, ein  Stück  Mittelalter,  das  die  deutsche  Nation  zu  seiner  Zeit 
nicht  hat  überwinden  können  und  nun  als  Anachronismus  in  unsere 
Zeit  herübergeschleppt  hat.  Als  im  Ausgange  des  Mittelalters  aus 
dem  Chaos  ständischen  Verfassungslebens  sich  der  Absolutismus 
erhob,  als  die  Auflösung  aller  staatlichen  Begriffe  die  Kräfte 
der  Völker  so  geschwächt  hatte,  dass  es  zuletzt  als  eine  Wohlthat 
BaltiBche  Monateachrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  T  u.  8.  26 


390     Die  drei  grossen  Siege  preuseisch-deutscher  Staatskunst. 

erschien,  wenn  ein  Ludwig  XIV.  in  seiner  Person  die  Majestät  des 
Staates  sah  --  damals  war  Oesterreich  nicht  im  Stande,  die  Einigung 
der  Nation  herbeizuführen,  die  in  Frankreich  erreicht  wurde.  Es 
war  zu  schwach,  die  Vasallen  schon  zu  mächtig,  und  an  die  Stelle 
eines  «monarchisch- absoluten  Kaiserreichs  traten  unzählige  kleine 
Monarchen,  die,  jeder  auf  seinem  Stückchen  Erde,  eifrig  danach 
strebten,  sich  zu  der  Grösse  und  dem  Glanz  des  französischen  Muster- 
königs aufzublähen.  Unsere  Zeit  hat  den  Absolutismus  hinter  sich 
gelassen,  aber  Deutschland  das  Verdienst  desselben,  die  grosse  staat- 
liche Einigung,  nicht  mit  herübergenommen.  Das  zu  sühnen  war  die 
Aufgabe  der  ersten  deutschen  Macht,  Preussen's.  Preussen  musste 
zurückgreifen  in  die  Verhältnisse  des  goldenen  Zeitalters  der  Mon- 
archen und  mit  absolutistischer  Gewalt  die  Repräsentanten  mittel- 
alterlicher nationaler,  staatlicher  und  gesellschaftlicher  Zerfahrenheit 
niederschmettern.  Erkannte  der  preussische  Ministerpräsident  diese 
Noth wendigkeit,  so  musste  er  diesen  mittelalterlichen  Feinden  gegen- 
über auch  die  Kraft  eines  absoluten  Königs  schaffen.  Das  preussische 
Volk  bot  ihm  diese  Gewalt  unmittelbar  nicht,  denn  das  Volk  ist 
eben  stets  Volk^  seiner  Zeit,  und  konnte  er  nicht  mit  dem  Volke,  so 
musste  er  ohne  dasselbe  handeln,  denn  es  galt  die  Zukunft  Preussen's 
und  Deutschland's.  Um  die  ungelöste  Aufgabe  des  Absolutismus 
in  Deutschland  zu  lösen,  um  nach  aussen  hin  Absolutist  sein  zu 
können  musste  er  es  in  gewissem  Grade  auch  nach  innen  hin  sein. 
—  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  -  aber  freilich  auch  nur  von 
diesem  —  erscheint  uns  das  Verfahi'en  erklärlich,  welches  die  Re- 
gierung des  Grafen  Bismarck  jener  Zeit  kennzeichnet.  Mit  grosser 
Energie  sammelte  er  seit  seinem  Eintritt  ins  Ministerium  alle  die 
Machtmittel,  welche  das  junge  Verfassungsleben  in  Preussen  der  Re- 
gierung gelassen,  und  erhielt  sie  trotz  der  Welt,  die  sich  ihm  ent- 
gegenstellte. Die  Aufgabe  war  keine  leichte.  Gegenüber  einer 
Volksvertretung,  wie  sie  Deutschland  so  kräftig  und-  tüchtig  noch 
nicht  gesehen,  gegenüber  einem  Volke,  das  im  Bewusstsein  seines 
Rechtes  auf  Erweiterung  und  Fortentwickelung  des  Constitutionalis- 
mus  durch  jeden  Angriff  der  Regierung  nur  um  so  fester  und  zäher 
sein  Ziel  ins  Auge  fasste,  musste  Bismarck  eine  Politik  vertheidigen, 
die  an  sich  dem  gebildeten  Europa  unserer  Zeit  ins  Gesicht  schlug, 
die  jeder  durch  die  öffentliche  Meinung  anerkannten  Berechtigung 
ermangelte,  weil  ihr  tieferer  Grund  die  Oeflfentlichkeit  scheute.  So 
trug  das  Ministerium  Bismarck  den  Schein  des  rücksichtslosesten, 
frivolsten  Spielens  mit  den  heiligsten  Rechten  des  Volkes,  den  Schein 


■1.4. 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.      391 

einer  principiell  absolutistischen  Gewaltherrschaft,  die  um  so  ver- 
letzender sein  musste,  als  sie  in  einer  Zeit  und  einem  Volke  gegen- 
übüer  auftrat,  welche  der  Willkür  und  Despotie  entwachsen  waren. 
Trotz  dieser  ungünstigen  Verhältnisse  gelang  es  dem  Grafen  Bismarck, 
durch  seltene  Energie  und  richtige  Beurtheilung  der  Widerstands- 
fähigkeit des  Volkes  sich  die  Gewaftstellung  im  Innern  zu  sichern, 
die   das  Substrat  seiner  äussern  Politik  werden  sollte. 

Mitten  in  dieses  Ringen  der  Regierungsgewalt  und  der  Volks- 
rechte hinein  trat  die  holsteinsche  Erbfolgefrage.  All  jenen  unge- 
heuren Schwierigkeiten  gegenüber  eröffnete  ein  günstiges  Geschick 
Bismarck  hier  die  Möglichkeit,  eine  nationale  offensive  Politik 
anzuknüpfen.  Unter  dem  Titel  des  Schutzes  deutscher  Bundesange- 
höriger und  trotz  des  Widerspruchs  des  deutschen  Volks  in  seiner 
grossen  Mehrheit  wurde  über  den  Bund  hinweg  der  erste  Schritt 
in  der  Offensive  gemacht.  Der  alte  Bund  und  Oesterreich  stellten 
sich  entgegen.  Aber  es  gelang  dem  Grafen  Bismarck,  diese  Feinde 
dadurch  zu  par^lysiren,  dass  er  Oesterreich  vom  Bunde  trennte,  aus 
dem  strengen  Richter  preussischer  Bundes  Verletzungen  durch  An- 
stachelung  der  alten  Eifersucht  und  Vorspiegelung  reicher  Beute 
einen  Genossen  jenes  sogenannten  Frevels  machte.  Der  Krieg  wurde 
eröffnet  unter  dem  Titel  der  Wahrung  der  Rechte  der  Herzogthümer 
auf  Grund  der  Verträge  von  1852.  War  Oesterreich  auch  unschäd- 
lich-gemacht, so  erstanden  doch  überall  Feinde  der  verborgenen 
Annexionspläne  Preussen's  während  des  Kampfes  selbst  und  durch 
ihn,  denn  in  alter  spiessbürgerlicher  Kurzsichtigkeit  erhob  sich  in 
Deutschland  und  den  bedrohten  Herzogthümern  der  Enthusiasmus 
für  den  angestammten  Augustenburger,  man  sehnte  sich  danach,  den 
Kranz  fürstlich  deutscher  Blumen  noch  um  eine  zu  vermehren,  das 
Blut  sollte  vergossen  sein,  damit  der  deutsche  Wirrwarr  durch  ein 
neu  gekröntes  Haupt  noch  vergrössert  werde. 

Diese  ersten  äusseren  Verwickelungen  scheinen  uns  die  schwersten 
Anfangsschritte  der  bismarck'schen  Politik  gewesen  zu  sein.  Denn 
noch  durfte  Preussen  mit  seinen  letzten  Plänen  nicht  heraustreten, 
noch  durfte  die  nationale  Fahne  nicht  entfaltet  werden,  noch  hatte 
die  preussische  Heeresmacht  sich  nicht  in  der  Kraft  gezeigt,  die 
später  so  nachdrücklich  die  diplomatischen  Verhandliingen  beeinflusste. 
Das  Auftreten  Preussens  gegenüber  Dänemark  und  Deutschland 
erschien  Europa  anmaassend  weil  durch  zu  geringe  Machtmittel 
unterstützt,  und  Deutschland  unberechtigt  weil  man  wohl  die  Ver- 
letzung der  Rechte  des  Bundes  ^und  des  Erbfürsten,  nicht  aber  das 

26* 


392      Die  drei  grosseo  Siege  preussisch-deutsc-her  Staatekunst. 

Recht  der  Nation  sah,  welches  über  jenen  stand.  So  warf  diese 
widerspruchsvolle  Stellung  Preussens  in  jener  Zeit  auf  seiae  Politik 
utaocheD  Schatten,  der  auch  heute  noch  unvergessen  geblieben  ist. 
£8  ward  zuerst  die  Candidatur  des  Prinzen  Friedrich  stillschweigend 
anerkannt,  [die  Schleswig-Holstein  er  gewöhnten  sich  daran,  in  ihm  ihr 
nationales  und  freiheitliches  Recht  verkörpert  zu  sehen  ^  dann  begann 
Preusaen  gegen  dieses  Ideal  anzukämpfen,  erst  versteckt,  durch  er- 
bitternde Maa^sregelungen,  Pressionen,  dann  offener  mit  seinen  Hinter- 
gedanken hervortretend.  Als  das  doppelte  Spiel  allmälig  ans  Lieht  trat, 
da  waren  es  denn  nur  einzelne  klarblickende  Köpfe,  die  auf  Preussen's 
Seite  standen,  die  Masse  des  Volkes  sah  in  dem  Grafen  Bismarck  nur 
den  falschen,  abBolutietischen  preussiscben  Diplomaten,  nicht  den  Be- 
freier vom  dänischen  Joch,  den  Vertreter  deutsch-nationaler  Interessen, 
Glücklicher  noch  als  auf  diesem  Felde  war  Preussen  gegenüber 
seinen  anderen  Gegnern  gewesen.  Jn  schmachvoller  Unthätigkeit  hatte 
der  Bund  den  Vorgängen  in  Dänemark  zugeschaut,  nicht  das  Geringste 
wagte  er  zu  unternehmen  für  die  nationale  Sache,  vor  dem  kräftigen 
Handeln  Preussen's  schien  seine  Thatkraft  völlig  zu  erlahmen.  Zu 
sehwach  um  eine  bedeutende  Rolle  im  Kriege  zu  spielen  wachte  er 
mit  ängstlicher  Sorgfalt  über  dem  hohlen  Schein  äusserer  Grösse  und 
Würde,  ein  treuer  Nachfolger  und  Universalerbe  des  heiligen  deutschua 
Reiches.  Den  Fürsten  wurde  die  unternehmungslustige  Offensivpolitik 
Preussen's  unheimlich,  es  begann  ihnen  zu  grauen  vor  diesem  Geiste 
des  Handelns,  dessen  Haupte  eine  so  kampfestüchtige  Minerva  ent- 
sprungen war.  Sie  zogen  es  vor,  ihre  Truppen  ruhmlos  und  thatenlos 
nach  Hause  zurückkehren  zu  lassen,  sie  verdrängen  zu  lassen  aus  dem 
Felde  der  Ehre,  ja  sie  Uessen  sich  geduldig  wie  offene  Feinde  von 
den  Dänen  behandeln  und  schützten  nicht  einmal  ihre  neutrale  Flagge. 
Das  durll«  noch  vor  wenigen  Jahren  ein  Dänemark  den  Deutschen 
bieten !  Erst  als  der  Kampf  mit  Worten  an  die  Stelle  des  Schwerter- 
tanzes trat,  wurde  es  in  Frankftirt  wieder  geschäftig  und  Herr  von 
Beust    vertrat    schwungvoll   und    kühn    die    Herzogthümer   und   die 

'"-'■'--         " tu  hatte,  wie  bei  der  Eröffnung  der  Feindseligkeiten, 

sr  Conferenz  sehr  milde  Bedingungen  gestellt.  Wäre 
I  auf  die  Bedingungen  eingegangen,  so  hätte  es  fast 
s  wäre  durch  den  Krieg  nicht  viel  mehr  als  durch 
ion  erzielt  worden,  für  Deutschland  wäre  wenig, 
s  gewonnen  gewesen.  Dies  aber  war  sicher  nicht 
k's.  Er  hatte  genau  berechnet,  wie  weit  die  Hoff- 
auf eine  günstige  Ayenduug  des  Kriegsglttcks  ging, 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.      393 

wie  weit    es    auf   auswärtige  und    namentlich   auf   englische  Hülfe 
rechnete,  wie  gross  die  Hartnäckigkeit  der  dänischen  Regierung  sein 
würde:  er  wusste,  dass  seine  Bedingungen   vom  dänischen  Cabinet 
würden  verworfen  werden.    Es  geschah  was  er  wollte :  so  gemässigt 
die    preussischen    Forderungen  waren    —   sie  waren  gerade  streng 
genug  um  dem  dänischen  Uebermuthe  unannehmbar  zu  erscheinen, 
um  dann  mit  jedem  neuen  Annäherungsversuche  von  Seiten  Preussen's 
und  Oesterreich's  gesteigert  zu  werden,  endlich  um  den  Krieg  wieder 
fortzusetzen  und  das  friedliebende,   maassvolle  Preussen  wiederum 
zur   Erhöhung  seiner   Ansprüche    zu   drängen.      Während   der  Ver- 
handlungen waren  alle  Vorbereitungen  zur  energischen  Fortführung 
des  Kampfes  getroffen  worden,  und  kaum  waren  beide  beendet,  so 
erfolgte  ein  zerschmetternder  Schlag  —  der  Uebergang  nach  Alsen. 
Trotz  der  eifrigen  Bemühungen  gelang  es  Dänemark  nicht,  eine  eng- 
lische Intervention  herbeizuführen,   weil  Napoleon   die  wiederholten 
Aufforderungen  England's  dazu  abwies;   mit   der  grössten  Kühnheit 
und    gewandten    Benutzung    der   Verhältnisse    wies    Bismarck    die 
Drohungen    des    englischen    Cabinets    zurück    bis    Jütland    in    den 
Händen  Preussen's  war  und  ein  Schritt  weiter  die  dänischen  Inseln 
in  die  Gewalt  der   Sieger,    das   dänische   Reich   an    den   Rand    des 
Unterganges  gebracht  hätte.     Nun   dictirte  Bismarck  den   dänischen 
Gesandten  in  Wien  den  Frieden,  der  Schleswig-Holstein  für  immer 
von  Dänemark   losriss   und  zugleich  Bismarck   ein   Material  in  die 
Hand  gab,  geschmeidig  genug  um  unter  einer  kundigien  Hand  jede 
gewünschte   Form   anzuAehmen.      In  unbegreiflicher  Blindheit  Hess 
sich  Oesterreich  durch  dieselben  Mittel,  die  es  in  den  Krieg  hinein- 
gezogen hatten,  nun   auch   weiter  drängen.     Wie   am  Anfange    des 
Krieges    so  war  Oesterreich  auch  jetzt  bereit,  auf  die  preussischen 
Annexionsgedanken  einzugehen  gegen  ein  Aequivalent  auf  deutschem 
Gebiet,  aber  es  fand  das  berliner  Cabinet  diesem  Handel  nicht  mehr 
geneigt,  und  das  Misstrauen  begann  in  der  Hofburg  rege  zu  werden. 
Man  schwankte    rathlos   hin   und  her,   man   konnte  sich   nicht  ent- 
schliessen,  den  einmal  gefassten   Plan   territorialer  Erwerbungen  in 
Deutschland  wieder  fahren  zu  lassen,  und  Hess  sich  endlich  zu  einer 
neuen   Thorheit   verleiten.     Die  gasteiner  Convention  befestigte  den 
Widerspruch,   in   welchen   die  beiden   Grossmächte   mit  dem  Bunde 
getreten  waren,  sie  trennte  Oesterreich  von  Deutschland  und  brachte 
es    um    vieles   weiter   in    der    schlüpfrigen   Gewaltstellung    zu    den 
Herzogthümern ,    die    auch    Preussen    innehielt.       Hier    aber    war 
Preussen's  Lage  eine  weit  günstigere.     Beide  hatten  einen   gleichen 


394     Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst. 

Antheil  an  dem  Frevel,  sie  waren  gleich  schuldig  an  demselben 
Verbrechen,  aber  während  für  Oesterreich  dauernde  Erwerbungen 
in  Schleswig -Holstein  von  keinemt  Nutzen  sein  konnten,  war  der 
Vortheil,  der  für  Deutschland  aus  einer  engen  Verbindung  Schleswig- 
Holsteins  mit  Preussen  erwachsen  musste,  allein  genügend,  um  die 
von  Preussen  in  dieser  Hinsicht  gestellten  Forderungen  als  berechtigt 
erscheinen  zu  lassen.  Während  die  That  Oesterreich's,  selbst  wenn 
dieses  leer  ausging,  ungerechtfertigt  erscheinen  musste,  wurde 
Preussen  gerade  durch  die  Beute,  die  es  bei  derselben  That  davon- 
trug, in  einem  grossen  Theile  der  öffentlichen  Meinung  gerechtfertigt. 
Die  Ansprüche  Preussen's  wurden  in  den  sogenannten  Februarbe- 
dingungen formulirt  und  Bismarck  trat  ^  immer  offener  mit  seinen 
Wünschen  nach  Machterweiterung  hervor.  —  Hatte  die  österreichische 
Diplomatie  früher  geglaubt,  durch  Zusammengehen  piit  Preussen 
einseitige  Machterweiterung  desselben  zu  hindern,  so  sah  sie  sich 
bitter  getäuscht:  Oesterreich  war  durch  die  Theiinahme  an  der  Ge- 
waltthat  von  Deutschland  wie  von  Europa  isolirt  und  die  Beute 
drohte  jetzt  der  einzige  Freund  in  ziemlich  rücksichtsloser  Weise 
sich  allein  zuzueignen.  Der  Freund  zeigte  sich  etwas  selbstsüchtig 
und  unfreundlich,  aber  Oesterreich  war  durch  den  gasteiner  Vertrag 
aufs  Neue  an  ihn  gefesselt  wie  es  durch  den  Krieg  und  den  wiener 
Frieden  von  Deutschland  gelöst  war.  Grossmüthig  bot  Graf  Bis- 
marck eine  Geldentschädigung  für  Oesterreich's  Ansprüche  auf  die 
Herzogthümer.  40  Millionen  war  eine  hübsche  Summe  für  einen 
Gegenstand    von    so   ungewissem    Werth    wie    die    österreichischen 

Rechte.     Aber  diese  österreichischen  Condominalrechte  konnten  bei 

• 

der  Lage  der  Dinge  und  in  der  Hand  eines  Grafen  Bismarck  wohl 
verwerthet  werden,  Preussen  konnte  dauernd  gestärkt  werden  wäh- 
rend die  österreichischen  Finanzen  durch  40  Millionen  nicht  wesent- 
lich sich  besserten.  Hatte  die  alte  Eifersucht  schon  bisher  Oester- 
reich übel  genug  mitgespielt,  so  begann  Graf  Mensdorff  nun  blind- 
lings ihren  Eingebungen  zu  folgen.  Immer  schroffer  traten  sich  die 
Cabinete  gegenüber.  Die  maassvollen,  mit  grossem  diplomatischen 
Tact  abgefassten  preussischen  Noten  wurden  mit  immer  grösserer 
Leidenschaftlichkeit,  immer  steigendem  Unverstände  beantwortet. 
Preussen  wollte  das  gute  Einvernehmen  erhalten,  oder  gab  sich  doch 
den  Schein  dieses  Willens,  indem  *  es  sich  unter  Aufrechterhaltung 
der  Februarbedingungen  zu  Concessionen  erbot.  Dieser  Machtzu- 
wachs Preussens  aber  war  der  Pfahl  im  Fleische  Oesterreich's,  der 
das  wiener  Cabinet  in   eine  immer  tollere  Haltlosigkeit  hineintrieb. 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskuniit.      396 

Kamen  die  Februarbediögungen  zur  AusfUhrung,  so  war  ein  grosser 
Schritt  zu  einer  consolidirten  Macht  Preussen's  in  Norddeutschland 
geschehen;  dass  sie  aber  zur  Ausftihrung  kommen  würden,  dafür 
sprachen  die  preussiscben  und  die  deutschen  Interessen,  die  für  sie 
eintraten,  dafür  sprach  die  jetzt  anerkennende  Stimmung  Deutsch- 
land's  und  der  europäischen  Mächte. 

Nur  die  deutschen  Fürsten  sahen  wieder  misstrauisch  und  be- 
sorgt auf  die  Machtpolitik  Preussen's  »hin.  Wurde  der  Augusten- 
burger  so  behandelt,  so  ganz  schonungslos  bei  Seite  gesetzt  —  es 
bedurfte  keines  besonderen  Scharfblicks,  um  sorgenvoll  in  die  Zukunft 
zu  schauen.  Es  liess  sich  nicht  leugnen,  dass  die  Februarbedingungen 
auf  Kosten  kleinstaatlicher,  dynastischer  Interessen  die  nationalen 
vertraten;  sie  enthielten  eine  Thatsache,  die,  zum  Princip  erhoben, 
in  den  Augen  der  Fürsten  verdammungswürdiger  als  die  Sünde  selbst 
war.  In  dieser  Anschauung  begegneten  sie  sich  mit  Oesterreich,  und 
der  gemeinsame  Hass  begann  die  erkaltete  Freundschaft  neu  zu  be- 
leben. Oesterreich  fing  an  sich  dem  Bunde  wieder  zu  nähern,  und 
dieser  verga«s  angesichts  der  neuen  Gefahren  die  Kränkungen  des 
Krieges  und  des  wiener  Friedens.  Noch  einmal  zeigten  die  Fürsten 
Deutschland's,  dass  ihnen  nichts  heilig  war,  wenn  es  galt  ihre  per- 
sönlichen Interessen,  ihre  Throne  zu  vertheidigen. 

Oesterreich  entschloss  sich  Hals  über  Kopf,  durch  Waffengewalt 
^  die  gasteiner  Fesseln  zu  brechen,  Preussen's  Vergrösserung  zu  hinter- 
treiben, womöglich  Preussen  aus  seiner  jetzt  mehr  als  je  gehassten 
•  und  geftirchteten  Grossmachtstellung  zu  werfen.  —  Ein  geheimer 
Vehmbund  wurde  geschlossen,  mit  dem  grössten  Eifer  ergriffen  die 
Leute  vom  Schlage  des  Herrn  von  Beust  die  Gelegenheit,  um  von 
ihrem  engen  Standpunkte  aus  grosse  Politik  zu  treiben.  Im  Schatten- 
dunkel eines  Lügengewebes,  dem  nur  das  des  folgenden  Krieges  und 
des  heutigen  Frankreich's  würdig  an  die  Seite  gestellt  werden  kann, 
wurden  die  Waffen  geschmiedet,  die  den  Markgrafen  von  Brandenburg, 
den  treulosen  Vasallen  des  Kaiserhauses  Oesterreich  für  immer  unschäd- 
lich machen,  dem  Räuber  von  1815  seine  sächsische  Beute  entreissen, 
den  Frevler  an  der  Legitimität  und  dem  Fürstenthum  niederschmettern 
sollten.  Judenverfogungen,  italienische  Unruhen  gaben  den  nothdürfti- 
gen  Vorwand,  und  fand  man  keinen,  so  entblödete  man  sich  nicht, 
notorisch  bekannte  Thatsachen  einfach  abzuleugnen  und  die  Vorwürfe 
Preussen's  durch  Gegenbeschuldigungen  zu  tiberschreien.  Durch  den 
lächerlichen  Streit  wegen  der  Priorität  der  Rüstungen  sollte  die 
preussische    Rechtsbasis    des    wiener    Friedens    und    der   gasteiner 


396     Die  drei  grossen  Siege  preussisch-dentecher  Staatekunst. 

Convention  durchlöchert,  alle  die  bisherigen  Thorheiten,  zu  denen 
das  wiener  Cabinet  sich  hatte  Mnreisseu  lasseo,  verwischt  and  wo- 
möglich Prenssen  als  Friedensbrecher  nach  Form  nnd  Recht  hinge- 
stellt werden.  Freilich  wurde  Oesterreich  in  den  Krieg  hineinge- 
trieben, aber  nicht  durch  preussisches  Waffengerassel,  sondern  durch 
die  Jämmerlichkeit  seiner  eigenen  Politik  und  die  Ueberlegenheit 
der  preussischen  Diplomatie. 

So  war  für  Prenssen  der  Äugenblick  gekommen,  entweder  auf 
lange  Zeit  einer  Lösung  seiner  Aufgabe  zu  entsagen,  oder  mit  Auf- 
bietung aller  Kräfte  einen  zerschmetternden  Schlag  zu  führen  gegen 
die  mittelalterlichen  Götzentempel  des  Dynastencultus  und  Parti- 
cularismus.  Preussen  wich  nicht  zurück,  denn  die  Lage  war  äusserst 
günstig.  Zwar  gaben  die  wiederholten  Verletzungen  der  Verfassung 
und  die  ganze  absolutistische  Gewaltherrschaft  des  Grafen  Bismarck 
dem  preussischen  Volke  Grund  zu  einer  tiefen  Verstimmung  gegen 
die  Regierung;  noch  in  jüngster  Zeit  waren  wiederum  Aus- 
schreitungen vorgekommen,  die  zu  rechtfertigen  wohl  nie  gelingen 
wird.  Diese  Vorgänge  hatten  zu  gleieher  Zeit  die  prenssischen 
Sympathieen  im  deutschen  Volke  ebenso  sehr  wie  die  äussere 
politische  Haltung  die  der  Fürsten  herabgedrückt,  so  dass  voraus- 
sichtlich Preussen  keinerlei  Unterstützung  der  nationalen  Sache  durch 
te.  Bismarck  wusste  aber,  da^s  das 
s  gegen  das  Ministerium  nicht  über  das 
irde. 

lee,  deren  wahre  Grösse  wohl  erst  jetzt  . 
it  aber  auch  schon  vor  dem  Kriege  von 
prüfenden  Staatsmannes  richtig  bemessen 
ister  reichisch  er  und  süddeutscher  Helden 
1  können  vermeinte.  In  Italien  bot  sich 
i'erhältnisse  ein  durch  gleichartige  Inter- 
ner Waffen  genösse  dar,  mit  dem  es  nur 
isen,  der  ihn  Preussen  in  die  Hand  gab. 
sen  und  Italien  von  seiner  französischen 
st  und  so  eng  mit  Preussen  verbundeo, 
gegen  dieses  auch  jenes  treffen  musste. 
!  Hülfe  konnte  Oesterreich  nicht  rechnen. 
i  Preussen  nun  den  französischen  Antrag 
denn  zu  den  alten  preussischen  Forde- 
iche  getreten  und  es  war  offenbar,  dass 
geben   und   durch  solche  Hartnäckigkeit 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.      397 

sich  eine  neue  Schuld  in  den  Augen  Europa's  aufbürden  würde.  Die 
Verhandlungen  zerschlugen  sich  und  die  Kriegsrüsfcungen  nahten 
ihrem  Ende.  Oesterreich  war  in  Bezug  auf  den  Beginn  der  Feind- 
seligkeiten wieder  in  einem  Dilemma.  Ging  die  Kriegserklärung 
von  ihm  aus,  so  konnte  diese  neue  Sünde  ihm  empfindlich  schaden, 
überliess  es  Preussen  die  Initiative,  wollte  es  den  gasteiner  Vertrag 
noch  respectiren,  so  blieb  diese  Scheidewand  zwischen  ihm  und  den 
Bundesfürsten  und- es  war  in  Holstein  einer  üeberrumpelung  ausge- 
setzt. Das  wiener  Cabinet  entschied  sich  für  den  ersten  Schritt  und 
brach  den  gasteiner  Vertrag  indem  es  die  schleswig-holsteinischen 
Angelegenheiten  in  die  Hände  des  Bundes  legte,  in  Holstein  eigen- 
mächtig die  Stände  einberief.  Sofort  rückten  äie  preussischen 
Truppen  in  Holstein  ein,  vertrieben  die  Oesterreicher  und  mit  ihnen 
die  Ständeversammlungen,  während  im  Süden  der  grosse  Kampf 
begann.  — 

Unterdessen  war  Preussen  zum  ersten  male  offen  mit  einem 
nationalen  Programme  hervorgetreten.  Der  Vorschlag  zur  Bundes- 
reform und  zur  Einberufung  des  deutschen  Parlaments  auf  Grund 
des  Reichswahlgesetzes  von  1849  setzte  die  Welt  in  Erstaunen.  Es 
war  ein  Blitz,  greller  und  stärker  als  alle  vorhergehenden,  der  aus 
jener  unheilschwangeren,  undurchdringlichen  Wolke  auf  die  gekrönten 
Häupter  der  Preussenfeinde  betäubend  hemiederfuhr,  und  mit  dämoni- 
schem Hohne  stieg .  vor  den  -Augen  der  geängsteten  Fürsten  das 
Schreckgespenst  von  1848  in  neuer  Beleuchtung  hervor.  Die  einzige 
Tugend,  die  Graf  Bismarck  in  den  Augen  der  Fürsten  noch  gehabt 
hatte,  die  Tugend,  ein  Feind  des  Volkes  zu  sein,  war  nun  abgestreift, 
und  der  preussische  Premier  offenbarte  sich  in  seiner  ganzen  fluch- 
würdigen Gestalt.  Aber  wie  diese,  so  war  auch  das  preussische 
und  deutsche  Volk  geblendet  von  dem  ungewohnten  Anblick  des  so 
lange  entbehrten  und  nun  so  plötzlich  hereinbrechenden  Lichtes. 
Ihm  fehlte  der  Uebergang  einer  allmäligen  Dämmerung,  ihm  fehlte 
auch  das  vermittelnde  Band  zwischen  dem  Absolutisten  Bismarck, 
als  welcher  er  bisher  gehandelt  hatte,  und  dem  lib^alen  Vertreter 
des  Volkes,  als  welcher  er  sich  plötzlich  darstellte.  Nie  hatte  Graf 
Bismarck  in  näherer  Beziehung  zu  der  nationalen  Partei  in  Deutsch- 
land gestanden,  nie  eine  Annäherung  an  dieselbe  gesucht,  er  hatte 
nie  offen  feste  politische  Gründsätze  gezeigt,  sein  einziges  Princip 
schien  die  Gewalt  zu  sein.  Wohl  war  es  da  erklärlich,  dass  das 
Volk  sich  anfangs  misstrauisch  von  dem  Dargebotenen  abwandte,  denn 
Gewohnheit  und  Stetigkeit  in  der  Entwickelung  sind  Grundelemente 


398      Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst. 

der  Volksmoral.  Und  doch  war  es  hier  zuerst,  wo  Bismarck  seine 
Pläne  enthüllen  konnte:  alles  war  bereit,  um  ihrer  Eröffnung  sofort 
mit  grösstem  Nachdruck  die  Ausfühming  folgen  zu  lassen.  Jetzt  war 
der  Zeitpunkt  gekommen,  die  ganze  Wucht  absoluter  Gewalt  für  die 
nationale  Sache  einzusetzen,  mit  ofifenem  Visir  und  entfaltetem  Banner 
in  die  Schranken  zu  treten. 

Der  Krieg  wurde  mit  der  bekannten  Energie  geführt,  Oesterreicli 
geschlagen,  dann  in  den  diplomatischen  Verhandlungen  von  Deutsch- 
land getrennt  und  diese  Trennung  durch  den  prager  Frieden  ftlr 
immer  befestigt.  Zugleich  wurde  der  Nordbund  gegründet  und  da- 
mit Ziel  und  Zweck  Preussen's  offen  proclamirt.  —  So  war  der 
eine  Feind,  Oesterreich,  beseitigt,  der  andere,  die  Kleinstaaterei, 
schwer  geschädigt. 

Wie  stand  nun  Frankreich  zu  allen  diesen  Vorgängen,  Frank- 
reich, der  berufene  Hort  deutscher  Schwäche,  der  Mitvormund 
Oesterreichs  für  die  deutschen  Bundeskinder,  mit  seinem  Prestige, 
seiner  europäischen  Hegemonie? 

Vier  Jahre  lang  hat  Europa  ein  Räthsel  in  sich  ümhergetragen, 
pin  bisher  unlösbar  scheinendes  Räthsel,  und  erst  jetzt  fand  sich 
der  Schlüssel  dazu,  erst  jetzt  haben  wir  die  Documente  in  Händen^ 
die  beweisen  was  die  meisten  ahnten,  viele  glaubten,  wenige  wussten. 
Hatte  wirklich  Napoleon  in  wahrhaft  staatsmännischer  Weise  von 
einem  weiteren  Gesichtspunkte  aus  die  traditionelle  Politik  Frank- 
reich's  verlassen  und  als  Haupt  der  „grossen  Nation''  sich  auch  zum 
Vertreter  der  grossen  Ideen,  des  grossen  nationalen  Princips  in 
Europa  gemacht? 

Fast  hatte  es  diesen  Anschein.  Dafür  schienen  die  Thatsachen 
zu  sprechen,  dass,  als  England  in  dem  dänischen  Kriege  interveniren 
wollte,  es  durch  die  Weigerung  Frankreich's,  an  dieser  Intervention 
Theil  zu  nehmen,  verhindert  wurde;  dass  der  deutsche  Krieg  von 
1866,  der  Frankreich  hundert  Gelegenheiten  zum  Eingreifen  bot, 
dennoch  kein  französisches  Heer  an  der  Grenze  sah.  Erst  die 
Cession  Veneti^s,  dann  die  Friedensvermittelungen  Frankreich's,  die 
diplomatischen  Verhandlungen  von  Nikolsburg  und  Prag  Hessen 
einiges  durchblicken,  was  auf  einen  anderen  Geist  der  französischen 
Politik  zu  schliessen  zwang.  Es  wurden  Stimmen  laut,  welche  Ver- 
rath  schrieen  über  den  Frevler  Bismarck,  der  Frankreich's  Neutralität 
mit  deutschen  Gebietstheilen  erkauft  habe  und  dem  Minister  nicht 
glauben  wollten,  wenn  er  behauptete,  er  könne  keinen  Fuss  deut- 
scher Erde   den    Wälschcn   abtreten.      Wie    war    es    möglich,    dass 


Die-  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.      399 

Frankreich  schwieg  als  1866  die  politischen  Verhältnisse  Mittel- 
europas herumgeworfen  und  der  Grundstein  zu  der  deutschen  Eini- 
gung  mit  gewaflfheter  Hand  gelegt  wurde,  dass  der  Mann,  ohne 
de^ssen  Willen  keine  Kanone  in  Europa  gelöst  werden  durfte,  der 
überfeine  Diplomat,  auf  dessen  Stirnrunzeln  ganz  Europa  ängst- 
lich hingeblickt,  schwieg  als  die  preussischen  Colonnen  im  Ttägigen 
Kriege  deutlich  erwiesen,  welche  ungeheuere  Kraft  in  dem  preussi^ 
sehen  Heere  und  Staate  steckte?  Heute  wissen  wir  es:  Napoleon 
wollte  hier  ohne  Kosten  dasselbe  erreichen,  was  ihm  1859  in  Italien 
gelungen  war,  er  hoffte  für  seine  Neutralität  durch  deutsche  Erde 
entschädigt  zu  werden.  Aber  1866  wie  1870  hat  er  das  Böse  ge- 
wollt und  das  Gute  geschafft,  er  hat  1866  auf  dem  Felde  der 
Diplomatie  einen  Stärkeren  gefunden,  wie  er  1870  auf  dem  Schlacht- 
felde niedergeworfen  worden  ist.  —  Die  wenigen,  aber  schlagenden 
Zeugnisse,  welche  von  dem  berliner  Cabinet  in  diesen  letzten  Wochen 
veröffentlicht  wurden,  besonders  die  Circulardepesche  des  Grafen 
Bismarck  vom  29.  Juli  d.  J.,  ebenso  glänzend  als  diplomatisches  Acten- 
stück  wie  inhaltschwer  und  bedeutend  für  die  Beurtheilung  der 
Politik  ihres  Verfassers,  haben  den  Schleier  von  diesen  Verhält- 
nissen so  weit  gehoben,  dass  wir  die  Umrisse  der  bisher  verborgenen 
diplomatischen  Geschichte  deutlicher  zu  erkennen  vermögen. 

Wir  haben  den  Gang  der  preussischen  Politik  gegenüber  Oester- 
reich  ausführlich  genug  uns  ins  Gedächtniss  zurückgerufen,  um  die  auf- 
fallende Parallele  hervortreten  zulassen,  welche  zwischen  1865  und 
1870,  zwischen  dem  diplomatischen  Vorspiel  jenes  und  dieses  Krieges 
sich  zeigt.  Eifersucht  auf  Preussen  und  Hoffnung  auf  Beute  haben 
ina  deutsch -dänischen  Kriege  so  Oesterreich  zum  activen  Bündniss, 
wie  Frankreich  zu  einer  neutral  zustimmenden  Haltung  gegenüber 
Preussen  verleitet.  Eroberungslust  und  Furcht  vor  der  von  Preussen 
in  den  deutschen  Dingen  gefassten  Offensivstellung  haben  Oesterreich 
1866  in  den  Krieg  getrieben  und  Frankreich  auf  eine  abschüssige 
Bahn  gebracht,  auf  der  es  endlich  in  sein  Verderben  raste.  Die  seit 
1862  ins  Aug§  gefassten  Pläne  einer  Vergrösserung  Frankreich's  mit 
Hülfe  Preussen's  sollten  1864  nicht  zu  Gunsten  eines  Staates  zerstört 
werden,  von  dem  noch  jüngst  der  um  seine  Hülfe  bettelnde  fran- 
zösische Abgesandte  Cadore  meinte:  „Mais  son  tout.^  c'est  donc  si 
peu  de  cbose!"  Wie  Oesterreich  durch  Hoffnungen  auf  Theile  von 
Bayern  oder  Preussen,  so  liess  sich  Fl*ankreich  durch  eventuelle  Be* 
lohnungen  auf  dem  Jinken  Rheinufer  hinhalten,  und  als  die  öster- 
reichischen Hoffnungen  zu  schwinden  begannen,  da  glaubte  Napoleon 


400      Die  drei  grossen  Siege  preusaisch-deutacher  StaatskuQst. 

die  seinigeo  um  so  sicherer  erfüllt  zu  sehen.  Je  böser  d»s  Ver- 
hältniss  der  beiden  deutschen  Mächte  zu  einander  ward,  um  so  .mehr 
näherte  sich  Frankreich  der  preussischen  Regierung.  Es  -wurden 
die  verschiedensten  Vorschläge  zu  Gehietserweiterungeu  beider  Mächte 
gemacht,  es  wurde  für  Frankreich  die  Grenze  von  1814,  oder  Luxem- 
burg, ja  Theile  der  Schweiz  oder  Piemont's  in  Aussicht  genommen. 
Im  Mai  1866  seheint  Napoleon  seiner  Sache  so  sicher  sich  geglaubt 
zu  haben,  dass  er  vor  ganz  Europa  auf  seine  Pläne  hinzudeuten 
und  in  seiner  berühmten  Sensationsrede  zu  Auxerre  seinen  Abscheu 
vor  den  Verträgen  T()n  1815  laut  zu  proclaniiren  wagen  durfte. 
Zugleich  ward  im  geheimen  Preussen  ein  Offensiv-  und  Defensiv- 
bündniss  augetragen,  welches  als  Aequivalent  für  die  Consolidirung 
Preussen's  in  Deutschland  eine  bedeutende  Vergrössernng  Frank- 
reich's  auf  Kosten  Preussen's,  Bayern 's,  Hessen  "s  beanspruchte.  Nach 
dem  gegenwärtigen,  von  Bisniarck  veröffentlichten  Auszuge  aus  jenem 
Project  scheint  Frankreich  auch  in  dieser  Sache  den  Vorschlsig  einer 
Conferenz  der  Grossmächte  nur  gemacht  zu  haben,  um  seine  eigent- 
lichen Absichten  zu  verheilten.  Denn  während  im  April  die  Mächte 
von  Drouyn  de  l'Huys  mit  dem  Project  zu  einer  Friedens eonferenz 
erfreut  wurden,  stipulirte  jenes  Bündniss  mit  Preussen  für  Frankreich 
nur  in  dem  Falle  einen  Vortheil,  wenn  der  Congress  resultatloe 
bleiben  würde.  Die  Zwecke  dieses  doppelten  Spiels  gegenüber  den 
f^abineten  Europa's  waren  offenbar  die  Entkräftung  des  preussisch- 
italienischen  Bündnisses  und  Zeitf^ew Innung  zu  eilten  Rüstungen. 
Wie  bishei',  so  behandelte  Graf  Bisniarck  auch  noch  jetzt  im  letzten 
Augenblick  die  Sache  ■ —  nach  seinem  trefTenden  Ausdrucke  —  di- 
latorisch. Er  hatte  die  preussische  Regierung  bisher  Frankreich 
gegenüber  in  keiner  Weise  gebunden,  keinerlei  directe  Zusicherungen 
gegeben,  aber  auch  nicht  strict  abgewiesen.  Er  liess  die  französische 
Diplomatie,  er  erhielt  sie  vielleicht  in  dem  Wahn,  dass  ein  Augen- 
blick kommen  werde,  wo  die  französischen  Wünsche  Wahrheit  wer- 
den würden,  und  er  zerstörte  diesen  Wahn  genau  nur  in  dem 
Maasse,  als  die  vorschreitenden  realen  Verhältnisse  es  mit  sich 
brachten.     Erst  nach  tnehrfaehen,  drohenden  Mahnungen  Frankreieh's 

—  t  —  1 — » — i..i.„   ~-,hon  der  Krieg  ausgebrochen,  im  letzten 

i  zurück.  Frankreich  war  kaum  zum 
n,  dass  diese  Hoffnungen  zu  Wasser 
htm  die  Schlacht  von  Königgrätz  am 
hatte,  ein  thätiges  Eingreifen  Frank- 
%r.      Jener    Vertragsentwurf   war    der 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.      401 

Schild,  der  damals  Rheinprovinz  und  Westphalen  deckte  und  ge- 
stattete, dass  Priussen  seine  Westgrenze  völlig  von  Truppen  ent- 
blösste.  Kaum  war  Frankreich  gewiss,  getäuscht  worden  zu  sein, 
oder  sich  getäuscht  zu  haben,  so  warf  es  sich  in  grösster  Eile  auf 
die  feindliche  Seite.  Hatte  Napoleon  vorher  die  thiers'sche  Kriegs- 
partei im  Vertrauen  auf  seine  geheimen  Entwürfe  zur  Ruhe  ge- 
zwungen, so  suchte  er  nun  durch  die  Posse  mit  der  Cession  Venetiens 
zu  bekunden,  dass  Frankreich  nicht  unthätig  geblieben  sei,  und  drängte 
während  der  Friedensverhandlungen  in  den  Grafen  Bismarck  mit 
seinen  alten  Forderungen.  Nach  den  zu  Nikolsburg  am  26*  Juli 
abgeschlossenen  Friedenspräliminarien  und  während  der  Kaiser 
Napoleon  zu  Vichy  war,  theilte  Benedetti  dem  Grafen  Bismarck  einen 
ihm  aus  Vichy  zugegangenen  Entwurf  zu  einer  geheimen  Convention 
mit.  Frankreich  sollte  die  Grenze  von  1814,  die  bayerischen  und 
hessischen  Länder  am  linken  Rheinufer  bekommen,  Luxemburg  von 
Deutschland  getrennt  werden.  Nun  wies  Bismarck  diese  Propositionen 
mit  dem  Bemerken  rund  ab,  dass  Preussen's  nationale  Politik  und 
das  augenblicklich  gesteigerte  Selbstbewusstsein  des  Volkes  ihm  die 
Annahme  unmöglich  mache.  Endlich  forderte  Napoleon,  unter  An- 
drohung des  Krieges  für  den  Fall  der  Weigerung,  wenigstens  die 
Festung  Mainz.  Auch  das  geschah  nicht.  Vielmehr  wurden  nun 
jene  ersten  Propositionen  veröffentlicht,  und  kaum  waren  sie  am 
5.  August  gestellt  worden,  so  hatte  die  Veröffentlichung  auf  die  süd- 
deutschen Staaten  die  Wirkung,  dass  auf  ihre  eigene  Initiative  am 
13.,  17.,  22.  August  die  Schutz-  und  Trutzbündnisse  derselben  mit 
Preussen  zugleich  mit  den  Friedensverträgen  unterzeichnet  wurden» 

Trotzdem,  und  während  diese  Bündnisse  vorläufig  geheim  blie- 
ben, fuhr  Frankreich  fort,  an  seine  einmal  gefassten  fixen  Ideen  zu 
glauben.  Preussen  nahm  die  Vermittelung  Frankreich's  beim  prager 
Frieden  an,  und  das  äussere  Verhältniss  blieb  leidlich  gut.  Preussen 
hatte  seine  Hauptzwecke  erreicht,  Oesterreich  wurde  aus  Deutsch- 
land endlich  ausgeschlossen,  und  während  Frankreich,  indem  es  vor- 
läufig die  Entwürfe  vom  5.  August  zurückzog,  wenigstens  meinte, 
zu  Prag  die  Mainlinie  gerettet  zu  haben,  war  dieselbe  thatsächlicli 
bereits  überschritten,  zulefzt  durch  das  Bündniss  mit  Bayern,  am 
Tag«;  vor  dem  prager  Frieden. 

Erneute  Propositionen  seitens  der  französischen  Regierung  liessen 
nicht  lange  auf  sich  warten,  und  Graf  Bismarck  verfehlte  nicht,  die 
französischen  Diplomaten  wieder  in  die  schönsten  Hoffnungen  einzu- 
wiegen,   um   während  dieses    süssen   Schlafes  die   Verhältnisse   im 


402      Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Stäatskunst. 

Innern  Deutschland's  sich  gestalten  zu  lassen.  Im  September  athmete 
Napoleon's  Circulardepesche  wieder  den  tiefsten  Frieden.  Der  Kaiser 
glaubte  nicht,  „dass  die  Grösse  eines  Landes  von  der  Schwächung 
der  Völker,  welche  es  umgeben,  abhängt,  und  er  sieht  das  wahr- 
hafte Gleichgewicht  nur  in  den  befriedigten  Wünschen  der  Völker 
Europa's.**  Frankreich's  Politik  war  wieder  die  der  grossen  und 
grossmüthigen  Nation,  welche  sich  über  ^engherzige  und  missgünstige 
Vorurtheile  eines  anderen  Zeitalters  erhaben"  fühlte.  — 

Aber  schon  im  Januar  1867  trat  in  Frankreich  eine  Veränderung 
im  Cabinet  ein,  welche  den  Marschal  Niel  in's  Kriegsministeriu^m 
brachte  und  damit  grosse  und  fortgesetzte  Rüstungen  sowie  eine  voll- 
ständige Reorganisation  des  Militärwesens  einleitete.  Schon  um- 
gaukelten neue  Traumbilder  das  Haupt  des  erfindungsreichen  Dul- 
ders. War  deutsch-preussische  Erde  nicht  verkäuflich,  so  liess  sich 
vielleicht  Holland  zu  einem  Handel  herbei.  Es  gelang,  das  Geld 
war  bereit  zum  Ankauf  von  Luxemburg.  Preussen  wurde  im  Ge- 
heimen geschmeichelt,  wieder  wurden  Vorschläge  und  zugleich  der 
Versuch  zu  einer  Einschüchterung  gemacht.  Thiers  und  die  niel- 
sche  Kriegspartei  donnerte  im  gesetzgebenden  Körper  gegen  Preussen, 
E.  Ollivier  war  während  der  Debatten  vom  14.  bis  zum  18.  März  der 
einzige,  der  für  die  Freiheit  Deutschland's,  sich  selbst  nach  eigenem 
Belieben  zu  gestalten,  eintrat  und  in  der  Consolidirung  desselben 
für  Frankreich  keine  Gefahr  sah.  Am  folgenden  Tage,  den  19.  März, 
wurden  die  geheimen  Verträge  Preussen's  mit  den  süddeutschen 
Staaten  veröffentlicht,  eine  bündige  Antwort  auf  den  Kriegslärm  des 
gesetzgebenden  Körpers.  Frankreich  nahm  sie  stillschweigend  hin 
und  brachte  sofort  die  Verhandlungen  wegen  Luxemburg  zur  Reife. 
Das  Bekanntwerden  dieses  Handels  hatte  dann  das  Eingreifen  der 
europäischen  Diplomatie  zur  Folge.  Hier  gab  Preussen  nach,  räumte 
die  Festung  Luxemburg  und  gab  sich  mit  der  Neutralisirung  des 
Ländchens  zufrieden.  —  Es  wich  zurück  weil  es  die  europäischen 
Mächte,  selbst  England  gegen  sich  hatte  und  seine  Rechte  zweifel- 
haft waren. 

Aber  auch  Frankreich  war  wenigstens  die  Annexion  Luxem- 
burg's  nicht  gelungen.  Sogleich  stürzte  es,"  wohl  durch  die  preussische 
Nachgiebkeit  verleitet,  wieder  in  neue  Conjecturen.  Es  näherte  sich 
wieder  vertraulich  dem  preussischen  Minister  und  sang  das  alte 
Lied  in  neuer  Weise.  Graf  Benedetti  formulirte  einen  Ver- 
tragsentwurf, der  nicht  mehr,  wie  die  beiden  vorhergehenden,  eine 
Beraubung  Deutschland's,  sondern  die  Annexion   Luxemburg's   und 


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Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.     408 

die  Eroberung  Belgien's  bezweckte.  Ein  Schutz-  und  Trutzbündniss 
mit  Preussen  sollte  Europa  niederdrücken,  Preussen  die  süddeutschen 
Staaten  in  den  Nordbund  zwängen.  Wiederum  ward  auch  dieser 
Antrag  von  Bismarck  zurückgewiesen,  aber  wieder,  wie  es  scheint, 
nicht  so  kategorisch,  dass  das  pariser  Cabinet  nicht  bei  der  Meinung 
geblieben  wäre,  es  könne  eine  gelegenere  Zeit  .besseren  Erfolg 
bringen.  Aufgeschoben  ist  nicht  aufgehoben!  dachten  Rouher  und 
Moustier,  während  damals,  am  23.  December,  E.  Ollivier  im  ge- 
setzgebenden Körper  gegen  die  „abscheuliche,  in  gewissen  Gemüthern 
allmächtige  Ueberzeugung"  kämpfte,  „dass  man  nur  durch  Siege 
und  Eroberungen  neue  Dynastien  gründe." 

Nachdem  die  Rheingrenze  und  Luxemburg  durch  die  Erklärun- 
gen Bismarck's  aus  dem  Programm  ausgeschieden  worden  waren, 
blieb  nun  noch  Belgien  übrig,  das,  wie  aus  dem  Briefe  Benedetti's 
vom  29.  Juli  d.  J.  hervorzugehen  scheint,  schon  vor  dem  Kriege 
von  1866  die  Augen  Napoleon's  auf  sich  gezogen  hatte,  und  das,  wie 
Graf  Benedetti  kühn  behauptet,  vom  Grafen  Bismarck  dem.  Kaiser 
Napoleon  gegen  dessen  Willen  im  Jahre  1866  aufgedrungen  wurde. 
Damals,  so  sagt  der  Graf,  habe  BisAiarck  aufs  n^ue  den  lebhaftesten 
Wunsch  bekundet,  das  durch  den  Krieg  gestörte  Gleichgewicht  für 
Frankreich  durch  einige  Annexionen  wiederherzustellen.  Diese  Be- 
sorgniss  Bismarck's  für  die  Grösse  Frankreich's  wäre  iii  der  That 
rührend,  wie  die  politische  Resignation  des  diese  Vorschläge  ab- 
weisenden Kaisers  erhaben.  Indessen  ging  die  französische  Politik 
nicht  so  sehr  aus  dem  Geleise,  als  man  heute  uns  einreden  will,  und 
im  Frühjahr  1868  spann  sich  in  aller  Stille  die  belgische  Eisenbabn- 
frage  an.  Im  März  trat  Prinz  Napoleon  zu  Berlin  mit  der  Ver- 
sicherung hervor,  dass  im  Falle  einer  französischen  Occupation 
Belgien's  Preussen  „sein  Belgien  wo  anders  finden  würde."  Auch 
die  orientalische  Frage  ward  mit  einer  Grenzberichtigung  Frank- 
reich's in  Verbindung  gebracht.  —  Der  energische  Widerstand 
Preussen's  ^und  Belgien's  zerstörte  auch  diesen  Plan.  — 

Nun  war  das  Maa&s  voll.  Wie  Preussen  vor  1866  das  wiener 
Cabinet  durch  die  Aussicht  auf  Ländererwerb  zum  AUiirten  gemacht, 
von  Deutschland,  von  Europa  schrittweise,  allmälig  gelöst,  dann  end- 
lich .  als  Oesterreich,  die  begangenen  Thorheiten  einsehend,  zum 
Schwert  griff,  mit  raschen,  furchtbaren  Schlägen  niederschmetterte, 
noch  ehe  Europa  die  scharfe  Klinge  des  gewandten  Fechters  vom 
letzten,  tödtlichen  Streiche  zurückzuhalten  die  Zeit  hatte,  so  auch 
jetzt.     Das  alte  Verlangen  Frankreich's  nach  dem  linken  Rheinufer 


404     Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst. 

und  das  Bedürfniss  des  Kaiserreichs,  durch  Eroberungen  zu  glänzen, 
durch  grosse  Thaten  sich  zu  befestigen,  erfüllten  die  Phantasie  der 
französischen  Diplomaten  mit  Bildern,  die.  zu  erhalten  es  dem  Grafen 
Bismarck  nicht  gar  schwer  wurde,  und  die  zu  zerstören  er  sich 
hütete,  so  lange  er  dadurch  den  klaren  Blick  des  französischen 
Cabinets  von  anderen  Gegenständen  abzulenken  für  nöthig  fand. 
Er  sagt  in  seiner  Depesche  vom  29.  Juli :  „Ich  vermuthete,  dass  die 
Vernichtung  jeder  französischen  Hoffnung  den  Frieden,  den  zu  erhalten 
Deutschland's  und  Europa's  Interesse  war,  gefährden  würde.  Ich  war 
nicht  der  Meinung  derjenigen  Politiker,  welche  dazu  riethen,  dem 
Kriege  mit  Prankreich'  deshalb  nicht  nach  Kräften  vorzubeugen,  weil 
er  doch  unvermeidlich  sei.  So  sicher  durchschaut  niemand  die  Ab- 
sichten göttlicher  Vorsehung  bezüglich  der  Zukunft,  und  ich  betrachte 
auch  einen  siegreichen  Krieg  an  sich  immer  als  ein  Uebel,  welches 
die  Staatskunst  den  Völkern  zu  ersparen  bemüht  sein  muss.  Ich 
durfte  nicht  ohne  die  Idöglichkeit  rechnen,  dass  in  Frankreich's  Ver- 
fassung und  Politik  Veränderungen  eintreten  könnten,  welche  beide 
grosse  Nachbarvölker  über  die  Nothwendigkeit  eines  Krieges  hinweg- 
geführt hätten  —  eifie  Hoffnung,  welcher  jeder  Aufschub  des  Bruches 
zu  Gute  kam."  Während  er  stets  im  bestmöglichsten  Vernehmen  mit 
dem  französischen  Cabinet  zu  bleiben  suchte,  gelang  es  ihm,  bei  jedem 
bedeutenden  Schritte,  den  er  in  seiner  deutschen  Politik  vorwärts  that, 
Frankreich  soweit  zu  blenden,  dass  es  immer  mit  einem  Programm 
hervortrat,  welches  die  europäischen  Mächte  gegen  sich  hatte  und 
damit  die  diplomatische  Lage  des  berliner  Gabinets  für  die  Zukunft 
unterstützte.  Während  Bismarck  1866  in  Deutschland  den  ersten 
Stoss  gegen  Frankreich  führte,  ward  ihm  von  demselben  Frank- 
reich das  Vertragsproject  vom  5.  August  anvertraut,  während  er 
die  Annexion  Luxemburg's  verhinderte,  nahm  er  aus  der  Hand 
Frankreich's  das  Project  zur  Annexion  dieses  Landes,  während 
er  sich  der  Ueberrumpelung  ^Belgiens  entgegenwarf,  legte  Bene- 
detti  den  Entwurf  zur  Vergewaltigung  dieses  Landes  und  der 
europäischen  Verträge  im  preussischen  Staatsarchiv  nieder  —  jeder 
Offensivstoss  Frankreich's  endete  damit,  dass  seine  Spitze  von  dem 
Grafen -Bismarck  gegen  Frankreich  gewandt  ward,  und  bei  jedem 
Siege  Preussen's  lieferte  Frankreich  eine  neue  Waffe  gegen  sich  dem 
preussischen  Cabinet  in  die  Hände.  Wahrlich,  ein  Meisterstück  der 
Diplomatie!  Immer  und  immer  wieder  stösst  der  erhitzte  Stier  in 
das  rothe  Tuch,  welches  ihm  vorgehalten  wird,  und  bei  jedem  Stoss 
senkt  der  Matador  sicher  seinen  Dolch  in  den  Nacken  des  rasenden 


) 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.     406 

Thieres.  —  Man  hat  von  einigen  Seiten  her  in  diesem  diplomatischen 
Kampfe  nicht  nur"  die  französische,  sondern  auch  die  preussische 
Politik  als  eine  unmoralische,  betrügerische  darstellen  wollen.  Es 
ist  kaum  der  Mühe  werth,  auf  diese  unverständige  Anschauung  hin- 
zuweisen. Wir  sind  weit  entfernt,  die  sprüchwörtliche  Lüge  der 
Diplomatie  in  Schutz  zu  nehmen*  Aber  noch  giebt  es  keinen  Staats- 
mann in  Europa,  der  stets  sprechen  dürfte  wie  das  Kind  zur  Mutter. 
Was  das  französische  Cabinet  verdammt,  ist  das  seinen  Absichten  zu 
Grunde  liegende  Princip  des  Unrechts,  der  Vergewaltigung,  Er- 
oberung; was  die  dem  Grafen  Bismarck  gelungene  Tä-uschung  recht- 
fertigt, ist  das  von  ihm  vertretene  Recht  der  Zurückweisung  fremder 
Eingriffe  in  die  deutschen  Verhältnisse  und  der  Verwirklichung  der 
grössten  politischen  und  Culturidee  seiner  Zeit,  der  Einigung  Deutsch- 
land's.  Die  so  sprechen  wie  Jene  sind  consequenter  Weise  verpflichtet, 
dem  Diebe,  der  in  ihr  Haus  dringen  will,  das  Thor  zu  öflfhen  und  auf 
seine  Frage  ihm  rasch  mitzutheilen,  wo  ihre  Schätze  liegen.  Hätte  Graf 
Bismarck  anders  gehandelt,  als  er  es  gethan,  er  hätte  den  Verdacht  auf 
sich  geladen,  mit  Frankreich  verschworen  zu  sein.  Jenes  Recht,  das 
er  vertritt,  sichert  ihm  den  stolzen  Ruhm,  nicht  nur  der  gewandteste 
und  glücklichste,  sondern  der  grösste  Staatsmann  neuerer  Zeit  zu  sein. 
Von  einer  diplomatischen  Thorheit  zur  anderen  liess  Frankreich 
sich  fortreissen,  und  rüstfete  gewaltig  zur  endlichen  Entscheidung.  Auch 
Deutschland  blieb  nicht  unthätig.  Zuletzt  vertraute  Graf  Bismarck  doch 
auf  das  gute  deutsche  Schwert,  und  die  Militärmacht  des  Bundes  wurde 
vervollständigt,  mit  fast  allen  Staaten  desselben  und  mit  einigen  Süd- 
staaten wurden  mehr  oder  weniger  enge  militärische  Verträge  ge- 
schlossen. Wie  das  österreichische  Cabinet  von  1865  und  1866,  so  gerieth 
das  französische  jetzt  in  eine  immer  tollere  Ueberstürzung  und  Kriegs- 
wuth,  nachdem  es  die  üeberzeiigung  gewonnen,  dass  es  getäuscht 
worden  war.  So  erstaunlich  die  Verblendung  ist,  mit  der  es  die 
bismarck'sche  Politik  beurtheilte,  so  fast  unglaublich  ist  die  Unkennt- 
niss,  der  völlige  Mangel  an  Verständniss  für  die  neuere  Entwickelung, 
den  Umschwung  der  Dinge  in  Deutschland  selbst.  Während  über 
ganz  Deutschland  ein  Netz  von  Spionen  organisirt  wurde,  welches 
die  Stimmung  des  Volks  und  der  kleineren  Staaten,  die  militärischen 
Mittel  des  Nordbundes  auskundschafteten,  hatten  die  Berichte  dieses 
Corps  den  Erfolg,  dass  Frankreich  am  Ende  das  gerade  Gegentheil 
von  dem  glaubte,  was  in  Wahrheit  vorhanden  war.  Mit  einem 
Aufwand    ungewöhnlicher    Mittel    zur    Erforschung    der    wirklichen 

Lage  kam  es  dahin,  beim  Ausbruch  des  Krieges  sich  in  allen  Stücken 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  7  u.  8.  27 


406     Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunet. 

getäuscht  zu  sehen.  Blind  und  wie  ein  schon  geschlagener  Heer- 
führer stürmte  Napoleon  wie  einst  Graf  Mensdorf  in  den  Krieg. 
In  völliger  Verkennung  der  gegenseitigen  Machtverhältnisse  vermaass 
er  sich,  die  überspanntesten  Forderungen  von  dem  alten  Prügel- 
jungen Europa's  spielend  einzutreiben.  Mit  Gewalt  sollten  die 
Fesseln  gesprengt  werden,  die  Graf  Bismarck  allmälig  und  leise  lann 
seine  Füsse  geschlungen  hatte,  und  die  erste,  alle  Würde  und 
politische  Logik  verletzende  Gelegenheit  wurde  beim  Schöpfe  gefasst 
und  zum  casus  belli  gestempelt.  Wie  damals  Oesterreich,  so 
erklärte  auch  jetzt  Frankreich  den  Krieg,  und  das  unter  einem 
Vorwande  und  in  einer  Weise,  die  ganz  Europa  in  Staunen  und 
Entrüstung  versetzten,  Frankreich  das  ganze  Odium  dieser  That 
auf  die  Schulter  luden.  Wie  damals,  als  die  unklug  sich  steigernden 
Forderungen  der  Dänen  auf  der  londoner  Conferenz  den  Uebei-gaog 
von  Alsen  zur  Folge  hatten,  und  wie  später,  als  der  österreichische 
Waffenlärm  allmälig  alle  politische  Rücksicht  auf  Europa  und  die 
eigenen  Kräfte  übertäubte,  so  wartete  Graf  Bismai'ck  auch  jetzt  kalt 
und  ruhig,  bis  der  Gegner  in  höchster  Leidenschaft  zum  Schwerte 
griff.  Sofort  war  auch  die  altbewährte  preussische  Klinge  aus  der 
Scheide  und  bevor  Frankreich  noch  den  ersten  Hieb  führen  honnte, 
blutete  es  aus  mehreren  Wunden. 

Das  Vorspiel  des  Krieges  und  die  durch  die  Enthüllungen  des 
berliner  Cabinets  aufgedeckte  diplomatische  Vorgeschichte  desselben 
lähmte  selbst  den  guten  Willen  derjenigen  Mächte,  die  einer  Allianz 
mit  Frankreich  nicht  abgeneigt  waren.  Noch  ist  hierüber  wenig 
zur  allgemeinen  Kenntniss  gelangt.  Russland  drückte  auf  das  toll- 
kühne Dänemark  und  das  im  Innern  zwiespältige  Oesterreich,  dessen 
ruheloser,  depeschenlustiger  Reichskanzler  gern  eine  grössere  Rolle 
wieder  einmal  zu  spielen  versucht  hätte.  In  der  Hofburg  scheint 
der  Grossmachtsschwindel  noch  immer  nicht  verbannt  zu  sein.  Der 
hohe  Preis  der  österreichischen  Kaiserkrone  und  der  Stellung,  welche 
er  noch  im  Osten  und  in  der  orientalischen  Frage  einnimmt,  scheint 
den  König  von  Ungarn  von  dem  mehr  als  zweifelhaften  Spiele  nicht 
abzuschrecken,  in  welches  die  fortgesetzten  Rüstungen  ihn  hinein- 
ziehen können.  —  England  ist  schon  lange  nicht  mehr  viel  daran 
gelegen,  seine  europäische  Politik  und  Bedeutung  aufrecht  zu  erhalten, 
für  seine  Grossmachtstellung  Geld  zu  opfern.  Um  so  mehr  sucht 
es  seine  wirthschaftliche,  industrielle  Präponderanz  zu  wahren,  und 
wenn  seine  Haltung  im  gegenwärtigen  Kriege,  in  ihrer  Schwäche 
und  kleinlichem  Egoismus  an  die  schlimmsten  Zeiten  des  Ministeriums 


I>ie  drei  grossen  Siege  preussisch-deuftscher  Staatsknnst.      407 

Liverpool  -  Castlereagh  erinnernd,  einen  nenen  Alabamastreit  su 
schaffen  droht,  so  mag  nicht  zum  geringsten  Theil  die  Eifersucht 
d€m  zu  Grunde  liegen.  Es  muss  sich  wohl  oder  übel  damit  trösten^ 
dass  sein  alter  Gegner  Frankreich  nun  seinen  Meister  gefunden  hat, 
dass  die  Welt,  nicht  Europa  der  Schauplatz  der  englischen  Thaten 
ist,  dass  London  —  wie  der  verstorbene  Lord  Derby  im  wehmüthigen 
Tone  eines  Europamüden  einst  sagte  —  die  Metropole  der  Welt  sei! 
Was  England  durch  die  Niederwerfung  des  zu  einer  Seemacht  auf- 
strebenden Frankreich  gewinnen  kann,  das  wird  es  auf  einem 
anderen  Gebiete  wieder  einbüssen:  die  Stärke  England's  liegt  in 
seinen  inneren  Verhältjiissen,  in  seiner  Cultufstellung,  und  diese 
dürfte  in  Deutschland  bald  einen  gefährlicheren  Rivalen  erwachsen 
sehen,  als  die  politische  Rivalität  Frankreich's  für  England  war. 
Die  Einigkeit  Deutschland's  gefährdet  ebenso  sehr  den  Einfluss  der 
englischen  Politik  in  Europa,  als  die  Hegemonie  seiner  wirthschaft- 
lichen  Macht* 

Spanien,  ohne  feste  Regierung,  vom  Volk  und  von  den  An- 
lässen des  Krieges  auf  Preussen's  Seite  gedrängt,  hat  kein  reales 
Interesse  daran,  sich  zu  betheiligen,  und  würde  den  letzten  Rest  von 
staatlicher  Ordnung  aufs  Spiel  setzen.  Nur  Italien  steht  einiger- 
maassen  unbeeinflusst  von  neutralen  Mächten  da.  Von  einem  ver- 
bündeten Frankreich  hat  es  wenig  zu  hoffen,  was  es  nicht  auch  ohne 
Kraftansirengung  erhalten  könnte;  ein  Bündnis»  mit  Deutschland 
würde  ihm  fast  mühelos  Rom,  Savoyen,  Nizza  eintragen.  Dennoch 
hat  es  —  wenn  die  Gerüchte  wahr  sind  —  erst  kurz  vor  einem 
Abgrunde  seine  Schritte  aufgehalten^  Die  von  Paris  her  beein- 
flusste  Regierung  soll  trotz  des  raschen  Eingreifens  des  Gesandten 
Brassier  de  St.  Simon  erst  durch  die  ersten  deutschen  Siege  von 
der  Allianz  mit  dem  romanischen  Nachbar  zurückgeschreckt  worden 
sein,  und  auch  heute  noch  weist  die  Reise  des  Prinzen  Napoleon 
darauf  hin,  dass  der  Plan  nicht  völlig  aufgegeben  ist.  Die  deutschen 
Schlachten  in  Frankreich  werden  sich  mit  Bleigewicht  an  diese  Ver- 
handlungen hängen,  und  was  diese  nicht  bewirken,  das  wird  die 
Revolution  thun,  die  einer  solchen  Allianz  drohend  gegenübersteht. 
Gegen  die  erstere,  weniger  für  die  letztere  mögen  die  Rüstungen 
betrieben  werden,  die  dem  darniederliegenden  Militärwesen  Italiens 
wieder  aufhelfen  sollen. 

Die  äussere  Lage  Deutschland's  ist  trotz  der  umlaufenden  Inter- 

ventionsgerü^hte  überaus  günstig.     Und  im  Innern,  wie  anders  ist's 

als  ehedem !     Wie  mit  der  Kraft  eines  Naturgesetzes  ist  die  flüssige 

27* 


408     Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst. 

Masse,  die  vormals  der  Strömung  jedes  fremden  Windhauchs  ausge- 
setzt war,  durch  die  Kriegserklärung  Frankreieh's  plötzlich  geronnen 
und  hat  sieh  um  Preussen  zu  einem  unüberwindlichen  Felsen  geeint 
und  gehärtet!  Welche  Zuversicht,  welches  Vertrauen  zur  diploma- 
tischen und  militärischen  Führung  Preussen's! 

So  unübertrefflich  die  diplomatische  Leitung  des  berliner  Cabinets 
ist,  so  gross,  so  im*  höchsten  und  edelsten  Sinne  unserer  Zeit  gross 
ist  die  militärische  Haltung  und  Führung  der  nun  deutschen  Armee. 
Das  Schwerste  ist  bereits  geschehen,  und  in  einer  Weise,  die  mit 
Zuversicht  auf  den  Ausgang  blicken  lässt.  Weissenburg  und  Saar- 
brücken, dann  Wörth,.  endlich  Metz  —  der  deutsche  Kaiserschnitt! 
Wahrlich,  es  sind  Wehen,  so  blutig,  so  thränenreioh,  als  Ig^ropa  sie 
lange  nicht  "sah,  aber  auch  so  gewaltig  an  geistiger  und  sittlicher 
Grösse,  als  die  Frucht  es  ist,  die  zum  Leben  geboren  ward.  — 
Diese  Kriege,  die  unter  preussischer  Leitung  gekämpft  wurden  — 
wir  finden  nicht  ihres  Gleichen  in  der  Kriegsgeschichte  der  neueren 
Culturvölker!  Dreimal  haben  nun  die  preussischen  Generale  ihre 
Armeen  gegen  den  Feind  geführt,  und  dreimal  ist  er  zerschmettert 
worden  ohne  auch  nur  ein  Lorbeerblatt  von  ihren  Häuptern,  ein 
siegreiches  Treffen  von  Bedeutung  gewonnen  zu  haben !  Diplomatisch 
losgelöst  von  ganz  Europa,  an  den  Pranger  gestellt  durch  die  bis- 
marck'schen  Veröffentlichungen  wird  nun  Frankreich  in  einem  mächti- 
gen Anlauf  zu  Boden  geworfen.  Gebrandmarkt  in  seiner  äusseren 
Politik  wird  die  innere  Fäulniss  des  Kaiserreichs  durch  das  scharfe 
Schwert  Deutschland's  vor  Aller  Augen  heute  blos  gelegt.  Und 
wie  niemand  die  hülfesuchende  Hand  Oesterreich's  erfasste,  als  es 
hinsank,  so  wird  heute  Frankreich  vergeblich  um  Rettung  von  aussen 
flehen.  Deutschland  wird  vor  Paris  den  Frieden  dictiren,  wie 
Preussen  1864  vor  Kopenhagen,  wie  1866  vor  Wien,  und  die  euro- 
päischen Mächte,  die  Deutschland  allein  Hessen  als  es  überfallen 
ward,  werden  es  auch  allein  die  Früchte  seiner  Siege  bestimmen 
lassen  müssen.  Frankreich  verlangte  die  Grenzen  von  1814,  das 
berliner  Cabinet  wird  seine  Ansprüche  von  1815  wiederholen.  Wenn 
Graf  Bismarck  die  Forderung  Preussen's  beim  2.  Pariser  Frieden, 
Lothringen  und  Elsass  mit  Deutschland  wieder  zu  vereinigen,  heute 
erneuern  sollte,  so  dürfte  schwerlich  ein  gleicher  Widerspruch  wie 
damals  ihm  entgegentreten.  Und  das  berliner  Cabinet  wird  diese 
Forderung  zum  grossen  Theil  stellen  müssen.  Selbst  wenn  König 
Wilhelm  es  nicht  wollte,  er  könnte  nicht  anders  um#  der  Fahne 
willen  die  erführt,  um  Deutschländ's  willen.     Was  vor  1866  möglich 


Die  drei  grossen  Siege  preussisch-deutscher  Staatskunst.     409 

war,  ist  heute  unmöglich  geworden.  Er  muss  „die  That  vollbringen, 
weil  er  sie  gedacht**,  weil  er  die  volle  Sühne  deutscher  Schmach 
auf  sich  genommen.  Elsass  wird  sicher  wieder  deutsch  werden, 
denn  das  Heer,  welches,  dank  dem  preussischen  Militärsystem,  das 
Volk  repräsentirt ,  wird  es  sich  nicht  nehmen  lassen.  Wie  weit 
darüber  hinaus  Gr.  Bismarck  dem  nationalen  Druck  wird  Rechnung 
tragen  müssen,  wer  vermag  es  zu  sagen?  Dess  sind  wir  sicher,  dass 
endlich  neben  dem  altbewährten  deutschen  Soldaten  eine  ebenbürtige 
Diplomatie  steht,  die  weiss,  dass  sie  an  der  Spitze  der  Nation  zu 
schreiten  hat,  lntellige^z,  sittlicher  Ernst,  nüchterne  Kraft  haben 
das  "^preussische ,  jetzt  das  deutsche  Volk  und  Heer  an  die  Spitze 
Europa's  gestellt,  und  die  diplomatischen  Verhandlungen  des  ber- 
liner Cabinets  sind  das  Widerspiel  zu  jenem  'Treiben  des  wiener 
Congresses,  von  welchem  einst  der  Prinz  von  Ligne  höhnte:  „Le 
congrfes  danse  Wen,  mais  il  ne  marche  pas,  pourvu  qu'il  ne  saute." 

So  hat  die  preussisch-deutsche  Staatskunst  im  Laufe  von  fünf 
Jahren  die  drei  mächtigen  Feinde  Deutechland's  niedergeworfen: 
Oesterreich  mit  seinem  deutschen  Afterkaiserthum,  Frankreich  mit 
den  europäischen  Gleichgewichtstraditionen  und  die  deutsche  Misfere 
des  Particularismus  und  der  Kleinstaaterei.  1866  wurde  der  eine 
Schritt  gethan,  1870  wird  das  Werk  vollenden. 

Dieser  innere,  gehässigste  Feind  deutscher  Grösse,  er  ist  auf  den 
französischen  Schlachtfeldern  mit  geschlagen,  und  wie  heiss  heute 
wieder  der  Zorn  gegen  Frankreich  in  Deutschland  entbrannt  sei, 
wie  so  oft,  so  ist  Frankreich  die  widerwillige  Veranlassung  auch 
zu  dieser  grössten  That  für  die  Wohlfahrt  Deutschland's  geworden. 
Wird  der  innere  Feind  je  wieder  sich  regen?  Napoleon  hat  bei 
seinem  Eroberungszuge  den  verhängnissvollen  Fehler  sich  zu  Schul- 
den kommen  lassen,  das  Deutschland  von  heute  für  das  des  Rhein- 
bundes zn  halten,  er  hat  nur  mit  den  Erinnerungen  des  ersten 
Kaiserreichs,  nicht  mit  den^n  des  neuen  Deutschland  gerechnet. 
Möge  das  neue  Deutschland  bedenken,  dass  es  seit  1813  nur  einen 
Bismarck  besessen  und  zweimal  die  Sünde  des  Rheinbundes  gebüsst 
hat,  möge  es  im  Glanz  der  Siegesfreude  nicht  die  Gefahren  des 
Friedens,  die  alten  Schattenseiten  des  eigenen  Charakters  unter- 
schätzen oder  gar  übersehen,  möge  es  nicht  seinerseits,  in  umge- 
kehrter Weise  wie  Napoleon,  den  Fehler  begehen,  über  dem  jubeln- 
den Deutschland  von  1870  das  Deutschland  von  1866,  von  1849,  von 
1820  und  von  1806  zu  vergessen !  Grossmuth  ist  eine  schöne  Sache, 
aber  sie  hat  ihren  Preis.     Die  Dalberg's  sind  todt,  mögen  die  Hassen- 


810      Die  drei  grossen  Siege  preussiscTi-deutficher  Staatskun&t. 

pflug's  und  Beusfs  nie  wiederkehren!  Wenn  wir  binbUeken  amf 
Deutschland  und  sehen,  wie  in  so  kurzer  Spanne  Zeit  eine  so  ung^e- 
heurer  Revolution  sich  vollzogen  hat,  so  können  wir  an  die  Wieder- 
kehr dieser  Zeiten  und  MiSbnner  nicht  glauben,  so  schauen  wir  mit 
Vertrauen  in  die  Zukunft.  Wie  wenn  in  die  Köpfe  der  Parti- 
cularisten  eine  neue  Denkmethode  gesenkt  wäre,  se  anders  sind  in 
wenigen  Wochen  die  Anschauungen  derselben  geworden.  Aus  die- 
sem Deutschland  lässt  sich  ein  einiges  und  auch  ein  freies  Deutseh- 
land  bilden,  und  heate  ist  der  Bildner  Bismarck,  nicht  Metternich. 
Bismarck  steht  am  Vorabend  der  Krönung  seines  grossen  Werkes. 
In  kurzem  wird  zur  Wirklichkeit  was  seither  vor  den  verlangenden 
Händen  von  Generationen,  vor  der  Phantasie  des  Knaben  und  des 
Jünglings   als   ein  heiliger   Schatten   aus  der  Kaisergruft  einherfloh. 

„Novus  saeclorum  nascitur  ordo!" 

Riga,  den  10./22.  August  1870. 

E.  B. 


Von  der  Censur  erlaubt.      Riga,  den  29.  August  1870. 


Pruck  der  Livländischen  Gouvernements-Typographie. 


I 

i 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

Vortrag,  gehalten  in  der  Aula  des  Polytechnikums  zu  Riga  am  26.  Februar 

(10.  März)  1870  von  G.  Co hn. 


H.   A. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  wirthschaftliche  und  gesellschaftliche 
Entwickelung  England's  dem  continentalen  Westeuropa  um  Menschen- 
alter, in  mancher  Hinsicht  um  Jahrhunderte  voran  geschritten  und 
dadurch  zum  lehrreichen  Vorbilde  geworden  ist,  welches  den  lang- 
samer nachfolgenden  Ländern  manches  Kommende  im  Voraus  an- 
deutet —  ähnlich  geht  Deutschland  der  Entwickelung  der  baltischen 
Provinzen  vorauf.  In  der  Stufenfolge  der  norddeutschen  Provinzen, 
die  je  weiter  nach  Osten  gelegen  einen  um  so  einfacheren  Cultur- 
zustand,  gleichsam  eine  rückwärts  gehende  Reihe  von  wirthschaftlichen 
Epochen  darstellen,  bilden  diese  drei  —  last  not  hast  —  den  Abschluss. 
Ein  analoger  Unterschied  besteht  zwischen  ihnen  und  den  östlichen 
der  preussischen  Provinzen ,  wie  zwischen  diesen  und  den  mehr 
nach  Westen  gelegenen:  Vorherrschen  der  Landwirthschaft,  Zurück- 
treten der  Städte,  geringe  Industrie,  wenig  entwickelte  Concurrenz, 
dünne  Bevölkerung: 

die  Rheinprovinz  .     .     •     zählt  rund  7000  Seelen  auf  die  D-M., 
y,    Prov.   Sachsen      .     .        „         „      4400         „        »       »         n 
[         y>        r>      Westpreusen  .        „         „      2800         ^        ^       »         » 
„        „       Ostpreussen   .        „         „      2600         n        v       n         t 
ji        y>       Curland     .     .        „         „      1160         »        „       »         » 
r>        »       Livland      ...        „         ^      1070         „        ^       „         » 
Diese  Ziffern  sagen  weitaus  nicht  alles,  aber  sie  sagen  viel: 
Durcheilen  Sie  in  selbst  flüchtiger  Fahrt  diese  Länder  und  Sie  wer- 
den sich  überzeugen,  dass  diese  Zahlen  verschiedene  wirthschaftliche 
Welten  bedeuten,  verschiedene  Zeitalter,  welche  lehrreich  genug  in 
demselben  Augenblicke   sich   an    einander    reihen.      Die    Zustände, 
welche  Sie  in   der   einen   dieser  Welten  als  bestehend  vorgefunden, 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  9  u.  10.  28 


414  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

sehen'^Sie  in  der  anderen  Welt  überwunden,  Interessen,  welche  in 
dieser  letzteren  die  Leidenschaften  und  die  Gedanken  beschäftigen, 
dort  noch  nicht  empfunden,  Probleme,  deren  Lösung  weiter  im 
Westen  die  Masse  des  Publicums  beschäftigt,  hier  kaum  als  literarische 
Neuigkeit  bekannt 

In  dieser  Richtung  ist  der  Abstand  der  Provinz  Preussen  von 
der  Provinz  Sachsen  oder  gar  der  Rheinprovinz  durchaus  gleichartig 
dem  Unterschiede  unserer  Provinzen  vo^i  allen  westlicher  gelegenen 
deutschen  Provinzen  überhaupt.  Wie  dort  drüben  von  Westen  her 
die  neue  Zeit  immer  näher  herandringt  und  ihre  Wogen  immer 
tiefer  ins  Land  hinein  den  Boden  einfacherer  Cultur  bespülen,  ebenso 
wird  allmälig,  aber  unwiderstehlich,  auch  dieser  Küstenstrich  hinein- 
gezogen in  das  grössere  Treiben  der  westlichen  Welt :  die  staatlichen 
Grenzen  sind  nur  ein  relatives  Hinderniss. 

Es  bedarf  einer  solchen  Motivirung  zur  Rechtfertigung,  wenn 
ich  mir  erlaube,  in  dieser  Stunde  Ihre  Blicke  auf  eine  Seite  der 
socialen  Bewegung  zu  lenken,  für  welche  die  hiesigen  Zustände,  ver- 
schieden von  denen  in  Deutschland,  bisher,  soviel  ich  bemerkt,  nur 
wenig  sympathische  Stimmung  haben  erwecken  können  —  nämlich 
die  Bewegung  zur  Erweiterung  und  Erhöhung  des  weib- 
lichen Lebensberufes. 

Wenn  irgend  eine  Reformfrage,  so  ist  diese  dazu  angethan,  erst 
in  dem  Augenblicke  erörtert  zu  werden,  wo  weit  verbreitete  und 
tief  empfundene  Interessen  an  ihrer  Lösung  betheiligt  sind.  Die  bloss 
theoretischen  Betrachtungen  über  die  anderweite  Lebensstellung 
des  weiblichen  Geschlechtes  reichen  weit  in  die  Vergangenheit  zurück: 
namentlich  das  achtzehnte  Jahrhundert  hat,  zusammen  mit  den 
anderen  Gegenständen  des  socialen  und  politischen  Lebens,  auch 
diesen  der  unerbittlichen  Schärfe  seiner  Kritik  unterzogen.  Seitdem 
hat  es  niemals  an  Stimmen  gefehlt,  welche  dafür  eintraten:  aber 
erst  der  neuesten  Zeit,  da^  heisst  unserer  unmittelbaren  Gegenwart  war 
es  vorbehalten,  daraus  ein  Thema  praktischer  Discussionen,  eine 
Bewegung  zu  machen.  Die  realen  Verhältnisse  mussten  sich  für  das 
weibliche  Geschlecht,  oder  doch  einen  Theil  desselben,  zuvor  der- 
9xtig  gestalten,  dass  in  der  bisherigen  Enge  und  Beschränktheit  der 
weiblichen  Lebensbethätigung  kein  genügender  Raum  war;  der 
Druck  der  Nothwendigkeit  Vieler  musste  sich  mit  den  Ideen  der 
wenigen  Denker  verbinden,  um  die  Stimme  der  Einzelnen  zu  einem 
Chor  der  Massen  anschwellen  zu  lassen.     So  lange  jedes  weibliche 


Die  Frauenbewegung  in  Deutsdiland.  415 

Wesen  in  einer  Ehe  seine  rechtzeitige  und  gesicherte  Unterkunft  zur 
Verwirklichung  seines  natürlichsten  und  wünschenswerthesten  Lebens- 
berufes fand,  war  aus  den  am  meisten  bei  der  Frage  betheiligten 
Kreisen,  aus  den  Kreisen  des  weiblichen  Geschlechts,  keine  irgend 
erhebliche  Theilnahme  zu  erwarten.  In  dem  Maasse  als  sich  dies 
änderte,  wuchs  auch  die  Zahl  der  Kampfgenossen  für  die  Frauenfrage. 
Es  gilt  in  Deutschland  als  eine  ausgemachte  Thatsache,  dass  die 
Zahl  der  unverheirathet  bleibenden  Mädchen  —  wenigstens  in  den 
Mittelst-änden  —  in  steter  Zunahme  begriffen  ist:  dieser  Eindruck 
is.t  hie  und  da  so  lebhaft,  dass  man  gelegentlich  die  Behauptung  hören 
kann,  die  Zahl  der  weiblichen  Geburten  sei  doppelt  so  gross  als  die 
der  männlichen,  auf  je  2  Mädchen  werde  1  Knabe  geboren.  Das 
ist  freilich  ein  Traum!  Die  Natur  hat  besser  für  die  Harmonie  ge- 
sorgt: die  Zahl  der  männlichen  Geburten  umgekehrt  überschreitet 
regelmässig  die  Zahl  der  weiblichen  um  mehrere  Procent,  dafür  ist 
aber  die  Knabensterblichkeit  grösser,  so  dass  in  dem  heirathsfähigen 
Alter  sich  das  Zahlenverhältniss  beider  Hälften  im  Grossen  und 
Ganzen  vollkommen  deckt.  Nicht  die  Natur  trifft  der  Vorwurf, 
sondern  die  socialen  Zustände.  Die  Möglichkeit,  einen  Hausstand 
zu  begründen,  tritt,  je  länger  je  mehr,  erst  so  spät  für  den  Mann 
ein,  dass  hierdurch,  gegen  frühere  Zeiten  gehalten,  ein  entsprechender 
Ausfall,  an  Heirathsgelegenheit  bedingt  wird:  je  langsamer  aber  die 
jungen  Männer  zur  Begründung  eines  eigenen  Haushalts  gelangen, 
um  so  mehr  junge  Mädchen  harren  vergebens  des  Gatten.  Ein  Bei- 
spiel dieser  veränderten  Zustände  naag  hier  Erwähnung  finden.  In 
der  preussischen  Monarchie  erreichte,  noch  vor  etwa  einem  Menschen- 
alter, der  studirte  Beamte,  im  Gerichts-  oder  Verwaltungsdienst, 
meist  im  Alter  von  26  Jahren  oder  früher  eine  Anstellung,  welche 
ihn  befähigte,  einen  Hausstand  zu  gründen  —  heute  ist  er  vielfach 
zehn  Jahre  später  noch  nicht  in  der  Lage.  Die  Leiden  des  preussi- 
schen Referendarius  sind  inzwischen  sprichwörtlich  geworden.  Nach 
einem  drei-  bis  vierjährigen  akademischen  Studium  hat  er  sich  durch 
ein  erstes  Staatsexamen  zum  unentgeltlichen  Vorbereitungsdienst  in 
der  Praxis  auszuweisen.  Dieser  Vorbereitungsdienst  dauert  zum 
mindesten  vier  bis  fünf  Jahre,  oft  sechs  Jahre  und  mehr;  jeder  Er- 
werb eines  eigenen  Einkommens  in  dieser  Zeit  ist  grundsätzlich  un- 
möglich gemacht;  dagegen  ist  am  Schlüsse  dieser  Frist  ein  ferneres 
grosses  Staatsexamen  zu  machen,  welches  der  Regel  nach  ein  volles 
Jahr  in  Anspruch  nimmt;  bis  vor  kurzem  war  auch  ein  Examen  in 

der  Mitte  der  praktischen  Vorbereitungszeit  erforderlich,  so  dass  es 

28* 


416  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

^  im  Ganzen  drei  Examina  gab.  Nach  Absolvirung  des  grossen 
Staatsexamens  erwirbt  der  Referendar  den  Titel  eines  Gerichts- 
assessors mit  der  Qualification,  als  Richter  angestellt  zu  werden. 
Die  wirkliche  Anstellung  aber  erfolgt,  da  regelmässig  500 — 1000 
wartende  Assessoren  als  überzählig  disponibel  sind,  gewöhnlich  drei 
Jahre  oder  länger  nach  Absolvirung  des  Assessorexamens,  und  zwar 
auch  nur  dann  so  schnell,  wenn  der  Anzustellende  mit  einer  Richter- 
stelle in  einem  Landstädtchen  fürlieb  nimmt;  macht  er  Ansprüche 
auf  die  Vorzüge  einer  leidlichen  Mittelstadt  oder  gar  eine^r  Provinzial- 
hauptstadt,  so  wird  er  doppelt  so  lange  und  länger  zu  warten  haben. 
Und  das  Gehalt  beträgt  sechshundert  Thlr.  jährlich.  Die  Advocatur 
ist  in  Preussen,  sehr  verschieden  von  den  hiesigen  und  auch  sonst 
üblichen  Einrichtungen,  nicht  etwa  dem  eben  absolvirten  Cand.  jur. 
oder  auch  nur  dem  durch  die  unentgeltlichen  fünf  Dienstjahre  und 
die  Staatsprüfungen  gegangenen  Manne  offen :  vielmehr  ist  sie  Mono- 
pol der  vom  Staate  Angestellten  und  als  solches  von  bejahrten  Richtern 
sehr  gesucht.  —  Die  Verwaltungscarriere  ist  eine  ähnliche  wie  die 
juristische,  nur  noch  dornenvoller  und  unergiebiger. 

Das  erwähnte  Beispiel  ist  beweisend,  nicht  blos  für  die  Zustände 
in  dem  bestimmten  Berufszweige,  sondern  für  die  Zustände  in  allen 
social  daneben  laufenden  Berufszweigen  überhaupt;  —  wenn  in  einem 
grossen  Staate  sich  unablässig  eine  Ueberzahl  junger  Männer  zu  einer 
Laufbahn  drängt,  welche  so  traurige  Aussichten  für  die  Begründung 
der  Selbständigkeit  des  Mannes  bietet,  so  muss  die  Concurrenz  um 
ein  Unterkommen  in  irgend  einem  Berufe,  wenigstens  in  allen,  welche 
von  den  Mittelständen  gesucht  werden,  bis  zu  einem  ängstlichen 
Grade  gesteigert  sein. 

Aus  den  entsprechenden  weiblichen  Kreisen  des  deutschen  Mittel- 
standes ist  es  denn  auch,  von  wo  in  neuester  Zeit  die  lebhafte 
Forderung  hervorgetreten  ist,  die  Erwerbsfähigkeit  des  weiblichen 
Geschlechts  zu  erhöhen,  neue  Gebiete  anzuweisen,  auf  denen  sich  die 
Arbeit  des  Weibes  bethätigen  und  damit  einen  von  männlicher 
Versorgung  unabhängigen,  selbständigen  Unterhalt  für  das  Leben 
schaffen  könne. 

Indem  diese  Frage  aus  unverkennbar  praktischen  Anlässen  also 
gestellt  war,  kam  es  auf  eine  entsprechende  praktische  Lösung  an. 
Die  unreifen  Phantasien  der  sogen.  Frauenemancipation,  welche 
in  Deutschland  während  der  vierziger  Jahre,  gelegentlich  mit  Hosen 
und  Stiefeln,  mit  Bier  und  Cigarren,  ihr  Wesen  trieb,  haben  hiermit 
eben  so  wenig  zu  theilen,  als  auf  der  anderen  Seite  mit  Riehrscher 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  417 

Romantik  geholfen  ist.  Alle  abwehrenden  Declamationen  von  der 
„wahren  Bestimmung  der  Frau*  sind  vollkommen  unerspriesslich 
für  unsere  Frage,  so  lange  sie  nicht  allen  Mädchen  zu  ihrer  wahren 
Bestimmung,  daß  heisst  in  dem  Sinne  jener  Leute  zu  einem  Manne 
verhelfen  können.  Unter  Vermeidung  beider  Extreme  wird  man 
nur  dadurch  weiter  kommen,  dass  man  auf  Grundlage  des  Bestehen- 
den und  namentlich  unter  Anerkennung  der  bestehenden  neuen  Be- 
dürfnisse nach  neuen  Einrichtungen  sucht,  welche  helfen  können. 
Unter  Vermeidung  offenbar  unausführbarer  radicaler  Forderungen 
auf  unbedingte  Gleichstellung,  wie  andererseits  eines  falsch  conser- 
vativen  Festhaltens  an  der  vermeintlich  erwiesenen  „Natur**  des 
Weibes,  wird  man  fragen  müssen:  welche  Berufsarten  können  dem 
weiblichen  Geschlechte  nach  seinem  dermaligen  Culturstande  eröffnet 
werden?  Daran  wird  sich  dann  die  weitere,  allgemeinere  Frage 
knüpfen:  welche  Berufsarten,  wo  nicht  jetzt,  so  doch  später  oder 
künftig  überhaupt? 

Die  letztere  Frage  ist  eben  so  schwierig  zu  beantworten,  als 
sie  heutzutage  meist  leichthin  beantwortet  wird.  Es  ist  ein  bedenk- 
licher Irrthum,  wenn  man  auf  der  Grundlage  der  bisherigen  Er- 
fahrungen von  der  angeblich  erwiesenen  „Natur**  des  Weibes  spricht. 
Was  man  heute  Natur  des  Weibes  nennt,  ist  ein  Ding  nichts  weniger  ? 
als  natürlich,  ein  historisches  Product  von  Jahrtausenden.  Natürlich, 
das  wissen  wir,  ist  die  mit  dem  geschlechtlichen  Unterschiede  zu- 
sammenhängende körperliche  Organisation;  was  darüber  hinaus 
natürlich  an  dem  Weibe  ist,  das  wissen  wir  nicht;  jede  Behauptung, 
die  mehr  zu  wissen  vorgiebt,  wagt  aus  beschränktem  Erfahrungs-» 
gebiet  einen  Schluss  von  unberechtigter  Allgemeinheit,  ähnlich  wie 
derjenige,  welcher  aus  den  Grenzen  seiner  heimathlichen  Provinz 
noch  nicht  herausgekommen,  nach  dem  Dialekte  dieser  Provinz  allein 
über  die  wahre  Aussprache  urtheilt,  was  denn  zur  Folge  hat,  dass 
es  für  die  Masse  der  Provinzialen  eben  so  viele  Arten  der  allein 
berechtigten  oder  natürlich  erscheinenden  Aussprache  giebt,  als  es 
Provinzen  giebt:  —  in  jeder  deutschen  Provinz  sprechen  die  Be- 
wohner nach  ihrer  innigsten  Ueberzeugung  das  einzig  richtige  natür- 
liche Hochdeutsch.  Bei  den  Dialekten  der  Muttersprache  sind  wir 
leicht  in  der  Lage,  bescheidener  zu  werden:  wir  brauchen  nur  die 
Grenzpfähle  unserer  Provinz  zu  verlassen,  und  eine  Weile  an  anderen 
Enden  des  Vaterlandes  zu  leben;  doch  um  zu  erkennen,  was  die 
Natur  des  Weibes  sei,  dazu  ist  der  Weg  nicht  eben  so  leicht;  denn 
hiezu  wäre  eine  Reise  bis  ans  Ende  der  Geschichte  der  Menschheit 


I 


418  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

nnd  damit  des  Weibes  erforderlich.  Auf  welcher  Stufe  sind^wir 
denn  angelangt?  Wie  klein  im  Verhältniss  mag  der  Abschnitt  sein, 
den  wir  überblicken,  wie  unendlich  gross  und  voll  unbegrenzter 
Entwickelungen  die  Zeit,  die  da  kommen  soll,  tausende,  hundert- 
tausende von  Jahren? 

Um  solchen  Zweifeln  gegenüber  einen  festeren  Anhalt  zu  be- 
sitzen, hat  man  wohl  ein  körperliches  Merkmal,  ein  Physisches,  also 
in  den  Wandlungen  der  Geschichte  relativ  Unwandelbares,  zu  finden 
geglaubt,  indem  man  die  Behauptung  aufstellte,  die  geistige  Ueber- 
legenheit  des  männlichen  Geschlechts  sei  durch  die  überlegene  Grösse 
des  männlichen  Gehirns  erwiesen.  Diese  Behauptung  steht  aber  auf 
schwachen  Füssen.  Es  muss  erst  bewiesen  werden,  dass  von  der 
Grösse  des  Gehirns  allein  das  Maass  der  geistigen  Fähigkeiten  ab- 
hängt.  Und  wäre  das  bewiesen,  so  fiele  die  Entscheidung  noch 
immer  nicht  zu  Ungunsten  des  weiblichen  Geschlechts  aus.  Man 
weiss  nämlich  noch  gar  nicht,  ob  denn  wirklich  das  weibliche  Ge- 
hirn kleiner  ist  als  das  männliche.  Folgert  man  es  etwa  aus  der 
kleineren  Gestalt  des  Weibes,  so  muss  dieses  Kriterium  zu  sonder- 
baren Schlüssen  führen :  kleine  Leute  hätten  danach  ein  kleines,  grosse 
ein  grosses  Gehirn.  So  viel  aber  steht  fest,  dass  viele  Frsuien  ein 
eben  so  grosses  Gehirn  haben  als  die  Männer:  ja,  aus  der  Unter- 
suchung eines  Fachmannes,  welcher  viele  menschliche  Gehirne  ge- 
wogen hatte,  ergab  sich,  dass  das  schwerste  Gehirn,  welches  ihm 
vorgekommen  war,  schwerer  selbst  als  das  Gehirn  Guvier's  (das 
schwerste  das  man  bisher  gewogen)  das  Gehirn  einer  Frau  war.*) 

Unzweifelhaft  hat  das  weibliche  Geschlecht  bisher  im  Gebiete 
des  Geistes  wenig  geleistet,  was  an  die  Seite  der  höchsten  männlichen 
Leistungen  gestellt  werden  könnte.  Um  von  anderem  zu  schweigen  : 
kein  Erzeugniss  in  der  Wissenschaft  oder  einer  Kunst,  welches  auf 
den  ersten  Rang  Ansprüche  machen  dürfte^  ist  das  Werk  einer  Frau 
gewesen.  Aber  ist  es  erlaubt,  nun  zu  behaupten,  die  Frauen  seien 
von  Natur  nicht  fähig  dazu?  Es  ist  kaum  drei  Generationen  her, 
mit  seltenen  Ausnahmen  länger,  dass  die  Frauen  überhaupt  begonnen 
haben  ihre  Fähigkeiten  in  Wissenschaft  und  Kunst  zu  versuchen. 
Erst  in  dem  gegenwärtigen  Menschenalter  sind  ihre  Versuche  zahl- 
reicher geworden,  und  auch  jetzt  sind  sie  noch  vereinsamt,  ausge- 
nommen etwa  in  Frankreich,  England,  Nordamerika.  Was  man 
nach  der  Kürze  dieses  Zeitraums  von   ihnen   erwarten  kann,  das 


*)  Vgl.  Stuart  Hill,  Subjection  of  Women,  1869,  passim. 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  419 

* 

haben  sie  geleistet.  Vergleicht  man  aber  diese  Leistungen  in  Wissen- 
schaft und  Kunst  mit  denen  der  Männer,  so  tritt  ein  Hauptmerkmal 
hervor:  es  fehlt  ihnen  die  Originalität,  wenigstens  in  dem  Sinne 
einer  neuen  grossen  weithin  leuchtenden  Idee.  Was  die  Frauen 
bisher  geschaffen,  ist  meistens  auf  den  schon  vorhandenen  Fonds 
von  Gedanken  beschränkt,  ihre  Schöpfungen  entfernen  sich  nicht 
weit  von  den  vorhandenen  Typen.  Warum  aber  das?  Weil  die 
Originalität  bei  dem  heutigen  Stande  der  Dinge  vor  allem  ein  be- 
deutendes Umfieissen  alles  bisher  Geleisteten "  voraussetzt.  Fast  alle 
Gedanken,  welche  durch  die  blosse  Kraft  ursprünglicher  Fähigkeiten 
erfasst  werden  können,  sind  längst  gedacht  worden,  und  wahre 
Originalität  in  irgend  einem  wahren  Sinne  des  Wortes  ist  heutzu- 
tage kaum  jemals  von  anderen  Geistern  zu  erreichen  als  von  solchen, 
welche  sich  einer  gründlichen  Schuldisciplin  unterworfen  und  sich 
mit  den  Ergebnissen  des  früheren  Denkens  tief  vertraut  gemacht 
haben.  Ein  geistreicher  Gelehrter  hat  gesagt:  die  originellsten 
Denker  seien  heute  diejenigen,  welche  am  gründlichsten  gelernt,  was 
ihre  Vorgänger  gedacht  habem  J^der  neue  Stein  an  dem  Gebäude 
muss  jetzt  auf  so  viele  andere  gelegt  werden,  dass  ein  langer  Pro- 
cess  des  Hinanklimmens  und  Hinauftragens  durchzumachen  ist,  wenn 
man  sich  überhaupt  an  dem  gegenwärtigen  Schaffen  des  Wahren 
und  Schönen  betheiligen  will.  Wie  viele  Frauen  aber  giebt  es 
heute,  welche  diese  Voraussetzungen  verwirklicht  haben  oder  ver- 
wirklicht haben  können? 

Hierdurch  will  ich  meinerseits  keine  positive  Behauptung  auf- 
stellen :  es  kommt  vielmehr  nur  darauf  an,  die  Hinfälligkeit  der  ent- 
gegenstehenden Behauptungen  zu  kennzeichnen;  es  kommt  darauf  an, 
wiederholt  und  nachdrücklich  zu  betonen:  es  ist  noch  kein  bindender 
Beweis  geliefert  und  ist  auch  so  bald  noch  nicht  zu  liefern  für 
die  Ansicht,  welche  die  natürlichen  Fähigkeiten  des  weiblichen  Ge- 
schlechts verglichen  mit  dem  männlichen  in  die  oder  die  engen 
Grenzen  bannt  —  Nicht  der  geringste  Fortschiitt  in  der  Erkenntniss 
ist  es  zu  wissen,  was  man  nicht  weiss:  namentlich  in  unserer 
von  flachen  Allgemeinheiten  und  Schlagwörtern  erfüllten  Zeit  ist  auf 
Schiitt  und  Tritt  eine  solche  Erkenntniss  das  Heilsame  und  Noth- 
wendige.  — 

So  viel  ist  sicher,  und  darüber  ist  heute  ernsthaft  nicht  mehr 
zu  streiten,  dass  die  bisherige  Erziehung  des  weiblichen  Geschlechts 
weder  selber  die  natürliche  ist,  noch  geeignet  ist,  die  natürlichen 
Fähigkeiten  hinreichend  zu  entwickeln.     Der  thüringische  Bauer  hat 


420  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

einen  drastischen  Ausdruck:  er  nennt  die  höhere  Töchterschule 
„Mannsbenehmige";  wenn  er  an  seine  Töchter  etwas  wendet,  so 
schickt  er  sie  auf  die  „Mannsbenehmige'*.  Das  naive  Wort  sagt  mehr 
als  es  will:  es  ist  ein  Verdammungsurtheil  über  die  bisher  übliche 
Ausbildung  des  weiblichen  Geistes.  Es  versteht  sich  ja  von  selbst, 
dass*  es  auch  hier  Ausnahmen  giebt,  und  diese  Ausnahmen  werden 
immer  zahlreicher;  aber  mit  den  Ausnahmen  ist  noch  nicht  gedient. 
Allgemach  beginnt  man  denn  auch  in  weiteren  Kreisen  einzusehen, 
dass  der  weibliche  Geist,  so  gut  wie  der  männliche,  Zucht  und  Pflege 
um  seiner  selbst  willen  verdient,  dass  der  Abschluss  der  Bildung 
in  einem  Alter,  wo  regelmässig  der  Geist  erst  reif  genug  zu  werden 
beginnt,  um  ernst  und  erfolgreich  zu  lernen,  als  eine  dauernde  Ein- 
richtung der  weiblichen  Erziehung  durch  nichts  begründet  ist,  dass 
die  Ausstattung  des  sechszehnjährigen  Mädchens  mit  einem  Wenigen 
von  allem  und  etwas  Tüchtigem  von  nichts  und  die  demnächstige 
Zurdispositionstellung  im  Ballkleide  nicht  ganz  der  natürlichen 
Bestimmung  des  Weibes  entspreche. 

Dass  es  damit  besser  werde,  und  zwar  für  jeden  Beruf  eines 
weiblichen  Wesens,  sei  es  nun,  dass  ihm  der  wünschenswertheste 
Beruf,  des  Hauses  Ehre  zu  sein,  oder  ein  anderer  beschieden  ist,  — 
dazu  ist  das  dringende  Bedürfniss  nach  einer  Erweiterung  der 
Erwerbsgebiete  für  das  weibliche  Geschlecht  ein  erspriess- 
licher  Antrieb  geworden.  Indem  die  Noth  veranlasste,  nach  einem 
weiteren  Kreise  von  Berufsarten  fiir  die  Verwendung  weiblicher 
Arbeitskräfte  zu  suchen,  war  damit  zugleich  die  Aufgabe  gegeben, 
den  dermaligen  Stand  der  Bildung  dieser  weiblichen  Kräfte,  als 
Voraussetzung  jener  Berufsübungen,  prüfend  ins  Auge  zu  fassen. 

Man  nahm  sofort  wahr,  dass  in  jenen  niederen  Thätigkeiten, 
welche  keine  irgend  nennenswerthe  Bildung  des  Geistes  verlangen, 
die  Frauen  ganz  von  selber  neben  den  Männern  ihre  Stellung  ge- 
nommen haben:  in  den  mechanischen  Verrichtungen  des  Landbaues 
und  der  Industrie  herrscht  vollkommene  Gleichstellung  des  weib- 
'lichen  Geschlechts  mit  dem  männlichen.  Ein  ernster  Widerspruch 
hat  sich  hiergegen  niemals  erhoben,  es  sei  denn,  dass  man  solchen 
in  Forderungen,  wie  denen  der  berliner  Schneiderrevolution  vom^ 
Jahre  1830,  finden  will,  welche  von  dem  Könige  neben  zweierlei 
das  sie  selber  noch  nicht  wussten  zuerst  und  vor  allem  die  Ab- 
schaffung der  Schneidermamsellen  verlangten.  Heute  arbeiten  in 
den  wirthschaftlich  am,  meisten  entwickelten  Ländern  hunderttausende 
von  weiblichen  Arbeitern  neben  den  männlichen  in  den  mannigfachen 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  421 

Zweigen  ihrer  Grossindustrie.  *)  Und  die  neulich  (am  21.  Juni 
1869)  zu  Stande  gekommene  Gewerbeordnung  für  den  norddeutschen 
Bund**)  bestimmt:  „das  Geschlecht  begründet  in  Bezug  auf  die  Be- 
fiigniss  zum  selbständigen  Betriebe  eines  Gewerbes  keinen  Unter- 
schied". —  In  diesen  der  Zahl  nach  überwiegenden  Schichten  giebt 
es  gar  keine  Frauenfrage  in  dem  heute  üblichen  Sinne :  was  hier  für 
das  weibliche  Geschlecht  zu  thun  ist,  mag  zur  lebhaftesten  Abhülfe 
aufrufen,  es  mag  sich  hier  um  viel  grössere  Misstände,  viel  tieferes 
Elend,  das  zu  heilen  ist,  handeln,  aber  hier  fällt  es  mit  dem  zu- 
sammen, was  für  beide  Geschlechter  zu  thun  ist  —  es  ist  die  ge- 
meinsame Frage  der  Hebung  des  Arbeiterproletariats.  Anders  in 
denjenigen  Lagen  der  Gesellschaft,  welche  man  als  die  Mittelklassen 
zu  bezeichnen  gewohnt  ist.  Wenn  man  in  jenen  untersten  Schichten 
die  Gleichheit  der  Erwerbsstellung  auf  die  Gleichheit  der  niedrigen 
Bildung  oder  Bildungslosigkeit  begründet  sieht,  so  zeigt  sich  hier 
entsprechend  die  Verschiedenheit  der  Erwerbsstellung  auf  die  Ver- 
schiedenheit der  Bildungshöhe  gegründet.  Erst  eine  Veränderung 
dieser  Grundlage  kann  eine  Veränderung  der  wirthschaftlichen 
Stellung,  der  Berufsstellung  des  weiblichen  Geschlechts  herbeiführen. 
Es  kommt  darauf  an,  hiermit  einen  Anfang  zu  machen  und  dann 
getrost  vorwärts  zu  gehen  —  wie  weit,  das  muss  der  Zeit,  das 
muss  Menschenaltern,  das  muss  einer  unbegrenzten  Zukunft  über- 
lassen bleiben. 

Es  zeichnet  die  deutsche  Frauenbewegung,  welche  im  Laufe  der 
sechsziger  Jahre  begonnen,  vortheilhaft  vor  der  englischen  und 
namentlich  vor  der  nordamerikanischen  aus,  dass  sie  sich  auf  das 
zunäf^hst  praktisch  Wichtige  uud  Ausführbare  beschränkt  hat.  Man 
wird  auf  der  anderen  Seite  den  englischen  und  amerikanischen 
Frauenbestrebungen,  welche  die  sofortige  politische  Emancipation, 
namentlich  die  Verleihung  des  Stimmrechts  zu  den  öffentlichen 
Wahlen  fordern  ***),  zu  gute  halten  müssen,  dass  die  Frauen  dort 
allerdings  Grösseres,  und  zwar  auf  den  verschiedensten  Gebieten  des 
Lebens,  zu  Wege  gebracht  haben  als  unsere  deutschen  Schwestern, 


*)  Die  englische  Baumwoll-  und  Leinenindustrie  beschäftigt  nach  dem  letzten 
Census  von  1861  unter  überhaupt  563,014  Arbeitern  allein  324,371  weibliche. 

•*)  Berlin,  Decker  1869,  S.  8. 

***)  Bereits  1851  erschien  in  der  Westminster-Review  ein  Aufsatz  der  Gattin 
von  Stuart  Mill  für  das  Enfranchisement  of  Women.  Keuerdings  abgedruckt 
(London,  1867).  Vgl.  dazu  John  Stuart  Miirs  Parlamentsrede  über  denselben 
Gegenstand,  ebenfalls  London  1867  im  Druck  erschienen. 


422  Di«  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

dags  sie  also  zu  einem  kühneren  Selbstbewusstsein  und  einem  uner- 
schrockeneren Verlangen  mehr  Berechtigung  haben.  Um  uns  auf 
England  zu  beschränken,  so  giebt  es  dort  wenige  Gebiete  der  inneren 
Staatsverwaltung,  denen  nicht  die  Theilnahme  und  die  Thatkraft 
englischer  Frauen  Förderung  gebracht  hätte.  Miss  Fry*)  zählt  zu 
den  Reformatoren  des  englischen  Gefängnisswesens;  nächst  Howard 
hat  sie  vielleicht  die  stärksten  Anregungen  zur  Verbesserung  der 
Lage  der  Gefangenen  gegeben.  Frau  Chisholm's  Name  ist  unver- 
gänglich in  der  Geschichte  der  australischen  Colonisation  verzeichnet. 
Ihr  war  es  zu  danken,  dass  auswandernden  Frauen  Schutz  gewährt 
wurde  gegen  Entsittlichung  und  Rohheit  einer  halbverwilderten  Be- 
völkerung. Miss  Mary  Carp enter  zählt  zu  den  gründlichsten 
Kennern  des  Strafanstaltswesens.  Ihre  Hauptschrift  wurde  jenseits 
des  Oceans  nachgedruckt.  Von  der  Wittwe  Lord  Byron 's  unter- 
stützt, gründete  sie  eine  Besserungsschule  für  verwahrloste  Kinder 
in  Bristol,  deren  Einrichtungen  und  Erfolge  allgemein  anerkannt 
sind.  Sie  besuchte  vor  kurzem  Indien  und  untersuchte,  von  den 
Regierungsbehörden  unterstützt,  die  Kerker  Bengalen's.  Sie  versuchte 
durch  Reform  der  Bildungsanstalten  die  Frauen  Indien's  aus  jahr- 
tausendlanger Herabwürdigung  zu  befreien  und  zum  Bewusstsein 
ihrer  menschlichen  Würde  emporzuheben.  Englische  Staatsmänner 
gewähren  ihren  Rathschlägen  Gehör  und  Achtung.  —  Miss  Florence 
Hill  betreibt  die  Einbürgerung  der  in  Mettray  zur  Besserung  jugend- 
licher Verbrecher  befolgten  Grundsätze,  die  Anerkennung  der  in 
Irland  bewährten  Regeln  des  Strafvollzuges,  die  Verbesserung  der 
englischen  Waisenpflege.  Eine  ihrer  Schwestern  wirkt  der  Bettelei 
und  dem  Herumziehen  arbeitsscheuer  Kinder  durch  Anlegung  einer 
Arbeitsschule  entgegen.  Das  Problem  der  Arbeiterwohnungen  wird 
von  Miss  Burdett  Couts  in  drfe  Hand  genommen.  Miss  Louise 
Twining  bemüht  sich  um  die  Verbesserung  der  englischen  Armen- 
hausverwaltung durch  Stiftung  von  Besuchs-  und  Aufsichtsgesell- 
schaften. Miss  Francis  Power  Cobbe  und  Miss  Bessie  Parkes 
erstreben  eine  Reform  des  Gesindewesens.  Ohne  den  Vorwurf 
der  Unweiblichkeit  irgendwie  befürchten  zu  müssen,  begleitet 
die  Gattin  des  berühmten  Reisenden  Baker  den  Forscher  bis  zu 
den   Quellen  des  Nil.     Dass   der  Miss  Nightingale  höchst  bedeu- 


•)  Vgl.  V.  Holtzendorff,  die  Verbesserungen  in  der  gesellschaftliehen  und 
wirthschftftliehen  Stellung*  der  Frauen  (Sammlung  gemeinverständlicher  wissen- 
schaftlicher Vorträge,  Heft  40,  1667),  S..20  ff. 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  423 

teiide  Verdienste  um  die  Verbesserung  der  Krankenpflege  und  des 
Lazarethwesens  zuerkannt  werden  müssen,  ist  keinem  Sachverstän- 
digen zweilelhafL  Ihr  Schajrfblick  entdeckte*  während  des  Krimkriega 
in.  den  Hospitälern  der  englischen  Armee  die  wahren  Veranlassungen 
einer  unerhört  zu  nennenden  Sterblichkeit.  Sie  erkannte,  was  dem 
geübten  Auge  alter  Praktiker  verborgen  geblieben  war,  was  der 
Schlendrian  eines  gewohnheitsmässig  eingeübten  BeamteAthums  über- 
sah, wa£  selbst  ängstlich  gewordene  Aufsichtsbehörden  nicht  zu  ent- 
decken vermochten. 

Die  Verhandlungen  des  alljährlich  zusammentretenden  Congresses 
zur  Förderung  der  socialen  Wissenschaften  legen  davon  Zeugniss  ab, 
was  englische  Frauen  für  die  Reform  mangelhafter  Gesellschafts- 
zustände  leisten  und  wirken. 

Die  Reibe  jener  Namen,  die  nur  beispielsweise  von  mir  ange- 
führt wurden,  liesse  sich  leicht  und  ansehnlich  vermehren ;  es  könnte 
daran  erinnert  werden,  dass  Frauen  insbesondere  der  erzählenden 
LiterSitur  und  dem  Roman  eine  bessere  und  höher  zielende  Rich- 
tung gaben. 

In  diesen  allgemein,  wahrnehmbaren  Thatsachen  liegt  dije  Be- 
gründung jener  Ansprüche  auf  politische  Geltung.  In  England  sind 
die  Frauen  bereits  ein  bedeutender  Factor  des  staatlichen  Lebens, 
und  niemand  vermag  zu  leugnen,  dass  ihre  Leistungen  von  höchstem 
Wenthe  sind.  Es  wäre  ungerecht,  die  Verdienste  deutscher  Frauen 
um  die  Wohlthätigkeitspflege  und  um  gemeinnützige  Angelegenheiten 
zu.  verkennen*  Aber  dieses  Wirken  geschieht  doch  viel  mehr  in 
der  Stille.  — 

Seit  dem  Herbste  1865,  wo  die  Frauenfrage  von  dem  jetzt  ver- 
ewigten hochverdienten  Präsidenten  Lette  im  „Berliner  Central- 
verein  für  das  Wohl  der  arbeitenden  Classen"  angeregt  wurde,  haben 
sich  in  Berlin,  Wien,  Hamburg,  Breslau,  Bremen,  Leipzig,  Hannover 
und  anderen  Orten  Vereine  gebildet,  deren  Zweck  es  ist,  die  Er- 
werbsfähigkeit des  weiblichen  Geschlechts  zu  befördiern. 
Schon  ehe  diese  Vereine  sich  bildeten,  waren  mehrere  als  Schrift- 
stellerinnen bekannte  Frauen,  öfifentlich  zusammengetreten,  um  die 
Beschwerdepunkte  ihres  Geschlechts  zu  besprechen,  indem  sie  davon 
ausgingen,  dass  die  Frauen  selbst  die  öffentliche  Meinung  in  Be- 
wegung zu  setzen  hätten. 

Wie  weit  man  nun  über  die  Grenzen  der  gewohnheitsmässigen 
Ueherlieferung  hinausgehen  soll  und.  darf  —  das  läset  sich  offenbar 
nicht  von  vornherein  genau  bemessen.     Als   wünsehenswertha  und 


424  Die  Frauenbewegung  in  Deutecbland. 

den  Interessen  der  Frauen  entsprechende  Ziele  bat  man  vorzugsweise 
bezeicbnet:  die  Ausbildung  zu  allen  feineren  Kunstgewerben,  zur 
kaufmännischen  Buchführung  und  zum  Handelsbetriebe,  zur  genaueren 
Kenntniss  der  ländlichen  Wirthschaftsmethoden  —  Ziele,  welche  in 
einem  gewissen  Grade  bereits  in  den  bestehenden  Zuständen 
erreicht  sind.  Weiter  aber  wird  verlangt  die  Zulassung  der  Frauen 
zur  ärztlichen  Praxis,  wofür  sich  in  Amerika  <fie  leitenden  Bei- 
spiele finden,  seitdem  durch  ein  Gesetz  des  Staates  Newyork  vom 
Jahre  1863,  und  schon  früher  in  Boston,  besondere  wissenschaftliche 
Unterrichtsanstalten  für  Frauen  eingerichtet  wurden  und  mehrere 
weiblichen  Aerzte  eine  anerkannt  tüchtige  Thätigkeit  entwickeln. 
Endlich  die  Zulassung  zu  gewissen  für  Frauen  besonders,  geeigneten 
Staatsämtern,  wie  Post-  und  Telegraphendienst.*) 

Die  hiermit  zunächst  angestrebten  Ziele  sind  so  massig  gefasst, 
dass  sie  bereits  in  mehr  oder  weniger  zahlreichen  Beispielen  als 
verwirklicht  sich  darstellen.  —  In  Süddeutschland  findet  man  längst 
junge  Damen  in  den  Eisenbahn-  und  Telegraphenbüreaux  thätig; 
weibliche  Aerzte  sind  zwar  bisher  noch  an  keiner  deutschen  Uni- 
versität, wohl  aber  an  der  Züricher  Universität  promovirt  worden; 
auf  eine  neuerdings  ergangene  Anfrage  haben  sich  auch  mehrere 
deutsche  Universität^en  dahin  erklärt,  dass  ihre  Statuten  dem  Col- 
legienbesuche  seitens  des  weiblichen  Geschlechts  nichts  entgegen- 
stellen; in  Heidelberg  studirte  bereits  im  Wintersemester  1868/1869 
eine  russische  Dame  Medicin.  —  Für  die  lebendige  Wirksamkeit 
jener  jungen  Vereine  legt  ein  Ereigniss  der  letzten  Monate  Zeugniss 
ab,  die  Frauenvereins-Conferenz  vom  5.  und  6.  November 
des  vorigen  Jahres  zu  Berlin.  Unter  dem  Vorsitze  des  Pro- 
fessors V.  Holtzendorfi"  traten  hier  Delegirte  der  Vereine  von  Bremen, 
Breslau,  Braunschweig,  Brieg,  Cassel,  Carlsruhe,  Dresden,  Darmstadt, 
Glogau,  Hamburg,  Hannover,  Leipzig,  Wien  und  ferner  von  sieben 
berliner  Vereinen  zusammen,  im  Ganzen  48  Delegirte,  davon  12  Frauen, 
21  Fräulein,  15  Männer.  **)  Es  waren  femer  dazu  erschienen  De- 
legirte aus  Boston,  drei  Frauen  nnd  ein  Mann,  aus  Chicago  ein  Ehe- 
paar, endlich  eine  Frau  aus  Newyork. 

Der  Zweck  dieser  Conferenz  war  in  erster  Reihe  die  Anbahnung 
eines  regelmässigen  Verkehrs  und  Meinungsaustausches  unter  den  in 
Deutschland  und   im   Auslande  bestehenden   Vereinen.     Der  zweite 


•)  Vgl.  V.  Holtzendorff,  S.  32. 

*•}  Vgl.  die  berliner  Frauenvereins-Conferenz  am  5.  und  6.  November  1869. 
Stenograph.  Aufzeiclmung,  Berlin,  1869. 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  425 

Gegenstand  der  Verhandlungen  war  die  Einrichtung  der  für  Frauen 
bestimmten  Fachschulen.^  der  dritte  Gegenstand  die  Arbeits -Nach- 
weisungs- Anstalten  für  Frauen;  ferner  die  Erwerbsgenossenschaflien 
der  Frauen  und  die  Verkaufshallen  für  weibliche  Arbeitserzeugnisse ; 
endlich  die  berufsmässige  Ausbildung  der  Frauen  zur  Krankenpflege 
auch  ausserhalb  der  bestehenden  kirchlichen  Organisationen.  Für  die 
beiden  letzterwähnten  Gegenstände  waren  Schulze-Delitzsch  und 
Virehow  Referenten. 

Sie  sehen,  es  handelte  sich  hier  in  diesem  Mittelpunkte  der  gegen- 
wärtigen deutschen  Bestrebungen  für  die  Erweiterung  des  weiblichen 
Berufes  um  keine  Utopien,  um  keine  fem  liegenden  Wünsche  und 
Träume,  sondern  um  unmittelbar  in  die  Hand  zu  nehmende  oder 
weiter  zu  führende  Maassregeln,  welche  durchaus  an  die  gegebenen 
Zustände  anknüpften.  Ja  man  möchte  mit  etwas  idealen  Ansprüchen 
fast  enttäuscht  sein  durch  die  Prosa  dieses  ausschliesslich  nur  das 
nächste,  alltägliche  ins  Auge  fassenden  Programms.  Um  so  sicherer 
aber  dürfen  wir  überzeugt  sein,  dass  ein  Werk  gethan  wurde,  bei 
welchem  man  vorwärts  kam  und  vorwärts  kommt.  Fürs  erste  ist 
die  Gefahr  viel  grösser,  dass  man  zu  vieles,  zu  fern  liegendes  auf 
einmal  ergreift  oder  ergreifen  will,  als  dass  man  in  zu  engem  Kreise 
stehen  bleibt.  Man  darf  getrost  vertrauen,  dass,  wenn  einmal  die 
Bewegung  in  Gang  gekommen,  es  nach  und  nach  an  einem  be- 
schleunigten Tempo  und  einem  erweiterten  Kreise  der  Ziele  nicht 
fehlen  wird.  Für  den  Anfang  liegt  es  vielmehr  daran,  an  den  nächst- 
liegenden Aufgaben,  in  beschränktem  Kreise  aber  mit  desto  unzweifel- 
hafterem Erfolge,  in  dem  weiblichen  Geschlechte  das  Bewusstsein 
zu  erwecken  und  zu  erhöhen,  dass  es  durch  eine  höchstmög- 
liche Entwickelung  seiner  Anlagen  es  dahin  bringen  muss, 
auf  sich  selber  gestellt,  gleich  dem  männlichen  Geschlechte  einen 
Lebensberuf  würdig  ausfüllen  zu  können. 

Erst,  dann,  auf  solchen  Voraussetzungen,  wird  die  Ehe  in  gleicher 
Gesinnung  und  mit  gleichen  Kräften  von  beiden  Theilen  geschlossen 
werden,  sie  wird  nicht  mehr  der  Endpunkt  bangen  Harrens  und 
einer  inhaltlosen  Passivität  des  Daseins  auf  der  einen  Seite  sein,  der 
Act  überlegener  Wahlfreiheit  auf  der  anderen  Seite.  Der  Beruf 
ausserhalb  der  Ehe  wird  für  das  weibliche  Geschlecht  nicht  mehr 
eine  Niete  in  der  Lotterie  seines  Lebens  sein,  ebenso  wenig  wie  für 
das  männliche  Geschlecht.  — 

Um  von  den  Gegenständen  der  Verhandlungen  der  berliner 
Conferenz  einen  hervorzuheben,  die  Krankenpflege,  welch  edler 


426  Die  Frauenbewegung  in  Deutoohland. 

Beruf,  wie  ganz  gemacht  Mr  die  besten  Anlagen,  die  man  dem  Weibe 
vorzugsweise  zuzuschreiben  gewohnt  ist,  welch  reiches  Feld  zur  Bc- 
tbätigung  eines  wohl  entwickelten  Verstandes,  eines  fein  gebildeten 
Herzens,  sorgsamer  Umsicht  wie  warmen  Mitgefühls  —  und  wie 
ganz  gemacht,  diejenigen  Tugenden  gross  zu  ziehen  und  zu  stärken, 
welche  in  der  Ehe  die  nothwendigsten  sind.  Der  Krieg  des  Jahres 
1866  hat  in  Deutschland  zur  Linderung  des  vielen  Ungemachs,  das 
er  heraufbeschworen,  in  wahrhaft  grossartiger  Weise  die  Aufopferung 
und  Selbstverleugnung  der  deutschen  Frauen  zur  Entfaltung  gebracht. 
Was  man  bis  dahin  für  eine  Mission  gehalten,  welche  nur  die  engere 
Familienliebe  oder  eine  höhere  religiöse  Begeisterung  einzuflössen 
vermöge  —  den  Beruf  zur  Pflege  von  Kranken  und  Verwundeten  — 
den  erfüllten  nun  hunderte  und  tausende  mit  rücksichtsloser  Hin- 
gebung. Von  verschiedenen  Punkten  her  hat  man  sich  bemüht,  den 
Eifer  für  diese  Sache  nicht  mit  dem  grossen  Augenblicke,  für  den  er 
sich  entflammte,  verlöschen  zu  lassen.  In  Darmstadt  unter  anderem 
ist  durch  besondere  Mitwirkung  der  Gattin  des  Thronfolgers  (der 
zweiten  Tochter  der  Königin  Victoria)  ein  Verein  für  Krankenpflege 
und  zur  Ausbildung  von  Krankenpflegerinnen  ins  Leben  gerufen 
worden,  welcher  in  den  wenigen  Jahren  seines  Bestehens  die  erfreu- 
lichsten Resultate  geliefert  hat.  Actives  Mitglied  des  Vereins  ist 
jede  in  der  Krankenpflege  vollständig  ausgebildete  Pflegerin,  welche 
dieselbe  entweder  als  Lebens-  und  Erwerbsberuf  ausübt  oder  sich 
zur  zeitweisen  Aushülfe  in  Noth-  und  Kriegsfällen  verpflichtet  hat. 
Die  sämmtlichen  gegenwärtigen  activen  Mitglieder  gehören  den  ge- 
bildeten Ständen  an.  Für  die  mütterliche  Sorgfalt  und  Stütze,  welche 
den  Pflegerinnen  seitens  des  Vereins  zu  Theil  wird,  sind  sie  dem 
Comit^  zur  strengsten  Pflichterfüllung  verbunden  und  geloben  ihm 
bei  ihrer  Anstellung  feierlichst  pünktliches  Befolgen  der  ärztlichen 
Vorschriften  und  Anordnungen,  sowie  für  alle  Zeiten  ein  unverbrüch- 
liches Stillschweigen  in  Bezug  auf  alles,  was  sie  während  der  Aus- 
übung der  Pflege  in  der  Familie  des  Patienten  sehen  und  hören.  — 
Es  ist  bekannt,  wie  viele  Kranke  Anstoss  an  deli  ernsten  Ordens- 
trachten der  sonst  aus  den  Klöstern  oder  ähnlichen  Anstalten  zur 
Pflege  gestellten  barmherzigen  Schwestern  nehmen  und  dadurch  oft 
in  hohem  Grade  beunruhigt  werden.  Die  Damen  jenes  Vereins  kenn- 
zeichnet nur  eine  Busennadel  mit  dem  rotben  Kreuze  der  Johanniter. 
Und  nicht  blos  durch  keine  Ordenstracht,  auch  im  Wesen  der  Sache 
sind  sie  in  keiner  Weise  vom  Leben  abgetrennt:  in  den  Pausen,  die 
ihnen  zur  Erholung  gegönnt  sind,  haben  sie  Gelegenheit,  ein  gutes 


Die  Frauenbewegung  in  Deutscnland.  427 

Concert,  eine  Theatervorstellung  oder  Freunde  zu  besuchen,  Leetüre 
nach  ihrer  Wahl  vorzunehmen;  dies  bietet  ihnen  Stofif  genug  zur 
Unterhaltung  und  Aufmunterung  der  Patienten  und  Reconvalescenten. 
—  Eine  höhere  geistige  Weihe  empfängt  die  Berufspflegerin  jenes 
Vereins  durch  die  wissenschaftliche  Ausbildung,  welche  man  zui* 
Grundlage  ihres  Wirkens  zu  machen  mehr  und  mehr  anstrebt.  Schon 
seit  dem  Bestehen  des  Vereins  hat  zweimal  monatlich  während  des 
Winters  eine  Anzahl  von  Aerzten  populäre  Vorträge  für  Damen  ge- 
halten, über  Gesundheitspflege,  Ernährungsmittel,  die  bekanntesten 
Kinderkrankheiten,  den  Bau  und  die  Functionen  des  menschlichen 
Körpers  u.  s.  w.  Diese  Vorträge  haben  vielfach  unter  der  Frauen- 
welt das  Interesse  für  Dinge  erregt,  die  so  höchst  wichtig  sind  und 
doch,  so  nahe  sie  liegen,  in  der  Regel  den  Damen  so  fremd  sind  wie 
ein  femer  Weltkörper.  Aus  diesen  Vorträgen  sind  reguläre  wissen- 
schaftliche Curse  hervorgegangen:  über  Anatomie  und  Physiologie 
des  menschlichen  Körpers  mit  Demonstrationen  und  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der  praktischen  Bedürfnisse  der  Krankenpflege; 
weiter  über  allgemeine  Krankheitslehre  und  Krankenbehandlung  mit 
besonderer  Rücksicht  auf  die  häufigsten  und  wichtigsten  Krankheiten; 
dann  über  öffentliche  Gesundheitspflege,  Einfluss  der  Nahrung, 
Wohnung  u.  s.  w.;  endlich  über  die  Aufgabe  der  freiwilligen  Kranken- 
pflege im  Kriege,  über  die  hauptsächlichsten  Verletzungen  und  ihi'e 
Behandlung,  dann  Beschaffung  von  Verbandmaterial  und  praktische 
Uebung  in  der  Verbandlehre. 

Diese  kleine  ärztliche  Akademie  für  Damen  hat  ihren  Sitz  in 
dem  städtischen  Hospital  aufgeschlagen  und  wird  nicht  nur  von  den 
activen  Mitgliedern,  sondern  auch  von  einer  ziemlichen  Anzahl  der 
inactiven  Mitglieder  des  Vereins  besucht.  *) 

Der  erwähnte  Anfang  ist  einer  der  zahlreicheh  möglichen  und 
zum  Theile  verwirklichten  Anfänge.,  die  gebundenen  Kräfte  des  weib- 
lichen Geschlechts  zu  entfesseln,  der  weiblichen  Thätigkeit  zum 
eigenen  Heile  und  zum  Heile  der  Gesammtheit  Raum  zu  bereiten. 
Je  weiter  sich  in  dieser  Richtung  der  Gesichtskreis  erweitert,  je  all- 
gemeiner die  Ueberzeugung  von  den  ernsten  Zwecken  des  Lebens 
durchdringt,  um  so  gründlicher  wird  mit  der  bisher  vielfach  üblichen* 
Oberflächlichkeit  und  Leichtfertigkeit  der  weiblichen  Bildung  ge- 
brochen werden :  denn  man  wird  einsehen ,  dass  diese  Art  von  Bil- 
dung für  keinen  ernsten  Zweck  ausreicht.     Nicht  in  ein  paar  Jahren, 


*)  Berliner  Frauen vereins-Conferenz,  S.  97  ff. 


428  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

auch  nicht  in  einem  Menschenalter  wird  sich  der  ganze  Umschwung 
vollziehen  •,  wie  lange  es  dauert,  wie  weit  es  in  dem  oder  dem  Zeit- 
raum geht,  das  lässt  sich  nicht  votausbestimmen.  Nur  so  viel  er- 
scheint  sicher:  je  mehr  und  mehr  wird  die  Vorbereitung  des  weib- 
lichen Geschlechtes  für  das  Leben,  die  Entwickelung  seiner  Anlagen 
durch  die  Mittel  der  Bildung  und  Erziehung  sich  demjenigen  anzu- 
nähern haben,  was  fiir  das  männliche  Geschlecht  theils  besteht,  theils 
als  nothwendig  anerkannt  wird.  Eine  Bildung  für  junge  Damen, 
eine  Philosophie  für  Damen,  eine  Wissenschaft;  für  Damen,  ist  eben 
ein  Irrthum  an  sich,  hervorgewachsen  aus  den  bestehenden  mangel- 
haften  Zuständen  der  weiblichen  Bildung. 

Eine  solche  fundamentalere  Wendung  der  Dinge  ist  in  Deutsch- 
land bis  jetzt  noch  nicht  eingetreten:  anderswo  ist  sie  es.  In  den 
Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  hat  vor  einigen  Jahren  ein 
schlichter  Bürger  der  Union,  Matthew  Vassar,  *)  welcher  in  einem 
langen  Geschäftsleben  ansehnlichen  Reichthum  erworben,  einen  be- 
deutenden Theil  seines  Vermögens  (mehr  als  eine  halbe  Million 
Dollar)  darauf  verwandt.^  eine  Anstalt  zu  gründen,  welche  für  das 
weibliche  Geschlecht  dasselbe  leisten  sollte,  was  Akademien  für  junge 
Männer  leisten,  nämlich  ihnen  eine  gründliche,  harmonische  und 
liberale  Bildung  zu  gewähren.  Bei  Poughkeepsie,  einer  romantisch 
am  Hudson  gelegenen  Stadt  im  Staate  Newyork,  erhebt  sich  seit 
dem  Jahre  1865  das  schlossähnliche  im  Tuilerienstile  gebaute 
Vassar-College.  Dasselbe  liegt  in  der  Mitte  von  weiten  park- 
ähnlichen Anlagen;  500  Fuss  lang  und  4  Etagen  hoch  bietet  es 
Raum  für  500  Studirende  und  nahezu  40  Professoren.  Kaum  ins 
Leben  getreten  hat  es  für  diesen  Raum  auch  Bewohnerinnen  gefunden. 
In  Amerika  glauben  -die  Eltern  nicht,  dass  es  genug  sei,  ein  Mäd- 
chen bis  zu  seiner  Einsegnung  in  eine  höhere  Töchterschule  zu 
schicken,  sie  dann  zum  Ueberfluss  noch  ein  wenig  in  Musik  und 
neuen  Sprachen  unterrichten  zu  lassen,  damit  endlich  mit  17  Jahren 
die  Erziehung  für  vollendet  erklärt  werden  kann,  in  einem  Alter, 
wo  der  Geist  erst  reif  genug  ist,  um  mit  dem  rechten  Lernen  zu 
beginnen.  In  Amerika  ist  es  der  Ehrgeiz  des  geringsten  wie  des 
^'  reichsten  Mannes,  seinen  Kindern,  und  zwar  den  Töchtern  wie  den 
1  Söhnen,  eine  möglichst  vollkommene  Erziehung  zu  geben,  eine  Mit- 
gift fürs  Leben,  welche  ihnen  kein  Glückswechsel  rauben  kann;  und 


•)  Vgl.  den  Artikel  über  „Vassar-College"  in  „Unsere  Zeit",  1870,  S.  269  ff., 
(Heft  4). 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  429 

diesem  Ehrgeize  bringen  sie  freudig  die  unvermeidlichen  Opfer,  der 
Aermere  das  oft  nicht  leicht  erschwingbare  Geld,  der  Reiche  wie 
der  Aermere  die  jahrelange  Entbehrung  des  geliebten  Kindes  von 
dem  Hause,  in  dem  es  bis  zum  20.  Jahre  und  länger  nur  als  Ferien- 
gast erscheint.  Der  Gründer  des  Vassar-College  war  der  Ansicht, 
dass  der  weibliche  Geist  dieselbe  Fähigkeit  und  dieselbe  Berechtigung 
zur  Ausbildung  wie  der  männliche  habe,  und  er  wollte  helfen,  ihm 
durch  solche  Ausbildung  alle  diejenigen  Vorzüge  zu  verschaffen, 
welche  bisher  das  eine  Geschlecht  allein  besessen.  Er  hielt  die 
höhere  Bildung  der  Frauen  schon  deshalb  für  eine  Sache  von  der 
grössten  Wichtigkeit,  weil,  abgesehen  von  jedem  anderen  möglichen 
Berufe,  sie  unabänderlich  den  nothwendigen  Beruf  haben,  die  Mütter 
zu  sein  des  heranwachsenden  Geschlechts,  die  Erzieherinnen  der 
Bürger  einer  freien  Nation.  —  In  das  Vassar-College  dürfen  nur 
solche  junge  Mädchen  zugelassen  werden,  welche  mindestens  15  Jahre 
alt  sind.  Das  gesammte  Studium  zerfällt  dort  in  zwei  geschiedene 
Curse,  erstens  den  classisch-philosophischen  Curs  und  zweitens  den- 
jenigen für  Naturwissenschaften  und  neuere  Sprachen.  Dem  Eintritt 
in  jeden  von  beiden  geht  eine  Prüfung  voraus  und  zwar  in  folgenden 
Gegenständen  gemeinsam:  Cäsar  vier  Bücher,  Cicero  vier  Reden, 
Virgil  sechs  Bücher,  sowie  die  ganze  lateinische  Grammatik;  ausser- 
dem höhere  Algebra,  Rhetorik  und  allgemeine  Weltgeschichte. 

Das  Studium  jedes  der  beiden  Curse  ist  auf  vier  Jahre  bemessen; 
am  Schlüsse  derselben  wird  ein  Diplomexamen  gemacht.  Der 
Studiengang  und  die  in  jedem  Jahre  zu  hörenden  Fächer  sind  fest 
vorgeschrieben,  erst  im  dritten  und  vierten  Jahre  tritt  einige  Freiheit 
der  Auswahl  ein. 

Die  Fächer  des  classischen  Cursus  sind  folgende:  Erstes  Se- 
mester: Livius,  lateinische  Aufsätze,  griechische  Syntax  und  griechische 
Aufsätze,  höhere  Algebra,  englische  Aufsätze.  Zweites  Semester: 
Cicero  de  senectute  und  de  amicitia,  lateinische  Aufsätze,  Homer's 
Iliade,  sechs  Bücher,  griechische  Grammatik  und  Aufsätze,  Geo- 
metrie, englische  Stilübungen.  Drittes  Semester:  Sophokles  Ajax, 
griechische  Aufsätze,  Trigonometrie,  Rhetorik.  Viertes  Semester: 
Horaz's  Oden  und  de  arte  poetica^  Aeschylus  Agamemnon,  grie- 
chische Aufsätze,  Botanik  und  Zoologie,  im  Englischen  etymo- 
logische Uebungen.  Fünftes  Semester:  Tacitus'  Germania  und-4^W- 
cola,  französische  Grammatik,  Physik,  Geologie  und  physikalische 
Geographie,  Logik  und  Nationalöionogiie,  Vorlesungen  über  die 
Geschichte  der  englischen  Sprache.  Sechstes  Semester:  Molifere's 
Baltische  Monatsschrift.  K.  Folge.  Bd.  I,  Heft  9  u.  10.  29 


430  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

Tartuffe  oder  Racine's  Athalie,  Plato's  Phädon,  analytische  Geo- 
metrie, Physik  letzter  Theil,  englische  Literaturgeschichte.  Sieben- 
tes Semester:  Metaphysik,  Anatomie,  Chemie,  Astronomie,  Deutsch, 
Italienisch;  Cicero's  Tusculanen;  endlich  achtes  Semester:  Moral- 
philosophie, Physiologie,  Astronomie,  Goethe's  Iphigenie,  Dante, 
griechische  Lyriker. 

Die  Fächer  des  Cursus  der  Naturwissenschaften  und  neueren 
Sprachen  sind  folgende:  Erstes  Semester:  Livius,  lateinische  Auf- 
sätze, französische  Grammatik,  Scribe  und  Racine,  höhere  Algebra, 
englische  Aufsätze.  Zweites  Semester:  Cicero  de  senectute  und  de 
amicitia^  lateinische  Aufsätze,  französische  Lexikologie,  Racine  und 
Souvestre,  Geometrie,  Botanik  mit  Excursionen,  englische  Stil- 
übungen. Drittes  Semester:  französische  Syntax  und  Uebungen, 
Corneille,  Trigonometrie,  Geologie  und  Mineralogie  verbunden  mit 
Uebungen  im  Laboratorium  und  Excursionen,  englische  Aufsätze. 
Viertes  Semester:  deutsche  Grammatik,  französische  Lexikologie, 
Molifere  und  Töpffer,  analytische  Geometrie,  Zoologie  mit  Arbeiten 
im  Laboratorium.  Fünftes  Semester:  deutsche  Grammatik,  Schil- 
ler's  Wilhelm  Teil,  französische  Stilistik  und  Literaturgeschichte, 
Physik  und  physikalische  Geographie,  .Astronomie.  Sechstes  Se- 
mester: deutsche  Grammatik  (Schluss),  Schiller's  Wallenstein,  fran- 
zösische Grammatik  (Schluss),  freie  Ausarbeitungen,  Astronomie  und 
Physik  (letzter  Theil),  englische  Literaturgeschichte.  Siebentes 
Semester:.  Metaphysik,  Anatomie,  Chemie,  sphärische  Astronomie; 
im  Deutschen  Goethe's  Torquato  Tasso  und  freie  Ausarbeitungen, 
italienische  Grammatik  und  Leetüre,  Logik  und  Nationalökonomie. 
Achtes  Semester :  Moralphilosophie ,  Physiologie ,  Astronomie, 
deutsche,  französische  und  italienische  Literatur. 

Für  diejenigen,  welche  nach  Vollendung  des  vierjährigen  Cursus 
ihre  Bildung  noch  ferner  vervollständigen  wollen,  ist  ein  fünftes  Jahr 
hinzugethan,  während  dessen  die,  zuvor  etwa  ausgelassenen  Studien 
aufgenommen,  sowie  auch  Specialstudien  unter  besonderer  Leitung 
des  Fachprofessors  vorgenommen  werden  können.  —  Diejenigen 
jungen  Damen,  welche  den  regulären  Cursus  absolviren,  erhalten  ein 
Diplom  des  ersten  Grades  oder  des  Baccalaureats ;  diejenigen,  welche 
einen  weiteren  Curs  nach  Erlangung  des  ersten  Grades  daran  knüpfen, 
erhalten  ein  Diplom  des  zweiten  Grades. 

Das  Lehrpersonal  setzt  sich  zu  ansehnlichem  jTheile  aus  Damen 
zusammen;  an  der  Spitze  steht  neben  dem  Director,  der  zugleich 
Professor  der  Philosophie,   die  Vorsteherin  (Lady  Principal);  neben 


Die  Frauenbewegung  in  Deutschland.  481 

ihr  stehen  für  folgende  Fächer  weibliche  Professoren :  für  AstrT>nomie 
und  die  Leitung  des  Observatoriums,  für  Physiologie  und  Hygiene 
(zugleich  Arzt  der  Anstalt),  für  das  Turnen,  für  Latein  (2),  für 
Mathematik,  .für  Naturwissenschaft,  für  Musik  (8),  für  Qesang,  für 
englische  Sprache  und  Literatur  (4),  für  griechische  Sprache,  filr 
deutsche  Sprache  und  Literatur,  für  französische  Sprache  (2),  für 
Botanik,  für  die  Bibliothek;  d.  h.  im  Ganzen  26  Lehrkräfte  weib- 
lichen Geschlechts  neben  6 — 8  Lehrern  männlichen  Geschlechts.  Unter 
den  Lehrkräften  namentlich  unter  den  Damen  sind  mehrere  Deutsche. 

Die  Musik  wird  fleissig  cultivirt  und  es  wird  darin  wahrhaft 
Respectables  geleistet:  namentlich  wird  die  deutsche  Musik  bevor- 
zugt, von  den  alten  Meistern  bis  auf  die  neuesten,  Schumann  und 
Franz.  —  Neben  den  geistigen  Studien  wird  die  Entwickelung  des 
Körpers  durch  Turnen ,  Reiten ,  Bootfahren ,  Schlittschuhlauf  eifrig 
befördert :  an  den  Turn-  und  Reitübungen  sind  alle  Studirenden  ver- 
pflichtet sich  zu  betheiligen. 

In  den  wenigen  Jahren  sind  die  freien  Vereinigungen  der  jungen 
Damen  zu  ansehnlicher  Blüthe  gelangt:  da  besteht  eine  Gartenbau- 
gesellschaft, eine  französische  Gesellschaft.  Mit  besonderer  Liebe 
aber  erfasst  man  die  deutsche  Literatur;  das  Motto  des  Cursus  des 
vierten  Jahres  in  den  Studienjahren  1868—1869  war  Goethe's  „Mehr 
Licht**,  jedes  Mitglied  trug  diesen  Wahlspruch  auf  goldener  Nadel 
in  Emaille  an  der  Brust.  An  den  deutschen  Abenden  wurden 
Scenen  aus  goetheschen  und  schillerschen  Dramen  aufgeführt.  Con- 
certe  von  bedeutendem  künstlerischem  Werthe  erhöhen  die  Feier 
der  festlichen  Tage  des  Jahres.  Den  feierlichsten  Augenblick  aber 
bietet  der  letzte  Tag  des  Studienjahres,  wenn  die  jungen  Damen  wie 
Bräute  in  Weiss  gekleidet  über  die  Plattform  schreiten,  um  aus  der 
Hand  des  Directors  ihre  Diplome  zu  empfangen,  den  Lohn  ernsten 
Strebens,  Freibriefe  für  ein  Leben  mit  würdigem  Inhalt,  mit  höher 
verstandenem  Beruf. 

So  viel  über  das  Vassar-College.  Ein  so  erfreulicher  Vorgang 
^  dieses  Institut  ist,  es  fehlt  viel,  dass  dieses  oder  etwas  der  Art  das 
Letzte  und  Höchste  sei,  was  für  die  höhere  Entwickelung  des  weib- 
lichen Geschlechts  geleistet  werden  kann.  Es  ist  nur  ein  Schritt 
weiter  auf  einem  Wege,  auf  welchem  in  eine  unbegrenzte  Ferne 
der  Fortschritt  weist,  in  eine  Ferne,  deren  Aussicht  erst  die  Zuver- 
sicht gewährt,  welche  in  dem  eng  bemessenen  Räume  des  einzelnen 
Daseins  so  leicht  ermattet.  — 

29* 


432  Die  Frauenbewegung  in  Deutschland. 

Ich  Bchliesse  mit  einer  captath  benevolentiae  bei  den  Damen: 
besser  hätte  ich  damit  vielleicht  beginnen  sollen.  Sie  mögen,  meine 
Damen,  huldvoll  verzeihen,  wenn  in  allem,  was  ich  hier  gesagt, 
wenig  Galantes  gesagt  worden;  Sie  mögen  es  entschuldigen  durch 
die  Nothwendigkeit,  welche  von  der  Wissenschaft  die  Wahrheit  allein 
und  nicht  die  Galanterie  verlangt;  Sie  mögen  aber  die  freundliche 
Gewissheit  mitnehmen,  dass  derjenige,  welcher  so  gesprochen,  soviel 
als  irgend  einer  alle  das  Schöne  und  Beseligende,  welches  unserem 
Geschlechte  durch  das  Ihrige  bereitet  wird,  hochhält  und  verehrungs- 
voll bewundert.  Suchen  Sie,  wenn  mein  schwaches  Können  nicht 
vermocht  hat  eine  Harmonie  zwischen  uns  herzustellen,  in  schönerer 
Form  den  Kern  dessen,  was  ich  Ihnen  habe  sagen  wollen,  in  dem 
anmuthigen  Gedicht  Paul  Heyse's^J;  was  darin  enthalten  ist, 
kommt  wesentlich  auf  eines  hinaus  mit  dem  Ihnen  heute  in  nüch- 
terner Prosa  Vorgetragenen.  —  — 

Einer  captatio  benevolentiae  bedarf  es  n  i  c  h  t  gegenüber  jenem 
männlichen  Philisterthum,  welches  sich  allerorten  den  wohl- 
feilen Beifall  zu  gewinnen  weiss,  der  dem  gedankenlosen  Wider- 
streben wider  das  Neue  und  Bessere  sicher  ist.  — 


*)  Frauen  -  Emancipation    in    dessen   „Gesammelte   Novellen   in   Yersen^, 
Berlin,  1870. 


Winkeimann  und  Reinhold  von  Berg. 


Im  Leben  Winkelmann's.  dieses  grossen  Kenners  der  Kunst  und  der 
Schönheit  haben  die  Frauen,  die  ^ir  gern  als  die  natürlichen  Verbünde- 
ten der  Musen  betrachten,  wie  es  scheint  keine  besonders  einflussreiche 
Rolle  gespielt.  Unter  den  zahlreichen  Briefen,  die  uns  von  Winkelmann 
erhalten  sind,  ist  ein  einziger  an  eine  Frau  adressirt,  und  von  die- 
sem, den  Winkelmann  als  Vierzigjähriger  an  die  Gattin  des  Malers 
Mengs  richtete,  gesteht  er  selbst:  e  la  prima  lettera  acritta  dl  hei  aesao. 
Von    Angelegenheiten    der    Liebe   und   der   leidenschaftlichen    Auf- 
regungen, mit  denen   sie,  wie  man   glaubt,   Naturen  von  lebhafter 
ästhetischer  Reizbarkeit  am  sichersten  bedroht,   hat  die  Biographie 
Winkelmann's  nichts  zu  berichten.     Am  meisten  befriedigte  sich  sein 
persönliches  Empfinden  in  den  Beziehungen  der  Freundschaft.    Göthe 
deutet  in  der  berühmten  Charakteristik  Winkelmann's  an,  dass  auch 
hierin  bei  den  classischen  Interpreten  des  Alterthums  ein  Zug  innerer 
Gefühlsverwandtschaft   mit  der  Sii^nesart  der  antiken  Welt  zu  er- 
kennen sei.     Das  Verhältniss  zu  den  Frauen  im  Alterthum,  das  ge- 
recht zu  würdigen   nicht  eben  leicht  fällt,  erinnert  sehr  wenig  an 
den   leidenschaftlichen  Cultus,  den  die   Stimmung   der  neueren  Zeit 
den  Frauen  gegenüber  begünstigt  hat;  jedenfalls   erhob  es  sich  nie- 
mals so  hoch  als   die  Freundschait  unter  Männern  und  Jünglingen, 
die  ja  in   vielfachen,    berühmt  gewordenen  Beispielen   Gegenstand 
dichterischer  Verherrlichung  war.     Dem  ethischen  Moment  gesellte 
sich  in  dem  begeisterten  Gefühl  solcher  Freundschaft  gern  ein  anderes 
ästhetischer  Art,  welches  dießem  Gefühl  einen  eigenthümlichen,  mit 
der  Poesie  der  Liebe  in(i   edelsten  Sinne   verwandten  Reiz  verlieh. 
Jene  classi^che  Freundschaft  des  Sokrates  und  Alcibiades  würden  wir 
in   der  .That   unrichtig   beurtheilen,    wenn    wir   den  Antheil  dieses 
ästhetischen   Momentes    übersähen:    in    der   Neigung,    welche    den 
„Weisesten  der  Griechen**   mit  dem  schönsten  Jüngling  Athens  ver- 
band, war  mit  einem  tief  sittlichen,  in  gewissem  Sinne  pädagogischen 


434  Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg. 

Interesse,  dem  eigentlich  „sokratischen^,  das  eüthusiastische  Interesse 
jener  Liebe  vereinigt,  von  welcher  Plato  spricht,  wenn  er  die  An- 
schauung des  Schönen  und  seiner  begeisternden  Wirkungen  schildert. 
Eine  merkwürdige  Aeusserung  Winkelmann*s,  welche  in  dem  Schön- 
heitsideal der  Antike  den  Typus  männlicher  Schönheit  als  den  be- 
vorzugten bezeichnet,  muss  in  diesem  Zusammenhang  von  besonderem 
Interesse  erscheinen.  „Bei  denen,  sagt  er,  welche  hauptsächlich  auf 
Schönheiten  des  weiblichen  Geschlechts  aufmerksam  sind  und  durch 
Schönheiten  in  unserem  Geschlecht  wenig  oder  gar  nicht  gerührt 
werden,  wird  die  Empfindung  des  Schönen  nicht  leicht  eine  lebhafte 
und  wirklich  eingeborene  sein.  Das  Verstäodniss  in  der  Kunst  der 
Griechen  wird  bei  diesen  mangelhaft  bleiben,  da  die  grössten  Schön- 
heiten derselben  mehr  von  unserem,  als  von  dem  anderen  Ge- 
schlecht sind." 

Wie  tief  in  Winkelmann  das  Bedürfniss  der  Freundschaft  lebte, 
wie  er,  nach  Goethe's  Worten,  sein  eignes  Selbst  nur  unter  der  Form 
der  Freundschaft  empfand,  bezeugen  in  oft  ergreifender  Weise  schon 
einige  seiner  Briefe  aus  früher  Zeit.  Es  war  in  dieser  Jugendepoche 
ein  vielleicht  unwürdiger  Gegenstand;  aber  er  widmete  sich  ihm 
mit  der  ganzen  Leidenschaft  seiner  Empfindung,  ,jer  fand  für  ihn 
selbst  in  seiner  Armuth  Mittel  reich  zu  sein,  zu  geben,  aufzuopfern, 
ja  er  zweifelte  nicht,  sein  Dasein,  sein  Leben  für  ihn  zu  verpfänden.** 
Wie  auch  das  äussere  Schicksal  wechselte,  das  edle  Bedürfniss  dieser 
Hingebung,  die  stets  mehr  schenkte  als  sie  empfing,  erhielt  sich  ihm 
dauernd  in  gleicher  Lebendigkeit  und  Wärme.  In  reichem  Maasse 
beweisen  dies  die  mannigfachen  freundschaftlichen  Beziehungen,  in 
denen  sich  später,  namentlich  in  der  römischen  Zeit,  sein  Leben 
schön  und  glücklich  erweiterte.  Kein  Verhältniss  aber  unter  a,llen 
verdient  so  sehr  den  Namen  einer  idealen  Freundschaft  in  jenem 
antiken  Sinne,  als  das  zu  dem  livländischen  Edelmanne  Reinhold 
von  Berg.  *) 


•)  Friedrich  Reinhold  von  Berg,  jüngster  Sohn  des  Landraths  Gott- 
hard  Wilhelm  v.  Berg  auf  Erlaa  und  Sepküll  und  der  Eva  Helene,  geb.  v.  Hel- 
mersen,  welche  24  Kinder  hatte,  Enkel  des  Herrn  auf  Luist  und  Kattentak  in 
Estland  Gustav  v.  Berg  und  der  Agnese  Wilhelmine  geb.  von  der  Pahlen,  war 
geboren  den  26.  October  1736,  starb  den  5.  Januar  1809  als  Hofgerichtspräsident, 
Geh.-Rath  und  Ritter;  verheirathet  mit  Eatharine  Dorothea  Baronesse  von  Campen- 
hausen,  Miterbin  von  Rodenpois.  Die  Söhne  derselben  sind:  1)  Christoph 
Wilhelm,  geb.  den  17.  October  1765,  Artillerie-Mcgor,  verheirathet  mit  Amalie 
Margarethe  Baronesse  v.  Weissmann,  welche  ihm  Fistehlen  zubrachte.  Er  besass 
ausserdem  bis  1829  Rüssel  bei  Lemsal  und  seit  1820  Meyershof  bei  Wenden.  Die 


Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg.  435 

Rom  gab  diesem  Verhältniss  seine  classische  Weihe.  Hier,  wo 
Winkelmann  schon  seit  längerer  Zeit  eine  zweite  Heimat  gefunden 
hatte,  lernte  er  den  um  20  Jahre  jüngeren  Mann  —  er  selbst  war 
45  Jahre  alt  —  im  Frühling  1762  kennen.  Nur  kurze  Frist,  nur 
einen  Monat  verweilte  jener  in  Rom;  abei*  diese  kurze  Zeit  des 
persönlichen  Umgangs  genügte,  um  ein  ebenso  inniges,  als  dauerndes 
Verhältjiiss  zu  begründen.  Obschon  Winkelmann  den  schönen  jungen 
Freund,  den  wir  mit  grösserem  Recht  seinen  Liebling  nennen  dürfen, 
niemals  in  seinem  Leben  wiedersah,  so  blieb  doch  die  leidenschaft- 
liche Neigung,  die  er  seit  den  Tagen  der  ersten  Bekanntschaft  für 
ihn  empfand,  unverändert,  und  büsste  nichts  ein  von  ihrer  ursprüng- 
lichen Wärme.  Die  an  denselben  gerichteten  Briefe,  die  zu  den 
interessantesten  Documenten  von  Winkelmann's  Leben  gehören,  sind 
von  einer  seltenen  Idealität  und  Jugendlichkeit  der  Empfindung,  voll 
zärtlicher  Hingebung,  enthusiastisch  bis  zur  Schwärmerei.  Der 
Name  Freundschaft  will  zu  kühl  erscheinen  für  diese  begeisterte, 
ihren  Gegenstand  zum  Ideal  verherrlichenden  Liebe. 

Eine  schöne  Befriedigung  war  es  für  Winkelmann's  Gefühl,  den 
jungen  Freund  fortdauernd  an  dem  geistigen  Erwerb  des  eigenen 
Lebens  theilnehmen  zu  lassen,  auf  die  Entwickelung  seiner  reichbe- 
gabten Natur  durch  Rath  und  Lehre  fördernd  einzuwirken.  Die 
Schrift  über  die  Fähigkeit  der  Empfindung  des  Schönen  in  der  Kunst 
verdankt  wesentlich  dieser  Freundschaft  ihre  Entstehung.  Winkel- 
mann widmete  sie  dem  Freunde  mit  einer  Zuschrift,  .die  mit  fol- 
genden Worten  schliesst: 


Ehe  blieb  kinderlos.  2)  Balthasar  Dietrich,  geb.  den  21.  November  1766, 
gest.  zu  Walk  den  10.  December  1839,  Landrath,  designirter  Hofgerichtsprä- 
sident etc.  (Seine  Biographie  von  Th.  Beise  in  den  Mittheilungen  aus  der  liv- 
ländischen  Geschichte,  Bd.  II,  S.  192  ff.).  Verheirathet  mit  Charlotte  Bayer 
von  Weissfeldt,  wurde  er  Vater  dreier,  noch  unverheiratheter  (?)  Töchter.  Er 
besass  Posendorf,  seine  Gemahlin  Könhof.  3)  Friedrich  August,  geb.  den 
1.  März  1768,  Oberlandgerichts- Assessor.  Verheirathet  1794  mit  Katharine  Elisa- 
beth Baronesse  Budberg.  Kinder:  a.  Gotthard,  geb.  den  9.  November  1798  (Dr. 
med.  auf  WohlfahrtslindeJ.  b.  Sophie  Charlotte  Amalie,  geb.  den  23.  September 
1801.  -A)  Ernst  Reinhold,  geb.  den  19.  Juli  1771,  Herr  von  Neu-Salis  seit 
1800,  besass  auch  Kadfer,  welches  aber  sein  Vater  schon  1806  an  D.  v.  Zimmer- 
mann verkaufte.  Verheirathet  mit  Henriette  Gertrud  Wilhelmine  von  Rauten- 
feld. Zwei  Töchter :  Dorothea  Charlotte  Henriette,  geb.  1803  und  Sophie  Henri- 
ette, geb.  1809.  Eine  Tochter  Friedrich  Reinhold  v.  Berg's  und  der  Baronesse 
von  Campenhausen:  Sophie  Julianne  Katharine,  geb.  den  6.  Juni  1774,  war  ver- 
heirathet an  Landrichter  Otto  Christoph  Baron  Budberg  (geb.  1771,  gest.  1857). 


436  Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg. 

„Der  Inhalt  dieser  Schrift  ist  von  Ihnen  selbst,  hergenommen. 
Unser  Umgang  ist  kurz  und  zu  kurz  für  Sie  und  für  mich  gewesen; 
aber  die  Uebereinstimmung  der  Geister  meldete  sich  bei  mir,  da  ich 
Sie  das  erste  mal  erblickte.  Ihre  Bildung  liess  mich  auf  das,  was 
ich  wünschte,  schliessen,  und  ich  fand  in  einem  schönen  Körper  eine 
zur  Tugend  geschaflfene  Seele,  die  mit  der  Empfindung  des  Schönen 
begabt  ist.  Es  war. mir  daher  der  Abschied  von  Ihnen  einer  der 
schmerzlichsten  meines  Lebens,  und  unser  gemeinschaftlicher  Freund*) 
ist  Zeuge  davon,  auch  nach  Ihrer  Abreise,  denn  Ihre  Entfernung 
unter  einen  entlegenen  Himmel  lässt  mir  keine  Hoffnung  übrig,  Sie 
wiederzusehen.  Es  sei  dieser  Aufsatz  ein  Denkmal  unserer  Freund- 
schaft, die  bei  mir  rein  ist  von  allen  ersinnlichen  Absichten,  und 
Ihnen  beständig  unterhalten  und  geweiht  bleibt." 

Im  Uebrigen  kennzeichnet  sich  der  Charakter  dieser  seltenen 
Freundschaft  am  besten  durch  Winkelmann's  Briefe,  deren  haupt- 
sächlichen Inhalt  wir  in  Nachfolgendem  mittheilen. 

Der  erste  Brief  ist  bald  nach  des  Freundes  Abreise  von  Rom 
geschrieben,  er  datirt  vom  9.  Juni  1762  und  ist  nach  Florenz 
adressirt,   wohin  sich  v.  Berg  zunächst  begeben  hatte.     Er  beginnt: 

„Sowie  eine  zärtliche  Mutter  untröstlich  weint  um  ein  geliebtes 
Elind,  welches  ihr  ein  gewaltthätiger  Prinz  entreisst  und  zum  gegen- 
wärtigen Tod  in  das  Schlachtfeld  stellt,  ebenso  bejammere  ich  die 
Trennung  von  Ihnen,  mein  süsser  Freund,  mit  Thränen,  die  aus  der 
Seele  selbst  fliessen.  Ein  unbegreiflicher  Zug  zu  Ihnen,  den  nicht 
Gestalt  und  Gewächs  **)  allein  erweckt,  liess  mir  von  dem  ersten 
Augenblicke  an,  da  ich  Sie  sah,  eine  Spur  von  derjenigen  Harmonie 
fühlen,  die  über  menschliche  Begriffe  geht,  und  von  der  ewigen  Ver- 
bindung der  Dinge  angestimmt  wird.  In  40  Jahren  meines  Lebens 
ist  dieses  der  zweite  Fall,  in  welchem  ich  mich  befinde  und  es  wird 
vermuthlich  der  letzte  sein . . .  Eine  völlige  Uebereinstimmung  der 
Seele  ist  nur  allein  zwischen  zweien  möglich ;  alle  anderen  Neigungen 
sind  nur  Absenker  aus  diesem  edlen  Stamme.  Aber  dieser  gött- 
liche Trieb  ist  den  mehrsten  Menschen  unbekannt,  und  wird  daher 
von  vielen  übelverstanden  gedeutet.  Die  Liebe  in  dem  höchsten 
Grad  ihrer  Stärke  muss  sich  nach  allen  möglichen  Fähigkeiten  äusaern : 


*)  Wer  hier  gemeint  ist,  lässt  sich  nicht  mit  Bestimmtheit  angeben.  Mengs, 
an  den  man  zunächst  denken  möchte,  hatte  schon  1761  Rom  verlassen. 

**)  Ein  von  Winkelmann  mit  Vorliebe,  namentlich  anch  in  Bezug  auf 
plastische  Schönheit,  gebrauchter  Ausdruck:  Körper  wuchs,  Körperbildung. 


Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg.  437 

I  thee  both  as  Man  uid  Woman  prise 

For  a  yerfect  love  implies 

Love  in  all  capaclties.  —  Cowley. 

und  diese  ist  der  Grund,  worauf  die  unsterbliehen  Freundschaften 
der  alten  Welt,  eines  Theseus  und  Pirithous,  eines  Achilles  und  Pa- 
troklus  gebaut  sind.  Freundschaft  ohne  Liebe  ist  nur  Bekanntschaft;. 
Jene  aber  ist  heroisch  und  über  alles  erhaben . . .  Alle  Tugenden 
sind  theils  durch-  andere  Neigungen  geschwächt,  theils  eines  falschen 
Scheins  fähige  eine  solche  Freundschaft  ist  über  alles  mächtig,  sie  ist 
di€  höchste  Tugend,  die  jetzt  unter  den  Menschenkindern  unbekannt 
ist,  und  also  auch  das  höchste  Gut.  Die  christliche  Moral  lehrt  dieselbe 
nicht;  aber  die  Alten  beteten  sie  an  und  die  grössten  Thaten  des  Alter- 
thums  sind  durch  dieselbe  vollbracht." 

In  einer  Nachschrift  heisst  es : 

„Lassen  Sie  sich  noch,  theurer  Freund,  des  Gravina  ragione  pbetica 
anbefohlen  sein,  lesen  Sie  dieselbe  zehn  mal  bis  zum  Auswendig- 
lernen. Von  den  Alten  lesen  Sie  den  Homer  ^  in  der  Uebersetzung 
des  Pope,  den  Phädrus  des  Plato  und  diesen  mit  grosser  Ruhe . . . 
Von  den  Neueren  lesen  Sie  des  Pope  Essay  on  man  und  suchen  ihn 
auswendig  zu  lernen,  ich  selbst  konnte  denselben  fast  auswendig." 

Die  Antwort  des  Herrn  v.  Berg  verzögerte  sich  durch  eipen 
Unfall;  erst  nach  mehreren  Monaten  schreibt  derselbe  von  Paris  aus. 
Dieser,  sowie  ein  zweiter  Brief,  sind  in  der  Sammlung  der  Winkel- 
raann'scben  mit  enthalten.  Beide  geben  einer  wahrhaften  Verehrung 
Ausdruck  und  bezeugen,  wie  tief  und  lebhaft  der  jüngere  Mann  den 
Werth  des  schönen  Verhältnisses  empfand. 

Winkelmann,  dem  das  Schweigen  des  Freundes  schon  Zweifel 
und  ernstliche  Sorge  erregt  hatte,  erwidert  auf  jenen  ersten  Brief 
am  3.  November.  Er  klagt  lebhaft  darüber,  dass  v.  Berg  auf  seiner 
Reise  mehr  Zeit  auf  Florenz  verwandt  habe,  als  auf  Rom.  „Ich 
habe  mich  äusserst  gekränkt,  dass  ich  nicht  einmal  einen  einzigen 
Tag  ganz  gewinnen  können,  um  Ihnen  (bezüglich  der  römischen 
Kunstdenkmäler)  besondere  Unterweisung  zu  geben,  wie  ich  mir 
doch  beständig  ausgebeten  hatte."  Dann  kommt  er  auf  die  Studien 
des  Freundes  zu  sprechen:  „Ich  wünsche  Ihnen  Glück  zu  Ihrem 
Studium  in  den  Sprachen;  nur  verlieren  Sie  keine  Zeit  in  Lesung 
mittelmässiger  Dichter  -  und  kleiner,  nichtswürdiger  französischer 
Toilettenschriften.  Gewöhnen  Sie  sich  an  das  eigene  Denken,  und 
suchen  Sie  Ihre  eigenen  Gedanken  zu  entwerfen:  ein  einziger 
eigener  Gedanke,  welcher  Ihnen  neu  scheint,  ist  einen  ganzen  Tag 


438  Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg. 

werth.  Alsdann  werden  Sie  gewiss  eine  selten  empfundene  Wollust 
schmecken,  die  in  der  Zeugung  im  Verstand^e  besteht.  Doch  es  sei 
genug  mit  dieser  Predigt  u.  s.  w." 

Der  dritte  Brief  Winkelmann's  vom  22.  März  1763,  wie  der 
vorhergehende  nach  Paris  adressirt,  enthält  vorwiegend  Mittheilungen 
über  verschiedene  literarische  Unternehmungen,  welche  Winkelmann 
damals  beschäftigten,  ausserdem  Empfehlungen  nach  Dresden,  welches 
V.  Berg  auf  seiner  Rückreise  nach  Livland  zu  besuchen  dachte. 

Die  übrigen  Briefe  sind  nach  Livland  gerichtet;  in  dem  vierten 
(vom  21.  Juni  1763)  kündigt  Winkelmann  dem  Freunde  die  ihm  zu- 
gedachte Schrift  an  und  seinen  Entschluss,  für  immer  in  Rom  blei- 
ben zu  wollen;  er  war  damals  zum  „Präsidenten 'der  Alterthümer 
in  Rom**  ernannt  worden  und  hatte  eben  seine  Wohnung  in  der 
schönen  Villa  des  Cardinais  Albani  aufgeschlagen. 

Der  folgende,  fast  ein  Jahr  später  geschriebene  Brief  (vom 
10.  Februar  1764)  ist  nun  wieder  ein  voller  Erguss  der  freundschaft- 
lichen Liebe,  je  länger  sie  sich  zurückgehalten,  um  so  lebhafter  und 
begeisterter  gab  sie  sich  nun  kund:  „Alle  Namen,  die  ich  Dinen 
geben  könnte,  sind  nicht  süss  genug  und  reichen  nicht  an  meine 
Liebe,  und  alles,  was  ich  Ihnen  sagen  könnte,  ist  viel  zu  schwach, 
mein  Herz  und  meine  Seele  reden  zu  lassen.  Vom  Himmel  kam 
die  Freundschaft  und  nicht  aus  menschlichen  Regungen.  Mit  einer 
gewissen  Ehrfurcht  näherte  ich  mich  Ihnen;  daher  ich  bei  Ihrer  Ab- 
reise des  höchsten  Gutes  beraubt  zu  sein  schien . . .  Mein  theuerster 
Freund,  ich  liebe  Sie  mehr  als  alle  Creatur,  und  keine  Zeit,  kein 
Alter  kann  diese  Liebe  mindern;  aber  entfernt  zu  sein,  ohne  sich 
mit  Briefen  erreichen  zu  können,  ist  mir  schmerzhafter  als  selbst  der 
Abschied  . . .  Ich  gedenke  bald  nach  Neapel  zu  gehen,  wo  ich  mich 
auf  dem  Wege  mit  der  geliebten  Idee  meines  Freundes  unterhalten 
werde.  Wie  glücklich  würde  ich  sein,  Sie  zur  Seite  zu  haben!  Sie 
stehen  mit  mir  auf,  Sie  gehen  mit  mir  schlafen,  Sie  sind  der  Traum 
meiner  Nacht ! . .  .  Machen  Sie  mich  bald  durch  eine  Antwort  be- 
glückt.    Eine  jede  Zeile  von  Ihrer  Hand  ist  mir  eine  heilige  Reliquie.** 

Der  sechste  Brief  ist  vom  20.  Mai  1767  datirt;  wie  sich  aus  dem 
Anfang  desselben  ergiebt,  ist  zwischen  diesem  und  dem  vorigen  ein 
Brief  verloren  gegangen.  „Ich  will",  schreibt  Winkelmann,  „zum 
zweiten  mal  versuchen,  auf  Ihr  geliebtes  Schreiben  vom  August  1765 
zu  antworten;  denn  aus  Ihrem  Stillschweigen  zweifle  ich,  ob  meine 
erste  Antwort  angekommen  sei."  In  jenem  Brief  hatte  v.  Berg  dem 
Freunde  seine  inzwischen  erfolgte  Vermählung  angezeigt.     Winkel- 


Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg.  439 

mann  erwidert  darauf:  „Ich  glaube  aus  dem,  was  Sie  mir  von  Ihrer 
glücklichen  Verbindung  melden,  dass  Sie  eines  der  glücklichsten 
Menschenkinder  auf  Erden  sein  müssen,  und  ich  wäre  im  Stande, 
einige  Tagereisen  zu  machen,  um  Zeuge  von  allem  zu  sein.  Denn 
da  ich  Sie  über  alles  auf  Erden  geliebt  habe,  und  Sie  willig  als  Ihr 
Schatten  begleitet  hätte,  würde  die  Wollust,  Sie  in  den  Armen  der 
schönen  Ehegattin  zu  sehen,  für  mich  selbst  ein  reizender  Genuss 
sein.  Ich  gehe  im  künftigen  Sommer  bis  Berlin;  aber  ich  kann  von 
dorther  nur  schreiben;  werde  mir  aber  vorstellen,  dass  ich  von 
neuem  Ihre  Fusstapfen  betrete.  In  Frascati  ist  leider  der  Platano, 
in  dessen  Rinde  ich  den  süssen  Namen  meines  Freundes  schnitt, 
umgehauen . . .  Sie  werden  nunmeh'r  Vater  von  schönen  Kindern 
nach  Ihrem  geliebten  und  mir  ewig  gegenwärtigen  Bilde  sein,  und 
ich  freue  mich,  dass  mein  Wunsch  zu  Ende  meiner  Schrift  erfüllt 
worden.*)  Ich  ktlsse  Sie  im  Geist  und  wünsche  künftig  den  Sohn 
eines  so  geliebten  Freundes,  wohin  ich  den  Vater  begleitet  habe, 
führen  zu  können.** 

Der  auf  diesen  folgende  Brief  ist  gleichfalls  verloren  gegangen. 
Der  letzte,  vom  25.  Juli  1767,  ist  nicht  ganz  ein  Jahr  vor  Winkel- 
mann's  Tode  geschrieben;  eine  eigenthümliche  Melancholie  spricht 
aus  den  letzten  Worten  desselben:  „Wie  glücklich  sind  Sie,  mein 
Freund,  Ihr  Leben,  das  sehr  kurze  Leben,  mit  einer  schönen  ge- 
liebten Gesellin,  patriis  in  arvü,  und  weit  von  den  Thorheiten  der 
Höfe,  nach  meinem  Wunsche  zuzubringen.  Ich  komme  nicht  eher 
zur  Ruhe,  als  bis  ich  blind  werde  . . .  Mit  Herz  und  Geist  der  Ihrige." 


Charakteristisch  vor  allem  für  Winkelmann's  eigene  Persönlich- 
keit erinnert  der  Freundschaftsenthusiasmus  dieser  Briefe  zugleich 
auch  in  merkwürdiger  Weise  an  die  Gesammtstimmung  der  damaligen 
Zeit,  in  der  es  an  noch  anderen  Erscheinungen  eines  derartigen 
Freundschaftscultus  nicht  fehlte;  wir  erinnern  an  den  klopstockschen 
Freundeskreis,    den    göttinger  Dichterbund.      Auch    hier    waren   es 


*)  Die  oben  ervsrähnte  Schrift  über  die  Empfindung  des  Scfiönen  schliesst 
mit  den  Worten :  „Ihnen  aber,  mein  Freund,  wünsche  ich  wieder  (nach  Rom)  zu 
kommen.  Dieses  war  Ihr  Versprechen,  da  ich  Ihren  Namen  in  die  Rinde  einer 
mächtigen  Platane  zu  Frascati  schnitt,  wo  ich  meine  nicht  genutzte  Jugend  in 
Ihrer  Gesellschaft  zurückrief  und  dem  Genius  opferte.  Erinnern  Sie  sich  dessel- 
ben nnd  Ihres  Freundes;  gemessen  Sie  Ihre  schöne  Jugend  in  einer  edlen  Be- 
lustigung und  ferne  von  der  Thorheit  der  Höfe,  damit  Sie  sich  selbst  leben,  weil 
Sie  es  können,  und  erwecken  Sie  Söhne  und  Enkel  nach  Ihrem*Bilde." 


440  Winkelmann  und  Reinhold  von  Berg. 

Anschauungen  des  antiken  Lebens,  die  Vorbilder  römischer  und 
griechischer  Poeten,  welche,  zwar  nicht  in  so  entscheidender  Weise, 
wie  bei  Winkelmann,  dem  classischen  Vertrauten  des  Alterthums,  und 
in  etwas  anderer  Nuance,  mit  einer  grösseren  Dosis  Sentimentalität 
versetzt,  aber  doch  sehr  wesentlich  auf  die  Gestaltung  eines  ähn- 
lichen Freündschaftscultus  einwirkten. 

Noch  eines  anderen,  vielleicht  überraschenden  Beispiels  möchten 
wir  gedenken:  jener  Freundschaft,  welche  Shakspeare  in  einer  Reihe 
seiner  berühmten  Sonette  besingt.  So  sehr  auch  die  Gefühlswelt  des 
britischen  Dichters  von  der  verschieden  ist,  in  welcher  Winkelmann 
lebte,  so  bewegen  sich  doch  in  der  That  jene  Sonette  und  die  oben 
mitgetheilten  Briefe  in  einem  ganz  ähnlichen  Kreis  von  Empfindungen ; 
sie  stimmen,  von  den  eigentlich  poetischen  Vorzügen  der  shak- 
spearischen  Sonette  natürlich  abgesehen,  in  der  Idealität  der  Ge- 
sinnung ebenso  sehr  überein,  wie  in  dem  Ausdruck  jener  Zärtlichkeit, 
welche  sich  die  Sprache  der  Liebe  sonst  vorzubehalten  pflegt.  — 
Uebrigens  ist  ja  nicht  unbekannt,  dass  auch  auf  Shakspeare  in  seiner 
früheren  Zeit  die  damals,  namentlich  in  italienischen  Uebersetzungen 
eürig  gelesenen  Classiker  des  Alterthums  einen  wichtigen  Ein- 
fluss  übten. 

Den  Eindruck  einer  gewissen  Fremdartigkeit  werden  wir  dem 
Freündschaftscultus  gegenüber,  der  uns  in  dem  Verhältniss  Winkel- 
mann's  zu  dem  jungen  Livländer  entgegentritt,  nicht  ganz  von  uns 
fern  halten  können;  zugleich  aber  lehrt  uns  dieses  Verhältniss  das 
Wesen  des  seltenen  Mannes  auch  tiefer  schätzen.  Die  Begeisterungs- 
fähigkeit, die  sich  seiner  Freundschaft  ungeschwächt  bis  zuletzt 
erhielt,  die  Treue  und  warme  Hingebung  derselben,  die  unverwelk- 
liche  Geistesjugend,  aus  der  sie  entsprang,  sind  der  Bewunderung 
und  des  edelsten  Lobes  werth.  Und,  wie  es  das  Vorrecht  erwählter 
Geister  ist,  da^s  sie  adeln  und  unsterblich  machen,  was  sie  in  ihre 
Kreise  hereinziehen,  so  besitzt  nun  auch  der  junge  Freund  dauernden 
Antheil  an  dem  Ruhme  dessen,  der  ihn  zu  seinem  Freunde  erkor. 

Leipzig.  Dr.  Hermann  Lücke. 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 


X  assion  und  Drama  sind  Gegensätze.  Letzteres  hat  seinen  Namen 
vom  Handeln,  erstere  vom  Leiden.  Christi  Leidensgeschichte  ist 
demnach  im  Grunde  undramatisch,  ein  Stoff  für  viele  andere  Künste 
geeigneter  als  für  die  Bühne.  Und  doch  ist  dieser  Stoff  Jahrhunderte 
lang  bühnenmässig  behandelt  worden.  Das  geistliche  Schauspiel  ist 
eines  der  wichtigsten  Capitel  in  der  Geschichte  des  Dramas.  Von 
den  Zeiten  an,  da  die  Tragödie  vom  leidenden  Christus,  ein 
Werk,  das  dem  heiligen  Gregor  von  Noziams  zugeschrieben  wird, 
erstand,  bis  zu  dem  dem  modernen  Geschmack  einigermaassen  an- 
gepassten  „Grossen  Versöhnungsopfer  auf  Golgatha**,  das 
auch  jetzt  noch  in  einem  der  »tillen  Thäler  Oberbayerns  gegeben 
wird,  giebt  es  eine  lange  Reihe  religiöser  Dramen,  in  denen  wahre 
Poesie  und  barocke  Geschmacklosigkeit,  tiefer  Ernst  und  plumper 
Scherz,  wahrhaft  religiöse  Weihe  und  Innigkeit  und  frivole  Spitz- 
findigkeit und  glatter  Witz  sich  finden.  *)  In  lateinischen  Comödien 
verherrlichte  im  zehnten  Jahrhundert  die  Nonne  Hroswitha  das 
Märtyrerthum,  den  Sieg  der  himmlischen  Liebe  über  die  irdische. 
In  einem  Stück  aus  dem  11.  Jahrhundert  von  jden  weisen  und 
thörichten  Jungfrauen  spricht  und  singt  Christus  in  den  Worten 
der  lateinischen  Bibel  und  wiederholt  es  in  provengalischen  Versen. 
Nach  Ostern  1322  wurde  dieser  Stoff  vor  dem  Landgrafen  Friedrich 
mit  der  gebissenen  Wange  von  Klerikern  und  Schülern  im  Thier- 
garten  sehr  drastisch  aufgeführt  Die  thörichten  Jungfrauen  fanden 
auch  durch  die  Fürbitte  der  heiligen  Jungfrau  Maria  keine  Gnade 
und  wurden  durch  den  ganzen  Zuschauerraum  von  Teufeln  an 
Stricken  in  die  Hölle  geschleppt.  Eine  Gemüthskrankheit  erfasste 
den  Landgrafen  bei  dem  Eindruck  dieses  entsetzlichen  Schauspiels. 
Au8  jenen  Gegenden,  wo  bis  heute  sich  das  Passionsspiel  erhalten 
hat,    stammt  ein  Osterspiel,   im    zwölften  Jahrhundert  im  Kloster 


•)  8.  Haee'ß  vortreffliche  Monographie  „Das  geistliche  Schauspiel",  Leipz.  1858. 


442         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

Tegernsee  gedichtet.  Dieses  Singspiel  „vom  Aufgange  und  Unter- 
gange  des  Antichrist's**  soll  vor  dem  Kaiser  Friedrich  Barbarossa 
gegeben  worden  sein.  Wie  heute  noch  das  eigentliche  Stück  in 
Oberammergau  von  musikalischen  Auffuhrungen  und  lebenden  Bil- 
dern unterbrochen  wird,  so  wurden  auch  damals  alttestamentliche 
Scenen  als  weissagende  Vorbilder  der  Leidensgeschichte  eingestreut. 
Als  kirchliche  Feier  betrachtete  man  solche  Aufführungen.  Pro- 
cessionen  hatten  einen  dramatischen  Charakter.  In  Orleans,  am 
Jahrestage  der  Befreiung,  führte  den  Festzug  ein  Jüngling  in  der 
ritterlichen  Tracht  der  Jungfrau.  Zu  Quedlinburg  pflegte  der  Bischof 
von  Halberstadt  am  Palmensonntag  einen  feierlichen  Einzug  zu 
halten:  Priester,  Kinder  und  Volk  riefen  Hosianna  und  streuten, 
wenn  nicht  Palmen,  so  doch  Weiden-  und  Fichtenzweige  auf  den 
Weg.  Hier  und  da  erschienen  Adam  und  Eva,  den  Baum  der  Er- 
kenntniss  zwischen  sich  tragend,  Johannes  als  Herold  mit  der  Fahne 
Christi  und  dem  Banner,  Judas  mit  dem  Geldsacke  und  gleich  dazu 
der  Teufel  mit  der  Galgenleiter,  der  heilige  Georg  auf  dem  Streit- 
rosse  den  erlegten  Drachen  nach  sich  ziehend  u.  dgl.  m.  Englische 
Bischöfe  fiilirten  in  Constanz  auf  dem  Concil  vor  Kaiser  Sigismund 
ein  Weihnachtsspiel  auf,  das  tragisch  mit  dem  Kindermorde  schloss. 
Besonders  volksthümlich  wurden  solche  Spiele  im  fünfzehnten  Jahr- 
hundert, wo  u.  a.  in  Kaufbeuern  mehrere  hundert  Menschen  an  einer 
Aufführung  theilnahmen,  welche  die  dramatisirte  Apostelgeschichte 
zum  Gegenstande  hatte.  Der  bescheidene  Mittelstand  .ergriff  die 
Sache  mit  Eifer.  In  Antwerpen  verbündete  sich  die  Brüderschaft 
des  heiligen  Lukas,  meist  aus  Künstlern  bestehend,  zur  Aufführung 
solcher  Stücke ;  in  Paris  erhielt  die  Confrerie  de  la  passion,  aus  Hand- 
werkern bestehend,  von  Carl  VI.  1402  einen  Freibrief  zur  alleinigen 
Aufführung  geistlicher  Schauspiele  für  die  Stadt  und  die  Bannmeile; 
in  Rom  spielte,  und  zwar  in  der  Arena  des  Colosseums,  die  Brüder- 
schaft del  Gonfalone  in  der  Charwoche  das  Leiden  des  Erlösers.  Oft 
geschah  es,  dass,  wenn  eine  ganze  Stadt  die  Aufführung  beschlossen 
hatte,  ein  feierlicher  Aufruf  unter  Trompetenschall  an  alle  erging, 
die  mitspielen  wollten.  Die  Erscheinung  des  Volkes  auf  der  Bühne, 
als  Israeliten  in  der  Wüste,  bei  dem  Palmeneinzuge,  vor  Pilatus 
und  bei  der  Kreuzigung  zog  grosse  Massen  zur  Mitwirkung  herbei, 
so  dass  zuweilen  fast  die  eine  Hälfte  der  Stadt  spielte,  die  andere 
'  Hälfte  und  die  umliegenden  Ortschaften  zuschauten. 

So  lange  vornehmlich  Aebte  und  Mönche  derartige  Spiele  ord- 
neten, behaupteten  sie  den  Charakter  einer  kirchlichen  Feier.     Die 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         443 

Tracht  der  Mitspielenden  war  das  Messgewand,  die  handelnden 
Personen  erschienen  im  byzantinischen  Kleide.  Hier  und  da  brach 
sich  aber  der  Volkshumor  in  solchen  Stücken  Bahn.  Es  erschien 
der  Teufel  zuweilen  als  die  lustige  Person.  Allerlei  kurzweilige 
Anekdoten  von  Petrus  kamen  auf  die  Bühne.  Besonders  in  Frank- 
reich ergötzten  die  diableries  das  Publicum,  aber  auch  in  einem  deut- 
schen Mysterium  aus  dem  fünfzehnten  Jahrhundert,  das  durch  die 
hochpoetische  Klage  der  Frauen  am  Grabe  des  Heilandes  rührend 
wirkt,  erscheint  ein  Salbenhändler,  geschwätzig  wie  ein  Quacksalber 
seine  Geschichte  erzählend,  im  Zwist  mit  seiner  Ehehälfte.  Das 
Stück  artet  in  eine  Harlekinade  aus,  um  jedoch  bald  wieder  zu  dem 
tiefernsten,  religiös  wehmüthigen  Tone  der  Marienklage  zurückzu- 
kehren. In  dem  von  dem  Priester  Theodorich  Scharnbeck  im  Jahre 
1480  gedichteten  Stück  von  der  Päpstin  Johanna  oder  der  „Frau 
Jutta"  ist  alles  durchaus  ernst  gemeint  und  die  diesesmal  wirksame 
Fürbitte  der  Jungfrau  Maria  bei  dem  „Salvator"  von  poetischem 
Werthe;  daneben  aber  sind  Lucifer  mit  seinen  Genossen  Unversün, 
Spiegelglanz,  Fledderwisch,  Astrot,  Krentzelein,  namentlich  aber  des 
Teufels  hüpfende  Grossmutter  Billis  der  lebhafte  Ausdruck  eines 
unverwüstlichen,  zwerchfellerschütternden  Humors. 

In  der  Reformationszeit,  wo  es  gal  t  die  Schäden  der  Kirche  an 
den  Pranger  zu  stellen,  geschah  es  wohl,  dass  die  grotesken  Scenen 
im  geistlichen  Schauspiel  eine  noch  grössere  Stelle  einnahmen.  Der 
Gegensatz  der  Reinheit  und  Hoheit  des  ersten  Christenthums  einer- 
seits und  der  Völlerei  und  Verweltlichung  der  Kirche  andererseits 
wurde  auf  die  Bühne  gebracht.  Christus  von  Armen  und  Kranken 
umgeben,  der  Papst  von  Schergen,  Söldnern,  unsittlichen  Geistlichen 
und  Mönchen  umdrängt;  die  Apostel  Petrus  und  Paulus  Kritik  übend 
bei  Gelegenheit  dieses  Schauspiels  —  solcher  Art  waren  die  belieb- 
testen Stoffe  jener  "Zeit.  Schliesslich  drängte  sich  das  satyrische 
Element  ganz  in  den  Vordergrund.  Nicolaus  Manuel,  der  Maler, 
Dichter,  Publicist  und  Reisläufer  brachte  seine  „sterbende  Beichte'' 
auf  die  Bühne  und  trug  durch  seinen  schonungslosen  Witz,  Spott 
und  Hohn  zur  Vertreibung  der  Reformation  in  der  Schweiz  bei;  in 
ähnlichem  Tone  waren  Burkard  Waldis  Parabel  vom  verlorenen 
Sohne  und  einige  Stücke  gehalten,  in  denen  die  Reformation  selbst 
den  Gegenstand  des  Dramas  lieferte. 

Es  war  natürlich,  dass  die  Kirche  derartige  Schauspiele  zu  ver- 
bieten bemüht  war.  Selbst  die  halbernsten  Mysterien  erschienen  ihr 
anstössig.     Paul  HI.   verbot  1549  die  Aufführungen  im  Colosseum; 


444         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

das  Parlament  in  Paris  verbot  diejenigen  der  Passionsbrüderschaft, 
welche  1548  sogar  ein  steinernes  Theater  gebaut  hatte. 

Doch  war  es  mit  den  geistlichen  Spielen  keineswegs  zu  Ende. 
Als  ein  heiteres  Kinderspiel  wurde  u.  A.  1589  im  Schlosse  zu  Berlin 
von  den  Kindern  des  Kurfürsten  und  deren  Gespielen  ein  Neujahrs- 
spiel:  „die   Geburt   des  Herrn''   aufgeführt.      Der  anderthalbjährige 
Markgraf  Friedrich   spielte   das  .  Christkind,  Elisabeth  von  Mansfeld 
die  Jungfrau  Maria.     Es  wurde  in  den  Schulen  Sitte,  von  den  Zög- 
lingen geistliche  Stücke,   die  sich  durch  maasslose  Länge  auszeich- 
neten,  aufführen  zu  lassen.     Das  Opfer  Abrahams,  der  Untergang 
Sodoms,  Daniel  in  der  Löwengrube,  der  weise  Salomo,  die  tapfere 
Judith,  der  ehrbare  Tobias,  die  Geschichte  von  d«r  Susanne  wurden 
dramatisirt  und,  oft  in  lateinischer  Sprache,  aufgeführt.  *)    Auf  allen 
Schulen  in   Sachsen    und   Schlesien  spielten  die   Schüler    die   ihrem 
Stoffe  nach  aus  der  heiligen   Geschichte   entnommenen   Schauspiele 
des  Schulrectors  Christian  Weise  (1642 — 1700).     Wenn  dieser  auch 
gegen  die  Einführung  Jesu  und  des  Satans  auf  die  Bühne  war,  weil 
man  zu  der  Rolle  des  letzteren  niemand  verdammen  sollte,  die  des 
ersteren   aber  von  niemand  würdig  gespielt  werden   könne,  so  trug 
er  doch  kein  Bedenken,  in  seinen  alttestamentlichen  Stücken  „Hans- 
wurste, Pickelhäringsspässe,  galante  Prinzen,  Forstgerechtigkeiten  und 
Grenzstreitigkeiten  in  die  alte  patriarchalische  Zeit"  einzulegen.    Der 
Bräutigam  Christus  holt  in  verschiedenen  dieser  Stücke  seine  Braut 

•  

Ecclesia  wie  im  Lustspiele  heim.  Knorr  von  Rosenroth  verfasste 
ein  allegorisches  Lustspiel  von  der  Vermählung  Christi  mit  der 
Seele.  Die  Seele,  die  Leidenschaft,  die  Tugend,  Christus  werden 
mit  arabischen  Namen  Nasima,  Adibe,  Fedil,  Mamsuh  bezeichnet. 
Die  geistlichen  Stücke  des  berühmten  Pegnitzschäfers  Johann  Klai 
lehnten  sich  förmlich  an  den  kirchlichen  Gottesdienst  an  und  wurden 
in  der  Kirche  aufgeführt.  Eine  frostige  Tragödie  war  des  berühmten 
Publicisten  Hugo  Grotius  ^leidender  Christus",  in  der  fast  nichts 
geschieht,  und  alles  nur  in  rhetorischen  Monologen  oder  durch  Boten 
erzählt  wird.  Der  grösste  Dramatiker  der  Niederländer,  van  der 
Nondel,  suchte  die  geistliche  Poesie  auszubilden,  dichtete  einen  „Lu- 
cifer",  in  welchem  der  Fall  der  Engel  dramatisirt  wurde  und  brachte 
die  Geschichte  des  Erzvaters  Joseph  in  eine  dramatische  Trilogie. 
In  des  fruchtbaren  protestantischen  Dichters  Dedekind  geistlicher 
Oper  „der  sterbende  Christus"  aus  dem  17.  Jahrhundert  erhenkt  sich 


*)  8.  Hase,  „das  geistliche  Schauspiel^,  1858. 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         445 

Judas  auf  der  Bühne  urfd  Satan  singt  das  Echo  dazu.  Judas  zer- 
platzt am  Stricke  hängend,  Satan  fasst  die  Eingeweide  in  einen 
Korb  und  singt  dazu.  Bei  der  Verkündigung  der  drei  Könige  erfolgt 
ein  musikalischer  Zornesausbruch  Satans  in  folgenden  Worten: 

Donner  und  Hagel,  Hammer  und  Nagel 
Schneidendes  Eisen, 

Stechende  Spitzen,  Messer  zum  Schlitzen 
Will  ich  dir  weisen.  *) 

Volksmässiger  als  diese  Schulexercitien  und  in  vornehmen  Kreisen 
aufgeführten  Stücke  war  die  heilige  Christfahrt,  ein  Umzug  Christi 
I^it  seinen  Engeln  und  Knechten  in  der  Weihnachtszeit,  wobei  in 
allerlei  Masken  Moses,  David,  Jesaias,  Joseph  und  Maria  erscheinen. 
Diese  Sitte  findet  sich  im  16.  und  17.  Jahrhundert  vornehmlich  in 
Thüringen.  —  Derbkomische  Bauernstücke  finden  sich  in  Tirol,  wo 
sie  in  einzelnen  Gemeinden  als  stetig  wiederkehrendes  Fest  aufge- 
führt wurden  und  wo  sie  sich  bis  in  die  letzten  Zeiten  erhielten,  so 
dass  seit  dem  Jahre  1791  weltliche  und  geistliche  Behörden  gegen 
die  dabei  stattfindenden  Ausschreitungen  mit  pplizeilichen  Maass- 
regeln vorgingen. 

Es  werden  mehrere  Orte  in  Bayern  namhaft  gemacht,  wo  die 
Sitte  bestand,  das  Passionsspiel  in  der  Fastenzeit  aufzuführen.  So 
geschah  dies  in  Aidenbach,  Eichendorf,  Deining,  Flintspach,  Peissen- 
berg  u.  s.  f.  Wann  und  wie  diese  Sitte  begann,  ist  in  den  meisten 
Fällen  nicht  bekannt.  Dagegen  wird  von  dem  Dorfe  Oberammer- 
gau Folgendes  berichtet: 

Während  einer  bösen  Seuche  im  Jahre  1633,  afe  sehr  viele  m 
Oberammergau  und  der  Umgegend  starben,  gelobten  die  Oberammer- 
gauer dem  Herrn  das  bittere  Leiden  seines  lieben  Sohnes  öffentlich 
darzustellen.  Als  dieser  Beschluss  gefasst  war,  starb  niemand  mehr 
in  Oberammergau,  obgleich  es  noch  viele  bereits  von  der  Krankheit 
Ergriffene  gab.  **)  Zum  ersten  male  wurde  die  Passions tragödie  im 
Jahre  1634  aufgeführt.  Bis  1674  erfolgte  die  Darstellung  alle  zehn 
Jahre;  dann  wieder  schon  nach  einem  Zeitraum  von  6  Jahren,  im 
Jahre  1680  wurde  wieder  gespielt  und  von  da  an  fand  das  Spiel 
mit  wenigen  Unterbrechungen  alle  zehn  Jahre  statt. 


•)  Ludwig  Clarus,  „das  Passionsspiel",  München  1860,  S.  70. 

•*)  Clarus  sucht  darzuthun,  dass  wahrscheinlich  schon  vor  1633  die  Sitte 
solcher  Aufführungen  in  Oberammergau  bestand  und  dass  das  Gelübde  sich  nur 
auf  die  regelmässige  zehnjährige  Periode  bezogen  habe. 

Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Hefi  9  u.  10.  3a 


446         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

Der  Verfasser  des  Stücks  ist  unbekannt  geblieben.  Gewiss  ist 
aber,  dass  einige  Geistliche  aus  dem  unweit  von  Oberammergau  ge- 
legenen Kloster  Ettal  bei  den  Aufführungen  thätig  waren,  an  dem 
Texte  feilten  und  an  der  Anordnung  Theil  nahmen.  Das  Stück,  wie 
es  ursprünglich  gespielt  wurde,  ist  wesentlich  verschieden  gewesen 
von  der  Form,  in  welcher  das  Passionsspiel  gegenwärtig  gegeben 
wird.  Nimmt  man  die  plumpen  Scherze  aus,  welche  sich  heute  noch 
die  römischen  Kriegsknechte  mit  dem  Heiland,  dem  Barnabas  und 
den  Schachern  erlauben,  welche  indessen  sehr  maassvoll  gehalten 
sind  und  keineswegs  eine  wirklich  komische  Wirkung  zum  Zwecke 
haben,  so  ist  die  Passion  in  ihrer  gegenwärtigen  Fassung  durchaus 
ernst  und  würdig  im  Tone  der  Mysterien  gehalten,  während  die 
früheren  Redactionen  und  Inscenirungen  mit  Humoresken  gewürzt 
waren.  Ueberhaupt  verhielt  sich  das  Publicum  früherer  Jahrhunderte 
einer  solchen  Bühne  gegenüber  viel  naiver  als  heute.  In  Frankreich 
war  die  Bühne  in  drei  Stockwerke  getheilt:  oben  das  Paradies  mit 
dem  dreieinigen  Gott,  seinen  Engeln  und  Heiligen ,  möglichst  mit 
Teppichen  verziert,  unter  Bäumen,  dazu  eine  Orgel;  in  der  Mitte 
der  irdische  Schauplatz;  darunter  die  Hölle,  zuweilen  als  der  offene 
Höllenrachen  dargestellt,  der  auf-  und  niedergehende  Rachen  eines 
Ungeheuers.  —  Im  donaueschinger  Osterspiele  wird  Judas  vom 
Beelzebub  förmlich  gehängt:  „der  Teufel  soll  ihn  wohl  am  Haken 
versorgen  und  sich  hinter  ihn  auf  den  Sprengel  setzen."  Judas  soll 
im  Kleide  einen  schwarzen  Vogel  und  Gedärme  von  einem  Thiere 
haben,  also,  'dass  der  Yogel  fortfliegt  und  die  Gedärme  herausfallen 
wenn  ihm  der  Teufel  das  Kleid  aufreisst,  worauf  denn  beide  auf 
dem  schräg  gespannten  Seile  zur  Hölle  rutschen.  *)  So  erschien 
denn  auch  in  Oberammergau  im  siebenzehnten  Jahrhundert  Lucifer 
mit  seinem  ganzen  Hofstaat  auf  der  Bühne.  Bei  der  Katastrophe 
des  Judas  sprangen  Teufelchen  hervor  und  schmausten  des  Erhenkten 
auf  die  Erde  fallenden  Eingeweide.  —  Teufel,  Tod  und  Sünde  treten 
auf  und  fassen  den  Entschluss,  das  höllische  Reich  durch  den  Tod 
Christi  zu  befestigen,  zu  welchem  Zwecke  sie  den  Hass  und  Neid 
absenden,  um  durch  diesen  die  jüdische  Priesterschaft,  durch  jenen 
den  Judas  gegen  Christus  aufzuhetzen.  Sehr  realistisch  mussten  die 
Prügel,  mit  welchen  den  beiden  Schachern  die  Glieder  gebrochen 
werden,  in  rothe  Farbe  getaucht  sein,  damit  sie  bluttriefend  aus- 
sähen.     Die  Engel  führten   die    Schacher   ins  Paradies.      Wie   der 


•)  8.  Hase  a.  a.  0.,  36,  37,  40, 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.  447 

Rabbi  dem  Judas  die  Silberlinge  übergiebt,  „streicht  ein  Teifl  hint  an 
ihm-  und  tanzt  hinter  ihm".  Nachdem  Judas  sich  erhenkt^  hat 
„nebmen  ihn  die  Teifl  vom  Panele  herab  und  tragen  ihn  mit 
Greinen  in  die  Hölle."  Bei  der  Seitenöffnung  Christi  fiel  dem  blin- 
den Longinus  das  Blut  auf  die  Augen  und  er  wurde  sehend,  worauf 
denn  zwei  Engel  kamen  und  das  Blut  mit  zwei  Schwämmen  auf- 
trockneten. Nach  der  Auferstehung  ging  Christus  mit  den  Engeln 
zur  Vorhölle.  Adam  führte  ihm  die  Seelen  entgegen;  drei  Teufel 
liefen  voran  und  klagten,  sie  seien  überwunden,  worauf  denn  Christus 
eine  Anrede  an  die  Teufel  hielt.  Gott  Vater,  der  heilige  Geist 
erschienen  auf  der  Bühne,  ausserdem  allerlei  Gespenster.  Das  Stück 
war  in  geschmacklosen  Knittelversen  geschrieben. 

Bei  Gelegenheit  von  Osterspielen  im  sechszehnten  Jahrhundert 
wird  erzählt,  dass  der  Magistrat  den  Schauspielern  eine  Mahlzeit 
ausrichtete  oder  ein  paar  Tonnen  Bier  verehrte.  Das  Pfarramt  zu 
Breslau  klagt  1582:  „die  Actores  der  Gomödie  haben  sich  als  die 
Bestien  betrunken."  —  Aehnliche  Extravaganzen  ereigneten  sich  auch 
später.  Die  Obrigkeiten  begannen  diese  Spiele  mit  scheelen  Augen 
anzusehen.  Man  sah  es  als  ein  Aergerniss  an,  dass  mit  dem  Heiligen 
gespielt  wurde,  man  bemerkte,  in  den  Passionsspielen  werde  der 
Herr  Christus  noch  einmal  gekreuzigt.  Ernstere  Bedenken  ergaben 
sich  gegen  die  Entleerung  des  Gottesdienstes  durch  die  Sonntagsauf- 
führungen und  gegen  die  nachfolgenden  Gelage.  Man  übte  Censur, 
indem  man  die  komischen  Stellen  unterdrückte;  man  verbot  Geist- 
lichen und  Schullehrern  an  den  Spielen  Theil  zu  nehmen;  man 
machte  Abzüge  von  der  Einnahme  zu  Gunsten  der  Armenkasse. 
Eine  kurfürstliche  Verordnung  vom  31.  März  1763  gestattet  die  Auf- 
führung der  „Passionstragödien"  zwar  an  Orten,  wo  dieselben  bisher 
üblich  gewesen  und  unter  der  Bedingung,  dass  dieselbe  frühzeitig 
am  Tage  abgehalten  werde,  damit  „das  Bauern-  und  anderes  zu- 
läufende Volk  vor  der  Nacht  wieder  zu  Hause  sein  könnte"  und 
Excesse  vermieden  würden.  Der  geistliche  Rath  hatte  1762  sein 
Gutachten  dahin  abgegeben,  „dass  das  grosse  Geheimniss  unserer 
heiligen  Religion  einmal  nicht  auf  die  Schaubühne  gehöre."  Nament- 
lich fand  der  geistliche  Rath  den  Charfreitag  und  die  Pastenzeit  zu 
der  Aufführung  der  Passionstragödie  nicht  geeignet.  So  erfolgte 
denn  im  Jahre  1770  ein  allgemeines  Verbot  dieser  Tragödien.  Mit 
Mühe  erlangten  die  Oberammergauer  durch  zwei  nach  München  ge- 
sandte Deputirte  eine  Ausnahme  von  diesem  Verbote  für  ihre  Ge- 
meinde, so  dass  im  Jahre  1770   die  Aufführung  wie  früher  erfolgte. 

30* 


448  Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

Im  Jahre  1780  erhielt  die  Gemeinde  Oberammergau  auf  ihr  Ansuchen 
ein,  Privilegium,  die  Passion  alle  zehn  Jahre  aufzuführen.  Die  Auf- 
ftihrung  geistlicher  Schau-  und  Trauerspiele  während  der  Fastenzeit 
und  in  der  Charwoche  war  verboten.  Es  mochten  auch  bei  den 
Passionsspielen  starke  Missbräuche  vorgekommen  sein.  Der  Erz- 
bischof von  Sal/bunr  versichert  in  einem  Erlasse  vom  Jahre  1779: 
^^Kin  seUsameres  Gemenge  von  Religion  und  Possenspiel,  als  die 
sogenannten  Passionsspiele  kann  nicht  erdacht  werden.  Zu  gleicher 
Zoits  als  ein  Theil  der  Schauspieler  die  betrübten  Auftritte  des 
Leidens  Christi  auf  das  Beweglichste  vorzustellen  bemüht  sind,  und 
bei  aller  ihrer  Erastliaftigkeit  schon  öfters  aus  Plumpheit  und  Unver- 
sUiud  ins  Lächerliche  und  Possierliche  verfallen,  erscheinen  ganze 
Rotton  in  Juden-,  Teufels-  und  andere  Larven  verkappter  Possen- 
reisser^  die  das  zuschauende  Volk  duroh  tausenderlei  Muth willen  und 
Äusgolassonsfe  Gaukeleien  tu  dorn  bn^usendsten  Gelächter  verleiten. 
Und  l.ierniit  sind  auf  einmal  alle  frctnimen  Eindrücke,  welche 
die  beiieutunsrsvo/.on  Ceremoiüen  dt-r  heiliiren  Charwoche.  das 
rührende  Klagptprängo  in  den  Gou  geweihten  Tempeln,  die  eifrigsten 
Prctligten  geniÄiht  brühen  nuKhu-n,  n/^e  diese  Eindrücke  und  Er- 
wtvkuuiTon  sind  «us  dem  Herzen  auf  einmal  henmsfferissen :  die 
yÄrilioh  Wk um n: orten  naiiior liehen  Eh4.ai:nni!rn  der  beiliiren  Kirche 
ÄU  kinu.ivhen  Bussthräiien  und  ai: fr] th Tiger  Bekehrung  verschallen 
«Tigeh.iru  uie  Otmo-shauser  sind  a*fT  tiid  verlassen;  das  öffentlich 
STasgt^serrie  Ay.trheir.;rsi^  sichi  oh:.e  AnlHt^r  da:  das  zur  Lustigkeit 
»Ttd  Ge.jii'hteT  xor'lxreiioie  Vo,k  fr.7.i  die  "V^irihfi-  und  Zechhäuser 
xi»n  iir*U'n  bis  i^lvrij^r.:  u:e  Säi::i:t'.:*4re  Chutm  Ms  in  die  spateste 
X s^'h T  fori ;  die  ü a : h  H , . us^e  te r. ir  f. u d en  Truük enln^Ide  .  erfüllen 
StrÄ5J<i^ori  iiTid  F  flu  er  n/ii  ihrem  Jsnch7en  nr^c  Schau  iireschrei :  auf 
ri»5  XoT?e  kroi^j^Ttn  s'e  aen  Si-Lr*  iTiMies  tic  Li'J*^-!!  ihn  zum  Spott: 
y*f  .Tjf^he  ^^vLst^<  :i:}j  ;j  Ä.jiex.  slf  lUn  gfkT^XL7,icM*ii  Christas  den  Juden 
7x.m  Af^g<"n;i?5S  n  ^  «'>ti  Kiii^.ci.  zur  Tl^.M:»rbt : i.  und  gelten  den  Frei- 
c^':is*f-rr,  ri) c  K  t .  ic:  ro  sst»v  m  i err,  Xz:  \  u^>^  c^ i*>  k i, :  ii  v  lische  Christen thnni 
(urc  <»f »iÄ^i. »^sUT.  iT-i^pitrrr  t:T.,i  K/'^.r^tliiv'X.j^T  '^ie  im  Triumphe 
)  •  - .  tsi  u^Ji .  i i  T* ,  "^  y  t  K  ii  i f  u  ere  Kt  s  1 1 .  k toi  ^  trij  t -t  ceiK-n d  c emacht : 
^i:r<i  L.t  PÄssji»T.s>|i!t'ji  ^«rt-rrlf  lii*^  Vi.:k  vot  c-fi  Arl»eit,  Tom  Gebet 
I.DC  i.iji'»;'rt'i:  t^'^:}!}.:^?*!!  .  ??/.  #  i«:o'iij,.;;ai  iiur  min  ^ussigjrange  ge- 
^  nj.n,  >;j,r  n.^K'i  ?t  ^.»li^r  Siv.\  uit-  1-ii.Suss*  fcr.  (V*  ,c  aufmerksam, 
^'f '«<■})<  -.»/■  V  ;-jiirjt'ii-Tr.  i':-.:'*:-!..  -  Tr<»i7  }..  ciu-iii  erhitli  die  Ge- 
ajt'.i'iu  i»'*-  rs.ii  IM*'*:,:  r  ihr  i^-;^  ^tv^ji.ii.  &c.:tv  iiL  wki^rtOiC  sl  R,  Landau 
V  c-lh  j    f.i»*^  f'ir;  üüfT'ct  i»;.jtN('i.  >jiift>  Ivk  J*i'ii*JtsUi**jw  SäJäTc  ziiüen 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         449 

musste^   und   ein  Erlass   aus  München  vom   20.  Juli  1793  wiederum 
hervorhob,  dass   die  grossen  Geheimnisse  der  Religion  kein  Gegen- 
stand für   die  Bühne  seien,  dass   das  Volk  durch  solche  Spiele  von 
der  wahren  Andacht  und  Anbetung  abgehalten,   von  seinen  Berufs- 
geschäften   entfernt,  zu  Müssiggang  und   Ausschweiftingen   verleitet 
werde.     Den  Oberammergauern  wurde  wiederholt  eingeschärft,  ihre 
Spiele  sollten  ^auf  schickliche  Weise**  eingerichtet  sein;  nur  zu  „be- 
scheidenen   und    passenden   Aufführungen^    von  Passions-Tragödien 
wurde    ihnen  Erlaubniss  ertheilt.      Auf  Grund    dieses    Privilegiums 
hatte  auch  im  Jahre  1800  das  Passionsspiel  in  Oberammergau  statt- 
gefunden und  war  sogar,  da  die  Kriegsereignisse  nur  einen  schwachen 
Besuch  gestattet  hatten,  im  Jahre   1801  noch  vier  mal   wiederholt 
worden.     Als  aber  im  Jahre   1810  —  es   war  die  Zeit  des  aufge- 
klärten Ministeriums  Montgelas  —   die   Oberammergauer    die    Auf- 
führung vorbereiteten,  machten   die  Kirchen-  und  Polizeisection  bei 
dem  Ministerium  in  München  geltend,  dass  solche  Vorstellungen  die 
^Würde  der  Religion  beeinträchtigen,  dass  sie  unschicklich  seien,  dass 
schon  die  Idee,  auf  der  sie  beruhen,  eine  grosse  Indecenz  sei.    Aber- 
mals ging  eine  Deputation  von  Oberamraergau   nach  München.     Sie 
musste  sich  dort  sagen  lassen:   die   Oberammergauer  möchten  sich 
von  ihrem  Pfarrer  das  Leiden  Christi  predigen  lassen ;  das  sei  besser, 
als  wenn  sie  den  Herrgott  auf  ihrem  Theater  herumschleppten.    Sie 
stellten  dagegen  vor,  dass  jede  schöne  und  rührende  Geschichte  ein- 
dringlicher wirke,  wenn  man  sie  leibhaftig  vor  sich  sehe;  dass  ihre 
Passionsaufführung    sich    immer    als    ein    heilsames   Mittel    bewährt 
habe,   das  Leiden  und  Sterben   des  Erlösers   ihnen  selbst  und  ihren 
zuschauenden  Nachbarn  tiefer  einzuprägen  zur  Heiligung  ihres  Lebens. 
Man  drohte,  die  Deputation,  wenn  sie   ihr  Queruliren  fortsetze,  aus 
der   Stadt  zu   weisen.      Die  Energie  des  Sprechers  der  Deputation, 
Georg  Lang,  und   die  Fürsprache  des   geistlichen  Rathes   Sambuga 
bei  dem  König  Max   hatten   trotz    aller  Schwierigkeiten   zur  Folge, 
dass    das   Oberammergauer    Passionsspiel    dennoch  gestattet   wurde. 
1811  fanden  fünf  Aufführungen  statt,  denen  im  Jahre  1815  eilf  andere 
folgten.     Der  Minister  Graf  Montgelas    war   selbst    unter   den    Zu- 
schauern;  ebenso  der  Herzog  von  Leuchtenberg;   später   der  Kron- 
prinz von  Bayern,  der  König  und  die  Königin  von  Sachsen  u  .A. 

In  den  letzten  Jahrzehnten  sind  hier  und  da  ähnliche  Spiele  vor- 
gekommen, aber  sie  haben  nicht  die  Bedeutung  des  Oberammergauer 
Theaters  gewonnen.  Trot^  aller  Verbote  fanden  in  Tirol  derartige 
Aufführungen  statt.   So  sind  denn  auch  dieselben  184i8  und  1849,  als 


450         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

jedermann  that  was  er  wollte,  an  einigen  Orten  versuchsweise  wieder 
aufgetaucht.  Zu  Liesing  in  Eärnthen  wurde  noch  in  der  Charwoche 
des  Jahres  1852  auf  dem  Dorfplatze  ein  altes  Passionsspiel  von 
56  Personen  aufgeführt.  Aehnliche  Spiele  fanden  dann  und  wann 
in  Schwaben,  in  Salzburg,  in  Tirol  und  in  der  Schweiz  statt.  Von 
den  Aufführungen,  welche  in  den  fünfziger  Jahren  ein  gewisser 
Schneider  in  der  Neubaukirche  in  Würzburg  veranstaltet  haben  soll, 
bemerkt  ein  Augenzeuge,  sie  seien  nur  eine  jämmerliche  Carricatur 
der  eigentlichen  Passionsspiele  gewesen. 

Berühmte  Schriftsteller,  die  ein  mehr  oder  minder  unbefangenes 
Urtheil  haben  konnten,  trugen  in  den  letzten  Zeiten  dazu  bei,  das 
Oberammergauer  Passionsspiel  in  weiteren  Kreisen  bekannt  zu  machen. 
So  veröffentlichte  der  bekannte  Naturforscher  Oken  als  Augenzeuge 
ein  Referat  über  eine  Aufführung  im  Jahre  1830;  so  erschien  im 
Jahre  1840  eine  Abhandlung  über  denselben  Gegenstand  in  den 
historisch-politischen  Blättern  von  Guido  Görres;  so  gab  endlich  im 
Jahre  1851  Eduard  Devrient  sein  Buch  „das  Passionsspiel  in  Ober- 
ammergau und  seine  Bedeutung  für  die  neuere  Zeit"  heraus.  Alle 
berichteten  von  einer  grossen  Wirkung  des  Spiels,  von  einem  hohen 
ästhetischen  Genüsse;  alle  sehen  darin  eine  culturhistorisch- wichtige 
Erscheinung. 

Dass  das  Oberammergauer  Passionsspiel  so  viele  andere  ähnliche 
Spiele  überlebt  hat;  dass  es  auch  jetzt  noch  von  so  mächtig  er- 
greifender Wirkung  ist;  dass  es  von  Jahrzehent  zu  Jahrzehent  eine 
immer  grössere  Zuschauermenge  heranlockt,  ist  vornehmlich  daraus 
zu  erklären,  dass  es  sich  ja  nach  den  ästhetischen  Anforderungen 
der  Zeit  modificirt  hat,  dass  sowohl  der  Text  des  Stückes  als  die 
Musik  des  Oratoriums  immer  neue  Ueberarbieitungen  erfahren  haben, 
dass  das  stille,  abgelegene  Thal  im  oberbayerischen  Gebirge  unter 
dem  Einflüsse  der  modernen  Geschmacksrichtung  gestanden,  dass 
jene  Gemeinde  von  dramatischen  Dilettanten  auf  die  Rathschläge 
de'r  Städter,  namentlich  der  Münchener  Acht  gegeben  hat. 

Was  die  Aenderungen  der  Textbücher  anbetrifft,  so  sind  dieselben 
in  der  ersten  Hälfte  dieses  Jahrhunderts  durch  den  Pfarrer  Ottmar 
Weiss  zu  Jesewang  (t  1843)  und  später  (1860)  durch  den  Pfarrer 
und  geistlichen  Rath  Joh.  Alois  Daisenberger  von  Oberammergau 
besorgt  worden.  Die  Musik  des  Oratoriums  componirte  der  Lehrer 
Rochus  Dedler  (t  1822);  neu  instrumentirt  wurde  dieselbe  (1860) 
durch    den    Capellmeister  Hünn    in  Landshut.      Isi    also    auch   die 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         451 

Thatsache  eines  solchen  geistlichen  Schauspiels  gleichsam  eine  Er- 
scheinung aus  früheren  Jahrhunderten,  so  hat  sich  doch  die  Form 
desselben  wenigstens  einigermaassen  d^n  Anforderungen  der  modernen 
Zeit  anbequemt.  Erscheint  einem  das  Passionsspiel  auch  als  ein 
Anachronismus,  so  findet  man  doch  in  der  Aufführung  vieles  unserem 
Geschmack,  unserer  ästhetischen  Erfahrung  Entsprechende.  Ist  auch 
das  culturhistorische  Interesse  an  diesem  Volkstheater  überwiegend, 
so  wird  doch  auch  in  vieler  Beziehung  unseren  Anforderungen  an 
die  Kunst  Genüge  gethan.  Es  giebt  da  für  den  Zuschauer  und  Zu- 
hörer Momente  der  höchsten  ästhetischen  Befriedigung. 


Oberammergau  lag  Jahrhunderte  lang  an  der  grossen  Handels- 
strasse, welche  die  oberitalienischen  Handelsstädte  mit  den  grossen 
deutschen  Republiken  Augsburg  und  Nürnberg  verband.  üeber 
Innspruck  und  Partenkirchen,  durch  das  schmale  und  steil  ansteigende 
Defil^  bei  Ettal  zogen  lange  Wagenzüge  über  Oberammergau  nach 
Schongau  und  von  dort  weiterhin  nordwärts.  —  Bei  -  Ettal  hatte 
Ludwig  der  Bayer  bereits  im  14.  Jahrhundert  jenes  Kloster  gegründet, 
dessen  übrigens  neuere  Kirche  mit  stattlicher  Kuppel  und  im  Ver- 
hältniss  zur  abgelegenen  Wald-  und  Berglandschaffc  etwas  zu  an- 
spruchsvolle Architectur  dem  Reisenden  auffallt.  —  Die  Zeiten  der 
Herrlichkeit  der  Klöster  sind  vorbei  und  auch  Ettal  hat  an  Be- 
deutung verloren.  Die  weitläufigen  Klostergebäude  sind,  wie  Aehn- 
liches  in  den  letzten  Zeiten  oft  auch  anderswo  geschehen  ist,  in  eine 
grosse  Brauerei  verwandelt.  Auch  das  Fuhrwesen  früherer  Jahr- 
hunderte konnte  nicht  ein  Haupterwerbszweig  Oberammergau's 
bleiben.  Neue  Strassen  ebneten  sich,  directere  Verkehrslinien  wur- 
den eröffnet,  raschere  Transportmittel  erschienen.  Die  Bilder- 
schnitzerei, schon  früher  ein  sehr  entwickelter  Erwerbszweig  in 
Ammergau,  ist  in  den  letzten  Zeiten  die  Hauptindustrie  geworden. 
Die  feinen,  geschmackvollen  Erzeugnisse  des  Dorfes  finden  sich  auf 
vielen  Märkten  Europa's.  Dadurch  gewinnt  jenes  von  grossen  Ver- 
kehrsstrassen und  lebhaften  Eisenbahnlinien  weit  entfernte  Thal  eine 
Art  kosmopolitischer  Bedeutung.  Die, kleinen  holzgeschnitzten  Kunst- 
werke Oberammergau's  gehen  in  alle  Welt  und  fast  das  ganze  Dorf 
betheiligt  sich  an  deren  Production,  aus  allen  Weltgegenden  kommen 
die  Fremden  nach  Oberammergau  zum  Passionsspiel  und  wiederum 
fast  das  ganze  Dorf  betheiligt  sich  an  dieser  dramatischen  Production, 
welche  in  naher  Beziehung  steht  zu  der  Schnitzkunst.     Holzwaaren 


452  Das  Oberammergauer  Passioiisspiel  im  Jahre  1870. 

und  Passionsspiel  haben  vorwiegend  geistliche  Motive.  In  dem 
Industriezweige  wie  in  der  Kunst  streben  die  Oberammergauer  da- 
nach, die  ausgezeichneten  Vorbilder  der  Albrecht  Dürer,  Lionardo 
da  Vinci,  Rafael,  Rubens  u.  s.  f.  nachzuahmen.  Die  Leistungen 
dieser  einfachen  Landleute  stehen  im  Zusammenhange  mit  den 
schönsten  Epochen  der  Kunstgeschichte.  Von  Kindesbeinen  an 
erwerben  die  Mitglieder  der  Gemeinde  als  Holzschnitzer  und  Schau- 
spieler einen  Kunstsinn,  wie  er  anderswo  an  so  entlegenen  Orten 
nicht  leicht  angetroffen  wird.  Eine  traditionelle  Geschmacksrichtung 
erbt  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fort.  Die  meisten  spielen 
ihr  Leben  hindurch  auf  der  Bühne  des  Passionsspiels,  wenn  auch 
von  Jahrzehent  zu  Jahrzehent  in  anderen  Rollen.  Mit  drei  Jahren 
kommt  manches  Kind  schon  an  der  Hand  seiner  Mutter,  die  eine 
Matrone  aus  Jerusalem  darstellt,  mitten  im  Volkshaufen,  der  den 
Erlöser  nach  Golgatha  ^begleitet,  auf  die  Scene,  spielt  nach  zehn 
Jahren  aber  den  Isaak  in  dem  Bilde  von  dem  Opfer  Abraham's, 
übernimmt  nach  wiederum  zehn  Jahren  etwa  die  Rolle  eines  römi- 
schen Legionärs,  sitzt  nach  zehn  Jahren  in  dem  Synedrium,  welches 
den  Process  des  Heilandes  einleitet,  oder  schwingt  sich  zu  der  Rolle 
eines  Apostels  auf,  um  schliesslich  als  Greis  sich  noch  an  zwei  oder 
drei  Spielen  mit  irgend  einer  Statistenrolle  zu  begnügen.  Sowohl 
in  den  alttestamenjtlichen  Bildern  als  in  dem  eigentlichen  Drama 
sind  hunderte  von  Rollen  zu  vergeben,  und  wer  von  den  Ober- 
ammergauern  nicht  mitspielen  kann  oder  mag,  findet  anderweitige 
Verwendung  bei  dem  Bau  des  Theaters  oder  der  treppenartig  an- 
steigenden Zuschauertribünen,  oder  bei  der  Kasse  oder  bei  dem 
Orchester  oder  bei  der  Insceniriing,  den  Verwandlungen  der  De- 
corationen, bei  der  Garderobe  u.  s.  f.  Ein  so  gross  angelegtes 
Unternehmen  bedarf  einer  grossen  Zahl  von  Anordnern,  Aufsehern, 
Thürstehern  u.  dgl.  m.  Die  Zahl  der  Mitspielenden  wird  auf  400 
Personen  angegeben,  darunter  Kinder  von  drei  Jahren  und  in  höch- 
stem Lebensalter  stehende  Greise;  über  40  Personen  stark  ist  das 
Orchester.  Ueber  hundert  Personen  sind  anderweitig  bei  dem  Spiele 
beschäftigt.  Nur  Oberammergauer  werden  bei  dem  Spiele  zuge- 
lassen. Mit  fast  mittelalterlich-corporativer  Zähigkeit  hält  in  dieser 
Hinsicht  die  Gemeinde  an  ihren  Privilegien  fest.  Einerseits  behauptet 
sich  das  Selbstgefühl  der  Gemeinde  allen  umwohnenden  Bayern  und 
Tirolern  gegenüber;  andererseits  urdnet  sich  der  einzelne  Ober- 
ammergauer dem  Gesammtwillen  der  Gemeinde  unter.  Die  An- 
ordnung des  Spieles,  die  Vertheilung  der  Rollen,  die  wirthschaftliche 


Das  Oberainmergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.  453 

Seite   des  ganzen  Unternehmens    —  alles  wird  als   Gemeindesache 
angesehen   und  behandelt.     Der  Gemeinsinn  —  eine   der  Hauptbe- 
dingungen  der  Erfolge  der  dramatischen  Kunst  —  zeichnet  die  Be- 
strebungen der  Oberammergauer   aus.      Eö    handelt   sich    nicht   um 
Gewinnantheile  fiLr  die  einzelnen  Mitwirkenden  bei  einer  etwaigen 
Reineinnahme,  sondern  allerhöchstens  um  ein  verschwindend  kleines 
Spielhonorar.      Der  grösste   Theil   der  Reineinnahme   wird  zu   Ge- 
meindezwecken,  zur  Tilgung  der  Gemeindeschulden,  zum  Unterhalt 
der  Zeichnen-  und  Modellirschule  verwendet.     Die  Oberammergauer 
betrachten  die  Mitwirkung  als  die  Erfüllung  eines  Gelübdes,  als  ein 
Dank-  und  Bittopfer.     Daher  erklärt  es  sich,  dass  man  bei  den  Auf- 
führungen darüber  staunt,  wie   alle  Mitwirkenden  so  durchaus    bei 
der  Sache  sind,  wie  keinerlei  Zerstreutheit  oder  getheilte  Aufmerk- 
samkeit wahrzunehmen  ist.  Nie  wird  man  hier,  wie  so  oft  auf  gewöhn- 
lichen Bühnen,  im  Hintergrunde  heiter  plaudernde  Statisten  bemerken. 
Ein   auf  den   Zuschauer   wohlthuend  wirkender    Eifer  zeichnet    das 
Spiel  und  die  ganze  Anordnung  aus.     Jeder   thut  seine  Pflicht.     Es 
ist  wie  eine  straflfe  Disciplin,  die  dem  Ganzen  eine  grosse  Sicherheit 
verleiht.     Versehen,   Fehler,  Verspätungen,   Misslingen  irgend  einer 
Art  —  das  alles  kann   nicht  vorkommen.     Indem  die    Kinder  vom 
zartesten  Alter  für  das  Passionsspiel  nait  erzogen  werden,  wächst  das 
Personal    völlig    ins    Spiel    hinein    und    es    entsteht    eine    gewisse 
Tradition  der  Darstellungen  in  Familien,  so  dass  in  solchen  einzelne 
Rollen  erblich  werden.     Zweimal  schon,  1860    und  jetzt  stellt  der 
Bilderschnitzer  Georg  Lachner  den  Judas  dar ;  sein  Vater  spielte  in 
dem  Jahre  1840  diese  Rolle.      Auch  die  Rolle  des  Petrus  hat  sich 
vererbt.    Die  Bildung  der  Schauspieler  wird  durch  eine  Art  Bühne  im 
Schulhause  erzielt,   auf  welcher  viele    dramatische  Spiele  aufgeführt 
werden.     Man   spielt  etwa  „die  heilige   Agathe",   „die  Brüder   Jo- 
seph's",  „die  Eroberung  des  heiligen  Grabes*^  auch  wohl  Lustspiele. 
Mit  unermüdlichem  Eifer  werden  Sänger  und  Sängerinnen  von  dem 
Lehrer,  der  als  Capellmeister  wirkt,  eingeübt.    Die  Kinder  üben  sich 
in    der  Darstellung   lebender  Bilder.     Recht   früh    findet   schon   die 
Vertheilung  der  Rollen  zum  Passionsspiel  statt;   sie  wird  mit  einer 
gottesdienstlichen   Handlung  eingeleitet.      In    der   Frühe   schon  ruft 
dann  die  grosse  Glocke   die  Gemeinde  zu  einem  Hochamte  in   die 
Pfarrkirche;  die   ganze  Gemeinde  betet,   dass  ihr  das  Unternehmen 
gelingen,  dass   die  Wahl  bei   der  Rolleuvertheilung   eine   glückliche 
sein  möge.      Die  Rollen   werden  mittelst   Abstimmung    aller   Theil- 
nehmenden  vergeben.    In  diesem  Jahre  fiel  das  Resultat  so  aus,  dass 


454  Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

Joseph  Meyr,  Besitzer  einer  Handlung  von  Spirituosen  und  feinen 
Liqueuren  und  ausserdem  Holzschnitzer,  die  Rolle  des  Christus  er- 
hielt, die  Rolle  der  Maria  musste  ein  siebenzehnjähriges,  durch 
Schönheit  und  Sittenreinheit  ausgezeichnetes  Mädchen,  Franziska 
Flunzer,  Tochter  des  Zeichnenlehrers  Flunzer  übernehmen,  welcher 
selbst  in  diesem  Jahre  zum  zweiten  male  in  der  Rolle  des  Pilatus 
erscheint.  Der  Hafner  oder  Töpfermeister  Lang  spielte  den  Herodes, 
der  Handelsmann  Lang  den  Kaiphas ;  der  Malerssohn  und  Photograph 
Johann  Zwink  den  Johannes  u.  s.  f.  Von  einem  der  Schutzgeister, 
einem  bildschönen  Mädchen,  welches  durch  ihre  reizende  Stimme  in 
diesem  Sommer  die  Zuhörer  entzückte,  erzählte  man,  sie  habe  sich 
zum  geistlichen  Berufe  entschlossen  und  werde  sogleich  nach  Be- 
endigung des  Spiels  ins  Kloster  gehen.  Mittlerweile  hat  sich  indessen 
ihr  Schicksal  anders  gestaltet:  sie  hat  sich  verlobt.  —  Es  sind  also 
nicht  Bauern,  welche  spielen,  sondern  Industrielle  und  Handwerker, 
zum  Theil  solche  Handwerker,  welche  halbwegs  Künstler  sind.  Von 
eigentlichen  Landleuten,  von  Personen,  die  nur  mit  Pflug,  Egge  und 
Dreschflegel  umgehen,  wären  schwerlich  solche  Leistungen  zu  er- 
warten. Erinnert  man  sich  aber  der  Handwerker  in  Shakespeare's 
Sommernachtstraum,  der  bäuerisch-täppischen  Rüpel.»  die  das  Stück 
von  Pyramus  und  Thisbe  „tragiren^\  so  muss  man  gestehen,  dass 
die  Oberammergauer  auch  nicht  das  allergeringste  mit  dem  Schnock 
und  Zettel  und  Squenz  gemein  haben.  Auf  dieser  Bühne  ist  jeder 
der  ihm  gestellten  Aufgabe  gewachsen.  Theaterintendanten  und 
Schauspieler,  Decorateur  und  Regisseur  —  darüber  herrscht  nur  eine 
Stimme  auch  in  den  Kreisen  Sachkundiger  —  können  von  den  Ober- 
ammergauern  lernen.  Frische  Stimmen  und  anmuthiges  Aeussere 
vereinigen  sich  mit  grossem  Eifer  und  tiefem  Studium;  Hoheit  und 
Würde,  Innigkeit  und  Wärme,  ein  richtiges  Erfassen  der  in  den 
Rollen  vertretenen  Ideen,  ein  sorgfältiges  Achtfei  auf  die  gering- 
fügigsten Aeusserlichkeiten  — '  alles  dieses  bringt  ein  Ensemble  zu 
Wege,  welches  auf  anderen  Bühnen  in  dem  Maasse  sehr  selten  an- 
getroffen werden  dürfte.  Von  dem  Augenblick  der  Rollenv er th eilung 
bis  zu  der  Aufführung  vergehen  mehrere  Monate.  Das  Aussehen  der 
Persönlichkeit,  Haare,  Bart  u.  s.  w.  wird  nach  classischen  Vorbildern 
der  Malerei  der  Rolle  gemäss  geformt,  zugestutzt.  Man  bedarf  keiner 
Perrüken,  keiner  Schminke.  An  den  Sonntagen  werden  probeweise 
einzelne  Stücke  des  ganzen  Dramas  aufgeführt;  diB  musikalischen 
Proben  werden  regelmässig  fortgesetzt;  so  rüstet  man  sich,  vor  dem 
mehrere  tausend  Menschen  zählenden  Auditorium  zu  erscheinen.    Es 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         455 

scheint,  dass  die  Ausstattung  von  mal  zu  mal  reicher,  großsartigerwird, 
was  aus  der  Vergleichung  der  Budgets  der  Aufiführungen  zu  entnehmen 
sein  dürfte.  Im  Jahre  1800  beliefen  sich  sämmtliche  Ausgaben  auf 
655  Gulden,  während  die  Einnahmen  bei  fünf  Vorstellungen  nur 
450  Gulden  betrugen ;  1801  betrugen  die  Ausgaben  672  Gulden  und 
die  Einnahmen  von  vier  Vorstellungen  1015  Gulden.  *)  Im  Jahre 
1850  betrug  die  Gesammteinnahme  24,000  Gulden.  Die  mitwirkenden 
Personen  erhielten  10,000  Gulden;  die  Kosten  für  Herstellung  des 
Theaters,  für  Garderobe,  Malerei,  musikalische  Instrumente  7500 
Gulden,  so  dass  zu  gemeinnützigen  Zwecken  noch  6500  Gulden  ver- 
wendet werden  konnten.  Der  bei  der  Vertheilung  bedachten  mit- 
wirkenden Personen  waren  464,  welche  in  sechs  Classen  geordnet 
waren.  Jede  in  die  erste  Classe  eingereihte  Person  erhielt  80  Gul- 
den; die  andern  Classen  50,  40,  30,  22,  15  Gulden.  Ausserdem 
erhielt  jeder  bei  dem  Passionsspiel  betheiligte  Feiertagsschüler 
9  Gulden;  kleinere  Kinder  und  Werktagsschüler  6  Gulden:  bei 
vierzehn  Vorstellungen,  welche  in  dem  genannten  Jahre  stattgefunden 
hatten,  jedenfalls  ein  sehr  bescheidenes  Spielhonorar.  Im  Jahre  1860 
betrug  die  Gesammteinnahme  bei  einundzwanzig  Vorstellungen  und 
60,000  Besuchern  54,000  Gulden.  Davon  wurden  14,000  Gulden  für 
die  Garderobe  und  Baueinrichtung  und  20,000  Gulden  an  Spiel- 
honorar verausgabt.  Der  Rest  wurde  für  den  Armenfonds^  die  Aus- 
besserung der  Kirche,  für  Wasserbauten,  zu  Darlehen  an  unbemittelte 
Gemeindeglieder  u.  s.  w.  verwendet.  Die  höchste  Prämie  an  die 
Schauspieler  (bei  21  Vorstellungen)  betrug  nur  120  Gulden.  **) 
In  dem  gegenwärtigen  Passionsjahre,  in  welchem  leider  die  Dar- 
steüungeu  durch  den  Ausbruch  des  deutsch-französischen  Krieges 
unterbrochen  worden  sind,  ***)  haben  die  Ausgaben  für  Inscenirung^ 
Garderobe  u.  s.  f.  bereits  die  bedeutende  Summe  von  33,000  Gulden 
betragen,  und  diese  Unkosten  sollen  denn  auch  durch  die  bisher  in 
diesem  Jahre  stattgehabten  Vorstellungen  nahezu  gedeckt  sein. 


Die  Reise  nach  Oberammergau  bietet  mancherlei  Abwechselung. 
Die  meisten  der  Fremden  und  Städter  brechen  von  München  mit  der 
Eisenbahn  auf.  Ich  benutzte  dieselbe  bis  Starnberg,  wo  das  Dampf- 
schiff die  sehr  zahlreiche  Eisenbahngesellschaft  aufnahm.     Die  Fahrt 


•)  Ludwig  Clarus  a.  a.  0.,  S.  56. 

••)  J.  Forsch,  das  Passionsspiel,  Bamberg  1870,  S.  32  u.  33. 

***)  Geschrieben  Ende  Juli. 


456  Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

nach  Seeshaupt  dauert  etwas  über  eine  Stunde.  Etwa  12 — 15  grosse 
Omnibus  erwarteten  uns  an  dem  letzteren  Orte  und  brachten  uns 
nach  etwa  7-sttindiger  Fahrt  nach  Oberanimergau.  Das  herrliche 
Panorama  der  Gebirge,  die  stattlichen  Dörfer,  deren  zwei-  bis  drei- 
stöckige Häuser  bereits  ganz  an  die  schweizerische  Bauart  erinnern, 
das  freundliche  Städtchen  Murnau,  die  oben  bereits  erwähnte,  steil 
den  Berg  hinan  führende  Strasse  von  Oberau  nach  Ettal,  die  Kirche 
an  dem  letzteren  Orte  —  solcher  Art  waren  die  Bilder,  die  den 
Reisenden  umgaben.  In  den  hochgelegenen  kahlen  Schluchten  der 
Berge  sah  man  hier  und  da  noch  Schnee  liegen;  die  Loisach  schäumte 
neben  der  hohen  nach  Ettal  führenden  Strasse  tief  unten  im 
waldigen  Grunde.  —  Ein  buntes  Leben  und  Treiben  auf  dem  Wege. 
Die  Omnibusgesellschaft  bestand  aus  etwa  150  Personen,  zum 
grösseren  Theile  wohl  München  er:  mehrere  Engländer  und  Eng- 
länderinnen zeichneten  sich  dazwischen  durch  absolute  Unkenntniss 
der  deutschen  Sprache  aus.  Einige  geistliche  Herren  hielten  Gebet- 
bücher in  den  Händen;  andere  weltlicher  Gesinnte  studirten  eifrig 
in  dem  unvermeidlichen  und  unentbehrlichen  Bädeker;  wie  eine 
grosse  Wallfahrt  sah  es  aus,  so  oft  diese  geputzten  Herren  und 
Damen,  wenn  die  Strasse  sich  hob,  aus  den  Wagen  steigen  und  eine 
Strecke  zu  Fuss  gehen  mussten. 

Je  mehr  man  sich  dem  Bestimmungsorte  näherte,  desto  lebendiger 
ivurde  es  auf  der  Strasse.  Luxusequipagen  mit  Insassen  aus  den 
höheren  Kreisen  fuhren  in  scharfem  Trabe  recht  vornehm  an  den 
Omnibus  vorüber.  Eine  grosse  Menge  Stellwagen  mit  darüber  ge- 
spannten Leinendächern  enthielt  unzählige  Dorfbewohner  aus  der 
Umgegend  und-  Tirol.  Jubelnd  und  singend  zogen  auch  sie  zum 
geistlichen  Schauspiel.  Lange  Züge  von  Fusswanderern  mit  Rosen- 
kränzen und  schwarzen  Büchern  kamen  vorüber;  Männer,  Frauen, 
alt  und  jung,  die  meisten  murmelten  Gebete,  rastlos  dieselben  Formeln 
wiederholend.  In  diesem  Anblick  tritt  uns  die  Doppelart  des  Passions- 
spiels entgegen;  es  ist  Theater  und  Kirche  zugleich;  es  dient  zur 
Erbauung  und  zum  Vergnügen;  die  Reise  dahin  ist  eine  Wallfahrt 
und  ein  Pickenick;  in  allen  Sprachen  scherzende  Touristen,  die  den 
Kosmopolitismus  vertreten,  und  bayerische  und  tirolische  Alpenbe- 
wohner, die  in  dem  „G'spiel"  eine  Art  Gottesdienst  verehren;  die 
einen  trachten  vorzugsweise  nach  ästhetischer  Anregung  oder  be- 
zwecken culturhistorische  Studien;  die  anderen  wollen  ihren  „Herr- 
gott'^ leibhaftig  schauen,  „durch  die  sinnbildliche  Vorstellung  seiner 
erhabenen  Tugenden  sich  zu  dem  Entschlüsse  entflammen,  in  Demuth, 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         457 

Geduld,  Sanftmuth  und  Liebe  ihm  nachzufolgen."  *)  In  der  Vorrede 
zum  Textbuche,  welches  die  Oberammergauer  haben  dioicken  lassen, 
werden  diese  Vorstellungen  nur  als  „zur  Betrachtung  und  Erbauung" 
veranstaltet  bezeichnet.  Dem  Beschauer  soll  Gelegenheit  gegeben 
werden  „sich  die  grosse  Wahrheit  zu  vergegenwärtigen,  dass  die 
ganze  heilige  Geschichte  nur  ein  Ziel  habe  —  Jesum  Christum"; 
alle  die  „das  göttliche  Urbild  beschauen  und  bewundern,  sollen  es 
zum  Anlasse  nehmen,  sich  zu  seinen  Nachbildern  umzugestalten"  u. 
s.  f.  —  Man  muss  gestehen,  dass  das  Publicum  der  Logenreihen 
auch  andere  Zwecke  verfolgt.  Dass  aber  der  tiefe  Ernst  und  die 
Würde  des  Stoffes  und  der  Darstellung  auf  alle  ohne  Ausnahme 
wirkt,  wird  jeder,  der  einer  Aufführung  beiwohnte,  bezeugen.  Man 
hört  keine  lauten  Aeusserungen  des  Lobes  oder  Tadels.  Die  Zu- 
schauer verhalten  sich  mehr  betrachtend  als  kritisch.  Es  herrscht 
eine  lautlose  Stille.  Nur  ausnahmsweise  bricht  für  Augenblicke,  wir 
werden  darauf  noch  zurückkommen,  eine  etwas  heitere  Stimmung 
hervor,  und  stört  in  peinlicher  Weise  den  allgemeinen  Eindruck. 
Ausserhalb  des  Theaters  aber  herrscht  eine  ungezwungene  FröhJich- 
keit.  Die  allermeisten  Zuschauer  sind  schon  am  Vorabend  der  Auf- 
führung i»  Oberammergau  eingetroffen.  In  allen  Wirthshäusern  ist 
jedes  Plätzchen  besetzt,  alle  Privathäuser,  die  mit  bescheidener  Ein- 
fachheit meist  die  grösste  Sauberkeit  vereinigen,  strotzen  von  Frem- 
den. Ganz  Oberammergau  verwandelt  sich  in  einen  Gasthof.  Eine 
bunte  Menschenmenge  drängt  sich  in  den  Strassen.  Sowohl  am  Sonn- 
abend abends  als  auch  am  Sonntag  morgens  verkünden  Böllerschüsse, 
deren  zwölffaches  Echo^von  den  nächsten  steilen  Felsmassen  wieder- 
hallt, das  Schauspiel.  Die  Dorfmusikanten  in  Joppe  und  spitzem 
Federhut  ziehen  durch  die  Strassen;  geschäftig  sieht  man  einzelne 
Stücke  der  Costüme  der  Mitspielenden,  den  bunten  Flitter  der 
Israeliten,  die  langen  Gewänder  der  Schutzgeister  vorbeitragen;  da- 
zwischen kommen  denn  wohl  auch  Rinderheerden  mit  harmonisch 
gestimmten  Glocken  vorbei.  Besonders  belebt  ist  es  am  Vorabend 
der  Aufführung  bei  „Lang's  Erben",  wo  ein  ausserordentlich  reiches 
Lager  von  Holzschnitzwaaren  ausgestellt  ist. 

Am  Sonnabend  hatten  wir  schönes,  heiteres  Wetter  gehabt. 
Schon  in  der  Nacht  aber  fing  es  an  zu  regnen.  Es  regnete  mit 
wenigen  Unterbrechungen  den  ganzen  Sonntag  hindurch  —  ein  fataler 
Umstand,   da   ein  grosser  Theil  der  Handlung  auf  dem  Proscenium 

•)  Das  grosse  Versöhnungsopfer  auf  Golgatha  oder  die  Leidens-  und  Todes- 
Geschichte  Jesu  etc.    Mülheim  1870.   "Vorrede. 


458         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

und  in  den  Strassen  von  Jerusalem  unter  freiem  Himmel  stattfand 
und  auch  die  Schutzgeister  ihre  Chöre,  Soli  und  Duette  auf  dem 
Proscenium  vortrugen.  Auch  weitaus  der  grösste  Theil  der  Zu- 
schauer befindet  sich  unter  freiem  Himmel.  Es  war  zu  verwundern, 
dass  die  achtstündige  Aufführung  trotz  des  dazwischen  arg  strömen- 
den Regens  zu  Ende  gebracht  werden  konnte.  Man  erzählt  von 
einer  Aufführung  im  Jahre  1750  am  Pfingstfeste,  wobei  „man  den 
Schnee  vom  Theatrum  abkehren  muste,"  *)  auch  wird  berichtet,  dass 
bei  schlechtem  Wetter  die  Spielenden  zur  Schonung  ihrer  Garderobe 
und  ohne  Rücksicht  auf  die  Rolle  rothwollene  Regenschirme  ausge- 
spannt und  so  fortgespielt  hätten  **),  —  bei  der  Aufführung  aber, 
der  wir  beiwohnten,  hielten  die  Spielenden  ohne  Regenschirm  tapfer 
aus;  sie  schienen  so  ergriffen  von  ihren  Rollen,  namentlich  die 
Schutzgeister  so  erhaben  über  so  kleine  Leiden  des  Erdenlebens, 
dass  das  Ausspannen  rothw  ollen  er  Regenschirme  auf  der  Bühne 
geradezu  als  eine  baare  Unmöglichkeit  erscheinen  musste. 

Schon  der  Anblick  der  Bühne  hat  etwas  Imponirendes.  Es  sind 
grosse  breite  Räume,  die  eine  freie  Entfaltung  der  lebensvollen  Volks- 
scenen  zulassen.  Sehr  geschickt  von  oberammergauer  Künstlern 
gemalte  Decorationen,  Vorhänge  lassen  hier  und  da  einige  übrigens 
sehr  verzeihliche  Anachronismen  entdecken.  Die  Strassen  von  Je- 
rusalem zn  beiden  Seiten  des  eigentlichen  Theaters  sind  in  etwas 
modernem  Kasernenstil  gehalten.  Unmittelbar  neben  „der  Bühne 
auf  der  Bühne"  sinjd  auf  der  einen  Seite  das  Haus  des  Kaiphas,  auf 
der  anderen  das  des  Pilatus,  im  Renaissancestil  mit  Balconen.  Auf 
den  letztem  spielen  sich  einige  Verhörscenen  ab ;  von  seinem  Balcon 
herab  spricht  auch  Pilatus  mit  dem  Volk^  und  den  Männern  der 
Synagoge.  Auf  dem  nach  den  Regeln  und  Mustern  der  griechischen 
Baukunst  etwas  zu  hohen  dreieckigen  Giebelfelde,  welches  sich  über 
dem  Vorhange  der  eigentlichen  Bühne  erhebt,  sind  Glaube,  Hoffnung 
und  Liebe  gemalt.  Die  txiebelspitze  krönt  das  Bild  eines  Pelikans 
mit  seinen  Jungen.  Ueber  das  Theater  hinweg  erblickt  man  die 
anmuthigen  Höhen  des  oberammergauer  Thaies,  welche  an  jenem 
Regentage  von  schwerem  dicken  Nebel  bedeckt  waren.  Das  Mit- 
spielen eines  Gewitters,  wie  solche  in  jenen  Berggegenden  oft  vor- 
kommen, zur  entscheidenden  Stunde  der  Kreuzigung,  — ^  ein  früherer 
Zuschauer  erzählt  von  der  ergreifenden  Wirkung  die]ser  Erscheinung 
—  wurde  uns  nicht  zu  Theil.  -  Dagegen  plätscherte  der  Regen  fast 

•)  Clarus  a.  a.  0.,  S.  86. 
••)  Hase  a.  a.*  O.,  S.  136. 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.  459 

unaufhörlich  und  war  besonders  in  der  meisterhaft  angeordneten 
Seene  der  Kreuztragung,  welche  langsam  über  das  Proscenium  ging, 
besonders  stark.  Es  ist  jedenfalls  ein  sprechendes  Zeugniss  von  der 
mächtigen  Wirkung,  dass  das  abscheuliche  Wetter  den  Genuss  der 
Aufführung  nur  in  sehr  geringem  Maasse  beeinträchtigte  und  dass 
nur  sehr  wenige  Personen  den  bis  auf  den  letzten  Platz  besetzten 
Zuschauerraum  verliessen.  Unter  anderen  Verhältnissen,  in  einem 
gewöhnlichen  Theater  wäre  eine  solche  Ausdauer  der  Spielenden 
und  Zuschauer  nicht  denkbar.  Allerdings  hat  das  Drama  einige 
Längen,  welche  vielleicht  vermieden  werden  könnten,  wie  denn 
namentlich  die  Verhandlungen  vor  den  verschiedenen  Geridits- 
instanzen:  Kaiphas,  Pilatus,  Herodes  zu  weit  ausgesponnen  sind; 
allerdings  könnte  man  sich  einige  Recitative  des  Prologs  gekürzt, 
einige  lebende  Bilder  fortgelassen  wünschen,  im  Ganzen  aber  hält 
das  Interesse  an  der  Musik,  an  den  Bildern,  an  dem  Stücke  bis  zu- 
letzt an. 

Diese   drei  Formen    des    Passionsspiels    wollen    wir    gesondert 
betrachten. 

Das  Drama  ist  in  achtzehn  „Vorstellungen'^  getheilt  und  jede 
derselben  wird  durch  Gesang  und  lebende  Bilder  eingeleitet.  Dieses 
von  den  neunzehn  „Schutzgeistern"  gesungene  Oratorium  unter- 
bricht also  die  Handlung  in  jedem  Zwischenact.  Der  Chor  ver- 
mittelt einerseits  zwischen  den  lebenden  Bildern,  deren  Stoffe  aus 
dem  alten  Testament  entlehnt  sind,  und  dem  eigentlichen  Passions- 
spiel, andererseits  zwischen  dem  Publicum  und  allem,  was  auf  der 
Bühne  vorgeht.  In  früheren  Zeiten  erschien  ausser  dem  Prolog, 
welcher  sich  bis  jetzt  als  Chorführer  erhalten  hat,  und  in  diesem 
Jahre  durch  einen  bildschönen  Mann  und  ausgezeichnet  tüchtigen 
Sänger  vertreten  ist,  noch  ein  Passionsgenius  oder  „Argumentator", 
welcher  die  bedeutendsten  Scenen  dem  Publicum  erklärte.  Eine 
ähnliche  Stellung  nimmt  jetzt  der  Chor  der  Schutzgeister  ein.  Er 
zieht  die  Summe,  er  fällt  das  Urtheil,  er  klagt,  tadelt,  jauchzt,^ 
triumphirt  in  lyrischen  Ergüssen  bei  Gelegenheit  der  Vorgänge  auf 
der  Bühne,  erläutert  die  lebenden  Bilder  sowohl  als  die  einzelnen 
Phasen  der  Leidensgeschichte,  macht  auf  den  Zusammenhang  beider 
aufmerksam;  er  steht  über  der  Handlung,  reflectirt  in  hohem,  pro- 
phetischem Predigtton  über  dieselbe.  Recitativisch,  an  einzelnen 
Stellen,  namentlich  vor  der  16.  Vorstellung,  welche  den  Gang  nach 
Golgatha  zum  Gegenstande  hat,  melodramatisch,  stellweise  choralartig 
und  mit  Begleitung  von  Blasinstrumenten  wie  z.  B.  unmittelbar  vor 


460         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

der  Kreuzigung,  mit  steter  Abwechselung  von  Duetten,  Soli  und 
Chören  ist  die  Musik  der  Zwischenacte  ein  vollständiges  Oratorium. 
Sie  ist  einfach  gehalten  und  dürfte  in  Stil  und  Charakter  am  aller- 
meisten sich  mit  den  Haydn'schen  Compositionen  dieser  Gattung 
vergleichen  lassen.  Oft  wird  man  unwillkürlich  an  die  „Schöpfung' 
oder  die  „Jahreszeiten"  erinnert.  Heiter  und  weltlich,  dazwischen 
froh  und  jubelnd  sind  diese  Arien  gehalten,  deren  Melodien  leicht 
fasslich,  bisweilen  etwas  trivial  sind,  die  aber,  bis  auf  einige  Soli, 
welche  schwächer  und  nicht  ganz  correct  gesungen  wurden,  durch- 
gängig meisterhaft  eingeübt  und  vorgetragen,  die  Wirkung  des  ganzen 
Passionsspiels  erhöhen,  wir  möchten  sagen,  wesentlich  bedingen.  Es 
ist  wohl  über  die  Länge  dieser  musikalischen  Zwischenacte  geklagt 
worden,  man  hat  die  Bemerkung  gemacht,  das's  (tes  Interesse  an 
der  Handlung,  je  näher  dieselbe  der  Katastrophe  komme,  diese  lyri- 
schen Pausen  des  Dramas  fast  lästig  erscheinen  lasse;  wir  können 
diese  Ansicht  nicht  theilen  und  haben  bis  zum  Schlüsse  mit  beson- 
derer Genugthuung  die  Schutzgeister  immer  wieder  auf  dem  Pro- 
scenium  erscheinen  sehen.  Auch  erregte  diese  Leistung  der  Ober- 
ammergauer als  solche  am  meisten  unsere  Bewunderung.  In  dem 
Drama  erfordern  nur  die  hervorragenden  Rollen  ein  tieferes  Studium, 
während  die  Rolle  der  grossen  Masse  des  Volks,  die  Rollen  der 
Kriegsknechte  u.  dgl.  den  Fähigkeiten  so  mancher  einfacher  Land- 
leute leicht  entsprechen  mögen;  bei  den  lebenden  Bildern  wird  nur 
von  denjenigen  Kunstverständniss  und  Kunstübung  erfordert,  welche 
die  Gruppen  ersinnen  und  aufstellen,  die  Anordnungen  wegen  der 
Decorationen  und  Costüme  treffen,  während  es  sich  bei  der  grossen 
Masse  der  Darsteller  in  den  lebenden  Bildern  um  nicht  viel  mehr 
als  um  einige  Dressur  handelt;  bei  der  Musik  dagegen  ist  es  ein 
Orchester  von  etwa  70  Personen  und  ein  Chor  von  neunzehn 
Sängern  und  Sängerinnen,  welche  ein  prächtiges ,  ungemein  ent- 
sprechendes Ensemble  zu  Wege  bringen,  und  dazu  gehört  sowohl 
viel  Anlage  und  Talent,  als  auch  unermüdlicher  Eifer  bei  jedem  Ein- 
zelnen. Man  muss  die  Präcision  der  Ausführung  bewundern.  In 
einem  so  grossen,  unbedeckten  Raum,  vor  einem  Publicum  von 
6000  Personen  erscheint  der  Chor  aus  nur  neunzehn  Stimmen  be- 
stehend uns  daher  so  überraschend  voll  und  stark,  weil  da  eben  ein 
jeder  so  überaus  gewissenhaft  das  Seine  dazuthut  um  die  Gesammt- 
Wirkung  zu  erhöhen.  Einzelne  der  Stimmen  setzen  durch  ihre  Kraft, 
Sicherheit  und  Frische  in  Erstaunen.  Der  Chorführer  oder  Prolog 
imponirt  durch  die  Würde  seiner  Haltung,  den  Adel  seiner  Erscheinung, 


DnB  Oberammergauer  Passions^piel  im  Jahre  1870.        46% 

die  Energie  seiner  Stimmmittel;  zwei  weibliche' Schutzgeißter,  eine 
Alt-  und  eine  Sopranstimme,  leisten  in  der  That  Ungewöhnliches.  Der 
Chor  bringt  eine  weihevolle  Stimmung  in  das  Ganze;  er  weist  hin 
sowohl  auf  das  Detail  der  einzelnen  Vorgänge  in  den  Bildern  und 
im  Drama,  ak  auch  auf  die  ewigen  Wahrheiten,  die  grossen  Ideen, 
welche  dem  Passionsspiel  zu  Grunde  liegen.     Er  hat  eine  prieater- 
liche   Stellung.      Mit  einem   steifen,    aber  eben  deshalb  wirkungs- 
reichen  Ceremoniell   erscheinen   die   Schutzgeister   von    rechts  und 
links   in   langer   Reihe   auf  dem    Proscenium,   in   geschlechtslosem 
Costüm,   in   langen   bunten    aber   einfarbigen  Gewändern,   wie  im 
königlich-priesterlichen  Staate   mit  Diademen  geschmückt.      Mano)^ 
reizender  Lockenkopf  dieser  Landmädchen    trägt   diesen   Reif  mit 
Hoheit  und  Demuth  zugleich.     Würdevoll  und  angemessen  sind  die, 
vielleicht  etwas  zu  gehäuften,  Declamationsbewegungen  der  Arme, 
mit  denen  die  Schutzgeister  ihren  Gesang  begleiten.    Bei  jedesmaligem 
Hervortreten   macht   der  Prolog   mit    einigen  gesprochenen  Worten 
den  Anfang;  hierauf  folgt  der  Chor,  der  von  einer  Arie  oder  von 
einem  Duett  unterbrochen  wird.     Letztere  Gesangsstücke  begleiten 
die  lebenden  Bilder,  während  der  Chor  auseinandertritt,  um  sich  zu 
beiden  Seiten  der  Mittelbühne  aufzustellen*     Ist  dann  nach  einig^a 
Minuten  der  Vorhang  der  Mittelbühne  wieder  gefallen,  so  tritt  die 
Reihe   der  Schutzgeister  wieder  in  den  Vordergrund  und   es  folgt 
wiederum  der  ununterbrochene  Chorgesang,  nach  dessen  Beendigung 
die  Schutzgeister  wiederum    in   langer  Reihe   zu  beiden  Seiten  ab- 
gehen. *)     Von  den  Muisikstücken  sind  besonders  hervorzuheben,  das 
Sopransolo  vor  der  dritten  Vorstellung  „Wo  ist  er  hin?*,  das  unbe- 
schreiblich ergreifend  gesungen  wurde,  der  Chor  vor  der  17.  Vor- 
stellung:' „Liebe !  Liebe!  in  dem  Blute,"    ein  Duett  aus  dem  Halle- 
lüja  der  Schluss Vorstellung,  der  Gesang  bei  der  Fusswaschung  vor 
dem  Abendmahl  u.  s.  f.     Es  ist  sehr  zu  beklagen,  dass  das  Oratorium 
nicht  im  Druck  erschienen   ißt,    also   weiteren   Kreisen  ganz  unzu- 
gänglich bleibt,  während  es  in  der  That  Verbreitung  verdiente.    Als 
Grund  der  Nichtveröflfentlichung   dieser  Composition  wird  die  Be- 
sorgniss  der  Oberammergauer  angeführt,  es  möchte,  wenn  auch  das 
Oratorium  allgemein  bekannt  würde,  leicht  eine  Nachahmung   des 
Passionsspiels  an  anderen  Orten  versucht  werden.     Diese  Besorgniss 
erscheint  völlig  unbegründet.     Es  gehört   die  Tradition  und  Ktmst- 
übung  von  Jahrzehnten  und  Jahrhunderten  dazu,  anderer  Bedingungen 


*)  Die  Zahl  der  Schatzgeister  nimmt  zu.    1860  gab  es  deren  nur  17. 
Baltische  Monatsschrift,  K.  Folge,  Bd.  I,  Heft  9  u.  10.  31 


463         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

zu  geschweige!!,  am  das  za  Stande  zu  bringen,  was  die  Oberammer- 
gauer leisten.  An  eine  irgendwie  gelungene  Nachahmung  des 
ganzen  Unternehmens  wäre  nicht  zu  denken.  Es  wäre  zu  wünschen, 
dass  solche  zünftische  Bedenken  beseitigt  würden.  Wir  sind  im 
Qegentheil  überzeugt,  dass  die  Verbreitung  der  Eenntniss  des  Ora- 
toriums dazu  beitragen  würde,  die  Frequenz  des  Besuchs  der  Spiele 
zu  steigern. 

Der  Chor  der  Schutzgeister  ist  durchaus  undramatisch.  Er  ist 
rein  lyrisch  und  didaktisch.  Früher  erschienen  diese  Genien  mit 
den  Werkzeugen  des  Leidens  Christi  in  den  Händen.  Jetzt  ist  auch 
dieses  Beiwerk  beseitigt.  Recht  wirkungsvoll  ist  das  Erscheinen 
des  Chors  zu  der  Vorstellung  der  Kreuzigung  in  schwarzen  Mänteln 
mit  schwarzen  Diademen. 

Was  den  Text  der  Gesänge  anbetrifft,  so  ist  er  nur  zum  Theil 
ansprechend.  Es  kommen  viele  alttestamentliche  Specialitäten  zu 
Tage^  man  muss  mit  der  jüdischen  Geschichte  recht  vertraut  sein, 
um  mit  Namen  wie  Gabaa,  Amasa,  Vasthi,  Dothaim,  Ramoth, 
Naboth  u.  s.  w.  Begriffe  zu  verbinden.  —  Die  Dichtung  er- 
innert bisweilen  an  den  Ton  BQopstock's;  sie  ist  pathetisch,  rhetorisch. 
An  einzelnen  Stellen  geht  sie  über  die  Mittelmässigkeit  gewöhnlicher 
Oratorientexte  zu  grösserer  Höhe  hinauf.  Sehr  ansprechend  ist  z.  B. 
der  Text  zu  dem  Bilde  „die  liebende  Braut  beklagt  den  Verlust 
ihres  Bräutigams".     (Hohelied  5,  17.) 

Solo:  Wo  ist  er  hin?  Wo  ist  er  hin 

Der  Schöne  aller  Schönen? 
Mein  Ange  weinet,  achl  nm  ihn 
Der  Liebe  heisse  Thränen. 

Ach  komme  dochl  ach  komme  doch, 
Sieh*  diese  Thränen  fliessen, 
Geliebter  I  wie  du  zögerst  noch, 
Dich  an  mein  Herz  zu  schliessen. 

Mein  Auge  forschet  überall 
•   Käch  dir  auf  allen  Wegen; 
Und  mit  der  Sonne  erstem  Strahl 
Eilt  dir  mein  Herz  entgegen. 

Weehselgesang:      Geliebter!  ach,  was  fühle  ich?. 

Wie  ist  mein  Herz  beklommen! 
Geliebte  Freundin,  tröste  dich! 
Dein  Freund  wird  wieder  kommen. 


Das  Oberammergaaer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.        468 

0  harre  Freundin  I  bald  kommt  er, 
Schliesat  sich  an  deine  Seite, 
Dann  trübet  keine  Wolke  mehr 
Des  Wiedersehens  Freude.  —  u.  s,  f. 

Der  Gesang  der  Schutzgeister  und  die  dem  alten  Testamente 
entlehnten  lebenden  Bilder  gehören  zusammen.  Die  letzteren, 
zwischen  die  Vorstellungen  des  eigentlichen  Dramas  hineingeschoben, 
vermitteln  so  den  Zusammenhang  des  alten  und  neuen  Bundes.  Die 
Analogien  sind  oft  etwas  keck  gewählt,  wie  denn  z.  B.  die  Rettung 
des  Jonas  aus  dem  Bauche  des  Wallfisches  mit  der  Auferstehung, 
die  Verstossung  der  Vesthi  und  Erhebung  der  Esther  durch  König 
Ahasver  mit  dem  letzten  Gange  nach  Jerusalem,  die  Arbeit  Adam's, 
der  im  Schweisse  seines  Angesichtes  sein  Brod  essen  muss,  mit  dem 
Gebet  in  Gethsemane  zusammengestellt  wurden.  —  Im  Ganzen  wer- 
den acht  und  zwanzig  Bilder  gezeigt,  darunter  einige,  in  denen  etwa 
300  Personen,  darunter  viele  Kinder,  auf  der  Bühne  erscheinen. 
Ein  solches  Gedränge  auf  relativ  engem  Räume,  wie  es  bei  dem 
Bilde  „Joseph  wird  als  Landesvater  dem  Volke  vorgestellt'*  oder 
bei  dem  vorletzten  Bild  „das  Volk  Israel  zieht  trockenen  Fusses 
durch  das  Rothe  Meer"  vorkommt,  wirkt  nicht  malerisch.  Indessen 
muss  man  erstaunen  über  die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  so  grosse 
complicirte  Gruppen  sich  aufstellen  und  über  die  Ausdauer,  mit 
welcher  selbst  die  kleinen  Kinder  mehrere  Minuten  lang  in  der  vor- 
geschriebenen Stellung  verharren.  Kein  Glied  regt  sich,  keine 
Wimper  zuckt.  Wie  Wachsfiguren  stehen  diese  Menschen  da,  die 
sich  zum  Theil  durch  ungewöhnliche  Schönheit  auszeichnen,  wie 
z.  B.  Joseph  in  dem  soeben  erwähnten  Bilde,  oder  Adam.  Mögen 
auch  einige  Bilder  weniger  geschmackvoll  sein,  wie  z.  B.  Jonas  mit 
dem  Wallfische,  die  Losung  zwischen  zwei  Böcken,  von  denen  der 
eine  entlassen,  der  andere  für  die  Sünden  des  Volkes  geschlachtet 
wird,  oder  der  Untergang  der  Feinde  des  Volkes  Israel  im  Rothen 
Meere,  so  sind  doch  andere  von  überraschender  Wirkung.  Ein 
prächtiges  Bild,  „der  Herr  giebt  dem  Volke  das  Manna  und  die 
Weintrauben  aus  Kanaan'^  zeugt  ganz  besonders  von  einer  sehr 
grossen  Geschicklichkeit  in  Inscenirung  und  Gruppirung.  Sehr  ge- 
lungene Bilder  sind  „die  Vertreibung  Adam's  und  Eva's  aus  dem 
Paradiese",  „der  Abschied  des  jungen  Tobias  von  seinen  Aeltem", 
„die  liebende  Braut  beklagt  den  Verlust  ihres  Bräutigams^*,  „die 
Söhne  Jakob's    verkaufen    ihren  Bruder   um   zwanzig  Silberlinge". 

Man  merkt  es  wohl,  dass  diesen  Bildern  herrliche  Schöpfungen  von 

31* 


4iM         JHm  Oberammergaaer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

ran  Eyck,  Dürer,  Holbein  u.  s.  w.  zuxp  Muster  gedient  haben.  Von 
wahrhaft;  grossartiger  Wirkung  ist  die  Himmelfahrt  Christi,  wobei 
die  versammelte  Gemeinde  in  massiger  und  daher  um  so  malerischer 
wirkender  Menge  von  Personen  in  Verehrung  sich  vor  dem  erhabenen 
Schauspiel  des  Auferstandenen  beugt;  Christus  mit  rothseidenem 
Mantel,  die  grosse  Fahne  mit  dem  rothen  Kreuze  in  der  Hand  schwebt 
empor,  unbeschreiblich  rührende  Kindergestalten,  Greise,  Männer  und 
Frauen  stehen  und  knien  umher.  Es  ist  dieses  zugleich  das  letzte 
lebende  Bild  und  die  letzte  Scene  im  Drama,  von  dem  Halleluja 
der  Schutzgeister  begleitet. 

Das  eigentliche  Drama  hält  sich  möglichst  an  die  Bibel worte, 
vornehmlich  in  der  Rolle  des  Christus.  Volksscenen,  die  Satzungen 
in  der  Synagoge,  die  Verhöre  und  Verhandlungen  vor  Kaiphas, 
Pilatus,  Herodes  sind  freier  behandelt,  und  von  geringerem  poetischen 
Werthe.  Dazwischen  giebt  es  Plattheiten  und  Trivialitäten,  wenn 
es  z.  B.  vom  Judas  heisst,  er  habe  wahrscheinlich  schon  ^  da  er 
Seekelmeister  sei,  „sein  Schäflein  im  Trocknen''.  Auch  bei  dem 
Drama  hat  man  übrigens  in  den  letzten  Zeiten  noch  manche  passende 
Aenderungen  gemacht  Petrus  in  der  Verleugnungsscene,  welche 
übrigens  vortrefflich  genrebildartig  dargestellt  wird,  schwor  früher 
recht  cavaUermässig:  „bei  meiner  Ehre",  was  jetzt  nicht  mehr  vor- 
kommt. Die  Mitwirkung  der  Engel  reducirt  sich  jetzt  auf  nur  sehr 
wenige  Augenblicke;  während  früher  z.  B.  zwei  Engel  in  weissen 
Kleidern  und  mit  wollenen  weissen  Handschuhen  den  Grabstein  vor 
der  Auferstehung  umwarfen,  fällt  der  Stein  jetzt  von  selbst  um.  Es 
ist  lobend  anzuerkennen,  dass  die  Direction  allzu  drastische  Effecte 
zu  vermeiden  sucht.  Ein  edles  Maasshalten  ist  die  Regel.  Beson- 
ders vor  einem  Auditorium,  welches  seinem  grössten  Theile  nach  den 
niederen  Volksclassen  angehört,  wäre  es  sehr  gefährlich,  irgendwie 
stark  aufzutragen.  Obgleich  die  Stimmung  der  Zuhörer  im  Ganzen 
»ehr  ruhig  und  würdig  ist,  kommen  doch  Momente  der  Unter- 
brechung dieser  Stimmung  durch  Heiterkeit  vor  und  solche  Störungen 
beeinträchtigen  in  peinlichster  Weise  die  Wirkung  des  Passionsspiels. 
Als  Christus  die  Krämer  au&  dem  Tempel  verjagt  und  die  befreiten 
Tauben  lustig  fortflattern,  wird  gelacht.  Mag  Christus  mit  noch  so 
viel  Würde  und  Mässigung  einem  der  Wechsler  einen  leichten  Schlag 
versetzen,  —  das  Publicum  wird  heiter.  Als  Petrus  dem  Malchuf 
das  Ohr  abhaut,  •—  entsteht  Gelächter.  Das  Krähen  des  Hahnes,  in 
der  Verleugnungsscene  erregt  eine  frohe  Stimmung;  ebehso  wirkte 
das  gierige  Einstreichen  der  Silberlinge  durch  Judas  auf  das  Publicum 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         46S 

als  eine  Burleske,  während  es  durchaus  nicht  allzu  chargirt  gespielt 
wurde.  Die  grösste  Heiterkeit  aber  erregte  der  Pudel  in  dem  Bilde 
ron  Tobias.  Kaum  hatte  der  Vorhang  sich  zur  Hälfte  gesenkt,  als 
das  Thier,  welches  mehrere  Minuten  lang  wie  ausgestopft  gelegen 
hatte,  aufsprang  und  mit  dem  Schwänze  wedelte.  Ein  schallendes 
Gelächter  war  die  Folge.     Solche  Episoden  sind  gefährlich. 

Dass  hier  und  da  der  oberammergauer  Dialect,  namentlich  in 
den  Volksscenen,  auch  wohl  in  den  Sitzungen  der  Synagogen  das 
Hochdeutsch  unterbricht,  in  welchem  sonst  gesprochen  wird,  ist  nicht 
störend.  Die  Hauptpersonen  lassen  sich  übrigens  dergleichen  nie  zu 
Schulden  kommen. 

Das  stumme  Spiel  aller,  der  Hauptschauspieler  sowohl  als  der 
Statisten  ist  bewundernswürdig.  Jeder  thut  seine  Pflicht  mit  grösstem 
Eifer;  das  Zusammenspiel  ist  vortreflflich.  Wenn  die  Volksmenge 
ruft,  schreit,  jauchzt,  fordert,  klagt,  so  ist  jedes  Wort  zu  rerstehen. 
Wenn  das  Volk  schreit:  „er  sterbe"  oder  „gieb  uns  den  Barrabas 
los",  so  ist  die  Wirkung  bei  einer  so  gewaltigen  Zahl  von  Statisten 
und  solcher  Virtuosität  imposant.  Hier  wie  in  den  lebenden  Bildern 
muss  man  die  Aufstellung  in  Gruppen  bewundern.  Bei  einem  so 
gewaltigen  Gedränge  kommt  nie  irgend  eine  Unordnung  vor.  Es 
muss  ein  bedeutendes  Studium  der  Darstellung  dieser  Volksscenen 
vorausgehen,  deren  vollendete  Technik  selbst  einen  so  gewiegten 
Kenner  wie  Eduard  Devrient  überraschte.  Einen  ungemein  fesselnden 
Anblick  bietet  gleich  die  erste  Scene  des  Einzuges  Christi  in  Jeru- 
salem, wo  sich  alle  Räume  der  Bühne  mit  malerischen  Gruppen 
ftlllen  und  die  Buntheit  der  Costüme,  die  Schönheit  des  Gesanges 
„Hosianna",  die  Hoheit  und  Würde,  die  Milde  und  Sanftmuth  des 
Heilandes,  der  nach  Frauenart  auf  einer  Eselin  reitet,  die  vielen 
reizenden  Kindergestalten  —  einen  wunderbaren  Eindruck  hervor- 
bringen. Sehr  beachtenswerth  ist  die  Schnelligkeit,  mit  welcher, 
während  der  Zug  sich  aus  der  Strasse  rechts  auf  die  Mittelbühne, 
von  da  in  die  Strasse  links  und  auf  das  Proscenium  fortbewegt,  auf 
der  Mittelbühne  die  Decoration  der  Landschaft,  welche  Jerusalem 
umgiebt,  in  den  Tempel  verwandelt  wird,  wo  Christus,  als  er  von 
der  Eselin  absteigt,  sogleich  die  Wechsler  antrifft. 

Hier  folgt  dann  gleich  die  Schürzung  des  Knotens  im  Drama. 
In  imposanter  Haltung  tadelt  Christus  die  Wechsler.  Mit  unnach- 
ahmlicher Würde,  an  die  Kraft  des  Spiels  eines  Davison  oder  Dessoir 
bei  ähnlichen  Gelegenheiten  erinnernd,  wirft  er  einen  Wechslertisch 
um  und  verjagt  alle  Krämer.    Damit  ist  sein  Schicksal  beschlossen. 


466         Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870. 

fjin  solcher  Eclat  dient  als  Handhabe  ihn  zu  verderben.  Alles  dreht 
sich  nachher  etwas  „gemein  pragmatisirend^,  wie  Hase  treffend  be- 
merkt, um  diese  Episode  mit  den  Wechslern^  und  die  Elatastrophe 
entwickelt  sich  so  gut  wie  ausschliesslich  aus  dem  Zorn  der  Schacher- 
juden und  der  Habsucht  des  Judas.  Die  Sitzungen  der  Synagoge, 
welche  übrigens  vortrefflich  gespielt  werden,  geben  uns  nicht  eigent- 
lich den  Eindruck,  dass  es  sich  hier  um  zwei  grosse,  einander  feind- 
liche Principien  handelt,  welche  für  die  Welt  entscheidend  waren. 
Die  neuen  Ideen  des  Christenthums  im  Gegensatz  zum  Judenthume 
kommen  nicht  zur  Geltung.  Sie  sind  dramatisch  nicht  zu  verwerthen. 
Die  eigentliche  Handlung  muss  daher  ihren  Angelpunkt  in  der  Ge- 
schichte mit  den  Schacherjuden  und  der  Geldspeculation  des  Judas 
haben.  In  diesem  Punkte  ist  das  eigentliche  Passionsspiel,  das 
Drama,  wenn  man  sich  des  grossen  Stoffes  erinnert,  unbefriedigend. 
Man  empfindet,  wie  nothwendig  es  ist,  das  Drama  durch  die  Lyrik 
der  Schutzgeister  zu  ergänzen. 

Denn  die  Rolle  des  Christus  selbst  ist  undramatisch.  Er  ist  der 
Held  eines  Trauerspiels  oder  soll  es  sein,  aber  er  handelt  mit  der 
einzigen  Ausnahme  dieses  Vorgehens  gegen  das  Unwesen  im  Tempel 
gamicht.  Er  leidet  nur;  er  spricht  wenig.  Selbst  sein  stummes 
Spiel  ist  dadurch  sehr  beeinträchtigt,  dass  sein^  Hände  während 
des  grössten  Theiles  des  Stückes  gebunden  sind.  Eben  weil  die 
Rolle  des  Christus  sonst  durchweg  lyrisch  ist,  wirkt  die  Scene  mit 
den  Schacherjuden  ausserordentlich  dramatisch.  Aber  damit  ist  es 
denn  mit  der  eigentlichen  Handlung  der  Hauptperson  zu  Ende.  Er 
sieht  seine  Katastrophe  an  sich  herankommen ;  er  ist  nur  stimmungs- 
voll bewegt,  ohne  alle  Leidenschaft,  ohne  Affect,  wie  dieses  natürlich 
der  Rolle  entspricht.  Der  klagende  Ton  seiner  metallreichen  Stimme 
rührt  uns,  aber  wirkt  nicht  dramatisch;  der  Held  des  Trauerspiels 
erscheint  sogar  welk,  lebensmüde,  während  der  Verhöre,  die  mit 
ihm  angestellt  werden,  ohne  allen  Schwung.  Er  leidet.  Es  ist 
eben  ein  Passionsspiel,  kein  Drama. 

Dabei  wird  aber  Jedermann  das  Spiel  dieses  Christus  bewundem 
müssen.  Es  zeugt  von  nicht  geringer  Begabung  und  tief  eingehendem 
Studium.  Schon  das  Aeussere  dieser  hoheitblickenden  Erscheinung 
erinnert  an  die  herrlichsten  Schöpfungen  der  Malerei.  Die  Auf- 
fassung auch  dieser  Rolle  ist  ohne  Zweifel  in  Oberammei^u 
traditionell.  Die  Darsteller  der  verschiedenen  Jahrzehnte  werden 
sich  vermuthlich  mehr  durch  Aussehen  und  Stimme,  als  durch  ihr 
Spiel  von  einander  unterscheiden.     Das  Erscheinen  des  Christus  auf 


Das  Oberammergauer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.         467 

der  Bühne  übt  eine  mächtige  Wirkung  auf  den  Zuschauer.  Devrient 
bemerkt  in  seinem  Buche  über  das  Passionsspiel  folgendes:  ,yDen 
wunderbarsten  Eindruck  macht  es,  den  Heiland,  diesen  vertrautesten 
Gegenstand  unserer  Einbildungskraft  von  Kindheit  an,  diese  Qestalt, 
die  schon  in  unzähligen  Bildwerken  vor  uns  gestanden,  leibhaftig 
vor  uns  wandeln  zu  sehen;  zu  hören,  wie  er  das  Volk  belehrt,  dieses 
ihn  dafür  preist,  und  wie  er  den  Anfechtungen  der  Schrifgeiehrten 
begegnet.  —  Hier  konnte  von  keiner  Entweihung  unserer  Vorstellung 
vom  Erlöser  die  Rede  sein,  sondern  sein  geistiges  Bild  erhielt  durch 
sein  leibhaftiges  Dasein  unter  den  anderen  Menschen  eine  so  über- 
zeugende Wirklichkeit,  das  alles,  was  ich  längst  von  seinem  Erden- 
wandel und  Leiden  mir  klar  gemacht  zu  haben  glaubte,  doch  nun 
erst  eigentliche  Lebendigkeit  erhielt.^ 

Von  grosser  Weichheit  und  Zartheit  ist  das  Spiel  des  Christus 
in  der  Scene  des  Abschiedes  von  Bethanien;  besonders  ergreifend 
das  Qebet  in  Gethsemane.  Der  Vorwurf  an  die  schlafenden  Jünger: 
„Vermöget  Ihr  nicht  eine  Stunde  mit  mir  zu  wachen**,  wird  meister- 
haft gesprochen.  Ausgezeichnet  ist  das  stumme  Spiel  bei  der  Fuss- 
waschung  und  dem  durchaus  an  Lionardo  da  Vinci's  Bild  erinnernden 
Abendmahl,  bei  der  Geisselung  und  der  Versöhnung  durch  die 
^iegsknecht^  sowie  in  den  letzten  Scenen  der  Katastrophe.  —  Von 
ungewöhnlicher  Wirkung  ist  es,  wenn  Christus  auf  die  Frage,  ob 
^r  der  Messias  sei,  antwortet:  „Ich  bin  es,  Ihr  seht  es,**  und  wenn 
er  bei  der  Gefangennehmung  mit  seinem  würdevoll  gesprochenen 
^Ich  bin  es^^  sich  zu  erkennen  giebt,  als  nach  dem  Jesus  von  Naza- 
reth  gefragt  wird.  Mit  unvergleichlichem  Anstand  behauptet  er  seine 
Würde  bei  allen  Misshandlungen,  auch  dann,  als  er,  wie  die  Kriegs- 
knechte ihn  als  König  verspotten,  vom  Stuhle  gestürzt  wird. 

Es  ist  wohl  gesagt  worden,  dass  das  dramatische  Interesse  gegen 
das  Ende  des  Stückes  hin  sich  steigere.-  Man  ist  allerdings  begierig 
zu  sehen,  wie  die  Inscenirung  der  Kreuzigung  und  Auferstehiuig  aus- 
falleji  werde;  sonst  ist  man  in  dem  Stoffe  zu  sehr  zu  Hause,  um 
auf  die  Vorgänge  als  solche  gespannt  zu  sein.  Die  Ejreuzigung  ge- 
währt einen  eigenthümlichen  Anblick.  Als  der  Vorhang  bei  der 
16.  Vorstellung  sich  hebt,  erblickt  man  die  Schacher  bereits  an  ihren 
Kreuzen  hängend.  Christus  ist  an  ein  Kreuz  genagelt,  das  am  Boden 
liegt  und  das  während  der  Action  aufgerichtet  wird.  Man  muss  die 
Technik  bewundern,  mit  welcher  der  Körper  an  dem  Holze  be- 
festigt ist  und  ebenso  die  Ausdauer  des  Darstellers,  welcher  22  Mi- 
nuten hindurch  in  einer  solchen  Stellung  verbleibt.    Die  Worte  am 


468         Dm  Oberammergaaer  Pamonsspiel  im  Jahre  1870. 

Eremze  werdea  besonders  ergreifend  gesprochen,  das  Sterben  und 
der  Tod  sehr  naturwahr  gespielt.  Das  Leiden  ist  roUendei  Was 
damit  fär  die  Menschheit  gethan  ist,  erkennt  man,  wie  schon  ge- 
sagt, weit  weniger  ans  dem  Stück  selbst  als  aus  den  Bildern  und 
dem  Oratorium. 

Im  Gegensatz  zu  der  mehr  lyrischen  Rolle  des  Christas  ist  die 
des  Judas  entschieden  dramatisch.  Die  letztere  ist  mit  feiner  Cha- 
rakteristik, mit  psychologischer  Wahrheit  gezeichnet.  Der  schroffe 
Gegensatz  des  Judas  zu  den  übrigen  Aposteln  und  der  nächsten 
Umgebung  des  Heilandes  überhaupt  ist  sehr  drastisch  dadurch 
wiedergegeben,  dass  alle  anderen  Figuren  ebensowenig  dramatisch 
sind,  wie  die  des  Christus  selbst,  während  bei  dem  Judas  eine  That 
ist,  eine  Schuld  und  eine  Sühne.  In  längeren  Monologen  des  Judas» 
in  manchen  Aeusserungen  desselben  im  Verkehr  mit  Christus  und 
den  Aposteln,  in  seinem  Gebahren  während  der  Verhandlungen  mit 
dem  hohen  Rathe  wird  seine  Handlungsweise  als  im  Einzelnen 
motivirt  dargestellt.  Er  ist  durchaus  menschlich  gehalten,  während 
die  anderen  Personen  einer  überirdischen  Sphäre  anzugehören 
scheinen.  Gespielt  wird  diese  Rolle  zum  Theil  vorzüglich.  Die 
Selbstmordscene  findet  fast  bis  zu  Ende  auf  der  Bühne  statt.  Judas 
erscheint  in  einer  wüsten,  unheimlichen  Gegend;  man  sieht  den 
Baum,  an  welchem  er  sich  erhängen  will;  er  legt  die  Schlinge  nach 
einem  recht  wirkungsvollen  Monolog  an  den  Baum  —  der  Vorhang 
fällt.  Es  wäre  heutzutage  schlechterdings  unmöglich,  ohne  vollstän- 
dige Umwandlung  des  ganzen  Charakters  des  Passionsspiels  bei 
dieser  Gelegenheit  Teufel  auf  der  Bühne  erscheinen  zu  sehen. 

Die  anderen  Apostel  sind  treue  Copien  sehr  bekannter  Gemälde 
und  erinnern  namentlich  an  die  dürerschen  Bilder  in  der  alten 
Pinakothek  zu  München.  Die  Jungfrau  Maria  wird  von  einem  sehr 
jungen,  bildschönen  Mädchen  gespielt.  Sie  hat  nur  eine  kleine 
Rolle  und  erscheint  in  den  meisten  Scenen  nicht  anders  als  aufge- 
löst von  Schmerz.  Die  verhältnissmässig  sehr  bescheidene  Bedeutung 
dieser  Rolle  in  der  Oekonomie  des  Stückes  liefert  den  besten  Be- 
weis, dass  das  Passionsspiel  überhaupt  nicht  irgendwie  als  eine 
künstlich  erhaltene  Treibhauspflanze  des  Ultramontanismus  angesehen 
werden  darf.  Von  irgendwelchem  Mariencultus  ist  hier  keine  Spur 
zu  finden.  In  früheren  Spielen  hatte  die  Maria  eine  grössere  Rolle. 
Für  die  Marienklage  gab  es  firüher  besondere  Gedichte.  Jetzt  ist  sie 
nur  die  mater  dolorosa  mit  vorwiegend  stummem  Spiel.  Sie  erinnert 
an  Madonnen  von  Holbein  und  Dürer;  das  Aufschlagen  ihrer  Augen 


Das  Oberammerganer  Passionsspiel  im  Jahre  1870.        469 

an  Guido  Reni's  Bilder.  Wie  die  Kreuzabnahme  nach  einem  Bilde 
von  Rubens  in  dem  Dome  zu  Antwerpen  inscenirt  ist,  so  erinnert 
auch  die  Gruppe  der  Maria  mit  der  Leiche  des  Christus  an  die 
Pietä  so  manches  bedeutenden  Meisters.  Der  Höhepunkt  der  Rolle 
der  Maria  ist  der  Augenblick,  als  sie  dem  sich  auf  dem  Wege  nach 
G-olgatha  befindenden  Zuge  mit  dem  kreuztragenden  Christus  be- 
gegnet, ihn  erkennt  und  mit  dem  Jammerrufe:  „er  ist's,  mein 
Jesus^^  der  Maria  Magdalena  in  die  Arme  sinkt. 

Gut  gespielt  wurden  die  Rollen  des  vornehmen  staatsmännischen 
Pilatus,  des  frivolen,    egoistischen  Herodes,   der  fanatischen  Hohen- 
priester. Weniger  gut  die  Rollen  der  anderen  Frauen  und  des  Johannes. 
Solcher  Art  ist  das  Passionsspiel   in  Oberammergau.     Es   er^ 
scheint  als  eine  „vorsündflutliche  Rarität*\  als  ein  Stück  Culturge- 
schichte   aus   früheren  Jahrhunderten,  und   ist   doch   ebenso   wenig 
antiquirt,    als   etwa  RafaePs  sixtinische   Madonna    oder  van  Dyk's 
Bild  von  der  Kreuzabnahme  je  veralten  werden.    Hat  sich  einerseits 
dieses  Spiel  in  Oberammergau,  nachdem  der  ganze  Brauch  solcher 
Dramen  überall   anderswo  untergegangen   ist,   gleichsam  künstlich 
wie   unter   einer  Glasglocke  erhalten    und  erinnert  so  etwa  an  die 
Ausgrabungen  in  Pompeji,  so  ist  es  doch  andererseits  dem  modernen 
Geschmack  mundgerecht  gemacht  und   weist   die    Spuren    der  ge- 
schichtlichen Entwickelung  der  letzten  Jahrhunderte  auf.   Es  erscheint 
als    ein    geistliches    locales    Volksfest    für    die    von    dem    bunten 
Treiben  der  Hauptstä.dte  weitentfemten  Bergbewohner  und  wendet 
sich  zugleich  als  ein  wirklich  bedeutendes  Kunstwerk  an  den  Ge- 
schmack des  gesammten  gebildeten  Publicums.     Es  giebt  uns  einen 
Begriff  von    der  Volksmässigkeit   des  Theaters   in   früheren    Jahr- 
hunderten; es  verleiht  uns  ein  kleines  Verständniss  für  die  Wirkung 
und  Bedeutung  des  Chors  in  der  griechischen  Tragödie.     Ob  man 
Stiidter  oder  schlichter  Landmann,  ob  Fachmann  in  der  Schauspiel- 
kunst  oder    anspruchsloser    Laie,    man    wird    sich    stets     mächtig 
ergriflfen  fühlen  von  diesem  Oberammerganer  Passionsspiel.  *) 

*)  Wie  wir  hören,  sollen  die  durch  den  Krieg  unterbrochenen  Aufführungen 
in  dem  nächsten  Jahre  wieder  aufgenommen  werden.  Die  Frequenz  ist  im 
Steigen  begriffen.  Ein  Amerikaner,  der  dem  Passionsspiele  beiwohnte,  soll  in 
etwas  derber  Weise  gesagt  haben:  „Ihr  Deutsche  seid  dieses  Passionsspiels  gar 
nicht  werth;  ihr  wisst  «s  gar  nicht  zu  würdigen.  Würde  es  in  Amerika  gegeben, 
selbst  der  Aermste  würde  zu  demselben  reisen.**  Forsch,  a.  a.  0.,  Bamberg, 
1870,  S.  3.  — 

A.  Brückner. 


Correspondenzen. 


Riga,  den  19.  (31.)  October. 

))Xolitik  und  immer  wieder  Politik!  Das  Nächste  wird  vergessen 
über  dem  Weiten,  die  Erde,  auf  der  wir  stehen,  über  der  Sonne  am 
fernen  Horizont!**  So  werden  Sie  vielleicht  ausrufen  beim  Lesen  dieser 
Zeilen.  Und  wirklich  scheint  alles  stillzustehen  gegenüber  der  Be- 
wegung, die  in  die  grosse  Politik  gekommen  ist.  Wie  sollte  ein 
denkender  Deutscher  auch  anders  gestimmt  sein,  was  hätte  noch 
Raum  neben  den  Gedanken,  die  auch  bei  uns  Alle  ausschliesslich 
beschäftigen?  Haben  wir  nicht  Grund  genug,  den  täglichen  Ereig- 
nissen mit  gespanntester  Aufmerksamkeit  zu  folgen  und  ist  es  nicht 
unsere  Pflicht  als  Erdenbewohner,  auch  über  die  Bewegung  der 
Sonne  nach  Möglichkeit  uns  klar  zu  werden,  nach  vollem  Verständ- 
niss  des  Werdenden  zu  streben?  Und  endlich  wissen  Sie  ja:  die 
Gestirne  angucken  ist  ein  harmloses  Vergnügen,  das  man  sich  er- 
lauben darf,  wenn  auch  manches  Andere  nützlicher  wäre.  — 

Eine  Dame  meiner  Bekanntschaft  sagte  vor  einiger  Zeit,  sie 
habe  schon  oft  gewünscht,  zu  sterben;  nun  danke  sie  Gott,  dass 
sie  noch  lebe,  diese  Zeit  zu  sehen.  So  schleicht  eine  Ahnung  von 
der  Bedeutung  der  Gegenwart  umher  und  erfasst  hie  und  da  eine 
kluge  Frau,  einen  Mann  mit  weiterem  als  dem  gewöhnlichen  Ge- 
sichtskreise. Dass  aber  jetzt  schon  bei  der  Mehrheit  aus  der  Ahnung 
eine  klare  Vorstellung,  aus  dem  Merken  ein  Verstehen  geworden 
wäre  —  da  ist  man  noch  weit  von  entfernt.  So  geht  es  immer. 
Wenn  man  im  Meere  steht,  und  es  stürmt,  dass  die  Wellen  hoch 
gehen  ^  dann  erwarten  fröstelnde  Naturen  die  heranschäumenden 
Wasser  gern  mit  dem  Rücken  zu  ihnen  gewandt.  Die  Welle  geht 
ihnen  über  den  Kopf,  sie  empfinden  die  Nässe,  aber  erst  wenn  die 
Welle  längst  vorüber  ist,  sehen  sie,  wie  gross  sie  war,  wie  viel 
Wasser  an  ihnen  vorüberfloss;  und  nur  die  aufrecht  mit  dem  Ge- 
sicht gegen  den  Sturm  stehen,  sehen  die  Höhe  der  herankommenden 
Woge  und  J^önnen  den  Kopf  darüber  erheben.  —  So  trivial  das  Bild 


—  1 


Correspondrasen.  471 

aus  dem  Badeleben  in  Dnbbeln  ist,  und  so  viele  Bilder  auf  diesen 
Gegenstand  schon  gemacht  wurden,  ein  Qutes  hat  es:  der  nackte 
Mensch  gegenüber  dem  Element  deutet  die  Verhältnisse  an, 
die  den  grossen  geschichtlichen  Ereigidssen  eigen  sind;  und  dann: 
es  ist  ein  Bild,  von  einem  Balten  am  sandig-flachen  Strande  der 
Ostsee  aufgelesen,^  von  der  Heimat  genommen  und  heimatlich  ge- 
dacht. Die  da  drüben  über  der  Qrenze  würden  dem  kaum  zu- 
stimmen. Die  grossen  Leute  an  der  Weltmaschine  glauben  den 
Aeolusschlauch  in  der  Hand  zu  haben,  und  sie  öfi&ien  ihn  so  oder 
so,  und  jagen  das  Wasser  bergehoch  vor  sich  her.  Aber,  weiss  Oott, 
sie  irren  sich  dennoch!  Sie  mögen  in  dem  Meere  hie  und  da  die 
Richtung  der  Wellen  ändern,  bestimmen,  es  mag  die  Brandung  an 
manchem  Felsen  lange  sich  brechen  —  die  Strömung  entsteht  doch 
aus  dem  Qanzen  und  im  Oanzen.  Freilich  darf  man  sich  dadurch 
nicht  soweit  irre  leiten  lassen,  den  Einzelnen  in  der  Bedeutung  seiner 
Thätigkeit  zu  unterschätzen.  Wir  sind  dazu  geneigt  wenn  wir  ein- 
mal den  Blick  erhoben  haben  und  weither  das  Herabkommen  sehen, 
was  im  nächsten  Augenblick  uns  und  alles  um  uns  her  bewegt,  und 
so  freuen  wir  uns  fast  der  Nothwendigkeit  in  der  Massenbewegung, 
weil  wir  dem  Einzelwillen  zu  viel  zumuthen  und  uns  gewöhnt  haben, 
von  seiner  realen  Freiheit  zu  reden. 

Um  nun  auf  die  Thatsachen  zu  kommen:  welche  Widersprüche 
stehen  sich  wieder  einmal  in  Deutschland  gegenüber,  welch  ein 
Wirrwarr  im  Einzelnen  unter  der  im  Allgemeinen  und  Ganzen  un- 
verkennbar in  einer  Richtung  treibenden  Strömung!  Sieht  man  nur 
das  Nächste  an,  sq  könnte  man  an  der  Richtung  des  Qanzen  fast  irre 
werden.  Ich  spreche  nur  von  den  Thatsachen,  nicht  von  den 
Phrasen,  an  denen  Deutschland  leider  noch  immer  reich  ist,  nicht 
von  den  Einigkeitsphrasen,  die  am  Ende  doch  nur  ^o  lange  im 
Munde  geführt  werden,  als  die  Hand  sich  nicht  dafür  zu  rühren 
braucht. 

Da  hört  man  wieder  das  alte  Gezwitscher  dieser  Männer  mit 
den  Zeisigköpfen  von  den  berechtigten  Eigenthümlichkeiten  und  der 
berechtigten  Sonderstellung;  da  will  der  für  sein  Bier  eine  besondere 
Steuer,  der  will  die  Militärhoheit  in  seinem  „engeren  Vaterlande** 
in  zwei  Theile  zerschneiden,  ein  Stück  behalten  und  das  andere 
Deutschland  überlassen,  der  will  wenigstens  die  zweite  Stimme 
singen  wenn  der  Bundesgesandte  im  Auslande  seinen  Mund  aufthut, 
der  will  gar  nichts  von  einem  einigen  Deutschland  wissen  wenn 
die  Deutsch-Oesterreicher  nicht  gleich  auch  drin  sind,  der  endlich 


473  Conv^pondenseii. 

Terbittdt  sieh  jede  Verbindung  des  Sttdene  mit  dem  Korden.  Dann 
wieder  die  Bebel  nnd  Liebknecht  und  Jacoby,  die  es  für  eine  Schmaoh 
halten,  gegen  die  französischen  „Brüder^  anders  als  mit  Worten  zu 
hftmpfen  und  ihnen  etwas  zu*  nehmen  was  sie  nicht  gutwillig  geben 
wollen  I 

Und  doch  sagen  fast  alle  diese  Leute,  sie  wollten  ein  einiges 
Deutschland,  und  man  muss,  so  schwer  Einem  ^das  wird,  es  ihnen 
glauben,  sie  wollen  es  in  der  That.  Was  man  ihnen  einwenden  kann, 
ist  nur  dies,  dass  sie  einen  nicht  ganz  oorrecten  Ausdruck  gebrauchen, 
dass  sie  von  festem  Wollen  sprechen,  wo  es  sich  um  schwache  Vel- 
Uitäten,  unklare,  unreife  Wünsche  handelt,  dass  sie  sich  einbilden, 
einen  Zweck  zu  wollen,  zu  dem  sie  die  einzig  möglichen  Mittel  rer- 
abseheuen.  Unklar  und  schwächlich  sind  diese  Willensregungen,  die 
sidi  nie  auf  den  einen  Punkt  ooncentriren  und  daher  nie  zum  Ent- 
schluss  und  zur  That  werden,  und  Jacoby,  dessen  politischem  Ge- 
wissen nach  die  deutschen  Heere  die  französische  Grenze  nicht  über- 
schreiten durften,  wird  der  Gedanke  als  ein  Verbrechen  erscheinen, 
den  die  Prov.-Correspondenz  neulich  aussprach,  dass  jede  Woche, 
um  die  der  Krieg  heute  verlängert  wird,  ein  Jahr  mehr  des  Friedens 
eintragen  werde,  dass  die  Verlängerung  daher  wohlthätig  sei.  Aller- 
dings, es  ist  ein  hartes  Wort,  aber  heutzutage  stürzen  die  Mauern 
von  Jericho  nicht  von  Trompetenblasen  ein  und  der  deutsche  Staat 
würde  von  Leuten  nie  erbaut  werden,  die  unfähig  wären  eines  sol- 
chen Wortes  und  eines  solchen  Willens.  Heute  heisst  es  wieder 
einmal:  „Wat  walsch  is  valsch  is,  sla  dood!" 

Aber  zu  dieser  harten,  geschlossenen  Willensrichtung  auf  das 
eine  Ziel  kommen  jene  Leute  nie.  Und  sie  stehen  nicht  vereinzelt. 
Da  zieht  nun  schon  seit  mehr  denn  8  Monaten  dieses  herrliche  Volk 
über  die  Grenze  hinaus  aufs  Schlachtfeld,  und  die  zu  Hause  opfern 
willig  Väter,  Brüder  und  häusliches  Glück.  Und  wofür  das  alles? 
Pro  patritty  wie  die  bannale  Redensart  lautet!  Zur  Abwehr  des 
Feindes.  Was  aber  das  heisst,  warum  wieder,  seit  60  Jahren  zum 
dritten  male,  es  ans  mori  pro  patria  geht,  darnach  wird  ernstlich 
wenig,  zu  wenig  gefragt  —  als  ob  dieses  moH  an  sich  das  duke  d 
decus  wäre  I  Die  Masse  fiihlt  es  wohl  instinctiv,  dass  es  wieder  einmal 
um  die  Einheit  Deutschlands  geht  —  aber  sie  denkt  daran  nreist  ohne 
festes  Ziel  und  festen  Entschluss.  Gross  in  der  Defensive,  klein  in 
der  Offensive,  wie  alle  Deutschen.  'Ist  es  die  berechtigte  Furcht  vor 
ertödtender  Uniformirung,  was  sie  ins  andere  Extrem  treibt?  Ist 
es  ein  innerer  Gegensatz,   der  die   Blli.mme  Israels   unter  einander 


trennt,  der  den  Hass  gegen  den  berorsagteii  jüngsten  Stamm  nährt? 
Wer  geschiehtB-philosophisch  dreinschaut,  könnte  auf  folgende  Ge- 
danken kommen.  Die  Territorialhoheit,  die  im  Mittelalter  Deutsch- 
land zersetzte,  zeugte  die  Kleinstaaten,  diese  zeugten  den  Particula- 
rismus.  Auf  die  Reichsfürsten  hat  man  ihrerzeit  gehörig  geschmUit 
und  öiut  es  noch,  man  stürmte  gegen  ihre  Throne  an  und  suchte 
stets  ihnen  die  Gewalt  zu  entreissen.  Aber  die  alte  Territorialhoheit 
der  Reichsfürsten  wurde  nur  verdrängt  zu  Gunsten  der  Landeshoheit 
der  Bundesfürsten  und  modernen  Souveräne,  und  nun  ging  es  gegen 
diese,  —  um  zuletzt  eine  Art  Territorialhoheit  der  Völkerschaften  her^ 
zustellen  —  die  Nation  fuhr  dabei  nicht  besser.  Die  Leute,  die  den 
Einheitsstaat  nicht  wollen,  sind  die  Erben  der  Territorialherren  und 
vertheidigen  nun  ihr  Erbe,  mit  so  guten  oder  so  schlechten  Wa£fen 
als  die.  Erblasser.  So  hat  man  lange  gegen  den  Adel  gekämpft  und 
thut  es  noch,  und  wenn  seine  Privil^en  und  nachher  seine  sociale 
Bedeutung  gebrochen  sind  von  dem  Bürgerstande,  dann  übernimmt 
die  Bourgeoisie  das  Erbe,  bis  auch  sie  es  wieder  db  mtestato  Andern 
hinterlässt.  Das  ist  der  alte  Gang  in  so  vielen  Dingen:  ein  ur« 
menschliches  Princip,  das  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fortlebt,  nur 
von  Zeit  zu  Zeit  eine  andere  Form  annimmt,  und  dann  in  der 
neuen  Gestalt  von  der  Menge  nicht  wiedererkannt  und  als  etwas 
ganz  Neues,  beglückend  Grosses  angestaunt  und  bejubelt  wird!  — 
Die  berechtigte  Selbständigkeit  Bayem's,  die  von  den  Herren  Dr. 
Weiss,  Jörg  u.  s.  w.  gefordert  wird  als  nothwendig  zum  Wohlergehen 
Bayem's,  zum  Heil  des  Volkes,  das  sie  in  seiner  Eigen thümlichr 
keit  erst  ganz  erkannt  haben  wollen;  die  Unantastbarkeit  des  Elsass 
und  Lothringen's,  die  die  Bebel  und  Jacoby  im  Namen  der  freien 
Selbstbestimmung  verlang^i  —  es  ist  die  alte  Selbständigkeit,  die  schon 
vor  500  und  mehr  Jahren  gegen  Kaiser  und  Reich  vertheidigt  ward, 
dieselbe  —  vom  nationalen  Gesichtspunkte  Skus  gesehen,  die  diesen 
Herren  von  eben  diesem  Gesichtspunkte  aus  dort  höchst  abscheulich 
vorkommt.  Oder  war  diese  Selbständigkeit  nicht  seither  der  Haupt- 
grund des  deutschen  Elends,  und  darum  mittelbar  der  der  vielen 
französischen  und  anderen  Kriege,  die  bis  auf  diese  Stunde  herab 
geführt  werden  müssen?  Und  war  damals  diese  Selbständigkeit  den 
Fürsten  und  ihren  Mannen  nicht  eine  Quelle  des  Wohlergehens? 
Sassen  Otto  von  Witteisbach  und  Heinrich  Jasomii^ott  von  Baben- 
berg  mit  ihren  Vasallen  nicht  höchst  zufrieden  in  ihren  neuen 
bayerisch^schw'äJbisch^  Fürstenthümem,  mochten  der  Kaufherr  und 
das  Bäuerlein  draussen  geplündert  und  todtgesohlagea  werden,  mochte 


474  CSorrespondenssen. 

aus  dem  Reich  werden  was  wollte?  Dann  kam  freilich  die  Reihe 
des  Todtgeschlagenwerdens  gelegentlich  anch  einmal  an  sie  oder 
doch  an  ihre  Enkel. 

Der  Ministerpräsident  des  letzten  national-deutschen  Bundes  sagte 
einst  am  11.  Januar  1849  in  der  Paulskirche :  „Haben  die  Beschlüsse 
der  Nationalversammlung  sich  dieser  Zustimmung  der  öffentlichen 
Meinung  zu  erfreuen,  dann  zweifeln  Sie  nicht,  die  Nation  besitzt  die 
Energie,  diesen  Beschlüssen  ihre  Wirksamkeit  zu  sichern.^  Grerade 
in  dieser  Energie  hat  sich  Heinrich  von  Gagem  arg  getäuscht:  sie 
war  nicht  vorhanden  und  ist  nicht  vorhanden.  Dem  Ministerpi^- 
sidenten  des  neuen  Bundes  mag  diese  und  manche  andere  Erinnerung 
an  seinen  Amtsvorgänger  förderlich  und  dienstlich  sein,  upd  er  fasst 
sein  Amt  anders  als  jener  auf.  Er  springt  mit  der  sogenannten 
öffentlichen  Meinung  manchmal  etwas  barsch  um  und  kümmert  sich 
wenig  um  die  neuen  Wahrheiten,  die  das  „Volk  von  Denkern*'  ihm 
gelegentlich  entgegenhält.  Aber  sein  Thun  umweht  doch  der  Msche 
Hauch  einer  kräftigen  Natur,  während  jene  Wahrheiten  wie  das 
Licht  der  Studierlampe  flackern.  —  Wir  sind  —  gestehen  wir's 
nur  —  in  dieser  Zeit  alle,  der  eine  mehr,  der  andere  weniger,  ent- 
täuscht worden.  Haben  wir  nicht  gesagt? :  So  kann  das  nicht  fort- 
gehen mit  dem  Militarismus  in  Europa;  dazu  arbeiten  und  quälen 
wir,  die  productive  Bevölkerung,  uns  nicht,  dass  von  unserem 
Schweisse  der  grösste  Theil  auf  die  Erhaltung  einer  ungeheuren  un- 
productiven  Masse  verwandt  wird,  die  nur  besteht  weil  die  euro- 
päischen Diplomaten  und  Regierungen  von  den  alten  faulen  Ge- 
danken nicht  lassen  wollen.  Haben  wir  sieht  ferner  gesagt?:  Das 
constitutionelle  Eönigthum  ist  gut,  aber  doch  treibt  Europa  der  Re- 
publik entgegen;  und,  man  mag  sie  wollen  oder  nicht,  sie  wird 
kommen  und  ist  schon  dicht  vor  der  Thür.  Haben  wir  nicht  ge- 
sagt?: Allerdings  sind  viele  Fesseln  der  Freiheit  schon  gefallen,  aber 
der  Zeitgeist  drängt  noch  viel  weiter  und  im  19.  Jahrhundert  kann 
man  seinen  Forderungen  nicht  widerstehen,  das  Princip  der  Selbst- 
bestimmung der  Völker,  der  Selbstverwaltung  u.  s.  w.  ist  schon  so 
weit  eingewurzelt,  dass  sich  daran  ein  gebildeter  und  klarblickender 
Staatsmann  nicht  mehr  so  leicht  vergreifen  wird. 

So  oder  ähnlich  hat  wenigstens  die  Mehrzahl  der  Gebildeten 
geurtheilt,  die  die  grossen,  noch  ungelösten  Gegensätze  übersah  oder 
unterschätzte,  welche  —  allerdings  vielleicht  anachronistisch  —  bis 
heute  in  den  politischen  Verhältnissen  Europa's  und  besonders  Deutsch- 
land's  bestehen  und  zuerst  gelöst  sein  wollen.     Nun  ist  man  plötzlich 


Corresponden^en.  475 

aii9  den  Träumen  gestört  und  meint  häufig  in  der  Zeit  um  vieles 
zurtLckgeschleudert  worden  zu  sein,  weil  die  Begriffe  von  Volks- 
Wohlfahrt,  von  Republik,  Freiheit,  Völkerfrieden  etwas  hart  mit  den 
Beinen  auf  die  Erde  gestellt  wurden,  die  sie  in  überkühnem  Fluge 
verlassen  wollten.  Enttäuschung  und  Ernüchterung,  das  sind  trotz 
des  Geschreies  über  deutschen  Chauvinismus  Folgen  —  und  wahr- 
lich nicht  die  übelsten  —  der  etwas  eigenthümlichen  Behandlungs- 
weise,  die  der  grosse  Patholog  und  Chirurg  den  Dingen  angedeihen 
lässt«  Bismarck  ist  dem  Chauvinismus  jedenfalls  so  fremd  als  dem 
„Gouvernement  de  la  defense  nationale''  oder  dem  Chauvinisten 
Katkow.  Eher  könnte  man  von  einem  Chauvinismus  sprechen, 
der  die  Deutschen  gar  zu  blind  Herrn  v.  Bismarck  vertrauen,  von 
ihm  nun  eben  alles  erwarten  lässt.  Dieses  alles  gilt  nun  allerdings 
zunächst  von  der  Hauptsache,  der  deutschen  Frage,  wie  man  es  jetzt 
nennt.  In  dieser  Frage  aber  steht  Bismarck  auf  so  nüchternen  Füssen, 
so  unchauvinistisch  real  da,  dass  man  ihm  zu  glauben  und  zu  ver- 
trauen geneigt  ist  wie  man  dem  Quecksilber  im  Barometer  glaubt, 
wenn  es  von  Veränderlich  auf  Schönwetter  steigt.  Und  die  Mehr- 
heit der  Nation  fühlt  es,  dass  dieser  Mann  gleichsam  eine  Ergänzung 
ihrer  selbst,  dass  er  das  Bindeglied  zwischen  ihrem  Kopf  und  ihrer 
Hand  ist,  welches  sie  nothwendig  braucht. 

Erlauben  Sie  mir,  bei  diesem  Verhältniss  von  Kopf  und  Hand 
in  Deutschland  etwas  zu  verweilen.  Das  Verhältniss  von  Wille  und 
That,  von  Kopf,  Herz  und  Hand  bei  uns  Deutschen  ist,  glaube  ich, 
wirklich  ein  anderes,  als  bei  anderen  Völkern;  der  Leitungsdraht, 
welcher  sie  verbindet,  welcher  sonst  blitzschnell  vom  Gehirn  zur 
Hand  telegraphirt  und  diese  in  Bewegung  setzt,  scheint  bei  uns  eine 
nur  relative,  nicht,  wie  sonst,  absolute  Leitungskraft  zu  haben.  Es 
ist  bei  uns  nicht  nothwendig,  dass  was  der  Kopf  denkt,  direct  auf 
die  Hand,  den  Fuss  u.  s«  w.  reagire,  dass  aus  dem  Denken  ein 
Wollen,  aus  dem  Wollen  ein  Handeln  unmittelbar,  nothwendig  sich 
ergeben,  aneinander  reihen 'müsse.  Haben  die  Deutschen  nun  nicht 
bereits  seit  60  und  mehr  Jahren  von  deutscher  Einheit  gesprochen, 
geschrieben,  geträumt,  getrunken  und  gesungen?  Und  wie  hat  das 
alles  im  Verhältniss  gestanden  zu  der  That?  Haben  sie  nicht 
sprechen  können,  erhaben  wie  die  Götter  vom  Olymp?  —  und  die 
Hand  blieb  ruhig,  als  ob  sie  nicht  zu  demselben  Körper  gehörte,  als 
ob  das  grosse  Räthsel  von  dem  psychisch-physischen  Zusammenhang 
zwischen  Wollen  und  Handeln,  der  grosse  Grenzstreit  zwischen 
Geist  und  Materie  für  uns  gar  nicht  existirte*     Es  ist  bei  uns  eben 


476  CarrespoadenMii. 

etwas  krank,  tmd  dieses  etwas  liegt  in  jener  Drahtleitung,  die  alles 
zusammenhalten  soU,  in  der  Sehne,  die  stark  und  schmal  den  Geist 
mit  dem  KOrper  verbindet  und  aus  beiden  erst  ein  Ganzes ,.  einen 
Organismus  macht.  Diese  Yerbiadung  ist  lahm.  Maaa  nennt  eine 
solche. träge  Leitung  wohl  Phlegma  —  aber  bei  uns  ist  es  etwas 
mehr  als  das,  bei  uns. bleibt  die  Wirkung  in  der  Mitte  des  Drahtes 
häufig  ganz  stecken,  ein  Rostflecken  hat  sich  da  bei  den  Deutschen 
mit  der  Zeit  hineingefressen,  eingeätzt  durch  Weltkaiserthum,  Klein- 
staaterei, Particularismus.  —  Da  gehören  starke  Erschütterungen 
dazu,  dass  die  Schwingungen  bis  zum  Ende,  bis  zur  Hand  fortvibriren. 

Wer  nun  aber  diesen  Mangel  im  Zusammenhang  zwischen  Wollen 
und  Thun  im  deutschen  Volke  zu  ergänzen  versteht,  wer  den  trennen- 
den Rostfleck  zu  überbrücken,  wer  die  Schwingungen  des  Volksge- 
hirns bis  zu  den  Gliedern  zu  leiten  vermag  —  der  ist  der  grösste 
Mann  unserer  Zeit,  und  vor  ihm  soll  sich  beugen  was  deutsch  ist! 
Die  Psyche  und  die  Physis  des  Volks  in  genaue  Verbindung  mit  ein- 
ander zu  setzen,  dort  im  Kopf  und  Herzen  die  Gedanken  zum  Willen 
zu  sammeln,  sich  gestalten  zu  lassen,  und  dann  die  Leitung  zu  ver- 
mitteln hieher  zur  physischen  Handlung,  das,  nur  das  ist  seine  Be- 
deutung. Aber  dieses  ist  grösser,  als  dass  ein  Mensch  es  ganz  und 
allein  ausführen  könnte,  und  wer  es  auch  nur  theilweise  und  für  die 
bedeutendsten  Gehirnschwingungen  vollführt  —  er  ist  ein  Moses! 
Ja,  ein  Moses  an  Kraft  und  Grösse,  der  sein  Volk  hinausführen  soll 
aus  der  Knechtschaft  in  das  Land  der  Verheissung,  vor  dem  das 
Meer  zurücktritt  zu  beiden  Seiten  und  dann  hinten  zusammen- 
brechend Pharao  und  sein  Volk  verschlingt,  der  im  Volke  den 
Glauben  an  ^sich  selbst,  das  Vertrauen  in  seine  Aufgabe  und 
seine  Kraft  wieder  weckt,  so  dass  es  nicht  zurückbebt  vor  dem 
Gange,  auf  welchem  die  Natur  selbst  sich  ihm  entgegenzustellen 
scheint!  Ein  Moses,  der  unverwandt  auf  das  Ziel  des  müh- 
seligen Weges  hinblickt  und  unentwegt  der  grossen  Idee,  die  ihn 
leitet,  der  Wolke  bei  Tag  und  der  Feuersäule  bei  Nacht,  folgt,  seinem 
Arm  vertrauend  wenn-  die  Feinde  den  grossen  Siegeszug  aufzuhalten 
drohen.  Ein  Moses  endlich,  der  unter  Donner  und  Blitz  mit  den 
Tafeln  des  Gesetzes  in  der  Hand  vom  Sinai  herabsteigt,  den  grossen 
Bund  zu  gründen  auf  Jahrhunderte! 

Nur  schade  I  Der  Mann  war  wohl  ein  Moses,  aber  das  Volk  war 
nicht  besser  als  andere  Völker,  und  noch  dazu  ein  deutsches  Volk!  Und 
während  es  donnerte  und  blitzte  liess  es  sich  verführen  durch  Social- 
demokraten  und  Jaeoby,  durch  Höflinge  und  Pfaffen,  diirch  bayerische 


Correspondenzen.  477 

Patrioten  und  würtembergische  Volkspartei,  und  als  der  Mann  mit 
den  ehernen  Tafeln  und  dem  ehernen  Gesetze  darauf  von  der  Höhe 
herabstieg  —  da  tanzte  wieder  eine  tolle  Schaar  lustig  um  das 
goldene  Kalb  der  Kleinstaaterei  und  des  Particularismus,  als  ob  nichts 
geschehen  wäre  und  Stuttgart  und  München  statt  in  Deutschland  im 
Monde  lägen.  Sie  fluchten  den  Tafeln  und  schrien  nach  Freiheit. 
Aber  sie  meinten  die  Fleischtöpfe  Aegyptens  und  die  gewohnten 
Frohnknechte  dazu.  Sie  fürchteten  sich  vor  dem  Mann  mit  den 
ehernen  Tafeln,  denn  ihr  Blick  war  nicht  gewöhnt,  emporzuschauen 
zur  leitenden  Wolke  —  „veluti . . .  quae  natura  prona . .  finooif^, 

O,  es  ist  das  alte  Lied,  das  goldene  Kalb,  ein  Kind  des  Ochsen 
Apis  in  Aegyptenlaud,  dessen  verjüngtes  Ebenbild  hier  angesichts 
des  neuen  deutschien  Bundes  aufgerichtet  wird,  während  man  sich 
einbildet,  der  Knechtschaft  entronnen  zu  sein! 

Der  Rostfleck  liegt  wieder  offen  vor  aller  Augen,  an  dem  nun 
schon  so  lange  mit  dem  Blut  und  Schweiss  von  vielen  tausenden 
vergeblich  herumge waschen  wird. 

In  jenes  anthropologisch  gedachte  Verhältniss  zur  Nation  ist 
Bismarck  durch  den  Krieg  um  ein  gewaltiges  Stück  weiter  hinein- 
gewachsen. Als  man  jüngst  hinüber  und  herüber  complimentirte, 
wer  denn  eigentlich  das  noch  in  der  Küche  befindliche  Gericht, 
Elsass  und  Lothringen,  wenn  es  auf  den  Tisch  kommen  werde,  ver- 
zehren sollte,  da  trug  man  sich  unter  den  Nationalliberalen  in  Berlin 
mit  dem  Gedanken,  das  Gericht  solle  keinem  der  südlichen  oder 
nördlichen  Tischgenossen  vorgesetzt  werden,  sondern  Elsass  und 
Lothringen  sollten  Bundesprovinzen,  oder  reichsunmittelbar,  oder  wie 
man  es  sonst  nennen  wollte,  d.  h.  eigentlich  „bismairckisch"  werden. 
Ein  sonderbarer  Gedanke,  der  aber  von  unserem  eben  bezeichneten 
Gesichtspunkte  aus'  seine  gute  Bedeutung  hat.  Bismarck  soll  ganz 
sachte  aus  Preussen  herausgehoben  und  mit  seiner  Bundesgewalt 
weiter  nach  Süden,  ins  Centrum  versetzt  werden,  es  soll  der  Ansatz 
zu  einem  Reich  der  Mitte  geschaffen  werden,  in  dem  der  Bundesherr 
nicht  über  Throne  und  Thrönchen  zu  stolpern  braucht,  und  in  dem 
nicht  Mühler's  und  Eulenburg's  und  Dalwigk's  herumpfuschen  können. 
Nicht  übel!  Und  im  Süden  dürfte  wenigstens  das  Motiv  dieses 
Planes  erst  recht  annehmbar  erscheinen.  Bismarck's  Schwerpunkt 
ruht  schon  jetzt  mehr  im  Ceritrum  Deutschland's,  er  ist  schon  jetzt 
mehr  der  Mann  und  der  Minister  der  Nation  als  Preussen's,  und  sähe 
man  nicht  hinter  ihm  die  alten,  bösen  Gesichter  aus  der  Conflictszeit, 

so  würde  das  mit  grosser  Geschwindigkeit  sich  steigern.  Die  extremen 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Hefi  9  u.  10.  32 


478  Correspondeiu&en. 

Parteien,  die  nichts  gelernt  und  nichts  vergessen  haben,  stehen  ihm 
im  Norden  wie  im  Süden  gegenüber  —  ich  meine  die  alten  Parteien 
der  ehemaligen  Liberalen  und  Conservativen.  Und  es  ist  fa«t  er- 
götzlich, zu  sehen,  wie  auch  die  Kreuzzeitung  sich  immer  mehr  von 
dem  ungerathenen  Sohne  zurückzieht  und  neuerdings  sogar  offen 
preussischen  Particularismus  zu  predigen  anfängt.  So  weit  ist  Bis- 
marck  schon  aus  Preussen  herausgewachsen,  dass  die  Gespielen 
seiner  Jugend,  die  Amme,  die  ihn  nährte,  sich  gegen  ihn  und  seine 
grösste  That  erheben.  Doch  im  Grunde  mit  Unrecht.  Denn  leider 
ist  auch  ein  Moses  nur  ein  Mensch,  der  den  Aeolusschlauch  nicht 
in  der  Hand  hält.  So  gross  diese  Revolution  von  oben  ist,  die  Bis- 
marck  leitet,  sie  wird  und  kann  die  vielen  Gegensätze  nicht  besei- 
tigen,  die  im  Innern  sich  zeigen,  weil  sie  nicht  so  radical  sein  kann 
als  eine  Revolution  von  unten  es  ist  Das  ist  der  natürliche  Schatten 
dieses  Lichtes.  Wie  kleinlich  erscheint  es  neben  der  grossen  Ge- 
schichte der  Nation,  wenn  ein  Dalwigk  den  Augenblick,  in  dem  er 
zur  Errichtung  des  deutschen  Staates  nach  Versailles  abreist,  be- 
nutzt, um  seinen  Hessen-Darmstädtern  in  der  allgemeinen  Erregung 
ungestraft  eine  unliebsame  reactionäre  Kirchenverfassung  zu  octroiren ; 
oder  auch  v^nu  man,  dem  allerdings  berechtigten  Zorn  Ausdruck 
gebend,  mit  Verhaftung  und  Maassregelung  gegen  die  Schwärmereien 
und  den  Unsinn  der  Demokraten  und  Lassalleaner  vorgeht!  Wenn 
die  jetzige  Zeit  diese  Leute  mit  den  eingetrockneten  Ideen  nicht 
sollte  ertragen  können,  was  wird  dann  morgen  geschehen  müssen? 
Es  giebt  zweierlei  Arten  von  Feinden  des  Einheitsstaates:  die 
einen  sind  die,  welche  mit  vollem  Bewusstsein  in  der  Einheit  den  Feind 
ihrer  persönlichen  Interessen  bekämpfen  —  das  sind  hauptsächlich  — 
man  gestatte  die  Scheidung  —  die  Kleinstaailer  •,  die  andern,  und  das  ist 
numerisch  die  grosse  Masse,  thun  dasselbe,  aber  aus  einem  Mangel  der 
politischen  Logik  und  des  Willens  —  das  sind  zumeist  die  Particularisten. 
Jene  sind  vorwiegend  aristokratisch,  diese  meist  demokratisch.  Zu 
jenen  gehören  die  Fürsten  und  Ihre  Höfe,  der  frondirende  Adel  und  die 
ultramontane  Hierarchie,  zu  diesen  die  Volksparteien  verschiedenster 
Benennung,  die  für  Selbstregierung  und  Freiheit  blind  schwärmen. 
Der  Junker  und  der  J)emagog  reichen  sich  auch  hier  wieder  wider- 
willig die  Hand.  Und  doch  ist  heute  dem  tüchtigen  Theil  des  Adels 
in  Deutschland  und  besonders  in  Preussen  wieder  einmal  die  Ge- 
legenheit geboten,  sich  seine  Stellung  im  Staate  zu  schaffen  und  zu 
befestigen.  Das  Blut,  das  der  preussische  Adel  in  diesem  Kriege 
geopfert,  könnte  ihn  versöhnen  mit  dem  Volke,  wenn  er  es  versteht, 


uioht  nur  den  Säbel  zu  fahren^  sondern  .^aoh  gesohlossenem  Frieden 
aueh  in  der  friedlichen  Arbeit  sich  /an  die  SpUze  des  dtaiseltea 
Volks  ZXL  stellen.  Nur  in  der  Arbeit  für  die  gemeinde  Sache  T«r- 
mag  der  Adel  überall  seine  besonderen  Interessen  au. wahren,  und 
wo  er,  wie  jetzt  in  Hannover,  seine  Sache  von  der  des  Yolke'trennt, 
da  muss  auch  ein  Bismarok  über  ihn  weggehen.  Denn  die  iVer- 
irrung  des  Partioularkmus  ist  heilbar,  die  bewusite  Op^^sition  der 
Eleinstaatletf  gegen  die  eulturlichen^i  und  die  Volk  sinteressen  nicht.  Die 
Particularifiten  werden  von  den  Thatsaehen  überzeugt  werden  oder 
sich  ihnen  und  dem  Volkswillen  freiwillig,  fügen;,  die  Eleinstaatlev 
werden  nie  überzeugt  werden  weil  es  «ich  hier  nicht  um  daa  Denken, 
sondern  um  das  Wollen,  nicht  um  die  Personen,  sondern  um  die 
Verhältnisse  handelt.  Sie  alle  werden  nur  gebändigt  durch  die  ein* 
fache  Logik  und  die  Wucht,  mit  der  Bismarek  die  nationale  Idee, 
und  sie  allein  vertritt.  — 

Einheiti  und.  Freiheit  -^  sie  haben  sich  in  Deutschland  sa  lange 
gegenseitig  im  Wege  gestanden,  und  werden  auch  jetzt  nicht  zu- 
sammen das  Capitol  besteigen!     Ich  glaube,  man  täuscht  sich  sehr, 
wenn  man  von  der  nächsten   Zukunft   grosse  Erfolgender  Freiheit 
hofft     Die  Einheit  zu  gründen  ist  ein  Werk,,  gross  genug  für  den 
ganzen  Willen  und  das  Leben  eines  Mannes.     Bismarek  ist  Diatator, 
nicht  Volkstribun,  er  könnte  eher  ein  Sulla,  nie  ein  Gracchus  werden 
Er  wird,  die  liberalen  in  Deutschland  benutzen  weil  und  soweit  sie 
national  sind  —  dann  trennen  sich  ihre  W^e,  und  wollten  die  Li* 
beralen,  da  das  Ei  gelegt  ist,  nun  auch  sofort  das  Freiheitsküchlein 
drinnen  von  seinen  Fesseln  vorzeitig  lösen  -r-  sie  würden  eben  Ei 
und  Küchlein  zerstören,   statt  eines  lebenden  Wesens  eitel  Dotter 
finden.      Wo   es  zur   Unterstützung,    zur  Klärung,   ^rägnirung  des 
nationalen    O^edankens   ihm    erforderlich  oder   nützlich  scheint,  da 
scheut  Bismarek  —   das  hat   die  demokratische  Wahlordnung   deö 
Reichßtages  gezeigt  —  vor,  den  liberalsten  Schritten  nidht  zurück. 
Abßr  wir  wüssten  keine  von  ihm  ins   Leben  gerufene  liberale  Ini^ 
stitution  zu  nepnen,  deren  Einführung  der  Ausdruck:einer:be80dEideren 
Vorliebß  des  Grafen  Bismarek  für .  Volksfreiheit  gewesen  wäre.    Sie 
ist  ihm  gelegentlich    das.  Mittel   zu.  seinem  Zweck  gewesen  ;—  zu 
ihrem  Ritter  aber  hat  er  sich  bisher  nicht  qrklärt.     Ich  will  damit 
keineswegs  gesagt  haben,  dasa  ich  ihn  für  einen  Feind  der  Volks^ 
Creiheit  halte.     Vor  drei  und  einem  halben  Jahre  sagte  6ismar<ik  im 
Reichste^e:   „Jch  habe  niemals  in  meinem  Leben  gesagt;  dass  ich 
der  Volksfreibeit  mich  feindlich  gegenüberstelle,  sondern  nur  gesagt 

32* 


480  CorreBpondenzen. 

—  und  natürlich  unter  der  Voraussetzung  rebus  sie  stantibus  —  meine 
Interessen  an  den  auswärtigen  Angelegenheiten  sind  nicht  nur  st&rkere, 
sondern  zur  Zeit  allein  maassgebende  und  fortreissende,  so  dass  ich, 
so  viel  ich  kann,  jedes  Hindemiss  durchbreche,  welches  mir  im  Wege 
steht,  um  zu  dem  Ziele  zu  gelangen,  welches,  wie  ich  glaube,  zum 
Wohle  des  Vaterlandes  erreicht  werden  muss.  Das  schliesst  nicht 
aus,  dass  auch  ich  die  Ueberzeugung  des  Herrn  Vorredners  theile, 
dass  den  höchsten  Qrad  von  Freiheit  des  Volkes,  des  Individuums, 
der  mit  der  Sicherheit  und  gemeinsamen  Wohlfahrt  des  Staates  ver- 
träglich ist,  jederzeit  zu  erstreben,  die  Pflicht  jeder  ehrlichen  Re- 
gierung ist/  Das  ist  noch  heute  Bismarck*s  Standpunkt:  er  steht 
den  inneren  Angelegenheiten  als  solchen  fern,  da  schalten  andere, 
und,  nicht  die  besten  Kräfte.  Dennoch  glaube  ich,  dass,  wenn  der 
deutsche  Bund  erst  geschlossen  ist,  Bismarck  selbst  dazu  gelangen 
wird,  auf  der  einen  Seite  die  Centralgewalt  zu  stärken,  auf  der 
anderen,  besonders  in  Süddeutschland,  die  Volksfreiheit  zu  unter- 
stützen. Dass  die  Einheit  nicht  sehr  fest  gegründet  ist,  wenn  sie 
nur  auf  den  Thronen  ruht,  weiss  Bismarck  sehr  wohl,  und  lebten 
wir  ein  oder  mehrere  Jahrhunderte  früher,  so  würde  eine  solche 
Einheit  täglich  von  jedem  der  Fürsten  gesprengt  werden  können, 
weil  eben  jeder  damals  ganz  unabhängig  vom  Willen  seiner  Unter- 
thanen  handelte.  Der  Wille  der  Unterthanen  wird  heute  an  den 
Bund  durch  starke  Interessen  gebunden  und  der  Bestand  des  Bundes 
wird  daher  nur  möglich,  wenn  dieser  Wille  in  ihm  mehr  wiegt  als 
der  der  Fürsten.  Darum  muss  der  Einfluss  des  Volkes  in  den  kleinen 
Bundesstaaten  gehoben  und  gekräftigt  werden  gegenüber  den  Fürsten, 
aber  zugleich  mit  fester  Hand  unter  die  Centralgewalt  gebeugt  wer- 
den. Die  complicirten  Verhältnisse  dieses  Bundes  werden  so  Bismarck 
in  eine  gleich  complicirte  Doppelstellung  in  der  Sache  der  Volks- 
freiheit zwängen,  er  wird  diese  vertreten  müssen  als  ein  Mittel 
zum  Zweck  und  soweit  sie  dazu  dient,  das  Vertrauen  und  die  Ge- 
walt, die  er  hat,  zu  stärken.  Dieses  Vertrauen  und  diese  Gewalt 
aber  macht  er  umgekehrt  nur  jenem  Einheitsgedanken,  nicht  den 
inneren  Angelegenheiten  als  solchen  und  um  ihrer  selbst  wdllen 
dienstbar.  Daher  könnte  es  kommen,  dass  die  Centralgewalt  auf 
Preussen,  in  dessen  Spitze  sie  ruht,  schwer  drückte,  während  in 
Süddeutschland  die  Volksfreiheit  gepflegt  würde. 

Noch  lange  wird  die  Einheit  der  Gewalt  bedürfen,  wenn  sie 
auch  bald  eine  äussere  Form  annehmen  wird.  Gäbe  Bismarck  seine 
Gewalt  heute  auf,  so  gäbe  er  damit  sein   Werk   auf  —  oder  die 


.1 


CorrespondeiizeD.  481 

Einigung  wäre  auf  das  Volk  und  die  Revolution  v^on  unten  ver- 
wiesen. Wie  wenig  aber  dieser  Weg  der  Sinnesart  Bismarck's 
entspricht,  wissen  wir  längst  und  zeigen  uns  wieder  die  begonnenen 
Verhandlungen  über  die  deutsche  Frage  in  Versailles.  Dieselben 
Leute,  die  Dalwigk,  Prankh,  Vambüler,  die,  wenn  auch  nicht  alle 
persönlich,  so  doch  in  ihren  Stellungen  als  Minister  derKleinstaaten 
die  Feinde  Bismarck's  sind,  mit  ihnen  und  trotz  ihnen  will  Bismarck 
den  neuen  Staat  aufrichten.  Es  gehört  wahrlich  viel  Glaube  an 
Bismarck  dazu,  um  dem  Ende  ruhig  entgegenzusehen. 

Da  —  während  ich  Ihnen  dieses  schreibe  —  kommt  die  Nach- 
richt an,  dass  zu  Versailles  der  Beschluss  gefasst  worden  ist,  das 
Kaissereich  zu  gründen. 

Welch  wunderbare  Gänge  geht  doch  die  Geschichte!  Als  vor 
nun  21  Jahren  die  besten  Männer  im  Namen  der  Nation  Friedrich 
Wilhelm  IV.  die  Kaiserkrone  anboten,  ward  sie  zurückgewiesen,  und 
man  wandte  sich  ab  von  dem  Fürsten,  der  die  Rechte  der  gekrönten 
Häupter  über  die  Rechte  der  Nation  stellte.  Nun,  da  das  „freie 
Einverständniss  der  gekrönten  Häupter**,  welches  Friedrich  Wil- 
helm IV.  damals  forderte,  erreicht  ist,  scheint  die  Handlungsweise 
des  letzteren  fast  gerechtfertigt  zu  werden.  Wie  merkwürdigt  Das 
Kaisserreich  sollte  nicht  anders  als  durch  seine  Feinde  errichtet 
werden  von  der  gewaltigen  Hand  eines  Mannes,  der  alles  für  die 
Nation,  und  in  gewissem  Sinne  nichts  durch  sie  that.  Er  vollendete 
ihren  Willen  tum  grossen  Theil  trotz  der  Nation  und  durch  ihre 
Gegner.  Wenn  Ludwig  XIV.  sagte:  »der  Staat  bin  ich**,  so  ist  man 
versucht,  für  diesen  Mann  den  Satz  zu  verändern  in:  »die  Nation 
bin*  ich**.  Und  weil  der  Staat  wechselnd  ist,  die  Nation  aber 
dauernd,  darum  schrumpft  das  Bild^des  Königs  für  uns  zusammen 
und  darum  wird  die  Nachwelt  Bismarck  mehr  bewundern  als  die 
Gegenwart  ihm  gerecht  wird. 

Riga,  den  19./31.  Oct.  E.  B. 


Revaler  Corespondenz.  Herr  Redacteur!  Wollen  Sie  gütigst 
mir  ein  paar  Seiten  Ihrer  geschätzten  Zeitschrift  gestatten,  einige 
etwas  verspätete  Bemerkungen  in  ihnen  wiederzugeben  über  das  ver- 
dammende Urtheil,  das  über  »unsere  literarisch-historischen  Gesell- 
schaften** im  Schlussheft  der  alten  Serie  der  »Baltischen  Monat»- 
schrift**  ausgesprochen  worden  ist.   Einige  beipflichtende  Worte  in  der 


483  CSonre^pond^zQn. 

„Dörpt.  Ztg.*  abgerechnet,  hat  jenes  Verdict,  so  weit  ich  sehe,  bei 
uns  zu  Lande  keine  öffentliche  Berücksichtigung  erfahren,  und  das 
scheint  mir  ebenso  unbillig,  wie  andererseits  das  Verfahren  des 
Kritik^ri^,  der  durch  seine  Arbeitslust  verleitet,  üieils  das  von  den 
Gesellschaften  Oeschehene  nicht  gewürdigt^  resp.  nicht  gekannt,  theils 
die  Schwierigkeit  des  zu  Thuenden  unterschätzt  hat. 

In  der  Fixirung  der  Aufgabe  unserer  localen  Gesellschaften,  „die 
Mittel  zu  liefern,  neues  Material  herbeizuschaffen  und  zu  veröffent- 
lichen, Gelegenheit  und  Möglichkeit  zu  bieten,  einzelne  Untere 
suchungen  anzustellen  und  bekannt  zu  machen,  die  sonst  nicht  ge- 
macht würden  oder  ungedruckt  blieben^,  stimme  ich  ganz  mit  dem 
beregten  Aufsatz  überein,  wie  ich  die  Wahrnehmung  äieile,  dass 
diese  Aufgabe  matt  erfüllt  wird.  Es  ist  gewiss  richtig:  „gegen  das, 
was  ein  einzelner  Mann  in  den  letzten  Jahren  geleistet,  verschwindet 
die  gesammte  Thätigkeit  aller  unserer  historischen  Vereine''  —  aber 
nur  wenn  man  das  Wirken  dieses  Mannes  und  auch  anderer  Ar- 
beiter auf  dem  Felde  baJtischer  Geschichte  lostrennt  vom  Leben  d^ 
Vereine,  deren  Miiiglieder  sie  doch  auch  sind,  und  sie  zu  den  übrigen 
in  Gegensatz  stellt,  t  Wenn  ;  das  Gedeihen  und  die  Th&tigfceit  der 
Vereine  —  auch  wohl  jeder  Körperschaft  —  wesentlich  von  eiur 
zelnen  Personen  abhängt,  so  ist  es  nicht  recht,  diese  auszunehmen 
von  der  Gesammtheit  und  den  ßest  allein  einer  Beurtheilung  zu 
unterziehen. 

Und  um  so  weniger  in  diesem  Falle,  als,  Schirren  seine  älteren 
kleineren  Meisterstücke  historischer  Kntik  (und  ß.uch  noch  neuer- 
dings seine  Bemerkungen  zum  sogen.  Bericht  Heldrungen's),  den 
Codex  Zamoscianus  und  seine  Urkunden-  und  Begestenwerke  in  den 
Schriften  dreier  Gesellschaften  llerausgegeben  hat.  D^asselbe  trifft  bei 
Winkelmann  zu,  der  in  seinem  kurzen^  aber  erfolgreichen  Wirken  unter 
uns  nur  eine  Publication  (die  estl.  Gapitulationen)  ohne  Hülfe  der 
Vereine  hat  aiftgehen  lassen.  Dass  Schirren  so  viel  mehr  Schriften  hat 
in  Verlag  geben  können,  liegt  theils  in  der  Natur  derselben,  theils 
zeugt  es  von  einem  erfreulichen  Wachsen  des  Interesses  im  Publicum; 
wie  namentlich  bei  dem  —  wenn  ich  nicht  irre  —  vollständigen  Aus- 
verkatif  der  livl.  Recesse  von  1681—1712. 

Ich  verstehe  nicht  die  Behauptung,  dass  die  Auffindung  des 
Hermann  von  Wartberge  und  des  Codex  Zamosoianu»  an  unseren 
Geeellschaften  spurlos  vorübergegangen  sein  solle.  Hermann  von 
Wartberge  wurde '  von  E.  Strehlke  so  vorzüglich  edirt,  dass  nichts 
weiter  mehr  zn  thun  war;  die  Gesellschaft  für  Geschichte  der  Ost- 


Correepondenzen.  483 

seeprovinzen  hatte  schon  vorher  die  erste  Kunde  des  Chronisten  durch 
Aufnahme  eines  betreffenden  Aufsatzes  vom  Herausgeber  in  ihre 
Mittheilungen  vermittelt.  Dass  auf  die  Nachricht  von  der  Auf- 
findung einer  bis  dato  ältesten  Handschrift  Heinrich's  von  Lettland  in 
der  zamoyskischen  Bibliothek  in  Warschau  der  Landrath  Baron  v.  Toll 
mit  altbewährter  Opferfreudigkeit  selbst  die  Reise  nach  Polen  unter- 
nahm und  den  unschätzbaren  Fund  nach  Dorpat  brachte,  musste 
wohl  den  Dank  der  Vereine  hervorrufen,  kann  ihnen  aber  doch 
nicht  zum  Tadel  gereichen.  Die  gelehrte  estnische  Gesellschaft  hat 
sodann  die  von  Schirren  verfasste  Beschreibung  des  Codex  und  die 
Darstellung  desselben  in  seinen  Varianten  veröflTentlicht.  Die  estl. 
literär.  Gesellschaft  hat  ferner  zu  der  Uebersetzung  des  Chronisten 
mit  Berücksichtigung  dieser  Varianten  durch  Ed.  Pabst  die  Mittel 
geboten.  —  In  diesem  Jahre  sind  von  Riga  und  Reval  aus  sofort 
Schritte  gethan,  der  in  Bremen  neuentdeckten  Chronik  Renner's 
habhaft  zu  werden  oder  eine  Abschrift  zu  erlangen,  natürlich  auf 
Kosten  der  Vereine. 

Oder  hat  der  Verfasser  jenes  Aufsatzes  eine  neue  Ausgabe 
Heinrich's  erwartet?  Die  wäre  wohl  schön,  aber  wir  können  uns 
freuen,  dass  sie  noch  nicht  erfolgt  ist,  da  jetzt  nach  dem  Hinsinken 
der  weltlichen' Herrschaft  des  Papstes  Aussicht  sein  dürfte,  dass  die 
königliche  Regierung  von  Italien  die  vaticanische  Bibliothek  öflfne, 
welche  doch  möglicherweise  nicht  nur  eine  noch  ältere  Handschrift, 
sondern  auch  manche  Urkunden  zur  Aufhellung  unserer  Geschichte 
bieten  wird.  Und  wenn  vor  fünf  Jahren  diese  Hoffnung  noch  in  weiter 
Ferne  lag,  so  war  es  doch  bekannt,  dass  in  Berlin  eine  Ausgabe 
unseres  Chronisten  für  die  Scriptor,  rer.  germ,  vorbereitet  wird  — 
wo  sollte  in  dieser  Erwartung  der  Absatz  für  die  livländische 
Edition  zu  beschaffen  feein! 

Sehe  ich  ab  von  der  nicht  einmal  ganz  begründeten  Klage,  dass 
„das  in  der  neuesten  Zeit  lebendiger  denn  je  in  der  jüngeren  Gene- 
ration erweckte  Interesse  für  die  Geschichte  Livlands  noch  zu  keiner 
selbständigen  Production  geführt  haf,  dass  nicht  einmal  eingehende 
kritische  Untersuchungen  über  die  Zeit  Bischof  Albert's  *)  oder  Pletten- 
berg's  vorhanden  sind,  dass  die  Reformationszeit  einer  Sichtung  bedarf 
—  sehe  ich  davon  und  von  vielen  anderen  berechtigten  Wünschen  mehr 
ab,  weil  der  Kritiker  selbst  zu  Anfang  seines  Artikels  die  Production 


•)  Dr.  Hildebrand*s  vorzigliche  Arbeit  ist  seit  1865  vorhanden;  das  11.  Heft 
der  Mittheilangen  brachte  schon  1868  Winkelmann's  und  Bienemann's  Forschungen. 


484  CorrespondenzeD. 

als  Aufgabe  der  historischen  Gesellschaften  nicht  hingestellt  hat,    so 
ist  doch  der  nächste  Satz  nicht  unerörtert  zu  lassen :  „Angenommen,  es 
fehle  wirklich  an  geeigneten  Kräften,  welche  geschichtliche  Studien  in 
der  oben  angedeuteten  Art  machen  könnten,  so  bleibt  immer  noch  die 
Bekanntmachung  ungedruckten  Materials.   Wie  viel  StoflF  ist  noch  vor- 
handen  zu  einem   dritten  und  vierten   Bande  Scriptores  und  vielen 
Bänden  Monumenta!^     „Man   vergleiche   doch   nur  den   regen   Eifer 
im  Veröffentlichen  von  Urkunden,  im  Sammeln  zerstreuten  Materials, 
wie  er  sich  in  den  Jahren  1840  bis  1856  zeigt,    mit    der  jetzigen 
Unfruchtbarkeit  und   Oede!''     In   der   That,   etwas  seltsam!     Kann 
denn  ein  Mann,  der  dem  Portschritt,  den  die  Geschichtswissenschaft 
genommen,  folgt,  glauben,  dass  zur  Herausgabe  historischen  Materials 
weniger    wissenschaftliche    Befähigung    gehört,    als    zur    Geschicht- 
schreibung?  dass   die  Edition  einer  Chronik,  eines  Urkundenbandes 
anders  denn  als  Resultat  sorglichster  Studien  Werth  hat  und  Nutzen 
bringt?     Ein  .dritter  und  vierter  Band  von  Scriptores,  die  ebenso  wie 
die  beiden  ersten  ausfielen,  wäre  bei  Leibe  keine  erwünschte  Be- 
reicherung.    Das  lehrt   eine  Vergleichung  der  Script  rerum  Llvoni- 
carum    mit    den  vier   Bänden   der  Script   rerum  Pruasicarum,     Das 
wird   in   den    nächsten    Monaten   die  Veröffentlichung    des    ältesten 
rigaschen  Schuldbuchs  zeigen.     Zu  solchen  Arbeiten  aber  fehlen  die 
Kräfte  in  der  That.     Die  wenigen  Historiker  unseres  Landes  haben 
meist  ihre  Arbeiten;  ein  jüngerer  Nachwuchs,   der  sich  jetzt  bildet, 
wird  in  kürzerer  oder  längerer  Zeit  zur  Verfügung  stehen.     Denen 
sind  dann  von  den  Gesellschaften,   deren  Mitgliederzahl  —  und  wo 
möglich  deren  Einkommen  —  sich  steigern  muss,  die  Mittel  zu  ge- 
währen, umfassende  Publicationen   vorzunehmen;  darunter   verstehe 
ich  nicht  nur  die  Druckkosten,  sondern  die  Subsistenzmittel  für  den 
betreffenden  Historiker ;  denn  solche  Arbeiten  nehmen  die  ganze  Zeit 
eines  Mannes   in    Anspruch.-  So   müsste    schon   im  Augenblick   die 
Portführung  des  Bunge'schen  Urkundenbuchs,  worauf  neulich  in  der 
„Rig.  Ztg.''  Jegor  v.  Sievers  aufmerksam  machte,  durch  eine  jüngere 
Kraft,  die  vorhanden  ist,  Augenmerk  der  Vereine  sein.     Da  handelt 
es  sich  zunächst,    abgesehen  von    der   Auseinandersetzung  mit    dem 
bisherigen  Herausgeber,  um  die  Beschaffung  von  mindestens  jährlich 
800  Rubeln,  die  sich  doch  herbeischaffen  Hessen* 

Dass  die  Publicationen,  wie  sie  bis  1856  betrieben  wurden,  aufge- 
hört haben,  darf  wohl  nicht  tadelnswerth  erscheinen;  es  war  in  den 
Monumentis  doch  wenig  mehr  als  ein  einfaches  Abschreiben  des  ge- 
rade  Vorliegenden    mit  oft   unglaublicher  Flüchtigkeit   ohne  Kritik 


Correspondenzen.  485 

verbunden,  wobei  vielleicht  Paucker  am  meisten  gefehlt  hat.  Dass  die 
Gesellschaften  davon  abstanden,  ist  vielmehr  ein  Zeichen  dafür,  dass 
sie  erkannt,  was  noth  thue.  Die  Wirksamkeit  Schirren's  in  Riga  bis 
1856  mag  nicht  ohne  Einfluss  darauf  gewesen  sein.  Fortan  haben 
sie  nur  zu  tüchtigen  Drucken  ihre  Hülfe  gewährt,  wenn  diese  auch 
nur  selten  erbeten  wurde. 

Aber  von  allem  Vorwurf  spreche  auch  ich  sie  nicht  frei.  Dem 
vorzüglichen  Vorschlag  einer  allgemeinen  Registrirung  der  in  den 
localen  Archiven  vorhandenen  Urkunden  etc.,  welcher  im  Jahre  1861 
von  unserem  .Meister  an  sie  erging,  haben  sie  nicht  entsprochen  (wie 
viel  vielleicht  in  letzter  Zeit  in  Riga  geschehen,  ist  mir  unbekannt), 
und  dies  hätte  die  Kräfte  der  meisten  Mitglieder  nicht  überstiegen. 
Das  ist  die  Mattheit,  deren  auch  ich  sie  geziehen. 

Ueber  die  einzelnen  Gesellsehaften  noch  ein  paar  Worte. 

Was  der  Verfasser  über  die  kurländische  Gesellschaft  für 
Literatur  und  Kunst  zu  Mitau  sagt,  hat  er  jedenfalls  durch  Autopsie 
gewonnen;  es  fällt  mir  nicht  ein,  das  zu  bestreiten;  ebenso  wenig 
seine  Anerkennung  der  lettisch-literarischen  Gesellschaft.  Die  meisten 
Erwartungen  sollte  man  von  der  Gesellschaft  für  Geschichte  und 
Alterthumskunde  der  Ostseeprovinzen  zu  Riga  hegen;  sie  hat  ihr 
Gebiet  genau  bezeichnet  und  indem  sie  es  sachlich  enger  begrenzt, 
es  zugleich  räumlich  weiter  ausgedehnt,  als  die  übrigen  Vereine. 
Diese  Erwartungen  werden  in  der  That  nicht  voll  befriedigt.  In 
dem  fleissigen  und  regsamen  Riga  wird  für  die  Geschichte  weniger 
gearbeitet,  als  —  —  als  es  gut  ist,  wenigstens  als  in  Dorpat  und 
ich  muss  sagen,  auch  in  ^val  gethan  wird.  Mag  sein,  dass  das 
kräftig  blühende  Vereinsleben  für  seine  Vorträge  eine  grössere 
Kraftmenge  in  Anspruch  nimmt,  dass  das  bewegte  Treiben  der 
Grossstadt  überhaupt  die  Müsse  mehr  aufzehrt:  Sie,  Herr  Redacteur^ 
werden  selbst  die  Bemerkung  gemacht  haben,  dass  in  Ihrer  Um- 
gebung eine  Reihe  von  Männern  sich  befindet,  die  sehr  wohl  auf 
dem  Felde  der  Geschichte  sich  in  einer  oder  der  anderen  Weise 
bethätigen  könnten,  von  denen  man  aber  nichts  oder  wenig  erhält. 
So  werden  die  Mittheilungen  der  Gesellschaft  von  Riga  aus  freilich 
spärlich  bedacht.  Aber  der  Vorwurf  triflft  nicht  eigentlich  die  Ge- 
sellschaft, sie  kann  doch  keinen  Zwang  über  ihre  Glieder  ausüben; 
er  trifft  die  Einzelnen.  Die  Gesellschaft  kann  nur  durch  gute 
Organisation,  regen  Verkehr,  reiche  Darbietungen  auf  dieselben 
wirken  und  sie  zur  Thätigkeit  ermuntern ;  dann  hat  sie  die  erwachende 
Neigung  zur  Arbeit  zu  leiten  und  zu  unterstützen.  Es  ist  nicht,  wie 


486  X^orrespondenzen. 

es  im  TJelberegften  Artikel  heisst,  eine  echt  baltische  Abneigang, 
praktisch  einscngreifeD :  ansere  Selbstverwaltang  und  Selbsthilfe  zeigt 
das;  nur  selbständig  zu  theoretisiren  ist  so  zn  sagen  anbaltisch. 
An  der  sehr  rerdienstvollen  Arbeit  der  Registrimng  der  rigaschen 
Archive  würden  vielleicht  Viele  sich  betheiligen,  wenn  die  Organi- 
sation vom  Directorinm  der  Gesellschaft  in  die  Hand  genommen  würde. 

Die  gelehrte  estnische  Gesellschaft  zu  Dorpat  findet  einiger- 
maassen  die  Anerkennung  des  Verfassers.  Die  monatlichen  Sitzungs- 
berichte in  den  dorpater  Zeitungen  und  die  Pnblicationen  machen 
die  Art  und  Weise,  wie  die  Resultate  ihrer  Thätigkeit  allgemein 
bekannt.  Mir  scheint  es,  dass  sie  zu  den  befriedigendsten  gehören, 
welche  unsere  historischen  Vereine  aufzuweisen  haben. 

Unsere  estländische  literarische  Gesellschaft  endlich,  von  der 
jener  Aufsatz  am  wenigsten  zu  sagen  vermag,  dürfte  ich  etwas  ein- 
gehender besprechen.  Denn  wir  hier  im  Norden  sind  Ihnen  an  der 
Dttna  und  über  diese  hinaus  doch  noch  immer  fast  eine  terra  in- 
cognüa,  oder  für  den,  der  es  zu  kennen  meint,  nur  etwa 
das  blonde  Land,  in  dem  das  ^s^o^  erklingt, 
wenn  ich  mit  einem  Anklang  an  dorpater  Erinnerungen  schlecht 
genug  parodiren  wollte.  Sagt  doch  der  Kritiker  von  unserer  Ge- 
sellschaft: ^Sie  soll  auch  einige  Sitzungsberichte  herausgegeben  haben, 
die  wir  aber  aller  Bemühungen  ungeachtet  nicht  zu  Gesichte  be^ 
kommen  haben.^  Dcts  kann  ich  ihm  kaum  verdenken,  obgleich  seit 
dem  zehnjährigen  Bestehen  der  „Rev^  Ztg.^  in  jedem  September  oder 
October  ein  Jahresbericht  in  derselben  veröflfentlicht  wird ;  denn 
besagtes  Blatt  dürfte  in  Riga  kaum  in  ^em  halben  Dutzend  Exem- 
plare vertreten  sein ,  wenn  schon  es  seit  seiner  Gründung  sich  einer 
recht  geachteten  Stellung  erfreut  hat,  und  nach  Kurland  gelangt  es 
vermuthlich  gar  nicht.  Dass  aber  keine  monatlichen  Berichte  er- 
scheinen, liegt  im  Charakter  der  Gesellschaft.  Ihr  Programm  ist  — 
hierin  entspricht  sie  der  kurländischen  ftir  Literatur  und  Kunst  — 
«ehr  weit,  sie  ist  wirklich  eine  „literarische^  Gesellschaft,  d.  h.  ein 
Verein  von  Literaten  und  gebildeten  Männern  überhaupt  zum  Zweck 
gegenseitiger  geistiger  Anregung.  Dieser  Zweck,  ich  gestehe  es,  ist 
sehr  allgemein  j  aber,  was  doch  die  Hauptsache  ist,  er  wird  erreicht 
Unsere  Gesellschaft  wurzelt  thatsächlich  in  den  hiesigen  Kreisen; 
ihre  zweiwöchentlichen  Versammlungen  sind  recht  besucht.  Die  in 
denselben  gehaltenen  Vorträge  leiten  das  Interesse  Vieler  auf  Ver- 
hältnisse und  Bestrebungen,  die  ihnen  bis  dahin  fern  lagen.  Nach 
den    Statuten   zerfällt   die   Gesellschaft   in   verschiedene   (früher  9, 


Oon^ponden^en.  487 

jetet  6)  Seetionen ;  in  früheren  Jahren,  zur  Zeit  der  Bunge,  Paucker, 
Neuss,  Wiedemann,  waren  die  Sitzungen  zum  Theil  durch  Discussion 
ausgefüllt,  es  wurde  in  den  Sitzungen  selbst  wissenschaftlich  ge- 
arbeitet und  diese  waren  daher  auch  nur  von  Fachgenossen  besucht. 
In  neuerer  Zeit  hat  die  Scheidung  factisch  aufgehört;  alle  Berufs- 
zweige vereinigen  sich  gemeinsam.  Gemeinhin  trägt  das  nicht  zur 
Vertiefung  der  Vorträge  bei;  aber  ich  möchte  das  nicht  tadeln,  wir 
besitzen  eben  keinen  Gewerbeverein  und  all  die  anderen  Medien, 
über  die  Sie  in  Riga  gebieten  können.     Und  andererseits  wird  vom 

•  

Katheder  auch  noch  immer  sehr  Tüchtiges  und  Gründliches  geboten. 
Die  „Halt  Monatsschrift^  hat  das  Eine  oder  Andere  davon  ihren 
Liesem  gebracht. 

Aus  dem  Gesagten  geht  hervor,  dass  die  Pflege  der  Landes- 
gesebichte  nicht  die  ausschliessliche  Aufgabe  des  Vereins  ist;  jedoch 
ist  ihm  stets  eine  besondere  Theilnahme  gewidmet  worden.  Die 
Vorträge  unseres  verdienten  Ed.  Pabst  werden  wie  vor  dreissig 
Jahren  noch  immer  am  zahlreichsten  besucht  und  er,  einer  der 
Veteranen  unserer  heimischen  Geschichtsforschung,  führt  ohne  Rück- 
sicht auf  Qualität  und  Neigung  seiner  Zuhörer  dieselben  durch  alles 
Dickicht  und  Gestrüpp  der  Hypothesen  und  Errata  zu  den  sauberen 
Waldrainen  eines  urkundlich  sichergestellten  Factums.  In  der  That, 
nie  hat  mich  ein  altes  Diploma  oder  der  Passus  eines  Chronisten 
mehr  in  den  Geist  vergangener  Zeiten  versetzt,  als  wenn  ich  es  von 
Pabst  vorlesen  gehört.  Und  von  Mehreren  habe  ich  vernommen, 
dass  durch  ihn  sie  Vorliebe  für  geschichtliche  Studien  gewonnen. 
Als  Publicationen  der  Gesellschaft  sind  ausser  mehreren  Einzel- 
sqjiriften  die  13  Bände  des  von  Bunge  begründeien  „Archivs"  bekannt, 
von  denen  die  fünf  letzten  die  von  Schirren  herausgegebenen 
„Quellen  etc."  enthalten.  Die  sehr  bedauerliche  Einstellung  der 
Verausgabe  ist  lediglich  durch  Missverständnisse  veranlasst.  Die 
Gesellschaft  hatte  eben  fünf  Bände,  auf  sov^iel  schätzte  der  Heraus- 
geber anfönglich  den  Umfang  des  Werkes,  demselben  zur  Verftlgung 
dargeboten;  eine  dritte  Person  hatte  die  Sache  vermittelt.  Der 
fiiixfte  Band  war  erschienen ;  und  da  kein  weiteres  Ansuchen  gestellt 
wurde,  verfügte  die  Gesellschaft  über  ihre  freigewordenen  Geldmittel 
anderweitig.  Der  Herausgeber  wiederum  hatte  keine  Ahnung,  dass 
die  Fünfzahl  das  punctum  saliens  war  und  war  nicht  wenig  und  nicht 
angenehm  überrascht,  in  seiner  so  wichtigen  Arbeit  plötzlich  Halt 
machen  zu  müssen.  Das  damalige  Directorium  scheint  immerhin 
von  dem  Vorwurf  nicht  frei  zu  sprechen,   die  Förderung  jenes  so 


488  Correspondenzen. 

bedeutenden  Unternehmens  nicht  als  sein  Hauptaugenmerk  betrachtet 
zu  haben.  .  An  die  Stelle  des  „Archivs*  traten  nun  die  „Beiträge  zur 
Kunde  Est-,  Liv-  und  Kurlands'',  von  Pabst  herausgegeben,  deren 
drittes  Heft  wohl  zu  Ende  dieses  Jahres  erscheinen  wird.  In  ihnen 
sind  Arbeiten  des  Herausgebers  selbst,  auch  kleinere  Mittheilungen 
von  C.  Russwurm  u.  A.  aufgenommen^  deren  grösster  Theil  in  den 
Sitzungen  des  Vereins  zum  Vortrag  gekommen  ist.  So  erfreulich 
und  dankenswerth  die  gediegenen  grösseren  Aufsätze,  vie  „über  die 
Schwarzenhäupter  zu  Reval",  über  „die  Komturei  deutschen  Ordens 
zu  Bremen'',  oder  die  Zerstörung  der  Sage  vo»  dem  Sieg  Pletten- 
berg's  bei  Maholm  und  manche  andere  Untersuchungen  sind;  so 
wenig  kann  ich  mich  toit  dem  krausen  Allerlei  befreunden,  das  ohne 
Zusammenhang  daran  gereiht  ist  und  dessen  Verzeichniss  eher  an 
die  Inhaltsangabe  des  „Lahrer  hinkenden  Boten''  und  dergl.  als  an 
ein  wissenschaftliches  Werk  erinnert.  Diese  Liebhaberei  hat  der 
Herausgeber  aber  schon  in  seinen  „Bunten  Bildern"  an  den  Tag 
gelegt  und  daran  wird  wohl  nichts  mehr  geändert  werden  können. 
Soviel  von  der  Wirksamkeit  der  literarischen  Gesellschaft. 
Nun  sind  auch  ausser  derselben  einige  ihrer  Glieder  recht  anhaltend 
mit  historischen  Arbeiten  beschäftigt.  Von  Pabst  abgesehen,  der  seit 
vielen  Jahren  für  das  estländische  Ritterschaftsarchiv  copirt  und 
regestrirt  hat,  ist  durch  des  Baron  Toll  unablässigen  Fleiss  die  in  der 
Vorrede  zur  „Brieflade"  verheissene,  üach  den  Siegeln  der  Landes- 
herren festgesetzte  Chronologie  derselben  der  Vollendung  entgegen- 
gereift. Russwurm  arbeitet  an  der  Regestrirung  der  Urkunden  des 
alten  Rathsarchivs ;  Bienemann  hat  zwei  Bände  der  „Briefe  etc."  in 
Reval  herausgegeben^  und  wenn  die  Vollendung  des  Werkes  f{iat 
etwas  lange  auf  sich  warten  lässt,  so  dürfte  man  dieses  Zögern  viel- 
leicht durch  seine  inzwischen  erschienenen  „Vorlesungen"  entschuldigen. 
Es  ist  hier  durchaus  ein  gewisser  historischer  Sinn  vorhanden  — r 
wurde  doch  sogar  ein  armer  junger  Mensch,  der  eine  ganz  geschichts- 
lose  Vergangenheit  gehabt,  hierher  berufen  und  in  das  Studium  der 
Vorzeit  getrieben,  um  seine  entfernten  Landsleute  aus  dem  ffuide  de 
lUval  über  diese  gute  Stadt  zu  belehren  und  wachte  doch  eine 
getreue  Obiigkeit  so  wacker  über  dem  wissenschaftlichen  Ruf  der 
hiesigen  Gelehrten,  dass  sie  es  hinderte,  benannten  Schmöker  als 
Quelle  zu  citiren. 

Reval,  den  23.  October.  * 


Notizen. 


W.  Rossmann,  vom  Gestade  der  Syrenen  und  Gyklopen,  Leipzig,  Heigel,  1869. 

Der  Verfasser,  Historiker  aus  Droysen's  Schule,  Erzieher  des 
Erbprinzen  von  Meiningen,  hat  sich  durch  vielseitige  schriftstellerische 
Thätigkeit  hervorgethan.  Sein  Buch  über  das  Reformationszeitalter 
ist  reich  an  geistvollen  Bemerkungen  über  Kunst  und  Literatur  und 
zeugt  von  feiner  Beobachtungsgabe  und  gründlicher  ästhetischer  Bil- 
dung. Auch  das  vorliegende  Werk  zeichnet  sich  durch  geschmack- 
volle Form  sowie  durch  gediegenen  Inhalt  aus.  Sehr  verschiedene 
Leserkreise  werden  daran  Gefallen  haben.  Hier  ist  die  leichte 
spielende  Form  der  Erzählung  eines  Touristen  verbunden  mit  dem 
Scharfsinn  eines  Aesthetikers  und  der  Gelehrsamkeit  des  Archäologen. 
Der  Aufenthalt  in  Neapel  und  auf  der  Lisel  Sicilien  ist  reizend  ge- 
schildert. Ueberall  begegnet  man  in  dem  Buche  sehr  treffenden 
antiquarischen  Bemerkungen.  Sehr  geschickt  angelegte  Citate  aus 
älteren  und  neueren  Dichtem  u|id  Schriftstellern  schmücken  die 
Schilderung  in  prächtigster  Weise.  Man  merkt  wohl,  welchen 
Genuss  ihm  die  italienische  Reise  eben  darum  gewährte,  weil  er 
eine  schöne  Bildung,  einen  ausgebildeten  Schönheitssinn  und  eine 
Ungewöhnliche  Belesenheit  mitbrachte.  Die  poetischen  Citate  sind 
oft  Uebersetzungen  des  Verfassers,  der  sich  als  Dichter  wiederholt 
versucht  hat. 

Sehr  anregend  sind  mancherlei  historisch-philosophische  Paral- 
lelen, auf  welche  Rossmann  aufmerksam  macht;  so  vergleicht  er 
den  Jsiscultus  mit  dem  Mariencultus  und  weist  nach,  wie  vieles  der 
letztere  dem  ersteren  entliehen  habe,  wie  z.  B.  das  Ave  Maria,  die 
Entlustungsformel,  das  weisse  Priestergewand,  die  Tonsur  der  Mönche, 
vielleicht  auch  das  Weihwasser.  —  Sehr  farbenreich  ist  der  Gegen- 
satz zwischen  den  Zeitgenossen  Christus  und  Tiberius,  zwischen 
Golgatha  und  Misenum  geschildert. 


490  Notizen. 

lieber  die  Ausgrabungen  in  Pompeji,  die  Museen  und  Alter- 
thümer  Süditaliens  hören  wir  hier  einen  Kenner  urtheilen.  TreflFend 
und  anziehend  sind  die  Bemerkungen  über  das  Treiben  des  Volkes, 
die  Physiognomie  der  neapolitanischen  und  sicilischen  Städte  und 
Landschaften,  über  das  Räuberwesen,  über  die  Universität  in  Neapel, 
das  moderne  Theater  u.  s.  w.  Man  darf  sich  zu  solchen  Büchern 
Glück  wünschen:  sie  bieten  eine  belehrende  und  erfrischende 
Leetüre.  Es  ist  ihr  Vorzug,  dass  eine  besonders  glückliche  Mischung 
von  Wissen  und  Können  da^u  gehört  *ie  zu  schreiben,  und  zugleich 
ist  es  ihr  Vorzug,  dass  man  ihnen  kaum  anmerkt,  wie  viel  mühsam 
erworbenes  Wissen  dazu  gehört;  das  Talent  solcher  Schreibweise 
lässt  uns  über  dem  Vergnügen,  solche  frische,  farbenprächtige  Bilder 
zu  schauen,  die  stille  Arbeit  der  Gelehrtenstube  vergessen. 


Wattenbaoh,  eme  Ferienreise  nach  Spanien,  1869. 

Auch  eine  Reisebeschreibung,  aber  von  ganz  anderer  Art  als  die 
vorhergehende.  Spanien  ist  in  der  letzten  Zeit  vielfadi  von  deutschen 
Gelehrten  bereist  worden.  Manche  haben  als  Geschichtsforscher 
die  Archive,  namentlich  dasjenige  von  Simancas  ausgebeutet,  wie 
Ranke,  Maurenbrecher,  Bergenroth,  andere  sind  als  ächte  Touristen 
gereist,  wie  Willkomm,  Hackländer,  Wolzogen  u.  s,  f .  Zu  der  Classe 
der  letzteren  gehört  der  Verfasser,  der  als  Professor  der  Geschichte 
in  Heidelbei^,  früher  in  Breslau  wohl  als  grundgelehrter  Forscher 
auf  dem  Gebiete  des  Mittelalters  Eminentes  geleistet  hat,  jetzt  aber 
unseres  Wissens  zum  eirsten  male  i^iit  einer  leichten  Reisebeschreibung 
hervortritt.  Es  ist  ein  hora  d'oewvre,  wie  es  einem  so  fleissigen 
Stubengelehrten  von  Herzen  zu  gönnen  ist,  wie  die  Spazierfahrt 
selbst,  von  welcher  das  Büchlein  handelt» 

Li  der  Schilderung  der  Städte  und  Landschaften,  in  welcher  der 
Verfasser  mit  behaglicher  Breite  und  in  etwas  hausbackener  Weise 
von  seinen  Reiseeindrücken  erzählt,  finden  wir  nichts  von  der 
spielenden  Grazie,  durch  welche  Rossmann's  Buch  sich  auszeichnet, 
nichts  von  poetischen  Ergüssen  oder  langathmigen  Citaten,  nidits 
von  ausführlichen  wissenschaftliehen  Erörterungen.  Es  war  dem 
Verfasser  um  eine  Ferienreise,  um  Erholung  zu  thun;  er  will  auch 
seinen  Lesern  keinerlei  Anstrengung  zumuthen.  Recht  behäbig  be* 
richtet  er  vom  Gasthausleben,  vom  Essen  und  Trinken,  vom  köst- 
lichen Nachtisch  an  einzelnen  Orten  Spaniens,  von  Obst  und  Weinen. 
Er   last    sich's  unterwegs   recht   wohl   sein   und    bleibt  dabei  sehr 


N#tizefl.  ,  4»! 

nüchtern,  wie  es  einem  Historiker  desi  Mittelalters,  eii^em  Keimer 
der  Paläographie  wohl  ansteht.  Hier  und  da  treffen  wir  auf 
historische  Notizen,  aber  sie  sind,  nicht  erheblich.  Verwundert  waren 
wir  darüber,  dass  Wattenbacb,  indem  er  Bergenroth's  Darstellung 
der  Geschichte  der  Johanna,  Mutter  KarPs  V.,  erwähnt,  an  die  Rich- 
tigkeit der  Resultate  von  Bei^enroth's  Untersuchung  glaubt.  Letzterer 
hatte  aus  bisher  unbekannten  Aktenstücken  die  Nachricht  schöpfen 
zu  können  gemeint,  dass  die  Qemahlin  Philipp*6  des  Schönen  von 
Oesterreich  nie  geisteskrank  gewesen  sei  und  daher  fälschlich  als 
Johanna  „die  Wahnsinnige^^  bezeichnet  werde;  er  glaubte  ferner 
herausgebracht  zu  haben,  dass  Karl  V.  seine  Mutter  böswillig  für 
geisteskrank  ausgegeben  habe  und  sie  sogar  habe  foltern  lassen. 
Diese  Erzählung  ist  indessen  von  anderen  Forschern,  u.  a.  von 
Maurenbrecher  widerlegt  worden  und  man  hat  erfahren,  dass  Bergen- 
roth den  spanischen  Ausdnjck,  den  er  mit  Folter  übersetzt  hatte^ 
falsch  Terstanden  habe,  indem  derselbe  auch  Sorge,  Mühe,  Pein,  Ge- 
müthsqual  bedeutet. 

Anziehende  Aeusserungen  finden  sich  in  Wattenbach*s  Buche 
über  den  materiellen  und  geistigen  Fortschritt,  der  sich  in  Spanien 
in  den  letzten  Zeiten  voUzieht  und  der  dem  VerfasseV  besonders 
durch  Vergleichung  früherer  Reisebeschreibungen  mit  dem,  was  er 
selbst  beobachtete,  in  die  Augen  fiel.  Mit  Recht  bemerkt  er,  es  sei 
wenig  bekannt,  dass  man  in  Spanien  keine  Mönche  mehr  sehe,  keine 
Heiligenbilder  mehr  an  den  Strassen,  kaum  einmal  ein  Crucifix.  — 
Ebenso  verdient  die  Vergleichung  zwischen  Spanien  und  Portugal 
Beachtung.  In  dem  letzteren  Lande  finde  man  keine  Bettler,  kein 
müssig  herumlungerndes  Gesindel,  es  gebe  dort  eine  gute  Polizei 
und  r^nliche  Strassen,  bei  den  Stiergefechten  in  Portugal  würden 
die  Stiere  nicht  getödtet,  die  Homer  derselben  würden  mit  Kugeln 
unschädlich  gemacht;  in  den  Fabriken  PortugaPs  sei  überall  der 
Stücklohn  eingeführt  u.  s.  f.  Ein  Schlussuttheil  über  Land  und 
Leute  auf  der  pyrenäischen  Halbinsel  fällt  der  Verfasser,  indem  er 
bemerkt,  es  sei  ein  sehr  wohlthuendes  Gefühl,  auf  der  Heim* 
reise  an  der  französischen  Grenze  anzulangen;  man  nehme  den 
üebergang  in  ein  civilisirtes  Land  wahr;  man  freue  sich  über 
den  wohlUiuenden  Eindruck ,  den  die  Ankunft  in  Bordeaux 
hervorbringe. 


492  Notizen. 

L.  Ranke:  „WaUenBtein''.    Duncker  4k  Humblot,  1869. 

Seitdem  in  den  zwanziger  Jahren  Ranke's  erste  Publicationen,  die 
^Geschichte  der  romanischen  und  germanischen  Völker",  „zur  Kritik 
neuerer  Geschieh tschreiber**  u.  s.  w.  erschienen,  ist  etwa  ein  Men- 
schenalter vergangen.  Ununterbrochen  hat  der  Altmeister,  der  jetzt 
75  Jahre  zählt,  weitergearbeitet  und  verfügt  über  unermesslich  reiche 
Materialiensammlungen.  Wenn  man  mit  so  grossartiger  historischer 
Bildung,  mit  solcher  kritischen  Schärfe,  mit  so  unermüdlicher  Arbeits- 
kraft und  mit  so  viel  Geschmack  und  Genuss  eine  grosse  Menge 
Archive  durchforscht  hat,  wie  Ranke,  so  muss  natürlich  im  Verlaufe 
einiger  Jahrzehnte  ein  ungeheurer  Stoflf  angesammelt  werden.  Ranke's 
Bücher  lasseji  den  Leser  es  sogleich  empfinden,  dass  überall  Original- 
forschung zu  Grunde  liegt.  Er  ergeht  sich  nie  in  unnützer  Breite 
in  dem  Material,  er  benutzt  nie  in  unverarbeiteter  Form  die  Ergeb- 
nisse der  Forschungen  seiner  Vorgängei;^  Er  darf  an  allen  Punkten 
seiner  Darstellungen  mit  vollen  Händen  Eigenes,  selbständig  Er- 
arbeitetes bieten. 

Man  durfte  daher,  als  man  schon  vor  dem  Erscheinen  des  vor- 
liegenden Buches  vernahm,  Ranke  sei  damit  beschäftigt,  einen  wesent- 
lichen Beitrag  zur  Geschichte  des  dreissigj ährigen  Kriegs  zu  liefern, 
mit  Spannung  einem  solchen  Werke  entgegensehen.  Der  „Wallen- 
stein'' ist  wahrlich  nicht  hinter  den  Erwartungen  zurückgeblieben. 
Dieselbe  Fülle  von  Stoflf,  derselbe  gedrungene,  markige  Stil,  dieselbe 
Knappheit  der  Form,  die  bei  anderen  als  Manier  erscheinen  würde, 
bei  Ranke'  indessen  einen  grossen  Reiz  übt,  dieselbe  feine  Detail- 
malerei mit  grossartigem  historischen  Hintergrunde,  dieselbe  Frische 
und  Energie  der  Darstellung,  dieselbe  künstlerische  Vollendung  in 
der  Anordnung,  wie  in  den  vorhergegangenen  Werken  des  berühmten 
Historikers.  Es  ist  in  dem  „Wallenstein"  nichts  von  einer  Abnahme 
der  Kräfte  zu  spüren.  Als  Ranke  vor  einem  halben  Jahrhundert 
über  Macchiavelli  und  Guicciardini,  über  die  Osmanen  und  übei 
Spanien,  über  Karl  VHI.  und  die  Medicis  schrieb,  mochte  man  die 
vollendete  Reife  seines  Geistes,  die  Ruhe  und  Objectivität  seines 
Urtheils,  die  souveräne  Ueberlegenheit,  mit  der  er  Massen  historischen 
Materials  bewältigte,  beleuchtete,  bewundern.  Jetzt  hat  man  Grund 
über  die  Frische  zu  staunen,  die  er  sich  bewahrt  hat,  über  die 
jugendliche  Theilnahme,  die  er  seinem  Stoffe  widmet,  über  die 
grosse.  Spannkraft,  mit  welcher  er  das  Kleinste  wie  das  Grösste 
behandelt,  über  die  nicht  im  mindesten  nachlassende  Virtuosität  in 
der  Form,  welche  stets  seine  Werke  auszeichnete.  Er  ist  immer  noch 


Notizen.  4d3 

der  alfce  Sybailt,  der  in  dem  Genüsse  schwelgt,  die  Bilder  der  Ver- 
gangenheit an  seinem  geistigen  Auge  vorüberziehen  zu  lassen,  der 
keine  grössere  Wonne  kennt,  als  in  grossen  Haufen  von  Actenstücken, 
in  dem  Gewirr  diplomatischer  Geschäfte  den  Faden  eines  politischen 
Gedankens  zu  verfolgen,  in  die  Geheimnisse  der  Gabinete  einzu- 
dringen, Zug  für  Zug  historische  Charaktere  zu  zergliedern,  grosse 
Zusammenhänge  in  den  internationalen  Beziehungen  zu  erkennen. 

Man  weiss,  welche  reiche  und  widerspruchsvolle  Literatur  über 
Wallenstein^  vorhanden  ist.  Einige ,  wie  Förster,  vertheidigen  ihn, 
andere,  wie  Hurter,  klagen  ihn  an.  Ranke  will  weder  vertheidigen 
noch  anklagen:  er  will  erklären.  Allem  demjenigen,  was  von  Pa- 
lacky,  Dudik,  Chlumecky,  Mailath,  A  retin  u.  A.  über  diese  Zeit 
mitgetheilt  worden  ist,  hat  Ranke  viel  neues  hinzuzufügen.  Manche 
Flugschriften  jener  Zeit,  welche  auch  anderen  zugänglich  waren, 
erhalten  durch  den  Reich thum  von  allerlei  archivalischem  Material, 
über  welches  Ranke  verfügt,  grössere  Bedeutung  als  Geschichts- 
quellen. Nicht  umsonst  hat  der  Verfasser  in  den  letzten  Jahrzehnten 
die  Archive  von  Simancas,  Wien,  Rom,  Venedig,  Brüssel,  München, 
Berlin,  Dresden,  London  und  Magdeburg  durchforscht.  Besonders 
lehrreich  erwiesen  sich  die  Berichte  des  brandenburgischen  Ge- 
sandten in  London.  Das  dresdener  Archiv  bot  ausnehmend  reiche 
Auskunft  über  die  Verhandlungen  Wallenstein's  mit  Sachsen.  Viele 
handschriitliche  Briefe  aus  dem  schwedischen  Hauptquartier  standen 
dem  Verfasser  zu  Gebote.  Die  Venetianer  gebfen  in^ihren  diploma- 
tischen Berichten  nicht  so  reichliche  Auskunft  über  die  Wallenstein 
betreffenden  Ereignisse.  Dagegen  mussten  sich  in  Rom  sehr  kost- 
bare Mittheilungen  finden  lassen,  weil  die  geistlichen  Nuntien   ihit 

• 

viel  lebhafterem  Literesse  als  die  Vertreter  der  venetianischen  Re- 
gierung allen  Momenten  zu  folgen  pflegten,  welche  mit  der  Her- 
stellung des  Eatholicismus  zusammenhingen.  Schon  früher  in  seiner 
„Französischen  Geschichte"  hatte  Ranke  mancherlei  wichtige  An- 
gaben über  die  Beziehungen  Wallenstein's  zu  Frankreich  mitgetheilt: 
auch  in  dem  vorliegenden  Buche  haben  sich  die  französischen 
Materialien  in  Bezug  auf  die  Unterhandlungen  mit  Frankreich  sehr 
fruchtbar  erwiesen.  Die  grosse  Aufmerksamkeit,  welche  die  Ge- 
sandten Spanien's  Wallenstein  widmeten,  erklärt  die  reiche  Ausbeute, 
welche  der  Verfasser  im  Archive  von  Brüssel  machte,  wo  die  Pa- 
piere der  spanischen  Monarchie  gutentheils  aufbewahrt  werden. 
Noch  viele  andere  Documente  hat  Ranke  aus  Privatarchiven  ent- 
nommen. Von  sehr  grossem  Werthe  sind  die  dem  Werke  beigefügten 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  9  u.  10.  33 


.404  )^ß^i(ifi^. 

firörtorunge»  Aber  die  Bedeutung,  den  Ursprung,  di«  Tattdenz  ein- 
selueir  Q]leU^n.  Wir  machen  z.  B.  /auf  die  schöne  JKritik  von 
jLhevenbillers  Annalen  aufmerksam,  und  auf  die  Bemerkungen  über 
:die  Teiaden^^iChrift  y^Alberfi  Friedlandi  eJmoB  perduellianis'' ,  als  djereo 
MttelleotueUen  Urheber  der  Verfasser  deu  FeiAd  Wallenstßins,  Slawata, 
verinuthe^- 

Mit  Recht  bemerkt  Ranke,  Wallensteins  Katastrophe  sei  bishör 
noch  immer  unverständlich  geblieben.  Mit  allen  neuerdings  nament- 
lich in  den  Wiener  Archiven  angestellten  Forschungen  sei  man  doch 
nicht  über  Anklage  und  Vertheidigung,  wie  sie  im  ersten  Moment 
einander  gegenüberstanden,  hinausgekommen,  der  Standpunkt  des 
Argwohns,  auf  welchem  manche  Zeitgenossen  verblieben,  könne  für 
die  Nachwelt  nicht  maassgebend  sein.  Der  Verfasser  kommt  zu 
viel  bestimmteren  Ergebnissen.  Indem  er  eine  Biographie  im  Zu- 
sammenhange mit  der  Zeitgeschichte  schreibt,  erhebt  er  sich  hoch 
ttber  den  Parteistandpunkt,  der  die  meisten  Schriften  seiner  Vorgänger 
auszeichnet. 

Jn  grossen  Zügen  schildert  der  Verfasser  zuerst  Wallensteins 
Emporkommjen  in  den  österreichischen  Erblanden,  wie  derselbe 
durch  Herkunft  und  Landesart  der  evangelischen  Partei  angehört 
habje,  wie  er  sich  vom  national-czechischen  Element  losgerissen  und 
jsich  mehr  dem  italienischen  Charakter  und  der  allgemewen  Cultur 
55ugew^ndt  habe,  ohne  dabei  zupi  streng  katholischen  System  über- 
zugehen, wie  er  dann  die  Rekatholisirung  Böhpiens  unterstützt  und 
zur  Entfernung  von  Pfarrern  und  Lehrerfi  beigetragen  habe.  —  Bei 
ider  Schilderung  der  allgemeinen  europäischen  Ereignissein  den  zw^- 
^i^ev  Jahren  kon^mt  dexa.  Verfasser  seine  ausgedehnte  K^enntnifis  der 
Stimmupg  ßller  Cabinete  sCjhr  zu  Statten.  In  a]ile  Verhältpisse  sehen 
wir  Wß^llenstein  energisch  eingreifen.  Bald  paeint  er,  man  könne 
von  Elbe  i^nd  Weser  aus  die  rebellischen  Holländer  im  Zaiim 
hellten,  ßie  vom  Norden  trennen,  von  wo  das  Holz  zu  ihren  SchifiGs- 
bauten  komme,  der  Kaiser  könne  sich  des  Sundzolles  bemächtigen, 
er  könne  Polen  gewinnen ;  bald  stellt  er  dem  Könige  Güsttaf  Adolf 
die  Erwerbung  Norwegens  in  Aussicht,  wenn  er  mit  dem  Kaiser 
und  Spanien  gemeinschaftliche  Sache  mache;  der  Besitz  von  Däne- 
mark sollte  ihm  unter  kaiserlicher  Lehjasherrlichkeit  zufallen;  der 
König  von  Polen  werde  seine  Ansprüche  auf  die  schwedische  Krone 
fallen  lassen,  Livland  solle  bei  Schweden  bleiben.  Der  Kaiser, 
sagte  Wallenstein,  dürfe  als  Haupt  der  Christenheit  die  Fortsetzung 


Notizen»  48fti 

des  Kriegeis  zwischen  Polen  und  Seiiweden  nioW  dulden.  So»  erhobt 
sich  die  Idee  des  Kaiser»  zu  ein«r  universellen  Autorität  Merk- 
wördig  sind  die  aus' den  Berichten  de»  päpstlicheB  Nuntius  Garafia 
über  den  Plan,,  die  Waffen  der  Christenheit  gegen  die  Osnianen  asu 
wenden,  geschöpften  Mittheilungen:  Wallenstein  sc^te,  es  werde 
sieben  millionen  Thaler  kosten  gegen  die  Osnianen  zu  kämpfen;  eine 
Flotte,  von  Spanien^,  Venedig  und  dem  Papst  ausgerüstet,  sollte^  im 
Archipelagus  erscheinen,  ein  Feldzug  in  Albanien  war  entworfen; 
Constantinopel  sollte  erobert  werden.  Es  war  ein  Plani,  der  dem 
Q^meingefühl  der  Christenheit  enttspracb. 

Doch  war  vorläufig  in  Deutschland  selbst  genug  zu  thun.  Wie 
sehr  bald  der  Krieg  den  Charakter  einer  religiösen  Verfolgung  ver- 
lor, ersieht  man  aus  dem  Umstände,  dass  Wallenstein  sich  ausbe- 
dungen hatte  sein  Heer  aus  Katholiken  und  Protestanten  zusammen- 
setzen zu  dürfen.  Ihm  galt  es  die  alten  Ordnungen  im  Reiche  um- 
zustürzen. Seine  Werbungen  und  Durchzüge  hatten  Conflicte  mit 
den  Fürsten  der  Liga  zur  Folge.  Sein  Contributionssystem,  die  Art, 
wie  er  mit  den  Territorialregierungen  umsprang,  stellte  die  Ver- 
fassung in  Frage.  Wallenstein  sagte,  der  Kaiser  müsse  Herr  in 
Deutschland  werden,  wie  die  Könige  von  Spanien  und  Frankreich 
Herren  seien  in  ihren  Länxlern-,  die  Wahl  sei  abzuschaflffen.  Ebenso 
revolutionär  stand  er  der  Geistlichkeit  gegenüber:  er  meinte,  man 
müsse  einige  Bischöfe  hinrichten.  Er  war  gegen  die  religiöse  Ver- 
folgung' und  versprach  den  mecklenburgischen  Ständen  ihre  Con- 
fession  zu  schützen.  Er  verlangte  vom  Kaiser  die  Aufhebung  des 
Restitutionsedicts  (die  Angaben  darüber  schöpfte  Ranke  aus  dem 
dresdener  Archiv).  Ihm  standen  der  geistliche  Einfluss,  die  Prä- 
tensionen des  hohen  Klerus  im  Wege.  Er  wollte  das  Gleichgewicht 
der  Parteien  wiederherstellen,  ein  Verständniss  mit  den  Protestanten 
zii  Stande  bringen.  Gewissensfreiheit  sei  das  Privilegium  der  Deutschen, 
sagte  er  wohl.  Man  wusste  es,  dass  er  dem  jesuitischen  und  spani- 
schen Einfluss  gegenüber  Front  machen  wollte.  Sein  Tod  war  für 
die  Protestanten  ein  schweres  Missgeschick. 

Eben  darum  waren  ihm  die  spanischen  und  römischen  Bot- 
sehafter mit  ängstlicher  Spannung  auf  der  Spur.  Von  ihm  konnte 
man  alle»  erwarten:  er  hat  wohl  die  Aeusserung  gethan,  es  seien 
schon  hundert  Jahre  her,  dass  man  Rom  nicht  geplündert  habe,  und 
jetzt  sei  es  noch  viel  reicher  als  ehemals.  Sein  Leben  war  eine 
Reihe  von  Verschwörungen.     Als  man  ihn  aufforderte  nach  Regens- 


486  Notizen. 

borg  zu  kommen^  sagte  er,  er  habe  dort  nichts  zu  suchen :  sein 
wahres  Quartier  werde  er  vielleicht  in  Paris  finden.  Mit  allen 
Parteien  hing  er  zusammen ,  um  schliesslich  überall  und  immer  nur 
seinem  eigenen  Interesse  zu  folgen.  Ihm  diente  die  Idee  der  Con- 
fiscation  der  Güter  der  Protestanten,  insofern  die  Hoffnung  an  diesem 
Raube  Theil  zu  nehmen  sein  Heer  zusammenhielt.  Und  dann  wieder 
suchte  er  die  Herrschaft  der  Katholischen  im  Reiche  zu  verhindern. 
Als  der  Kaiser  ihn  entliess,  weil  die  Kurfürsten  drohten  sonst  lieber 
Ludwig  XTTT.  als  den  Sohn  Ferdinand's  zum  römischen  Könige 
wählen  zu  wollen,  war  keine  Spur  von  persönlicher  Ungnade  bei 
dieser  Entlassung.  Als  er  wieder  in  Thätigkeit  kam,  waren  es 
^antiferdinandeische  Phantasien^  des  mächtigen  Kriegsfürsten,  wenn 
er  durch  den  Grafen  Trzka  in  Verhandlungen  mit  Gustaf  Adolf 
trat,  und  ihm  anbot,  er  werde  die  Güter  der  Jesuiten  den  Offizieren 
des  kaiserlichen  Heeres  geben  und  sie  so  an  sich  ziehen:  es  sei 
Thorheit  gewesen,  dass  die  Böhmen  Martiniz  und  Slawata  nur  aus 
dem  Fenster  geworfen  hätten,  man  hätte  ihnen  den  Degen  durch 
den  Leib  rennen  sollen.  Es  ist  Gustaf  Adolf  der  Vorschlag  gemacht 
worden,  12000  Mann  und  12  Kanonen  an  Wallenstein  zu  überlassen 
und  ihn  Vicekönig  von  Böhmen  werden  zu  lassen.  Er  hätte  dann 
den  Krieg  in  den  Erblanden  geführt.  Noch  bei  Nürnbei^  Hess 
Gustaf  Adolf  Wallenstein  einladen  persönlich  zu  kommen  und  zu 
unterhandeln.  »Wer  hätte  sich,"  fragt  Ranke,  „dem  widersetzen 
können,  worüber  sie  übereingekommen  wären**?  Auch  mit  Oxen- 
stjerna  blieb  er  in  Unterhandlung.«  Er  strebte  höher  und  höher. 
Schon  in  den  zwanziger  Jahren  ging  das  Gerücht,  Wallenstein  sei 
für  den  dänischen,  Schlick  für  den  schwedischen  Thron  bestimmt 
Später  wollte  er,  dass  nach  Kurfürst  MaximilMn's  Tode  die  Kurwürde 
auf  «ihn  übertragen  würde;  dann  meinte  er  Würtemberg,  Baden- 
Durlach  hinzuerwerben  und  so  bei  dem  Friedensschlüsse  das  ent- 
scheidende Wort  sprechen  zu  können  (aus  dem  Archiv  von  Brüssel). 
Der  Cardinal  von  Richelieu  sollte  Kurfürst  von  Trier  werden.  Der 
Gedanke,  Ludwig  XIH.  zum  Kaiser  der  Deutschen  zu  erheben,  tauchte 
auf.  „Welch  eine  neue  Gestaltung  des  Reichs",  sagt  Ranke  in  seiner 
„französischen  Geschichte"  (H.  441),  „wenn  diese  beiden  geistes- 
gewaltigen, ehrgeizigen,  nach  Unternehmungen  dürstenden  Menschen, 
Wallenstein  und  Richelieu,  unter  einem  Kaiser  wie  Ludwig  XTTT. 
geworden  wäre,  die  Reichsgewalt  ausgeübt  hätten.  Ob  sich  alsdann 
von  den  alten  territorialen  Dynastien  im  Reich  auch  nur  eine  einzige 
wiLrde  behauptet  haben?" 


Notizen*  497 

So  war  denn  der  Gonflict  zwischen  dem  Kaiser  und  dem  «Im- 
presario  des  Krieges''  unvermeidlich.  „Im  Orient/  sagt  Ranke,  „ist 
es  fast  Regel,  dass  grosse  Bjiegführer  den  Fürsten  ^die  Gewalt  ent- 
reissen.  Die  ganze  Geschichte  des  Kalifats  beruht  darauf."  Wie 
einst  Kurfürst  Moritz  von  Sachsen,  so  ging  Wallenstein  von  der  engen 
Verbindung  mit  dem  Kaiser  zur.  entgegengesetzten  Politik  über.  Noch 
weniger  als  Moritz  fühlte  er  sich  auf  die  Wahrung  der  katholischen 
Interessen  angewiesen.  So  reifte  die  Absicht  einer  autonomen  Er- 
hebung, bei  welcher  insbesondere  die  Unterhandlungen  mit  Sq.chsen 
von  grosser  Bedeutung  sind.  Ueber  diese  Verhandlungen  theilt  Ranke 
im  Anhange  wichtige  Materialien  mit.  Wallenstein  wollte  römischer 
König  werden.  In  Paris  ist  davon*  die  Rede  gewesen.  Der  Schritt 
zur  römischen  Ejrone  war,  wenn  er  einmal  in  Böhmen  herrschte,  leicht 
zu  vollziehen.  Und  gleichzeitig  mit  diesen  Entwürfen  sprach  er  von 
seiner  Abdankung,  vorausgesetzt,  dass  man  ihm  die  Vorschüsse, 
die  er  seinen  Generalen  gemacht  habe,  ersetze.  In  Betreff  des  be- 
rühmten Banketts  in  Pilsen  bemerkt  Ranke,  der  bekannte  Revers 
habe  auch  schon  vor  demselben  die  Clause!  von  einem  Vorbehalt 
über  den  Dienst  des  Kaisers  nicht  enthalten.  Wallenstein  hatte  sie 
früher  ausgestrichen:  die  Generale  wussten  was  sie  unterschrieben. 
Wallenstein  dachte  mit  Hülfe  der  beiden  norddeutschen  Kurfürsten 
die  Angelegenheiten  des  Reiches  auf  der  Grundlage  des  Religions- 
friedens zu  ordnen.  Er  wollt^  die  Ansprüche  der  Armee  befriedigen 
und  dann  vielleicht  abdanken.  Sein  Vorhaben  erinnert,  wie  gesagt, 
an  die  Unternehmung  Moritz'  von  Sachsen.  Sein  Ziel  ist  immer 
die  Gleichberechtigung  der  Bekenntnisse  im  Reich  und  die  Ent- 
fernung des  spanischen  Einflusses.  Der  Unterschied  ist  nur,  dass 
Moritz  selbst  ein  Kriegsherr  ist.  Wallenstein  aber  ein  vom  Kaiser 
eingesetzter  General.  Er  hoffte  auf  Schweden  für  seinen  Religions- 
frieden. Noch  Anfang  Februar  1634  hat  er  mit  Oxens^erna  cor- 
respondirt.  Dieser  wie  Bernhard  von  Weimar  sagten  ihm,  er  solle 
zuerst  das  Wunder  thun,  seinen  Abfall  ins  Werk  setzen ;  dann  wür- 
den sie  ihm  beistehen.  Wallenstein  äusserte  wohl:  man  müsse  der 
Welt  zeigen,  dass  es  Kaiser  auch  noch  aus  einem  anderen  Hause  als 
dem  össterreichischen  gebe;  und  ferner:  weim  der  Kaiser  ihn  nicht 
als  seinen  General  anerkenne,  so  werde  er.  Wallenstein,  ihn  auch 
nicht  zum  Herrn  haben  wollen;  er  werde  leicht  einen  anderen 
Fürsten  finden,  oder  auch  gar  keinen  Herrn  über  sich  haben. 

Nicht  in  dem  Maasse,  als  man  bisher  gemeint  hat,  ist  dem 
Elaiser  Ferdineuid  Wallenstein's  Sturz  zuzuschreiben.    Besonders  aus- 


führiich  deckt  Rauke  die  Thäfcigkeit  Aet  Späüiei^  iii  dieser  Beziehung 
auf.  Namentlich  der  Gesandte  Onate  warnte  schon  frühzeitig'  vor 
Wallenstein.  Die  Kurfürsten  erhielten  spanische  Pensionen.  Die 
Einträge  der  südamerikanischen  Bergwerke  wirkten  auf  die  deutecheil 
Verhaltnisse;  auch  der  römische  König  (Ferdinand  IIT.)  erhielt  yiel 
spanisches  Geld.  Onate  schrieb:  wenn  man  Priedländ  hätte  weiter 
fortschreiten  lassen,  so  würde  er  gewiss  den  Kaiser  in  einem  Monat 
aus  Deutschland  reijagt  haben.  Er  und  der  bayerische  Gesandte 
beinerkteii,  als  man  sich  entschlossen  hatte  gegen  Wallenstein  vor- 
zugehen, eö  werde  leichter  sein  Wallenstein  zu  tödten  als  äü 
verhaften.  —  So  Hess  denn  Ferdinand  dieser  Partei  freien  Lauf.  Es 
Wurden  Gebete  in  den  Kirchen  gesprochen,  dass  Gott  den  Kaiser 
erleuchten  solle.  So  wurde  zuerst  ein  Absetzungspatent  erlassen; 
miari  wollte  Wallenstein  gefangen  nehmen  und  ihm  den  Pi-oceds 
machen.  Zuletzt  galt  das  Losungswort:  ihn  lebendig  oder  todt  zu 
fangen.  Nach  der  Katastrophe  in  Eger  sagte  OÄate:  „Eine  grosse 
Gnade,  die  Gott  dem  Hause  Oesterreich  erzeigt  hat.'^  Dass  die  Ver- 
bindung Spanieti's  mit  Oesterreich  nun  erst  recht  stark  war,  und  was 
Wallenstein's  Tod  bedeutete,  zeigt  die  Reihe  von  Erfolgen  der 
Kaiserlichen  bald  nach  der  Ermordung  Priedland's:  die  Einnahme 
von  Regensburg,  die  Schlacht  bei  Nördlingen.  Wallensteiü,  Betgt  der 
Verfasser,  hatte  den  Krieg  mit  Frankreich  vermeiden  wollen.  Jetzt 
wüthete  dieser  Krieg  noch  lange  fort  und  gelangte  die  Entscheidutfg 
in  europäischen  Angelegenheiten  an  Frankreich. 

Sehr  anziehend  sind  die  Schlussbetrachtungen  Ranke's,  der  die 
Bedeutung  Wallenstein's  so  zusammenfasst:  Wallensteiü  steht  zwi- 
schen Essex  in  Englaüd  uüd  Biron  in  Frankreich  einerseits,  und 
Cromwell  und  Napoleon  andererseits.  Essex,  Biron  und  Wallenstein 
scheiterten  an  der  Legitimität,  Cromwell  und  Napoleon  fanden  die 
Legitimität  bereits  gestürzt. 

Pont...x. 


ly^r  Staatijdtreioh  vom  2.  D^cembet  1851  und  sMne  Mek Wirkung  atif  Europ». 
Leipidg  1870.    Dnntfker  ä  Hamblot. 

Der  Fall  Louis  Napoleon's  hat  das  Lsiteresse  für  seine  Erhebang 
wieder  gesteigert,  uad  es  kommt  eine  Menge  von  Material  zur  66* 
sebiehte  des  zweitea  Kaiserreichs  zu  Tage.  Darunter  ist  obiger 
kttraen  Skizze  der  diplomalisehen  YerhlÜtaisse  Eüropa's  Erwähnung 


Notizen.  499 

zu  thun,  wie  sie  sich  dem  Staatsstreich  Yom  2.  December  1861  und 
der  späteren  Annahme  des  Kaisertitels  seitens  Napoleon's  gegenüber 
gestalteten*  Diese  ^auf  Grund  zuverlässigen  diplomatischen  Materials 
unternommene*  Arbeit  schildert  klar  und  gedrängt  einige  Haupt- 
momente,  welche  damals  die  Cabinete  der  Grossmächte  bewegten, 
und  belegt  diese  Schilderung  durch  17  bisher  ungedruckte  Acten- 
stücke,  welche  ihr  angeschlossen  sind.  Wir  empfehlen  das  134  Seiten 
starke  Buch  unseren  Lesern. 


Fem  er  ist  soeben  bei  J.  Bac  meist  er  in  Eisenach  eine  kurze 
Biographie  des  Bischofs  Dr.  Ferdinand  Walter  erschienen. 
Das  Leben  eines  Mannes,  dessen  Geist  und  Thätigkeit  so  tief  in  die 
baltischen  Dinge  eingegriffen  haben  und  in  dessen  Stellung  sich  ein 
so  bedeutender  Theil  der  Geschicke  unseres  Landes  spiegelt,  ist  dazu 
angethan,  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  schlichte  und  warme  Dar- 
stellung zu  lenken,  die  ein  langjähriger  Freund  und  Genosse  mancher 
heiteren  und  dunklen  Lose  ihm  gewidmet  hat. 

E.  B. 


Von  der  Censur  erlaubt.    Riga,  den  3.  November  1870. 


Druck  der  Livländischen  Gouvernements-Typographie. 


Potemkin'8  GiOck  und  Ende. 


Die  letzten  Phasen  von  Potemkin's  vielbewegtem  Leben  fallen  in 
eine  ereignissreiche  Zeit.  Die  französische  Revolution  hatte  mehr  und 
mehr  die  Aufmerksamkeit  Europa's  auf  sich  zu  lenken  begonnen,  der 
Türkenkrieg  erforderte  die  grössten  Anstrengungen  Russland's,  um 
einen  leidlichen  Frieden  zu  ermöglichen ;  hatte  man  auch  mit  Schwe- 
den in  Werelä  eine  Uebereinkunft  erzielt  (1790),  so  nahmen  doch 
die  polnischen  Dinge  gerade  um  diese  Zeit  eine  Wendung,  welche 
die  vy-eiteren  Theilungen  Polens  zur  Folge  hatte.  So  häuften  sich 
die  Geschäfte  am  Hofe  Katharina's,  ohne  dass  sie  von  solchen  Staats- 
männern umgeben  gewesen  wäre,  die  ihr  volles,  unbedingtes  Ver- 
trauen verdient  hätten.  Ostermann  war  in  dieser  Zeit  nur  wenig 
eingeweiht  in  die  Geschäfte;  Besborodko's  Talent  war  einseitig:  es 
beschränkte  sich  auf  eine  bewunderungswürdige  Kunst,  amtliche 
Papiere  zu  redigiren ;  der  junge  Subow  war  ehrgeizig,  unternehmend, 
aber  zu  wenig  vorgebildet,  zu  gewöhnlich  begabt,  um  einen  hervor- 
ragenden Antheil  an  der  Politik  zu  nehmen.  Potemkin  war  im 
Süden  als  Verwalter,  als  Diplomat,  als  Feldherr  und  Admiral  thätig. 
Die  Leitung  des  Türkenkrieges,  die  Anbahnung  von  Friedensunter- 
handlungen waren  ihm  überlassen.  Ungeheure  Mittel  standen  ihm  zu 
Gebote.  Er  verfügte  über  die  Machtquellen  des  Reiches,  fast  als 
Souverän  herrschte  der  Satrap  in  seinen  Palästen  zu  Krementschug 
und  Cherson  und  in  den  soeben  dem  Feinde  entrissenen  Städten 
Bender  und  Jassy.  Sein  Privatvermögen  war  unermesslich.  Sein 
Ehrgeiz  träumte  von  einer  souveränen  fürstlichen  Stellung.  Aber 
gerade  als  er  sich  auf  dieser  schwindelnden  Höhe  befand,  fühlte  er 
den  Boden  unter  seinen  Füssen  wanken;  jeden  Augenblick  konnte 
ihm  die  Hofgunst  entzogen  werden ;  er  konnte  in  das  Nichts  zurück- 
sinken, aus  welchem  die  Kaiserin  ihn  einst  emporgehoben  hatte.  Da 
starb  er  im  Herbst  1791.  Ein  in  Glanz  und  Pracht  verschwelgtes, 
Baltische  Monatsschrift,  H.  Folge,  Bd.I,  Heft  11  u.  12.  34 


502  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

durch  Macht  und  Einfluss,  durch  grosse  politische  Entwürfe  ge- 
schmücktes Leben  ging  zu  Ende  unter  freiem  Himmel,  auf  der  kahlen 
Steppe.     Man  weiss  kaum,  wo  seine  Leiche  geblieben  ist. 

Solche  Gegensatze,  solche  Fälle  von  orientalischem  Glücks- 
wechsel waren  nicht  selten  in  Russland.  Menschikow  war  in  Si- 
birien gestorben,  der  alte  Ostermann  und  Münnich  waren  dem  Tode 
durch  Benkershand  nahe  gewesen,  Biron  hatte  die  Schrecken  der 
Verbannung  gekostet.  So  schroffer  Wechsel. gehörte  einer  früheren 
Periode  an.  Wer  unter  Katharina  bei  Hofe  Gunst  genossen  hatte, 
konnte  nicht  leicht  so  tief  fallen.  Die  vom  Hofe  entfernten  Günst- 
linge der  Kaiserin,  die  Orlow  und  Mamonow  lebten  in  fürstlich- 
reicher Zurückgezogenheit.  Auch  Potemkin  erhielt  sich  bis  an  seinen 
Tod  auf  der  Höhe.  Er  blieb  dem  Mittelpunkte  der  Geschäfte  nahe 
und  Katharina  hat  ihn  in  aufrichtiger  Trauer  beweint.  Dennoch  be- 
zeichneten Stürme  das  Ende  diese?  wechselvollen  Lebens.  Verwöhnt 
vom  Schicksal,  verhätschelt  von  der  Kaiserin  selbst,  konnte  Potemkin 
nicht  die  geringste  Schmälerung  seines  Glückes,  nicht  die  geringste 
Abnahme  des  Vertrauens  der  Kaiserin  ertragen.  Er  ging  daran  zu 
Grunde,  dass  seine  hochfliegenden  Entwürfe  nicht  in  ihrem  vollen 
Umfange  sich  verwirklichten,  dass  sein  Einfluss  auf  die  Kaiserin 
sank,  dass  er  nicht  noch  eine  höhere  Stufe  zu  erklimmen  vermochte. 
Wir  haben  es  in  der  gegenwärtigen  Skizze  nicht  mit  den  früheren 
Epochen  von  Potemkin's  Wirken  zu  thun,  sondern  betrachten  nur  den 
Abend  seines  Lebens.  Ungleich  wichtiger  als  die  Geschichte  seine« 
raschen  Emporkommens,  seines  Lebens  bei  Hofe,  ist  sein  Antheil  an 
dem  sogenannten  „griechischen  Project",  an  dem  ersten  und  zweiten 
Türkenkriege,  an  der  Besetzung  der  Krim,  besonders  an  den  Ent- 
würfen, welche  sich  an  den  Krieg  der  Jahre  1787  bis  1791  knüpften. 
Hier  hatte  er  Spielraum:  hier  gebot  er  über  ein  weites  Reich  im 
Süden^,  hier  hatte  er  ein  Heer  und  eine  Flotte,  hier  konnte  er  für 
Russland  und  für  sich  Politik  machen  im  grössten  Stil. 

Man  weiss,  welch  seltsames  Gemisch  in  Potemkin  sich  ddrstellt 
von  Genie  und  Cynismus,  von  Bildung  und  Rohheit,  von  europäischer 
Hypercultur  und  asiatischer  Barbarei,  von  grossartigen  Entwürfen 
für  den  Staat  und  von  selbstsüchtiger  Rücksicht  auf  seine  Tasche, 
von  Humanität  und  Egoismus,  von  Thatkraft  und  Schlaffheit,  von 
Strebsamkeit  und  Indolenz;  —  ein  Charakter,  welchen  der  Fürst 
von  Ligne  als  von  der  Natur  so  verschwenderisch  ausgestattet  be- 
zeichnet, dass  hundert  Menschen  von  gewöhnlichem  Geist  und  Ge- 
müth    aus   diesem  Stoffe  hätten    gemacht   werden   können,   —   ein 


Potemkin's  Glück  und  Ende.  503 

Charakter,  welcher  ^dlen  Menschen  wie  Katharina,  wie  Sdgur,  wie 
Ligne  tiefes  Interesse  einflö^ste  und  der  zu  gleicher  Zeit  der  Gegen* 
stand  der  schärfsten  Anfeindung,  des  bittersten  Tadels,  des  giftigsten 
Hasses  geworden  ist,  —  eine  Persönlichkeit,  welche  als  Held  und 
Staatsmann  gepriesen,  als  Verbrecher  verurtheilt  worden  ist  von  der 
Geschichtsschreibung;  ein  Mann  von  kindischem  Ehrgeiz,  dem  man 
wohl  nachsagte,  dass  er  um  den  Georgsorden  zu  erhalten,  tausende 
von  Menschen  bei  Otschakow  zu  opfern  bereit  gewesen  sei,  dem 
selbst  der  Fürst  von  Ligne,  der  zu  Zeiten  für  ihn  schwärmte,  wohl 
zutraute,  dass  er  um  eines  österreichischen  Ordens  \yillen  sich  aus  der 
faulen  Schwäche  capuanischen  Lagerlebens  herauszureissen  vermocht 
hätte;  aber  zugleich  ein  Mann,  aus  dessen  zahllosen  Briefen  und 
Geechäftspapieren,  aus  dessen  organisatorischer  Thätigkeit  und  Viel- 
seitigkeit uns  grosse  Strebsamkeit,  ein  reicher  Geist,  hier  und  da  Ge- 
müthswärme  entgegentreten.  Sein  Doppelwesen  charakterisirt  sich 
am  besten  in  der  Aeusserung,  die  vpn  verschiedenen  seiner  Zeitge- 
nossen gethan  worden  ist:  Potemkin  erscheine  stets  müssig,  obgleich 
er  stets  mit  schwerer  Gedankenarbeit  beschäftigt  sei.  Mochte  er 
noch  so  oft  halbnackt  und  halbträumend  auf  einer  Ottomane  ruhend 
gesehen  werden:  die  grosse  Zahl  seiner  Handbillets  an  viele  Be- 
amte, deren  Arbeiten  er  überwachte,  zeigt,  dass  er  eine  ungewöhn- 
liche Arbeitskraft  besass,  dass  viel  Stoff  zu  Grossem  und  Hohem 
in  ihm  war.  Der  Gesammteindruck  indessen,  den  der  Geschichts- 
forscher nach  Durchmusterung  vieler  Urtheile  von  Zeitgenossen  über 
ihn,  vieler  handschriftlichen  Urkunden  von  ihm  selbst,  nach  genauer 
Einsicht  in  das  Leben  und  Treiben  Potemkin's  gewinnt,  ist  der,  dass 
wir  es  hier  mehr  mit  einem  Abenteurer  als  mit  einem  wahren 
Staatsmann,  mehr  mit  einem  Glücksritter  als  mit  einem  ächten 
Patrioten,  mehr  mit  einem  Hofmann  als  mit  einem  Helden,  mehr 
mit  theatralischer  als  wirklicher  Grösse,  mehr  mit  Flittergold  als 
gediegenem  Metall,  mehr  mit  aussenglänzender  Begabung  als  eigent- 
licher Tiefe  zu  thun  haben.  Die  spätere  Zeit  verdankt  ihm  weniger 
als  seine  Lobredner  meinen;  seine  Schöpfungen  sind  ephemer,  seine 
Handlungen  nur  mehr  von  augenblicklicher  Wirkung  gewesen.  Seine 
Träume  von  reichen,  dichtangebauten  Gegenden,  von  bevölkerten 
Städten,  von  Glück  und  Wohlstand,  Handel  und  Industrie,  Kunst 
und  Wissenschaft  im  Süden  von  Russland  und  in  der  Krim,  welche 
wie  mit  einem  Zauberschlage  sich  verwirklichen  sollten,  sind  eben 
Träume  geblieben.    Nur  auf  Augenblicke  gelang  es,  einzelne  Punkte 

der  unermesslichen  Gegenden,  die  er  jahrelang  beherrschte,   in  eine 

34* 


604  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

höhere  Culturstufe  zu  rücken.  Nach  wie  vor  berührten  sich  hier 
Steppe  und  Garten,  Lehmhütte  und  Palast,  raffinirtester  Luxus  und 
nacktes  Elend,  Wilder  und  Sybarit.  Nur  auf  Augenblicke  liess  sich 
aus  dem  Nichts  etwas  schaffen.  Bei  der  völlig  unhistorischen  Art 
Städte  zu  bauen,  Gegenden  zu  cultiviren,  konnte  es  keine  organischen 
Gründungen,  keine  soliden  Existenzen  geben.  Wo  die  historische 
Geduld  fehlte,  da  konnten  die  Gärten  und  Paläste,  die  Fabriken  und 
Kasernen,  die  Dörfer  und  Schulen  nur  kurze  Zeit  wie  durch  einen 
Zauber  scheinbar  bestehen.  Wie  Potemkin  selbst  keiner  Schule  von 
Staatsmännerp,  keinem  politisch  bedeutenden  Geschlecht  entstammte, 
wie  er  selbst  aus  dem  Nichts  zu  der  zweiten  Stelle  im  Staate  empor- 
gehoT)en  war,  so  knüpften  auch  seine  Schöpfungen  nicht  an  irgend 
ein  historisch  Gegebenes  an;  sie  waren  unvermittelt,  als  Treibhaus- 
pflanze, als  äusserer  Zierrath  schmückten  sie  die  Regierung  Katha- 
rina's;  kümmerlich  vegetirten  sie  in  späterer  Zeit.*  Mit  ungeheuren 
Grössen  hat  Potemkin  als  Organisator,  als  Feldherr,  als  Diplomat 
gerechnet:  die  Rechenschaft,  welche  man  von  ihm  fordern  darf,  bietet 
keine  grossen  Ergebnisse.  Der  rothe  Faden,  der  sich  durch  sein 
Leben  hinzieht,  ist  das  Gefühl  der  Verantwortlichkeit  nur  der 
Kaiserin  gegenüber,  die  Besorgniss,  dass  sie,  die  ihn  erhob,  ihn  auch 
stürzen  könne.  Solchen  Naturen  fehlt  es  an  Selbstgefühl,  an  Ver- 
trauen auf  wirklich  geleistete  Dienste,  solche  Pflanzen  gedeihen  nur 
in  der  Hofluft:  es  giebt  keine  andere  Welt  für  sie  ausser  dieser. 

Und  doch  hatte  Potemkin  grosse  Bedeutung  für  Russland's 
Politik.  Keiner  der  Günstlinge  Kätharina's  hatte  so  tief  in  das 
politische  Leben  jener  Zeit  eingegriffen,  keiner  hatte  den  europäischen 
Fragen  so  nahe  gestanden,  wie  er.  Mit  den  ausländischen  Diplo- 
maten am  St.  Petersburger  Hofe  stand  er,  so  oft  er  sich  in  der 
Hauptstadt  aufhielt,  in  lebhaftem  Verkehr.  Er  hatte  seine  eigene 
Art  die  Geschäfte  zu  betrachten.  Nicht  immer  zeichnete  er  die  Ge- 
sandten aus,  welche  Katharina  bevorzugte.  Während  Katharina 
mehr  zu  Frankreich  hielt,  suchte  Potemkin  ein  nahes  Verhältniss 
zu  England  anzubahnen.  Der  innigen  Freundschaft  der  Kaiserin 
zu  Joseph  n.  gegenüber  erinnerte  er  wohl  an  die  Nothwendigkeit, 
die  Beziehungen  zu  Preussen  zu  pflegen.  In  der  orientalischen  Frage 
scheint  er  oft  eine  Art  Initiative  gehabt  zu  haben,  lieber  die  Be- 
ziehungen zur  Türkei,  die  Nothwendigkeit  einer  Besitzergreifung  der 
Krim,  die  Haltung  Russland's  im  Kaukasus,  die  Gründung  russischer 
Kriegshäfen  am  Schwarzen  Meere  verfasste  er  Gutachten.  Sein 
langjähriger  Aufenthalt   im  Süden    hatte  ihn  eine  Terrainkenntnist^ 


Potemkin's  Glück  und  Ende.  606 

erwerben  lassen,  welche  ihn  in  Stand  setzte,  die  Wichtigkeit  einer 
Grenzerweiterung  gegen  die  Türkei,  der  Befestigung  mancher  Grenz- 
punkte genauer  zu  erkennen,  als  mancher  andere  es  vermocht  hätte. 
Nicht  blos  auf  die  rein  politische  Bedeutung  solcher  Erwerbungen 
wies  er  hin,  sondern  auch  auf  die  wirthschaftliche  Wichtigkeit  der 
Colonisation  in  Südrussland,  des  russischen  Handels  auf  dem  Schwarzen 
Meere,  auf  die  Vortheile,  welche  für  das  Christenthum  aus  einem 
Vordringen  gegen  die  Türkei  erwachsen  müssten.  Aus  verschiedenen 
Zeiten  stammen  solche  Vorschläge  und  Aeusserungen  Potemkin's.  0 
Stets  war  er  beschäftigt,  Angaben  zu  sammeln  über  den  Stand  der 
Fragen,  die  ihn  in  Anspruch  nahmen.  In  den  Archiven  Südruss- 
land's  finden  sich  umfassende  Memoiren  über  mancherlei  Verwaltungs- 
gegenstände,  welche  davon  zeugen,  dass  Potemkin  es  verstand,  sich 
mit  Sachkundigen  zu  umgeben,  ihre  Dienste  zu  verwerthen  und  ge- 
naue EnquÖten  anstellen  zu  lassen.  ^) 

Potemkin's  ungewöhnliche  Fähigkeiten,  sein  Gedächtniss  setzten 
ihn  in  Stand,  spielend  das  zu  erlernen,  worauf  andere  viel  Zeit  ver- 
wenden. Als  er  Grossadmiral  auf  dem  Schwarzen  Meere  geworden 
war,  suchte  er  in  kurzer  Zeit  sich  die  Einzelnheiten  der  Technik 
zur  See  anzueignen.  Die  Umwandlung  der  für  die  Vergnügungsreise 
der  Kaiserin  im  Jahre  1787  gebauten  Galeeren  in  Kriegsfahrzeuge 
ist  nach  seinen  Angaben  erfolgt.  Zahllose  eigenhändige  Schreiben 
von  ihm  bekunden  sein  Interesse  am  Schiffsbau,  der  während  des 
Türkenkrieges  im  Süden  eifrig  betrieben  wurde.  Seine  Universal- 
bildung hat  manchen  seiner  Zeitgenossen  in  Erstaunen  gesetzt.  Ohne 
sich  durch  einen  hohen  und  reinen  Kunstgeschmack  auszuzeichnen, 
liebte  er  es,  sich  mit  Künstlern  und  Kunsterzeugnissen  zu  umgeben. 
In  seiner  Erdhöhle  vor  der  Festung  Otschakow  war  er  mit  der 
Uebersetzung  französischer  Werke  beschäftigt.  Manchen  wichtigen 
politischen  Fragen  gegenüber  schien  er  gleichgültiger  als  er  war. 
Sein  dolce  far  niente  war  oft  nur  ein  scheinbares.  Der  Fürst  von 
Ligne,  der  ihn  wochenlang  während  des  Feldzuges  von  1788  beob- 
achtete, bezeugt,   dass  Potemkin,  der  immer  nur  zu  ruhen  scheine, 


0  S.  u.  a.  die  Biographie   Potemkin's    von   Samoilow   in    der   Zeitschrift 
„Russisches  Archiv"  1867,  S.  1011  ff.  Solowjew,  Polen's  Fall  (russisch)  S.  156. 

2)  Auf  dem  Gute  der  Nachkommen  von  Potemkin's  Secretär  Popow,  Rescbe- 
tilowka,  in  der  Umgebung  von  Poltawa  u.  a.  findet  sich  eine  grosse  Menge  von 
Geschäftspapieren  aus  der  Canzlei  Potemkin's.  Nur  ein  geringer  Theil  derselben 
ist  gedruckt  worden.     S.  u.  a.  PyccKitt  ApxHBt,  1865,  S.  535. 


506  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

sieh  Tag  und  Nacht  keine  Ruhe  gönne,  weil  ihn  das  Gefühl  der  Ver- 
antwortlichkeit für  das  Interesse  der  Kaiserin  erfülle. 

Die  Behauptung,  dass  der  Bruch  mit  der  Pforte  im  Jahre  1787 
wesentlich  durch  Potemkin  herbeigeführt  worden  sei,  der  dem  russi- 
schen Gesandten  in  Constantinopel  eine  allzu  drohende  Haltung  an- 
empfohlen habe,  ist  nicht  unbegründet.  Mitten  im  Kriegslärm  war 
er  möglichst  genau  unterrichtet  über  die  verschiedenen  Fragen,  welche 
Katharina  beschäftigten,  und  theilte  ihr  in  ausführlichen  Briefen  seine 
Ansichten  über  das  Verfahren  mit,  welches  man  den  Polen,  den 
Schweden,  den  Cabineten  der  Westmächte  gegenüber  einzuschlagen 
habe.  So  oft  die  Kriegsereignisse  ^s  gestatteten,  kam  er  nach 
Petersburg,  um  durch  persönlichen  Verkehr  mit  der  Kaiserin  auf  die 
politischen  Verhältnisse  einzuwirken.  In  vertraulichem  Gespräch 
klagte  dann  wohl  die  Kaiserin  über  die  Schwierigkeiten,  denen  sie 
begegne,  und  dass  dieselben  grösser,  schwerer  zu  überwinden  seien 
als  sonst;  fast  glaube  sie,  dass  ihr  zunehmendes  Alter  ihr  alles  in 
dunkleren  Farben  erscheinen  lasse. 

Er  tröstete  sie:  das  Reich  werde  grösser;  die  politischen  Fragen 
seien  schon  durch  den  gewaltigen  Umfang  desselben  complicirter ;  man 
brauche  in  demselben  Verhältniss  mehr  Hülfsmittel  als  andere  Staaten.  0 

Die  Ansicht,  dass  Katharina  gegen  das  Ende  von  Potemkin's 
Leben  ihre  günstige  Meinung  über  ihn  völlig  geändert  habe,  ist 
falsch.  Es  gab  Momente  der  Verstimmung;  von  einer  eigentlichen 
Ungnade  war  keine  Rede.  Vielfache  Aeusserungen  der  Kaiserin 
bei  Potemkin's  Tode  zeugen  von  aufrichtiger  Anhänglichkeit.  Freilich 
mochte  es  nicht  viel  bedeuten,  wenn  sie  in  Briefen  an  Zimmermann 
und  andere  Zeitgenossen  Potemkin  überhaupt  lobte  oder  ihn  etwa 
gegen  den  Vorwurf  in  Schutz  nahm,  er  hätte  die  Einnahme  von 
Otschakow  beeilen  können,  sogar  wenn  sie  in  Briefen  an  ihn  selbst 
ihn  ihren  Freund  nannte,  oder  wenn  sie  ihn  mit  Gnadengeschenken 
und  Belohnungen  überschüttete.  Dagegen  werden  uns  Aeusserungen 
von  Katharina  aus  engstem  Hofkreise  mitgetheilt,  welche  wir  als 
ungeschminkt  ansehen  dürfen  und  welche  schwerer  wiegen  als  die  ihm 
verliehenen  Millionen  und  Paläste,  Orden,  Ehrendegen  und  Sieges- 
kränze. Mehr  als  solche  Zeichen  äusseren  Glanzes  gelten  die  man- 
cherlei kurzen,  aber  herzlichen  Handbillets  Katharina's  an  ihn  und 
der  Schmerz,  mit  dem  sie  ihn  beweinte. 


0  Tagebach  Chrapowitz^'s,  22.  Mai  1789. 


Poterokin'a  Glück  und  Ende.  507 

Nicht,  so  günfitig  beartheilte  man  ihn  in  der  Umgebung  der 
Kaiserin  uad  im  Auslande.  Das  Wortspiel,  mit  welchem  man  ihn 
als  den  „Fürsten  der  Pinsterniss*'  bezeichnete,  deutet  schon  darauf 
hin,  dass  man  in  dem  Gewaltigen  einen  bösen  Dämon  Ru&sland's 
sah.  Männer  wie  S^gur  und  Joseph  haben  mit  grosser  Unbefangen- 
heit seine  Schöpfungen  in  Südrussland  betrachtet  und  nur  sehr  ge- 
ringe Bewunderung  dabei  empfunden.  Ihre  Aeusserungen  gegen- 
einander oder  S^gur's  Aufzeichnungen  darüber  in  seinen  Memoiren 
oder  des  Kaisers  Mittheilungen  an  den  Feldmarschall  Lacy  waren 
aufrichtiger  als  das  Lob,  welches  sie  der  Kaiserin  in  Betreff  der 
neuen  Städte,  Festungen,  Kriegshäfen  spendeten.  Sie  staunten  wohl 
über  die  Schnelligkeit,  mit  welcher  so  viel  neues  in  Südrussland 
und  der  Krim  geschaffen  war,  aber  sie  erkannten  sehr  wohl,  dass 
ein  solcher  Erfolg  nur  mit  einem  unermesslichen  Aufwände  von 
MenschenUraft  und  Mitteln  möglich  gewesen  sei,  und  dass  derselbe 
keinerlei  dauernden  Bestand  haben  werde.  Für  den  Fürsten  von 
Ligne,  der  wirkliche  Theilnahme  für  Potemkin  empfand,  war  er 
eine  Art  psychologischer  Abnormität,  die  eingehenden  Studiums  werth 
schien.  In  dem  Feldzuge  von  1788  mochte  der  Heisssporn  Ligne 
entsetzlich  darunter  leiden,  wenn  der  verzärtelte  Orientale  in  ver- 
düsterter Stimmung,  einem  Hamlet  zu  vergleichen,  ein  entscheidendes 
Vorgehen  gegen  den  Feind  vermied,  von  allerlei  angeblichen  Ge- 
fahren sprach,  Menschen  schonen  zu  mibssen  vorgab  und  lange  Zeit 
in  einer  Art  Lethargie  verharrte.  Bald  erschien  er  ihm  wie  ein 
Held,  bald  wie  ein  eigensinniges  Kind,  bald  verglich  er  ihn  mit 
Achill,  bald  mit  Thersites ;  bald  spottete  Ligne  über  Potemkin's  Bi- 
gotterie und  Aberglauben,  bald  bewunderte  er  dessen  rastlose  Thätig- 
keit.  Er  nannte  ihn  den  ausserordentlichsten  Menschen,  der  ihm  je 
vorgekommen  sei,  einen  „Koloss",  das  „Emblem  Russland's  mit 
Wüsten  und  Goldminen*' ;  er  staunte  über  den  Weichling,  der  sich 
ohne  Ende  mit  wohlriechenden  Essenzen  zu  waschen  püegte,  der  bis- 
weilen einen  Monat  lang  sich  nicht  dazu  aufraffen  konnte,  ein  wich- 
tiges Papier  zu  unterzeichnen,  und  der  dann  wieder  im  dichtesten 
Kugelregen  einen  bewunderungswürdigen  Gleichmuth  an  den  Tag 
legte  —  eine  Sonderlingsnatur  durch  und  durch,  die  oft  abgespannt 
war  wo  der  Augenblick  rasche  Thätigkeit  erforderte,  und  die  dann 
zur  Unzeit  in  rastlosem,  überstürzendem  Eifer  manches  verdarb»  0 
Am    heftigsten    ist    die    Verschleuderung    von    Staatsgeldern    durch 


0  Oeuvres  du  prince  de  LignC)  1860,  II.  passim. 


608  Potemkm*0  Glück  und  Ende. 

Potemkin  getadelt  worden.  Die  ausländischen  Diplomaten  in  Peters- 
burg haben  manches  Anekdotische  darüber  mitgetheilt. ')  Seine 
politischen  Fehler  in  Bezug  auf  die  orientalische  Frage  haben  in 
dem  zeitgenössischen  Geschichtschreiber  und  Publicisten,  dem  Fürsten 
Schtscherbatow,  einen  strengen  Beurtheiler  gefunden.  Ausführlich 
erörtert  Schtscherbatow,  wie  Potemkin  die  Zeit  der  Vorbereitung 
auf  einen  Krieg  nicht  genügend  ausgebeutet  habe,  wie  die  Eriegs- 
anstalten  im  Süden,  welche  der  Kaiserin  im  Jahre  1787  gezeigt 
wurden,  zum  Theil  nur  leerer  Schein  gewesen  seien,  wie  leichtsinnig 
man  die  Pforte  unnöthigerweise  gereizt  habe,  wie  wenig  die  Erfolge 
den  Hoffnungen  und  dem  Hochmuth  entsprachen,  mit  denen  man 
sich  in  diesen  Krieg  gestürzt  habe  u.  s.  w.  ^) 

Wir  haben  Grund  zu  vermuthen,  dass  Schtscherbatow's^ Aus- 
lassungen damals  nicht  in  weiteren  Kreisen  verbreitet  wurden.  Die 
Publicistik  war  noch  in  ihren  Anfängen.  Nur  etwa  im  vertrautesten 
Kreise  mochte  man  ungestraft  die  Handlungen  hochgestellter  Per- 
sonen einer  Kritik  unterwerfen.  Wohl  aber  ist  der  gegen  Potemkin 
gerichtete  Tadel  oft  genug  in  der  unmittelbaren  Umgebung  der 
Kaiserin  laut  geworden.  Es  gab  viele  persönliche  Widersacher  des 
Fürsten.  Unter  den  Gründen  für  die  Reise  der  Kaiserin  in  den 
Süden  wird  angeführt,  dass  Katharina  über  Potemkin's  Verwaltung 
Nachtheiliges  vernommen  und  sich  entschlossen  habe,  diese  Ver- 
waltung einer  Controle  zu  unterwerfen.  Beim  Ausbruche  des  Krieges 
mit  der  Pforte  hat  man  die  Kaiserin  davon  zu  überzeugen  gesucht, 
dass  Potemkin  die  Kräfte  des  Reiches  überschätze,  da«s  er  die 
Kaiserin  durch  falsche  Berichte  über  den  Stand  der  Armee  täusche. 
Der  Dichter  Derschawin,  welcher  in  dieser  Zeit  als  Augenzeuge  den 
Ereignissen  nahestand,  erzählt,  man  habe  während  der  Zeit  der  Be- 
lagerung von  Otschakow  bei  Hofe  ernstlich  daran  gedacht,  Potemkin 
den  Oberbefehl  zu  nehmen.  ^) 

Potemkin  verstand  es,  seine  Gegner  in  Schach  zn  halten.  Sein 
zügelloser  Ehrgeiz  vertrug  es  nicht,  dass  Andere  das  Vertrauen  der 
Kaiserin  genossen.  Jene  Einflüsterungen  vor  der  Reise  im  Jahre 
1787  wusste  er  durch  die  glänzenden  Ergebnisse  der  Reise  zu  nichts 
zu  machen.     Otschakow   wurde  genommen.      Eifersüchtig   trachtete 


0  8.  a.  A.  b.  Herrmann,  Blum,  Heibig  in  Archenholz'  Minerva  etc. 
«)  HTCHiH  MocK.  06n^.  Hot.  h  flpeBH.  Pocc.  1860.  I.  79  ff. 
')  Commentar  Derschawin's  zu  einem  seiner  Gedichte  in  der  Ausgabe  yon 
DerBchawin*8  Schriften  von  Grot  I,  232,  (russisch). 


Potemkin*8  Glück  und  Ende.  509 

er  darnach,  den  Ruhm  anderer  Generale  zu  schmälern.  Seine  Hand- 
Jungsweise  gegenüber  Rumänzow  und  Suworow  ist  kleinlich.  Schon 
während  der  Reise  im  Jahre  1787  hatte  er  es  verstanden,  seine  Ver- 
waltung in  einem  unyergleichlich  günstigeren  Lichte  darzustellen 
als  diejenige  Rumänzow's.  Allerlei  Chicanen  gegen  Rumänzow  als 
Feldherrn  während  des  Feldzuges  im  Jahre  1788  veranlassten  den 
greisen  Helden  um  seinen  Abschied  zu  bitten;  durch  österreichische 
Offiziere  hatte  Potemkin  den  ihm  an  militärischem  Ruhm  weit  über- 
legenen Rumänzow  überwachen  lassen.  Die  Berichte  derselben  be« 
nutzte  er,  um  ihn  zur  Niederlegung  des  Oberbefehls  zu  nöthigen. 
Potemkin's  Verhältniss  zu  Suworow  war  fast  fortwährepd  ein  ge- 
spanntes. Es  verschlimmerte  sich  in  dem  Maasse,  als  Suworow's 
Ruhm  sich  mehrte.  Als  Subow  in  seiner  Günstlingsstellung  mehr 
und  mehr  Einfluss  zu  gewinnen  drohte,  schien  es  Potemkin's  Haupt- 
aufgabe zu  sein,  diesen  Einfluss  zu  paralysiren.  Der  Gedanke,  den 
neuen  Emporkömmling  aus  dem  Sattel  zu  heben^  hat  den  Fürsten 
Potemkin  die  letzten  Monate  seines  Lebens  unablässig  beschäftigt. 

In  der  That  hat  Potemkin  während  des  Türkenkrieges  nur 
ausnahmsweise  die  Haltung  eines  Kriegshelden  beobachtet.  Aller- 
dings geschah  es  wohl,  dass  er  mit  grosser  Lebensgefahr  Recog- 
noscirungen  in  unmittelbarer  Nähe  der  Feinde  unternahm,  dass  er 
zu  ^V asser  und  zu  Lande  sich  den  Kugeln  der  Türken  aussetzte,  dass 
an  seiner  Seite  russische  Offiziere  getödtet  wurden,  dass  er  in  Mo- 
menten* der  Gefahr  eine  ungewöhnliche  Kaltblütigkeit  an  den  Tag 
legte.  Fast  immer  aber  lebte  er  als  Sonderling  von  Günstlingen, 
Schranzen,  auch  wohl  Mönchen  umgeben,  veranstaltete  für  die  Frauen, 
welche  in  seinem  Gefolge  nie  fehlten,  glänzende  Festlichkeiten  und 
schien  meist  an  alles  andere  eher  zu  denken,  als  an  einen  glück- 
lichen, erfolgreichen  Krieg.  Ueber  seinen  Kleinmuth  am  Anfange 
des  Türkenkrieges,  als  sich  herausstellte,  dass  Russland  nicht  ge- 
rüstet sei,  als  die  neugeschaffene  Flotte  im  Schwarzen  Meere  von 
den  Aequinoctionalstürmen  arg  mitgenommen  worden  war,  geben  seine 
Briefe  an  die  Kaiserin,  die  wir  besitzen,  ein  sprechendes  Zeugniss. 
Seine  Unentschlossenheit  und  Langsamkeit  in  dem  Feldzuge  von 
1788  ist  auch  von  unbefangenen  Zeitgenossen  einstimmig  verurtheilt 
worden.  Die  wenig  ritterliche  Art,  mit  welcher  er,  in  lebhafte 
Klagen  ausbrechend,  der  Kaiserin  vorschlagen  konnte  die  Krim  auf- 
zugeben, entspricht  dem  Sybaritismus,  mit  welchem  er  während  der 
Prunkreise  im  Jahre  1787  fh  Kiew  ebenso  gut  als  während  seiner 
Feldzüge  von  einem   gewaltigen  Tross  und  zahllosen  Luxusgegen- 


Süe  Potomkin's  Glück  und  Emde. 

BitedeB  umgeben  war.  Hundert  Pfevde,  spottet  ria  Zeitgenosse,  seiea 
epforderlicb,  um  das  Gepäek,  die  Comödianten  u.  dgl.  m.  foxtsu- 
schaife&,  die  Potemkin  während  des  Feldzuges  mit  sich  führte.  Einem 
Sardanapal  zu  vergleichen,  hat  er  in  seinem  Lager  in  Bessarabi^ 
dreihundert  Sänger  und  Musiker;  Feste  aller  Art,  Bälle  und  Theater, 
Feuerwerk  und  Illuminationen  wurden  reranstaltet.  Selbst  die  Erd- 
hütten, in  denen  das  Hauptquartier  vor  Otschakow  und  später  in 
Bessarabien  seinen  Sitz  aufschlug,  wurden  durch  prachtvolle  Dra- 
perien, glänzende  Kronleuchter,  kostbares  Hausgeräth  aller  Art  m 
palast4lhnliche  Räume  verwandelt,  in  denen  Potemkin  bald  in  nach- 
lässigstem, phantastischem  Aufputz^  bald  in  grosser  Uniform  mit 
Sternen  und  Ordensbändern,  von  schönen  Frauen,  Gauklern  und 
Offizieren  umgeben,  Hof  hielt. 

Er  hatte  es  verstanden^  bei  den  Soldaten  einige  Popukürität  zu 
erlangen.  Sie  wussten  ihm  Dank  dafür,  dass  er  Zopf  und  Puder 
abgeschafft,  eine  zweckmässigere  Kleidung  und  Bewaflfnung  eingeführt 
hatte.  So  oft  er  im  Heere  erschien,  machte  er  tiefen  Eindruck  auf 
die  Soldaten.  Man  sagte  ihm  nach,  dass  er  die  Disciplin  gelockert 
habe;  dem  widersprechen  aber  zahlreiche  urkundlich  aufbehaltene 
Verordnungen  und  Tagesbefehle  des  Fürsten.  Gewiss  ist,  dass,  so 
viele  Menschen  auch  im  Türkenkriege,  mehr  noch  durch  schlechte 
Verwaltung  als  im  Blutvergiessen,  umgekommen  sind,  Potemkin*  oft 
von  fast  sentimentalen  Anwandlungen  in  Bezug  auf  Schonung  von 
Menschenleben  ergriffen  wurde.  Zum  Theil  dadurch  erklärt  sich  die 
Langsamkeit  und  Spärlichkeit  seiner  Erfolge  im  Kriege.  Er  war 
keine  Soldatennatur  wie  Suworow.  Wäre  er  es  gewesen,  er  hätte 
leicht  eine  souveräne  Stellung  gewinnen  können.  Bei  den  grosses 
Mitteln,  über  welche  Potemkin  verfügte,  bei  seiner  thatsächlich  un- 
abhängigen Stellung,  bei  seiner  vielseitigen  Begabung  hätte  er,  wenn 
er  zum  Kriegshelden  geschaffen  gewesen  wäre,  ein  Walleastein,  ein 
Crom  well,  ein  Napoleon  werden  können.  Es  war  die  Zeit,  wo 
manche  zerfallende  Staaten  das  Material  für  ein  unabhängiges  Reich 
Potemkin's  hätten  liefern  können.  Es  ist  davon  die  Rede  gewesen, 
ihn  zum  Herzoge  von  Kurland  zu  erheben.  Die  polnische  Krone, 
welche  auf  dem  Haupte  Stanislaus  Poniatowski's  wankte,  mochte 
ihm  vielleicht  zu  Theil  werden,  wenn  er  die  Hand  danach  ausstreckte. 
Nach  einer  souveränen  Stellung  als  Fürst  der  Moldau  hat  er  sicher 
gestrebt.  Leicht  konnte  da  seinem  Ehrgeiz  der  Gedanke  kommen, 
ein  Königreich  Dacien  für  sich  zu  gewinnen,  in  der  Ferne  mochte 
dann  das  griechische  Kaiserthum  winken ...  Es  waren  Entwürfe,  an 


PQtomkm's  Glück  und  Ende.  511 

deaea  er  für  die  Dynastie  Katharina's  selbst  gearbeitet  hatte.  Aber 
nicht  zum  MilitlU*dictator,  noch  zum  eigentlichen  Staatsmanne  war 
Potemkin  geboren.  Er  war  Yor  allem  Höfling.  Die  Gnade  der 
Kaiserin  war  ihm  alles.  Dafür  liefert  seine  letzte  Zeit  ein  sprechendes 
Zeugniss. 

In  drei  Feldzügen  bereits  hatte  Russland  mit  wechselndem 
Glücke  gegen  die  Türken  gekämpft.  Die  Einnahme  von  Otschakow 
zu  Ende  des  Jahres  1788,  die  Siege  Suworow*s  bei  Fokscharfy  und 
Rymnik,  die  Einnahme  Bender's  und  Akkerman's  durch  Potemkin 
im  Jahre  1789  waren  die  Glanzpunkte  dieser  Peldzüge.  Da  brachte 
endlich  das  Jahr  1790  nach  unsäglichen  Anstrengungen  die  Ein- 
nahme von  Ismail.  Es  war  eine  glänzende  Waffenthat.  Hatte  Po- 
temkin die  Belagerung  und  die  Erstürmung  Otschakow's  geleitet,  so 
war  die  Einnahme  von  Ismail  das  Verdienst  Suworow's. 

Man  erzählt  wohl,  Potemkin  habe  im  Gespräche  mit  einer  Dame, 
der  Gemahlin  eines  polnischen  Generals,  deren  Prophezeihung, 
Ismail  werde  erst  in  drei  Wochen  genommen  werden,  Lügen  strafen 
wollen  und  die  Behauptung  aufgestellt,  Ismail  werde  innerhalb  dreier 
Tage  erstürmt  werden,  und  von  seiner  damaligen  Residenz,  Jassy, 
aus  dem  Grafen  Suworow  die  Weisung  zukommen  lassen,  zu 
stürmen.  0  Einer  anderen  Erzählung  zufolge  soll  Potemkin  den 
Grafen  Suworow  vor  einem  allzugewagten  Versuche  die  Festung  zu 
stürmen  gewarnt  haben :  der  Ruhm  der  russischen  Waffen  stehe  auf 
dem  Spiele.  ^  Wie  dem  auch  sei,  Potemkin  hatte  an  diesem  Er- 
folge keinen  unmittelbaren  Antheil.  Als  er  den  Grafen  Suworow 
fragte,  wie  er  ihn  für  seinen  Heldenmuth  belohnen  könne,  antwortete 
jener,  „er  sei  mit  seinem  Berichte  über  die  Einnahme  der  Festung 
zum  Fürsten  gekommen,  nicht  aber  wie  ein  Krämer,  der  um  den 
Preis  der  Waare  feilsche,  Gott  und  die  Kaiserin  würden  ihn  be- 
lohnen, sonst  könne  es  niemand."  Tief  verletzt  behandelte  Potemkin 
den  Grafen  mit  eisiger  Kälte.  Er  soll  es  zu  hintertreiben  gewusst 
haben,  dass  Suworow  damals  den  Peldmarschallsrang  erhielt.  Mehr 
aber  als  die  kostbaren  Epaulettes  und  ein  Ring  im  Werthe  von 
60,000  Rubeln  mochte  für  Suworow  der  Wünsch  der  Kaiserin  gelten, 
den  Besieger  von  Ismail  in  St.  Petersburg  zu  begrüssen.    Nach  einem 


^)  Hm9sxhh'i>,  KBflSb  ÜOTeiifKHH'b-TaBpMHecKii,  in  dem  O^eeciitt  Ajuiiaa5x*b  aa 
1839  7.  ß.  76. 

»)  0.  d.  Biographie  SEwrioroür'B  i«  dem  Le>uk<Mi„Bantyfo]i^KaMenafei*fi  111^3^«. 


512  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

solchen  Erfolge  hoffte  die  Kaiserin  endlich  einen  Frieden  schliessen 
zu  können.  Es  sollte  Potemkin's  Aufgabe  sein  mit  den  Türken  zu 
unterhandeln  und  abzuschliessen.  Aber  er  war  anderer  Ansicht,  denn 
es  galt  noch  andere  Erfolge  zu  erringen.  Jetzt  war  der  Augenblik 
gekommen,  wo  Potemkin  einen  Staat  für  sich  erringen  zu  können 
hoffte.  Der  moldauer  Adel  war  ihm  günstig  gestimmt.  Die  Ge- 
neigtheit des  Petersburger  Hofes  zum  Frieden  passte  nicht  zu  seinen 
Entwürfen» 

finde  December  kam  die  Nachricht  von  der  Erstürmung  Ismail's 
nach  St.  Petersbui'g.  In  ihrem  Schreiben  an  Potemkin  meinte  die 
Kaiserin,  kaum  irgend  eine  Waflfenthat  in  der  Geschichte  sei  dieser 
zur  Seite  zu  stellen.  „Gott  gebe",  fuhr  sie  fort,  „dass  Eure  Erfolge 
die  Türken  zur  Vernunft  bringen  und  sie  veranlassen  mögen,  schnell 
Frieden  zu  schliessen . .  .  Ich  danke  Dir,  mein  lieber  und  herzlicher 
Freund,  für  alle  guten  und  nützlichen  Thaten,  für  die  Ordnung  und 
Unerschrockenheit  des  Heeres."  0 

Trotz  solcher  Freundschaftsbeweise  der  Kaiserin  war  Potemkin 
in  dieser  Zeit  verstimmt  und  trübsinnig.  Die  Unruhe,  dass  etwa  in 
Petersburg  allzusehr  der  Friede  gewünscht  werde,  verzehrte  ihn. 
Es  war  die  Zeit,  wo  Subow  besonderen  Einfluss  gewonnen  hatte. 
Wahrscheinlich  vor  Empfang  des  Briefes  der  Kaiserin  schrieb  er: 
„Mein  Mütterchen  ^),  allergnädigste  Kaiserin;  lassen  Sie  mich  nicht 
ohne  Nachrichten.  Kennen  Sie  denn  das  Maass  meiner  Anhänglich- 
keit nicht?  Wie  soll  mir  dabei  zu  Muthe  sein,  wenn  ich  von  allen 
Seiten  allerlei  ungereimte  Neuigkeiten  höre  und  nicht  weiss,  ob  ich 
daran  glauben  soll  oder  nicht?  Die  Bekümmerniss  durch  solche 
Ungewissheit  raubt  mir  alle  Kraft.  Ich  bin  schlaflos  und  nehme 
keine  Speise ;  ich  bin  schlimmer  als  ein  Kind.  Alle  sehen  meine 
Erschöpfung.  So  nöthig  es  ist  nach  Cherson  zu  reisen:  ich  kann 
mich  nicht  entschliessen  dahin  aufzubrechen.  Wenn  mein  Leben 
nicht  ganz  werthlos  ist,  so  sagen  Sie  mir  wenigstens  das  Eine:  dass 
Sie  gesund  sind.  So  lange  ich  lebe,  bin  ich  Ihr  allertreuester  und 
dankbarster  Unterthan."  ^) 


0  Grot,  Derschawin,  I.  377. 

>)  Der  Ausdruck  „MaTyiuRa . . .  MaTymKa  po^Han"  ist  kaum  zu  übersetzen. 

3)  Wir  entnehmen  dieses  Schreiben  der  leider  nicht  überall  mit  Quellenan- 
gaben versehenen  ^.Biographie  Potemkin's  von  Bantysch  -  Eamenski  in  dessen 
Lexikon  (CjOBapb  AOCTonanflTHBix'b  Jioxett,  MocRna  1836,  IV.  S.  214).  Fast  scheint 
es,  als  sei  der  Brief  nach  der  Rückkehr  aus  Petersburg  geschrieben,  wo  Krank- 
heit und  GemüUiszerrüttung  den  Fürsten  ergriffen  hatten. 


Pofemkin's  Glück  und  Ende.  513 

Nach  der  Einnahme  der  Festung  Otschakow  war  Potemkin 
sogleich  nach  Petersburg  geeilt,  um  als  Sieger  im  Triumphe  bei  Hofe 
zu  erscheinen.  Damals  war  die  Strasse,  auf  welcher  er  in  die 
Hauptstadt  einziehen  sollte,  mehrere  Nächte  hindurch  drei  Meilen 
weit  erleuchtet  gewesen.  In  seinem  Palaste  hatte  die  Kaiserin,  noch 
ehe  er  sich  vollständig  hatte  umkleiden  können,  ihn  besucht.  Zahl- 
lose Feste  zeichneten  seine  Anwesenheit  aus.  Nur  des  Günstlings 
Mamonow  Stellung  hatte  die  stolze  Siegesfreude  getrübt.  In  persön- 
lichem Verkehr  mit  den  ausländischen  Gesandten  hatte  Potemkin 
die  politische  Sachlage  besprochen;  er  hatte  der  Kaiserin  für  den 
schwedischen  Krieg  gute  Rathschläge  ertheilt;  für  den  türkischen 
Krieg  war  er  mit  grossen  Summen  Geldes  ausgestattet  worden! 

Jetzt,  nach  der  Einnahme  von  Ismail,  wollte  er  wiederum  in 
die  Residenz.  Er  wandte  sich  an  die  Kaiserin  mit  der  Bitte,  ihm 
zu  gestatten  nach  Petersburg  zu  kommen.  Katharina  schrieb  zurück, 
wie  immer  so  auch  diesesmal  würde  sie  sich  freuen  ihn  zu  sehen, 
aber  sie  gebe  ihm  zu  bedenken,  ob  nicht  seine  Abwesenheit  vom 
Kriegsschauplatz  leicht  eine  Versäumniss  in  der  Apgelegenheit  der 
Herstellung  des  Friedens  zur  Folge  haben  könne;  wenigstens  solle 
er  doch  abwarten  und  erfahren,  welchen  Eindruck  die  Einnahme 
der  Festung  auf  den  Divan  gemacht  haben  werde.  Nur  unter  der 
Bedingung  dürfe  er  kommen,  wenn  er  überzeugt  sei,  dass  seine  Ab- 
reise das  Friedenswerk  nicht  stören  oder  die  Eröffnung  des  neuen 
Feldzuges  nicht  verschleppen  werde;  die  Geschäfte  gingen  allem 
anderen  vor;  am  besten  sei,  er  nöthige  die  Türken  zum  Frieden 
und  komme  dann  als  Friedenstifter  nach  Petersburg.  0 

Der  Lobredner  Potemkin's,  sein  Verwandter  und  Biograph 
Samoilow  bemerkt,  der  Fürst  sei  durch  die  Verwickelungen  der 
politischen  Sachlage  genöthigt  worden  nach  Petersburg  aufzubrechen. 
Die  Verhandlungen  mit  den  auswärtigen  Diplomaten,  heisst  es 
weiter,  hätten  Potemkin  so  lange  aufgehalten,  dass  er  darüber  ver- 
säumt, bei  der  Eröffnung  des  letzten  Feldzuges  im  Türkenkriege 
zugegen  zu  sein.  ^)  Es  waren  Gründe  sehr  verschiedener  Art,  welche 
ihn  vermochten,  gegen  den  Wunsch  der  Kaiserin  sich  zu  der  Reise 
zu  entschliessen.  Man  erzählt,  er  habe  scherzend  gesagt,  er  habe 
Zahnschmerzen  und  hoffe  in  Petersburg  Heilung  zu  finden,  und  in 
Petersburg  habe  er  erklärt,  er  werde  nicht  eher  abreisen,  als  bis  er 


>)  Orot  a.  a.  0. 

0  Pj^ccKÜl  ApxHB-B,  1867,  S.  1551,  1554. 


514  Potemkiti's  Otttck  nnd  Ende. 

den  Zafan,  der  ihn  schmerze,  an8g:eri8sen  habe.  Es  war  ein  Wort- 
spiel mit  dem  Namen  des  Günstlings  Snbow.  0 

In  dieser  Zeit  tagte  bereits  der  Congress  von  Szistowo.  Die 
Bevollmächtigten  Oesterreich's,  Preassen's,  England's,  Hollandes  and 
der  Pforte  unterhandelten.  Es  war  eine  Folge  des  Reichenbacher 
Vertrages.  Oesterreich's  Politik  hätte  seit  dem  Tode  des  Kaisers 
Joseph  einen  Umschwung  erfahren.  Gegenüber  diesen  Unterhand- 
lungen verhielt  sich  Potemkin  ablehnend.  Auf  die  Frage  der  ver- 
sammelten Diplomaten,  ob  der  Fürst  den  Ort  des  Congresses  als 
einen  neutralen  Punkt  zu  respectiren  geneigt  sein  wärde,  soll  er 
hochmüthig  geantwortet  haben,  er  wisse  von  keinem  Friedenscon- 
gress,  seine  leichten  Truppen  hätten  Befehl,  den  Feind  anzugreifea 
wo  sie  ihn  fänden;  er  rathe  den  Diplomaten,  das  feindliche  Gebiet 
zu  verlassen.  ^)  Mag  man  auch  einigen  Grund  haben,  an  diesen 
Rodomontaden  zu  zweifeln,  weil  wir  aus  anderen  Quellen  mancherlei 
Angaben  über  die  Verhandlungen  in  Szistowo  bis  zu  dem  Zeitpunkte 
der  Abreise  Potemkin's  nach  dem  Norden  besitzen  ^)  —  soviel  ist 
sicher,  dass  Potemkin  nicht  in  einer  dem  Frieden  geneigten  Stim- 
mung in  Petersburg  auftrat. 

Von  dem  Aufenthalte  des  Fürsten  in  St.  Petersburg,  der  vom 
28.  Februar  bis  zum  24.  Juli  1791  (alten  Stils)  währte,  wissen  wir 
einiges  aus  dem  Tagebuche  des  Secretärs  der  Kaiserin  Katharina, 
Chrapowitzki.  Aus  demselben  ist  zu  ersehen,  dass  Potemkin's  Be- 
ziehungen zu  dem  Hofe  wenigstens  äusserlich  sehr  freundliche  waren. 
Gleich  in  den  ersten  Tagen  seines  Aufenthaltes  in  der  Hauptstadt 
erschienen  bei  einem  Abendessen,  welches  der  Fürst  gab,  der  Gross- 
fürst Paul  mit  seiner  Gemahlin.  Als  Katharina  von  einem  Unwohl- 
sein befallen  wurde,  sprach  der  Fürst  mit  ihr  von  ihrer  Krankheit, 
rieth  ihr,  sich  einer  ernstlicheren  Kur  zu  unterwerfen.  Wiederholt 
findet  sich  die  Notiz,  dass  der  Fürst  die  Kaiserin  besucht  habe. 
Nachdem  er  einmal  bei  ihr  verweilt  hatte,  ging  er  gerade  aus  ihren 
Gemächern  zur  Beichte.  Andern  Tags  empfing  er  die  Communion 
in  der  Hofkirche.  Nicht  blos  bei  Gelegenheit  des  glänzenden  Festes, 
welches  Potemkin  am  28.  April  (a.  St.)  zu  Ehren  der  Kaiserin  gab, 
sondern  auch  bei  Gelegenheit  des  Empfanges  der  Nachricht  von  der 


0  Castera,  Vie  de  Catherine  II.,  172.    BaHTMuit-KaMeHCKifi  IV.  214. 
^)  KojOTOBT»,  /i;taHiH  EKaTepHHu  U.     Cn6.  ISll,  Bnd.  IV.  S.  167. 
^)  8.  Herrmann's  grändliche  Darstellung  in  dessen  Gesdnckte  dee  iniBatocbeD 
Staats  IV.,  S.  401—407. 


PMeihkiii'B  Oltick  und  End«.  515 

Einnahme  der  Festung  Anäpa  war  die  Kaiserin  bei  Potemkin  zu 
Gaste.  Das  letzte  mal  kam  sie  von  ihrem  Lustschlosse  Peteiliaf 
eigens  zur  Stadt,  um  im  Palaste  des  Fürsten  zu  Abend  zu  essen, 
worauf  sie  noch  an  demselben  Abend  sich  auf  eines  ihrer  Lust- 
schlösser, Äarskoje  Selo,  verfügte.  0 

Das  Haus,  welches  Potemkin  bewohnte,  war  ihm  von  der  Kaiserin 
geschenkt  und  nach  den  von  ihm  entworfenen  Plänen  erbaut 
worden.  Es  ist  dasselbe,  welches,  seit  dem  Jahre  1792  unter  dem 
Namen  „Taurisehee  Palais''  bekannt,  nach  Potemkin's  Tode  von  der 
Krone  erworben  wurde.  An  derselben  Stelle  hatte  früher  ein  be- 
scheidenes Gebäude  gestanden.  Jetzt  war  es  ein  Prachtbau,  mit 
grossem  Luxus  ausgestattet. 

War  aber  Potemkin  in  dieser  Beziehung  auch  noch  so  reichlich 
von  der  Kaiserin  bedacht  worden,  so  schien  er  doch  noch  grössere 
Gnadenbezeugungen  erwarten  zu  dürfen.  Am  25.  März  1791  erliess 
die  Kaiserin  an  den  Senat  einen  Befehl :  dem  Fürsten  Potemkin  zur 
Belohnung  für  seine  wichtigen,  dem  Vaterlande  geleisteten  Dienste, 
die  namentlich  aufgeführt  werden,  ein  Haus  und  ein  Denkmal  zu 
errichten.  Alles  sollte  auf  Kosten  des  Staatsschatzes  erbaut,  das 
Haus  mit  allem  nothwendigen  Hausgeräth  ausgestattet^  das  Denkmal 
mit  Darstellungen  der  Siege  und  Eroberungen  des  Fürsten  versehe 
werden.  Seiner  Entscheidung  sei  anheimzustellen,  ob  er  diese  Bauten 
in  der  Hauptstadt  oder  an  einem  anderen  Orte  ^)  ausgeführt  sehen 
wolle.  ^)  Potemkin,  welcher  soeben  seinen  Palast  der  Krone  für 
die  Summe  von  460,000  Rubel  verkauft  hatte,  bat  sich  ebendasselbe 
Gebäude  statt  eines  neuen  aus  und  erhielt  somit  ausser  dem  Hause 
nahezu  eine  halbe  Million  Rubel  ausgezahlt.  In  diesem  ^Taurischen 
Palais"  pflegte  Katharina  während  der  letzten  Jahre  ihres  Lebens 
alljährlich  einen  Theil  des  Frühlings  und  des  Herbstes  zu  verleben.  *) 

Bei  alledem  sah  Potemkin,  dass  die  Gerüchte  von  einem  über- 
wiegenden Einflüsse  Subow's  auf  die  Kaiserin  gegründet  gewesen 
waren.  Hatte  früher  der  Günstling  Mamonow  schon  seine  Eifersucht 
erregt ,  so  war  die  Nebenbuhlerschaft  Subow's  noch  schlimmer. 
Mamonow  hatte  sich  in  ein  Kammerfräulein  der  Kaiserin  verliebt, 
hatte  der  letzteren,  als  diese  ihm  eine  Partie  vorschlug,  seine  Liebe 


')  s.  das  Tagebuch  Chrapowitzki's,  herausg.  in   den  ^Temn  Mockobcr.  06- 
mecTBa  HcTopiH  h  ÄpeBHOCTeä,  1862,  am  6.  und  22.  März,  28.  April,  2.  Juli  1791 

')   „B-b    CTOÄRUfb   HJLH   «e   BT»   ÄGP^BH*"   (sic). 

^)  s.  die  vollständige  Gesetzsammlung  Nr.  16953. 
♦)  Orot  a.  a  0.,  I.  377. 


516  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

gestanden,  und  war  dann  nach  einer  heftigen  Gemüthserschütterung 
Eatharina's,  welche  es  tief  geschmerzt  hatte,  dass  ein  solcher  Roman 
in  ihrer  unmittelbaren  Nähe  ohne  ihr  Wissen  gespielt  hatte,  —  ent- 
lassen worden.  Die  Kaiserin  selbst  richtete  die  Hochzeit  Mamonow's 
aus,  verzieh  ihm  grossmüthig  und  beschenkte  ihn  reichlich.  Jetzt 
war  Potemkin  bitterböse  auf  Mamonow,  weil  derselbe  „ihn  nicht 
erwartet,  sondern  auf  so  dumme  Weise  seinen  Posten  aufgegeben 
hatte."  0 

Die  Memoiren  Derschawin's,  des  berühmten  Dichters,  der  seiner- 
seits ebenfalls  mit  grosser  Geschmeidigkeit  eine  Stellung  bei  Hofe 
erlangt  hatte,  enthalten  manche  Einzelheiten  über  diese  kleinlichen^ 
unerquicklichen  Verhältnisse.  Er  erzählt  recht  ausführlich,  wie 
der  junge  Subow  jenes  Wortspiel  vom  „Zähne  -  Ausziehen"  mochte 
erfahren  haben,  wie  zwischen  ihm  und  Potemkin  eine  eisige  Kälte 
herrschte,  wie  Potemkin  für  einen  Offizier,  der  von  Subow's  Vater 
betrügerischer  Weise  um  sein  ganzes  Vermögen  gebracht  worden 
war,  sich  verwendete,  wie  die  Spannung  dadurch  sich  steigerte,  und 
wie  bei  alledem  Potemkin,  da  Subow  doch  eine  so  hohe  Stelle  ein- 
nahm, alles  that  um  das  Publicum  über  dieses  gespannte  Verhältniss 
zu  täuschen,  so  dass  er  Subow  wiederholt  besuchte,  —  wie  er  auch 
die  Nebenbuhlerschaft  Derschawin's  gefürchtet  und  die  Besorgniss  ge- 
hegt habe,  die  Kaiserin  möchte  Derschawin  zum  Berichterstatter  in 
Kriegsangelegenheiten  ernennen,  wie  er  deshalb  mit  der  Kaiserin 
geschmollt,  sich  krank  gestellt  habe,  nicht  in  die  kleine  Gesellschaft 
der  Eremitage  gekommen  sei  u.  dgl.  m.  ^) 

Es  war  schon  wiederholt  vorgekommen,  dass  die  russischen 
Grossen  zu  Ehren  der  Kaiserin  Feste  veranstalteten.  Potemkin  selbst 
hatte  in  früherer  Zeit  ein  solches  Schauspiel  gegeben,  und  zwar  im 
Jahre  1779  bei  Gelegenheit  der  Geburt  der  Grossfürstin  Katharina. 
Auf  seinem  Landgute  „Oserki"  am  Ufer  der  Newa,  unweit  des 
Alexander -Newski-Kloster's  hatte  er  damals  zu  diesem  Feste  ver- 
schiedene Bauten  aufführen  lassen:  auf  dem  See  eine  reich  ge- 
schmückte Fregatte,  am  Ufer  desselben  einen  Tanzsaal.  Eine  auf 
dem  Wasser  schwimmende  Decoration  stellte  einen  Tempel  dar, 
an  welchem  die  Namenszüge  der  Mitglieder  der  Kaiserlichen  Familie 
angebracht  waren.  Bei  der  Illumination  erschienen  die  Umrisse 
verschiedener  phantastischer  Gebäude  in  bunten  Farben.    Das  Souper 


1)  XpanoBiiqRitt,  17.  März  1791. 
^  /^epaiaBHHi»,  3anHCKH  302 — 306. 


Potemkin's  Glück  und  finde.  517 

nahm  man  in  einer  Grotte  -ein,  welche  ganz  genau  einer  Grotte  in 
den  Bergen  des  Kaukasus  nachgebildet,  mit  Myrten-  und  Lorbeer- 
bäumen, Rosen  und  anderen  Blumen  geschmückt  und  mit  einem 
malerischen  Wasserfall  versehen  war.  Ein  Sängerchor  trug  Lieder 
in  griechischer  Sprache  vor.  In  all  dem  Rausch  und  Scherz  —  der 
tiefe  Ernst  der  orientalisch-slavischen  Frage.  0 

Ln  Jahre  1776  hatte  der  Fürst  Wäsemsky  einen  Ball  und  eine 
theatralische  Vorstellung  veranstaltet,  bei  welcher  seine  siebenjährige 
Tochter  eine  Rede  zum  Lobe  der  Kaiserin  in  französischer  Sprache 
vortrug.  —  Als  die  Kaiserin  im  Jahre  1787  aus  der  Krim  zurück- 
kehrte, veranstaltete  der  Graf  Scheremetjew  in  Moskau  ein  überaus 
glänzendes  Fest,  das  u.  A.  S^gur  beschreibt.  Nie  habe  er,  erzählt 
der  französische  Gesandte,  so  reiches  Tafelgeschirr  von  Gold  und 
Silber,  Porzellan,  Alabaster  und  Porphyr  gesehen,  als  bei  dieser  Ge- 
legenheit. Unzählige  Krystallvasen,  mit  den  kostbarsten  Edelsteinen 
geschmückt,  zierten  die  Tafel.  Ein  ungewöhnlich  grosser  Tafelauf- 
satz, ein  Füllhorn  von  gediegenem  Golde  darstellend,  mit  den  Namens- 
zügen der  Kaiserin  in  grossen  Brillanten  ausgeführt,  war  vor  dem 
Couvert  Katharina's  aufgestellt  und  erregte  das  Erstaunen  der  An- 
wesenden. ^)  Nicht  genug  konnte  Sögur  sich  darüber  verwundem, 
dass  der  Dichter  und  der  Gomponist  einer  grossen  russischen  Oper, 
die  gegeben  wurde,  der  Baumeister,  welcher  den  Festsaal  erbaut, 
der  Maler,  welcher  denselben  mit  Fresken  geschmückt  hatte,  die 
Schauspieler  und  Schauspielerinnen  auf  der  Bühne,  die  Musiker  im 
Orchester  —  Leibeigene  des  Grafen  Scheremetjew  waren.  ^)  —  Der 
Graf  Besborodko,  welcher  unermessliche  Reichthümer  gesammelt 
hatte  und  sich  bisweilen  in  den  Strassen  der  Hauptstadt  in  einem 
goldenen  Wagen  fahrend  sehen  liess,  gab  zur  Feier  des  türkischen 
Friedens  und  dann  bei  Gelegenheit  der  Anwesenheit  des  schwedischen 
Königs  Gustafs  IV.  in  St.  Petersburg  glänzende  Feste;  in  vielen 
Sälen  waren  dann  Pyramiden  von  sechs  Ellen  Höhe  und  drei  Ellen 
Breite  aufgestellt,  auf  denen  zahllose  Gegenstände  von  Gold  und 
Silber  von  ungewöhnlicher  Grösse  und  Kostbarkeit  prangten.  *) 

Potemkin  wollte  alles  bisher  Dagewesene  verdunkeln.  Alsbald 
schritt  er  zu  den   Vorbereitungen   des  ungewöhnlichen  Schauspiels, 


^)  Grot  a.  a.  0.,  I.  381. 

^  3anHCRH  rpa«a  KoMapoBCRaro.    OcMHQAA^Tuft  B'bR'B,  hs;^.  BapTeneBa  I.  377. 
3)  S^gur,  M6moires  et  Souvenirs  III.  233. 
^)  rpHÖOBCRitt  3anHCRH  70. 
Baltische  Monatsschrift.  K.  Folge.  Bd.  I,  Heft  11  u.  12.  35 


516  Potemkin's  Olttck  and  Ende. 

welches  er  der  Kaiserin,  dem  Hofe,   dei^ Hauptstadt  bieten  wollte. 
Er  war  von  den  Grossen  der  Residenz  nach  seiner  Ankunft  aus  dem 
Süden  glänzend  empfangen  worden;   sehr  oft  nahm  er  sie  auch  bei 
sich  auf.     Bei  solchen  Gastmahlen  gab  es,  wie  ein  Zeitgenosse  er- 
zSlhlt,  0  ^ii^o   eigenthümliche   Art   Luxus.     Man   suchte  einander  in 
der  Grösse  und  in  dem  hohen  Preise  der  Störe  zu  überbieten,  aus 
denen  die  den  Glanzpunkt  eines  jeden  Gastmahls  bildende  Fischsuppe 
bereitet  wurde.     Zu  100,  200,  300  Rubel  gab  man  für  diese  Fisch- 
suppe aus.     Bei  Gelegenheit  der  BäUe,   welche  Potemkin  noch  vor 
dem  grossen  Feste  gab,  und  von  denen  man  versicherte,  däss  jeder 
Abend  ungefähr  14,000  Rubel  kostete,  erschien  auf  der  Tafel  jedes- 
mal eine  Fischsuppe    im  Werthe  von  1000  Rubeln  in  einem  unge- 
heuer grossen  Silbergefäss,  welches  gegen  300  Pfund  wog.     Selten 
verging  ein  Tag  ohne  solche  Schmausereien.    Es  erregte  Aufsehen, 
dass   dieser  Rausch   von  Vergnügen    gerade    in   die  Fastenzeit  fiel 
„Die  ganze  Zeit  war  mir  eine  Butterwoche",  sagt  ein  Zeitgenosse. 
Bald  hörte  man  von  ausserordentlichen  Zurüstungen  zu  einem 
grossartigen    Feste    im  Hause    Potemkin's.      Es   erschienen   dort  in 
grosser    Zahl   Künstler   und    Industrielle,    welche    die   Räume    aus- 
schmücken sollten.     Neue  Möbel  wurden  geliefert,  Teppiche,  Gobe- 
lins^ Draperien  aller  Art.     Aus  den  Luxusmagazinen  der  Hauptstadt 
wurden  200  Kronleuchter  und  eine  grosse  Menge  Spiegel  entliehen. 
Das  Hofcomptoir  lieferte  gegen  16,000  Pfund  Wachs  für  die  Illumi- 
nation.    Man  erzählte  sich,  die  in  der  Hauptstadt  befindlichen  Vor- 
räthe  hätten  nicht  gereicht,   man  habe  auch  aus  Moskau  Wachs  für 
die  Summe  von  70,000  Rubel  kommen  lassen.     Solche  und  andere 
märchenhafte  Zahlen  gingen  von  Mund  zu  Mund.     Sie  mahnen  an 
die  Märchen  von  .,Tausend  und  eine  Nacht"  und  an  die  Fabeln  von 
Monte-Christo.  —  Die  Dienerschaft  des  Fürsten,  gegen  100  Personen 
stark,  wurde  vollständig  neu  gekleidet.     In  dem  Garten  und  in  den 
Hofräumen   wurden  sehr  ausgedehnte   Anstalten    getroffen.      Grosse 
Gerüste  erschienen  für  die  Illumination.     Eine  lange  Estrade  wurde 
gebaut  mit  allerlei  Buden  zu  Volksbelustigungen.    Bis  zu  dem  letzten 
Tage  wurden  diese  Bauten  fortgesetzt,   wobei  während  der  Arbeit 
die  Baupläne  wiederholt  verändert  wurden.     Mehrere  Nebengebäude, 
welche  zu  Wagenschuppen,  Ställen  und  Wohnungen  für  das  Gesinde 
dienten,  wurden  noch  in  den  letzten  Tagen  vor  dem  Feste  nieder- 
gerissen, -weil  sie  die  Aussicht  aus  den  Fenstern  des  Palastes  einiger- 

*)  PyccKiJt  ApzüB-b  1867.    S.  675  ff. 

/ 


Potemkin's  Glück  und  Ende.  619 

maassen  beeinträchtigten.  Eine  Triumphpforte  wurde  für  die  Kaiserin 
erbaut.  Auf  dem  Platze  vor  dem  Hause  sah  man  Schaukeln.  —  Die 
Glasfabriken  Petersburg's  hatten  vollauf  zu  thun,  um  eine  genügende 
Menge  von  Laternen  in  Form  von  allerlei  Obst  und  Blumen  au 
liefern.  —  Die  Jugend  der  höchsten  Kreise,  darunter  die  Grosa* 
fdrsten  Alexander  und  Gonstantin,  studirten  eine  Quadrille  ein,  welche 
im  Maskenaufzuge  getanzt  werden  sollte^  die  Herren  spanisch,  die 
Damen  griechisch. 

Am  28.  April  gab  es  kaltes,  unfreundliches  Wetter.  Morgens 
Schnee,  den  Tag  über  Regen:  es  war  empfindlich  kalt.  Txotsdem 
sammelten  sich  schon  früh  grosse  Massen  Volkes  in  der  Nähe  des 
Palastes.  Man  staunte  die  für  das  Volk  bereitstehenden  Esswaaren 
und  die  Geschenke  an  Kleidern,  Stiefeln  u.  dgl.  an,  welche  für 
mehrere  tausend  Rubel  angeschafft  worden  waren,  um  im  Augen- 
blicke des  Erscheinens  der  Kaiserin,  da  das  Volksfest  beginnen 
sollte,  an  das  Volk  vertheilt  zu  werden.  Schüchtern  drängte  sich 
der  Pöbel  in  die  Nähe  der  schönen  Sachen:  es  ging  das  Gerücht, 
dass  wer  vor  der  Zeit  etwas  nähme,  sogleich  zum  Soldatenstande 
verurtheilt  werden  würde. 

Als  die  Gäste  in  endlosen  Wagenreihen  zu  erscheinen  begannen, 
gab  es  plötzlich*  eine  heillose  Verwirrung.  Es  verbreitete  sich  die 
Kunde^  die  Kaiserin  sei  da.  In  einem  Nu  stürzte  sich  das  Volk  auf 
die  Esswaaren  und  Geschenke.  Die  Tische  und  Buden  wurden  ge- 
plündert. Vergebens  suchten  die  Schergen  Potemkin's  mit  Kolben*- 
stössen,  Peitschenhieben,  endlich  mit  Wasserpumpen  dm  Volk  in 
Ordnung  zu  halten,  der  Knäuel  von  Menschen,  Pferden  und  Wagen 
war  nicht  mehr  so  bald  zu  entwirren.  Bei  dem  Erscheinen  der 
Equipagen  des  Hofes  war  das  Gedränge  so  arg,  dass  die  Kaiserin 
eine  volle  Viertelstunde  warten  muäste,  ehe  sie  aus  ihrem  Wagen 
steigen  konnte. 

Die  prachtvollsten  Räume  des  Palastes  waren  der  Tanzsaal,  in 
welchem  nur  für  die  Kaiserin  und  deren  Umgebung  Sitze  hingestellt 
waren,  während  es  ausser  zwei  enormen  Vasen  von  carrarischem 
Marmor  keinerlei  Geräth  darin  gab,  und  ein  durch  eine  Säulenreihe 
von  demselben  getrennter  Wintergarten.  In  dem  Tanzsaal  erschien 
ausser  allen  Gästen  in  Maskenanzügen  eine  Tänzergruppe,  aus  74 
tanzenden  Paaren  bestehend.  Zunächst  wurden  Gesänge  zum  Lobe 
der  Kaiserin,  von  Derschawin  gedichtet,  vorgetragen.  Der  Sängerchor 
mit  dem  Orchester  waxen  verborgen  auf  den  Galerien  des  Saales 
aufgestellt.     Die  Triumphe   des  Türkenkrieges  bildeten  den  Gegend- 


520  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

stand  dieser  gespreizten,  phrasenreichen,  in  volltönenden  Worten 
strömenden  Dichtungen.  Mahomed,  hiess  es  darin,  sei  bezwungen, 
die  Donau  sei  in  den  Händen  der  Russen  seit  man  das  Todesröcheln 
von  Ismail  her  vernommen.  Die  Kaiserin  wird  mit  Minerva  ver- 
glichen, Potemkin  mit  Mars,  der  eine  Grossfürst  mahnt  an  Alexander 
den  Grossen,  der  andere,  zum  Hersteller  von  Byzanz  bestimmt,  an 
den  grossen  Constantin;  der  Glanz  des  alten  Hellas,  die  Macht  des 
alten  Rom  kehre  wieder  seit  der  Halbmond  untergegangen  sei  u.  s.  w. 
Eine  eigen thümli che  Lust  an  Spielzeugartigem,  eine  kleinliche 
Eflfecthascherei,  eine  übertünchte,  an  die  Schaubuden  des  Jahrmarktes 
erinnernde  Art  von  Kunstgeschmack  geht  Hand  in  Hand  mit  diesen 
stolzen  Dimensionen  im  Baustil  der  Räume  und  mit  dem  Pomp  der 
patriotischen  Verse,  welche  zum  Theil  wirklich  künstlerischen  Werth 
haben.  Da  giebt  es  unermessliche  Porzellanöfen  mit  allerlei  chine- 
sischen Nippsachen  bestellt.  Da  giebt  es  am  Eingange  hölzerne 
Pfosten,  die  wie  Marmorsäulen  bemalt  sind;  da  lenkt  eine  Uhr  mit 
besonderem  Schlagwerk  und  kunstreichem  Mechanismus  (42,000  Rbl. 
an  Werth)  die  Aufmerksamkeit  der  Zuschauer  auf  sich ;  da  ladet  eine 
einen  Perser  darstellende  und  auf  einem  Elephanten-  reitende  Puppe, 
nachdem  die  Tänze  in  dem  grossen  Saale  beendet  sind  und  auch  der 
berühmte  La  Picq  sein  Meistersolo  zum  Besten  gegeben  hat  0?  in 
einem  anderen  Saal  durch  Anschlagen  an  eine  Glocke  zum  Schauspiel 
ein.  Hier  gab  es  ein  Lustspiel,  ^^Lea  fauoo  amards^\  und  eine  Art 
phantastischer  Pantomime,  „der  Kaufmann  von  Smyrna".  In  dem 
letzteren  stellte  die  Bühne  einen  Sclavenmarkt  dar;  als  Sclaven  er- 
schienen Vertreter  aus  allen  Völkern  —  das  russische  ausgenommen. 
Hierauf  verfügte  sich  alles  in  den  feenhaft  erleuchteten  Wintergarten. 
Die  Vorstellung  hatte  gerade  so  lange  gedauert,  als  nöthig  war,  um 
140,000  Lampen  und  20,000  Lichter  anzustecken.  Die  Kaiserin  war 
betroflfen  über  den  Anblick.  Der  Garten  übertraf  den  Wintergarten 
im  kaiserlichen  Palais  sechs  mal  an  Grösse.  Künstlicher  Rasen,  mit 
Kies  bestreute  Wege,  zahllose  Fruchtbäume,  zum  Theil  allerdings 
mit  gelungen  nachgeahmten  gläsernen  Früchten  —  Citronen,  Pflau- 
men, Trauben,  Kirschen  behangen,  Jasminsträuche,  Grotten  mit  ge- 
schickt angebrachten  Spiegeln,  ein  Springbrunnen  mit  eau  de  lavande, 
ein  Obelisk  mit  Krystallen  und  Edelsteinen  geschmückt,  im  Rasen 
Nester  mit  Singvögeln  und  grosse  Glaskugeln  mit  Goldfischen,   La- 


0  Die  Tänze  sollen  zum  Theil  von  Potemkin  ersonnen  worden  sein.    Die 
Balletmelster  La  Picq  und  Oanziani  erhielten  je  6000  und  5000  Rubel. 


i 


.    Potemkin's  Glück  und  Ende.  621  . 

lernen  in  Form  von  Melonen,  Wassermelonen,  Ananas,  ein  Tempel, 
dessen  himmelblaue  Decke,  von  sechs  Säulen  getragen,  das  marmorne 
Standbild  der  Kaiserin  tiberwölbte :  Katharina  war  im  Purpurmantel 
mit  einem  Ftillhorn  dargestellt,  aus  welchem  ein  Strom  von  Gt)ld- 
münzen  und  Orden  hervorquoll.  Die  Inschrift  lautete:  „Der  Mutter 
des  Vaterlandes  und  meiner  Wohlthäterin." 

An  den  Stufen  dieses  Tempels  soll  Potemkin,  der  an  diesem 
Abend  in  einem  carmoisinrothen  Frack  und  kostbaren  Ueberwurf 
von  schwarten  Spitzen  erschien,  und  dessen  betresster,  von  Brillanten 
strotzender  Hut  so  schwer  war,  dass  ein  Adjutant  ihm  denselben 
tiberall  nachtragen  musste,  sich  vor  der  Kaiserin  auf  die  Knie  ge- 
worfen und  ihr  ein  angeblich  von  ihm  verfasstes  französisches  Ge- 
dicht declamirt  haben,  in  welchem  er  u.  a.  sagte: 

Que  puls  —  je  t'oflfrir  en  hommage? 

Je  snis  moi'inSme  ton  ouvrage, 

Mon  pouYoir  et  mon  sort  sont  sortis  de  ta  main  n.  s.  w.  0 

Die  Kaiserin  küsste  Potemkin  auf  die  Stirne,  hob  ihn  auf,  litt 
nicht,  dass  er  sie  bei  Tische  bediente,  lud  ihn  neben  sich  zum  Sitzen 
ein.  Noch  einmal,  als  die  Kaiserin  sich  zur  Heimfahrt  anschickte 
und  ein  rauschender  Chor  ihr  das  Geleite  gab,  stürzte  Potemkin  ihr 
zu  Ftissen.  Einige  Stunden  länger  als  sie  blieben  die  anderen 
Gäste,  welche  gegen  3000  Personen  zählten,  zusammen. 

Ein  Zeitgenosse  schätzt  die  Umkosten  des  Festes  auf  200,000  Rbl. 
Wahrscheinlich  ist  diese  Ziffer  noch  zu  niedrig  gegriffen.  ^) 


1)  8.  d.  Gedicht  in  russ.  üebersetzung  bei  Kolotow,  IV,  276—278. 

')  lieber  die  Quellen  zar  Geschichte  des  Festes  hat  Grot,  I,  377  —  383,  be- 
richtet. Dort  findet  sich  auch  Derschawin's  Schilderung  nebst  allen  für  diese 
Gelegenheit  verfassten  Versen,  S.  383 — 419.  Der  Bericht  eines  ungenannten  Zeit- 
genossen findet  sich  in  einer  handschriftlichen  Lebensbeschreibung  des  Fürsten 
Potemkin  in  der  Kaiserlichen  Bibliothek  zu  St.  Petersburg.  Daraus  sind  einzelne 
Abschnitte  gedruckt  im  Journal  Mockbhtahhh'b,  1852,  Nr.  3.  —  Von  grossem 
Interesse  ist  das  Schreiben  eines  Zeitgenossen,  Timofei  Eirjak  an  den  Fürsten 
Dolgoruki  in  Moskau,  vom  6.  (8.)  Mai  1791  über  das  ganze  Fest.  Es  ist  abge- 
druckt im  PyccKiö  ApxHB-B,  1867,  S.  657—694.  —  Das  Schreiben  ist  im  Ton  der 
Malice  gegen  Potemkin  gehalten,  im  Gegensatze  zum  officiellen  Lobe  Derscha- 
wins  U.  a.  hält  sich  der  Verfasser  des  Schreibens  darüber  auf,  dass  in  einem 
Saale  eine  Menge  Bilder,  frivole  Gegenstände  wie  badende  Nymphen,  Leda  mit  dem 
Schwane  u.  dgl.  darstellend,  das  Bild  des  Erlösers  umgaben,  dass  gute  und  schlechte 
Stahlstiche  durcheinander  erschienen.  Ferner  erzählt  er,  wie  ein  Hund  die 
Volksmenge  in  Verwirrung  gebracht  hätte,  wie  manche  Inschriften  wenig  Sinn 
gehabt  hätten  u.  dgl.  m.  —  Sonstige  Schilderungen  in  Archenholz*  Minerva,  von 
Heibig  in  dessen  Aufsätzen  über  Potemkin^  bei  Mossou,  M^moires  secrets  u.  A, 


tau  PotettkSa's  GltLok  und  Ende. 

Anch  nach  dem  Feste  lebte  Potemkin  in  seiner  fürstliehen  Pntcht 
weiter  fort,  erschien  stets  von  Generalen,  Offizieren,  gefangenen 
Pascha's  umgeben.  So  oft  er  in  den  Gärten  von  Katharinenhof,  im 
Sommergarten  oder  an  anderen  .öffentlichen  Orten  spazieren  fuhr, 
grttsste  das  Volk  ehrerbietig.  Er  bestellte  bei  dem  Dichter  Derschawin 
eine  Schilderung  des  Festes,  war  aber  mit  dem  literarischen  Erzeug- 
nis« des  Dichters  nicht  zufrieden,  weil  Derschawin  ihn  nicht  ge- 
nügend gelobt  hatte.  0 

Ein  sehr  auffallender  Umstand  war,  dass  obgleich  das  Fest  doch 
grosses  Aufsehen  erregt  haben  muss,  die  Zeitungen  der  beiden  Hanpt- 
stlidte  damals  nicht  ein  Wort  über  dasselbe  enthielten,  während  das 
obenerwähnte  Fest  in  „Oserki'**  vom  Jahre  1779  seiner  Zeit  aus- 
führlich in  der  petersburgischen  Zeitung  geschildert  worden  war. 
Ein  solches  Stillschweigen  erklärt  sich  durch  die  Macht  und  den 
Einfluss  Subow's.  ^)  Fast  drei  Monate  hindurch  verweilte  Potemkin 
nach  dem  Feste  in  der  Hauptstadt.  Derschawin,  der  in  seinen  Me- 
moiren nur  für  Hofgeschichten  Sinn  hat  •  und  .  von  der  Politik  zu 
jener  Zeit  kaum  mit  einem  Worte  spricht,  erzählt,  wie  Potemkin  es 
während  der  letzten  Zeit  seines  Aufenthaltes  in  der  Hauptstadt  „bei 
Hofe  sehr  schlecht  gehabt  habe^\  wie  er  stets  in  grosser  Aufregung 
und  zu  Zeiten  „wie  verrückt"  gewesen  sei,  wie  man  sich  erzählte, 
dass  er  oft  sich  berauscht  und  allerlei  Ungereimtheiten  gesprochen  habe. 

Gewiss  ist,  dass  Potemkin  in  dieser  Zeit  nicht  ohne  Einfluss  auf 
die  politische  Lage  gewesen  ist.  Es  war  die  Zeit,  wo  Polen  sich 
zu  dem  letzten  Versuche  aufraffte,  durch  eine  Verfassungsveränderung 
die  Selbständigkeit  zu  retten,  wo  die  orientalische  Frage  das  be- 
sondere Interesse  England's  herausforderte,  wo  die  Haltung  dieser 
letzteren  Macht  gegenüber  Russland,  welches  bei  den  Friedensunter- 
handlungen keine  Nachgiebigkeit  zu  zeigen  geneigt  war,  eine  sehr 
drohende  wurde.  Man  meinte  damals  nicht  ohne  Grund,  dass  ein 
Krieg  mit  England  vor  der  Thüre  sei*,  man  erwartete  alles  Ernstes 
die  englische  Flotte  alsbald  in  der  Ostsee  und  im  finnischen  Meer- 
busen zu  erblicken.  Dabei  sehnte  man  sich  namentlich  hei  Hofe 
nach  Frieden.     Auch  das  Publicum  war  in  einiger  Aufregung.     Bei 


0  3anHCKH  JlepsaBHHa,  S.  307. 

0  8.  Orot,  t.  S.  382,  dessen  Angabe  als  die  eines  ausgezeichneten  Kenners 
der  pnblicistischen  Literatur  jener  Zeit  mehr  Glauben  verdient  als  die  Bemerkung 
Samoilow's,  S.  1552  a.  a.  0.:  das  Fest  habe  die  Zeitungsschreiber  jener  Zeit  viel- 
fach beschäftigt. 


Potemkin's  Glück  und  Ende.  628 

den  Vorbereitungen  zu  dem  Feste  Potemkin's  meinten  einige,  es 
werde  zum  Zweck  der  Feier  des  Friedens  mit  der  Türkei  veran- 
staltet. Andere  dagegen  wollten  behaupten,  dass  die  Regierung  be- 
absichtige, den  Ernst  der  Sachlage  zu  verdecken,  die  Aufmerksamkeit 
des  Publicums  von  dem  bevorstehenden  Bruch  mit  England  abzulenken. 
Aus  den  Berichten  der  englischen  Diplomaten  jener  Zeit,  welche 
Uerrmann  in  seiner  „Geschichte  des  russischen  Staats^  mittheilt,  ist 
zu  ersehen,  däss  Potemkin  in  dem  pei^sönlichen  Verkehr  mit  den 
Gesandten  ^eine  trotzige,  hochfahrende  Haltung  beobachtete.  Sie 
klagen  darüber,  dass  er,  sobald  man  mit  ihm  auf  die  Geschäfte  zu 
sprechen  komme,  der  Unterhaltung  sogleich  eine  andere  Wendung 
zu  geben  pflege,  dass  er  nur  an  Festlichkeiten  und  Gastereien  zu  denken 
scheine,  dass  er  vermuthlich  einen  vernichtenden  Streich  gegen  die 
Pforte  zu  führen  und  in  der  Zeit,  wo  die  kleinasiatischen  Soldaten 
in  ihre  Heimat  beurlaubt  würden,  einen  Angriff  auf  Eonstantinopel 
zu  unternehmen  beabsichtige.  Er  hoffe,  heisst  es  weiter,  noch  die 
türkischen  Unterthanen  am  Mittelmeer  und  im  Archipelagus  zu 
einem  allgemeinen  Aufstande  zu  bewegen  und  zum  Lohn  für  solche 
Thaten  von  der  Kaiserin  die  Ukraine,  Neuserbien  und  den  District 
von  Otschakow  als  Lehnfürstenthum  zu  erhalten.  Man  könne  ihn 
nicht  anders  zur  Vernunft  bringen,  als  indem  man  ^ihm  das  Messer 
an  die  Kehle  setze.^  —  Am  27.  Mai  schrieb  der  ausserordentliche 
Bevollmächtigte  England's,  Fawkener,  wie  ungeberdig  Potemkin 
sich  gegen  ihn,  Whitworth  und  Goltz  nacK  einer  Conferenz,  die 
sie  auf  Potemkin's  Villa  gehabt,  benommen  habe:  „Er  behielt  uns 
zu  Mittag.  Seine  Unterhaltung  war  sonderbar  und  höchst  charakte- 
ristisch. Im  Verlaufe  derselben  sagte  er,  er  könne  nicht  die  Be- 
dingungen des  statiis  quo  dulden;  er  würde  den  Grossvezier,  wenn 
er  ihn  gefangen  nähme,  mit  einem  Denkzettel  über  dem  Kopf  an 
dem  ersten  besten  Baum  aufhängen ;  seiner  Meinung  nach  sollte  Russ- 
land einen  ewigen  Krieg  mit  diesen  Ungläubigen  führen;  ihn  habe 
das  Glück  nie  verlassen  und  es  sei  unvernünftig,  zu  erwarten,  er 
werde  der  Kaiserin  zum  Frieden  rathen;  er  sei  ein  junger  Feld- 
marschall und  hoflfe  wohl  noch  Aegypten  zu  erobern.  —  Diese  Reden 
waren  übrigens  mit  vielen  Preundschaftsbezeugungen  für  die  Ver- 
bündeten untermischt  und  mit  dem  Wunsch,  dass  wir  über  kurz 
oder  lang,  alle  auf  einer  Seite  stehend,  den  Krieg  führen  möchten."  0 


0  Herrmann  YL  404^  412. 


524  PotemkiD'8  Glück  und  Ende. 

Im  Ganzen  indessen  vertrat  Potemkin  Prenssen  and  England 
gegenüber  den  Frieden.  Ans  einzelnen  nicht  ganz  klaren  Aeossemngen 
in  Chrapowitzki*8  Tagebuche  ist  zu  ersehen,  dass  Katharina  den 
Westmächten  gegenüber  noch  weniger  Nachgiebigkeit  zu  zeigen  ge- 
neigt war  als  Potemkin.  Der  letztere  scheint  die  Kaiserin  beredet 
zu  haben,  an  den  König  von  Preussen  zu  schreiben.  Mit  dem  Grafen 
Besborodko  zusammen  arbeitete  Potemkin  im  April  an  einer  Note, 
^welche  den  Krieg  verhindern  sollte."  Einen  Hofbeamten  fragte 
Potemkin  spöttisch :  ^Wie  können  unsere  Rekruten  denn  sich  mit  den 
Engländern  schlagen!  Hat  man  denn  hier  nicht  genug  gehabt  an 
dem  Donner  der  schwedischen  Kanonen?"  Im  Mai  noch  findet  sich 
die  Notiz,  dass  Potemkin  mit  Besborodko,  wahrscheinlich  im  Beisein 
der  Kaiserin,  mit  der  Landkarte  in  der  Hand  die  Friedensfri^e  er- 
örtert habe.  0 

Zum  Kriege  mit  England  und  Preussen  kam  es  nicht.  Dagegen 
näherte  man  sich  rasch  dem  Frieden  mit  der  Türkei. 


Als  Potemkin  den  Süden  verliess,  traf  er  ein^e  Anstalten  für 
die  Eröffnung  des  Feldzugs  im  Frühling.  Anfangs  wusste  man  nicht, 
wem  er  während  der  Zeit  seiner  Abwesenheit  den  Oberbefehl  über 
das  Heer  übertragen  würde.  Erst  nach  seiner  Abreise  langte  der 
Befehl  an,  der  Fürst  Repnin  sollte  seine  Stelle  vertreten.  Dieser 
hatte  anfangs,  weil  ör  nicht  unter  Potemkin  dienen  wollte,  jede 
Theilnahme  am  Türkenkriege  abgelehnt,  aber  schon  bald  nach  dem 
Ausbruche  der  Feindseligkeiten  der  Kaiserin  seine  Dienste  unbe- 
dingt zur  Verfügung  gestellt.  Nun  war  er  der  Stellvertreter  des 
Fürsten  Potemkin.  Die  schwere  Verantwortung,  welche  auf  ihm 
lastete,  suchte  er  dadurch  zu  verringern,  dass  er  sehr  oft  Couriere 
mit  ausführlichen  Nachrichten  über  die  Sachlage  an  den  Fürsten 
Potemkin  absandte.  Wie  gewöhnlich  bei  Friedensunterhandlungen, 
welche  gepflogen  werden  während  man  die  militärischen  Operationen 
fortsetzt,  war  die  Kaiserin  diese  ganze  Zeit  von  der  Hoffnung  er- 
füllt, durch  militärische  Erfolge  einen  günstigen  Friedensschluss  her- 
beiführen zu  können.  Daher  hatte  sie  mit  besonderer  Freude  die 
Nachricht  von  der  "Einnahme  der  Festung  Anapa  empfangen,  daher 
war   ihr  jede  Nachricht   von    dem  Heere  im  Süden  von  grösstem 


0  Chrapowitzki,   17.  März,  9.  und  15.  April,  17.  Mai.     Der  persönlichen 
Erörterungen  des  Fürsten  mit  Fawkener  erwähnt  auch  Samoilow. 


^     Potemkin's  Glück  und  Ende.  525 

Interesse.  Sie  war  nun  sehr  erstaunt,  als  sie  erAihr,  dass  Potemkin 
zahlreiche  Berichte  von  Repnin  erhalte,  dieselben  vor  der  Kaiserin 
verheimliche  und  mit  der  Absendung  von  Instructionen  an  Repnin 
zögere.  Sogleich  Hess  sie  den  Chef  der  Kanzlei  Potemkin's,  Popow, 
rufen  und  durch  denselben  dem  Fürsten  den  Befehl  zugehen,  un- 
verzüglich einen  Courier  mit  Verhaltungsregeln  an  den  Fürsten 
Repnin  abzufertigen.  0  Wahrscheinlich  in  diesem  Augenblicke 
schrieb  sie  einen  im  Reichsarchiv  aufbewahrten  Zettel  an  Potemkin 
folgenden  Inhaltes:  „Wenn  Du  einen  Stein  von  meinem  Herzen 
wl^lzen  — ,  wenn  Du  mich  von  einem  schweren  Alpdrücken  be- 
freien willst,  so  schicke  sogleich  einen  Courier  mit  der  Weisung  zur 
Armee  ab,  möglichst  schnell  zur  See  und  zu  Lande  die  Operationen 
zu  beginnen,  sonst  ziehst  Du  den  Krieg  noch  mehr  in  die  Länge, 
und  dieses  kannst  Du  doch  ebenso  wenig  wünschen  als  ich''.  ^) 

Somit  war  die  Kaiserin  ungeduldig,  aufgeregt.  Mit  ängstlicher 
Spannung  sah  sie  einer  Entscheidung  entgegen.  Da  empfing  sie  am 
11.  Juli  die  Nachricht  von  der  am  28.  Juni  stattgehabten  Schlacht 
bei  Matschin.  Der  Fürst  Repnin  hatte  die  Zeit  zu  benutzen  ver- 
standen, fast  täglich  das  ihm  anvertraute  Heer  in  Manövern  und 
Evolutionen  geübt,  war  gegen  Galacz  gezogen  und  hatte  in  der 
Nähe  dieser  Stadt  den  Vezir  mit  einem  Heere,  welches  an  Grösse 
das  russische  um  mehr  als  das  Doppelte  übertraf^  aufs  Haupt  ge- 
schlagen, 40  Kanonen,  eine  Menge  Trophäen  und  das  reiche  Türken- 
lager erbeutet. 

Bei  Hofe  war  man  voll  Lobes  über  Repnin's  Kriegfiihrung,  die 
einen  Gegensatz  bildete  zu  der  Langsamkeit,  mit  welcher  Potemkin 
zu  verfahren  pflegte.  ^)  Für  den  letzteren  war  die  Nachricht  von 
diesem  Ereigniss  ein  schwerer  Schlag.  Repnin's  Ruhm  erregte  seine 
Eifersucht.  Hatte  er  doch,  wie  uns  von  zuverlässiger  Seite  berichtet 
wird,  um  die  Zeit  des  Festes  und  weil  er  damals  eine  Anzahl  ge- 
fangener Pascha's  der  Kaiserin  vorstellen  wollte,  dafür  gesorgt,  dass 
Suworow  gerade  damals  nach  Finnland  geschickt  wurde,  um  die 
dortigen  Festungen  zu  besichtigen.  *)      Jetzt,    nach    dem   Siege    bei 


*)  Erzählung  eines  ehemaligen   Adjutanten    des  Fürsten  Repnin   an  Orot. 
S.  des  letzteren  Ausgabe  der  Werke  Derschawin's  I,  429. 

2)  Materialien  zur  Geschichte  der  Regierung  Katharina  ü.,  gesammelt  von 
Lebedew,  bei  Orot  a.  a   O. 

3)  Masson,  M^moires  secrets,  I.  295. 
0  Chrapowitzki  am  26.  April  1791. 


636  Potemkin*8  Glück  und  Ende. 

Matschin,  war  der  Friedentschluss  wahrscheinlicher.  Seine  künftige 
Souveräne  Stellung  stand  auf  dem  Spiele. 

Es  wird  uns  einiges  von  einer  ungnädigen  Haltung  der  Kaiserin 
in  der  letzten  Zeit  von  Potemkin's  Aufenthalt  in  St.  Petersburg  be- 
richtet. Derschawin  erzählt,  Potemkin  habe  ihn  gefragt,  ob  er  nicht 
etwas  für  Derschawin  thun,  ihm  irgend  eine  Gnade  erweisen  könne; 
durch  Subow  indessen  habe  die  Kaiserin  Allen  verbieten  lassen,  Po- 
temkin um  irgend  etwas  zu  bitten.  0  Katharina  wurde  ungeduldig 
wegen  der  verzögerten  Abreise  des  Fürsten.  Sie  soll,  da  niemand 
den  Muth  hatte,  ihm  den  gemessenen  Befehl  zur  Abreise  zu  über- 
bringen, ihm  persönlich  die  Weisung  gegeben  haben,  er  solle  auf- 
brechen.    Am  24.  Juli  reiste  er  ab. 

In  der  Hauptstadt  bereits  hatten  Todesgedanken  den  Fürsten 
beschäftigt.  Er  hatte  sich  durch  rauschende  Vergnügungen  zu  zer- 
streuen gesucht.  Jetzt  auf  der  Reise  in  den  Süden  meldeten  sich 
Symptome  ernstlicher  Krankheit.  Er  fühlte  eine  allgemeine  Schwäche 
und  schrieb  an  die  Kaiserin,  dass  er  auf  keine  Genesung  hoffe.  Sie 
antwortete:  ^Ich  bete  zu  Gott,  dass  er  diese  Trauer  von  Dir  ab- 
wenden und  mir  diesen  Schlag  ersparen  möge,  an  den  ich  nicht 
ohne  tiefsten  Schmerz  denken  kann."  ^)  In  Krementschug  und  Niko- 
lajew  suchte  er  sich  durch  kalte  Bäder  zu  stärken.  ^)  Zu  diesen 
körperlichen  Leiden  kam  die  Nachricht  von  den  Friedensunterhand- 
lungen, welche  Repnin  sogleich  nach  der  Schlacht  bei  Matschin  er- 
öffnet hatte.  Diese  durchkreuzten  seine  Pläne.  Er  schrieb  aus 
Krementschug  am  1.  August  an  die  Kaiserin,  der  Vezir  habe  dem 
Fürsten  Repnin  gemeldet,  es  sei  das  Gerücht  bis  zum  Sultan  ge- 
drungen, dass  die  Russen  um  Frieden  bäten,  worauf  denn  Repnin 
habe  antworten  lassen,  er  sei  zu  unterhandeln  bereit,  wenn  die 
Türken  die  Präliminarpunkte  acceptirten.  *)  Fast  scheint  es^  als 
habe  Potemkin  der  Kaiserin  den  Gedanken  eingeben  wollen,  dass 
Repnin  Russland's  Ehre  compromittire  und  zu  hitzig  für  den  Frieden 
wirke.  Am  31.  Juli  wurden  die  Friedenspräliminarien  von  Repnin 
unterzeichnet;  einige  Tage  später  ers(jhien  Potemkin  in  Jassy.  Wir 
haben  keinen  Grund,  an  der  gewöhnlichen  Ueberlieferung  zu  zweifeln, 
dass  es  zwischen  ihm  und  Repnin  zu  einem  heftigen  Auftritte  ge- 
kommen sei:  Potemkin  habe  ihm  wegen  der  Bereitwilligkeit,  Frieden 


0  Dersohawüi  a.  a.  0. 
>)  Grot  a.  a.  0,  451. 
3)  Samoilow  a.  a.  0.,  1555. 
Ghrapowitzki,  1.  August  1791. 


Potemkin^s  Glück  tmd  Ende.  627 

SU  schliesBen,  Vorwürfe  gemacht,  Repnin  habe  entgegnet,  dass  er  nicht 
dem  Fürsten,  sondern  dem  Vaterlande  diene  und  dass  er  den  ersteren 
nicht  fürchte.  Repnin  zog  sich  bald  darauf  zurück  und  war  bereits 
zu  Anfang  September  in  Moskau,  wie  aus  einem  Briefe  Popow*6  an 
die  Kaiserin  hervorgeht.  0 

Noch  hoffte  Potemkin  der  Sache  eine  andere  Wendung  zu  geben. 
In  dem  Präliminarfrieden  war  der  Donaufürstenthümer  nicht  erwähnt. 
Er  erklärte  jetzt,  dass  Russland  auf  der  Abtretung  derselben  bestehen 
werde.  Manches  Widersprechende  über  diese  Verhandlungen  wird 
berichtet.  Ein  Zeitgenosse  erzählt,  der  Bevollmächtigte  des  Vezirs 
habe  sogar  das  linke  Ufer  des  Dnjestr  nicht  abtreten  wollen,  worauf 
denn  Potemkin  im  heftigsten  Zornesausbruch  den  türkischen  Diplo- 
maten fortgejagt  und  dem  Vezir  gemeldet  habe,  dass  er  bei  solchen 
Vorschlägen  die  Unterhandlungen  gleich  abbrechen  werde.  Hierauf 
habe  der  Vezir  sogleich  am  folgenden  Tage  einen  anderen  Bevoll- 
mächtigten mit  vielen  Entschuldigungen  wegen  des  Unverstandes 
des  Unt-erhändlers  an  Potemkin  gesandt  und  sich  erboten,  denselben 
hinrichten  zu  IsMssen.  ^)  Gewiss  ist,  dass  die  Frage  der  Donaupro- 
vinzen Potemkin  noch  die  allerletzte  Zeit  beschäftigte  und  dass  die- 
selbe den  Abschluss  des  Friedens  hinausschob.  Potemkin  erlebte 
den  Frieden  nicht. 

Am  28.  August  erfuhr  Katharina,  dass  Potemkin  sehr  bedenklich 
krank  sei.  Sie  vergoss  Thränen  bei  dieser  Nachricht.  ^)  Einige 
Tage  später  kam  die  Nachricht,  es  gehe  dem  Fürsten  besser.  Ein 
seltsamer  Zwischenfall  hatte  sich  ereignet.  Am  13.  August  starb  der 
Prinz  Karl  Alexander  von*  Württemberg,  welcher  in  dem  Heere 
diente.  *}  Bei  der  Bestattung  desselben,  welcher  Potemkin  beiwohnte, 
war  der  letztere  so  in  Gedanken  verloren,  dass  er,  als  der  Leichen- 
wagen bei  der  Kirche  erschien,  im  Begriff  war  denselben  zu  be- 
steigen, indem  er  meinte,  es  sei  seine  Equipage.  Der  Vorfall 
machte  auf  ihn  einen  erschütternden  Eindruck.  *) 


0  Massen  I.,  173,  295.  S.  die  Materialien  Lebedew's  bei  Grot  a.  a.  0.  Die 
Angabe,  dass  Potemkin  am  1.  Auf  ast  in  Jassy  angelangt  sei,  iBt  falsch,  da  er  an  die- 
sem Tage  ans  Krementschug  an  Katharina  schrieb,  dieser  Ort  gegen  500  Werst  und 
darüber  von  Jassy  entfernt  ist,  nnd  Potemkin  noch  über  Kikolt^ew  nach  Jassy  reiste. 

>)  Samoilow,  S.  1556. 

0  Ohrapowitzki,  28.  Augnst. 

*}  Es  war  der  Bruder  der  Gemahlin  des  Grossfürsten  Paul,  Marie  Feodoroinia. 

0  So  erzählt  Engelhardt  in  seinen  Memoiren  (rnssiseh).  S.  124.  Derseha- 
vrin  meint  sogar,  Potemkin  habe  in  der  Zerstreutheit  den  Leichenwagen  bestiegen, 
s.  Grot  a.  a.  0. 


528  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

Potemkin's  Zustand  verschlimmerte  sich.  In  seiner  gewohnten 
Weise  verschmähte  er  den  Rath  der  Aerzte,  badete  den  Meinungen 
der  letzteren  zum  Trotz  seinen  Kopf  in  eiskaltem  Wasser,  nahm 
grosse  Mengen  fetter  Speisen  zu  sich.  Eine  fieberhafte  Unruhe  ver- 
zehrte ihn.  Er  meinte  nicht  in  Jassy  bleiben  zu  dürfen:  es  werde 
sein  Grab  sein.  Es  trieb  ihn  nach  Nikolajew,  wo  die  Gründung 
der  neuen  Stadt,  der  Schiffsbau  in  Folge  der  Bemühungen  des  unter- 
nehmenden und  thätigen  Commissärs  Falejew  einen  raschen  Auf- 
schwung genommen  hatten.  Falejew  kam  gerade  nach  Jassy,  als 
Potemkin  bereits  dem  Tode  nahe  war.  Er  berichtete  ihm  von  dem 
Gedeihen  des  neuen  Hafens  und  der  Fürst  beschloss  zu  reisen.  Das 
Fieber,  welches  40  Tage  angehalten  hatte,  rieb  die  letzten  Lebens- 
kräfte auf.  Er  musste  in  den  Wagen  getragen  werden.  Hier  unter- 
zeichnete er  noch  ein  kurzes  Schreiben  an  die  Kaiserin,  welches  er 
seinem  Kanzleichef  Popow  in  die  Feder  dictirt  hatte  und  welches 
folgendermaassen  lautete :  „Mütterchen,  allergnädigste  Kaiserin!  Ich 
kann  die  Leiden  nicht  mehr  ertragen;  die  einzige  Rettung  ist  noch: 
diese  Stadt  zu  verlassen.  Ich  lasse  mich  nach  Nikolajew  fahren. 
Ich  weiss  nicht,  was  mit  mir  werden  wird.  Der  allertreueste  und  dank- 
barste Unterthan."  Eigenhändig  fügte  Potemkin  noch  mit  zitternder 
Hand  hinzu:  „die  einzige  Rettung  ist,  von  hier  wegzufahren." 

Auf  der  ersten  Station,  25  Werst  von  Jassy  entfernt,  angelangt, 
liess  sich  Potemkin  in  ein  Haus  tragen  und  schlief  drei  Stunden. 
Dann  unterhielt  er  sich  lebhaft  mit  seinen  Begleitern,  bemühte  sich 
heiter  zu  scheinen,  scherzte,  er  habe  sieinen  Sarg  in  Jassy  zurück- 
gelassen. Die  Nacht  brachte  er  schlaflos  und  von  Schmerzen  ge- 
quält zu.  Beim  Anbruch  der  Morgendämmerung  verlangte  er  den 
Wagen.  Man  suchte  die  Abreise  bis  zum  hellen  Tage  zu  verschieben 
musste  aber  seinem  Willen  nachgeben.  Langsam  bewegte  sich  der 
Zug  vorwärts.  Alle  Augenblicke  musste  man  halten,  weil  der  Biranke 
die  Bewegung  nicht  ertragen  konnte.  Endlich  sagte  Potemkin:  „Es 
ist  genug;  ich  sterbe;  nehmt  mich  aus  dem  Wagen,  ich  will  auf 
dem  Felde  sterben.''  Man  legte  ihn  auf  den  Rasen.  Nach  etwa 
einer  Stunde  verschied  er.O    Es  war  am  5.  October  1791.    Die  Leiche 


0  Ueber  die  Ejrankheit  und  den  Tod  Potemkin*s  s.  u.  a.  die  Schilderung 
in  dem  Briefe  eines  Zeitgenossen  aus  Jassy  (MasRi»  1842,  Bd.  IV.  CMdbCB)  bei 
Grot  a.  a.  0.  452.  £bendort  einige  Angaben  aus  den  Materialien  zur  Geschichte 
der  Regierung  der  Kaiserin  Katharina,  gesammelt  von  Lebedew.  In  dem  Auf- 
sätze   „IlyTcmecTBie    no    HoBopocciäcROicy    Kpaio    Iohu    MHTponojuiTa'^    in   den 


Potemkin's  Glück  und  Ende.  529 

ward  nach  Jassy  zurückgebracht  und  später  mit  grossem  Pomp  in 
Cherson  in  der  Hauptkirche  beigesetzt.  ') 

Wie  falsch  ist  doch  die  Erzählung  eines  Zeitgenossen,  Katharina 
habe  die  Nachricht  von  dem  Tode  Potemkin's  sehr  gleichgültig  hin- 
genommen. Das  Tagebuch  Chrapowitzki*s  belehrt  uns  eines  anderen. 
Er  verzeichnete  jede  Nachricht,  welche  aus  dem  Süden  über  Po- 
temkin  kam;  häufig  trafen  Bulletins  der  Aerzte  ein,  welche  den 
Fürsten  umgaben.  Als  man  am  11.  October  die  Nachricht  erhielt, 
dass  es  dem  Fürsten  schlimmer  gehe,  da  trug  Chrapowitzki,  der  die 
Kaiserin  fortwährend  beobachtete,  in  sein  Tagebuch  ein:  „Wieder 
Thränen  und  Verzweiflung.  Um  8  Uhr  liess  man  (der  Kaiserin) 
zur  Ader;  um  10  Uhr  legte  sie  sich  zu  Bette."  —  Anderen  Tages 
kam  die  Todesnachricht.  Chrapowitzki  schreibt:  „Thränen.  —  Sie 
klagte,  dass  sie  nicht  damit  zurechtkomme,  zeitig  Menschen  vorzu- 
bilden, jetzt  sei  niemand  da,  auf  den  man  sich  stützen  könne."  Am 
16.  October:  „Fortgesetzte  Thränen.  Sie  sagte  mir:  ,Wie  kann  ich 
Potemkin  ersetzen,  er  war  ein  echter  Edelmann,  ein  kluger  Mensch ; 
ihn  konnte  man  nicht  kaufen.  Jetzt  wird  doch  alles  anders  sein. 
Wer  hätte  denken  können,  dass  Tschemyschew  und  andere  alte 
Leute  ihn  überleben  würden.  Und  jetzt  werden  alle  wie  die  Schnecken 
ihre  Köpfe  in  die  Höhe  emporrecken.'  Ich  erwiderte :  ,Ew.  Majestät 
sind  darüber  erhaben.'  Sie  darauf:  ,Das  wohl,  aber  ich  bin  alt.  Er 
war  ein  echter  Edelmann,  ein  kluger  Mensch;  er  verkaufte  mich 
nicht;  ihn  konnte  man  nicht  kaufen'.^  ^)  Manche  Zeugnisse  anderer 
Zeitgenossen  bestätigen  diese  Mittheilungen.  Derschawin  sagt:  Alle 
seien  bei  der  Nachricht  wie  vom  Donner  gerührt  gewesen,  am 
meisten  aber  die  Kaiserin.  ^)  Masson  spricht  von  drei  Ohnmächten, 
welche  Katharina  gehabt  habe.  *)  Der.  Graf  Estarhazy,  welcher 
sich  als  Emigrant  am  russischen  Hofe  aufhielt,  schreibt  an  seine 
Frau:  „Seit  dem  Tode  Potemkin's  ist  hier  alles  in  Trauer  versenkt. 


Schriften  der  odessaer  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Alterthümer  Neurussland's 
Bd,  III.  S.  559—561  sind  einige  Angaben.  Derschawin's  prachtvolle  Ode  „Bo^o- 
naÄ-L"  8.  bei  Grot  I,  457—488. 

0  Der  Leichenzug  war  5  Werst  lang  (?),  erzählt  der  Metropolit  Jonas.  Das 
Ceremoniell  s.  bei  Kolotow,  Geschichte  Katharina's  II.,  279—283.  600  Menschen 
arbeiteten  in  Jassy  an  den  Vorbereitungen  auf  die  Leichenfeierlichkeiten.  —  An 
der  b  teile,  wo  er  verschied,  ward  ein  Denkmal  errichtet,  s.  Grot  a.  a.  0.  454. 

^  Chrapowitzki  am  11.,  12.  and  16.  October. 

3)  Derschawin,  Memoiren  312.    Seine  Bemerkungen  bei  Grot  a.  a.  0.  X.  480. 

^)  Masson,  M^moires  secrets.  I,  153. 


530  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

Noch  keinmal  ist  die  Kaiserin  ausgegangen ;  es  gab  keine  Eremitage 
(d.  h.  keinen  Hofzirkel);  sogar  hat  sie  nicht  in  ihren  Gemächern 
Karten  gespielt.  Daraus/  fügt  Estarhazy  hinzu^  »folg*  noch  nicht, 
dass  alle  allzutraurig  sind.  Viele  sind,  so  viel  man  weiss,  sehr  zu- 
frieden, dass  dieser  Koloss  umstürzte.**  ') 

Welcher  Art  Gerüchte  über  Potemkin's  Tod  damals  umliefen, 
zeigt  ein  Brief  des  bekannten  Job.  Jak.  Sievers:  „So  ist  denn  doch 
der  fürchterliche  Mann,  der  im  Scherze  einmal  sagte,  er  werde  noch 
einst  Mönch  und  Erzbischof  werden  —  todt  —  aber  wie?  natürlich? 
oder  hat  die  Vorsehung  eine  rächende  Hand  geftinden?  oder  war*s 
ein  moldauisches  Fieber?  Ein  Geschenk  des  Landes,  das  er  höchst 
unglücklich  machte,  ehe  er  es  zu  beherrschen  bekam?" ^ 

Bei  dem  Fest,  das  Potemkin  im  Taurischen  Palais  gab,  schwie- 
gen die  Zeitungen  in  Russland;  dasselbe  geschah  bei  seinem  Tode. 
Nur  einzelne  Gedichte,  bei  dieser  Gelegenheit  verfasst,  erschienen 
im  Drucke.  Erst  im  Jahre  1798  erschien  Derschawin's  Ode:  „der 
Wasserfall**.  Er  hatte  dieselbe  bald  nach  Potemkin's  Tode  be- 
gonnen, aber  erst  1794  beendet.  ') 

Wie  weit  Potemkin's  Pläne  gingen?  Wer  weiss  es?  Ob  er 
sich  mit  der  Moldau  und  Walachei  begnügt  haben  würde,  ob  er 
nach  der  Würde  eines  unabhängigen  Kosakenhetmans ,  nach  der 
polnischen  Königskrone,  nach  der  Regentschaft  während  der  Minder- 
jährigkeit des  für  den  Thron  von  Byzanz  bestimmten  Grossfürsten 
Constantin  gestrebt  habe,  um  schliesslich  alle  bei  Seite  zu  schieben 
und  auch  Russland  nach  dem  Tode  der  Kaiserin  an  sich  zu  reissen? 
Es  sind  Vermuthungen.  „Von  ihm  war  alles  denkbar",  sagt  Blum* 
„er  hatte  . . .  alle  bei  Seite  gedrückt  und  geschafft,  die  ihm  im  Wege 
standen«  Er  hatte  die  Hülfsquellen  des  Landes  erschöpft,  und  was 
irgend  von  Kraft  noch  vorhanden  war,  in  kecker  Faust  zusammen- 
gefasst  .Wozu  das  alles?  Offenbar,  um  als' Verräther ][einen  Schlag 
zu  führen,  wozu  im  entscheidenden  Augenblicke  ihm  der  Muth  ver- 
sagte. Kattiarina  kannte  den  Helden,  sie  wusste,  was  sie  gegen  ihn 
wagen  durfte,  und  warf  ihn,  als  die  Stunde  gekommen  war,  mit 
Anstand  über  Bord."  Blum  schrieb  unter  dem  Einfluss  der  Meinungen 
von  Ausländern,  namentlich  des  sächsischen  Legationssecretärs  Hei- 
big, dessen  Lebensbeschreibung  Potemkin's  in  Archenholtz'  Minerva 


1)  OcMHa^i^aTuft  B^Rb,  EapTeHesa  I,  357. 

^  Blum,  „ein  russischer  Staatsmann*'  11,  541. 

•)  Orot  a.  a.  O.,  I,  455—456. 


Potemkin's  Glück  und  Ende.  531 

in  der  That  nicht  eine  allseitige  Würdigung  des  Lebens  und  Wirkens 
dieses  Mannes  genannt  werden  kann.  Vielmehr  darf  man  sagen, 
dass  die  Acten  über  Potemkin's  Leben  und  Wirken  noch  nicht  ge- 
schlossen sind.  Die  Urtheile  der  Zeitgenossen  und  der  unmittel- 
baren Nachwelt  lauten  widersprechend.  Dass  das  Volk  den  Fürsten 
„als  Nationalhelden  im  Gedächtniss  bewahrt"  habe,  wie  Blum  be- 
merkt, ist  sehr  zu  bezweifeln.  Gewiss  ist,  dass  bald  nach  seinem 
Tode  mancherlei  geschah,  sein  Andenken  zu  verwischen. 


Man  ist  in  einiger  Ungewissheit  über  den  Ort,  wo  die  Gebeine 
Potemkin's  ruhen.  Die  Leiche  wurde  von  Jassy  nach  Cherson  ge- 
bracht und  dort  in  der  Katharinenkirche  beigesetzt.  Es  gingen 
später  verschiedene  Gerüchte  über  das  Schicksal  dieser  Ueberreste. 
Man  erzählte,  dass  unter  Kaiser  Paul's  Regierung  einige  Maassregeln 
getroffen  wurden,  um  die  Spuren  von  Potemkin's  Grab  zu  tilgen. 
Wie  damals  die  griechisch  benannten  Städte  Eupatoria,  Sewastopol, 
Grigoriopol  u.  a.  wiederum  mit  tatarischen  Namen,  Koslow,  Akmet- 
schet,  Kisikerman  bezeichnet  wurden,  so  erschienen  einige  Re- 
gierungsbefehle in  Betreff  der  Leiche  Potemkin's,  des  Hauptvertreters 
der  byzantinischen  Entwürfe.  Aus  der  Kirche  verschwand  das 
Denkmal,  welches  Katharina  dem  Fürsten  hatte  stellen  lassen;  ein 
geheimer  Befehl  verfügte,  dass  der  Sarg  Potemkin's  aus  dem  Ge- 
wölbe unter  dem  Fussboden  der  Kirche  entfernt  und  in  der  Nähe 
der  Kirche  in  aller  Stille  vergraben  werden  sollte.  Man  sprach  da- 
von, dass  nur  die  Leiche  entfernt  worden  sei,  der  Sarg  aber  noch 
in  dem  Gewölbe  sich  befinde.  Noch  andere  erzählten,  ein  Ver- 
wandter Potemkin's,  der  Erzbischof  Hiob,  habe  im  Jahre  1819  oder 
1820  die  Leiche  Potemkin's  jener  Gruft  entnommen  und  dieselbe  auf 
dem  Gute  der  Branicki's  bestattet. 

In  späterer  Zeit  haben  Reisende  in  Cherson  an  Ort  und  Stelle 
Nachforschungen  angestellt,  ohne  zu  sehr  bestimmten  Ergebnissen  zu 
gelangen.  Man  glaubte  den  Sarg  gefunden  zu  haben,  nachdem  man 
die  Erde,  welche  jenes  unter  der  Kirche  zu  Cherson  befindliche 
Gewölbe  anfüllte,  wegschaufeln  liess,  man  stiess  auf  einzelne  Kno- 
chen und  verschiedene  andere  Ueberreste  eines  menschlichen 
Körpers  und  menschlicher  Kleidung.  Von  einer  Inschrift,  von 
irgend  welchen  deutlichen  Indicien,  dass  man  es  hierbei  mit 
den  Ueberresten  Potemkin's    zu    thun   habe,   wird  nichts  gemeldet. 


582  Potemkin's  Glück  und  Ende. 

Diese  sich  übrigens  zum  Theil  untereinander  widersprechenden 
Angaben  stimmen  nicht  einmal  mit  den  ofBciellen  Actenstücken,  die  in 
dieser  Angelegenheit  erlassen  und  in  letzter  Zeit  bekannt  geworden 
sind,  überein.  Es  wäre  auch  von  nur  secundärem  Interesse,  der 
Sache  auf  den  Grund  zu  kommen.  0 


*)  üeber  diese  Frage  8.  Andngewski's  Aufsatz  in  den  Schriften  der  odessaer 
Gesellschaft  für  Geschichte  und  Alterthümer  Keurosslands.  Bd.  V,  S.  1006—1010. 
Femer  Schugorow's  Untersuchung  in  dem  „Russischen  Archiv"  1867,  S.  203  bis 
218  und  die  Ergänzung  dazu  yon  ebendemselben,  S.  1181 — 1182.  —  St.  Peters- 
burger Zeitung  (russ.)  19.  Jan.  1860.     Odessaer  Zeitung  (russ.)  1867.  (Kr.  132). 

A.  Brückner. 


J 


Die  Rfgaer  Volkszahlung  vom  3.  Mirz  1867. 


1/ie  in  einem  Theile  Westeuropa's  namentlich  seit  dem  Ende  des 
vorigen  Jahrhunderts  eingetretene  rapide  Entwiekelung  auf  allen 
Gebieten  des  socialen  und  politischen  Lebens  zwingt  diejenigen  Völker 
und  Staaten,  die,  von  modernem  Bewusstsein  getragen,  die  Absicht 
und  den  Willen  haben,  mit  den  Hauptvertretern  jener  Entwiekelung 
gleichen  Schritt  zu  halten,  —  bei  sich  selbst  einzukehren  und  sorg- 
fältig die  Zustände  und  Kräfte  zu  studiren,  die  bei  jenem  Cultur- 
wettstreit  naturgemäss  dazu  berufen  sind,  die  Grundlage  und  das 
Fundament  für  den  Weiterbau  zu  bilden. 

Auch  Russland  hat  neuerdings  zur  Ueberzeugung  kommen 
müssen,  dass  eine  solche  möglichst  rationelle  und  systematische  lu- 
ven tarisirung  jener  Zustände  und  Kräfte  des  Staates  eine  dringende 
und  unaufschiebbare  Nothwendigkeit  sei.  Es  liat  sich  diese  Ueber- 
zeugung freilich  erst  seit  sehr  kurzer  Zeit  in  Russland  Bahn  gebrochen: 
wir  erinnern  daran,  dass  noch  im  Jahre  1853,  als  von  Brüssel  aus 
an  die  europäischen  Regierungen  die  Einladungen  zum  ersten  sta- 
tistischen Gongress  ergingen,  seitens  Russland's  geantwortet  wurde, 
es  sei  die  Theilnahme  an  diesem  Gongress  für  unnöthig  befunden 
worden,  indem  die  statistischen  Erhebungen  der  militärischen  und 
Verwaltungsbehörden  vollkommen  für  die  administrativen  Bedürf- 
nisse des  Staates  ausreichten. 

Es  hat  nun  seitdem  bekanntlich  in  dieser  Beziehung  ein  colossaler 

Umschwung   und  Fortschritt  stattgefunden:    die    Theilnahme    Russ- 

land's  an  den  späteren  statistischen  Congressen  ist  eine  sehr  lebhafte 

gewesen,  der  nächste  Gongress  wird  (1872)  in  St.  Petersburg  ta^en. 

Die   Orgauisirung  der    statistischen  Behörden   und   ihrer  Thätigkeit 

hat,   in  Anlehnung  an    die  bewährten  Einrichtungen   des  Auslandes, 

im  ganzen  Reiche  stattgefunden  und  überall  wird  energisch  an  der 

Verarbeitung  und  Publication  des  massenhaften  Materials  gearbeitet; 

es  ist  endlich   für  das  Jahr  1875  die  erste  allgemeine  Volkszählung 
Baltische  Monatsschrift.  N.  Folge.  Bd.  I,  Heft  11  u.  12.  36 


534  Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867. 

für  ganz  Russland  beschlossen  worden,  —  eine  riesige  Operation, 
sowohl  in  Anbetracht  der  Dimensionen  des  Reichs  und  der  grossen 
Bewohnerzahl,  als  auch  der  in  diesem  Falle  zu  überwindenden  be- 
sonderen Schwierigkeiten. 

Wir  sind  der  Ansicht,  dass  in  Folge  dieser  Schwierigkeiten,  die 
wir  hauptsächlich  in  der  Unbildung  der  grossen  Masse  sehen,  sowie 
in  dem  eigenthümlichen,  zu  passivem  Widerstände  verleitenden  Miss- 
trauen des  niederen  russischen  Volks  gegen  alle  solche  Maassn ahmen 
der  Behörden,  hinter  denen  allenfalls  fiskalische  Zwecke  vermuthet 
werden  können,  jene  erste  allgemeine  Volkszählung  in  den  aller- 
meisten Gouvernements  jedenfalls  nur  Resultate  von  höchst  zweifel- 
hafter Richtigkeit  ergeben  wird;  sie  wird  nur  den  Charakter  einer 
Probezählung  haben,  aber  auch  als  solche  von  unschätzbarem  Werthe 
sein  zur  Sammlung  von  Erfahrungen,  Einübung  der  activ  sich  Be- 
theiligenden und  zur  Gewöhnung  des  Volkes  an  diese  Operation. 

Diesen  Charakter  einer  Vorschule  für  künftige  Volkszählungen 
wird  jedoch  die  1875er  Zählung  durchaus  nicht  in  allen  Theilen 
des  Reichs  haben:  in  Petersburg  und  in  einem  Theile  der  Ostsee- 
provinzen fin  welchen  überdem  die  in  den  niederen  Schichten  des 
Volkes  allgemein  verbreitete  Elementarbildung  als  hochwichtiges 
begünstigendes  Moment  hinzukommt),  sind  bereits  durch  Veran- 
staltung und  Durchführung  von  umsichtig  und  nach  allen  Regeln 
der  Kunst  geleiteten  Volkszählungen  nicht  nur  Erfahrungen  gesam- 
melt, sondern  auch  Resultate  erzielt  worden,  die  sowo)il  in  Betracht 
der  Exactheit  der  Ergebnisse  als  des  wissenschaftlichen  Geistes  der 
Verarbeitung  derselben,  sich  ebenbürtig  dem  Besten  anreihen,  was 
die  in  statistischer  Routine  vorgeschrittensten  Länder  Europa's  ge- 
leistet haben. 

In  Nachstehendem  wird  es  unsere  Aufgabe  sein,  die  Geschichte 
und  die  Hauptergebnisse  der  rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867, 
für  welche  das  soeben  Gesagte  gewiss  seine  volle  Geltung  hat,  — 
in  kurzen  Umrissen  darzustellen.  Als  Quelle  für  die  Geschichte  und 
als  Grundlage  für  die  Darstellung  der  Ergebnisse  der  genannten 
Zählung  wird  uns  dienen  das  vor  kurzem  erschienene  Werk:  „Die 
Resultate  der  am  3.  März  1867  in  der  Stadt  Riga  ausgeführten  Volks- 
zählung. Zusammengestellt  und  herausgegeben  im  Auftrage  des 
statistischen  Comit^'s  der  Stadt  Riga  vom  Secretär  Fr.  v.  Jung- 
Stilling*.  Das  Werk,  ein  stattlicher  Quartant,  enthält  ausser  dem 
überaus  reichhaltigen  und  vielseitigen  Tabellenmaterial  noch  ein  über 
die  Geschichte  der  Zählung  und   die  Verarbeitung  ihrer  Ergebnisse 


Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867.  535 

orientirendes  Vorwort,  den  „Plan  der  Volkszählung"  und  einen 
offenen  Brief  an  die  Redaction  der  ,,Moskauer  Zeitung*. 

Nach  dem  ursprünglichen  Beschlüsse  des  livländischen  statisti- 
schen Comit^'s  sollte  gleichzeitig  durch  ganz  Livland  gezählt  werden, 
doch  wurde  bekanntlieh  dieser  Plan  aus  hier  nicht  weiter  zu 
erörternden  Gründen  aufgegeben  und  die  Zählung  auf  die  Städte 
allein  beschränkt. 

Die  Organisation  der  Zählung  in  den  Städten  finden  wir  aus- 
führlich dargelegt  in  dem  bezüglichen  Theile  des  genannten,  von 
dem  livländischen  statistischen  Comit^  auf  Grund  bewährter  Er- 
fahrungen  entworfenen  und  beschlossenen  „Planes  der  Volkszählung". 
Nach  demselben  hatten  die  Magistrate  durch  Wahl  geeigneter  Per- 
sonen die  Central -Zählungs-Commission  zu  constituiren,  und  zwar 
aus  soviel  Personen,  als  zur  Ausführung  der  ihnen  aufzuerlegenden 
Arbeit  erforderlich  schien.  Aus  der  Zahl  der  Mitglieder  wurde 
sodann,  durch  den  Magistrat  der  Vorsitzende  bestimmt.  Diese  Com- 
mission  bildete  zunächst  die  aus  je  drei  Personen  bestehenden  Quartal- 
Zählungs-Commissionen,  und  bestimmte  deren  Vorsitzer.  Central-  und 
Quartal  -  Zählungs  -  Commissionen  hatten  endlich  in  gemeinsamer 
Sitzung  die  Quartal-Zählungs-Commissäre  und  die  Zählungs-Agenten 
(Zähler)  zu  erwählen,  und  zwar  in  solcher  Zahl,  dass  wo  möglich 
auf  jeden  der  ersteren  höchstens  20  Grundstücke,  auf  jeden  der 
letzteren  höchstens  100  einzutragende  Individuen  entfielen. 

Die  Functionen  dieser  Zählungsorgane  waren  im  Wesentlichen 
folgende : 

1)  Die  Centralcommission  erlässt  einen  Aufruf  an  die  Bewohner 
der  Stadt  mit  der  Aufforderung,  sich  an  der  Ausführung  der  Zählung 
möglichst  zahlreich  durch  Freiwillige  zu  betheiligen,  aus  denen  sie  dann 
gemeinschaftlich  mit  den  Quartalcommissionen  die  Quartalcommissäre 
und  die.  Zähler  erwählte.  Ferner  gehörte  zu  ihren  Functionen  die 
Instruirung  der  Quartalcommissionen,  die  Ausreichung  der  Listen  an 
dieselben  und  deren  spätere  Inempfangnahme,  s.owie  die  oberste 
Controle  und  Revision  der  vorläufigen  Zählungsergebnisse. 

2)  Die  Quartalcommissionen  th eilen  ihr  Quartal  in  Zählungs- 
districte  von  wo  möglich  höchstens  je  20  Grundstücken,  und  be- 
stimmen gemeinschaftlich  mit  den  für  jeden  derselben  bestimmten 
Quartalcommissären  die  Anzahl  der  Zählungsbezirke,  in  welche  jeder 
District  zu  zerfallen  hat.  Für  jeden  der  Bezirke  wird  sodann  je 
ein  Zähler  gewählt.     Die  Quartalcommissionen  haben  ferner  die  fünf 

ersten  Rubriken  der  Grundstückliste  eines  jeden  Districtes  durch  den 

36* 


636  Die  Rigaer  Volkssählung  vom  3.  März  1867. 

örtlichen  PolizeiofSzier  ausfüllen  zu  lassen  und  dieselben,  nachdem 
sie  die  gemachten  Angaben  geprüft  und  wo  nöthig  berichtigt,  sanimt 
den  zugehörigen  Haushaltungslisten  den  betreffenden  Quartalcom- 
missionen einzuhändigen  und  (letztere)  nach  der  Zählung  wieder  in 
Empfang  zu  nehmen,  um  ihre  richtige  Ausfüllung  zu  controliren  und 
sie  sodann  der  Centralcommission  wieder  zuzustellen. 

3)  Die  Quartalcommissäre  haben  durch  persönliche 
Inspection  die  den  Quartalcommissionen  obliegende  Controle 
über  die  richtige  Ausfüllung  der  Grundstücklisten  durch  die  Polizei- 
offiziere zu  unterstützen  und  zu  vermitteln,  und  die  berichtigten 
Listen  sodann,  wie  gesagt,  den  Quartalcommissionen  einzuliefern, 
von  denen  sie  dieselben,  versehen  mit  der  zugehörigen  Zahl  Haus- 
haltungslisten, spätestens  drei  Tage  vor  der  Zählung  wieder  zurück- 
erhalten. Die  für  einen  jeden  Bezirk  bestimmten  Haushaltungslisten 
werden  den  betreffenden  Zählern  übergeben  und  sofort  nach  voll- 
endeter Zählung  durch  dieselbe  den  Quartalcommissären  wieder  zu- 
gestellt, welche  die  Vollständigkeit  und  Richtigkeit  ihrer  Ausfüllung 
controliren,  die  vorläufigen  Summiniugen  für  eine  jede  Haushaltungs- 
liste sowie  für  ihren  ganzen  District  vornehmen,  und  sodann  den 
ganzen  Zählungsapparat  den  Quartalcommissionen  wiederum  zustellen. 

4)  Die  Zähler  führen  innerhalb  ihrer  Bezirke  die  Zählung 
selbst  vorschriftmässig  durch,  indem  sie  den  Vorständen  derjenigen 
Haushaltungen,  wo  Selbsteintragung  stattfinden  soll,  die  bezüglichen 
Haushaltungslisten  bereit«  am  Tage  vor  der  Zählung  einhändigen 
und  sie  am  Zählungstage  ausgefüllt  und  nöthigenfalls  berichtigt 
wieder  einsammeln;  indem  sie  ferner  in  denjenigen  Haushaltungen, 
wo  wegen  mangelnder  Bildung  die  Selbsteintragung  nicht  statt- 
haben konnte,  die  Eintragung  der  Notizen  am  Zählungstage  selbst 
besorgen  und  endlich  sämmtliche  Haushaltungslisten  ihres  Bezirks 
sofort  nach  Beendigung  der  Zählungsoperation  ihren  Quartalcom- 
missären vollständig  ausgefüllt  persönlich  überbringen. 

Besondere  Bestimmungen  regeln  sodann  noch  das  Eintrs^ungs- 
verfahren  für  die  in  der  Zähiungsnacht  in  den  Gasthäusern,  Hdtels 
und  Einfahrten  Logirenden,  sowie  ftir  die  Bewohnerschaft  der  Ka- 
sernen, Gefängnisse,  Kranken-  und  Armenhäuser,  und  anderer  der- 
artiger Anstalten. 

Von  den  beiden  mehrfach  genannten  Listen,  der  Grundstück- 
liste und  der  Haushaltungsliste,  enthält  erstere  8  Rubriken :  1)  Name 
der  Strasse,  an  welcher  das  Grundstück  gelegen  ist;  2)  Polizei- 
nummer des  Grundstückes;    3)  Zahl  der  auf  denselben  befindlichen 


Die  Rigfi^er  Volkszählung  vom  3.  März  1867.  $87 

bewoboteii  und  unbewohnten  Häuser;  4)  Belegenheit  der  bewohnten 
Häuser  zur  Strasse  oder  im  Hofe;  5)  Laufende  Nummer  und  Be- 
nennung jeder  einzelnen  Haushaltung;  ferner  6}  Name  der  Zähler 
und  Angabe  der  Selbsteintragung;  7)  Name  des  Quartalcommissärs 
und  8)  Bemerkungen.  Die  zweite  Liste,  die  Haushaltungsurliste, 
enthält  ausser  den  auf  der  Vorderseite  derselben  durch  die  Quartal- 
commission auszufüllenden  Rubriken  mit  genauer  Angabe  über  die 
Haushaltung,  für  welche  die  Liste  i)estimmt  ist,  auf  der  Innenseite 
11  Rubriken :  1)  Laufende  Nummer  der  einzelnen  Glieder  der  Haus- 
haltung; 2)  Vorname  und  Name  der  Glieder  der  Haushaltung; 
3)  Alter,  4)  Civilstand;  5>  Confession  oder  Religion;  6)  Uebliche 
Sprache  (Nationalität);  7)  Stand;  8)  Beruf  oder  Gewerbe;  9)  An- 
sässigkeit; 10)  Hingehörigkeit;  11)  Bemerkungen.  Die  Columnen- 
köpfe  enthalten  Erläuterungen,  um  einer  etwaigen  missverständlichen 
•  Auffassung  der  Bedeutung  der  Rubriken  yorzubeugen. 

Nach  Anleitung  des  „Planes  der  Volkszählung"  sollten  gleich- 
zeitig sämmtliche  zur  Zeit  der  Zählung  anwesende 
Personen  verzeichnet  werden,  d.  h.  es  wurde  der  Bestand  der 
„factischen'^  Bevölkerung  zu  ermitteln  gesucht,  —  im  Gegensatz  zu 
den  „Revisionen",  die  nur  die  „rechtliche"  Bevölkerung,  und  auch 
diese  nicht  vollständig,  festzustellen  streben.  Ueber  das  eigenthtim- 
liche  Verfahren^  das  zur  Beseitigung  der  in  Folge  der  nie  ganz 
rastenden  räumlichen  Bewegung  der  Bevölkerung  leicht  möglichen 
Doppelz^hlungen,  und  zwar  durch  systematische  doppelte  Ein- 
zeichnung,  angewandt  wurde,  lassen  wir  hier  die  (für  Land  und 
Stadt  gemeinsam  geltende)  treffliche  Erläuterung  aus  dem  „Plan  der 
Volkszählung"  wörtlich  folgen: 

„Um  den  durch  die  räumliche  Bewegung  der  Bevölkerung  ver- 
anlassten Auslassungen  und  Doppelzählungen  zu  begegnen,  pflegt 
jede  Volkszählung  —  sofern  sie  diesen  Namen  verdient  —  auf  einen 
bestimmten  Zeitmoment,  und  zwar  den  Moment  verhältnissmässig 
grösster  Ruhe,  die  Mitternacht,  bezogen  zu  werden.  Allein  selbßit  in 
der  Nacht  ist  ein  immerhin  nicht  unbeträchtlicher  Theil  der  Bevöl- 
kerung in  Bewegung:  auf  Feldwachten,  auf  Reisen,  in  oft  schwer 
controlirbarem  Anlasse.  Es  ist,  wenn  Jeder  strenge  nur  an  dem 
Orte  verschrieben  werden  darf,  wo  er  die  d^m  Zählungstag  einleitende 
Mitternacht  zugebracht  hat,  nicht  anzunehmen,  dass  Niemand  den 
Zahlern  entgeht.  Bei  einer  den  Umständen  angemessenen  nicht  hin- 
reichend controlirbaren  Inconsequenz  am  Principe  liegt  andererseits 
die  Gefahr  nahe,  dass  Viele  doppelt,  vielleicht  dreifach  verzeichnet 


538  Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867. 

werden.  Es  mossten  daher  gewisse  Abweichungen  vom  Princip  in 
ein  System  gebracht  werden  und,  um  der  angedeuteten  Fehlerquelle 
zu  begegnen,  ist  folgendes  Verfahren  z\yeckmäfi8ig  erachtet  worden. 

Im  Allgemeinen  ist  Jeder  nur  dort  in  die  Liste  einzutragen,  wo 
er  die  vorausgegangene  Nacht  zugebracht  hat.  Dies  gilt  namentlich 
für  solche  Hausgenossen,  welche  auf  längere  Zeit  auswärts  in  Diensten 
stehen.  Für  die  nur  vorübergehend  oder  zufällig  Abwesenden  da- 
gegen empfiehlt  sich  eine  Abweichung  von  der  Regel.  Sie  müssen 
als  zum  Hausstand  gehörig  angesehen  und,  schon  um  Befremden 
und  Verwirrung  zu  vermeiden^  in  der  Liste  ihres  Hauses  verzeichnet 
werden,  auch  wenn  sie  die  Nacht  ausser  Hause  zugebracht  haben. 
Allein  nicht  minder  sind  sie  in  der  Liste  desjenigen  Hauses  zu  ver- 
zeichnen, in  welchem  sie  um  Mittemacht  anwesend  waren.  Es  bilden 
sich  damit  Doppeleinzeichnungen,  welche  sofern  Doppelzählungen 
vermieden  werden  sollen,  zu  reduciren  sind. 

Dies  nun  wird  zunächst  durch  ein  eigenes  auf  solche  Fälle  be- 
rechnetes Verfahren  bei  der  Einzeichnung  ermöglicht.  Wer  in  der 
Liste  seines  Hauses  verzeichnet  wird,  ohne  die  Nacht  in  demselben 
zugebracht  zn  haben,  dessen  Nummer  wird  durchstrichen.  Auf  solche 
Weise  wird  der  in  der  Zählungsnacht  in  Bewegung  befindlidhe 
Theil  der  Bevölkerung  als  (vom  Hause)  abwesend  gekennzeichnet. 
Ein  ähnliches  Kennzeichen  hat  nunmehr  auch  den  in  der  Zählungs- 
nacht in  Bewegung  befindlichen  Theil  der  Bevölkerung  als  irgendwo 
(ausser  Hause)  anwesend  zu  notiren.  Daher  die  weitere  den  Zäh- 
lern zu  ertheilende  Instruction,  die  Nummer  eines  Jeden,  welcher 
die  Nacht  an  fremdem  Orte  zugebracht  hat,  zu  unterstreichen. 
Zieht  man  ferner  die  in  den  Gasthäusern,  Krügen  und  Stationen 
auszufüllenden  Listen  der  Reisenden  bei,  so  erhält  man  eine  so  voll- 
ständige Uebersicht  des  gesammten  in  Bewegung  gewesenen  Theils 
der  Bevölkerung,  als  irgend  durch  Mittel  der  Zählung  erlangt  wer- 
den kann.  Auslassungen  sind  bei  einem  solchen  Verfahren  kaum 
zu  besorgen.  Es  handelt  sich  somit  eben  nur  um  Reduction  der 
Doppeltverschriebenen. 

Diese  Reduction  wird  durch  Vergleichung  angebahnt.  Die 
Vergleichung  fasst  einerseits  die  als  vom  Hause  abwesend  Ge- 
kennzeichneten, andererseits  die  als  ausser  Hause  anwesend  Ge- 
kennzeichneten ins  Auge.  Zu  dem  Zwecke  solcher  Vergleichung 
werden  sämmtliche  in  die  letztere  Kategorie  gehörenden  Namen  in 
alphabetische  Ordnung  gebracht.  Das  weitere  Verfahren  leuchtet 
ohne  Eröterung  ein.     So  oft  ein  vom  Hause  abwesend  Verzeichneter 


Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867.  Ö39 

mit  einem  ausser  Hause  anwesend  Verzeichneten  identisch  befunden 
wird,  ist  sein  Name  aus  seiner  Hausliste  zu  streichen  und  dort 
weiter  nicht  zu  berücksichtigen,  in  der  Liste  seines  Nachtlagers  da- 
gegen beizubehalten  und  in  dessen  Summen  zu  verrechnen.  Die 
betreffende  Arbeit  wird  in  den  Städten  je  nach  Districten,  Quartalen 
und  schliesslich  für  die  ganze  Stadt  ausgeführt" 

Die  hier  in  allgemeinen  Untrissen  entwickelte^  Bestimmungen 
des  ,,Plans  der  Volkszählung"  kamen  mit  einigen  unwesentlichen 
Modificationen  bei  der  Ausführung  der  rigaer  Zählung  zur  Anwen- 
dung, und  wäre  als  die  erheblichste  dieser  Abweichungen  nur  'zu 
verzeichnen  das  Verzichten  der  Centralcommission  auf  die  Herbei- 
ziehung der  örtlichen  Polizeioffiziere  zur  Ausfüllung  der  Grundstück- 
listen,  indem  auch  diese  Arbeit  den  Quartalcommissären  zugewiesen 
wurde  und  somit  die  ganze  Zählungsoperation  ausschliesslich  den 
FreiwiDigen  oblag.  Das  Publicum  betheiligte  sich  in  erfreulichster 
Weise,  so  dass  eine  mehr  als  genügende  Anzahl  von  Zählern,  und 
zwar  aus  den  verschiedensten  Ständen  und  Berufsclassen  sich  zur 
Verfügung  stellte;  besonders  zahlreich  waren  die  sogenannten  ge- 
lehrten Stände  und  der  Handwerkerstand  vertreten.  Die  aus  den 
Gliedern  des  städtischen  statistischen  Comit^'s  und  den  Präsidenten 
der  sechszehn  Quartalcommissionen  bestehende  Centralcommission 
hatte  daher  über  ein  zahlreiches  intelligentes  Zählungspersonal  zu 
verfügen,  welcher  Umstand  natürlich  den  günstigsten  Einfluss  auf  die 
Genauigkeit  der  Ergebnisse  ausüben  musste. 

Die  Zählung  selbst,  die  nach  den  Bestimmungen  des  Zählungs- 
planes in  allen  Theilen  der  Stadt  an  einem  und  demselben  Tage,  und 
zwar  innerhalb  weniger  Stunden  desselben  durchzuführen  war,  be- 
gann in  den  ärmeren  Stadttheilen,  um  die  zum  Theil  von  Tagelohn 
lebende  Bevölkerung  möglichst  noch  zu  Hause  anzutreffen,  bereits 
um  4  Uhr  morgens,  was  um  bo  nöthiger  war,  da  die  hier  vorwiegend 
durch  die  Zähler  zu  bewerkstelligende  Eintragung  der  Angaben 
natürlich  mehr  Zeit  absorbirte,  als  das  einfache  Abholen  der  bereits 
ausgefüllten  Haushaltungslisten  in  den  vorzugsweise  von  der  gebilde- 
teren Bevölkerung  bewohnten  Stadttheilen,  in  welchen  in  Folge 
dessen  meistens  Selbsteintragung  stattgefunden  hatte. 

Die  zu  zählende  Bevölkerung  bewies,  selbst  in  den  verrufensten 
Stadttheilen,  den  Zählern  gegenüber  das  grösste  Entgegenkommen, 
so  dass,  abgesehen  von  der  auch  berücksichtigten  Abneigung  gegen 
die  Registrirung  durch  Militärpersonen,  nur  ein  Fall  von  Renitenz 
bekannt  geworden  ist.    Wenn  daher  alle  Zähler  gleichermaassen 


540  Die  Rigaer  Volktzähloiig  vom  8.  Man  1867. 

über  den  ihnen  %n  Theil  gewordenen  Empfang  sich  in  anerkennendster 
Weise  aassprechen  konnton,  so  wirkten  zn  diesem  günstigen  Resnl- 
tate  ohne  Zweifel  nicht  minder  die  lebhafte  Besprechung  der  Be- 
deutung und  des  Werthes  der  bevorstehenden  Zählung  in  der  Presse, 
als  die  sonstigen  mehrseitigen  Bemühungen  mit,  das  Misstrauen  eines 
Theiles  der  Bevölkerung  gegen  diese  Operation  zu  beseitigen.  So 
wurde  von  den  Kanzeln  der  Kirchen  herab  bekannt  gemacht,  dass 
die  Zählung  keinerlei  Steuer-  und  Rekrutirungsz wecke  im  Auge 
habe ;  es  wurde  femer  auf  Veranlassung  des  derzeitigen  livländisohen 
Gouverneurs  Dr.  Aug.  von  Oettingen  von  Seiten  des  rigaschen  RAthes 
publicirt,  dass  niemand  bei  der  Zählung  ^nach  einer  Legitimation 
gefragt  werden  würde,  wie  auch  dass  Personen,  welche  etwa  Ver- 
anlassung haben  sollten,  ihre  Anwesenheit  zu  verbergen,  in  Folge 
ihrer  Einzeichnung  in  den  Zählungslisten  zu  keinerlei  Verantwortung 
gezogen  werden  würden  und  mithin  ohne  jede  Befürchtung  sich 
könnten  mitzählen  lassen.^  Es  war  im  Interesse  der  Zählung  eine 
solche  Pnblication  um  so  nöthiger,  als  unser  anerkanntermaasen  in 
hohem  Grade  reformbedürftiges  Passwesen  zu  der  ohne  Zweifel  sehr 
begründeten  Befürchtung  Veranlassung  gab,  dass  viele  Individuen 
der  untern  Volksclassen,  aus  Furcht,  wegen  ganz  mangelnder  oder 
bereits  ungültig  gewordener  Legitimationen  belangt  zu  werden,  sich 
der  Einzeichnung  durch  zeitweilige  Entfernung  aus  der  Stadt  ganz 
entziehen  würden;  diese  Publication  zerstreute  in  endgültiger  Weise 
die  in  den  verrufeneren  Stadttheilen  anfänglich  allgemein  verbreiteten 
Gerüchte,  welche  aus  der  bevorstehenden  Zählung  eine  nur  verkappte, 
seitens  der  Behörden  beabsichtigte  grosse  Razzia  auf  alles  irgend 
Gesetzwidrige  zu  machen  geneigt  waren.  Wenn  aber  dennoch  die 
in  Riga  erscheinende  russische  Zeitung  zu  berichten  weiss,  dass  trotz 
aller  jener  Maassnahmen  zur  Beseitigung  des  Misstrauens,  nicht 
weniger  als  2 — 3000  Individuen,  welche  aus  den  verschiedenartigsten 
Gründen,  namentlich  aber  wegen  Passlosigkeit  und  verdächtiges 
Erwerbes  ihres  Lebensunterhaltes  triftigen  Anlass  gehabt,  eine  jede 
Berührung  mit  den  Behörden  sorgfältig  zu  vermeiden,  —  mit  Mundvor- 
rath  versehen,  bereits  mehrere  Tage  vor  der  Zählung  aus  der  Stadt 
in  die  umliegenden  Wälder  und  Ortschaften  gewandert  seien,  um 
erst  nach  10 — 14  Tagen  aus  ihren  Verstecken  wieder  zurückzukehren, 
so  rechnen  wir  diese  Mittheilung  getrost  zu  den  vielen  Hallucinationen, 
von  denen  das  genannte,  an  überreicher  Phantasie  laborirende  Blatt 
bekanntlich  nur  zu  oft  heimgesucht  wird,  und  durch  die  dasselbe 
bisweilen^   wie   auch   im   vorliegenden  Falle,    sehr   unabsichtlicher 


Die  Rigaer  Volkszählung  vem  3.  Ml^  1867. 


641 


Weise  die  von  ihr  vertretene  Nationalität  compromittirt :  schwerlich 
wird  die  compacte  russische  Bewohnerschaft  der  bekanntlich  vor- 
zugsweise verrufenen  Moskauer  Vorstadt  dem  „Rigaer  Westnik*  für 
die  Zumuthung^  eine  so  colosaale  Masse  von  Vagabunden  un4  Spitz- 
buben zu  beherbergen,  sehr  dankbar  sein  dürfen.  Sorgfältige  Nach- 
forschungen an  Ort  und  Stelle  haben  im  Gegentheil  stets  die  völlige 
Grundlosigkeit  aller  Gerüchte  der  obigen  Art  zur  Evidenz  nachge- 
wiesen, und"  die  erwähnten  Maassnahmen  der  Behörden  haben  somit 
gewiss  nicht  wenig  dazu  beigetragen,  die  Exactheit  des  Zählungs- 
ergebnisses zu  sichern. 

Einen  nicht  minder  günstigen  Einfluss  auf  den  ganzen  Verlauf 
der  Zählung  übten  die  Anordnung  des  Gouverneurs  v.  Oettingen, 
dass  die  Behördeif  am  Zählungstage  geschlossen  bleiben  sollten,  und 
der / Beschluss  der  Kaufmannschaft  und  des  Handwerkerstandes,  die 
Verkaufslocale  und  sonstigen  Stätten  des  täglichen  Handels  und 
Wandels  nicht  vor  12  Uhr  zu  eröfl&ien.  Es  waren  diese  Anordnungen 
sowohl  dadurch  von  höchster  Wichtigkeit,  dass  die  störende  räum- 
liche Bewegung  der  Bevölkerung  sehr  gemindert  wurde,  als  auch 
durch  die  nur  auf  diesem  Wege  zu  ermöglichende  zahlreiche  Bethäti- 
gung  der  Beamten,  Eaufleute  und  Handwerker  als  freiwillige  Zähler. 

Nachdem  wir  im  Bisherigen  die  wichtigsten  Bestimmungen  des 
Planes  der  Volkszählung  erörtert  und  über  den  Verlauf  derselben 
berichtet,  gehen  wir  in  Folgendem  über  zur  Darstellung  der  haupt- 
sächlichsten Zählungsergebnisse,  die  wir  unseren  Lesern  zunächst 
in  der  kürzesten  Darstellungsform,  der  tabellarischen  vorführen,  um 
sodann  unsere  Bemerkungen  und  Erläuterungen  daran^zu  knüpfen« 

Tabelle  L 

Summarische  Gliederung  der  Einwohner  nach  Civil-  und 

Militär  -  Bevölkerung  : 


In  der 


Oesammt- 
Bevdlkemng. 

1^8.     i    in  Vo« 


Cinl- 
Bevölk^nng. 

s)>s.    I   m  %. 


Militär- 
3eyQlkeruiif. 


abs. 


in  %. 


Stadt.  . 
Petersß.  Vörst. 
Mosk.  VoTst. 
Mitauer  Vorst. 


18,216 
27,155 
41,348 
15,871 


17,T 

36/5 

15,5 


17,094 
34,493 
89,338 
14,894 


17,8 
3$,6 

41„ 

15,5 


1,133 
3,662 
2,030 

977 


16« 
Zda 
39„ 
14h 


Total 


103,590    100,0      95,809 


100 


10 


6,781 


100 


>o 


542 


Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867. 


Tabelle  IL 
Gliederung  <ier  Gesammtbevölkerung  nach  dem  Geschlecht. 


In  der 


Stadt     .     .     . 
Petersb.  Vorst. 
Mosk.   Vorst. 
Mitauer  Vorst. 


Männliches  Ge- 
schlecht 

abs.      I    in  %. 

17„ 
27,0 
39,4 
16,0 


Weibliches  Ge- 
schlecht. 

abs.     1     in  % 


Auf  je  100  kommen 
somit 

männl.  i    weibl. 


9,180 
14,033 
20,510 

8,324 


9,036 
13,122 
20,838 

7,547 


17,0 
26,0 
41„ 

14,9 


49,« 
48,3 
50,4 
47,6 


Total  . 


52,047 


100 


>o 


50,543 


100 


to 


50„ 


49 


/3 


100 


'0 


Tabelle  III. 

Summarische  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  dem  Familienstande, 

für  Civil  und  Militär  geschieden. 


Gesammt-Be- 

Civil- 

MiUtär- 

Familienstand. 

völkening. 

Bevölkerung. 

Bevölkernng. 

abs.          in  %• 

abs.         in  %. 

abs.          in  %. 

Ledig   .... 

59,746 

58,a 

55,453 

57,9 

4,293 

63,3 

Verheirathet .     . 

34,065 

33,j 

31,650 

33,0 

2,415 

35,6 

Verwittwet    .     . 

8,402 

8,a 

8,333 

8„ 

69 

1,0 

Geschieden    .     . 

377 

0,4 

373 

0,4 

4 

0„ 

^      Total  .     .     . 

102,590 

100,0 

95,809 

100,0 

6,781 

100,0 

Tabelle  IV. 

Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Familienstand  und  Geschlecht, 

für  Civil  und  Militär  geschieden. 


Familienstand. 


Gesammt-Be- 
völkerung. 

[  inännl.  |    weibl. 


CivU- 
Bevölkerung. 

männl.  I    weibl. 


Uilitär- 
Bevölkerung. 

männl.    |    weibl 


Ledig  .  .  . 
Verheirathet . 
Verwittwet  . 
Geschieden    . 


32,535 

18,134 

1,262 

116 


27,211 
15,931 

7,140 
261 


28,768 

16,437 

1,209 

112 


26,685 

15,213 

7,124 

261 


3,767 

1,697 

53 

4 


526 

718 

16 


Total  .     . 


52,047    50,543    46,526    49,283      5,521      1,260 


Die  Rigae^  Volkszählung  vom  3.  März  1867. 


543 


Tabelle  V. 

Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Familienstand  und  Geschlecht,  für 
Civil  und   Militär  geschieden,   in  Proc.  auf  Grundlage  der  Tab.  IV. 


Gesammt'Be- 

Civil- 

Hilitär- 

Familienstand. 

völkerung. 

BevÖlkemng. 

Bevölkerang. 

männl. 

weibl. 

männl.        weibl. 

m&nnl. 

1    weibl. 

Ledig   .... 

62,5 

53,0 

61,8 

54„ 

68,a 

41„ 

Verheirathet .     . 

34,0 

31,5 

35;3 

30,9 

30„     i     57,0 

Verwittwet    .     . 

2.4 

14m 

2/6 

14,5 

1.0 

1.3 

Geschieden    .     . 

0,2 

0,5 

0,3 

0„ 

o„ 

Total  .     .     . 

IOOk, 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

Tabelle  VI. 
Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Familienstand  und  Geschlecht,  für 

Civil  und  Militär  geschieden, 
in  Prfccenten  auf  Grundlage  der  Tabelle  IV. 


Familienstand. 


Es  kom^men  auf  je  100  Individuen  der 


Gesammt-Be- 
völkerung 


Civil- 
Bevölkerung 


Militär- 
Bevölkerung 


männl.  I    weibl.    1    männl.  ,    weibl.    .  männl.    j    weibl. 


Ledig   .     . 
Verheirathet 
Verwittwet 
Geschieden 


54„ 
53,j 

15,0 
30,8 


45,5 
46,8 
85,0 
69,j 


51,9 

48„ 

87„ 

51,» 

48„ 

70,3 

14,5 

85,5 

76,8 

:     30,3 

69„ 

100,0 

12,3 

29„ 
23,2 


Total  . 


50,7     I     49.3 


100 


,0 


48 


,6 


51,4 


100,0 


81,4 


18 


/S 


100,0 


Tabelle  VII. 
Summarische  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  ihrer  Nationalität: 


In  der 

Deutsche. 

Roggen. 

Letten. 

Egten. 

Jaden. 

Andere. 

Total. 

Stadt.     .     .     . 
Pet.  Vorst. .     . 
Mosk.  Vorst.   . 
Mitauer  Vorst. 

12,300 

11,896 

13,022 

6,762 

2,072 

4,901 

16,408 

2,391 

2,790 
8,633 
7,363 
5,413 

191 

389 

242 

50 

388 

602 

3,385 

879 

475 
734 
928 
376 

18,216 
27,155 
41,348 
15,871 

Total     .     . 

43,980 

25,772 

24,199 

872 

5,254 

2,513 

102,590 

»44 


Die  Rigaer  Volks^sählung  vom  3.  U^rz  1867. 


Tabelle  VIII. 

Sanimarische  Gliederung  der  Berölkerung  nach  ihrer  Nationalität, 
in  Procenten  auf  Grundlage  der  Tabelle  VII. 


la  der 

Deutsche. 

Kassen. 

Letten. 

Esten.  Juden. 

Andere. 

Total. 

Staat.    .    ,    . 

28,0 

8,0 

11« 

2U 

7,4 

18„ 

17rt 

Pet.  Vorst. .     . 

< 

27,0 

19,0 

35„ 

44„ 

11,5 

29« 

26,5 

Mosk.  Vorst.   . 

29,« 

68„ 

30,4 

27,8 

64,4 

36„ 

40,3 

Hitauer  Vorst. 

15,5 

"f3 

22,4 

5n 

16„ 

15,0 

18,5 

Total    .     .     . 

100,0 

100«, 

100,0 

100,0 

100,0 

100«, 

100«, 

Tabelle  IX. 

Summarische  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  ihrer  Nationalität 
in  Procenten  auf  Grundlage  der  Tabelle  VII. 


In  der 

Deutsehe. 

Russen. 

Letten. 

Esten. 

Juden. 

Andere. 

Total. 

Stadt.     .     .     . 

67,5 

11,4 

15«  • 

1,. 

2„ 

2,6 

100h, 

Pet.  Vorst..     . 

43,8 

18„ 

31,8 

u 

2,2 

2„ 

100,0 

Mosk.  Vorst.    . 

31,5 

39„ 

17,8 

0,e 

8,2 

2,2 

100k, 

Mitauer  Vorst. 

42,8 

15„ 

34„ 

0,, 

5«, 

2,4 

100,0 

Total    .     .     . 

42„ 

25„ 

23«, 

0,8 

5„ 

2'» 

100,0 

Tabelle  X. 

Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Nationalität  und  Geschlecht, 

für  Civil  und  Militär  geschieden. 


■ 

Civil-Be- 

Militär- 

Civü- 

Uilitttr- 

Kationalitttt. 

völ- 

Bevöl- 

Berölkerang. 

Bevölkerong. 

kerung. 

kerung. 

mftnnl.      weibl. 

nüuuil.  1    weibl. 

Deutsche  .     .     . 

43,(S46 

434 

20.410 

28,136 

262 

172 

Russen.     .     .     . 

21,275 

4,497 

10,573 

10,702 

3,847 

650 

Letten  .... 

23,264 

935 

11,473 

11,791 

701 

234 

Esten    .     .... 

628 

244 

369 

259 

204 

40 

Juden  .... 

4,990 

264 

2,612 

2,376 

157 

107 

Andere     .     .     . 

2,106 

407 

1,089 

1,017 

350 

57 

Total  .     .     . 

95,809 

6,781 

46,526 

49,283 

5,521 

1,260 

Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  186T. 


545 


Tabelle  XL 

Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Nationalität  und   Geschlecht,  fär 

Civil  und  Militär  geschieden, 
in  Procedten  auf  Grundlage  der  Tabelle  X. 


=s=MBi                Mr-n-H'f== 

Von  der  Gesammt- 

CivU- 

Mili- 

Civil- 

HUitär- 

Ifl^ationalität. 

Bevölkernng 
kommen  auf 

Be- 
völke- 

tärbe- 
völke- 

Be- 
völkerung. 

Be- 

▼ülkerung. 

Civil.       Militär. 

i-ang. 

rung. 

niännl.  weibl. 

männl.  weibl. 

Deutsche  .     . 

42,, 

0,4 

45,4 

6,4 

43„ 

47,0 

4.8 

13., 

Russen .     .     . 

20„ 

4,4 

22„ 

66,3 

22„ 

21„ 

69„ 

51,6 

Letten  .     .     . 

22,, 

0,9 

24,3 

13,« 

24„ 

23,9 

12„ 

18,5 

Esten    .     .     . 

0;6 

0,a 

o„ 

3,6 

0,8 

0,5 

3„ 

3,2 

Juden   .     .     . 

4„ 

o„ 

5,2 

3„ 

5,6 

4,e 

2,8 

8,5 

Andere^     ,     . 

2,, 

0,4 

2,2 

6rt> 

2,3 

2„ 

6,3 

4,5 

Total  .     . 

93,4 

6/6 

100,0 

100«. 

lOOrt, 

100,« 

100,0 

100,0 

10 

Ort» 

Tabelle  XIL 

Gliederung  der  Bevölkerung  nach  Nationalität  und  Geschlecht, 

für  Civil  und  Militär  geschieden, 
in  Procenten  auf  Grundlage  del*  Tabelle  X. 


Von  je  100  Jndividi 

uen 

Bei  den 

d.  Gesammtbevöl- 

der  Civilbevöl- 

der  Militärbevöl- 

kerung kommen  auf 

kerung  sind 

kerung  sind 

Civü.       Militär: 

männl.      weibl. 

männl.       weibl. 

Deutschen      .     . 

99,0 

1,0 

46rt, 

53„ 

76,0 

24,0 

Russen.     .     .     . 

82,5 

17,4 

49„ 

50,3 

85,5 

14,5 

Letten  .... 

96„ 

3,9 

49,3 

ßo„ 

75k> 

25rt) 

Esten    .... 

72,0 

28,0 

58,8 

41„ 

83,e 

16,4 

Juden  .... 

95,0 

.5,, 

52,3 

47„ 

59,5 

40,8 

Anderen    .     .     . 

83,8 

16„ 

51,7 

48,3 

86,0 

14rt> 

Total  .     .     . 

93,4 

6rti 

48.6, 

51,4 

81,4 

18,, 

10 

0,e 

10 

0,0 

10 

0,. 

546 


Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867. 


Tabelle  XIII. 
Gliederung   der  Bevölkerung  nach  ihrer  Confession. 


'Es     wurden    gezählt: 


In  der 

Pro- 
testan- 
ten. 

Griech. 
Ortho- 
doxe. 

Alt- 
gläu- 
bige. 

Röm.- 

Katholi- 

sche. 

Juden. 

Anderer 
Religion 
u.  ohne 
Angabe. 

Total. 

Stadt  .     .     . 
Pet.  Vorst.  . 
Mosk.  Vorst. 
Mit.  Vorst.  . 

14,560 
19,518 
18,730 
11,430 

2,231 
5,141 
9,604 
2,068 

112 
255 

6,738 

487 

897 
1,627 

2,872 
988 

388 

602 

3,385 

879 

28 
12 
19 
19 

18,216 
27,155 
41,348 
15,871 

Männlich 
Weiblich 

31,137 
33,101 

11,679 
7,365 

3^021 
4,571 

3,372 
3,012 

2,779 
2,475 

59 
19 

52,047 
50,543 

Total    . 

64.238   19,044 

7,592 

6,384 

6,5 

6/0 

5,254 

78 

102.590 

Männlich  . 
Weiblich   . 

• 

• 
0 

0 

o 

d 
(—1 

59,8 
65,5 

22,» 

14,6 

5,8 

9,0 

5,4 

4,9 

0,0- 

100,0 
100,0 

Total     . 

62,5 

18,6 

7,4 

6,2 

5,. 

0,,' 

100.0 

Männlich  .^ 
Weiblich  . 

48,5 

51,5 

100,0 

61,3 

38„ 

39, g 
60„ 

52,8 

47  „ 

52,0 

47„ 

75,6 
24,4 

50„ 
49,3 

Total     . 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

Tabelle  XIV. 
Gliederung  der  Bevölkerung  nach  ihrer  Hingehörigkeit. 


Es    waren    hingehörig    nach: 


In  der 

• 

Riga. 

Liv-,Est- 

und 
Kurland. 

Anderen 
Gouv. 
Russl. 

Deutsch- 
land. 

Dem 
sonstig. 
Ausland. 

Un- 
bekannt. 

Total. 

Stadt  .     .     . 
Pet.  Vorst. . 
Mosk.  Vorst. 
Mit.  Vorst.  . 

11,298 

17,143 

27,337 

9,950 

4,155 
6,864 
7,921 
4.046 

1,162 

1,509 

4,257 

986 

1,087 
1.244 
1,403 
•  693 

245 

254 
260 
160 

269 
141 

170 
36 

18,216 
27,155 
41.348 
15,871 

Männlich 
Weiblich 

30,990 
34,738 

12,388 
10,598 

5,234 
5,680 

2,486 
1,941 

480 
439 

469 
147 

52,047 
50^543 

Total    . 

65,728 

22,986 

7,914 

4,427 

919 

616 

102,590 

Männlich  . 
Weiblich  . 

• 

0 

o 

o 
u 

0 

> 

59,5 
68„ 

23,8 
21,0 

io„ 

5,3 

4,8 
3^8 

0,9 
0,9 

0,9 
P,3 

100«, 
100,0 

Total     . 

64„ 

22,4 

7,7 

4,3 

0,9 

0,6 

100,0 

Männlich  . 
Weiblich  . 

47„ 
52^ 

53,9 
46„ 

66„ 
33,9 

56,2 
43,8 

52,2 
47.8 

76„ 
23,9 

50„ 
49,3 

Total     . 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0 

100,0        100,0 

Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867. 

Tabelle  XV. 
Gliederung  der  Bevölkerung  nach  dem  Alter. 


547 


Alters- 
classen. 

Gesammt-Bevölkerang. 

Auf  je  100  Individuen 

Beide  €te- 
schlechter. 

männliche. 

1 

weibliche. 

kommen 
männliche,      weibliche. 

0—  1  Jahr. 

2,566 

1,258 

1,308 

49,0 

51,0 

1-  2     „ 

2,016 

982 

1,034 

48„ 

51,3 

2-  3     „ 

2,105 

1,046 

1,059 

49„ 

50,3 

3-4     „ 

2,099 

1,058 

1,041 

50,4 

49„ 

4-  5     , 

2,017 

1,023 

994 

50„ 

49,3 

0 —  5  Jahr. 

10,803 

5,367 

5,436 

49„ 

50,3 

5-10     „ 

8,831 

4,391 

4,440 

49„ 

50,3 

10     15     „ 

7,918 

4,070 

3,848 

51,4 

48,6 

15     20     „ 

8,965 

4,494 

4,471 

50„ 

49,0 

20     25     „ 

9,302 

4,963 

4,339 

53,4 

46,6 

25—30     „ 

10,127 

5,659 

4,468 

55,9 

44,. 

30—35     , 

9,316 

5,046 

4,270 

54,j 

45,8 

35-40     „ 

8,629 

4,606 

4,023 

53,4 

46,6 

0—10  Jahr. 

19,634 

9,758 

9,876 

49„ 

50,3 

10     20     , 

16,883 

8,564 

8,319 

50„ 

49,3 

20-30     , 

19,429 

10,^22 

8,807 

54„ 

45„ 

30    40     , 

17,945 

9,652 

8,293 

53,8 

46,2 

40     50     „ 

13,178 

6,779 

6,399 

51,4 

48,6 

50     60     „ 

8,076 

3,776 

4,300 

46,8 

53,2 

60     70     „ 

4,772 

1,889 

2,883 

39,e 

60,4 

70     80     , 

1,902 

632 

1,270 

33,2 

66,8 

80—90     „ 

463 

144 

319 

31„ 

68,9 

über  90     „ 

79 

18 

61 

22,8 

77,2 

ohne   Angabe 

229 

213 

16 

9ö,o 

7,0 

0     15  Jahr. 

27,552 

13,828 

13,724 

50,, 

49,8 

15—60     „ 

67,593 

35,323 

32,270 

52,3 

47„ 

über  60     „ 

7,445 

2,896 

4,549 

38,9 

61,, 

Total     . 

102,590 

52,047 

50,543 

SO^TI 

49,3 

IC 

•0,0 

646 


Die  Bigaer  VolkBzfthlang  vom  3.  Mars  1807. 


Tabelle  XVL 

Gliederung  der  BeTölkerung  nach  dem  Alter,  in  Procenten  auf 

Grundlage  der  Tabelle  XV* 


Altett- 

GeMOubt-Bevölk^raüg« 

Von  der  Geaammt- 
Bevölkemng  kommen  in 

elassen. 

beide  Ge- 
schlechter. 

männlich. 

weiblich. 

Procenten  anf 
männlich.       weiblich 

0—  1  Jahr. 

2.5 

2,4 

2„ 

u 

1,3 

1-  2     , 

2,0 

1.« 

2,0 

u 

Irt. 

2-  3     , 

2/0 

2,0 

2„ 

1,0 

Irt. 

3-  4     , 

2,0 

2#o 

2., 

Irt) 

Irt, 

4-  6     , 

2.0 

K 

1 

^19 

1,0 

Irt. 

0—5  Jahr, 

10, 

io„ 

10., 

5., 

6,3 

5-10     , 

8m, 

8,4 

8/8 

4„ 

4,3 

10-15     ^ 

7^ 

7,8 

7„ 

4rt) 

8n 

15-20     , 

8« 

8,« 

8rt, 

4,4 

4,. 

20—25     „ 

9„ 

9,5 

8.« 

4rt, 

4,3 

25—30     „ 

9„ 

10., 

8/9 

5,5 

4.« 

30—35     „ 

9„ 

9„ 

8,4 

4„ 

4.3 

35—40     „ 

8,4 

8„ 

8/0 

4* 

3,. 

0—10  Jahr. 

19., 

18„ 

19,5 

9,5 

9rt, 

10-20     , 

16.4 

16,4 

16,5 

8„ 

8„ 

20-30     „ 

19,0 

20,4 

•     17,4 

10^ 

-       8rt, 

30—40     « 

17,5 

18„ 

16.4 

9.4 

8„ 

40-50     ^ 

12.« 

13,0 

12„ 

6rt, 

6,2 

50—60     „ 

7„ 

7,3 

8,5 

3„ 

*n 

60—70     „ 

4„ 

3-, 

5„ 

U 

K 

70—80     ^ 

1.9 

U 

2,5 

Ort, 

1.3 

80—90     , 

Om 

0„ 

o„ 

0., 

0,3 

über  90     , 

o„ 

Ort) 

0,. 

Ort) 

o„ 

ohne  Angabe 

0,» 

0,4 

Ort) 

o„ 

0,0 

0-15  Jahr. 

26,s 

26,9 

27,1 

13,4 

13,4 

15-60     „ 

65„ 

67„ 

69^ 

34,4 

31,5 

über  eo     „ 

7,3 

5,« 

^/O 

i.s 

4,5 

Total     . 

100h» 

100,« 

100,0 

50„ 

49h 

IC 

•Ort, 

Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867.  549 

Die  vorstehenden  16  Tabellen  geben  Aufschluss  über  eine  An- 
zahl der  interessantesten  allgemeinen  Ergebnisse  der  rigaer  Volks- 
zählung; auf  die  auszugsweise  Wiedergabe  der  in  den  ^Resultaten** 
in  äusserst  speciellen  Combinationen  durchgeführten  Gliederung  der 
Bevölkerung  nach  dem  Beioif,  sowie  auf  eine  Anzahl  anderer  com- 
binirter  Darstellungen  musste  hier  aus  räumlichen  Gründen  ver- 
zichtet werden.  —  Es  wird  nun  in  Folgendem  unsere  Aufgabe  sein, 
durch  einige  kurze  Erläuterungen  und  ergänzende  Bemerkungen 
den  im  Lesen  statistischer  Tabellen  weniger  Geübten  das  Verständniss 
der  mitgetheilten  Zählungsergebniöse  zn  erleichtern. 

Es  wurden  (s.  Tabelle  I  und  II)  am  3.  März  1867  in  allem 
102,590  Bewohner  Riga's  gezählt.  Diese  Zahl  weicht  ziemlich  be- 
deutend ab  von  den  auf  anderem  Wege  ermittelten  amtlichen  An- 
gaben, welche  für  das  Jahr  1866  die  Bevölkerungszahl  auf  nur 
81,750,  für  1867  freilich  aber  schon  auf  97.672  Einwohner  feststellen. 
Die  bedeutende  Verschiedenheit  der  beiden  letzteren  Angaben  lässt 
auf  grosse  Unzuverlässigkeit  der  amtlichen  Ermittelungen,  wenigstens 
für  die  früheren  Jahre,  schliessen;  doch  verdient  bemerkt  zu  wer- 
den, dass  die  polizeiliche  Angabe  für  die  männliche  Bevölkerung 
des  Jahres  1867  fast  völlig  übereinstimmt  mit  den  Zählungsergeb- 
nissen (52,056  gegen  52,047),  die  Differenz  der  Gesammtzahlen  somit 
nur  durch  die  unvollständige  Ermittelung  der  weiblichen  Be- 
wohnerschaft (45,616  statt  50,543)  bedingt  worden  ist.  Wir  begegnen 
hier  wiederum  jener  eigenthümlichen  amtlichen  Vernachlässigung 
des  weiblichen  Geschlechtes,  die  schon  zu  manchen  Irrthümern  in 
der  Populationistik  Veranlassung  gegeben  hat:  so  wurden  beispiels- 
weise zwei  der  Hauptbegründer  dieser  Wissenschaft,  Hoffmann  und 
Gioja,  durch  unrichtige  Angaben  über  das  Geschlechtsverhältniss  der 
Geborenen  und  Gestorbenen,  und  zwar  ersterer  in  Betreff  der  jüdi- 
schen Neugeborenen  Preussens,  letzterer  durch  die  älteren  Daten 
des  Synods  über  die  Bevölkerungsbewegung  Russlands  getäuscht  und 
zu  falschen  Folgerungen  verleitet. 

Auffallen  muss  die  relativ  geringe  Bevölkerung  der  eigentlichen 

Stadt   im   Vergleich    zu   den   Vorstädten:    abgerechnet    die  in    der 

Citadelle  wohnhaften  1,215  Personen  betrug  die  Bewohnerzahl  der 

Stadt  nur  17,001,  d.  h.  16^%  der  Gesammtbevölkerung  Riga's,  — 

und  auch  mit  Einrechnung  der  Citadelle  entfallen  auf  die  Stadt  (nach 

Tabelle  I)  nur  17,7  7o«      Der    Grund    hierfür    ist  vorzugsweise    in 

dem  Umstände  zu  suchen,  dass  der  genannte  Theil  Riga's  von  der 

durchschnittlich  relativ  weitaus  wohlhabendsten  und  daher  gesteigerte 
Baltische  Monat08ehrif^  K.  Folge,  Bd.  I,  Heft  11  u.  12.  37 


550  Die  Rigaer  Volkszählung  vom  8.  März  1867. 

Ansprüche  ron  Wohnungsbequemlichkeit  machenden  Bevölkerung 
bewohnt  wird,-  dass  femer  die  zahlreichen  und  weitläufigen  Ge- 
schäftslocale  und  öffentlichen  Gebäude  einen  grossen  Theil  des 
Raumes  absorbiren.  *) 

Die  Militärbevölkerung  ist  nicht  ganz  gleichförmig  über  die  ge- 
sammte  Stadt  verbreitet :  die  petersburger  Vorstadt  beherbergt  relativ 
(und  absolut)  am  meisten  Militär,  die  moskauer  Vorstadt  relativ  am 
wenigsten,  üebrigens  unterliegt  bei  der  grossen  Beweglichkeit  der 
Militärbevölkerung  dieses  Verhältniss  häufigen  Veränderungen. 

Das  Geschlechtsverhältniss  der  Gesammtbevölkerung  (50^7  % 
männl.  gegen  49,3%  weibl.)  weicht  stark  von  dem  aus  der  amtlichen 
Angabe  über  die  gleichzeitige  Bevölkerung  ganz  Livland's  resultirenden 
Verhältniss  (48,4%  männl.  gegen  hl^  %  weibl.)  ab;  letzteres  stimmt 
dagegen  fast  genau  mit  den  für  die  Civilbevölkerung  Riga's  gelten- 
den (4S^  %  männl.  gegen  51,4  %  weibl.)  überein,  während  die 
Militärbevölk  <^rung  erklärlicherweise  ein  überaus  starkes  Ueber- 
wiegen  des  männlichen  Geschlechtes  (81,4  %  männl.  gegen  18,«  % 
weibl.)  aufweist  (vergl.  Tab.  XII).  —  Die  einzelnen  Theile  Riga*s 
zeigen  auch  hier  grosse  Verschiedenheiten,  und  zwar  weichen  die 
moskauer  und  die  mitauer  Vorstadt  am  meisten  vom  Mittel  ab, 
erstere  mit  einem  Minus,  letztere  mit  einem  Plus  für  die  männüche 
Bevölkerung.  Für  die  moskauer  Vorstadt  liegt  der  Grund  dafür 
in  der  besonders  zahlreichen  altgläubigen  Bevölkerung  derselben 
(s.  Tab.  XIII.),  die  (für  ganz  Riga)  das  eigenthümliche  Verhältniss 
von  39,8  %  männl.  gegen  60,2  %  weibl.  zeigt.  Das  relativ  starke 
Ueberwiegen  des  männlichen  Geschlechts  in  der  mitauer  Vorstadt 
erklärt  sich  dagegen  vorzugsweise  durch  das  besonders  ungünstige 
Geschlechtsverhältniss  bei  der  dortigen  Militärbevölkerung  (90,9  % 
männl.  gegen  nur  9,i  %  weibl.)  sowie  durch  das  Zuströmen  männ- 
Ucfaer  Schiffsarbeiter. 

Die  Gliederung  der  Bevölkerung  nach  dem  Familienstande 
(Tab.  in — VI)  zeigt  manche  Abnormitäten,  und  zwar  nicht  nur  beim 
Militär,  wo  abweichende  Verhältnisse  nicht  auffallen  können,  sondern 
auch  bei  der  Civilbevölkerung.  Gehen  wir  zunächst  auf  die  letztere 
ein,  so  ist  es  jedenfalls  als  Unnatur  zu  bezeichnen,  dass  bei  den 
Verfaeiratheten     an    Zahl    das    männliche    Geschlecht,     und    zwar 


•)  Ueber  die  grellen  Yerschiedenheiten  der  Wohnungsverhältnisse  der  ein- 
zelnen Theile  Riga's  vergl.  die  „Gebäudestatistik  der  Stadt  Riga  für  das  Jahr 
1866,  herausgegeben  von  Fr.  v.  Jung-Stilling.« 


Die  Rigaer  YolksEählung  vom  8.  Mära  1867.  551 

bedeutend,  tiberwiegt  (51,9  %  männl.  gegen  48,i  %  weibl.),  so  da« 
selbst  unter  der  ohne  Zweifel  nicht  zutreffenden  Voraussetzung,  dass 
sämmtliche  Männer  der  15,213  Frauen  ebenfalls  in  Riga  lebten, 
sich  doch  noch  1,224  verheirathete ,  von  ihren  Familien  getrennte 
Männer  daselbst  aufhielten.  —  In  genau  demselben  Verhältniss  tiber- 
wiegt auch  bei  den  Ledigen  das  männliche  Geschlecht.  Der  Zu- 
wachs, den  die  Bevölkerung  Riga's  durch  von  auswärts  herstam- 
mende Schüler,  Lehrlinge,  Arbeiter  u.  s.  w.  erfährt,  veranlasst  ohne 
Zweifel  diese  Verhältnisse:  Tabelle  XtV  zeigt,  däss  bei  allen  nach 
Riga  nicht  hingehörigen  Einwohnern  das  männliche  Geschlecht  sehr 
stark  tiberwiegt,  während  für  die  eigentlichen  Hingehörigen  der  Stadt 
das  gerade  entgegengesetzte  Verhältniss  eintritt.  —  Wenn  nun  aber 
trotz  alledem  bei  der  Civilbevölkerung  im  Ganzen  dennoch  das 
weibliche  Geschlecht  überwiegt,  so  wird  (abgesehen  von  den  0,4% 
der  Geschiedenen)  dieser  Effect  hervorgerufen  durch  den  Umstand, 
dass  von  den  zahlreichen  (8^333)  Verwittweten  nicht  weniger  als 
8Ö/5  %  (7,124)  auf  das  weibliche  Geschlecht  entfallen,  d.  h.  es  wur- 
den nahezu  sechsfach  mehr  Wittwen  als  Wittwer  gezählt«  Auch  der 
Geschiedenen,  die  aber  ihrer  relativ  geringeren  Zahl  wegen  hier 
weniger  ins  Gewicht  fallen,  giebt  es  'noch  nicht  halb  so  viel  Männer 
als  Frauen.  Trotz  der  bekannten  Thatsache,  dass  Wittwer  und  ge- 
schiedene Männer,  selbst  vorgerückteren  Alters,  selir  viel  häufiger 
zu  erneuten  Ehen  schreiten,  als  die  Frauen  der  entsprechenden 
Kategorie,  —  muss  doch  die  grosse  Anzahl  der  letzteren  (15  %  der 
weiblichen  Civilbevölkerung)  auffallen,  und  zwar  um  so  mehr,  als 
beispielsweise  in  Reval,  wo  nach  Kluge's  „Biostatik"  von  1834  bis 
1862  gegen  1,383  Wittwer  nicht  weniger  als  1192  Wittwen  von 
neuem  heiratheten,  offenbar  in  dieser  Hinsicht  ganz  andere  Verhält- 
nisse herrschen. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Militärbevölkerung,  so  bemerken 
wir  im  Voraus,  dass  zu  derselben  bei  der  Zählung  jedenfalls  nur 
das  aetive  Militär  (mit  Ausschluss  der  Urlauber  und  der  Verabschie- 
deten) sowie  entsprechend  die  Frauen  und  Kinder  solcher  Militär- 
personen (a^ich  der  nicht  in  Riga  anwesenden)  gerechnet  worden 
sind.  Nur  unter  der  Voraussetzung,  dass  dieses,  wenn  consequent 
durchgeföhrt,  wohl  auch  nicht  unrichtige  Princip  bei  der  Registrirung 
eingehalten  worden,  lassen  sich  die  Zählungsergebnisse  und  die  Ab- 
weichungen derselben  von  der,  im  Uebrigen  offenbar  noch  höchst 
Itickenhaften  polizeilichen  Angabe   tiber  die  Militärbevölkerung  des 

Jahres  1867    erklären.     Die    letztere  entziffert:  reguläre  Truppen: 

37* 


552  Die  Bigaer  Yolkszählnng  vom  3.  März  1867. 

5,401  m.,  Beurlaubte:  1^32  m.,  verabschiedete  Untermilitärs  mit  ihren 
Familien:  1,345  männl.  und  3,286  weibl.,  endlich  Soldatenkinder 
und  Cantonisten:  827  männl.,  —  zusammen:  8,705  männl.  und  3,286 
weibl.  Es  fehlen  aber  in  dieser  Aufzählung  die  in  Riga  sich  auf- 
haltenden Familien  der  zu  den  aufgeführten  „regulären  Truppen" 
gehörigen  Personen  und  der  Beurlaubten,  sowie  die  zurückgebliebenen 
Familien  der  nicht  in  Riga  stationirten  Militärs.  Als  „reguläre 
Truppen"  werden  in  den  Polizeiberichten  für  die  Jahre  1864 — 1869 
in  veränderlicher  Zahl  4,764  —  6,322  Mann  aufgeführt,  —  die  bei 
der  Zählung  registrirten  5,521  Militärpersonen  gehören  daher  wohl 
ausschliesslich  den  „regulären  Truppen*  (incl.  die  Soldatenkinder 
und  Cantonisten?)  an^  und  sind  demgemäss  die  als  zur  weiblichen 
Militärbevölkerung  Riga's  gehörig  verzeichneten  1,260  Personen  zu 
betrachten  als  die  Frauen  und  Töchter  der  zu  den  (in-  und  ausser- 
halb Riga's  stationirten)  „regulären  Truppen"  Gehörigen ;  die  Söhne 
derselben  wären  darnach  mit  enthalten  in  der  Rubrik  der  ledigen 
männlichen  Militärbevölkerung.  Die  „Beurlaubten^  und  „Verab- 
schiedeten" der  Polizeiberichte,  sowie  deren  Familien  sind  ersicht- 
licher Weise  einfach  nur  in  derjenigen  Berufskategorie  (der  Mehrzahl 
nach  wohl  als  „Arbeiter")  verzeichnet  worden,  der  sie  sich  vorzugs- 
weise gewidmet  hatten. 

Die  Familienstandsverhältnisse  der  gezählten  Militärbevölkerung 
sind  ganz  abnormer  Natur:  die  weibliche  Bewohnerschaft  kann  nur 
zum  Theil  als  zu  der  stationirten  männlichen  gehörig  betrachtet 
werden,  und  ist  daher  der  im  Vergleich  zur  weiblichen  Civilbevöl- 
kerung  colossal  hohe  Procentantheil  der  Verheiratheten  (57^®/o  gegen 
30;9%)  nur  durch  das  temporäre  Cölibat  eines  Theiles  der  „Soldaten- 
weiber", und  aus  deren  daher  nur  geringer  Einderzahl  zu  erklären. 
Der  Procentantheil  der  ledigen  Männer  übersteigt  begreiflicherweise 
bedeutend  die  Angabe  der  entsprechenden  Rubrik  für  die  Civilbe- 
völkerung  (68^  7o  gegen  61^8  7o). 

Die  Darstellung  der  Gliederung  der  Bevölkerung  Riga's  nach 
Nationalitäten  (in  den  Tabellen  VII— XIV)  bedarf  nur  weniger  er- 
läuternder Bemerkungen.  Wir  ersehen  zunächst,  dass  die  deutsche 
Bevölkerung  (43,990)  in  wechselnden  Antheilen  (15,*  %  —  29^  7o) 
über  alle  Theile  Riga's  verbreitet  ist,  da^s  sie  ferner  mit  67,5%  die 
absolute  Majorität  hat  in  der  in  allen  Stücken  maassgebenden 
eigentlichen  Stadt  (incl.  Citadelle),  und  ausserdem,  die  relative  in 
der  Gesammtbevölkerung  und  in  zwei  Vorstädten:  der  Petersburger 
und    der   mitauer.   —   Die  russische  Bevölkerung  (25,772)  wohnt 


Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867.  553 

vorzugsweise  in  der  moskauer  Vorstadt  (63,x  VoJ,  und  hat  in  der- 
selben auch  mit  39,7%  die  relative  Majorität.  —  Die  Vertheilung 
der  lettischen  Bevölkerung  (24,199)  bietet  wenig  Charakteristisches ; 
relativ  der  grösste  Procentantheil  derselben  (35;7  %)  wohnt  in  der 
Petersburger  Vorstadt,  —  die  relative  Majorität  hat  sie,  wie  aus 
Obigem  hervorgeht,  in  keinem  der  Theile  der  Gesammtstadt.  —  Die 
jüdische  Bevölkerung  (5,254)  ist  (mit  64,4%  derselben)  vorzugs- 
weise in  der  moskauer  Vorstadt  concentrirt.  —  Die  Esten  und 
„Anderen^  kommen  wenig  in  Betracht.  —  Die  absolute  Majorität 
der  Deutschen  in  der  eigentlichen  Stadt  tritt  noch  auffälliger  hervor, 
wenn  die  einzig  nur  militärischen  Zwecken  dienende  Citadelle  aus- 
geschieden wird:  es  kommen  dann  auf  eine  Bevölkerung  von  17,001 
Personen  12^210  (71,8  7o)  Deutsche,  1,257  (7,^  7o)  Russen,  2,632 
(15,5%)  Letten  (meist  der  dienenden  Classe  angehörig:  vergl.  Tab.  43 
der  „Resultate**)  und  902  (5,8  %)  Personen  verschiedener  sonstiger 
Nationalität. 

Von  der  Civilbevölkerung  bilden  (mit  45,4  %)  die  Deutschen 
die  relative  Majorität,  —  es  folgen  dann  die  Letten  (24,3%),  ^^ 
dritter  Reihe  die  Russen  (22,2  Vo)-  Dagegen  haben  die  letzteren 
eine  starke  absolute  Majorität  (mit  66,3  7o)  bei  der  Militärbevölke- 
rung, —  auf  sie  folgen  die  Letten  (mit  13,8  %)  ußd  die  Deutschen 
(mit  nui'  6,47o)*  ^^^  Militär  gehören  somit  17,4  %  der  Russen, 
3/9  %  der  Letten,  aber  nur  l,o  %  der  Deutschen  Riga's  an. 

Nach  Confessionen  (s.  Tab.  XIII)  gliedert  sich  die  Bevölkerung 
Riga's  in  der  Weise,  dass  62,«%  den  Protestanten  angehören;  die- 
selben bilden  daher  eine  starke  absolute  Majorität.  Es  wurden  zu 
dieser  Bezeichnuhg  zusammengefasst  63,127  Lutheraner,  1,028  Re- 
formirte,  77  Anglikaner,  4  einfach  als  ^Protestanten"  Eingetragene, 
und  2  Baptisten.  —  Der  griechisch-orthodoxen  Confession  ge- 
hörten (mit  Einschluss  von  45  Eingläubigen  und  1  Griechisch- 
Unirten)  18,«  %  ^^^  Bevölkerung  an.  Auffällig  ist  bei  den  Griechisch- 
Orthodoxen  das  starke  Ueberwiegen  des  männlichen  Geschlechtes 
(61,3  7o  männl.  gegen  38,7  %  weibl),  erklärt  wird  dasselbe  durch 
die  zahlreiche  Vertretung  dieser  Confession  beim  Militär.  Weniger 
leicht  zu  erklären  ist  das  abnorme  entgegengesetzte  Gesqhlechtsver- 
hältniss  (39,8%  männl.  gegen  60,2  7o  weibl.)  bei  den  Altgläubigen 
(7/4  7o  dör  Bevölkerung).  Die  Juden  bilden,  trotz  der  nicht  sehr 
alten  unbeschränkten  Ansiedelungsberechtigung  derselben ,  bereits 
5/1  7o  d^r  Bevölkerung. 


SÖ4  Die  Rigaer  Volkazählung  vom  3.  MMz  1867. 

Die  politische  Hingehörigkeit  der  Bewohner  Riga's  veranschaa- 
licht  Tab.  XIV.  Nach  derselben  gehörten  nach  Riga  selbst  64,iVo 
der  Gesammtbevölkerung ;  das  weibliche  Geschlecht  übei  wiegt  ziem- 
lich starke  theilweise  erklärlich  durch  die  zahlreichen  Altgläubigen 
mit  einem  Plus  von  1,550  Personen  für  jenes  Geschlecht.  Es  ge- 
hörten ferner  den  Provinzen  Liv-^  Est-  und  Kurland  zusammen 
22,986  Personen  (22,4  %  ^^^  Bevölkerung)  an,  und  zwar  dem  Patri- 
monium Riga's:  284,  dem  übrigen  Livland:  12,487,  Kurland:  9,893 
und  Estland:  322.  —  Aus  anderen  Gouvernements  Russlands  stami^- 
ten  1,1  %  ^^^  Bevölkerung;  hier  überwiegt  aus  dem  bereits  obe^ 
angeführten  Grunde  des  starken  Antheils  am  Militär  sehr  bedeutend 
das  männliche  Geschlecht  (66,|  %  männl.  gegen  33^9  7«  weibl.).  — 
Dem  Auslande  gehörten  5,346  Personen  (5,2  V»  der  Bevölkerung)  an, 
und  swar  stammten  aus  Deutschland  4,427  (4,3  Vo)  und  aus  dem 
übrigen  Auslande  (incl.  160  einfach  als  „Ausländer^  Eingetragene) 
919  Personen  (O^^VO-  —  Ohne  Bezeichnung  der  Hingehörigkeit 
waren  endlich  616  Personen  geblieben  (0,6  Vo  der  Bevölkerung). 
Ausnahmslos  bei  allen  nicht  nach  Riga  Hingehörigen  überwiegt, 
und  zwar  zum  Theil  sehr  stark,  das  männliche  Geschlecht,  eine  Er- 
scheinung, die  stets  beobachtet  wird  bei  zu  geschäftlichen  Zwecken 
Einwandernden. 

Die  summarische  Gliederung  der  Bewohnerschaft  Riga*s  nach 
dem  Alter  vergegenwärtigen  die  Tabellen  XV  und  XVI.  Es  sei 
hier  die  Bemerkung  vorausgeschickt,  dass  bei  solchen  Bevölkerungen, 
die  durch  Aus-  und  Einwanderung  keine  Veränderungen  erleiden, 
wo  somit  Geburt  und  Tod  die  einzigen  Factoren  des  Bestandes  und 
der  Altersvertheilung  bilden,  als  normal  angesehen  wird,  dass  der 
bei  den  Neugeborenen  stets^beobachtete  üeberschuss  von  4 — 7  7»  a^ 
Knaben  durch  etwas  stärkere  Sterblichkeit  des  männlichen  Geschlechts 
in  der  ersten  Kindheit  ungefähr  bis  zum  15.  Lebensjahre  ange- 
glichen wird;  die  sodann  eingetretene  numerische  Gleichheit  der 
beiden  Geschlechter  dauert  etwa  30  Jahre  lang,  also  während  der 
Hauptperiode  der  Zeugungsthätigkeit^  worauf,  etwa  vom  45.  bis  zum 
50.  Lebensjahre  an,  durch  stärkere  Sterblichkeit  des  männlichen  Ge- 
schlechtes ein  nach  den  höheren  Altersclassen  zu  stets  sich  steigernden 
numerisches  üeberwiegen  der  gleichalterigen  weiblichen  Bevölkerung 
eintritt.  Es  dürfte  hier  zu  weit  führen  und  beim  Mangel  fester  An- 
haltspunkte auch  kaum  räthlich  erscheinen,  den  muthmaasslichen 
oder  wahrscheinlichen  Ursachen  der  einzelnen  Abweichungen  ,v(m 
obiger  Norm,   die  uns    bereits   ein   flüchtiger  Blick  auf  die  beiden 


Die  Rigaer  Volkszählung  vom  3.  März  1867.  555 

Tabellen  an  der  Bevölkerung  Riga's  erkennen  lässt,  im  Speciellen 
nachspüren  zu  wollen,  —  es  werden  daher  einige  Andeutungen  ge- 
nügen müssen.  Zunächst  scheint^  und  zwar  ist  das  ein  ungünstiges 
Anzeichen  für  die  allgemeinen  Erü'ährungsbedingungen,  und  daher 
für  die  Sterblichkeits Verhältnisse  im  ersten  Lebensalter  —  dass  die 
numerische  Gleichheit  der  beiden  Geschlechter  sich  schon  sehr 
früh  herstellt;  vom  10.  bis  zum  15.  Jahre  stellt  sich  sodann  ein 
Ueberwiegen  des  männlichen  Geschlechts  ein  (in  Folge  des  Zu- 
str Omens  von  auswärtigen  6chülem  zu  den  Lehranstalten  der  Stadt?), 
welches  während  der  2.  Hälfte  des  2.  Jahrzehents  sich  wiederum 
verringert  (durch  Abzug  jener  Schüler?);  vom  20.  Lebensjahre  an 
beginnt  ein  starkes,  in  der  Periode  vom  25.  bis  zum  30.  Jahre  seinen 
Höhepunkt  erreichendes  Ueberwiegen  des  männlichen  Geschlechtes, 
ohne  Zweifel  in  Folge  der  Stationirung  des  nicht  aus  Riga  herstam- 
menden zahlreichen  Militärs  und  des  Zuströmens  von  Arbeitern  vom 
Lande  her*  Dieses  Ueberwiegen  gleicht  sich  erst  in  der  Alters- 
periode von  40  bis  50  Jahren  durch  Abzug  der  Fremden  und  nach 
den  allgemeinen  Gesetzen  der  Sterblichkeit  wiederum  aus,  und  es 
beginnt  in  Folge  der  grösseren  Lebenszähigkeit  des  weiblichen  Ge- 
schlechtes ein  schnell  sich  steigerndes  numerisches  Ueberwiegen 
desselben.  Als  älteste  Bewohner  Riga's  sind  verzeichnet  eine 
103  Jahre  alte  lettische  Wittwe  und  zwei  russische  Wittwen  im 
Alter  von  sogar  107  Jahren. 

Zum  Schluss  glauben  wir  auf  die  kurze  Darstellung  der  Berufs- 
verhältnisse der  Bevölkerung  Riga's  in  der  ^Nordischen  Presse^ 
(Nr.  198  des  Jahrgangs  1870)  aufmerksam  machen  zu  sollen.  Die 
daselbst  veröffentlichten  Tabellen  sind  zum  Theil  auszugsweise  den 
einen  werthvollen  BestandtheM  des  Archivs  des  städtischen  statisti- 
schen Btbreaus  bildenden  Bearbeitungen  des  Materials  der  ^Resultate^ 
entnommen,  welche,  in  sehr  umfangreichen  und  daher  zur  voUstäiir 
digen  Veröffentlichung  wenig  geeigneten  Tabellen  verschiedener  Art, 
graphischen  Darstellungen  etc.  bestehend,  stets  in  liberalster  Weise 
einem  jeden  Interessenten  zur  Einsicht  und  Benutzung  mitgetheilt 
worden  sind. 

Dr.  O.  Brasche, 


Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter. 


Unter  dem  Titel:  ^Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter,  Super- 
intendent von  Livland,  ein  kurzer  Abriss  seines  Lebens  und  Wirkens, 
mit  Portrait",  ist  endlich  eine  Biographie  Walter's  in  Eise- 
nach bei  Bacmeister  erschienen,  deren  ungenannter  Verfasser 
augenscheinlich  zu  den  ältesten  Freunden  und  Amtsgenossen  des 
Verstorbenen  gezählt  hat.  In  der  Hoffnung,  dass  die  Zukunft  eine 
ausführliche  Biographie  Walter's  bringen  werde,  wünscht  der  Ver- 
fasser dem  bisherigen  Mangel  einer  solchen  durch  diesen  Lebens- 
abriss,  als  einer  Vorarbeit  zu  jener,  zu  begegnen. 

Die  60  Druckseiten  lange  Brochüre  ist  mit  Liebe  und  Hingebung 
für  den  Verstorbenen,  aber  auch  mit  Ernst  und  Kritik  geschrieben, 
wie  es  dem  Freunde  und  Biographen  geziemt,  der  nicht  nur  lobt, 
sondern  auch  sichtet  und  säubert.  Wer  Walter  gekannt  hat,  weiss 
es,  dass  auch  er,  wie  alle  bedeutenderen  Naturen,  viel  mit  sich  selbst, 
mit  seinen  starken  und  heftigen  Neigungen  zu  kämpfen  hatte,  ehe 
er  zum  primua  inter  pares  heranreifte.  In  die  Tiefe  der  walterschen 
Natur  eingehend  zeichnet  dieser  Leb^sabriss  den  Verstorbenen  von 
der  Wiege  bis  zum  Grabe  als  Kämpfer  und  Arbeiter,  nicht  nur  in 
Pflicht  und  Amt,  sondern  auch  in  seinem  eigenen  Selbst,  und  be- 
gleitet ihn  durch  Schule,  Universität  und  Candidatenleben  bis  zur 
ersten  Pfarre  in  Neuermühlen,  als  der  ersten  besonderen  Liebe  und 
Idylle  seiner  damit  abschliessenden  Jugend;  erzählt  dann  von  Wal- 
ter's grossartigem  Wirken  in  Wolmar,  seiner  Geburtsstadt,  welche 
ihn  1833  zum  Pastor  prim.  vocirt  hatte,  behandelt  weiter  Walters 
Wirksamkeit  in  Petersburg  als  Mitglied  des  General-Consistoriums 
und  endlich  sein  Leben  und  seine  Arbeit  an  der  Spitze  der  livlän- 
dischen  evangelisch -lutherischen  Geistlichkeit  in  Riga,  —  bis  dann 
nach  erfolgtem  Rücktritt  vom  Amte  des  Superintendenten  der  alternde 
und  gebrochene  Greis  im  Juni  1869  seine  Erdenlaufbahn  abschliesst. 


Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter.  567 

Fast  69  Jahre  dieses  Jahrhunderts,  in  dessen  erstes  Jahr  Walter's 
Geburt  fällt,  ziehen  hier  |an  dem  Leser  vorüber  und  recapituliren 
den  älteren  Zeitgenossen  längst  vergangene  Zeiten  früherer  livlän- 
discher  Harmlosigkeit,  dann  schweren  ernsten  Kampfes  und  noch 
fortgehender  Arbeit.  Schwerlich  dürfte  jemand  diese  Lebensskizze 
anders  als  mit  besonderer  Befriedigung  in  dem  Gedenken  der  eigenen 
Erfahrungen  aus  der  Hand  legen ;  gehört  es  doch  zur  Lieblingslectüre 
der  Aelteren,  Biographieen  und  gerade  solche  der  Zeitgenossen  zu 
lesen  und  sie  sich  zu  eigen  zu  machen,  indem  sie  dabei  auf  den 
eigenen  Lebensgang  mit  zurückschauen. 

Als  Ferdinand  Walter  am  29.  Juni  1869  plötzlich  verstarb  und 
die  Kunde  hiervon  auch  zu  mir  gedrungen  war,  schrieb  ich  .das- 
jenige eiligst  nieder,  was  in  meiner  Erinnerung  von  dem  theuren 
Todten  lebte ;  war  es  mir  doch  vergönnt  gewesen,  13  Jahre  lang  mit 
ihm  an  einem  Orte  zu  leben  und  zusammen  zu  wirken;  ich  hoffte 
dabei  beim- Erscheinen  einer  walterschen  Biographie  vielleicht  mit 
dieser  Aufzeichnung  dienlich  zu  werden.  Dieser  Augenblick  scheint 
jetzt  gekommen  zu  sein,  und  indem  ich  den  Lebensabriss  Walter's 
hiermit  seinen  Freunden  und  Anhängern  empfehle,  füge  ich  selbiger 
als  Ergänzung  hier  nachfolgend  hinzu,  was  an  sich  nur  Bedeutung 
haben  kann  wenn  man  dazu  die  Brochüre  selbst  in  ersten  Be- 
tracht  zieht. 

Während  diese  den  Lebensgang,  die  Entwickelung  und  Be- 
deutung des  Theologen  und  Philosophen  Walter  in  biographischer 
Ordnung  und  objectiver  Darstellung  vorführt,  sollen  meine  Aufzeich- 
nungen, unmittelbar  aus  der  Erinnerung  gegriffen  und  miterlebt,  die- 
jenigen, welche  Walter  garnicht  oder  nur  wenig  gekannt  haben, 
dazu  anregen,  dessen  Leben  und  Bedeutung  durch  die  Leetüre  des 
vorliegenden  Lebensabrisses  näher  kennen  zu  lernen  und  vielleicht 
durch  einige  charakteristische  Lebenszüge  das  Bild  des  Verstorbenen 
dem  Leser  im  Einzelnen  weiter  ausmalen. 

Von  solchem  Wunsche  getrieben  folgen  denn  hier  Erinnerungen 
an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter  aus  den  Jahren  1834  bis  1869. 

Wolmar,  auf  dem  'hohen,  rechten  Ufer  der  liv ländischen  Aa 
gelegen,  ein  kleiner  Ort  von  etwas  über  1000  Einwohnern,  war  der 
Geburtsort  Walter's,  wo  dessen  Familie  seit  vielen  Jahren  durch 
Verwaltung  des  Pfarramtes  und  der  medicinischen  Praxis  eines  be- 
sonderen Ansehens  genoss,  zwei  seiner  Schwäger  in  den  30er  Jahren 
dieses  Jahrhunderts  überdies  an  äer  örtlichen  Kreisschule  als  Lehrer 
fungirten  und  4  seiner  Schwestern  lebten. 


8S8  Eriimerutigen  an  Bisehof  Dr.*  Ferdinand  Walter. 

Wenn  daher  der  Verfasser  der  vorliegenden  Lebensskizse  es 
ausspricht:  ^der  Name  Walter  ist  besonders  für  die  Stadt  Wolmar 
in  einer  langen  Reihe  von  Jahren  zu  reichem  Segen  geworden,  dessen 
sie  sich  noch  heute  erfreut^  — ,  so  kann  ich  dazu  ergänzend  an- 
führen, dass  der  spätere  Professor  Julius  Walter  ebenso  wie  der 
noch  lebende  Professor  Piers  Walter  —  ersterer  als  Prediger,  letzterer 
als  Stadtarzt  von  Wolmar  thätig  gewesen  sind, '  dass  ferner  der 
hallesche  Professor  Eduard  Erdmann,  der  als  Stadtprediger  Wolmar 
verliess  um  als  Professor  der  Philosophie  nach  Deutschland  überzu- 
siedeln, und  dessen  Bruder  Johann  (Wanha)  Erdmann,  der  als 
wolmarscher  Stadtarzt  im  Jahre  1847  die  Professur  der  Therapie 
in  Dorpat  antrat,  die  Schwestersöhne  Walters  waren. 

So  war  seit  längerer  Zeit  Wolmar  der  Sitz  der  zahlreichen  wal- 
terschen  Familie,  wie  diese  wiederum  den  Mittelpunkt  für  die  Ein- 
wohnerschaft  und  Umgebung  des  kleinen  Ortes  selbst  bildete.  Reges 
geistiges  Leben  zeichnete  das  Städtchen  vor  andern  aus.  Tüchtige 
musikalische  Eräfde  lebten  und  wirkten  hier  und  eine  geschätzte 
Schul-  und  PensiQnsanstalt  zog  Schüler  aus  weiteren  Kreisen  hierher, 
so  dass  diese  kleine  Stadt  bald  zu  dem  Ehrennamen  „Neu-Athen^ 
gelangte,  in  welchem  Kunst  und  Wissenschaft,  kirchliches  Leben  und 
gesellige  Freuden  reichlich  zu  finden  waren  und  besondere  Pflege 
genossen.  In  diesen  Kreis  trat  ich  im  September  1834  ein,  als 
gerade  in  allen  erwähnten  Beziehungen  eine  besondere  geistige 
Blüthe  sich  entfaltet  hatte.  Walter  selbst,  damals  33  Jahre  alt,  auf 
der  Höhe  seines  Lebens,  war  ein  Jahr  zuvor  als  Pastor  primaxius 
von  Neuermühlen  in  seine  Vaterstadt  vocirt  worden.  —  Er  zeigte 
sich  in  seiner  vollen  Kraft,  hoch  und  stark  gewachsen,  mit  edlem 
Gesichtsausdruck,  einer  sonoren  Basstimme  und  tiefblickenden  blauen 
Augen,  deren  Ausdruck  ernst  und  freundlich  zugleich  war.  In  dem, 
der  Lebensskizze  vorangestellten  Portrait  zeigt  sich  dieser  Ausdruck 
in  sofern  nicht  zutreffend,  als  hier  die  Augen  dunkel  erschein^ 
während  sie  heller  ausschauten  und  auch  so  in  den  bekannten  Bil- 
dern wiedergegeben  sind.  Walter's  Name  hatte  damals  bereits  einen 
besonders  guten  Klang,  aber  noch  war  er  nicht  der  erste  unter  den 
Gleichen,  noch  stand  er  auf  der  ersten  Stufe  jugendlichen  Strebens 
and  riss  sein  stürmischer  Charakter  ihn  zuweilen  fort.  Auf  der 
Kanzel  und  den  Predigersynoden  zeigte  sich  bereits  seine  Be- 
deutung, aber  auch  mancher  Anstoss  wurde  an  ihm  gerügt,  wenn  er 
im  Feuer  seiner  Rede  ausschritt.  '  Auf  einer  der  Predigersynoden, 
als  Walter  wieder  einmal  seinen  Amtsbrüdem  schonongslos  au  Leibe 


Erixüii6»iiigeii  ta  Bisehof  Dr.  Ferdinand  Walier.  M9 

I 

gegai^en  war,  hatte  deshalb  der  ältere  ^  Bruder  Julius  zu  rechter 
Zeit  das  Wort  ergriffen  und  den  Bruder  als  Ritter  ohne.  Furcht, 
abejr  nicht  ohne  Tadel  bezeichnet,  was  Heiterkeit  erregt  und  die 
Gemüther  wieder  besänftigt  und  ausgeglichen  hatte.  Die  Sturm- 
und Drangperiode  seines  Lebens  war  zwar  grösstentheils  über- 
wunden als  ich  Walter  im  Jahre  1834  kennen  lernte,  aber  die 
Löwennatur  zeigte  sich  denn  doch  noch  und  kannte  dann  weder 
fremde  noch  eigene  Schonung. 

Seine  Amtsbrüder  blickten  mit  Staunen  und  Verwunderung  auf 
seine  Amtsthätigkeit,  und  ich  habe  es  oft  genug  von  ihnen  aus- 
sprechen faOren,  dass  sie  schon  um  der  körperlichen  Kräfte  willen 
nicht  im  Stande  seien,  es  ihm  einigermaassen  nachzuthun.  —  Es  war 
für  ihn  der  Sonntag  ein  Arbeitstag  rom  frühen  Morgen  bis  an  den 
Abend;  um  9  Uhr  morgens  deutscher  Gottesdienst,  um  12  Uhr 
lettischer,  demnächst  oftmals  estnischer  für  diejenigen  wenigen  Esten, 
die  in  einem  Tbeile  des  miteingepfarrten  Gutes  Eokenhof  lebten. 
Eskiisch  hatte  Walter  eigens  soweit  für  diese  Esten  erlernt^  um 
ihnen  gelesene  Predigt  und  Abendmahl  bieten  zu  können.  Weiter 
folgten  dann  die  Ämtshandlungen,  der  Gefängnissgottesdienst,  und 
endlich  noch  in  der  Zwischenzeit  Chorstunden  in  der  sogenannten 
„Kambur**,  Ton  welcher  weiter  unten  die  Rede  sein  soll.  Da  be- 
greift es  sich  denn,  dass  wenn  Walter  abends  noch  in  Gesellschaft 
erschien,  er  vollkommen  heiser  und  erschöpft  war;  —  und  jene 
H^serkeit,  die  später  niemals  gänzlich  aus  seiner  Stimme  schwand, 
daürt  aus  dieser  Zeit  der  Ueberanstrengung.  Redete  man  ihn  darauf 
an:  er  solle  sich  schonen,  auf  diese  Weise  könn»  er  es  denn  doch 
nieht  lange  mehr  treiben,  so  antwortete  er:  „lebt  man  nicht  in  die 
Länge,  so  lebt  man  doch  in  die  Breite,^  und  zog  er  sich  dann  Sonn- 
tags abends  erschöpft  zurück,  so  erbat  er  sich  noch  leichte  Leetüre, 
deren  er  bedürfe,  um  seinen  erregten  Geist  zu  beruhigen  und  andere 
Mndrücke  aufzunehmen. 

Walter's  oft  bewunderte  Beredsamkeit  und  Gewalt  der  Rede 
war  ihm  nicht  angeboren,  sie  war  das  Productr  grossen  Fleisses,  der 
übrigen  Fülle  seiner  Gaben  und  seiner  Ueberzeugungstreue ,  was 
alles  der  Verfasser  der  walterschen  Lebensskizze  trefSich  zuis^mmen- 
gestellt  und  im  Einzelnen  nachgewiesen  hat.  Seine  Predigt  war 
oftmals  das  Product  seiner  Erlebnisse  aus  dem  Laufe  der  zwischen- 
liegenden Woche  und  man  konnte  geradezu  darin  zuweilen  die  Ant- 
wort auf  ihm  Torgelegte  Fragen  und  Zweifel  erkennen.  Der  Satz* 
bau  seiner  Reden  war  meist  schwerfällig  und  rersohoben^  weshalb 


660  Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter. 

sich  die  Reden  beim  Lesen  nicht  wohlthuend  zeigten;  aber  aas 
seinem  Munde  gehört  und  wenn  er  warm  sie  vortrug,  riss  Walter 
alles  mit  sich  fort  und  ward  dann  jenes  eigenthümliche  Brausen  in 
der  Gemeinde  vernehmlich,  welches  bei  besonderer  Erregung  grösserer 
Versammlungen  zuweilen  entsteht  und  dann  den  Redner  selbst 
weiter  hebt  und  anregt.  Walter's  vorwiegend  philosophische  Bildung 
verleitete  ihn  oftmals,  religionsphilosophische  Themata  auf  die  Kanzel 
zu  bringen,  aber  sein  praktischer  Sinn  wusste  dann  zu  rechter  Zeit 
auch  dem  anderen  Theile  der  Gemeinde  sich  zuzuwenden  und  An- 
wendung aufs  Leben  zu  machen.  Im  Disput  aber  zeigte  sich  bald 
seine  Ueberlegenheit  in  Beherrschung  der  Logik,  Dialektik  und 
Psychologie.  Diese  Erfahrung  konnte  jeder  machen,  der  den  Mitt- 
woch-Abenden im  wolmarschen  Pastorate  beigewohnt  hatte.  An 
diesen  Abenden  versammelte  sich  nämlich  ein  Kreis  von  Literaten 
des  Ortes,  um  gemeinschaftlich  „schwere  Leetüre  zu  machen**. 
Solche  schwere  Lecttlre  war  die  Bedingung,  von  welcher  Walter 
nicht  abging,  denn,  sagte  er,  bei  leichter  Leetüre  verziehe  sich  all- 
mälig  der  Leserkreis,  liege  aber  philosophisches  Material  vor,  so 
müsse  besondere  Aufmerksamkeit  und  gemeinschaftliches  Denken 
wach  bleiben  und  zusammenhalten.  Auf  diese  Weise  wurden  dann 
Hegel,  Herbart,  Humboldt,  Strauss,  Erdmann  u.  s.  w.  gelesen  und 
von  den  weniger  Geübten  fleissig  zuvor  und  nachher  bearbeitet,^  um 
der  Leetüre  folgen  zu  können.  Gab  dann  aber  eine  dabei  zur 
Sprache  gebrachte  Frage  besonderen  Anlass,  so  eröffnete  sich  die 
Debatte,  welche  oftmals  bis  in  die  Nacht  währte  und  Walter's  Dia-' 
lektik  aufs  Glänzendste  ins  Licht  stellte. 

Mancher  unklare  Zweifler  hat  aus  diesen  unvergesslichen  Aben- 
den, welchen  sich  zumeist  auch  Auswärtige  anschlössen,  reiche  Frucht 
für  sein  inneres  Leben  heimgetragen,  wozu  sich  mehrfache  Beispiele 
aufzählen  Hessen.  Walter  aber  war  und  blieb  stets  dis  Seele  dieser 
Abende  und  mochte  derselben  auch  für  sich  selbst  nicht  entbehren. 
In  Walter's  Gottesdiensten  fehlte  nicht  leicht  ein  Bewohner  oder 
Umwohner  Wolmar's,^nd  trieb  nicht  alle  Gottesfurcht  und  religiöses 
Bedürfhiss  dahin,  so  doch  die  stets  tiefe  Lebensanschauung  und  der 
Reichthum  walterscher  Aus-  und  Durchführung  der  Glaubenslehren. 

Dieses  allseitige  Eingreifen  Walter's  in  die  Gemeinde  nach  oben 
und  nach  unten  brachte  es  denn  auch  von  selbst  zu  Wege,  dass  alle 
Autoritäten  des  Ortes  einander  in  die  Hand  arbeiteten  und  am 
Mittwoch- Abend  sich  ihre  Erfahrungen  und  Wünsche  mittheilten; 
und  nicht  leicht  konnte,  wo  Geistlichkeit,  Lehrer,  Aerzte  und  Obrig- 


Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter.  661 

« 

keit  in  stetem  Austausche  lebten,  sich  jemand  am  Orte  verlassen 
fühlen,  böse  Saat  unbeachtet  aufwuchern,  oder  brauchbare  Kraft 
unberücksichtigt  bleiben. 

Aus  den  vielen  dabei  mitunterlaufenden  Curiosis,  welche  ein- 
zelne am  Leseabend  zum  Besten  gaben,  möchte  ich  hier  zur  Cha- 
rakteristik des  ernsten  Walter  eines  Vorgangs  Erwähnung  thun, 
welcher  ihn  als  Ritter  ohne  Furcht  zeigt.  Ein  kirchenfeindlicher, 
neuansässig  gewordener  städtischer  Handwerksmeister  excellirte 
darin,  sein  Eheweib  zu  malträtiren,  seine  Lehrburschen  vom  Kirchen- 
besuch abzuhalten  und  sonst  damit  grosszutbun,  wie  er  dem  Pastor 
Walter  dessen  Standpunkt  begreiflich  machen  würde,  wenn  dieser 
ihm  einmal  in  den  Weg  käme.  Als  nun  Walter  hiervon  Kunde 
erhielt,  erschien  er  eines  Tages  in  der  Werkstube,  bot  dem  Meister 
einen  guten  Morgen,  und  erbat  sich  bei  ihm  eine  Unterredung.  Der 
Meister  erwiderte  mürrisch,  er  habe  nichts  mit  ihm  zu  sprechen, 
zündete  sich  eine  Pfeife  Tabak  an,  warf  seinen  Arbeitsrock  ab,  zog 
sich  seinen  Oberrock  an,  that  sonst  als  ob  Walter  gamicht  erschienen 
wäre,  und  schickte  sich  an,  seine  Behausung  zu  verlassen.  Der 
hochgewachsene  baumstarke  geistliche  Herr  vertrat  ihm  aber  die 
Thüre  und  erklärte  sich  zum  Kampfe  um  dieselbe  bereit.  Als 
der  tapfere  Meister  verblüfft  vor  Walter  stehen  blieb,  bedeutete  ihn 
dieser,  dass  er  keinen  solchen  Spass  verstehe,  hiess  ihn  sich  nieder- 
setzen und  anhören,  was  er  ihm  zu  sagen  habe.  Anfangs  noch 
abgewandt  liess  jener  dann  den  Pastor,  reden  und  meinte:  er  solle 
sprechen,  so  viel  er  für  gut  fände,  er  bedürfe  dessen  nicht.  Nach 
Verlauf  einer  Stunde  aber  waren  beide  die  besten  Freunde  und  der 
Meister  versprach  sein  Weib  in  Ehren  zu  halten,  seine  Lehrlinge  in 
die  Kirche  zu  schicken,  und  hielt  Wort.    • 

In  jene  Zeit  fiel  auch  die  Gründung  des  lettischen  Lehrer- 
seminars, das  anfangs  in  Wolmar,  späterhin  aber  in  Walk  von  der 
livländischen  Ritterschaft  fundirt  wurde,  und  wobei  Walter  den 
Anstoss  gegeben  und  eifrigst  mitgewirkt  hatte. 

Ebenso  gründete  der  unermüdliche,  erfindungsreiche  Walter  jene 
Verpflegungsanstalt  mittelloser  deutscher  Kinder,  welche  noch  gegen- 
wärtig besteht  und  vielen  hülflosen  Familien  geholfen  hat,  ihre 
Eänder  zu  erziehen  und  zu  tüchtigen  Arbeitern  auszubilden.  Der 
Weg,  den  Walter  dabei  einschlug,  musste  anfangs  Zweifel  erregen, 
zeigte  sich  aber  alsbald  als  practisoh  und  angemessen.  Unter  den 
vielen  Walter's  Hülfe  und  Zuspruch  fordernden  Personen  des  Ortes 
befand  sich  nämlich  auch  eine  ältere  wohlhäbige  Dame  mit  ihrer 


562  Erinneruiig^A  an  Bisehof  Dr.  Ferdinand  Walter. 

Tochter,  welche  erstere  an  fixen  Ideen  litt,  unbeschäftigt  dastand, 
sonst  aber  nodi  denk-  und  leistungsfähig  war,  wenn  es  eben  nicht 
ihre  kranken  Ideen  betraf.  „Die  muss  uns  zu  einer  Einderschule 
rerhelfen^,  sagte  Walter,  „hilft  sie  sich  doch  selber  damit^  wenn  sie 
auf  andere  rechte  Gedanken  kommt^.  Und  in  der  That,  diese  an^ 
scheinend  nutzlose  Frau  fasste  den  Plan  mit  besonderem  Eifer  auf, 
beschaffte  hübsche  Arbeiten,  diese  wurden  verlost  und  aUmälig  ein 
Capital  angesammelt,  aus  dessen  Jahreserträgen^  als  ich  Wolmar  im 
Jahre  1847  verliess,  bereits  33  Kinder  erzogen  wurden,  wobei  das 
Princip  beobachtet  wurde,  keine  selbständige  Anstalt  herzurichten, 
in  welcher  dieselben  untergebracht  und  unterrichtet  werden  sollten, 
sondern  diese  Kinder  vielmehr  bei  wohlbekannten  achtbaren  Familien 
zu  placiren  und  die  Ortsschulen  zu  benutzen.  Auf  diese  Weise  kam 
den  Kindern  das  Leben  in  der  Familie,  und  den  einzelnen  unbe- 
mittelten Familien  eine  kleine  Beihülfe  an  Einnahme  zu  Gute,  und 
blieben  sowohl  die  Kostspieligkeit  einer  zu  unterhaltenden  Anstalt, 
als  auch  deren  leicht  unterlaufenden  anderen  Naohtheile  erspart. 

Zu  den  angenehmsten  Erinnerungen  aus  dieser  h€u*mloseii 
idyllischen  Periode  meines  Lebens  im  Zusammenwirken  mit  Walter 
zählen  auch  jene  Tage,  welche  eine  Anzahl  gleichgesinnter  Männer 
im  JuU'Monat  jeden  Jahres  anfangs  auf  Treyden,  späterhin  aber  in 
Cremen  im  schönen  Aathale  zusammenführten.  Walter,  Ulmann, 
Hollander  aus  Birkenruh  und  andere  Jugend^eunde,  zu  welchen 
anfangs  auch  der  jetzige  Professor  Eduard  Erdmann  zählte, 
hatten  verabredet,  am  1.  Montage  nach  dem  1.  Sonnts^e  im 
Juli-Monate  jeden  Jahres  sich  im  Aatiiale  zusammenzufinden,  gleich- 
gesinnte  jüngere  Zeitgenossen  mitzubringen  und  dcuin  einige  Tage 
harmlosen  Zusammenlel^ns  in  der  schönen  Umgebung  der  Aa  zu 
verbringen. 

Dieser  Kreis  hatte  sich  allmälig  erweitert  und  erschienen  zu- 
weilen 30 — 40  Personen,  während  zu  Zeiten  auch,  je  nach  den 
jedesmaligen  Conjuncturen,  nur  wenige  Theilnehmer  «ich  einfanden. 
Walter  fehlte  meines  Wissens  niemals  und  war  auch  hier  die  Eiche, 
um  die  sich  alles  schaarte  und  von  ihm  Anregung  emj^ng.  Ein 
feststehendes  Programm  oder  dergleichen  existirte  dabei  in  keiner 
Weise,  ein  jeder  that  und  liess,  was  er  gerade  wollte.  So  fehlte  es 
denn  auch  nicht  an  Heiterkeit  und  Ue1)ermuth ;  wesentlich  aber  be- 
wegte sich  das  Gespräch  und  die  Discussion  immer  um  die  Ti^^es- 
fragen  und  der  Ernst  der  älteren  Männer  waltete  vor,  wenn  Fragen, 
wie  die  aufgetauchten  Mässigkeitsvereine,  oder  die  48er  Js^e,  Axts* 


Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter.  563 

wanderungs-  und  andere  brennende  Zeitfragen  vorlagen;  auch  ein 
Stipendium  für  dörptsche  Studenten  gng  aus  diesen  Tagen  hervor, 
welches  noch  gegenwärtig  existirt. 

In  diesen  Erholungstagen  war  unser  Walter  stets  besonders 
animirt  und  zufrieden,  oftmals  auch  launig  und  übermüthig  den  über- 
schwenglichen Mässigkeitsvereinlern  gegenüber,  denen  er  übrigens 
in  thesi  beipflichtete. 

Am  interessantesten  war  es  aber,  wenn  der  fast  um  20  Jahre 
ältere  Walter  mit  dem  geistvollen  Amtsbruder  und  bekannten  Eanzel- 
redner  Emil  Sokolowski  zusammentraf.  Dieser  hatte  fast  kindliche 
Pietät  und  Verehrung  für  den  Veteran  Walter,  während  letzterer 
den  hochbegabten  jungen  Freund  gleichfalls  besonders  gern  sah  und 
zum  Geisteskampfe  herausforderte.  Platzten  dann  die  Geister  auf- 
einander^ so  sah  man  dem  jungen,  genialen  und  schlagfertigen  Soko- 
lowski die  Herzensfreude  über  jedes  derbe  Kraftwort  seines  väter- 
lichen Freundes  an  den  Augen  ab.  Walter  aber  nickte  in  seiner 
eigenthümlichen  Weise  mit  dem  Kopfe,  wenn  dem  originellen  Geiste 
Sokolowski's  ein  Kernwort  oder  eine  heitere  liebenswürdige  Bemer- 
kung wie  unwillkürlich  herausftihr.  Als  ich  bei  solcher  Gelegenheit 
einmal  die  Frage  dazwischen  warf:  „Worin  liegt  eigentlich  der 
Grundunterschied  Eurer  theologischen  Lebens-  und  Lehranschauung  ?" 
antwortete  Sokolowski:  „Um  es  kurz  zu  sagen,  so  predigt  Walter 
mehr  die  Liebe,  und  ich  den  Glauben^.  Walter  aber  meinte,  das 
könne  wohl  so  richtig  sein.  Neben  solchen  Erinnerungen  harmlosen 
Zusammenlebens  und  Wirkens  brachten  dann  aber  die  Jahre  1844 
und  die  darauf  folgenden  auch  schwerste  Zeiten  für  Livland  und 
Wolmar:  „Misswachs,  Hungersnoth,  erste  Auswanderungsgelüste 
der  Letten,  und  alles  was  in  diesen  Mühsalen  mitzählt,  berührten  zumeist 
auch  die  wolmarsche  Gemeinde  und  nahmen  die  ganze  Thatkraft 
Walter's  um  so  mehr  in  Anspruch,  als  ausser  in  seiner  eigenen 
Gemeinde  auch  von  auswärts  her  der  starke,  felsenfeste  Mann  um 
Hülfe  und  Beistand  angegangen  ward.  Gutsbesitzer  und  Amtsbrüder, 
Nothleidende  und  Glaubensschwache,  alles  wandte  sich  an  ihn,  und 
er  erlahmte  und  verzagte  nimmer. 

Aus  der  Zeit  seiner  Consistorialpraxis  am  General-Consistorium 
in  St.  Petersburg  (1842)  kannte  er  das  Terrain  ganz  genau,  und 
wusste  deshalb,  wie  die  vorliegenden  Sachen  zu  handhaben  waren. 
Sein  Einfluss  und  seine  Beziehungen  gingen  weit  über  Livland  hin- 
aus.    Zuletzt   war  er  aber  auch  jeder  Zeit  bereit,  sich  selbst  und 


564  Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter. 

seine  ganze  Stellung  für  das  Gemeinwohl  hinzuopfern,  doch  leicht- 
fertig spielte  er.  dabei  keinen  Trumpf  aus. 

Walter  aber  erlebte  für  seine  Gemeinde  die  Satisfaction,  dass  aus 
dieser  keine  Auswanderer  hervorgingen.  Unter  den  umständen  jener 
Zeit  konnte  es  kaum  ausbleiben,  dass  der*  tapfere,  überall  thätige 
wolmarsche  Pastor  nicht  direet  angegriffen  ward. 

In  seiner  Gemeindewirksamkeit  bereiteten  die  Herrnhuter  der 
wolmarschen  Gemeinde  Waltern  gleichfalls  vielfache  Kämpfe  und 
Anfechtungen;  aus  den  Zeiten  Zinzendorflfs  war  ein  Theil  der  wol- 
marschen Letten  dieser  religiösen  Richtung  zugeneigt  und  hing  nur 
noch  äusserlich  der  lutherischen  Confession  an,  während  die  Bet- 
stunden und  Chorstunden  in  den  separirten  Bethäusern  (lettisch: 
„Kambur")  eifrigst  besucht  und  hochgehalten  wurden. 

Walter,  welchem  der  Besuch  dieser  Versammlungen  vorschrlffc- 
mässig  oblag,  erkannte  bald  die  kranke  Seite  dieser  Aussonderung 
sich  höher  dünkender  Gläubigen,  und  so  entschloss  er  sich,  in  der 
zunächst  dem  Pastorate  belegenenen  Confirmandenkämmer  gleich- 
falls Chorstunden,  jedoch  in  kirchlich -lutherischer  Richtung  einzu- 
führen, womit  er  dann  dem  Separatismus  Herrnhuts  allmälig  den 
Boden  entzog,  seine  Gemeindeglieder  der  Kirche  wiedergewann  und 
brauchbare  Institutionen  für  diese  nutzbar  machte. 

Diese  allseitige  Thätigkeit  Walter's  war  um  so  erstaunlicher,  als 
er  es  sich  zum  Grundsatz  gemacht  hatte,  seine  Reden  stets  nieder- 
zuschreiben, es  sei  denn,  dass  er  unvorhergesehen  eine  Amtshand- 
lung zu  vollziehen  oder  auszuhelfen  hatte.  Er  hielt,  wie  er  sagte, 
vom  „aus  dem  Aermel  schütteln^'  nichts,  und  ich  hatte  Gelegenheit 
zu  erfahren,  wie  ihm    diese  Amtsregel  einmal  zu  Nutzen  gereichte. 

Walter  schaute  bei  seinen  Reden  zwar  nur  selten  in  sein  Con- 
cept,  aber  es  begleitete  ihn  stets  auf  die  Kanzel ;  so  auch  als  er  einst 
in  seiner  wolmarschen  Kirche  den  Gottesdienst  hielt  und  eine  seiner 
feurigen  Reden  hielt,  der  man  nicht  anmerkte,  dass  sie  niederge- 
schrieben und  fleissig  zuvor  bearbeitet  und  memorirt  war.  Inmitten 
dieser  die  Gemeinde  fortreissenden  Predigt  erschallten  plötzlich  laute 
Tritte  im  Hauptgange  der  Kirche  und  zeigten  sich  mehrere  Junker 
des  am  Orte  einquartirten  Militärregiments,  welche  sich  ungenirl; 
an  die  Kirchenstühle  stellten,  rücksichtslos  sich  damit  beschäftigten 
die  Frauen  und  Jungfrauen  zu  beschauen  und  ihre  Ergebnisse  dar- 
über einander  mitzutheilen.  Die  Störung  der  andächtigen  Gemeinde 
war  eclatant,  von  Walter's  Rede  nichts  mehr  zu  hören  —  der  Redner 
schwieg,  über  die  ganze  Gemeinde  verbreitete  sich  eine  Beklemmung, 


Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter.  865 

man  kannte  den  heftigen  Charakter  des  Pastors,  alles  lag  für  den 
Moment  in  seiner  Hand;  auch  die  jungen  Militärs  schienen  betroffen 
und  beriethen,  was  zu  thun  sei;  da  bedeutete  ihnen  Walter  russisch 
von  der  Kanzel,  sie  möchten  die  Kirche  nicht  stören,  und  dieselben 
verliessen  beschämt  das  Gotteshaus.  Wiederum  erfolgte  eine  kürzere 
peinliche  Pause,  während  man  den  Kampf  des  heftigen  Mannes  mit 
sich  sah  —  dann  nahm  er  sein  Concept  zur  Hand  und  sprach: 
fliehe  Gemeinde,  ich  werde  Dir  nunmehr  den  Rest  meiner  Predigt 
vorlesen*,  und  schloss  dann  den  Gottesdienst  baldigst  ab. 

Als  er  dann  aus  der  Kirche  trat,  erschien  und  empfing  ihn  der 
Adjutant  des  als  überaus  streng  bekannten  coramandirenden  Obrist- 
lieutenants  Maslow  und  entbot  den  Herrn  Pastor  zu  diesem,  da  der- 
selbe etwas  äusserst  Dringendes  in  seiner  Wohnung  mit  ihm  zu  be- 
sprechen hätte.  Walter  begab  sich  sofort  zum  Commandirenden,  wo 
er  die  jungen  Sünder  bereits  gebeugt  seitab  aufgestellt  fand.  Der 
Obristlieutenant  ging  mit  hastigen  Schritten  im  Zimmer  auf  und  ab 
und  beim  Erscheinen  Walter's  in  der  Amtstracht  sofort  auf  diesen 
zu:  „Herr  Pastor",  redete  er  ihn  an,  „die  Zukunft  dieser  jungen 
leichtsinnigen  Leute  ruht  ganz  in  Ihrer  Hand,  verlangen  sie  gesetz- 
liche Beahndung,  so  werden  sie  sämmlich  cum  infamia  cassirt  und 
verfallen  der  Strenge  der  Gesetze  für  Störung  und  Schändung  des 
Gottesdienstes ;  wollen  Sie  ihnen  Vergebung  und  Nachsicht  zu  Theil 
werden  lassen,  so  bestimmen  Sie  selbst,  wie  ich  dieselben  von  mir 
aus  disciplin arisch  bestrafen  solP.  —  Walter  trat  dann  auf  die 
jungen  Leute  zu  und  hielt  ihnen  ernst  und  milde  ihr  Unrecht  so 
Herz  bewegend  vor,  dass  dieselben  zerknirscht  um  Vergebung 
baten.  , —  Da  aber  Walter's  Gemüth  begreiflich  schon  durch  die 
treffliche  Haltung  des  Obristlieutenants  besänftigt  war,  legte  er  selbst 
Bitte  um  Nachsicht  und  Milde  beim  ergrimmten  Regimentschef  ein, 
welcher  Arrest  auf  14  Tage  bei  Wasser  und  Brod  als  Strafe  de- 
cretirte  und  die  jungen  Leute  sofort  abführen  Hess,  mit  dem  Be- 
deuten, dass  nach  überstandener  Strafe  dieselben  sich  nochmals  zu 
Waltern  zu  begeben  hätten,  um  diesem  zu  danken. 

Sowie  dieser  Vorgang  gewiss  noch  in  den  Traditionen  der  wol- 

marschen  Gemeinde  lebt,  wenn  von  dem  „lieben  Pastor  Walter"  die 

Rede  kommt,  so  weiss  man  aber  auch  ausserhalb  Wolmar's  von  clem 

Gottesmanne   zu    erzählen,    welcher    aus    der  Ferne  hergereist   bei 

mancher  Gelegenheit  sich  besonders  hervorgethan  und  von  sich  reden 

gemacht  hat.     Petersburg,  Riga,  Dorpat,  Fellin  und  manche  einsame 

Landgemeinde   wissen   von    dem    wolmärschen    Pastor   dergleichen 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  11  n.  12.  38 


566  Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter. 

Rande  zu  geben.  Aber  nicht  nur  in  der  Heimat,  auch  fem  ab, 
im  Böhmerlande,  als  ich  Carlsbad  im  J^re  1868  besuchte,  wurde 
ich  an  den  damals  schon  als  Superintendent  fungirenden  Freund 
erinnert  und  fand  die  Spuren  seiner  Thätigkeit  und  Wirksamkeit 
wieder,  wo  es  am  wenigsten  zu  erwarten  stand.  Als  ich  eines 
Sonntags  morgens,  noch  fremd  mit  den  Einzelheiten  der  schönen 
Thalstadt  auf  der  ins  Carlsbaderthal  hinabführenden  sogenannten 
„prager  Kunststrasse^  dahin  wandelte,  schallte  von  der  Stadt  herauf 
ein  fernes  Eirchenglöckchen,  das  zum  Morgengottesdienste  einlud. 
Auf  meine  Frage  an  einen  daherfahrenden  Frachtführer,  was  das 
für  ein  Kirchlein  sei,  welches  da  drüben  läuten  liess,  erwiderte  der 
Fuhrmann:  „das  ist  unsere  evangelische  Kirche."  „Unsere"?  wand 
ich  ein,  „seid  Ihr  denn  evangelisch  in  diesem  ganz  katholischen 
Lande?"  ,,Ja,  Herr,  war  die  Antwort,  ich  bin  stolz  darauf  zu  den 
wenigen  Evangelischen  zu  gehören,  die  sich  hier  finden  lassen".  Wir 
machten  als  Glaubensgenossen  weitere  Bekanntschaft  und  der  schlichte 
Mann  theilte  mir  mit,  wie  ein  wackerer  fremder  evangelischer 
Pfarrer  aus  weitem  Norden  dieses  Kirchlein  gestiftet,  der  König  von 
Hannover  Patron  der  Kirche  sei  und  jährlich  zur  Badezeit  einen 
hannoverschen  Pfarrer  hierher  delegire.  Ich  stieg  rasch  bergab,  zum 
Kirchlein  an  der  Tepel.  Ein  eigenthümlich^s  Wohlbehagen  erfüllte 
mich,  als  ich  wieder,  nach  langer  Zeit,  Glaubensgenossen  an  einem 
Orte  um  mich  fand,  der  sonst  nur  katholisches  Gepräge  zur  Schau 
trägt.  Als  ich  in  besonderer  Stimmung  aus  der  erbaulichen  An- 
dachtsstunde längs  der  Wiese  heimging,  fügte  es  sich,  dass  ich 
mit  einem  langen  hageren*  fremden  Manne  zusammentraf,  welcher, 
ein  carlsbader  Kunsttischler  (ich  denke,  er  hiess  Wagner),  mir  er- 
zählte, nachdem  er  in  mir  aus  dem  Dialekt  den  Nordländer  erkannt* 
hatte,  dass  Pastor  Ty alter  aus  Wolmar  in  Livland  diese  carlsbader 
evangelische  Kirche  gegründet  habe,  indem  er  die  Feier  des  Ge- 
burtstages des  Kaisers  Nicolaus  benutzend  eine  damals  gerade  an- 
wesende grössere  Anzahl  seiner  Landläleute  und  sonst  gegenwärtigen 
Glaubensgenossen  vermocht  habe,  sich  dazu  zusammenzuthun.  — 
Einige  höher  stehende  Personen  hätten  denn  auch  sofort  die  CoUecte 
begonnen,  die  Concession  beim  Kaiser  von  Oesterreich  erwirkt,  und 
nach  Verlauf  einiger  Jahre,  während  welcher  Walter  immer  wieder 
in  Carlsbad  erschienen,  wäre  in  der  That  die  evangelische  Kirche 
erbaut  worden,  Walter  selbst  aber,  welchen  der  Erzähler  „seinen 
theuren  Freund  und  Hausgenossen"  nannte,  da  er  stets  bei  ihm  ge- 
wohnt habe,    Walter  selbst,    obgleich   er    Mitkirchenvorsteher    der 


Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter.*  B67 

Kirche  sei,  kenne  deren  gänzlichen  Aufbau  noch  nicht;  was  mich 
veranlasste  sofort  ein  Bild  derselben  anzukaufen  und  Waltern  brief- 
lich zuzustellen.  Er  hat  grosse  Freude  darüber  empfunden  und  mir 
oftmals  dafür  gedankt. 

Aber  nicht  nur  diese  evangelische  Kirche  verdankt  dem  fernen 
Pastor  aus  dem  Norden  ihre  Entstehung,  auch  in  anderer  Weise  hat 
sich  Walter  ein  Andenken  in  Carlsbad  gesetzt,  das  nicht  leicht  aus 
dem  Gedächtnisse  der  dortigen  Katholiken  schwinden  dürfte. 

In  Carlsbad  war  nämlich  während  Walter's  Anwesenheit  ein 
evangelischer  Badegast  zur  Zeit^  als  es  eben  noch  keine  einzige 
evangelische  Kirche  daselbst  gab,  gestorben  und  ein  Landsmann 
hatte  einen  gerade  daselbst .  anwesenden  evangelischen  Pfarrer  ge- 
beten, die  Beerdigung  zu  vollziehen;  die  katholische  Geistlichkeit 
hatte  solches  aber  nicht  gestatten  wollen.  Als  Walter  hiervon  Kunde 
erhielt,  begab  er  sich  zu  dem  Amtsbruder  und  bot  alles  auf,  den- 
selben zu  veranlassen,  nicht  zurückzutreten;  dieser  aber  erklärte, 
dass  er  es  nicht  wage,  gegen  die  katholische  Geistlickeit  aufzutreten. 
Die  Beerdigungsceremonie  der  Katholiken  begann  bereits,  als  Walter 
sich  das  geistliche  Ornat  vom  zaghaften  Amtsbruder  erbat  und  sich 
dem  Trauerzuge  anschloss.  Als  dann  der  Sarg  am  Grabe  angelangt 
war  und  eben  die  katholische  Geistlichkeit  die  Function  beginnen 
wollte,  trat  plötzlich  Walter  an  die  Gruft,  dankte  den  überraschten 
katholischen  Brüdern  dafür,  dass  sie  in  der  Meinung,  es  sei  kein 
evangelischer  Pfarrer  vorhanden,  den  Todten  zur  Erde  bestatten 
wollten,  und  vollzog  zum  Erstaunen  und  zu  grösster  Erbauung  aller 
Anwesenden  in  seiner  herzgewinnenden  Weise  die  Leichenbestattung, 
darauf  hinweisend,  wie  Gott  in  Gnaden  ihn  aus  fernem  Norden  her- 
beschieden und  ihm  vergönnt  habe,  seinem  im  fremden  Lande  ver- 
storbenen unbekannten  Glaubensgenossen  die  letzte  Ehre  zu  erweisen. 

Die  Wirkung,  so  erzählte  man  in  Carlsbald,  war  eine  ausser- 
ordentliche gewesen,  selbst  die  Katholiken  hätten  den  wackeren 
Gottesmann  aus  dem  Norden  beglückwünscht  und  ihm  Verehrung 
gezollt. 

Aber  Walter  war  nicht  nur  stark  und  tapfer,  sondern  überaus 
bescheiden  und  demüthig,  und  es  ist  mir  vergönnt  gewesen,  auch  bei 
solchen  Gelegenheiten  ihm  nahe  zu  sein. 

Auf  einem  Besuche  im  wolmarschen  Pastorate,  als  ich  nicht 
mehr  in  Wolmar  lebte,  fand  ich  mich  gerade  bei  ihm  ein^  als  seine 
eben  auf  dem  Landtage  erfolgte  Wahl  zum  Generalsuperintendenten 
ihm  officiell   angezeigt  worden  war.  Ich  fand  ihn  in  seinem  Studier- 

38* 


668  Erinnörungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter. 

Zimmer  mit  dem  offlciellen  Papier  in  der  Hand^  ernst  und  bewegt 
dasitzen.  „Lies  einmal^^,  sagte  er,  ,,ich  mag  darauf  nicht  eingehen, 
ich  kenne  die  Welt  und  auch  mich  selbst  genug,  meine  starken  und 
auch  meine  schwachen  Seiten;  ich  tauge  nicht  zum  Führer  der  Geist- 
lichkeit.'* 

Eis  folgte  zwischen  uns  eine  längere  Discussion  und  als  darauf 
mehrere  Prediger  eintrafen,  und  unter  andern  auch  der  obenerwähnte, 
viel  bei  ihm  geltende  Sokolowski,  und  alle  ihm  die  Pflicht  der 
Amtsannahme  yorhielten  —  da  sagte  er  traurig,  indem  er  auf  seinen 
selbstgepflegten  Garten*  hinwies :  „es  ist  schwer,  seinen  lieben  stillen 
Fleck  Erde  aufzugeben  und  ein  Ftlhrer  zu  werden,  wo  man  sich 
lieber  führen  lassen  möchte^  —  und  als  dann  weiter  seine  Intro- 
duction  als  Generalsuperintendent  in  der  rigaschen  Jacobskirche  statt- 
fand, begann  er  seine  Ansprache  an  die  Gemeinde  tiefbewegt  nach 
längerer  Kampfespause  mit  den  Worten :  „So  ist  es  denn  geschehen, 
ich  stehe  'jetzt  als  Euer  neuer  Oberhirte  vor  Euch,  Gott  wolle  mir 
'und  Euch  dabei  gnädig  sein.'' 

Walters  grossartige  Thätigkeit  in  dieser  seiner  neuen  Stellung 
ist  seinem  Lande  bekannt,  vom  Verfasser  der  Brochüre  ausführlichst 
behandelt  und  mit  amtlichen  Daten  belegt;  es  ist  aber  vielleicht 
weniger  bekannt,  dass  er  dabei  mit  vielen  und  namentlich  auch  mit 
Nahrungssorgen  zu  kämpfen  hatte,  da  das  Einkommen  des  General- 
superintendenten in  keinem  Verhältnisse  zu  seiner  Stellung  steht. 
Man  wusste  das,  obgleich  er  dessen  niemals  auch  nur  andeutend 
erwähnt  hatte.  Der  nächste  Landtag  beschloss  deshalb,  ihm  jährlich 
eine  Subvention  von  1000  Rbln.  aus  der  Rittercasse  zu  bewilligen. 
Einige  seiner  Freunde  verehrten  ihm  eine  bequeme  Kutsche  zu 
seinen  Reisen. 

Als  ich  gerade  an  dem  Tage  Walter  in  Riga  besuchte,  da  ihm 
durch  eine  Zuschrift  des  livländischen  LandrathscoUegiums  die  vor- 
erwähnte jährliche  Subvention  von  1000  Rbln.  officiell  eröffiiet  wor- 
den war,  zeigte  er  mir  diese  Zuschrift  und  zugleich  seine  absagende 
Antwort,  welche  zwar  bescheiden  aber  entschieden  eine  Gratification 
zurückweisen  zu  müssen  erklärte,  die  er  weder  verdient  habe,  noch 
mit  seiner  Stellung  als  Verkündiger  freien  Wortes  vereinbar  halte. 
Ich  bat  ihn  einfach,  jedenfalls  hierin  nichts  zu  übereilen  und  sich 
die  Sache  noch  zu  überlegen.  Inzwischen  fanden  sich  auch  andere 
Besucher  bei  ihm  ein  und  als  ör  von  allen  Seiten  hörte,  wie  die 
Ritterschaft  es  mit  dieser  Bewilligung  nur  wohl  gemeint  habe  und  die 
Freude  über  diese  Bewilligung  allgemein  sei,  schrieb  er  eine  dankende 


Ermnerungei?i  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter.  569 

Antwort,  bei  welcher  er  sich  aber  seine  freie  Stellung  wahrte,  und 
er  erklärte  mir  später,  ihn  habe  der  Umstand  zumeist  zu  dieser 
Antwort  bewogen,  dass  er  jener  Unterstützung,  die  ihm  während 
der  Zeit  seiner  schweren  Subsistenzsorgen  von  verschiedenen  nicht 
genannten  Gönnern  zuflössen,  nunmehr  enth9ben  sei. 

Beweisen  diese'  Züge  unseres  Walter  dessen  bescheidenes  Ver- 
halten gegenüber  4er  ihm  gewordenen  Anerkennung  und  Hocb- 
stellung,  so  kann  ich  auch  nicht  unerwähnt  lassen,  wie  er  gerade 
in  Zeiten  höchsten  Arbeitslebens  oftmals  sich  so  sehr  abgespannt 
und  erschöpft  fühlte,  dass  man  sich  des  Mitleids  nicht  erwehren 
konnte.  Er  gedachte  dann  gelegentlich  des  horazschen  i,heatu8  ille 
gui  procul  negotÜ8^\ 

Walter  hatte,  wie  auch  die  vorliegende  Lebensskizze  dessen 
erwähnt,  als  Student  in  Dorpat  nicht  einer  der  Landsmannschaften 
angehört,  sondern  der  allgemeinen,  in  Facultäten  gesonderten  Bur- 
schenschaft. Bei  der  50jährigen  Jubelfeier  der  Universität  im  Jahre 
1852  erschien  auch  er  und  zählte  zu  den  wenigen  Veteranen  aus 
jenen  Zeiten,  deren  in  der  Studentenwelt  nur  noch  traditionell  erwähnt 
ward.  Die  Verbindung  der  „Livonia"  hatte  an  alle  diejenigen, 
welche  aus  früheren  Zeiten  der  Burschenschaft  angehört  hatten,  die 
Aufforderung  erlassen,  sich  in  ihrem  Versammluugslocale  einzufinden. 
Dort  fand  ich  in  jenen  Tagen  den  alten  Burschenschafter  unter 
jungen  und  alten  Comilitonen,  wo  er  dann  auf  Aufforderung  alsbald 
das  Wort  ergriff  und  den  Anwesenden  ein  Bild  einer  Zeit  gab, 
welche  andere  Ziele  und  Zwecke  verfolgt  hatte  und  längst  verklungen 
war.  Alles  horchte  gespannt  und  begierig  den  Mittheilungen  des 
ehemaligen  Studenten  und  endlich  brachte  man  stürmisch  das  Wohl 
des  Ehrengastes  aus,  der  jetzt  auch  Ehrencurator  der  Universität 
geworden  war.  Denn  als  in  der  Aula  die  Festrede  des  Rectors  zum 
Schluss  kam,  verkündigte  dieser  die  vom  Conseil  der  Universität 
erwählten  Ehrenmitglieder  derselben,  und  als  er  neben  den  anderen 
Personen  auch  den  Namen  des  allgefeierten  Dr.  Ferdinand  Walter, 
Pastors  zu  Wolmar,  abrief,  ging  ein  dumpfes  Brausen  durch  den 
überfüllten  Raum,  und  aller  Augen  richteten  sich  auf  den  seitab  in 
einer  Fensternische  dasitzenden  Walter,  der  ein  wenig  ob  der  nicht 
geahnten  Ehre  erröthete  und  dem  vielseitigen  freundlichen  Zunicken 
entgegenlächelte. 

Wo  Walter  sich  in  diesen  Tagen  öffentlich  zeigte,  trug  man  ihm 
besondere  Huldigung  entgegen ;  so  denn  auch  als  er  eines  Mittags 
später    als   die  schon  erheiterte  Gesellschaft  im  gemeinschaftlichen 


^70  Erinnerungen  an  Bischof  Dr.  Ferdinand  Walter. 

Speisesaale  erschien.  Der  bekannte  Nordpolreisende,  Akademiker 
and  Staatsrath  M.  hatte  ihn  kaam  erschaut,  als  er  mit  gehobenem 
Glase  einen  Stuhl  bestieg,  sich  „silentium"  erwirkte  und  dann  aus- 
rief: „Seht  da  den  Pastor  aller  Pastoren,  Ferdinand  Walter  —  er 
lebe  hoch!** 

Haben  die  vorerzählten  Züge  aus  dem  Leben  des  verewigten 
Freundes  auch  ursprünglich  nicht  der  OeflFentlichkeit  übergeben  wer- 
den sollen ,  so  glaubte  ich  der  deshalb  an  mich  ergangenea  Auf- 
forderung jetzt  nicht  mehr  renitent  gegenübertreten  zu  dürfen,  da 
es  galt,  den  Lebensabriss  des  Freundes  hier  anzuzeigen  und  zu  em- 
pfehlen, und  auch  meinerseits  für  eine  zu  hoffende  ausführliche  Bio- 
graphie Walter's  Einzelheiten  zu  geben,  welche  vielleicht  weniger 
bekannt  sind,  dennoch  aber  dem  vollen  Lebensbilde  nicht  fehlen 
dürften.  Es  bleibt  zu  wünschen  und  zu  hoffen,  dass  auch  andere 
mit  dem  nicht  zurückhalten  werden,  was  ihnen  aus  dem  reichen 
Leben  Ferdinand  Walter's  Bedeutungsvolles  bekannt  ist,  — 

Auch  von  ihm  konnte  man  sagen:  „wer  ihn  kannte,  der  liebte 
ihn,  wer  ihn  aber  nicht  liebte,  hat  ihn  nicht  gekannt^  —  ihn,  der 
das  schöne  Lebens  wort  unter  sein  erstes  Bild  schrieb: 

„Soviel  Einer  liebet,  soviel  lebt  er!** 

Mitau,  den  1.  Dec.  1870.  Assessor  J.  Eckardt. 


Notizen. 


Viel  Liebe,  grosses  Interesse  hat  die  heimische  Geschicht- 
schreibung alle  Zeit  der  Colonisationsepoche  entgegengetragen.  Die 
Geschicke  des  mannhaften  Bischofs  und  seines  streitbaren  Gefolges 
an  Rittern,  Priestern,  Kaufleuten,  ihr  jugendlicher  Thatendrang,  ihre 
nie  ermüdende  Lust  des  Schaffens,  sind  häufig  Gegenstand  der  Be- 
handlung geworden.  Wie  sollte  man  auch  des  klugen  Bauherrn^  ver- 
gessen, so  lange  das  Werk,  das  er  gegründet,  trotz  aller  Wetter, 
welche  über  dasselbe  hingezogen,  noch  in  die  Luft  strebt  und 
selbst  den  Meister  lobt,  der  Dauerndes,  Lebensfähiges  hervorzurufen 
wusste ! 

So  gross  der  Eifer  gewesen,  das  Gründungswerk  zur  Darstellung 
und  zum  Yerständniss  zu  bringen,  will  es  doch  scheinen,  dass 
dabei  die  Aufgabe  des  Historikers  nicht  häufig  richtig  erfasst,  dass 
weder  die  Vorarbeit  der  Prüfung  zu  Gebote  stehender  Mittel, 
noch  die  Hauptarbeit  der  Formung  des  StoflFs  befriedigend  vollbracht 
wurden.  Wir  erlauben  uns  dieses  zum  eigenen  Bedauern  so  pessi- 
mistisch ausfallende  Urtheil  im  Einzelnen  näher  zu  begründen. 

Ein  günstiges  Geschick  hatte  jener  Periode  einen  gleichzeitigen, 
ihrer  werthen  Darsteller  gegeben.  Das  Werk  des  Lettenpriesters 
Heinrich  ist  unter  zeitgenössischen  unerreicht  durch  frische,  lebens- 
warme, ausführliche  Schilderung.  Es  ist  uns  lange  nicht  vergönnt 
gewesen,  dieses  Glückes  ungetrübt  zu  geniessen:  ein  Unstern  waltete 
über  der  ersten  Herausgabe  und  liess  dem  verdienten  Gruber  die 
schlechteste  der  schlechten  Handschriften  in  die  Hand  fallen,  in  wel- 
cher durch  die  commentirenden  und  irrig  ergänzenden  Bemerkungen 
von  Lesern  einer  weit  späteren  Zeit  der  reine  Wein  des  ursprüng- 
lichen Werkes  arg  verfälscht  geboten  wurde. 


672  Notizen. 

An  Anhaltspunkten,  die  verriethen,  wie  schwankend  die  Grund- 
lage sei,  auf  welcher  man  sich  hier  bewegte,  fehlte  es  hier  nun 
keineswegs.  Es  schienen  sich  auch  in  einer  revalschen  Handschrift 
schon  vor  geraumer  Zeit  die  Mittel  zu  bieten,  ein  festeres  Fundament 
zu  legen.  Gleichwohl  entschlug  man  sich  dieser  Bedenken  als 
1853  —  hundert  und  dreizehn  Jahre  waren  seit  der  ersten  Ver- 
öffentlichung verflossen  —  in  den  Scriptores  verum  lAvonicarum  zur 
erneuten  Herausgabe  geschritten  wurde.  Mit  einer  leider  gar  zu 
grossen  Genügsamkeit  beschränkte  man  sich  auf  den  Abdruck  der 
gruber'schen  Arbeit.  Der  ^Pietät  gegen  die  Manen"  des  letzteren 
war  vollauf  Rechnung  getragen  und  gleichzeitig  ein  Vergehen  gegen 
die  livländische  Geschichtsforschung  begangen,  die  Verwirklichung 
der  damals  schon  vorhandenen  Möglichkeit,  zu  einer  reineren  Erkennt- 
niss  jener  Zeit  durchzudringen,  abermals  ins  Unbestimmte  vertagt. 

Die  heilsame  Revolution  vollzog  sich  endlich  durch  Veröffent- 
lichung jener  unverfälschten  Handschrift,  die  Jahrhunderte  lang  unter 
den  literarischen  Schätzen  eines  polnischen  Magnaten  verborgen  ge- 
legen. Gar  manches,  was  als  des  Schriftstellers  ureigenster  Gedanke 
erschienen,  was  charakteristisch  gefunden  war  für  seine  Auffassung 
der  Dinge,  ergab  sich  als  die  irreleitende  Bemerkung  der  späteren 
Commentatoren ;  gar  viele  weitausgesponnene  Combinationen,  die  sich 
auf  sie  gründetien,'*fielen  zusammen  gleich  Kartenhäusern. 

Doch  der  zamoyskische  Codex  war  ein  Torso,  das  letzte  Dritt- 
theil  der  Chronik  fehlte  ihm.  Hatte  man  nun  biaher  einige  in  un- 
seren Provinzen  vorhandene  Handschriften  —  namenclich  jene  re- 
valsche  und  die  scodaiskische  in  Riga  —  wegen  ihrer  Jugend 
verächtlich  über  die  Achsel  angesehen,  obgleich  das  reiner  erhaltene 
Geblüt  deutlich  aus  ihnen  sprach,  so  erkannte  man  jetzt  wenigstens 
äusserlich  an  der  näheren  Verwandtschaft  mit  der  warschauer 
ihren  relativ  ausserordentlichen  Werth.  Mit  ihrer  Hülfe  konnten, 
wenn  nicht  alle,  so  doch  die  meisten  und  gefährlichsten  Irrthümer 
aus  dem  Rest  des  Textes  ausgeschieden  werden.  Auf  dieser  Grund- 
lage erhielten  wir  eine  deutsche  Uebersetzung  des  Schriftstellers, 
welche  zwar  unser  Verlangen  nach  der  kritischen  Ausgabe  in  der 
Ursprache  nicht  zum  Vollen  befriedigen  kann,  aber  doch  dem  einst- 
weiligen Bedürfniss  nach  einer  gesicherteren  Basis  Genüge  thut. 

War  es  schwach  um  den  Text  bis  in  die  neuere  Zeit  bestellt, 
so  hatte  die  Kritik  auch  in  anderer  Richtung  sich  nicht  gerade  reg- 
sam gezeigt.  Man  war  gewohnt,  Heinrich,  der  in  der  That  ein  ver- 
trauenerweckender Führer  zu  sein  scheint,  auf  guten  Glauben  über- 


Notisen.  678 

allhin  zu  folgen.  Schien  es  dodi  beinahe  unberechtigtes  Misstrauen, 
ihn,  der  selbst  so  treuherzig  versichert^  nicht  um  Schmeichelei  oder 
äusseren  Vortheils  willen,  sondern  zu  Christi  und  der  «eligen  Jung- 
frau Ehren  sein  Werk  niedergeschrieben  zu  haben,  dem  Kreuzfeuer 
der  Kritik  auszusetzen.  Selten  hatte  man  sich  die  Frage  vorgelegt, 
noch  weniger  sie  beantwortet,  ob  denn  der  Schriftsteller  überall  und 
für  alle  von  ihm  berührten  Verhältnisse  äusserlich  und  innerlich  ge- 
nügend ausgerüstet  war,  ob  er  die  volle,  ungeschminkte  Wahrheit 
zugestehen,    sie  allenthalben  sagen  konnte,   ob  er  sie  sagen  wollte. 

Neuere  Untersuchungen  konnten  nun  zwar  zeigen,  dass  es  ihm 
in  der  That  um  die  Wahrheit  Ernst  ist,  dass  er  sich  nur  selten,  ver- 
führt durch  persönliche  Vorliebe  oder  Abneigung,  ein  Abweichen  von 
ihr  erlaubt,  aber  auch^  dass  wesentliche,  uns  heutzutage  höchlichst 
inieressirende  Theile  seines  Berichts  unter  besonderen  Bedingungen 
entstanden  und  daher  ganz  anders  ausgefallen  sind. 

Der  Verfasser  ist  durchaus  ein  Mann  der  geistlich-praktischen 
Wirksamkeit.  Sein  Lebtag  war  er  den  siegreichen  Heeren  taufend 
gefolgt  oder  hatte  fem  dem  Mittelpunkte  deutscher  Herrschaft  Neu- 
bekehrten „die  Glückseligkeit  des  ewigen  Lebens  dargelegt**.  Der 
hohen  Politik  seiner  Zeit  hat  er  stets  fern  gestanden;  weder  ist  er 
ihren  Acten  je  näher  getreten,  noch  zeigt  er  überhaupt  für  sie  Ver- 
ständniss  und  Interesse.  Als  weiteres  wesentliches  Moment  tritt 
hinzu,  dass  sein  Werk  nicht  persönlichem  Antriebe  seine  Entstehung 
dankt,  nicht  etwa  bestimmt  war,  lange  im  Verborgenen  zu  bleiben. 
Es  ward  hervorgerufen  durch  die  Aufforderung  des  Landesherr»  und 
wohl  in  der  ausgesprochenen  Absicht,  ihm  sofort  weite  Verbreitung 
zu  geben.  Um  uns  eines  modernen  Ausdrucks  zu  bedienen:  Heinrich 
ist  ein  officiöser  Schriftsteller. 

Da^it  erklärt  siQh's,  dass  er,  der  sonst  so  gern  in  breiter,  be- 
hg^licher  Darstellung  sich  bewegt,  die  Vorgänge  und  Handlungen 
aus  staatlichem  Bereich  oft  ungenau,  selbst  unrichtig  erzählt^  sie  in 
kaum  verständlicher  Anspielung  andeutet  oder  völlig  verschweigt. 
Weder  zeigt  er  genügend,  wie  sich  die  Machthaber  in  dem  neuge- 
gründeten Bau  staatlich  einrichteten,  noch  wie  sie  in  demselben  mit 
einander  lebten,  wie  sie  zu  seinem  Schutze  Dritten  gegenübertraten. 
Zuweilen  ist  es  das  eigene  mangelnde  Interesse,  häufiger  die  Rück- 
sicht auf  die  Herrscher,  welche  ihn  hier  veranlassen,  wenn  nicht  die 
Wahrheit  zu  entstellen,  so  doch  das  ihm  bekannte  Wahre  zu  über- 
gehen, abzuschwächen,  zu  verstecken.  Das  Ergebniss  ist,  dass  wir 
auf  diesem  Gebiete  unserem  nicht  immer  scharfsichtigen  oder  unbe- 


674  Notizen. 

fangenen  Führer  nur  mit  Vorbehalt  folgen  dürfen,  dass  wir  uns  selbst 
noch  fleissiger  als  sonst  nach  den  hier  und  da  am  Wege  ausge- 
steckten Wahrzeichen  umzuschauen  haben.  Als  solche  dienen  vor 
allem  die  gleichzeitigen  Urkunden,  welche  ebenso  häufig  seine  An- 
gaben berichtigen,  als  sie  dieselben  venrollständigen. 

Leider  giebt  es  auf  diesem  oft  verschlungenen  Pfade  auch  viele 
falsche  Geleitsmänner,  die  eine  selbständige  Eenntniss  desselben 
zu  besitzen  schienen,  während  sie  doch  nur  den  Spuren,  welche 
jener  hinterlassen,  nachtraten,  dabei  häufig  von  denselben  abirren 
und  ins  Grundlose  führen.  Die  Chroniken  der  späteren  Jahrhunderte, 
vor  anderen  die  des  Moritz  Brandis,  haben  lange  Zeit  keine  derartige 
Verurtheilung  erfahren.  In  ihren  von  dem  Bericht  Heinrich's  oft 
abweichenden,  denselben  scheinbar  ergänzenden  Angaben  hat  man 
eine  in  ihrem  Ursprünge  von  jenem  unabhängige  Ueberlieferung  er- 
kennen wollen,  die  bis  zu  jenen  späteren  Chronikenschreibern  noch 
durchgedrungen,  uns  Nachgeborenen  aber  verloren  gegangen  wäre. 

Auch  hier  hat  neuerlich  die  entgegengesetzte  Ansicht  sich  gel- 
tend machen  dürfen,  es  sei  uns  in  jenen  Compilationen  keineswegs 
Werthvolles  erhalten,  in  der  Hauptsache  vielmehr  die  durch  aus- 
schweifende Phantasie  und  abenteuernde  Combination  entstellte  Er- 
zählung des  Lettenpriesters.  Nicht  zwei  neben  einander  fliessende 
Ströme  führen  uns  also  Erkenntniss  jener  fernen  Zeit  zu:  es  ist  stets 
der  eine  Strom,  der  dort  klar  und  rein,  hier  ai^  getrübt  und  ver- 
sc!hlammt  zu  uns  gelangt.  Durch  diese  Darlegung  ist  manche  selt- 
sam klingende  Mär  ins  Fabelreich  verwiesen  worden. 

Auf  solcher  Grundlage  erhoben  sich  die  Darstellungen  unserer 
ältesten  Geschichte.  Sehen  wir  hier  auf  diese  selbst,  man  wird  ge- 
stehen, dass  die  nothwendige  Selbständigkeit  des  Geschichtschreibers 
gegenüber  seinen  Quellen  nicht  häufig  vorhanden  war.  Li  der  Regel 
bedeuteten  sie  demselben  mehr  als  blossen  Stoff,  welchem  erst  die 
Form  zu  geben  sei.  Man  bequemte  sich  völlig  den  Neigungen  und 
Anschauungen  des  Gewährsmannes,  und  die  Aufgaben  des  Historikers 
nach  Verarbeitung,  nach  Durchdringung  des  Gegebenen  traten  davor 
zurück.  Heinrich  hat  seine  Lust  am  Erzählen  mannhafter  Eriegs- 
thaten,  und  es  ist  eine  Lust,  bei  ihm  zu  lesen  von  kühner  Recken 
Streiten.  Doch  der  Historiker,  der  sich  darauf  beschränkt,  jene  ein- 
zelnen Schilderungen  zu  wiederholen,  leistet  dem  Leser  schlechten 
Dienst.  Er  vermag  es  nicht,  letzteren  von  der  subjectiven  Auffassung 
der  Quelle  zu  einer  freieren,  allgemeineren  zu  erheben,  und  kann 


Notizen.  575 

für  den  unter  seinen  Händen  zerrinnenden,  nur  jener  anhaftenden 
Duft  der  Unmittelbarkeit  gleichzeitig  nicht  entschädigen. 

So  sind  unsere  Behandlungen  erfüllt  von  Kriegsgeschrei  und 
Waflfengetöse.  Jedes  einzelne  Jahr  eröffnet  die  wohlbekannte  Per- 
spective auf  verwüstete  Gaue,  verbrannte,  Dörfer,  Mord  und  Ge- 
fangennahme des  Volkes ,  unendlichen  Kriegsraub.  Deutsche 
Tapferkeit,  lettischer  Blutdurst,  Arglist  der  Liven,  zähe  Widerstands- 
kraft des  Estenvolkes  werden  durch  immer  neue  Beispiele  illustrirt. 
So  sehr  uns  die  Erzählung  der  einzelnen  Kriegsfahrten  mit  ihren 
anschaulichen  Details  anmuthet,  so  ermüdend,  das  Interesse  zer- 
störend wirken  sie  in  ihrer  steten  Wiederkehr.  Fehlt  es  dazu,  wie 
gar  häufig,  an  der  passenden  Gruppirung,  wird  der  Leser  ohne  Ruhe, 
ohne  Rast,  ohne  Erbarmen  auf  dem  blutigen  Kriegspfade  vorwärts 
gedrängt,  wird  ihm  nie  in  einer  dazwischentretenden  Beurtheilung 
der  Ereignisse  Gelegenheit  geboten,  den  Blick  prüfend  rückwärts 
und  aufschauend  zur  Öeite  zu  wenden,  so  steht  er  endlich  da,  er- 
mattet, ohne  Klarheit  der  Dinge,  die  vorgegangen,  vergebens  die 
Feuersäule  erspähend,  welche  nach  vorwärts  diesen  Wüstenweg  er- 
hellen soll. 

Wir  glauben  uns  bei  dieser  Art  von  Geschichtschreibung  auf 
einem  weiten  Felde  zu  befinden,  das  mit  zerstreuten  Baustücken 
besäet  ist:  machen  wir  den  mühseligen  Versuch,  diese  in  ein  Ganzes  zu 
fügen,  gar  häufig  wird  der  richtige  Stein,  der  eine  Hauptverbindung 
herstellt,  nicht  selten  auch  der  Schlussstein,  der  das  Gebäude  krönt, 
vermisst  werden.      • 

Entsprechend  der  Geschmacksrichtung  des  Priesters  aus  Lettland 
bieten  auch  die  seiner  Darstellung  folgenden  Bearbeitungen  gar  wenig 
über  das  eigentliche  staatliche  Leben.  Wir  sehen  fort  und  fort  das 
Werk  einer  grossen,  oft  grausamen  Zerstörung  vorschreiten,  eine 
jener  unvollendeten  Bildungen  nach  der  anderen  in  Trümmer  sinken; 
welches  aber  die  vollkommeneren  Organisationen  waren,  welche  auf 
den  Trüinmern  sich  erhoben,  welche  Früchte  ftir  Civilisation  und 
Humanität  diesem  blutgetränkten  Boden  danach  entsprossen,  bleibt 
meist  unserem  Gesichtskreis  entrückt.  Wird  schon  der  christlich- 
deutsche Staatsbau  an  sich  mit  den  an  ihm  arbeitenden  Kräften,  sei 
es  in  ihrem  Widerstreit,  sei  es  in  einmüthigem  Zusammengehen, 
unserem  Verständniss  wenig  näher  gebracht,  in  geringerem  Grade 
dürfen  wir  das  in  Bezug  auf  die  Bedeutung  erwarten,  welche  jene 
Ereignisse  in  Verbindung  mit  den  Strefoungen  der  Kirche,  davon  im 


576  Notizen. 

dentadieQ  Volk  fllr  die  damalige  Zeit  haben,  und  welehe  sie  für 
die  Zukunft  beanspruchen  dürfen. 

Auf  allen  diesen  Gebieten  musste  rüstig  fortgeschritten  werden 
—  und  mancher  Schritt  ist,  wie  angedeutet  worden,  bereits  vorwärts 
getban  —  sollte  die  heimische  Geschichtsmuse  nicht  auch  fernerhin 
als  das  Aschenbrödel  unter  den  anderen  deutschen  Landesgeschichten, 
ihren  Schwestern,  erscheinen.  Uebertriflft  sie  ja  doch  gleich  jenem 
Aschenbrödel  des  Volksmärchens  die  anderen  reichgeschmückten 
Fürstentöchter  an  Schönheit  und  edler  Fülle,  nur  fehlt  ihr  das  schim- 
mernde Prachtkleid,  die  Glieder  umhüllt  ein  eintönig  Alltagsgewand. 

Solch  erfreulichen  Fortschritt  zum  Bessern  und  Guten  bekundet 
auch  die  Schrift  Richard  Hausmann's:  ^Das  Ringen  der 
Deutschen  und  Dänen  um  den  Besitz  Estland's  bis  1227.'' 

Jene  zeitweilige  Erwerbung  für  das  Dänenreich  hat  ein  Anrecht, 
auch  in  ihrer  Selbständigkeit  aufgefasst  zu  werden,  obgleich  sie  nur 
als  Bruchstück  der  gleichzeitig  von  Deutschland  ausgehenden  Coloni- 
sation  erscheint.  Anfänglich  zwar  im  Gegensatz  zu  dieser,  vollzog 
sie  sich  doch  weiterhin  ganz  im  Anschluss  an  dieselbe.  Die  den 
Zug  Waldemar's  von  1219  vorbereitenden  Ereignisse,  die  Gründung 
der  dänischen  Colonie  und  ihr  erstes  Wachsthum  (1219 — 1220),  ihr 
Uebergewicht  über  das  Deutschthum  (1220—1222),  ihr  Sinken  durch 
den  Estenaufstand  und  die  Gefangenschaft  des  Königs  (1222 — 1225), 
ihr  Untergang  (1225 — 1227),  sind  die  fünf  Abschnitte,  in  welche  die 
neue  Schrift  angemessen  ihren  Stoff  gliedert.  An  sie  reihen  sich 
drei  speciellere  Ausführungen,  welchen  unseres  Dafürhaltens  durch 
weit  knappere  Fassung  kein  Abbruch  geschehet  wäre. 

Den  Traditionen  seines  Reiches  folgend,  deren  hochstrebendste 
es  war,  die  baltischen  Uferlande  herrschend  zu  umspannen,  aus  dem 
Baltischen  Meere  einen  dänischen  See  zu  machen,  hatte  König  Wal« 
demar  seine  Flotte  §cfaon  häufig  nach  Osten  geführt.  Die  Bitte  der 
Uvlätndischen  Bischöfe  um  Beistand  gegen  die  Wuth  der  Heiden,  das 
Andringen  der  Russen  gab  nach  längerer  Unterbrechung  neuen  er- 
wünschten Anlass,  in  jene  Verhältnisse  einzugreifen.  Die  Bitte,  sie 
erscheint  als  schwerster  politischer  Fehler,  der  von  livländischer 
Seite  begangen  ist.  Die  Unterwerfung  des  BJstenvolks  wturd  nun  von 
Nord  und  Süd  zugleich  angegriffen,  doch  zum  geringsten  Theile  von 
dänischer,  mit  entschiedenem  Glücke  von  deutscher  Seite  vollführt. 
Herrschte  über  beiderseitigen  Anspruch  keine  Klarheit,  oder  gingen 
die  der  einen  Partei  dem  grösseren  Erfolge  der  Waffen  ent- 
sprechend jetzt  weiter:  bei  der  Besetzung  des  Erworb^ien  tritt  die 


Notissen*  577 

Zwietracht  der  Sieger  so  auf  weltliohem,  wie  auf  geistlichem  Ge- 
biete gleich  heftig  hervor.  Auch  in  der  diplomatischen  Verhandlung 
bleibt  der  sieggewohnte  König  zunächst  Sieger.  Der  schmähliche 
Abfall  des  Ordens  von  der  deutschen  Sache  sichert  dem  Dänen  das 
ganze  nördliche  Estenland*  Der  Erfolg  steigert  seine  Kühnheit,  seine 
Begehrlichkeit;  auch  nach  Livland's  Freiheit  streckt  er  verlangend 
die  Hand  aus.  Zwar  vereitelt  der  nationale  Widerstand  das  Be^ 
ginnen,  doch  seine  Herrschaft  über  das  Estenland  scheint  durch 
die  erzwungene  deutsche  Bundesgenossenschaft  gesicherter  als  je. 
Da  erschütterte  der  blutige  Aufstand  der  Unterdrückten  die  Fremd- 
herrschaft in  ihren  Grundfesten,  die  kühne  That  des  Schweriner 
Grafen  lässt  sie  vollends  zusammenbrechen.  Durch  Niedertretung 
der  Revolution  hatten  sich  die  Deutschen  hier  neues  Anrecht  blutig 
erworben,  bald  gaben  sie  demselben  Ausdruck :  mit  d'em  Jahre  1227 
ist  der  Danebrog  aus  diesem  Lande  verschwunden. 

Auf  dem  festen  Grunde  einer  fleissigen  Verarbeitung  der  Quellen, 
in  strenger  Scheidung  des  Werthv ollen  vom  Unbrauchbaren,  des 
Gesicherten  vom  Zweifelhaften,  mit  umfassender  Kenntniss  der  Er- 
gebnisse bisheriger  Forschungen,  denen  das  Urtheil  des  Verfassers 
stets  selbständig  zur  Seite  tritt,  sind  die  oben  zusammengefassten 
Ereignisse  hier  dargestellt.  Die  fleissige  Rücksichtnahme  auf  frühere 
Leistungen  verdient  besonders  betont  zu  werden.  Schien  es  ja  auch 
in  dieser  Beziehung  lan^e,  als  wälze  die  livländische  Geschicht- 
schreibung den  Stein  des  Sisyphos:  war  dort  ein  Schritt  vorwärts 
gethan,  hier  that  man  ihn  alsbald  zurück. 

Der  Leser  wird  es  zuweilen  im  Interesse  des  Verfassers  zu  be- 
dauern haben,  wenn  die  neu  zu  Tage  geförderten  Resultate  den 
darauf  verwandten  Mühen  nicht  zu  entsprechens  cheinen.  Aber  nicht 
entfernt  erwächst  letzterem  daraus  ein  Vorwurf.  Geschehene  Arbeit 
liess  sich  eben  nicht  nochmals  thun.  Gewissenhafte,  methodische 
Forschung,  ansprechende  Auffassung  des  Gangs  der  Ereignisse  im 
Grossen,  fliessende,  lichtvolle  Darstellung  verbürgen  der  Schrift  eine 
achtbare  Stellung  in  der  historischen  Literatur,  ein  gutes  Andenken 
bei  den  Lesern  unserer  Lande. 

Auf  die  Ausführung  unseres  Wunsches,  mit  dem  Verfasser  über 
diese  und  jene  Einzelheit  zu  rechten,  verzichten  wir  hier  billig  im 
Interesse  der  Leser.  Nur  den  Umstand  glauben  wir  von  seinem 
Werke  scheidend  hervorheben  zn  müssen,  dass  der  Abbruch  mit  dem 
Jahre  1227  den  innerlichen  Abschluss  der  Ereignisse  in  der  vorbe- 
reitenden Periode   nicht   enthält.      Die  begonnene  Folge  derselben 


578  Notizen 

war  nur  zeitweilig  gehemmt,  erst  mit  dem  Vertrage  von  Stenby  sind 
die  Grundlagen  für  die  nächstfolgende  Entwickelung  des  Landes  ge- 
legt :  äussere  Befestigung  der  Dänenherrschaft  und  gleichzeitige  innere 
Durchdringung  durch  das  Deutschthum.  Hier  eröffnet  sich  eine 
durch  die  Beschaffenheit  der  Quellen  zwar  schwierigere,  aber  auch 
lohnendere  Ausbeute  versprechende  Aufgabe.  Wir  wünschten,  der 
Verfasser  würde  in  Zukunft  seinen  Lesern  auch  darin  gerecht. 

Hermann  Hildebrand. 


„Wasily  Andrejewitscli  JonkoffiBky.    Ein  russisclies   Dichterleben  von  Dr.  Carl 
V.  Seidlitz.«    Mitau,  E.  Behre's  Verlag,  1870. 

Wasily  Andrej  e witsch  Joukoffsky  —  mit  cyrillischen  Buchstaben 
^yKOBCKift  geschrieben  —  gehört  vor  Allem  in  die  russische  Literatur- 
geschichte, und  wer  nur  soviel  von  ihm  weiss  und  zugleich  erfährt, 
dass  es  noch  keine  original-russische  Arbeit  ebenso  eingehender 
Art,  wie  die  hier  angezeigte,  über  ihn  geben  soll,  der  dürfte  sich 
mit  Recht  über  diese  Erscheinung  verwundern. 

Aber  die  Sache  hat  ihren  Grund.  Joukoffsky  hat  eine  Zeit  lang  in 
Dorpat  gelebt,  dort  tiefe  Eindrücke  aufgenommen  und  feste  Herzens- 
beziehungen hinterlassen.  Er  kam  dahin,  schon  berühmt  aber  noch 
jung  und  empfänglich.  Wir  begegnen  in  seiner  Biographie  den 
Namen  Moier,  Ewers,  Parrot,  Morgenstern,  Asmuss,  Weyrauch,  Pe- 
tersen *)  und  so  vielen  anderen  in  der  Tradition  unserer  Musen- 
stadt Fortlebenden.  Wir  sehen  ihn  in  alle  Kreise  der  damaligen 
dorpater  Gesellschaft  sich  einbürgern,  auch  den  Fuchscommers  (es 
gab  damals  jährlich  nur  einen)  besuchen  und  SmoUis  mit  Pro- 
fessoren und  Studenten  trinken.  Er  findet  Gelegenheit,  die  ange- 
klagte und  gefährdete  Universität  im  Ministerium  der  Volksauf- 
klärung zu  vertheidigen,  und  thut  es  mit  einem  Eifer,  wie  ihn  nur 
die  aufrichtigste  Theilnahme  eingeben  konnte.  Später  zum  Erzieher 
der  Söhne  des  Grossfürsten,  nachherigen  Kaisers  Nikolaus  nach 
Petersburg  berufen,  kommt  er  doch  möglichst  oft  zu  längeren  oder 
kürzeren  Besuchen  wieder  nach  Dorpat;  ja  er  kauft  sich  ein  Land- 
gut in  der  Nähe  dieser  Stadt,    und  auch  als   er  dieses  schon  längst 


*)  Der  bekannte  „Dicke",  wenn  er  auch  in  dem  Buche  durchgängig  aU 
Petersen  auftritt. 


Notizen.  579 

wieder  verkauft,  schon  mehrere  Jahre,  alternd  und  pensionirt,  an 
den  Ufern  des  Rheins  verlebt  hat,  —  auch  da  noch  denkt  er  an 
Dorpat  als  den  Ort,  wo  er  den  Rest*  seiner  Tage  verbringen  und 
zur  Erde  bestattet  werden  wolle.  Hier  auch  knüpfte  sich  das  Freund- 
schaftsbaud  zwischjen  dem  russischen  Dichter  und  seinem  baltischen 
Biographen,  der  aus  dem  reichen  Schatz  seiner  persönlichen  Erinne- 
rungen und  schriftlichen  Materialien  dem  nun  schon  vor  18  Jahren 
Verschiedenen  ein  Denkmal  gesetzt  hat,  wie  offenbar  nur  er  es 
konnte.  -  • 

Durch  das  vorstehend  Gesagte  ist  zugleich  angedeutet,  in 
welcher  Hinsicht  dieses  Buch  dem  speciell  baltischen  Leserinteresse 
empfohlen  sein  muss.  Aber  auch  alles  Uebrige  daran  wird  jedem, 
auch  nicht-russischen  Leser  wenigstens  in  dem  Grade  anziehend  sein, 
als  es  das  gut  ausgeführte  Lebensbild  eines  bedeutenderen  Menschen 
überhaupt  zu  sein  pflegt. 

Es  ist  eine  empfindsame  und  von  Haus  aus  elegisch  gestimmte 
Dichterseele,  die  uns  hier  entgegentritt.  Schwärmend  in  Idealen  ge- 
niesst  sie  zuerst  in  vollen  Zügen  dasselbe  reine  Glück,  welches  sie 
auf  ihre  Umgebung  ausstrahlt.  Dann  in  Conflicte  mit  der  „rauhen* 
Wirklichkeit  gerathend,  wird  ihr  Zustand  zwar  kein  verbitterter  aber 
wenigstens  ein  schmerzhafter.  Als  Alter  und  Kränklichkeit  hinzu- 
kommen, gewinnen  deu^sch-pietistische  Einflüsse  Macht  über  sie,  und 
diesen  wieder  sich  entziehend,  sucht  sie  endlich  Hülfe  bei  den  ihr 
bisher  fremd  gebliebenen  Dogmen  der  angeerbten  Kirche,  bei  der 
unbedingten  Unterwerfung  unter  das  von  dieser  „ein  für  allemal" 
Festgesetzte  —  wie  Joukoffsky  selbst  (S.  220)  den  Inhalt  dieser 
^seiner  letzten  Phase  definirt  hat.  Der  Dichter  Joukoffsky  freilich 
blieb  ziemlich  unberührt  von  den  religiösen  Umstimmungen  seiner 
späteren  Tage.  Noch  eine  seiner  letzten. und  mit  der  innigsten  Ver- 
tiefung ausgeführten  Arbeiten  war  eine  zum  specifisch  Christlichen 
in  gar  keinem  Verhältniss  stehende:  eine  Uebersetzung  der  Odyssee. 
Nicht  ohne  Bedacht  aber  sagten  wir,  dass*  ihm  früher  die  Dog- 
matik  fremd  geblieben  sei,  obgleich  wir  damit  in  Widerspruch 
zu  einem  bestimmten  Ausspruch  des  Biographen  zu  gerathen  scheinen. 
Erlauben  wir  uns  diesen  Punkt  genauer  zu  erörtern. 

Joukoffsky  schreibt,  in  einem  Briefe  an  den  durch  französische 
Schriften  zu  Gunsten  der  griechisch  -orthodoxen  Kirche  bekannten 
Stourdza  (S.  219):  „Ihre  kleine  Broschüre  „le  double  pcuralUW  habe 
ich  mit  vielem  Vergnügen  gelesen  und  ein  wahres  Heimweh  nach 
Ihnen   selber  bekommen,   um   über  einen  Gegenstand  zu  sprechen, 


680  Notisen 

welcher  Tbaen  ron  jeher  so  klar  sich  gezeigt  hat,  mir  aber  seit 
sehr  Kurzem  erst  aus  dem  Nebel  herrorzatreten  beginnt,  seitdem 
ich  mich  einsam  in  das  Heiligthom  des  Familienlebens  zurückgezogen 
habe.      Das   reine    Licht   des   Christenthums  —  ich   liebte    es    von 
Kindesbeinen  an  1  —  ward  meinen  Augen  durch  einen  mit  poetischen 
Bildern    bemalten  Vorhang  yerhüllt,   diese  nahmen    eine  Zeit   lang 
meine  Aufmerksamkeit  in  Anspruch,  beirrten  meine  Seele  durch  ihre 
poetische  Lüsternheit.^  —  So  Joukoffsky,  und  unser  Verf.   bemerkt 
dazu :    dieser    Vorhang    bedeute  die  pietistische  Phase  Joukoffsky's, 
und  weiter:   man  könne  aus  der  angeführten  Briefstelle  entnehmen, 
„dass  ihm  das  alte  Licht  des  Christenthums,  wie  es  seine  Pfade  in 
der  Jugend,  im  Mannesalter,  am  Hofe,  kurz  im  Vaterlande,  erleuchtet 
hatte,  jetzt  wieder  ungetrübt  zu  scheinen  anfing."  *)    Wir  dagegen 
meinen:  der   mit  poetischen  Bildern   bemalte   Vorhemg  bedeutet 
nichts  anderes  als  eben  die  Poesie  selbst,  deren  Phantasiegebilde 
ihn,  Joukoffsky,  so  voreingenommen  hatten,  dass  er  auf  die  Lehr- 
sätze des    Christenthums   nicht   näher   einging,    obgleich    er   dieses 
letztere  auch  „im  Nebel**,   d.  h.  in  der  unbestimmten  Vorstellung, 
die  er  davon  hatte,  liebte.     Es  ist  sicherlich  nicht  ohne  Wagniss, 
irgendwelche  Worte  Joukoffsky's  anders  zu  deuten,  als  der  mit  ihm 
so  vertraute  und  überhaupt  so  fein  beobachtende  Biograph  sie  ge- 
deutet hat ;  aber  die  ganze  Biographie  selbst  spricht  für  unsere  Aus- 
legung und  gegen  die  des  Verfassers«  Joukoffsky  hatte  bis  auf  seine 
letzten  Lebensjahre   gerade   soviel    oder   sowenig  Christenthum    als 
etwa  der  von  ihm  bewunderte,  nachgeahmte  und  übersetzte  Schiller. 
Seine  Lehrjahre  fielen  in  die  Zeit  der  aufgeklärten  Humanitätsideale, 
und  wer  damals  das  Christenthum  „liebte^,  identificirte  es  eben   mit . 
diesen  Humanitö.tsidealen. 

Das  Schicksal  Joukoffsky's  hat  manchen  romanhaften  Zug.  Ge- 
boren von  einer  türkischen  Grefangenen,  erhält  er  nicht  den  Namen 
seines  Vaters,  eines  wohlhabenden  Gutsbesitzers  im  Gouvernement 
Tula,  sondern  den  eines  benachbarten  armen  Edelmanns,  der  ihn 
adoptirt.  Er  bleibt  aber  bei  dem  eigentlichen  Vater  und  wird  als 
Kind  des  Hauses  erzogen.  Es  entwickelt  sich  bei  ihm  eine  tiefe 
Leidenschaft  für  die  Tochter  einer  seiner  natürlichen  Schwestern.  In 
Folge  der  Satzungen  seiner  Kirche,  welche  die  Ehe  zwischen  Oheim 


*)  Beiläufig  bemerkt :  zeigt  sich  nicht  in  diesem  Satze  ein  grösseres  Wohl- 
wollen des  Verfassers  gegen  dasjenige  Element,  welchem  die  letzte  Phase  Jou- 
koffsky'd  angehörte,  als  gegen  das  seiner  vorletzten?  —  Warum  eigentlich  das? 


pTi.l 


Notizen.  581 

und  Nichte  verbietet,  oder  vielmehr  nur  in  Folge  einer  unbegründeten 
Anwendung  derselben  auf  den  gegebenen  Fall  —  denn  vor  dem  Ge- 
setz war  ja  Jene  gar  nicht  mit  ihm  verwandt  —  muss  er  der  Heiss- 
geliebten  entsagen  und  sie  die  Gattin  eines  Anderen  (des  dorpatschen 
Professors  Moier)  werden  sehen.  Von  der  dadurch  geschlagenen 
Herzenswunde  hat  er  nimmer  zu  genesen  vermocht.  Zwar  heirathet 
er  noch,  er  schon  ein  Greis,  die  19jährige  Tochter  des  livländischen 
Malers  v.  Reutern  in  Düsseldorf,  aber  bei  allen  Lobsprüchen,  die  er 
seiner  jungen,  kränklichen  und  pietistischen  Gattin  ertheilt,  seufzt 
er  im  Stillen  über  das  „theuer  erkaufte  Familienglück**  und  denkt 
er  immer  wieder  mit  Sehnsucht  an  das  Grab  seiner  ersten  Liebe 
auf  dem  dorpater  Kirchhof.  So  ist  denn^  was  sich  vor  uns  hier  ab- 
spinnt, ein  Menschenleben  gewesen  voll  Liebe,  Freundschaft  und  Poesie, 
bestrahlt  vom  Ruhme  und  getragen  von  Fürstengunst,  und  dennoch 
in  ein  dauerndes  Leid  auslaufend  —  eine  Herzensgeschichte  rührender 
als  die  vieler  Romane,  ein  Diöhterschicksal,  das  selbst  wieder  zum 
Stoff  und  Gegenstand  künftiger  Dichtung  zu  werden  vermöchte. 

Was  den  Werth  dieser  Lebensbeschreibung  für  die  russische 
Literaturgeschichte  betrifft,  so  wird  derselbe  gewiss  nicht  gering  an- 
zuschlagen sein.  Für  den  deutschen  Leser  freilich  fehlt  in  dieser 
Hinsicht  etwas  —  nämlich  die  gehörige  Ausmalung  der  Nebenfiguren. 
Da  kommen  und  gehen  sie,  diese  Bludow,  Wäsemsky,  Neledinsky, 
J.  und  A.  Turgeneflf,  Stourdza,  Chomäkoflf  u.  A.,  alle  ohne  dass  der 
Verf.  sie  ordentlich  einführte  und  uns  vorstellte,  als  ob  es  lauter  alte 
Bekannte  wären.  Nur  einmal,  bei  Gogol,  weicht  der  Verf.  von 
dieser  Regel  ab,  und  da  glaubt  er  sich  merkwürdiger  Weise  wegen 
der  beigebrachten  „Speci^litäten'*  entschuldigen  zu  müssen.  Man 
sieht,  er  scheint  sich  vorzugsweise  russische  Leser  gedacht  zu  haben, 
und  doch,  glauben  wir,  hätte  er  selbst  unter  dieser  Voraussetzung  in 
der  angegebenen  Beziehung  freigebiger  sein  dürfen.  Ein  Hinter- 
grund ist  immer  gut,  bei  jedem  Bilde  und  selbst  für  den,  der  sich 
ihn  allenfalls  hinzuzudenken  vermag.  Indessen,  auch  so  wie  es  ist, 
gewährt  das  Buch  uns  lichtvolle  Einblicke  in  die  Geschichte  der 
russischen  Literatur.  Wenigstens  von  Joukoflfsky's  eigener  schrift- 
stellerischen Thätigkeit  und  von  dem  Inhalt  seiner  hauptsächlichsten 
Werke  erhalten  wir  eine  Vorstellung,  die  nichts  an  Klarheit  zu 
wünschen  übrig  lässt.  Damit  ist  aber  zugleich  das  allgemeine  Wesen 
der  russischen  Literatur  in  den  ersten  Jahrzehnten  dieses  Jahr- 
hunderts (mit  dem  Historiker  Karamsin  an  ihrer  Spitze)  gekenn- 
zeichnet. Dieser  empfindsame  Idealismus,  schwärmend  für  Liebe, 
Baltische  Monatsschrift,  N.  Folge,  Bd.  I,  Heft  11  n.  12.  39 


»82  Notbra. 

HoffiiUBg,  Poesiei  Ahnuag  einer  besseren  Welt  a.  8.  w.  —  durch 
welche  ungeheure  Kluft  ist  er  doch  geschieden  von  dem  gegenwärtig 
herrschenden  und  oft  so  arg  übertriebenen  Realismus  der  russi* 
sehen  Schriftsteller.  Das  Mittelglied  zwischen  beiden  bildete  be- 
kanntlich der  Byronismus  eines  Puschkin  und  Lermontow.  Jou- 
koffsky  hat  nicht  nur  diese  beiden  überlebt,  [sondern  ist  auch  noch 
zu  Gogol,  dem  Anfänger  der  realistischen  Epoche,  in  nahe  Beziehung 
gekommen.  Aber  natürlich  ist  er  immer  ein  Kind  seiner  Zeit,  der 
Zeit  seiner  blühenden' Jahre,  geblieben;  die  Modificationen  seiner 
Dichtung  konnten  nicht  gleichen  Schritt  halten  mit  den  Wandlungen 
des  Zeitgeschmacks,  und  so  musste  er  es  selbst  ansehen,  wie  die 
höchste  Gunst  des  lesenden  Publicums  sich  von  ihm  auf  andere  Lieb- 
linge übertrug.  Nichts  aber  ehrt  ihn  vielleicht  so  sehr  als  die  neid- 
lose Unbefangenheit,  mit  welcher  er  diese  Wendung  sich  vollziehen 
sah  und  z.  B.  Puschkin  für  einen  Höherbegabten  als  sich  selbst  er- 
klärte. Bei  d^u  gegenwärtigen  Geschlechte  seiner  Landsleute  stehen 
Joukouffsky's  Werke  wahrscheinlich  in  noch  niedrigerer  Werth- 
schätzung  als  bei  dem  der  dreissiger  und  vierziger  Jahre.  Was 
gilt  der  Cultus  der  Schönheit  und  Humanität  in  dem  Zeitalter  der 
Nationalitäten!  Eine  kosmopolitische  Abstraction,  eine  abgethane 
Kinderei ! 

Aber  dieser  nämliche  idealistische  Joukoffsky  ist  auch  Erzieher 
des  Herrschers  gewesen,  von  dem  die  „neue  Aera**  Russlands  datirt, 
und  es  könnte  daher  sehr  wohl  sein,  dass  ihm  eine  weit  über  das 
blos  Literarische  hinausgehende  Bedeutung  für  die  Geschichte  Russ- 
lands zuzuschreiben  ist.  Ist  doch  in  dieser  Beziehung  unter  anderem 
z.  B.  auch  das  merkwürdig,  dass  Joukoflfsky,  wie  S.  111  erzählt 
wird,  förmlich  „in  Geschmack  kam*  Leibeigene  frei  zu  lassen  und 
frei  zu  kaufen.  Es  war  dieses  im  Anfang  der  zwanziger  Jahre,  ge- 
rade zu  gleicher  Zeit  als  die  Censur  dem  berühmten  und  auch  schon 
bei  Hofe  beliebten  Dichter  seine  Uebersetzung  von  Schiller's:  „Der 
Mensch  ist  frei  geschaffen,  ist  frei''  etc.  nicht  zu  drucken  erlaubte. 
„Vierzig  Jahre  später*  —  so  bemerkt  dazu  der  Verfasser  —  „liess 
die  Censur  den  kaiserlichen  Ukas  von  der  Befreiung  der  Bauern  in 
Russland  wohl  durch".  Joukoffsky  gehörte  natürlich  zu  den  Frei- 
sinnigeren im  damaligen  Russland,  und  sammt  seinen  Gesinnungs- 
genossen wurde  auch  er  von  der  doniinirenden  Partei  gehasst  und 
verdächtigt.  Mit  der  Thronbesteigung  des  Kaisers  Nikolaus  änderten 
sich  alle  diese  Dinge  und  Joukoffsky  ist  seitdem  wegen  seiner  religi- 
ösen und  politischen  Ansichten  unangefochten  geblieben.     Das  Ver- 


Notnsen.  683 

trauen^  mit  welchem  ihm  die  Erziehung  des  Thronerben  ttbergeben 
war,  ist  niemals  erschüttert  worden.  Den  künftigen  Geschieht- 
Schreibern  Russlands  und  wohl  auch  schon  vielen  gegenw&rtigep 
Lesarn  wird  Joukoflfsky's  Biographie  vor  allem  in  Betracht  dieser 
seiner  pädagogischen  Wirksamkeit  interessant  sein. 

Dem  bedeutenden  Inhalt  des  Buches  entspricht  die  schöne  Dar- 
stelluBgBgabe  des  Terfossers.  Er  versteht  es  lebendig  2u  erzählen 
and  anschaulich  zu  schildern  —  eine  Eigenschaft,  die  bei  uns  zu 
Lande  bekanntlich  nicht  zu  den  gewöhnlichen  gehört.  Dem  warmen 
Hauche,  welcher  das  Werk  durchweht,  fühlt  man  den  Herzensantheil 
des  Verf.  an  seinem  Gegenstande  an.  Es  ist  aber  nicht  blos  der 
Ausfluss  persönlicher  Liebe  und  Pietät,  sondern  zugleich  auch  das 
Erzeugbiss  einer  höher  zielenden  Absieht,  die  allerdings  nur  ^zwi- 
schen den  Zeilen^  zu  lesen  ist,  gemäss  einer  ohne  Zweifel  hierauf 
zu  beziehenden  Andeutung  des*  Verf.  am  Schlüsse  seines  Budies.  Um 
keine  Indiscretion  zu  begehen,  hat  auch  der  Referent  hier  dem 
Leser  das  Vergnügen  des  eigenen  Ergrtndens  zu  gönnen. 

— z. 


Li  der  berliner  statistischen  Zeitschrift  (1870,  Heft  1  u.  2)  und 
in  Hildebrand's  Jahrbüchern  (1870,  Heft  4)  treffen  wir  ein  paar  Ab- 
handlungen des  bereits  durch  seine  „Biostatik  der  Stadt  Reval"  be- 
kannt gewordenen  Statistikers  Herrn  E.  Kluge,  und  obgleich 
keinerlei  einheimische  Literessen  durch  jene  beiden  Aufsätze  be- 
rührt werden,  so  glauben  wir  derselben  hier  dennoch  kurz  Er- 
wähnung thun  zu  sollen,  da  der  Verfasser  bekanntlich  unseren  bal- 
tischen Provinzen  angehört. 

Die    erstere  Abhandlung:    „lieber   die  Errichtung   statistischer 

Büreaux   für  grössere  Städte**   hat  sich  die  Aufgabe  gestellt,  allen 

städtischen  Communen  von  über  50,000  Einwohnern  eine  praktische 

Anleitung  zur  Errichtung  der  genannten  Anstalten  zu  geben.    Da 

Riga  bereits  versorgt  ist,  und  keine  der  übrigen  baltischen  Städte 

die  angegebene  Bevölkerungshöhe  auch  nur  annähernd  erreicht,  so 

glauben  wir  von  dem  Inhalte  des  Aufsatzes  um  so  eher,  absehen  zu 

können,  als  der  bis  in  die  kleinsten  Details  eingehenden  Anweisung 

speciell  die   „Städteordnung   für  die  sechs  östlichen  Provinzen  der 

preussischen  Monarchie  vom  30.  Mai  1853''*    zu  Grunde  gelegt  ist 

und  wir  auch  sonst  die  allgemeinere  Anwendbarkeit  solcher  genauen, 

die  örtlichen  Bedürfnisse  und  Umstände  unberücksichtigt  lassenden 

89« 


^(84  Notizen. 

Recepte  sehr  in  Zweifel  ziehen  möchten.     Die  allgemeinen,  in  dem 
Aufsatze  berührten  Gesichtspunkte  bieten  nichts  Neues. 

,  Die  zweite  Abhandlung  in  Hildebrand's  Jahrbüchern:  ^^Die 
7.  Sitzungsperiode  des  internationalen  statistischen  Congresses .  im 
Haag^^  ist  ein  dankenswerther  Bericht  über  den  Verlauf,  die  Ver- 
handlungen und  Beschlüsse  des  genannten  Congresses.  Gern  hätten 
wir,  trotz  unserer  Abneigung  gegen  Citate,  in  diesem  Falle  von 
Abschnitt  zu  Abschnitt  auf  das  Genaueste  die  jedesmaligen  Quellen 
citirt  gesehen;  denn  wenn  ein  solcher  Auszug  auch  als  Ueber- 
sicht  genügt,  so  muss  jedenfalls  demjenigen,  der  über  specielle  Punkte 
sich  auf  Grund  der  eigentlichen  Quellen  ausführlicher  Orientiren  will, 
die  Gelegenheit  dazu  geboten  sein. 

Da  wir  in  der  vorerwähnten  Abhandlung  die  „Biostatik  der 
Stadt  Reval  von  E.  Kluge,  Reval  1867^'  citirt  finden,  so  können  wir 
der  Versuchung  nicht  widerstehen,  bei  dieser  Gelegenheit  den  Herrn 
Verfasser  dringend  zu  mahnen,  den  von  ihm  gewählten  Titel  jener 
Schrift  durch  Veröffentlichung  des  die  Statistik  der  Verstorbenen 
behandelnden  Theiles  doch  endlich  zur  Wahrheit  zu  machen:  der  an 
sich  bereits  etwas  gezwungene  Titel  „Biostatik"  verliert  vollends  allen 
Sinn^  wenn  der  Statistik  der  Geborenen  keine  Darstellung  der  Sterb- 
lichkeitsverhäjtnisse  gegenüber  gestellt  ist. 


Am  Jahr688chlu88. 


Riga,  den  31.  December. 

JNeujahr  ist  vor  der  Thür  und  wir  gleiten  aus  einem  Zeitabschnitt 
hinüber  in  einen  anderen,  kaum  merklich,  wie  wenn  das  ablaufende 
Jahr  ein  Jahr  wie  andere  auch  gewesei^wäre.  Wenn  ein  Nach- 
bar dem  anderen  nicht  sein  „prosit  Neujahr'  zuriefe,  so  mahnte  uns 
kaum  etwas  an  die  Bedeutung  des  morgenden  Tages.  Denn  er  trägt 
seine  Bedeutsamkeit  nicht  an  der  Stirn,  sie  wurde  ihm  vielmehr  von 
einer  Wissenschaft  verliehen,  die,  weit  erhaben  über  den  kleinen 
Maasse  des  Menschenlebens,  aus  den  Gesetzen  des  Weltalls  ihre 
grossen  Satzungen  unserem  Tagesleben  gab.  So  wird  einst  auch  das 
Jahr  1870,  an  dessen  Schluss  wir,  sei  es  mit  üblichem  Spiel  im  Kreise 
der  Familie,  sei  es  mit  dem  Choral,  den  die  Posaunen  vom  Thurme 
des  rigaschen  Rathhauses  blasen,  das  neue  Jahr  in  althergebrachter 
Weise  knüpfen,  erst  von  der  Geschichte  mit  der  Bedeutsamkeit  ge- 
nannt werden,  die  nur  wenige  Jahre  auszeichne^. 

Nach  Frankreich  weist  uns  die  Erinnerung  vorwiegend  hin  wenn 
wir  dieser  von  der  Geschichte  ausgezeichneten  Jahre  gedenken,  und 
von  Blut  und  Gewalttjiat  finden  wir  sie  erfüllt.  Aber  1789  und 
1848  tragen  für  uns  doch  ein  Gepräge,  welches  uns  mit  den  Gräueln 
versöhnt,  die  sie  aufweiset:  wir  sehen  in  ihnen  die  Geburtsfeste 
eines  grossen  Theiles  der  Ideen,  in  denen  wir  heute  leben.  Unser 
geistiges  Leben  blüht  und  wurzelt  in  den  Errungenschaften  jener 
Jahre.  Mehr  von  negativer  Bedeutung  war  die  Zeit  von  1813.  Es 
wurde  Gewalt  durch  Gewalt  vertrieben,  und  als  dann  im  Innern 
der  westlichen  Staaten  die  Freiheit  ihr  Haupt  erheben  wollte,  ward 
auch  sie  gewaltsam  niedergeschmettert. 

Wer  wollte  es  leugnen,  dass  heute  das  Jahr  1870  mehr  der  Zeit 
der  Befreiungskriege  mit  ihrem  negativen  Charakter,  als  den  Perioden 
der  Revolutionen  mit  ihren  positiven   SchöpAingen  gleicht!     Denn 


586  Am  Jahresschluss. 

selbst  das  Grösste,  was  dieses  Jahr  uds  gebracht  hat,  Kaiser  und 
Reich,  ist  eine  Form,  deren  segensreichen  Inhalt  wir  erst  von  der 
Zakunft  erwarten.  Vernichten  und  Zerstören  ist  die  Arbeit  des 
Jahres  1870  gewesen,  das  Schaffen  und  JAufbauen  hoffen  wir  von 
den  kommenden  Jahren. 

Zunächst  freilich  gleicht  diese  Hoffnung  mehr  den  Wünschen, 
die  wir  in  der  eigenen  Brust  umhertragen,  unbekümmert  um 
die  thatsächlichen  Verhältnisse  der  Aussenwelt,  dem  Ausdruck  der 
eigenen,  subjectiven  Bedürfnisse.  Denn  was  heute  am  meisten 
unseren  Geist  ^beschäftigt,  sind  die  Mittel  der  Vernichtung,  nicht  die 
des  Schaffens.  Zu  Anfang  des  Jahres  1870  meinte  man,  es  sei  die 
Zeit  gekommen,  wo  die  civilisirte  Welt  den  Tomahawk  begraben 
und  sich  sicher  niedersetzen  könne,  die  Friedenspfeifte  im  Kreise  der 
Mächtigen  der  Erde  umhergehen  zu  lassen.  Man  erörterte  eifrig  die 
Abrüstungsfrage  und  ei^e  Schwärmer  glaubten  an  die  baldige 
Lösung  derselben.  Heute  hat  die  Bevölkerung  zweier  grossen  Länder 
den  Pflug  zum  Schwerte  verwandelt  und  eben  wird  die  Stadt,  die 
sich  gern  fiir  den  Mittelpunkt  der  Civilisation  hält,  von  dem  ersten 
Culturvolke  unserer  Zeit  mit  den  gewaltigsten  Zerstörungsmitteln, 
die  die  Kriegsgeschichte  aufeuweisen  hat,  angegriffen.  Und  wo  wir 
hinblicken  in  Europa,  da  finden  wir  diesen  selben 'Geist  der  Zer- 
störung thätig.  Fast  alle  Staaten  scheinen  aus  dem  Gleichgewicht 
gebracht  zu  sein,  welches  die  Bürgschaft  für  die  Sicherheit  des 
nächsten  Tages  bietet,  und  die  binnen  kurzem  zusammentretende 
londoner  Conferenz  wird  den  getreuen  Ausdruck  der  Umwälzungen 
bieten,  welche  in  den  staatlichen  Verhältnissen  unseres  Welttheiles 
innerhalb  eines  halben  Jahres  zum  Ausbruch  gekommen  ist.  Dennoch 
wird  diese  Conferenz  von  hoher  Bedeutung  sein,  denn  was  der  grosse 
deutsche  Kriieg  an  positiven  Schöpfungen  bisher  aufzuweisen  hat, 
wird  dort  zuerst  seine  Probe  zu  bestehen  haben,  das  umgestaltete 
Europa  wird  sich  in  ihr  spiegeln.  Zwei  Thatsachen  spannen  hierbei 
hauptsächlich  unsere  Aufmerksamkeit:  erstens  die  Stellung,  welche 
das  neue  deutsche  Reich  einftehmen  wird,  und  dann  das  demnächst 
grösste  Ereigniss  jüngster  Zeit,  die  plötzlich  imprevisirte  Annäherung 
zwischen  Deutsehland  und  Oesterreich.  Oesterreich- seheint  en:dlieb 
aus  der  Politik  der  trügerischen  Ideen  und  Traditionen  zu  der  der 
realen  Verhältnisse  übergegangen  zu  sein,  und  während  es  vor 
wenigen  Monaten  gegen  Deutschland  rüstete,  hat  der  Fall  Frank- 
reichs rasch  andere  Gefühle  in  der  Seele  des  freundschaftebedürf- 
tigsien  der  Staaten  angefacht. 


Am  Jahresachluss.  587 

Diesen  grossen  Ereignissen  des  Westens  reiht  sich  ebenbürtig 
an  Wichtigkeit  für  uns  ein  anderes  im  Osten  an,  auf  welches  sich 
unser  Auge  richtet,  wenn  es  die  Bilder  des  Kampfes  in  Frankreich 
verlässt.  Dort  stehen  zwei  Nationen  Europas  in  Waffen,  und  eine 
dritte  schickt  sich  an,  es  ihnen  an  kriegerischem  Geiste  gleich  zu 
thun.  Soeben  brachten  uns  die  Zeitungen  die  Grundzüge  einer  neuen 
Wehrverfassung  für  Russland,  die  dem  preussischen  Muster  der  Volks- 
bewaffnung folgt.  Auch  bei  uns  soll  der  Bürger,  während  er  den  Pflug 
führt  oder  die  Feder,  während  er  den  Hammer  oder  das  Weber- 
schifflein bewegt,  zugleich  mit  dem  Schwert  umgürtet  werden,  das  er 
mit  kundiger  Hand  zu  schwingen  weiss.  Diese  rEntwurf  zu  einer  Re- 
form, deren  Einführung  wir  schon  in  nächster  Zukunft  entgegensehen, 
ist  nicht  das  Project  zu  einer  zusammenhangslosen,  unvorbereiteten 
Institution,  sondern  der  Abschluss  einer  Reihe  von  Maassregeln,  die 
die  Verstärkung  der  Militärmacht  Russland's  im  Auge  hatten.  Schon 
seit  dem  Krimkriege  wurde  auf  dieses  Ziel  hingearbeitet.  Die  Er- 
fahrungen jenes  Krieges  mögen  zuerst  die  Nothwendigkeit  einer 
Eisenbahnverbindung  der  weiten  Grenzen  des  Reichs  nahe  gelegt 
haben.  Strategische  Rücksichten  riefen  die  grosse  Thätigkeit  der 
Staatsregierung  zuerst  hervor,  die  dieselbe  in  den  letzten  15  Jahren 
in  dieser  Beziehung  entfaltet  hat,  mercantile  Gründe  traten  hinzu,  und 
so  sehen  wir  heute  Russland  von  der  Ostsee  bis  zum  Schwarzen 
Meere,  von  der  Wolga  bis  zur  Weichsel  von  den  Hauptadern  einer 
Schienenverbindung  durchzogen,  auf  deren  Herstellung  der  Staat  un- 
geheure Mittel  verwandt  hat.  Während  Russland  im  Jahre  1850 
nur  468  Werst  Schienenweg  hatte,  waren  am  1.  Januar  d.  J.  bereits 
7,748  Werst  im  Betriebe,  deren  Anlagecapital  sich  auf  700  Millionen 
Rubel  belief.  Grosse  Opfer  wurden  zur  Anlage  von  Gewehrfabriken 
und  Geschützgiessereien,  und  in  letzter  Zeit  zur  Neubewaffnung  des 
Heeres  gebracht. 

Russland  ist  weniger  als  andere  Länder  einem  äusseren  Angriffe 
ausgesetzt  und  ein  solcher  Angriff  ist  ihm  schon  um  deswillen  weniger 
verderblich,  weil  seine  weiten  Gebiete  von  geringer  Bevölkerung  und 
Cultur  belebt  sind,  gegen  deren  Leben  ein  Angriff  gerichtet  wäre. 
Mit  dem  Steigen  der  Cultur  aber  mehren  sich  die  verletzbaren  Theile 
des  Körpers  und  mehrt  sich  das  Bedürihiss  nach  ausreichendem 
Schutze. 

Nachdem  im  Jahre  1861  die  Leibeigenschaft  in  Russland  auf- 
gehoben war,  schritt  man  alsbald  zu  den  Vorbereitungen  eines 
anderen  Mittels  der  Verstärkung  der  Wehrkraft    des    Reichs.     Die 


588  Am  JahresschlaM. 

Rekratenaoshebangen,  die  bisher  nur  in  längeren  Perioden  wieder- 
kehrten, wurden  seit  1863  alljährlich  wiederholt,  die  Dienstzeit  wurde 
verkürzt,  die  Masse  der  jährlich  auf  unbestimmte  Zeit  entlassenen 
Urlauber  vermehrt,  die  Stellvertretung  durch  Loskauf  erschwert.  E8 
wurde  auf  diese  Weise  der  allmälige.  Uebergang  zu  dem  jetzt  ins 
Leben  tretenden  Wehrsystem  angebahnt.  Es  mag  auch  hierbei  nicht 
der  militärische  Gesichtspunkt  allein  maassgebend  gewesen  sein.  Die 
Aufhebung  der  Leibeigenschaft  löste  überall  die  harten,  aber  starken 
und  einfachen  Fesseln,  welche  im  Volke  die  Ordnung  aufrechthielten. 
Bei  der  quantitativen  und  qualitativen  Unzulänglichkeit  anderer  Ele- 
mente der  Ordnung  mag  auf  die  militärische  Zucht  und  Disciplin 
ein  Theil  der  früheren  Zucht  des  Erbherm  übertragen  worden  sein. 
Das  Wehrgesetz,  welches  gegenwärtig  von  einer  Allerhöchst  nieder- 
gesetzten Oommission  ausgearbeitet  werden  soll,  wird  auch  mit  seiner 
Einführung  noch  nicht  die  Vollständigkeit  der  preussischen  Wehr- 
verfassung unserer  Tage  erreichen,  und  es  werden  noch  Jahre  ver- 
gehen ehe  das  Princip  der  allgemeinen  Militärpflichtigkeit  in  seinen 
weiteren  Consequenzen  in  Russland  zur  Geltung  gelangen  und  die 
Frucht  der  seitherigen  Reformen  gereift  sein  wird.  Lidessen  ver- 
liert dieser  Schritt  dadurch  nicht  an  seiner  ungeheuren  Bedeutung 
besonders  für  das  wirthschaftliche  und  culturliche  Leben  des  Volks. 

Wie  in  Preussen  in  die  Zeit  vor  und  während  der  Befreiungs- 
kriege die  meisten  grossen  Reformen  fallen  und  an  die  Abolition 
der  Erbunterthänigkeit  und  die  Schöpfung  des  kleinen  Grundbesitzes 
sich  die  Volksbewafl&iung  reihte,  so  schliessen  sich  diese  Reformen 
auch  in  Russland  eng  aneinander.  Und  als  ob  die  Parallele  zwischen 
den  grossen  Reformperioden  der  beiden  Nachbarvölker  bis  zuletzt 
eingehalten  werden  sollte,  fällt,  wie  in  Preussen  die  Städteordnung 
Stein's,  so  auch  bei  uns  die  im  ablaufenden  Jahre  zum  Gesetz  ge- 
wordene neue  Städteverfassung  zeitlich  mitten  in  die  anderen  grossen 
Neuerungen  hinein. 

Mit  wie  lebhaftem  Interesse  wir  Balten  allen  den  bisher  berührten 
Fragen  folgen,  stehen  wir  zu  der  letzteren  doch  anders  als  zu 
den  übrigen.  Denn  während  wir  uns  zu  den  äusseren  politischen 
Verhältnissen  und  auch  zu  der  neuen  russischen  Wehrverfassung  in 
gewissem  Sinne  passiv  verhalten,  reicht  die  Frage  nach  der  neuen 
Stadtverfassung  in  den  Bereich  unserer  Thätigkeit,  unseres  Mit- 
schaffens hinein.  Die  von  den  Verhältnissen  der  Städte  des  übrigen 
Reichs  abweichenden  Zustände  in  den  Städten  unserer  haltiscbeu 
Provinzen  fordern  Modificationen   in   der  neuen  Stadtverfassung,  die 


Am  Jahresyefohlusa.  S80 

dieflen  Zustäaden  gerecht  werden.  Bereits  seit  vielen  Jahren  mit 
der  Regierung  geführte  Verhandlungen  über  eine  neue  Verfassung 
d,er  baltis.chen  Städte  haben  biBher  kein  definitives  Resultat  er- 
zielt. Unsere  städtischen  Vertretungen  arbeiten  an  dieser  wichtigen 
Aufgabe  uQ,d  wir  erwarten  von  dem  kommenden  Jahre  endlich  auch 
in  i^n^ere^  Provinzen  auf  örund  dieser  Arbeiten  eine  Stadtverfajssung 
eingeführt  zu  sehen,  welche  der  weiteren  freien  E»twickelung  unseres 
Städtewesens  mit  objectiver  Würdigung  der  bisbevigen  Bedingungen 
ikreB  Gedeihens  den  Weg  ebnet. 

Eine  fernere  Angelegenheit,  die  eben  alle  gebildeten  Clasaen  bei 
Uf^s  beschäftigt  und  die  ausiitchliesslich  baltische  Bedeutung  hat,  ist 
die  Justizreformi.  Auch  sie  gleicht  leidier  dem  sisyphischtcn  Stein,  den 
wir  sieit  Jahxeiii  den  Berg  hinaui^ollen,  um  dann  wieder  unten  an- 
zufaii^en«  Auch  um  ihretwillen  sind  jahrelange  Verhandlungen 
resuljt^^loi?  gepflogen,  umiassende  und  gründliche  Entwürfe  umsonst 
ausgearbeitet  worden.  Wieder  wälzen  die  vereinten  Kräfte  der 
Provinzen  d9^an,  das  lange  gefühlte  \mA  immer  dringender  werdende 
Bedürfiaiss  nach  einem  verbesserten  Gerichtswesen  und  Process- 
verlahren  befriedigt  zu  sehen. 

Noch  manche  andere  ungelöste  Fragen  von  hoher  Bedeutung 
für  baltiachprovinzielles  Leben  nehmen  wir  aus  dem  alten  ins  neue 
Jahr  hinüber.  Der  Beginn  des  Jahres  1870  war  ausgezeichnet  durcJ^ 
biesooders  rege  Thätigkeit  unserer  drei  leitenden  politischen  Körper- 
schaften. Aus  den  Landtagen  der  drei  Ritterschaften  gingen  ebenso 
zahlreiche  als  wichtige  Reformen  und  andere  Beschlüsse  hervor,  deren 
viele  bereits  als  Gesetze  in  Wirksamkeit  getreten  sind.  Wiar  heben 
hier  besonders  den  von  der  liviändisicben  Ritterschaft  geschaffenen, 
von  dein  alten  Kirchspielsconvente  al^ezweigten  Kirchesr  und  Schul- 
convent  hervor,  der  von  den  bäuerlichen  Gemeinden  durch  selbst- 
gewählte Delegirte  beschickt  T^erden  soll.  Zum  ersten  mal  am 
Schlüsse  dieses  Jahres  hat  dier  livländische  Bauer  einen  allgemeinen 
Wahlact  vorzunehmen  gehaJM  und  zum  ersten  mal  werden  Herr  und 
Bauer  gemeinsame  Angelegenheiten  völlig  coordinirt  mit  einander 
berathen  und  ordnen.  Die^e  und  mt^iche  wdere  neue  Einidehtung 
werden  im  beginnenden  Jahre  ihre  erste  Prohe  zu  bestehen  haben. 
Wenn  wir  im  nächsten  Jahre  keine  Reformlandtage  wie  heuer  zu 
erwarten  h^'ben,  so  werden  wir  doch  vollauf  an  der  piraktiaehen 
Verwerthung  der  gefassten  Beschlüsse,  der  vielen  neuen  Institutionen 


590  Am  JahreMchhiM. 

zu  arbeiten  und  auf  eine  weitere  Entwiekelong  des  (jegebenen  uns 
Torznbereiten  haben.  Denn  ansere  agraren  wie  stadtischen  Ver- 
hältnisse drängen  mit  fast  ongestfimer  Gewalt  vorwärts.  Wir  er- 
wähnen der  von  der  Staatsregierang  projectirten  Abolition  der  Kopf- 
steuer und  Ersetzung  derselben  durch  eine  Grondsteaer.  Diese 
Maassregel,  verbanden  mit  der  allgemeinen  Wehrpflicht  stellt  die  Auf- 
hebung einer  Einrichtung  in  Aussicht,  deren  Misstände  seit  lange  zu 
vielen  Beschwerden  und  zu  entsprechenden  Abolitionsvorschlägen 
seitens  der  Landtage  Veranlassung  gegeben  haben.  Der  solidarischen 
Haft  der  Gemeinden  fär  ihre  Leistungen  gegenüber  der  Krone  wer- 
den ihre  hauptsächlichsten  Objecte,  Rekrutenlast  und  Kopfsteuer 
entzogen  und  damit  ihr  Zweck  und  ihre  Fortdauer  au%ehoben  wer- 
den. Für  die  Entwickelung  unserer  Gemeindeverh'ältnisse  wird  da- 
durch eine  äusserst  drückende  Fessel  beseitigt  werden.  —  Femer 
dürfte  sehr  bald  sich  die  Nothwendigkeit  herausstellen,  den  Verkauf 
der  Bauerländereien  für  Herren  und  Bauern  zu  erleichtem  und  da- 
durch mit  zu  beschleunigen.  Diese  Angelegenheit  gewinnt  von  Tage 
zu  Tage  an  Bedeutung  und  muss  in  kurzer  Zeit  die  Aufmerksamkeit 
und  Thätigkeit  der  Landtage  unserer  Provinzen  in  Anspruch  nehmen 
wenn  nicht  bedeutende  Schäden  sich  verallgemeinem  sollen.  —  Eine 
andere  Angelegenheit,  welche  das  flache  Land  bewegt,  ist  das 
Kirchenpatronat,  das  Verlangen  der  bäuerlichen  Bevölkerung  nach 
Mitwirkung  bei  der  Besetzung  der  Pfarren.  Diesem  Verlangen  ist 
jedoch  die  Anschauung  einiger  unserer  maassgebenden  öffentlichen 
Factore  —  wie  wir  meinen,  mit  Recht  —  entgegengetreten  und  wir 
hoffen,  dass  sich  diese  Anschauung  auch  in  der  bäuerlichen  Bevöl- 
kerung allmälig  Bahn  brechen  wird.  —  Die  agraren  Verhältnisse 
überhaupt,  wie  sie  sich  auf  Grund  der  neuen  Landgemeindeverord- 
nung seit  vier  Jahren  bei  uns  herauszubilden  im  Begriff  sind  und 
trotz  mancher  Misstände  uns  zu  den  besten  Hoffnungen  für  die  Zu- 
kunft berechtigen,  werden  noch  lange  unsere  rege  Theilnahme  und 
Arbeit  in  Anspruch  nehmen. 

Dieses  sind  die  vornehmsten  Gegenstände,  auf  welche  als  Hinter- 
lassenschaft des  Jahres  1870  in  dem  kommenden  Jahre  voraussicht- 
lich unser  öffentliches  Interesse  gerichtet  sein  wird.  Es  sind  vielerlei 
und  schwerwiegende  Dinge  und  wir  dürfen  nicht  annehmen,  dass 
wir  einer  „stillen  Zeit**  entgegengehen.  Wenn  wir  vom  Biiege  ver- 
schont wurden  und  unsere  Sylvesternacht  nicht  auf  Vorposten  zu 
verbringen  haben,  so  bleiben  wir  doch  auch  fernerhin  f^toujours  en 


Am  JahresschloBS.  591 

Auch  die  „Baltische  Monatsschrift^  wird  fortfahren,  nach  Möglich- 
keit das  Ihrige  zur  Förderung  der  schwebenden  baltischen  Fragen 
beizutragen.  Denn  was  auch  die  Zukunft;  bringen  möge,  es  bleibt 
die  Pflicht  eines  Jeden,  auf  dem  ihm  gewordenen,  wenn  auch  un- 
günstigen Posten  auszuharren. 

E.  B. 


Berlcktlgong. 

Im  September-Octoberheft  der  „Baltischen  Monatsschrif!;^  dieses  Jahrgangs, 
S.  483)  Zeile  13  von  unten  hat  es  zn  heissen:  statt  „Scriptor.  rer.  germ.^  — 
„Monamenta  germ.  hist.** 


Von  der  Censnr  erlaubt         pfifft»  ^sn  8.  Januar  1871. 
Druek  der  Livländisehen  Gonvemements-Typographie. 


^.^L. 


Baltische  Monatsschrift. 


Herausgegeben 


von 


unter  Mitwirkung  von  Bibliothekar   Cl.  Berkholi  in  Riga, 

Oberlehi-er  H.  Diedericlis  in  Mitau,  Professor  E.  Laspeyres  in 

Dorpat,  Oberlehrer  fr.  Bienemann  in  Reval. 


19.  Band. 

Neue  Folge.  —  Erster  Band. 


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Inhalt:  Zur  Lage Seite    1. 

Beitrag  zur  Geachichte  des  baltischen  Poly- 

technicuma  . n     20. 

Garlieb  Merkel  als  Bekämpfer  der  Leibeigen- 
schaft und  seine  Vorgänger      .....  »38. 

Zur  livländischen  Landtagsgeschichte  ...  »84* 

Notizen  . „   100. 


RIGA,  1870. 

Verlag  von  Bacmeister   St  Brutzer. 


Preis  pro  Jahrgang  4  Rbl.  50  Kop. 
Per  Post:  Postgebühren  45  Kop.,  Verpackungskosten  5  Kop.  =  6  Ebl. 

In  Deutachland  5  Thaler. 


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Ton  der  Redaction* 


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erschiedene   Umstände   haben   die  Herausgabe    dieses 
Heftes  aufgehalten.    Diese  Verspätung  wird  jedoch  um  so  wend^# 
eine  Störung  des  regelmässigen  Erscheinens  unserer  Zeitschrift  z^ 
Folge   haben,   als  vorläufig   für   diesen  Jahrgang    der   Modus   WW^ 
monatUcIier  Hefte  eingehalten  werden  soll.  ■; 

Jedes  dieser  Doppelhefte  wird  nur  aus  6  bis  7  Druckbogen  hÜ^ 
stehen,  also  dem  Umfang  je  zweier  bisheriger  Hefte  nicht  glei<äb 
kommen,  dem  entsprechend  auch  der  Preis  um  2  Rbl.  pro  Jahi^fLif^ 
d.  i.  auf  4  Rbl.  50  Kop.  ermässigt  worden  ist. 

Hinsichtlich  des  Inhalts  der  hiemit  beginnenden  „Neuen  Fo] 
der  Baltischen  Monatsschrift  brauchen  wir  kein  Programm  aufzustellö%. 
weil  wir  im  Ganzen  in  derselben  Art  und  Weise  fortzufahren  |^ 
denken,  welche  dieser  Zeitschrift  schon  seit  Jahren  eigen  gew< 
ist  und  daher  als  zur  Genüge  bekannt  vorausgesetzt  werden 

Die  im  Titelblatt  als  „mitwirkend"  genannten  Herren  wei 
die  Gefälligkeit  haben,  geeignete  Beiträge  für  die  Baltische  Mosta^ 
Schrift  anzunehmen  und  überhaupt  alle  Beziehungen  zwischen  diÄ 
Mitarbeitern  und  der  Redaction  vermitteln  zu  helfen.  Selbstversttoä!^* 
lieh  aber  können  Beiträge  auch  direct  an  die  Redaction  oder  an  di^ 
Verlagshandlung  von  Bacmedster  &  Br.utzer  in  Riga  eingesanäl 
werden. 

Unsere  nächsten  Hefte  werden  unter  Anderem  folgende  Auftä^^. 
enthalten :  .  .     *  ä' 

„Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage**,  von  Laspeyre«»  'i^i 

Portsetzung  des  im  vorliegenden  Heft  abgebrochenen  AaM^mf 
„Zur  livländischen  Landtagsgeschichte  . 

„Marie  Therese  und  Louise  de  La  Vallifere"  von  H.  Sewi-äg 

„Winkelmann  und  der  livländische  Landrath  von  Berg**.        V. 

„lieber  lettische  Urgeschichte  und  Mythologie**  von  G.  Berfch^li^; 

„Garlieb  Merkel  als  ästhetischer  Kritiker,    poHtischer  Sdb^l^ 
steller  und  Journalist**  von  H.  Diederichs. 


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äA  A''y^; 


Baltische  Monatsschrift. 


Herausgegeben 


von 


unter   Mitwirkung  von   Bibliothekar   «I.  BerkhoU  in  Riga, 

Oberlehrer  H.  Diederick  in  Mitau,  Professor  E.  Laspeyres  in 

Dorpat,  Oberlehrer  Fr.  Bieneiiiann  in  Reval. 


19.  Band. 


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Neue  Folge.  —  ZweHer  Band. 

März   nuLdlApril    IS^O. 


Inhalt:  Statistische  Studien  zur  Wohnungsfrage  .  . 
Zur  livländischen  Landtagsgeschichte.  Forts. 
Marie  Therese  und  Louise  de  La  Valliere  . 
Notizen 


» 


Seite  113. 
146. 
155. 
191. 


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RIGA,  1870. 

Verlag  von  Bacmeister   ^  Brutzer. 


Preis  pro  Jahrganjg  4  Rbl.  50  Kop. 
Per  Post:  Postgebühren  45  Kop.,  Verpackungskosten  5  Kop.  =  5  Rbl. 

In  Deutschland  5  Thaler. 


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Literarischer  Bericht 

pro  •Januar-Febniar  189^0. 


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Mitgetheilt  von  der  Buchhandlung  Bacmeister  t  Bmtcer  in  Klga»  diii^ 

welche  alle  hier  verzeichneten  Schriften   zu  beziehen  sind : .  V 


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I.  Enoyklopfidie.    Literaturwissensohaff.  '^ 

Bloatschirs  Staatswörterbach  in  3  Bdn.  hersg.  von  -Löning.      6.  Heft.     (Zl 

Schulthess.] 

Handbuch,  politisches.  Staatslexikon  für  das  deutsche  Volk.  7.  Heft.  [Le^B^, 
Brockhaus.]  -^  i|ö. 

Pfleiderer,  E.,  Leibnitz  als  Verfasser  von  12  anonymen,  meist  deutsch  -  poUtitfli^ 
Flugschriften.    [Leipzig,  Fues.]  1/  8. 

f.  SWers,  J.,  Humboldt  und  die  deutsche  Bildimgsquelle  in  Livland.  Rede. 
Steinacker.] 

Genee,  R.,  Geschichte  der  Shakespeare'schen  Dramen  in  Deutschland.     (Lell 
Engelmann.]  3, 

WIechinann,  ^C.  M.,  Mecklenburgs  altniedersächsische  Literatur.      Ein  bibl 
Repertorium  der  seit  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  bis  zum  SQjähr.  . ...^. 
in  Mecklenburg  gedruckten  nie^ersächs.  oder  plattdeutschen  Bücher.   2;^  H^ 
Zweite  Hälfte  des  16.  Jahrh.    [Schwerin,  Stiller.]  '  Jr^S^- 

Ebreoberg,  C.  G.,  Gedächtnissrede  auf  Alex.  v.  Humboldt  gehalten  am  7.  Juli  ^j^. 
[Berlin,  Oppenheim.]  '"^$^- 

II.  Philosophie.  ^'  ; 

Meissner,  C,  die  Natur  aufgefasst  nach  ihren  Aeusserungen  und  Ableitung^  flfr^ 
Begriffs.    [Jena,  F.  Frommann.]  --^OT. 

Müller,  M.,  im  Lande  der  Denker!  oder:  werden  die  Gelehrten,  namentlich  tilSne 
lieben  Landsleute,  noch  nicht  bald  einig  in  Bezug  einer  Neugestaltung  mu^es 
Culturideals?    [Berlin,  Loewenstein.]  — ^:1il. 

Brasch,  M.,  ßened.  v.  Spinoza's  System  der  Philosophie  nach  -  der  £tliik  t^  ^en 
übrigen  Tractaten  desselben  in  genetischer  Entwickelung  dargestellt.  EBedin, 
Wruck.]  *  ^sJ 

B&chner,  L.,  die  Stellung  dei^  Menschen  in  der  Natur  etc.  2.  Liefg  Ül^^iff 
Thomas.]  ^'        -it^i 

Onckea^  W.,  die  Staatslehi-e  des  Aristoteles   in  historisch -politischen  üi 

1.  Hälfte.    [Leipzig,  Engelmann.] 

Daanier,  G.  F.,   Charakteristiken   und  Kritiken,   betr.  die  wisse nschaftlzche^L^li 

f lösen  und  socialen  Denkarten,  Systeme,  Projekte  und  Zustände  der  ti^#tcn 
eit.    [Hannover,  Rümpler.]  ^  ^bv  B. 

111.  Rechts-  und  Staatswissenschafl.    Nationaloekonomie.  '  C^^>' 

Rofflberg,  H.,  das  Strassenrecht   auf  See.     Mit  6  Taf.  in  Farbendr uek.      fBi^hiL 

Heyse.]  ^^ 

(toaritsch,  Institutionen  und  Rechtsgeschichte.     Lehrbuch   und   Repititozii 

römischen  Privatrechts  und  Civilprocesses.  2.  Ausg.  [Berlin,  Weber  1      *  • 
WIrth,  Max,  Grundzüge  der  National-Oekonomie.     [Cöln,  Du    Mont-Sl    * 

Handbuch  des  Bankwesens.  ■  '^    *2 

Bernau,  die  Abschaffung  der  Todesstrafe.     Anmerkungen  zu  deni  Bntift: 

Strafgesetzbuches  für  den  norddeutschen  Bund.  [Berlin,  v.  DeekerV 
Biscbof,  A.,  Katechismus  der  Finanzwissenschaft.  [Leipzig,  Webjör.J  'föj 
Tbudicbutu,  F.,  Verfassungsrecht  des  norddeutschen  Bundes   und   dea  ^oL 

2.  Oetzte)  Abth.    [Tübingen,  Laupp,]  .  -    ^V^t 


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