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Full text of "Barock und Rokoko : eine kritische Auseinandersetzung u˜ber das Malerische in der Architektur"

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AUGUST  SCHMARSOW 

BEITRÄGE  ZUR  AESTHETIK  DER  BILDENDEN  KÜNSTE 

IL 


BAROCK  UND  ROKOKO 

EINE  KRITISCHE  AUSEINANDERSETZUNG 
ÜBER 

DAS  MALERISCHE  IN  DER  ARCHITEKTUR 


LEIPZIG 

VERLAG   VON  S.  HIRZEL 
1897. 


BAROCK  UND  ROKOKO 


EINE  KRITISCHE  AUSEINANDERSETZUNG 
ÜBER 


DAS  MALERISCHE  IN  DER  ARCHITEKTUR 

VON 


AUGUST  SCHMARSOW 


LEIPZIG 

VERLAG   VON  S.  HIRZEL 
1897. 


Das  Recht  der  Uebersetzung  ist  vorbehalten. 


M  GETTY  CLNTt« 
llßRÄP/ 


Die  Einordmmg  des  nachstehenden  Versuches 
über  Barock  tmd  Rokoko  in  eine  Reihe  von  „Bei- 
trägen zur  Aesthetik  der  bildenden  Künste"  zeigt 
den  Kunsthistorikerit  von  vornherein,  dass  er  keine 

Vermehrung  oder  Verbesserung  der  Quellenstudien 
beabsichtigt.  Es  kommt  mir  diesmal  allein  auf  die 
Klärtmg  und  Durchführung  der  Grundbegriffe  vo7n 

Wesen  der  drei  Künste,  Malerei,  Plastik  und  Archi- 
tektur an,  mit  deren  Hilfe  meiner  Überzeugting 
nach  eine  annehmbare  Grundlage  für  die  Beurtei- 
lung des  geschichtlichen  Verlaufes  allein  gewonnen 
werden  kann.  Wenn  der  erste  Teil  dieser  Beiträge 
den  Grundbegriff  des  Malerischen  besonders  in  der 
Malerei  zu  fassen  versuchte ,  in  dem  er  zur  gene- 
tischen Erklärung  dieses  eigensten  Wesens  ztigleich 
die  geschichtliche  Entwickelung  bis  ztim  vollen  Be- 
wusstsein  der  ,, Malerkunst''  verfolgte ,  so  giebt  der 
hier  folgende  ,,eine  kritische  Azcs einander setztmg 
über  das  Malerische  in  der  Architektur" .  Atich 
hier  wird  die  Frage:  ,,zvie  kann  die  Batcktmst  male- 
risch werden?"  im  unmittelbaren  Anschluss  an  ge- 
schichtliche Tatsachen  erörtert,  ibidem  sich  an 
eine  prinzipielle  Vorbereitung ,  vom  ästhetischen  wie 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  1 


2 


vom  historischen  Standpunkte  aus,  die  Bctrachttcng 
der  })estimmten  Periode^i  im  Entwickelungsgang 
der  Künste  schliesst^  die  nach  allgemei7tem  Urteil 
unter  dem  Zeichen  des  Malerischen"  gestandeji 
haben. 

So  hoffe  ich  nicht  allein  zur  Aesthetik  der  bil- 
denden Künste  beizutragen ,  indem  ich,  unter  dejfL 
Gesichtspunkt  des  „Stiles''  dieser  drei  Schwestern,  vor- 
urteilsfreie Analyse  historischer  Erscheinungen  dar- 
biete, sondern  auch  der  Kunstgeschichte  einen  Dienst 
zu  erweisen,  indem  ich  ihr  über  die  Befangenheit 
des  augenblicklichen  Standpunktes,  besonders  diesen 
letzten  Jahrhtmderten  gegenüber,  hinweghelfe,  soviel 
ein  Einzelner  dazu  mitwirken  mag.  Ausschliessliche 
Bewunderung  der  sogenannten  klassischen  Zeiten 
—  an  sich  schoit  unhistorisch  i7t  hohem  Grade  — 
beharrt  auf  der  einen  Seite  noch  imiJier  in  Vor- 
urteilen,  denen  sich  die  unläugbaren  Errtmgen- 
schaften  dieser  sogenannten  Verfallzeit  natürlicher- 
weise verbergen  oder  doch  verzerren.  Auf  der 
andern  Seite  kann  die  einseitige  Bervorzugung  der 
Malerei ,  die  während  des  Barock  so  7na7inichfach 
und  erfreulich  emporblüht,  oder  die  ebenso  einseitige 
Beachtung  der  Kunstgewerbe ,  der  Dekoration  oder 
Orna^nentik ,  von  der  die  Beurteilung  des  Rokoko 
fast  allein  ausgeht,  nur  jeden  Weg  zum  inner- 
sten Verständnis  des  geschichtlichen  Prozesses  ver- 
schliessen.  Die  gemeinsame  Voraussetzung  für  unser 
Urteil  muss  sich  überall  in  der  Kunstgeschichte  auf 
das  Verhältnis  der  drei  Hauptkünste  zu  einander 
II  gründen;  eine  Verschiebung  in  diesem  Verhältnis 


3 


bedingt  den  Wechsel  der  Stile,  bestimmt  die  A  bfolge  ^ 
der  Perioden,  die  wir  zu  unterscheiden  haben,  ganz 
abgesehen  von  den  Jahrhunderten  unserer  Kalender- 
rechnung,  wie  von  der  Periodenteilung  unserer 
,, politischen"  Geschichte.  Selbst  der  Anschluss  an 
die  Ktdturgeschichte  bleibt  gefährlich ,  solange  die 
Kunstgeschichte  sich  nicht  auf  ihre  eignen  Füsse 
gestellt  und  auf  ihnen  allein  zti  gehen  gelernt  hat; 
denn  bis  dahin  kann  sie  nur  in  Abhängigkeit  ge- 
raten von  ihrer  Führerin,  die  sie  gelegentlich  mit- 
zumachen verlockt ,  was  für  sie  selbst  nur  Seiten- 
sprünge bedetUet.  Das  Hauptanliegen  des  Kunst- 
historikers, der  hier  redet,  ist  also  die  Verbindtmg 
ästhetischer  und  historischer  Erkenntnis  der  Kunst, 
die  allein  tmsere  Kunstwissenschaft  zu  dieser  Selbst- 
besinnung bringen  wird.  Dass  auch  dieser  Anlauf 
schon  dazu  beitragen  möge ,  bleibt  vorerst  vielleicht 
ein  frommer  Wunsch:  für  nichts  sind  Leute  so 
schwer  zti  haben,  gesteht  sich  Goethe,  als  für  jed- 
wedes Ding,  das  eine  Folge  hat. 

Die  Lehrtätigkeit  dieser  letzten  Jahre  ver- 
anlasst mich,  meinen  Versuch  auch  in  der  kurso- 
rischen Form  zti  veröffentlichen  wie  er  vorliegt; 
demi  ich  sehe,  dass  einer  jüngeren  Generation  von 
Fachgenossen  aus  dem  gegenwärtigen  Stand  dieser 
Fragen  tiefgehende  und  verhängnisvolle  Missver- 
ständnisse erwachsen ,  und  vermag  doch  selbst  die 
allseitige  Ergänztmg  durch  eine  Reihe  von  Mono- 
graphiert,  die  hier  erfordert  würde ,  noch  nicht  in 
Angriff  zu  nehmen  oder  überhaupt  nicht  allein  zu 
liefern.    Dennoch  eine  solche  Orientierung  für  alle 


4 


ferneren  Eroberungszüge  in  dieses  Land  zu  er- 
bringen wagen,  ist  eine  Kühnheit ,  aber  auch  eine 
Pflicht  des  Lehrers ,  sobald  er  ihre  Notwendigkeit 
erkannt  hat. 

Ebendeshalb  bift  ich  in  den  Gränzen  einer  „kri- 
tischen Auseinandersetzung"  geblieben,  die  ein  ehr- 
liches Ri7ige7i  mit  den  Ansichten  Anderer  verlangt, 
und  seien  es  die  Besteji  meiner  Wissenschaft  selber. 


I. 


AESTHETISCHE  UND  GESCHICHTLICHE 
VORBEREITUNG 


I.    MALERISCHE  GESICHTSPUNKTE  IN  DER 
BAUKUNST 

rchitektur  ist  ihrem  innersten  Wesen  nach 
Raumgestaltung.  Solange  sie  unmittelbar 
dem  dunklen  Drange  des  schöpferischen 
Triebes  folgt,  bewegt  sie  sich  im  Sinne  des  Raum- 
willens; sie  vollzieht  sich  in  der  Richtung  unseres 
Vorwärtsgehens ,  Vorwärtshantierens  und  Vorwärts- 
sehens, also  in  der  dritten  Dimension.  Die  Raum- 
entfaltung vom  menschlichen  Subjekt  aus  bildet  ihre 
natürlichste  Aufgabe,  und  das  Hinausschieben  der 
Gränze  vom  Anfang  bis  ans  Ende  bleibt  die  Haupt- 
sache für  die  Gewinnung  des  Spielraums,  der  die 
eigene  Person  umschliessen  soll,  während  die  seit- 
lichen Verbindungen  dazwischen  links  und  rechts 
sich  im  Entlanggehen  wie  von  selber  ergeben.  So 
entsteht,  ob  in  dürftigen  Zeichen  der  Phantasie,  ob 
in  vollständiger  Durchführung  für  die  Wirklichkeit,  das 
Raumgebilde,  das  wir  in  treffender  Bezeichnung  des 


6 


Aesthetische  Vorbereitung 


Notwendigen  ,,unsre  vier  Wände"  nennen.  Damit 
kennzeichnet  die  Sprache  den  gewollten  Raumaus- 
schnitt als  begränzt  nach  vorn  wie  hinten ,  nach 
rechts  und  links.  Der  Grund  und  Boden  unter  un- 
sern  Füssen  versteht  sich  von  selbst ,  nämlich  als 
Voraussetzung  unsres  menschlichen  Raumgefühls, 
wie  es  sich  in  aufrecht  stehenden  und  gehenden 
Wesen  wol  ausbilden  muss.  Der  Decke  dagegen 
vermag  unser  aesthetisches  Bedürfnis  lange  zu  ent- 
raten,  wie  in  allen  Raumgebilden  unter  freiem  Him- 
mel; das  praktische  Bedürfnis,  das  den  oberen  Schutz 
ebenso  früh  erheischt,  darf  über  diese  Tatsache  nicht 
täuschen.  Noch  unbefangener  redet  im  selben  Sinn 
die  andre  Bezeichnung  des  Volksmundes:  ,,unsre 
vier  Pfäle".  Man  darf  in  der  Wahl  dieses  Ausdrucks 
nicht  etwa,  wie  es  heute  nahe  liegt,  einen  Hinweis 
auf  die  konstruktive  Unentbehrlichkeit  der  Träger 
erblicken,  sondern  vielmehr  den  auf  di#  sinnHche 
Unentbehrhchkeit  des  sichtbaren,  tastbaren,  haltbaren 
Zeichens.  Vier  aufrechte  Grade  stehen  da  wie  Ab- 
geordnete unsres  Willens.  Wenn  unsre  Augen  sie 
erblicken,  unsre  Hände  sie  greifen,  unsre  Füsse  sich 
daran  stossen,  so  gelten  sie,  —  in  ihrem  besondern 
Auftrag,  —  für  unsersgleichen.  Aber  nicht  das  einmal 
ist  in  voller  Körperlichkeit  vonnöten;  vier  Stangen, 
ja  vier  feste  Punkte  schon  genügen,  um  zu  williger 
Ergänzung  des  ganzen  Innenraums  dazwischen  heraus- 
zufordern. 

Das  Raumvolumen  also,  das  den  Menschen  als 
Spielraum  umgiebt,  ist  das  zunächst  Gewollte,  nicht 
die  Aufrichtung  körperlicher  Dinge,  die  wir  zu  dessen 


Architektonischer  Standpunkt 


7 


Versinnlichung  brauchen.  Alle  statischen  und  me- 
chanischen Vorkehrungen,  wie  alle  materielle  Durch- 
führung des  Wandschlusses  sind  nur  Mittel  zum 
Zweck,  zur  Verwirklichung  der  dunkel  geahnten  oder 
klar  vorschwebenden  Idee  des  architektonischen 
Schaffens.  Dass  sich  die  Entwicklung  freiHch  vom 
ahnungsvollen  Triebe  zu  absichtsvollem  Plane  nur 
an  der  Hand  dieser  greifbaren  Mittel  und  technischen 
Erfahrungen  hindurchringt,  dass  auch  das  werdende 
Raumgebilde  erst  im  Vollzug  der  Verwirklichung 
sich  auswächst  und  auf  diesem  Wege  gar  manche 
Verwandlung  erleben  mag,  ist  fast  allzu  selbstver- 
ständlich, um  noch  wiederholt  zu  werden.  Nur  muss 
man  nicht  meinen,  damit  irgend  ein  Vorrecht  des 
HandwerkUchen  vor  dem  Künstlerischen  begründen 
zu  können,  oder  als  psychologischen  Grundsatz  hin- 
stellen zu  dürfen,  unser  aesthetisches  Wollen  könne 
keinen  andern  Ursprung  haben  als  aus  dem  prak- 
tischen Vermögen. 

Hier  besonders  kommt  es  nur  darauf  an,  für 
die  Architektur  als  Kunst  an  dem  Prinzipe  festzu- 
halten, dass  die  Raum ge staltun g  allem  Eingehen 
auf  Körperbildung  voran  Hegt.  Der  Raumwille 
ist  die  lebendige  Seele  der  architektonischen 
Schöpfung.  Schon  im  Wurm,  der  sich  seinen  Weg 
in  das  Häuschen  des  Apfels  bahnt,  liegen  die  An- 
fänge dieser  Betätigung,  die  der  Höhlenbau  des  Bibers 
wie  des  Troglodyten  auf  höherer  Stufe  zeigt,  aber 
die  Honigwabe  der  Biene  nicht  minder,  hier  Additions-, 
dort  Subtraktionsverfahren.  Und  wie  der  Augur  im 
Templum,  den  der  Wink  seines  Lituus  abgegränzt 


8 


Aesthetische  Vorbereitung 


hat,  steht  das  geistig  entwickelte  Subjekt  in  seinem 
Raumgebilde,  das  jeder  materiellen  Existenz  entbehrt. 
Das  andre  noch  so  gleichartig  organisierte  Wesen, 
das  von  aussen  kommt ,  sieht  vielleicht  garnichts. 
Wahrzeichen  oder  Mahnrufe  müssen  erst  warnen. 
Sowie  aber  die  vier  Pfäle  oder  gar  die  vier  Wände 
dastehen,  vermag  das  fremde  Subjekt  den  Raum- 
ausschnitt als  Ganzes  im  allgemeinen  Raum  an- 
zuerkennen. Nun  erst  betrachtet  auch  das  schaffende 
Subjekt,  wenn  es  hinaustritt,  das  eigne  Raumgebilde 
als  Gegenstand  der  weiten  Aussenwelt  umher,  erfasst 
es  als  Raumkörper,  der  immer  selbständiger  nach 
seinen  Aussenseiten  nur  sich  geltend  macht,  wie  er 
dem  Unbefangenen,  der  den  Innenraum  noch  nicht 
kennt,  nur  als  Körper  vor  die  Sinne  tritt.  Und 
dieses  Absehen  auf  die  körperliche  Aussenseite  kann 
wol  die  Raumbildung  des  Innern  so  stark  über- 
wuchern, dass  man  der  letztern,  obgleich  sie  den 
Kern  des  Ganzen  giebt,  wie  bei  der  Pyramide  fast 
vergisst. 

Damit  beginnt  die  Auffassung  des  Gebäudes 
vom  plastischen  Gesichtspunkt  nach  Analogie 
des  menschlichen  Körpergefühles  ihr  Spiel.  Ueber- 
einstimmung  mit  Gehaben  und  Gewächs  der  Lebe- 
wesen führt  zur  Anerkennung  all  der  Vergleiche,  die 
wir  unter  dem  Namen  Organisation  zusammen- 
fassen. Uebereinstimmung  mit  den  Körpergebilden 
der  unorganischen  Natur  dagegen  zur  Anerkennung 
all  der  Unterschiede  von  uns,  die  wir  zuni  Ausdruck 
ihrer  starren  Gesetzlichkeit  wol  am  besten  als  Kry- 
stallisation  bezeichnen.     Beide  Vergleichsreihen 


Plastischer  Standpunkt 


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durchverfolgt  führen  zur  Erkenntnis ,  dass  die  archi- 
tektonische Schöpfung  nicht  ganz  in  ihnen  aufgeht. 
Beides,  Organisation  wie  Krystallisation ,  sind  Me- 
taphern; es  bleibt  ein  Rest:  das  menschUche  Raum- 
gebilde ist  weder  ein  Lebewesen,  wie  die  Geschöpfe 
der  organischen  Natur,  noch  ein  Produkt  der  un- 
organischen Natur,  gleich  dem  Felsgrat,  der  Metall- 
ader ,  dem  Schneestern ,  die  wir  tot  nennen  nach 
Menschenmafs.  Es  ist  vielmehr  ein  Neues  aus  Beidem, 
eine  Schöpfung  des  Menschen  selber,  eine  Ausein- 
andersetzung seines  innern  und  äussern  Wesens  mit 
der  Welt,  in  die  er  gestellt  ward.  Und  deshalb  ist 
es  mehr  als  Krystall  oder  Gewächs,  eine  Welt  für 
sich,  ein  Kosmos  aus  beiderlei  Bestandteilen. 

Es  giebt  denn  auch  in  der  Tat  noch  einen 
dritten  Standpunkt  für  die  Auffassung  des  architek- 
tonischen Kunstwerks,  der  sich  sofort  geltend  macht, 
sobald  wir  mehrere  solcher  Gebilde  mit  einander  zu 
vergleichen  haben.  Sowie  der  Raumkörper  nicht 
allein  auftritt,  sondern  eine  Mehrzahl,  sei  es,  dass  an 
einem  und  demselben  Gebäude  die  Bestandteile 
selbständiger  hervorspringen,  sich  als  besondre  Kör- 
perbildungen verkünden,  sei  es,  dass  mehrere  Einzel- 
bauten neben  einander  im  selben  Räume  dastehen, 
so  beginnt  auch  das  Vergleichen  dieser  Grade  von 
Selbständigkeit  und  das  Zusammenfassen  der  Mehr- 
zahl unter  die  Raumeinheit,  die  sie  alle  umspannt. 
Wir  betrachten  sie  nicht  mehr  mit  dem  plastischen 
Interesse  nur,  das  uns  über  ihre  Körperlichkeit  auf- 
klärt, noch  mit  dem  architektonischen  Sinn,  der  nach 
dem  Räume  fragt,   den  sie  zwischen  sich  eröffnen. 


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Aesthetische  Vorbereitung 


begränzen,  einschliessen;  wir  bewegen  uns  mit  ihnen 
nicht  nur  in  die  Höhe,  wie  im  Verfolg  ihres  Ge- 
wächses, oder  in  die  Tiefe,  wie  im  Verfolg  der  Er- 
streckung  vor  uns  hin,  sondern  auch  nach  der  Breite; 
wir  betrachten  die  Ausdehnung  des  Raumganzen,  das 
sie  beherbergt,  nach  beiden  Seiten  von  der  Mitte, 
betrachten  das  Nebeneinander  der  Körper  in  diesem 
Raum  und  fassen  sie  als  lauter  Bestandteile,  als  unter- 
geordnete Grössen  zu  einer  Einheit  zusammen,  deren 
Gränzen  über  die  Weite  unsres  Sehfeldes  hinaus- 
reichen mögen.  Und  ganz  ähnlich  verfährt  der  aus- 
gebildete Raumsinn,  wenn  nicht  mehrere  Körper, 
sondern  mehrere  Innenräume  sich  vor  uns  auftun 
und  zu  einem  Raumganzen  umfassenderer  Art  in  Be- 
ziehung setzen. 

Wir  gewinnen  diese  höhere  Einheit  nur  durch 
Verzicht  auf  einen  Teil  der  mannichfaltigen  Bewäh- 
rung, die  unsre  Sinne  sonst  einander  ergänzend  uns 
zuzuführen  pflegen,  und  zwar  durch  Verzicht  auf  die 
Kontrole  der  Ortsbewegungen  und  Tastbewegungen 
unseres  eigenen  Leibes ,  indem  wir  uns  auf  einen 
festen  Standpunkt  und  auf  ruhige  Haltung  beschrän- 
ken. Erst  in  einer  Region,  wo  die  Macht  der  untern 
Sinne,  die  in  Architektur  und  Plastik  immer  eine 
grosse  Rolle  spielen,  zu  versagen  beginnt  und  all- 
mählich zurücktritt,  also  jenseits  der  Tastregion  und 
Ortsbewegung,  kann  sich  für  unser  Auge  die  Mög- 
lichkeit ergeben,  über  Raumgefühl  und  Körpergefühl 
hinausgehend,  einen  neuen  Zusammenhang  zu  fassen. 
In  einem  Abstand,  wo  die  Sorge  für  Haltung  und 
Bewegung  unsres  aufrechten  Körpers  nicht  mehr  be- 


Malerischer  Standpunkt 


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helligt  wird,  wo  die  Aufforderung,  uns  in  Berührung 
mit  den  Gränzpunkten  des  eigenen  Leibes,  und  seien 
es  die  äussersten  Fingerspitzen,  über  die  Beschaffen- 
heit der  Nachbarschaft  zu  orientieren,  wieder  zum 
Schweigen  kommt  —  erst  in  solcher,  der  unmit- 
telbaren Gefahr  nicht  ausgesetzter  Entfernung  er- 
giebt  sich  Neigung  und  Gelegenheit,  Körper  und 
Räume  anders  als  nach  ihren  besonderen  Ge- 
setzen zu  beurteilen ,  uns  nicht  allein  um  ihre 
konstitutiven  Merkmale  zu  kümmern,  sondern  den 
Augenschein  für  sich  allein  auf  uns  wirken  zu  lassen. 
In  diesem  Abstand  geht  unser  bequemes  Sehfeld,  in 
gewisser  Höhe  über  dem  Boden,  auf  dem  wir  stehen, 
und  .bis  zu  gewisser  Erhebung  nur  über  unsern  Scheitel 
reichend,  zu  beträchthcher  Breite  auseinander  und 
scheint  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  eine  ebene 
Fläche  zu  bilden.  Indem  wir  selbst  aber  auf  dem 
festen  Standpunkt  verharren,  den  die  Umspannung 
dieses  Sehfeldes  fordert,  verzichten  wir  auf  die  Kon- 
trole  der  dritten  Dimension ,  die  wir  durch  Orts- 
bewegung und  Tastbewegung  zu  üben  gewohnt  sind. 
Die  senkrechte  Axe  des  Schauenden  bleibt  wie  fest- 
gewurzelt stehen,  der  ganze  Körper  möglichst  ruhig, 
nur  der  Sehapparat  arbeitet.  In  ihm  wird  allerdings 
schon  durch  die  Beweglichkeit  der  beiden  Augäpfel, 
durch  die  Anpassungsfähigkeit  ihrer  Linsen,  durch 
die  Blutzufuhr  und  Innervation,  wie  durch  begleitende 
Muskelempfindungen  der  Verkehr  mit  den  andern 
Regionen  unsrer  Sinnlichkeit  aufrecht  erhalten,  aber 
wir  versuchen  doch  ganz  Auge  zu  sein.  Je  mehr 
dies  gehngt,  der  Augenschein  als  solcher  sich  isoliert. 


12 


Aesthetische  Vorbereitung 


desto  mehr  muss  alle  Erregung  unsrer  Vorstellungs- 
welt von  der  Erscheinung  im  Sehfelde  selbst  aus- 
gehen, alle  Bewegung  dort  als  Variation  von  Hell 
und  Dunkel,  als  Lichtreize  zwischen  den  beiden  Polen 
der  Empfindlichkeit  unsrer  Retina  sich  äussern.  Aber 
lange  bleibt  ihr  Ergebnis  flächenhaft. 

Die  Zusammenfassung  in  der  Einen  Fläche  des 
Sehfeldes  entkörpert  also,  ja  enträumlicht  zunächst 
in  hohem  Mafse  die  Wirklichkeit  der  Dinge.  Nur 
in  der  Nähe,  hart  im  Räume  stossen  sich  die  Sachen. 
Rücken  sie  ferner,  über  die  Sphäre  unsrer  niedern 
Sinne  hinaus,  so  läutert  sich  der  Augenschein  zu 
reiner  Anschauung  immer  mehr ,  und  schliesslich 
schwebt  nur  die  Erscheinung,  wie  abgelöst  von  der 
körperlichen  und  räumlichen  Grundlage  vor  uns, 
gleich  einer  Fata  Morgana. 

Damit  treten  auch  die  Gesichtspunkte,  die  an- 
gesichts der  architektonischen  Schöpfung,  mit  der 
wir  allein  hier  zu  rechnen  haben,  zunächst  wirksam 
wurden,  zurück,  nämlich  die  Auffassung  der  Raum- 
gesetze und  der  Körperbildung,  die  uns  am  Bauwerk 
beschäftigten.  Die  Kategorien  der  Krystallisation  und 
Organisation  sind  nicht  mehr  für  den  malerischen 
Standpunkt,  sondern  die  erstere  für  den  spezifisch 
architektonischen,  die  andre  für  den  plastischen  mafs- 
gebend.  Die  strenge  Architektur  betont  überall  die 
klare,  sofort  übersichtUche  Gesetzlichkeit  der  Raum- 
bildung; die  konstitutiven  Merkmale  müssen  wahr- 
nehmbar offen  liegen,  die  stereometrische  Regel- 
mässigkeit gewährt  dem  Raumsinn ,  für  den  sie 
schafft ,   die   Befriedigung ,    und    an   der  Aufrecht- 


Unmalerisches  in  der  Architektur 


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erhaltung  des  sichern  Raumgefühls  muss  ihr  gelegen  sein 
trotz  aller  Mannichfaltigkeit  der  sonstigen  Gestaltung. 
Die  grade  Linie,  die  regelrechte  Fläche,  die  stereo- 
metrische Grundform  des  Innenraumes  wie  seiner 
äussern  Erscheinung  als  Körper  im  allgemeinen 
Raum,  diese  unentbehrlichen  Faktoren  der  Baukunst 
gewähren  der  Schwesterkunst  Malerei  kein  Interesse; 
im  Gegenteil,  sie  treten  als  Zeichen  räumhcher  Ge- 
setzlichkeit ihrem  Streben ,  die  sichtbare  Einheit 
zwischen  Körper  und  Raum  zu  finden,  hinderhch  in 
den  Weg.  Die  symmetrische  Anordnung  zweier  oder 
mehrerer  Punkte  im  Raum  giebt  ja  grade  die  klare 
unbezweifelbare  Auseinandersetzung  mit  dem  leben- 
digen Träger  der  Mittelaxe  räumlicher  Anschauung, 
dem  menschlichen  Subjekt.  Diese  Wahrzeichen  der 
Räumlichkeit  werden  der  Malerei  erst  wert,  wenn  sie 
darauf  ausgeht  auf  ihrer  Fläche,  durch  perspektivische 
Kunst,  auch  die  dritte  Dimension  zu  ertäuschen.  Sie 
vermag  andrerseits  diese  Faktoren  der  strengen  Ar- 
chitektur mit  Bewusstsein  aufzunehmen,  wo  es  ihr 
darauf  ankommt,  den  Eindruck  des  Beharrlichen  zu 
erstreben,  den  Charakter  des  Unverrückbaren,  über 
den  Wechsel  örtlicher  und  zeitlicher  Bedingungen 
Erhabenen  zu  erreichen,  wie  z.  B.  in  Kirchenbildern 
der  umbrischen  Schule  oder  in  symbolischen  Kompo- 
sitionen sub  specie  aeterni  gleich  Rafaels  Disputa. 
Ebendeshalb  duldet  sie  nur  in  dekorativer  Absicht 
oder  in  kindlicher  Befangenheit  die  gleichmäfsige 
Reihung,  das  Metrische,  die  fortlaufende  Wiederkehr 
gleicher  Teile,  welche  die  Baukunst  und  die  Orna- 
mentik miteinander  gemein  haben,  vermeidet  sie  aber 


14 


Aesthetische  Vorbereitung 


geflissentlich,  sobald  sie,  ihres  eigenen  Wesens  be- 
wiisst  geworden ,  auf  einheitUche  Erscheinung  des 
Bildes  allein  bedacht  ist. 

Die  strenge  Architektur  schmückt  sich  ohne 
Einbufse  mit  Polychromie.  Aber  die  Farbe  dient  ihr 
zunächst  zur  schärferen  Unterscheidung  ihrer  Bestand- 
teile, also  zur  Erhöhung  ihrer  eigensten  Absicht  auf 
volle  Bestimmtheit  der  räumUchen  und  körperlichen 
Auseinandersetzung.  Sowie  die  Reihe  der  Farben 
sich  untereinander  abstimmt  im  Interesse  der  Aus- 
gleichung ,  zur  Sänftigung  der  Übergänge ,  ja  zur 
Herstellung  einer  Einheit  im  Mannichfaltigen  für  das 
Auge  gelangt ,  so  arbeitet  sie  der  Malerei  in  die 
Hände.  Polychromie  und  Farbenharmonie  sind  zwei 
entgegengesetzte  Dinge,  wie  andrerseits  die  Buntheit 
der  Aussenwelt  für  sich  allein  den  Anblick  dieser 
Welt  nicht  malerisch  macht.  Das  Licht  erst  oder 
die  Beleuchtung  bringen  die  Einheit  im  Sinne  des 
Malerischen  zu  stände.  Das  allgemeine  Tageslicht 
nimmt  die  verschiedensten  Gegensätze  in  sich  auf, 
die  einheitliche  Beleuchtung  von  der  einen  oder  der 
andern  Seite,  also  Morgen  oder  Abend,  gleichen  sie 
noch  mehr  aus.  Die  Polychromie  der  Architektur 
und  Ornamentik  mögen  diesem  natürlichen  Vorgang 
gradezu  widerstreben.  Es  ist  malerische  Tendenz, 
wenn  sie  ihm  folgen,  ihm  nachgeben,  ihm  absicht- 
lich nachgehen  als  einer  höheren  künstlerischen  Ein- 
heit. So  sprechen  wir  noch  von  Polychromie  eines 
Innenraumes,  wo  die  Buntfarbigkeit  schon  fühlbar 
darnach  strebt,  einheitUchen  Gesamteindruck  zu  er- 
reichen, also  alle  Bestandteile,  Wände,  Fussboden, 


Uebergang  ins  Malerische 


15 


Decke,  mehr  oder  minder  körperlich  hervortretende 
BaugUeder,  mit  einander  zu  vermitteln.  Die  farbige 
Dekoration  antiker  Thermen-  und  Palastsäle  z.  B. 
lernt  in  jener  Stilform,  die  wir  heute  mit  dem  Namen 
„Grotteske"  bezeichnen,  durchaus  harmonische  Ein- 
heit der  Farben  zu  erreichen,  nachdem  sie  darüber 
hinaus  gelangt  ist,  die  Farben  entweder  als  Körper- 
werte oder  als  Raumwerte  zu  verwenden;  damit  aber 
ist  sie  Malerei  geworden  und  nicht  mehr  Ornamentik, 
wie  die  Polychromie  zunächst,  nicht  mehr  Dienerin 
der  Baukunst  in  ihrem  strengen  Sinne,  sondern  ein 
Neues,  das  Macht  gewinnt  und  die  Architektur  dazu 
führen  kann  ,, malerisch"  zu  werden  in  ihren  ent- 
scheidenden Intentionen. 

Von  andrer  Seite  leitet  auf  den  nämlichen  Weg 
der  zweite  Faktor  der  Raumgestalterin,  eben  die  Ge- 
staltung als  solche  mit  ihrem  plastischen  Interesse. 
Von  unserem  eigenen  Körpergefühl  ausgehend,  richtet 
sie  sich  zunächst  auf  besondere  Körperbildung  im 
architektonischen  Raumgebilde.  Die  Analogie  mit 
dem  Gewächs  organischer  Geschöpfe  nach  dem  Eben- 
bilde des  eigenen  Leibes  ist  die  Grundlage  für  alle 
Versuche  künstlerischer  Organisation  am  Bauwerk. 
Soweit  die  Auffassung  des  selbständigen  Gewächses 
reicht,  erstreckt  sich  dann  die  Domäne  der  Plastik; 
sowie  aber  die  Selbständigkeit  des  BaugUedes  auf- 
hört und  der  Einzelkörper  eben  als  Glied  sich  dem 
weitern  Zusammenhang  einordnet,  verschwindet  auch 
der  Gesichtspunkt  der  plastischen  Schönheit ,  um 
entweder  —  im  Verfolg  des  Aufbaues  —  zum  ar- 
chitektonischen zurückzukehren,  oder  —  beim  Ver- 


16 


Aesthetische  Vorbereitung 


folg  der  Flächenanschauung  zunächst  —  in  den 
malerischen  überzugehen,  der  beide  schliesslich  zu- 
sammenzufassen vermag,  indem  er  sowol  die  ar- 
chitektonische wie  die  plastische  Schönheit  in  die 
malerische  Schönheit  auflöst.  Sie  ist  es,  die  Raum 
und  Körper  im  Sinn  einer  einheitlichen  Welt  be- 
trachtet, also  nicht  mehr  vom  Raumgefühl  allein, 
noch  vom  Körpergefühl  allein  bedingt  wird,  sondern 
vom  Weltgefühl,  das  vom  Zusammenhang  unsrer 
selbst  und  aller  Dinge  mit  einem  gröfsern,  umfassen- 
den Ganzen  zu  sagen  weiss.  Wo  immer  die  Über- 
sichtHchkeit  und  VerständUchkeit  der  Raumgesetze 
und  der  Körpergesetze  versagt,  da  tritt  die  Malerei 
in  ihre  Rechte;  das  Irrationale,  Geheimnisvolle,  soweit 
es  sichtbar  sich  verkünden  kann,  wartet  ihres  Amtes. 

Die  Architektur  selbst  geht  in  ihrem  Fortschritt 
als  Kunst  auf  den  dritten  Standpunkt,  den  der  ma- 
lerischen Auffassung,  über:  ihn  nimmt  der  Baumeister 
wie  von  selbst  ein,  sowie  der  umgebende  Raum 
mit  seinen  mancherlei  Beziehungen  bestimmend  auf 
das  Bauwerk  herüberwirkt,  sowie  die  besondre  Um- 
gebung nicht  mehr  als  neutraler  Gegensatz,  als  un- 
bezeichnete  FoUe,  nur  ihn  geltend  macht,  sondern 
in  ihrem  eignen  Charakter  anerkannt,  auch  sich  selbst 
oder  in  sichtUcher  Überlegenheit  bestimmend,  ver- 
ändernd ^  zerstörend  hineinspielt.  Und  ebenso  ge- 
schieht es,  wie  gesagt,  beim  einheitlichen  Blick  auf 
mehrere  aneinandergereihte  Innenräume.  Wo  immer 
im  Sinne  Burckhardts  von  spezifischen  ,,  Raum- 
stilen" geredet  wird,  da  sind  in  solcher  Raumkom- 
position sicher  auch  malerische  Gesichtspunkte  im 


Malerischer  Standpunkt 


17 


Spiel,  wie  in  römischer,  ja  hellenistischer  Kunst  ge- 
wiss. Eine  Kunst  der  Verhältnisse  im  Grossen,  der 
Raumverbindung,  der  Verteilung  bauhcher  Massen 
zu  einem  Rhythmus,  der  durchs  Ganze  geht,  wird 
überall  den  zusammenfassenden  Gesichtspunkt  auf- 
drängen, von  dem  wir  reden. 

Auf  ihrer  höchsten  Höhe  rechnet  die  Architektur 
bewusst  auch  von  diesem  Standpunkt  aus,  bei  der 
Gruppierung  mehrerer  Raumformen  und  Baukörper 
zu  wirksamer  Auseinandersetzung  mit  allen  benach- 
barten Erscheinungen,  zur  Erhaltung  der  Einheit  in 
ihrem  aesthetischen  Gesamtraum.  Bei  der  Anlage 
eines  Platzes,  wo  es  auf  Geschlossenheit  ankommt, 
folgt  sie  zunächst  den  Ratschlägen  und  Erfahrungen 
der  Innenarchitektur  unter  freiem  Himmel,  bei  der 
Hervorhebung  monumentaler  Selbständigkeit  be- 
herzigt sie  die  Wünsche  der  Bundesgenossin  Plastik 
zu  eignem  Vorteil;  sowie  aber  das  Verhältnis  der 
Monumente  zu  einander  und  ihre  räumliche  Ver- 
bindung ins  Auge  gefasst  wird,  oder  der  Zusammen- 
hang der  eigenen  Schöpfungen  mit  dem  natürHch 
oder  geschichtlich  gegebenen  Schauplatz  sich  auf- 
drängt, da  kann  nur  die  Bildwirkung  den  Ansprüchen 
beider  Faktoren,  der  Körper  und  des  Raumes,  ge- 
recht werden ,  und  der  malerische  Gesichtspunkt 
stellt  sich  auch  ungerufen  ein,  weil  er  allein  die  Be- 
friedigung gewährt,  die  unsre  menschliche  Natur- 
anlage auf  Grund  ihrer  gegebenen  Organisation 
fordert. 

Das  nämHche  Bauwerk  erlebt  während  der  Dauer 
seines  Bestehens  den  Wechsel  des  Standpunktes  und 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  2 


18 


Aesthetische  Vorbereitung 


der  Auffassung,  den  wir  gekennzeichnet  haben.  Bei 
seiner  Entstehung  waltet  unzweifelhaft  zunächst  der 
erste;  von  Innen  her  entfaltet  sich  das  räumhche 
Gebilde,  und  jedes  zuschauende  oder  mitwirkende 
Subjekt  fragt  in  erster  Linie  nach  der  Wurzel  der 
architektonischen  Schöpfung  im  Verfolg  der  dritten 
Dimension.  Steht  es  fertig  da,  nagelneu  als  gelungene 
Willensäufserung  seines  Schöpfers,  die  dem  eigenen 
Bildungsgesetz  ihr  festes  Bestehen  dankt,  so  über- 
wiegt der  Eindruck  der  ringsum  abgeschlossenen 
und  ablehnenden  Masse ,  des  tektonischen  Ganzen, 
fast  wie  ein  Krystall,  der  mit  Absicht  dort  hingesetzt 
worden ;  oder  bei  genauerem  Anschauen  und  ver- 
traulicherer Annäherung  entdecken  wir  Züge  des 
eigensten  Wesens,  Ähnlichkeiten  mit  dem  eigenen 
Wachstum ,  mit  der  fühlbaren  Gliederung  unseres 
Körpers  und  begrüssen  in  ihm  ein  organisches  Ge- 
schöpf, wenn  auch  nie  so  unmittelbar  wie  in  der 
Statue  dort  auf  ihrem  Sockel  oder  so  vollständig, 
dass  das  Gefühl  der  starren  Naturgesetzlichkeit  des 
Materiales  verschwände. 

Es  ist  die  plastische  Auffassung,  die  uns  be- 
glückt, wie  selbstverständlich  siegend,  beim  Anblick 
des  hellenischen  Tempels ,  der  als  Weihgeschenk 
auf  seinen  Stufen  dasteht  und  in  jeder  Säule  noch 
das  lebendige  Gefühl  für  den  Wert  des  ganzen 
Menschenleibes  verkündet.  Aber  so  ein  weisser 
Marmorbau,  so  ein  tektonischer  Körper  mit  der  ent- 
schiedenen Sprache  der  Polychromie  an  der  Stirn, 
setzt  sich  mit  aller  Energie  von  der  räumlichen  Um- 
gebung ab ,  wie  vom  Boden  durch  die  Stufen ,  so 


Plastische  und  malerische  Wirkung 


19 


vom  Felsen,  vom  Bergeshang  durch  die  Farbe,  vom 
Grün  der  Büsche  und  Bäume ,  die  ihm  nirgends 
nahen  dürfen,  von  allen  andersartigen  Dingen  umher. 
Jede  Verwechselung  mit  den  Gebilden  der  Natur  ist 
ausgeschlossen ,  alles  bekräftigt  triumphierend  die 
Absicht  des  bewussten  Menschenwillens,  der  ihn  hier 
aufgerichtet.  Er  will  gar  nicht  gewachsen  sein  aus 
dem  Grunde  dieses  Landes ,  viel  eher  durch  die 
Wunderkraft  eines  Olympischen  entsprungen,  gleich 
dem  Rosse  des  Poseidon.  Nicht  Naturerzeugnis  son- 
dern Kulturprodukt  ist  er,  und  nur  die  Menschen- 
wohnungen dort  unten  oder  die  Wallfahrtstrasse  zur 
Stadt  geben  die  Erklärung  für  sein  Dasein ,  nicht 
das  ragende  Gezack  des  Vorgebirges  oder  das 
üppige  Gewächs  der  heiUgen  Haine.  —  Ganz  anders 
die  Ruinen  der  Akropolis  oder  die  verfallenen  Tempel 
von  Paestum.  Sonnenbrand  und  Regengüsse,  Stürme 
des  Meeres  und  Stürme  des  Schicksals  haben  die 
stolzen  Farben  gebleicht  und  die  starre  Auflehnung 
des  Menschenwillens  gebrochen;  gedemütigt  und 
zerrissen,  sind  die  Reste  froh  zum  Boden  zu  ge- 
hören ,  wie  die  Eichenstämme  oder  das  Felsgeröll 
ringsum,  und  nicht  schlimmer  von  jenen  überlegenen 
Mächten  behandelt  zu  werden  als  diese  Gefährten 
des  gemeinsamen  Daseins  auf  der  Erdoberfläche. 
Der  eigene  Zusammenhang,  den  Menschenhand  dem 
Bau  gesichert,  löst  sich  auf;  aber  der  Zusammen- 
hang mit  der  Umgebung  ist  zusehends  gewachsen  " 
und  behauptet  siegreich  sein  ewiges  Recht.  Die 
Auseinandersetzung,  die  der  Menschengeist  im  dauer- 
haften Monument  aufzurichten  vermocht,  gehört  auch* 

2* 


20 


Aesthetische  Vorbereitung 


im  härtesten  Stein  der  grossen  Rechnung  des  Alls, 
den  durchwaltenden  Gesetzen  der  Welt  an ,  in  die 
der  Mensch  als  vorübergehende  Erscheinung  gestellt 
worden,  und  die  Ausgleichung  dieser  Rechnung  zu 
Gunsten  des  allgemeinen  Zusammenhangs  tritt  zu 
Tage.  Das  Bauwerk,  das  zu  plastischer  Selbständig- 
keit geschaffen,  so  abgeschlossen  auf  sich  selber  be- 
ruhend dastand ,  wie  ein  Wahrzeichen  bleibender 
Bedeutung,  es  ist  malerisch  geworden  in  seinem 
Anblick ;  denn  der  Zusammenhang  mit  seiner  Um- 
gebung ringsum  ist  hergestellt,  es  ist  aufgenommen 
in  den  Schofs  der  Landschaft,  die  es  treulich  und 
innig  beherbergt,  bis  auch  die  letzte  der  ragenden 
Säulen  wieder  zurück  gesunken  in  den  Grund  ihres 
Ursprungs. 

Aber  dieser  Weg  von  Aussen  her  ist  nicht  der 
einzige,  der  solche  Verwandlung  herbeiführen  kann. 
Wir  haben,  indem  wir  ihm  zuerst  folgten,  nur  dem 
Charakter  des  Göttertempels  Rechnung  getragen ; 
der  Sitz  eines  solchen  idealen  Subjekts  entbehrt 
aber  schon  einer  Reihe  lebendiger  Antriebe ,  die 
dem  Hause  als  Sitz  des  menschlichen  Subjekts  ur- 
sprünglich innewohnen.  Und  vom  schöpferischen 
Subjekt  aus  sollte  der  Weg  zum  Malerischen  in  der 
Architektur  vor  allen  Dingen  verfolgt  werden. 

Die  deutliche  Bevorzugung  des  Aussenbaues 
lässt  keinen  Zweifel  über  das  vorwiegend  plastische 
Wesen  des  hellenischen  Tempelstils ;  die  Vor- 
herrschaft der  bildnerischen  Auffassung  ist  die  ge- 
schichtliche Bedingung  dieser  Architekturform ,  die 
nur  von  solchem  Standpunkt  aus  ihre  Berechtigung 


Keime  des  Malerischen  im  Innenraum 


21 


hat,  ja  als  plastische  Architektur  den  Wert  eines 
Ideales  erreicht.  Wo  für  den  Schatten  oder  die 
Hülle  des  Toten  gebaut  wird,  wie  in  der  Pyramide, 
da  bleibt  der  Baukörper  völlig  geschlossen,  jede  Be- 
ziehung zum  Leben  draussen  ausdrücklich  verneint. 
Hier  zeigt  sich  der  Gegensatz  zur  Wohnung  des 
Lebenden  so  scharf  wie  nur  mögUch ,  so  sehr  die 
versteinerte  Form  dem  Urbild  des  Nomadenzeltes 
auch  sonst  getreu  bleibt.  Im  Bedürfnis  des  Menschen 
nach  Luft  und  Licht,  in  der  Abhängigkeit  von  der 
Natur,  von  den  allgemeinen  Bedingungen  des  Stoff- 
wechsels organischer  Geschöpfe  liegt  auch  der  An- 
fang für  eine  Auffassung  seines  Hauses  gegeben, 
die  den  Zusammenhang  mit  dem  All  hinein  nimmt, 
je  mehr  der  zeitweilige  Schlupfwinkel  sich  zur  blei- 
benden Wohnung  ausbildet.  Hier  müssen  die  In- 
tentionen gesucht  werden ,  die  zum  malerischen 
Wesen  in  der  Architektur  führen,  die  Keime  ästhe- 
tischen Wollens ,  die  über  den  ursprünglichen  Sinn 
der  Raumgestaltung  hinaus,  aber  auch  nicht  auf  For- 
derungen plastischer  Gestaltung,  also  der  Körper- 
bildnerin zurückgehen,  sondern  gerade  die  Neigungen 
befriedigen,  die  den  ursprünglichen  Antrieb  zur  Ma- 
lerei gegeben  und  sonst  von  dieser  Kunst  besonders 
gepflegt  und  zur  höchsten  Genussfähigkeit  , ausgebildet 
werden.  Nur  so  darf  von  malerischer  Architektur 
im  eigentlichen  Sinne  geredet  werden,  während  jene 
verfallenen  Tempel  nur  ein  Beispiel  malerischer  Wir- 
kung zeigten,  zu  der  sich  das  Bauwerk  wider  Willen 
hergeben  muss,  wie  jeder  andere  Gegenstand  der 
Wirklichkeit  unter  demEinfluss  äusserer  Bedingungen. 


22 


Aesthetische  Vorbereitung 


Sowie  die  Höhle  des  Troglodyten,  das  Zelt  des 
Nomaden,  das  Haus  des  Siedlers  sich  öffnen,  bietet 
sich  dem  Auge  des  Bewohners  drinnen  ein  Aus- 
schnitt aus  der  weiten  Welt  da  draussen  dar.  Vom 
dunkeln  Rand  der  Öffnung  eingerahmt  erscheint  ein 
Bild,  ein  flächenhafter  Eindruck,  aus  Körper-  und 
Raumfaktoren  zusammengewebt,  der  sich  allmählich 
in  Näheres  und  Ferneres,  Vordergrund  und  Hinter- 
grund auseinander  setzt,  je  mehr  die  Erinnerungs- 
bilder, Bewegungsvorstellungen  und  Tasterfahrungen, 
alle  Beiträge  aus  andern  Sinnen  dem  schauenden 
Auge  zu  Hülfe  kommen.  Der  Vordergrund  nähert 
sich  der  ReUefanschauung ,  der  Hintergrund  ist  das 
reine  Fernbild.  Türen  und  Fenster  gewähren  neben 
der  Erfüllung  praktischer  Zwecke  die  Gelegenheit 
ästhetischer  Befriedigung  durch  den  Augenschein  und 
vermitteln  so  mancherlei  Zuwachs  der  Bildauffassung, 
bis  sie  selber  bewusst  auch  darauf  berechnet  wer- 
den, den  Genuss  malerischer  Anschauung  zu  bieten. 
Wir  rücken  das  Fenster  oben  in  der  Mauer,  wo  es 
nur  Luftloch  und  Lichtzufuhr  sein  kann,  weiter  ab- 
wärts in  bequeme  Sehhöhe  für  unsern  gewohnten 
Platz.  So  gewöhnt  sich  unser  Auge  durch  den 
Rahmen ,  auf  die  Zusammenfassung  aller  Einzel- 
erscheinungen da  draussen  unter  einem  festen  Ge- 
sichtspunkt auszugehen.  Die  Herstellung  dieser 
Einheit  im  mannich faltigen  Augenschein  ist  Bild- 
anschauung, unser  Standpunkt  der  malerische.  Durch 
alle  Offnungen  aber  tritt  unser  Gemach  selbst  in  die 
reichsten  Beziehungen  mit  der  Aussenwelt,  die  gleich 
Luft  und  Licht  zum  Lebenselement  werden  und  die 


Keime  des  Malerischen  im  Innenraum 


23 


Behausung  erst  zur  Wohnung  erheben.  Unter  dem 
Anreiz  dieser  Erquickungen  suchen  wir  nach  ähn- 
hcher  Augenweide  auch  drinnen  in  unsern  vier 
Wänden ,  sobald  sie  sich  hinreichend  erhellen ,  und 
freuen  uns  der  woltuenden  Übergänge ,  dre  Hell- 
dunkel und  Dämmerschein  zwischen  den  körperlichen 
Bestandteilen  des  Innenraumes  oder  den  vielgestal- 
tigen Gegenständen  des  Hausrats  herstellen;  jeder 
Anblick  solcher  Einheit  des  Zusammenwirkens  ist 
Genuss  des  malerischen  Sinnes.  Bald  werden  sinnige 
Bewohner  die  Dinge  so  ordnen,  die  Bauglieder  so 
verteilen,  wol  gar  die  Räume  so  verbinden,  dass  der 
Blick  überall  in  ruhigem  Schauen  wie  in  schweifen- 
der Bewegung  sich  durch  malerische  Eindrücke  be- 
friedigt finde.  Schon  wieder  erweist  sich  dabei  die 
Anbringung  der  Fenster  und  Türen  als  wichtiger 
Beitrag,  sei  es  für  die  Einheit  der  Beleuchtung  oder 
die  Mannichfaltigkeit  des  Durchblicks.  Alle  raum- 
öffnenden Teile  sind  Bundesgenossen  der  malerischen 
Tendenz,  wie  alle  selbständigen  Körper  die  plastische 
Anschauung  begünstigen. 

Die  Bildauffassung  richtet  sich,  wie  gesagt,  zu- 
nächst auf  das  Nebeneinander  der  Körper  im  Raum, 
ergeht  sich  also  in  der  Breitendimension.  Aber  sie 
bezieht  sich  nicht  auf  die  Reihe  isoUerter  Körper, 
plastischer  Objekte,  die  so  in  einer  Richtung,  durch 
Abstände  getrennt,  zum  Raumfaktor  werden,  sondern 
sie  geht  auf  den  Zusammenhang  dieser  Gegenstände 
unter  einander.  Sie  teilt  dieses  Absehen  mit  der 
Reliefanschauung.  Aber  die  letztere  bleibt,  solange 
das  plastische  Gefühl  als  Lebensprinzip  in  ihr  waltet, 


24 


Aesthetische  Vorbereitung 


unserm  eignen  Körper  beträchtlich  näher,  berück- 
sichtigt stets  die  Verwandtschaft  mit  ihm.  Die  ge- 
rundete Form  fäUt  noch  in  unsre  Tastregion,  der 
Reliefgrund  erst  bedeutet  ihre  Gränze,  wo  sich  das 
Körperhafte  vollends  dem  Nachgefühl  der  leibUchen 
Erfahrungen  entzieht  und  nur  der  wilHg  ergänzenden 
Phantasie,  d.  h.  der  Region  unsrer  Vorstellung  noch 
angehört. 

Kehren  wir  deshalb  zu  unserm  obigen  Beispiel 
zurück.  Bei  gewissem  Abstand  tritt  auch  die  Säulen- 
reihe des  griechischen  Tempels  in  die  Reliefauffassung, 
nämlich  wenn  wir  nicht  mehr  nahe  genug  sind,  um 
die  volle  körperliche  Rundung  des  einzelnen  Stammes 
zu  erfassen,  aber  noch  nahe  genug,  um  die  Rundung 
der  vordem  Hälfte  oder  dreier  Viertel  gewahr  zu 
werden.  Aber  die  ReUefanschauung  tritt  vorzugs- 
weise erst  dann  ein,  wenn  wir  bei  solchem  Abstand 
schräg  gegen  die  Säulenreihe  bUcken,  also  gegen  die 
Langseite  eines  Peristyls  etwa.  Dann  erscheint 
Stamm  an  Stamm,  deren  jeder  den  folgenden  zum 
Teil  verdeckt,  die  ganze  Reihe  wie  eine  gewellte 
Fläche,  perspektivisch  sich  verjüngend,  in  stärkerem 
und  in  schwächerem  ReUef.  Stellen  wir  uns  dagegen 
absichtUch  einmal  in  der  Mitte  vor  dieser  Langseite 
des  Gebäudes  auf,  so  bildet  die  Wandfläche  der  Cella 
hinter  den  Säulen  den  durchgehenden  Grund,  auf 
dem  die  Stämme  in  starkem  Relief  sich  abheben, 
als  hafteten  Dreiviertel-  oder  Halbsäulen  auf  der 
Mauer.  Tritt  aber  der  Säulenumgang  so  weit  vor 
den  Körper  der  Cella,  dass  wir  in  den  Intervallen 
den  leeren  Raum  gewahren,  oder  stehen  gar  doppelte 


Reliefanschauung  und  Bildanschauung 


Säulenreihen  um  den  Kernbau  herum,  so  entstehen 
Durchblicke,  die  jede  zusammenhängende  Reliefauf- 
fassung aufheben.  Sie  locken  das  Auge  mit  dem 
neuen  Reiz  der  Perspektive,  und  eröffnen  neben  dem 
Körpergefühl  für  den  einzelnen  Stamm  überall  dem 
Raumgefühl  seinen  eigenen  Spielraum.  Diese  Kon- 
kurrenz der  Tiefenrichtung,  der  unser  Auge  seiner 
Sehkraft  gemäfs  gern  folgt  und  bei  gesundem  Scharf- 
blick in  die  Ferne  spähend  erst  recht  zu  folgen  ge- 
wohnt ist,  wird  um  so  gefährlicher  für  die  Relief- 
anschauung an  der  Vorderseite  des  Tempels,  wo 
die  Giebelstirn  mit  ihrem  Höhepunkt  uns  heraus- 
fordert die  Mittelaxe  einzusetzen,  d.  h.  die  Aus- 
dehnung nicht  mehr  von  einem  Ende  bis  zum  andern 
entlang  abzusehen,  die  Reihe  der  Körper  successiv 
zu  verfolgen ,  sondern  im  eigentlichen  Sinne  als 
Breitendimension,  d.  h.  von  dem  gewohnten  Mittellot 
unseres  paarigen  Sehapparates  aus  nach  beiden  Seiten 
auseinander  zu  legen  oder  umgekehrt  von  beiden 
Enden  aus  zur  Mitte  zusammen  zu  fassen,  wo  wieder 
die  Tendenz  der  Sehkraft  in  die  Tiefe  dringt.  Die 
Längsrichtung,  mit  dem  Absehen  von  einem  Ende 
zum  andern,  ist  der  Reliefauffassung  in  ächt  plasti- 
schem Sinne  günstiger;  die  Breite  dagegen,  in  ihrem 
eig^ntUchen  Auseinanderlegen  oder  Zusammenfügen 
zweier  symmetrischer  Hälften,  verlockt  eher  zu  ma- 
lerischer Tendenz,  ist  sogar  das  eigentlichste  Element 
des  Bildes,  die  Grundlage  des  Malerischen  überhaupt. 

Befindet  sich  der  Beschauer  vor  der  Tempel- 
front noch  so  nahe,  dass  die  Möglichkeit  der  Orts- 
bewegung seines  eignen  Körpers  durch  die  Zwischen- 


26 


Aesthetische  Vorbereitung 


räume  hin  sich  geltend  macht,  so  bleibt  die  Wirkung 
dieser  Blickbahnen  eine  rein  architektonische,  raum- 
schaffende. Rückt  der  Betrachter  jedoch  so  weit  ab, 
dass  die  Bestandteile  des  Bauwerks  jenseits  der 
Gränze  seiner  Tastregion,  rein  dem  Sehfelde  anheim- 
fallen, also  nur  noch  als  Augenschein  auf  ihn  wirken, 
so  verwandelt  sich  die  Auffassung  sowol  für  die  ar- 
chitektonischen wie  für  die  plastischen  Faktoren  in 
die  malerische.  Die  körperhafte  Rundung  der  Säulen, 
wie  der  perspektivische  Durchblick  dazwischen,  wie 
der  ganze  aesthetische  Raum  des  Gebäudes  sonst 
geht  auf  in  das  Bild.  Hier  scheiden  sich  dann 
FlachreHef  und  Malerei,  dort  immer  noch  plastischer, 
hier  graphischer  Flächenschein. 

Nur  ein  Tempel,  der  ringsum  die  geschlossene 
Reliefanschauung  sichert,  wirkt  als  selbständig  ab- 
gesonderter Körper  im  Raum,  als  Monument  in 
plastischer  Isolierung.  Raumöffnende  Teile,  die  diese 
zusammenhängende  Geschlossenheit  der  Aussenseiten 
lockern ,  durchbrechen ,  für  die  Blickbahnen  nach 
Innen  freigeben,  öffnen  deshalb  auch,  wie  gesagt, 
der  malerischen  Auffassung  Tür  und  Tor;  sie  wirken 
je  nach  dem  Grade  des  Abstandes  wie  Vermitt- 
lungen des  Baukörpers  mit  seiner  Umgebung.  Die 
Erscheinungen  des  Lichtes  und  der  Luft,  die,  an 
diesen  Stellen  weiter  eindringen,  verstärken  natürlich 
die  Verlockungen  auf  den  malerischen  Standpunkt 
durch  den  Reiz  des  Augenscheines,  den  sie  auf  den 
Beschauer  ausüben,  so  dass  er  ihnen  zuliebe  seines 
Körpergefühls  und  seiner  Bewegungsvorstellungen  in 
der  engen  Begränzung  seines  Leibes  vergisst  und 


Mittelalter  und  Renaissance 


27 


seine  Selbstversetzung  in  weitere  und  weitere  Bahnen 
entschweben  lässt.  An  die  Stelle  des  persönlichen 
Selbstgefühls  und  Raumgefühls  tritt  dann  das  Gefühl 
der  Verwandtschaft  mit  dem  All,  und  im  Verzicht 
auf  ständige  Beharrung  eröffnet  sich  das  endlose 
Reich  der  schweifenden  Bewegung,  wir  dehnen  uns 
umfassend  in  die  Breite  und  enteilen  von  da  in  alle 
Weite,  bis  an  die  Gränzen  des  Horizontes,  wie  nur 
der  BHck  unsrer  Augen  uns  tragen  will. 

2.  RENAISSANCE 

Unläugbar  werden  schon  am  Erechtheion  auf 
der  Akropolis  durch  den  berühmten  Vorbau  mit  den 
Karyatiden ,  diese  seitlich  abzweigende  Halle ,  Be- 
ziehungen zur  Umgebung  angeknüpft.  Der  Baukörper 
ist  nicht  mehr  ganz  unabhängig,  sondern  seiner  Ört- 
hchkeit  verbunden,  seinen  Nachbarn  näher  gesellt. 
Zahlreiche  verwandte  Beispiele  bietet  der  italienische 
Villenbau  der  Renaissance,  schon  in  der  Loggia,  die 
sich  nach  Aussen  öffnet,  oder  in  Flügeln,  die  sich 
hinausstrecken,  mit  Terrassen  und  Pergola  am  Garten 
hin,  oder  im  leicht  aneinander  gelehnten  Komplex 
von  mehreren  Bauteilen  verschiedener  Grundform 
und  verschiedenen  Wertes.  Die  Gruppe  lagert  sich 
unregelmässig  in  die  Breite,  verbindet  sich  mit  Cy- 
pressenreihen  oder  Pinienhain  zu  einem  Ganzen,  das 
nur  als  Bild  erfasst  werden  kann.  So  entsteht  schon 
von  Aussen  ein  malerischer  Eindruck;  aber  das 
braucht  nicht  notwendig  im  aesthetischen  Wollen  des 
Erbauers  gelegen  zu  haben. 


28 


Geschichtliche  Vorbereitung 


Indess  ist  hier  zweifellos  auch  günstiger  Boden 
für  die  malerische  Tendenz  von  Innen  her.  Das 
menschUche  Subjekt  vermag  grade  in  diesem  Gebiet 
der  Baukunst  und  in  dieser  Zeit  ihrer  Entwickelung 
seine  eignen  Neigungen  ungestört  zur  Geltung  zu 
bringen,  und  so  kommt  es,  wie  im  Norden  in  den 
Formen  der  Spätgotik,  so  im  Süden  besonders  in 
denen  der  Frührenaissance  unläugbar  zu  einem  Ober- 
gewicht des  Malerischen  in  der  Architektur,  dort 
freilich  auch  im  Stadthause,  im  Schloss,  —  ich  er- 
innere als  ein  bekanntes  Beispiel  an  das  Haus  des 
Jacques  Coeur  oder  das  Hotel  de  Cluny  — ,  hier  in 
erster  Linie  auf  dem  Lande,  in  der  Villa. 

Der  Verzicht  auf  die  plastische  Geschlossenheit 
des  Stadtpalastes,  die  Toskana  z.  B.  aus  dem  Mittel- 
alter ererbt,  ist  nicht  ländliche  Nachlässigkeit  nur, 
sondern  der  Wunsch,  auch  drinnen  der  natürlichen 
Umgebung  freiem  Eintritt  zu  gewähren  zu  inniger 
Gemeinschaft,  mit  Luft  und  Frische  auch  all  die  Be- 
ziehungen aufzunehmen,  die  Wirtschaft  und  Jahres- 
zeit nicht  allein  im  Kreise  der  FamiHe  und  der 
Dienerschaft,  sondern  der  Jagdgenossen,  des  Land- 
volks und  all  des  weitverzweigten  Zusammenhangs 
mit  dem  angestammten  Grund  und  Boden  in  sich 
begreifen.  Durch  jedes  Fenster  schaut  ein  Ausschnitt 
aus  der  nähern  und  fernem  Aussenwelt  herein,  ohne 
durch  aufdringUche  Nachbarschaft  oder  eindringliche 
Neugier  lästig  zu  fallen.  Überall  die  Aufforderung, 
die  Enge  des  Selbstgefühls  zur  umfassenden  All- 
gemeinheit zu  erweitern,  den  eigenen  Spielraum  nicht 
abzuschliessen  vom  Ausblick  in  das  Ganze,  in  dessen 


Mittelalter  und  Renaissance 


29 


Machtsphäre  auch  wir  gehören.  Im  Innenbau  wie 
im  Aussenbau  ergeben  sich  Bilder,  die  weder  Plastik 
noch  Architektur  für  sich  allein  zu  bieten  gewohnt 
sind.  Aber  es  bleibt  wol  unläugbar,  dass  dies  Be- 
dürfnis nach  Naturnähe  damals  noch  im  Norden 
stärker  entwickelt  war  als  hier;  dass  in  der  Umgebung 
eines  Hubert  v.  Eyck  die  Sehnsucht  der  Gemüter 
nach  Vertiefung  ins  All  der  Schöpfung  und  damit 
der  Sinn  für  das  Geheimnis  des  Malerischen  eher  zu 
suchen  ist,  als  in  der  Heimat  individuellsten  Selbst- 
gefühls, geschlossener  Persönlichkeit  und  statuarischer 
Kunst. 

Dennoch  bemerken  wir  auf  italienischem  Boden 
auch  sonst  dem  nordischen  Sinn  verwandte  Erschei- 
nungen, ja  früher  scheint  es,  als  der  toskanische 
Villenbau,  der  uns  erhalten  blieb,  entstand.  Beson- 
ders jenes  oberitaHenische  Mittelgebiet  zwischen  Tos- 
kana und  dem  Fuss  der  Alpen,  die  Lombardei  mit 
ihren  luftigen,  farbigen  Backsteinbauten  bis  Verona 
hin,  ist  reich  an  Eindrücken  solcher  Art;  Venedig 
vollends,  mit  seiner  Berührung  abendländischen  und 
morgenländischen  Wesens,  taucht  wie  eine  Märchen- 
welt malerischer  Reize  aus  dem  schimmernden  Spiegel 
der  Adria.  In  der  Tat  strömen  in  diesen  Gegenden 
kulturgeschichtliche  Einflüsse  zusammen ,  die ,  be- 
günstigt durch  geographische  Verhältnisse,  in  hohem 
Grade  die  aesthetische  Macht  des  Augenscheines  zur 
Geltung  bringen  mochten,  wie  droben  im  Norden  in 
den  flandrischen  Häfen  und  Handelsplätzen  zwischen 
germanischen  und  romanischen  Völkern.  Ein  BHck 
auf  die  Darstellung  städtischer  und  ländlicher  Pro- 


30 


Geschichtliche  Vorbereitung 


spekte  der  Wandgemälde  der  Altichiero  und  Avanzi, 
dieser  ausserordentlich  wichtigen  Malerschule  Veronas 
am  Ausgang  des  vierzehnten  Jahrhunderts,  belehrt 
nicht  allein  über  den  ausgeprägten  Geschmack  der 
Meister  selbst  am  bildlichen  Erfassen  aller  möglichen 
Raumgebilde,  sondern  auch  über  den  malerischen 
Charakter  dieser  Architektur,  die  sicher  nur  zum  Teil 
phantastische  Weiterdichtung  vorhandener  Beispiele 
bietet.  Überall  offene  Hallen  mit  ihren  gewundenen 
Säulchen  und  gezackten  Bogen,  überall  Treppen  und 
Durchgänge  zu  mannichfaltiger  Vermittlung,  Gebäude- 
komplexe, deren  einzelne  Körper  unter  lauter  ver- 
schiedenen Gesichtspunkten  gesehen  werden,  und 
sich  grade  so  zur  lebendigsten  Gruppe  zusammen- 
schieben. Ein  Blick  auf  die  Scaligergräber  oder  die 
alten  Kirchen,  auf  das  zinnenbekrönte  Kastell  an  der 
Etsch,  auf  die  Gassen  und  Höfe,  bezeugt  das  Vor- 
handensein einer  Kunstrichtung,  die  im  Innern  lom- 
bardischer Kathedralen  wie  am  Äufsern  veneziani- 
scher Paläste  die  Gesetze  rhythmischer  Ghederung, 
ja  einen  komplizierten  Strophenbau  durchführt,  den 
nach  Verfolg  aller  Teile  nur  das  ruhig  schauende 
Auge  zusammenfassen  kann ,  um  das  Zuströmen 
zahlreicher  Lebensregung  in  einem  Bilde  nachzu- 
fühlen. 

Die  nämhche  Kunstrichtung,  germanischer  Ver- 
wandtschaft, die  sich  schon  durch  eurhythmische 
;  Fenster,  durch  Gruppierung  grösserer  und  kleinerer 
Offnungen ,  ja  symmetrische  Komposition  der  Fas- 
saden um  eine  Dominante ,  von  Florenz  mit  sei- 
ner einfachen  Reihung  unterscheidet,  begegnet  uns 


Hochrenaissance 


31 


oben  in  Siena,  wo  sie  noch  im  Quattrocento  ge- 
pflegt wird. 

Aber  Brunelleschis  Freude  an  mannich faltig  ge- 
gliederten Flächen,  seine  Durchblicke  durch  Säulen- 
hallen im  Innern  der  Kirche,  wie  sie  besonders  reich 
Sto.  Spirito  durchführt,  die  sämtlichen,  dem  Menschen- 
mafs  so  nahe  bleibenden  Werke  seiner  Gesinnungs- 
genossen, —  verraten  sie  nicht  auf  Schritt  und  Tritt, 
wie  diesen  Vertretern  einer  neuen  Zeit,  dieser  ersten 
Generation  der  modernen  Welt  in  Toskana  das 
Malerische  nicht  minder  am  Herzen  liegt? 

Mit  dem  Übergang  zur  Hochrenaissance  dringt 
diese  Macht,  der  die  ferne  Zukunft  gehören  sollte, 
fühlbar  auch  an  den  Palast  der  Städte,  der  besonders 
in  Florenz  sich  lange  widersetzt.  Es  lockert  sich  der 
strenge  Zusammenhalt  des  monumentalen  Baukörpers. 
Das  Ideal  des  Tempels  gar  verwandelt  sich  von 
Aussen  wie  von  Innen. 

Die  Aufnahme  eines  Gartens  als  integrieren- 
den Bestandteiles  in  den  Schlossbau  von  Urbino, 
während  er  zu  Rom  am  Palazzo  Venezia,  nach 
orientalischer  Art  von  Mauern  eingeschlossen,  noch 
ein  Anhängsel  für  sich  gebildet;  die  Loggia  zwi- 
schen den  Warttürmen  an  den  Gemächern  des 
Fürsten,  gegen  sein  Land  hinaus  zu  schauen,  die 
mannichfaltige  Überleitung  vollends  gegen  den  an- 
steigenden Hügel,  wo  ein  Tempelchen  als  Abschluss 
der  luftigsten  Spielplätze  und  Terrassenanlage  er- 
richtet werden  sollte ;  —  die  Entwürfe  eines  Giuliano 
da  Sangallo,  der  für  die  Rovere  in  Savona  gebaut, 
zur  Vereinigung  des  Giardino  Medici  bei  S.  Marco 


32 


Geschichtliche  Vorbereitung 


mit  einem  umfassenden  Wohnbau  nach  solchem  Vor- 
bild; die  offene  Wandelbahn  am  obersten  Stock  des 
Palazzo  Guadagni  bei  Sto.  Spirito  in  Florenz;  die 
Einverleibung  des  Belvedere  Innocenz'  VIII.  in  den 
Palast  des  Vatikans  unter  Julius  IL,  d.  h.  die  An- 
sprüche zweier  Päpste,  die  von  der  Riviera  stammen: 
—  all  das  sind  Symptome  dieser  malerischen  Tendenz. 
In  Genua  selbst  verbindet  sich  Stadtpalast  und  Villa 
suburbana  noch  inniger  in  den  hochgelegenen  Strassen, 
und  malerische  Gedanken  hegen  den  Säulenhallen 
droben  auf  dem  Altan,  wie  drunten  im  Hof,  und 
dem  perspektivischen  Durchblick  gegen  die  seitlich 
verschobene  Treppe,  wie  vom  Hauptportal  in  das 
Innere  zu  Grunde. 

BraiBante  vor  Allen,  der  gefeierte  Meister  der 
Hochrenaissance,  verdankt  seiner  Herkunft  von  der 
Malerei  und  deren  Perspektive  jedenfalls  das  offene 
Auge  für  diese  Reize  der  Architektur.  Notgedrungen 
noch  Hefert  er  an  S.  Satiro  in  Mailand  eine  Schein- 
erweiterung der  versagten  Chorpartie  und  eines  Um- 
ganges daneben,  in  Projektion  tektonischer  Körper 
und  ihrer  Zwischenräume  auf  die  Fläche,  also  schon 
ein  Kunststück,  bei  dem  die  raffiniertesten  Mittel 
des  Rehefplastikers  und  des  Malers  sich  in  die  Hände 
arbeiten  zu  Gunsten  des  Augenscheines.  Lang- 
gestreckte Klosterhöfe  wirken  mit  ihren  Säulenhallen 
ringsum  zu  einem  Einblick  in  eine  Bühnenöffnung 
zusammen,  wie  der  Vorbau  der  Kirche  von  Abbiate- 
grasso  oder  die  Exedra  im  Giardino  della  pigna  des 
Vatikans.    Selbst  das  erste  ächt  römische  Meister- 


Hochrenaissance 


33 


stück,  der  Tempietto  bei  S.  Pietro  in  montorio,  war 
ja  nicht  so  isoliert  gedacht,  wie  er  dasteht  in  seinem 
Hofe  —  contradictio  in  adjecto  — ,  sondern  von  Hallen 
ringsum  und  wirksamen  Perspektiven  umgeben,  deren 
Grundplan  uns  SerUo  aufbewahrt,  also  im  Zusammen- 
wirken mit  ausgemacht  malerischen  Potenzen ,  die 
den  Beifall  der  Zeitgenossen  erst  recht  begreiflich 
machen.  Ja,  sogar  sein  Entwurf  für  S.  Peter,  von 
dem  uns  Geymüllers  Bemühen  endlich  eine  greif- 
bare Vorstellung  gegeben,  —  gieng  er  nicht  eben- 
falls auf  eine  mannichfaltige  Gesamtheit  malerischer 
Durchblicke  aus,  die  den  Centraibau  aussen  wie  innen 
mit  reichem  Leben  umziehen  und  die  letzte  Einheit 
schliesslich  im  höchsten  Licht  des  Kuppelraumes 
finden  sollten?  Säulenhallen  aussen,  zwischen  den 
Armen  des  griechischen  Kreuzes,  sollten  den  Bau- 
körper mit  seiner  räumUchen  Umgebung  vermitteln, 
wie  droben  der  Säulenkranz  um  den  fensterdurch- 
brochenen, allseits  geöffneten  Lichtgaden,  den  Tam- 
bour der  Kuppel,  die  über  diesem  luftigen  Aufbau 
nur  zu  schweben  schien.  Drinnen  ebenso  in  den 
Doppelhallen  der  Kreuzarme ,  in  den  freien  Halb- 
kreisen von  Säulenreihen  vor  den  Konchen,  überall 
Vermittelungen  und  Vorbereitungen  gegen  den  Mittel- 
raum, der  selbst  als  vierghedrige  Gruppe  unter  der 
centralen  Einheit  der  Kuppel  sich  ausbreiten  sollte, 
—  also  die  Schönheit  dieses  Innenraumes  nicht  allein 
das  Ergebnis  der  strengen  Architektur,  der  einfach 
klaren,  einheithchen  Raumbildung  an  sich,  sondern 
vielmehr  umsponnen  von  dem  Zauber  malerischer 
Reize,  das  Ergebnis  einer  vielteiUgen  Harmonie,  ja 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  3 


34 


Geschichtliche  Vorbereitung 


mit  täuschender  Aufhebung  der  konstruktiven  Wahr- 
heit durch  den  Augenschein  einer  „schwebenden" 
Kuppel.^) 

Kein  Zweifel,  dass  auch  Bramantes  Schüler  und 
Rafaels  Nachfolger,  Antonio  da  Sangallo,  noch  ebenso 
denkt;  seine  Entwürfe  zur  Fassade  von  S.  Peter  be- 
zeugen die  nämliche  malerische  Tendenz  der  Hoch- 
renaissance bis  an  das  Ende.  In  überraschender 
Breite  dehnt  sich  nach  seiner  Absicht  der  Frontbau 
mit  offenen  Säulenhallen  unten  und  Glockentürmen 
an  den  Ecken,  so  dass  über  einem  niedrigen  Mittel- 
giebel erst  die  zurückliegende  Kuppel  als  Dominante 
der  auf-  und  absteigenden  Gruppe  hervortritt.  Bei 
solcher  Disposition  der  Bauteile  kann  also  nur  ein 
bildmäfsiges  Zusammenwirken  für  einen  Standpunkt 
erwartet  werden ,  eben  für  die  Vorderansicht  der 
Fassade,  und  zu  Gunsten  dieser  malerischen  Auf- 
fassung wird  der  monumentale  Zusammenhalt  des 
Baukörpers  preisgegeben.  Es  ist  die  nämliche  Be- 
handlung der  Kirchenfront,  der  wir  auch  in  Michel- 
angelos Entwürfen  für  S.  Lorenzo  in  seiner  Heimat 
Florenz  begegnen,  wenn  hier  (1516)  auch  zwei  nie- 
drigere Risalite  zu  den  Seiten  mit  Segmentgiebel  das 
höhere  Hauptstück  mit  Dreieckgiebel  in  die  Mitte 
nehmen.  Im  zweiten  Entwurf  (15  17— 15 19)  handelt 
es  sich  nicht  nur  um  eine  vorgelegte  Wandverklei- 
dung, sondern  um  eine  hallenartige  Vorlage,  in  der 

i)  Vgl.  auch  Wölff  lins  Charakteristik  (Renaissance  und  Barock), 
dessen  Auffassung  Sangallos  ich  im  folgenden  allerdings  wider- 
sprechen muss. 


> 


Hochrenaissance 


35 


unten  also  die  Raumöffnung  vorherrscht,  während 
oben  reicher  Schmuck  von  stehenden  und  sitzenden 
Statuen  (zwölf  in  Marmor,  sechs  in  Bronce),  nebst 
zahlreichen  Broncerehefs  den  Gesamteindruck  voll- 
enden musste,  der,  nach  Michelangelos  eigenem  Ver- 
sprechen, als  ,,der  Spiegel  der  Baukunst  und  Skulp- 
tur von  ganz  Italien"  erscheinen  sollte.  Wir  können 
jedoch  nicht  verhehlen:  je  mehr  die  Wucht  der  Ge- 
staltenbildung den  Wettkampf  mit  den  plastischen 
EinzelgUedern  der  Architektur  selbst  aufnahm,  desto 
mehr  musste  das  Ganze  —  der  malerischen  Auffassung 
anheimfallen,  die  allein  das  Nebeneinander  der  Kör- 
per im  Raum  zu  einem  Gesamteindruck  vereinigen 
konnte ! 

Nehmen  wir  zu  diesen  entscheidenden  Kirchen- 
bauten noch  die  einflussreichen  Beispiele  von  Villen, 
die  Farnesina  für  Agostino  Chigi  mit  ihrer  Querhalle 
zwischen  den  Flügeln,  die  Entwürfe  Rafaels  zur  Villa 
Madama  für  den  Kardinal  Giulio  de'  Medici  mit 
ihrer  lockeren  Gruppierung  selbständigerer  GUeder, 
so  kann  das  Vorhandensein  einer  starken  malerischen 
Intention  in  den  Bauwerken  der  Hochrenaissance 
gerade  in  den  Tagen  Leos  X.  nicht  mehr  bezweifelt 
werden.  In  ihr  liegt  sogar  der  Schlüssel  zum  Ver- 
ständnis ihres  Wesens ,  den  man  bis  dahin  anders- 
wo gesucht. 

Diese  Richtung  hängt  mit  dem  innersten  Cha- 
rakter des  ganzen  Kunstgeistes  der  Renaissance  zu- 
sammen. Sie  will  als  ,,menschHche  Kunst  sich  nur 
einreihen  in  den  Zusammenhang  der  Naturgebilde 
und  damit  in  jene  allgemeine  Harmonie  der  Dinge", 

3* 


36 


Geschichtliche  Vorbereitung 


die  bei  ihrem  prophetischen  Theoretiker  Leonbattista 
Alberti  wiederholt  einen  begeisterten  Ausdruck  findet. 
,,Das  Geheimnis  Hegt  eben  darin,  dass  die  Kunst 
arbeitet  wie  die  Natur,  in  dem  Einzelnen  stets  das 
Bild  des  Ganzen  wiederholt",  erklärt  auch  Wölfflin.^) 
Und  wenn  wir  darin  einig  sind ,  dass  die  Schönheit 
in  der  Architektur  Bramantes  und  Aller,  die  in  sei- 
nem Geiste  schaffen,  in  der  Harmonie  eines  viel- 
gHedrigen  Ganzen  beruhe ,  so  bedarf  es  nur  der 
weiteren  Frage,  wie  weit  schon  die  simultane,  oder 
wie  weit  dagegen  erst  die  successive  Auffassung  des 
Mannichfaltigen  imstande  sei,  eben  diese  ,, Harmonie" 
zu  erfassen  (also  auch  ihre  Melodie  zu  verfolgen?). 
Dann  wird  es  klar,  eine  wie  bedeutende  Rolle  dem 
Nebeneinander  der  Formen  links  und  rechts  von 
einer  Mitte  zufällt,  also  der  Breite  unseres  Sehfeldes. 
Je  mehr  Einzelglieder  sich  nach  den  Gesetzen  der 
Symmetrie  und  Proportionalität  unter  einer  solchen 
Mittelaxe  zusammen  gruppieren,  desto  weiter  muss 
der  Abstand  des  Beschauers  werden ,  der  sie  als 
Einheit  umspannen  will,  desto  entschiedener  stellt 
sich  die  Projektion  des  Körperlichen  und  Räumlichen 
in  die  Fläche  des  Fernbildes  ein,  d.  h.  der  male- 
rische Standpunkt  des  geniessenden  wie  vorher  des 
schaffenden  Subjekts. 

Die  Baukunst  braucht  deshalb  noch  nicht  ihr 
eigentümliches  Wesen  zu  verlassen ,  da  ihr  überall 
in  ihrer  Raumentfaltung  die  successive  Auffassung 
an  der  Hand  der  Ortsbewegung  zu  Hülfe  kommt; 


i)  A.  a.  O.  S.  54  u.  57. 


Der  Begriff  „Renaissance" 


37 


aber  sie  geht  hier  unläugbar  Wirkungen  nach ,  die 
der  Schwesterkunst  Malerei  vor  allen  vertraut  sind, 
ja  sie  lebt  sich  im  Verfolg  der  höchsten  Schönheit 
als  Harmonie  wie  von  selbst  in  die  eigenste  An- 
schauung des  Malerischen  ein.  Damit  erst  blicken 
wir  in  die  Tiefe  der  Renaissancekunst  und  zugleich 
in  die  historischen  Bedingungen  ihres  Wesens. 


Der  Name  „Renaissance"  bezeichnet  in  der 
Kunstgeschichte  eine  Periode,  deren  historische  Be- 
dingungen durchaus  einseitig  verkannt  werden,  wenn 
man  sie  nur  in  der  Nachahmung  der  Antike  sucht. 
Davor  hat  schon  Jakob  Burckhardt  gewarnt ,  obwol 
er  selbst  seiner  eignen  Bildung  gemäfs  im  Wesent- 
Hchen  bei  dieser  Anschauung  beharrt.  Daneben 
weist  er  nur  auf  die  eigene  Schöpferkraft  der  Künst- 
lergeneration ;  das  ist  sehr  wichtig ,  in  den  Händen 
Anderer  zum  umwälzenden  Gesichtspunkt  geworden. 
Aber  auch  damit  sind  die  Voraussetzungen  nicht  er- 
schöpft ,  wie  man  leicht  gewahr  wird ,  sowie  man 
weiter  fragt:  wo  liegen  nun  die  Wurzeln  dieser  Kraft.?* 
Ist  sie  ausschliefsUch  angebornes  Kunstgenie ,  oder 
ist  auch  sie  in  einem  merklichen  Grade  der  Eltern 
Erbteil.!^  —  Das  heisst,  die  Renaissance  ist  für 
den  Historiker  eine  ganz  bestimmte  Periode, 
die  das  Mittelalter  in  erster  Linie  voraussetzt,  auf  das 
sie  folgt,  aus  dem  sie  herauswächst,  so  sehr  sie  sich 
dazu  im  Gegensatz  fühlen  mag.  Wir  brauchen  zu 
ihrer  Erklärung  diesen  Faktor  ebenso  notwendig  wie 
das  wieder  entdeckte  Altertum,  zu  dem  man  zurück- 


38 


Geschichtliche  Vorbereitung 


kehren  möchte;  ja,  wir  brauchen  dies  Erbe  der 
leibhchen  Väter  vielleicht  notwendiger  als  das  Ideal, 
dem  die  neue  Generation  nachstrebt ,  die  Antike, 
die  man  wieder  zu  erobern  wähnt.  Alle  Kunsttradi- 
tion ,  alle  Schulung  im  Handwerk  ist  gotisch ,  ohne 
Frage,  und  es  wäre  Sache  der  vorurteilsfreien  For- 
schung festzustellen,  wie  viel  trotz  alles  antikischen 
Eifers  die  Anschauungen  und  Empfindungen  der 
Künstler  noch  mittelalterlich  bleiben ,  gleich  den 
Darstellungskreisen,  die  Volk  und  Kirche  von  ihnen 
neu  belebt  zu  sehen  verlangen. 

In  dem  unvermittelten ,  oder  doch  ungenügend 
ausgegUchenen  Nebeneinanderbestehen  der  mittel- 
alterlichen Vererbung  und  der  antiken  Erwerbung 
liegt  der  Charakter  der  Kunst  beschlossen,  die  wir 
Frührenaissance"  nennen ,  wenn  erst  die  originelle 
Schöpferkraft  als  Antrieb  wenigstens  begriffen  wird. 
Wichtiger  noch  erscheint  die  Erkenntnis ,  dass  der 
entwickelte  Stil,  den  wir  „Hochrenaissance"  heissen, 
seinem  innersten  Wesen  nach  nicht  sowol  auf  einer 
glücklichen  Nachahmung  der  Antike  beruht,  sondern 
vielmehr  auf  einer  glücklichen  Vereinigung  des  mit- 
telalterlichen und  des  antiken  Kunstideals,  und  zwar 
im  Sinne  eines  Neuen ,  das  kulturgeschichtlich  nur 
als  die  Wiedergeburt  des  ganzen  Menschen  zu  har- 
monischer Entwickelung  aller  Anlagen,  zu  glücklich- 
stem Zusammenwirken  seiner  physischen  und  psy- 
chischen Kräfte  bezeichnet  werden  darf. 

Deshalb  ist  in  den  Augen  des  Kunsthistorikers 
jedenfalls  alle  andere  Verwendung  des  Wortes  ,, Re- 
naissance" nach  der  etymologischen  Bedeutung  in 


Der  Begriff  „Renaissance" 


39 


den  romanischen  Sprachen  ein  Unfug,  und  Verbin- 
dungen wie  ,,karohngische  Renaissance",  ,, romanische 
Renaissance",  ja  schon  Burckhardts  ,,Protorenais- 
sance"  sind  ebensoviel  Begriffsverwirrungen.  Könnte 
man  doch  in  ebenso  wolfeiler  Geistreichelei  mit 
dem  Ausdruck  ,, romanische  Renaissance"  denKirchen- 
baustil  Brunelleschis  bezeichnen  und  hielte  sich  da- 
mit noch  frei  von  dem  historischen  Anachronismus 
oder  dem  philologischen  Pleonasmus ,  denen  alle 
Übertragungen  dieses  Terminus  ins  volle  Mittelalter 
anheimfallen.  Uns  ist  die  Renaissance  in  histo- 
rischem Sinne  nur  Eine  bestimmte  Periode,! 
die  das  Mittelalter  ablöst  und,  es  wird  sich j 
später  zeigen  wie  weit,  bis  an  die  Neuzeit  reicht;' 
in  ästhetischem  Sinne  verstehen  wir  darunter  einen 
Stil ,  der  sich  wieder  in  drei  Entwickelungsphasen : 
Früh-,  Hoch-  und  Spätrenaissance  gliedert,  und 
zu  dem  Barock  wie  Rokoko  jedenfalls  auch  in  be- 
stimmter Beziehung  stehen  müssen. 


Die  geschichtliche  Mission  eines  grossen  Meisters 
der  Hochrenaissance  wie  Bramante  z.  B.  wird,  nach 
den  mafsgebenden  Forschungen  Geymüllers  nur  be- 
griffen, wenn  man  sich  klar  macht,  was  sein  Aufent- 
halt in  der  Lombardei,  nach  der  Herkunft  von  Urbino 
aus  dem  Wirkungskreis  des  Luciano  Lauranna  und  des 
Leonbattista  Alberti,  für  seine  Kunst  bedeutete.  Dem 
mittelalterhchen  Kirchenbau  in  Oberitalien,  besonders 
den  reichen  romanischen  Basiliken  mitEmporen,  Zwerg- 
galerien, Vierungskuppeln,  der  luftigen  Leichtigkeit 


40 


Geschichtliche  Vorbereitung 


und  dem  farbigen  Reichtum  der  Backsteinarchitektur 
aus  gotischer  Zeit,  der  vielgHedrigen  Gruppierung 
der  Einzelformen  im  Innern ,  wie  der  Baukörper  im 
Äussern,  von  Haupt-  un^d  Nebenapsiden,  Dreikonchen- 
Anlagen,  zu  TurmtraWnten  und  Nebenkuppeln ,  das 
Alles  ist  in  seine  umfassende  Baukunst  verarbeitet, 
und  es  reicht  durchaus  nicht  hin,  auf  das  eine  Bei- 
spiel, das  Geymüller  mit  dem  Ausdruck  ,, rhythmische 
Travee"  bezeichnet,  allein  Rücksicht  zu  nehmen.  Es 
ist  die  Gesamtheit  der  mittelalterlichen  Architektur, 
in  die  er  sich  mit  voller  Sachkenntnis  bis  zur  Voll- 
endungsfrage des  gotischen  Doms  von  Mailand  ver- 
tieft hat ,  und  die  Aufnahme  aller  kongenialen  Ele- 
mente aus  diesem  Erbe,  die  er  in  Rom  dann,  mitten 
im  erneuten  Studium  der  Antike,  verwertet.  Welcher 
antike  Bau  oder  welche  Verbindung  vorhandener 
Beispiele  aus  dem  Altertum  genügte  wol,  die  har- 
monische Schönheit  seiner  Idee  für  S.  Peter  zu  er- 
klären —  ganz  abgesehen  von  den  beweiskräftigen 
Bindegliedern  zwischen  Oberitalien  und  Rom ,  wie 
Cancellaria  und  Vatikan,  die  das  Studium  des  Mittel- 
alters in  demselben  Umfang  dartun.  Die  Verbindung 
mittelalterlich  toskanischer  Rustika  als  Sockel  und 
römisch-antiker  Säulen  als  Hauptordnung  am  eigenen 
Hause  ist  ebenso  charakteristisch  für  dies  Verhältnis, 
wie  malerisch  empfunden  als  Erscheinung. 

Mit  dieser  Erkenntnis  modifiziert  sich  auch  etwas 
die  Charakteristik  der  ,, Hochrenaissance".  Schon 
Geymüllers  Ausdruck  ,, rhythmisch"  für  die  Gliede- 
rung eines  Gewölbejoches  im  Innern  oder  einer  ent- 
sprechenden Abteilung  der  Fassade ,  d.  h.   für  den 


Hochrenaissance 


41 


komplizierten  strophenähnlichen  Aufbau  einer  zu- 
sammengehörigen Gruppe  von  Einzelgliedern,  die  in 
regelmässiger  Reihe  wiederkehrt  oder  doch  an  korre- 
spondierender Stelle  ihr  Gegenbild  findet,  mit  der 
Verschränkung  der  Reimpaare  und  dem  Wechsel  der 
SchnelHgkeit  in  der  Gliederfolge  —  all  diese  nur  in 
successiver  Auffassung  geniefsbaren  Eigenschaften 
einer  solchen  ,,Travee",  die  aus  einfacher  Arkaden- 
öffnung unten ,  mehrgliedriger  Emporenarkade  dar- 
über und  Lichtgadenfeld  mit  Fenster  oben,  ja  noch 
der  Gewölbkappe  bis  zum  Schlussstein  hinauf  be- 
stehen müsste,  —  sie  fordern  die  Aufnahme  der 
,, Bewegung"  als  ein  wesentliches  Charakteristikum 
und  gestatten  nicht  mehr,  die  Renaissance  aus- 
schliesslich als  ,, Kunst  des  schönen  ruhigen  Seins" 
zu  bezeichnen ,  wie  noch  Wölfflin  es  versucht.  In 
solchem  Bau  Bramantes  ist  Alles  Leben  und  Be- 
wegung, aber  in  heiterer  Harmonie  oder  melo- 
dischem Verlauf.  Eben  dadurch  bietet  er  jene  be- 
freiende Schönheit ,  die  wir  als  allgemeines  Wol- 
gefühl  und  gleichmäfsige  Steigerung  unserer  Lebens- 
lust empfinden.  An  seiner  vollkommenen  Schöpfung 
findet  man  allerdings  ,, nichts ,  was  gedrückt  oder 
gehemmt,  unruhig  und  aufgeregt  wäre;  jede  Form 
ist  frei  und  ganz  und  leicht  zur  Erscheinung  ge- 
kommen ;  der  Bogen  wölbt  sich  im  reinsten  Rund", 
—  hier  weit  und  klar,  dort  in  eiHgerem  fröhlichem 
Schwünge.  Alles  atmet  Befriedigung,  als  flösse  den 
Menschen  darin ,  wie  ihren  Göttern  droben ,  das 
Leben  in  seHger  Heiterkeit  ,,ewig  klar  und  spiegel- 
rein"   dahin.     Wenn    auch    in    munterem  Wellen- 


42 


Geschichtliche  Vorbereitung 


gekräusel ,  ja  in  schäumender  Bewegung  ohn'  Er- 
matten und  Erlahmen  die  angeregten  Vorstellungen 
in  uns  sich  fortpflanzen ,  werden  sie  doch  auch 
nirgends  gewaltsam  ünd  tobend,  im  Schwall  mit  sich 
fortreissend,  ausser  Rand  und  Band  geraten.  Aussen- 
welt  und  Innenwelt  haben  sich ,  wie  Altertum  und 
Mittelalter  in  der  vollendeten  Renaissance,  zu  glück- 
lichstem Einklang  zusammengefunden. 

Aber  dieser  Einklang,  zu  dem  die  Wiedergeburt 
des  ganzen  Menschen  in  jenen  Tagen  der  höchsten 
Blüte  gedeiht,  ist  nur  von  kurzer  Dauer.  Seit  dem 
Tode  Rafaels  keine  reine  Lösung  mehr !  Sei  es  die 
grausame  Hand  des  Schicksals ,  die  rächende  der 
Nemesis,  die  Angst  schon  vor  dem  Neid  der  Götter 
oder  die  Ahnung  des  Widerspruchs  der  Welt  zu 
dem  idealen  Dasein  der  Olympischen  in  Rom.  Es 
genügt  schon  sich  zu  erinnern :  ,, nichts  ist  schwerer 
zu  ertragen,  als  eine  Reihe  von  guten  Tagen".  — 
Ein  einziger  Anstoss,  ein  leichtes  Zucken  genügt, 
das  Gleichmafs  der  Schwingungswellen  zu  verschie- 
ben, den  Zusammenklang  zu  stören  und  zu  drang- 
vollem Zuwiderwogen,  wo  nicht  schrillem  Missklang 
zu  steigern. 

3.  EIN  MALERISCHER  STIL? 

So  stehen  wir,  wenigstens  um  einige  Winke  be- 
reichert, der  Frage  gegenüber:  was  wird  aus  der 
Renaissance. 

,,Man  hat  sich  gewöhnt,  den  Stil,  in  den  die 
Renaissance  sich  auflöst  oder  —  wie  man  sich  öfter 


Ein  malerischer  Baustil? 


43 


ausdrückt  —  in  den  die  Renaissance  entartet,"  unter 
dem  Namen  Barock  zu  begreifen. 

Als  wesentlichstes  Merkmal  dieses  Stiles  wird 
aber  übereinstimmend  von  den  Geschichtschreibern 
der  Kunst  ,,der  malerische  Charakter"  angegeben. 

Besonders  Jakob  Burckhardt,  dessen  glänzende 
Charakteristik  für  alle  folgenden  Versuche  mafs- 
gebend  geblieben  ist,  hat  von  dem  ,, malerischen 
Grundgefühl  des  Barockstiles"  gesprochen  und  mehr 
als  ein  Prinzip,  das  aller  strengen  Architektur  wider- 
streitet, in  malerischen  Grundsätzen  erkannt.  ,, Ab- 
wechslung in  den  Linien  und  starke  Schattenwirkung, 
möglichste  Verschiedenheit  in  Haupt-  und  Neben- 
formen ,  in  der  gleichzeitigen  Ansicht  homogener 
Bauglieder,  in  der  Aneinanderreihung  hellerer  und 
dunklerer  Räume"  u.  s.  w.  hebt  er  ausdrücklich  her- 
vor; aber  auch  ,,ein  starkes  ReUef,  ein  Vorwärts- 
und  Rückwärtstreten  der  Mauerkörper"  im  Interesse 
der  Licht-  und  Schattenkontraste,  und  ,,die  Schein- 
erweiterung für  das  Auge,  die  perspektivische  Ver- 
tiefung der  Fassaden". 

In  dieser  Auffassung  ist  ihm,  ausser  Robert  Dohme 
in  einzelnen  Aufsätzen,  auch  Cornelius  Gurlitt  gefolgt, 
der  sein  Buch  eine  ,, Geschichte  des  Barockstiles,  des 
Rococo  und  des  Klassicismus"  nennt  und  in  der 
Vorrede  besonders  hervorhebt,  er  wolle  die  Erschei- 
nungen der  Baukunst  nicht  ,,von  vorhergefassten 
Grundsätzen  aburteilen"  (Stuttgart  1887,  3  Bde.). 

Ihm  hat  Heinrich  Wölfflin  in  seiner  Schrift 
,, Renaissance  und  Barock,  eine  Untersuchung  über 
Wesen  und  Entstehung  des  Barockstiles  in  Italien" 


44  Kritische  Vorbereitung 

(München  1888)  ein  hartes  Urteil  gesprochen,  das 
von  seinem  Standpunkt  aus  sicher  zutrifft,  doch  gern 
die  zahlreichen  Einzelbeobachtungen  und  unentbehr- 
lichen Vorarbeiten  anerkennen  durfte,  auf  denen  er 
selber  fufst.  Wölfflins  Abhandlung  hat  jedenfalls  die 
Erkenntnis  des  Stiles  in  seinem  Wesen  seit  Burck- 
hardt  am  entschiedensten  gefördert.  Er  geht  vor 
allen  Dingen  darauf  aus,  den  Ursprung  zu  begreifen, 
das  Verhältnis  des  Neuen  zur  Renaissance  aufzuklären. 
Bei  solcher  Stellung  der  Aufgabe  liegt  die  Gefahr 
nahe,  entweder  die  Gegensätze  allzu  sehr  zu  ver- 
schärfen, oder  andrerseits  vereinzelte  Vorboten  des 
Kommenden  schon  als  Belege  des  Vorhandenseins 
hervorzuheben.  Dagegen  liegt  ein  unbestreitbares 
Verdienst  in  der  scharfen  Betonung  der  Herkunft 
des  Stiles  von  Rom,  ja  in  der  Neigung  vorerst  ,, über- 
haupt nur  von  einem  römischen  Barock  zu  sprechen". 
Dieser  Einsicht  liegt  bereits  Jakob  Burckhardts  Schil- 
derung zu  Grunde ,  die  sich  überwiegend  auf  rö- 
mische Beispiele  beruft,  aber  durch  Seitenblicke  auf 
den  weiteren  Umkreis  wieder  unbestimmter  wird. 
Schon  hier  ist  die  entscheidende  Bemerkung  über 
Venedig.  So  konnte  das  historische  wie  das 
aesthetische  Verständnis  nur  gewinnen ,  wenn  die 
Uberzeugung:  ,,aus  der  Hochrenaissance  in  Rom 
führt  der  Weg  unmittelbar  in  den  Barock  hinein" 
einmal  entschieden  durchgeführt  wurde.  Die  me- 
thodische Konsequenz  ist  heilsamer  zur  Förderung 
echt  wissenschaftlicher  Erkenntnis ,  auch  wenn  sie 
nachträglich  modifiziert  werden  müsste,  als  unsicheres 
Schwanken  ohne  klaren  Begriff  von  der  Hauptsache. 


Barock  und  Rokoko 


45 


Doch  konnte  es  leider  nicht  ohne  nachteiUge 
Folgen  bleiben,  wenn  die  andre  Seite,  die  weitere 
Durchführung  des  Stiles  zu  kurz  kam.  Schon  Burck- 
hardt  bemerkt,  dass  die  geschichtliche  Darstellung 
bei  Bernini  unbedingt  einen  neuen  Abschnitt  an- 
fangen müsste.  Und  Wölfflin  selbst  gesteht,  dass 
man  Mühe  habe,  die  durchgehenden  Züge  zu  erkennen 
und  festzuhalten ,  Anfang  und  Ende  sähen  sich 
wenig  gleich.  Seine  Betrachtung  bricht  denn  auch 
ab,  wo  die  Bewährung  des  ursprünglichen  Charakters 
stattfinden  sollte;  aber  dieser  Verzicht  hat  keines- 
wegs vor  dem  Fehler  behütet,  einzelne  Symptome 
der  spätem  Entwickelung  schon  in  die  Grundlage 
aufzunehmen.  So  ist  das  Wichtige ,  das  Wölfflin 
bietet,  nicht  allein  freiwiUig  ein  Bruchstück  geblieben, 
sondern  auch  als  Erkenntnis  des  Wesens  nicht  all- 
seitig ausgereift  und  an  den  historischen  Erschei- 
nungen erprobt,  wie  dies  nur  im  Verfolg  des  ganzen 
Zusammenhanges  erreicht  werden  konnte. 

Auch  ihm  fehlt  ausserdem  eine  bündige  De- 
finition des  Malerischen,  und  damit  auch  der  übrigen 
Künste,  so  dass  er  meines  Erachtens  Architektur  und 
Plastik  gradezu  einer  Verwechslung  aussetzt.^)  Diese 
Unbestimmtheit  wirkt  aber  um  so  empfindhcher,  als 
der  geschichtliche  Prozess,  der  begriffen  werden  soll, 
nicht  auf  die  Baukunst  allein  beschränkt  bleibt,  son- 
dern vielmehr  eine  ,, allgemeine  Formwandlung  be- 
deutet, die  alle  Künste  durchzieht,"  —  wie  er  selber 
weiss  — ,  jedenfalls  zwischen  Architektur,  Plastik  und 

i)  Vgl.  Heft  I  dieser  Beiträge,  S.  löfF. 


46 


Kritische  Vorbereitung 


Malerei  gleichmäfsig  an  allen  kritischen  Punkten  zum 
Austrag  kommen  muss. 

Wölfflin  gelangt  denn  auch  zu  der  Ansicht,  dass 
der  Begriff  des  Malerischen  in  seiner  Allgemeinheit 
nicht  fähig  sei,  den  Barock  zu  fassen,  wie  man  es 
bisher  versucht  hat.  Leider  gerät  er  dann  selbst 
auf  den  erkannten  Abweg  zurück,  und  die  ganze 
Analyse  des  ,, malerischen  Stiles"  in  der  Malerei,  die 
er  voranschickt,  scheint  nur  der  folgenden  Charak- 
teristik des  Baustiles  zuKebe  vorweggenommen,  wirkt 
aber  ebendeshalb  auf  unerfahrene  Leser  (wie  ich  an 
Schülern  und  Freunden  erlebt)  fascinierend,  so  dass 
sie  dem  Circulus  vitiosus  unvermerkt  erliegen.  Und 
grade  in  diesen  Abschnitten  (S.  52 f.  71  ff.)  stecken 
auch  die  zeitUchen  Anticipationen,  werden  Symptome 
des  Späteren,  nicht  ohne  Eingeständnis  des  Verfassers 
selbst  mit  der  Wesensbestimmung  des  Barock  ver- 
quickt. Und  die  zusammenfassende  Erklärung  lautet: 
,,der  interessante  Prozess,  der  in  Italien  beobachtet 
werden  kann,  ist  der  Obergang  vom  Strengen  zum 
Freien  und  Malerischen,  vom  Geformten  zum 
Formlose  n." 

Demzufolge  hätten  wir  nach  dem  allgemeinen 
Urteil  im  Barock  einen  ganzen  Stil ,  in  dem  ,,das 
Malerische  in  der  Architektur"  ausgiebig  genug  zur 
Erscheinung  gekommen,  also  ein  lehrreiches  Beispiel 
für  unsere  kritische  Auseinandersetzung,  die  einer 
ruhigen  historischen  Würdigung  der  Jahrhunderte 
zwischen  der  höchsten  Blüte  der  Hochrenaissance 
und  dem  Beginn  der  Neuzeit,  ja  bis  zum  heutigen 


Barock  und  Rokoko 


47 


Ringen  nach  Objektivität,  jedenfalls  vorangehen  muss. 
Unser  Beitrag  zur  Frage  nach  dem  Malerischen,  mit 
seinem  Versuch,  den  Grundbegriff  wenigstens  für 
die  Malerei  als  solche  zunächst  festzustellen  und 
seine  Entwickelung  durch  mafsgebende  Perioden  der 
Geschichte  zu  verfolgen,  hat  uns  hoffentlich  auch 
hier  schon  den  Weg  bereitet.  Unser  Standpunkt 
hat  sich  der  Frage  nach  dem  Wesen  des  Barock 
gegenüber  schon  verschoben,  und  zwar  besonders  in 
zwei  Beziehungen: 

Erstens  haben  wir  die  Berechtigung  des  Male- 
rischen in  der  Baukunst  selber  nachzuweisen  ver- 
sucht ,  sind  also  vor  dem  engherzigen  Vorurteil 
bewahrt ,  als  ob  malerische  Absichten  an  und  für 
sich  den  Ruin  der  Architektur  als  Kunst  bedeuten 
müssten  oder  mit  aller  strengen  Architektur  in  Wider- 
spruch gerieten. 

Zweitens  haben  wir  im  Fortschritt  der  Früh- 
renaissance und  Hochrenaissance  selbst  bereits  An- 
wandlungen malerischer  Tendenz  zu  erkennen  ge- 
glaubt, können  also  von  vornherein  WölffUns 
Ergebnis  beipflichten,  dass  der.  Begriff  des  Malerischen 
in  seiner  Allgemeinheit  nicht  fähig  sei,  den  Barock 
zu  fassen;  der  ,, malerische  Charakter"  könnte  kein 
hinreichend  unterscheidendes  Merkmal  dieses  Neuen 
gegenüber  der  Renaissance  ergeben,  wie  man  bis 
dahin  meint. 

Damit  ist  aber  drittens  ein  engerer  Zusammen- 
hang zwischem  dem  Barock  und  dem  grossen  kunst- 
geschichthchen  Prozess  anerkannt,  den  wir  ,, Renais- 
sance" nennen.    Der  Barock  ist  eine  Abwandlung 


48 


Barock  und  Rokoko 


der  Renaissance;  es  fragt  sich,  wie  weit  er  etwa 
eine  Ai|flösung,  oder  gar,  wie  Andre  sich  ausdrücken, 
eine  Entartung  ihres  Wesens  bedeute.  Ich  will  mit 
dem  Wort  ,, Abwandlung'-'  jeden  moralischen  Bei- 
geschmack vermeiden,  den  ,, Entartung  eines  Charak- 
ters" so  leicht  bekommt,  wenn  es  sich  tatsächlich 
auch  mehr  um  Entstehung  einer  Abart  in  natur- 
wissenschaftUchem  Sinne  handeln  könnte,  bei  dem 
ethische  Reflexionen  vorerst  nicht  zu  Worte  kommen 
sollen.  Eben  deshalb,  weil  wir  beim  Barock  noch 
immer  den  breiteren  Strom  der  Renaissance  weiter- 
fluten sehen,  mag  sein  Lauf  auch  müder,  sein  Bett 
seichter  werden,  eben  deshalb  erstreckt  sich  unsre 
Betrachtung  weiter  auch  auf  das  Rokoko.  ^)  Auch 
ihm  stellen  wir  die  Frage,  wie  steht  es  mit  dem  Male- 
rischen in  der  Architektur 

Erst  die  Erweiterung  der  Hauptfrage:  welchen 
Anteil  hat  die  Malerei  als  eigene  Grofsmacht  an 
der  Stilbildung  dieser  Perioden  überhaupt.^  —  vermag 
zur  ersehnten  Einhelligkeit  in  der  Beurteilung  der 
historischen  Tatsachen  und  zur  fruchtbaren  Ver- 
wertung aesthetischer  Erkenntnis  hindurchzuführen. 

Ich  möchte  an  dieser  Stelle  ausdrücklich  den 
Leistungen  der  Vorgänger  die  Anerkennung  zollen, 


i)  Die  Schrift  von  Paul  Schumann,  Barock  und  Rococo, 
Leipzig  1885,  trägt  diesen  Haupttitel  mit  Unrecht;  sie  enthält  im 
Wesentlichen  nur  „vStudien  zur  Baugeschichte  des  18.  Jahrhunderts 
mit  besonderem  Bezug  auf  Dresden",  wie  der  Untertitel  lautet,  und 
sucht  in  einer  Einleitung  dem  Rokoko  an  der  Hand  der  Theoretiker 
jener  Zeit  beizukommen,  —  ein  Versuch,  über  den  ich  an  seiner 
Stelle  meine  Ansicht  aussprechen  muss. 


Barock  und  Rokoko 


49 


die  jeder  an  seinem  Teil  verdient  hat  und  bei  dem 
Stand  der  Forschung  erwarten  darf;  denn  ohne  ihre 
Vorarbeit  würde  es  mir  nicht  mögUch  sein,  meine 
Gesichtspunkte  auch  nur  soweit  durchzuführen,  wie 
ich  es  im  Folgenden  versucht  habe.  Für  grosse 
Kapitel  freilich  fehlt  die  Beschreibung,  Veröffent- 
Hchung,  Beobachtung  nach  durchgehenden  Gesichts- 
punkten fast  vollständig,  weil  man  sich  gewöhnt  hat, 
die  innere  Raumbildung  als  solche  über  den  Einzel- 
formen zu  vergessen,  statt  immer  von  ihr  als  Haupt- 
sache auszugehen.  Dagegen  habe  ich  mir  zur  Pflicht 
gemacht ,  überall ,  wo  ich  die  Feststellung  des 
Sachverhaltes  bereits  vorfand,  sie  möglichst  ebenso 
herüberzunehmen,  um  so  die  objektive  Zuverlässigkeit 
meiner  oft  sehr  abweichenden  Erklärung  zu  sichern. 
So  wenigstens  wird  eine  Verständigung  über  die 
Tatsachen,  die  wir  ins  Auge  fassen,  am  schnellsten 
erreichbar  sein,  und  die  Differenz  der  Ansichten,  die 
ich  gewärtigen  muss,  sich  nur  auf  die  Auslegung 
oder  Verwertung  des  Materials  beziehen  können. 
Diese  Geduldsprobe  für  mich  schien  vielleicht  über- 
flüssig ,  wenn  meine  Schrift  sich  allein  an  Fach- 
genossen wendete,  die  sich  mit  diesen  Perioden  der 
Kunst  eingehend  beschäftigt  haben,  so  dass  sie  keiner 
Schilderung  bedürfen;  sie  wurde  notwendig  für  jeden 
weiteren  Leserkreis,  dem  am  liebsten  die  wenigen 
entscheidenden  Beispiele ,  die  ich  auswähle ,  nicht 
allein  in  Worten,  sondern  auch  in  Abbildungen  vor- 
geführt werden  sollten. 


Schmarsow,  Barock  und  Rokoko. 


4 


n. 

MICHELANGELO 
ALS  BEGRÜNDER  DES  BAROCKSTILS 


ichelangelo  Buonarroti  gilt  bei  allen  bisherigen 
Forschern,  bei  Burckhardt,  Gurlitt  und  Wölff- 
lin,  als  der  eigentliche  ,, Vater  des  Barock". 
Gurlitt  freilich  beginnt  trotz  dieser  Bezeichnung  des 
Urhebers  seine  Geschichte  des  Barockstiles  erst  nach 
Michelangelo.  Burckhardt  hat  seine  Bemerkungen 
nur  gelegentlich  eingeflochten.  Wölff"lin  erklärt : 
,,jede  Linie  von  ihm  ist  wichtig".  —  ,,Die  ganze 
folgende  Entwickelung  ist  abhängig  von  ihm.  Es 
kann  sich  keiner ,  der  in  seine  Nähe  kommt ,  dem 
Zauber  entziehen ;  keiner  wagt  aber,  ihn  direkt  nach- 
zuahmen." War  es  darnach  nicht  geboten ,  sein 
Schaffen  in  diesem  Sinn  für  sich  allein  heraus- 
zuheben, besonders  wenn  der  Zug  der  Übrigen  nicht 
unmittelbar  in  seine  Fufstapfen  tritt  .^^ 

Wer  die  Frage  stellt,  ob  sich  der  Stil  einer 
ganzen  grossen  Kunstperiode  aus  dem  persönlichen 
Schaffen  eines  Einzelnen  erklären  lasse,  der  darf  zu- 
nächst allein  nach  dem  künstlerischen  Wollen  dieses 


Prinzipielles 


51 


Schöpfers  fragen.  Damit  würde  schon  ein  wesent- 
Ucher  Fehler  vermieden,  der  aus  einer  Vermischung 
dieses  Faktors  mit  dem  gänzlich  anders  gearteten 
der  psychologischen  Wirkung  des  Werkes  auf  den 
Betrachter  entsteht,  ein  Fehler,  der  in  Wölfflins 
Schrift  durchgehends  auftritt  und  leider  störende 
Trugschlüsse  veranlasst. 

Bei  einem  solchen  Zutrauen  zu  der  Machtvoll- 
kommenheit des  schöpferischen  Subjekts  kommt  es 
darauf  an ,  alle  seine  Äusserungen  aus  der  Einheit 
des  Ich  zu  verstehen.  Die  vorhandenen  Mittel,  die 
er  aus  dem  Vorrat  der  Vergangenheit  herausgreift, 
die  neuen  Anv^endungen  und  Verbindungen,  die  er 
sich  zurecht  macht,  oder  die  bis  dahin  völlig  un- 
erhörten Bestandteile  der  Formensprache,  die  er  er- 
findet, um  zum  Ausdruck  seines  Wesens  zu  dienen, 
sie  dürfen  zunächst  nur  darauf  geprüft  werden,  was 
sie  im  Zusammenhang  seiner  Originalität  bedeuten. 

Erst  in  zweiter  Linie  oder  gar  für  eine  folgende 
Phase  der  Entwickelung  kommt  dagegen  der  Ein- 
druck seiner  Werke  auf  die  Zeitgenossen  in  Betracht. 
Die  Sorge  um  die  Art  der  psychologischen  Wirkung 
auf  die  Mitmenschen  mochte  solchem  Genius ,  je 
notwendiger  er  schuf,  und  besonders  bei  den  per- 
sönlichen Eigenschaften  eines  Michelangelo,  vielleicht 
ganz  gleichgiltig  sein,  zumal  in  einem  Alter,  wo  die 
Erfahrung  ihn  gelehrt,  dass  er  doch  unverstanden 
bleibe.  Jedenfalls  aber  müssen  seine  Schöpfungen 
erst  eine  Weile  dagestanden  haben,  bevor  sie,  selbst 
auf  andere  Künstlernaturen,  bestimmend  weiter  wir- 
ken konnten.    Oft  werden  erst  folgende  Generationen 

4* 


Michelangelo 


des  vollen  Sinnes  seiner  Taten  inne.  Je  grösser  er 
selbst  an  subjektiver  Begabung,  desto  schwerer  wird 
es  vollends  dem  Verehrer,  den  Fortschritt  seines 
Geistes,  vielleicht  gar  einen  tiefgreifenden  Um- 
schwung seiner  Überzeugungen  zu  begreifen ;  grade 
die  eifrigsten  Jünger  ahmen  die  Werke  der  frühern 
wie  der  spätem  Zeit  unterschiedslos  nach.  Und  ob 
die  Epigonen,  die  sein  Wollen  durchschauen ,  auch 
die  Kraft  haben,  noch  Verwandtes  hervorzubringen, 
ist  eine  andere  Frage.  Desto  näher  Hegt  alsdann 
die  Absicht  auf  verlangte  Wirkungen.  Auch  hier 
vermag  nur  strenge  chronologische  Sonderung  uns 
einigermafsen  vor  Irrtümern  zu  bewahren.  Und  eine 
einzige  unbemerkte  Falte  verschuldet  schon ,  dass 
das  Ganze ,  das  wir  sorgsam  ab-  und  wieder  auf- 
gerollt, am  Ende  doch  schief  gewickelt  daliegt,  so 
dass  der  BUck  des  Unbefangenen  sich  nicht  dabei 
beruhigen  kann. 

Wer  aber  zu  der  Einsicht,  oder  nur  auf  die 
Vermutung  gekommen  ist,  die  Anfänge  des  Barock- 
stiles lägen  bei  keinem  Andern  als  Michelangelo, 
soweit  überhaupt  das  Weltschicksal  der  Kunst  je- 
mals von  Einem  Menschen  ausgegangen,  —  der 
darf  seinen  Ausgangspunkt  auch  nur  da  nehmen, 
wo  Michelangelo  selbst  den  Kernpunkt  seines  Wesens 
immer  erkannt  hat :  nicht  beim  Architekten ,  noch 
beim  Maler,  sondern  beim  Bildhauer.  Gezwungen 
fast  und  widerstrebend  übernimmt  er  spät  erst  Auf- 
gaben der  Architektur  im  Grossen;  nach  langem 
Kampfe  bestimmt  ihn  der  Wille  des  Papstes,  die 
Decke  der  Sixtinischen  Kapelle  zu  malen;  nur  pla- 


Der  Bildner 


53 


stische  Schöpfungen  hat  er  immer  aus  eigenstem 
Antrieb  verkörpern  wollen  oder  auch  in  anderem 
Material  unwillkürlich  zum  Dasein  geboren.  Es  wäre 
doch  ebenso  unerlaubte  wie  gefährliche  Willkür,  die- 
sem Gange  seines  Künstlerwillens  nicht  auch  unsrer- 
seits zu  folgen.  Die  wichtigsten  Urkunden  für  die 
Entstehung  des  Barock  sind  Michelangelos  Skulp- 
turen ;  der  Bildner  muss  zuerst  zu  Worte  kommen. 

Wenn  von  dem  grössten  Plastiker  der  Früh- 
renaissance, Donatello,  mit  Recht  gesagt  worden  ist: 
Altertum  und  Mittelalter  haben  an  seiner  Wiege  ge- 
sessen ,  haben  ihre  Gaben  gespendet ,  ihre  Lieder 
gesungen  und  um  die  Wette  seine  ersten  Jahre  be- 
stimmt ,  um  ihn  schliesslich  einander  streitig  zu 
machen ;  aber  keins  von  beiden  hat  ihn  ganz  ge- 
wonnen, weil  er,  ein  Kind  der  neuen  Zeit,  aus  bei- 
den erwachsen,  von  beiden  erzogen,  von  dem  einen 
nicht  lassen  kann,  um  dem  andern  allein  zu  folgen, 
eben  ein  Neues  war,  das  sich  von  allem  Früheren 
unterschied,-^)  —  so  darf  dies  ebenso  von  Michel- 
angelo gelten.  Denn  auch  er  hat  mit  der  heid- 
nischen Antike,  wie  mit  dem  christHchen  Mittelalter 
gerungen,  um  sich  selber  durchzusetzen,  wie  eben 
er  geartet  war.  Er  ist  in  seinen  Jugendwerken  ein 
Angehöriger  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  gleich  den 
andern  Meistern  im  letzten  Viertel  des  Quattro- 
cento, und  es  wäre  gänzlich  unhistorisch  und  gänz- 


i)  Schmarsow,  Donatello,  eine  Studie  über  den  Entwickelungs- 
gang  des  Meisters  und  die  Reihenfolge  seiner  Werke.  Breslau  und 
Leipzig  1886. 


1 


54  Michelangelo 

lich^-<mpsychologisch ,  aus  einzelnen  unläugbaren 
Symptomen ,  die  als  Vorboten  seiner  persönlichen 
Eigenart  auftreten ,  den  geborenen  Meister  des 
„grossen  Stiles"  oder  gar  des  Barock  selber  kon- 
struieren zu  wollen.  In  den  Blütetagen  der  Hoch- 
renaissance steigt  Michelangelo  dann  neben  Lionardo 
und  Bramante  zur  glücklichen  Vereinigung  jener 
beiden  Mächte,  der  Leibesschönheit  und  der  Seelen- 
schönheit auf,  in  originaler  Schöpferlust,  eingeweiht 
in  die  heihgsten  Mysterien  des  Piatonismus,  in  dem 
die  Besten  seiner  Zeit  des  Heidentums  und  Christen- 
tums Versöhnung  fanden.  Und  endlich  wird  er, 
nach  dem  schnellen  Fall  des  Medicäerglückes,  nach 
dem  Tode  Rafaels  und  der  Zerstreuung  seiner  Erben, 
zum  Vater  des  Barock.  NatürUch  nur  durch  Ele- 
mente, die  von  früh  an  in  ihm  steckten,  aber  als 
die  Zeit  erfüllet  war ,  nicht  schon  am  Ende  des 
Quattrocento,  noch  unter  dem  heitern  Sonnenschein 
der  Hochrenaissance,  nicht  vor  den  Tagen  auch  ihres 
Niederganges.  ^) 

Während  die  Plünderung  Roms  das  Ansehen 
der  glänzenden  Hauptstadt  erschütterte,  und  alle  Ge- 
müter, tief  herabgedrückt,  noch  SchUmmeres  erwar- 
teten, —  schuf  Michelangelo  das  ErstUngswerk  eines 


i)  Es  liegt  am  Fortschritt  der  Kunstwissenschaft  im  allge- 
meinen, dass  die  früheren  grossen  Biographieen  Michelangelos  diese 
Stufenfolge  nicht  betonen  und,  wie  es  künftig  geschehen  muss,  zur 
Grundlage  ihrer  ganzen  Disposition  machen.  Erst  dann  tritt  auch 
das  Verhältnis  der  Spätrenaissance  zu  Michelangelo  in  das  rechte 
Licht,  nämlich  als  negatives  gegenüber  dem  Barockmeister,  positiv 
nur  durch  seinen  Beitrag  zur  Hochrenaissance  bestimmt. 


Der  Bildner 


55 


neuen  Stiles,  mit  einem  Wurf  die  Reihe  der  Riesen- 
kinder in  der  Grabkapelle  der  Medici.  Die  Zer- 
knirschung der  Glücklichen  wird  für  ihn  zur  Einkehr 
in  sich  selbst;  mit  der  Kraft  des  Geistes,  die  er 
immer  betätigt,  sobald  er  sich  selber  gefunden,  greift 
er  in  das  eigne  Innere ,  greift  er  tiefer  in  die  Ge- 
heimnisse der  Seelenwelt,  als  die  andern  Meister  der 
Hochrenaissance  im  Glück  des  Genusses  es  je  ver- 
suchten. Und  diese  Verinnerlichung  des  Ideen- 
gehaltes bedarf  notwendig  einer  stärkern  Unterlage, 
den  Gedanken  zu  tragen,  damit  der  plastische  Kör- 
per unter  der  Intensität  des  Ausdrucks ,  unter  dem 
tragischen  Widerspruch  der  Gebärde  nicht  zusammen- 
breche, gleich  den  mimisch  lebhaften,  aber  leiblich 
kaum  lebensfähigen  Gebilden  der  gotischen  Skulptur. 
Deshalb  greift  er  mit  seiner  Titanenhand  auch  tiefer 
in  den  bildsamen  Stoff  und  nimmt  ein  gewaltiges 
Mafs  von  Materie  zur  Durchgestaltung  auf. 

Es  ist  neuerdings  wenigstens  anerkannt,  dass 
Michelangelo  in  den  ersten  Jahrzehnten  des  sechzehn- 
ten Jahrhunderts  seine  Statuen  noch  wesentlich  um 
ihres  schönen  Körpers  willen  bildete,  dass  die  gleich- 
mäfsige  Durchbildung  und  Belebung  der  mensch- 
hchen  Gestalt  auch  sein  Ziel  war.  Das  letzte  Werk 
dieser  Art  ist  der  milde  Christus  als  Sieger  über  den 
Tod  in  S.  M.  sopra  Minerva,  das  Ideal  des  Menschen- 
sohnes nach  dem  Herzen  der  Renaissance,  die  Ver- 
herrlichung eines  schönen  Mannes  von  römischem 
Gewächs  in  reiner  Nacktheit,  durchaus  dem  Auf- 
erstandenen in  Rafaels  Karton  verwandt.  Dieser 
15 14  bestellten,  aber  erst  1521  vollendeten  Statue 

I 


56(^  Michelangelo 

ZU  Rom  sind  noch  die  Idealportraits  der  Medici,  in 
der  Grabkapelle  zu  Florenz,  am  nächsten  verwandt, 
in  Auffassung  sowol  wie  in  Arbeit.  Während  die 
Kapelle  selbst  in  Plänen  seit  15 19  vorbereitet  war, 
beginnt  die  Ausführung,  nach  dem  Verzicht  auf  die 
Fassade,  seit  1521.  Durch  die  politischen  Ereignisse 
unterbrochen,  wird  sie  1524  erst  wieder  aufgenom- 
men und  bis  1527  so  weit  gefördert,  wie  sie  über- 
haupt gedieh. 

Die  lagernden  Gestalten  von  Tag  und  Nacht, 
Morgen  und  Abend,  bezeichnen  den  Anbruch  einer 
neuen  Zeit  und  zugleich  das  Verhängnis  ihres  Ab- 
laufs. Es  ist  ein  andres  Geschlecht,  so  grundver- 
schieden von  jenem  Ideal  der  Renaissance,  als  wäre 
nach  dem  jähen  Untergang  des  goldenen  Alters  mit 
diesem  einen  Schöpfungsakt  ein  ehernes  geboren. 
Michelangelo  erscheint  wie  Deukalion  nach  der  Zer- 
störung der  menschlichen  Wesen:  aus  den  Steinen, 
die  er  hinwirft,  weckt  er  sich  Nachkommen;  aber 
sie  bewahren  die  Felsnatur  ihres  Ursprungs.  Um 
ihretwillen  allein  schon  nennen  wir  Michelangelo  den 
Vater  des  Barock. 

Über  das  Wesen  dieser  plastischen  Gebilde  sind 
die  Stimmen  einig.  Die  herkulische  Bildung  fällt 
zunächst  ins  Auge :  ,,mit  allem  Streben,  der  Statue 
die  vollkommenste  Wirklichkeit  zu  verleihen ,  um 
derentwillen  er  durch  rastlose  anatomische  Studien 
alle  Ursachen  und  Äusserungen  der  menschlichen 
Form  und  Bewegung  zu  ergründen  trachtet,  sucht 
er  doch  nur  das  Übermenschliche,"  schreibt  Jakob 


Der  Bildner 


57 


Burckhardt.  ,,Ein  Bild  der  gealterten  Menschheit, 
die  sich  nicht  mehr  in  naivem  Behagen  ihres  Lebens 
im  Leibe  freut,  sondern  ihn  nur  als  Werkzeug  des 
Geistes  gebraucht,"  sagt  der  Anatom  Henke,  — 
,, diese  Gestalten  lassen  die  wirklich  verständliche 
Beseelung  des  Körpers,  das  Spiel  seiner  Muskeln, 
die  Stellung  der  Knochen  mit  gesteigerter  DeutHch- 
keit  erkennen,  als  wenn  wir  es  im  eigenen  Körper 
nachfühlten."  ,,Die  natürliche  Harmonie  zwischen 
Leib  und  Seele,  die  Verkörperung  des  Lebens  in 
vollem  Gebrauch  seiner  Organe  wird  zur  Dissonanz, 
wenn  die  GHeder  getrennte  Wege  geführt  werden, 
dies  hierhin,  dies  dorthin  geworfen,  das  dritte  sich 
selbst  überlassen."  Die  harmonische  Schönheit  der 
Menschengestalt  nach  dem  Vorbild  der  reinsten  an- 
tiken Meisterwerke  ist  also  aufgegeben  die  gleich- 
mäfsige  Belebung  des  plastischen  Gebildes  durch 
mimische  Gebärdung  gesteigert ,  um  des  stärkeren 
Ausdrucks  willen,  und  dies  Hervorbrechen  des  Innen- 
lebens durch  gigantische  Bildung  nach  Art  spät- 
römischer Kolossalfiguren  unterstützt,  ja  es  ist  so 
viel  wie  möglich  ins  Physische  übertragen,  so  dass  es 
mit  der  Stärke  eines  elementaren  Naturereignisses 
uns  entgegendringt.  ,,Je  mächtiger  sich  die  Muskeln 
auf  diesen  Schultern  und  Schenkeln  häufen  und  auf 
einen  grossen  Kraftvorrat  schliessen  lassen,  je  mehr 
haben  wir  den  Eindruck  der  Masse,  die  zu  nichts 
nütze  ist,  weil  die  Seele  sie  nicht  mit  Lust  verwendet, 
sich  also  auch  nicht  wol  und  wie  in  ihrem  eigenen 
Leibe  darin  zu  Hause  fühlt,"  meint  der  Anatom; 
aber  desto  zwingender  entsteht  auch  der  Eindruck 


58 


Michelangelo 


des  Werdens  von  Innen  her  vor  iinsern  Augen 
und  des  unläugbaren  Zusammenhangs  zwischen  der 
sinnUch  sichtbaren  Hülle  und  dem  geheimnisvollen 
Kern,  aus  dem  die  erste  wie  die  letzte  Regung 
seelischen  Lebens  stammt.  Sowie  sich  der  Impuls 
weiterstralend  im  Ganzen  ausbreitet,  so  verflüchtigt 
sich  der  Hinweis  auf  den  Ursprung,  und  das  Leib- 
Uche  an  sich,  das  vegetative  Gewächs  selber  scheint, 
das  Äusserliche,  der  Sitz  und  Schauplatz  des  Seelen- 
lebens. Je  einseitiger  das  Motiv  und  seine  Steige- 
rung von  Innen  her,  desto  notwendiger  fordert  dies 
Festhalten  des  Augenblicks,  dies  Hängenbleiben  im 
ganz  Transitorischen  eine  Ergänzung  nach  der  Seite 
ruhigen  Bestandes  und  unbezweifelbarer  Existenz, 
desto  unentbehrlicher  wird  die  Quantität  der  Materie, 
der  Aufwand  von  Naturfülle,  die  herkulische  Bildung 
und  die  Nacktheit  der  Leiber.  Als  ächter  Bildhauer 
rechnet  Michelangelo  auch  bei  stärkster  psycholo- 
gischer Vertiefung  in  das  Seelenleben  mit  der  Aus- 
drucksfähigkeit des  ganzen  Körpers  und  aller  seiner 
Gliedmafsen ,  im  Zusammenwirken  hier ,  im  Aus- 
einanderbleiben da,  überall  mehr  als  mit  dem  Mienen- 
spiel allein.  Deshalb  kann  er  vollends  in  diesen 
lagernden  Gestalten  die  Gewandung  garnicht  brauchen, 
deshalb  erscheinen  diese  Titanen  aber  auch  dem 
modernen,  der  Nacktheit  so  ganz  entfremdeten 
Menschen  so  leicht  als  äusserliche  Bravourstücke, 
wol  gar  als  seelenarme  und  gemütsleere  Gebilde. 
Aber  gerade  sie  sind  nichts  weniger  als  das,  wenn 
auch  übermenschlich  an  Innerlichkeit  und  Seelen- 
grösse,   gerade  sie  sind  künstlerische  Taten  in  voll- 


Der  Bildner 


59 


Stern  Umfange  und  Eroberungen  für  die  Bildnerei  von 
unmittelbarster  Wahrhaftigkeit. 

Ebenso  entscheidend  für  die  Kunst  des  Barock 
wie  dieses  Verhältnis  zwischen  Motiv  und  Körper, 
zwischen  Mimischem  und  Plastischem  der  Einzelfigur, 
ist  die  cyklische  Komposition.  Es  war  die  Ver- 
einigung einer  Mehrzahl  von  Statuen  zu  einem  zu- 
sammenhängenden Ganzen  geplant,  das  nur  teilweise 
zur  Ausführung  kam,  und  auch  so  nicht  einmal  zur 
Aufstellung  durch  Michelangelo  selbst.  Vier  Liegende 
und  zwei  Sitzende  sehen  wir  an  den  Grabmälern 
jetzt,  die  Liegenden  unten  paarweis  gesellt  und  doch 
einander  entgegen,  die  Sitzenden  einander  gegenüber 
im  Kontrast  und  doch  ein  Paar  von  Brüdern.  Diese 
oberen  sind  bekleidet,  Idealportraits  abgeschiedener 
Persönlichkeiten ;  die  unteren  nackt ,  riesenhafte 
Naturwesen,  deren  Gebaren  sich  so  persönlich  zum 
Ausdruck  eines  ganz  subjektiven  Widerspruchs  gegen 
das  eigene  unausweichliche  Dasein  zuspitzt,  dass  sich 
ein  Individuum  und  sein  Geheimnis,  die  Stunde  seines 
Lebens  selbst  sich  offenbart :  Morgen  und  Abend, 
Tag  und  Nacht ;  aber  diese  Zeiten  in  einer  Grab- 
kapelle ,  im  Angesicht  des  Todes ,  also  im  Banne 
eines  unerbittlichen ,  alle  Daseinsfreude  wie  alle 
Lebenstätigkeit  lähmenden  Gedankens.  Der  Morgen 
ein  verzweifeltes  Erwachen,  des  Tages  Vollkraft  starr, 
dem  Hohn  auf  sich  selber  anheimgegeben,  der  Abend 
erst  müde  zu  sanfterer  Wehmut  geneigt ,  und  die 
Nacht,  umhergeworfen,  mitten  in  ruhelosem  Seelen- 
schmerz vom  Schlaf  übermannt.  Erlöserin  ins  Dunkel 
der  Vergessenheit  zurück.    Und  über  dem  Auf  und 


60 


Michelangelo 


Ab  dieser  wiederkehrenden  Bewegung  die  beiden 
sitzenden  Fürsten,  zu  Herren  dieser  Welt,  zu  Macht- 
habern  dieses  Daseins  berufen,  der  Denker  hier,  der 
Handler  dort,  mit  dem  Blick  nach  Innen  und  nach 
Aussen,  aber  beide  erstarrt,  der  eine  im  Grübeln, 
der  andre  im  Wollen,  als  entschleiere  sich  eben 
das  Bild  von  Sais  und  zeige  das  Medusenhaupt  des 
Todes. ^) 

Als  plastisches  Werk  nicht  so  sehr  den  gemalten 
Propheten  an  der  Decke  der  Sixtina,  als  vielmehr 
diesen  cyklischen  Gestalten  der  Medicäerkapelle  ver- 
wandt ,  erscheint  auch  der  Moses  in  S.  Pietro  in 
vincoli.  Auch  er  ist  mit  einer  Mehrzahl  von  Figuren 
in  Zusammenhang  gedacht,  in  seiner  einseitigen  Be- 
handlung nur  so  erklärbar,  nachträglich  erst  —  in 
verzweifelter  Resignation  —  so  als  Hauptstück  unten 
aufgestellt,  wie  er  jetzt  —  immer  unvorteilhaft  — 
gesehen  wird.  Auch  hier  die  nämlichen  Grundlagen 
des  künstlerischen  Schaffens  wie  dort,  die  Steigerung 
der  physischen  Macht,  mit  der  er  ausgestattet  ist, 
wie  der  geistigen  Energie,  mit  der  er  den  gewaltigen 
Ausbruch  zurückhält,  zum  Eindruck  eines  Über- 
menschUchen.  Nicht  allein  der  Knochenbau,  Umfang 
und  Grösse  der  Körperformen  gehen  über  das  ge- 
wöhnhche  Mafs  auch  der  Helden  des  menschlichen 
Geschlechtes  hinaus,  sondern  Arme  und  Hände  zeigen 
anerkanntermafsen  das  charakteristische  Leben  dieser 


i)  Vgl.  Dialogi  di  Messer  Donato  Giannotti  (Firenze  1859); 
L.  V.  Scheffler ,  Michelangelo  (Altenburg  1892)  und  neuerdings 
O.  Ollendorf,  Preuss.  Jahrb.  81,  2  (1895). 


Der  Bildner 


61 


Teile  auf  eine  Weise  hervorgetrieben,  die  in  Wirk- 
lichkeit nicht  so  vorkommt.  Ja,  der  Kontrast  der 
Haltung  des  rechten  Armes,  der  fest  aufgestützt  auf 
die  Gesetztafeln  drückt,  und  der  planlosen  Bewegung 
dieser  Hand,  die  mit  gekrümmten  Fingern  in  die 
Locken  des  Bartes  greift,  dieser  mimische  Wider- 
spruch ist  notwendig ;  denn  er  ist  kein  müfsiges 
Spiel,  sondern  das  unwillkürliche,  mechanische  Ar- 
beiten, das  Überströmen  der  Innervation  unter  der 
Hemmung  des  Willens,  dessen  furchtbare  Anspan- 
nung sie  verrät,  gegen  eine  solche  Wucht  verhaltener 
Körperkraft  noch  aufzukommen  mit  der  Herrschaft 
des  Geistes.  Man  fühlt,  wie  bei  solchem  Widerspruch 
zwischen  vorhandener  Lage  und  vorbereiteter  Be- 
wegung die  Gelenke  in  den  Fugen  knirschen ,  als 
gälte  es  biegen  oder  brechen. 

Die  weiblichen  Gestalten ,  die  jetzt  zu  beiden 
Seiten  des  furchtbar  drohenden,  auf  seinem  Tronsitz 
festgebannten  ,, Jupiter  tonans"  angebracht  sind,  und, 
in  ganzer  Figur  gezeigt,  nur  dazu  dienen,  den  Ein- 
druck des  Ubergewaltigen  erst  recht  hervorzuheben, 
entsprechen  als  minder  erfreuliche  Beispiele  doch  dem 
selben  Stil,  der  allein  die  Summe  der  anerkannten 
Eigenschaften ,  Vorzüge  wie  Mängel ,  erklärt.  Die 
doppelte  Bewegung  in  der  Einen ,  die  soeben  auf 
dem  Schemel  nach  rechts  gekniet  hat  und  aufstehend 
sich  ebenso  im  Gebet  mit  dem  Oberkörper  nach 
links  wendet,  die  unwillkürlich  hervorgebrachten  Ge- 
wandmotive der  Andern,  das  ,, Grandios -Neutrale" 
der  Köpfe,  das  ,, Unpersönliche"  dieser  beiden  Wesen, 
die  zwei  Seiten  der  weiblichen  Natur  in  vertiefter 


62 


Michelangelo 


Auffassung  und  plastisch  gesteigert,  indes  nur  als 
Folie  des  Heros  selber  geben,  sie  gehören  einer 
Komposition  an,  deren  Rechnung  überall  aus  dem 
Ganzen  bestimmt,  auf  das  Ganze  geh^  und  ihre  stärk- 
sten Mittel  alle  auf  eine  bestimmte  Stelle  wirft,  die 
rücksichtslos  dominieren  soll. 

Der  Abfall  alles  Übrigen  darf  um  so  weniger 
befremden,  als  Michelangelos  bildnerische  Kraft  sich 
damals  (bis  1 545  entstand  das  Grabmal)  in  Archi- 
tektur und  Malerei  zugleich  ergiefst:  das  Jüngste 
Gericht  und  die  Umgestaltung  des  Kapitols  —  zwei 
entscheidende  Aufgaben  —  beschäftigen  ihn  zur 
selben  Zeit.  Noch  unter  Clemens  VII.  beginnt  er 
mit  Entwürfen  für  die  Altarwand  der  Sixtinischen 
Kapelle,  mit  deren  Freilegung  Paul  III.  1534  Ernst 
macht;  zu  Weihnacht  1541  wird  das  fertige  Werk 
enthüllt. 

Die  Mauerfläche,  die  sich  darbot,  ist  anderthalb 
mal  so  hoch  als  breit.  Dies  Verhältnis  der  Dimen- 
sionen bestimmt  den  Charakter  des  Bildes  ebenso 
mit,  wie  der  Standort  am  Kopfende  des  längUchen, 
saalartigen  Innenraums,  ohne  vortretende  Gliederung 
an  den  beiden  Hauptwänden,  die  nur  durch  Fenster- 
reihen oben  und  Bilderreihen  darunter  geteilt  sind. 
Auf  dem  Wege  des  Betrachters,  der  durch  die  Sala 
regia  hereintretend  sich  auf  den  Altar  zu  bewegt,  ist 
nur  eine  Zwischenpause  gegeben :  in  dem  Durchgang 
durch  die  marmornen  Schranken,  die  den  Vorraum 
für  die  Laien  vom  Hauptraum  für  die  Geistlichkeit 
trennen.    Daher  die  Anordnung  eines  höheren  und 


Der  Maler 


63 


eines  tieferen  Mittelpunktes  im  Bilde,  deren  letzterer 
sich  seiner  Stelle  gemäfs  dem  oberen  unterordnet; 
daher  auch  die  Herrschaft  der  Höhenaxe  zwischen 
diesen  beiden  Kraftzentren  über  die  Gesamtheit  aller 
Körper,  die  auf  der  ganzen  Bildfläche  zur  Erschei- 
nung kommen. 

Diese  Wand  ist  nicht  der  unendlich  freie  Raum 
der  Welt,  in  die  man  hinausblickt,  sondern  wie 
eine  Kluft  von  den  höchsten  Höhen  des  Firmaments 
bis  in  den  untersten  Abgrund ,  wo  die  Hölle  sich 
auftut,  wie  ein  Spalt  zwischen  beiden  Hemisphären 
des  Alls,  der  vom  Innenraum  der  einen  Seite  ge- 
sehen, nur  die  Tiefe  eines  starken  Reliefs  zu  klarer 
Anschauung  kommen  lässt,  während  Wolken,  Licht, 
Bläue,  Nebelschleier  oder  Qualm  und  Finsternis  das 
Weiterdringen  des  Auges  hindern.  Somit  bleibt  der 
gewaltige  Umschwung,  der  sich  hier  vollzieht,  die 
ewige  Scheidung  von  Oben  und  Unten,  die  nach 
Joels  Prophezeihung  ,,im  Tale  Josaphat"  geschehen 
solU),  von  der  Schwelle  des  Schattenreiches,  wo 
Minos  und  Charon  ihres  Amtes  walten,  und  der  Erd- 
oberfläche, wo  die  Gräber  sich  öffnen  und  die  Seelen 
ihre  Leiber  wiederfinden ,  bis  zum  Triumphzug  der 
himmlischen  Heerschaaren  mit  den  Waffen  Christi 
ganz  oben,  durchaus  nur  nach  den  Formgesetzen 
der  Körperbildnerin  darstellbar,  wird  alles  in  pla- 
stischer Bestimmtheit  ausgemalt.  Und  von  dem 
Endpunkt  des  einspringenden  Gewölbzwickels  oben 
bis  hinunter  auf  das  Zeichen  des  Altares  geht  die 


i)  Propli.  Joel  III,  2,  vgl.  auch  Dante,  Inferno  X,  Ii. 


64 


Michelangelo 


Vertikalaxe  dieses  Zeichenreiches,  als  Dominante  der 
Relief komposition,  von  der  alles  abhängt,  was  für 
das  Auge  des  Betrachters  in  die  Erscheinung  tritt. 

Am  untern  Pol  dieses  Magneten  posaunen  die 
Engel  des  Gerichts  und  rufen  die  Toten  aus  den 
Grüften  der  Erde,  wie  aus  den  Tiefen  des  Meeres 
empor;  am  obern  Ende  wirkt  die  Machtgebärde  des 
Richters,  die  das  bisherige  Naturgesetz  aller  Körper 
aufhebt,  und  anstatt  der  Schwere  dem  Innern  Wert 
befiehlt,  das  Oben  und  Unten  zu  entscheiden.  So 
kommt  Bewegung  in  die  Masse  der  Gestalten,  Be- 
wegung, die  allem  Erwarten  widerstreitet,  und  das 
Wunder  vollzieht  sich,  das  Entsetzen  hier  und  Selig- 
keit dort  hervorbringt.  So  füllt  sich  die  Luftregion 
mit  Leibern  trotz  der  Erdenschwere,  ja  dieses  wieder- 
gewonnene Fleisch  befreit  sich  von  allem  vergäng- 
hchen  Beiwerk  und  stellt  sich,  nach  dem  Herzen  des 
ächten  Bildners,  in  voller  Nacktheit  vor  Augen,  hier 
einzeln  in  mancherlei  Haltung  und  Betätigung,  dort 
zu  Gruppen  vereint,  ja  zu  Knäueln  geballt  im  Han- 
deln und  im  Leiden.  Dort  zur  Rechten  des  Gottes- 
sohnes steigen  die  Auserwählten  aufatmend,  ahnend, 
sehnend,  jubelnd  zur  Seligkeit  hinauf;  hier  dagegen, 
wo  er  abwehrt,  sinken  die  Schuldigen,  von  ihrer 
eignen  Sünden  Last  gezogen,  dem  Ort  der  Strafe 
zu;  denn  ,,die  Gerechtigkeit  treibt  diese  Scharen", 
heisst  es  bei  Dante,  ,,und  wandelt  ihre  bange  Furcht 
in  Gier."  So  verzweifelt  sich  ihr  Leib  zurückbäumt 
vor  dem  Abgrund,  so  unausweichUch  gehen  sie  zu 
Grunde.  Wo  aber  Gewissensangst  auch  in  diesem 
Augenblick  versagt,   da  wird  dem  Bösen  vollends 


Der  Maler 


65 


Macht  gegeben,  an  sich  zu  reissen,  was  der  Finsternis 
verfiel.  So  entsteht  überall  für  unser,  Ursach  und 
Wirkung  suchendes ,  Betrachten  der  Eindruck  der 
Bewegung,  selbst  da,  wo  im  unabsehbaren  Räume, 
der  nach  unten  wie  nach  oben  sich  fortsetzt,  ein 
scheinbares  Verweilen  im  Übergang  sich  einstellt. 
Mitten  im  Aufstieg  und  im  Sturze  des  Gestalten- 
stromes breitet  sich  die  werdende  Gränze  zwischen 
Oben  und  Unten,  ein  Hangen  und  Bangen  in  schwe- 
bender Pein,  die  Region  der  Peripetie,  zum  Eingang 
in  die  ewige  Freude  dort ,  zur  furchtbaren  Kata- 
strophe hier. 

Unten  ist  Alles  im  Werden  und  Wachsen  oder 
im  Verschwinden  und  Vergehen ,  in  Aufruhr  und 
Empörung  oder  im  Bann  des  Unbewusstseins  und 
des  langen  Schlafes  seither,  in  klaffendem  unverein- 
barem Gegensatz  diese  Ströme  des  Geschehens,  ein 
chaotisches  Ringen  zwischen  Leben  und  Tod.  Dro- 
ben dagegen  löst  sich  aller  Widerspruch  zwischen 
Körperschwere  und  Seelenschwungkraft ,  oder  zwi- 
schen Selbsterhaltungstrieb  und  Gewissenslast  in 
Klarheit  und  Ordnung  auf.  Die  Massen  umgeben 
ihren  Pol  in  koncentrischen  Bahnen  wie  Planeten 
ihre  Sonne ,  ja  im  äussersten  Grunde  dehnt  sich, 
wie  eine  Milchstrasse ,  noch  eine  letzte  Sphäre,  wo 
wir  nur  Köpfe  noch  hervorschauen  sehen,  von  Seli- 
gen, deren  Blick  am  Gottessohne  hängt,  als  gewinne 
die  Unendlichkeit  nur  Gestalt  durch  seinen  Anblick, 
wie  nur  was  zum  Lichte  eingeht  auch  sichtbar  in 
Erscheinung  tritt.  Hier  oben  sind  Bewegung  und 
Beharrung  Eins,  weil  die  Ewigkeit  sich  auftut. 

Schmarsovv,  Barock  und  Rokoko.  5 


66 


Michelangelo 


Damit  haben  wir  abermals,  wie  im  statuarischen 
Schmuck  der  Medicäerkapelle ,  dessen  Höhepunkt 
noch  die  Madonna  bezeichnen  sollte,  hier  im  Fresko- 
bilde der  Sixtina  zu  Rom ,  das  Kompositionsgesetz 
des  neuen  Stiles  gefunden ,  —  eine  Schöpfertat 
Michelangelos.  Eine  Richtung  durchwaltet  das  Ganze, 
und  zwar,  der  natürlichen  Wurzel  alles  bildnerischen 
Schaffens  gemäfs.  _die  Höhe.  Aber  sie  vollzieht  sich 
nicht  in  harmonischem  Wachstum,  im  Einklang  aller 
Teile  und  stetiger  Entfaltung  nach  dem  uranfäng- 
lichen Gesetz  des  Keimes  bis  zur  Blüte,  sondern  sie 
nimmt  den  Gegensatz  in  sich  auf  und  gelangt  erst 
durch  den  Widerspgich,  in  gewaltigem  Umschwung, 
der  sie  im  Innersten  durchwühlt ,  zur^Ab^iäming^  im 
Erfolg  des  Dranges.  Unten  herrscht  das  Streben, 
oben  erst  Erfüllung,  und  zwischen  Beiden  erhält  sich 
die  Spannung ,  die  erst  Jedem  von  beiden  seinen 
Wert  bestimmt. 

Es  ist  dasselbe  Verhältnis  der  Teile  zum  Gan- 
zen, die  man  in  Rafaels  Vermächtnis,  der  unvollendet 
hinterlassenen  Transfiguration  gefunden  hat :  unten 
der  Widerspruch  zwischen  der  Qual  der  Hilfsbedürf- 
tigen mit  dem  besessenen  Knaben  und  der  Ohn- 
macht der  strebenden  Jünger,  die  Spannung  im  Hin- 
weis auf  den  Einzigen,  der  helfen  kann,  aber  droben 
weilt  im  Lichte  der  Verklärung ,  zum  Schauen  des 
Ewigen  entrückt.  In  Rafaels  letztem  Gedanken  also 
eine  Vorahnung  des  Neuen ,  das  Michelangelo  im 
Jüngsten  Gericht  zum  Kompositionsgesetz  des  ge- 
waltigsten Gemäldes  erhoben  hat,  und  zwar  im  Gegen- 
satz^ gegen  alle  Eroberungen  der  Harmonie ,  gegen 


Der  Maler 


67 


alle  Entdeckungen  des  Malerischen ,  die  ein  Tizian 
vor  Augen  gestellt  oder  ein  Correggio  in  der  Ver- 
borgenheit gezeitigt  hatte. 

Der  Altarwand  der  Sixtinischen  Kapelle  gegen- 
über wird,  wie  gesagt,  wol  niemand  den  Mut  haben 
vom  ,, malerischen  Stil"  dieses  Freskobildes  zu  reden; 
denn  es  zeugt  in  der  Tat  nach  jeder  Hinsicht  für 
das  Gegenteil,  bedeutet  die  bewusste,  rücksichtslose 
Wendung  zum  eminent  Plastischen.  Darin  liegt, 
rein  künstlerisch  genommen,  erst  die  genetische  Er- 
klärung für  die  weitere  Konsequenz ,  die  damit  in 
den  Kauf  genommen  werden  musste,  eben  das,  was 
Jakob  Burckhardt  vom  ideellen  Standpunkt  aus  als 
den  ,, grossen  Hauptfehler"  dieser  wunderreichen 
Schöpfung  bezeichnet  hat:  ,,die  Aufhebung  jedes 
kenntlichen  Unterschiedes  zwischen  Heiligen,  Sehgen 
und  Verdammten".  Nacktheit  gehört  wesenthch  zur 
Äusserung  der  erhöhten  Macht,  mit  der  Michelangelo 
seine  Gestalten  bildete ,  meint  er ;  aber  beide  ge- 
hören, wie  die  Statuen  der  Medicäergräber  uns  ge- 
lehrt, auch  wesentlich  zur  Äusserung  des  gesteigerten 
Innenlebens,  zur  Metamorphose  der  Seelen,  die  hier 
vollzogen  wird ;  gesteigerte  Leiblichkeit  und  unge- 
schmälerte Nacktheit  sind  die  Voraussetzungen,  ohne 
welche  die  Wiedergewinnung  des  Fleisches  und  die 
Scheidung  der  Geister  zugleich  sich  gar  nicht  ver- 
sinnlichen Uefsen,  nachdem  einmal  die  symboHsche 
Sprache  der  mittelalterlichen  Kunst  verlassen  war, 
und  die  WirkUchkeitstreue  der  Renaissance  Gene- 
rationen hindurch  die  Grundlage  alles  Dichtens  und 
Trachtens  der  Maler  bestimmt  hatte.     Denkt  man 

5* 


68 


Michelangelo 


sich  nun  aber  statt  des  frommen  Fra  Angelico  oder 
des  gesinnungstüchtigen  Ghirlandajo  bei  der  Dar- 
stellung der  letzten  Dinge  einen  Bekenner  des  plasti- 
schen Prinzips  wie  Signorelli  oder  vollends  Michel- 
angelo ,  den  Urheber  des  Schlachtkartons  mit  den 
badenden  Soldaten ,  ja  der  Deckenmalerei  in  der 
Sixtina  selbst,  so  markieren  sich  deutlich  die  Etap- 
pen der  Vorbereitung  für  dies  Neue,  das  sich  eben 
damit  trotz  der  Personalunion  als  wesentlich  Anderes, 
von  allem  Frühern  auch  der  Hochrenaissance  unter- 
scheidet. 

Mit  der  Aufgabe  das  Jüngste  Gericht  auf  dieser 
Altarwand  vor  Augen  zu  stellen ,  wird  der  Meister 
durch  das  Vorhandene  selbst  schon  zu  einer  höch- 
sten Steigerung  gedrängt,  im  letzten  Teil  des  grofsen 
Ganzen  über  die  künstlerische  Ökonomie ,  die  bis 
dahin  in  diesem  Raum  gewaltet ,  hinaus  zu  gehen 
veranlasst,  je  mehr  er  selbst  die  Komposition  im 
Grofsen  zu  handhaben  weiss,  die  er  bei  allen  Andern 
vermisste.  Und  er  selbst  ist  mittlerweile  über  Alles 
hinweg.  Die  Päpste,  die  bis  dahin  sein  Leben  be- 
stimmt, —  Julius  IL,  Leo  X.,  Clemens  VII.,  —  sind 
dahin  gesunken ;  die  Künstlergeneration,  die  mit  ihm 
das  Quattrocento  zur  Hochrenaissance  hinaufgeführt, 
—  Bramante ,  Lionardo ,  Rafael ,  —  sind  ebenfalls 
dahin,  kein  Grosser  mehr  übrig  als  er,  und  die  ganze 
Erbschaft  der  Ansprüche  ebenso  wie  der  Errungen- 
schaften fällt  auf  ihn  allein.  So  wird  er  zum  Künstler 
der  ewigen  Stadt,  wie  kein  Zweiter  vor  ihm  es  aus- 
schliesslich gewesen,  und  der  Sitz  der  Weltherrschaft, 
der  Imperatoren  wie  der  Päpste,  überträgt  all  seine 


Der  Maler 


69 


Vollmacht  auf  den  Einzigen ,  der  aufs  Neue  den 
beiden  Eltern  der  Renaissance,  dem  Mittelalter  und 
der  Antike  gegenübersteht,  die  auf  ihn  als  ihren 
Stammhalter  blicken.  So  berät  er  sich  mit  Piaton 
hier,  mit  Dante  dort,  ein  gewaltiger  Geist,  der  allen 
hergebrachten  Denkweisen  gleich  überlegen,  durch 
keine  Rücksichten  mehr  gebunden,  den  ewigen  Ge- 
heimnissen der  Aussenwelt  und  Innenwelt  ins  Auge 
schaut,  nur  auf  das  Eine  noch  erpicht,  ihre  letzten 
Rätsel  zu  fassen.  Aber  es  ist ,  wir  wissen  es  und 
erwarten  es  nach  seinem  zornigen  Bekenntnis  nicht 
anders,  ein  Bildnergeist,  der  hier  des  Schöpferamtes 
waltet,  und  wie  er  dort  oben  an  der  Decke  als  Ver- 
treter Jehovahs  den  Anfang  dieser  Welt  und  die 
Erstgeburten  der  Menschheitsgeschichte  geschildert, 
nun  hier  als  Vertreter  Christi  das  Ende  dieser  Welt 
und  die  letzten  Dinge  beim  Aufgehen  in  die  Ewig- 
keit verkörpert.  Er  kann  nicht  anders  als  plastisch 
denken  und  plastisch  malen ;  seine  Kunst,  die  Körper- 
bildnerin allein ,  führt  ihm  die  Hand ,  auch  wo  es 
gilt  das  All  zu  bewältigen  und  die  unsichtbaren  Er- 
eignisse der  Geisterwelt  im  neuerworbenen  Leibe  zu 
versinnlichen,  und  zwar  für  Menschensinn,  der  noch 
im  Irdischen  befangen  leibt  und  lebt,  und  wie  der 
Meister  selbst  ein  Jahrhundert  lang  plastisch  zu  sehen 
gelernt  hatte.  So  ,, schwelgt  er  in  dem  prometheischen 
Glück"  alle  Möglichkeiten  der  Bewegung,  Stellung, 
Verkürzung  und  Verschlingung  menschlicher  Ge- 
stalten zu  erschöpfen.  Nicht  die  ,, malerischen",  wie 
Burckhardt  meint ,  sondern  die  plastischen  Gedan- 
ken" sind  im  Ganzen  das  Bestimmende  gewesen. 


70 


Michelangelo 


Deshalb  darf  man  überall  nach  dem  Warum  und 
Wie  der  Haltung  und  Wendung  fragen  und  wird 
Antwort  erhalten ;  denn  kein  Teil  ist  in  dieser  Hin- 
sicht vernachlässigt.  So  ward  der  ,, neuen  Gene- 
ration himmlischer  Gestalten  hier  der  letzte  Stempel 
aufgedrückt",  ward  der  Christus  zu  „einem  breit- 
schultrigen Heros ,  dessen  Kopf  an  den  Apoll  von 
Belvedere  erinnert ,  mit  der  selben  siegatmenden 
Hoheit  in  den  Zügen",  wie  Herman  Grimm  hervor- 
hebt; so  ,,kam  das  Ungeheure  in  die  Leiber  hinein, 
das  gewaltig  Muskulöse",  das  den  neuen  Stil  so 
Avesentlich  bestimmt. 

Kein  Wunder,  dass  die  Gedanken  des  Greises 
nach  der  Verkörperung  des  Jüngsten  Gerichts  sich 
nicht  mehr  fassen  wollen ,  ohne  die  Berührung  des 
Unendlichen,  dass  sie  in  keinen  engern  Rahmen,  in 
keine  beschränkte  Hauskapelle  mehr  eingehen ,  da 
er  zu  gleicher  Zeit  als  Architekt  seine  durchgreifende 
Tätigkeit  im  Grossen  walten  Hess.  Ich  meine  die 
Malereien  der  Cappella  Paolina,  wo  Christus  als  Ver- 
körperung eines  Blitzschlages  herunterfährt,  umgeben 
von  nackten  Jünglingen ,  die  gleich  dem  Donner 
durch  die  Wolken  rollen ,  während  unten  der  Ver- 
folger Saulus,  wie  ein  herabgestürzter  Moses,  sich  am 
Boden  krümmt,  sein  Rösslein  und  seine  Knappen  in 
Furcht  auseinander  fahren,  —  das  Ganze  dieses  Bil- 
des, wie  die  Kreuzigung  des  Petrus  gegenüber,  vor 
Allem  unglücklich  durch  den  Zwang,  sich  in  das 
Breitenformat  des  Wandfeldes  zu  schicken. 


Der  Baumeister  I 

Das  nämliche  Kompositionsprinzip,  das  im  Wand- 
gemälde der  Sixtina  auf  den  ankommenden  Betrachter 
rechnet,  so  dass  der  Vorgang  zwischen  Himmel  und 
Hölle  vor  seinen  Augen  emporwächst,  und  je  näher 
er  zum  Altar  schreitet,  auch  die  Scheidung  zwischen 
Rechts  und  Links  in  die  Scheidung  von  Oben  und 
Unten  übergeht,  —  das  nämliche  Prinzip  bestimmt 
zur  selben  Zeit  Michelangelos  Umgestaltung  des  K  a  - 
pitols.  Die  Anlage  des  Platzes,  wie  er  sie  damals 
in  den  ersten  Jahren  Pauls  III.  angegeben,  rechnet 
mit  dem  ankommenden  Wanderer  wie  mit  dem  auf- 
steigenden Hügel  und  dem  vorhandenen  Senatoren- 
palast als  Höhepunkt  der  gleichsam  lebendigen,  im 
Wachstum  begriffenen  Mittelaxe.  Unten  der  langsam 
emporgleitende  Aufgang  (die  spät  erst  vollendete 
Cordonnata),  in  der  Mitte  der  Balustraden  links  und 
rechts ,  die  den  eigentlichen  Platz  nach  vorn  be- 
gränzen.  Dann  die  Fläche  mit  dem  Standbild 
Marcaurels  auf  ovalem  Sockel  inmitten  der  ovalen 
Einfassung  des  Pflasters  mit  den  beiden  schräg  gegen 
den  Hauptpalast  gestellten  Fassaden  zur  Seite.  An 
der  Front  des  Mittelbaues  eine  doppelte  Freitreppe, 
von  links  und  rechts  zur  Rampe  aufsteigend,  unter 
der  sich  eine  Nische  für  die  Kolossalstatue  Jupiters 
öffnet,  und  als  Dominante  zwischen  den  liegenden, 
der  Richtung  der  Aufgänge  entsprechend  angeord- 
neten Flussgöttern,  den  Wert  der  Centrailinie  noch 
einmal  in  plastischer  Gestaltung  ausprägt,  während 
sie  auf  der  Höhe  des  Palastes  selbst  als  Glocken- 
turm alles  überragend  emporschiesst.  Im  Centrum 
des  Platzes,  wo  das  Reiterdenkmal  steht,  zwischen 


5 


72 


Michelangelo 


den  beiden  Brennpunkten  der  Ellipse,  vollzieht  sich 
die  Wandlung  zwischen  den  drei  Dimensionen;  hier 
weicht  die  Tiefenaxe,  die  wir  bis  dahin  verfolgt,  der 
Breitenansicht,  in  der  das  Ganze  der  obern  Kom- 
position sich  darbietet,  und  die  Breite  wieder  der 
Höhe ,  die  im  Aufbau  dieser  Gruppe  entschieden 
dominiert,  und  an  sich  wieder  zusammenfällt  mit  der 
Richtung  der  Tiefe ,  d.  h.  der  Lebensaxe  des  Ge- 
samtraumes. 

Erst  nach  diesem  durchschlagenden  Beispiel 
solcher  Rechnung  im  Grossen  gewinnt  auch  eine 
frühere  Anlage  in  Florenz  ihren  unzweifelhaften  Sinn : 
das  Innere  der  BibHoteca  Laurenziana,  das  Michel- 
angelo um  1523  schon  entworfen  hatte,  wenn  auch  die 
Treppe  erst  am  Ende  der  fünfziger  Jahre  hinzukam, 
also  ein  Werk ,  das  als  Raumkomposition  mit  der 
Entstehung  des  Stiles  in  der  Skulptur  der  Medicäer- 
gräber  gleichzeitig  zur  Welt  kam ,  während  der  An- 
ordnung dieser  Figuren  wieder  die  Gruppierung  an 
der  Palasttreppe  des  Kapitols  verwandt  bleibt. 

Mit  Recht  ist  auf  den  beabsichtigten  Kontrast 
zwischen  den  beiden  Räumen  der  Laurenziana,  der 
Vorhalle  mit  der  Treppe  und  dem  .Studiensaal,  auf- 
merksam gemacht  worden.  Im  Treppenhause  wird 
die  spannende,  mannichfaltig-strebende,  unruhig  sich 
bewegende  Vorbereitung  gegeben,  im  oberen  Saal 
dagegen  waltet  einfache  Klarheit,  Ruhe,  Befriedigung. 
Der  nämUche  Gegensatz  wird  ebenso  schon  in  der 
Eintrittshalle  selbst  beobachtet,  d.  h.  zwischen  der 
unteren  Ordriung  der  Architekturglieder  und  der 
oberen  im  selben  Räume,  die  erst  mit  dem  zweiten 


Der  Baumeister 


73 


Räume  auf  gleichem  Niveau  Hegt.  Es  ist  somit  die- 
selbe künstlerische  Ökonomie ,  wie  wir  sie  im  pla- 
stischen Ganzen  der  Medicäergräber,  wie  im  Wand- 
gemälde der  Sixtinischen  Kapelle  nachgewiesen,  und 
und  sie  ist  an  dieser  Stelle  auch  für  die  Architektur 
schon  als  deutliches  Symptom  des  Barockstils  an- 
erkannt. Folgen  wir  nun  auch  in  dieser  Verbindung 
zweier  Innenräume  dem  Gang  des  Besuchers  und 
schreiten  aus  der  engen  hohen  Eintrittshalle  über 
die  Treppe  hinauf  in  den  Lesesaal ,  so  verwandelt 
sich  auch  hier  im  Fortschritt  die  Tiefe  in  die  Höhe 
und  umgekehrt  die  Höhe  in  die  Tiefe,  wir  erhalten  also 
als  bleibendes  Ergebnis  ein  Oben  und  Unten,  genau 
so  wie  auf  dem  Jüngsten  Gericht  und  auf  dem  Kapitol- 
platz,  und  die  obere  Region  des  Treppenhauses  be- 
zeichnet den  Wendekreis,  in  dem  sich  die  Wandlung 
vollzieht.  Die  Bewegungsaxe  wird  als  Wachstums-  | 
axe  zur  Vermittlung  und  leitet  so  den  psycholo-  : 
gischen  Fortschritt  in  einander  über.  So  erst  offen- 
bart sich  in  jeder  Richtung  der  Zusammenhang  mit 
der  Wurzel  plastischer  Gestaltung  auch  hier,  d.  h.  die 
Höhenaxe  als  eigentliche  Dominante  des  Ganzen. 

Das  ist  weit  wichtiger  als  die  Formensprache 
im  Einzelnen  und  unterscheidet  die  Laurenziana 
prinzipiell  von  der  Grabkapelle  der  Medici,  die,  von 
Einzelformen  ebenso  abgesehen ,  durchaus  noch  als 
achtes  Werk  der  Hochrenaissance  zu  gelten  hat. 
,,Als  Ganzes",  sagt  Geymüller,  ,,ist  sie  ein  leichtes, 
herrliches  Gebäude ,  welches  das  Prinzip  Brunelles- 
chischer  Sakristeien  auf  das  Geistvollste  erweitert 
und  erhöht  darstellt,"  —  also  historisch  in  notwen- 


3 


74 


Michelangelo 


digem  Zusammenhang  mit  dem  Bau  des  Giuliano 
da  Sangallo  und  Cronaca  an  Sto.  Spirito  aufzufassen. 
,,Es  ist  nicht  blofs  die  reinere  und  vollständigere 
Handhabung  einer  untern  und  einer  obern  Pilaster- 
ordnung,  was  hier  den  Fortschritt  des  i6.  Jahrhunderts 
im  Verhältnis  zum  15.  klar  macht,  sondern  vor  Allem 
ein  höheres  Gefühl  der  Verhältnisse,"  also  das,  was 
Burckhardt  ,, Organisation"  nennt,  —  ein  Vorzug, 
der  wieder  aus  dem  innersten  Verständnis  des  pla- 
stischen Prinzips  hervorgewachsen  ist,  und  den  Bild- 
ner weit  über  alle  vom  Zimmermann  zum  Baumeister 
gewordenen  Vorgänger  und  Zeitgenossen  hinaushebt. 

In  der  weitern  Durchgliederung  der  Innenwände 
waltet  dann  freilich  die  Rücksicht  des  selben  Künstlers 
auf  seine  eigenen  plastischen  Gestalten ,  und  es  ist 
unläugbar,  dass  hier  eine  planmäfsige  Zerkleinerung 
stattgefunden  hat,  die  jetzt  nach  Beseitigung  der 
oberen  von  Giovanni  da  Udine  in  Stuckrelief  und 
Malerei  ausgeführten  Dekoration  erst  recht  unvermittelt, 
wie  ein  willkürliches,  aus  lauter  Stückwerk  zusammen- 
geschobenes Schachtelsystem  erscheint ,  nur  be- 
rechnet ,  die  Grössenwirkung  der  Figuren  noch  zu 
zu  steigern.  So  gehört  diese  bauliche  Dekoration 
der  Cappella  Medici  in  eine  Kategorie  mit  der  ge- 
malten Architektur  an  der  Decke  der  Sixtina  und 
mit  der  marmornen  Bekleidung  des  Juliusgrabmals, 
wie  Michelangelo  sie  in  unverkennbarer  Verwandt- 
schaft mit  einander  gedacht. 

Die  Wandgliederung  der  Laurenziana  reiht  sich 
in  chronologischer  Folge  dann  ebenso  natürlich  an, 
wie  in  stilistischem  Fortschritt  von  der  Hochrenaissance 


Der  Baumeister 


75 


zum  Barock.  Schon  die  Einzelheiten  der  Grabkapelle 
bedeuten  den  Uebergang ,  je  notwendiger  sie  mit 
den  Statuen  und  ihrer  cyklischen  Komposition ,  von 
der  wir  keine  volle  Vorstellung  mehr  erreichen  kön- 
nen, in  Zusammenhang  gedacht  sind.  Jedenfalls  aber 
ist  diese  dekorative  Wandbekleidung  hier  nur  noch 
Folie  des  Bildwerks,  nicht  schon  als  architektonische 
Schöpfung  im  Zusammenhang  mit  dem  Bauwerk  als 
solchem  zu  verstehen.  Nur  die  schräg  ansteigenden 
Pfosten  der  obern  Fenster  dürfen  als  Symptome  des 
Hochdranges  ,  im  Sinne  der  Organisation  noch,  auf- 
gefasst  werden ,  und  greifen  über  die  Gränze  des 
Renaissancegefühles  bereits  hinaus. 

Erst  im  Vorraum  der  Laurenziana  begegnet  uns 
die  bewusste  Überlegenheit  in  der  Handhabung  aller 
Einzelformen ,  die  den  ausschliesslichen  Verehrern 
der  Antike  als  Willkür  erscheinen  muss,  weil  sie  dem 
bisherigen  Sinn  absichtlich  zuwiderläuft.  Für  ihren 
Urheber  Michelangelo  beurkundet  sie  unzweifelhaft 
den  entscheidenden  Wandel,  wo  ihm  diese  Auffassung 
des  Organismus  zum  überwundenen  Standpunkt  ge- 
worden war ,  weil  er  durch  eigne  Vertiefung  einen 
Fortschritt  erreicht  hat.  Er  greift  tiefer  und  will 
höher  hinaus  als  die  Hochrenaissance  auch  hier. 
Und  wir  empfangen  die  ebenso  unzweifelhafte  Be- 
stätigung ,  dass  sein  künstlerisches  Wollen  sich  zu- 
nächst auf  die  psychologische  Veranstaltung ,  also 
auf  die  Innenseite,  den  geistigen  Gehalt  des  Werkes 
richtet ,  —  dass  er  den  Innenraum  anders  auffasst, 
noch  nicht  den  Baukörper  auch  nach  Aussen  anders 
gestaltet.    Die  Laurenziana  ist  nur  Innenarchitektur 


76 


Michelangelo 


Michelangelos ,  im  Anschluss  an  vorhandene  Räume 
sogar;  in  diesen  Schranken  aber  bietet  er  alle  Mittel 
auf,  die  gewollte  Metamorphose  durchzusetzen :  das 
Gefühl  des  Strebenden  hier ,  des  Befriedigten  dort 
hervorzurufen.  Nur  fehlt  der  Eintrittshalle  immer 
noch  der  abschliessende  Oberbau  zur  Erklärung  alles 
Übrigen.  Unverkennbar  ist  jedoch  das  Vor-  und  Zu- 
rücktreten der  Mauermasse  als  solcher.  An  der 
Stirnfläche  der  einwärts  vordringenden  Pfeiler  stehen 
blinde  Fenster  mit  der  Frage,  wie  weit  sie  für  bild- 
nerischen Schmuck  gedacht  waren,  der  die  Schwel- 
lung erst  recht  lebendig  machen  sollte,  während  da- 
zwischen die  zurückweichenden  Offnungen,  gleich 
Wandschränken  oder  Kästen,  mit  je  zwei  dicht  an- 
einander gedrängten  Säulen  darin ,  keinen  Zweifel 
über  ihre  Bedeutung  übrig  lassen :  der  gewohnten 
Selbständigkeit  dieses  plastisch  am  freiesten  ent- 
wickelten Ghedes  läuft  solche  Stellung  zuwider,  sie 
kann  also  nur  eine  Zwangslage  versinnUchen.  Diese 
unterjochten ,  eingeschachtelten  Säulen  wirken  wie 
invertierte  Wortstellung  oder  eine  gewaltsame  Satz- 
konstruktion, die  das  leidenschafthche  Ungestüm  des 
hervorbrechenden ,  ungeduldig  mit  der  Sprache  rin- 
genden Gedankens  versinnlicht.  Aus  Freigeborenen 
sind  Sklaven  geworden,  oder  umgekehrt,  sie  harren 
schon  ausgebildet  und  lebensfähig  im  Schol's  der 
Mauer ,  die  sie  gebären  soll  zu  eigner  Tätigkeit ;  in 
solchem  Gleichnis  würden  wir  etwa  die  Gestaltung 
ausdrücken,  wenn  die  vorHegende  Erscheinung  nur 
Plastik  wäre.  Das  eben  ist  es,  was  der  Bildner  Mi- 
chelangelo sagen  will  und  mit  den  überkommenen 


Der  Baumeister 


Mitteln  der  Architektur  nur  durch  Umkehrung  der 
geläufigen  Organisationsweise  ausdrücken  kann.  Des- 
halb verfällt  auch  der  Gegensatz  zwischen  unten  und 
oben  auf  künstliche  Wiederholung  des  selben  Motivs 
in  abweichendem  Sinne :  die  lukenartige  Eintiefung 
über  den  Hauptnischen  ist  unten  als  aufrechtes  Ob- 
longum  mit  langen  Ohren  gebildet,  oben  dagegen 
quadratisch  mit  eingeschriebenem  Kreis.  ,,Eine  voll- 
ständigere Beruhigung" ,  meint  Wölfflin ,  ,,ist  nicht 
denkbar."  Aber  das  Neue,  der  triebkräftige  Ge- 
danke, der  weiter  wirkt,  liegt  in  der  Auffassung  der 
Mauermasse,  die  sich  einzieht  und  vordrängt,  wie 
in  Wehen.  Die  später  (1558/59)  gegebene  Treppe 
redet  diese  Sprache  der  bildsamen  Materie  schon 
ganz  konsequent ;  der  Bildnergeist  durchdringt  das 
Geschiebe  stereometrischer  Formen.  Michelangelo 
modellierte  sie  ganz  in  Thon,  und  es  ist  dem  feinen 
Sinn  Jakob  Burckhardts  nicht  entgangen ,  dass  Mi- 
chelangelos Gebäude  durch  eigenen  Formenausdruck 
dies  Verfahren  noch  verraten.  Aber  das  kommt 
später  hinein.  Ursprünglich  war  die  Treppe  der 
Laurenziana  wol  in  Holz  beabsichtigt ,  in  einem  Ma- 
terial also ,  das  die  Formen  der  organischen  und 
der  unorganischen  Natur  so  zu  vereinigen  noch  un- 
mittelbarer gestattet,  wie  er  sie  Vasari  aus  Schachteln 
aufgebaut. 

In  dieser  Zutat  vom  Ende  der  fünfziger  Jahre  liegt 
jedenfalls  die  Lösung  des  ganzen  Rätsels  zu  Tage: 
Michelangelo  ist  auch  als  Architekt  in  erster  Linie 
Bildner.  Die  plastisch  ausgebildeten  Formen  der 
Baukunst  versteht  er  zunächst ,  und  besser  als  alle 


78 


Michelangelo 


Falegnami.  Seine  Pilasterordnung  der  Cappella  Me- 
dici  ward  so  ein  Höchstes  solcher  Organisation"  der 
Wand.  Je  lebendiger  sein  Mitgefühl  für  die  statu- 
arische Regung  der  Säule ,  desto  unmittelbarer  ver- 
fällt er  auf  das  wirksame  Mittel,  sie  im  Widerspruch 
zu  ihrer  eigensten  Natur  einzusperren.  Aber  die 
Einzelbildung  der  Formen,  wie  die  Wandbehandlung 
sonst  verraten  in  Florenz  überall  noch  die  Herkunft 
aus  den  Gewohnheiten  der  Schreiner  und  Zimmer- 
leute, da  Sangallo  oder  da  Majano,  in  deren  Hände 
die  florentinische  Baukunst  geraten  war.  In  der 
Laurenziana  sind  wie  in  der  Cappella  Medici  alle 
Kapitelle,  Basen,  Konsolen,  Rahmenprofile  mit  ihren 
Ausläufern  scharf  geschnitten  ,  spitzig ,  trocken  ,  wie 
in  hartem  Holz  gedacht.  So  denkt  er  gelegentlich 
auch  in  Erz  haarscharf  gerandet,  wie  mit  dem  Messer. 

In  Rom  erst  kommt  die  Gelegenheit  zur  wirk- 
lichen Ausführung  eines  Aussenbaues ;  und  zwar  sind 
der  Konservatorenpalast  auf  dem  Kapitol  und  Palazzo 
Farnese  die  nächsten  Beispiele,  wo  wir  Michelangelo 
zu  suchen  haben.  Da  gilt  es  entschiedener  als  bis- 
her auf  das  römische  Material  hinzuweisen :  den 
Travertin ,  dessen  innere  Ungleichheit ,  strichweis 
wiederkehrende  Körnigkeit  und  Durchlöcherung  keine 
haarscharfen  Formen  verträgt,  wie  die  Pietra  Serena, 
oder  zarte  Blattbildung  begünstigt  wie  der  Marmor. 
Grade  diese  Höhlungen  und  Bruchstellen  aber  offen- 
baren die  Entstehung  des  Travertin,  veranschaulichen 
die  Versteinerung  des  Flüssigen  und  lassen  uns  fast 
in  die  Lebensadern,  die  einst  die  weiche  Masse  durch- 
zogen ,    ins  Pulsieren   der  warmen  Schwefelquellen 


Der  Baumeister 


79 


hineinblicken,  —  so  dass  der  Künstler,  der  mit  diesem 
Material  zu  tun  hat ,  hier  zu  einer  Auffassung  des 
Gesteines  von  Innen  her  gradezu  genötigt  wird,  wie 
nirgend  anders.  Wer  je  beim  Sturz  des  Anio  zwi- 
schen den  Travertinwänden  von  Tivoli  das  Wühlen 
des  Wassers  beobachtet  hat ,  oder  das  Brodeln  der 
Solfatara,  die  Verkalkung  der  strömenden  Adern 
oder  das  unablässige  Wachstum  der  Tropfsteinhöhlen, 
der  begreift,  wie  der  Verkehr  mit  dem  Travertin  an 
seiner  Geburtsstätte  dazu  führen  muss,  von  dem  tek- 
tonischen  Gefüge  der  Mauern ,  von  der  gewohnten 
Schichtung  der  Quadern ,  von  den  immer  noch  cy- 
klopischen  Erinnerungen  der  Rustica  vollends  ab- 
zusehen, und  statt  dessen  den  gewachsenen  Stein  als 
bildsamen  Stoff,  als  einheitlich  zusammenhängende, 
noch  von  innen  regsame  Masse  zu  denken,  ihre 
Selbständigkeit  als  Naturwesen  anzuerkennen ,  das 
nur  des  Antriebes  einer  Schöpferkraft  bedarf,  um 
aus  sich  selber  die  Form  zu  gestalten ,  die  ,,als  Ur- 
bild in  ihr  schlummert".  So  versetzt  sich  der  Bildner 
Michelangelo  in  die  gewachsene  Masse  selbst,  durch- 
waltet mit  seinem  Willen  die  Naturkraft  und  haucht 
sie  an  mit  seinem  Odem,  dass  sie  vollends  lebendig 
werde  zum  Vollzug  seiner  plastischen  Gedanken. 

So  reden  auch  die  Einzelformen  in  Rom  eine 
andere  Sprache.  Das  berühmte  Säulenkapitell  am 
Konservatorenpalast  mag  statt  aller  Beispiele  die- 
nen, von  der  Muschel  droben  im 'Fenstergiebel  noch 
gar  nicht  zu  reden.  Hier  ist  die  Geburtsstätte  des,,Ohr- 
waschlstils",  wie  die  Münchener  sagen.  Volltönen- 
der kehren  die  Motive  der  Laurenziana  wieder.  Auf 


80 


Michelangelo 


dem  Kapitol  werden  in  der  Halle  des  Erdgeschosses 
die  Säulen  unter  gerades  Gebälk  mit  starker  Ober- 
mauer gejocht  und  ganz  gegen  die  grossen  Pfeiler 
der  Hauptordnung  gedrängt ,  die  ihrerseits  durch- 
gehend sowol  die  Raumöffnung  unten  als  die  ge- 
schlossene Wand  des  Obergeschosses  umspannt,  ja 
zusammenquetscht.  Das  verraten  deutlich  die  ge- 
streckten Fenster,  die  mit  dem  Intervall  unten  ein 
Ganzes  bilden ,  das  sich  im  Rundgiebel  (mit  jener 
Muschel  darin)  abschliesst.  Es  ist  ein  unbefriedigtes 
Streben  von  unten  empor,  das  erst  im  zusammen- 
fassenden geraden  Gebälk  der  Hauptordnung  Be- 
ruhigung findet ,  wie  unter  einer  reinen  Herrscher- 
stirn, mit  seiner  Einordnung  in  einen  bewussten  Zu- 
sammenhang, zur  Klarheit  gedeiht. 

Damit  stossen  wir  auf  das  innere  Prinzip  der 
Komposition:  den  Hochdrang,  der  bei  einer  hof- 
ähnlichen Einfassung  des  Kapitolsplatzes  durch  seit- 
liche Hallen  hüben  und  drüben,  wie  sie  beabsichtigt 
war,  natürlich  bei  diesen  Nebenpalästen  sich  einem 
andern  Prinzip  unterordnen,  musste ,  nämlich  der 
Breitenaxe ,  die  ihrerseits  in  der  Mitte ,  dem  Denk- 
mal inmitten  des  Platzes  entsprechend ,  sich  der 
Dominante  der  Gesapitkomposition  d.  h.  der  Tiefe 
einfügen  und  der  Vertikalaxe  am  Hauptpalast  unter- 
ordnen soll,  wie  wir  oben  schon  angedeutet  haben. 

Die  entscheidende  Ausprägung  des  Hochdrangs 
für  den  Baukörper  als  solchen  findet  sich  aber  am 
Palazzo  Farnese.  Soweit  an  dem  vorhandenen  Bau 
des  Antonio  da  Sangallo  eine  solche  Durchführung 
neuer  Stilprinzipien  noch  möglich  war,  ist  hier  Alles 


Der  Baumeister 


81 


aufgeboten,  worauf  Michelangelo  hinaus  wollte.  Die 
Steigerung  der  Frontalhöhe  zunächst.  Wuchtig  und 
schwer  genug  waren  die  Formen  Sangallos  schon, 
aber  immer  noch  mit  sich  selber  eins,  wie  die  besten 
Römerwerke  auch;  vollendet  und  in  sich  abgeschlos- 
sen wäre  der  Eindruck  gewesen ,  aber  keine  Äusse- 
rung eines  Gesamtlebens  von  Innen  her,  in  dem 
gleichwertigen  Übereinander  kein  Aufschwung  aus 
eigner  Kraft.  Es  ist  wieder  der  Ausdruck  der  Inner- 
lichkeit, den  Michelangelo  entbehrt,  und  durchführt, 
selbst  auf  Kosten  der  gelungenen  Leistung  des  Vor- 
gängers ,  auf  dessen  gedrungene  Proportionen  nun 
erst  der  Schein  der  Gedrücktheit  fällt,  nachdem 
Michelangelo  darüber  hinausgegangen.  Bei  Sangallo 
wäre  das  erste  Geschoss ,  als  Piano  nobile  in  der 
Mitte ,  der  vorherrschende  Bestandteil  geblieben. 
Michelangelo  fasst  die  Selbständigkeit  aller  Geschosse 
zu  einem  Höheren  zusammen,  so  dass  sie  zur  Vor- 
stufe von  beschränkter  Genügsamkeit  werden,  ver- 
einigt sie  auch  hier  unter  einer  glatten  hohen  Stirn 
mit  dem  mächtig  schattenden  Kranzgesims  als  Ab- 
schluss.  Und  was  wohnt  hinter  dieser  steinernen 
Stirn ,  die  so  hochragend  und  fest  die  gewaltige 
Krönung  des  Ganzen  trägt ,  was  leuchtet  in  ihrer 
klaren  unbeweglichen  Fläche,  wenn  nicht  die  Über- 
legenheit des  denkenden  Geistes,  die  über  das  wech- 
selnde Getriebe  des  Lebens  drunten  hinausreicht.' 

Und  was  nach  Aussen  Hoheit  und  Ruhe  zu- 
gleich, wie  die  Stirn  des  Olympiers,  das  ist  gewollte 
Bewegung  und  höchste  Kraft  nach  Innen  zu,  wo  die 
Gebärde    der  Gedanken    zu  Tage    tritt.  Bewusste 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  Q 


82 


Michelangelo 


Tätigkeit  des  vernünftigen  Wollens  führt  aus  der 
materiellen  Befangenheit,  die  selbst  der  Grofsheit 
des  römischen  Altertums  noch  anhaftet,  empor :  — 
so  denkt  Michelangelo  über  Sangallo  hinaus ;  sein 
Obergeschoss  des  Hofes  drinnen  sagt  es. 

Er  setzt  auf  die  beiden  ruhig  ernsten ,  nach 
Römerart  sicher  in  sich  selbst  beruhenden  Geschosse 
dieses  Hofes  ein  so  lebendig  bewegtes ,  mit  allen 
Formen  nach  oben  drängendes  Drittes,  das  doch  in 
seinen  Bogenformen  und  Durchbrechungen  schon 
das  vorbereitende  Gefühl  des  Abschlusses  verrät, 
ein  unbefriedigtes  Drängen,  das  im  Kampf  mit  höher 
liegender  Masse  •  die  Vollendung  des  Ganzen  ein- 
trägt. Deshalb  will  dem  Geniesser  des  harmonischen, 
auch  in  seinem  Mafshalten  woltuenden  Renaissance- 
gefühles unten  diese  Zutat  Michelangelos  droben 
nicht  mehr  in  den  Sinn ;  sie  erscheint  ihm  wol  als 
Gewalttat,  so  sehr  er  —  von  den  Nischen  der  Lau- 
renziana  herkommend  —  auch  ihre  Sprache  ver- 
steht, ja  von  dem  subjektiven  Gefühl  in  diesen  ge- 
drückten Bogen ,  in  den  gestreckten  GUedern ,  in 
den  gequetschten  Öffnungen  und  den  gebrochenen 
Verdachungen  unmittelbar  ergriffen  wird.  Das  ob- 
jektive Dastehn  dieser  Hallen  Sangallos  bekommt 
einen  Hauch  eisiger  Kälte  gegen  den  persönHchen, 
ganz  individuellen  Formendrang  droben. 

Die  ausgesprochene  Vorherrschaft  der  Höhen- 
richtung, die  so  in  letzter  Stunde  über  den  Bau  der 
Farnese  gekommen,  konnte  auch  die  Erscheinung 
des  ganzen  Palastkörpers  nicht  mehr  durchgreifend 
bewältigen.     Dazu   überwog  die  Breitenausdehnung 


Der  Baumeister 


83 


des  Kolosses  schon  allzu  sehr,  die  ,, solche  Herberge 
des  römischen  Adels"  mit  seinem  Dienertross  mit 
sich  brachte.  Aber  wenn  auch  ebenso  nachträglich 
wie  am  Äussern  ist  der  Hochdrang  auch  im  Innern 
noch  bei  der  Raumbildung  tätig  gewesen.  Das 
Hausgesetz  des  Bildners  bemächtigt  sich  ihrer  über- 
all da,  wo  es  gilt  der  PersönHchkeit  des  Hausherrn 
selber,  in  die  der  schöpferische  Künstler  seine  Sinnes- 
art hineinträgt,  Ausdruck  zu  leihen.  Da  steckt  auch 
die  Triebfeder  des  Neuen,  die  den  bisherigen  Palast- 
bau von  Innen  her  verwandeln  sollte.  Michelangelo 
zeigt  in  den  Sälen ,  die  er  anordnet ,  dass  er  tiefer 
greift  und  höher  hinaus  will  als  der  Letztling  der 
Hochrenaissance ,  dessen  Werk  ihn  einengt.  Er 
schafft  hier  den  oblongen  Saal  von  möglichster 
Grösse  und  Höhe,  aus  einem  Stück,  der  allein  den 
adäquaten  Ausdruck  der  Würde ,  der  Erhabenheit 
des  Charakters  ermögUcht,  den  er,  der  überlegene 
Genius,  dem  innersten  Bedürfnis  dieser  Generation 
vermittelt.  Über  das  zerschlagene  Glück  des  goldenen 
Zeitalters  kam  er  selbst  nur  im  Zusammenraffen  der 
eigenen  Kraft  hinaus,  sich  selber  die  Rettung  dankend; 
sie  ist  es,  die  er  strebend  eben  hier  durchsetzt  und 
in  der  Folge  auch  hochhält  als  wolverdienten  Preis. 

Das  Verlangen  des  Meisters  geht ,  wie  in  den 
Statuen  der  Medicäerkapelle  und  im  Jüngsten  Ge- 
richt, auch  hier  im  Raumgebilde  auf  die  Steigerung 
ins  Übermenschliche.  Und  wie  dort  in  den  Werken 
der  späten  Römerzeit,  dem  Heraklestorso,  den  er 
noch  als  Greis  mit  seinen  Fingern  Hebkosen  gieng, 
wo  das  Auge  nicht  mehr  reichte ,  den  Flussgöttern, 

6* 


84 


Michelangelo 


denen  er  den  Ehrenplatz  auf  dem  Kapitol  zugedacht, 
dem  Laokoon,  dessen  tragischer  Gewalt  ein  Wider- 
hall in  seinem  tiefsten  Innern  entgegenkam,  fand  er 
hier  das  Vorbild  in  den  Palasträumen  und  Thermen- 
sälen, den  Überresten  der  Kaiserbauten  Roms.  Ein 
besonders  wolerhaltenes  Beispiel  der  Diocletians- 
thermen  hat  er  selbst  später  zur  Kirche  S.  M.  degli 
Angeli  ausgebaut. 

Einen  solchen  Raum  im  Baukörper  des  üblichen 
Renaissancepalastes  zu  schaffen,  war  aber  nur  mög- 
lich durch  Überhöhung  des  sonstigen  Durchschnitts 
der  durchlaufenden  Geschosse,  d.  h.  etwa  auf  Kosten 
des  darüberliegenden  Mezzanins ,  das  man  einzu- 
schieben schon  hier  und  da  gewohnt  war.  Man 
könnte  versucht  sein ,  einer  solchen  Absicht  auch 
die  Steigerung  der  Obermauern  am  Palazzo  Farnese 
beizumessen,  aber  das  zweite  Stockwerk  eignete  sich 
nicht  sehr  zur  Verwirklichung  des  neuen  Ideals ,  da 
nur  das  Piano  nobile  zur  Repräsentation  bestimmt 
war.  Die  Ausbeutung  eines  darüber  oder  darunter 
gelegenen  Zwischengeschosses  zu  Gunsten  eines 
Saales  ergab  indessen  immer  nur  mässigen  Zuwachs 
an  Höhe ;  eine  volle  Befriedigung  schien  erst  durch 
vollständige  oder  doch  annähernde  Verwertung  zweier 
Geschosshöhen  erreichbar.  Hier  liegt  die  Verbin- 
dung zwischen  Michelangelo  und  seinen  Nachfolgern 
Giacomo  da  Vignola  und  Giacomo  della  Porta ,  die 
solchen  Raum,  die  berühmte  Galleria  Farnese,  nach- 
träglich noch  eingeführt  haben,  freilich  als  ebenso 
erzwungene  Zutat,  die  sich  als  Einschiebsel  verrät. 

Eine  Hauptfrage,  die  mit  dem  Hochdrang  und 


Der  Baumeister 


85 


der  Weiträumigkeit  eines  solchen  Saales  gleicher- 
mafsen  zusammenhängt ,  ist  die  der  Beleuchtung. 
Und  diese  ergiebt  ihre  verschiedenen  Möglichkeiten 
erst  aus  der  Lage  dieses  Raumes  im  Baukörper  der 
Paläste.  Die  Vorbilder  in  den  antiken  Bauwerken 
haben  seitliches  Oberlicht  unmittelbar  unter  dem 
Gewölbe.  Im  Palastbau  nach  bisherigem  Brauch  der 
Renaissance  muss  gerade  auf  diese  wirksamste  Form 
der  Beleuchtung,  die  den  Grundgedanken  der  Raum- 
gestaltung wesentUch  charakterisieren  hilft,  verzichtet 
werden.  Zunächst  galt  es  jedenfalls  einen  solchen 
Hauptsaal  dem  Haupttrakt  des  Palastes  gegen  Platz 
oder  Strasse ,  also  hinter  der  Fassade  einzuordnen, 
so  dass  entweder  die  eine  Schmalseite  des  Oblon- 
gums,  dem  Eingang  gegenüber  mit  Fenstern  durch- 
brochen wurde  ,  oder  aber  so ,  dass  eine  Langseite 
des  Rechtecks,  in  die  Frontmauer  fallend,  eine  ganze 
Reihe  von  Fenstern  erhielt.  Im  erstem  Fall  war  die 
Tiefenaxe,  im  zweiten  die  Längsrichtung  die  Domi- ; 
nante  des  Raumes,  und  darin  sind  wesentliche  Unter- 
schiede vorbereitet,  die  durch  Erfahrung  erst  zum 
deutlichen  Gefühl  entwickelt  werden  konnten.  Die 
Erfüllung  des  Ideales  aber,  mit  dem  feierlichen  Ober- 
licht von  beiden  Seiten  her,  ist  nur  in  eigner  Ge- 
staltung ad  hoc  erreichbar,  in  einem  Mittelbau,  der, 
wenn  nicht  ganz  frei  gelegen,  doch  die  anstofsenden  ^ 
Teile  des  Traktes  mit  seinem  Lichtgaden  überragt,  i 

Diese  Bildung  gehört  der  bewussten  Raumgestal- 
tung des  Barockstiles  an,  wie  andrerseits  die  Konse- 
quenz der  doppelten  Fensterreihe  an  einer  Seite  den 
Fassadenbau  betrifft.    Da  berührt  sich  Michelangelos 


86 


Michelangelo 


Ausbau  des  Palazzo  Farnese  wieder  mit  seinen  Ge- 
danken am  Konservatorenpalast  des  Kapitols ,  wo 
wir  statt  zweier  übereinander  geordneter  Geschosse, 
wie  die  Hochrenaissance  sie  beibehahen  hatte,  schon 
eine  einzige  Hauptordnung  gefunden  haben ,  wie 
auch  Palladio  sie  für  seine  grossartigsten  Monumen- 
talbauten adoptiert.  Die  Weiterführung  dieser  Auf- 
gaben fiel  den  Nachfolgern  Michelangelos  zu. 

Aber  das  Ideal  des  Innenraumes,  das  vom  Mit- 
telpunkt des  Baues  her  die  ganze  übrige  Anlage 
verschieben  oder  umgestalten  sollte,  dürfen  wir  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  Michelangelo  selber  bei- 
messen, je  mehr  er  allein  die  Persönlichkeit  war,  das 
Grundgefühl  seiner  Zeitgenossen  in  Rom,  und  auch 
nur  der  Grössten  unter  ihnen ,  zum  Bewusstsein  zu 
bringen  und  so  dem  künstlerischen  Wollen  der  Bau- 
kunst einzuverleiben. 

Die  kraftvolle  PersönHchkeit  jener  Tage  sucht 
in  solchem  ,,Raum  aus  einem  Stück"  das  Spiegel- 
bild ihres  Selbstgefühles ,  das  über  die  Sphäre  des 
eigenen  Leibes  hinausgreift,  in  weiteren  und  höheren 
Umkreis  ausladend,  so  dass  sein  Schalten  und  Walten 
sich  über  Allen  geltend  macht ,  die  diesem  Räume 
nahen.  Deshalb  behängt  man  sich  nicht  allein  mit 
reicher  Fülle  von  Stoffen ,  zur  Erweiterung  des  zu- 
gehörigen Volumens,  mit  einer  mehr  oder  weniger 
schwerfälligen  Masse,  die  bei  jeder  Bewegung  den 
Aufwand  der  Muskelkraft  bemerklich  macht ,  aber 
auch  jeder  Tätigkeit  der  Ghedmafsen  die  leichte 
Freiheit  verwehrt,  um  ihr  Würde  zu  verleihen,  — - 
sondern  man  prägt  diesen  Rhythmus  des  Benehmens 


Der  Baumeister 


87 


und  des  Vortrags  schwülstiger  Redekunst,  auch  der 
Raumgestaltung  selber  auf.  Unten  wird  durch  Holz- 
getäfel in  dunkler  Farbe  die  Geschlossenheit  aufrecht 
erhalten,  gleichsam  zusammengenommen;  so  steigt 
die  umschHessende  Masse  ringsum  empor.  Gegen 
die  Decke  zu  beginnt  die  Schwellung,  sei  es  in 
flacher  Balkenlage ,  sei  es  in  tonnenähnlicher  Wöl- 
bung, einander  zuzustreben.  Und  wie  sich  hier  von 
beiden  Hauptwänden  her  der  plastische  Drang  in 
der  Höhe  begegnet,  im  Austausch  mit  den  Aus- 
läufern der  Schmalseite  beruhigt,  so  recken  und 
strecken  sich  die  Strebungen  an  der  Holzdecke  hin- 
über und  herüber,  nur  in  der  Mitte  ein  Hauptfeld 
oder  eine  Gruppe  von  kleineren  umspannend.  In 
solchen  Räumen  muss  man  nicht  sofort  ,, überwäl- 
tigende erdrückende  Verhältnisse"  sehen,  wie  Wölff- 
lin  aus  heutiger  Empfindlichkeit  heraus  sie  nennt, 
sondern  eher  das  Vorrecht  der  Architektur  erkennen, 
,,das  Lebensgefühl  der  Epoche  ideal  zu  erhöhen, 
das  zu  geben,  was  der  Mensch  sein  möchte,"  das 
ihr  sonst  doch  zuerkannt  wird.  Ich  habe  es  hier 
ebenso  gemacht,  d.  h.  das  Raumgebilde  ausgedichtet, 
auch  ohne  ein  sicheres  Belegstück  im  Profanbau  von 
Michelangelo  selbst  aufzuweisen.  Wir  müssen  uns 
an  dieser  Stelle  erinnern,  dass  wir  den  oberen  Ab- 
schluss  der  Laurenziana  entbehren ,  dass  aber  eine 
alte  Tradition  Michelangelo  solche  Deckengebilde 
beimisst ,  deren  Autor  wir,  wie  bei  jenem  Pracht- 
stücke der  Lateransbasihka,  nicht  kennen. 

Der  Holzstil  in  der  Wandbehandlung  des  Treppen- 
hauses der  Laurenziana  würde  seine  beste  Motivie- 


88 


Michelangelo 


rimg  finden,  wenn  wir  solch  ein  Deckengebilde  hinzu- 
dächten, das  den  Kräftedrang  vor-  und  rückwärts 
tretender  Glieder  zum  Ausgleich  brächte.  Die  Decke 
des  Lesesaales  soll  ohnehin  nach  seiner  Idee  von 
Tassi  uud  Caroto  geschnitzt  sein.  In  Rom  aber  hat 
die  bisherige  Forschung  gerade  die  Innenbekleidung 
der  Palasträume  so  vernachlässigt,  dass  erst  Spezial- 
arbeit  das  nötige  Material  für  die  hier  postuHerte 
Lösung  erbringen  kann. 

Noch  in  einem  Punkt  hat  Michelangelos  Anteil 
am  Palazzo  Farnese  der  folgenden  Generation  ein 
Vermächtnis  hinterlassen,  das  die  späteren  Nachfolger 
erst  verwerten  lernten:  sein  Gedanke  war,  den 
Stadtpalast  der  Farnese  mit  der  jenseits  des  Tiber 
gelegenen  Villa  Farnesina,  durch  eine  Brücke  über 
den  Fluss  und  Gartenanlagen  hüben  wie  drüben  zu 
verbinden,  so  dass  man  mit  einem  Blick  die  ganze 
Ausdehnung  überschauen ,  in  einer  Richtungsaxe 
durchwandeln  sollte.  Dieser  Plan,  der  sich  der  Um- 
gestaltung des  Kapitols  künstlerisch  anschloss,  war 
wieder  ächt  römisch,  im  Geist  antiker  Kaiserpaläste, 
wie  die  Orti  Farnesiani  am  Palatin,  gedacht;  aber 
er  kam  damals  nicht  zur  Ausführung. 

Neben  diesem  weit  umfassenden  Prospekt  für  die 
Lebensaxe  eines  Weltgebieters  auf  Erden  steht  nun 
das  Gegenteil,  die  strengste  Koncentration  für  das 
gewaltigste  Gotteshaus  der  Welt,  der  P  e  t  e  r  s  d  o  m. 
Hier  erst  können  wir  den  vollen  Ausdruck  der  Ab- 
sichten erwarten  ,  die  Michelangelo  für  den  Bau- 
stil gezeitigt  hat.  Gleichzeitig  mit  dem  Palastbau 
der  Farnese   trat    er    auch    hier    das   Erbteil  des 


Der  Baumeister 


89 


Antonio  da  Sangallo  an,    als   dieser   1546  gestor- 
ben war. 

Auch  hier  bewährt  sich  der  Übergang  aus  der 
Hochrenaissance,  aus  der  Sangallo  mit  seinen  Plänen, 
so  sehr  er  Michelangelos  Entwurf  für  S.  Lorenzo 
verwerten  mochte,  bis  zuletzt  nicht  herausgetreten 
ist,  unmittelbar  in  die  Kunst  des  Barock.  Michel- 
angelo hat  den  römischen  Kaiserbauten  etwas  abge- 
lernt, was  der  lombardisch,  gotisch,  im  leichten 
Backsteinbau  mit  möglichster  Sparsamkeit  an  Material 
geschulte  Bramante  nicht  gelernt  hatte,  so  dass  seine 
Galerien  zum  Belvedere,  wie  seine  Pfeiler  für  S.  Peter 
mit  Einsturz  drohten:  den  Massenbau  der  Imperatoren- 
stadt, im  UntA-schied  vom  Gliederbau  der  mittel- 
alterlichen Konstruktion.  Bramante  hat  den  Innen- 
raum, die  Ideale  spätrömischer  Raumkunst  wol  er- 
fasst,  aber  nicht  den  Kern,  der  solche  Spannweiten 
ermöglichte.  Er  glaubte  seine  wundervollen  Raum- 
gedanken im  grössten  Mafsstab  mit  dem  Erbteil  der 
gotischen  Schule  bewältigen  zu  können.  Michel- 
angelo dringt  bis  zum  Kern  der  baulichen  Masse 
römischer  Ruinen  durch  und  vollzieht  in  der  Wieder- 
aufnahme des  Massenbaues  den  entscheidenden  Schritt,  \ 
der  dem  durchgreifenden  Unterschied  des  Barock  ^ 
von  allem  Bauwesen  der  Hochrenaissance  zu  Grunde 
liegt.  Er  verbraucht  als  Unterlage  für  seine  Absichten 
ein  Quantum  von  Materie  wie  keiner  seiner  Vor- 
gänger an  diesem  Bau  getan,  verfährt  somit  als  Bau- 
meister genau  so,  wie  wir  ihn  als  Bildner  an  den 
Grabmälern  der  Medici,  als  Maler  im  Jüngsten  Ge- 
richt verfahren  sahen. 


90 


Michelangelo 


Den  Kern  aus  Backstein,  und  Gusswerk  gar,  um- 
kleidet er  mit  Travertin;  wie  er  als  Bronzebildner 
zu  denken  gewohnt  war,  kommt  die  Füllung  nicht 
in  Betracht:  für  die  struktive  Idee  ist  das  erscheinende 
Material,  das  ästhetisch  wirksame  nur,  allein  ent- 
scheidend. Nun  greift  der  Bildner  wie  der  Erdgeist 
selber  in  die  Masse  von  Travertin,  und  am  Tiber- 
strand erwächst  ein  Centraibau  nach  durchaus  pla- 
stischem Ideal. 

Die  ganze  Umgestaltung,  die  er  als  getreuester 
Fortsetzer  Bramantes  dem  Werk  seiner  Vorgänger 
angedeihen  lässt,  beweist,  dass  hier  die  entscheidende 
Tatsache  für  Michelangelos  Baustil  zu  suchen  ist. 

Er  hat  aber  auch  den  römischen  Wunderwerken 
den  Sinn  für  einheitlich  geschlossene  Räume  von 
grössten  Dimensionen  abgelernt.  Sein  Plan  übertrifft 
alle  früheren  an  Einfachheit  und  Klarheit  zugleich. 
Die  Entwicklung  der  Nebenräume  ist  nichts  als  die 
unmittelbare  Konsequenz  der  Mittelkuppel,  die  ohne 
jene  gar  nicht  bestehen  kann.  Es  ist  die  anerkannt 
knappste  Lösung  eines  Problems,  das  Jahrhunderte 
hindurch  die  grössten  Techniker  beschäftigt,  die 
Baumeister  der  Hochrenaissance  vollends  in  Atem 
gehalten  hatte.  Ihm  gelingt  es,  weil  er  als  Bildner 
gar  nichts  anders  denken  kann,  als  organische  Körper, 
wenn  auch  fühlbar  gegliedert,  doch  in  strengstem 
Zusammenhang  eines  Ganzen,  das  keine  Vielköpfig- 
keit verträgt ,  keiner  Selbständigkeit  mannichfaltiger 
Teile  auseinander  zu  gehen  gestattet. 

Deshalb  bleibt  die  Hauptsache,  die  zunächst  zum 
Verständnis  dieser  künstlerischen  Schöpfung  erfasst 


Der  Baumeister 


91 


werden  miiss,  die  unbedingte  Herrschaft  des  Höhen- 
lotes als  Dominante.  Es  liegt  die  innigste  Verbin- 
dung der  aufwärts  gerichteten  Vertikalkraft  mit  der 
stofflichen  Masse  des  Baues  vor,  und  diese  Einheit 
der  Raumbildung  findet  ihre  befriedigende  Erklärung 
mit  allem,  was  daraus  folgt,  nur  in  der  Auffassung 
des  Höhenlotes  als  der  Axe  des  Wachstums,  gleich 
wie  an  einem  organischen,  aus  dem  Grunde  empor- 
wachsenden Geschöpfe,  also  in  einer  letzten  Ver- 
tiefung aller  Begriffe  von  Organisation,  die  auf  den 
innersten  Kern  des  Raumgebildes  zurückgeht.  Hier 
wird  die  Centraisteile  des  Innern,  an  der  alle  Axen 
sich  schneiden ,  aus  der  alle  Ausdehnungen  hervor- 
gehen, auch  zur  Keimzelle  des  Organismus ;  von  hier 
aus  waltet  die  schöpferische  Idee  des  Bildners,  Raum- 
volumen und  Körpermasse  durchzugestalten. 

Als  Grundidee  in  Michelangelos  St.  Peter  giebt 
sich  demnach  die  Übertragung  seines  plastischen 
Prinzips  auf  die  Architektur  der  Renaissance  zu  er- 
kennen ,  deren  Vermächtnis  hier  in  ihrer  höchsten 
Aufgabe  unter  seine  Hand  kam.  Sein  Verfahren 
läuft  auf  eine  rücksichtslose,  strengstens  konsequente 
Durchführung  bildnerischenSchaffens  hinaus,  und  zwar 
vom  Innersten  des  Raumgebildes  her.  Und  wenn  sich 
sein  Schaffen  als  Architekt  bisher  schon,  wie  wir  ge- 
sehen, überall  als  Anwendung  organischen  Gestaltens 
nach  Analogie  der  statuarischen  Kunst  charakteri- 
sierte, so  dringt  er  hier  im  Centraibau  von  S.  Peter 
zur  stärksten  Verinnerlichung  dieser  Analogie  vor, 
da  keine  Aufgabe  sonst  sie  so  vollständig  erlaubte, 
und  erhebt  sich  damit  zu  einer  Auffassung  des  Bau- 


92 


Michelangelo 


Werkes  als  Organismus,  wie  es  die  höchsten  Meister 
der  Renaissance  ,  des  Mittelalters  wie  des  Altertums 
nicht  vermochten. 

Nur  so  entspringen  auch  alle  Eigenschaften, 
die  hier  und  da  hervorgehoben  worden  und  sich 
sonst  wol  zu  widersprechen  scheinen,  aus  einem  ein- 
heitlichen Grunde  und  erklären  sich  aus  Einem  Prinzip. 
Nur  darf  man  natürlich  die  subjektive  Eigentümlich- 
keit auch  der  bildnerischen  Kunst  Michelangelos 
nicht  ausser  Acht  lassen.  Es  ist,  wie  in  Cappella 
Medici,  der  Bildner  des  Barock,  der  hier  denkt ;  wir 
dürfen  nicht  erwarten,  dass  er  den  persönUchen  Stil 
verläugne ,  zu  dem  er  in  der  Darstellung  des  Men- 
schenleibes als  Bildhauer  hindurchgedrungen  war. 

Von  diesem  Standpunkt  aus  ist  vor  allen  Dingen 
die  weitere  Raumbildung  zu  betrachten.  Das  Absehen 
auf  einen  einzigen  möglichst  grossen  Raum,  als  den 
eigentUchen  Sitz  der  Höhe  und  ihrer  Centraigewalt, 
hat  doch  nicht  ganz  so,  wie  man  gesagt  hat,  einen 
,,Raum  aus  einem  Stück"  ergeben.  Alles  umher  ist 
allerdings  drinnen  nur  unmittelbare  Vorbereitung  auf 
den  Kuppelraum  in  der  Mitte ,  wie  draussen  nur  so 
weite  Ausladung  als  dieser  Hochdrang  zur  festen 
Verkörperung  in  solcher  Quantität  von  Materie  braucht. 
Aber  diese  Vorbereitung  des  Hauptraumes  ist  eben 
doch  als  solche  sichtbar  und  deshalb  fühlbar  geworden; 
um  den  einheitlichen  Dom ,  in  dem  die  bewusste 
Seele  wohnt,  lagert  sich  in  Halbdunkel  unten  herum 
eine  Art  Bildungssphäre,  wie  die  Regionen  des  Un- 
bewusäfeiT,"  "in~'derrelT^  die  physischen  Mächte 

walten  und  die  Organisation  der  niedern  Sinne  zu 


Der  Baumeister 


93 


spüren  ist.  Grade  durch  diesen  Aufwand  von  mehr 
Stoff  und  Kraft,  als  zum  Vollzug  des  klaren  Willens 
allein  unentbehdich  wären ,  bekommen  wir  das  Ge- 
fühl des  sichern  Beruhens  im  Grunde  der  durch- 
gehenden Naturgesetze ,  bekommen  wir  mit  räum- 
lichen und  körperHchen  Mitteln  die  Versinnlichung 
der  dauerhaften  Unterlage ,  aus  der  auch  der  Wil- 
lensenergie noch  fortgesetzte  Stärkung  ihres  Auf- 
schwungs zuwächst.  Ihr  Dunkel  erst  hält  der  Hellig- 
keit der  Kuppel  selbst  die  Wage. 

Das  ist  meines  Erachtens  auch  nicht  anders  bei 
Michelangelos  Ausgestaltung  des  grossen  oblongen 
Saalbaues  der  Diocletiansthermen  zur  Kirche  S.  M. 
degli  Angeli,  die  entstand.    Er  hat  auch  hier 

zu  den  Seiten  des  ,, Hauptraumes  aus  einem  Stück", 
dessen  Vorherrschaft  zweifellos  gesichert  war ,  die 
Reihen  dunkler  Kapellen  angeordnet ,  die  hernach 
im  18.  Jahrhundert  wieder  zugebaut  worden  sind. 
Wir  müssen  also  nicht  mit  der  jetzigen  Redaktion 
durch  VanviteUi ,  sondern  mit  der  ursprünglichen 
Michelangelos  rechnen ,  und  deshalb  Burckhardts 
Ausdruck  ,,Raum  aus  einem  Stück",  den  Wölfflin 
adoptiert  hat ,  vielmehr  dahin  ergänzen ,  dass  eine 
fühlbare  Begleitung  durch  dunklere  Seitenlagen  inj 
der  untern  Region  stattfindet.  Sie  bilden  auch  das 
notwendige  Gegengewicht  für  die  Wucht  des  Hoch- 
dranges gegen  das  Gewölbe  des  Hauptraumes  zu, 
wie  die  Zufuhr  des  Oberlichtes  auf  solcher  Höhe. 
So   erst  erklärt  sich  auch    das  Innere  des  Gesü. 

Mit  der  unbedingten  Monarchie  des  Kuppelraumes 
in  S.  Peter  verbindet  sich  die  Einführung  einer  einzigen 


94 


Michelangelo 


I  Ordnung  in  der  Gliederung  des  Innern.  Über  alles 
menschliche  Mafs  hinaus  gehend  beherrscht  sie  die 
ganze  Wucht  der  aufgewandten  Masse  und  steigert 
den  Ausdruck  ins  ÜbermenschHche.  Die  Verstärkung 
der  aufgemauerten  Kerne  gränzt  an  die  Moles  Had- 
riani,  das  Pantheon  Agrippas  und  die  unverwüst- 
lichen Kolosse  der  Caracallathermen ;  aber  der  Umriss 
der  Kuppelpfeiler  erscheint  nach  Aussen  wie  das 
tiefgefurchte  und  mit  scharfen  Vorsprüngen  bewehrte 
Pfeilerbündel  gotischer  Kathedralen,  so  völlig  anders 
auch  die  Einkleidung  mit  römischen  Baugliedern  sich 
ausspricht.  Mit  der  Formensprache  der  Antike  allein 
vermag  man  dem  Kern  ihres  Wesens  nicht  gerecht 
zu  werden ;  denn  in  ihm  lebt  eine  energisch  zusam- 
mengeraffte Anstrengung ,  die  Selbständigkeit  eines 
subjektiven  Wollens,  das  die  Kaiserzeit  nicht  kennt. 
Wie  Ausstralungen  dieser  Kraft  breiten  sich  die 
Zwickel  zwischen  den  weitgespannten  Bögen  aus, 
und  deutlich  betont  die  innere  Gliederung  des  Tam- 
bours^), wie  die  Kuppelschale,  das  nämliche  Gesetz, 
das  die  Gotik  selbst  in  Itahen  eingebürgert  hatte : 
die  Unterscheidung  der  aufsteigenden  Kraftlinie  von 
dem  füllenden  Sichausbreiten  dazwischen. 

Ebenso  in  der  äusseren  Erscheinung  dieses 
Riesenorganismus.  Ringsum  waltet  die  Rücksicht 
auf  die  krönende  Kuppel.  Von  Unten  an  strebt 
Alles  nach  Oben.    Nach  Beseitigung  der  Umgänge, 


i)  Bekanntlich  gedieh  Michelangelo  selbst  nur  bis  an  den 
Kuppelring ;  aber  sein  Modell  darf  auch  für  das  Weitere  berück- 
sichtigt werden. 


Der  Baumeister 


95 


die  Bramante  beabsichtigt  hatte ,  sind  die  Absiden 
um  ein  und  ein  Drittel  Meter  hinausgerückt ,  und 
die  einspringenden  Winkel  zwischen  den  Kreuzarmen 
bleiben ,  obgleich  sie  durch  schräge  Wände  ab- 
gestumpft werden,  als  Einziehungen  des  Baukörpers 
fühlbar ,  der  festgeschlossen  ringsum  bis  auf  den 
Eingang  vorn  alle  Beziehung  zur  umgebenden  Raum- 
sphäre ablehnt.  Dazu  kommt  dann  am  Äussern  der 
gewaltigen  Travertinmasse  die  Durchführung  des 
korinthischen  Pilastersystems  wie  im  Innern ,  da- 
zwischen in  den  Mauerflächen  abwechselnd  je  zwei 
und  je  drei  Fensterrahmen  über  einander,  die  das 
Aufstreben  erst  recht  beleben,  ja  durch  den  Wechsel 
in  Unruhe  halten ,  und  über  dieser  Kolossalordnung 
doch  noch  eine  Attika,  die  das  Gefühl  des  unbefrie- 
digten Dranges  und  die  Vorbereitung  eines  weiteren 
Anlaufs  über  alles  Erreichte  hinführt.  Selbst  an  der 
Fassade,  die  kein  selbständiges  Ganze  werden,  sondern 
sich  dem  Ganzen  einordnen  sollte,  ebenso.  Die  Front 
ist  durch  zehn  Säulen  von  gleicher  Höhe  und  Ord- 
nung geschmückt,  in  ihrer  Mitte  tritt  ein  viersäuUger 
Giebelbau  heraus ;  aber  dieses  Giebeldach  weist  nur 
weiter  auf  die  Attika  mit  Balustrade  und  Statuen- 
schmuck ,  auf  die  kleineren  Nebenkuppeln  ,  die  dar- 
über hervorsehen,  und  sich  ihrerseits  wieder  der 
grossen  Hauptkuppel  unterordnen,  die  erst  Abschluss 
und  Befriedigung  giebt ,  —  gleichwie  die  Helden- 
gestalt Laokoons  die  Hauptsache  bleibt  zwischen 
seinen  beiden  Knaben. 

Über  dem  festen  Mauerringe  der  Vierung  erhebt 
sich  zunächst  der  Tambour ,  der  von  sechzehn  Pfci- 


96 


^Michelangelo 


lern  gebildet  wird,  aussen  durch  gekuppelte  Säulen 
mit  verkröpftem  Gebälk  hervorgehoben,  so  dass  sie 
wie  lebendige  Träger  zusammen  wirken.  Denken  wir 
sie,  wie  beabsichtigt ,  mit  Statuen  bekrönt ,  so  ist, 
trotz  aller  antiken  Formensprache ,  die  Anwendung 
des  gotischen  Prinzips  für  das  Gefühl  ebenso  deut- 
lich, wie  in  den  Rippen  der  Kuppel,  die  hinter  ihnen 
emporsteigen,  gleichgut  ob  die  konstruktive  Funktion 
dem  Strebesystem  entspreche  oder  nicht.  Und  diese 
wieder  ordnen  sich  ebenso  der  Laterne  aus  eben- 
solchem Säulenkranz  unter,  bis  zur  letzten  Gipfelung 
der  allherrschenden  Dominante  in  Kugel  und  Kreuz. 
Die  überhöhte  Kuppelschale  mit  der  Laterne  ist  im 
Gedanken  unverkennbar  von  der  gotischen  Voll- 
endung des  Florentiner  Domes ,  dem  heimischen 
,,Chupolone"  abhängig,  wenn  auch  in  der  Ausführung 
und  in  den  Verhältnissen  natürlich,  in  der  Rundung 
der  Grundform  wie  im  Schwung  der  Kurve  weit 
überlegen.  Das  Übergewicht  der  Wölbung  über 
dem  Tambour  und  die  unnachahmliche  Spannung 
der  Kuppellinie  charakterisieren  allein  schon  den 
Unterschied  von  Bramante,  wie  von  allen  Entwürfen 
der  Hochrenaissance  sonst.  Bramante  dachte  den 
Tambour  als  offenen  gleichmässig  umlaufenden  Säu- 
lengang mit  Statuen  darauf,  über  dem  die  leicht- 
geschwungene Kalotte  hervortrat,  deren  ,, niedrigere 
aber  feinere  Wölbungslinie"  das  glückliche  Lebens- 
gefühl seiner  Tage  in  unvergleichlicher  Klarheit 
wiedergab ;  aber  sie  bedurfte  auch  der  stolz  aufstei- 
genden Türme  als  Begleitung  auf  den  Ecken  des 
Quadrates ,  und  hätte  mit  ihnen  dann  ein  Ganzes 


Der  Baumeister  97 

von  idealer  Schönheit  im  Sinne  der  reinsten ,  viel- 
gliedrig  ineinander  greifenden  Harmonie  gebildet. 
Eine  weit  mannichfaltigere  Wirkung  noch  dachte 
Antonio  da  Sangallo  zu  erzielen,  dessen  vielgestaltige 
Auflockerung  des  Baukörpers  mit  ihrer  komplicierten 
Abhängigkeit  aller  GUeder  nur  in  bildlicher  An- 
schauung von  weiterm  Abstand  aus  zur  selben  Zeit 
zusammengefasst  werden  kann. 

Die  Ideale  der  Hochrenaissance  waren  malerisch 
gesonnen,  das  Michelangelos  ist  plastisch  im  höchsten 
Sinne.  Er  leitet  strengstens  zur  statuarischen  Un- 
abhängigkeit zurück.  Der  geschlossene  Baukörper, 
der  sich  schon  im  schwellenden  Anlauf  unten  als 
von  Innen  her  gewachsener  verkündet,  sondert  sich 
ringsum  selbständig  von  der  Umgebung  und  steigt, 
nur  dem  Bildungsgesetz  seines  eignen  Wesens  folgend, 
zur  höchsten  Spitze  hinauf,  die  keine  Loslösung  ein- 
zelner Teile  vom  durchgehenden  Zuge  neben  sich 
duldet,  so  weit  sie  nicht  Unterlagen  weiterer  Ver- 
vollkommnung nach  Oben  zu  bedeuten.  So  wirkt 
sie  von  allen  Seiten,  wie  die  Gruppe  des  Laokoon 
für  ihren  Standort  wirken  muss. 

Und  wie  im  Äussern  die  Einheitlichkeit  des 
Gewächses  in  strenger  Plastik  gewahrt  ist ,  so  im 
Innern  die  Einheit  des  Bewusstseins  über  den  untern 
Regionen  des  Seelenlebens;  wie  die  Herrschaft  des 
Wagenlenkers  über  sein  Viergespann ,  um  ein  pla- 
tonisches Gleichnis  im  Sinne  Michelangelos  zu  wählen, 
liegt  die  Einheit  des  Lichtes  im  Kuppelraum,  der  sich 
auch  so,  im  Austausch  der  Innenwelt  und  Aussenwelt, 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  7 


98 


Michelangelo 


als  Haupt  des  Ganzen,  als  der  Schauplatz  des  höchsten 
Lebens  bewährt. 

Auch  in  diesem  Architekturwerk  Michelangelos, 
dem  Einzigen ,  das  er  ganz  wenigstens  im  Modell 
vollendet,  waltet  also  das  nämHche  Kompositions- 
prinzip ,  wie  im  Jüngsten  Gericht ,  das  er  gemalt, 
und  in  den  Grabmälern ,  die  er  gemeisselt :  unten 
ein  unbefriedigtes  Streben ,  ein  dunkler  Drang  des 
Wachsens  und  Werdens,  der  mit  sich  fortreisst,  aber 
nicht  in  die  Breite  sich  verlierend,  nicht  in  die  Tiefe 
unklar  sich  verzettelnd ,  sondern  zur  Höhe  drängt, 
zum  Sieg  emporführt,  wo  wirklicher  Erfolg,  der  Mühen 
wert ,  grofsartig  und  erhebend  sich  darstellt.  Da 
liegt  auch  der  Unterschied  vom  gotischen  Hochdrang 
sichtbar  vor  Augen :  die  zahllosen  Einzelgebilde  eines 
gotischen  Bauwerks,  dieses  wie  aus  einem  Stück  her- 
ausgehauenen Steinmetzenbravourstückes,  weisen  mit 
ihren  Spitzen  in  stetiger  Verjüngung  ins  Unbestimmte 
weiter,  nur  immer  hinauf,  wo  in  Luft  und  Licht  ihr 
eigner  Körper  sich  verzehrt.  Hier  ist  nur  eine  Höhe, 
nur  ein  Körper,  von  beträchthcher  Wucht  und  Fülle, 
eine  Grofsmacht  des  Geistes,  die  ihren  Leib  als  un- 
veräusserliches Besitztum  mit  hinauf  nimmt.  Auch 
im  Aufstieg  der  Kuppel  verkündet  sich  die  Ganzheit 
und  Geschlossenheit  des  plastischen  Ideals,  nirgends 
Vereinzelung  der  Funktion  zu  angestrengter  Leistung 
und  erstarrter  Gebärde  wie  im  mittelalterlichen  Strebe- 
system, sondern  Rundung  und  Schwellung  der  un- 
gebrochenen Form ,  die  alle  Grofsartigkeit  der  rö- 
mischen Antike  in  sich  aufgenommen  hat,  und  doch 
Spannung,  Willensäufserung,  Innervation,  also  Energie 


Der  Baumeister 


99 


von  Innen  her  bis  zuletzt  bewahrt.  Und  die  gleiche 
lebendige  Befriedigung  im  Hinuntergleiten  bis  an  die 
Region  des  Strebens,  und  bei  der  Wiederkehr  zum 
Gipfel  empor ,  —  der  volle  Preis  des  Ringens  für 
jeden,  der  voi;i  Unten  her  nach  Oben  drang  aus 
eigner  Kraft. 

Fassen  wir  darnach  den  Sinn  des  neuen  Stiles, 
der  in  allen  Werken  dieser  letzten  Periode  Michelangelos 
waltet,  seitdem  das  Glück  der  Hochrenaissance  da- 
hingesunken  war,  zusammen,  so  lautet  er  nicht  mehr 
wie  damals :  ,, Schönheit  ist  Harmonie",  sondern 
,, Schönheit  ist  Kraft",  und  spricht  in  allen  seinen 
Aufserungen  aus  einem  Bildnergeist. 

Kein  Wunder,  dass  der  Tempel  des  Höchsten 
allein  das  statuarische  Wesen  so  vollkommen  offen- 
bart ;  denn  diese  Aufgabe  allein  verlangt  und  gestattet 
die  Verkörperung  zu  vollem  Dasein  wie  ein  Ewiges, 
ein  Monumentum  aere  perennius.  Die  Grabkapelle 
der  Medici,  mit  dem  entscheidenden  Meisterwerk  der 
Plastik  darin,  vermag  uns  in  dem  unvollendeten  Zu- 
stand des  letztern  keinen  Aufschluss  über  die  letzte 
Gesamtidee  des  Gestaltencyklus  zu  geben.  Jetzt, 
ohne  verbindenden  Höhepunkt  für  die  beiden  Wand- 
gruppen ,  die  ursprünglich  ein  Aufbau  vermitteln 
sollte,  können  wir  nur  im  Vorhandenen  ahnen,  was 
gemeint  war:  ein  Erstarren  der  Kraft,  eine  ewige 
Resignation  im  Angesicht  des  Todes ;  vielleicht  dazu, 
über  Allem  lebendig  allein  der  Gottessohn  auf  dem 
Schofs  der  Mutter:  Ego  sum  vita.  —  Das  Wand- 
gemälde der  Sixtina  dagegen  ist  vollendet,  ist  ge- 
schlossen im  Sinne  eines  übermenschlichen  Historien- 

7* 


100 


Michelangelo 


bildes :  ein  ewiges  Geschehen ,  ein  ewiges  Erleben 
in  der  Vorstellung  bis  ans  Ende ,  wo  es  Ereignis 
wird,  über  Nacht,  wo  aus  dem  unaufhaltsamen  Strom 
des  Werdens,  aus  der  ruhelosen  Bewegung  zwischen 
Entstehen  und  Vergehen,  aus  dem  Kampf  zwischen 
Leben  und  Tod  auf  einmal  die  Scheidung  von  Oben 
und  Unten  da  ist,  nach  dem  jüngsten  Tag  in  Saecula 
Saeculorum. 

Natürlich  zeigen  alle  andern  architektonischen 
Gebilde  Michelangelos  die  nämUchen  Eigentümlich- 
keiten ,  die  wir  damals  an  seinen  Bildwerken  beob- 
achten ,  so  besonders  auch  Porta  Pia ,  die  als  Tor 
demgemäfs  im  Zusammenhang  mit  der  Stadtmauer, 
d.  h.  mit  dem  Körper  Roms ,  gedacht  ist :  —  die 
Massigkeit  des  Leiblichen  und  den  einseitigen  Aus- 
bruch des  Innenlebens  in  gewaltiger  Steigerung  eines 
plötzlichen  Motivs.  Das  kann  bei  einer  so  starken 
Subjektivität  garnicht  anders  sein,  zumal  da  diese 
Verbindung  von  Eigenschaften,  wie  wir  nachzu- 
weisen versucht,  untrennbar  und  unentbehrlich  ist 
zum  Ausdruck  des  neuen  Wollens,  das  seine  Kunst 
von  allem  Früheren,  von  der  Antike  wie  vom  Mittel- 
alter und  von  der  Renaissance  grundsätzlich  unter- 
scheidet. 

Wer  einmal  das  plastische  Prinzip  in  dem  ar- 
chitektonischen Schaffen  Michelangelos  bis  in  das 
innerste  Leben  des  organischen  Körpers  zu  erkennen 
gelernt  hat,  wird  sich  mit  uns  auch  gegen  unfertige 
Erklärung  auflehnen,  die  bis  zu  dieser  Wurzel  seiner 
Gebilde  nicht  vordringt  und  deshalb  einseitig  bleibt. 


Bildner  und  Baumeister 


101 


Wer  noch  allein  an  der  äusserlichen  Organisation 
durch  die  gewohnten  Ordnungen  und  deren  rück- 
sichtslose Behandlung,  am  Zusammenschieben  ein- 
zelner BaugHeder  oder  gar  an  dem  dekorativen 
Beiwerk  und  Auswüchsen  aus  dem  Überschuss  dieser 
Einzelkräfte  hangen  will ,  der  wird  zu  unparteiischer 
Würdigung  und  einheitUcher  Charakteristik  nicht  ge- 
langen. 

Dann  lautet  das  Ergebnis  wol :  ,,der  Barock 
suche  überall  nur  den  Ausdruck  des  Massenhaften, 
des  Schweren ,  des  Lastenden ,  zur  Versinnlichung 
eines  leidentlichen,  erdrückenden  Zustandes ;  deshalb 
entbehre  die  Materie  der  vollkommenen  Durch- 
gliederung, verharren  alle  Teile  in  stofflicher  Befangen- 
heit, überwältige  uns  die  unvermittelte  Kolossalität 
seiner  Gebilde,  ein  Zug  zum  Schweren,  zum  Breiten 
überall."  Burckhardt  und  Wölfflin  gehen  von  der 
Betrachtung  der  Einzelformen  aus^);  versuchen  auch 
wir  ihrem  Gang  gerecht  zu  werden ,  um  zu  sehen, 
zu  welchen  Erträgnissen  das  führt,  so  ergiebt  sich 
vielleicht  eine  Verständigung,  wie  wir  sie  wünschen. 

Wenn  Wölfflin  sagt:  ,,die  Form  ringt  mit  der 
Masse,  aber  das  Erreichte  bedeutet  im  Vergleich  zur 
Renaissance  eine  Rückbildung  zu  einem  formloseren 


I )  Von  dekorativen  Einzelheiten  auszugehen ,  wie  es  bei 
Wölfflin  geschieht,  ist  freilich  wenig  ratsam.  Er  stellt  z.  B.  a.  a.  O. 
S.  27  die  Balusterform  der  Renaissance  und  die  des  Barock  einander 
gegenüber;  beide  Formen  aber  kommen  nebeneinander  auf  einem 
■Gemälde  des  Paolo  Veronese  (im  Salon  carre  des  Louvre)  vor,  ja 
noch  mit  einer  dritten  Variation ,  der  Umkehrung  des  angeblichen 
Barockbalusters  zugleich. 


I 


102 


Michelangelo 


Zustande",  so  entsteht  die  Anschauung,  als  käme 
die  Form  von  Aussen  an  den  Stoff,  bleibe  aber  in 
dem  Zustande  unfertiger  Ausbildung  darin  stecken. 
—  An  andrer  Stelle  spricht  er  von  ,, Säulen,  die 
von  der  Mauer  nicht  loskommen ,  etwa  zur  Hälfte 
noch  darin  stecken,  aber  nach  Befreiung  ringen," 
also  von  einem  Innern  Antrieb.    ,,Die  Formglieder 
vermögen  aus  der  erstickenden  Umhüllung  der  Mauer 
sich  nicht  loszulösen."  —  An  dritter  Stelle  heisst 
es:  ,,die  Aktion  bleibt  nicht  einzelnen  Kraftgliedern 
überlassen,  sondern  teilt  sich  der  ganzen  Masse  mit, 
der  ganze  Körper  wird  in   den  Schwung  der  Be- 
wegung hineingezogen",  —  die  Absicht  geht  ,,auf 
den  Ausdruck  einer  bestimmten  Bewegung  in  diesem 
Körper".    Das  ist  der  Punkt,  wo  auch  wir  einsetzen 
können,  wenn  nur  ein  plastisch  organisches  Prinzip 
von  Innen  her  gemeint  ist,  das  als  Wachstum  wirkt, 
im  Ganzen  und  im  Einzelnen.     Die  Absicht  geht 
nicht    ,,auf   die    Schönheit    des    Gewächses,  wie 
Winckelmann  sagte",  wenn  es  den  fertigen,  in  sich 
vollkommenen   Organismus   bedeuten   soll,    der  in 
seiner  ,, Blüte"    die    höchste  Annäherung  an  seine 
,,Idee"  erreicht  hat,  sondern  sie  geht  auf  das  Wachs- 
tum selber ,   den  Verfolg  des  Werdens ,  das  Leben 
vor  unsern  Augen,  den  mimischen  Ausdruck  eines 
Motivs.    Doch  können  wir  nicht  als  allgemein  gül- 
tig  zugestehen :    „der  Barock    gebe   nirgends  das 
Fertige  und  Befriedigte,  nicht  die  Ruhe  des  Seins, 
sondern  nur  die  Unruhe  des  Werdens,  die  Spannung 
eines  veränderlichen  Zustandes".    Der  Barock  giebt 
in  der  Tat  Beides,  aber  das  Eine  nicht  ohne  das 


Bildner  und  Baumeister 


103 


Andre,  die  Ruhe  des  Seins  nicht  ohne  die  Unruhe  / 
des  Werdens;  er  giebt  erst  die  Spannung  des  Stre-  i 
bens  und  dann  den  Erfolg,  aber  diesen  wirklich  als  ^ 
Abschluss,  als  Fertiges,  das  uns  befriedigt.    So  löst 
sich  die  Reihe  der  Einzelbeobachtungen ,  wenn  sie 
nicht   vorschnell   verallgemeinert   werden,   in  eine 
künstlerische  Ökonomie  auf;  nur  jedes  Moment  an 
seiner  Stelle,  und  alle  in  Beziehung  zu  einem  Gan- 
zen.   Es  ist  System  darin ,  selbst  in  dem  ,, Wider- 
sinn", den  die  Klassiker  hier  finden,  deren  mildester, 
verständnisvollster    noch    von  ,,Fieberphantasieen" 
redet.     Es    gilt    die   Komposition   im   Grossen  zu 
verstehen. 

Das  von  Innen  her  gestaltende  Formprinzip,  das 
die  ganze  Masse  durchdringt,  kann  aber  in  einem 
Beharrlichen ,  wie  das  Bauwerk  es  sein  muss ,  gar 
nicht  anders  verkörpert  werden ,  als  in  partiellem 
Erfolg,  gleichsam  im  Übergangszustand  erstarrt.  Wir 
müssen  die  Form  an  einzelnen  Stellen  soweit  fertig 
sehen ,  dass  wir  das  gewollte  Ziel  bestimmt  genug 
daraus  abnehmen  können,  die  lebendige  Kraft  muss 
nicht  nur  in  voller  Stärke  hervordringen,  das  Einzel- 
glied fertig  zu  bringen ,  sondern  mit  einem  Uber- 
schuss ,  dem  wir  zutrauen ,  auch  das  Übrige  zu  er- 
fassen und  auszugestalten  im  selben  Sinn.  Damit 
erklären  sich  alle  Symptome  der  ,, unvollständigen 
Durchformung"  auch  aus  dem  plastischen  Prinzip. 
,,Die  Form  wird  nicht  mit  einem  Mal  gegeben,  ganz 
und  voll  und  klar,  sondern  man  schafft  gleichsam 
eine  Bildungssphäre,  einen  Komplex  von  Linien,  wo 
man  unsicher  bleibt ,  welche  die  richtige  sei."  — 


104 


Michelangelo 


Diese  Vervielfältigung  des  Umrisses  entspringt  zunächst 
aus  dem  plastischen  Wollen,  giebt  den  Werde- 
prozess ,  das  Verfahren  der  Körperbildung ,  wie  in 
natürlichem  Wachstum.  Wendet  sich  die  Auffassung 
des  Betrachters  aber  vom  Drang  der  innern  Kraft 
ab  und  dem  Zusammenhang  der  äussern  Form  mit 
der  Oberfläche  der  Umgebung,  also  vielmehr  der 
fortbestehenden  Verbindung  mit  der  Umhüllung  un- 
organischer oder  ungeformter  Materie  zu,  dann  frei- 
lich entsteht  für  das  ästhetische  Gefühl  etwas  ganz 
Andres,  nämlich  die  Wirkung  im  Sinne  des  Male- 
rischen, eben  des  Zusammenhangs  der  Dinge  im 
Raum  oder  zunächst  in  ihrer  flächenhaften  Ausbrei- 
tung im  Nebeneinander.  Das  sind  zwei  sehr  ver- 
schiedene Dinge.  Ich  habe  deshalb  im  plastischen 
Sinne,  auch  in  der  Raumbildung  (von  S.  Peter  und 
S.  M.  degli  Angeh)  den  Ausdruck  Bildungssphäre" 
absichtlich  beibehalten,  im  malerischen  Sinne  wäre 
es  das  ,,Miheu",  —  Ambiente",  die  Sphäre  kos- 
mischer oder  geschichtlicher  Einflüsse  von  Aussen 
her,  die  Mitwirkung  des  weiten  Weltzusammenhangs 
auf  das  Einzelwesen.  Davon  ist  hier,  bei  Michel- 
angelo sicher  nicht  die  Rede ;  sondern  wir  müssen 
auf  dem  plastischen  Erklärungsprinzip  beharren,  da 
es  gilt  der  Absicht  des  Bildners  in  erster  Linie  ge- 
recht zu  werden ,  nicht  der  Wirkung  auf  den  Be- 
schauer. ^)     Der  Eindruck    des   ,, Malerischen"  ent- 

i)  Zur  Verdeutlichung  noch  ein  Beispiel  aus  der  Zeichnung. 
Im  Skizzenbuch  zu  Venedig  befindet  sich  eine  Studie  nach  den  drei 
Grazien,  in  der  ich  nach  wie  vor  Rafaels  Hand  erkenne.  Da  sind 
die  Umrisse  der  Körper  nach  den  Marmorfiguren  in  mehreren  An- 


J 


Bildner  und  Baumeister 


105 


steht  nur,  weil  das  betrachtende  Subjekt  seinen 
ästhetischen  Standpunkt  gewechselt  hat,  nämlich  von 
dem  plastischen,  der  Körperbildung  und  ihren  Inter- 
essen als  solchen,  auf  den  malerischen ,  mit  seinem 
anderweitigen  Beziehungsreichtum ,  übergetreten  ist. 
Uns  ist  die  Intention  des  Bildners  Michelangelo  zu- 
nächst allein  mafsgebend. 

Erfassen  wir  aber  den  plastischen  Trieb ,  den 
Ausdruck  der  Kraft,  so  entsteht  eben  dadurch  ,,ein 
Bewegungsausdruck:  die  Form  scheint  sich  erst  sam- 
meln zu  müssen",  und  die  unfertige  bewahrt  desto 
mehr  ihren  Zusammenhang  mit  dem  drinnen  wohnen- 
den Willen,  den  Ausdruck  des  Seelischen ,  die  Be- 
ziehung des  Teiles  zum  Kern  des  Ganzen.  Deshalb 
,,begränzen  sich  auch  die  Formen  nach  oben  und 
unten  nicht  mehr  so  exakt  wie  früher",  denn  das 
Einsetzen  unten  will  den  Zusammenhang  mit  der 
Wurzel  fühlbar  machen ,  das  Abschliessen  oben  will 
dem  freiwilligen  oder  doch  vorgeahnten  Aufhören 
des  Triebes,  der  Befriedigung  im  Erreichten  Sprache 
leihen.  Deshalb  ein  Formenreichtum,  wie  ihn  die 
krystallinische  Bildung,  deren  Gesetz  wir  von  Anfang 
überschauen,  nicht  aufweist,  sondern  erst  die  orga- 
nische Natur  zeitigt,  die  oft  im  Wipfel  des  Baumes 


läufen  neben  einander  zu  sehen,  nur  um  die  Gränze  der  plastischen 
Form  auf  das  Papier  zu  werfen,  also  sicher  nicht  der  malerischen 
Wirkung  zu  liebe.  Ich  habe  den  Eindruck  als  beweglicher  Um- 
riss"  charakterisiert.  Dem  selben  Zweck  folgen  auch  die  Strich- 
lagen der  Innern  Schattierung,  d.  h.  sie  dienen  der  Modellierung, 
gehen  noch  nicht  von  der  Form  weiter  auf  die  Umgebung,  auf  den 
malerischen  Zusammenhang  mit  dieser. 


106 


Michelangelo 


eine  Verzweigung  und  Verästelung  sehen  lässt ,  die 
wir  aus  dem  Stamm  allein  nicht  vermuten,  während 
die  Wurzel  das  gleiche  Verfahren  im  Grunde  des 
nährenden  Bodens  verhüllt.  Sollte  nicht  die  Säule 
dem  Pfeiler  Platz  machen,  wie  es  der  Barockstil  zu- 
nächst entschieden  verlangt,  um  die  Masse  als  Gan- 
zes desto  fühlbarer  zu  betonen,  vor  Vereinzelung  zu 
bewahren  ?  —  sollte  Michelangelo  nicht  eben  deshalb 
seinen  Bündelpfeiler  am  Kapitol  nur  unvollständig 
mit  Pilastern  bekleiden,  damit  die  bildsame  Masse 
dazwischen  sichtbar  werde  ?  —  Wo  aber  eine  breitere 
Masse  ohnehin  vorhanden  ist,  sei  es  eine  Wand  oder 
ein  Block,  da  ,, wirft  sich  die  ganze  Kraft  auf  einen 
Punkt,  bricht  mit  einem  übermässigen  Aufwand  los, 
indessen  die  andern  Partieen  —  (im  Vergleich  dazu) 
—  dumpf  und  unbelebt  bleiben".  —  ,,Der  plasti- 
sche Ausdruck  wächst  beständig  nach  der  Mitte  zu." 

Und  innerhalb  dieses  Kraftausbruches  von  Innen 
her,  der  zunächst  die  Fähigkeit  des  plastischen  Trie- 
bes bekunden  muss,  weiter  und  weiter  um  sich 
greifend  das  Ganze  zu  erfassen,  äussert  sich  ebenso 
bestimmt  schon  die  Richtung,  in  der  sich  die  Kunst 
der  Körperbildnerin  in  erster  Linie  zu  ergehen  pflegt, 
die  Vertikalkraft  des  Wachstums  aufrecht  auf  der 
Erdoberfläche  stehender  Gebilde.  Das  Motiv  des 
Hochdrangs  tritt  im  Ganzen  des  Baukörpers  hervor, 
dringt  aber  bis  ins  Einzelne,  bis  in  die  Fenster  und 
in  die  Baugheder  hinein.  „Die  Funktionen  des 
Hebens  und  Tragens,  die  früher  gleichsam  als  selbst- 
verständlich verrichtet  wurden,  ohne  Hast  und  ohne 
Mühe,  werden  hier  mit  einer  gewissen  Gewaltsam- 


Bildner  und  Baumeister 


107 


keit,  mit  leidenschaftlicher  Anstrengung  ausgeübt." 
Deshalb  wirft  sich  die  Plastik  stärker  ausladend  auf 
das  Kapitell  der  Säule,  drängt  sich  im  hermenartigen 
Pilaster  die  stärkere  Masse  nach  oben,  die  am  Fusse 
enger  aneinander  gerückten  Gränzen  scheinen  ,,so 
divergierend  mit  grösserer  Schnelligkeit  aufzusteigen 
als  parallele  Linien";  —  deshalb  legen  die  Fenster 
ebenso  ihren  ganzen  Aplomb  nach  oben:  ,,von  dem 
klassischen  Fenster  der  Renaissance  mit  Giebel  und 
Halbsäulen  verschwinden  rasch  die  letzteren;  sie 
werden  ersetzt  durch  blosse  Konsolen ,  die  Giebel 
aber  deswegen  nicht  gemäfsigt,  sondern  im  Gegen- 
teil in  schwerster  ausladender  Bildung  gegeben." 
Weshalb  alle  diese  Symptome }  Es  ist  die  bildsame 
Masse,  die  als  Ganzes  plastische  Gestaltung  erlangen 
will,  aber  nicht  Teile  verselbständigen  zu  eignem 
Aufbau.  Portale  sowol  wie  einzeln  stehende  Tore 
sind  besonders  charakteristische  Belegstücke  der  ge- 
wachsenen Öffnung,  wie  schon  am  Kapitolspalast  die 
Säulenstellung  unten  als  Hallenöffnung  mit  dem 
Rahmen  der  Fensteröffnung  oben  zu  einem  Ganzen 
zusammenwächst. 

So  erhalten  alle  diese  Momente  die  richtige  Er- 
klärung wie  die  volle  Verwertung  erst  in  der  Kom- 
position im  Grossen :  Fenster  und  Nischen  wie  alle 
Raumöffnungen,  die  die  Masse  durchbrechen,  geraten 
durch  diesen  Hochdrang  und  die  Durchbrechung 
der  Horizontallagen  darüber  ausser  Verhältnis  zu 
dem  umgebenden  Abschnitt  der  Wand.  Die  Nische 
mit  ihrer  Giebelarchitektur ,  das  Portal  mit  seinem 
Aufsatz  drängt  so  hoch  hinauf,  bis  sie  irgendwo  an- 


108 


Michelangelo 


Stessen,  sie  erscheinen  wol  gar  seitlich  wie  einge- 
klemmt, so  dass  der  Ausweg  nach  oben  ohnehin 
sich  aufnötigt. 

Dann  aber  tritt  in  den  oberen  Teilen  Abklärung 
und  Beruhigung  ein,  so  dass  z.  B.  S.  Peter  auch 
hier  das  Kompositionsgesetz,  das  Streben  unten  und 
die  Erfüllung  oben,  ganz  entwickelt  und  bewusst 
durchgeführt  zeigt.  ,,Im  grossartigsten  Sinn  lässt 
Michelangelo  die  Formen  nach  Oben  immer  reiner 
und  stiller  werden,  und  giebt  selbst  einem  grösseren 
Hauptteil,  wie  der  Fassade  an  sich  unbefriedigenden 
Charakter,  um  der  Lösung  willen,  die  erst  die  Kuppel 
bieten  soll." 

Ebendeshalb  ist  endlich  auch  das  System  der 
Proportionalität  im  Barockstil  Michelangelos  ein 
durchweg  andres  als  in  der  Hochrenaissance.  Herrscht 
bei  Leon  Battista  Alberti  in  der  Theorie,  bei  Bra- 
mante  und  Rafael  in  der  Vollendung  stets  das  Ge- 
setz der  Harmonie  aller  Teile  unter  einander  und 
mit  dem  Ganzen,  so  geht  man  leicht  irre,  wenn  man 
hier  das  Gleichnis  vom  Organismus  anwendet.  ,,Man 
spricht  in  solchen  Fällen  von  dem  Eindruck  des 
Organischen,"  sagt  Wölfflin  und  fügt  bestätigend 
hinzu ,  ,,mit  Recht ;  denn  das  Geheimnis  Hegt  eben 
darin,  dass  die  Kunst  arbeitet  wie  die  Natur,  die  in 
dem  Einzelnen  stets  das  Bild  des  Ganzen  wieder- 
holt." —  Ich  vermag  das  nicht  ganz  so  aufzufassen. 
Zunächst  würde  ich  sogar  antworten  :  Nein,  mit  Un- 
recht; denn  so  arbeitet  am  reinsten  und  für  uns 
Menschen  verständlichsten  grade  die  anorganische 
Natur.     Wo  ,,die  mannichfachen  Proportionen  des 


/ 

Bildner  und  Baumeister  j^QQ 

Ganzen  und  der  Teile  sich  ausweisen,  als  bedingt 
von  einer  allen  zu  Grunde  liegenden  Einheit ,  wo 
keine  zufällig  scheint,  sondern  jede  aus  der  andern 
sich  mit  Notwendigkeit  ergiebt,"  —  da  verehren  wir 
die  objektiven  Naturgesetze,  die  Grundlagen  unsrer 
Welterklärung  in  ihrem  unfehlbaren  Wirken ,  d.  h. 
physikalisches  Geschehen,  und  reden,  wenn  es  die 
Regelmäfsigkeit  hervorzuheben  gilt,  die  unsern  In- 
tellekt befriedigt,  besser  von  ,,Krystallisation".  —  Das 
organische  Wachstum  jedoch  der  vegetabilischen  und 
animalischen  Geschöpfe ,  selbst  der  eigne  Leib  ver- 
birgt uns  manches  Geheimnis ,  seine  Metamorphose 
scheint  uns  vom  rätselhaften  Walten  spontaner  Kräfte, 
von  uranfänglicher  Organisation  des  Keimes  abhängig; 
an  dessen  Vollendung  zur  reifen  Gestalt  wirke  die 
eigne  Seele  mit,  als  ob  in  ihrem  tiefsten  Schofs  ein 
Ideal  als  Ziel  vorleuchte.  Ins  Organische  spielt  die 
Macht  des  Subjektiven  wunderbar  hinein.  Ja,  das 
sichtbare  Wachstum  bietet  Überraschungen  und  Über- 
gänge, deren  Notwendigkeit  wir  glauben,  die  wir  für 
die  allein  natürlichen  oder  allein  denkbaren  halten 
mögen,  aber  doch  lange  noch  nicht  begreifen.  Diese 
Übergänge  des  Wachstums  eben  bieten  Proportionen, 
die  unsre  regelfrohe,  auf  jene  krystallinische  Gesetz- 
mäfsigkeit  der  anorganischen  Natur  wol  eingeübte 
Intelligenz  als  unbefriedigend  empfinden  mag,  als 
dissonierend  mit  der  adoptierten  Skala  ihres  Be- 
griffssystems ,  eben  weil  sie  rätselhaft  und  unver- 
standen bleiben,  auf  Zusammenhänge  weiter  weisen, 
die  wir  nicht  mehr  übersehen.  Doch  grade  sie 
sind  Wahrzeichen  des  Lebens  im  Unterschied  von 


110 


Michelangelo 


dem  toten  Krystall,  der  dagegen  das  Beharrliche 
verbürgt. 

Der  feinere  Beobachter  -organischer  Geschöpfe, 
der  Anatom  und  Biologe ,  der  plastische  Künstler 
vollends,  erkennt  in  ihnen  die  Vorboten  der  folgenden 
Entwicklung,  die  mit  dem  bereits  Vorhandenen  nicht 
mehr  stimmen ,  aber  im  höchsten  Stadium ,  zu  dem 
der  Organismus  hinstrebt,  ihre  Lösung  finden.  An 
Stelle  der  harmonischen  Proportionen  treten  pro- 
gressive. Solche  bietet  der  menschliche  Körper  im 
Übergang  vom  Knaben  zum  Jüngling,  vom  Jüngling 
zum  Manne  dar.  Nicht  umsonst  hat  Michelangelo 
als  Quattrocentist  sich  suchend  um  die  Schönheit 
des  Knaben  bemüht,  vom  Giovannino  bis  zum  David 
als  Giganten,  während  der  Hochrenaissance  in  zahl- 
reichen Gestalten  die  Vollkommenheit  des  reifen 
JüngHngs  gefeiert  bis  zum  Ideal  des  starken  Mannes 
im  Christus  von  S.  M.  sopra  Minerva ;  dann  über- 
schreitet er  die  Gränze  jenseits  des  Höhepunktes  an 
der  Hand  des  Problemes  gesteigerter  Innerlichkeit, 
das  die  gemalten  Propheten  und  Sibyllen  an  der 
Decke  der  Sixtina  ihm  nahe  gebracht.  Den  Fürsten- 
bildern der  Cappella  Medici  folgt  wieder  der  Fortschritt 
zur  absteigenden  Linie  des  alternden  Organismus, 
vom  Entstehen  zum  Vergehen ,  soweit  die  Plastik 
solchen  Aufgaben  überhaupt  noch  folgen  kann,  ohne 
sich  selber  aufzugeben.  Da  rühren  wir  an  das  Recht 
des  umfassenden  Naturzusammenhanges,  und  damit 
an  die  Domäne  der  Malerei. 

Die  Baukunst  vollends  kennt  die  Aufnahme  tran- 
sitorischer  Verhältnisse    aus    dem  Wachstum  oder 


Bildner  und  Baumeister 


III 


der  Entartung  organischer  Lebewesen  nur  in  sehr 
beschränktem  Umfang.  Die  Analogie  mit  dem  Organis- 
mus ist  und  bleibt  eine  Übertragung,  weil  die  Metamor- 
phose der  Bauformen  überall  an  dem  strengen  Gesetz 
der  Krystallisation  den  härteren  Widerstand  findet. 
Das  ältere  Recht  der  Beharrung  steht  jedem  Anlauf 
des  lebendigen  Dranges  nach  Bewegung  gegenüber, 
der  die  architektonische  Schönheit  gefährdet,  ohne 
die  plastische  Schönheit  rein  und  auf  sich  selber 
gestellt  veranschaulichen  zu  können.  Selbst  im  suc- 
cessiven  Gange  durch  den  Raum  oder  um  den  Körper, 
im  Nacheinander  der  Betrachtung  stehen  immer  die 
Bestandteile  simultaner  Anschauung,  steht  das  Neben- 
einander der  festen  Formen  da,  und  spotten  des 
Willens ,  der  Bewegung  selber  sehen  will ,  wol  gar 
an  starrer  Körpermasse  Leben  zu  sehen  verlangt. 
Wäre  diese  spontane  Regung  wirklich  da,  oder  die 
Illusion  nur  vollkommen ,  ohne  das  Bewusstsein  ge- 
setzmässigen  Bestandes  daneben,  so  würde  der  Einfall 
Schopenhauers  sich  erfüllen:  „der  Kampf  zwischen 
Schwere  und  Starrheit"  lebendig  werden  und  den 
menschlichen  Bewohner  bald  aus  seinem  Hause,  den 
frommen  Beter  bald  aus  seinem  Tempel  treiben. 

Michelangelo ,  der  Bildner ,  versucht  die  Durch- 
führung organischen  Gestaltens  in  der  Baukunst  weiter 
zu  treiben,  als  die  klassische  Architektur  der  Antike 
sowol  wie  der  Renaissance  sich  träumen  Hess;  er 
nähert  sich  im  Ausdruck  des  Gebarens  unläugbar 
dem  mimischen  Prinzip  der  Steinmetzenbaukunst  des 
Mittelalters:  aber  er  ist  selbst  ein  zu  gewaltiger  Kenner 
der  tiefsten  Geheimnisse  plastischer  Kunst,  um  über 


1 


112 


Michelangelo 


diesem  Streben  im  Bauwerk  den  ewigen  Unterschied 
zu  vergessen ,  der  architektonische  Schönheit  von 
plastischer  trennt.  Dieser  Irrtum  blieb  einem  Bor- 
romini vorbehalten,  oder  vielmehr  auch  er  kennt  die 
Gränze  wol ,  setzt  sich  nur  willkürlich  darüber  weg, 
weil  es  ihm  lediglich  auf  die  Wirkung  beim  Be- 
schauer ankommt,  während  die  Wahl  der  Mittel  ihm 
keine  Skrupel  macht.  Die  konstruktive  Lösung  des 
Centraibaues  in  ihrer  knappesten  Form ,  wie  sie  in 
Michelangelos  S.  Peter  vorliegt,  beweist  den  Abstand 
zur  Genüge. 

Wol  aber  kommt  es  Michelangelo  darauf  an, 
das  ganze  Bauwerk  ebenso  psychologisch  zu  durch- 
dringen, wie  er  die  Natur  überhaupt,  die  weite  Welt 
mit  seinem  Bildnergeist  zu  durchdringen  und  be- 
wältigen sucht,  so  genial  —  wenn  auch  immer  ein- 
seitig — ,  wie  Dante,  vom  Standpunkt  seiner  Welt- 
auffassung aus,  es  als  Dichter  getan. 

Er  allein  verfällt  auf  die  kühne  Verbindung  eines 
unteren  Teiles  im  Zustand  des  unbefriedigten  Wer-, 
dens  und  eines  oberen  im  Zustand  des  ruhigen 
Seins ,  der  gewaltigen  Anspannung  der  Kraft  mit 
dem  Vollgenuss  ihres  Überschusses  auf  der  Höhe. 
Dieser  Gedanke  mochte  dem  statuarischen  Künstler 
zuerst  aufgehen,  mag  nur  ihm  erwachsen  können  aus 
dem  Gegensatz  der  geistigen  Ausdrucksfähigkeit  und 
mannichfaltigen  Betätigung  zwischen  der  unteren  und 
der  oberen  Körperhälfte  des  Menschen.  Die  statu- 
arische Kunst  seiner  Zeitgenossen  hatte  diesem 
Übelstand ,  der  die  Gestalt  als  solche  ganz  zu  ver- 
werten   hinderte ,    durch  das  künstliche  Mittel  des 


Bildner  und  Baumeister 


113 


Kontrapostes  entgegen  gearbeitet,  und  besonders 
die  Bemühung  Andrea  Sansovinos  war  darauf  ge- 
richtet gewesen,  dem  Kontrast  zwischen  Spielbein 
und  Standbein  ein  Aequivalent  zwischen  den  beiden 
Armen  zu  gesellen,  und  zwar  so,  dass  die  Entspre- 
chung in  diagonaler  Richtung  je  eine  der  obern 
Extremitäten  mit  einer  der  unteren  verband.  Durch 
dieses  Chiasma  wurde  die  Einheit  zwischen  Unter- 
körper und  Oberkörper  hergestellt,  zugleich-  aber 
ein  Gegensatz  zwischen  der  ruhigen  Körperlichkeit 
des  Organismus  in  der  einen  und  der  beweglichen 
Leitungsbahn  des  Motivs  in  der  andern  Diagonale 
geschaffen.  Auf  dieser  Grundlage  wirkt  Michelangelos 
statuarische  Kunst  vertiefend,  vergrössernd  und  ver- 
innerlichend  weiter,  bis  er  zu  jenem  gewaltigen 
neuen,  subjekiv  modernen  Stil  der  Plastik  gelangt, 
den  wir  zu  verstehen  uns  vorhin  bemüht  haben. 
Gerade  von  diesen  Voraussetzungen  seines  bildne- 
rischen Denkens  aus  wird  es  bedeutsam ,  dass  er 
in  der  Architektur  den  Gegensatz  aus  der  diagonalen 
Richtung  im  beweghch  gedachten  Menschenleib  in 
die  Vertikale  des  ruhig  gedachten  Baukörpers  über- 
trägt, zurückverlegt  in  Unten  und  Oben,  wie  in  den 
Anfängen  der  Statuenbildnerei  das  Abbild  unbeweg- 
licher Gottheiten ,  die  Beharrlichkeit  eines  Prinzips 
gegeben  wird. 

So  aber  gewinnt  er  auch  hier  den  Eindruck 
der  Bewegung,  eines  Motivs,  den  Ausbruch  leben- 
diger Kraft  auf  einen  Innern  Impuls.  IMan  denke 
nur  an  die  eine  Gestalt ,  die  als  Meisterwerk  der 
Antike  damals  die  Phantasie  so  mächtig  ergriff  wie 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  g 


114 


Michelangelo 


keine  andere :  den  Laokoon,  wie  er  mit  letzter  ver- 
zweifelter Anstrengung  sich  der  furchtbaren  Um- 
strickung zu  entwinden  trachtet  und  mit  beiden 
Armen  abwehrend  hinausdrängt  aus  dem  Knäuel 
empor.  So  ringt  Michelangelos  Jehovah  mit  dem 
Chaos,  aus  dem  er  als  Wolkenschieber  hervortaucht 
auf  dem  Bilde  der  Sixtina ;  so  wälzt  die  Gebärde 
des  Weltenrichters  bei  der  Wiederkehr  die  Gestalten- 
ströme durch  ihren  Machtbefehl  zur  Hölle  hinab, 
zum  Himmel  hinauf.  Wie  leicht  wurde,  bei  dem 
fragmentarischen  Zustand  vollends,  nach  Abstreifung 
der  Schlangenstücke  dieser  arbeitende  Laokoon  zum 
Atlas,  der  die  Himmelskugel  auf  sich  nimmt.  Da 
liegt  der  Übergang  des  Hochdrangs  als  plastisch- 
struktives  Motiv  unter  der  Kuppel  des  Domes  von 
S.  Peter  begreiflich  genug  angebahnt,  und  zwar  in 
ganzer  Massigkeit. 

In  der  Übertragung  eines  solchen  Kontrastes 
zwischen  unruhig  drängender  Vorbereitung  und  be- 
friedigender Klärung  auf  eine  Tiefenaxe,  also  zwischen 
einem  ersten  und  einem  folgenden  Raum  sahen  wir 
das  nämliche  Prinzip  ja  schon  in  der  Laurenziana. 
Daraus  ergiebt  sich,  wie  von  selber,  wenn  man  die 
Anlage  des  Kapitolsweges,  die  Absichten  mit  Palazzo 
Farnese  und  die  Raumbildung  von  S.  M.  degli  Angeli 
hinzunimmt,  die  Ausbildung  eines  ähnlichen  Gegen- 
satzes zwischen  Aussen  und  Innen  oder  die  Durch- 
führung strengster  Übereinstimmung  zwischen  dem 
Innenraum  und  dem  Aussenbau  als  verschiedene 
Möglichkeiten,  die  je  nach  dem  Charakter  der  Auf- 
gabe zu  Gebote  stehen ,   —  d.  h.   die  Grundlagen 


Sein  Barockstil 


115 


eines  umfassenden  Systemes  psychologischer  Kom- 
positionskunst für  das  ganze  Gebiet  der  Architektur. 

Die  volle  Einheitlichkeit  des  Ganzen  entspricht 
dem  Ideal  statuarischer  Kunst,  dem  Götterbild ,  also 
in  der  Baukunst  seinem  Gehäuse,  dem  Tempel.  So 
steht  Michelangelos  S.  Peter  vor  uns  da,  die  einzige 
Durchführung  im  Sinne  eines  Gotteshauses ,  in  der 
Reihe  jener  Verkörperungen  absoluter  Machtvoll- 
kommenheit, die  wir  in  Centraibauten  der  Römer 
und  der  Byzantiner  bewundern,  —  während  der  selbe 
Meister,  das  darf  nicht  übersehen  werden,  für  andre 
Aufgaben  andre  Formen  wählt,  für  Gemeindekirchen 
den  Langhausbau,  oder  den  Saalbau  bevorzugt,  mit 
ganz  andrer  psychologischer  Veranstaltung ,  wie 
S.  Giovanni  de'  Fiorentini  und  S.  M.  degli  AngeH. 
Dort  im  höchsten  Tempel  des  Christengottes  simul- 
tane Anschauung,  hier  für  den  Verkehr  des  reUgiösen 
Lebens  zwischen  Priesterschaft  und  Volk  der  succes- 
sive  Verlauf  als  mafsgebende  Dominante. 

Nur  ist  auch  sein  Centraibau  bei  aller  Berufung 
auf  den  ursprünglichen  Plan  aus  den  Tagen  Julius'  IL, 
der  von  Nachfolgern  der  Hochrenaissance  nur  ent- 
stellt worden,  doch  ein  andrer  geworden  vom  Grund 
aus  bis  zum  Gipfel;  denn  Michelangelos  Gott  ist  ein 
andrer  Gott,  als  der  Bramantes  und  Rafaels  gewesen. 
—  Es  war  ein  Gott,  der  schon  den  folgenden  Genera- 
tionen viel  zu  übergewaltig,  viel  zu  persönlich  gewalt- 
sam erschien,  so  dass  sie  diese  seine  unmittelbarste 
und  unvermittelte  Offenbarung  wieder  verhüllten  und 
verkleideten,  —  durch  das  Langhaus  und  andre  Zu- 
taten mehr. 

8* 


116 


Michelangelo 


Versuchen  wir  darnach  die  struktive  Idee  des 
Barockstiles,  die  Michelangelo  darstellt,  noch  einmal 
in  ihrem  genetischen  Fortschritt  zusammen  zu  fassen. 

Die  erste  Bedingung  für  die  Analogie  des  Bau- 
werks mit  dem  Menschen  ist  für  den  Bildner  die 
unbedingte  Herrschaft  der  Vertikalaxe  im  Sinne  der 
Einheit  des  "Individuums  wie  der  Kicntung  des  Wachs- 
'  tums.  Zur  Aufrechterhaltung  der  Erstem  wird  also 
in  seinem  Raumgebilde  die  Einheitlichkeit  des  Innen- 
raumes gefordert.  Diese  mag  einfache  Einheit  ohne 
jede  Gliederung  in  Nebenräume,  also  zugleich  strenge 
Geschlossenheit  sein ,  wird  aber  entschieden  orga- 
nischer, im  Sinne  vollkräftiger  physischer  Ausstat- 
tung und  reicheren  psychischen  Lebens ,  wenn  eine 
Begleitung  von  Nebenräumen  hinzutritt.  Aber 
strengste  Subordination  dieser  Weiterungen  unter 
das  monarchische  Prinzip ,  das  im  mittelsten  und 
höchsten  Hauptraum  sich  zweifellos  ausprägt,  wird  wie 
Rückgrat  und  Kopf  auf  einer  Axe  bei  der  Statue  gefor- 
dert. Weitere  Lockerung  und  selbständigere  Durchbil- 
dung der  Teile  würde  zur  Gruppenbildung  übergehen. 

Die  absolute  Einheitlichkeit  oder  strenge  Kon- 
centration um  eine  Dominante  fordert  im  Innenraum 
auch  Einheit  der  Beleuchtung  oder  ebenso  zweifel- 
lose Unterordnung  unter  die  Centraistelle.  Hier  be- 
währt sich  die  fortgeschrittene  Auffassung  des  Orga- 
nismus von  seinem  Kerne  her,  gegen  die  jede  sonstige 
Organisation  mit  Säulenordnungen  oder  gar  Wand- 
bekleidung nur  sehr  viel  äusserlicheren  Wert  behält. 
Dieser  durchgreifende  Unterschied  von  allem  Früheren 
verbindet  sich  aufs  Innigste  mit  dem  Gefühl  für  die 


Sein  Barockstil 


117 


Einheit  des  Bewusstseins,  die  Überlegenheit  des  per- 
sönUchen  Geistes,  besonders  als  Wille  und  Erkenntnis. 

Das  nämliche  Prinzip  prägt  sich  sodann  im 
Aussenbau  durch  strenge  Geschlossenheit  und  all- 
seitige Abhängigkeit  von  einem  Gipfelpunkt  an  sich 
selber  aus.  Der  Baukörper  duldet  keine  Raum- 
öffnung nach  Aussen  bis  auf  den  Eingang ,  an  der 
Fassade,  die  sich  ebenso  wenig  selbständig  geltend 
macht.  Fenster  sind  nur  wie  Augen  offen  oder  bhnd, 
Nischen  wie  Eintiefungen ,  Einziehungen  am  Leibe. 

Schon  damit  ist  das  plastische  Ideal  der  isolie- 
renden Geschlossenheit  und  Ablehnung  ringsum  im 
Monumentalbau  Michelangelos  festgestellt.  Die  Ver- 
tikalaxe  des  Centraibaues  gewinnt  nun  aber  noch 
einen  besondern  Sinn  als  Richtungsaxe  des  Wachs- 
tums, in  deren  Entwicklung  die  Analogie  mit  dem 
menschlichen  Geschöpf  sich  weiter  ausgestaltet.  An 
ihr  vollzieht  sich  die  Wiederholung  homologer  Glie- 
der in  leichterer  und  vollkommnerer  Form  von  Unten 
nach  Oben,  wiederum  ein  wichtiges  Bildungsgesetz 
sowol  für  den  Innenraum,  wie  für  den  Aussenbau, 
als  Auseinandersetzung  der  Höhendimension  mit  den 
beiden  Horizontalaxen ,  nach  Mafsgabe  der  Propor- 
tionalität und  der  Symmetrie  bei  aufrecht  gewachse- 
nen Geschöpfen. 

Als  Ausdruck  des  organischen  Wachstums  giebt 
sich  also  die  Erscheinung ,  die  man  nach  dem  ver- 
wandten Prinzip  der  Gotik,  dem  schlankeren  Hoch- 
streben, hier  als  Hochdrang  der  Masse  bezeichnet. 

Dies  Prinzip  beherrscht  ebenso  das  System  der 
Bauglieder,  nach  dem  man  sonst  die  Durchbildung 


118 


Michelangelo 


zum  „organischen  Stil"  (nach  Burckhardt)  zu  be- 
urteilen pflegt.  Der  Barock  redet  mit  ihnen  eine 
ganz  andre  Sprache  als  die  Renaissance,  schon  weil 
er  jede  Form  sowol  in  positiver  wie  in  negativer 
Bedeutung  verwertet,  je  nach  der  Mitwirkung  der 
Nachbarschaft,  also  je  nach  dem  Vorzeichen  in  der 
Syntax  und  im  Zusammenhang  des  Ganzen,  der 
seinerseits  viel  inniger  wird.  An  Stelle  der  Mehr- 
zahl von  Geschossen,  wie  die  Renaissance  sie  über 
einander  schob,  tritt  demgemäfs  nun  die  Durch- 
führung einer  einzigen  Hauptordnung ,  die  alle  Ge- 
schosse durchdringt,  und  zwar  durch  kolossale  Grösse, 
Verdoppelung  u.  s.  w.  verstärkt.  So  werden  auch 
Zwischengeschosse  nicht  mehr  dekorativ  verläugnet, 
sondern  können  ihrem  Werte  nach  in  die  Entwick- 
lung aufgehen,  sogar  sehr  charakteristisch  eine  Pe- 
riode des  Wachstums  gleichsam  gegen  die  folgende 
absetzen,  Anlauf  zu  neuem  Aufschwung  oder  Über- 
leitung zu  einem  folgenden  werden.  So  auch  die 
Attika,  die  sich  dem  Hauptgesims  gesellt,  um  wieder 
etwa  weiter  zurückHegende  Teile  des  hinausragenden 
Mittelkörpers  vorzubereiten  und  den  Zusammenhang 
der  abhängigbleibenden  Vorlagen  mit  dem  Kern 
aufrecht  zu  erhalten. 

Diese  Vereinheitlichung  Hand  in  Hand  mit  dem 
Hochdrang  zeigt  sich  dann  ebenso  in  der  Flächen- 
gHederung,  in  Portal-,  Fenster-,  Nischen-Architektur, 
bis  hinein  in  Schilder,  Kartouchen  und  sonstiges  Bei- 
werk. Die  Plastik  wirft  sich  nach  Oben  ans  Kopf- 
ende und  hier  dann  gern  wieder  auf  die  Mittelaxe, 
weil    eine  gleichmäfsig   fortlaufende  Reihe  solcher 


Sein  Barockstil 


119 


nach  oben  wuchtiger  Glieder  stets  den  Eindruck  des 
Lastenden ,  Schwerfälligen  hervorbringt ,  und  zwar 
unbeholfener,  als  es  dem  organisch  beseelten  Kraft- 
gebilde gemäfs  wäre.  So  wirkt  der  Hochdrang 
weiter  auf  die  Fassadenbildung  und  führt  auch  hier 
die  Gesetze  statuarischer  Gestaltung  und  monumen- 
taler Gruppierung  durch;  das  heisst,  er  beseitigt  die 
Horizontalgliederung,  die  einfache  metrische  Reihung 
und  Alles ,  was  sonst  die  Breitenausdehnung  als 
solche  geltend  macht,  und  bevorzugt  statt  dessen 
die  Symmetrie  mit  betonter  Dominante ,  hält  also 
das  Gesetz  der  körperlichen  Gruppe  aufrecht.  Ich 
erinnere  nochmals  an  das  Verhältnis  von  Laokoon 
zu  seinen  Knaben. 

Jede  Verwechslung  dieses  durchgehenden  Hoch- 
drangs mit  dem  gotischen  Hochstreben  als  Aus- 
stralung  ins  Unendliche  bleibt  ausgeschlossen  durch 
das  Hineinnehmen  und  Hinaufnehmen  eben  der 
Wucht  selbst ,  des  zweiten  Faktors ,  der  sich  im 
Barockstil  untrennbar  mit  dem  Vertikalismus  ver- 
bindet, —  das  ist  die  Masse  des  KörperUchen. 

Dieser  Stil  greift  tiefer  in  die  unorganische 
Materie ,  als  es  zur  Grundlage  der  Gestaltung  not- 
wendig wäre.  Die  Quantität  der  aufgewendeten 
Masse  wird  vergrössert,  und  insofern  darf  von  ,, Mas- 
sigkeit" die  Rede  sein,  doch  nirgend  für  sich  allein. 
Dieser  Ausdruck  würde  irre  flihren ,  sobald  man 
annähme  oder  die  Vorstellung  erweckte ,  der  Stoff 
sei  lediglich  seiner  selbst  willen  da,  mit  seiner  er- 
drückenden Schwere ,  sei  den  Formen  zur  Last. 
Auch  wenn  man,  wie  Henke,  vom  Leibe  der  Menschen 


120 


Michelangelo 


Michelangelos  sagt,  er  sei  ihnen  zur  Last,  zu  nichts 
nütze,  so  sind  die  Wesen,  die  sich  zu  diesem  Körper 
so  verhalten,  eben  damit  postuliert,  wir  ergänzen  die 
Seele ,  die  darin  haust ,  den  Geist ,  der  etwas  damit 
anfangen  möchte,  hinzu.  Der  bildliche  Ausdruck 
des  Anatomen  beweist  also  nur,  wie  stark  durch 
diesen  Marmorleib ,  den  der  Bildner  allein  zu  geben 
vermag,  der  ganze  Mensch,  sein  Innenleben  mit 
versinnlicht  worden  ist.  Der  Körper  ist  also  vielmehr 
notwendig  als  Gegengewicht  des  Innenlebens,  als 
Träger  der  gewaltigen  Energie  des  Willens,  selbst 
wenn  seine  Last  und  dieser  Wille  auseinandergehn. 
Die  Wucht  der  physischen  Ausstattung  muss  vor  allen 
Dingen  jeden  Anschein  aufheben,  als  sei  eine  Abirrung 
ins  Gebiet  asketischer  Weltflucht,  in  abstrakte  Ver- 
geistigung im  Spiel,  statt  der  vollen  Intensität  leiden- 
schaftlicher Affekte,  die  den  Kraftmenschen  der 
Renaissance  in  ihrem  Schiffbruch  gefolgt  war. 

Die  ^,Massip^keit''  bezieht  sich  zunächst  nicht  so- 
wol  auf  den  äussern  Eindruck  als  auf  den  innern 
Kern  des  Baues.  Michelangelo  lernt  den  antiken 
Kolossalbauten  die  massive  Festigkeit  des  Baukörpers 
ab,  und  verwendet  sie  wie  jene,  nicht  in  der  Absicht 
auf  brutale  Schwerfälligkeit,  sondern  auf  Weiträumig- 
keit und  Hoheit  zugleich.  Deshalb  lehnt  er  auch 
das  sinnlich  wirksamere  Massenelement  ab,  das  ihm 
am  Äussern  heimatlicher  Paläste  vor  Augen  stand, 
die  toskanische  Rustica ,  die  selbst  Bramante  für 
seinen  malerischen  Standpunkt  nicht  verschmähte. 
Michelangelos  Masse  ist  keine  solche ,  aus  der  man 
Berge  türmen,  sondern  eine  viel  entwickeltere  Materie, 


4 


Sein  Barockstil 


121 


aus  der  man  Menschen  erschaffen  kann.  Sie  ist  auch 
nicht  aus  Blöcken  aufgeschichtet,  sondern  aus  innerer 
Naturkraft  gewachsen,  also  nicht  von  Aussen,  son- 
dern von  Innen  geformt.  Sie  wird  als  zusammen- 
hängend und  gleichartig  empfunden,  wie  der  Marmor, 
das  Erz,  die  Thonerde,  aus  der  er  Statuen  bildet; 
dabei  ist  es  gleichgültig,  wie  sie  sich  tektonisch  zu- 
sammensetzt oder  bekleidet.  Er  sieht  nur  den  bild- 
samen Stoff,  der  sich  modellieren  lässt ,  und  fühlt 
die  Gestaltung  als  Bildner  durch,  wenn  auch  gigan- 
tisch aus  eignem  Wachstum  sich  vollziehend,  indem 
er  gleich  dem  Schöpfer  seinen  persönlichen  Willen 
hineinversetzt,  als  sei  er  die  spontane  Triebkraft  der 
Materie  oder  der  Erdgeist  selber. 

Wie  der  Bildhauer  jedoch  seine  Gestalt  zu  dauern- 
dem Bestände  dem  harten  Stein  aufnötigen  muss, 
so  dass  die  Hand ,  den  funkensprühenden  Meissel 
schwingend,  nicht  selten  erlahmt,  so  feurig  auch  der 
Geist  den  Marmorblock  in  Angriff  nahm,  —  so  schaltet 
und  waltet  der  Baumeister  mit  ganz  andren  Massen, 
und  im  Widerstand  der  Beharrung  selbst ,  die  er 
sichern  will,  erstarrt  wol  der  unmittelbare  Aufdruck 
seiner  eigensten  Empfindung  mehr  noch  als  dort. 

Damit  ist  jedenfalls  die  Grundlage  für  die  pla- 
stische Durchformung  gewonnen,  die  sich  von  Innen 
nach  Aussen  vollziehend  supponiert  wird,  nicht  um- 
gekehrt wie  bisher.  Die  BaugUeder  wachsen  erst 
aus  dem  geballten  Klumpen  hervor,  sie  können  sich 
nicht  vollständig  loslösen ,  oder  gar  von  Aussen,  ur- 
sprüngHch  vereinzelt,  in  Koordination  und  Subordina- 
tion zusammen  treten  zu  einem  systematischen  Ge- 


122 


Michelangelo 


füge,  wie  die  Bausteine  der  geschichteten  Wand  auch, 
wie  die  sogenannten  organischen  Säulenordnungen 
mit  ihrem  Gebälk  und  wie  verschiedene  Stockwerke 
aus  solchen  Bestandteilen  sich  übereinander  schieben. 
Sie  bleiben  vielmehr  wie  unsre  Gliedmafsen  bündig 
mit  dem  Rumpfe.  So  erklärt  sich  die  ,, Mauersäule", 
die  Pfeilerbildung,  selbst  die  Begleitung  der  Pilaster 
durch  Hälften  in  Profil,  das  Rahmenprofil  der  Wand- 
fläche, wie  deren  Einziehung,  als  lauter  Stadien  des 
lebendigen  Wachstums.  Ganz  irreführend  ist  die 
Auffassung  als  Symptom  des  Verfalles,  der  erlah- 
menden Durchformung  oder  gar  als  Mangel  der  pla- 
stischen Kraft,  denn  nirgends  ist  die  Form  verschwom- 
men, überall  scharf  genug  die  gewollte  Abstufung 
erkennbar;  es  wäre  also  subjektiv  von  ,, stofflicher 
Befangenheit"  zu  reden.  Die  Materie  selbst  ist  als 
organischen  Lebens  fähig  anzunehmen. 

Dagegen  begreift  sich  von  selbst  das  Verschwin- 
den der  scharfen  Ecken  und  Kanten,  die  Abstumpfung 
des  Harten  und  Spitzigen,  ja  die  Rundung  im  Anlauf 
der  senkrechten  Wand  sogar  (aussen  an  S.  Peter), 
das  Wulstige,  Vollsaftige  der  entwickelteren  Formen 
überhaupt,  wie  das  Überquellen  des  bildsamen,  noch 
von  Innen  her  im  Fluss  begriffenen  Materiales ,  die 
Abundanz,  der  Pleonasmus  im  Ausdruck  des  Einzelnen, 
der  so  mit  wortkargem  Ernst  und  ablehnender  Strenge, 
die  man  darin  gesucht  hat ,  wol  nicht  immer  über- 
einstimmt. 

Michelangelos  Auffassung  des  Organismus  geht 
eben  tiefer  als  bisher  jemals  in  der  Baukunst,  nämUch 
bis  an  den  Sitz  des  Lebens.    Wenn  wir  aber  in  der 


Sein  Barockstil 


123 


Architektur  einem  solchen  Genius  keine  Verläugnung 
des  Bildnergeistes  zutrauen  dürfen,  den  er  in  der 
Skulptur  bewiesen  hat,  so  werden  wir  uns  auch  über 
das  Eindringen  der  nämlichen  Erscheinungen ,  die 
Einseitigkeit  koncentrierter  Lebensäusserung,  der  ab- 
sichtlichen Ungleichmäfsigkeit  in  der  Beteiligung  des 
Körpers  am  Ausdruck  nicht  mehr  wundern ,  und 
werden  deshalb  noch  nicht  von  einem  Rückfall  in 
formloseren  Zustand  sprechen  mögen. 

Suchen  wir  endlich  von  diesem  Prinzip  aus  den 
Anschluss  an  das  vorher  verfolgte  der  Höhenaxe, 
mit  dem  Ausdruck  der  Einheitlichkeit  des  organischen 
Geschöpfes  und  dem  Hochdrang  seines  natürlichen 
Wachstums,  zu  gewinnen,  so  kommen  wir  wieder 
zum  Gesetz  der  Proportionalität  und  zum  höchsten 
Gesetz  seiner  Komposition  im  Grossen:  dem  Kontrast 
zwischen  Streben  und  Erfüllung,  zwischen  Unten  und 
Oben ,  Aussen  und  Innen ,  und  allen  ihren  Modi- 
fikationen in  Raum  und  Zeit. 

Da  rühren  wir  an  die  Erkenntnis,  dass  Michelangelo 
nicht  nur  Bildner  und  Maler  wie  Baumeister  dazu, 
sondern  auch  Dichter  gewesen ,  und  der  Gröfsten 
Einer  zu  seiner  Zeit.  Seine  Architektur  enthält  auch 
sowol  in  ihrer  psychologischen  Charakteristik  der 
Formensprache,  wie  in  ihrer  durchgehenden  psycho- 
logischen Veranstaltung  die  unverkennbaren  Anfänge 
einer  grossartigen  und  umfassenden  Raumdichtung, 
die  den  zeitlichen  Ablauf  des  Erlebens  der  Raum- 
einheiten nach  einander  voraussetzt,  also  die  Ver- 
wandtschaft mit  poetischer  und  musikahscher  Kom- 
position im  Grossen. 


m. 


DIE  ZWEITE  PHASE 
DES  RÖMISCHEN  BAROCKSTILS 

~ie  Schöpfungen  Michelangelos ,    die   wir  be- 
j  trachtet,   stehen  bei  seinem  Tode  1564  für 

 i  die  Mehrzahl  der  Zeitgenossen  als  Rätsel  da, 

überwältigend  wol  in  ihrer  Wirkung,  aber  unverstanden 
in  ihrem  Wesen.  Den  Kern  der  Sache  mochten 
auch  die  Künstler,  selbst  die  nächst  befreundeten, 
die  doch  alle  nicht  an  ihn  hinanreichen,  gewiss  kaum 
erfassen,  geschweige  denn  zur  Norm  der  eignen 
Sinnesart   und  Kunst   zu   machen  im  Stande  sein. 

Der  Greis  gieng  mit  der  Absicht  um,  in  schrift- 
Hcher  Darlegung  sein  künstlerisches  Wollen  zusammen- 
zufassen, wie  ein  Vermächtnis ;  aber  er  hat  es  unter- 
lassen, solche  Erklärung  zu  geben.  So  konnten  seine 
Nachfolger  ihm  nur  soviel  ablernen ,  wie  sie  den 
wenigen  einheitlich  vollendeten  Werken  abzusehen 
vermochten,  jeder  nach  seiner  Wahl,  aus  früheren  oder 
späteren,  und  jeder  nach  seinen  Kräften.  Es  dauerte 
jedenfalls  eine  Weile,  bis  es  ihnen  wie  Schuppen 
von  den  Augen  fiel ;  denn  die  Gewohnheit  aller  An- 


Ausgleich  mit  der  Spätrenaissance  125 

schauungen  und  die  Begriffe  des  mühsam  errungenen 
Wissens  von  antiker  Kunst  standen  seiner  ganz  per- 
sönUchen  Weise  nur  befremdet  gegenüber. 

Es  sind  seine  Hilfskräfte  bei  S.  Peter  und  seine 
Nachfolger  in  der  Oberleitung  dieses  Baues  (den  er 
selbst  nur  bis  zum  Schlussgesims  des  Kuppeltambours 
gedeihen  sah) ,  bei  denen  wir  am  ehesten  eine  be- 
wusste  Auseinandersetzung  mit  ihm  erwarten  dürfen, 
also  Giacomo  Barozzi  da  Vignola  (f  1573) 
und  Giacomo  della  Porta  (j-  1603).  Aber  neben 
der  Vollendung  des  Riesendomes  drängten  sich  andere 
Aufgaben,  Kirchen  und  Paläste ,  die  für  die  Gegen- 
wart schneller  Erledigung  heischten  als  ein  so  weit 
aussehendes ,  in  unfertigem  Zustand  immer  wieder 
erlahmendes  Werk  für  die  Zukunft.  So  hegt  grade 
in  ihrer  Tätigkeit  für  die  lebende  Generation  die 
Bedeutung  für  die  Stilgeschichte  Roms.  Die  nächste 
Phase  der  Entwicklung,  die  auf  Michelangelo  folgt, 
charakterisiert  sich ,  wie  es  bei  seiner  Ausnahme- 
stellung kaum  anders  sein  kann ,  als  allmählicher 
Ausgleich  der  Spätrenaissance  mit  dem  Barockstil, 
in  der  Architektur  zunächst  zwischen  der  klassisch 
geschulten  Tradition  und  den  plastischen  Tendenzen 
des  gewaltigen  Bildners. 

KIRCHENBAU 

Nur  die  Hauptkirche  der  Christenheit,  S.  Peter 
selbst,  sollte  nach  Michelangelos  Plan  als  Centraibau 
von  übermenschHcher  Erhabenheit  aufsteigen ;  darin 
war  er  einig  mit  Bramante.    ,,Mehr  als  ein  halbes 


126 


Die  zweite  Phase 


Jahrhundert  hindurch  wusste  man  von  nichts  Anderem, 
als  dass  diese  Kirche  aller  Kirchen  ein  griechisches 
Kreuz  werden  und  bleiben  sollte,  welches  von  seiner 
Kuppel  nach  allen  Seiten  hin  beherrscht  worden 
wäre.  In  dieser  Gestalt  kannten  die  grossen  Bau- 
meister von  1550  bis  1600  S.  Peter."  ^)  —  Kein 
Zweifel,  dass  sich  in  Bramantes  Sieg  mit  dieser  Form, 
im  Gegensatz  zu  der  vorhandenen  altchristlichen 
Basilika,  der  Sieg  eines  Ideales  der  Renaissance  voll- 
endete. Aber  bis  dahin  hatte  die  Verwirklichung 
dieses  Ideales  sich  doch  nur  auf  kleinere  Kirchen 
und  Kapellen  beschränkt,  und  noch  in  der  ersten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  bilden  die  Centralanlagen 
zweifellos  Ausnahmen  von  der  Regel,  die  dem  Kir- 
chenbau ,  besonders  Pfarr-  und  Klosterkirchen  für 
regelmäfsigen  Gottesdienst,  das  Langhaus  vorschrieb. 
So  befriedigte  sich  die  Vorliebe  der  Renaissance  für 
die  Centralform  eigentlich  in  der  Verbindung  einer 
Vierungskuppel  mit  dem  Langhaus  und  in  der  ein- 
heitlichen Ausbildung  der  unter  ihr  zusammenstossen- 
den  Kreuzarme  zu  einem  Ganzen  nach  Art  jenes 
Ideales.  Dies  ist  der  eigentliche,  durchweg  vorherr- 
schende Typus  im  Kirchenbau  der  Renaissance ,  zu 
dem  man  angebaute  Kapellen  für  besondere  Zwecke 
oder  vereinzelte  Heihgtümer  kleinern  Umfangs  na- 
türlich nicht  ohne  Weiteres  hinzurechnen  darf.  Jeden- 
falls erbt  die  Zeit,  mit  der  wir  uns  beschäftigen,  beide 
Typen  neben  einander,  Langbau  und  Centraibau, 
und  selbst  Michelangelo  behandelt  S.  Giovanni  de' 


i)  Burckhardt-Geymüller  im  Cicerone. 


4 


Kirchenbau 


127 


Fiorentini  in  Rom  nach  einander  in  beiderlei  Gestalt  ^) 
und  weiss  den  Saalbau  der  Diocletiansthermen,  den 
er  zur  Kirche  S.  M.  degH  AngeU  ausbaut ,  ein  Ob- 
longum  mit  ausgesprochener  Tiefenaxe  ebenso  zu 
schätzen  wie  das  Pantheon  und  die  Minerva  medica. 
Die  Herrichtung  eines  vorhandenen  antiken  Raumes 
für  den  Gottesdienst  und  die  Rückkehr  zum  Lang- 
haus bei  der  Pfarrkirche  der  Florentiner  in  Rom  darf 
deshalb  als  Empfehlung  der  Longitudinalrichtung 
nicht  allzu  hoch  veranschlagt  werden:  der  Gegensatz 
war  in  solcher  Zuspitzung,  wie  Wölffhn  meint,  über- 
haupt nicht  vorhanden. 

Vor  allen  Dingen  ist  die  Tiefenaxe  für  den 
Innenraum  die  allernatürlichste  Richtung,  die  es  giebt; 
denn  an  ihrer  Hand  muss  sich  das  Raumgebilde, 
nach  den  Anforderungen  unsrer  gewohnten  Tätigkeit 
vor  uns  her,  entwickeln.  Die  Neigung  zur  Centra- 
lisation,  unter  Bevorzugung  der  Höhenaxe  als  Domi- 
nante im  Kuppelbau,  bedeutet  dagegen  die  Wahl 
eines  ruhigen  Hauptpunktes,  den  Übergang  zu  gleich- 
mäfsiger  BeschauHchkeit  im  Selbstgefühl,  und  des- 
halb zugleich  eine  Tendenz  nach  der  Axe  des  pla- 
stischen Gebildes,  der  Vertikale,  der  auch  der  Aussen- 
bau  als  Monument  um  so  mehr  sich  anschliesst, 
je  fester  sich  der  Baukörper  zusammenfasst  und  von 
vornherein  zu  einem  Höhepunkt  emporgipfelt.  Die 
Rückkehr  zur  dritten  Dimension  bedeutet  also  für 


i)  Die  Kenntnis  des  Centralplanes  für  S.  Giovanni  de'  Fio- 
rentini (Rossi ,  Insignium  Romae  Templorum  Prospectus)  hat  s.  Z. 
jedenfalls  autoritativ  weitergewirkt,  vgl.  S.  Giacomo  degli  Incurabili. 


128 


Die  zweite  Phase 


die  reine  Baukunst  nur  eine  Wiederherstellung  ihres 
natürUchen  Wesens ,  wo  immer  in  einem  Bau  das 
Recht  der  Bewegung  das  Recht  der  Ruhe  überwiegt. 
Es  ist  somit  kaum  erforderlich  für  die  fernere  Vor- 
herrschaft des  Longitudinalbaues  bei  Gemeindekirchen 
noch  besondere  ästhetische  Gründe  zur  Erklärung 
heranzuziehen  (wie  Wölfflin  fordert).  Charakteristisch 
für  den  Barock  ist  nur  die  Begleitung  des  Hauptraumes 
durch  seithche  Bildungssphären,  wie  wir  die  dunklere 
Kapellenreihe  im  Gegensatz  zu  Nebenschiffen  genannt, 
und  die  Ausbeutung  der  Tiefenaxe  zur  Befriedigung 
seines  ästhetischen  Wollens  in  einer  psychologischen 
Veranstaltung  für  das  vorwärts  schreitende  und 
schauende  Subjekt.  Diese  künstlerische  Verwertung 
war  von  Michelangelo  schon  beim  Innenraum  von 
S.  M.  degli  Angeli  in  dem  einen,  bei  der  Laurenziana 
in  dem  andern ,  und  bei  der  Anlage  des  Kapitols- 
platzes  oder  beim  projektierten  Durchblick  aus  Pa- 
lazzo  Farnese  in  mehrfachem  Sinne  vorbereitet  wor- 
den, so  dass  wir  sie  bei  verlorenen  Entwürfen  ebenso 
voraussetzen  dürfen. 

Darnach  beschränkt  oder  verschiebt  sich  doch 
der  Wert  der  entscheidenden  Tatsache ,  von  der 
Wölfflin  mit  Dohme  wie  Gurlitt  ausgeht:  ,,Vignola 
schuf  im  Gesü  einen  neuen  Typus  als  Langhaus, 
und  dieser  wurde  bestimmend  nicht  nur  für  die  neuen 
Bauten  der  Folgezeit,  sondern  es  musste  selbst  S.  Peter 
ihm  sich  beugen."  Für  S.  Peter  ist  der  Bruch  mit 
dem  plastischen  Ideal  Michelangelos  durch  die  Vor- 
lage des  Langhauses  tatsächlich  von  grösster,  ver- 
hängnisvollster Bedeutung.    Mit  dem  Sieg  der  Tiefen- 


Kirchenbau 


129 


dimension  an  dieser  Stelle,  mit  der  Konkurrenz  dieser 
Axe  um  die  Vorherrschaft,  auch  über  die  bisdahin 
allein  anerkannte  Dominante  beginnt  eine  Umwälzung 
folgenschwerer  Art ;  aber  es  ist  wieder  S.  Peter,  an 
dem  Carlo  Maderna  erst  auf  Geheiss.  Pauls  V.  1605 
die  Verlängerung  des  einen  Flügels  beginnt.  Bis 
zu  diesem  Zeitpunkt  reicht  auch  genau  die  zweite 
Phase  des  Barockstils  in  Rom ,  die  wir  abzugränzen 
im  Begriffe  sind ;  sie  könnte  mit  den  Meisterwerken 
des  selben  Carlo  Maderna,  die  der  Umgestaltung  von  ; 
S.  Peter  voranliegen,  geschlossen  werden.  Mit  dem 
Problem  der  Fassade  für  dies  Langhaus  erst  beginnt 
die  folgende  Entwicklung. 


Jacopo  Barozzi,  aus  Vignola  im  Modenesischen 
gebürtig,  ist  als  junger  Mensch  zuerst  nach  Rom  ge- 
kommen, da  kein  Gedanke  noch  auf  etwas  Anderes 
als  klassische  Schulung  ausgieng.  Als  eifriger  Vitru- 
vianer ,  der  die  Denkmäler  zu  messen  kam,  und  als 
Verfasser  des  Lehrbuches  von  den  fünf  Ordnungen, 
in  dem  er  seine  Ergebnisse  darbot,  gehört  er  seinen 
theoretischen  Erkenntnissen  nach  gewiss  ebenso  sicher 
zur  Spätrenaissance ,  wie  Andrea  Palladio  oder  Se- 
bastiano  Serlio.  Er  ist  auch  in  seinem  künstlerischen 
Schaffen  ein  Meister  dieser  auf  Gelehrsamkeit  be- 
gründeten Richtung ,  die  aus  den  Studien  des  An- 
tonio da  Sangallo  und  des  Baldassare  Peruzzi  desto 
notwendiger  erwuchs,  je  tiefer  zunächst  mit  dem 
Mute  der  Bauherrn  auch  die  Erfindungskraft  der 
Geister  gesunken  war.    Ein  zw^eijähriger  Aufenthalt 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  9 


130 


Zweite  Phase  des  Barock 


in  Frankreich  mit  Primaticcio  (seit  1537)  mochte 
seinen  Gesichtskreis  im  Schlossbau  erweitern;  aber 
in  Bologna  fehlte  wieder  Tördersame  Gelegenheit. 
Erst  sein  zweiter  Aufenthalt  in  Rom  unter  Julius  III. 
und  die  Ausführung  des  Schlosses  Caprarola  für  die 
Farnese  steigert  sein  Können  zur  Originalität ,  lang- 
sam genug.  Damals  erfolgt  die  Berührung  des 
Dreiundvierzigj ährigen  mit  Michelangelo,  der  ihn  am 
Palazzo  Farnese  verwendet.  Ausser  vielen  Einzel- 
heiten der  Innenausstattung,  die  auf  seinen  Anteil 
entfallen,  gehört  ihm  auch  meiner  Überzeugung  nach 
die  strenge  klassische  Durchbildung  des  berühmten 
Kranzgesimses,  bei  dem  es  Michelangelo  sicher  nur 
auf  die  plastische  Gesamtwirkung  als  krönender  Ab- 
schluss  des  Baukörpers  ankam.  Ebenso  selbständig 
hat  er  als  Bauführer  auf  dem  Kapitol  die  seitlichen 
Hallen  oben  an  den  Treppen  zu  Aracoeli  und  Mon- 
tecaprino  hinauf  einander  gegenüber  ausgeführt  (vor 
1555)»  denen  die  Vorhalle  von  S.  M.  in  Navicella 
durchaus  verwandt  ist ,  alle  drei  schon  mit  leisen 
Symptomen  der  Auffassung  Michelangelos  (z.  B.  ohne 
Eckpfeiler).  Ebenso  zurückhaltend  ist  noch  der 
kleine  Centraibau  bei  Ponte  Molle,  das  Oratorium 
S.  Andrea,  dessen  oblonger  Grundriss  nur  wenig 
über  das  Quadrat  hinaus  geht,  während  die  Kuppel 
in  entsprechendem  Oval  darauf,  diese  leise  Bevor- 
zugung der  Tiefenaxe  nach  Aussen  ebenso  verbirgt, 
wie  die  Fassade,  mit  korinthischen  Pilastern  gegliedert, 
mit  zierlichen  Fenstern  dazwischen  und  breitem  Giebel 
darüber,  noch  strenge  Zeichnung  aber  schwache 
Formkraft  aufweist.     Erst  im  Hof  des  fünfeckigen 


Kirchenbau 


131 


Festungsbaues  von  Caprarola  (bis  1559)  wird  der 
Ubergang  von  Peruzzis  polygonem  oder  kreisrundem 
Plan  zum  Oval  ein  Schritt  von  entscheidender  Be- 
deutung, denn  hier  ist  die  Längenaxe  deutlich  als 
Bewegungsaxe  fühlbar  geworden,  während  andrer- 
seits die  Rustikahallen  unten  und  die  gepaarten 
Halbsäulen  oben  noch  das  Festhalten  an  der  selben 
Tradition  bezeugen,  die  wir  von  Bramante  zu  San- 
micheli  und  Palladio  verfolgen. 

Nach  dem  Tode  Michelangelos  wird  Vignola 
dann  der  Leiter  des  Baues  von  S.  Peter  selbst  und 
führt  die  beiden  vorderen  der  vier  Nebenkuppeln 
aus,  die  Michelangelo  als  Trabanten  der  Hauptkuppel 
plante.  Hier  zeigt  sich,  wie  weit  Vignola  in  die 
Denkweise  dieses  durchgreifenden  Schöpfers  ein- 
gedrungen war,  die  er  solange  zu  vollziehen  sich 
gewöhnt;  seine  Ausführung  geht  über  das  Modell 
des  Meisters  selbst  hinaus,  aber  durchaus  michelange- 
lesk,  in  stärkerer  Betonung  der  strebepfeilerartigen 
Glieder.  Während  das  Modell  am  Tambour  dieser 
kleinern  Kuppel  nur  Halbsäulen  resp.  Pilaster  auf- 
weist, um  dem  stärkern  Motiv  der  herrschenden 
Mitte  noch  nicht  vorzugreifen ,  führte  Vignola  ein 
der  Hauptkuppel  verwandtes  System  durch :  acht 
Vorlagen  mit  herausspringender,  von  Pilastern  be- 
gränzter  Mauermasse  und  je  zwei  Dreiviertelsäulen 
daneben,  —  und  betont  auch  in  den  Kuppeln  selbst 
die  entsprechende  Rippenbildung  und  den  gestreck- 
tem Aufschwung  in  der  Gesamtform,  mit  stärkerer 
Laterne  und  helmartiger  Spitze  darauf. 

Seit  1568  beginnt  aber  daneben  der  Bau  der 

9* 


132 


Zweite  Phase  des  Barock 


Jesuitenkirche  del  Gesü,  wieder  im  Dienst  der  Far- 
nese,  aber  im  Auftrage  des  dritten  Ordensgenerals, 
Borgia.  Keine  Frage,  dass  die  straffe  Organisation 
des  Ordens  und  die  Betonung  seiner  strengen  Dis- 
ziplin nach  Aussen  im  Sinne  dieses  Bauherrn  den 
Gedankenzug  des  Architekten  beeinflusst  hat,  wie 
er  sich  andrerseits  grade  damals  in  die  Willenskraft 
Michelangelos  und  seine  Absichten  mit  S.  Peter  ein- 
gelebt, also  in  künstlerischer  Beziehung  verwandte 
Wege  gieng.  —  Auch  wer  als  Historiker  die  Kirchen- 
bauten Michelangelos,  S.  Giovanni  de'  Fiorentini  und 
S.  M.  degli  Angeli  als  unmittelbare  Vorstufen  zur 
Vergleichung  fordert ,  gelangt  indes  zu  charakte- 
ristischen Unterschieden,  durch  die  das  Werk  Vigno- 
las  für  sich  selber  redet,  wie  ich  glaube,  jedoch 
r  eher  im  Sinne  der  Spätrenaissance  als  im  Sinne  des 
/  Barock  über  Michelangelo  hinaus.  Die  Pfarrkirche 
der  Florentiner  gab  wol  die  Grundlage  für  die  Chor- 
partie ,  die  hier  wie  dort  im  Halbrund  geschlossen 
ist ,  mit  quadratischer  Vierung  davor  aber  kurzen 
Armen  zur  Seite  ;  die  Nebenschiffe  jedoch,  die  dort 
vorhanden  sind,  werden  hier  der  Einheit  des  Lang- 
hauses zuliebe  beseitigt.  Dadurch  nähert  sich  dieses 
dem  andern  Vorbild,  dem  Saalbau  von  S.  M.  degli 
Angeli,  dessen  Wände  auch  Michelangelo  mit  Ka- 
pellen durchbrochen  hatte.  Diese  wirken  mit  dem 
breiteren  Schiff  in  strenger  Unterordnung  zusammen, 
wie  die  kurzen  Querarme  mit  der  Vierung,  dort  eine 
dunklere,  hier  eine  hellere  Bildungssphäre,  und  der 
ganze  Plan  bildet  bis  auf  die  Apsis  ein  geschlossenes 
Rechteck.  —  Dennoch  sondert  sich  im  Innern  die 


Kirchenbau 


133 


Kreuzung  mit  der  darüber  schwebenden  Kuppel 
fühlbar  genug  als  Centralanlage  von  dem  Lang- 
haus mit  seinen  drei  Jochen  ab.  Dies  letztere  er- 
scheint, wenn  man  vom  Eingang  her  der  Gliederung 
folgt,  freilich  nur  wie  eine  Vorbereitung  auf  jene, 
greift  aber  bis  zur  Chortribune  hindurch,  und  die  Glie- 
derung selbst  bleibt  in  musterhafter  Klarheit  erkenn- 
bar, wie  das  Gewissen  der  strengen  Architektur  sie 
fordert.  Der  Meister  der  Spätrenaissance  verläugnet 
sich  nicht.  —  Gekuppelte  Pilaster  mit  niedrigen 
Sockeln  und  Kompositkapitellen  begleiten  die  Ka- 
pellenöffnungen, deren  Scheidbögen  nicht  bis  zum 
Architrav  emporsteigen,  sondern  in  einem  Wandstück 
über  sich  noch  emporenartigen  Einbauten  die  starke 
Betonung  der  Wagerechten  gestatten,  die  so  mit 
dem  Gebälk  zusammen  wirkt.  Dieses  liegt  verhältnis- 
mäfsig  niedrig,  aber  über  ihm  drängt  sich  eine  über- 
höhte Attika  mit  wuchtiger  Plastik  hervor,  bis  zum 
Kämpfergesims  des  mächtigen  Tonnengewölbes,  das 
den  ganzen  Raum  vor  der  Vierung  überspannt.  Die 
halbcylindrische  Wölbung,  die  bei  Vignola  ganz  ein- 
heithch  fortlaufend  gedacht  war,  ist  der  wichtigste 
Faktor  sowol  für  den  Zusammenhalt  des  weit- 
räumigen Langhauses  nach  Art  eines  antiken  Saales, 
als  auch  für  den  Zusammenhang  mit  dem  Kuppelbau 
am  Ende.  Dazu  kommt  das  OberHcht  durch  die 
Fenster  in  den  Stichkappen,  das  nur  dem  Mittelraum 
zu  Teil  wird,  und  die  Dunkelheit  der  Kapellen  als 
Gegensatz  dazu.  Dieser  Kontrast  zwischen  den 
dunklen  Raumöffnungen  und  den  hellen  Mauerflächen 
mit  ihren  Pilasterpaaren  durchhin  ist  wieder  die  Grund- 


134 


Zweite  Phase  des  Barock 


,  läge  der  zweiten  Kraftäufserung,  die  nun  im  Sinne 
der  Höhenaxe  sich  geltend  macht.  Die  aufsteigenden 
Träger  mit  iRren  Kapitellen,  mit  den  vorkragenden 
Emporen  dazwischen,  dem  durchlaufenden  Gebälk 
und  der  Attika  darüber,  betonen  allesamt  den  Hoch- 
drang, der,  vom  Oberlicht  begünstigt,  auch  das 
Tonnengewölbe  erfasst,  so  dass  wir  ein  Wachsen  des 
Raumgebildes  nach  Oben  zu  gewahren  glauben.  Das 
I  nämliche  Prinzip  aber  greift  in  den  letzten  Abschnitt 
zwischen  den  Pfeilerpaaren  umgestaltend  ein,  um 
den  Kuppelraum  der  Vierung  hervorzubringen:  hier 
öffnet  sich  die  Wandfläche  zwischen  den  Trägern 
nicht  mehr  als  Kapellenbogen,  sondern  nur  zu  einer 
Tür  unter  der  Loge,  und  eine  kreisrunde  Kapelle 
liegt  dahinter,  wie  jenseits  der  Vierung  ebenso.  Die 
kürzeren  Intervalle  verkünden  also  das  Zusammen- 
raffen der  Kraft  zum  neuen,  gesteigerten  Hochdrang. 
An  den  Pfeilern  der  Vierung  verkröpft  sich  dem- 
gemäfs  das  Gebälk  und  hier  allein;  denn  über  ihm 
wächst  innen  rund,  aussen  polygon  der  Tambour,  und 
aus  diesem  vollen  Cylinder  die  letzte,  —  in  der  Halb- 
tonne vorn  und  der  Halbkugel  hinten  in  der  Apsis 
vorbereitete  —  Vollendung,  die  kreisrunde  Kuppel 
selbst.  Und  hier  auch  im  Gegensatz  zum  gedämpften 
Oberlicht  des  Langhauses  die  Steigerung  der  Hellig- 
keit durch  die  Fensterreihe  im  Tambour  oder  gar 
\  die  Laterne  droben.  Wenn  die  Höhe  der  Kuppel 
J  sich  verhältnismäfsig  beschränkt,  so  geschieht  dies 
ebenso  der  Einheit  des~Gesamtraumes  zuliebe  wie 
alle  übrigen  Mafsnahmen.  Mit  S.  Peters  Kuppel, 
die  ohnehin  noch  gar  nicht  fertig  dastand,  darf  kein 


Kirchenbau 


135 


Vergleich  gezogen  werden.  Denn  dort  ist  das  Höhen- 
lot die  Dominante  des  Ganzen,  das  Michelangelo 
auftürmen  wollte,  hier  dagegen  die  Tiefenaxe.  Ganz 
abgesehen  von  dem  Rangstreit,  den  die  erste  Jesuiten- 
kirche  in  Rom  sicher  nicht  aufzunehmen  bestimmt 
war.  Darüber  sollte  kein  Zweifel  aufkommen,  auch 
wenn  das  Langhaus  so  kurz  gebildet  ist,  dass  die 
Kuppel  ihre  centralisierende  Kraft  noch  geltend 
machen  kann,  ja  im  Vorwärtsschreiten  vor  unsern 
Augen  zu  erwachsen  scheint.  ,, Leicht  und  graziös 
schwebt  sie,"  meint  Gurlitt;  da  kann  vom  ,, Herab- 
sinken zu  einer  gedrückten  Bildung"  wol  mit  Wölff- 
lin  keine  Rede  sein,  ebenso  wenig  wie  vom 
,, Schwererwerden  aller  Formen"  überhaupt,  das  grade 
bei  der  Kürze  des  Langhauses  noch  nicht  so  eintritt, 
wie  es  der  Hochdrang  in  einer  fortlaufenden  Reihe 
sonst  leicht  zur  Folge  haben  würde. 

So  ist  in  diesem  Innern  eine  einheitliche,  wenn 
auch  in  sich  gegUederte  Entfaltung  des  Raumes  er- 
reicht, die,, über  die  tatsächlichen  Dimensionen  hinaus" 
wirkt,  —  auch  heute  noch,  wo  die  spätem  Zutaten, 
die  Deckenmalerei  und  die  ,, malerische  Architektur" 
der  Wandaltäre  den  ursprünglichen  Charakter  grade 
in  dieser  Hinsicht  beeinträchtigt  haben.  Die  Bedeu- 
tung dieses  Raumes  als  organisches  Gebilde  im  Sinne 
Michelangelos  zu  ermessen,  hilft  besonders  der  Hin- 
weis auf  ein  oberitalienisches  Beispiel,  das  sich  aus- 
drücklich Vignolas  Gesü  zum  Vorbild  nahm.  Als 
man  in  Venedig  beim  Bau  des  Redentore  über  die 
Wahl  der  Centralanlage  oder  des  Langbaues  zweifel- 
haft war,  entschied  (wie  Dohme  berichtet)  die  Schön- 


136 


Zweite  Phase  des  Barock 


heit  der  Jesuitenkirche  in  Rom.  Aber  wie  verschieden 
wirkt  Palladios  Raumkomposition  von  dem  römischen 
Muster,  durch  die  Abtrennung  des  Kuppelraumes 
vom  Langhaus,  die  Durchsicht  durch  die  Säulen 
hinter  der  Vierung  in  den  Mönchschor,  der  aber- 
mals einen  Saal  für  sich  ausmacht:  da  sind  unläug- 
I  bar  malerische  Tendenzen  im  Spiel,  und  als  Kompo- 
sitionsgesetz waltet  die  Harmonie  zwischen  mehreren, 
selbständiger  ausgebildeten  Raumteilen  auf  einer  Axe 
und  der  Durchblick  durch  sie  hin,  also  das  Erbe 
der  Renaissance.  Gilt  es  aber  in  Rücksicht  auf  solche 
Erscheinungen  der  nämlichen  Zeit  in  Oberitalien  nun 
den  Charakter  dieses  mafsgebenden  Kirchenbaues  in 
Rom  zu  bezeichnen,  so  kann  das  Schielen  nach 
,, malerischen  Wirkungen"  wol  nur  irre  führen.  Was 
Vignola  in  diesem  Innenraum  will,  ist  ein  Ausgleich 
,der  plastischen  Tendenzen,  der  einheitlichen  Gestal- 
jtungsenergie  Michelangelos  mit  den  Gesetzen  der 
i  strengen  Architektur,  die  er  den  Meisterwerken  der 
'j  römischen  Antike  abgelernt  hat.  Die  Jesuiten- 
Idrche  in  Rom  ist  eine  Ordenskirche,  nicht  der 
höchste  Tempel  der  ganzen  Christenheit  wie  S.  Peter; 
deshalb  ist  die  volle  Konsequenz  des  plastischen 
Ideals,  wie  Michelangelo  sie  in  diesem  einzig  da- 
stehenden Sakralbau  durch  strengste  Centralisation 
erreicht,  von  vorn  herein  ausgeschlossen:  die  Höhen- 
axe  und  damit  der  Hochdrang  ordnet  sich  der  Tiefen- 
dimension als  Dominante  des  Innenraumes  unter. 
An  der  Hand  der  Longitudinale  gewinnt  aber  auch 
,  das  Prinzip  successiver  Anschauung,  der  fortschrei- 
^  tenden  Bewegung  unsres  Körpers  und  unsres  Blickes 


i 


Kirchenbau 


137 


gemäfs,  bestimmenden  Einfluss  auf  die  psychologische 
Veranstaltung.  Also  das  Nacheinander,  das  Werden 
erhält  auch  hier  über  das  ruhige  Sein  die  Oberhand, 
aber  in  andrer  Richtung.  Also  schliefst  sich  Vignola 
bei  aller  Strenge  des  Vitruvianers  doch  dem  Vorbild 
Michelangelos,  d.  h.  dem  Barockstil  nach  Möglich- 
keit an. 


Nur  ein  Faktor  fehlt  noch ,  der  dem  Hochaltar 
in  der  Tiefe  mit  der  Apsis ,  die  das  Langhaus  ab- 
schliefst, entsprechen  soll,  und  zwar  der  erste  Faktor 
im  fortschreitenden  Gange  des  Betrachters :  die  Fas- 
sade, die  wir  als  Exposition  der  ganzen  Aufführung 
anzusehen  pflegen.  Nur  sie  kommt  bei  dieser  neuen 
Rechnung  noch  am  Äussern  zur  eigentlichen  Geltung ; 
bei  der  ausgesprochenen  Vorherrschaft  des  Innen- 
raumes ,  der  die  ganze  künstlerische  Ökonomie  be- 
stimmt, tritt  das  Interesse  an  monumentaler  Gestal- 
tung des  Baukörpers  nach  allen  andern  Seiten  völlig 
zurück.  Hier  hegt  der  wesentliche  Unterschied  in 
der  Denkweise  des  Architekten  von  Hause  aus,  dem 
die  Raumbildung  Hauptsache  seines  Schaffens  ist 
und  bleibt ,  wie  Vignola ,  und  der  des  Büdners  von 
Hause  aus,  dem  die  Körperbüdung  allzeit  das  höchste 
Anliegen  gewesen,  wie  Michelangelo. 

Der  Tod  hat  Vignola  daran  gehindert ,  seiner 
Jesuitenkirche  noch  die  Fassade  hinzuzufügen,  die 
er  ihr  zugedacht  hatte.  Sein  Entwurf  aber  ist  uns 
im  Kupferstich  bei  Fr.  Villamena  überliefert ;  ob  seine 
Ausführung  sich  unverändert  daran  gehalten  hätte, 
muss  freilich  dahin  gestellt  bleiben.    Sein  Nachfolger 


138 


Zweite  Phase  des  Barock 


Giacomo  della  Porta  hat  jedenfalls  nicht  gezögert, 
eine  neue  Rechnung  an  die  Stelle  zu  setzen.  Halten 
wir  uns  aber  an  den  gestochenen  Entwurf  Vignolas, 
so  erscheint  seine  Fassade  noch  am  wenigstens  vom 
Barockstil  Michelangelos  durchdrungen ,  und  ich 
glaube ,  wir  müssen  annehmen ,  die  Zeichnung  sei 
zu  Anfang,  zugleich  mit  dem  Grundplan  und  Aufriss 
der  Kirche,  1568  entstanden;  denn  mit  diesem  ist 
sie  in  strengem  Einvernehmen ,  wol  als  Vorlage 
für  die  Bauherrn  sorgsam  ausgearbeitet.  Sie  Hefert 
einen  neuen  Beweis,  wie  sehr  die  eigene  Denkweise 
dieses  Architekten  mit  dem  Wesen  der  Spätrenais- 
sance verwachsen  war.  Für  sich  betrachtet  ein 
ausserordentlich  fein  abgewogenes,  als  Frucht  strenger 
Schulung  gezeitigtes  Meisterstück,  bleibt  sie  dem 
Innenraum,  besonders  seiner  DurchgUederung  gegen- 
über in  alter  Befangenheit  zurück.  Das  ist  kein 
Wunder ;  denn  die  Fassadenentwicklung  war  über- 
haupt beim  Kirchenbau  der  Renaissance  zu  kurz 
gekommen ,  wenn  auch  in  Rom  selbst  zusammen- 
hängender fortgeschritten  als  anderswo.^)  Vignola 
persönlich  zeigt  in  seinem  Entwurf  für  die  Fassade 
von  S.  Petronio  in  Bologna,  bei  dem  er  jedenfalls 
sein  höchstes  Können  eingesetzt ,  die  völlig  unzu- 
längliche Vielheit  seiner  Mittel,  die  nicht  im  Stande 
war,  ein  Ganzes  gross  und  durchgreifend  zu  gestalten. 
Hier,  wie   im  Entwurf  für  den  Gesü,  leuchtet  am 


I )  Vgl.  S.  Maria  del  Popolo ,  S.  Agostino  —  wie  eine  Art 
Versuchsstation  — ,  S.  M.  dell'  Anima  u.  s.  w.  Abbildung  des  altern 
Zustandes  bei  Schmarsow,  Melozzo  da  Forli,  Stuttgart  1886,  p.  108. 


Kirchenbau 


139 


meisten  die  Verwandtschaft  mit  dem  gleichstreben- 
den Galeazzo  Alessi  ein,  wie  er  die  Fassade  von 
S.  M.  presso  S.  Celso  in  Mailand  durch  Einschiebsel 
steigert.  Aber  das  letzte  Ergebnis  Vignolas  ist  we- 
nigstens einheitlich  und  streng. 

Gegen  die  Wucht  der  inneren  GUederung  mit 
ihrem  plastischen  Hochdrang  kommt  sie  freihch  nicht 
auf;  aber  wenn  schon  das  „prachtvoll  raumschliefsende 
Tonnengewölbe"  der  Ausführung  seines  Nachfolgers 
Giacomo  della  Porta  verdankt  werden  soll,  ^)  so  darf 
man  bei  der  Attika  darunter  wenigstens  die  selbe 
Frage  stellen  und  begreift,  weshalb  dieser  auch  die 
Wirkung  der  Fassade  so  verständnisvoll  gesteigert  hat. 

Eine  Vorlage  mit  zwei  gleichwertigen  Geschossen 
übereinander  kennzeichnet  bei  Vignola  nach  Aussen 
die  Breite  des  Schiffes,  während  die  Seitenteile  vor 
den  Kapellertreihen  unten  als  geschlossene  Wände 
zurücktreten,  nur  mit  dem  Sockel  des  Obergeschosses 
als  Balustrade  bekrönt,  auf  deren  Postamenten  Sta- 
tuen stehen,  und  mit  dem  Mittelbau  durch  ein  streben- 
artiges Mauerstück  sehr  dürftig  verbunden.  Als 
Gliederung  erscheinen  hier  wie  an  beiden  Geschossen 
der  streng  dominierenden  Mitte  die  gekuppelten 
Pilaster  des  Langhauses ,  aber  durch  Nischen  mit 
Statuen  darin  auseinander  gehalten  und  verselbstän- 
digt, und  in  abermaliger  Steigerung  an  der  Mittel- 
axe zu  Säulen  geworden.  Hier  öffnet  sich  die  Haupt- 
türe mit  reichem  Rahmenschmuck  in  freier,  triumph- 


i)  So  giebt  Gurlitt  an,  und  damit  würde  sich  unsre  Charak- 
teristik noch  mehr  zuspitzen. 


140 


Zweite  Phase  des  Barock 


bogenartiger  Arkade  zwischen  den  vortretenden 
Säulen ,  deren  vorgekröpftes  Gebälk  ein  Segment- 
giebel bekrönt ;  sie  wird  seitlich  von  den  Nebentüren 
begleitet ;  ebenso  im  Obergeschoss  das  grosse  Haupt- 
fenster von  zwei  kleineren,  während  über  den  Säulen 
Gebälk  und  Giebelfeld  sich  in  der  Mitte  vorschiebt, 
überragt  von  drei  entsprechenden  Postamenten  mit 
Statuen  darauf.  Sonst  überspannt  die  Breite  des  Giebels, 
genau  der  Dachlinie  gemäfs,  den  ganzen  Risalit,  über 
dessen  Eckpfeilern  wieder  Postamente  mit  Statuen 
emporsteigen.  Die  Mauerfläche,  die  zwischen  diesen 
Trägern  und  Offnungen  übrig  bleibt,  wird  mit  einem 
Gurtgesims  in  jedem  Geschosse,  unten  in  zweidrittel, 
oben  in  dreiviertel  Höhe  horizontal  geteilt  und  so 
in  kleinere  Felder  zerlegt,  die  durch  Rahmen  wieder 
selbständigen  Wert  erhalten.  So  wird  der  Eindruck 
der  ganzen  Fassade,  wie  Wölfflin  anerkennt,  haupt- 
sächUch  ,, durch  den  alten  Sinn  für  bestimmte  Durch- 
gliederung und  das  Gefühl  der  Selbständigkeit  des 
Einzelnen  bedingt",  —  gehört  also  der  vorwiegenden 
Gesinnung  nach  ohne  Zweifel  zur  Spätrenaissance, 
d.  h.  noch  ebenso  wenig  in  die  Geschichte  des 
Barock  wie  Sto.  Spirito  in  Sassia.  Nur  Einzelformen 
würden  vielleicht  die  Nächbarschaft  Michelangelos 
verraten,  wenn  nicht  doch  die  scharfe  Betonung  und 
Durchführung  der  Mitte  immerhin  deutlich  an  die 
Rechnung  mit  plastischen  Kontrasten  appellierte,  die 
den  neuen  Stil  verkündet. 

Viel  entschiedener  arbeitet  in  diesem  Sinne 
Giacomo  della  Porta,  der  nach  einem  neuen 
Entwurf  das  Werk  bis  1575   vollendet  hat.    Er  ist 


Kirchenbau 


141 


denn  auch  ohne  Frage  die  bedeutendste  Kraft  unter 
den  Zeitgenossen ,  der  tonangebende  Meister  des 
Barockstils  unmittelbar  nach  Michelangelo.  Er  hatte 
bei  andern  Kirchenbauten  Roms  schon  Gelegenheit 
gehabt,  auch  an  der  Fassade  den  Wert  der  alten 
und  neuen  Prinzipien  gegen  einander  abzuwägen 
und  so  den  Übergang  bereits  durchgemacht,  als  das 
Problem  am  Gesü  in  seine  Hände  kam. 

Sein  Erstlingswerk  an  Sta.  Caterina  de'  Funari, 
wenigstens  am  untern  Stockwerk  auf  1563  datiert, 
lässt  noch  starke  Verwandtschaft  mit  Bramantes  be- 
rühmter Umkleidung  der  Casa  Santa  di  Loreto  er- 
kennen, während  die  Flächenfüllung  sich  im  oberen, 
sonst  gleichwertigen  Geschoss  erweitert  und  erleich- 
tert ,  so  dass  ein  Drang  von  Unten  nach  Oben  zu 
wirken  beginnt,  —  ohne  dass  wir  sicher  wären,  ob 
der  Gegensatz  von  Anfang  an  gewollt,  ob  erst  nach- 
träglich hineingekommen  sei.  —  Jedenfalls  vor  dem 
Gesü  entworfen,  wenn  auch  später  ( 1 580)  vollendet, 
ist  S.  Maria  de'  Monti,  eine  der  vorzüglichsten  Lei- 
stungen, die  nach  Wölfflins  treffender  Charakteristik 
nicht  mehr  in  Burckhardts  Renaissance  figurieren 
darf,  sondern  den  Anfang  des  Barockstils  im  Fas- 
sadenbau bezeichnet.  Hier  ist  nicht  allein  die  Ab- 
stufung durch  die  Mittelvorlage,  sondern  auch  durch 
die  plastischen  Werte  vorhanden,  dem  Untergeschoss 
durch  eine  starke  Attika  vollends  das  Übergewicht 
gesichert,  der  Gegensatz  zu  dem  oberen  Aufbau 
mit  seiner  grösseren  Ruhe  und  Freiheit  schon  fühl- 
bar, wenn  auch  noch  nicht  bewusst  mit  allen  Mitteln 
herausgearbeitet. 


142 


Zweite  Phase  des  Barock 


Dies  geschieht  zum  ersten  Mal  in  grösseren 
Verhältnissen  am  Gesü,  und  zwar  in  durchgreifender 
Vereinfachung  gegen  den  Entwurf  Vignolas.  Porta 
rückt  die  Pilaster  dicht  aneinander,  so  dass  sie  nur 
als  Paar  erscheinen,  und  entkleidet  die  Mauermasse 
selbst  aller  auflockernden  oder  verselbständigenden 
Teilgliederung.  Er  fasst  den  Baukörper  wie  Mi- 
chelangelo als  plastisch  bildsame  Materie  auf,  die 
an  solcher  Stirn  die  Geschlossenheit  des  Zusammen- 
halts bewahrt.  Sie  lässt  weder  die  Lagerung  der 
geschichteten  Bestandteile ,  noch  die  Rundung  der 
Formen  in  voller  Loslösung  hervortreten ,  sondern 
bleibt  auch  in  der  Mitte  selbst  zurückhaltend  mit 
sich  selber  Eins.  Unzweifelhaft  kommt  im  Uber- 
gewicht der  oberen  plastischen  Elemente,  der  Giebel 
über  Türen,  Fenstern,  Nischen  der  beiden  mäch- 
tigen ,  die  ganze  Breite  der  Rücklagen  emporneh- 
menden Voluten,  der  Verkröpfungen  im  Hauptgiebel 
und  seiner  Mittelaxe,  der  durchgehende  Hochdrang 
zum  Ausdruck.  Das  Gestaltungsprinzip  des  Bildners 
/  Michelangelo  wird  hier  von  einem  streng  geschulten 
I  Architekten  gehandhabt ,  so  dass  es  unläugbar  die 
Grundlage  des  Baustiles  bestimmt ;  aber  es  durch- 
bricht noch  nicht  die  Gesetze  der  Baukunst  selber, 
die  mit  eignen  Mitteln  auszukommen  trachtet.  ^) 

l)  Daneben  erscheint,  auch  meiner  Überzeugung  nach,  eine 
Fassade  wie  S.  Luigi  de'  Francesi  mit  ihrer  Anlehnung  an  die 
breite,  Schirmwand  von  S.  Maria  dell'  Anima  als  ein  verunglücktes 
Machwerk,  das  nur  durch  allmähliche  Kompromisse  zwischen  ver- 
schiedenen Anläufen  nacheinander  historisch  erklärt  werden  kann, 
eben    deshalb    aber    für    die   Entwicklung    des    Stiles    ausser  Be- 


Kirchenbau 


143 


Und  wie  sollte  dies  anders  sein  bei  einem  Manne, 
der  das  nämliche  Verständnis  für  die  schöpferische 
Kraft  des  grossen  Meisters  und  die  gleiche  Über- 
zeugungstreue in  den  Grundsätzen  der  eignen  Kunst 
bei  allen  andern  Aufgaben,  die  ihm  damals  zufielen, 
betätigt  hat.  Seine  höchste  Leistung  in  dem  selben 
Sinne  war  die  Vollendung  der  Hauptkuppel  von 
S.  Peter  (1588— 1590)  nach  Michelangelos  Modell, 
von  dem  er,  wenn  auch  sehr  wenig  im  äussern  Um- 
riss,  doch  im  Innern  durch  Weglassung  der  untersten 
Schale  beträchthch  genug  abzuweichen  gewagt  hat, 
so  dass  es  nun  ein  Drittel  höher  aufsteigt  als  das 
Vorbild  angiebt.  Die  Umgestaltung  der  halbkuge- 
ligen Form  dieser  Innenschale  in  eine  sphärische 
beweist  allerdings  die  Tendenz,  dem  Hochdrang  auch 
hier  im  energischen  Aufschwung  sein  Recht  zu  ver- 
schaffen, das  der  Körperbildner  Michelangelo  nur 
nach  Aussen  auszuprägen  verlangte,  der  Raumbildner 
dagegen,  der  den  Gedanken  schöpferisch  auf  zunehmen 
verstand,  auch  im  Innern  fordern  musste.  —  Un- 
verkennbar geht  aus  dieser  Tatsache  hervor ,  wie 
tief  sich  Giacomo  della  Porta  in  die  Auffassung  des 
Bauwerks  als  eines  vom  innersten  Kernpunkt  aus 
gewachsenen  Organismus  hineingelebt  hat,  und  wie 
weit  auch  er  in  der  Auffassung  des  Baumateriales 
als  einer  bildsamen  Masse  mitgeht,  einer  Masse,  die 
besonders  in  dieser  Höhenregion  als  sinnlich  wahr- 
nehmbare Hülle   dem  Wachstum   des  Raumes  von 


tracht  fällt.  Giacomo  della  Porta  kommt  oben  sicher  nicht  mehr 
in  Frage.    Vgl.  übrigens  den  Dom  von  Pienza. 


144 


Zweite  Phase  des  Barock 


Innen  her  folgt  und  das  Spiel  der  Kräfte,  die  sie 
durchdringen ,  im  Recken  und  Strecken  der  Glieder 
zugleich  mit  dem  Aufschwung  der  Fülle  selbst  zum 
Ausdruck  bringt.  Aber  ebenso  unläugbar  ergiebt 
sich  aus  der  ganzen  Tätigkeit  Portas  beim  Kirchen- 
bau dieser  Zeit,  dass  von  malerischen  Anwand- 
lungen in  seiner  Kunst  nirgends  die  Rede  sein 
kann,  sondern  nur  vom  Eindringen  plasti- 
schen Wollens  und  bildnerischen  Denkens  in 
das  architektonische  Schaffen.  Damit  ist  der 
Stil  Michelangelos  ebenso  bestimmt  charakterisiert, 
wie  die  nächste  Nachfolge  der  strengen  Architekten,  die 
den  notwendigen  Ausgleich  zwischen  der  plastischen 
und  der  architektonischen  Dominante,  d.  h.  zwischen 
der  ersten  und  der  dritten  Dimension  vollzogen  haben. 

Die  abschliessende  Leistung  für  diese  Periode 
römischer  Kirchenfassaden  gehört  dann  einem  Meister, 
der  von  Haus  aus  für  die  ausgesprochene  Allein- 
herrschaft plastischer  Kontraste  vorgebildet  scheint, 
als  wäre  er  in  seiner  Comaskenheimat  schon  zum  Bild- 
ner geschult:  ich  meine  Carlo  Maderna  und  sein 
allgemein  anerkanntes  Werk  an  S.  Susanna,  das 
1595  — 1603  vollendet  ward. 

Es  war  allerdings  verhängnisvoll ,  dass  es  sich 
in  diesem  Falle  nur  um  eine  Aufgabe  handelte,  die 
den  Zusammenhang  zwischen  der  Fassade  und  dem 
dahinter  stehenden  Raumgebilde  von  vornherein  aus- 
schloss.  Es  ist  eine  altchristliche  Basilika,  deren 
Schlusswand  nur  ein  neues  Angesicht  bekam.  An 
die  Stirn  des  Baukörpers  selbst  aber  schhessen  links 
und  rechts  fortlaufende  Mauern  an,  deren  Höhe  das 


Kirchenbau 


145 


Untergeschoss  wenigstens  um  ein  Stück  noch  über- 
ragt und  so  die  Seitenansicht  der  Kirche  den  BHcken 
entzieht.  Diese  Mauern  mit  ihrer  verwandten  aber 
einfachem  GHederung  bilden  mit  dem  Hauptstück 
in  der  Mitte  die  abschliefsende  Wand  des  Platzes. 
Aus  der  Flächendekoration  daneben  hebt  sich  also 
die  Fassade  mit  ihrer  dreifachen  Abstufung  gegen 
die  Mitte  heraus,  ,,im  plastischen  Ausdruck  von  Pi- 
lastern  zu  Halbsäulen,  von  Halb-  zu  Dreiviertelsäulen 
fortschreitend".  Das  letzte  Drittel  dieser  Säulen  ist 
in  tiefe  Rinnen  eingelegt,  eine  technische  Mafsnahme, 
die  unläugbar  für  die  ausgesprochene  Reliefauffassung 
zeugt,  aber  eines  Reliefs,  das  überall  den  Zusammen- 
hang des  Geformten  mit  dem  geschlossenen  Körper 
der  bildsamen  Masse  aufrecht  erhält.  FreiUch  an 
besonders  bevorzugten  Stellen  der  Lebensäusserung 
von  Innen  her  ist  sie  schon  hier  im  Begriff,  zu 
weiterer  Auflockerung  überzugehen,  aber  noch  räumt 
sie  klar  genug  der  statuarischen  Kunst  diese  Stellen 
ein.  So  erklärt  sich  die  Behandlung  der  Mauer- 
flächen zwischen  der  Ordnung :  die  äussersten  Felder 
bleiben  nicht  leer,  sondern  sind  schon  mit  zwei  Re- 
lieftafeln übereinander  geschmückt,  deren  Gesamt- 
umriss  mit  flachem  Giebelbogen  an  die  Nischenform 
anklingt;  dann  folgen  wirkliche  Nischen  mit  Fenster- 
umrahmung, an  denen  der  schattende  Dreieckgiebel 
nicht  fehlt,  und  Statuen  von  bewegter,  gegen  die  Mitte 
gerichteter  Haltung  darin.  Die  reichverzierte  Tür 
trägt  auf  ihrer  Einfassung  einen  niedrigen  Segment- 
giebel ,  das  Säulenpaar  daneben  auf  seinem  vor- 
gekröpften   Gebälk    einen   Dreieckgiebel ,    der  die 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  j^Q 


146 


Zweite  Phase  des  Barock 


unteren  Krönungen  zusammen  fasst  und  zugleich  in 
die  Sockellage  des  Obergeschosses  überleitet.  Dies 
obere  Stockwerk  wiederholt  drei  Paare  von  Trägern 
über  den  entsprechenden  untern,  aber  nur  als  Pilaster 
auf  den  Postamenten  der  Unterlage,  während  über 
den  zurücktretenden  Seitenteilen  zuäusserst  kräftige 
Voluten  in  doppelter  Knickung  der  Umrisslinie  sich 
lebendig  emporheben  und  oben  gegen  den  Mittelbau 
pressen.  Reicher  umrahmte  Nischen  mit  Statuen 
drängen  mit  gebrochenen  Giebeln  aufwärts,  während 
die  Mittelöffnung  über  dem  Portalbau  mit  Balustrade 
und  Rundbogen,  Pilasterstellung,  verkröpftem  Gebälk 
und  Segmentgiebel  zu  voller  Selbständigkeit  aus- 
gebildet, das  ganze  Mittelrisalit  in  das  Feld  des 
Hauptgiebels  emportreibt,  wo  ein  Wappenschild, 
unter  der  Spitze  hervorquellend,  in  kräftiger  Betonung 
der  Dominante  den  plastischen  Hochdrang  zusammen- 
fasst.  Ja,  noch  über  den  schattenden  Dachrand  selbst 
dringen  die  tragenden  Kräfte  hindurch  als  Pfosten 
einer  Balustrade,  die  von  denEckbekrönungen  empor- 
steigend, im  Kreuz  auf  der  Mitte  gipfelt,  und  so  dem 
Ganzen  einen  ausserordentlich  wirksamen,  das  Empor- 
streben völlig  beruhigenden  Abschluss  geben,  in  dem 
sich  das  Leben  in  gleichmäfsiger  Fülle  verbreitet. 

Mit  dieser  glücklichen  Lösung  der  Aufgabe  an 
S.  Susanna  war  somit  durch  Carlo  Maderna  am  Ein- 
gang des  17.  Jahrhunderts  in  Rom  das  System  der 
Fassadenbildung  für  den  eigentlichen  Barockstil  fertig 
ausgebildet;  aber,  wie  sich  leicht  erkennen  lässt, 
nicht  ohne  abermaligen  Ausgleich  mit  dem  Stil  der 
Renaissance.    In  engstem  Anschluss  an  dieses  Vor- 


Kirchenbau 


147 


bild  entstand  nicht  allein  die  bedeutend  schwächere 
Fassade  der  Chiesa  nuova  (von  Fausto  Rughesi  aus 
Montepulciano  erbaut) ,  sondern  auch  S.  M.  della 
Vittoria  noch  um  1630  von  dem  tüchtigen  Nach- 
zügler Giovanni  Battista  Soria,  der  in  vereinzelten 
Beispielen  sonst  sein  ächt  römisches  Gefühl  für  mo- 
numentalen Ernst  mit  fremdartigen  Regungen  der 
folgenden  Generation  durchsetzte. 

Obwol  nur  Schaustück,  das  ohne  organischen 
Zusammenhang  mit  dem  Innern  vor  den  Kirchen- 
körper hingestellt  ward ,  verfällt  das  Meisterwerk 
Madernas  noch  nicht  der  Versuchung ,  sich  in  ein- 
seitiger Befriedigung  des  Hochdranges  über  alle 
Rücksicht  auf  die  Firsthöhe  der  Kirche  hinweg- 
zusetzen. In  dieser  Auseinanderreissung  der  Stirn- 
seite des  Baues  und  der  Höhenaxe  (eines  etwa  da- 
hinter liegenden  Kuppelraumes  z.  B.)  lag  die  Gefahr 
für  den  Barockstil,  weil  eben  durch  die  Einschiebung 
der  Tiefendimension  des  Langhauses  der  natürliche 
Anschluss  nach  Art  organischen  Wachstums  verloren 
gieng.  Der  Centraibau  kann  auf  selbständige  Aus- 
bildung einer  bestimmten  Schauseite  ganz  verzichten, 
jemehr  er,  allseitig  gerichtet,  sich  ringsum  gleich- 
mäfsig  entfaltet  und  zum  Höhepunkt  der  Mittelaxe 
emporgipfelt.  Aber  auch  da ,  wo  er  Eine  Ansicht 
bevorzugt,  ordnet  sich  diese  dem  allgemeinen  Hoch- 
drang unter,  um  so  unbedingter,  je  mehr  die  pla- 
stische Gestaltung  nach  Art  statuarischer  Kunst  über- 
wiegt, wie  bei  Michelangelos  S.  Peter.  Bleibt  aber 
der  Hochdrang  im  Sinne  des  Bildners  in  Kraft,  und 
waltet,  weit  ab  vom  Mittelpunkt,  also  ohne  genügenden 

10- 


148 


Zweite  Phase  des  Barock 


Rückhalt  und  ohne  organischen  Zusammenhang ,  in 
der  Stirnwand  des  Langhauses  für  sich  weiter ,  so 
ergiebt  sich  als  natürliche  Folge,  dass  er  sich  so- 
zusagen sein  eignes  Rückgrat  ausbildet ,  d.  h.  die 
Höhenaxe  der  Fassadenmauer  selbst  als  Dominante 
anerkennt  und  alle  plastischen  Kräfte  gegen  die 
Mitte  und  hier  nach  Oben  wirft.  Je  weiter  die  Seiten- 
ansicht des  Kirchenkörpers  mitspielt  oder  je  höher 
die  Kuppel  noch  hinter  der  Fassade  sichtbar  empor- 
steigt, desto  stärker  wird  der  Anreiz,  die  selbständige 
Entwicklung  der  Stirnwand  zu  steigern,  um  gegen 
die  Tiefenaxe  des  Langhauses ,  oder  die  Höhenaxe 
der  Centraisteile  dahinter  aufzukommen ,  —  schon 
zu  Gunsten  des  Gesamtaufbaues  der  architektonischen 
Gruppe.  Für  die  Auffassung  dieser  letztern  kommt 
aber  entweder  das  strenge  Gesetz  der  Subordination 
in  Anwendung,  das  heisst  der  Gesichtspunkt  der  sta- 
tuarischen Kunst,  oder  die  nachlässigere  Verbindung 
j  der  Koordination  mehr  oder  minder  selbständiger 
Faktoren,  d.  h.  der  Gesichtspunkt  der  Malerei,  der 
Zusammenfassung  eines  in  die  Breite  gehenden  Neben- 
einander, von  einem  vorgeschriebenen  Standpunkt 
aus,  als  Bild. 

Im  Übergang  von  Jenem  zu  Diesem  Hegt  die 
Geschichte  des  Barockstiles  überhaupt  vorgezeichnet, 
und  der  Schauplatz  der  Krisis  ist ,  wie  das  Relief 
zwischen  Skulptur  und  Malerei,  so  hier  in  der  Bau- 

(kunst  die  Fassade  zwischen  plastischer  und  male- 
rischer Tendenz.  Madernas  Lösung  des  Problems 
an  S.  Susanna  hält  sich  noch  in  glücklichem  Ge- 
lingen zwischen  den  Abweichungen  in  das  eine  oder 


Kirchenbau 


149 


das  andre  Extrem.  War  für  Giacomo  della  Porta 
am  Gesü ,  wo  man  die  eine  Langseite  des  ganzen 
Baues  überblicken  kann,  die  mäfsige  Höhe  der  Kuppel 
von  Vorteil  für  seine  Fassade,  so  für  Carlo  Maderna 
an  S.  Susanna  das  Fehlen  einer  Kuppel  an  der 
alten  Basilika  sowol  wie  das  Verschwinden  jeder 
Seitenansicht  durch  die  Flügelbauten.  Vermochte 
Porta  mit  den  ernsten  Formen  der  Architektur  aus- 
zukommen, so  ergab  sich  für  Maderna  grade  aus 
diesen  Seitenmauern  die  Aufforderung  zu  plastischer 
Bewegung  der  Masse ,  zu  stärkerer  Schwellung  des 
Reliefs.  Und  wenn  irgendwo  ein  Symptom  gefunden 
werden  soll,  das  schon  in  dieser  ersten  Hauptleistung 
des  Oberitalieners  in  Rom  die  Richtung  seiner  künf- 
tigen Laufbahn  oder  sein  Schicksal  in  schwierigeren 
Aufgaben  verkündet,  so  muss  es  in  diesem  Übergang 
•des  kraftvollen  Fassadenreliefs  in  den  Zusammenhang 
der  Fläche  Hnks  und  rechts  gesucht  werden,  das 
heisst  im  Übergang  von  der  Höhe  in  die  Breiten- 
dimension. 

Zunächst  aber  musste  der  Kampf  zwischen  dem 
Höhenlot  und  der  Tiefenaxe  zum  Austrag  kommen, 
und  dies  geschah  an  S.  Peter  selbst.  Carlo  Maderna 
war  es,  dem  der  Vollzug  der  verhängnisvollen  Peri- 
petie zwischen  Centraibau  und  Langhaus  zufiel.  Er 
war  schon  seit  dem  Tode  des  Pietro  Paolo  Olivieri 
(t  1599)  JTiit  der  Fortführung  von  S.  Andrea  della 
Valle  betraut,  also  in  lebendigstem  Verkehr  mit  einem 
Kirchenbau ,  der  entschiedener  zur  Form  des  latei- 
nischen Kreuzes  zurückkehrt,  in  der  Innern  Raum- 
bildung jedoch  die  wesentlichen  Charakterzüge  des 


150 


Zweite  Phase  des  Barock 


Gesü  im  Geiste  freierer  Weiträumigkeit  entwickelt. 
Die  Langhausarkaden  ergeben  hier  ohne  das  Ein- 
schiebsel der  Emporen  eine  glückUche  Lösung;  statt 
der  gekuppelten  Pilaster  erscheint  hier  nur  Einer, 
aber  von  zwei  Halbpilastern  begleitet ,  also  in  fühl- 
barem Wachstum  aus  der  Masse,  und  dem  entspre- 
chend mit  verkröpftem  Gesims.  Die  Attika  läuft 
nicht  gleichmäfsig  durch,  sondern  tritt  nur  unter  den 
Gurten  auf,  die  das  weit  gespannte,  stark  überhöhte 
Tonnengewölbe  gliedern,  so  dass  auch  der  Hoch- 
drang entschieden  und  einheitlich  zum  Ausdruck 
kommt.  Die  Oberlichter  sind  gross  und  erleuchten 
die  Kirche  so ,  dass  eine  Steigerung  vom  Langhaus 
zum  Kuppelraum  eintritt,  dessen  Tambour  schlanker 
aufsteigt  und  in  lebhafterem  Hochschwung  des  Ge- 
wölbes schhesst.  Das  Ganze  gewährt,  durch  keine 
störenden  Dekorationsstücke  beeinträchtigt,  einen  der 
edelsten  Gesamteindrücke ,  den  die  Raumkunst  des 
römischen  Barock  hervorgebracht.  Hauptschiff,  Quer- 
schiff und  Chor  zusammengerechnet  ergeben  einen 
verhältnismässig  grösseren  ununterbrochenen  Frei- 
raum als  irgend  ein  früherer  Baustil". 

So  begreift  sich,  dass  Carlo  Maderna  beim  Lang- 
haus, das  er  dem  vorderen  Kreuzarm  von  S.  Peter 
vorzulegen  hatte,  wieder  von  dem  Vorbild  des  Gesü 
ausgieng,  aber  auch  durch  möglichste  Verbreiterung 
der  Spannweite  des  Mittelschiffes  die  verderbliche 
Wirkung  gegen  die  Centraianlage  zu  mildern  suchte. 
So  schrumpfen  die  Seitenschiffe  zu  nebensächlicher 
Begleitung  des  Hauptraumes  zusammen,  den  Arkaden 
entsprechend   in    ovale  Kuppelräume    mit  nischen- 


Kirchenbau 


151 


artigen  Kapellen  daran  geteilt ,  aber  durch  die  Pfei- 
lerbreite dem  Blick  entzogen ,  so  dass  auch  hier 
nur  von  seitlichen  Vorbereitungen  des  Mittelschiffes, 
also  von  einer  Bildungssphäre  der  organischen  Ge- 
staltung im  Sinne  Michelangelos  die  Rede  sein  kann. 
Ja  für  diese  ovalen,  die  Richtung  der  Tiefenaxe  be- 
gleitenden Kapellen  bleiben  nur  je  zwei  Joche  zu 
beiden  Seiten  übrig ;  denn  weiterhin  gegen  die  Cen- 
tralstelle  zu  sind  zwei  völlig  abgeschlossene  gröfsere 
Kapellen  angeordnet,  und  zwar  in  Form  rechteckiger 
Säle,  deren  längere  Axe  wieder  gleich  jenen  Ovalen 
in  der  Tiefenrichtung  Hegt.  Durch  ihre  Aussonde- 
rung aber  entsteht  für  das  Hauptschiff  noch  ein 
Neues:  die  Entziehung  der  Lichtzufuhr  an  dieser 
Stelle,  während  das  Tonnengewölbe  sonst  durch  Ober- 
lichtfenster durchbrochen  wird.  Von  dem  Mittelton, 
der  in  den  vorderen  Jochen  des  Langhauses  herrscht, 
verdunkelt  sich  die  Kirche  langsam  gegen  den  Kup- 
pelraum zu,  um  dann  im  vollsten  Glänze  zu  erstralen. 
An  der  Hand  der  Tiefendimension  entwickelt  sich 
also  eine  psychologische  Veranstaltung,  deren  Fak- 
toren nach  einander  in  Wirkung  treten  und  auf  die 
Stimmung  des  fortschreitenden  Subjekts  ihren  be- 
stimmenden Einfluss  üben.  Daraus  erklärt  sich  auch 
die  künstlerische  Ökonomie  der  übrigen  Mittel ,  der 
Bauglieder  wie  des  figürlichen  Schmuckes  in  den 
Zwickeln ,  die  Enge  der  Pilasterstellung ,  das  Ent- 
gegendringen übermäfsiger  Gestalten  u.  s.  w. ,  die 
zum  Teil  schon  auf  die  Rechnung  seines  Nachfolgers 
Bernini  kommen. 

Vor  dem  Langhause  jedoch  hat  Maderna  noch 


152 


Zweite  Phase  des  Barock 


eine  Eingangshalle  geschaffen,  die  den  rechteckigen 
Saalbau  nicht  mehr  wie  im  Innern  in  die  Richtung 
der  Tiefenaxe ,  sondern  in  die  Breite  legt.  Und 
dieses  quergestellte  Oblongum  gehört  anerkannter- 
mafsen  zu  den  schönsten  Raumgebilden  dieser  Zeit. 
Es  ist  ein  Vorraum  von  den  Verhältnissen  stattlicher 
Kirchen,  aber  seinem  Charakter  nach  weder  ernstes 
Heihgtum,  noch  prunkender  Festsaal,  noch  trauHche 
Umschliessung  des  menschUchen  Daseins  selber,  son- 
dern ein  Übergang  aus  der  Welt  da  draussen  in  die 
Stätte  der  Andacht,  zur  Einkehr  in  die  Geheimnisse 
des  Innern.  So  bilden  diese  drei  rechteckigen  Säle, 
die  Kapellen  drinnen  und  das  Vestibül  draussen  mit 
ihrer  bezeichnenden  Axenstellung  auch  für  uns  die 
Mittelglieder  zur  Betrachtung  des  Profanbaues,  wäh- 
rend der  nämlichen  Phase  des  Barock. 

PALASTBAU 

,,Die  profane  Architektur  des  Barock  steht  zur 
kirchlichen  in  einem  auffallenden  Gegensatz",  lautet 
das  Ergebnis,  das  Wölfflins  Untersuchung  über  Wesen 
und  Entstehung  dieses  Stiles  voranstellt.  ,,Man  wäre 
geneigt,  hier  überhaupt  eine  barocke  Stilentwicklung 
zu  läugnen,  so  sehr  überrascht  es,  nach  der  quellen- 
den Fülle  und  Kraft  der  Kirchenfassaden  hier  eine 
zurückhaltende  strenge  Formgebung  zu  finden."  — 

Allein,  diese  Überraschung  befällt  uns  wol  nur, 
wenn  wir  in  die  alte  Gewohnheit  synchronistischer  Ta- 
bellen zurücksinken,  d.  h.  die  Jahreszahlen  zu  unsern 
Leitsternen  machen,  statt  den  Urkunden  des  Stilwan- 


Palastbau 


153 


dels  nachzugehen,  womöglich  der  Seele  des  Stiles, 
den  wir  ergründen  wollen,  wo  immer  sie  sich  äussern 
mag,  nachzulauschen,  und  erst  dann,  wenn  wir  die  un- 
bezweifelbaren Tatsachen  festgestellt,  weiter  zu  fragen, 
wie  sich  diese  Offenbarungen  des  innern  Triebes 
zeitlich  zu  einander  ordnen.  Ein  einziges  Zugeständ- 
nis an  den  Kalendermann  führt  den  feinsinnigsten 
Psychologen  zuweilen  schon  irre.  So  auch  hier  die 
Annahme  eines  vielleicht  beachtenswerten  Vorboten 
als  vollgültiges  Beweisstück  für  den  Eintritt  des 
Wandels,  als  vollendete  Tatsache  für  die  Herrschaft 
des  neuen  Prinzips:  ich  meine  den  Versuch,  Antonio 
da  Sangallo  zum  Barockkünstler  zu  stempeln  und 
seinen  eignen  Palast  als  ersten  ausgemachten  Barock- 
bau unter  den  Profanwerken  Roms  zu  begrüfsen. 
Die  Folge  ist  das  Zugeständnis  eines  Widerspruchs: 
,,Der  Barockstil  ist  auch  hier  vorhanden,  aber  die 
Fassade  des  Palastes  hat  eben  andre  Gesetze  als 
die  Kirche;  sie  ist  nur  zu  verstehen  als  Aussenarchi- 
tektur,  der  eine  ganz  andere  Innenarchitektur  ent- 
spricht: aussen  kalte,  ablehnende  FörmUchkeit,  innen 
üppige,  sinnberauschende  Pracht."  Das  heisst  doch 
wol  soviel,  als:  die  Rettung  aus  dem  Widerstreit 
gleichzeitiger  Erscheinungen  ist  nur  mögUch  indem 
man  das  Erklärungsprinzip  aus  einem  ganz  andern 
Gebiet  entlehnt,  als  dem  der  Kunst,  um  die  es  sich 
hier  handelt,  also,  aristotelisch  zu  reden,  durch  eine 
fierdßaoig  eig  ällo  yivog ,  deutsch  zu  reden,  durch 
einen  Seitensprung  oder  eine  Hintertür.  Und  soll 
diese  Ausflucht  ausserdem  mit  der  Preisgabe  der  durch- 
gehenden Gesetze  alles  architektonischen  Schaffens 


154 


Zweite  Phase  des  Barock 


erkauft  werden,  die  Kirchenbau  und  Palastbau  gleicher- 
mafsen  binden,  die  das  Verhältnis  zwischen  Fassade 
und  Baukörper,  zwischen  Aussen  und  Innen  über- 
haupt bestimmen?  Dann  wären  wir  ja  vollends  bei 
Bekleidungskunst  und  Maskerade  angelangt,  und  was 
die  Herrn  Stil  nennen,  wäre  nur  Mode. 

Es  hegt  hier  der  nämliche  Fehler  vor,  auf  den  wir 
beiBetrachtungMichelangelos  alsBegründer  desBarock 
hingedeutet  haben:  den  Ausgangspunkt  dieser  Analyse 
bildet  nicht,  wie  es  soUte,  das  schöpferische  Subjekt, 
sondern  das  betrachtende,  nicht  die  Ursache,  sondern 
die  Wirkung.  Sucht  man  auch  hier  den  Ursprung 
im  Willen  des  schöpferischen  Subjektes,  so  ist  beim 
Profanbau,  besonders  bei  der  Wohnung,  zunächst 
eine  viel  unmittelbarere  Betätigung  des  eigenen  in- 
timsten Wollens  anzunehmen,  als  beim  Sakralbau, 
wo  auch  beim  Künstler  eine  Selbstversetzung  in  ein 
ganz  ideales  Subjekt  vorangehen  muss,  sei  dies  wie 
beim  Tempel  der  Gott  selber,  oder  wie  bei  der 
Kirche  ein  Kollektivum  die  Gemeinde  dazu.  Insofern 
verschiebt  sich  der  Standpunkt  und  mit  ihm  auch 
die  Zugkraft  der  Gesetze  zwischen  dem  Kirchenbau 
und  Palastbau,  aber  zu  Gunsten  des  innersten  Gesetzes, 
der  Übereinstimmung  mit  sich  selbst,  je  mehr  die 
ursprünghchste  Aufgabe  aller  Raumbildung,  die  Um- 
I  Schliessung  des  Menschen,  seines  eigenen  Daseins 
•  und  Lebens  mit  dem  ganzen  System  seiner  Betätigung 
zu  ihrem  Rechte  kommt.  Der  Zusammenhang  zwischen 
Aussen  und  Innen  müsste  also  beim  Wohnhaus  des 
Baumeisters  selber  zunächst  am  unverbrüchlichsten 
erwartet  werden.     Erst  wenn  die  Übereinstimmung 


Palastbau 


155 


hier  durchaus  nicht  vorliegt,  sind  wir  veranlasst,  vom 
"Künstler  zum  Menschen  als  einem  Angehörigen  seiner 
Kulturschicht  überzugehen,  und  kommen  hier  vielleicht 
auf  den  vornehmen  Herrn  und  die  Absichten  der 
Repräsentation  als  Motiv  eines  Unterschiedes  zwischen 
Aussenseite  und  Innenbau  mit  ihren  vermittelnden 
Zwischenstufen.  Zunächst  aber  sollte  der  leitende 
Gesichtspunkt  aller  Kunstgeschichte  und  Kunstpsycho- 
logie nicht  verlassen  werden,  und  erst,  wenn  er  völlig 
erschöpft  ist,  den  benachbarten  der  Kulturgeschichte 
weichen,  die  natürlich  ihr  Recht  hat,  wo  die  künst- 
lerische Rechnung  nicht  ab  integro  beginnt,  son- 
dern Fortsetzung  eines  Überkommenen  bedeutet 
wie  hier. 

Die  Voraussetzung  des  Synchronismus,  von  der 
Wölffhn  ausgehend  zu  einem  Widerspruch  gelangt, 
ist  vielleicht  selbst  schon  eine  unberechtigte,  —  näm- 
lich hervorgegangen  aus  der  alten  Annahme,  die 
Erscheinungen  derKunstgeschichte  müssten  mit  denen 
der  allgemeinen  Kulturgeschichte  Hand  in  Hand  gehen, 
müssten  sich  hüben  und  drüben  unmittelbar  ent- 
sprechen, zeitHch  und  örtlich  parallel  gehen.  Dieser 
Ausgangspunkt  für  die  psychologische  Erklärung 
aus  dem  Lebensgefühl  und  Körpergefühl  heraus, 
die  Wölffhn  geben  will,  ist  tatsächlich  unstatthaft, 
grade  für  diese  fortgeschrittene  Zeit  der  Entwicklung, 
und  deshalb  ihr  Ergebnis  in  vielen  Punkten  vöUig 
irreführend.  Das  eben  hätte  eine  Vorstudie  strenger 
Kulturgeschichte,  mit  chronologischer  Gewissen- 
haftigkeit angestellt,  zu  erbringen  vermocht,  ehe 
die    Zugbrücke    zwischen    der    eigenen   Burg  der 


156 


Zweite  Phase  des  Barock 


Kunst  und  der  Kultur  ringsum  herabgelassen  wer- 
den durfte. 

Bis  dahin  sollten  künstlerische  Gesichtspunkte, 
soweit  sich  irgend  auskommen  lässt,  allein  herrschen 
und  fremdes  Wollen  nur  in  zweiter  Linie  zu  Worte 
kommen.  Das  glückliche  Lebensgefühl  der  Hoch- 
renaissance hatte  die  Ansprüche  an  menschenwürdiges 
Wohnen  bei  allen  Würdenträgern  der  Kultur  so  ausser- 
ordentUch  gesteigert,  dass  in  ihren  Palästen  vor- 
läufig Alles  erreicht  war,  was  den  breiteren  Schichten 
der  Vornehmen  und  Reichen  als  Ideal  vorschweben 
konnte.  Hier  war  eine  Steigerung  zu  neuem  Wollen 
kaum  zu  erwarten,  um  so  weniger,  sowie  die  sorg- 
lose Heiterkeit,  das  göttergleiche  Dasein  gestört  ward, 
und  der  Mut  für  weitere  Errungenschaften  dahinsank. 
Da  ist  es  allerdings  die  nächste  und  natürlichste 
Folge,  dass  die  fröhliche  Siegesgewissheit  von  der 
Stirn  verschwindet,  dass  die  Ansprüche  an  das  Leben, 
die  man  nicht  so  leicht  verlernt,  sich  von  der  Aussen- 
seite  zurückziehen  und  erst  hinter  den  eignen  Mauern 
im  engern  Kreis  der  Eingeweihten  die  gewohnte 
Befriedigung  suchen.  Aber  dieser  Rückzug  ist  zu- 
nächst nur  ein  Negatives;  er  versagt  dem  Künstler 
eine  Gelegenheit  seine  Kräfte  zu  tummeln.  Die 
Auffindung  eines  aesthetisch  fruchtbaren  Keimes 
fällt  wieder  der  schöpferischen  Phantasie  zu.  Und 
selbst  die  Verwertung  des  Gegensatzes  der  Aussen- 
seite  zum  Innern  gehört  der  psychologischen  Ver- 
anstaltung im  Ganzen,  d.  h.  der  Wirkung  auf  das 
Subjekt  des  Betrachters  so  ausschliesslich  an,  dass 
sich  ein  treibendes  Moment  für  die  neue  Gestaltung 


I 

i 


Palast  Vj  au 


157 


dieser  Aussenseite  zunächst  ebenso  wenig  ergiebt. 
Es  fehlt  die  genetische  Erklärung  des  Positiven  in 
der  Charakteristik  des  Stiles. 

Erst  wenn  aus  der  Anmut  (der  Frührenaissance?) 
nicht  nur  die  Harmonie  oder  vollendete  Schönheit 
(der  Hochrenaissance),  sondern  aus  dieser,  nach 
dem  innern  Widerspruch,  wieder  die  Würde  her- 
vorgegangen ist,  die  den  Weg  zum  Erhabenen 
findet,  — •  erst  dann  kommt  wieder  ein  schöpferischer 
Antrieb  hinein,  der  die  Kunst  herausfordert  und 
beseelt.  Dies  aber  ist  ebenso  ein  ethischer  Prozess 
wie  ein  aesthetischer.  ,, Schönheit  ist  Kraft"  lautet 
das  künstlerische  Evangelium  für  das  Bedürfnis  nach 
dem  Erhabenen,  in  dem  sich  die  Selbsterhaltung 
der  Enttäuschten  zusammenrafft.  Aber  es  ist  die 
Frage,  ob  hier  das  Verlangen  der  Bauherrn  auf  die 
Entdeckung  des  adäquaten  Ausdrucks  hingedrängt, 
oder  ob  es  auch  hier  der  schöpferische  Geist  Michel- 
angelos und  sein  persönlicher  Charakter  zugleich 
gewesen,  der  ihn  fand.  Die  Kunstgeschichte  darf 
kühnlich,  solange  sie  nicht  eines  Bessern  belehrt  wird, 
das  Letztere  behaupten:  Michelangelo  war  auch  in 
diesem  Sinne  der  Vater  des  Barock,  wie  wir  es  bei 
Gelegenheit  des  Palazzo  Farnese  oder  der  Laurenziana 
darzulegen  versucht  haben.  Und  seinen  Nachfolgern 
fiel  nur  die  Aufgabe  zu,  den  Weg,  den  er  gewiesen, 
auch  im  Palastbau,  besonders  in  Schöpfung  von 
Innen  her,  wozu  ihm  die  Gelegenheit  gefehlt  hatte, 
weiter  zu  verfolgen  und  seine  Prinzipien  der  Ge- 
staltung mit  den  Bedingungen  des  Vorhandenen 
auseinander  zu  setzen ,  wie  es  im  Kirchenbau  seit 


158 


Zweite  Phase  des  Barock 


Vignola  und  Giacomo  della  Porta  eben  damals  ge- 
schah. 

Es  ist  der  hohe  Saal,  den  die  kraftvolle  Persön- 
lichkeit für  sich  fordert,  nicht  mehr  mit  gleicher 
Ausdehnung  in  die  Breite  und  die  Tiefe,  sondern 
mit  entschiedenem  Übergewicht  der  Längsaxe  als 
der  Richtschnur  aller  lebendigenBetätigung  imHandeln. 
Von  diesem  Ideal,  das  die  Paläste  und  Thermen  der 
römischen  Kaiserzeit  boten,  gleich  dem  erhabenen 
Bilde  des  Laokoon,  geht  die  Umgestaltung  des  ganzen 
Palastbaues  aus.  Erst  als  dieser  oblonge  Saal  bewusst 
f  zum  Kern  der  Neuschöpfung  gemacht  wird,  beginnt 
die  entscheidende  Stilbildung  auch  auf  profanem 
Gebiete  und  damit  die  Geschichte  des  Barockpalastes 
in  vollem  Umfang.'  Darüber  fehlen  uns  leider  noch 
die  grundlegenden  Untersuchungen,  die  vom  Raum- 
gebilde als  solchem  ihren  Ausgang  nehmen. 

Während  der  ganzen  Renaissance  war  seither 
/der  Binnenhof  derjenige  Innenraum  gewesen,  bei 
'  dem  die  Gestaltung  des  Palastes  einsetzt,  weil  er 
der  Mittelpunkt  des  Lebens,  der  Versammlungsort 
war,  wo  der  Hausherr  mit  seinen  Freunden,  seiner 
Klientel,  seiner  Familie, seiner  Dienerschaft  in  Berührung 
trat.  Hierher  öffneten  sich  alle  Bestandteile  des 
mannich faltigen  Systems  von  Zwecken,  das  die  Mauern 
eines  solchen  Hauses  umschlossen.  Von  hier  aus 
erfolgte  somit  die  möglichst  gleichartige,  auf  sym- 
metrische Gliederung  gerichtete  Organisation  nach 
allen  Seiten.  Aber  im  H^ause  des  geistlichen  Herrn 
in  Rom    lagen    die  Bedingungen    anders  als  sonst 


Palastbau 


159 


überall,  schon  weil  die  Gattin,  das  weibliche  Ober- 
haupt der  Familie  fehlt,  und  die  Stadt  der  Päpste 
wurde  ja  tonangebend  seit  dem  Aufstieg  der  Hoch- 
renaissance an  diesem  Mittelpunkt  der  Welt.  So 
verliert  in  Rom  auch  der  Hof  schneller  die  umfassende 
Bedeutung  und  wird  zum  Durchgangsraum,  wo  Herren- 
reich und  Dienerreich,  Repräsentation  und  Haus- 
halt sich  scheiden  in  ein  Vorn  und  Hinten.  Der 
Eigentümer  will  nur  seinem  persönhchen  Leben  und 
Charakter  Ausdruck  geUehen  sehn,  und  nur  von  seiner 
besten  Seite  sich  zeigen,  sei  es  im  Spiegel  für  sich 
oder  beim  Empfang  vorübergehender  Besuche.  Des- 
halb betätigt  sich  hier  das  neue  Prinzip  zuerst,  aber 
nicht  mehr  allseitig  und  gleichmäfsig,  sondern  in 
Einer  Richtung  und  mit  sichtlicher  Bevorzugung  be- 
stimmter Seiten,  die  für  den  Hausherrn  und  seinen 
Verkehr  in  Betracht  kommen.  Es  vollzieht  sich  die 
Betonung  und  künstlerische  Verwertung  der  Longi- 
tudinale  auch  hier.  Unzweifelhaft  mit  Bewusstsein 
wählt  Vignola,  wie  gesagt,  im  fünfeckigen  Schloss- 
bau von  Caprarola  für  den  Hof  die  ovale  Form,  in 
der  die  längere  Axe  zur  Lebensaxe  wird.  Giacomo  'l 
della  Porta  baut  den  Hof  der  Sapienza  als  läng- 
liches Rechteck,  mit  dem  Eingang  an  der  Schmal- 
seite. Damit  ist  aber  im  Innern  des  Baukörpers  das 
nämliche  Gesetz  wie  im  gleichzeitigen  Kirchenbau 
verständlich,  und  von  hier  aus  zeigt  sich  eine  durch- 
aus konsequente  Entwicklung  des  Stiles;  nur  kann 
sie  naturgemäfs  nicht  so  rasch  und  durchgreifend 
erfolgen,  weil  in  der  Wohnung  die  Gewohnheit 
widerstrebt,  das  hergebrachte  Leben  des  Bewohners 


160 


Zweite  Phase  des  Barock 


der  Umgestaltung  entgegensteht,  die  im  Bau  für 
Ideale  abstrakter  Art  sich  ohne  Hindernis  voll- 
ziehen mag. 

Immer  deutlicher  heben  sich  die  Eingangsseite 
hüben  und  die  Schauseite  drüben  als  bevorzugte 
Stellen  der  plastischen  Gliederung  heraus  vor  dem 
schlichten  Fortlaufen  der  beiden  Langseiten,  die  ein- 
ander zu  nahe  gegenüber  Hegen,  um  denselben  Kraft- 
aufwand aufzubieten,  den  der  durchgehende  Betrachter 
unten  übersieht,  der  stillstehende  oben  nicht  verträgt. 
Ja,  wenn  das  Langhaus  der  Kirchen  wolweislich 
selten  über  drei  Joche  hinausgeht,  damit  die  starke 
Plastik  seiner  Glieder  sich  nicht  schwerfälUg 
häufe  und  perspektivisch  zusammengeschoben  form- 
los erscheine,  so  war  hier  im  Palast  entweder  eben 
solche  Kürzung  geboten,  die  den  Anforderungen 
nicht  entsprach,  oder  eine  Vereinfachung  der  Glieder 
in  länger  fortlaufender  Reihe  notwendig.  So  werden 
aber  auch  die  beiden  Schmalseiten  drinnen  im  Hof, 
was  sie  im  Kirchenraum  waren,  und  dem  Eingang 
gegenüber  gestaltet  sich,  wie  die  Chornische  mit 
,l  dem  Hochaltar,  hier  an  der  Schlusswand  die  Mitte 
l\  als  besonders  schmuckreiches  Schaustück  mit  Nische, 
Brunnen,  Statuen  und  Säulen  zum  vollen  Ausdruck 
des  plastischen  Hochdrangs,  der  die  Seele  des  Barock- 
stils geworden,  oder  es  öffnet  sich  eine  neue  Per- 
^  spektive,  wie  Michelangelo  bei  Pal.  Farnese  gewollt, 
und  damit  eine  umfassendere  Komposition  aus 
mehreren  Raumganzen  hintereinander,  also  erstrecht 
Gelegenheit  zur  Ausbeutung  der  Tiefenaxe,  die  erst 
die  Folgezeit  verstand. 


Palastbau 


161 


Zunächst  sucht  die  persönUche  Würde  des  Herrn, 
ja  die  Erhabenheit  seines  Charakters  hier  in  über- 
schaubarer Weite  die  Sprache  plastischer  Formen, 
volltönend  und  überlegen,  also  in  allen  Äusserungen 
des  Hochdrangs  und  der  wuchtigen  Fülle ,  die  von 
Innen  her,  aus  dem  einheitlichen  Körper  hervorwächst, 
wie  in  lebendiger  Spannung  der  Muskulatur,  in  ener- 
gischer Gebärde  sich  zusammenfassend,  aber  stets 
mit  dem  Vorrat  für  noch  grösseren  Aufwand  an  Kraft 
dahinter. 

Und  wie  dort  im  Kirchenraum  die  centralisierende 
Vierung  durch  ihren  Kuppelbau  noch  die  Höhen- 
axe  selbst  an  bestimmter  Stelle  der  Longitudinale 
als  zweite  Dominante  einstellt  und  für  sich  ent- 
wickelt ,  so  auch  hier  im  Palast  die  Verbindung  der 
Einfahrt  und  des  Vestibüls  unten  mit  dem  Piano 
nobile  darüber,  das  Treppenhaus.  Je  mehr  der  Hof 
die  alte  Bedeutung  als  Hauptraum  für  den  Besitzer 
und  seine  Gäste  verliert,  desto  wichtiger  wird  diese 
Verbindungsstelle,  wo  die  Faktoren  im  Aufstieg  zu- 
sammenwirken, besonders  der  Blick  in  den  Hof  seine 
Rolle  spielt.  Sobald  sich  die  Idee  des  plastischen 
Hochdrangs  dieses  Mittelgliedes  zwischen  unten  und 
oben  bemächtigt,  ist  ein  Schauplatz  für  fruchtbare 
Motive  gefunden,  wie  für  die  Komposition  im  Sinne 
einer  psychologischen  Kontrastwirkung ,  gleich  der 
Laurenziana  Michelangelos,  mit  der  Treppe  zwischen 
Vorbereitung  und  Erfüllung. 

Dann  aber  schliefst  sich  der  oblonge  Festsaal 
als  Höhepunkt,  sei  es  allein,  sei  es  wieder  mit  einer 
Bildungssphäre    um    sich    oder    einer  Vorbereitung 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  -[  | 


162 


Zweite  Phase  des  Barock 


durch  Warteräume  vor  sich,  durchaus  im  Sinn  der 
wolbekannten  Barockgedanken  an :  die  Tiefenaxe 
wird  überall  als  Weg  des  successiven  Verlaufes  der 
Leitfaden  der  Raumkomposition,  Fragen  wir  aber, 
wie  weit  die  nächste  Generation  der  Architekten 
nach  Michelangelo  auf  dieser  Bahn  künstlerisch  er- 
findend vorgedrungen  sei ,  so  ist  vorerst  kaum  eine 
Antwort  möglich.  Schon  am  Palazzo  Farnese  stand, 
wie  wir  uns  gesagt,  das  Vorhandene  den  neuen 
Wünschen  entgegen.  Aber  als  Resignation  dazu 
veranlasste,  die  weitgehenden  Projekte  Michelangelos 
aufzugeben ,  die  eine  Verbindung  mit  der  Farnesina 
forderten ,  da  entstand  durch  diese  Nachfolger  doch 
eine  so  charakteristische  Schöpfung ,  wie  die  be- 
rühmte Galleria  Farnese ,  die  nach  Aussen  in  dem 
Flickwerk  zwischen  der  einstigen  Mittelöffnung  und 
den  kompakten  Stücken  der  sonstigen  Masse  nur 
die  Verlegenheit  der  nachträglichen  Zutat  verbrieft, 
indem  sie  die  Arkaden  des  Hofes  wiederholt. 

So  lange  der  Binnenhof  als  Erbteil  der  Renaissance 
seine  Bedeutung  bewahrt,  bleibt  der  Fassade  nach 
Aussen  nur  übrig,  die  Geschlossenheit  des  Baukörpers 
zu  betonen,  und  der  Barockstil  versucht  vorerst  nichts 
anderes  als  den  Ausdruck  verhaltener  Kraft  in  we- 
nigen Zeichen  und  gedämpftem  Ton.  An  der  Kir- 
chenfassade will  die  gesteigerte  Plastik  grade  den 
persönlichen  Eindruck  hervorbringen,  den  die  un- 
sichtbare Gottheit ,  die  drinnen  gegenwärtig  gedacht 
wird,  nicht  selber  ausüben  kann,  wie  die  leibhaftige 
Person  des  irdischen  Machthabers  in  seinen  Räumen. 
Es  wäre  ein  Fehler  in  der  künstlerischen  Ökonomie 


Palastbau 


163 


gewesen,  die  selben  Mittel  auf  die  Fassade  des  Pri- 
vatbaues zu  werfen ,  so  lange  der  Bewohner  selbst 
sich  die  Kraft  zutraut,  als  imponierende  Persönlichkeit 
darin  aufzutreten,  unterstützt  oder  sekundiert  von 
dem  wirkungsvollen  Hof  und  Empfangssaal ,  den 
Spiegelungen  des  Kraftideales  von  übermenschli- 
cher Art. 

So  hat  es  seinen  guten  Sinn,  wenn  im  Profan- 
bau der  umgekehrte  Kontrast  auftritt  wie  im  Kir- 
chenbau. War  dort  das  Äussere  reich  gestaltet, 
das  Innere  ruhig  und  schlicht,  so  hier  das  Gegenteil, 
der  Reichtum  drinnen  und  die  Schlichtheit  draussen. 
Doch ,  das  ist  nur  ein  Ubergang  wie  bei  den  Kir- 
chen auch. 

Sobald  nämlich  der  Hof  der  römischen  Paläste  ' 
zum  Durchgangsraum  und  Durchblick  nur  geworden 
ist  oder  überhaupt  aufgegeben  wird,  so  müssen  auch 
die  Rollen  anders  verteilt  werden.  Das  geht  zu- 
sammen mit  dem  Aussterben  der  tatkräftigen  Cha- 
raktere, mit  dem  Erlahmen  der  Energie,  die  der 
Würde  und  Erhabenheit  selber  fähig  ist ,  und  damit 
beginnt  eine  ganz  andre  Rechnung  als  Angelegenheit 
der  folgenden  Generation.  Es  ist  der  letzte  Schritt 
in  der  Entwicklung  des  Aussenbaues,  wenn  die  Fas- 
sade als  Bestandteil  einer  Komposition  im  Grofsen 
behandelt  wird,  die  nur  im  zeitHchen  Verlauf  nach- 
einander genossen  werden  kann. 

Bis  dahin  dürfen  wir  uns  nicht  wundern,  wenn 
die  überkommene  Masse  des  Baukörpers  solcher  rö- 
mischen Paläste,  die  zu  ,, Herbergen  des  Adels"  ge- 
worden, der  künstlerischen  Bewältigung  nach  den 

11* 


164 


Zweite  Phase  des  Barock 


Prinzipien  eines  neuen  Stiles  sehr  nachhaltigen  Wi- 
derstand entgegensetzt ,  und  vorerst  nur  von  ver- 
schiedenen Anläufen ,  meist  auf  Einzelnes  gerichtet, 
erzählt  werden  kann,  bis  man  begreift,  dass  die  ganze 
Disposition  der  Geschosse  einen  andern  Sinn  be- 
kommen muss  als  je  zuvor. 

Der  Auffassung  des  Baumateriales  als  einer 
einheithchen  bildsamen  Masse  entsprechend ,  bleibt 
die  Mauer  möglichst  ungeteilt  und  ungegliedert.  Be- 
kleidung mit  Travertin  bezeichnet  das  Höchste  ;  aber 
auch  wo  sie  in  Wirkhchkeit  nur  aus  Backstein  be- 
steht, wird  sie  doch  gleichmäfsig  übermörtelt.  Von 
einer  dekorativen  Flächenfüllung,  die  zur  Zeit  der 
Hochrenaissance  für  solche  Fälle  behebt  war,  und 
z.  B.  an  Pal.  Sacchetti,  dem  eignen  Haus  des  male- 
risch gesonnenen  Antonio  da  Sangallo  wol  sicher 
beabsichtigt  gewesen,  ist  nun  keine  Rede  mehr.  Der 
Barock  verzichtet  deshalb  auf  die  GHederung  durch 
Gurtgesimse  und  belässt  die  Mauer  in  mögUchst 
ungebrochener  Ganzheit.  Er  bedarf  auch  für  die 
Öffnungen  keines  weitern  tektonischen  Haltes  als 
die  Masse  selber  gewährt;  aber  die  ,,eurhythmischen" 
Fenster  der  Renaissance  werden  demgemäfs  schlanker 
und  höher;  der  durchgehende  Hochdrang  presst  sie 
zusammen  und  zieht  sie  mit  sich  aufwärts,  während 
die  Überhöhung  der  Räume  drinnen  doch  grosse  ge- 
schlossene Mauerflächen  über  allen  Fenstern  stehen 
lässt.  Aber  allmählich  tritt  auch  hier  der  plastische 
Trieb  zu  Tage  und  bereitet  im  Hochdrang  der  Fen- 
sterrahmen und  Portalfassung  mit  Giebelaufsatz  das 
mächtige  Kranzgesims  vor,  das  noch  lange  als  fester 


Palastbau 


165 


Abschluss  ringsum  in  Geltung  bleibt.  Die  hohe  Stirn 
des  Pal.  Farnese  bezeugt,  wie  Michelangelo  die  Ana- 
logie mit  dem  Vorbild  des  menschUchen  Äussern 
durchgedacht,  und  die  Konsequenz:  ,Je  höher  das 
Geschoss ,  desto  deutlicher  als  Sitz  der  geistigen 
Überlegenheit,"  ergiebt  sich  von  selber,  steht  aber 
im  Widerstreit  zur  tradionellen  Bedeutung  des  Piano 
nobile ,  das  sich  nicht  ohne  Weiteres  ins  zweite 
Stockwerk  hinauf  verlegen  lässt. 

So  bleibt  es  lange  bei  dem  Anlauf,  wenigstens 
die  Vorherrschaft  eines  Geschosses  deutlich  heraus- 
zuarbeiten und  durch  strenge  Subordination  des 
Erdgeschosses  wie  des  zweiten  Stocks  zu  sichern.^) 
In  solchem  Verhältnis  braucht  auch  das  Mezzanin 
nicht  mehr  verhehlt  zu  werden  wie  bisher,  sondern 
kann,  wie  gesagt,  in  Abhängigkeit  von  dem  einen 
oder  dem  andern  Geschoss  sehr  wirksam  verwendet 
werden.  Zu  der  Einsicht,  dass  die  struktive  Idee 
des  hochgemuten  Wachstums  eigentlich  ein  ganz  and- 
res Verhältnis  fordert,  das  Hauptgeschoss  jedenfalls 
nicht  in  der  Mitte  duldet,  und  mit  seiner  lebendigen 
Kraft  das  Kranzgesims  durchbrechen  müsste ,  dazu 
gelangt  erst  die  Folgezeit.  Wol  aber  zeigen  sich 
Ansätze  dieses  Gedankens,  indem  die  Proportionen 
auch  hier  progressiv  werden.  Die  entscheidenden 
Schritte  tut  wieder  Giacomo  della  Porta,  noch  knapp 
und  gemessen  an  Palazzo  Paluzzi  bei  S.  M.  in  Cam- 
pitelli,  an  Pal.  Boadile  und  einem  jetzt  abgetragenen 


i)  Vignola  fasst  im  Pal.  Farnese  zu  Piacenza  fünf  Geschosse 
so  zusammen,  dass  für  den  Anblick  nur  ein  Hauptstockwerk  existiert. 


1.66 


Zweite  Phase  des  Barock 


Hause  an  Via  del  Gesü,  dann  Pal.  Chigi,  Pal.  d'Este 
und  am  unvollendeten  Pal.  Serlupi.  Mezzaninfenster 
sind  es ,  die  Bewegung ,  Wachstum  in  den  Aufstieg 
bringen.  Sie  legen  sich  als  Kellerluken  unter  die 
Fenster  des  Erdgeschosses,  wirken  überhöhend  über 
denen  des  Piano  nobile  und  verschwinden  ganz  im 
zweiten  Geschoss ,  oder  treten  dort  gar  allein  auf, 
so  dass  es  nur  als  Attika  wirken  mag.  Aber  auch 
Beispiele,  dass  das  zweite  Obergeschoss  wie  an  Pal. 
Farnese  das  höhere  geworden,  fehlen  nicht,  wie  Pal. 
Crescenzi  neben  dem  Pantheon ,  Pal.  d'Hasti  an 
der  Ecke  des  Corso  bei  Piazza  Venezia  noch ,  Pal. 
Mattei  und  Meilini  bei  S.  Caterina  de'  Funari  und 
andre  kleine  Häuser  z.  T.  schon  späteren  Datums. 

Dann  aber  begegnen  auch  hier  wie  beim  Kir- 
chenbau die  Regungen ,  der  Mittelaxe  die  centrali- 
sierende  Gewalt  als  sichtbare  Dominante  der  Sym- 
metrie zu  sichern.  Zunächst  wird  im  schlichten 
Mauerkörper  die  regelmäfsige  Reihung  der  Offnungen 
I  aufgegeben  und  statt  dessen  die  Bildung  rhythmischer 
/  Abschnitte  in  symmetrischer  Folge  um  die  stärkere 
Mittelgruppe  versucht,  wie  es  bereits  in  der  Renaissance, 
besonders  in  Oberitalien  geschehen  war.^)  In  schnelle- 
rem und  schnellerem  Tempo  folgen  die  Reihen  nach 
dem  Centrum  zu,  von  beiden  Seiten  her ;  aber  immer 
noch  wird  die  Masse  als  eine  einheitliche  zusammen- 
gehalten. So  am  Pal.  Ruspoli  von  Ammanati  mit 
seiner  ausserordentlichen  Breite,  Pal.  Chigi  von  Gia- 

i)  Vgl.  aber  auch  Pal,  Salviati   vom  Florentiner   Nanni  di 
Baccio  Bigio  1557. 


Palastbau 


167 


como  della  Porta,  gegen  den  Corso  zu,  und  Pal.  Lu- 
dovisi  an  Piazza  Colonna. 

Verbindet  sich  diese  rhythmische  Gruppierung 
(i.  2.  2.  3.  2.  2.  I.)  dann  fühlbarer  mit  der  architektoni- 
schen Ausgestaltung  des  Portales,  an  dem  zuerst  der 
plastische  Drang  gleichsam  aus  Hof  und  Vestibül  her- 
ausschlägt, dann  ist  der  neue  Ansatz  für  die  Durch- 
führung des  Vertikalismus  auch  hier  gegeben.  Diese 
strenger  monumentale  Behandlung  aber  scheint  sich 
während  dieser  Phase  des  Barockstiles  auf  die  öffent- 
lichen Paläste  beschränken  zu  wollen,  als  deren  Beispiel 
der  Konservatorenpalast  nach  Michelangelos  Entwurf 
allmählich  vollendet  ward,  mit  seiner  einzigen  durch- 
greifenden Pfeilerordnung  und  seinem  jedenfalls  spät 
erst  hineingekommenen  Mittelfenster. ^)  Die  Erweite- 
rung manches  Portales  zum  Zweck  der  Einfahrt  rührt 
aus  dieser  Zeit  her  und  nähert  seine  Erscheinung 
dem  Kirchenportal,  so  dass  die  weiteren  Folgerungen 
für  die  Höhenentwicklung  sich  von  selber  einstellen. 
Es  wird  zum  Sockelbau  für  die  Dominante  durch 
die  Geschosse  durch,  und  von  hier  aus  durchbricht 
der  plastische  Hochdrang  die  letzten  Querstreifen, 
die  ihm  noch  als  merkbare  Horizontalen  entgegen- 
stehen. Nun  beginnen  die  Fenster,  die  aller  Selb- 
ständigkeit entkleidet  waren,  wenigstens  nach  Oben 
an  ihren  Rändern  konsolenartige  Vorsprünge  an- 
zusetzen, die  zuerst  eine  einfache  Verdachung  tragen, 

I)  Vgl.  von  Giacomo  del  Duca,  dem  sicilianischen  Bildhauer, 
auch  Pal.  Cornari  bei  Fontana  Trevi  von  1575  (6  +  5  -f  6  Fenster 
mit  betonter  Mitte,  in  Keller,  Erdgeschoss  und  Piano  nobile,  oben 
nur  Luken),  Ferrerio,  Tav.  36. 


168 


Zweite  Phase  des  Barock 


dann  zu  reicherem  und  reicherem  Giebelwerk  sich 
auswachsen,  bis  diese  steigende  Bewegung  auch  das 
Kranzgesims  erreicht  und  in  sein  fortschreitendes 
Wachstum  aufzunehmen  trachtet. 

Diese  Fortschritte  der  Palastfassade  werden  aber 
erst  dann  übersichtlich  vor  Augen  treten,  wenn  wir 
eine  florentinische  (oder  toskanische)  Gruppe 
mit  ihren  charakteristischen  Fenstern  im  Erdgeschoss, 
und  eine  oberitalienische  (Martino  Lunghi  u.  s. 
Stilverwandten)  von  der  specifisch  römischen  unter- 
scheiden, die  in  dieser  Zeit  unter  Führung  des  Gia- 
como  della  Porta  allein  die  Entwicklung  des  Barock- 
stils gefördert  hat. 

Ein  andres  Verhältnis  dieser  Faktoren  stellt  sich 
natürlich  ein,  wo  immer  die  Zahl  und  Folge  der  räum- 
Hchen  Bestandteile  eines  solchen  Palastes  sich  ändert, 
d.  h.  wo  wir  die  herkömmliche  Anlage  der  grossen 
Stadtwohnungen  verlassen  und  auf  das  einfache 
Wohnhaus  ohne  beträchtlichen  Binnenhof  oder  auf 
das  Lusthaus  mit  seinem  Garten  statt  des  Hofes 
weiter  blicken.  Eine  weitere  grundsätzUche  Ver- 
schiebung findet  endUch  in  der  Villa  draussen  auf 
dem  Lande  statt,  die  dem  ganzen  Haushalt  zu  mo- 
natelangem Aufenthalt  dienen,  zugleich  aber  wenigstens 
teilweise  den  Ansprüchen  der  Repräsentation  gerecht 
werden ,  wie  andrerseits  in  vollem  Umfang  die  Er- 
holungen des  Landlebens  gewähren  soll. 

Das  Stadthaus  auf  beschränktem  Bauplatz  bietet 
der  plastischen  Tendenz  des  Barockstils  schon  als 
geschlossener  Körper  die  willkortimenste  Unterlage, 


Villenbau 


169 


sich  im  Ganzen  zu  betätigen.  Hier,  wo  keine  Tiefen- 
dimension dem  Wachstum  der  Vertikale  Konkurrenz 
macht ,  waltet  die  Analogie  mit  der  statuarischen 
Kunst  reiner  und  ungestörter  als  sonst,  und  die 
Baukunst  des  Barock  entwickelt  sich  völHg  im  Sinne 
Michelangelos  als  Hochbau.  Ein  Vergleich  zwischen 
dem  Bramanteschen  Häuschen  gegenüber  Pal.  del 
Governo  vecchio ,  oder  den  weitern  Beispielen  der 
Hochrenaissance  neben  S.  M.  dell'  Anima,  selbst 
Pal.  Linotte  (der  nicht  von  Peruzzi,  sondern  von 
Antonio  da  Sangallo  herrührt),  auf  der  einen  Seite 
und  dem  Haus  des  Vignola  an  Piazza  Navona,  nebst 
andern,  leider  z.  T.  abgebrochenen  oder  veränderten 
Einzelwerken  beim  Pantheon  und  beim  Gesü,  bis  in 
die  Tage  des  Giacomo  della  Porta  und  Giov.  Batt. 
Soria  hinein,  ergiebt  überall  die  entscheidenden  Sym- 
ptome. 

Die  Villa  suburbana  behält  vom  Stadtpalast 
des  grossen  Herrn  nur  einen  Trakt,  etwa  eine  Schmal- 
seite des  rechteckigen  Grundrisses,  und  dahinter 
tritt  der  Garten,  wie  gesagt,  an  die  Stelle  des  Bin- 
nenhofs. Gegen  die  Strasse  zu,  die  vom  Stadttor 
aus  vorbeiführt,  kehrt  sich  die  Stirn  nun  als  ge- 
schlossener Körper,  mit  glatter  Mauer,  schlichten 
Offnungen  über  stärker  entwickeltem  Portal ,  ernst 
und  streng  nach  dem  Sinn  des  städtischen  Ansehens, 
von  dem  man  herkommt,  für  einige  Stunden  nur, 
und  ohne  dieser  Rücksicht  entsagen  zu  wollen,  d.  h. 
immer  im  Gefühl  des  Zusammenhangs  mit  dem  Pa- 
last desselben  Besitzers  innerhalb  der  Mauern.  So- 
weit mag  Villa  Medici  auf  dem  Pincio  als  Beispiel 


/    170  Zweite  Phase  des  Barock 

Geschlossenheit  auf  andre  Zusammenhänge,  von  denen 
hier  noch  abgesehen  werden  muss,  wie  auf  die  Flü- 
gelansätze hinten  gegen  den  Garten  zu.  Auf  der 
Rückseite  gehören  die  Motive  selbst  freilich  im  Ein- 
zelnen noch  wesentlich  der  Spätrenaissance  und  er- 
innern an  Galeazzo  Alessi  und  Vasari;  die  durch- 
gehenden Gesetze  plastischer  Gestaltung  im  Sinne 
Michelangelos  sind  nicht  erfasst.  Der  Sinn  für  diese 
befriedigte  sich  in  dem  beschränkten ,  klar  überseh- 
baren Garten  an  der  bildsamen  Masse  der  vegeta- 
bilischen Natur,  die  selbstgewachsen  aber  vom  mensch- 
lichen Willen  durchdrungen  ist  und  beherrscht  wird, 
—  sei  es  in  geschlossenem  Buschwerk  und  gescho- 
rener Heckenwand ,  der  die  Menschenhand  das  Ge- 
setz tektonischer  Formen  aufgenötigt,  oder  in  den 
jungen  Pinien  mit  ihrem  kurzen  Stamm  und  der  ge_ 
füllten  Kuppel  ihrer  Krone  darauf.  Erst  jenseits 
dieser  willkürlichen  Gestaltung  der  Natur,  wo  der 
Ausblick  über  die  Mauer  auf  die  Gründe  der  Villa 
Borghese  freier  in  die  Weite  schweift,  bis  auf  den 
Hintergrund  der  Hügelketten,  der  plastischen  Natur- 
gestaltung der  Erdoberfläche  selber,  mögen  wir  von 
der  Mitwirkung  des  aesthetischen  Gegensatzes  reden, 
der  als  Folie  nur  dazu  dient,  die  positiven  Faktoren 
des  Geformten  erstrecht  als  Woltat  der  Kunst  fühl- 
bar zu  machen.  Wir  dürfen  in  diesen  Gärten  durchaus 
nur  das  Genüge  des  schöpferischen  und  geniessenden 
Subjekts  suchen,  das  aus  eigener  Kraft  die  umgebende 
Welt  bewältigen  will,  ohne  sich  selbst  einen  Augen- 
blick abhängig  vom  All  zu  fühlen  oder  gar  über- 
wältigt   vom  Unendlichen  sich  selber  zu  verlieren. 


Villenbau 


171 


dienen,  die  1550  für  den  Kardinal  Giov.  Ricci  da 
Montepulciano  begonnen  war ,  dann  aber  seit  1 590 
für  den  Kardinal  Ferdinande  Medici  von  dem  Tos- 
kaner  Annibale  Lippi  wesentlich  umgebaut  worden 
ist,  so  dass  sie  besser  zu  den  Vorbereitungen  der 
folgenden  Phase  gerechnet  wird.  Schon  der  obere 
Aufsatz  auf  dem  Dach  weist  von  dieser  körperhaften 
Das  Aufgehen  im  Unbegränzten,  Unabsehbaren  ent- 
spräche durchaus  nicht  dem  Kraftideal  dieser  Gene- 
ration ,  das  von  einer  so  mächtigen  Persönlichkeit 
wie  Michelangelo  gestaltet,  dem  Verlangen  nach 
strenger  Würde,  ja  persönlicher  Erhabenheit,  dem 
eigensten  möglichst  übermenschlichen  Selbstgefühle 
gerecht  ward.  Solange  es  noch  willensstarke  Cha- 
raktere gab  gleich  ihm,  und  diese  als  Herrn  der 
Welt  in  der  Hauptstadt  der  Welt  mit  allen  Mitteln 
der  Kunst  befriedigt  sein  wollten,  hat  auch  diese  Villa 
suburbana  mit  ihrem  Garten  keine  andre  Aufgabe. 

Die  Lage  der  Landvillen  auf  den  Hügeln  der 
Nachbarschaft,  in  der  Nähe  der  mittelalterhchen 
Castelli  Romani  begünstigt  eine  umfassendere  Ge- 
samtkomposition. ^)  Baumreihen  in  der  Ebene,  bei 
ansteigendem  Terrain  mit  Vorliebe  Cypressen,  führen 
als  Viale  auf  sie  hin  und  verbinden  besonders  das 
Gattertor  an  der  Landstrafse  mit  dem  Gebäude.  So 
wundern    wir   uns  nicht,   den  selben  Prinzipien  zu 

i)  Die  Villa  Lante  bei  Viterbo  mit  ihrem  Casino  kann  ich 
nicht  mit  Wölfflin  zur  Landvilla  rechnen,  sondern  nur  zu  suburbana, 
und  zwar  eher  zur  Spätrenaissance  als  zum  Barock.  Die  Villa 
Caprarola  ist  dagegen  vielmehr  Schloss ,  dem  französischen  Chateau 
verwandt. 


172 


Zweite  Phase  des  Barock 


begegnen,  die  in  Michelangelos  Anlage  des  Kapitols- 
platzes  mit  dem  Aufstieg  zum  Senatorenpalast  als 
Hauptstück  am  Ende  der  durchgehenden  Mittelaxe 
walteten.  So  verquickt  sich  die  Richtung  des  Weges 
mit  der  Vertikale  des  Baues,  je  nach  dem  Grade 
des  Anstiegs  zu  einer  strafferen  oder  im  Fortschritt 
erst  sich  vollziehenden  Einheit,  mit  sofortigem  oder 
an  bestimmtem  Wendepunkt  erst  herausspringendem 
Obergewicht  der  Höhendimension.  —  Schroff  an- 
steigend über  der  schmalen  Cypressenstrafse  baut 
sich  das  Terrassenwerk  der  Villa  d'Este  in  Tivoli 
nach  der  einen  Seite  durchaus  im  Verfolg  des  Hoch- 
drangs auf,  und  der  Mittelaxe  des  Zugangs  ent- 
sprechend tritt  an  der  breiten  Masse  des  Hauses 
grade  hier  nur  die  plastische  Gestaltung  heraus. 
Alle  Gebärde  des  Lebens  koncentriert  sich  auf  die 
durchgehende  Bewegungslinie  des  Motivs,  während 
der  kolossale  Körper  sonst  ruhig,  wie  vegetierend 
nur  als  Unterlage  dieses  gesteigerten  Ausbruchs  da- 
liegt. Ein  genaueres  Eingehen  auf  die  Ähnlichkeit 
des  Bauwerks  mit  Michelangelos  herkulischen  Natur- 
wesen in  Cappella  Medici  war  mit  dieser  umfäng- 
lichen Herberge  für  monatelangen  Landaufenthalt 
garnicht  ausführbar.  Deshalb  fällt  dieses  Beispiel 
einseitiger  Gestaltung  sehr  ins  Gewicht,  von  wem 
immer  das  ursprüngliche  Wohngebäude  herrühren 
möge.  —  Milder,  aber  ebenso  zweifellos  ist  die 
Befriedigung  des  selben  plastischen  Prinzips  an  der 
andern  Seite,  dem  sanfteren  Anschwellen  des  Bodens 
gemäfs.  Hier  nähern  sich  die  örtHchen  Bedingungen 
mehr  den  Villen  von  Frascati,  besonders  der  Villa 


Villenbau 


173 


Aldobrandini,  dem  berühmten  Beispiel,  das  für  Gia- 
como  della  Porta  als  ein  Werk  seiner  letzten  Zeit 
(1598  — 1603)  in  Anspruch  genommen  wird,  obgleich 
die  Rückseite  grade  mit  dem  ,,Teatro",  vollends 
aber  die  ,, höchst  malerische  Umzäunung  des  Vor- 
gartens" dem  strengen  Sinn  dieses  Architekten  gar- 
nicht  entsprechen.^)  Villa  Mondragone  hat  dagegen 
wieder  wie  Villa  d'Este  das  schmale  Mittelstück,  das 
durch  die  Cypressen  des  Aufgangs  sichtbar  wird, 
wie  die  persönliche  Charakteräusserung  ihres  Eigen- 
tümers, neben  der  die  sonstige  Moles  nicht  in  Betracht 
kommt.  Die  Gebäude  selbst  sind  samt  und  sonders 
nur  ,, mächtige  Steinhaufen",  bestimmt  den  Insassen 
des  Stadtpalastes  samt  Gästen  und  deren  Begleitung 
rhöglichst  freien  Spielraum  während  der  heissen 
Jahreszeit  zu  gewähren,  wo  Schatten,  Kühle,  Luft- 
zug die  wichtigsten  Erfordernisse  werden.  Deshalb 
ist  auf  die  künstlerische  Gestaltung  des  Äussern  fast 
gar  kein  Wert  gelegt,  wol  aber  im  Innern  und  dem 
Teatro,  das  als  Innenraum  unter  freiem  Himmel  wie 
einst  der  Palasthof  anzusehen  ist,  mit  bilHgem  Material 
und  flüchtiger  Formgebung  manche  Verwirklichung 
von  Raumgedanken  und  Dekorationsweisen  versucht, 
die  hernach  als  Ideal  auch  in  den  Stadtpalast  ein- 
zogen.    Deshalb    wäre    grade   über   die  römischen 


i)  Bei  Dominicus  Barriere,  Villa  Aldobrandina  Tusculana  1647 
wird  Taf.  6  in  der  Unterschrift  dieses  Teatro  ausdrücklich  Horazio 
Olivieri  als  der  geistige  Urheber  hervorgehoben,  der  auch  an  Villa 
d'Este  in  Tivoli  beteiligt  gewesen.  Der  Erbauer  Card.  Pietro  Aldo- 
brandini starb  1621.  Ain  Hauptbau  ist  aber  die  dreiteilige  Gipfelung 
durchaus  plastisch ! 


i 


174 


Zweite  Phase  des  Barock 


Villen  eine  Monographie  mit  gewissenhaftester  chrono- 
logischer Genauigkeit  durchaus  zu  wünschen. 

Ebenso  vorsichtig  muss  über  den  Gartenstil 
dieser  Villen  geurteilt  werden,  deren  alter  vernach- 
lässigter und  deshalb  viel  malerischer  gewordenen 
Vegetation  gegenüber  wir  gar  zu  leicht  zu  Irrtümern 
geneigt  sind,  so  dass  wir  die  gleichzeitigen  Publi- 
kationen als  Gegenwirkung  brauchen,  auch  wenn  sie 
zur  Anweisung  für  Gärtner  die  Grundrissanlage  und 
Verteilung  der  Gewächse  in  übersichtlicher  Disposition 
mehr  hervorkehren,  als  es  dem  aesthetischen  Ein- 
druck als  solchem  entspricht. 

Sehr  charakteristisch  für  den  künstlerischen  Willen 
auch  der  Vegetation,  besonders  der  Baumnatur  gegen- 
über, ist  das  Verhältnis  dieser  Zeit  zu  dem  Lieblings- 
element des  Wassers.  Seine  Behandlung  hängt 
unmittelbar  mit  dem  Verständnis  des  Travertins  als 
gewachsener,  von  Schwefelquellen  durchzogener, 
hier  porös  versteinerter,  dort  noch  weich  gefüllter 
Masse  zusammen.  Das  Ideal  des  Stiles,  der  ,, Schön- 
heit ist  Kraft"  bekennt,  erhält  im  rauschenden  Wasser- 
strom eine  natürlichere  Verwirklichung  als  irgend 
sonst.  ,,Es  wird  ein  gewaltiger  Aufwand  getrieben, 
um  das  Wasser  möglichst  reichlich  und  mit  starker 
Kraft  zu  gewinnen",  sagt  auch  Wölffhn,  aber  auch 
da  ist  als  ächtestes  Beispiel  der  Barockgestaltung 
meines  Erachtens  für  diese  Zeit  an  dem  Aufspringen 
des  Wassers  in  einem  möglichst  vollen  Strom  oder 
als  Stralenbündel  fest  zu  halten,  mit  dem  sich  das 
Niederrauschen  nur  als  notwendige  Folge  und  bestä- 
tigende Nachwirkung  verbindet.    Die  eigentliche  Be- 


Darstellende  Kunst 


175 


friedigung  liegt  in  dem  Hochdrang  der  Wassermasse, 
wie  im  Triumph  des  eignen  Willens;  das  ist  die 
übermenschliche  Erhabenheit  des  brausenden  Ele- 
ments, die  man  liebt. 


DER  BAROCKSTIL 
IN  DER  DARSTELLENDEN  KUNST 

Wir  Modernen  heute,  gesteht  sich  selber  warnend 
Wölfflin,  ,,wir  sind  jedenfalls  geneigt,  die  Dinge 
malerischer  aufzufassen  als  die  Zeitgenossen,  mehr 
malerische  Absicht  hinein  zu  sehen,  als  wirklich  darin 
liegt."  Das  trifft  die  ganze  Beurteilung  des  Barock- 
stils, soweit  wir  ihn  bis  jetzt  kennen  gelernt,  und 
besonders  seiner  Gartenkunst  in  Burckhardts  Cicerone. 
,,Man  muss  als  prinzipiellen  Gesichtspunkt  festhalten, 
dass  ein  Sinn  für  Effekte  der  Beleuchtung",  und  viele 
andre  ,, malerische  Wirkungen"  die  der  Schwester- 
kunst entlehnt  sind,  ,, nicht  vorhanden  sein  kann,  so- 
lange die  Malerei  keinen  derartigen  Geschmack  zeigt". 
Bevor  wir  weiter  gehen,  haben  wir  einen  Blick  auf 
diese  andre  Kunst  zu  werfen,  ebenso  wie  es  bei 
Michelangelo  geschehen  ist,  und  haben  ihren  Werken 
gegenüber  die  Frage  zu  beantworten,  wie  es  mit  der 
,, Entdeckung  des  Malerischen"  oder  aber  mit  dem 
Anschluss  an  das  plastische  Gestaltungsprinzip  des 
Barockstiles  bestellt  sei.  Vor  allen  Dingen  wird  die 
Betrachtung  der  Malerei  grade  in  Rom  als  Gegen- 
probe der  Charakteristik  dienen,  die  wir  bis  dahin 
vom  Kunstgeist  dieses  Übergangs  ins  siebzehnte  Jahr- 


176 


Zweite  Phase  des  Barock 


hundert  auf  Grund  der  römischen  Denkmäler  ent- 
worfen. 

Nach  Michelangelos  Tode  geht  es  mit  der 
Malerei  sehr  ähnlich  wie  mit  der  Architektur:  nach 
den  unmittelbaren  AbkömmUngen  des  grofsen  Meisters 
wie  Daniele  da  Volterra  und  Marcello  Venusti,  bei 
denen  man  immer  noch  seine  Gedanken  vermutet, 
übernehmen  die  Manieristen  der  Spätrenaissance 
die  Aufgaben,  die  ihnen  gestellt  werden.  ,,Eine  Zeit 
lang  verlangte  die  Mode  lauter  Gegenstücke  zum 
Jüngsten  Gericht",  schreibt  Burckhardt;  aber  man 
verstand  dies  gewaltige  Muster  des  Barockstiles  nicht 
besser  als  etwa  die  schwachen  Nachklänge  der  Cappella 
Paolina  dies  an  die  Hand  gaben,  nämlich  als  ,, Ge- 
wimmel nackter  oder  eng  gekleideter  Figuren,  die  in 
allen  möglichen  und  unmöghchen  Stellungen  durch 
einander  stürzen,"  und  man  malte  sie  ebenso  blind- 
Hngs  ,,auf  einem  Räume,  der  sie  nicht  zum  dritten 
Teil  beherbergen  könnte".  —  Nach  der  ,, frechen 
Improvisation  historischer  sowol  biblischer  als  profaner 
Gegenstände,"  die  mit  den  Brüdern  JZaaccaro  auch 
nach  Rom  drang  und  besonders  den  Ruhm  der 
Farnese  in  den  vordem  Sälen  ihres  Palastes,  wie 
im  Schloss  Caprarola,  zu  verherrlichen  half,  ja  den 
Vatikan  nicht  verschonte,  müssen  wir  doch  neben 
Vignola  die  Existenz  der  Spätrenaissance  auch  in 
der  Malerei  der  ewigen  Stadt  anerkennen.  Aber  die 
Geschichte  des  Barockstiles  befasst  sich  jedenfalls 
nicht  mit  ihnen,  sondern  erst  mit  dem  Auftreten 
der  Carracci,  Agostino  und  besonders  Annibale,  der 
^  eine"'Sfeirung  wie  Giacomo  della  Porta  beanspruchen 


Darstellende  Kunst 


177 


darf.  Wie  der  letztere  als  Architekt  ist  Annibale 
Carraci  als  Maler  besonders  wichtig  für  den  Durch- 
bruch des  neuen  Gestaltungsprinzips  in  seiner  Kunst, 
die  auf  strenger  Schulung  und  gelehrten  Studien 
fussend,  doch  das  Ideal  Michelangelos  verstehen  lernt 
und  mit  dem  ganzen  Reichtum  ihrer  eignen  Mittel 
zu  verwirklichen  unternimmt.  Im  unmittelbaren  An-  i 
schluss  an  die  Raumbildung  im  Gartentrakt  desPalazzo 
Farnese  sehen  wir  ihn  mit  seinem  Genossen  über 
Alles  hinausgehen,  was  sie  bis  dahin  in  Bologna 
oder  im  umliegenden  Kreis  ihrer  Kunst  ausserhalb 
Roms  geleistet  hatten.  Annibale  steigert  sich  zum 
vollsten  Vertreter  des  Lebensgefühls  ,, Schönheit  ist 
Kraft",  soweit  sich  dies  irgend  mit  dem  heimischen 
Erbteil  der  Freskomalerei  vor  Augen  stellen  liefs, 
und  folgt  Michelangelo,  dem  Begründer  des  Barock, 
so  eifrig,  wie  einst  GiuHo  Romano  und  Sebastiano 
del  Piombo  dem  selben  Meister  als  Maler  der  Hoch- 
renaissance gefolgt  waren. 

Man  vergleicht  die  Decke  der  Galleria  Farnese 
gern  mit  Michelangelos  Decke  der  Sistina.  Und 
gewiss  ist  das  lehrreich  nach  mancher  Seite,  wie  ein 
Vergleich  mit  Rafaels  Decke  der  Farnesina  es  nicht 
minder  wäre;  aber  wer  nur  das  Gemeinsame  hervor- 
höbe, würde  sich  starker  Anachronismen  schuldig 
machen.  Für  uns  bleibt  die  Hauptsache  hier  der 
Unterschied  zwischen  den  Schöpfungen  der  Hoch- 
renaissance und  der  des  Barock.  Bei  Michelangelo  bleibt 
die  gemalte  Architektur,  die  alle  Flächen  zerteilt  und  . 
den  Cyklus  von  Bildern  und  Gestalten  disponiert,  als 
Unterlage  für  alles  Figürliche  doch  für  sich,  ein  Gerüst 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko. 


178  Zweite  Phase  des  Barock 


ohne  nothwendigen  Zusammenhang  mit  dem  Leben- 
digen darauf  und  dazwischen,  ebenso  wie  der  mar- 
morne Aufbau  des  Juliusgrabmals.  Die  Verbindung 
durch  Bögen  und  Rahmen  oben  beansprucht  vollends 
keinen  architektonischen  Sinn  als  Umdichtung  des 
wirkHchen  Raumgebildes,  sondern  hebt  im  Gegen- 
teil die  Einheit  der  flachen  Tonnenwölbung  auf, 
um  sie  nach  dem  Prinzip  der  Hochrenaissance  in 
vielgliedrige  Harmonie  auseinanderzulegen.  Bilder 
und  Gestalten  durchsetzen  dies  System ,  ebenso 
mannichfaltig  an  Wert:  hier  statuarische,  dort  dekora- 
tive Figuren,  hier  in  vollen  Farben,  gewandet,  dort 
nackt  in  natürlichem  Fleischton,  oder  gar  in  Bronze, 
in  Marmor  verwandelt;  hier  reliefmäfsige,  dort  per- 
spektivisch vertiefte  Bilder,  also  bald  die  Fläche 
wahrend,  bald  durchbrechend;  aber  alle  diese  räum- 
lichen, körperlichen,  augenscheinlichen  Werte,  zwischen 
Wahrheit  und  Dichtung  weisHch  abgestuft,  alle  Gegen- 
sätze harmonisch  ausgeteilt  und  im  fortlaufenden 
Zusammenhang  verbunden,  ohne  irgend  welche  beun- 
ruhigende Spannung  von  Kontrasten. 

Hier  dagegen,  an  der  gewölbten  Decke  der  Gal- 
leria Farnese,  hebt  sich  über  der  ruhig  fortlaufenden 
Wandgliederung  (die  wegen  einiger  Bedenken  gegen 
Herstellung  und  Zutaten  Ueber  ausser  Betracht  bleibt  ) 
ein  vielgestaltiger  Hochdrang  der  Kräfte  doch  in 
durchgehender  Einheit  empor.  Der  Raum  gewinnt 
im  Stirnband  des  Simses  seine  körperliche  Geschlossen- 
heit ringsum,  und  darüber  erscheint  Alles  aus  der 
bildsamen  Masse  der  Umfassungsmauern  gewachsen. 
Tektonisches  Rahmenwerk  und  herkulische  Gestalten 


Darstellende  Kunst 


179 


in  Bronze-  oder  Naturfarbe,  Reliefbilder  Grau  in  Grau 
oder  in  vollfarbigem  Dasein,  Alles  ist  mit  einander 
verwachsen,  durchdrungen,  im  Zusammenhang  des 
Werdens  erfasst  und  nimmt  den  ganzen  Pomp  des 
Fleisches  und  der  Kraft  mit  nach  Oben,  wo  die  beiden 
Seiten  der  Wölbung  einander  begegnend  sich  ver- 
binden und  Raum  lassen  für  die  reichsten  Scenen 
des  Bilderkreises.  Nur  in  den  Ecken  eröffnet  sich 
ein  Ausbhck  ins  Freie,  so  dass  dies  Drängen  und 
Schieben,  dies  Arbeiten  und  Übereinandertürmen 
doch  nicht  erdrückend  wirkt,  sondern  immer  noch 
einen  Überschuss  athletischer  Stärke,  einen  Vorrat 
neuen  Zuwachses  zu  bergen  scheint,  der  den  freien 
Genuss  ihrer  Spannung  gestattet.  Verfolgen  wir, 
von  diesem  Eindruck  des  Luftigen  durch  die  Öff- 
nungen aus,  die  Ökonomie  des  Malers,  so  begreifen 
wir  nicht  allein  die  MögHchkeit  der  Bilder  mit  dem 
selben  Himmelsblau  im  Grunde,  sondern  auch  die 
Stufenfolge  zwischen  Verwirklichung  und  Entwirk- 
lichung der  naturfarbenen  oder  willkürHch  getönten 
Körper,  der  Träger  und  Dränger,  und  erkennen  die 
entfärbten  und  erstarrten  als  Söhne  der  Karyatiden, 
die  blutwarmen  Gesellen  aber  als  plastische  Ver- 
körperung lebendiger  Kräfte.  Hier  ist,  mit  den 
Mitteln  der  Malerei  erst,  die  Organisation  der  raum- 
schliessenden  Baumasse  vollständig  vor  Augen  ge- 
bracht, dass  ,,der  Gestalten  Fülle  verschwenderisch 
aus  Wand  und  Decke  quillt".  Aber  vom  ,, malerischen 
Stil"  wird  nur  das  Vorurteil  noch  reden.  Das  durch- 
waltende Prinzip  ist  der  plastische  Drang.  Dieser 
erzeugt  die  Einheit  in  der  allseitigen  Berufung  auf 

12* 


180 


Zweite  Phase  des  Barock 


unser  Körpergefühl,  wie  auf  unsre  Kraftempfindungen. 
Es  ist  der  Bildnergeist  Michelangelos  in  Annibale 
Carracci  gefahren,  —  aber  nicht  aus  der  Decke  der 
Sistina,  sondern  aus  dem  Jüngsten  Gericht,  nicht  der 
Stil  der  Hochrenaissance,  sondern  des  Barock. 

Sehr  wesentlich  aber  erscheint  doch  der  Unter- 
schied zwischen  dem  grossen  Wandgemälde,  das  die 
Weite  der  Welt  am  letzten  Tag  umspannen  will, 
und  diesem  dekorativen  Werke  der  Carracci ,  das 
zunächst  den  plastischen  Hochdrang  der  sich 
wölbenden  Mauern  eines  beschränkten  Raumes  im 
unmittelbaren  Anschluss  an  die  bauliche  Wirklichkeit 
aufnimmt  und  nur  zwischen  der  statuarischen  Ge- 
staltung noch  freiere  Bilder  eröffnet,  die  weder  an 
Körperrelief  noch  an  Farbenschwere  Rir  das  Rea- 
litätsbedürfnis jener  Generation  etwas  zu  wünschen 
übrig  lassen.  Michelangelo  sucht  wenigstens  durch 
plastische  Mittel,  nämlich  durch  das  Gedränge  der 
körperlichen  Erscheinungen  Raumwerte  zu  schaffen, 
die  weitere  Tiefenausdehnung  fordern ;  er  erweckt 
durch  zahllose  Büsten  und  Köpfe,  die  übereinander 
hervortauchen,  wenigstens  den  Eindruck  des  Unüber- 
sehbaren ;  wenn  sich  auch  nirgends  die  unendHche 
Tiefe  des  Raumes  öffnet ,  will  doch  die  Menge  des 
Gestalteten  nicht  aufhören ;  Welle  auf  Welle  taucht 
als  Form  empor,  sowie  sie  unser  Blick  erreicht,  so 
dass  ein  Gewoge  sich  uns  entgegendrängt,  als  wollte 
das  Meer  noch  ein  Meer  gebären.  Von  alledem  ist 
an  der  Decke  der  Galleria  Farnese  nichts  zu  spüren! 
Nichts  vom  Unergründlichen,  Unfassbaren,  Endlosen, 
das  Wölfflin  hineingesehen  hat,  nur  das  Unerschöpf- 


Darstellende  Kunst 


181 


liehe  der  Gestaltungskraft,  das  Unermüdliche  des 
Gebarens  von  Innen  heraus,  das  auch  jenseits  des 
AnschauHchen  noch  zu  wirken  scheint.  Aber  alles 
ist  nah,  absehbar,  beinahe  tastbar.  Und  jener  Ein- 
druck eines  Plus  sichert  nur  der  Anstrengung  orga- 
nischer Geschöpfe  unsern  Glauben  an  das  Bestehen 
dieses  Kraftaufwandes  vor  und  nach  dem  Gegen- 
wärtigen, während  wir  betrachtenden  Menschen  wol 
wissen:  der  Wille  sei  stark,  unser  Fleisch  ist  schwach; 
auch  Giganten  von  unsrer  Art  erlahmen.  Die  Ma- 
lerei ist  eben  in  diesen  Hünenleibern  Ein  Fleisch 
geworden  mit  der  Architektur,  nimmt  also  vom 
Wesen  dieser  Schwester  den  Charakter  der  Behar- 
rung an.  Die  unverbrüchliche  Fortdauer  der  ver- 
anschaulichten organischen  Kraft  ist  ästhetisch  not- 
wendig für  das  gemeinsame  Kunstwerk,  das  durch 
und  durch  plastisch  gedacht  ist.  Da  darf  noch 
kein  Hang  zum  Dämmerschein  des  Nirvana  gewit- 
tert werden ,  eine  derartige  Interpretation  wäre 
abermals  Anachronismus. 


Nach  diesem  schlagenden  Beispiel  für  die  pla- 
stische Tendenz  des  Barockstiles  auch  in  der  Malerei, 
wie  er  als  Erbteil  Michelangelos  in  Rom  sich  weiter 
zeugt,  bedarf  es  keiner  weitern  Belege  für  die  näm- 
lichen Symptome  in  den  Gemälden  sonst.  Die 
Lebenskraft  des  plastischen  Gestaltens  geht  so  sehr 
in  diesen  Schwesterkünsten  auf,  dass  die  eigentliche 
Skulptur  im  selben  Augenblick  nur  Ohnmacht  zu 


182 


Zweite  Phase  des  Barock 


bekennen  hat.  Wol  aber  ist  es  wichtig,  am  Schluss 
dieser  strengen  Periode  des  neuen  Stils  noch  einer 
folgenreichen  Übertragung  zu  gedenken,  die  damals 
in  Rom  stattfand.  Unter  den  italienischen  Nachfol- 
gern des  Annibale  Carracci  wäre  nur  durchzuver- 
folgen,  wie  weit  ihre  Kraft  reicht  und  wo  das  Ver- 
ständnis versagt;  aber  ein  viel  gewaltigerer  Träger  des 
Barock  wird  in  einem  fremden  Maler  gewonnen,  der 
von  Norden  gekommen  hier  die  entscheidende  An- 
regung empfängt ,  um  heimgekehrt  den  ganzen  ka- 
tholischen Norden  für  diesen  Stil  zu  erobern.  Es  ist 
das  Bündnis  mit  der  Grossmacht  des  modernen 
Kunstlebens  überhaupt,  das  eben  nun  durch  Rubens 
in  Rom  geschlossen  wird. 

Während  seines  Aufenthaltes  in  ItaHen  von  1600 
bis  1608  hat  der  vlämische  Meister,  mit  der  ganzen 
Vorbereitung  heimischer  Kunst  und  Bildung  aus- 
gestattet, vor  allen  Dingen  aber  mit  einer  überquel- 
lenden Erfindungsgabe,  einem  schwungvollen  feurigen 
Temperament  und  einer  Schöpferkraft  ohne  gleichen 
gesegnet,  die  Erbschaft  der  italienischen  Malerei  an- 
getreten. In  Venedig  von  Tintoretto,  dem  kon- 
genialen Vorläufer  seiner  eigenen  Sendung  ange- 
zogen, zu  Mantua  in  stetem  Verkehr  mit  den  Werken 
des  Mantegna  und  des  Giulio  Romano,  mit  ihrer 
gedrangen  Festigkeit  plastischer  Körperformen,  dann 
fortgerissen  vom  malerischen  Gliedergewoge  Correg- 
gios,  verrät  er  schon  im  Altarbilde  für  S.  Ambrogio 
zu  Genua  ,,das  eifrige  Studium  nach  den  Typen  der 
Carracci  in  den  kolossalen  Gestalten",  während  die 
Komposition  dieser Beschneidung"  unverkennbar  auf 


1 


Rubens 


183 


Correggios  Nacht  zurückgeht.  —  Sind  diese  frühen 
Werke  für  Alantua  und  Genua  noch  vielfach  unselb- 
ständig, so  erbhckt  man  zu  Rom  in  den  Bildern  der 
Chiesa  nuova  den  Einfluss ,  den  die  Kolossalfiguren 
der-  Antike,  der  Laokoon,  die  Flussgötter,  der  Her- 
kulestorso, die  Kaiserbüsten  und  Barbarenkönige  auf 
ihn  ausgeübt,  —  d.  h.  die  selben  kraftvollen,  cha- 
rakteristischen und  pathetischen  Beispiele  der  späten, 
physisch  und  psychich  gesteigerten  Skulptur,  denen 
auch  Michelangelo  gehuldigt  und  Carracci  sich  hin- 
gegeben. Diese  grossmächtigen  Heiligen  in  S.  M. 
in  Vallicella  malte  Rubens  1608,  zur  selben  Zeit  wo 
Carracci  noch  an  der  Galleria  Farnese  beschäftigt 
war.  Und  aus  dieser  Berührung  ist  auch  ihm  das 
volle  Verständnis  für  das  Jüngste  Gericht  Michel- 
angelos aufgegangen ;  ihm,  dem  geborenen  Historien- 
maler, mochte  das  letzte  Geheimnis  des  Barockstils 
daraus  in  die  Seele  dringen.  Damit  wird  er  der 
Erbe  auch  dieses  gewaltigen  Vermächtnisses ,  das 
den  darstellenden  Künsten  insgesamt  hinterlassen 
war,  und  vereinigt  es  mit  dem  Erbe  der  nordischen 
Renaissance,  das  er  in  sich  selber  mitbringt,  d.  h. 
mit  dem  innersten  Wesen  einer  Kunst,  die  weit  mehr 
noch  als  die  Italiens  mit  den  Ansprüchen  des  Seelen- 
lebens ,  mit  dem  Hang  nach  Verinnerlichung ,  mit 
dem  Geist  des  Mittelalters  und  der  Gemütstiefe  ger- 
manischer Völker  durchdrungen  war.  So  vollzieht 
sich  in  ihm  erst  der  volle  Umschwung  zur  Malerei, 
der  specifisch  modernen  Kunst,  die  allen  diesen  For- 
derungen gerecht  zu  w^erden  vermochte ;  so  ent- 
scheidet er,   obgleich  als  begeisterter  Vertreter  des 


184 


Zweite  Phase  des  Barock 


plastischen  Ideales,  doch  die  Vorherrschaft  male- 
rischen Geistes,  der  im  Norden  seine  Heimat  hat. 

Den  tiefblickenden  Augen  der  Denker,  die  das 
Urteil  über  Rubens'  Stil  begründet  haben,  sind  diese 
Eigenschaften  nicht  entgangen,  ja  die  Notwendigkeit 
grade  dieser  Verbindung  nicht  verborgen  geblieben. 
Einige  Bemerkungen  über  das  Wesen  seiner  Kunst, 
die  ich  im  Einverständnis  mit  einem  Meister  der 
Kunstwissenschaft  wie  Schnaase  verantworten  darf, 
gewinnen  also  grundlegende  Bedeutung  für  den  Ba- 
rockstil der  Malerei  überhaupt. 

Das  glänzendste  Beispiel  für  das  Kompositions- 
prinzip eines  spannenden  Gegensatzes  zwischen  Unten 
und  Oben,  den  wir  bei  Michelangelo  kennen  gelernt, 
wo  eine  unbefriedigte  Bewegung,  eine  unruhig  über 
sich  hinausdrängende  Stimmung  sich  nach  Oben  ab- 
klärt und  im  Gipfelpunkt  des  Ganzen  erst ,  ohne 
Einbufse  an  Kraft  und  Fülle,  ihren  Abschluss  findet, 
ist  neben  zahlreichen  Belegen  sonst  seine  Kreuz- 
abnahme im  Dom  von  Antwerpen  (i6ii  — 1612). 
Sehr  entscheidend  für  den  Übergang  ins  Malerische 
spricht  aber  ein  Vergleich  der  verschiedenen  Ge- 
mälde, in  denen  sich  Rubens  mit  dem  Jüngsten  Ge- 
richt und  dem  Engelsturz  beschäftigt,  wenn  wir  sie 
unter  dem  Gesichtspunkt  ihres  Verhältnisses  zum 
Urbild  in  der  Sixtina  betrachten.  Rubens  vereinigt 
den  Vorteil  plastischer  Klarheit  und  Nähe  der  Ge- 
stalten, den  Michelangelo  durch  seine  ReHefkompo- 
sition  erlangte,  mit  der  räumUchen  Tiefe  und  Man- 
nichfaltigkeit  der  Perspektive ,  indem  er  von  der 
senkrechten   Mittelaxe  —  durchaus   im  Sinne  des 


Rubens 


185 


ächten  Malers  —  zur  Diagonale  übergeht.  Diese 
Form  gestattet,  wie  Schnaase  sich  ausdrückt  zu- 
gleich einen  grossen  Reichtum  und  die  kühnste  feu- 
rigste Darstellung  der  Tat.  Wo  aber  die  Vertikale 
zwischen  Unten  und  Oben  aufrecht  bleibt,  da  weicht 
die  Himmelsregion  räumlich  zurück  hinter  den  vorn 
sich  drängenden  Gestalten,  und  Ströme  des  Lichtes 
um  die  Hauptfiguren,  zwischen  dem  Helldunkel  der 
Wolkentrone  durchbrechend ,  übernehmen  die  Her- 
vorhebung, während  die  Bewegung  in  feierlicher  Ge- 
tragenheit daherwallt,  wie  ausklingend  in  mächtigen 
Akkorden,  nach  rauschendem,  betäubendem  Ge- 
brause.  Immer  jedoch  geht  Rubens  auch  im  male- 
rischen Zusammenhang  seiner  Gruppen  in  sich,  wie 
unter  einander  über  sein  römisches  Vorbild  hinaus. 
Während  dort  nur  durch  Aufhebung  des  Zeitlichen 
die  volle  plastische  Gestaltung  in  herkulischen  For- 
men und  nur  durch  die  Enthaltsamkeit  von  allem 
Beiwerk  die  klare  Bestimmtheit  in  allem  Geformten 
erreicht  wird ,  bewahrt  der  dramatischer  veranlagte 
Vlame  durchaus  die  Wahrheit  der  physischen  Tätig- 
keit ,  der  momentanen  Anstrengung  und  Gebärde, 
wie  des  Seelenausdrucks  im  gesteigerten  Augenblick 
selber.  Die  Gruppe  wird  so  belebt  und  so  feurig, 
dass  sie,  wie  ein  Moment  eines  grossen  Dramas  uns 
unmittelbar  in  das  Ereignis  hineinreisst  und  mit  sei- 
ner gigantischen  Gewalt  ergreift.  Denn  bei  ihm  ist 
jede  einzelne  Figur  ,,in  ihrer  vollen  Kraft  und  Be- 
wegung auf  die  Handlung  gerichtet  und  alle  ver- 


I)  Niederländische  Briefe,  Stuttgart  und  Tübingen  1834,  S.  279. 


186 


Zweite  Phase  des  Barock 


einigen  sich  daher  natürlich  in  der  Mitte"  ihres  Voll- 
zuges. Die  menschHche  Gestalt  ist  in  ihrer  ganzen 
Bedeutsamkeit  erfasst  und  in  ihrer  vollen  Ausdrucks- 
fähigkeit gegeben.  Deshalb  spricht  sie  in  der  Welt 
des  Bildes  nicht  allein  die  Bedeutung  des  Ganzen 
im  Wesentlichen  schon  allein  aus ,  sondern  alles 
Übrige,  was  darin  neben  ihr  erscheint  und  die  Welt 
bedeuten  soll ,  ist  so  in  die  selbe  Auffassung  ein- 
gegangen und  von  der  Beweglichkeit  ihrer  Glieder 
durchdrungen ,  vom  Wachstum  und  der  Gebärdung 
ihrer  Formen  erfüllt ,  dass  auch  der  aufmerksame 
Beschauer,  wenn  er  vorn  Bilde  zurücktritt,  sich  kaum 
erinnert,  noch  ein  Beiwerk  ausser  dem  eigentlichen 
Gegenstande  gesehen  zu  haben,  nämlich  ausser  der 
Gruppe  und  den  Handelnden  oder  dem  Strom  des 
Geschehens,  der  von  ihnen  bestimmt  wird,  aber  auch 
alles  Andre  ,  die  ganze  Umgebung ,  die  weite  Welt 
mit  sich  fortreisst. 

So  steigert  sich  bei  Rubens  ganz  entschieden 
der  Eindruck  der  Bewegung  im  Vergleich  zu  Mi- 
chelangelo, obgleich  beide  von  dem  nämlichen  Drange 
ausschUefslich  plastischer  Gestaltung  ausgehen.  Wir 
glauben  ein  wirkliches  Geschehen  zu  erleben ,  weil 
die  Erscheinung,  die  im  Bilde  festgehalten  uns  vor 
Augen  steht,  transitorisch  wirkt  und  zwar  im  höchsten, 
jemals  erreichten  Grade.  Und  fragen  wir,  durch 
welche  Mittel  diese  Steigerung  zu  intensivster  Le- 
bendigkeit zu  Stande  kommt,  ohne  dass  unser  Wirk- 
lichkeitsgefühl durch  das  flüchtige  Vorüberrauschen 
den  geringsten  Eintrag  erleidet,  wie  es  bei  diesem 
Streben   nach  mehr  Bewegung  sowol  früheren  als 


Rubens 


IST 


spätem  Malern  oft  begegnet  ist ,  —  so  haben  wir 
wieder  von  der  gemeinsamen  Grundlage  anzufangen, 
die  Rubens  mit  Alichelangelo  teilt,  d.  h.  von  den 
Faktoren  plastischer  Gestaltung  auch  im  Bilde. 

Beide  kommen  von  der  harmonischen  Ausbildung 
der  Gestalten  in  der  Vollkommenheit  her,  wie  der 
Stil  der  Hochrenaissance  sie  gepflegt  hatte ;  aber  in 
Beiden  war  der  persönliche  Geist  zu  stark,  um  sich 
bei  dieser  Darstellung  beruhigen  zu  können.  Je 
mehr  sie  die  menschUche  Kraft  anerkennen  und  ver- 
herrlichen, desto  mehr  mussten  sie  empfinden,  dass 
der  Mensch  in  seiner  höchsten  Leistung,  in  der  le- 
bendigen Tat  mehr  bedeutet ,  als  das  harmonische 
Gleichgewicht  körperlicher  und  seelischer  Gaben  im 
rein  plastischen  Ideal  auszudrücken  vermag,  dass  der 
Geist  bei  solcher  Willensäusserung  im  Handeln  kei- 
neswegs ganz  in  die  Erscheinung  eingeht ,  sondern 
vor  wie  nach  der  sichtbaren  Ausführuug  der  Tat  über 
den  Augenblick ,  den  das  Bild  vorstellt ,  hinausragt, 
also  gleichsam  im  Übermafse  da  ist ,  um  wieder  in 
sich  zurückzuströmen  und  sich  des  Vollbrachten  be- 
wusst  zu  werden.  Sie  beide  müssen  also  die  aktive 
Kraft  des  Individuums,  die  Wärme  des  persönlichen 
Gefühls,  die  Schärfe  des  Verstandes,  die  Überlegen- 
heit des  Gedankens  aussprechen.  Bei  Michelangelo 
geschieht  es  durchaus  mit  den  Rütteln  der  Skulptur, 
durch  die  Steigerung  des  ^lotivs  als  einseitiger  Aus- 
bruch der  Innenwelt,  der  mit  dem  Körper  in  seinem 
vegetativen  Dasein  und  geschlossenen  Selbstgefühl 
kontrastiert,  diese  Grundlage  des  Lebens  zeitweiHg 
vergewaltigt.  Bei  Rubens  geschieht  es  in  allen  Haupt- 


188 


Zweite  Phase  des  Barock 


Personen,  die  an  der  dargestellten  Handlung  beteiligt 
sind ,   ebenso  intensiv ,  aber  im  vollen ,  den  ganzen 
Körper  durchdringenden  Strome,  und  in  gesteigerter 
Gebärde ,  sei  es  in  zweckentsprechender  Tätigkeit, 
sei  es  in  sprechender  Gestikulation,  also  mit  dem 
dem  ganzen  Pathos  dramatischen  Auftretens.    Es  ist 
eine  mimische  Steigerung   im  Sinne  der  lebhaften 
romanischen  Völker,  und  dazu  eine  Vertiefung  des 
Ausdrucks  psychischer  Kraft,  besonders  des  Willens 
und  der  mannichfaltigen  Affekte,  die  den  Höhepunkt 
der  Leidenschaft  bezeichnen  und  die  Tat  mit  Not- 
wendigkeit hervortreiben ,  wie  eine  Explosion.  Je 
mächtiger  dieser  scharfe  persönliche  Geist,  im  Aus- 
druck der  Köpfe  koncentriert ,  in  allen  Teilen  auch 
der  nackten  Körper  überwiegt,  desto  unentbehrlicher 
wird  als  Gegengewicht  auch  die  Steigerung  der  leib- 
Uchen  Fülle ,  der  physischen  Ausstattung ,  der  kraft- 
vollen SinnUchkeit.   Durch  dies  Gegengewicht  kommt 
freilich  kein  harmonisches  Gleichgewicht  beider  Na- 
turen zu  Stande ,  wie  in  der  Hochrenaissance ,  oder 
es  vollzieht  sich  doch  nur  in  wenigen  Gestalten,  wie 
etwa  in  der  obern  Region  des  Bildes,  während  unten 
bald  die  physische ,  bald  die  psychische  Macht  das 
Übergewicht  behält,  so  dass  in  ihrem  Kontrast  eben 
der  Eindruck  der  Unruhe,  des  Strebens,  der  Be- 
wegung, ja  der  Hässhchkeit  zu  Stande  kommt,  — 
der  Sturm  und  Drang,  der  zur  Vollendung  erst  em- 
porsteigen muss. 

Die  Intensitätsgrade  des  Innenlebens,  die  hier 
nach  Aussen  hervorbrechend  gezeigt  werden,  sie 
nötigen  zu  der  übervollen  Form  der  Körper,  zu  der 


Rubens 


189 


strotzenden  Wucht  des  Fleisches,  die  man  dem 
vlämischen  Geschmack  als  solchem  auf  die  Rechnung 
zu  setzen  pflegt.  Sie  ist  auch  hier,  und  hier  erst- 
recht ein  unveräufserlicher  Faktor  des  Barockstiles; 
denn  der  Ausdruck  der  Willenskraft  und  des  Selbst- 
gefühls, der  Verstandesschärfe  oder  der  Leidenschaft, 
als  gemeinschaftlicher  Grundzug  in  allen  Gestalten, 
würde,  ohne  die  gesunde  heitere  Fülle  der  Sinnlich- 
keit, nur  ein  Reich  des  Bösen  und  der  Hässlichkeit 
ergeben  oder  eine  Welt  seelenloser  Schatten;  das  } 
lehrt  die  Kunst  des  Mittelalters  zur  Genüge.  Und 
eben  hier  Hegt  der  tiefste  Unterschied  des  Barock 
von  der  Gotik  auch  bei  Rubens,  der  diesem  Erbteil  ! 
des  nordischen  Wesens  so  *  viel  näher  stand  als 
Michelangelo,  dieser  tiefsinnigste  Denker  und  Dichter 
selbst  unter  allen  italienischen  Meistern. 

Von  dieser  grundlegenden  Erkenntnis  aus  wird 
man  die  Folgerungen  selbst  für  den  durchgehenden 
Typus  der  Gesichter,  den  Schnaase  meisterhaft 
analysiert  hat,  und  die  Formbildung  im  Einzelnen 
gern  anerkennen,  wie  andrerseits  für  das  Verhältnis 
der  nackten  und  der  bekleideten  Figuren  zu  ein- 
ander. Ebenso  bestimmt  aber  erwächst  für  die 
Charakteristik  seines  malerischen  Stiles  noch  die 
Aufgabe,  alle  Konsequenzen  für  seine  Farbenökono- 
mie zu  verfolgen,  besonders  des  wirklichkeitsgetreuen 
Kolorits  und  seiner  Steigerungen  ins  Überwirkliche 
hier  oder  seiner  Herabminderungen  ins  Schattenhafte 
dort  gegeneinander  abzuwägen,  —  Faktoren,  die 
allein  es  ihm  ermöglichen,  alle  Regionen  vomHimmels- 
tron  bis  zum  Höllenpfuhl  samt  allen  Zwischenreichen 


190 


Zweite  Phase  des  Barock 


der  Vorstellung  im  Bilde  von  Körpern  und  Räumen 
glaubhaft  und  wirksam  vor  Augen  zu  bringen.  Bei 
dieser  Beobachtung  vor  den  Gemälden  wird  sich 
herausstellen,  dass  Rubens  mit  seinen  Farbentönen, 
von  der  Stofflichkeit  der  Venezianer  bis  zur  mono- 
chromen Abstraktion  Mantegnas,  von  der  feurigen 
Glut  bis  zum  Wolkengrau  Correggios  ebenso  souverän 
wirtschaftet,  wie  Michelangelo  mit  der  Formensprache 
der  Baukunst  im  Dienst  seiner  höheren  Intentionen. 

Hier  auf  dem  Gebiete  der  Farbenwerte  und  ihrer 
Ökonomie,  die  neben  der  Absicht  auf  Verwirklichung 
auch  die  der  Steigerung  ins  Übermenschliche,  wie 
die  der  Entwirklichung  kennt,  —  ein  Standpunkt, 
der  erst  nach  errungener  Herrschaft  über  alle  Mittel 
eingenommen  werden  konnte  und  wieder  die  Über- 
legenheit der  geistigen  Auffassung  der  Barockzeit 
kennzeichnet,  die  tiefer  greift  und  höher  hinaus  will 
als  die  glückliche  Harmonie  der  Hochrenaissance 
—  hier  ist  auch  der  Ort,  diesen  Standpunkt  für  die 
Beurteilung  der  Barockmalerei  und  ihrer  Geschichte 
zu  fordern  und  so  den  natürUchen  Anschluss  an  die 
farbige  Dekoration  des  Gesamtkunstwerkes  zu  ge- 
winnen, besonders  im  Innenraum,  der  Gemälde,  ReUefs, 
Statuen,  wie  tektonische  Formen  und  Flächen,  von 
verschiedener  Farbe  in  sich  vereinigt,  und  auch  mit 
allen  diesen  integrierenden  Bestandteilen  als  einheit- 
liches Gebilde  gedacht  sein  dürfte. 

Ohne  die  Erkenntnis  eines  bewusst  freien,  ja 
selbstherrHchen  Schaltens  mit  diesen  Faktoren  der 
Darstellung  sind  alle  bisherigen  Versuche,  dem 
Charakter  und  der  Entwicklung  des  Barockstiles  auch 


Dekorative  Kunst 


191 


in  der  Malerei,  der  Skulptur,  wie  im  Kunsthandwerk 
beizukommen,  ziemlich  planlos  und  erfolglos  gebUeben. 
Die  Begriffe  Manierismus,  Eklecticismus  und  Natura- 
lismus reichen  nicht  aus,  den  wesentlichen  Inhalt  der 
Bestrebungen  zu  erschöpfen.  Ja,  die  beiden  Haupt- 
eigenschaften der  darstellenden  Künste  des  Barock, 
das  WirkUchkeitsbedürfnis  in  den  Formen  wie  in 
der  Auffassung  des  Geschehens  und  die  Anwendung 
des  Affektes  um  jeden  Preis,  erklären  noch  nicht 
den  Stil,  so  lange  sie  nicht  als  die  beiden  Pole  einer 
und  derselben  Kraft  erkannt  werden,  die  sich  be- 
dingen und  ergänzen. 

Schon  auf  dem  Gebiete  der  Farbenwerte  be- 
zeichnen die  Namen:  Michelangelo  —  Carracci  — 
Rubens  eine  fortschreitende  Reihe,  während  von 
Caravaggio  und  Ribera  ein  AusbHck  zu  Velasquez 
sich  empfiehlt,  —  schon  um  die  Wandlung  von 
Rubens  zu  van  Dyck  und  die  andre  zu  Murillo,  ja 
zu  Rembrandt  mit  umfassendem  Sinn  zu  begreifen. 
Für  die  Periode,  die  wir  an  dieser  Stelle  noch  im 
Auge  haben,  ist  in  Rom  das  Beispiel  der  Carracci 
entscheidend,  und  hier  lässt  sich  mit  Wölfflin  sagen: 
in  den  Farben  ,,eine  Bevorzugung  der  schweren 
dunklen  Töne.  Die  Gemälde  bekommen  gleichsam 
mehr  Gewicht;"  denn  es  sind  undurchsichtige,  stoff- 
lich beinahe  massiv  wirkende  Pigmente,  die  ver- 
wertet werden,  den  Schein  der  Körperlichkeit,  des 
Volumens  zu  erhöhen. 

Diesem  Zuwachs  an  Quantität  der  Materie,  der 
durch  Farbenwahl  allein  gewonnen  wird,  begegnen 
wir  auch  in  den  Nachbarkünsten,   der  Plastik  wie 


192 


Zweite  Phase  des  Barock 


der  Architektur,  in  Dekoration  und  Kunstgewerbe 
gleichermafsen.  Hierher  zunächst,  und  nicht  unter 
die  Kategorie  der  Prunksucht  mit  kostbaren  Stoffen, 
gehört  die  Inkrustation  mit  Marmorarten  von  tiefer 
oder  energischer,  besonders  dunkler  Farbe.  Es  sollte 
auch  hier  streng  chronologisch  herausgehoben  werden, 
wie  viel,  von  den  reichen  Kapellen  römischer  Kirchen 
z.  B.,  dem  strengen  Stil  dieser  Barockperiode  noch 
angehört.  Nur  so  wird  man  verstehen,  weshalb  die 
Dekoration  der  Innenräume,  oder  die  Bildner  selbst 
die  selbe  Farbenskala  bevorzugen  wie  die  Maler  mit 
ihren  Tinten;  —  weshalb  man  Marmor  und  Stuck 
nicht  mehr  hell  sondern  dunkel  wählt,  auch  für 
Figuren  Schwarz,  porphyrähnliches  Rot,  für  tek- 
tonische  Formen  ausserdem  Lapis  lazuli,  ja  gespren- 
kelte, buntgeaderte  Sorten  herbeizieht.  Die  Politur, 
die  man  dem  ächten  Material,  wie  der  künstlichen 
Stuckimitation  überall  ursprünglich  gegeben  hat,  erhöht 
zunächst  den  Schein  der  Härte,  giebt  der  Gränze 
ringsum  eine  ablehnende  Wirkung,  steigert  also  die 
wuchtige  Beharrung  des  Körperlichen,  aber  der  Glanz 
enthält  auch  ein  andres  Element  durch  die  Reflex- 
erscheinungen, die  er  hervorruft,  und  daraus  wird 
eine  wirksame  Triebfeder  der  weitern  Entwicklung 
auf  die  wir  an  ihrer  Stelle  zurückkommen  müssen. 

Hierher  gehört  endlich  auch  die  Verwertung  des 
Spiegels  selbst,  aber  ebenfalls  nur  in  beschränktem 
Sinne:  nämlich  als  Steigerung  der  körperhaften 
Wirkhchkeit.  Zu  dem  Original  tritt,  einmal  oder  gar 
mehrfach  zurück  geworfen  sein  Spiegelbild,  das  alle 
sichtbaren   Merkmale    seines  Daseins  wiederholend 


Dekorative  Kunst 


193 


betont.  Es  ist  ein  Zuwachs  für  unser  Realitätsgefühl, 
ähnUch  wie  Farbe  und  Textür  der  Oberfläche  den 
Glauben  an  die  Existenz  und  Widerstandsfähigkeit 
der  reinen  Körperform  für  sich  verstärken,  ausser 
dem  Tastsinn  gleichsam  noch  Geruch,  Geschmack 
u.  s.  w.  zur  Bestätigung  herausfordern,  —  durch  den 
Augenschein.  Wie  das  Körpergefühl  kräftigt  sich 
auch  das  Raumgefühl  am  Spiegelbild;  aber  nur  wenn 
es  mäfsig  auftritt  und  die  Gränzen  des  wirklichen 
Raumes  nicht  verwirrend  durch  einander  wirft. 

Auch  solche  Raumerweiterung  und  Gefühlsver- 
vielfältigung ist  noch  kein  vages  Schweifen  ins  Un- 
endliche. Erst  mit  der  Verwertung  des  Glanzes  wird 
auch  die  Verwertung  der  spiegelnden  Fläche  eine 
andre.  Das  aber  ist  bereits  ein  Wahrzeichen  der 
späteren  Entwicklung,  deren  Gränzen  wir,  zur  klaren 
Gliederung  in  mehrere  Phasen,  möglichst  auseinander 
halten  möchten.  Auch  hier  liegen  uns  noch  Unter- 
suchungen ob,  die  eine  eigne  Monographie  erfordern 
und  die  wertvollsten  Beiträge  für  die  Wirkung  des 
Materials  in  Architektur  und  Kunstgewerbe  ver- 
sprechen. 


Schmarsow,  Barock  und  Rokoko. 


13 


IV. 


DIE  GLANZPERIODE  DES  BAROCKSTILS 

UND  IHR  INNERER  UMSCHWUNG 


ie  höchste  Glanzperiode  des  römischen  Barock, 
in  der  eine  Reihe  hervorrap^end  schöpferischer 
Kräfte  mit  einander  wetteifert  und  auf  allen 
Gebieten  der  Kunst  die  erstaunlichste  Fruchtbarkeit 
entfaltet,  ist  zugleich  die  Zeit  eines  innern  Um- 
schwungs in  den  Grundprinzipien  und  enthält  des- 
halb neben  der  reichsten  Ausbildung  des  Stiles  auch 
schon  die  Auflösung  des  bisherigen  Charakters  und 
den  Beginn  eines  Neuen  nebeneinander. 


Giacomo  della  Porta,  der  die  plastischen  Ten- 
denzen Michelangelos  am  glücklichsten  mit  dem 
Hausgesetz  der  strengen  Architektur  vereinigt  und 
so  die  Verarbeitung  der  Spätrenaissance  in  den 
Barockstil,  die  mit  Vignola  begann,  in  immer  engerm 
Anschluss  an  die  Denkweise  des  gewaltigen  Bildners 
vollzogen  hatte,  tritt  schon  unter  Sixtus  V.  (1585 


Domenico  Fontana 


195 


bis  1590)  eine  Weile  zurück  hinter  Domenico  Fon- 
tana, dem  'geschickten  Ingenieur,  der  den  ObeHsken 
vor  S.  Peter  aufgerichtet  und  als  bevorzugter  Bau- 
meister dieses  unternehmenden  Papstes  die  Phy- 
siognomie der  Stadt  so  entscheidend  bestimmt  hat. 

Domenico  Fontana  (1543  — 1607)  mit  seinem 
Bruder  Giovanni  (1546 — 16 14),  dem  eigentlichen 
Brunnenbauer,  gehört  aber  neben  Martino  Lunghi, 
dem  Älteren ,  und  dessen  Sohn  Onorio  zu  jenen 
Oberitalienern^  die  von  Hause  aus  handwerklich  ge- 
schult, als  Maurer,  Steinmetzen  und  Bautechniker 
geschätzt,  dem  römischen  Baugeist  eigentlich  fremd 
gegenüber  stehen  und  erst  allmählich  in  den  grossen 
Sinn  der  Spätrenaissance  sich  hineinfinden  lernen ; 
—  hinter  den  Meistern  des  Barockstiles  bleiben  sie 
vollends  zurück.  Das  Aufkommen  dieser  Lombarden 
zu  tonangebender  Tätigkeit  bedeutet  also  an  sich 
keinen  Fortschritt  in  der  Entwicklung,  sondern  eher 
ein  retardierendes  Element,  und  zwar  im  schulmäfsigen 
Festhalten  an  dem  Herkommen  der  Renaissance. 

Nur  die  Steigerung  der  Grössenverhältnisse,  die 
damit  aller  Reize  der  Einzelform  verlustig  geht, 
kennzeichnet  ihre  Werke  als  Erzeugnisse  dieser  Spät- 
zeit, die  sich  entwöhnt  hat,  den  Menschen  in  seiner 
natürlichen  Sphäre  als  Mafsstab  aller  Beziehungen 
anzuerkennen,  wie  es  die  Hochrenaissance  noch  im 
grossartigsten  Bau  getan.  Der  Inhalt  entspricht  aber 
nicht  den  Mafsen;  es  sind  die  leeren  Dimensionen 
allein,  die  hier  aufgeboten  werden ;  es  fehlt  das  fühl- 
bare Leben,  das  die  Steinmassen  und  Raumformen 
geniessbar  macht.    So  wirken  sie  nur  öde  und  er- 

13* 


196 


Glanzperiode  und  Umschwung 


schreckend.  Allein  in  Aufgaben ,  die  von  der  Re- 
naissance völlig  durchgearbeitet  waren  und  in  ihrer 
Ausdehnung  an  sich  übersichtlich  bleiben,  wie  die 
Cappella  del  Presepe  an  S.  Maria  Maggiore,  leistet 
auch  Domenico  Fontana  (seit  1584)  Vortreffliches. 
Wie  dieser  reine  Centraibau  nach  Art  der  Madonna 
di  San  Biagio  vor  Montepulciano  erscheint  auch  die 
Fassade  des  Lateranspalastes  vor  dem  nüchternen 
Innern  wie  eine  Rückkehr  zur  Renaissance,  und  zwar 
zu  dem  selben  Meister  Antonio  da  Sangallo :  nämlich 
zur  ursprünglichen  Idee  des  Pal.  Farnese ,  mit  ab- 
sichthcher  Beseitigung  aller  veränderten  Zutat  Michel- 
angelos. Das  abschhessende  Gesims  ist  ganz  nahe 
über  den  Giebeln  der  obern  Fensterreihe  hingeführt, 
ja  durch  Fensterluken  im  Fries  eine  noch  nähere 
Verbindung  gewonnen,  so  dass  dem  Hauptgeschoss 
mit  seiner  hohen  Obermauer  die  stärkste  Massen- 
wirkung bleibt.  In  demselben  Geiste  der  Reaktion 
im  Anschluss  an  Sangallo,  also  der  Renaissance 
gegen  Michelangelos  Barockgedanken,  die  zunächst 
als  Versündigungen  erscheinen  mochten,  sind  auch 
Fontanas  offene  Hallen  gedacht,  die  als  Benediktions- 
loggia an  der  Seite  der  LateransbasiUka  und  im  Erd- 
geschoss  der  Fassade  vor  der  Scala  Santa  entstan- 
den ,  dann  aber  ziemlich  unmotiviert  auch  für  den 
Dekorationsbau  der  Fontana  dell'  Acqua  Paola  wie 
für  die  Fontana  di  Termini  verwertet  werden.  Da- 
mit aber  kommt,  neben  dem  wolmotivierten  Beispiel 
am  Seitenpalast  (de  Conservatori)  auf  dem  Kapitols- 
platz,  dies  Motiv  der  Raumöffnung  auch  für  Front- 
ansicht in  Aufnahme ,  also  eine  Auflockerung  des 


Domenico  Fontana 


197 


Baukörpers  an  seiner  Aussenseite,  welche  der  Barock- 
auffassung der  geschlossenen  Masse  durchaus  wider- 
strebt. Auch  Carlo  Lambardo  von  Arezzo  hat  es 
an  seiner  unglücklichen  Fassade  von  S.  Francesca 
Romana  1615  mit  der  Einen  Ordnung  im  Sinne 
Palladios  zu  vereinigen  gesucht,  und  der  ernste  Römer 
Giov.  Batt.  Soria  vermochte  es  über  sich  in  der 
Vorhalle  von  S.  Crisogono  1623,  an  S.  Caterina  da 
Siena  und  S.  Gregorio  Magno  in  Monte  Celio  1633. 
Dazu  gesellt  sich  noch  ein  andres  Motiv,  das  direkt 
aus  Oberitalien  übernommen  wird :  die  beiden 
Glockentürme  über  den  Rücklagen  der  Fassade  von 
S.  Atanasio  de'  Greci  von  Martino  Lunghi  und  der 
Trinitä  de'  Monti  von  Domenico  Fontana.  Es  ist 
ein  Erbteil  des  Mittelalters ,  von  den  Gränzen  der 
nordischen  Kunst  stammend,  das  mit  seinem  Kom- 
positionsprinzip dem  plastischen  Streben  nach  Ein- 
heitlichkeit und  Gipfelung  der  Mitte  gradeswegs  zu- 
widerläuft. Statt  der  Einen  Vertikale  als  Dominante 
des  Hochdrangs,  mit  ihren  untergeordneten  symme- 
trischen Abseiten,  stehen  hier  zwei  Höhenlote  sym- 
metrisch nebeneinander  und  die  Mitte  sinkt  zum  ab- 
hängigen BindegHed  herab,  das  nur  den  Durchgang 
in  das  Innere  des  Langbaues  enthält. 

So  wundern  wir  uns  nicht,  wenn  Domenico 
Fontana  als  Baumeister  von  S.  Peter  auch  auf  den 
Wunsch  eingieng,  dem  Centraibau  ein  Langhaus  vor- 
zulegen ,  das  neben  seiner  westlichen  Tribuna  wol 
sicher  das  nämliche  Paar  von  Glockentürmen  erhal- 
ten hätte,  wenn  auch  vielleicht  selbständig  daneben 
wie  einst  Sangallo  an  der  Madonna  di  S.  Biagio  vor 


1,98 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Montepulciano  oder  in  seinen  Plänen  für  S.Peter  selbst 
sie  vorgebildet  hatte.  Indes,  er  hat  nur  den  Kuppel- 
bau ,  den  Giacomo  della  Porta  bis  an  die  Laterne 
geführt,  mit  einer  kleineren  Wiederholung  des  säulen- 
umkränzten  Tambours  und  einem  geschweiften,  von 
Konsolenreihen  gestützten  Helm  bekrönt,  so  dass 
dieser  'Aufsatz  wieder  selbständig  werden  will  im 
Sinne  der  Renaissance.  Dann  fiel  er  1592  bei  Cle- 
'  mens  VIII.  in  Ungnade  und  zog  sich  nach  Neapel 
/  zurück,  wo  er  den  riesenhaften,  aber  langweiHgen 
Königspalast  erbaute. 

Neben  den  Lombarden,  zu  denen  auch  Flaminio 
Ponzio  mit  seinem  Quirinalsbau  gerechnet  werden 
darf,  drängen  Toskaner  heran,  die  durchaus  noch 
von  Prinzipien  der  Renaissance  erfüllt  sind.  So 
Francesco  da  Volterra  und  der  Maler  Luigi  Cardi 
genannt  Cigoli,  der  ebenfalls  einen  Entwurf  für  den 
Langhausbau  von  S.  Peter  zeichnen  musste  und 
161 3  in  Rom  gestorben  ist.  So  auch  Annibale  Lippi, 
der  seit  1590  die  Villa  Medici  einem  Umbau  unter- 
zog, dem  sie  jedenfalls  entscheidende  Charakterzüge 
verdankt.  Die  offene  Säulenhalle  an  ihrer  Rückseite 
mit  dem  mittleren  Rundbogen  erinnert  an  Vasaris 
Uffizienmitte,  die  Nischen  in  der  Mauer,  der  Schmuck 
von  ReUefs ,  Kränzen ,  Medaillons ,  die  sich  zum 
Teil  übereinander  schieben,  während  die  äussersten 
Nischen  leer  bleiben ,  vollführen  eine  Steigerung 
gegen  die  Mitte ;  aber  die  Üppigkeit  und  Flachheit 
dieser  Ausstattung  lässt  doch  keinen  Zweifel  über 
den  Sinn  als  ,, geschmückte  Wand",  bei  der  von 
plastischer  Gestaltung  um  eine  Höhenaxe  nicht  die 


Villa  Medici  und  Borghese 


199 


Rede  sein  kann.  Zu  beiden  Seiten  treten  vielmehr 
die  Flanken  als  Einfassung  dieser  Schlusswand  und 
der  untern  Raumöffnung  hervor,  und  der  Aufsatz 
auf  dem  Dach  des  Hauptbaues  betont  ebenso  fühl- 
bar ,  wenn  auch  nachträglich ,  die  Gipfelung  an 
deren  äussersten  Endpunkten  der  Breitenaxe,  jenen 
Flügelbauten  der  Rückseite  entsprechend,  mit  ihren 
zwei  Türmen,  als  symmetrisch  emporsteigendem  Paar 
und  gleichmäfsig  ausgedehnter  Verbindung  da- 
zwischen Daran  reiht  sich,  die  nämlichen  Gesetze 
nur  noch  deutlicher  ausprägend,  um  1615  die  Villa 
Borghese,  die  Hans  von  Xanten,  Giovanni  Vasanzio 
genannt ,  entwarf  Der  umfassenderen  Anlage  des 
grossen  Parkes  entsprechend  setzt  sich  das  Casino 
an  seiner  Gartenseite  viel  energischer  mit  der  zu- 
gehörigen Umgebung  auseinander.  Die  Front  gegen 
die  Landstrasse  ist  kaum  von  Belang  ausser  durch 
die  Breitendimension  des  gleichmäfsig  verlaufenden 
dreigeschossigen  Traktes,  der  durch  Ecktürme  flan- 
kiert wird,  also  die  nämUche  Symmetrie  ohne  Aus- 
bildung eines  dominierenden  Mittelgliedes  aufweist. 
Nach  dem  Garten  zu  öffnet  sich  der  Baukörper  in 
einer  Bogenhalle  toskanischer  Ordnung  mit  hoher 
Attika  und  bekrönender  Balustrade ,  hinter  der  die 
offene  Terrasse  bis  an  den  Hauptbau  reicht ;  aber 
diese  Loggia  wird  durch  weitausladende  zweigeschos- 

i)  Vgl.  hierzu  auch  die  Ansicht  der  Benediktionsloggia  am 
Lateran  mit  den  beiden  älteren  Türmen  aus  dem  Quattrocento  da- 
hinter und  dem  Obelisken  in  der  Mitte  des  Platzes  davor,  z.  B.  im 
Holzschnitt  Le  cose  maravigliose  dell'  alma  cittä  di  Roma,  1595, 


200 


Glanzperiode  und  Umschwung 


sige  Eckrisalite  eingeschlossen,  die  sich  turmartig 
vorschieben.  Diese  Flanken  sind  freilich  keine  freien 
selbständigen  Teile ,  sondern  bleiben  im  Baukörper 
stecken,  aber  im  Ganzen  waltet  doch  deutUch  das 
Gefühl  der  Auseinandersetzung  mit  der  umgebenden 
Natur,  —  und  sehr  bezeichnend  wird  in  der  Mitte 
grade,  wo  wir  bei  statuarischer  Gruppe  die  Gipfelung 
an  vertikaler  Dominante  erwarten,  hier  völlig  auf 
plastische  Gestaltung  verzichtet  und  die  Lagerung  in 
die  Breite  betont,  um  dem  Zusammenhang  mit  dem 
Ganzen  der  Parkanlage  sein  Recht  zu  lassen.  Die 
Belastung  der  Arkaden  mit  einer  Attika,  die  Glie- 
derungslosigkeit  der  Mauer ,  der  Ersatz  der  Pilaster 
durch  Lisenen,  ja  die  schlichte  Zwischenlage,  die, 
der  Attika  entsprechend,  die  beiden  Geschosse  der 
Eckrisalite  durchsetzt,  wie  eine  Schachtelung  im  Ge- 
wächs, alles  das  sind  Barocksymptome;  aber  das 
Motiv  der  geschmückten  Wand  im  Schutz  der  vor- 
tretenden Flanken  ist  etwas  durchaus  Malerisches 
und  ebenso  die  Gesamtanlage,  mit  ihrer  allseitigen 
Beziehung  zum  Parke. 

,,Um  gerecht  zu  sein,"  schreibt  von  der  Land- 
villa wenigstens  auch  WölffHn,  ,,muss  man  stets  im 
Auge  behalten,  dass  die  Architektur  gar  keine  selb- 
ständige Rolle  spielen  will.  Das  Haus  ordnet  sich 
der  Umgebung  bescheiden  ein."  —  Damit  aber 
würde  die  Baukunst  hier  nicht  nur  des  monumen- 
talen Charakters  sich  entwöhnen,  sondern  eben  durch 
ihre  Einordnung  in  den  weitern  Zusammenhang  der 
Gartenanlage  wie  der  Gegend  umher  einem  ganz 
andern  Prinzip  unterstellt  als  dem  plastisch -monu- 


Uebergang  ins  Malerische 


201 


mentalen ,  das  wir  im  Barockstil  ^^lichelangelos  als 
herrschendes  anerkannt.  Der  leitende  Gesichtspunkt, 
der  dann  die  ganze  Ökonomie  des  Kunstwerkes  be- 
stimmt, ist  nicht  mehr  der  des  Bildners,  sondern  des 
Bildes,  nicht  mehr  der  plastisch-statuarische,  sondern 
der  malerische.  In  der  Baugruppe  des  Casino  Bor- 
ghese  wie  an  der  Rückseite  der  Villa  Medici  zeigen 
sich  solche  Willensäusserungen  meines  Erachtens 
ganz  zweifellos.  Hier  tritt  wirklich  ein ,  was  vor- 
schnell von  der  Barockarchitektur  im  Allgemeinen 
gesagt  worden  ist :  ,,sie  geht  Wirkungen  nach,  die 
einer  andern  Kunst  entlehnt  sind:  sie  wird  malerisch." 

Daher  das  Motiv  der  geschmückten  Wand,  das 
die  Freude  an  der  belebten  Fläche,  am  Bildeindruck 
verkündet,  daher  die  Tendenz  des  ganzen  Baues  in 
die  Breitendimension,  als  abschliefsender  Hintergrund 
einer  perspektivischen  ^Ansicht  vom  Standpunkt  des 
Beschauers  aus.  Es  ist  kein  Wachstum  mehr,  das 
von  Innen  heraus  den  Keim  des  eigensten  Wesens 
in  der  Körperform  um  ein  Rückgrat,  eine  Richtungs- 
axe  nur  entwickelt  und  im  Interesse  beharrhchen 
Bestehens  die  feste  Geschlossenheit  der  Masse  be- 
wahrt, sondern  es  ist  von  Innen  her  die  mannich- 
faltige  Vermittlung  nach  Aussen,  von  Aussen  her  die 
Zusammenfassung  mehrerer  Körper  im  Raum,  nicht 
ihrem  Kern,  ihrem  Wachstum  nach,  sondern  nach 
ihrer  Erscheinung  von  einer  Seite  her.  Es  ist  die 
Auffassung  ihres  Zusammenhanges  im  Nebeneinander 
und  mit  der  Welt  umher,  die  hier  waltet,  und 
dieser  umfassenderen  Einheit  zuliebe  wird  geordnet, 
verbunden,  bezogen  und  ausgeglichen. 


202 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Diese  Tendenz  auf  Vermittlung  des  Baukörpers 
mit  seiner  Umgebung  ist  aber,  wie  wir  uns  bei 
Bramante  und  Antonio  da  Sangallo  noch  klar  gemacht, 
ein  Erbteil  der  Renaissance,  eben  dort  schon  vom 
Villenbau  auch  in  den  Palastbau  eingedrungen.  Das 
strenge  Prinzip  plastischer  Gestaltung  der  Körper- 
masse, das  Michelangelo  dagegen  verfolgte  und  sein 
Nachfolger  Giacomo  della  Porta  selbst  in  der  Auf- 
nahme der  Tiefendimension  durchzuführen  bestrebt 
war ,  wird  nun  durch  das  erneute  Andringen  der 
Renaissance  wieder  in  Frage  gestellt.  Und  nun 
erst,  in  der  Tätigkeit  der  Oberitaliener  und  Toskaner 
in  Rom,  können  wir  glauben,  es  sei  auf  eine  „An- 
näherung der  beiden  Gebiete",  der  Villen-  und  Palast- 
architektur, der  Villa  suburbana  und  Villa  rustica  ab- 
gesehen, wie  Wölfflin  schreibt.  Diesen  Schritt  voll- 
zieht, — -  und  deshalb  habe  ich  die  vorbereitenden 
Beispiele  hierher  genommen,  —  nicht  Giacomo  della 
j  Porta,  sondern  Carlo  Maderna,  der  OberitaHener, 
'  der  Neffe  des  Domenico  Fontana,  der  die  verlorne 
Stellung  seines  Oheims  wieder  errang  und  der  Nach- 
folger des  Francesco  da  Volterra  wurde. 

Als  Carlo  Maderna  (geb.  zu  Bissano  am  Comer- 
see  1556,  aber  schon  jung  nach  Rom  gekommen) 
nach  dem  Weggang  Fontanas  in  Rom  festen  Fufs 
zu  fassen  versuchte,  waren  ihm  zunächst  angefangene 
Aufgaben  Anderer  zugefallen,  wie  Chor  und  Kuppel 
von  S.  Giovanni  de'  Fiorentini,  S.  Giacomo  degli 
Incurabili,  die  Francesco  da  Volterra  unvollendet 
hinterlassen,  und  besonders  der  1586  begonnene 
Palazzo  Lancelotti.   Grade  dieser  Bau  erinnert,  wie 


Carlo  Maderna 


203 


Gurlitt  mit  Recht  hervorhebt,  durch  die  Hofanlage 
an  die  Blüte  der  Hochrenaissance  in  Genua;  die 
zierliche  Doppelloggia  an  der  einen  Seite,  deren  Ar- 
kaden auf  toskanischen  Säulen  ruhen;  die  reiche 
plastische  Dekoration  der  Türen  ist  mit  voller  Liebe 
ausgeführt.  Die  festlich  schmückende  Verteilung 
geschmackvoll  umrahmter  antiker  Reliefs,  —  sollte 
sie  vor  dem  Obergeschoss  entstanden  sein,  das  dem 
Carlo  Maderna  zugewiesen  wird?  —  Mit  dem  Schmuck 
durch  antike  Reliefs  sehen  wir  Maderna  auch  den 
Hof  seines  selbständig  erbauten  Palazzo  Matt  ei  di 
Giove  (um  1602?)  ganz  ähnlich  beleben,  dessen  eine 
Schmalseite  sich  bereits,  nur  durch  eine  niedrige 
Mauer  getrennt,  gegen  den  Garten  öffnet,  während 
die  andre  hinter  der  Strafsenfront  gelegene  mit  drei- 
mal drei  Arkaden  über  einander,  diesem  Ausblick 
zuliebe  so  luftig  gestaltet  ist  und  zu  den  Langseiten, 
die  den  geschlossenen  Charakter  bewahren,  in  be- 
wusstem  Gegensatze  steht. 

Im  Hof  des  Palazzo  Chigi  an  Piazza  SS.  Apos- 
toli  (später  Colonna  di  Gallicano,  jetzt  Odescalchi) 
hat  Maderna  noch  im  weiteren  Verlauf  seiner  Tätig- 
keit ebenso  unzweifelhaft  zu  den  Motiven  der  Renais- 
sance zurückgegriffen.  In  dem  später  von  Bernini 
vollendeten  und  hernach  sehr  erweiterten  Bau  gehört 
ihm  jedenfalls  ,,das  Palladiomotiv  mit  schönen  tos- 
kanischen Säulen,  darüber  die  Gliederung  durch 
ionische  Pilaster  mit  Bogen  und  eingestellten  Fenstern 
dazwischen." 

In  den  letzten  Jahren  seines  Lebens  1624 — 1629 
begann  er    dann  noch  den  epochemachenden  Bau 


204 


Glanzperiode  und  Umschwung 


des  Palazzo  Barberini  für  den  Nepoten  Urbans  VIII. 
Der  Grundgedanke  ward  offenbar  durch  die  beson- 
dere Lage  des  Bauplatzes  mitbestimmt,  so  dass  er 
nicht  nachträgUch  erst  entwickelt  sein  kann,  und  hängt 
ausserdem  mit  den  oberitalienischen  Tendenzen  der 
lombardischen  Künstlerfamilie,  zu  der  Maderna  gehört, 
wie  mit  seinen  eignen  Anläufen  in  Pal.  Mattei  di 
Giove  so  notwendig  zusammen,  dass  wir  nicht  zweifeln 
können,  die  entscheidende  Tat  für  ihn  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Es  ist  die  vollendete  Verbindung 
zwischen  dem  römischen  Palastbau  und  der  Villa 
suburbana,  und  zwar  mit  völligem  Verzicht  auf  den 
Binnenhof  zu  Gunsten  der  offenen  Vermittlung  mit 
Garten  und  sonst  umgebender  Anlage.  Nicht  ein 
einheitlicher  geschlossener  Baukörper  ist  vorhanden, 
sondern  zwei  Hälften,  die  nach  Aussen  besonders 
gegen  die  Piazza  zu  den  ernsten  Charakter  römischer 
Paläste  bewahren;  aber  zwischen  beide  parallel 
laufende  [Kolosse  schiebt  sich  gegen  die  Haupt- 
strasse zu  ein  verbindendes  Mittelstück,  so  dass  die 
Schmalseiten  der  beiden  Flügel  links  und  rechts  wie 
Eckrisalite  vorspringen  und  turmartig  über  die  Höhe 
dieser  Mittelfront  emporsteigen,  die  ihrerseits  ganz  den 
offnen  Charakter  der  Villa  und  zwar  der  Gartenseite 
zur  Geltung  bringt.  Das  ganze  Erdgeschoss  erscheint 
als  Eingangshalle,  deren  rusticierte  Pfeilerarkaden 
von  einer  toskanischen  Pilasterordnung  mit  reichem 
Triglyphenfries  eingeschlossen  werden.  Nur  in  der 
Mitte  treten  Säulen  als  Träger  des  Balkons  hervor. 
Das  Obergeschoss  hat  eine  ionische  Halbsäulenord- 
nung,  von  Lisenen  begleitet,  zwischen  denen  ,,die 


Carlo  Maderna 


205 


Rundbogenfenster  wie  in  Füllungen  hineingezeichnet 
erscheinen".  Hier  aber  hat  wol,  wie  vermutet  werden 
darf^),  schon  der  Nachfolger  die  perspektivische 
Durchführung  der  schrägen  Gewände  hinzugetan, 
und  die  oberen  Teile  erweitert,  während  Maderna 
wahrscheinlich  die  Doppelloggia  mit  einem  ge- 
schlossenen Halbgeschoss  beenden  und  somit  dem 
Hauptgesims  der  Flügelbauten  unterordnen  wollte.  -) 

Die  innere  Anlage  des  Vestibüls  folgt,  die  beiden 
Seitenkoulissen  weiter  führend,  schon  ganz  dem  Gesetz 
der  Bühnenperspektive,  die  den  entscheidenden 
Kernpunkt  für  die  Rechnung  des  erfindenden  Archi- 
tekten ausser  Zweifel  stellt.  Auch  sie  bezeugt  den 
Übergang  vom  plastischen  zum  malerischen  Stand- 
punkt und  eröffnet  die  Reihe  der  umfassenden  Barock- 
anlagen des  reichen  Stils,  die  überall,  wo  sie  vor- 
kommen, so  wesentlich  zur  Verschönerung  des  Stadt- 
bildes, beitragen.  • 

Aber  wenn  wir  diese  durchgreifende  Neuerung 
in  Rom  bei  einem  Angehörigen  der  selben  Baumeister 


1)  Doch  scheint  auch  Giovanni  Fontana  dergleichen  schon 
ausgeführt  zu  haben,  vgl.  Falda,  Fontane  di  Roma  ,,Teatro  della 
Villa  Borghese  di  Mondragone  a  Frascati". 

2)  Ich  stimme  dieser  Ansicht  Gurlitts  vollständig  bei ,  indem 
ich  daran  erinnere,  dass  Maderna  nicht  allein  die  Fontana  di  Acqua 
Paola  vollendet ,  sondern  auch  wol  die  Benediktionsloggia  an  S. 
Giov.  in  Laterano  weitergeführt,  sowie  Sonstiges  mit  Giovanni  Fon- 
tana gearbeitet,  also  mit  den  Unternehmungen  dieser  Art  in  Ver- 
kehr gestanden  hat.  Vgl.  auch  den  Wandbrunnen  des  Domenico 
Fontana  ,,a  Ponte  Sisto  in  capo  strada  Giulia",  und  der  frei  stehen- 
den ,,su  la  piazza  della  porta  del  Popolo  sotto  la  guglia"  bei  Falda 
a.  a.  O. 


206 


Glanzperiode  und  Umschwung 


erklärlich  finden,  die  an  den  Alpenseen  daheim  im 
Dienst  der  Mailänder  oder  an  der  Riviera  im  Dienst 
der  Genuesen  den  heitern  Charakter  des  Villenstiles 
und  der  Säulenhallen  am  Äussern  wie  im  Innern  der 
Paläste  zur  Geltung  brachten,  so  dürfen  wir  andrer- 
seits nicht  vergessen,  dass  Carlo  Maderna  seine  Über- 
legenheit über  die  ältern  Landsleute  in  Rom  grade 
dadurch  bewies,  dass  er  mit  vollem  Verständnis  auf 
den  Barockstil  des  Giacomo  della  Porta  eingieng,  ja 
im  Geiste  Michelangelos  ihn  weiter  zu  führen  bestrebt 
war.  Er  hatte  im  Kirchenbau  nicht  allein  die  Central- 
anlage  von  S.  Giacomo  degli  Incurabili  übernommen, 
sondern  den  Langhausbau  von  S.  Andrea  della  Valle 
und  S.  Peter  bis  zur  Fassade  hin  vollendet,  und  hatte 
in  einem  frühen  Meisterwerk  an  S.  Susanna  ja  die 
glücklichste  Lösung  des  Fassadenproblems  selber 
gefunden.  Daneben  beweist  er  in  seinen  Brunnen 
wieder  die  glückHche  Gabe ,  hier  den  plastischen 
Grundgedanken  des  Barock  entschiedener  als  seine 
Vorgänger  zum  Ausdruck  zu  bringen,  dort  an  andrer 
Stelle  zu  neuen  Erfindungen  fortzuschreiten.  Beson- 
ders berühmt  sind  die  prächtigen  Exemplare  vor 
S.  Peter.  ,,Das  Wasser  wird  von  einem  breiten 
pilzartigen  Körper  ausgestofsen  und  fällt  auf  diese 
rundliche  Fläche  zurück,"  so  dass  der  geschlossene 
Hochdrang  des  flüssigen  Elements  noch  entschieden 
vor  dem  Niederrauschen  die  Oberhand  behält.  Auf 
Piazza  ScossacavalU  wie  am  Tor  des  Belvedere, 
besonders  aber  vor  S.  M.  Maggiore  wähh  er  dagegen 
die  oblonge  Grundform  des  Beckens,  die  sich  in 
die  Breite  legt. 


Carlo  Maderna 


207 


In  der  Vereinigung  des  römischen  Barock  mit 
dem  Reichtum  der  Hochrenaissance  besteht  grade 
die  Bedeutung  des  Carlo  Maderna  für  die  Geschichte 
des  Stiles  in  Rom.  Je  mehr  er  vor  die  mannich- 
faltigen  und  gewaltigen  Aufgaben  gestellt  wird,  desto 
mehr  gewinnt  das  Besitztum  der  Renaissanceschulung, 
die  er  genossen  haben  muss,  das  Übergewicht  in 
seinem  künstlerischen  Schaffen.  Er  muss  Alles  auf- 
bieten, was  sich  irgend  an  verwertbaren  Keimen  für 
Weiterbildung  hereinnehmen  Hess.  Und  in  der  Tat, 
der  Geschichtschreiber  wird  im  Voraus  die  historische 
Notwendigkeit  begreifen:  der  römische  Barock- 
stil musste,  um  zur  vollen  Herschaft  zu  gelangen, 
um  auch  im  übrigen  Italien  und  der  weitern  Macht- 
sphäre seiner  Kultur  Eingang  zu  gewinnen,  zuvor  die 
hö chsten  Errungenschaften  der  Renaissance  in 
sich  aufnehmen,  mit  den  glückHchsten  Schöpfun- 
gen der  Blütezeit  einen  Wettkampf  bestehen.  Wie 
an  S.  Peter  schon  das  Ideal  der  Renaissance  im  cen- 
tralen Kuppelbau  dem  Ideal  Michelangelos  gewichen 
war,  sich  dann  aber  mit  der  neuen  Forderung  der 
Tiefendimension  im  Langbau  verbunden  hatte ,  so 
blieb  nun  noch  ein  weiteres  Problem  im  Fassaden- 
bau zu  lösen  übrig,  und  an  diesem  Prüfstein  mochte 
der  kühnste  Hochsinn  dieser  Künstlergeneration  zu 
Schanden  werden,  wenn  es  nicht  gelang,  eine  be- 
friedigende Versöhnung  jener  Gegensätze  zu  erreichen. 

Wie  im  Innern  des  Langhauses,  von  dem  wir 
bereits  gesprochen  haben,  geht  Maderna  auch  in  der 
Fassade  von  S.  Peter  die  Wege  des  Barockstiles, 
die  Michelangelo  vorgezeichnet,   in  den  Fufstapfen 


208 


Glanzperiode  und  Umschwung 


des  Giacomo  della  Porta  weiter.  Ja,  er  schliefst  sich, 
soviel  es  mögUch  war,  dem  vorhandenen  Modell  des 
Meisters  auch  in  den  Hauptmassen  seines  Aufrisses 
an.  Aber  er  verwertet  zugleich  die  Erfahrungen  an 
S.  Susanna  und  sucht  auch  hier  im  Grofsen  mit  der 
nämlichen  Stufenfolge  des  Reliefs  auszukommen.  — 
Auf  frei  vortretende  Säulen  wird  ganz  verzichtet, 
nur  vier  Dreiviertelsäulen  in  der  Mitte,  mit  dem 
Dreieckgiebel  darüber,  als  höchste  Stufe  plastischer 
Rundung  verwendet,  sodass  der  Zusammenhang  mit 
dem  Baukörper  bewahrt  bleibt.  Neben  dem  Mittel- 
risalit folgt  auf  beiden  Seiten  zunächst  ein  Paar  von 
Halbsäulen  mit  verkröpftem  Gebälk,  für  die  erste 
Rücklage,  dann  ein  Paar  von  Halbpilastern,  als  Ein- 
rahmung des  folgenden  Wandstückes,  und  endlich 
mit  stark  vorgekröpftem  Pilasterpaar  die  neuen  Zu- 
taten Madernas,  die  Eckrisalite,  die  über  die  Flucht- 
linien des  Langhauses  hinaustreten,  die  Fassade 
somit  absichtlich  verbreitern  und  von  vornherein 
bestimmt  sind ,  Türme  zu  tragen.  In  den  Inter- 
kolumnien  dieser  Reihe  von  riesigen  Trägern  unter 
dem  ebenso  abgestuften  Gebälk  kommen  die  beiden 
Stockwerke  der  Langseiten  zum  Ausdruck.  Den 
drei  Haupteingängen  entsprechen  Säulenpaare  unter 
gradem  Gebälk,  wie  Michelangelo  sie  am  Konserva- 
torenpalast unter  das  Joch  gestellt;  in  den  Eckrisa- 
liten öffnen  sich  dagegen  zwischen  den  Pfeilerbündeln 
hohe  Rundbogen,  deren  Scheitel  mit  der  Fenster- 
balustrade des  zweiten  Geschosses  zusammenstösst. 
Über  die  ganze  Breite  zieht  sich  die  schwere  Attika, 
wie  Michelangelo  sie  gewollt,  nur  reicher  geghedert 


Carlo  jSIaderna 


209 


und  im  Zusammenhang  mit  untern  Teilen  in  ihrer 
Plastik  abgestuft,  so  dass  in  der  vielteiligen  Gruppe 
nun  neben  der  niedrigeren  Mitte,  hinter  der  die 
Kuppel  aufwächst,  von  den  Nebenkuppeln ^)  not- 
wendig vorbereitet  die  Türme  links  und  rechts  als 
Höhenpunkte  gefordert  werden.  Diese  Türme  Ma- 
dernas bestanden  aus  einem  luftigen  Geschoss,  das 
an  allen  vier  Seiten  des  quadratischen  Tempels  einen 
Dreieckgiebel  auf  korinthischen  Ecksäulen  zeigt, 
zwischen  denen  eine  dreiteilige  Gruppe  von  Bogen- 
öffnungen  mit  einem  Paar  von  Rundnischen  neben 
dem  höheren  Mittelbogen  also  eine  Art  Palladio- 
motiv  eingeschlossen  wird.  Darüber  steigt,  von 
Kandelabern  voraus  verkündet,  eine  Laterne  empor 
die  aus  einem  Tambour,  von  umgekehrt  aufwachsenden 
Konsolen,  und  einem  einwärts  geschwungenen  Helm 
mit  wulstigem  Kegelkopf  besteht. 

Unverkennbar  durchsetzen  sich  die  Formge- 
danken des  Barock  grade  in  diesen  letzten  Zutaten 
mit  Renaissancemotiven.  Und  die  Lösung  des 
Widerstreites  zwischen  dem  Kuppelbau  und  dem 
Langhaus,  der  grade  hier  an  der  Fassade  zum  Aus- 
trag kommen  musste,  wird  garnicht  mehr  im  Sinne 
des  strengen  Barockstiles  versucht,  sondern  nach  dem 
Sinne  der  Hochrenaissance,  durch  Harmonie  zwischen 


l)  Es  ist  bezeichnend  für  die  vorherrschende  Anschauungs- 
weise, dass  nur  die  beiden  vordem  Nebenkuppeln  ausgeführt  wor- 
den, auf  die  beiden  hintern  ,  die  Michelangelo  notwendig  dazu  ge- 
setzt, ganz  verzichtet  wurde.  Die  Vorderansicht  wird  mafsgebend. 
Vgl.  aber  das  Projekt  zur  Vervielfachung  der  Kuppeln  über  das 
ganze  Langhaus  bei- Carlo  Fontana,  II  tempio  Vaticano  1694,  p.  423  ff. 
Schmarsow,  Barock  und  Rokoko. 


210 


Glanzperiode  und  Umschwung 


den  vielgestaltigen  Teilen  einer  mehrgliedrigen  Gruppe, 
ganz  ähnlich  wie  es  in  Sangallos  Plänen  für  S.  Peter 
vorbereitet  war.  Aber  auch  nach  dieser  Richtung 
konnte  keine  Übereinstimmung  aller  Teile  unter 
einander  und  mit  dem  Ganzen  erreicht  werden,  dem 
widerstrebte  schon  die  Proportionalität  des  organischen 
Wachstums  in  den  untern  ganz  michelangelesk  an- 
gelegten Teilen;  sondern  mit  allen  Reizen  der  Re- 
naissancce  war  nur  eine  spielende  Täuschung  über 
die  eigentliche  Schwierigkeit  hinweg  erreichbar.  Und 
diesen  gefährlichen  Weg  betritt  Maderna,  indem  er 
vom  plastischen  Standpunkt  zum  malerischen  über- 
geht und  auch  den  Beschauer  dahin  verlockt,  ja 
durch  künstliche  Mafsnahmen  dahin  drängt.  Wie 
an  S.  Susanna  die  Langseiten  der  Basilika  durch 
Mauern  neben  der  Fassade  dem  Blick  des  Betrachters 
entzogen  sind,  so  geschieht  es  hier  an  S.  Peter 
durch  die  Turmvorlagen  an  den  Ecken  der  Front. 
So  muss  auch  hier  wie  dort  die  Frage  nach  dem 
organischen  Zusammenhang  der  Stirnseite  mit  dem 
übrigen  Baukörper  unbeantwortet  bleiben,  oder  die 
aufsteigenden  Zweifel  werden  vertuscht,  —  bis  die 
hinten  aufsteigende  Gruppe  der  Kuppeln  sie  ge- 
bieterisch wiederholt.  Um  des  ersten,  so  oft  ent- 
scheidenden Eindrucks  willen,  geht  Madernas  Fassade 
so  sehr  in  die  Breite,  folgt  eben  jener  Tendenz,  die 
wir  bei  S.  Susanna  leise  schon  sich  melden  sahen, 
nun  nolens  volens  entschiedener.  Und  folgen  wir 
der  künstlerischen  Ökonomie  weiter  nach,  so  er- 
kennen wir  selbst  von  dem  festen  Standpunkte  aus, 
der  uns  dieser  geschmückten  Wand  gegenüber  an- 


i 


Carlo  Maderna 


211 


gewiesen  wird,  also  zum  Hintergrund  des  weiten 
Platzes,  —  dass  die  Faktoren,  die  hier  zusammen 
wirken  sollen,  einer  in  sich  zwiespältigen  Rechnung 
entspringen.  Die  mittlere  Fassade,  d.  h.  die  Stirn 
des  Langhauses,  soweit  seine  Breite  wirklich  reicht, 
ist  eine  Reliefkomposition  wie  S.  Susanna,  nur  fünf- 
ghedrig  abgestuft.  Die  Ecktürme  jedoch  sind  Voll- 
körper, die  nur  einer  Gruppe  von  Körpern  angehören 
können,  deren  jeder  soviel  Wert  hat  wie  die  einzelne 
Menschengestalt,  also  einer  statuarischen  Verbindung 
von  drei  oder  fünf  organischen  Geschöpfen,  wie 
Laokoon  und  seine  Söhne  in  der  Umstrickung  der 
Schlangen.  Die  Türme  weisen  auf  die  Kuppeln  des 
Centraibaues,  und  die  Fassade  dazwischen  will  und 
kann  dort  nur  dem  Langhaus  Ausdruck  leihen,  da 
ihr  Abstand  von  jener  Vertikalaxe  jede  sichtbare 
organische  Verbindung  aufhebt. 

Madernas  Tod  verhinderte  die  Ausführung  der 
oberen  Abschlüsse,  wie  er  sie  beabsichtigt  hatte, 
und  überlieferte  damit  wieder  andern  Händen  ein 
dringendes  Problem,  dessen  Erledigung  für  die  Ge- 
schichte des  Stiles  von  ausserordentlicher  Wichtig- 
keit war.  Ein  Ausgleich  zwischen  der  ersten  und 
der  dritten  Dimension  musste  versucht  werden,  und 
es  unterlag  kaum  noch  einem  Zweifel ,  dass  er  mit 
Hülfe  der  Breitendimension  allein  zu  erreichen  sei. 


14* 


212  Glanzperiode  und  Umschwung 


2. 

Madernas  Nachfolger  am  Bau  der  Peterskirche  wie 
des  Palazzo  Barberini  ward  Giovanni  Lorenzo  Ber- 
nini, der,  1599  von  florentinischen  Eltern  in  Neapel 
geboren,  seit  1608  mit  seinem  Vater  Pietro ,  einem 
geachteten  Porträtbildner,  in  Rom  lebte  und  als  Bild- 
hauer schon  frühzeitig  auch  selbst  die  ersten  Lorbeern 
zu  ernten  begann.  Es  ist  bezeichnend  für  den  Ent- 
wicklungsgang des  ganzen  Stiles,  dass  dieser  Träger 
des  ferneren  Schicksals  von  der  Plastik  ausgegangen, 
sich  dann  der  Architektur  zuwandte,  und  auf  Betrieb 
seines  Gönners  Urban  VIII.  auch  die  Malerei  sich 
angeeignet  hat,  so  dass  er  alle  drei  Künste  mit 
voller  Meisterschaft  auszuüben  im  Stande  war. 

Die  berühmteste  Leistung  des  jungen  Bildners, 
mit  der  die  Aufmerksamkeit  der  vornehmen  Lieb- 
haber gewiss  gewonnen  ward ,  die  Marmorgruppe 
von  Apoll  und  Daphne  in  Villa  Borghese  gewährt 
auch  uns  noch  den  besten  Ausgangspunkt  für  die 
Erkenntnis  seines  Wesens.  Die  Jünglingsphantasie, 
die  das  Werk  geboren,  bewahrt  einen  gewissen  Grad 
verschämter  Befangenheit  und  damit  die  keuschen 
Reize  der  Liebespoesie ,  die  er  später  so  keck  ent- 
weiht hat ;  aber  die  künstlerische  Empfindung  durch- 
dringt seine  Arbeit  schon  bis  in  die  letzten  Fein- 
heiten, und  die  unerschöpflichen  Mittel  seiner  Tech- 
nik scheinen  kein  Hindernis  mehr  zu  kennen,  dem 
Marmor  die  zartesten  Regungen  des  Seelenlebens 
mitzuteilen.  Vorbilder  der  Form  wie  des  Ausdrucks 
gehen  bereits  mit  einer  Geschmeidigkeit  zusammen, 


Lorenzo  Bernini 


213 


die  ausserordentliche  Begabung  voraussetzt,  aber  auch 
die  eigentliche  Sphäre  ihrer  Gestaltung  mit  einer 
Sicherheit  dartut ,  die  nicht  für  diesen  besondern 
Gegenstand  allein  gilt,  sondern  die  Organisation 
seines  Geistes  überhaupt  bezeichnet.  Man  stelle  sich 
nur  den  Apoll  von  Belvedere  neben  diesen  Apoll, 
der  unter  Berninis  Augen  und  Hand  aus  ihm  her- 
vorgegangen. Neben  der  Grossheit  der  Form ,  die 
auch  dieser  glänzenden  Verkörperung  des  delphischen 
Gottes  noch  eigen  ist,  bei  Bernini  graziöseste  Schlank- 
heit ;  neben  der  elastischen  Beharrung  des  Siegers 
im  Heraustreten  hier  geschwindeste  Bewegung  des 
Liebhabers  nach  dem  Ziele ,  wo  die  Fliehende  fest- 
wurzelt und  die  hülfesuchenden  Arme  in  die  Lüfte 
breitet ,  während  aus  den  Fingern  schon  Lorbeer- 
zweige wachsen  und  die  Rinde  schützend  den  Lieb- 
reiz ihres  Leibes  umspannt.  Und  so  wandelt  sich 
in  Beiden  der  eilende  Lauf  in  den  Aufschwung  des 
kritischen  AugenbUcks,  in  dem  sie  hier  erstarrt  sind. 
Schon  ,,dies  Übermafs  des  Momentanen"  ist  als 
Übersetzung  des  Apoll  von  Belvedere  eine  ganz  er- 
staunliche, für  den  Geschmack  der  Zeit  wie  für  das 
eifrigste  Bestreben  dieser  Künstlergeneration  ent- 
scheidende Äusserung.  Sie  war  nur  möglich,  wenn 
jede  Anwandlung,  durch  leibliche  Wucht  und  geistige 
Kraft  zu  wirken  wie  Michelangelo,  dem  Bildungsgang 
des  jungen  Meisters  fern  geblieben  war. 

Sein  Vater,  bei  dem  er  geschult  ward,  muss  als 
ächter  Florentiner  auch  in  Neapel  und  dann  in  Rom 
dem  Bekenntnis  der  Spätrenaissance  treu  gebheben 
sein ,  und  bei  aller  technischen  Verfeinerung  seiner 


214 


Glanzperiode  und  UmschAvung 


Mittel  und   aller    gewissenhaften   Vertiefung  seiner 
Naturstudien  doch  neben  den  Bildnissen,  die  grade 
dabei  vortrefflich  gediehen,  in  der  Gestaltenbildung 
und  Formensprache  seiner  Idealfiguren  an  der  alten 
Tradition  aus  den  Tagen  des  Andrea  Sansovino  her 
festgehalten  haben.    Es  ist  die  Schlankheit  und  Ele- 
ganz der  Manieristen ,  von  denen  auch  der  Sohn 
herkommt ,    nur    gesteigerte  Lebendigkeit    der  Be- 
wegung und  abgefeimte  Natürlichkeit  in  der  Wieder- 
gabe der  Haut,  der  Nägel,  der  Haare,  selbst  wo  die 
glänzende  Politur  den  Eindruck  des  Wirklichen  wie- 
der verschiebt.    So  reiht  sich  das  römische  Beispiel 
etwa  zunächst  an  die  Bronzefiguren  kauernder  Jüng- 
linge ,  mit  denen  der  Florentiner  Taddeo  Landini 
den  Schildkrötenbrunnen  des  Giacomo  della  Porta, 
die  Fontana  delle  Tartarughe  von  1585  geschmückt 
hatte.     Sie    haben  dieselbe   toskanische  Hagerkeit, 
wie  Michelangelos  Giovannino,  und  die  Gelenkigkeit 
wie  seine  Überschüssigen  in  der  Sixtina,  aber  fast 
in  umbrische  Zierlichkeit  zurück  übertragen,  wie  bei 
Bernardino  Poccetti.    Das  ist  auch  die  Figurenart, 
die  Pietro  da  Cortona  in  seine  Stuckgebilde  zum 
Schmuck  der  Decken  und  Simse  dann  im  Palazzo 
Pitti  aufnahm,  und  in  Rom  nicht  minder  verwertete. 
Der  Cortonese  arbeitet  ja  mit  Bernini  zusammen  für 
die  Famihe  Urbans  VIII.    Aber  die  Formensprache 
des  Letzteren  steht  für  die  Jugendwerke  früher  fest, 
als  die  Berührung  im  Pal.  Barberini  erfolgte,  und 
weist  auf  einen  andern  Ursprung  hin. 

Die  Typen  der  Köpfe  und  die  Behandlung  des 
Fleisches ,  der  Zug  der  Körperbewegungen  wie  der 


I^orenzo  Bernini 


215 


Fluss  der  Gewänder  sind  in  Berninis  Apoll  und 
Daphne  schon  nicht  florentinisch,  sondern  ganz  nach 
Correggio  gebildet,  dessen  berühmtesten  Ölgemäl- \ 
den  sie  nachweisbar  Stück  für  Stück  entnommen  sind. 
Und  diese  Wahl  ist  wieder  charakteristisch  und  ent- 
scheidend. Während  die  Carracci  immer  mehr  die 
grossformigen  Deckenmalereien  Correggios  in  Fresko 
bevorzugen ,  die  am  meisten  ihrem  Bedürfnis  nach 
Wucht  und  Fülle  entsprachen,  hält  sich  Bernini  an 
die  Staffelbilder  und  muss  einen  ganzen  Schatz  von 
Studien  daraus  zur  Hand  gehabt  haben.  Seine 
Übersetzung  dieser  gemalten  Vorbilder  in  die  Skulp- 
tur ist  nur  aus  voller  Freude  an  den  malerischen 
Vorzügen  erklärbar ,  wenn  nicht  zugleich  aus  dem 
fascinierenden  Zauber  der  liebestrunkenen,  selig 
lüsternen  Welt,  die  Correggio  so  sinnbetörend,  und 
er  allein  bis  damals ,  zu  schildern  gewusst  hatte. 
Bernini  ist  in  Allem  sein  begeisterter  Verehrer  und 
sein  ausgemachter  Nachfolger,  auf  dem  Gebiet  der 
Plastik.  Neben  Apoll ,  den  das  Belvedere  bot ,  hat 
sofort  die  Daphne  eins  von  jenen  Mädchengesichtern 
des  Malers,  deren  Unschuld  nicht  zu  ihrem  Schutz 
mit  der  Einfalt  und  Üppigkeit  junger  Gänse  gepaart 
ist.  Seine  Büfserinnen  gleichen  Correggios  schmieg- 
samer Magdalena  oder  Katharina ,  und  selbst  der 
Engel ,  der  die  heilige  Teresa  mit  dem  Liebespfeil 
verwunden  will,  ist  ein  Bruder  Amors  auf  dem  Bette 
der  Danae,  d.  h.  auf  einem  Bilde  des  Meisters  von 
Parma  in  der  Gallerie  Borghese.  Wie  die  weib- 
hchen  Typen  und  die  Idealköpfe  Berninis  sich  zu- 
nächst ,    bis    in    die    allegorischen  Personen  seiner 


216 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Papstgräber  hinein ,  aus  dieser  Quelle  herleiten ,  so 
auch  seine  männlichen  Charaktere,  wenn  später  auch 
, jener  gemein  heroische  Ausdruck",  den  Pietro  da 
Cortona  zu  geben  liebt ,  bei  dem  Bildhauer  seine 
Wirksamkeit  fortsetzte,  —  sobald  er  ebenso  deko- 
rativ zu  arbeiten  begann ,  wie  etwa  im  Constantin, 
Longinus  und  andern  Kostümhelden  der  Kirche. 
Correggios  Vorliebe  für  schlanke  feinknochige  Ge- 
stalten mit  zarter  Fülle  des  Fleisches,  die  allmählich 
üppiger ,  aufgedunsener  ward ,  überträgt  sich  nicht 
minder  auf  Bernini  und  erklärt  seinen  Geschmack 
von  vornherein.  Zu  den  knospenhaften  Werken  der 
Frühzeit  gehört  noch  die  heilige  Bibiana  auf  dem 
Hochaltar  der  Kirche  gleiches  Namens,  die  er  1625 
mit  einer  Fassade  im  schhchten  Geschmack  des  Do- 
menico Fontana  versehen  hat.  Später  jedoch  giebt 
er  ,,jugendHchen  und  idealen  Körpern  ein  weiches 
Fett,  das  allen  wahren  Bau  unsichtbar  macht,  und 
durch  glänzende  Politur  vollends  widedich  wird,"  — 
ja  sogar  die  Art  wie  Plutos  Finger  beim  Raub  der 
Proserpina  (Villa  Ludovisi)  ,,in  das  Fleisch  seiner 
Beute  hineintauchen",  ist  niemand  anders  abgesehen 
als  dem  Liebling  des  Rokoko ,  dessen  vibrierende 
Nervosität  wir  den  Marmorgliedern  Berninis  zutrauen 
lernen.  Von  diesem  Virtuosen  gelenker  Beweglich- 
keit, für  die  er  eben  solche  Körper  braucht,  hat  er 
auch  das  ausserordentlich  Transitorische  seiner  Stel- 
lungen und  Verschränkungen  angenommen,  jenes 
weiche  Gewoge,  das  Correggios  Wesen  so  wandel- 
bar und  leicht  erscheinen  lässt,  wie  die  Wolken,  in 
denen    sie  wohnen   oder   zeitweiUg   in  Entzückung 


Lorenzo  Bemini 


217 


gebettet  sind.  Der  Bildhauer  freilich  kann  die  ma- 
lerischen Reize  solcher  Anmut  nicht  immer  ohne 
Weiteres  verwerten,  weil  er  über  die  Haltbarkeit  und 
Kraftleistung  jeder  Figur  genauere  Rechenschaft  zu 
geben  hat  und  des  erklärenden,  vermittelnden,  nicht 
selten  verwundbare  Stellen  verhüllenden  Beiwerks 
entraten  muss.  Aber  auch  diese  Vorteile  sichert 
sich  Bernini  häufig  dadurch,  dass  er  dem  Beschauer 
den  günstigsten  Standpunkt,  wo  er  ihn  allein  haben 
will,  durch  zwingende  Vorkehrungen  anweist ,  dass 
er  die  Beleuchtung  dämpft  und  leitet,  ja  färbt  für 
seine  Zwecke.  Neben  diesen  Künsten  des  Hell- 
dunkels und  der  Farbentöne  verwendet  er  bei  seinen 
nackten  Gliedern  den  Schein  gesteigerter  Spann- 
kraft, zuweilen  auch  wider  die  Natur,  durch  Verdop- 
pelung der  Furchen  und  Grate  des  straffen  Sehnen- 
zuges ,  wie  bei  seinen  Engeln  auf  Ponte  S.  Angelo 
und  sonst.  Der  Wetteifer  mit  Michelangelos  wuch- 
tigem Bau  und  herkulischer  Muskulatur  lag  Bernini 
bei  solchem  Sinn  für  Eleganz  gewiss  noch  fern.  Er 
sucht  den  grossen  Meister  des  Barock  in  andern 
Dingen  zu  überbieten :  das  zeigt  der  schleudernde 
David  in  Villa  Borghese,  der  die  heftigste  physische 
Anstrengung  des  Augenblicks  auf  die  Spitze  treibt, 
bei  der  das  natürUche  Gewächs  des  Leibes ,  die 
plastische  Schönheit  des  organischen  Geschöpfes  so 
völlig  zurücktritt,  ja  zerrissen  wird,  dass  nicht  ohne 
Grund  ,,eine  gemeine  jugendUche  Natur"  für  diese  Ver- 
körperung der  Schwungkraft  gewählt  ist;  — sie  gehört 
vielmehr  notwendig  als  Unterlage  der  gläubigen  An- 
erkennung des  Bravourstücks  dazu.  Und  Bernini  weiss 


218 


Glanzperiode  und  Umschwung 


in  diesem  Punkt  immer  was  er  tut.  Je  hastiger  die 
Bewegung,  die  er  zeigt,  und  je  weniger  innere  Mo- 
tivierung dafür  da  ist ,  desto  absichtlicher  bietet  er 
auch  das  Gewand  zur  Begleitung  des  Motives  auf. 
So  erklärt  sich  ohne  Weiteres,  was  Burckhardt  rätsel- 
haft findet,  dass  Bernini  seine  Gewänder,  bis  hinein 
in  die  runden  Furchen ,  die  ,,wie  mit  dem  Löffel" 
in  Gallertmasse  gegraben  scheinen,  ganz  nach  male- 
rischen Massen  komponiert  und  ihren  hohen  plasti- 
schen Wert  als  VerdeutHchung  des  Körpermotivs 
völlig  preisgiebt.  Seine  Faltengebung  folgt  ebenso 
durchweg  der  Weise  Correggios !  —  Dann  ,, ver- 
schlingt wol  gar  die  ideale  Tracht"  zu  einem  Teil 
,,den  Körper  in  ihren  weiten  fliegenden  Massen  und 
flatternden  Enden",  und  in  dieser  malerischen  Dra- 
perie, die  den  Körper  mit  andern  Faktoren  seiner 
Umgebung  vermittelt,  erwächst  von  selber  eine  Quan- 
tität der  Materie,  deren  Aufwand  als  solche  gar  nicht 
in  seiner  Absicht  liegt.  Ich  glaube  nicht,  dass 
,, unser  Auge  recht  gut  weiss,  dass  sie  faktisch  cent- 
nerschwer  sind",  wie  uns  Burckhardt  sagt,  wenig- 
stens sollte  es  im  ästhetischen  Sehen  diese  vorlaute 
Bemerkung  des  Verstandes  nicht  hören,  nach  des 
Künstlers  Wunsch  und  Willen.  Für  ihn  und  seine 
Zeitgenossen  war  die  Schnellkraft,  die  er  darstellte, 
so  ungewöhnlich  stark,  dass  dieser  Eindruck  den 
Sieg  davon  trug,  —  gleich  gut,  ob  er  uns  Modernen 
nachträglich  zu  lahm  erscheine.  Ich  erkläre  mir 
auch  ein  andres  Mittel  derselben  Art  nicht  mit 
Burckhardt  in  diesem  Sinne  als  ,, pikant  gemeintes 
Interesse",    nämlich  die   ,, allzu    grosse  Bildung  im 


Lorenzo  Bemini 


219 


Verhältnis  zur  Kleinheit  der  Nische",  die  Bernini  bei 
einzelnen  kirchlichen  Statuen  zu  geben  wagt  (Siena, 
Dom,  Capp.  del  voto).  ,,Die  Ausgleichung  liegt  in 
gebückter,  sonderbar  sprungbereiter  Stellung  u.  dgl.", 
fügt  Burckhardt  hinzu ,  und  meint  wol  die  Aus- 
gleichung des  Missverhältnisses  im  Mafsstab  der 
Figur  zur  Nische ;  aber  es  fragt  sich ,  wie  weit  die 
Stärke  des  Motivs,  von  dem  dieser  Bildner  ausgeht, 
der  Intensitätsgrad  der  innern  Spannung,  die  sich 
darin  ausprägt,  einer  solchen  Körpergrösse  als  Unter- 
lage braucht.  In  kleinerm  Mafsstab  und  schlankerer 
Masse  erschiene  die  Bewegung  affenartig.  —  Die  Auf- 
merksamkeit um  jeden  Preis  auf  seine  Gestalt  zu  len- 
ken, die  jene  Wand  gebiert,  das  Hegt  ihm  mehr  am 
Herzen  als  die  Harmonie  des  Marmorwerks  mit  seinem 
Rahmen  nur  als  Stein  betrachtet ;  im  Gegenteil,  das 
Überquellen  des  bildnerischen  Dranges  über  die  vor- 
gezeichneten Gränzen  war  ein  Erbteil  des  Barock- 
stiles ,  das  Bernini  in  Rom  allerwegen  vorfand ,  in 
Siena  somit  gewiss  nicht  fürchtete.  Dagegen  rech- 
net er  ebenso  sicher  mit  dem  Bedürfnis  nach  Wirk- 
lichkeit bei  seiner  Gemeinde,  wenn  er  den  Märtyrern 
ihre  Todeswerkzeuge  in  natürlicher  Grösse  beigiebt; 
,, soviel  gehört  notwendig  mit  zur  Illusion",  und  ebenso 
notwendig  zur  Auffindung  oder  Ausbeutung  eines 
plastisch  wirksamen  Motives.  Wie  sollten  sich  sonst 
die  HeiUgen  alle  unterscheiden,  wenn  ihre  Leidens- 
geschichte nicht  dabei  zu  Hülfe  kam,  oder  ein  selt- 
sames Attribut ,  ein  unhandliches  Instrument  dazu 
beitrug,  die  innere  Erregung  nach  Aussen  zu  locken. 
Da  muss  Berninis  Prophet  so  gut  wie  Michelangelos 


220 


Glanzperiode  und  Umschwung 


auffahren,  heftig  im  Buche  blättern,  und  nicht  Mat- 
thäus allein  mit  seinem  Engel  sich  unterhalten ,  so 
schlecht  es  zur  Sache  passen  will. 

Da  rühren  wir  an  das  Gemeinsame  der  ganzen 
Zeit,  dem  sich  der  Einzelne  nicht  entziehen  kann, 
und  dürfen  nicht  eine  Generation  für  das  Erbteil 
verantwortlich  machen,  das  die  vorige  ihr  hinterlassen. 
Lehrreicher  als  alle  solche  Censuren  ist  die  weitere 
Frage,  wie  jede  das  Überkommene  verstand,  wie  sie 
es  aufnahm  und  ihrerseits  weiter  bildete  im  allgemeinen 
Drang  des  Vorwärtsstrebens. 

Die  Skulptur  gieng  eben  unter  Berninis  Führung 
auch  hierin  getreulich  der  Malerei  nach,  die  ihr  Vor- 
bild geworden  war  und  werden  musste ,  wenn  sie 
selbst  aus  der  langen  Lethargie,  in  der  sie  seit  Michel- 
angelos Ende  versunken  lag,  heraus  zu  kommen 
sich  bemühte.  Denn  die  Malerei  allein  war  im  Stande 
gewesen,  die  neuen  Bahnen,  die  der  Vater  des 
Barock  gewiesen,  mit  Aufbietung  aller  ihrer  Fähig- 
keiten zu  verfolgen,  d.  h.  die  Verinnerlichung  zu 
versuchen,  die  nach  seinem  Vorgang  bald  unent- 
behrlich ward.  Annibale  Carracci  und  Rubens  sind 
auf  diesem  Wege  weitergegangen,  und  die  beiden 
Prinzipien,  die  man  in  dem  neuen  Stil  der  Malerei 
entdeckt:  Der  Naturalismus  der  Formen  und  der 
Auffassung  des  Geschehenden,  —  und  2.  die  An- 
wendung des  Affektes  um-  jeden  Preis",  sind  weiter 
nichts  als  das  Vermächtnis  Michelangelos,  nur  müssen 
sie,  zu  ihrer  genetischen  Erklärung,  in  umgekehrter 
Reihenfolge  stehen;  denn  die  Vertiefung  in  die  Innen- 
welt, die  ganz  subjektive,  ist  bei  ihm  die  Wurzel 


Lorenzo  Bernini  22  t 

des  Neuen ,  und  die  Verstärkung  der  natürlichen 
Grundlage,  der  physischen  Ausstattung  so  willens- 
kräftiger Charaktere  ist  nur  die  notwendige  Folgerung, 
der  sich  auch  Rubens,  der  geistigem  Ausdruckschon 
von  Natur  so  viel  geneigtere  Nordländer,  nicht  ver- 
schloss.  Grade  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  ist 
es  lehrreich  zu  sehen,  wie  der  Bildhauer  Bernini  bei 
dem  dringenden  Bedürfnis  für  seine  Kunst  ange- 
kommen, sich  derselben  Quelle  zuwendet,  von  der 
auch  Rubens  zu  Michelangelo  und  Carracci  über- 
gegangen ist,  —  zu  dem  Letztling  der  Hochrenais- 
sance, dem  in  aller  Stille  noch  erblühten  Correggio, 

Denn  die  ganze  Künstlergeneration,  die  jetzt  in 
Rom  emporkommt,  gehört  in  ihrem  Herzen  mehr 
der  lebensfreudigen  Überlieferung  aus  der  glück- 
lichsten Blütezeit  an,  als  dem  Ernst  der  Reformation 
und  Gegenreformation.  Und  was  Rubens  weder  von 
den  Venezianern  noch  von  Michelangelo  lernen  konnte, 
wol  aber  im  Studium  Correggios  vorbereitet  hat, 
die  enge,  bei  ihm  innerlichst  motivierte  Verbindung 
der  Gruppe  zum  Ausdruck  einer  bestimmten  Hand- 
lung, bei  Correggio  noch  mehr  Verschlingung  der 
Leiber  nur,  —  das  hat  auch  Bernini  von  dort  herüber 
genommen  und  in  die  Plastik  übertragen,  die  als 
Körperbildnerin  sogar  mehr  auf  dem  Standpunkt 
des  Renaissancemalers  stehen  bleiben  konnte  als  der 
Historienmaler  im  Norden. 

So  erscheint  an  Berninis  Gruppierung  mehrerer 
Statuen  zu  einem  Ganzen  auch  sofort  ein  neues 
Prinzip:  die  Verinnerlichung  ihres  Zusammenhangs. 
Eine  ganz  andersartige  Komposition  als  früher  beginnt 


222 


Glanzperiode  und  Umschwung 


mit  seinen  Grabmälern  der  Päpste  in  S.  Peter. 
,,Noch  Guglielmo  della  Porta",  sagt  Burckhardt,  ,, hatte 
seine  Klugheit  und  Gerechtigkeit  ruhig  auf  dem 
Sarkophag  Pauls  III.  lagern  lassen,  allerdings  nicht 
mehr  so  unbekümmert  um  den  Beschauer  als  Michel- 
angelos Tag,  Nacht  und  Dämmerungen.  Seit  Bernini 
aber  müssen  die  zwei  allegorischen  Frauen  eine 
dramatische  Scene  aufführen;  ihre  Stelle  ist  deshalb 
nicht  mehr  auf  dem  Sarkophag,  sondern  zu  beiden 
Seiten,  wo  sie  stehend  oder  sitzend  (und  dann  auf- 
fahrend) ihrem  Affekt  freien  Lauf  lassen  können. 
Der  Inhalt  dieses  Affektes  soll  meist  Trauer  und 
Jammer,  Bewunderung,  verehrende  Ekstase  um  den 
Verstorbenen  sein  .  .  .  ."  Es  ist  also  die  Kom- 
position der  Kirchenbilder  Correggios,  die  hierher 
in  das  Nischengrab  übertragen  wird,  von  der  Santa 
Conversazione  um  die  tronende  Madonna  oder  einen 
bevorzugten  Titelheiligen,  bis  zur  Darstellung  einer 
hingebenden  Tätigkeit  wie  die  Verlobung  der  hl. 
Katharina  und  die  Pietä.  Das  sind  die  Normen  für 
die  Grabmonumente,  wo  der  Tron  in  der  Mitte 
selbstverständlich  vom  Papst  eingenommen  wird,  — 
und  die  Scenen  der  Beweinung,  der  Martyrien  u.  s.  w. 
werden  ebenso  als  Altargruppen  in  Marmor,  Bronze 
oder  gar  in  farbiger  Plastik  wiedergegeben.  So 
begreift  sich  selbst,  aus  malerischen  Vorstellungen 
heraus,  das  Auftauchen  ,,der  scheusslichen  Allegorie 
des  Todes  in  Gestalt  eines  Skeletts,"  —  das  hier 
auf  einem  marmornen  Zettel  die  Grabschrift  für 
Urban  VIII.  zu  Ende  schreibt,  dort  die  kolossale 
Draperie    von  gelb  und  braun  geflecktem  Marmor 


Lorenzo  Bernini 


223 


emporhebt,  unter  der  sich  die  Tür  befindet,  also 
hier  zu  Füssen  Alexanders  VII.  sichtHch  bestimmt, 
das  Dunkel  der  Öffnung  unten  zur  Erweckung  des 
Grauens  auszubeuten,  wie  andrerseits  die  schwer- 
fälligen Massen  der  Prachtstoffe  in  ebenso  malerische 
wie  unheimlich  lebendige  Bewegung  zu  bringen. 

Damit  hängen  auch  die  übrigen  Hilfsmittel  zu- 
sammen, die  Bernini  in  Anspruch  nimmt,  um  seine 
plastischen  Werke  möglichst  den  Bedingungen  eines 
Bildes  anzunähern,  je  mehr  er  schon  durch  die  Zu- 
lassung dieser  Schreckensfigur,  die  das  Gegenteil 
des  plastischen  Ideales  bedeuten  soll,  aus  den  Voraus- 
setzungen der  statuarischen  und  tektonischen  Kunst 
herausgetreten  war.  Neben  dem  Knochengerippe 
braucht  er  reiche  Stoffe,  an  sich  unorganisches  Zeug, 
das  dem  Wachstum  des  natürlichen  Gebildes  ebenso 
wie  dem  krystallinischen  Gesetz  stereometrischer 
Körper  widerstrebt,  und  braucht  sie  zur  Ergänzung 
dieser  negativen  Macht  in  wirklichen  Farben  wenigstens, 
wenn  die  wirkliche  Textur  zu  vergänglich  war.  So 
treten  bunte  Marmorsorten  neben  dunkle  Bronze- 
masse ,  und  Vergoldung  oder  weisser  Marmor  als 
höchste  Werte  zusammen.  W^ie  Rubens  giebt  er 
allegorische  Wesen  neben  wirklichen  und  behandelt 
diese  unpersönlichen  Personifikationen  wie  jener 
mit  dem  vollsten  Abglanz  der  Natürlichkeit;  aber 
während  der  Maler  in  Farbenunterschieden  und  nebel- 
hafter Form  die  Unwirklichkcit  der  Begriffe  oder 
die  Aussergewöhnlichkeit  der  Begegnung  beider 
Welten  kenntlich  machen  kann,  muss  der  Plastiker 
mit  dem  Körper  rechnen,  der,  auch  noch  so  fein- 


224 


Glanzperiode  und  Umschwung 


knochig  und  schlank  gebildet,  doch  Körper  bleibt. 
So  stellt  sich  der  Gegensatz  von  bleichem  Marmor  und 
kräftig  dunkler  Bronze  ein,  als  die  ideale  Bezeichnung 
der  geistigen  Personen  dort,  als  die  reale  der  leibhaf- 
tigen hier.  Und  so  erscheint  das  Bildnis  des  Abgeschie- 
denen zwischen  seinen  erblassten  Vorzügen  auf  dieser 
Voraussetzung  einer  sinnlich  plausiblen  Stufenfolge 
von  Existenzgraden  nun  in  vollster  Lebenswahrheit  des 
irdischen,  den  Zeitgenossen  wolbekannten  Individuums. 
Auch  da  werden  wir  überzeugend  vorbereitet  und 
unser  Glaube  kräftig  genährt.  Nicht  nur  ,,mit  einem 
wahren  Stolz"  —  sondern  auch  mit  vollem  Bewusst- 
sein  des  aesthetischen  Bedürfnisses  —  »J^gte  sich 
die  Skulptur  darauf,  den  schwerbrüchigen  Purpur 
des  gestickten  Palliums,  die  feinfaltige  Alba,  die 
Glanzstoffe  der  Ärmel,  der  Tunica  u.  s.  w.  in  ihren 
Kontrasten  darzustellen".  Die  frühere  von  diesen 
Arbeiten  Berninis,  das  Bildnis  am  Grabmal  Urbans 
VIII.,  hat  besonders  ,, niedliche  Partieen  sorgfältigster 
Ausführung,  durchbrochene  Manschetten,  Säume 
u.  s.  w."  Aber  stets  bewahrt  die  Gebärde  des  Dar- 
gestellten selbst  und  der  ausserordentlich  charak- 
teristische Kopf  das  entschiedene  Übergewicht  über 
all  diese  stoffUchen  und  technischen  Unterlagen. 
Sie  geben  das  Individuum  ,, nicht  idealisiert,  aber  in 
freier,  grofsartiger  Weise  wieder,  wie  es  nur  eine 
mit  den  gröfsten  idealen  Aufgaben  vertraute  Skulp- 
tur kann".  Hier  zeigt  sich  also,  dass  aus  den  beiden 
Prinzipien  des  Barock,  Steigerung  der  Innenauffassung 
und  der  Naturwahrheit  zugleich,  ganz  von  selbst  eine 
wahrhaft  historische  Kunst  sich  entwickelt. 


Lorenzo  Bernini 


225 


Betrachtet  man  das  Ganze  dieser  Grabmäler 
und  fragt  nach  dem  künstlerischen  Prinzip,  das  die 
Einheit  zwischen  so  verschiedenen  Bestandteilen 
innerUch  begründet  und  äusserlich  herstellt,  so  kann 
wol  kein  Zweifel  aufkommen,  dass  hier  weder  archi- 
tektonische noch  plastische  Grundsätze  mehr  ent- 
scheiden. Wenn  das  Monument  Urbans  VIII.  in  der 
Tribuna,  als  Gegenstück  zu  dem  Pauls  III.  geschaffen, 
noch  die  Selbständigkeit  des  Aufbaues  und  die  Ab- 
sonderung der  Gruppe  wenigstens  im  Hauptumriss 
aufrecht  zu  erhalten  sucht,  legt  sich  das  Prunkstück 
zu  Ehren  Alexanders  VII.  über  einer  Seitentür 
vollends  in  die  Breite.  Wie  der  innere  Gehalt  nicht 
in  ruhigem  Dasein,  sondern  in  augenbUcklicher  Be- 
teiligung an  einem  bestimmten  Auftritt  nur  gefunden 
wird,  so  vermissen  wir  den  beharrlichen  Existenz- 
grund der  allegorischen  Personen,  der  ihr  gegen- 
wärtiges Benehmen  auch  vor  und  nach  dieser  monu- 
mentalen Anteilnahme  garantiert,  und  nur  das  Bild- 
nis des  Verstorbenen,  dessen  ganze  Lebensgeschichte 
sichtbar  vor  uns  geschrieben  steht,  während  die  Be- 
dingungen der  Fortdauer  kräftig  genug  vorhanden 
bleiben,  erhebt  den  Anspruch  auf  mehr  als  eine  vor- 
übergehende Beziehung.  Auch  dieser  Eindruck  des 
zufälligen  Zusammenfindens  verstärkt  sich  in  dem 
zweiten  Beispiel  dadurch,  dass  die  beiden  Beglei- 
terinnen nicht  auf  gleicher  Höhe  stehen,  so  dass 
die  Gruppe  bewegUcher  Wesen  nirgends  als  im 
Schwerpunkt  des  Tronenden  an  die  Gesetze  stabilen 
Gleichgewichts  erinnert.  —  Damit  ist  auch  in  der 
Anordnung  der  Körper  zu  einander,  —  ganz  abge- 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  ;[5 


226 


Glanzperiode  und  Umschwung 


sehen  von  ihrem  ungewöhnlichen  Platz,  wo  niemand 
dauernde  Wohnung  sucht,  —  an  einem  Kardinal- 
punkt die  Wendung  zum  Malerischen  eingetreten. 
Malerische  Grundsätze  walten  aber  auch  zur  Her- 
stellung der  Einheit  schon  im  Ersten.  Die  Verbindung 
der  wirklichen  Person  des  soeben  dahingeschiedenen 
Papstes  mit  den  Verkörperungen  abstrakter  Ideen, 
die  neben  solchem  Individuum  doch  nicht  für  voll 
angesehen  werden,  die  Zusammenstellung  verschieden- 
artiger Stoffe,  die  zur  Unterscheidung  dieser  Wirk- 
lichkeitswerte beitragen,  sie  verlangten  beide  wenig- 
stens für  den  Augenschein  ein  gemeinsames  Medium, 
in  dem  sich  alle  Gegensätze  vermitteln,  und  alles 
Gemeinsame  zum  Bilde  in  einander  fliesst.  Absicht- 
lich sind  die  Farben  des  Materiales  auf  einander 
gestimmt,  in  Auswahl  und  Tönung,  und  die  Ver- 
goldung der  Bronze  wie  die  Politur  des  Marmors 
steigert  den  Schein  einer  einheitlichen  Atmosphäre, 
die  der  Maler  mit  Luft  und  Licht  darzustellen  im 
Stande  ist,  denen  der  Bildner  nur  heimlich  entgegen- 
zukommen vermag.  Das  ist  der  Sinn  der  Politur, 
die  man  so  gern  nur  tadelt;  ihr  Schimmer  hebt  in 
dieser  Anwendung  einen  Teil .  der  körperlichen  Be- 
stimmheit  auf,  denn  mit  den  Reflexen  zerstreut  sich 
der  harte  Rand  des  massiven  Volumens,  verflüchtigt 
sich  die  Erinnerung  an  Stöfs  und  Druck  der  Sachen 
im  Raum,  verschwimmt  das  Sonderdasein  in  den 
Strom  des  allzeit  wechselnden  Geschehens,  als  dessen 
Träger  Licht  und  Luft,  Schatten  und  Nebelschleier 
uns  allen  vertraut  sind. 

Wie  in  diesen  beiden  Hauptwerken  seiner  aus- 


Lorenzo  Bernini 


227 


gereiften  Bildnerkimst,  zeigte  sich  aber  die  malerische 
Tendenz  schon  in  den  Jugendwerken  Berninis:  wie 
in  der  flüchtigen  Bild-Erscheinung,  die  seine  Marmor- 
gruppe Apoll  und  Daphne  mit  allen  erdenklichen 
Mitteln  der  Technik  wiederzugeben  trachtet,  so  in 
seinen  Bildnissen,  die  denen  Urbans  VIII.  und  seiner 
Familie  im  Pal.  Barberini  vorausgehen.  So  ist  auch 
die  Grabbüste  des  spanischen  Juristen  Pedro  Mon- 
toya (jf  1630),  diese  ,,edle  leidende  Physiognomie" 
in  der  Halle  hinter  S.  M.  in  Monserrato,  deren  treff- 
lichste Behandlung  Burckhardt  bewundert,  nichts  an- 
dres als  ein  authentisches  Werk  des  Lorenzo  Bernini. 
Und  die  schwunghaft  vorgetragenen  Halbfiguren  sonst, 
in  ,, denen  das  lange  Haar,  der  Kragen,  die  Amts- 
tracht mit  dem  ausdrucksvollen  Kopf  ein  schönes 
Ganzes  ausmachen,"  —  wem  verdanken  sie  ihre 
künstlerische  Einheit,  wie  ihre  lebendigen  Reize,  wenn 
nicht  der  malerischen  Auffassung  und  Verschmelzung 
dieser  Bestandteile ,  als  Bild? 


Nach  solcher  Bekanntschaft  mit  dem  berühmten 
Bildhauer  sind  wir  erst  recht  vorbereitet,  seine  Lauf- 
bahn als  Architekt  mit  vorurteilsfreiem  Blick  zu  ver- 
folgen. Schon  seine  erste  Leistung  (1625),  die  Fas- 
sade von  S.  Bibiana,  eine  ,, schlichte,  mafsvolle  und 
streng  in  den  Formen  des  Domenico  Fontana  ge- 
haltene Anlage",  beweist,  wie  verkehrt  es  ist,  den 
Charakter  seiner  Baukunst  von  vornherein  nach  dem 
Tabernakel  des  Hochaltars  von  S.  Peter  zu  beurteilen, 
das  er   1633  vollendet  hat.    Als  ob  dieser  Meister 

15* 


228 


Glanzperiode  und  Umschwung 


ein  Dekorationsstück  nicht  besser  von  Architektur 
zu  unterscheiden  gewusst  hätte  als  seine  Kritiker  im 
19.  Jahrhundert!  Da  wird  die  tölpelhafte  Chronologie 
schon  zum  gröberen  Fehler. 

.  Seine  Tätigkeit  an  Palazzo  Barberini  zeigt 
durchaus  das  ernste  Studium  strenger  Vorbilder,  ja  in 
den  Einzelformen  einen  entschiedenen  Anschluss  an 
Vitruvianer  wie  Vignola.  Seine  Treppe,  an  der  rechten 
Seite  des  Vestibüls  anschliessend ,  ist  eine  in  sechs 
Windungen  aufsteigende ,  vergrösserte  Wiedergabe 
der  Wendelstiege  im  Schloss  von  Caprarola ,  aber 
bezeichnender  Weise  aus  der  kreisrunden  Form  ins 
Oval  übertragen.  Die  Treppe  zur  Linken  umzieht 
mit  vier  Armen  ein  mittleres  Quadrat.  Hier  wie 
dort  ruhen  die  Stufen  auf  einem  ansteigenden,  von 
gekuppelten  toskanischen  Säulen  getragenen  Gebälk 
und  gewähren  so  einen  Reichtum  lebendiger  Be- 
wegung und  perspektivischer  Reize,  die  im  damaligen 
Rom  nicht  Ihresgleichen  hatten.  Und  der  Vorsaal 
im  Piano  nobile  hat  wieder  die  ovale  Grundform,  wie 
das  Vestibül  für  die  Einfahrt  darunter,  aber  beide  — 
wieder  sehr  charakteristisch  —  mit  der  längeren  Axe 
nicht  mehr  in  die  Tiefenrichtung ,  sondern  in  die 
Breite  gelegt;  denn  so  eben  bietet  der  Innenraum 
für  den  Eintretenden  die  günstigste  Zusammen- 
fassung in  einen  Bildeindruck  dar  und  spart 
die  Tiefenwirkung  für  den  grossen  Hauptsaal,  der  sich 
in  der  Mitte  dieser  geschmückten  Wand  eröffnet. 

Eine  gewichtige  Vorstufe  für  seine  Tätigkeit  an 
S.  Peter  ist  auch  die  Fassade  von  St.  Anastasia 


Lorenzo  Bernini 


229 


am  Fuss  des  palatinischen  Hügels.  ^)  Bei  einer  Aus- 
besserung der  Kirche  im  Auftrag  des  Kardinals  San- 
dova  ly  Roias  war  i6o6  eine  neue  Vorderseite  mit 
Vorhalle,  also  ganz  im  Sinne  der  Fontana  errichtet, 
aber  im  Jahre  1634  stürzten  sie  bei  einem  Sturm- 
wind zusammen.  So  entstand  zwei  Jahre  darauf  das 
Werk  Berninis,  das  im  Nuovo  Teatro  delle  fabriche 
et  edificii  in  prospettiva  di  Roma  moderna  (1665) 
von  Gio.  Batt.  Falda  gezeichnet  und  gestochen  vor- 
Uegt  (Lib.  III,  28).  Danach  erhebt  sich  als  Schluss- 
wand des  Hauptschiffes ,  das  von  der  alten  Basilika 
noch  übrig  war,  ein  zweigeschossiges  Mittelrisalit 
mit  je  sechs  schlichten  Pilastern  gegliedert,  so  dass 
wieder  ein  breiteres  Mittelfeld ,  für  die  Tür  unten 
und  das  Fenster  oben ,  und  zwei  schmälere  Seiten- 
teile entstehen,  deren  Mauer  mit  ganz  glattem  Rah- 
men umzogen  wird,  und  dass  die  Pilaster,  aussen 
einzeln,  nach  Innen  paarweis  zusammenrücken ,  also 
eine  rhythmische  Reihe  bilden ,  die  im  dreieckigen 
Giebelfeld  mit  vorgekröpftem  Mittelstück  zusammen- 
gefasst,  in  Krönungsgliedern  ausgeht.  An  das  Erd- 
geschoss  schliessen  sich  ebenso  einfache  von  Halb- 
pilastern  eingefasste  Rücklagen  und  verbinden  den 
Hauptkörper  mit  zwei  Türmen,  die  unten  gleich  den 
Seitenteilen  des  Mittelbaues  gegliedert  auf  einem 
niedrigen ,  mit  Eckkonsolen  besetzten  Untersatz  ein 


i)  Vgl.  Fr.  Albertini,  Opusculum  de  Mirabilibus  Romae  15 10 
ed.  Schmarsow,  Heilbronn  1886,  p.  12.  Ugonio,  Historia  delle 
Stazioni  di  Roma,  p.  61.  Crescimbeni ,  Storia  della  Basilica  di 
S.  Anastasia. 


230 


Glanzperiode  und  Umschwung 


offenes  Tempelchen  mit  Rundbogenstellung  in  allen 
vier  Wänden  und  welscher  Haube  darauf  tragen. 
Es  ist  also  eine  möglichst  einfach  ausgeführte ,  ab- 
sichtlich niedrig  gehaltene  Redaktion  der  Doppel- 
turmfassade von  S.  Trinitä  de'  Monti  und  S.  Atanasio 
de'  Greci,  ^)  also  jener  oberitalienischen  Beispiele  der 
Lunghi  und  Fontana,  nur  mit  einer  merkwürdigen 
Neigung  in  die  Breite  zu  gehen  und  die  Plastik  der 
GHeder  zu  verflachen. 

So  wundern  wir  uns  nicht,  wenn  Madernas  Eck- 
türme für  S.  Peter  auch  bei  allen  Nachfolgern,  die 
am  Wettbewerb  beteiligt  waren,  als  selbstverständ- 
liche Forderung  gelten,  und  wenn  Bernini  seit  1638 
ihre  Weiterführung  ins  Werk  zu  setzen  beginnt. 
Aber  er  steigert  hier  zugleich  das  Projekt  Madernas 
mit  einer  reichen,  doch  formenstrengen  Säulenarchi- 
tektur, die  nur  ganz  oben  in  plastischem  Schmuck 
und  dekorativer  Gipfelung  heiter  und  schwungvoll 
ausklingt,  wie  triumphierend  über  die  Masse  drunten. 
Die  Türme  sollten  aus  ,,zwei  Ordnungen  übereinan- 
der bestehen;  die  Ecken  bildeten  schräg  gestellte 
Pfeiler,  vor  denen  sich  an  jeder  Seite  eine  Säule 
frei  verkröpfte  und  zwischen  denen  je  zwei  als  Trä- 
ger der  Gesimse  eingestellt  waren."  Über  der  Ba- 
lustrade des  zweiten  Geschosses  baute  sich ,  durch 
Statuen  auf  den  Ecken  und  Volutenanläufe  dahinter 
vermittelt,   die  durchsichtige  Laterne  mit  ihrer  ge- 


i)  Vgl.  auch  den  kleineren  Bau  dieser  Art,  der  hinter  dem 
Oratorium  S.  Andrea  vor  Ponte  Molle  auf  einer  Anhöhe  bei  Falda, 
in,  37  erscheint. 


Lorenzo  Bernini 


231 


-schwungenen  Kuppel  und  ihren  Krönungsgliedern 
auf.  Bernini  gelangt  also  erstrecht  zu  dem  System 
der  Hochrenaissance  zurück,  ,,die  Teile  je  als  Ganzes 
und  doch  wieder  im  Verhältnis  zur  Gesamterschei- 
nung zu  gliedern".  Neben  diesen  mächtigen  Turm- 
bauten würde  die  Kuppel  in  der  Vorderansicht  Rü- 
den Näherkommenden  völlig  verschwunden  sein, 
von  Weitem  betrachtet  allein  ihre  Wucht  und  Höhe 
geltend  gemacht  haben ,  aber  als  GHed  einer  vier- 
teiligen Gruppe. 

Indes,  der  Nordturm,  der  zuerst  angefangen  bis 
an  den  Helm  vollendet  ward^),  veranlasste  durch  seine 
Last  eine  Senkung  der  Fundamente,  drohte  Einsturz 
und  musste  1647  wieder  abgetragen  werden.  Da- 
mit aber  war  das  ganze  Projekt  für  die  Bekrönung 
der  Fassade  mit  Ecktürmen  überhaupt  vereitelt,  wäh- 
rend diese  Lösung  der  Schwierigkeit  allein  dem 
neuen  Ideal  der  damaligen  Kunst  entsprach,  ja  vom 
eigenen  Geschmack  des  Meisters  so  dringend  gefor- 
dert ward ,  dass  die  ehrwürdige  Fassade  des  Pan- 
theons selbst  nicht  ohne  die  Glockentürmchen  zu 
den  Seiten  des  Giebels  mehr  bestehen  durfte-). 

Der  furchtbare  Querstrich,  den  die  Senkung  der 
Grundmauern  durch  seine  künstlerische  Rechnung 
machte,  die  Niederlage  seiner  technischen  Sicherheit 
in  den  Augen  eifersüchtiger  Kunstgenossen  und  die 
Ungnade  seines  päpstUchen  Bauherrn,  haben  Bernini 

1)  Vgl.  Carlo  Fontana,  II  tempio  Vaticano  p.  267  und  263. 

2)  Falda  giebt  sogar  zwei  Redaktionen  dieser  später  als  „Esels- 
ohren des  Bernini"  verspotteten  und  neuerdings  beseitigten  Türme. 
Lib.  I,  Taf.  31  und  II,  3. 


232 


Glanzperiode  und  Umschwung 


jedoch  zu  einer  gewaltigen  Anspannung  seiner  gei- 
stigen Kräfte  getrieben  und  eine  neue  Lösung  der 
nun  vollends  überwältigend  aufgewachsenen  Schwie- 
rigkeiten veranlasst,  die  das  gesamte  Kapital  der 
bisherigen  Entwicklung  zusammenfasst.  Auch  diesen 
Fortschritt  müssen  wir  aus  Werken  des  Künstlers 
und  dem  Gang  des  römischen  Bauwesens  herzu- 
leiten versuchen. 

Schon  an  einem  andern  Bau ,  den  Bernini  als 
Nachfolger  Madernas  zu  vollenden  hatte,  dem  Palazzo 
Chigi  -  Odescalchi  an  Piazza  SS.  Apostoli  zeigt 
sich  an  der  Fassade  sein  neues  Prinzip  in  beachtens- 
werter Anwendung  auf  den  Palastbau ,  und  zwar  im 
Anschluss  an  die  Lage  an  der  einen  Langseite  des 
Platzes,  der  Kirche  und  den  beiden  Palästen  neben 
ihr  gegenüber.  Die  Komposition  des  Ganzen  betont 
die  Breitenausdehnung  und  gliedert  sich  in  drei  Haupt- 
teile, so  dass  ein  reicheres  Mittelstück  von  sieben 
Axen  aus  den  schlichteren  Rücklagen  von  je  drei 
Axen  in  strenger  Symmetrie  heraustritt.  Das  Erd- 
geschoss  dieses  Risalites  ist  als  Sockel  behandelt, 
nach  florentinischer  Art  von  einfachen  Fenstern  durch- 
brochen ;  nur  das  Rundbogenportal  wird  von  zwei 
Säulen  begleitet,  die  einen  Balkon  tragen.  Über  dem 
Gurtstreifen  aber  steigt  eine  mächtige  Pilasterordnung 
auf,  die  die  beiden  Obergeschosse  umfasst  und  das 
Hauptgesims  mit  einer  Attika  und  Statuen  trägt. 
Die  Fenster  in  den  Zwischenräumen  sind  unten  mit 
Säulengewänden  besetzt  und  nach  Oben  besonders 
in  der  Axe  entwickelt ,  oben  dagegen  mit  ausbie- 
genden  Einfassungen   umzogen  und  gradlinig  ver- 

/ 


Lorenzo  Eernini 


283 


dacht,  so  dass  dem  Piano  nobile  klar  und  bestimmt 
der  Vorrang  gesichert,  aber  das  einheitliche  Wachs- 
tum der  durchgreifenden  Gesamtordnung  nirgend  un- 
terbrochen wird  bis  hinauf  zum  gemeinsamen  Kranze. 
Die  Rücklagen  sind  etwas  niedriger,  an  Stelle  des 
Konsolengesimses  mit  einer  weit  ausladenden  Keh- 
lung abgeschlossen,  und  ohne  senkrechte  Glieder 
durchweg  als  Flächen  rusticiert.  Diese  Palastfassade 
Berninis  war  bald  ein  allgemein  bewundertes  Vor- 
bild: ,,ein  Bau  von  überzeugendem  künstlerischen 
Gleichgewicht  der  Glieder  und  einer  durch  die  rö- 
mischen Zeitgenossen  nirgends  erreichten  monumen- 
talen Ruhe  bei  grösstem  Reichtum  des  Eindrucks." 

Es  ist  ausserordentUch  lehrreich ,  sich  den  Un- 
terschied des  ausgemachten  Barockstils  zu  vergegen- 
wärtigen, wie  etwa  durch  einen  Blick  auf  den  pracht- 
vollen Palazzo  Madama,  den  der  florentinische Maler 
Luigi  Cardi,  genannt  Cigoli,  entworfen  und  der  rö- 
mische Baumeister  Paolo  Maroscelli  1642  für  Ferdi- 
nand II.  von  Toskana  vollendete ,  oder  andrerseits 
durch  einen  Blick  auf  den  ernsten  Palazzo  Sciarra 
di  Carbognano,  der  auch  erst  gegen  1640  vollendet 
sein  muss  und  doch  schon  zeitHch  so  weit  dahinter 
zurück  zu  stehen  scheint.  Hier  noch  einmal  die  alte 
Strenge  in  einem  letzten  sorgfältig  berechneten  Bei- 
spiel; dort  der  kräftige  Hochbau,  mit  wuchtiger,  immer 
entschiedener  von  Geschoss  zu  Geschoss  sich  nach 
Oben  werfender  Plastik  und  ebenso  kühnem  Über- 
gewicht des  obersten  Stockwerks,  dessen  überhöhende 
Reihe  von  Lukenfenstern  halb  in  den  schmückenden 
Fries  des  Kranzgesimses  hineinragt  und  so  auf  sehr 


234 


Glanzperiode  und  Umschwung 


geschmackvolle  Weise  das  Durchwachsen  der  auf- 
strebenden Elemente  durch  die  Horizontale  des  Ab- 
schlusses motiviert,  über  der  pyramidale  Gipfelungen 
emporsteigen.  UnwillkürUch  stellt  sich  bei  dem  An- 
blick dieses  Baues  in  Rom  die  Erinnerung  an  die  üppig 
prunkenden  Paläste  Genuas  ein ,  wo  solcher  Hoch- 
drang schon  durch  die  Lage  der  Stadt  und  die  Enge 
des  Bauplatzes  natürlich  sich  aufdrängt.  Neben  diesen 
Beispielen  erscheint  Berninis  Bau  in  seiner  ursprüng- 
lichen Gestalt  schon  wie  eine  bewusste  Verwertung 
der  Breitenlage ,  d.  h.  als  der  Anfang  einer  neuen 
Richtung,  der  beim  spätem  Erweiterungsbau  desselben 
Palastes  durch  Salvi  und  Vanvitelli  in  der  selben 
Dimension  gar  mancher  Vorzug  zum  Opfer  fallen 
sollte.  Und  wie  von  selbst  schUesst  der  Übergang 
in  den  Platzanlagen  Roms  von  dem  Tiefenformat 
zum  Breitenformat  sich  an.  Wo  die  Längsaxe 
zugleich  als  Bewegungsaxe  entwickelt  wird  (wie  an 
Michelangelos  Kapitol),  geht  sie  im  Monumentalbau 
an  der  Schmalseite,  auf  den  alles  zustrebt,  von  selbst 
in  die  Höhenaxe  über.  Wo  aber  die  Längsaxe  als 
Breitendimension,  für  ruhige  Betrachtung  aufgefasst, 
das  Übergewicht  erhält,  da  stellt  sich  auch  der 
Standpunkt  der  Bildanschauung  wie  ungerufen  ein, 
d.  h.  es  entwickelt  sich  jedenfalls  das  Nebeneinander 
in  der  Breite.  Dieser  Wandel  war  es,  der  sich  auch 
an  S.  Peter  vollzog.  Aber  mit  dem  Platze  von 
SS.  Apostoli  gehören  noch  der  Circo  Agonale 
(Navona)  und  Piazza  Campitelli  in  eine  Reihe. 


Maler  und  Architekten 


235 


3. 

Immer  deutlicher  beginnt  damals  neben  Bernini, 
der  selbst  dazu  gehörte ,  die  Mitwirkung  der  Maler, 
die  sich  mit  architektonischen  Dingen  befassten,  ihren 
Einfluss  auf  die  Baukunst  zu  äussern.  Von  Cigoli 
ist  mehrfach  gesprochen  worden.  Domenichino, 
der  schon  das  letzte  Bild  der  Galleria  Farnese  im 
Anschluss  an  die  Carracci  gemalt,  lebt  sich  zunächst 
völHg  in  die  plastische  Anschauungsweise  des  Ba- 
rockstiles ein.  Er  soll  im  Innern  von  S.  Andrea 
della  Valle ,  das  er  mit  grossartigen  Malereien  ge- 
schmückt,  entscheidend  mit  gesprochen  haben,  wol 
am  ehesten,  was  die  Abstufung  der  Lichtzufuhr  be- 
trifft, noch  mehr  aber  bei  S.  Ignazio,  das  seit  1626 
direkt  nach  seinen  Plänen  durch  den  Jesuitenpater 
Orazio  Grassi  gebaut  wäre.  Seine  Raumgestaltung 
hier,  wie  seine  Malereien  dort  bezeugen  beide  noch 
das  volle  Verständnis  für  den  grossartigen  Schöpfer- 
drang des  strengen  Stiles.  Doch  unwillkürlich  macht 
die  vermittelnde  Gewohnheit  des  Malers,  Übergänge 
zu  suchen  und  Zusammenhang  zu  sehen,  sich  geltend, 
wo  Plastik  und  Architektur  für  sich  arbeitend  ihre 
Teile  klar  gegeneinander  absetzen  und  geflissenthch 
die  Körper  sondern,  die  vor  allen  Dingen  dem  eig- 
nen Gesetz  ihr  Dasein  und  ihr  Sosein  danken.  Und 
sein  persönlicher  Sinn  ist  eher  auf  das  Heitere,  das 
freundlich  Helle  gerichtet ,  so  dass  wir  seinen  Rat 
ahnen ,  wenn  S.  Ignazio  gleichmäfsig  lichter  wird 
gegen  S.  Andrea  oder  gar  gegen  den  Gesü ,  das 
gemeinsame  Vorbild  sonst.    Langhaus  und  Vierung 


236 


Glanzperiode  und  Umschwung 


gehen  einheitlicher,  ohne  Zwischenglied  bis  zum 
Chorschluss  ineinander;  aber  die  Reihe  der  Kapellen 
ist  unter  sich  durch  Offnungen  verbunden,  die  nach 
Art  schmaler  Nebenschiffe  wirken,  d.  h.  den  fort- 
laufenden Zusammenhang  betonen.  Und  zwischen 
den  Doppelpilastern  der  Langhauspfeiler  sind  Säulen 
als  Trägerinnen  der  Arkaden  eingestellt,  und  Säulen 
begleiten  die  Durchgänge  zwischen  den  Kapellen, 
so  dass  auch  die  Formensprache  sich  wesentlich  er- 
heitert. An  der  Fassade,  die  der  Bildhauer  Ales- 
sandro  Algardi  (1636)  ausgeführt,  bestimmt  so- 
gar die  Fläche  schon  mehr  den  Eindruck,  als  wir  bei 
einem  Vertreter  der  Plastik  erwarten,  und  die  etwas 
spätere  Ausgestaltung  des  ganzen  kleinen  Platzes  nach 
Art  eines  Teatrino  mit  wolberechneten  Zugängen  und 
durchaus  flächenhafter  Dekoration  der  Koulissen  be- 
zeugt ,  wie  klar  sich  die  Erbauer  gewesen ,  dass  es 
darauf  ankam,  die  Wirkung  dieser  Kirchenfront  durch 
künstUche  Mafsnahmen  vorteilhaft  zu  unterstützen. 
Ein  letztes  Beispiel ,  die  Kirchenfassade  für  sich  all- 
ein mit  den  Prinzipien  des  Barockstiles  selbst  (in 
ursprünglich  enger  Gasse)  wirksam  zu  machen,  ist  die 
von  S.  Andrea  della  Valle,  die  (erst  1665 — 1670) 
von  Carlo  Rainaldi  erbaut  ward,  und  auch  eigent- 
lich nichts  Anderes  mehr  versucht  als  die  Fläche 
gleichmäfsig  durchzudekorieren.  Der  Reichtum  an 
Säulen  bezweckt  eine  energisch  durchgehende  Ver- 
tikalteilung, die,  allen  Vorkragungen  auch  des  Haupt- 
giebels zum  Trotz ,  sogar  in  kandelaberartigen  Be- 
krönungen  ausklingt.  Statt  der  Voluten  sind  Engel- 
gestalten  zur  Vermittlung  des  Oberbaues  mit  den 


Maler  und  Architekten 


237 


Seitenteilen  angebracht,  und  mit  fliegenden  Genien, 
Wappen  und  andrem  Behang  wird  schon  ein  über- 
mäfsiger  Aufwand  getrieben. 

Doch  neben  diesen  plastischen  Anstrengungen 
an  den  Fassaden  der  beiden  grofsartigsten  Kirchen- 
räume ,  die  noch  der  ältern  Richtung  angehören, 
kann  es  nicht  zweifelhaft  bleiben ,  dass  der  Einfluss 
eines  Malers  zu  den  wichtigsten  Veränderungen  im 
Stil  dieser  Baukunst  den  Anstoss  gegeben;  es  ist 
wieder  ein  Angehöriger  der  florentinischen  Schule, 
wie  Cigoli  und  Bernini  auch:  Pietro  Berettini  da 
Cortona.  Er  hat  um  1636  schon  den  Innenraum 
von  S.  Luca  e  Martina  am  Forum  geschaffen, 
der  nach  Aussen  als  Baukörper  noch  viel  plastischer 
gedacht  ist.  Der  Bau  zeigt  eine  Centraianlage  mit 
gleichen ,  aber  im  Verhältnis  zur  Kreuzungskuppel 
langen  Armen,  die  im  Halbkreis  schliessen.  In  die- 
sem Nachklang  des  aufgegebenen  Ideales  von  S.Peter, 
der  den  Ausgleich  mit  der  Tiefendimension  in  einer 
Vermittlung  der  griechischen  und  lateinischen  Kreuz- 
*  form  versucht,  wirken  auch  im  Innern  die  mannich- 
faltigsten  Faktoren  im  Sinne  des  Bildeindruckes  zu- 
sammen. Jonische  Säulen  tragen  die  hochgestelzten 
Bogen  der  Kuppel  und  ordnen  sich  so  paarweis  vor 
den  Ecken  der  Vierung,  während  andre  in  die  Wand 
gestellte  Paare  die  Altarbauten  in  den  Conchen  be- 
gleiten, so  dass  der  Blick  des  Besuchers,  kurz  nach 
dem  Eintritt,  den  ganzen  Raum  in  der  Breitenaxe 
umspannend,  eine  reichgegliederte,  in  sich  bewegte 
Wand  und  in  ihrer  Mitte  die  perspektivische  Ver- 
tiefung des  Chores  mit  der  lichtspendenden  Kuppel 


238 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Über  sich,  als  einheitliche  Anschauung  geniefst.  Der 
Architekt,  der  vor  Allem  nach  Verwirklichung  seiner 
Raumgedanken  strebt,  stellt  sein  Gebilde,  je  reiner 
er  schafft,  desto  unbekümmerter  um  Nebenrücksichten 
als  Realität  auf  seinen  Grund  und  Boden  hin;  der 
Maler,  der  ihm  über  die  Schulter  sieht,  fragt  viel- 
mehr nach  den  Ruhepunkten  der  Anschauung  und 
sorgt  für  den  Anblick ,  den  es  dem  Auge  des  ver- 
weilenden Betrachters  gewähre. 

Den  nämlichen  Zweck  verfolgt  die  ganze  Um- 
gestaltung des  Äussern  von  S.  M.  de  IIa  Pace,  die 
Pietro  da  Cortona  vor  1659  vollendet  haben  muss. 
Vor  die  gradlinige  Front  der  kleinen  unter  Sixtus  IV. 
erbauten  Kirche  ^)  legt  er  im  Erdgeschoss  eine  halb- 
kreisförmige Vorhalle  mit  gekuppelten  toskanischen 
Säulen  und  gradem  Gebälk;  das  Obergeschoss  wölbt 
sich  minder  vor  und  enthält  in  der  Mitte  ein  hohes 
Rundbogenfenster  von  Säulen  flankiert  und  mit  einem 
Rundbogengiebel  überspannt,  während  ein  Dreieck- 
giebel über  dem  Ganzen  auf  mehrfach  verkröpftem 
Gebälk  von  Eckpilastern  getragen  wird.  An  diesen 
Vorbau  legen  sich  unten  grade  Flügel,  mit  beschei- 
denen Anläufen  vermittelt,  im  Obergeschoss  aber 
links  und  rechts  im  Viertelkreis  ausschweifende  An- 
bauten, wie  eine  offne  Loggia  mit  rundbogigen  und 
rechtwinkligen  Öffnungen  und  mit  Attika  darauf,  — 
so  dass  die  konvexe  Kirchenfassade  als  Mittelrisalit 
auf  dieser  konkaven  Einfassung  doppelt  wirksam 
hervortritt,  und  der  ganze  Platz  durch  dies  Schau- 


l)  Ursprüngliche  Fassade  bei  Schmarsow,  Melozzo  da  Forli  p.  258. 


jSIaler  und  Architekten 


239 


stück  geschlossen  wird.  Mit  Recht  galt  es  und  gilt 
es  als  „ein  Meisterstück  der  Berechnung  perspek- 
tivischer Wirkungen,  von  erstaunlicher  Sicherheit 
des  malerischen  Geschickes". 

Den  Kupferstichen  von  Falda  zufolge  wäre  1665 
auch  schon  die  Fassade  von  S.  Maria  in  Via  lata 
dagestanden,  wie  Pietro  da  Cortona  sie  entworfen 
hatte.  Die  Stirnwand  öffnet  sich  in  einer  zweige- 
schossigen Loggia  aus  je  vier  korinthischen  Säulen 
mit  weiterem  Mittelintervall,  das  in  der  oberen  Reihe 
das  grade  Gebälk  durchbricht  und  im  Rundbogen 
überwölbt  in  den  Dreieckgiebel  emporsteigt.  Wenn 
hier  die  ererbte  Formensprache  der  Architektur  in 
sorgfältiger  Bildung,  ja  nicht  selten  in  überraschender 
Reinheit  sich  mit  malerischen  Absichten  verbindet, 
die  zur  Heiterkeit  der  Hochrenaissance  zurückzu- 
kehren scheinen,  so  darf  es  nicht  verwundern,  wenn 
auch  streng  geschulte  Baumeister  mit  Freuden  die 
selben  Wege  gehen. 

So  bringt  Girolamo  Rainaldi  (1570 — 1655),  der 
den  Palast  derPamfili  am  Circo  Agonale  gebaut  hat,  ent- 
schiedene Neigung  zur  oberitalienischen  Renaissance 
aus  seiner  längern  Tätigkeit  in  Modena  mit  nach  Rom, 
wo  er  das  Professhaus  beim  Gesü  noch  mehr  im  Sinne 
des  Giacomo  della  Porta  zu  halten  bestrebt  gewesen. 
Seinem  Sohne  Carlo  Rainaldi  (161 1  — 1691)  ge- 
bührt aber  wol  tatsächlich  das  Hauptverdienst  an  der 
Kirche  S.  Agnese,  die  im  Anschluss  an  diesen 
Familienpalast  unter  Innocenz  X.  (1644 — 1655)  ent- 
stand. Das  Innere  verwirklicht  in  einer  geschlossenem 
Raumbildung  als  die  Kreuzform  von  S.  Luca  e  Mar- 


240 


Glanzperiode  und  Umschwung 


tina  das  Vorherrschen  der  Breitendimension,  das 
Pietro  da  Cortona  dort  zu  erreichen  gesucht  hatte. 
Den  Kern  des  Grundrisses  bildet  ein  Quadrat,  dessen 
abgeschrägte  Ecken  sich  zu  Nischen  ausrunden,  wäh- 
rend die  Seiten  in  den  Hauptaxen  sich  zu  Armen 
eines  griechischen  Kreuzes  erweitern;  die  derQueraxe 
jedoch  sind  abermals  durch  Tribunen  vergröfsert,  so 
dass  diese  Richtung  zur  unzweifelhaften  Dominante 
wird,  und  das  ganze  Innere,  das  sich  dem  Eintretenden 
darbietet,  sofort  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Bild- 
wirkung zusammengeht.  Auch  hier  Ecksäulen  an  den 
Kreuzarmen,  darüber  auf  hoher  Attika  Bogen  von 
reichstem  Profil,  deren  zahlreiche  Gliederungen  erst- 
recht dazu  beitragen,  die  Tiefe  des  Querhauses  zur 
Wirkung  zu  bringen.  In  der  Mitte  ,,die  grofse  wol- 
gebildete  Kuppel,  die  den  Raum  mit  ruhigem,  leicht 
dämmerndem  Licht  erfüllt  und  das  überaus  kostbare 
Material  zu  harmonischem  Gesamtton  stimmt". 

Nach  Aussen  erfüllt  S.  Agnese  in  Piazza  Navona 
in  glücklichster  Verbindung  zweier  Türme  mit  der 
Kuppel  das  Ideal  der  Gruppierung,  das  bei  S.  Peter 
nicht  erreicht  werden  konnte,  und  verwertet  sowol 
in  der  plastischen  Gliederung,  wie  in  der  malerischen 
Verbindung  der  Körper  alle  Errungenschaften,  die 
dort,  selbst  im  missglückten  Turmbau  Berninis,  ge- 
zeitigt waren.  Aber  auch  dieses  Prachtstück,  dessen 
bewegte  Linien  ein  leichtes  Spiel  vollführen,  das 
mühelos  über  die  Masse  triumphiert,  wie  es  nur 
der  höchsten  Meisterschaft  gelingt,  ist  an  seiner 
Stelle  nur  als  Mittelstück  eines  gröfsern  Ganzen  ge- 
dacht, zunächst  mit  den  geschmückten  Wänden  der 


Maler  und  Architekten 


241 


anstossenden  Palastbauten,  die  an  derselben  Seite 
des  Platzes  sich  hinziehen,  dessen  dominierende 
Breitenaxe  dann  mit  den  berühmten  Brunnen  Berninis 
besetzt  ward. 

Die  nämliche  Ökonomie,  eine  Kirchenfassade 
als  bedeutsam  ausgebildetes  Mittelrisalit  zwischen 
zwei  ruhigeren  Palastwänden  anzuordnen,  befolgt 
Carlo  Rainaldi  bei  S.  M.  in  Portico  an  Piazza  Cam- 
pitelli,  im  Auftrag  Alexanders  VII.  (1655—67).  Auch 
dieser  Fassadenbau  steht  —  sozusagen  —  auf  den 
Schultern  des  Pietro  da  Cortona.  Er  steigert  die 
Selbständigkeit  der  Träger  und  die  Verkröpfung  der 
Giebel  und  Gebälke,  den  Abstand  zwischen  den 
Fluchtlinien  der  Rücklagen  und  frei  vortretenden 
Säulen  zu  ausserordentlichen  Kontrasten  von  Licht 
und  Schatten.  So  entsteht  in  dem  fünfteiligen  Erd- 
geschoss  mit  reich  entwickelter  Hauptaxe  ein  wuch- 
tiger Bewegungseindruck,  aber  nicht  der  Masse, 
sondern  lauter  selbständiger  Körper  und  Flächen, 
wie  im  stärksten  Hochrelief.  Nichts  mehr  von  dem 
Gegensatz  eines  unbefriedigten  Strebens  unten  und 
einer  beruhigten  Abklärung  oben,  nichts  mehr  vom 
Wachstum  nach  Analogie  organischer  Körper,  son- 
dern Rückkehr  zur  Kompositionsweise  der  Renais- 
sance, wie  zur  Formensprache  der  Antike,  und  doch 
weder  dies  noch  jenes  allein,  sondern  ein  Neues, 
in  seiner  Verbindung  plastischer  und  malerischer 
Tendenzen.  Sehr  bezeichnend  bleibt  aber  im  Kreise 
der  verwandten  Aufgaben  das  völUge  Zurücktreten  des 
bildnerischen  Dranges  zu  Gunsten  der  Fläche  an  den 
beiden  Kollegiengebäuden  zu  den  Seiten  der  Kirche. 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  j^g 


242 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Nicht  minder  entschieden  verfährt  der  Archi- 
tekt im  Innern.  Kein  einheitUcher  Raum  mehr  „aus 
einem  Stück",  sondern  eine  Kombination  mehrerer 
selbständiger  Einheiten,  durch  kouUssenartig  nach 
einander  vortretende  Säulenpaare  deutlich  von  ein- 
ander abgehoben,  deren  Zusammenhang  sich,  wie 
beim  Anblick  der  Bühne,  nur  für  den  Standpunkt 
bildmäfsiger  Betrachtung  ergiebt.^)  Das  Ganze  be- 
steht aus  drei  hinter  einander  liegenden  Teilen:, 
zuerst  an  Stelle  des  Langhauses  ein  griechisches  Kreuz 
mit  breitem  Schiff  in  der  Hauptaxe:  ,,Das  mittlere 
Tonnengewölbe  ist  schlicht  behandelt,  hell  erleuchtet 
(und  erwartet  noch  die  Bemalung),  während  die  seit- 
Uchen  Wölbungen,  nebst  den  Kapellen  (später  in 
kräftigen  Farben  ausgeschmückt)  sich  in  geheimnis- 
voll wirkendem  Dämmerlicht  befinden."  Dann  folgt 
,,der  quadratische  Kuppelraum,  in  den  aus  niederm 
Tambour  durch  ovale  Fester  und  mehr  durch  seit- 
Uches  OberHcht,  der  Tag  mächtig  einflutet".  EndUch 
die  Apsis  mit  dem  tempelartigen,  an  der  Rückwand 
schwebendenMadonnenaltar,  auf  den  die  Aufmerksam- 
keit mit  allen  Mitteln  hingeleitet  wird,  —  also  das 
Ganze  ,,ein  Bild,  dessen  Kompositionsprinzip  dem 
Theater  entlehnt  scheint". 

Immer  ist  die  Perspektive  die  Führerin,  beim 
Aussenbau  wie  beim  Innenbau  und  bei  der  um- 
fassenden Anlage  der  Strafsen  und  Plätze,  d.  h.  ein 


i)  Ich  möchte  in  der  Tat  an  die  Bibbiena  und  Guarini  er- 
innern, wie  an  die  obenerwähnte  Wirksamkeit  des  Girolamo  Rai- 
naldi in  Modena.    Vgl.  auch  Palladios  Redentore  u.  s.  w. 


j 


Maler  und  Architekten 


•243 


wesentlich  malerisches  Prinzip.  Die  Piazza  del  Po- 
polo  mit  den  drei  Strafsen,  die  an  einer  Seite,  dem 
Tor  gegenüber  münden,  und  zur  Auszeichnung  des 
Corso  zwischen  Via  delBabuino  undRipetta  damals  mit 
den  beiden  Kirchlein  besetzt  wurden,  und  die  ebenso 
radial  von  der  Engelsbrücke  gegen  den  Vatikan 
laufenden  Strafsen  des  Borgo  Leonino  sind  Auf- 
gaben, die  damals  von  der  Architektur  als  Städte- 
bauerin im  grofsartigsten  Sinne  begriffen  und  nach 
künstlerischen  Grundsätzen  behandelt  wurden. 

Damit  wird  auch  die  Stelle  für  das  Problem  von 
S.  Peter  bezeichnet,  wie  Bernini  es  nun  erfasst  hat 
und  zu  einer  Lösung  hindurchführt,  die  der  gesamten 
Baukunst  mit  einem  Kapital  von  fruchtbaren  Gedanken 
zu  Gute  kommen  sollte.  Durch  den  Zwang,  auf  die 
Ecktürme  zu  verzichten,  war  die  ganze  Höhenent- 
wicklung der  Fassade  vergeblich  geworden,  der  an 
sich  enorme  Aufwand  des  Hochdrangs  durch  die 
Masse  hin  umsonst.  Die  Breite,  nun  zwecklos  über 
die  Ausdehnung  des  Langhausquerschnitts  nach  beiden 
Seiten  vergröfsert,  war  aller  Plastik  zum  Trotz  zur 
Dominante  geworden,  und  unerbittlich  stempelte  die 
Horizontale  das  Ganze  zu  einer  geschmückten  Wand, 
die  gedrückt  und  schwerfällig  ohne  allen  Zusammen- 
hang vor  der  triumphierenden  Kuppel  des  Centrai- 
baues zu  lagern  schien.  Berninis  Aufgabe  war,  dem 
vorhandenen  Fassadenkoloss  durch  künstliche  Mittel 
die  Wirkung  zurückzugeben,  und  dies  konnte  nur 
durch  Anerkennung  der  Breitendimension  als  Grund- 
lage der  ganzen  künstlerischen  Rechnung  geschehen. 

16* 


244 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Er  nahm  deshalb  seine  Zuflucht  notgedrungen  zum 
malerischen  Standpunkt,  und  seine  Retterin  ward  die 
Perspektive  mit  ihren  täuschenden  Mitteln  Rir  den 
Augenschein. 

So  kommt  wieder  ein  Keim  zur  Entwicklung, 
den  Michelangelo  in  seiner  Anlage  des  Kapitols- 
platzes  der  Städtebaukunst  eingepflanzt  hatte.  Wie 
dort  die  beiden  seitlichen  Palastfassaden  sich  schräg 
zu  dem  Mittelbau  richten ,  der  als  Hauptstück  her- 
vorgehoben werden  solP),  so  hier  die  beiden  seit- 
lichen Gänge,  die  sich  der  Kirchenfassade  zunächst 
anschhessen  und ,  nach  vorn  zu  näher  aneinander 
rückend ,  die  Senkung  des  Terrains  begleiten ,  so 
dass  der  BUck  des  Beschauers  auf  den  überragenden 
Baukörper  sich  einengt  und  dessen  Höhe  um  so 
wirksamer  zur  Geltung  kommt.  An  die  Eckpavillons 
dieser  Gänge,  die  (obwol  20  m.  hoch)  noch  nicht 
an  die  Hälfte  der  Hauptordnung  des  Kirchenbaues 
selbst  hinanreichen ,  schliessen  sich  als  halbkreis- 
förmige Flügel  die  berühmten  Kolonnaden,  die  den 
vordem  Platz  umspannen,  so  dass  er  ein  geschlos- 
senes, nur  gegen  die  Kirche  sich  öffnendes  Oval 
bildet-),  dessen  längere  Axe  sich  in  die  Breite  legt 
und  mit  dem  Obelisken  und  den  beiden  Spring- 
brunnen zu  dessen  Seiten  auf  den  Hochdrang  der 


1)  Vgl.  Falda  &  de  Rossi,  Nuovo  Teatro  delle  Fabriche  I,  10 
und  I,  II.    Letarouilly,  Edifices  de  Rome  mod.  Tav.  352  ff. 

2)  Die  ursprüngliche  Absicht  auch  die  Mitte  vorn  zu  schliessen, 
also  einen  ovalen  Vorhof  zeigt  die  eine  Abbildung  bei  Falda ,  die 
wirkliche  Ausführung  III,  3.  Vgl.  Piazza  del  Popolo  und  Piazza 
S.  Ignazio,  später  Carlo  Fontana,  II  tempio  Vaticano  1694  p.  421. 


Lorenzo  Bernini 


245 


Fassade  wie  der  Kuppel  mit  ihren  Trabanten  vor- 
bereitet. Die  Kolonnaden  selber  bestehen  aus  vier 
koncentrischen  Reihen  kräftiger  toskanischer  Säulen 
rhit  gradem  Gebälk,  die  in  ihrer  schUchten  Bildung 
nur  den  Zweck  verfolgen,  den  Platz  in  geschlossener 
Reliefbewegung  zu  umgränzen,  und  durch  die  radiale 
Richtung  auf  einen  Punkt  hüben  und  drüben  die 
gewaltige  Anziehungskraft  dieser  Pole  der  Breiten- 
axe  zum  Gefühl  bringen.  Die  vordersten,  schräg 
gegen  die  Mitte  des  Platzes  gekehrten  Fronten  der 
beiden  ausgeführten  Kolonnadenarme  wirken  wie  der 
vertiefte  Rahmen  eines  Bildes,  in  dem  die  springen- 
den Punkte  der  Queraxe  die  ersten  entscheidenden 
Raumwerte  schaffen,  dahinter  die  Innern  Eckpavillons 
der  beiden  Gänge  und  endlich  die  geschmückte 
Wand  der  Fassade  mit  ihren  tiefschattenden  Öff- 
nungen als  abschliessende  Skene  dasteht.  So  ist 
die  ganze  Umgebung  des  Baues  unter  ein  wag- 
rechtes System  gebracht  und  für  den  malerischen 
Standpunkt,  der  die  Körper  mit  ihrem  Raum  im 
Gesichtsfeld  zusammenzufassen  trachtet ,  wirken  die 
Grössen  in  wolberechnetem  Verhältnis.  Aber  das 
eigentliche  Bauwerk ,  sowol  das  Langhaus  wie  die 
Kreuzarme,  entziehen  sich  für  diesen  vorgeschriebe- 
nen Anblick  und  bleiben  geflissentHch  hinter  den 
Koulissen. 

Damit  ist  der  Eindruck ,  mit  dem  das  vor- 
nehmste HeiUgtum  der  christlichen  Welt  seine  Be- 
sucher empfängt,  durchaus  verändert.  Nichts  mehr 
von  dem  gewaltigen  Wachstum  des  Centraibaues 
mit  seinem  durchgreifenden  Streben  unten  und  sei- 


246 


Glanzperiode  und  Umschwung 


nem  Triumph  der  Vollkraft  oben ;  nichts  mehr  von 
dem  Ernst  der  Basilika,  die  alle  frommen  Pilger  in 
sich  aufnahm  und  sie  sammelnd  vorbereitete  bis  zur 
Grabstätte  der  Apostelfürsten ;  nichts  mehr  von  der 
erdrückenden  Wucht  der  erdgeborenen  Masse ,  die 
an  der  vorgeschobenen  Stirn  des  Ganzen  doch  immer 
den  Drang  zu  höherem  Aufstieg  als  leitendes  Motiv 
auch  eines  langen  schweren  Ringens  anzukünden 
sucht  und  zwischen  dem  Aufwand  all  der  stofflichen 
Mittel  doch  die  Richtung  des  vorgeschriebenen 
Weges  auf  ein  Ziel  hin  einhält;  —  sondern  festlich 
und  heiter  umfängt  der  säulenumstellte  Platz  die 
Scharen,  schon  weit  vor  der  Schwelle  des  HeiUgtums 
selber,  und  lässt  sie  vor  dem  Eintritt  in  den  Schat- 
ten der  Kirche  noch  einmal  die  Freuden  dieser 
Welt  im  Sonnenglanz  und  Himmelsblau  gemessen. 
Ein  umfassender  dritter  Bestandteil  der  psycho- 
logischen Veranstaltung  hat  sich  vor  die  beiden 
andern  geschoben,  und  die  Fassade,  die  früher  diese 
Einführung  allein  übernehmen  sollte,  ist  nur  noch 
ein  letzter  Abschluss  der  Propyläen  gebUeben,  ein 
Durchgang  aus  dem  weiten  Festplatz ,  der  wie  ein 
antiker  Tempelbezirk  die  Stämme  mit  all  ihrem  welt- 
lichen Treiben  umgiebt,  in  das  trübe  Dämmerlicht 
des  geschlossenen  Innenraumes,  wo  dem  Gläubigen, 
der  das  Heil  sucht,  erst  das  erdrückende  Gefühl  der 
Belastung  und  damit  reumütige  Zerknirschung  sich 
aufdrängt,  bevor  er  am  Ende  seiner  Wanderung, 
nach  eifrigem  Bemühen,  der  Allmacht  des  dreifaltigen 
Gottes,  wie  einer  persönUchen  Offenbarung,  im  Wun- 
derbau   des  Kuppelraumes    gewürdigt   wird.  Vom 


Lorenzo  Bernini 


247 


Centraibau  Michelangelos  zum  Langhaus  Madernas 
und  zu  Berninis  Kolon^iaden  hat  sich  die  architek- 
tonische Schöpfung  von  S.  Peter  zu  einer  gross- 
artigen Trilogie  erweitert,  und  jeder  Teil  verkörpert 
den  besondern  Geist  seiner  Entstehungszeit,  dreier 
grundverschiedener  Generationen,  wie  jeder  einer 
andern  Dimension  als  Dominante  gehorcht.  Der 
erste  verherrlicht  die  Höhe,  der  zweite  die  Tiefe, 
der  dritte  die  Breite,  und  bezeichnet  so  den  Ent- 
wicklungsgang, den  der  Baustil  durch  alle  drei  Teile 
der  Architektur  genommen:  vom  Monumentalbau 
unter  dem  plastischen  Gesichtspunkt ,  zum  Innen- 
raum in  rein  architektonischer  Absicht,  und  endlich 
zur  Gesamtanlage  des  Platzes,  als  Städtebauerin 
von  wesentlich  malerischem  Standpunkt  aus. 

Bis  zum  Jahre  1667,  wo  die  letzte  Vermittlung 
der  kathoHschen  Religion  mit  der  unverholenen 
Freude  an  der  Schönheit  dieser  Welt  als  vollendete 
Tatsache  künstlerisch  ausgestaltet  vor  Aller  Augen 
stand  ,  hatte  sich  auf  allen  Gebieten  der  römischen 
Kunst  der  entscheidende  Wandel  vollzogen,  der  hier 
seine  höchste  Bestätigung  erhält  und  nun  der  ganzen 
Christenheit  sich  als  Vorbild  zeigt. 

Die  Grundlinie  der  malerischen  Anschauung, 
als  welche  wir  die  Breitendimension  erkennen,  wird 
nun  zur  anerkannten  Herrscherin  in  allen  umfassen- 
den Anlagen  der  städtischen  Baukunst  Roms,  die 
noch  heute  den  Charakter  seiner  Strafsen  und  Plätze 
wesentlich  bestimmen.  Besonders  der  alte  Circo 
Agonale  wurde  durch  Berninis  Brunnen  mit  vollem 
Bewusstsein  für  die  Herrschaft  der  Bildanschauung 


248 


Glanzperiode  und  Umschwung 


ausgestaltet ,  wie  der  Zugang  von  Palazzo  Madama 
und  der  Sapienza  her  gegen  den  Obeliskenbrunnen 
in  der  Mitte  sie  fordert  oder  nahe  legt.  Die  Kupfer- 
stiche von  Falda  geben  eine  sehr  willkommene  Er- 
läuterung, besonders  aus  den  Tagen  Alexanders  VII. 
und  Clemens'  IX.  aus  den  Jahren  1665 — 1667,  und 
zeigen  uns  in  den  „Vedute  delle  Fabbriche ,  Piazze 
et  Strade  fatte  fare  nuovamente  in  Roma"  die  da- 
malige Physiognomie  der  Stadt  unter  dem  Gesichts- 
punkt, den  wir  so  dringend  als  den  herrschenden  be- 
tonen. Da  verflacht  sich  unläugbar  die  Plastik  der 
Einzelformen  im  Interesse  der  Flächen  Wirkung. 
Die  Gesamtgliederung  der  mächtigen  Palastfassaden 
ist  konsequent  im  Sinne  des  Hochdrangs  entwickelt, 
aber  die  durchgehende  Pilasterordnung  wirkt  fast 
nur  noch  einrahmend,  beschränkt  sich  auf  die  Ecken 
oder  weicht ,  wo  sie  zahlreicher  auftritt ,  einfachen 
Lisenen  und  schlichten  Rahmenprofilen,  bedeutet  also 
nichts  anderes  als  den  Verzicht  auf  jede  der  alt- 
überlieferten Ordnungen  überhaupt.  Dagegen  ist 
die  rhythmische  Gruppierung  dieser  Flächen,  die  Sym- 
metrie in  der  Breitendimension  und  die  Zusammen- 
fassung mehrerer,  sei  es  neben,  sei  es  über  einander 
liegender  Systeme  unter  einer  Dominante  in  der  Mitte 
überall  deutlich.  Diese  Mitte  wird  fast  immer  durch 
ein  eigenes  Attikageschoss  oder  turmartige  Aufbauten, 
mindestens  aber  durch  einen  Giebelaufsatz  betont. 
Man  betrachte  nur  den  Platz  von  Campitelli  mit  den 
beiden  Kollegienhäusern  neben  S.  M.  in  Portico 
(I,  32),  den  bei  Monte  Giordano,  einmal  mit  dem 
Haus  der  Padri  di  S.  Filippo  Neri  und  seinem  Uhr- 


Maler  und  Architekten 


249 


türm  als  Mittelstück,  einmal  mit  dem  Palazzo  Spada 
in  der  Breitenlage  (I,  22  und  23),  oder  die  „Piazza 
del  collegio  Romano  ampliata  da  N.  S.  Papa  Ale- 
sandro  VII."  mit  der  sicher  nun  erst  zurecht  gemach- 
ten (niemals  von  Bartolommeo  Ammanati  verbroche- 
nen) Fassade  (Ferrerio  Tav.  43)  und  dem  Palast  der 
Doria  Pamfili,  oder  endlich  das  Spital  bei  S.  Gio- 
vanni in  Laterano  und  die  Schlossfassade  von  Castel 
Gandolfo.  Wie  bezeichnend  wirken  die  aufgesetzten 
Halbgeschosse  in  der  Umkleidung  des  Hospitals  von 
Sto.  Spirito  (I,  29)  oder  in  der  Nachbarschaft  von 
S.  M.  della  Pace  neben  der  Überhöhung  des  zweiten 
Stockwerks  durch  die  Lukenreihe  am  Pal.  Gambirasi 
daselbst  (I,  26),  an  der  Sapienza  (I,  19),  an  Pal. 
Mattei  und  Pal.  Meilini  bei  S.  Caterina  de'  Funari 
(III,  29)  und  als  einziges  Mittel  der  Steigerung  gar 
am  Senatorenpalast  des  Kapitols.  In  solchem  Zu- 
sammenhang erscheint  dann  Berninis  angefangener 
Palastbau  Ludovisi  an  Montecitorio  mit  seinem 
turmartig  vorgeschobenen  Eckrisalit  (I,  14.  15),  wo 
am  Erdgeschoss  jene  malerisch  flächenhaft  behandelte 
Rustica  wie  in  den  Felsblöcken  des  Brunnens  auf 
Piazza  Navona  auftritt,  flache  Eckpilaster  darüber  als 
Hauptordnung  die  beiden  Geschosse,  mit  ihren  drei 
schmalen  hohen  Fenstern,  einfassen  und  endlich  noch 
drei  quergelagerte  Luken  den  Fries  unter  dem  Dach 
durchsetzen. 

Das  ist  das  zweite  Bindeglied  neben  Pal.  Ode- 
scalchi  an  Piazza  SS.  Apostoli,  das  Berninis  römische 
Tätigkeit  auf  diesem  Gebiete  mit  seinem  Entwurf 
für  den  Louvrebau  in  Paris  verbindet.  Darnach  aus- 


t 


250 


Glanzperiode  und  Umschwung 


geführt,  wie  er  1665  in  persönlicher  Anwesenheit 
durchzusetzen  versuchte ,  wäre  das  französische  Kö- 
nigsschloss  ein  durchaus  römischer  Palast  geworden, 
nur  in  seinen  Abmessungen  von  ausserordentlicher 
Grösse,  so  dass  er  ein  gewaltiges,  ringsum  in  voller 
Monumentalität  und  einheitUchem  Charakter  geschlos- 
senes Viereck  umspannte.  Nicht  ausgeführt,  wie  er 
geblieben,  ist  er  doch  eine  geistige  Tat  des  römischen 
Meisters,  kaum  minder  bedeutsam  als  S.  Peter,  und 
gehört  als  solche  zunächst  hierher,  weil  ohne  ihn 
die  weitere  Entwicklung  in  Rom,  Turin  und  Neapel 
unverständlich  bliebe ,  wie  Juvara ,  Fuga ,  Vanvitelli 
sie  wol  vollzogen,  aber  nicht  allein  erdacht  haben. 

In  die  vier  Ecken  des  Quadrates  drinnen  wollte  er 
je  ein  eigenes  Treppenhaus  mit  vierarmigem  Aufstieg 
legen,  so  dass  ein  kreuzförmiger  Binnenhof  entstand, 
an  den  sich  in  der  Hauptaxe  Durchfahrten  und  Vesti- 
büle ,  das  Erdgeschoss  der  Trakte  durchbrechend 
anschlössen.  Rings  um  diesen  freien  Mittelraum 
sollten  in  zwei  Geschossen  offene  Umgänge  führen, 
deren  Rundbogen-Arkaden  von  einer  einzigen  korin- 
thischen Halbsäulenordnung  zusammengefasst  wurden, 
die  dann  auf  mächtigem  Hauptgesims  noch  eine 
Attika  mit  Statuen  trug.  Diese  künstUch  gesteigerte 
Dekoration  verbarg  für  den  Anblick  die  noch  über- 
ragende Höhenentwicklung  des  nach  Aussen  treten- 
den Palastbaues  selbst.  Auch  hier  aber  stand  auf 
dem  sockelmäfsigen  Erdgeschoss,  mit  florentinischen 
Fenstern  in  kräftiger  Quaderung,  nur  eine  Ordnung 
mit  hohem  Konsolengesims  und  statuenbekrönter 
Balustrade  darüber.    Dazwischen  waren  die  beiden 


Berninis  Louvreprojekt 


251 


Fensterreihen  in  vollem  Formen  als  am  Palazzo 
Odescalchi,  nämlich  mit  Halbsäulen,  glattem  Gebälk 
und  Segmentgiebeln  im  ersten ,  Konsolen ,  Ver- 
kröpfung  und  grader  Verdachung  im  zweiten  Ge- 
schoss  —  also  denen  am  Pal.  Farnese  von  Antonio  da 
Sangallo  verwandter  gebildet.  An  der  Hauptfassade 
trat  ein  breites  Mittelrisalit  mit  eilf  Fenstern  in  rhyth- 
mischer Reihe  und  zwei  Eckrisalite  mit  je  vieren  in 
symmetrischer  Verteilung  aus  dem  Baukörper  her- 
vor, und  zeigten  in  dieser  fünfgliedrigen  Komposition 
ebenso  wol  die  erweiterte  Steigerung  von  Pal.  Odes- 
calchi wie  die  Verwertung  bramantesker  Gedanken 
am  Bau  der  Cancellaria,  die  Beziehung  zum  Palast 
des  Kardinals  Antonio  di  Monte  von  Sangallo  wie 
zu  Pal.  Ludovisi  an  Monte  Citorio  von  Bernini  selbst 
wieder.  Das  Mittelrisalit  hat  im  Erdgeschoss  drei  Rund- 
bogentore neben  einander,  zwischen  denen  zwei  Gi- 
ganten Wache  halten,  während  links  und  rechts  die 
acht  Fenster  sich  paarweis  zusammen  rücken.  AchtHalb- 
säulen  darüber  verteilen  sich  so,  dass  die  mittleren  vier 
eng  gereiht  über  den  Toren  stehen  und  diesen  ent- 
sprechend drei  Fenster  jedes  Geschosses  einschliessen, 
während  die  beiden  äusseren  hüben  und  drüben  weiter 
auseinander  tretend  in  ihren  Interkolumnien  je  zwei 
Fenster  aufnehmen,  die  sich  paarweis  wie  im  Sockel 
gesellen.  An  den  Rücklagen  erscheinen  nur  in  den 
Ecken  Pilaster  und  nehmen  je  vier  Fenster  in  ihre 
Mitte.  Während  am  Hauptteil  kein  Giebel  die  mittlere 


i)  Vgl.  die  Vignette  nach  dem  Stich  von  Israel  Silvestre  bei 
Letarouilly,  Texte  p.  416. 


252 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Säulenreihe  zusammenfasst,  so  dass  dem  Mittelfenster 
des  ersten  Geschosses  allein  durch  ein  krönendes 
Wappen  die  Betonung  der  Dominante  überlassen 
bleibt,  bezeichnen  die  Eckrisalite  ihre  Unselbständig- 
keit durch  schUchte  Symmetrie  zwischen  je  vier  Pi- 
lastern  und  ebensoviel  Fenstern;  aber  auch  hier 
waltet  rhythmische  Gruppierung  statt  der  regelmäs- 
sigen Reihe.  Die  Pilaster  lassen  in  der  Mitte  einen 
breitern  Zwischenraum  und  rücken  nach  Aussen  paar- 
weis einander  näher,  so  dass  in  den  seitlichen  In- 
terkolumnien  ein,  in  den  mittleren  je  zwei  Fenster 
Platz  finden.  Die  nämliche  symmetrische  Gruppe 
zeigen  auch  die  vier  Fenster  im  Sockel. 

An  der  gegenüberliegenden  Fassade  nach  den 
Tuilerien  zu ,  die  eine  Rolle  gleich  den  Kolonnaden 
von  S.  Peter  übernehmen  sollten ,  sind  am  Mittel- 
risalit zwischen  zwölf  Halbsäulen  die  Doppelarkaden 
des  Hofes  wiederholt.^)  An  den  Seitenfassaden 
gegen  die  Seine  und  die  Rue  RivoH  zu  bleiben  da- 
gegen die  Halbsäulen  ganz  weg,  nur  einrahmende 
Pilaster  treten  an  die  Ecken,  und  zwischen  den  beiden 
Geschossen  ist  ein  Mezzanin  eingeschoben. 

Am  Schluss  der  römischen  Wirksamkeit  Berninis 
stehen  dann  endlich  noch  zwei  kleinere  Kirchen- 
bauten. S.  M.  deir  Assunzione  in  Ariccia  ist  1664 
als  Centraibau  auf  kreisförmigem  Grundriss  errichtet; 

l)  Vgl.  Galleria  Pal.  Famese.  —  Voyage  du  Cavalier  Bemin 
en  France  pour  lui  confier  l'achevement  du  Louvre,  bei  Patte  Me- 
moires  sur  les  objects  les  plus  importants  de  l'Architecture,  Paris 
1769  p.  320.  R.  Manard  im  L' Art  1875.  L.  Laianne  in  Gaz.  des 
Beaux  Arts  1877.    Gurlitt  a.  a.  O.  II  p.  145  f. 


Lorenzo  Bernini 


253 


aber  ihr  Arkadenportikus  mit  schlichtem  Giebel  wird 
auf  beiden  Seiten  von  niedrigen  Flügelbauten  ein- 
gefasst,  so  dass  die  dreiteilige  Breitenkomposition, 
wie  Mittelrisalit  und  Rücklagen  am  Palazzo  Ode- 
scalchi  überwiegt,  d.  h.  nicht  die  Auffassung  des  cent- 
ralen Baukörpers,  sondern  der  bewegten  Relieffläche 
sich  aufdrängt.  Und  für  diesen  Anblick  ist  ausser- 
dem noch,  wie  an  S.  M.  della  Face  von  Pietro  da 
Cortona,  durch  den  hintern  Abschluss  mit  einer 
Wanddekoration  gesorgt:  ,,von  der  innern  Fläche 
der  Flügelbauten  zieht  sich  nämlich  eine  Halbrund- 
mauer als  zweite  Schale  um  den  Kuppelbau ,  ja  sie 
wird  nach  hinten  allmähHch  niedriger",  und  ertäuscht 
so  noch  eine  perspektivische  Wirkung  —  lediglich 
für  den  Augenschein  vom  vorgeschriebenen  Standort 
aus.  Es  ist  der  nämliche  Kunstgriff,  den  Bernini  1661 
auch  bei  der  Umkleidung  der  Acqua  acetosa  an- 
gewendet hat  (Falda,  Fontane).  Nicht  minder  ist 
das  Innere  durch  zartere  Bildung  der  Glieder  und 
sorgsam  vermittelte  Übergänge  bei  aller  Schlichtheit 
ein  Beweis  für  die  malerische  Sinnesart ,  die  der 
künstlerischen  Raumbildung  vorgestanden  hat. 

Und  1678  baute  der  selbe  Meister  für  die  Je- 
suiten den  prächtigen  kleinen  Centraibau  von  S.  An- 
drea am  Quirinal,  in  dem  er  wieder  einen  entschei- 
denden Schritt  nach  dieser  Richtung  vollzog.  Es 
ist  ein  ovaler  Grundriss ,  nicht  ohne  Verwandtschaft 
mit  S.  Giacomo  degli  Incurabili  am  Corso,  aber  Ein- 
gang und  Hochaltar  in  die  kürzere  Axe  gelegt,  also 
für  die  Breitenansicht  geschaffen  wie  S.  Agnese  in 
Piazza  Navona.    Zur  Seite  der  Richtungsaxe  legen 


254 


Glanzperiode  und  Umschwung 


sich  je  zwei  ovale  und  zwei  rechtwinklige  Kapellen 
nischenartig  in  das  äussere  Oval  der  Umfassungs- 
mauer, so  dass  sie  wie  ein  niedriger  Ring  den  Kern- 
bau umgeben ,  der  sich  nur  am  Eingang  durch 
eine  vonPilastern  flankierte,  von  zwei  jonischen  Säulen 
getragene  Halbrundhalle  öffnet.  Der  Giebel  dieses 
Vorbaues  aber  bäumt  sich  und  rollt  sich  auf  und 
versinnlicht,  wie  die  volutenähnlichen  Strebepfeiler 
ringsum  und  die  Gewölbrippen  der  Kuppel,  das  pla- 
stische Wachstum  der  Masse ,  die  sich  stufenförmig 
aus  dem  Boden  hebt.  Der  Innenraum  dagegen  ist 
so  vollendet,  wie  nur  irgend  eine  Schöpfung  Ber- 
ninis ,  im  Interesse  fliessenden  Übergleitens  unsrer 
Blicke,  geschmeidiger  Linien-  und  Flächenbewegung 
für  unser  Gefühl  ausgestaltet ,  so  dass  nur  zugleich 
malerische  Reize  der  lebendigen  Erscheinung  sich 
vor  uns  hinbreiten.  Aus  der  korinthischen  Pilaster- 
ordnung,  die  das  Ganze  beherrscht,  hebt  sich  in 
der  Mitte  vor  dem  Hauptaltar  ein  Säulenportikus 
mit  schwellend  verkröpftem  Giebel.  Ebenso  gliedert 
sich  die  Kuppel  mit  kassettierten  Gewölbkappen  da- 
zwischen und  spendet  durch  die  Laterne  wie  durch 
die  Oberlichtfenster  ringsum  eine  gleichmäfsige,  leise 
dämmernde  Beleuchtung.  „Auf  dem  Gesims  und 
an  den  Fenstern  spielen  Kinder  mit  Blumenranken, 
Figuren  lagern  auf  dem  Altargiebel.  Das  prächtige 
Material ,  die  feine  Ausbildung  namenthch  der  in 
braunem  Marmor  gehaltenen  Säulen ,  das  Gold  der 
Kapitelle  und  der  Glanz  der  weissen  Marmorbasen, 
die  tiefe  mit  Gold  gehöhte  Farbe  des  Gewölbes 
geben    dem    kleinen  Tempelraum   einen  unläugbar 


Francesco  Borromini 


255 


feierlichen  Charakter,"  — •  der  den  rnalerisch  sehen- 
den Künstler  ebenso  bekundet  wie  die  Gestalt  des 
Baukörpers  den  plastisch  fühlenden  Architekten. 


4- 

Das  Urteil  über  Berninis  Baukunst  im  engeren 
Sinne,  wo  rein  dekorative  Nebenabsichten  nicht  mit- 
sprechen, wird  um  so  mehr  zu  Gunsten  seines  über- 
legenen und  grofsartigen  Geistes  ausfallen,  sobald 
unser  Blick  auf  die  gleichzeitigen  Bestrebungen  seines 
Nebenbuhlers  fällt. 

Francesco  Borromini  aus  Bissone  am  Lago  di 
Lugano  war  Berninis  Altersgenosse  und  musste  die- 
sem florentinisch  geschulten  und  gesonnenen  Günst- 
ling Urbans  VIII.  gegenüber,  den  man  als  zweiten 
Michelangelo  pries ,  sich  selbst  als  den  Erben  der 
oberitalienischenKünstlerfamilien,  der  Maestri  Comacini 
betrachten,  und  deshalb  als  berechtigten  Nachfolger 
der  Fontana  und  Maderna.  Gewiss  hat  er  in  diesem 
Sinne  bei  S.  Peter  Beschäftigung  gesucht,  aber  uns 
ist  es  nur  wichtig  im  künstlerischen ,  nicht  im  bio- 
graphischen Interesse.  Er  hat  sogar  in  eifriger 
Freundschaft  Bernini  zuerst  abzulernen  getrachtet, 
soviel  er  vermochte.  Das  Tabernakel  von  S.  Peter 
war  ihm  so  vollständig  kongenial,  dass  man  glauben 
könnte,  nicht  Bernini,  sondern  Borromini  habe  dies 
Meisterstück  verwegener  Dekoration  erfunden.  Von 
diesem  Punkt  an  glühender  Wettstreit  und  aufsta- 
chelnde Steigerung  rücksichtslosester  Eifersucht.  Das 
sind  die  Motive,  die  Borrominis  unläugbare  Genialität 
auf  die  Bahn  getrieben  haben,  die  sein  Name  wieder 


256 


Glanzperiode  und  Umschwung 


weit  richtiger  als  der  Berninis  bezeichnet,  aber  auch 
nur  er  bezeichnen  darf,  wo  man  sich  verleitet  fühlt, 
den  ganzen  Barockstil  verantwortlich  zu  machen. 

Borromini  will  der  neue  Michelangelo  sein,  der 
Bernini  nicht  war;  er  treibt  den  plastischen  Drang 
des  Bildners,  der  auch  die  Baukunst  mit  seiner  Ge- 
staltungskraft gemeistert  hatte,  zur  Karikatur.  Schon 
im  Umbau  des  Langhauses  von  S.  Giovanni  in  La- 
teran o  zeigen  seine  Mafsnamen  die  äusserste  An- 
strengung, das  gleichförmige  Mittelschiff  der  alten 
BasiHka  ,,in  Aufruhr  zu  bringen".  Er  führt  lang- 
gestreckte Pilaster  als  Träger  eines  hohen  Gebälks 
von  Unten  bis  Oben  an  die  Decke,  die  ihrerseits  aus 
den  Tagen  der  ersten  kraftvollen  Barockphase ,  so- 
fort die  innere  Ohnmacht  dieser  aufgeklebten  Ord- 
nung bemerkbar  macht.  Statt  der  einfachen  Reihe 
der  Arkaden  füllt  er  abwechselnd  den  Zwischenraum 
mit  einer  Nischenwand  und  lässt  im  Obergaden 
ebenso  je  ein  geschlossenes  Feld ,  mit  Relief  über 
den  Nischen,  mit  je  einem  seltsamen,  das  Gebälk 
überschneidenden  Fenster  alternieren.  Und  das  un- 
gebärdige Auftreten  dieser  Nebendinge  täuscht  über 
die  Bedeutung,  die  ihnen  zukommt.  Das  bekrönende 
Gebälk  der  Nischen  drängt  sich  wie  ein  Baldachin 
hervor,  die  grade  Verdachung  der  Fenster  schwingt 
sich  in  der  Mitte  zu  Bogen  auf,  und  ihre  Giebel 
bäumen  sich  mit  unwiUiger  Verkröpfung,  als  lebte 
wirklich  in  dieser  lahmen  Organisation  der  Wände 
ein  energisches  Hochstreben,  das  es  mit  der  Wucht 
der  Holzdecke  —  eines  Giacomo  della  Porta }  —  auf- 
zunehmen vermöchte. 


Francesco  Borromini 


257 


Mit  demselben  Bewegungsdurst  ergreift  Borro- 
mini die  Gestaltung  eigener  Räume  und  bringt  die 
bauliche  Masse  drinnen  wie  draussen  zu  einem  förm- 
lichen Gewoge ,  das  in  allerlei  abenteuerliche  Ana- 
logieen  organischen  Wachstums  auszugehen  droht. 
Solche  Bauten  sind  S.  Carlo  alle  quattro  fontane  ^  , 
(1640? — 1667)  und  St.  Ivo  alla  Sapienza  (1660).  Die  ^  /^9;-Co 

kleine  Kirche  der  Universität  schliesst  den  ernsten 
Hof  von  Giacomo  della  Porta  und  verbirgt  an  dessen 
Schmalseite  in  einer  halbovalen  Exedra,  deren  Re- 
liefarchitektur sich  der  vorhandenen  Geschossteilung 
natürlich  anschliesst, ^)  den  unteren  Baukörper,  wie 
nach  Aussen  hinter  der  Schlusswand  des  Palastes, 
die  zwischen  zwei  Portalen  zu  den  Korridoren  und 
den  beiden  Stirnseiten  der  Haupttrakte  nur  anspruchs- 
los als  Querlage  verbindet.  Erst  hinter  dieser  Aussen- 
wand  auf  der  einen  Seite  und  der  halbovalen  Exedra 
des  Hofes  auf  der  andern  steigt  der  obere  Teil  des 
Kirchenkörpers  empor  und  bietet  hüben  wie  drüben 
je  drei  halbcylindrische  Ausbauchungen  dar,  deren 
Anblick   wieder    in  geschmeidiger  Bewegung  nach 

i)  Wölfflin  nimmt  dieses  perspektivische  Kunststück  für  das 
Werk  des  Giacomo  della  Porta  (S.  51)  und  traut  deshalb  diesem  auch 
die  Umfriedigung  der  Villa  Aldobrandini  in  Frascati  zu,  wo  die 
querliegenden  Ovale  wie  hier  in  der  Balustrade  oben  vorkommen ; 
er  kommt  deshalb  zu  einer  m.  E.  falschen  Chronologie  für  die 
Charakteristik.  Diese  Form  gehört  erst  der  dritten  Phase  des  Ba- 
rockstiles an.  Und  der  Abschluss  des  Hofes  der  Sapienza  von 
Borromini  stellt  sich  in  eine  Kategorie  mit  dem  täuschenden  Säulen- 
gang in  Pal.  Spada  und  andern  Mafsnahmen  am  Pal.  Barberini, 
hängt  also  mit  den  Bestrebungen  des  Pietro  da  Cortona  an  S.  M. 
della  Pace  ebenso  zusammen  wie  die  Berninis. 
Schmarsow,  Barock  und  Rokoko. 


258 


Glanzperiode  und  Umschwung 


der  Breite  drängt.  In  den  einspringenden  Winkeln 
dieser  Rundungen  schiebt  sich  die  schlichte  Pilaster- 
ordnung  zu  Bündeln  zusammen,  und  diese  tragen  auf 
ihrem  verkröpften  Gebälk  auch  Postamente  mit  wul- 
stiger Fialenbekrönung,  hinter  denen  je  ein  Mauerband 
über  das  abgetreppte  Steindach  läuft.  Diese  Strebe- 
bahnen deuten  den  innern  Organismus  der  Raum- 
bildung an ,  und  zwar  die  sechs  Grate  der  Kuppel, 
die  darunter  liegt ,  mit  sechs  tiefen  Gewölbkappen 
dazwischen,  und  die  Gipfelungen  auf  den  Ecken  ent- 
sprechen den  sechs  übereck  stehenden  Pfeilern,  die 
auf  korinthischen  Pilastern  drinnen  und  hoher  Attika 
die  Kuppel  tragen.  Der  Innenraum  umschUesst  also 
in  der  Mitte  ein  Kreisrund,  aber  zwischen  den  radial 
gestellten  Trägern  erweitert  es  sich  zu  sechs  Ka- 
pellen ,  die  sich  abwechselnd  dem  Halbrund  oder 
dem  Dreieck  mit  kleinern  Apsiden  an  der  Spitze 
nähern,  während  der  Eingang  und  der  Altar  (in  der 
Mittelaxe  des  Hofes  gelegen)  noch  fernere  Erweite- 
rungen veranlassen.  In  der  Mitte  der  Kuppelwölbung 
erhebt  sich  die  breite  Laterne  mit  vier  gestreckten  nach 
Oben  sich  verjüngenden  Fenstern  und  nimmt  nach 
Aussen  durch  sechs  Paare  gekuppelter  Säulen  auf 
vorspringendem  Postament  und  ebenso  vorgekröpf- 
tem Gebälk  die  Betonung  der  tragenden  Teile  auf, 
zwischen  denen  der  Mauerkörper  sich  in  ebenso 
energischer  Kurve  nach  einwärts  schwingt  wie  Kup- 
peldach und  Mauerkörper  sich  nach  Aussen  runden. 
In  schwülstigen  Kandelabern  klingt  dieser  Hochdrang 
aus  und  begleitet  dahinter  die  schneckenförmige 
Windung  der  Helmpyramide ,  die  mit  ihrem  Balu- 


Francesco  Borromini 


259 


stradenrand  aus  diesen  Drehungen  und  Kuppelkrö- 
nungen zuletzt  eine  wirkliche  Krone  mit  eiförmiger 
Spitze  entwickelt. 

Borromini  greift  also,  dem  Eindruck  der  Massen- 
bewegung und  des  Hochdrangs  zuliebe,  zur  Nach- 
ahmung der  elastischen  Ausdehnung  und  Einziehung 
eines  organischen  Körpers,  wie  wir  es  beim  Ein-  und 
Ausatmen  unsrer  Lunge  fühlen.  Systole  und  Dia- 
stole_\vechseln  mit  einander  ab  und  bilden,  in  immer 
schnellerem  Tempo  aufsteigend,  die  Geschosse  immer 
leichter  und  schlanker,  aber  auch  immer  plastischer  ins 
Einzelne  gehend  und  die  Füllung  zur  vollen  Durch- 
sichtigkeit verdünnend,  bis  zum  letzten  Atemzug  im 
Jubelschrei  des  Gipfels.  Die  ]\Iauer  wird  als  bild- 
same Masse  beliebig  konvex  oder  konkav  geschwun- 
gen,  je  nach  dem  es  auf  ein  strotzendes  Schwellen 
und  Aufblähen  oder  auf  ein  angestrengtes  Zusam- 
menraffen und  Einziehen  ankommt,  und  die  Wieder- 
holung homologer  Glieder,  wie  sie  an  unserm  orga- 
nischen Leibe  in  steigender  Vervollkommnung  auf- 
tritt,  vollzieht  sich  jener  Hauptbewegung  von  Innen 
her  entsprechend  in  massigeren,  schwerfälligeren,  un- 
vollständig ausgebildeten  Gliedern  unten,  und  plasti- 
scher durchgebildeten ,  fertig  klaren ,  verfeinerten 
Organen  oben.  Das  Körpergefühl  ist  überall  die 
Quelle  der  Erfindung,  und  die  letzte  Instanz  der  Ge- 
staltung, also  bildnerisches  Schaffen,  die  Grundlage 
des  architektonischen ,  und  die  Körperbildnerin  Pla- 
stik beherrscht  die  Raumbildnerin  so  vollständig,  dass 
die  Sprache  tektonischer  Gesetzmäfsigkeit  durchweg 
ganz  zurücktritt,  ja  vergessen  wird. 

17* 


260 


Glanzperiode  und  Umschwung 


So  erst  verstehen  wir  auch  das  Innere  wie  das 
Äussere  des  berüchtigten  Baues  von  S.  Carlo  alle 
quattro  fontane  (1667).  Borromini  bildet  auch  hier 
den  Kirchenraum  aus  dem  Oval,  aber  so,  dass  Ein- 
gang und  Hochaltar,  also  die  Bewegungsrichtung  in 
die  längere  Axe  fällt  (wie  schon  der  schmale  Bauplatz 
an  der  Strassenecke  nahe  legte).  Aber  zwischen  den 
festen  Gränzpunkten  der  beiden  Axen  schwingen  sich 
die  verbindenden  Kurven  an  ihrer  Mitte  nach  ein- 
wärts, nur  an  der  Queraxe  bleiben  nahezu  halbkreis- 
förmige Kapellenräume,  wie  Anläufe  zu  Kreuzarmen 
stehen ,  während  sich  der  Anfang  des  Langhauses 
gegen  den  Eingang  zuspitzt,  sein  Ende  in  flachbogiger 
Altarnische  schhesst.  Vor  die  geschwungenen  Wände 
stellen  sich  an  jedem  Wendepunkt  der  Grundlinie 
korinthische  Säulen  auf,  die  das  Gebälk  und  darüber 
die  in  Korbform  gehaltenen  Scheidbogen  der  Ka- 
pellen tragen.  Über  deren  Scheitel  zieht  sich  ein 
Gurtgesims,  auf  dem  die  ovale  reichkassettierte  Kuppel 
mit  ihrer  breiten,  allein  das  Licht  spendenden  La- 
terne sich  empor  wölbt.  Die  mannichfachsten  Raum- 
formen drängen  sich  hinter  dem  Innern  und  schieben 
sich  ineinander,  jeden  Winkel  des  Bauplatzes  neben 
der  gradlinigen  Parcelle  des  anstossenden  Klosters 
für  die  praktischen  Erfordernisse  des  Kirchendienstes 
auszubeuten.  Die  Fassade  besteht,  der  innern  Be- 
wegung entsprechend,  aus  einer  dreifachen  Kurve, 
die  sich  in  der  Mitte  nach  auswärts,  an  den  Seiten 
einwärts  schwingt.  Vor  den  Wendepunkten  dieser 
Grundlinie  stehen  wieder  Säulen  in  beiden  Stock- 
werken  übereinander   und   tragen   das  ebenso  ge- 


Francesco  Borromini 


261 


schwimgene  und  nach  vorn  sich  bäumende  Konsolen- 
gesims,  das  im  Oberbau  abbricht,  um,  von  Engeln 
getragen,  vom  Volutengiebel  zwischen  der  Balustrade 
umspannt,  ein  Medaillon  zu  fassen,  das  die  aufrechte 
Ovalform  noch  einmal  wie  im  Triumph  über  dem 
Ganzen  erhebt.  Die  Wandflächen  zwischen  diesem 
Aufbau  sind  in  beiden  Stockwerken  wieder  zwei- 
geschossig ,  nur  die  oberste  konkave  Felderreihe 
bleibt  geschlossen;  darunter  öffnen  sich  tiefe  Nischen 
für  Statuen  an  den  Seiten,  während  die  Mitte  einen 
Pavillon  gebiert,  der  selbst  wieder  ,,wie  ein  Schil- 
derhaus" mit  dunkler  Öffnung  an  Stelle  eines  Mittel- 
fensters hinter  der  Balustrade  steht.  Im  Erdgeschoss 
sitzen  oben  drei  Nischen  mit  Statuen,  in  der  Mitte 
S.  Carlo  von  Engelflügeln  beschirmt,  darunter  der 
Eingang  und  seitUch  zwei  ovale  Fenster  in  Kartou- 
chen ,  wieder  wie  im  Obergeschoss  von  Säulen  mit 
einwärts  und  abwärts ,  oder  aufwärts  und  auswärts 
schwingendem  Gebälk  begleitet.  ,,Es  ist  unmöglich," 
schreibt  der  Architekt,  der  dies  Wunderwerk  ge- 
feiert hat,  ,,all  das  wirre  Detail,  all  die  gezierten 
Einzelheiten  bis  hinauf  zu  der  treppenförmigen  Spitze 
der  Laterne  zu  schildern.  Zum  Überfluss  ist  dem 
Ganzen  noch  seitlich  ein  übereck  stehender  Turm 
angefügt,  der  in  keiner  Linie  mit  der  Fassade  stimmt, 
so  dass  an  ihm  sich  die  Profile  hart  und  unkünst- 
lerisch totlaufen."  Da  diese  Zutat  nur  der  perspek- 
tivischen Wirkung  des  Baues  an  der  Strassenecke 
zuliebe  (über  ihrem  dekorativen  Wandbrunnen  von 
Fontana)  hinzugefügt  worden,  so  erhellt  grade  aus 
ihrem  Missverständis    die  Eigenart    des  Borromini, 


262 


Glanzperiode  und  Umschwung 


bei  dem  die  plastische  Absicht  mit  ihrem  Formen- 
gedränge und  ihren  starken  Kontrasten  von  Licht 
und  Schatten  stets  die  Oberhand_behäl^über  die 
malerischen  Ausgleichungen  und  über  das  Gefühl 
für  Übergänge ,  das  bei  andern  Zeitgenossen  auch 
in  der  Baukunst  so  fortschreitend  sich  ausgebildet 
hat.  Der  Eindruck  der  Bewegung  ist  eben  nicht 
ohne  Weiteres  das  Malerische ,  ebenso  wenig  wie 
dies  vom  stark  schattenden  Relief  als  solchem  schon 
gesagt  werden  darf ;  aber  Beides  kann  malerisch 
werden,  wenn  die  Auffassung  den  Zusammenhang 
zwischen  körperlichen  und  räumlichen  Faktoren  als 
die  Hauptsache  zu  betrachten  lernt.  (Vgl.  das  „Mo- 
tiv der  Deckung"  bei  Wölfflin,)  Vergleichen  wir 
in  diesem  Sinne  die  Fassade  Borrominis  an  S.  Carlo 
mit  der  Leistung  des  Carlo  Rainaldi  an  S.  M.  in 
Campitelli,  so  leuchtet  bei  aller  Verwandtschaft  doch 
der  Unterschied  des  Standpunktes  ein.  Die  Lang- 
seite der  Piazza  Campitelli  bietet  sich  fast  ihrer 
ganzen  Breite  nach  der  ruhigen  Anschauung  dar, 
und  die  schlichten  Hausfassaden  zur  Seite  der  Kirche 
leiten  zur  flächenhaften  Auffassung  hin.  Beim  An- 
blick von  S.  Carlo  alle  quattro  fontane  bestimmt 
uns  immer  die  schräge  Strassenperspektive,  die  Fas- 
sade wirkt  als  KouHsse  oder  als  vorübergehende  Er- 
scheinung, aber  nicht  als  Relief  bild  von  vorn  auf  die 
Mitte  gesehen.  Ja  die  Aufnahme  von  diesem  Stand- 
punkt wie  der  Kupferstich  sie  bietet,^)  aus  der  per- 

i)  Insignium  Romae  Templorum  Prospectus  a  Jo.  Jacobo  de 
Rubels  Romano  .  .  .  Anno  1684,  vgl.  dagegen  die  Aufnahme  F.  O. 
Schulzes  bei  Gurlitt. 


Francesco  Borromini 


263 


spektivischen  Fluchtlinie  herausgerissen ,  offenbart 
unerbittlich  den  Charakter :  es  ist  ein  Bravourstück 
raffinierter  Dekoration. 

So  kann  Borromini  auch  nicht  seine  besten 
Gaben  verwerten,  wenn  ihm  nur  die  Gestaltung 
einer  Aussenwand  ohne  Zusammenhang  mit  dem 
ganzen  Baukörper  und  seinem  Innenraum  zugemutet 
wird,  wie  am  CoUegio  di  Propaganda  Fide  (Falda, 
Teatro  I,  9)  oder  am  Oratorio  di  S.  Filippo  Neri 
neben  der  Chiesa  Nuova^),  mit  dem  auch  wol  der 
Uhrturm  am  Hause  der  Padri  di  S.  Filippo  Neri  an 
Piazza  Monte  Giordano  zusammenhängt  (Falda, 
Teatro  I,  22).  Während  er  drinnen  hinter  der  Kirche 
S.  Maria  in  VaUicella  das  Refektorium  wieder  in 
ovaler  Form  mit  zahlreichen  Nebengelassen  vortreff- 
Hch  in  den  beengten  Überrest  des  Bauplatzes  hinein- 
passt-),  schafft  er  an  der  Aussenseite  mit  ein-  und 
ausgeschwungenen  Wänden,  auf-  und  abwogenden 
Giebeln  und  ebenso  konsequent  nun  auch  in  Be- 
wegung geratenem  Kranzgesimse  das  Vorbild  für 
den  Palastbau,  wie  er  selber  an  Palazzo  Falconieri, 
selbst  im  Hofe,  noch  nicht  gewagt  hatte,  wol  aber 
sein  eifrigster  in  Rom  vereinzelt  auftretender  Nach- 
folger Gabriele  Valvassori  im  Ausbau  des  Pal.  Doria- 
Pamfili  am  Korso,  dessen  Hauptflügel  am  Platz  des 
Collegio  Romano  am  ehesten  noch  auf  Borrominis 
eigene  Rechnung  gehört  (bei  Falda,  I,  18  schon  1665 
vgl.  I,  27),  —  Auf  den  Vorübergehenden  üben  diese 


1)  Bei  de  Rossi  a.  a.  O. 

2)  Letarouilly,  Edifices  de  Rome  moderne,  I,  109. 


264 


Glanzperiode  und  Umschwung 


geschwungenen  Mauerflächen  einen  eigentümlichen 
Eindruck.  Werden  schon  auf  den  ersten  BUck  ,,die 
homogenen  BaugUeder,  z.  B.  alle  Fenstergiebel,  alle 
Kapitelle  desselben  Ranges,  dem  Beschauer  unter  ganz 
verschiedenen  Gesichtspunkten  vorgeführt,  sieht  er  also 
gleichartige  Formen  gleichzeitig  unter  verschiedenem 
Winkel"  (Burckhardt),  so  wirken  schon  viele  Anwei- 
sungen auf  die  dritte  Dimension  mit  ihrem  Anreiz  zum 
Vollzug  in  der  Vorstellung,  wie  wir  ihn  sonst  beim  Ver- 
folg der  Ortsbewegung  erleben.  Gehen  wir  nun  wirk- 
lich, oder  kommen  an,  ohne  einen  ruhigen  Standpunkt 
zu  finden,  wo  in  der  Uberschau  des  Ganzen  seine  klare 
Gesetzmäfsigkeit  im  Beharren  erfasst  werden  könnte, 
so  entsteht  für  das  Auge  ein  äusserst  lebhafter  Be- 
wegungseindruck, den  die  Einbildungskraft  sofort  auf- 
nimmt und  mit  Erinnerungsbildern  der  Bewegungsvor- 
stellung verbindet.  So  ist  denn  die  Wirkung  die,  dass 
z.  B.  Säulen  die  nach  verschiedenen  Axen  orientiert 
sind,  sich  beständig  zuwenden  und  zu  drehen  scheinen. 
Man  glaubt,  ein  wilder  Taumel  habe  plötzlich  alle  Glie- 
der ergriffen"  (Wölfflin).  Aber  es  ist  wichtig,  sich  klar 
zu  machen,  dass  weder  die  Absicht,  noch  die  Wir- 
kung eine  ,, malerische"  genannt  werden  darf.  Die 
beste  Probe  dafür  ist,  dass  keine  Abbildung  auf 
der  Fläche  den  Beschauer  befriedigt,  der  den  An- 
blick des  Originalwerkes  selber  erlebt  hat  und  in 
der  Erinnerung  aufbewahrt.  Man  betrachte  nur  ein 
Mal  die  Fassade  von  S.  Vincenzo  ed  Anastasio  bei 
Fontana  Trevi  mit  ihren  gegen  das  Portal  hin  en 
echelon  aufgestellten  Säulen  von  Martino  Lunghi 
dem  Jüngern  (1650)  in  dem  Stich  bei  Falda  (Lib. 


Francesco  Borromini 


265 


III,  23)  oder  im  Holzschnitt  (nach  Fr.  O.  Schulze) 
bei  Gurlitt.  Bei  der  Betonung  der  Breitenaxe,  die 
sich  bei  solchen  Bauten  von  selbst  ergiebt,  also  auf 
dem  malerischen  Standpunkt  ihnen  gegenüber,  voll- 
zieht sich  ausserdem  im  Eindruck  der  gewohnten 
Einzelformen  ein  bemerkenswerter  Wandel.  Wo  bei 
der  Vorherrschaft  der  Vertikale  nur  Empordringen 
der  Kraft  zu  spüren  war,  da  stellt  sich  jetzt  der 
Schein  des  Schweren  und  Lastenden  ein,  —  eine 
Gefahr  wie  sie  vorher  schon  im  Innern  der  Lang- 
hausbauten hervorgehoben  wurde,  die  nur  durch 
Kürzung  der  Fluchtlinien  links  und  rechts  vermieden 
ward.  Hier  nun  will  selbst  der  Giebel  sich  nicht  mehr 
heben,  sondern  droht  dem  eignen  Gewichte  folgend 
herabzusinken,  so  dass  eine  Brechung,  ein  Wechsel 
der  Richtung,  ein  Gewoge  als  Ausdruck  spontanen 
Lebens  zur  Woltat  wird  für  das  ästhetische  Gefühl. 

,,Das  sind  die  Künste  des  Borromini",  ruft  Wölff- 
lin  aus;  aber  auch  nur  seine.  Denn  sehen  wir  uns 
um,  wer  in  Rom  derselben  Richtung  angehört  oder 
seinem  Beispiel  folgt,  so  ist  es  ausser  seinen  ober- 
italienischen Landsleuten  Martino  Lunghi,  dem  | 
Jüngeren  (f  1657)  und  Carlo  Fontana  (1634 — 1714)^)  i 
oder  Gabriele  Valvassori  kaum  Einer  von  nennens- 
wertem Namen.  Wirklich  tonangebend  wird 
Borromini  für  die  Baukunst  erst  ausser- 


I)  Von  ihm  ist  die  Fassade  an  S.  Marcello  al  Corso  1683, 
wo  die  Voluten  schon  durch  Pahnzweige  ersetzt  sind.  Vgl.  auch 
seinen  früheren  Bau  S.  Biagio  e  B.  Rita  alla  Scala  d'Araceli  bei 
Falda  I,  11  (also  vor  1665). 


266 


Glanzperiode  und  Umschwung 


halb  Roms,  besonders  in  seiner  Rückwir- 
kung auf  die  lombardische  Heimat  und 
Alles,  was  jenseits  der  Alpen  auf  diesem 
Wege  den  Barock  empfängt.  Rom  selbst 
war  noch  immer  viel  zu  monumental  gesonnen, 
und  die  nächste  Zukunft  gehörte  nicht  dem  bild- 
nerischen Drang,  der  Borrominis  beste  Kraft  beseelte, 
oder  dem  plastischen  Schwulst,  zu  dem  seine  Nach- 
folger ihn  übertrieben,  sondern,  wenn  nicht  alle 
Zeichen  trügen,  —  einer  andern  Richtung,  in  der 
Bernini  grade  seine  glänzendsten  Gaben  bewährte, 
während  sein  Nebenbuhler,  verzweifelt  gegen  ihn  auf- 
zukommen, durch  Selbstmord  vom  Schauplatz  Roms 
verschwand. 

Wem  es  aber  darauf  ankommt,  die  Richtung 
des  Zeitgeschmackes  und  seinen  fortschreitenden  Um- 
schwung zunächst  in  Rom  allein  zu  verfolgen,  der 
muss  auch  mit  vorurteilsfreiem  Auge  die  Dekoration 
der  Innenräume  prüfen,  wo  die  Raumgestalterin 
Architektur  sich  aufs  Innigste  mit  den  Schwestern, 
der  Plastik  und  der  Malerei,  verbündet  und  eine 
Einheit  zu  erreichen  trachtet,  deren  Charakter  sich 
deutlich  verändert,  sobald  hier  die  Eine,  dort  die 
Andre  dieser  Genossinnen  das  Ubergewicht  über  die 
rein  architektonische  Schöpfung  erlangt. 

Die  plastischen  Grundgedanken,  denen  Michel- 
angelo die  Baukunst  dienstbar  gemacht  hatte,  indem 
er  den  ganzen  Bau  gleichsam  als  organischen  Körper 
aus  bildsamer  Masse  herausmodellierte,  oder  doch 
im  Wachstum  daraus  hervor  darzustellen  suchte,  sie 


Dekorative  Kunst 


267 


vertrugen  sich  wenig  mit  einer  sorgfältigen  Klein- 
arbeit, die  schon  die  letzten  Meister  der  Hoch- 
renaissance um  so  mehr  abzustreifen  gesucht  hatten, 
je  besser  sie  die  monumentale  Grofsheit  der  Römer- 
kunst zu  verstehen  gelernt.  Selbst  die  Säulen  und 
Pfeiler,  die  Nischen  und  Wandfelder,  die  Gebälke 
und  Giebel  mussten  bei  dieser  Auffassung  ihre 
Selbständigkeit  verUeren  und  in  viel  bestimmterem 
Sinne  als  Glieder  in  den  organischen  Zusammen- 
hang des  Ganzen  eingehen.  Und  in  dem  ange- 
strengten Ringen  und  Streben,  in  dem  energischen 
Ausdruck  eines  Affektes,  ja  eines  gegensätzlichen 
Fortschrittes  von  Unten  nach  Oben,  mussten  die 
Einzelformen  ihr  eignes  Wesen  um  dieses  Mäch- 
tigeren willen  zeitweilig  sogar  verläugnen  oder,  in  eine 
Zwangslage  gebannt,  das  Gegenteil  ihres  ursprüng- 
lichen Charakters  bedeuten.  So  treten  die  Säulen- 
stämme unter  das  Joch  und  werden  in  die  Wand 
eingeschachtelt  wie  Gefangene,  so  klemmen  sich 
die  Nischen  in  die  Mauer  und  drängen  gequetscht 
empor  bis  sie  an  Querlagen  sich  stossen.  Diese 
neue  Formensprache,  die  überall  ein  hochgesteigertes 
Innenleben  verkündet,  wie  die  plastischen  Gestalten 
des  gewaltigen  Bildners  selbst,  bedarf  nun,  nachdem  sie 
durchgedrungen  ist  und  als  Gemeinsames  wiederholt 
wird,  auch  im  kleineren  Gebilde  schon  einer  intimeren 
Befriedigung  des  subjektiven  Formgefühles,  als  die 
Antike  sie  je  versucht  hat,  und  nähert  sich  immer  be- 
wusster  der  Gebärdensprache  und  dem  Mienenspiel  des 
besonderen  Sinnes,  d.  h.  der  mimischen  Beweglichkeit 
und   variablen   Natur    eines    psychologischen  Vor- 


268 


Glanzperiode  und  Umschwung 


gangs,  der  im  Grunde  nur  successiv  erfasst  wird, 
als  Evolution,  und  seinem  eigentlichen  Wesen  nach 
transitorisch  bleibt.  Statt  der  ruhigen  Beharrung 
und  klaren  Harmonie  tritt  die  lebendige  Bewegung 
ein  und  die  vorwärtsdrängende  Dissonanz. 

Diese  Richtung  vervielfältigte  sich,  wenn  statt  des 
Hochdrangs  allein,  der  nur  im  Centraibau  den  ganzen 
Körper  einheitlich  durchdringen  kann,  nun  die  Tiefen- 
entfaltung hinzutrat,  die  durch  Anfügung  eines  Lang- 
hauses an  den  Kuppelraum  gefordert  ward.  Die  fort- 
laufende Reihe  der  Pfeilerarkaden  mit  Gebälk  und 
Attika  darüber  drängt  freilich  hüben  wie  drüben  in 
lauter  Vertikalen  nach  Oben,  findet  aber  im  Tonnen- 
gewölbe nicht  allein  die  Verbindung  und  Ausglei- 
chung der  Langseiten  mit  der  wachsenden  Wucht 
ihrer  Massen,  sondern  empfängt  darin  auch  eine  ent- 
schiedene Betonung  der  durchgehenden  Bewegungs- 
axe,  der  Richtung  in  die  Tiefe,  und  gewinnt  so 
erst  die  Beziehung  auf  das  weitere  Ziel  in  Kuppel- 
raum und  Altarhaus,  die  zur  Herstellung  einer  ge- 
schlossenen Einheit  auch  mit  diesen  Teilen  des 
Baues  treibt.  Diese  Einheit  aber  kann  nur  an  der 
Leitungsbahn  der  Bewegungsaxe  des  menschlichen 
Körpers  und  an  der  Hand  der  vorwärts  gerichteten 
Blicke  geschaffen  werden;  d.  h.  im  Anschluss  an 
Ortsbewegung  und  Blickbewegung  erlangt  auch  die 
Perspektive  ihre  Macht.  Sie  äussert  sich  schon  in 
der  Lichtführung,  im  Fortschritt  der  Intensitätsgrade, 
die  wir  in  der  Beleuchtung  des  Gesü  und  aller  fol- 
genden Kirchenbautea  wie  S.  Andrea  della  Valle, 
S.  Pietro,  S.  Ignazio,  S.  Maria  in  CampitelU  beobachtet 


Dekorative  Kunst 


269 


haben.  Aber  auch  die  rem  formale  Gestaltung 
ergiebt  unter  dem  Einfluss  dieser  Blickbahn  in  die 
Tiefe  eine  andre  Wirkung,  als  jede  Abteilung,  nur 
im  Sinne  des  Hochdrangs  betrachtet,  ursprünglich 
als  gewollten  Charakter  ausprägt.  Die  Längsrichtung 
im  Verfolg  des  durchgehenden  Gebälks,  des  Kämpfer- 
simses, der  Tonnenwölbung,  giebt  all  diesen  Wage- 
rechten eine  fühlbare  Schwere,  die  dem  Hochdrang 
der  Pilaster,  der  Hermen,  der  Arkaden  und  Fenster 
widerstrebt.  Wird  jeder  Abschnitt  dieses  Aufbaues 
aber  durch  Sonderung  verselbständigt,  durch  Ver- 
kröpfung  des  Gebälks  über  den  Hauptträgern  die 
Fluchtlinie  unterbrochen,  so  bedeutet  das  eine  Auf- 
lockerurig des  strengen  Zusammenhangs,  der  Ge- 
schlossenheit des  Raumgebildes  aus  einer  einheit- 
lichen Masse.  Und  so  entsteht  für  den  perspek- 
tivischen Anblick,  der  diese  Raumeinheit  wesentlich 
aufrecht  erhalten  soll,  eine  andre  Wirkung,  die  der 
Plastiker  zunächst  garnicht  will:  die  Zusammen- 
schiebung der  Formen  hintereinander,  so  dass  die 
ferneren  in  immer  stärkerer  Verkürzung  erscheinen. 
Grade  die  Verkröpfungen  decken  sich  zuerst,  und 
die  Formenfülle,  die  sich  im  Hochdrang  nach  Oben 
wirft,  bietet  sich  dem  Auge  des  Betrachters  bei 
ruhigem  Stillstehen  neben  bestimmten  Formen  als 
eine  wulstige  unverständliche  Masse,  im  Vorüber- 
gehen aber  als  ein  fortlaufendes  Geschiebe,  aus  dem 
organische  Gebilde  hervorwachsen  um  wieder  zurück- 
zuschwinden,  ein  Werden  und  Vergehen  also,  das 
—  über  der  gewöhnlichen  Blickhöhe  sich  vollziehend  —  i 
chaotisch  bleibt.    Je  einheitUcher  der  Raum  als  ein 


270 


Glanzperiode  und  Umschwung 


plastisches  Geschöpf  gestaltet  ist,  desto  schlimmer 
werden  diese  Folgeerscheinungen:  der  Verzicht  auf 
geometrische  Klarheit  und  unverrückbares  Ausein- 
anderhalten der  kubischen  Verhältnisse  raubt  unserm 
Raumgefühl  seinen  Halt,  die  notwendige  Voraus- 
setzung ästhetischen  Genusses. 

Diese  Einheit  plastischer  Gliederung  wurde  jen- 
seits der  Gebälkhöhe  sowie  der  vermittelnden  Attika 
dann  gewöhnlich  durch  die  Fortführung  der  näm- 
lichen Organisation  an  der  flachen  Decke  oder  am 
Deckengewölbe  erreicht.  Die  senkrechten  Graden 
der  Pilasterordnung  und  Rundbogenarkaden  da- 
zwischen entsenden  ihre  charakteristischen  Vertreter 
hinauf,  und  es  entstehen  schematisch  zunächst  und 
deshalb  unbefriedigend  im  organischen  Sinne  die 
Gurtbänder  als  Verbindung  der  Vertikalen  und  die 
kreisförmigen  oder  elliptischenRahmungen  dazwischen. 
Verschränkung  der  rechtwinkligen  Bestandteile  und 
der  Kreissegmente  führt  zu  den  gebrochenen  Rahmen 
und  Kartouchen.  Aber  eine  Befriedigung  des  plas- 
tischen Sinnes  tritt  auch  hier  erst  ein,  wenn  der 
Schein  des  Wachstums  eines  Elementes  aus  dem 
andern  gewonnen  wird.  Gleichzeitig  aber  regt  sich 
das  Bedürfnis,  auch  den  Hochdrang  dieses  Wachs- 
tums auszuprägen.  So  wurzelt  die  Rahmenform 
fester  auf  Gebälk  oder  Attika  und  Gesimsrand,  und 
umspannt  die  ganze  Breite  der  zugehörigen  Glieder 
des  Joches,  um  nach  Oben  gegen  den  Höhepunkt 
des  Tonnengewölbes  oder  gegen  die  Mittelaxe  der 
Deckenlage  sich  zuzugipfeln,  wie  eine  Baumkrone 
nach  Oben  sich  verjüngt  oder  ein  mächtiges  Blatt 


Dekorative  Kunst. 


271 


nach  dem  einen  Ende  sich  zuspitzt.  Soweit  mochte 
auch  die  strenge  Architektur  unter  der  Führung 
eines  Giacomo  della  Porta  gedeihen. 

Nun  aber  regt  sich  unter  den  oberitaUenischen 
Meistern,  die  dann  die  Oberhand  gewinnen,  die  alte 
VorUebe  der  Renaissance  für  die  Selbständigkeit  der 
Glieder,  und  das  Idealgebilde  der  freien  Säule  wagt 
sich  immer  häufiger  wieder  hervor.  Mit  ihr  kehrt 
die  Heiterkeit  genuesischer  Paläste ,  der  Formen- 
reichtum der  Nachbarprovinzen  nach  Rom  zurück, 
und  eine  neue  Auflockerung  der  Baumasse  wird  die 
unvermeidliche  Folge  auch  im  Innenraum.  Der 
Säule,  dem  plastisch  selbständigsten  Geschöpf  der 
Baukunst,  schliessen  sich  in  den  höheren  Regionen, 
in  den  Zwickeln  der  Arkaden,  auf  den  Simsen  und 
neben  den  Kartouchen  nun  Figuren  nach  dem  Eben-  # 
bilde  des^  M£nschen  an ,  und  ersetzen  wol  gar  die  / 
Volute,  dies  charakteristische  Gebilde  des  eigent-- 
liehen  Barock.  Sie  werden  zu  lebendigen  Trägern 
frei  schwebender  Guirlanden ,  die  in  reizvollen  Be- 
wegungslinien die  Vermittlung  zwischen  den  Wänden 
herstellen  und  dem  Auge  die  angenehmsten  Blick- 
bahnen gewähren.  Das  ist  die  Kunst  des  Pietro  da.  1 
Cortona,  aus  der  sich  die  weiteren  Fortschritte  samt  ' 
und  sonders ,  wenn  auch  in  langsamem  Fortschritt, 
erst  ergeben.  Sehr  entscheidend  ist  auch  hier  die 
Unterordnung  des  Figürlichen  unter  die  Forderungen 
der  Komposition  des  Ganzen:  wie  die  Säulen  und 
Nischen  in  allen  Grössen  verwertet  werden,  so  wech- 
seln auch  die  menschenähnUchen  Gestalten  ihren 
Mafsstab  zwischen  dem  Kolossalen  und  dem  Win- 


272 


Glanzperiode  und  Umschwung 


zigen ,  besonders  langgestreckte  Engelburschen  und 
zwerghafte  Kinder  wohnen  bald  so  friedlich  bei  ein- 
ander wie  Michelangelos  Moses  zwischen  den  beiden 
Frauen  am  Grabmal  Julius'  II. 

Je  mehr  der  daseinsfröhliche  Sinn  der  Renaissance, 
die  Weltfreude  nach  dem  ernsten  Druck  wieder 
durchbricht,  desto  mehr  vermenschlicht  sich  der 
Mafsstab,  desto  mehr  besinnt  sich  auch  die  Bildner  ei 
wieder  auf  ihr  eignes  humanes  Wesen ;  aber  die 
Beispiele,  wo  sie  selbständig  auftritt,  sind  noch  sehr 
selten.  Fast  überall  steht  sie  im  Dienst  der  Archi- 
tektur und  wird  so  zur  Dekoration,  d.  h.  Bestandteil 
eines  grösseren  Ganzen:  der  geschmückten  Wand 
aussen,  oder  des  Innenraums. 

Solange  noch  in  diesem  Ganzen  das  Prinzip  der 
plastischen  Gestaltung,  das  wir  als  Seele  des  eigent- 
lichen Barockstils  betrachten,  die  Herrschaft  behält  und 
damit  die  Vertikale  dominiert,  ergiebt  sich  auch  für 
den  Figurenschmuck  eine  natürliche  Abstufung,  wie 
in  der  Wiederholung  homologer  Glieder  in  immer 
vollkommnerer  und  verfeinerterer  Form  von  Unten 
nach  Oben,  oder  von  den  Seiten  nach  der  Mitte  zu. 
Sowie  aber  die  Verselbständigung  der  Teile  zu  viel- 
gliedriger  Harmonie  nach  dem  Sinne  der  Renaissance 
zurückkehrt,  entsteht  natürUch  ein  Konflikt  in  der 
Verteilung  der  Werte.  Und  so  erklärt  sich  ,,das 
Missverhältnis  der  Dekorationsweisen  zu  einander", 
das  Jakob  Burckhardt  als  Hauptübel  bezeichnet,  — 
wie  für  die  Architekturformen,  so  für  die  plastische 
Dekoration  zunächst. 

Ein  weiterer  Schritt  zur  Ausgleichung  ergiebt 


Dekorative  Kunst 


273 


sich  dann  durch  die  Verwendung  eines  bequemern, 
schnellfertigeren  und  billigeren  Materials ,  das  diese 
Gestaltenfreude  eher  befriedigt  als  Marmor  und  Bronze : 
der  Stuckmasse.  Damit  tritt  zunächst  allerdings  ein 
grelleres  Weifs  und  stralendes  Gold  an  die  Stelle; 
das  stärkere  Hervortreten  der  figürlichen  Bestandteile 
aus  den  dunkleren  Tönen  des  Baumateriales  und 
der  sonstigen  Wandbekleidung  stört  wieder  empfind- 
licher. Es  verletzt  das  Auge  ein  neues  Missverhältnis 
auf  dem  Gebiet  der  farbigen  Dekoration ,  das  in 
seinen  schreienden  Kontrasten  den  Mangel  an  aller 
Vermittlung  nicht  selten  so  stark  bemerkbar  macht, 
dass  der  Sinn  fürs  Malerische  völlig  zu  fehlen  scheint. 
Und  doch  sollte  man  meinen,  das  Auftreten  eines 
Malers  wie  Pietro  da  Cortona  müsse  für  die  Aus- 
gleichung der  heterogenen  Bestandteile  von  beson- 
derem Einfluss  gewesen  sein,  besonders  wo  er  nicht 
die  Ausschmückung  allein,  sondern  die  Raumgestal- 
tung selber  mit  übernahm.  Seine  Malereien  im 
Palazzo  Barberini ,  in  denen  die  gemalten  Nachah- 
mungen von  Stuckornamenten  eine  Rolle  spielen, 
seine  Ausstattung  der  Chiesa  nuova  (S.  M.  in  Val- 
licella)  mit  voll  ausgebildeten  Stuckfiguren ,  Kartou- 
chen  und  Übergangsgebilden  aller  Art,  seine  festliche 
Bereicherung  des  Innern  von  S.  Carlo  al  Corso,  und 
die  einheitliche  Durchführung  von  S.  Luca  e  Martina 
beim  Forum  haben  unstreitig  zur  Förderung  des 
malerischen  Gefühles  in  Rom  beigetragen.  Aber  es 
ist  unläugbar,  dass  auch  bei  ihm  das  Gemeinsame 
zwischen  den  drei  Künsten ,  die  in  seiner  Decken- 
dekoration zusammen  wirken,  vorwiegend  im  Bla- 
se hm  arsow,  Barock  und  Rokoko.  j[g 


1 


274 


Glanzperiode  und  Umschwung 


stischen  gesucht  wird.  Der  Schwung  der  Körper 
und  Linien,  die  Ersetzung  aller  Graden  durch  Kurven, 
besonders  durch  geschweifte  Diagonalbewegungen 
und  Gliederverschlingungen  sind  die  Grundzüge  sei- 
nes Verfahrens.  Nirgends  wird  das  Vortreten  starker 
Lichter  vor  dunkeln  Schatten  geopfert  oder  gemildert. 
Im  Gegenteil,  die  Vervielfältigung  der  Formlagen  im 
Widerspruch  mit  der  Natur,  ganz  nach  Analogie  der 
Häufung  tektonischer  Glieder,  wie  Dreiviertelsäule, 
Pilaster  nebst  begleitenden  Halbpilastern  u.  dgl.  ver- 
dankt wol  ihm  die  Einführung  in  diese  plastische 
Dekoration  und  damit  auch  in  die  Malerei,  besonders 
auch  der  Franzosen ,  die  sich  seinem  Vorbild  am 
eifrigsten  angeschlossen. 

Aber  das  Hauptmaterial,  das  jetzt  zur  Gestaltung 
der  tektonischen  wie  der  figürlichen  Gebilde  ver- 
wandt wird,  die  Stuckmasse,  gestattet  selbst  ja  ver- 
schiedene Grade  der  Mischung,  eine  Abstufung,  wie 
von  den  härtesten  Teilen  des  Knochengerüstes  zur 
Weichheit  des  Fleisches,  ja  zur  mannichfaltigen  Textur 
der  schwereren  und  der  leichteren  Stoffe;  selbst  zu 
Blumengehängen  und  flatternden  Bändern  wird  sie 
verwertet ,  und  eignet  sich  deshalb  vor  Allem ,  die 
Übergänge  zwischen  dem  Körperhaften  und  der 
Fläche  herzustellen,  d.  h.  von  der  dreidimensionalen 
Form  allmählich  in  die  zweidimensionale  Anschauung 
überzugleiten.  Die  Ausbeutung  dieser  Vorteile  für 
die  bildmäfsige  Ausgleichung  plastischer  Formen  im 
Innenraum  wäre  gewiss  schon  zeitiger  zur  Klarheit 
über  sich  selbst  gelangt,  wäre  nicht  in  Francesco 
Borromini  noch  einmal  ein  unläugbar  genialer,  wenn 


Dekorative  Kunst 


275 


auch  manchmal  verzweifelter  Vorkämpfer  des  plasti- 
schen Prinzips  dazwischen  getreten. 

Bei  Borromini  werden  alle  Bauglieder  zu  deko- 
rativen Hülfsmitteln  für  seine  Absicht  auf  den  Schein 
organischer  Gestaltung.  Er  verwendet  nicht  allein 
die  überlieferten  Ordnungen  willkürlich  zu  diesem 
Zweck,  den  Eindruck  lebendiger  Bewegung  zu  er- 
zielen, sondern  erfindet  neue  Einzelheiten,  die  aus- 
drücklicher noch  dazu  dienen  sollen.  Diese  Stellung 
Borrominis  als  Beweger  des  bildsamen  Stoffes  drängt 
sich  uns  in  jeder  Linie,  in  jedem  Schattenschlag 
seiner  Raumgebilde  wie  S.  Ivo  della  Sapienza  und 
S.  Carlo  alle  quattro  Fontane  entgegen ;  aber  sie 
wird  auch  durch  alle  seine  Altaranlagen  und  deko- 
rativen Aufbauten  bezeugt.  Hier  ist  es ,  wo  das 
Tabernakel  von  S.  Peter,  das  Bernini  1633  geschaffen, 
während  der  nächsten  Jahrzehnte  seine  fast  schon 
exotischen  Früchte  trägt.  Der  Aufbau  des  Hoch- 
altares besonders  wird  zum  Gegenstück  im  Innern 
für  die  Fassade,  und  von  selbst  ergiebt  sich  bei  dieser 
Perspektive  die  Ähnlichkeit  mit  Theaterbau  und 
Theaterdekoration,  die  der  Theoretiker  dieses  Zwei- 
ges, der  Jesuitenpater  Pozzo,  ganz  ruhig  eingesteht, 
und  ohne  die  wir  die  folgende  Entwicklung  des 
Stiles  durch  die  Bibbiena  hin  und  über  Guarini  ) 
hinaus  garnicht  zu  erklären  vermöchten.  Es  war  dann 
die  Deckenmalerei  eines  Genuesen  wie  GauUi  im  , 
Gesü,  und  des  Pozzo  selbst  in  S.  Ignazio ,  die  den 
Kirchenräumen  wieder  zur  Einheit  half,  freilich  in 
prunkvollem  Reichtum  und  auf  völHg  malerischer 
Grundlage. 

18* 


276 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Wenn  Borromini  im  zweiten  Hof  des  Palazzo 
Spada  seine  perspektivischen  Kenntnisse  an  einem 
Säulengang  dazu  verwertet,  dem  Besucher  eine  grö- 
fsere  Tiefe  vorzuspiegeln  als  wirklich  vorhanden  ist, 
und  deshalb  von  vollrunder  Ausführung  der  Bau- 
formen zur  ReHefprojektion  auf  die  Fläche  übergeht, 
nach  hinten  auch  den  Fufsboden  ansteigen  lässt  und 
alle  Verhältnisse  um  ein  Drittel  verkürzt^),  —  so  tut 
er  im  Grunde  damit  nichts  Anderes,  als  w^as  er  in 
Mailand  schon  von  Bramante  am  Chor  von  S.  Satiro 
gesehen  hatte.  Aber  sein  Kunststück  im  Palazzo 
Spada  blieb  ein  harmloser  Scherz  an  unverfänglicher 
Stelle  gegen  das  Bravourstück,  das  Bernini  mit  dem 
ganzen  Platz  von  S.  Peter  zu  veranstalten  wagte. 
Ins  Gebiet  der  Innendekoration  leitet  jedenfalls  eben 
deshalb  die  Prunktreppe  des  Vatikanischen  Palastes 
über,  ein  andres  Wunderwerk  Berninis,  die  berühmte 
Scala  regia.  Auf  einem  ungünstigen  Raumstreifen, 
dessen  Grundlinien  nach  hinten  leise  zusammenfliehen, 
benutzt  er  die  scheinbare  Verlängerung  der  Wände, 
stellt  koulissenartig  Säulen  davor,  um  den  Eindruck 
der  Raumtiefe  erst  recht  zu  verstärken ,  und  ver- 
ringert alle  Verhältnisse  wie  in  den  Theaterstrassen 
nach  hinten  zu.  Das  Tonnengewölbe  steigt  zwischen 
dem  graden  Gebälk  der  Säulen  mit  reicher  Kassetten- 
gliederung und  regelmäfsig  wiederkehrenden  Gurt- 
bändern an ,  in  der  Mitte  seines  Laufes  von  einem 
Podest  mit  hellem  Seitenlicht  unterbrochen,  wo  die 


i)  C.  Fontana,  II  tempio  Vaticano ,  p.  239.  Letarouilly, 
Tafel  243.  Grundriss. 


Dekorative  Kunst 


277 


Säulen  eng  aneinanderrücken  wie  am  Anfang.  Hier 
an  der  Stirnseite,  wo  als  Grundmotiv  des  Ganzen 
das  Bramantefenster  der  Sala  regia  erscheint,  d.  h. 
ein  Rundbogen  in  der  Mitte  auf  dem  graden  Gebälk 
der  eingestellten  Säulen,  —  halten  schwebende  Engel 
das  Wappen  des  Papstes  und  stossen  in  die  Posaune, 
während  auf  dem  vorbereitenden  Podest ,  zu  dem 
der  staunende  Besucher  auf  wenigen  sanften  Stufen 
emporgleitet,  dem  grossen  Fenster  gegenüber,  zur  Rech- 
ten der  Kaiser  Konstantin  zuRoss  denselben  Affekt 
versinnlicht,  nämlich  bei  der  stralenden  Erscheinung 
des  Kreuzes,  die  ihn  überrascht.  Das  Ross  fufst  mit 
den  Hinterbeinen  auf  einem  Sockel,  hebt  aber,  sich 
bäumend,  die  vorderen  hoch  in  die  Luft ;  der  sichere 
Reiter  wirft  sich  ebenso  zurück  und  begleitet  mit 
staunender  Gebärde  den  Aufblick  zur  Höhe,  —  wo- 
hin fragen  wir  vor  dem  Vorhang,  der  hinter  dem 
malerischen  Reiterbild  als  Folie  die  Wand  verhüllt, 
und  wären  zufrieden,  von  dieser  Draperie  nur  hinauf 
geleitet  zu  werden  zum  Licht,  das  wirkungsvoll  ge- 
nug durch  die  Scheiben  fällt ,  oder  zu  den  Wolken 
am  Himmel  draussen ,  die  es  verbergen ;  aber  da 
stösst  unser  Auge  noch  auf  eine  weitere  Vorkehrung, 
die  nur  auf  den  abziehenden  Gast  wirken  kann,  dem 
man  mit  Fackelschein  heimleuchtet :  ein  grosses  ver- 
goldetes Kreuz  in  der  Ecke  des  Fensters  oben,  die 
sich  dem  Kommenden  verbirgt.  So  reichen  sich  in 
dieser  Zeit  das  krasse  Wirklichkeitsbedürfnis  und  die 
naive  Theaterillusion  die  Hände  selbst  an  der  Schwelle 
des  apostolischen  Palastes,  und  die  Vision  des  Kon- 
stantin   für    den  Ankömmling  mischt  sich   für  den 


278 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Scheidenden,  wenn  er  an  jenem  Zeichen  droben 
achtlos  vorübereilen  sollte,  mit  einem  Anklang  an  die 
Vertreibung  Heliodors. 

Bei  solchen  Tendenzen  lässt  sich  von  vorn- 
herein vermuten,  dass  die  innere  Umgestaltung  einer 
Kirche  aus  den  Tagen  der  Frührenaissance,  wie 
S.  Maria  del  Popolo,  mit  ihren  bescheidenen 
Höhenmafsen  und  der  Gedrungenheit  aller  Formen, 
nur  völlig  missglücken  konnte.  Die  Lieblingskirche 
Sixtus' IV.  hat  dadurch  nur  die  Einheit  ihres  ursprüng- 
lichen Charakters  eingebüsst  und  ist  durch  alle  Er- 
leichterung und  Erhellung  des  Obergadens,  durch 
allen  Goldglanz  am  Hochaltar  und  flatternde  Engel 
überall  doch  kein  bezaubernder  Tempel  nach  dem 
Herzen  Alexanders  VII.  geworden.  Aber  unverkenn- 
bar ist  das  Verlangen  nach  mehr  Licht,  nach  Auf- 
hebung des  Drückenden  und  Beklemmenden,  nach 
freundUchen  Eindrücken  ringsum.  Einzelne  Heihg- 
tümer  in  besonderm  Räume  weifs  Bernini  freilich 
mit  Meisterhand  auf  die  raffinierte  Wirkung  für  den 
Augenschein  zu  berechnen.  In  den  Kapellen  von 
S.  Domenico  e  Sisto  ebenso  wieS.M.  della  Vitto- 
ri a  ordnet  er  für  seine  Skulpturen  eine  Art  Rundhalle 
an,  indem  er  die  Rückwand  nischenartig  zurücktreten 
und  vorn  eine  Säulenreihe  konvex  sich  vorschieben 
lässt.  Fällt  nun  wie  hier  durch  ein  eignes  Fenster  das 
Licht  aus  mögUchster  Nähe  auf  das  Bildwerk,  wol 
gar  durch  farbige  Glasscheiben,  die  unserm  Auge 
verborgen  sind,  auf  die  vergoldeten  Stralen  oder  die 
glattpolierten  Marmorflächen,  die  selbst  in  besondern 
Farben  gewählt  sind,  so  entsteht  wieder  jene  seit- 


r)ekorati\'e  Kunst 


279 


sam  gemischte  Wirkung,  die  damals  aufgeboten 
werden  musste,  um  des  Herzens  Härtigkeit  zur  gläu- 
bigen Andacht  fortzureissen.  In  die  visionäre  Er- 
scheinung selbst,  die  hier  gewollt  wird,  muss  sich 
ein  mögUchst  sinnfälliges  Quantum  stofflicher  Leib- 
haftigkeit hinein  retten,  wenn  sie  den  Künstler  wie 
seine  Gemeinde  befriedigen  soll.  Und  in  solchem 
farbigen  Helldunkel  offenbart  sich  das  Geheimnis 
der  Klosterzelle:  auf  einer  Wolkenmasse,  wie  auf 
schwellenden  Kissen  liegt  hier  eine  Nonne;  ,,in  hyste- 
rischer Ohnmacht,"  sagtBurckhardt,  ,,mit  gebrochenem 
Blick  streckt  sie  ihre  Glieder  von  sich,  während  ein 
lüsterner  Engel  mit  dem  Pfeil,  dem  Sinnbild  gött- 
licher Liebe,  auf  sie  zielt,"  —  das  ist  die  Verzückung 
der  heiligen  Teresa. 

Das  letzte  und  handgreiflichste  Dekorationsstück 
Berninis  ist  dann  seine Cattedra  di  S.  Pietro.  Dieser 
ideale  Tron  des  Apostelfürsten,  auf  den  seine  neu 
erwählten  Nachfolger  erhoben  werden,  ist  ein  riesen- 
hafter Aufbau  aus  kostbarem  Stein  und  vergoldeter 
Bronze,  aus  tektonischen  und  menschlichen  Gebilden, 
die  allesamt  phantastisch  unter  dem  ovalen  Mittelfenster 
der  Chortribuna  zusammengreifen,  durch  deren  gemalte 
Scheiben  die  Abendsonne  stralend  zwischen  goldgelben 
Wolken  die  Taube  des  heiligen  Geistes  über  dem 
Haupt  des  Gekrönten  erscheinen  lässt.  Auf  einem 
Steinsockel  stehen  die  gigantischen  Bronzegestalten 
der  vier  Kirchenväter  in  ihren  flutenden  Pontifikal- 
gewändern  und  halten  an  geschwungenem  Voluten- 
gestell den  ebenso  gewaltigen  Tronstul,  hinter  dessen 
Lehne   mit  jubelnden ,    Papstkrone   und  Schlüssel 


2S0 


Glanzperiode  und  Umschwung 


tragenden  Engelkindern,  mit  Wolkengeschiebe  und 
Sonnenstralen  aus  verschiedenem  Material,  die  Über- 
leitung zwischen  Freigruppe  und  Reliefwand  mit  dem 
AusbHck  in  das  Glasgemälde  dazwischen  vermittelt 
wird.  Es  giebt  kein  Beispiel,  in  dem  die  Verwandlung 
des  künstlerischen  Wollens  dieser  Zeit  so  unbezweifel- 
bar  versinnlicht  wäre  wie  hier:  die  letzte  abenteuer- 
lichste Steigerung  des  Hochdrangs,  von  übermensch- 
lichen Erdensöhnen  selbst  vollzogen,  aber  im  Taumel 
der  rauschenden  Bewegung,  die  doch  Beharrung  in 
Ewigkeit  bedeuten  will,  hinüberjauchzend  in  die 
Weite  des  Alls  da  draufsen,  durch  Wolken  zum 
Licht,  zum  Urquell  alles  Lebens  empor.  —  Das 
mochte  den  Zeitgenossen  wie  eine  höchste  Verwirk- 
lichung des  Gedankens  erscheinen,  den  man  als 
Seele  im  ganzen  Schaffen  Michelangelos  zu  ahnen 
gelernt,  denn  die  eigenste  Zutat  in  diesem  Motive, 
den  innersten  Hohn  dieser  Stulfeier  konnten  sie  nicht 
durchschauen,  wie  niemand  den  Balken  im  eignen 
Auge  sieht.  Statt  der  siegreich  schwebenden  Kuppel 
über  den  vier  Kreuzarmen  droben  wird  hier  von 
den  athletischen  Säulen  der  Kirche  ein  totes  Koloss, 
aus  Tronsitz  und  Sedia  gestatoria  zusammenge- 
wachsen, emporgeschwenkt  und  hoch  gehalten,  als 
wären  die  Kirchenväter  verkappte  Sesselträger  des 
Papstes  und  Matadoren  der  Arena  zugleich,  und  weil 
dies  pomphafte  Stück  Möbel,  das  ihren  Triumph 
ausmacht,  doch  nur  ein  schwerfälUger  Klotz  ist,  und 
mögen  sich  noch  so  viel  Stulanbeter  vor  ihm  beugen, 
so  ^  bleibt  nichts  Anderes  als  einleuchtender  Höhe- 
punkt übrig,  denn  die  Zuflucht  zum  heihgen  Geiste, 


Dekorative  Kunst 


281 


wenn  seine  Stralen  nur  gnädig  kommen  wollen 
und  die  liebe  Sonne,  die  auf  Gerechte  und  Ungerechte 
herniederscheint,  soviel  helfen  mag,  wie  man  sie 
braucht. 

Bernini  ,, bedarf  auch  des  irrationalen  Elementes", 
wo  er  während  seiner  späteren  Zeit  die  Ausschmückung 
freier  Plätze  mit  Brunnen  und  Bildwerken  unter- 
nimmt. In  der  grofsen  Brunnengruppe  der  Piazza 
Navona  ist  dies  ,,der  mit  unsäglicher  Schlauheit 
arrangierte  Naturfels",  aus  dessen  Höhlung  die  wilden 
Tiere  hervorschauen,  während  vorn  die  Flussgötter 
lagern.  Durch  diese  Beigabe  wird  das  Thema  selbst 
viel  geographischer  gefasst,  d.  h.  die  charakteristische 
Umgebung  der  Flüsse  selbst  hineingezogen,  nämlich  so 
wie  beim  Maler,  —  ich  erinnere  nur  an  Rubens.  Damit 
aber  verschiebt  sich  auch  die  Voraussetzung,  die  man 
als  selbstverständlich  aussprechen  zu  dürfen  glaubt, 
Bernini  ,, strebe  hier  nach  dem  Ausdruck  elemen- 
tarer Naturgewalten  im  Sinne  Michelangelos,  allein 
er  könne  statt  eines  blofsen  gewaltigen  Seins  auch 
hier  sein  Pathos  nicht  unterdrücken".  Diese  Fluss- 
götter am  Brunnen  sollen  und  w^oUen  überhaupt  keine 
Selbständigkeit  beanspruchen,  die  sich  von  Innen 
für  sich  allein  erklärt;  sie  sind  hier  in  ihre  zugehörige 
Umgebung  zwischen  die  Tiere,  die  Pflanzen  ihres 
Landes  gesetzt,  dessen  Geschichte  somit  auf  sie 
zurückwirkt,  und  das  flüssige  Element  zu  ihren  Füfsen, 
wie  der  Fels  in  ihrem  Rücken  stellen  vollends  den 
Zusammenhang  her.  Ja,  die  Oberfläche  des  Nackten 
ist  sehr  beachtenswerter  Weise  hier  nicht  blank 
pohert,  sondern  mit  dem  porösen  Gestein  daneben 


282 


Glanzperiode  und  Unischwung 


in  Einklang  gebracht.  Am  Sockel  des  Obelisken 
entfalten  sich  Bilder  je  nach  seinen  Seiten,  und  der 
Naturfels",  auf  dem  er  ruht,  ist  eben  deshalb  nicht 
tektonisch,  nicht  plastisch,  sondern  dekorativ  nach  den- 
selben malerischen  Grundsätzen  behandelt  wie  Drape- 
rie, d.h.  in  zusammenhängendem  Fluss  der  Linien  und 
Flächen,  mit  absichtlicher  Vermeidung  aller  stereo- 
metrischen Regelmäfsigkeit  oder  krystallinischen 
Gesetzes.  Und  an  malerischer  Wirkung  ist  das  Ganze 
jedenfalls  den  Quattro  Fontane  wie  dem  Moses,  der 
die  Acqua  FeUce  aus  dem  Grottenfels  der  Nische 
schlägt,  weit  überlegen. 

Vom  malerischen  Standpunkt  erklärt  sich  auch 
die  Form  des  Brunnens  auf  Piazza  di  Spagna  mit 
der  Barcaccia,  die  vor  der  spanischen  Treppe  schon 
vorhanden  war.  Der  Breite  des  Platzes  zuhebe  dehnt 
sich  das  Ganze,  ohne  höheren  Aufbau,  vielmehr  mit 
dem  Hinweis  auf  die  Seiten,  während  das  Becken 
sogar  als  Bassin  in  den  Boden  verlegt  ist.  Auch 
hier  also  ein  Symptom  des  innern  Umschwungs 
künstlerischer  Prinzipien,  die  Wendung  zur  zweiten 
Dimension,  zu  der  sich  schon  Maderna  gelegentlich, 
wenn  auch  in  strengern  Formen,  bereit  fand.  Die 
Durchführung  der  malerischen  Tendenz  ist  auch  für 
Berninis  Entwicklung  um  so  bedeutsamer,  je  ver- 
ständnisvoller er  selbst  dem  früheren  Ideal,  dem 
Hochdrang  auch  des  feuchten  Elementes  gehuldigt 
hatte.  Wie  Madernas  Springbrunnen  auf  dem  Platz 
vor  S.  Peter  die  glückUchste  tektonische  Lösung  in 
der  balusterartigen  Pilzform  gegeben,  die  doch  immer 
noch  keine  einheitUche  Verbindung  der  Naturkraft 


Dekorative  Kunst 


283 


des  Wassers  mit  dem  künstlerischen  Motiv  der  Ge- 
staltung als  solchem  darbot,  hat  Bernini  mit  seinem 
Tritonen  auf  Piazza  Barberini  die  lebendige  Ver- 
schmelzung des  plastischen  Gebildes  mit  dem  vollen 
Stral  des  Springquells  vollzogen.  Bei  der  drastischen 
Art,  wie  die  Muschelschale  sich  ausgreifend  vom 
Boden  hebt,  ein  abenteuerliches  Gewächs,  stofflich 
den  Tropfgesteinen  im  Schofs  der  Erde  verwandt, 
und  doch  den  Schaltieren  auf  dem  Grund  des  Meeres 
durch  den  organischen  Trieb  seiner  Gestaltung  ver- 
gleichbar, der  als  Willensregung  überall  seinen  Nerv 
hervorreckt;  —  wie  in  ihrer  Mitte  dann  das  Getier 
sich  regt  und  zusammenschliesst,  um  als  lebendigen 
Träger  seines  dumpfen  Dranges  den  Triton  selbst 
zu  entsenden,  der  wieder  mit  eifrigem  Bemühen 
ein  Muschelrohr  an  den  Mund  setzt,  um  den  Schwall 
der  Flut  wie  den  Luftstrom  seines  Odems  hervor- 
zutreiben, so  dass  der  Schall  seiner  Tuba  sich  ins 
brausende  Gedröhn  der  Wasserader  verwandelt,  — 
bei  so  sinnfälliger  Sprache  des  durchgehenden  Ge- 
fühls kann  wol  kein  Zweifel  bleiben,  dass  für  den 
Künstler  und  seine  Zeitgenossen  das  Aufspringen 
des  Wassers  noch  mindestens  ebenso  Hauptsache 
bleibt,  wie  das  Niederrauschen  und  Überfliessen  in 
breiter  Masse  schon  als  willkommener  Erfolg  begrüfst 
wird.  Die  malerische  Wirkung  des  letzteren  löst  aber 
bereits  unläugbar  malerische  Empfindung  auch  des 
Plastikers  aus;  und  die  Vermittlung  aller  Formen 
mit  einander  und  mit  dem  aesthetischen  Raum,  der 
das  Ganze  schon  als  bewegliches  Medium  des  auf 
und    ab    strömenden  Wassers  und  als  Atmosphäre 


4 


284 


Glanzperiode  und  Umschwung 


zerstäubter  Silbertropfen  umgiebt,  beweist,  wie  stark 
sie  zur  malerischen  Absicht  geworden^). 

Bald  erfasst  der  malerische  Sinn  auch  dies  Motiv 
der  Entfaltung  im  Nebeneinder  für  sich  allein  und 
ordnet,  wie  an  Wänden  herabfallend,  so  auf  eigens 
dazu  aufgehäuftes  Felsgestein  die  vielgeteilte,  hin 
und  wieder  springende  Kaskade,  deren  Wesen  eben 
in  der  Zerlegung  der  Vollkraft  in  lauter  einzelne 
Streifen,  Spiralen,  Spritzwässerlein  und  schäumenden 
Gischt  besteht  und  stets  in  die  Breite  sich  ausein- 
ander legt.  Darin  malt  sich  wieder,  wie  einst  im 
Hochdrange  des  vollen  Strales,  nun  die  veränderte 
Sinnesart  der  Zeit,  wie  ihr  Geschmack  so  auch  ihr 
innerstes  Wesen. 

,, Schönheit  ist  Kraft"  verlangten  die  kraftvollen 
Charaktere  zur  Geltendmachung  und  zum  Genügen 
ihrer  selbst;  sie  liebten  Trommelschall  und  Drom- 
metenklang wie  das  Rauschen  der  Elemente  zur  Be- 
kräftigung ihrer  eignen  Willensenergie,  wie  als  Echo 
ihres  würdevollen  Auftretens.  —  ,, Schönheit  ist  Kraft" 
betet  auch  ein  schwächeres  Geschlecht;  wer  sie 
selber  nicht  mehr  besitzt,  liebt  sie  desto  schwär- 
merischer an  Andern  und  geniefst  sie  mit  Freuden 
an  Seinesgleichen.  Aber  die  Lust  an  Allem  ,,was 
sauset  und  was  brauset"  geht  auch  vorüber;  das 
Ohr  fühlt  sich  beleidigt,  die  Stimme,  die  mildere, 
wird  vom  Geräusch  zu  sehr  übertönt,  wo  das  Auge 


i)  Sehr  beachtenswert  für  die  Auffassung  der  Muschel  ist  auch 
das  dekorativ  überhaupt  lehrreiche  Titelblatt  von  Falda,  Lib.  I,  2 
(1665.    Vedute  delle  Fabriche  Piazze  u.  s.  w.). 


Landschaft 


2S5 


noch  lange  am  sprudelnden  Leben  sich  freut  und 
die  malerischen  Reize  sich  gefallen  lässt.  Bald 
müssen  sie  stiller  werden,  die  fröhHchen  Kaskaden, 
und  wenn  sie  erst  überzierlich  tänzeln,  charakterlos 
hüpfen  oder  schleichen  lernen,  wie  man  ihnen  auf- 
spielt, wenn  auch  sie  nur  tändeln  dürfen  wie  alle 
Welt,  dann  ist  die  Entwicklung  des  Barock  in  allen 
seinen  Phasen  vorüber,  und  ein  neuer  Name  zur 
Bezeichnung  des  Stiles  am  Platz. 


Schon  dem  römischen  Kunstleben  des  sieb- 
zehnten Jahrhunderts  würden  einige  seiner  bedeut- 
samen Züge  fehlen,  wenn  die  Charakterköpfe  fran- 
zösischer Künstler  nicht  hervorträten,  wie  ihnen 
gebührt.  Für  unsere  Zwecke,  denen  eine  ausführliche 
Geschichte  des  glanzvollen  Umschwungs  fern  liegt, 
bedarf  es  nur  einer  leichten  Erinnerung  an  zwei  oder 
drei  Namen ,  die  für  die  Entwicklung  des  Stiles  in 
Rom  selbst  unentbehrlich  scheinen :  ich  meine  in 
erster  Linie  Nicolas  Poussin  (1594 — 1665).  / 

Poussin  ist  daheim  in  erster  Linie  der  Historien- 
maler, den  man  —  auch  ohne  sich  recht  zu  erwär- 
men —  als  französischen  Klassiker  ehrfurchtsvoll 
bewundert.  In  Rom  liegt  seine  Bedeutung,  wenn 
irgendwo ,  auf  einem  ganz  andern  Gebiete ;  es  ist 
der  Landschaftsmaler ,  der  für  den  Umschwung  der 
Stilprinzipien  in  Betracht  kommt.  Durch  die  selb- 
ständige Pflege  dieses  Zweiges  trug  er  wesenthch 
dazu  bei,  dass  die  Errungenschaften  der  Carracci  im 


286 


Glanzperiode  und  Umschwung 


Anschluss  an  Tizian  und  die  guten  Eigenschaften 
Domenichinos  nicht  wieder  verloren  giengen,  seitdem 
der  plastische  Drang  nach  nackten  Gestalten ,  nach 
übermenschlichen  Figuren  allein,  eine  Zeit  lang  diese 
Erweiterung  des  malerischen  Blickes  wieder  preis- 
zugeben gesonnen  war.  Es  ist  bezeichnend ,  wie 
Poussins  Begabung  grade  da  einsetzt,  wo  das  Ver- 
ständnis am  ehesten  in  der  römischen  Welt  eine 
Anknüpfung  finden  mochte:  bei  der  Architekto- 
nik der  Landschaft. 

Die  Überleitung  der  Massen  und  Linien  aus 
dem  festgegründeten,  gesetzmäfsig  aufgebauten  Vor- 
dergrund in  die  Ferne ,  die  klare  Disposition  der 
Raumwerte,  von  voller  plastischer  Bestimmtheit  vorn 
bis  an  die  Gränze  seines  Hintergrundes,  der  sich 
nirgends  noch  ins  Endlose  verliert,  das  ist  Poussins 
Stärke ,  und  steht  natürlich  in  Zusammenhang  mit 
dem  Anteil  des  berechnenden  Verstandes  in  seinem 
Schaffen  sonst.  Aber  so  wenig  er  ohne  biblische 
oder  mythologische  Figuren  eine  Landschaft  für  sich 
allein  zu  bieten  unternimmt ,  so  sicher  sind  diese 
Menschenkinder  doch  der  natürlichen  Umgebung 
eingeordnet,  ja  immer  bewusster  schon  untergeord- 
net. Dem  Betrachter  muss  das  Gefühl  aufgehen, 
dass  diese  Felsen  und  Bäume  schon  im  Einzelnen 
mehr  Gewicht  haben  als  die  Personen  daneben,  dass 
diese  Gegend  in  ihrer  allmählich  gewordenen  For- 
mation der  überlegene  Bestandteil  ist,  der  unter 
mannichfaltigem  Wechsel  doch  dauernder  besteht  als 
das  vorübergehende  Geschöpf,  das  diesen  Natur- 
mächten gegenüber  nur  wie  eine  Eintagsfliege  er- 


Landschaft 


287 


scheint.  Das  ist  eine  fruchtbare  Erweiterung  des 
Gesichtskreises  für  die  Generation  der  römischen 
Gönner,  die  nur  Verherrlichung  des  Menschen  und 
die  Steigerung  seiner  Kraft  ins  ÜbermenschUche  zu 
sehen  gewohnt  w^ar.  Es  ist  zunächst  der  ästhetische 
Gegensatz  gegen  den  hochtrabenden  Gestaltungs- 
drang der  Barockmeister,  den  diese  Landschafts- 
malerei, aus  der  Villeggiatur  gleichsam  in  die  Stadt, 
einführte.  Und  in  diesem  Sinne  hat  besonders  Pous- 
sins  Schwager  und  Schüler  Gaspard  Dughet(f  1675)  | 
durch  seine  Malereien  in  Palästen  wie  in  Kirchen 
gewirkt.  Eine  solche  Landschaft  braucht  allerdings 
noch  nicht  der  Farbe  so  unbedingt ,  dass  sie  ohne 
die  natürliche  Buntheit  der  Dinge  ihrem  eigentlichen 
Ziel  entsagen  müsste :  sie  will  Raumerweiterung 
schaffen  auf  den  Flächen  des  geschlossenen  Innen- 
raumes ,  und  diese  unverkennbar  gefühlte  Aufgabe 
hat  in  Rom  ausserordentlich  dazu  beigetragen ,  den 
innern  Umschwung  zum  Bewusstsein  zu  bringen. 

Die  Schönheit  dieser  Welt  dann,  in  ihrer  lachen- 
den Farbigkeit  und  ihrem  Sonnenglanz  entdeckt  erst  ] 
Claude  Lorrain  (1600 — 1682),  wie  für  die  römische 
Kunst  und  ihre  Schutzpatrone,  so  für  die  Anhänger 
der  nämlichen  Kultur  da  draussen  bis  Watteau  hin. 
Der  Lothringer,  der  in  Rom  erst  sich  selber  gefunden, 
scheint  freilich  die  Erde  nur  als  Paradies  zu  sehen, 
aber  ein  Land  des  ungetrübten  Glückes,  in  dem  die 
Menschengeschlechter  keineswegs  die  Hauptsache 
sind ,  sondern  immer  und  überall  nur  die  Staffage 
für  Erscheinungen,  die  in  flüchtigstem  Erglühen  noch 
als  Äusserung  des  umfassenden  Ganzen  einen  ewigen 


288  Glanzperiode  und  Umschwung 

Wert  in  sich  bergen ,  der  entzückend  uns  Allen  zu 
Herzen  dringt.  Gegen  Dughet  erweitert  er  beson- 
ders die  Tiefe  durch  einen  niedrig  gelegten  Horizont 
mit  fernem  Talgrunde ,  der  im  Sonnenduft  ver- 
schwimmt, oder  mit  schimmerndem  Meeresspiegel, 
den  der  Himmel  küsst  in  endloser  goldgetränkter 
Bläue.  Welch  ein  Abstand  von  dem  Ernst  und  der 
Strenge  des  eigentlichen  Barock  in  diesen  seligen 
Gefilden  auf  der  Erde ,  die  dem  armseligen  Fremd- 
ling in  Rom  mit  Gold  aufgewogen  wurden.  Mit  wie 
wenigen  Faktoren  der  Wirklichkeit  webt  er  diesen 
zauberischen  Anblick  zusammen ,  der  auch  uns  Mo- 
dernen wieder  allzubald  als  kindlich  erträumtes  Arka- 
dien erscheinen  will.  Wie  stark  muss  also  das  Be- 
dürfnis nach  solchem  Eldorado  gewesen  sein,  das 
diesem  Poeten  in  seinen  Zeitgenossen  entgegenkam. 
Wir  müssen  uns  erinnern,  dass  Urban  VIII.  (1623 
bis  1644)  aus  dem  Hause  Barberini,  und  die  Pamfili, 
aus  denen  Innocenz  X.  (1644 — 1655)  hervorgieng, 
wie  die  Rospigliosi  mit  ihrem  Clemens  IX.  (1667  bis 
1669)  zu  den  vornehmsten  Gönnern  dieses  Land- 
schaftsmalers gehörten,  der  ebenso  die  Monarchen 
von  Spanien  und  Frankreich  zur  Sehnsucht  nach  der 
Schäferwelt  bekehrte,  —  um  uns  klar  zu  machen,  was 
der  Petersplatz  mit  den  Kolonnaden  Berninis,  die 
y  Rückkehr  des  Sonnenscheins  in  alle  Kirchen  Roms 
i  bedeuten  will.  Diese  römisch  gewordenen  Vertreter 
der  französischen  Malerei  sind  einsame  Naturen,  die, 
der  Innern  Stimme  gehorchend,  aus  sich  hervor- 
bringen ,  was  ihnen  allein  vertraut  war ;  aber  von 
hier  beginnt  die  Auflösung  alles  Stofflichen,  die  Be- 


Letzte  Phase  des  Barock 


289 


freiung  von  Körper  und  Form,  von  Farbe  und  Wirk- 
lichkeit bis  auf  die  zarteste,  verschwebende  Erschei- 
nung selbst,  die  nur  der  Maler  noch  fassen  kann. 


Länger,  als  ein  Menschenalter  sonst  zu  dauern 
pflegt,  hat  Giovanni  Lorenzo  Bernini  mit  einem  künst- 
lerischen Schaffen  im  Mittelpunkt  der  Stilentwicklung 
Roms  gestanden.  Durch  ihn  ist  die  Aufnahme  aller 
Anwartschaften  der  Hochrenaissance  in  den  Barock 
und  damit  auch  der  innere  Umschwung  in  den  lei-  II 
tenden  Prinzipien  vollzogen ,  eine  Verwandlung ,  die 
vorangehen  musste,  damit  sich  der  römische  Stil  an 
den  übrigen  Mittelpunkten  im  Kunstleben  Italiens 
Eingang  verschaffen  und  so  weiter  verbreiten  könne. 
Von  dieser  Zeit  ab  beginnt  die  siegreiche  Ausströ- 
mung über  Florenz  und  Bologna  nach  Mailand,  nach 
Genua  und  nach  Venedig,  oder  südwärts  nach  Nea- 
pel und  Sicihen.  Die  Provinzen  alle  unterscheiden 
sich  je  nach  ihrem  Charakter  bei  dieser  Verarbeitung 
des  römischen  Vorbilds.  Die  reinste  und  wichtigste 
Abzweigung  gedeiht  in  Turin,  weil  hier  noch  kein 
ausgeprägtes  Lokalwesen  im  Wege  steht,  sondern 
mit  der  ganzen  Stadt  sozusagen  von  vorn  angefangen 
wird.  Eine  unverkennbare  Rückströmung  erst  erzeugt 
in  Rom  selbst  ein  letztes  Aufflackern  des  grofsartigen 
Barockgeistes,  bevor  sich  Alles  dem  klassischen  Ideal 
der  archäologischen  Nachahmung  unterwirft. 

Nach  einer  so  grofsartigen  und  vielseitigen  Tä- 
tigkeit, wie  die  Künstlergeneration  unter  Führung 
Berninis  sie  entfaltet  hatte ,  blieb  der  Folgezeit  nur 

Schmarsovv,  Barock  und  Rokoko. 


290 


Letzte  Phase 


Übrig ,  die  letzten  Aufgaben  zu  vollziehen ,  die  auf 
dem  Boden  der  ewigen  Stadt  noch  erwachsen  moch- 
ten, oder  mit  den  Folgerungen  sich  abzufinden,  die 
aus  der  eingeschlagenen  Richtung  sich  ergaben. 
Fast  ein  Widerspruch  zu  der  Grundanschauung  des 
strengen  Barockstiles  stellte  sich  schon  durch  die 
Zutat  der  Deckenmalereien  eines  Gaulli  im  Innenraum 
des  Gesü  heraus,  und  in  der  noch  stärkeren  perspek- 
tivischen Scheinerweiterung  der  Raumhöhe  durch  die 
Deckenmalerei  des  Andrea  Pozzo  inS.Ignazio,  nur 
dass  die  letztere  Kirche  als  vorgeschritteneres  Raum- 
gebilde den  Ausgleich  mit  der  malerischen  Anschauung 
besser  verträgt  als  die  geschlossenere  Gestaltung  des 
Gesü  das  buntfarbige  Wolkenreich  des  Genuesen. 

Die  wichtigsten  Ereignisse  betreffen  jedoch  die 
Baugeschichte  im  Grossen^):  die  Anlage  des  Hafens 
der  Ripetta  durch  Alessandro  Specchi  (1704)  im 
unmittelbaren  Anschluss  an  die  vorhandene  Fassade 
von  S.  Girolamo  degli  Schiavoni-) ;  dann  die  Erbau- 
ung der  Spanischen  Treppe  zur  Verbindung  der 
Piazza  di  Spagna  und  des  Pincio,  zwischen  S.  Tri- 
nitä  de  Monti  oben  und  dem  Brunnen  Berninis  vor 
Via  Condotta  unten,  —  jene  geniale  Leistung,  an 
der  die  Erfahrungen  der  Perspektive  und  die  An- 
wendung malerischer  Prinzipien  mindestens  ebenso- 
viel Anteil  haben ,  wie  der  monumentale  Sinn  und 


1)  Die  Erweiterung  der  Piazza  S.  Pietro  und  des  Strassen- 
zuges  bis  zur  Engelsbrücke,  vgl.  bei  Carlo  Fontana,  II  tempio  Vati- 
cano  1694,  S.  231  ff. 

2)  Vgl.  Letarouilly  Tav.  349  mit  Falda  III,  38  (1667). 


des  römischen  Barock 


291 


die  Grossartigkeit  aller  römischen  Verhältnisse ,  — 
von  Alessandro  Specchi  und  Francesco  di  Sanctis 
1721  — 1725  vollendet;  endlich  die  imposante  Deko- 
ration der  Fontana  Trevi,  die  nur  Roms  Wasser- 
reichtum und  Ruinenstätte  zugleich  so  hervorbringen 
konnten ,  mit  ihrer  breitgelagerten  Palastfassade  als 
Hinterwand ,  aus  deren  Triumphbogen  in  der  Mitte, 
während  er  selbst  sich  als  Nische  verschliesst ,  der 
Siegeszug  Neptuns  daherbraust,  wie  über  einen  Trüm- 
merhaufen von  Felsgestein,  der  dem  Durchbruch  des 
Wassers  vorangestürzt  war,  —  ein  Werk  des  Nic- 
colö  Salvi  (1735 — 62),  an  dem  sich  Früchte  der 
ganzen  bisherigen  Entwicklung  zusammenfinden. 

Daneben  tritt  der  Kirchenbau  zurück,  fast  völlig 
soweit  es  sich  um  eigene  Raumgestaltung  handelt, 
und  sonst  bis  auf  einige  Ausnahmen.  Sehr  charak- 
teristisch für  den  Sinn  ist  aber  das  Beispiel,  das  im 
Umbau  von  S.  M.  degli  AngeU  durch  Vanvitelli 
(1749)  gegeben  wird:  Michelangelos  einheitUcher 
Raum,  der  aus  dem  herrlichsten  Thermensaal  ge- 
bildet war,  erscheint  nun  zu  sehr  ,,aus  einem  Stück" 
und  wird  durch  Anreihung  andrer  zum  kreuzförmigen 
Langbau  erweitert.  Rücksichtsloser  konnte  man  das 
Ideal  der  ersten  Barockzeit  nicht  zerstören,  um  die 
malerische  Tendenz  der  folgenden  zu  befriedigen, 
der  ein  Durchblick  in  unabsehbare,  scheinbar  endlose 
Raumentfaltung  allein  entsprach.  Aber  die  Kapellen- 
reihe ,  die  Bildungssphäre  um  den  Hauptraum ,  die 


i)  Letarouilly  II,  226. 


19* 


292 


Letzte  Phase 


Michelangelo  verlangt  hatte,  wird  zugemauert,  also 
geschlossene  Fläche  gewonnen. 

Der  Fassadenbau  dagegen  wird  im  Zusammen- 
hang mit  jenen  grossartigen  Gesichtspunkten  der 
Platz-  und  Strassenanlage  gehandhabt  und  arbeitet  nun 
voraussetzungsloser  in  diesem  Sinne  denn  je  zuvor. 
So  entstehe.n  freilich  die  verschiedenartigsten  Konse- 
quenzen der  bisherigen  Systeme  in  seltsamer  Folge : 
S.  Giovanni  in  Laterano  von  Alessandro  Ga- 
lilei 1734,  dann  S.  M.  Maggiore  von  Ferdinando 
Fuga  1743  undS.Croce  in  Gerusalemme  vonGre- 
gorini  1744.  Bei  Weitem  die  vorzüglichste  Leistung 
ist  die  offene  Pfeilerhalle,  mit  der  sich  die  Laterans- 
basilika nach  dem  weiten  Platz  an  der  Stadtmauer 
kehrt :  in  einer  einzigen  Ordnung  nach  dem  Sinne 
Palladios  aufsteigend ,  mit  durchaus  sekundärer  Ge- 
schossteilung dahinter,  die  durch  die  Forderung  einer 
oberen  Loggia  veranlasst  war.  In  fünf  Durchgängen 
mit  gradem  Gebälk  unten  und  fünf  Bogen  darüber, 
zusammengefasst  unter  einem  gewaltigen  Stirnband, 
tritt  hier  zu  Tage,  was  für  S.  Peter  zu  erringen  keinem 
Früheren  gelungen  war.  Nicht  umsonst  war  G  a  1  i  1  e  i 
sieben  Jahre  im  Lande  des  eifrigsten  Palladiokultus, 
in  England ,  und  nicht  umsonst  beim  Fassadenbau 
von S.  Giovanni  de'  Fiorentini,  dessen  vonMichel- 
angelo  gefertigten  Entwürfe  veruntreut  worden,  auf 
dieses  Meisters  Vorarbeiten  für  S.  Lorenzo  in  seiner 
Heimat  zurückgegangen.  —  Ferdinando  Fuga  ver- 
stand einem  ähnlichen  Anspruch  beiS.  M.  Maggiore ') 


l)  Letarouilly  III,  304,  305,  306. 


des  römischen  Barock 


293 


nicht  anders  als  mit  zwei  Ordnungen  über  einander 
gerecht  zu  werden,  indem  er  zur  Doppelhalle  Fon- 
tanas an  der  andern  Seite  des  Laterans  seine  Zu- 
flucht nahm  und  sie  als  offenes  Mittelstück  zwischen 
geschlossenen  Seitenlagen  ausbildete  :  d.  h.  er  schuf 
ein  Werk,  das  durch  reiche  Abwechslung  und  durch 
den  Einblick  in  Loggia  und  Vestibül  malerisch  wirkt, 
aber  (selbst  abgesehen  von  den  sehr  ausgearteten 
Einzelformen)  kleinlich  und  durch  die  Seitenbauten 
gedrückt  erscheint".  —  Die  gewundene  Fassadenhalle 
von  S.  Croce  in  Gerusalemme  von  Gregorini 
vereinigt  freilich  mit  diesen  malerischen  Absichten 
vollends  das  Gegenteil  des  Monumentalen,  die  rein 
dekorative  Bravour  Borrominis,  aber  ohne  dessen 
geniale  Geisteskraft,  und  kann  deshalb  in  Rom  nur 
als  Zerrbild  gelten,  während  sie  im  übrigen  Italien 
nun  überall  Ihresgleichen  findet. 

Die  Breite  der  Gesamtfassade  von  S.  M.  Mag- 
giore  und  das  Kompositionsprinzip ,  das  sich  in  ihr 
als  reich  belebter  Schlusswand  des  Platzes  darstellt, 
ist  ein  Erbteil  aus  den  Tagen  Berninis,  das  auch  im 
Palastbau  dieser  Epigonen  sich  auslebt.  Van  viteil  i 
und  Salvi  mussten  eben  damals  das  erste  Vorbild 
selbst,  den  Palazzo  Odescalchi  an  Piazza  SS. 
Apostoli,  von  den  ursprünglichen  dreizehn  Axen  auf 
vierundzwanzig  erweitern,  ein  Umbau  nach  dem  Herzen 
dieser  Endlosen,  der  ebenso  durch  den  Zuwachs  der 
Breitendimension,  wie  durch  den  Übergang  von  un- 
grader  Zahl  mit  betonter  Mittelaxe  zur  graden  Zahl 
ohne  diesen  Accent  bezeichnend  ist.  Als  Neubau 
entstand  im  nämlichen  Geschmack  der  Palazzo  della 


294 


Letzte  Phase 


Consulta  auf  dem  Ouirinal  von  Ferdinando  Fuga 
selbst  1739,  also  im  unmittelbaren  Zusammenhang 
mit  dem  Aufsern  der  Basilica  Liberiana.  Bei  manchen 
ausserordentlichen  Vorzügen  seiner  Front  wird  man 
sich  doch  schwerlich  verhehlen ,  dass  er  eigentlich 
die  Fläche  fast  nur  als  solche  durchdekoriert,  ohne 
noch  eine  Steigerung  in  der  Plastik  des  Bau- 
körpers selbst  zu  versuchen.  So  ist  auch  der  Hof, 
der  keinen  weiten  Spielraum  nach  der  Tiefe  ge- 
stattet ,  als  Ersatz  dafür  ein  Meisterstück  perspek- 
tivischer Kunst  für  den  Einblick  des  Besuchers, 
aber  eben  eine  beabsichtigte  Täuschung  wie  im 
Theater.  ^) 

Dagegen  hat  durch  Ferdinando  Fuga  ein  andrer 
Teil  des  Palastbaues  in  Rom  eine  letzte  Vollendung 
erhalten ,  die  ihm  bis  dahin  noch  fremd  war ;  das  ist 
die  Ausgestaltung  des  Treppenhauses  und  seine 
glückhche  Verbindung  mit  dem  Vestibül  und  Vor- 
saal auf  der  Frontseite  und  dem  Hof  oder  Garten 
nach  der  andern  Seite.  Überrascht  uns,  besonders 
nach  Genua,  Mailand  oder  Bologna  selbst,  in  Rom, 
sogar  bei  einer  so  ausgedehnten  Anlage  wie  Palazzo 
Barberini,  der  enge  Hochbau  der  Treppenhäuser 
und  die  mangelnde  Verwertung  dieses  malerisch  so 
fruchtbaren  Mittelgliedes  zwischen  unten  und  oben, 
so  erkennen  wir  die  Wirkung  jener  auswärtigen  Vor- 
bilder der  Renaissance  mit  Genugtuung  an  dem  eige- 
nen Treppenausbau  des  Palazzo  Corsini  (1732).-) 


1)  Letarouilly  I,  29,  30. 

2)  Letarouilly  II,  191.  192. 


des  römischen  Barock 


295 


Damals  empfängt  auch  Vanvitelli ,  der  als  Maler  an- 
gefangen hat ,  in  Rom  seine  Richtung ,  und  zwar 
ebenso  bezeichnender  Weise  als  Architekt  von  S.Peter 
(1726)  beginnend,  um  im  Palastbau  der  Fürsten  nach 
dem  Vorbild  französischer  Königsschlösser,  wie  Caserta, 
zu  enden.  Und  wie  hier,  so  vermuten  wir  schon  in 
der  berühmten  Galerie  des  Palazzo  Colonna, 
mit  ihrem  Vorzimmer  und  Schlufssalon  an  den  En- 
den, und  ihren  hohen  Fensterreihen,  den  Einfluss 
der  französischen  Mode  bei  dem  Umbau  des  alten 
Familienpalastes ,  den  Niccolö  Michetti  und  Paolo 
Posi  (c.  1730)  in  die  gegenwärtige  Gestalt  geleitet 
haben. 

Denn  mittlerweile  strömt  auch  nach  Rom  die 
Flut  des  künstlerischen  Lebens  aus  Frankreich  zu- 
rück, das  im  siebzehnten  Jahrhundert  von  dieser 
Quelle  ausgegangen  war,  und  bringt  von  dem  neuen, 
schon  unläugbar  überlegenen  Mittelpunkt  der  Welt 
nun  wenigstens,  wo  es  am  alten  Tiber  zu  ebben  be- 
gonnen, den  Dank  zurück,  —  als  Kultus  der  ewigen 
Stadt  und  des  klassischen  Bodens. 


o  o  o  o 


V. 

DIE  LETZTE  WEITERENTWICKLUNG 
IN  FRANKREICH 


DAS  EINDRINGEN  DES  BAROCK 


ubens,  der  Maler,  ist  in  Frankreich  der  Vater 
des  Barock  geworden,  wie  in  Rom  der  Bild- 
ner Michelangelo.  Seitdem  seine  Gemälde 
zur  Verherrlichung  der  Maria  de'  Medici  und  Hein- 
richs IV.  im  Palais  du  Luxembourg  vollendet  da- 
standen (1625),  ist  sein  malerischer  Barockstil  eine 
Grossmacht  inmitten  der  Kunstentwicklung  Frank- 
reichs. 

Bisher  war  diese  getreu  den  Wegen  der  Renais- 
sance gefolgt,  so  langsam  und  schwer  sich  auch  die 
heimische  Überlieferung  des  Mittelalters  im  Grunde 
mit  dem  Wesen  der  südlichen  Nachbarin  vertrug. 
Je  mehr  sich  aber  in  Oberitalien  selbst  die  gelehrte 
Nachahmung  der  Antike  verbreitete ,  weil  die  schö- 
pferische Genialität  erlahmt  und  das  künstliche 
Pumpenwerk  zur  Förderung  unentbehrlich  war,  desto 
deutlicher  stellt  sich  auch  in  Frankreich  der  Cha- 
rakter der  Spätrenaissance  ein,  die  besonders  in  der 


Frankreich 


297 


Architektur  dem  wissenschaftlichen  Studium  des 
Vitruv  und  seiner  Ausleger  oder  dem  praktischen 
Vorbild  italienischer  Klassicisten  mehr  verdankt,  als 
dem  lebendigen  Zusammenhang  mit  den  Aufgaben 
daheim.  Und  wo  immer  die  -eigene  Kraft  nationalen 
Lebens  sich  regt,  wo  künstlerische  Triebe  mit  diesen 
erlernten  Formen  in  Widerspruch  geraten,  da  drän- 
gen sie  der  nordischen  Gesinnung  folgend  in  die 
Richtung  der  flandrischen  Malerei,  als  deren  Vor- 
kämpfer Rubens  erschienen  war.  Das  bedeutete  nicht 
einmal  einen  Bruch  mit  der  Neigung  zur  romanischen 
Kultur,  keine  Abwendung  von  den  anerkannten  Bil- 
dungsstätten Italiens ;  dafür  bürgte  der  Name  der 
Königin  Witwe,  davon  zeugte  die  Kunst  des  grossen 
Historienmalers  selber ,  die  von  klassischer  Gelehr- 
samkeit durchdrungen,  dem  plastischen  Ideal  so  völ- 
liges Genüge  bot. 

Dieser  Gemäldecyklus  gab  mit  seiner  hinreissen- 
den Gestaltenfülle  das  Beispiel  eines  so  unerschöpf- 
lichen Vermögens,  eines  so  unbezweifelbaren  Trium- 
phes nordischer  Begabung,  die  alle  Mittel  südHcher 
Kunst  sich  zu  eigen  gewonnen  und  als  Gebieterin 
der  Welt  einhergieng,  dass  sein  Vorhandensein  in 
Paris  genügte,  um  den  französischen  Geistern  keine 
Ruhe  zu  lassen.  Zum  Wettstreit  mahnend,  trieb  das 
Beispiel  dieses  Antwerpeners  die  Künstler  Frank- 
reichs über  die  Alpen.  Ja ,  noch  mehr ,  der  junge 
Königssohn ,  der  die  Geschicke  ferner  bestimmen 
sollte  und  als  Erbe  dieser  Legende  des  Luxembourg 
aufwuchs ,  Ludwig  XIV.  selbst ,  hat  nirgend  anders 
das  Ideal  seines  Dichtens  und  Trachtens  so  lebendig 


298 


Weiterentwicklung  des  Barock 


in  sich  aufgenommen  wie  vor  den  Bildern  des  Vla- 
men,  der  Henriade ,  die  Rubens  hier  so  viel  gross- 
artiger gestaltet  und  so  viel  eindringlicher  vor  Augen 
gestellt,  als  die  geschichtlichen  Zustände  Frankreichs 
sie  tatsächlich  überlieferten.  Der  Zug  der  Olym- 
pischen, das  Geleit  der  allegorischen  Wesen  in  die- 
ser farbigen  Anschauung  macht  auch  den  Enkel 
zum  Erben  all  der  Hoheit  und  all  der  Vorrechte, 
als  deren  irdischer  Ursprung  das  Römerreich  und 
die  Hauptstadt  der  Welt  dalag,  als  deren  neuer 
Wohnsitz  nun  aber  die  Stätte  gelten  musste,  wo  sie 
so  sichtbar  eingezogen,  so  überzeugend  gegenwärtig 
waren.  Der  Gedankenkreis  des  Roi  Soleil  ist  ein 
Sprössling  dieser  Historien  von  Rubens. 

Wenn  von  klassischer  Kunst  in  Frankreich,  als 
der  Erbin  des  goldenen  Zeitalters  in  Rom  gesprochen 
wird,  so  tritt  freilich  der  Name  Nicolas  Poussin 
zuerst  auf  die  Lippen.  Aber  er  gehört  im  Grunde 
seiner  Gesinnung  noch  zu  den  Bekennern  der  Spät- 
renaissance, die  nach  klassischen  Vorbildern  mit  der 
starken  Beihilfe  des  Verstandes,  mehr  wissenschaft- 
f?     'i/o  24    ^0  ^^^^  arbeiten  als  im  ursprünglichen  Schaffensdrang 

aus  künstlerischer  Phantasie  gebären.  Er.  ist  seit 
seiner  ersten  Studienreise,  schon  1624,  sein  ganzes 
Leben,  mit  kurzer  Unterbrechung  1640 — 1642,  bis 
zu  seinem  Tode  in  Rom  gebUeben ;  aber  er  bedeutet 
mit  seiner  fruchtbaren  Tätigkeit,  die  der  Heimat  zu 
gute  kam,  für  diese  fast  noch  mehr  als  die  Grün- 
dung der  französischen  Akademie ,  die  den  dauern- 
den Verkehr  zwischen  Paris  und  Rom  sichern  sollte, 
die  neben  den  klassischen  Studien  jedoch,  denen  sie 


Frankreich 


299 


galt ,  auch  dem  Recht  der  Lebenden  Vorschub  ge- 
leistet hat,  d.  h.  zum  Heile  Frankreichs  der  Be- 
fruchtung durch  die  schöpferischen  Kräfte  der  römi- 
schen Künstlerschaft  des  Barockstiles  förderlich  ward- 
So  ist  die  Übertragung  von  Rom  nach  Paris 
schneller  und  unmittelbarer  vor  sich  gegangen  als 
in  mancher  Provinz  Italiens  selber.  Auf  Poussin 
hatte  die  Offenbarung  der  Barockmalerei,  der  Cyklus 
von  Rubens  noch  nicht  gewirkt,  als  er  auswanderte. 
Und  in  Rom  gelangte  er  durch  Domenichino,  seinen 
Lehrer,  grade  schon  in  den  Rückzug  zur  Mäfsigung 
des  Kraftstiles,  zu  dem  Annibale  Carracci  im  Palazzo 
Farnese  sich  aufgeschwungen  hatte ,  wo  das  letzte 
Bild  schon  von  Domenichino  herrührt.  Auch  unter 
den  Malern  von  Bologna  vollzog  sich  ein  Ausgleich 
mit  der  Hochrenaissance.  Charles  Lebrun  da-  > 
gegen  erfasste  schon  in  Paris  ohne  Zweifel  mit  seinem 
praktischen  Unternehmungsgeist  das  Beispiel ,  das  ' 
die  Siegeslaufbahn  des  Antwerpener  Meisters  ent- 
hielt, und  der  schwungvolle  Schulbetrieb  in  den 
Niederlanden  Hess  ihn  nicht  schlafen.  Er  arbeitet 
in  Rom  dann  1642 — 1645  ^^^^  jener  Geschäftigkeit, 
der  es  darauf  ankommt  zu  erobern,  und  die  fremden 
Errungenschaften  einheimst,  um  sie  im  eigenen  Wir- 
kungskreise zu  verwerten,  ja  ein  persönliches  Reich 
damit  zu  gründen.  Mit  der  allgemeinen  Bewunde- 
rung der  vielseitigen  Tätigkeit,  die  sich  dort  steigerte 
und  überbot ,  nahm  er  die  Kunstweise  des  Pietro 
da  Cortona  so  vollständig  in  sich  auf,  wie  der  be- 
rechnende Lerneifer  es  irgend  vermag.  Kaum  war 
er  nach  Paris  zurückgekehrt ,    so    legte  auch  sein 


300 


Weiterentwicklung  des  Barock 


Erstlingswerk,  der  Deckenschmuck  im  Hotel  Lambert 
de  Thorigny  (1649)  von  dieser  Bekehrung  zum  Ba- 
rockstil Zeugnis  ab.  Genau  so  wie  Pietro  da  Cor- 
tona  verband  Lebrun  die  plastischen  und  die  male- 
rischen Bestandteile  mit  der  tektonischen  Gliederung 
vom  Kämpfersims  durch  die  Wölbung  hin.  Und 
bald  stellte  sich  in  seinen  weiteren  Malereien,  be- 
sonders in  den  Entwürfen ,  die  er  verbreitete ,  die 
entscheidende  Tatsache  heraus,  dass  seine  rauschende 
Bewegung  von  Formen  und  Farben  in  ihrer  glän- 
zend dekorativen  Weise  mit  der  Sinnesart  des  jungen 
Monarchen  übereintraf,  und  dass  dieser  nur  zu  sehr 
gesonnen  war,  diese  Sprache  zu  der  einzig  gültigen 
seines  Königshofes  zu  machen.  Charles  Lebrun 
wurde  zum  Interpreten  des  Wunsches,  die  römische 
Würde  mit  französischer  Eleganz  zu  vermälen,  und 
damit  zum  Ratgeber  in  allen  künstlerischen  Dingen 
der  Residenz.  Seit  1660  an  der.  Spitze  der  Gobelin- 
fabrik, übernahm  er  auch  die  Leitung  der  Manufac- 
ture  royale  des  meubles  de  la  couronne,  die  Colbert 
zur  Hebung  der  französischen  Industrie  1662  be- 
gründete, und  verwirklichte  hier  erstrecht  die  Rich- 
tung ,  die  wir  in  seinem  Streben  angedeutet.  — 
Die  glänzende  Schulung  der  flandrischen  AteUers, 
besonders  der  Zeichner  und  Kupferstecher,  wurde 
nach  Paris  verpflanzt  und  auf  der  andern  Seite  wurden 
die  Fortschritte  des  italienischen  Barockstiles  so  voll- 
ständig aufgenommen ,  wie  der  Wetteifer  der  fran- 
zösischen Kunst  auf  dem  Weltmarkt  es  erforderte. 
Hier  begegnet  sich  Lebruns  Denkweise  mit  dem 
Geiste  Colberts  noch  unmittelbarer  als  mit  dem 


Frankreich 


301 


Hang  des  Königs  zu  pomphafter  Repräsentation,  die 
durch  Mazarin  gewiss  mehr  dem  Auftreten  römischer 
Kirchenfürsten  und  päpstUcher  Nepoten  nachgebildet 
war  als  irgend  einem  sonstigen  Vorbild. 

Und  neben  Charles  Lebrun  (1619 — 1690)  steht 
ein  Bildhauer  wie  Pierre  Puget  (1622 — 1694),  den 
man  den  grössten  Vertreter  dieser  Kunst  in  Frank- 
reich überhaupt  genannt  hat,  ein  ebenso  ausgemach- 
ter Anhänger  des  römischen  Barock.  Auch  er  war 
seit  1641  in  Rom,  und  zwar  als  Maler  bei  Pietro  da 
Cortona  geschult,  und  deshalb  als  Bildner  malerisch 
gesonnen  wie  Alessandro  Algardi,  nur  mit  südfran- 
zösischem Temperament ,  vor  Allem  zur  Verherr- 
lichung übermenschlicher  Kraft  unter  jedem  Vorwand 
geneigt ,  und  seien"  es  die  grässlichsten  Situationen. 
Ihm  wuchs  aus  seinen  Anfängen  als  Schiffsbildhauer 
im  Hafen  von  Marseille  die  wogende  Bewegung  in 
seine  Bildwerke  hinein ,  und  dieser  Stil  des  heimi- 
schen Elementes  blieb  ihm  auch  eigen ,  als  er  vom 
Holz  zum  Steine  übergieng.  „Der  Marmor  zittert 
vor  mir,"  sagte  er  im  Gefühl  seines  unwiderstehlichen 
Willens,  aber  er  zittert  auch  heute  noch,  als  wohne 
den  verzerrten  Massen  die  Illusion  der  Bewegung 
inne,  die  er  ihnen  beigebracht.  Man  hat  ihn  ,,ber- 
ninischer  als  Bernini  selber"  genannt,  aber  mit  Un- 
recht —  scheint  mir  —  gegen  Bernini. 

Wenn  somit  in  den  darstellenden  Künsten  Frank- 
reichs der  Einfluss  des  römischen  Barockstils  durch 
Rubens  hier,  durch  Pietro  da  Cortona  dort  unzweifel- 
haft zu  Tage  tritt,  so  bedarf  auch  die  Frage  nach 
seinem  Eindringen  in  die  Architektur    einer  sorg- 


302 


Weiterentwicklung  des  Barock 


sanieren  Erwägung  als  bisher.  Von  den  Dekora- 
tionsstücken des  Jardin  du  Luxembourg  wird  nicht 
viel  Wesens  zu  machen  sein.  Aber  nach  der  Ein- 
sicht über  den  römischen  Ursprung  des  Barock  und 
nach  der  Erkenntnis  seiner  Ausbildung  von  Michel- 
angelo zu  Giacomo  della  Porta,  die  wir  gewonnen, 
verlangt  der  schärfere  Begriff  auch  hier  konsequente 

^^-y/  ir^^cu*^  Verwertung,  um  festzustellen,  wann  zuerst  in  Frank- 

.  y.   /[reich  Vignolas  Richtung  sich  neben    der  Palladios 

^  £>(c  4.<^i/Ce4^r^  y^jl  geltend  macht,  und  damit  auch  hier  dem  plastischen 
^^$4^  .€i^U<       Gestaltungsprinzip  im  strengen  Sinne  sich  Tür  und 
^  Tor  zu  öffnen  beginnt.    Die  Kirche  der  Sorbonne 

^^/i^y9  /y^f^  Lemercier,  die  1635  — 1659  datiert  wird,  fordert 

mindestens  durch  ihre  Fassade  zum  Vergleich  mit 
römischen  Kirchen  der  entscheidenden ,  dem  Gesü 
folgenden  Entwicklungsreihe  heraus ,  während  ihr 
hölzerner  Kuppelbau  noch  deutlich  an  oberitalienische 
Vorbilder  gemahnt.  Umgekehrt  muss  die  ächt  fran- 
zösische Anfügung  der  Marienkapelle  hinter  dem 
Chor,  wie  der  Kirche  de  l'Oratoire  und  S.  Roch, 
als  ein  nordischer  Gedanke  der  Raumverbindung  be- 
achtet werden,  den  man  in  malerischen  Anlagen  des 
spätem  norditalienischen  Barock  so  häufig  nur  als 
freie  Zutat  des  erfinderischen  Baukünstlers  be- 
trachtet. ') 

Die  innigste  Berührung  mit  den  gleichzeitigen 


i)  Es  wäre  natürlich  nicht  schwer,  diese  Beispiele  von  histo- 
rischen Problemen  und  pragmatischen  Zusammenhängen  zu  häufen. 
Besonders  erwähnenswert  erscheint  mir  auch  Antoine  Lepautres 
Hotel  de  Beauvais.  Vgl.  Blondel,  Livre  IV,  Nr.  VI  (rue  Frangois- 
Miron  Nr.  68),  1655  — 1660. 


Frankreich 


303 


Fortschritten  des  Stiles  in  Rom  beurkundet  jedenfalls 
ein  andrer  französischer  Architekt,  den  man  darnach 
mit  Unrecht  zu  den  Vertretern  der  Spätrenaissance 
rechnet,  das  ist  Louis  Levau  (1612 — 1670).  Wird 
es  schon  anerkannt,  dass  er  in  der  Grundrissbildung 
beim  Schlosse  Vaux-le-Vicomte  z.  B.,  also  1643  (der 
Bau  selbst  war  1661  vollendet)  mit  der  bisherigen' 
Überlieferung  brach,  so  verlohnt  es  auch  der  Mühe, 
die  Herkunft  des  Neuen,  das  er  einführt,  zu  ermitteln. 
Ist  dies  doch ,  auffallend  genug ,  grade  als  Kern  in 
die  üblichen  Bestandteile  des  französischen  Landsitzes 
hineingeschoben ,  und  um  diese  triebkräftige  Zelle 
mit  innerer  Folgerichtigkeit  eine  Verschiebung  des 
Überlieferten  vollzogen,  die  kaum  anders  als  ,, Orga- 
nisation" genannt  werden  darf.  ,,Über  einen  breiten 
Kiesweg ,  —  sagt  die  Beschreibung  -r-  tritt  man  in 
ein  Vorhaus,  einen  rechtwinkligen,  von  Arkaden  auf 
toskanischen  Säulen  umgebenen,  streng  architektonisch 
gebildeten  Raum.  Zu  beiden  Seiten  befinden  sich 
die  —  nun  aus  der  Axe  verlegten  —  sehr  beschei- 
denen Treppen ,  dahinter  ein  ovaler ,  durch  beide 
Geschosse  reichender  und  überwölbter  Saal ,  der 
durch  Kompositpilaster  und  darüber  durch  Hermen 
gegliedert  ist."  Und  fügt  man  hinzu:  ,, Vorhaus  wie 
Saal  sind  neue  Erscheinungen  im  französischen  Grund- 
riss.  Man  war  sich  der  Herkunft  des  letztern  völlig 
bewusst,  indem  man  ihn  als  Salon  ä  l'italienne  ein- 
führte," —  so  regt  sich  doppelt  die  Wissbegier, 
woher  dies  erste  Beispiel  gekommen  sei.  Beachtet 
man  aber  die  auffallende  Paarigkeit  der  seitlich  ge- 
schobenen Treppen ,   die  Verbindung  mit  der  Ein- 


304 


Weiterentwicklung  des  Barock 


gangshalle  vorn  und  ovalem  Saale  hinten ,  ja  die 
Formensprache,  die  Wahl  der  Säulenordnung,  —  so 
lehrt  ein  vergleichender  Blick  nach  Rom,  dass  alle 
diese  Elemente  vom  Palazzo  Barberini  stammen,  den 
Maderna  1624  begonnen  und  Bernini  weitergeführt 
hatte,  also  von  derselben  für  die  Geschichte  des  rö- 
mischen Bauwesens  so  wichtigen  Schöpfung,  in  der 
Pietro  Berettinis  viel  bewunderte  Deckenmalerei  zu 
sehen  war,  während  hier  in  Vaux-le-Vicomte  der 
eifrige  Schüler  des  Cortonesen,  Lebrun,  die  Aus- 
schmückung übernahm.  Die  Breitenausdehnung  des 
ganzen  Schlosses ,  mit  dem  Vor-  und  Zurücktreten 
der  selbständig  bedachten  Baukörper,  das  eine  Gruppe 
von  fünf  Hauptgliedern  bildet,  geht  sogar  in  der 
malerischen  Entwicklung  noch  weiter  als  jene  rö- 
mische Verbindung  von  Stadtpalast  und  Villa,  so 
dass  hier  Gedanken  Berninis  von  französischer  Tra- 
dition gradezu  umarmt  werden.  Die  Bestimmung  als 
Landsitz  trug  eben  das  Ihrige  dazu  bei,  die  bequeme 
Disposition  der  Räume  und  die  freie  Lagerung  des 
Baues  zu  begünstigen. 

Sollte  es  Zufall  sein ,  dass  Louis  Levau  recht 
eigentlich  der  Zeit  des  Mazarin  angehört,  d.  h.  der 
allmächtigen  Regierung  eines  geborenen  Italieners, 
der,  1642  Kardinal  geworden,  in  Rom  die  Kirche 
S.  Vincenzo  ed  Anastasio  bei  Fontana  Trevi  erbauen 
Hess,  die  Martino  Lunghi  der  Jüngere  1650,  wie 
oben  erwähnt,  mit  jener  prahlerischen  Fassade  ver- 
sah, die  noch  heute  zu  den  ,,barockesten"  Beispielen 
in  Rom  gehört.  Levau  war  es  auch,  der  einer  Stiftung 
des  Kardinals  in  Paris  Gestalt  verUeh,  dem  College 


Frankreich 


305 


des  quatre  nations,  jetzt  Institut  de  France 
mit  der  Bibliotheque  ^lazarine  (  1660 — 62).  Dem 
Louvre  gegenüber,  an  der  Seine  gelegen,  zeigt  sich 
hier  an  einem  ^lonumentalbau  ganz  bewusst  der 
Anschluss  an  die  Prinzipien  der  gleichzeitigen  römi- 
schen Baukunst ,  und  zwar  so  früh ,  dass  wir  nicht 
anders  als  unmittelbaren  Austausch  voraussetzen 
können.  Und  wieder  sind  es  französische  ^Momente, 
die  den  malerischen  Charakter  des  Ganzen  erst  recht 
entscheiden :  die  Pavillons  an  den  Ecken.  In  der 
r^Iitte  der  Vorderfront  liegt  die  Kirche  der  Erziehungs- 
anstalt mit  tempeiförmigem  Portikus,  hinter  dem  ein 
Vorraum  in  den  Kuppelsaal  überleitet;  der  Grundriss 
des  letztern  bildet  wieder  ein  quergelegtes  Oval,  das 
sich  durch  Kapellen  nach  hinten  zu  einem  Rechteck 
erweitert.  Schon  dieser  Plan  bezeugt  den  Einfluss 
der  Bauten,  wie  sie  Bernini,  Rainaldi,  Borromini  zu 
Rom  in  Aufnahme  brachten.  Besonders  S.  Agnese 
an  Piazza  Xavona  ist  verwandt;  ihr  ähnelt  auch  die 
weitere  Frontbildung  am  meisten.  An  die  Seiten 
des  ^littelstückes  schliessen  sich  nämlich  Viertelkreise 
an  und  enden  in  Pavillons  an  den  Ecken  wie  in 
Türmen  dort;  nur  ist  das  Ganze  viel  breiter  ausge- 
zogen. [Mittelbau  und  Eckbauten  haben  eine  korin- 
thische Ordnung,  dort  Säulen,  hier  Pilaster,  während 
die  geschwungenen  Wände  dazwischen  zwei  Ord- 
nungen über  einander  aufweisen ,  doch  nicht  die 
Höhe  der  Hauptbestandteile  erreichen.  Die  Dächer 
der  Flügelbauten  sind  niedrig,  und  überall  tritt  der 
itahenische  Charakter  auch  in  der  Durchbildung  des 
Einzelnen    hervor,    obwol    die    ganze   Kuppel  hier 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  OQ 


306 


Weiterentwicklung  des  Barock 


wie  an  der  Sorbonne  nur  noch  aus  Holz  herge- 
stellt ist.J) 

Das  Wichtigste  für  uns  ist  die  malerische  Ten- 
denz, die  den  Grundzug  in  einer  zusammenfassenden 
Charakteristik  der  fortschrittlichsten  Bauten  Levaus 
zu  bilden  hätte ;  denn  in  diesem  Punkt  begegnet  sich 
die  persönliche  Tätigkeit  Berninis  mit  dem  Villenbau 
Palladios,  und  auf  diesem  Boden  konnten  sich  auch 
die  strengern  Architekten  in  Paris,  die  Palladio  nur 
allein  noch  anerkannten ,  mit  dem  Streben  Levaus 
und  Berninis  verständigen.  Viel  fremder  jedoch,  ja 
wie  ein  Gräuel  gegen  alle  Gesetze  der  reinen  Bau- 
kunst, musste  ihnen  das  überplastische  Wesen  eines 
Borromini  erscheinen  und  Alles,  was  aus  seinem  Vor- 
bild weiter,  auf  dem  Wege  durch  Oberitalien  hin,  sich 
abgeleitet  hatte.  Wie  eine  Kriegserklärung  nur  kann 
die  Wahl  eines  Guarino  Guarini  zum  Architekten 
der  Theatinerkirche  mitten  in  Paris  gewirkt  haben 
(1662),  die  Berufung  eines  Fremdlings  nicht  nur,  der 
allerdings  dem  Orden  angehörte ,  sondern  auch  die 
Empfehlung  Lebruns,  der  ihn  nur  deshalb  bevorzugte, 
weil  er  entschiedener  als  Andre  den  Barockstil  nach 
dem  Geschmack  des  tonangebenden  Kunstintendanten 
vertrat. 

1)  Interessant  ist  eine  Art  Vorbereitung  dieser  Anlage  in  Fr. 
Mansarts  Schlossbau  von  Choisy-le- Roy ,  wo  leider  nur  noch  die 
beiden  vorderen  Pavillons  mit  verbindenden  Mauerarmen  gegen  die 
Einfahrt  zu  übrig  sind,  aber  ihre  Beziehung  zu  der  alten  Allee  von  Ver- 
sailles her  deutlich  genug  erkennen  lassen.  Aus  derselben  Zeit  steht  dort 
eine  sehr  strenge  Fassade,  das  Haus  des  Architekten  selbst  genannt. 

2)  Ste.  Anne  wurde  von  Guarini  nur  begonnen ,  von  Lievain 
17 14  erst  weitergebaut  und   1747  von  Desmaisons  vollendet  (jetzt 


Frankreich 


307 


Es  soll  der  Beirat  Lebruns  nicht  minder  im  Spiel 
gewesen  sein,  als  der  neue  Minister  Colbert  plötzlich 

1664  dem  damaligen  Leiter  des  Louvrebaues  Levau 
befahl,  die  Weiterführung  der  Arbeiten  einzustellen, 
da  sein  Plan  den  Absichten  des  Königs  nicht  ent- 
spreche. Ludwig  XIV.  wollte  sein  Schloss  in  Paris 
zum  schönsten  Bau  der  Welt  erheben.  Deshalb 
wurde  eine  Konkurrenz  der  besten  Baumeister  Frank- 
reichs veranstaltet;  aber  die  Wahl  blieb  unentschieden. 
So  erhielt  Poussin  in  Rom  den  Auftrag,  die  sämt- 
lichen Entwürfe  der  dortigen  Akademie  zur  Begut- 
achtung vorzulegen,  und  die  Angelegenheit  gelangte 
vor  den  Richterstul  des  berühmtesten  Künstlers,  des 
Architekten  von  S.  Peter,  Bernini  selber.  Ihm  frei- 
lich mussten  die  Pläne  der  Franzosen,  die  mit  vor- 
handenen Bestandteilen  aus  früherer  Zeit  und  mit 
heimischen  Anschauungen  zu  rechnen  hatten,  allesamt 
als  befangenes  Stückwerk  erscheinen.  Sie  alle  hatten 
in  seinen  Augen  keine  Ahnung,  was  es  heisst  im 
Grossen  und  Ganzen  zu  schaffen.  So  Hess  Bernini, 
den  man  schon  lange  für  Frankreich  zu  gewinnen 
versucht  hatte ,  durch  die  dringende  Einladung  des 
Königs  sich  selber  zur  Reise  bestimmen  und  kam 

1665  nach  Paris,  um  den  Bau  des  Louvre  zu  über- 
nehmen. 

Vollständige  Beseitigung  der  bestehenden  Ge- 
bäudeteile war  sein  erstes  Ansinnen,  als  er  das  Kon- 
glomerat von  Anfängen  gesehen  hatte.    Und  dieser 


zerstört) ,  war  somit  als  Monument  kaum  von  Bedeutung  für  den 
Gang  der  Dinge  in  Paris,  desto  wichtiger  ist  sie  uns  als  Symptom. 

20* 


308 


Weiterentwicklung  des  Barock 


radikale  Vorschlag  musste  schon  einen  Sturm  der 
Entrüstung  hervorrufen ,  dem  selbst  der  König  und 
sein  Minister  Stand  zu  halten  sich  scheuten.  Das 
Neue  vollends ,  das  Bernini  an  die  Stelle  zu  setzen 
gedachte,  war  —  wie  wir  oben  gesehen  —  ein  durch- 
aus römischer  Palast,  nur  in  seinen  Abmessungen 
von  ausserordentlicher  Grösse ,  so  dass  er  ein  ge- 
waltiges ringsum  in  voller  Monumentalität  und  ein- 
heitlichem Charakter  geschlossenes  Viereck  umspannte. 
Der  ganze  Bau  wäre  damals  ein  rücksichtsloser  Wi- 
derspruch gegen  die  Kunst  der  Franzosen  geworden ; 
aber  er  widersprach  auch  den  Lebensgewohnheiten 
derer,  die  ihn  bewohnen  sollten.  Mit  Recht  wurde 
von  den  heimischen  Architekten  gegen  ihn  geltend 
gemacht,  dass  er  die  Ansprüche  an  bequeme  Raum- 
verbindung, die  Einfügung  notwendiger  Nebengelasse, 
grade  diejenigen  Erfordernisse  ausser  Acht  gelassen, 
die  man  in  Paris  neuerdings  erst  recht  zu  schätzen 
und  wie  nirgend  sonst  zu  erfüllen  gelernt  hatte,  — 
und  zwar  nicht  zum  geringsten  Teile  grade  durch 
das  Verdienst  des  Mannes,  dessen  Bautätigkeit  man 
am  Louvre  soeben  plötzHch  unterbrochen  hatte: 
Levaus. 

Bernini  kehrte  sehr  bald  unverrichteter  Sache 
nach  Italien  zurück.^)  Sein  Projekt  aber  hat  den 
Franzosen ,  die  ihn  befehdeten  und  verurteilten ,  in 
Wahrheit  die  Augen  geöffnet  für  das ,  was  ihnen 


i)  Vgl.  für  das  Nähere  dieser  Geschichte  Patte,  Memoires  .  . 
de  l'Architecture  1769  p.  320  ff.,  Rene  Manard,  Le  Bernin  en  France, 
L'Art  1875  und  Laianne,  Gazette  des  Beaux-Arts  1877. 


Frankreich 


309 


abgieng.  Ganz  ohne  Zweifel  hat  Claude  Perrault, 
nach  dessen  Plan  dann  1667 — 1674  die  Louvre- 
fassade  wirklich  ausgeführt  ward,  den  Grundgedanken 
des  Aufrisses  von  Bernini  übernommen,  obgleich  er 
die  Formensprache  mit  dem  Bekenntnis  der  franzö- 
sischen Schule,  d.  h.  dem  Vorbild  Palladios  in  Ein- 
klang zu  bringen  sucht.  Tempelfassade  (in  der 
Mitte),  Triumphbogenmotiv  (an  den  Seiten)  bestimmen 
die  geschlossenen  Risalite;  eine  offene  Gallerie  mit 
gekuppelten  Säulen ,  beide  Geschosse  zusammen- 
fassend,  öffnet  den  langgestreckten  Körper  in  re- 
gelmäfsiger  Reihung  links  und  rechts  von  dem 
Mittelbau,  der  durch  das  Einschneiden  des  Rund- 
bogentores in  das  Hauptgeschoss  nur  gewaltsam  die 
Einheit  des  Aufbaues  zu  betonen  strebt.  Durch  den 
Verzicht ,  auch  im  Binnenhof  den  Charakter  eines 
einheitlichen  Ganzen  durchzuführen,  da  man  das 
Vorhandene,  wenn  auch  nicht  ohne  Überhöhung  stehen 
Hess ,  war  es  möglich  ,  das  Schaustück  der  Aussen- 
seite  auch  mit  Säulenarchitektur  zu  beleben ,  wie  es 
Bernini  im  Hof  und  an  der  Seite  der  Tuilerien  ge- 
wollt hatte.  So  kam  ein  Aufschwung  zum  Wetteifer 
mit  dem  klassischen  Tempelbau  in  die  französische 
Baukunst,  der  im  Innern  der  Schlosskapelle  von  Ver- 
sailles zunächst  seine  Früchte  trug.  Aber  an  der 
Seitenfassade  des  Louvre  gegen  die  Seine  zu  sehen 
wir  die  Kraft  Perraults  schon  erlahmen ;  völlige  Tro- 
ckenheit der  Flächendekoration  tritt  an  die  Stelle 
und  damit  das  Übergewicht  der  Breitenausdehnung 
erstrecht  hervor.  So  wird  auch  bei  diesem  Parade- 
ritt der  verstandesmäfsig  erlernten  hohen  Schule  der 


310 


Weiterentwicklung  des  Barock 


Renaissance  die  Grundlage  der  malerischen  Auffassung 
adoptiert,  die  sich  auch  in  manchen  andern  Eigen- 
schaften an  Perraults  Hauptfassade  ebenso  verrät. 

Den  Einfluss  des  geschlossenen  Breitbaues,  den 
Bernini  für  das  Schloss  in  Paris  vorgeschlagen,  erfuhr 
auch  sofort  die  Erweiterung  dessen  von  Versailles. 
An  der  Gartenseite  wurden  die  beiden  vorspringen- 
den Flügel  beseitigt ,  indem  man  über  dem  Saal 
Ludwigs  XIII.  dazwischen,  an  Stelle  der  offenen  Ter- 
rasse einen  Vollbau  errichtete ,  und  so  durch  die 
Galerie  des  glaces  auch  hier  eine  einheitlich  fort- 
laufende Fassade  gewann.  Selbst  diese  wurde  dann 
noch  durch  beträchtliche  Anbauten  an  den  Seiten 
verlängert,  so  dass  das  Ganze  nur  als  Schlusswand 
einer  weitumfassenden  Perspektive  noch  die  gross- 
artige Bedeutung  erhält,  die  es  beansprucht.  Und 
die  Herrschaft  der  ruhig  ausgestreckten  Breiten- 
dimension als  Dominante  über  Alles  hin  war  so  an- 
erkannt im  aesthetischen  Gefühl  der  Gebildeten,  dass 
Saint-Simon  das  Kapellendach ,  das  hinten  darüber 
emporstiegt),   als    unerträgHch  empfand,    und  ,,cet 

i)  Im  Bau  der  Schlosskapelle  (1699 — 17 10)  wird  die  Säulen- 
stellung der  Louvrefassade  ins  Innere  genommen  und  bestimmt 
wesentlich  den  festlichen  Charakter ;  aber  die  Ausdehnung  der  Tiefe 
geht  nur  soweit,  als  die  Loge  des  Königs  ein  einheitliches  Bild  der 
Sängertribüne  empfängt ,  d.  h.  soweit  sich  zwei  Bühnenbilder  er- 
geben ,  die  in  der  Mitte  zusaramenstossen.  Da  der  Gottesdienst 
selbst  im  Erdgeschoss  stattimdet ,  so  ist  der  königliche  Hof  und 
seine  Musikkapelle  schon  in  der  oberen  Region,  unter  der  heitern 
Säulenhalle  mit  ihren  breiten  hellen  Fenstern  ringsum ,  in  Gemein- 
schaft mit  dem  Reich  der  Himmel,  das  vom  Gew^ölbe  hernieder- 
steigt und  einheitlich  zum  Bilde  des  Ganzen  gehört,  während  die 


Frankreich 


311 


horrible  exhaussement"  nur  als  Mittel  erklären  konnte, 
den  König  zur  Überhöhung  des  ganzen  Schlosses 
zu  zwingen. 

,,Von  jetzt  an  gilt  das  Schloss",  sagt  Dohme, 
„überall  um  so  vornehmer,  je  weiter  sich  seine  Flügelf 
dehnen.  Absichtlich  zerrt  man  sie  deshalb  durch : 
weitgestreckte  Galleriebauten  u.  s.  w.  in  die  Länge, 
so  gelegentlich  Ausdehnungen  erzielend,  welche  alles 
bisher  Geschaffene  hinter  sich  lassen."  Es  ist  ästhe- 
tisch genommen  die  Vorherrschaft  der  zweiten  Di- 
mension, der  Breite,  die  hier  triumphiert  und  wie 
in  Deutschland  auch  in  Italien  den  Sieg  des  neuen 
Prinzips  verkündet ;  es  ist  die  Flächenfreude ,  die 
sich  damit  eine  Stätte  schafft. 

Mit  dieser  äussern  Umgestaltung  des  Schlosses 
von  Versailles  nach  der  Seite,  nach  der  französische 
Wohnungen  überhaupt  ihren  Anspruch  zu  betonen 
pflegten,  hat  auch  Jules  HardouinMansart  seine  Be- 
kehrung zu  Berninis  Kunstprinzip  bekundet,  während 
er  noch  später  in  der  Schlossanlage  zu  Nancy  einen 
neuen  Beweis  geliefert  hat ,  mit  welchem  empfäng- 
lichen Sinn  auch  er  die  Kolonnaden  von  S.  Peter 
und  die  geschlossenen  Plätze  Roms  studiert  hat  und 
nach  Möglichkeit ,  selbst  in  der  Absicht  dekorativer 
Wirkung  nur,  verwertete. 

Indessen ,  für  die  Kunstentwicklung  in  Frank- 
reich und  die  Erkenntnis  ihres  Ganges  ist  es  wich- 
tiger ,  die  wolbekannte  Tatsache  zu  betonen ,  dass 


untere  Region,  einfach  und  dunkel  bis  auf  den  Altar ,  unter  ihren 
Füssen  lagert. 


312 


Weiterentwicklung  des  Barock 


die  Bedeutung  des  Schlosses  von  Versailles  wesent- 
lich nicht  sowol  in  seinem  Äussern  als  vielmehr  in 
I  der  Gestaltung  und  Anordnung  seiner  Innenräume 
beruht,  und  dass  grade  hierin  das  Werden  des  Neuen 
i     beobachtet  werden  kann,  dem  die  Zukunft  gehört, 
\ji  d.  h,  die  Keime  des  Stiles,  den  wir  Rokoko  nennen. 

Eine  Reihe  von  kleinen  Schlössern,  die  der 
König,  seiner  selbstgesteigerten  Hoheit  mit  ihrer  un- 
ausgesetzten Repräsentation  überdrüssig,  als  Zufluchts- 
stätte menschlicher  Regung  erbaute,  bezeichnet  eben 
damit  schon  die  Umkehr  zur  Natur  und  den  Ver- 
zicht auf  das  übermenschliche  Wesen,  das  der  Barock- 
stil postulierte.  Nur  konnte  dieser  eitelste  Träger 
der  erhabenen  Würde,  der  alle  Ansprüche  römischen 
Prälatentums  aufgesogen  und  in  Hofceremonien  aus- 
geprägt, die  Selbstvergötterung  nicht  los  werden,  und 
überall  taucht  aus  seinen  Spiegeln  die  unausstehliche 
Physiognomie  seines  Sonnenantlitzes  mit  dem  Nimbus 
der  Allongenperrücke  als  Glanz-  und  Bildungssphäre 
vor  dem  Auge  des  Besuchers  auf,  das  zu  fragen  weifs, 
was  diese  Formen  und  Farben  bedeuten.  Es  wohnt 
in  ihnen  das  verstockteste  Selbstgefühl,  das  die  Welt 
nur  als  Reflex  seiner  eigenen  Person  zu  nehmen 
gewohnt  ist. 

Diese  Lustschlösser  würden  gewiss  Schritt  für 
Schritt  den  Weg  der  innern  wie  der  äufsern  Entwick- 
lung vom  Grofsartigen  zum  Eleganten  und  von  da 
bis  an  die  Gränze  des  Anmutigen  erkennen  lassen, 
wenn  sie  unverändert  und  unzerstört  als  historische 
Urkunden  der  Kunst  noch  dastünden.  Bei  der  Ere- 
^^/^-/^     mitage   von  Marly  wissen  wir  jedenfalls,  dafs  die 


Frankreich 


313 


Villen  Palladios  wie  die  Rotonda  von  Vicenza 
und  ihre  Erweiterungen  auf  dem  Lande  das  unver- 
holene Vorbild  waren.  Vier  vollständig  ausgebildete 
Einzelwohnungen  legten  sich,  durch  gangartige 
Gallerien  verbunden,  um  den  Mittelbau,  der  zwei 
Geschosse  von  sieben  Axen  unter  einer  Pilaster- 
ordnung  vereinigte,  und  ein  weites  Parterre  mit  Teich 
darin  überblickte,  während  zu  den  Seiten  ausserhalb 
dieses  Komplexes  noch  sechs  Pavillons,  für  je  zwei 
Bewohner  eingerichtet,  sich  locker  anreihten.  Damit 
war  auch  der  Gruppierung  kleinerer  und  gröfserer, 
mehr  oder  minder  selbständiger  Bestandteile  freier 
Spielraum  eröffnet,  und  jemehr  sich  alle  diese  An- 
lagen wie  in  Versailles,  Grand  Trianon  u.  s.  w.  mit 
den  Gärten  Le  Notres  verbanden,  desto  mehr  ent- 
wickelte sich  in  der  Gruppierung,  wie  in  der  Kunst 
des  Gartenbaues  selbst,  der  malerische  Sinn.  Ja,  es 
ist  wol  kein  Zweifel,  dass  die  Parkanlagen  Le  Notres 
selbst,  von  Versailles  bis  Marly,  eine  Stufenfolge  be- 
zeichnen: von  der  Geltendmachung  eines  herrschenden 
Willens  nach  Aussen,  so  weit  das  Auge  reicht,  bis 
zur  Umkehrung  dieses  Verhältnisses  zur  umgebenden 
Natur,  die  den  Flüchtling  der  menschlichen  Gesell- 
schaft in  ihre  Einsamkeit  aufnimmt,  ihn  nach  Aussen 
abschliefst  und  einhegt,  damit  er  sich  selber  wieder- 
finde im  Schofs  der  Wälder,  —  die  sich  deshalb  nach 
Innen  ihm  zukehrt  und  ringsum  mit  ihren  grofsen 
ruhigen  Augen  hinein  schaut  in  das  Innere  seines 
Hauses. 

Immer  freilich  war  dies  eine  erlesene,  den  ge- 
wohnten Anwartschaften   des  alternden  Königs  be- 


314 


Weiterentwicklung  des  Barock 


reitete  Stätte;  aber  gerade  diese  Bedürfnisse  der 
Bequemlichkeit  und  Vertraulichkeit  des  intimen  Ver- 
kehrs geben  die  Gelegenheit,  den  ländlichen  Villen- 
bau Palladios  mit  Vorliebe  zu  studieren,  ihm  abzulernen 
was  er  zu  bieten  vermochte,  und  in  der  Erfüllung 
dieser  neuen  Ansprüche  französischer  GeseUigkeit 
und  nordisch  häuslichen  Daseins  über  jenes  Vorbild 
weit  hinauszugehen.  Von  jenen  Landhäusern  des 
ItaUeners  entnahm  man  die  breite  Lagerung  in  un- 
mittelbarem Zusammenhang  mit  Garten  und  Terrasse, 
also  den  Verzicht  auf  den  Hochbau  und  die  Bevor- 
zugung des  Erdgeschosses  für  diesen  stetigen  Aus- 
tausch mit  der  Natur,  —  damit  auch  die  zalreichen 
Raumöffnungen  und  vermittelnden  Übergänge,  die 
Vorliebe  für  Säulengänge  und  Wandelbahnen  um 
einen  Mittelplatz,  für  einen  gemeinsamen  Mittelraum 
im  Innern,  der  seinem  Charakter  gemäfs  centrale 
Grundform  erhält,  und  für  möglichste  Mannichfaltig- 
keit  runder,  ovaler,  polygoner  Zimmer  neben  den 
regelmäfsigen  am  Korridor  entlang.  Diese  Studien 
sind  auch  in  Berninis  Tagen  für  die  Entwicklung 
des  römischen  Baustiles  von  unverkennbarer  Wichtig- 
keit gewesen,  also  der  itahenischen  wie  der  fran- 
zösischen Schule  zu  Paris  gemeinsam.  Dagegen  ent- 
sprachen diese  Vorbilder  weder  in  der  lockeren  und 
luftigen  Gestaltung  der  Sommervilla,  noch  in  der 
weiträumigen  Monumentalität  des  Palastes  den  An- 
forderungen, die  schon  das  nordische  Klima  und 
die  häusliche  Lebensweise  in  Frankreich  an  die 
Wohnung  stellen  mussten.  Die  schweren  Kamine 
freilich,  die  den  Renaissancebau  Frankreichs  beengten 


in  Frankreich  zum  Rokoko 


315 


und  beeinträchtigten,  wichen  immer  mehr  den  ele- 
ganteren, mögUchst  zurücktretenden  ,,Cheminees  ä  la 
royale"  mit  Spiegel  darüber,  die  Mansart  erfunden 
hatte;  aber  immer  noch  ist  der  Einfluss  der  nieder- 
ländisch-nordischen Stube,  deren  Grundgefühl  Italien 
nicht  kennt,  unläugbar  lebendig.  Sehr  bezeichnend 
jedoch  für  den  Charakter  des  Lustschlosses  ist  auch 
die  Erleichterung  der  Deckendekoration  und  der  be- 
freiende Übergang  zu  schlichtem  Weifs  und  Gold  für 
die  Ausstattung  des  ganzen  Innenraums. 

Je  mehr  der  Monarch  selbst  sich  kränkelnd 
und  verstimmt  zu  bigotten  Anwandlungen  zurück- 
zog, desto  ungestörter  genoss  andrerseits  die  Jugend 
in  den  ,,petites  maisons"  zu  Paris  und  auf  den  Land- 
sitzen in  der  Runde  das  Dasein  nach  ihrer  Art,  in- 
dem sie  sich  die  Wirklichkeit  des  Augenblicks  mit 
allen  Reizen  schmückte,  die  dem  sorglosen  Sinn  und 
der  sprudelnden  Laune  des  Glücklichen  sich  bieten 
mögen. 


R  OKOKO 


I. 

Um  die  strengen  Gewohnheiten  des  Monumen- 
talbaues in  Fhiss  zu  bringen  und  die  vorwiegend 
verstandesmäisige  Tätigkeit  der  Meister  zu  schöpfe- 
rischer Gestaltung  fortzureifsen ,  bedurfte  es  der 
wiederholtenDurchdringung  mit  dem  genialen  Schwung 
des  itaUenischen  Barockstiles  und  der  niederländischen 
Malerei,  und  nur  die  glücklichste  Klärung  dieser  be- 
fruchtenden Elemente,  die  feinsinnigste  Läuterung 
in  dem  geistig  so  viel  höher  gebildeten  und  sorg- 
fältiger geschulten  französischen  Geschmack  hat  jene 
köstlichsten  Früchte  des  neuen  Stiles  gezeitigt,  die 
als  vollendeter  Ausdruck  der  eleganten  Welt  in  den 
Tagen   Ludwigs  XV.    zu    gelten    berechtigt  sind. 

So  geschieht  es  nicht  ,, auffallender  Weise",  wie 
Albert  v.  Zahn^)  sich  ausdrückt,  sondern  sowol  für 
den  Zusammenhang  der  Kunstentwicklung  sehr  er- 


i)  Barock,  Rococo  und  Zopf,  Zeitschr.  f.  bildende  Kunst, 
Leipzig  1873. 


Watteau 


317 


klärlicher,  man  möchte  sagen    notwendiger  Weise", 
dass  ein  Maler,  der  vor  der  vollen  ,, Ausbildung  des  / 
architektonischen  Rokoko  gestorben  ist,  der  charak- 
teristischeste Künstler  dieses  Stiles  ward:  Watte.au,        tfaHou  f 
der  nach  etwa  zehnjähriger  gereifter  Kunsttätigkeit 
1721  starb." 

Ein  Maler  wie  Rubens  hatte  den  römischen 
Barockstil  mit  vollstem  Verständnis  nach  den  Nieder- 
landen herübergenommen  und  das  plastische  Ge- 
staltungsprinzip in  das  malerische  Fluidum  versetzt, 
so  dass  es  für  den  nordischen  Kunstgeist  geschmeidig 
wurde.  Ein  Maler,  der  die  Vorzüge  dieser  nieder- 
ländischen Schulung  sich  angeeignet,  mochte  auch 
zunächst  im  Stande  sein,  dem  neuen  Ideal,  das  sich 
so  vielfach  aus  diesen  Einflüssen  erst  entwickelt,  den 
lebendigsten  Ausdruck  zu  leihen.  Der  technische 
und  koloristische  Zusammenhang  der  Malweise 
Watteaus  mit  dem  Vorbild  der  Meister  von  Ant- 
werpen, wie  Rubens,  van  Dyck  oder  Teniers,  ist 
mittlerweile  eine  anerkannte  Tatsache.  Aber  Rubens 
hatte,  wie  A.  v.  Zahn  bemerkt,  neben  seiner  voll- 
kräftig leuchtenden  auch  eine  schimmernde  und 
spielende  Palette  von  Tönen,  die  er  vorwiegend  in 
seinen  Skizzen  oder  auch  in  den  Hintergründen  und 
Nebensachen  verwendete.  Und  bezeichnender  Weise 
war  es  grade  diese,  nicht  die  volle  oder  gar  ge- 
steigerte Wirklichkeit  wiedergebende,  sondern  nur 
den  malerischen  Schein  der  Dinge  bewahrende  Kunst, 
die  Watteau  sich  angeeignet  hat.  Nur  sie  entsprach 
dem  Ausdruck  dessen,  was  diese  verfeinerte  Gene- 
ration vom  Leben  wollte:  alle  Reize  der  Daseins- 


318  Rokoko 

wonne,  noch  immer  den  ganzen  berauschenden 
Schimmer  seiner  übersprudelnden  Fülle,  ja  möglichst 
vervielfältigten  und  erfinderisch  ausgebeuteten  Genufs, 
nur  bei  Leibe  keinen  Ernst,  keine  brutale  Wahrheit, 
die  alle  Beteiligten  beim  Wort  nimmt,  keine  uner- 
bittlichen Konsequenzen  des  Vergnügens. 

Watteau  hat  ,,die  farbenreizenden  Kontraste 
flandrischer  Bilder  in  ein  so  lichtes,  feingestimmtes 
Aquarell-Kolorit  übersetzt",  sagt  Zahn;  aber  er  hat 
auch  immer  den  Goldton  des  Sonnenscheins  darüber 
ausgegossen,  den  er  wol  Niemand  anders  als  Claude 
Lorrain  abgesehen,  mit  dem  er  schon  durch  seine 
VorHebe  für  die  herrliche  Parknatur  Le  Notres  ver- 
wandt ist.  Das  Gröfsenverhältnis  seiner  Figuren  zu 
ihrer  Umgebung,  wie  es  seine  beliebtesten  Meister- 
werke aufweisen,  ist  auch  nur  erklärbar,  wenn  wir  die 
Staffage  der  Landschaft  Claude's  auf  der  andern  Seite 
den  Bildern  und  Skizzen  verwandten  Formates  von 
Rubens  gegenüber  denken  und  eine  Annäherung 
dieser  Wirklichkeitsgrade  versuchen:  nicht  ganz 
Märchen  wie  bei  Claude,  nicht  ganz  Leibhaftigkeit 
wie  bei  Rubens.  Grade  in  diesem  Prozess  aber  be- 
zeichnet der  herrUche Gilles"  der  Sammlung  La  Caze 
im  Louvre  den  Ausgang  vom  Mafsstab  der  Rubens 
und  van  Dyck. 

Watteau  hat  ,,die  überquellende  oder  mindestens 
dem  kräftigsten  Naturleben  entstammende  SinnUch- 
keit  jener  Schule  in  so  konventionell  galante  Ko- 
mödienscenen  verwandelt,  seine  Gebärden  so  inner- 
halb des  eleganten  Tanzmeisterbenehmens  gehalten, 
dass  Alles,  was  in  ihm  tatsächlich  stilistische  Eigen- 


Watteau 


319 


Schäften  des  Rokoko  sind,  als  neue  und  originelle 
Erscheinung  des  malerischen  Gebietes  bezeichnet 
werden  muss".  Es  ist  geradezu  die  Grundlage  der 
französischen  Kunst  darin  gewonnen:  Schönheit  ist 
"  lautet  ihr  Bekenntnis,  in  dem  das  eitle  Selbst- 
gefühl des  Einzelnen  sich  auflöst  in  die  einheUige 
Gesellschaft  der  bevorzugten  Stände,  um  in  diesem 
mannichfaltigen  Reflex  erstrecht  der  Daseinswonne 
teilhaftig  zu  werden.  Das  Konventionelle  ist  nichts 
Anderes  als  die  Voraussetzung  dieses  Spieles ,  der 
Salonton  der  adligen  Kreise  und  aller  Vertrauten, 
die  sich  darin  zu  bewegen  wissen,  bis  hinunter  zu 
den  Komödianten,  die  notwendig  mit  dazu  gehören. 

Watteau  hat  wie  in  seinem  Kolorit  und  seinen 
Typen ,  so  ,, namentlich  in  seinen  dekorativen  Kom- 
positionen, Grotesken  mit  Figuren,  zwar  nicht  die 
Ornamentformen,  aber  die  stilistischen  Grundzüge 
des  Rokoko  in  unverkennbarer  Eigentümlichkeit  vor- 
gebildet. Bei  ihm  ist  die  gesuchte  Einfachheit,  das 
Schlanke,  Graziöse,  Spielende,  Elegante  der  vor- 
herrschende Zug  der  künstlerischen  Phantasie",  urteilt 
ein  so  feinsinniger  Kenner  dieses  Stiles,  wie  Albert 
V.  Zahn  es  war,  und  es  kommt  mir  darauf  an,  nicht 
allein  pietätvoll,  sondern  auch  auktoritativ,  die  vollste 
Ubereinstimmung  mit  ihm  in  dieser  Hauptsache  zu 
betonen.  ^) 

War  Antoine  Watteau  1684  in  Valenciennes, 
also  im  alten  Hennegau  geboren,  das  erst  1678  an 

l)  Ich  lasse  hier  natürlich  mit  Absicht  die  seither  ange- 
M'achsene  Litteratur  über  Watteau  ausser  Betracht. 


320 


Rokoko 


Ludwig  XIV.  abgetreten  wurde  und  damals  seinem 
niederländischen  Wesen  noch  nicht  entfremdet  w^ar, 
so  steht  in  Paris  unmittelbar  neben  ihm  der  Sohn 
eines  niederländischen  Tischlers  Gilles-Marie  op 
den  Oordt,  1672  in  Paris  geboren  und  französisch 
Oppenort  genannt,  den  ein  Kunstkritiker  von  1748 
in  lobendem  Sinne  als  ,, Lebrun  der  Architektur"  be- 
zeichnet, während  Quatremere  de  Quincy  ihn  tadelnd 
1832  sogar  zum  ,, Borromini  Frankreichs"  erhebt.  — 
Jedenfalls  verquickt  auch  er  ein  starkes  italienisches 
Element,  das  er  während  eines  achtjährigen  Aufent- 
haltes in  der  Heimat  des  Barock  in  sich  aufgenommen 
hatte,  mit  der  unverkennbaren  Verwandtschaft  seines 
niederländischen  Stammes ,  mit   dem    derben,  aber 
schwungvollen  Geschmack  der  Zeichner  und  Stecher, 
die  sich  an  Rubens  geschult,  d.  h.  mit  der  Eigen- 
schaft, die  auch  seinem  Vater  schon  die  Aufnahme 
bei  Lebrun  verschafft  haben  wird.    ,,In  vielen,  na- 
mentlich in  seinen  schweren  Profilen  steckt  er  noch 
ganz  im  Barock",  bemerkt  Dohme,  und  will  ihn  des- 
halb den  eigentlichen  Rokokomeistern  noch  nicht  zu- 
gezählt wissen.    Aber  zu  den  Begründern  oder  Vor- 
läufern des  Stiles  gehört  er  jedenfalls,  so  gut  wie 
Watteau  als  Maler;  denn  grade  seine  Feder-  und 
Tuschzeichnungen    waren    es    nach    dem  Zeugnis 
d'Argensvilles ,    die    aufs  Eifrigste    gesucht  wurden 
und  seinen  grossen  Ruhm  allein  begründet  haben : 
,,denn   ihre    geniale  und    doch  liebenswürdige  Be- 
handlung verhinderte  die  Wahrnehmung,   dass  sie 
ausgeführt  eben  weniger  wirkten".  —  Seine  Stiche, 
die  17 15  — 1722  erschienen,  haben  viel  dazu  beige- 


Op  den  Oordt 


321 


tragen,  das  Gefühl  zu  schmeidigen  und  in  die  Schule 
Mansarts ,  aus  der  er  selber  hervorgegangen ,  den 
Schwung  der  malerischen  Auffassung  hineinzubringen. 
Seit  17 19  bis  1736  war  er  beim  Weiterbau  von  St. 
Sulpice  beschäftigt  und  leitete  vor  allen  Dingen  die 
dekorative  Ausschmückung  des  Palais  Royal ,  also 
die  Herstellung  des  Schauplatzes  für  die  Feste  des 
Herzogs  von  Orleans  während  der  Regentschaft. 
Hier  „tritt  an  die  Stelle  der  geometrischen  Grund- 
gestaltungen in  den  Wandvertäfelungen,  Türen  und 
Verkleidungen  eine  vielfach  geschwungene  Linien- 
führung. Die  Straffheit  der  Formen  verschwindet, 
um  einer  zierlich  flotten,  in  hohem  Mafs  gekünstelten 
Zeichnung  Platz  zu  machen,  und  verwandelt  die  tra- 
genden GUeder  in  nur  schmückende,  nimmt  ihnen 
den  Ausdruck  ihrer  baulichen  Pflichten ,  vertauscht 
ihn  mit  dem  eines  mühelos  heitern  Daseins ,  und 
vermischt  ihre  Einzelheiten  wie  die  Muscheln,  Fratzen 
und  Gehänge  willkürlich  zu  überschwänglichen  viel- 
förmigen  Gebilden,  aber  stets  in  leichtbeweglichem 
Fluss."  ^) 

Der  Dritte,  der  die  künstlerische  Genialität  des 
Barockstües  in  den  Fortschritt  der  französischen  Be- 
strebungen hineinbrachte,  war  Juste  Aurele  Meis- 
sonier  (1695 — ^750)^  der  Goldschmied  und  Bild- 
hauer, Zeichner  und  Maler  wie  Baumeister  in  einer 
Person  war.  Er  kommt  aus  Turin,  wo  seit  Guarinis 
Tagen  sich  ein  neuer  Mittelpunkt  mit  neuer  Schaf- 
fensgelegenheit ausgebildet  hatte ,   und  bringt  von 


i)  Gurlitt  a.  a.  O.  II. 
Schmarsow,  Barock  und  Rokoko. 


21 


322 


Rokoko 


dort  die  entschiedenste  überall  plastisch  fühlende 
Gestaltungskraft  mit.  ,,In  Bibbienas  Entwürfen  und 
den  Dekorationen  des  Schlosses  von  Stupinigi  bei 
Turin  findet  man  die  Keime  seiner  blendend  geist- 
reichen Kunstweise,  die  mit  breiter  Pracht,  wie  mit 
ungewöhnlicher  Sicherheit  der  Auffassung  und  völ- 
liger Beherrschung  des  Technischen  die  französische 
Feinheit  und  Schärfe  verjüngen  half"  —  lautet  das 
Urteil  des  Einen ^).  ,,Meissonier  gieng  vom  Studium 
Borrominis  und  Pozzos  aus,  und  selbst,  als  er  dann 
in  Paris  mit  voller  Seele  sich  der  neuen,  eben  empor- 
blühenden Stilrichtung  hingab ,  deren  spätem  Cha- 
rakter er  wesentlich  ausbilden  half,  bÜeb  ihm  immer 
ein  gut  Teil  von  dem  Schwulst  des  Barock  eigen. 
Durch  die  Bedeutung,  welche  dieser  Mann  gewinnt, 
geht  die  eigentliche  national-französische  Grazie  zum 
guten  Teil  verloren/'  —  schreibt  der  andere  Kenner.-) 
Durch  ihn  aber  wird ,  darüber  sind  alle  vor- 
urteilsfreien Forscher  einig,  das  Rokoko  zu  seiner 
vollen  Erfüllung  geführt.  Rein  auf  nationale  Ele- 
mente kann  es  sich  nicht  gründen.  Seine  Pariser 
Entwürfe  für  getriebene  Silberarbeiten  ,, zeigen  schon 
1723  ein  völlig  reifes  Rokoko",  lesen  wir  (nach 
Zahn)  auf  der  selben  Seite,  wie  Gurlitts  eigene  An- 
sicht, die  Ausführung  seines  Entwurfes  zur  Fassade 
von  St.  Sulpice  (1726)  wäre  ,,die  barockeste  Ge- 
staltung in  Frankreich  geworden".    Sein  Haus  Bre- 


1)  Gurlitt  a.  a.  O. 

2)  Dohme,  Im  neuen  Reich  1874:  Barock-  und  Rokokobauten 
in  Berlin  und  Potsdam. 


Meissonier 


323 


thous  wird  hinsichtlich  der  Grundrissbiidung  die 
höchste  Vollendung  des  französischen  Wohnhauses 
genannt,  aber  seine  Stiche  für  die  Innenausschmückung 
eines  Salons  der  Prinzessin  Czartoryski  oder  den 
Saal  des  Grafen  Bielinski  (1734)  „überbieten  die  lau- 
nischesten Erzeugnisse  der  Barockarchitektur  und 
zeigen  sein  Vergnügen,  ganze  Aufbauten  und  Bogen- 
stellungen  zu  biegen,  zu  strecken,  wie  weiches  bild- 
sames Wachs"  (Gurlitt) ;  —  ,,sie  streben  das  Über- 
ladene des  Barock  mit  seinen  perspektivisch  gemalten 
schwer  stuckierten  Decken  doch  mit  der  Grazie  der 
national-französischen  Meister  zu  vereinigen,"  ,, wäh- 
rend das  Vollendetste ,  was  Meissonier  in  eigent- 
Uchem  Rokoko  leistet ,  in  dem  projet  d'un  trumeau 
de  glace  pour  un  grand  cabinet  fait  pour  le  Portu- 
gal; Huguier  sculp.  zu  Tage  tritt"  (Dohme). 

Daraus  geht  jedenfalls  hervor,  dass  die  beiden 
Erscheinungen,  die  man  in  der  Kunstgeschichte  mit 
den  Namen  Barock  und  Rokoko  bezeichnet ,  eine 
ganze  Weile  in  Frankreich  neben  einander  her- 
gehen. Und  da  das  Eindringen  des  Barockstiles  in 
der  Malerei  durch  Rubens  schon  seit  1625,  in  der 
Baukunst  aber  jedenfalls  von  Rom  aus  schon  in  den 
dreissiger  oder  vierziger  Jahren  begonnen  hat,  so 
ist  historisch  das  Wahrscheinlichste ,  dass  die  Ent- 
stehung des  Rokoko  diese  spätere  ins  Malerische 
gehende  Milderung  des  römischen  Barockstiles  vor- 
aussetzt ,  dass  es  als  Kind  der  lebendigen  Durch- 
dringung der  nationalen  französischen  Kunst  mit 
diesem  Gestaltungsprinzip  betrachtet  werden  muss. 
Fragen  wir  aber  nach  der  französischen  Kunst,  die 


324 


Rokoko 


dieser  italienische  Stil  im  17.  Jahrhundert  vorfindet, 
so  ist  es  wieder  eine  wesentlich  von  Italien  be- 
stimmte, nämlich  die  Renaissance,  die  in  Frankreich 
vorzugsweise  aus  Oberitalien  übernommen  ward  und 
die  Entwicklungsphasen  dieser  Nachbarin  in  der 
nämUchen  Folge  nacherlebt.  Es  Hegt  also  in  Paris 
ein  umgekehrtes  Verhältnis  vor  als  das  oben  in 
Rom  festgestellte.  In  Rom  war  der  Barockstil  durch 
Michelangelo  geschaffen ;  die  Renaissance  drang  aber 
wieder  von  ausserhalb  auf  ihn  ein  und  verwandelte 
sein  streng  plastisches  Wesen  in  malerischem  Sinne, 
wie  wir  besonders  an  Berninis  Beispiel  nachzuweisen 
versucht.  In  Paris  dagegen  war  die  Renaissance  vor- 
handen ,  immer  ausschliesslicher  auf  das  Vorbild 
Palladios  und  der  gelehrten  Vitruvianer  sich  steifend, 
und  der  Barockstil  drang  erobernd  ein,  so  dass  grade 
da  eine  Verquickung  erfolgte ,  wo  er  in  der  gemil- 
derten Form  auftrat,  d.  h.  wo  Berninis  Richtung  mit 
der  Palladios  übereintraf :  in  der  Stadtwohnung  mit 
Garten  oder  im  Landhause  draussen  im  Park. 

Wird  dieser  historische  Erklärungsversuch  vor- 
läufig zugelassen,  so  ergiebt  sich  für  den  Geschichts- 
forscher wie  für  den  Ästhetiker  die  Aufgabe,  den 
Beitrag  aller  dieser  Faktoren  in  der  angegebenen 
Reihenfolge  herauszuschälen  und  nach  dem  Wesen 
der  drei  Hauptkünste  zu  unterscheiden.  Aber  sie 
dürfen  beide  auch  des  angestammten  Erbteils  der 
französischen  Kunst  nicht  vergessen,  das  diese  aus  den 
Jahrhunderten  ihrer  selbständigen  Blüte  bewahrt  und 
aus  dem  Mittelalter  durch  alle  Bemühungen  der  Re- 
naissance hindurch  gerettet  hat.    Hier  liegt  ihr  Cha- 


Ein  StiP 


325 


rakter  als  nordische  Kunst,  die  sie  von  allem  Italie- 
nischen unterscheidet,  und  hier  auch  die  Neigung 
ihrer  eigenen  Natur,  die  der  künstlerischen  Gross- 
macht im  Norden ,  der  niederländischen  Malerei, 
einen  so  starken,  all  ihre  Schicksale  mit  bestimmen- 
den Einfluss  gewährt :  parce  qu'on  revient  toujours 
ä  ses  Premiers  amours. 


2. 

Unsere  besten  Kenner  des  Rokoko,  die  mit  be- 
geisterter Liebe  an  ihm  gehangen  haben ,  Albert 
V.  Zahn  und  Robert  Dohme,  waren  nacheinander  zu 
der  zweifelnden  Frage  gekommen,  ob  es  denn  über- 
haupt als  Stil  gelten  dürfe.  ,,Bei  der  Baukunst  kann 
von  einer  eigentlichen  Rokoko  -  Periode  nicht  die 
Rede  sein,"  erklärt  A.  v.  Zahn;  ,, dieser  Stil  hat  mit 
den  Bauformen  des  Äussern  im  Grunde  nur  einen 
negativen  Zusammenhang."  —  Also  wol  ein  Stil, 
aber  kein  Baustil.  Von  der  Innendekoration  aus- 
gehend, bleibe  das  Rokoko  auch  wesentlich  auf  diese 
beschränkt.  Es  seien  die  Decorateurs ,  welche  die 
neue  Ausschmückung  der  Innenräume  zunächst  in 
den  bereits  fertigen  Palästen  und  Wohnhäusern 
,, französischen  oder  italienischen  Barockstils"  an- 
bringen ,  an  deren  Grundrisse  und  räumliche  Ver- 
hältnisse sich  der  veränderte  Stil  der  Ornamentik 
ohne  grellen  Missklang  anschliesse.  Ja,  man  gewinne 
den  Eindruck,  wo  das  Rokoko  bis  in  die  Bauformen 
des  Äussern  vordringe,  da  verrate  sich  überall  eine 
dilettantische  Unsicherheit,  die  mit  der  durchgehen- 


326 


Rokoko 


den  Meisterschaft  in  der  Handhabung  dieser  Formen 
zur  Innendekoration  in  auffallendem  Widerspruch 
stehe.  Alle  diese  mit  dem  Rokoko  in  Zusammen- 
hang stehenden  Formen  des  Aussenbaues  könnten 
als  negative  Leistungen ,  als  reine  Abschwächungen 
des  nüchtern  gewordenen  Barockstiles  betrachtet 
werden.  Die  positiven  Gestaltungen  lägen  auf  dem- 
jenigen Gebiete,  wo  ,,die  struktiven  Gesetze  nicht 
mehr  materiell,  sondern  symbolisch  erfüllt  werden" 
(wie  Gottfried  Semper  sich  ausdrückt)  und  die  tek- 
tonische  Formensprache  in  das  freie  Spiel  der  Phan- 
tasie auf  der  einen,  in  die  bildliche  Darstellung  der 
schmückenden  Naturgestalten  auf  der  andern  Seite 
übergeht. 

Man  sieht  wol,  so  logisch  folgerichtig  und  ge- 
wissenhaft erwägend  v.  Zahn  gedacht  hat,  er  stellt 
sich  doch  auf  den  Boden  der  ,, technischen  und  tek- 
tonischen  Künste",  von  denen  er  mit  Semper  auch 
in  der  stilistischen  Analyse  des  Rokoko  ausgeht,  und 
verliert  grade  den  Punkt  der  Baukunst  aus  den  Augen, 
auf  den  es  vor  allen  Dingen  ankam,  um  die  Selb- 
ständigkeit des  Stiles  zu  ergründen,  nämlich  ,, Grund- 
risse und  räumliche  Verhältnisse"  des  Innern.  Er 
betrachtet  diese  Grundlage  nur  als  ererbt  und  fertig 
zu  Anfang,  —  das  aber  könnte  historisch  ein  Über- 
gang sein  — ,  und  geht  dann,  wie  Jakob  Burckhardt 
in  der  Analyse  des  Barock,  zum  Aussenbau  über, 
—  in  dessen  unzureichender  Durcharbeitung  auch 
wieder  ein  historisches  Moment,  d.  h.  ein  Abbrechen 
der  Entwicklung  vor  ihrer  Reife  gesehen  werden 
könnte.    Vielleicht  hat  ihn  doch  Cochins  Polemik, 


Ein  Stil? 


327 


die  er  als  litterarische  Quelle  noch  überschätzt,  ver- 
leitet, oder  es  fehlt  die  unbefangene  Betrachtung 
der  Denkmäler  in  Frankreich  selber.  Jedenfalls  lässt 
er  sich  die  Hauptfrage  der  Architektur,  die  schöpfe- 
rische Raumbildung,  ganz  entschlüpfen. 

Hier  grade  setzt  Dohme  mit  seinen  Beobach- 
tungen ein,  wie  es  vom  Architekten  nicht  anders 
erwartet  werden  kann,  obwol  auch  er  ausdrücklich 
anerkennt,  an  Sempers-  grundlegende  Gedanken 
müsse  jede  wissenschaftliche  Erörterung  von  Stil- 
fragen sich  anschhefsen.  Aber  Dohme  hat  weder 
so  klar  gedacht,  noch  so  entschieden  gefolgert,  wie 
es  zur  vollen  Verwertung  seiner  Ergebnisse  wünschens- 
wert gewesen  wäre.  Auch  er  erklärt:  das  Rokoko 
sei  kaum  ein  Architekturstil  zu  nennen;  ,,es  ist  viel- 
mehr nur  eine  Dekorationsweise."  Er  geht  also, 
wenn  man  ihn  beim  Wort  nähme,  in  der  Negative 
noch  weiter  als  Zahn,  dem  er  zu  folgen  glaubt.  Und 
er  fragt  sich  gar  nicht,  wie  dieser  doch  getan,  was 
denn  —  das  Rokoko  als  Dekorationsweise  nur  ein- 
mal hinweggedacht  —  als  Unterlage  für  diese  ,, Beklei- 
dungskunst" übrig  bleibe,  als  bauliches  Gerüst,  auf 
dem  sie  ihr  Wesen  trieb.  Und  doch  ist  er  mit  der 
Sachkenntnis  des  Architekten  zum  Verständnis  der 
Baukunst  in  der  Rokokozeit  viel  weiter  vorgedrungen 
als  sein  Vorgänger.  Es  bedarf  nur  der  Anwendung 
der  einfachsten  Grundbegriffe  über  das  Wesen  der 
drei  Hauptkünste,  um  den  Fortschritt  zum  Bewusst- 
sein  zu  bringen. 

Gehen  wir  in  unserer  bisherigen  aesthetischen 
Analyse    nur    vorurteilsfrei  vom  r()mischen  Barock 


328 


Rokoko 


unter  Bernini  und  der  französischen  Kunst  unter 
Ludwig  XIV.,  die  Zahn  mit  dem  Namen  „französischer 
Barock"  zu  belegen  rät,  weiter  zu  den  Erscheinungen, 
die  im  i8.  Jahrhundert  uns  zuerst  in  Paris  begegnen 
und  in  den  Tagen  der  Regentschaft  unverkennbar 
die  Oberhand  gewinnen,  so  muss  sich  eine  Klärung 
der  grundlegenden  Prinzipien  historischer  wie  ästhe- 
tischer Betrachtung  dieser  Kunst  wie  von  selbst  er- 
geben. ^) 

3- 

Schon  in  der  Glanzzeit  Ludwigs  XIV.  bestimmt 
sich  der  Gang  der  Kunstentwicklung  in  Frankreich 
nicht  mehr  durch  die  Aufgaben  der  Kirche,  und  die 
Geschichte  des  Stiles  eilt  am  Kirchenbau  fast  ohne 
ernstliche  Teilname  vorüber,  während  der  Palastbau 
\  sie  in  steigendem  Mafse  beschäftigt.  Nicht  die  Kirche 
von  Val-de-Gräce  in  den  Händen  des  Frangois  Man- 
sart,  oder  die  der  Sorbonne  in  denen  Lemerciers, 
nicht   St.  Sulpice  in    den   Händen  Levaus ,  nicht 

l)  Verfehlt  dagegen  erscheint  uns  von  vornherein  der  Versuch, 
die  litterarischen  Zeugnisse  der  Theoretiker  unter  den  Architekten 
oder  gar  unter  den  gebildeten  Laien  zur  Ergründung  des  Rokoko 
zu  verwerten,  bevor  nicht  die  historischen  Denkmäler  in  vollem 
Umfang  zu  Worte  gekommen.  Theorie  und  Praxis  der  ausübenden 
Künstler  stimmen  oft  wenig  überein,  und  zwar  oft  um  so  weniger, 
je  Wertvolleres  sie  schöpferisch  hervorbringen.  Vor  allen  Dingen 
aber  gehört  zur  kritischen  Ausbeutung  solcher  Schriftquellen  eine 
sichere  Vorbildung  in  den  Grundzügen  aller  Architektonik.  Wo 
Beides,  Kenntnis  der  Denkmäler  und  Klarheit  der  Prinzipien,  noch 
fehlt,  kann  dadurch  nur  Verwirmng  angerichtet  werden. 


Kern  der  Stilbildung 


329 


Ste.  Anne  der  Theatiner  in  denen  Guarinis,  noch 
selbst  der  Invalidendom  in  denen  Hardouin  Mansarts, 
diese  offenkundige  Bestrebung  einen  Kuppelraum 
wie  St.  Peter  in  Rom  für  Paris  zu  schaffen,  —  nicht 
sie  entscheiden  über  die  Herrschaft  der  einen  oder 
der  andern  Schule,  sondern  —  der  Bau  der  Königs- 
schlösser. Und  auch  diese  nicht  sowol  von  Aussen 
durch  ihren  Charakter  als  Monumentalwerke  an  der 
Öffentlichkeit,  so  stark  sie  ihn  betonen,  sondern  von 
Innen,  durch  ihre  Anordnung  und  Gestaltung 
der  Räume  für  den  Bewohner  und  für  die  An- 
sprüche seines  Lebens.  Grade  darin  aber  liegt 
das  historische  Zeugnis,  dass  an  dieser  Stelle  etwas 
Neues  sich  vorbereitet,  dass  die  Bestrebungen  den 
Kern  der  Sache  selbst  erfassen,  dass  das  Verlangen 
der  Zeit  mit  den  eigentlichen  stilbildenden  Faktoren 
beschäftigt  ist  und  grade  dort  ansetzt,  wo  jeder  durch- 
greifende Umschwung  seinen  Anfang  nimmt. 

Der  Schauplatz  der  künstlerischen  Tätigkeit  des 
Rokoko  ist  darnach  vollends  in  der  Wohnung  der 
gebildeten  Stände  zu  suchen,  die  das  Erbteil  des 
grofsen  Königs  übernehmen,  immer  noch  einer  be- 
vorzugten Gesellschaft  nur,  aber  doch  einer  Mehrheit, 
die  zusammen  wirkt.  Und  eben  dieser  Kreis  der 
Privilegierten  sucht  und  findet  in  der  Kunst  des 
Rokoko  den  vollendeten  Ausdruck  seines  Wesens, 
—  so  dass  selbst  die  Fürsten  und  Könige  in  ihren 
Palästen  nur  die  Ausgestaltung  dieses  gemeinsamen 
Ideales  verlangen.  Freilich  konnte  solche  Aufgabe 
in  ihrer  allgemeinen  Bedeutung  als  treibendes  Prin- 
zip der  neuen  Entwicklung  erst  erfasst  werden,  als 


330 


Rokoko 


die  Höhe  der  Lebensauffassung  auch  hier  im  Norden 
nicht  mehr  für  den  Souverän  und  seine  FamiHe 
allein  galt,  sondern  als  Grundlage  der  ganzen  höfisch 
erzogenen  Gesellschaft  gepflegt  ward.  Die  Wieder- 
geburt des  Menschen,  die  wir  als  Ideal  der  ganzen 
Renaissance  anerkennen,  hat  diesseits  der  Alpen  in 
dem  monarchisch  regierten  Staat,  an  dem  neuen 
Mittelpunkt  der  europäischen  Welt  diese  Stufe  er- 
reicht und  diese  Form  angenommen.  Sie  drängt 
nach  der  künstlerischen  Fassung,  nach  einem  eignen 
Stil  in  den  bildenden  Künsten,  die  wir  betrachten. 

Im  Wohnhaus,  Landhaus,  Lusthaus  sollte  das 
Rokoko  zunächst  gesucht  werden,  nicht  im  öffent- 
lichen Gebäude,  das  doch  keine  Person  beherbergt,  ja 
damals  nicht  einmal  eine  selbständige  Idee,  sondern 
Gerechtigkeit  und  Verwaltung,  Handel  und  Industrie, 
Ackerbau  und  Armenpflege  nur  als  Ausfluss  der 
könighchen  Majestät  erscheinen  lässt,  —  noch  weniger 
im  Gotteshaus,  das  so  deutUch  wie  nur  je  die  Spal- 
tung der  irre  gewordenen  Grundgedanken  zeigt,  und 
zwischen  dem  absolutistischen  Ideal  im  Centraibau 
und  dem  intimen  Ideal  des  Betsaales  oder  der  Haus- 
kapelle schwankt,  für  das  Gemeindehaus  aber  gar 
kein  Verständnis  besitzt,  ja  sich  ausdrücklich  von 
ihm  lossagt.  Leider  ist  nun  aber  die  Stätte  der 
bevorzugten  Wirksamkeit  des  Rokoko,  wo  der  Ein- 
blick in  die  treibenden  Kräfte  möghch  wird,  der 
Natur  der  Sache  nach  grade  am  meisten  der  Wan- 
delbarkeit im  Lauf  der  Generationen  unterworfen, 
während  Monumentalbauten  auch  als  fossile  Ver- 
körperungen oft  lange  noch  aufragen.    Grade  die 


Kern  der  Stilbild  un<,' 


331 


glücklichsten  Schöpfungen  der  französischen  Gesell- 
schaft des  i8.  Jahrhunderts  sind  von  der  rächenden 
Nemesis  ereilt,  und  die  mannichfaltigste  Veränderung 
hat  entstellt,  was  der  absichtlichen  Zerstörung  ent- 
gangen war.  Die  Häufigkeit  dieser  Umwälzungen 
von  Paris  erschwert  die  Erkenntnis  des  historischen 
Zusammenhangs  wie  die  Auswahl  der  entscheidenden 
Belege.^)  Die  Ergänzung,  die  Kupferstich  und  Zeich- 
nung gleichzeitiger  Hände  wol  gewähren  können,  sogar 
in  reicher  Fülle  bieten,  hat  doch  nur  relativen  Wert, 
verschiebt  den  Schwerpunkt  von  selbst  auf  die  Be- 
standteile, die  sich  überhaupt  zu  Papier  bringen 
lassen,  und  verleitet  nicht  selten  dazu,  die  wirklich 
ausgeführten  Bauwerke  selbst  und  die  Raumwirkung 
im  Ganzen  zu  vernachlässigen.  So  ist  es  gekommen, 
dass  die  Meister  des  Ornamentstichs  heute  das  Ur- 
teil über  die  Kunst  des  Rokoko  in  einem  Grade  be- 
stimmen, der  bei  dem  eifrigen  Bemühen  um  das 
Kunstgewerbe  zur  Ausschliesslichkeit  zu  werden 
droht.  Die  grofsartige  Leistung,  die  in  Gottfried 
Sempers  ,,Stil  in  den  technischen  und  tektonischen 
Künsten"  vorliegt,  darf  doch  nicht  vergessen  machen, 
dass  dies  Werk  unvollendet  geblieben,  dass  der  ent- 
scheidende Übergang  vom  Kunsthandwerk  zu  den 
grofsen  Hauptkünsten,  der  Architektur  in  erster  Linie, 
dem  Verfasser  nicht  mehr  vergönnt  gewesen,  und 
damit    der   Schritt   zu    tun    übrig    bleibt,    wo  der 


i)  L'Ami  des  jSIonuments  et  des  Arts  (p.  Charles  Normand) 
und  Le  Nouvel  Itineraire.  Guide  artistique  et  archeologique  de 
Paris  par  Charles  Normand.    Paris,  Rue  Miromesnil  98. 


332 


Rokoko 


schaffende  Architekt  ohne  Zweifel  sich  selber  wieder- 
gefunden hätte,  um  den  gewaltigen  Unterschied 
zwischen  Tektonik  und  Architektur  zu  betonen. 
Sollte  es  nicht  möglich  sein,  durch  eine  Verstän- 
digung zwischen  den  Stimmführern  über  die  Kunst 
des  achtzehnten  Jahrhunderts,  die  von  allen  histo- 
rischen Perioden  noch  am  nächsten  liegt,  schon 
einen  Fortschritt  in  der  Erkenntnis  ihres  Wesens 
zu  erreichen,  die  uns  über  die  Dekorationsweise  und 
die  darstellenden  Künste  zugleich  hinausführt  an 
die  Wurzeln  ihrer  Entstehung? 


4- 

Das  französische  Hotel,  wie  es  die  Zeit  Lud- 
wigs XIV.  ausgebildet  hat,  unterscheidet  sich  sehr 
wesentlich  von  dem  italienischen  Palazzo.  Es  kehrt 
nicht  wie  dieser  seine  Stirnseite  von  Unten  bis  Oben 
unmittelbar  gegen  die  Strasse,  sondern  zieht  sie  ge- 
flissentlich davon  zurück.  Der  Hof  mit  seiner  vor- 
deren Umfassungsmauer  legt  sich  geschlossen  davor, 
und  die  Stallungen,  Dienerwohnungen,  Küchen-  und 
Vorratsräume  umziehen  die  Innenseite  neben  der 
Einfahrt  links  und  rechts.  An  der  andern  Schmal- 
seite des  Hofes  öffnet  sich  dann  das  Herrenhaus 
und  umspannt  wol  mit  seinen  Seitenflügeln  die  innere 
Hälfte  des  Rechtecks.  Schon  hier  waltet  oft  ein 
doppeltes  Prinzip  des  Barockstiles  deutlich  genug: 
die  Vorherrschaft  der  Tiefenaxe  für  den  Hof,  die 
Betonung  der  Höhe  für  den  Hauptbau  an  ihrem 
Ende,  aber  auch  der  Unterschied  der  Vorder-  und 
der  Rückseite :  die  erstere  einfach  und  ernst  gehalten, 


Der  Stil 


333 


die  andre  erst  gegen  den  Garten  zu  ein  architek- 
tonisch durchgebildetes  Schaustück,  das  die  Anwart- 
schaft der  Famihe  voll  entfaltet.  Weder  hier  noch 
dort  begünstigt  der  Zusammenhang  mit  Hof  und 
Garten  einen  vollständigen  Fassadenbau.  Wie  an 
der  Rückseite  diese  Beziehung  sofort  eine  offene 
Vermittlung  mit  dem  Innern  nahe  legt,  je  fester  die 
hohen  Mauern  oder  Gebüsch  und  Bäume  den  Gar- 
ten selbst  nach  Aussen  abschliessen,  so  verbietet  der 
,, Ehrenhof"  vorn  gradezu,  die  stereometrische  Un- 
abhängigkeit des  Baukörpers  zu  betonen ,  wie  ein 
italienischer  Palast  etwa  sich  als  grossen  Steinwürfel 
oder  als  kolossales  Parallelepipedon  darstellt,  son- 
dern verlangt  auch  hier  die  Ausbreitung  der  Arme 
um  den  Zugang  wie  zum  Empfange,  bahnt  sich  un- 
willkürlich eine  Überleitung  der  Flügel  zu  den  vor- 
geschobenen Nebenbestandteilen  des  Hauswesens  an, 
wie  eine  fühlbare  Beziehung  zur  Mittelaxe  des  Innern. 
Das  Alles  sind  Keime  der  malerischen  Schönheit, 
die  sofort  gedeihen ,  sowie  auch  hier  die  Tendenz 
in  die  Breite  sich  geltend  macht,  und  die  rechteckige 
oder  ovale  Grundform  des  Hofes  wie  der  Haupt- 
gemächer des  Innern  sich  quer  zu  legen  beginnt.  Es 
fehlt  nicht  an  diesen  Symptomen ,  wie  wir  sahen, 
schon  in  den  Werken  des  Levau. 

Vor  allen  Dingen  aber  mussten  diese  malerischen 
Neigungen  zum  Durchbruch  kommen ,  wenn  Stadt- 
haus und  Landhaus  ihre  Vorzüge  mit  einander  aus- 
gHchen,  und  das  geschah  jetzt  schon  dadurch,  dass 
eben  der  Garten  in  der  Ausbildung,  die  er  durch 
Le  Notre  empfangen,  nun  auch  zum  integrierenden 


334 


Rokoko 


Teil  der  architektonischen  Gesamtkomposition  ward. 
Gab  schon  das  alte  französische  Chäteau  mit  vor- 
geschobenen Ecktürmen  diesen  Trabanten  bald  die 
Aufgabe ,  die  Ausbreitung  der  Hauptstücke  da- 
zwischen in  festem  Rahmen  einzuschliessen,  so  dass 
das  Auge  des  Ankommenden,  sobald  es  das  gleich- 
förmige Paar  der  Pavillons  bemerkt,  der  natürUchen 
Tendenz  seiner  Sehkraft,  in  die  Tiefe  zu  dringen, 
folgt  und  die  Körper,  die  dazwischen  hervor  oder 
zurück  treten,  nach  den  Fühlfäden  der  Perspektive 
ordnet,  so  trägt  die  Gartenkunst  nun  erstrecht  dazu 
bei,  den  freistehenden  Komplex,  sei  es  von  Gebäu- 
den, sei  es  von  mehr  oder  minder  selbständigen 
Teilen  eines  Ganzen,  mit  der  Umgebung  zu  vermit- 
teln, und  zwar  nach  malerischen  Gesichtspunkten. 

So  ergiebt  sich  aber  für  das  Landhaus  und  für 
das  Stadthaus  eine  viel  grössere  Unbefangenheit  in 
der  Disposition  der  innern  Raumbildung ,  weil  das 
Streben  nach  Geschlossenheit  des  Äussern  sich  ein- 
schränkt, und  statt  der  tektonisch  stereometrischen 
oder  der  plastischen  Gesetze ,  die  den  italienischen 
Monumentalbau  so  lange  beherrscht  hatten,  viel  mehr 
die  malerischen,  die  in  Frankreich  schon  durch  die 
Spätgotik  ausgebildet  waren,  unvermerkt  wieder  die 
Oberhand  gewinnen.  Bei  dieser  lebendigen  Be- 
ziehung zu  Hof  und  Garten  aber  musste  sich  noch 
ein  entscheidender  Wandel  einstellen:  der  Verzicht 
auf  den  Hochbau  und  statt  dessen  die  bequeme 
Lagerung  in  der  Breite.    Deshalb  verlegt  diese  Zeit 


y<  das  Hauptgeschoss  gern  ins  Parterre.  Wenige  Stufen, 
oft  als  Freitreppe,   führen  zu  ihm  hinauf.     In  das 


Der  Stil 


335 


obere  Stockwerk  kommen  dann  untergeordnete 
Räume.  Und  selbst  wo  die  Gesellschaftszimmer, 
etwa  wegen  der  Beschränktheit  des  Bauplatzes ,  im 
ersten  Stock  liegen ,  da  ist  doch  die  eigentUche 
Wohnung  des  Hausherrn  oder  der  Dame  im  Erd- 
geschoss.  Die  Treppenanlagen  für  den  Gesellschafts- 
verkehr werden  ausserordentUch  breit,  die  einzelnen 
Stufen  niedriger  noch  als  im  Barock  angelegt,  und 
überall  der  malerische  Reiz  solcher  Vermittlung  aus- 
gebeutet 

Darnach  erst  gewinnen  wir  den  rechten  Stand- 
punkt für  die  Beurteilung  des  Raumgebildes  selber, 
das  nun  so  ungezwungen  und  einfach ,  wie  nie  zu- 
vor, dem  eigenen  Gesetz  von  Innen  nach  Aussen  zu 
folgen  vermag.  In  vielen  Fällen  erhält  sich  gradezu 
als  Kernzelle  der  Salon  ä  l'italienne  in  der  Mitte 
des  ganzen  Grundrisses.  Seinem  Ursprung  aus  dem 
Barock  getreu,  betont  er  die  Höhenentwicklung,  wie 
das  eigentliche  Wachstum  über  die  durchgehende 
Geschosshöhe  des  übrigen  Baues  hinaus ,  und  wird 
wol  gar  durch  Oberlicht  erhellt.  Um  dies  Mittel- 
stück reihen  sich  mannichfaltige  Räume  in  unmittel- 
barer Folge  aneinander,  Vorzimmer,  Speisesaal, 
Salons  für  Herren  und  für  Damen,  Gallerie,  Kabinette, 
und  Schlafzimmer,  und  zwar  die  gemeinsamen  unter 
sich  die  Hauptgruppe  bildend ,  die  besondern  Ge- 
mächer des  Hausherrn  hier,  der  Herrin  da,  der  ein- 
zelnen Familienglieder  oder  Gäste  fernerhin,  in  klei- 
neren Gruppen  enger  zusammengeschlossen ,  aber 
durch  Vorsäle,  Gänge,  Zwischengelasse  und  Durch- 
schlupfe bequem  unter  einander  wie  mit  dem  Auf- 


336 


Rokoko 


enthalt  der  Dienerschaft  und  der  Wirtschaft  ver- 
bunden. Wo  der  Mittelsalon  ä  l'italienne  weicht, 
da  tritt  die  Gruppierung  der  zusammengehörigen 
Komplexe  noch  freier  hervor,  macht  also  die  Orga- 
nisation im  plastischen  Sinne  erstrecht  der  male- 
rischen Ausbreitung  Platz.  Die  letztere  erst  ent- 
spricht dem  Wesen  des  Rokoko  vollauf,  bezeichnet 
aber  auch  die  Auflockerung  bis  zur  Auflösung  des 
Zusammenhalts  von  Innen  her. 

Genug,  es  bietet  sich,  noch  ganz  abgesehen  von 
der  Form  im  Einzelnen ,  das  Bild  eines  lebendigen 
Organismus  als  Ausdruck  des  Systems  von  Zwecken, 
das  sich  hier  zu  einer  Einheit  ineinander  schlingt. 
Dies  beachtenswerte  Gefühl  für  die  lebendige  Be- 
wegung ,  nicht  nur  des  allmählichen  Wachstums, 
sondern  auch  des  Ein-  und  Ausatmens  der  Luft,  für 
das  Schwellen  und  Steigen  der  Daseinslust  und  ihre 
sanfteren  Modulationen,  bis  zurück  ins  lässige  Be- 
hagen, prägt  sich  dann  weiter  aus  in  der  mannich- 
faltigen  Raumbildung  selber.  Auch  hier  ein  Erbteil 
des  römischen  Barock ,  das  weiter  entwickelt  wird 
zu  freierem  Zuge.  Der  Grundriss  der  Räume  wech- 
selt je  nach  ihrer  Bestimmung  zwischen  viereckiger 
und  kreisrunder,  elliptischer  und  sechseckiger  oder 
achteckiger  Grundform ,  zwischen  centralisierender 
und  gestreckter  Gestalt.  Wo  aber  die  alte  regel- 
mäfsige  Rechteckform  auftritt,  da  runden  sich  gern 
die  Ecken  ab ,  sodass  nirgends  die  Gränzlinien  in 
scharfem  Winkel  auf  einander  stossen,  —  und  da- 
mit rühren  wir  an  das  innewohnende  Grundgefühl, 
)l  die  Geschmeidigkeit  des  Lebens  im  Gegensatz  zur 


Der  Stil 


337 


Starrheit  des  stummen  Gesteins,  die  flüssige,  spie- 
lende Gewandtheit  des  Benehmens ,  das  darinnen 
haust.  Dies  vermittelnde  Übergleiten  tritt  auch  an 
allen  andern  Stellen  der  Raumbildung  auf,  wo  sonst 
die  Härte  des  Gesetzes,  die  Schroffheit  der  Abson- 
derung sich  betonen  mochte.  Überall  weicht  die 
KrystaUisation  der  Organisation,  die  Beharrung  der 
Bewegung. 

Jedes  Gemach  hat  seine  luftige  lustige  Weite, 
zu  der  es  sich  ungehemmt  entfaltet,  oder  es  weiss 
sich  in  seine  Kleinheit  und  Enge  selbst  so  Uebens- 
würdig  und  anmutig  zu  finden ,  dass  weder  Ein- 
schränkung noch  Beklemmung  gespürt  wird.  Alle 
Wohnräume  steigen  zu  beträchtlicher  Höhe  über  die 
Häupter  ihrer  Bewohner  empor,  und  die  Decke  legt 
sich  nicht  rechtwinklig  und  kantig  wie  eine  horizon- 
tale Wand  darauf,  sondern  die  senkrechten  Wände 
wachsen,  sich  gegeneinander  neigend ,  in  der  Mitte 
zusammen,  ein  leichtes  Gewölbe  breitet  sich  aus  und  . 
geht  in  ebenso  sanften  Kurven  in  die  aufrechten ! 
Graden  über,  oder  eine  flache  Decke  vermittelt  sich 
ringsum  in  weich  geschwungener  Kehlung.  Dem 
entsprechend  sind  auch  die  RaumöfTnungen  hoch 
und  weit,  Türen  und  Fenster  steigen  gern  an  diese 
obere  Gränze  hinauf,  selbst  wenn  das  letzte  Stück 
über  den  beiden  Flügeln  sich  nicht  mehr  öffnet,  als 
Sopraporte  oder  Oberfenster  geschlossen  bleibt,  und 
als  solche  Zusammenfassung  der  lebendigen  Glieder 
die  Einheit  des  ganzen  Gewächses  betont.  Deshalb 
sind  sie  von  einem  einheitlich  verlaufenden  Rahmen 
umzogen,  der  sie  meist  in  dem  weichen  Flachbogen 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  22 


338 


Rokoko 


Überspannt,  der  auch  die  Grundform  aller  Wölbungen 
bildet,  —  wieder  ein  charakteristisches  Wahrzeichen 
der  Zeit,  das  man  charakterlos  genannt  hat,  weil 
sich  noch  immer  die  ethische  Auslegung  so  leicht 
der  ästhetischen  Auffassung  unterschiebt. 

Flügeltüren  und  Flügelfenster  (die  auch  ihrerseits 
wie  Türen  auf  den  Boden  reichen)  bekunden  das 
starke  Bedürfnis  nach  Raumöffnung  und  Vermittlung 
zwischen  den  Gemächern  unter  sich  wie  mit  ihrer 
Umgebung  draussen,  die  Abneigung  gegen  alle  ab- 
geschnittene Geschlossenheit,  die  als  Hindernis  freier 
Bewegung  oder  gar  als  Zwang  und  Haft  empfunden 
werden  könnte ,  während  überall  die  MögHchkeit 
bleiben  soll,  die  Raumschliessung  zu  vollziehen  nach 
Bedarf  und  Laune.  Auch  geschlossen ,  erhalten 
diese  Fenster  und  Türen  das  Gefühl  des  Zusammen- 
hangs lebendig. 

Das  Bedürfnis  nach  Licht  und  Luft,  die  Freude 
am  Hellen  und  Weiten  kommt  hinzu,  und  ihm 
weichen  sogar  die  Mauern  selbst.  Alle  geschlossenen 
Flächen,  die  Türflügel  wie  die  Wände  werden  mög- 
Hchst  licht  gehalten,  das  Weiss  wird  herrschende 
Farbe  des  Innern.  Bevor  aber  die  Farbenskala  des 
Stiles  sich  darnach  abtönt,  tritt  auch  eine  andre  Er- 
findung hinein,  die  die  Wand  nicht  nur  erhellt,  son- 
dern sie  dem  Fenster,  der  Öffnung  ähnlicher  macht, 
und  ausser  dem  Licht  auch  der  Luft,  der  Weite 
selber  Eingang  gestattet:  das  ist  der  Spiegel.  Über 
dem  Kamin,  der  zu  einem  eleganten  Wandschmuck 
geworden  ist,  jemehr  man  sein  eigenstes  Volumen 
in  die  Mauer  selbst  verlegt,  und  nicht  aufdringlicher 


Der  Stil 


339 


sich  vorschiebt  als  ein  Spiegeltisch  oder  ein  Bet- 
schemel, also  über  der  unvermeidlichen  Öffnung,  ist 
der  erste  Platz  für  die  Scheinöffnung,  die  Spiegel- 
fläche, die  eine  ähnliche  Erweiterung  des  Raumes 
bewirkt.  Dann  aber  erscheinen  ganze  Spiegelwände 
als  Äquivalente  der  Fenster,  von  der  nämlichen 
Rahmenform  umgränzt,  so  dass  in  einem  ovalen 
oder  polygonen  Salon,  der  gegen  den  Garten  hinaus 
gebaut  ist,  wol  nur  die  Türen  oder  eine  feste  Wand- 
fläche, die  gar  noch  verkleidete  Türöffnung  sein  kann, 
übrig  bleibt,  wie  z.  B.  im  Hotel  de  Soubise,  während 
die  Decke  mit  ihrem  blauen  Grunde  zwischen  goldenem 
Rahmenwerk  den  offenen  Himmel  bedeuten  will. 

Mit  diesem  Verlangen  nach  Helligkeit  und  Luftig- 
keit auch  der  heizbaren  Gemächer  verschwindet 
dann  aus  der  WandgUederung  der  letzte  Rest  tek- 
tonischen  Aufbaues,  der  die  Konstruktion  als  solche 
darstellt  und  hervorhebt.  Die  volle  Beleuchtung  des 
ganzen  Raumes  verträgt  nicht  ihren  Gegensatz,  den 
scharfen  dunkeln  Schatten;  deshalb  müssen  die  vor- 
springenden Profile  der  Pilaster  und  Gesimse  zu- 
sammenschrumpfen, überhaupt  alle  starken  Relief- 
erhebungen sich  mildern,  glätten,  in  sanften  Über- 
gängen in  einander  fliessen.  Die  ererbten  Bauglieder 
werden  durch  verdünnte  Formen  ersetzt.  Der  Pi- 
laster verwandelt  sich  in  eine  Lisene,  die  nur  schwach 
über  die  Fläche  vorragt,  und  giebt  damit  auch  Ka- 
pitell und  Basis  auf.  Der  Unterschied  von  tragenden 
und  getragenen  Teilen,  der  Gegensatz  von  Kraft 
und  Last,  den  die  Barockmeister  aus  Freude  an 
dem  plastischen   Drang  gesteigert  hatten,  um  die 

22* 


340 


Rokoko 


Leistung  der  Energie  recht  fühlbar  hervorzutreiben, 
er  wird  in  leichtem  Spiel  hier  mühelos  ausgeglichen, 
vermittelt,  ja  wie  in  Lauben  unter  freiem  Himmel 
völlig  aufgehoben.  Die  Decke  drückt  ja  nicht  schwer, 
sondern  schwingt  sich  freiwillig;  aber  nicht  aus  ein- 
zelnen Bestandteilen  wie  das  gotische  Rippengewölbe, 
sondern  als  einheithch  gewachsene  Fläche,  als  ge- 
breitetes Zelt,  weiss  wie  das  feinste  Linnen  oder  gar 
blau  wie  das  Sternenzelt.  Deshalb  genügt  überall  ein 
schmales  Leistenwerk.  Die  Verwandlung  in  diesem 
Sinne  lässt  sich,  wie  es  unsern  Kennern  nicht  ent- 
gangen, durch  alle  einzelnen  Stadien  verfolgen:  die 
Regentschaft  hat  meistens  noch  die  letzten  Andeu- 
tungen von  Kapitellen.  Die  Gesimse  verUeren  viele 
der  traditionellen  Einzelgheder ,  vor  allem  die  Kon- 
sole und  den  Zahnschnitt,  die  das  Gefüge  des  Zimmer- 
manns bezeichnen.  Scharfe  Winkel  geben  auch  noch 
zu  entschiedene  Schattenabstufung;  um  sie  zu  ver- 
meiden, werden  deshalb  überall  die  Ecken  abgeschrägt 
und  ausgefüllt,  sodass  nun  das  Licht  gleichmäfsig 
in  den  stumpfen  oder  abgerundeten  Übergang  hinein- 
fliesst.  Selbst  die  Holzbekleidung,  die  unten  bis 
zu  einer  gewissen  Höhe  ringsum  läuft,  schwindet 
mehr  und  mehr  ein;  denn  der  stärkere  Anlauf  hat 
keinen  Sinn  mehr  bei  einem  so  leichten  Aufschwung 
des  Ganzen.  Es  bleibt  nur  die  elastische  Berührung 
des  Parquets,  wie  beim  graziösen  Gang  auf  den 
Zehen  oder  in  der  Tanzpose  des  Menuetts:  nur 
Rahmenwerk,  kein  tektonisches  Gefüge  geschichteten 
Materiales,  aber  auch  keine  wuchtig  schwellende 
Masse  mehr. 


Der  Stil 


341 


5- 

Damit  sind  wir  bei  Sempers  Charakteristik  des 
Stoffgebildes  angekommen,  der  nur  die  desRaum- 
gebildes  vorangehen  musste.  ,,Das  Rahmenwerk 
wird  zum  Organismus  und  beginnt  alle  andern 
traditionellen  Formen  der  Baukunst  zu  ersetzen."  — 
,,Der  Rahmen  umschliesst  die  Füllung  pflanzenhaft, 
umrankt  sie  gleichsam  als  organisch  Belebtes,  hört 
daher  auf,  wie  früher,  krystallinisch-eurhythmisch  zu 
sein.  Das  Pegma  löst  sich  in  gleichsam  flüssige 
vegetabihsche,  der  strengen  Regelmäfsigkeit  wider- 
streitende Elemente  auf."^) 

Sempers  Meinung,  aus  ,,der  wahren  Idee  des 
Rokoko",  die  er  damit  gefunden  zu  haben  glaubt, 
,, Hesse  sich  dieser  Stil  in  seinem  Wesen  konstruieren", 
ist  zunächst  nur  für  ,,die  technischen  und  tekto- 
nischen  Künste",  mit  denen  sich  sein  ,,Stil"  befasst, 
zu  verstehen.  Und  fragen  wir,  in  welchem  Material 
sich  die  struktive  Idee  des  Rokoko  nach  Semper 
am  Adäquatesten  verwirklichen  liefs,  so  weist  er 
dem  Porzellan  diesen  Einfluss  auf  die  Geburt  des 
Rokoko  an.  A.  v.  Zahn  hebt  dagegen  hervor,  dass 
chronologische  Beweisstücke  sich  dieser  Annahme 
entgegenstellen,  und  setzt  dafür  die  Stuckmasse  an 
die  Stelle.  Der  Porzellanstoff,  dessen  eigentümliche 
Natur  sich  allerdings  den  Rokokoformen  auf  das 
Fügsamste  anschmiegt,  sei  doch  wesenthch  infolge 
der  Verwandtschaft  mit  den  struktiven  und  plasti- 
schen Eigenschaften    des  Stuckes  ein    so  überaus 


I)  Der  Stil  II  {1879),  S.  333- 


342 


Rokoko 


charakteristischer  Träger  und  Repräsentant  dieses 
Stiles  geworden.  Und  in  der  Tat,  wer  die  Ausbil- 
dung der  Stuckatur  in  der  Innendekoration  des 
Barockstiles,  etwa  seit  den  Tagen  des  Pietro  da 
Cortona  verfolgt  hat,  begleitet  sie  auch  ohne  Be- 
fremden in  diese  letzte  Verwandlung  hinein.  Dieser 

leicht  bewegliche,  auf  die  empfindhchste  Fühlung 
und  Ubereinstimmung  mit  den  Launen  des  Mode- 
geschmacks hingewiesene  Zweig  des  Kunsthandwerks" 
verriet  schon  in  Rom,  wie  wir  gesehen,  die  durch- 
gehende Verflachung,  die  flüssigere  Geschmeidigkeit, 
die  Mäfsigung  der  Überkraft  des  eigentlichen  Barock- 
stiles zu  Gunsten  der  Flächenfreude,  so  dass  äussere 
wie  innere  Gründe  dafür  sprechen,  auch  der  weiteren 
Entwicklung  unter  französischen  Händen  habe  dies 
nämliche  Material  zu  Grunde  gelegen ,  und  schon 
Meistern  wie  Berain  die  Rücksicht  auf  seine  tech- 
nische Behandlungsweise  aufgenötigt,  wie  das  Frei- 
handmodellieren, die  Verwendung  von  Hohlformen 
zum  Aufdrücken  der  Ornamente  auf  den  frischen 
Kalkstuck,  der  Profilschablone  (Leyer),  zum  Ziehen 
der  gradlinigen  und  in  regelmäfsigen  Kurven  laufenden 
Profilleisten  u.  s.  w.,  wie  Zahn  hervorhebt.  Sicher 
ist  auch  die  Beobachtung  richtig,  dass  sich  im  Rokoko 
die  breiartige  und  erhärtende,  die  plastisch  duktile 
Natur  der  Stuckmasse  herauserkennen  lässt.  Aber 
wenn  das  Rokoko  ihr  die  Textur  der  im  Wachs- 
tum erhärtenden  Muschelschale  entlehnt,  so  fehlt 
eben  doch  zur  vollen  Erklärung  des  Stiles  noch  dies 
zweite   Moment,    das   Wachstum,    —   eben  das 

Vegetabilische",  das  Semper  in  seiner  Definition 


Der  Stil 


343 


neben  das  „Flüssige"  setzt,  in  das  sich  das  Pegma 
auflöst.  Und  da  der  Stuckmasse  selbst  solche  Ten- 
denz organischen  Lebens  nicht  inne  wohnt,  da  sie 
für  sich  allein  sich  niemals  pflanzenhaft  benehmen 
würde,  so  fragen  wir  erstaunt,  wie  sie  gar  zu  jenen 
„der  strengen  Regelmäfsigkeit  widerstreitenden  Mo- 
menten" kommen  soll? 

Der  breiartig  flüssige,  plastisch  duktile,  im 
Trockenwerden  gerinnende  und  erhärtende  Stoff  allein 
vermag  das  Aufhören  krystallinischer  Äusserungen 
nicht  zu  erklären.  Es  fehlt  die  Hauptsache,  die  In- 
nervation der  toten  Masse ,  der  Impuls  spontaner 
Bewegung.  Deshalb  hat  auch  Semper  an  andrer 
Stelle  die  Stuckbekleidung  der  Decken  und  Wände, 
das  charakteristische  Rahmenwerk  des  Rokoko,  in 
dem  Abschnitt  über  den  ,, Innern  Holzbau"  behandelt, 
und  den  Übergang  des  Tischlerrahmenvv^erkes  in  den 
Steinstil  ausdrücklich  als  die  ,,an  sich  betrachtet  höchst 
geniale  Neuerung"  bezeichnet.  Die  Analogie  mit 
dem  Wachstum  des  Holzes,  der  Vergleich  der  Holz- 
faser mit  dem  Nerv  der  Muschel,  den  Graten,  die 
sich  zu  recken  und  zu  strecken  und  die  flache  Fül- 
lung dazwischen  zusammen  zu  ziehen  scheinen ,  sie 
sind  für  die  ästhetische  Auffassung  unentbehrlich, 
und  insofern  geht  auch  Zahn  fehl,  wenn  er  wenig- 
stens fragweise  die  Ansicht  ausspricht,  dass  an  jener 
Neuerung  des  Rahmenwerkes  überhaupt  nicht  sowol 
der  Holzstil  als  der  Stuckstil  den  grössten  Anteil  ge- 
habt habe.  Das  Material  an  sich  hat  überhaupt  nie- 
mals ,,Stil",  sondern  es  kann  nicht  umhin  das  na- 
türHche  Gesetz  zu  erfüllen ,  das  in  der  Zusammen- 


344 


Rokoko 


Setzung  seiner  Bestandteile  gegeben  ist;  es  ist  nur 
eine  abgekürzte ,  und  wie  man  sieht ,  verführerische 
Metapher,  wenn  man  von  Holzstil,  Steinstil,  Stuck- 
stil ,  Metallstil  oder  sonstigem  Materialstil  redet.  Es 
ist  schon  ästhetische  Auffassung,  wenn  wir  die  Ver- 
änderung des  Aggregatzustandes,  den  Übergang  aus 
dem  formlosen  Brei  z.  B.  in.  geronnene  Masse  oder 
gar  krystallinisch  regelmäfsige  Körperform  als  Äusse- 
rung eines  innern  Lebens  auslegen. 

So  hat  auch  Zahn  nicht  bemerkt,  wie  er  selbst, 
statt  seinen  Stuckstil  im  Rokoko  genetisch  zu  erklären, 
nur  eine  poetische  Schilderung  giebt,  die  er  aus 
Jakob  Burckhardts  Charakteristik  der  Stuckdekoration 
des  Barock  oder  verwandten  Bemerkungen  Sempers 
herausgesponnen.  ,,Die  bis  dahin  immer  entweder 
struktiven  oder  bildhchen  Motive  des  Ornaments, 
sagt  er,  Bänder ,  Stäbe ,  Rollen  auf  der  einen  Seite, 
Blätter,  Blumen  und  sonstige  Naturmotive  auf  der 
andern,  verschmelzen  in  ein  neues  ornamentales 
Gewächs,  welches  von  seinem  Stoffe  die  Textur, 
.  .  .  vom  Ornament  des  Barockstiles  die  Verschrän- 
kung der  einzelnen  Stücke  zusammengehöriger  Ver- 
zierungen annimmt."  —  ,,Ganz  so,  wie  im  Stuck  ein 
weiches  Stück  an  das  andre  geklebt  festhält,  reiht 
sich  ein  gebogenes  Stück  an  das  andre ,  und  so 
bilden  die  Hauptlinien,  sobald  die  gegebenen  graden 
Rahmenstücke  verlassen  werden ,  unaufhörlich  jene 
jjContours  ä  l'S...  ."  Beinah  von  selber  führt 
diese  Bildung  zum  Verlassen  der  Symmetrie.  Es 
wäre  wunderlich,  wenn  ein  solches  Gewächs 
rechts  und  links  ganz  gleiche  Schnörkel  und  Ranken 


Der  Stil 


345 


treiben  sollte!  Man  weicht  also,  schon  wegen 
der  coc/i  förmigen  Verbindung  der  beiden  Mittel-Ran- 
kenstücke von  der  strengen  Symmetrie  ab.  Bei  den 
älteren  Meistern  und  bei  den  geschmackvollen  De- 
korateuren überhaupt  nur  in  den  Linien ,  nicht  in 
den  Massen  des  Ornaments ,  dem  schon  die  langen 
gradünigen  Seitenstreifen  aller  Rahmen  und  Füllungen 
einen  architektonischen  Halt  geben." 

Es  ist  der  Ausdruck  „ornamentales  Gewächs", 
der  zwischen  dem  flüssigen,  aber  toten  Stoff  auf  der 
einen  Seite  und  den  Bewegungsvorstellungen  aus 
dem  Gebiet  der  organischen  Natur,  wie  unsrer  eige- 
nen Körpergefühle  auf  der  andern  Seite  die  Brücke 
geschlagen  hat.  Wenn  unsre  Vorstellung  erst  den 
Brei  wachsen  und  treiben  zu  sehen  glaubt,  so  wun- 
dert sie  sich  nicht  mehr  über  sein  organisches  Be- 
nehmen, das  eben  nicht  mehr  krystallinisch  und 
symmetrisch  ausfällt.  Aber  erklärt  wird  mit  solcher 
Ideenassociation  wol  kaum,  warum  ,,die  gegebenen 
graden  Rahmenstücke  verlassen  werden",  warum  — 
die  Bildung  ,, beinah  von  selber"  dazu  führt,  die  Re- 
gelmäfsigkeit  aufzugeben,  wenn  einmal  das  Anfangs- 
stück gebogen"  ist.  Wie  ward  dieser  erste  Klex 
„gebogen"  .^^  Doch  jedenfalls  durch  den  selben  ,, man", 
der  hernach  doch  nur  ,, beinah  von  selber"  vom  Ge- 
setz der  unorganischen  ,, toten  Natur"  abweicht,  um 
zu  Äusserungen  der  organischen  Natur,  zur  Betäti- 
gung eigenen  Lebens  überzugehen ,  nämUch  durch 
den  Willen,  den  künstlerischen  wenn  auch  halb  un- 
bewussten,  doch  immer  vom  Geschmack  durchdrun- 
genen Willen  —  des  Meisters! 


346 


Rokoko 


Auch  hier  ist  es  das  künstlerische  Empfinden, 
die  Beseelung,  der  Beitrag  des  Menschengeistes,  der 
das  Wunder  wirkt  und  uns  die  Materie  nahe  bringt, 
sodass  es  uns  nachträglichen  Anempfindern  wie  ein 
eigenes  selbständig  bewegliches  Wesen  entgegen- 
dringt und  wol  gar  ,,wunderUch"  vorkommt,  wenn 
ein  solches  ,, Gewächs"  sich  symmetrisch  benähme, 
wie  der  Wassertropfen ,  der  vor  unsern  Augen  zum 
Schneekrystall  gerinnt.  Warum  aber  friert  der  Hauch 
unsres  Mundes,  der  Dunst  unsres  warmen  Stübchens 
auf  den  Glasscheiben  des  Fensters  zu  so  pflanzen- 
haftem  Krystall ,  zu  Schlinggewächs  aus  Wasser- 
teilchen? —  — 

Jedenfalls  ist  aber,  ohne  dass  Zahn  und  Semper 
es  wussten  und  wollten ,  auch  dies  zweite  Moment, 
das  Wachstum  des  bildsamen  Stoffes ,  auf  die  Tra- 
dition des  italienischen  Barockstiles  zurückgeführt,  als 
dessen  Erbe  das  französische  Rokoko  erscheint.  Eben- 
deshalb aber  ist  sein  eigenes  Benehmen  mit  diesem 
Erbteil  noch  festzustellen,  wenn  es  als  ,,Stil"  auch  in 
diesem  Sinne  für  selbständig  angesehen  werden  soll. 

Kehren  wir  deshalb  zu  Sempers  ,, wahrer  Idee" 
zurück ,  so  redet  diese  vom  Selbständigwerden  des 
Rahmenwerks,  das  als  Organismus  auftrete  und  alle 
andern  traditionellen  Formen  der  Baukunst  zu  er- 
setzen beginne.  Zahn  bemerkt  dazu,  in  diesen  Worten 
liege  schon  ausgesprochen,  dass  eben  nur  innerhalb 
der  WandgUederung  die  traditionellen  Elemente  der 
Baukunst  von  den  Rokokoformen  ersetzt  werden 
und  ersetzt  werden  könnten.  Semper  selbst  aber 
redet  zunächst  von  dem  Rahmen,  ,,der  die  Füllung 


Der  Stil 


347 


umschliesst"  und  sich  dabei  ,,pflanzenhaft"  benimmt, 
setzt  also  die  Füllung  als  vorhanden  voraus.  Das 
aber  wäre  zunächst  eine  Fläche,  im  Innern  des  Raum- 
gebildes die  schliessende  Wand.  Indess  wir  sahen 
oben ,  der  Rahmen  umschliesst  ebenso  die  Öffnung 
des  Kamins,  der  Tür,  der  offenen  wie  der  geschlos- 
senen ,  und  ebenso  des  Fensters,  oder  den  Spiegel, 
die  in  dieser  Stufenfolge  zur  geschlossenen  einheit- 
lichen Fläche  übergehen.  Für  die  leere  Öffnung  der 
Tür,  der  Fensterhöhle  muss  der  Rahmen  also  doch 
auch  Gränze  sein,  nicht  allein  flüssig,  beweglich,  um- 
rankend gedacht  werden,  sondern  als  aufrechtes  Ge- 
wächs, als  festes  umschliessendes  Pegma.  Ein  völ- 
liges Aufgeben  des  struktiven  Charakters,  des  sta- 
bilen Gleichgewichts  findet  auch  hier  nicht  statt;  denn 
auch  die  Pflanze  hat  ihr  statisches  Gesetz  zu  er- 
füllen, hat  ihre  haltbare  Struktur.  Sonst  könnte  der 
Rahmen  ferner  nicht  einmal  selbständig  werden!  Es 
lässt  sich  überall,  bei  noch  so  lebendiger  Schmieg- 
samkeit an  den  Ecken  und  Rändern,  die  senkrechte 
und  wagrechte  Grade  von  dem  umrankenden,  flüssig 
werdenden ,  in  lebendigem  Wechsel  erfassten  Pflan- 
zenwerk und  Muschelwerk  unterscheiden.  Grade 
im  Widerspruch  des  Starren  und  des  Beweglichen 
entwickelt  sich  der  Reiz  des  Lebens;  was ,, aller  strengen 
Regelmäfsigkeit  widerstreitet",  bedarf  eben  dieser 
zur  Bewährung  seines  Wesens ,  bedarf,  um  künst- 
lerisch wirksam  zu  werden ,  seines  Gegenteils,  we- 
nigstens einer  Andeutung  der  gesetzmäfsigen  Unter- 
lage, die  es  in  seiner  Freiheit  voraussetzt. 

Deshalb  ist,  wie  Zahn  bemerkt,  auch  Cochin  im 


348 


Rokoko 


Irrtum  und  Alle,  die  seiner  polemischen  Übertreibung 
nachgeschrieben  haben:  die  Architektur  des  Rokoko 
kenne  keine  graden  Linien.  Schon  für  die  Innen- 
dekoration ist  dies  nicht  richtig,  und  für  die  Raum- 
bildung als  solche  noch  weniger.  Wir  kommen 
vielmehr  durch  das  Vorhandensein  der  Graden  erst 
zur  eigenen  Leistung  des  Rokoko:  es  ist  eine  Stei- 
gerung des  Lebendigen  erreicht,  die  über  die  un- 
mittelbar vorangehende  Phase  des  Barockstils  noch 
hinausgeht.  Es  ist  kein  feindlicher  Kontrast,  kein 
innerer  verletzender  Widerspruch  zwischen  Beharrung 
und  Bewegung ,  sondern  ein  Widerspiel  der  Kräfte, 
die  so  ihren  Reichtum,  ihren  Übermut  entfalten,  aber 
es  bleibt  ein  Spiel  und  will  nichts  andres  bedeuten 
als  ein  Spiel.  Dies  aber  setzt  die  Anerkennung  eines 
selbstgewählten  Gesetzes  voraus.  Deshalb  ist  die 
erste  Bedingung ,  dass  die  beiden  Gegner  sich  an- 
nähernd gewachsen  seien,  nicht  das  Unterliegen  des 
Einen  oder  des  Andern  von  vornherein  ausgemacht 
erscheine.  Und  zu  diesem  Zwecke  darf  die  Rech- 
nung sich  nicht  materiell  aufdrängen,  sondern  muss 
sich  dem  ScharfbUck  des  Verstandes  entziehen,  da- 
mit das  Zuwiderstreben  die  Phantasie  beschäftigen 
könne  ohne  Einspruch  des  Zweifels.  Deshalb  wird 
auch  die  folgerichtige  Durchführung  eines  Materiales 
in  seiner  besondern  Natur  vermieden,  und  die  An- 
deutung der  Eigenschaften  für  unsern  Glauben  an 
die  Wirklichkeit  verschiedenen  Stoffen,  ja  verschie- 
denen Gebieten  der  Natur  entlehnt,  hier  der  toten 
Masse,  dort  der  organischen  Welt.  Die  erstere  mit 
den  gesetzmäfsigen  Erscheinungen  der  Krystallisation 


Der  Stil 


349 


giebt  den  festen  Bestand ,  die  Grundlagen  der  Be- 
harrung, die  andre  mit  den  Äusserungen  organischen 
Lebens  die  wechselnde  Mannichfaltigkeit,  das  Transi- 
torische  der  Bewegung:  aber  beide  verwenden  ein 
möglichst  geringes  Quantum  von  Materie  und  ver- 
meiden geflissentlich  die  Geltendmachung  hier  des 
organischen,  dort  des  krystaUinischen  Prinzips  überall, 
wo  die  Konsequenz  der  Wirklichkeit  eintreten  müsste, 
also  das  Spiel  in  Ernst  umschlagen  würde.  Darin 
liegt  ein  wesentlicher  Unterschied  vom  Barock. 

Und  wie  steht  es  nun  mit  dem  selbständigen 
Auftreten  des  Rahmenwerks  als  Organismus ,  das 
Semper  behauptet.^  Das  Rahmenwerk,  das  in  der 
Raumbildung  des  Rokoko  an  die  Stelle  des  Systems 
von  tragenden  und  getragenen  Teilen  tritt,  —  die 
man  aus  Bewunderung  für  die  Antike  gern  schon 
,, Organismus"  genannt  hat,  —  dieses  viel  organischer 
gewordene  Gewächs  umschliesst  mit  seinen  festen, 
umrankt  mit  seinen  beweglichen  Gliedern  so  Off- 
nungen wie  Füllungen.  Diesem  leichten  Stabwerk 
und  Mafswerk  entsprechend  wird  aber  die  Fläche, 
die  dazwischen  liegt,  mögUchst  erleichtert,  mit  allen 
Mitteln  entstofflicht ,  wenn  ich  so  sagen  darf.  Sie 
ist,  wie  gesagt,  weder  die  geschichtete  Mauer  mehr, 
wie  in  der  Renaissance,  noch  die  einheitUche,  wenn 
auch  bildsame,  doch  wuchtige  Masse,  wie  im  Barock 
nach  dem  Sinne  des  Plastikers  Michelangelo,  sondern 
nur  Fläche;  sie  ist,  wo  nicht  Öffnung  oder  beweg- 
Uches  Gitterwerk  mit  durchsichtigen  Glasscheiben, 
wie  das  Fenster,  doch  nur  dünne  Holzfüllung,  wie 
die  Türflügel  und  die  Täfelung  unten,  oder  auf  sol- 


350 


Rokoko 


chem  Rahmenwerk  —  gleich  den  Treillages  der 
Laubengänge  im  Garten  —  ausgespanntes  Panneau  : 
Seidengewebe  oder  Gobehn  oder  deren  gemalte  Imi- 
tation. So  haben  wir  im  Rokoko  eine  andre, 
schon  oben  absichtUch  im  Ausdruck  Stabwerk  und 
Mafswerk  angedeutete  Ähnlichkeit  mit  der  franzö- 
sischen Kunst  des  Mittelalters  vor  uns,  die  strenge 
Sonderung  nur  füllender  Teile,  die  der  Raumabschluss 
erfordert,  von  den  struktiven.  Da  indess  diese  letz- 
tern nicht  in  dem  Sinne  der  Gotik  das  Gerippe  des 
Aufbaues  hervortreten  lassen ,  so  lässt  sich  noch 
mehr  von  einer  Rückkehr  zu  den  leichten  Prinzipien 
der  Zeltarchitektur  reden ,  die  sich  aus  Rohrstäben 
und  Bastgeflecht  zusammensetzt.  Aus  der  Biegung 
solcher  Rohrstöcke  gewinnen  wir  sogar  die  flache 
Bogenform,  die  man  aus  dem  Zeitalter  Ludwigs  XIV. 
beibehält,  aber  in  der  schwanken  Form  wie  in  der 
Gartenbaukunst  Le  Notres. 

Die  Füllung  besteht  jedoch  zuweilen,  und  an 
diesem  Punkt  hält  Sempers  Betrachtung  fest:  aus 
Holzbekleidung,  wo  immer  sich  eine  Fläche  darbot, 
mit  der  Forderung,  den  Raum  gegen  Aussen  zu 
schliessen,  d.  h.  alle  Wände  bestanden  wie  die  Türen 
aus  diesem  Stoff.  Die  einzelnen  Felder  waren  dann 
wol  mit  feinem  Blumenschnitzwerk  bedeckt,  der 
Grund  mit  Leimfarben  oder  später  in  Ölfarbe  ge- 
strichen, die  Reliefs  vergoldet  oder  bunt  bemalt,  doch 
so,  dass  die  Textur  des  Holzes  nicht  völlig  ver- 
schwand. Daher  die  Freude  über  die  Erfindung, 
das  Gold  ohne  Kreidegrund  unmittelbar  auf  das  Holz 
aufzutragen.     Das  Durchscheinen    der  Fasern  und 


Der  Stil 


351 


der  Maserung,  der  Unterschiede  zwischen  den 
strafferen  Nerven  und  Sehnen  gleichsam  und  der 
lockeren,  weicheren  Füllung  war  das  Willkommene; 
diese  Spuren  lebendigen  Wachstums,  organischen 
Lebens  bringen  den  toten  Stoff  stets  der  mensch- 
lichen Empfindung  näher.  Deshalb  aber  können  an 
die  Stelle  des  Holzes  auch  andre  Stoffe  treten,  die 
das  selbe  Durchscheinen  der  Textur  gewähren. 
Nicht  das  Holz  als  solches  ist  das  Wesentliche,  wie 
Semper  meint;  man  überzieht  es  an  andern  Stellen 
mit  Stuckornament  und  Rahmen,  die  nichts  vom 
Schreinergefüge  bewahren,  sondern  erstrecht  ,, ge- 
wachsen" erscheinen  wollen,  deckt  also  das  wahre 
Material  mit  einem  ganz  heterogenen,  weil  es  auf 
künstlichem  Wege  die  vollere  Imitation  der  Stengel 
und  Ranken,  der  Knospen  und  Blätter  erlaubt. 

An  die  Stelle  der  Holztäfelung  treten  als  Flächen- 
füllung die  Gobelins  und  Seidengewebe,  die  soge- 
nannten Panneaux  überhaupt.  Die  Kreuz-  und  Quer- 
lagen der  Fäden,  die  Abwechslung  zwischen  glän- 
zendem Relief  und  matter  Schraffierung  im  Muster, 
bringen  schon  auf  dem  Flächengrunde  selbst  ein 
mannichfaltiges  Leben  hervor,  das  sich  regelmäfsig 
nach  Art  naturgesetzUch  entstandener  Textur  aus- 
breitet. Darauf  aber  entspinnt  sich  auch  hier  ein 
intensiveres  Spiel  und  überwuchert  wol  die  starre 
Gleichförmigkeit  des  Musters.  Die  Grotteske,  in  den 
berühmten  Panneaux  seit  Watteau  besonders  behebt, 
beruht  ursprünghch  und  noch  letztHch  ihrem  Wesen 
nach  auf  einer  Auflösung  des  gesetzHchen  Zusammen- 
hangs, sei  es  des  tektonischen  im  Kandelaber,  sei 


352 


Rokoko 


es  des  vegetabilischen  in  der  Ranke,  oder  des  ani- 
malischen und  menschlichen  der  Gestalt  im  plastischen 
Sinne,  der  Gruppe  in  zusammengreifender  Tätigkeit.^) 
Sie  mischt  alle  diese  Bestandteile  der  Wirklichkeit, 
indem  sie  sich  mit  deren  malerischem  Schein  begnügt, 
flicht  willkürliche  Erfindungen  der  Phantasie  dazwischen 
und  bietet  so  der  Vorstellung  ein  unterhaltendes 
Schauspiel,  das  auf  ernstere  Bedeutung  keinen  An- 
spruch erhebt.  Die  Hauptsache  ist  die  Negation  der 
vollen  Wahrheit,  die  ein  Gemälde  sonst  zu  erstreben 
wagt,  besonders  die  Aufhebung  oder  Verzettelung 
der  dritten  Dimension,  mit  der  überall,  wo  sie  auf- 
tritt, ein  neckischer  Scherz  getrieben  wird.  So 
geraten  dieser  Spätzeit,  wo  die  Perspektive  ganz  ge- 
läufiges Gemeingut  geworden  und  die  Maler  sich 
schwer  von  der  gewohnten  Raumentfaltung  los- 
machen, selbst  Figurengruppen,  ja  Landschaften  und 
Architekturprospekte  in  die  Schwebe  zwischen  Sein 
und  Nichtsein.  Ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit 
den  gewebten  Zeugen,  in  denen  bei  kräftiger  Muste- 
rung die  Blumen  und  Blätter,  nach  der  Natur 
gezeichnet ,  doch  weder  ganz  rund  in  der  wirk- 
lichen Form  sich  geltend  machen,  noch  ganz  glatt 
und  fest  umrandet  in  der  Fläche  liegen.  Das  Ein- 
dringen japanischer  Vorbilder  ist  schon  hier  nicht 
zu  übersehen. 

Wie  darin  bereits  eine  Aufhebung  der  gewohn- 


i)  Vgl.  Schmarsow ,  Der  Eintritt  der  Grottesken  in  die  De- 
koration der  Renaissance,  Jahrb.  der  kgl,  preuss.  Kunstsammlungen 
i88i,  und  Pinturicchio  in  Rom,  Stuttgart  1882,  p.  21  fF. 


Der  Stil 


353 


ten  Gesetze  formalen  Zusammenhangs  und  räum- 
licher Anschauung  waltet,  so  bezweckt  die  Wahl  der 
Farbenskala  und  ihr  Verhältnis  zur  Naturfarbe  einen 
andern  Beitrag  zu  diesem  allgemeinen  Abonnement 
suspendu.  Überall  sind  es  nur  gebrochene  und  ver- 
waschene Töne,  Lichtrosa,  Grünlichgrau,  Hellgelb, 
ein  verdünntes  Blau,  ein  verblichenes  Violett,  ein 
mattes  Chamois,  die  hier  auftreten,  um  in  den  hellen 
lichtdurchströmten  Räumen  nur  die  malerische  Er- 
scheinung der  Dinge  zu  geben,  nirgends  ihre  Voll- 
kraft und  Leibhaftigkeit  in  der  Nähe  hinzusetzen  und 
aufzudrängen.  Man  will  die  Farbenpracht,  das  viel- 
stimmige Konzert  da  draussen  nicht  mehr  laut  und 
rauschend,  wie  in  schmetternden  Fanfaren,  wie  der 
Barock  es  hebte,  sondern  eher  den  Frühlingshauch, 
die  Herbstwelke  nur,  wie  eine  sanfte  Begleitung  a 
Sordini,  oder  wie  Äolsharfen  aus  der  Ferne  mit- 
wirken lassen. 

Und  jene  zarten  unbestimmten  Töne  sind  wieder 
nötig,  wie  Zahn  hervorhebt,  um  das  FlachreHef  der 
leichten  Stuckornamente  vom  Grunde  abzuheben 
und  sichtbar  bleiben  zu  lassen,  während  auf  tiefen 
Grundfarben  die  ModeHierung  des  weissen  und  ver- 
goldeten Muschelwerks  verschwindet  und  den  Um- 
riss  des  Ornaments  betont,  statt  ihn  als  spielenden 
Ausläufer  der  kräftigen  Rankenstäbe  oder  Rippen 
vielmehr  leicht  in  die  Fläche  aufgehen  zu  lassen. 
Nunmehr  verstehen  wir  auch  diesen  Teil,  die  zier- 
liche Reliefbehandlung  in  ihrem  eigentlichen  Sinne : 
auch  sie  hält  sich  in  der  Schwebe  zwischen  Körper 
und  Raum,  wie  eine  auftauchende  und  wieder  ver- 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  23 


354 


Rokoko 


schwimmende  Erscheinung,  um  nicht  volle  Wirklich- 
keit, nahe  Gegenwart  zu  werden,  sondern  Bild  zu 
bleiben,  und  statt  belästigend  auf  uns  einzudringen, 
eher  bereit  ist,  ins  Fernbild  zu  verduften.  Diese 
Reliefkunst  des  Rokoko  will  im  Innenraum  nur  die 
weiche  Berührung  der  lebendigen  sanft  gerundeten 
Form,  die  der  Liebkosung  des  Auges  sich  darbietet, 
zu  Gefühl  bringen,  nirgends  aus  dem  Spiel  heraus- 
tretend Ernst  machen.  Sie  bleibt  deshalb  malerisch, 
soweit  es  der  ReUefkunst  in  zusammenhängender 
Fläche  irgend  möglich  ist. 

Unter  dem  nämlichen  Gesichtspunkt  muss  auch 
die  Vergoldung  und  Versilberung  dieser  Formen 
als  ein  Mittel  zur  Auflösung  der  festen  Gränzen,  des 
bestimmten  Volumens  in  die  Scheinsphäre  der  Re- 
flexlichter angesehen  werden,  und  ebenso  die  Ver- 
wendung des  Spiegels  in  fortgeschrittenem  Raffine- 
ment. Zunächst  wird  man,  von  der  grossen  Spiegel- 
fläche besonders,  die  oft  einer  zweiten  gegenüber 
angebracht  wird,  eine  Verstärkung  des  Realitäts- 
glaubens erwarten,  wie  der  Barock  sie  wünschen 
musste  und  zweifellos  erstrebt.  Aber  ausser  dem 
Spiegel,  der  die  Wiedergabe  des  Raumes  mit  allen 
Körpern  darin  so  täuschend  herbeifuhrt,  dass  man 
das  Gefühl  der  Erweiterung  des  Räumlichen  und 
der  Vervielfältigung  des  Gegenständlichen  so  lange 
als  Zuwachs  der  Existenz  in  die  ästhetische  Rech- 
nung setzen  darf,  solange  die  Täuschung  nicht  als 
solche  kontroliert  wird,  ausser  dem  Spiegel  hat  diese 
Wandfläche  noch  eine  sehr  bedeutsame  Eigenschaft, 
die  grade  für  den  Wissenden,  der  über  die  rohe 


Der  Stil 


355 


Illusion  hinaus  zu  sein  glaubt,  ihren  Zauber  aufspart: 
das  ist  der  Glanz. 

Der  Glanz  wird  nach  Wundts  Untersuchungen 
zur  physiologischen  Psychologie  ^)  ganz  als  Eigen- 
schaft der  zunächst  gesehenen  Fläche  aufgefasst^ 
,,Er  tritt  unter  solchen  Bedingungen  ein ,  wo  die 
Auffassung  der  spiegelnden  Fläche  und  die  des 
hinter  ihr  gelegenen  Spiegelbildes  annähernd  gleich- 
mäfsig  begünstigt  ist.  Hier  sollten  wir  also  zwei 
Oberflächen  in  der  selben  Richtung  sehen.  Aber 
wir  sind  nicht  im  Stande,  dies  in  einer  Vorstellung 
zu  vereinigen ;  wir  fassen  daher  das  gespiegelte  Licht 
nur  als  eine  Modifikation  der  spiegelnden  Fläche  auf, 
die  wir  daneben  doch  in  ihrer  ursprünglichen  Farbe 
und  Helligkeit  annähernd  erkennen.  Hierin  besteht 
das  Wesen  des  Glanzes ,  der  demnach  ebensogut 
eine  psychologische  wie  eine  physikalische  Erschei- 
nung genannt  werden  kann." 

Diese  Tatsachen  sind  es,  mit  denen  das  Rokoko 
in  seinem  Stoffgebilde  rechnet :  denn  die  grossen 
Spiegelflächen  seiner  Zimmer  sollen  nicht  nur  Spiegel 
sein ,  um  etwa  die  selbstgefällige  Erscheinung  des 
damaligen  Salonlebens  wiederzugeben  (wie  Dohme 
sich  denkt) ,  sondern  auch  Flächen ;  sie  sollen  eine 
Wand  wenigstens  bis  zu  gewissem  Grade  bedeuten, 
also  dazu  beitragen ,  die  Umgebung  als  Sphäre  des 
Spiels  herzustellen  und  vor  jedem  derben  Verstoss 
zu  bewahren,  d.  h.,  das  Abonnement  suspendu  auf- 
recht zu  erhalten.    Deshalb  trifft  diese  Kunst  allerlei 

i)  Physiol.  Psych.  3.  Aufl.  1887,  II,  179,  vgl.  Beiträge  zur 
Theorie  der  Sinneswahrnehmung,  S.  315. 

23* 


356 


Rokoko 


Vorkehrungen ,  die  das  Auge  grade  auf  die  Beach- 
tung der  Oberfläche  als  solcher  jhinleiten.  So  be- 
wirken schon  die  aufgemalten  Blumen  der  venezia- 
nischen Spiegel  eine  Trennung  der  Glasfläche  vorn 
.von  der  Raumillusion  dahinter.  Im  Rokoko  sind  es 
die  vom  Rahmen  ausgehenden  Ranken ,  das  über- 
gespannte Gitterwerk ,  die  herabhangenden  Blumen- 
gewinde ,  die  mannichfaltigen  Zierraten ,  die  sich  in 
flacherem  Relief  auf  der  Fläche  hinbreiten  und  sie 
als  Unterlage  für  sich  fordern ,  so  dass  das  Auge 
nicht  umhin  kann ,  sie  als  Glaswand  anzuerkennen, 
wie  das  Fenster  daneben  oder  gegenüber.  Der 
Spiegel  selbst  aber  giebt  ein  Bild  so  räumhch  und 
körperlich  wie  der  Ausschnitt  aus  der  örtlichen  Um- 
gebung ,  aus  Garten ,  Platz  oder  Strasse ,  die  durch 
Fenster  oder  Türen  hereinschauen,  also  das  wirkliche 
Fernbild  da  draussen,  das  in  freierem  Abstand  doch 
immer  dazu  beiträgt,  das  Wirklichkeitsgefühl  wach  zu 
halten  und  die  Wärme  des  Lebens  in  all  dem  schönen 
Schein  als  Pulsschlag  der  ganzen  Welt  zu  spüren. 

Nehmen  wir  im  Innern  aber  noch  die  Zwiefaltig- 
keit  des  Lichtes  hinzu ,  die  durch  die  glänzenden 
und  spiegelnden  Flächen  entsteht,  nämlich  einerseits 
das  gespiegelte  oder  Glanz-Licht,  das -im  Allgemeinen 
die  Farbe  der  Lichtquelle  bewahrt ,  andrerseits  das 
eigene  der  Stoffe  selbst,  das  der  Körper  an  sich  hat, 
solange  er  nicht  poliert  worden,  also  solange  er  noch 
nicht  glänzt,  so  entsteht  ein  Schimmern  und  Flimmern, 
das  den  materiellen  Bestand  des  Einzelnen  noch  weiter 
der  Kontrole  entrückt,  so  dass  die  Frage,  aus  welcher 
körperlichen  Masse   nun   eigentHch   das  Kunstwerk 


Der  Stil 


357 


des  Rokokostiles  bestehe ,  angesichts  des  Ganzen 
zur  Torheit  wird.  Alle  bisherigen  Versuche ,  mit 
Einem  Material  auszukommen,  gehen  fehl  oder  stellen 
sich  bei  genauer  Analyse  als  Selbsttäuschung  heraus. 
Die  Eigenschaften  all  der  verschiedenen  Stoffe  werden 
gedämpft  und  gemäfsigt,  durch  allerlei  Proceduren 
modificiert  und  so  in  ihrer  äusseren  Erscheinung  mit- 
einander verbunden  und  verwoben ,  dass  eben  eine 
einheitliche  Gesamterscheinung  entsteht,  die 
jedes  prosaische  Zutappen  auf  das  Herstellungsmaterial 
des  Einzelnen  verbietet.  R.  Dohme  hat  mit  richtigem 
Gefühl ,  wenn  auch  mehr  zur  Verteidigung  der  Un- 
vollkommenheiten  als  zur  Anerkennung  des  objek- 
tiven Sachverhaltes  im  Rokoko ,  wenigstens  für  das 
Ornament  die  Ansicht  ausgesprochen :  ,,Das  Rokoko 
darf  eben  nur  auf  Gesamtwirkung  betrachtet  werden." 
Das  muss  für  das  ganze  Kunstwerk  als  mafsgebender 
Standpunkt  angenommen  werden,  schon  als  Folge- 
rung des  bisherigen  Fortschrittes  im  Barock  einerseits, 
wie  der  ausgesprochenen  Erkenntnis,  dass  alle  Teile  nur 
zu  einem  Spiel  zusammenwirken,  das  nicht  zur  selben 
Zeit  voller  Ernst  sein  kann  und  den  nüchternen  An- 
sprüchen der  Aufklärung  nicht  gerecht  werden  will. 

Aber  ebendeshalb  ist  es  wichtig,  vor  allen  Dingen 
den  Standpunkt  zurückzugewinnen,  den  die  Gesamt- 
wirkung des  Ganzen  ursprünglich  dem  Betrachter 
anwies.  Ich  glaube ,  dass  auch  Semper  zu  sehr  am 
Einzelnen  hängen  bleibt,  weil  er  sich  vorerst  nur 
mit  den  technischen  und  tektonischen  Künsten  be- 
schäftigt, die  zu  einem  Ganzen  erst  hinstreben.  Die 
Selbständigkeit  des  Rahmenwerks  ist  nur  solange  das 


358 


Rokoko 


letzte  Wort  für  die  Erkenntnis  dieser  besondern 
Organisation ,  solange  man  auf  Burckhardts  Stand- 
punkt beharrt,  und  nicht  der  Raumgestaltung  als 
solcher  allein  das  innerste  Wesen  eines  Stiles  zu 
erschhessen  anheim  giebt.  Auch  Dohme  fällt  selbst 
in  die  übHche  Einzelbetrachtung  zurück:  „sobald  man 
die  Grammatik  der  Formensprache  im  Einzelnen 
studiert,  stösst  man,  wie  er  meint,  im  Rokoko  über- 
all auf  Geschmacklosigkeiten,  wo  nicht  auf  Roheiten." 
Dies  sei  schon  in  der  Frühzeit  des  Stiles  der  Fall, 
und  eine  Ausnahme  davon  machen  allein  die  natura- 
listisch behandelten  zarten  Blumen  und  Guirlanden 
in  Holz  oder  Gips ,  die  nicht  selten  eine  Uebevolle 
Zeichnung  und  Durchführung  bis  in  die  letzte  Kleinig- 
keit verraten.  Er  fragt  sich  aber  nicht,  woher  denn 
grade  hier  eine  Ausnahme  von  der  sonstigen  über- 
all auf  die  Gesamtwirkung  berechneten  Behandlung 
eintritt }  Nun  gehören  aber  diese  Blumengehänge, 
wie  jenes  Gitterwerk  über  den  Spiegeln  und  wie  die 
Grotteskengebilde  der  Panneaux  eben  der  Gränz- 
sphäre  zwischen  der  Wirklichkeit  des  lebendigen  Be- 
wohners und  dem  mannichfaltigen  Schein  des  Raum- 
gebildes an,  der  ihn  umgiebt.  Es  ist  die  Zone,  wo 
Wahrheit  und  Dichtung  ineinander  gehen ,  aber 
doch  der  Glaube  an  sie  zunächst  erweckt  werden 
muss ,  —  wo  sich  der  Raum  wenigstens  in  zarter 
Reliefauffassung  körperlich  konstituieren  soll ,  damit 
alles  jenseits  Erscheinende  als  einheitliche  Hülle  sich 
darüber  breite.  In  dieser  Zone  des  klaren  Abstands 
vom  eigenen  Leibe  des  Bewohners  wurzelt  auch  das 
ornamentale  Gewächs ,  vollzieht  sich  jenes  pflanzen- 


Der  Stil 


359 


hafte  Leben ,  das  die  Füllungen  umrankt ;  hier  löst 
sich  das  Pegrna  in  vegetabilische,  der  strengen  Regel- 
mäfsigkeit  widerstrebende  Elemente  auf,  ja  hier  wird 
es  gleichsam  flüssig  (wie  Semper  sagt),  und  dies  ist 
für  uns  die  Hauptsache ;  denn  damit  ist  der  Über- 
gang vom  Körperhaften  und  Konstitutiven  ins  Bild- 
Hche  bezeichnet,  das  Aufgehen  in  die  Einheit  zwischen 
Plastischem  und  Räumlichem.  Im  Augenschein 
verfliesst  die  Organisation  wie  die  Kry- 
stallisation  zu  einem  gemeinsamen  Ein- 
druck, in  dem  wir  allein  des  Zusammen- 
hanges aller  Dinge  als  solchen  inne  wer- 
den. Das  heisst,  der  entscheidende  Standpunkt  für 
das  Stoffgebilde  des  Rokoko  ist  nicht  mehr  der  tek- 
tonisch-stereometrische,  nicht  der  plastisch-organische, 
sondern  der  malerische.  Mit  den  beiden  ersten  oder 
einem  von  beiden  allein  auskommen  wollen,  ist  Ge- 
walt, heisst  nicht,  der  Erscheinung  gerecht  werden, 
wie  sie  sich  giebt.  Die  konsequenten  aber  einseitigen 
Anschauungen,  die  jene  beiden  Standpunkte  für  sich 
ergeben ,  werden  aufgelöst  im  Spiel  des  Ineinander- 
webens,  und  die  Auffassung  des  Bildes  allein  ist  das 
Mafsgebende  für  das  Ganze.  Das  Rokoko  ist  male- 
risch gewordene  Kunst  im  eminenten  Sinne. 
Uberall  wo  wir,  um  mit  Dohme  zu  reden,  ,,die  Gram- 
matik der  Formensprache"  für  Architektur  oder  Plastik 
im  Besondern  verfolgen ,  da  stossen  wir  auf  Inkon- 
sequenzen,  nach  bisherigen  Schulbegriffen  vielleicht 
auf  Ungereimtheiten ;  mit  keinem  Hausgesetz  eines 
,, Materialstiles"  ist  auszukommen ,  die  Phantasie  des 
Rokoko  verspottet  sie  alle  mit  der  Hebenswürdigsten 


360 


Rokoko 


Schmiegsamkeit,  mit  der  es  alle  Illusionen  des  Stoffes 
ausbeutet,  solange  sie  ihr  dienen  mögen.  Jede  Eigen- 
schaft der  Materie  verschwindet ,  jede  Form  ver- 
schwimmt,  jede  Farbe  verduftet  in  der  Region,  wo 
über  alle  Zeugnisse  unsrer  Sinne  sonst  der  Augen- 
schein als  Bild  sein  Recht  verlangt. 

6.  ■ 

Es  sind  aufrechte  Flächen  ringsum,  ohne  Zwei- 
fel, hier  aus  Holz,  dort  aus  Stuck,  dort  aus  Glas  be- 
stehend ,  aber  mit  schimmerndem  Glanz  umwebt, 
der  diese  Unterschiede  schon  ausgleicht,  hier  mit 
einem  Seidengewand  bezogen,  dort  mit  einem  leich- 
ten Ornament  übersponnen ,  hier  in  zartem  Relief 
hervorquellend  und  wieder  zerfliessend ,  dort  mit 
mannichfaltigster  Erscheinung  bemalt.  Überall  macht 
sich  fast  nur  die  Oberfläche,  mehr  oder  minder  be- 
weghcher  Art,  als  solche  geltend,  und  die  Sicherung 
in  diesem  Bestände  wird  hinter  der  Scene  voraus- 
gesetzt. Wo  Flächen  aneinanderstossen,  die  Fugen 
oder  Nähte  sichtbar  werden  könnten,  da  gesellen 
sich  gradlinige  Leisten,  die  sich  oben  in  irgend  einer 
geschwungenen  Form  zusammenschliessen,  und  jenes 
schlanke  dünne  Gewächs,  das  dieser  Andeutung  des 
statischen  Gesetzes  und  der  ganzen  regelmäfsigen 
Voraussetzung  des  Raumkörpers  widerstreitet ,  und 
neckisch  nur  der  eigenen  unberechenbaren  Laune 
zu  folgen  scheint,  aber  nirgends  —  und  das  ist  ent- 
scheidend —  in  ernstlichen  Konflikt  tritt,  nirgends 
das  ruhige  Walten  der  Grundlage,  die  selbstverständ- 
liche Beharrung  des  Gegebenen  stört,  sondern  über- 


Der  Stil 


361 


all  feinfühlig,  leicht  und  schwungvoll  sein  lustiges 
Spiel,  so  ausgelassen  es  sich  geben  mag,  mit  sicherm 
Takt  in  den  Gränzen  bewegt,  die  für  den  lebendigen 
Bewohner  auch  bestehen ,  eben  die  Voraussetzung 
ihrer  GeseUigkeit  sind.  Mag  ihre  sprudelnde  Lebens- 
lust auch  schäumend  emporsteigen  und  den  Becher 
kränzen,  nur  in  duftigsten,  perlend  schimmernden  Bläs- 
chen quillt  sie  über  den  Rand  des  Glases  und  seine 
feingeschnittenen  Muster  in  durchsichtiger  Wandung. 

Je  höher  die  Ranken  am  Rahmenwerk  steigen, 
desto  reicher,  übermütiger  wird  wol  gar  ihr  Treiben ; 
aber  es  sind  leichte  Gebilde,  die  es  mehr  wie  Schilf 
und  Blätter,  denn  wie  volle  Früchte,  trägt,  und  selbst 
Muscheln  und  allerlei  abenteuerliche  Gestaltungen 
vom  Grunde  des  Meeres  werden  hier  oben  so  ent- 
körpert,  dass  sie  nur  ihrer  malerischen  Erscheinung, 
nicht  ihres  Stoffes  wegen  da  sind ,  das  heisst  nur 
den  Reiz  ihrer  Form  mit  allen  Anklängen  des  drin- 
nen waltenden  Lebens,  mit  allem  Antrieb  fliessender 
übergleitender  Bewegung  ausbreiten ,  aber  nirgends 
zum  Nacherleben  ihrer  ursprünglichen  Leibhaftigkeit 
und  ihrer  vollen  plastischen  Ausgestaltung,  ihres  ur- 
kräftigen Wachstums  auffordern.  Das  ganze  Raum- 
gebilde mag  sich  wie  im  Aufschwung ,  im  Empor- 
wachsen vor  unsern  Augen  zu  bewegen  scheinen ; 
mögen  wie  die  Bogen  des  Rahmenwerks  aufwärts 
und  abwärts,  auch  die  Flächen  der  Füllung  sich  ein- 
wärts und  auswärts  schwingen ,  und  so  gemeinsam 
den  letzten  Abschluss ,  der  sie  zusammenfasst ,  vor- 
bereiten. Doch  ist  auch  hier  kein  innerer  Wider- 
streit, kein  feindlicher  Gegensatz  zwischen  unten  und 


362 


Rokoko 


oben ,  sondern  nur  die  wolabgewogene ,  wirksame, 
spannende  Steigerung  des  Spiels,  von  dem  jeder 
hinreichend  gebildete  Teilnehmer  weiss,  dass  es  nicht 
in  Zwistigkeit  oder  verletzenden  Kampf  ausarten 
Vierde.  So  sind  die  bildsamen  .Kräfte  des  Barock- 
baues verwertet,  ohne  ernsten  Innern  Widerstreit, 
vielmehr  von  vornherein  bei  aller  Mannichfaltigkeit 
des  Strebens  in  der  Absicht  auf  harmonischen  Aus- 
gleich. Und  diese  Vermittlung  vollzieht  sich  als  Be- 
wegung der  Flächen,  der  Linien ,  des  Lichtes  und 
der  Farben  in  gleichmässiger  Helligkeit  und  unge- 
trübter Heiterkeit,  —  wie  ein  Spiel. 

Und  den  Ausklang  giebt  dann  die  Decke.  Hier 
im  Festsaal  z.  B.  überzieht  sich  ihre  weisse  Fläche 
mit  einem  Schlussreigen  fröhlicher  Ornamentik,  der 
wol  gar  ein  grosses  Deckengemälde  einfasst,  in  dem 
der  Olymp  sich  öffnet ;  dort  im  Salon  sind  wenigstens 
die  Eckstücke  und  die  Mitte  mit  dem  Stuckzierat 
ausgezeichnet,  der  sich  locker  und  sanft  in  der  Ebene 
verliert;  oder  im  Eckpavillon  gegen  den  Garten  zu 
erwächst  aus  dem  Rahmenwerk  des  Aufbaues  rings- 
um gar  ein  Bilderkranz  vor  dem  Deckenrand ,  über 
dem  nur  der  blaue  Grund  noch  den  freien  Himmel 
selber  bedeutet. 

Begreifhcher  Weise  jedoch  werden  nur  die  be- 
vorzugten Räume  zur  vollen  Ausprägung  der  Ideale, 
während  die  übrigen  Gemächer,  je  mehr  sie  sich 
dem  gewöhnlichen  Gebrauch  des  Alltagslebens  nähern, 
auch  in  der  Form  die  Regelmäfsigkeit  des  sichern 
Bestandes  und  das  ruhige  Verhalten  des  Durchschnitts 
annehmen.    Auch  darin  liegt  ein  Fortschritt  gegen 


Der  Stil 


363 


den  Barockstil,  der  ausschliesslich  die  erhabene  Ton- 
art und  den  übermenschlichen  Mafsstab  kennt,  wenig- 
stens für  die  ebenbürtige  Gesellschaft ,  d.  h.  von 
Zwischengeschossen  für  Diener  und  Zwerge  allein 
abgesehen.  Nur  allmählich  lernt  er,  die  Pracht  zu 
mäfsigen  und  durch  Zurückhaltung ,  wo  sie  woltut, 
auch  Abwechselung  und  dauerndere  Befriedigung  zu 
erreichen.  Im  Rokoko  ist  der  berechtigte  und  natür- 
liche Ausdruck  der  verschiedenen  Seiten  des  Lebens 
viel  mannichfaltiger  und  entspricht  in  durchgebildeten 
Bauten  stets  der  besondern  Aufgabe  viel  mehr.  Es 
liegt  auch  darin  eine  Rückkehr  zu  den  Bestrebungen 
der  itahenischen  Frührenaissance ,  die  man  im  ein- 
seitigen Verfolg  des  grossen  Stiles  vergessen  hatte. 

Man  sehe  nur  die  Gallerie  im  Hotel  de  Villars, 
ein  vollendetes  Meisterstück  des  Rokoko,  in  dem  Stich 
der  Innendekoration  an,  wie  sie  Leroux  (f  1745) 
geschaffen !  Man  beachte  einmal  in  diesem  Durch- 
schnitt an  der  Schmalseite,  wie  sich  das  Raumgebilde 
vom  oberen  Rand  der  Wände  über  dem  Simsstreifen 
ausbaucht  und  zwischen  den  kartouchenförmigen 
Eck-  und  Mittelstücken  wieder  zusammenzieht ,  vor 
dem  letzten  Aufschwung  der  Decke ,  die  sich  flach 
über  den  Boden  breitet.  Oder  man  vergleiche  den 
Aufriss  der  Gartensäle  in  Eckpavillons  mit  dem  der 
anstossenden  Gemächer,  je  nachdem  diese  zu  ein- 
heitlicher Zimmerflucht  gehören ,  doch  durch  ver- 
borgene Türen  zugänglich  eine  Zuflucht  aus  der  fest- 
lichen Gesellschaft,  aus  dem  Spiel  in  die  Wirklich- 
keit gewähren.  Da  überbieten  jene  wol  noch  im 
Hochdrang  das  Durchschnittsmafs  der  andern,  steigen 


364 


Rokoko 


wol  gar  in  kühnerer  Wölbung  auf,  während  die  andern 
flach  gedeckt  bleiben,  oder  gar  dem  Mafsstab  der 
Zwischengeschosse  sich  nähern.  Überall  aber  ist  im 
Innenraum  die  letzte  Absicht  aller  Formen-  und 
Flächenbewegung  wie  aller  Verhältnisse :  der  Aus- 
gleich zum  Bilde  für  das  Auge. 

7- 

Diese  Verschiedenheit  der  Raumgestaltungen 
pflanzt  sich  sodann  natürlich  auch  ins  Äussere  des 
Baukörpers  fort;  aber  sie  tritt  dort  nicht  immer  so 
unmittelbar  hervor,  wo  ein  gemeinsames  Dach  die 
Reihe  der  abwechselnden  Räume  zusammenfasst.  Nur 
bei  dem  Einzelraum,  wie  beim  isolierten  Pavillon  im 
Garten,  oder  an  der  Spitze  eines  Flügels  freier  heraus- 
tretend, oder  als  Mittelrisalit  wenigstens  teilweise  über 
die  Flucht  der  Seiten  vorragend,  verkündet  sich  die 
innere  Form  des  Raumgebildes  auch  mehr  oder 
minder  vollständig  nach  Aussen.  Doch  dürfen  wir 
auch  hier  nicht  vergessen ,  dass  das  Interesse  des 
I  Stiles  garnicht  darauf  gerichtet  ist,  für  den  plastischen 
oder  tektonischen  Gesichtspunkt  befriedigend  zu 
wirken ,  an  das  Verständnis  krystallinischer  Körper 
oder  organischer  Gewächse  für  sich  zu  appeUieren; 
er  will  vielmehr  auch  hier  überall  durch  den  Zusam- 
menhang wirken.  Besonders  in  Landhäusern,  wo 
die  Rücksicht  auf  den  Zuschnitt  des  Bauplatzes  und 
den  vorhandenen  Linienzug  der  Strassen  nicht  mit- 
spielt ,  hat  der  Rokokobau  Gelegenheit,  im  Äussern 
eine  unbefangene  Freiheit  zu  entwickeln.  Wie  die 
einzelnen  Zimmer  im  Grundriss  vor-  oder  zurück- 


Der  Stil 


365 


springen ,  hier  im  Halbrund  dort  in  Polygonecken, 
so  bewegen  sich  auch  die  Aussenmauern,  die  körper- 
lichen Massen  des  ganzen  Baues.  Und  jemehr  der 
heutige  Architekt  sich  sagen  mag,  dass  es  mit  wenigen 
Strichen  geändert  werden  könnte,  desto  weniger  ist 
er  berechtigt ,  diesen  unmittelbaren  Ausdruck  der 
innern  Raumbildung  als  eine  ,, tadelnswerte  Spielerei" 
zu  bezeichnen,  die  eine  andre  Schule  mit  ebensoviel 
Recht  als  ,, lobenswerte  Aufrichtigkeit"  ansehen  dürfte. 
Wir  haben  jedenfalls  zu  fragen,  weshalb  die  Rokoko- 
meister, die  es  bei  ihrer  Virtuosität  in  der  Grund- 
rissbildung sehr  leicht  regelmäfsiger  machen  konnten, 
eben  dies  nicht  gewollt  haben,  —  weshalb  sie  es  so 
und  nicht  anders  gemacht  .^^  Es  ist  das  ästhetische 
Wollen  jener  Zeit,  das  wir  verstehen  sollten,  ehe  wir 
urteilen.  Vielleicht  ist  ihr  Geschmack  dem  unsrigen 
weitaus  überlegen ,  so  dass  die  Schulmeisterei  des 
neunzehnten  Jahrhunders  vor  der  Kunst  des  acht- 
zehnten zu  erröten  hätte ,  sobald  ihr  eine  Ahnung 
der  eignen  barbarischen  Gefühllosigkeit  aufgeht. 

Sicher  wirken  hier  die  nämlichen  Stilprinzipien 
weiter,  wie  im  Innern:  zunächst  die  Gestaltung  jedes 
Raumes ,  dessen  Wände ,  von  hohen  und  breiten 
Fenstern  durchsetzt,  wenigstens  in  einigen  Bruch- 
teilen des  Ganzen  heraustreten ,  und  zweitens  die 
Zusammenordnung  dieser  Aussenseiten  der  fortlaufen- 
den Reihe  von  gleichmäfsigen  oder  abwechselnden 
Raumformen.  Bewegung  der  Körper  und  Flächen 
ist  es ,  die  sich  einstellt ,  Abwechselung  der  hellen 
Mauerteile  und  der  Fenster-  oder  Türöffnungen  ausser- 
dem ,  die  dem  Vermächtnis  des  Barockstiles  gemäfs 


366 


Rokoko 


den  Gesetzen  malerischer  Gruppierung  folgt.  Und 
hier  machen  sich  bald  alle  jene  malerischen  Nei- 
gungen geltend,  die  der  nordischen  Kunst  besonders 
seit  der  Spätgotik  schon  eigentümlich  waren  und  im 
altfranzösischen  Schloss  ihre  Befriedigung  finden 
mochten.  Wo  die  Meister  des  Rokoko  selbst  den 
Aussenbau  gestalteten,  da  wundern  sich  die  heutigen 
Beurteiler  wol  ebenso  über  die  Schlichtheit  im  Ver- 
gleich zu  dem  üppigen  Reichtum  des  Innern ;  aber 
auch  da  ist  zu  antworten ,  dass  die  besten  Künstler 
ihre  Mittel  wol  überlegt  und  absichtlich  so  verteilt 
haben.  Sie  wussten  besser,  was  Rechnung  im  Ganzen 
heisst  als  wir,  das  ist  wol  ausser  Zweifel. 

Der  Innenraum  ist  in  jeder  Wohnung  die  Haupt- 
sache. Die  Übertragung  der  Ansprüche  und  Bedeu- 
tung des  Monumentalbaues  auf  das  Äussere  des 
Hauses  ist  ein  Verfahren,  über  dessen  Tragweite  man 
sich  klar  sein  sollte.  Wenn  die  Italiener  so  gedacht 
haben  und  von  allen  Verehrern  der  Renaissance 
wegen  dieser  Sinnesart  gerühmt  werden,  so  lag  es 
dem  Nordfranzosen  und  Hegt  es  den  Völkern  ger- 
manischen Stammes  noch  jetzt  nicht  ohne  Weiteres 
nahe.  Der  natürliche  Geist  unterscheidet  zwischen 
der  Sprache  des  Monumentalbaues,  der  eine  drinnen 
wohnende  Idee  in  ihrem  bleibenden  Bestände  cha- 
rakterisieren will,  und  der  Sprache  des  Privathauses, 
der  traulichen  Fassung  des  eigenen  menschlichen  Da- 
seins im  Wechsel  des  Lebens.  Im  Vergleich  zur  Ge- 
wohnheit der  Renaissance  und  des  Barock,  die  sogar 
zur  Selbstvergötterung  der  Person  des  Bauherrn  in 
seinem  Palast  gediehen  war,  und  in  der  Person  desRoi 


Der  Stil 


3G7 


Soleil  den  höchsten  Grad  erreicht  hatte,  bedeutet  auch 
hier  die  anspruchslose  SchUchtheit  des  Rokoko  eine 
Rückkehr  zur  Natur,  die  als  Sehnsucht  wenigstens  im 
allgemeinen  Wesen  der  Zeit  liegt.  Immer  freilich  bleibt 
ein  starker  Rest  von  Selbstgefälligkeit,  der  die  vollere 
Hingebung  an  die  grosse  Naturmacht  hindert.  Die 
Einfachheit  selbst  fällt  noch  gesucht  aus.  Aber  sie 
nimmt  wenigstens  keine  Wirkungen  vorweg,  die  das 
Innere  bieten  soll.  Und  es  ist  eine  Abirrung  von 
den  ächten  Prinzipien  des  Stiles,  wenn  spätere  Meister 
oder  auswärtige  Nachahmer,  wie  in  Deutschland,  die 
Innendekoration  nach  Aussen  kehren,  oder  wenn,  wie 
es  in  Frankreich  selbst  geschah,  hier  die  Formen- 
sprache der  Antike ,  das  säulengetragene  herrliche 
Dach,  die  Tempelfassade  sich  wieder  einstellt. 

Bei  den  eigentümlichen  Originalwerken  des  Ro- 
koko muss  aber  auch  der  besondre  Charakter  des 
Baues  nicht  ausser  Acht  gelassen  werden.  Das  Stadt- 
haus trägt  ein  andres  Äussere  zur  Schau,  als  es  das 
Landhaus,  besonders  mitten  im  Park  versteckt,  ent- 
falten mag.  Die  stark  ausladenden  und  verkröpften 
Gesimse,  das  ganze  Pilaster-  und  Säulenwesen  des 
Barock  hört  auf ;  denn  diese  Generation  in  Frank- 
reich huldigt  nicht  mehr  dem  Grundgefühl :  Schön- 
heit ist  Kraft,  die  übermenschliche  gar  der  Materie, 
der  Elemente.  Ganz  glatte ,  gradlinige  Bänder  um- 
ziehen kaum  sichtbar  statt  der  kräftigen  Sockel,  der 
stark  schattenden  Simse  den  Bau.  Vor  den  hohen 
Fenstern  mit  den  immer  grösser  werdenden ,  dünn 
in  Blei  gefassten  Scheiben  darf  kein  vorspringender 
Giebel  das  helle  Licht  wegnehmen.   Als  Wandflächen 


4 


368 


Rokoko 


zwischen  ihnen  bleiben  nur  schmale  Streifen  übrig, 
die  keine  senkrechte  Teilung  mehr  erheischen  oder 
nur  vertragen.  Auch  das  ist  schon  vorbereitet  in 
Rom  seit  den  Tagen  Berninis ,  wo  es  zunächst  das 
schlichte  Durchschnittsmafs  der  Flächengliederung, 
als  ruhigere  Grundlage,  aber  eben  deshalb  auch  be- 
günstigende Folie  für  die  stark  instrumentierten 
Hauptkompositionen  der  Kirchen-  und  Palastfassaden 
abgab.  Das  Rokoko  bewährt  sich  als  Flächenstil, 
indem  es  diese  Felderteilung,  Lisenenumrahmung  u.s.w. 
adoptiert.  Wo  aber  Paläste  gebaut  werden,  die  zu- 
gleich nach  Aussen  repräsentieren  sollen,  da  ist  es 
die  Renaissance  mit  ihren  Säulen ,  wie  bei  Bernini, 
die  den  Schmuck  herleiht,  oder  wenn  es  hoch  kommt 
die  klassischere  Bildung  der  Palladioschule.  Stets 
aber  wird  die  Verwendung  im  malerischen  Sinne 
gehalten,  d.  h.  raumöffnend,  mit  der  Aussenwelt  ver- 
mittelnd, soweit  es  sich  mit  der  Lichtfreude  und  der 
Flächenfreude  irgend  verträgt.  Bald  Hebt  man  es 
nicht  mehr,  sie  vor  die  Fassade  zu  stellen,  sondern 
legt  sie  in  die  Fluchtlinie  des  Ganzen,  indem  man 
die  Wand  hinter  ihnen  nach  Innen  zieht  und  so  eine 
Loggia  bildet,  wie  schon  bei  Palladio,  bei  Pietro  da 
Cortona  (S.  M.  in  via  Lata),  später  Ferdinando  Fuga 
(S.  M.  Maggiore)  in  Rom,  aber  auch  bei  Claude 
Perrault  an  der  Louvrefassade.  So  ziehen  sich  wol 
Säulengänge  um  den  Vorhof  und  runden  sich  zü 
den  Seiten  des  Portales,  für  den  Bewohner  des  Palastes 
die  Bildwirkung  dieser  Schlusswand  begünstigend, 
für  den  Besucher  eine  freundliche  Begleitung  des 
BUckes  wie  des  Ganges  auf  die  gastHche  Schwelle 


Der  Stil 


369 


zu.  Aber,  wie  auf  dem  Gebälk  die  Balustraden  und 
auf  diesen  die  Statuen  und  Vasen  nicht  fehlen  mit 
ihrem  malerischen  Schwung  und  ihrer  rhythmischen 
Gruppierung  in  der  Reihe,  so  nimmt  auch  die  Einzel- 
bildung malerische  Elemente  an,  wie  das  Kranzgehänge 
am  Kapitell  und  die  Blumen,  Knospen  oder  Perlen- 
füllung an  den  Enden  der  Kannelüren.  Schon  in  Palla- 
dios  Villa  Maser  finden  sich  an  der  Kirche,  dieser 
Miniaturausgabe  des  Pantheon  in  seinem  persönUchsten 
Geschmacke ,  von  Kapitell  zu  Kapitell  Festons ,  als 
versteinerter  Gelegenheitsschmuck  nicht  nur,  sondern 
als  Ausdruck  malerischer  Vermittlung  zwischen  Körper 
und  Raum,  die  selbst  dem  strengen  Architekten  Be- 
dürfnis war. 

Sonst  aber  herrscht  im  Äussern  der  Rokoko- 
bauten zunächst  die  flächenhafte  Schlichtheit  überall 
im  Gegensatz  zu  den  Volutengiebeln,  den  schwellen- 
den Gesimsen ,  den  ausspringenden  Erkern  des  Ba- 
rock, ja  die  ,, Linealstreifen",  als  zweifelloseste  Be- 
tonung der  Graden,  steigen  vom  Erdgeschoss  bis 
zum  Mansardendach  hinauf,  und  ,, Rechtecke,  flach 
wie  Papptafeln"  ,  bilden  die  einzige  Gliederung  zwi- 
schen den  möglichst  wenigen  Geschossen.  ,,Der 
Umstand ,  dass  in  vielen  Fällen  die  Höhenerhebung 
im  Verhältnis  zur  Breite  eine  äusserst  geringe  war*', 
wirkte  gleichfalls  herabmindernd  auf  die  Ausgestal- 
tung im  plastischen  Sinne.  Die  Fensterpfeiler  sind 
nur  durch  Rahmen  eingefasst ,  auch  die  Fenster- 
gewände als  einfache  Rahmstücke  behandelt;  in  die 
Mitte  der  flachen  Bogen  tritt  eine  spielende  Ver- 
zierung (Verknüpfung  der  Rohrstäbe  zunächst.!^),  bald 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  24 


370 


Rokoko 


ein  Kopf,  eine  Gruppe  von  Emblemen,  eine  Kar- 
touche oder  Muschel.  Das  Hauptgesims  verflacht 
sich,  selbst  wo  es  mit  seinen  drei  Teilen  als  volles 
Kranzgesims  auftritt.  Fast  nie  fehlt  eine  mehr  oder 
minder  hohe  Attika.  Am  ganzen  Bau  kommt  auch 
wol  eine  rechteckige  Felderteilung  vor,  die  an  Eck- 
lisenen  noch  in  äusserster  Flachheit  an  die  Quader- 
imitation bei  Bernini  anklingt. 

Nur  selbständige  Pavillons  oder  Mittelrisalite,  wie 
gesagt,  nehmen  zu  diesen  Mitteln  noch  die  Schwin- 
gung der  Wandfläche  selbst  hinzu,  um  konkave  oder 
konvexe  Körperbildung  zu  erzielen.  Aber  auch  diese 
sind  mit  ihren  wiederholten  stumpfwinkUg  verbro- 
chenen Eckkanten  nur  leise  geschweift,  und  legen 
sich  immer  noch  breit  auseinander,  damit  die  helle 
Fläche  wol  zarte  Schattierung,  nicht  aber  scharfe  Kon- 
traste und  dunkle  Streifen  bekomme.  Albert  v.  Zahns 
"Vergleich  mit  ,, Kartenhäusern"  bleibt,  richtig  ver- 
standen, eine  ausserordentlich  treffende  Charakteristik. 

Viel  kräftiger  bewegt  sich,  öffnet  und  vermittelt 
sich,  wie  man  erwarten  wird,  die  Gartenfassade,  oder 
wol  gar  der  ganze  Baukörper  des  Gartenhauses  im 
Parke  drinnen.  Die  geschmückte  Wand  der  rö- 
mischen Villen  setzt  sich  lebendiger  und  freier  auf- 
gelockert mit  der  Umgebung  auseinander.  Büsten 
auf  Konsolen  und  Trophäengehänge  schmücken  sogar 
schon  das  Haus  J.  Hardouin-Mansarts  in  der  rue 
des  Tournelles,  wie  das  Hotel  de  Pompadour  von  de 
la  Maire.  Draussen  auf  dem  Lande  zeigt  sich  denn 
doch ,  dass  die  malerischen  Anschauungen  zu  stark 
entwickelt  sind,  um  sich  noch  zurückzuhalten ,  wo 


Der  Stil 


371 


keine  Rücksicht  mehr  beengt.  Je  weniger  Aufwand 
von  kostspieÜgen  Mitteln  noch  im  Innern  getrieben 
wird,  desto  mannichfaltiger  darf  das  Äussere  werden, 
und  mit  dem  Hintergrund  der  schattigen  Baum- 
gruppen, der  tiefen  Perspektive  durch  die  Alleen  und 
dem  schimmernden  Spiegel  eines  Teiches  in  Be- 
ziehung treten.  Das  Gefühl  stetigen  Zusammen- 
hanges und  regen  Verkehrs  zwischen  Bewohner  und 
Natur  ringsum  gewinnt  seinen  Ausdruck  überall,  be- 
vor noch  das  Bewusstsein  klar  sein  mag,  wie  male- 
risch diese  Betonung  der  Abhängigkeit  von  den 
örtUchen  Bedingungen,  diese  Auffassung  des  Hauses 
in,  mit  und  unter  dem  umgebenden  Raum  eigentlich 
werden  kann.  Noch  hindert  der  Überrest  selbst- 
gefäUiger  Bespiegelung  daran,  die  Sehnsucht  nach  dem 
weiten  All  da  draussen  zu  befriedigen ;  noch  bewahrt 
die  verwöhnte  französische  Gesellschaft  die  Über- 
zeugung menschlicher  Überlegenheit  zu  stark;  aber 
die  litterarischen  Zeugen  des  aufkeimenden  Natur- 
gefühls fehlen  ja  nicht,  wenn  es  auch  zunächst  eine  ^ 
sentimentale  Wendung  nimmt,  wie  in  Rousseaus  Nou- 
velle  Heloise  und  im  englischen  Garten  selber.  Selbst  ^f'/tn^i^  f 
Jagdschlösser  und  Gloriettes  umarmen  gradezu  die  luuJti 
Landschaft,  indem  sie  ihre  Seitenflügel,  oft  in  schräger  ^  > 
Richtung ,  ja  als  Doppelarme  nach  vorn  und  hinten, 
vom  centralen  Mittelbau  in  die  Gegend  hinausstrecken.  ^^*c^  dh^^^-:^ 
Und  dieser  Mittelsaal  mit  seiner  Kuppel  unter  dem 
Zeltdach,  wie  die  Gallerien,  die  von  ihm  auslaufen,  [j^ir/ 
enthalten  weiter  nichts  als  Fenster  und  Türen  zum 
Ausblick  ins  Freie,  zum  Einlass  von  Luft  und  Licht 
und  zum  Einblick  der  Natur  in  die  Hallen.    Das  be- 

24* 


9 


372 


Rokoko 


zeugt  z.  B.  Boffrands  Jagdschloss  für  den  Statthalter 
der  Niederlande  schon  vor  dem  Spanischen  Erbfolge- 
krieg ,  der  1 706  die  Vollendung  vereitelte ,  nach 
dem  Stich,  den  er  unter  den  Namen  ,,Boucheford" 
bei  Brüssel  veröffentlicht  hat ,  und  ebenso  sein  Ent- 
wurf für  das  Schloss  Malgrange  bei  Nancy,  das 
Herzog  Leopold  Joseph  Karl  von  Lothringen  (also  vor 
17 19)  erbauen  wollte,  —  von  ausgeführten  Beleg- 
stücken auf  deutschem  Boden  garnicht  mehr  zu  reden. 
Die  allseitige  Gemeinschaft  des  Bauwerkes  mit  seinem 
MiHeu  kann  kaum  hebenswürdiger  in  den  Formen 
der  gebildeten  „wolerzogenen"  Gesellschaft  sich  aus- 
prägen, als  wie  es  im  Lusthaus  des  Rokoko  geschieht. 
Der  Baukörper  öffnet  sich  ausser  den  Eingängen 
durch  eine  Reihe  von  hohen,  wie  Türen  bis  auf  den 
Boden  reichenden  Fenstern,  um  die  weite  Welt  als 
Bild  in  sich  aufzunehmen ;  er  entwickelt  in  der  Mitte 
eine  möglichst  grosse  Fläche  für  diese  Berührung, 
wölbt  sie  wol  rund  hervor  oder  legt  sie  in  stumpfwink- 
ligem Polygon  heraus ;  er  streckt  gar  Flügel  mit 
solchen  runden  oder  polygonen  Pavillons  noch  selb- 
ständiger hinaus  in  den  Garten,  oder  verteilt  vöUig 
losgetrennte  Sendlinge  an  bevorzugte  Stellen. 

Das  Bestreben  nach  Gemeinschaft  mit  der  Natur 
draussen  war  so'stark,  dass  man  die  Kälte  der  rauheren 
Jahreszeit  mehr  vergass,  als  es  das  günstige  KHma 
selbst  der  Umgegend  von  Paris  erklärlich  macht, 
und  auch  diesen  Schattenseiten  der  Uchtvollen  Bau- 
art gegenüber  scheint  dem  lebenslustigen  Optimismus 
ein  hoher  Grad  von  Selbsttäuschung  gelungen  zu 
sein ,  wie  so  mancher  Nachtseite  der  sozialen  Zu- 


Der  Stil 


373 


stände  gegenüber.  Fragen  wir  nur  den  Baukörper, 
soweit  er  seine  Aussenseite  zeigt,  so  dürfen  wir  die 
Raiimöffnung  für  die  Hauptsache  halten.  Was  nicht 
mehr  zu  deren  Einrahmung  gehört  und  zur  künst- 
lerischen Bezeichnung  ihres  Wertes ,  das  ist  nur 
glatte  Oberfläche,  die  sich  ebenso  schlicht  im  Stoffe 
wie  einfach  in  der  Form  darlegt.  Nicht  mehr  ein 
erdgeborenes ,  felsenfestes  Körpergebüde  haben  wir 
vor  uns ,  wie  in  den  Zeiten  strotzender  Kraft ,  son- 
dern nur  den  unentbehrlichen  Aufbau  der  Schirm- 
wände ,  die  keine  höhere  Bedeutung  beanspruchen 
als  der  Innenraum,  zu  dessen  Verwirklichung  sie  da 
sind ,  mit  dessen  Sinn  und  Leben  sie  stehen  und 
fallen.  Das  unbefangene  Urteil  kann  die  Sorglosig- 
keit in  der  Ausbildung  des  Äussern  nur  als  voll- 
kommen berechtigt  anerkennen.  Die  glänzende  far- 
big schillernde  Aussenseite  der  Bewohner  selbst  be- 
gegnet sich  festlich  geschmückt  mit  dem  Innern  der 
Räume ,  und  das  lockere ,  überall  zugänghche ,  den 
mannichfaltigen  Reizen  der  Aussenwelt  sich  öffnende 
Äussere  ihrer  Bauten  entspricht  dem  im  Grunde 
ebenso  sorglosen  als  genufssüchtigen ,  ebenso  raf- 
finierten als  liebenswürdigen  Wesen  dieser  Generation 
von  Aristokraten. ')  Selbst  die  Dachbildung  bekennt 
den  Verzicht  auf  das  italienische  Streben ,  „Alles 
unter  einen  Hut  zu  bringen",  und  gestattet  dem  Ein- 
zelnen oder  der  Gruppe  wieder  den  freien  Spielraum 


i)  Über  die  kulturgeschichtlichen  Zusammenhänge  vgl.  Anton 
Springers  Essay  „Der  Rococostil"  in  den  Bildern  aus  der  neuern 
Kunstgeschichte,  2.  Aufl.,  Bonn  1886,  II,  p.  211. 


374 


Rokoko 


nach  Oben ,  wie  die  französische  Renaissance  als 
Erbin  der  Gotik  auch  getan. 

Wir  erkennen  darnach  in  der  ganzen  Architektur 
des  Rokoko  eine  so  völlige  Ubereinstimmung  mit 
sich  selbst ,  dass  wir  die  Bezeichnung  als  Stil  ihr 
ebensowenig  vorenthalten  dürfen,  wie  der  Dekora- 
tionsweise oder  den  sonstigen  Betätigungen  in  Ma- 
lerei und  Skulptur,  oder  in  allen  damals  überhaupt 
gepflegten  Zweigen  des  Kunsthandwerks,  das,  grade 
unter  dem  Einfluss  dieser  Geschmacksrichtung  auf 
.  das  Malerische,  zu  hoher  Blüte  und  vollendetem  Ein- 
klang aller  Erzeugnisse  in  ihrer  Beziehung  zum 
Ganzen  hindurchdrang.  Es  ist  ein  Leichtes,  an  der 
Hand  der  feinsinnigen  Analysen,  die  Gottfried  Semper, 
Albert  v.  Zahn  und  Robert  Dohme  gegeben  haben, 
den  Stil  in  allen  diesen  Äusserungen  weiter  zu  ver- 
folgen. Die  liebevolle  Charakteristik,  die  französische 
Kenner  der  Sache  und  Meister  des  Wortes  den  ein- 
zelnen Erscheinungen  gewidmet  haben ,  muss  nur 
vorurteilsfrei  zunächst  in  rein  ästhetischem  und  kunst- 
geschichtlichem Sinne  verarbeitet  werden,  ohne  den 
stets  noch  moralisierenden  Beigeschmack,  den  unsre 
Historiker  dabei  angenommen.  So  verständlich  dieses 
ethische  Bekenntnis  auch  als  Bedürfnis  überzeugter 
Anhänger  andrer  Lehren  erscheinen  mag,  so  gefähr- 
lich sind  die  pathetischen  Vorwürfe  oder  die  witzigen 
Seitenhiebe,  die  sich  immer  häufiger  einstellen,  je 
weniger  der  litterarisch  gebildete  oder  kulturgeschicht- 
lich interessierte  Forscher  von  den  eigensten  An- 
gelegenheiten der  Kunst  zu  sagen  sich  getraut. 


375 


HISTORISCHER  VERLAUF 

Je  bestimmter  wir  das  Rokoko  als  einen  eignen 
Stil  anerkennen,  der  in  der  Entwicklungsgeschichte 
der  Renaissance,   ebenso  wie  der  Barock,  seine 


bestimmte  Stelle  beansprucht,  und  zwar  aus  dem 
malerisch  gewordenen  Barockstil  Roms  durch  seine 
Verpflanzung  auf  den  Boden  der  französischen  Spät- 
renaissance hervorwächst,  also  eine  w^eitere  Phase 
nach  diesem  von  specifisch  nordischem  Charakter 
bedeutet,  die  mit  der  Grossmacht  der  niederländischen 
Malerei  in  ebenso  innigem  und  natürlichem  Bunde 
steht,  —  desto  mehr  drängt  sich  die  Frage  auf,  was 
denn  von  dem  historischen  Verlauf  dieses  Stiles  zu 
halten  sei. 

Zunächst  in  der  Architektur ,  deren  selbständige 
Rolle  wir  geflissenHch  hervorzuheben  bemüht  waren. 
Erkennt  man  mit  Destailleur  schon  in  Robert  de  /jf  32^^- 

C  Ott  es  Arbeiten  im  Hotel  de  Toulouse  1713 — 1719 
(Banque  de  France)  die  Kennzeichen  des  Übergangs 
in    den    neuen  Stil ,  besonders    in    der  berühmten 
Gallerie,  so  wird  sich   auch  gleichzeitig  im  Hotel    ^^^^  ^ 
Conti  (später  du  Maine)  17 16 — 17 19,   das  hernach  ^ 
wieder  umgebaut  worden,  noch  mancher  Überrest 
des  Früheren  erkennen  lassen   mitten  im  Verzicht 
auf  jede  Gliederordnung  und  in  dem  Hang  zur  Ver- 
schlingung aller  Linien  und  Formen.    Dagegen  steht 
als  vollständiger  Beweis  der  veränderten  Raumbildung 
in  erster  Linie  das  Palais  Bourbon,  leider  auch  dies    ■    ^«^^  ^'mc/- 
durch   den  Umbau   für  die  Chambre  des  Deputes  "■■  ^ 

(1804 —  1807)  nach  Aussen  unkenntUch  geworden. 


376 


Rokoko 


Seine  Anlage  gehört  einem  Italiener,  Girardini 
(1722),  der  statt  Eines  Haupteinganges  in  der  Mitte 
deren  zwei  in  den  vorderen  Pavillons  anzuordnen 
wagte,  während  sich  das  Ganze  in  drei  Flügeln  um 
den  Hof,  ein  quergelegtes  Rechteck,  durchaus  male- 
risch hinlagerte.  Die  unregelmäfsige  Gruppierung 
der  vielgestaltigen  Teile  nach  Innen  zu,  die  offene 
Villenartigkeit  des  einstöckigen,  mit  flachem  Dach 
schliessenden  Gebäudes  nach  Aussen,  besonders  auf 
freier  Terrasse  gegen  die  Seine  zu,  mit  dem  spätem 
Platz  Louis  XV.  gegenüber,  waren  ausserordentUch 
klare  Veranschaulichungen  des  neuen  Ideales,  während 
die  Einzelformen  der  Stichbogenfenster  im  Hof,  wie 
der  korinthischen  Säulenordnung  ringsum  wol  als 
Anteil  der  französischen  Vollender  Lassurance  dort, 
hier  Gabriel  und  Aubert  gelten  dürfen.  Von  Girar- 
dini rührt  auch  das  benachbarte  Hotel  de  Lassay 
her,  das  dann  durch  den  Prinzen  von  Conde  mit 
dem  Palais  Bourbon  vereinigt  ward  (1765  — 1775), 
ursprünglich  aber  eine  ganz  verwandte  Anlage  von 
kleinerem Mafsstabe  gewesen  ist.  Lassurance,  Cour- 
tonne und  andre  Meister  vertreten  in  ihren  Werken 

,  die  frühere  Phase  des  Rokoko,  die  man  Stil  der 

''Regentschaft  nennt. 

Durch  den  neuen  Anlauf  der  schöpferischen  Ge- 

jj  staltungskraft  in  Juste-Aurele  Meissonier  kommt 

'  dann,  je  mehr  es  sich  in  Frankreich  läutert  und  ver- 
feinert, das  Rokoko  zu  seiner  vollen  Entwicklung, 
die    wir   unter   den  eigentlichen  Franzosen  gleich- 

I  zeitig  am  Reinsten  bei  Jean  Baptiste  Leroux 
(f  1745)  erkennen.    Ein  Stil,  der  so  vollständig  alle 


Historischer  Verlauf 


377 


Teile  der  Baukunst,  die  raumbildende  wie  die  körper- 
bildende Seite  ihrer  Tätigkeit  nach  malerischen  Prin- 
zipien behandelt,  und  die  architektonische  wie  die 
plastische  Schönheit  durchaus  der  malerischen  unter- 
ordnet, —  der  die  Bildauffassung,  den  Zusammen- 
hang alles  Körperlichen  und  Räumlichen  unter  dem 
Gesichtspunkt  des  Gesamteindrucks,  selbst  nicht 
mehr  der  Reliefauffassung,  sondern  des  Fernbil- 
des, über  Alles  stellt,  ist  begreifUcher  Weise  ganz 
dem  mafshaltenden  Schönheitssinn,  dem  Zartgefühl 
eines  feingebildeten  Geschmackes  anheimgegeben. 
Und  dieser  leicht  beweglichen,  unaufhörlich  zitternden 
Nadel  des  einzigen  Kompass  fehlte,  wie  bekannt, 
die  unentwegbare  Grundlage  einer  starken  ethischen 
Richtung,  die  unter  allen  Schwankungen  den  stetigen 
Einfluss  ihres  Poles  aufweist.  Sowie  die  Grundsätze 
der  französischen  Schulung  von  malerisch  noch  so 
genial  begabten  Künstlern  ausser  Acht  gelassen 
werden,  gerät  die  Tendenz,  die  natürHche  des  Stiles 
selbst,  auf  die  abschüssige  Bahn  eines  Betriebes, 
dem  es  nur  um  die  Erscheinung  als  solche  zu  tun 
ist;  sie  entartet  in  rein  dekoratives  Schaffen,  in  un- 
solide Einkleidung  und  lüderliche  Schnellproduktion. 
Die  gute  Zeit  des  Rokoko  hört  von  dem  Moment 
an  auf,  wo  die  scharfe  Zeichnung  der  sorgfältig  ge- 
schulten Generation  verschwindet  und  unklare  ver- 
schwommene Formen  bevorzugt  werden;  denn  diese 
Unbestimmtheit  des  Einzelnen,  das  Übergleiten  des 
Körperlichen  ins  Flächenhafte ,  des  Geformten  ins 
Formlose,  die  Betonung  der  allseitigen  Bedingtheit 
und   des  ewig  veränderlichen  Flusses  aller  Dinge, 


378 


Rokoko 


diese  Anempfindung  an  das  Naturleben  in  seinem 
Entstehen  und  Vergehen,  an  das  knospenhafte 
Werden  aus  dem  Unbegränzten  und  die  verwelkende 
Auflösung  des  Besondern  ins  Allgemeine  stellen  sich 
nur  als  Konseqenzen  der  malerischen  Auffassung 
von  selber  ein. 

Dann  aber  wird  durch  den  Sieg  des  Malerischen 
in  der  Architektur  zunächst  die  Malerei  selber  be- 
troffen. Der  Rahmen,  der  ihre  Bildfläche  sondert 
und  begränzt,  aber  auch  ihr  eigenes  Reich  darinnen 
konstituiert,  löst  sich  wuchernd  und  spielend  nun  auf 
in  die  Fläche  nach  Aussen  wie  nach  Innen.  Die 
Fläche  selbst  verliert  ihre  Eigenschaft  als  senkrechte 
Ebene  gegenüber  dem  Beschauer  und  geht  in  sanf- 
ter Schwingung,  hier  konkav  dort  konvex,  in  das 
grössere  Ganze  des  Raumgebildes  auf,  das  seiner- 
seits die  stereometrische  Form  verläugnet,  um  desto 
lebendigeres  Gebilde  zu  bleiben.  Alle  plastische 
GUederung  überzieht  und  durchwächst  wie  Adern 
und  Nerven  der  organischen  Geschöpfe  diese  Raum- 
gestalt und  verschmilzt  mit  ihm  so  einheitUch,  dass 
nirgends  mehr  eine  feste  Umgränzung  sich  entschieden 
genug  aussondert,  um  auf  der  Fläche  ein  Bild  mit 
voller  RäumHchkeit  und  Körperlichkeit  darin  auszu- 
gestalten. Selbst  die  strenge  Theaterperspektive, 
die  in  drei  Plänen  hintereinander  oder  übereinander 
sich  aufzubauen  gewohnt  war,  muss  nun  möglichst 
verschwimmen  und  verschweben.  Hier  ist  kein  Platz 
mehr  für  monumentale,  stark  in  die  Tiefe  und  ins 
Relief  gehende  Malerei,  wie  sie  im  Anschluss  an 
Jouvenet  und  die  ,,Tenebrosi"  unter  den  Italienern, 


Historischer  Verlauf 


379 


oder  weit  heller,  aber  immer  noch  stark  konstitutiv 
im  Anschluss  an  Tiepolo  sich  ausgebildet  hatte.  Da- 
mit kamen  die  Grundsätze  der  ererbten  Routine, 
die  kunstreichen  Kompositionsregeln,  die  man  auf 
diese  Perspektive  gebaut  hatte,  überall  da  ins  Schwan- 
ken, wo  die  selbständige  Weiterdichtung  des  Raumes 
durch  die  Bravour  des  Malers  nicht  am  Platze  war. 
Nur  eine  dekorative  Behandlung,  die  selber  leicht 
und  spielend,  schemenhaft  auf  der  Oberfläche  bleibt, 
kann  wirkHch  noch  gedeihen,  bis  auf  die  wenigen 
Stellen,  wo  die  starken  Raumwerte  wie  in  Decken- 
gemälden erträglich,  ja  willkommen  bleiben.  Wo 
mit  der  Darstellung  des  Raumes  auf  der  Fläche 
nicht  mehr  Ernst  gemacht  werden  darf,  da  schwinden 
auch  die  Körperwerte,  die  der  Maler  hinsetzen  kann, 
empfindlich  zusammen;  der  Mafsstab  sowol  wie  die 
Rundung  der  Gestalten  vertragen  nicht  mehr  die 
Grössenverhältnisse,  die  der  monumentale  Stil  bis 
dahin  ausgebildet  hatte. 

Schon  der  erste  wieder  selbständig  begabte 
Nachfolger  W atteaus  muss  diese  Wirkung  des  durch- 
gehenden Stiles  auf  die  Malerei  bedrohlich  erfahren, 
da  ihm  die  Ausschmückung  der  Innenräume  des 
architektonisch  vollendeten  Rokoko  zufällt,  Frangois 
Boucher(i703 — 1777)  ist  ja  der  Maler  des  Louis  XV., 
der  Liebling  der  Madame  de  Pompadour.  Wir  be- 
merken aber  mitten  in  vollster  schöpferischer  Tätig- 
keit eine  Wendung  seines  Strebens ,  die  höchst  be- 
zeichnend ist  für  die  Geschichte  des  Stiles.  Eben 
der  Maler  muss  vorangehen.  Die  Lebensgefahr  der 
eigenen  Kunst ,    die   alle   andern  Schwestern  unter 


380 


Rokoko 


ihr  Gesetz  gezwungen,  veranlasst  seinen  Versuch  zur 
Rettung  ihrer  Existenz  in  höheren  Aufgaben.  Er 
kann  das  Heilmittel  nur  bei  der  Nachbarin  Plastik 
suchen,  der  Körperbildnerin  als  solcher,  und  verschafft 
sich  diese  Hülfe  selbst  für  Einbusse  an  Farbenkraft. 
Wir  bemerken  eine  entschiedene  Vergrösserung  der 
Figuren,  eine  plastische  Verstärkung  aller  Formen  bei 
ihm,  und  es  ist  merkwürdig  zu  sehen,  wie  dabei  der 
Urquell  malerischer  Energie,  aus  dem  auch  Watteau 
das  sprudelnde  Leben  seines  Pygmäengeschlechtes 
noch  geschöpft  hatte,  der  Vlame  Rubens  in  Anspruch 
genommen  wird,  neben  den  Marmorbildern  der  an- 
tiken Kunst ,  die  man  aufs  Neue  zu  betrachten  an- 
fieng.  Boucher  kehrt  zu  der  fleischigen  Fülle  der 
Formen  im  Sinne  des  Niederländers  zurück,  aber  er 
läutert  sie  durch  klassische  Studien  nach  dem  Vor- 
bild antiker  Götterstatuen,  die  er  mit  andern,  milder 
gewöhnten  Augen  sieht  als  Rubens.  Und  im  Sinne 
dieser  statuarischen  Auffassung,  der  reineren  Marmor- 
anschauung, die  durch  französische  Bildung  ihm 
anerzogen  ward ,  mäfsigt  sich  auch  die  Röte  der 
Färbung.  Nicht  mehr  die  strotzende  Blutwärme  der 
flandrischen  Blondinen ,  sondern  die  rosige  Zartheit 
oder  gar  mit  einem  Stich  ins  Bläuliche,  die  Nüance 
des  durchscheinenden  Geäders,  des  blauen  Venen- 
saftes, des  verbrauchten,  ermattenden,  alten  Geblütes 
im  verwelkenden  Leibe  gesellt  sich  der  aufgedunsenen 
und  verschwommenen  Form,  und  statt  des  goldigen 
Tons,  der  bei  Watteau  noch  immer  aus  den  Tagen 
Claude  Lorrains,  ja  Tizians  manchmal,  herüberschim- 
merte, tritt  nun  der  silberne  Mondlichtglanz  auch  in 


Historischer  Verlauf 


381 


voller  Helligkeit  der  Mittagsstunden.  Der  grünblaue 
Gesamtton  dieser  Malereien  bringt  als  Entgelt  für 
den  Zuwachs  der  Form  wieder  eine  Entwirklichung 
der  Farbe  mit  sich.  Will  man  aber  das  Berechtigte 
in  diesem  Streben  Bouchers  verstehen,  den  Drang  nach 
vollerer,  grösserer  Gestaltung,  der  hernach  zum  Sta- 
tuenmalen selber  führt,  so  entdeckt  man  eine  Reaktion 
im  Sinne  des  plastischen  Ideales  grade  da,  wo  seine 
Palette  fast  Verblasen  wird.  Und  hier  steht  ihm  die 
Formengebung  eines  Frangois  Girardon  (1628  bis 
171 5)  vor  Augen,  und  ein  Gesinnungsgenosse  wie 
Edm.  Bouchardon  (1698  — 1762)  unmittelbar  zur 
Seite. 

Mit  diesem  Lieblingsbildhauer  der  Pompadour 
bezeichnen  wir  eine  Wendung  in  den  Bestrebungen 
der  Plastik  selbst,  von  dem  vöUig  Malerischen,  äusserst 
Transitorischen  zum  eigensten  Wesen  zurück,  und 
zur  Abklärung  mit  Hülfe  der  Antike.  Als  besonders 
malerische  Beispiele  der  Plastik  im  Louvre  seien 
hier  nur  die  Dido  auf  dem  Scheiterhaufen  von  Cayot 
171 1,  der  Titan  von  Fr.  Dumont  1712  und  der 
hl.  Sebastian  von  Coudray  17 12,  der  bogenspannende 
Soldat  von  Bousseau  171 5,  der  Charon  von  Hutin 
1742,  der  schlafende  Hirt  von  Vasse  1751  und  der 
Prometheus  von  L.  S.  Adam  1762  erwähnt.  Des 
Letztgenannten  Neptun  von  1737,  wie  die  lyrische 
Poesie  aus  St.  Cloud  1752  gehören  schon  völHg  zu 
Bouchers  Geschmack.  Augustin  Pajou  (1750 — 1809) 
und  selbst  Jean  Bapt.  Pigalle  (1714 —  1785)  in  seinem 
Merkur  bemühen  sich  um  grössere  Fülle  und  Rein- 
heit zugleich,  während  die  glückliche  Rettung  zur 


382 


Rokoko 


Einfachheit  und  Grösse  hindurch  nur  J.  Ant.  Houdon 
(1741  — 1828)  gehngt. 

Daneben  aber  stellt  sich  auch  in  der  Architektur 
das  Verlangen  nach  körperhafter  Ausrundung  der 
Bauglieder ,  die  Rückkehr  zu  ihrem  plastisch  selb- 
ständigsten Gliede,  der  Säule  nach  dem  Vorbild  der  an- 
tiken Baukunst  wieder  ein.  Jacques  Germain  Soufflot 
(1709 — 1780)  erbaut  seit  1755  das  Pantheon  von 
Paris,  Ste.  Genevieve,  und  lässt  1764  sein  Werk  über 
die  Tempel  von  Paestum  erscheinen.  So  fällt  die 
Haupttätigkeit  Bouchers  tatsächhch  schon  in  eine 
Zeit,  wo  die  strenger  antikisierende  Richtung  der 
Architektur  von  Aussen  her  der  malerischen  Auf- 
lösung entgegentritt,  ja  in  öffentlichen  Bauwerken, 
die  den  Charakter  der  Wohnung  verläugnen ,  schon 
das  Feld  behauptet. 

Aber  für  das  Verständnis  der  Kunstentwicklung 
ist  es  wichtig,  sich  klar  zu  machen,  welchen  Gang 
sie,  von  der  Malerei  rückwärts,  einzuschlagen  im  Be- 
griff war.  Wenn  man  sich  sagt,  Boucher  werde  mit 
seinen  Mythologien  den  Bestellern  ebenso  willkommen 
gewesen  sein ,  wie  der  Dekorateur  mit  den  neuen 
antikisierenden  Details,  so  ist  damit  nur  eine  äusser- 
liche  Gemeinschaft,  die  nämliche  Grundlage  der  Bil- 
dung erklärt.  Neben  dem  Inhalt  gilt  es  jedoch,  für 
den  Stil  vor  Allem,  die  Form  zu  beachten,  die  Be- 
handlung —  seien  es  Mythologien,  seien  es  Schäfer- 
idyllen —  seiner  lüsternen  Verführungsscenen  im 
Wesen  der  Gestaltung  zu  erfassen,  die  auf  plastische 
Stärkung  ausgeht.  Seine  Typen  haben  zu  Anfang 
jedenfalls  noch  Verwandtschaft  genug  mit  der  Formen- 


Historischer  Verlauf 


383 


spräche  des  Rokoko,  „sie  sind  in  ihrer  ewigen  Rund- 
lichkeit", wie  Zahn  sich  ausdrückt,  ,, Produkte  eines 
routinierten  Manierismus ,  der  im  Grunde  mehr  mit 
den  letzten  Ausläufern  der  itahenischen  Maler  der 
Grazien  zusammenhängt";  aber  eben  durch  diesen  Zu- 
sammenhang werden  sie  in  der  Periode  seines  kräf- 
tigsten Schaffens  zu  einer  Förderung  des  nämlichen 
Umschwungs,  der  in  der  Skulptur  bei  Bouchardon, 
in  der  Architektur  jedenfalls  bei  Soufflot,  wenn  nicht 
schon  bei  Gabriel  wahrzunehmen  ist.  Bouchers  Kolo- 
rit aber  bleibt  das  des  Rokoko ;  oder  er  grade  ist 
es ,  der  die  Farbenblässe  der  Dekoration  und  ihre 
zarten  nur  wie  angehauchten  Töne  in  die  Malerei 
überträgt,  so  dass  seine  ,,Dessus  de  portes"  sehr 
einheitlich  mit  dem  Innern  des  Rokokoboudoirs  zu- 
sammengehen, wie  das  Breitformat  seiner  Bilder  aus 
der  vorwaltenden  Tendenz  der  Raumanschauung  her- 
vorgewachsen war. 

In  dieser  Verblassenheit,  die  über  alle  natürlichen 
Farben  kommt ,  wo  die  bildliche  Darstellung  der 
Dinge  beginnt ,  und  zwar  weil  man  in  diesem  Spiel 
der  festlichen  Umgebung  nirgends  die  volle  Wirk- 
lichkeit selber  will,  in  dieser  Entkräftung  des  Kolorits 
berührt  sich  Boucher  doch  mit  den  Pastellmalern  der 
Zeit,  ebenso  wie  mit  der  ,, ganzen  Gruppe  des  Lairesse 
und  seiner  Nachfolger ,  die  in  ihren  antikisierenden 
Bestrebungen  vor  und  während  der  Herrschaft  des 
Rokoko  bereits  die  stilistischen  Eigentümlichkeiten 
des  Zopfes  erkennen  lassen,  sofern  sie  überhaupt  — 
wie  Zahn  hinzusetzt  —  architektonisch -dekorativen 
Aufgaben  nahe  treten". 


384 


Rokoko 


Wie  der  Stil  des  Rokoko  ist  auch  die  letzte 
Phase,  die  in  Frankreich  den  Namen  Louis  XVI.  er- 
halten hat,  langer  Hand  vorbereitet,  ja  unmittelbar 
und  vielleicht  lange  unvermerkt  aus  dem  Rokoko 
herausgewachsen,  wie  dieses  aus  dem  Barock,  und 
das  zweite  Element  ist  hier  wie  dort  noch  immer 
das  Hauptprinzip  der  grossen  Bewegung,  die  wir 
,,Renaissance"  nennen.  Nur  gewinnt,  je  weiter  wir 
uns  von  ihrem  Ursprung  aus  dem  Mittelalter,  also 
vom  Quattrocento  entfernen,  die  Nachahmung  der 
Antike  bei  jedem  neuen  Anlauf  mehr  die  Oberhand. 
Und  je  mehr  schon  im  Rokoko  der  ernste  Wille  sich 
in  selbstgefälliger  Liebenswürdigkeit  verzettelt,  und 
die  Kunst  im  heitern  Spiel  nur  der  Laune  des  Augen- 
blicks genügen  soll ,  desto  mehr  wird  diese  Nach- 
ahmung des  klassischen  Vorbildes  daneben  eine  re- 
signierte, desto  mehr  ermattet  der  Gestaltungsdrang 
der  eignen  Erfindungsgabe  selbst,  erlahmt  die  schöpfe- 
rische Kraft  nun  am  Ai.usgang,  um  in  der  antiqua- 
rischen Renaissance  zu  enden. 


Die  wichtigste  stilistische  Einwirkung  sehen  wir, 
in  voller  Ubereinstimmung  mit  Albert  v.  Zahn ,  in 
der  antikisierenden  Liebhaberei,  die  in  gleicher  Stärke 
durch  die  antiquarischen  Neigungen  der  Gelehrten 
und  Künstler  wie  durch  die  Entdeckung  von  Herku- 
laneum  und  Pompeji  Anregung  empfiengjän£st  bevor 
die  Mahnung  Winckelmanns  der  entarteten  Kunst  die 
Nachahmung   der   Griechen   als   einziges  Heilmittel 


Es  ist  die  grade  Linie  des  Rahmens,  die  allem 
geschmackvollen  Rokoko  noch  als  Halt  zu  Grunde 


verkündete. 


Historischer  Verlauf 


385 


lag  oder  als  stillschweigende  Voraussetzung  den  ge- 
schmeidigsten Evolutionen  des  Rankenwerks  und  der 
Muschelgewächse  hier  und  da  das  Rückgrat  stärkte. 
Es  ist  die  grade  Linie ,  die  kürzeste  Bezeichnung 
aller  Dimensionen ,  die  in  allgemeiner  Asymmetrie 
der  Formen  und  der  Verzierungen  sozusagen  ab- 
handen gekommen  war,  wenn  auch  nach  Art  japa- 
nesischer Flächenmuster,  die  man  zum  Vorbild  nahm, 
der  Widerspruch  zur  symmetrischen  Gränze  oder  zur 
stereometrischen  Regelmäfsigkeit  des  geschmückten 
Gegenstandes  selbst  den  geheimen  Reiz  dieser  spie- 
lenden, eigensinnig  aller  Erwartung  spottenden  Frei- 
heit bildet ,  oder  wenn  auch  die  einseitigsten  Ab- 
weichungen einer  Konsole  ,  einer  Kartouche  ,  eines 
Bündels  von  Einzelheiten  stets  ein  Gegenstück  mit 
den  nämlichen  Abweichungen  nach  der  andern  Seite 
fordert,  d.  h.  überall  ein  Links  und  Rechts,  ein  Oben 
und  Unten  oder  Vorn  und  Hinten  im  Spiel  ist,  also 
das  menschliche  Subjekt  mit  seinem  Höhenlot  als 
unveräusserlicher  Mafsstab  fungiert.  Es  ist  die  grade 
Linie,  die  sich  wieder  betont,  nachdem  das  unsicher 
gewordene  Gefühl  ihre  Notwendigkeit  empfunden  hat, 
die  wieder  zur  Herrschaft  kommt,  und  eine  neue 
Phase,  ein  letztes  Spiel  der  erschöpften  Renaissance 
hervorbringt,  das  Spiel  der  Gradheit ,  Einfachheit, 
Naivetät.  Man  sucht  sie  in  der  kleinen  wiederauf- 
gedeckten Provinzialstadt  aus  römischer  Kaiserzeit, 
wie  auf  der  unbekannten  Insel  des  Robinson  Crusoe. 
Beide  Vorbilder  sind  Postulate  der  Phantasie ,  und 
auch  der  ,, Stile  Louis  Seize"  bleibt  ein  Flächenstil, 
dessen  graziöser  Aufschwung  im  Sinne  eines  wirk- 

Schmarsow,  Barock  und  Rokoko.  25 


386 


Rokoko 


lieh  verfeinerten  Genusses  der  zierlichsten  Formen, 
die  vom  Griechentum  zum  Vorschein  gekommen 
waren,  um  1775  beginnt. 

Die  eigenthch  fruchtbaren  Keime  der  Erneuerung 
dürfen  aber  nicht  in  dem  antikischen  Spiel  dieser 
letzten  und  vergänglichsten  Blüte  des  französischen 
Geschmackes  gesucht  werden ;  denn  das  gepriesene 
Heilmittel  Winckelmanns  war  doch  nur  ein  Testimo- 
nium paupertatis,  oder  die  Nachahmung  der  Einfach- 
'  heit  ä  la  grecque  doch  nur  ein  Notbehelf,  weil  man 
die  Hauptsache,  die  Einfalt  der  Natur,  eben  nicht 
zu  erjagen  vermochte.  Was  bUckt  uns  an  aus  der 
Maske  des  Schäferspiels,  das  selbst  Marie  Antoinette 
inTrianon  eingeführt,  was  blickt  durch  das  vergoldete 
Gitter  des  Parks  in  die  Wälder  von  Fontainebleau 
und  St.  Germain  hinaus,  als  die  Sehnsucht  nach  der 
Natur.?*  Was  besagen  die  Angriffe  Jean  Jacques 
Rousseaus  auf  die  Civilisation  überhaupt  und  die 
Schilderungen  des  Seelenlebens  in  Beziehung  zur 
umgebenden  Landschaft  anders ,  als  das  Verlangen 
nach  dem  gesunden  natürlichen  Zustand  zurück  .^^ 
Was  ist  die  Verkündigung  des  Naturrechts  anders, 
als  die  peremptorische  Forderung ,  dass  die  allge- 
meine Sehnsucht  der  Menschen  sich  erfülle }  Da 
rühren  wir  an  das  treibende  Moment  der  ganzen 
Entwicklung,  da  liegt  das  Gemeinsame,  das  aus  der 
langen  Periode  der  Renaissance  und  ihren  mannich- 
faltigen  Metamorphosen  im  Laufe  von  mehr  als  vier 
Jahrhunderten  hinüberführt  in  die  Neuzeit.  Die  Re- 
volution ist  nur  der  äusserliche  Abschluss ;  sie  macht 
mit  allem  Bestehenden  tabula  rasa,  soweit  dies  irgend 


Historischer  Verlauf 


387 


möglich  ist,  damit  man  ganz  von  vorn  anfange.  Aber 
auch  die  Generation  der  Revolutionsmänner  war  ja 
weder  vom  Himmel  gefallen,  noch  aus  Drachensaat 
emporgeschossen  oder  aus  Steinen  erweckt,  sondern 
auf  natürUchem  Wege  zur  Welt  gekommen ;  also 
jeder  von  ihnen  war  das  Kind  seiner  Eltern,  der 
Abkömmling  seiner  Vorfahren,  der  Sprössling  seines 
Landes  und  seiner  Zeit ,  konnte  also  einen  neuen 
Adam  nur  anziehen,  d.  h.  eben  nicht  ganz  ,,ab  in- 
tegro"  anfangen,  sondern  auf  die  Tafel,  die  ererbte, 
wenn  auch  gründhch  abgewaschene,  mit  dem  Griffel 
in  der  Hand,  dem  ebenso  ererbten,  wenn  auch  neu 
zugespitzten,  vielleicht  allzu  scharfen,  die  Buchstaben 
schreiben,  die  er  gelernt,  oder  die  Figuren  zeichnen, 
die  er  zu  sehen  und  zu  fassen  gewohnt  war.  Daher 
eine  abermalige  Rückkehr  zur  Antike:  zur  römischen 
Republik  mit  ihren  Konsuln,  zur  griechischen  Kunst 
mit  ihren  Statuen.  Der  Mensch  geht  in  die  Schule 
der  uralten  Lehrmeisterin  Grammatica ;  denn  als  das 
reinste,  allgemeingültigste  Bildungsmittel  gilt  —  nach 
ererbtem  Urteil  der  Väter  oder  allerneuestem  Vor- 
urteil der  Neulinge  —  die  Antike. 

Das  Studium  des  klassischen  Altertums  seit  An- 
beginn der  Revolutionszeit  ist  aber  ein  ganz  anderes 
Wesen,  als  die  spielende  genufssüchtige  Nachahmung 
des  antiken  Geschmacks  am  letzten  Ende  der  Re- 
naissance im  Stile  Louis  Seize  zu  Paris  oder  im  Zopf 
zu  Berlin.  Einmal  die  antiquarische  Liebhaberei  als 
Begleiterin,  das  andre  Mal  die  archäologische  Wissen- 
schaft. Die  Jagdgeschichte  Münchhausens  von  seiner 
Rettung  aus  dem  Brunnen  scheint  hier  zur  Wahrheit 

25- 


388 


Rokoko 


geworden :  man  musste  sich  an  dem  eigenen  Zopf 
herausziehen  und  konnte  nicht  anders  als  am  letzten, 
dünnsten,  armseligsten  Ende  wieder  anfangen.  Der 
sogenannte  Klassicismus ,  der  dem  achtzehnten  und 
neunzehnten  Jahrhundert  gemeinsam  sein  soll ,  ist 
genau  besehen  ein  Doppelgänger  oder  hat  mindestens 
einen  Januskopf  mit  zwei  Gesichtern,  einem  alten 
abgelebten,  greisenhaften,  wieder  kindisch  gewordenen 
und  einem  jungen,  kindlichen,  eben  dem  des  gesun- 
den, jedenfalls  sehr  hungrigen,  nach  langem  Wieder- 
geburtsprocess  glücklich  in  die  Welt  gesetzten  Men- 
schenkindes, das  dann  so  bald  wieder  in  die  Schule 
gieng  und  sich  als  Zeitalter  der  Bildung  entpuppt  hat. 

Doch  gehen  wir  nicht  unter  die  Propheten,  son- 
dern suchen  das  wirklich  Vergangene  zunächst  richtig 
zu  verstehen.  Vorerst  bleibt  das  Verhältnis  zur 
Natur  ein  durchaus  sentimentales,  bis  man  ehrlich 
und  stetig  sie  wieder  zu  erobern  gelernt  hat.  Wir 
beobachten  in  der  letzten  Zeit ,  wo  Rokoko  dem 
Zopfe  weicht,  bei  den  bildenden  Künsten ,  die  wir 
allein  ins  Auge  fassen,  ein  unverkennbares  Streben 
zur  Rückkehr  in  das  natürliche  Verhältnis  der 
Schwestern ,  das  durch  die  Vorherrschaft  und  Füh- 
rung der  Malerei  völlig  verschoben  war.  Auch  dies 
allmähUche  Zurechtfinden  erfolgt  genau  in  umgekehr- 
ter Folge,  wie  die  Abirrung  geschehen  war,  d.h.  in  der 
geduldigen  Zurücklegung  des  nämlichen  Weges  von 
seinem  Ende  bis  zu  seinem  Anfang  hinauf.  Die  Ma- 
lerei, die  alle  übrigen  Künste  mit  sich  fortgerissen, 
1  muss  als  Statuen-  und  Reliefmalerei  das  Joch  der 
Skulptur  auf  sich  nehmen.    Die  malerisch  gewordene 


Historischer  Verlauf 


389 


Plastik  lernt  erst  wieder  tektonische  Abhängigkeit 
durchkosten,  ehe  sie  ihre  statuarische  Selbständigkeit 
wiedergewinnt,  und  müht  sich  mit  dem  Problem  der 
Form  überhaupt,  bis  sie  wieder  von  Innen  heraus 
gestalten  mag.  Die  malerisch  gewordene  Baukunst 
findet  sich  zu  plastischer  KörperUchkeit  ihrer  Einzel- 
bestandteile und  dann  zur  Gradlinigkeit  ihrer  Flächen, 
zur  senkrechten  Starrheit  und  kahlen  Geschlossen- 
heit ihrer  Wände  zurück,  bevor  sie  selbst  als  Raum- 
schöpferin aufs  Neue  gedeihen  kann.  Und  die  eigent- 
liche Triebkraft,  die  diesen  Zeiten  der  Busse  die 
Hoffnung  auf  das  Heil  lebendig  hält,  ist  überall  die 
Rückkehr  zur  Natur. 

Ist  aber  das  nicht  grade  das  Evangelium  der 
Malerei  ?  so  fragen  wir  am  Ende  unseres  Weges,  der 
uns  so  manches  Mal  das  Streben  dieser  Kunst  ge- 
zeigt ,  den  innigsten  Zusammenhang  der  Welt  im 
Augenschein  zu  fassen.  Gewiss ,  im  Augenschein, 
aber  auch  nur  dieser  ist  ihres  Amtes  allein,  nur  so- 
weit die  Gemeinschaft  der  körperlichen  und  der 
räumlichen  Faktoren  unserer  Welt  in  sinnlich  sicht- 
barem Bilde  dem  Auge  des  Menschen  erscheinen 
kann.  So  weit  ist  die  Malerei  die  Trägerin  dieses 
Ideals,  ist  es  ihres  Amtes,  den  ganzen  Reichtum  der 
Beziehungen  zwischen  Mensch  und  Natur  künstlerisch 
zu  bewältigen,  und  dieses  Weges  gehen  alle  Schwester- 
künste, die  malerisch  werden  in  ihrem  Tun.  Da 
ist  Einkehr  in  die  Natur,  wenigstens  durch  das  Auge, 
doch  gegeben! 

Warum  vermochte  denn  die  Malerei ,  die  so 
völlig  zur  Zeit  des  Rokoko  die  Führung  aller  Kunst 


390 


Rokoko 


Übernommen  hatte,  warum  vermochte  sie  nicht  die 
Verheissung  zu  erfüllen,  die  ihr  gegeben  ist  ?  —  Das 
ist  wol  die  letzte  Frage,  die  noch  eine  Antwort 
heischt,  wenn  über  das  Wesen  des  Rokoko  und  die 
Malerei  des  achtzehnten  Jahrhunderts  Rechenschaft 
gegeben  werden  soll  im  Sinne  eines  Stiles.  Diese 
höchste  sinnlich  -  geistige  Anwartschaft  der  Malerei, 
uns  den  Zusammenhang  mit  der  Natur,  der  weiten 
Welt  da  draussen  zu  vermitteln,  durchs  Auge  zum 
tiefsten  Seelengrund,  diese  Aufgabe  verlangt  die  Mit- 
wirkung des  ganzen  Menschen  in  voller  Hingebung, 
des  geniessenden  nicht  nur,  sondern  auch  des  schöpfe- 
rischen Subjekts.  Sie  setzt  eine  Weltauffassung  oder 
doch  ein  Weltgefühl  voraus,  das  in  Land  und  Leuten 
Rembrandts  wol  gedeihen  mochte ,  bei  den  Erben 
Ludwigs  XIV.  aber,  in  der  aristokratischen  Gesell- 
schaft Ludwigs  XV.  und  seines  Nachfolgers  jedoch 
nicht  vorhanden  war  und  auch  bei  Künstlern  höchster 
Art  nicht  aufkommen  konnte.  Im  arkadischen  Schäfer- 
kleid wie  im  Gemälde  eines  Watteau,  Boucher,  Fra- 
gonard  wird  mit  dem  natürhchen  Wesen  nur  gespielt, 
mit  Natur  und  Welt  nur  kokettiert,  gescherzt,  ge- 
schäkert und  getändelt,  wie  mit  dem  Herzen  und 
dem  Schicksal  der  Schönen.  Ein  starker  Rest  von 
Selbstgefühl  und  eitler  Selbstbespiegelung  ist  in  allem 
Tun  und  Treiben,  im  Schaffen  wie  im  Geniessen  der 
Rokokozeit,  und  deshalb  bleibt  die  Schwelle  zum 
eigenthchen  Geheimnis  der  Malerei,  wie  zum  heiligsten 
Mysterium  der  Natur,  verschlossen. 

Es  giebt  keinen  Sohn  dieser  Kultur,  der  diesen 
Bezirk  der  konventionellen  Voraussetzung,  den  Bann- 


Historischer  Verlauf 


391 


kreis  des  Spieles  überschritten  hätte  und  wirklich 
zu  überbrücken  wagt.  Auch  Rousseau  ist  viel  zu 
sehr  Egoist,  im  stillen  Kämmerlein  seiner  Bekennt- 
nisse wie  als  Stimmführer  der  grossen  Gemeinde 
draussen ,  um  wirklich  die  Kluft  zu  überbrücken ; 
auch  er  liebäugelt  nur  mit  der  Einfachheit  des  Na- 
turzustandes und  dämmert  im  Traume  einer  SeUgkeit, 
die  den  grossen  Spiegel  der  Reflexe  nur  erweitert 
und  die  gebrochenen  Stralen  nur  unbestimmter  zer- 
streuend verschwimmen  lässt.  Die  Sehnsucht  nach 
Natürlichkeit  predigt  auch  Diderot,  der  weichherzige 
Enthusiast,  aber  seine  Begeisterung  am  Schreibtisch 
ist  Genussbedürfnis,  wie  dem  Moralisten  die  Predigt 
auf  der  Kanzel.  Er  sieht  die  Erfüllung  seines  Ide- 
ales in  den  Gemälden  von  Grenze,  ohne  zu  merken, 
dass  auch  sie  nur  ein  ganz  sentimentales  Verhältnis 
zu  der  Einfachheit  und  Rechtschaffenheit  des  dritten 
Standes  aufweisen,  genauer  betrachtet  aber  in  Kom- 
position und  Ausdruck,  wie  in  Zeichnung  und  Farbe 
durchaus  dem  konventionellen  System  der  Rokoko- 
malerei angehören,  ja  durch  den  Schein  der  Unschuld 
erstrecht  verführen,  oder  zum  Genuss  ihrer  ethischen 
Eigenschaften  eben  den  Gegensatz  der  zerrütteten 
Zustände ,  die  ganze  Zerknirschung  über  die  Kor- 
ruption, wenn  auch  nur  als  vorübergehende  Anwand- 
lung voraussetzen,  während  sie  dem  unbefangenen, 
ästhetisch  nicht  so  für  das  Rührstück  empfänglichen 
Betrachter  als  eitel  Künstelei  erscheinen.  Der  Ein- 
zige, der  wirldich  den  Mut  der  Entsagung  hatte, 
das  Schlichte  um  seiner  selbst  willen  und  das  Ein- 
fache allein  zu  wollen,  war  unter  diesen  Malern  Jean 


392 


Rokoko 


Baptiste  Chardin,  der  dem  anspruchslosen  Genre 
der  holländischen  Kunst  sich  ganz  ergeben,  dafür  aber 
von  dieser  zeitgenössischen  Gesellschaft  auch  nur 
als  petit  dessert  gewürdigt  ward.  Seine  Kraft  war 
nicht  gross,  seine  Bedeutung  nicht  umfassend  genug, 
um  überzeugend  das  Ideal  der  Malerei  zu  erfüllen, 
wie  es  einem  Rembrandt  aufgegangen  war ;  er  bleibt 
nur  ein  merkwürdiges  Zeugnis  für  den  Austausch 
der  Bewegung  zwischen  Holland  und  Frankreich  seit 
der  Invasion  von  1672 ,  wo  auf  niederländischem 
Boden  die  klassische  Reaktion  beginnt. 

Die  Malerei  des  Rokoko  in  Frankreich  musste, 
ganz  abgesehen  von  kulturgeschichtlicher  Umgebung 
und  politischen  Ereignissen,  wo  eben  Alles  kopfüber 
geht,  musste  in  sich  zu  Grunde  gehen,  auf  ihrem 
eigensten  Grunde,  in  ihrer  unangefochtenen  Herr- 
schaft als  Kunst,  weil  zu  dem  letzten  psychologischen 
Erguss  in  die  Weite  der  Welt  die  notwendige  Vor- 
aussetzung im  schaffenden  Künstler,  wie  im  ge- 
niessenden Betrachter  fehlte,  die  Entäusserung  des 
eitlen  Selbstgefühls  vor  der  Allmutter  Natur,  die  Hin- 
gebung an  das  allseitig  bedingende  Weltgefühl,  um 
deren  Preis  allein  der  ewige  Urgrund  alles  Lebens 
und  Daseins  erlaubt ,  mit  Menschenhand  an  seine 
Geheimnisse  zu  streifen. 

So  gieng  das  eigentliche  Erbteil  der  nordischen 
Grossmacht  Malerei,  nach  den  Tagen  eines  Rem- 
brandt und  Ruysdael  an  England  über,  und  zwar 
zur  selben  Zeit,  als  dem  urwüchsigen  holländischen 
Wesen,  den  kostbarsten  Eigenschaften  seines  Cha- 
rakters, seiner  Sitten  und  seiner  Weltauffassung  ein 


Neuzeit 


393 


neuer  Boden  in  dem  Inselreich  eröffnet  ward,  das 
die  Stuarts  durch  ihre  Schuld  verloren.  Mit  Wilhelm 
von  Oranien  setzte  ein  gut  Teil  des  Besten  nach 
England  über.  Englischer  Gartenbau  und  englische 
Parkanlagen,  englisches  Sittenbild  und  englische  Por- 
trätkunst bereiten  in  langsamem  Fortschritt  die  Über- 
nahme der  höchsten  Aufgaben  in  die  englische  Malerei 
vor,  deren  Vollzug  in  Reynolds  und  Gainsborough 
anerkannt  werden  mag,  auch  wenn  man  sich  sagt,  dass 
in  der  ganzen  englischen  Kunst  am  Ende  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  das  Verhältnis  zu  Natur  und 
Welt  ebenso  ein  sentimentales  bleibt ,  wie  in  der 
englischen  Litteratur,  im  Rührstück  und  Roman. 

Auch  jenseit  des  Kanals  ist  der  Anfang  der 
eigentlichen  Neuzeit  wol  später  zu  suchen,  und  der 
geistige  Verkehr  der  europäischen  Völkerfamilie  nach 
Aufhebung  der  gewaltsamen  Kontinentalsperre  dabei 
gewiss  nicht  ohne  Einfluss  geblieben.  Das  neunzehnte 
Jahrhundert  beruht  auf  diesem  Austausch  allzu  we- 
sentlich, als  dass  wir  ihn  entbehren  dürften  und  für 
das  Verständnis  unsrer  eigensten  Anliegen  unter- 
schätzen sollten.  Aber  die  geistige  Arbeit  des  acht- 
zehnten hat  die  notwendige  Vorbereitung  erbracht. 
Und  der  Übergang  der  Vorherrschaft  unter  den 
Künsten  von  der  Malerei  an  die  Dichtung,  oder  von 
der  Anschauung  überhaupt  an  die  Vorstellung,  er- 
scheint uns  der  eindringlichsten  Aufmerksamkeit  wert; 
denn  in  ihm  vollzieht  sich  die  Scheidung  der  Neu- 
zeit von  dem  Zeitalter  der  Renaissance. 


INHALT 


Seite 

Einführung  i —  4 

I.  Aesthetische  und  geschichtliche  Vorbereitung  5—49 

1.  INI  alerische  Gesichtspunkte  in  der  Baukunst  5  —  27 

Architektonischer  Standpunkt  —  Plastischer  Stand- 
punkt —  Malerischer  Standpunkt  —  Unmalerisches 
in  der  Architektur  —  Übergang  ins  Malerische  — 
Plastische  und  malerische  Wirkung  —  Keime  des 
Malerischen  im  Innenraum  —  Reliefanschauung  und 
Bildanschauung. 

2.  Renaissance  27  —  42 

Mittelalter  und  Quattrocento  —  Oberitalien  und  Ger- 
manisches —  Brunelleschi  —  L.  Lauranna  —  Giuliano 
da  Sangallo  —  Bramante  —  Antonio  da  Sangallo  — 
Der  Begriff  „Renaissance"  —  Malerisches  in  der 
Hochrenaissance. 

3.  Ein  malerischer  Stil?  42 — 49 

Kritische  Vorbereitung  —  Barock  —  Rokoko  —  Die 
Grossmacht  der  Malerei  im  Norden. 
II.  Michelangelo    als   Begründer    des  Barockstils 

(1524— 1564)  50-123 

1.  DerBildner  53 —  62 

Donatello  und  Michelangelo  —  Michelangelo  der 
Quattro centist ;  der  Meister  der  Hochrenaissance  — 
Die  Grabmäler  der  Medici  —  Gestaltenbildung  — 
Komposition  —  Der  Moses  am  Juliusgrabmal. 

2.  Der  Maler  62  —  70 

Das  Jüngste  Gericht  in  der  Sixtinischen  Kapelle  — 
Komposition  —  Gestalten   —  Cappella  Paolina. 


3 


396 


Inhalt 


Seite 

3.  Der  Baumeister   71  — 100 

Der  Kapitolsplatz  —  Biblioteca  Laurenziana  —  Kon- 
servatorenpalast —  Pal.  Farnese  —  Das  Ideal  des 
Innenraumes  —  Der  Petersdom  —  S.  M.  degli  An- 
geli  —  Der  Centraibau. 

4.  Bildner  und  Baumeister  100 — 115 

Plastische  Gestaltung  —   Hochdrang  —  Proportio- 
nalität —  Dissonanz  und  Harmonie 
5.SeinBarockstil  116 — 123 

III.  Die  zweite   Phase   des   römischen  Barockstils 

(1564— 1605)  124—193 

1.  Kirchenbau  125 — 152 

Vignola  —  Gesü  —  Giacomo  della  Porta  —  S.  Ca- 
terina  de'  Funari,  S.  M.  de'  Monti  - —  Gesü  —  Peters- 
kuppel —  Carlo  Maderna,  S.  Susanna  —  S.  Andrea 
della  Valle  —  Langhaus  von  S.  Peter. 

2.  Palastbau  und  Villenbau  152 — 175 

Barockstil  im  Profanbau  —  Der  oblonge  Saal  — 
Der  Binnenhof  —  Die  Fassade  —  Baumaterial  — 
Römische,  toskanische  und  oberitalienische  Gruppe 

—  Villa  Suburbana  - —  Villa  Medici  —  Landvillen 

—  Villa  d'Este  in  Tivoli  —  Villa  Aldobrandini  in 
Frascati  —  Villa  Mondragone  —  Gartenstil  —  Wasser. 

3.  Der  Barock  Stil  in  der  darstellenden  Kunst  175 — 193 

Die  Carracci  in  Rom  —  Galeria  Farnese  —  Rubens 
in  Rom  —  Sein  Barockstil  in  der  Malerei  —  De- 
korative Kunst. 

IV.  Die  Glanzperiode  des  römischen  Barock  und  ihr 

innerer  Umschwung  194—295 

I.  Die    Oberitaliener    und    die  Renaissance-, 

tradition  195  — 211 

Dom.  Fontana  —  Villa  Medici  und  Villa  Borghese 

—  Übergang  ins  Malerische  —  Carlo  Maderna :  Pal. 
Chigi  (Odescalchi)  —  Pal.  Barberini  —  Fassade  von 
S.  Peter. 


Inhalt 


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Seite 

2.  Giovanni  Lorenzo  Bernini  (1598 — 1680)  .  212 — 234 

Der  Bildner  und  Correggio  —  Die  Grabmäler  in 
S.  Peter  —  Der  Baumeister :  S.  Bibiana,  Pal.  Bar- 
berini,  S.  Anastasia  —  Die  Fassade  von  S.  Peter  — 
Pal.  Chigi  (Odescalchi). 

3.  Maler  und  Architekten  235 — 255 

Domenichino  :  S.  Ignazio  • —  Pietro  da  Cortona :  S. 
Luca  e  Martina,  S.  M.  della  Pace,  S.  M.  in  Via  lata 
—  Carlo  Rainaldi:  S.  Agnese,  S.  M.  in  Porticu  — 
Bernini :  Kolonnaden  von  S.  Peter  —  Römische 
Plätze  —  Louvreprojekt  —  Kirche  von  Ariccia  — 
S.  Andrea  in  Quirinale. 

4.  FrancescoBorromini  und  dieDekoration  255 — 285 

Lateransbasilika  —  S.  Ivo  della  Sapienza  —  S,  Carlo 
alle  quattro  fontane  —  Oratorio  S.  Filippo  Neri  — 
Pal.  Falconieri  —  Dekoration  der  Innenräume  — 
Beminis  Scala  regia,  Cattedra  di  S.  Pietro,  Brunnen. 

5.  Sieg  des  Malerischen  und  der  Städtebau  285—295 

Landschaft:  Nicolas  Poussin  —  Gaspard  Dughet  — 
Claude  Lorrain  —  Die  letzte  Phase  des  Barockstils 
in  Rom  (erste  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts)  —  Decken- 
malerei :  Gaulli,  Pozzo  —  Hafen  der  Ripetta,  Spa- 
nische Treppe,  Fontana  Trevi  —  S.  M.  degli  An- 
geli  —  Fassaden  von  S.  Giovanni  in  Laterano, 
S.  M.  Maggiore,  S.  Croce  in  Gerusalemme  —  Pal. 
Odescalchi,  Pal.  della  Consulta,  Pal.  Corsini  —  Gall. 
Colonna. 

V.  Die  letzte  Weiterentwicklung  in  Frankreich  296—392 

1.  Das  Eindringen  des  Barock  296 — 315 

Charles  Lebrun  —  Pierre  Puget  —  Louis  Levau  — 
Beminis  Louvre  —  Claude  Perraults  Fassade  —  Jules 
Hardouin  Mansart :  Versailles  —  Trianon  und  Marl3^ 

2.  Rokoko  316 — 374 

Entstehung:  Watteau,  Op  den  Oordt,  Meissonier  — 
Ein  Stil  ?  —  Der  Stil  —  das  Raumgebilde  —  das 
Stoffgebilde  —  Gliederung  des  Ganzen  —  der  Aussen- 


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Inhalt 


Seite 

bau  —  Zusammenwirken  aller  Künste  im  Dienst  des 
Malerischen. 


Architektur :  R.  de  Cotte ,  Girardini ,  Lassurance, 
Leroux  —  Malerei :  Boucher  —  Plastik :  Bouchardon, 
Adam,  Pigalle  —  Louis  Seize  —  Antiquarische  Re- 
naissance und  archäologische  Reformation  —  Ausgang 
der  französischen  Malerei,  Übergang  nach  England. 
Schluss :  Beginn  der  Neuzeit  393 


3.  Historischer  Verlauf 


375 


•392 


^0 


Druck  von  Fischer  &  Wittig  in  Leipzig. 


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