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Full text of "Basler Jahrbuch 1913"

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Basler Jahrbuch 
55 1913 








herausgegeben von Albert Geßler u. Auguſt huber 





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Verlag von helbing & Lichtenhahn (vorm. Reich⸗Detloff) 


Druck von Friedrich Reinhardt in Baſel. 


Inhaltsverzeichnis. 


IM. Anapp: Prof. Dr. Karl Bon der Mühll-His + 

KR. Gauß: Reformierte Bajelbieter Kirchen unter katho— 
liſchem Patronate . . 

Paul Meyer: Ein Basler Stanmbug des 17. Sahr- 
hunderts 

R. Oeri-Saraſin: Snzaretterinnerungen ı aus dem Kriege 
von 187071 . . V 

Jakob Kündig: Die Theologen des Heubergs 

Baul Kölner: Die Basler Faltnadht 

Ed. U. Geßler: Torhut und Scharwadhe zu Bafel i in der 
zweiten Hälfte des XV. Sahrhunderts . 

Heinrih Shönauer: Kurze Notizen aus den Zebens- 
umjtänden von Friedrich Ladhjenal . & 

Sri Baur: Ein Spaziergang über das Bruderholz . 

Ernit Jenny, € Th Markees, Wilhelm Barth, 
Rob. Grüninger: Das fünitlerijche Leben in Bajel 

Fritz Baur: Basler Chronit vom 1. November 1911 bis 
31. Oftober 1912 ER  E 


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Lichtdruckanstalt Alfred Ditisheim, Basel. 


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Deof. Dr. Rarl Don der Muhl-His. * 


Don FT. M. Rnapp. 


Denen zu danken, die dem Gemeinwejen in irgend einem 
Teile gedient, ilt der Bürger ſchöne Pflicht, der Lehrer Ehre 
zu preijen der Schüler ehrenvolles Vorrecht. Beides vereinigt 
ih für uns, wenn wir des Verftorbenen Herrn Profejlor Dr. 
Karl Bon der Mühll-His gedenten. War er doch jeinen 
Schülern ein allezeit treu bejorgter Lehrer, Hat er doch feiner 
Bateritadt ein ganzes Leben aufopfernver, mol Tätig- 
feit gewidmet. 

Zwar war feine Perſönlichkeit nicht eine der öffentlich 
am beiten befannten, wie etwa die feines Großvaters, des 
Ratsherrn Peter Merian; feine Konzentration auf den Dienjt 
an der Hochſchule brachte ihn meiſt nur mit wenigen in 
direften gejhäftlichen Verkehr; jeine Fachvorleſungen lagen 
sudem fo weit non den vielbegangenen Straßen des Unter: 
richtes ab, daß derer, die zu feinen Füßen gejellen, nur ein 
fleines Häuflein ift. Troßdem forgte fein der weitejten Gaft- 
lichfeit und edeljten Gejelligfeit geöffnetes Haus, daß alle, 
mit unfrer Basler Hochſchule irgendwie Verbundenen feine 
immer freundliche und in. aller Vornehmheit und Chrwürdig- 
feit Teutjelige Gejtalt fannten und ehrten. | 

Dreimal in den leßten Sahren feines Lebens iſt Prof. 
Bon der Mühl! auch öffentlich Hervorgetreten, als Repräjen- 
tant jeines Faches, der Univerjität und der von ihm zeit 
feines Lebens mit voller Kraft vertretenen Naturforihenden 
Geſellſchaft. 


Bei der Yeier des zweihundertiten Geburtstages von 
Leonhard Euler hielt am 29. April 1907 am Feſtakte in der 
Martinsfirhe Prof. Von der Mühl die Gedädhtnisrede auf 
Bajels größten Sohn. Vom Rednerpulte auf dem Podium 
aus, unter dem die Bülte Leonhard Eulers umgeben von 
grünen Pflanzen jtand, bei der der Pedell mit dem Gzepter 
der Univerfität ſich aufgejtellt Hatte, umwallt rechts und links 
von den Bannern der Studenten, eröffnete er die Feierlich— 
feit mit einem ſchlichten Ueberblid über des großen Mathe: 
matifers Leben und Werf. Speziell den treuen Sohn Baſels, 
der auch in der Fremde, in Berlin und Petersburg feine 
Heimatſprache nicht ablegte, ſchilderte er, legte auch die vielen 
reichverzweigten Fäden klar, die Leonhard Euler mit den 
Bernoulli in Bajel von Jugend auf bis ins hohe Alter ver: 
fnüpften und die immer wieder das Band des Auswärtigen 
mit der Heimat bildeten. Daß die Gedächtnisrede des Fach— 
genoſſen natürlid) auch in erjter Linie dem „Vater der Ana: 
Iyfis“ galt und zeigte, wie Eulers Werf und Bild nicht mit 
der Zeit undeutlicher, verſchwommener oder gar Kleiner wird 
in der Willenichaft, jondern wie feine Wertſchätzung im Gegen- 
teile im Munde der Größten aller Zeiten, eines LZagrange, 
eines Gauß, die Sahrhunderte überragt, das hatte mehr als 
nur momentane Bedeutung. Sprach doch in jener fejtlichen 
Tagung in der Martinskirde, por verjammeltem Lehrförper, 
vor der ganzen Studentenjhaft und vor zahlreichen Vertretern 
des gebildeten Bajels nad) den Vertretern der Akademien zu 
Berlin und Petersburg, im Namen der fehweizerifchen Hoch⸗ 
ſchulen Herr Prof. Dr. Yerdinand Rudio aus Züri mit 
feierlihem Worte die Gefühle aus, die jeden Mathematiker 
beim Betreten Bafels ergreifen und die wie ein: „Zeuch deine 
Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Drt, da du ftehelt, 
ift ein Heilig Land!“ Elingen. Und aus diejer erhabenen 
Stimmung heraus wuds dort der Wunſch hervor, der „bis 
dahin immer noch unerfüllt geblieben war, fo ſehnlichſt und 
jo laut auch feit Jahren die Löſung verlangt wurde“: der 


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Wunih nah einer Gejamtausgabe der Werfe Leonhard 
Eulers! 

Mas damals ijt gewünfht worden, das wurde an der 
Sahresverfammlung der Schweizerifhen Naturforfchenden 
Gefellihaft zu Laujanne im September 1909 zur Tat, das 
Zentralfomitee jener Vereinigung jtellte den Antrag: „Die 
Chweizeriihe Naturforſchende Geſellſchaft beichließt die Her- 
ausgabe der gefamten Werfe Leonhard Eulers in der Ori— 
ginalſprache, überzeugt, damit der ganzen willenihaftlichen 
Melt einen Dienjt zu erweijen.“ Daß er ein Wagnis war 
dieſer Beichluß, Davon mögen am beiten die Zahlen des Koſten— 
voranichlages ein überzeugendes Bild geben, der für die 40 
großen Quartbände von je gegen 550 Geiten einen Betrag 
von 450 000 Fr. als Koften vorausjah. Daß an die Spiße der 
Eulerfommilfion damals Herr Prof. Von der Mühl, als 
Generalredaftor Herr Prof. Rudio gewählt wurde, war eine 
logiſche Yolgerung jener eben geſchilderten Begebenheiten in 
der Basler Martinsfirde. Es braudte einen jtarfen Mannes= 
mut zur Uebernahme diefer Aufgaben, wie zu der Ver: 
arbeitung des wiſſenſchaftlichen Teiles derjelben, für den fich 
fiher auch) auswärtige Kräfte finden ließen, gerade ebenfojehr 
zu der moraliſchen und namentlid) auch finanziellen Durch— 
führung und Ermöglidhung des ganzen Unternehmens. Dies 
alles ruhte nun auf Prof. Bon der Mühlls Schultern, der auch 
an die Spiße des Finanzausſchuſſes der Sade trat. 

And wie hat fi) die Pietät gegenüber dem größten Basler 
gelohnt! Schon Heute, nad) wenig Jahren find die erjten 
Früchte da. Noch durfte Prof. Von der Mühl nicht allein er- 
leben, daß die unmöglich feheinende finanzielle Garantie des 
Ganzen glatt erledigt wurde, zunädjit dank der jtillen Werbe: 
arbeit in der Schweiz, Hauptfählih in Baſel und Zürich, 
dann aber auch über alles Erwarten günftig durd) die über- 
aus generöjen Beihilfen der auswärtigen Akademien. Neue 
Funde find feither zu den altbefannten Werfen Hinzu 
gefommen, Die Ausgabe wird größer, auch viel teurer als 


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der erſte Koftenplan vermutete; trogdem find die erften 
Schritte getan, die eriten Erfolge ſchon erreicht. Die fertigen 
Bände mehren fih von Jahr zu Sahr, die wertvollen Manu: 
jfripte und jeltenen Bilder ſtrömen aus der halben Welt zu— 
lammen; fie jollen alle in Bafel ihre zufünftige Heimftätte 
finden in einem mit unferer Univerjitätsbibliothef zu ver: 
einigenden Eulermujeum. So durfte Herr Prof. Bon der: 
Mühl von einer, wenn auch nur wenige der leßten Jahre 
feines Zebens mit Geduld, Treue und Mut durchgeführten 
Arbeit den allerfhönjten Lohn ernten, der auch ihm doppelt 
wertvoll fein mußte im Hinblid darauf, daß durch alle Arbeit 
und Mühe zulegt doch Baſels Name und Baſels wiſſenſchaft— 
liher Ruf wadje und weithin erjtrahle. 

- War fo Prof. Von der Mühll durd jenes Auftreten in 
der Martinsfirhe zu dem Mittelpunftte eines weit über fein 
Reben und feine Baterjtadt Hinausgreifenden Unternehmens 
geworden, jo ließ ein anderes Hernortreten feiner Perjönlicdh- 
feit, bei der Feier des A50jährigen Beitehens von Bajels Hoch— 
ſchule feine Geftalt und Art noch fihtbarer werden. Als Rektor 
der Univerfität ſtand er in jenen Tagen des 23. und 24. Juni 
1910 vor aller Augen. Er benüßte dieſe Gelegenheit, „das 
Band, weldes Bürgerfhaft und Univerjität allen Stürmen 
zum Troß die Jahrhunderte Hindurd) zufammengehalten hat, 
fefter zu fnüpfen, friſchen Mut zu fallen und neue Kräfte zu 
jammeln“. Mit diefen Worten beginnt die letzte von ihm 
herausgegebene Schrift, der Feitberiht jener Yeier. Denn 
Prof. Bon der Mühl! war fi) wohl bewußt, daß „die An— 
forderungen, denen die Univerfität zu genügen hat, von Jahr 
zu Jahr wachſen, und daß diefe ihre Stellung nur behaupten 
fann, wenn jeder echte Basler nah Kräften zu ihrem Ge— 
Seinen beiträgt“. So ftellte er fich ſelbſt an die Spitze mit 
neuem Mute, er, der faſt Giebenzigjährige..e Auch was er 
den Studenten am Yadelzuge zurief: die Mahnung zu erniter 
Arbeit für Lehrer und Schüler, „denn jede Erkenntnis will 
errungen fein, und der Weg führt oft durch öde Gegend“, hatte 


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er jelbft an fich erlebt und wahr gemadt. Darum fand er 
aber aud noch die Kraft, ungebeugt und jugendfrifch fort- 
zufahren: „Aljo nicht müde werden, immer neu angreifen, 
unabläffig vorwärts jtreben! Vergraben Sie ih nicht in 
Ahr Fach, benußen Sie, was Ihnen die Universitas litterarum 
bietet. Hinaus ins Leben! Ergreifen Sie Partei! Nur nicht 
lau und gleichgültig! dann wird’s wohl gelingen.“ 

Er ſelbſt war mit feinem Beijpiele, dem Borbilde älterer 
"Generationen folgend, in diejer Richtung vorangegangen. 
Nach) froh verlebter Jugend im Elternhauje, nad) der Schul: 
zeit auf Baſels Gymnafium und Pädagogium, war aud er, 
der Kaufmannsjohn, in die Zahl der cives academiei ein- 
getreten und Hatte nicht nur feinem Face gelebt. Zwar galt 
ein Hauptitreben jenen Fächern der Mathematik, der Phyſik 
und der Naturwiljenichaft, zu welchen er ſchon auf dem Gym- 
nafium bejondere Begabung gezeigt hatte, und zu Füßen der 
Profeljoren Schönbein, Wiedemann, Albrecht Müller, Meißner, 
Ed. Hagenbach, befonders aber bei feinem Großoheim Rudolf 
Merian, dem Bruder des NRatsherrn Peter, Hatte er feiner 
nächſten Pflicht eifrig nachgelebt. Daneben aber war er auch 
beftrebt, feine weitere Ausbildung in alten Spraden, Ge- 
ſchichte, Philofophie und franzöfiiher Literatur bei den Pro— 
fejjoren Jakob Burdhardt, Wilhelm Wadernagel, Steffenfen, 
Wilhelm Viſcher, Gerlah) und Girard zu fördern. 

Später war er der von Grokoheim und Großvater ge— 
Ihaffenen Tradition gemäß nad Göttingen gezogen, Hatte 
bei Wilhelm Weber, Stern, Sartorius von Waltershaufen, 
bei Schering, Klinterfues und D. E. Meyer fi) weitere Kennt: 
nijje gejammelt und fih im Laboratorium des berühmten 
Chemifers Wöhler ausgebildet. 

Endlich folgte er feiner [peziellen Neigung zur mathema- 
tiſchen Phyſik und ging für weitere drei Jahre nad Königs- 
berg, um beim Mathematifer Richelot und ganz bejonders 
deim Phyſiker Franz Ernit Neumann ganz ſich der Willen- 
Ihaft zu widmen. Dort fand er auch, wie früher im Basler 


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Pädagogium durch die Pädagogia, wie als Basler Student 
dur den Zofingerverein Schweizerifcher Studierender treue 
Sreunde, und diefe Königsberger Freunde waren es fpeziell, 
die feinem weiteren LZebenswege die Richtung gaben und mit 
ihm Freundſchaft hielten über Zeit und [pätere Trennung 
weg. Go verband ihn namentlich mit dem Sohne feines ehr- 
würdigen Königsberger Lehrers, mit Carl Neumann und 
mit dem Mathematiker Ad. Mayer ein Band, das nad dem 
in Königsberg abgelegten Doftoreramen ihn wie jene beiden 
nad) Leipzig als Privatdozent führte und ihm dort fowohl 
Eingang in die Kreife jener Hochſchule als auch von den 
Ihöniten gefelligen Jahren feines Lebens verſchaffte. 

Nach jeiner Berheiratung mit der Baslerin Fräulein 
Anna Katharina His Eonnte er jelbjit auch in Leipzig und 
jpäter nad) Baſel zurüdgefehrt dem Beijpiele jener folgen 
und fein gajtlidhes Heim zum Mittelpunfte maden, der allen, 
die darin verkehren durften, zu einem anregenden Zentrum 
geiltigen Lebens, den Yremden zu einer Stätte wurde, an 
der fie mit den weiteren Kreifen der Herbergsitadt Fühlung 
erhalten fonnten. Auch Hier war ihm, das „Band zwiſchen 
Bürgerihaft und Univerfität immer feſter und vieljeitiger 
zu jehlingen“, der wichtigſte Zweck. Denn der Univerlität ge- 
hörte des Leipziger Dozenten ſchon und erft recht des berufenen 
Basler Profeſſors ganzes Trachten und Streben. Ihr und 
der Willenfchaft gehörte feine ganze Arbeit. 

Mit jenen Königsberger Freunden und Leipziger Kol: 
legen hat er bis zuleßt zujammengearbeitet in der gemein- 
famen Herausgabe der Mathematifhen Annalen. Dem vor 
ihm verftorbenen Ad. Mayer Hat er in diefer wiſſenſchaftlichen 
Zeitihrift, feinem Lehrer %. E. Neumann, der hochbetagt 
als 97jähriger im Jahre 1895 ftarb, Hat er durch zwei Vor: 
träge in der Naturforfhenden Gefellihaft Baſel ein ehren- 
volles Denkmal gejeßt, voll treuen Gedenfens. 

Was er in des letteren hohen Schule erworben, das hat 
er auch jeinen Schülern in reihem Maße übermittelt. Seine 


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Borlefungen, die neben den einführenden Borlejungen über 
Mechanik und der Einleitung in die Mathematijhe Phyſik, 
fo ziemlich über alle Kapitel dieſes großen Faches, über Optik, 
Märmelehre, Elajtizitätstheorie, Elektrizitätslehre, Hydro: 
und Asromechanik u. ſ. w. daneben auch über anjchließende 
mathematiſche Fächer ſich ausdehnten, hielt er in ſtets gleich: 
bleibender Sorgfalt und mit immer neuer Vorbereitung und 
Meiterführung des bewährten Stoffes. Es war ihm aud 
nicht zu gering, fie vor noch Jo Kleiner Zahl der Zuhörer friſch 
bearbeitet durchzuführen, hatte doch er jelbjt bei jeinem Groß- 
ohm aud) allein gehört. So war es ihm aud) möglid, den 
Wünſchen jeiner, der Natur des Faches gemäß wenig zahl- 
reihen Zuhörer in weitelter Weije entgegenzufommen und das 
ihnen gerade Notwendige oder Wünſchenswerte vorzutragen. 

Auch feine wiſſenſchaftlichen Arbeiten, teils für ſich ge- 
drudt, meilt aber in mathematifchen oder phylifaliihen Zeit: 
Ihriften eingereiht, jowie feine Vorträge in der Basler Natur: 
forſchenden Gefellihaft, mit denen er immer wieder hervor- 
trat, befaßten ſich alle faft ausichlieglich mit feinem Spezial: 
gebiete der mathematifhen Phyſik. Dabei war es ihm ein 
- Anliegen, nit nur irgend eine Theorie Flarzulegen, jondern 
meift die ganze Fülle des hiſtoriſch Gemwordenen in jeinem 
Werdegang zu jhildern; auch auf alle Fehler und Mängel 
hinzuweiſen unterließ er nie, wie denn die Kritif ſpeziell 
feine ftärfite wiflenihaftlihe Begabung war. Wenige Ar— 
beiten wurden ohne gut begründete kritiſche Vorbehalte 
empfohlen, manche energifch zerpflüdt. Doc blieb er fi} bei 
allen den vielen Theorien, die fih ja auf gewillen der von 
ihm vorgetragenen Gebiete fajt ins Unermefjene häuften, 
immer bewußt und betonte es zu wiederholten Malen, daß 
diefe Theorien eben Bilder der Darftellung fein jollen, Ber: 
ſuche, den Schleier der Wirklichkeit zu Heben, deren wahres 
Geſicht noch feinem Sterblichen je zu ſchauen vergönnt war, 
deren Spuren zu fuchen und zu verfolgen aber dennoch Lebens⸗ 
aufgabe und Freude ijt, die feiner anderen weidt. 


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Neben diejer ftillen Arbeit für feine Schüler und für die 
Wiſſenſchaft ging aber eine noch jtillere nebenher, von der 
nur die allerwenigiten Einjiht befommen haben, die aber 
vielen zugute fam: fein Wirken in der Verwaltung der Uni— 
verfität ſelbſt. Nicht nur hat er an den Würden und Bürden 
der akademiſchen Gefchäfte, wie jo viele andere Hochichullehrer 
teilgenommen durch Verwaltung des Defanates der mathe 
matifh:naturwillenihaftlicden Abteilung 1893 und 1905, des 
Defanates der philofophiihen Fakultät 1894 und 1906, durch 
Uebernahme des Rektorates 1895 und 1910, des Prorektorats 
1896 und 1911, als Mitglied der Anlagefommiflion und haupt: 
lählih als curator fiscorum academicorum, das heißt als 
Verwalter der verjhiedenen Yonds, aus denen das Basler 
Univerjitätsvermögen bejteht, Hat Prof. Bon der Mühll feit 
1896 bis zu feinem Tode eine Summe von Pflichten trodenjter 
und aufreibenditer Art erledigt, die allein ſchon den Dank 
und das dankbare Gedenken der Bürgerfehaft erfordern. Bis 
ins Kleinjte peinlich treu und forgfältig, aber auch Hier ftets 
der wahre Hüter der guten Ueberlieferung, jteht er hiebei für 
alle Zeit muftergültig da, um fo mehr, als der zeitlebens Un— 
bejoldete alles nur in felbftlojem Geben gleichſam jelbjtver- 
ſtändlich erfüllte. 

Daß der, der die ganze Kraft eines langen Lebens jchentte, 
auch von feinem Materiellen nad) beitem Vermögen beijteuerte, 
ift fo wenig auffällig, wie die Art des Gebens, die womöglich 
nit in merfbarer Form gejhah. Seine Freude war, die 
von ihm gepflegten und verwalteten Gebiete gedeihen zu ſehen 
und das war ihm Freude genug. Eine ganz bejondere war 
es für ihn, das Zujtandeflommen des Penfionsfonds für die 
Univerfität zur eier des von ihm geleiteten Jubiläums er— 
leben zu dürfen, und feine leßten Sorgen galten noch diejer 
Neufhöpfung. Auh die Kahlbaumftiftung verdankt feiner 
treuen Arbeit einen Teil ihres In-Rechtskrafttretens. 

Mer hätte da befler auf den Bolten gepaßt, an der Spitze 
der Univerfität zu ftehen bei ihrem Jubelfeſte, als er, der ja 


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auch als Enfel des Rektors der 400jten Gründungsfeier dazu 
von Geburt erforen war. Daß es dem rüftigen Giebenziger 
aber aud) Hier nicht leicht gemadjt wurde, nun die Würde, auf 
die er ja ſonſt jtets verzichtete, zu tragen, erhellt aus den 
zahlreichen Reden, die allein der eine Feſttag des 24. Juni 
von ihm verlangte, wo er beim Feſtakte in der Aula des 
Muſeums auf jede der vielen Anſprachen und Adreſſen aus: 
wärtiger Geſellſchaften und der Vertreter der befreundeten 
Hochſchulen unmittelbar mit einem Danke zu antworten hatte. 
Auch das Mittagsbanfett im Mufikfaal eröffnete er mit 
einer Begrüßungstede und hatte die Freude Dabei, der „ein 
zigen Stadt, die ſich eine Univerfität leiſtet“, eine neue hoch— 
herzige Stiftung für diefe feine Hochſchule anzeigen zu dürfen. 
Daß die Damen der Feitteilnehmer während des Bankettes 
zu einem Tee im Haufe des Rektors gebeten waren, entiprad; 
wiederum nur feiner alten Samilientradition. Aber aud 
mit dem Feſtesſchluß endigte für ihn die Arbeit nicht, fo wenig 
fie mit dem Seite ſelbſt erjt begonnen hatte. Der alles bis 
ins Kleinite hinein vorbereitet und vorberaten hatte, hat 
auch ſelbſt alle Dankesſchreiben nad) den verjchiedeniten 
Himmelsftrien post festum ausgehen lajjen. So war es 
Ihlichte Danfespflit, wenn ihn bei der Feier im Münſter 
der Defan der juriftiihen Fakultät um feiner Verdienjte in 
der Verwaltung der Univerfität willen zum Chrendoftor 
beider Rechte ernannte. 

Aber auch das dritte Auftreten Prof. Bon der Mühlls 
vor der Deffentlichfeit führt uns noch) auf eine weitere Geite 
jeiner ftillen vielfeitigen Tätigkeit. Neben Dogentenberuf 
und Berwaltungsgeihäften für die Univerjität fand er noch 
Zeit, fih bei den verſchiedenſten, mehr oder weniger Ddireft 
mit der Hochſchule verbundenen oder dieſe ergänzenden Ge— 
jelliehaften und Vereinigungen zu betätigen. Als Vorfteher 
des freiwilligen Mufeumsvereins wirkte er jeit 1901, der 
Kommiſſion der Naturhiftoriihen Sammlungen des Mufeums 
gehörte er jeit 1898 an, an beiden Drten, in der Stille wirfend, 


9 


eines der tätigſten Mitglieder. Bejonders ans Herz ge— 
wachſen, weil durd die Tradition feiner Yamilie geheiligt, 
war ihm aber jeine Tätigkeit in der Naturforfchenden Gefell- 
Ihaft Bajels. Schon vor jeiner Habilitation in Leipzig, im 
Sahre 1867, zurüdgefehrt von einer wiſſenſchaftlichen Reife 
nad Paris, trat er unter der Präfidentihaft von Prof. Dr. 
Fritz Burdhardt in die Basler Gefellfhaft ein. Sm felben 
Sahre nahm er aud zum erjtenmale in Begleitung feines 
Großpaters, des Ratsherrn Peter Merian, an der Sahres- 
verfammlung der Gefellihaft ſchweizeriſcher Naturforſcher in 
Rheinfelden teil, jpeziell bei der Abteilung für PHyfif, die 
damals unter dem Vorſitz von Schönbein tagte, ſich hetätigend. 
Auch die nächſten Jahre, wenn irgend es ihm Zeit und Gtel- 
lung erlaubte, bejudte er diefe Tagungen, fehsmal mit dem 
Großvater zulammen, wiederholt aud) von Leipzig aus. Später 
nad Bajel zurüdgefehrt, fehlte er fajt bei feiner diefer willen- 
Ihaftliden Vereinigungen. 

Sn der Basler Gejellihaft trat er in den eriten Jahren 
mit Vorträgen aus feinem Fache hervor, ſpäter blieben dieſe 
zurüdgedrängt durch die Fülle der Verwaltungsgejchäfte, die 
aud) hier ihm anvertraut wurden. In den Jahren 1890 bis 
1892 führte er den Vorſitz, mit einem Nachrufe auf feinen 
früheren Lehrer, Prof. Albreht Müller feine Tätigkeit be- 
ginnend. Dem abtretenden Präfidenten widmete Prof. Hagen- 
bach-Biſchoff herzliche Worte des Danfes, die von der Gejell- 
Ihaft durch Erheben von den Giten bekräftigt wurden. Als 
Sekretär der Basler Gefellihaft amtete er 14 Jahre in un- 
ermüdlicher Treue. Die alten Protofolle nennen feinen 
Namen fait auf jedem Blatte, fei es, daß er zu den gerade 
aktuellen Gejhäften Ergänzendes oder Berichtigendes beifügte, 
oder daß eines der vielen offiziellen oder privaten Schrift: 
ftüde, die alle durch feine Hand gingen, eine Defizitforge oder 
eine Finanzfrage ihn auf den Plan rief. Bei der Schönbein- 
Teier des Jahres 1899 beforgte er die Rechnungsablage; der 
Kommiſſion zur Befjerung der Finanzen gehörte er feit 1910, 


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dem Geniorenvoritande der Gejellihaft jeit deſſen Gründung 
an. Bei feinem Rüdtritte als Sefretär im Jahre 1908 wurde 
ihm eine Dankesadreſſe von der Gejellihaft zugeitellt, zu 
feinem 70. Geburtstage ebenfo, mit „dem tiefgefühlten Danfe 
für feine aufopfernde Tätigkeit die Wünſche für die noch recht 
lange Dauer feiner Fürſorge für die Gejellfhaft“ verbindend. 
Als Delegierter Bafels vertrat Prof. Bon der Mühll die In— 
terejjen feiner Heimat in der größeren Schweizer Bereinigung 
der Naturforicher zu wiederholten Malen. Auch in jener 
Gejellihaft jtand er als Mitglied der Schläflikommiſſion, als 
Vorfteher der Eulerfommijjion in der Mitte der Arbeiten 
und Gefchäfte, wenn er auch auf den Berfammlungen nur 
jelten ſtärker hervorgetreten iſt. 

Nur bei den beiden Berfammlungen, die während feiner 
aktiven Tätigkeit in feiner Heimatſtadt jtattfanden, fehen wir 
ihn auch öffentlich bemerfbar werden. Das erjtemal 1892 
als Vizepräſident des Sahresporitandes, neben dem Bor: 
figenden Prof. Hagenbach-Biſchoff, das zweitemal 1910 felbft 
Sahrespräfident und Mittelpunft. Dieſe letzte Verfammlung 
in Bafjel wurde von Prof. Von der Mühll mit einem NRüd- 
blide auf die Entwidlung der naturwiſſenſchaftlichen An- 
Italten Baſels eröffnet. So wurde ihm die Leitung zweier 
großer Beranjtaltungen, des Univerfitätsjubiläums und der 
Tagung der Schweizerifhen Naturforiher in Bajel im felben 
Sommer 1910 zugemutet und er hat beide Aufgaben bis an 
die Außerfte Grenze feiner Leiltungsfähigfeit in jelbitlojer 
Yufopferung und in Treue mujtergültig und zu aller Wohl: 
gefallen durchgeführt. 

Doch follte dieſe Doppelleiftung nit jpurlos an dem 
Iheinbar unerjehütterlih gefunden, immer glei friſchen 
Manne vorbeigehen. Jene ungeheure Gejhäftsanhäufung 
veranlakte ihn zuerſt zu Klagen über mangelnde Zeit und 
Kraft. Troß aller Schonung und auswärts gejudhter Ruhe 
jollte er die alte, gewohnte Friſche nicht wieder erlangen. 
Schon in den Tagen feiner 70. Geburtstagsfeier, wo aud) die 


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Mediziniiche Fakultät von Bafel ihm mit der Ernennung zum 
Chrendottor der Medizin ihre höchſte Chre erwies, fing fein 
Mut zu finfen an und, die beredhtigte Müdigkeit |pürend, 
bereitete ihm die Vorauslicht jchwerer Tage trübe Gedanken. 
Doch immer noch treu waltete er feiner vielen Aemter, nur 
von den Vorlefungen zeitweilig dispenſiert, beſuchte fogar 
noch die verjchhiedeniten Situngen, bis fih am 9. Mai 1912 
jein Geſchick erfüllte. 

An gelehrten Gejellihaften betrauern ihn als ihr Mit- 
glied die Mathematifche Gejellihaft Bajel, die ſchweizeriſche 
Mathematiſche Gejellihaft, Die deutſche Mathematifer-Ber- 
einigung, der circolo matematico di Palermo, die jchweize- 
riſche phylifaliihe Gejellichaft, die societe francaise de Phy- 
sique, die kaiſerlich Leopoldiniſch-Karoliniſche deutſche Aka— 
demie der Naturforſcher. Speziell die Basler Mathematiſche 
Geſellſchaft, das phyſikaliſche Colloquium und die Basler 
Naturforſchende Geſellſchaft, denen er bis zuletzt treu blieb, 
faſt keine Sitzung verſäumend, vermiſſen ihn. 

Daß Univerſität und damit Stadt und Bürgerſchaft Baſels 
an Prof. Von der Mühll einen ihrer Getreueſten und Gelbit- 
lofejten verlieren und ihm, dem Stillen und Belcheidenen, 
ganz bejonderen Dank und treues Gedenken jchulden, dies zu 
nennen und zu befennen bleibt eines Schülers ſchmerzliche 
und doch teure Pflicht. 


12 


Reformierte Bafelbieter Kirchen 
unter Batbolifchem Datronate. 
Don Rarl Bauf, Lieſtal. 


Der Patronat, das Recht, den Pfarrer in einer Kirche 
zu ſetzen, mit dem aber auch die Pflicht verbunden war, 
für das Einkommen des Pfarrers zu ſorgen, ſowie die Kirche 
und das Pfrundhaus in Bau und Ehren zu erhalten, ſtand 
urſprünglich dem Grundherrn zu. Im Laufe der Zeit löſte 
ſich aber das Patronatsrecht als ſelbſtändiger Wert ab und 
wurde vielfach verſchenkt, als Lehen ausgetan oder verkauft. 
So findet ſich vielfach die Kirche in ſpätern Zeiten in andern 
Händen als das Dorf. Daher kam es, daß Baſel, als es ſich 
die Landſchaft erwarb, nicht in allen Fällen in den Beſitz 
der Patronate kam, weil ſie in den Händen der Klöſter, des 
Biſchofs, von Stiften oder auch von Privaten waren. Als 
Baſel im Jahre 1400 vom Biſchof die Herrſchaften Lieſtal, 
Homburg und Waldenburg ſich erwarb, kamen nur die Kirchen 
von Lieſtal und Läufelfingen an die Stadt und auch 
diefe nur fo, dak Biſchof und Stadt fi abwerhslungsweije in 
die Befegung der Pfründen teilten. Mit der Herrihaft Farns— 
burg fiel 1461 Bafel der Kirdhenjag von Maiſprach zu. 
3war beitritt Thomas von Falkenſtein Bajel das Recht, da 
er es ſich jelbjt vorbehalten Habe, und im Jahre 1480 präjen- 
tierte Oswald von Tierjtein einen neuen Pfarrer. ber 
nachher verfügt doch Bajel über den Kirchenſatz. Als am 
15. Sanuar 1465 Bajel von Götz Heinrih von Eptingen 


13 


7 
ArT 





Siſſach faufte, ging das Dorf „mit dem firdenfat dafelbit“ 
an Bafel über. Dasjelbe geihah mit Eptingen am 13. 
März 1487. Am 28. November 1482 traten Oswald von 
Tierftein Tennifen und am 2. Mai 1515 drei Brüder 
Münd Muttenz an Bajel ab. Am 12. Mai 1518 verkaufte 
Chriſtoph von Ramftein Bregmwil mitjamt dem Kirchenſatz 
der Stadt, und der Biſchof als Vehensherr gab 1523 feine Ein- 
willigung. Das waren alle Batronate, welche Baſel vor der 
Reformation beſaß. Als das Klofter Schöntal 1524 in die 
Hände der Stadt fam, fielen ihr aud) die Patronate von 
St. Peter-Dberdori: Waldenburg, Langen: 
brud, Titterten und Bennmwil zu. 1526 fam durd) 
Kauf der Halbe Kirdenjag von Bratteln und der ganze 
von Benfen an die Stadt. Mit der Durdhführung der Re— 
formation fette ji) die Stadt in den Belig ſämtlicher Patro— 
nate, welche bisher der Bilhof und das Domfapitel beſeſſen 
hatten, nämlich Wrisdorf, Biel, Binningen, 
Bubendorf, ZLäufelfingen Halb, Lieſtal Halb, 
Mündenftein, Dltingen, Pratteln zweite Hälfte, 
Reigoldswil-G6t. Remigius, NRotenfluh zur 
Hälfte. Es war begreiflih, daß Baſel darauf ausging, auch 
die übrigen PBatronate fih noch zu erwerben. Schon am 
4. Suni 1515 hatte der Rat vom Schultheik Strübin das 
Borkaufsreht auf den Patronat von Ziefen, welden fein 
Bater von den Erben der Eptinger gefauft Hatte, ſich gefichert 
und gelangte am 13. März 1535 in feinen Beſitz. Am 13. Juli 
1545 trat Jakob von Löwenburg feine Hälfte des Kirchen: 
laßes von Rotenfludh der Stadt ab. Im Sahre 1564 hatte 
Liejtal bei der Wahl des Leutpriejters noch mitzufpredhen, 
Ipäter aber wurde die Gemeinde einfach übergangen. Mit 
dem Erlöfhen der Offenburger am Anfang des 17. Jahr: 
hunderts fiel auch der Patronat von Munzad, d. 5. 
Srenftendorf-Füllinsdorf, der Stadt zu. 

Sechs Kirchen waren noch in fremden Händen. Das war 
um fo verdrießlicher, als die Batronatsherren alle katholiſch 


14 


waren. St. Hilarius von Lauwil in NReigoldswil 
befaß, feit es ihm von Hans Imer von Gilgenberg am 5. Ok— 
tober 1527 abgetreten worden war, der Rat von Solothurn. 
Das Klojter Olsberg befaß den Kirdhenjag von Diegten, 
das Chorherrenftift Rheinfelden den von Kilchberg, und 
die PBatronate von Winterjingen, Buus und Gelter: 
finden waren im Beſitz des Deutjchordenshaufes Beuggen. 
Reformierte Kirhen unter katholiſchem Patronate mußten 
ihre Gejhichte haben. 

Sp erwünjdht nun freilich der Stadt das Recht war, die 
Pfarreien nad) eigenem Gutdünfen zu bejegen, jo unerwünſcht 
war ihr die Verpflitung, für den Bau und Unterhalt von 
Kirchen und Pfarrhäufern auflommen zu müſſen. Und do 
machte fich gerade nad) der Reformation das Bedürfnis regerer 
Bautätigkeit fühlbar. Mußten doch an verfhiedenen Orten 
für die verheirateten Pfarrer die Häuſer vergrößert oder neu 
gebaut werden. Baſel fuhte Mittel und Wege, einen Teil 
der Lait von ſich abzumälzen. 

Sm Sabre 1535 Hatte der Rat in Muttenz „ein nuw 
gut jteinins“ Pfarrhaus gebaut. Die Koften beliefen fih auf 
643 8 86 8SJ. Der Rat verlangte nun vom Bilchof, da 
er einen Quart des Zehntens Habe, er jolle an die Koiten 
des Pfarrhausbaues 93 10 8 9 5 bezahlen. Der Bilchof 
aber fonnte nicht befinden, daß er „einiche jtür an obbemelten 
buw ze thund jhuldig“ fei, „dann es wider den brud in 
onjerm auch Coitenzer und nechſt anſtoßenden bijtumben, das 
die zehendherren zu buw der pfarrhüjeren ſollen verbunden 
fin“. Das Pfarrhaus von Thermwil fei fürzlih aud) neu ge= 
baut worden. „Wir achten wol, Stoffel Offenburg vnd andere 
fine mitzehndherren würden fi) von altem braude nit bringen 
laſſen. So iſt jegig vnſer pfarrhuf zu Pfeffingen vor furzen 
jahren gebuwen worden.“ Es Haben außer dem Kirch— 
berrn die Zehntherren nichts daran gegeben. „Dazu ift vnſer 
Quart, welde wir zu Muttenz niejjen, quarta Episcopat., 
jo inn gemeinen rechten aller ond Yyeder vfflegungen ond be= 


15 


Ihwerden fryg.“ Bafel mußte wohl oder übel die Koften 
jelbit tragen. 

Anders jtanden die Ausſichten für Bajel in einem andern 
Falle. Am 9. Dezember 1521 Hatte das Stift St. Mauritius 
in Zofingen dem Domkapitel die Pfarrei Arisdorf gegen 
140 Gulden abgetreten, und mit der Reformation war die 
KRollatur an die Stadt übergegangen. Der Zehnten gehörte 
zur Hälfte der Domprobitei, zur Hälfte den Falkenſteinern. 
Am 1. Dezember 1545 verlieh Hans Chriltoph von Falken: 
ftein feine Hälfte an Heman Truchſeß von Rheinfelden und 
feine Lehensgenofjen, deren Vorfahren fie ſchon beſeſſen Hatten. 
Diejer Belig war in der Folge Beranlajjung zu manderlei Streit. 

Die kleine, vom Dorfe etwas abgelegene Kapelle St. Kreuz 
Hatte fich ſchon längſt als zu klein erwiejen und war aud) bau- 
fällig geworden. In aller Stille hatte die Gemeinde einen 
Neubau vorbereitet. Ein Arisdorfer hatte den Bauplaß ge- 
Ichenft, das Land, das zur Zufuhr der Materialien benüßt 
werden mußte, war nicht angejät worden. Am 16. Dezember 
1594 baten die Geſchworenen der beiden Gemeinden Arisdorf 
und Giebenad) den Rat in Bajel, er möchte ihnen eine neue 
Kirche bauen, die alte ſei baufällig, vornehmlich der Dach— 
ſtuhl und der daraufjtehende Helm feien faul, fo daß der 
leßtere herunterjtürzgen könnte. Die Kirchhofmauer fei ſchon 
an zwei Drten eingefallen, jo daß die Bapiften, die öfters 
zur Predigt fämen, ji) daran ärgerten. Die jegige Kapelle 
itehe in einem fumpfigen Anger und fei zu klein, jo daß 
namentlid an Feſttagen viele Zuhörer draußen ſtehen müßten 
und die Eltern in der Kinderlehre neben den Kindern feinen 
Platz fänden. Die Gemeinde erklärte fich bereit, die Funda— 
mente zu graben, Steine zu brechen, die nötigen Fuhren und 
Hrohndienjte zu übernehmen. Der Rat bewilligte den Bau, 
der im folgenden Jahre vollendet wurde, 

Die Baukoſten beliefen ih auf 23348 88 A J. Die 
Pfleger des Domftifts ſuchten nun aber die Hälfte erhältlich 
zu maden. Als im Sommer 1595 in Arisdorf die Zehnten 


16 











eingenommen werden jollten, wurde den Trudjellen jchriftlich 
mitgeteilt, daß fie die halben Baufoiten zu bezahlen hätten. 
Die Truchſeſſen weigerten ſich. Sie machten geltend, daß ſie 
den Zehnten von den: Yalfenjteinern zu Zehen hätten, und im 
Lehenbrief nichts von den Baufoiten jtehe, daß Bajel den 
Kirchenſatz wie aud in Augſt Habe. Arisdorf jei eine Filiale 
von Augft. „Stem dak nur ein Cappel alda zu Arisdorf ge- 
wäſen vnnd nhun zu einer großen Kürchen gebauwen worden 
iye.“ Die Pfleger forderten deshalb den Rat auf, die Truch— 
ſeſſen von Rheinfelden zu veranlaljen, „den halben pawkoſten 
der Fir Ariltorf von habende ires halben zehenden wegen 
alda abzurichten“. Der Rat forderte ein Gutadten eines 
Surilten, Dr. Gut, ein. Am 10. März 1596 wurde er mündlid) 
abgehört, am 9. Juni wurde fein Konzeptjchreiben verlejen 
und beſchloſſen, das Schreiben an die Truchſeſſen abgehen zu 
laſſen. 

Der Rat machte den Truchſeſſen gegenüber geltend, daß 
die Falkenſteiner auch ſchuldig geweſen wären, an die Bau— 
koſten beizutragen, daß der Kirchenſatz nur den Pfarrherrn 
und den Gottesdienſt betreffe, und nicht die Erhaltung der 
Kirche. Der Ertrag des Zehntens ſei ſechsmal mehr als zu 
der Zeit, da die Truchſeſſen das Lehen empfangen hätten. Der 
Rat drohte, wenn die Truchſeſſen nicht einlenkten, andere 
Mittel anzuwenden. Sie gaben aber noch nicht nach. Baſel 
nahm darum den Zehnten in Verwahrung. Nun wandten 
ſich die Truchſeſſen an die öſterreichiſche Regierung in Enſis— 
heim. Dieſe forderte die Pfleger des Domſtifts auf, den 
Truchſeſſen den Zehnten herauszugeben. Auf den Rat Dr. 
Guts antwortete Bafel, daß die Truchſeſſen den Prozeß an 
Orten vorgeihlagen Hätten, wo er nicht Hingehöre, und for- 
derte die Regierung auf, die Truchſeſſen dahin zu weifen, daß 
fie fi mit den Pflegern vergleichen follten. Da aber ein Ver— 
glei) nicht zujtande fam, gab am 23. Juni 1596 der Rat die 
Erlaubnis, „die Früchten jequejtersweije inzelegen“. Die 
Trucdjelien mußten ſich dazu bequemen, die Hälfte zu bezahlen. 


17 2 


Sm Sahre 1691 mußte die Kirche von Arisdorf renoviert 
werden. Die Koiten beliefen fih auf 390 2 198 8% J. 
Die Deputaten verlangten von Chrijtoph Friedrich Truchſeß 
und feinen Zehntgenojjen, daß fie die Hälfte daran leiſteten. 
Truchſeß beſchwerte fi, dag ohne fein Willen gebaut worden 
jei, war jedoch bereit, joweit es den Chor betraf, feinen An 
teil zu leijten; die Kirche zu bauen fei Sache der Gemeinde. 
Er konnte nit glauben, daß die Deputaten im Einverjtändnis 
mit dem Rate gehandelt Hätten. Marfgraf Friedrich von 
Baden begleitete am 11. Juni 1694 die Beſchwerde mit feiner 
Fürſprache. Die Antwort der Deputaten ließ nicht lange auf 
ih warten. Der Shaffner auf Burg hätte der Schweiter 
in Abweſenheit des Junkers perjönlid mitgeteilt, daß in 
Arisdorf gebaut werden mülle und hätte jogar die Baupläne 
in ihren Händen gelaſſen und erjt zurüdgefordert, als fie zum 
Beginn des Baues erforderlihh waren. Die Vorfahren hätten 
ihren Anteil jeweilen abgetragen, wie fie aud ftets den 
Zehnten genojjen hätten. Daß er fi) jet weigere, jet, da 
„bey dem armen Gotteshauß alda nichts alk die befhandte 
ohnvermöglichkeit“ beftehe, um fo unbilliger, als „vberdiek 
den vnderthanen ein mehreres als fie bereits präjtieret 
haben“, nit zugemutet werden fünnte. Allein Trudjeß ver- 
harrte bei feiner Weigerung Er fönne ohne Zuftimmung 
feiner Lehensgenoſſen und feines Lehensherrn nichts Ver: 
bindlidhes eingehen. Immerhin anerbot er ih, gutwillig 
150 * beizutragen. Yalls die Deputaten damit nicht ein- 
verftanden wären, jollten jie ihn „einen endtlichen Sententz 
wiederfaren“ laſſen. 

Truchſeß erjhien mit feinem Vetter von Rotberg vor den 
Deputaten. Der leßtere anerfannte die Baupfliht für Chor 
und Pfarrhaus, worauf ihm von Geite der Deputaten fofort 
geantwortet wurde, wenn fie für alle Unfoften des Pfarr: 
haujes belangt würden, jo würden fie noch weniger ihren 
Konto dabei finden. Das alles wurde von den Deputaten 
dem Rate gemeldet. Aber auch der Truchſeß wandte ſich am 


18 


1. Auguft 1694 wieder an den Rat. Der Schaffner habe ihm 
aus einem alten roten Buche etwas vorgelejen. Als er aber 
gemerft habe, daß es für Trucdjeß und gegen die Deputaten 
zeuge, habe er ihm die geforderte Abjchrift verweigert. Wenn 
feine Vorfahren etwas an die Kirche geleijtet hätten, jo habe 
es ih nur um Bagatellen gehandelt wie Ziegelitoßen, „und 
würde vbel gejtanden fein, wann man fi) deßwegen allemahl 
mit einem Thumbpropſtey Schaffner zanten wollen, ob felbige 
vom Chor oder Kirchen gefallen ſeyen“. Er erklärt jich bereit, 
feinen Anteil am Zehnten zu hinterlegen und dem Rate zu 
überlajjen, „wo ein hochloblicher Magiltrat in dem Röm. 
Reih in einem Jahrsfriſt einiges Erempel in contrarium, 
daß ein Decimator zu etwas mehrers alg zu Reparierung 
des Chors nad) PBroportion feines Zehendesgenujles ajtrin- 
giert worden“, Dagegen habe der Decimator allerdings aud 
an den Bau des Pfarrhaujes zu leilten, wenn er am jus Pa- 
tronatus teil hat. Er ijt bereit, die 150 Z freiwillig zu 
teilten. 

Der Rat nahm das Anerbieten an. Allein der Truchſeß 
bezahlte nidt. Am 25. September 1695 erſuchte darum der 
Dompropfteifchaffner um Erlaubnis, den Zehnten zu ſeque— 
Itrieren, da feine Ausſicht beitehe, daß er bezahlt werde. Der 
Rat gab feine Zuftimmung. Aber auch am 31. Oftober 1696 
war noch nichts eingegangen. So wurden die jequeitrierten 
Früchte und Weine zu Geld gemadt. 

Sm Jahre 1727 wurde eine Uhr in den Kirdturm er- 
ſtellt. Die Gemeinde Hatte die Kojten auf die Zehnten- 
bezüger abwälzen wollen, wurde aber belehrt, daß das Sache 
der Gemeinde jei. Fünf Jahre jpäter gelangte die Gemeinde 
wiederum an den Schaffner des Domitiftes und verlangte 
Bezahlung der Koften für die Uhr und das Geläute; allein 
lowohl er als Meilter Schweighaujer, der ’s des Truchleflifchen 
Zehnten bejaß, bejtritten ihre Pflicht, da „an feinem Ort der 
Landichaft die Collatoren als Dezimatoren pflihtig, Gloden 
noch weniger die Uhr anzufhaffen und zu erhalten“. Die 


19 ge 


Gemeinde wurde wiederum abgewiejen. Im Jahre 1737 war, 
weil der Turm zu eng war und die Gloden gegeneinander: 
Ihlugen, eine Glode geiprungen und eine zweite bejchädigt, 
und mußten umgegojjen werden. Die Gemeinde madte aud) 
Diesmal den Verſuch, die Koiten wieder erhältlich zu machen. 
Der Rat wies am 13. Januar 1738 das Begehren ab. Am 
3. Februar wiederholte der Bogt auf Zarnsburg das Gejud). 
Er madte geltend, daß Arisdorf feinen Fond habe, die Gloden 
zu bezahlen, und daß aud im Jahre 1693 die Dezimatoren 
die Koften getragen hätten. Der Rat gab nad. Er wies 
die Domprobitei an, die Koiten zu bezahlen, forderte aber 
die Gemeinde auf, die Gloden jo hängen zu laſſen, „daß fein 
fernerer ſchaden mehr zu befahren“, 

Sn der ganzen Berhandlunng wurden die Trudjfeljen 
nit mehr genannt. 


1. Solothurn und Baſel. 
St. Hilarius in Reigoldsmil. 


Vom Bilhof Hatten die Herren von Ramitein die Kirche 
St. Hilarius von Lauwil am Fuße der MWajlerfalle in Rei: 
goldswil als Zehen empfangen. Bei der Teilung des Haujes 
fiel fie der Linie Gilgenberg zu. Am 5. Oftober 1527 ver: 
faufte fie Hans Imer von Gilgenberg der Stadt Golothurn. 
Als im Srühjahr 1529 die Reformation in Baſel durchgeführt 
wurde und der Rat in der Stadt „die Filhengezierden, billder 
onnd anderes hinweg gethan“ und des Willens war, „ge: 
licher geitalltte in ir landichafft ouch ze hHandlenn“, wandte ſich 
der Rat von Solothurn nad) Bafel. „Diewyl nun die Cappell 
Sant Hylarien zu Rigottihwil ... . . von den Herren zu 
Gilgenberg geitifft onnd begabott, ouch durch Herrn Hanjen 
Smmern von Gilgenberg, rittern, mitt aller rechtfame vnnd 
zugehörde vnns vbergebenn vnnd zugeſtellt“, jollte er „vor: 
berürtter Cappell halb“ ftillitehn und nichts verändern, bis 
der Vogt von Gilgenberg nad) Bafel fomme. Bajel kümmerte 


20 














ih aber um den Wunſch Solothurns nidt. Der Vogt von 
Waldenburg nahm den Keldh, den Hans Imer von Gilgen: 
berg beim Berfauf feiner Herrihaft den Solothurnern über: 
laſſen hatte, zu Handen. Das Lehen war in den Händen Urs 
Rümpis gewefen, deſſen Vorfahren es jchon bejellen Hatten. 
Allein die Rümpi Hatten „vornader ettliher geitallt das 
Läden verwürdt“, es wurde von Solothurn Jakob Häner 
zugeiprochen. Baſel gab feine Zuftimmung. Im Fahre 1534 
erhoben der Bogt von Waldenburg und der Pfarrer von 
Reigoldswil Anjpruh auf den Zehnten. Der Lehenmann 
beſchwerte fi) in Solothurn. Dieſes machte in Baſel geltend, 
daß das Lehen „aljo herfommen, das jollihis des gehenden 
halb entbroften beliben“, und jtellte die Korderung, dak Vogt 
und Pfarrer abgewiefen würden. Solothurn Hatte damals 
fein Interejje, das Kirchlein in Bau zu erhalten. Es fam 
darum „gar in Abgang“. Im Fahre 1536 wurden deshalb 
zwijchen Solothurn und Bafel Verhandlungen geführt und am 
8. Suli die Baupfliht Solothurns Feitgeltellt, da ihm das 
Gwidem der Hilarienfapelle um einen jährliden Zins ver: 
liehen worden fei. Solothurn Hatte aber feine Eile. Im 
Sahre 1540 fanden neue Verhandlungen jtatt. Es wurde ab- 
geredet, daß der Vogt von Waldenburg den Kelch von Sant 
Hilarien wieder herausgeben müſſe. Da aber Solothurn 
immer noch nicht zur Tat ſchritt, forderte Bajel feinen läſſigen 
Nahbarn auf, die Kapelle „zu uerfundigung des heylligen 
gottlichen worttes fuoglich vnd tugenlih in ere zu legen“. 
Solothurn fam jet der Aufforderung nad, verlangte dann 
aber jofort vom Vogt von Waldenburg den Keld Heraus. 
Diefer bot aber jtatt feiner eine Geldfumme. Solothurn be— 
ſchwerte fich bei Baſel, „dann wir vnns nitt gelltes fonnders 
onjeres Feldes, jo pnns genommen, beflagt“. Nod einmal 
traten die beiden Stände zufammen. Eine Berjtändigung fam 
zuftande. Golothurn gab nad) und begnügte fi) ftatt des 
Keldes mit zehn Gulden. Sie wurden am 30. September 
1540 „von ſtund an“ ausbezahlt. Kurz darauf gab der Bürger: 


21 


meilter dem Obervogt zu Waldenburg den Auftrag, „Das du 
den Canntel inn fant Hylarien Capell zu Rychetſchwyl etwas 
bas erhöchen und fuberer zurichten, darzu an ettliche gemeine 
ituel leenen. damit ji) alt onnd krank lüt daran ſtüzen mögen, 
maden vnnd die Capell damit zurichten laſſeſt, das es eerlich 
onnd das wort Gottes darin zeurfünden fuoglich jye. Vnd ob 
aber font vtzit wythers an fenjtern, tach, laden etc. da ze— 
bumwen, das der vogt zu Gilgenberg das thuege.“ Im Jahre 
1548 verjudhten Heinrich Wyßner von Ziefen und Urs Rümpi 
dem jolothurniihen Lehenmanne Jakob Häner das Lehen 
durch Bermittlung Bajels abzuziehen. Häner ſuchte und fand 
Schutz in Solothurn. 

Sm Sahre 1553 ftarb Häner. Solothurn erflärte ſich be- 
teit, das Lehen jeinen beiden Söhnen Hans und Konrad zu 
beftätigen. In dem Revers war aber ein Artifel folgenden 
Inhalts aufgenommen worden: „ob ſich hienach begebe, das 
der Gottsdienft, wie der bikhar in gemeiner Chriſtenlicher 
firhen geprudtt, in üwern Landihafftten vnnd gepietten 
widerum vffgerichtt onnd gehallten wurde, alls dann ſy vnnd 
ire Erben des figrilten amptte, wie fi) zu ſollichem Gotts- 
dienfte gebürtt, verſechen füllen.“ Baſel weigerte fi, den 
Revers bejiegeln zu lajjen. Die Brüder Häner wanderten nad 
Solothurn. Der Rat forderte Bajel auf, den Vogt anzumweifen, 
daB er den Revers befiegele, „wo nitt, werden wir gemelltt 
Zehen alls vnſer eygenthum widerum zu vnſern handen be- 
züchen, daſſelb nah vnſerm gefallen, wo vnns füglich be- 
duncktt, verlychen, wo aber jemande vnns hierinne intrag 
zethunde vnnd zuuerhindern vermeindt, wollen wir dem— 
ſelben von ſollicher vnſer Lächens gerechttickeytten wegen das 
rechtt hiemitte angebotten haben.“ (30. Mai 1554.) Baſel 
mußte einlenken. 

Nah dem Tode Hans Häners übernahm fein Bruder 
Conrad das Lehen. Er blieb im ruhigen Genuß des Lehens, 
bis die Wogen der Gegenteformation au) in das abgelegene 
Bergdorf ſchlugen. Am 19. Suni 1587 zog der Rat von Golo- 


22 


thurn das Gut an fih, um es weiter zu verleihen. Er ließ 
die Güter neu aufzeichnen. Unter ihnen erſcheint „der bifang 
zu Sant Hilarien, ijt in einer Inhegi vndt ftedt die Kilchen 
darin“. Solothurn begründete fein Vorgehen damit, daß 
Häner die Güter habe zugrunde gehen laſſen und ein fchlechter 
Zinfer gewejen ſei. Vergeblich wandte ji) Die Gemeinde zu 
feinen Guniten nach Bafel, wie ihm ohne rechtmäßige Urſache 
aufgefündigt worden und das Gut Urs Dürrenberger vorder- 
Hand übergeben worden fei, wie er in feinem hohen Alter 
mit feiner Frau an den Betteljtab fomme. Bafel legte in 
Solothurn ein gutes Wort ein, Häner werde in Zufunft bejjer 
zinfen und die Güter in Ordnung halten, erhielt aber zur 
Antwort, daß von einer Beſſerung nichts gejpürt worden fei. 
Am 22. Auguft 1587 ſchloß Solothurn mit dem neuen Lehen: 
mann, Hans Rot, den Vertrag ab, nachdem er tags zuvor bei 
Baſel jich beſchwert hatte, daß „der alte inhaber vnnd bejiter 
nit rumt vnd von dannen zücht“, und den Vogt von Gilgen- 
berg nad) Baſel gejchidt Hatte. Der neue Lehenmann Hatte 
jämtlide Güter „ſambt Sancti Hylarij Cappel inn guetem 
bauw vnd ehren aud) in tach vnd gemach“ zu erhalten. Auch 
die Verpflichtung, das Sigriftenamt zu übernehmen, wurde 
wieder aufgenommen, die jeßt neue Bedeutung gewann. Er 
jollte auch „die feld, mäßgewender vnd andere gezierden zu 
Joldem Gotsdienite gehörig nad feinem beiten vermögen 
treuwlich verhuetten und bewahren vnnd fouerre etwas durch 
jein verwahrlojung verloren und dez vßfündig wurde, ſoll er 
omb daſſelb befehrung vnd wandel ze thun ſchuldig vnd ver: 
bunden fein, wie dann jolids die alten Brieff, jo wir diß 
Lächens den feinen vormalß geben haben vnd jeinen vorfahren 
zugeftellt, heitter lauttend“. Rot Hatte jährlih 5 Z’ dem 
Rate von Solothurn zu bezahlen 

Als im folgenden Sommer Bajel Hans Not die Zehnten- 
sarben abforderte, weigerte ji diefer, fie abzuliefern und 
meldete jofort die Sache nad) Solothurn. Golothurn erfuchte 
Baſel, von feinem Begehren abzuſtehen, ſonſt würden fie eine 


23 


Kundihaft aufnehmen laſſen. Bajel verwahrte ſich gegen 
den Vorwurf, als ob es eine Neuerung einführen wolle, ver- 
langte vielmehr, daß man es bei feiner alten Gewohnheit 
lafje, da jeit Tahren der Zehnten aufgejtellt worder ſei. Golo- 
thurn konnte das le&tere nicht beitreiten, aber wiederholte 
feine Bitte, da der Zehnten „durch vnflyß, vnwüſſenheit vnd 
liederlichkeit“ des Vogtes und der Vehenleute unbefugterweije 
darauf gewachſen jei, und verlangte zugleich, daß den Ge: 
landten Bajels Vollmaht gegeben werde, „ven ſachen recht— 
lih auszuwarten“. Baſel beharrte auf jeinem Rechte. Am 
26. Auguſt 1588 wurde erſt von Solothurn und auf Anraten 
Balilius Amerbadjs jpäter auch von Bajel eine Kundſchaft 
aufgenommen. Der Sohn eines früheren Lehenmannes, 
Baltian Tſchopp, erklärte: Als fein Vater jelig diejes Gwidem— 
gütli empfangen, jeien einmal Leute gefommen und hätten 
ihm gejagt: „Warumben ftelitu den Zehnten vom gwidem 
off ond nimbit es nit mit andern garben hinweg?“ Der Vater 
antwortete, er habe von jeinen Gütern immer den Zehnten 
gegeben. Der letzte Lehenmann Conrad Häner aber berichtete: 
Er habe auch vor etlich und dreißig Sahren den Zehnten nicht 
bezahlen wollen, er fei deshalb nad) Solothurn zum Sdult- 
heißen gegangen. Diefer habe ihm den Beiheid gegeben, 
wenn jemand. von ihm den Zehnten fordere, jolle er ihn nad) 
Solothurn laden. Als Häner daraufhin den Zehnten zum 
zweiten Male verweigerte, wurde ihm gedroht, daß er vor 
Gericht geladen würde. Der Obervogt von Gilgenberg ritt 
darauf nad) Waldenburg und jchlichtete den Streit. Nad) einem 
dritten Weigerungsverſuch hätte er fich nach Beſprechung mit 
den Berwandten herbeigelaflen, anjtatt der Ablieferung der 
Garben etwas zu zahlen, „vff daß er die Oberfheiten nit 
aneinanderen wyje und zwüſchen den fein vnwille entitande“. 
Bajel konnte außerdem noch geltend maden, daß Pfarrer 
Vetterlin von Bretzwil 24 Sahre lang den Zehnten von 
St. Hilarien ohne Eintrag empfangen habe, und der Meyer 
und die betagten Leute bejtätigten, daß die Güter nicht zehnt- 


24 


frei feien. Solothurn mußte nachgeben. Hans Rot wurde 
jpäter Wirt zur Sonne. Als im Sommer 1599 ein neuer 
Vogt auf Waldenburg aufgezogen war, weigerte jih Not 
wieder, den Zehnten zu geben. Der Pfarrer, der infolgevefjen 
um 1% Quart zu kurz fam, forderte den Vogt auf, nad) Baſel 
zu Ichreiben. Der Vogt gebot Rot, „jolden Zehnden an ein 
vnpartheyiſch ort zu legen biß zu vßtrag jolher Handlung“. 
Es gejhah nicht. Bei der jelbjtherrlihen Art des Mannes, 
der ji um des Vogts Gebote nicht Fümmerte, war allerdings 
zu befürdten, er könnte mit der Zeit aus ſolchem Frevel „ein 
Poſſeſſion“ machen wollen. Das alles meldete der Bogt Eras- 
mus Wurſtiſen am 15. Juli 1599 nad Baſel. 

Die Familie Rot behielt das Lehen fait ein Sahrhundert. 
Allein Hans Bernhart Rot ließ die Kirche in Abgang fommen, 
„maßen beederjeits Gübell onndt der Tadjtuel bawfällig“, 
ja das Dach gleich einer „Rütteren“ durdlichtig war. Die Güter 
waren ausgenüßt. Solothurn gab darum dem Vogt von 
Gilgenberg den Auftrag, das Zehen einem andern zu über- 
geben. Anfangs Oktober 1679 erſchien der Bogt und belehnte 
Safob Schneider mit dem Gute. Rot und feine Söhne ließen 
durch Geihimpfe am Bogt auf Gilgenberg, dem neuen Zehen: 
mann und dem Vogt auf Waldenburg ihren Aerger aus, wie 
fie denn als böje, gottlofe Leute gejhildert werden, welche 
feinem Gottesdienit abwarten, bei denen weder die guten 
Worte des Seeljorgers noch die Strenge des Vogtes etwas 
fruchteten. Ja fie überfielen aus Gejtrüpp heraus den arg— 
Iofen Lehenmann mit feinem Sohne, die den Hag ausbeſſern 
wollten, mit Hagiteden bewaffnet, ſchlugen fie blutig und 
drohten ihnen mit dem Tode. Der gilgenbergiihe Amtmann 
meldete den Vorfall nah Solothurn, und der Rat inter 
zedierte in Bajel, daß es den neuen Lehenmann ſchütze. 

Am 30. Dftober 1715 erjudgte der Rat von Solothurn, es 
möchte eine neue Bereinigung der Gwidemgüter Sti. Hilarii 
vorgenommen werden. Bafel gab jeine Einwilligung. Die 
Solge war, dag Solothurn dem Ziegler die Matte abiprechen 


25 


wollte, auf der eine Scheune jtand, weil fie zu den Hilari- 
gütern gehöre, daB es zwei Mädertauen Matten in den 
St. Romai Gütern beanjprudte, die verloren waren und nicht 
wieder gefunden wurden, daß darum Solothurn die Gwidem- 
güter neu mit Mardjteinen auszufteinen verlangte. Der 
Ziegler mußte einen halben Gulden Reflognitionsgebühr be- 
zahlen und Kalk und Ziegel für das Kirchlein liefern. 1724 
wurden die Marchſteine, mit H. G. bezeichnet, gejegt. Im 
Sabre 1761 fam das Lehen wieder an die Familie Rot. Der 
Zehenmann Hatte „das Kapellelin, weldes unden an der 
Waſſerfallen ligt und zue Andadt für die Rayfenden gewidmet 
gewefen fein mag“, in gutem Bau zu erhalten, innert Jahres— 
friit es mit Blättlein zu belegen, die Fenſter mit eijernem 
Gitter zu verjehen und eine neue wohlbeſchlüſſige Türe auf 
jeine Kojten maden zu laſſen. Auch die Verpflidtung zum 
Sigrijtenamt wurde wieder aufgenommen. 

Als am 21. Dftober 1772 der Rat von Solothurn neuer: 
dings eine Bereinigung der Hilarigüter verlangte, hielt der 
Stadtſchreiber von Liejtal dafür, daß das unnötig fei, da ja 
alles befannt ſei, wenn nicht Solothurn darauf ausgehe, der 
jeit zweihundert Jahren verlorenen zwei Jucharten Matten 
wieder habhaft zu werden. Die Haushaltung hatte dagegen 
nichts gegen das Begehren Solothurns einzuwenden, betonte 
aber nur, daß „mit aller Vorfiht zu Werke zu gehen“ fei. Da 
aber auch von verjhiedenen Geiten die Ablieferung von 
Bodenzinjen verweigert wurde, verlangte Solothurn, daß 
auch hierin Ordnung gejhaffen werde. Wegen der Nähe 
rauhen Winterwetters wurden aber die Verhandlungen aufs 
folgende Frühjahr verjchoben. 

Mann und wie Solothurn jchlieglidh jeine Rechte an die 
Hilariusfapelle abgetreten hat, war vorläufig nicht zu finden. 
Sm Sabre 1799 beſaßen die Bürger von Solothurn nod) einen 
Speicher und ein Gärtlein, das der Kirhe von Meltingen zu 
zinjen Hatte. Die Ablöfung des Hilarigutes wird alfo wohl 
auch nad) diefer Zeit jtattgefunden haben. 


26 


2. Das Klojter Olsberg. 
Diegten. 


Am 11. Mai 1314 Hatte der Ritter Matthias von Ep: 
tingen das Patronatsrecht der Kirche von Diegten dem Klofter 
Olsberg geſchenkt, und der Bilchof Gerhard von Bafel hatte 
mit Zujtimmung feines Kapitels die Schenkung bejtätigt. Im 
Bauernfriege von 1525 wurde das Klojter von den Bajelbieter 
Bauern ausgeplündert und teilmweije zerjitört. Es ſchien, als 
ob die Geihichte des Klofters ihr Ende gefunden hätte. Am 
12. August 1525 verfauften Aebtiſſin und Konvent der Stadt 
Bafel mit andern Gütern in der Landſchaft um 2000 Pfund 
Gtebler „den Eildenjag zu Dietfen ſampt dem gehenden da- 
jelbeft, tut zu gemeinen jarenn fünfzig viertzel vngeuerlich; 
denn zwepteil fernen ond den drytteil haber vnnd ein pfund 
zu erjhaß, Davon gibt man der gemeind fünff jchilling vnd 
hat man bishar dem Tütpriejter dafelbjt vonn dem zehenden 
dryſſig tu onnd dem probjt zu fant Alban zu Baſel dryſſig 
Ihilling bafel pfennig“ gegeben. Bon einem Ader von 30 
Jucharten, der beim Klofter lag, ſicherte fich die Aebtiſſin das 
Rückkaufsrecht für den Fall, daß das Klofter wieder auf- 
gebaut würde. 

Fünf Jahre lang blieb Bafel im Befige Diegtens. Als 
mit der Reformation das Klojter Schönthal an die Stadt 
fiel und der Kirhenfag von Eptingen infolgedefjen in die 
Hand des Rates fam, vereinigte diefer die beiden Pfarreien 
Diegten und Eptingen, um das Einfommen des Pfarrers zu 
verbeijern. Allein am 8. August 1530 erhielt Bafel die Mit- 
teilung, daß der Kaifer „als des clojters landfürſt, warer vnd 
rechter kaſtvogt vnd ſchirmherr, dweyl der aufjerthalb jeyner 
Mt. zulafjen befchehen“, den Kauf nicht beftätigt Habe. Er 
mußte rüdgängig gemadt werden. Die Zinsleute wurden 
aufgefordert, wieder dem Klojter zu zinfen. Es jcheint nicht 
ohne Widerjtreben gejchehen zu fein. 

Der bisherige Pfarrer, Hieronymus Ritter, der feit der 


27 


Reformation in Diegten ſaß, Jah feine Möglichkeit, mit dem 
bisherigen Einfommen auszufommen, und jtellte bei Bajel 
das Begehren, daß ihm eine Aufbeſſerung um zwölf Stüde 
bewilligt werde und daß die Zinfen und Zehnten, welche DIs- 
berg empfange, in Arreſt gelegt würden. Morand Harnald), 
der Schaffner zu Olsberg, wandte fih an die Regenten und 
Räte im Obereljaß und flagte ihnen die Not des Klofters. 
„Wie wohl Olsberg in bäuriſcher Empörung jhwerlich be- 
\hädigt, doch furz uerrudter Zeit ein behaufung mit ſchweren 
cojten bawen müljen, dazu die prielter, jo egedachte pfarr vor 
ime inngehapt vnd verjehen, an dem alten corpus, infommen 
vnd gefellen derjelben pfarr ein gut vernugen gehapt.“ Er 
bat die Regierung, Bafel aufzufordern, daß es dem Prädi- 
fanten nicht willfahre. Allein Bafel ftellte ji auf die Seite 
des Pfarrers, und fonnte das um fo eher, als es die Stadt 
ja nichts foftete, fich mit dem fremden Mammon einen Freund 
zu maden. Die Einfünfte wurden mit Arreſt belegt. Am 
1. März 1540 forderte Hans von Andlau als Kaſtvogt des 
Kloiters die Stadt auf, den Arreſt aufzuheben. 

Der Bogt auf Farnsburg erhielt nun Auftrag, ſich über 
den Zehnten in Diegten zu erkundigen. Er tat es, fonnte 
aber nicht mehr erfahren „den von nedhjtverrudten drü jaren 
her“. Er jtellte feſt, daß das Klojter den dritten Teil des 
3ehntens erhielt, daß diejer Drittel 1937 44 Viernzel Korn 
und Haber, 1538 64 und 1539 75 Viernzel betragen habe, 
und dag dem Prädikanten jeweilen 30 Viernzel gegeben 
worden Jeien. 

Der Rat hob den Arreit auf, wie er an die Regierung 
ſchrieb, „pff vertruwen, ir werdend des prielters competenf 
halben gebürlichs injechen ze thund nit verhinderen“. Der 
Rat machte zuguniten des Prieſters geltend, daß es „gar ein 
fleine Competeng vnd dem richlichen infomen, jo das Cloſter 
Olſperg der ennden hat, nit gemek, nod) au) dem predicanten 
(wie ir jelbs ermeſſen mögen) zu finer vffenthalt nit gnug- 
jam ift“. Der Pfarrer fönnte überhaupt mit feinem Ein- 


28 


fommen von 30 Biernzel nicht Ieben; er hätte, „wo wir im 
den Zufhub von Rudeptingen nit getan, vor langen dadannen 
wichen müljen“. Der Rat durfte aber füglid) aud) daran er: 
innern, er habe in öfterreihiihem Gebiet und im Markgrafen: 
land, wo er Kirchenſätze bejige, ebenfalls die „Competentzen 
ober vorgeordnete vnnd von altem har ingenomene Corpora 
von den Zechenden eben richtig erbejjern müljen“. Die Web: 
tillin jollte alfo das Einkommen um 12 Stüd verbeſſern, in 
Geld oder Korn, und zwar zum erjtenmal auf fünftigen 
Sohannistag, damit Bajel nicht genötigt fei, andere Mittel 
zu ergreifen. Werde die Aebtiſſin dem Geſuche entiprecdhen, 
jo werde Baſel um jo geneigter fein, das Klofter „by dem 
Iynen zu ſchirmen vnd den frowen daſelbſt alle früntliche 
nachburſchaft zu bewijen“. 

Der Schaffner erhob an den Pfarrer wegen Geridhtskoften 
Anſprüche auf Entihädigung. Der Nat anerbot fid, einen 
Deputaten abzuorönen, um die Streitenden zu vergleichen. 
Könnten jie fih nicht einigen, jo jollte der Schaffner beim zu: 
ſtändigen Geridt in Bajel Klage erheben. Was blieb den 
Klofterfrauen anderes übrig, als nachzugeben? Gie waren 
auf gute Nachbarſchaft angewiefen. 

Sm Winter 1598 liefen beim Rate Klagen ein, daß das 
Pfarrhaus in Diegten der Reparatur bedürftig fei. Der Rat 
Ihrieb an die Webtiflin, daß das breithafte Pfarrhaus ohne 
Verzug jollte gebaut werden. Die Webtijjin aber zeigte zu: 
nächſt feine Qujt, erit Anfangs April fonnte fie ſich auf „vil- 
fältig anmahnen“ des Rates entihließen, „Das gantz preit- 
hafft bouwloſe Pfarhuß“ „dermaßen zu verbeijern, daß der 
Pfarrherr mit fuegen fi nit beclagen, fonder khumblich be- 
wohnen könne“. Immerhin madte fie den Vorhalt, „das 
gleichwohl dafjelbig Pfarrhauß der beiferung vmb ettwas 
vonnötten, das es aber fo gar in grojen abgang vnd mikbaw 
gerathen, darvon tragen wir fhein wüſſens vnd möchten 
C. V. F. € W. villidten Hierunder zu milt (?) beridtet 
worden jein“. Allein fie hatte es nicht fo eilig. Das Früh: 


29 


jahr fam, aber das Pfarrhaus war noch nit gebaut. Das 
Klofter war mit Bafel aud) über Steinfegungen in Streit 
geraten. Bereits war auf den 14. Mai (alten Kalenders) 
„su Hinlegung der zwiſchen Bafel und ihr noch unentjchiedenen 
Späne“ ein Tag angejagt. Unmittelbar vorher aber ftarb 
Dr. Samuel Grynäus, der die Stadt vertreten follte. Bafel 
wollte zwar, da ihm am förderliden Ausgang der Sache ge- 
legen war, einen andern Anwalt jhiden. Allein eine Ver: 
tändigung fam nicht zuſtande. 

Zwei Jahre war noch nichts geſchehen, nur das Pfarr: 
Baus war noch baufälliger geworden, jo daß zu befürdten 
war, es mödte im Winter, durch Schnee befchwert, einge 
dDrüdt werden; der Pfarrer Gabriel Hummel gab darum die 
Ablicht Fund, in ein anderes Haus zu ziehen. Der Rat redete 
nun eine energijhere Sprade. Die Aebtiſſin folle nun ohne 
alle fernere Umtriebe in den nächſten acht Tagen ſich erklären, 
ob, wie und wann fie das Haus in Bau legen wolle. Die 
Aebtiſſin ſchickte nun ihren Schaffner nad) Bafel. Diejer gab 
gute Worte, die Aebtiſſin fei bereit, dem Pfarrer „mit Hauß- 
sing gepeurendermaßen zu begegnen“ und aud das Pfarr: 
haus in Stand zu jtellen. Es blieb aber wieder bei bloßen 
Morten. Acht Tage jpäter fand eine große Verhandlung 
tn Lieftal jtatt; der Hauptitreit drehte fih um vier Wälder 
im Basler Gebiet, welche das Klojter und Baſel als Eigen 
tum anjpraden. Das Kloſter mußte feine Anfprüde fallen 
laſſen, wodurch die Bereitwilligfeit, in Diegten das Nötige 
vorzufehren, nicht zunahm. Als darum der Rat die Webtifjin 
noch einmal mahnte, antwortete fie, da fie krank jei, habe fie 
den Schaffner von Rheinfelden nad) Bafel gejhidt, man möge 
ihn wegen Diegten abhören. Was er berichtet Hat und was 
die gnädigen Herren geantwortet haben, erfahren wir leider 
nidt. Das Pfarrhaus war aber fpäter wieder bewohnt. Die 
Hebtijfin mußte alfo wohl einlenfen. 

Sn jpäterer Zeit hören die Streitigkeiten mit Olsberg 
auf. Nur noch einmal beklagt fih der Pfarrer im Fahre 


30 


1702, daß ihm Frucht- und Weinzehnten vorenthalten würden. 
Sm übrigen war das Verhältnis ein freundihaftlicdes. Denn 
nachdem in der Zeit der Gegenreformation im Jahre 1596 
der Rat der Aebtiſſin nicht gejtattet Hatte, den Hof Dürren= 
berg bei Langenbrud zu faufen, durfte jih im Jahre 1674 
das Klojter in Lieftal „ein Fluchthauß“ erwerben, das bis 
1744 in feinem Beſitze blieb. Jedenfalls iſt es bemerfens= 
wert, daß der Pfarrhausbau vom Jahre 1704 ohne Anftände 
durchgeführt worden ift. Denn feine Beſchwerdeſchriften geben 
darüber Aufſchluß, jondern eine am Pfarrhaus in Diegten 
eingemauerte Steinſchrift: „Anno 1704 iſt diefes Haus von 
Grund auf von der gnädigen Übtille von Olsberg, Frau Maria 
Franzisca von Eptingen als Collatrir durh Herrin Pfarrer 
Joh. Rud. Brenner, Pfarrer allhier, erbauen worden.“ Die 
legten Verhandlungen galten der Ablöfung des PRatronats- 
rechtes. Schon ſeit 1797 miſchte fi das Damenitift Olsberg 
nit mehr in den Zehntenbezug. Am 21. November 1805 
trat es fein Kollaturreht in Diegten nebſt Pfarrgebäuden, 
Pfarrgütern, drei Quartzehnten an den Kanton Bajel ab. 
Diejer übernahm alle Obliegenheiten, Befoldung des Pfarrers, 
Unterhaltung der Pfarrgebäude und des Chores, welden zu 
bauen bis dahin die Aebtiſſin noch verpflidtet war. 

Am 18. Februar 1807 wurde der Vertrag vom Stande 
Yargau, am 11. April von Baſel ratifiziert. 


3. Das Chorherrnitift St. Martin in Rheinfelden. 
Kilchberg. 


Der Kirchenſatz von Kilchberg war von den Froburgern 
in den Beſitz des froburgiſchen Miniſterialengeſchlechts, der 
Herren von Kilchberg, gelangt. Durch Schenkung ging die 
eine Hälfte des Hofes mit dem halben Kirchenſatz an das 
Kloſter Fraubrunnen über. Am 27. Juli 1276 verkauften 
Wernher von Kilchberg und ſeine Frau Sophia die andere 
Hälfte um vier Schilling und neun Pfund Pfennig an den 


31 


Rheinfelder Bürger Hermann von Belliton. Bald darauf 
am 3. April 1280 traten Elijabetha, die Aebtiſſin, und der 
Konvent des Klojters Yraubrunnen „vmb vnſers Gottshuß 
noth, alg wir ſchädlich verbrunnen fin“, ihren Anteil am 
Hofe ebenfalls Hermann von Bellifon um achtzehn Marf Silber 
als ledig Eigen ab. Hof und Kirchenſatz vererbten ich in der 
Familie von Bellifon, bis Anna von Bellifon, die in zweiter 
Ehe mit Burfart von Stoffeln, genannt Schürli, Edelfnedt, 
Schultheiß von Rheinfelden, verheiratet war, mit Zujtimmung 
ihres Mannes am 21. Mai 1400 das Patronatsrecht der Kirche 
St. Martin in Kilhberg zur Stiftung einer Sahrzeit an das 
Stift in Rheinfelden abtrat. Sm Sahre 1439 madte Her: 
mann Scaler, ein Nachkomme Verenas, der Schweiter Annas 
von Bellifon, die mit Lütold Schaler verheiratet war, An— 
Iprüde auf den Kirhenfa von Kilchberg geltend; allein er 
wurde am 20. März 1439 abgewiejen. Das Patronatsrecht 
blieb beim Chorherrenitift Rheinfelden. 

Schon vor der Reformation entitanden Gtreitigfeiten 
über dem Heuzehnten. An Nadoftern 1487 famen der Meyer, 
Herr Clauß Gili, und jeine Untertanen des Kirchſpiel Kilch— 
berg vor das Stift in Rheinfelden „ond hat das Kapitel in 
einer liebe fie alfo betragen, daß jie den Hewzehnden von 
allen matten geben jollen, denn Lüpriefter pßgenommen“. Im 
Sahre 1496 wurde „der Meyer einer von Öjtergaum“ neben 
einigen Kilchbergern vom Gtift Rheinfelden nad) Bajel ge: 
laden. 

Mit der Durchführung der Reformation lag die Gefahr 
nahe, daß neue Streitigfeiten ausbrechen würden. Gie Tiefen 
nicht lange auf fih warten. Wir erfahren freilih nur, daß 
der Rat der Stadt Bajel im Jahre 1539 erfannt habe, „Daß 
fürohin einem 9. Prediger geben werden jolle von einem 
Mannwerdh oder Medertawen Matten, fo Hew vnd Embot 
gübt, Sahres 28; von einem Mannwerdh, jo nur Hew gübt 
1 #“. Schlimmer ftand die Sadhe im Sahre 1586. Der lang: 
jährige Pfarrer Antonius Weiz Hatte ohne Erlaubnis der 


32 


Kollatoren das Dad) des Pfarrhaujes ausbejlern laſſen. Die 
Chorherren von Rheinfelden fündigten ihm furzerhand feine 
Abjegung an. Der bedrängte Pfarrer wandte fih an den 
Konvent der Pfarrer. Dieſe ermahnten ihn, daß er bejcheiden 
Handle und auf ſeinem Boften ausharre, die Deputaten er- 
ſuchten fie, daß fie fi) jeiner annähmen und ihn gegen die 
Chorherren verteidigten. 

Der Aufzug eines neuen Pfarrers wurde wiederholt von 
den Zinsleuten zum Verſuche benüßt, ji) die Laft etwas zu 
erleihtern. So war es aud), als im Jahre 1612 Gregorius 
Schickler nad) Kilchberg fam. Sm folgenden Jahre fam eine 
Verftändigung mit den Untertanen über den Zehnten zu: 
ftande. Am 1. Juni 1613 wurde die Ratserfanntnis von 1539 
erneuert. Ungleich hartnädiger war der Gtreit unter dem 
Sohne, Emanuel Sdidler. 

Schickler war im Jahre 1651 feinem Vater in Kilchberg 
nachgefolgt. Die Sahre des jüngern Mannesalter hindurch 
hatte er im Toggenburg zugebracht und dort ſchon zur Genüge 
Sie Annehmlichkeiten erfahren, welche einem proteſtantiſchen 
Pfarrer unter einem katholiſchen Fürſten und Herrn beſchieden 
waren. Die erjten Jahre verliefen glatt. Allein im Sommer 
1654 beflagte fie) Schidler, daß er in feinem Einkommen ver: 
fürzt werde. Der Rat von Bajel beauftragte den Vogt auf 
Sarnsburg, dafür zu forgen, daB auf den neu aufgebrochenen 
Aedern, für die früher der Heugehnten bezahlt wurde, die 
Zehntengarben aufgeitellt würden, damit der Pfarrer nit 
zu Schaden fomme. Dem Stift gegenüber berief fi der Rat 
darauf, daß „von unuordendhlihen Jahren Hero“, d. H. feit 
1539 der Heuzehnten bezahlt worden jei. Allein nachdem er 
die Garben bis zum Yustrag der Sade „an ein vnpartheyiſch 
orth“ gelegt Hatte, verlangten die Chorherren beim Rate 
Schuß gegen den Pfarrer, der fie von ihrem uralten Her— 
fommen abtreiben wolle, und Herausgabe der Garben. Bajel 
Torderte nun aber von Shidler noch einmal Bericht ein. Er 
wurde vor die Duputaten zitiert, wo ihm eröffnet wurde, daß 


33 3 


die Chorherren fih über ihn beflagt Hätten. Schickler er— 
Härte, er Hoffe, nachdem Bafel fil) der Sache angenommen 
habe, würden fi die Chorherren gütlich herbeilafjen; er an= 
erbot ſich, perfönli nad) Rheinfelden zu ſchreiben. Am 
29. November jandte der Rat feine Antwort mitjamt dem 
Briefe Schidlers nad Rheinfelden, in der er fein Recht geltend 
madte. Erit am 12. Januar 1655 gab das Stift Antwort. 
Die Chorherren erinnerten daran, daß Schidler bei feiner Prä— 
jentation die Zuſicherung gegeben worden fei, daß fie „ime 
bey der Gemeind allen in feinem Rödel vermerdhten Heuw 
3ehnden in ordenlide richtigfeit zu bringen“ geneigt feien, 
daß er aber ſchon damals an den Rat gewiejen worden fei, 
weil feine „underthanen zue onderwinden“ nicht ihrer Juris 
diktion fei. Die Chorherren legten in Abſchrift ihre Urkunden 
bei und ſprachen die bejtimmte Erwartung aus, der Rat werde 
Pfarrer Schidler „von feinem vnbefuegten wüderlihen be= 
ginnen“ abweijen und anhalten, die beifeite gelegten Garben 
dem Stift auszuliefern „mit abtrag der cojten vnd fchadens“. 
Der Rat gab für diesmal nad, ohne jedoch die Rechtsfrage 
zu entiheiden. Er ließ, obwohl der Pfarrer nicht weniger 
Recht zu haben meint, gleichwohl „biß auf weittere Bey: 
bringung jein Pfarrers ſuochende gerechtjame“ die Zehnt: 
garben dem Stift verabfolgen. Der Tanz konnte alfo im 
folgenden Jahre von neuem beginnen. Am 20. September 
1655 bejchwerte jih Schidler beim Stiftsihaffner, daß obwohl 
er ſelbſt fih äußerjt entgegentommend gezeigt und gebeten 
habe, den Arreſt aufzuheben, die Kollatoren alles abgeſchlagen 
hätten. Etwas unvorfihtig war die Bemerfung, daß die 
Bauern feineswegs damit zufrieden feien, daß fie doppelten 
Zehnten zu bezahlen hätten. Gie Hätten dieſen Punft bei 
ihren Klagen „in ihrer jüngjt entjtandenen Unruh laſſen ein= 
ihreiben“. Das Stift ließ es fih nicht entgehen, dieſe Be- 
merfung dem Rate bejonders hervorzuheben. „Nun nimbt 
vnß fehr wunder, daß er fi der Baurfame fouil anneme“. 
Die Obrigkeit fönne jpüren, daß er ein unruhiger Mann fei, 


34 


da es fih nur um einige Säillinge handle. Es fheint, daß 
man tatſächlich dem Pfarrer die etwas unbedachtſame Aeuße⸗ 
tung übel angemerkt Hat. Allein es läßt ſich begreifen, daß 
er alles anwandte, um zu feiner Sache zu fommen, wenn er 
in feine ökonomiſchen Nöte uns einen Blid werfen Täßt. 
Am 1. Januar 1657 wandte fih Schidler an Bürger: 
meijter Wettjtein und klagte ihm feine Not. Bor jehs Jahren 
lei er vom Schuldienft von Liejtal, den er während zehn 
Sahren verjehen Habe, nah Kildhberg verjegt worden. Er 
babe von den Chorherren 40 Viernzel Korn, 20 Biernzel 
Haber und 20 in Geld einzunehmen, während dod) den Chor- 
berren der ganze Zehnten aus den drei Dörfern Kilchberg, 
Rünenberg und Zeglingen zufalle. „Wenn aber die bejagte 
Kilchbergiſche Pfrund an ihrem jarliden einfommen vaſt 
die geringfte, hargegen an vnkoſten vnd bejondern beihmwär- 
nufjen die grööite iſt, aljo daß ich alles trind- und kochwaſſer 
weit unterm dorff aus einer höli dur) ein fchroofechten weg 
muß Holen lajjen, vnd deeßwegen eyn bejondere magd er- 
Halten, waſſer zetragen: item alle ab- vnd zufuhr durch fehr 
taube fteynige jtraaljen, bergauff vnd ab mit geringer auff- 
ladung vnd grofjem fuhrlohn verjolden: item von wegen lang- 
wärendem wintergefrölt, jtarfen reiffen auch jtrengen vnd 
falten winden gar viel holz und dürrfuter vom herbit an biß 
in meyen hinauß muß brauden, vnd endlich von gemeinen 
landftraafjen abgelägen, dz ein Prediger diefer enden feine 
übrige früdten mit feynen fugen verfauffen fan, ohn mit 
feinem groljen vmkoſten, infonderheyt weilen die Chorherren 
ihren eingehenden zähenden allhie in ihren ſpeicher laſſen 
aufiehütten, auch nachwerts ihne den hieſigen gemeynsgenofjen 
vnd daherum auff borg zu Fauffen gäben, darum fie ihnen 
zu lauffen und hie mit dem Pfarrer feine übrigen früdten 
bleiben ligen und keyne löſung in parihaft Haben fann.“ 
Zum Schluß befannte er, daß er die letten jehs Jahre mehr 
Schaden gehabt und nichts habe erübrigen können, er fünne 
länger fo nicht fortfahren, wenn er nicht das GSeinige ganz 


35 s 


einbüßen wolle. Der Rat möge darum den Chorberren 
ichreiben, daß fie ihm die Kompetenz erhöhten. Der Rat wies 
die Eingabe an die Deputaten. Schidler erfuhr dies von 
einem Sohne und wandte jih nun aud an dieje feine Vor- 
gejegten, fie möchten die Chorherren veranlajjen, „dem je- 
weiligen Pfarrer etwa für 10 faum wein järlich zu geben“, 
„domit er ſich ond die feinigen feinem ſtand gemäs könne ehr- 
li) ausbringen, vnd nit aus mangel der nahrung genöhtiget 
werde, etwaz zeſchaffen, dz dem Predigamt nit jo anjtändig 
ſeyn mödte“. 

„Obſchon auf ihrer feitten ihre Priefter nur ihren Ieib 
ond etwan eyn magd oder diener zu erhalten haben, dennod 
wurd feyner derjelben mit folder geringer competeng wägen 
grojfer außgab mögen außfommen. Sollen wir prediger auff 
vnferer feiten jhier all onjer vermögen auffs jtudieren vnd 
bücher wenden in vnferer juget vnd dann im alter nicht fo 
viel einfommens haben, dz wir vnſere gebeurlihe nahrung 
für ons ond vnſer weyb vnd finden mögen darvon Haben, 
iheint es in alle weg eyn vnbillidhs ding ſeyn. Die Herren 
Collatores nemmen alle jar eyn überjhwenglidhes einfommen 
aus meiner ©. 9. landſchafft vnd verjorgen doch für ihre 
perfon nit eyne feel.“ Er aber könne ſich fait nicht des 
Bettelns erwehren. 

Schidler Hatte den Erfolg, daß ihm ſeine Beſoldung von 
20 auf 25 Pfund erhöht wurde. 

Noch einmal entbrannte der Streit, nachdem im Jahre 
1690 Johann Stöcklin Pfarrer in Kilchberg geworden war. 
Wiederum war der Zehnten die erſte Veranlaſſung. Stöcklin 
hatte mit Berufung auf die Verhandlungen von 1613 und 
1654 ſeine Forderung geſtellt. Das Stift aber nahm die 
Ratserkanntnis von 1539 für ſich in Anſpruch und wies dar- 
auf hin, daß Emanuel Schidler im Jahre 1654 habe zugeben 
müfjen, daß das Stift im Beliß der Garben gewejen ſei, aber 
„er joldes nit recht zu fein vermeint“ habe. Er fei darum 
auch vom Rate abgewiejen worden. 


36 


Eine jhärfere Tonart ſchlug das Stift bei der Behand- 
lung einer andern Zrage an. Das Pfarrhaus war jo bau- 
fällig gewejen, daß es von Grund auf neu hatte gebaut werden 
müjjen. Die Koſten hatten ſich auf über 2000 Z belaufen, 
das Gtift Hatte, wie es Flagte, alle jeine Mittel aufgebraudt 
und noch eine Summe von 800 Z', die Pfarrer Stödlin vor: 
trete und die ihm zu verzinfen waren, aufnehmen müſſen. 
Nun aber jtellte ſich aud) noch die Notwendigkeit ein, den Chor 
der Kirche zu reitaurieren. Stöcklin madte den Deputaten 
Mitteilung und erhielt den Auftrag, auf Koiten des Stiftes 
„das Chor zu bauen und zu ändern“. Bereits hatte er Bau: 
material herbeiführen Iafjen. Der Unterſchaffner des Stifts 
verbot ihm, fortzufahren. Der Pfarrer wollte ſich jedoch nicht 
beruhigen lafjen, da er von den Deputaten Auftrag erhalten 
hätte. Darum beſchwerte fih das Stift in Bafel. Es ſei am 
Chor nichts baufällig, der Pfarrer wolle nur nad) feinem 
Kopfe jelbiges einrichten. Das ſei der Danf, daß ſie ihm bis- 
ber jo viel willfahrt „und das newe pfarrhauß vom funda- 
ment nad) feinem willen vnd belieben erbauen lajjen“. Der 
Rat möge Stödlin anhalten, fih mit feiner Pfrund zu be- 
gnügen, wie er fie empfangen und feine Vorjahren fie ge- 
nojjen hätten. Der Rat gab zunächſt gar feine Antwort. Der 
Bau wurde weitergeführt. Wohl oder übel mußte das Stift 
die Koiten bezahlen. Die Ernte war vorüber. Der Pfarrer 
hatte die jtrittigen Zehnten eingenommen. Probjt, Dekan 
und Kapitel beflagten ji bei den Deputaten der „auf: 
gebrochenen Zehnden“ wegen. Am 31. Auguft beitellte der 
Rat einen Abgeordneten des Stifts auf den 6. September 
nahmittags 1 Uhr aufs Rathaus, um „ihre gravamina ferer“ 
vortragen zu lajjen. Ueber den Erfolg erfahren wir nidts. 
Es läßt ji aber ersaten, was geſchehen tft. 

Zwei Jahre jpäter brach der Streit von neuem aus. Der 
Pfarrer berichtete an die Deputaten. Der Wihtigfeit der 
Sache wegen hätten fie die Sache gerne an den Rat der Drei» 
zehn gewiejen, damit der Rat einen Beſchluß Hätte fajlen 


37 


müljen. Allein ein Teil der Dreizehner Herren waren ab- 
wejend, und da die Ernte vor der Türe war, konnte man ihre 
Rückkehr nicht abwarten. Darum gaben die Deputaten Auf- 
trag, der Pfarrer follte die Zehntenverleihung vor ſich gehen 
lajfen, aber wegen der Matten, Rüti: und Hochwaldzehnten 
förmlich protejtieren und den Zehntenbejtändern ausdrüdlich 
anzeigen, daß jie auffchreiben, was für Frucht, wieviel Yrudt 
jeder Gattung es auf den aufgebrodhenen Matten, Rüttinen 
und Hochwald gegeben Habe. 

Es war der le&te Streit, der die Gemüter erregte. 

Pfarrhaus und Kirche waren jeßt in gutem Stande und 
gaben darum in der nädjlten Zeit feine Veranlajjung zu ernit- 
lihen Anſtänden. So verfloß das folgende Jahrhundert, ohne 
Streit. 

Am 14. Januar 1807 trat das Stift Rheinfelden das 
Patronatsreht von Kilhberg mit allem, was dazu gehörte, 
namlid) das dreijtödige Pfarrhaus, die Stallung, den Kirchen— 
chor, den dreiltödigen gemauerten Speicher und den Baum: 
garten und ſämtliche Gefälle an Bafel ab. Außer den 
3466 Fr. 6 Baten und 6 Rappen, weldje dem Stift ſchon im 
Sabre 1804 ausgewiejen worden waren, hatte Bafel noch 
weitere 3527 Fr. 7 Baben und 7 Rappen anzuzahlen und no 
eine Summe von %r. 16000 jpäterhin abzutragen. 


4. Das Deutihordenshaus Beuggen. 
Buus, Oelterfinden und Winterfingen. 


1.Buus. 

Der Hof zu Buus, zu welchem der Kirchenſatz der Kirche 
in Buus gehörte, war Eigentum der Grafen von Froburg. 
Bei der Erbteilung zwijchen der Zofinger und Waldenburger 
Linie des gräflihen Haufes fiel der Hof je zur Hälfte Her: 
mann IV. von Froburg:Homburg und Ludwig IV. von ro: 
burg zu und vererbte fih in ihren Familien. Graf Ludwig 
lieh jeine Hälfte Jakob II. von Kienberg als Erblehen. Diefe 


38 


Hälfte ging jpäter noch einmal auseinander, indem Jakob IV. 
und Helena von Kienberg in das Lehen fich teilten. Helena 
von Kienberg war mit Chunrad von Hertenberg, dem Herrn 
von Arisdorf, verheiratet. Am 31. Mai 1307 gab Graf Vol: 
mar von Froburg dem Ritter Tafob von Kienberg die Er: 
laubnis, feinen Anteil am Hofe, „in den die File und der 
lag von Bus hHöret“, dem Bruder Berhtold von Buchecke, 
Landfomtur zu Eljaß und Burgund, und mit ihm den Brüdern 
zu Beuggen abzutreten. Am 8. Suni 1307 erfolgte die Ueber: 
gabe „zu feiner Geele Heil“. Fünfzehn Jahre jpäter (16. Juli 
1322) verfaufte der Sohn Konrads von SHertenberg, der 
Ritter Heiden von Hertenberg, den zweiten vierten Teil um 
36 Mark Silbers an den Deutihordensfomtur Peter von 
Stoffeln zu Beuggen. Am 23. Juli erfolgte die Beftätigung 
vom biſchöflichen Offizial in Baſel. 

Die zweite Hälfte hatte Graf Hermann IV. von Sroburg- 
Homburg an eine andere Linie des Haufes von Kienberg als 
Lehen ausgetan. Der erite Lehenträger war der Großvater 
der beiden Vettern Sohans I. und Johans II. von Kienberg. 
Sm Sahre 1310 Hatte Bodeshirm, vermutli ein Bruder 
oder Schwager Johans II. von Kienberg feinen vierten Teil 
den Herren des DOrdenshaujes Beuggen verkauft, welde 
wußten, daß es ein Zehen Wernhers II. von Homburg war. 
Der Graf madte aber fein Recht geltend und ſprach, „dz mir 
dz lehen lidig fi“. Er zog es an fi und lieh es am 2. April 
1310 Sohans I. von Kienberg, dem Better Johans II. Nach 
dem Tode Wernhers III. von Froburg im Sahre 1323 muß 
Sohans von Froburg in die Rechte des ausgejtorbenen Haufes 
getreten fein. Denn er übergab am 30. Mai 1336 dem 
Ordenshaufe „die Eigenfhaft des Hofes Bus jamt dem dazu 
gehörigen Kirchenſatz‘. Allein erſt am 2. Januar 1328 ver- 
taufte vor dem Ritter Rudolf von Rudefwile, welder zu Olten 
an Graf Sohans von Froburg Statt zu Gericht fak, der Edel: 
knecht Sohans I. von Kienberg, genannt Brifjener, für fi 
und als Vogt Hartmans und Richtelins, der Kinder feines 


39 


veritorbenen Betters Johans II, an den Komtur Peter 
von Stoffeln zu Beuggen ihren Teil und ihr Recht an Hof 
und Kirhenjaß zu Bus um 52 Marf Gilbers. Damit hatte 
Beuggen das Ziel erreidht, den ganzen Kirdhenjag von Buus: 
in feine Hand zu befommen. 

Nah der Durchführung der Reformation trachtete Bajel 
darnad, um das ungenügende Einfommen der Pfarrer zu: 
erhöhen, tleinere Gemeinden zujammenzulegen. Am 28. Ok— 
tober 1535 traf der Rat von Bajel mit dem Komtur von 
Beuggen, Ludwig von Ryſchach, die Vereinbarung, daß die 
Untertanen von Buus und Maiſprach in ewige Zeit Pfarr: 
genofjen fein jollten. Hemmiken blieb bei Buus, während 
Drmalingen wieder zu Gelterfinden geijhlagen wurde. Mit 
dieſer Vereinigung von Buus mit Mailprad), wo Bajel das 
Patronatsrecht bejaß, war die Gefahr eines Konfliktes noch 
bedeutend verjtärft. Die Kollatur jollte abwechslungsweiſe 
vom Drdenshauje und von Bafel, eritmals von Beuggen aus= 
geübt werden. Die Pfarrer wurden auf die Reformations- 
ordnung verpflichtet. 

Die Beranlafjung zur Vereinigung beider Gemeinden 
hatte der Wegzug des Buufer Pfarrers Matthäus Merk oder 
Kenzler in jeine württembergifhe Heimat gegeben. Der 
Pfarrer Fridolin Brombach von Rheinfelden, der feit Herbit 
1522 in Maiſprach gewejen war, wurde der erjte Pfarrer der 
beiden vereinigten Gemeinden. Die erjten Jahre ging alles 
gut. 

Im Sahre 1544 war das Pfarrhaus reparaturbedürftig 
geworden. Der Komtur erflärte fich bereit, die Arbeiten 
vornehmen zu lajjen. Er bat den Rat in Baſel, ihm zu er= 
lauben, daß er einen Kalk auf Basler Boden brennen dürfe. 
Die Bewilligung wurde ihm erteilt. Aber am 29. Auguit 
Iprad) der Rat dem Komtur fein Befremden aus, daß weder 
der Bau noch das Kalkbrennen begonnen worden fei. Er 
. mahnte, er jolle fih nun beeilen, daß das Haus nod vor 
Winter fertig gejtellt werde, damit der Pfarrer darin wohnen 


40 


könne. Im Frühjahr des folgenden Jahres war aber die 
Sade erit jo weit gediehen, „Daß alles gezimmer vnd gerüft 
zubereitet war“. Nun aber hatte es den Anjchein, als ob mit 
dem Bau Stillgeltanden werde. Der Rat mahnte fortzufahren, 
lonft würde er den Zehnten zurüdbehalten. Das wirkte. 
Der Bau wurde vollendet. Allein der Pfarrer blieb nicht 
mehr lange auf der Pfarrei. Wegen „fürgefalner ſachen der 
pfarrei jtillgeitellt“, aber auf Bitten der beiden Gemeinden 
reitituiert, erhielt eı am 16. Januar 1546 feinen Abichied. 
Der Komtur trat für Brombad) ein. Allein der Rat erflärte, 
der Bitte nicht entiprechen zu fönnen, „wir wollten dann die 
gemeine fildenn zum hochſten ergern, vnd andern glidher 
geitalt zu Handeln vrſach geben“. Längere Zeit verjah der 
Pfarrer Jerg (Joh. Study?) von Rotenfluh aud die Pfarrei 
von Buus-Maiſprach. Er war dazu von den Deputaten be- 
auftragt. Er bejuhte den Komtur und zeigte ihm an, „wie 
das die pfarr von Rotenfluh begere, das man ime etwaß 
von dem corpus zu Bus geben welle“. Der Komtur gab 
ihm zur Antwort, er begehre nicht, daß er vergebens jollte 
gedient haben. 

Dem Rate gegenüber Hatte ſich der Komtur bejchwert, 
daß man ihm die Belegung der Pfarrei nicht überlaſſe. Er 
befam zur Antwort, daß nad) dem Vertrag vom Jahre 1533 
der Rat an der Reihe jei, „diſe pfarren verner zuuerjehenn“. 
Die Deputaten Hätten in feinem Namen einen Diener des 
Worts dahin verordnet. Länger als gewöhnlid wurde Die 
Pfarrei Buus von Rotenfluh aus verjorgt. Das hatte feinen 
bejtimmten Grund. Das Kaplaneihaus in Siljah mußte 
reitauriert werden. Die Deputaten famen mit dem Pfarrer 
von Rotenfluh überein, daß, was nah jeiner Vikariats— 
entihädigung von der Bejoldung von Buus übrig bleibe, für 
das Kaplaneihaus in Siſſach verwendet werden follte. Der 
Komtur erhob aber nun in Bafel Anſpruch, daß ihm der 
„fürſchutz“ ausbezahlt werde; jchriftlih und durch Fridolin 
Brombadh oder durch deſſen Anwalt mündlih brachte er fein 


41 


Begehren den Deputaten vor. Dieje erklärten, in vollem 
Rechte geweſen zu fein, die Pfarrei zu befegen. „Sit dweyl 
doch mer gedachte pfrundt verſechen worden das dardurch nichgit 
verfaumpt fige“, baten fie, „jein Erwürden wolle vnnß ferer 
difer pfrundt wegen vnuerſuecht vnd rhuwig pliben lafjen“. 
Der Komtur wandte fi) jegt an den Rat, befam aber diejelbe 
Antwort, der Komtur „wolle auf folden fürſchutz nit figen“. 
Gebe er fih nicht zufrieden und wolle gerihtli vorgehen, 
fo müßte es der Rat eben geichehen laſſen. 

Unterdejlen Hatten die Deputaten „zu ſant Alpen“ die 
Rechnung getan. Kridolin Brombah war auf ihr Begehren 
an des Komturs Statt zur Rechnungsablage erjchienen. „Wie 
ſy in gethradtiert ouch waß ſy ime vier ein abihüt geben 
Habent“, berichtete Brombad) jelbjt in einem Schreiben, das 
leider verloren ilt. Der Komtur war empört über das Ber: 
halten der Deputaten. Dem einen, Balthajfar Han, der die 
Verhandlungen führte, warf er Wortbruch vor. Er hätte ihm, 
als der Pfarrhausbau in Buus angefangen war, zugejichert, 
daß alles, was eingehe, niemandem zufallen jolle als allein 
ihm als Bauherrn. Ob das weitere Vorgehen dem Verſprechen 
gemäß fei, möge der Rat ſelbſt ermeſſen. Mander Bieder- 
mann, der dabei gemwejen jei, Habe fih für Bajel ſchämen 
mülfen. Denn wenn jhon Han dem Rat die Erklärung ab- 
gebe, „das er das huß Syſſach darvß puwen welle, ich bin nicht 
zwüfflet, das es ye erhört worden, das ein ftadt zu Bajel in 
die Nott fommen ey, das man ire pfarrheifer vß des huß 
Beuden gut puwen mießen“. Der Rat ließ fih aus feiner 
Ruhe nicht Herausbringen. „Ob dem Comenthur etwas 
augfeit ſy an den buw mag man Jundher Heman von Offen: 
burg frogen, der weiß euch zujagen, das Comenthur zugſeit, 
nützit von allen gfellen zenemen, biß der buw gemadt und 
jederman bezallt ſy.“ Der Komtur muß fein ganz gutes Ge- 
willen gehabt haben, denn er teilt dem Rate nun nur nod 
mit, daß er auf fein Gejud, „das mir der billigfeit noch zu— 
Händig, dafjelbig heruß ze gebenn“, von den Deputaten ab— 


42 


Ichlägigen Beiheid erhalten Habe. Der Rat las die Geneigt- 
heit heraus, nachzugeben, und jhidte den Deputaten Han 
nad Beuggen. Friedrich von Homburg erflärte ſich tatjächlid) 
bereit, fi) gütlich zu vergleiden. Han hatte aber feine Voll- 
madt, etwas zuzufagen oder abzufchlagen. Er gab feinen 
Anſpruch auf und verlegte fih aufs Bitten, der Rat möchte 
Doch den ſchweren Kojten bedenfen, „jo ic) dajelbit zu Buß 
angewendt ond mir mit einer ziemlidhen bawſteuer für alle 
Anſprach zu Hilff fomen“. Die Höhe der Steuer überläßt er 
den Herten von Balel. Es war vergebens. Und doch hätte 
das Ordenshaus das Geld fo notwendig brauden können. 
Der Bau des Pfarrhaujes in Buus war zwar vollendet, 
aber die Koſten waren noch nicht bezahlt. Die Arbeiter 
drängten. Selbſt wenn er es nicht gewollt hätte, wurde der 
frühere Pfarrer von Buus, Matthäus Merk, der nad) einem 
Aufenthalt von fünf Sahren in Württemberg den Weg ins 
Bafelbiet zurüdgefunden und feine Aufgabe im benachbarten 
Gelterfinden gefunden Hatte, in die Sache Hineingezogen. 
Seine alten und neuen Pfarrfinder, denen der Komtur die 
Schulden nit bezahlte, wandten fih an ihn und er nahm 
fi ihrer an. Sein Patron beſchwerte ji über ihn in Baſel, 
fand aber fein Gehör. Anfangs Februar 1548 waren die 
Schulden noch nicht bezahlt. Merk trat wieder für feine Schuß- 
befohlenen ein. Der Rat jhidte den Deputaten Han nad) 
Beuggen. Nach feiner Nüdfehr wurde ein Bote zum Komtur 
gejandt, der Rat hoffe, es werde dem Komtur nicht mißfellig 
jein, daß Mattheus das Korn angreife und damit die Schulden 
bezahle. Wenn aber der Komtur das Korn behalten und ohne 
weitern Aufſchub die Schulden abtragen wolle, möge er es 
dem Ueberbringer anzeigen. Nun brad) der Tangverhaltene 
Unwille los. Er ſchrieb an den Rat: Herr Mattheus habe jih 
wiederholt in Baſel beſchwert, daß ihm die Schuldner nad) 
laufen, damit er fie bezahle. Er habe zu wiederholten Malen 
den Pfarrer aufgefordert, daß er Rechnung ablege. Er habe 
aber nichts getan und die Perſonen nit genannt. Er habe 


43 


ihn aufgefordert, nach Beuggen zu fommen; es jei nicht ge— 
ihehen. Zum NUeberfluß habe er dem neuen Pfarrer von 
Buus bei feinem Leibe verboten, wenn jemand Korn kaufen 
wolle, etwas zu geben. Wie aber fünne er die Schulden be= 
zahlen, wenn man ihm das Seine vorenthalte? 


Der Pfarrer Habe jo nah nad) Beuggen als nad) Balel. 
„Sol er mein muß und prott in feinem leipp haben, vnd fol 
mid) alfo mit vngrundt der warheit dargeben vnd ſich alſo 
gang vngehorſamlich gegen mic) vnbeſchulter wyß erzeigen, 
jo wil mir nit gelegen fein, ine ferer vff meiner pfarren zu 
getulden.“ Er folle jih bis auf fünftig Johannis um eine 
andere Pfrund umfehen. Es ftehe feinem treuen Diener zu, 
lo jeinen Herrn zu verſchreien. „Darzu jo lajt er mir mein 
pfarhuß infallen oder in füllen, wie ich bricht bin.“ Der Rat 
dachte nicht daran, den Pfarrer zu entlaſſen. Dagegen gab 
er ihm Gelegenheit, in Gegenwart der Deputaten die Red 
nung feines Einnehmens und Ausgebens, das Haus Buus 
belangend, zu geben. Allein dem Komtur war es beihwerlidh, 
fie anzunehmen. Er verlangte, daß Merk die unbezahlten 
Schulden jpezifiziere, jie jeien aufgenommen oder ander ver: 
dient Geld, „wieviel oder wem aud wie es verdient, wer 
die perjonen feien“. Der Komtur wolle dann mit den Leuten 
handeln. Allein auf diefe Weife wären ſchwerlich die armen 
Leute zu ihrer Sache gefommen. Die Schulden wurden daher 
aus den Einfünften des Ordenshaujes direkt regliert, wie 
aus der folgenden Aufſtellung erſichtlich ift: 

„Frücht, jo zu Normandingen, zu Buß onnd zu Gelter- 
hingen dem Commenthür zu Büden zugherend, doruß die 
dulden, jo über den buw zu Buß vffgeluffenn, bezallt jollen 
werden. 

Sn dinfel 1° ıxxxx iii viernzel ii viertel 

In haber ıx viernzel ii viertel 
Daruff Hand im die Deputaten vß dem kilchengut fürgefegt tut 
I xxvß.“ 


44 


Mer könnte es nicht verjtehen, wenn der Komtur am 
Buufer Pfarrer feinen Aerger auszulafjen ſuchte? Der Komtur 
war nämlich verpflichtet, dem Pfarrer von Buus vier Saum 
Mein zu geben. Nun gab der geijtliche Herr den Auftrag, 
daß der Pfarrer künftig feinen Wein „by der Maß“ einziehen 
jollte. Der Rat von Bafel, dem dieſes kleinliche Vorgehen 
berigtet wurde, hielt dem Komtur feine „Treuflucht“ vor 
und verlangte, daß er den Wein wie bisher Tiefere, da die 
neue Drdnung „ein mübjelig Ding und aud) dem Manne nicht 
geziemt“. Der Komtur mußte fi) fügen. Er gab überhaupt 
den Wideritand auf. Am 23. Januar bat er, nachdem er 5% 
abbezahlt hatte, no einmal um eine Beijteuer an die Bau- 
fojten des Pfarrhaufes, das ihm fo viel Mühe und Arbeit und 
Abgang feines Ordenshaufes gefojtet hätte. Der Nat erlieh 
„rei“ den Reit der Schuld. (9. Februar 1551.) 

Zange Zeit erfreuten fi) die Buufer Pfarrer des un: 
geitörten Genujjes ihres Einfommens. Es beitand in 48 
Viernzel Korn, 25 VBiernzel Haber, 4 Saum Wein, 16% 2 
2 5 in Geld, 150 Wellen Stroh, 4 Jucharten Ader, 6 Stüd 
Matten; zu Buus ein Haus und Hofitatt mit famt einer 
„Scheuren zu rindvieh, rollen ond ſchweinen zugerichtet“. Die 
Pfarrwechſel vollgogen ji ohne Anjtand. Erſt neunzig Sahre 
ſpäter traten neue Konflifte auf. 

Es war während des dreikigjährigen Krieges. Rhein: 
felden jtand im Mittelpunft der Friegerifchen Bewegungen. 
Auch die Umgebung war von den Kriegsleuten gefährdet. Der 
damalige Komtur Heinrich Schent von Caſtell eröffnete dem 
damaligen Pfarrer von Buus, Nilolaus Agricola, daß er 
ihm feine 4 Saum Wein wegen der Kriegszeiten nicht mehr 
von Magden liefern fönne, er folle fie von Buus, Gelterfinden, 
Hemmifen und Ormalingen erhalten. Agricola wollte ſich 
aber dazu nicht verjtehen, „weilen jolche wein etwaß geringer 
uls der Magdter“. Der Komtur betonte, daß er felbft den 
geringern Wein trinke, und Agricola mußte zunächſt nad 
geben. 


45 


Nach feinem Tode beflagte ſich der Sohn Friedrich, da- 
mals Pfarrer von Rotenfluh, beim Landvogt und verlangte 
eine Entſchädigung. Diejer verfügte, daß der Komtur „förder- 
lit auf jeden Saum Wein 18 Z Gelds zu bezahlen“ habe. 
Da aber der Komtur die Zahlung verweigerte, ließ Yriedrich 
Agricola auf die Zehntfrüdte Arreit Iegen. Außerdem aber 
ftellte er nod) eine Korderung von 38 3 für Baufolten. Der 
Komtur madte zwar geltend, daß der alte Agricola die 
Summe ohne fein Wiſſen verbaut habe, mußte aber gleichwohl 
die Forderung begleichen. 

Der neue Pfarrer, Philipp Cellarius, Hatte bei feinem 
Aufzug aud allerlei Wünfche. Aber der Komtur hatte feine 
Luſt, fie zu erfüllen. Die erſte Baurehnung fiel zum Er- 
Ihreden groß aus, fo daß der Pfarrer zu feiner Entjhuldigung 
die Bemerkung mitlaufen ließ, „Daß er feines Herren Bor: 
fahrers Haußgefindths Unachtſamkeit, Tiederlichfeit ondt faul- 
heit bei abgang viler nothwendigkheiten beym wenigiten fi 
nichts vermöge“. Am 29. Mai 1649 wandte ſich der Komtur 
flagend an den Rat in Bajel. Er Habe ſchon 165 7 verbaut 
und noch fei des Bauens fein Ende. Zudem verweigere der 
Pfarrer Cellarius aud den Wein, der ihm in Tenniten an- 
gewiejen ſei. Bei jo ſchweren Zeiten follte doch der Kollator 
bei Bauten mindeſtens angefragt werden. Er bat den Rat, 
den Arreit aufzuheben. Der Rat zog erſt Erfundigung ein, 
aus was für Urjachen der Dbervogt den Arreſt bewilligt habe. 
Als er fie erhalten Hatte, gab er den Deputaten Auftrag, 
Agricola, „weilen fie ohnedies mit ihm zu fchaffen haben, all- 
hero vifs förderlichſt“ zu bejcheiden und ihm ernitlich eines 
und das andere vorzuhalten und ihn aufzufordern, ſich mit 
dem Komtur zu vergleihen. Der Vergleich wird jchwerli 
zuguniten des Ordenshauſes ausgefallen fein. Denn die Des 
putaten ftanden auf Seite des Pfarrers. 

Ein Jahr fpäter jtarb Cellarius. Sofort wählte der 
Komtur Ulrich Thurneyfen nad) Buus und meldete dem Rat, 
daß er laut Vertrag vom Jahre 1535, nachdem der Rat den 


46 


Vorgänger gejegt Habe, den neuen Pfarrer gewählt Habe. 
Allein der Konvent der Pfarrer berichtete, daß jeit 1593 immer 
der Rat die Pfarrei Buus bejeßt habe, madte wie gewohnt 
einen Dreiervorihlag, in welchem Thurneyjfen übergangen 
war, und der Rat wählte aus den dreien Jakob Gernler. 

Sm Sabre 1665 follte der Chor der Kirche erweitert 
werden. Der Komtur hatte die Baupflidt. Er ſuchte fi 
aber zu entlajten, indem er an den Rat das Begehren ſtellte, 
daß das Holz vom Farnsberg ohne feine Koften geliefert 
werden möchte. Dagegen anerbot er fi, 2000 Ziegel von 
Beuggen unentgeltlich zu liefern. Der Bau ging diesmal 
ohne Anſtände von Itatten. 

Die größten Schwierigkeiten hatte Pfarrer Jakob Leucht. 
Als er im Jahre 1680 vom Komtur zum Pfarrer von Buus 
berufen wurde, war das Pfarrhaus fon fo fchlecht, daß es 
faum mehr zu bewohnen war. Ueber 50 Jahre lang war 
außer dem notwendigiten Flickwerk fait nichts gemacht worden. 
Bis zum Jahre 1691 wurden dem Pfarrer vom Schaffner des 
Drdenshaujes das für den Unterhalt ausgelegte Geld regel- 
mäßig zurüderitattet. Dann aber wollte fich der Komtur des 
Pfarrhauſes nit mehr annehmen, indem er fih auf einen 
alten Vergleich berief, den er gefunden Hatte. 

Bald nad) feinem Aufzuge in Buus verlangte Leucht vom 
Komtur, daß fein Pfarrhaus, das in trauriger Verfaſſung 
fei, in Stand gejtellt und die Kirche, welche für die drei Ge— 
meinden zu Elein fei, vergrößert werde. Der Rat war erjt 
nicht abgeneigt, zu entjprehen. Als es ihm aber ſchien, daß 
die Frage der Erweiterung der Kirche zu Buus in eine allzu 
große Weitläufigfeit gezogen werde, gab er dem Obervogt 
auf Farnsburg Befehl, fih nah Buus zu begeben, die Ge- 
Ihworenen und Beamten zu vernehmen, ob eine Erweiterung 
notwendig fei und, wenn ja, wie und wie Hoc ji) die Koſten 
belaufen würden. Der Rat ſah vorerjt von einem weiteren 
Borgehen ab. Allein der Komtur bradte nun ſelbſt die Ver- 


47 


Handlungen wieder in Fluß. Der Zufall wollte es nun, daß 
im Sahr 1692 in Winterfingen ein Pfarrer eingeführt worden 
war, ohne daß er dem Komtur präjentiert worden wäre, und 
der Pfarrer von Gelterfinden ziemlich viel baute. Das ver- 
anlaßte den Komtur, durch feinen Bevollmädtigten Dr. Fatet 
in Gegenwart des Schaffners im Frühjahr 1693 feine Be- 
ſchwerden mündlich dem Stadtichreiber Dr. Faeſch vorzutragen, 
dag in Winterlingen die alte Ordnung nicht objerviert worden 
fei, daß er in Gelterfinden innert zwei Jahren „bey oder 
vber 300 7°“ bezahlt habe, daß Bajel an die Koiten des Pfarr: 
hausbaues in Buus aud) beitragen follte, da man ſich mit 
dem einen Pfarrhaus in Buus behelfe, während früher zwei 
gewefen jeien, von denen Bafel das zu Maiſprach zu bauen 
gehabt hätte. Der Stadtjchreiber fühlte fih nicht veranlaßt, 
dieſe Fragen vor den Rat zu bringen, jo lange fie nicht eigent: 
lich aktuell waren. Es Jollte bald anders fommen. 

Leucht war es müde geworden, dem Komtur feine Be- 
gehren zu unterbreiten, da er doch nicht gehört wurde. Er 
wandte fih nun darum am 6. September 1693 unmittelbar 
an den Rat und bat um Erweiterung der Kirche und Re— 
paratur des Pfarrhaufes. Zur Begründung teilte er mit: 
am vergangenen Herbitfommunionstag jei es norgefommen, 
„dag abermahlen das junge Bold in währendem gebätt auß 
mangel plaßes einanderen Hin und her gejtoßen, mit hödjter 
ärgernuß die verfamblete Gemeind in ihrer Andacht zeritöret, 
Die auſſer der Kirchen ſich befindende mit ſchwätzen ihre Zeit 
zugebradt, ia wegen allzu engen Plabes die zum Tiſch des 
Herrn gehende fi mit gewalt haben durdtringen müllen“. 
Mit was für Frucht er zu Kalt: und Bettagen ermahnen 
Tann, da das halbe Volk der drei Gemeinden wegen Plab- 
mangel ausgeſchloſſen ijt, jei wohl zu ermeljen. 

„Das allhiefige Pfarrhauß betreffend,“ führte der Pfarrer 
weiter aus, „weil 9. Commenthur nun bald ein gantes Jahr 
nichts mehr reparieren lafjen, ift jo bawloß, daß es bald nicht 


48 


mehr zu bewohnen, und müljlen die meinigen, wo einiges 
Regenwetter einfalt, bald aller orthen daß eintringende 
Regenwaſſer in den Gemaden auffaljen, durch weldes unß 
an unjerem Haußrath ſchon Hin und wider auß Mangel der 
Materialien großer Schaden zugefügt worden“. Der Komtur 
fandte nun aber feine Klagepunfte ſchriftlich dem Rate ein. 
Bisher feien bei Bejegungen in den drei Gemeinden jeweilen 
Bräfentations: oder Refommandationsihreiben nad) Beuggen 
geihidt worden, wie aus den zwei Kopien, welde der 
Schaffner beigelegt Hatte, erjichtlich fei. Der Nat möchte es 
fünftig wieder jo halten. Der Pfarrer von Gelterfinden jollte 
angehalten werden, fünftighin nichts unnötiges zu bauen. 
Das Nötige bejorge die Kommende. Der Pfarrer von Buus 
wolle die Kirche erweitern und den Komtur zur Kontri- 
buierung der Koften heranziehen. Allein der Komtur fei als 
Kollator nur fhuldig, den Chor zu bauen, „an deme ganz 
fein Breiten jei“. Der Stadtichreiber Hatte ſofort dem 
Schaffner feine Meinung auseinandergejet. Es ſei ein 
großer Unterfchied zwiſchen Präſentations- und Rekomman— 
dationsſchreiben. Zu letztern fönne man fi ohne große Dif- 
Tifultät herbeilajien. „Waß aber die eritern betreffe, jo jeye 
bei den 9. Euangeliichen beider religionen ohnitreirig, dag 
Die iura sacrorum vnd beitellungen der pfarrpfrundten ohn- 
mittelbar dem Landesherrn zujtändig ſeye, es möchte gleich 
collator jeyn, wer da wolle.“ Man müſſe dem Pfarrer eine 
Behaufung Ihaffen, darin er wohnen fönne. Ueber den Ber: 
trag von 1535 habe er stante pede nicht antworten fünnen. 
Entweder fei er durch einen andern aufgehoben worden oder 
per non observantiam niemals „in feinen Kräften“ erwadjen. 

Am 31. Sanuar 1694 wurde die Beſchwerde im Rate ver- 
leſen, und der Stadtfchreiber Dr. Faeſch erhielt den Auftrag, 
mit den Herren Advofaten zu reden, was für eine Antwort auf 
die Begehren Beuggens gegeben werden jollte. Die Pfarrer 
follten angewieſen werden, ohne Vorwiſſen der Kollatoren 
nichts zu bauen. Wenn ihnen aber dann Schwierigkeiten ge- 


49 4 


macht würden, fei es wegen nötiger Reparation oder Abſtat⸗ 
tung der Kompetenzen, follten fie fi) bei den Deputaten Rats 
erholen. 

Am 11. April 1694 wurde im Rat das Gutadten der 
Suriften betreffend die Klagpunkte des Komturs verlefen. 
Am 17. April wurde dem Geftetär des Ordenshaujes die 
Antwort durch den Stadtichreiber eröffnet. Sie war ganz im 
Sinne der Auffalfung des Stadtichreibers gehalten. Das: 
ius praesentandi fei das Recht des Patrons, dem Biſchof oder 
der Obrigkeit einen taugliden Pfarrer vorzufhlagen, damit 
fie denfelbigen eraminieren und auf fein Leben inquirieren 
und zum Pfarrdienſt fonfirmieren möchten. Es fei alſo ab— 
jurd, wenn der Komtur meine, Bafel müßte präfentieren; 
denn nicht der Bilchof präjentiere dem Patron, fondern um: 
gefehrt der Patron dem Biſchof. „Die Evangelifden als 
Territorialherren haben fi) bis dato niemalen Subjefte für 
die Pfründen vorfchlagen laſſen.“ Zu refommandieren würden 
die Herren nicht unmillig fein. 

Der Bertrag vom Jahre 1535 fei niemals gehalten. 
worden, fünnte darum aud) per non usum vel per non obser- 
vantiam nit mehr gelten. 

Was nun den Bau des Pfarrhaufes und der Kirche be= 
treffe, jollte noch einmal jemand nah Buus gefhidt werden 
und Augenschein einnehmen. Aber den Pfarrer von Buus 
„in ſolcher prejthaften Hütte ferners zu laſſen, verbiete die 
jelbftredende billigfeit“. Laſſe ji) der Komtur nit zum Bau 
herbei, jo würde Bafel ihn an die Hand nehmen und aus: 
dem Zehnten bezahlen. 

Der Sekretär berichtete alles feinem Herrn. Bald dar= 
auf fand fi) der Schaffner von Beuggen mit dem Werfmeifter 
von Bafel in Buus ein, ohne fi) jedodh ins Pfarrhaus zu. 
begeben. Da aber nichts geſchah, und wie die Deputaten am 
10. Mai ſchrieben, „das Pfarrhaus immer in ſchlechteren 
Stand geräth, daß der Pfarrer bald feinen Schermen mehr 


50 


hat“, ließen die Deputaten, „um nicht den gänzliden Ruin 
und Einfall zu riskieren“, die Arbeiten verdingen. Dem 
Komtur wurde gejchrieben, er möge es fih nicht verdrießen 
laffen, die Koſten zu bezahlen. Die Arbeiten wurden be- 
gonnen. Allein als man auf dem Farnsberge das Holz fällen 
wollte, reflamierte der Obervogt, man [ollte das Holz auf 
dem Yarnsberge auf allen Notfall für das Schloß vorbehalten. 
Der Rat befahl, daß Obervogt, Pfarrer und Amtspfleger fi 
verftändigten und die Frohnung wirklich vorzunehmen, da- 
mit der Bau befördert werde. Bald madte man ih an die 
Arbeit. Die Zunzger Hard mußte das Holz Tiefern. 

Sn Beuggen begann der Sammer. Der Komtur erinnerte 
in einem Schreiben vom 16. Juni, in weld traulidem und 
freundnahbarlihem Verhältnis Bafel und die Kommende 
Beuggen geitanden hätten, und verjicherte, wie glücklich er ſich 
Ihäßen würde, wenn diefes Verhältnis fortgejegt würde, und 
daß er jeinerjeits dazu bereit ſei. Allein die Deputaten hätten 
dieſer Ablicht entgegengelebt, da fie entgegen dem Vertrage 
vom Sahre 1535, den er in Kopie beilegte, „in puncto repa- 
rationis des Pfarrhaufes zu Bus“ dem Vertrage jhnuritrads 
zuwider, gleihjam vormundihaftsweije auf feine Rechnung 
verdingt, ja jogar hätten verlauten lajjen, man werde feine 
Zehnten der Koften halben ſchon zu finden willen. Er könne 
nicht glauben, daß der Rat entgegen dem Vertrage einen fo 
barten Schluß faſſe. Er fei bereit, alles zu Teijten, was ihm 
immer mit raison zugemutet werden fönne. 

Der Rat gab den Deputaten von dem Schreiben Kenntnis. 
Die Deputaten zeigten ſich etwas gereizt. Der Komtur hätte 
ihnen Antwort geben fönnen, ftatt an den Rat zu jhreiben. 
Es war tatfählich [hwierig zu antworten. Der Vertrag von 
1535 ſprach für das Ordenshaus. Dieſen Eindrud Hatten 
auch die Deputaten. Es genügte alfo nicht, daß fie erflärten, 
fie ließen den Vertrag an feinem Drt, obwohl fie ihn bei den 
Alten nicht finden könnten. Denn entweder fei er durch einen 
Vertrag vom Jahre 1548 aufgehoben oder aber verjährt. Der 


51 4 


Komtur fei pflihtig, das Pfarrhaus zu bauen, das habe nie- 
mand anders gewußt. 

Der Bau war unterdeilen begonnen- worden. Als. der 
Pfarrer gefehen Hatte, daß Bajel ſich der Sache jo energiſch 
annahm, hoffte er noch ein weiteres zu erreihen. Das Pfarr: 
haus war aud zu klein, der Raum ſo beſchränkt, „aljo daR 
ih auß mangel der gemachen meinen wenigen Haußrath und 
Bibliothek die gante Zeit über meines allhiejigen Ministerii 
habe ermangeln und zu Bajel in einer großen Kammern, von 
welcher ih nun 14 Jahr lang iährlich eine Duplone Zink be- 
zahlen müſſen, lajjen müjjen“. Die Deputaten famen aud 
hier entgegen. Der Komtur erfuhr es, daß noch ein Stod 
auf das Pfarrhaus gebaut werden jolle.. Er glaubte es nicht, 
da ihm nicht eingehen könne, daß der Rat „auf ein jo ge- 
tinges Yundament einen jo großen und gank unproportio- 
nierten lajt auf meiner Commende Vnköſten ſetzen laſſen“ 
wolle. Er protejtierte am 25. Juni dagegen und erklärte, 
„nie Angelegenheit vor das dermalen in Mergentheim ver- 
fammelte Generalfapitel bringen“ zu lafjen. Der Rat fandte 
nun eine Kopie des Rechtsgutachtens ab, der Komtur ant- 
wortete noch einmal. Da jener zweite angebliche Vertrag 
von 1548 von den Deputaten nicht habe aufgefunden werden 
fönnen, fönne diefer den alten von 1535 aud) nicht aufheben. 
Der Streit gehe nicht um die Bejegung der Pfarrei. Diejer 
Punkt fei im Vertrag Har ausgeſprochen. Die Frage jei viel- 
mehr die, ob er allein die Unterhaltungsfojten zu tragen 
habe, und wenn ja, ob er auch jhuldig, das Pfarrhaus um 
einen Stod zu erhöhen. Er proteitiert dagegen, daß, wenn 
ein Unglüd gejchehe, er dann dafür auffommen müjle. 

Die Bauten gingen rültig vorwärts. Das Gteinwerf 
wurde Hinter dem Pfarrhaus gegraben. Am 29. Dezember 
1694 fchiefte der Pfarrer Leuht dem „Schwager Werfmeifter“ 
in Bafel die Rechnungen über den Pfarrhausbau, damit fie, 
wenn allenfalls im neuen Jahre eine Konferenz mit dem 
Komtur jtattfände, bei Handen wären. 


92 


Die Baufoften für die Kirche betrugen 5788 16$ AJY 
Die Ausgaben für den 
Pfarrhausbau beliefen fih auf 8388 198 —JI 


Scheurendachſtuhl 1532 14 6 
Alte Baukoſten des Pfarrhauſes von 
Leucht bar eingeſchoſſen 658 154 AL 


105823 6$ 10% 
Die Summe für den Pfarrhausbau wurde in den folgenden 
Sahren dem Komtur von den Früdten in Gelterfinden ab- 
gezogen. 

Dem Pfarrer war es in feinem erweiterten Haufe wohl. 
Als er dem Schwager Werfmeijter die Rechnungen einjandte, 
wünjdte er ihm ein neues Jahr „der guten Hoffnung ge: 
lebend, ihne neben guten Freunden bey annahendem Früh: 
fing alhier zu jehen und deß neuen Baws genießen helfen“. 

Sm Sabre 1768 wurden noch einmal vom Deputatenamt 
größere Arbeiten an Kirhe und Pfarrhaus in Verding ge— 
geben. Damals gab es feine Anjtände mehr. 


2. Gelterfinden. 


Die Kirhe von Gelterfinden mit dem zu ihr gehörenden 
Hofe war ſchon frühe an den Biſchof gefallen. Daher hatte 
die Kirche Maria zur Patronin. Wer fie dem Bilhof oder 
dem Domkapitel geſchenkt hat, ob die alten Homburger, deren 
Erben, die Froburger und Tierfteiner, je einen Hof in Gelter- 
finden bejaßen, oder etwa der Kaifer Heinrid, in deſſen 
Ehren die zu Gelterfinden gehörige Kapelle von Drmalingen 
geweiht war, willen wir nicht. Soviel aber iſt gewiß, daß 
im Sabre 1083 Biſchof Burdard dem neugejtifteten Klofter 
St. Alban aud Güter in Gelterfinden jhenfte. Den Hof tat 
der Biſchof den Grafen von Tieritein aus. Am 29. Suni 1330 
war er im Belige Walrafs von Tierjtein, der ihn von feinem 
veritorbenen Oheim Ludwig von Tierjtein, Schulmeijter zu 
Straßburg, geerbt Hatte. Ob durch Abtaufh oder Kauf oder 
Teilung zwijchen den beiden Tierjteiner Linien der Hof an 


93 


Sigmund II. von Tierſtein-Farnsburg gefommen ift, erfahren 
wir nidt. Aber Tatſache tft, daß die Yarnsburger Linie den 
Hof mit dem Kirchenſatz jpäter beſaß. Nad) dem Tode Gig: 
munds II. verfauften am 7. Januar 1399 feine Witwe Verena 
von Nidau und ihre Söhne Otto und Gimon den Hennen- 
bühlhof ſamt dem Kirhenjag von Gelterfinden und dem 
MWidum um 300 Gulden dem Deutjhhordenshauje in Beuggen. 
Am 1. Februar 1402 bezeugte der Komtur von Beuggen, 
Marquart von Baden, Otto von Tierjtein das Recht, den Hof 
mit 300 Gulden wieder zu löjen. Allein am 24. Januar 1411 
verzichtete der Tierjteiner auch auf diefes Recht um die Summe 
von 100 Gulden. 

Ueber 400 Jahre blieb der Kirchenjaß bei der Kommende 
Beuggen. 

Als die Reformation in Bafel durchgeführt wurde, war 
Hans Jakob Löw, ein Drdensbruder von Beuggen, Pfarrer 
in Gelterfinden. Nachdem im Fahre 1535 DOrmalingen zu 
Gelterfinden gejchlagen worden war, wurde das Einfommen 
neu geregelt, wie ein damaliger Bericht zeigt. 

„Was dem priefter daſelbſt vonn Herren Comenthur zu 
Büdhein järlids für fin alte nutzung oder corpus bikhar ge- 
volgt hat. (?N): 

Stem xx viernzel dindel 

Stem u jom win onnd den winzehenden 

Stem ıx 8 vom heumwzehenden, davon gibt er jerlichs 
u 8 gen Büdhein und ı 8 v 4 dem pfarrherrn zu Rin- 
felden. 

Stem u viernzel von der firden, daran ift etwas ab- 
gelöft, wie ich bericht, das vbrig nemen die firchenpfleger. 

Volget was her Tacoben Löw als einem ordensglied von 
eim huß Büdhein bis vff ein witern biheid mins herren 
Zanntcommenthur worden vnnd gegeben ft 

Stem xx v viernzel dindel 

Stem x viernzel haber 

Stem u ſom win. 


54 


Me volget ime von Normalingen, jo Durch die herren von 
Bafel von noüwem gejpopft vnnd geordnet: 

Item xiu viernzel dindel 

Item vıı viernzel haber.“ 

Zum Schluß wird nod) bemerkt, daß dem Prieſter der 
Garten genommen werden foll. 

Obſchon im Jahre 1534 in Gelterfinden an der Kirche 
allerlei verbaut wurde, ging es doch damals ohne Streit ab. 
Auch der erite Pfarrwechſel vollzog fih glatt. Jakob Löw 
war „ein geihidter Anatomikus“; wegen einer bejondern Be— 
gebenheit mit einem Bettler wurde er von den katholiſchen 
Kantonen verflagt. Im Jahre 1539 verließ er Gelterfinden, 
fand 1541 in NRiehen wieder ein Amt, bis er im Jahre 1546 
dem geiltlihen Stande den Nüden kehrte und vollends der 
Heilkunde fi) zuwandte. In Gelterfinden war vom Rate in 
Baſel „mit Vorwiſſen und Bewilligen“ des Ordensfomturs, 
Matthäus Merk, auch Kenzler genannt, der bis 1535 Pfarrer 
von Buus gewejen war und feitdem in feinem fchwäbilchen 
Heimatlande jih aufgehalten Hatte, zum Pfarrer gewählt 
worden. Im Blid auf den erniten Konflikt, in welchen Merf 
wegen Buus mit dem Komtur geraten war, iſt es merkwürdig, 
Daß während der vierzig Jahre, die er in Gelterfinden ver- 
lebte, fein Anftand fi) mehr erhob. 

Merk itarb im Sommer 1583. Der Rat wählte zu feinem 
Nachfolger einen der tüchtigjten Pfarrer, Johannes Tryff. 
Der Komtur erhob Einſprache gegen diefen Eingriff in feine 
Rechte. Bei der Zehntenverleihung beitellte er den Ober— 
vogt nad) Gelterfinden und redete vor dem Eſſen mit ihm. 
Wie er vernommen habe, hätten die Herren von Bajel anitatt 
des verjtorbenen Pfarrherrn einen andern verordnet und be- 
ftätigt, während doch er die Kollatur befiße, und der Pfarrer 
nidts als Holz und Waller von Bajel erhalte. Der Ober: 
»ogt berichtete über die Unterredung nad) Bafel, und der Rat 
ſchrieb am 13. Zuli an den Ordenstomtur Hartman von 
Hallwil: er habe vernommen, daß er wegen Belegung der 


90 


Pfarrei „etwas inred zu haben“ vermeine. Er Habe wie 
früher die Pfarrei durch feine Verordnieten bejegen laſſen. 
Der Komtur möge fchriftlid berichten, ob und was er für 
„Anſprach und Geredtigfeit des Drts zu haben“ vermeine, 
Damit er fi) „der gebur nad) deſto bas“ verhalten fünne. 

Der Komtur gab in aller Ruhe Antwort und ſprach die 
Hoffnung aus, Bafel werde dem Drden in feinen Redten 
feinen Eintrag tun. Der Rat fandte feinen Abgeordneten 
nad Beuggen. Der Komtur legte die Urfunden vor, die bis 
auf zweihundert Jahre zurüdgingen. Der Ratsbote fonnte 
nichts einwenden, er mußte das Recht des Drdenshaujes an— 
erfennen. Aber der Erwählte des Rates blieb Pfarrer. 

Die nächſte Pfarrwahl vollzog ſich glatt. An Stelle Tryffs, 
der 1587 nad St. Leonhard in Bajel berufen worden war, 
wurde Konrad Lüßelmann gewählt. Am 27. Suli 1593 
brannte das Pfarrhaus mit vier Firiten bis auf den Boden 
nieder. Am 6. Auguſt madte der Rat von dem Unglüd Mit- 
teilung an den Komtur und mußte den Pfarrer zugleich gegen 
die Verdädhtigung in Schuß nehmen, als ob er der Urheber 
des Brandes geweſen jei. Er ſprach zugleich die Vermutung 
aus, daß böſe Buben daran jehuld feien und forderte den 
Komtur auf, das Pfarrhaus jobald wie möglich wieder zu 
bauen. Der Komtur war damals gerade in Ordensgefhäften 
abmwejend. Nad feiner Rüdfehr verfügte er fi) nach Gelter- 
finden. Die Klagen der Gemeinde, die ohnehin gegen ihren 
Pfarrer erbittert war, fanden geneigtes Gehör. Denn der 
Komtur antwortete nach Bajel: Ob das euer durch böje 
Knaben oder aber „von liederlicher verwahrlojung deß Pfarr: 
herrn oder jeines Gelindes“ aufgegangen fei, werde ſich ſpäter 
zeigen. 

Der Rat hatte bereits eine genaue Unterfuhung geführt 
und die Unfchuld des angeflagten Pfarrers feitgeitellt. 

Der Komtur mußte fih dazu verjtehen, das Pfarrhaus 
wieder zu bauen. Er fam Mitte September nad) Gelter= 
finden und traf mit dem Zimmermann die Vereinbarung, 


56 


daß der Neubau auf den Frühling begonnen werde. Da der 
MWeg von Beuggen zu weit fei, bat er den Rat um 40 Stück 
Holz. Baſel entſprach der Bitte und bedankte fih für das 
tajhe Entgegenfommen. Der Vogt auf Zarnsburg erhielt 
den Auftrag, Anweijung zu geben, wo das nötige Holz ge— 
fällt werden follte. Der Neubau wurde ohne weitere Hinder- 
niſſe durchgeführt. 

Allein Lüzelmann war in Gelterfinden unmöglid ge= 
worden. Der Rat Hoffte erit, der Unwille der Gemeinde 
gegen ihn werde ſich wieder legen. Allein der Pfarrer jah 
jelbjt ein, daß feines Bleibens in der Gemeinde nicht mehr 
jet und meldete fih beim Komtur für die eben erledigte 
Pfarrei in Buus. Der Rat gab am 2. Sanuar 1594 feine 
Beltätigung. 

Nach Gelterfinden berief er nad) dem Vorſchlage des An— 
tiltes Grynäus, entgegen dem Wunſche der Gemeinde, die 
um den bisherigen Verweſer gebeten Hatte, Martin Pfirter 
von Zangenbrud. 

Der Komtur jhlug aber Bernhard von Reinach vor, 
der lange auf der Pfarrei feines Betters von Hallmil in 
Gitterdorf gewejen war. Der Rat gab aber zur Antwort, 
er hätte, bevor er das Schreiben erhalten Habe, bereits einen 
Nachfolger gewählt, und fünne, da er bereits das Wort ge= 
geben habe, ehrenhalber nicht mehr zurüdgehen. Dagegen 
verjprad) er, jobald eine Pfarrei frei fei, Bernhard von Rei- 
nad) anzunehmen. Wohl ſprach der Komtur dem Rate jein 
Befremden aus, daß er den Pfarrer gewählt habe, während 
doch Beuggen die Kollatur zujtehe. Denn als vor zehn Jahren 
Bajel feine Boten nad) Beuggen gejandt habe, habe er ihnen 
durch die alten Schriften fein Recht bewiefen. Der Rat aber 
blieb bei feinem Beſchluſſe und erflärte, er wolle dem Ordens- 
hauje an feiner Kollatur feinen Eintrag tun, aber er wolle 
ih auch feine Prediger aufdrängen laſſen, die ihm nicht an- 
genehm jeien. | 

Martin Pfirter zog in das neue Pfarrhaus ein. Da die 


57 


Hofitatt famt dem Garten, auf der das alte Pfarrhaus ge- 
Standen war, „od und wüſt“ Tag, zogen fie einige Gelterfinder 
an ih. Zwar hatte Pfirter vom Komtur den Auftrag er: 
halten, die Hofitatt wieder einzuhagen und zu nußen, und 
der Rat Ihüßte den Pfarrer in feinem Rechte. Im folgenden 
Sahre mußte der Komtur dem Pfarrer auch nod) eine Scheune 
bauen. Er erhielt das Holz aus den Waldungen Baljels, 
erzeigte ji aber dem Rate dadurch erfenntlid, daß er dem 
Rate bei jeinem Hof Hagenbadh einen Kohlenhaufen, der 
ungefähr neun oder zehn Wagen voll geben werde, brennen 
zu laſſen verſprach, ja, jobald er weggeführt fei, noch einen 
anjteden zu lajjen und in das Werkhaus nach Baſel zu liefern. 

Saft Hundert Jahre lang war nun Ruhe. Am 26. April 
1692 aber bejchwerte ji der damalige Pfarrer Wild beim 
Rat in Bajel, „dag das Pfarrhaus fait ohne Dad, Die 
Schütten ohne Bley ond Scheiben, die Thüren ohne Schlöſſer, 
das Bauhhaus ohne Baudhöfen, das Haus ohne ©. v. Sekret, 
der Keller vor dem Hauß draußen vnd hiemit faſt alles 
Sedermanns Raub ift exponiert geweſen, alß ich ſolches be- 
sogen habe, wie den auch nit nur meinen Herren Vorfahren 
v. m. der Spedh auß dem Salt, fonndern auch ſchon mir in 
jo furger Zeit Käß vnd Ankhen, Brodt vnd Wein auß dem 
Keller nähtliher Weil in zimlider Quantität ift entwendet 
worden“. Der Pfarrer hatte das Geld für die nötige Repa— 
ratur ausgegeben, der Komtur aber wollte es nicht zurüd- 
eritatten, mußte jedod, als der Rat ſich der Sache annahm, 
nachgeben. 

Noch einmal machte das Ordenshaus feine alten Rechte 
geltend. Am 7. Mai 1777 war der Feldprediger im Regiment 
des franzöſiſchen Oberſten d'Aulbonne, Johann Jakob Fäſch, 
zum Pfarrer von Gelterkinden gewählt worden. Am 2. De: 
sember Hatte er dem Komtur das Präſentationsſchreiben des 
Rates überreidt. Da ſchrieb der Komtur am 11. Januar 
nad) Bafel, daß er in den Dokumenten und Berträgen mit 
Bajel gefunden habe, daB die Kollatur der Pfarre Gelter- 


8 


finden der Kommende ausihlieglid, jene von Buus „um: 
wechslungsweije“ mit Baſel zuflomme. Der Rat lieh die Frage 
jorgfältig unterfuden. Der Antiltes Merian, der Pfarrer 
von Buus und der Vikar von Gelterfinden, von dem Wunſche 
geleitet, in feiner Abhängigkeit von Beuggen zu jtehen, über- 
fahen den wahren Tatbeitand, während der Ratsihhreiber 
Brudner auf die entjcheidenden Urfunden Hinwies. Gleich— 
wohl durfte der Rat am 7. März die Hoffnung ausipreden, 
„man werde von Geiten der Kommenda Beuggen nichts neues 
begehren, fondern es bei der alten Hebung bewenden Iajjen“. 
Beuggen mußte in der Tat feine Anſprüche fallen laſſen und 
nahm fie, als im Jahre 1793 Konrad Holzah Pfarrer in 
Gelterfinden wurde, nicht wieder auf. Als die Pfarrei 1826 
wieder frei wurde, war das Patronatsrecht bereits von Bajel 
abgelöit. 


3. Winterfingen. 


Die Kirhe von Winterjingen gehörte ohne Zweifel ur- 
Iprünglich zum föniglichen Hofe, der noch im Jahre 1360 als 
Freihof Lehen Kaifer Karls IV. war. Das Patronatsrecht 
löſte fih aber ab und wurde auf einen Hof in Maiſprach ge- 
legt. Am 8. Mai 1196 war der Kirhenfag im Beſitz des 
Stiftes St. Leonhard in Bafel, an weldhem Tage ihm Papſt 
Göleftin III. den Beſitz bejtätigte. Allein jpäter erhob Kon: 
rad von Oeſchgen Anſpruch auf das Patronatsreht. Der 
Prozeß wurde am 25. Oktober 1234 zu feinen Gunjten ent- 
Ihieden. In der Folge wußte der Bilhof von Bafel das 
Patronatsrecht an ſich zu bringen, tat es aber Sigmund von 
Zierjtein als Zehen aus. Diejer aber ſchenkte mit Zuftim- 
mung des Bilhofs Gerhard am 6. Juli 1313 „den Kirdhen- 
jag zu Winterjingen, der zu einem Hof in Meyſprach gehört, 
den er von der Kirche zu Bafel zu Lehen — dem Deutſch⸗ 
ordenshauſe in Beuggen. 

Der Komtur Lienhard von Stetten traf mit dem Prieſter 
Rudolf Knobloch, als dieſer die Leutprieſterei von Winter⸗ 


59 


fingen erhielt, am Donnerstag vor Michaelis 1466 folgendes 
Abfommen: | 

„So nimbt Herr Rudolf alles, was zu Winterfingen 
vellet, daß dem Hauß Beudhen zuegehört, von der Kilch 
Minterfingen, vnd davon foll er aud dem Hauß Beudhen 
jährlichen geben dry vierenzel Dindhel auf Martini.“ 

Er Hat „auch das Hauß vnnd Scheur, jo zu der Pfrund 
gehört in Paw vnnd in guten ehren zuehalten ohne eines 
Commenthurs onnd des Haufes Beudhen Koſten onnd Schaden.“ 

Am Mittwoch) nad) Johannis des Täufers 1515 verfauften 
Anna von Falkenſtein, Aebtiſſin des Klofters Olsberg, und 
die Frauen und Herren des Kapitels St. Fridolin in Sädingen 
Martin Nägelin, dem Kirchherrn zu Winterlingen, „vnjeres 
bruderhofes zehenden, den wir zu Winterjingen gehabt, ge- 
nannt bruderzehndten“ um 100 rh. Gulden. Am 27. April 
1521 aber ſchenkte Nägelin diefen Zehnten dem Ordenshauſe 
Beuggen, behielt ſich jedod) die Nußnießung fein Leben lang 
und der Kirche Winterfingen das Recht vor, nad) feinem Tode 
ihn um 104 Gulden wieder an ih zu faufen. 

Nägelin muß bald darauf geitorben fein. Sein Nad)- 
folger wurde Her Michel. Anfangs Januar 1529 verließ er 
Winterſingen, da die Gemeinde entihieden zur Reformation 
neigte. Nun jtellte ſich Jakob Schlamp (Eslampanus), bis 
dahin Prieſter in Oberwil, aber evangelijh gejinnt, der Ge- 
meinde durch Predigten vor und gefiel ihr jo, daß fie ihn zu 
behalten wünjdte. Der Rat von Bajel empfahl ihn am 
28. Sanuar dem Komtur von Beuggen, da ihm das Recht zu— 
Itehe, die Pfarrei zu bejegen. Allein der Komtur jeßte einen 
andern nad Winterlingen. Am 15. Februar wandte fi) der 
Rat abermals nad) Beuggen. Er wäre wohl geneigt, den 
Pfarrer zu dulden, „aber die gemeind vnd burjame dojelbit 
will in gar feins wegs aldo nit liden oder haben. Solt er 
nun vber iren willen vnd mit gwalt by innen verharren, 
modt zu letit im ettwas von innen begegnen, das im zu 
ſchwer wurde vnd ons ſeinet halben leyd were. Dar zu haben 


60 


ir jelb woll zu gedenden, wy Jich leyder allerley dyjer Zeit 
zutreit, ond man den gemeinden vmb vermydung böjers vyl 
(das etwan nit beichehen) nachlaſſen mus“. Wenn eine andere 
Gemeinde frei werde, fei der Rat gerne bereit, fie dem Ber: 
trauensmann der Kommende zu leihen. Jakob Schlamp blieb 
in Winterjingen. Er verpflichtete fi, die Kirche von Winter: 
fingen „mit göttlicher leer ond gotsdieniten zu verjehen, den 
onderthanen vnd kirchgehörigen dajelbs das recht vnd war 
gotswort vß newem vnd altem Tejtament aud) anderen dhrijt- 
lihen jerübenten“ nad beitem Berftändnis und Vermögen 
anzuzeigen. Das ilt nod die Sprade des Reformations- 
mandates vom Jahre 1523. Er hat bis an drei Vierngel 
Dinkel alle Einnahmen zu genießen, dagegen Haus und Geſeß 
in Ehren zu halten ohne Schaden des Komturs. 

Beim Tode follten alle verlajjene Habe und liegenden 
Güter an Beuggen, als feinen rechten und nächſten Erben 
zurüdfallen. Die legte Beltimmung wurde fpäter geitrichen, 
nahdem am 1. April die Reformation durchgeführt worden 
war. Denn |päter verfügt der Komtur wieder jelbit über die 
Gefälle und Hatte darum aud wieder die Baupflidt. 

Bei Anlaß der Kirdhenrehnung im Frühjahr 1549 Hatte 
Pfarrer Schlamp den Deputaten eröffnet, daß das Pfarrhaus 
„dermaſſen jo gar vnerbuwen vnd in abgang fommen ſye, das 
er noch ein winther darinn zu enthalten, nit wußte”. Der 
Rat erfuhte den Komtur, als der die Zehnten Habe, das 
Pfarrhaus in Stand zu jtellen. Infolgedeffen wurde im Jahre 
1552 zwijhen dem Komtur und dem Pfarrer ein Vertrag ge: 
ſchloſſen, wonach dem Pfarrer der Bruderzehnten für drei 
Sahre zugejagt wurde, der Pfarrer aber während jehs Jahren 
für die Baufojten aufzuflommen Hatte. Schon 1555 wurde 
aber der Vertrag dahin abgeändert, daß der Pfarrer für den 
genannten Zehnten während der nächſten drei Jahre je fieben 
Pfund an den Komtur zu zahlen Hatte. Dabei blieb es 
längere Zeit. Denn im Jahre 1575 erhielt der Komtur nod) 
diefe fieben Pfund. Der Pfarrer Hatte damals aber auch den 


61 


übrigen Zehnten, der Beuggen gehörte, zu nußen, gegen eine 
Abgabe von 3 VBiernzel an das Ordenshaus. Dafür aber 
hatte er Behaufung und Chor in Ehren zu halten. Das war 
feine glüdlihe Abmadhung. Sie mußte zu Streit führen. 

Sm Sahre 1592 gab Thomas Schorndorf feine Stellung 
in Winterfingen auf. Der Rat wählte Heinrih Ott zum 
Nachfolger, der 1589 Prediger auf Yarnsburg und gemeiner 
Helfer in der Landichaft geworden war. Der Komtur wollte 
nun aber von feinem Rechte, den Pfarrer vorzuſchlagen, Ge⸗— 
brauch maden, und präjentierte dem Rate Bernhard von 
Reinach, Pfarrer in Sitterdorf. Bafel gab aber feine Zu- 
ſtimmung nit, da der Vorgeſchlagene etwas gegen den Rat 
verunglimpft habe. Der Komtur madte einen neuen Vor— 
ſchlag. Er empfahl Antonius Wei von Kilchberg. Allein 
der Rat wollte auch von ihm nichts willen. Heinrich Ott 
hatte, als er in den Dienft der Basler Kirche trat, einen 
Revers unterjchrieben, daß er von ganzem Herzen das Dogma 
von der Ubiquität des Fleiſches Chrijti, der leiblihen Gegen: 
wart in, mit und unter dem Brot beim Tiſche des Herrn ver- 
urteile. Er gehörte zu jenem gut reformierten theologiſchen 
Nachwuchs, den Grynäus nahrüden ließ und dur den er 
„Die Wiedergeburt der Basler Kirche“ herbeiführte. Der 
Rat wollte ſich alfo feine Pläne vom fatholiihen Patron nit 
durchkreuzen laſſen. 

Schorndorf hatte das Einkommen lieber für ſich als das 
Pfarrhaus verwendet. Der Nachfolger traf es darum in 
einem traurigen Zuſtande an. Der Komtur aber wollte 
nichts leiſten, ſondern wies den Pfarrer und die Deputaten 
an den Sohn Schorndorfs. Dieſer aber beſtritt, daß er etwas 
ſchuldig ſei. So geſchah die erſten Jahre nichts. Im Dezember 
1597 beklagten ſich die Deputaten beim Rat, daß das Pfarr⸗ 
haus zu Winterfingen, „in welchem allbereit ein trem. füle 
halben hernieder gejunfhen, ganz prefthaft vnd jo bawlos“ 
lei, daß der Einfturz des Haufes zu befürchten und darum das 
Leben der Inſaßen gefährdet fei. Der Rat jandte Andreas- 


62 


Ryff zum Komtur mit der Bitte, ihn gütlic) anzuhören. Der 
Komtur lehnte die Baupfliht ab und forderte den Rat auf, 
ih an den Sohn Schorendorf zu halten. Der Rat madte 
einen Verſuch, aber der Mann wollte nicht ſchuldig fein, 
etwas zu leiften. Am 25. Januar 1598 wurde der Komtur 
neuerdings aufgefordert, das Pfarrhaus zu bauen. Diejer 
wandte ji nun aber an den Landfomtur und erhielt zu 
Handen des Rates die Antwort, der Pfarrer von Winter: 
fingen jolle das Pfrundhaus „nad befter feiner Gelegenheit 
jetbit in feinen Eojten“ verbefjern. Die Angelegenheit mußte 
jegt forgfältig behandelt werden. Am 13. März wurde die 
Sache Dr. Samuel Grynäus zu bevenfen übergeben. Der 
rechtsverſtändige Mann mußte dem Komtur im Grunde recht 
geben, wenn er die Baupflicht ablehnte. Wenn der Komtur 
den Zehnten einnehmen würde, dann müßte er auch bezahlen. 
„Diweill aber der Pfarrherr den Zehnden vnd daz dem an— 
bangt, alleinig innimmt“, und der Komtur nidts davon zum 
Beiten habe, könne er eigentlich aud nicht zur Bezahlung an= 
gehalten werden. Es fünnte darum dem Komtur nur nahe 
gelegt werden: obwohl er in Winterlingen dur geringe Ein= 
nahmen habe, jo Habe er um fo größere in der Herrihaft 
Farnsburg, daß er den Bau wohl übernehmen könnte. Am 
beiten fei es, durch Mittelperfonen zu verhandeln und den 
Pfarrer zu veranlafien, einen Teil der Zehnten fallen zu 
lajien. Der Rat mahte beim Komtur nod) einen Verſuch, 
erreichte jedoch nichts. Denn der Komtur wandte ih nun 
noch einmal an den Landkomtur im Elfaß. Diefer lehnte in 
einem Schreiben an den Rat vom 3. Suni 1598 die Baupfliht 
ab, ja er drohte, falls der Rat auf feiner Forderung beharren 
wollte, fi) an jeine Majejtät den Kaifer zu wenden. Der Rat 
lenkte ein. Ryff verhandelte nun mit dem Pfarrer und bradte 
ihn dazu, daß er ſich bereit erklärte, jährlich neun Stüd fallen 
zu laſſen, daraus er das Pfarrhaus felbjt bauen wolle. Der 
Rat war nicht abgeneigt, das Anerbieten anzunehmen. Allein 
nun trug Hans Schorendorf fein Haus als Pfarrhaus an. 


63 


Die Deputaten bejichtigten es, allein der Pfarrer ſelbſt wollte 
nichts davon willen und jegte feine Meinung dem Rate per- 
fönlih auseinander. Er anerbot fih nun, das Pfarrhaus 
nah Notdurft zu bauen, „Doc da ihm der Zehnden ganz vnd 
vngeſchmälert gelajjen werde“. Der Rat ließ es bei diejem 
Anerbieten bewenden. Er ließ das Pfarrhaus von Grund 
auf neu erbauen und lieferte auf die Bitte des Pfarrers das 
nötige Holz für den Bau. Was vom alten Hauje gebraudt 
werden fonnte, fand wieder Verwendung. Allein die Spar: 
famfeit war zu groß, wie ſich |päter zeigen Jollte. 

Heinri Ott, der bis zu feinem Tode im Jahre 1629 in 
MWinterlingen blieb, Hatte nun mehr oder weniger Ruhe. 
Auch unter Huldreich Meyer, der am 18. November vom Rate 
tefommandiert wurde, fam es zu feinen Gtreitigfeiten. Um 
jo mehr aber unter feinem Nacdjfolger, Johann Jakob Straßer. 
Daß er der Bruder des Stadtichreibers von Bafel war, hat 
dazu auch etwas beigetragen. 

Pfarrer Straßer hatte gehofft, feine Stellung zu ver: 
bejjern. Allein er erlebte glei) zu Anfang eine große Ent: 
täulhung. Er erfuhr, daß nit der ganze Zehnten dem 
Pfarrer zuftändig fei und daß das Land wegen der vielen 
Waſſergüſſe nicht mehr fo ertragreid) fei, „daß über 100 Ju— 
harten ganz nit mehr fünnen erbamwet werden“, und vieles 
faum mehr den dritten oder halben Teil abmwerfe. Das Pfarr: 
haus war in einem traurigen Zujtande, „war weder von 
feuer noch waſſer ſicher, inmaßen das wajjer vom berg durchs 
fundament folder geitalten ins hauß gedrungen, daß Die 
küchen und wen man nicht bei zeiten fo tag jo nacht fchöpft 
und wehrte, aud die jtuben davon hette mögen erfüllet 
werden.“ Zudem waren „der ölterid), bünen, böden wänd 
und anderes holtwerf zu grojjem teil faul mürb und brüdig 
und fonderlih das vom alten haus zum newen anfangs ilt 
genomen worden ...“ Die Scheune von Holz war nur mit 
Stroh bededt und mußte neu gebaut werden... „Summa 
mar in allem zugehörigen gebewen ein elendes wejen.“ 


64 


Wenn aljo der Pfarrer daran dachte, zu bauen, fo war 
es „fein Zujtbaute jondern ein Notbaute“. Er klagte erit 
feine Not den Deputaten. Sie wiejen ihn an den Kollator. 
Straßer reilte zum Komtur, der fi) Damals in Mellingen 
aufhielt und erhielt die Bewilligung zum Bau, aud) den Auf: 
trag, das Baumaterial herbeizufhaffen. Allein der Komtur 
wurde nun von einem alten Ordensdiener, dem Schaffner in 
Rheinfelden, darauf aufmerkſam gemadt, daß er nidts am 
Pfarrhaus zu Winterlingen zu bauen jhuldig jei, „Ds daher, 
weilen der zehnden dafelbit von einem Drdensprieiter da: 
felbit erfauft worden fei“ und darum der Bau des Pfarr: 
hauſes dem Pfarrverwejer zur Laſt falle. Der Sekretär des 
Komturs beeilte fi), mitzuteilen, daß fein Herr nichts be- 
zahlen werde und daß der Pfarrer mit dem Kauf des Bau: 
holzes jtillitehen ſolle. Straßer Flagte wieder bei den Depu— 
taten, richtete aber nichts aus; er wandte fih nun an den 
Dberitzunftmeifter Brand. Diefer gab ihm die beruhigende 
Verfiherung, wenn der Komtur verjprodhen habe, zu bauen, 
müfje er jein Verjpreden aud) Halten. Straßer fünne das 
Geld, das er in Händen Habe, vorläufig ans Pfarrhaus ver- 
wenden. Straßer befolgte den Rat, mußte aber eine Obli- 
gation unterjchreiben und fie 1657 wieder erneuern. Der 
Bau wurde gleichwohl ausgeführt und der Pfarrer mußte 
die Kojten bezahlen. 

Sm Fahre 1651 war der Chor reparaturbedürftig.. Vom 
Pfarrer und den Deputaten wurde nad) dem „gemeiner Land— 
haft Capitel Protofoll“ behauptet, daß der Komtur die 
Behaufung und das Chor in der Kirche in ziemlihem Bau 
und Ehren erhalten müſſe. Allein der Komtur weigerte ſich, 
nachdem der Bau vollendet war, die Koſten zurüdzueritatten. 
Der Pfarrer Hatte nun aber ſchon feit zwei Jahren die drei 
Biernzel Korn und fieben Pfund, welde er dem Ordenshaufe 
‚abzuliefern Hatte, nit mehr erjtattet. Als er nun wieder 
bei feiner Weigerung verharrte, jhrieb der Komtur erft an 
Theodor Burdhardt und eine halbe Woche jpäter an die Der 


65 5 


putaten. Den erftern ließ er willen, Straßer fei von den 
Deputaten angewiefen worden, folange nichts zu geben, bis 
der Komtur fih zur Erhaltung des Chores verjtehe, und er- 
innerte daran, daB vor fünfzig Jahren von Pfarrer Ott ein 
ähnliches Begehren geitellt worden fei, allein der Pfarrer 
habe das Pfarrhaus jelbjt bezahlen müſſen. Den Deputaten 
aber erflärte er, daß die drei Viernzel Korn und fieben Pfund: 
nichts anderes als eine NRefognitionsgebühr für die Kollatur 
jeien und daß die Herren vernünftigerweife einjehen müßten, 
daß er um ein fo geringes folde Koften wie die des Chors 
nicht übernehmen fönnen, während der Pfarrer den ganzen. 
zehnten habe. Der Pfarrer jandte nun aber den Deputaten. 
ein Verzeichnis der Baufojten, die er feit feinem Aufzug in 
Winterlingen bis zum Jahre 1653 „zu erbauung und ver= 
befjerung“ des Pfarrhaujes erlitten Habe. Gie beliefen fi) 
auf 571 Z 10 4. Der Pfarrer aber meinte, wenn ihm nit 
die Auslagen erjtattet würden, wäre er „der arbeitjeligite 
Pfarrer zu jtadt und land vor andern, denen alles, warn fie 
nur ein ziegel ftoßen, ein jcheiben einfeßen oder ein baum 
fügen lajjen, ja das minſte maden laſſen, wider erfeßet und 
das geringite bezahlt wird“. 

Die Deputaten fahen fih nicht veranlaßt, den Pfarrer 
zur Herausgabe der zurüdbehaltenen Zinfen aufzufordern, 
oder aud) nur nad) Beuggen zu antworten. Der Komtur 
wiederholte darum am 20. Dezember feine Bitte, daß Straßer 
die 9 Viernzel und 21 Pfund abliefere. Dasfelbe geihah am 
23. September 1655 und 7. Dezember 1656. Die Sache wurde 
aber auch dem Pfarrer läſtig. Er madte daher am 15. No= 
vember 1657 den Vorſchlag, wie die Streitigkeiten zu Tiqui= 
dieren feien, nämlich dadurd, daß dem Komtur die beweis- 
lihen Urfunden zugeſchickt würden, damit er fie widerlege oder 
gutheiße. Allein es ging vorerſt nichts in der Sache. Am 2. 
Februar 1659 hatte der Rat feinem Schreiber wenigitens den 
Auftrag gegeben, die Rechnungen des Schaffners von Beuggen 
fih anzufehen und der Streitigkeiten fih anzunehmen. Die 


66 


Stage fam in Fluß, und Pfarrer Straßer fand wenigitens 
Gelegenheit, nachdem er feit zwanzig Jahren unter diejen 
verdrieklichen Streitigfeiten gelitten Hatte, und obwohl „er 
der gebühr nach an rechten orten geklagt“, nicht an ein Ziel 
gefommen war, dem Bürgermeijter Tohann Rudolf Wett: 
ſtein „aus dem fundament“ zu berichten. 

Er erzählte von feiner Enttäufchung, die er in Winter: 
fingen erlebt hatte, berichtete, wie er nur ein Stüd Vieh habe 
halten fönnen, fo daß er fein Erbe angreifen mußte, um 
Land zu kaufen, und wie jeßt das Pfarrhaus neu gebaut 
werden jollte, weil die Gefahr beitehe, daß der Dachſtuhl ein- 
falle. Wenn er jet nod) diefen Notbau zum andern bezahlen 
jollte, wüßte er nicht, woher er das Geld nehmen follte. Er 
babe fajt fein Geld einzuziehen. Die Frucht fei ſchwer zu ver: 
faufen. An Löhnen für Träger, Fuhrleute und Dreier 
gingen von den 70 Biernzel 10 Biernzel ab. Er habe eine 
große Haushaltung, fünne feine Söhne nicht bei ich haben, 
müſſe fie vielmehr an andern Orten mit jchweren Koften 
halten. Keinem Pfarrer jei es jehlechter ergangen; wenn er 
die beim Salzamte obligierte Schuld zahlen müjje, jo gerate 
er mit Weib und Kind in die größte Armut. Während 
zwanzig Sahren habe er fi oft an die Deputaten gewandt, 
mande gute Woche mit Kopieren von Urkunden verbraudt, 
mit vielem Supplizieren und Gollizitieren es verſucht und 
doch nichts erreiht. Darum erſuchte er nun den Bürger: 
meijter, dafür zu forgen, daß die ausjtehenden Pfarrgüter 
der Pfarr wieder zugejtellt würden, was gegenwärtig mit 
den Zehnten nit richtig fei, in Ordnung käme und vor⸗ 
nehmlich daß vermöge uralter Dokumente der Komtur zum 
Bau des Pfarrhaufes und des Chores angehalten werde und 
ihm, was ausiteht, erjtattet werde. Längere Zeit ging in der 
Sache nihts. Die Deputaten waren der Anficht, daß reifliche 
Ueberlegung nötig fei. Man entihloß fih zu einer Kon 
ferenz. Gie fand anfangs Februar ftatt. Der Romtur lehnte 
die Pflicht, Pfarrhaus und Chor zu bauen, ab. Infolgedeſſen 


67 6* 


wurde Straßer aufgefordert, feinen Wechſel einzulöjen. Der 
Pfarrer bat den Stadtihreiber und die Deputaten, man 
möchte ihn doch dazu nicht zwingen. Die Deputaten verjudten 
es noch einmal beim Landfomtur im Elfaß, eine Einigung 
herbeizuführen. Allein über die gegenjeitige Verſicherung, 
daß man den langen Streit beendigt wünfche, famen die Ber: 
handlungen nit hinaus. 

Das Salzamt madte aber jebt feine Yorderung geltend. 
GStraßer wurde aufgefordert, das Kapital von 215 Z jowie 
Die aufgelaufenen Zinfen zu bezahlen. Wieder jchrieb er an 
Die Deputaten und den Stadtſchreiber, wie die Schuld mit 
Gewalt von ihm eingefordert werde, „von den 356 Z, Io 
mir zugehören, höre ich nicht ein einiges Wort“. Der arme 
Mann! Geit zwei Jahren war er „mit jchwerem leib- 
geprälten“ behaftet. Er follte eine Kur maden und dazu 
eine weite NReije unternehmen. Go bat er die Deputaten um 
Geld, damit er feine Gejundheit wieder erlange. 

Mie die Deputaten geantwortet haben, ijt nicht mehr zu 
erfahren. Ein Jahr fpäter ſtarb Straßer. Der Komtur madte 
bei den Erben die 33 Viernzel und 70 7 die im Laufe der 
zehn Sahre aufgelaufen waren, geltend, Tieß ji) jedoch her— 
bei, aus jonderem Reſpekt zum Rate und „aud) pflantung 
vndt erhaltung Triedliebender nachparſchaft willen vndt gan 
feiner jeyuldigfeit“ die Schuld gänzlich aus Gnaden zu erlajjen. 

Die Deputaten waren aber des Gtreites müde. Die 
Kommende Beuggen konnte zum Bau des Pfarrhaufes nit 
verpflichtet werden. Sie ſchlugen darum dem Rate vor, das 
Deputatenamt möge in Zufunft die Baupflidt des Pfarr- 
haufes übernehmen, dagegen follte jedes Jahr vom Zehnten 
ein Teil zurüdbehalten werden. Wenn etwas namhaftes am 
Chor zu bejjern fei, follte der Komtur von den Deputaten be: 
langt werden dürfen. Der Rat gab am 27. April 1661 feine 
Zuftimmung und feßte einen Zehntel als Quote fejt, weldhe 
der Pfarrer an das Deputatenamt zu leilten hatte. Das war 
ein Glüd für den neuen Pfarrer. 


65 


Denn Ihon im folgenden Jahre gab das Pfarrhaus zu 
Auseinanderjegungen Anlaß. Der Pfarrer wünjhte nämlid 
eine Vergrößerung durch Erhöhung. Der Werkmeiſter von 
Bafel riet aber nad) genauerem Zufehen davon ab, in diefen 
alten Steinhaufen mehr Geld zu fteden, empfahl vielmehr 
einen Neubau. Auch die Scheune follte neu gebaut werden. 
Die Deputaten gaben ihre Zuftimmung, der Bau wurde durch— 
geführt und fojtete 1200 Gulden. Seitdem beftritt das De- 
putatenamt aud) die Unterhaltskoiten. 

Nur noch in einem Punkte fam es zwiſchen der Kom: 
mende und den Deputaten zu Konflikten. Im Sahre 1676 
mußte die Kirche vergrößert werden. Der Chor verihwand. 
Der Umbau Eoftete 3209 Z 5 ß 4 d. Gemäh dem Beſchluß 
vom 27. April 1661 wurden 200 Gulden — 250 Z dem Komtur 
auferlegt. Die Deputaten hatten nämlich ausgerechnet, daß 
der Chor 750 Z gefojtet Habe. Da aber das Deputatenamt 
9 Biernzel, der Komtur aber drei Viernzel beziehe, jo Jollte 
er an die Summe 250 % letiten. 

Am 24. Juli 1680, vier Jahre nad) dem Bau, beichwerte 
ih der Komtur gegen dieſe „neuerliche“ Auflage. Als zwei 
Sahre jpäter ein neuer Komtur, Friedrih von Baden, Die 
Zeitung des Ordenshaufes übernahm, ging er mit dem Rat 
einen Vergleich ein. Am 15./25. September 1682 erklärte er 
fich bereit, 130 Gulden zu bezahlen. Am 18. Mai des Tolgen- 
den Jahres löſte er fein Verſprechen ein. 

Unter Samuel Grynäus mußten an der Kirche an dem 
Drt, „wo das Chor gewefen“, einige Reparaturen vor 
genommen werden. Der Pfarrer fonnte, da „eigentlid fein 
Chor“ mehr in der Kirche war, den Komtur mit Not dazu 
bringen, daß er die halben Koften bezahlte. Als aber im 
Sahre 1765 an Pfarrhaus und Kirche allerlei gebaut und ein 
Voranſchlag von 300 7° vorgelegt wurde, da überließ der Rat 
es den Deputaten in Zuftimmung zu ihrem Bedenken, die Re: 
paraturen vorzunehmen. 


69 


Zu einem weitern Streite ijt es in der Folge nicht mehr 


gefommen. 
* * 
% . 


Baſel hatte ſchon früher Anftrengungen gemacht, die Kol: 
Iatur der Gemeinden Buus, Gelterfinden und Winterlingen 
in feinen Befi zu bringen. Aber alle früheren Anläufe 
waren erfolglos verlaufen. Erjt nachdem Beuggen durd die 
Beitimmungen des Prekburger Friedens vom 26. Dezember 
1805 aufgehoben und als Staatspomäne erflärt worden war, 
fam nah langen Verhandlungen mit Baden am 21. April 
1821 ein Vergleich über die Zehnten und Bodenzinsgefälle 
zultande, welche Beuggen und Säckingen in der Landidhaft 
hatten. Man einigte fih auf eine Summe von Fr. 13 325, 
welche Bajel an Baden zu bezahlen hatte. Durch dieſen Los— 
fauf wurde Bajel „in das Eigentum des vollen Rosfaufs- 
Kapitals aller Zehndengefälle nebit Interejjen, welche die 
ehemalige Kommende Beuggen in den bafeliihen Gemeinden 
Buus, Gelterfinden, Tednau, Ormalingen, Hemmifen und 
Winterfingen zu beziehen hatte, förmlich eingefebt, jowie hin— 
gegen Bafel von nun an alle auf dieſen Zehndengefällen ruhen- 
den Lajten“ übernahm. Der Vertrag wurde am 8. Juni 1821 
von Baden und am 2. Juli 1821 von Bajel ratifiziert. 


%* * 
* 


Als die Landſchaft ſich von der Stadt trennte, fand ſie, 
was die Kollatur der Pfarreien betraf, reinen Tiſch vor. 
Denn ſämtliche Pfarreien wurden vom Rate beſetzt. Es be— 
durfte nur eines Federſtriches, um die Beſetzung der Pfarreien 
in die Hand der Gemeinden zu legen. Am 21. September 
1832 wurde im Namen des ſouveränen Volkes vom Landrat 
beſchloſſen, daß die „Gemeinde ihren Seelſorger durch ge— 
heimes Stimmenmehr zu wählen hat“, eine Beſtimmung, 
welche durch das Geſetz über die definitive Beſetzung der 
Pfarrſtellen vom 6. Dezember 1832 ihre Beſtätigung erhielt. 


70 





Kin Basler Stammbud 
des 17. Jahrhunderts. 
Don Paul Meyer. 


Der Braud, Stammbüder zu führen, anfänglid) eine 
Liebhaberei adeliger Kreije, gewinnt mit der Zeit von den 
Fürſtenhöfen aus Durch die Gelehrten Eingang in den Reihen 
der Akademiker und hernach aud in patriziſchen und an- 
gejehenen bürgerlihen Kreijen, und es findet in ihnen die 
Kenntnis der antiken Literatur, bejonders der Philojophie 
und Poeſie, ihren Niederſchlag. Später bemädtigt fi) dieſes 
Brauchs vornehmlich die jtudierende Jugend, um zäh daran 
Teitzubalten. Man nimmt alsdann das Stammbud) mit auf 
Reifen und auf fremde Univerjitäten, nachdem ji) vorher die 
alademilden Lehrer ſowie VBerwandtihaft und Freundichaft 
darin verewigt haben, man jtellt an die Spite die Ahnen: 
galerie als wertvolle Legitimation in der Fremde, wo es 
ebenfalls den Namen der Profeſſoren und andermweitiger No— 
tabilitäten offen ſteht. Als wertvoller Zierat dienen die 
manderlei häufig von Berufsmalern eingetragenen Wappen. 

Diefem allgemein üblichen Brauch folgend übergab am 
1. Mai 1603 Jonathan Meyer zum Hirzen, jeit 1581 
mit Anna $roben, der Tochter des Buhdruders A m: 
brojfius Froben und der Salome Rüedin, in 
zweiter Ehe feit 1589 mit Elijabeth Helwedin ver: 
heiratet, in feinem 46. Lebensjahr feinem dreizehnjährigen 
Sohn Jakob ein Album oder Stammbud, weldes zunädjlt 
das Andenken an die um Staat und Wiſſenſchaft verdienten 


71 


Vorfahren und alle diejenigen bedeutenden Zeitgenojjen in 
Ehren Halten follte, mit denen ihn fein fünftiger Lebensweg 
allenfalls in Berührung bringen würde. Die Bekanntſchaft 
mit den rühmliden Leiltungen feiner Ahnen ſollte den 
Stammbudinhaber anjpornen, es jenen wenn immer möglidy 
gleichzutun. Es wird der Süngling dem Gegen des Aller- 
höchſten anbefohlen, und es haben denn nun zwei Jahr— 
hunderte lang, von 1603 bis 1803, Fürſten und Mdelige, 
Männer von Anjehen nah Stand oder Willenihaft den 
jeweiligen Inhabern des Stammbuds in allerhand der Bibel, 
den Kirhenvätern, den Schriftitellern des Altertums, ans 
gejehenen zeitgenöjliihen Autoren oder aud der Weisheit 
von der Gaſſe entnommenen Sprüden und GSentenzen ihre 
Zuneigung und Freundſchaft, ihre Hochſchätzung und Aner- 
fennung in deutſcher, lateinijcher, griechiſcher, hebräiſcher und 
ſyriſcher, ferner italienifcher, franzöjiiher und englifcher 
Sprade ausgeſprochen. Dffenbar haben die vielen Namen 
von zum Teil jehr gutem Klang dem jeweiligen Inhaber des 
Stammbuds auf Jeinen Reifen und Aufenthalten im Aus— 
land die wertvolliten Dienjte geleijtet, ihm mande Türe in 
erwünjchter Weije geöffnet und ihm beijer gedient als der 
beſte Reifepaß. 

Nach der Sitte der Zeit benüßte Tonathan Meyer ein 
angejehenes Buch jener Zeit und durchſchoß es mit weißem 
Papier (daher der Name Album) zum Zwed der Ein- 
fragungen.!) Das Bud, deſſen er ſich bediente, find die 1580 
in Genf erjhienenen „Scones“ von Calvins Nachfolger 
Theodor Beza, eine mit Borträts und Emblemen ausgeitattete 
Sammlung von lateiniihen Biographien hervorragender, 
meijt um die Reformation hochverdienter Männer geiltlihen 
und weltliden Standes. Bevor das Stammbud) in andere 
Hände fam, wurde es mit einer Art FYamiliengenealogie 


1) Vgl. Alb. Burdhardt über das Stammbud) des $. 3. Grynaeus 
im Jahresbericht des Vereins für das Hiftor. Mufeum für das 
Jahr 1897. 


72 


verjehen, in welder die Stellung der einzelnen Yamilien- 
glieder zur Reformation nachdrücklich betont war. Alle 
übrigen Eintragungen find ganz willfürli im Buch herum 
zerftreut. Leider Hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahr— 
hunderts ein Buchbinder beim Neueinbinden das Stammbud) 
derart beichnitten, daß Häufig Name, Datum und Ort der 
Eintragung zum Teil unlejerlih wurden und zum Teil 
gänzlich verfchwanden. 

Unjer Stammbud) beginnt mit einem Pentagon, defjen 
Spiten von dem Sprud aus dem Brief an den Timotheus 
„Gottſeligkeit ijt zu allen Dingen nüße“ in griechiſcher Sprache 
umgeben Jind; die in den fünf Dreieden und im Fünfeck ent- 
haltene Schrift iſt zum Teil verblihen und nicht mehr zu ent— 
ziffern. Wenn dem jungen Jakob Meyer vom Vater und 
andern Berwandten die Ahnengalerie recht deutlich vor Augen 
gehalten wurde, jo geihah dies, abgejehen von einer Dolis 
Ahnenjtolz, die wohl mit unterlief, in der Hauptſache gewiß 
in der Erwägung, daß eine angejehene Ahnenreihe dem her— 
anwachſenden Geſchlecht auch moraliſche Verpflichtungen auf- 
erlege, denen nachzukommen Chrenjade des Nachwuchſes fein 
müſſe. Zur nähern Orientierung mag ein furzer Rüdblid 
auf Sonathan Meyers Ascendenz dienen. 

Der um die Körderung der Reformation verdiente 
Bürgermeijlter Jakob Meyer zum Hirzen (1470—1541) 
hinterließ einen Sohn, den Ratsherrn und Deputaten Joh. 
Rudolf Meyer (f 1565); deſſen Sohn aus der Che mit 
Agnes Billing war Jakob Meyer (1524—1604), 
Pfarrer zu St. Wlban; diejfer Hatte als Schüler zu den Füßen 
der Reformatoren Oswald Myfonius und Simon Grynaeus 
in Bafel, des Capito, Bucer und Hedio in Straßburg und: 
des Melandthon in Wittenberg gefejlen. 1955 trat er in 
Predvigtamt und Chjtand. Anderthalb Jahre amtierte er 
in Arlesheim, hernad) im marfgräfifchen Britberg bei Sulz— 
burg, alsdann in Muttenz und feit 1564 zu St. Alban in 
Bajel. Nahe Verwandtihaft verband ihn noch ganz be- 


73 


Tonders mit den Neformatoren; denn feine Gattin Agnes 
Capito war die Tohter des Straßburger Neformators 
Wolfgang Fabricius Capito aus der Che mit 
MWibranda von Rofjenblatt (1504-1564), die in 
erfter Ehe mit Magijter Ludwig Keller aus Bajel, in 
zweiter feit 1528 mit Defolampad, in dritter mit Ca— 
pito und endlid mit dem Reformator Bucer vermählt 
war. Die Söhne von Pfarrer Jakob Meyer zu St. Alban 
find Sonathan Meyer (1557—1633), der Stifter unjeres 
Stammbuds; Wolfgang Meyer (1577-1653), Dr. theol. 
und Profeſſor der Dogmatik und ebenfalls Pfarrer zu St. Al—⸗ 
dan, befannt durch fein unerjchrodenes Auftreten als Dele- 
gierter des Basler Rats an der Synode zu Dordredht 1618, 
und Jakob Meyer; diefe Brüder find mithin mütter- 
licherjeits Enfel des Reformators Capito. Ihre verwandt- 
Ihaftliden Beziehungen zur Familie Bucer gereichten ihnen 
injofern zum Vorteil, daß jie einen von König Eduard VI. 
zu Ehren des Reformators Bucer, der nad) jeiner Ver: 
treibung aus Straßburg eine Theologieprofejlur in Cam: 
bridge erhalten Hatte, ebendajelbjt am Collegium Gt. Trini- 
tatis gejtifteten Yreiplag beanjpruden durften. In der 
Tat hat Wolfgang Meyer 1597—1601 in Cambridge jtudiert 
und iſt als Lizentiat der Theologie von dort heimgefehrt, 
und es hat Jonathan Meyers Sohn Jakob fpäter den Weg 
ebendahin auch gefunden. Jonathan Meyer jcheint in 
jungen Jahren in der Welt herumgefommen zu fein. Durd) 
feine erjte Gattin Anna wurde er der Todtermann des 
Buhdruders Ambrofius Srobenius, eines Entels 
des großen Sohannes Frobenius; Ambrofius betrieb mit 
feinem Bruder Yurelius Erasmus %robenius 
das Buchdrudergewerbe; fie gaben u. a. den Talmud heraus. 
Höchſt wahrſcheinlich war Jonathan Meyer in der Froben— 
ſchen Offizin tätig, was aus ſeiner Grabinſchrift bei Tonjola 
hervorgeht und wofür auch der Umſtand ſpricht, daß ein Bud)- 
druder „Janus, ein welſcher Truder, jo by inen zu Eſchemer 


74 


vorstatt damalen“ war, feiner Tochter Salome zu Gevatter 
ſtand. Durch feine zweite Frau, Eliſabeth Helwedin, trat 
Sonathan Meyer neuerdings in Beziehungen zu Buchdrucker— 
familien, nämlid in folde mit Mihael Sfengrin aus 
Brudjal und mit Thomas Guarinus aus Tournay, 
die beide in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in her— 
vorragender Weile an der Blüte der Basler Budhdruder- 
funft Anteil Hatten. Uber jpäter löſte Sonathan Meyer 
feine Verbindung mit dem Drudereigewerbe, die ihm immer: 
hin zu wertvollen perjönlichen Beziehungen mit Gelehrten : 
nah und fern mag verholfen haben. Yortan begegnet er uns 
als Klingentalfhaffner; auch ſcheint er der Grabinſchrift zu— 
folge jih mit Witwen: und Waifenangelegenheiten befaßt 
und dabei öfter den Dank diefer Welt geerntet zu haben. 
Mir wenden uns nun zur Hauptperjon des Stammbudjs, 
zu Sonathans Sohn Jakob Meyer (1590—1622), über 
dellen Leben wir leider, die fpärliden Notizen des Stamm- 
buchs abgerechnet, nur dürftigen Beſcheid willen. Bereits 
wurde erwähnt, dak dem Dreizehnjährigen der Bater das 
Album zu fleikigem Gebraud) ftiftete. Schiden wir voraus, daß 
Jakob, nahdem er in Bajel und auswärts Theologie ſtudiert 
hatte, Gemeinhelfer wurde, dann nochmals auf Neijen ging, 
nachher Pfarrer in Großhüningen und 1618 zu St. Elijabethen 
in Baſel wurde und als folcher erft 32jährig jtarb mit Hinter: 
laſſung eines Sohnes Jakob aus feiner Ehe mit Urjula 
Rüdin. Diefer Jakob wurde ſpäter Pfarrer zu St. Beter. 
Jakob muß, den Eintragungen im Stammbud zufolge, ein 
begabter, jtrebjamer und Tiebenswürdiger und nicht zuletzt 
auch, getreu dem Borbilde des Vaters ein jehr gajtfreund- 
licher junger Mann geweſen fein, was in jener |hwülen Zeit 
der Gegenreformation und des feine Schatten porauswerfen- 
den dreißigjährigen Kriegs, welde die Protejtanten aller 
Länder zu engern Zuſammenſchluß trieb, für den Einzelnen 
von größtem Wert fein und auch eine gewiſſe Garantie für 
die Sicherheit des Reiſens bilden mußte. Empfehlungen von 


3 





Staatsmännern und afademifhen Lehrern, von Studien- 
freunden und Kollegen haben dem jugendlichen Reiſenden 
gewiß mande Freundihaft vermittelt. Im allgemeinen iſt 
Jakob gewiß nur dem Braude feiner Zeit gefolgt, wenn er 
auf Reifen ging, und der Trieb, fi) in der Welt umgujehen, 
den geiltigen Horizont zu erweitern, und nicht zuletzt das 
Snterefje am Schickſal der Glaubensgenojjen in Deutjchland, 
Holland, England und Frankreich wird feine Schritte geleitet 
haben; ob er dabei etwa aud aus höherm Auftrag irgend- 
welhe Miflionen übernahm, vermögen wir nicht zu beant- 
worten, doch wäre es nicht undenkbar. 

Verſuchen wir nun, ein annähernd anjhaulides Bild 
vom Inhalt des Stammbuds zu gewinnen. Gelbjtveritändlich 
find die Berjonalia ſehr vieler darin genannter Leute nicht 
mehr jeltzuitellen, jo daß fie für uns verihollene Größen 
bleiben. Den Reigen der Dedifanten eröffnet am 31. März 
1603 in bezeichnender Weile ein Hugenott, Eſa ye du Maß 
de Montmartin, der fpäter in feinem Baterland die 
Würde eines «depute general des églises protestantes> be- 
fleidete. Er verdankt manderlei im Haufe Jonathan Meyers 
genoſſene Gaſtfreundſchaft, anerkennt das viele in Bajel 
empfangene Gute und freut ji, im Stammbud) hievon Zeug— 
nis ablegen zu dürfen, bevor er der gaftlihen Rheinſtadt den 
Rüden fehrt. Diefem Dank ſchließt fih Bruder Gedeon 
de Montmartin unter Berufung auf die von Horaz 
(Carm. III. 2.) gepriejene «virtus» (Virtus recludens in- 
meritis mori caelum negata tentat iter via?) etc.) an zum 
heiligen Gedenfen einer Heiligen Freundſchaft; er jehreibt: 
«Viro nobilitate familiae, rerum experientia, eruditionis va- 
rietate ac acerrimi denique judicii prudentia, d®°. Jonathae 
Meyero, haec in sacrum sacri amoris amicitiaeque aeternum 
conservandae monumentum, ponebam Basileae.»3) Die Be- 

2) Mannhafter Sinn läht Würdige nicht dem Tod, 

Gen Himmel führt er fie die verbotne Bahn. 


3) Dem Manne von vornehmer Abkunft, Kenntnis der Dinge, 
Vielfeitigfeit des Wiſſens, Klugheit und Scharflinn des Urteils, 


76 


ziehungen zu diefen beiden Hugenotten haben wohl fpäter, 
1609, dem 19jährigen Jakob Meyer Zutritt zu den Hugenot- 
tifhen Kreifen Frankreichs verfhafft, wonon fpäter. Eben: 
falls 1603, im Juni, wendet fih an den jungen Jakob unter 
ſchmeichelhaften Verbeugungen vor feiner Ahnenreihe der mit 
Sonathan Meyer befreundete Andreas Knuthius Ve- 
lalius aus Belgien. Er nennt ihn Schüler und empfiehlt 
ihm, das geijtige Erbe jeiner Väter treu zu pflegen. Und nun 
folgen fi die Dedifationen in rafcher Reihenfolge. Unterm 
8. Suli 1603 figuriert, von Züri) aus datiert, als Widmung 
ein nicht ungelhidt folorierter Kupferitich, das Porträt von 
Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, und auf der andern 
Geite das Iorbeerumrahmte Bullingerihe Wappen, welches ich, 
jo verlichert fein Enkel Heinrih Bullinger, Pfarrer 
und Profeſſor in Zürich, «adpingi curavi in gratiam summae 
spei adolescentis Jacobi Meyeri»,*) offenbar nad) der land— 
läufigen Sitte durch einen der damals zahlreichen Berufs: 
wappenmaler. Aus eben der Zeit (Suli 1603) jtammt das 
vom Profeſſor der hebräiihen Sprade in Zürid, Kaſpar 
Waſer, gejtiftete Wappen feines Schwiegervaters Joſias 
Gimler (1576), das nun neben Simlers Porträt in Bezas 
„Icones“ gereiht wurde. Endlich folgt no vom November 
1603 von der Hand des Ihon genannten, damals nahezu 
achtzigjährigen Großvaters, Pfarrer Satob Meyers zu 
St. Alban, Enfels der Wibranda NRojenblatt, Schülers und 
Zodtermanns von Capito, eine großväterlich treue und liebe- 
volle Anſprache: 

«In sui recordationem 
Tui aedificationem 


j us avus octogenarius ppe 
Nposuit J acob⸗ 
* o nepoti tredenario. 280) 


Herrn Jonathan Meyer ſchrieb ich dies in Baſel als heiliges Denk— 
mal heiliger Liebe und auf ewig dauernder Freundſchaft. 
| 4) Habe malen lafjen für den jungen zu höchſter Hoffnung be- 
rechtigenden Jakob Meyer. nt 
5) Zu feinem en > ‚Ihrieb / der nahezu ahtzigjährige 
Deiner Erbauung dies Jakobd Bei breigeßnjährigen. 
nte 


17 


Vom 12. Suni 1604 ftammt eine hübſche Wappendedt- 
fation: „Dem zühtigen und gelehrten Jüngling Jacob Meyern 
dem jüngern, feinem lieben Bettern, verehrt dißes, feinen 
dorby zuegedenden“ Seb. Spörlin (1560—1644). Das 
lorbeerumfränzte Wappen Spörlin:Hagenbad iſt von vier 
weitern Wappen flankiert, nämlich denjenigen der Yamilien 
Krug, Stofar, Brand und Birr (?). Jakobs Lehrer 
Beatus Helius (1552—1620), Pfarrer, Profejjor und 
jeit 1590 Gymnaſiarcha in Bajel, weit den Schüler an Hand 
des Kirdhenvaters Lactantius auf den Weg des Guten: 
«Hanc admonitionem de dupliei via vitae humanae ego, prae- 
ceptor tuus Joann. Beatus Helius, amandissime Jacobe, ideo 
adscribere volui, ut subinde, relictis vitiis, ad virtutem ad- 
spirares, spretisque terrenis, ad caelestia contenderes.>®) 

Der nächſte Eintrag begegnet uns erft vier Jahre fpäter, 
1608, und fommt ſamt beigefügtem Wappen von Joh. 
Safob Grajfjer, <sacri palatii et consistorii imperialis 
comes, eques auratus, civis romanus>?) und iſt von Bafel 
datiert. Im Herbſt 1608 erlangte Jakob Meyer den Ma- 
giftergrad; «publicum in Academia patria 'testimonium Ma- 
gisterii obtinuisti ... .»8) bemerft in feiner Widmung fein 
Lehrer Amandus Polanus a PBolansdorf am 
15. Dftober 1608, der überhaupt auf den jungen Theologen 
einen bejtimmenden Einfluß ausgeübt zu Haben fcheint. Po— 
lanus, in frühern Jahren als Hauslehrer von Göhnen aus 
adeligen Familien in Genf, Bajel und Heidelberg tätig, 
neigte als Theologe jtark zu calviniftifhen Meinungen; er 
unterhielt lebhafte Beziehungen zu den Proteftanten Eng- 

6) Diefe Ermahnung über die zweierlei Wege des Menſchen⸗ 
‚lebens, wollte id, dein Lehrer Joh. Beatus Helius, dir, mein lieber 
Jakob, deshalb Hinjchreiben, damit du fortan das Böſe meiden und 
nad) dem Guten ftreben, das Irdiſche veradhten und das Himmlijche 
aufſuchen möchteſt. | 

?) Kaiſerlicher Pfalggraf, gefrönter Ritter, Bürger des rö⸗ 
; milden Reichs (deutjcher Nation). 

8) du Haft an der heimiſchen Univerfität das öffentliche Zeugnis 
der Magiiterwürde erhalten. 


78 








lands und dürfte daher Meyers Entſchlüſſe zu den Reifen in 
die Hugenottifchen Kreife Frankreichs, nach Zondon und nad. 
Cambridge in den Jahren 1608—1612 jtarf beeinflußt haben. 

Anfangs November taudt Jakob Meyer zum eritenmal. 
in Baris auf, und am 5. November trägt fih Sir George 
Carew, der von 1605—1609 daſelbſt engliſcher Gelandter 
war, mit folgenden Worten ein: «miles, serenissimi Britan- 
niae Regis legatus Residuus apud Henricum quartum Galliae 
Regem.»?) Zwei Tage jpäter folgt mit dem Motto: «Adhuc 
mea messis in herba est»10) Nathbanael Taylor, Sere- 
nissimi Regis Britanniae Legati apud Henricum Quartum 
Galliae regem verbi Dei minister.»1!) Hier aljo unzwei- 
deutige Beziehungen zu einem englifhen Theologen, wobei 
wir uns erinnern, daß an der Univerlität Cambridge das 
Bucerjhe Stipendium Angehörigen der Meyerihen Familie 
zugänglich war, und daß jomit allerlei Fäden von hüben und 
drüben die Protejtanten, wie überhaupt aller Länder, jo aud 
im bejondern Englands und der Schweiz miteinander ver: 
Banden, und aud) deutlich wahrnehmen, wie leicht eine Wid- 
mung im Stammbud die Brüde zu einer neuen ſchlug und. 
fo als Empfehlung in der Fremde diente. Bald treten nun 
mehr und mehr die Beziehungen zu den hugenottiſchen Kreijen 
Frankreichs hervor, die in Bafel und fpäter in Paris an- 
gebahnt wurden. 

Am 24. November 1608 begegnen wir Meyer in Saumur 
(Dep. Maine et Loire), wo jeit 1593 eine protejtantifche, aus 
Frankreich, Großbritannien, Holland und Deutichland ftarf be— 
ſuchte Afademie blühte. Hier öffnete das auf Schritt und Tritt 
auf die Reformation Hinweifende Stammbud feinem Inhaber 
ohne Zweifel mandes Haus. Mit dem tapfern Wahlfprud 


9) Ritter des erlaudten Königs von England, refidierender 
Gejandter bei König Henri IV. von Franfreid). 

10) Noch jteht meine Ernte im Wachstum. 

1) Rath. Taylor, Diener am Worte Gottes beim Gejandten 
des Königs von England am Hofe des Königs Henri IV. von Frank— 


reich. | 
79 


<Arte et Marte»12) verewigte ji) darin der in Baſel vermut- 
lich nicht unbefannte, mit Schwert und Feder allzeit eifrige 
Borlämpfer der Hugenottenfahe Philippe de Mornay 
(1549—1623). Er war 1565 von Genf nad) Heidelberg ge- 


mury‘ 22" Nouwnf 1 


FOADIBW 4 Ne 


teilt, da liegt Doch die Vermutung nahe, daß er Baſel be- 
rührt und hier Befanntichaften geſchloſſen Habe. «Amicitiae 
perpetuae symbolum adscripsi Salmurii.»13) Mornay war 
in |pätern Jahren Gouverneur der Stadt Saumur, und fein 
geringerer als Voltaire anerkannte ihn «comme le plus ver- 
tueux et le plus grand homme du parti protestant». Wieder: 
um von Saumur datiert, aber erſt vom 13. Sanuar 1609, 
jo daß wir uns Meyer als Zuhörer der dortigen Afademie- 
»orträge werden voritellen dürfen, ijt eine Widmung des 
Rektors Magnifitus der Akademie Saumur und protejtan- 
tiſchen Geiſtlichen El(?)odius a Trodhoregia. Die 
vielen Sinn: und Wahljprühe, mit denen fih Meyers 
Freunde im Stammbud) einitellten, find großenteils religiöfen 
oder zum mindeiten erniten Inhalts, was ſich bei der dama- 
ligen Spannung der Weltlage und der allgemeinen Unjider- 
heit in Dingen des Glaubens zur Genüge erflärt. So ſchreibt 
‚der genannte Geijtliche: «Ornatissimo Adolescenti, cum vir- 
tute ac pietate claris orto majoribus, tum in optimam spem 
assurgenti, In amicitiae perennis, ut spero voveogue, sym- 


12) rei: mit Rat und Tat. 
3) Ein Wahrzeichen immerwährender Freundſchaft habe ich in 
Saumur bingejchrieben. 


80 


bolum, hoc manus mentisque meae monumentum raptim ad- 
scripsi.»!%) Zudem ermahnt er ihn: «Age nunc quod mori- 
tionalfynode in Vitré (öftlih) von Rennes) präfidierte. Vier 
turus agas.»!5) Am 10. April 1609 folgt — Meyer hat offen: 
bar die Hugenottifchen Städte des Landes bereilt — ein Sprud 
des Geiltlihen von Thouars (im Süden von Saumur), 
Andre Rivet (1572—1651), eines berühmten Theologen 
und fchneidigen Gegners der Katholifen, der 1617 die Na- 
Tage fpäter erinnert Sacques Merlin (1566—1620) von 
Aupella, d. h. La Rocelle, der in Genf ftudiert und fi aud) 
in Bern und Zürich umgejehen hatte, und feit 1589 ein be- 
liebter Prediger in La Rocdelle war, feinen Beſucher in grie- 
Hilher Sprade an das Abſchiedswort des Apoftels Paulus 
an die Ephejer (Ap.geſch. 20. 35), Daß Geben jeliger ſei als 
Nehmen, und fährt mit dem Stoßfeufzer fort: «O curas ho- 
minum! O, quantum est in rebus inane!>1®) 

Nun folgt eine längere Baufe; erit am 2. Oftober treffen 
wir unjern Wanderer in Vitré, wojelbjt der Paſtor Joh. 
Barentius mit dem Sinnjprud: «Plus sis quam 
videri velis»!17) fih im Stammbud) verewigt, wobei er 
an die in Bajel gepflegte Freundſchaft mit dem unterm Jahr 
1603 erwähnten und mit ihm verwandten Gedeon de 
Montmartin anfnüpft und wohl deshalb aud die Rüd- 
ſeite des von letterm beichriebenen Blattes benüßt. Gleich— 
zeitig ermahnt er feinen Beſucher, nit Hinter dem Ruhm 
der Borfahren zurüdzubleiben und den wahren Adel nicht auf 
eine erlauchte Ahnenreihe, jondern auf hervorragende Geiftes- 
tühhtigfeit abzuftellen. «Qui enim imagines in atrio ex- 
ponunt et nomina familiae suae longo ordine ac multis stem- 


14) Dem von feinen durch Tüchtigkeit und Frömmigkeit be= 
rühmt gewordenen Borfahren abjitammenden, hocdhgeehrten, zu 
ſchönſter Hoffnung beretigenden Tüngling habe ich als Wahrzeichen 
einer, wie ich hoffe und gelobe, unvergänglidhen Freundſchaft diefes 
Andenken an meine Feder und Gelinnung in Eile aufgejchrieben. 

15) Tue heute ſchon, was du im Sterben tun wirft. 

16) Ach, die Sorgen der Menjchen, wie eitel find doch die Dinge! 

m) MWolle mehr fein als jcheinen. 


81 6 


matum illigata flexuris in prima parte aedium collocant noti 
magis sunt quam nobiles.»18) Wohl bei diefem Aufenthalt 
Meyers in Frankreich dürfte die Eintragung eines hoch— 
angejehenen Namens erfolgt fein, bei welcher Teider feine 
Angabe weder des Ortes nod) der Zeit beigefügt ift, nämlich 
des „ECharlesde Colligny fils de l’amiral de Colligny 
amy de sa patrie Andelot.». Das Basler Neujahrsblatt von 





1897 erzählt, wie die Tochter des Admirals Coligny, Witwe 
eines ebenfalls ermordeten Hugenotten, mit ihren Brüdern, 
dem fiebzehnjährigen Franz und dem zehnjährigen Karl d’An- 
delot Ende Dftober 1572 auf allerlei Ummegen nad) Bafel 
fam und fi hier etwa ein Jahr lang aufhielt. Meyer wird 
wohl in Bajel Gelegenheit gefunden haben, ji) mit Empfeh- 
lungen an den Sohn des berühmten Hugenottenführers zu 
verjehen. Er führte den Titel eines Marquis d'Andelot, 
Icheint aber im übrigen dem Namen jeines Vaters feine Chre 
gemadt zu haben, indem er den Ruf eines «ambitieux in- 
trigant, indigne du nom qu’il portait» hatte. 

Aus dem Sahre 1610 beligen wir zwei Eintragungen von 
fürftfider Hand, leider ohne genaue Angabe von Ort und 
Datum. Die eine jtammt von „Ludwig Yriedrid 
Herzog zu Württemberg“ und ilt von dem Wahl- 


18) Denn wer die Ahnenbilder im Vorraum aufhängt und die 
Namen feiner Familie in einer langen durch viele VBerzweigungen 
des Stammbaums verbundenen Reihe im anjehnlidhiten Teile des 
Haufes aufitellt, ift mehr befannt als vornehm. 


82 





ſpruch «secundum voluntatem Deis19) begleitet; der Schreiber 
war ein Bruder des als Glied der proteitantiihen Union 
(1608) befannten Herzog Johann Friedrich von 
Württemberg (1582—1628) und erhielt von diefem 1617 
durch Vergleich die Herrihaft Mömpelgard und die eljäfliichen 
Gebiete. Auf der Reife von und nad) der genannten Stadt 
lag Baſel am Weg, und an Anlaß, Belanntihaft zu fchließen, 


ı 6'105. 


19) dem Willen Gottes gemäß. 


83 6” 


fehlte es nit. Die andere Widmung verdantte der Stamm- 
buchbefiger dem Landgrafen Mori von Heffen, der das 
Motto <«Consilio et virtute»20) empfiehlt; als Teil- 
nehmer am großen Freiſchießen des Jahres 1605 war er eine 
in Bafel wohlbefannte Größe. Die nun folgenden Aufzeid)- 
nungen zeigen uns Meyer vom Mai 1610 bis zum Juni 1611 
in London und vom September 1611 ab wieder in Bafel, 
wo er als Gemeinhelfer amtierte. Im Mai 1610 trägt 
fih in London mit dem Wahliprud) <quo fata vocant>?!) 
ein jemand ein, von dejlen Unterſchrift («Haec scribebat 
Londini mense mayo Daniel... .»22) wir danf der Un— 
geihidlichfeit des Buchbinders nur den Bornamen mit 
einiger Sicherheit zu enträtfeln vermögen. Merktwürdiger: 
weije hat jih der Stammbudinhaber in zwei Fällen aud) 
diejenigen im Album notiert, mit denen er Dedifationen aus- 
taufhte. Bon der nämlichen Schrift finden wir als Adreſ— 
faten notiert einmal «Wolfgango Gulielmo Neweburgico 
Pr(incipi?) a secretioribus consiliis et apud Regem Angliae 
legato»23) und das andremal «Joanni Friderico Wirten- 
bergensi D. a secretioribus consiliis et apud Regem Angliae 
legato». Auch fonit traf Meyer in London mit deutſchen 
Glaubensgenofjen zujammen, fo mit einem Benjamin 
Bumwindhaufen de Wallmerod (Naſſau), ferner mit 
Hipp’sa Collibus (1561—1612), der es mit dem fchnei- 
digen Wahlſpruch hielt „Grad zu trifft am beiten.“ Er war 
der Sohn eines NRefugianten aus Wlejlandria und nahm im 
legten Viertel des 16. Jahrhunderts als Profejlor der Inſti⸗ 
tutionen und ſpäter als Stadtſchreiber und Nachfolger 
Wurſtyſens in diefem Amt eine angefehene Stellung in Baſel 
ein, fcheint aber ein ftreitbarer und unruhiger Kopf gewejen 


20) Mit Klugheit und Tapferkeit. 

21) wohin das Schidjal ruft. 

2) Dies jchrieb zu London im Monat Mai... 

23) Dem Wolfgang Wilhelm von Neuburg, geheimem Rat und 
Gejandten beim König von England (lebte 1578—1652 als Pfalz- 
graf und Herzog von Neuburg und Berg-Tülid). 


84 


zu fein, der es nirgends lange aushielt. 1591 trat er in die 
Dienite Chrijtians von Anhalt, der ihn zu politiiden Miſ— 
fionen, u. a. aud nach England, braudte. Und dann fchliekt 
fh no) am 3. Auguſt 1610 Johannes Sfytte, der Ge- 
landte Karls IX. von Schweden am englifhen Hofe an mit 
dem mahnenden Sinnſpruch «Rien sans paine>. 

Die nächſte Eintragung erfolgte erjt am 13. Mai (alten 
Stils) 1611 in Cambridge dDurh „Sohbannes Young 
Scoto-Britannus“, einen Theologen, der feine Denkſprüche in 
bebräifcher, griechilcher und lateiniſcher Sprade zum beiten gibt. 
Die uns vorliegenden Widmungen enthalten hödjt felten eine 
perjönliche Note, die ein erwünfchtes Licht auf die Veranlaffung 
der Dedifation, auf die momentanen Berhältniffe, Pläne oder 
Abſichten des Stammbudjinhabers würfe, auch) bewegen fie jich 
häufig in ftereotypen Redensarten, die einer dem andern 
nadiärieb, oder in hergebradten Komplimenten gegen den 
Beſucher und feine Ascendenz; über die mit den Reifen ver: 
bundenen Abſichten dagegen verlautet nichts, und wir müſſen 
in Uebereinjtimmung mit den damaligen Sitten uns mit der 
Annahme begnügen, Meyer Habe als junger Theologe und 
überzeugter Proteſtant die auf der heimiſchen Aniverfität 
begonnenen Studien und gefnüpften Bande der Freundſchaft 
in Sranfreihs Hugenottilden und Englands hodfirdlichen 
Kreijen weitergefponnen und jeinerfeits als Werkzeug dazu 
gedient, auf perfönlidem Wege die Beziehungen der Prote— 
ftanten untereinander befejtigen zu helfen. Die Gelegenheit, 
die vielfach genoſſene Gaftfreundihaft reichlich zu vergelten, 
itellte fich jpäter in weitgehendem Maße ein. Am 4. Suni 
1611 gibt wiederum in London „Symeon Rutingius 
ecclesiae Londino-belgicae pastor“ dem Domino Jacobo 
Meyero zu bedenfen, daß «omnes humanae vitae molestiae 
sunt aut praevidendae prudenter aut vitandae consulte aut 
ferendae patienter.>22) Und Tags darauf fehreibt ſich der 


24) daß alle Mühjal des Menjchenlebens entweder flug voraus- 
gejehen oder vorjihtig vermieden oder geduldig ertragen werden 
fann. 


85 


„Medicus Londinensis G ul. Clement“ ein und erinnert 
daran, daß «Non qui multa habet, sed qui nihil cupit, dives>25) 
jei. Die nädhftfolgende Eintragung erfolgt im September 1611 
Basileae Rauracorum durch einen Hieronimus Praetorius. 
Es folgt nun das an Reifen und daher auch an Dedi- 
fationen fruchtbarſte Jahr 1612. Es beginnt mit Widmungen 
basleriider Freunde und Gönner, jo des Ratsherrn Joh. 
Zucas Iſelin fenior, der einen horaziiden Vers nad 
chriſtlicher Denkweiſe zurechtgeſtutzt Hat; ihm ſchließt ji 
Ludwig Iſelin (1559-1612), Profeſſor der Inſtitu— 
tionen, mit einer ſtark an das horaziſche (Carm. III. 3) «justum 
et tenacem propositi virum>2®) anflingenden, aber gefhidt 
in chriſtliches Empfinden umgebogenen, das unerjchütterliche 
Gottvertrauen preijenden Strophe an. Am 23. März «post 
reparatam mundi salutem>?7) folgt eine Widmung des Bel- 
giers Henricus Scalidhius, der mit einem Sprud) des 
hl. Augustinus aufwartet, und dann nod eine ſolche vom 
31. März des Theologieprofejlors Sebajtian Bed, dem 
Reilegefährten Wolfgang Meyers an die Dordredter Sy— 
node. Und nun jtellt ſich Teßterer felber mit einer endlid) 
auch einmal perjönlich gehaltenen Widmung ein. Er hat 
als Oheim ohne Zweifel die Reijepläne feines Neffen nit 
wenig beeinflußt und hätte wohl am liebiten, wenn die Ber: 
hältnifje es gejtattet hätten, den jungen Theologen nad) dem 
ihm von vierjährigem Aufenthalt Her wohl befannten Cam: 
bridge begleitet. So begnügt er fi, feiner ungeftillten Reife- 
ſehnſucht mit einem Hafjiishen Zitat Luft zu maden und zu 
ſeufzen: «O si liceat sequi!»28) ;, er verfpriht dem jungen 
Mann, ihn wenigjtens in Gedanken zu begleiten und hängt 
noch folgenden Stoßjeufzer an: „Mit je größerer Freude du 
an England denken darfit, deito größer iſt anderfeits meine 
Niedergefchlagenheit; denn von alledem befomme id jeßt 
25) Nicht wer viel bejißt, ſondern wer nichts begehrt, (ijt) reich. 
260) Ein Mann des Redts und feinem Entſchluſſe treu. 


=) nad) Erneuerung des Weltenheils. 
3) Wenn id) Bir folgen dürfte. 


86 


nichts zu jehen; überhaupt ijt das Leben bitter (er hatte un— 
Tängit feine Gattin verloren), und es fehlt nichts mehr, mein 
ſchweres Herz noch ſchwerer zu maden, wenn du nit durch 
Beſchleunigung deiner Rüdfehr zur Erleichterung meiner Ge- 
drüdtheit beiträgft.“ Wie Wolfgang Meyer vor Zeiten, mit 
Empfehlungsireiben, fogar an die Königin Eliſabeth, wohl 
verfehen, dem «ignis atque indelebilis cupido caeteras Te- 
giones praesertim Angliam perlustrandi, principesque theo- 
logorum illice commorantes adloquendi atque audiendi»2°) 
nachgegeben und nad erfolgreihem vierjährigem Aufenthalt 
in Cambridge als Licentiat der Theologie heimgefehrt war, 
jo wird er dem Neffen in der Ausführung feiner Reiſepläne 
mit Rat und Tat beigejtanden Haben. 


Sm April 1612 brach Jakob Meyer wiederum nad) Eng- 
land auf. Sein Meg führte ihn zunädjt nach Heidelberg, wo 
er ji) jeit dem 8. April ins Stammbud jhreiben läßt. Als 
Reifeftationen begegnen uns ferner Frankfurt, Amfterdam, 
Leyden und Rondon. In Heidelberg traf er offenbar Kom— 
militonen, die früher in Bajel ftudiert Hatten, und fand mit 
den Empfehlungen der Basler Profejjoren offene Türen. Als 
erfter begegnet uns im Album M. Joh. Philippus 
Bareus (Mängler; 1576—1648), ein befannter Philologe, 
Theologe und Schulmann; jeit 1598 Hatte er in Bajel unter 
Grynaeus und Bolanus ftudiert, Hatte Hier den Magiftergrad 
erworben und fi dann zu Beza nad) Genf begeben. 1610 
treffen wir ihn in Heidelberg; fpäter war er Rektor der 
berühmten Caſimirianiſchen Schule in Neujtadt a. 9. Der 
Dreißigjährige Krieg jptelte ihm übel mit; denn die Spanier 
brachten ihn um jeine Bibliothef. Später war er Rektor 
der lateiniſchen Schule in Hanau, und ein Sahr vor feinem 
Tode erhielt er von der Basler Univerjität den theologijchen 
Doktorhut. Im Stammbud Tegte er den Sinnjprud) nieder 


29) dem feurigen und unaustilgbaren Wunſch die übrigen 
Länder, insbejondere England, zu durchreifen und die dort woh- 
nenden Führer unter den Theologen anzuſprechen und anzuhören. 


87 


„Er növov aAdos“.3%) Es folgen ein Barthbolomaeus 
Coppen und Dr. theol. Quirinus Reuter, leßterer 
mit dem Denkſpruch: <«Sursum mens specta, terrenaque 
despice cuncta>3!) ; au) er wirkte als Lehrer am genannten 
Cafimirianum und ſpäter als Profejlor in Heidelberg. Ferner 
treten aufein GeorgWilhbelmLingelsheim mit dem 
hausbadenen «medio tutissimus ibis>32), ein Thefjentus 
a Cizwiz mit der Mahnung: 
<tempora, tempore, tempera 
Schicke did in die Zeit“ 

und dem Troftwort: 

„Ein getreuer Freundt undt gutes Swerdt 

Sft in der noht viel geldes fwerth“ 
und ein Fridericus a Bodedh mit dem Denkiprud: 
<Vir sapiens omnium rerum mensura»33) und dem franzö- 
fiihen <Vertu surpasse richesses. Zwiſchenhinein ſuchte 
Meyer in Frankfurt feinen Landsmann, den nachmaligen 
Bürgermeijter Joh. Rudolf Fäſch auf, der ihn unterm 
15. April daran erinnert, daß «Pietas ad omnia utilis.>3*) 
Ende April treffen wir unfern fahrenden Theologen wieder 
in Heidelberg; am 28. des Monats trägt fi der Schaffhaufer 
Franz Ziegler mit dem Sinniprud ein «Tout par amour> 
unter Beifügung des Troftwortes: „Wer da jtirbet, ehe er 
jtirbt, der ftirbet nit.“ Dann folgt noch ein Basler, deflen 
Name mit Sicherheit nicht zu entziffern ift. 

Mir laſſen unjern Kandidaten nun rheinabwärts reifen, 
vermutlich porzugsweije per Schiff. Gründe, ſich an der alten 
Pfaffengaſſe länger als unbedingt nötig, aufzuhalten, wird 
er nicht gehabt haben. Erjt in Amijterdam zieht er fein 
Stammbud) wieder hervor. Er fam ungefhhlagener hieher, 
als weiland fein Oheim Wolfgang, der auf der Reiſe nah 


%), Der Mühe Preis it Ruhm. 

a) Aufwärts ſchaue, 0 Herz, verachte nur alles auf Erden. 
32), Sn der Mitte wirſt du am fiherjten gehen. 

3) Ein weiler Mann iſt ver Mapitab für alle Dinge. 

3) Gottjeligfeit ift zu allen Dingen nüße. 


88 


Cambridge 1597 bei Weſel von ſpaniſchen Marodeuren 
war verwundet und ausgeplündert worden. In Leyden 
madte Meyer am 8. Mai die Befanntihaft des Dr. theol. 
Conrad Vorſtius (1569—1629), der ihn aufnimmt unter 
Bermahnung auf 2. Kor. 6. 8 <ut seductores, sed veraces> 
(Sondern in allen Dingen lajjet uns beweijen als die Diener 
Gottes... .. als die Verführer, und doch wahrhaftig). Er 
itammte aus einer (fatholifhen) Kölner Familie, jtudierte 
in Herborn und Heidelberg, hielt fih 1595 in Bafel und Genf 
auf, wo Beza ihn zu halten ſuchte; ſpäter wurde er Theologie= 
projellor in Leyden. Er galt als Socinianer und follte der 
Heidelberger Fakultät feine Orthodorie nachweiſen. Von 
der Dordredhter” Synode wurde er 1619 wegen feiner feße- 
riſchen Schriften verurteilt. Act Tage fjpäter jtattet Meyer 
dem Sugendfreund feines Dheims Wolfgang, dem Pfarrer 
Sohbannes Arnold, einen Bejuh ab. Seine mit einem 
Zitat aus Tertullian gejpidte Widmung gilt dem «Pietate, 
Eruditione, Morumque candore Ornatissimo viro D. JACOBO 
MAYERO Basiliensi viri elarissimi S. Th. Dris, amici mei 
integerrimi nepoti.>25) 

Es folgt nun die Meberfahrt nah England. Gegen Ende 
des Monats treffen wir Meyer in London, wo er fi zu: 
nächſt an einen franzölifhen Hugenotten, Qud. Cappellus 
(1585— 1658), anſchließt. Er jtammte aus einer angejehenen 
Familie und galt als ftandhafter Vertreter des reformierten 
Glaubens. Auf Beranlajjung der reformierten Kirche von 
Bordeaur Hatte er vier Jahre Hindurh Großbritannien, 
Belgien und Deutfchland bereilt und jtand mitten in den 
Stürmen der franzöliihden Glaubensfämpfe. Geit 1613 war 
er Profejlor in Saumur. Wohl aus feinen Erlebnijjen und 
Erfahrungen Heraus jchreibt er ins Stammbud: «Quicunque 


35, Dem durch Frömmigkeit, Bildung und Unbejcholtenheit des 
Charakters ausgezeichneten Manne, Herrn Jakob Meyer aus Bajel, 
dem Neffen des berühmten Mannes und Doftors der h. Theologie, 
meines redlihen Freundes. 


89 


Christo vult beatus vivere, illum necesse est in dies sibi 
mori.236) Mit Fraftvollem Ernit ſtand Capellus für feinen 
Glauben ein und entwidelte auch eine nahhaltige willen: 
ſchaftliche Tätigkeit, die ihn u. a. mit dem ältern Joh. Bur- 
torf in Bajel in Berbindung bradte. Ihm folgt am 28. Mai 
«anno salutis recuperatae per unicum Jesum Christum> der 
Geijtlihe an der Gabrielsfitde Sacobus Meddus, und fo 
diente wohl jede Empfehlung zur Gewinnung einer neuen, 
öfter als Reiſepaß und häufig genug wohl auch zur Vermitt- 
lung eines Freiquartiers. Am 2. Juni trug ji) ein Gelehrter 
von beitem Klang ein, Sfaac Cajfaubonus (1559— 
1614), der große Univerjalgelehrte, der als Juriſt, Theologe 
und bejonders als Philologe zu den führenden Geiftern feiner 
Zeit zählte. Er jehreibt: «Isaac Casaubonus scribebam et 


AACLS arauboses 


je * 


—A——— — 


a Fr wir a 
ur a TDfo 
Va 


360) Mer in Chrifto jelig leben will, ver muß tagtäglid) fi 
ſelber jterben. 


90 


omnia fausta ac laeta tibi vir eruditissime a Deo optabam.>37) 
Sn voller Wertihägung diefer Dedifation ermangelte der 
Stammbudbeliger |päter nicht, das Todesjahr des großen 
Forſchers ausdrüdlih) anzumerfen. 

Noch im Suni 1612 traf Safob Meyer in Cambridge ein, 
diesmal nicht zu bleibendem Aufenthalt wie jein Oheim 
Wolfgang, jondern zu vorübergehendem Beſuch. Cs ift wohl 
möglid, daß er zur Uebernahme amtlicher Verpflichtungen 
(er wurde nad) feiner Rüdfehr Pfarrer in Großhüningen) 
ih) binden mußte, auf einen beitimmten Termin in die Hei- 
mat zurüdzufehren. Es würde zu weit führen, all die zahl- 
reichen Studiengenofjen, Gelehrten und Profeſſoren, mit denen 
Meyer hier in Kontaft fam, und die feinem Stammbud) ihre 
Wünſche, Mahnungen und Warnungen anvertrauten, auf: 
zuzählen; find es doch Heutzutage meiſt verjchollene Größen. 
Meyer fand Gelegenheit, Grüße von feinem Oheim zu be- 
jtellen und fi) damit Häufer und Herzen zu öffnen. So treffen 
wir ihn bald bei verjehiedenen Mitgliedern «Collegii sanc- 
tissimae Trinitatis38®) in Academia Cantabrigiensi» (9. Juni 
1612), wo 15 Jahre früher fein Oheim Jich feines Freiplatzes 
gefreut hatte, bald aud) bei einem Mitgliede «Collegii Christi 
in eadem Academia» oder einem «ex collegio meo Divi Jo- 
hannis Evangelistaey, welches ihn mahnt: «Omnia lege, per- 
lege, nihil horribilius quam in eo statu vivere in quo non 
audeas mori.239) Auch ein Vertreter «Collegii Divi Petri» 
(am 25. Juni), jowie ein ehemaliger Studiengenojje Wolf— 
gang Meyers und nunmehriger Geiftlicher fchreiben ſich ein. 
Neben den Engländern taudt ausnahmsweije aud) ein Deut- 
\her auf, Gedeon Birher aus Schleſien, der in Cam: 
bridge jtudierte und durch das Band der Sprade fid) zu dem 
Schweizer hingezogen fühlte. Selbſtverſtändlich Hojpitierte 


7) Das jchrieb ih Iſaac Cafaubonus und wünſchte dir, ge- 
lehrter Mann, von Gott alles Gute und Schöne. 

38) der heiligiten Dreifaltigkeit. 

39) Lies alles, betrachte es gründlich, nichts ijt Schlimmer, als in 
einem Zuftande zu leben, in welhem man nicht zu fterben wagt. 


91 


Meyer auch in Borlefungen, was durch folgende Aeußerung 
bejtätigt wird: «Jacobo Majero Sacrae theologiae Candidato 
et in scholis Cantabrigiensibus sedulo Auditori, in honorem 
script, Johannes Richardson in eadem aca- 
demia Professor Regius.>%%) Schon Anfang Juli (Calendas) 
it Meyer im Begriff, weiter zu ziehen. Darauf deutet der 
Gruß, den ihm der Profeſſor am Collegium Trinitatis 
Thomas Comberus (1575—1654) an feinen Gtudien- 
freund und Meyers Oheim mit auf den Weg gibt: «Orna- 
tissimo doctissimogue viro D. Jacobo Meiero Basiliensi hoc 
amicitiae testimonium adscripsi Thomas Comberus, quo me 
tibi doctissimoque viro D. Wolfgango Meiero patruo tuo mihi 
charissimo quem visurus discedis commendatissimum semper 
esse cupio. Valeas in Christo foelieissime.»t!) Thomas 
Harrijon (1556-1631) aus London, dur hebräiſche 
Sprachkenntniſſe ausgezeichnet und durch feine ftreng puri- 
tanijhe Gejinnung befannt, wünſcht ihm aud alles Gute zum 
Abſchied, ebenjo der praefectus eines Kollegiums, der aus= 
drüdlih von Meyer zu einer Widmung gepreßt zu fein er- 
fHärt. Sodann fügt der Theologieprofefjor Soannes Da- 
venant von Cambridge bei: «Haec scripsi rogatu doc- 
tissimi juvenis Jacobi Meyeri cui opto felicem in patriam 
reditum.>*2) Und zum guten Ende empfehlen fi) zwei Tiſch— 
genojjen aus Kleve und Jülich angelegentlih zur Fortjegung 
der in Cambridge eingefädelten Freundſchaft. 

Zunächſt führte der Meg unfern Schweizer zu furzem 

40) Jakob Majer, Candidaten der heil. Theologie und fleißigem 
Zuhörer in den Cambridger Hörſälen, zu Ehren hat dies Joh. 
Richardſon, kön. Profeſſor an der genannten Akademie, geſchrieben. 

4) Dem geehrten und gelehrten Herrn Jac. Meyer aus Baſel 
babe id, Thomas Comber, diejes Zeugnis der Freundſchaft hin- 
geihrieben, um mid) dadurch dir und dem gelehrten Herrn Wolf- 
gang Meyer, deinem Oheim, den du nad) deiner Abreije aufjuchen 
wirst, nah Wunſch angelegentlih zu empfehlen. Lebe recht wohl 
in Chrifto. 

42) Beifolgendes habe ich auf die Bitte des gelehrten jungen 


Jacob Meyer gejchrieben, dem ich eine glüdliche Heimkehr ins Vater: 
land wünſche. 


92 


Beſuch nah Drford. An wirffamen Empfehlungen fehlte 
es auch hier nit. Doch Scheint der Aufenthalt dafelbft nur 
von ganz furzer Dauer gewejen zu fein. Meyer traf hier 
Landsleute, einen Joh. Rudolf Heß aus Zürid) und einen 
Marcus Stapfer; beide trugen fih ins Stammbud) ein, 
außerdem auch einige Profelloren. Bis Anfang September 
bleibt das Stammbud ftumm. Nun muß der Heimweg an- 
getreten werden. Am 5. September weilt unfer Reifender 
in Paris und vom 6. Oktober an in Genf; wo er ih zwifchen: 
hinein aufgehalten, wird nit erfihtlih. Aber im prote- 
ftantiichen Rom Itattet er eine Anzahl Beſuche ab, zunädft 
bei Antonius Fagus, bei Gabriel Cujfinus und 
bei dem Graubündner Caſpar Alerius oder Alelc. 
Letzterer war 1617 evangelifher Pfarrer in Sondrio, wurde 
aber offenbar durch die Kriegswirren aus feiner Laufbahn 
geworfen; 1621 geriet er auf der Reife nad) Heidelberg bei 
Breiſach in Gefangenſchaft, wurde erit 1625 frei, befleidete 
fpäter eine Profeſſur in Genf, wo er aud) theologifche Werke 
berausgab. Dem «D. Jacobo Meyero Basiliensi charam pa- 
triam post longas felicesque peregrinationes repetenti>3) 
widmet „Simon Goulart Silvanectinus in Museo San- 
gervasiano“, ein Franzoſe aus Genlis, der feit 1564 an Cal: 
nins Stelle Pfarrer in Genf und durh Mitarbeit an einer 
franzölifhen Bibelüberfegung befannt war, unterm 7. Ok— 
tober einen Denfiprud aus dem Kirchenvater Auguftin, der 
zur Demut mahnt. Ueber den 10. Oftober hinaus find feine 
Spuren Meyers in Genf feitzuftellen, jo daß wir nicht irre 
gehen werden, wenn wir ihn um diefe Zeit nad) Bajel zurüd- 
fehren lajjen. 

Mit dem Jahre 1613 nehmen die Stammbudeintragungen 
in Bafel ihren Fortgang. Es begegnen uns zunädit am 
6. März zwei Grafen von Ortenburg, Johann Phi— 
Iipp und Heinricd, beide zeichnen als «antiquioris pro- 


43) Dem die teure VBaterftadt nad) langen und glüdliden Wan: 
derungen aufluchenden Herrn 3. M. aus Bajel. 


93 


sapiae Comes Ortenburgicus>.2*) Gie entjtammten einem 
Kärntner Geſchlecht, das elſäſſiſche Bejigungen des Haujes 
Deiterreihh inne Hatte, woraus ihre Beziehungen zu Baſel 
fih leicht erflären, das ihnen ähnlich wie den Herzogen von 
Württemberg als Wbjteigequartier diente. Noch intimer 
wurden indeſſen ihre Beziehungen zu Bajel, jeitdem fie fi) 
zum evangeliihen Glauben befannten. Go finden wir denn 
ihre Namen auch in einem Götziſchen Stammbudjt5) ; auch hat 
ihrem Geſchlecht jpäter, um 1650, Baſel in der Perſon des 
nachmaligen Antiltes Peter Werenfels einen Hofprediger ge- 
ſtellt. Heinrichs Denkſpruch Tautet: «Vincet qui sub luce, 
Deo duce, pro cruce pugnat.>#) Cr fügt bei: «Memoriae 
ac benevolentiae ergo serbt. Basileae.»?”) Und nun beginnen 
die Herren Engländer, fi) zu revandieren und die Gelegen- 
beiten wahrzunehmen, auf der Durchreiſe über Bafel ihren 
Jakob Meyer aufzujuhen. So im Juli 1613 zum erjtenmal 
ein im übrigen unbefannter Engländer. Am 13. Juli folgen 
zunädit zwei Basler, Joh. Georg Wildiſen und Jo— 
hannes Rodolphus Wildyfius mit dem Sprüch— 
fein «L’arc trop tendu se rompt>; am 14. Auguſt folgt Aber a⸗ 
ham Musculus (Müslin), ein Abfömmling einer alten 
Berner Paitorenfamilie, und nun ein auf der Abreiſe 
von Bajel begriffener Engländer, Thomas Jefferay, 
der den zurüdbleibenden Freund mit den Worten tröltet: 
<Caelum, non animum, mutant, qui trans mare currunt.>*8) 

Am 14. Januar 1614 bietet die Hochzeit eines gewiſſen 
Bringhaim einigen Freunden franzöliiher Abkunft Anlaß, 
ih im Stammbud) zu verewigen. Bald darauf ſcheint Meyer 
Sreunde in Schaffhaujen bejuht zu haben; es [chreiben ſich 

#4) Graf von Ortenburg ältere Linie, 

) Vgl. Alb. Burdhardt a. a. DO. 

46) Siegen wird, wer unter dem Lichte, unter Gottes Führung 
für das Kreuz kämpft. 

4) Schrieb es zu Bafel um der Erinnerung und des Wohl» 
wollens willen. 


#) Nur den Himmel vertauscht, das Herz nicht, wer über das 
Meer jet. 


94 





>22 5) 0007 


dDajelbft im Februar ins Stammbuh Joh. Taf. Ziegler, 
Pfarrer Joh. Conrad Koh und Joh. Conrad Am- 
mann, ferner «Reipublicae Scaphusianae Consul Henricus 


'Schurtius>, jodann der vielgewandte Staatsmann und. Geijt: 


lie 305. Segler jenior «paternae Ecclesiae Minister>4°) 
und Antiltes Melhior HYurter. Am 12. März erhielt 
Meyer den Bejuh des Engländers Sacobus Bromel. 
Dhne nähere Datierung außer der Sahreszahl 1614 figuriert 
mit dem Motto «Quo sublimior eo submissior>50) ein Graf 
Wilhelm Otto von Iſenburg und Büdingen, 
dem fi) unter Beifügung des Wappens aud Graf Bhilipp 
Ernitvon Sfenburg und Büdingen anfdließt, und 
als dritter gefellt jich ihnen ebenfalls mit feinem dreifad) 
zufammengejegten Wappen Graf Conrad Ludwig von 
Solms bei. Am 16. Auguft empfängt Meyer den Beſuch 
eines Sobannes Cloppenburgh, der als eriter dem 
Basler Freund, der mittlerweile zu Amt und Würde ge- 
fommen war, «praestantissimo doctissimoque viro Jacobo 
Meyero, ecclesiae Basiliensis diacono»51) feine Widmung 
darbietet. 


Es muß im allgemeinen auffallen, wie die vielen Wahl: 
und Sinnſprüche unferes Stammbuds mit geringen Aus— 
nahmen, ein durchaus ernites Gepräge tragen; Humor und 
Scherz fehlen beinahe gänzlich, obſchon unter den Benüßern 
des Stammbuchs auch Studierende find, die jonjt ihrer Herzen 
Gedanken ergießen; und doch weiß man zur Genüge, daß ander= 
wärts die Jugend gerade aud) in Stammbüdjern ihrer Phan— 
tafie nad) feiner Richtung Hin Zügel anlegt. Die Erklärung 
für diefen befonders erniten Charafter unjeres Stammbudes 
werden wir hauptjählid darin finden, daß es meijt Theo: 
logen find, die zum Teil der Würde ihres Standes nichts 


#9) Diener der vaterländiichen Kirche. 

50, Je erhabener, deito demütiger. 

5) Dem vortreffliden und gelehrten Manne Jacob Meyer, 
Diakon der Basler Kirche. 


95 


vergeben wollen, zum Teil aber aud in hohem Grad vom 
Ernſt der Zeit durhdrungen find; lebte man doch in der 
Periode der ſchärfſten Gegenreformation, da weitblidende 
Beilter den friegerifhen Ausgang der fonfejlionellen Zwiitig- 
feiten als etwas Unvermeidlidhes anfahen und unter dem 
laſtenden Drud banger Ungewißheit ftanden. Wie ſchon er- 
wähnt, waren die Anfnüpfungspunfte, die Meyer in Eng- 
fand gefunden, vielfadh) von Dauer und trugen ihm manden 
Beſuch von Engländern auf der Hinreife nad) und der Rüd- 
teife von dem Feſtland ein, jo 3. B. am 5. September 1615 
denjenigen des Drforders Johannes Rous (1584—1644), 
der in Cambridge jtudiert hatte und 1607 Magiſter geworden 
war. Rous verleiht jeiner Wahrheitsliebe mit folgendem 
Zitat Ausdrud: «Mentiri nescio; librum, si malus est, nequeo 
laudare»52) und fpridt die Hoffnung aus, „es mödte die 
To glüdlih angefangene Freundſchaft niemals erlöfchen“. 
Das Sahr 1615 eröffnet H9ermannus Xignaridus 
(Dürrholz), aus Deutfchland gebürtig, ſpäter Theologie 
profejjor in Genf und Bern; er trug fih im Stammbud ein 
als «S. Theologiae in schola bernensi professor». Nun 
folgen zwei Zürdher, Sohbann Steiner Vater und Sohn, 
beide Theologen. Meyer bejuhte den Sohn in Züri, den 
Pater in Baden, wo er nad) guter Zürder Gitte feinen Aus: 
fpann nahm. Reichlich erwiejene Gaftfreundfhaft «propter 
summum in me amorem, dum ibi fui peregrinus>d3) (der 
Reit iſt leider weggejchnitten) verdanft Gregorius 
Whright aus England, desgleihen au Gregorius 
Baro Berfley Anglus, der ſich in Bafel aufhielt, ſowie 
in italienijhder Spradhe der Engländer Nicola Hares. 
Anfangs 1616 verewigt ih im Stammbud „QuciusPapa, 
minister ecclesiae Samadenae in Engadina superiore apud 


62) Ich kann nicht lügen und vermag nicht ein Bud, wenn es 
Tchlecht ift, zu Toben. 


83) Megen der reichlich mir erwiejenen Liebe, fo lange ich da- 
Telbit ein Fremder war. 


96 


Rhetos“,52) er ftammte aus dem Puſchlav und tat fi durch 
Ueberjegungen theologiſcher Literatur ins Romaniſche hervor. 
Des weitern begegnen wir einem Friedrich Lingels- 
heim, deſſen Vater Meyer in Heidelberg fennen gelernt 
hatte und dem Engländer Richard HYHangarins aus 
Cambridge, der feiner Widmung beifügt: «Hoc exaravi amoris 
ergo in aedibus doctissimi Jacobi Meyeri Basileae mi- 
noris.»55) Die nun folgenden Engländer zählen zu den poli- 
tiſchen Größen und find in politiider Million auf der Durd- 
reife nad) Venedig begriffen. Da taucht zuerit ein Rihard 
Seymour auf, der am 30. April ſich mit den Worten ein- 
trägt: «In amoris testimonium hoc reliquit Richardus Sey- 
mour Anglus Basiliae in transitu ad Venetos trigessimo 
die Aprilis an. dni. 1616.56) Sein Reijegeführte Rober- 
tus Barnius fügt unter dem nämlidhen Datum bei: 
Jacobo Mayero viro (ubique) Cantabrigiae potissimum de 
Anglis omnibus bene merito hoc amoris symbolum reliquit 
Basileae in transitu ad Venetias Robertus Barnius Anglo 
Cantianus.»5”) Gr hält jih an den Wahliprud: «Virtus 
sola vincit omnia.58) Und als dritter im Bunde fchliekt 
fid) mit dem Motto «Cum scientia conscientia»5®?) am 2. Mai, 
indem er gleichzeitig auf eine vorangehende Dedifation feines 
Bruders Bezug nimmt, SjaacBargravius (1586—1643), 
mit den Worten an: «Eidem subscripsit Thomae frater, Isaacus 


5) Geiltliher der Kirche zu Samaden im Oberengadin bei den 
Bündnern. 

5) Das habe ich in der Wohnung des gelehrten Jakob Meyer 
in Kleinbafel aus Liebe aufgezeichnet. (Gemeint ijt die Wohnung 
Sonathan Meyers ‚der Tennier-(Antönier)hof‘). 

56, Zum Beweis der Liebe hat dies der Engländer Rich. Seymour 
in Bajel auf der Durchreije nach) Venedig am 30. April a. d. 1616 
Dinterlaffen. 

57, Dem (überall) bejonders in Cambridge um alle Engländer 
wohlverdienten Herrn 3. M. hat dieſes Zeichen der Liebe in Balel 
auf der Durchreiſe nad) Venedig der Engländer Rob. Barnius aus 
‚Kent hinterlaffen. 

88, Tüchtigkeit allein überwindet alles 

59, Mit dem Willen aud) das Gemijjen. 


97 7 





Bargravius, nobilissimo Henrico Wottonio, secundo St. Re- 
gis Angliae ad Venetos legato, a Sacellis. Basileae, in tran- 
situ ad Venetias. May. 2. 1616.60) Er reijte in der Eigens 
Ihaft eines Gejandtihaftspredigers; der Gejandte jelber, Sir 
Henry Wotton (1568—1639), jtellte fih ein paar Wochen 
ipäter ebenfalls in Bafel ein und Hinterließ feine Spuren 
unter dem Wahlſpruch: «Philosophemur>6!) nebjt folgenden 
Begleitworten im Stammbudh: «Scribebat Basileae XXVII 
MDCXVI Fastis Julianis Henricus Wottonius Anglo-Can- 
tianus Optimi Regum quantuluscunque legatus in transitu 
ad Venetos.»62) Nähere Beziehungen zwiſchen dem hohen 
Herrn und Jakob Meyer wird man aus den fnappen Aeuße— 
rungen nicht herauslefen dürfen; Meyer wird fih ihm auf 
Bitten feiner engliſchen Freunde in allerhand Reijeangelegen- 
heiten gefällig erwiejen haben. Im übrigen war Wotton ein 
vielfeitig gebildeter und vielgereilter Mann; er glänzte als 
Dichter und Diplomat und wußte als Gejandter in Spanien, 
Frankreich und Venedig jedenfalls in Dingen der Politik ge- 
nauen Beſcheid; in Venedig war er zu verjhiedenen Malen 
tätig, jo auch 1616—1619; er madte hier den engliſchen Eins 
fluß in antipäpitlidem Sinn geltend und hatte feine Hand 
in der nun folgenden Angelegenheit, zu deren Zeugen wir 
unfer Stammbud aufrufen, im Spiel. 

Sn eben dem Jahr 1616 nämlich erhielt Meyer Hohen 
geiltlihen Beſuch. Der Erzbifhof von Spalato, Marcus 
Antonius de Dominis von Arbe in Dalmatien (1560: 
—1624), war in Glaubensdingen in ein Zerwürfnis mit Rom 
geraten, was ihn in die Arme der Proteſtanten Englands und 
auf der Reiſe dorthin zu Jakob Meyer nah Bafel führte. 


6, Ihm, nämlich dem edeln Henry Wotton, zweiten Gejandten 
Sr. Majeität des Königs von England in Venedig, hat fi der 
Bruder des Thomas, Iſaak Bargravius, von Sacelli (?) unterzeichnet. 

6) Laßt uns weije jein. 

&2) Das jchrieb in Bajel anno 1616 am 27. Juli Henry Wotton 
aus Kent in England, Gejandter des Belten der Könige auf der: 
Durchreiſe nad) Venedig. 


98 








Der genannte Kirhenfürit ftammte aus der Familie Theo: 
baldi de Placentia, trat mit 19 Jahren in die Gejellihaft 
Sefu und bildete fich zum hervorragenden Lehrer der Philo- 
jophie und Mathematik aus. Doc kehrte er 1596 den Se 
juiten den Rüden; erhielt indefjen durch Vermittlung Kaifer 
Rudolfs II. das Bistum Segni in Latium, avancierte bald 
zum Erzbifhof von Spalato und wurde Primas von Dal: 
matien, galt aber dem Bapite Baul V. wegen „antichriſtlicher 
Reologie“ bald für verdächtig und wird den Jeſuiten bleibend 
ein Dorn im Auge gewejen fein. Möglich, dag feinem Chr: 
geiz in Rom ſcharfe Zügel angelegt wurden, wenigitens fühlte 
er ih mit Gleichgültigfeit behandelt und war deshalb nicht 
abgeneigt, ji) von zwei dajelbit weilenden Engländern Tür 
die neue Lehre gewinnen zu laſſen. Natürlich verfiel er dem 
Haß und der Verfolgungsjudt der Inquilition, die ihm vor— 
warf, er verachte die Saframente, gebe ſich mit Keßern ab 
und befämpfe den Bann des Papites gegen Venedig Mit 
Verdacht aus der Haft entlaſſen, reijte er 1616 via Bafel nad 
England, um hier im Hafen der Hohfirde Schuß zu finden. 
Bon Jakob I. wohlwollend aufgenommen, legte er das angli- 
kaniſche Glaubensbefenntnis ab, befämpite fortan aufs 
Ihärfite die römiſche Kirche und den päpitliden Primat, be- 
fürwortete die Briefterehe, ließ von den Saframenten nur 
noch Taufe und Abendmahl gelten, weshalb er in proteitan- 
tiſchen Kreifen ebenfo gefeiert wie in katholiſchen angefeindet 
wurde. Aber jchlieklich erlebte Rom doc den Triumph, das 
räudige Schaf wieder für ji) zu gewinnen. Marcus Antonius 
de Dominis wurde neuerdings andern GSinnes, näherte fi) 
wieder der römiſchen Kirche, floh durch Flandern und Yrant- 
reich Heimlih nah) Rom, wo zwar die Freude über den buß— 
fertigen Sünder groß, der Argwohn ihm gegenüber troßdem 
unaustilgbar war. Er mußte gründlich Buße tun, ohne das 
volle Vertrauen der römiſchen Kirche gewinnen zu Tönnen. 
Unter Urban VIII. wurde er neuerdings verhaftet, jtarb aber 
1624 vor Erledigung feines Prozeſſes, was nicht Hinderte, 


99 7* 


daß der Tote verurteilt, fein Leichnam verbrannt und feine 
Aſche in den Tiber gejtreut wurde. 

Auf der Durdreije nad) England ftieg unjer Kirhenfürft 
in Meyers Haufe in Bajel ab, erwiefenermaßen auf die fpe- 
zielle Empfehlung des oben genannten englilhen Gejandten 
hin, und im Stammbud) erleicätert er fein bejchwertes Herz 
mit folgender Eintragung: «Sequere Deum. Nemo sibi soli 
natus; mea serviat omnis vis aliis; maneat gloria tota Deo. — 
Ego Marcus Antonius de Dominis patricius Ar- 
bensis et jadrensis, Dalmatus, comes palatinus natus, sacrae 
theologiae Doctor, Archiepus spalatinus, alias Solanitanus, 
totius Dalmatiae et Croatiae primas, eximiis eximii viri D. 
Jacobi Mayeri, doctrina, sapientia, benignitate insignis, 
praeclaris erga me, Christi eausa, peregrinum et cavea Ro- 
mana elapsum, officiis devinctus, gratitudinis et memoriae 
ergo ad ipsius obsegquium haec pauca hic mea manu scripsi. 
Basileae, die 5. octobris. 1616.>63) — Der nädjte und zugleich 
legte dem Pfarrer Jakob Meyer zu St. Elifabethen gewidmete 
und auf feinen englilhen Freundſchaften fußende Eintrag 
datiert vom 27. Mai 1622. Das Motto iſt Seneca entnommen 
und Stellt die Frage: «Quis ergo generosus?»s) Die Ant- 
wort lautet: «A natura ad virtutem bene compositus.>®5) 
Schreiber des Denfipruds ift Antonius Straffordus, 
«<D. Berkeley liberi Baronis servus humilimus, devotissi- 


68, Folge Gott. Niemand ift nur für fi) allein geboren; alle 
meine Kraft joll andern dienen; aller Ruhm joll Gott bleiben — 
Sch Marcus Antonius de Dominis, Patrizier aus Arbe und Zara, 
Dalmatien, als geborener Pfalzgraf, Doktor der h. Theologie, Erz— 
biſchof von Spalato oder Salona, Primas von ganz Dalmatien und 
Kroatien, durch ganz bejondere und hervorragende mir, einem 
Fremden und dem Kerfer in Rom Entronnenen, um Ehrijti willen 
erwiejene Dienjte des Herrn Jakob Meyer, eines durch Gelehrſam— 
feit, Weisheit und Wohlwollen ausgezeichneten Mannes, verpflichtet, 
babe aus Dankbarkeit und zum Andenfen auf feinen Wunſch dieje 
paar Worte hier eigenhändig gejchrieben. 


64) Mer iſt denn nun vornehm? 
65) Der von der Natur zur Tüchtigkeit wohl veranlagte. 


100 


Bir Ahapr 00 Jachrnar Sal 

| ⸗ u 7 727 
Leben. mar Sacıy — 2 Dick 
— zunhessenn, ale ahnen 
Ati Alinades, ea vasx- Prdmas_ cn 
mu cröng vn A sache Karen, hen, 
Sparer, en AZ ragen, prrelmer 


Maga) Sc ca ©, RAS Armen Sarpr, 


u / 
ale Ka 2 vcertheig. ze 


mus.»66) Im nämliden Jahre nod, erjt 32jährig, ſtarb 
Jakob Meyer, das Stammbuch wedjelte den Beliter; die Bei- 
träge fließen fortan ungleich viel fpärlicher, und was nun nod) 
folgt, jteht an Bedeutung dem Borangegangenen wejentlid) 
nad. Zunädjt vererbte es ji) auf Jakob Meyers Vater Jo— 
nathan, den Klingentalfchaffner, der erjt 1633 ftarb. 

Aus dem Jahre 1628 datieren zwei Widmungen von im 
übrigen unbefannten Größen, aus denen es wie ſchmerzliches 


6) Ant. Strafford, des freigeborenen Barons, Herrn Berkeley, 
untertänigjter und ergebenjter Diener. 


101 


Nachzucken der Trauer über das frühe Dahinwelfen des jungen 
Pfarrherrn tönt, wenn das einemal daran erinnert wird, daß 
wir hier feine bleibende Statt haben, fondern die zufünftige 
ſuchen, oder wenn das andremal der Dedifant, Georg Wil: 
helm Waltervon Freundſtein in „Bünningen“ fi 
mit dem Gedanken tröltet: „Gott weiß, waß unß fürftehet.“ 
Sowohl die Trauer um den früh Heimgegangenen, als die 
bange Sorge um alles, was der nod) immer wütende große 
Krieg noch bringen fonnte, maden die rejignierte Stimmung, 
die damals auch aus dem Stammbud auf Schritt und Tritt 
zutage tritt, mehr als erflärlih. Wie Andeutung von Teil- 
nahme Elingt der philojophifhe Erguß des Simeon Ru: 
tingius junior (dem Vater find wir 1611 begegnet): 
«Fert sapiens omnes casus patienter amaros»,67) und eine 
ernite Mahnung enthält das auf die Unzulänglidkeit alles 
Irdiſchen Hinzielende Wort eines Sodocus Heiden vom 
Niederrhein: «Humana vita vere vitrea est, dum splendet, 
insperato frangit.>e8) Einen Hinweis auf die Unruhe des 
Kriegsgetümmels dürfen wir wohl aud) aus den Worten des 
J. U. D. Chriftophorus Leibfried, Landicreibers 
der Herrichaft NRötelen, heraushören, der am 21. Juni 1633, 
zwei Sahre vor feinem Tod, «pro tempore exul Basileae>,s?) 
wohin er um feiner perjönlihen Sicherheit willen modte 
geflüchtet fein, ins Stammbud) ſchreibt: «Mea Pax Victoria 
Christi.»70%) Aus eben der Zeit ilt uns folgende „Poeſie“ 
erhalten: 


„Wer auff Erden hatt waß er will 
Undt hatt vor ihm fein ander zill, 
Der iſt ein Thor undt ift nicht weiß, 
Kompt aud) nicht in das paradeiß.“ 


6) Alles bittre Geſchick weik der Weije geduldig zu tragen. 
. &), Das Menſchenleben ijt wahrlid) wie Glas, während es 
Ihimmert, zerbricht es unverhofft. 
6%) zur Zeit abweſend in Baſel. 
70) Mein Friede it der Sieg Ehrifti. 


102 


Am Rand Hat der anonyme Dichter beigefügt: «migrandum 
est»?1) ; dann fährt er fort: «Pour tesmognage d’amitie j’ay 
escrit cecy & Basle 26. d’augt 1633.> 

Nun langes Schweigen bis zum Jahre 1677. Das Stamm- 
buch ift in die Hände von Jakobs Entel Seremias Meyer 
(1653— 1732) übergegangen, der feine pfarrherrlide Lauf: 
bahn im Toggenburg, ſpäter in Brewil und Dltingen durch— 
lief. Wohl zu feinem Amtsantritt ijt ihm das beifolgende 
Sprüdjlein mitgegeben worden: 


„Gelehrten und frommen Leuthen 
Steht Gott bey zu allen Zeiten. 

Mer will Chriſti Diener werden, 
Mus Ihm nadfolg'n hier auf Erden.“ 


Dann wird beigefügt: „Herrn Jeremiage Meyer S. M. C. 
wünſcht zu jeinem guten Borhaben viel Glüd und alle Wol- 
fahrt Sebaſtian Spörlin des Rahts Lobl. Statt Bajel und 
dehro Gravfhafft Karnspurg gewejener Landvogt. D. 16. No- 
vembris Ao. 1677. In Bajel.“ Und Profeſſor Peter 
MWerenfels (1627—1703), Lehrer der hebräiſchen Sprade 
und Antiltes fleht auf den Stammbuchbeſitzer im Verein mit 
Profeſſor Joh. Rudolf Wettftein <«virtutis avitae in- 
crementa»>?2) vom Himmel herab. Mit dem lehrhaften Denf- 
fprud) «Ruit hora>,73) den Bernhard Verzascha (1628 
— 1680), der 21jährig in Montpellier promoviert hatte und 
jeiner Baterjtadt jpäter als Deputat im Kirchen und Schul⸗ 
wejen, als Ratsherr und bejonders als Stadtarzt gute Dienjte 
leijtete, dvem Stammbud) einverleibte («Dilectissimo Dn. Cog- 
nato in singularis benevolentiae tessera adscripsit Bernardus 
Verzascha»?®), verband er die Mahnung an die Flüdtigkeit 
der Zeit. Es folgen ziemlich gleichzeitig Soh. Conrad 


19 Man muß wandern. 

2) Den Zuwachs großpäterlidher Tüchtigkeit. 

73) Die Stunde eilt Hin. 

4) Seinem geliebten Herrn Berwandten hat zum Zeichen be- 
ſondern Wohlwollens geſchrieben Bernhard Verzascha. 


103 


Harder, Archigrammateus und Scholarcha,?5) der als 
Dheim den Neffen an das Schriftwort: «Unum est necessa- 
rium>?e) erinnert und den Troſt beifügt: «Deus provide- 
bit>,77) fowie der Redtsgelehrte Nicolaus Paſſavant 
mit dem Wahlſpruch: «Calamitas virtutis occasio.z7) Mit 
weitern Glückwünſchen jtellen ih ein Hieronymus Ge- 
mujfaeus, Pfarrer in Benfen, und Dr. med. et. phil. %. J. 
Harder (1656—1711), Arzt und Profeſſor der Rhetorik. 
Nah einer Pauſe von neun Jahren erläßt Hieronymus 
Meyer an den Dltinger Pfarrherrn die Warnung: 

„Kehr dich nit an Sedermann, 

Der dir vor Augen dienen fann, 

Nicht alles geht von Herzengrund, 

Waß ſchön und Tieblich redt der Mund.“ 

Nah) dem 1732 erfolgten Tod des Seremias ging das 
Album in die Hände feines Sohnes Benedikt über, wor- 
über diefer im Stammbuch jelbitgefällig mit den Worten 
quittiert: cCet & moy: Benedikt Meyer. den 2. Juli 1744.> 
Aber Dedifationen Hat er feine zu verzeichnen. Erſt fein 
Nachfolger im Belige des Stammbuds, der Wlumnenvater 
S. M. C. und Praeceptor zu St. Beter Daniel Meyer 
(1731—1798) läßt fi) zur Würde eines Seniors Collegii Alum- 
norum von Profejlor Soh. Ludwig Frey (1682—1759), 
dem Lehrer der altteſtamentlichen Theologie, feierlich gratu— 
lieren. Se länger dejto mehr manifeltiert ſich auch in den 
Eintragungen unjeres Albums der Wandel der Zeiten. Ar 
die Stelle fräftiger Kernworte treten hohler Wortſchwall und 
umjtändlihe Redewendungen; hausbadene Verſe und ge= 
fünjtelte Empfindelei verdrängen das wahre und natürlidhe 
Fühlen. ©o 3. 3. in der Widmung eines J. U. Vogel aus 
Mülhaujen vom Jahre 1756, der den freund mit folgenden 
Alerandrinern anreimt: 

75) Stadtichreiber und Schulvoriteher. 

76) Eins iſt not. 


7) Gott wird fürjorgen. 
8) Unglüd bietet Anlaß zur Tüchtigfeit. 


104 


„Ich ſoll Ihm Werther Freund zum Zeichen meiner Liebe 
Und Freundſchaft gegen Ihn, ein Dendmahl fegen hier. 
Kun dieſes joll geſchehn aus reinem Herz und Triebe, 
Damit das jhöne Wort bey Uns bleib für und für: 
Ein treuer Freund wird wohl ein theurer Schaf genennt, 
Wann man im Unglüd Di jo wie im Glüde fennt.“ 


Mir dürfen Hier die Mehrzahl der nun folgenden Dent- 
Iprüde mit ihren Gemeinpläßen und trivialen Redensarten 
oder wohlfeilen Schmeicdheleien übergehen. Eine fleine Ab— 
wedhslung in der äußern Daritellung bietet die Widmung des 
Piarrers Safob Meyer in Mülhaufen vom Sahre 1756, 
der fih die Mühe nahm, nad) dem Geſchmack der Zeit ein 
reich verſchnörkeltes kalligraphiſches Meiſterſtück zu Tiefern, 
das dem Schöndheitsfinn und Geſchmack und nicht zulegt au 
der Geduld und den guten Augen des Kalligraphen zur höchften 
Ehre gereiht. Und Zeit zu derartigen Liebhabereien hatte 
man ja damals. Es wird in diefer Widmung der {Freund 
mit einem fruchtſpendenden Baume verglichen, allerdings mit 
dem Kleinen Unterjchied, daß man von einem Freunde täglich 
Früchte (der Freundſchaft) einheimjen darf, von einem Baum 
bloß jährlid. Im nämliden Jahr erinnert Baulus 
Meyer, Burger zu Bafel und Mülhaufen, daran, daß: 

„Nancder mich richt, 

Beſchaut ſich felbit nicht, 

Gedädht er fein, 

Go vergäß er mein.“ 
Es folgt im Dezember 1756 ein V. D. M. Mathias 
Kielmann, Diafon des «Coetus gallici qui Müllhusii col- 
ligitur>.7%) Daß der Alumnenvater mit feinen Zöglingen auf 
freundlidem Fuße lebte, geht aus den Eintragungen zweier 
Ungarn, eines Samuel Nemethy, der fih als «Hun- 
garus, peregrinus Basileae>,8%) einträgt, und eines „Jo— 

79) des franzöfiihen Pfarrionvents, der fi) in Mühlhaufen ver: 


fammeelt. 
80) Ungar, fremd in Balel. 


105 


annes Szabi, Hungarus, Studiosus Peregrinus Basileae> 
1756 hervor. Als widerwärtige Schmeicdhelei haben wir ohne 
weiteres das Berslein eines Mülhaujer Theologen zu ta= 
zieren: 

„ou bilt ein Zweig von diefem Stammen, 

Der immer Große Männer trug, 

So bald man höret deinen Namen, 

So hört man glei aud: Der iſt Hug.“ 


Nun folgt eine längere Pauſe. Am 26. Oftober jtiftet Da— 
niel „Bourcard“ (gemeint ift der befannte Kunjtfreund 
und Kunjtdilettant Dan. Burdhardt-Wildt, 1752—1819) dem 
Daniel Meyer jun. (1761—1824) eine hübſch in Tuſch 
gemalte Landſchaft mit zierlich gejchriebener Dedifation in 
jranzöjiiher Sprade, die in dieſer letzten Epoche als Mode- 
ſprache au) im Stammbud dominiert. Diejer Daniel Meyer 
jun. S. M. C. war der Sohn des erwähnten Alumnenpaters 
und beichloß feine Tage als Pfarrer von Arisdporf. Sn jungen 
Sahren fam er ordentlid) in der Welt herum als Hauslehrer 
in Chiavenna und Mayenfeld, deuticher Prediger in Genf und 
Pfarrer in Markirch in den Vogeſen. Gein Aufenthalt in 
Graubünden und im Beltlin trug ihm offenbar mande 
Freundſchaften ein, deren Niederihläge wir im Stammbud) 
Hauptjählidd von dem Zeitpunft an gewahr werden, da fein 
Dienſt als Hauslehrer zu Ende ging. Da begegnen wir zuerſt 
dem Major Michel im bündnerifhen Regiment «du Salis>, 
der dem Herrn Candidaten und Hauslehrer in der Yamilie 
Gugelberg:von Moos alles Glüd der Welt anwünfcht 
(Dezember 1788), ferner einem Joh. Theodor Ender- 
lin von Marzwil, der dem Stammbud einen gereimten Neu- 
jahrswunſch einverleibt; ihm folgt am 2. Januar 1789 oh. 
Friedrich Enderlin von Marzwif mit einer längern 
moralijierenden Widmung, die ganz im fonventionellen 
Zeitgefhmad gehalten iſt. In ſchwungvollen und ziemlich 
geihwollenen Verſen feiert 1789 Ulyfjfes von Salis 
das Andenken des Bürgermeifters Jakob Meyer als mutigen 


106 


Kämpfers gegen die (getreulich abfonterfeite) Hydra des 
Irrtums und Stellt ihn als leuchtendes Vorbild den Nach— 
tommen hin. Als Hauslehrer hielt fih Meyer bei der 
Familie Gugelberg bald in Chiavenna, wo der Vater feiner 
Zöglinge, Ulyjjes Gugelberg (1756—1820), als Com: 
miſſari des Veltlin und Landesoberiter amtierte, bald in 
Mayenfeld auf und Hatte reichlihe Gelegenheit, ſich mit 
allerlei Notabilitäten von Altfry Rhätien angufreunden. 
Sm Februar 1789 treffen wir ihn bald in Chur, bald 
in Mayenfeld, und beiderorten verjäumte er offenbar nicht, 
den betreffenden Hohen Herrihaften feine Aufwartung 
zu maden. Am 17. Februar widmet ihm Joh. Ru— 
volf von Salis von Marihlins ein Sprüdlein, am 
19. verewigen ji im Stammbud) Pfarrer Anton Midhae- 
lis von Mayenfeld und Ulerih Michel, am 21. trägt 
<«Corneille Adelaide de Salis Marchlins in 
Chur ihren Segenswunjd) ein, und am 26. widmet in Mayen- 
feld ein Ulrih Konz dem Stammbudinhaber ein Wort des 
Abſchieds. Man fieht, das Album war fleißig auf Reiſen, 
und nun, da Meyer ſich nad) einer bleibendern Stellung um— 
ſieht, jtellen fih in rührender Anhänglichkeit die Familien— 
glieder nacheinander ein, um den Scheidenden ihrer unver- 
brüchlichen Dankbarkeit zu verfihern. Am 1. März bejtätigt 
ihm Alyſſes Gugelberg:von Moos feine wahre „Achtung und 
Freundſchaft“ unter Beifügung feines ftattlihen Yamilien- 
fies in effigie, und feine Gattin fügt bei: „Erinnern Sie fi 
bey diefen Zeilen Ihrer wahren Freundin Margaretha 
Gugelberg:»on Moos geborne von Galis-Goglio“, 
und jpendet zum weitern Andenfen noch eine Miniaturland- 
Ihaft in Aquarell bei. Der Mutter jchließen fich die Kinder, 
Meyers Zöglinge, an, nämlid Joh. Rudolf, fodann An— 
dDreas und endlih Heinrich Gugelberg:von Moos, der 
nachmalige Landammann, Landesitatthalter und Tagjatungs- 
gefandte. Sie fallen ihre Wünfhe in das Sprüdlein zu- 
fammen: 


107 


„Himmel Halt du einen Gegen, 
Der auf Erden glücklich madt, 
D! jo jey er meinetwegen 
Meinem Lehrer zugedadt!“ 
und die Feine Freundin und Schülerin Liſette Gugel- 
berg:von Moos, der die Mutter beim Schreiben offenbar 
die Hand geführt Hat, erflärt: 
„Ich muß in meines Lehrers Stammbud hinein, 
Sollt es nur gefrazt wie eine Henne fein.“ 

Meyer reijte nach Genf, wo er bis 1794 als Helfer an 
der deutfchen Gemeinde wirkte. Cr heiratete dajelbit eine 
2hyonerin, Caroline CHoll. Auf der Reife nah Genf 
fehrte er in Lenzburg bei feinem Freunde, dem Kronenmwirt 
Samuel Strauß, an. Bier Tage fpäter jhließt er in 
Genf Freundſchaft mit einem Dr. Felß, der feine Widmung 
im Stammbud neben das Porträt feines Landsmanns 
Joachim Badian in den Scones ſetzt, der ihn zu dem Ausruf 
Hinreikt: «Excellent Vadianus que je t'aime! Que ton esprit 
repose sur les bons St. Gallois!» Unterm 14. Dezember 1789 
maht ein „Sacobus Bernhard aus Bünten“ in emp 
findfamen Berfen feinen überjhwänglihen Gefühlen Luft und 
empfiehlt ſich als aufrichtiger Yreund und „halber Gefatters- 
mahn“. Am 30. März 1790 mahnt fein Freund Jakob 
Warimann, V.D. M. den Kollegen, im Hinblid auf die 
zu erhoffende Uniterblichfeit weije und tugendhaft zu eben. 
Seine Glüdwünjhe zu Handen des Stammbuchinhabers und 
feiner Familie fügt am 25. März 1793 3. U. Beter bei. 
Und bald hernad gibt Daniel Flournois, ministre du 
St. Evangile, feinem Nachbar aufrichtig gemeinte Glüdwünjche 
für das jpätere Leben mit. Als guter Freund und Nahbar 
gibt ih auch Proſper Depoſſier zu erfennen und ſpricht 
jeine Freude darüber aus, Meyer und feine Zamilie fennen 
gelernt zu Haben. Aber 1794 nötigten die politiihen Wirren 
den Helfer der deutſchen Gemeinde, raſch und nit ohne 
Lebensgefahr zu fliehen. Er begab fih in die Vaterjtadt, 


108 


widmete jich hier vorübergehend dem Schuldienit und nahm 
dann 1796 die Stelle eines reformierten Pfarrers in Mar: 
fir) (Ste Marie-aux-Mines) in den Vogeſen an, die öfter 
von Bajel aus paftoriert wurde. Das Stammbud wurde 
natürlich mitgenommen, und am 8. Oftober 1796 erging id 
darin %. Reber fen. über die Kreundihaft, 9. Frank 
redete den jhönen Künſten und Wiſſenſchaften das Wort; 
er muß, aus den nebenjtehenden Emblemen zu jchlieken, 
eifriger Muſikfreund gewejen fein. Dann folgt Joh. Georg 
Neber jun.; er ftammte aus Mülhaufen und führte als 
Erfag für die eingegangenen Gilberminen die Fabrikation 
von Baummollenartifeln im Tale ein. Er war ein Kind der 
Aufklärung. Zugejtandenermaßen fein Sreund des geiltlichen 
Standes, wendet er fich nicht als Gemeindegenofje, jondern als 
Freund an den Prediger, dem er in gut rationaliltilder Weiſe 
allerlei wohlgemeinte Ratichläge erteilt. Ganz bejonders 
muntert er ihn auf, feine Fürſorge dem Schul: und Armen: 
wefen und der Krankenpflege zuzuwenden. „Sc traue Ihrer 
Philojophie zu, dag Sie meine Aufrichtigfeit nicht beleidigen 
wird, wan ic) Sie mehr als Freund als als Pfarrer Tiebe.“ 

Die Zeiten waren nicht dazu angetan, ein ländlicdhes 
Pfarrhausidyll in ſtiller Weltabgejchiedenheit durchzuleben; 
nit nur nad Genf, jondern aud in das abjeits gelegene 
Bogejental drang der Wellenſchlag der großen Revolution. 
Sm Gedanken hieran vertraute Meyers Tutherifher Kollege 
in Marfirh, der Prediger Fr. W. Schmidt, am 1. Auguft 
1800, an ein Dichterwort Klopitods über die Religion an- 
fnüpfend, dem Stammbud einen GStoßjeufzer an, der tief 
blicken läßt. „Wandeln wir immer“, jo äußerte er fi), „ge— 
troſt fort auf dem Wege unjers Berufs, wenn gleich die jezzigen 
Zeiten demjelben jo mande Hindernilje in den Weg legen! 
Unfer Werth jteigt Doch) immer nah) Makgabe unjerer An- 
ftrengung, unjerer Pflicht Genüge zu leiten und jede 
Schwürigfeit, die fi) bey Ihrer Ausübung zeigen mögen, mit 
Klugheit, Sanftmuth oder Geduld zu befiegen! Schmäht uns 


109 


der große Haufen — immerhin! Es genügt uns dann die 
Achtung der wenigen Weiſen und Redlidhen im Lande — die 
uns gewiß nicht fehlen wird, wenn wir find, was wir ſeyn 
follen!“ Und daß wir uns mitten im Revolutionszeitalter 
bewegen, das beitätigen zum Ueberfluß nod die leßten Da- 
tierungen nad) dem Revolutionstalender. Am 25. Meſſidor 
des Sahres 13 (von der Abjhaffung des Königtums an ge- 
rechnet) verjidern Ch. Caejar und ©. C. Basqual den 
reformierten Prediger ihrer Sympathien, und am 7. Ther- 
midor ebenfalls des Jahres 13 nimmt Frédéric Caeſar 
nach einer ahtjährigen Freund: und Nachbarſchaft mit herz- 
lihen Morten Abjhied von Daniel Meyer, der neuerdings 
unter dem Drud der politiſchen Ereignijje den Wanderftab 
ergreifen muß, um nun bleibend in die Heimat zurüdzufehren, 
mo er von 1806 an als Geijtlicher der Gemeinde Arisdorf ein 
beihauliches Dajein zu führen und in jtillen Stunden an 
Hand feines Stammbuds Rückſchau über fein Geſchlecht und 
fein eigenes Leben zu halten Muße genug finden modte. 

Shlußbemerfung. Erit nah Drudlegung obiger 
Arbeit hatte ich Gelegenheit, von dem mir vor kurzem be- 
fannt gewordenen Briefwedjel der Familie Meyer (zum 
Hirzen) im Beli der Kaijerlichen Univerlitäts- und Landes: 
bibliothef in Straßburg Einfiht zu nehmen. Dieſe reich— 
Baltige Sammlung von Briefen aus dem 16. und 17. Jahr⸗ 
Bundert wanderte im 18. Jahrhundert mit einem Zweig der 
Familie M. nah Mülhaujen, fam jpäter durch Kauf in 
den Beliß des Kirchenhijtorifers I. W. Baum in Straßburg 
(Bgl. p. XVI feines Vorworts zur Biographie der Gtraß- 
burger Reformatoren Capito und Bußer in „Leben und aus= 
gewählte Schriften der Väter und Begründer der reformierten 
Kirche“) und wurde endlih Eigentum der genannten Biblio- 
thef, deren Verwaltung mir die Benüßung des Briefwechſels 
in Straßburg und Bajel in Tiberaliter Weife geftattete. Ich 
hoffe, gelegentlich auf ihn zurüdzufommen. 


110 





$ azaretterinnerungen 


aus dem Ariege von 1870/71. 
Don Dr. R. Deri-Sarafin. 


In den erjten Sulitagen des Sahres 1870 war der Aus— 
brud eines Krieges zwiſchen Frankreich und Deutſchland ſehr 
wahrjheinlich geworden. Man atmete wieder auf, als die 
Angelegenheit der ſpaniſchen Thronfolge geregelt ſchien. 

Aber am Abend des 15. Juli, an einem Freitag, Iangten 
Die Nachrichten von Ems und Berlin an über die Abweiſung 
des Grafen Benedetti durh König Wilhelm und, als Echo 
aus Paris, die Notiz: Guerre imminente. 

Als Abends nad) 9 Uhr Trommelflang in den Straßen 
Bafels erjchallte, eilte alles hinaus, da man glaubte, den 
Generalmarih zu hören. Es waren aber die friedlichen 
Waifenfnaben, die, von ihrem Sommerausflug heimfehrend, 
jo großes Auffehen erregt hatten. 

Am folgenden Tage, vormittags, wurde dann wirkflid 
Generalmarſch geihlagen und das Einrüden des Auszüger 
Halbbataillons durch öffentlihes Ausrufen befohlen. Während 
der folgenden Nähte und Tage rüdten die eidgenöfliihen 
Truppen in anjehnlider Menge zur Bejeßung der Grenzen 
ein, als erite Schüßenfompagnien aus Yargau und Bajelland; 
auch das Bajelbiet befam reihlihe Einquartierung. 

Die Aufregung war allgemein jo groß, daß die Köpfe 
wenig bei der Arbeit waren. Wir Studenten hatten ja 
ohnehin jeßt Ferien, da damals in Bajel noch die eigentüms 


*) Als Bortrag für das Rote Kreuz entworfen. 


111 


liche Einridtung beitand, daß das Sommerſemeſter durch vier 
Wochen Ferien, — von Mitte Juli bis Mitte Auguft, — in 
zwei Stüde geteilt war; von Mitte Augult bis Ende Gep- 
tember wurden dann wieder Vorlefungen gehalten. Ge— 
arbeitet wurde von den Studenten in jenen Ferientagen fait 
nichts; man bummelte am Morgen bei den Soldaten in der 
Stadt und am Nachmittag in den Dörfern herum und beriet, 
wie man dem VBaterlande dienen könnte. Durd) ein ſchwung— 
volles Telegramm unjeres Präſes, U. v. Salis, ftellten wir 
Zofinger uns dem ſchweizeriſchen Bundestate zur Verfügung. 

Als nun die erite Aufregung Jich gelegt hatte, forgte für 
einige Ernüdterung der Umjtand, daß, nachdem am 19. Juli 
die franzöfiihe Kriegserflärung in Berlin übergeben worden 
war, nun ungefähr vierzehn Tage lang vom Kriege nidts 
zu vernehmen war. Die Zeitungen fonnten nur ganz vage 
und widerſprechende Gerüchte bringen, und jo fonnte man in 
Crmangelung befjerer Einfiht jo recht fannegießern und, je 
nah der Neigung, den Sieg bald den Deutjchen, bald den 
Sranzofen zufpredhen. In Baſel erwartete die Mehrheit wohl 
den Gieg der Franzoſen, deren friegeriicher Nimbus von 1859 
troß des feitherigen Mikerfolgs in Mexiko weiter bejtand. 
Man hätte eigentlich jeit 1864 und 1866 vorjihtiger urteilen 
müjlen. Warum fo Biele ihre Sympathien Frankreich zu— 
wandten, ilt mir heute nod) ein Rätjel, da man durch Sprade, 
Bildung, Sitte und Religion doch dem Deutfhtum fo viel 
näher jtand als dem Napoleoniſchen Yranfreid. Cs hieß, 
daß die Kaufleute, von denen viele in Frankreich gelebt Hatten, 
im Handelsverfehr die Franzoſen vorzögen, und daß dies die 
Urſache ihrer franzöfiihen Sympathien ſei. Ein guter Teil 
unferer Bevölferung aber, darunter viele der Gebildeten, 
hoffte auf den Gieg der deutihen Waffen. Obwohl man nit 
direkt beteiligt war, befämpften fi) doch die beiden Rich— 
tungen in unfrer Stadt aufs fohroffite, es fam zum Bruch von 
Freundſchaften und felbjt zu Spaltungen innerhalb der Fa— 
milien. Man fann daraus nur auf die ungeheure Erregung 


112 


ſchließen, die die friegführenden Völker ſelbſt ergriffen Hatte. 
Charafteriftifch für die damalige Stimmung iſt es, daß, als 
ein Basler Kaufmann fih auf der Lejegejellihaft etwas 
frei über Deutichland geäußert Hatte, er von einem anwejen- 
ven Lejer auf der Stelle zur Satisfaftion mit den Waffen 
gefordert wurde. Die Karte, die diejer übergab, trug den 
Namen eines bedeutenden deutihen Profellors. Der Basler 
hielt es nicht für nötig, diejer fremdartigen Forderung nach: 
zufommen, und die Sache verlief im Sande. 

Genug, man mußte abwarten, und das veranlaßte au) 
mid, wieder an das Studium zu denken, jtand mir als Stu- 
diosus medicinae doch für den Anfang des Winterfemeiters 
das propädeutiihde Examen bevor. 

Sch zog mit meinen Büchern aufs Land, um im Eltern- 
Haus zu arbeiten; es fam aber nicht viel dabei heraus, da 
unfere Gegend militärifch ſtark befegt war. Als id dann 
durch die Thurgauer Bataillonsärzte Bridler und Albrecht 
mit dem Bude: „Unter dem Rothen Kreuz“, einem nad) dem 
Mufter von Dunants „Solferino“ gearbeiteten Werfe, be- 
Iannt wurde, war vollends alles Intereſſe für die propä- 
deutiſchen Fächer dahin und es erwadte die Sehnjudt, doch 
aud hinaus zu fönnen, in eine nüglide Tätigkeit. 

Sch Hatte ſchon im Winterjemejter 1869/70 bei Gocin 
Allgemeine Chirurgie gehört, im Frühling 1870 bei Dr. Cour- 
noilier im Verbandfurs Hofpitiert und im Sommer darauf 
öfters die Klinik bei Socin bejudt. Ich Hatte eine Anzahl 
von Operationen gejehen und mid Hinzugedrängt, jo daß 
mid) Socin, bei der Fleinen Studentenzahl von damals, zum 
Aſſiſtieren zuließ. Eigentlich hätte ih) nad) dem damaligen 
Stande meiner Studien dort nichts zu tun gehabt. Als dann 
am 4. Auguſt mit Weikenburg die Schladten begannen und 
die Berichte von den großen Berlujten auf beiden Geiten 
einliefen, wurde meine Unruhe größer, und es 309g mid) nad) 
Bafel, aber nicht wegen der Kollegien, die in vierzehn Tagen 
beginnen follten. Ich nahm an einem Verbandkurs teil, den 


113 8 


der damalige Aſſiſtenzarzt der hirurgiihen Klinik, Dr. Rus 
dolf Maffini, im Hinblid auf den Krieg für einige Studenten 
täglich abhielt. Wir übten uns fleikig, indem wir uns gegen- 
feitig Verbände anlegten, und in furzer Zeit Hatte ich eine 
gute Uebung aud in den fomplizierten Bandagen, deren Be— 
herrſchung die damalige Chirurgie von ihren Süngern ver: 
langte. 

Profeſſor Auguſt Socin, der Direktor der dirur: 
gifhen Klinik, war ſchon nit mehr in Bajel; er war vom 
Badilchen Frauenverein, der unter dem WProteftorate der 
Großherzogin von Baden ſtand, nad) Karlsruhe berufen 
worden, um ein Rejervelazarett einzurichten und zu betreiben, 
und war am 9. Yugujt mit Basler Aerzten, einigen Studenten 
und Diakoniſſen abgereilt. Er wollte im Yalle des Bedürf- . 
niſſes weitere Hilfskräfte heranziehen, und jo näherte ſich 
aud) für meine ſchwache Kraft der Moment, wo meine Sehn— 
ſucht geftillt werden fonnte. Dr. Maflini nahm mid auf 
die Lite der zu Empfehlenden. Auch meine Eltern ließen 
ihre anfänglichen Bedenken fallen. 

Sch las damals noch ſchnell die vier chirurgiſchen Briefe, 
die Brofejlor Nußbaum in Münden für die ins Feld ziehenden 
Militärärzte gejchrieben Hatte. In Pirogows Grundzügen 
der Allgemeinen Kriegshhirurgie, der Frucht feiner Tätigkeit 
im Krimfriege, hatte ich ſchon früher herumgeftöbert, das 
Bud war mir in der Kantonsbibliothef zu Lieftal in die 
Hände gefallen. 

Da man nun in der Schweiz deutlicher erfannte, daß fie, 
mwenigitens vorerft, nicht Kriegsichauplaß fein werde, wurden 
die eidgenöfliihen Truppen nah) und nad) von der Grenze 
zurüdgezogen. Bevor fie Bafel verließen, fand am 17. Auguſt 
durch General Herzog eine Mufterung über die abziehende 
Divifion Egloff auf der Schüßenmatte ſtatt. Das Wetter 
war prächtig, die Truppen machten auf die Bevölkerung, die 
in Maſſe Hinausgejtrömt war, den beiten Eindrud. An jenem 
Morgen erjt verbreitete fi) wie ein Lauffeuer das Gerücht, 


114 


daß Straßburg belagert werde, daß man die Stadt beichieke 
und daß es an mehreren Orten brenne; es wurde zuerjt mit 
Zweifel belädelt, als eine Unmöglichkeit in unjerem Humanen 
Zeitalter. Und als nun die Nachrichten der folgenden Tage 
die Sache beitätigten, entbrannte bei vielen der Zorn über 
diefe Barbarei. Man wußte im Bublifum augenſcheinlich 
gar nicht, daß die Stadt, von der man jo oft gefungen hatte: 
„gu Straßburg auf der Schanz“, immer nod eine Feſtung 
und Daher der Möglichkeit einer Belagerung ausgefeßt jei. 
Yeberhaupt hatte man von einem Kriege feine rechte Vor— 
ſtellung. 

Am 25. Auguſt fragte Maſſini bei Socin an und erhielt 
telegraphiſch die Antwort, daß ich kommen ſolle; am Nach— 
mittage des 26. Auguſt fuhr ich mit der Badiſchen Bahn weg, 
die Fahrt geſchah auf Koſten des Deutſchen Hilfsvereins in 
einem Wagen dritter Klaſſe. 

Es ging in der Eiſenbahn lebhaft zu; jedermann 
politilierte, und weil man gerade in der Nähe der Schweiz 
war, wurde auf dieſe gejchimpft. Die Deutjhen waren 
durch die fo oft und oft aud unnötig geäußerten Sym— 
pathien für Frankreich geärgert und empfanden jede Grenz- 
fiherung gegen Baden als Schikane, aud) das heute jelbit- 
verjtändlide Verbot, badilhe Truppen in Uniform die 
Gebiete von Bajel und Schaffhaufen paflieren zu laſſen. Als 
das Thema Schweiz erihöpft war, fam Frankreich an Die 
Reihe, deſſen entjeglihe Niederlagen vom 14.—18. Augult 
in den Schlachten von Colombey-Nouilly, Vionville-Mars- 
la-Tour und Gravelotte-St Privat nun erjt jo recht befannt 
geworden waren. Der Triumph des Siegers ftand auf allen 
Gelihtern, der Spott über Napoleon Fang aus jedem Wort, 
und das deutſche Gelbitgefühl jtand im Begriffe, feine höchſte 
Stufe zu erjteigen. Ich verhielt mich ruhig, auch bei dem 
Gefhimpfe über die Schweiz, da id) einiges als wahr aner: 
fennen mußte; auch hätte ein Streit zu feinem vernünftigen 
Refultat führen und höchſtens meine Pläne jtören fönnen. 


115 8* 


Das damals noch franzöſiſche Elſaß lag friedlich da drüben 
im Dufte eines herrliden Sommerabends. Wie erjtaunte 
ih, als ih im Laufe des Abends auf eine hohe Raudjäule 
aufmerffam gemadt wurde, die vom Brande von Straßburg 
herſtammen ſollte. Je weiter wir famen, um ſo deutlicher 
wurde fie, und den ganzen Abend verlor ich fie nicht mehr 
aus den Augen. Bon Offenburg an fam die Dämmerung, 
die Raudfäule verfhwand und madte am Horizont einer 
Brandröte Plat. War ſchon vorher die Fahrt ſehr Tangjam 
mit Halt an jeder Station vor fi) gegangen, jo gab es nun 
Aufenthalte von halbjtündiger Dauer. In der Gegend von 
Appenweier fonnten wir vom Zug aus direft in das mächtige 
teuer bliden und an einer Gtelle jogar einen neu auftreten- 
den Brand beobadten; man jah das Aufbligen der Gefchüße 
und feurige Bogen von Geſchoſſen in der Luft und hörte das 
Donnern der Kanonen. In unfern Wagen drängte ji) ein 
badifher Militärarzt, der gerade von den Batterien herfam 
und einen Verwundeten in unferem Zuge untergebradt hatte. 
Dies alles brachte mich in wenigen Stunden jo redht in die 
Atmojphäre des Kriegs. Bom Beginn der Einjhliegung, am 
11. Auguft, bis zum 24. waren vor Straßburg nur Feld— 
batterien zur Beſchießung verwendet worden, in der Nadt 
zum 25. traten die ſchweren Belagerungsgelhüßge in eine 
Tätigkeit, die in der folgenden Nacht ihre höchſte Steigerung 
erreichte; aud in der Naht zum 27., von welder hier die 
Rede ijt, wurde die Beihießung allfeitig weitergeführt. — 

Nachts Halb zwölf Uhr fam ih nad) Karlsruhe und war 
froh, nahe beim Bahnhof im Grünen Hof ein Quartier zu 
finden. Der Gajthof war ſtark befett, befonders auch von 
Durdhreifenden Offizieren. Beim Frühſtück am nädjiten 
Morgen Ärgerte mid) eine deutſche Yamilie, die die eben be— 
fannt gewordene Berlegung des Straßburger Münfters durch 
Schrapnellgeſchoſſe nicht nur begreiflich, ſondern löblich fand. 
Meine gute Stimmung fehrte zurüd, als ein biederer älterer 
Schweizer Arzt, ein Praktiker aus der Oſtſchweiz, ſich zu mir 


116 


fegte und mir erzählte, daß er auf eigene Fauſt nad den 
Schlachtfeldern zum Helfen ausgerüdt jei und nun in Karls- 
ruhe Weilungen zu erhalten Hoffe. Er zeigte mir einen Lein— 
wandjad, in dem es unheimlich flapperte; es war fein In— 
ftrumentarium, das aus einem Dubßend fußlanger Kugel: 
sangen mit löffelförmiger Spite beitand und ſchon im Sonder: 
bundsfriege oder weiß Gott in welchen ſchweizeriſchen Putſchen 
gedient haben mochte. Sonſtige Inſtrumente Hatte er nicht, 
feine Kriegshirurgie ſchien jih auf das Kugelausziehen zu 
beſchränken. Ob er bei den Deutjchen ein Feld für feine 
Tätigkeit gefunden Hat, weiß ich nicht. 

Am Morgen des 27. Auguſt juhte ic) das von Socin 
geleitete Bahnhoflazarett auf. 

Deitli von der Stadt, eine Vierteljtunde vom Perſonen— 
bahnhof entfernt, in einem flachen, etwas Jumpfigen Terrain 
lag dieſer 140 Schritt lange und 72 breite Schedbau von 
10% Meter Firithöhe mit feinem jtaffelförmigen Dache und 
feinen nah Norden gerichteten Dedenfenftern. Im Innern 
war das Dad durch eiferne Säulen gejtüßt. Der Bau war 
erit vor furzem als Werfitätte für ZYofomotivreparaturen er: 
richtet und noch nicht zu feiner Beitimmung gebraudt worden. 
Ein Geleife der Eijenbahn führte an der nördlichen Schmal- 
jeite mittelft zweier Tore durd) einen Vorbau Hindurd), fo daß 
Züge durch diefes Ende des Raumes Hindurdfahren fonnten. 
An der füdlichen Schmaljeite waren beim Beginn des Krieges 
Zimmer für wachehabende Wärterinnen und Werzte, Weib- 
zeugfammern, ein Verwaltungsraum, ein Operationsjaal und 
ein Zimmer für den Chefarzt angebaut worden. 

Beim Eintreten dur) das etwas erhöht liegende Bureau 
überjah man den immenfen Lazarettjaal, — nur um weniges 
fleiner als der Basler Münfterplat, — mit feinen 400 Betten 
in einem einzigen Raum. Es war ein ganz überwältigender 
Anblid, diefe durch Oberlicht hellerleuchtete Halle mit dem 
bunten Gemifh von VBerwundeten, weißgeſchürzten Aerzten, 
MWärtern und Schweitern und den wadeltehenden Soldaten. 


117 


Der Saal war jo groß, daß jeine entfernten Teile nur ein 
allgemeines Gewimmel von Menſchen erkennen ließen und 
ein Gejumme, aus dem man etwas deutlicher nur die Stimmen 
der nächſten Aerzte und das Stöhnen Verwundeter vernahm. 
Bunte Uniformjtüde, die rothen Kreuze des Wartperfonals, 
die roten Kappen der Turfos, die hohen weißen Schleier der 
fatholiihen Schweitern und die hellblauen Waſchkleider der 
MWärterinnen gaben dem Bilde einige Farbe, Blumenjtöde 
neben den Betten und einige Gebüſchgruppen dem Saal ein 
freundliches Ausjehen. 

Socin, der eben auf der Viſite begriffen war, winfte mid) 
von weitem zu jih. „Recht, daß Sie gefommen Jind, ic) gebe 
Shnen gleich Arbeit, ziehen Sie eine friſche Schürze an und 
fommen Sie mit zu Lo.“ Er führte mid) in eine Abteilung 
in der Mitte des Saales und übergab mich) dem mir faum 
vom Sehen befannten jungen Basler Arzt mit den Morten: 
„Sp, 208, hier haben Sie einen Aſſiſtenten, adieu.“ Dr. Lotz, 
eben mit Verbinden bejhäftigt, war froh, einen Gehilfen zu 
befommen, und ich froh, in weniger als zehn Minuten feit 
meinem Eintritt jchon angreifen zu fünnen. 

Socin Hatte bei feinem Eintreffen in Karlsruhe den 
Dienit jo organijiert, daß er die Patienten in ſechs Haupt: 
abteilungen mit je 60-70 Betten und einem Ordinations- 
tiihe teilte. Sede Abteilung hatte einige Aerzte und Stu— 
denten, eine Anzahl Schweitern und Wärter. Je nad) Zwed- 
mäßigfeit zerfiel eine jolde Abteilung wieder in Unter: 
abteilungen. Für einzelne Zufjtände, wie ſchwere Blutver- 
giftung oder Wundjtarrframpf, waren abgejonderte Verſchläge 
vorgejehen. 

Dur die Mitte des Saales, von einer Schmalſeite zur 
andern lief, um zwei Stufen tiefer als das übrige, ein breiter 
Raum, in dem die Tiihde und Kommoden für Verbandzeug 
und andere Utenjilien jo aufgeitellt waren, daß man da— 
zwiſchen leicht zirfulieren fonnte. Diefer Raum wurde ge- 
freuzt von einem zweiten, ebenfo breiten, der die Mitten der 


118 


Längswände miteinander verband; er nahm auf einer Seite 
die Apotheke, auf der andern den Altar für den fatholiihen 
Gottesdienit auf. Die Küche, die Vorratsräume und Abtritte 
waren außerhalb des Saals an den Längswänden aus Balfen 
und Brettern angebaut. Ganz außerhalb des Gebäudes ſtanden 
Baraden für eine Waſchküche, eine Leihenfammer mit Gel: 
tionsraum, ferner jolde für die militärishe Wachtmannſchaft 
und zur Aufbewahrung der Monturjtüde. 

Alle dieſe und die früher genannten Anbauten waren 
mit unglaublider Schnelligkeit unter Zeitung der Ingenieure 
von den Eifenbahnarbeitern hergeitellt worden. Der Badilche 
Srauenverein jorgte für Betten, Geſchirr, Wäſche, Verband- 
zeug, Nahrung und Medikamente. Als Socin, der ſich in die 
Gegend von Wörth zur Heranholung Verwundeter verfügt 
heite, am 14. Auguſt zurüdfehrte, fand er fein Lazarett mit 
261 Bann bejegt. Ich bemerfe gleich Hier, daß die größte 
Zahl am 14. Auguſt mit 283 Batienten erreiht wurde; eine 
viel größere Zahl Hätte man faum aufnehmen fünnen, die 
Belegung mit 300 Mann war von vorneherein als das Mari- 
mum angenommen worden. Die Gejamtzahl der Verpflegten 
beirug 643, wovon 373 Deutiche und 270 Franzoſen. 

Die Anhäufung jo vieler Verwundeter in einem gemein: 
jamen Raum Hatte am Anfang große Bedenken erregt, aber 
man mußte bei dem großen Zudrange alle verfügbaren 
Räumlidfeiten belegen. Um wenigitens feine jtagnierende 
Luft zu haben, ließ Socin aus dem unteren Teil der Lazarett: 
mauer und aus den Türen große Quftlöcher ausbreden und 
einen Teil der Dachfenſter entfernen. Ein Abzugskanal, der 
aus dem Gebäude ins Freie führte, fonnte mit dem Waljer 
eines Sodbrunnens gejpült werden, der in der Mitte des 
Gaals lag; einem Kanal neben dem Gebäude fonnte man 
alle möglichen Abfälle übergeben. 

Daß auf die Reinhaltung des Fußbodens und der Betten 
große Sorgfalt verwendet wurde, war bei Gocin felbitver- 
jtändli; ich erwähne es nur ausdrüdlich, weil ih noch 1872 


119 


jah, dag auch in dem friedlichen Betriebe einer deutſchen 
Univerfitätsflinit nah Ddiefer Richtung nur wenig getan. 
wurde. 

Als es im Herbit Fühler wurde, mußte an Heizung ge= 
daht werden. Man jtellte zuerjt große Kohlenbeden auf, 
doch genügten fie nit. Schließlich Tießen die Ingenieure in 
vergitterte Rinnen des Fußbodens eine Röhrenleitung legen, 
die von einer Lokomotive mit Dampf gejpeijt wurde. Diefe 
Einrihtung tat vorerft ihren Dienjt, verjagte aber, als es 
Ende DOftober und Anfang November wirflih falt wurde. 
Man fah fi auch gezwungen, einen Teil der Bentilations= 
löcher zu fihließen, und das ſchien nicht ganz ohne nadteiligen 
Einfluß auf den Gejundheitszujtand zu bleiben. 

Die Drdnung für den Tagesdienjt jhrieb vor, daß vor— 
mittags 8—11 Uhr in jeder Abteilung die ärztliche Viſite 
Dur die Abteilungsärzte mit ihren Afjiitenten jtattfinden 
ſollte. Dann verfammelten fi) Aerzte und Studenten in der 
Dperationsbarade, wo Socin die großen Operationen, wie 
Amputationen, NRejeftionen und ſchwierige Gplitterertraf- 
tionen vornahm oder durch einzelne Aerzte ausführen ließ. 
Als fein jpezieller Operationsafliitent funktionierte Dr. Cout= 
poilier, der in der übrigen Zeit ji) mit Socin bald diejer bald 
jener Abteilung widmete, um Rat zu erteilen oder Verbände 
mit bejonders jehwieriger Technik, 3. B. Schwebeverbände, 
auszuführen. Socin durdeilte das Lazarett nah allen Rich: 
tungen und jtand immer zur Verfügung, wo man Schwierig- 
feiten hatte, wo Entſcheidungen zu treffen waren, oder wo 
eine dringende Not, 3. B. eine arterielle Blutung, raſches Ein— 
greifen erforderte. Auch außer der offiziellen Operations- 
ſtunde jah man die Wärter oft mit der Bahre nad) dem Ope— 
tationsjaale eilen. Dort wurde der Patient von der Opera- 
tionsjchweiter, der Riehener Schweiter Anna Stoll in Emp— 
fang genommen, die Inſtrumente und Verbände jtets ge= 
braudsfertig zu Halten Hatte. 

Nachmittags zwiihen 1 und 4 Uhr waren die meilten 


120 


Aerzte in der Stadt, das Lazarett wurde dann von zwei 
Yerzten und einigen Affiftenten gehütet. Bon 4—7 Uhr war 
wieder Bilite,; auch) da, wo am Abend fein Verband gemadht 
werden mußte, gab es doch Arbeit genug, bis alle Verwun— 
deten für die Naht gut gelagert und einzelne in ein friſches 
Bett gebradt worden waren. Während der Nacht blieben 
zwei Aerzte mit zwei Aſſiſtenten und einer größeren Anzahl 
von Pflegerinnen auf der Wache. Sämtlihe Ordensfchweitern 
und Diafonijjen wohnten in Anbauten des Lazaretts, während 
die freiwilligen Pflegerinnen in der Stadt übernadteten. 
Die Abteilung, in welche ich zunächſt eingeteilt wurde, 
beitand aus 15 Schwerverwundeten, Franzoſen und Deutſchen, 
faſt ausjchließlich aus der Schlacht bei Wörth oder Rigshofen, 
wie die Franzoſen jagten. Die meiften hatten Knochenſchüſſe 
mit Zerſchmetterung der Knochen, bejonders der Oberſchenkel; 
einige waren in Bruſt, Baud und Beden getroffen. Diele 
15 Patienten gaben uns vollauf zu tun; bei einzelnen dauerte 
es eine halbe Stunde und länger, bis fie verbunden und ge— 
lagert waren. Melde Leiden Hatten diefe Zeute ſchon durch— 
gemadt, bis fie mit ihren zerichojjenen Gliedern endlich im 
Rejervelazarett der Heimat angelangt waren! Blutverlujte, 
Schmerzen, Fieber, Eiterung, oft auch Diarrhoeen hatten zu 
phyſiſchem und moraliſchem Elend geführt und jie in einen 
beflagenswerten Zuitand gebradt. Wenn man dann aud 
bei aller Schonung und Borliht diefen ſchwerbeweglichen 
Leuten beim Reinigen, Verbinden und Lagern wehe tun und 
all diefes Seufzen und wohl auch Schreien anhören mußte, 
jo waren aud) den Behandelnden oft die Tränen nahe. Ich 
jah gleich, daß es fi) da nicht nur um Helfen beim Verbande 
und hirurgifhe Pflege der Wunden handle, fondern daß ich 
mit meinen guten Körperfräften fajt am nützlichſten wirke, 
wenn ic) beim Heben und Tragen diefer Unbeweglichen willig 
angreife und die Leiden auf dieſe Weiſe zu mildern ſuche. Ich 
habe mir damals eine Gejhidlichfeit nach diefer Richtung er= 
worben, die mir fpäter in der Praris gute Dienite leijtete. 


121 


Einzelne der jungen Aſſiſtenten hielten fi) für zu vornehm zu 
ſolchen Verrichtungen, die nad) ihrer Meinung nur für Wärter 
paßten. Aber ein junger Menſch darf nicht mit Anſprüchen 
auf bejondere Wertfhägung feiner Kenninijje an jeine Auf- 
gabe gehen, fondern er foll da angreifen, wo es etwas Nüß- 
lies zu tun gibt. Man fann nicht, wie man gerne wollte, 
alle Leiden Heilen, aber man fann ohne große Wiſſenſchaft 
wohltun, wenn es aud) nur durch Teilnahme, ein freundliches 
Mort oder eine fleine Gefälligfeit geſchieht. Einer unſrer 
MWärter, ein junger Schweizer mit dem Bornamen Karl, illu- 
itrierte täglich das eben Gejagte beim Verbande des durch das 
Knie geihoflenen deuten Füſiliers Schenf. Das Knie war 
zeriplittert und in Eiterung begriffen, das Verbinden und 
Lagern äußerſt ſchmerzhaft, und wir fürdteten uns täglich 
vor diefem Verbande, der von dem Fläglidhen Geſchrei des 
Patienten begleitet war. Schenf war bei Gravelotte getroffen 
worden, in einem Kleeader liegen geblieben, war dann mittelft 
der Hände und des gefunden Beins, auf dem Baudhe liegend, 
an den Rand des Aders gefrohen und hatte dabei im Klee 
eine hübjche hölzerne, mit Silber bejchlagene Tabafpfeife ge- 
funden. „Die muß aud, mit“, fagte er zu ji und jtedte fie 
ein. Wenn nun im Lazarett die Reihe des Verbindens bald 
an ihn Fam, holte der Wärter aus dem Nachttiſchchen die er- 
beutete Pfeife, jtopfte fie umjtändli mit Tabaf, entzündete 
fie in dem Moment, wo die Schmerzen begannen und ftedte 
tie dem Patienten in ven Mund. „So, Schenf; je ziehnd 
Sie numme recht!“ Der arme Kerl zog nun aus Leibes- 
fräften und blies dide Wolfen. „Nummesn-als witers 
g’raudt“, jo ging es die ganze Zeit, „jo iſch's recht, witer, 
witer“, jo daß der VBerwundete von unjerer Arbeit abgelentt, 
jeine Schmerzen weniger empfand und, die Pfeife im Mund, 
uns fein Schreien erjparte. 

Ein anderer unfrer Batienten erregte meine bejondere 
Zeilnahme aus anderen Gründen. Er war als Barifer 
Studiosus juris unter die Fahne geeilt, hatte bei Wörth einen 


122 


“+ 


Schuß in den redten Oberarm mit Splitterung erhalten und 
war am jiebenten Tage nad) Karlsruhe gelangt; man hatte 
ihm bier zweimal Knochensplitter entfernt und war ge- 
swungen, am 15. Tage die Amputation zu maden. Geine 
Mutter, eine zarte Dame, hatte es unternommen, ihn aufzu- 
juden, Hatte ihn endlich gefunden und mußte nun fein Elend 
mit anjehen; jie wich) den ganzen Tag nicht von feinem Belt. 
Nach der Amputation ſchien es gut zu gehen; der junge, jchöne 
Mann verlor etwas von feinem Ddülteren Ausdrud, — da 
plößlid, am 28. Tag jtellten ſich zwei Schüttelfröjte ein und 
zugleid) der ominöſe fahlgelbe Teint der Pyämiſchen. Die 
Mutter, aufs äußerſte erſchreckt, wünjchte den Sohn in einem 
fleinern, ruhigeren Spital verjorgt zu jehen, und fo befam 
ih von Socin den Auftrag, den Transport zum Diakoniſſen— 
haus zu leiten. Der Kranfe wurde in einem Korbwagen von 
Vadträgern durch die Stadt gezogen; die Mutter und ih 
gingen neben ihm her. Auf dem Bahnhofplag hörten wir 
das Stöhnen des Patienten; er hatte, auf dem Rüden liegend, 
erbroden und fühlte fi) ſterbensſchwach. Während wir ihn 
reinigten und jtärkten, drängte das neugierige Publikum 
Hinzu, und es brauchte meiner energijhen Zurüdweijung, um 
den nötigen Pla zum Helfen zu befommen. Nach diejer auj- 
regenden Scene ging die traurige, langjame Fahrt weiter, 
und nad) mehr als einer Stunde fonnte ich den Berwundeten 
dem Diafonijjenhaus übergeben. Er jtarb acht Tage jpäter. 
— Ungefähr eine Woche vorher war in einer anderen Ab— 
teilung ein Heidelberger Studiosus juris mit Durchſchießung 
der Hauptarterie des linfen Oberſchenkels, nad) Unterbindung 
des Gefäkes, an Brand des Beins geitorben; man hatte ihn 
zwei Tage vor dem Tode durd hohe Amputation zu retten 
verjuht. Es iſt begreiflid), daß uns Studenten das Schidjal 
diefer beiden Kommilitonen bejonders nahe ging. 

Als Dr. 2oß für einige Tage mit dem badiſchen Lazarett— 
zug nad) Frankreich gereijt war, wurde unjere Abteilung vor- 
übergehend mit derjenigen der beiden Freiburger Werzte 


123 


Dr. Bögeli und Stabsarzt Dr. Thiry vereinigt. Hier waren 
die Patienten meift Franzofen, darunter einige Hüninger 
Küraffiere, die urchiges Sundgauer- oder Waggisdeutſch 
ſprachen. Es waren darunter ältere Troupiers mit à la Na— 
poleon geitugtem Schnurr- und Kinnbart; ein jeder trug 
unter dem Hemde ein Sfapulier. Zwiſchen Franzoſen und 
Deutfhen lagen Turfos, die nur wenige franzölilhe Broden 
zur Verfügung Hatten und fi) durch ihren Dolmetſcher Haſſan 
ben Abdallah veritändlich machen mußten. 

Nach dieſem eriten Blid in die Stätte unjerer Tätigkeit 
muß ich wieder auf die Organiſation zurüdfommen. Mit 
Socin waren als Aerzte von Balel nach Karlsruhe gefommen: 
Prof. E. E. E. Hoffmann, feines Berufs eigentlid) Projektor 
an der Anatomie, im Lazarett jedoch ärztlich tätig, Dr. Fri 
Müller, der jpätere Ratsherr, Dr. ©. 2. Courvoijier, Dr. Th. 
208, Dr. 8. Breiting und Dr. Arnold Ott, leßterer als Leiter 
einer Sfjolierabteilung tätig. Es ijt dies derjelbe Dr. Dtt, 
der fi [päter als Dichter einen Namen gemadt hat. Später 
famen noch hinzu die Doktoren U. Hugelshofer und Fr. Hold). 
Von deutihen Aerzten waren angeltelit die Doktoren Bögeli, 
Thiry und Brunner aus Freiburg, Dr. Niffel aus Lörrad), 
Dr. Schüßenberger aus Konjtanz, Dr. Berton aus Baden- 
Baden, Dr. v. Wänfer aus Karlsruhe, Dr. v. Dejlauer und 
ein Oeſterreicher, Dr. Hechelmann, für einige Zeit aud) Dr. 
Picard aus Karlsruhe. Brof. Edwin Klebs verjah Die 
Funktion eines pathologiihen Anatomen und jpäter zugleich 
die eines Spezialijten für Nervenverlegungen. Er hatte hiezu 
eine eigene Barade mit eleftriiher Einrihtung Während 
Abweſenheit von Klebs wurden einige Geftionen von Prof. 
Hoffmann gemadt, mehrere von Prof. Meier aus Freiburg, 
dem Verfaſſer der Gejchmulitlehre, einem vortrefflichen, 
freundliden Manne. Im Herbit jah ich im Lazarett aud 
zum eritenmale Prof. Ernit Bergmann, der dann jpäter an 
Socins Stelle trat. 

Als Hilfsaffiitenten waren von Schweizern angeltellt die 


124 


Basler Studenten Ineichen, Imfeld, van Hoeven, Deri, Barth 
und Bojjart und die in Bern ftudierenden Studioli Sean: 
neret und Müller. Dazu famen einige Freiburger und Heidel- 
berger Studenten, an deren Namen id) mich nicht erinnere. 
Als Apotheker funktionierte ein Mann mit dem paljenden 
Namen Braunftein; er war zugleich Materialverwalter und 
hatte bejtändig das in der Mitte des Lazaretts aufgeitellte 
Faß mit Iprozentiger Carbollöfung gefüllt zu erhalten. 
Die Aerzte und Studenten ftanden im Gold des badifchen 
Srauenvereins; wir Studenten befamen einen Tagesfold von 
zwei Talern und zur Legitimation die weiße Armbinde mit 
dem roten Kreuz und dem Stempel des Krauenvereins. 
Der Bewahungsdienit wurde von Soldaten ausgeübt, 
die unter dem Plagfommando von Karlsruhe jtanden. An 
jeder Pforte oder Lüde jtanden militäriihe Bolten. In Ge: 
nejung begriffene Franzoſen wurden truppweije unter mili— 
täriiher Esforte als Kriegsgefangene weggeführt und ver- 
tauſchten ungern die gute Pflege und Kojt des Lazaretts mit 
dem bevorjtehenden Aufenthalt in der Feſtung Rajtatt. Aber 
der Plagfommandant, General von Freydorf, duldete im La— 
zarett nur wirklich der Pflege Bedürftige und wollte feinen 
allzu fentimentalen Kultus mit verwundeten Feinden auf: 
fommen lafjjen, die bereits das Herz einiger gefühlvoller 
KRarlsruherinnen gewonnen hatten. Um die innere Lazarett: 
polizei madte fi) auf eigene Fauſt Prof. Hoffmann verdient; 
er bejchränfte ſich nicht auf feine eigene Abteilung, jondern 
ging überall herum und fand es fiher heraus, wenn und wo 
etwas Ungerades vorfiel. Seinem Ordnungslinn entging 
fein Handtud), das am Boden lag, feine Wärterin, die gaffend 
daſtand oder unnötig lange mit einem Wärter jprad. a, 
als Urbeiter auf dem Dache loſe gewordene enter feitzu- 
maden hatten und in begreifliher Neugier in den Saal hin- 
unterfchauten, rief er ihnen mit lauter Stimme zu: „Sie habe 
da nir runter zu gude, gehn Sie an Ihre Arbeit.“ Einzig 
Hoffmann gelang es aud ſchließlich ein Rätſel zu löſen, das 


125 


den jehr exakten Verwalter, Herrn Lecdjleitner in große Ver: 
legenheit gebracht Hatte. Es zeigte fih nämlidh, daß, wenn 
dDiefer am Tage die Patienten zählte, immer ein Mann 
weniger vorhanden war, als wenn er nadts Eontrollierte. 
Es war Hoffmann vorbehalten, Licht in die Sade zu bringen 
und feitzuitellen, daß es ein als Afliitent angeitellter Heidel- 
berger Korpsitudent war, der, um die Koſten einer Wohnung 
in der Stadt zu ſparen, ſich jeden Abend nad) feiner Rückkehr 
aus fröhlicher Geſellſchaft wieder ins Lazarett gejchlichen und 
dort in ein Patientenbett gelegt hatte. — Eine andere Art 
origineller Polizei übte ganz im Stillen Dr. Friedr. Müller. 
Ein Hofgärtner hatte den Auftrag erhalten, auf jedes Nacht— 
tifchchen nicht nur Blumen, jondern aud) einen Topf mit Erde 
zu ſtellen, aus dem ein mit Honig beitrichener Stab hervor: 
tagte. Dies jollte ein ausgezeichnetes Mittel gegen die 
stiegen fein, die, anitatt den Patienten über's Geliht zu 
laufen, an diefem Stode feitzufleben hatten. Das war aber 
Müller zu Lebrig; in jtillen Stunden ſah man ihn, unter 
jedem Arme einen folden Topf, aus dem Lazarett hinfen und 
feine Lajt in den Kanal verjenfen. 

Daß im übrigen alles jo raſch organiliert war und alle 
Räder der großen, improvilierten Mafchine jo gut funftio- 
nierten, war wejentlih das Berdienit einiger gebildeter 
Männer aus Karlsruhe, die dem Lazarette täglich einige 
Stunden opferten; ich erinnere mid) bejonders an die Herren 
Wiedemann, den Profeſſor der Phyſik, und Prof. Neßler, den 
Chemifer. Ihnen jtanden zur Seite einige Damen, an ihrer 
Spike die vornehme Erſcheinung der rau von Berftett; fie 
empfingen die Großherzogin, wenn fie ins Lazarett kam, 
hielten Aufliht über das Wartperfonal, verfahen die Ab— 
teilungen mit neuem VBerbandzeug und brachten von zu Haufe 
Erfrifhungen, aud) für die Aerzte. 

As Warteperjonal funftionierte eine Anzahl von 
MWärtern von verfhiedener Güte, vielleiht zwanzig Mann, 
einige davon aus der Schweiz. Einer der leßtern war von 


126 


einem Bibel: und Traftatfolporteur aus der welihen Schweiz 
eingeführt worden und jah jo unfchuldig blühend aus wie der 
fromme Knedt Fridolin. Einige Wochen jpäter Hatte fich eine 
junge Wärterin feiner jpeziell angenommen und die Rofen 
von ſeinen Wangen gepflüdt; er fehrte bald als erfahrener 
und geprüfter Mann in die Heimat zurüd. 

Die freiwilligen Kranfenpflegerinnen, die vom Frauen— 
verein in vierzehntägigen Kurjen ausgebildet und mit einem 
hübſchen hellblauen Waſchkleide, weißer Schürze, einem zier- 
lihen Häubchen, einem weißen Armband mit dem roten 
Kreuz, ſpäter aud mit einer Rotkreuzbroſche ausgeitattet 
waren, brachten vielen guten Willen, aber auch einige Leicht: 
lfebigfeit mit in ihre Gtellung, jo dak mandes zarte Band 
ganz unmwillfürlich zwilchen ihnen und den Gepflegten oder 
auch den Pflegern gewoben wurde, deſſen Fäden ſelbſt Hoff: 
manns Scharfblick entgingen. 

Zur Ausführung der vielen Temperaturmeſſungen war 
eine Gruppe junger Leute, Polytechniker und Schüler, zur 
Verfügung; ſie ſtanden unter der Leitung von Dr. Ador aus 
Genf, der die Reſultate ſammelte und in Tabellen eintrug. 

Einen Gegenſatz zu dieſen improviſierten weltlichen 
Korps bildeten die weißen und ſchwarzen Ordensſchweſtern. 
Die weißen, vom Orden St. Vincent de Paul, kamen von 
Freiburg i. Br. und waren ebenſo tüchtige als freundliche 
Pflegerinnen; es waren darunter ſehr gebildete Schweſtern, 
deren ruhige und geduldige Pflege Reſpekt einflößte. Den 
von uns „Ihwarze“ genannten Schweitern fehlte nicht nur der 
hohe weiße Schleier der weißen, — ſie hatten über einer 
Heinen weißen Haube ein jhwarzes Tuch) auf dem Kopf und 
waren überhaupt ganz ſchwarz gekleidet, — jondern auch deren 
Ausbildung. Dodh waren aud dieje, wenn ih nicht irre, 
barmherzigen Schweitern des Drdens vom göttlichen Erlöjer, 
aus Niederbronn, jehr pflichteifrig und braudbar. Ergänzt 
wurde das Drdensperjonal durch drei Diafoniljen aus NRiehen, 
die Schweitern Anna Stoll, Anna GSteinmann und Gophie 


127 


Mälti, die weniger dur die Schönheit ihres Koſtüms als 
durch ihre Tüchtigkeit und ſchweizeriſche Einfachheit glänzten. 

Sm Lazarett wurde in den verjchiedenen Abteilungen 
regelmäßig Gottesdienjt durch die proteſtantiſchen und fatho- 
liſchen Geiltliden von Karlsruhe gehalten. Die Mohamme- 
daner hatten ihren eigenen Feldprieſter, einen alten grau= 
bärtigen Araber, dem man den Arm amputiert hatte; in amt- 
licher Funktion ſah ich ihn nie. 

Täglich ein-, oft zweimal beſuchte die Großherzogin Luiſe 
das Bahnhoflazarett, meiſt in Begleitung ihrer Schwägerin, 
ver Prinzeſſin Wilhelm. Die Großherzogin jtand an der 
Spite des Badilhen Frauenvereins und galt als vortrefflicdhe 
Drganijatorin. ‚Nach dem Ausbrude des Krieges hatte fie 
die vielen Lazarette in Karlsruhe unter ihre beſondere Ob— 
hut genommen und bejudte aud ab und zu die der benad)- 
barten Städte Freiburg, Heidelberg und Schweßingen. Das 
Bahnhoflazarett mit feinen gewaltigen Dimenjionen befam 
natürlich) ihre Fürſorge in bejonderem Maße zu ſpüren. Alle 
Mittel wurden jo reichlich gewährt, dag auch der nicht jo Teicht 
zu befriedigende Socin deren Fülle nur bewundern fonnte. 
Wenn die Verwaltung des Frauenvereins bei dem Verbraudje 
diefes Lazaretts mandhmal ein Grauen anfam, und man ihm 
den Gpitnamen des Danaidenfaljes gab, fo war doch ftets 
dafür gejorgt, dag die Mittel in gleihem Maße zuflojjen. 


* * 
* 


Weil es nun von einigem Intereſſe, auch für uns 
Schweizer ſein kann, zu ſehen, wie ein kleines Land von nicht 
ganz 1% Millionen Einwohnern die Aufgabe bewältigt, in 
der Zeit von ungefähr 9 Monaten über 30000 VBerwundete 
aufzunehmen und zu verpflegen, ijt es wohl paſſend, hier furz 
einen Bli auf die freiwillige Hilfstätigfeit im Großherzog: 
tum Baden während des Krieges 1870/71 zu werfen. Ih 
entnehme, außer meiner Erinnerung, genauere Angaben dem 


128 


1872 erſchienenen Rechenſchaftsbericht der vereinigten Hilfs- 
Tomitees des Badilhen Krauenvereins unter dem Protefto- 
rate I. 8. H. der Großherzogin Luiſe von Baden. 

Der Badifhe Frauenverein hatte, 1859 bei 
drohender Kriegsgefahr ins Leben gerufen, ſich vorerft mit 
der Ausbildung von Pflegerinnen befaßt. Nachdem im Auguſt 
1864 die Genfer Konvention, an der fih auch Baden beteiligte, 
abgejchlofjen war, war der Frauenverein 1865 zum Zweig- 
verein des in Genf gegründeten internationalen Hilfsvereins 
zur Berbeflerung des Loſes im Kriege verwundeter und er— 
franfter Soldaten geworden und Hatte im Krieg von 1866 
feine erite Probe bejtanden und Erfahrung gewonnen. Im 
Jahre 1869 wurde eine Hebereinfunft mit dem Deutfchen Zen— 
tralverein geſchloſſen und ein Mutterhaus für Pflegerinnen 
gegründet; 1870 war man an den Borbereitungen zur Er- 
richtung von Reſervelazaretten für den Kriegsfall. 

Beim Ausbrud des Krieges im Juli 1870 waren, ab- 
gejehen von Karlsruhe, 70 Krauenvereine zu wohltätigen 
Zwecken und (jeit 1866) aud für den Kriegsfall tätig. Die 
Eriftenz dieſer Vereine war troß der loſen Drganijation 
außerjt wertvoll. Als der Badilhe Frauenverein, an der 
Spite die Großherzogin Luiſe, am 18. Juli einen Aufruf 
erließ, ftieg die Zahl der Yrauenvereine auf 97, und in den 
größeren Drtihaften wurden 16 Männerhilfsvereine neu 
gebildet. 

Der Aufruf verlangte Lieferung von Gebraudsgegen- 
ftänden zum Verband, zur Verpflegung und Erquidung, Gtel- 
lung von Wärtern und Oberwärtern für Garnijons- und 
Kriegslazarette, Erridtung von Refervelazaretten, Samm: 
lung von Geldmitteln zum Sanitätsdienft, zur Unterjtüßung 
von Soldaten, ihrer Familien und Hinterbliebenen. 

Den Männervereinen, eingeteilt in Rotten, fiel die Unter: 
ftüßung Hilfsbedürftiger Yamilien, die Erfriihung Verwun— 
deter und Kranker auf dem Transport, der Kranfentransport 
und der Bureau: und Nachrichtendienſt zu. 


129 9 


Der Aufruf Hatte den großartigen Erfolg, daß allein aus 
Baden (ic laſſe die auswärtigen Beiträge und die Rüdver- 
gütung durch das Kriegsminijterium weg) in kürzeſter Zeit 
in freiwilligen Geld: und Naturalgaben 2% Millionen Gul- 
den, aljo über 5 Millionen Franken an die Zentralitelle des 
Frauenvereins in Karlsruhe gelangten. Doch iſt dieje Zahl 
weit unter der Wirklichkeit, weil die Leiftungen vieler Lokal— 
vereine, Privatipitäler, Pflegeanitalten, Privatpflegen und 
mwohltätiger Fonds nicht mitberehhnet find und viele Sen— 
dungen direft an die Truppen gingen. 

Bon obiger, dem Badiſchen Hauptverein anver- 
trauten Summe wurden verwendet für die Tätigfeit auf dem 
Kriegsichauplat 20%, für Kranfentransport 5%, für Lazarett 
pflege 40%, für Fürſorge an Refonvaleszenten 3%, für Unter: 
ſtützung Invalider 24% und für Verwaltung und Beiträge 
an das deutſche Zentralfomitee 8%. 

Man fann fi leicht vorjtellen, daß das Zentraldepot 
in Karlsruhe bei der NReichlichkeit ſolchen Zufluſſes Mühe 
hatte, alles zu ordnen und zu bemeijtern, um jo mehr, als ji) 
die Leitung vielfach unerfüllbaren Wünfhen gegenüber jah. 
War doc vielen Gaben die Bedingung beigefügt, daß fie an 
beitimmte Truppen oder Lazarette gelangen jollten. Das 
Gtreben vieler Geber, ihre Gabe im Geijte bis zu deren Ver— 
wendung verfolgen zu können, und die Vorwürfe, daß im 
Zentraldepot zu viel aufgefpeichert werde, waren zwar bes 
greiflich bei Leuten, die die ganze Schwierigkeit einer zweck— 
mäßigen und gleidhartigen Verwendung nicht fannten, aber 
für die Verwaltung oft eine Berlegenheit. Sie führten denn 
aud von Geiten einzelner Bereine und Perſonen zur Um: 
gehung der Zentralitelle und zu Sendungen auf den Kriegs 
Ihaupla ins Blaue hinein, die bejler unterblieben wären. 
Der Bericht zieht aus diefen Erfeheinungen den Schluß, dag 
in Zufunft, mit Vermeidung aller Zerjplitterung durch ört- 
lihe und perfönlide Rückſichten und Saloufien, alle Mittel 
fonzentrijch zu vereinigen und durch eine Kommilfjion mit Ver— 


130 


tretung der verjchiedenen Landesgegenden dahin zu leiten 
jeien, wo jie nötig find. Einzelnen Bezirken würde dann in 
pajlenden Fällen eine direkte Wirkung auf den Kriegsichau- 
plat übertragen. 

Der Ruf nad Pflegeperjonal fand 41 Bflegerinnen vor, 
die, vom Frauenverein ausgebildet, zu einem Verbande ge: 
hörten und von ihm Gehalt, freie Verpflegung und Gorge für 
die Zeit ihrer Untauglicäfeit garantiert erhielten. Hiezu 
famen 22 ebenfalls ausgebildete Pflegerinnen, zum Teil 
Damen der höheren Gejellidaftsihichten, die nicht dem Ber: 
bande angehörten. In Kurſen von vierzehn Tagen wurden 
jodann 133 Yreiwillige ausgebildet und dann nod eine 
größere Zahl Wärterinnen angeltellt, zulammen 254 welt- 
lihe Pflegerinnen. Dazu famen 93 katholiſche Ordens- 
Ihwejtern und 39 evangeliſche Diakoniſſen (wovon 7 aus 
Riehen), im ganzen 386, die der Zentralitelle unterjtanden. 
Nicht eingerechnet iſt eine Anzahl Schweitern verjchiedener 
Herkunft, jo u. a. neun Schweitern aus Ingenbohl, die in 
privaten Lazaretten wirkten, und ferner das ftändige Per- 
lonal der Spitäler in Friedenszeiten. 

Die Erfahrung mit den freiwilligen Pflegerinnen lehrte, 
daß es am beiten da ging, wo zwei Freiwillige, von denen 
jehr viele fih als tüchtig erwielen, mit einer berufsmäßigen 
Schweſter zufammenwirften. Das männlide Perjonal wurde 
auf das Nötigjte reduziert, da man mit ihm in Ordnung und 
Gehorjam weniger gute Erfahrungen made. 

Das Transportwefen hatte natürlih im Beginn des 
Krieges, wo alle Bahnen und Straßen vorerft für die Truppen 
und ihr Material in Anſpruch genommen waren, feine be- 
jonderen Schwierigkeiten. In diejer erjten Sturmgzeit, bevor 
durch den Gang der Kriegsereignilje die Wege gewiejen und 
auch freier geworden und die Verhältniſſe des Transports 
geregelt waren, madten ji) bejonders die Männerhilfs- 
folonnen, an ihrer Spitze der Regiftrator Rangenberger, 
(vielen Baslern von feiner fpäteren Stellung als Inſpektor 


131 g* 


des Badifhen Bahnhofs Her in guter Erinnerung) verdient; 
es bedurfte gewaltiger Anjtrengungen, um, zum Beilpiel nad) 
der Schlacht bei Wörth, die Transporte raſch an Ort und 
Stelle zu bringen. Zwanzigmal während des Yeldzugs fuhr 
der badiſche Lazarettzug mit je 6 württembergijchen Per: 
ſonen- und 10 badilhen Güterwagen nah Yranfreih und 
wurde, außer von den Xerzten, von diefen Männerrotten be- 
gleitet. Die längſte Reife dauerte 13% Tage. 

Verpflegt wurden im Laufe des Kriegs in den LRazaretten 
des Großherzogtums Baden 30 884 Krieger mit 338 688 Ver— 
pflegungstagen. Davon fielen 50% auf die Hauptvereins- 
fazarette, 22% auf ungefähr 48 jelbitändige Refervelazarett: 
anjtalten, Eleinere freie Lazarette und Brivatpflegen, 28% 
auf Garnifonslazarette. 

Auf die Hauptvereinslazarette der Städte Brudjfal, 
Karlsruhe, Durlad, Mannheim, Schweßingen und Wertheim 
famen 15 378 Mann, wovon 4446 auf Karlsruhe Das Ma: 
zimum der einzig dem Hauptverein zur Verfügung jtehenden 
Betten wurde am 21. September mit 5150 erreicht, die höchſte 
Belegziffer am 21. Auguft mit 3800. 

Ueberblickt man die gewaltigen Leiltungen des gejamten 
freiwilligen Hilfswejens in Baden, jo müſſen fie Bewunde— 
rung erregen. Die ſchon im ganzen Land beitehende Organi: 
fation madte es den weitelten Kreijen möglich, für die Re— 
gungen ihrer Baterlandsliebe und ihrer Menſchenfreundlich— 
feit die rechten Wege zu finden. Wenn man fo im ganzen 
badifhen Lande Männer, Frauen und Sungfrauen jeder 
Gegend, jeden Standes und jeder Konfellion bemüht ſah in 
der ſchönen Aufgabe, die Leiden zu heilen, die ein Krieg 
bringen mußte, und wenn man in den Tagen der Prüfung 
alle dieje Kleinen Hilfsquellen vereinigt fand zu dem ftarfen 
Strom eines großartigen patriotifhen und allgemein menjd- 
lihen Tuns für Freund und Feind, jo mußte das einem Ad}: 
tung einflößen, Achtung bejonders auch vor der Einjiht und 
dem Willen der Fürftin, die es zur rechten Zeit verjtanden 


132 


hatte, alle Human gelinnten Bolfsgenofjen zu einer großen 
Tat zu jammeln. 
* * 
* 

Die Großherzogin Luiſe, zu deren Lazarettätigkeit ich 
nad dieſer Abſchweifung zurückkehre, war eine ſchöne, freund— 
liche Dame von geſundem und energiſchem Ausdruck. Sie 
hatte eine große Menſchenkenntnis, einen raſchen Blick für 
das Wichtige und Nötige und ein vorzügliches Gedächtnis. 
Mit den Aerzten und aud) mit uns Studenten jprad) fie in 
ganz einfacher Weiſe, und es fchien ihr zu gefallen, wenn man 
ihr ohne Scheu in ebenjo einfacher Weije antwortete. Ebenſo 
einfah war ihr Verkehr mit den VBerwundeten, gleihgültig 
ob Deutſchen oder Franzoſen. Lebtere wußten wohl oft zu— 
erft gar nicht, wer die Dame war, die jie in gutem Franzö— 
ih jo freundlich und teilnehmend nad ihrem Ergehen, der 
Art ihrer Verwundung, ihren Yamilienverhältnijjen er- 
fundigte und, wo fie einen Wunſch entdeden fonnte, am nächſten 
Tage das Gewünſchte, ein Kleidungsjtüd, einen Toilettegegen- 
Itand, ein Bud) oder eine Erfriihung bradte. So ging fie 
alltäglich mehrere Stunden lang von Bett zu Bett und lernte 
bald die Leute fehr gut fennen. Das war das Wohltuende 
an ihrer Tätigfeit, daß es nicht ein oberflächliches, ſchablonen— 
haftes Tun war, jondern daß die verjtändige und geduldige 
Fürſorge von Anfang bis zum Ende die gleihe blieb. Nur 
jelten jah man fie ungeduldig oder ärgerlich; einmal als ein 
Sranzoje ihr gegenüber eine unanjtändige Haltung annahm, 
und ein anderes Mal als ein Deuticher, den fie teilnehmen. 
fragte, in welcher Schladjt er den großen Säbelhieb befommen 
habe, antwortete: „Den hab’ id) von meinem eigenen Unter: 
offizier erhalten!“ — da wandte fie fich entrüjtet ab. Un- 
behilfliden Yeußerungen Verwundeter gegenüber, auch wenn 
fie unfchön oder unzart klangen, hatte jie nur freundliche Teil- 
nahme. Mit der Großherzogin fam gewöhnlich ihre Schwä- 
gerin 3. KR. 9. die Prinzeſſin Wilhelm, eine muntere, intelli- 


133 


gente Dame, erfüllt von lebhaftem Intereſſe für das Lazarett. 
Auch die badiihe Prinzejjin Elifabeth fam oftmals und er- 
freute die Leute mit ihren Gaben. Vieles Vergnügen madte 
es uns, den Verkehr des weltgewandten und geijtreichen Soctn 
mit den fürftlichen Hoheiten zu beobadten. Geine witigen 
Mendungen entlodten den hohen Damen mandes Lädeln; 
dabei fehlte es ihm aud nicht an der nötigen Schmiegjam- 
feit. Man erzählte ji, er habe es durchaus gebilligt, daß 
eine Dame vom Hofe eine gewille Scheu davor empfunden 
habe, das Bahnhoflazarett an einem Freitag eröffnet zu jehen, 
indem er äußerte: „Auch ich würde jo etwas nie an einem 
Freitag tun.“ 

Dem Großherzog Friedrich wurden wir vorgeitellt, als 
er nad) der Einnahme von Straßburg aus dem Hauptquartier 
für einige Tage nad) Karlsruhe fam. Cinmal jah ih aud 
den Prinzen Wilhelm, nachdem er, bei Nuits an der Spitze 
feines Regiments verwundet, raſch genejen war. Eine fran- 
zöfifhe Kugel war ihm ins Wangenbein gedrungen und bald 
ertrahiert worden. 


Sch fehre nun wieder zur Aſſiſtententätigkeit im Lazarett 
zurüd. Inder Nacht vom 30./31. Auguft wurde id) zum erſten— 
mal zum Nahtwahen fommandiert; mein Borgejeßter in 
jener Naht war Dr. Kiffel. Als das allgemeine Tages: 
geräufch fi gelegt hatte und der große Raum, durd) Lampen 
mäßig erhellt, noch immenfer erſchien als am Tage, erjhien 
mir aud) das Elend, das hier angejammelt war, noch größer . 
als vorher. Wenn aud) vieler der Krieger jih ein janfter 
Schlaf bemädtigt hatte, jo hörte doch das Stöhnen und 
Rufen derer nit auf, die von Schmerzen gepeinigt waren. 
Einzelne VBerwundete waren in wilden Delirien, die mit, 
dem an foldes noch nicht Gemwöhnten, einen jchauerliden 
Eindrud madten. Sch hörte in jener Naht auf Deutſch, Pol- 
niſch, Franzöſiſch und Arabiſch dvelirieren und jah, welche 


134 


Mühe die Schweitern und Märter Hatten, dieſe Furibunden 
im Bette zu halten und fie daran zu verhindern, ihre Ver- 
bände abzureißen. Ein junger Bole, geängitigt durch das 
Thermometer unter feinem Arm, wurde durch mein Kommen 
plöglich beruhigt, feine wilden Bewegungen legten fih, und 
er begann lächelnd mein Gejiht zu jtreicheln, wie wenn ich 
ihm als jein Bruder erſchienen wäre. Durch das Halbdunfel 
ſah man die weißen Schleier in Bewegung und das Nieder: 
beugen über den Betten. Alle Augenblide wurden wir ge- 
rufen, bald wegen eines Schüttelfrojtes, bald wegen einer 
Blutung, wegen unerträglier Schmerzen oder allzu lauter 
Delirien. Bei zwei Blutungen fam ich zu felbitändigem Ein- 
greifen, indem ich große blutende Höhlen mit Charpie feit 
ausitopfen mußte. Einer der beiden Patienten ftarb noch in 
derjelben Naht. Einen unvergekliden Eindruck machte mir 
der Anblick zweier von Tetanus (Wunditarrframpf) Er: 
griffener, deren Betten nebeneinander jtanden. Beide hatten 
heftige Musfelfrämpfe, fo daß fie ji, auf dem Rüden liegend, 
derart bäumten, daß fie mandymal nur auf Hinterhaupt und 
Serjen lagen. Ihr Geftöhne ging die ganze Nacht weiter, und 
der grauenhafte Anblick wurde nur zeitweife durch Chloral- 
gaben gemildert. Es jtarben in jener Naht acht Verwundete, 
und ih erinnere mid) noch wohl des Seufzers, den Sorin am 
folgenden Morgen ausitieß, als er mid) nad) dem Verlaufe 
der Nacht gefragt hatte. 

Auch die Nachtwache vom 2. auf den 3. September ver- 
Tief ähnli,; diesmal ftand ich unter den freundlichen und 
geihidten Freiburger Doktoren Thiry und Vögeli, die mid 
unter ihrer Auflicht vieles machen ließen und ſich bemühten, 
mich chirurgiſch zu erziehen. 

Am frühen Morgen des 3. September war ih nad) 
meinem Zimmer in der Stadt geeilt, um mi) nad) der Nadt: 
wache umzukleiden. Als ic) zurüdfehrte, bemerkte ich eine 
eigentümliche Aufregung im ganzen Gaale, bejonders bei den 
Deutihen; es war das Gerücht von einer großen Schladt ein- 


135 





gedrungen, doch wußte man nichts Genaueres. Gegen Mittag 
fam die Großhergogin in unjere Abteilung; fie trat raſch auf 
mid zu und jagte: „Und die herrlichen Siegesnadhridten,, 
was jagen Sie dazu? Denken Gie, eine große Schlacht bei 
Sedan und Napoleon mit Mac Mahon und der ganzen Armee: 
gefangen!“ Ich war jo verblüfft, daß mein Glüdwunjd viel- 
leicht etwas ungeſchickt ausfiel. Die Nachricht flog mit Blißes- 
Ichnelle durch das Lazarett, und als dann draußen das Vik— 
toriafehießen erſchallte, mijhte fih in den Donner der Ge- 
ſchütze das Jauchzen verwundeter Deutjcher. 

Am 12. September kam ein Nachſchub von 150 Verwun— 
deten, nachdem der Tod und die Evakuation Geneſender einigen 
Platz geſchaffen Hatte; von den 15 von mir angetretenen Pa— 
tienten waren nur noch 8 vorhanden. Es begannen nun die 
Deutſchen vorzumwiegen; fie jtammten meijt aus den Schladten 
um Met, und aud Straßburg lieferte ziemlidhen Zuzug. 

Unter den Franzoſen waren jehr nette, liebenswürdige 
Reute; die Mehrzahl aber war wenig gebildet. Der Zu: 
ſammenbruch Frankreichs bei Sedan erfüllte mande mit In— 
grimm, die meilten jedoch ſchienen von erjtaunlider Gleich— 
gültigfeit gegen die Geihide ihres Vaterlands. Auch die 
Großherzogin, die an jenem Tage aus Zartgefühl die Fran— 
zojen mied, war nachher erjtaunt über deren politiide In— 
dolenz. Unter den Franzoſen waren neben jungen Leuten 
viele Troupiers, die ſchon in der Krim 1854—55, in Italien 
1859 und jpäter in Merifo gefämpft Hatten, und denen man 
das Soldatenmetier anjah. Vieles Intereſſe erwedten die 
Turkos, diefe afrifaniihe Truppe, durch deren Herbeiziehung 
man das gelittete Deutjchland im Beginne des Kriegs er— 
Ihredt Hatte. Es ging ihnen der Ruf großer Wildheit und: 
Graufamfeit voraus, und man dachte mit Bangen an das 
Einbrechen dieſer Horde in Deutihland. Bejonders die 
Srauenwelt zitterte vor diefen Unholden, von denen es hieß, 
daß jeder auf feinem Tornijter eine lebende Wildfage mit 
ih führe. Diefer Truppe waren darum in den Schladjten 


136 


von Weißenburg und Wörth die Fräftigiten Kolbenjchläge 
befonders durch Die Bayern gewidmet worden, und man fann 
lagen, daß nad) Wörth die Turfos als befondere Truppe zu 
eriftieren aufgehört Hatten. Im Lazarett waren fie nun ſchon 
durch ihre Wunden gezähmt und führten fi ordentlih auf. 
Sie waren, wie die andern, von verjhiedener Güte und aud 
von verſchieden angenehmem Ausjehen. Die Mehrzahl Hatte 
den feinen arabilhen Geſichtstypus bei ſchönem ſchlankem 
Wuchs und brauner Haut, eine Fleinere Zahl war plumper 
und näherte jih in Gejihtsbildung und Haarwuchs der Neger 
tajje, es waren augenſcheinlich Miſchlinge. Alle Ließen fich 
die Haare rings um den Kopf wegralieren, jo daß nur der 
Scheitel einen Haarbuih trug. Ein jehr netter Mann vom 
arabiſchen Typus war der Dolmetſcher Haljan ben Abdallah, 
eine komiſche Figur der junge Dihil Ali ben Marfoli, der 
fi) einige franzöſiſche, ja ſelbſt deutſche Sätze angeeignet hatte. 
Er war ein jhlanfer Süngling mit freundlid) ſchlauem Aus— 
drud, der raſch der Freund aller, auch) der Deutjchen wurde. 
Er war leiht verwundet, trug einen Arm in der Schlinge 
und benußte die freie Hand zu allerlei Hilfeleiltungen und 
Diebereien, weld) legtere ihm niemand übel nahm. Er hatte 
einen enormen Appetit und wußte ſich bald da bald dort Ep . 
waren und Früchte zu verjchaffen, weil er beteuerte: «Moi! 
jamais rien mange.» Wenn GSocin etwa mit einer Gruppe 
fremder Aerzte durchs Lazarett ging, ſchloß er jich gerne dem 
Zuge an, und jelbjt die Großherzogin mit ihren Hofdamen 
wurde durch feine Begleitung beehrt. Er jtand bei ihren 
Gejpräden mit den Werzten ftill und tat, als ob er die Unter— 
haltung verjtehe, was er durch Lächeln und Niden bezeugte. 
Ueberall wurde er geduldet, jo wie man etwa einen Lieb— 
lingshund mitlaufen läßt. Endlich ſchlug auch jeine Stunde, 
leine Wunde beijerte fich, jo daß er beim Verbinden nicht mehr 
biri, biri, biri, d. H. 9 weh, o weh, o weh rufen mußte und mit 
dem Ruf: «Mabul böseff!», das heißt etwa: „O ihr blöd— 
finnigen Kerle!“ in die Feſtung abgeführt werden fonnte, 


137 


verjehen mit einem Neuen Tejtament, durch dejjen freundliche 
Annahme er einen Bibelfolporteur erfreut hatte. — Einige 
der Turfos waren ganz alte Leute, darunter der ſchon er- 
wähnte Priejter. Einer der Alten war am Oberarm am: 
putiert, und als die Wunde fhon fajt vernarbt war, jtand 
immer nod) der Knochenſtumpf weit aus Dderjelben vor. 
Das abgejtoßene tote Knochenende war ſchon gelöjt und wurde 
einmal von Socin en passant fchnell mit zwei Fingern her: 
ausgezogen. Das erregte, wiewohl ganz Jchmerzlos, den 
höchſten Schreden des Alten, ich erinnere mid) noch feines 
unheimlich erjtaunten Geſichts; er muß Socin für einen Zau— 
berer gehalten haben. 

Mit den alten faijerlichen Troupiers und den Afrikanern 
verglichen, waren die Deutjchen unjerer Abteilung von beijerer 
Qualität, gejunder, reinlicher, gebildeter, bejonders die vom 
Lande jtammenden Leute madten einen guten, auch moraliſch 
gejunden Eindrud. Auch von vielen Städtern läßt fi) das— 
jelbe jagen, Doc waren da au ſchon Leute zweiter Güte mit 
Neigung zu Unbotmäßigfeit und ſchnoddrigen Reden. 

Zu jener Zeit befamen wir zwei Patienten, einen Deut- 
Then und einen Franzoſen, die beide die gleiche, ſchwere Ver: 
legung hatten, nämlich einen Schuß quer durch den Kopf mit 
Verluſt beider Augen; ich erinnere mich ihrer mit Teilnahme. 
Bei dem Deutſchen Hatten wohl auch die Geiltesfräfte etwas 
gelitten; denn er vertrieb fi die Zeit mit dem Spielen einer 
Heinen Kinderdrehorgel, einem Geſchenk der Großherzogin, 
und hoffte ficher, auf den Geburtstag feines Königs das Augen— 
licht wieder zu erhalten. Ein Ziethenhujar war beſſer davon— 
gefommen: ein Granatjplitter hatte fein linkes Wangenbein, 
den Jochbogen, die äußere Knochenwand der Augenhöhle, das 
Auge und einen großen Teil der Wange weggeriljen; die Naje 
und das rechte Auge blieben erhalten. Als die große Wunde 
in Vernarbung war, jah der Mann, von der rechten Geite ge- 
lehen, ganz hübſch aus, jo dak man die gräßlidhe Verunital: 
tung der linken Seite nit ahnte. Er war jtets guter Dinge. 


138 


Wenn ich mittags oder abends bei Gängen nad) der Stadt 
den Bahnhof kreuzte, jah ich oft württembergifhe und bay: 
riſche Lazarettzüge, von denen mir bejonders die württem- 
bergifchen gefielen, weil deren Einteilung fie zum Legen und 
Aufhängen von Betten und zum Zirfulieren des Pflege: 
perjonals geeigneter madte als die Wagen mit Querabtei- 
lungen. Die am 12. September im Bahnhoflazarett an: 
langenden Verwundeten wurden durd die Eiſenbahn ins 
Lazarett gefahren, nadts 9 Uhr bei Fackelſchein ausgeladen 
und auf Tragbahren direft zu den Betten getragen. Mehrere 
Dale fah ich auch Lazarettzüge, die nicht Verwundete, fondern 
Typhus- und Ruhrfranfe enthielten, Leute, die oft ebenfo 
großes Elend durchgekoſtet hatten als die Blefjierten. 

Sn grellem Gegenfaß zu diefen Zügen des Elends jtanden 
joldhe, die junges Volk, oft Freiwillige, die eben in der 
Heimat ihre erite kurze militäriihe Ausbildung erhalten 
hatten, als Ergänzungsmannjhaften nad) Frankreich Hinein- 
führten. Ich Höre jet noch das Jubelgeſchrei aus einem 
ſchwäbiſchen Soldatenzug mit der Aufirift: „Turfos von 
Ehlingen.“ Wie mander diejer Begeilterten mag ſpäter auf 
dem Schlachtfelde von Champigny geblutet Haben! Ende Gep- 
tember beobachtete ich größere Truppentransporte, die mittelft 
der Eijenbahn rheinaufwärts gejandt wurden; es war dies 
die Zeit, wo durch die bevoritehende oder geſchehene Kapi- 
tulation von Straßburg die Deutſchen zu weiterem Vordringen 
nad Süpdwelten freie Hand befommen hatten. Alles, was 
Karlsruhe pajlierte, Kranfe und Gejunde, wurde am Bahn- 
hofe verpflegt und erquidt. 

Am 26. September waren nur noch 150 Patienten im 
Lazarett. Socin kehrte nad) einem mehrtägigen Beſuch aus 
dem badiſchen Hauptquartier nah) Karlsruhe zurüd, um am 
4. Oftober einen Schub von 63 Verwundeten aufzunehmen, 
die bis dahin in Nancy oder Nanzig, wie man jebt jagte, von 
Profeſſor Heine aus Innsbrud behandelt worden waren. Viele 
der neu Angefommenen hatten infolge des jehr langſamen 


139 


Transports Schmerzen und Fieber. Die Gypsverbände um 
Die gebrochenen Extremitäten lagen zu enge, weniger weil fie 
etwa zu ſtraff angelegt waren, als weil bei der Erjhütterung 
durch den Transport die Glieder in den Berbänden an— 
geihwollen waren. Durd die Jog. „Fenſter“, d. h. Deffnungen, 
die man aus dem Gipsverbande über den Wunden aus= 
Ichneidet, um dieſe bejorgen zu können, quollen die Granus 
Iationen (das Fleiſch der Wunde) in üppigiter Wucherung 
hervor. Man mußte die meilten Verbände gleich abnehmen 
und vielen verjtedten Eiterherden Abflug verjchaffen, jo daß 
der Arbeit für die folgenden Tage mehr als genug vorhanden 
war. 

Mittlerweile Hatte fih Straßburg am 28. September dem 
General Werder ergeben; das dumpfe Dröhnen der Gejhüße, 
das man außerhalb der Stadt Karlsruhe jeit Ende Auguft, 
bejonders nadts, faſt ununterbroden gehört hatte, war ver- 
ftummt, und mit Subel hörte ganz Deutjchland, daß dieje alte 
deutihe Stadt zurüderobert ſei. Sch erhielt einen Tag Ur: 
laub und mifhte mid am 12. Dftober unter die Völferflut, 
die fi von Kehl aus mitteljt einer Schiffbrüde, neben der 
im Beginn des Krieges zerjtörten Gitterbrüde, über den Rhein 
wälzte. Auf dem Tinfen Ufer wurde man beim Kommen und 
Gehen durch einen langen Brettergang getrieben und dort 
mit Phenoldämpfen „geräudert“, da man auf diefe Weife die 
Ein: und Ausjhleppung von Epidemien verhindern wollte. 
Nachdem ich mich in der Stadt orientiert hatte, bejuchte ic 
das Münjter und Jah die Schäden, die durch deutſche Geſchoſſe 
angerichtet worden waren; jie waren groß genug, wenn id 
mir fie auch noch ärger vorgeitellt hatte. Der Bau joll ge— 
Ihont worden jein von dem Augenblid an, wo die Franzoſen 
ihr Obfervatorium vom Dade des Münjters zurüdgezogen 
hatten. Auf dem Kleberplat jah ich eine Revue deuticher 
Truppen. Sn der Stadt wurde man öfters angelprodhen von 
Leuten, die durch die Belagerung völlig hilflos geworden 
waren, in den Gafthöfen befam man für vieles Geld recht 


140 


wenig zu ejlen. Der Kontraft zwiſchen den fatten, felbit- 
bewußten Siegern und den ſchüchtern herumſchleichenden Ein- 
wohnern war aud) jeßt noch auffallend. An den Straßeneden 
war überall nod die Proflamation von General Uhrich an- 
geichlagen, durch welche die Bevölferung aufgefordert wurde, 
das Anerbieten der hodhherzigen Schweiz anzunehmen und 
Greife, Frauen und Kinder der vor der Stadt erihienenen 
Ihweizerijhen Delegation zu übergeben. General vn. Werder 
beging dadurch, daß er während der Belagerung es geftattete, 
einen hinderlihen Ballaft und eine große Zahl von Eſſern der 
Ipärlich gewordenen Lebensmittel aus der Stadt zu entlajlen, 
eine Tat jeltener Milde gegen den Feind, und wenn jebt in 
Bajel durh das von einem danfbaren Franzoſen geſtiftete 
Straßburger Denkmal die Nachwelt an die nahbarlidhe Hilfe 
der Schweizer erinnert werden joll, jo muß man immer aud 
daran denken, daß das Gelingen der ſchönen Tat nur dur 
Die Noblefje des Belagerers möglich wurde. Ich Hatte im 
September, als die Schweizer Delegierten Römer aus Züri), 
von Büren aus Bern und unjer Basler Staatsſchreiber Gott- 
lieb Bilhoff von Straßburg zurüdfehrten, den leßteren in 
Karlsruhe gejehen; er hatte vor Straßburg den Großherzog 
von Baden um Unterjtügung beim fommandierenden General 
gebeten. 

Mein Weg führte mich durch das zerjtörte Steinquartier 
zu den durch die Belagerungsgeihichte befannten Lünetten 
92 und 53 und zu der Stelle, wo Brefche gelegt und der Sturm 
vorbereitet worden war, auch) befam ich zum erjtenmal einen 
Begriff vom Bau der Parallelen und der unfäglichen Arbeit 
und Gefahr, die das nächtliche Ausheben diefer für Gefchüße 
pafitierbaren und durch Erdauffhüttungen geſchützten Gräben 
verurfadt Haben mußte. Den Schluß der Wanderung madte 
ein Bejuh in der Zitadelle, wo alles darniederlag und aud 
die Kaſematten feinen Schuß mehr boten. „Dene habe mer 
eingheißt, net?“ fagte mit felbftbemußter Miene ein Württem- 
berger Kanonier zu einem Bejucher, „jedesmal wenn ſo⸗n⸗e 


141 


Granat’ wieder recht n’ein gſeſſen iſch, Habe fie drinn (die 
Franzoſen in der Zitadelle) gjagt: Dees iſch wieder Aine v0 
de Schwabe, dene... . köpf!“ Badiſche und württembergiſche 
Batterien hatten in der Tat von Kehl aus die Zitadelle 
niedergelegt. Auf dem NRüdwege ſah ih das Wegführen 
großer Vorräte, u. a. aud) vieler Wagenladungen roten fran= 
zöſiſchen Militärtudjs. 

Einmal bejuchte ih an einem ſchönen Herbitfonntage auch 
Heidelberg, deſſen Schloßruinen jo lebhaft an Deutichlands 
Schwäche erinnerten, jet aber von einer jubelnden Menge 
erfüllt waren, die den Klängen deutiher WBaterlandslieder 
lauſchte. 

Hier muß ich noch einen Beſuch erwähnen, den ich in 
meiner erſten Lazarettzeit erhielt, und der mir beſondere 
Freude machte. Am 8. September erblickte ich plötzlich in 
unſerer Abteilung meinen Freund, Stud. theol. A. v. Salis. 
Er war auf der Rückreiſe von einer mehrtägigen Fahrt, die 
er als Mann des Sriedens, aber wohlverjehen mit geladenen 
Piltolen, im Auftrage der Internationalen Agentur für die 
Verwundeten in die Gegend von Met unternommen hatte, 
um 40 Kolli von Berbandgeug, Hirurgifchen Inſtrumenten, 
Meditamenten und Lebens: und Genußmitteln in die Laza= 
rette zu bringen. Sein Weg Hatte ihn bis Pont-&-Mousson 
geführt, und es war ihm troß aller Schwierigkeiten gelungen, 
feine Schäße in zwei Eijenbahnwagen unverjehrt an den ge= 
wollten Ort, das Seminarlazarett, zu bringen. Er Hatte 
dort unjre Mitbürger Dr. Albert Burdhardt und Dr. Mori 
Roth und zwei Doftoren Heß aus Züri in Tätigkeit ge— 
troffen. Daß wir beide, unjerer gewohnten Tätigkeit ent- 
rüdt, aber beide in gleihem Sinne wirfend, uns trafen, madte 
uns großes Vergnügen, und wir Hatten uns bis tief in die 
Naht zu erzählen. 

Alle Welt war damals bereit, den Verwundeten Hilfe zu 
Ipenden, und die Internationale Agentur vom Rothen Kreuz 
in Bajel war einer der Sammelpunfte für diefe freiwilligen 


142 


Gaben. Der Prälivent des internationalen Komitees in 
Genf Moynier war bei Beginn des Kriegs nad) Bajel ges 
fommen, und nun bejchäftigte ji eine größere Anzahl Herren 
und Damen in der Kapelle an der Nittergajfe damit, die 
Gaben in Empfang zu nehmen und fie dahin zu ſpedieren, 
wo die Not am größten war. Auch Salis hatte fi alltäglich 
an den Arbeiten diejes Bureaus beteiligt und war jo dazu ges 
fommen, eine wertvolle Sendung zu dirigieren. Die Agentur 
entjaltete bis zum Friedensſchluß eine große und ſegensreiche 
Tätigkeit, nieht nur dur die Vermittlung von Liebesgaben, 
die Verpflegung von vielen Verwundeten, die auf der Heim: 
reife durch Baſel famen, und jpäter die Sorge für die Inter— 
nierten, Jondern namentlid) als zuverläjligite Auskunftsitelle 
über das Schidjal Gefangener, VBerwundeter und Verſchollener 
aus beiden Armeen.*) 

Es mögen 1870 in der Schweiz nur wenige gebildete Fa— 
milien gewejen fein, in denen man nicht abends beim Licht 
aus alter Leinwand Charpie zupfte. Es war dieje damals. 
das allgemein gebraudte Verbandmittel zum Bededen der 
Wunden; war fie ſchön, Faden an Faden, geordnet, jo wurde 
te von den Schweitern in handtellergroßen Päckchen als ſo— 
genannte Plumasseaux, mit Karbol getränft oder mit Salben 
beitrichen, den Werzten gereiht. Cinzelne Aerzte zogen ſchon 
damals die nicht geordnete Charpie, die fog. „Kraufe“ vor, 
gewiß mit Recht, da fie jo geeigneter war zur Aufjaugung der 
Wundflüſſigkeiten. Die jest allgemein gebraudte Hydrophile 
Berbandwatte, d. H. dur) Entfettung zum Auffaugen dienlich 
gemadte und bejonders gereinigte Watte und aud) die Gaze— 
Itoffe famen allgemein erjt nad) dem Kriege auf, ihre fabrif- 
mäßige Herjtellung in der Internationalen Verbanditoff- 
fabrif zu Schaffhaufen Hatte erjt im November 1870 begonnen. 
Daß neben vielen guten Wünſchen, die das Charpiezupfen be= 


*) Genauere Angaben finden fi in den Bulletins der Agentur 
und in der intereflanten Arbeit von Dr. Fri Bauer: „Bor 25 Jahren” 
im Basler Jahrbuch von 1896. 


143 


gleiteten, auch viele Unreinigfeiten in die Charpie hinein— 
gerieten, wird man gerne glauben, wenn man bedenft, daß es 
namentlih Kinderhände, und gewiß nur felten frijd- 
gewaſchene, waren, die fi dDiefer humanen Tätigfeit wid- 
meten. Socin war der Charpie gegenüber ſchon damals miß- 
trauifch, und als fi einmal Fälle von Blutvergiftung auf- 
fallend gehäuft Hatten, Tieß er einige große Ballen, ich glaube 
aus Stalien jtammende Charpie, die einen eigentümlicdhen 
Geruch hatten, zerjtören oder „in den Rhein werfen“, wie er 
fi) ausdrüdte. Sie werden wohl in eine Papiermühle, wenn 
nit gar in ein anderes Lazarett gewandert fein. Bon der 
aus Bajel ftammenden Charpie hieß es damals natürlid, 
fie fei die beite; fie wird es wohl auch gewejen ſein. 

Von Oktober an war meine Stellung oft ziemlidh felb- 
ftändig, weil die Patientenzahl ſchwankte und aud im ärzt- 
lihen Berjonal viele Verſchiebungen ftattfanden. Stabsarzt 
Thiry war nad) Kork fommandiert worden, was mit jehr leid 
tat. Um fo enger ſchloß ich mich an Dr. Lotz an, der mir vom 
erften Tage unſerer Befanntihaft an jehr freundlid ent- 
gegengefommen war. Wir hatten uns auf den Gebieten der 
Kunſt und Literatur von übereinjtimmendem Geſchmack ge- 
funden, und jo fam es, daß ich bald vom Aſſiſtenten zum 
Freund avancierte. Der Verkehr mit dem natürlichen, ge— 
bildeten, wißigen und do jo wohlwollenden Mann bei un: 
ferem Zufammenarbeiten gehört zu meinen ſchönſten Erinne- 
tungen aus dem auch ſonſt jo interejlanten Lazarettleben. 

Es waren unter den ersten die verjhiedeniten Cha— 
taftere, vom menſchenfreundlichen und gebildeten Mann bis 
zum läftigen Pedanten, und von da bis zum oberflädlichen 
Shwadroneur. Auch die medizinishe Ausbildung war jehr 
verſchieden, bejonders nad) der hirurgifchen Geite, und mander 
junge Doktor machte erjt bei diejer Gelegenheit feine praf- 
tiihe Lehre. Die Wirkjamfeit war natürlich) von verfchiedener 
Güte je nad) dem Pflichteifer, dem auf Willen und Erfahrung 
ruhenden Können, dem praftiihen Geſchick, der Reinlichkeit 


144 


und dem gefunden Menſchenverſtand, der auch da zur un- 
entbehrlichiten Ausrüftung gehörte. Auch) wenig Bewanderte 
fonnten in kurzer Zeit tühtig werden, während andere ver- 
ftändnislofe Schablonenmenjhen blieben in all ihrem Tun. 
In welhem Maße Vernunft Unfinn, Wohltat Plage werden 
fann, fonnte man beijpielsweije beim Gebraud der dirur- 
gilhen Sonde durch einzelne Aerzte beobachten. Die Sonde 
ist ein notwendiges und wichtiges diagnoitifches Inſtrument 
zur Aufluhung von Geſchoſſen und Knochenſplittern und war 
damals nod) oft, viel mehr als fie es heute fein würde, nötig 
zur Feſtſtellung der Lage des Schukfanals. Sie kann nützlich 
wirfen, wenn fie rein ijt, nur mit leiter Hand geführt und 
nur zu einem wohl erwogenen Zwed benüßt wird. Gefährlich 
tft fie immer, wenn fie unfauber gehalten, unnötig oder gar 
brutal gehandhabt wird. Ich erinnere mich nun eines jehr 
pflichteifrigen deutichen Arztes, der es für ſeine Pflicht Hielt, 
täglih ganz jchablonenhaft die Sonde in alle Schukfanäle 
einzuführen, um deren Länge in Centimetern zu meſſen und 
jo den Fortſchritt der Heilung feitzuftellen! Bei wie vielen 
von feinen Pflegebefohlenen er dadurch Fieber, Entzündung, 
— der Begriff der Wundinfeltion war damals erit in feinen 
Anfängen, und von Gterilijation der Inſtrumente im heu- 
tigen Sinne feine Rede — und Schlimmeres erzeugt hat, weiß 
ich nicht, wohl aber daß die Viſite auf feiner Abteilung durd) 
rieles Geächze und Geſchrei erfennbar war. „Hören Sie,“ 
jagte Dr. Bögeli zu mir, „wie's da drüben bei Bohrhubers 
wieder zugeht!“ Jetzt haben wir es leicht, alles bejjer zu 
willen, wo die Lehre von der MWundinfektion wiſſenſchaftlich 
durch die Bakteriologie begründet ift. Damals war es ſchon 
viel, daß Socin immer vor unnötigem Gondieren warnte und 
die Desinfektion der Sonde verlangte. Er mußte es aber felbjt 
einmal gefhehen Iafjen und mitanfehen, wie ein deutjcher 
Brofeffjor, — eine der bedeutenditen Hirurgifhen Größen, — 
bei einem Beſuche, durch feine Sonde, die er aus der Rocktaſche 
309, einen Fall von perforierendem Knieſchuß verdarb. Socin 


145 10 


war außer ji), als dieſer Sondierung eine heftige Entzündung 
folgte. == 

Mitte Dftober, als id) einmal über Mittag im Lazarett 
zu hüten Hatte, fam eine Gruppe von fremden Aerzten, um 
die Einridtungen zu jehen. Als fie in unfere Abteilung 
famen, bat mich einer der Herren, ein älterer Mann, ihm 
über die Patienten zu referieren. Ich tat das, jo gut ih es 
fonnte, und hatte an dem Fragenden einen aufmerfjamen Zus 
börer. Als id) von einem jungen deutſchen Verwundeten fagte, 
daß jein Schultergelenf verle&t fei, betrachtete er aufmerfjam 
die Lage des Arms und fagte dann: „Wenn Sie wirkflih fiher 
find, daß das Gelenf eröffnet ift, dann liegt der Arm nit 
gut, erlauben Gie, dak ich Ihnen zeige, was ich meine, haben 
Sie einige Kiljen?“ Die Kiſſen wurden herbeigejhafft und 
nun hieß mic) mein Beſucher den Arm des Kranken fanft in 
die Höhe heben, jo daß das vorher etwas unter der Horizon- 
talen ruhende Glied eine etwas erhöhte, mehr als wagerechte 
Lage befam. Dann legte er den Patienten gerade, ſchob forg- 
fam einige Killen unter, befejtigte fie und fagte: „So, nun 
iſt das Gelenf entipannt, Sie müjjen immer ſuchen die Span— 
nung zu vermindern.“ Der Mann, der mir diefe improviſierte 
Lektion in fo netter, freundlicher und einleucdhtender Art ge- 
geben hatte, war fein Geringerer als der berühmte Pirogow, 
der rufliihe Chirurg des Krimkriegs, in jener Zeit neben 
Stromeyer wohl eine der größten Autoritäten in der Kriegs— 
chirurgie. Bon weiteren Hirurgiihen Größen ſah ich Victor 
v. Bruns, meinen fpäteren Lehrer in Tübingen, und Theodor 
Billroth, deſſen Schüler wir alle durch fein ausgezeichnetes 
Lehrbuch über Allgemeine Chirurgie waren. Felix v. Nies 
mepyer, der interne Klinifer von Tübingen, fam in unjer 
Zazarett auf feiner Rüdreife aus Frankreich; er war wegen 
ausbrechender Typhus- und Dyfenterieepidemien ins Feld 
gejandt worden. Einen andern Internen, Prof. Kußmaul 
von Freiburg i. Br. (fpäter in Straßburg und Heidelberg), 
ſah ih, als ihm von Socin unjere Bruftverlegten vorgeitellt 


146 


wurden. Es fiel mir auf, wie jorgfältig er unterfudte und 
feine Diagnofen ftellte, und wie liebenswürdig er ſich gegen 
die Patienten und die Schweitern benahm. Viele andere her: 
vorragende Werzte und Klinifer, die zum Bejuhe Tamen, 
fannte ich nicht. 

Der Beſuch von Pirogow gibt mir Anlaß, wieder auf die 
ſtets interefjanten Nachtwachen zurüdzufommen. Ein badiſcher 
Soldat, am 6. Oftober bei Etival verwundet, Hatte einen 
Schuß durch die Achjelhöhle, der das Nervengeflecht getroffen 
und zur Yähmung des Arms geführt hatte. Zehn Tage nad): 
ber zeigte eine außerordentlich ftarfe Blutung, daß, was man 
auch ſchon befürchtet Hatte, eine größere Arterie, vielleicht die 
Hauptarterie der Achlel, getroffen war. Socin entihloß fi, 
das blutende Gefäß aufzufudhen und zu unterbinden, was bei 
der neu hHinzugetretenen jtarfen Schwellung eine ſchwierige 
Sade zu werden verjprah. Als der Patient ſchon auf dem 
DOperationstiihe lag, fam Pirogow mit feinen Begleitern. 
Socin legte ihm den Fall vor und bat ihn um feinen Rat. 
Pirogow riet, da die Blutung aufgehört Hatte, jet noch von 
der Unterbindung abzuftehen und es vorerjt mit einer lange 
fortgefegten Kompreſſion der Arteria subelavia mitteljt der 
Singer zu probieren, von welcher er in einem ähnlichen Yalle 
vor kurzem gute Wirkung gejehen hatte. Der VBerwundete 
wurde wieder in fein Bett getragen, und nun unternahmen 
es die Aerzte und Aſſiſtenten, je eine Stunde Hinter dem Pa: 
tienten figend, mit zwei Fingern in die Grube oberhalb des 
Schlüfjfelbeins tief einzudringen und die dort gefühlte große 
Hauptarterie gegen die Rippe zu drüden. Es war eine harte 
Arbeit und die Anftrengung faum eine Stunde lang aus= 
zubalten, auch wenn man zeitweije die prejfende Hand mit 
ihren taub gewordenen Yingern durch die andere Hand unter: 
ftüßte oder dur) eine fremde Hand unterjtügen ließ. Cine 
harte Arbeit für die Helfenden, aber zugleich welche Qual für 
den Berwundeten! Freund Barth und id) Hatten den Pa= 
tienten für die folgende Naht übernommen und bejorgten 


147 10* 


nun abwehslungsweife, je eine Stunde, die Kompreffion. Die 
Qualen, die der arme Mann troß wiederholter Morphium- 
gaben auszujtehen Hatte, vergejle ih nie. Am folgenden 
Tage mußte die Kompreflion nad 22jtündiger Dauer auf: 
gegeben werden. Da die Geihmwuljt noch zugenommen hatte, 
unternahm es Gocin nun doch, Die blutende Stelle aufzu- 
ſuchen; er fand nad) Ausräumung großer Blutgerinnfel aus 
der Höhle zuerſt eine blutende Stelle an einem Nebenafte 
(arteria circumflexa humeri) und dann ein fleines Lo zu 
oberft am Hauptitamm (arteria axillaris). Beide Arterien 
wurden unterbunden und die Blutung ftand. Aber nun folgte 
Brand des ganzen Armes, dem der Patient am 6. Tage nad) 
der Operation erlag. Die Erartifulation im Schultergelenk 
wurde wegen des dejperaten Allgemeinzujtandes unterlaffen. 

Nicht alle Nachtwachen verliefen jo anftrengend wie die 
gejhilderte. Die aus Nancy übernommenen Patienten waren 
in ein ruhigeres Stadium getreten; neue famen nur in Eleiner 
3ahl. Da mußte man jhon, um wad) zu bleiben, zu anderen 
Mitteln greifen. Viele Briefe wurden in jolden Nähten ge- 
ichrieben, viele Bindenvorräte gerollt, au) Domino und 
Neuntelftein taten ihren Dienft, und felbjt einzelne Ordens: 
Ihweitern verſchmähten ein Spielden nidt. Ä 

Es ging überhaupt mit der Zeit etwas gemütlicher zu, 
und felbjt der Ernſt des Operationsjaales blieb von einzelnen 
komiſchen Intermezzi nicht verfhont. Go erinnere ich mid, 
wie Socin einen Arzt abfertigte, der die unangenehme Ge- 
wohnheit hatte, überall dreinzureden und fi) dadurch etwas 
unbeliebt gemadt hatte. Bei einer Operation afliftierte dieſer 
Arzt, und da feine beiden Hände befchäftigt waren, hielt er 
einen Schwamm mitteljt des Mundes bereit (das durfte man 
damals no!) und bemerkte dazu mit zujammengefniffenen 
Lippen: „Cine Hand mehr!“ — „Sa, und ein Maul weniger; 
was auch nichts ſchadet“, war Socins ſchlagfertige Erwiderung. 
Den Applaus der Zuhörerfhaft fann man fi) denken. 

Eine andere Operationsgefhichte möge hier Pla finden. 


148 


Ein Basler Herr Hatte Socin einige Kiftchen vorzüglicher 
Zigarren zum Gebraud für das ärztliche Perſonal übergeben. 
Kurz vor einer leichten Operation, die keine Narfofe er- 
forderte, — es handelte ſich um die plajtiiche Wiederheritellung 
des Mundmwinfels bei einem Soldaten, der vor Toul in dem 
Augenblid durch beide Wangen geſchoſſen worden war, als 
er Hurrah ſchrie, und defjen Zunge wohl deshalb beim Pal: 
fieren der Kugel durd die Mundhöhle nicht verlegt worden 
war, — furz vor diefer Operation fam Socin auf den Einfall, 
den Werzten von den Zigarren anzubieten und fogar jelbit 
eine anzujteden. Schweiter Anna, die Hüterin des Operations: 
taums, war wütend ob der unerhörten Entweihung diejer 
Stätte und zeigte dies durch halblaute Bemerkungen, Ge: 
brumm und ediges Wefen. Sie jtrafte Gocin, der zu dem 
allem nur gelädhelt hatte, indem fie zu dem Käſtchen mit den 
Zigarren ging und nah Schluß der Operation jedem Arzt 
und Afiiitenten einen Bund Zigarren mit den Worten reichte: 
„J will ſcho Iuege, daß do inne nümme g’raudt wird, me 
bruucht do (auf Socin weifend) nit fo viel Zigare.“ 

Gegen Ende Oktober lichteten fi) die Reihen unjerer Ver— 
wundeten immer mehr. Geheilte Deutſche gingen zurüd zur 
Truppe, Franzoſen kamen in die Feſtung, invalid gewordene 
aber transportable Leute wurden in die Heimat entlajien, 
auh wohl in Karlsruher Kamilien weiter gepflegt, andere 
nad Baden: Baden verlegt, wo ihre Wunden vollends Heilen 
jollten. Die ſchweren Fälle wurden nah und nad) in die 
neu eritellten Baraden verlegt. Dr. Courvoiſier mit Dr. 
Hugelshofer Hatte ſchon vor einiger Zeit die erſte Barade 
übernommen, die zweite Barade befam Dr. Lob, und mir 
wurde auch da von Gocin wieder die Aifiitentenitelle an- 
geboten. Einer unjerer ‚Patienten, ein prädtiger franzö— 
jiiher Sergeant, war von einem Lungenſchuß und einer Schuß- 
fraftur der Mittelhand genefen und als invalid in die Hei: 
mat entlajjen worden. Bierzehn Tage ſpäter überraſchte er 
uns durch die Anzeige feiner Verlobung mit einer Karls- 


149 


ruher Dame, einer Erzieherin, die zur Unterhaltung der Pa- 
tienten oft im Lazarett gemweilt und ſich durch Vorlefen um 
den Sergeant verdient gemacht hatte. Aber nit nur das, 
denn jpäter hörten wir, daß der Franzoſe in der Heimat wieder 
unter die Fahne getreten jei. Ueber feine ferneren Schidjale 
weiß ih nichts, bejonders nicht, ob die Verlobung ebenjo 
trenge gehalten wurde wie das Gelöbnis, laut Genfer Kon: 
vention, in dDiefem Kriege nicht mehr gegen Deutichland dienen 
zu wollen. General v. Freydorf hatte aljo doch nicht jo jehr 
Unrecht, wenn ihm der Franzoſenkult und die Yeindesliebe 
der Frauenwelt etwas verdädtig vorgefommen war. 

An einem rauhen Dftobernadhmittage begleitete ich die 
Reiche eines jungen Dffiziers auf den Friedhof. Es war eine 
fleine militärijche Begleitung, die unter Trommelflang davon: 
309; wenige Ziviliften Hatten ſich angeſchloſſen. Am Grabe 
ſprach der Geijtlihe vom Treufein bis in den Tod und von 
Der Krone des Lebens, während der herbitliche Sturm, der die 
Bäume entblätterte, uns durch fein Braujen daran erinnerte, 
Daß aud Hier ein blühendes Leben wie vom Sturm dahin: 
gerafft worden fei. Ich war lebhaft ergriffen und beneidete 
den jungen Mann, der jein Leben für das Baterland Hatte 
opfern dürfen. 

Man wird es aber begreifen und der Jugend zu gute 
halten, wenn troß all dem Ergreifenden, was id) erlebt Hatte, 
auch der jugendliche Leichtjinn wieder zum Vorſchein Fam. 
Die geringe Patientenzahl gejtattete es uns, nun weniger 
lange im Lazarett zu weilen und die Herbitnahmittage zu 
Spaziergängen und einige Abende zum Bejuhe des Theaters 
zu benügen. Das Hoftheater war während der erjten Zeit 
des Krieges geſchloſſen geblieben, im Herbjt aber wieder und 
zwar mit Schillers Wilhelm Telt eröffnet worden. Dann 
waren Mozartſche und Gluckſche Opern gefolgt, in herrlichen 
Aufführungen, wie fie unfer zwar damals gar nicht übles, 
aber beicheidenes Basler Stadttheater nicht geboten hatte. — 

Sm Lazarett wurden die Nächte fühl, obſchon die Dampf: 


150 


heizung ordentlich funktionierte. In der Naht vom 26. zum 
27. Oktober herrſchte ein außerordentlich ſtarker Sturm, der, 
wie id) aus Briefen von zu Haufe vernahm, aud) in der Schweiz 
gewütet hatte. Die Fenſter unjeres Schedbaus rüttelten und 
flapperten die ganze Nacht und drohten auf die Betten her: 
unterzufallen, und alle Patienten wurden wach. Man ah, 
daß das Lazarett für den Winter nicht taugen werde, und fo 
fam denn deffen Aufhebung heran. Man evafuierte die Pa- 
tienten jo raſch als möglid, jo daß zum Schluß, Sonntag 
13. November, nur noch 32 Mann da waren. Die große Halle 
hätte ganz fahl und öde ausgejehen, wenn nicht im Hinter- 
grunde, von des Großherzogs Geburtstag her, eine große 
Dekoration mit deutfhen und badijhen Fahnen den Raum 
belebt und die Inſchrift: 

„Ob zu Fuß, ob zu Pferd, ob Hinter der Kanone 
Schützen wir das Vaterland und des Fürſten Krone!“ 
für patriotifhe Erhebung des Herzens gejorgt hätte. Vor— 
mittag 11 Uhr war der feierlihe Schlußaft mit Gejängen der 
Liedertafel und Anſprachen der Geijtliden. Die Großherzogin, 
die mit Prinzeffin Wilhelm und Herren und Damen vom 
Hofe erſchienen war, ſprach in ihrer liebenswürdigen Weije 
mit jedem der Aerzte und Aſſiſtenten. Ein junger Schweizer 
Alfiftent, der noch nicht lange da war, wurde dadurch jo ver: 
wirrt, daß er auf eine Frage der Fürftin mit: „Sa, Frau 
Profeſſor“ antwortete. Am 14. November wurden die legten 
Patienten, in Möbelwagen gebettet, nad) der Turnhalle oder 
in die fehs nun fertigen Baraden des Friedrihsbaraden- 

lazaretts transportiert. 


Es mögen nun hier nod) einige Nachträge zum Arztliden 
Betriebe des Lazaretts folgen. Socin hielt auf wiſſenſchaft— 
liche Beobachtung und bradte es dazu, daß Aerzte und Aſſi— 
itenten richtige Krankengeſchichten mit Temperaturaufzeid)- 
nungen führten, da fie jo am beiten veranlaßt wurden, 


151 


ihre Fälle genauer zu beobadten und ſich ſelbſt Rechenſchaft 
von ihrem Tun zu geben. Die 643 Krankengeſchichten, die 
Socin „als feine Kriegstrophäe“ mit nad) Haufe bradte, 
madten es ihm möglid, nad) dem Kriege die Beobahtungen 
willenfchaftlih zu bearbeiten und in dem Buche „Kriegs. 
hirurgifhe Erfahrungen“ zu publizieren. In dieſem 
Merfe find außer einer detaillierten Bejchreibung der Ver— 
leßungen nad Körperregionen, ähnlich wie in den chirurgiſchen 
Sahresberichten des Basler Bürgerfpitals, eine Anzahl äußerft 
interejlanter Kapitel über die Geſchoſſe und die Art ihrer 
Wirkung, über MWundverlauf und Wundbehandlung, über 
MWundfieber, über Septicaemie (Blutvergiftung durch faulige 
Stoffe) und Pyaemie (Blutvergiftung durch Eiter), über 
Wundroſe, Hojpitalbrand und Wundſtarrkrampf, über Spät- 
blutungen, über Nervenverlegungen und über künſtliche Glied- 
maſſen. 

Dieſe Abhandlungen geben Zeugnis von Socins hohem 
wiſſenſchaftlichem Streben und von dem Forſchungstrieb und 
Forſcherinſtinkt, die ihn bei ſeiner Auffaſſung in den Fragen 
der Wundkrankheiten und der Wundheilung leiteten. Daß er 
in dieſem wichtigſten Gebiete den meiſten ſeiner Kollegen vor— 
ausgeeilt iſt, ergibt ſich aus der Stellung, die er zu dem Suchen 
nach dem damals noch problematiſchen Contagium vivum, der 
Lehre von den lebenden Anſteckungsſtoffen, einnahm, und aus 
ſeinem Verhalten zu den Lehren Paſteurs und Liſters. Eine 
kurze Skizze wird am beiten die auf rein naturwiſſenſchaft— 
liher Forſchung beruhenden Anfänge der Folojjalen Um- 
wälzung erkennen lajjen, die für die Chirurgie und hernach 
für die ganze Medizin, von jener großen Zeit her datieren. 

Man muß fi zuerſt vergegenwärtigen, daß man nod 
Mitte der jechziger Fahre dem, was man heute Wundinfeftion 
nennt, fajt Hilflos gegenüberitand, daß die Eiterung der 
Munden fo regelmäßig eintrat, daß fie zum Normalen ge— 
zechnet, die Heilung ohne Eiterung als Ausnahme angejehen 
wurde. Auf Heilung offener Knochenbrüche (d. h. folder, 


152 


wo die Brudjitelle infolge von Durchtrennung der bededenden 
Meichteile bloß liegt) war in den Spitälern faum zu rechnen, 
meift folgte Blutvergiftung, jo daß viele Chirurgen, um diefer 
zuvorzufommen, durch Amputation den Berletten zu retten 
fudten. Aber aud) die einfachere Amputationswunde wurde, 
wie jede größere Operations: und Verleungswunde, ſehr 
oft zum Ausgangspunkt einer tödlichen Blutvergiftung. 

Die Krankheiten der Wunden mit der folgenden Ber- 
giftung des Blutes in ihren verjhiedenen Formen zu fehen, 
hatte man nur allzu viele Gelegenheit, aber über das Weſen 
des Giftes, die Urt feines Entjtehens und den Ort feines Ein: 
dringens in den Körper wußte man nichts Sicheres. 

Sn den Jahren kurz vor 1870 Hatten die erjten Forſchungen 
begonnen, die von der Ahnung zum wiljenjchaftlihen Beweiſe 
führten, daß die Störungen der Wundheilung auf der An: 
wejenbeit kleinſter Lebewefen beruhen. Die Anweſenheit 
diejer lebenden Keime erjhloß man vorerjt nur aus ihren 
Wirkungen, fie ſelbſt fannte man noch nicht. Sie direft und 
fihtbar nachzuweiſen, war einer |päteren Zeit vorbehalten. 

Der franzöfiihe Chemiker Lo uis Palteur war im 
Sahre 1860 nad vierjährigem Experimentieren zu der Sicher— 
heit gelangt, daß feine Gärung oder Zerſetzung organijcher 
Gubitanzen ohne den Einfluß Eleinjter lebender Organismen 
zujtande fommen fann. Er hatte für diejen Satz die jtrengiten 
Beweije erbradt und durch feine Anwendung ſchon großartige 
praftifhe Erfolge auf induftriellen Gebieten erzielt, auch 
hatte er oft darauf hingewieſen, daß viele Krankheiten des 
menſchlichen Organismus auf dem Eindringen lebender Keime 
beruhen dürften, und daß da ein weites Feld für eine nad 
beſſerem Berjtehen der Krankheiten ſuchende Willenichaft 
liegen werde. Aber er fand nur jelten Berjtändnis, bejonders 
bei der franzöfiihen Gelehrtenwelt, mit der er die heftigiten 
Kämpfe auszufehten Hatte; auch Liebig, der hervorragendite 
deutſche Chemiker, verhielt fich noch 1869 durchaus ablehnend. 
Paſteur war nicht Arzt, jondern Profeſſor der Chemie und 


153 


durch induftrielle Probleme (3. B. die Krankheiten der Geiden- 
raupen) in jenen Jahren zu jehr in Anjprud) genommen, 
als daß er die Mebertragung feiner Anſchauungen auf die 
menjhlihe Kranfheitslehre jelbjt hätte übernehmen fönnen. 

Die praftiih mediziniihen Schlüſſe zu ziehen war 
Joſeph Lifter, damals Profeſſor der Chirurgie in Glas- 
gow, vorbehalten. Er nahm an, dak nicht die Quft an fi, 
noch ihr Sauerftoff, noch ein anderes Gas, jondern die in der 
Luft ſchwebenden organiſchen Keime die Zerjegung in den 
Munden bewirften und jo die Urjache aller Wundfranfheiten, 
von der einfadhen Eiterung bis zu der fchweriten Blutver- 
giftung, feien. Da es vorerjt nicht möglich jchien, die Keime 
aus der Luft zu entfernen, etwa jo wie es Paſteur durch 
Filtrierung der Luft bei feinen Gärungsverfuchen getan Hatte, 
verjudhte er die Vernichtung der Keime durd) Imprägnierung 
der Wunden mit der gärungshemmenden Karbolfäure und die 
Sernhaltung neuer Keime durch einen Verband, der die Luft 
möglichſt abhielt. Auf die Karbolfäure |peziell fiel jeine Wahl 
infolge der guten Erfahrungen, die man zur Desodorierung 
von NRiejelfeldern mit diefer Subitanz gemadt hatte. 

Sm Sahre 1867 veröffentlichte Liſter feine erjten Erfolge. 
Es war ihm troß der anfängliden Unvollkommenheit feiner 
Methode gelungen, viele offene Knochenbrüche, die nad) der 
bisherigen Erfahrung meijt zum Tode durch Blutvergiftung 
geführt hätten, ohne das traurige und unſichere Hilfsmittel 
der Amputation zu heilen. Bei einer Anzahl diefer Fälle 
war fogar die Eiterung ausgeblieben, und die Heilung des 
Knochenbruchs Hatte ſich ähnlich vollzogen, wie wenn feine 
offene Wunde bejtanden hätte. Abgejehen von einigen ſpe— 
ziellen Schülern nahm die mediziniihe Welt wenig Notiz 
von diefen Erfolgen, und felbit in England glaubten Autori— 
täten noh im Jahre 1871 die Sade mit Spott abtun zu 
fönnen. | 

Um fo erfreulider ift es, daß unfer Basler Klinifer 
Socin fi frühe, ſchon im Sahre 1868, den Lijterfhen An- 


154 


Ihauungen zumwandte und ji, ohne einfach) nachzubeten, ein 
eigenes Urteil zu bilden ſuchte. Es ijt wohl fein Zufall, daß 
Bajel ein günjtiger Boden für die neuen Anſchauungen war. 
Schon 1865 Hatte Profeſſor Carl Liebermeiiter in feiner An- 
trittsporlefung „Ueber die Urſachen der Bolfsfranfheiten“ 
die Lehre vom Contagium vivum verfodhten, eine Lehre, die 
damals allerdings mehr auf einer durch Paſteurs erite 
Forſchungen beitärften Ahnung als auf fertiger Erfenntnis 
beruhte. In den Sahren 1867 und 1868 jodann hatte Dr. J. 
J. Biſchoff, der Schüler Sorins und Privatdozent der Ge- 
burtshilfe, auf einer Urlaubsreiſe auch Glasgow berührt und 
war im Sommer 1868 als Anhänger Lijters nach Bajel zu- 
rüdgefehrt. 

Auf Socins Anregung madte einer feiner Schüler Dr. 
Karl Breiting chemiſche Unterfudungen, die die gärungs- 
hemmende Kraft der Karboljäure bejtätigten, und eine Ber: 
gleihung zwilhen zwei Gruppen von unter fi) ähnlichen Ma— 
Ihinenverlegungen, die 1867 in der alten Weije und 1868 nad) 
Liſter behandelt worden waren. Troß der damaligen Unvoll- 
kommenheit der Methode gelang auch hier ganz unzweifelhaft 
der Nachweis, daß eine intenjiv und pedantiſch durchgeführte 
KRerbolbehandlung friiher Verlegungen die Eiterung nebit 
allen ihren ſchlimmen Folgen in einem hohen Grad zu mindern 
imſtande jei. 

Als Socin 1870 das Bahnhoflazarett übernahm, war er 
davon überzeugt, daß jede frifhe Wunde, aud die fompli- 
zierteite, heilen fann, daß jede Störung im Heilungsporgang, 
von der bisher für felbjtverjtändlich gehaltenen Eiterung bis 
zu der ſchwerſten Blutvergiftung, von außen, vom Ein 
dringenpon Keimen, fomme, und daß der Säftezuitand 
und die Konftitution des Kranken, verglichen mit der Wirkung 
der Keime, ohne wejentlihe Bedeutung ſei. Nicht nur die 
Luft galt ihm als Träger der Keime, fondern aud) jede Be 
rührung durch die Pilegenden. Dementſprechend begnügte 
er fih nicht mit dem Liſterſchen Verbande, jondern forderte 


155 


Reinlichkeit, Desinfektion von Händen und Initrumenten und 
möglichit feltenes Ausiprigen und Sondieren der Wunden, 
überhaupt Unterlafjung jeder nicht abjolut nötigen Berüh- 
rung. Der Abfluß der Wundabjonderungen jollte durch 
paflende Lagerung und reihlihe Drainage begünjtigt werden. 

Wenn die Erfolge im Bahnhoflazarett nicht völlig den 
gehegten Erwartungen entipradhen, fo liegt das darin be= 
gründet, daß man es nit mit friſchen Verlegungen zu tun 
hatte. Die meilten Patienten famen erjt eine bis drei Wochen 
nad der VBerwundung in die Behandlung, meijt mit ſtarker 
Eiterung und fiebernd, einzelne ſchon mit ſchwerer Blutver- 
giftung, jehr viele geſchwächt durch Schmerzen, Blutverlufte, 
die Leiden des Transports und andere Gtrapazen; bei 
manden Schußwunden hätte aud) die Eiterung nit ver- 
hindert werden fönnen, weil fie dur mit hineingerifjene 
Kleiderfegen ſchon infiziert waren. In den erjten Tagen des 
Zazarettbetriebs war aud) die Zahl der Anfömmlinge zu groß, 
als daß die zeitraubende, umjtändliche Befolgung aller Lijter- 
Ihen Vorſchriften möglich gewejen wäre; die Sache war ferner 
zu neu, um bei allen Aerzten Berjtändnis und die Ueber: 
zeugung von der Zwedmäßigfeit der Methode zu finden. 
Fügen wir noch bei, daß alle damaligen Beitrebungen im 
Sinne der Lifterfhen Behandlung noch höchſt unvollfommen 
und, vergliden mit den heutigen Prozeduren zur ern: 
baltung und Abtötung der nun nachgewieſenen und in ihren 
Rebensbedingungen befannten Keime, ungenügend waren. 

Daß das Lazarett vorwiegend Schwerverleßte beherbergte, 
erjieht man aus der Zahl von 351 Knochenſchüſſen. Bon den 
643 dauernd Berpflegten (eine Anzahl leicht Verwundeter 
wurde im Beginn rajch entlaffen und nicht mitgezählt) ftarben 
93; 7 erlagen der Berblutung, 71 den ſchweren Formen der 
Blutvergiftung (Septicaemie und Pyämie), 4 dem Wund- 
ftarrframpf, 1 der Wundrofe, 1 dem Hofpitalbrand und 9 
anderen Krankheiten, die von der bejtehenden Verwundung 
nit direft abhingen. 


156 


Nun noch einiges über die Geſchoſſe. Viele der Kugeln 
waren ſchon vor der Aufnahme der Leute in unjer Lazarett 
entfernt worden, andere wurden erſt hier aufgefunden und 
extrahiert. Biele waren durch das Auflagen und die damit 
verbundene Erwärmung in volllommen veränderte Form ge: 
bradt, ja geradezu umgeltülpt. Ein eigentümlider Fund 
beitand in einer Chafjepotfugel, die den oberjten Uniform: 
knopf Durhbohrt und mit in die Tiefe der Halswunde gerijjen 
hatte. Man zog aus diefer Wundhöhle die Kugel famt dem 
tingförmig darum liegenden Reſte des Knopfes. Da man 
die extrahierten Kugeln, bejonders ſolche Kurioja, gerne für 
die Sammlung aufbehielt, die Verwundeten aber ihrerfeits 
fie gerne zur Erinnerung aufbehielten, fam es zuweilen zu 
einem Eleinen GStreite. Hatte der Verwundete feine Kugel 
wieder erbeutet, fo wurde fie ihm von der Großherzogin mit 
einer jilbernen Einfaſſung zurüdgegeben. Die Sammlung im 
Basler Bürgerjpital enthält eine Anzahl der damals ge- 
fundenen Geſchoſſe. 

Bei den Verſtorbenen wurde fajt ausnahmslos die Geftion 
gemadt; fie follte, was ja im Yelde faum möglid it, die 
Kenntnis der Schußverlegungen erweitern und was nod) wid)- 
tiger war, Licht in das Wefen der vielfach) noch Jo rätjelhaften 
tödlihen Komplifationen des Wundverlaufs bringen. Pro— 
fejlor Edwin Klebs, der die Geftionen ausführte und feine 
Beobachtungen nad) dem Kriege zum Gegenjtand einer wiljen- 
ſchaftlichen Publikation machte, nahm den größern Teil der 
gewonnenen Präparate mit nad) Bern, ein kleinerer Teil 
fonnte auf eine Auseinanderfegung Hin für Bajel erhalten 
bleiben; fie find in der Sammlung der Hirurgijhen Klinit, 
ein Turfostopf und ein Turfosffelett im Bejaltanum. 


Nach Mitte November trat ich meinen neuen Aſſiſtenten⸗ 
poſten in Barade Nr. II an. Mein bisheriges Zimmer in der 
Nähe des Bahnhofs gab ich, weil zu abgelegen, auf und ſchlief 


157 


einige Nähte auf dem Fußboden der Turnhalle mit verſchie— 
denen badilhen und ſchweizeriſchen Afliitenten der benad- 
barten Zazarette. Es wurde mir bald von Dr. Lob, meinem 
Vorgeſetzten, geitattet, dDiejes etwas ungemütlihe Nacdtlager 
mit einer ganz nahe gelegenen Manfarde zu vertaujchen, in 
der auch Freund Barth, nun Afliitent von Barade I, Pla 
fand; man fonnte uns im Notfalle dort leicht holen. 

Unjere Baraden gehörten zu den jehs das Friedrichs— 
baradenlazarett bildenden Neubauten, die auf einer 
Wieſe außerhalb der Stadt, nahe beim Lehrerjeminar, in zwei 
Reihen zu je drei Baraden angeordnet waren. Die Dijtanz 
zwifchen beiden Reihen betrug 60, diejenige zwifchen zwei 
Baraden 33 Meter. 

Jede Barade rubte auf 0,75 m Hohen Badijteinpfeilern, 
jo daß die Luft unter dem Fußboden leicht zirkulieren konnte. 
Die Länge betrug 45,3 m, die Breite 8,7 m, die Höhe 7,5 m. 
Die Bentilation geſchah durch einen Dadreiter mit Klapp— 
fenjtern und durch Klappen an und unter den %enitern der 
Geitenwände, der Luftraum für jedes der 32 Berwundeten- 
betten betrug nahezu 50 Kubikmeter. Die Betten ftanden, 
quer zu den Längswänden in zwei Reihen angeorödnet, zwijchen 
den Fenſtern etwas über 1 Meter von einander entfernt und 
etwas von der Wand abjtehend. Breite Gänge mit Berband- 
tijyden und Kommoden teilten den geräumigen Gaal nad 
Länge und Quere in vier Abſchnitte und führten zu vier 
Ausgängen mit Treppen. An der einen Schmaljeite waren 
vier kleine Zimmer für die Aerzte und etwaige Operationen, 
für die Schweitern, für Vorräte und für Bäder, am andern 
Ende eine kleine Terraſſe; die Abtritte lagen in einem Kleinen 
Anbau. Der Fußboden des Krankenjaals war mit Wachstuch 
bededt, die Heizung geſchah durch ſechs eiferne Defen, die Be- 
leudtung durh Gas. Die jehs Baraden hatten in ihrer 
Mitte eine gemeinfame Küche, von welder aus die Speiſen 
in Heinen Wagen auf Schienen hergeführt wurden. 

Diefe von Baurat Hödjftetter in Karlsruhe entworfenen 


158 


Baraden waren aus Holz und Backſteinmauern fo fhön und 
folide fonftruiert, daß jie den Namen Baraden faum ver- 
dienten, dem doch ein gewiller Begriff von Improviſiertem 
und Hinfälligem anhaftet. Baradenbau war damals die 
Zojung, wenn man auf dem Neueiten und Beiten ſein wollte. 
Die Idee war zwar nicht neu. Schon 1788*) Hatten die Oeſter— 
reiher in Ungarn bei dem bevorjtehenden Türfenfriege ein 
hölgernes, zerlegbares Spital erbaut, auch in den Kriegen 
Napoleons I. waren jie gebraucht worden, ebenjo in der Krim 
und in Algier. Große praftiihe Verwendung und zugleich 
Verbeilerung aber Hatten fie bejonders im amerikaniſchen 
Gezeflionsfriege, 1861—65, gefunden. Anjtatt in alte, un 
teinliche, ja im eigentlichen Sinn des Wortes anrüdhige Spi— 
täler, deren hygieniſchen Mißſtänden man das Schlimmite 
zutrauen fonnte, follte der Verwundete in eine faubere, frifche, 
noch nit durchſeuchte Wohnung fommen, die leiht zu im— 
provilieren war und nicht viel EZoftete, jo daß fie ohne großen 
Schaden wieder verbrannt werden fonnte. Ich erinnere mid 
lebhaft, wie Socin 1869 in der Vorlefung über Allgemeine 
Chirurgie für den Baradenbau eigentlih gejhwärmt und 
überhaupt die Amerikaner, die auch die Spitalfchiffe einge- 
führt Hatten, als Vorbild praftiiher Hygienifer Hingejtellt 
hatte. Den oben gegebenen Begriffen entipradhen nun unfere 
Baraden nit ganz. Sie waren jolide ausgebaut, für den 
Winter eingerichtet; ihr Bau Hatte lange gedauert und viel 
gefoftet. Eine einzelne Barade fam auf 16500 Franken, die 
ſechs Baraden des Kriedrihsbaradenlazarettes mit den De- 
pendenzen zufammen auf 149100 Franken zu jtehen, eine 
Lagerſtelle auf 777 Franken. Dafür waren dieje Baraden 
ehr jhön, freundlich, bequem und warm genug, wenn das 
Wetter nicht allzu falt war. Es ließ fih da recht gut leben, 
und man hatte das Gefühl, daß das Beite für die Patienten 
geichehen fei. Ob dieje Baraden nad) dem Kriege wirklich) dem 


*) S. Chirurgifche Enzyklopädie von Kocher und de Querwain. 


159 


Feuer übergeben wurden? Ich weiß es nicht, aber ich zweifle 
beinahe; fie waren doch allzu ſchön geraten. Socin fam 
übrigens im Laufe des Krieges, befonders nad) feinen relativ 
günftigen Erfahrungen im Bahnhoflazarett, von dem 
Schwärmen für die Baraden ein wenig ab und ſah es ein, 
daß man die Hygiene des Yazarettraumes etwas zu hoc) oder 
wenigſtens zu einfeitig eingejhäßt hatte. Die Reinlichkeit 
der Pflege und die forgfältige antifeptijche Behandlung jedes 
einzelnen alles hatte an Bedeutung zugenommen und fiel 
nun ſchwerer ins Gewidt. Doc geht man wohl nit Fehl, 
wenn man die 1875 erfolgte Erbauung der jet noch beftehen- 
den hirurgiihen Barade im Garten des Basler Bürger: 
pitals auf die Anregung von 1870 und das Karlsruher 
Mufter zurüdführt. 

Die 32 Patienten unjerer Barade gehörten fajt ohne Aus— 
nahme zu den Schwerverwundeten und ftammten von Wörth, 
Gravelotte und Straßburg; neuer Zufluß fam allmählich aus 
den Gefehten und Schlahten der Werderjhen Armee. Die 
Arbeit war daher viel einfacher, ruhiger, als in den eriten 
Zeiten des Bahnhoflazaretis mit den vielen, relativ frifchen 
Berlegungen. Nah Socins Abreiſe Mitte November hatte 
Dr. Ernft Bergmann, damals Profeſſor in Dorpat, 34 
Sahre alt, die Oberleitung übernommen, doch Tieß er die 
Aerzte der erjten und zweiten Barade ziemlich gewähren. Ich 
erinnere mich nur einmal, ihn als Operateur in unjerem 
Saale gejehen zu haben, bei der Schulterrefeftion eines preu⸗ 
Bifhen Zeutnants, wo Courvoiſier und id) ihn affiitierten. Er 
mar ein fhöner Mann, flinfer Operateur, von bedeutender 
Körperfraft; er trug damals den Operierten felbjt ſehr ge— 
wandt vom Dperationslager zum Bette. Am Abend fahen 
wir ihn oft in der Gefellihaft der Aerzte. Den Abſchluß 
feiner Karlsruher Tätigkeit bildete feine Verlobung mit 
Fräulein v. Porbeck, der Vorfteherin feines Lazaretts. 

Zu Bergmanns Verfügung ftand feit Mitte November 
Dr. Rudolf Maffini aus Bajel, der u. a. im Auftrag des 


160 


Badiſchen Frauenvereins die Lazarette des Großherzogtums 
veſuchte und hierüber einen Bericht auszuarbeiten hatte. 
Beitand unfere Haupttätigfeit nun darin, unfere Pa: 
tienten zu verbinden, Knochenſplitter und einzelne Geſchoſſe 
zu entfernen, das gefährliche Aufliegen zu befämpfen, den 
Geſamtzuſtand der oft recht heruntergefommenen Leute dur 
gute Ernährung und Pflege zu heben, jo gab es doch aud) 
aufregende Erlebnilje. Ein bei Belfort im Januar verwun— 
deter polnisch [prehender Yandwehrmann, der mit Glüd ſchon 
die Yeldzüge von 1864 und 1866 in Dänemarf und Böhmen 
mitgemadt hatte und ſich nun nochmals von der Heimat, dies: 
mal aud) von Weib und Kindern, hatte trennen müljen, hatte 
einen harmlofen Fleiſchſchuß am Oberjchenkel, aus dem man 
durch Schnitt die Kugel und Tuchfetzen entfernt hatte. Es 
Thien alles gut zu gehen, aber am achten Tage nad) der Ber: 
wundung madte eine plößlicd) auftretende arterielle Blutung 
Die Unterbindung der Hauptſchlagader des Beines nötig. In 
den folgenden Tagen mußte dann wegen Gangrän (Abfterben) 
Des Unterjhenfels die Amputation unter dem Knie gemadit 
werden. Der Mann genas, fehrte aber als Krüppel in die 
Heimat zurüd. Ich bedauerte ihn um fo mehr, als er ein 
einfacher Bauer und bei feiner polnischen Abſtammung gewiß 
nit jo mit dem Herzen dabei war wie taufend andere, die 
für ihr Deutihland freudig Leib und Leben opferten. — 
Biel Arbeit gab uns ein Zeuerwerfer, der das Unglüd Hatte, 
nit vom Feind verwundet zu fein, fondern bei feiner Arbeit 
vor Straßburg in einen Keljel mit glühendem Metall zu 
treten und Fuß und Unterjchenfel zu verbrennen; er wird 
wohl fpäter amputiert worden fein. — Um Weihnadt ver- 
loren wir einen Badenjer aus Singen, der am 6. Oftober bei 
Etival einen Bruftihuß mit Rippen: und Lungenverletzung 
erhalten Hatte. Trotz eines entzündliden Erguffes in der 
Brufthöhle ſchien der Mann doch fi erholen zu wollen, als 
plößlih brandiges Aufliegen am Kreuz entjtand, und feine 
Wunde fi) mit einem ſchwarzen Schorf bedeckte, der ſich immer 


161 11 


weiter ausdehnte, jo daß die ganze Umgebung handgroß in 
einen tintenfhwarzen Brandherd umgewandelt wurde; auch 
eine Einfehnittwunde, durch die man Tuchfegen entfernt hatte, 
wurde ergriffen. Diefen eigentümlidhen ſchwarzen Brand 
Hatte ich vorher nie geſehen; bei den Fällen von Hojpitalbrand 
im Bahnhoflazarett waren die Granulationen (das Fleiſch 
der Wunde) grau, durchſcheinend, von traubenartigem Aus— 
ſehen, aber nicht jchwarz geworden und Hatten nad fräftigen 
Karboläßungen wieder die normale frifh rote Yarbe ge= 
wonnen. In unjerm Halle folgten bald die Allgemein- 
erjheinungen einer ſchweren Blutvergiftung, Herzihwäde 
und Benommenbeit. 

Bis Mitte Januar 1871, von wo an dann wieder friſch 
Berwundete aus der Umgebung von Paris und von Belfort 
gebracht wurden, war unjer Leben in den Baraden recht ruhig 
und gemütlid. In Barade I herrihte Mufif und Gejang vor, 
indem Barth ein Kleines Harmonium hatte herichaffen Iafjen. 
Man fonnte ji) der Unterhaltung der Patienten widmen 
und wurde darin vorzüglid durch unfern früheren Turnlehrer 
aus Bajel Herrn Maul und Herrn Keller, einen ftrammen 
Minifterialbdeamten, unterjtüßt. Es fehlte überhaupt während: 
des ganzen Krieges in den vielen Lazaretten nirgends an 
guten, treuen Leuten, die auch dann ausharrten, als die Ver: 
wundetenpflege den Reiz der Neuheit verloren hatte. In 
unferer Barade brachte die Diakoniſſin oft Heiterkeit in die 
Gejellihaft, wenn fie in ihrem Aargauer oder Berner Hoch— 
deutſch Sentenzen von id) gab und 3. B. damit prahlte, „daß 
die Schweizer Soldaten denn doc anderi Kerli feien, wo nicht 
auf den erjten Schuß umfallen wie Ihr“, oder wenn fie von 
einem Patienten, der ein reich gefülltes Portemonnaie zeigte, 
lagte: „Nei Iueget ou, der Bornholdt hat Geld wie ein Säu— 
händler!“ 

Auch Befuher bradten Abwechslung. Als ein basle- 
rilhes Ehepaar, das ich fannte, fi) freundlich mit den Pa— 
tienten unterhielt, madte ich die Dame darauf aufmerffam, 


162 


daß fie Hier, in einem pommerfchen Füſilier, einen Mann ihres 
Namens finde. Sie ſchenkte ihm ihre Teilnahme und jandte 
mir am nächſten Tage „für ihren Namensvetter“ ein Gold- 
ſtück. Diefes wurde aber anfänglid nicht gejchäßt, weil der 
Patient, des Anblids einer goldenen Münze ungewohnt, — 
es zirkulierte damals in Deutichland fein Gold im allgemeinen 
Verkehr, — es für eine Spielmarfe hielt. Sein Bettnachbar, 
ein Schleswiger, nannte ihn einen Schafstopp und bot ihm 
zwölf Kreuzer dafür, doch gelang es ſchließlich, den Beſchenkten 
von dem Werte der Gabe zu überzeugen und ihm ein danf- 
bares Grunzen zu entloden. 

Dit kamen KRolporteure und andere Menfchensreunde, 
einmal aud ein teilnehmender, freundlicher, aber etwas furz- 
fihtiger Enthuliaft aus Schwaben. Er jah, wie der Arm eines 
bayriſchen Kranfenträgers, der bei Beaumont (oder Bonmot, 
wie der Patient es ausſprach) getroffen worden war, in einer 
Drahtihiene an einem Galgen aufgehängt, fchwebte, muß 
aber die haltenden Schnüre nicht gefehen haben, denn er fand 
fein Ende des VBerwunderns darüber, „Daß der Mann feinen 
Arm bejtändig jo grad raus ftreden könne“. Gein Eritaunen 
erheiterte alle und brachte ſelbſt den leidenden Belißer des 
Armes zum Laden. 

Neben der Diakoniſſin waren noch der uns von früher 
ber befannte Schweizer Wärter Karl und zwei artige und 
geſchickte freiwillige Pflegerinnen angeſtellt. Auch einige 
Damen kamen regelmäßig, um zu helfen und die Kranken zu 
unterhalten. Da zwei davon mehr das ariſtokratiſche und 
eine das bürgerliche Element vertraten, kam es bald zu kleinen 
Spannungen und Reibungen, bei denen wir die neutralen 
Beobachter waren, doch hatte die Bürgerliche in unſern Augen 
den Vorzug, zwei blühende Töchter zu haben, mit denen wir 
Mittags gerne Schlittſchuh liefen. 

Der Geburtstag der Großherzogin und das Weihnachts⸗ 
feſt wurde in der Barade gefeiert. Beide Male hatte der viel— 
feitig begabte Wärter Karl Transparente gemalt, um Weih- 


163 11% 


nacht eine Darftellung der heiligen Geſchichte. Daß aus Ver- 
ſehen das Chriftustind zwei linke Füße mit auf die Welt 
befommen Hatte, ftörte außer den Medizinern niemanden, 
aud nicht die Großherzogin, als fie unter den Klängen des 
Seminariltendors zu der Anſprache von Hofprediger Doll in 
die Barade fam. Gie dankte dem Künjtler, begrüßte hernad) 
die Verwundeten und befam dabei ein Kompliment von der 
Diakoniſſin. Es Hatte der Großherzogin jemand eine unjehl- 
bare Salbe gegen das Aufliegen empfohlen, und dieſe war, 
wie es jeheint, mit Erfolg gebraudt worden, denn ich hörte 
die Schweiter jagen: „Ali, wo mit Ihrer Decubitusjalbe be- 
handelt wurden, Königliche Hoheit, find geheilt.“ 

Nach Neujahr war man aud in Deutihland des Krieges 
müde, und in Süddeutichland ſah man mit Sorgen nad) dem 
Gewitter, das in Form von Bourbafis Armee de l’Est heran: 
309. Paris hielt immer nod) einen großen Teil der deutjchen 
Armee an fich gefettet, im Norden und um Orleans wurde 
heftig gefämpft, — war es da möglid, die Belagerung von 
Belfort aufrecht zu erhalten, der franzöjiihen Oftarmee zeitig 
genug zu begegnen und fie unfchädlich zu maden? Wir willen, 
dag Werder mit feinem Borftoß gegen Billerserel am 9. 
Sanuar, das den Feind zwang, feine ganze Macht zu zeigen, 
dann durch die raſche Befejtigung und feine heldenmütige Ver: 
teidigung an der Lilaine vom 15.—17. Januar die Entjegung 
von Belfort und den Durhbrud der Yranzojen nad) Süd— 
deutjchland verhinderte, und daß gleichzeitig Manteuffel dur 
feinen Gewaltmarſch mitten durch Frankreich eben recht fam, 
um die an der Lijaine zurüdgewiefene franzöfiihe Armee 
gegen den Jura nad) der Schweiz abzudrängen. Bevor dies 
aber geſchehen war, aljo bis über Mitte Januar, war man 
nicht ohne Sorge. Auch hatte der Krieg durch das Auftreten 
irregulärer Feinde, Yranctireurs und Garibaldianer, einen 
viel rauheren und gefährlicheren Charakter angenommen als 
im Anfang, wo man es mit der regulären Armee zu tun hatte; 
die badiihen Truppen waren befonders ftarf mitgenommen. 


164 


Und zu alledem die Strenge diefes Winters und die auf- 
tretenden Epidemien! Auch in Karlsruhe machte man da- 
mals die Bekanntſchaft von Poden und Typhus. Bon Paris 
fam immer derjelbe Bericht, daß alles im alten jei, wenn man 
auch in den Karlsruher Läden jet ſchon bedrudte Taſchen— 
tücher mit dem Einzug der Deutſchen in Paris faufen fonnte. 
Mehrere Male trafen Siegesnachrichten abends während der 
Voritellungen im Hoftheater ein. Das Spiel wurde dann 
unterbrochen und das Telegramm von der Bühne vorgelejen; 
man erhob fih und Schauspieler und Publikum fangen unter 
Orcheiterbegleitung die Wacht am Rhein. 

Ich mußte nun an die Heimfehr denken, wenn ic) im Früh— 
ling mein aufgeſchobenes Propaedeutitum machen wollte, das 
ih in glüdlihen Momenten beinahe vergejjen Hatte, das aber 
nad ſolchen Phaſen mit Sicherheit wieder als Geſpenſt auf: 
tauchte. Ich ging ungern fort, da jett gerade viele neue Pa- 
tienten eintrafen und die dreitägige Schlacht an der Lijaine 
einen jtarfen Zufluß erwarten lieg. Man erfuhr aud, daß 
Bourbafi nad) der Schweizergrenze Hingedrängt werde, und 
der Wirt zum ſchwarzen oder weißen Bären an der Karl 
Friedrichsſtraße, wo wir unſer Mittagefjen einnahmen, be- 
merfte mit Shmungzeln: „Da habe ja jet die Herre Schweizer 
vielleiht Gelegenheit, Bekanntſchaft zu made mit ihren 
Freunde, de Franzoſe!“ 

Am 26. Sanuar 1871 verließen Barth und ih unfern 
Dienft; als ih am 27. morgens zum Bahnhof ging, reute mid 
mein Entihluß beinahe wieder; denn ich jah über die jchnee- 
bededte Landihaft eine lange Kolonne von Trägern mit bela- 
denen Bahren und von Fuhrwerken nad) den Lazaretten ziehen. 

Mir fuhren über Tübingen und erfuhren am 28. Januar 
auf dem Rückwege aus der Hirurgifhen Klinik von V. v. 
Bruns, die wir beſucht Hatten, dur) den Phyliologen Bierordt 
das Neueite, indem er den Studenten über die Straße zurief: 
„Paris ift über!“ Nun großes Hallo, Deforation, Muſik und 
abends ein Yadelzug unter Vorantritt der Stabdtreiter. 


165 


Auf der Heimreije wurden wir getrennt; denn Barth er- 
hielt am Abend des 1. Februar das Telegramm eines be- 
freundeten Arztes im Thurgau mit der Bitte, ihn in feiner 
Praxis zu vertreten, da eine franzöſiſche Armee in die Schweiz 
übertrete und er mit feinem Bataillon an die Grenze mülle. 
Sch kehrte allein nad) Haufe zurüd und jah einige Tage jpäter 
am Alten Markt die lange Kolonne der für Liejtal und Bafel 
beitimmten Bourbafijoldaten, meilt Berittene, die vom 
Bubendörfer Bad herfamen. Es war ein mitleiderregender 
Anblid, dieſe elenden, hinfenden Mannſchaften mit ihren ab- 
gemagerten Pferden, wie fie nad) all ihren Strapazen ihrem 
Beitimmungsort zujhlidhen. Die Leute aus den Dörfern eilten 
herzu und waren ergriffen von dem Anblid des traurigen 
Zuges. Es rührte mic) zu jehen, wie einzelne unjerer Bauern 
am Wege jtanden, um den Franzoſen aus großen Krügen ihr 
gutes Bajelbieter Kirihwajler anzubieten. Dieſe Sprade 
wurde jofort verjtanden, denn damals galt bei Müden und 
Srierenden ein Kirſch noch als Herzitärfend und magen- 
wärmend. 

Es bildete ſich, nachdem dieſe Internierten in Lieſtal nach 
einigen Tagen ausgeruht, gebadet, geſättigt und mit warmen 
Kleidern verſehen waren, ein freundliches Verhältnis zwiſchen 
ihnen und der Bevölkerung, und im Laufe der nächſten Wochen 
ſah man den Soldaten das Wohlergehen an, wenn fie nad: 
mittags folonnenweife in die Dörfer fpazieren geführt 
wurden. 


Die Doktoren Courvoiſier, Log und Maſſini harrten no 
bis Ende März in Karlsruhe aus. Die zwei Erjtgenannten 
fehrten dekoriert mit dem Zähringer Yöwenorden nad) Bajel 
zurüd, Courvoilier außerdem als der glüdlide Bräutigam 
einer Karlsruher Dame, die mit ihrer Mutter der Barade I 
vorgeitanden Hatte. Maflini ging dann nad) Edinburg, wo 
Liſter ſeit 1869 Profeſſor war; aus einem Brief, den er von 
vort an Socin fhrieb, hörte ih zum erjtenmale von der 


166 


neueiten Etappe der Lijterfchen antijeptifchen Methode, der 
Einführung der Karbolzerjtäubung durch den „Spray“, der 
Dann fo lange zum unentbehrliden Rüftzeug der Chirurgen 
gehörte, bis die Untifepfis (die Bekämpfung der lebenden 
Keime in der Wunde) durdh die Aſepſis (die Außerft 
ftrenge Desinfeftion des Operationsfeldes und der Hände 
und die Gterilifierung der Inſtrumente, Fäden, Verbände 
und Kleider durch Dampf) abgelöjt wurde. 

Socin wurde in Anerfennung feiner Verdienite nicht nur 
mit einem hohen Drden gejhmüdt, jondern aud) dadurd) aus= 
gezeichnet, daß er nad) dem Kriege mit Billroth und 2. v. 
Langenbeck in eine Dreier-Jury gewählt wurde für die Be: 
urteilung des beiten Handbuchs der kriegschirurgiſchen Technik; 
die Kaijerin Augusta Hatte auf die Wiener Weltausitellung 
hin zwei große Preiſe für ein ſolches Werk geitiftet, „um die 
Snterejfen der Humanität unter dem Symbol des Rothen 
Kreuzes aud) im Frieden zu fördern“. Den erjten Preis er- 
hielt der geniale Erfinder der fünftlichen Blutleere, Friedrich 
Esmarch, für ein Werf, das erjt 1877 erjhienen, in feiner 
Verbandlehre ſchon die ganze ausgebildete Antijeptif enthält. 
Bei Anlaß der Beratungen der Jury in Berlin wurde Socin 
zum Kaijer Wilhelm befohlen; er hat in einem im Korrejpon- 
denzblatt für Schweizer Aerzte abgedrudten Briefe an Alb. 
Burdhardt-Merian feinerzeit über dieſe Audienz in feiner 
feinen und munteren Weile berichtet. 

Als mit Beendigung des Krieges die Internationale 
Agentur in Bafel ihre Tätigkeit einjtellte, ſchlug Socin als 
deren Mitglied vor, einen Teil der übrig gebliebenen Geld- 
mittel zur Anjhaffung von künſtlichen Gliedern für Ampu- 
tierte beider Nationen zu bejtimmen und bot fi an, für Her: 
ftellung folder Apparate zu forgen. 

Mit Hilfe der Agentur, von Freunden und weiteren 
Kreifen, bei denen die Idee Anklang gefunden hatte, wurde 
in Bajel ein Haus gemietet und eingerichtet, das 17 Betten 
für den Aufenthalt der Invaliden und außerdem den Raum 


167 


zu einer Werkitätte für den Orthopäden Weber-Moos aus 
Züri enthielt, den Socin jhon als erfahrenen Fachmann 
fannte. 

Bis zum 1. Dezember 1871 wurden 45 deutiche, 37 fran— 
zöfiihe und 18 eljaß-lothringifhe Snvalide, im ganzen 100 
Mann mit 187 Apparaten verjehen. Ueber den weiteren Ver— 
lauf fehlen mir die Notizen; man fah damals längere Zeit 
Gruppen diefer Leute an Krüden herumhumpeln; id fand 
Darunter mehrere alte Bekannte. 

Die 1871 ad hoc zujammengetretene Gefellihaft gab An— 
laß zur Gründung des feit 1871 beitehenden Vereins zur An= 
Ihaffung künſtlicher Glieder, der aud) jet noch in ſegensreicher 
Wirkſamkeit it. 

Socin lud mid) im Sommer 1871, nahdem mein Eramen 
abjolviert war, ein, ihm bei der Sichtung und Erzerpierung 
der Karlsruher Krankengeſchichten zu helfen. Ich wohnte 
bei ihm, am Abend diftierte er mir den Allgemeinen Teil 
feiner „Kriegschirurgiſchen Erfahrungen“ und unterhielt mid 
dur) fein geiltreiches Plaudern. Man wird mir es glauben, 
daß die 14 Tage, die ich in dem bei der Einladung verheißenen 
„abfolut freien und freundſchaftlichen Ton“ mit ihm verbradite, 
das denkbar angenehmite Nachſpiel zur Lazarettätigfeit 
bildeten. 


Nun nod) einen Blid zurüd auf das Ende des Kriegs und 
zugleid) auf das fernere Schidjal vieler von unferen Pa— 
tienten. 

Am 26. Yebruar 1871, während die franzöliihe National- 
verfammlung in Bordeaur tagte, wurde zwiſchen der fran— 
zöſiſchen Republik und dem deutihen Kaiferreich der Borfriede 
zu Verfailles geſchloſſen; der definitive Friedensſchluß geichah 
zu Frankfurt a M. am 10. Mai. 

„D Ihöner Tag, wenn endlich der Soldat zum Frieden 
heimfehrt, zu der Menſchlichkeit“, dieſes Wort aus Wallenftein 
galt für die fiegreiche Armee, nicht aber für Die unterlegene. 


168 


Für viele Franzofen, Die dem Elend und den Gefahren 
des unglüdlichen Feldzugs entronnen, für Viele, die von ihren 
Wunden genejen oder aus der Gefangenfchaft entlajjen waren, 
aud für die in der Schweiz interniert Gewejenen, hatte die 
Stunde des Friedens no nicht gejchlagen. 

Vom 18. März an war Paris der Rommune überliefert; 
die Regierung unter Thiers hatte fi mit kleinen Beltänden 
treu gebliebener Truppen nad) Berjailles zurüdgezogen. Aus 
den Reiten bejiegter Yeldtruppen, heimfehrenden Gefangenen, 
aus Genejenen, aus allen anjtändig denfenden Elementen 
mußte eine neue Armee von allen Enden her gejammelt und 
organiliert werden. Erſt am 21. Mai fonnte man zum eigent: 
lihen Angriff jchreiten, und die Tage vom 25. Mai an, wo 
die Truppen in das brennende Paris eindrangen, bis zum 
28. vollendeten mit einem greuliden Gemeßel die entjeß- 
lihden Prüfungen der franzöſiſchen Nation. 





169 


Die Theologen des Heubergs. 


Don Jakob Aundig. 


Menige Dertlichfeiten Bajels haben ihr früheres Aus— 
jehen bis in unfre Tage fo wenig verändert als der Heuberg 
und der früher unter derjelben Bezeichnung mit inbegriffene 
Gemsberg. Sa gerade der letere hat wejentlih mit zum 
Heuberg gehört. Denn der Name fommt daher, daß einjt dort 
Scheunen und Ställe fi) befanden, in weldhen die Mebger 
Bajels das von ihnen eingefaufte Schlahtvieh unterbradten. 
Gerade am nunmehrigen Gemsberg aber befindet ſich das 
Haus, einſt „zur Schheuren“ genannt, an feiner großen 
Iheunenartigen Haustüre jet noch an feine urjprünglicdhe 
Beitimmung erinnernd. Diejes Haus, die Stätte meiner Ge- 
burt und Kindheit, gehört alfo recht eigentlich zum „Heuberg“. 
Es begreift fih nun allerdings, daß, als an die Gtelle der 
frühern durchgehenden Häufernummerierung eine ſolche nad 
Gaſſen, Straßen und Pläßen trat, ein Teil jenes unter dem 
Namen Heuberg vereinigten Gaſſenkomplexes einen andern 
Namen erhalten mußte. Und da bot ſich als nädjftliegend der 
Name Gemsberg dar, da das Haus unterhalb des großen 
Brunnens, jetzt Gemsberg Nr. 7, zum Gemsberg hieß, alſo 
von einem Tier der Berge feinen Namen hatte. Ueberdies 
wurde zur jelben Zeit der frühere, faft immer defekte und gar 
oft von den Arbeitern des Brunn: und Bauamtes zu flidende 
Brunnen durch einen neuen, aus einem Golothurnerftein 
gehauenen Brunnentrog erjeßt und in deſſen Mitte ein 
Brunnenftod mit einer Gemsfigur errichtet. Beides, der neue 


170 


Brunnen und der neue Name, trat im Winter 1860 auf 1861 
in Zunftion. Als ih im Frühling 1861 von einer aus: 
wärtigen Hochſchule in die Ferien fam, war mein väterlidhes 
Haus nit mehr Nr. 420 am Heuberg, ſondern, wie jeßt nod), 
Nr. 9 am Gemsberg. 

Sch mußte dieſen Hinweis auf die früher umfaljendere 
Bedeutung des Namens Heuberg vorausihiden, weil aud) an 
dem jet Gemsberg genannten Teil desſelben Theologen 
wohnten. | 

Unter diejen find vor allem zu nennen die beiden Pro- 
felloren Karl Rudolf Hagenbach und Johann Jakob Stähelin, 
welde zujammen mit Sohann Georg Müller gegen 50 Jahre 
hindurch der Basler Fakultät angehörten (9. ftarb 1874, 
St. und M. 1875). Hagenbah wohnte in dem Edhaufe des 
obern Heubergs gegen den Leonhardsberg Hin, Nr. 33, dem 
Eigentum der Frey-Grynäiſchen Stiftung Hagenbach war 
ein um jeines freundliden Wejens willen bei alt und jung 
beliebter Mann. Daß er ein Kinderfreund war, beweijen 
feine hübſchen Kinder- und Schülergedihte. Wir erinnern an 
das bekannte Weihnadtslied: „Wir danken dir, du gutes, du 
liebes Weihnadtsfind“, und an das luſtige Yerienlied: 
„Hundstagsferien, goldne Tage“, worin die damaligen Schul: 
bücher von Beder, Blume, Feldbaufh, Selten auf köſtliche 
Weiſe mit dem Yerientreiben in Beziehung gebracht werden. 
Hagenbah war aud ein ftets gern gehörter Prediger; als 
Mitglied des großen Rats und anderer Behörden nahm er 
am öffentlichen Leben Anteil und begleitete jo ziemlich jedes 
bedeutjame Ereignis in Bafel, namentlich Fejte, Berfamm- 
lungen, Einweihung wichtiger Gebäude, mit einer poetiſchen 
Gabe. So war er eine ftadtbefannte Perſönlichkeit. Gar 
oft ging er den Gemsberg hinauf und hinunter und wurde 
Taft von allen Leuten gegrükt. 

Stähelin, deſſen Wohnhaus an den Leonhardsgraben 
ging, während nur ein Hintergebäude mit Remiſe an den 
obern Heuberg ſtieß, jet Nr. 30, wurde feltener gejehen. Er 


171 


war auch mehr als Hagenbach ausſchließlich mit feinem Fach— 
ſtudium, demjenigen des alten Tejtaments und der jemitifchen 
Spraden, beichäftigt, und darum dem PBublifum weit weniger 
befannt. Auch Hatte er eigenes Fuhrwerk und fuhr darum 
oft aus. Doch fam er au öfters bei meinem väterlichen 
Haufe vorbei. Gut erinnere ih mid) noch eines Winter: 
morgens, wo es über Naht „Glatteis“ gegeben Hatte. Mit 
dem Sanditreuen war man gegen adt Uhr noch nit bis 
an den Heuberg gelangt. Der Herr Profeſſor jtand, mehrere 
Bücher unter dem Arm, oben und wagte nidt, den jpiegel- 
glatten Abhang Hinunterzugehen. Da fam ihm aus meinem 
Vaterhaus Hilfe in der Not. Wie einft beim Ueberfall im 
Wildbad ein armer Hirte fi des alten Grafen Eberhard er- 
barmte und ihn „von Herzen gern“ auf den Rüden nahm, 
jo trat ein waderer Gejelle meines Baters heraus, bot dem 
Herrn Profeſſor den Arm und führte ihn feiten Schrittes und 
lider hinunter bis an den Spalenberg, wo Sand gejtreut war. 
Ein Sohn Stähelins wurde auch Theologe und war zuerit 
Pfarrer in Rheinfelden, fpäter bis zu feinem Tode zu 
St. Theodor in Bafel. Er war ein gelehrter Kirhenhijtorifer 
und Ehrendoftor der Theologie; auch ein ſehr geihäßter Pre: 
diger und Geeljorger. Gein Sohn ilt fein Nadfolger im 
Pfarramt geworden. Ein jüngerer Sohn Stähelins wurde 
Arzt, ließ jih in Aarau nieder, befakte ſich viel mit Orni— 
thologie und iſt erſt am 28. März diejes Jahres gejtorben. 
Außer den zwei genannten Profejloren wohnten am 
Heuberg zwei Pfarrer, weldhe zu den „Erulanten“ gehörten. 
So hießen jene faſt ſämtlich aus Bafel gebürtigen Pfarrer, 
welche bei der Trennung beider Kantonsteile im Jahr 1833 
freiwillig oder unfreiwillig ihre Stellen auf der Landſchaft 
verlajjen Hatten, weil fie der neuen, nah ihrem Dafürhalten 
untehtmäßigen Regierung zu Lieftal nicht den Amtseid 
leiften wollten. Einer derjelben, Huber-Schnell, vorher in 
Benfen, wohnte mit feiner ziemlich) zahlreihen Familie neben 
dem Hauje zum Gemsberg beim großen Brunnen, jeßt unterer 


172 


Heuberg Nr. 1, und fand ſeine Belhäftigung darin, daß er 
dem OSpitalpfarrer in Ausübung feines Amtes Hilfe Ieijtete. 
Einer jeiner Söhne war lange Jahre Pfarrer in Buchthalen 
bei Schaffhaufen und lebt noch als Emeritus in diejer Stadt; 
ein Sohn desſelben amtiert als Geiltlider in der ſchaff— 
baufifden Gemeinde Diterfingen. Der andere Erulant wohnte 
am obern Heuberg, vom Gemsberg aus gegen den Spalen- 
berg Hin, jegt Nr. 24; das Haus ijt fenntlid) an dem bejonders 
hohen Dache. Das war Emanuel Burdhardt-Preiswerf, zu: 
vor Pfarrer in NRümlingen, zum Unterjhied von andern 
Trägern diefes Namens furzweg €. B. genannt. Im „Eril“ 
befleidete er das bejcheidene und nicht einträgliche, aber doch 
nit unwidtige Amt eines Gefretärs des Millionstomitees, 
deſſen Protofolle er mit feiner ſchönen Handihrift multer- 
giltig führte. Gar oft wanderte der freundlide Mann über 
den obern Heuberg dem damaligen Miflfionshaufe an der 
fillen Miſſionsgaſſe, der jeßigen innern Leonhardsitraße zu, 
um dort feines Amts zu walten. Geine zweite Gattin, eine 
geborene Preiswerf, war in eriter Ehe ebenfalls mit einem 
Erulanten, Bfarrer Stähelin in Winterlingen, verheiratet ge— 
wejen, feine erjte Gattin hatte meines Erinnerns auch Burd- 
hardt geheißen. Kinder hatten diefe Eheleute nicht, wohl 
aber viele Leibliche und „angeheiratete“ Verwandte. Unter 
dDiefen waren, wie fi) denken läßt, auch viele Theologen; be- 
fanntlich find unter denfelben die drei Namen Burdhardt, 
Preiswerf und Stähelin mehrfad vertreten. Sie hatten denn 
auch über zwanzig theologijche Neffen, deren jeder nad) Burd- - 
hardts Tod einige feiner Bücher als Andenken erhielt. Frau 
Pfarrer Burdhardt hieß in ziemlich) weiten Kreifen nur 
„zante E. B.“. Gie Hatte lebhafte und freundliche Teil- 
nahme, nicht nur für die Verwandten, fondern weit über deren 
Kreis hinaus. Da ihr erfter und ihr zweiter Gatte Pfarrer im 
Bezirk Siſſach gewejen waren und meine Mutter ebenfalls die 
Tochter eines allerdings ältern, ſchon 1836 verjtorbenen Eru- 
lanten aus demjelben Bezirk (Pfarrer Fäſch in Ormalingen) 


173 


war, jo erwies ih Frau Pfarrer Burdhardt gegen fie ftets 
befonders freundlich und dienftbereit. Da fie in ihrem Haufe 
einen großen Eftrich Hatte, fo pflegte meine Mutter fie bei 
jeder Wäſche um die Erlaubnis zu bitten, ihr „Plunder“ dort 
zum Trodnen aufhängen zu dürfen, was jederzeit gerne ge— 
währt wurde. Beide Erulantenfamilien führten ein ftilles 
Leben auf dem damals und nod jet jtillen Heuberg und ge- 
hörten zu deſſen langjährigen Bewohnern. 

Im Haufe zum Gemsberg, neben Pfarrer Huber, dem 
damaligen Projelytenhaufe, wohnte damals ein weiterer 
Theologe, der Projelytenvater Heman. Er wird, da er jelbit 
urſprünglich Jude gewefen war, nit in jungen Jahren Theo- 
logie jtudiert haben. Aber er war in den biblifchen Spraden 
bewandert und hielt neben feiner engern Wirfjamfeit ge— 
Ihäßte Bibelftunden. Zwei feiner Söhne ftudierten Theo: 
logie; der ältere wurde Pfarrer in feinem Heimatlande 
Bayern; der jüngere trat, nachdem er ebenfalls dort ein Pfarr: 
amt innegehabt, an die Stelle des Vaters. Jetzt wirft er ſchon 
viele Jahre an der Univerjität als Profeſſor der Philofophie 
und Pädagogik. 

Vater Heman und feine Gattin waren gleihfalls viele 
Sabre lang freundliche und beliebte Heubergbewohner. 

Zu unterft am Heuberg oder jegigen Gemsberg aber, 
an der Ede des Spalenbergs, wohnte noch ein Mann, der als 
ein „zugewandter Drt“ der theologifchen Zunft gelten konnte: 
der „geiltlihe Weinherr“ Langmeſſer, feines Zeichens früher 
MWeinhändler, in meiner Sugendzeit ſchon in höherm Alter und 
Privatmann. Er trug jenen Titel nicht nur deshalb, weil er 
den Abendmahlswein geliefert, jondern aud, weil er eine 
Zeitlang Theologie jtudiert Hatte. Sch hörte ihn einmal 
feinen Enteln und deren Spielfameraden, zu denen auch ih 
gehörte, die erften Verfe des Johannesevangeliums griechiſch 
zitieren, was uns fehr imponierte. Auch Tirchengeihichtliche 
Kenntnijje gab der freundlihe und geiprädige alte Mann 
gerne zum Belten. 


174 


Endlich ift noch derjenige Theologe zu nennen, der vom 
Heuberg jtammte und auch feine legten Amtsjahre in deſſen 
unmittelbarer Nähe zugebradht Hat: der in meinem väter- 
lichen (und jhon großväterlihen) Haufe geborene und auf: 
gewachſene Bruder meines Vaters, Cuharius Kündig, zuerft 
1821—25 Pfarrer in Diegten, dann bis 1859 Helfer zu 
St. Peter, zuleßt bis zu feinem NRüdtritt 1866 Hauptpfarrer 
zu St. Leonhard. Der Hof des von ihm bewohnten Pfarr- 
baufes, Zeonhardsgraben Nr. 63, geht auf den obern Heu= 
berg binaus, jodaß er recht eigentlih ein Heubergtheologe 
war. Er iſt namentlich weithin befannt geworden durd fein 
1856 zuerſt erſchienenes und jeither bis in die Achtzigerjahre 
wiederholt neu aufgelegtes Buch: „Erfahrungen am Kranfen: 
und Gterbebette“. 

So hat denn jene ftille Stadtgegend zu der Zeit, wo fie 
nod einen halb Tändlihen Charakter Hatte, ungewöhnlich 
viele Theologen beherbergt. Es war meine Jugendzeit, und 
dDiefe Umgebung mag dazu beigetragen haben, daß ih ein 
Theologe geworden bin. Set aber wohnt außer in den zwei 
Amtswohnungen, dem Pfarrhauje und dem Frey:-Grynäum, 
meines Wiffens fein Theologe mehr dort. Das Gejchlecht der 
Erulanten ift Tängft ausgejtorben. Und wenn jet Pfarrer, 
die fein Amt mehr befleiden, fih in Baſel niederlajjen, fo 
ziehen fie in eines der außern Quartiere. Eine Aehnlichkeit 
iſt aber doch geblieben. Wie nämlich der Heuberg nahe bei 
der Leonhardsfirhe Liegt und ihrer Parodie zugeteilt ift, 
jo jollen auch jegt noch) in feiner der Stadtgemeinden fo viele 
ehemalige Pfarrer wohnen wie in derjenigen von St. Leon⸗ 
bard. Der Heuberg aber mitfamt dem Gemsberg iſt jegt no 
eine der „ſtillen Gaſſen“ des alten Bajel. 


175 


Die Basler Saftnadıt. 
Don Paul Aölner.*) 


„Rur wer tüchtig trommeln kann, 
Gibt ein guter Bürgersmann.“ 
Faſtnachtszettel 1843. 


Menn in deutſchen und welfchen Landen!) die glänzenden 
Quitbarfeiten des Faſchings und «carnevale> zur Neige gehen 
und mit dem kirchlichen «memento quod cinis es et in cinerem 
reverteris>?) der Aſchermittwoch fröhlichem Mummenſchanz 
ein jähes Halt gebietet, dann legt Baſel die letzte rüſtende 
Hand an ſeine Faſtnacht! 

Dann ebbt am Montag und Mittwoch nach Invocavit 
der Ernſt des grauen Werkeltages und flutet durch die Gaſſen 
der Altſtadt eine Welle lebensvoller, volkstümlicher und ur- 
Tprünglicher Eigenart, welche nirgends ihresgleichen findet. 

Sung und alt feiert; die Schulen und Geidhäfte find ge- 
ſchloſſen. Yrau Sorge verläßt während zweier Taglängen 
die Rheinftadt, und wer nicht der Welt abgejtorben ift, feiert 
Saltnadt. Jedweder auf feine Weije; die Kleinere Zahl in 
felbftätiger Teilnahme, die große Menge in Eritifhem Be: 
ſchauen und behaglichen Genießen der ji dem Auge und Ohr 
dDarbietenden Dinge. | 

Der Spur zu folgen, welde der «esprit moqueur> des 


*) Der vorliegende Aufjag wird nad) Neujahr als jeparate 
Publikation mit vermehrtem Bildſchmuck im Auftrage des Faſtnachts⸗ 
Komitees herausgegeben werden. 

) Mit Ausnahme der Mailänder Diözefe. 

2) Gedente, daß du Aſche biſt und wieder zu Aſche wirit. 


176 


Baslers gewandelt, bis diejes bedeutſamſte Volksfeſt feine 
jeßige originelle Geftaltung und fein bodenftändiges Gepräge 
angenommen bat, fei nachfolgend der Verſuch gemadit. 

Faſtnacht, Faſching oder Karneval, alle drei Begriffe im 
weitern Sinn des Wortes gleichbedeutend, wurzeln in Gitten 
und Gebräuden, welde in Sahrhunderte zurüdliegenden 
Zeitläufen Hauptjädlih von Italien, der Miege des Kar: 
nevals, her, bejonders am Rhein und im füdlichen Teil des 
heiligen Römiſchen Reiches deutiher Nation Eingang fanden 
und fi je nad Ort und Bevölferung im Wechſel der Zeiten 
zu typilchen Volfsfeiten auswuchſen. 

Teils fußten fie auf uralt-heidniſchen Feitlichfeiten, welche 
die Kirche wohl oder übel als Zugejtändnis an ihre Tebens- 
bejahenden Angehörigen auch weiterhin duldete; teils ent- 
Iprangen fie dem rein epifuräifhen Bedürfnis, ſich im vor: 
aus für die fommende jtrenge Fajtenzeit auf Stunden und 
Tage ſchadlos zu Halten. 

Es vffenbart fi in diefem Treiben während des Mittel: 
alters der Ausbruch unbändiger, ja roher Lebensluft und 
einer Zebensauffajjung, die mit ganz andern Augen fah, als 
unfer durch Erziehung und Bildung verfeinertes Zeitalter. 

Die zahlreich erhaltenen Faſtnachtsſpiele deutſcher und 
ſchweizeriſcher Poeten geben uns einen Begriff, auf welden 
Grundton die alte Faſtnacht gejtimmt war. Denn was id 
in diejen dialogilierten, zum Teil der Improvifation anheim- 
geitellten Szenen widerjpiegelt, ijt in erjter Linie Grobianus, 
der Heilige des Sahrhunderts; er madt ſich breit in un 
gezügeltem Scherz, derbem Wit, nicht felten in Unflat und 
Zote. 

Wie mag es erjit in Wirklichkeit, auf Marftplag und 
Gaſſe, wo ſich die Knechte der Handwerker in die Brunnen 
warfen, wie auf Herberge und Zunftitube bei vollem Becher 
und üppigem Schmaus zugegangen jein! 

Als harmlojer Scherz darf da noch die „vaßnechtiſche ge— 
ſchicht“ gelten, welche die Beinheimjhe Chronik wiedergibt, 


177 13 





wonach 1503 etliche Priefter und Studenten zu Naht Mut- 
willen trieben und dem altersgrauen fteinernen Sanft Georg 
auf dem Münjterplagbrunnen eine „Büttene“ über den Kopf 
jtülpten; jedoch der „Serg zerbrach“ und einer der ſchalkhaften 
Scholaren wurde für tot von dannen getragen. 

Kit nur Gejinde und Bürgersleute ließen während der 
Faſtnachtstage übermütigfter Laune freien Lauf, jondern aud 
Perſonen von Stand und erlaudte Häupter ſchämten ſich nidt, 
das tolle Treiben mitzumachen. Die Scherze, die ji) im Jahre 
1376 Defterreihs Adel erlaubte, und deren ereignisichwere 
Folgen find unter dem Namen „böje Faſtnacht“ zu trauriger 
Berühmtheit gelangt. Der „heiße Stein“ auf dem Marftplag 
ließ damals die Basler jahrelang der Faſtnachtsfreuden ver- 
geljen. Auch ein Habsburger, Herzog Siegmund, Sohn Fried- 
richs mit der leeren Tajche, war es, von dem allerdings viel 
harmloſer, faſt ein Jahrhundert ſpäter berichtet wird, er jei 
1467 nad) fröhlichem Turnier auf dem Münfterpla und nach— 
folgendem großen Tanz in der „Müde“, am Wüſcheltag nad 
Aſchermittwochweiſe im Geliht mit Ruß bemalt mit den 
Frauen durch die Stadt gelaufen. 

Gewiß weit war der Weg bis zu jenem reizvollen Kar— 
neval von Venedig oder Rom, dem fein Geringerer als Goethe 
in anmutiger Schilderung begeijterte Worte lieh... . 

Die mittelalterlihen und neueren Quellen zur Geſchichte 
der Basler Faſtnacht erfchließen fi) dem Forſcher in erſter 
Linie in den Ratsprotofollen, den Ruf: und Ordnungsbüdern, 
lowie in gedrudten obrigfeitlichen Verfügungen, weit weniger 
in zeitgenöfliihen Aufzeichnungen Einzelner, acdhteten doch 
Chroniffchreiber und Hiltoriographen etwa mit Ausnahme 
geiftliher Autoren, die dagegen eiferten, jold tolle Mum— 
mereien faum wert genug, um der Nachwelt hierüber aus- 
führlide Kunde zu Hinterlajjen. 

Wohl eines der ältelten erhaltenen Zeugnilje über allerlei 
Ungebührlichfeiten während der Faſtenzeit reicht in das Jahr 
1419 zurüd. Cs geht während der Faſtnacht, Heikt es in. 


178 


dem Rufbüdlein, gar „Ihalklih und wüſtlich‘ zu, daß wür— 
dDige Herren und rauen auf ihren Stuben weder tanzen 
fönnen noch Ruhe haben, davon „groß fumber und gebreit 
ufarſton“ mörhte. 

Vor allem find es dann die Erfanntnille und Mandate 
der erniteren Reformationszeit und der nachfolgenden Jahr— 
zehnte, welche Stoffes die Fülle bieten; Dofumente, die feines- 
wegs das Hohelied basleriſcher Kaltnachtsfreuden anjtimmen, 
jondern mit dem fittenjtrengen Maßitab eifernden Refor— 
mationsgeijtes gegen die „abgöttifhen“ und „unzüchtigen“ 
Feſtivitäten zu Felde ziehen. 

Die Beluftigungen beſchränkten fih nicht wie heute auf 
die erjte, neue Wochenhälfte nad) Aſchermittwoch; ſchon Die 
Meihnadtszeit, das Neujahrsfeit und andere Anläſſe benüßte 
das fejtfreudige Volk zu VBermummungen. Erſt mit der Ab— 
Ihaffung der vierzigtägigen Kalten durch die Reformation 
von 1529 fonzentrierte fi das Faſtnachtsleben, um ih auch 
bier in Gegenjaß zur alten Glaubenslehre zu jtellen, auf 
Aſchermittwochs) und die nahfolgenden Tage und zwar in 
einer Weiſe, welche den Rat zu energiihem Einſchreiten ver 
anlaßte. 

Einem der Hauptvergnügen, dem heute noch auf dem 
Rande übliden Abbrennen von Yaltnadhtsfeuern, ſowie dem 
Merfen von brennenden Holzjcheiben, in Verbindung mit Um— 
zügen, wobei Yadeln getragen wurden, hatten die Behörden 
Ihon nor der Reformation, wenigitens in der Stadt, auf 
„ewige Zeiten“ ein Ende gejeßt. 

Sm März 1546 wurde dann durch) die Räte erkannt, man 
ſolle „fürohin fein Faßnacht noch Eſcher Mitwoden 
me habenn, nod der Zit uff Zuenfften, Gefellfchaften, noch 
Knechten Stuben nit me foden lan, noch zeren, ouch gantz 


3) An diefem Tag wurde allgemein auf den Zünften üppig 
geſchmauſt; heute nod) wehen alljährlih am Aſchermittwoch von den 
Zunfthäufern zum „Schlüſſel“, zu „Hausgenofjen“ und „Safran“ die 
Banner, die Brüder zum fröhliden Mahle Iadend. 


179 12* 


fein Faßnacht Buben Pfifen noch Trummen 
pruden, fonder der Dingen aller müßig jtan“. 

Smmerhin gejtattete man „gut Herren und gjellen“, auf 
ihre Privatfoften Hin während diefer Tage in Zudt und 
Ehren ein Mahl zu halten. 

Bei dem Verbot des Trommelns und Pfeifens haben wir 
weniger an Umzüge geordneter Tambouren- und Pfeifer: 
gruppen zu denken, jondern man wollte damit in erjter Linie 
der Gelegenheit zu ausgelajlenen unzühtigen Tänzen einen 
Riegel fhieben,; denn Trommel und Querpfeife waren bis 
tief ins 16. Jahrhundert hinein die Mufifinjtrumente, mit 
denen allgemein zum Tanz aufgeſpielt wurde. 

Von ſolchen Tänzen, die mancherorts geradezu als „hürt- 
Ihe“ bezeichnet werden, wijjen auch die Basler Quellen zu 
erzählen. Noch im ausgehenden 18. Sahrhundert beichwert 
ih das NReformationskollegium, dem die Durhführung der 
„Chriftlihen Reformation und Policey Ordnung der Stadt 
Bajel, zu Beförderung Gottes Ehre, Pflant- und Erhaltung 
aller Gottjeligfeit, Zucht, Chrbar=: und Frommkeit“ oblag, es 
hätten anläßlich der Umzüge an einigen öffentlichen Orten 
Erwadjene die ganze Woche hindurch ungejtüme und zügel- 
loje Tänze gehalten. Der Rat verbot hierauf in einem An— 
bang zur Reformationsordnung vom 2. Auguſt 1784, Erwadj- 
fenen bei empfindlicher Strafe das Tanzen und gejtattete nur 
den Kindern am Mittwoch Abend dieje „unjchuldige Freude“. 

Ein Jahr jpäter, 1785, wurde aus dem nämliden Grund 
20%, der Stubenfnedt zum „Greifen jenjeits“, einem pein- 
lichen Verhör unterworfen wegen eines bei ihm am Donners- 
tag der Faſtnachtswoche gehaltenen „ungejtümen“ Tanzes. 
Die in der Folge angeflagten Beteiligten erklärten, es habe 
id um eine „abgeredte Compagnie“, eine Harmloje „Lid: 
teten“ gehandelt, deren Urheber der ehrſame Magijter Veit 
und dejlen Ehehälfte nebjt einigen männlichen und weiblichen 
Befannten gewejen jeien. Troßdem wurden alle Teilnehmer 
je um einen Gulden gebüßt. 


180 


Ebenfalls des Tanzens wegen verfiel nach) der nämlichen 
Faſtnacht der Indiennedruder Jakob Schwißer von Oberdorf 
in Strafe. Er hatte in der Mägd vor dem Eſſen „im Har: 
nifh“ einige Tänze zu Ehren des Herrn Borfjtadtmeilters 
Ryhiner getan. 

Mährend bis in das 16. Sahrhundert Hinein das Tanzen 
als integrierender Beitandteil der Faſtnacht noch vielfach auf 
offenen Plätzen vor ſich ging, verſchwand es in jpäterer Zeit 
von den Straßen und fand, gehegt von den obrigfeitlichen 
Erlafjen, auf den Stuben der Zünfte und Vorſtadtgeſellſchaften 
Unterjehlupf, bis diefem Bergnügen in veredelter Form die 
Neuzeit Bühne und Balljaal öffnete. 

Der in allen Verfügungen des Mittelalters mannigfad) 
wiederkehrende Ausdrud „Bußen“ bedeutet joviel als Schred- 
geftalt.e Wer denft wohl heute nod) daran, wenn er feinen 
lieben Nächſten einen Förchtibutz fhilt, daß in diefem Wort 
gewillermaßen ein Ton längſt verrauſchter Faſtnachtsfreude 
nadklingt ! 

Primitiver Art war anfänglid die Vermummung diejer 
Bußen. Das Gejiht mit Kienruß bejhmiert, ein Hemd oder 
ein Weiberfleid, aus den Truhen der Wohnſtube zufammen- 
gejudht, über das Wams geworfen, jo tummelte fi) die Jung: 
mannſchaft in den Gallen und jtürmte in die Häufer, um die 
Leute zu „bremen“, das heißt im Geliht mit Ruß oder Aſche 
zu ſchwärzen. 

Die urjprüngliche Sitte, ſich durch Schwärzen des Antlies 
unfenntlich zu maden, war bis in das 19. Jahrhundert Hin- 
ein noch allgemein üblich. 

So fuhr am Faſtnachtsmittwoch 1783 ein Wagen mit 
zwölf Masfen durch die Stadt; die Teilnehmer, ein Trans- 
port Refruten voritellend, hatten geſchwärzte Geſichter und 
einige trugen dazu tuchene Nafen; 1816 berichtet ein Polizei: 
tapport von einem vierjpännigen Yaltnadtswagen, deilen 
Inſaſſen „verfchmierte Gefichter“ aufwiejen; ja 1833 noch arre- 


181 


tierten die Yandjäger eine Anzahl jhwarzgefleideter Masten 
mit geſchwärzten Gelichtern. 

Ausnahmsweiſe mögen aud) ſchon im Mittelalter in Bajel, 
wie wir es von andern Orten willen, hölzerne oder metallene 
Masten in Gebraud geweſen fein; erjt in den letzten Jahr— 
zehnten des 18. Jahrhunderts famen nad) und nad) die Gtoff- 
larven, jpäter die Wachslarven und zuleßt die aus ‘Papier: 
made gefertigten Gelihtsmasfen auf. Das Larventragen 
wurde übrigens bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahr: 
Hunderts jtreng geahndet. Man erblidte darin, wie es in 
dem kirchenrätlichen Schreiben vom Jahre 1806 ſcharf hervor- 
gehoben wird, ein großes Wergernis, „daß die Menfchen fi 
in Tiergejtalten verfleideten oder das ihnen von dem gütigen 
Schöpfer geſchenkte menſchliche Angeliht mit unmenſchlichen 
abicheulihen Karifaturen verwedjelten“. 

Als eigentlihe Koſtüme, wenn wir von der verwedjelten 
Geſchlechtstracht abjehen, kommen bis in das 17. Sahrhundert 
hinein beim Volk hauptſächlich in Betracht, der aus der ita- 
lieniſchen Poſſe ftammende Harlefin, welder ih als 
Hanswurit im deutihen Faſtnachtsſpiel Bürgerreht erwarb, 
jowie der Teufel und der Bauer. 

Für das Borfommen der eritgenannten Yigur als 
Straßenmasfe in Bajel haben wir aus der alten Zeit feine 
Belege finden können. Erjt gegen das ausgehende 18. Tahr: 
Hundert gefchieht ihrer zu verfhiedenen Malen Erwähnung. 

Sm Sahre 1783 wird ein Gabriel Berger um einen Neu- 
taler gebüßt, weil er nädtlih im Gejellihaftshaus zum 
Dolder, als „Hanswurjt“ verfleidet, feine Späſſe getrieben 
hatte. Zur Rechenſchaft gezogen, erklärte er, nur eine weiße 
„Veſte“ und eine Müte von Papier getragen zu haben. Rad) 
gefallenem Bericht ergab ſich aber, daß er ji) in „wächſerner 
Zarve“ und mit einer hohen Mübe, an welder vorn eine 
Puppe befeitigt war, auf dem Tanzboden herumgetrieben 
hatte. 

Und 1790 mußte fih ein Bürger verantworten, der als 


182 





„Arlaquin“ in einem Nanktingrod und Kamijol, mit bor- 
diertem Hut, großem Haarjedel mit einem Spiegel daran, 
dem Spalemer Umzug gefolgt war. 

Mir Haben es in dieſen Fällen eher mit flownartigen 
Bermummungen zu tun; der eigentlide Harlefin mit zuder- 
Hutförmiger Müte und ſchellengeſchmücktem buntlappigem 
MWams fcheint nicht eigentlich heimiſch geweſen zu fein. 

Weit zurüd nachweisbar find Dagegen die Masfen des 
Teufels und Bauers. Schon 1432 verbieten die Behörden, 
in „tüfels hüten“ zu laufen, und 1526 richtet ich ein 
odrigfeitlicher Ruf gegen das „umbgan in Meyers oder 
verglichen wyje“, das heißt in Bauernkleidung. 

Wir Haben uns dieje Typen wahrſcheinlich als zufammen- 
gehörendes Paar zu denfen, das Durch allerlei Spälle und 
Geberden meiſt obizöner Art das Publifum belältigte und 
beluftigte. Gerade deswegen vielleicht hielt das Volk durch 
die Sahrhunderte hindurch zäh an diefer Art der Vermum— 
mung feſt. 

Noch 1783 ilt in den Reformationsaften von zwei jungen 
Burſchen die Rede, von welden der eine als „heſſiſcher Bauer“ 
in weißem Hemd und der andere als Teufel in einem ver= 
fehrten Pelz durch die Straßen gezogen war. In dem noch 
au unjerer Zeit ziemlich häufig gejfehenen „Deifeli“ ift wohl 
das letzte Ueberbleibjel diefer ein Halb Sahrtaufend alten 
Faftnachtsmaske zu erbliden. Melde Koftüme in vornehmen 
Kreifen bei privaten Masferaden oder bei Tanzbeluftigungen 
auf den PBatrizierjtuben etwa getragen wurden, deutet das 
aus dem Jahre 1595 ftammende Masfenbild im Stammbudj?*) 
des Bürgermeilters Jakob Götz an. Wir finden dort ein vor— 
nehmes Paar, begleitet von einem fadeltragenden Bajazzo 
und einem Lautenfpieler in ebenfalls bajakartigem Kleid. 
Die drei männliden Masten weijen faffeebraune Larven mit 
langen Bärten auf, während die Dame eine gleidhfarbige 
Halblarve trägt. 


3) Aufbewahrt im Hiftor. Mujeum. 


183 


Die Sitte, ji zu masfieren, nahm bejonders im 18. Sahr= 
hundert überhand, fo daß der Rat 1715 bei „Leib- und Lebens— 
ſtraff“ dieſe „höchſt gefährlide Sach“ verbot; ein Verbot, 
weldes 1727 „Sungen und Alten“ gegenüber erneuert wurde. 

Gehr beliebt wurde nun beim Bolf das Verkleiden in 
Trachten der benachbarten Landſchaften, da ſolche Koſtüme, 
wo jedweder noch ſeine Landestracht beſaß, leicht erhältlich 
waren. Groß iſt die Zahl der „Wälderbauern“, Markgräfle— 
rinnen, „Bernermeidli“ und Baſelbieterinnen, welche ſich nach 
verrauſchter Faſtnachtsherrlichkeit vor den würdigen Refor— 
mationsherren verantworten mußten, und entweder als reuig 
Büßende zu einem Neutaler, oder als verſtockte Sünder bis 
zu zwanzig Pfund Strafe verurteilt wurden. 

Dieſe Maßregelungen mögen uns heute als übertrieben 
trenge vorfommen. Erklärlich werden fie aber, wenn wir 
uns in die Anlihten der damaligen Zeit zurüdverfegen, wo 
ih der Staat in engherziger Weije, wenn aud mit väterlid- 
wohlwollender Abjicht in die Privatverhältnilje des Einzelnen 
einmiſchte; wachte doch die Obrigkeit nit nur an der Faſt— 
naht, jondern das ganze Jahr hindurch Iharf darüber, wie 
ih ihre Schußbefohlenen kleideten. 

Wenn noch zu Ende des 18. Jahrhunderts Bürgersfrauen, 
welche in jeidenen Mantillen zur Kirche gingen, Mägde, die 
ih Sonntags mit filber- oder goldbordierten Hauben 
Ihmüdten, und Bürger, jo fich verfilbertes Pferdegefhirr an— 
Ihafften, zur Verantwortung und Strafe gezogen wurden, 
jo läßt ji aud) das Einjchhreiten der Stadtpäter wegen des 
Verkleidens an der Faſtnacht begreifen. Noch Hatte die fran= 
zöliihe Revolution nicht ihr erlöfendes Wort von Freiheit 
auch in folden Dingen dur) die Länder Europas getragen! 

Erjt im 19. Jahrhundert beleben dann die heute leider 
mehr und mehr verjchwindenden Altfranfen, Dummen Beter 
und „Bajaſſe“ das Yaltnachtsgetriebe und werden zu eigent- 
lihen Wahrzeihen des Basler Karnevals. 

Eine gänzlich verfhwundene Art der Verkleidung waren 


184 


die fogenannten „Hechelgaugelen“, auf welche laut Regie— 
rungsbefehl von 1727 die Wachtknechte ihr befonderes Augen- 
merf zu richten Hatten. Wo folche betroffen würden, jollten 
lie ohne weiteres von der Straße weg und in den Turm ge= 
führt werden. Wer waren dieje Hechelgaugelen, die in den 
Erlaſſen von 1727, 1736, 1738, 1744, 1750, 1754 und 1758 
Ipeziell erwähnt werden? Nach dem jehweizerifchen Idiotikon 
bezeichnet der Ausdrud ein verfleidetes Meib mit einem 
Spinnrocken in der Hand. E. Hoffmann-Krayer?) nimmt an, 
daß fie jenes alte herenartige Weib daritellen jollten, welches 
in den verjehiedeniten Gegenden Europas als Perjonififation 
des ausgehenden Winters vorfommt und das als Buppe unter 
feierlichen Zeremonien begraben, verbrannt, ertränft oder 
zerfägt wird. Aus ethymologiſchen Gründen ſchließt genannter 
Autor auf eine Verwandtihaft mit der uralt-geifterhaften 
Berta oder Holda, der Frau Holle der Kindermärden. 

Um eine Strohpuppe oder dergleichen fann es ſich bei der 
Basler Hechelgaugelen nicht handeln, jondern um eine ver= 
fleidete Berjon. Nun bedeutet das Wort im älteren Sprad)- 
gebrauch aud ein jharfzüngiges böjes Weib, und da liegt die 
Vermutung nahe, in diefer Faltnadtsfigur den Urtyp der 
intriguierenden Masfe zu juchen, die auf der Straße mit 
ſpaſſigen Bewegungen und Geberden die Vorübergehenden 
umgaufelt und ihnen mit veritellter Stimme ihr Günden- 
tegilter vorhält, fie gewiſſermaßen durchhedhelt, ähnlich der 
heute noch jo beliebten „alten Tante“. 

Belege, die auf den Braud) des Intriguierens hinweifen, 
finden fih ſchon im Reformationsgeitalter. 

Ein auf die Herrenfaltnadt 1526 ausgerufener Erlaß 
wendet fich gegen allerlei „ſpey- und jpotworten“, welche bis 
dahin von jung und alt gejproden und gejungen worden 
leiten. 

Die Sudt zu „furen“ und zu „ſchnöden“ ift noch Heute 


9 E. Hoffmann-Krayer, die Faſtnachtsgebräuche in der Schweiz, 
ſchweizeriſches Archiv für Volkskunde, Bd. I, ©. 189. 


185 


dem Basler in mehr oder minder hohem Maß zu eigen und 
äußert fi in charakteriſtiſcher Weife an der Faſtnacht beim 
Sntriguieren. Es hat übrigens aud fein Gutes, wenn man 
einmal im Sahr die Schellenfappe aufjegt und unter ihrem 
geheiligten Schuß eine Menge Wahrheiten vom Herzen wälgen 
fann; hört fi) Doc die Wahrheit unter dem Panier der Narr: 
heit noch am erträglidjten an! 

Noch jind dem Verfaſſer „Fasnächtler“ bekannt, die das 
Sahr hindurch geradezu Buh führen über allerlei Menſch— 
lies ihrer Mitlebenden, um an der Faſtnacht von der durd) 
das Maskenrecht garantierten NRedefreiheit ausgiebigen Ge: 
braudh zu maden und das ſprichwörtliche böſe Baslermaul 
auf der Straße, in der Wirtsitube und im Ballfaal wahre 
Orgien feiern zu laſſen. 

Sreilih) wird mit dem Wachen der Bevölferung und im 
Trubel der kleinen Großitadt dieſe „Runjt“ jet mit weit 
weniger VBirtuojität ausgeübt, als beilpielsweije noch in den 
achtziger Jahren. Man fennt ji) eben nicht mehr jo gut wie 
früher, wo an lauen Abenden auf den Bänflein vor den 
Häufern bei regem Gedanfenaustaufh über die Familien— 
und VBermögensverhältnilje, über die Tugenden und mehr nod) 
über die Schwächen gemiljer Stadtinfajjen die Saat ausgeitreut 
wurde, weldhe an der Faſtnacht Frucht zu tragen beitimmt 
war. | 

Zur gewiſſen Stunde, am gewiljen Tijh, war es nun 
im alten „Kardinal“, im „Pflug“ oder „zu Shuhmadern“, 
war man jeiner Leute fiher, und es gehörte zum Gelungen- 
Iten, wenn fich in flinfer Rede und Gegenrede über Zuhörer, 
Maste und „Opfer“ ein Sprühregen echten Basler Wites 
entlud. 

Wie fade Dagegen wirkten die überhandnehmenden 
Waggis, welde in falſcher Elſäſſermundart gar oft Wit mit 
OGrobheit und Schmutz verwedjeln. 

Doch kehren wir ins 16. Jahrhundert zurüd! 

Aehnlich Tautende Erlajje der gnädigen Herren und 


186 


Dbern, wie der obgenannte vom Sahr 1546, wiederholen ſich 
in furzer Zeitfolge und befunden dadurch den geringen Er- 
folg, von welchem fie begleitet waren. 

Zu tief jagen die Wurzeln im Volk, um mit nod) jo ſcharf 
geführten Arthieben den grünen Baum goldenen Yaltnadts- 
lebens ernjtlich zu gefährden. 

Belonders ausführli” und eindringlid wandten fidh 
namens des Rats die Stadthäupter um die Wende des 16. 
Sahrhunderts an ihre „lieben Bürger, Hinderjaflen und An— 
gehörigen“. 

Da es einer rijtlichen Obrigkeit nad) St. %. E.5) Weiſe 
obliege, Heißt es im Eingang des Mandates vom Februar 
1599, alles, was Gott und feinem Worte zumiderlaufe, allen 
Ernftes abzujhaffen, und dies bejonders zu einer Zeit, da 
ſich in der Chrijtenheit allerlei ſchwere, zuvor „unerhörte 
ſachen, widerwertigfeitten, jomer und ellend ye lenger ye mer 
eröugen“, habe die Regierung Urſache genug, alle Mutwillig- 
feiten und übrigen „fröudenſpil“ abzuschaffen und an deren 
Statt ehrbares Leben zu pflanzen und „anzuridten“. 

Da hauptſächlich während der Kaltnadhtstage zu andern 
Sahren viel „ungerümbter ſachen und mutwillen heidnifcher 
art und weys geübt worden und fürgangen“ fei, jo ſolle fih 
jeder Bürger, jeine „vienjtfind“, überhaupt fein ganzes Haus— 
gefinde des „übermefligen unordentliden Bandetierens 
Zächens und Praſſens fo wol uff allen ehren Zuenfften 
und Geſellſchaften, alls andern mehr orten, Stem des ned t- 
liden bin und widerlauffens uffden Gaffen, 
des Ruedhlin Holens, Darumben fingens, des 
umbaziehbens mit trommen und pfeiffen, des 
verfleidens, verbußens, der Mommerigen?) 
wie ebner gitalten des Braemens, judlens und 
molens ander Ejhmittwod und all ander dergleidhen 
erdichte Faßnachtſpilen und ſachen“ gänzlich enthalten. 


5) ftreng, fürfihtig, ehrbar. 
6) Mummereien. 


187 


Die Buße, in welde jeder „verbrecher“ zu bezahlen ver- 
fällt wurde, betrug „fünff pfunden pfennig“, und zwar follte 
diefelbe ohne alle Gnade von jedem erhoben werden. 

„Das meinen offtwolermelt Unjer Gn. Herren gan 
ernftlich“, Iautet der Schlukfa der Bekanntmachung. 

Derlei jtrenge Ermahnungen aus dem Schoße des Rats 
wie aus dem Munde der Geiftlichkeit und die relativ hohen 
Strafen taten wohl den ärgjten Auswüchſen Abbrud; fie 
zwängten den überwallenden Strom in fein Bett zurüd, 
ohne aber jeinen Lauf hemmen zu können. Wir willen ja aus 
zeitgenöjlifhen Aufzeichnungen von Baslern und Landes: 
fremden zur Genüge, wie jehr man unter dem Krummitab 
fröhlich zu leben gewohnt gewejen war, fröhlih bis zum 
Ueberſchwang. 

Faſtnachtsbeluſtigungen, wie ſie beiſpielsweiſe 1508 der 
mehrtägige freundeidgenöſſiſche Beſuch der Luzerner mit ſich 
brachte, die im Herbſt ihren geſtohlenen Bruder „Fritſchi“ 
holen kamen, lebten lange in der Erinnerung des Volkes nach. 

Zu ſehr lag den Bewohnern der alten Konzilſtadt die 
Lebensluſt im Blut und ſaß ihnen der Schalk im Nacken! 
Sm Spiegel jener Zeit betrachtet war es eigentlich über— 
ſchüſſige Kraft, die fi) austobte, ohne das Marf des Volkes 
zu treffen; denn gerade in den Jahren des tolliten Subels 
blühte Bafel wie nie... 

Nicht Jo harmlos, wie die heute noch übliche Gitte, nad) 
welcher während der Faſtnachtstage die Hausfrau guten 
Steundinnen bei der Kaffeerifite die Iaubblattdünnen, 
Iheibenförmigen Faſtnachtsküchlein auftiiht, war ehedem der 
Braud) des „Küchleinholens“ und „Darumben fingens“. Was 
der geniale Satirifer Filhart und Straßburgs Abraham a 
Santa Clara, der originelle Domprediger Geiler von Keifers- 
berg, hierüber aus benachbarten Städten berichten, mochte auch 
für das Tebensluftige Bafel am obern Ende der Pfaffengajfe 
zutreffen, famen doch bei diefem Küdjleinholen nicht felten 
geſchlechtliche Exzeſſe vor. 


188 


Mährend wir im ausgehenden 16. Jahrhundert noch auf 
Schritt und Tritt in Ratsprotofollen und Erlajjen den immer 
wieder auftauchenden jtereotypen Klagen begegnen, ſchweigen 
ih im friegserfüllten 17. Säfulum die amtliden Dokumente 
mehr und mehr aus. 

Nicht nur Hatten die fortgejegten Mandate jchließlich den 
ärgerlihiten Uebelftänden gejteuert, jondern es madte id 
überhaupt in jenen ereignisjchweren Zeitläufen eine Er- 
nüchterung der braufenden Kräfte und daran anjhliekend 
eine relative Beljerung der Sitten geltend. 

An Stelle Tanger Erlajje und Jeremiaden erwähnen die 
Ratsbücher nur in kurzer Bemerfung der Faſtnachtstage, etwa 
durch den Beſchluß, das „Faſtnachtsgeplärr“ auf den Straßen 
durch Umfagen von Haus zu Haus abzuftellen. 

Erit das 18. Jahrhundert gab den jtaatlihen Auflihts- 
organen wieder in reihem Make Gelegenheit, ji) mit der 
Faſtnacht eingehend zu befajlen. 

Vor allem waren es die Umzüge der Vorjtadtgefellihaften 
und der drei Geſellſchaften Kleinbajels, die viel erwünſchten 
Anlaß zu Masferaden, und der Trommelfunjt eine Kreijtätte 
boten; aus den Umzügen der erfteren hauptſächlich Haben fid 
in der Folgezeit die eigentlihen geordneten Faſtnachtszüge 
herausgebildet. Peter Ochs?) entwirft in feinem Geſchichts— 
wert aus eigener Anfchauung darüber folgendes Bild: 

„... an der Faſtnacht, wenn der Rat es nicht verbietet, 
Itellen fie) fog. Umzüge an. Dort wird das Wappender 
Gejellfhaftin lebendiger Geftalt, masftiert 
oder verjtellt in der Stadt herum begleitet. Cinige mit 
der alten Schweizertradgt find die Begleiter. Dann folgen 
junge Knaben mit Trommeln und Gewehren und mit der 
Sahne der Geſellſchaft. Endlih Kinder von beiderley Ge— 
Ihleht und allerleyg Kleidungsarten ſchließen den frohloden- 
den Troß.“ 


7) Ochs, Geſchichte der Stadt und Landfhaft Bafel, Bd. V, 6.402. 
8) Die Borjtadtgejellichaften. 





189 


Diefe Umzüge wiejen urjprünglid nit rein faſtnächt⸗ 
lerifches Gepräge auf; fie waren eher eine Art Sugendfeft mit 
etweldem militärifhen Charakter, beitimmt in erſter Linie 
als Sreudentag für die Tugend der Gefellidaftsbrüder. 

TIroß öffentlich befannt gegebener Warnung, die auf An- 
juhen des Antiftes Hans Rud. Merian den Schülern des 
Gymnafiums noch bejonders vor verjammelter Klaſſe ein- 
gefhärft wurde, fingen die jungen Leute an, vermummt und 
masfiert an den Umzügen zu erjcheinen. 

Mastierte Erwachſene ſchloſſen fi) diefen Quartier: 
beluftigungen an; Vermummte auf Wagen, Berittene zu 
Pferd, ja auf Efeln folgten als ausgelafjjener Nachtrupp und 
gaben diefen Zügen nah und nad typiſchen Yaltnadts- 
charakter. 

Wir entnehmen der Zahl derer, welche im Jahre 1783 
vermummt dem Spalemer- und Dalbemer Zuge gefolgt waren 
und durch das Reformationskollegium beſtraft wurden, fol- 
gende Blütenlefe: 

Emanuel Weitnauer, als Marfgräflermädden, 

Friedrich Murbadh, als Bauernmädden, 

Peter Lindenmeyer, als Harlefin, 

Joh. Ulrih Didenmann, als Bernermädden auf einem 
Eſel reitend, 

Emanuel Lindenmeyer, als Weib in der „Altbaſeltracht“, 

Andreas Lindenmeyer in einem Amazonenfleid, 

Joh. Taf. Stodmeyer, als Wälderbauer, 

Balthajar Umbadh, als Wälder zu Pferd, 

Jak. Schaub, in weißem Frauenzimmerfleid, 

Joh. Salathe, als Quzerner Zuhrmann mit einer Beitjche, 

Joh. Schaub, in einem Eidgenofjenfleid und eine Müße 
auf. 

Da aud) das zeitweilige Verbot?) der Umzüge nicht viel 

%) Am 10. Januar 1756 befahl der Rat, alle Umzüge einzuftellen, 


ebenio das Umlaufen der Tiere jenfeits; 1765 wiederholte ſich das 
gleiche Verbot bei Strafe von 1 Mark Silber. 


190 


fruchtete, entjchied die Regierung in Anbetracht der Schädlich— 
feit und der vielen Unanjtändigfeiten, die dabei vorgefommen 
waren, Ddiejelben gänzlich abzuftellen mit der Beftimmung, 
falls ſich erwachſene Knaben in den Waffen üben wollten, 
denjelben nah Pfingſten Umzüge zu geitatten. 


Mündliche Borftellungen und fohriftlihe Eingaben von 
Geiten der Vorſtadtgeſellſchaften bewogen nad) Verfluß zweier 
Sabre den Rat, feinen Beſchluß zurüdzunehmen. Die Umzüge 
wurden wieder freigegeben und die Tage der Abhaltung auf 
den eriten Montag und Dienstag im Brachmonat, im Hindes 
rungsfalle acht Tage jpäter, feitgelegt. 

Der Rat juhte damit in richtiger Erfenntnis des Urs 
jprungs der Mißbräuche dieje Feitlichfeiten der Faſtnachts⸗ 
zeit zu entrüden, in der Hoffnung durch diefe Maßnahmen die 
Quelle des Uebels zum Verſiegen zu bringen. 

Alles Trommeln, Umfhlagen und Schießen, befonders an 
den Sonntagen, wurde bei einer Strafe von drei Pfund ver— 
boten. Eine Ausnahme Hinfihtlih des Trommelns erlaubte 
man nur Einer Löbl. Freifompagnie, jenem militäriihen 
Sreimwilligenforps, das ji) aus Söhnen wohlhabender Bürger: 
familien refrutierte. Da diefe Truppe ihre Uebungen ge— 
wöhnlih am Sonntag Nachmittag auf dem Peterspla ab- 
hielt, wurde ihr gejtattet, bei den Ererzitien die Trommeln 
zu rühren, aber erjt nach) Beendigung der Abendpredigt. 

. Eine wirflidhe Unfitte, die das Mißfallen des Rates in 
hohem Grade erregte, betraf das Schießen und Losbrennen 
von Yeuerwerfsförpern anläßlich der Quartierumzüge. 

Diejes gefährliche Vergnügen wurde bejonders während 
der Faſtnachtszeit von der ftädtifhen Jugend eifrig gepflegt. 
Nicht allein verbanden damit die Knaben eine ärgerliche und 
unanftändige Bettelei, jondern das Werfen der „Feuerteuflen“ 
und „Schwärmerlin“, das Hantieren mit brennender. Zunte, 
jowie das Abbrennen von Granaten und „Käſtenen“ veran= 


191 


laßte in den engen Straßen des öftern Unglüdsfälle und be- 
deutete für die Stadt bejorgliche Feuersgefahr, abgejehen da— 
von, daß bei Nacht „ganze Nachbarſchaften“ in Schreden und 
Unruhe gejegt wurden. 

Die regelmäßig nah Neujahr einjfegende Fehde für und 
wider die Faſtnacht und deren Freiheiten, trug naturgemäß 
nicht dazu bei, das Zeit in jeinen äußeren Formen zu heben, 
ibm neue Impulſe zu geben und es ins Großzügige zu 
fteigern.” Es war ein hartnädiges Kräftemellen zwiſchen den 
einfchräntenden Maßnahmen der Regierung einerjeits und 
dem beharrliden Feſthalten der bürgerliden Volksſchichten 
an den allerdings nicht verbrieften, aber durch jahrhundert: 
alte Gepflogenheit janftionierten Narrenrechten andererfetts. 

Der Kampf erloſch auch keineswegs mit dem Zujammen- 
bruch der alten Regierungsherrlichfeit im Jahre 1798; er 
pielte in die bewegte Zeit der Helvetif hinüber, die fi in 
der Behandlung der Faſtnacht nit weniger jtiefmütterlich 
als die Zopfzeit zeigte; freilich nit aus den nämlichen Grün- 
den. Trogdem ſahen ſich diejenigen, die gehofft Hatten, der 
Sturm der Helvetif werde mit fo vielem Morſchem aud dieſes 
altmodilche Felt der Torheit wegfegen, in ihren Erwartungen 
getäuſcht. 

Für die neuen Machthaber kamen bei ihrem Vorgehen 
weniger religiöſe Bedenken in Betracht; vielmehr waren Er— 
wägungen politiſcher Natur ausſchlaggebend, um die „Witz— 
linge, die fi) in höhere Sphären gewagt“,19) in die Schranken 
zu weifen. Nachdem ſchon 1798 ſämtliche Faſtnachtsbeluſti— 
gungen durch das Regierungskomitee unterjagt worden waren, 
hielt au) im folgenden Jahr der damalige Regierungsitatt- 
Halter J. Schmid es als unumgänglich nötig, in Rüdficht auf 
die Zeitumftände und die Anwejenheit franzöfiiher Truppen 


10) Wie ſich der Deutfche Gottlob Heinr. Heine an einer Stelle 
feiner Reijebejchreibung über die Basler Faſtnacht in den Neunziger 
Jahren äußert. 


192 


das Verbot in vollem Umfang zu erneuern und durd) 
Trommelſchlag befannt zu geben. Alle Wachtpoſten der Gar: 
nijon, ſowohl franzöſiſche als baslerijche, erhielten Konfigne, 
falls ſich Umzüge zeigen jollten, der Aufforderung der öffent: 
lihen Beamten zu deren Anhaltung unbedingt Yolge zu 
leilten. Auf dringendes Anſuchen der Tugend wurde immer: 
hin diefe Berfügung am Vorabend der Faſtnacht dahin ge: 
mildert, daß man den Knaben geitattete, von Tagesanbrud 
an bis abends nach geſchlagenem Zapfenſtreich in Zivilfleidern 
nad Herzenslujt zu trommeln. 


Bürger Schmid fonnte ſich zu dieſem Zugejtändnis um fo 
leichter entſchließen, als der franzöliihe Plaßfommandant 
Peliljard den Jungen diefes Vergnügen „herzlich“ gönnte. 

Mie jehr die Jugend an ihren Faſtnachtsbräuchen Hing, 
illuſtriert in luſtiger Weile das Bittgejudh, welches einige 
Kleindbasler Sünglinge im Februar 1801 an Regierungsitatt: 
halter Zjchoffe, den Nachfolger Shmids, richteten; es hat jol- 
genden Wortlaut: 


Bürger Regierungs Stadthalter! 


Ob wir gleich wohl ſchon von Ihnen, die Erlaubnis dieße 
Faſtnacht, nad) alter Gewohnheit umzuziehen erhalten haben, 
jo jehen wir uns doch auf die geitrige Anzeige des Cantons- 
blatts genöthigt, nochmahls anzufragen ob das verboth aud 
uns betrifft, wir haben feine andere Verkleidung, als die— 
jenige mit weldher wir vergangenes Sahr mit Erlaubtnik 
des damals gemwejener Bürger NRegierungs Stadthalters 
Schmid den Umzug gehalten haben, Nemlid) ein Löw, ein 
Greif, ein Wilder Mann und ein Ühly oder Hanswurft. 

Unterzeicänete Knaben, worunter feiner unter 14 Jahre 
alt, bitten den Bürger Regierungs Stadthalter nochmals 
uns diefe unſchuldige Freude zu gönnen und uns Ihre gütige 
Erlaubnis zu bejtätigen. 


193 13. 


Mir verfihern Ste daß feine Unanjtändigfeiten dabei 
vorgehen ſollen. 


Die bittende Knaben verharren mit aller Ehrfurdt 
Des Bürger NRegierungs Stadthalters 
Gehorjamite Diener 

Wilhelm Fürbringer 

Chriſtian Chrift 
Philipp Hindenlang 
Rudolf Biermann 
Georg Hetzel 


Ob Zſchokke als Nichtbasler fi) erweichen Tieß, ift aus 
den Akten nicht erſichtlich; jedenfalls war er fein allzu eifriger 
Anhänger diejer Volfsbelujtigungen. Dies bemweilt fein Vor- 
gehen gegen den Schaujpieldireftor Klairfont im Ballenhaus 
an der Theateritraße, dem er mit Schließung der Bühne 
drohte, weil ih am Faſtnachtsdienstag dajelbit einige mas- 
fierte Perfonen Hatten jehen lajjen. 

Etwas mehr Bewegungsfreiheit wurde der Faſtnacht erjt 
in den Mediationsjahren zuteil. 1803 begrub man auf dem 
Petersplaß unter MWaldhornfanfaren einen Ochfenfopf jamt 
grünstot:gelben Kofarden, um damit jymboliih das Ende 
des helvetiſchen Einheitsitaates anzudeuten. Der Stadtrat, 
dem nun die Aufitellung der Faſtnachtsverordnungen über: 
bunden war, erlaubte das Trommeln ſchon vierzehn Tage!!) 
vor der Faſtnacht und wies hiezu den Süngern des Kalb: 
fells die Schanzen und Wälle als Uebungspläße an; er jeßte 
auch den Beginn des Trommelns am Montag auf morgens 
fünf Uhr feſt. Den Erwadjenen geitattete man das Mas— 
fieren mit der Beihränfung, daß Religionsgebräude, gute 
Sitten und Anjtand dabei nicht verlegt wurden... Auch) gegen= 
über Terpfihorens Kunſt zeigte man ſich galanter und jeßte 
der Abhaltung von Mastenbällen an beiden Tagen bis 


11) Die Bewilligung, fhon vier Wochen vor der Faſtnacht zu 
trommeln, datiert erſt aus dem Jahre 1852. 


194 


Mitternadt kein Hindernis entgegen; doch verfielen die— 
jenigen, welde nad) 10 Uhr nachts ohne Licht auf der Straße 
angetroffen wurden, einer Strafe von acht Franken. 

Der Geijtlihfeit erfchienen auch diefe bejcheidenen Zu: 
geitändnilje als ein Zuviel. Sie äußerte nad) der Faſtnacht 
in einer langen Eingabe an den Rat ihre Bedenken und 
beantragte beim gejeßgebenden Körper ausöfonomijden, 
politifhen und ſittlich-religiöſen Riückſichten, 
derlei Quitbarfeiten zu verbieten. Nicht nur bei Reichen 
gingen bei der Anſchaffung fojtbarer Masfenkleider beträgt: 
lihe Summen darauf, ſondern aud bei ſolchen, die wenig 
übriges bejäßen, werde über Vermögen getan und drei Tage 
herrli) und in Freuden gelebt, als wenn die Leute alles voll- 
auf hätten. 

Bon der politiihen Seite aus betrachtet, erwedten glän: 
zende Karnevalsfeitlichfeiten den Anſchein, als ob Reichtum 
und Külle in unfern Mauern wohnten, wodurd) der Neid 
und die Eiferfuht unferer Nachbarn rege gemacht werde, 
während doch die Klugheit anrate, ſich der altſchweizeriſchen 
Einfalt und einer geräufhlojen Belcheidenheit und Ein- 
gezogenheit zu befleiken, anjtatt um das Lob der auffallendften 
Rarrheit zu wetteifern. 

Als Beweis, wie ein Böjewicht ſich alle Arten des leicdht- 
fertigjten Mutwillens erlauben, ja die alleriträflicgiten 
Sreveltaten wagen fönne, weil er fi Hinter feiner Larve 
gegen die Gefahr der Entdeckung und Beitrafung ſicher halte, 
fügte der Schreiber der Eingabe, Antiſtes Merian, nod) bei, 
es habe eine Masfe die glühenden Kohlen aus dem Dfen einer 
Klajje des Gymnaſiums hervorgezogen, alles leicht entzünd- 
bare Holzwerf, jo dageltanden, davorgeſtellt und alles Io 
eingerichtet, daB das Feuer dasjelbe hätte ergreifen follen, 
was aber dur den zufällig Hinzugefommenen Abwart ver- 
hütet worden ſei. 

Die Eingabe verfehlte ihre Wirkung nicht; 1807 verbot 
der Nat alles Mastieren, alle Umzüge und Mastenbälle. 


195 13* 


Zur Handhabung der Verfügung verjtärfte man die 
Wachen und ſowohl Tags als Nachts patrouillierte Mannſchaft 
der Standesfompagnie und der Polizei durch) die Stadt, um 
Maskierte anzuhalten und zu demaskieren. Ortsfremde und 
Handwerfsburfhen führte man auf die Hauptwache beim 
Rathaus, wo fie bis zur Erlegung der Strafe in Haft blieben; 
fonnten fie nit zahlen, fo wurden ſie unverzüglidh aus- 
geihafft. Maskierte Bürger, die ſich freiwillig zu erkennen 
gaben, entließ man auf Ehrenwort; fie wurden dann nad) 
träglich verzeigt und mit zwölf Sranfen gebüßt. Der gleichen 
Strafe unterlagen Jolche, die jih vermummt auf Bällen ein: 
fanden; zudem wurden die Hausbelier und Stubenverwalter 
verantwortlich gemacht und für jede masfierte Berjon mit 
vier Franken Buße belegt. — 

So bezeichnen die Mediationsjahre im Leben der Faſt— 
nadt feine Zeitijpanne bedeutender Entwidlung; fie bewegt 
ih, immer noch eingeſchränkt und bevormundet, nur in ſchwach 
auflteigender Linie und bietet mit Ausnahme eines größeren 
Umzuges im Jahre 1812 — eines Aelpler- und Prinzen: 
zuges — ungefähr das nämlide Bild dar, wie in den un— 
mittelbar porausgegangenen Dezennien. 

Zwei Momente ſind es aber, weldhe dieje Periode dod) 
als wichtig erjcheinen lajjen: Der Morgenſtreich und das 
Trommeln. 1808 tritt uns zum erjtenmal der Name 
„Morgenjtreih“ in den amtlichen Bekanntmachungen ent: 
gegen. Wir Haben bereits ausgeführt, wie im 18. Jahr: 
Hundert der Beginn des Trommelns auf morgens fieben Uhr, 
dann auf jehs Uhr, 1804 ausnahmsmweije auf fünf Uhr, und 
nachher wieder auf ſechs Uhr feitgelegt worden war. Lebtere 
Verfügung blieb dann bis zur Faſtnacht 1835, der Geburts- 
tunde unjeres heutigen Morgenjtreichs, in Kraft; feit diejem 
Zeitpunkt beginnt der Morgenitreich, deſſen Bezeichnung wohl 
als Gegenjat zu dem am Abend gejchlagenen „Zapfenſtreich“ 
zu deuten ijt, als origineller Brologus des Basler Karnevals, 
um die vierte Morgenjtunde. 


196 


Morgenitreih! Ein Zauberwort, das auf junges und 
altes Baslerblut in ungefhwädter Kraft wirft. 

— — — Um Marftplat und Gaſſen webt graues Dämmer: 
dunkel. Menſchen, Masken ftreben erleudhteten Häujern zu. 
Aus einer offenen Tür, dur) die eben die hohe Geitalt des 
TZambourmajors in Sappeuruniform mit gewaltiger Bären: 
müßte und weißem Lederjehurz eintritt, dringt der Duft wür- 
ziger Mehlfuppe. Drinnen eine bunte Schar! In beblümtem 
Schlafrod, die Larve auf die weiße Zipfelfappe gejtülpt, prüft 
einer gelajjen ein mädtiges Stüd Zwiebelmähe Er zählt 
lich Stolz zur ältejten Garde, mit zwei Dutzend Morgenjtreichen 
hinter fih. Neben ihm ruht fchlagbereit die blanfgepußte 
Trommel. 

Unruhig, - erwartungsvoll, das Inſtrument marjhfertig 
angehängt, jteht dicht dabei ein Junger, der zum erjtenmal 
bei der trommelberühmten Gejellihaft mittun darf. 

Ein weißer Pierrot mit breitlachender Masfe neitelt auf- 
geregt mit der Linken an der Saitenjhraube, indes die Rechte 
mit dem einen Schlegel leicht auf das Kalbfell tupft. 

„Wie⸗-ne Gledli goht ji“, erklärt mit Kennermiene der 
Ihwarzfeidene Domino, einen Augenblid verhoffend, um dann 
liebevoll-vorfichtig die lette „Struppe“ an feinem „Keſſi“ zu 
Itraffen, in das ihm beinahe ein ungefhidter ausgelajjener 
MWaggis mit dem langen Stiel feiner Stedenlaterne ein 
Loch geitoßen hätte. 

Fröhliches Gelächter tönt vom andern Tiih Her. Ein 
paar Platmader, als Soldaten aus der guten alten Zeit ge— 
leidet, Haben jäbelrajjelnd einen Bekannten aufs Korn ge: 
nommen und öffnen mit dem „Adi du, gäll de kenſch mi nit“ 
des Wites Schleufen. 

„Barat made!“ tönt kurz, faſt militärifh in das 
Stimmengewirr das Wort des als franzöfifher Oberft ges 
fleideten Vortrommlers, dem die Yegbürftenepauletten und 
der jchweinsboritene Schnauz ein martialifhes Ausſehen 
geben. 


197 


Der bunte Knäuel wogt hinaus, wo eben der Tambour- 
major mit dem ſchwarzweiß verſchnürten, Jilberbeichlagenen 
Stock den Trägern zum Hochheben der erleuchteten Laterne 
winft. | 

Wie die Müden ums Licht, ſchwirrt lachend und lobend 
die Menge der Zuſchauer um das hellleuchtende Transparent. 

Noch ein dumpf aus der Larve des Hinterjten Tinfen 
Slügelmannes hervorfommendes Mahnwort, und wie in Erz 
gegofjen jtehen die vier Dreierreihen der Tambouren, denen 
ji in der gleiden Ordnung der ſchwarze Troß des Bolfes 
anreiht. 

Jetzt — bimbam, bimbam, bimbam, bimbam Elingt’s klar 
von der Martinsfirde her durch die kalte Nachtluft, und auf 
Kommando und Gtodzeihen raufht aus den zujammen- 
geitimmten Trommeln heraus in perlendem Rhythmus der 
Morgenſtreich, begleitet von den jhrillen Klängen der 
Piccolos: 

Mer müend, mer müend, mer müend goh, 
Mer müend 90, 

Mer wänd, mer wänd, mer wänd goh, 
Mer müend nit go in d'Schuel.12) 


Mit gemeſſenem Schlag, auf welden allein der Basler 
im Schritt marjhieren fann, jtrebt die Gruppe vorwärts, 
Gaß auf, Gaß ab. Die Altitadt widerhallt von mächtigem 
Trommelſchlag, der nur vor den Wohnungen Schwerfranfer 
ichweigt, bis des Tages Helle das bunte Narrenvolf aus- 
einanderjheudt ..... . 

Ausgelajjener und toller ging es noch zu Großvaters 
Zeiten am Morgenitreih zu. Bis an die Zähne bewaffnet, 
mit Steinjhloßgewehren und alten Reiterfäbeln ſchritten der 
Tambourengruppe die Platzmacher voraus. 

Wie viele Uniformjtüde, wie mande Waffe, in napoleo- 
niſchen Schlachten getragen, Hatten ſich beim Durchzuge 


12) Der aus den Vierziger Jahren ſtammende, den Streichen 
des Morgenftreichmarjches unterlegte Text. 


198 


fremder Heere zur Zeit, da die Kriegsfurie Europa peitſchte, 
auf dieje oder jene Weije in die Rumpelfammern baslerijcher 
Samilien verirrt, um ſpäter am Morgenitreih Krieg im 
Srieden jpielen zu helfen. Nicht weniger gern trug man zu 
dDiefer Bewaffnung als Beinfleider die unverwültlichen hirſch— 
ledernen Unterhojen des „hni-Unfle“. 

Den bewaffneten Grundftiod der PBlagmader um: 
Ihwärmten pritihenfchlagende Pierrots, Plätzlibajaſſe mit 
Spidrohren und alte Tanten, deren Schweinsblajenihläge 
ven Betroffenen feinen Augenblid über das Geſchlecht der 
Maste in Zweifel ließen. Bechjadeln vertraten die koſt— 
pieligen formenreichen Transparent:Laternen, die erſt mit 
den Bierzigerjahren allgemein in Gebrauh famen; jelbit- 
verfertigte Kopf: und Rüdenlaternen aus Delpapier zeichneten 
etwa die Trommler aus, die in bequemer, aber nicht minder 
grotesfer Gewandung, wie fie beijpielsweije der Meijterjtift 
Hieronymus Heß’ auf dem beiliegenden Bild feitgehalten hat, 
einherjchritten. 

Mährend heute beim Kreuzen zweier Züge jeder für fi 
nur die rechte MWeghälfte beanſprucht, indejjen die Tambour- 
majore mit den betreßten Stöden ſich militäriihen Gruß zu— 
winken, fam es in früheren Sahren bei Begegnungen nidt 
jelten zu heftigem Geplänfel, da feine Gruppe der andern 
auswid, jondern jede die andere auf die Geite zu drüden 
judte. An Wechſelreden voll derbem Hohn und Spott, ja an 
Püffen und Schlägen fehlte es nicht, und mandem verdarb 
das eingejhlagene Trommelfell die langerjehnte Faſtnachts— 
freude. Noch in den GSiebenziger Jahren trieb eine Clique 
einen befeindeten Zug auf der alten Rheinbrüde derart in 
die Enge, daß die Laterne über das Geländer jtürzte und in 
den Yluten des Rheins ein verfrühtes, betrübliches Ende 
fand. 

Uber ſelbſt derlei tragiihe Zwilchenfälle entfremdeten 
den Morgenitreid) — ſeinem Hauptzweck: dem 
Trommeln. 


199 





Getrommelt wurde in Bajel an der Faſtnacht ſchon jeit 
den älteften Zeiten. Während aber heutzutage dieje Kunft jo 
eigentlih das Rüdgrat des Feſtes bildet, war jie früher nur 
eine der vielen gepflegten Beluftigungen, ohne ſich als ſolche 
vor den andern Vergnügungen bejonders hervorzutun, fonjt 
würde wohl die Tatjahe, wonach 1712 auf dem Betersplaß 
fiebenzig Trommelfchläger mit dem Generaltambour, einem 
aus Pratteln, in der Mitte, ein Konzert gaben, nit als ein 
auffehenerregendes, noch) nie dageweſenes Ereignis der Nach— 
welt überliefert worden jein. 

Aber nicht nur zum Tanz und als getreuer Trabant fröh- 
lihen Faſtnachtstreibens erflang die Trommel; ebenjo alt 
tt ihre Verwendung als militäriihes Mufifinitrument. Bei 
den militärishen Mujterungen der Zünfte, die nicht felten 
farnevalesfen Bomp zur Schau trugen, fehlte Die Trommel nie. 

Teile der alten Schweizermärjdhe!?) Haben ſchon den 
Reisläufern vor Ilovarra und bei Marignano in den Ohren 
geflungen, und von den Zeiten Sranz I. bis zum Fall der 
Bourbonen in Neapel jtand die an) je und je 
in hohen Ehren! 

„Sy fummen mit einem großen getümmel, feßlen und 
bodslen der trummen“, ſchrieb um 1540 der ſchweizeriſche Re— 
formator Heinrih Bullinger. 

Trommelwirbel führte auch die militäriihen Nahahmer 
der Eidgenojjen, Srundsbergs zudtlofe Scharen zum Sturm, 
wie denn überhaupt die Trommel in der Folgezeit bei allen 
europäilden Heeren Eingang fand. 

Nirgends aber haben fih Trommel und Trommelflang 
jo eingebürgert, wie in Bafel. Sind fie aud für gewöhnlich 
von der Straße verbannt, um die erniten Handelsherren 
nit in ihren Berechnungen zu ftören, jo maden fie um jo 
lauter und mädtiger ihre Herrichaft geltend, wenn nad) altem 

13) Die Schweizermärjche beitehen aus den eigentlichen „alten 
Schweizer“, denen ſich die „Schlegelmärjche”, der „Dr. Eijenbart“, 
„Prinz Johann“ und „Hambacher“ angegliedert haben. 


200 


Brauch Jugendluſt und Uebermut das NRedt Hat, die ernite 
ruhige Welt einmal auf den Kopf zu jtellen und gehörig durch— 
zurütteln; ſie find der Grundton, der jih durch alle Har— 
monien und Disharmonien des Straßenfalhings zieht. 

Dhne Trommel wäre aud) fein anderes wirklides Basler 
Feſt denkbar. 

Menn 1857 die Basler Tugend den alten General Du— 
four beim Bejuh ihrer Vaterſtadt mit einem Trommel— 
ttändchen, von über Hundert Tambouren ausgeführt, vor den 
„Dreifönigen“ begrüßte, jo lag darin nicht nur ein feltener 
Beweis von Kertigfeit in der Handhabung dieſes Inſtru— 
ments, fondern es offenbarte ſich darin in bezeichnender Weiſe 
baslerijhe Eigenart überhaupt. 

Die Wiege des heutigen raffinierten Basler Trommelns 
haben wir aber nicht auf heimiſchem Boden zu juden; fie 
Itand in Frankreich, von deſſen Herrihern ſchon der ftolze 
<roi soleil» für das Trommeln eingenommen war. 

Bejonders war es aber Napoleon I., welder die eigen- 
artige Kunſt in auffallender Weiſe begünjtigte.e Das Inter— 
ejfe, Das der ſchlachtengewaltige KRorje dem Trommeln ent: 
gegenbradte, machte die Franzoſen zu den erſten Tambouren 
der Welt. Glüdlich und beneidet war der «tambour maitre>, 
weldem der Kaijer als Auszeihnung Schlegel von Ebenholz 
mit goldbeichlagener Zwinge verlieh. 

Die Anwejenheit franzöjiiher Garnilonstruppen und die 
Durchmärſche der Alliierten 1813/14 hoben in Baſel das 
Trommeln und trugen zu feiner Vervollkommnung bei. 

Sn jenen Zeiten, da Bafel oft mehr einem Kriegslager 
als einer ruhigen Handelsitadt gli, nahm die Jugend lern— 
begierig die für fie neuen Streihe und Märſche an; jo wurden 
damals alte Franzoſenmärſche den „Schweizern“ angereiht, 
und angenehmer als das zurüdgelafjene Ungeziefer war für 
die Basler die Erinnerung an den Durchzug des ruſſiſchen 
Heeres, in Form eines langen ruſſiſchen Trommelmarſches, 
der bis in die Zünfziger Jahre viel gejchlagen wurde. 


201 


Eine weitere Förderung erfuhr das Trommeln, als nad 
der Sulirenolution 1830 die Schweizergarden aufgelöjt und 
entlafjen wurden. Basler, die in Frankreichs Gold gejtanden 
hatten, fehrten wieder in ihre Baterjtadt zurüd und madten 
Säule. 

Als gute Tambouren galten damals, bis in ihr hohes 
Alter, Shuhmadjermeifter Kuhn und Goldſchmied Hand- 
mann an der Brotlaube, vor allem aber Papa Bühler 
an der „Steinenbrugg“. Er war bei den roten Schweizern 
in Paris in Dienst geitanden und durch ihn wurde damals 
<l’&cole du tambour» mit ihren vielfältigen und oft ver- 
zwidten Streihen den Trommelliebhabern beigebradt. Bon 
ihm und feinen Zöglingen lernten auch die Kontingents- und 
Zanditurmtambouren ihre Streide. 

In fpäteren Jahrzehnten jtanden bejonders Tambour= 
initruftor „Dreji“ Sulzer,!t) der Schöpfer der „Japa— 
nejen“ und Samuel Severin,!5) deilen Konzerte jeiner- 
zeit viel bewundert wurden, im Rufe erjtflafjiger Trommler. 

Die jegt faum mehr gehörten „Steinfohlen“ wurden von 
Geverin, der wie Sulzer Berufstambour war, fomponiert in 
Anlehnung an Märjche, welche die Internierten der Bourbafi- 
armee während ihres Aufenthaltes in Bafel jchlugen. 

Die beliebtejten Märſche von heute, wie die „Märmeli“, 
die Burenmärjche“, dann auch die „Wallifer16) kennzeichnen 
ih als charakteriſtiſche Schöpfungen der franzöſiſchen Schule 
und verdanken ihre Entitehung nit einem Berufstambour, 
londern einem Amateur: Emil Krug.) Bon Severin 
nahm Arug das Kräftige, Baslermäßige des Schlages an, 


14) Andreas Sulzer, Tambourinjtruftor, gebürtig aus dem Gt. 
Galliihen; ſtarb im hieſigen Pfrundhaus, in welchem er durch Ver- 
mittlung baslerijcher Offiziere Aufnahme gefunden hatte. 

15) Samuel Severin (1838 — 1888) von Kleinhüningen, Tambour= 
inſtruktor. 

16) Krug übte mit Dornay in einem Walliſer Marmorſteinbruch; 
daher die Namen „Märmeli“ und „Walliſer“. 

164) Emil Krug (1841—1907), Kaufmann. 


202 


während der leichtfließende, feine Rhythmus jeiner Märjche 
auf den Einfluß Jeines eigentlihen Lehrmeilters Cäſar 
Dornay, eines Wallijers, der viele Jahre in franzöfiichen 
Dienften gewejen war, zurüdzuführen if. Zu Krug und dem 
früheren franzöſiſchen Milttärtambour Ch. Schmid in Bin- 
ningen pilgerte in den Neunziger Jahren die Mehrzahl der 
heute im erjten Rang jtehenden QTambourgrößen, um von 
erjterem die Märjche, von letzterem die jehwierigen Streidhe 
zu lernen. | 

Auf zielbewußtem, unaufhörlidem Ueben, das fi auf 
funjtgerechtes Zerlegen der einzelnen Streiche aufbaut, beruht 
heute die erjtaunliche Sertigfeit der Basler Trommler. 

Die Kunjt hat in den legten Jahren in Bezug auf Fein— 
gefühl des Rhythmus und Präzifion der Streihe eine Höhe 
erreicht, die faum mehr überjehritten werden kann; wer heute 
noch „gnöpflet“ oder „böpperlet“, wird mit einem mitleidigen 
Lächeln abgetan. 

Wenn jet zwölfjährige „Binggis“ die Märſche mit 
Doppelitreihen trommeln oder gar eine „Tagwaht“ zu 
Ihlagen imjtande find, Kunjtjtüde, mit denen vor einem Jahr— 
zehnt nur die Allerwägiten glänzen fonnten, jo entjpringt 
diefes Können nit in leßter Linie dem Wirfen des Quod- 
libet-Wurzengraber-Faſtnachtskomitees (1906—1909), weldjes 
durch Einführung von Trommeljhulen die eigentliche metho- 
diſche Grundlage geſchaffen hat. 

Geit wenigen Jahren bejtehen auch bei den großen Faſt— 
nadtsgejellihaften eigene Trommelſchulen, in denen junger 
Nachwuchs für die „Jonderbare Basler Affektion“, wie Karl 
Rud. Hagenbadh!?) in einem Brief an Jeremias Gotthelf 
launig das Trommeln nennt, herangebildet wird. 

In Bafel bot fih in der erjten Hälfte des vorigen Jahr: 
hunderts noch täglich Gelegenheit, Trommelflängen zu laufen. 


17) Karl Rud. Hagenbad) (1801—1874), Gelehrter und Dichter; 
während eines halben Sahrhunderts Profejlor für Kirchengeſchichte 
an der Basler Univerjität. 


203 


Allabendlih durchzog das Spiel der Gtänzler von 
der Blömleinfaferne aus die Gtadt, den Zapfenitreich 
Ihlagend. Starb ein der Garnijon Angehörender, jo ging 
es bei gedämpfter Trommel Klang zum Kirchhof. Galt es die 
Fruchtpreiſe, Holzganten und dergleihen Dinge dem Publi- 
fum anzufünden, jo durchzog der Stadttambour, der obrig- 
feitlihe Austufer, die Straßen, um unter Trommelwirbel 
mit gewichtiger Amtsmiene die Verfügungen einer Hohen 
Behörde befannt zu geben. 

Sn der Erinnerung der ältern Generation lebt Heute 
noch die jtadtbefannte ZYigur des Stadttambours Chriſtof 
Beck,us) eines ausgezeichneten Trommlers, wie auch von 
dellen Sohn, eines Meilters der Basler Trommelfunft, Jak. 
Sriedr Bed!) im Volksmund derb „Schnurebed“ ge— 
nennt. 

Die begründete Vorausſetzung, daß jeder Basler trom- 
meln fönne, führte vor Jahren einen ſchweizeriſchen Konful 
in New Vork zu einer finnteichen, zeiterjparenden Einrichtung. 
Sn einer Ede feines Bureaus ftand eine Trommel. Wenn 
nun ein Hilfsbedürftiger, der ji als Basler ausgab, eintrat, 
zeigte ihm der Konſul ohne feinen Schreibtifh zu verlaſſen 
die Trommel. Da Eonnte ſich dann der Petent raſch und 
fiher legitimieren und zwar nicht bloß dadurd, daß er feine 
Fähigkeit im Trommeln überhaupt zeigte, fondern daß er 
eine Nationalhymne aus dem Basler Repertoir trommelte. 

Neben den anläßlich der Julirevolution verabſchiedeten 
Militärs beeinflußten auch die Tambouren der Stänzler das 
Basler „Rueßen“, wie das Trommeln jeit Ende der Sechziger 
Sahre auch genannt wurde. Nicht nur barg die GStandes= 
fompagnie ebenfalls eine jtarfe Zahl folder, die bei den 
franzöfiihen Schweizerregimentern gedient hatten; unter 
ihren Leuten waren auch viele ehemalige neapolitanifche und 


18) Chriſtof Bed (1805—1876), Stadttambour. 
19, Jak. Friedr. Bed (1834—1891) Tambour beim Artillerie: 
fontingent. 


204 


römiſche Söldner. Durch letztere gejellten ſich zu den ſchon 
beſtehenden Trommelmärſchen andere, wie die „Dreier“ oder 
„Mariner“, die „Römer“ und „Näpeli“. 

Neapel erwies fi, ähnlich wie Frankreich, als gute Schule 
für das Trommeln. Der Bater des «Re bomba» war jelbit 
ein leidenjhaftliher Trommler. Die Militärtambouren 
mußten ihm jtundenlang in der Reitjehule nortrommeln unter 
ſtändiger Regulierung der Kadenz durch ein befonderes nad) 
der Uhr geridhtetes Pendel. 

Wie das Trommeln, jo hat auch das hiezu benüßte In— 
itrument, die Trommel, im Laufe der Zeiten große Verände- 
rungen durchgemacht. 

Bis in das 19. Jahrhundert hinein benügte man in Bafel 
allgemein SHolztrommeln, die oft durch Bemalung in 
Slammenform oder durch Anbringen eines Wappens verziert 
wurden. Bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts waren fieben 
Schallöcher üblid, die außer ihrem eigentliden Zwed, in 
ihrer freisförmigen oder rojettenartigen Anordnung aud) zur 
Verzierung des Injtruments dienten. Sie wurden daher an 
ihtbarer Stelle angebradt, indes jeit dem 18. Jahrhundert 
das Schalloh ausnahmslos über der Spannjchraube feinen 
Plaß fand. 

Die im Zickzack über den Zylindermantel Taufende 
Irommelleine wurde bei den ältelten Trommeln mittelft 
Lederſchleifen ſtraff geipannt. 

Später verfertigte man den Hohlzylinder, die „Zarge“, 
oft aus Weißblech, oder Hämmerte fie aus Mefling oder Kupfer: 
blehd. An Stelle der Lederſchleifen traten ziemlich früh die 
noh Heute gebräudlichen „Struppen“. Bei der Basler 
Trommel der Jetztzeit findet ausſchließlich dünn gewalztes 
Meſſingblech oder Neuſilber, durch Hartlötung zuſammen— 
gefügt, Verwendung; dadurch wird nicht nur das Gewicht 
bedeutend verringert, ſondern auch ein heller, gleichmäßiger 
Klang erzielt. 

Auch in Bezug auf die Größe erlag das Inſtrument 


205 


mannigfahen Wenderungen. Während die Trommel des 
16. Sahrhunderts bezüglich ihrer Höhe noch monjtröfe Kormen 
aufweijt, ändert fih in den folgenden Jahrhunderten das Ver— 
hältnis zuguniten des Durchmejlers. 

Als Normalmaß der modernen Baslertrommel gilt die 
Größe von 48—49 cm (Höhe inkl. Reifen) auf 42 cm (Dur 
mefjer). Nah den Schäßungen des ſchon genannten Tam— 
bours 3. F. Bed mochten in Bajel um die Achtziger Jahre 
über zweitaufend Trommeln zu finden fein; diefe Zahl dürfte 
heute bedeutend Höher veranihlagt werden, ein fchlagender 
Beweis für die allgemeine Vorliebe, welche diefem Muſik— 
injtrument in unferer Stadt entgegengebradt wird. 

Neben der Trommel war als Begleitinitrument Die 
Querpfeife ſchon im Baſel der Reformationszeit heimiſch. 
Das Pfeifen trat dann aber mehr und mehr Hinter dem 
Trommeln zurüd. Auf den alten Lithographien von Yalt- 
nadtszügen ſuchen wir vergebens nad) Pfeifergruppen; einzig 
eine Abbildung aus dem Jahre 1856 weilt zwei Piccolobläfer 
auf. 

Die Trommel war zur Alleinherriherin der Faſtnacht 
geworden, bis in den Achtziger Tahren mit dem Auffommen 
der „Arabi“20) anläßlich eines von Mitgliedern des Bürger: 
turnvereins veranitalteten Zuges?%*) das Piccolo wieder mehr 
zu Ehren fam. In jüngiter Zeit wird ihm mit Redt ver- 
mehrte Aufmerkſamkeit geſchenkt, und Die neugejeßten 
„Schweizermärjche", der „Arabi“, der „Vaudois“ und der 
„Schützenfeſtmarſch“ find dazu berufen, baslerifcher Faſtnachts— 
funft neue Triumphe zu ſchaffen. 

Dem Auffhwung, den das Trommeln in den erjten Res 


20) Der „Arabi“ beiteht aus 3 Märſchen: 1. Aus „The British 
Grenadiers“ Regimentsmarfch der „Grenadier Guards“), 2. „Garry 
Owen“ (Regimentsmarfjd) des XVII. Königl. Srifchen Reg. zu Fuß), 
3. „The girl I left behind me“, einem Marſch, der in England oft 
bei der Abreije von Truppen in überfeeilche Dienjte gepfiffen wird. 

20) Faſtnachtszug 1883: Aufſtand Arabi Paſchas und die Eng 
länder in Aegypten. 


206 


ftaurationsjahren durch fremde Einflüffe empfing, hielt die 
allgemeine Entwidlung der Faſtnacht nicht Schritt. Dies 
mag auf den eriten Anblid befremden, war doch das Kriegs: 
elend gewichen, ſaß doch Napoleon mundtot auf weltfernem 
Eiland an feinen Memoiren und braden doch Zeiten ruhiger 
wirtihaftlider Entwidlung an. 

Uber es ſchien, als ob die Politik, die fih in großen 
Staatsaftionen als reaftionär fennzeihnete, auch in den 
Kleinigfeiten des Alltags jede freiheitlihe Negung des Volfs- 
lebens ängjtlih zu unterdrüden bejtrebt war. Und Bajel 
madte hievon feine Ausnahme. 

Wie weit dieſe Wengitlichfeit getrieben wurde, beweiſt 
der Umijtand, dag man auf Boritellungen der Landpfarrer 
hin die alljährlih im Kantonsblatt erſcheinende Faſtnachts— 
verordnung demjelben während mehrerer Jahre nicht mehr 
einverleibte, da fie ſonſt von der Bafelbieter Jugend nicht 
nur als eine Erinnerung an die Belujtigungen angejehen 
würde, jondern irregeleitet von dem faljhen Begriff, den 
ih die jungen Leute von ihrer Freiheit und Gleichheit der 
Rechte mit den Stadtbürgern madten, als eine Aufforderung 
dazu, wodurd dann um jo größere Unfittlichfeit und lärmende 
AYusihweifungen veranlakt würden, zumal die Landleute 
noch auf einer niedereren Stufe der Bildung gegenüber den 
Stadtbewohnern jtünden. — 

Wenn auffallenderweife für das Jahr 1820 alle Schranten 
Tielen, fo it die Urſache hiezu nicht allein in den wirtſchaftlich 
günftigen Zeiten, welche dem Teuerungsjahr 1817 gefolgt 
waren, zu ſuchen, fondern mehr in dem Umitand, daß man 
in den oberjten Kreijen zu einem großartigen Umzug Bor: 
bereitungen traf. Da die Schöpfer der Veranftaltung zum 
Zeit felbjt in den maßgebenden Behörden faßen, war es fein 
allzu jchwieriges Unterfangen, im Stadthaus und im Rats- 
faal eine faſtnachtsfreundliche Mehrheit zu ſchaffen, die ich 
dem Willen der jeunesse doree geneigt zeigte. 

Mir können die Alten füglich beneiden, daß es damals 


207 


möglich war, den gejtrengen Polizeidireftor als Graf Walraf 
von Tieritein an der Gpite des Maskenzuges auf ſtolzem 
Pferd einherreiten zu jehen, und daß niemand daran Anſtoß 
nahm, wenn die Gtaatsfanzlei, auf deren Amtsjtube der 
Plan des Schwanfes durd) den damaligen „Ingroſſiſten“ ent- 
mworfen wurde, ihre Angeitellten daran teilnehmen ließ, und 
die den Grafen begleitenden Söldner durd) eine halbe Kom— 
ragnie des Bundesfontingents dargeitellt wurden. 

Dem Hundertfünfzig Teilnehmer zählenden Umzug lag 
als Sujet die Brautfahrt des jungen Grafen Otto von Tier- 
jtein mit Katharina von Klingen um das Jahr 1376 zu: 
grunde. Der reich ausgeitattete Faſtnachtszug bewegte ji 
durch die Stadt nad) dem Münjterplat, wojelbjt den Herren 
Häuptern vor deren Amtswohnung in gebührender Weije 
die Aufwartung gemadht wurde; gemwillermaßen als Danf 
für die Sanftionierung dieſer außergewöhnlichen Faſtnachts— 
belujtigung, von welcher noch Sahrzehnte ſpäter geſprochen 
wurde. 

Mar die Veranftaltung der Hauptſache nad) ein hiſto— 
rider Schauzug ohne Trommlergruppen, jo entbehrte er doch 
nit eines et basleriihen Faſtnachtseinſchlages. 

Mie komiſch muß es gewirkt Haben, wenn die züchtige 
Braut, die durh einen ſchmächtigen Süngling verkörpert 
wurde, im Brautwagen von Zeit zu Zeit ein Leiterden an 
ihren langen Bräutigam anjtellte, um ihm einen minnig- 
lihen Kuß geben zu fönnen! 

Das unter die Zuſchauer verteilte Programm — der 
älteſte Basler Faſtnachtszettel — ahmt drollig 
die alte Schreibweife nach und hat folgende Faſſung: | 


MWueli ab Edhe, olt Burgvogt ze Varenspurgh, der zit 
Kaſtellan ze Klingen, an 
Heinrich Zielempe, Edelfnedt, in Bafell. 


Myn fruendlih Grues zem voruus ſambt was i liebs 
und guets vermag. 


208 


Edler und Ehrenveiter! 


Yus Befelch mynes gejtrengen Herrn und Gepieters joll 
ih Ewch Kunde thun, dafz ouf unferer Burgh groos Uufbrud 
ftatt gehept, vond das jungh bruetlih Paar mit zahlrich Gi- 
folche vnd im Gileite von viel edelen Rittern, Frowen, vnd 
Froewlins von binnen nah dem Stein Pfeffinghen fuerbaß 
gezogen jygend. 

Schrib Hurtig dem ehrenwert Heini Zielempe en 
Prieff, jagt mir gejtern der gijtreng Sryher von Klinghen, 
myn Gipieter vnd Her, vnd gib em ze willende, daſz mer 
uuf Montag vor Petri Stuelfüür durch Bafell ze ziehn ge- 
dächtin, und dafz er unverfuumt louffen mag, gen Pfeffinghen 
um den Zueten vnd Mannen uuf der Burg ze Jagen felbe 
bereit ze Haltende, daſz ihr nuew brüütlich Gipieter mit 
ſyner jung hulderichen Geſpunſin, all ſyn Gefolde des galt- 
früündliden ufnehmen und beherpergen fönnende. 

Vnd fo fpud ich my denn des dringentlichen und vermelt 
Euch im Trewen die Worthe, wie ji us dem Muul mynes 
Hern vnd Gipieters gefallen ſygend; ouch vermeld ih Ewch 
zeglih wie ji uusgezogen ſynt ues der Burgh, vnd oud 
durch Ewrer Stat und Bahn ziehen wöllint, damit Ir den 
Zueten und Mannen ze Pfeffinghen jagen könnet, wie viel 
edle Herren, Frowen vnd Froewlins ond wie viel Knappen 
zem brütliden Gilage ires fuenftigen Gipieters bey ihnen 
gaſtlichen Inzug Halten wöllind. 

MWernli von Anweile,2!) der Edelfnedt, ritt allen 
voran mit nüün Gewappneten ze Fueß, DI ime gehorfam vnd 
giwärtig warend. 

Ime volgeten ze Pferth Congmann2) vnd ULFF2) 
die Hierolde des Grave ze Thierjtein. 

Nach inen ritt inher fer Trummeter, ond ein Pauffen- 
jchläger des Pferth zween Fuesknechte geleiteten. 

2!) Meyer zum Kopf, gew. Leut. in franz. Dieniten. 


22) Bärry v. Meyentels. 
23) Rud. Gemujeus Sohn 3. Pflug. 


209 14 


nen volgeten fedan uuf ſtolzen Roſzen in blangher 
Rieftung die zween biderbe Wallr afft) vnd Her 
m an25) Graven von Thierjtein, Herren ze Varnspurg, Land⸗ 
graven im Sisgöw vnd Buchsgöw. 

Vnd Burghhardt2e) Grave von Frooburgh 
Herr ze Waldenburg vnd uuf beid Burghen von Ober vnd 
unter Pirseck; Dry edle Herrn uus dem Stamme der Thier- 
fteine iniglich bifrüündet ond verwant, ond Hinter jedwedem 
thät riten ſyn Schiltfnap, denn fy hätten gilopt fier jeglich 
Schimpf und Schmah ritterlih ze wachen vnd ze fempfen. 





Brautwagen, Umzug 1820. 
(PBrivatbefiß.) 


Ine volgete jedan, die Perle des Zughes, der Wagen in 
dem der jung Grave Dtto,?) mit ſym hold brütlid, 
Gifpons, edel Fröwlin Katherine von Klinghen,®) 
Erpin ze Hohenklingen, in minniglid) zartem Vertrowen by 
enander falzen. Ir Wagen was giziehrt mit ein heitniſch 

24) Oberftleut. Wieland, Polizeidirettor und Statthalter. 

35) Gardehauptmann Landerer, in franz. Dieniten. 

260) Qudw. Iſelin zu den „Dreikönigen“. 


2) Rudolf Merian beim Totentan;. 
3 Dietrich) Burdhardt-Werthemann. 


210 


Gößepilt, das ji namfeten Der klyn Liebspüfel, ond trug ſelbs 
an em Spieſze, bildſamlich, zwei Herte fo durchpohrt gefyn. 

Dem Wagen gehörrten bigifelt die drey Minejenger: 

Mitr. SGromwenloop2P) 
Mitr. Minewartd) vnd 
Her Xobefan.:) 

Volgete fedan ein zweyt Wagen bigleitet von delle 
Knapen vnd Salzen darin gijtreng vnd gipietender Her Sige- 
mund III2) Grave ze Thierjtein Pfalzgrave der 
h. Stift Bafell, Her ze Pfeffinghen, Varenspurgh, Frooburgh, 
Landgrave des Buechs- und Gisgöws, des Brütgams Bater 
vnd myn liep Her ond Gepieter, Her Ulderil3) Fryher 
ze Hohen Klinghen vnd Burghgrave uuf dem Stein ze 
Rhynfelden, der Bruut Vockht ond Dehme. 

Inen volgete ein Tragejejlel gitragen von zwey  Muul- 
ejlel, wo by jedem ein Yuerer geganghen vnd zween Fues—⸗ 
fneht neben inherluffen, worin ſaſz edele Frow Gräpin 
Berenat) von Thierftein giborn von Nidau, 
Mueter des Brütgams vnd edele Frow Konigond®s) 
von Hohen Klinghen giporn Frye von Rappolt- 
ftein des Brüütlins Mueme. 

Stem volgete ein groos ritterlid Geferthe, wo da ſaſzen 
mennidlid) olte Ritter vnd Heren als da feynt: 

Hannemann Fryher von Rappolsßftein,3) 
Erbher auf Kayſerſtuel 

Edler Huldenrych von Ramjtein,”T) Her ze 
Bretzewiel 

Rudolf Grade ze Nidau,3) Her des Buechsgöws 


2») Emil Thurneyfen. 
0, Emanuel Bifhoff zum Sternenfels. 
> =) Sohanne een Fark 
ohannes Fäſch, Ingro 
eter — Pi Totentanz, Lektor am Pädagogium. 
=) Wilhelm Haas, Sohn, Xrtillerieleutnant. 
35) Heinrich Miville, des Geridts. 
8) Chriſtof Biſchoff älter. 
3”) Abel Heußler. 
8 Joh. Jak. Eglin, Leut. im Bundestont. 


211 14° 


Semmann, Fryer von Behburgh,) Her ze 
Ballſtahll 

Grave Werner von Homburgh,») Her ze 
oft Rapperswyl vnd Landher der Schlöſzer Warthenberg 

Hans Ulderid Edler von Buitidont!) 

Mendolm Senn) Fryer ab Buecheckh 

Ruman Graveze Homberghas) 

Item volgete ein zweyter Trageſeſſel gitragen von zwey 
Multier mo by ietem ein Fuerer gigangen vnd zween Yuep- 
knechte inher luffen vnd darin ſaſzen myn liep vnd edel 
Fröwlin Klaranna von Thierjtein“) ein ſchoen 
frumm aber praeſthafft Kint, ift gewillet bh den Frowen im 
Klingentall ze Baſell der Schleyer ze nehme, vnd ir Baajſz, 
die Fröwlin Adelheit von Ramjtein“) fo hoffent if 
eyn Fryersmann wert immer no fummen vnd ſy bifryn. 

Sedann ritten hinter inen inher: 

Edler Ritter Hugeli von Olt Shamwen- 
burgh,t°) Mither ze Prattelen vnd Muttenze, ond ſyn tyres 
Töchterling Eljin) Fröwlin von Olt Shawen- 
burgh. 

ond hinter inen ein Edelefnapp. 

VBolgete ſedan edeler Ritter Goegemann von 
Kienberght) Edeler ze Warthenfelz mit hHuldfelid 
Fröwlin Sutta von Wiltenftein‘) ond Hinter inen 
ein Edelefnapp. 


3) Conrad Zäßlin. 

0, Biltor von Sury, Xrtillerieoffizier und Großratsherr zu 
Solothurn. 

a, Toh. Jak. Meyer, Leut. im Bundeskont. 

22) Auguſt Ballif 

) Emil Frey, stud. 

4) Emanuel Fäſch, ISnfanterieleut. 

5) Adolf Legrand. 

46) Ludwig Landerer zum Storden. 

7) Carl Ryhiner, Hauptmann und eidgen. Stabsadj. 

), Hieronymus Bilhoff-Reipinger. 

4) Hieronymus Biihoff:Biichoff, Leut der Bundesteferve. 


212 


Bolgete jedan edeler Ritte Wernhert Bluem- 
1in,50) Edeler ze Walteheimb ond Eshent, mit edel Fröwlin 
Dttilie von Landeck,s1) vnd Hinter inen eyn Edel- 
fnapp. 

Volgete dan Ritter AUdelbergh5?) Edler von 
Runfz mit Edelfröwlin Ennelivon Eshent>) 

ond hinter inen ein Edelefnapp. 

Volgete fodan der gijtreng Ritter Harthungest) von 
Teghervelthen vnd Hern ze Klingenaw mit huldjelid 
ond edele Fröwlin Clarinnen von Walthed;?) 

ond Hinter inen ein Edelfnap. 

Hinder inen ritten inher die edelen Ritter Lüd yse) 
von Ehrenfelfz genannt Froweler, und Jungher Tie- 
baltH”) ze Hohegeroldsedhb vnd Schenkhen— 
berg. 

Volgeten inen hernach uuf jtolgen Roſſen die edelen 
Ritter: 

Hans, Fry- vnd Zwingher von Valkenſteines) 
Gipieter ze Blauenjtein vnd Geritshernn ze Muemmliswiel. 

Dtto von Moerfepergh?) Fryher von Beffarth 
ond Oeſtrichiſch Landvockdt ze Pfirdt 

Huldenrickhvon Haſenpurgh,o) Her ze Datten- 
rieth vnnd Blumenbergh 

Wollff von Lihhtenfeljz,t) Her ze Angenftein 
jammethafft Ritter vom Bundt ond Orden Santo Wilhelmy. 


50) Hans Georg Yürltenberger, Stabsadjutant. 

51) Iſaak Kürltenberger. 

52) Joh. Jak. Iſelin. 

53) Abraham NEBEN Kontingentshauptmann. 
54) Iſaak Sfelin-Burdhardt 

55) Peter Biſchoff⸗ Burtorf, Hauptmann bei der Sunbestejetue, 
56) Samuel Baravicini im fl. Lüßel. 

57) Emanuel Heußler im St. Albantal. 

58) Chriſtof Biſchoff, jünger. 

5) Sean Bilhoff. 

6) Emanuel Burdhardt im deutſchen Haus. 


61) Joh. de Peter Biihpff- 


213 


Stem volgeten jedan die edelen Ritter us Bafell: 

Sungher Friderich ze Rhin®) 

Cunrtat Monachus von Mündenftein,e) 
Her ze Laimen 

Sungbher Rüdiger Schaler,6) Her ze Benkhen 

Gedan volgeten inen die frummen Ritter mit dem Crüßi 
vom 9. Johann von Sierufalem, als de warend: 

Ritter Goete von Kladhslanden,e) Her ze 
Blutzheim 

Ritter Wernhard von Frickhe,s«e) Erbe ze 
Molfliswiel 

Ritter Oßwalth von Uttenheim,s”) Her ze 
Hapsheim 

Ritter Cungemann Mönches) von Landscrohn. 

Vnd als die edeln Nitter fürbaß gizogen giwelt, fam 
onter der Schweere der Laſt krachende, der Wagen mit vier 
Roſz fürgijpannt vnd gefuert von zween Fuerknechten, uuf 
dem unfzer edel Fröwlin Bruutihat, war bigleitet von vier 
Giwappniten — vnd hett ſich uuf en Geldtrog geſetzit, 
Nickheles) vnſer Burgzwerd fagende: whenn die gijtrenge 
Herfhafft uusziehende gihoere er ouch dazue. 

Hinder dem Wagen ryt Uufliht Habende inher: 

Sunghber Muranzi Shnedaphürli,) Zech— 
meijter ze TIhierjtein mit [onen Bntergepnen ze Fues; 

Sme volgete uuf eim Karre mit eim Roſz firgelpannt: 

Cueni Wölffliander Birfe?!) deß jungh Grave 


62, Major Grob aus St. Gallen. 

6 Peter Schulz von Arlesheim, Leut. in der Landwehr. 

6%), Albrecht Holzad), Leut. im Bundeskont. 

65, Sohannes Debary, Leut. im Bundestont. 

6, Abel Socin. 

7) Joh. Jak. Biihoff-Merian Sohn. 

6 Rarl Geigy. 

*) Chrijtian Bühler, „Markör im Kämmerlein zum Rheined“. 
7%) Samuel Braun, Quartierinjpeftor. 

1) Tſchientſchy, Zöllner zu St. Jafob. 


214 





ſyn olt Schiltknap, als zelönftigen Kajtellvofth ze Pfeffinghen; 
vnd neben im ſaſz ſy tik EwipFrow Medtilpdis.’) 

Uuf dem Karre war uufgimacht ein Faeſzlin, das myn 
giſtreng Her vnd Gipieter des Zechmeiſters Obhuet anver⸗ 
trowet het ſagende: traget Sorg dafür daß der edel Nieren- 
fteiner halten mag bis gen Bafell wo newer tif ze han ilt. 

Sedan volgete mit vier Roſſen bijpannt vnd gifuert 
von zween Fuerknechten ein lang ſchmal Wagen doruuf ſaſzen 
Spillüt genuug an der Zal zu feitlih Tanz ze ſpillen; vnd 
Hinter inen drin ryten die Roſzknecht fuerende die Zug- vnd 
Strytroß in den Burghital ze Pfeifinghen, die von dem olt 
Grove fynen Sun giſchenkt ſygen. 

Vnd hinder inen ſchryten vnter dem thierſteiniſch 
Phanner von Varenspurgh inher vnd ſchloſzen den Zug vnter 
den Bifelchen des edelen Ritter 

Hans von Thengen'?s) 
Dryſig Man thierſteiniſch Söldnere”*) alle giwappneth. 

Vnnd ſolichen wollint ſy inzieen ze Baſell, Raſt halten, 
vnd ſedan no gar menniglichen Biſuech wider fürbaß goon 
uuf die Veſtin Pfeffinghe die dem jungs Grave Otto zur 
Vusſtüür als fryes Mannslehn von ſym giſtreng Herrn vnd 
Vater ibergepen wirt, vmb daſelbs des junghen Pars feſtlick 
Bylager ze begeen end ze fyren vil Tag vnd Wuchen lang. 

Derohalben ſummet nit, myn türer Fründ vnd Kempe, 
vnd louffet ſobald Ewch dieſz myn Prieff zugekummen ſunder 
Raſt uff die Burgh vnd bringet den Lüten vnd Mannen da— 
ſelbft die fröwlich Pottſchafft vnd min fründlik Grues. 


Veſtin Klinghen im Schwarzwalde am 
St. Guperthustaghe 1376. 


22) Lukas Ritter, Kanzleiſekretär, der aus einer noch häufig 
erhaltenen Lithographie bekannte „Ritter Pulverrauch“. 

73, Auguſt Wieland, Artillerieleutnant. 

74, Mannſchaft vom Bundeskontingent, da Platzkommandant 
Lichtenhahn nicht hatte erlauben wollen, Militär von der Standes⸗ 
kompagnie dazu zu nehmen. 


215 


Ebenfalls ein größerer Umzug, bereits mit leichter poli= 
tiiher Schattierung, wurde zwei Jahre ſpäter, 1822, in Szene 
gejeßt. Er ftellte einen Ausfall des Krähwinkler Heeres dar, 
wobei berittene Ordonnanzen in der Chaljjeur-Uniform der 
alten Sreifompagnie einen „Stadt-Armee=Befehl für die Ver— 
teidigungsanitalten“ austeilten. Nach allgemeiner Anſicht 
war diejes Tajtnädhtlerifche Unternehmen auf die militärischen 
KReformpläne des Oberſten Johann Wieland, älter, ge= 
münzt.?5) 

Zur Ausrüjtung hatten auf Geſuch J. 5. Halters namens | 
der Kaltnadhtsgejellihaft an das Zeugamt, die Shäße des 
Zeughaujes herhalten müjjen. Unter anderm wurde aud) der 
heute im hiſtoriſchen Muſeum aufbewahrte eijerne Kanonen— 
lauf mitgeführt; in jenen Zeiten lag er jreilid nod un— 
beachtet, jeder Witterung preisgegeben, irgendwo im Zeughof. 

Bei diejen Anläufen, die Faſtnacht durch größere Schau: 
züge zu verjchönern, blieb es, zumal fi) mit den beginnenden. 
Dreikiger Wirren die politifhen Verhältniſſe in unferm 
Kanton derart zujpigten, daß in eriter Linie den Militär- 
behörden im Intereſſe der Aufrehterhaltung der Ordnung 
und der Gejege das Unterjagen der herfömmlidhen Beluſti— 
gungen als ſelbſtverſtändliches Gebot der Notwendigkeit er- 
ſchien. 

Nicht ſo jenen Elementen, die hauptſächlich dem Hand— 
werkerſtand angehörend, regelmäßig beim Wirt Bell auf dem 
Barfüßerplatz zum Trunk und Politiſieren zuſammenkamen 
und die als „Bellſche Geſellſchaft“ während der Dreißiger 
Mirren einen nicht unbedeutenden, aber feineswegs fegens- 
reihen Einfluß auf den Gang der politifhen Dinge ausgeübt 
haben. 

Diefe „Bellihen Spießgejellen“, wie fie auch genannt 
wurden, wagten es, der obrigfeitlichen Verfügung am Faſt— 
nachtsmontag 1833 offen zu troßen. 


5) Daniel Burdhardti:Werthemann, Die polit. Karikatur des 
alten Bajel, Seite 7. 


216 


Nachdem ſchon am frühen Morgen die Jugend in allen 
Quartieren haufenweije oder einzeln trommelnd durch Die 
Straßen der Stadt gezogen war, ohne daß es die Polizei 
hindern fonnte oder wollte, verfammelten ſich nadmittags 
vier Uhr vor dem Hauje des Weinſchenken Bienz an der Tor: 
Iteinen gegen Hundertfünfzig Trommler, unter andern Schuh: 
mader Kuhn, Goldſchmied Wohlleb, Schloſſer Holzach, 
die Mebgermeifter Mehel und Sinninger, Ueber— 
reuter Mündh und Wirt Weniger. Die einen trugen 
Ihwarze Kleider und Hatten geſchwärzte Gelichter; andere 
waren masfiert und koſtümiert. 

Einen Tambourmajor an der Spiße, in der Mitte ein 
Ihwarzweißes Yahnlein mit einem Baſelſtab, ſetzte ſich nad 
vier Uhr der Haufe, die Trommeln jchlagend, in Bewegung 
und 309, von einer bedeutenden Menſchenmenge begleitet, beim 
Blömlein vorbei, den Steinenberg hinauf, durch die Aeſchen— 
vorjtadt und Malzgaſſe nad) der Albanvoritadt, hinter dem 
Münfter durch rings um den Münjterplat, den Spitaljprung 
und die Freienſtraße hinunter über den Markt und die Rhein- 
brüde nad) der mindern Stadt, wo bei der Wirtin Schuler 
am Niehentor eine halbjtündige Raſt gemadht wurde. Nah 
fünf Uhr ſetzte fih der fröhlide Zug aufs neue in Bewegung 
nad) dem Großbaſel zurüd, den Blumenrain hinauf, über den 
Totentanz und St. Sohanngraben nad) dem Betersplat, durch 
das Platzgäßlein die Spalenvorftadt Herein, den Spalenberg 
hinunter, durch die Schneidergajje, bei der Brotlaube vorbei, 
über den Korn: und Rindermarft die Gerbergalfe Hinauf nad 
dem Barfüßerplag. Vor der Bellſchen Wirtſchaft löſte ſich 
der Zug auf; die einen begaben fih nad) Haufe, andere in 
Weinſchenken. 

Eine beträchtliche Menſchenmenge jeden Geſchlechts und 
Alters war dem Zuge auf ſeinem ganzen Wege gefolgt oder 
hatte ſich in die Gaſſen geſtellt, um denſelben zu „begaffen“. 
Bon Einbruch der Nacht bis morgens zwei Uhr durchkreuzten 
itarfe Landjägerpatrouillen die Straßen; mehrere Berfonen, 


217 


welche noch trommelnd angetroffen wurden, wies die Polizei 
nach Haufe. 

Die ganze Veranitaltung verlief ohne Unfug und 
Schlägerei, ohne Beleidigung oder Verfpottung. Darüber 
war niemand froher als die jtädtiihen Hüter der Ordnung, 
die durch widerſprechende Gerüchte irregeführt und dur den 
damaligen überaus umjtändliden Initanzenweg in ihren 
Dispofitionen gehindert, gute Miene zu dem nidt allzu 
böfen Spiel gemadt Hatten. | 

Wenn BPBolizeidireftor Landerer jpäter befannte, „es 
bleibe doch immerhin eine jhwere Aufgabe für die Behörden, 
ein fo altherfömmlidhes, fajt allgemein beliebtes Volksfeſt, 
an dem man jehr zu Hängen fcheine, zu verbieten, auszu— 
merzen oder aud) nur zu beihränfen“, jo galt diefer Stoß— 
feufzer nicht allein den unzulänglichen polizeiliden Ein- 
zihtungen und Gicherheitsporfehrungen, jondern LZanderer 
Tieß damit auch durchblicken, ob es vielleicht nicht klüger wäre, 
an Stelle jtrenger Verordnungen, deren Durhführung doch 
nit garantiert werden fonnte, dem Volkswillen mehr Rech— 
nung zu tragen und Faſtnachtsvergnügungen in anjtändigem 
Rahmen der Bevölkerung nicht vorzuenthalten. 

Zwar warf für das Sahr 1834 noch der 3. Augujt 1833 
auf die Faſtnacht dunfeln Schatten, und alle Umzüge unter: 
blieben auf obrigfeitlihes Geheik. Um jo eifriger fröhnte man 
auf den Zunftituben unter Aufliht der Polizei dem Tanzen, 
wozu ſich hauptſächlich junge Leute der obern Stände ein- 
fanden. Wir fönnen uns nicht verfagen, aus der Reihe von 
Rapporten zwei hier wiederzugeben, die fi) nad) Inhalt und 
Drthographie als unfreiwilliger Beitrag zur Faſtnachtskomik 
dofumentieren. Die denktwürdigen Schriftitüde lauten: 

Ertra Rapport. 

„Es Haben fih auf dem Tanzboden zu Sumaderenznupf 
feine Larfen zu Sehen Laſen und hat fi) Weites Auch nichts 
neüfes zugedragen Als der Sparr hat wordwäfel gehat mit 
dem Knächt zum Schiff. 


218 


Zweites aud) der Kuchner?e) von Herren Bifof zum Luft 
mit dem Giſy bey Heren Breyswerd und fonjt hat fih nit 
neüjes zugedragen jo den Dinſt Bedrift. 

Bafel den 20ten Hornung 1834 | 

Beſcheint Landjäger Carpparal 
Haldenmann 


Bolyzey Rapport. 

Zandjager Rietſchin und Landjager Elmer Haben die 
Polyzeiliche Aufliht zum Grifen, 

Gegen Halb 10 Uhr fam der Schwart Schneider Auf der 
Rheindrud Mit Einer Masgen, ih) Sagte Sie Miefen Ihre 
Masgen apthun da ihr wilt es ift verboden, er Sagdte es 
Macht Sa nicht, Sch weis woll wer deran Schult ijt der Mus 
aper Noch Brigel haben ihr Sied Nicht Schul, dan Hat Cer 
Sein Masgen apgedan, 


ferner 


Siend Noch zwey Masgyerte und der Landjager Elmer 
bat Sie Gewarnet und Gie haben Sie weg getan, auf dem 
Dansboten Haben Sich feine Masgen Eingefunden 

Sonjt it Richt Neus zumelten 

Beſcheind 
Landjr Rietſchin.“ 


Merkwürdig raſch fand Baſel nach den blutigen Ereig— 
niſſen des Trennungskampfes ſein verlorenes Faſtnachtslachen 
wieder. Cs war, als ob man im glänzenden, lärmenden Faſt— 
nadtstreiben die Demütigenden Folgen der Dreikiger Wirren 
vergellen wollte. | 

Bon der Mitte des dritten Jahrzehnts an löſt in bunter 
Reihenfolge ein Faſtnachtszug den andern ab. Den tollen 
Reigen eröffnete das Jahr 1835. in großer Zug, betitelt 
„Humoriftiihes Quodlibet“, vereinigte alle bedeutenderen 
Masten. Die Milhung war aud bunt genug; die vier Ele 


0) Kutſcher. 
219 


(J 
Fr Da) ’IED 
y TE) 1 Pe: 
PERL T 
— IS 





Die vier nn Faſtnacht 1835. 


(Aus der Sammlung des Staatsardivs.) 


mente, die Safultäten, die Moden, der Nähr—-, 
Lehr: und WeHhrftand folgten ſich und zwilchen binein- 
geftreut ein Iujtiges Potpourri von Don Quichote und jeinem 
Gefolge angeführt. Die Moden begannen mit wilden Figuren 


25 
„URErTs 
va 
en r 
GE 





En Rh N — 
DH 1 





RS | N j y 
EL OL 
Don Sailor md Dulemea 


Don Quichote und Dulcines, Saftnscht 1835. 


(Aus der Sammlung des Staatsardjivs.) 


aus dem Sabre 1; ihnen jehlojjen fih Typen der Ritterzeit 
und komiſche in altfränfifhem Habitus an. Lebteren war die 
Inſchrift gewidmet: 


220 


Anno 1700 
Stodfteif und fyitematiih dumm, 
Perüden, Spitenftragen; 
Sonſt gibt's von diefem Säkulum 
Gar wenig mehr zu fagen. 







* 
N 


vo 






: * 


Er 1 a 
Nahr. Lehy Wehrkand 


Naͤhr⸗, Lehr⸗- und Wehrſtand, Faſtnacht 1835. 


(Aus der Sammlung des Staatsarchivs) 





Aa) 


Die Muſik, als eine der fieben freien Künjte, war mit 
Berfen bedacht, die auch) Heute noch Dafeinsberehtigung be- 


anſpruchen dürften: 


Sie würget und quält fi fürchterlich kühn 
An Rouladen und Trillern zu Tode; 
Denn die einfachen Weifen und Melodie’n 
Sie find jest Halt — aus der Mode! 


Ebenfo fei der, der Architektur zugeeignete Vierzeiler 
unferer im Zeichen der Mufeumsbaufrage jtehenden Gene- 


ration nicht vorenthalten: 


221 


Architektur 
Die Muſe iſt nun eine Putzmacherin, 
Das Altertum wird zur Fabel; 
Der Sinn iſt verwirrt, tappt her und hin 
Wie einſt am Turmbau zu Babel! 

Unter den zahlreichen im Zuge mitgeführten Wagen 
erregte beſonders eine „Altweibermühle“, in der Evas Töchter 
verjüngt wurden, große Heiterkeit. 

Solche Mühlen waren jahrelang beſonders beliebte Faſt⸗ 
nadhtswagen. 1837 wurde an der Faſtnacht eine 15 Yuß hohe 
„zaubermühle“ Herumgeführt. Alte wurden darin jung, 
Geizhälfe zu Wohltätern und Arme zu Reihen gezaubert. 
Bon Zeit zu Zeit hielt der Wagen an und zeigte den Zus 
Ihauern feine Wunderfraft, die der Beliger in lujtiger Weije 
anpries. Ein Bäuerlein vom Hoßenwald, das ſich die Faſt⸗ 
naht auch bejah, und eben zufchaute, wie ein armer Eremit 
in das Flappernde Mühlwerk gejtedt wurde und als gepuderter 
Herr mit großem Geldfad (100000 Taler!) unten erfchien, 
nahm die wigige Zauberei für bare Münze und rief: „Der 
Teufel wird mi nit hole, i will’s au probiere.“ Mit diejen 
Morten wollte er mit Gewalt auf den Wagen. Daß der arme 
Tropf Gegenitand nicht endenwollenden Gelädters war, 
braucht wohl faum erwähnt zu werden. 

Eine nod erhaltene Lithographie von Schabelig ver⸗ 
mittelt uns auch von der Faſtnacht 1836 ein anſchauliches Bild. 
Aus den Zugseinzelheiten ragte befonders hervor ein mäch⸗ 
tiger, vierfpänniger Theaterwagen mit wohlbejegtem Or⸗ 
heiter, dejfen „Jäfularifierter Bak“ von einem feilten Kloſter⸗ 
Bruder bedient wurde. Die ergößlidhen Figuren des Mufik- 
direftors und feiner Untergebenen ſprechen dafür, daß bei 
ihrer Toilette die Laune des wihigen Hieronymus He das 
Kammermädchen gemacht hat... 

In die Dreißiger Jahre zurückverfolgen läßt ſich auch 
eine ebenſo eigenartige als volkstümliche Aeußerung des 
Faſtnachtswitzes: Die Schnitzelbänke. Ihre Vorläufer 


222 


baben wir wohl in jenen Schmäh- und Gpottliedern zu fuchen, 
von denen ſchon in Erlajjen des 16. Jahrhunderts die Rede ijt. 

Auf das Jahr 1839 deutet nad) feinem Inhalt die ältejte 
befannte Schnigelbanft. Herr Profellor Fritz Burdhardt, der 
fie als Knabe unter der Linde beim „Bäumlein“ an der 
Freieſtraße fingen hörte, fonnte dem Berfaller aus der Er=- 
innerung noch folgende Strophen mitteilen: . 


Sich das nit e Spaletor? 
So das ifch esn-Ejelsohr. 
Ei du ſchöner, ei du fchöner, 
ei du ſchöner Schnitzelbank. 


Iſch das nit e Liehtpugfcheer? 
Und das il e Hin und e her. 
Und e Hin und e her 

Und e Liechtputzſcheer 

Und e⸗n⸗-Eſelsohr 

Und e Spaletor 

Ei du ſchöner, ei du ſchöner ꝛc. 


Iſch das nit der Lindemeyer ?77) 
So das fin drei Oftereier 

Und drei Ditereier 

Und der Lindemeyer 

Und e Liechtputzſcheer zc. 

Ei du ſchöner, ei du ſchöner ıc. 


Iſch das nit der Lällefenig? 
So das ifch erichredli wenig 
Shredli wenig 

Lällefenig 

Dftereier 2c. 


Sid das nit der Bonapart? 
Jo das ih e MWagerad 


7) Balthafar Lindenmeyer (1801—1857), Torzoller am Steinens 
tor, eine wegen ihres Zeibesumfanges ftadtbelannte Perfönlidhkeit. 


223 


MWagerad 
Bonapart 
Rällefenig 
Schreckli wenig zc. 


Iſch das nit der Zintehans?”e) 
Jo das iſch e fetti Gans 

Fetti Gans 

Zinfehans 

Bonapart 

MWagerad ıc. 


Iſch das nit der Hofcheho?”?) 
So das iſch e Salomo, 
Salomo 

Hoſcheho 

Zinkehans 

Fetti Gans ꝛc. 


Dieſe Verſe, bald von groß und klein geſungen, wurden 
geradezu Volksgut. Im Laufe der Jahre war man ſich der 
darin enthaltenen Anſpielungen nicht mehr bewußt, und in 
teilweiſe veränderter Form mit neu hinzugekommenen 
Strophen haben ſie Aufnahme gefunden in der im Jahre 
1857 durch Albert Brenner herausgegebenen Sammlung 
Basleriſcher Kinder- und Volksreime. 

Dieſe Art der Schnitzelbank blieb jahrzehntelang, nicht 
nur an der Faſtnacht, jondern aud bei Yamilien- und 
Bereinsanläfjen vorbildlid. In diefen Zweizeilern mit ihren 
treffenden Schlagwörtern, ihrer draſtiſchen Pointe Tiegt das 
urhig Baslerijche, gegen welches die mehr und mehr auf: 
fommenden dreiſtimmig vorgetragenen Schnitzelbänke mit 


78, Zintehans, ein Kleinbasler, befannt wegen feiner ungewöhn- 
lich großen Nafe. | 

79) Niklaus Hoſch (1806-1873), „Schildkrot“ genannt; wie Hold 
zu Zunamen kam, wird in lujtiger Weife im Diftelifalender 
erzählt. = 


224 


usoqueAlad Jalseg ul lad ınE von agjewahjsgp mama Ypeu wieysiig "y Yonıpıyol] 


gsi s| Ynaayjuatınyg 


— ” — 4 —7 


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ihrem vier- bis adtzeiligen Strophenbau heimatlofe Marft- 
ware bedeuten. 

Beſſer als mit den Schnitelbänfen fteht es in dieſer 
Beziehung mit den fliegenden Zetteln, und echte Basler: 
finder bietet die Faſtnachtsmuſe dar in den zwei Narren- 
zeitungen „Giggernillis“ und „Dubel“. 

Mit den Bierziger Jahren fing aud) die Prefje an, von 
den Erfcheinungen des fajtnäcdhtlerifchen Lebens Vormerkung 
zu nehmen, und von diejem Zeitpunft an ließen fih Dutzende 
von Faſchingszügen von numeriſcher oder fünftlerifcher Be— 
deutung anführen. 

Bald waren es großartige, durch prädtige Koftümierung 
fih auszeichnende Schauzüge, wie der 1844 infzenierte, den 
Einzug des Kaiſers Nar-foustely in Narhalla darftellende 
Chinefenzug; bald traten kleinere, mehr die Zeitereignifle 
und lokalen Dinge perjiflierende Gruppen verjhhiedener 
Gejellihaften auf den Plan. Sn der Regel aber fonzentrierte 
ih) der Faſtnachtsgedanke in einem aus diverfen Einzel- 
gruppen zufammengefügten Umzug, der gewöhnli nur an 
einem der Faſtnachtstage ftattfand. 

So jah den 1. März 1841 Bajel einen über ahthundert 
Teilnehmer zählenden Kinder: Saftnadtszug, ver- 
anjtaltet zur „Einleitung von anjtändigen allgemeinen 
Sugendfelten“. 

Schon Ende der Zwanziger Jahre war die Anregung ge: 
fallen, die Tugend an der Faſtnacht in einem Tradtenzug 
aufziehen zu lajjen, wie es 1815 während der Anmejenheit 
des öſterreichiſchen Erzherzogs Johann geihehen war; da= 
mals waren in dem Zuge die Schweizerfantone durch ihre 
Landestrachten, Jowie durch allerhand Saden, die in den 
Kantonen wuchſen oder fabriziert wurden, zur Daritellung 
gelangt. 

Bor allem regte der anonyme Schreiber in den „Bas- 
lerifhen Mitteilungen“ vom Fahre 1828 an, follten fid) die 
Schullehrer mit der Anordnung eines foldhen Zuges befallen. 


225 16 


Es wäre aud zu hoffen, dag reihe Srauenzimmer ihre Bei— 
träge aus reiner Vaterlandsliebe darreichten, um für Uns 
bemittelte eine Garderobe zu bilden. Es könnte aud ein 
Fond angelegt werden, um der Tugend jährlich zwei fröhliche 
Tage zu verſchaffen. Wäre einmal die liebe Jugend koſtü— 
miert, jo follte fie aud am 26. Auguſt in den Schweizer⸗ 
tradhten und mit den PBannern der Kantone vom Verſamm— 
lungsorte aus auf den Münjterplag ziehen und den Herren. 
Häuptern durch einen ausgewählten Chor von Sängern und: 
Sängerinnen ein auf die Geſchichte paſſendes Lied vortragen. 

Auch die Landſchaft follte dabei nicht vergejjen werden! 
Drdentlide Landfnaben und Landtöchter könnten zu dem. 
Seite beigezogen werden. 

Mit et basleriſchem Geſchäftsſinn jchließt der Artikel: 
ichreiber: „Außerdem daß ein vaterländiiher Geilt dadurd 
gepflanzt und die Eintracht befördert würde, würde die ganze 
Gegend herbeijtrömen und unfern werten Mitbürgern eine 
gute Börfe maden“ .... 

Der farbenreihe Kinderzug von 1841 war für Bafel 
ein „noch nie gejehenes Faſchings-Divertiſſement“. 

Dem Zuge voran ritt Prinz Karneval mit zwei Bes 
gleitern und Kahnenträgern, umgaufelt von einer Bande: 
Iuftiger Pierrots und Bajazzos. Ihnen folgte eine berittene, 
altertümlich Eoftümierte Blehmufit und Wilhelm Tell mit 
feinem Knaben. Pannerträger der Zünfte zum Schlüffel, zu 
Hausgenojjen und Weinleuten, Ziguren aus dem „Freiſchütz“ 
mit Samiel an der Spibe, Jäger und Jägerinnen, Tiroler 
und Tirolerinnen leiteten die zweite Gruppe ein. Diefer 
beitern Gejellihaft ſchloß jih) ein Tambourentorps Erwach— 
fener als Altfranten an, gefolgt von Eidgenoffen und einer 
großen Schar Xelpler und Welplerinnen in Trachten der 
Innerſchweiz. 

Die zweite Gruppe — Prezioſa betitelt — eröffnete 
Prezioſa, begleitet vom Zigeunerhauptmann und einer Schar 
phantaſtiſch gekleideter Zigeuner. Ihr fuhr auf einem von 


226 


Eſeln gezogenen Wagen und esfortiert von Koſaken der be- 
rühtigte Viardo nad. Drei Pannerträger folgten, Hierauf 
das Tambourenforps der Waiſenknabenso) in Sappeur- 
uniformen und joldhen des roten Schweizerregiments; fie 
bildeten die Vorhut der Kleinbasler Gefellfhaften, die felbit- 
verjtändlih) Dur die Miracula der mindern Stadt — Leu, 
Greif und wilder Mann — verkörpert wurden. Eine bunte 
Gejellihaft, geführt von Zigaro und Figuren aus der Zauber: 
flöte, ſchloß ih an. Eine Sanitiharenmufif mit fünfund- 
zwanzig Tambouren leitete die Gruppe der „Stummen von 
Portici“ ein. Eine neue Sektion eröffnete endlich die ko— 
milde Figur des Staberl, gefolgt von Altfranfen und Alt: 
franfinnen, ein echt faſtnächtleriſcher Krähwinklerzug des 
Pähters Yeldfümmel, Tambouren und Ermwadjene als 
Krieger in der Tradht des 15. Tahrhunderts bildeten den 
Schluß des farbenreihen Zuges. 

Zwei Jahre jpäter vereinigte noch einmal ein großer 
Umzug, bereits mit mehr Betonung des Komiſchen, die 
Kinderwelt Bajels. Prätenziös meldete fein Programm: 

„Junger Wiß geht heute fühn voran, 
Er zeigt den Alten die verlor'ne Bahn!“ 

Heutzutage zerfplittern fich die „Buebezigli“ in einzelne 
Gruppen, und treffender Mutterwiß äußert ſich nicht ſelten 
in der unbeholfenen Malerei und Dihtung der Jungen. 
Mir entjinnen uns beifpielsweije einer von Knirpfenhand 
gemalten Laterne, auf welder das für das Reich der Mitte 
jo Eläglihe Ende des chineſiſch-japaniſchen Krieges in den 
drolligen Bierzeiler gefaßt war: 

Tſching Wai Hay, 
Mir wän Hai; 
Mer fennesn:is nit gmwohne 
An Sapans Iharfi Bohne! | 

80) Aus den Uniformen abgedankter Schweizergardiiten waren 

den Waijenfnaben nad) 1830 Kojtüme zugejchnitten worden; die 


jegige Kojtümierung der Waijentnaben datiert aus den Achtziger 
Sahren. 


227 15* 


Aus der Menge der Züge Erwadjener in den fpäteren 
Sahrzehnten des vorigen Jahrhunderts fei derer von 1849 
und 1853 Erwähnung getan. 

Ueber den erjteren beridtet Karl Rud. Hagenbach an 
feinen Freund Seremias Gotthelf; zugleich ein zeitgenöfftiches 
Stimmungsbild der damaligen Faſtnacht gebend: 

„.... Ein Jahr ift’s nun, daß wir uns in dem Revo- 
Iutionstaumel umbertrieben, und die Leutchen find dabei fo 
fiher und fo luftig, als wäre alles im tiefiten Frieden! So 
wollen fie diefen Nachmittag einen Faſchingszug Halten, der 
das Sahr 1848 daritellen joll: Louis Philippe, Cavaignac, 
Jellachich, Lola Montes, Deutihe Ylotte, Heder und Gtruve, 
Eijele und Beijele joll alles in bunter Reihe an den Bliden 
der Zuſchauer vorübergehen; zuletzt noch eine Demofraten- 
mühle, in welcher gefrönte und bezopfte Häupter oben ein- 
geworfen und mit Schnäuzen und Bärten wieder heraus- 
fommen. Das feheint mir noch der beite Gedante. 

Nebrigens könnte ihnen der Regen leicht das Gpiel ver- 
derben, das mir überhaupt ein gewagtes Spiel ſcheint. Wir 
hätten eher nötig, in Sad und in der Aſche Buße zu tun, als 
mit dem erniten Jahr den Narren zu treiben. Wer weiß, 
wie bald uns der Narr noch ausgetrieben wird! Dod Hilft 
das Eifern dagegen audh nichts. Die Schalkheit Hat zu allen 
Zeiten auch mit ihr Wejen getrieben, bis ihr das Handwerf 
höhern Drts gelegt worden ift.“ 

Mit Iharfen Worten, die eines politifhen Beigeſchmacks 
nit entbehren, wendet fi) der Basler Dichter und Pro- 
feſſor am Schluß feiner Epiftel gegen die andern üblichen 
Faſtnachtsvergnügungen: 

„Ich will das am Ende noch lieber, als die brutale Roheit, 
die in dieſen Tagen bis zur Vieheit ſich ausläßt, und was 
will da Polizei und Obrigkeit machen mitten in der frommen 
Stadt! Wo das Lumpengelindel immer mehr Meifter wird, 
da — iſt es eben Meijter, nicht nur an der Faſtnacht, fondern 
auch ſonſt.“ — 


228 


Sn Bezug auf witzige Karikatur und politiiche Satire 
war der 1849er Umzug einer der beiten, den Bajel je gejeben. 
Cine Tambourengruppe in franzöliihen Uniformen des 
18. Jahrhunderts eröffnete ihn. Den eigentlichen Faſchings— 
reigen führte eine Narren-Reitergruppe an mit der Stan— 
darte „Närriſch ift was lebt und webt auf Erden.“ Unter 
großem Gerajjel braujte dann ein jehsipänniger Wagen ein: 
her, eine Lokomotive daritellend «l’aimable Zuricois, Nr. 2 
der ſchweizeriſchen Centralbahn“, mit eflatanter Richtigkeit 
die eigentlihe Bedeutung ihres Namens beweifend: Motiv 
um in loco zu bleiben. Auf der Lofomotive Hatte Satur- 
nus als Führer Pla genommen. Sohn Bull fungierte 
als Kondufteur, Robert Macaire!) als Heigzer, 
während der deutſche Michel die Kohlen herbeijchleppte. 
Als glänzende Gruppe folgte König Qudmwigs?) mit feiner 
geliebten Lola Montez33) „ſpaniſch von Gemütsart, 
tanzliebend von Charakter, eigentümlich von Sitte und Ge: 
wohnheit, aber voll Energie, Geijt mehr als Geld habend“, 
begleitet von reitenden Studenten. 

Der Ihwahe Wittelsbaher war durch folgende Verſe 
gefennzeichnet: 


„Wie hat's dem Manne Müh gemadt, 
Als man von Hof fie fortgejagt; 

Viel lieber er vom Throne fcheidet, 
Als länger noch die Lola meidet; 

Der Welt zum Spott — o König Ludi 
Ruft jedermann: „fi äggi pfudi!“ 


3) ſ. v. w. Schuft, Schurfe. 

&) Qudwig I (1786—1868) legte am 19. März 1846 die bairiſche 
Krone nieder. 

8) Lola Montez (1820—1861), Tänzerin, erwarb ſich 1848 die 
Gunft Ludwigs I, der fie zur Gräfin von Zandsfeld erhob. Ihr 
Betragen bewirkte im Volke ſolche Gährung, daß der König in ihre 
Entfernung einwilligen mußte. Sie ſtarb nad) abenteuerlichen Irr⸗ 
fahrten in New York in großer Dürftigkeit. 


229 


Berittene Mufit gab dem Baar und feinem Gefolge das 
Ehrengeleite mit dem Lied „Mueß i denn, mueß i denn ıc.“ 
Diejes Lied jollte aber feine Anzüglichfeit fein auf die 
nahfolgende Spezereihbandlung: 
Louis Philippest) Guizotss) & Comp. 


2 BUN 
7 Keen 






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RR — X — Mer | 
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2a Vi * HR ZN 


Louis Philippe als Epicier, Saftnacht 1899. 


(Aus der Sammlung des Staatsardjivs.) 


L: Philipp als — 


welche ſich dem Publikum mit allem empfahl, was zu wünſchen 
übrig blieb. Das von zwei Eſeln gezogene, als Kramladen 
mit allem möglichen Giggernillis ausgeſtattete Wägelchen 
dirigierte Thier sse) als Kutſcher. 


8) Louis Philippe (1773 — 1850) der „Bürgerkönig“, der von 
1830—48 den franzöſiſchen Thron innehatte. 

8) Fr. Guizot (1787—1874), der reaftionär gejinnte Miniiter- 
präfident Louis Philippe’s, der mitjamt feinem Herrn der Februar⸗ 
revolution weichen mußte. 

5 Adolf Thiers (1797 — 1877), Staatsmann und Geſchichts⸗ 
ichreiber, befleidete unter Louis Philippe mehrere Male einen 
Miniiterpoften. 


J 


230 


Ihnen ſchloſſen jih an, ebenfalls zu Pferd, der badiſche 
NRevolutionär Heders”) und Madame Strupve,8) erjterer 
mit dem Vers aus Horaz: «Beatus ille qui procul negotiis.> 

Das Admiralſchiff „Wafferfheu“ perfiflierte die noch in 
den Windeln liegende deutſche Zlotte, deren Bemannung fi 
fühn Dr. Eifele und fein Zögling Baron Beifeless:) 
zugeſellt Hatten. 

Ban Jellachichss) mit einer wilden Kroatenbande 
bradte in gelungener Weije die öſterreichiſchen Verhältniſſe 
des NRevolutionsjahres zum Ausdrud in den Berjen: 


Pflanzt auf ein ſchwarzgelb Fähnchen, 
Shmüdt ſchwarzgelb das Gemad); 
Sonft fliegt das rote Hähnchen 
Alsbald auf euer Dad! 

Und wäret ihr aud) heiſer, 

So ſchreit (um’s Leben geht’s): 

„Hoch leb der gute Kaifer! 

Hoch lebe Windiſchgrätz!“s0) 


Den Clou des Zuges bildete die Demokraten— 
mühle, erfunden vom „bekannten Ingenieur Metter— 


37) Friedrich Hecker (1811 — 1881), Organiſator der badiſchen 
Volkserhebung an der ſchweiz. Grenze im Frühjahr 1848, wanderte 
im September gleichen Jahres nach Amerika aus, wo er als Farmer 
lebte. 

8 Madame Struve, die Gattin des Revolutionärs Struve. 

88) Eiſele und Beijele, zwei politiihe Yiguren aus den 
„Münchner liegenden Blättern“, die in jenen Jahren, entgegen 
ihrem heutigen Standpunft, ihre Spalten häufig der politiſchen 
Satire unb Karikatur öffneten. 

8), Franz, Freiherr v. Jellachich de Buzim (1801—1859), öſtreich. 
General und Banus des vereinigten Königreichs Kroatien, Slo— 
wenien und Dalmatien, half 1848 die Revolution in Wien unter— 
drücken. 

%, Fürſt Alfred zu Windiſchgrätz (1787—1862) führte während 
Der Oftoberrevolution in Wien das Oberfommando über die fai- 
Jerliden Truppen. 


231 


'g 


nid“?1) Oben fpazierten Louis Blanc?) und Kons 
jorten hinein und kamen unten „gemwindilchgrägt“, etwas- 
„geradetfyt“ und „mehr rechts“ heraus. 

Die fünf Großmädte zierten als Orcheſter den Wagen 
der Demofratenmühle mit folgender Inftrumentenverteilung: 


Rußland ſchlägt mit Bärenpfoten 
Auf der Trommel feine Noten; 
Deftreicd bläſt die Klarinette, 
Quakt mit Preußen um die Wette; 
Trompete bläjt mit falſchem Ton 
Frankreichs 2. Napoleon; 
England führt den Yidelbogen 
Hat Volk und Fürften angelogen!“ 


Die Entente cordiale der Großmächte gipfelte in dern 
Keimen: 
„Sorgt nur, daß ein jeder greife 
Recht hoch und Fräftig den Ton, 
Es tanzt nach unjerer Pfeife 
Halt ganz Europa ſchon. 
Die Schweizer allein, diefe Knoten, 
Die mahen uns viel Beſchwer; 
Sie fragen nad) unferen Noten 
Schon längft feinen Teufel mehr.“ 


Ein jpleeniger Engländer, auf einem Ejel reitend, illu— 
Itrierte die Beziehungen Albions zu Bafel mit den draftifchen 
Berjen: 


9), Fürſt Metternich (1773—1859), der allgewaltige öſtreichiſche 
Haus:, Hof⸗ und Staatstanzler und Tonangeber der europäiſchen 
Politik während der Reftauration; gegen ihn, als die verkörperte 
Reaktion, richtete fi) vor allem die Bewegung von 1848. 

*) Louis Blanc (1811—1882), franzöſ. Hiltorifer, 1848 Mitglied 
der proviforifchen Regierung; er widmete ſich befonders den Arbeiter- 
intereſſen. 


232 


Mögen aud alle fi) ſchlagen tot, 

Die Himmeljadermenter! 

So fürcht' ich die Basler Bänder allein 
Und die Basler PBojamenter! 


Sn der fih anſchließenden Gruppe „Frankreich“ glängte 
als Führer auf ftolgem Roß Louis Bonaparte,3) ver- 
drofjen gefolgt von Cavaignac’) mit den Mobilgarden 
in Reih und Glied. Lebtere fangen das berühmte Klein 
büninger Nationallied „Goft mer us em Rhi“. 

Als Treppenwig der Weltgeſchichte fei die dem Präli- 
denten Louis Napoleon gewidmete, drei Fahre ſpäter in Er- 
füllung gegangene Prophezeiung wiedergegeben: 


„Mitten in des Zugs Getümmel 

Reitet flott auf ſchwarzem Schimmel 

Präſident Napoleon. 

Doch fein Sinn nad) höher'm tradtet, 

Er die Republifveradtet, 

Greift nach Franfreids Kaiferfron“ 


An den Kern der franzöliihen Nation reihten fih zu 
Roß und zu Wagen Urbeiter der Nationalwerfitätten; fie 
führten dem Publikum ihr Lieblingsjpiel, das „Barrifädlen“, 
vor Augen. 

Seudale Herren folgten den Blufenmännern, bemüht zu 
beweijen, daß „Henri V.“25) für Frankreich das beite Re— 
gierungsiyitem fein würde. 


„O Henri Cinq! D Henri Ling! 
Mo bleibt die weiße Fahne, 


9) Louis Napoleon Bonaparte (1808-1873), am 10. Dezember 
1848 zum Präfidenten der franzöj. Republif gewählt; am 2. Des 
zember 1852 als Napoleon III zum Kaijer der Franzoſen proflamiert. 

%, Louis Cavaignac (1802—1857), franzöſ. General, der Unter: 
drüder des blutigen Aufitandes vom 23. Juni 1848. 

5) Heinrih, Graf von Chambord (1820— 1883) bourbonifcher 
Kronprätendent und als folder von den Legitimilten als Henri V. 
bezeichnet. 


233 


Mann dreht einmal das Hälshen um 
Die Lilie dem Hahne?!“ 

Der ins Riejengroße übertragene, in einer Kutſche auf 
hoher Stange jtedende „Hut von Aufterliß“ follte andeuten, 
daß nur ein Mann von der Energie und Rüdjihtsiojigfeit 
eines Napoleon I. imjtande jei, Frankreichs Bürger unter 
einen Hut zu befommen. 


RN N O 
EB J. 


RAN 


R 2 NZ — Br 








— ——— — 
Karl Albert von Sardinien, Faſtnacht 1840. 


(Aus der Sammlung des Staatsarchivs.) 


In einer Galakutſche, von einem Jeſuiten begleitet, fuhr 
hierauf Karl Albertes) von Sardinien einher; auf 
holperndem Bernerwägelein wurde ihm die eiſerne Krone 
Mailands nachgeführt. Den würdigen Schluß des Ganzen 
bildete Metternich mit der Hoffanzlei, esfortiert von 
Krähminflern. 

Der äbtende Spott, mit dem die Häupter und Minifter 
benadbarter Staaten überfehüttet wurden, zeigt, daß man 
damals an der Faſtnacht feiner Zenfur nachfragte. 

Freilich verliefen die Dinge nicht immer fo glatt. Sm 
Sabre 1852 gab ein Spottgediht auf Beſchwerde der fran- 

%) Karl Albert (1798 —1849), König von Sardinien; durch ihn 
erhoffte Oberitalien die Befreiung vom öitreihiihen Joch; der 


anfangs glüdlich geführte Krieg gegen Deftreich erwarb ihm den 
Beinamen „la spada d’Italia“, das Schwert Staliens. 


234 





Metternich 
Metternich, Saitnacht 1849. 


(Aus der Sammlung des Staatsardhivs.) 


zöfiſchen Regierung Hin Anlaß zu diplomatiihen Verhand— 
Iungen und bradte, vom fehweizerifchen Bundesrat an die 
Basler Regierung gewieſen, Berfaller und Teilnehmer vor 
die Gerichtsſchranken, wo der gewagte Spaß für die Be- 
teiligten mit vier Wochen Haft endigte. 

Der Dichter des als Schnigelbant auf einem Wagen ge- 
fungenen Liedes war der aus den Dreikiger Wirren her be- 
kannte Kölner der „Saure“. 

Sn dem fliegenden, mit roten Lettern gedrudten Blatt, 
das auch in Paris majjenhaft verbreitet worden war und 
Auffehen erregt hatte, wurde der politiihe Werdegang des 
nahmaligen zweiten Kaijers der Yranzofen in folgenden ge- 
pfefferten Berjen gejchildert: 


Ein Affe iſt ein komiſch Tier 

Und gleidet einem Menſchen ſchier; 

Gtedt er jih in die Uniform 

Gleiht er dem „großen Mann“) enorm; 
Die Ejel Halten ihn dafür, 

Doc bleibt der Aff ein komiſch Tier. 


M) Napoleon I., feinem Oheim. 


235 





Straßburger Gänsleber-Paitet’ 

Hat in die Nas’ dem Aff geweht, 

Doch ad), er nimmt den Zinfenftrid, 
Läßt feine Stiefel faſt im Stih.98) 

Ein Cäſar muß fein Affe fein, 

Sonſt darf er nit nad) Straßburg rein! 


Auf einmal jteht er wieder da 

Wohl in der Stadt Bolonia ;9°) 

D weh! er jpringt dort in das Meer, 
Sein zahmer Bogel Hint’r ihm her; 
Doch beid Tierlein fiſcht man raus, 
Sind beide nak wie eine Maus. 


Im Fahre „Ahtundvierzig“ ſummt 
Die Revolution und brummt! 

Da ſchleicht der Affe fih ins Land, 
Reicht allem Volk die Affenhand 
Und grüßt mit falſchem Affenblid: 
Es lebe hoch die Republif! 


Doch „Einundfünfzig“ kocht's noch mehr, 
Zu wählen iſt ein neuer Herr! 

Ein jeder wählt nad freier Luſt, 

Dod mit dem Degen auf der Bruft; 
Der Aff wird wieder Präſident, 

Das freut die Ejel ohne End.!00) 


8), Der mißglüdte Verſuch vom 28. Oktober 1836, in der Zink: 
mattlajerne, Straßburger Garnifonstruppen zum Aufitand au be= 


9) Die der theatraliihen Poſe nicht entbehrende Landung Louis 
Napoleons bei Boulogne am 5. Auguft 1840; gefleidet wie Napo- 
leon I., mit einem abgerichteten Adler über dem Haupt und unter 
dem Ruf „Vive l’empereur“ ſuchte er die dortige Beſatzung zu ge- 
winnen, mußte aber fliehen und wurde, da jein Boot umſchlug, aus 
dem Waller gezogen, gefangen genommen und zu lebenslänglicdher 


Haft verurteilt. 


100) Bonapartes Staatsitreid) vom 1. u. 2. Dezember 1851, der 
Frankreich der Herrichaft einer Militärdiktatur unterwarf. 


236 


Und als die große Stadt erwacht, 

Da Heißt es: Republik gut Nacht! 
Beim Kreiheitsbaum wird nicht getanzt, 
Kanonen Stehen aufgepflangzt; 

Der Aff Hat alles umgekehrt, 

Das halbe Land wird eingefperrt. 


Und weil die wilde Mamſell Rot!ı) 
Ruft: Sreiheit, Gleichheit oder Tod! 

So läßt er mit Kartätfchen jie 

Auflöjfen ganz in Harmonie, 

So gibt der Aff dem Volke Brot, 
Erſchießen ijt ein Ehrentod! 


Das was der Aff noch ferner tut, 
Noch in der Zufunft Dunfel ruht; 
Vielleicht erhöht ihn das Geſchick! 
Vielleicht bricht bald er das Genid! 
Der Affe ift ein komiſch Tier 

Und gleihet einem Menſchen ſchier. 


Nun der Zug vom Jahre 1853! 

Wochenlang vorher ſchon jtedte Baſel bis über die Ohren 
im Karneval. Einladungen und luſtige Anzeigen in den 
Rolalblättern riefen die Faſtnächtler zur närriihen Heer: 
hau. Sitzungen aller Art fanden jtatt; das Hauptlomitee 
war in permanenter Tagung; galt es doch einen Zug von 
über fünfhundert Perſonen, zweihundert Pferden und gegen 
fünfzig Fuhrwerken, meijt koloſſalen Wagen auszujtatten. 

Der alles mitreißende Eifer follte die beſte Antwort fein 
an die achtunddreißig Petenten, welde an den Stadtrat eine 
Eingabe gerichtet Hatten, des Inhalts, die Faſtnacht auf 
einen Tag zu beihränfen. Die Petition fand aber vor der 
bürgerlihen Behörde feine Gnade, und am 19. Januar ſprach 


101) Die „rote Revolution“; den Wideritand der Republitaner 
brach Louis Napoleon in Ihonungslofen Straßentämpfen. 


237 


fi der Stadtrat mit erdrüdender Mehrheit für Nichteintreten 
aus. 

Das aus jüngern und ältern Männern beitehende Ko- 
mitee hatte fih als Aufgabe gewählt, in humorijtifhen und 
geihichtlicden Bildern den Einzug der zweiundzwanzig Kan- 
tone zum Karneval in Narhalla darzuitellen. 

Zur Beihaffung der Geldmittel wurden Faftnadjts- 
altien!?2) mit folgenden Begleitverfen im Publikum ab- 
gejeßt: 


„Heute thun wir avertieren, 
Daß wir Aktien kreieren, 

Sie zu 5 Francs jtipulieren 
Und fie hiemit offerieren, 
Hoffend, daß fie acceptieren; 
Denn, um Gie zu amülieren 
Müſſen wir nun refurrieren — 
An Ihr Beutel appellieren. 
Biel ift noch zu arrangieren, 
Herzuftellen, deforieren, 
Auszufhmüden und garnieren, 
Mas das ganze foll verzieren — 
Soll der Faſching recht florieren. 
Darum thun Sie acquirieren 
Aktien, die wir gerieren; 

Nichts iſt dabei zu riskieren, 
Als das Ganze zu verlieren. 
Mer uns drum will foutenieren, 
Möge fih jet nicht genieren; 
Nur wenn viel wir debitieren, 
Kann die Faſtnacht reüflieren. 


102) Sole Aktien oder auch Lotterien wurden fpäterhin noch 
öfters veranjtaltet. 1867 beijpielsweije fand zur Dedung der Uns 
koſten des großen Umzuges eine Berlofung Statt; der erite Gewinn 
beitand in einem Ochſen, der zweite und dritte je in einem Widder: 


238 


In unterthänigem, närrifhen Reſpekt 
thun perfiltieren 
Die in dem Komite nun. 
raſtlos dirigieren.“ 


Diefes gewandte Anpreifen des „Faſtnachtspapieres“ 
verfehlte denn aud feinen Zwed nit. Die noch erhaltene: 
detaillierte Abrechnung weilt die für die damalige Zeit recht 
hohe Einnahmenfumme von 2948 Franken auf. Nah) Abzug 
der Unkojten, unter welchen ein Bolten von Fr. 24.85 „für 
zwei geliehene Bären von Bern, nebit Porto“ figurierte, ver— 
blieben über adhthundert Franken, welde vom Komitee zur 
Gründung eines zukünftigen Karnevalfonds angelegt wurden. 

Montag, den 14. Februar nadmittags 1% Uhr febte ſich 
der vom Wetter nicht bejonders begünftigte Zug vom Klingen= 
tal aus in Bewegung, erwartet von einer ungeheuren Menge 
von Einheimifchen und Fremden. Er bewegte fit durch die 
innere Stadt und jämtlide Vorjtädte, an deren Bewohner 
das Komitee folgenden Wunſch gerichtet hatte: „Man ver- 
traut der freundlichen Gefälligfeit aller verehrlichen Haus: 
befißer, daß fie die Straßen, durch welche der Zug geht, wollen 
rein halten laſſen.“ 

Eröffnet wurde das farbenprädtige Bild wie üblich von 
Prinz Karneval zu Pferd, umgeben von feinem ganzen Hof- 
ftaat. Hierauf folgten die zweiundzwanzig Kantone in der 
Reihenfolge ihres Beitrittes zum Schweizerbund. An der 
Spitze jedes Kantons ritt der in die Kantonsfarben gefleidete 
Standesweibel. 

Zuerft erblidte man Repräfentanten der Kantone Uri, 
Shwyz und Unterwalden: die drei Eidgenofjen, Wilhelm 
Tell und andere Geitalten jener Zeit; daran fchloß fih ein 
Schwingerfeft und eine Sennerei. Einen Kontraft zu diejen 
Katurkindern bildete die darauf folgende Karawane von 
Engländern und Engländerinnen, auf einer Schweizerreife 
begriffen. 


239 


Doch aud) bei den Urkantonen war der Wi nicht ganz 
vergeſſen. Ein Bauer trug auf dem Rüden eine alt-ehr- 
würdige Basler Stadtlaterne, wie fie nad) der Einführung 
der Gasbeleudtung in Bajel nah Altdorf gejandt wurden; 
der Faſtnachtsdichter bemerkte hiezu: 


„gwar, man hört auch mandmal munteln, 
Daß nit all’s in Ordnung ſei; 

Daß dort tappe, tief im Dunteln, 
Geijtlihfeit und Kleriſei. 

Doch das wird jich jegt entfernen 

Seit die liebe Bajel-Stadt 

Ihnen fandte Dellaternen, 

Die fie nit mehr nötig hat. 

Zündet Freunde, daß es tage, 

Daß es leucht' in jedem Ort; 

Und des Landes Wahlſpruch fage: 

Frei der Geiſt und frei das Wort!“ 


Luzern rückte ſelbſtverſtändlich mit ſeinem Bruder 
Fritſchi auf. 


Alter, biedrer, luſt'ger Fritſchi 
Aus Lucerna's Heldenzeit; 
Kluger Schalksnarr ohne gleichen 
Ziehe mit uns in den Streit 
Wider alle Jeſuiten, 

Römiſch oder reformiert, 

Die dem Faſching Tod geſchworen, 
Weil ſein Spiegel ſie geniert. 


In buntem Gewirr reihte ſich Gruppe an Gruppe. 
Zürich mit dem „Sechſeläuten“, der Ueberlandpoſt von London 
nach Kalkutta über Zürich; Bern zeigte den zukünftigen 
Bundespalaſt, das neue Preßgeſetz von preußiſchen Orden um⸗ 
baumelt und von einem Krebs mit den Scheren gehalten; 
ein großer Wagen, von Proletariern gezogen, ſtellte 


240 








1 F > * 
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Sattnach to wegen 1853. 


(Aus der Sammlung des GStaatsardhivs.) 


Stämpflis Millionenmajdine dar. Mannigfaltig und finn- 
reich war Solothurn vertreten, wofür der „Pojtheiri“ in 
höchſt eigener Perſon gejorgt Hatte. 

Der Basler Gruppe mit dem originellen Zunftwagen ritt 
der fünfundjechzigjährige Schlojjermeilter Münd, ein alter 
Steilhärler, in feinem echten Koſtüm als Ueberreuter voran. 
Den Schluß des gediegenen Umzuges bildeten Zußjoldaten 
aus aller Herren Länder, ein Krähmwinflerforps par ex- 
cellence! 

Sn einer dreiundneunzig Geiten ftarfen Broſchüre, die 
im Bublitum verfauft wurde, war von Faſtnachtsdichtern in 
Verfen und PBrofa, mit attifdem Salz gewürzt, zu Handen 
der Zuſchauer der erflärende Text niedergelegt. 

Einige diejer Verſe feien an diefer Stelle der Vergeſſen— 
heit entrijjen: 


241 16 


Quzern: 
Quzern halt deine Leuchte rein 
Bon allen Shmugigen Yleden, 
Denn nichts für ungut, deine Partei’n 
Haben beide Dred am Gteden! 
Baſel: 
Baſel ißt und trinket gern 
Von dem Allerbeſten, 
Drum find feine alten Herr'n 
Noch die Ehrenfeiten! 
Rechnet, zählt und jchöppelt aud); 
Das ilt fein Vergnügen. 
Konfervieret alten Braud, 
Sit zu Schwer zum Fliegen! 
Sreiburg: 
Dben find fie liberal, 
Mehr als das, felbit radikal; 
Aber unten ijt der Belt’, 
Wer am Alten bänget feit. 
Beide unter einen Hut 
Feſtzuſtecken geht nicht gut; 
Am beiten wär für Freiburgs Ruh, 
Der ein’ gab nad), der ander’ zu! 


Aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Tießen 
fih noch verſchiedene folder großer Umzüge befchreiben. Bor 
allem war es feit den FYünfzigerjahren das Quodlibet, 
deilen ins Leben gerufene Faſtnachtszüge ſich durch Wit und 
Gehalt auszeichneten und anregend und veredelnd der Yajt- 
nacht für die Zukunft den Weg wiejen. 

Zahlreiche, oft jehr gute Züge arrangierte unter der 
Führung des 1864 gegründeten „Turnerfränzli“ auch 
der Bürgerturnverein. Die forgfältig geführten 
Protofolle des „Turnerfränzli“ gewähren mand) interejfanten 
Einblid in vergangene Faldhingstätigkeit und atmen un= 


242 


mittelbar friſche, oft feuchtfröhlichſte Faſtnachtſtimmung; fie 
zeigen aber aud, mit wel einfaden Mitteln damals oft 
Faſtnacht „gemacht“ wurde. Welche Gefellihaft hätte heute 
das Glüd, protofollieren zu können, wie es 1865 der Aktuar 
diejes Sreundesfkreijes tat: Dem Herrn N. N. als Gratifi- 
kation für das Laternenmalen — ein Kilthen Zigarren zu 
fpenden! ; 

Den Spuren diefer Vereine, denen ſich als dritter während 
mehrerer Jahre der „Verein junger Kaufleute“ 
beigejellte, folgten in den Giebenziger und Achtzigerjahren 
die Quartiergejellihaften wie Aeſchlemer, Santihanslemer, 
Gteinlemer, vereinigte Kleinbasler. In verjhiedenen Be— 
jiehungen vorbildlih wurden aud die Darbietungen des 
„Ruderflub“ und der „Alten Garde“, welche mit Fineſſe ihren 
Stoffen et baslerifches Lofalkolorit zu geben wußten. 

Heute unterziehen fih ein gutes Dugend Gejellichaften 
und eigentlider Faſtnachtsvereine mit regftem Eifer und 
großem Geſchick der Veranjtaltung von Umzügen. 

Mehrfach wurde aud in den le&ten fünf Dezennien der 
Verſuch gemadt, gegen die Faſtnacht Sturm zu laufen. 

Das richtige Wort in diefer Angelegenheit traf wohl der 
Kleine Rat im Jahre 1871, als angelihts der jchweren Not 
in unferer nächſten Nähe die Frage entitand, ob es nicht ans 
gemejlen wäre, von allen Yaltnadıtsbeluftigungen Umgang 
zu nehmen. Die Regierung lehnte es ab, von der Ueber: 
zeugung geleitet, daß ſolches Abgehen von alten Bräuden 
nicht ſowohl durch ein Verbot, als vielmehr dadurd) anzus 
itreben fei, daß es dem eigenen Gefühl und dem Taft jedes 
Einzelnen überlajjen bleibe, ſich felbjt zu jagen, was der Ernft 
der Zeit von ihm verlange. 

Einen Erfolg, der aud den Beifall der Faſtnachts⸗ 
freunde fand, hatten dieje verfhiedenen Petitionen Doch im 
Gefolge, indem unter ihrem Eindrud wirfliden Mebeljtänden 
Abbruch getan wurde. 

Prämierungen und Subventionen hoben die Faſtnacht 


243 16* 


und verliehen ihr vermehrten Glanz. Neuerungen, wie die 
Zaternenausitellung und das Monftre-Trommelfonzert möchte 
heute niemand mehr miljen, nicht weniger aber aud) die ſchöne, 
alte Baslerjitte, welcher das jett an der Spibe jtehende Ko- 
mitee Folge gibt, wenn es einen Teil der Faſtnachts— 
einnahmen gemeinnügigen Zweden zumweilt. 

So Steht Heute ungefährdet die FZaftnaht da. Auf den 
Mildling des Mittelalters pflanzte die mahhaltende Neu- 
zeit das Edelreis, das nun lujtig Bluft treibt. 

Jahr für Jahr ſchwingt die Faſtnacht die Geißel der 
Ironie und der Satyre; in witzigen Reimen hält ſie dem 
Volk Torheiten, Schwächen und Fehler vor und unterſtreicht 
den Text ausdrucksvoll durch oft köſtliche Laternenbilder und 
originelle Koſtüme. Sie bietet gleichſam einen volkstümlich 
abgefaßten, Leben gewordenen Jahresbericht dar, in dem 
freilich mancher aufgeführt wird, dem es nicht lieb iſt. Aber 
ſelbſt, wenn dann und wann dabei reſpektwidrig ſogar eine 
Staatsperüde verſchoben wird und das Publikum über die 
hervorgudende Schellenkappe ladt, jo mag ſich das für die 
Stadt, in der Erasmus von Rotterdam fein „Lob der Narr: 
heit“ geihaffen Hat, geziemen. 

Solange es Basler gibt, wird auch das Wort des Nürn- 
bergers Hans NRojenplüt!03) in der Rheinjtadt zu Recht be- 
ſtehen: 

„Die Faſtnacht kann manchen Narren machen.“ 


108) Hans Schnepperer, genannt Roſenplüt, wirkte als Faſtnachts⸗ 
ipieldichter von 1431— 1460. 


244 


Torhut und Scharwache zu Bafel 
in der zweiten Halfte des XV. Jahrhunderts. 
Don Dr. phil. 85. A. Geßler⸗Zuͤrich. 


Schwere Zeiten waren im Beginn der fiebziger Jahre 
des 15. Jahrhunderts über Bajel hereingebroden, und die 
Stadt fpielte im Widerjtreit der großen europäiſchen Politik 
eine wichtige Rolle. Ihre politiihe Bedeutung und ihre 
itrategiiche Lage als Einfallstor in die Eidgenofjenichaft Tieß 
fie ven Gegnern bejonders begehrenswert erjcheinen. Drohend 
taudte um jene Zeit das Streben des burgundiſchen Reichs 
nah Ausdehnung Jeiner Grenzen unter Herzog Karl dem 
Kühnen, dem Bajel als Haupt der „niederen Vereinigung“ 
neben Straßburg bejonders verhaßt war, am Oberrhein auf. 

Der in Auslicht jtehende, mit Sicherheit zu erwartende 
Angriff Karls von Burgund mußte daher die Stadt gewappnet 
jehen. Wieder wie zur Zeit des Armagnafenanmaridhes 
trengte ſich Baſel an, jein Kriegswejen und feine Kriegs- 
bereitihaft auf der Höhe zu halten und ji mit allen Mitteln 
vor den Feinden zu |hüßen. 

Sm Sahre 1473 glaubte man allgemein an eine plößliche 
Gefahr durch einen Angriff Herzog Karls. Baſel rüftete mit 
Macht, die Stadt wurde reichlich verproviantiert, Kriegs 
material, Gejhüg und Handbüchſen wurden erworben; er- 
fahrene fremde Büchjenmeifter und Schüßen wurden bei- 
gezogen, die Befeltigungen ausgebejlert und teilweife neue 
angelegt, jo der Borbau am Spalentor durch Jakob Sarbad) 


245 


im Herbit 1473. Leider find die Zeughausinventare diefer 
Zeit, welde den genaueiten Einblid gegeben hätten, nicht 
mehr vorhanden; troßdem fünnen wir uns auf Grund folder 
vom 16. Sahrhundert und der Ausgabenbüder der Stadt ein 
Bild davon machen; es würde jedoch) an dieſer Stelle zu weit 
führen; hingegen darf ruhig behauptet werden, daß Bajel 
völlig friegsbereit in die Burgunderfriege eintrat. Bis ins 
fleinjte war alles vorbereitet worden, um die MWiderftands- 
fraft der Stadt zu erhöhen. Uns fol nun hier ein Abſchnitt 
aus jener bewegten Zeit um 1473 beſchäftigen, der zugleich 
als typiich für die meilten Städte von Damals galt, für Bafel 
aber durch dofumentariihen Beweis ſicher und ausführlid 
belegt ijt, nämlich die Torhut und Bewachung Bajels von 1473. 

Beitimmungen über die Bewachung von Baſel waren 
Ihon früher vorhanden, jedoch nicht jo genau präzijiert wie 
die 1473 entitandenen Anordnungen des Rats zur Bewahung 
und Bewahrung der Stadt „Ordenunge zu fürs nott und 
Kriegs:Leuff“. Man mußte fih auf alles gefaßt maden, jo: 
gar auf einen plößlichen Ueberfall, daher waren die etwas 
pedantiſch Icheinenden Maßregeln völlig am Plabe. 

Es handelt jih vor allem um eine Verordnung über die 
Torhut und über die Scharwade, die nachts für die Gidher- 
heit der Stadt ſowohl als Polizei wie Feuerwehr und mili- 
täriſche Truppe zu jorgen Hatte. Dieje Verordnungen bil- 
deten das ganze Mittelalter hindurch die Grundlage der 
Bewachung von Bajel. Die beiden Dokumente befinden fi 
unter der Bezeihnung Mil. All. A2 Ordnungsbuh I 
1463/1542 im Staatsarchiv Baſel. 

Es joll Hier der Text folgen, an welchen ſich Crläute- 
rungen fnüpfen werden. Dieje Urkunden geitatten uns einen 
Einblid in ein jonjt ziemlich) unbekanntes Gebiet des Basler 
Mehrwejens, und zeigen, wie ins Eleinjte |hon in einer mittel- 
alterliden Stadt die Ausbildung des Kriegswejens ging. 
Alfo in feine hohe Politik wird man ſich vertiefen, fondern 
in echt zünfterifhe Kleinarbeit. 


246 


„Ein Ratſchlahen von der torhute 
Anno etc. LXXIII (1473). 


Zem eriten ijt verordnet das man in der meren jtatt 
tagwedter haben Jollte eynen zu fannt Johanns und eynen 
zu fannt Alban die jollent eyn warzeichen haben das ſy geben 
follent wenn ſy zu Roß oder zu Fuß Iute Sm velde jehent / 
Desgliden der zu ſannt Alban, wenn er jhiff uff dem Ryne 
fommen fiht ouch warzeudhen geben fol. 

Stem jo jollent die Zünffte alle Dage under yegliche 
thore eynen ſchicken mit harneſch und gewere ſufer uß geruft / 
mit den torhuter des thores und des grendels zu Huten und 
zu wartten und den grendel beflojjen zu Halten. 

Stem fo fol man ouch die thor zu rechter zyt Hinfur uff 
und zu tun / nemliden jol man Sannt Johanns jannt Alban 
und herthore vor den jybenen nit uff tun / 

Stem Spalenthor und Eſchemerthor mag man uff tun 
vor ſybenen nad) gelegenheit der ſachen / doch fol man dehein 
thore uff tun one den Houptman der darzu verordnet ijt. 

Stem wenn man oud) die thore uff tun wil Do fol der 
Houptman vor uß jhiden über den faßenjteg / ouch uff die 
thore umb ſich jehen lafjen / was oder ob yemand im velde 
ige und darnach die wegen und farren fo vor den Thoren 
halten ordenlid) und mit guter gewarjame In laſſen. 

Ouch follent die tagwechter und Hüter underricht werden 
der Schubgattern Halb ob es darzu feme daz fy denn wiftent 
wie jy damit handlen Joltend. 

Stem welher Huter oder tag wechter uff die zyt als vor 
ſtat zu den thoren nit fumpt / ee das uff getan wird / der 
ſoll 2 ss. d. (Schilling, Denar) one gnade verfallen fin / aber 
wenn der Houptman zu rechter zyt darzu nit fumpt fo fol 
er zwyfaltige pene das ijt 4 ss. d. verfallen fin / welicher 
ouch felbs nit käme und eynen andren an fin ſtat ſchickte den 
frangkheit nit entjhuldiget von deme follen 5 ss. d. one 
gnade genommen werden / Dud) ſollen die louffende Knecht 


247 


wenn der uber dreye fint nit ingelafjen funder gutli fur 
gewijen werden. 

Dieſelben ouch eyn yegliher torhuter am Samstag fo er 
die buchen uff das Richthus bringt / eigentlichen angeben 
ſol / umb daz fy darumbe als objtat gejtraft werden mögen. 

Stem die Houpter jollent oud) jo did |y das gut oder not— 
turfftig fin bedundt / etlich zu Roß umbe jhiden / zu allen 
thoren zu richten und zu bejehen ob diefe Ordnung in maßen 
als vor jtad gehalten werde oder nit und welidher denn un— 
gehorjam funden wirt der one alle gnade gejtrofft werde.“ 

Der Ratihlag von der Torhut jagt uns alfo in Kürze 
folgendes: 

Zwei Tagwädter auf dem St. Johanns- und St. Alban- 
tor bejorgen den Wachtdienit am Tage; die Wächter waren 
mit Rufhörnern ausgerüjtet, fie hatten durch Hornzeichen ſo— 
wohl das Herannahen größerer Menjhhengruppen gegen die 
Tore, wie aud) das Ankommen mehrerer Schiffe auf dem 
Rhein zu fignalilieren. 

Sedes Tor ftand unter einem bejonderen Torwächter, 
diejer wurde unterjtüßt durch einen Zünfter, der „mit bar- 
neſch und gewere ſufer uß geruft, des thores und des grendels 
huten und warten“ mußte. Der Grendel hieß das Yallgatter, 
welches ja noch heute 3. B. am Spalentor erhalten ift, wenn 
auch heutzutage der Mechanismus nicht mehr funktioniert. 
Zu jener Zeit jheint das FZallgatter am Tage nicht immer 
hochgezogen geweſen zu fein. Die Yusrüftung mit Harniſch 
und Gewehr bejtand aus der Sturmhaube oder einem Eijen- 
hut; den Leib ſchützte gewöhnlich das Panzerhemd, Hier 
aber bedeutet das „jauber ausgerüftet“ den ſog. halben Har— 
niſch, einen Plattenharnijh, der aus Bruft: und Rüdenjtüd, 
Dberarmzeug bis zum Ellenbogen und furze Baudreifen, 
teilweife mit kurzem Oberbeinzeug „Beintafhen“ bejtand; 
Unterarme und Beine waren ohne Schuß, als felbitverjtänd- 
liche Waffe trat ein kurzes Schwert zu Hieb und Stich dazu. 
Unter Gewehr haben wir feine Schußwaffe, fondern die Hal- 


248 








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Lichtdruck von Alfred Ditisheim 


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und Vorstat : 
im Besitze des Basler Staatsarchivs. 





Staut %afel 
man Mallh. Merian 


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parte (Helmbarde) zu jehen, die Hauptwaffe des Fußvolks 
neben dem langen Spieß. 

Ein gleichzeitiges Bild veranihaulicht die basleriſche Be- 
waffnung jener Zeit. 





Auszug der Basler 3474 ins Sundgau. 
Aus der Chronik Werner Schodolers in Yarau (BI. 247). 


Die folgenden Abfehnitte beziehen ſich auf die Definungs- 
zeit; über das Deffnen entſcheidet ein vom Nat eingejeßter 
Torhauptmann; offen waren die Tore von jieben morgens, 
Spalen= und Aeſchentor fonnten früher geöffnet werden. Nur 
mit Borfiht fol das geſchehen, man fpähte zuerſt aus, ob 
etwa ein Hinterhalt gelegt jei und die Zugbrüde wurde erjt 
aufgezogen, wenn ein Wächter durch das kleine Tor, „das 
Nadelöhr“, über eine kleine Zugbrüde, die gejondert herab- 
gelajjen werden fonnte, „ven Katzenſteg“, geſchritten und fi 


249 


vergemwillert hatte, dag feine Gefahr drohe. Die Schlüjjel zu 
den Toren verwahrten die Torhauptleute oder vertraute, in 
der Nähe wohnende Bürger. In Ordnung hatte dann der 
Eingang der ji vor den Toren jtauenden Wagen und Karren 
vor ji) zu gehen. Torwächter und Hüter mußten genau wijlen, 
wie die „Schußgatter“, die Kallgitter aus Pfahlwerk, ſchnell 
bei plößliier Notwendigkeit herabgelafien werden fonnten. 
Hauptmann, Hüter und Torwädter hatten pünftlih ihren 
Dienſt anzutreten, im andern Falle drohte ziemlich empfind- 
liche Strafe (pene, Pön). Stellvertretung war nur im Krank: 
heitsfall zuläflig.e Die Kontrolle über die Präſenz der Mann: 
haft mußte der Torwädter führen. Allwöchentlih, wenn 
er die in den Standesfarben bemalte Blechbüchſe, in der die 
Zorjournale über Eingang, Zölle ꝛc. Tagen, aufs Richthaus 
bringen mußte, jollte er zugleich über die Verfehlungen der 
Wächter Bericht erjtatten. Ob die Torwächter jamt der Wade 
ihre Pflicht taten, wurde, wenn es nötig ſchien, Durch berittene 
Ratsföldner „bejehen“, auf alle Verfehlungen folgte die Be: 
ftrafung der Schuldigen. 

Sn Kriegszeiten wurde die Torwache ſelbſtverſtändlich 
vermehrt, man nannte das die „Jorglidhen „Läuffe“, die Wacht, 
wenn man in Sorge iſt. Die Torwächter wurden regelmäßig 
bejoldet und waren fejte Angeitellte der Stadt. Neben dieſen 
Torwächtern mit ihrer Berjtärfung in Kriegszeiten übten bei 
Tage in der Stadt die „wachtmeijter“ die Yunftionen der 
Polizei aus, fie Hatten für Ordnung des Verfehrs, Ruhe und 
Sicherheit zu forgen unter Oberauflicht des Rats. Des Nachts 
hatte die Scharwade dieſe Tagwächter abzulöfen. 

Neben der Torwacht war aber für den Kriegsfall ſowohl 
wie für plößlich ausbrechenden Aufruhr oder Brandfälle ganz 
genau beitimmt, wer den Dienjt auf den Ringmauern zu tun 
hatte. Wir bejigen ein Aktenſtück, weldhes eine Ergänzung des 
obigen aus dem gleichen Jahr 1473 bildet (Mil. Alt. Ord⸗ 
nungsbucd I. 1463/1542). 

Hier werden nämlih die Namen der Torwäkhter für 


250 


diejes Sahr aufgezählt, ebenjo weldhe Zünfte beitimmte Teile 
der Stadtbefejtigung zu verteidigen hatten. Die militärifche 
Einteilung der Stadt geſchah auf der Grundlage des Zunft: 
wejens, im Prinzip herrſchte die allgemeine Wehrpflicht; nicht 
nur zogen die Zünfte ins Feld, fie bewachten auch die Stadt. 
Ueber das Alarmweſen, das Aufgebot zum Wuszug, bei 
Kriegs: und Feuersnot, bei Unorönungen und Aufläufen 
waren genaue Reglemente aufgeitellt, deren Behandlung 
über den Rahmen diejer Zeilen hinausgehen, hier ſei nur 
herausgegriffen, was ſich auf die Torwacht bezieht. 

„Ordenunge wie man fih In der Statt die Ringmure 
zu beforgen ob die Statt belegert wurde halten jolle.“ 

„zu dem thore zu jannt Alban Und da dannen ung gen 
Eihemerthore jol budhjjenmeifter fin Jorg Durre.“ Zur Ber- 
teidigung dieſes Abjehnitts berufen waren „diſe zwo Zunffte 
der winluten Zunfft und der Rebluten Zunfft“. 

„Uff die portten ſannt Alban 
Hanns der Torwadhter 
Heinrih Müller Zimberman 
Contat bußner ſchnider 
Conrat von Elzenhein 
Peter von Elzenhein“ 

Zu Egloffs thore und dem Spalenthor Und dannen ung 
uff den thurm Luginslandt Sol budjjenmeilter fin Hans in 
der Mulen.“ Diefem Teil „jint zugeben Der Schmyden Zunfft 
und der Mebger Zunfft“. 

„Uff Spalenthor die porten 
Clewin der torwedter 
Heinrich wechter murer 
MWernlin veith wagner 
Hennslin ſchnider von Waltzhut (Sötoner) 

Sriblin Hans Ambergs knecht Wahrſceinnig Air neapmann 
Zſchan von Metz Zimbermann. “cetzterer Söldner ?) 

In dem Luginslandt und do dannen ung uff fannt Tho- 

mas thurm am Ryn fol Budjjenmeijter fin Jerg wiß der 


(dieſe en ns aus den 





(die legteren wahrſcheinlich Söldner). 


(Zünfter wie oben) 


251 


Kannengießer.“ (Zinngießer.) Diejem Teil „jint zugeben der 
Brotbeden Zunffte und der Garthener: Schiffluten und 
viſcher Zunffte.“ 
„Uff ſannt Sohanns thore die Porten. 
Rudy der thorwadter 
Hans tonnwalt tudhjcherer 
Gtelli der vilher / „peter peiger“ jtellis tochterman 
Steffan Ruß hafner (alle Zünfter). 

Das Kleinbajel bejak die gleiche Ordnung mit Tor: 
wächtern und zugeteilten Zünftern, die Mauer beitand aus 
zwei Berteidigungsitreden mit bejonderen Hauptleuten, eben]o 
Itanden die fünf PVorjtädte unter eigenen Hauptleuten. 

Wir haben aus diefen Verordnungen erfannt, daß durch 
ttändige Torwädter die Torwaht genau geregelt war und 
ih aus ſtädtiſchen Beamten und zugeteilten Geharnifchten 
aus den Zünften refrutierte, Daneben fungierte ein Büchſen— 
meijter als Befehlshaber über die in jenen Türmen und 
Mauerabſchnitten aufgeitellte Artillerie, ferner Hatte jedes 
Tor noch einen bejonderen Torhauptmann, das Ganze jtand 
unter der Kontrolle des Rats. 

Außer diefen Wachen beitanden noch die Hochwachten, im 
Großbajel auf dem Münjter und Martinsturm, beide bis in 
neuere Zeit, und im Kleinbajel auf der jeßt verfchwundenen 
Niklaujenfapelle beim Richthaus, dieſe dienten als Nacht— 
wachen für Feuers und Kriegsgefahr, jowie zum Hornen oder 
Anſchlagen der Stunden, ebenfalls jtändig im Dienſt wie die 
Zorwädter. Deffnung und Schluß der Tore verfündeten 
Münjter und St. Leonhard, die große Ratglode Hingegen 
Feindesnot. Feuer wurde durch die der Branditätte zunächſt 
liegende Kirchen- oder Klojtergloden angezeigt, worauf der in 
den Feuerordnungen vorgeſehene Alarm jtattfand. 

Noch widhtiger als die Tag: war die Nachtwache, die 
Scharwadhe, weldhe fih aus den Zünften und Vorſtadtgeſell— 
haften zufammenfeßte und des Nachts für die Sicherung der 
Stadt zu forgen hatte, dieſe Scharwade, die in Kriegsnot und 


252 


drohender Gefahr aus einer ganzen Zunft zujammengeftellt 
werden Ffonnte, war gemwöhnlid aus den verihiedenen 
Zünften, welde der Reihe nad in gewöhnlichen Zeiten mit 
je 15 Mann ausrüdten, genommen und diente unbejoldet, ihr 
Entgelt war „win“, jei es in natura oder in Geltalt eines 
Trinfgeldes. Am beiten lajjen wir die Ordnung jelbit 
Iprechen. 
„Ein Ratihlahen von der Scharwacht 
Anno etc. 73 uff Sunndag Oculi. 

Als yet in yeglichen vorjtatt zwen alle naht wachent 
da follent Hinfur zu den felben zweyen in allen voritetten in 
zuwaht wife drye verordnet werden von den zunfften jo 
under derjelben vorjtetten thoren gewonlichen hutend aljo 
das in yeglicher vorjtatt Hinfur 5 wachen und in den wach— 
hußlin fin jollent wenn die wachter gehurnet hand, daz wirt fin 
als man ſannt Lienharts fure gelutet und wenn die wechter 
gehurnet hand So fol eyn yeglicher vorjtatt meilter zu den 
Wachterhußlin gon und bejehen als ob die funff da ſyen. 

Und weldher denn uff die felbe zyt da nit were der fol 
2 s. d. ohne gnade den andern wechtern verfallen fin die ſy 
uff Inn verdrinden mogend. Welcher ouch gant ukblibe und 
nit feme von dem follent 10 s. d. one gnade genommen werden 
die halber den Reten und halber dem vorjtadtmeilter volgen 
jollent. Der felb vorjtatt meijter joll ouch by gejhwornen eyde 
alle die rugen und angeben die jpate fomment oder gantz uß— 
blibent ums daz ſy als obitat geitrofft werden mogent. 

Item wenn oud) alsdenn die zu wadhter und die zwey uß 
der vorjtatt als zu ſammen fommend fo fol der vorjtatt meijter 
die teilen nemlihen eynen uß der vorjtatt zu eynen oder zweyen 
von den zu wechteren und die [hiden zu den thoren und muren 
umb zu gonde und da flyfiiglihen zu wachen und umb ſich zu 
ſehen ung uff mitternadht alsdenn jollent ſy gelojt werden 
von den übrigen In dem wechterhußlin vor mitternadt bliben 
ind Die alsdenn furer wachen jollent un daz der wechter 
den tag bloſet In aller maße als die vordrigen vor mitter: 


253 


naht gewadhet hand und weldher ouch da vor ab der wadt 
gienge und fi) das erfunde der jol 5 s. d. one gnade den Reten 
verfallen Jin. 

Stem fo jollent ouch die wachter von dem richthufe in 
alle vorjtett gejhidt werden zu bejehen ob die wacht als 
obitat gehalten werde und was breiten ſy dar inn empfindent 
follent jy dem houptman uff dem richthuſe rugen Der ouch 
alsdenn das an die Houpter furer bringen foll umb daz un- 
gehorfam nad) billicheit gejtrafft werden moge. 

Item ſo ſollent oud) je zu zyten die houpter von etlichen 
den Reten von der hohen jtuben mit iren knechten eyn heim- 
lihe wacht ordenen bejehen und erfaren zu lafjen ob die wacht 
in folider maßen als ob jtat nadjgegangen werde oder nit. 

Stem jo jol ouch mengli an dem die wadht ijt mit 
lin felbs libe wachen der alters oder frangheit halb muglid 
und verfenglidh ift by eyner pen 5 s. d. Und follent oud) die 
meijter in den Zunfften by iren geſchwornen eyden nyemands 
darinn verſchonen. 

Welicher ouch als frangfheit oder alters halb unver: 
fenglid were zu waden, der fol eynen ander verfenglichen 
fneht fur den meijter bringen. Bedundt denn den meijter 
daz er in der wadht gut und verfenglich fye So blibe daby 
were aber das nit jo joll der meilter in heißen eynen andern 
verfengliden dar geben by der pene als ob tat. 

Stem jo jollent ouch die zwen oberjden knecht mitjampt 
dem knecht uff dem rihthuß alle nacht uff die jtunde als obitat 
bejehen welhe gehorfamlich oder ungehorſamlich fommen oder 
nit und oud) furer die wechter in die vorjtett umb zu ſchicken 
als obitat und das mit dem fehler der je in zyten houptman 
in wird uff dem richthuſe fur genemmen.“ 

Der Ratſchlag fett vorerit die Zahl der Wächter in den: 
Vorftädten von zwei auf fünf Mann herauf, dieje drei Hinzu— 
gefommenen Sollen aus den Zünften genommen werden, die am 
jeweiligen Tor die Wache zu ftellen Hatten; der Borftadt- 
meifter oder Hauptmann hatte die Kontrolle über An- und: 


254 


Abwefenheit der Wächter jowie den Befehl über diefe Schar: 
wädter. Strafandrohungen follten Säumige jchreden, und 
um dieſe durchzuführen, erhielten die andern Wächter und 
auch der Meilter Anteil an der Buße, die Knechte zum „ver 
drinden“, der Meilter Bargeld. Im folgenden wird dann der 
Patrouillengang, der Dienjt, behandelt; die Wache wurde aus. 
einem Mann aus der Vorjtadt und einem oder zwei aus den 
Zünften zufammengejegt und in ihren Wachtbezirk geihidt, 
die übrigen blieben zur Ablöfung in den Wachtlofalen; die 
erite Runde-Xbteilung follte bis Mitternacht, die zweite bis 
zu Tagbeginn die Stadt bewaden, und ihren Umgang auf 
Türmen, Toren und Mauerring maden. Die Patrouillen 
folgten abwedhslungsweije und Hatten auch innerhalb der 
Mauern für Ordnung zu jorgen. Im Richthauſe (Rathaufe) 
war ebenfalls eine ftändige Wache inftalliert unter einem 
Hauptmann, über den wir im legten Abjat Näheres erfahren. 
Diefe Rihthauswahe war dem Rat unterjtellt und führte 
die Dberaufliht über die Tätigfeit der Scharwädter, indem 
fie ebenfalls durch Runden jene fontrollierte. Die Wächter 
im Richthauſe wurden aus den Stadtfnehten genommen. In 
ganz gefährlidhen Zeitläufen wurde noch eine heimlihe Wacht 
angeordnet, indem etliche der „Häupter von den Räten“ und 
von der „hohen Stube“ mit ihren Knechten bejehen follten, 
„ob die waht nachgegangen werde“. Gtellvertretung durfte 
nit jtattfinden, „jelbs Tibe“ mit eigner Perſon foll Dienit 
tun, wer „verfenglid“, tauglid, ilt. Die Wacht- und Hut- 
pflidt war eben allgemein, und die Zunftooriteher waren 
bei ihren Eiden gehalten, feine Ausnahme zu dulden. Auf 
alle Fälle mußte an Stelle der perjönlihen Dienftpflicht bei 
Unvermögen tauglidher Erſatz geitellt werden. 

Der lebte Abſchnitt ordnet den Oberbefehl über die Schar= 
wadhe. Einer der Sechſerherren erhielt als Hauptmann die 
Oberaufſicht, ihm ftanden die beiden oberjten Stadtknechte, 
meist friegsgewohnte Söldner, und der Gtadtfneht auf dem 
Richthaus zur Geite, unterjtügt durch die gewöhnlichen Stadt= 


255 


földner. Dieje Hatten, wie ſchon erwähnt, zur beitimmten 
Zeit die Ausführung des Dienstes durch die Torhut und 
Scharwache zu „bejehen“. Dieje Oberleitung durch die Sechſer⸗ 
Herrn und in böfer Zeit noch verjtärft durch etliche Häupter 
von den Räten und von der hohen Stube zeigt das Zufammen- 
arbeiten aller Teile zum Wohl der Stadt und Gemeinde; Rat 
und Zünfte im Berein führten wie die Regierung fo aud) die 
Leitung der Bewachung der Stadt. 

Mir erhalten in dieſem kleinen Ausſchnitt aus der Wehr: 
organijation Bajels furz vor den Burgunderfriegen ein gutes 
Bild, weldhe Anjtrengungen bis ins kleinſte Rat und Bürger: 
haft madten, um die Stadt in diejen wilden Zeiten zu 
Ihüßen, und wie in der Behandlung der Torhut und Schar: 
wadhe alles aufs genauejte vorbereitet wurde; jo geſchah es 
aud in der Anordnung für die Stadtverteidigung und der 
Kriegführung gegen Herzog Karl. In den Burgunder: 
friegen zeigte der Auszug der Stadt, gejichert durch die tüch— 
tige Kriegsbereitichaft, daß der den Baslern fo oft vor: 
geworfene Defenſivgeiſt einer kraftvollen Offenſive Platz ge: 
macht Hatte, die ſie, Seite an Seite mit den Eidgenoſſen, 
den mädtigen Gegner ruhmpoll bezwingen Tief. Diefe 
MWaffenbrüderfhaft ebnete 1501 auch den Eintritt in den 
ewigen Bund. 


256 


Kurze Ylotizen aus den 
SB ebensumftänden von Stiedrich Lachenal 


von Heinrich Schönauer. 


1850. 


Da in den letzten Jahren öfters vom Auftreten und 
Wirken der Frau v. Krüdener in Baſel und Umgebung und 
deren Beziehungen zu Profeſſor Friedrich Lachenal und deſſen 
Ehefrau die Rede geweſen, ſo glaube ich, daß es für die Leſer 
des Basler Jahrbuchs vielleicht von Intereſſe ſein kann, 
aus einer Lebensbeſchreibung Lachenals, die dieſer in hohem 
Alter und faſt erblindet, einer vertrauten Perſon in die 
Feder diktiert hatte, zu erfahren, wie Lachenal ſelbſt, viele 
Jahre nachher, dieſen wichtigen Abſchnitt ſeines Lebens 
beurteilte. 

Auch die in dieſer Autobiographie enthaltene Schilde— 
rung ſeiner eigenen geiſtigen und religiöſen Entwicklung kann 
zu richtiger und gerechter Beurteilung von Lachenals Perjön- 
lichkeit beitragen: 

Er beridtet: 

Friedrich Lahenal wurde geboren in Bafel den 
13. April 1772. — Geine Eltern waren: Herr Hie- 
ronymus Lahenal!) und Frau Margaretha 
Zwinger, beide von Bafel. Er wurde den 16. April in 
der Betersfirhe getauft. Der Vater war ein Handelsmann; 
der Großvater väterlicherfeits ein Apotheker, von der Mutter 


257 17 


Geite aber war es Herr Sriedrih Zwinger, ausübender Arzt 
und Profeſſor der Medizin.2) 

Friedrich war bis ins eilfte Yebensjahr ein gar ſchwäch— 
lides Kind und Hatte den Unfall, im 5. Lebensjahre auf 
der Wohnftube durch unvorjihtiges Rennen das linke Schien- 
bein zu brechen. Dieje Shwädlichfeit des Anaben bewog die 
Eltern, ihn bis in das eilfte Jahr nie ohne Begleitung vom 
Haufe gehen zu lafjen. 

Friedrich verbradte die Sahre feiner Kindheit bei der 
Großmutter Zwinger zu,?) die kurz nad) dem Beinbrude des 
Großfindes durch das Ableben ihres geſchätzten Gatten eine 
Mitwe geworden war, und daher gerne ein munteres, leb- 
haftes Großfind, wie Friedrich troß feiner Schwächlichkeit 
war, bei ſich zur Unterhaltung Hatte. 

Die Großmutter bewohnte mit einem Bruder, einem 
SOjährigen Greiſens), der jehr freundlich gegen den kleinen 
Knaben war, ein weitläufiges altes Gebäudes), das durch 
einen Hofraum, der mit Gras bewadjen und mit Obitbäumen 
bepflanzt und einem daran jtoßenden Garten durch eine hohe 
Mauer von den daran ftoßenden Häufern getrennt war. Hier 
war’s, wo der Eleine Knabe den erjten wohltätigen Einfluß 
der ſchönen grünen Natur auf fein Gemüt empfing; bier 
bradte er in der ſchönen Jahreszeit manche Stunden im 
Schatten der Objtbäume zu unter den Augen der jorgfältigen 
Großmutter; Hier lernte er auswendig und las die erjten 
fleinen Kinderjeriften, bejonders in Gellert’s Fabeln und 
Erzählungen. Späterhin mußte er der Großmutter, die faſt 
Itaarblind geworden, im Zimmer täglich einige Kapitel in 
der Bibel, aus geiftlichen Liedern und Betradhtungen, auf 
häufig Stillings Jugendgeſchichte vorleſen. Diefe Lektüre 
begleitete die alte, noch lebhafte Yrau mit nüßlichen Bes 
merfungen und befonders die bibliſchen Geſchichten mit erbau= 
lihen Erklärungen und mitunter auch) mit rührenden Herzens- 
gebeten, die einen unauslöfhliden Eindrud auf fein Herz 
madten, der fih auch in den reiferen Jugendjahren, mitten 


258 


unter allen Verſuchungen des Gfeptisismus und des Un- 
glaubens bewährte und den Grund zu einer unbeihräntten 
Hochſchätzung der Dffenbarungen Gottes an die Menjchheit in 
fein Inneres legte, die ihm von jeher und bejonders im 
Greifenalter zu einem großen Segen geworden Jind. 

Sriedrich mußte nun nah drei Jahren wieder in das 
päterlihe Haus zurüdfehren, weldes aud) im ganzen be- 
trachtet, gut und heilfam für ihn war. Da lernte er unter 
einen Geſchwiſtern aud mit andern Kindern friedlich Teben 
und die Wechjelfälle des menſchlichen Lebens frühe erfahren; 
denn das jüngjte Gejchwilter, ein freundliches Mädchen, jtarb 
in zarter Kindheit. Der jüngite Bruders), der ſchon im 
dritten Jahre ein munterer Knabe war und gut laufen 
‚fonnte, wurde noch in demjelben Jahre von der Sfrophel- 
franfheit ergriffen, befam mehrere offene Wunden, bejonders 
an den Beinen, die ihm das Gehen zeitlebens unmöglid 
madten. Auch der zweite Bruder”) wurde faft zu gleicher 
Zeit von diefer Krankheit befallen und ſtarb ſchon im eilften 
Lebensjahr an den Folgen derfelben. 

Nicht Iange nad) Friedrichs Rüdfehr ins väterlidhe Haus 
Itarb die für ihre Kinder jo bejorgte Großmutter, in einem 
Alter von mehr als fiebenzig Jahren, welcher Friedrich fo 
viel Gutes zu verdanken hatte. Ihren Verluft erjegte, jo viel 
fie fonnte, die liebe fränflihe Mutter, eine fromme zart- 
fühlende Geele, die ji) bei einer beſchwerlichen Haushaltung 
für den Gatten und die Kinder ganz aufopferte. 

Sriedrihs ganze Zeit war nun dem Lernen zu Haufe 
und in der Schule gewidmet. Ein früh entwideltes Dent- 
organ mit Lernbegierde verbunden und einem ziemlid guten 
Gedädtnis verjehen, madte es ihm leichter als vielen andern 
Knaben und bejonders foldhen, die zu Haufe feine Lehrer 
batten, die fie auf die Schulitunden vorbereiteten.. Diejes 
wurde unjerem Knaben von feinem Hauslehrer befonders be- 
merft und dabei ermahnt, fi) deswegen nicht über andere 
Knaben zu erheben. 


259 17* 


Nach einigen Jahren, als Friedrichs Schulzeit im jtädtt- 
fhen Gymnafium zu Ende ging, jtarb die liebe Mutter an den 
Folgen einer langjährigen Lungenkrankheit. Ihr Hinſchied 
war für die ganze Familie ein unerjeglidher Verluſt, eine 
wahre Kataftrophe. Der Vater fühlte bald darauf die erjten 
Symptome jener traurigen Krankheit, die man Hypochondrie 
nennt, die fih in den verjhiedenen Stadien der Hämorrhoidal- 
franfheit immer erniter und heftiger entwidelte. 

Etwas Sonderbares fühlte Friedrich bald nad) der 
Mutter Hinjheid mehrere Monate Hindurd. Es war ihm 
öfter, wenn er allein war, fie umſchwebe ihn, oder |tehe ihm 
zur Geite; er gab diejes auch in der Familie einigen Gliedern 
zu verjtehen; — man befremdete ſich jedoch nicht darüber 
und jehrieb es der Sympathiemacht der Blutsverwandichaft zu.‘ 

Vom November 1785 bis Mai 1786 blieb nun Friedrich 
zu Haufe, lernte und las fleißig unter der Leitung eines 
Hauslehrers. Seinen Durft nad Wahrheit und Erkenntnis, 
mit einer unerjättlichen Leſeluſt verbunden, hemmte oder be- 
ſchränkte bloß eine Augenſchwäche, oder vielmehr Schwäde der 
Augenlider, die ihm ein anhaltendes Leſen von mehreren 
Stunden ohne Unterbrehung unmögli madten. Diefe 
Schwäche der Augenlider war eine Folge der Mafernfrant: 
heit, welche Friedrich im eilften Lebensjahre befallen Hatte. 
Diejes fleikige Lefen und Lernen zu Haufe ermwedte bei 
jeltener Veibesbewegung, die durch die Winterszeit veranlafßt 
wurde, bei dem 13jährigen Knaben einen beſchwerlichen Hang 
zum Nachtwandeln, der aud) wirflidh einige Monate hindurch 
währte und nur durch) die VBorfehrungen des Vaters und die 
wenige Monate darauf erfolgte gänzliche Lebensveränderung 
Stiedrihs gehemmt wurde und endlih volllommen ſich 
verlor. 

Sm Mat 1786 erfolgte die wichtige Vebensveränderung; 
Friedrich wurde nämlid, wie man in Bafel gemeinhin fagt, 
mit feiner 12jährigen Schweſters), einem lebhaften Mädchen, 
ins Welfchland getan. Dies war für ihn eine jchwere Probe, 


260 


für ihn, der nie unter fremde Leute geflommen war. Man 
tröftete ihn aber mit manden erheblichen Gründen; unter 
anderem aud, daß er verſchiedene Schulfameraden in jener 
Erziehungsanftalt finden werde, daß dieſe Anjtalt im Haufe 
einer achtbaren Yamilie fich befände und von ihr geleitet und 
bejorgt werde, aud) ſei die Schweiter nur 2 kleine Stunden 
von ihm entfernt, die er von Zeit zu Zeit bejuchen könnte. 

Friedrich Fonnte gegen den Entihluß des Vaters, der 
von der ganzen Familie gebilligt war, natürlicherweije 
nidts einwenden, zumalen es in allen Yamilien Bajels, die 
nur in einigem Wohlitand fi) befanden, üblih war, ihre 
Kinder einige Zeit Hindurdh in franzöliihe Orte zu Tchiden, 
um die franzölilhe Sprache gründlich zu erlernen. 

Friedrich gelangte nun mit jeiner Schweiter, in Begleit 
einer kleinen Gejellihaft von Anverwandten, an den Drt 
leiner Beſtimmung, nämlid) nad) Neuenjtadt?) am Bielerjee, 
die Schweiter nad) Montmirail, einem Schlofje zwiſchen dem 
Neuenburger: und Bielerjee. Die Reife dorthin hatte für 
Friedrich) großen Reiz, nämlich den der Neuheit und der 
Ihönen Natur. 

Sn Neuenitadt angelangt, gefiel ihm das Haus und die 
Samilie von Herrn Pfarrer Chiffel; auch die Ortichaft nebit 
der Umgegend madten einen angenehmen Eindrud auf ihn. 
Schmerzlich aber war ihm die Trennung vom Vater und der 
Abihied von den Anverwandten. Eine Kolge davon war das 
Heimweh, das er aber aus Schamgefühl zu verbergen 
wußte. Es verlor fi aber nad) einigen Monaten gänzlich. 

Friedrichs Gejundheit jtärkte fich in diefer Schönen, an den 
Ufern des Bielerjees gelegenen Gegend und in diejer für 
Leib und Geele in mander Hinjiht wohl eingerichteten 
Sugendanjtalt. Nur war das erjte Jahr feines Aufenthalts 
in dem Chiffel’fden Haufe nit ganz angenehm für ihn, 
wegen der Nedereien einiger Anaben aus feiner Vaterjtadt, 
die doch einige Zeit nad) feiner Nüdfehr in die Heimat als 
Mititudierende ihm Freunde wurden. Zu diefen Nedereien 


261 


trug teils Friedrichs Blödigfeit, teils Schwerfälfigfeit im Er- 
lernen der franzöſiſchen Sprade und ein Gtottern bei, das 
von Zeit zu Zeit fih merklich offenbarte. Die Blödigkeit ver- 
Ior fi) aber bald durch das freundlihe Benehmen der Yamilie 
Chiffel, und aud das Stottern fiel durch tägliche Sprad)- 
übungen, die der Lehrer mit den Schülern pornahm, in 
einigen Monaten gänzlich) weg. 

Die legten 18 Monate von Friedrichs Aufenthalt in 
Neuenftadt waren für ihn die angenehmiten, heiterjten Zeiten 
des Lebens, für den äußeren Menſchen ein jugendlicdhes 
Paradies; für den inneren Menſchen aber war wenig dabei 
zu gewinnen. Während jener 18 Monate lernte Kriedrich 
der Ihönen Natur einen gründlichen Geihmad abzugewinnen 
und ein MWohlbehagen an einer harmloſen Gemütsart emp: 
finden, die gerne anderen den Lebensgenuß gönnt, den man 
jelbjt für ſich wünſcht und auch wirflich genießt. 

Sm November 1788 wurde Friedrich von jeinem Vater 
abgeholt und den 16. die Rüdreife von Neuenftadt nad) Bafel 
angetreten. Sie ging durch manderlei Umwege, weil der 
Bater verjchiedene Gegenden bereijen und auch alte Befannt- 
Ihaften alldort bejuhen wollte. Dieje verjhiedenartigen 
Gegenden prangten alle im Winterfleide der Natur und über- 
raſchten und ergößten den Knaben, der diejes Schaufpiel im 
Großen vorher nie gejehen hatte. 

Der Abſchied von Neuenitadt ging Friedrich jehr nahe; 
er trennte fi ungern von der werten Familie Chiffel, deren 
gute Behandlung und Belehrung er binnen 21/, Jahren er- 
fahren hatte. 

Nah der Ankunft im väterlihen Haufe fühlte ſich 
Friedrih, ungeadhtet der guten Aufnahme und der mehreren 
Bequemlidkeiten, die er im väterliden Haufe genoß, Die 
eriten Monate hindurch ziemlich einfam und beſchränkt; er 
vermißte den Umgang mehrerer munterer Anaben vom 
14. bis 15. Lebensjahre, die ihm Tieb geworden waren. Auch 
trug der außerordentlih kalte Winter von 1788 auf 1789 


262 


vieles dazu bei, nämlid zur Einförmigfeit des Lebens im 
ſtillen Baterhaufe, weil die außerordentlihe Kälte und die 
mit Schnee und Eis bejchwerten Straßen die Bewegung im 
Sreien jo beihwerlih madten und aud vielfältig ver: 
hinderten. 

Während diefer Zeit, nämlich in den erjten Monaten von 
1789, dem verhängnisvolliten Jahre des achtzehnten Jahr: 
Hunderts, wurde nun Friedrichs äußerer Stand und Beruf, 
die Außere Lebenshbeitimmung, vom Vater und vom Oheim 
Merner!?), welcher Lehrer der Anatomie und Botanik auf 
hiejiger Univerlität war, beraten und von Friedrich mit ent- 
Ihlojfener Vorliebe angenommen und von andern Lebens: 
berufen ausgewählt, nämlid der Vorſchlag, ſich den Studien 
zu widmen, wie man es gemeinhin nannte. 

Zwar hatte der Vater ihm die Wahl gelafien, die Hand- 
lung zu erlernen und die Ausſicht eröffnet, ihm einjt feinen 
Anteil an einer blühenden Handlung abzutreten,!!) die er 
mit einem Intereſſenten führte. Dieje jonft für mande Jüng— 
linge reizende Ausſicht machte auf unjeren Friedrich wenig 
Eindrud, und er entſchloß fih nad) wenigen Wochen Bedenk— 
zeit immer fejter und bejtimmter, feine Yebenszeit den Studien 
zu widmen. Zu dieſem Entſchluſſe trug auch bei die günftige 
Meinung der Familie von der Gelehrjamfeit. Der Vater 
fagte ihm nad feiner Rüdfehr von Neuenjtadt: Ein Gelehrter 
habe in feinem Stande und durch feine Beihäftigungen weit 
mehr Anlaß, Verjtand und Herz auszubilden, und vermöge 
Dabei durch Erforihung der Wahrheit vielen Menſchen durch 
Mitteilung der erworbenen Kenntnilje in hohem Grade nüß- 
Tih zu werden. Solche Reden zündeten in der Phantafie und 
dem Gemüte des 17jährigen Sünglings den feurigen Wunſch 
an, ein großer Mann zu werden. Diefe NRüderinnerung 
beuget noch jet den 78jährigen Greifen, der nun den Herrn 
aller Herren preifen und Ihm danfen fann, daß Er ihn ſchon 
in der Mitte der Jahre von allen Klippen der Selbfterhebung 
hinwegführen und den Weg über Gethjemane und Golgatha 


263 


gehen hieß und auch durdh die Zudt der Gnade dorthin 
geleitete, | 

Im Sahre 1792 erhielt Friedrih nah überjtandenem 
Eramen den Magijtergrad in der Philojophie, welcher in 
Hinjiht der Würde und den Privilegien dem Doftorgrade 
gleihfommt. Der Doktortitel Hat heutzutage den Magijter- 
titel in der Philoſophie verdrängt, weil er hochtönender Klingt. 

Nun galt es ein bejonderes willenihaftlides Zach aus: - 
zuwählen. Friedrichs Lieblingsneigung war für die Theo- 
logie, aber die Berbindlichkeit, auswendig gelernte Predigten 
zu halten, fcehredten ihn wegen der Blödigfeit und Schüchtern— 
heit, die er für unüberwindlich Hielt, ab, den jogenannten 
geijtlihen Stand zu wählen; es blieb ihm alfo nur noch die 
Medizin übrig; denn für Surisprudenz Hatte der Jüngling 
eigentlih) feine Neigung und fein Vater war Dagegen. 
Sriedrih wählte nun auf den Rat des Oheims die Arznei— 
funde. Unter ihren Hilfswillenfhaften Hatte er am meijten 
Neigung zur Botanif, materia medica und zur Phnfiologie,, 
zur Anatomie nur injoweit, als fie zur Kenntnis des menſch— 
lihen Körperbaus dient. 

Sm Herbit 1794 oder fpätejtens im Yrühjahr 1795 follte 
Stiedrih mit einigen hieſigen Sünglingen feine Studien 
auf einer deutſchen Univerſität fortjfegen, aber der hypo— 
chondriſche Bater wollte ihn nit fort laſſen, und als 
Friedrich infiltierte und der Oheim ihm vorftellte, der Besuch 
einer deutjchen Univerfität jei für Friedrich nit nur nützlich, 
ſondern jelbjt notwendig, fo erklärte der Vater: Er könne den 
Sohn nit zwingen, bei ihm zu bleiben, aber feine Abreije 
würde ihn nicht nur kränken, fondern jeine Abweſenheit ihm 
jo empfindlid werden, daß nit nur feine hypochondriſchen 
Beihwerden dadurch vermehrt, fondern felbit fein Leben da= 
durch verfürzt werden würde. — Dieje Erflärung, deren 
Richtigkeit Friedrich einjehen und beurteilen fonnte, war für 
das Zartgefühl des Sohnes hinreichend, um ihn zu beftimmen, 
die Abreife aufzugeben; denn der Sohn ſah voraus, daß des 


264 


Vaters Unmut und Gram ihn aud im fernen Auslande 
ſympathiſch verfolgen würde, daß er feine Studien nit mit 
Ruhe fortjegen könnte. Deſſen ungeadtet aber erfolgte in 
Friedrichs Gemüt ein großer Kampf und feine Nachgiebigkeit 
erihien ihm ein ganzes Sahr hindurch als das größte Opfer, 
das er nur immer in feiner Lage bringen fonnte. Nach diejer 
Zeit ftieg in ihm nach) und nad) der Gedanke auf, es möchte in 
diefer Sade die göttliche Vorſehung beteiligt fein. Diejer 
Gedanke beihäftigte und beruhigte immer mehr jein Gemüt 
und war beim Hinfcheide feines Vaters, der jechs Sahre nach— 
her erfolgte, ihm zur vollen Ueberzeugung geworden. Die 
Weigerung des Vaters, feinen ältejten Sohn von Haufe weg 
auf eine entlegene fremde Univeriität ziehen zu lajlen!2), 
war hauptjädlid darin gegründet, daß der hypochondriſche 
fränflide Mann dann bei Haufe niemanden Habe, der ihm 
Unterhaltung, Trojt und Stüße nur einigermaßen gewähren 
fonnte; denn der jüngere Sohn war nit nur kränklich, ſon— 
dern litt beitändig an ſolchen rachitiſchen Beſchwerden, daß 
er nit nur nicht gehen, jondern aud) zuweilen aud) wegen 
offenen Wunden ſich der Hände nicht bedienen fonnte. Er 
hatte dabei eine heitere, gute Gemütsart; wer ihn kannte, 
mußte ihn bedauern und lieben, aber deswegen war er doch 
nicht geeignet, dem Vater die Abwejenheit des älteren Sohnes 
zu erſetzen. Auch die Tochter, die jeit 1792 verheiratet war, 
vermochte es nicht; jie Hatte Kinder, ging wenig aus, und ihr 
Mann war in einer gewillen Spannung mit dem Schwieger: 
vater.13) Dazu fam nod, dak der Bater außer dem Haufe 
wenig oder feinen Umgang hatte. Geit 1795 trennte er ji) 
immer ſchroffer von der menſchlichen Geſellſchaft, und der 
früherhin jo gejellige und freundlide Mann ſah zuletzt nie- 
manden mehr als feinen Bruder, den Arzt und einen Jugend- 
freund, deſſen Umgang für ihn nicht vorteilhaft war. Der 
Hauptgrund der immer mehr zunehmenden Menſchenſcheue 
war die von Jahr zu Jahr zunehmende Hypochondrie und 
Die immer mehr eintretenden unruhvollen Zeitumftände, Die 


265 


er faft gar nicht zu ertragen vermodte, und als die Revolution 
Togar im Baterlande ausbrad, wollte er gar nicht mehr aus- 
gehen, um weniger oder gar nichts davon zu hören.!t) Auch 
war der Bater bei all feiner Gutmütigfeit dem Jähzorn ſehr 
unterworfen, jo daß es zuweilen unangenehme Auftritte gab. 
Mer nun dies alles wußte, fonnte nicht anders, als den 
Vater bedauern, und fo erging es aud) dem Friedrich, der 
neben diefem Bedauern auch ein Sohnesgefühl im Buſen 
bewahrte. 

Da nun Friedrih das Studium der Arzneilunde nicht 
vollenden konnte, bemühte er fi, anderwärtige nübliche 
Kenntniffe zu erwerben, und ſah fi} bejonders in der Philo— 
fophie und in den ſchönen Wiſſenſchaften um; auch ftrebte er 
bejonders nad) der Fähigkeit eines guten Gtils, einer gründ- 
lichen, gedanfenreihen und doch allgemein faßlichen und be- 
lebten Schreibart, welches ihm auch einigermaßen gelang und 
bejonders in feinen nadhmaligen dreizehnjährigen aka— 
demiſchen Vorlefungen und Vorträgen wohl zu ſtatten fam. 

Diejes tat nun Friedrich in einem Zeitraum von un 
gefähr drei Jahren. In diefen Tagen wußten der Vater und 
die nächſten Anverwandten nit, was aus Friedrich werden 
follte, und gaben ihm dieſes Hin und wieder auf eine 
zarte, teilnehmende Weije zu verjtehen. Er verftand fie und 
war noch lebhafter bejorgt als fie über feine fünftige Lebens— 
bejtimmung; er fonnte jih aber ihnen nicht mitteilen, wie er 
es einfah und ihnen gerne jagen modte. 

Endlih eröffnete fih nah Verfluß von drei Jahren 
einiges Licht über Friedrichs Fünftigen Stand und Beruf in 
der menſchlichen Gejellihaft, und zwar auf eine vorfehungs- 
volle Weife. Che diefes aber erzählt wird, folgt hier eine 
furze Skizze über Friedrichs fittlichreligiöjen Gemüts- und 
Herzenszuftand, foviel davon dem Autor dieſer Biographie 
erfichtlich und erinnerlich war. 

Während feinem Aufenthalte in Neuenftadt hielt er feſt 
an der im elterliden Haufe erhaltenen fittlich-religiöfen 


266 


Richtung, die eine firchlich-gläubige war. Nach feiner Rück— 
fehr bis zur Vollendung der drei philojophiihen Lehrjahre 
Ihwanfte Friedrich) zwilhen dem alten Glauben und der 
Theorie der Jogenannten Aufflärung hin und her, hielt ſich 
aber in der chriſtlichen Gittenlehre Felt, Die er in der heiligen 
Schrift gegründet und vorgetragen fand. Nachher aber 
wirkte die Kant'ſche Philojophie und bejonders das Werf: 
„Die Religion innerhalb der Grenzen der praftiihen Ber: 
nunft“ jo ſtark auf ihn, daß er dadte, wenn die Drei 
Kardinalfragen: Es ilt ein Gott; — der Wille des Menſchen 
it frei; die menschliche Geele iſt uniterblid, — aus der 
theoretijden Vernunft nicht vollftändig ausgemittelt, nicht 
apodiktiſch dargetan, alfo nit unwiderſprechlich bewiefen 
werden fönnen, jondern von ferne her als Grundlagen der 
praktiſchen Vernunft, als Prinzipien (Urgründe) aller Reli- 
gion und Sittlihfeit geglaubt werden müljen, jo willjt vu von 
nun an, weil man doch glauben muß, dich nicht mehr Tange 
an den Formeln des Glaubens aufhalten, jondern das Reale 
desjelben in der Urkunde des israelitiihen Glaubens, in der 
Bibel nachſuchen und darin forichen. 

Und dies geihah auch wirflid. Friedrich fing an immer 
mehr und mehr in der Bibel zu leſen und zu forjchen, jedod 
hielt er ſich noch geraume Zeit an den fategoriihen Imperativ 
der praftifhen Vernunft, der in der Formel enthalten it: 
du ſollſt, du follft nit. Dieſer kategoriſche Imperativ ift 
aber ein armfeliger Notbehelf, verglichen mit dem Geiſte der 
göttlihen Zucht und Gnade; denn er fannı bei ftarfen, finn- 
lihen Antrieben und heftigen Leidenjhaften durch Die 
Klügeleien und Sophijtereien der natürlichen Vernunft irre- 
geleitet und gleichſam beſtochen werden. 

Friedrich lernte aber nad) und nad) ein wirkſames Mittel 
zum Bellerwerden fennen; es bildete fi in feiner Imagi— 
nation und in jeinem Gemüte ein Ideal einer Gott ähnlichen 
Humanität, das er in Jeſus Chriſtus verwirklicht fand, 
dejlen Leben ihm zur Nahahmung dienen follte. Dieje Idee 


267 





teilten mit ihm einige Freunde, die fih in der Schule 
Peſtalozzi's zu Erziehern bildeten. Aber jobald es galt diejem 
Ideale in Leben und Wandel ähnlich zu werden, lernte 
Friedrich einen mächtigen Feind in feinem Innern kennen, 
der, wie Gellert in einem Liede jagt: „ein Feind, der öfters 
ſiegt als fällt. 

Nun fam das Jahr 1798 und mit ihm die Revolution in 
die Schweiz. Diefes Ereignis gab den Belhäftigungen 
Friedrichs eine neue, unerwartete Richtung. Die National: 
verfammlung, die aus der Bürgerſchaft der Stadt und der 
Landihaft gewählt wurde, ernannte mehrere Komitees zur 
Beratung der Geſchäfte, unter anderem aud) ein Erziehungs- 
fomitee, das unjeren Friedrich zu feinem Schreiber berief. 
Sriedrich Hatte nun mehrere Monate hindurch mit Schreiben 
zu tun. Als diefes Amt mit der neuen helvetijhen Ver— 
faljung aufhörte, Teiltete Friedrich verſchiedenen Angeflagten 
feine Dienfte als Berteidiger vor dem Kantonsgeridte. 
Diefer freiwilligen Bemühung verdankte Friedrich) feine Er- 
nennung zum Guppleanten an das Kantonsgeridt. Hier 
hatte Friedrich mehrere Monate Hindurd) an der Beurteilung 
vieler wichtiger Prozeſſe teilzunehmen, unter denen aud ein 
Todesurteil war. Diejes Todesurteil gab ihm viel - zu 
Ihaffen, weil der Mörder ein Süngling von nidht gar ſieben— 
zehn Sabren war. Nah) Beendigung dieſer zahlreichen, 
wichtigen Prozelje wurde Friedrich im Dezember 1799 zum 
Mitgliede des hieſigen Diltriktsgerihts gewählt. Er be— 
fleidete dieje Stelle bis das Tribunal im Jahre 1803 infolge 
der Mediation aufgelöjt wurde. 

Sm Frühjahr 1804 wurde die Togifhe Profeſſur nad 
altem Herfommen ausgefündet, und nachdem die Petenten, 
unter denen auch Kriedrich war, die üblichen Präjtanda ge— 
leiltet, wurde Friedrich duch Wahl und Los zum ordentlichen 
Profeſſor der Logik und Methaphyfil!5) ernannt. Dieje 
Stelle war ziemlich nad) feinem Geihmade und er hoffte da- 
bei der afademilhen Jugend mit Herz und Sinn viele Dienite 


268 


leiten zu fönnen. Allein diefes alles wurde während den 
13 Jahren feiner afademifchen Laufbahn nur gar ärmlich und 
mangelhaft aus verjhiedenartigen Hinderungsgründen er: 
füllt. 

Aber hier müſſen wir noch einen Rückblick auf die Tage 
ſeiner richterlichen Laufbahn werfen und geſtehen, daß nur 
Gottes Güte und Weisheit durch ſeine gnädige Vorſehung den 
jungen, vielfältig unbeholfenen, unerfahrenen Mann durch 
manche Klippen und Gefahren unbeſchädigt und ſicher hin— 
durchgeführt, an denen einige feiner Vorfahren und Zeit— 
genojjen ſich bejchädigt Hatten. Nur mit dankbarer Rührung 
fann Sriedrih an dieſe Tage der göttlichen Leitung, Be— 
wahrung und Gnade gedenken. 

Sm Herbſt 1800 Hatte Friedrih den Schmerz, feinen 
geliebten Dheim, den Doktor und Profeſſor Werner Lachenal, 
der als ein zweiter Vater an ihm fich bewiejen Hatte, durch 
den Tod zu verlieren. In der erjten Hälfte des Januar 1802 
erfolgte der Hinſcheid feines ſchon lange fränfelnden Vaters, 
der ihm in mander Beziehung jehr empfindlih war. Kurz 
vor jeinem Ende empfahl ihm der Vater, den rahitild 
franfen Bruder nicht zu verlafjen, fondern zeitlebens bei ſich 
zu behalten und für ihn zu forgen, weldes für Friedrich 
freilich eine Lajt war, die er aber aus Achtung gegen den 
väterlichen Willen und aus brüderlicher Zuneigung nit von 
ih wälzen modte, fondern den väterlihen Willen bis zum 
Hiniheid des Bruders Jacob in Vollziehung feßte. 

Friedrich führte nun die Haushaltung im väterliden 
Hauje mit feinem Bruder Jacob eine geraume Zeit fort, 
mußte aber im jtillen noch eine Zeitlang des Vaters frühen 
Hinſcheid bedauern, der ſchon im 59ten Lebensjahre erfolgt 
war und für diefen Mann, der mande gute Eigenfchaften im 
bürgerlihen Leben äußerte und dafür befannt war, und für 
feine Kinder eine liebende, zärtlide Sorgfalt bewies, bis 
auf diefe Stunde ein dankbares Anjehen im Bufen zu be- 
wahren.!®) 


269 


Sm Sommer 1803 faufte Friedrich gemeinſchaftlich mit 
feinem Bruder ein beträdtlihes Landgut vor dem Riehen- 
tor.17) Zu Ddiefem Kaufe Hatten die franthaften Um: 
ltände feines Bruders, denen ein Aufenthalt auf dem Lande 
und eine Bewegung im freien zuträglidh erachtet wurden, 
vieles beigetragen. Ende Auguſt wurde dieſes Landgut 
in Bejig genommen. Kriedrich glaubte beim Antritt diefer 
Mohnung das Ziel feiner Wünſche erreicht zu Haben, allein 
die vielen Bauten, die man vornehmen mußte und die 
anderthalb Jahre Hindurh dauerten, verfümmerten um 
vieles den erjehnten Genuß des Landlebens. 

Sm Frühjahr 1805 vermählte fih Friedrich mit Jung- 
frau Urfula LaRochens), einem Yrauenzimmer von Beritand 
und Gemüt, aus einer bürgerliden Familie feiner Vater: 
itadt, von Stand und Vermögen. Sie wurde eine verjtändige 
Hausfrau, war mit verjchiedenen geijtigen Gaben ausgerüjtet 
und äußerte dabei auch einen echt religiöjen Sinn, der ſich 
auch in einer tätigen, aufopfernden Liebe für die arme, not: 
leidende Menſchheit in der legten Hälfte ihres Lebens dar- 
itellte. riedrich Hatte mit diefer Gattin im ganzen eine 
friedliche, vergnügte Ehe. In den erjten zehn Jahren ihrer 
Verbindung beflagten die beiden Ehegatten den Finderlojen 
Zujtand, mußten aber nachher diejen Umitand als ein weifes, 
gütiges Gefchid aus der Hand der göttlichen Vorjehung dank: 
bar erfennen. 

Sn der eriten Hälfte ihrer ehelichen Verbindung Hatten 
beide Ehegatten mehrere Todesfälle in ihrer Familie zu be: 
flagen, nämlih den Hinfcheid der beiden Eltern Laroche 
und Jacobs, Friedrichs Bruder. 

Sn den Jahren 1816 und 1817 betraten beide Gatten 
eine religiöjfe Yaufbahn, zu welder fie ſchon einige Zeit vor— 
ber innerlich vorbereitet waren. Sie hatten nämlih die 
Ueberzeugung erlangt, daß die große Weltkrijis vor dem An⸗ 
bruche des Friedensreiches im Anzuge fei und die Reiche diefer 
Welt unferem Gott und feinem Gefalbten anheimfallen 


270 


werden. Sie hatten den Verfall der äußeren Kirche erfannt 
und die Notwendigkeit eingefehen, von ihr auszugehen. Da 
fam eine hohe Dame aus Eitland, einer ruſſiſchen Oſtſee— 
provinz, Witwe eines Herrn Baron von Krüdener!?), 
ruſſiſchen Geſandten an verjchiedenen hohen Höfen Europas, 
eine Dame von feiner Weltbildung, die der Eitelfeiten der 
MWeltgenüffe überdrüjlig, zur Buße fi gewendet und ihr 
Geelenheil in der Gnade Gottes in Chrilto Jeſu gefunden 
hatte. Dieſe Dame glaubte ſich nun verpflichtet, für das Neid) 
Gottes und für das Heil der Geelen aus allen ihren Kräften 
zu wirken. Gie reilte umher, um diefen Entſchluß auszu= 
führen, fie predigte mit hinreißender Beredjamfeit Hohen 
und Niedern die unausſprechliche Liebe und Barmherzigkeit 
Gottes in und dur Jeſus Chriltus für die gefallene Menſch— 
heit. Diefe Dame äußerte dabei einen jeltenen Grad von 
Gelbitverleugnung und eine ungemeine Liebe und Wohltätig- 
feit gegen alle Notleidenden und Dürftigen, bejonders für 
Hriftlich gejinnte Seelen. 

Frau von Krüdener war feine Somnambule, weder von 
Natur, noch dur magnetiſche Bearbeitung geworden, fie war 
auch Feine Prophetin, aber fie bejaß ein ausgebildetes 
Ahnungsvermögen mit einem gebildeten Verſtande, und 
fonnte daher mande Ereigniſſe der Zufunft vorausjehen. 
Uber fie beging den Fehler, folhe Ereigniſſe auf beſtimmte 
Zeiten deutlich vorauszubeitimmen. Wenn nun dieje Ereig- 
niſſe nicht auf die angegebene Weije in Erfüllung gingen, ſo 
wurde mit dem Glauben an die prophetifche Gabe der Frau 
von Krüdener aud) der Glaube an das prophetiihe Wort 
ſelbſt geſchwächt und den Gegnern der Offenbarung hie und. 
da ein vorübergehender Triumph bereitet. 

Zu der Belanntihaft mit diefer Dame, die in einem 
hiefigen Gaſthofe herbergte2%), wurden wir teils durch den 
allgemeinen Ruf, teils dur) das Hinitrömen mander Gläu— 
bigen, teils neugieriger Weltleute, bejonders aber durch das 
Zureden einer Schwägerin aus der familie meiner Gattin, 


271 


hingezogen, jedod nicht ohne Widerwillen, weil wir damals 
nicht glauben fonnten, daß eine Dame aus der vornehmen 
und hohen Welt uns etwas wahrhaft Erbaulides und Geilt- 
reihes vortragen könnte. Wir gingen nun hin und fanden 
uns nad dreimaligem Beſuche ihrer Erbauungsitunden, deren 
Schluß fie noch mit einer bejonderen Anſprache an die Herzen 
begleitete, angenehm getäujdt. 

Mir Hatten diefe Dame nun 18 Monate Hindurd, da fie 
in unferer Nähe wohnte, beobadtet und in ihr ein, foviel 
wir einfehen fonnten, bejonderes Werkzeug zur Erwedung 
der Buße und des Glaubens in allen Ständen der menſchlichen 
Gefellfhaft zu finden geglaubt. Gie hatte uns ihr Vorhaben 
mitgeteilt, eine Reife in die nördliche Schweiz zur Erwedung 
des Kriltliden Sinnes und Lebens zu maden; fie glaubte, 
wenn man bei der damaligen großen Teuerung der Lebens: 
mittel unter den Dürftigen das irdiſche Brot unengeldlid 
austeile, würde man fie geneigt maden, aud) etwas von 
dem himmliſchen Brote zu hören. Wir gaben diefem Ge: 
danken Gehör und fanden uns, da fie unjere Begleitung 
wünſchte, ſchon einigermaßen veranlaßt, mit ihr zu gehen. 
Dazu kam nod) der Umjtand, daß ih mih aus Mikmut und 
Verdruß gerne, wenigitens für einige Zeit, von Baſel zu 
entfernen wünſchte. 

Die Regierung ging ſchon ſeit dem Jahre 1806 mit dem 
Gedanken um, die in Verfall geratene Univerlität, wie man es 
nannte, zu rejtaurieren. Allein erjt im Jahre 1816 wurde Hand 
an das Werf gelegt und eine Univerjitätsfommijlion ernannt 
aus Gliedern der Regierung und der Bürgerfchaft, in welcher 
ih auf Hriedrih mit einem Kollegen und zwei Geiſtlichen 
befand. 

Friedrich legte diefer Kommiſſion einen Entwurf zur 
Erridhtung einer neuen Akademie vor, in weldem alle 
nötigen und nützlichen Lehrfächer berüdjichtigt wurden, den 
er ſchon im Jahre 1798 dem damaligen helvetiſchen Minifter 
der Wiljenihaften überreicht Hatte, und der nachher bei 


272 


diefem Anlaſſe von zwei feiner Kollegen durchſehen, geprüft 
und beridtiget, dem 9. Bürgermeilter Wieland vorgelegt 
und von ihm und einigen Regierungsgliedern wohl aufge: 
nommen wurde.2?) Diefer Entwurf fam aber, foviel Frie⸗ 
drih erfahren konnte, nicht zur Beratung, weil die Partei 
der Regierungsglieder, die eine möglichſt glänzende und voll- 
ftändige Univerfität wollte, die Dberhand gewonnen Hatte. 
Hingegen foll er bei der Erridtung des Pädagogiums be- 
nutzt worden jein. 

Die Untiverfitätsfommilfion betrieb nun vom Gpätherbft 
1816 an die Vorbereitung zur Erneuerung der Univerlität 
und des gejamten Schulwelens in der Stadt und auf der 
Landſchaft. Sie ernannte aus ihrer eigenen Mitte einen 
Ausſchuß von 4 Gliedern, unter welhem Friedrid, derzeit 
Rektor, den Borji führen follte. Diefer Ausſchuß follte nun 
über den Zujtand aller niedern und höhern Kantonsfchulen 
Beriht erteilen und Vorſchläge zu ihrer Verbeſſerung 
macen.2?) 

Diefe Arbeit fiel nun Friedrich) zu ſchwer, der Teine 
pädagogifhen Kenntnijje hatte und daher im Schulfache un- 
fundig war. Dies und der Umitand, daß Friedrich immer 
klarer in den Plan der einflußreichiten Glieder der Regierung 
Hineinfah, die erledigten Kanzel: und Kathederitellen mit 
Koryphäen der gepriefenen deutſchen Aufklärung zu bejegen, 
Die nichts anderes als eine wahre Quziferation ift, beftimmte 
ihn vollends, oben bedachte Reife zu unternehmen. 

Sriedrih, der nun feine anfängliden Hoffnungen zu 
einer wahren gründliden Verbeſſerung unferer hohen und 
niedern Schulen vereitelt jah, dachte nun auf Mittel, fih der 
ganzen Sade auf die glimpflidite Weile zu entziehen. Er 
gab daher zuerit feine Demiffion als Glied des engern 
Ausſchuſſes und eine geraume Zeit nachher reichte er dem 
E. tleinen Rate aud fein Entlaffungsgefuh von dem Pro- 
feſſorate felbjt ein. Diejes Begehren madte großes Auffehen 
und die lettere Behörde nahm die Demiffion nicht gerne an, 


273 18 


londern gab Friedrichen acht Tage Bedenktzeit, mit dent 
Wunſche, daß er an der Stelle bleiben möchte. Allein Friedrich 
blieb bei feinem Entſchluſſe und erhielt jeine Entlajjung nad 
der Yorm.23) 

Nun fiel allgemein Tadel der Regierung und des 
Publiftums über Friedrich) Her, der feinen Schritt nicht recht— 
fertigen fonnte, weil feine entſchiedenen Beweggründe von 
ehr wenigen aufgefaßt und gewürdiget, nur Unwillen und 
Aufregung ohne Nuten und Frucht hervorgebradt hätten. 
Friedrich Tieß nun mit Geduld alle widrigen Urteile fat ohne 
Ermwiderung über fich ergehen, weil er wußte, nad) dem gött- 
lichen Willen hierin gehandelt zu haben, worin feine Gattin 
ihn auch beitärkte. 

Indeſſen konnte Friedrich ſich des ſteigenden Unmuts 
nicht erwehren, ſeine ſchöne Hoffnung, die vaterländiſche Uni— 
verſität auf eine gemeinnützige, den Bedürfniſſen unſeres 
kleinen Freiſtaates angenehme Weiſe zu reſtaurieren, die 
auch dem göttlichen Willen nicht zuwider war, vereitelt zu 
ſehen; er wünſchte deshalb ſich von Baſel auf einige Zeit zu 
entfernen. 

Dieſe Gelegenheit bereitete ihm, ohne es gerade zu 
wiſſen, die Frau von Krüdener, die den Entſchluß gefaßt 
hatte, einen Teil der öſtlichen Schweiz bis an das Voral— 
bergiſche zu bereiſen, um bei der damaligen großen Teuerung 
die irdiſche Speiſe mit dem Brote des Lebens auszuteilen.2) 

Friedrich ergriff dDiefe Gelegenheit, um Bafel für einige: 
Zeit zu verlafjen; feine Gattin gab hiezu mit einiger Bedenk— 
lichkeit ihre Zuftimmung. Dieſe Bedenklichfeit verlor ſich 
aber ſchon nad) einigen Tagen, wo wir in Quzern anlangten, 
und von dDiefem Momente an war feine Gattin mutiger und 
entſchloſſener als er jelbjt.25) 

Sn Luzern angelangt nahm uns nebjt den beiden Berd- 
beims Frau von Krüdener in ihre Herberge auf. Sie hatte: 
nahe bei der Stadt ein Landhaus auf einer freundliden Ans 
höhe gemietet, die dem Pilatus gerade gegenüber lag. Wir 


274 


fanden dort eine ziemliche Gejellichaft verjammelt, teils aus 
Neugierde, teils um ein Wort der Erbauung zu hören. Ein 
Nebengebäude des Landhaujes war täglich) mit einer großen 
Schar von Hungernden umlagert, die mit Gemüſeſuppen ge— 
Ipeilt wurden. Nach der Angabe des Hauswirts jollen an 
einem Tage bei taujend Portionen Gemüfefuppen ausgeteilt 
worden Jein.2®) 

In Luzern, wo wir von verfhiedenen Klafjen der Ein- 
wohnerſchaft eine freundlihe Aufnahme fanden und viele 
leiblide Wohltaten geſpendet wurden, aud) hie und da gött- 
liher Segen verjpürt wurde, verweilten wir 14 Tage, mußten 
dann aber auf Anordnung der Polizei rajher Weije abreifen 
und langten noch denjelben Tag bei Anbruch der Naht in 
Zürich bei einem Freunde an, wo wir das Gajtredht einige 
Tage genofjen.2?) Hier hatten wir viele Beſuche zu emp— 
fangen, allein die beforgte Polizei von Zürich Tieß uns wegen 
der Menge der Armen, die in dieſer Notzeit auf uns zu— 
ſtrömten, nicht länger in der Stadt verweilen, und wir gingen 
dann auf der Straße nah Schaffhaufen nad) LRottitetten, 
einem Dorfe dicht an der badijchen Grenze, ab,28) wo wir 
mehrere Tage verweilten, dajelbit viele Beſuche empfingen 
und eine ziemliche Wirfjamfeit nad) den Bedürfniſſen der da— 
maligen Zeit äußerten, Anſprachen an das Herz aller Klaſſen 
der verfchiedenartigen Gejellihaft, die ſich dort befand, 
richteten und au für materielle Bedürfnijfe der Armen und 
Notleidenden zu jorgen hatten. Hierauf gingen wir auf die 
Einladung verſchiedener Freunde nah Schaffhaufen??), wo 
wir nun einige Tage hindurch in einem gajtfreundliden 
Landhauſe unter manderlei geijtigem Gegen und vielen herz- 
lihen Freundſchaftsbezeugungen verweilten; dafelbit erfuhr 
ich nebjt meiner Gattin eine merfwürdige Lebenserrettung 
aus einer unvermeidlichen Todesgefahr.30) 

Von Schaffhauſen reijten wir nad) Konſtanz ab, wo wir 
unterwegs einige Tage in Dießenhofen verweiltend!) und 
naher ohne weitern Verzug in Konjtanz eintrafen. In 


275 18* 


Konftanz blieben wir zwei Tage und trafen von da unge- 
fäumt in der Hueb, einer Boltitation auf der Höhe von 
Romanshorn, ein, daſelbſt wir einige Tage uns aufhielten, 
von wo wir uns nad) Arbon, einem Städtchen didt am 
Bodenfee, verfügten. Bon Schaffhauſen bis Arbon Hatten 
wir viele Beſuche, Almoſen an Geld und Lebensmittel zu 
Ipenden; aud viele religiöfe Zujprühe wurden an heils- 
begierige Seelen gerichtet; am ſtärkſten war der Zulauf in 
Arbon, wo der Herr Oberamtmann uns aus eigener Be— 
wegung polizeilide Hilfe jenden mußte.32) Bon Arbon 
gingen wir einige Tage nachher über Rorſchach nad) Rheined, 
famen bis an die öjterreichiiche Grenze gegen Bregenz, 
gingen über den Rhein und nahmen in Hödjft ein Mittags: 
mahl ein, wo wir von den Behörden freundlich empfangen, 
aber unter Verdeutung der öſterreichiſchen Polizeigeſetze 
abends über den Rhein zurüdgewiejen wurden.33) Bon 
Rheine fehrten wir wieder denfelben Weg zurüd nad 
Arbon und von da nah kurzer Friſt wieder zurück nad 
Petershaufen, dicht bei Konjtanz, von Konitanz wieder nad 
Shaffhaufen, von da nad) anderthalb Tagen Aufenthalt über 
2otitetten nad) Rafz, von da den Rhein hinunter nad) einem 
badiihen Dorfe, Lutgern gegenüber, wo wir zwei Tage ver- 
weilten.3®) Von da gingen wir nad) Togern, von Togern 
nah Sädingen und von Gädingen nad Wehr, wo wir uns 
jo wie in defjen Umgegend wiederum einige Tage aufhielten 
und uns dann nad) Kandern begaben, dajelbit Friedrich nad 
einem eintägigen Aufenthalt von der badifchen Oberamts- 
polizei angehalten und troß aller rechtlichen PBroteftation auf 
Anfuchen der Regierung von Bafel in einigen Tagen dahin 
abgeliefert mwurde,35) jedoch auf die ſchonendſte Weiſe, wo— 
felbjt er vor dem Niehentor von feinen nädjiten Ans 
verwandten freundlichit empfangen und nachher in feine vorige 
Mohnung aufgenommen wurde.3%) Zwei Tage nachher wurde 
feine Gattin in Badenweiler von ihrem jüngern Bruder, 
Herrn Deputat Laroche, eingeholt und in ihre Wohnung ver- 


276 


bradit.37) So endete die Reife mit Frau von Krüdener, Die, 
zwar widerredtlich abgejchnitten, aber doch auf einem vor- 
jehungsvollem Wege geleitet und alfo beendigt wurde. 

Sriedrih war über diefe Wendung der Dinge zwar 
einigermaßen betroffen und beftürzt, fonnte ſich aber bald 
darüber tröjten, weil er ja ſchon einige Zeit vorher ſich von 
Frau von Krüdener zu trennen entihlojien Hatte, indem er 
den glüdliden Erfolg diefer Reife zur Erwedung vieler 
Geelen ſchon ziemlich vereitelt jah, weil Frau von Krüdener 
mit dem guten Willen und Eifer die nötige Weisheit und 
Klugheit nicht verband, die dazu erforderlih war. Diejes 
Gebreden Tannten Friedrih und feine Umgebung vorher 
nit, Jonjt würde man ji) in dieſes Unternehmen nicht ein- 
gelajjen Haben. Friedrich fonnte ſich daher damit tröften, daß 
er durch eine freiwillige Trennung von der Reijegejellihaft 
einen jeweiligen guten Erfolg nicht gehindert Habe; denn er 
fürdtete vorher immer, durch eigenes Abreijen etwas Gutes 
zu hindern.38) 

Er ſuchte nun feine Zeit durh das Studium der Bibel 
und fernhafter theoſophiſcher Schriften nützlich anzuwenden 
und über die Ausführung des theofratifchen Planes der Gott- 
heit zur Herbeiführung des Friedensreiches Jeſu nahzulinnen 
und Auszüge aus den bisherigen Eröffnungen darüber zu 
maden.3?) Ein Jahr nad diefer Rückkehr wurde Friedrich 
von der Armenpflege und dem Miljtionsfomitee, deren tätiges 
Mitglied er vor der Befanntihaft mit Yrau von Krüdener 
gewejen war, eingeladen, ihren Verhandlungen wieder bei- 
zuwohnen und Teil an ihren Arbeiten zu nehmen, welches er 
auch gerne tat und fi) wie vorhin mit Eifer ihren Angelegen- 
heiten widmete. Bejonders angenehm und erquidend für ihn 
und feine Gattin war der Umgang mit den erſten Miflions- 
zöglingen, die feit Yrühjahr 1816 in das Miſſionsinſtitut ein- 
getreten waren. Diefem Miffionstomitee und feinen Ge— 
Ihäften wohnte Friedrih 6 Jahre ununterbrochen bei, bis er 
auf Antrieb des Geiltes von derfelben abtrat, weil fie eine 


277 


andere von der evangeliſchen Einfalt durch Vervielfältigung 
der Lehrfäher abweichende Richtung genommen hatte. Bald 
nachher fnüpfte Friedrich einige Belanntihaften an, durch 
welche er mit dem Zuſtande des Jogenannten Helljehens in der 
Schweiz und im füdlihen Deutſchland nah und nad) befannt 
wurde. Man jchidte ihm verjchiedene Protokolle von Reden 
Hellfehender, und er hatte aud Gelegenheit, verjchiedene 
Glieder diefer Geſellſchaft, beiderlei Gejchlechts, deren Zahl 
ji über 30 belief, zu Hören und zu ſprechen. Er prüfte ihre 
Ausſagen mit der HI. Schrift und fand viel Lehrreiches darin, 
bejonders mande Belege zu den geiltigen Wahrheiten, die im 
Mortverjtande der Bibel in der Tiefe verborgen liegen. Auf 
Anſuchen verjhiedener ahtungswerter Lejer derjelben fand 
fich Friedrich bewogen, eine Auswahl diefer Reden, mit einer 
Vorrede begleitet, in zwei Bänden dem Drude zu über- 
geben.?0) 

Endlih fand er aud) einen Mann, dem der Herr dur 
die Gabe der Einſprache viele tiefe geiltige Wahrheiten zur 
Leitung und Belehrung der Gläubigen in Diejen legten 
Tagen mitteilte. Er benußte mit einer Gemeinihaft Gleidh- 
gefinnter den Umgang und die Schriften diefes Mannes bis 
zum Sahre 1850, wobei er immerfort eine genaue Prüfung 
mit vdenjelben nach obigen Grundfäßen und nidts ohne 
Yebereinjtimmung mit den Lehren der HI. Schrift annahm. 
Dieje leitenden Grundfäße wird man aud) in Friedrichs letter 
Schrift, betitelt „Die Morgenröthe der nahen glüdjeligen 
Zufunft“ beitätigt finden. — Mit dem Jahre 1850 hörte die 
Verbindung mit diefem Manne auf, weil derjelbe von Dieter 
Zeit an eine ganz andere Geiltesrihtung einfchlug, welder 
Friedrich nah feinen Grundſätzen durdaus nit folgen 
fonnte.2t) 

Mährend einer Reihe von 33 Jahren, in denen fid) 
Sriedrih oberwähnten Studien und Belhäftigungen wibd- 
mete, die nur durch einen Aufenthalt von drei Jahren im 
badiſchen Oberlande, in Sitzenkirch bei Kandern, unterbroden 


278 


wurden,?2) Hatte derjelbe mit Widrigfeiten manderlei Art, 
die man gewöhnlid Kreuz und Leiden nennt, innerlid und 
äußerlih zu kämpfen. Unter all diejen Leiden war das 
Ihmerzlidjte für ihn die dreizehnjährige chroniſche Gemüts— 
franfheit feiner Gattin, die im Jahre 1826 angefangen, erjt 
mit Februar 1839 durch ihren Hinjcheid endete. 

Diefer Hinfheid war ein ſchmerzlicher Berlujt für ihn, 
obſchon er vom feligen Loſe derjelben in der Ewigkeit über- 
zeugt war und es aud jet noch ganz volllommen iſt. 
Friedrichs Verbindung mit dieſer Geele war ein merk: 
würdiger Zug der Vorjehung Gottes in der Lebensführung 
beider Gatten. Der Herr hat dadurch mandes Gute für ihn 
und andere bewirft. Ihr Andenken iſt ihm noch immer lehrt: 
reih und angenehm. Auch wurde ihr Ableben von vielen 
Geelen, bejonders unter der dürftigen Menſchenklaſſe, be— 
trauert und beweint.“ 


Nah dem Tode feiner Frau war Friedrich Lachenal nod) 
ein ziemlich langer Lebensabend bejhieden, den er in Stiller 
Zurüdgezogenheit auf einem kleinen Landgütdhen vor dem 
Bläſitor eifriger Bibelforfgung widmete. Früchte derjelben 
jind die in den Jahren 1838 und 1839 unter dem Titel 
„Blide jenjeits des Grabes“ erſchienenen Schriften, worin er 
an Hand von Bibelitellen und unter Berüdjihtigung da— 
maliger, von myſtiſcher Geite gefundener neuer Aufſchlüſſe 
den Zuſtand der Geele in der Ewigkeit zu fchildern ſuchte. 
Diefe, ſowie die ein Jahrzehnt fpäter von ihm publizierten 
„Gedanken über die Morgenröthe der nahen glüdjeligen Zu: 
funft“ 23) fanden in der willenfhaftlihen Welt nur wenig 
Anerfennung. Mehr jedoch können auch Heutzutagigen Leſern 
Die im Jahre 1852 bei Detloff in Bafel erſchienenen Gedichte 
Lachenals zuſagen, die in ſchöner Sprade und gewandtem 
Versbau Zeugnis von Lachenals tief inniger Frömmigkeit 
und feines ihm bis ins hohe Alter hinein gebliebenen Ginnes 
für die Wunder und Herrlicäfeiten der Schöpfung ablegen. 


279 


Schon im Jahre 1850 Hatte fich bei Friedrich Lachenal eine 
ftets zunehmende Schwädhe des Gefichts eingeltellt, die ſchließlich 
in Blindheit überging, was ihn jedodh an feiner gewohnten. 
geiltigen Tätigkeit nicht verhinderte. Im Dezember 1853 
zeigten fi) bei ihm Anzeichen einer herannahenden Bruſt— 
waſſerſucht, die aber wieder verſchwanden und einem relativen: 
MWohlfein Pla madten, bis Mitte Suni 1854 Schwäche⸗ 
zultände eintraten, die nach vierzehntägigem Leiden den. 
müden, aber glaubensitarfen Erdenpilger am Abend des. 
27. Suni vom Glauben zum Schauen Hinüberführten. 

Sriedrih Lachenals Wefen, Gefühls: und Denfungsart 
Täßt fi wohl am beiten aus einem von ihm am 13. April 1852 
zu feinem 81. Geburtstag verfaßten Eleinen Gedicht erkennen: 

Gei hochgelobet Jeſus Chriſt, 

Daß Du mir Alles worden bift, 

Sn meinem langen Erdenleben, 

Der Seele Schatz, ihr Troſt, ihr Licht, 
Im Tode noch mir Zuverſicht! 


— — — — — et 


Anmerkungen. 


1) Friedrich Lachenals Vater, deſſen Brüder Sean Jacques und 
Werner, fowie die meilten Angehörigen des Geſchlechts ſchrieben fich 
de la Chenal oder de Lachenal. Friedrich Lachenal aber, als ein 
Freund der Grundjäße der Helvetik jchrieb fich von jener Zeit ab 
einfad) Friedrich Lachenal, während er ſich dann fpäter in feinen 
teſtamentariſchen Verfügungen wieder des „de“ bediente. Ob das 
Geſchlecht, das einen filbernen Hund auf grünem Felde im Wappen= 
jchilde führte und einen ebenſolchen als Helmzierde, adeliger Herkunft 
war, ijt nicht ficher. In Bajel betrieben die Lachenal Handel, Fabri— 
fation und Gewerbe. 

2) geboren 1707, geitorben 1776, Sohn des befannten Medizin- 
profeſſors Theodor Zwinger junior und Bruder des Profeſſors 
Johann Rudolf Zwinger. | 

3, Frau Dorothea Zwinger, geb. Battier, geb. 1711, geit. 1785. 

4 Friedrich Ballier, geb. 1700, geft. 1781, Sohn des Friedrich 
Ballier, Pfarrers zu St. Alban und der Margaretha Sielin. 

5) Den Ehegatten Zwinger - Battier gehörte das Haus zum 
„Sägerhof“ (Seebadherhof) oben am Blumenrain. Es fei damals 


280 


ein langgezogenes Gebäude mit frummer Faſſade geweſen. Nach 
dem im. Sahre 1785 erfolgten Tode der Frau Zwinger-Battier wurde 
die Liegenjchaft von deren Tochtermann Herrn Hieronymus deLachenal= 
Zwinger an die Borfahren der jegigen Eigentümer verkauft, weldye 
die alten Gebäulichfeiten abbrachen und das jetzige ſchöne Haus er= 
richten ließen. Damals wurde dafelbit auch eine Straßenforreftion 
vorgenommen, indem an Gtelle eines dort befindlichen jähen 
Staldens eine Fahrbahn mit regelmäßiger Steigung erftellt wurde. 

6, Sean Jacques de Lachenal geb. 1777, gejtorben 1808. 

”) Hieronymus de Lachenal geb. 1773, gejtorben 1784. 

8, Dorothea de Lachenal, geb. 1774, geſtorben 1854, jpäter ver⸗ 
heiratet mit dem Handelsmanne Hieronymus Bernoulli. 

9% damals noch unter der Oberhoheit des Fürſtbiſchofs von Baſel. 

10, Werner de Lachenal geb. 1737, geitorben 1800, Profeſſor der 
Medizin, befannt als Botaniker, eifriger Förderer des hiefigen bota— 
nifhen Gartens, Freund Haller’s, Yinne’s und anderer befannter 
Naturforfcher. 

11) Die Firma hieß: Hieronymus de Ia Chenal u. Burkhardt. 

12) Das Verhalten von Friedrih Lachenals Vater it um fo 
weniger zu begreifen, da diefer in jungen Jahren jelbit als Handels= 
beflifjener lange Zeit in der Fremde geweilt Hatte, in Leipzig, 
Berlin und Breslau, anfangs noch in den Zeiten des fiebenjährigen 
Krieges. 

13) Hieronymus de Lachenal ſtand mit feinem Schwiegerjohne 
Bernoulli wegen politijher Meinungsverjhiedenheiten auf feinem 
guten Fuße, weil legterer den neuen Ideen huldigte. 

14) Hieronymus de Lachenal Hatte bald nad) dem Tode jeiner 
Frau im Jahre 1786 das im obern Bajelbiete bei Reigoldswyl 
gelegene Gut Goriſen gefauft, wo er fajt den größten Teil des Sahres 
verbradte. Es ijt merfwürdig, dak fein Sohn in den vorliegenden 
Notizen diefes Gut, wo er jedenfalls mit feinem Bater viele Zeit 
zugebradht Hatte, mit feinem Worte erwähnt. Es ging jpäter nad 
des Baters Tode an die Schweiter Frau Bernoulli über. 

3) Unter der zu Ende des XVII und im Anfange des XIX. 
Sahrhunderts jtark gepflegten Wiſſenſchaft der Metaphyſik veritand 
man diejenige Ertenntnis, welche nit durch Empirie d. h Bes 
obachtung, jondern nur auf dem Wege der geiltigen Spekulation 
erworben wird, wie 3. B. politijche Utopien, ftrafrechtliche Theorien 
und anderes. | 

16) Hieronymus de Lachenal war ein für feine Zeit hochgebildeter 
Kaufmann, der ji) für Willenihaft und Kunſt lebhaft interejjierte. 
Er bejaß in Baſel, wie auf Goriſen jtattlihe Bibliotheken, an 
legterem Orte auch eine bedeutende Mineralienfammlung Am 
politifchen Leben feiner Vaterjtadt nahm er aktiv feinen Teil. 

17) Das Lachenalſche, jpäter Schönauerijche, nad) 1859 parzellierte 
Landgut an der Grenzaderitraße. Die zwei dazu gehörigen Wohnz 


281 


häuſer Nr. 83 und 85 find nod) vorhanden und wurden zu Ende des 
XVIII. Sahrhunderts von einem Herrn Zanderer erbaut, der daſelbſt 
eine Art Sommerfajfino errichten wollte, das aber nicht rentierte, 
da Landerer, ftatt fih vorher auswärts derartige Injtitute anzu— 
fehen, nad) eigenem Sinne baute, jodaß die Xofalitäten zu Flein. 
und fi zur Abhaltung größerer Zeitlichkeiten als ungeeignet er— 
wiejen. Der am oberen Ende des Gutes gelegene, heutzutage der 
Familie Merian: Thurneyjen gehörige große englilhe Garten wurde 
aber erjt von den Gebrüdern Lachenal angelegt. 

18) Tochter von Herrn Emanuel Laroche und Frau Urjula geb. 
Hermann. | 

19) Baronin Juliana von Krüdener, geborene von Bietinghoff, 
wurde im Sahre 1766 als Tochter eines Kurländiſchen Gutsbejigers 
in Riga geboren und erhielt eine forgfältige Erziehung, 1783 hei— 
tatete fie den Baron Burkhard Wlerander von Krüdener, ruſſiſchen 
Gejandten in Kopenhagen und Benedig, einen gediegenen, ernit ver- 
anlagten Mann, von dem jie ſich in der Folge trennte und fi) einem 
leiytfinnigen Gejellihaftsleben Hingab. Später verjöhnte fie jich 
wieder mit ihrem Manne furz vor deſſen Tod. In Paris veran- 
Italtete fie zur Zeit Napoleons myſtiſche Zujfammenfünfte und jchrieb 
den Roman Balerie. Sie war mittlerweile fromm geworden, hatte 
fi) zur Buße befannt und hielt im Jahre 1814 in Paris religiöje 
Berfammlungen mit Geiſterbeſchwörungen ab, bei welchen aud) Kaiſer 
Alexander von Rußland zuweilen anwejend war. Wie yon früher, 
Hate fie ihn für ihre Sdeen zu gewinnen gejudt und man glaubte, daß 
fie Alerander den Gedanken zur Gründung der heiligen Allianz bei- 
gebradht Habe. Im Jahre 1815 kam fie in die Schweiz, unternahm 
im Sommer 1817 in Begleit mehrerer Gleichgejinnter eine Milfions- 
reije in die nordöltlihe Schweiz, wurde aber überall, jowie in Baden, 
zurüdgewiejen und kehrte im Frühjahr 1818 in ihr Vaterland zurüd. 
Gie lebte dann auf einem ihrer Güter in Livland und jiedelte dann 
im Sabre 1824 mit ihrem Schwiegerjohn Baron v. Berckheim zur 
Anlegung einer religiöjen Kolonie nad) der Krim über, wo fie am 
13 Dezember gleichen Jahres jtard. Frau von Krüdener, über die 
Thon viel gejchrieben worden, war von edlen Abjichten erfüllt, aber 
Haltlos und ſchwankend und eigenen Stimmungen und fremden 
Einflüjjen jehr zugänglih. Theolog. Realencyclopaedie Bd. XI. 

20) Die Schweizerifhe Monatschronit vom Jahre 1816 berichtet 
ungefähr: Frau von Krüdener hat in etlichen Schweizerjtädten großes 
Aufſehen erregt. Bereits anfangs 1816 befand fie ſich in Gejellichaft 
eines Genfer Geiltlihen im Wilden Mann in Bajel und begann 
dort in ihrem Zimmer für pietijtilhe PBerjonen Andadtsitunden zu 
halten. Dann mußte fie wegen Zudrangs die Wirtsitube benußen. 
Zuerſt fand jtilles Gebet jtatt, dann joldhes des Empeytaz, dem ein 
franzölilher Vortrag des Lebteren in gewählter Form folgte und 
Ichließlich wieder ein Gebet, das alle fnieend anhörten. Hieran 


282 





nahm Frau von Krüdener nur ftummen Anteil. Einige aber berief 
fie auf ihr Zimmer und fing mit ihnen nachdrückliche Brivatunter- 
Haltungen an. Gie zeigte fih aud im Wilden Manne etlichen Be- 
vorzugten in idealer prielterliher Kleidung am Ende mehrerer 
dunkler Zimmer, 

21) Diejer Entwurf iſt nicht mehr aufzufinden. 

2) Am 10. Oftober 1816 wurde auf Antrag von Bürgermeijter 
Wieland ein engerer Ausſchuß ernannt, dem die Profeſſoren Lachenal, 
Miville, Huber und Pfarrer Fäſch angehörten mit dem Auftrag, fi) 
über Einrichtung der Elementarjchulen, des Gymnafii und eines 
ebenfalls noch beizgufügenden Bädagogiums oder Lycäums als Vor: 
bereitung zu den höheren Yafultäten und wie das eine in das 
andere greifen und das Ganze zweckmäßig mit einander verbunden 
werden fönnte zu beraten und der Kommilfion ihre Anfichten und 
Vorſchläge darüber einzugeben. 


23, Siehe Kleinratsprotofolle vom 22. und 27. Januar 1817. 


24) Ein weiterer Grund zu Lachenals Verjtimmung, die ihn 
veranlajjen fonnte, Bajel zu verlajjen, mag auch das im Mai 1817 
erfolgte polizeiliche Einjchreiten gegen die damals in feinem Haufe 
an der Grenzaderjtraße veranitalteten religiöjen Verſammlungen 
geweſen jein, jowie jeine am 12. Mai gleichen Sahres erfolgte Be- 
Itrafung mit Geldbuße wegen unerlaubten Beherbergens. Er Hatte, 
nachdem rau von Krüdener ihren Aufenthalt am Grenzaderhorn 
verlajlen, dieje, deren Tochter und Schwiegerjohn Herrn v. Berdheim, 
ven Geijtlihen Empeytaz aus Genf, jowie die Damen Armand und 
eine große Anzahl armer, elender und ſchriftenloſer Perſonen aus 
dem Gefolge der rau von Krüdener bei ſich aufgenommen, wor: 
über er im Berhör angab, er Habe dieje Leute nur deshalb nicht 
polizeilich angemeldet, weil er immer gehofft, daß fie von Yrau 
v. Krüdener anderswohin verjorgt würden. Prof Lachenal ſpeiſte 
damals täglid) eine große Anzahl Hilfsbedürftiger Perjonen, wobei 
Gebete gejprohen wurden. An Sonntagnadmittagen fanden bei 
ihm Erbauungsitunden ftatt, zu denen jedermann Zutritt Hatte. 
Lachenal las dabei Bibelterte vor, denen er dann und wann er- 
läuternde Bemerfungen beifügte, während feine rau den Gejang 
leitete und ein gewiſſer Onophrion Eglingsdörfer aus Kleinhünnigen 
betete. Schon im Februar gl. Sahres waren in Lachenals Yandhaus, 
das damals Herr von Berdheim bewohnte, religiöje Verfammlungen 
und Suppenverteilungen gehalten worden. Siehe A. Viſcher. Die 
Ausweifungen des Herrn v. Berdheim im Jahre 1817. 

25) Die Miffionsreije der Frau von Krüdener muß ſchon in 
den legten Wochen des Monats Mai 1817 begonnen haben. Gie 
hielt ih in Zofingen auf, ging dann nad) Bern und fam am 31. Mai 
in St. Urban an und bald darauf in Zuzern, wo fie die Villa des 
MWeinhändlers Bälliger mietete. 


283 


26, Eine Stüße der Krüdener in Luzern war Schultheik Vincenz 
Rüttimann, während andere Magiltrate ihr weniger freundlich 
gegenüber jtanden Die katholiiche Geiltlichkeit nahm ihr gegenüber 
zuerjt eine abwartende Stellung ein, prüfend, ob ihre Lehren dem 
Katholizismus Nuten bringen könnten, Geijtliche fühlten ihr daher 
wegen ihrer religiöjen Anjichten auf den Zahn und fanden diejelben 
bald mit der firhlichen Zehre unvereinbar. Ihre Wegweiſung erfolgte 
jedod nicht auf Veranlafjung kirchl Behörden. Als Frau v Krüdener 
den obrigfeitlichen Befehlen zur Abreije nicht Folge leijtete, jegte fie 
die Polizei in der Naht vom 2./3. Juli in eine Kutſche und ließ fie 
unter polizeiliher Begleitung auf ihren Wunſch nad) Zürich führen, 
während die aus aller Herren Länder zujammengejtrömte Bettler- 
geleitjchaft auseinander getrieben wurde, Siehe Theodor v. Liebenau, 
Frau v. Krüdener in Quzern; Cafimir Pfyffer, Gejchichte des Kontons 
Zuzern, Bd. II.; Anonymus. Frau v. Krüdener in der Schweiz 1817, 
jowie die Schweizeriihe Monatskronit. 

27) Nad) dem Anonymus fam rau von Krüdener vom zürch— 
eriihden Oberamtmann in Knonau begleitet, dem jie von der Luzerner 
Polizei übergeben worden war, am 3. Juli Nadıts 10 Uhr in Zürich 
an. Sie hielt um eine dreiwöchentliche Aufenthaltsbewilligung an; 
doch wurde ihr bloß der folgende Tag zum Ausruhen geitattet. Nach 
Ausfunft des Staatsarhivs Züri) hat fie bei einem Herrn Noß 
auf der Platte gewohnt. | 

33), In Lottitellen Stellte ji) wieder ein Teil ihres von der 
Quzerner Polizei gejtreuten Gefolges ein, bis der Ortsvorſteher am 
12. Zuli mit Hülfe der Bürgerſchaft den Ort jäubern ließ, was, wie 
der boshafte Anonymus berichtet, Frau v. Krüdener jelbit nicht 
gerade unangenehm geweſen jei. 

Leider gibt Friedrich Lachenal die Daten der Aufenthalte an 
den verjchiedenen Drten nit an. Sie lajjen ſich am beiten aus dem 
Anonymus und der Schweizerifchen Monatskronik feititellen. 

29, Frau v. Krüdener jtieg in Schaffhaujen bei Frau Katharina 
von Peyer im Mühlental ab. Die Polizei geitattete ihr Montags 
den 14. Juli. aber bloß bis Donnerstag, den 17. Aufenthalt und als 
fie Freitags noh da war und jogar um Verlängerung des Auf: 
enthalts bat, wurde diejes Geſuch abgewiejen und ihr angedeutet, 
daß fie bis Schlag 4 Uhr abreifen müfje, anjonjt die Polizei Gewalt 
brauden würde. Bei ihrer Abreife begegnete fie dem Gelehrten 
Joh. Georg Müller, Bruder des Gejhichtsichreibers Johann 
von Müller, der fie ſchon in LXottjtetten bejucht Hatte. Sie madıte 
auf ihn einen guten Eindrud und er fand, daß er den Geijt der 
Hriftlichen Weisheit, Demut und Liebe zum Herrn und um des 
Herrn willen zu den Menſchen feit langem nie in diejer Voll: 
kommenheit gejehen habe. Trotz allem Für und Wider gegen die 
Krüdener, Habe die Krüdener, durch Das Aufſehen, das ſie madte, 
lebhaites Intereſſe für die Religion und zur Sehnjudht nad) der 


284 








Mahrheit angeregt; aber es jei noch viel Unreines bei ihr. (Karl 
Stodar, Decan; Ioh. Georg Müller, Doctor der Theologie, Profeffor 
und Oberjchulherr zu Schaffhaujen, ein Lebensbild, Bafel 1885.) 

30) Welcher Art dieje Lebensgefahr war, in der Profeſſor Lachenal 
und feine Frau gejchwebt, ijt nicht zu ermitteln. Cinmal war nad 
dem Anonymus die Rutiche der Frau von Krüdener in Schaffhaujen 
nahe daran, von einer jhmalen Zufahrtsitraße zum Peyerſchen Gute, 
in einen tiefen Bachtobel hinabzujtürzen. Die Sache lief aber noch 
gut ab. Es iſt ungewiß, ob die Ehegatten LZachenal dabei waren. 

31) Sie fand in Dießenhofen für einige Tage Aufenthalt in 
einem Wirtshaufe vor dem Städtchen und trat von da aus mit den in 
den benachbarten Dörfchen Gailingen und Randed zahlreich anfäljigen 
Suden in Verbindung, welden fie bejondere Aufmerkſamkeit ſchenkte 
als dem beim bevorjtehenden großen Umfchwung der Dinge vornehm- 
lid) auserwählten Bolfe. 

32) Sie fam am 10 Auguſt in Arbon an, entfaltete dort ihre 
Tätigkeit, mußte aber ſchon am 12. wieder abreijen. 

33) Nach dem Anonymus haben die Reijenden in Sankt Mar: 
garethen das gegenüberliegende öjterreichiihe Ufer nicht betreten 
fönnen, jondern es wurde ihnen von dem erpreß per Schiff hinüber: 
gefahrenen öjterreichiichen Oberamtmann ein jtrenger Befehl aus 
SInnsbrud mitgeteilt, wonad) weder Frau v. Krüdener nod) ihr 
Gefolge das ölterr Ufer betreten durften. 


4) Nach derjelben Quelle fam die Reiſegeſellſchaft am 20 Auguſt 
nah Konſtanz, am 21. nad) Sießenhofen, am 22. in das Schaff— 
hauſen gegenüber gelegene Zürcherjche Dorf Feuerthalen, dann nad) 
Uhwiejen und Marthalen, bis jie am 23 abends vom Oberamtmann 
in Andelfingen in Begleit von ſechs Landjägern bei Rheinau über 
den Rhein gebracht wurde. Sie reiten nad) Lottitetten und famen 
am 25. abends in Neuhaujen bei Schaffhbaufen an Im Zürcher 
Staatsarchiv befinden ſich hierüber Aftenjtüde. 

3) Die Zurüdberufung Lachenals war auf Beranlafjung der 
Verwandten feiner Frau gejchehen, nachdem der Ehemann jeiner 
einzigen Nichte dieſen Schritt als unerlaubten Eingriff in die Rechte 
eines Dritten zu tun verweigert hatte. 

% MWahrjcheinlich in feinem Haufe auf dem Nadelberg, da 
Lachenal inzwiſchen feinen Landſitz veräußert Hatte. 

37, Siehe hierüber einen deutjchen Brief vom 19. Sept. 1817 aus 
Kandern, ohne Unterjchrift, vielleiht von der Hand der Frau von 
Krüdener oder auch ihrer Tochter, der Frau v. Berdheim, an deren 
Dann gerichtet, der ji) damals nicht mehr bei der Reijegefellichaft, 
fondern auf einer Reife nad) Rukland befand. An diejen ſonſt 
meijt franzöfiich gejchriebenen Briefen ſcheint oft mehrere Tage lang 
geichrieben worden zu fein Es heißt darin: „Hier haben wir etwas 
feltfames erlebt, unjer lieber Freund Lachenal wurde geitern mit 


285 


Gewalt nad) Lörrach) geführt, um von da vermuthlich nach Bafel zu 
gehen. Wir erwarten jett die Folgen von diejem gewalthätigen 
Schritt der Basler Regierung ; denn es ijt etwas unerhörtes, einen 
freien Bürger wie Lachenal als einen Verbrecher durch Yandjäger 
holen zu lafien..... Unfer lieber Freund weiß daher ruhig und 
entſchloſſen vor Obrigkeit jein Befentniß abzulegen. Wir erhalten 
ſoeben einen Brief vom lieben Zadhenal, wo er uns meldet, daß er troß 
aller Bemühungen den Oberamtmann nicht jprechen konnte, aber 
die MWeifung erhielt, fih ungefäumt nad) Bajel zu verfügen. Er 
erklärte aber, daß er nicht freiwillig, jondern nur gezwungen dort=- 
hin gehen würde. Der Profejjor wurde wie in KRandern, mit Ge— 
walt fortgeführt, nur mit dem Unterjchied, daß in Lörrach ein 
Amtsdiener in bürgerlicher Kleidung in die Chaife ſaß. Es jcheint, 
daß von Seite des Oberamtmanns aud Willtühr im Spiele war; 
denn die Berwandten waren bejtürzt über die Art feiner Ankunft. 
Es jheint aud ein Blan zur Trennung unjerer Gejellihaft wirffam 
zu fein.“ 

Aus dem Schreiben Lachenals teilt Schreiberin noch folgendes 
mit: „Der Amtsdiener, der mich begleitete, Hat ein Schreiben an 
den Kantonsrath mitgebradjt, worin id) als von der Frau von Krü— 
dener irregeführt und nun gemüthskrank gejchildert werde und worin 
darauf angetragen wird, mich unter polizeiliche Aufſicht zu jtellen 
und den Wiedereintritt in das Badiſche zu unterjagen, bis daß ich 
von der Gemüthstrankheit geheilt jein werde. In Folge dieſes 
Schreibens hat der Rath mid) der Aufliht und Bejorgung der Fa— 
milie übergeben und auferlegt, weder Leib noch Gut zu verändern, 
das will jagen, daß ich mich von der Stadt nicht entfernen, auch 
von meinem Bermögen nichts verändern darf, auch find mir alle 
religiöjen Verſammlungen und Kinderlehren zu Halten oder Halten 
zu lajjen, verboten.“ Auch habe Lachenal gejchrieben: „Ich weiß 
nicht, wie mir zu Muthe ijt, ich lebe wie im Traum, in einem Zus 
ſtand gemiſchter Gefühle Geſtern Abend erfüllte mich der Herr 
mit dem Bemwußtfein des herrlichen Ausgangs der Sache. Mädtig 
it der Zug, der mich von Euch, Geliebte, hinreißt (wahrſcheinlich ift 
hiermit der Einfluß der Verwandten gemeint); Doch muß ich mich 
jet noch zurüdhalten. Ich werde vielleicht hier noch) zeugen müjjen. 
Sch Ipreche ganz unverhohlen mit allen unjeren Anverwandten und 
Sreunden von der Notwendigkeit der Million. Die große Sade der 
Miſſion bejchäftigt mir Kopf und Herz und id) lebe und webe im 
Geilte ganz allein und ausſchließlich in Euerer Mitte.“ 

Ferner jchreibe Lachenal an feine rau: „Fürchte nicht, meine 
Theuere, daß ich unthätig und bloß leidend in diejer meiner Lage 
verbleiben werde. Sch bejchäftige mich mit der Verbreitung der 
Aufſchlüſſe über die Offenbarung und werde auch fünftigen Mitt: 
woch unjerem Kantonsrath meine Proteftation gegen das Benehmen 
des Oberamts Lörrad) und ihren eigenen Beihluß überreichen, 


286 





worin ic) mich über den Zwed der Miſſion nahdrüdlih ausſprechen 
werde, bittet, dag mir der Herr Kraft dazu gebe “ 

Der Brief berichtet aud) über die Heimberufung der Frau 
Zachenal durch ihre Verwandten und Abholung durd) ihren Bruder 
Deputat Germann Larode. „Der Herr Deputat brachte feiner 
Schweiter ein Schreiben vom Rath, worin das Amt Lörrad) auf's 
neue erſucht wird, zu veranitalten, daß auch Frau Lachenal ihrer 
Familie übergeben werde. Herr Lachenal joll feiner Verwandtſchaft 
zur Bejorgung überlafjen, demfelben die ſ. 3. erhaltenen Reijepäfje 
abgefordert werden. Der I. Profeſſor ſchrieb jeiner Frau nichts 
vor; erfagte ihr nur, er würde in ihrer Yage der Gewalt nachgeben.“ 
Auf einem diefem Briefe beigelegten Zeddelchen d. d. Krozingen, 
25. Sept. 1817 heißt es noch: „Bon den lieben Yachenals haben wir 
Nachrichten durch die Poſt. Sie weinten ſehr, als Jie Bajel wieder: 
fahen und verbargen ſich vor ihren Berwandten, um in ihrem Zimmer 
zu beten. Gie jagt, daß jie unmöglich von uns entfernt leben fann. 
Der Profeſſor ilt ruhig und gefaßt und in feinem Innern glüdlid 
und will für den Heiland zeugen.” 

Giehe im Basler Staatsarhiv Briefe und Akten des Freiherrn 
Franz Carl von Berdheim, meilt Briefe feiner rau an ihn und 
folde anderer Perjonen, Reijepälle der Familien Krüdener und 
Berfheim, Geſchenk von Herrn alt Appellationsgerichtspräfidenten 
Dr. Auguſt La Roche-Burdhardt. Siehe auch Kleinrathsprotofoll vom 
20. September 1817, Seite 397. 

3) Qaut diejen erwähnten Briefen jegten Frau von Krüdener 
und deren Tochter dieje Reife noch eine Zeitlang fort, bald im 
Elfaß, bald im Großherzogtum Baden tätig, wobei fie immer nod) 
mit den Ehegatten Lachenal in brieflihem Verfehr blieben. rau 
von Berdheim bewahrte überhaupt dem Lachenalſchen Haufe äußerit 
danfbare Gefühle In Freiburg erhielt Frau v. Krüdener im No— 
vember Befehl, nah) Rußland zurüdzureijen, wo ſie im Frühjahr 
nad) einer äußerjt bejchwerlichen Reife anlangte. Die Ehegatten von 
Berdheim aber ind im Frühjahr 1818 wieder in Bajel, wohnen bei 
Profeſſor Lachenal. 

39) Lachenals Anhänger aber glaubten, derſelbe werde auch wie 
fie auswandern. Dieſe Auswanderungen waren jo zahlreid), daß 
Schweiz. Rantonstegierungen fi zu Maßnahmen veranlaft jahen. 
So ſchrieb ein 3. 3. Koch unterm 30 April 1818 aus Groß 
Liebenthal bei Odeſſa, an Frau von Krüderer, nahdem er bes 
richtet, wie herrli er in Mostau von Kaiſer Alerander und 
den beiden Kaiferinnen empfangen worden und wie diejer für die 
Einwanderer nah) Grulien forge „wo bleibt aber unfer theuerer 
Herr Profefior Lachenalle? ift er noch in der Schweiz oder ijt er 
auf dem Wege zu uns. Der Herr wolle ihn doch bald mit nod) 
vielen gejunden Schweizerbrüdern zu uns führen“. (Staatsardiv 
Bajel, Briefe und Akten des Freiherrn Franz Carl von Berdheim.) 


287 


\ 

40) Krüchte dDiefer Studien waren die „Blide jenfeits des Grabes“. 

4) Wer diefe einflußreiche Perjönlichkeit geweſen tft, ijt nicht 
mehr fiher feitzuitellen. Am eheiten fann der in der Abhandlung 
von Dr. E. Schaub: Bilder aus dem religiöien Leben Bafels um’s 
Sahr 1830 erwähnte Jacob Wirz gemeint fein, da ſich unter La- 
henals Papieren aus dem November 1850 Konzepte zu Schreiben 
an einen gemwillen Bölfer vorfinden, in denen von einem Bruche 
Lachenals mit Wirz die Rede iſt. Lachenal rechtfertigt fein Ver: 
fahren dem Völker gegenüber, der ihm wegen jeines Verhaltens 
gegen Wirz Vorhaltungen gemadt zu haben jcheint. 

Merktwürdigerweile erwähnt Lachenal nicht die Fleine jepara- 
titifche Vereinigung, die zu Ende der 1820er Jahre bei einer Miß 
Blackwell im früher Reberichen, jpäter Hisichen Gute vor dem Gt. 
Sohanntor zujammentam und der aud) Profeſſor Lachenal angehörte. 
Siehe Basler Sahrbud) von 1909. Bilder aus dem religiöfen Leben 
Bajels um’s Jahr 1830, von Emil Schaub und Chr. Volksbote Jahr⸗ 
gang 1911 Nr 35—38 Aus den Erinnerungen eines alten Mannes. 

22) Cs war dies in der Mitte der 1830er Jahre. 

43) Laut dem Vorworte durch den Beiltand der göttlichen Gnade 
ausgearbeitet als eine Lehr: und Troſtſchrift für die Menjchheit in 
diejen jtürmijchen und entjcheidenden Tagen. 


288 


Sin Spaziergang über Das Bruderbols, 


Don Srisg Baur. 


Vor Lüſchers Bild der trommelnden Waifenbuben im 
Basler Mujeum trafen jih an einem Sonntag Vormittag 
unvermutet zwei Freunde. Obwohl ſie fi) aud) in der Woche 
häufig zu jehn pflegten, war doch die Freude groß. Geſtern 
war ein dülterer Tag gewejen. Sonſt hätte man wohl einen 
Ausflug auf den Paßwang anberaumt. Der unerwartete 
Umſchlag zu günjtiger Witterung und heller Beleuchtung hatte 
beide in die Gemäldefammlung geführt. Nun verabredeten 
fe einen befcheidenen Nahmittagbummel. 

Sie ftanden beide nod) ohne eigene Zamilie da. So war 
es ihnen möglid), zur abgemachten Stunde einander zu treffen. 
Ohne Zaudern wurde der Weg unter die Füße genommen, 
über die Batterie und Reinach nad) Dornachbruck. Nicht ohne 
eine fleine Meinungsverjchiedenheit hatten fi) die Freunde 
noch im Mufeum für diefen Weg entihieden. Bon Hans, 
dem Xelteren, war der Vorſchlag ausgegangen. Yerdinand 
wandte dagegen ein, da jei man ja feine zwei Minuten vor 
läftigen Begegnungen fiher. An einem Spaziergang fei ihm 
das Tiebite das einjame Wandern zu zweit oder dritt und ein 
vernünftiges Gejpräh dazu. Wem an lärmiger und unwill- 
fommener Gejellihaft gelegen fei, der könne ja nad) dem 
Waldhaus in der Hardt pilgern. Und wenn man aud noch 
Leute fände auf dem Bruderholz, mit denen es ſich Iohnen 
würde, zujammenzutreffen. Uber der reine Großſtadtpöbel 


289 19 


wälze ji über diefe Flur. Stumpflinnig trotteten jie ar 
der ſchönſten Ausliht, an den reizendſten Waldwinteln vor— 
über, nur auf das Glas Bier bevadht, das ihrer in der 
Brauerei zu Reina Harre. Er Hatte jih in einen ordent= 
lihen Aerger hineingefhimpft. Aber Hanſi fnüpfte an die 
von feinem Kameraden jelber zugegebenen Borzüge der Land» 
Ihaft an. Er ſtrich fie fo weiblich heraus, daß er ſchließlich 
objiegte, zumal er Ferdinanden, der für alles Geihichtliche 
eine Schwäche Hatte, von dem Thierjteinifchen Grenziteine 
ſprach, der nicht fern vom Bruderholziträßchen im Felde jtehe. 

So wanderten fie denn die neu angelegten Windungen 
der Bruderholzitraße hinan, an den äußeriten Borpoften der 
Stadt vorbei, an den Häufern, die dort oben in den letzten 
Sahren entitanden find. Ihre zum Teil noch fnalltoten Dächer 
hoben fi grell ab vom Hintergrund der Tannen und von 
dem blauen Srühlingshimmel. Und wie Ferdinand befürchtet 
hatte, jo erflomm mit ihnen eine Unzahl von Städtern die 
Höhe, Schulbuben mit der qualmenden Zigarette im Mund; 
Heilsarmeemädchen, am Hallelujahute kenntlich; Familien— 
väter hinter dem mit zwei, drei Sprößlingen bepadten Kinder- 
wagen, gefolgt von der Gattin, die den Reit der Hoffnungs- 
vollen Brut im Schlepptau Hatte; Sünglinge mit den edigen 
Bewegungen und den täppilchen Scherzen junger Hunde; ehr= 
bare Bürger, die zufammen fannegießerten; Liebespärchen 
und gepußte Frauen, furz der ganze Troß, den ein fehöner 
lonniger Lenzjonntag aus der Straßen quetjhender Enge 
berauslodt, ins 20. Sahrhundert überjegt der IOHEEIPOGIER: 
gang aus des großen Dichters ſchönſtem Merf. 

Unjere beiden Freunde waren auf feine läſtige Bekannt— 
haft gejtoßen. Sie konnten alfo ruhig erörtern, wozu ihnen 
die nächte Umgebung den Anlaß bot. Cs ſei doch Hübich, 
wie jeßt überall der Heimatjchugitil zur Geltung fomme, 
meinte Ferdinand. „Sa, du bilt auch einer von denen, die 
jagen: Heimatihuß ijt, wenn man ein großes Dad baut“, 
böhnte Hanfi. Und fo gerieten fie über die Frage, was unter 


290 


Heimatſchutz zu veritehen fei, in einen Gedankenaustauſch, der 
fie den ganzen Nachmittag nicht mehr Ilosließ und durd 
mandes, was fie auf ihrem Spaziergang an ji) porübergehn 
fahen, nad) immer neuen Richtungen geleitet wurde und immer 
friihe Anregungen erhielt. Freilich eine fnappe und jcharfe 
Umſchreibung des Begriffes Heimatſchutz zu geben, erflärte ji) 
Hans auf die Frage Jeines Kreundes außer Stande. Uber er 
befannte jih als ein aufrihtiger Anhänger der Strömung, 
die man als Heimatjchuß bezeichnet, injofern fie, und das Jet 
jedenfalls ihre wichtigjte und am deutlichiten in die Augen 
Ipringende Geite, auf allen Gebieten die Fabrikware gedanken— 
lojer Schablone durch die Werfe guten Gejhmades zu ver: 
drängen trachte. Er ſprach feine Zweifel darüber aus, ob 
alle die Neubauten da oben den Anforderungen des Heimat: 
Ihußes entipringen. Nicht jede Abfonderlichfeit fei, weil fie 
dem herrſchenden Philiſter-Ungeſchmack widerſpreche, deshalb 
ein Erzeugnis guten Geſchmacks. Das Gefühl für das Schöne 
zeige ſich auch darin, daß der Geſamteindruck berückſichtigt 
werde; und ob alle dieſe Häuſer gerade auf dieſe Halb ländliche 
Anhöhe pajjen, ließe fi fragen. Wenige Hundert Schritt von 
bier entfernt, Hinter der Spittelfheune an der Gundeldinger 
Gtraße jtehe ein Häuschen, es ſei bloß zu verwundern, daß nicht 
Nahahmungen davon, der Neuzeit anbequemt, zu Dußenden 
entjtänden. Darin müßte ein heimelig Wohnen fein! Und wie 
folde Bauten jeder Stadt und jedem Dorfe wohl anjtehn 
würden! Er meine das Häuschen, das Thomas Platter einft 
gefauft und in dem feine Nachkommen ihren Yandaufenthalt 
genommen hätten. Darin trafen die Urteile beider Spazier- 
gänger zujammen, daß heute mehr als früher jeder Bauherr 
darnach tradtet, feine Wohnung nad ſeinen Bedürfniljen 
und Liebhabereien einzurichten. Dadurch erhalten die Bauten 
einen perjönlihen Anjtrid. Das Schablonenmäßige, das die 
ältern Gtreden 3. B. der Eulerjtraße und der Holbeinitraße 
jo unerträglich langweilig madt, verſchwindet dadurch mehr 
und mehr. 


291 19° 


Unter folden Gefpräden waren fie zur weitſchauenden 
Batterie gefommen. Hier waren alle Bänflein bejeßt. Hier 
gab’s aud einen der gefürdteten unlieben Zujammenjtöße. 
Hanfis Leibſchneider ſaß da, ein gemütlider alter Mann, aber 
neben ihm fein geihwätiges Weib, das den Freunden von 
weitem entgegenrief: „Guten Tag Herr U., guten Tag Herr B., 
ic) Habe Ihnen ſchon lange am Gang erkannt.“ Hanfi zudte 
unter diefer Mikhandlung der Sprache zulammen, als hätte 
man ihn förperlich beleidigt, und beinahe grob erwiderte er 
furz den Gruß des biedern Paares. „Muß uns dies ver- 
dDammte Weib den jhönen Punkt verefeln!“ zürnte er. Fer— 
Dinand, mit einer ftillen Freude, daß feine Befürdtung fo 
tajch eingetroffen war, verwies dem Xeltern fein abjtoßendes 
Mefen. Aber Hanfi erklärte rundweg, er fünne nicht Höflich 
fein mit jemandem, der „Shnen“ ſage anjtatt „Sie“. „Ad, 
wenn’s das ijt,“ fagte Ferdinand, deſſen Vater aus Berlin 
gekommen war, der Sohn aber war Schweizer, — „wenn’s 
das ift, wie ſchwer mußt du dich denn ärgern, wenn du mit 
meinem Alten am Tijche fieft, der mir und mid) aus Grund: 
ja vertaufht!“ „Das läßt ji) gar nicht vergleichen“, ant- 
wortete Hanfi; „im Berlinijchen iſt diefe Vertauſchung in Ord- 
nung, fie entſpricht der Regel, fie ift Hajjiih. Aber das Ihnen 
für Sie halten die Glätterinnen und Yadenjungfern für vor: 
nehm und brauden es, genau wie fie jagen „i hätt jotte“ oder 
„i ha wotte“ für i hätt jolle, i ha welle. Und jo viel ver- 
Itehft gewiß auch du Baſeldeutſch, daß dir dieſe Yormen die 
Haare zu Berg Iträuben.“ 

Das mußte Ferdinand zugeben. Die liebevolle Pflege 
des Bafeldeutihen war ein GStedenpferd des guten Hans. 
Aber bei diefen Ritten fonnte ihn der Freund nicht begleiten. 
Diejem fehlte das richtige Ohr für die unverfälſchte Mundart. 
Er war dazu im Vaterhaus nicht angelehrt worden. Aber 
fein Gefühl gab dem Freunde bei ſolchen Herzensergießungen 
immer Recht. Um es jedod nicht zugeben zu müjlen, |prang 
er auf ein anderes Gebiet, gleichfalls ſprachlicher Natur über, 


292 


um Hanſi ein bißchen zu foppen. „Du Hoherprieiter der 
reinen Sprache, wie fannit du es vor deinem Gewiſſen verant- 
worten, den Ort, den wir joeben verlaſſen Haben, mit un— 
deutihem Namen zu nennen? Warum heißen wir dieje Schanze 
Batterie? Weshalb nit Hochwacht oder jo ähnlich?“ Aber 
Hanſi nahm den Einwurf ernſt und fing an, fi) in längerer 
Rede zu rechtfertigen. Wie es eine läherliche Ziererei wäre 
und darum eine Sünde wider den guten Gejhmad, wenn er 
die alte brave Batterie im Gegenſatz zu der ganzen Stadt 
umtaufen wollte Gr mödte fi) überhaupt dagegen ver: 
wahren, für einen Burilten zu gelten. Er bediene ſich des 
Deutſchen mit Vorliebe, wo aber ein Fremdwort jeine Ge— 
danken treffender wiedergebe, bediene er ſich unbedenklich des 
Fremdworts. 

„Aber ſieh,“ unterbrach er ſich plötzlich und wies auf einen 
linker Hand in einiger Entfernung aus dem Feld aufragen— 
den Steinpfoiten, „da iſt der Thierjteiniihe Grenzitein, von 
dem ich dir gejprochen Habe. Man erkennt noch deutlich das 
Reh im Wappen, und die form des ſtattlichen Balelitabs auf 
der andern Seite beweijt deutlid, daß der Stein aus guter 
Zeit jtammt. Schau, er trägt die Sahrzahl, 1519.“ Das 
Baar trat an den Stein heran und unterfudte die Halb- 
verwaſchenen Runen. Doch nit allzu lange. 

Serdinand blidte auf und Tieß feine Augen ſchweifen 
rundum von den Schwarzwaldhöhen über den Gempenitollen 
nad) der langen Linie des Blauens, über das Tal, wo Dorf 
an Dorf fih reiht und die verjhieden gefärbten Aecker den 
Boden in unzählige Schadfelder ſchieden, er wies hin auf die 
blühenden Obſtbäume und das frühlingfriide Grün der 
Waldbeſtände. „Braudt diefes ſchöne Land überhaupt einen 
Heimatihug!“ rief er aus. „Kann diefe Landſchaft unter 
Gebilden von Menſchenhand leiden? Die Bahnlinie geht 
unter im großen Bild. Den Ausſichtsturm auf dem Felſen 
achtet man nicht mehr. Die Ruinen ringsum und die Dörfer 
timmen zu den Linien der Gegend, daß alles in Eine große 


293 


4 


Melodie zujammenflingt!“ Hanſens baslerijhe Nüchternheit 
hätte fi zu einem jolden Loblied nie verjtiegen. Aber aus 
des Sreundes Munde vernahm er’s gern. Wie fie von dem 
alten Marfitein den blühenden Kirſchhbäumen des Weges 
wieder entgegengingen, führte fie das Denfmal der Ber- 
gangenheit von ſelbſt auf die Geſchichte. Daß fie hiſtoriſchen 
Boden beſchritten, wußten fie wohl. Hans hatte erjt vor kurzem 
in einem feiner Sahrbud-Bände die Geſchichte über das Ge— 
feht auf dem Bruderholz gelefen. Ueber mandes Schloß, 
deſſen Trümmer in der Ferne jihtbar wurden, wußte er Be— 
Iheid aus dem Werf über die Sisgauer Burgen, das er eifrig 
Itudierte. So trug der Marſch durch den Wald, am Dentmal 
vorbei und über den Fleiſchbach fein eigenes Gepräge. Und 
wenn aud, was der Freund dem (sreunde vortrug, nit das 
Ergebnis eigner Forſchung, jondern nur aus abgeleiteten 
Bächen gejhöpft war, jo gewann es doch feine Friſche und fein 
eben dadurd, daß es an die Wirklichkeit anfnüpfte, feine 
Märme dadurd, daß Vortragender und Zuhörer mit dem 
Herzen dabei waren. 

Gie traten aus dem Wald. Reinach lag vor ihnen. Mit 
Einem Blid überfah man Birsed, Dornach, Pfeffingen. Die 
Barodtürme der Domkirche in Arlesheim und die |pife Nadel 
des Reinacher Kirhleins wie aud der Käsbiljen von Ober: 
dornach, jedes mit der ji zu feinen Füßen ſcharenden Herde 
von Dädern, alles in ein Meer von friihdem Grün und Blüten 
getaucht, überftrahlt von zartblauem Yrühlingshimmel, an 
dem weiße Wölklein Hinjtrichen, dieſes heimatliche Bild ließ 
ihnen wieder den Gedanfen des Heimatſchutzes lebendig 
werden. Warum blidt jo wenigen unſerer Mitwanderer hier 
das ehrlide Entzüden aus den Augen? jo mußten fie fid 
fragen. Beſitzen wir einen Sinn mehr als die große Menge, 
die gleihgültig an diefer Frühlingpracht vorbeiläuft? Oder 
maden wir große Worte über etwas, was dieje till genießen? 
Dover belügen wir uns gar jelbit, wenn wir in diejer alltäg- 
lihen Landſchaft etwas bejonderes ſehen? 


294 


Hans und Ferdinand mußten ſich geitehen, daß fie zum 
Genuß der vor ihnen liegenden Landſchaft bejjer ausgerüjtet 
waren als der Durchſchnitt der Sonntagsbummler. Bon 
früher Jugend hatten die verjtändigen Eltern jie oft und viel 
hinausgeführt. Später waren die Burfche auf eigene Fauſt 
gewandert. So Hatten fie fih zu leidenjdaftlihen Fuß— 
gängern ausgebildet. Sie jeßten ihren Chrgeiz Darin, 
namentlih in der jchweizerijhen Umgegend von Bajel, im 
herrliden Jura tüdhtig befannt zu werden, und je mehr Ge- 
heimnijje fie dem Gebirg ablaujhten, um jo reizendere neue 
Pfade jahen fie im Dickicht verihwinden, deren weiterem 
Verlauf demnädjt nachzuſpüren jie ji) vornahmen. Und das 
Feld ihrer erjten Märſche lag Heute vor ihnen. Kein Wald— 
Tled, feine Blöße, feine weiße Kalfflippe, die fie nicht ſozu— 
jagen perjönli fannten. An jede Anhöhe fnüpften fih für 
jte Erinnerungen von meiſt gemeinjam ausgeführten Märſchen. 

Aber, jo führte fie ihre Erörterung weiter, dieje Freude 
an der Natur verdanfen wir dem Vaterhaus und einer Ge— 
wöhnung von Jugend auf. Die Erziehung fam eigener Nei- 
gung entgegen. Die Freude am Wandern, das Interejje für 
alles, was auf dem Heimatboden ſteht und wächſt, ſich regt 
und ſich zugetragen hat, taucht aus einer innerlichen Anlage 
auf. Wir haben von Anfang an die Heimat lieb. Das ilt, 
was uns von vielen andern unterjheidet. Wir dürfen’s uns 
nit als Verdienſt anrechnen, ſondern zum Teil ijt’s Anlage, 
zum Teil Erziehung. Wenn wir die Anlage, die wohl in 
einem jeden ſchlummert, weden und leiten, dann treiben wir 
rechten Heimatihuß. 

Als fie mit ihrem Gedanfenaustaufc bis zu dieſem Punkt 
gelangt waren — der Marſch Hatte fie inzwijchen mitten ins 
Dorf Reina geführt —, jo braden beide Kameraden in 
lautes Lachen aus. Feder fah den andern im Geilt als Präſi— 
denten eines Heimatjchußvereins. Sie hatten aber beide ſo 
gar nichts Pedantiſches oder gar Streberijches, daß die Vor— 
stellung wirklich komiſch wirken mußte. Allein das Lachen ver- 


295 


ging ihnen raſch, als gleichzeitig von Aeſch Her ſchnaubend 
und ftintend ein Auto, von der Stadt der Tram mit den erſten 
übervollen Sommerwagen heranjaujte. Mit großen Sprüngen, 
unter kräftigen Verwünſchungen retteten jie fih an die Wände 
der Häufer. Kaum Hatten fie die Landſtraße betreten, jo war 
fie ihnen auch gründlich verleidet. Es hätte aber diejes kleinen 
Erlebniſſes gar nicht bedurft. Hans wäre dod) feinen andern. 
Meg nad Dornahbrud gegangen, als den Fußweg über die: 
Matten und die Weide und an dem Föhrenhölzchen vorbei. 
Zwar hat aud) diejer Pfad verloren, feitdem fie den Dorf— 
bad) eingededt haben. Aber es iſt doch immer noch anderlei 
als die ftaubige Landitraße mit den langweiligen Arbeiter= 
häuſern. 

„Erinnerſt du dich, als wir letzten Herbſt hier vorbei— 
kamen, die ſchönen Steinnägelein, wie Blutstropfen“, rief 
Hans; „und die blühenden Waldkirſchen im Frühjahr, und 
ſpäter die Akazien und die Waldreben“, ergänzte Ferdinand, 
„ja, es iſt ein wahres Blumengärtlein hier, ſobald die Blumen 
überhaupt anfangen.“ Dann begann man zu klagen, daß die 
Blumenzudt nachgerade überfünitelt und verbildet werde. 
Da jehe man auf jedem Balkon hochſtämmige Orangebäumchen 
jtehn, aber der Dleander und der noch viel ſchönere Granat— 
ſtrauch kämen in Abgang. In den Gärten mahe man den 
Pflanz mit Canna und Gladiolen und Orchideen, während: 
man eine währjchafte Geranien- oder Nelfenjammlung ſuchen 
müſſe. Die jhönen Zugelrunden Dahlienblüten, der gegebene 
Shmud für das Spundlod eines Faſſes Saufer, werden von 
dem japanijchen Chryjanthemengewuder verdrängt, Ritter— 
porn, Eijenhut, Türfenbund und Gretelein in der Hed finden 
ih nur noch in den abgelegenjten Blumengärten, und ſelbſt 
auf dem Roſenbeet blüht felten mehr die alteinheimiihe 
Hundertblättrige. Dafür meint jedes Babi, es müſſe mit 
Marechal Niel und Kaiferin Sofephine die tun. 

"So nahmen unjere Spaziergänger den gärtnerifchen. 
Heimatihuß übers Knie und ſchalten über der Zeiten Ver— 


296 


derbnis wie zwei Alte. Schon drohte noch einmal eine Er: 
örterung über das Kapitel der Sprade, als Zerdinand einen 
frühen Yalter als Schmetterling anitatt als Sommervogel 
begrüßte. Aber zum Glüd waren fie jeßt vor dem Ochſen in 
Dornahbrud angelangt. Hier famen ſie überein, daß fie 
nit ſchöner Heimatſchutz pflegen fönnten, als indem fie nad 
alter Väter ehrenwerter Sitte einträten und zufammen ein 
Glas tränfen. 

Unter den zart ergrünenden Bäumen im Goldihein der 
finfenden Sonne, der Blick ſchweifend über die Waſſerfläche 
der Birs und nad) der engen Klus dort Hinten, der waldigen 
Lehne des Blauens entlang bis zur Dduftig verblauenden 
Landskron war es ein behaglidhes Sitzen und ein gemütliches 
Stündden. Noch einmal wurde das Keitmotiv des Nach— 
mittags durchgenommen nad) feinen verjchiedeniten Geiten. 
Wenn aud Hanſi wiederholt merken ließ, daß er als Alt: 
eingejejlener in diefem Kapitel in erjter Linie berufen fei zu 
reden, jo nahm ihm dies Kerdinand feineswegs übel, gut= 
mütig wie er war, und grundjäglic mit ihm ja vollfommen 
einverjtanden. 

Eigentlich) hatten fie auch den Heimweg zu Fuß maden 
wollen. Aber wem erging’s nicht ſchon Ähnlich, wie es ihnen 
jegt bei der Tramijtation erging? Da jtand eben der Magen 
zur Abfahrt bereit, und daneben im Begriff einzujteigen eın 
Lehrer, zu dejien Klaſſe Hans und Ferdinand noch vor zehn 
Sahren gehört Hatten. Sie waren beide gute Schüler ges 
wejen. So war die Freude des Wiederjehens gegenjeitig. 
Auf der Heimfahrt wurde dem erfahrenen und feinfinnigen 
Gelehrten ein furzer Auszug der nachmittägigen Unterhaltung 
vorgelegt. Da befannte ji) aud) der als ein aufrichtiger An— 
hänger der Bewegung. Ihm blieb es vorbehalten, den Ge— 
danken noch deutlicher auszujprechen, der aud) im Geſpräch 
der beiden jungen Leute wiederholt ji) angefündigt, aber 
nicht den richtigen Ausdrud gefunden Hatte: Heimatihuß, 
richtig aufgefakt, als Schuß heimilcher altbewährter Art und 


297 


Gitte, ohne beſchränktes Felthalten am Alten, nur weil es alt, 
ohne unverjtändigen Widerjtand gegen das Neue, nur weil 
es neu ijt, das bezeichne ich als eine nationale, eine patrio- 
tiſche Pflicht. Erſte Bedingung dazu ift Waterlandsliehe. 
Auch auf dem Gebiete des Heimatjhußes, wie auf einem 
andern gilt der Gab, daß wir ein tönendes Erz und eine 
Hingende Schelle jind, jo wir der Liebe nicht Haben, der Liebe 
zum Baterland, zur PVaterjtadt, zum Vaterhaus! 





298 


Das EZünftlerifche Leben in Bafel. 


Dom 1. November J9]J bis zum 3). Oktober 1912, 


Ein Rüdblid auf Theater, Mufif und bildende Kunft. 


Don 


Ernit Jenny, E. Th. Markees, Wilhelm Barth 
und Robert Brüninger. 


A. Theater. 


Die Theaterjaifon begann am 18. September 1911 und 
ihloß mit dem 31. Mai 1912. Bon den 260 Borftellungen 
fielen 54 auf das Schauſpiel, 54 auf das Qujtipiel, 106 auf 
die Oper, 37 auf die Operette; dazu famen 2 Poſſen und 
einige Märchen: und Ballettarrangements. Drei Urauf- 
Tübrungen von Werfen baslerifher Herkunft find 
zu verzeichnen: „Das Kreuz der Rache“, ein Schaujpiel des 
inzwilchen verjtorbenen, durch lyriſche Gedichte und durch Er- 
zählungen befannt gewordenen Lehrers K. Alb. Burgbherr; 
Die Oper „Simplicius“ unferes Dr. Hans Huber, und die 
Operette „Die Wallfahrt nad) Mekka“ von unjerm Klarinet- 
tilten KRapellmeilter Hermann Wetzel. 

Der ſtatiſtiſche Rüdblid zeigt, daß das Iobenswerte Be: 
itreben da war, nicht nur Neues, fondern auch Neues und 
Gutes zu bringen. Was für den Plat Bajel neu war, das 
durfte literariſch wie muſikaliſch wohl Intereſſe beanſpruchen, 
wenn ihm auch eine ſtrengere Kritik nicht immer ihre un— 
geteilte Billigung ſchenken konnte. 


299 


1. Das Shaujpiel bradte uns von Shafejpeare 
den „Caejar“, den „Kaufmann von Benedig“, „König 
Richard ILL“ und „Was Ihr wollt“. Bon Schiller jahen wir 
den jeltener werdenden „Fiesco“ und „Maria Stuart“, von 
Goethe den „Egmont“, von Leſſing „Minna von Barnhelm“ ; 
fernere Höhepunkte im klaſſiſchen und nadklafliihen Drama 
deutjcher oder fremder Zunge waren die Aufführungen von 
Kleilts „Zerbrochenem Krug“ — eine bejcheidene Zentenar- 
feier —, von Molieres „Geizigem“, von Sophocles’ „König 
Dedipus“, von Calderons „Richter von Zalamea“, von Grill- 
parzers „Des Meeres und der Liebe Wellen“, von Hebbels 
„Judith“. Die neuere dramatifche Kunſt war vertreten durch 
Sudermanns „Ehre“, Hauptmanns „Suhrmann Henjchel“, 
„Weber“ und „Kollege Crampton“, Schönherrs „Glaube und 
Heimat“ und Hardts „Tantris der Narr“. Bon Ibſen fahen 
wir „Nora“, „Gejpenjter“ und „Stüßen der Gejellihaft“. 
Zu den ftärfiten, wenn aud) äjthetifch nicht unwiderfprocdhenen 
Eindrüden zählen die Aufführungen der Werke von Ibſen, 
Calderon, Moliere, Hauptmann, dann Hebbel und Ernit 
Hardt. Hervorragende Genüſſe verjhafften uns ein paar 
Gajtjpiele: Frau Elje Lehmann vom Leſſingtheater 
in Berlin trat in den „Gejpenjtern“ und in „Fuhrmann 
Henjchel“ auf, die Basler Dtto Eppens vom Stadttheater in 
Hamburg in „König Dedipus“ und im „Richter von Zalamea“ 
und Dr. Otto Groß vom Schauſpielhaus in Leipzig in der 
„Verſunkenen Glode“; am meilten Beifall fand aber Herr 
Alb. Ballermann vom Deutſchen Theater in Berlin, der Ge- 
ftalten von padender Unmittelbarkeit und Lebenswahrheit 
zeichnete und um ſich herum ein Zujammenjpiel der hiefigen 
Kräfte zu erzielen wußte, wie man es noch ſelten hier gejehen 
bat. | | 

Um den Kern von Stüden anerfennenswerter Solidität 
in fünftlerifher Beziehung gruppierte fih dann eine Anzahl 
von ſolchen, die zur leihteren Theatermware gehören, 
Theaterfutter, ohne das feine Bühne ausftommt. Daß darin 


300 


die eigentlihen Kaljenjtüde feinen allzu großen Raum ein: 
nehmen, verdient bemerft zu werden, befonders aud), daß 
leichtere Zujtipiele mit hiltorifhem Hintergrund und Koſtüm 
wie Herihs „AnnasLije“ und Niemanns „Mie die Alten 
jungen“ zu Ehren gezogen wurden. Zugitüde wie Rößlers 
„Klubfeljel“ und „Fünf Frankfurter“ fanden nicht unver: 
dienten Beifall. 

Mehrmals bejuhten uns franzöfifhe Truppen. 
Vom Standpunft eines anjprudgspolleren Geſchmacks in lite— 
rariſchen Dingen fühlt man fi) allerdings verſucht zu Jagen: 
fie juhhten uns heim; denn, was fie außer dem «Tartuffe> 
brachten, war der abgeblaktejte Victor Hugo oder moderner 
Shund. Man möchte diefen Herren gerne die Weisheit ein- 
prägen, daß „hinter den Bergen auch Leute wohnen“. Viele 
Bejuder freilich wollen ja im franzölifhen Schauspiel nichts 
weiter genießen als die fultivierte Spradfunit, und da 
fommen fie meijt auf ihre Rechnung. 

2. Die Dper bradte verjchiedene Neueinftudierungen: 
jo „Sphigenie in Aulis“, „Sojeph in Yegypten“, „Don Juan“, 
„Sberon“, „Die verkaufte Braut“, ferner Wagners „Rhein 
gold“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Auch einige 
Dperetten erfuhren ein neues Studium; neu für Bafel waren 
jodann die Oper „Robins Ende“ von Künnefe und die Ope— 
retten „Walgertraum“ und „FZünfuhrtee” Von Wagnerfchen 
Opern jah man nod) „Tannhäufer“ und „Lohengrin“, und mit 
der „Walküre“ ſchloß jich der „Ring“, den man aljo im Monat 
Mai zufammenhängend genießen fonnte. Freunde eines klaſ— 
fihen Repertoirs freuten fih an „Don Juan“, „Figaro“, 
„Sidelio“, an „Sphigenie in Aulis“, „Sreifhüg“ und „Oberon“ 
oder auch an „Sojeph in Aegypten“; Verdi, Thomas, Bizet, 
Smetana, d'Albert famen aud etwa zum Wort; aud) der 
„Rofenfavalier“ war troß den Prophezeiungen der Strauß: 
Gegner noh am Leben. Und für die leichtere muſikaliſche 
Unterhaltung jorgten die Operetten. Unvergehliche Abende 
Ihufen die beiden MWagnerjänger Dr. Alf. von Bary von 


301 


Dresden und Fri Feinhals aus Münden. Den Bejudern 
des jehweizerifhen Lehrertages wurde am 2. Oktober 1911 
Gounods „Margarete“ geboten. 

Die neue Spielzeit begann am 16. September 1912. 


B. Konzerte. 


Die Konzerte behielten ihren Charafter bei, und be- 
ſondere Bemerfungen über das hiejige Muſikleben find nicht 
zu machen. Wir geben daher, wie immer bisher, nur furz 
eine Ueberfiht der hauptſächlichſten Erjcheinungen. 

Die Allgemeine Muſikgeſellſchaft ftand mit 
ihren von SKapellmeilter Suter geleiteten zehn Sym— 
phoniefonzerten und ſechs Kammermufifabenden an der 
Spitze des mufifalifhen Lebens. In die Programme der 
Syrshoniefonzerte wurde durch Heranziehung von Chor= 
mufif größere Abwechslung gebraht. Neben befannten 
Merken famen aud eine ganze Anzahl Novitäten zu Gehör; 
jo war Hans Huber mit einer neuen Symphonie 
(A-dur, Rt. 6) vertreten, Siegmundvon Hausegger 
ebenfalls miteiner SymphboniemitChorundDüOrgel, 
und Sriedrih Kloſe mit einem Melodram „Die 
Wallfahrt nah Kevlaar“. Das erjte Konzert fiel 
auf die Hundertjährige Geburtstagsfeier rang Liſzts; 
das Programm war dementjprehend gehalten. Bon den 
Soliiten der Konzerte feien genannt Bujoni, rau Du- 
tigo, Serato; außer ihnen wirkten eine Reihe unferer 
einheimiſchen Kräfte in gewohnter Weije joliitiih mit. In 
einem Konzert trat eine Sängergejellidaft, die Mündener 
Madrigalvereinigung auf. Ein Ertrafonzert brachte 
uns einen Bahabend, in dem Werfe für zwei und drei 
Klaviere mit Orcheſter zur Aufführung gelangten. Soliſten 
waren die Herren Prof. Mar Neger, Philipp Wolf: 
rum und KRapellmeilter Hermann Suter, ferner die 
Herren Buddenhagen und Kötſcher. 

Bejondere Erwähnung verdient ein Orcheiterfonzert 


302 


größten Stiles, das im April jtattfand; es wirkten dabei die 
Kapellen von Bafel, Züri und Bern und zum Teil aud vor 
Sreiburg ti. Br. mit. Zur Aufführung famen u. a. unter 
Kapellmeilter ri Brun aus Bern die C-moll-Symphonie 
von Brahms und das Meilterfingervorjpiel von Wagner. 

Die Rammermufiftabende hatten ebenfalls ihre 
gewohnte Phyliognomie in Bezug auf ihre Programme wie 
auch auf ihr Publifum. Die Quartettvereinigung beitand 
aus den Herren Kötſcher, Berthoud, Kühler und 
Treidhler. 

Der Basler Geſangverein (Leitung: 9. Suter) 
trat zuerſt am 9. Dezember mit den Hier jeit längerer Zeit 
nit mehr gehörten «Beatitudes> von Cejar grand 
auf den Plan. Am 8. und 9. März folgte dann, ebenfalls 
im Münlter, das „Deutihe Requiem“ von Brahms 
und im Juni als Abſchluß der Saiſon Sebaftian Bachs 
„Matthbäuspaffion“, der ein weltlidies Bachkonzert ich 
anſchloß. Soliſtiſch waren tätig im erjten Konzert die Damen 
E. Homburger, A. Rahm-Fiaux, 2. Barblan und 
die Herren R. Plamondon, San Reder, Dr P. 
Deutſch und U. Siebenhaar; im zweiten: Frau Lo b— 
tein-Wirz und Herr P. Bovepple; im dritten Frau 
Koordewier-Redingius, Frl. M. Philippi, die 
Herten van Dort, 9 Nahm, 9 Ernft. 

Die Basler Liedertafel ließ fih erſtmals bet 
Anlaß des 2. Shweizerifhen Lehrertages in 
einem Münjterfonzert hören. Zur Aufführung gelangten 
eine ganze Anzahl von Eleineren Geſängen der verſchiedenſten 
Meilter. Dann beteiligte fie fih an der Liſztfeier der 
Allgemeinen Mufitgefellfhaft und gab ihr Winter- 
fonzert im Januar; es wurden dabei außer einem 
Shubertjihen Werf nur Kompofitionen von ſchweize— 
riſchen KRomponijten vorgeführt (VB. Undreae, 9. Huber, 
O. Scho eck und 6. Weber). Solilten waren Frau Wirze 
Wyhb (Bern), die BVereinsmitglieder Hö. Hans Ernft 


303 


und Karl Jakob und Herr €. ©. Breil (Orgel). Im 
Programm des Frühjahrsfonzertes interejjierte be- 
fonders eine Nummer, ein „Requiem“ für Männerchor 
von Max Neger; außerdem famen noch Chöre von %r. 
Hegar, Guſtav Weber und Auguſt Walter, ebenjo 
von alten Meiftern des 16. Jahrhunderts (Orlando di 
Laſſo und Donati) zu Gehör. Die Liedertafel wirkte 
dann, wie der Gejangverein, bei der Aufführung eines von 
Hermann Suter zum eidgenölliihen Turnfeit kom— 
ponierten %eitipieles mit. 

Der Basler Männerchor (Dirigent CE. Sul. 
Shmidt) gab zwei Konzerte, eines im November, das 
andere im Mai. Beide Programme enthielten Chöre der 
befanntejten Meifter des Männergefangess. Mitwirkende 
waren im eriten Konzert Frau E. Hügli (Bern), Herr 9. 
Wetzel und Herr 3. Shlageter, im zweiten Frl. M. 
Philippi und Herr A. Hamm. — Wir geben, wie oben 
erwähnt, alles nur im Auszug und verweilen die LXejer, die 
fih näher für diefen Zweig unferes fünftlerifhen Lebens 
interefjieren, auf die Sahresberichte der betreffenden Geſell⸗ 
ſchaften und Vereine. 


C. Malerei und Plaſtik. 


Im November 1911 beherbergten die obern Räume der 
Kunſthalle die in dieſem Jahre ſehr reichhaltige Ausſtellung 
der „Basler Künjtlergejellihaft“. Neben mehr vereinzelten 
Einjendungen waren darin mit Gruppen von Bildern ver 
treten Eugen Ummann, E Beurmann, Paul Kam— 
müller, Stanz Krauß Burkh. Mangold, Dtto 
Mähly, Albr. Mayer, Fri Mod, Chriſtoph Dehler, 
Karl Pflüger, Adolf Siegrift, Hans Süffert, Albert 
Magen, Jakob Wagner (Locarno). Von Schweizern in 
Münden beteiligten jih €. TH. Meyer, 9. B Wieland 
und Ernit Rinderfpader, leßterer mit mehreren Glas: 
bildern, aus Berlin das Künftlerpaar Burger. Bon plafti- 


304 


Ihen Arbeiten Hatten ausgeitellt Hans Frei einige Pla- 
fetten und Medaillen, Aug. Heer (Münden) eine Marmor: 
büjte, Safob Hofmann (Münden) mehrere Bronzen. — 
Der erite Stod enthielt neben der Kolleftivausitellung von 
YHquarellen Andre Engels (Laujanne) einige Land: 
Ihaften von Hermann Daur (Detlingen) und eine größere 
Serie Radierungen von R. Unheißer (Karlsruhe). 

Die Meihnadtsausitelung war wie immer ſtark beſchickt. 
Ihr Gejamtbild Hat fich feit ein paar Jahren verändert durch 
die regelmäßige Beteiligung einiger jüngerer, hauptſächlich 
in Baris ausgebildeter Maler, die auch diesmal mit teil- 
weile umfangreichen Werfen auftraten; jo Numa Donze 
mit einem überlebensgroßen Entwurf „Amazonenfampf“ und 
einer Reihe Rheinlandihaften aus der Gegend unterhalb 
Balels; Baul Barth mit den Früdten feines Sommer: 
aufenthalts an der ſüdbretoniſchen Küſte; Karl Did mit 
Zandichaften und dem Porträt feiner Mutter, wohl feiner 
bis dahin feiniten und abgeflärteiten Leiſtung, die von unfrer 
öffentlihen Kunitfammlung erworben wurde; Heinrich 
Müller mit Landidaften und Volfstypen von feiner griedi- 
Ihen Reife. Vom übrigen Inhalt diefer Weihnachts-Kunſt-— 
Hau feien als bejonders bemerkenswert erwähnt: die Bild- 
nile von Hermann Meyer, die Landfhaften von Paul 
Burdhardt, deren eine vom Basler Kunftverein ange: 
fauft wurde — eine weitere Erwerbung des Kunjtvereins war 
das GSelbitporträt von Ed. Niethbammer —, die Marinen 
von Rud. Löw, die Akt- und Porträtfompofitionen von 
Eſther Mengold und die friſchen Studien von Ernit 
Buhner. i 

Sm Sanuar 1912 war der Oberlichtſaal Hermann 
Meyer eingeräumt für die Kartons und Studien zu feinen 
kirchlichen Malereien: die Bruftbilder der zwölf Apoftel, als 
Glasbilder entworfen und ausgeführt für die Kirche von 
Degersheim (St. Gallen); dann die ganzfigurige Doppeiferie 
alt= und neutejtamentlicher Geitalten für die Fenſter der Kirche 


305 20 


von Flawil (St. Gallen); an der Rüdwand des Gaales die 
tiefige Halbfreisfompolition der „Bergpredigt“, gleichfalls 
Glasgemälde-Entwurf für die letztgenannte Kirche; endlich, 
an der Eingangswand, das Driginalgemälde „Abendmahl“ 
von der Flawiler Orgelempore. Das Ganze umrahmt von 
zahlreichen zeichnerijchen und farbigen Studien, die einen Ein= 
blid gewährten in das Entjtehen diefer monumentalen Ar⸗ 
beiten. 

Noch im Januar hielten die klaſſiſchen franzöſiſchen Im— 
preflioniften ihren Einzug in die untern Räume der KRunit- 
halle, mit einer jo zahlreichen Kollektion, wie fie Baſel unfres 
Millens noch nie beieinander gejehen hatte. Einer fehlte zwar, 
Ed. Manet, der einjtige Vorläufer der Richtung. Degas 
und Renoir waren nicht mit bedeutenden Werfen ver= 
treten. Dafür waren 5 Landihaften von Claude Monet 
da, worunter namentlich zwei mädtige Marinen; von Gi s- 
ley 8 und von Piſſarro gar 18 Gemälde. Lebterer konnte: 
fo beinahe in allen feinen malerifhen Wandlungen verfolgt 
werden. Ueberhaupt erhielt damit unfer Basler Publikum, 
das die Entwidlung der modernen Malerei nit an den 
Hauptfunftzentren jelbjt verfolgt hat, einen Begriff von jenen 
Klaflitern des franzöſiſchen Plein-air. Zwei jüngere hiefige 
Künjtler bemühten ji), eines oder zwei diefer Dokumente 
moderner Kunjt durch Subjfription für Bafel zu ſichern und. 
bradten es dazu, wenigjtens einen Pillarro für unfre Kunſt— 
fammlung erwerben zu fönnen. Ihrer Bedeutung entſprechend 
wurde die Smprejjionijtenausitellung bis Ende Februar ver= 
längert. — Bon den Ausitellern des Januars fei noch der 
junge, kräftig vorwärt jtrebende Bildhauer Auguſt Suter, 
zurzeit in Paris, genannt. 

Der Yebruar vereinigte in den obern Ausitellungslofalen 
ein buntes Gemiſch kleinerer Kolleftionen, wobei Zeichnung 
und Graphik überwogen. Es waren dies — um das Haupt— 
fähhliche zu nennen — Studien landihaftlicher und figürlicher 
Art von Ernit Buchner (Bajel), Landidhaftsitudien in 


306 


Tempera aus der Toscana von Roſa Paul (Baris), einige 
größere Landihaftsbilder von Victor Surbed (Bern); 
Borträtbilder in Del, Rötel: und Kohlezeichnung von Eſther 
Mengold (Bafel); eine zahlreihe Kollektion von Ge— 
mälden und Graphik in verfchiedener Technik von Hans 
Bolfert (Münden); endlih eine Reihe Landfchaften von 
30. Shönenberger (Bajel). 

Im März bradte Heinrt Müller den größern Teil 
jeiner malerifchen Ausbeute aus Griechenland zur Ausitellung, 
BaulBarth zwei Kinderbilder, 5. Marg. Frey (Bern) 
eine Serie Bildnijfe und landihaftlide Studien. Geſchloſſen 
ftellten aus die aargauer Landidafter Otto Wpyler, 
Erneſt Bolens, Dtto Ernfit, E Egger. Unter den 
mehr als 100 Gemälden diejer Künjtlergruppe waren außer 
der Landſchaft Porträt und Stilleben reich vertreten. Eine 
interefjante Auswahl großer Radierungen Hatte W. D. 5. 
Nieuwentamp aus Holland gefandt, Kleine zierlidhe 
Bronzen U. Daumiller aus Münden. — Im erjten Stod 
fand gleichzeitig die Separatausitellung Otto VBautier 
(Genf) jtatt. Es waren 60 Werke, meijt in Del und Paſtell, 
von diefem welſchen Maler vorhanden, deſſen erjtaunlicdhes 
Können ebenjojehr der Boudoireleganz als der ländlichen 
Srilche feiner aus disparaten Milieus geholten Bildvorwürfe 
gerecht wird. 

Sm April und Mai war die Kunjthalle der Schauplaf 
einer über den Rahmen der üblichen Kunfthalle-Darbietungen 
weit hinausgreifenden, durch eine vielgliedrige Kommiſſion 
von langer Hand vorbereiteten Veranjtaltung, wie fie nur 
etwa alle Vierteljahrhundert einmal unternommen wird: 
der hiſtoriſchen Ausſtellung von Kunft und 
KRunftgewerbe aus Basler Privatbeſitz, um— 
faſſend die Perioden vom Ende des Mittelalters bis und mit 
Empire, wobei das Dix-huitieme im Gejamtbild überwog. 
Diefe große Unternehmung, zu der fi) die Hiftoriih-antiqua= 
riſche Gejellfihaft und der Kunftverein zufammentaten, ein- 


307 20* 


gehender zu würdigen kann nit die Sache eines Beridht- 
erjtatters über modernes Kunftleben in Bajel fein. Die 
Hauptarbeit, das Sammeln und das Einridten, leitete 
größtenteils der dem hiſtoriſchen Kunftgewerbe vorgeſetzte 
Konfervator des hiſtoriſchen Mufeums. Das Plakat, eine 
Altfranfen-Amateurgruppe in Oval, lieferte Burckh. Man- 
gold. | 

Mährend droben im Oberlidtjaal und zwei anjtoßenden 
Gemädern die funftliebende Vergangenheit ihren Belig an 
Mobiliar, Goldfchmiedearbeiten, Porzellan und Glas, Fächern, 
Riechflacons und Tabafsdojen ausbreitete, bot jich dem Kunit- 
verein Gelegenheit, gleichzeitig das Andenken an einen be- 
deutenden Basler Künjtler aufzufriichen, der feit etwa einem 
Sahrzehnt zu den Toten gehört. Sm Borjaal zur Sammlung 
und bis in die Mitte des Sammlungsfaales ji) erjtredend, 
ließ die Ausjtellung von Aquarellen Sans GSandreuters, 
der ji) einige Temperagemälde und eine Anzahl Zeichnungen 
angliederten, die für unſre ganze jüngere Künjtlergeneration 
vorbildliche Meilterfchaft diefes Malers, jpeziell im Aquarell: 
fach, noch Elarer hervortreten als zu feinen Lebzeiten. Die 
Zahl der Beſucher jowie der Ankäufe bewiefen das Intereſſe, 
das unjer gejamtes Publikum diefer Sandreuter-Ausftellung 
entgegenbradte. 

Sm Juni füllte die Kunjthallefäle ein buntes Gemiſch 
verjehiedenartiger Einjendungen: einige Bilder und Studien 
des Tiermalers RudolfKoller (T 1905) aus Privatbeſitz; 
die größere Kollektion des Karlsruhers Arthur Grimm, 
der in Porträt, Landihaft und Stilleben deutlich den dop⸗ 
pelten Einfluß feines Lehrers Trübner und der Pariſer Schu: 
lung verriet; einige Gemälde feines Studiengenofien Rud. 
W. Burdhardt (Bafel); eine Reihe Delbilder und gra- 
philche Blätter der in Münden jchaffenden Baslerin Maria 
La Roche; eine größere Zahl Aquarelle, meijt aus Holland, 
von Fritz Mod (Bajel); Landihaften und Figürliches von 
Paul Schürch (Olten); fehr bemerkenswerte graphifche 


308 


Blätter von Georg Jahn (Dresten). Dann eine 
Brienzer Künjtlergruppe: Gemälde von Hans Wid— 
mer, PBlaftit von Albert und Hans Yuggler. Eine 
Geparatausftellung von plajtiihden Werfen veranitaltete 
Auguſt Heer im eriten Stod. Endlich enthielt die Juni— 
Ausftellung den fünjtleriihen Nachlaß des verjtorbenen Solo: 
thurner Malers Walther von Vigier. 

Rad) der zweimonatigen Sommerpauje eröffnete die Sep- 
temberausjtellung mit jehr reichhaltigem Programm Die 
Herbitjaifon.. Den Oberlichtjaal beherrſchte der in Paris 
febende Schleſie Eugen Spiro mit 60 Bildern meilt 
größern Yormats, aber nicht bloß durch Menge und Umfang, 
londern durch die Verfhiedenartigfeit der Gegenjtände und 
die befonders farblich hochſtehende künſtleriſche Qualität. Eine 
ausgezeichnete Kopie von Manets „Olympia“ in Driginal- 
größe eröffnete den Reigen jeiner Werke. Neben diejem 
„Könner“ vermodten ſich immerhin zu halten der Landichafter 
Affeltranger (Winterthur) mit feiner eigenartigen und 
wirkſamen Technik, die an Gegantini und zugleid) an franzö- 
fiihe Borbilder erinnert, und Srancois Gos (Münden) 
mit feinen ſtark ftilijierten Landſchafts- und Figurenbildern. 
Unter den übrigen Ausjtellern befanden ji) drei jüngere 
Basler Künſtler mit größtenteils graphiihen Gerien: Ru: 
dolfDürrwang, Arthur Riedel, Regnault Sa 
raſin. Im eriten Stod veranitaltete EmilBeurmann 
eine Sonderausitellung mit mehr als 100 Nummern. Dem 
fauffräftigen Publifum gefielen namentlih feine friſchen 
Aquarelle und die zahlreichen Blätter, in denen er mit Kohle 
und Farbſtift die Eleganz modiſch gefleideter Frauen feit- 
gehalten. 

Für den Oftober endlich Hatte ſich die Parifer Societe 
des Humoristes, der eine der beiden franzöſiſchen Karifa- 
turiftenverbände, in Bajel zu Gajte geladen. In gewaltiger 
Zahl langten die Produfte des franzöſiſchen Humors, der ja 
nit jedermanns Sade it, in der Kunjthalle an — Skizzen 


309 


kleinſten Umfangs mit großen Delgemälden, lebensgroße 
Gruppen in Gips neben Miniaturbronzen und — Terra= 
totten — und wurden auf Wände, Sodel und Vitrinen ver: 
teilt. Bon befannten Namen waren darunter Leandre, 
Chapuy, Morin, Sandoz, Boutet de Monvel x. — Es war 
bei den Raumpverhältnifjen der Kunfthalle beinahe ein Glüds- 
fall, daß die für denjelben Monat angemeldete „Basler 
Künftlergejellihaft“ nicht ihre fämtlihen Mitglieder zur Be- 
teiligung veranlaljen fonnte. Ihre Kolleftivausjtellung bot 
ein recht Tüdenhaftes Bild, in dem Karl Pflüger, E. TH. 
Meyer (Münden), Chriſtoph Dehler und der Me: 
dailleur Hans rei bejonders hervortraten. Auch der jeht 
in Locarno anfällige Hans Garnjobit, der während 
langer Sahre von Basler Ausjtellungen ſich ferngehalten, 
hatte einige Gemälde eingejandt. 


D. Urditeftur. 


Sm vergangenen Jahre find an verſchiedenen durch Ver: 
fehr und Lage hervorragenden Punkten der Stadt größere 
Bauten entitanden, durch welche das Straßenbild jeweilen 
befonders jtarf beeinflußt worden iſt. Vor allem können zwei 
Beilpiele in der inneren Stadt angeführt werden, beides 
Werke von Architekt Neufomm, die zurzeit noch unvoll- 
endete Volksbank, weldhe für die diesjährige Chronik noch 
außer Betradt fällt, und der Neubau des Walde an der 
Mittleren Rheinbrüde auf Kleinbasler Ufer. Lebterer ijt 
ein vierjtödiger Bau mit hohem Manſarddach; auf Höhe des 
Brüdenniveaus wird zurzeit eine Terrajje über den Rheinweg 
vorgebaut, was die abnorme Höhe des Haufes, von Weiten 
gejehen, für das Auge etwas mildert und wenn die jeßt blen- 
dend weike Steinmajfe in einigen Tahren eine natürliche 
PBatina angenommen hat, wird fie jih auch harmonifcher in 
die Umgebung einfügen. 

Mehr der Umgebung angepaßt präjentiert fih an der 
obern Treienftraße der ausgedehnte Erweiterungsbau der 


310 


Basler Handelsbant von Arditelt Fri Stehlin. Durd 
die ftarfe und eigenartige, den neuſten Bedürfniſſen eines 
großen Bankgeſchäftes entiprechende Gliederung, jtellt ſich die 
helle Hauſteinfaſſade als jelbitändiger Teil des ganzen Ge- 
bäudelompleres dar, in dem, von der Freienſtraße her durch 
zwei weite Toröffnungen im hohen Sockelgeſchoß zugänglid), 
einerfeits die Mechfeljtube, anderfeits der Schalterraum an- 
geordnet Jind, leßterer in wirkungsvoller Ausitattung mit 
Dunfelrötliher Marmorverfleidvung und mit feingearbeitetem 
Mefiingwerf. 

Ein weiteres Banfinftitut, die Hypothefenbant in Bajel, 
an der Elijabethenjtraße Hat durch Umbau ihres alten Haufes 
und durch einen Anbau an Gtelle des Nebenhaufes Nr. 34 
ebenfalls neue Gefhäftsräume gewonnen. Die Faſſade des 
ganzen Gebäudes hat durh Putarditeftur eine wohl über: 
legte Umgeitaltung erfahren, dur) maßvolle, folide Einfach— 
heit in Verhältniljen, Profilierung und Dekoration an die 
guten Beilpiele einer vergangenen Zeit erinnernd; die Ardi- 
teften waren Suter & Burdhardt. 

Demnädjit wird noch ein weiteres Gejhäftshaus an der 
Clifabethenftraße von denjelben Architekten im Aeußern fertig: 
geitellt fein, der Neubau für die Speditionsfirma Goth & Co., 
deſſen Faſſade über dem maflig gehaltenen Sodelgeihoß eben: 
falls in Pugarditeftur originell durchgebildet if. Die hohe 
Pilajteritelung und der ausgiebig verwendete plajtifche 
Schmud in Form von Guirlanden, Blumengehängen und Me: 
Daillons ergeben eine überaus lebhafte Wirkung. 

Das am Klofterberg errihtete Magazingebäude gliedert 
fi) dank der guten arditektonifhen Geftaltung fehr günitig 
den alten heimeligen Gebäulichfeiten an der Theaterjtraße an 
(Architekt Fritz GStehlin). 

In der Steinenvorſtadt, deren Straßenbild ſchon ſeit 
Jahren durch keinen Neubau verändert worden iſt, fügt ſich 
als ganz neuartiges Glied die Faſſade des Variété-Theaters 
Küchlin in die alte Häuſerreihe ein. Der ganze Bau dieſes 


311 


Theaters erjtredt fi) von der Steinenvoritadt bis zum Birfig- 
bett; neben den Haupteingängen befinden ji) Verfaufsläden, 
im erjten Rang gegen die Straße liegt das in Grün gehaltene 
Foyer, und gegen den Birfig find die Garderoben für die Ar— 
tiften in einem befondern Bau untergebradt. Das Theater 
fann bis 1500 Perſonen fallen; zwei amphitheatraliih an— 
fteigende Ränge und das Barterre enthalten gegen 1000 Sitz- 
pläte. Die Hauptfaſſade, vollitändig in Muſchelkalkimitation 
ausgeführt, zeigt eine gewaltige Säulenjtellung doriſchen 
Stils von fieben Halb-Säulen; in jeder Travee zwiſchen den 
Senjtern des zweiten und dritten Geſchoſſes find figürliche 
Hochreliefs mit allegorifhen Darjtellungen von Tanz, Mufik, 
Gymnaftif u. |. w. angebradt. 

Die eriten Entwürfe zu diefem Theater wurden dur 
Baumeilter Echtermeyer in Berlin angefertigt, die weitere 
definitive Bearbeitung des Projektes in fünjtlerifher und 
fonjtruftiver Beziehung lag in den Händen der Arditelten 
Widmer Erlader und Calini, Jowie des Prof. 
Läuger in Karlsruhe. 

Das Eckhaus Lindenhof-PBeter-Merianitraße der Archi— 
teften E. Bijher & Söhne, mit Geihäftsräumen im Erd— 
geſchoß zeigt einen originellen architektoniſchen Aufbau. 

Die Bebauung der Edliegenihaft St. Jakobſtraße-Lange— 
galje, über die ſchon im vorjährigen Jahrbuch berichtet wurde, 
hat nun durch Erjtellung von zwei großen, zu einer einheit= 
lihen Gruppe vereinigten zweiltödigen Einfamilienhäufern, 
lowie eines Einzelwohnhaufes in reizuoller Lage, rings von 
Gartenanlagen umgeben, ihren Abſchluß gefunden. Die beiden 
Häufer Nr. 43 und 45 zeichnen fi durch eine in Form und 
Farbe ſtark markierte architektoniſche Behandlung aus, 
während das von der Straße abliegende Haus Nr. 10 an der 
Langen Gafje jeiner Umgebung entſprechend in freiem, friſchem 
Stil gehalten ift. Alle drei Neubauten find von den Archi⸗ 
tekten Burckhardt, Wenk & Eo. entworfen. 

Im äußern St. Albanquartier finden wir keine nam- 


312 


haften Neubauten, außer den beiden zujammengebauten Ein- 
familienhäufern Nr. 121 und 123 an der Harditraße unter 
behäbigem Manjardendad), von den Arditeften La Rode, 
Stähelin& Co, ferners dem Tierheim an der Peripherie 
der Stadt bei Birsfelden, nahe der Birsbrüde, zwiſchen Fluß 
und Bahndamm gelegen; Arditelt Heinrih Flügel hat 
dort eine hübjche, in allen Teilen zwedentiprechende Anlage 
geihaffen. 

Auf dem rechten Birfigufer bleibt noch über die beiden 
bedeutenditen Bauten zu berichten, welche diefen Herbit voll: 
endet worden find. Das neue Verwaltungsgebäude der Basler 
Lebensverjiherungsgejellihaft am Aeſchenplatz fand bei Ge- 
legenheit jhon in beiden vorhergehenden Sahrbüdern Er: 
wähnung. Heute ijt dieſer ftattlide Bau der Arditekten 
E. Bifher & Söhne in allen Teilen fertiggeftellt. Die 
ganze Baumajje in ihrer Geſchloſſenheit mit der jtrengen, faft 
erniten Formengebung und Gliederung fommt auf dem weiten 
Plaß zu jtarfer Wirkung. 

Um 26. und 27. Oftober fand fodann die Einweihung 
der Heilig-Geiltfirde der römijch-fatholifhen Gemeinde an 
der Thierjteinerallee ftatt; eine bei diefem Anlaß heraus- 
gegebene Denfihrift berichtet ausführlih über die Baus 
geihichte und die Bauausführung, über das Geläute und die 
Baufoiten. Die Pläne zu diefer Kirche wurden gemeinfam 
dur) die Architekten EC. A. Medelin Freiburg im Breisgau 
und Guſtav Doppler in Bafel ausgearbeitet; auch der 
fürzli) verjtorbene Baudireftor Mar Medel, Bater des 
Obigen, war noch am Entwurf fünjtlerijch beteiligt. Die 
ganze Anlage umfaßt außer der Kirche das Pfarrhaus und 
die Giegrijtenwohnung, diefe im Hof an die Südſeite des 
Chores angebaut, jenes an der Thierfteinerallee durch einen 
zweigeſchoſſigen Querbau, mit offener Durchgangshalle von 
der Straße nad) dem Hof, mit der Kirche verbunden; für ein 
Vereinshaus, als fpäterer ſüdlicher Hofabſchluß gedacht, ift 
noch Pla vorhanden. Der fchlanfe Turm mit feinem hohen 


313 


ziegelgededten Helmdah iſt an der Weitfafjade, zwiſchen 
Mittelfchiff und Verbindungsbau nad) dem Pfarrhaus, an= 
geordnet. Kirche und Nebengebäude find in charaktervollem 
Ipätgotifhem Stil gehalten; die Gruppierung der Gebäude tft 
ar und in der Silhouette einfach; um jo reiher und als be= 
fonderer Schmud wirken die reizvollen Steinhauerarbeiten in 
hellem Vogefenjandftein an Fenſtern und Portalen, an Balu- 
ftraden, Kanzel und Taufitein. 

Für das Stadtbild des äußern Gteinenquartiers un— 
mittelbar am linken Birjigufer fommt die wirkungsvolle, 
große Miethausgruppe, die zwiſchen Birfigjtrake und Tier: 
gartentain am Viadukt von Arditet Rudolf Linder 
erbaut worden ift, zu enticheidender Geltung. Die tiefe Lage 
des Bauplates unter dem Niveau des Viaduftes einerjeits 
und andererfeits die freie Ausfiht über das Nachtigallen— 
wäldchen weg nad) den Jurahöhen veranlakten den Architekten 
zu der eigenartigen Löſung in der Yusnükung des Terrains. 
Der Haupteingang zu den Wohnungen ilt an die Nordfaſſade 
auf eine Terrajje über dem hohen Sockelgeſchoß gelegt; von 
dieſer nad) dem Viadukt ſpannt fich eine Betonbrüde über den 
Ziergartenrain. Die eigentlihen Wohngeſchoſſe des Haufes 
find jo ziemlih Hoch über die Birfigftraße gehoben, um den 
Wohnungen eine möglichjt alljeitig freie Lage zu fihern. An 
der Nordfeite iſt die Faſſadenflucht gegen die Mittelachfe hin 
ſtark zurüdgebogen, fo daß zwei Flügelrifalite vortreten; die 
Mittelpartie gegen den Viaduft läuft oben in einen breiten 
gejchweiften Giebel aus. Das ganze Gebäude mit dem ziegel- 
gededten Manſarddach ijt unter Anlehnung an alte hiefige 
Beilpiele in gemäßigten baroden Yormen gehalten. Längs 
des Rümelinbaches befindet ſich zurzeit ein ebenfalls für Miet- 
wohnungen bejtimmter Ylügelbau in Ausführung, der fidh 
dem Hauptbau unmittelbar anjchließt. 

Die bejtändige und ziemlich rafche Ausdehnung der Stadt 
gegen Weiten fann auch diejes Jahr wieder Zonjtatiert 
werden; ohne die einzelnen Objekte des Nähern zu beſprechen, 


314 


jeien hier einige Gruppen von Keinen Einfamilienhäufern 
erwähnt. So an der Kluſerſtraße die Häufer Nr. 33, 35 
und 37, an der Marſchalkenſtraße Nr. 40 bis 46, an der 
Benkenſtraße Nr. 7 bis 19, ferners vier Häujer Ede Bätt- 
wiler:Neubaditraße. 

Sm übrigen erbaute das Baugefhäft Gebr. Stamm 
an der Obermwilerjtraße bei Einmündung der Bachlettenſtraße 
einige größere Miethäufer mit anſprechender Faffadenbildung. 
Auch das Haus NRütimeyerftraße 64 mit hübſcher Straßen: 
front verdient an diejer Stelle Erwähnung. 

Außerhalb der Yeltwiefe auf der Schüßenmatte ver- 
größert ji) das Kleine Quartier zufehends; als Beifpiel fet 
hier nur die große Gruppe von komfortablen Einfamilien- 
häufern Nr. 110 bis 118 an der Neubaditraße von Architekt 
Heinrich Flügel genannt. 

Das äußere Spalenquartier, wo Die Bebauung ebenfalls 
ftetig fortjchreitet, Liefert für diefe Chronik felten nennens= 
werte Beijpiele der Bautätigkeit. 

Die drei Fleinen eingebauten Häufer Sennheimeritraße 
55, 57 und 59 feien als einzige Repräjentanten jener Gegend 
hier namhaft gemadit. 

Erit wieder auf bajellandihaftlidem Boden, im langen 
Lohn wird unfere Aufmerffamfeit auf eine hübjhe Gruppe 
von fieben aneinander gebauten Häuschen und ein einzel- 
ftehendes größeres Einfamilienhaus gelenkt, wo der Anfang 
zur Anlage einer kleinen Gartenjtadt gemadt ift; der Be— 
bauungsplan dazu und die bis jet erftellten Bauten find 
von Architekt Cugen Tamm entworfen. Die großen, ein- 
fachen, roten Dachflächen, das rotgeftrihene Holzwerk und der 
hellgraue Verputz verfehlen nicht eine frifhe frohe Wirkung 
und man empfindet, daß der Architekt bei Anlage diejer 
Häufer niht dur hemmende ftädtifhe Bauvorſchriften ge- 
bunden war. 

Die Leine, duch die Basler Baugeſellſchaft er 
jtellte Eigenheimfolonie an der Lenzgaſſe Hat auch diefes Fahr 


315 


durch eine neue Vierhäufergruppe, Nr. 6 bis 12, eine Ber: 
größerung erfahren. 

Auch ſonſt vollzieht fih im St. Johannquartier die Aus— 
breitung der Stadt für hiefige Verhältnijfe ziemlich jchnell 
und es zeigen fich dort vor allem indujtrielle Anlagen, Zager= 
und Geihäftshäufer, die gegen St. Ludwig und Hüningen 
hinaus entitehen. Ein neuer Gajfometer von ebenjo mon= 
ſtruoſen Dimenfionen wie fein älterer jhwarzer Kamerad 
trägt nicht eben zur Berjchönerung des Gtädtebildes bei. 
Dagegen Hat der Allgemeine Konfumverein ein jtattliches 
Geihäftshaus mit Lagerräumen für ſein Haushaltungs-, 
Obit: und Gemüjegeihäft an der Elſäſſerſtraße Nr. 209 er- 
baut; das Weußere des Gebäudes, in einfahren und zwedent- 
Iprechenden Formen gehalten, mit ziemlid) lebhafter Färbung, 
macht einen günjtigen Eindrud. Cs ilt dies der einzige Neu- 
bau in jenem Teil des Quartiers, der für diefe Chronik in 
Betracht fallt, denn die verjhiedenen mehritödigen Miet- 
bäujer, die jtadtwärts des St. Tohannbahnhofs fih Jahr für 
Sahr eins ans andere reihen, fünnen nit Anſpruch erheben, 
an diejer Stelle einzeln erwähnt zu werden. 

Im Kleinbajel verfolgt der Basler jtets mit befonderem 
Snterejle den Kortichritt der Arbeiten an dem feit Jahren 
im Bau begriffenen Badischen Bahnhof, jpeziell am Perfonen: 
bahnhof. Der Ausbau des Aufnahmegebäudes, dejjen äußere 
Geitaltung beinahe vollendet ijt, jehreitet vorwärts und die 
Perronhallen in wudtiger Eiſenkonſtruktion find fertig 
montiert. 

Das Fernheizwerk für den ganzen Bahnhof ift am untern 
Ende der Schwarzwaldallee errichtet worden; außer dem Heiz- 
werk find in diefem Bau noch Transformatoren, elektrifche 
Maſchinen, Affumulatorenbatterien und anderes unter 
gebradt. Glüdlicherweije bietet das Fernheizwerk mit feinem 
mafjigen Turm, den Hohen, roten Ziegeldähern und dem 
gelblih) getönten Sprißbewurf der Umfajjungsmauern nit - 
den trojtlos Tangweiligen Anblid, bei dem man für ſolche 


316 


untergeordneten Baumwerfe des Verfehrs oder der Induſtrie 
nod) bis vor wenigen Jahren überall leider glaubte fich be- 
gnügen zu dürfen. Unmittelbar nebenan reihen ſich vier im 
Bau begriffene Gruppen Beamtenwohnhäujer an. Dieje un= 
glei) großen Gruppen find jo angeordnet, daß durch deren 
verjhhiedenartige Stellung zufammen mit dem Fernheizwerk 
eine gute Gruppierung der einzelnen Gebäudemajjen erzielt 
wird. 

Ein für Bafel ganz neuartiger Bau ijt das gegenüber den 
beſprochenen Wohnhäujfern auf dem Areal des badilchen Güter: 
bahnhofs liegende Silogebäude, von der Basler Bau: 
geſellſchaft für die Basler Lagerhausgeſellſchaft errichtet. 
Weußerlih zeichnet ſich dieſer Bau durd feinen Formen— 
reihtum, jondern nur durch feine beträdtlichen Abmejjungen 
aus. Um jo interejjanter ijt er in fonjtruftiver Hinjicht,; der 
Snnenraum ilt in der obern Hälfte in hodjjtehende, unten 
trihterförmig geſchloſſene Zellen von quadratiidem Grund: 
riß aufgeteilt und das ganze Haus iſt von Sundamentjohle 
bis Dachfirſt in Eifenbeton ausgeführt. 

Sobald der neue badiſche Bahnhof dem Betrieb über: 
geben ift, joll das jegige alte Bahnhofgelände teilweiſe der 
Bebauung erihloffen werden; infolgedeſſen macht ſich jeßt 
Ihon zwiſchen Riehen: und Grenzaderjtraße, vorerjt an der 
neuerjtellten Turner- und Rötelerſtraße eine regere Baus 
tätigfeit geltend, die jedod) bis heute feine nennenswerten 
Rejultate geliefert hat. 

Bevor der Schreiber feinen diesjährigen Bericht jhließt, 
it er gezwungen, auf eine Notiz im Jahrbuch von 1911 Hin- 
zumeifen. Es iſt dort die Wiederherjtellung des überaus 
malerifchen Haujes PBetersgraben Nr. 35, Eigentum der Gefell- 
Ihaft für das Hriftlihe Vereinshaus, lobend hervorgehoben 
worden. Nun Hat dort aber in diefem Jahr leider eine un- 
glüdlihe bauliche Wenderung bei Umbau des Erdgeſchoſſes 
Itattgefunden. Dabei ift aud) der üppig rantende wilde Wein, 
der uns Sahr für Jahr durch feine Farbenpracht erfreute und 


317 


das Haus wie mit einem reich gefärbten [hmüdenden Kleid, 
umgab, verfhwunden und der reizende Aſpekt dieſer ganzen 
Häuferpartie verdorben. Es mag dies ein warnendes Bei— 
fpiel und ein Beweis dafür fein, wie berechtigt die Forderung 
des Heimatſchutzes war, Fünjtlerijch Hervorragende oder ſonſt 
typilhe Stadtteile und Gebäude von Staatswegen zu ſchützen, 
um zu verhindern, daß ſolche ohne Not, wie in genanntem 
Ball, verunftaltet werden, und es wird in Zufunft Aufgabe 
der ftaatlihen Heimatihuglommillion fein, darauf zu achten, 
daß feine ähnlihen Mikgriffe mehr getan werden. 


318 


Basler Chronik. 
J. November 1911 bis 3]. Oktober 1912, 


Don Dr. Srig Baur. 


November 1911. 


4. 5 Im zweiten Wahlgang der Nationalrats- 
wahlen für 1911—14 muß die ganze Deputation von 7 Mit- 
gliedern neu bejeßt werden, da der erjte Wahlgang, 28./29. Okt., 
rejultatlos verlaufen war. Baſelſtadt Hat feit der Bolfs- 
zählung vom 1. Dez. 1910 fieben Mitglieder des Nationalrats 
zu wählen. Gewählt wurden bei 13,407 abgegebenen gültigen 
Stimmen Konjumverwalter B. Jäggi (ſoz.) mit 7099, 
Red. J. Frei (j03.) mit 6429, €. Müry (freij.) mit 5004, 
Oberit Iſaak Iſelin (lib.) mit 4588, Dr. Chr. Rothen- 
berger (freij.) mit 4296, Reg.-Rat E. Chr. Burdhardt 
(lib.) mit 4211 und Dr. Em. Göttisheim ffreif.) mit 
3782 St.; weitere Stimmen madten Ing. Rud. Gelpfe, von 
der fortjehrittl. Bürgerpartei und den Liberalen portiert 
(3609), und der fatholijhe Dr. U. Joos (2844). Für Näheres 
lei auf die vorjährige Chronik verwieſen. 

An diefe Wahlen fnüpfte fih ein Nachſpiel an, indem am 
Tage nad) den Stichwahlen befannt wurde, daß der beitätigte 
Nat.Rat E. Müry-Flück aus der freijinnigen Partei aus: 
getreten fei. Er begründete den Schritt damit, daß er vom 
linken jungfreijinnigen Slügel der Partei illoyal fei behandelt 
worden. Auf die Aufforderung feiner bisherigen politifchen 
Freunde, aus feinem Entihluß die Konjequenzen zu ziehen, 
antwortete er mit dem Hinweis, daß er nit von den Kreis 


319 


finnigen allein gewählt worden jei, daß er im übrigen feinen 
Entſchluß abhängig made vom Entiheid des Zentralaus- 
ſchuſſes der ſchweizeriſchen freilinnigen Partei. An diejen 
habe er appelliert. Ohne den Spruch abzuwarten, legt in- 
dejlen Hr. Müry fein Mandat am 22. Nov. nieder. 

5. Die Delegiertenverfammlung des Föderativ— 
verbandes eidgen. Beamter, die in Bafel tagt, be- 
ſchließt, Schritte zu tun, um dem Perſonal der eidgenöſſiſchen 
Militäranitalten das Recht der Vereinssteiheit zu ſichern. 

Die Reformationsfollefte, zugunjten eines 
Kirchenbaus in Saignelegier erhoben, wirft im ganzen Kan— 
ton netto 4457 Fr. 76 ab. 

In der St. Leonhardsfirhe wird der neue Helfer zu 
St. Leonhard, Pfr. Hans Baur, bisher an der Matthäus: 
firche, feierlich in fein Amt eingeführt. 

9. Der Große Rat hört zunädft eine Interpellatien 
über die Teuerung, die von der Regierung unter Hinweis 
auf die bereits getroffenen Maßregeln zur Zufriedenheit des 
Snterpellanten beantwortet wird, erledigt dann einige 
tleinere Geſchäfte, nimmt das Gejeß betr. das ftändige ftaat- 
lihe Einigungsamt nad) zweiter Leſung an und beginnt die 
Beratung des Verwaltungsberidäts für 1910. 

Der Genojjenihaftsrat des Allg Konſum— 
vereins behandelt die partielle Reviſion der Genofjen- 
Ihaftsitatuten und weilt eine Motion ab, die dem Bureaus 
perjonal den Samstag Nachmittag frei geben wollte. 

10. An der Rettoratsfeier in der Martinskirche 
Ipriht Prof. Metzner als Rektor über das ſympathetiſche 
Nervenſyſtem. Zu Chrendoftoren der Medizin werden er: 
nannt Prof. Dr. Karl Vonder Mühll und Fri 
Viſcher-Bachofen. Die Preisfrage der medizinifchen Fa— 
fultät wird gelöft von Dr. med. Hans Hößly. An den Alt 
Ihließt fih das als Rektoratseſſen befannte Zunftellen der 
afademijchen Zunft, am Abend ein Kommers der Studenten: 
Ichaft in der Burgvogteihalle an. 


320 


14—16. König Betervon Serbien hält fih auf der 
Durdreife nah Paris zum Beſuche des Präſidenten Fallières 
zwei Tage in Bajel auf. 

16. Großer Rat. Den ganzen Gikungstag nimmt die 
Meiterberatung des Prüfungsberidhts für 1910 in Anfprud. 

Am Abend um *11 Uhr [hredt ein ungewöhnlich heftiges 
Erdbeben die ganze Stadt auf. Zum Glüd hat es nirgends 
bedenflihe Folgen. Das Zentrum des Bebens jhien in Süd— 
deutichland zu liegen. 

18. Das vom Regierungsrat zufammengeftellte Budget 
für 1912 jieht vor an Einnahmen 17,317,661 %r. 80, an Aus» 
gaben 19,517,490 Fr. 60, fomit ein Defizit von 2,199,828 %r. 20, 
wozu nod) 500,000 Fr. auf das Konto „Eijenbahnumbauten“ 
fommen. 

18. 19. Zum Bfarrer der Matthäusgemeinde wird an 
Stelle des nad) St. Yeonhard gewählten Pfarrers Hans Baur 
einftimmig gewählt der vom Kirchenvorſtand vorgefhlagene, 
der freifinnigen Richtung angehörende Pfr. Otto Marbad, 
d. 3. in Giteig bei Interlafen. 

21. Die Regen; wählt zum Rektor der Univerjität für 
1912 Brof. Eberhard Viſcher und beitätigt als ihren 
Schreiber Prof. J. Wendland. 

22. Zum 2. Gefretär der Bormundihaftsbehörde wird 
von der Regierung gewählt Otto Stoder- Müller, Gel.- 
Lehrer. 

Die Freiwillige Schulſynode hält im Ber— 
noullianum ihre 20. Jahresverſammlung ab. Nah Er—⸗ 
ledigung der Geſchäfte Hält ihr Präſident Dr. W. Brenner 
einen Bortrag über Wert und Unmwert der Schulzeugniijle. 
Die Synode beſchließt, die Diskufjion auf eine außerordent- 
liche Verfammlung zu verſchieben. 

Die Pofitiven Gemeindevereine halten ihre 
Sahresverfammlung in der Burgvogtei ab. Das Referat über 
ChHriftlide Religion und Charafterbildung hält Dr. F. W. 
Förſter aus Zürid. 


321 21 


24. Der Genoſſenſchaftsrat des Allgem. Konfum=- 
vereins ſchließt Tarifverträge ab für die im A.C.V. bes 
m. Fuhrleute, Mebger und Bäder. 

. Die Peſtalozzi-Geſellſchaft begeht ihre 
wo im Münjter mit einer Anſprache von Pfr. 
K. Stüdelberger und verſchiedenen künſtleriſchen Dar= 
bietungen. u 

28. Die evangelifh:reformierte Synode ge 
nehmigt einige Nadhtragfredite für 1911 und das vom Kirchen 
tat zufammengeftellte Budget für 1912 und heißt den auf 
5 Sahre mit dem Bürgerrat abgeſchloſſenen Vertrag über 
Verteilung des Kirchenopfers gut. Zum Mitglied und Vize- 
präliventen des Kirchenrats an Gtelle des zurüdtretenden 
Reg.-Rat Dr. E. Chr. Burdhardt wählt fie nad) politivem 
Vorihlag Dr. Ed. Kern, zum Abgeordneten für das theo- 
logiihe Konkordat Prof. PB. Böhringer. 

Die Basler Abjtinenten begehen in der Burg— 
vogtei eine Bunge-%eier zur Erinnerung daran, daß 
vor 25 Sahren, am 23. Nov. 1886 Prof. G. v. Bunge mit 
feinem akademiſchen Bortrag über den Alkoholismus die Anti— 
alfoholbewegung in der Schweiz eingeleitet hat. 

29. Sm Alter von 76 Jahren jtirbt Laurent Wers 
singer- Walt, Seniorchef der Firma Danzas u. Cie. U. ©., 
die unter den Gpeditionshäufern des Kontinents einen 
hohen Rang einnimmt. 

30. Großer Rat. Zu Beginn der Sitzung gedenft der 
Vorſitzende des am 27. verjtorbenen Bundesrat Schhobinger. 
Nah einer nterpellation berät Jodann die Behörde den 
Rechenſchaftsbericht für 1910 zu Ende und übermweilt ver- 
Ihiedene dazu geitellte Poſtulate. Zu Landanfäufen für 
Zwede des Gaswerfs bewilligt der Rat 300,000 Fr. und weift 
die Vorlage betr. Anlage einer Terrafie auf der Kleinbasler 
Geite der mittleren NRheinbrüde an die Regierung zurüd. 

Der Genojfenfhaftsrat des A.C.V. fährt fort 
in der Beratung der Tarifverträge mit feinen Arbeitern. 


322 


Witterung. Die meteorologiihen Hauptwerte des 
Monats November 1911 waren: Mittel der Temperatur 6,19, 
mittleres Temperatur-Marimum 9,17, mittleres Temperatur- 
Minimum 3,80 Cellius, Mittel des Quftdruds 735,5, Summe 
der Niederihlagsmenge 73,9 mm, Summe der Sonnenſchein⸗ 
dauer 82,9 Stunden. An dem langjährigen Durchſchnitt ge— 
meſſen, ift der Monat viel zu milde gefallen und hat einen 
anſehnlichen Ueberſchuß an Niederſchlägen ergeben. 


Dezember 1911. 


3. In den Gottesdienſten der reformierten Kirche wird 
das Opfer für die Miſſion erhoben und ergibt für die 
Basler Miſſion 5434 Fr. 41, für die allgemeine evangeliſche 
Miſſion 660 Fr. 16, beide Summen netto. 

5. Der Weitere Bürgerrat genehmigt den Ver: 
waltungsbericht des Engern Bürgerrats für 1910, beitellt die 
Prüfungstommiffion für 1911 und erledigt eine Reihe Be: 
gehren um Aufnahme ins Bürgerredt. 

7. Der Große Rat überweilt den Anzug Gehrig, der 
die Leichenverbrennung zur Regel, die Erdbeitattung zur Aus⸗ 
nahme maden möchte, bejchließt den Ankauf der Liegenſchaft 
zum „großen Collmar“ am St. Albangraben zu Verwaltungs: 
zwecken und genehmigt die Staatsrehnung für 1910. 

9./10. Zum Wppellationsgerichtspräjidenten an Gtelle 
des zurüdtretenden Dr. Hans Völlmy wird ohne Gegenfandi- 
daten gewählt Dr. Gerhard Börlin, bisher Zivilgeridhts- 
prälident, mit 1283 von 1318 abgegebenen Stimmen bei 21,757 
Stimmberedtigten. 

12. Dr. Ernſt Heidric Hält feine Antrittsporlefung 
über die Anfänge der neuern Kunſtgeſchichtſchreibung. Prof. 
Sans v. Friſch nimmt einen Ruf an die Univerfität Czerno— 
wiß an. | 

13. Die Frequenz der Univerfität im Winter: 
femejter 1911/12 weijt folgende Zahlen auf: 60 ordentliche 
und 27 außerordentlihe Profeſſoren und 36 Privatdogenten; 


323 21* 


772 Studierende (39 Damen) und 158 (93) nit immatrifu- 
lierte Zuhörer; von den Studenten find 604 (34) Schweizer. 
Theologie jtudieren 64, Jurisprudenz 64, Medizin 227 (13), 
Philoſophie I 214 (18) und Philoſophie II 203 (8). Yon den 
226 (20) in Bafel ftudierenden Angehörigen des Katons Bajel- 
ftadt widmen fie) der Theologie 11, der Jurisprudenz 39, der 
Medizin 39 (2), der Philojophie I 90 (12), der Philoſophie II 
87 (6). 

14. Der Große Rat überweilt im Anſchluß an eine 
Snterpellation der Regierung eine Motion betr. Aenderung 
der Statuten der Krankenkaſſe der Straßenbahner, befchließt 
mit Dringlichkeit Erwerbung des Cleftrigitätsneges in 
Niehen, nimmt eine Abänderung des Beamten- und Bejol- 
Dungsgejeßes vor, genehmigt die Vorlage betr. Wohnpflicht 
der Beamten und Angeltellten des Erziehungsdepartements 
und erledigt in erjter Lejung das Geſetz betr. Kanalijation 
im Kantonsgebiete. 

15. Der Genoffenfhaftsrat des Allg. Kon 
jumvereins berät die Tarifverträge mit dem Perjonal 
zu Ende, nimmt die revidierten Statuten in der von der 
Kommillion vorgeſchlagenen Form an, ändert das Beloldungs- 
reglement und nimmt ein Reglement für den Perfonalaus- 
ſchuß an. 

19. Wie die Regierungsratsverhandlungen mitteilen, 
haben Freunde der Univerfität auf 6 Jahre einen Betrag 
von jährlih 4950 Fr. fiher geftellt als Dotation für eine 
PBrofeffurder Geographie. 

21. Ein Sturm von ungewohnter Heftigfeit wirft die 
Buden des Weihnadtfronfaitenmarfts auf dem Barfüßerplaß 
über den Haufen und dedt die Barfükerfirhe zum Teil ab. 

22. Beim Skifahren in der Umgegend von Davos fommt 
der auf dem Spießhof als Beamter der ©. B. B. arbeitende 
Ernft Cornu in einer Lawine ums Leben. 

Gemeinnüßige Geſellſchaft. Die Zinstragende 
Erjparnistafje erhält übereinftimmend mit den Forderungen 


324 


des am 1. Januar 1912 in Kraft tretenden neuen Schweize- 
riſchen Zivilgejegbudes den Charakter einer Stiftung. 

Die Stimmberedtigten von Riehen nehmen in einer 
Verfammlung Stellung gegen das vom Großen Rat in erfter 
Leſung beſchloſſene Gefeg betr. Ranalifation des 
KRantonsgebiets, das der Gemeinde unerträgliche Be: 
laſtung ſchaffe. 

28. In einer Nachmittagsſitzung wählt der Große Rat 
zum Unterſuchungsrichter Dr. Walter Meyer, validiert die 
Wahl vom 9./10. Dezember, nimmt das Geſetz betr. Aus— 
übung von Initiative und Referendum an, erledigt etliche 
Petitionen und genehmigt die Vorlage betr. Verbeflerung der 
Einwohnerfontrolle. 

30. Die Regierung erteilt Prof. Ed. Hagenbad- 
Burdhardt die gewünſchte Entlaſſung auf Ende des laufenden 
MWinterfemeiters. 

31. Die Hauptzahlen im Zivilftandspverfehrdes 
Jahres 1911 ftellen fih wie folgt: Gejeßlide Trauungen 
wurden 1107 vollzogen. Geburten fanden 3473 ftatt, dar: 
unter 692 Rafjantengeburten. Bon den 3340 Lebendgebornen 
waren 1663 Knaben, 1677 Mädchen, legitim 1545 Knaben (55 
Totgeburten) und 1543 Mädchen (33), illegitim 178 (5) 
Knaben und 171 (4) Mädchen. Todesfälle ereigneten fich 2029, 
darunter 275 von Paſſanten; nad) Abzug von 97 Totgeburten 
bleiben 1932 Todesfälle. Davon waren 950 Perſonen männ- 
lien, 982 weibliden Geſchlechts. Das Jahr ſchließt, wenn 
nur die Zahlen der Zivilſtandsbücher berüdfichtigt werden, 
mit einer Zunahme der Wohnbevölferung um 1091 Perfonen, 
960 männliche und 531 weibliche, nämlich 104 Kantonsbürger, 
407 Schweizerbürger andrer Kantone, 580 Ausländer. 

Witterung Das Mittel der Temperatur mit 
+4,77 überitieg um 4,0% den normalen Mittelwert des 
Dezembers, und zwar zählte man nur 2 Tage, wo die Tem— 
peratur unbedeutend unter 0 ſank. Das mittlere Tem: 
peratur-Marimum betrug + 7,39 das mittlere Temperatur: 


325 


Minimum + 2,619, der mittlere Barometerftand 737,6, die 
Summe der Niederjchlagmenge 55,6 mm, ohne daß es je zu 
einer Schneedede kam, die Sonnenfcheindauer im ganzen 
endlich 65,0 Stunden. So trug der Monat mehr den Stempel 
eines unfreundlien März oder April als eines regelrechten 
Chrijtmonats. 


Sanuar 1912, 

1. Mit dem heutigen Tag tritt in der ganzen Schweiz 
das neue Shweizerifhe Zivilgefegbud in Kraft. 
Dadurd) werden die fantonalen Zivilgefege hinfällig Für 
jeden Kanton bejondere Einführungsgejege erleichtern den 
Uebergang von den alten in die neuen Verhältniſſe, paſſen 
die kantonale Behördenorganilation dem neuen Recht nad 
Möglichkeit an und verteilen die Kompetenzen. Das neue 
Recht wird in alle Beziehungen des bürgerliden Lebens 
tief einjchneiden, wenn auch die Aenderung nah außen zu: 
nächſt wenig jihtbar wird. Es ijt auch in den letzten Wochen 
in allen Kreifen dur aufflärende Vorträge und ähnliche 
Maßregeln, wie 3. B. populäre Flugſchriften, das Menſchen— 
mögliche geleiltet worden, um die Bevölkerung aufzuflären 
und fie zu den beim Eintritt neuen Rechtes aud) ihrerfeits zu 
treffenden Maßnahmen aufzufordern. 

6. Die Regierung ernennt zum außerordentlihen Pro: 
fejlor an der philoſophiſchen Fakultät II Dr. Heinrih Preis: 
werf, bisherigen Privatdozenten. 

8. Eine Berfammlung von Staatsarbeitern und Ange: 
itellten in der Burgvogteihalle beſchließt angeſichts der Teue- 
tung der notwendigen Lebensmittel durch eine Eingabe an 
den Großen Rat Teuerungszulage zu verlangen. 

11.6 roBßer Nat. Nah Erledigung einer Interpellation 
wird Ankauf der Liegenihaft Grünpfahlgäßlein 8 beſchloſſen 
und werden drei neue Lehrjtühle an der philofophiihen Fa— 
fultät (Engliih, Geographie, Chemie) geihaffen. Hierauf 
weilt der Rat die Vorlage betr. Ausbau des Tramnetes an 


326 


Die Regierung zurüd und überweilt einen Anzug betr. Ber- 
tretung der Lehrerſchaft im Erziehungsrat. 

13. Umzug der drei Ehrenzeichen Kleinbaſels. 

16. Der Shweizerifhe Bankvperein fulioniert 
mit dem Bankhaus A.G. von Speyr u. Cie. unter Bor: 
behalt der NRatififation durch die beidjeitigen Generalver- 
Tammlungen. 

17. Brof. Sriedr. Münzer folgt einem Ruf als ordent- 
licher Profeſſor für römiſche Geſchichte nad) Königsberg. 

Eine in Baſel tagende internationale Kommiſſion von 
Sonntagsireunden beſchließt die Organilation eines Welt: 
bundes für Sonntagsfeier. 

Die Verhandlungen der Freiwilligen Schul— 
ſynode betr. Schulzeugnijje, die am 22, November v. J. 
nicht fonnten zu Ende geführt werden, werden in einer außer- 
ordentliden Nachmittagsjigung durch Annahme einer Reihe 
von Thefen erledigt. 

19. Der Bundesrat wählt zum Mitglied der Kommiſſion 
zur Schweizerifhen Scilleritiftung u. a. Regierungsrat Dr. 
P. Speifer in Bajel. 

25. Großer Rat. Nah Abwandlung einer Inter: 
pellation über den Modus der Lehrerbejoldungen bewilligt 
der Rat einen Kredit für Anfauf einer Liegenihaft am 
Schlüfjelberg, beſchließt Legung der Tramlinie Heumwage- 
Margarethenftraße, weiſt die auf das Turnfeit geplante Tram: 
linie dur) die Arnold Bödlin-Straße an die Regierung zu— 
rück und beſchließt Eintreten auf die Beratung des Budgets 
für 1912, 

27. Die deutfhe Kolonie Bafels feiert im Muſik⸗ 
Taal Kaifers Geburtstag. 

28. Der in die Matthäusgemeinde neu gewählte Pfarrer 
O. Marbad, bisher in Giteig bei Interlaken, wird durch 
den PBräfidenten -des Kirchenrates Pfr. U. v. Salis, in fein 
Amt eingeführt. | 

30. Sm Alter von 87 Jahren ftirbt Eduard Brudner- 


327 


Merian, Baumeijter, der in den Jahren feiner Kraft dent 
Staat und der Stadt in mannigfadher Weiſe gedient hat. Sein. 
Hauptinterejje galt ftets den chriſtlichen Liebeswerken. 

31. Witterung. Das Mittel der Temperatur im. 
Sanuar 1912 betrug 2,0, das mittlere Temperatur-Marimum 
4,7, das mittlere Temperatur-Minimum — 0,49 Celfius, das- 
Mittel des Luftdrucks 737,6, Die Summe der Niederfchlags- 
menge 53,5 mm, die Summe der Sonnenfheindauer 65,6 
Stunden. Der Monat fiel bedeutend milder und wärmer aus- 
als der Durdfehnitt der Januare, und der Ueberjhuß der 
Wärme würde nod) viel bedeutender ausgefallen fein ohne 
die fälteren le&ten Tage, die normalerweije am wärmiten. 
hätten fein jollen. 


Februar 1912. 


3. 4 Die eidgenöflifhe Vorlage betr. Kran 
ken- und Unfallverfiherung madt in Bajelitadt 
9089 Ja und 3777 Nein, wie fie aud) in der ganzen Schweiz, 
bei einer Beteiligung von rund 530000 Stimmenden mit: 
einer Mehrheit von rund 50000 Stimmen angenommen 
wurde. Sn Bajel Hatten alle Barteien für Annahme gewirkt 
mit Ausnahme der liberalen, die die Stimme freigab. Führer 
der Oppojition war die Handelsfammer; in der Tat hatte fi 
der ſtärkſte Widerſpruch aus Kreifen der Handel: und Ge- 
werbetreibenden erhoben. Die Agitation hatte ſchon feit Neus 
jahr gewaltet. Intereffenverbände, politiihe Parteien, ein= 
zelne Stände, die Mitglieder der Kaſſen waren für und wider 
bearbeitet worden. — Gleichzeitig wurde zum Mitglied des 
Nationalrats gewählt an Stelle des zurüdtretenden E. Müry 
Regierungsrat Eugen Wullſchleger mit 7324 Stimmen. 
Gein Gegentandidat, der fatholiihe Dr. Albert Soos wurde 
von einer Gruppe fozialijtenfeindliher Gewerbetreibender: 
unterjtüßt und madte 3659 Stimmen. Die freilinnige und 
die liberale Partei enthielten jih. Ingenieur Rud. Gelpfe 
hatte fi eine Kandidatur verbeten. — Zum Präfidenten des 


328 


Zivilgerihts wurde ohne Widerjpruh der von allen Par- 
teten unteritüßte Vertrauensmann der Sozialdemofraten 
Dr. Eugen Bloder, Subſtitut des Zivilgerichtsſchreibers, 
gewählt mit 7917 Stimmen. 

8. Großer Rat. Der Rat faßt Beihluß betr. Auf: 
ftellung von Bauvorſchriften für die Geftaltung der Faſſaden 
an der Schwarzwaldallee gegenüber dem neuen badifchen 
Bahnhof, bewilligt einen Kredit von 60,000 Fr. für Erweite— 
rung des ſtädtiſchen Clektrizitätswerfes am Dolderweg und 
fährt fort in der Beratung des Budgets für 1912. 

11. Die GejellfhaftfürCvangelifde Stadt 
mijfion begeht ihre SJahresfeier im Vereinshaus. Als 
Seftredner tritt bei diefem Anlaß auf Pfr. ©. Oettli aus 
Köniz (Ktn. Bern). 

13. Der Weitere Bürgerrat genehmigt die Bubd- 
gets der bürgerlichen Verwaltungen für 1912, ratifiziert den 
Vertrag mit der evangelijchsreformierten Kirche betr. das 
Kirhenopfer, genehmigt den Verkauf non 6600 m? Spital: 
land auf dem innerjten Teil des Margarethenfeldes an die 
Bundesbahnen und erledigt eine Reihe Begehren um Auf: 
nahme ins Bürgerredt. 

Un einem unglüdliden Sturz fjtirbt 69jährig Kranz 
Bühler:Thon, der Begründer und Iangjährige Wirt der 
Alten Bayriſchen Bierhalle in Bajel. 

14. Die Regierung ernennt zu Kommandanten von 
Süftlier-Bataillon 54 Major Guftan Senn, von Fülilier: 
Bataillon 97 Major Manfred Alioth, von Füſilier— 
Bataillon 144 ad interim Hauptmann Hans Lihtenhahn. 

18. In Bern jtirbt der Münfterorganift Karl Hep- 
Rüetſchi, geb. 1859 in Bajel, der troß feiner faſt 30jährigen 
Wirkſamkeit in Bern ein guter Basler geblieben iſt. 

Beim Fußball-Meiſterſchaftsmatch Serie A, der zugleich 
die Entfcheidung über die Zugehörigkeit des Anglo-CLups 
bradte, fiegen mit 7:0 Toren OlId Boys Bajfel über den 
Fußballklub Biel. 


329 


21. Die BVorfteherfhaft der Evangelifden Pre— 
dDigerfhule teilt mit, daß fie die Leitung diefer Anftalt, 
die feit der Gründung in den Händen des nun zurüdtretenden 
Pir. W. Arnold geruht Hatte, dem Privatdozenten der Theo- 
logie in Berlin Lic. theol. DO. Shmi übertragen hat. 

22. Der Große Rat validiert die am 3./4. Ds. ge- 
troffene Wahl eines Zivilgerihtsprälidenten, ratifiziert eine 
Anzahl Aufnahmen ins Bürgerrecht und führt die Beratung 
des Budgets für 1912 weiter. 

23. Dr. Hans Iſe lin von Bafel wird die venia legendi 
für Chirurgie erteilt. 

25. An einer raſch verlaufenden Blutvergiftung ftirbt in 
Bern, an deſſen Univerfität er feit 1891 als hochgeſchätzter 
theologiiher Xehrer wirkte, Prof. D. Fri B artb-Sartorlus 
aus Baſel, 55 Jahre alt. 

26.—28. Die Faſtnacht mit Morgenjtreih, Umzügen, 
Schnigelbänfen und Bällen, bei der ſchönen Witterung unter 
einem ſtarken Volkszuſtrom von nah und fern nimmt ihren 
gewohnten Berlauf. Kenner rühmen, daß die Bemühungen 
des Faſtnachtskomitees um die Hebung der Trommelfunjt und 
der Faſtnacht im allgemeinen nicht vergeblih) waren. Zum 
eritenmal diefes Jahr wurde mit Erlaubnis der Polizei am 
Montag und am Mittwoch bis abends 10 Uhr getrommelt. 
Dafür fiel der Morgenjtreih am Mittwoch weg. 

28. Zum Sekretär des eidgenöjjiihen politiihen Depar- 
tements an Gtelle des zurüdtretenden Dr. Graffina wählt 
der Bundesrat Dr. Ch. Bourcart in Bajel, ehemaligen 
Tchweizerifchen Gefandten in London. 

29. Das Zivilgeriht wählt zum Gubfitituten des Zivil: 
gerichtsſchreibers Dr. I. Trott aus Bafel. 

Witterung. Die meteorologiihen Hauptwerte des 
Monats Februar 1912 waren: Mittel der Temperatur 5,1, 
mittleres Temperatur-Marimum 9,4, mittleres Temperatur: 
Minimum 1,59 Celjius, Mittel des Luftdruds 734,0, Summe 
der Niederjejlagsmenge 47,0 mm, Summe der Sonnenſchein⸗ 


330 


dauer 113,4 Stunden. Obwohl vom 1. bis zum 5. Februar 
eine Kälte berrichte, die am 4. bis — 17,49 Celfius fant, 
bradte der übrige Teil des Monats einen folhen Wärme- 
überjhuß, daß das Mittel der Temperatur noch immer 3,4 
wärmer ausfiel als der 80jährige Durchſchnitt. 


März 1912. 

2. Die Regierung wählt zum außerordentliden Profellor 
für Geographie Dr. Guftan Braun, d. 3. Privatdozenten 
in Berlin. 

3. In Bern Siegen im Meifterfhaftsmaih OId Boys 
Bafel über Fußballklub Bern mit 2:1. 

4. Das ZeppelinLuftihiff „Victoria Luiſe“ fliegt 
bei feiner erſten Fernfahrt Friedrichshafen-Frankfurt übe 
Bajel. | 

6. Die Regierung ernennt zu ordentliden Profeſſoren die 
bisherigen außerordentliden %. Fichter für anorganiſche 
und 9. Rupe für organiſche Chemie und 9. Heidrid für 
Kunitgeihichte, und überträgt dem ordentliden PBrofellor 9. 
Hecht die Profellur für engliſche Geſchichte und Literatur. 

7. Der Große Rat genehmigt die Bauvorſchriften für 
die Umgebung des neuen badifhen Bahnhofs. Sodann wird 
die Budgetberatung für 1912 zu Ende geführt und mit Be: 
Handlung der dazu geitellten Poſtulate begonnen. 

8. Dr. med. Baul Breiswerf hält jeine Habilitations- 
vorlejung als Privatdozent an der mediziniihen Fakultät 
über Mundhöhle und Gefamtorganismus. 

Die Gemeinnügige Geſellſchaft befchließt, ih an Grün: 
dung und Unterhalt eines Walderhbolungsheims zu 
beteiligen. 

10. In Serie A gewinnen OId Boys I Baſel gegen 
Norditern I Baſel mit 3:1 Goals. 

13. Die Regierung erteilt Prof. Dr. 2. Courvoifier 
die erbetene Entlajjung mit den üblichen Danf- und Ehren- 
bezeugungen. 


331 


14. Großer Rat. Nah Erledigung zweier Interpella- 
tionen, die den ganzen Bormittag beanjprudhten, wird die 
Behandlung der Poitulate zum Budget auf jpäter zurüdgelegt, 
ein Antrag betr. Zuſchlag zur Erbichaftsiteuer abgelehnt und 
das Budget angenommen mit 19,506,805 Fr. 40 Ausgaben und 
17,342,661 Fr. 80 Einnahmen und einer Zahlung von 500,000 
Franken an den Konto Eijenbahnbauten. Endlih wird an— 
genommen die Vorlage betr. Ableitung des Abwaſſers der 
Kanalifation von Lörrach nad) dem Rhein. 


16. Die Regierung beruft als Profeſſor der Tateinijchen 
Sprade und Literatur Prof. E. Lommatzſch aus Münden. 


17. Die Generalverfammlung der römiſch-katho— 
lifhen Gemeinde genehmigt Jahresbericht und Rechnung 
ihres Voritandes für 1911. 

Die Stimmfähigen der Hriltfatholifden Ge 
meinde wählen ihren Kirchgemeinderat (Präſ. E. Frey⸗ 
Vogt) und die Delegierten in die Nationaliynode. | 

In Bern fiegen in der Meiſterſchaftsſerie A die Young 
Boys Bern gegen den Fußballklub Bajel mit 6:0, in Bajel 
in der gleihen Serie Norditern Bafel gegen —— 
klub Biel mit 5:0 Goals. 

In Augſt ftirbt nur 32 Fahre alt der frühere Salinen— 
direktor F. Frey, einer der beſten Kenner der Ruinen von 
Augſt und Verfaſſer des Führers durch die Trümmerſtätte. 


18. Die Hiſtoriſche Geſellſchaft wählt an Stelle des nad 
Bern überfiedelnden Dr. Charles Bourcart zu ihrem Präſi— 
denten Dr. 2. Aug. Burdhardt. 


20. Die Synode der evangelijchreformierten Kirche 
berät nad Erledigung einer nterpellation eine Ordnung 
für Wahlen und Abſtimmung, beſchließt die Wahl einer 
Prüfungsfommilfion, verfügt über Verwendung des Kirchen: 
opfers vom Karfreitag und Bettag 1911, bewilligt einen Nad)- 
tragsfredit für 1911 von 4500 Fr. und ſetzt ein Gteuer- 
minimum von 1 Fr. im Jahr feſt. 


332 


21. Der Vehrerverein ernennt in feiner General: 
verfammlung zum Präjidenten Dr. Geiger von der Untern 
Realſchule. 

22. Die Regenz erteilt die venia legendi den DDr. Julius 
Obermiller von Cannſtadt für Chemie und Wilhelm 
Saraſin von Baſel für orientaliſche Philologie. 


23. Ein Vortrag von Ingenieur R. Gelpke im benach— 
barten Arlesheim rollt die Frage der Wiedervereini— 
gung beider Baſel auf und begründet ſie mit der mißlichen 
wirtſchaftlichen Lage, worin die beiden Kantonsteile wegen 
der Trennung ſich befinden. 

24. Zum Abſchluß der diesjährigen Lehrlings— 
prüfungen findet in der Aula des Muſeums die Preis— 
vertetilung ftatt, wobei u. a. Regierungsrat Wullfchleger 
eine Anſprache hält. 

Im Meiſterſchaftsmatch Serie A fiegt 3. CE. Baſel gegen 
5. ©. La Chaursde-Fonds mit 2:0, im Finalmath Con: 
cordia TI gegen Etoile II La Chaux-de-Fonds mit 4:0 und 
wird Champion der Schweiz, endlihd OId Boys gegen 
Etoile I 2a Chaursde:Tonds mit 2:0 Goals. 

27. Die Regierung beruft als außerordentlien Profefjor 
für phyfifalifche Chemie Dr. Auguft Bernoulli,d. 3. Pri⸗ 
vatdozenten in Bonn. 

28. Der Große Rat hört zwei Interpellationen, bes 
fließt den Verkauf eines Areals an der Birsitraße für ein 
Tierheim, nimmt die Vorlagen betr. Kanalijation von Riehen 
und betr. Vergrößerung der öffentlichen Bibliothek an, über: 
weilt einen Anzug Baumann betr. Gewerbegejeßgebung und 
geht zur Tagesordnung über die Anzüge Gaß betr. Zenjur 
der Plakatanſchläge und Karli betr. Aufhebung der Geheim- 
haltung der Gteuerfontrolle. 


29. Der Genoſſenſchaftsrat des Allg. Kon 
fumvereins genehmigt Sahresberidht und Jahresrechnung 
für 1911 ſamt den Anträgen der Berwaltung. 


333 


30. Gegen Mitternadt findet auf dem neuen badiſchen 
Verfhubbahnhof auf der Leopoldshöhe die Entgleifung 
einer Lokomotive ftatt, wobei der Lofomotivführer 
und der Heizer getötet werden. 


31. Sm Entiheidungsmatd) über die ſchweizeriſche Meifter- 
haft Serie A jiegt 3. C. OId Boys Bafel über Young 
Boys Bern endgültig mit 1:0 Goal. 


Witterung Das Mittel der Temperatur im März 
betrug 85°, das mittlere Temperatur-Marimum 12,8, das 
mittlere Temperatur-Minimum 4,79 Celſius, das Mittel des 
Luftoruds 735,9, die Summe der Niederfchlagsmenge 77,4 mm, 
die Summe der Sonnenjheindauer 140,9 Stunden. Der Monat 
fiel viel zu warm aus, 3,70 Celjius wärmer als der 80jährige 
Durchſchnitt, wärmer als je ſeit 1826 ein März, aber aud) die 
Niederjchläge ergaben 150% des Normalwerts und verteilten 
ich jo über den ganzen Monat, daß nur 9 Tage ohne Nieder: 
Ihläge regiltriert wurden. Dagegen waren Bewöltung, 
Sonnenjdein und Luftdrud annähernd normal. 


April 1912. 


2. Der Weitere Bürgerrat ratifiziert den Berfauf 
zweier Landparzellen der Chr. Merianfchen Stiftung außer- 
halb des Wolfbahnhofs an die Schweizerilhen Bundesbahnen 
und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgers 
recht. | 
9. Das Teftament des jüngſt 78jährig verjtorbenen E m a= 
nuel Meyer wird eröffnet. Es ſetzt außer einer Anzahl 
von Legaten an Berwandte und Freunde über 100,000 Fr. für 
wohltätige und gemeinnüßige Zwede aus. Der Reit joll der 
Akademiſchen Gejellihaft zufallen. 


10. Im Alter von 64 Jahren ftirbt Hans Linder— 
Stehelin, von 1882 bis 1907 GStaatskaffier, dann bis 1911 
Quäjtor der Univerfität, ein mufterhafter Beamter. | 


334 


13. Die Regierung wählt als Profejlor der Kinderheil- 
funde an der Univerjität den Oberarzt des Kinderjpitals Dr. 
Cnil Wieland. 

18. Der Große Rat wählt zum Präjidenten 9. Je z⸗ 
ler, bisher Statthalter, zum Statthalter Dr. Iſaak Iſelin; 
er beitellt für ein neues Jahr das Bureau, wählt zum Regie— 
rungspräjidenten für 1912/13 Dr. 9. Blocher, zum Vize: 
präjidenten Dr. %. Aemmer, gewährt einige Nadtrags- 
fredite, ratifiziert eine Anzahl von Bürgerrehtsaufnahmen 
und tritt ein auf die Beratung des Rückſtändeberichts. Er wird 
genehmigt und ein Zujag abgelehnt, der die Regierung ein 
laden will, zur Vorbereitung dringender Arbeiten Rommij- 
fionen beizuziehen. in Landverfauf an die Methodilten- 
gemeinden wird angenommen, die Abtretung eines Stückes 
Land an der Eijengaffe zum Neubau Spillmann genehmigt, 
endlich) die Diskufjion eröffnet über den Vertrag mit der 
Basler Wohngenofjenfdaft. 

Großes Auffehen erregt in der Stadt die in der Naht 
vom 14. zum 15. ds. erfolgte Kataftrophe der „Titanic“. 
Diefe, das gegenwärtig größte Schiff der Welt, jtieß auf ihrer 
Sungfernfahrt von Southampton nad) New York mit einem 
Eisberg zufammen. Das Schiff ging unter, es famen 1565 
Menihen um, 775 wurden. gerettet, unter ihnen Oberſt A. 
Simonius und Dr. Mar Stähelin aus Baſel. Der Untergang 
der „Titanic“ ift die größte Schiffskataſtrophe aller Zeiten 
in Bezug auf Berluft an Menjchenleben. 

20. Die Hiftorifhe Ausstellung von Erzeugnijien 
des Runftgewerbes aus Basler Privatbefig in der Kunſthalle, 
veranjtaltet von der Hiſtoriſchen Gejellihaft, wird eröffnet. 

21. Die Rehrlingsprämierungen nehmen ihren 
regelmäßigen Verlauf. 


25. Der Große Rat behandelt nad) der Erledigung 
einer Interpellation und nad) Bewilligung eines Nacdhtrags- 
fredites den Vertrag mit der Basler Wohngenoſſenſchaft über 


335 


Abtretung eines Stüdes Land mit Erbbauredht auf 30 Sabre. 
Der Bertrag wird [chlieglih unter Namensaufruf ange: 
nommen. Gin in der letten Situng (18. April) gewähltes 
Bureaumitglied lehnt die Wahl ab. 

26. Die Generalverfammlung Des Allg. 
Konjumvereins genehmigt die Anträge ihres Genofjen- 
ſchaftsrates. 

27. 28. Der Verkehrsverein veranſtaltet ein Flug— 
meeting auf der St. Jafobsmatte mit dem Schweizer 
Flieger Grandjean und dem Franzoſen Kimmerling, die beide 
mit ihren Hoch- und Dauerflügen viel Erfolg ernten. - 

27. fig. Auf dem ehemaligen Kohlenplat beim Bundes- 
bahnhof veranftaltet ver Zirfus Mar Shumanın feine 
Boritellungen. 

30. Witterung. Die meteorologiihen Hauptwerte 
des Monats waren: Mittel der Temperatur 8,8, mittleres 
TZemperatur-Marimum 14,2, mittleres Temperatur: Minimum 
3,69, Mittel des Quftdruds 738,3, Summe der Niederſchlags⸗ 
menge 20 mm, Summe der Sonnenfheindauer 198 Stunden. 
Der April 1912 ijt der erſte Monat feit Juni 1911, der nit 
Wärmeüberſchuß über das langjährige Mittel ergab. Aufs 
fallend gering war das Ergebnis der Niederſchläge. Sn den 
eriten Tagen und wieder in der Mitte des Monats gab es 
Fröſte. Am Morgen des 13. ſank das Thermometer unter 2° 
und richtete an den frühzeitig blühenden Obftbäumen, nament: 
lich Kirihen, ganz erheblichen Schaden an. 


Mai 1912. 


1. Die organtjierte Arbeiterſchaft begeht in üblicher Weife 
die geierdes1.Mai. Am Vormittag in der Burgnogteis 
halle jpricht Obergerihtspräfident Otto Lang aus Zürich), der 
Nachmittag in den Zangen Erlen wird durd) die u un 
froftige Witterung beeinträdtigt. 

2. Sn den Langen Erlen, in der Nähe des Eglifees, wird 
eine Walderholungsjtätte für tuberfulöfe Frauen 


336 





aus Privatmitteln mit Staatshilfe unter der Aegide der Ge- 
meinnüßigen Geſellſchaft eröffnet. 

4. An einem Herzſchlag ftirbt 37jährig auf offener Straße 
Lehrer E. Alb. Burgherr, der fih aud als Dichter hervor: 
gewagt und noch im Hinter uns liegenden Winter ein Schau- 
ipiel „Das Kreuz der Rache“ auf dem Basler Stadttheater 
aufgeführt hat. 

5. Die Flieger Grandjean und fimmerling, die 
vor acht Tagen mit ungenügendem finanziellen Erfolg auf: 
gejtiegen find, verſuchen noch einmal ihr Glüd. 

6. Der Hausbeligerverein beichließt das Referendum 
gegen den vom Großen Rat am 25. v. M. angenommenen Ber: 
trag mit der Basler Wohngenofjenihaft betr. Ueberlaſſung 
eines Stüdes Staatsland in Erbpadt. Am folgenden Abend 
wird eine Gejellihaft für Bodenbefigreform 
gegründet, die ji) u. a. die Aufgabe jtellt, diefes Referendum 
zu befämpfen. 

9. Der Große Rat wählt nad) Erledigung einer Inter: 
pellation und Bewilligung eines Nacdtragsfredits zu einem 
Beiliger des Bureaus Dr. Rud. Niederhaufer, weift Die 
zweite Vorlage der Regierung betr. Bau einer Terraſſe an 
der mittleren Rheinbrüde fleinbaslerjeits zurüd, weijt die 
Snitiative betr. die Erhebung von Schulgeld von auswärts 
wohnenden Zöglingen hieliger Schulen ab und nimmt dafür 
ein Projekt der Regierung an, das den Snitianten teilweife 
entgegenfommt. Der Beihluß betr. Ablehnung der Snitia- 
tive unterliegt einer Volksabſtimmung. 

Sm Alter von wenig über 70 Jahren ftirbt Prof. Karl 
Von der Mühll, 1868—1889 in Leipzig, jeit 1889 in Baſel 
Profeſſor für mathematiſche Phyſik, 1895 und 1910 Rektor der 
Univerjität, viel verdient als Curator fiscorum und als Vor: 
iteher der Mufeumsgefellfhaft, Chrendoftor der Medizin und 
der Jurisprudenz. 

10. Sn Haufen i. W. findet das üblihde Hebelmähli 
ſtatt. 


337 22 


11. 12. Die ftimmfähigen Mitglieder der enangelijcherefor- 
mierten Kirche von Bafeljtadt wählen für eine Amtsdauer 
von fehs Jahren ihre Synode und die Kirhenvor 
ftände nad dem proportionalen Wahlverfahren, zum erjten- 
mal ohne Aufiiht des Staates. Es lagen drei Lilten vor: 
die der Firchlich freilinnigen Vereine, die von den jozialdemo- 
fratiihen Kirdhgenojjen Kandidaten aufgenommen hatte und 
von ihnen unterjtüßt war, die der politinen Gemeindevereine 
und — für einzelne Gemeinden — die der unabhängigen 
Kirhgenofien („Freunde der Neuen Wege‘). In Klein 
hüningen und Riehen-Bettingen jtanden eine „Dorflijte“ und 
die freilinnige Lite einander gegenüber. Die Wahlen er: 
gaben für die Synode eine pojitive Mehrheit von etwa 40 
gegen 30 Stimmen, etwas mehr als bisher. Die Yusländer, 
die zum erjtenmal mitjtimmten, haben ihre Vertretung er= 
halten; die unabhängigen Kirchgenoſſen feßten nur einen ihrer 
Kandidaten durch. Die Beteiligung betrug rund nur 25% 
bei 21,000 Stimmberedtigten. 

12. Auf dem Rhein ftößt ein Boot mit der Birs- 
felder Fähre zujammen, wobei zwei Perſonen umfommen. 


13. Der Tod des Lic. theol. Albert Brudner, Pfarrers 
in Eſperanza (Argentinien), früher Pfarrers in Klein- 
hüningen und Privatdozenten an der Univerjität Bafel, wird 
angezeigt. 

18. Die Staatsrednung für 1910 fließt bei 
18,699,162 Fr. 65 Ausgaben und 18,326,162 Fr. 40 Einnahmen 
mit einem Defizit von 372,276 %r. 25, während das Budget: 
defizit 2,088,360 Fr. 45 betragen hatte. Die Einnahmen Stiegen 
rund 1,800,000 Fr. höher als im Budget vorgejehen, die Aus— 
gaben jtiegen 60,000 Fr. 

21. Die meilten Brimar: und Mittelſchulklaſſen benügen 
den heutigen Tag zu Shulfpaziergängen. Leider 
wird er wiederholt durch Regengüſſe getrübt. 

22. In der letzten Sigung ihrer Amtsperiode genehmigt 


338 


die Synode der evangelilhreformierten Kirche Jahres— 
berit und Jahresrechnung des Kirchenrates für 1911. 

23. Der Große Rat hört zwei nterpellationen, be- 
willigt einen Nachkredit für Bau einer Schwebebahn im 
Schlachthaus, beſchließt den Anſchluß des badiſchen Bahnhofs 
ans Straßenbahnnetz, faßt einen Beſchluß betr. Verſchwiegen— 
heitspflicht von Mitgliedern der Großratskommiſſionen, er⸗ 
klärt das Initiativbegehren betr. Abſchaffung der Straßen: 
reinigungsiteuer nicht erheblich (welch letzterer Beſchluß nod) 
vor die Bolk:abjtimmung fommen wird), beſchließt Neubauten 
für das Urbeitsnadhweisbureau, genehmigt Sahresbericht und 
Jahresrechnung der Kantonalbant für 1911, erledigt eine 
Reihe von Petitionen und erflärt endlich Anzüge erheblich 
hetr. Einführung einer obligatoriſchen Kranfenverficherung 
und betr. die Kleinfinderfchulen. 

24. Dr. Obermiller hält feine Habilitationsvorlefung 
als Privatdozent über „Natürliche und fünjtliche Farbſtoffe“. 

28. Die Regenz erteilt den DDr. Eonitantin v. Sanidi 
aus Betersburg an der medizinifhen und Fri Viſcher aus 
Bafel an der philofophiihen Fakultät die venia legendi. 

31. Prof. Rud, Braun hält feine Antrittsporlefung als 
Profelior der Geographie über Probleme der Polar— 
welt. 

31. 1. Juni. An der ordentlidhen Sigung der Schweiz. 
Yerzteverfammlung nehmen etwa 400 Aerzte teil. 
Die Profefforen Stähelin und de Quervain referieren über 
das Neueſte auf dem Gebiete der Röntgentherapie. 

Witterung. Meteorologiihe Hauptwerte des Monats 
Mai: Mittel der Temperatur 14,6, mittleres Temperatur: 
Marimum 20,0, mittleres Temperatur-Minimum 9,79. Mittel 
des Yuftoruds 737,4, Summe der Niederſchlagsmenge 82 mm, 
Summe der Sonnenfdeindauer 229 Stunden. Den Monat 
zeichnete jtarfe Veränderlichkeit aus. Er bradte einen Ueber: 
ſchuß an Niederfchlägen und die hödhjfte aller bis jegt in Baſel 
beobachteten Maitemperaturen (am 12. 33,00 Celfius). 


339 22* 


uni 1912. 


1. Die Untere Realjchule Halt den erften Naturfhuß- 
tag der Schweiz ab mit einer Anſprache im Freien, beim 
Safobsberger Hölzchen, und nachher anſchließenden klaſſen— 
weijen Ausflügen. 

1. 2. Bajel beherbergt den Delegiertentag der evan- 
gelifh:-jozgialen Arbeitervereine der Schweiz 
im Wettfteinhof. Vorträge Halten Pfr. ©. Benz über 
„Unſere Sadhe“ und Frl. T. Schaffner, Aſſiſtentin des 
Gewerbeinfpeftorats, über „Die Basler Heimarbeit“. 

13. Die Schweizerifhen Chriftliden VBereine 
junger Männer halten in Bajel ihr 32. Bundesfejt ab. 

2. Der Deutſche Liederkranz feiert unter ftarker 
Beteiligung das gelungene Jubiläum feines 50jährigen Be- 
jtehens. 

3. Die neugewählte Synode der evangelijd- 
reformierten Kirche, eröffnet von W. Backofen: 
Dennler als Alterspräfidenten, wählt zum Prälidenten Prof. 
Eberhard Bilder, zum Vizepräſidenten Rektor Flatt, beitellt 
den Kirchenrat aus Prof. Böhringer (freil.), Prof. Handmann 
(pof.), Oberit Sfelin (pof.), Dr. Kern (poſ.), Kantonsbau— 
meiſter Leijinger (freij.), alt-Nationaltat Müry (freil.), U. 
Raillard (poj.), Antijtes v. Galis (pof.) und W. Sänger:Lang 
(freif.), wählt zum Präſidenten des Kirchenrates Antiftes D. 
v. Galis und zum Bizeprälidenten Prof. Böhringer. 


5. Die Regierung erteilt dem Prof. Dr. John Meter 
die erbetene Entlajjung mit Belafjung von Titel und Rechten 
eines ordentlichen Profeſſors. — Die Naturforihende Geſell— 
haft wählt zu ihrem Präſidenten Prof. Dr. ©. Senn — 
Sm Bernoullianum hält auf Einladung der Freijtudenten- 
Ihaft der durd) feinen Konflikt mit den Zürcher Erziehungs- 
behörden befannt gewordene Pädagog Prof. Dr. %. W. 
Förſter einen Vortrag über die Kunft des Befehlens. — 
Der Genojienidhaftsrat des Allgem. Ronfumvereins 


340 


beichliegt, fein Perjonal bei der Verficherungsfafje des Schweiz. 
Konjumverbandes auf Alter und Invalidität zu verſichern. 
6. Bei einem Gewitterregen in der Nacdmittags- 
ftunde nad) 3 Uhr fällt in Zeit von 8 Minuten eine Nieder: 
Ihlagsmenge von 6 Millimetern. 
7. Zum Borjteher der Gemeinnügigen Geſellſchaft für das 
nächſte Gefchäftsjahr wird gewählt 2. Tre u-Neufomm. 


8. Die Regierung erteilt Prof. Dr. Dan. Burkhardt: 
MWerthemann die erbetene Entlafjung. 

DieSalineShweizerhalle vor den Toren Bafels 
begeht die eier ihres 75jährigen Beitandes unter Anweſen— 
heit der Leiter vieler befreundeter Unternehmungen. 

9. Beim Finalmatch um die [HK weizerifhe Meiſter— 
ſchaft im Zußballipiel auf dem Landhof in Bajel fiegt mit 
3:1 Fußballklub Yarau über Zußballflub Etoile La Chaur- 
de-⸗Fonds. 

10. Die Synode der evangeliſch-reformierten Kirche va— 
lidtert die Wahlen vom 11./12. Mai, trifft Bejtimmungen 
über Berwendung des Kirchenopfers an den der Kirche vor— 
behaltenen Sonn und Feſttagen des Sahres 1912, wählt als 
Delegierten zum theologijhen Konkordat Prof. Böhringer, als 
Erjagmann Dr. Kern und wählt die Petitions- und die Ge— 
Ihäftsprüfungsfommillion. 

11. Bon 1580 Stimmberedtigten ijt dem Regierungsrat 
ein Referendumsbegehren gegen den Großrats- 
beihluß vom 25. April betr. ven Bauredhtsvertrag mit 
der Basler Wohngenojjenihaft eingereicht worden. 

Die Frequenz Der Univerfität im Sommer: 
jemejter 1912 beträgt 799 immatrifulierte Studierende (dar— 
unter 42 Damen) und 142 (51) nicht immatrifulierte Hörer. 
Von den ISmmatrifulierten gehören an der theologiihen Fa— 
fultät 81, der juriſtiſchen 74, der mediziniſchen 230, der philo- 
jophifhen I 217, der philojophifchen II 197; Schweizer find 
630 (36), Ausländer 169 (6). Bon den 303 (21) Bajeljtädtern 


341 


tudierten Theologie 19, Turisprudenz 47, Medizin 49 (2), 
PHilofophie I 98 (16) und Philoſophie II 90 (3). 

13. Der Große Rat nimmt ein Vollziehungsgejeg zum 
Bundesgeſetz betr. das Ablinthverbot an, beichließt Hausfäufe 
zur Vollendung der Marktplaßforreftion, den Kauf eines Ter: 
tains an MWiefendamm und MWiejenitraße, jowie zweier Par: 
zellen beim Tramdepot und überweilt endlich der Regierung 
eine Reihe von Anzügen, nämlich betr. Ausarbeitung eines 
generellen Straßenbahnneßes; betr. Uebernahme des Grund: 
beliges des Bürgerjpitals durch den Staat; betr. Wahl der 
jtändigen Kommiſſionen dur) den Großen Rat; betr. Reviſion 
des Bürgerredtsgejeßes,; betr. Bebauung der begrenzenden 
Straßen von Billenquartieren und betr. Erridtung eines 
Braujebades im St. Albangquartier. 

15. Die Regierung wählt zum ordentliden Profellor für 
öffentlides Net an der Univerjität Dr. Erwin Ruck, d. 2. 
Privatdozent in Tübingen. 

20. Großer Rat. Nach Erledigung einer Interpellation 
wird die von der Regierung geforderte Dringlidfeit für die 
Wahlfreiseinteilung zu den Bürgerratswahlen abgelehnt und 
werden Kredite bewilligt für Anfauf einer Qandparzelle in 
Kleinhüningen, für Ankauf der Liegenihaft Kanonengaſſe 11 
für die Frauenarbeitsſchule, für Inſtandſtellung des St. Alban—⸗ 
teihwuhrs, für Vergrößerung der Schladitanitalt, endlich für 
Vermehrung des Perjonals der Vormundidaftsbehörde; der 
Rat weilt die Vorlage über Webertretungen des Pflanzen: 
ſchutzgeſetzes an die Regierung zurüd, überweilt die Reviſion 
des Gemeindegejeßes einer KRommilfion und hört ein Referat 
über Errichtung einer fantonalen öffentliden Krankenkaſſe. 

23. fig. wird die üblihde Woche der religiöfen 
Sahresfejte gefeiert. 

25. Der Weitere Bürgerrat beihließt über Ver- 
teilung des Ertrags der Chriſt. Merianſchen Stiftung an die 
bürgerliden Anſtalten für 1912, legt einen Verkauf von Land 
diefer Stiftung an der Lagerhausftraße an den Staat zur 


342 


Kanzlei und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins 
Bürgerreht. — Der neue Lehrer der Hafjiihen Philologie 
an der Univerfität, Prof. Ernit Lommatzſch, Hält feine 
Antrittsporlefung über die Bedeutung der Provinzen in der 
römischen Literatur. 


27. Der Große Rat ratifiziert eine Anzahl Bürger: 
aufnahmen, weilt die Vorlage betr. Errichtung einer außer- 
ordentliden Krankenkaſſe an eine neungliedrige Kommiſſion 
und weilt die Borlage betr. Wahlfreiseinteilung für die 
Mahlen in den Weitern Bürgerrat ab in der Meinung, daß 
fie fünftig in einem Wahlfreis zu erfolgen haben. Am Nad)- 
mittag jtattet der Rat in corpore dem feiner Vollendung ent- 
gegengehenden bafeljtädtilhen Kraftwerk Augſt-Wyhlen einen 
Beſuch ab. 

28. Prof. Sicher, feit 10 Fahren Lehrer der Botanik 
an der Univerjität, reiht der Negierung fein Entlaljungs- 
geſuch ein. 

Der Genoffenfhaftsratdes A. C. V. beſchließt 
ven Bau eines KRohlenmagazins auf dem Lisbücdhel und nimmt 
eine Rautionsordnung an. 

Der Komponijt Dr. Hans Huber feiert feinen 60. Ge— 
burtstag und mit ihm das gejamte muſikaliſche Bajel. 


29. 30. Der Deutſche Hilfsverein begeht das Feſt 
feines 50jährigen Beitandes mit Konzert und Feſteſſen im 
Sommerfajino unter Anwefenheit zahlreicher glüdwünfchender 
Gäſte. 

30. Sm Alter von 63 Jahren ſtirbt Dr. Edouard Boi- 
vin, Drieftor der Banque fonciere du Jura. 

Witterung. Im Monat Suni 1912 betrug das Mittel 
der Temperatur 16,7, das mittlere Temperatur-Marimum 
21,7, das mittlere Temperatur-Minimum 12,4 Celfius, das 
Mittel des Luftdruds 736,5, Die Summe der Niederfchlags- 
menge 108 mm, die Summe der Sonneniheindauer 227 Stun: 
den. Der Hauptharafter des Monats war unbejtändig. Wenn 


343 


die Monatsmittel nirgends jtarfe Anomalien zeigen, fo ge= 
ſchah dies, weil die Einfeitigfeit durch die günjtige RANG 
einer Mode ſtark beeinträchtigt wurde. 


Juli 1912. 


2. Dr. Wilhelm Sarajfin hält als Privatdozent an der 
philofophifchen Fakultät I der Univerlität feine Antrittspor= 
lefung über „Die Reifen im mittelalterliden Orient“. 

5.—9. Die Stadt Bajel feiert das 56. eidgenöſſiſche 
Turnfeft. Längit Hatten fi zahlreihe Bürger und Ein— 
wohner unferer Stadt, Oberjtforpsfommandant Iſaak Sjelin 
als Präſident des Organifationsfomitees an der Spibe, in. 
vielen Ausihüllen der Vorbereitung diejes Anlafjes gewidmet. 
Die Turner, die etwa 15,000 an Zahl aus dem In- und dem. 
Ausland anrüdten, fanden eine wohl vorbereitete Feſtſtadt. 
Unter den Auswärtigen wurden namentlich bemerft Schweizer 
Turner aus Bittsburg in den Vereinigten Staaten Nord- 
amerifas und jolhe aus Buenos-Wires. Das Metter war mit 
Ausnahme eines heftigen Gemwitters am 6., das feine Nach— 
zügler noch am 7. ausjandte, jehr günſtig. In die tägliche 
Arbeit der Uebungen bradten die Abendunterhaltungen, in 
dem großen, 10,000 Menſchen fallenden Feſtzelt auf der Feſt— 
wieje außerhalb des Shütenmattparfs, wo ji) das ganze Feſt 
abjpielte, willlommene Abwechslung. Die Hauptnummer 
bildete jeweilen das von C. Albr. Bernoulli in Arlesheim ge— 
Ihriebene Feitipiel „St. Jakob an der Birs“, zu dem Kapell— 
meijter Suter die Muſik gefchrieben hatte. Um die Aufführung 
madten ji der Gejangverein und eine Menge Basler Dilet- 
tanten verdient. Die Leitung führte Theaterdireftor Melit, 
unterjtüßt von den Herren Boepple und Schaub; die ſtim— 
mungsvolle, finnreid) angelegte Bühne war das Werf von 
Franz Baur und Burkhard Mangold. Neben dem Feſtſpiel 
erfreuten allabendlih die Basler Turnvereine mit ihren 
flotten Darbietungen die zahllofe Menge. Wer nicht in der 
Haupthütte Raum fand, den nahmen nebenan die Bierzelte 


344 


auf, in denen jeden Abend Konzert war. Die Höhepunkte des 
Feſtes bildeten am Samstag 9. Juli nachmittags die Ein- 
holung der von Lauſanne fommenden eidgenöflilhen Zentral 
fahne, von Nationalrat Decoppet überreicht, von Oberſt Iſelin 
entgegengenommen, ferner der Sonntag. Diejer bradte am 
Nachmittag das überwältigende Schaufpiel der Freiübungen 
von 10,600 Schweizer Turnern mit Mufifbegleitung. Es folgte 
darauf eine Anſprache des Vertreters des Bundesrates, 
Bundesrat Müller, endlih ein Zug durch die rei und ge— 
Ihmadvoll geijhmüdte Stadt, deſſen Vorbeimarſch 1% Stun- 
den in Anſpruch nahm. Am Dienstag, 9. Juli, wurde nad 
einer Wiederholung der allgemeinen Freiübungen die Preis: 
verteilung vorgenommen. Erſte Preisgewinner im Geftions- 
turnen fönnen wir nicht nennen, da hier nur ſehr zahlreiche 
Rangklafjen gebildet wurden. Die erjten Preife im Kunſt— 
turnen fielen auf Otto Ineichen (Veltheim, Züri) und Gott: 
lieb Siebenmann, Bafel, mit je 94,5 Runften, im National- 
turnen auf Gotthold Wernli, Bafel, mit 96,5 Puntten. Am 
Geftionsturnen beteiligten jih die Angehörigen des Kan 
tonalturnverbandes als der feitgebenden Organijation nit. 
An die Preisverteilung ſchloß fi ein zweiter Zug durch die 
Stadt und die Kahnenübergabe vor dem Rathaus. Im Laufe 
des Dienstags führten Ertrazüge der von Bafel ausgehenden 
Bahnen die Turner in ihre Heimat. Die Freude über das 
Ihöne Gelingen des Feſtes ift allgemein. 


11. Ein großes allgemeines Jugendfeſt, das 
Taufende von Kindern, zum Teil in reizenden Koftümen, zu 
Fuß und zu Wagen vereinigt und einen Umzug voll Leben 
und Bewegung und Buntheit zuitande bradte, wird mit voll: 
fommenem Gelingen im Feſtzelt und auf dem weiten Plan 
des Turnfeltes abgehalten. 


14. Das franzöſiſche Nationalfeit wird von 
der hiefigen franzöfifhen Kolonie durch einen Empfang im 
Konfulat und durch ein diesmal von privater Seite, nicht vom 


345 


Zentralfomitee der Kolonie organifiertes Gartenfejt im 
Sommerfalino gefeiert. 

Bei einem ſchweizeriſchen Schadfptelertag in Lauſanne 
zeihnen ih Basler Schachſpieler in großer Zahl durch 
hervorragende Leiltungen aus. 

18. Das Baudepartement ſetzt eine Kommijjion nieder 
zur Unterfugung des bauliden Zuftandes Des 
Münfters. 

19. Eine ſozialdemokratiſche Parteiver— 
fammlung jpriht den Zürcher Genojjen, die am 12. Juli 
zu Demonjtrationszweden einen Generaljtreit durchgeführt 
Hatten, ihre Sympathie aus. — Schon am vorangegangenen 
Tag hatte die Partei mit Mehrheit dem von einem Teil feiner 
Genofjen Hart angefochtenen Vorſteher des Polizeideparte- 
ments Regierungsrat Dr. 9. Blodher ihr Vertrauen kund— 
getan. 

21. Auf einer Hochtour am Wletfchhorn findet den Tod 
45 Sahre alt Dr. Andreas Fiſcher, feit 1896 Lehrer des 
Deutijhen an der Obern Realſchule in Bajel. 

25. Delegierte ftadtbasleriiher Vereine befchließen, auch 
diefes Jahr ein St. Jakobsfeſt abzuhalten. Gleichzeitig 
wird die Peſtalozzigeſellſchaft, wie ſchon vor 1 und 2 Jahren, 
einen Blumentag veranitalten. 

26. 27. Auf einem Flug Straßburg-Baſel über- 
fliegen verjchiedene deutjche Dffiziere mit ihren Flugzeugen 
unſre Stadt. Am Abend des 26. und am frühen Morgen des 
27, erleidet je einer der Aeroplane hart an der Grenze Ha— 
varie, jo daß die Flieger gezwungen find, vorübergehend hier 
zu bleiben. 

27. Zum eritenmal fährt ein Schleppzug mit 
Kohlen über die mittlere Nheinbrüde in Bafel hinaus nad) 
SHhweizerhalle und eröffnet damit ein neues Kapitel 
in der Rheinſchiffahrt. 

31. Witterung. Das Mittel der Temperatur für 
den Juli 1912 betrug 18,2, das mittlere Temperatur-Marimum 


346 





23,3, das mittlere Temperatur-Minimum 13,50 Celfius, das 
Mittel des Luftdruds 736,8, die Summe der Niederjchlags- 
menge 75 mm, die Summe der Sonnenjheindauer 226 Gtun- 
ven. Das erite Drittel des Monats verlief unbejtändig, meift 
regneriih, das zweite (Turnfeft) brachte ſchöne warme Wit: 
terung, das letzte war gewitterhaft und hatte viel Regen. 


Auguft 1912. 

1. Bei allgemeiner Feſtmüdigkeit und ungünjtiger Witte- 
rung nimmt die Bundesfeier einen flauen Berlauf. 

3. fig. Auf dem Kohlenplage hat der Zirfus Biſini 
feine Zelte aufgeſchlagen und gibt feine equeitrifchen und akro— 
batiſchen Vorſtellungen. 

7. Die Arbeiterunion beſchließt Anſtellung eines zweiten 
Arbeiterſekretärs und wählt an die neue Stelle Max Bock, 
bisher in Zürich. 

12. Der neue Verſchubbahnhof der Badiſchen 
Bahn, der in einer anſehnlichen Breite von Leopoldshöhe 
bis Haltingen reicht und als eine der großartigſten Anlagen 
dieſer Art in ganz Mitteleuropa gerühmt wird, wird mit dem 
heutigen Tag dem Betrieb übergeben. 

15. In Innsbruck ſtirbt an einem Schlaganfall 65jährig 
Dr. Stanz La Roche, 1872—1875 Regierungsfefretär von 
Bafeljtadt, jpäter in verjchiedenen gemeinnüßigen Unter: 
nehmungen tätig, feit Mitte der 1890er Jahre nicht mehr in 
Baſel anfällig, jondern meilt auf Reifen, im Winter in 
Münden oder in Innsbrud. 

16. Die Arditeften Rud. Linder und Emil Berder legen 
den Plan eines Mujfeumsbaus im Shüßenmatt 
part der Deffentlichfeit vor und tragen damit dazu bei, die 
duch die Petition der Künjtler in Fluß gebrachte Mufeums- 
angelegenheit noch mehr aktuell zu machen. Am 17. überreidt 
die Regierung der Muſeumskommiſſion die erſten Petitions- 
bogen und Stellt ihr eine Friſt bis Ende September, um fid) 
Darüber zu äußern. 


347 


Der ſchwerſte Shleppzug, der je nah Bafel kam, 
beitehend aus drei Dampfern und Drei Kähnen, trifft am 
Rheinhafen ein. — Es wird befannt, daß das Stadttheater 
im Laufe des nächſten Winters im Bömlytheater durd 
feine Truppe leichtere Luſtſpiele u. dgl. wird aufführen laſſen. 

17. Nachdem feit dem 6. ds. langjam der Rhein oberhalb 
des Staumwehrs bei Augjt ift gejtaut worden, liefert mit dem 
heutigen Tag das bafelftädtifhe Kraftwert bei 
Augſt-Wyhlen zum erjtenmal probeweife Strom nad 
der Stadt mit vollfommenitem Gelingen. — Die Infan— 
terierefruten von Bajelftadt, etwa 300 an Zahl, mar- 
Ihieren unter Borantritt der Muſik des militärifhen Vor: 
unterrihts bei ihrer Rückkehr aus Luzern durch die Stadt. 
Es waren diejfes Jahr vom Bundesrat regimentweife Re— 
frutenjchulen der Infanterie angeordnet worden. 

18. Die Fußballſaiſon des Winters 1912/13 be- 
ginnt mit einem Match des %. C. Bajel I gegen Straßburg, 
der mit 2:2 Goals unentichieden bleibt. 

19. Die außerordentlihe Generalverfammlung des 
Shweiz. Banfvereins genehmigt einjtimmig die 
Sufion mit der Banque d’Escompte et de Depöts in Lau— 
ſanne und bezeichnet Muret als Direktor der Laujanner Fi- 
liale. 

24. Der Regierungsrat wählt zum ordentlichen Profeſſor 
an der Univerſität für deutſche Sprache und Literatur mit be— 
ſonderer Berückſichtigung der Literaturgeſchichte mit Amts— 
antritt auf das Sommerſemeſter 1913 Herrn Dr. Sul. Beter: 
jen, zurzeit PBrivatdozenten in München. Gleichzeitig erhält 
Prof. Dr. E. Hoffmann-Krayer auf den gleihen Zeitpunft 
eine der gejeglihen foordinierte Profeſſur für Germanijche 
Philologie. 

25. In den Gottesdieniten der evangeliihen Volkskirche 
wird für jpezielle Gemeindezwede eine Kollefte erhoben. 

26. Das St. Jakobsfeſt wickelt fih in den her: 
gebraten Formen ab, nur daß das Münftergeläut früh 5 Uhr 


348 


den Tag eröffnete. Keitredner war Pfr. Hans Baur zu 
St. Leonhard. Am Abend wurde im Sommerfalino das Zeuer- 
wert abgebrannt, deſſen Abbrennen am 1. Auguſt unmöglid 
geworden war. Die Feier wurde vielfach durch Ungunit der 
Mitterung gehemmt und unterbroden. Mit ihr im Zu: 
fammenhang wurde der Dritte Basler Blumentag 
abgehalten, dejjen Ertrag, 26,000 Fr. verſchiedenen Unter: 
nehmungen der Peſtalozzigeſellſchaft, Ferienheim Preles, 
Waldſchulen, Kleinbasler Krippen zu gute kommt. 

27. In der Morgenfrühe ſeines 87. Geburtstages ſtirbt 
an Altersſchwäche Pfr. D. theol. Samuel Preiswerk, 
älteſter Sohn des 1871 geſtorbenen Antiſtes gleichen Namens. 
Er war 1847—1859 Pfarrer in Langenbruck, dann bis 1897 
Pfarrer zu St. Alban. Preiswerf hat durd) feine tiefgründen- 
den Predigten auf weite Kreije einen großen Einfluß ge: 
übt. In dem Amt und in der Synode vertrat er pofitive An- 
ſchauungen. Auf willenihaftlidem Gebiete Hatte er als 
Hebrailt einen Namen. In verjhiedenen chrijtlichen und ge- 
meinnüßigen Unternehmungen wirkte er an leitender Gtelle 
eifrig mit. 

28. Zur Hausmutter des Basler Kerienheims für Mädchen 
der Beitalozzigejellihaft in PBreles wird gewählt Wwe. 9 ü m: 
merli, ehemals Waifenmutter in Burgdorf. 

30. Witterung. Die Hauptwerte des Monats Auguſt 
1912 waren: Mittel der Temperatur 14,8 (3° weniger als 
das 8jährige Mittel!), mittleres Temperatur-Minimum 11,9, 
mittleres Temperatur-Marimum 18,99 Celſius, Mittel des 
Luftdrucks 736,2, Summe der Niederfchlagsmenge 145 mm, 
Summe der Sonnenfdeindauer 126 Gtunden (98 Stunden 
weniger als das 26jährige Mittel!). Es war ein regneriſcher, 
naſſer und unerfreulicher August und fuchte in diefer Richtung 
jeinesgleiden. Die Kulturen litten jtarf unter der Witte- 
rung des Monats. Nur die Obſtbäume verſprechen troß der 
Näſſe und dem Mangel an Sonnenjdein einen reihen Herbit- 
fegen. 


349 


September 1912. 


1. Guſtav Donze, Hauptkaſſier des 1. ſchweiz. Zoll» 
freifes, begeht jein 5Ojähriges Jubiläum als Beamter der 
ichweiz. Zollverwaltung. Beim feitliden Alt in der Reb— 
leutenzunft wird u. a. eine Anſprache verlejen, die der vor 
acht Tagen verjtorbene Zollamtsvorjteher K. E. Pfeiffer- 
Amsler noch verfaßt Hatte. 

2. Der Genojjenihaftsrat des Allg. Kon- 
ſumvereins beſchließt Ankauf der Liegenihaft Dornader- 
ſtraße 74/ Gempenſtraße 39 für 162,000 Fr. und faßt eine Re— 
lolution zugunften des zur Volksabſtimmung gelangenden 
Bauredhtsvertrages mit der Basler Wohngenoſſenſchaft. 


3. Raijer Wilhelm II. von Deutſchland hält ji auf 
feiner Reife zu den ſchweizeriſchen Manövern in der Oſtſchweiz 
mit einem großen und glänzenden Gefolge wenige Minuten 
auf dem Bundesbahnhof auf. Er wird begrüßt von einer 
Delegation der Basler Regierung, es ftellen ſich ihm die zu 
einem Gefolge fommandierten Schweizer Offiziere General: 
ſtabschef Oberft v. Spreder, Oberjtdinifionär Audeoud und 
Dberjtleutnant Alfr. Wieland zur Verfügung. Er empfängt 
die Spißen der deutihen Kolonie von Bafel und verleiht 
einige Orden, u. a. an den Kemponijten Dr. Hans Huber den 
fönigl. Aronenorden 3. Klaſſe. Der geſchmackvoll deforierte 
Bahnhof war polizeilich abgejperrt. Während der Anwejen- 
heit des Kaijers Donnerten die Kanonen den Ehrengruß. 

5. Der im Auftrag des Vereins für die Schiffahrt auf 
dem Oberrhein gebaute 17 m lange Motordampfer mit 
Vetrolheizung unternimmt feine erjte Fahrt nad) Rheinfelden. 
Er braudt dazu 2 Stunden, von denen 25 Minuten auf die 
Durchſchleuſung fallen. 

8. Sn Bafel tagt unter Borfi von Dr. U. Kramer (Zürid)) 
die 46. Wanderverfammlung des Bereines ſchwei— 
zeriſcher Bienenfreunde, zu der fi) etwa 400 Mit: 
glieder eingefunden haben. — Die erſte Mannihaft des % u B- 


350 


ball£lubs Bafel gewinnt einen internationalen Match 
gegen %. EC. Phönir (Karlsruhe) mit 4:0. 

9. Nachdem durch Die neue Armeeeinteilung (April 1912) 
die beiden bajeljtädtilhen Bataillone 54 und 97 zu einem 
Snfanterieregiment 22 find vereinigt worden, rüdt 
diejes zum eritenmal unter Oberjtleutnant Dtto Senn zu den 
Borfurjen des diesjährigen Wiederholungsfurfes der 4. Di: 
vifion aus, Bataillon 54 (Major ©. Senn) nad) Reinad) 
Bataillon 97 (Major M. Alioth) nad Aeſch. Das Ausrüden 
ging im ftrömenden Regen vor fi). 

10. Der alte fpätgotifde Taufftein Der St. Theo: 
dorskirche, jeit längeren Sahren verjchollen, geht aus 
Privatbelig in das Eigentum der Kirdhe über und wird an 
feinem urſprünglichen Ort aufgeltellt. 

12. Lic. theol. Otto Shmik, bisher Privatdozent der 
Theologie in Berlin, wird als neuer Vorfteher der Evans 
geliſchen Predigerſchule in fein Amt eingeführt. 

14. Der Berein für Shiffahbrtaufdem Ober 
thein hält feine 8. Generalverfammlung in Bajel unter An— 
wejenheit jehr zahlreicher Bejuder von auswärts. Sm Uns 
Hluß an die Verfammlung fand eine gemeinfame Dampfer- 
fahrt nad) Rheinfelden ſtatt. 

15. Die firhlide Kollefte des heutigen Bet- 
tags wird zu verſchiedenen kirchlichen Zweden der einzelnen 
Gemeinden bejtimmt und wirft mit Einrechinung einiger Nach— 
träge insgejamt 6810 Fr. ab. 

18. Die Bundesräte Decoppet und Forrer nehmen 
in Begleitung von Fachmännern einen Augenſchein der 
Rheinhafjfenanlage vor. 

19. Im Alter von 74 Jahren ftirbt Oberjt Hans 
v. Mechel, in feiner Jugend Offizier in königlich neapoli- 
tanijhen Dienjten, jpäter lange Zeit Schießinitruftor in 
Wallenſtadt, jeit 1883 Kreisftommandant und bis in die erjten 
Sahre des 20. Jahrhunderts defignierter Rlagfommandant 
von Bajel, 18 Jahre lang Mitglied des Basler Großen Rates. 


351 


Die Diafoniffenanftalt Riehen begeht ihr 
60. Sahresfeft. Die Zeitpredigt hält Pfr. W. Shhlatter. 

Die Photographiſche Geſellſchaft feiert mit 
einer Feltfigung ihr 25jähriges Jubiläum. Dabei 
hält Prof. %. Schmidt aus Karlsruhe einen Vortrag über 
die geſchichtliche Entwidlung der Photographie. 

20. Das Basler ISnfanterie-Regiment 22 
fehrt in Extrazügen aus feinem im Bajelbiet abjolvierten 
Miederholungsfurs heim, bringt die Naht in der Kaferne 
und in benachbarten Schulhäujern zu und wird am 21. ent- 
laſſen. 

21. Der Regierungsrat entläßt Frau U. Rothen— 
berger:Klein auf ihren Wunſch aus dem Amt als In— 
fpeftorin der Kleinfinderanitalten. 

25. Die Regierung ernennt zum ordentliden Profeffor 
für Botanif an der Univerfität Guſt. Senn, bisher außer- 
ordentliden Brofeljor. 

26. Die Spiten der badilhen Behörden, des Handels und 
der Induſtrie unferes Nachbarlandes nehmen die Kraftwerfe 
von Augſt-Wyhlen und von Laufenburg in Augenjcdein. 
Die Reife geht von Bajel aus und erfolgt bis Rheinfelden 
auf den vom Berein für Schiffahrt auf dem Oberrhein zur 
Verfügung gejtellten Dampfern. 

27. Die Liedertafel wählt zu ihrem Präfidenten an 
Etelle des zurüdtretenden Dr. E. Budherer den bisherigen 
Bizepräliventen E. Keifer:Handidin. 

28. 29. Die Initiative der fortſchrittlichen Bürgerpartei 
betr. Erhebung von Schulgeld von auswärts 
wohnenden Shülern wird mit 7824 gegen 2990 Gtim- 
men angenommen, troß der Empfehlung der Ablehnung durch 
die Hauptparteien, mit Ausnahme der freifinnigen, die die 
Stimme freigab; die vom Hausbelißerverein ausgehende 
Snitiative betr. Abſchaffung der Straßenreini- 
gungsjteuer wird entiprechend der Empfehlung des 
Großteils der Preſſe verworfen mit 6417 gegen 4559 Stim-— 





men; die Referendumsabitimmung über den Bauredhts: 
vertrag mit der Basler Wohngenoſſenſchaft, 
zu der die Liberalen und die Katholiken keine beitimmte 
Mahlparole ausgegeben Hatten, während Freilinnige und 
Sozialdemofraten Annahme empfahlen, fiel bejahend aus 
mit 5620 gegen 5295 Stimmen. Außerdem wurden eine Zivil: 
richter- und eine Strafriditerftelle neu bejegt. Der Abſtim— 
mung, namentlich über den Bauredtsvertrag, ging eine leb- 
bafte Polemik in der Preſſe voran. Die Zahl der Stimm: 
berechtigten betrug 22,236, die der Teilnehmer am Wahl- 
und Abjtimmungsgejchäft 11,170. 

Die Shweizerijhen Neuphilologen Halten 
ihre vom Basler Verein Gay Saber veranftaltete Jahres— 
verfammlung in Bajel ab. Die Tagung ift großenteils durch 
willenihaftlihe Vorträge ausgefüllt. Als Vorort auf drei 
Sahre wird Bajel bezeichnet. 


30. Sm Alter von 50 Jahren ftirbt Albert B u B-Wenger, 
Gründer der fpäter in eine Aktiengefellidaft umgewandelten 
Eijenfonjtruftione und Bauunternehmerfirma, ein Self made 
man, der fih vom einfaden Arbeiter zum großen Indu— 
itriellen aufgefhwungen hat. Buß gehörte u. a. dem Basler 
Großen Rate an. Einige Hauptwerfe der non dem Ber: 
torbenen gegründeten Yirma find: Mittlere Rheinbrüde in 
Bafel, Kuppel: und Hallenbau des neuen Bundesbahnhofes 
in Bajel, Kuppelbau des Bundesbahnhofes in Yuzern, Rhein: 
brüde bei Eglisau, Bietijhtalviaduft für die Lötſchbergbahn, 
Verlegung der Elſäſſer-Linie in Bajel, Bau eines Teiljtüdes 
der Direften Linie Bern:Neuenburg, ſowie der Bodenfee- 
Toggenburg-Bahn, ferner die Golothurn-Münfter-Bahn, 
Spiez.Erlenbah- Bahn, Berninabahn, Wajlerwert Wangen 
a. A., Waflerfraftanlage Augſt-Wyhlen u. a. m. 

Witterung. Die mittlere Temperatur des Monats 
September 1912 betrug 10,0, das mittlere Temperatur- 
Marimum 14,1, das mittlere Temperatur-Minimum 6,49 
Celfius, das Mittel des Quftoruds 740,4, Die Summe der 


353 23 


Niederihlagsmenge 43 mm, die Summe der Sonnenfdhein- 
dauer 104 Stunden. Wir ftehen hinter dem weitaus Tälteften 
September, feit in Bajel die Wärme notiert wird, d. 5. feit 
86 Jahren. Das Mittel der Temperatur blieb 4,39% unter 
dem S6jährigen! Die erfte Hälfte des Monats war regne- 
riſch und die zweite nebelreih und darum fonnenlos, beide 
daher übermäßig falt. 


Dltober 1912. 


1. Der Weitere Bürgerrat verfauft einen Streifen 
Land der Chr. Merianfchen Stiftung an der Lagerhausitraße 
zum Bau eines Zeughaujes an den Staat, genehmigt einen 
mit der chriſtkatholiſchen Kirche abgeſchloſſenen Vertrag über 
das Kirhhenopfer, beichließt den Umbau des Wirtshaufes zu 
St. Jakob und behandelt eine Reihe von Bürgerredts- 
begehren. | 

5. 6. Der Raufmännijhe Verein Bajel, ehe 
mals Verein Junger Kaufleute begeht die Feier feines 50- 
jährigen Beitehens, nachdem er ſchon vor einigen Tagen die 
mit der Sahresverfammlung zufammenhängenden Bereins- 
geihäfte im engern Kreis erledigt hat. Das Zeit beiteht in 
einer Abendunterhaltung am 5., einem Feſtmahl mit nadf- 
folgendem großem Ball und zahlreien Vergnügungsveran- 
ſtaltungen im Stadtfajino am 6. 

Der Verband ſchweizeriſche Lehrfräfte für 
geiltes hwaKhe Kinder hielt am Samstag und Sonn: 
tag feine gut bejuchte jiebente FJahresverfammlung in Bafel 
ab unter dem Borlig von K. Jauch (Züri). In der Situng 
vom Samstag referierte Yehrer Graf (Bajel) über das Thema 
„Lehrbuchfragen“. In der Hauptverfammlung vom Sonntag 
hielt Privatdozent Dr. med. Billiger (Bajel) einen Vortrag 
über Erkennung des Shwadjlinnes beim Kinde mit Berüd- 
ihtigung der Methodik der Intelligenzprüfung. 

6. Der Fußballklub Old Boys Bafel fiegt gegen Nord- 
tern Bafel mit 3:2 Goals. 


354 


7. 8. Der Basler Verein für Sonntagsfeier 
begeht jein 5Ojähriges Jubiläum mit einer öffentlichen 
Abendverfammlung in der Martinskirche (Redner Pfr. Stod: 
meyer und Pir. Benz) und mit Verhandlungen in der 
Schmiedenzunft über „Sonntagsfeier und Sonntagsheiligung“ 
(Referenten Pfr. Thurneyfen, Bajel, und Pfr. Sublet, Val- 
lorbe). 


9. Der Große Rat eröffnet feine Tätigfeit für das 
beginnende Winterjemeiter mit zwei Interpellationen. Die 
eine, über das von der Regierung publizierte Werbot, bet 
Streits, Boykott und Sperren die Poſten näher als 50 Meter 
von dem dur die Maßregel betroffenen Lokal aufzuftellen, 
wählt fih zu einer weit in den Nachmittag ausgedehnten 
Debatte aus, ohne mit einem tatlählihen Ergebnis zu 
ſchließen. Der Rat bewilligt einige Nacdjfredite, nimmt die 
Refultate der Wahlen vom 28./29. September entgegen und 
bewilligt 173,000 Fr. für Verlängerung der NRinglinie bis 
zur Eljäjjer-Straße und Anlegung des Kannenfeldplaßes. 

19. Sm Alter von 63 Jahren ftirbt Direktor Ed. Spieß, 
jeit 1891 der Leiter der Allgemeinen Gewerbeſchule. 

20. Georg Bonder Mühll, Mitglied des Engern 
Bürgerrats, eine Hauptitüße aller wohltätigen und gemein- 
nüßigen Bejtrebungen Bafels, erliegt 60jährig einem Schlag: 
anfall. 

21. Die Basler chirurgiſche Klinik entjendet unter Mit: 
wirfung des Roten Kreuzes ihre Aſſiſtenten Dr. Ad. Viſcher 
und Dr. Ed. Stierlin, denen fih Dr. Chriftoph Socin 
angeſchloſſen hat, nad) dem Kriegsihauplag auf dem Balkan. 

23. Im Alter von 40 Jahren ftirbt nad) kurzer fchwerer 
Krankheit Advokat Dr. Joſef Knörr, einer der Wortführer 
der Jozialdemofratiihen Partei im Großen Rat. 


24. Großer Rat. Nah der Ratifikation von 65 
Bürgeraufnahmen beichließt die Behörde in erjter Leſung 
Erweiterung des Grundbuchgeometerbureaus, nimmt die Er- 


355 23* 


gänzung der Wiejenforreftion und die Erwerbung der Bad- 
und Waſchanſtalten an der Binninger: und an der Matten 
ftraße an, beauftragt die Regierung mit Eritellung eines 
Braujebades im St. Albanquartier, nimmt ein Gefeß betr. 
Pflanzenfhug und den Großratsbeihluß betr. Verbot von 
KRunitwein und Kunftmoit an, geht über den Anzug Ader betr. 
neue Beredhnung der Beleudtungs- und NReinigungsiteuer 
zur Tagesordnung, überweilt den Anzug Bürgin betr. Ver- 
längerung der Kafernenitraße, bejchließt gegenüber dem Anz 
zug Brändlin betr. Erjtellung von LZagerhäujern beim Rhein= 
bafen eine motivierte Tagesordnung und genehmigt die 
Schritte, die die Regierung für Einbürgerung des heimat- 
loſen Knaben Härtel getan hat. 

Der Schweizerifhe Zentralvereinfür Krippen— 
weſen hält in Bajel eine hauptſächlich den laufenden Ge— 
Ihäften gewidmete Sitzung ab. 

26. Da der 27. Oftober heuer auf einen Sonntag fällt, 
jo wird die Meſſe jhon am 26. eingeläutet. Gie breitet. 
fih über Barfüßer:, Peters: und Kohlenplat aus, hat aud 
für den Häfelimarkt die Gegend der Heumwage in Anfprud 
genonmen, weil die Bernoulliltraße wegen der Ermweiterungs- 
bauten an der Bibliothef mit Beichlag belegt ijt, bietet aber 
nichts bejonderes. 

Das Programm der Bopulären Kurfe des nädften 
Winters fieht folgende Zyflen vor: Dr. Baul Steinmann: 
Bererbungseriheinungen bei Pflanze, Tier und Menſch; 
Dr. Ernit Did: Der engliſche Roman; Ingenieur Rudolf 
Gelpke: Kantonale und eidgenöffiihe Wirtfchaftspolitif; 
Paul Häberlin: Einführung in das Weſen der Philo— 
ſophie. 

26. 27. Die an der Thierſteinerallee neu gebaute Heilig— 
geiſt-Kirche der römijchefatholiihen Gemeinde wurde am 
Samstag vormittag durch Biſchof Jakob Stammler geweiht. 
Dann fand darin die erite Meile und die erjte Predigt ftatt. 
Am Sonntag wurde der Rektor der Kirche, Pfarrer R. Mäder, 


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bisher in Mümliswil, eingeführt, und der Biſchof firmte 
600 Kinder. 

27. 28. Die Shweiz. Statiſtiſche Geſellſchaft 
und die Vereinigung der Ichweizerifhen amtliden Statijtifer 
begehen ihre Sahresverfammlung in Bajel. 

29. Ein gewaltiger neuer, über 50,000 m? faljender © a s: 
behälter bei der Gasfabrif vor dem St. Sohanntor wird 
ausprobiert. Bein: Graben des Fundamentes zu dem Bau 
waren im Sommer 1911 die NReite einer vorgeihichtlichen, 
äußerſt primitiven, ziemlich ausgedehnten gallifden An- 
jiedelung zutage gefürdert worden. Kacjleute verlegen 
den Untergang diejes ältelten befannten Bafel ins 1. Jahr— 
Hundert v. Chr. 

31. Dr. Selig Speifer, der vor einigen Monaten von 
einem mehrjährigen Forſchungsaufenthalt auf den Neuen 
Hebriden zurüdgefehrt ift, macht feine außerordentlich reiche 
von dort mitgebradjte Sammlung einem geladenen Bublifum 
zugänglid. Gleichfalls im Laufe des Sommers find aud mit 
reiher Ausbeute Dr. Fri Sarajin und Dr. J. Roux von 
einer wiſſenſchaftlichen Reiſe nad) Neu-Kaledonien zurüd- 
gefehrt. Die Speilerihe wie die Sarajinige Sammlung find 
zur Vermehrung unleres ethnographiſchen Muſeums bejtimmt, 
das dadurch zu einem der reichiten feiner Art auf dem Kon: 
tinent wird. 

Die erjten drei nach dem neuen Wrbeitsfelde ver Basler 
Miſſion in Nord-Togo beitimmten Mifjionare werden 
im Miflionshaus eingefegnet. 

Witterung. Das Mittel der Temperatur im Oktober 
1912 betrug 8,6 das mittlere Temperatur-Minimum 5,7, das 
mittlere Temperatur-Marimum 12,5 Celſius, das Mittel des 
Zuftoruds 738,1, Die Summe der Niederfchlagsmenge 94 mm, 
die Summe der Sonnenjheindauer 97 Stunden. Barometer- 
tand und Niederjchlagsmenge überjtiegen das 85-, rejp. 48- 
jährige Mittel, die Temperatur blieb unter dem 86jährigen, 
die Sonnenjcheindauer unter dem 2djährigen Normalwert. 


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