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Basler Jahrbuch
55 1913
herausgegeben von Albert Geßler u. Auguſt huber
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Verlag von helbing & Lichtenhahn (vorm. Reich⸗Detloff)
Druck von Friedrich Reinhardt in Baſel.
Inhaltsverzeichnis.
IM. Anapp: Prof. Dr. Karl Bon der Mühll-His +
KR. Gauß: Reformierte Bajelbieter Kirchen unter katho—
liſchem Patronate . .
Paul Meyer: Ein Basler Stanmbug des 17. Sahr-
hunderts
R. Oeri-Saraſin: Snzaretterinnerungen ı aus dem Kriege
von 187071 . . V
Jakob Kündig: Die Theologen des Heubergs
Baul Kölner: Die Basler Faltnadht
Ed. U. Geßler: Torhut und Scharwadhe zu Bafel i in der
zweiten Hälfte des XV. Sahrhunderts .
Heinrih Shönauer: Kurze Notizen aus den Zebens-
umjtänden von Friedrich Ladhjenal . &
Sri Baur: Ein Spaziergang über das Bruderholz .
Ernit Jenny, € Th Markees, Wilhelm Barth,
Rob. Grüninger: Das fünitlerijche Leben in Bajel
Fritz Baur: Basler Chronit vom 1. November 1911 bis
31. Oftober 1912 ER E
111
176
245
257
289
299
319
x — As 2 Mer FR uhee
Lichtdruckanstalt Alfred Ditisheim, Basel.
ı93
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—
Deof. Dr. Rarl Don der Muhl-His. *
Don FT. M. Rnapp.
Denen zu danken, die dem Gemeinwejen in irgend einem
Teile gedient, ilt der Bürger ſchöne Pflicht, der Lehrer Ehre
zu preijen der Schüler ehrenvolles Vorrecht. Beides vereinigt
ih für uns, wenn wir des Verftorbenen Herrn Profejlor Dr.
Karl Bon der Mühll-His gedenten. War er doch jeinen
Schülern ein allezeit treu bejorgter Lehrer, Hat er doch feiner
Bateritadt ein ganzes Leben aufopfernver, mol Tätig-
feit gewidmet.
Zwar war feine Perſönlichkeit nicht eine der öffentlich
am beiten befannten, wie etwa die feines Großvaters, des
Ratsherrn Peter Merian; feine Konzentration auf den Dienjt
an der Hochſchule brachte ihn meiſt nur mit wenigen in
direften gejhäftlichen Verkehr; jeine Fachvorleſungen lagen
sudem fo weit non den vielbegangenen Straßen des Unter:
richtes ab, daß derer, die zu feinen Füßen gejellen, nur ein
fleines Häuflein ift. Troßdem forgte fein der weitejten Gaft-
lichfeit und edeljten Gejelligfeit geöffnetes Haus, daß alle,
mit unfrer Basler Hochſchule irgendwie Verbundenen feine
immer freundliche und in. aller Vornehmheit und Chrwürdig-
feit Teutjelige Gejtalt fannten und ehrten. |
Dreimal in den leßten Sahren feines Lebens iſt Prof.
Bon der Mühl! auch öffentlich Hervorgetreten, als Repräjen-
tant jeines Faches, der Univerjität und der von ihm zeit
feines Lebens mit voller Kraft vertretenen Naturforihenden
Geſellſchaft.
Bei der Yeier des zweihundertiten Geburtstages von
Leonhard Euler hielt am 29. April 1907 am Feſtakte in der
Martinsfirhe Prof. Von der Mühl die Gedädhtnisrede auf
Bajels größten Sohn. Vom Rednerpulte auf dem Podium
aus, unter dem die Bülte Leonhard Eulers umgeben von
grünen Pflanzen jtand, bei der der Pedell mit dem Gzepter
der Univerfität ſich aufgejtellt Hatte, umwallt rechts und links
von den Bannern der Studenten, eröffnete er die Feierlich—
feit mit einem ſchlichten Ueberblid über des großen Mathe:
matifers Leben und Werf. Speziell den treuen Sohn Baſels,
der auch in der Fremde, in Berlin und Petersburg feine
Heimatſprache nicht ablegte, ſchilderte er, legte auch die vielen
reichverzweigten Fäden klar, die Leonhard Euler mit den
Bernoulli in Bajel von Jugend auf bis ins hohe Alter ver:
fnüpften und die immer wieder das Band des Auswärtigen
mit der Heimat bildeten. Daß die Gedächtnisrede des Fach—
genoſſen natürlid) auch in erjter Linie dem „Vater der Ana:
Iyfis“ galt und zeigte, wie Eulers Werf und Bild nicht mit
der Zeit undeutlicher, verſchwommener oder gar Kleiner wird
in der Willenichaft, jondern wie feine Wertſchätzung im Gegen-
teile im Munde der Größten aller Zeiten, eines LZagrange,
eines Gauß, die Sahrhunderte überragt, das hatte mehr als
nur momentane Bedeutung. Sprach doch in jener fejtlichen
Tagung in der Martinskirde, por verjammeltem Lehrförper,
vor der ganzen Studentenjhaft und vor zahlreichen Vertretern
des gebildeten Bajels nad) den Vertretern der Akademien zu
Berlin und Petersburg, im Namen der fehweizerifchen Hoch⸗
ſchulen Herr Prof. Dr. Yerdinand Rudio aus Züri mit
feierlihem Worte die Gefühle aus, die jeden Mathematiker
beim Betreten Bafels ergreifen und die wie ein: „Zeuch deine
Schuhe aus von deinen Füßen, denn der Drt, da du ftehelt,
ift ein Heilig Land!“ Elingen. Und aus diejer erhabenen
Stimmung heraus wuds dort der Wunſch hervor, der „bis
dahin immer noch unerfüllt geblieben war, fo ſehnlichſt und
jo laut auch feit Jahren die Löſung verlangt wurde“: der
2
Wunih nah einer Gejamtausgabe der Werfe Leonhard
Eulers!
Mas damals ijt gewünfht worden, das wurde an der
Sahresverfammlung der Schweizerifhen Naturforfchenden
Gefellihaft zu Laujanne im September 1909 zur Tat, das
Zentralfomitee jener Vereinigung jtellte den Antrag: „Die
Chweizeriihe Naturforſchende Geſellſchaft beichließt die Her-
ausgabe der gefamten Werfe Leonhard Eulers in der Ori—
ginalſprache, überzeugt, damit der ganzen willenihaftlichen
Melt einen Dienjt zu erweijen.“ Daß er ein Wagnis war
dieſer Beichluß, Davon mögen am beiten die Zahlen des Koſten—
voranichlages ein überzeugendes Bild geben, der für die 40
großen Quartbände von je gegen 550 Geiten einen Betrag
von 450 000 Fr. als Koften vorausjah. Daß an die Spiße der
Eulerfommilfion damals Herr Prof. Von der Mühl, als
Generalredaftor Herr Prof. Rudio gewählt wurde, war eine
logiſche Yolgerung jener eben geſchilderten Begebenheiten in
der Basler Martinsfirde. Es braudte einen jtarfen Mannes=
mut zur Uebernahme diefer Aufgaben, wie zu der Ver:
arbeitung des wiſſenſchaftlichen Teiles derjelben, für den fich
fiher auch) auswärtige Kräfte finden ließen, gerade ebenfojehr
zu der moraliſchen und namentlid) auch finanziellen Durch—
führung und Ermöglidhung des ganzen Unternehmens. Dies
alles ruhte nun auf Prof. Bon der Mühlls Schultern, der auch
an die Spiße des Finanzausſchuſſes der Sade trat.
And wie hat fi) die Pietät gegenüber dem größten Basler
gelohnt! Schon Heute, nad) wenig Jahren find die erjten
Früchte da. Noch durfte Prof. Von der Mühl nicht allein er-
leben, daß die unmöglich feheinende finanzielle Garantie des
Ganzen glatt erledigt wurde, zunädjit dank der jtillen Werbe:
arbeit in der Schweiz, Hauptfählih in Baſel und Zürich,
dann aber auch über alles Erwarten günftig durd) die über-
aus generöjen Beihilfen der auswärtigen Akademien. Neue
Funde find feither zu den altbefannten Werfen Hinzu
gefommen, Die Ausgabe wird größer, auch viel teurer als
3 1*
EEE.
der erſte Koftenplan vermutete; trogdem find die erften
Schritte getan, die eriten Erfolge ſchon erreicht. Die fertigen
Bände mehren fih von Jahr zu Sahr, die wertvollen Manu:
jfripte und jeltenen Bilder ſtrömen aus der halben Welt zu—
lammen; fie jollen alle in Bafel ihre zufünftige Heimftätte
finden in einem mit unferer Univerjitätsbibliothef zu ver:
einigenden Eulermujeum. So durfte Herr Prof. Bon der:
Mühl von einer, wenn auch nur wenige der leßten Jahre
feines Zebens mit Geduld, Treue und Mut durchgeführten
Arbeit den allerfhönjten Lohn ernten, der auch ihm doppelt
wertvoll fein mußte im Hinblid darauf, daß durch alle Arbeit
und Mühe zulegt doch Baſels Name und Baſels wiſſenſchaft—
liher Ruf wadje und weithin erjtrahle.
- War fo Prof. Von der Mühll durd jenes Auftreten in
der Martinsfirhe zu dem Mittelpunftte eines weit über fein
Reben und feine Baterjtadt Hinausgreifenden Unternehmens
geworden, jo ließ ein anderes Hernortreten feiner Perjönlicdh-
feit, bei der Feier des A50jährigen Beitehens von Bajels Hoch—
ſchule feine Geftalt und Art noch fihtbarer werden. Als Rektor
der Univerfität ſtand er in jenen Tagen des 23. und 24. Juni
1910 vor aller Augen. Er benüßte dieſe Gelegenheit, „das
Band, weldes Bürgerfhaft und Univerjität allen Stürmen
zum Troß die Jahrhunderte Hindurd) zufammengehalten hat,
fefter zu fnüpfen, friſchen Mut zu fallen und neue Kräfte zu
jammeln“. Mit diefen Worten beginnt die letzte von ihm
herausgegebene Schrift, der Feitberiht jener Yeier. Denn
Prof. Bon der Mühl! war fi) wohl bewußt, daß „die An—
forderungen, denen die Univerfität zu genügen hat, von Jahr
zu Jahr wachſen, und daß diefe ihre Stellung nur behaupten
fann, wenn jeder echte Basler nah Kräften zu ihrem Ge—
Seinen beiträgt“. So ftellte er fich ſelbſt an die Spitze mit
neuem Mute, er, der faſt Giebenzigjährige..e Auch was er
den Studenten am Yadelzuge zurief: die Mahnung zu erniter
Arbeit für Lehrer und Schüler, „denn jede Erkenntnis will
errungen fein, und der Weg führt oft durch öde Gegend“, hatte
4
er jelbft an fich erlebt und wahr gemadt. Darum fand er
aber aud noch die Kraft, ungebeugt und jugendfrifch fort-
zufahren: „Aljo nicht müde werden, immer neu angreifen,
unabläffig vorwärts jtreben! Vergraben Sie ih nicht in
Ahr Fach, benußen Sie, was Ihnen die Universitas litterarum
bietet. Hinaus ins Leben! Ergreifen Sie Partei! Nur nicht
lau und gleichgültig! dann wird’s wohl gelingen.“
Er ſelbſt war mit feinem Beijpiele, dem Borbilde älterer
"Generationen folgend, in diejer Richtung vorangegangen.
Nach) froh verlebter Jugend im Elternhauje, nad) der Schul:
zeit auf Baſels Gymnafium und Pädagogium, war aud er,
der Kaufmannsjohn, in die Zahl der cives academiei ein-
getreten und Hatte nicht nur feinem Face gelebt. Zwar galt
ein Hauptitreben jenen Fächern der Mathematik, der Phyſik
und der Naturwiljenichaft, zu welchen er ſchon auf dem Gym-
nafium bejondere Begabung gezeigt hatte, und zu Füßen der
Profeljoren Schönbein, Wiedemann, Albrecht Müller, Meißner,
Ed. Hagenbach, befonders aber bei feinem Großoheim Rudolf
Merian, dem Bruder des NRatsherrn Peter, Hatte er feiner
nächſten Pflicht eifrig nachgelebt. Daneben aber war er auch
beftrebt, feine weitere Ausbildung in alten Spraden, Ge-
ſchichte, Philofophie und franzöfiiher Literatur bei den Pro—
fejjoren Jakob Burdhardt, Wilhelm Wadernagel, Steffenfen,
Wilhelm Viſcher, Gerlah) und Girard zu fördern.
Später war er der von Grokoheim und Großvater ge—
Ihaffenen Tradition gemäß nad Göttingen gezogen, Hatte
bei Wilhelm Weber, Stern, Sartorius von Waltershaufen,
bei Schering, Klinterfues und D. E. Meyer fi) weitere Kennt:
nijje gejammelt und fih im Laboratorium des berühmten
Chemifers Wöhler ausgebildet.
Endlich folgte er feiner [peziellen Neigung zur mathema-
tiſchen Phyſik und ging für weitere drei Jahre nad Königs-
berg, um beim Mathematifer Richelot und ganz bejonders
deim Phyſiker Franz Ernit Neumann ganz ſich der Willen-
Ihaft zu widmen. Dort fand er auch, wie früher im Basler
5
Pädagogium durch die Pädagogia, wie als Basler Student
dur den Zofingerverein Schweizerifcher Studierender treue
Sreunde, und diefe Königsberger Freunde waren es fpeziell,
die feinem weiteren LZebenswege die Richtung gaben und mit
ihm Freundſchaft hielten über Zeit und [pätere Trennung
weg. Go verband ihn namentlich mit dem Sohne feines ehr-
würdigen Königsberger Lehrers, mit Carl Neumann und
mit dem Mathematiker Ad. Mayer ein Band, das nad dem
in Königsberg abgelegten Doftoreramen ihn wie jene beiden
nad) Leipzig als Privatdozent führte und ihm dort fowohl
Eingang in die Kreife jener Hochſchule als auch von den
Ihöniten gefelligen Jahren feines Lebens verſchaffte.
Nach jeiner Berheiratung mit der Baslerin Fräulein
Anna Katharina His Eonnte er jelbjit auch in Leipzig und
jpäter nad) Baſel zurüdgefehrt dem Beijpiele jener folgen
und fein gajtlidhes Heim zum Mittelpunfte maden, der allen,
die darin verkehren durften, zu einem anregenden Zentrum
geiltigen Lebens, den Yremden zu einer Stätte wurde, an
der fie mit den weiteren Kreifen der Herbergsitadt Fühlung
erhalten fonnten. Auch Hier war ihm, das „Band zwiſchen
Bürgerihaft und Univerfität immer feſter und vieljeitiger
zu jehlingen“, der wichtigſte Zweck. Denn der Univerlität ge-
hörte des Leipziger Dozenten ſchon und erft recht des berufenen
Basler Profeſſors ganzes Trachten und Streben. Ihr und
der Willenfchaft gehörte feine ganze Arbeit.
Mit jenen Königsberger Freunden und Leipziger Kol:
legen hat er bis zuleßt zujammengearbeitet in der gemein-
famen Herausgabe der Mathematifhen Annalen. Dem vor
ihm verftorbenen Ad. Mayer Hat er in diefer wiſſenſchaftlichen
Zeitihrift, feinem Lehrer %. E. Neumann, der hochbetagt
als 97jähriger im Jahre 1895 ftarb, Hat er durch zwei Vor:
träge in der Naturforfhenden Gefellihaft Baſel ein ehren-
volles Denkmal gejeßt, voll treuen Gedenfens.
Was er in des letteren hohen Schule erworben, das hat
er auch jeinen Schülern in reihem Maße übermittelt. Seine
6
Borlefungen, die neben den einführenden Borlejungen über
Mechanik und der Einleitung in die Mathematijhe Phyſik,
fo ziemlich über alle Kapitel dieſes großen Faches, über Optik,
Märmelehre, Elajtizitätstheorie, Elektrizitätslehre, Hydro:
und Asromechanik u. ſ. w. daneben auch über anjchließende
mathematiſche Fächer ſich ausdehnten, hielt er in ſtets gleich:
bleibender Sorgfalt und mit immer neuer Vorbereitung und
Meiterführung des bewährten Stoffes. Es war ihm aud
nicht zu gering, fie vor noch Jo Kleiner Zahl der Zuhörer friſch
bearbeitet durchzuführen, hatte doch er jelbjt bei jeinem Groß-
ohm aud) allein gehört. So war es ihm aud) möglid, den
Wünſchen jeiner, der Natur des Faches gemäß wenig zahl-
reihen Zuhörer in weitelter Weije entgegenzufommen und das
ihnen gerade Notwendige oder Wünſchenswerte vorzutragen.
Auch feine wiſſenſchaftlichen Arbeiten, teils für ſich ge-
drudt, meilt aber in mathematifchen oder phylifaliihen Zeit:
Ihriften eingereiht, jowie feine Vorträge in der Basler Natur:
forſchenden Gefellihaft, mit denen er immer wieder hervor-
trat, befaßten ſich alle faft ausichlieglich mit feinem Spezial:
gebiete der mathematifhen Phyſik. Dabei war es ihm ein
- Anliegen, nit nur irgend eine Theorie Flarzulegen, jondern
meift die ganze Fülle des hiſtoriſch Gemwordenen in jeinem
Werdegang zu jhildern; auch auf alle Fehler und Mängel
hinzuweiſen unterließ er nie, wie denn die Kritif ſpeziell
feine ftärfite wiflenihaftlihe Begabung war. Wenige Ar—
beiten wurden ohne gut begründete kritiſche Vorbehalte
empfohlen, manche energifch zerpflüdt. Doc blieb er fi} bei
allen den vielen Theorien, die fih ja auf gewillen der von
ihm vorgetragenen Gebiete fajt ins Unermefjene häuften,
immer bewußt und betonte es zu wiederholten Malen, daß
diefe Theorien eben Bilder der Darftellung fein jollen, Ber:
ſuche, den Schleier der Wirklichkeit zu Heben, deren wahres
Geſicht noch feinem Sterblichen je zu ſchauen vergönnt war,
deren Spuren zu fuchen und zu verfolgen aber dennoch Lebens⸗
aufgabe und Freude ijt, die feiner anderen weidt.
7
Neben diejer ftillen Arbeit für feine Schüler und für die
Wiſſenſchaft ging aber eine noch jtillere nebenher, von der
nur die allerwenigiten Einjiht befommen haben, die aber
vielen zugute fam: fein Wirken in der Verwaltung der Uni—
verfität ſelbſt. Nicht nur hat er an den Würden und Bürden
der akademiſchen Gefchäfte, wie jo viele andere Hochichullehrer
teilgenommen durch Verwaltung des Defanates der mathe
matifh:naturwillenihaftlicden Abteilung 1893 und 1905, des
Defanates der philofophiihen Fakultät 1894 und 1906, durch
Uebernahme des Rektorates 1895 und 1910, des Prorektorats
1896 und 1911, als Mitglied der Anlagefommiflion und haupt:
lählih als curator fiscorum academicorum, das heißt als
Verwalter der verjhiedenen Yonds, aus denen das Basler
Univerjitätsvermögen bejteht, Hat Prof. Bon der Mühll feit
1896 bis zu feinem Tode eine Summe von Pflichten trodenjter
und aufreibenditer Art erledigt, die allein ſchon den Dank
und das dankbare Gedenken der Bürgerfehaft erfordern. Bis
ins Kleinjte peinlich treu und forgfältig, aber auch Hier ftets
der wahre Hüter der guten Ueberlieferung, jteht er hiebei für
alle Zeit muftergültig da, um fo mehr, als der zeitlebens Un—
bejoldete alles nur in felbftlojem Geben gleichſam jelbjtver-
ſtändlich erfüllte.
Daß der, der die ganze Kraft eines langen Lebens jchentte,
auch von feinem Materiellen nad) beitem Vermögen beijteuerte,
ift fo wenig auffällig, wie die Art des Gebens, die womöglich
nit in merfbarer Form gejhah. Seine Freude war, die
von ihm gepflegten und verwalteten Gebiete gedeihen zu ſehen
und das war ihm Freude genug. Eine ganz bejondere war
es für ihn, das Zujtandeflommen des Penfionsfonds für die
Univerfität zur eier des von ihm geleiteten Jubiläums er—
leben zu dürfen, und feine leßten Sorgen galten noch diejer
Neufhöpfung. Auh die Kahlbaumftiftung verdankt feiner
treuen Arbeit einen Teil ihres In-Rechtskrafttretens.
Mer hätte da befler auf den Bolten gepaßt, an der Spitze
der Univerfität zu ftehen bei ihrem Jubelfeſte, als er, der ja
8
auch als Enfel des Rektors der 400jten Gründungsfeier dazu
von Geburt erforen war. Daß es dem rüftigen Giebenziger
aber aud) Hier nicht leicht gemadjt wurde, nun die Würde, auf
die er ja ſonſt jtets verzichtete, zu tragen, erhellt aus den
zahlreichen Reden, die allein der eine Feſttag des 24. Juni
von ihm verlangte, wo er beim Feſtakte in der Aula des
Muſeums auf jede der vielen Anſprachen und Adreſſen aus:
wärtiger Geſellſchaften und der Vertreter der befreundeten
Hochſchulen unmittelbar mit einem Danke zu antworten hatte.
Auch das Mittagsbanfett im Mufikfaal eröffnete er mit
einer Begrüßungstede und hatte die Freude Dabei, der „ein
zigen Stadt, die ſich eine Univerfität leiſtet“, eine neue hoch—
herzige Stiftung für diefe feine Hochſchule anzeigen zu dürfen.
Daß die Damen der Feitteilnehmer während des Bankettes
zu einem Tee im Haufe des Rektors gebeten waren, entiprad;
wiederum nur feiner alten Samilientradition. Aber aud
mit dem Feſtesſchluß endigte für ihn die Arbeit nicht, fo wenig
fie mit dem Seite ſelbſt erjt begonnen hatte. Der alles bis
ins Kleinite hinein vorbereitet und vorberaten hatte, hat
auch ſelbſt alle Dankesſchreiben nad) den verjchiedeniten
Himmelsftrien post festum ausgehen lajjen. So war es
Ihlichte Danfespflit, wenn ihn bei der Feier im Münſter
der Defan der juriftiihen Fakultät um feiner Verdienjte in
der Verwaltung der Univerfität willen zum Chrendoftor
beider Rechte ernannte.
Aber auch das dritte Auftreten Prof. Bon der Mühlls
vor der Deffentlichfeit führt uns noch) auf eine weitere Geite
jeiner ftillen vielfeitigen Tätigkeit. Neben Dogentenberuf
und Berwaltungsgeihäften für die Univerjität fand er noch
Zeit, fih bei den verſchiedenſten, mehr oder weniger Ddireft
mit der Hochſchule verbundenen oder dieſe ergänzenden Ge—
jelliehaften und Vereinigungen zu betätigen. Als Vorfteher
des freiwilligen Mufeumsvereins wirkte er jeit 1901, der
Kommiſſion der Naturhiftoriihen Sammlungen des Mufeums
gehörte er jeit 1898 an, an beiden Drten, in der Stille wirfend,
9
eines der tätigſten Mitglieder. Bejonders ans Herz ge—
wachſen, weil durd die Tradition feiner Yamilie geheiligt,
war ihm aber jeine Tätigkeit in der Naturforfchenden Gefell-
Ihaft Bajels. Schon vor jeiner Habilitation in Leipzig, im
Sahre 1867, zurüdgefehrt von einer wiſſenſchaftlichen Reife
nad Paris, trat er unter der Präfidentihaft von Prof. Dr.
Fritz Burdhardt in die Basler Gefellfhaft ein. Sm felben
Sahre nahm er aud zum erjtenmale in Begleitung feines
Großpaters, des Ratsherrn Peter Merian, an der Sahres-
verfammlung der Gefellihaft ſchweizeriſcher Naturforſcher in
Rheinfelden teil, jpeziell bei der Abteilung für PHyfif, die
damals unter dem Vorſitz von Schönbein tagte, ſich hetätigend.
Auch die nächſten Jahre, wenn irgend es ihm Zeit und Gtel-
lung erlaubte, bejudte er diefe Tagungen, fehsmal mit dem
Großvater zulammen, wiederholt aud) von Leipzig aus. Später
nad Bajel zurüdgefehrt, fehlte er fajt bei feiner diefer willen-
Ihaftliden Vereinigungen.
Sn der Basler Gejellihaft trat er in den eriten Jahren
mit Vorträgen aus feinem Fache hervor, ſpäter blieben dieſe
zurüdgedrängt durch die Fülle der Verwaltungsgejchäfte, die
aud) hier ihm anvertraut wurden. In den Jahren 1890 bis
1892 führte er den Vorſitz, mit einem Nachrufe auf feinen
früheren Lehrer, Prof. Albreht Müller feine Tätigkeit be-
ginnend. Dem abtretenden Präfidenten widmete Prof. Hagen-
bach-Biſchoff herzliche Worte des Danfes, die von der Gejell-
Ihaft durch Erheben von den Giten bekräftigt wurden. Als
Sekretär der Basler Gefellihaft amtete er 14 Jahre in un-
ermüdlicher Treue. Die alten Protofolle nennen feinen
Namen fait auf jedem Blatte, fei es, daß er zu den gerade
aktuellen Gejhäften Ergänzendes oder Berichtigendes beifügte,
oder daß eines der vielen offiziellen oder privaten Schrift:
ftüde, die alle durch feine Hand gingen, eine Defizitforge oder
eine Finanzfrage ihn auf den Plan rief. Bei der Schönbein-
Teier des Jahres 1899 beforgte er die Rechnungsablage; der
Kommiſſion zur Befjerung der Finanzen gehörte er feit 1910,
10
dem Geniorenvoritande der Gejellihaft jeit deſſen Gründung
an. Bei feinem Rüdtritte als Sefretär im Jahre 1908 wurde
ihm eine Dankesadreſſe von der Gejellihaft zugeitellt, zu
feinem 70. Geburtstage ebenfo, mit „dem tiefgefühlten Danfe
für feine aufopfernde Tätigkeit die Wünſche für die noch recht
lange Dauer feiner Fürſorge für die Gejellfhaft“ verbindend.
Als Delegierter Bafels vertrat Prof. Bon der Mühll die In—
terejjen feiner Heimat in der größeren Schweizer Bereinigung
der Naturforicher zu wiederholten Malen. Auch in jener
Gejellihaft jtand er als Mitglied der Schläflikommiſſion, als
Vorfteher der Eulerfommijjion in der Mitte der Arbeiten
und Gefchäfte, wenn er auch auf den Berfammlungen nur
jelten ſtärker hervorgetreten iſt.
Nur bei den beiden Berfammlungen, die während feiner
aktiven Tätigkeit in feiner Heimatſtadt jtattfanden, fehen wir
ihn auch öffentlich bemerfbar werden. Das erjtemal 1892
als Vizepräſident des Sahresporitandes, neben dem Bor:
figenden Prof. Hagenbach-Biſchoff, das zweitemal 1910 felbft
Sahrespräfident und Mittelpunft. Dieſe letzte Verfammlung
in Bafjel wurde von Prof. Von der Mühll mit einem NRüd-
blide auf die Entwidlung der naturwiſſenſchaftlichen An-
Italten Baſels eröffnet. So wurde ihm die Leitung zweier
großer Beranjtaltungen, des Univerfitätsjubiläums und der
Tagung der Schweizerifhen Naturforiher in Bajel im felben
Sommer 1910 zugemutet und er hat beide Aufgaben bis an
die Außerfte Grenze feiner Leiltungsfähigfeit in jelbitlojer
Yufopferung und in Treue mujtergültig und zu aller Wohl:
gefallen durchgeführt.
Doch follte dieſe Doppelleiftung nit jpurlos an dem
Iheinbar unerjehütterlih gefunden, immer glei friſchen
Manne vorbeigehen. Jene ungeheure Gejhäftsanhäufung
veranlakte ihn zuerſt zu Klagen über mangelnde Zeit und
Kraft. Troß aller Schonung und auswärts gejudhter Ruhe
jollte er die alte, gewohnte Friſche nicht wieder erlangen.
Schon in den Tagen feiner 70. Geburtstagsfeier, wo aud) die
11
Mediziniiche Fakultät von Bafel ihm mit der Ernennung zum
Chrendottor der Medizin ihre höchſte Chre erwies, fing fein
Mut zu finfen an und, die beredhtigte Müdigkeit |pürend,
bereitete ihm die Vorauslicht jchwerer Tage trübe Gedanken.
Doch immer noch treu waltete er feiner vielen Aemter, nur
von den Vorlefungen zeitweilig dispenſiert, beſuchte fogar
noch die verjchhiedeniten Situngen, bis fih am 9. Mai 1912
jein Geſchick erfüllte.
An gelehrten Gejellihaften betrauern ihn als ihr Mit-
glied die Mathematifche Gejellihaft Bajel, die ſchweizeriſche
Mathematiſche Gejellihaft, Die deutſche Mathematifer-Ber-
einigung, der circolo matematico di Palermo, die jchweize-
riſche phylifaliihe Gejellichaft, die societe francaise de Phy-
sique, die kaiſerlich Leopoldiniſch-Karoliniſche deutſche Aka—
demie der Naturforſcher. Speziell die Basler Mathematiſche
Geſellſchaft, das phyſikaliſche Colloquium und die Basler
Naturforſchende Geſellſchaft, denen er bis zuletzt treu blieb,
faſt keine Sitzung verſäumend, vermiſſen ihn.
Daß Univerſität und damit Stadt und Bürgerſchaft Baſels
an Prof. Von der Mühll einen ihrer Getreueſten und Gelbit-
lofejten verlieren und ihm, dem Stillen und Belcheidenen,
ganz bejonderen Dank und treues Gedenken jchulden, dies zu
nennen und zu befennen bleibt eines Schülers ſchmerzliche
und doch teure Pflicht.
12
Reformierte Bafelbieter Kirchen
unter Batbolifchem Datronate.
Don Rarl Bauf, Lieſtal.
Der Patronat, das Recht, den Pfarrer in einer Kirche
zu ſetzen, mit dem aber auch die Pflicht verbunden war,
für das Einkommen des Pfarrers zu ſorgen, ſowie die Kirche
und das Pfrundhaus in Bau und Ehren zu erhalten, ſtand
urſprünglich dem Grundherrn zu. Im Laufe der Zeit löſte
ſich aber das Patronatsrecht als ſelbſtändiger Wert ab und
wurde vielfach verſchenkt, als Lehen ausgetan oder verkauft.
So findet ſich vielfach die Kirche in ſpätern Zeiten in andern
Händen als das Dorf. Daher kam es, daß Baſel, als es ſich
die Landſchaft erwarb, nicht in allen Fällen in den Beſitz
der Patronate kam, weil ſie in den Händen der Klöſter, des
Biſchofs, von Stiften oder auch von Privaten waren. Als
Baſel im Jahre 1400 vom Biſchof die Herrſchaften Lieſtal,
Homburg und Waldenburg ſich erwarb, kamen nur die Kirchen
von Lieſtal und Läufelfingen an die Stadt und auch
diefe nur fo, dak Biſchof und Stadt fi abwerhslungsweije in
die Befegung der Pfründen teilten. Mit der Herrihaft Farns—
burg fiel 1461 Bafel der Kirdhenjag von Maiſprach zu.
3war beitritt Thomas von Falkenſtein Bajel das Recht, da
er es ſich jelbjt vorbehalten Habe, und im Jahre 1480 präjen-
tierte Oswald von Tierjtein einen neuen Pfarrer. ber
nachher verfügt doch Bajel über den Kirchenſatz. Als am
15. Sanuar 1465 Bajel von Götz Heinrih von Eptingen
13
7
ArT
Siſſach faufte, ging das Dorf „mit dem firdenfat dafelbit“
an Bafel über. Dasjelbe geihah mit Eptingen am 13.
März 1487. Am 28. November 1482 traten Oswald von
Tierftein Tennifen und am 2. Mai 1515 drei Brüder
Münd Muttenz an Bajel ab. Am 12. Mai 1518 verkaufte
Chriſtoph von Ramftein Bregmwil mitjamt dem Kirchenſatz
der Stadt, und der Biſchof als Vehensherr gab 1523 feine Ein-
willigung. Das waren alle Batronate, welche Baſel vor der
Reformation beſaß. Als das Klofter Schöntal 1524 in die
Hände der Stadt fam, fielen ihr aud) die Patronate von
St. Peter-Dberdori: Waldenburg, Langen:
brud, Titterten und Bennmwil zu. 1526 fam durd)
Kauf der Halbe Kirdenjag von Bratteln und der ganze
von Benfen an die Stadt. Mit der Durdhführung der Re—
formation fette ji) die Stadt in den Belig ſämtlicher Patro—
nate, welche bisher der Bilhof und das Domfapitel beſeſſen
hatten, nämlich Wrisdorf, Biel, Binningen,
Bubendorf, ZLäufelfingen Halb, Lieſtal Halb,
Mündenftein, Dltingen, Pratteln zweite Hälfte,
Reigoldswil-G6t. Remigius, NRotenfluh zur
Hälfte. Es war begreiflih, daß Baſel darauf ausging, auch
die übrigen PBatronate fih noch zu erwerben. Schon am
4. Suni 1515 hatte der Rat vom Schultheik Strübin das
Borkaufsreht auf den Patronat von Ziefen, welden fein
Bater von den Erben der Eptinger gefauft Hatte, ſich gefichert
und gelangte am 13. März 1535 in feinen Beſitz. Am 13. Juli
1545 trat Jakob von Löwenburg feine Hälfte des Kirchen:
laßes von Rotenfludh der Stadt ab. Im Sahre 1564 hatte
Liejtal bei der Wahl des Leutpriejters noch mitzufpredhen,
Ipäter aber wurde die Gemeinde einfach übergangen. Mit
dem Erlöfhen der Offenburger am Anfang des 17. Jahr:
hunderts fiel auch der Patronat von Munzad, d. 5.
Srenftendorf-Füllinsdorf, der Stadt zu.
Sechs Kirchen waren noch in fremden Händen. Das war
um fo verdrießlicher, als die Batronatsherren alle katholiſch
14
waren. St. Hilarius von Lauwil in NReigoldswil
befaß, feit es ihm von Hans Imer von Gilgenberg am 5. Ok—
tober 1527 abgetreten worden war, der Rat von Solothurn.
Das Klojter Olsberg befaß den Kirdhenjag von Diegten,
das Chorherrenftift Rheinfelden den von Kilchberg, und
die PBatronate von Winterjingen, Buus und Gelter:
finden waren im Beſitz des Deutjchordenshaufes Beuggen.
Reformierte Kirhen unter katholiſchem Patronate mußten
ihre Gejhichte haben.
Sp erwünjdht nun freilich der Stadt das Recht war, die
Pfarreien nad) eigenem Gutdünfen zu bejegen, jo unerwünſcht
war ihr die Verpflitung, für den Bau und Unterhalt von
Kirchen und Pfarrhäufern auflommen zu müſſen. Und do
machte fich gerade nad) der Reformation das Bedürfnis regerer
Bautätigkeit fühlbar. Mußten doch an verfhiedenen Orten
für die verheirateten Pfarrer die Häuſer vergrößert oder neu
gebaut werden. Baſel fuhte Mittel und Wege, einen Teil
der Lait von ſich abzumälzen.
Sm Sabre 1535 Hatte der Rat in Muttenz „ein nuw
gut jteinins“ Pfarrhaus gebaut. Die Koften beliefen fih auf
643 8 86 8SJ. Der Rat verlangte nun vom Bilchof, da
er einen Quart des Zehntens Habe, er jolle an die Koiten
des Pfarrhausbaues 93 10 8 9 5 bezahlen. Der Bilchof
aber fonnte nicht befinden, daß er „einiche jtür an obbemelten
buw ze thund jhuldig“ fei, „dann es wider den brud in
onjerm auch Coitenzer und nechſt anſtoßenden bijtumben, das
die zehendherren zu buw der pfarrhüjeren ſollen verbunden
fin“. Das Pfarrhaus von Thermwil fei fürzlih aud) neu ge=
baut worden. „Wir achten wol, Stoffel Offenburg vnd andere
fine mitzehndherren würden fi) von altem braude nit bringen
laſſen. So iſt jegig vnſer pfarrhuf zu Pfeffingen vor furzen
jahren gebuwen worden.“ Es Haben außer dem Kirch—
berrn die Zehntherren nichts daran gegeben. „Dazu ift vnſer
Quart, welde wir zu Muttenz niejjen, quarta Episcopat.,
jo inn gemeinen rechten aller ond Yyeder vfflegungen ond be=
15
Ihwerden fryg.“ Bafel mußte wohl oder übel die Koften
jelbit tragen.
Anders jtanden die Ausſichten für Bajel in einem andern
Falle. Am 9. Dezember 1521 Hatte das Stift St. Mauritius
in Zofingen dem Domkapitel die Pfarrei Arisdorf gegen
140 Gulden abgetreten, und mit der Reformation war die
KRollatur an die Stadt übergegangen. Der Zehnten gehörte
zur Hälfte der Domprobitei, zur Hälfte den Falkenſteinern.
Am 1. Dezember 1545 verlieh Hans Chriltoph von Falken:
ftein feine Hälfte an Heman Truchſeß von Rheinfelden und
feine Lehensgenofjen, deren Vorfahren fie ſchon beſeſſen Hatten.
Diejer Belig war in der Folge Beranlajjung zu manderlei Streit.
Die kleine, vom Dorfe etwas abgelegene Kapelle St. Kreuz
Hatte fich ſchon längſt als zu klein erwiejen und war aud) bau-
fällig geworden. In aller Stille hatte die Gemeinde einen
Neubau vorbereitet. Ein Arisdorfer hatte den Bauplaß ge-
Ichenft, das Land, das zur Zufuhr der Materialien benüßt
werden mußte, war nicht angejät worden. Am 16. Dezember
1594 baten die Geſchworenen der beiden Gemeinden Arisdorf
und Giebenad) den Rat in Bajel, er möchte ihnen eine neue
Kirche bauen, die alte ſei baufällig, vornehmlich der Dach—
ſtuhl und der daraufjtehende Helm feien faul, fo daß der
leßtere herunterjtürzgen könnte. Die Kirchhofmauer fei ſchon
an zwei Drten eingefallen, jo daß die Bapiften, die öfters
zur Predigt fämen, ji) daran ärgerten. Die jegige Kapelle
itehe in einem fumpfigen Anger und fei zu klein, jo daß
namentlid an Feſttagen viele Zuhörer draußen ſtehen müßten
und die Eltern in der Kinderlehre neben den Kindern feinen
Platz fänden. Die Gemeinde erklärte fich bereit, die Funda—
mente zu graben, Steine zu brechen, die nötigen Fuhren und
Hrohndienjte zu übernehmen. Der Rat bewilligte den Bau,
der im folgenden Jahre vollendet wurde,
Die Baukoſten beliefen ih auf 23348 88 A J. Die
Pfleger des Domftifts ſuchten nun aber die Hälfte erhältlich
zu maden. Als im Sommer 1595 in Arisdorf die Zehnten
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eingenommen werden jollten, wurde den Trudjellen jchriftlich
mitgeteilt, daß fie die halben Baufoiten zu bezahlen hätten.
Die Truchſeſſen weigerten ſich. Sie machten geltend, daß ſie
den Zehnten von den: Yalfenjteinern zu Zehen hätten, und im
Lehenbrief nichts von den Baufoiten jtehe, daß Bajel den
Kirchenſatz wie aud in Augſt Habe. Arisdorf jei eine Filiale
von Augft. „Stem dak nur ein Cappel alda zu Arisdorf ge-
wäſen vnnd nhun zu einer großen Kürchen gebauwen worden
iye.“ Die Pfleger forderten deshalb den Rat auf, die Truch—
ſeſſen von Rheinfelden zu veranlaljen, „den halben pawkoſten
der Fir Ariltorf von habende ires halben zehenden wegen
alda abzurichten“. Der Rat forderte ein Gutadten eines
Surilten, Dr. Gut, ein. Am 10. März 1596 wurde er mündlid)
abgehört, am 9. Juni wurde fein Konzeptjchreiben verlejen
und beſchloſſen, das Schreiben an die Truchſeſſen abgehen zu
laſſen.
Der Rat machte den Truchſeſſen gegenüber geltend, daß
die Falkenſteiner auch ſchuldig geweſen wären, an die Bau—
koſten beizutragen, daß der Kirchenſatz nur den Pfarrherrn
und den Gottesdienſt betreffe, und nicht die Erhaltung der
Kirche. Der Ertrag des Zehntens ſei ſechsmal mehr als zu
der Zeit, da die Truchſeſſen das Lehen empfangen hätten. Der
Rat drohte, wenn die Truchſeſſen nicht einlenkten, andere
Mittel anzuwenden. Sie gaben aber noch nicht nach. Baſel
nahm darum den Zehnten in Verwahrung. Nun wandten
ſich die Truchſeſſen an die öſterreichiſche Regierung in Enſis—
heim. Dieſe forderte die Pfleger des Domſtifts auf, den
Truchſeſſen den Zehnten herauszugeben. Auf den Rat Dr.
Guts antwortete Bafel, daß die Truchſeſſen den Prozeß an
Orten vorgeihlagen Hätten, wo er nicht Hingehöre, und for-
derte die Regierung auf, die Truchſeſſen dahin zu weifen, daß
fie fi mit den Pflegern vergleichen follten. Da aber ein Ver—
glei) nicht zujtande fam, gab am 23. Juni 1596 der Rat die
Erlaubnis, „die Früchten jequejtersweije inzelegen“. Die
Trucdjelien mußten ſich dazu bequemen, die Hälfte zu bezahlen.
17 2
Sm Sahre 1691 mußte die Kirche von Arisdorf renoviert
werden. Die Koiten beliefen fih auf 390 2 198 8% J.
Die Deputaten verlangten von Chrijtoph Friedrich Truchſeß
und feinen Zehntgenojjen, daß fie die Hälfte daran leiſteten.
Truchſeß beſchwerte fi, dag ohne fein Willen gebaut worden
jei, war jedoch bereit, joweit es den Chor betraf, feinen An
teil zu leijten; die Kirche zu bauen fei Sache der Gemeinde.
Er konnte nit glauben, daß die Deputaten im Einverjtändnis
mit dem Rate gehandelt Hätten. Marfgraf Friedrich von
Baden begleitete am 11. Juni 1694 die Beſchwerde mit feiner
Fürſprache. Die Antwort der Deputaten ließ nicht lange auf
ih warten. Der Shaffner auf Burg hätte der Schweiter
in Abweſenheit des Junkers perjönlid mitgeteilt, daß in
Arisdorf gebaut werden mülle und hätte jogar die Baupläne
in ihren Händen gelaſſen und erjt zurüdgefordert, als fie zum
Beginn des Baues erforderlihh waren. Die Vorfahren hätten
ihren Anteil jeweilen abgetragen, wie fie aud ftets den
Zehnten genojjen hätten. Daß er fi) jet weigere, jet, da
„bey dem armen Gotteshauß alda nichts alk die befhandte
ohnvermöglichkeit“ beftehe, um fo unbilliger, als „vberdiek
den vnderthanen ein mehreres als fie bereits präjtieret
haben“, nit zugemutet werden fünnte. Allein Trudjeß ver-
harrte bei feiner Weigerung Er fönne ohne Zuftimmung
feiner Lehensgenoſſen und feines Lehensherrn nichts Ver:
bindlidhes eingehen. Immerhin anerbot er ih, gutwillig
150 * beizutragen. Yalls die Deputaten damit nicht ein-
verftanden wären, jollten jie ihn „einen endtlichen Sententz
wiederfaren“ laſſen.
Truchſeß erjhien mit feinem Vetter von Rotberg vor den
Deputaten. Der leßtere anerfannte die Baupfliht für Chor
und Pfarrhaus, worauf ihm von Geite der Deputaten fofort
geantwortet wurde, wenn fie für alle Unfoften des Pfarr:
haujes belangt würden, jo würden fie noch weniger ihren
Konto dabei finden. Das alles wurde von den Deputaten
dem Rate gemeldet. Aber auch der Truchſeß wandte ſich am
18
1. Auguft 1694 wieder an den Rat. Der Schaffner habe ihm
aus einem alten roten Buche etwas vorgelejen. Als er aber
gemerft habe, daß es für Trucdjeß und gegen die Deputaten
zeuge, habe er ihm die geforderte Abjchrift verweigert. Wenn
feine Vorfahren etwas an die Kirche geleijtet hätten, jo habe
es ih nur um Bagatellen gehandelt wie Ziegelitoßen, „und
würde vbel gejtanden fein, wann man fi) deßwegen allemahl
mit einem Thumbpropſtey Schaffner zanten wollen, ob felbige
vom Chor oder Kirchen gefallen ſeyen“. Er erklärt jich bereit,
feinen Anteil am Zehnten zu hinterlegen und dem Rate zu
überlajjen, „wo ein hochloblicher Magiltrat in dem Röm.
Reih in einem Jahrsfriſt einiges Erempel in contrarium,
daß ein Decimator zu etwas mehrers alg zu Reparierung
des Chors nad) PBroportion feines Zehendesgenujles ajtrin-
giert worden“, Dagegen habe der Decimator allerdings aud
an den Bau des Pfarrhaujes zu leilten, wenn er am jus Pa-
tronatus teil hat. Er ijt bereit, die 150 Z freiwillig zu
teilten.
Der Rat nahm das Anerbieten an. Allein der Truchſeß
bezahlte nidt. Am 25. September 1695 erſuchte darum der
Dompropfteifchaffner um Erlaubnis, den Zehnten zu ſeque—
Itrieren, da feine Ausſicht beitehe, daß er bezahlt werde. Der
Rat gab feine Zuftimmung. Aber auch am 31. Oftober 1696
war noch nichts eingegangen. So wurden die jequeitrierten
Früchte und Weine zu Geld gemadt.
Sm Jahre 1727 wurde eine Uhr in den Kirdturm er-
ſtellt. Die Gemeinde Hatte die Kojten auf die Zehnten-
bezüger abwälzen wollen, wurde aber belehrt, daß das Sache
der Gemeinde jei. Fünf Jahre jpäter gelangte die Gemeinde
wiederum an den Schaffner des Domitiftes und verlangte
Bezahlung der Koften für die Uhr und das Geläute; allein
lowohl er als Meilter Schweighaujer, der ’s des Truchleflifchen
Zehnten bejaß, bejtritten ihre Pflicht, da „an feinem Ort der
Landichaft die Collatoren als Dezimatoren pflihtig, Gloden
noch weniger die Uhr anzufhaffen und zu erhalten“. Die
19 ge
Gemeinde wurde wiederum abgewiejen. Im Jahre 1737 war,
weil der Turm zu eng war und die Gloden gegeneinander:
Ihlugen, eine Glode geiprungen und eine zweite bejchädigt,
und mußten umgegojjen werden. Die Gemeinde madte aud)
Diesmal den Verſuch, die Koiten wieder erhältlich zu machen.
Der Rat wies am 13. Januar 1738 das Begehren ab. Am
3. Februar wiederholte der Bogt auf Zarnsburg das Gejud).
Er madte geltend, daß Arisdorf feinen Fond habe, die Gloden
zu bezahlen, und daß aud im Jahre 1693 die Dezimatoren
die Koften getragen hätten. Der Rat gab nad. Er wies
die Domprobitei an, die Koiten zu bezahlen, forderte aber
die Gemeinde auf, die Gloden jo hängen zu laſſen, „daß fein
fernerer ſchaden mehr zu befahren“,
Sn der ganzen Berhandlunng wurden die Trudjfeljen
nit mehr genannt.
1. Solothurn und Baſel.
St. Hilarius in Reigoldsmil.
Vom Bilhof Hatten die Herren von Ramitein die Kirche
St. Hilarius von Lauwil am Fuße der MWajlerfalle in Rei:
goldswil als Zehen empfangen. Bei der Teilung des Haujes
fiel fie der Linie Gilgenberg zu. Am 5. Oftober 1527 ver:
faufte fie Hans Imer von Gilgenberg der Stadt Golothurn.
Als im Srühjahr 1529 die Reformation in Baſel durchgeführt
wurde und der Rat in der Stadt „die Filhengezierden, billder
onnd anderes hinweg gethan“ und des Willens war, „ge:
licher geitalltte in ir landichafft ouch ze hHandlenn“, wandte ſich
der Rat von Solothurn nad) Bafel. „Diewyl nun die Cappell
Sant Hylarien zu Rigottihwil ... . . von den Herren zu
Gilgenberg geitifft onnd begabott, ouch durch Herrn Hanjen
Smmern von Gilgenberg, rittern, mitt aller rechtfame vnnd
zugehörde vnns vbergebenn vnnd zugeſtellt“, jollte er „vor:
berürtter Cappell halb“ ftillitehn und nichts verändern, bis
der Vogt von Gilgenberg nad) Bafel fomme. Bajel kümmerte
20
ih aber um den Wunſch Solothurns nidt. Der Vogt von
Waldenburg nahm den Keldh, den Hans Imer von Gilgen:
berg beim Berfauf feiner Herrihaft den Solothurnern über:
laſſen hatte, zu Handen. Das Lehen war in den Händen Urs
Rümpis gewefen, deſſen Vorfahren es jchon bejellen Hatten.
Allein die Rümpi Hatten „vornader ettliher geitallt das
Läden verwürdt“, es wurde von Solothurn Jakob Häner
zugeiprochen. Baſel gab feine Zuftimmung. Im Fahre 1534
erhoben der Bogt von Waldenburg und der Pfarrer von
Reigoldswil Anjpruh auf den Zehnten. Der Lehenmann
beſchwerte fi) in Solothurn. Dieſes machte in Baſel geltend,
daß das Lehen „aljo herfommen, das jollihis des gehenden
halb entbroften beliben“, und jtellte die Korderung, dak Vogt
und Pfarrer abgewiefen würden. Solothurn Hatte damals
fein Interejje, das Kirchlein in Bau zu erhalten. Es fam
darum „gar in Abgang“. Im Fahre 1536 wurden deshalb
zwijchen Solothurn und Bafel Verhandlungen geführt und am
8. Suli die Baupfliht Solothurns Feitgeltellt, da ihm das
Gwidem der Hilarienfapelle um einen jährliden Zins ver:
liehen worden fei. Solothurn Hatte aber feine Eile. Im
Sahre 1540 fanden neue Verhandlungen jtatt. Es wurde ab-
geredet, daß der Vogt von Waldenburg den Kelch von Sant
Hilarien wieder herausgeben müſſe. Da aber Solothurn
immer noch nicht zur Tat ſchritt, forderte Bajel feinen läſſigen
Nahbarn auf, die Kapelle „zu uerfundigung des heylligen
gottlichen worttes fuoglich vnd tugenlih in ere zu legen“.
Solothurn fam jet der Aufforderung nad, verlangte dann
aber jofort vom Vogt von Waldenburg den Keld Heraus.
Diefer bot aber jtatt feiner eine Geldfumme. Solothurn be—
ſchwerte fich bei Baſel, „dann wir vnns nitt gelltes fonnders
onjeres Feldes, jo pnns genommen, beflagt“. Nod einmal
traten die beiden Stände zufammen. Eine Berjtändigung fam
zuftande. Golothurn gab nad) und begnügte fi) ftatt des
Keldes mit zehn Gulden. Sie wurden am 30. September
1540 „von ſtund an“ ausbezahlt. Kurz darauf gab der Bürger:
21
meilter dem Obervogt zu Waldenburg den Auftrag, „Das du
den Canntel inn fant Hylarien Capell zu Rychetſchwyl etwas
bas erhöchen und fuberer zurichten, darzu an ettliche gemeine
ituel leenen. damit ji) alt onnd krank lüt daran ſtüzen mögen,
maden vnnd die Capell damit zurichten laſſeſt, das es eerlich
onnd das wort Gottes darin zeurfünden fuoglich jye. Vnd ob
aber font vtzit wythers an fenjtern, tach, laden etc. da ze—
bumwen, das der vogt zu Gilgenberg das thuege.“ Im Jahre
1548 verjudhten Heinrich Wyßner von Ziefen und Urs Rümpi
dem jolothurniihen Lehenmanne Jakob Häner das Lehen
durch Bermittlung Bajels abzuziehen. Häner ſuchte und fand
Schutz in Solothurn.
Sm Sahre 1553 ftarb Häner. Solothurn erflärte ſich be-
teit, das Lehen jeinen beiden Söhnen Hans und Konrad zu
beftätigen. In dem Revers war aber ein Artifel folgenden
Inhalts aufgenommen worden: „ob ſich hienach begebe, das
der Gottsdienft, wie der bikhar in gemeiner Chriſtenlicher
firhen geprudtt, in üwern Landihafftten vnnd gepietten
widerum vffgerichtt onnd gehallten wurde, alls dann ſy vnnd
ire Erben des figrilten amptte, wie fi) zu ſollichem Gotts-
dienfte gebürtt, verſechen füllen.“ Baſel weigerte fi, den
Revers bejiegeln zu lajjen. Die Brüder Häner wanderten nad
Solothurn. Der Rat forderte Bajel auf, den Vogt anzumweifen,
daB er den Revers befiegele, „wo nitt, werden wir gemelltt
Zehen alls vnſer eygenthum widerum zu vnſern handen be-
züchen, daſſelb nah vnſerm gefallen, wo vnns füglich be-
duncktt, verlychen, wo aber jemande vnns hierinne intrag
zethunde vnnd zuuerhindern vermeindt, wollen wir dem—
ſelben von ſollicher vnſer Lächens gerechttickeytten wegen das
rechtt hiemitte angebotten haben.“ (30. Mai 1554.) Baſel
mußte einlenken.
Nah dem Tode Hans Häners übernahm fein Bruder
Conrad das Lehen. Er blieb im ruhigen Genuß des Lehens,
bis die Wogen der Gegenteformation au) in das abgelegene
Bergdorf ſchlugen. Am 19. Suni 1587 zog der Rat von Golo-
22
thurn das Gut an fih, um es weiter zu verleihen. Er ließ
die Güter neu aufzeichnen. Unter ihnen erſcheint „der bifang
zu Sant Hilarien, ijt in einer Inhegi vndt ftedt die Kilchen
darin“. Solothurn begründete fein Vorgehen damit, daß
Häner die Güter habe zugrunde gehen laſſen und ein fchlechter
Zinfer gewejen ſei. Vergeblich wandte ji) Die Gemeinde zu
feinen Guniten nach Bafel, wie ihm ohne rechtmäßige Urſache
aufgefündigt worden und das Gut Urs Dürrenberger vorder-
Hand übergeben worden fei, wie er in feinem hohen Alter
mit feiner Frau an den Betteljtab fomme. Bafel legte in
Solothurn ein gutes Wort ein, Häner werde in Zufunft bejjer
zinfen und die Güter in Ordnung halten, erhielt aber zur
Antwort, daß von einer Beſſerung nichts gejpürt worden fei.
Am 22. Auguft 1587 ſchloß Solothurn mit dem neuen Lehen:
mann, Hans Rot, den Vertrag ab, nachdem er tags zuvor bei
Baſel jich beſchwert hatte, daß „der alte inhaber vnnd bejiter
nit rumt vnd von dannen zücht“, und den Vogt von Gilgen-
berg nad) Baſel gejchidt Hatte. Der neue Lehenmann Hatte
jämtlide Güter „ſambt Sancti Hylarij Cappel inn guetem
bauw vnd ehren aud) in tach vnd gemach“ zu erhalten. Auch
die Verpflichtung, das Sigriftenamt zu übernehmen, wurde
wieder aufgenommen, die jeßt neue Bedeutung gewann. Er
jollte auch „die feld, mäßgewender vnd andere gezierden zu
Joldem Gotsdienite gehörig nad feinem beiten vermögen
treuwlich verhuetten und bewahren vnnd fouerre etwas durch
jein verwahrlojung verloren und dez vßfündig wurde, ſoll er
omb daſſelb befehrung vnd wandel ze thun ſchuldig vnd ver:
bunden fein, wie dann jolids die alten Brieff, jo wir diß
Lächens den feinen vormalß geben haben vnd jeinen vorfahren
zugeftellt, heitter lauttend“. Rot Hatte jährlih 5 Z’ dem
Rate von Solothurn zu bezahlen
Als im folgenden Sommer Bajel Hans Not die Zehnten-
sarben abforderte, weigerte ji diefer, fie abzuliefern und
meldete jofort die Sache nad) Solothurn. Golothurn erfuchte
Baſel, von feinem Begehren abzuſtehen, ſonſt würden fie eine
23
Kundihaft aufnehmen laſſen. Bajel verwahrte ſich gegen
den Vorwurf, als ob es eine Neuerung einführen wolle, ver-
langte vielmehr, daß man es bei feiner alten Gewohnheit
lafje, da jeit Tahren der Zehnten aufgejtellt worder ſei. Golo-
thurn konnte das le&tere nicht beitreiten, aber wiederholte
feine Bitte, da der Zehnten „durch vnflyß, vnwüſſenheit vnd
liederlichkeit“ des Vogtes und der Vehenleute unbefugterweije
darauf gewachſen jei, und verlangte zugleich, daß den Ge:
landten Bajels Vollmaht gegeben werde, „ven ſachen recht—
lih auszuwarten“. Baſel beharrte auf jeinem Rechte. Am
26. Auguſt 1588 wurde erſt von Solothurn und auf Anraten
Balilius Amerbadjs jpäter auch von Bajel eine Kundſchaft
aufgenommen. Der Sohn eines früheren Lehenmannes,
Baltian Tſchopp, erklärte: Als fein Vater jelig diejes Gwidem—
gütli empfangen, jeien einmal Leute gefommen und hätten
ihm gejagt: „Warumben ftelitu den Zehnten vom gwidem
off ond nimbit es nit mit andern garben hinweg?“ Der Vater
antwortete, er habe von jeinen Gütern immer den Zehnten
gegeben. Der letzte Lehenmann Conrad Häner aber berichtete:
Er habe auch vor etlich und dreißig Sahren den Zehnten nicht
bezahlen wollen, er fei deshalb nad) Solothurn zum Sdult-
heißen gegangen. Diefer habe ihm den Beiheid gegeben,
wenn jemand. von ihm den Zehnten fordere, jolle er ihn nad)
Solothurn laden. Als Häner daraufhin den Zehnten zum
zweiten Male verweigerte, wurde ihm gedroht, daß er vor
Gericht geladen würde. Der Obervogt von Gilgenberg ritt
darauf nad) Waldenburg und jchlichtete den Streit. Nad) einem
dritten Weigerungsverſuch hätte er fich nach Beſprechung mit
den Berwandten herbeigelaflen, anjtatt der Ablieferung der
Garben etwas zu zahlen, „vff daß er die Oberfheiten nit
aneinanderen wyje und zwüſchen den fein vnwille entitande“.
Bajel konnte außerdem noch geltend maden, daß Pfarrer
Vetterlin von Bretzwil 24 Sahre lang den Zehnten von
St. Hilarien ohne Eintrag empfangen habe, und der Meyer
und die betagten Leute bejtätigten, daß die Güter nicht zehnt-
24
frei feien. Solothurn mußte nachgeben. Hans Rot wurde
jpäter Wirt zur Sonne. Als im Sommer 1599 ein neuer
Vogt auf Waldenburg aufgezogen war, weigerte jih Not
wieder, den Zehnten zu geben. Der Pfarrer, der infolgevefjen
um 1% Quart zu kurz fam, forderte den Vogt auf, nad) Baſel
zu Ichreiben. Der Vogt gebot Rot, „jolden Zehnden an ein
vnpartheyiſch ort zu legen biß zu vßtrag jolher Handlung“.
Es gejhah nicht. Bei der jelbjtherrlihen Art des Mannes,
der ji um des Vogts Gebote nicht Fümmerte, war allerdings
zu befürdten, er könnte mit der Zeit aus ſolchem Frevel „ein
Poſſeſſion“ machen wollen. Das alles meldete der Bogt Eras-
mus Wurſtiſen am 15. Juli 1599 nad Baſel.
Die Familie Rot behielt das Lehen fait ein Sahrhundert.
Allein Hans Bernhart Rot ließ die Kirche in Abgang fommen,
„maßen beederjeits Gübell onndt der Tadjtuel bawfällig“,
ja das Dach gleich einer „Rütteren“ durdlichtig war. Die Güter
waren ausgenüßt. Solothurn gab darum dem Vogt von
Gilgenberg den Auftrag, das Zehen einem andern zu über-
geben. Anfangs Oktober 1679 erſchien der Bogt und belehnte
Safob Schneider mit dem Gute. Rot und feine Söhne ließen
durch Geihimpfe am Bogt auf Gilgenberg, dem neuen Zehen:
mann und dem Vogt auf Waldenburg ihren Aerger aus, wie
fie denn als böje, gottlofe Leute gejhildert werden, welche
feinem Gottesdienit abwarten, bei denen weder die guten
Worte des Seeljorgers noch die Strenge des Vogtes etwas
fruchteten. Ja fie überfielen aus Gejtrüpp heraus den arg—
Iofen Lehenmann mit feinem Sohne, die den Hag ausbeſſern
wollten, mit Hagiteden bewaffnet, ſchlugen fie blutig und
drohten ihnen mit dem Tode. Der gilgenbergiihe Amtmann
meldete den Vorfall nah Solothurn, und der Rat inter
zedierte in Bajel, daß es den neuen Lehenmann ſchütze.
Am 30. Dftober 1715 erjudgte der Rat von Solothurn, es
möchte eine neue Bereinigung der Gwidemgüter Sti. Hilarii
vorgenommen werden. Bafel gab jeine Einwilligung. Die
Solge war, dag Solothurn dem Ziegler die Matte abiprechen
25
wollte, auf der eine Scheune jtand, weil fie zu den Hilari-
gütern gehöre, daB es zwei Mädertauen Matten in den
St. Romai Gütern beanjprudte, die verloren waren und nicht
wieder gefunden wurden, daß darum Solothurn die Gwidem-
güter neu mit Mardjteinen auszufteinen verlangte. Der
Ziegler mußte einen halben Gulden Reflognitionsgebühr be-
zahlen und Kalk und Ziegel für das Kirchlein liefern. 1724
wurden die Marchſteine, mit H. G. bezeichnet, gejegt. Im
Sabre 1761 fam das Lehen wieder an die Familie Rot. Der
Zehenmann Hatte „das Kapellelin, weldes unden an der
Waſſerfallen ligt und zue Andadt für die Rayfenden gewidmet
gewefen fein mag“, in gutem Bau zu erhalten, innert Jahres—
friit es mit Blättlein zu belegen, die Fenſter mit eijernem
Gitter zu verjehen und eine neue wohlbeſchlüſſige Türe auf
jeine Kojten maden zu laſſen. Auch die Verpflidtung zum
Sigrijtenamt wurde wieder aufgenommen.
Als am 21. Dftober 1772 der Rat von Solothurn neuer:
dings eine Bereinigung der Hilarigüter verlangte, hielt der
Stadtſchreiber von Liejtal dafür, daß das unnötig fei, da ja
alles befannt ſei, wenn nicht Solothurn darauf ausgehe, der
jeit zweihundert Jahren verlorenen zwei Jucharten Matten
wieder habhaft zu werden. Die Haushaltung hatte dagegen
nichts gegen das Begehren Solothurns einzuwenden, betonte
aber nur, daß „mit aller Vorfiht zu Werke zu gehen“ fei. Da
aber auch von verjhiedenen Geiten die Ablieferung von
Bodenzinjen verweigert wurde, verlangte Solothurn, daß
auch hierin Ordnung gejhaffen werde. Wegen der Nähe
rauhen Winterwetters wurden aber die Verhandlungen aufs
folgende Frühjahr verjchoben.
Mann und wie Solothurn jchlieglidh jeine Rechte an die
Hilariusfapelle abgetreten hat, war vorläufig nicht zu finden.
Sm Sabre 1799 beſaßen die Bürger von Solothurn nod) einen
Speicher und ein Gärtlein, das der Kirhe von Meltingen zu
zinjen Hatte. Die Ablöfung des Hilarigutes wird alfo wohl
auch nad) diefer Zeit jtattgefunden haben.
26
2. Das Klojter Olsberg.
Diegten.
Am 11. Mai 1314 Hatte der Ritter Matthias von Ep:
tingen das Patronatsrecht der Kirche von Diegten dem Klofter
Olsberg geſchenkt, und der Bilchof Gerhard von Bafel hatte
mit Zujtimmung feines Kapitels die Schenkung bejtätigt. Im
Bauernfriege von 1525 wurde das Klojter von den Bajelbieter
Bauern ausgeplündert und teilmweije zerjitört. Es ſchien, als
ob die Geihichte des Klofters ihr Ende gefunden hätte. Am
12. August 1525 verfauften Aebtiſſin und Konvent der Stadt
Bafel mit andern Gütern in der Landſchaft um 2000 Pfund
Gtebler „den Eildenjag zu Dietfen ſampt dem gehenden da-
jelbeft, tut zu gemeinen jarenn fünfzig viertzel vngeuerlich;
denn zwepteil fernen ond den drytteil haber vnnd ein pfund
zu erjhaß, Davon gibt man der gemeind fünff jchilling vnd
hat man bishar dem Tütpriejter dafelbjt vonn dem zehenden
dryſſig tu onnd dem probjt zu fant Alban zu Baſel dryſſig
Ihilling bafel pfennig“ gegeben. Bon einem Ader von 30
Jucharten, der beim Klofter lag, ſicherte fich die Aebtiſſin das
Rückkaufsrecht für den Fall, daß das Klofter wieder auf-
gebaut würde.
Fünf Jahre lang blieb Bafel im Befige Diegtens. Als
mit der Reformation das Klojter Schönthal an die Stadt
fiel und der Kirhenfag von Eptingen infolgedefjen in die
Hand des Rates fam, vereinigte diefer die beiden Pfarreien
Diegten und Eptingen, um das Einfommen des Pfarrers zu
verbeijern. Allein am 8. August 1530 erhielt Bafel die Mit-
teilung, daß der Kaifer „als des clojters landfürſt, warer vnd
rechter kaſtvogt vnd ſchirmherr, dweyl der aufjerthalb jeyner
Mt. zulafjen befchehen“, den Kauf nicht beftätigt Habe. Er
mußte rüdgängig gemadt werden. Die Zinsleute wurden
aufgefordert, wieder dem Klojter zu zinfen. Es jcheint nicht
ohne Widerjtreben gejchehen zu fein.
Der bisherige Pfarrer, Hieronymus Ritter, der feit der
27
Reformation in Diegten ſaß, Jah feine Möglichkeit, mit dem
bisherigen Einfommen auszufommen, und jtellte bei Bajel
das Begehren, daß ihm eine Aufbeſſerung um zwölf Stüde
bewilligt werde und daß die Zinfen und Zehnten, welche DIs-
berg empfange, in Arreſt gelegt würden. Morand Harnald),
der Schaffner zu Olsberg, wandte fih an die Regenten und
Räte im Obereljaß und flagte ihnen die Not des Klofters.
„Wie wohl Olsberg in bäuriſcher Empörung jhwerlich be-
\hädigt, doch furz uerrudter Zeit ein behaufung mit ſchweren
cojten bawen müljen, dazu die prielter, jo egedachte pfarr vor
ime inngehapt vnd verjehen, an dem alten corpus, infommen
vnd gefellen derjelben pfarr ein gut vernugen gehapt.“ Er
bat die Regierung, Bafel aufzufordern, daß es dem Prädi-
fanten nicht willfahre. Allein Bafel ftellte ji auf die Seite
des Pfarrers, und fonnte das um fo eher, als es die Stadt
ja nichts foftete, fich mit dem fremden Mammon einen Freund
zu maden. Die Einfünfte wurden mit Arreſt belegt. Am
1. März 1540 forderte Hans von Andlau als Kaſtvogt des
Kloiters die Stadt auf, den Arreſt aufzuheben.
Der Bogt auf Farnsburg erhielt nun Auftrag, ſich über
den Zehnten in Diegten zu erkundigen. Er tat es, fonnte
aber nicht mehr erfahren „den von nedhjtverrudten drü jaren
her“. Er jtellte feſt, daß das Klojter den dritten Teil des
3ehntens erhielt, daß diejer Drittel 1937 44 Viernzel Korn
und Haber, 1538 64 und 1539 75 Viernzel betragen habe,
und dag dem Prädikanten jeweilen 30 Viernzel gegeben
worden Jeien.
Der Rat hob den Arreit auf, wie er an die Regierung
ſchrieb, „pff vertruwen, ir werdend des prielters competenf
halben gebürlichs injechen ze thund nit verhinderen“. Der
Rat machte zuguniten des Prieſters geltend, daß es „gar ein
fleine Competeng vnd dem richlichen infomen, jo das Cloſter
Olſperg der ennden hat, nit gemek, nod) au) dem predicanten
(wie ir jelbs ermeſſen mögen) zu finer vffenthalt nit gnug-
jam ift“. Der Pfarrer fönnte überhaupt mit feinem Ein-
28
fommen von 30 Biernzel nicht Ieben; er hätte, „wo wir im
den Zufhub von Rudeptingen nit getan, vor langen dadannen
wichen müljen“. Der Rat durfte aber füglid) aud) daran er:
innern, er habe in öfterreihiihem Gebiet und im Markgrafen:
land, wo er Kirchenſätze bejige, ebenfalls die „Competentzen
ober vorgeordnete vnnd von altem har ingenomene Corpora
von den Zechenden eben richtig erbejjern müljen“. Die Web:
tillin jollte alfo das Einkommen um 12 Stüd verbeſſern, in
Geld oder Korn, und zwar zum erjtenmal auf fünftigen
Sohannistag, damit Bajel nicht genötigt fei, andere Mittel
zu ergreifen. Werde die Aebtiſſin dem Geſuche entiprecdhen,
jo werde Baſel um jo geneigter fein, das Klofter „by dem
Iynen zu ſchirmen vnd den frowen daſelbſt alle früntliche
nachburſchaft zu bewijen“.
Der Schaffner erhob an den Pfarrer wegen Geridhtskoften
Anſprüche auf Entihädigung. Der Nat anerbot fid, einen
Deputaten abzuorönen, um die Streitenden zu vergleichen.
Könnten jie fih nicht einigen, jo jollte der Schaffner beim zu:
ſtändigen Geridt in Bajel Klage erheben. Was blieb den
Klofterfrauen anderes übrig, als nachzugeben? Gie waren
auf gute Nachbarſchaft angewiefen.
Sm Winter 1598 liefen beim Rate Klagen ein, daß das
Pfarrhaus in Diegten der Reparatur bedürftig fei. Der Rat
Ihrieb an die Webtiflin, daß das breithafte Pfarrhaus ohne
Verzug jollte gebaut werden. Die Webtijjin aber zeigte zu:
nächſt feine Qujt, erit Anfangs April fonnte fie ſich auf „vil-
fältig anmahnen“ des Rates entihließen, „Das gantz preit-
hafft bouwloſe Pfarhuß“ „dermaßen zu verbeijern, daß der
Pfarrherr mit fuegen fi nit beclagen, fonder khumblich be-
wohnen könne“. Immerhin madte fie den Vorhalt, „das
gleichwohl dafjelbig Pfarrhauß der beiferung vmb ettwas
vonnötten, das es aber fo gar in grojen abgang vnd mikbaw
gerathen, darvon tragen wir fhein wüſſens vnd möchten
C. V. F. € W. villidten Hierunder zu milt (?) beridtet
worden jein“. Allein fie hatte es nicht fo eilig. Das Früh:
29
jahr fam, aber das Pfarrhaus war noch nit gebaut. Das
Klofter war mit Bafel aud) über Steinfegungen in Streit
geraten. Bereits war auf den 14. Mai (alten Kalenders)
„su Hinlegung der zwiſchen Bafel und ihr noch unentjchiedenen
Späne“ ein Tag angejagt. Unmittelbar vorher aber ftarb
Dr. Samuel Grynäus, der die Stadt vertreten follte. Bafel
wollte zwar, da ihm am förderliden Ausgang der Sache ge-
legen war, einen andern Anwalt jhiden. Allein eine Ver:
tändigung fam nicht zuſtande.
Zwei Jahre war noch nichts geſchehen, nur das Pfarr:
Baus war noch baufälliger geworden, jo daß zu befürdten
war, es mödte im Winter, durch Schnee befchwert, einge
dDrüdt werden; der Pfarrer Gabriel Hummel gab darum die
Ablicht Fund, in ein anderes Haus zu ziehen. Der Rat redete
nun eine energijhere Sprade. Die Aebtiſſin folle nun ohne
alle fernere Umtriebe in den nächſten acht Tagen ſich erklären,
ob, wie und wann fie das Haus in Bau legen wolle. Die
Aebtiſſin ſchickte nun ihren Schaffner nad) Bafel. Diejer gab
gute Worte, die Aebtiſſin fei bereit, dem Pfarrer „mit Hauß-
sing gepeurendermaßen zu begegnen“ und aud das Pfarr:
haus in Stand zu jtellen. Es blieb aber wieder bei bloßen
Morten. Acht Tage jpäter fand eine große Verhandlung
tn Lieftal jtatt; der Hauptitreit drehte fih um vier Wälder
im Basler Gebiet, welche das Klojter und Baſel als Eigen
tum anjpraden. Das Kloſter mußte feine Anfprüde fallen
laſſen, wodurch die Bereitwilligfeit, in Diegten das Nötige
vorzufehren, nicht zunahm. Als darum der Rat die Webtifjin
noch einmal mahnte, antwortete fie, da fie krank jei, habe fie
den Schaffner von Rheinfelden nad) Bafel gejhidt, man möge
ihn wegen Diegten abhören. Was er berichtet Hat und was
die gnädigen Herren geantwortet haben, erfahren wir leider
nidt. Das Pfarrhaus war aber fpäter wieder bewohnt. Die
Hebtijfin mußte alfo wohl einlenfen.
Sn jpäterer Zeit hören die Streitigkeiten mit Olsberg
auf. Nur noch einmal beklagt fih der Pfarrer im Fahre
30
1702, daß ihm Frucht- und Weinzehnten vorenthalten würden.
Sm übrigen war das Verhältnis ein freundihaftlicdes. Denn
nachdem in der Zeit der Gegenreformation im Jahre 1596
der Rat der Aebtiſſin nicht gejtattet Hatte, den Hof Dürren=
berg bei Langenbrud zu faufen, durfte jih im Jahre 1674
das Klojter in Lieftal „ein Fluchthauß“ erwerben, das bis
1744 in feinem Beſitze blieb. Jedenfalls iſt es bemerfens=
wert, daß der Pfarrhausbau vom Jahre 1704 ohne Anftände
durchgeführt worden ift. Denn feine Beſchwerdeſchriften geben
darüber Aufſchluß, jondern eine am Pfarrhaus in Diegten
eingemauerte Steinſchrift: „Anno 1704 iſt diefes Haus von
Grund auf von der gnädigen Übtille von Olsberg, Frau Maria
Franzisca von Eptingen als Collatrir durh Herrin Pfarrer
Joh. Rud. Brenner, Pfarrer allhier, erbauen worden.“ Die
legten Verhandlungen galten der Ablöfung des PRatronats-
rechtes. Schon ſeit 1797 miſchte fi das Damenitift Olsberg
nit mehr in den Zehntenbezug. Am 21. November 1805
trat es fein Kollaturreht in Diegten nebſt Pfarrgebäuden,
Pfarrgütern, drei Quartzehnten an den Kanton Bajel ab.
Diejer übernahm alle Obliegenheiten, Befoldung des Pfarrers,
Unterhaltung der Pfarrgebäude und des Chores, welden zu
bauen bis dahin die Aebtiſſin noch verpflidtet war.
Am 18. Februar 1807 wurde der Vertrag vom Stande
Yargau, am 11. April von Baſel ratifiziert.
3. Das Chorherrnitift St. Martin in Rheinfelden.
Kilchberg.
Der Kirchenſatz von Kilchberg war von den Froburgern
in den Beſitz des froburgiſchen Miniſterialengeſchlechts, der
Herren von Kilchberg, gelangt. Durch Schenkung ging die
eine Hälfte des Hofes mit dem halben Kirchenſatz an das
Kloſter Fraubrunnen über. Am 27. Juli 1276 verkauften
Wernher von Kilchberg und ſeine Frau Sophia die andere
Hälfte um vier Schilling und neun Pfund Pfennig an den
31
Rheinfelder Bürger Hermann von Belliton. Bald darauf
am 3. April 1280 traten Elijabetha, die Aebtiſſin, und der
Konvent des Klojters Yraubrunnen „vmb vnſers Gottshuß
noth, alg wir ſchädlich verbrunnen fin“, ihren Anteil am
Hofe ebenfalls Hermann von Bellifon um achtzehn Marf Silber
als ledig Eigen ab. Hof und Kirchenſatz vererbten ich in der
Familie von Bellifon, bis Anna von Bellifon, die in zweiter
Ehe mit Burfart von Stoffeln, genannt Schürli, Edelfnedt,
Schultheiß von Rheinfelden, verheiratet war, mit Zujtimmung
ihres Mannes am 21. Mai 1400 das Patronatsrecht der Kirche
St. Martin in Kilhberg zur Stiftung einer Sahrzeit an das
Stift in Rheinfelden abtrat. Sm Sahre 1439 madte Her:
mann Scaler, ein Nachkomme Verenas, der Schweiter Annas
von Bellifon, die mit Lütold Schaler verheiratet war, An—
Iprüde auf den Kirhenfa von Kilchberg geltend; allein er
wurde am 20. März 1439 abgewiejen. Das Patronatsrecht
blieb beim Chorherrenitift Rheinfelden.
Schon vor der Reformation entitanden Gtreitigfeiten
über dem Heuzehnten. An Nadoftern 1487 famen der Meyer,
Herr Clauß Gili, und jeine Untertanen des Kirchſpiel Kilch—
berg vor das Stift in Rheinfelden „ond hat das Kapitel in
einer liebe fie alfo betragen, daß jie den Hewzehnden von
allen matten geben jollen, denn Lüpriefter pßgenommen“. Im
Sahre 1496 wurde „der Meyer einer von Öjtergaum“ neben
einigen Kilchbergern vom Gtift Rheinfelden nad) Bajel ge:
laden.
Mit der Durchführung der Reformation lag die Gefahr
nahe, daß neue Streitigfeiten ausbrechen würden. Gie Tiefen
nicht lange auf fih warten. Wir erfahren freilih nur, daß
der Rat der Stadt Bajel im Jahre 1539 erfannt habe, „Daß
fürohin einem 9. Prediger geben werden jolle von einem
Mannwerdh oder Medertawen Matten, fo Hew vnd Embot
gübt, Sahres 28; von einem Mannwerdh, jo nur Hew gübt
1 #“. Schlimmer ftand die Sadhe im Sahre 1586. Der lang:
jährige Pfarrer Antonius Weiz Hatte ohne Erlaubnis der
32
Kollatoren das Dad) des Pfarrhaujes ausbejlern laſſen. Die
Chorherren von Rheinfelden fündigten ihm furzerhand feine
Abjegung an. Der bedrängte Pfarrer wandte fih an den
Konvent der Pfarrer. Dieſe ermahnten ihn, daß er bejcheiden
Handle und auf ſeinem Boften ausharre, die Deputaten er-
ſuchten fie, daß fie fi) jeiner annähmen und ihn gegen die
Chorherren verteidigten.
Der Aufzug eines neuen Pfarrers wurde wiederholt von
den Zinsleuten zum Verſuche benüßt, ji) die Laft etwas zu
erleihtern. So war es aud), als im Jahre 1612 Gregorius
Schickler nad) Kilchberg fam. Sm folgenden Jahre fam eine
Verftändigung mit den Untertanen über den Zehnten zu:
ftande. Am 1. Juni 1613 wurde die Ratserfanntnis von 1539
erneuert. Ungleich hartnädiger war der Gtreit unter dem
Sohne, Emanuel Sdidler.
Schickler war im Jahre 1651 feinem Vater in Kilchberg
nachgefolgt. Die Sahre des jüngern Mannesalter hindurch
hatte er im Toggenburg zugebracht und dort ſchon zur Genüge
Sie Annehmlichkeiten erfahren, welche einem proteſtantiſchen
Pfarrer unter einem katholiſchen Fürſten und Herrn beſchieden
waren. Die erjten Jahre verliefen glatt. Allein im Sommer
1654 beflagte fie) Schidler, daß er in feinem Einkommen ver:
fürzt werde. Der Rat von Bajel beauftragte den Vogt auf
Sarnsburg, dafür zu forgen, daB auf den neu aufgebrochenen
Aedern, für die früher der Heugehnten bezahlt wurde, die
Zehntengarben aufgeitellt würden, damit der Pfarrer nit
zu Schaden fomme. Dem Stift gegenüber berief fi der Rat
darauf, daß „von unuordendhlihen Jahren Hero“, d. H. feit
1539 der Heuzehnten bezahlt worden jei. Allein nachdem er
die Garben bis zum Yustrag der Sade „an ein vnpartheyiſch
orth“ gelegt Hatte, verlangten die Chorherren beim Rate
Schuß gegen den Pfarrer, der fie von ihrem uralten Her—
fommen abtreiben wolle, und Herausgabe der Garben. Bajel
Torderte nun aber von Shidler noch einmal Bericht ein. Er
wurde vor die Duputaten zitiert, wo ihm eröffnet wurde, daß
33 3
die Chorherren fih über ihn beflagt Hätten. Schickler er—
Härte, er Hoffe, nachdem Bafel fil) der Sache angenommen
habe, würden fi die Chorherren gütlich herbeilafjen; er an=
erbot ſich, perfönli nad) Rheinfelden zu ſchreiben. Am
29. November jandte der Rat feine Antwort mitjamt dem
Briefe Schidlers nad Rheinfelden, in der er fein Recht geltend
madte. Erit am 12. Januar 1655 gab das Stift Antwort.
Die Chorherren erinnerten daran, daß Schidler bei feiner Prä—
jentation die Zuſicherung gegeben worden fei, daß fie „ime
bey der Gemeind allen in feinem Rödel vermerdhten Heuw
3ehnden in ordenlide richtigfeit zu bringen“ geneigt feien,
daß er aber ſchon damals an den Rat gewiejen worden fei,
weil feine „underthanen zue onderwinden“ nicht ihrer Juris
diktion fei. Die Chorherren legten in Abſchrift ihre Urkunden
bei und ſprachen die bejtimmte Erwartung aus, der Rat werde
Pfarrer Schidler „von feinem vnbefuegten wüderlihen be=
ginnen“ abweijen und anhalten, die beifeite gelegten Garben
dem Stift auszuliefern „mit abtrag der cojten vnd fchadens“.
Der Rat gab für diesmal nad, ohne jedoch die Rechtsfrage
zu entiheiden. Er ließ, obwohl der Pfarrer nicht weniger
Recht zu haben meint, gleichwohl „biß auf weittere Bey:
bringung jein Pfarrers ſuochende gerechtjame“ die Zehnt:
garben dem Stift verabfolgen. Der Tanz konnte alfo im
folgenden Jahre von neuem beginnen. Am 20. September
1655 bejchwerte jih Schidler beim Stiftsihaffner, daß obwohl
er ſelbſt fih äußerjt entgegentommend gezeigt und gebeten
habe, den Arreſt aufzuheben, die Kollatoren alles abgeſchlagen
hätten. Etwas unvorfihtig war die Bemerfung, daß die
Bauern feineswegs damit zufrieden feien, daß fie doppelten
Zehnten zu bezahlen hätten. Gie Hätten dieſen Punft bei
ihren Klagen „in ihrer jüngjt entjtandenen Unruh laſſen ein=
ihreiben“. Das Stift ließ es fih nicht entgehen, dieſe Be-
merfung dem Rate bejonders hervorzuheben. „Nun nimbt
vnß fehr wunder, daß er fi der Baurfame fouil anneme“.
Die Obrigkeit fönne jpüren, daß er ein unruhiger Mann fei,
34
da es fih nur um einige Säillinge handle. Es fheint, daß
man tatſächlich dem Pfarrer die etwas unbedachtſame Aeuße⸗
tung übel angemerkt Hat. Allein es läßt ſich begreifen, daß
er alles anwandte, um zu feiner Sache zu fommen, wenn er
in feine ökonomiſchen Nöte uns einen Blid werfen Täßt.
Am 1. Januar 1657 wandte fih Schidler an Bürger:
meijter Wettjtein und klagte ihm feine Not. Bor jehs Jahren
lei er vom Schuldienft von Liejtal, den er während zehn
Sahren verjehen Habe, nah Kildhberg verjegt worden. Er
babe von den Chorherren 40 Viernzel Korn, 20 Biernzel
Haber und 20 in Geld einzunehmen, während dod) den Chor-
berren der ganze Zehnten aus den drei Dörfern Kilchberg,
Rünenberg und Zeglingen zufalle. „Wenn aber die bejagte
Kilchbergiſche Pfrund an ihrem jarliden einfommen vaſt
die geringfte, hargegen an vnkoſten vnd bejondern beihmwär-
nufjen die grööite iſt, aljo daß ich alles trind- und kochwaſſer
weit unterm dorff aus einer höli dur) ein fchroofechten weg
muß Holen lajjen, vnd deeßwegen eyn bejondere magd er-
Halten, waſſer zetragen: item alle ab- vnd zufuhr durch fehr
taube fteynige jtraaljen, bergauff vnd ab mit geringer auff-
ladung vnd grofjem fuhrlohn verjolden: item von wegen lang-
wärendem wintergefrölt, jtarfen reiffen auch jtrengen vnd
falten winden gar viel holz und dürrfuter vom herbit an biß
in meyen hinauß muß brauden, vnd endlich von gemeinen
landftraafjen abgelägen, dz ein Prediger diefer enden feine
übrige früdten mit feynen fugen verfauffen fan, ohn mit
feinem groljen vmkoſten, infonderheyt weilen die Chorherren
ihren eingehenden zähenden allhie in ihren ſpeicher laſſen
aufiehütten, auch nachwerts ihne den hieſigen gemeynsgenofjen
vnd daherum auff borg zu Fauffen gäben, darum fie ihnen
zu lauffen und hie mit dem Pfarrer feine übrigen früdten
bleiben ligen und keyne löſung in parihaft Haben fann.“
Zum Schluß befannte er, daß er die letten jehs Jahre mehr
Schaden gehabt und nichts habe erübrigen können, er fünne
länger fo nicht fortfahren, wenn er nicht das GSeinige ganz
35 s
einbüßen wolle. Der Rat möge darum den Chorberren
ichreiben, daß fie ihm die Kompetenz erhöhten. Der Rat wies
die Eingabe an die Deputaten. Schidler erfuhr dies von
einem Sohne und wandte jih nun aud an dieje feine Vor-
gejegten, fie möchten die Chorherren veranlajjen, „dem je-
weiligen Pfarrer etwa für 10 faum wein järlich zu geben“,
„domit er ſich ond die feinigen feinem ſtand gemäs könne ehr-
li) ausbringen, vnd nit aus mangel der nahrung genöhtiget
werde, etwaz zeſchaffen, dz dem Predigamt nit jo anjtändig
ſeyn mödte“.
„Obſchon auf ihrer feitten ihre Priefter nur ihren Ieib
ond etwan eyn magd oder diener zu erhalten haben, dennod
wurd feyner derjelben mit folder geringer competeng wägen
grojfer außgab mögen außfommen. Sollen wir prediger auff
vnferer feiten jhier all onjer vermögen auffs jtudieren vnd
bücher wenden in vnferer juget vnd dann im alter nicht fo
viel einfommens haben, dz wir vnſere gebeurlihe nahrung
für ons ond vnſer weyb vnd finden mögen darvon Haben,
iheint es in alle weg eyn vnbillidhs ding ſeyn. Die Herren
Collatores nemmen alle jar eyn überjhwenglidhes einfommen
aus meiner ©. 9. landſchafft vnd verjorgen doch für ihre
perfon nit eyne feel.“ Er aber könne ſich fait nicht des
Bettelns erwehren.
Schidler Hatte den Erfolg, daß ihm ſeine Beſoldung von
20 auf 25 Pfund erhöht wurde.
Noch einmal entbrannte der Streit, nachdem im Jahre
1690 Johann Stöcklin Pfarrer in Kilchberg geworden war.
Wiederum war der Zehnten die erſte Veranlaſſung. Stöcklin
hatte mit Berufung auf die Verhandlungen von 1613 und
1654 ſeine Forderung geſtellt. Das Stift aber nahm die
Ratserkanntnis von 1539 für ſich in Anſpruch und wies dar-
auf hin, daß Emanuel Schidler im Jahre 1654 habe zugeben
müfjen, daß das Stift im Beliß der Garben gewejen ſei, aber
„er joldes nit recht zu fein vermeint“ habe. Er fei darum
auch vom Rate abgewiejen worden.
36
Eine jhärfere Tonart ſchlug das Stift bei der Behand-
lung einer andern Zrage an. Das Pfarrhaus war jo bau-
fällig gewejen, daß es von Grund auf neu hatte gebaut werden
müjjen. Die Koſten hatten ſich auf über 2000 Z belaufen,
das Gtift Hatte, wie es Flagte, alle jeine Mittel aufgebraudt
und noch eine Summe von 800 Z', die Pfarrer Stödlin vor:
trete und die ihm zu verzinfen waren, aufnehmen müſſen.
Nun aber jtellte ſich aud) noch die Notwendigkeit ein, den Chor
der Kirche zu reitaurieren. Stöcklin madte den Deputaten
Mitteilung und erhielt den Auftrag, auf Koiten des Stiftes
„das Chor zu bauen und zu ändern“. Bereits hatte er Bau:
material herbeiführen Iafjen. Der Unterſchaffner des Stifts
verbot ihm, fortzufahren. Der Pfarrer wollte ſich jedoch nicht
beruhigen lafjen, da er von den Deputaten Auftrag erhalten
hätte. Darum beſchwerte fih das Stift in Bafel. Es ſei am
Chor nichts baufällig, der Pfarrer wolle nur nad) feinem
Kopfe jelbiges einrichten. Das ſei der Danf, daß ſie ihm bis-
ber jo viel willfahrt „und das newe pfarrhauß vom funda-
ment nad) feinem willen vnd belieben erbauen lajjen“. Der
Rat möge Stödlin anhalten, fih mit feiner Pfrund zu be-
gnügen, wie er fie empfangen und feine Vorjahren fie ge-
nojjen hätten. Der Rat gab zunächſt gar feine Antwort. Der
Bau wurde weitergeführt. Wohl oder übel mußte das Stift
die Koiten bezahlen. Die Ernte war vorüber. Der Pfarrer
hatte die jtrittigen Zehnten eingenommen. Probjt, Dekan
und Kapitel beflagten ji bei den Deputaten der „auf:
gebrochenen Zehnden“ wegen. Am 31. Auguft beitellte der
Rat einen Abgeordneten des Stifts auf den 6. September
nahmittags 1 Uhr aufs Rathaus, um „ihre gravamina ferer“
vortragen zu lajjen. Ueber den Erfolg erfahren wir nidts.
Es läßt ji aber ersaten, was geſchehen tft.
Zwei Jahre jpäter brach der Streit von neuem aus. Der
Pfarrer berichtete an die Deputaten. Der Wihtigfeit der
Sache wegen hätten fie die Sache gerne an den Rat der Drei»
zehn gewiejen, damit der Rat einen Beſchluß Hätte fajlen
37
müljen. Allein ein Teil der Dreizehner Herren waren ab-
wejend, und da die Ernte vor der Türe war, konnte man ihre
Rückkehr nicht abwarten. Darum gaben die Deputaten Auf-
trag, der Pfarrer follte die Zehntenverleihung vor ſich gehen
lajfen, aber wegen der Matten, Rüti: und Hochwaldzehnten
förmlich protejtieren und den Zehntenbejtändern ausdrüdlich
anzeigen, daß jie auffchreiben, was für Frucht, wieviel Yrudt
jeder Gattung es auf den aufgebrodhenen Matten, Rüttinen
und Hochwald gegeben Habe.
Es war der le&te Streit, der die Gemüter erregte.
Pfarrhaus und Kirche waren jeßt in gutem Stande und
gaben darum in der nädjlten Zeit feine Veranlajjung zu ernit-
lihen Anſtänden. So verfloß das folgende Jahrhundert, ohne
Streit.
Am 14. Januar 1807 trat das Stift Rheinfelden das
Patronatsreht von Kilhberg mit allem, was dazu gehörte,
namlid) das dreijtödige Pfarrhaus, die Stallung, den Kirchen—
chor, den dreiltödigen gemauerten Speicher und den Baum:
garten und ſämtliche Gefälle an Bafel ab. Außer den
3466 Fr. 6 Baten und 6 Rappen, weldje dem Stift ſchon im
Sabre 1804 ausgewiejen worden waren, hatte Bafel noch
weitere 3527 Fr. 7 Baben und 7 Rappen anzuzahlen und no
eine Summe von %r. 16000 jpäterhin abzutragen.
4. Das Deutihordenshaus Beuggen.
Buus, Oelterfinden und Winterfingen.
1.Buus.
Der Hof zu Buus, zu welchem der Kirchenſatz der Kirche
in Buus gehörte, war Eigentum der Grafen von Froburg.
Bei der Erbteilung zwijchen der Zofinger und Waldenburger
Linie des gräflihen Haufes fiel der Hof je zur Hälfte Her:
mann IV. von Froburg:Homburg und Ludwig IV. von ro:
burg zu und vererbte fih in ihren Familien. Graf Ludwig
lieh jeine Hälfte Jakob II. von Kienberg als Erblehen. Diefe
38
Hälfte ging jpäter noch einmal auseinander, indem Jakob IV.
und Helena von Kienberg in das Lehen fich teilten. Helena
von Kienberg war mit Chunrad von Hertenberg, dem Herrn
von Arisdorf, verheiratet. Am 31. Mai 1307 gab Graf Vol:
mar von Froburg dem Ritter Tafob von Kienberg die Er:
laubnis, feinen Anteil am Hofe, „in den die File und der
lag von Bus hHöret“, dem Bruder Berhtold von Buchecke,
Landfomtur zu Eljaß und Burgund, und mit ihm den Brüdern
zu Beuggen abzutreten. Am 8. Suni 1307 erfolgte die Ueber:
gabe „zu feiner Geele Heil“. Fünfzehn Jahre jpäter (16. Juli
1322) verfaufte der Sohn Konrads von SHertenberg, der
Ritter Heiden von Hertenberg, den zweiten vierten Teil um
36 Mark Silbers an den Deutihordensfomtur Peter von
Stoffeln zu Beuggen. Am 23. Juli erfolgte die Beftätigung
vom biſchöflichen Offizial in Baſel.
Die zweite Hälfte hatte Graf Hermann IV. von Sroburg-
Homburg an eine andere Linie des Haufes von Kienberg als
Lehen ausgetan. Der erite Lehenträger war der Großvater
der beiden Vettern Sohans I. und Johans II. von Kienberg.
Sm Sahre 1310 Hatte Bodeshirm, vermutli ein Bruder
oder Schwager Johans II. von Kienberg feinen vierten Teil
den Herren des DOrdenshaujes Beuggen verkauft, welde
wußten, daß es ein Zehen Wernhers II. von Homburg war.
Der Graf madte aber fein Recht geltend und ſprach, „dz mir
dz lehen lidig fi“. Er zog es an fi und lieh es am 2. April
1310 Sohans I. von Kienberg, dem Better Johans II. Nach
dem Tode Wernhers III. von Froburg im Sahre 1323 muß
Sohans von Froburg in die Rechte des ausgejtorbenen Haufes
getreten fein. Denn er übergab am 30. Mai 1336 dem
Ordenshaufe „die Eigenfhaft des Hofes Bus jamt dem dazu
gehörigen Kirchenſatz‘. Allein erſt am 2. Januar 1328 ver-
taufte vor dem Ritter Rudolf von Rudefwile, welder zu Olten
an Graf Sohans von Froburg Statt zu Gericht fak, der Edel:
knecht Sohans I. von Kienberg, genannt Brifjener, für fi
und als Vogt Hartmans und Richtelins, der Kinder feines
39
veritorbenen Betters Johans II, an den Komtur Peter
von Stoffeln zu Beuggen ihren Teil und ihr Recht an Hof
und Kirhenjaß zu Bus um 52 Marf Gilbers. Damit hatte
Beuggen das Ziel erreidht, den ganzen Kirdhenjag von Buus:
in feine Hand zu befommen.
Nah der Durchführung der Reformation trachtete Bajel
darnad, um das ungenügende Einfommen der Pfarrer zu:
erhöhen, tleinere Gemeinden zujammenzulegen. Am 28. Ok—
tober 1535 traf der Rat von Bajel mit dem Komtur von
Beuggen, Ludwig von Ryſchach, die Vereinbarung, daß die
Untertanen von Buus und Maiſprach in ewige Zeit Pfarr:
genofjen fein jollten. Hemmiken blieb bei Buus, während
Drmalingen wieder zu Gelterfinden geijhlagen wurde. Mit
dieſer Vereinigung von Buus mit Mailprad), wo Bajel das
Patronatsrecht bejaß, war die Gefahr eines Konfliktes noch
bedeutend verjtärft. Die Kollatur jollte abwechslungsweiſe
vom Drdenshauje und von Bafel, eritmals von Beuggen aus=
geübt werden. Die Pfarrer wurden auf die Reformations-
ordnung verpflichtet.
Die Beranlafjung zur Vereinigung beider Gemeinden
hatte der Wegzug des Buufer Pfarrers Matthäus Merk oder
Kenzler in jeine württembergifhe Heimat gegeben. Der
Pfarrer Fridolin Brombach von Rheinfelden, der feit Herbit
1522 in Maiſprach gewejen war, wurde der erjte Pfarrer der
beiden vereinigten Gemeinden. Die erjten Jahre ging alles
gut.
Im Sahre 1544 war das Pfarrhaus reparaturbedürftig
geworden. Der Komtur erflärte fich bereit, die Arbeiten
vornehmen zu lajjen. Er bat den Rat in Baſel, ihm zu er=
lauben, daß er einen Kalk auf Basler Boden brennen dürfe.
Die Bewilligung wurde ihm erteilt. Aber am 29. Auguit
Iprad) der Rat dem Komtur fein Befremden aus, daß weder
der Bau noch das Kalkbrennen begonnen worden fei. Er
. mahnte, er jolle fih nun beeilen, daß das Haus nod vor
Winter fertig gejtellt werde, damit der Pfarrer darin wohnen
40
könne. Im Frühjahr des folgenden Jahres war aber die
Sade erit jo weit gediehen, „Daß alles gezimmer vnd gerüft
zubereitet war“. Nun aber hatte es den Anjchein, als ob mit
dem Bau Stillgeltanden werde. Der Rat mahnte fortzufahren,
lonft würde er den Zehnten zurüdbehalten. Das wirkte.
Der Bau wurde vollendet. Allein der Pfarrer blieb nicht
mehr lange auf der Pfarrei. Wegen „fürgefalner ſachen der
pfarrei jtillgeitellt“, aber auf Bitten der beiden Gemeinden
reitituiert, erhielt eı am 16. Januar 1546 feinen Abichied.
Der Komtur trat für Brombad) ein. Allein der Rat erflärte,
der Bitte nicht entiprechen zu fönnen, „wir wollten dann die
gemeine fildenn zum hochſten ergern, vnd andern glidher
geitalt zu Handeln vrſach geben“. Längere Zeit verjah der
Pfarrer Jerg (Joh. Study?) von Rotenfluh aud die Pfarrei
von Buus-Maiſprach. Er war dazu von den Deputaten be-
auftragt. Er bejuhte den Komtur und zeigte ihm an, „wie
das die pfarr von Rotenfluh begere, das man ime etwaß
von dem corpus zu Bus geben welle“. Der Komtur gab
ihm zur Antwort, er begehre nicht, daß er vergebens jollte
gedient haben.
Dem Rate gegenüber Hatte ſich der Komtur bejchwert,
daß man ihm die Belegung der Pfarrei nicht überlaſſe. Er
befam zur Antwort, daß nad) dem Vertrag vom Jahre 1533
der Rat an der Reihe jei, „diſe pfarren verner zuuerjehenn“.
Die Deputaten Hätten in feinem Namen einen Diener des
Worts dahin verordnet. Länger als gewöhnlid wurde Die
Pfarrei Buus von Rotenfluh aus verjorgt. Das hatte feinen
bejtimmten Grund. Das Kaplaneihaus in Siljah mußte
reitauriert werden. Die Deputaten famen mit dem Pfarrer
von Rotenfluh überein, daß, was nah jeiner Vikariats—
entihädigung von der Bejoldung von Buus übrig bleibe, für
das Kaplaneihaus in Siſſach verwendet werden follte. Der
Komtur erhob aber nun in Bafel Anſpruch, daß ihm der
„fürſchutz“ ausbezahlt werde; jchriftlih und durch Fridolin
Brombadh oder durch deſſen Anwalt mündlih brachte er fein
41
Begehren den Deputaten vor. Dieje erklärten, in vollem
Rechte geweſen zu fein, die Pfarrei zu befegen. „Sit dweyl
doch mer gedachte pfrundt verſechen worden das dardurch nichgit
verfaumpt fige“, baten fie, „jein Erwürden wolle vnnß ferer
difer pfrundt wegen vnuerſuecht vnd rhuwig pliben lafjen“.
Der Komtur wandte fi) jegt an den Rat, befam aber diejelbe
Antwort, der Komtur „wolle auf folden fürſchutz nit figen“.
Gebe er fih nicht zufrieden und wolle gerihtli vorgehen,
fo müßte es der Rat eben geichehen laſſen.
Unterdejlen Hatten die Deputaten „zu ſant Alpen“ die
Rechnung getan. Kridolin Brombah war auf ihr Begehren
an des Komturs Statt zur Rechnungsablage erjchienen. „Wie
ſy in gethradtiert ouch waß ſy ime vier ein abihüt geben
Habent“, berichtete Brombad) jelbjt in einem Schreiben, das
leider verloren ilt. Der Komtur war empört über das Ber:
halten der Deputaten. Dem einen, Balthajfar Han, der die
Verhandlungen führte, warf er Wortbruch vor. Er hätte ihm,
als der Pfarrhausbau in Buus angefangen war, zugejichert,
daß alles, was eingehe, niemandem zufallen jolle als allein
ihm als Bauherrn. Ob das weitere Vorgehen dem Verſprechen
gemäß fei, möge der Rat ſelbſt ermeſſen. Mander Bieder-
mann, der dabei gemwejen jei, Habe fih für Bajel ſchämen
mülfen. Denn wenn jhon Han dem Rat die Erklärung ab-
gebe, „das er das huß Syſſach darvß puwen welle, ich bin nicht
zwüfflet, das es ye erhört worden, das ein ftadt zu Bajel in
die Nott fommen ey, das man ire pfarrheifer vß des huß
Beuden gut puwen mießen“. Der Rat ließ fih aus feiner
Ruhe nicht Herausbringen. „Ob dem Comenthur etwas
augfeit ſy an den buw mag man Jundher Heman von Offen:
burg frogen, der weiß euch zujagen, das Comenthur zugſeit,
nützit von allen gfellen zenemen, biß der buw gemadt und
jederman bezallt ſy.“ Der Komtur muß fein ganz gutes Ge-
willen gehabt haben, denn er teilt dem Rate nun nur nod
mit, daß er auf fein Gejud, „das mir der billigfeit noch zu—
Händig, dafjelbig heruß ze gebenn“, von den Deputaten ab—
42
Ichlägigen Beiheid erhalten Habe. Der Rat las die Geneigt-
heit heraus, nachzugeben, und jhidte den Deputaten Han
nad Beuggen. Friedrich von Homburg erflärte ſich tatjächlid)
bereit, fi) gütlich zu vergleiden. Han hatte aber feine Voll-
madt, etwas zuzufagen oder abzufchlagen. Er gab feinen
Anſpruch auf und verlegte fih aufs Bitten, der Rat möchte
Doch den ſchweren Kojten bedenfen, „jo ic) dajelbit zu Buß
angewendt ond mir mit einer ziemlidhen bawſteuer für alle
Anſprach zu Hilff fomen“. Die Höhe der Steuer überläßt er
den Herten von Balel. Es war vergebens. Und doch hätte
das Ordenshaus das Geld fo notwendig brauden können.
Der Bau des Pfarrhaujes in Buus war zwar vollendet,
aber die Koſten waren noch nicht bezahlt. Die Arbeiter
drängten. Selbſt wenn er es nicht gewollt hätte, wurde der
frühere Pfarrer von Buus, Matthäus Merk, der nad) einem
Aufenthalt von fünf Sahren in Württemberg den Weg ins
Bafelbiet zurüdgefunden und feine Aufgabe im benachbarten
Gelterfinden gefunden Hatte, in die Sache Hineingezogen.
Seine alten und neuen Pfarrfinder, denen der Komtur die
Schulden nit bezahlte, wandten fih an ihn und er nahm
fi ihrer an. Sein Patron beſchwerte ji über ihn in Baſel,
fand aber fein Gehör. Anfangs Februar 1548 waren die
Schulden noch nicht bezahlt. Merk trat wieder für feine Schuß-
befohlenen ein. Der Rat jhidte den Deputaten Han nad)
Beuggen. Nach feiner Nüdfehr wurde ein Bote zum Komtur
gejandt, der Rat hoffe, es werde dem Komtur nicht mißfellig
jein, daß Mattheus das Korn angreife und damit die Schulden
bezahle. Wenn aber der Komtur das Korn behalten und ohne
weitern Aufſchub die Schulden abtragen wolle, möge er es
dem Ueberbringer anzeigen. Nun brad) der Tangverhaltene
Unwille los. Er ſchrieb an den Rat: Herr Mattheus habe jih
wiederholt in Baſel beſchwert, daß ihm die Schuldner nad)
laufen, damit er fie bezahle. Er habe zu wiederholten Malen
den Pfarrer aufgefordert, daß er Rechnung ablege. Er habe
aber nichts getan und die Perſonen nit genannt. Er habe
43
ihn aufgefordert, nach Beuggen zu fommen; es jei nicht ge—
ihehen. Zum NUeberfluß habe er dem neuen Pfarrer von
Buus bei feinem Leibe verboten, wenn jemand Korn kaufen
wolle, etwas zu geben. Wie aber fünne er die Schulden be=
zahlen, wenn man ihm das Seine vorenthalte?
Der Pfarrer Habe jo nah nad) Beuggen als nad) Balel.
„Sol er mein muß und prott in feinem leipp haben, vnd fol
mid) alfo mit vngrundt der warheit dargeben vnd ſich alſo
gang vngehorſamlich gegen mic) vnbeſchulter wyß erzeigen,
jo wil mir nit gelegen fein, ine ferer vff meiner pfarren zu
getulden.“ Er folle jih bis auf fünftig Johannis um eine
andere Pfrund umfehen. Es ftehe feinem treuen Diener zu,
lo jeinen Herrn zu verſchreien. „Darzu jo lajt er mir mein
pfarhuß infallen oder in füllen, wie ich bricht bin.“ Der Rat
dachte nicht daran, den Pfarrer zu entlaſſen. Dagegen gab
er ihm Gelegenheit, in Gegenwart der Deputaten die Red
nung feines Einnehmens und Ausgebens, das Haus Buus
belangend, zu geben. Allein dem Komtur war es beihwerlidh,
fie anzunehmen. Er verlangte, daß Merk die unbezahlten
Schulden jpezifiziere, jie jeien aufgenommen oder ander ver:
dient Geld, „wieviel oder wem aud wie es verdient, wer
die perjonen feien“. Der Komtur wolle dann mit den Leuten
handeln. Allein auf diefe Weife wären ſchwerlich die armen
Leute zu ihrer Sache gefommen. Die Schulden wurden daher
aus den Einfünften des Ordenshaujes direkt regliert, wie
aus der folgenden Aufſtellung erſichtlich ift:
„Frücht, jo zu Normandingen, zu Buß onnd zu Gelter-
hingen dem Commenthür zu Büden zugherend, doruß die
dulden, jo über den buw zu Buß vffgeluffenn, bezallt jollen
werden.
Sn dinfel 1° ıxxxx iii viernzel ii viertel
In haber ıx viernzel ii viertel
Daruff Hand im die Deputaten vß dem kilchengut fürgefegt tut
I xxvß.“
44
Mer könnte es nicht verjtehen, wenn der Komtur am
Buufer Pfarrer feinen Aerger auszulafjen ſuchte? Der Komtur
war nämlich verpflichtet, dem Pfarrer von Buus vier Saum
Mein zu geben. Nun gab der geijtliche Herr den Auftrag,
daß der Pfarrer künftig feinen Wein „by der Maß“ einziehen
jollte. Der Rat von Bafel, dem dieſes kleinliche Vorgehen
berigtet wurde, hielt dem Komtur feine „Treuflucht“ vor
und verlangte, daß er den Wein wie bisher Tiefere, da die
neue Drdnung „ein mübjelig Ding und aud) dem Manne nicht
geziemt“. Der Komtur mußte fi) fügen. Er gab überhaupt
den Wideritand auf. Am 23. Januar bat er, nachdem er 5%
abbezahlt hatte, no einmal um eine Beijteuer an die Bau-
fojten des Pfarrhaufes, das ihm fo viel Mühe und Arbeit und
Abgang feines Ordenshaufes gefojtet hätte. Der Nat erlieh
„rei“ den Reit der Schuld. (9. Februar 1551.)
Zange Zeit erfreuten fi) die Buufer Pfarrer des un:
geitörten Genujjes ihres Einfommens. Es beitand in 48
Viernzel Korn, 25 VBiernzel Haber, 4 Saum Wein, 16% 2
2 5 in Geld, 150 Wellen Stroh, 4 Jucharten Ader, 6 Stüd
Matten; zu Buus ein Haus und Hofitatt mit famt einer
„Scheuren zu rindvieh, rollen ond ſchweinen zugerichtet“. Die
Pfarrwechſel vollgogen ji ohne Anjtand. Erſt neunzig Sahre
ſpäter traten neue Konflifte auf.
Es war während des dreikigjährigen Krieges. Rhein:
felden jtand im Mittelpunft der Friegerifchen Bewegungen.
Auch die Umgebung war von den Kriegsleuten gefährdet. Der
damalige Komtur Heinrich Schent von Caſtell eröffnete dem
damaligen Pfarrer von Buus, Nilolaus Agricola, daß er
ihm feine 4 Saum Wein wegen der Kriegszeiten nicht mehr
von Magden liefern fönne, er folle fie von Buus, Gelterfinden,
Hemmifen und Ormalingen erhalten. Agricola wollte ſich
aber dazu nicht verjtehen, „weilen jolche wein etwaß geringer
uls der Magdter“. Der Komtur betonte, daß er felbft den
geringern Wein trinke, und Agricola mußte zunächſt nad
geben.
45
Nach feinem Tode beflagte ſich der Sohn Friedrich, da-
mals Pfarrer von Rotenfluh, beim Landvogt und verlangte
eine Entſchädigung. Diejer verfügte, daß der Komtur „förder-
lit auf jeden Saum Wein 18 Z Gelds zu bezahlen“ habe.
Da aber der Komtur die Zahlung verweigerte, ließ Yriedrich
Agricola auf die Zehntfrüdte Arreit Iegen. Außerdem aber
ftellte er nod) eine Korderung von 38 3 für Baufolten. Der
Komtur madte zwar geltend, daß der alte Agricola die
Summe ohne fein Wiſſen verbaut habe, mußte aber gleichwohl
die Forderung begleichen.
Der neue Pfarrer, Philipp Cellarius, Hatte bei feinem
Aufzug aud allerlei Wünfche. Aber der Komtur hatte feine
Luſt, fie zu erfüllen. Die erſte Baurehnung fiel zum Er-
Ihreden groß aus, fo daß der Pfarrer zu feiner Entjhuldigung
die Bemerkung mitlaufen ließ, „Daß er feines Herren Bor:
fahrers Haußgefindths Unachtſamkeit, Tiederlichfeit ondt faul-
heit bei abgang viler nothwendigkheiten beym wenigiten fi
nichts vermöge“. Am 29. Mai 1649 wandte ſich der Komtur
flagend an den Rat in Bajel. Er Habe ſchon 165 7 verbaut
und noch fei des Bauens fein Ende. Zudem verweigere der
Pfarrer Cellarius aud den Wein, der ihm in Tenniten an-
gewiejen ſei. Bei jo ſchweren Zeiten follte doch der Kollator
bei Bauten mindeſtens angefragt werden. Er bat den Rat,
den Arreit aufzuheben. Der Rat zog erſt Erfundigung ein,
aus was für Urjachen der Dbervogt den Arreſt bewilligt habe.
Als er fie erhalten Hatte, gab er den Deputaten Auftrag,
Agricola, „weilen fie ohnedies mit ihm zu fchaffen haben, all-
hero vifs förderlichſt“ zu bejcheiden und ihm ernitlich eines
und das andere vorzuhalten und ihn aufzufordern, ſich mit
dem Komtur zu vergleihen. Der Vergleich wird jchwerli
zuguniten des Ordenshauſes ausgefallen fein. Denn die Des
putaten ftanden auf Seite des Pfarrers.
Ein Jahr fpäter jtarb Cellarius. Sofort wählte der
Komtur Ulrich Thurneyfen nad) Buus und meldete dem Rat,
daß er laut Vertrag vom Jahre 1535, nachdem der Rat den
46
Vorgänger gejegt Habe, den neuen Pfarrer gewählt Habe.
Allein der Konvent der Pfarrer berichtete, daß jeit 1593 immer
der Rat die Pfarrei Buus bejeßt habe, madte wie gewohnt
einen Dreiervorihlag, in welchem Thurneyjfen übergangen
war, und der Rat wählte aus den dreien Jakob Gernler.
Sm Sabre 1665 follte der Chor der Kirche erweitert
werden. Der Komtur hatte die Baupflidt. Er ſuchte fi
aber zu entlajten, indem er an den Rat das Begehren ſtellte,
daß das Holz vom Farnsberg ohne feine Koften geliefert
werden möchte. Dagegen anerbot er fi, 2000 Ziegel von
Beuggen unentgeltlich zu liefern. Der Bau ging diesmal
ohne Anſtände von Itatten.
Die größten Schwierigkeiten hatte Pfarrer Jakob Leucht.
Als er im Jahre 1680 vom Komtur zum Pfarrer von Buus
berufen wurde, war das Pfarrhaus fon fo fchlecht, daß es
faum mehr zu bewohnen war. Ueber 50 Jahre lang war
außer dem notwendigiten Flickwerk fait nichts gemacht worden.
Bis zum Jahre 1691 wurden dem Pfarrer vom Schaffner des
Drdenshaujes das für den Unterhalt ausgelegte Geld regel-
mäßig zurüderitattet. Dann aber wollte fich der Komtur des
Pfarrhauſes nit mehr annehmen, indem er fih auf einen
alten Vergleich berief, den er gefunden Hatte.
Bald nad) feinem Aufzuge in Buus verlangte Leucht vom
Komtur, daß fein Pfarrhaus, das in trauriger Verfaſſung
fei, in Stand gejtellt und die Kirche, welche für die drei Ge—
meinden zu Elein fei, vergrößert werde. Der Rat war erjt
nicht abgeneigt, zu entjprehen. Als es ihm aber ſchien, daß
die Frage der Erweiterung der Kirche zu Buus in eine allzu
große Weitläufigfeit gezogen werde, gab er dem Obervogt
auf Farnsburg Befehl, fih nah Buus zu begeben, die Ge-
Ihworenen und Beamten zu vernehmen, ob eine Erweiterung
notwendig fei und, wenn ja, wie und wie Hoc ji) die Koſten
belaufen würden. Der Rat ſah vorerjt von einem weiteren
Borgehen ab. Allein der Komtur bradte nun ſelbſt die Ver-
47
Handlungen wieder in Fluß. Der Zufall wollte es nun, daß
im Sahr 1692 in Winterfingen ein Pfarrer eingeführt worden
war, ohne daß er dem Komtur präjentiert worden wäre, und
der Pfarrer von Gelterfinden ziemlich viel baute. Das ver-
anlaßte den Komtur, durch feinen Bevollmädtigten Dr. Fatet
in Gegenwart des Schaffners im Frühjahr 1693 feine Be-
ſchwerden mündlich dem Stadtichreiber Dr. Faeſch vorzutragen,
dag in Winterlingen die alte Ordnung nicht objerviert worden
fei, daß er in Gelterfinden innert zwei Jahren „bey oder
vber 300 7°“ bezahlt habe, daß Bajel an die Koiten des Pfarr:
hausbaues in Buus aud) beitragen follte, da man ſich mit
dem einen Pfarrhaus in Buus behelfe, während früher zwei
gewefen jeien, von denen Bafel das zu Maiſprach zu bauen
gehabt hätte. Der Stadtjchreiber fühlte fih nicht veranlaßt,
dieſe Fragen vor den Rat zu bringen, jo lange fie nicht eigent:
lich aktuell waren. Es Jollte bald anders fommen.
Leucht war es müde geworden, dem Komtur feine Be-
gehren zu unterbreiten, da er doch nicht gehört wurde. Er
wandte fih nun darum am 6. September 1693 unmittelbar
an den Rat und bat um Erweiterung der Kirche und Re—
paratur des Pfarrhaufes. Zur Begründung teilte er mit:
am vergangenen Herbitfommunionstag jei es norgefommen,
„dag abermahlen das junge Bold in währendem gebätt auß
mangel plaßes einanderen Hin und her gejtoßen, mit hödjter
ärgernuß die verfamblete Gemeind in ihrer Andacht zeritöret,
Die auſſer der Kirchen ſich befindende mit ſchwätzen ihre Zeit
zugebradt, ia wegen allzu engen Plabes die zum Tiſch des
Herrn gehende fi mit gewalt haben durdtringen müllen“.
Mit was für Frucht er zu Kalt: und Bettagen ermahnen
Tann, da das halbe Volk der drei Gemeinden wegen Plab-
mangel ausgeſchloſſen ijt, jei wohl zu ermeljen.
„Das allhiefige Pfarrhauß betreffend,“ führte der Pfarrer
weiter aus, „weil 9. Commenthur nun bald ein gantes Jahr
nichts mehr reparieren lafjen, ift jo bawloß, daß es bald nicht
48
mehr zu bewohnen, und müljlen die meinigen, wo einiges
Regenwetter einfalt, bald aller orthen daß eintringende
Regenwaſſer in den Gemaden auffaljen, durch weldes unß
an unjerem Haußrath ſchon Hin und wider auß Mangel der
Materialien großer Schaden zugefügt worden“. Der Komtur
fandte nun aber feine Klagepunfte ſchriftlich dem Rate ein.
Bisher feien bei Bejegungen in den drei Gemeinden jeweilen
Bräfentations: oder Refommandationsihreiben nad) Beuggen
geihidt worden, wie aus den zwei Kopien, welde der
Schaffner beigelegt Hatte, erjichtlich fei. Der Nat möchte es
fünftig wieder jo halten. Der Pfarrer von Gelterfinden jollte
angehalten werden, fünftighin nichts unnötiges zu bauen.
Das Nötige bejorge die Kommende. Der Pfarrer von Buus
wolle die Kirche erweitern und den Komtur zur Kontri-
buierung der Koften heranziehen. Allein der Komtur fei als
Kollator nur fhuldig, den Chor zu bauen, „an deme ganz
fein Breiten jei“. Der Stadtichreiber Hatte ſofort dem
Schaffner feine Meinung auseinandergejet. Es ſei ein
großer Unterfchied zwiſchen Präſentations- und Rekomman—
dationsſchreiben. Zu letztern fönne man fi ohne große Dif-
Tifultät herbeilajien. „Waß aber die eritern betreffe, jo jeye
bei den 9. Euangeliichen beider religionen ohnitreirig, dag
Die iura sacrorum vnd beitellungen der pfarrpfrundten ohn-
mittelbar dem Landesherrn zujtändig ſeye, es möchte gleich
collator jeyn, wer da wolle.“ Man müſſe dem Pfarrer eine
Behaufung Ihaffen, darin er wohnen fönne. Ueber den Ber:
trag von 1535 habe er stante pede nicht antworten fünnen.
Entweder fei er durch einen andern aufgehoben worden oder
per non observantiam niemals „in feinen Kräften“ erwadjen.
Am 31. Sanuar 1694 wurde die Beſchwerde im Rate ver-
leſen, und der Stadtfchreiber Dr. Faeſch erhielt den Auftrag,
mit den Herren Advofaten zu reden, was für eine Antwort auf
die Begehren Beuggens gegeben werden jollte. Die Pfarrer
follten angewieſen werden, ohne Vorwiſſen der Kollatoren
nichts zu bauen. Wenn ihnen aber dann Schwierigkeiten ge-
49 4
macht würden, fei es wegen nötiger Reparation oder Abſtat⸗
tung der Kompetenzen, follten fie fi) bei den Deputaten Rats
erholen.
Am 11. April 1694 wurde im Rat das Gutadten der
Suriften betreffend die Klagpunkte des Komturs verlefen.
Am 17. April wurde dem Geftetär des Ordenshaujes die
Antwort durch den Stadtichreiber eröffnet. Sie war ganz im
Sinne der Auffalfung des Stadtichreibers gehalten. Das:
ius praesentandi fei das Recht des Patrons, dem Biſchof oder
der Obrigkeit einen taugliden Pfarrer vorzufhlagen, damit
fie denfelbigen eraminieren und auf fein Leben inquirieren
und zum Pfarrdienſt fonfirmieren möchten. Es fei alſo ab—
jurd, wenn der Komtur meine, Bafel müßte präfentieren;
denn nicht der Bilchof präjentiere dem Patron, fondern um:
gefehrt der Patron dem Biſchof. „Die Evangelifden als
Territorialherren haben fi) bis dato niemalen Subjefte für
die Pfründen vorfchlagen laſſen.“ Zu refommandieren würden
die Herren nicht unmillig fein.
Der Bertrag vom Jahre 1535 fei niemals gehalten.
worden, fünnte darum aud) per non usum vel per non obser-
vantiam nit mehr gelten.
Was nun den Bau des Pfarrhaufes und der Kirche be=
treffe, jollte noch einmal jemand nah Buus gefhidt werden
und Augenschein einnehmen. Aber den Pfarrer von Buus
„in ſolcher prejthaften Hütte ferners zu laſſen, verbiete die
jelbftredende billigfeit“. Laſſe ji) der Komtur nit zum Bau
herbei, jo würde Bafel ihn an die Hand nehmen und aus:
dem Zehnten bezahlen.
Der Sekretär berichtete alles feinem Herrn. Bald dar=
auf fand fi) der Schaffner von Beuggen mit dem Werfmeifter
von Bafel in Buus ein, ohne fi) jedodh ins Pfarrhaus zu.
begeben. Da aber nichts geſchah, und wie die Deputaten am
10. Mai ſchrieben, „das Pfarrhaus immer in ſchlechteren
Stand geräth, daß der Pfarrer bald feinen Schermen mehr
50
hat“, ließen die Deputaten, „um nicht den gänzliden Ruin
und Einfall zu riskieren“, die Arbeiten verdingen. Dem
Komtur wurde gejchrieben, er möge es fih nicht verdrießen
laffen, die Koſten zu bezahlen. Die Arbeiten wurden be-
gonnen. Allein als man auf dem Farnsberge das Holz fällen
wollte, reflamierte der Obervogt, man [ollte das Holz auf
dem Yarnsberge auf allen Notfall für das Schloß vorbehalten.
Der Rat befahl, daß Obervogt, Pfarrer und Amtspfleger fi
verftändigten und die Frohnung wirklich vorzunehmen, da-
mit der Bau befördert werde. Bald madte man ih an die
Arbeit. Die Zunzger Hard mußte das Holz Tiefern.
Sn Beuggen begann der Sammer. Der Komtur erinnerte
in einem Schreiben vom 16. Juni, in weld traulidem und
freundnahbarlihem Verhältnis Bafel und die Kommende
Beuggen geitanden hätten, und verjicherte, wie glücklich er ſich
Ihäßen würde, wenn diefes Verhältnis fortgejegt würde, und
daß er jeinerjeits dazu bereit ſei. Allein die Deputaten hätten
dieſer Ablicht entgegengelebt, da fie entgegen dem Vertrage
vom Sahre 1535, den er in Kopie beilegte, „in puncto repa-
rationis des Pfarrhaufes zu Bus“ dem Vertrage jhnuritrads
zuwider, gleihjam vormundihaftsweije auf feine Rechnung
verdingt, ja jogar hätten verlauten lajjen, man werde feine
Zehnten der Koften halben ſchon zu finden willen. Er könne
nicht glauben, daß der Rat entgegen dem Vertrage einen fo
barten Schluß faſſe. Er fei bereit, alles zu Teijten, was ihm
immer mit raison zugemutet werden fönne.
Der Rat gab den Deputaten von dem Schreiben Kenntnis.
Die Deputaten zeigten ſich etwas gereizt. Der Komtur hätte
ihnen Antwort geben fönnen, ftatt an den Rat zu jhreiben.
Es war tatfählich [hwierig zu antworten. Der Vertrag von
1535 ſprach für das Ordenshaus. Dieſen Eindrud Hatten
auch die Deputaten. Es genügte alfo nicht, daß fie erflärten,
fie ließen den Vertrag an feinem Drt, obwohl fie ihn bei den
Alten nicht finden könnten. Denn entweder fei er durch einen
Vertrag vom Jahre 1548 aufgehoben oder aber verjährt. Der
51 4
Komtur fei pflihtig, das Pfarrhaus zu bauen, das habe nie-
mand anders gewußt.
Der Bau war unterdeilen begonnen- worden. Als. der
Pfarrer gefehen Hatte, daß Bajel ſich der Sache jo energiſch
annahm, hoffte er noch ein weiteres zu erreihen. Das Pfarr:
haus war aud zu klein, der Raum ſo beſchränkt, „aljo daR
ih auß mangel der gemachen meinen wenigen Haußrath und
Bibliothek die gante Zeit über meines allhiejigen Ministerii
habe ermangeln und zu Bajel in einer großen Kammern, von
welcher ih nun 14 Jahr lang iährlich eine Duplone Zink be-
zahlen müſſen, lajjen müjjen“. Die Deputaten famen aud
hier entgegen. Der Komtur erfuhr es, daß noch ein Stod
auf das Pfarrhaus gebaut werden jolle.. Er glaubte es nicht,
da ihm nicht eingehen könne, daß der Rat „auf ein jo ge-
tinges Yundament einen jo großen und gank unproportio-
nierten lajt auf meiner Commende Vnköſten ſetzen laſſen“
wolle. Er protejtierte am 25. Juni dagegen und erklärte,
„nie Angelegenheit vor das dermalen in Mergentheim ver-
fammelte Generalfapitel bringen“ zu lafjen. Der Rat fandte
nun eine Kopie des Rechtsgutachtens ab, der Komtur ant-
wortete noch einmal. Da jener zweite angebliche Vertrag
von 1548 von den Deputaten nicht habe aufgefunden werden
fönnen, fönne diefer den alten von 1535 aud) nicht aufheben.
Der Streit gehe nicht um die Bejegung der Pfarrei. Diejer
Punkt fei im Vertrag Har ausgeſprochen. Die Frage jei viel-
mehr die, ob er allein die Unterhaltungsfojten zu tragen
habe, und wenn ja, ob er auch jhuldig, das Pfarrhaus um
einen Stod zu erhöhen. Er proteitiert dagegen, daß, wenn
ein Unglüd gejchehe, er dann dafür auffommen müjle.
Die Bauten gingen rültig vorwärts. Das Gteinwerf
wurde Hinter dem Pfarrhaus gegraben. Am 29. Dezember
1694 fchiefte der Pfarrer Leuht dem „Schwager Werfmeifter“
in Bafel die Rechnungen über den Pfarrhausbau, damit fie,
wenn allenfalls im neuen Jahre eine Konferenz mit dem
Komtur jtattfände, bei Handen wären.
92
Die Baufoften für die Kirche betrugen 5788 16$ AJY
Die Ausgaben für den
Pfarrhausbau beliefen fih auf 8388 198 —JI
Scheurendachſtuhl 1532 14 6
Alte Baukoſten des Pfarrhauſes von
Leucht bar eingeſchoſſen 658 154 AL
105823 6$ 10%
Die Summe für den Pfarrhausbau wurde in den folgenden
Sahren dem Komtur von den Früdten in Gelterfinden ab-
gezogen.
Dem Pfarrer war es in feinem erweiterten Haufe wohl.
Als er dem Schwager Werfmeijter die Rechnungen einjandte,
wünjdte er ihm ein neues Jahr „der guten Hoffnung ge:
lebend, ihne neben guten Freunden bey annahendem Früh:
fing alhier zu jehen und deß neuen Baws genießen helfen“.
Sm Sabre 1768 wurden noch einmal vom Deputatenamt
größere Arbeiten an Kirhe und Pfarrhaus in Verding ge—
geben. Damals gab es feine Anjtände mehr.
2. Gelterfinden.
Die Kirhe von Gelterfinden mit dem zu ihr gehörenden
Hofe war ſchon frühe an den Biſchof gefallen. Daher hatte
die Kirche Maria zur Patronin. Wer fie dem Bilhof oder
dem Domkapitel geſchenkt hat, ob die alten Homburger, deren
Erben, die Froburger und Tierfteiner, je einen Hof in Gelter-
finden bejaßen, oder etwa der Kaifer Heinrid, in deſſen
Ehren die zu Gelterfinden gehörige Kapelle von Drmalingen
geweiht war, willen wir nicht. Soviel aber iſt gewiß, daß
im Sabre 1083 Biſchof Burdard dem neugejtifteten Klofter
St. Alban aud Güter in Gelterfinden jhenfte. Den Hof tat
der Biſchof den Grafen von Tieritein aus. Am 29. Suni 1330
war er im Belige Walrafs von Tierjtein, der ihn von feinem
veritorbenen Oheim Ludwig von Tierjtein, Schulmeijter zu
Straßburg, geerbt Hatte. Ob durch Abtaufh oder Kauf oder
Teilung zwijchen den beiden Tierjteiner Linien der Hof an
93
Sigmund II. von Tierſtein-Farnsburg gefommen ift, erfahren
wir nidt. Aber Tatſache tft, daß die Yarnsburger Linie den
Hof mit dem Kirchenſatz jpäter beſaß. Nad) dem Tode Gig:
munds II. verfauften am 7. Januar 1399 feine Witwe Verena
von Nidau und ihre Söhne Otto und Gimon den Hennen-
bühlhof ſamt dem Kirhenjag von Gelterfinden und dem
MWidum um 300 Gulden dem Deutjhhordenshauje in Beuggen.
Am 1. Februar 1402 bezeugte der Komtur von Beuggen,
Marquart von Baden, Otto von Tierjtein das Recht, den Hof
mit 300 Gulden wieder zu löjen. Allein am 24. Januar 1411
verzichtete der Tierjteiner auch auf diefes Recht um die Summe
von 100 Gulden.
Ueber 400 Jahre blieb der Kirchenjaß bei der Kommende
Beuggen.
Als die Reformation in Bafel durchgeführt wurde, war
Hans Jakob Löw, ein Drdensbruder von Beuggen, Pfarrer
in Gelterfinden. Nachdem im Fahre 1535 DOrmalingen zu
Gelterfinden gejchlagen worden war, wurde das Einfommen
neu geregelt, wie ein damaliger Bericht zeigt.
„Was dem priefter daſelbſt vonn Herren Comenthur zu
Büdhein järlids für fin alte nutzung oder corpus bikhar ge-
volgt hat. (?N):
Stem xx viernzel dindel
Stem u jom win onnd den winzehenden
Stem ıx 8 vom heumwzehenden, davon gibt er jerlichs
u 8 gen Büdhein und ı 8 v 4 dem pfarrherrn zu Rin-
felden.
Stem u viernzel von der firden, daran ift etwas ab-
gelöft, wie ich bericht, das vbrig nemen die firchenpfleger.
Volget was her Tacoben Löw als einem ordensglied von
eim huß Büdhein bis vff ein witern biheid mins herren
Zanntcommenthur worden vnnd gegeben ft
Stem xx v viernzel dindel
Stem x viernzel haber
Stem u ſom win.
54
Me volget ime von Normalingen, jo Durch die herren von
Bafel von noüwem gejpopft vnnd geordnet:
Item xiu viernzel dindel
Item vıı viernzel haber.“
Zum Schluß wird nod) bemerkt, daß dem Prieſter der
Garten genommen werden foll.
Obſchon im Jahre 1534 in Gelterfinden an der Kirche
allerlei verbaut wurde, ging es doch damals ohne Streit ab.
Auch der erite Pfarrwechſel vollzog fih glatt. Jakob Löw
war „ein geihidter Anatomikus“; wegen einer bejondern Be—
gebenheit mit einem Bettler wurde er von den katholiſchen
Kantonen verflagt. Im Jahre 1539 verließ er Gelterfinden,
fand 1541 in NRiehen wieder ein Amt, bis er im Jahre 1546
dem geiltlihen Stande den Nüden kehrte und vollends der
Heilkunde fi) zuwandte. In Gelterfinden war vom Rate in
Baſel „mit Vorwiſſen und Bewilligen“ des Ordensfomturs,
Matthäus Merk, auch Kenzler genannt, der bis 1535 Pfarrer
von Buus gewejen war und feitdem in feinem fchwäbilchen
Heimatlande jih aufgehalten Hatte, zum Pfarrer gewählt
worden. Im Blid auf den erniten Konflikt, in welchen Merf
wegen Buus mit dem Komtur geraten war, iſt es merkwürdig,
Daß während der vierzig Jahre, die er in Gelterfinden ver-
lebte, fein Anftand fi) mehr erhob.
Merk itarb im Sommer 1583. Der Rat wählte zu feinem
Nachfolger einen der tüchtigjten Pfarrer, Johannes Tryff.
Der Komtur erhob Einſprache gegen diefen Eingriff in feine
Rechte. Bei der Zehntenverleihung beitellte er den Ober—
vogt nad) Gelterfinden und redete vor dem Eſſen mit ihm.
Wie er vernommen habe, hätten die Herren von Bajel anitatt
des verjtorbenen Pfarrherrn einen andern verordnet und be-
ftätigt, während doch er die Kollatur befiße, und der Pfarrer
nidts als Holz und Waller von Bajel erhalte. Der Ober:
»ogt berichtete über die Unterredung nad) Bafel, und der Rat
ſchrieb am 13. Zuli an den Ordenstomtur Hartman von
Hallwil: er habe vernommen, daß er wegen Belegung der
90
Pfarrei „etwas inred zu haben“ vermeine. Er Habe wie
früher die Pfarrei durch feine Verordnieten bejegen laſſen.
Der Komtur möge fchriftlid berichten, ob und was er für
„Anſprach und Geredtigfeit des Drts zu haben“ vermeine,
Damit er fi) „der gebur nad) deſto bas“ verhalten fünne.
Der Komtur gab in aller Ruhe Antwort und ſprach die
Hoffnung aus, Bafel werde dem Drden in feinen Redten
feinen Eintrag tun. Der Rat fandte feinen Abgeordneten
nad Beuggen. Der Komtur legte die Urfunden vor, die bis
auf zweihundert Jahre zurüdgingen. Der Ratsbote fonnte
nichts einwenden, er mußte das Recht des Drdenshaujes an—
erfennen. Aber der Erwählte des Rates blieb Pfarrer.
Die nächſte Pfarrwahl vollzog ſich glatt. An Stelle Tryffs,
der 1587 nad St. Leonhard in Bajel berufen worden war,
wurde Konrad Lüßelmann gewählt. Am 27. Suli 1593
brannte das Pfarrhaus mit vier Firiten bis auf den Boden
nieder. Am 6. Auguſt madte der Rat von dem Unglüd Mit-
teilung an den Komtur und mußte den Pfarrer zugleich gegen
die Verdädhtigung in Schuß nehmen, als ob er der Urheber
des Brandes geweſen jei. Er ſprach zugleich die Vermutung
aus, daß böſe Buben daran jehuld feien und forderte den
Komtur auf, das Pfarrhaus jobald wie möglich wieder zu
bauen. Der Komtur war damals gerade in Ordensgefhäften
abmwejend. Nad feiner Rüdfehr verfügte er fi) nach Gelter-
finden. Die Klagen der Gemeinde, die ohnehin gegen ihren
Pfarrer erbittert war, fanden geneigtes Gehör. Denn der
Komtur antwortete nach Bajel: Ob das euer durch böje
Knaben oder aber „von liederlicher verwahrlojung deß Pfarr:
herrn oder jeines Gelindes“ aufgegangen fei, werde ſich ſpäter
zeigen.
Der Rat hatte bereits eine genaue Unterfuhung geführt
und die Unfchuld des angeflagten Pfarrers feitgeitellt.
Der Komtur mußte fih dazu verjtehen, das Pfarrhaus
wieder zu bauen. Er fam Mitte September nad) Gelter=
finden und traf mit dem Zimmermann die Vereinbarung,
56
daß der Neubau auf den Frühling begonnen werde. Da der
MWeg von Beuggen zu weit fei, bat er den Rat um 40 Stück
Holz. Baſel entſprach der Bitte und bedankte fih für das
tajhe Entgegenfommen. Der Vogt auf Zarnsburg erhielt
den Auftrag, Anweijung zu geben, wo das nötige Holz ge—
fällt werden follte. Der Neubau wurde ohne weitere Hinder-
niſſe durchgeführt.
Allein Lüzelmann war in Gelterfinden unmöglid ge=
worden. Der Rat Hoffte erit, der Unwille der Gemeinde
gegen ihn werde ſich wieder legen. Allein der Pfarrer jah
jelbjt ein, daß feines Bleibens in der Gemeinde nicht mehr
jet und meldete fih beim Komtur für die eben erledigte
Pfarrei in Buus. Der Rat gab am 2. Sanuar 1594 feine
Beltätigung.
Nach Gelterfinden berief er nad) dem Vorſchlage des An—
tiltes Grynäus, entgegen dem Wunſche der Gemeinde, die
um den bisherigen Verweſer gebeten Hatte, Martin Pfirter
von Zangenbrud.
Der Komtur jhlug aber Bernhard von Reinach vor,
der lange auf der Pfarrei feines Betters von Hallmil in
Gitterdorf gewejen war. Der Rat gab aber zur Antwort,
er hätte, bevor er das Schreiben erhalten Habe, bereits einen
Nachfolger gewählt, und fünne, da er bereits das Wort ge=
geben habe, ehrenhalber nicht mehr zurüdgehen. Dagegen
verjprad) er, jobald eine Pfarrei frei fei, Bernhard von Rei-
nad) anzunehmen. Wohl ſprach der Komtur dem Rate jein
Befremden aus, daß er den Pfarrer gewählt habe, während
doch Beuggen die Kollatur zujtehe. Denn als vor zehn Jahren
Bajel feine Boten nad) Beuggen gejandt habe, habe er ihnen
durch die alten Schriften fein Recht bewiefen. Der Rat aber
blieb bei feinem Beſchluſſe und erflärte, er wolle dem Ordens-
hauje an feiner Kollatur feinen Eintrag tun, aber er wolle
ih auch feine Prediger aufdrängen laſſen, die ihm nicht an-
genehm jeien. |
Martin Pfirter zog in das neue Pfarrhaus ein. Da die
57
Hofitatt famt dem Garten, auf der das alte Pfarrhaus ge-
Standen war, „od und wüſt“ Tag, zogen fie einige Gelterfinder
an ih. Zwar hatte Pfirter vom Komtur den Auftrag er:
halten, die Hofitatt wieder einzuhagen und zu nußen, und
der Rat Ihüßte den Pfarrer in feinem Rechte. Im folgenden
Sahre mußte der Komtur dem Pfarrer auch nod) eine Scheune
bauen. Er erhielt das Holz aus den Waldungen Baljels,
erzeigte ji aber dem Rate dadurch erfenntlid, daß er dem
Rate bei jeinem Hof Hagenbadh einen Kohlenhaufen, der
ungefähr neun oder zehn Wagen voll geben werde, brennen
zu laſſen verſprach, ja, jobald er weggeführt fei, noch einen
anjteden zu lajjen und in das Werkhaus nach Baſel zu liefern.
Saft Hundert Jahre lang war nun Ruhe. Am 26. April
1692 aber bejchwerte ji der damalige Pfarrer Wild beim
Rat in Bajel, „dag das Pfarrhaus fait ohne Dad, Die
Schütten ohne Bley ond Scheiben, die Thüren ohne Schlöſſer,
das Bauhhaus ohne Baudhöfen, das Haus ohne ©. v. Sekret,
der Keller vor dem Hauß draußen vnd hiemit faſt alles
Sedermanns Raub ift exponiert geweſen, alß ich ſolches be-
sogen habe, wie den auch nit nur meinen Herren Vorfahren
v. m. der Spedh auß dem Salt, fonndern auch ſchon mir in
jo furger Zeit Käß vnd Ankhen, Brodt vnd Wein auß dem
Keller nähtliher Weil in zimlider Quantität ift entwendet
worden“. Der Pfarrer hatte das Geld für die nötige Repa—
ratur ausgegeben, der Komtur aber wollte es nicht zurüd-
eritatten, mußte jedod, als der Rat ſich der Sache annahm,
nachgeben.
Noch einmal machte das Ordenshaus feine alten Rechte
geltend. Am 7. Mai 1777 war der Feldprediger im Regiment
des franzöſiſchen Oberſten d'Aulbonne, Johann Jakob Fäſch,
zum Pfarrer von Gelterkinden gewählt worden. Am 2. De:
sember Hatte er dem Komtur das Präſentationsſchreiben des
Rates überreidt. Da ſchrieb der Komtur am 11. Januar
nad) Bafel, daß er in den Dokumenten und Berträgen mit
Bajel gefunden habe, daB die Kollatur der Pfarre Gelter-
8
finden der Kommende ausihlieglid, jene von Buus „um:
wechslungsweije“ mit Baſel zuflomme. Der Rat lieh die Frage
jorgfältig unterfuden. Der Antiltes Merian, der Pfarrer
von Buus und der Vikar von Gelterfinden, von dem Wunſche
geleitet, in feiner Abhängigkeit von Beuggen zu jtehen, über-
fahen den wahren Tatbeitand, während der Ratsihhreiber
Brudner auf die entjcheidenden Urfunden Hinwies. Gleich—
wohl durfte der Rat am 7. März die Hoffnung ausipreden,
„man werde von Geiten der Kommenda Beuggen nichts neues
begehren, fondern es bei der alten Hebung bewenden Iajjen“.
Beuggen mußte in der Tat feine Anſprüche fallen laſſen und
nahm fie, als im Jahre 1793 Konrad Holzah Pfarrer in
Gelterfinden wurde, nicht wieder auf. Als die Pfarrei 1826
wieder frei wurde, war das Patronatsrecht bereits von Bajel
abgelöit.
3. Winterfingen.
Die Kirhe von Winterjingen gehörte ohne Zweifel ur-
Iprünglich zum föniglichen Hofe, der noch im Jahre 1360 als
Freihof Lehen Kaifer Karls IV. war. Das Patronatsrecht
löſte fih aber ab und wurde auf einen Hof in Maiſprach ge-
legt. Am 8. Mai 1196 war der Kirhenfag im Beſitz des
Stiftes St. Leonhard in Bafel, an weldhem Tage ihm Papſt
Göleftin III. den Beſitz bejtätigte. Allein jpäter erhob Kon:
rad von Oeſchgen Anſpruch auf das Patronatsreht. Der
Prozeß wurde am 25. Oktober 1234 zu feinen Gunjten ent-
Ihieden. In der Folge wußte der Bilhof von Bafel das
Patronatsrecht an ſich zu bringen, tat es aber Sigmund von
Zierjtein als Zehen aus. Diejer aber ſchenkte mit Zuftim-
mung des Bilhofs Gerhard am 6. Juli 1313 „den Kirdhen-
jag zu Winterjingen, der zu einem Hof in Meyſprach gehört,
den er von der Kirche zu Bafel zu Lehen — dem Deutſch⸗
ordenshauſe in Beuggen.
Der Komtur Lienhard von Stetten traf mit dem Prieſter
Rudolf Knobloch, als dieſer die Leutprieſterei von Winter⸗
59
fingen erhielt, am Donnerstag vor Michaelis 1466 folgendes
Abfommen: |
„So nimbt Herr Rudolf alles, was zu Winterfingen
vellet, daß dem Hauß Beudhen zuegehört, von der Kilch
Minterfingen, vnd davon foll er aud dem Hauß Beudhen
jährlichen geben dry vierenzel Dindhel auf Martini.“
Er Hat „auch das Hauß vnnd Scheur, jo zu der Pfrund
gehört in Paw vnnd in guten ehren zuehalten ohne eines
Commenthurs onnd des Haufes Beudhen Koſten onnd Schaden.“
Am Mittwoch) nad) Johannis des Täufers 1515 verfauften
Anna von Falkenſtein, Aebtiſſin des Klofters Olsberg, und
die Frauen und Herren des Kapitels St. Fridolin in Sädingen
Martin Nägelin, dem Kirchherrn zu Winterlingen, „vnjeres
bruderhofes zehenden, den wir zu Winterjingen gehabt, ge-
nannt bruderzehndten“ um 100 rh. Gulden. Am 27. April
1521 aber ſchenkte Nägelin diefen Zehnten dem Ordenshauſe
Beuggen, behielt ſich jedod) die Nußnießung fein Leben lang
und der Kirche Winterfingen das Recht vor, nad) feinem Tode
ihn um 104 Gulden wieder an ih zu faufen.
Nägelin muß bald darauf geitorben fein. Sein Nad)-
folger wurde Her Michel. Anfangs Januar 1529 verließ er
Winterſingen, da die Gemeinde entihieden zur Reformation
neigte. Nun jtellte ſich Jakob Schlamp (Eslampanus), bis
dahin Prieſter in Oberwil, aber evangelijh gejinnt, der Ge-
meinde durch Predigten vor und gefiel ihr jo, daß fie ihn zu
behalten wünjdte. Der Rat von Bajel empfahl ihn am
28. Sanuar dem Komtur von Beuggen, da ihm das Recht zu—
Itehe, die Pfarrei zu bejegen. Allein der Komtur jeßte einen
andern nad Winterlingen. Am 15. Februar wandte fi) der
Rat abermals nad) Beuggen. Er wäre wohl geneigt, den
Pfarrer zu dulden, „aber die gemeind vnd burjame dojelbit
will in gar feins wegs aldo nit liden oder haben. Solt er
nun vber iren willen vnd mit gwalt by innen verharren,
modt zu letit im ettwas von innen begegnen, das im zu
ſchwer wurde vnd ons ſeinet halben leyd were. Dar zu haben
60
ir jelb woll zu gedenden, wy Jich leyder allerley dyjer Zeit
zutreit, ond man den gemeinden vmb vermydung böjers vyl
(das etwan nit beichehen) nachlaſſen mus“. Wenn eine andere
Gemeinde frei werde, fei der Rat gerne bereit, fie dem Ber:
trauensmann der Kommende zu leihen. Jakob Schlamp blieb
in Winterjingen. Er verpflichtete fi, die Kirche von Winter:
fingen „mit göttlicher leer ond gotsdieniten zu verjehen, den
onderthanen vnd kirchgehörigen dajelbs das recht vnd war
gotswort vß newem vnd altem Tejtament aud) anderen dhrijt-
lihen jerübenten“ nad beitem Berftändnis und Vermögen
anzuzeigen. Das ilt nod die Sprade des Reformations-
mandates vom Jahre 1523. Er hat bis an drei Vierngel
Dinkel alle Einnahmen zu genießen, dagegen Haus und Geſeß
in Ehren zu halten ohne Schaden des Komturs.
Beim Tode follten alle verlajjene Habe und liegenden
Güter an Beuggen, als feinen rechten und nächſten Erben
zurüdfallen. Die legte Beltimmung wurde fpäter geitrichen,
nahdem am 1. April die Reformation durchgeführt worden
war. Denn |päter verfügt der Komtur wieder jelbit über die
Gefälle und Hatte darum aud wieder die Baupflidt.
Bei Anlaß der Kirdhenrehnung im Frühjahr 1549 Hatte
Pfarrer Schlamp den Deputaten eröffnet, daß das Pfarrhaus
„dermaſſen jo gar vnerbuwen vnd in abgang fommen ſye, das
er noch ein winther darinn zu enthalten, nit wußte”. Der
Rat erfuhte den Komtur, als der die Zehnten Habe, das
Pfarrhaus in Stand zu jtellen. Infolgedeffen wurde im Jahre
1552 zwijhen dem Komtur und dem Pfarrer ein Vertrag ge:
ſchloſſen, wonach dem Pfarrer der Bruderzehnten für drei
Sahre zugejagt wurde, der Pfarrer aber während jehs Jahren
für die Baufojten aufzuflommen Hatte. Schon 1555 wurde
aber der Vertrag dahin abgeändert, daß der Pfarrer für den
genannten Zehnten während der nächſten drei Jahre je fieben
Pfund an den Komtur zu zahlen Hatte. Dabei blieb es
längere Zeit. Denn im Jahre 1575 erhielt der Komtur nod)
diefe fieben Pfund. Der Pfarrer Hatte damals aber auch den
61
übrigen Zehnten, der Beuggen gehörte, zu nußen, gegen eine
Abgabe von 3 VBiernzel an das Ordenshaus. Dafür aber
hatte er Behaufung und Chor in Ehren zu halten. Das war
feine glüdlihe Abmadhung. Sie mußte zu Streit führen.
Sm Sahre 1592 gab Thomas Schorndorf feine Stellung
in Winterfingen auf. Der Rat wählte Heinrih Ott zum
Nachfolger, der 1589 Prediger auf Yarnsburg und gemeiner
Helfer in der Landichaft geworden war. Der Komtur wollte
nun aber von feinem Rechte, den Pfarrer vorzuſchlagen, Ge⸗—
brauch maden, und präjentierte dem Rate Bernhard von
Reinach, Pfarrer in Sitterdorf. Bafel gab aber feine Zu-
ſtimmung nit, da der Vorgeſchlagene etwas gegen den Rat
verunglimpft habe. Der Komtur madte einen neuen Vor—
ſchlag. Er empfahl Antonius Wei von Kilchberg. Allein
der Rat wollte auch von ihm nichts willen. Heinrich Ott
hatte, als er in den Dienft der Basler Kirche trat, einen
Revers unterjchrieben, daß er von ganzem Herzen das Dogma
von der Ubiquität des Fleiſches Chrijti, der leiblihen Gegen:
wart in, mit und unter dem Brot beim Tiſche des Herrn ver-
urteile. Er gehörte zu jenem gut reformierten theologiſchen
Nachwuchs, den Grynäus nahrüden ließ und dur den er
„Die Wiedergeburt der Basler Kirche“ herbeiführte. Der
Rat wollte ſich alfo feine Pläne vom fatholiihen Patron nit
durchkreuzen laſſen.
Schorndorf hatte das Einkommen lieber für ſich als das
Pfarrhaus verwendet. Der Nachfolger traf es darum in
einem traurigen Zuſtande an. Der Komtur aber wollte
nichts leiſten, ſondern wies den Pfarrer und die Deputaten
an den Sohn Schorndorfs. Dieſer aber beſtritt, daß er etwas
ſchuldig ſei. So geſchah die erſten Jahre nichts. Im Dezember
1597 beklagten ſich die Deputaten beim Rat, daß das Pfarr⸗
haus zu Winterfingen, „in welchem allbereit ein trem. füle
halben hernieder gejunfhen, ganz prefthaft vnd jo bawlos“
lei, daß der Einfturz des Haufes zu befürchten und darum das
Leben der Inſaßen gefährdet fei. Der Rat jandte Andreas-
62
Ryff zum Komtur mit der Bitte, ihn gütlic) anzuhören. Der
Komtur lehnte die Baupfliht ab und forderte den Rat auf,
ih an den Sohn Schorendorf zu halten. Der Rat madte
einen Verſuch, aber der Mann wollte nicht ſchuldig fein,
etwas zu leiften. Am 25. Januar 1598 wurde der Komtur
neuerdings aufgefordert, das Pfarrhaus zu bauen. Diejer
wandte ji nun aber an den Landfomtur und erhielt zu
Handen des Rates die Antwort, der Pfarrer von Winter:
fingen jolle das Pfrundhaus „nad befter feiner Gelegenheit
jetbit in feinen Eojten“ verbefjern. Die Angelegenheit mußte
jegt forgfältig behandelt werden. Am 13. März wurde die
Sache Dr. Samuel Grynäus zu bevenfen übergeben. Der
rechtsverſtändige Mann mußte dem Komtur im Grunde recht
geben, wenn er die Baupflicht ablehnte. Wenn der Komtur
den Zehnten einnehmen würde, dann müßte er auch bezahlen.
„Diweill aber der Pfarrherr den Zehnden vnd daz dem an—
bangt, alleinig innimmt“, und der Komtur nidts davon zum
Beiten habe, könne er eigentlich aud nicht zur Bezahlung an=
gehalten werden. Es fünnte darum dem Komtur nur nahe
gelegt werden: obwohl er in Winterlingen dur geringe Ein=
nahmen habe, jo Habe er um fo größere in der Herrihaft
Farnsburg, daß er den Bau wohl übernehmen könnte. Am
beiten fei es, durch Mittelperfonen zu verhandeln und den
Pfarrer zu veranlafien, einen Teil der Zehnten fallen zu
lajien. Der Rat mahte beim Komtur nod) einen Verſuch,
erreichte jedoch nichts. Denn der Komtur wandte ih nun
noch einmal an den Landkomtur im Elfaß. Diefer lehnte in
einem Schreiben an den Rat vom 3. Suni 1598 die Baupfliht
ab, ja er drohte, falls der Rat auf feiner Forderung beharren
wollte, fi) an jeine Majejtät den Kaifer zu wenden. Der Rat
lenkte ein. Ryff verhandelte nun mit dem Pfarrer und bradte
ihn dazu, daß er ſich bereit erklärte, jährlich neun Stüd fallen
zu laſſen, daraus er das Pfarrhaus felbjt bauen wolle. Der
Rat war nicht abgeneigt, das Anerbieten anzunehmen. Allein
nun trug Hans Schorendorf fein Haus als Pfarrhaus an.
63
Die Deputaten bejichtigten es, allein der Pfarrer ſelbſt wollte
nichts davon willen und jegte feine Meinung dem Rate per-
fönlih auseinander. Er anerbot fih nun, das Pfarrhaus
nah Notdurft zu bauen, „Doc da ihm der Zehnden ganz vnd
vngeſchmälert gelajjen werde“. Der Rat ließ es bei diejem
Anerbieten bewenden. Er ließ das Pfarrhaus von Grund
auf neu erbauen und lieferte auf die Bitte des Pfarrers das
nötige Holz für den Bau. Was vom alten Hauje gebraudt
werden fonnte, fand wieder Verwendung. Allein die Spar:
famfeit war zu groß, wie ſich |päter zeigen Jollte.
Heinri Ott, der bis zu feinem Tode im Jahre 1629 in
MWinterlingen blieb, Hatte nun mehr oder weniger Ruhe.
Auch unter Huldreich Meyer, der am 18. November vom Rate
tefommandiert wurde, fam es zu feinen Gtreitigfeiten. Um
jo mehr aber unter feinem Nacdjfolger, Johann Jakob Straßer.
Daß er der Bruder des Stadtichreibers von Bafel war, hat
dazu auch etwas beigetragen.
Pfarrer Straßer hatte gehofft, feine Stellung zu ver:
bejjern. Allein er erlebte glei) zu Anfang eine große Ent:
täulhung. Er erfuhr, daß nit der ganze Zehnten dem
Pfarrer zuftändig fei und daß das Land wegen der vielen
Waſſergüſſe nicht mehr fo ertragreid) fei, „daß über 100 Ju—
harten ganz nit mehr fünnen erbamwet werden“, und vieles
faum mehr den dritten oder halben Teil abmwerfe. Das Pfarr:
haus war in einem traurigen Zujtande, „war weder von
feuer noch waſſer ſicher, inmaßen das wajjer vom berg durchs
fundament folder geitalten ins hauß gedrungen, daß Die
küchen und wen man nicht bei zeiten fo tag jo nacht fchöpft
und wehrte, aud die jtuben davon hette mögen erfüllet
werden.“ Zudem waren „der ölterid), bünen, böden wänd
und anderes holtwerf zu grojjem teil faul mürb und brüdig
und fonderlih das vom alten haus zum newen anfangs ilt
genomen worden ...“ Die Scheune von Holz war nur mit
Stroh bededt und mußte neu gebaut werden... „Summa
mar in allem zugehörigen gebewen ein elendes wejen.“
64
Wenn aljo der Pfarrer daran dachte, zu bauen, fo war
es „fein Zujtbaute jondern ein Notbaute“. Er klagte erit
feine Not den Deputaten. Sie wiejen ihn an den Kollator.
Straßer reilte zum Komtur, der fi) Damals in Mellingen
aufhielt und erhielt die Bewilligung zum Bau, aud) den Auf:
trag, das Baumaterial herbeizufhaffen. Allein der Komtur
wurde nun von einem alten Ordensdiener, dem Schaffner in
Rheinfelden, darauf aufmerkſam gemadt, daß er nidts am
Pfarrhaus zu Winterlingen zu bauen jhuldig jei, „Ds daher,
weilen der zehnden dafelbit von einem Drdensprieiter da:
felbit erfauft worden fei“ und darum der Bau des Pfarr:
hauſes dem Pfarrverwejer zur Laſt falle. Der Sekretär des
Komturs beeilte fi), mitzuteilen, daß fein Herr nichts be-
zahlen werde und daß der Pfarrer mit dem Kauf des Bau:
holzes jtillitehen ſolle. Straßer Flagte wieder bei den Depu—
taten, richtete aber nichts aus; er wandte fih nun an den
Dberitzunftmeifter Brand. Diefer gab ihm die beruhigende
Verfiherung, wenn der Komtur verjprodhen habe, zu bauen,
müfje er jein Verjpreden aud) Halten. Straßer fünne das
Geld, das er in Händen Habe, vorläufig ans Pfarrhaus ver-
wenden. Straßer befolgte den Rat, mußte aber eine Obli-
gation unterjchreiben und fie 1657 wieder erneuern. Der
Bau wurde gleichwohl ausgeführt und der Pfarrer mußte
die Kojten bezahlen.
Sm Fahre 1651 war der Chor reparaturbedürftig.. Vom
Pfarrer und den Deputaten wurde nad) dem „gemeiner Land—
haft Capitel Protofoll“ behauptet, daß der Komtur die
Behaufung und das Chor in der Kirche in ziemlihem Bau
und Ehren erhalten müſſe. Allein der Komtur weigerte ſich,
nachdem der Bau vollendet war, die Koſten zurüdzueritatten.
Der Pfarrer Hatte nun aber ſchon feit zwei Jahren die drei
Biernzel Korn und fieben Pfund, welde er dem Ordenshaufe
‚abzuliefern Hatte, nit mehr erjtattet. Als er nun wieder
bei feiner Weigerung verharrte, jhrieb der Komtur erft an
Theodor Burdhardt und eine halbe Woche jpäter an die Der
65 5
putaten. Den erftern ließ er willen, Straßer fei von den
Deputaten angewiefen worden, folange nichts zu geben, bis
der Komtur fih zur Erhaltung des Chores verjtehe, und er-
innerte daran, daB vor fünfzig Jahren von Pfarrer Ott ein
ähnliches Begehren geitellt worden fei, allein der Pfarrer
habe das Pfarrhaus jelbjt bezahlen müſſen. Den Deputaten
aber erflärte er, daß die drei Viernzel Korn und fieben Pfund:
nichts anderes als eine NRefognitionsgebühr für die Kollatur
jeien und daß die Herren vernünftigerweife einjehen müßten,
daß er um ein fo geringes folde Koften wie die des Chors
nicht übernehmen fönnen, während der Pfarrer den ganzen.
zehnten habe. Der Pfarrer jandte nun aber den Deputaten.
ein Verzeichnis der Baufojten, die er feit feinem Aufzug in
Winterlingen bis zum Jahre 1653 „zu erbauung und ver=
befjerung“ des Pfarrhaujes erlitten Habe. Gie beliefen fi)
auf 571 Z 10 4. Der Pfarrer aber meinte, wenn ihm nit
die Auslagen erjtattet würden, wäre er „der arbeitjeligite
Pfarrer zu jtadt und land vor andern, denen alles, warn fie
nur ein ziegel ftoßen, ein jcheiben einfeßen oder ein baum
fügen lajjen, ja das minſte maden laſſen, wider erfeßet und
das geringite bezahlt wird“.
Die Deputaten fahen fih nicht veranlaßt, den Pfarrer
zur Herausgabe der zurüdbehaltenen Zinfen aufzufordern,
oder aud) nur nad) Beuggen zu antworten. Der Komtur
wiederholte darum am 20. Dezember feine Bitte, daß Straßer
die 9 Viernzel und 21 Pfund abliefere. Dasfelbe geihah am
23. September 1655 und 7. Dezember 1656. Die Sache wurde
aber auch dem Pfarrer läſtig. Er madte daher am 15. No=
vember 1657 den Vorſchlag, wie die Streitigkeiten zu Tiqui=
dieren feien, nämlich dadurd, daß dem Komtur die beweis-
lihen Urfunden zugeſchickt würden, damit er fie widerlege oder
gutheiße. Allein es ging vorerſt nichts in der Sache. Am 2.
Februar 1659 hatte der Rat feinem Schreiber wenigitens den
Auftrag gegeben, die Rechnungen des Schaffners von Beuggen
fih anzufehen und der Streitigkeiten fih anzunehmen. Die
66
Stage fam in Fluß, und Pfarrer Straßer fand wenigitens
Gelegenheit, nachdem er feit zwanzig Jahren unter diejen
verdrieklichen Streitigfeiten gelitten Hatte, und obwohl „er
der gebühr nach an rechten orten geklagt“, nicht an ein Ziel
gefommen war, dem Bürgermeijter Tohann Rudolf Wett:
ſtein „aus dem fundament“ zu berichten.
Er erzählte von feiner Enttäufchung, die er in Winter:
fingen erlebt hatte, berichtete, wie er nur ein Stüd Vieh habe
halten fönnen, fo daß er fein Erbe angreifen mußte, um
Land zu kaufen, und wie jeßt das Pfarrhaus neu gebaut
werden jollte, weil die Gefahr beitehe, daß der Dachſtuhl ein-
falle. Wenn er jet nod) diefen Notbau zum andern bezahlen
jollte, wüßte er nicht, woher er das Geld nehmen follte. Er
babe fajt fein Geld einzuziehen. Die Frucht fei ſchwer zu ver:
faufen. An Löhnen für Träger, Fuhrleute und Dreier
gingen von den 70 Biernzel 10 Biernzel ab. Er habe eine
große Haushaltung, fünne feine Söhne nicht bei ich haben,
müſſe fie vielmehr an andern Orten mit jchweren Koften
halten. Keinem Pfarrer jei es jehlechter ergangen; wenn er
die beim Salzamte obligierte Schuld zahlen müjje, jo gerate
er mit Weib und Kind in die größte Armut. Während
zwanzig Sahren habe er fi oft an die Deputaten gewandt,
mande gute Woche mit Kopieren von Urkunden verbraudt,
mit vielem Supplizieren und Gollizitieren es verſucht und
doch nichts erreiht. Darum erſuchte er nun den Bürger:
meijter, dafür zu forgen, daß die ausjtehenden Pfarrgüter
der Pfarr wieder zugejtellt würden, was gegenwärtig mit
den Zehnten nit richtig fei, in Ordnung käme und vor⸗
nehmlich daß vermöge uralter Dokumente der Komtur zum
Bau des Pfarrhaufes und des Chores angehalten werde und
ihm, was ausiteht, erjtattet werde. Längere Zeit ging in der
Sache nihts. Die Deputaten waren der Anficht, daß reifliche
Ueberlegung nötig fei. Man entihloß fih zu einer Kon
ferenz. Gie fand anfangs Februar ftatt. Der Romtur lehnte
die Pflicht, Pfarrhaus und Chor zu bauen, ab. Infolgedeſſen
67 6*
wurde Straßer aufgefordert, feinen Wechſel einzulöjen. Der
Pfarrer bat den Stadtihreiber und die Deputaten, man
möchte ihn doch dazu nicht zwingen. Die Deputaten verjudten
es noch einmal beim Landfomtur im Elfaß, eine Einigung
herbeizuführen. Allein über die gegenjeitige Verſicherung,
daß man den langen Streit beendigt wünfche, famen die Ber:
handlungen nit hinaus.
Das Salzamt madte aber jebt feine Yorderung geltend.
GStraßer wurde aufgefordert, das Kapital von 215 Z jowie
Die aufgelaufenen Zinfen zu bezahlen. Wieder jchrieb er an
Die Deputaten und den Stadtſchreiber, wie die Schuld mit
Gewalt von ihm eingefordert werde, „von den 356 Z, Io
mir zugehören, höre ich nicht ein einiges Wort“. Der arme
Mann! Geit zwei Jahren war er „mit jchwerem leib-
geprälten“ behaftet. Er follte eine Kur maden und dazu
eine weite NReije unternehmen. Go bat er die Deputaten um
Geld, damit er feine Gejundheit wieder erlange.
Mie die Deputaten geantwortet haben, ijt nicht mehr zu
erfahren. Ein Jahr fpäter ſtarb Straßer. Der Komtur madte
bei den Erben die 33 Viernzel und 70 7 die im Laufe der
zehn Sahre aufgelaufen waren, geltend, Tieß ji) jedoch her—
bei, aus jonderem Reſpekt zum Rate und „aud) pflantung
vndt erhaltung Triedliebender nachparſchaft willen vndt gan
feiner jeyuldigfeit“ die Schuld gänzlich aus Gnaden zu erlajjen.
Die Deputaten waren aber des Gtreites müde. Die
Kommende Beuggen konnte zum Bau des Pfarrhaufes nit
verpflichtet werden. Sie ſchlugen darum dem Rate vor, das
Deputatenamt möge in Zufunft die Baupflidt des Pfarr-
haufes übernehmen, dagegen follte jedes Jahr vom Zehnten
ein Teil zurüdbehalten werden. Wenn etwas namhaftes am
Chor zu bejjern fei, follte der Komtur von den Deputaten be:
langt werden dürfen. Der Rat gab am 27. April 1661 feine
Zuftimmung und feßte einen Zehntel als Quote fejt, weldhe
der Pfarrer an das Deputatenamt zu leilten hatte. Das war
ein Glüd für den neuen Pfarrer.
65
Denn Ihon im folgenden Jahre gab das Pfarrhaus zu
Auseinanderjegungen Anlaß. Der Pfarrer wünjhte nämlid
eine Vergrößerung durch Erhöhung. Der Werkmeiſter von
Bafel riet aber nad) genauerem Zufehen davon ab, in diefen
alten Steinhaufen mehr Geld zu fteden, empfahl vielmehr
einen Neubau. Auch die Scheune follte neu gebaut werden.
Die Deputaten gaben ihre Zuftimmung, der Bau wurde durch—
geführt und fojtete 1200 Gulden. Seitdem beftritt das De-
putatenamt aud) die Unterhaltskoiten.
Nur noch in einem Punkte fam es zwiſchen der Kom:
mende und den Deputaten zu Konflikten. Im Sahre 1676
mußte die Kirche vergrößert werden. Der Chor verihwand.
Der Umbau Eoftete 3209 Z 5 ß 4 d. Gemäh dem Beſchluß
vom 27. April 1661 wurden 200 Gulden — 250 Z dem Komtur
auferlegt. Die Deputaten hatten nämlich ausgerechnet, daß
der Chor 750 Z gefojtet Habe. Da aber das Deputatenamt
9 Biernzel, der Komtur aber drei Viernzel beziehe, jo Jollte
er an die Summe 250 % letiten.
Am 24. Juli 1680, vier Jahre nad) dem Bau, beichwerte
ih der Komtur gegen dieſe „neuerliche“ Auflage. Als zwei
Sahre jpäter ein neuer Komtur, Friedrih von Baden, Die
Zeitung des Ordenshaufes übernahm, ging er mit dem Rat
einen Vergleich ein. Am 15./25. September 1682 erklärte er
fich bereit, 130 Gulden zu bezahlen. Am 18. Mai des Tolgen-
den Jahres löſte er fein Verſprechen ein.
Unter Samuel Grynäus mußten an der Kirche an dem
Drt, „wo das Chor gewefen“, einige Reparaturen vor
genommen werden. Der Pfarrer fonnte, da „eigentlid fein
Chor“ mehr in der Kirche war, den Komtur mit Not dazu
bringen, daß er die halben Koften bezahlte. Als aber im
Sahre 1765 an Pfarrhaus und Kirche allerlei gebaut und ein
Voranſchlag von 300 7° vorgelegt wurde, da überließ der Rat
es den Deputaten in Zuftimmung zu ihrem Bedenken, die Re:
paraturen vorzunehmen.
69
Zu einem weitern Streite ijt es in der Folge nicht mehr
gefommen.
* *
% .
Baſel hatte ſchon früher Anftrengungen gemacht, die Kol:
Iatur der Gemeinden Buus, Gelterfinden und Winterlingen
in feinen Befi zu bringen. Aber alle früheren Anläufe
waren erfolglos verlaufen. Erjt nachdem Beuggen durd die
Beitimmungen des Prekburger Friedens vom 26. Dezember
1805 aufgehoben und als Staatspomäne erflärt worden war,
fam nah langen Verhandlungen mit Baden am 21. April
1821 ein Vergleich über die Zehnten und Bodenzinsgefälle
zultande, welche Beuggen und Säckingen in der Landidhaft
hatten. Man einigte fih auf eine Summe von Fr. 13 325,
welche Bajel an Baden zu bezahlen hatte. Durch dieſen Los—
fauf wurde Bajel „in das Eigentum des vollen Rosfaufs-
Kapitals aller Zehndengefälle nebit Interejjen, welche die
ehemalige Kommende Beuggen in den bafeliihen Gemeinden
Buus, Gelterfinden, Tednau, Ormalingen, Hemmifen und
Winterfingen zu beziehen hatte, förmlich eingefebt, jowie hin—
gegen Bafel von nun an alle auf dieſen Zehndengefällen ruhen-
den Lajten“ übernahm. Der Vertrag wurde am 8. Juni 1821
von Baden und am 2. Juli 1821 von Bajel ratifiziert.
%* *
*
Als die Landſchaft ſich von der Stadt trennte, fand ſie,
was die Kollatur der Pfarreien betraf, reinen Tiſch vor.
Denn ſämtliche Pfarreien wurden vom Rate beſetzt. Es be—
durfte nur eines Federſtriches, um die Beſetzung der Pfarreien
in die Hand der Gemeinden zu legen. Am 21. September
1832 wurde im Namen des ſouveränen Volkes vom Landrat
beſchloſſen, daß die „Gemeinde ihren Seelſorger durch ge—
heimes Stimmenmehr zu wählen hat“, eine Beſtimmung,
welche durch das Geſetz über die definitive Beſetzung der
Pfarrſtellen vom 6. Dezember 1832 ihre Beſtätigung erhielt.
70
Kin Basler Stammbud
des 17. Jahrhunderts.
Don Paul Meyer.
Der Braud, Stammbüder zu führen, anfänglid) eine
Liebhaberei adeliger Kreije, gewinnt mit der Zeit von den
Fürſtenhöfen aus Durch die Gelehrten Eingang in den Reihen
der Akademiker und hernach aud in patriziſchen und an-
gejehenen bürgerlihen Kreijen, und es findet in ihnen die
Kenntnis der antiken Literatur, bejonders der Philojophie
und Poeſie, ihren Niederſchlag. Später bemädtigt fi) dieſes
Brauchs vornehmlich die jtudierende Jugend, um zäh daran
Teitzubalten. Man nimmt alsdann das Stammbud) mit auf
Reifen und auf fremde Univerjitäten, nachdem ji) vorher die
alademilden Lehrer ſowie VBerwandtihaft und Freundichaft
darin verewigt haben, man jtellt an die Spite die Ahnen:
galerie als wertvolle Legitimation in der Fremde, wo es
ebenfalls den Namen der Profeſſoren und andermweitiger No—
tabilitäten offen ſteht. Als wertvoller Zierat dienen die
manderlei häufig von Berufsmalern eingetragenen Wappen.
Diefem allgemein üblichen Brauch folgend übergab am
1. Mai 1603 Jonathan Meyer zum Hirzen, jeit 1581
mit Anna $roben, der Tochter des Buhdruders A m:
brojfius Froben und der Salome Rüedin, in
zweiter Ehe feit 1589 mit Elijabeth Helwedin ver:
heiratet, in feinem 46. Lebensjahr feinem dreizehnjährigen
Sohn Jakob ein Album oder Stammbud, weldes zunädjlt
das Andenken an die um Staat und Wiſſenſchaft verdienten
71
Vorfahren und alle diejenigen bedeutenden Zeitgenojjen in
Ehren Halten follte, mit denen ihn fein fünftiger Lebensweg
allenfalls in Berührung bringen würde. Die Bekanntſchaft
mit den rühmliden Leiltungen feiner Ahnen ſollte den
Stammbudinhaber anjpornen, es jenen wenn immer möglidy
gleichzutun. Es wird der Süngling dem Gegen des Aller-
höchſten anbefohlen, und es haben denn nun zwei Jahr—
hunderte lang, von 1603 bis 1803, Fürſten und Mdelige,
Männer von Anjehen nah Stand oder Willenihaft den
jeweiligen Inhabern des Stammbuds in allerhand der Bibel,
den Kirhenvätern, den Schriftitellern des Altertums, ans
gejehenen zeitgenöjliihen Autoren oder aud der Weisheit
von der Gaſſe entnommenen Sprüden und GSentenzen ihre
Zuneigung und Freundſchaft, ihre Hochſchätzung und Aner-
fennung in deutſcher, lateinijcher, griechiſcher, hebräiſcher und
ſyriſcher, ferner italienifcher, franzöjiiher und englifcher
Sprade ausgeſprochen. Dffenbar haben die vielen Namen
von zum Teil jehr gutem Klang dem jeweiligen Inhaber des
Stammbuds auf Jeinen Reifen und Aufenthalten im Aus—
land die wertvolliten Dienjte geleijtet, ihm mande Türe in
erwünjchter Weije geöffnet und ihm beijer gedient als der
beſte Reifepaß.
Nach der Sitte der Zeit benüßte Tonathan Meyer ein
angejehenes Buch jener Zeit und durchſchoß es mit weißem
Papier (daher der Name Album) zum Zwed der Ein-
fragungen.!) Das Bud, deſſen er ſich bediente, find die 1580
in Genf erjhienenen „Scones“ von Calvins Nachfolger
Theodor Beza, eine mit Borträts und Emblemen ausgeitattete
Sammlung von lateiniihen Biographien hervorragender,
meijt um die Reformation hochverdienter Männer geiltlihen
und weltliden Standes. Bevor das Stammbud) in andere
Hände fam, wurde es mit einer Art FYamiliengenealogie
1) Vgl. Alb. Burdhardt über das Stammbud) des $. 3. Grynaeus
im Jahresbericht des Vereins für das Hiftor. Mufeum für das
Jahr 1897.
72
verjehen, in welder die Stellung der einzelnen Yamilien-
glieder zur Reformation nachdrücklich betont war. Alle
übrigen Eintragungen find ganz willfürli im Buch herum
zerftreut. Leider Hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahr—
hunderts ein Buchbinder beim Neueinbinden das Stammbud)
derart beichnitten, daß Häufig Name, Datum und Ort der
Eintragung zum Teil unlejerlih wurden und zum Teil
gänzlich verfchwanden.
Unjer Stammbud) beginnt mit einem Pentagon, defjen
Spiten von dem Sprud aus dem Brief an den Timotheus
„Gottſeligkeit ijt zu allen Dingen nüße“ in griechiſcher Sprache
umgeben Jind; die in den fünf Dreieden und im Fünfeck ent-
haltene Schrift iſt zum Teil verblihen und nicht mehr zu ent—
ziffern. Wenn dem jungen Jakob Meyer vom Vater und
andern Berwandten die Ahnengalerie recht deutlich vor Augen
gehalten wurde, jo geihah dies, abgejehen von einer Dolis
Ahnenjtolz, die wohl mit unterlief, in der Hauptſache gewiß
in der Erwägung, daß eine angejehene Ahnenreihe dem her—
anwachſenden Geſchlecht auch moraliſche Verpflichtungen auf-
erlege, denen nachzukommen Chrenjade des Nachwuchſes fein
müſſe. Zur nähern Orientierung mag ein furzer Rüdblid
auf Sonathan Meyers Ascendenz dienen.
Der um die Körderung der Reformation verdiente
Bürgermeijlter Jakob Meyer zum Hirzen (1470—1541)
hinterließ einen Sohn, den Ratsherrn und Deputaten Joh.
Rudolf Meyer (f 1565); deſſen Sohn aus der Che mit
Agnes Billing war Jakob Meyer (1524—1604),
Pfarrer zu St. Wlban; diejfer Hatte als Schüler zu den Füßen
der Reformatoren Oswald Myfonius und Simon Grynaeus
in Bafel, des Capito, Bucer und Hedio in Straßburg und:
des Melandthon in Wittenberg gefejlen. 1955 trat er in
Predvigtamt und Chjtand. Anderthalb Jahre amtierte er
in Arlesheim, hernad) im marfgräfifchen Britberg bei Sulz—
burg, alsdann in Muttenz und feit 1564 zu St. Alban in
Bajel. Nahe Verwandtihaft verband ihn noch ganz be-
73
Tonders mit den Neformatoren; denn feine Gattin Agnes
Capito war die Tohter des Straßburger Neformators
Wolfgang Fabricius Capito aus der Che mit
MWibranda von Rofjenblatt (1504-1564), die in
erfter Ehe mit Magijter Ludwig Keller aus Bajel, in
zweiter feit 1528 mit Defolampad, in dritter mit Ca—
pito und endlid mit dem Reformator Bucer vermählt
war. Die Söhne von Pfarrer Jakob Meyer zu St. Alban
find Sonathan Meyer (1557—1633), der Stifter unjeres
Stammbuds; Wolfgang Meyer (1577-1653), Dr. theol.
und Profeſſor der Dogmatik und ebenfalls Pfarrer zu St. Al—⸗
dan, befannt durch fein unerjchrodenes Auftreten als Dele-
gierter des Basler Rats an der Synode zu Dordredht 1618,
und Jakob Meyer; diefe Brüder find mithin mütter-
licherjeits Enfel des Reformators Capito. Ihre verwandt-
Ihaftliden Beziehungen zur Familie Bucer gereichten ihnen
injofern zum Vorteil, daß jie einen von König Eduard VI.
zu Ehren des Reformators Bucer, der nad) jeiner Ver:
treibung aus Straßburg eine Theologieprofejlur in Cam:
bridge erhalten Hatte, ebendajelbjt am Collegium Gt. Trini-
tatis gejtifteten Yreiplag beanjpruden durften. In der
Tat hat Wolfgang Meyer 1597—1601 in Cambridge jtudiert
und iſt als Lizentiat der Theologie von dort heimgefehrt,
und es hat Jonathan Meyers Sohn Jakob fpäter den Weg
ebendahin auch gefunden. Jonathan Meyer jcheint in
jungen Jahren in der Welt herumgefommen zu fein. Durd)
feine erjte Gattin Anna wurde er der Todtermann des
Buhdruders Ambrofius Srobenius, eines Entels
des großen Sohannes Frobenius; Ambrofius betrieb mit
feinem Bruder Yurelius Erasmus %robenius
das Buchdrudergewerbe; fie gaben u. a. den Talmud heraus.
Höchſt wahrſcheinlich war Jonathan Meyer in der Froben—
ſchen Offizin tätig, was aus ſeiner Grabinſchrift bei Tonjola
hervorgeht und wofür auch der Umſtand ſpricht, daß ein Bud)-
druder „Janus, ein welſcher Truder, jo by inen zu Eſchemer
74
vorstatt damalen“ war, feiner Tochter Salome zu Gevatter
ſtand. Durch feine zweite Frau, Eliſabeth Helwedin, trat
Sonathan Meyer neuerdings in Beziehungen zu Buchdrucker—
familien, nämlid in folde mit Mihael Sfengrin aus
Brudjal und mit Thomas Guarinus aus Tournay,
die beide in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in her—
vorragender Weile an der Blüte der Basler Budhdruder-
funft Anteil Hatten. Uber jpäter löſte Sonathan Meyer
feine Verbindung mit dem Drudereigewerbe, die ihm immer:
hin zu wertvollen perjönlichen Beziehungen mit Gelehrten :
nah und fern mag verholfen haben. Yortan begegnet er uns
als Klingentalfhaffner; auch ſcheint er der Grabinſchrift zu—
folge jih mit Witwen: und Waifenangelegenheiten befaßt
und dabei öfter den Dank diefer Welt geerntet zu haben.
Mir wenden uns nun zur Hauptperjon des Stammbudjs,
zu Sonathans Sohn Jakob Meyer (1590—1622), über
dellen Leben wir leider, die fpärliden Notizen des Stamm-
buchs abgerechnet, nur dürftigen Beſcheid willen. Bereits
wurde erwähnt, dak dem Dreizehnjährigen der Bater das
Album zu fleikigem Gebraud) ftiftete. Schiden wir voraus, daß
Jakob, nahdem er in Bajel und auswärts Theologie ſtudiert
hatte, Gemeinhelfer wurde, dann nochmals auf Neijen ging,
nachher Pfarrer in Großhüningen und 1618 zu St. Elijabethen
in Baſel wurde und als folcher erft 32jährig jtarb mit Hinter:
laſſung eines Sohnes Jakob aus feiner Ehe mit Urjula
Rüdin. Diefer Jakob wurde ſpäter Pfarrer zu St. Beter.
Jakob muß, den Eintragungen im Stammbud zufolge, ein
begabter, jtrebjamer und Tiebenswürdiger und nicht zuletzt
auch, getreu dem Borbilde des Vaters ein jehr gajtfreund-
licher junger Mann geweſen fein, was in jener |hwülen Zeit
der Gegenreformation und des feine Schatten porauswerfen-
den dreißigjährigen Kriegs, welde die Protejtanten aller
Länder zu engern Zuſammenſchluß trieb, für den Einzelnen
von größtem Wert fein und auch eine gewiſſe Garantie für
die Sicherheit des Reiſens bilden mußte. Empfehlungen von
3
Staatsmännern und afademifhen Lehrern, von Studien-
freunden und Kollegen haben dem jugendlichen Reiſenden
gewiß mande Freundihaft vermittelt. Im allgemeinen iſt
Jakob gewiß nur dem Braude feiner Zeit gefolgt, wenn er
auf Reifen ging, und der Trieb, fi) in der Welt umgujehen,
den geiltigen Horizont zu erweitern, und nicht zuletzt das
Snterefje am Schickſal der Glaubensgenojjen in Deutjchland,
Holland, England und Frankreich wird feine Schritte geleitet
haben; ob er dabei etwa aud aus höherm Auftrag irgend-
welhe Miflionen übernahm, vermögen wir nicht zu beant-
worten, doch wäre es nicht undenkbar.
Verſuchen wir nun, ein annähernd anjhaulides Bild
vom Inhalt des Stammbuds zu gewinnen. Gelbjtveritändlich
find die Berjonalia ſehr vieler darin genannter Leute nicht
mehr jeltzuitellen, jo daß fie für uns verihollene Größen
bleiben. Den Reigen der Dedifanten eröffnet am 31. März
1603 in bezeichnender Weile ein Hugenott, Eſa ye du Maß
de Montmartin, der fpäter in feinem Baterland die
Würde eines «depute general des églises protestantes> be-
fleidete. Er verdankt manderlei im Haufe Jonathan Meyers
genoſſene Gaſtfreundſchaft, anerkennt das viele in Bajel
empfangene Gute und freut ji, im Stammbud) hievon Zeug—
nis ablegen zu dürfen, bevor er der gaftlihen Rheinſtadt den
Rüden fehrt. Diefem Dank ſchließt fih Bruder Gedeon
de Montmartin unter Berufung auf die von Horaz
(Carm. III. 2.) gepriejene «virtus» (Virtus recludens in-
meritis mori caelum negata tentat iter via?) etc.) an zum
heiligen Gedenfen einer Heiligen Freundſchaft; er jehreibt:
«Viro nobilitate familiae, rerum experientia, eruditionis va-
rietate ac acerrimi denique judicii prudentia, d®°. Jonathae
Meyero, haec in sacrum sacri amoris amicitiaeque aeternum
conservandae monumentum, ponebam Basileae.»3) Die Be-
2) Mannhafter Sinn läht Würdige nicht dem Tod,
Gen Himmel führt er fie die verbotne Bahn.
3) Dem Manne von vornehmer Abkunft, Kenntnis der Dinge,
Vielfeitigfeit des Wiſſens, Klugheit und Scharflinn des Urteils,
76
ziehungen zu diefen beiden Hugenotten haben wohl fpäter,
1609, dem 19jährigen Jakob Meyer Zutritt zu den Hugenot-
tifhen Kreifen Frankreichs verfhafft, wonon fpäter. Eben:
falls 1603, im Juni, wendet fih an den jungen Jakob unter
ſchmeichelhaften Verbeugungen vor feiner Ahnenreihe der mit
Sonathan Meyer befreundete Andreas Knuthius Ve-
lalius aus Belgien. Er nennt ihn Schüler und empfiehlt
ihm, das geijtige Erbe jeiner Väter treu zu pflegen. Und nun
folgen fi die Dedifationen in rafcher Reihenfolge. Unterm
8. Suli 1603 figuriert, von Züri) aus datiert, als Widmung
ein nicht ungelhidt folorierter Kupferitich, das Porträt von
Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, und auf der andern
Geite das Iorbeerumrahmte Bullingerihe Wappen, welches ich,
jo verlichert fein Enkel Heinrih Bullinger, Pfarrer
und Profeſſor in Zürich, «adpingi curavi in gratiam summae
spei adolescentis Jacobi Meyeri»,*) offenbar nad) der land—
läufigen Sitte durch einen der damals zahlreichen Berufs:
wappenmaler. Aus eben der Zeit (Suli 1603) jtammt das
vom Profeſſor der hebräiihen Sprade in Zürid, Kaſpar
Waſer, gejtiftete Wappen feines Schwiegervaters Joſias
Gimler (1576), das nun neben Simlers Porträt in Bezas
„Icones“ gereiht wurde. Endlich folgt no vom November
1603 von der Hand des Ihon genannten, damals nahezu
achtzigjährigen Großvaters, Pfarrer Satob Meyers zu
St. Alban, Enfels der Wibranda NRojenblatt, Schülers und
Zodtermanns von Capito, eine großväterlich treue und liebe-
volle Anſprache:
«In sui recordationem
Tui aedificationem
j us avus octogenarius ppe
Nposuit J acob⸗
* o nepoti tredenario. 280)
Herrn Jonathan Meyer ſchrieb ich dies in Baſel als heiliges Denk—
mal heiliger Liebe und auf ewig dauernder Freundſchaft.
| 4) Habe malen lafjen für den jungen zu höchſter Hoffnung be-
rechtigenden Jakob Meyer. nt
5) Zu feinem en > ‚Ihrieb / der nahezu ahtzigjährige
Deiner Erbauung dies Jakobd Bei breigeßnjährigen.
nte
17
Vom 12. Suni 1604 ftammt eine hübſche Wappendedt-
fation: „Dem zühtigen und gelehrten Jüngling Jacob Meyern
dem jüngern, feinem lieben Bettern, verehrt dißes, feinen
dorby zuegedenden“ Seb. Spörlin (1560—1644). Das
lorbeerumfränzte Wappen Spörlin:Hagenbad iſt von vier
weitern Wappen flankiert, nämlich denjenigen der Yamilien
Krug, Stofar, Brand und Birr (?). Jakobs Lehrer
Beatus Helius (1552—1620), Pfarrer, Profejjor und
jeit 1590 Gymnaſiarcha in Bajel, weit den Schüler an Hand
des Kirdhenvaters Lactantius auf den Weg des Guten:
«Hanc admonitionem de dupliei via vitae humanae ego, prae-
ceptor tuus Joann. Beatus Helius, amandissime Jacobe, ideo
adscribere volui, ut subinde, relictis vitiis, ad virtutem ad-
spirares, spretisque terrenis, ad caelestia contenderes.>®)
Der nächſte Eintrag begegnet uns erft vier Jahre fpäter,
1608, und fommt ſamt beigefügtem Wappen von Joh.
Safob Grajfjer, <sacri palatii et consistorii imperialis
comes, eques auratus, civis romanus>?) und iſt von Bafel
datiert. Im Herbſt 1608 erlangte Jakob Meyer den Ma-
giftergrad; «publicum in Academia patria 'testimonium Ma-
gisterii obtinuisti ... .»8) bemerft in feiner Widmung fein
Lehrer Amandus Polanus a PBolansdorf am
15. Dftober 1608, der überhaupt auf den jungen Theologen
einen bejtimmenden Einfluß ausgeübt zu Haben fcheint. Po—
lanus, in frühern Jahren als Hauslehrer von Göhnen aus
adeligen Familien in Genf, Bajel und Heidelberg tätig,
neigte als Theologe jtark zu calviniftifhen Meinungen; er
unterhielt lebhafte Beziehungen zu den Proteftanten Eng-
6) Diefe Ermahnung über die zweierlei Wege des Menſchen⸗
‚lebens, wollte id, dein Lehrer Joh. Beatus Helius, dir, mein lieber
Jakob, deshalb Hinjchreiben, damit du fortan das Böſe meiden und
nad) dem Guten ftreben, das Irdiſche veradhten und das Himmlijche
aufſuchen möchteſt. |
?) Kaiſerlicher Pfalggraf, gefrönter Ritter, Bürger des rö⸗
; milden Reichs (deutjcher Nation).
8) du Haft an der heimiſchen Univerfität das öffentliche Zeugnis
der Magiiterwürde erhalten.
78
lands und dürfte daher Meyers Entſchlüſſe zu den Reifen in
die Hugenottifchen Kreife Frankreichs, nach Zondon und nad.
Cambridge in den Jahren 1608—1612 jtarf beeinflußt haben.
Anfangs November taudt Jakob Meyer zum eritenmal.
in Baris auf, und am 5. November trägt fih Sir George
Carew, der von 1605—1609 daſelbſt engliſcher Gelandter
war, mit folgenden Worten ein: «miles, serenissimi Britan-
niae Regis legatus Residuus apud Henricum quartum Galliae
Regem.»?) Zwei Tage jpäter folgt mit dem Motto: «Adhuc
mea messis in herba est»10) Nathbanael Taylor, Sere-
nissimi Regis Britanniae Legati apud Henricum Quartum
Galliae regem verbi Dei minister.»1!) Hier aljo unzwei-
deutige Beziehungen zu einem englifhen Theologen, wobei
wir uns erinnern, daß an der Univerlität Cambridge das
Bucerjhe Stipendium Angehörigen der Meyerihen Familie
zugänglich war, und daß jomit allerlei Fäden von hüben und
drüben die Protejtanten, wie überhaupt aller Länder, jo aud
im bejondern Englands und der Schweiz miteinander ver:
Banden, und aud) deutlich wahrnehmen, wie leicht eine Wid-
mung im Stammbud die Brüde zu einer neuen ſchlug und.
fo als Empfehlung in der Fremde diente. Bald treten nun
mehr und mehr die Beziehungen zu den hugenottiſchen Kreijen
Frankreichs hervor, die in Bafel und fpäter in Paris an-
gebahnt wurden.
Am 24. November 1608 begegnen wir Meyer in Saumur
(Dep. Maine et Loire), wo jeit 1593 eine protejtantifche, aus
Frankreich, Großbritannien, Holland und Deutichland ftarf be—
ſuchte Afademie blühte. Hier öffnete das auf Schritt und Tritt
auf die Reformation Hinweifende Stammbud feinem Inhaber
ohne Zweifel mandes Haus. Mit dem tapfern Wahlfprud
9) Ritter des erlaudten Königs von England, refidierender
Gejandter bei König Henri IV. von Franfreid).
10) Noch jteht meine Ernte im Wachstum.
1) Rath. Taylor, Diener am Worte Gottes beim Gejandten
des Königs von England am Hofe des Königs Henri IV. von Frank—
reich. |
79
<Arte et Marte»12) verewigte ji) darin der in Baſel vermut-
lich nicht unbefannte, mit Schwert und Feder allzeit eifrige
Borlämpfer der Hugenottenfahe Philippe de Mornay
(1549—1623). Er war 1565 von Genf nad) Heidelberg ge-
mury‘ 22" Nouwnf 1
FOADIBW 4 Ne
teilt, da liegt Doch die Vermutung nahe, daß er Baſel be-
rührt und hier Befanntichaften geſchloſſen Habe. «Amicitiae
perpetuae symbolum adscripsi Salmurii.»13) Mornay war
in |pätern Jahren Gouverneur der Stadt Saumur, und fein
geringerer als Voltaire anerkannte ihn «comme le plus ver-
tueux et le plus grand homme du parti protestant». Wieder:
um von Saumur datiert, aber erſt vom 13. Sanuar 1609,
jo daß wir uns Meyer als Zuhörer der dortigen Afademie-
»orträge werden voritellen dürfen, ijt eine Widmung des
Rektors Magnifitus der Akademie Saumur und protejtan-
tiſchen Geiſtlichen El(?)odius a Trodhoregia. Die
vielen Sinn: und Wahljprühe, mit denen fih Meyers
Freunde im Stammbud) einitellten, find großenteils religiöfen
oder zum mindeiten erniten Inhalts, was ſich bei der dama-
ligen Spannung der Weltlage und der allgemeinen Unjider-
heit in Dingen des Glaubens zur Genüge erflärt. So ſchreibt
‚der genannte Geijtliche: «Ornatissimo Adolescenti, cum vir-
tute ac pietate claris orto majoribus, tum in optimam spem
assurgenti, In amicitiae perennis, ut spero voveogue, sym-
12) rei: mit Rat und Tat.
3) Ein Wahrzeichen immerwährender Freundſchaft habe ich in
Saumur bingejchrieben.
80
bolum, hoc manus mentisque meae monumentum raptim ad-
scripsi.»!%) Zudem ermahnt er ihn: «Age nunc quod mori-
tionalfynode in Vitré (öftlih) von Rennes) präfidierte. Vier
turus agas.»!5) Am 10. April 1609 folgt — Meyer hat offen:
bar die Hugenottifchen Städte des Landes bereilt — ein Sprud
des Geiltlihen von Thouars (im Süden von Saumur),
Andre Rivet (1572—1651), eines berühmten Theologen
und fchneidigen Gegners der Katholifen, der 1617 die Na-
Tage fpäter erinnert Sacques Merlin (1566—1620) von
Aupella, d. h. La Rocelle, der in Genf ftudiert und fi aud)
in Bern und Zürich umgejehen hatte, und feit 1589 ein be-
liebter Prediger in La Rocdelle war, feinen Beſucher in grie-
Hilher Sprade an das Abſchiedswort des Apoftels Paulus
an die Ephejer (Ap.geſch. 20. 35), Daß Geben jeliger ſei als
Nehmen, und fährt mit dem Stoßfeufzer fort: «O curas ho-
minum! O, quantum est in rebus inane!>1®)
Nun folgt eine längere Baufe; erit am 2. Oftober treffen
wir unjern Wanderer in Vitré, wojelbjt der Paſtor Joh.
Barentius mit dem Sinnjprud: «Plus sis quam
videri velis»!17) fih im Stammbud) verewigt, wobei er
an die in Bajel gepflegte Freundſchaft mit dem unterm Jahr
1603 erwähnten und mit ihm verwandten Gedeon de
Montmartin anfnüpft und wohl deshalb aud die Rüd-
ſeite des von letterm beichriebenen Blattes benüßt. Gleich—
zeitig ermahnt er feinen Beſucher, nit Hinter dem Ruhm
der Borfahren zurüdzubleiben und den wahren Adel nicht auf
eine erlauchte Ahnenreihe, jondern auf hervorragende Geiftes-
tühhtigfeit abzuftellen. «Qui enim imagines in atrio ex-
ponunt et nomina familiae suae longo ordine ac multis stem-
14) Dem von feinen durch Tüchtigkeit und Frömmigkeit be=
rühmt gewordenen Borfahren abjitammenden, hocdhgeehrten, zu
ſchönſter Hoffnung beretigenden Tüngling habe ich als Wahrzeichen
einer, wie ich hoffe und gelobe, unvergänglidhen Freundſchaft diefes
Andenken an meine Feder und Gelinnung in Eile aufgejchrieben.
15) Tue heute ſchon, was du im Sterben tun wirft.
16) Ach, die Sorgen der Menjchen, wie eitel find doch die Dinge!
m) MWolle mehr fein als jcheinen.
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matum illigata flexuris in prima parte aedium collocant noti
magis sunt quam nobiles.»18) Wohl bei diefem Aufenthalt
Meyers in Frankreich dürfte die Eintragung eines hoch—
angejehenen Namens erfolgt fein, bei welcher Teider feine
Angabe weder des Ortes nod) der Zeit beigefügt ift, nämlich
des „ECharlesde Colligny fils de l’amiral de Colligny
amy de sa patrie Andelot.». Das Basler Neujahrsblatt von
1897 erzählt, wie die Tochter des Admirals Coligny, Witwe
eines ebenfalls ermordeten Hugenotten, mit ihren Brüdern,
dem fiebzehnjährigen Franz und dem zehnjährigen Karl d’An-
delot Ende Dftober 1572 auf allerlei Ummegen nad) Bafel
fam und fi hier etwa ein Jahr lang aufhielt. Meyer wird
wohl in Bajel Gelegenheit gefunden haben, ji) mit Empfeh-
lungen an den Sohn des berühmten Hugenottenführers zu
verjehen. Er führte den Titel eines Marquis d'Andelot,
Icheint aber im übrigen dem Namen jeines Vaters feine Chre
gemadt zu haben, indem er den Ruf eines «ambitieux in-
trigant, indigne du nom qu’il portait» hatte.
Aus dem Sahre 1610 beligen wir zwei Eintragungen von
fürftfider Hand, leider ohne genaue Angabe von Ort und
Datum. Die eine jtammt von „Ludwig Yriedrid
Herzog zu Württemberg“ und ilt von dem Wahl-
18) Denn wer die Ahnenbilder im Vorraum aufhängt und die
Namen feiner Familie in einer langen durch viele VBerzweigungen
des Stammbaums verbundenen Reihe im anjehnlidhiten Teile des
Haufes aufitellt, ift mehr befannt als vornehm.
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ſpruch «secundum voluntatem Deis19) begleitet; der Schreiber
war ein Bruder des als Glied der proteitantiihen Union
(1608) befannten Herzog Johann Friedrich von
Württemberg (1582—1628) und erhielt von diefem 1617
durch Vergleich die Herrihaft Mömpelgard und die eljäfliichen
Gebiete. Auf der Reife von und nad) der genannten Stadt
lag Baſel am Weg, und an Anlaß, Belanntihaft zu fchließen,
ı 6'105.
19) dem Willen Gottes gemäß.
83 6”
fehlte es nit. Die andere Widmung verdantte der Stamm-
buchbefiger dem Landgrafen Mori von Heffen, der das
Motto <«Consilio et virtute»20) empfiehlt; als Teil-
nehmer am großen Freiſchießen des Jahres 1605 war er eine
in Bafel wohlbefannte Größe. Die nun folgenden Aufzeid)-
nungen zeigen uns Meyer vom Mai 1610 bis zum Juni 1611
in London und vom September 1611 ab wieder in Bafel,
wo er als Gemeinhelfer amtierte. Im Mai 1610 trägt
fih in London mit dem Wahliprud) <quo fata vocant>?!)
ein jemand ein, von dejlen Unterſchrift («Haec scribebat
Londini mense mayo Daniel... .»22) wir danf der Un—
geihidlichfeit des Buchbinders nur den Bornamen mit
einiger Sicherheit zu enträtfeln vermögen. Merktwürdiger:
weije hat jih der Stammbudinhaber in zwei Fällen aud)
diejenigen im Album notiert, mit denen er Dedifationen aus-
taufhte. Bon der nämlichen Schrift finden wir als Adreſ—
faten notiert einmal «Wolfgango Gulielmo Neweburgico
Pr(incipi?) a secretioribus consiliis et apud Regem Angliae
legato»23) und das andremal «Joanni Friderico Wirten-
bergensi D. a secretioribus consiliis et apud Regem Angliae
legato». Auch fonit traf Meyer in London mit deutſchen
Glaubensgenofjen zujammen, fo mit einem Benjamin
Bumwindhaufen de Wallmerod (Naſſau), ferner mit
Hipp’sa Collibus (1561—1612), der es mit dem fchnei-
digen Wahlſpruch hielt „Grad zu trifft am beiten.“ Er war
der Sohn eines NRefugianten aus Wlejlandria und nahm im
legten Viertel des 16. Jahrhunderts als Profejlor der Inſti⸗
tutionen und ſpäter als Stadtſchreiber und Nachfolger
Wurſtyſens in diefem Amt eine angefehene Stellung in Baſel
ein, fcheint aber ein ftreitbarer und unruhiger Kopf gewejen
20) Mit Klugheit und Tapferkeit.
21) wohin das Schidjal ruft.
2) Dies jchrieb zu London im Monat Mai...
23) Dem Wolfgang Wilhelm von Neuburg, geheimem Rat und
Gejandten beim König von England (lebte 1578—1652 als Pfalz-
graf und Herzog von Neuburg und Berg-Tülid).
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zu fein, der es nirgends lange aushielt. 1591 trat er in die
Dienite Chrijtians von Anhalt, der ihn zu politiiden Miſ—
fionen, u. a. aud nach England, braudte. Und dann fchliekt
fh no) am 3. Auguſt 1610 Johannes Sfytte, der Ge-
landte Karls IX. von Schweden am englifhen Hofe an mit
dem mahnenden Sinnſpruch «Rien sans paine>.
Die nächſte Eintragung erfolgte erjt am 13. Mai (alten
Stils) 1611 in Cambridge dDurh „Sohbannes Young
Scoto-Britannus“, einen Theologen, der feine Denkſprüche in
bebräifcher, griechilcher und lateiniſcher Sprade zum beiten gibt.
Die uns vorliegenden Widmungen enthalten hödjt felten eine
perjönliche Note, die ein erwünfchtes Licht auf die Veranlaffung
der Dedifation, auf die momentanen Berhältniffe, Pläne oder
Abſichten des Stammbudjinhabers würfe, auch) bewegen fie jich
häufig in ftereotypen Redensarten, die einer dem andern
nadiärieb, oder in hergebradten Komplimenten gegen den
Beſucher und feine Ascendenz; über die mit den Reifen ver:
bundenen Abſichten dagegen verlautet nichts, und wir müſſen
in Uebereinjtimmung mit den damaligen Sitten uns mit der
Annahme begnügen, Meyer Habe als junger Theologe und
überzeugter Proteſtant die auf der heimiſchen Aniverfität
begonnenen Studien und gefnüpften Bande der Freundſchaft
in Sranfreihs Hugenottilden und Englands hodfirdlichen
Kreijen weitergefponnen und jeinerfeits als Werkzeug dazu
gedient, auf perfönlidem Wege die Beziehungen der Prote—
ftanten untereinander befejtigen zu helfen. Die Gelegenheit,
die vielfach genoſſene Gaftfreundihaft reichlich zu vergelten,
itellte fich jpäter in weitgehendem Maße ein. Am 4. Suni
1611 gibt wiederum in London „Symeon Rutingius
ecclesiae Londino-belgicae pastor“ dem Domino Jacobo
Meyero zu bedenfen, daß «omnes humanae vitae molestiae
sunt aut praevidendae prudenter aut vitandae consulte aut
ferendae patienter.>22) Und Tags darauf fehreibt ſich der
24) daß alle Mühjal des Menjchenlebens entweder flug voraus-
gejehen oder vorjihtig vermieden oder geduldig ertragen werden
fann.
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„Medicus Londinensis G ul. Clement“ ein und erinnert
daran, daß «Non qui multa habet, sed qui nihil cupit, dives>25)
jei. Die nädhftfolgende Eintragung erfolgt im September 1611
Basileae Rauracorum durch einen Hieronimus Praetorius.
Es folgt nun das an Reifen und daher auch an Dedi-
fationen fruchtbarſte Jahr 1612. Es beginnt mit Widmungen
basleriider Freunde und Gönner, jo des Ratsherrn Joh.
Zucas Iſelin fenior, der einen horaziiden Vers nad
chriſtlicher Denkweiſe zurechtgeſtutzt Hat; ihm ſchließt ji
Ludwig Iſelin (1559-1612), Profeſſor der Inſtitu—
tionen, mit einer ſtark an das horaziſche (Carm. III. 3) «justum
et tenacem propositi virum>2®) anflingenden, aber gefhidt
in chriſtliches Empfinden umgebogenen, das unerjchütterliche
Gottvertrauen preijenden Strophe an. Am 23. März «post
reparatam mundi salutem>?7) folgt eine Widmung des Bel-
giers Henricus Scalidhius, der mit einem Sprud) des
hl. Augustinus aufwartet, und dann nod eine ſolche vom
31. März des Theologieprofejlors Sebajtian Bed, dem
Reilegefährten Wolfgang Meyers an die Dordredter Sy—
node. Und nun jtellt ſich Teßterer felber mit einer endlid)
auch einmal perjönlich gehaltenen Widmung ein. Er hat
als Oheim ohne Zweifel die Reijepläne feines Neffen nit
wenig beeinflußt und hätte wohl am liebiten, wenn die Ber:
hältnifje es gejtattet hätten, den jungen Theologen nad) dem
ihm von vierjährigem Aufenthalt Her wohl befannten Cam:
bridge begleitet. So begnügt er fi, feiner ungeftillten Reife-
ſehnſucht mit einem Hafjiishen Zitat Luft zu maden und zu
ſeufzen: «O si liceat sequi!»28) ;, er verfpriht dem jungen
Mann, ihn wenigjtens in Gedanken zu begleiten und hängt
noch folgenden Stoßjeufzer an: „Mit je größerer Freude du
an England denken darfit, deito größer iſt anderfeits meine
Niedergefchlagenheit; denn von alledem befomme id jeßt
25) Nicht wer viel bejißt, ſondern wer nichts begehrt, (ijt) reich.
260) Ein Mann des Redts und feinem Entſchluſſe treu.
=) nad) Erneuerung des Weltenheils.
3) Wenn id) Bir folgen dürfte.
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nichts zu jehen; überhaupt ijt das Leben bitter (er hatte un—
Tängit feine Gattin verloren), und es fehlt nichts mehr, mein
ſchweres Herz noch ſchwerer zu maden, wenn du nit durch
Beſchleunigung deiner Rüdfehr zur Erleichterung meiner Ge-
drüdtheit beiträgft.“ Wie Wolfgang Meyer vor Zeiten, mit
Empfehlungsireiben, fogar an die Königin Eliſabeth, wohl
verfehen, dem «ignis atque indelebilis cupido caeteras Te-
giones praesertim Angliam perlustrandi, principesque theo-
logorum illice commorantes adloquendi atque audiendi»2°)
nachgegeben und nad erfolgreihem vierjährigem Aufenthalt
in Cambridge als Licentiat der Theologie heimgefehrt war,
jo wird er dem Neffen in der Ausführung feiner Reiſepläne
mit Rat und Tat beigejtanden Haben.
Sm April 1612 brach Jakob Meyer wiederum nad) Eng-
land auf. Sein Meg führte ihn zunädjt nach Heidelberg, wo
er ji) jeit dem 8. April ins Stammbud jhreiben läßt. Als
Reifeftationen begegnen uns ferner Frankfurt, Amfterdam,
Leyden und Rondon. In Heidelberg traf er offenbar Kom—
militonen, die früher in Bajel ftudiert Hatten, und fand mit
den Empfehlungen der Basler Profejjoren offene Türen. Als
erfter begegnet uns im Album M. Joh. Philippus
Bareus (Mängler; 1576—1648), ein befannter Philologe,
Theologe und Schulmann; jeit 1598 Hatte er in Bajel unter
Grynaeus und Bolanus ftudiert, Hatte Hier den Magiftergrad
erworben und fi dann zu Beza nad) Genf begeben. 1610
treffen wir ihn in Heidelberg; fpäter war er Rektor der
berühmten Caſimirianiſchen Schule in Neujtadt a. 9. Der
Dreißigjährige Krieg jptelte ihm übel mit; denn die Spanier
brachten ihn um jeine Bibliothef. Später war er Rektor
der lateiniſchen Schule in Hanau, und ein Sahr vor feinem
Tode erhielt er von der Basler Univerjität den theologijchen
Doktorhut. Im Stammbud Tegte er den Sinnjprud) nieder
29) dem feurigen und unaustilgbaren Wunſch die übrigen
Länder, insbejondere England, zu durchreifen und die dort woh-
nenden Führer unter den Theologen anzuſprechen und anzuhören.
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„Er növov aAdos“.3%) Es folgen ein Barthbolomaeus
Coppen und Dr. theol. Quirinus Reuter, leßterer
mit dem Denkſpruch: <«Sursum mens specta, terrenaque
despice cuncta>3!) ; au) er wirkte als Lehrer am genannten
Cafimirianum und ſpäter als Profejlor in Heidelberg. Ferner
treten aufein GeorgWilhbelmLingelsheim mit dem
hausbadenen «medio tutissimus ibis>32), ein Thefjentus
a Cizwiz mit der Mahnung:
<tempora, tempore, tempera
Schicke did in die Zeit“
und dem Troftwort:
„Ein getreuer Freundt undt gutes Swerdt
Sft in der noht viel geldes fwerth“
und ein Fridericus a Bodedh mit dem Denkiprud:
<Vir sapiens omnium rerum mensura»33) und dem franzö-
fiihen <Vertu surpasse richesses. Zwiſchenhinein ſuchte
Meyer in Frankfurt feinen Landsmann, den nachmaligen
Bürgermeijter Joh. Rudolf Fäſch auf, der ihn unterm
15. April daran erinnert, daß «Pietas ad omnia utilis.>3*)
Ende April treffen wir unfern fahrenden Theologen wieder
in Heidelberg; am 28. des Monats trägt fi der Schaffhaufer
Franz Ziegler mit dem Sinniprud ein «Tout par amour>
unter Beifügung des Troftwortes: „Wer da jtirbet, ehe er
jtirbt, der ftirbet nit.“ Dann folgt noch ein Basler, deflen
Name mit Sicherheit nicht zu entziffern ift.
Mir laſſen unjern Kandidaten nun rheinabwärts reifen,
vermutlich porzugsweije per Schiff. Gründe, ſich an der alten
Pfaffengaſſe länger als unbedingt nötig, aufzuhalten, wird
er nicht gehabt haben. Erjt in Amijterdam zieht er fein
Stammbud) wieder hervor. Er fam ungefhhlagener hieher,
als weiland fein Oheim Wolfgang, der auf der Reiſe nah
%), Der Mühe Preis it Ruhm.
a) Aufwärts ſchaue, 0 Herz, verachte nur alles auf Erden.
32), Sn der Mitte wirſt du am fiherjten gehen.
3) Ein weiler Mann iſt ver Mapitab für alle Dinge.
3) Gottjeligfeit ift zu allen Dingen nüße.
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Cambridge 1597 bei Weſel von ſpaniſchen Marodeuren
war verwundet und ausgeplündert worden. In Leyden
madte Meyer am 8. Mai die Befanntihaft des Dr. theol.
Conrad Vorſtius (1569—1629), der ihn aufnimmt unter
Bermahnung auf 2. Kor. 6. 8 <ut seductores, sed veraces>
(Sondern in allen Dingen lajjet uns beweijen als die Diener
Gottes... .. als die Verführer, und doch wahrhaftig). Er
itammte aus einer (fatholifhen) Kölner Familie, jtudierte
in Herborn und Heidelberg, hielt fih 1595 in Bafel und Genf
auf, wo Beza ihn zu halten ſuchte; ſpäter wurde er Theologie=
projellor in Leyden. Er galt als Socinianer und follte der
Heidelberger Fakultät feine Orthodorie nachweiſen. Von
der Dordredhter” Synode wurde er 1619 wegen feiner feße-
riſchen Schriften verurteilt. Act Tage fjpäter jtattet Meyer
dem Sugendfreund feines Dheims Wolfgang, dem Pfarrer
Sohbannes Arnold, einen Bejuh ab. Seine mit einem
Zitat aus Tertullian gejpidte Widmung gilt dem «Pietate,
Eruditione, Morumque candore Ornatissimo viro D. JACOBO
MAYERO Basiliensi viri elarissimi S. Th. Dris, amici mei
integerrimi nepoti.>25)
Es folgt nun die Meberfahrt nah England. Gegen Ende
des Monats treffen wir Meyer in London, wo er fi zu:
nächſt an einen franzölifhen Hugenotten, Qud. Cappellus
(1585— 1658), anſchließt. Er jtammte aus einer angejehenen
Familie und galt als ftandhafter Vertreter des reformierten
Glaubens. Auf Beranlajjung der reformierten Kirche von
Bordeaur Hatte er vier Jahre Hindurh Großbritannien,
Belgien und Deutfchland bereilt und jtand mitten in den
Stürmen der franzöliihden Glaubensfämpfe. Geit 1613 war
er Profejlor in Saumur. Wohl aus feinen Erlebnijjen und
Erfahrungen Heraus jchreibt er ins Stammbud: «Quicunque
35, Dem durch Frömmigkeit, Bildung und Unbejcholtenheit des
Charakters ausgezeichneten Manne, Herrn Jakob Meyer aus Bajel,
dem Neffen des berühmten Mannes und Doftors der h. Theologie,
meines redlihen Freundes.
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Christo vult beatus vivere, illum necesse est in dies sibi
mori.236) Mit Fraftvollem Ernit ſtand Capellus für feinen
Glauben ein und entwidelte auch eine nahhaltige willen:
ſchaftliche Tätigkeit, die ihn u. a. mit dem ältern Joh. Bur-
torf in Bajel in Berbindung bradte. Ihm folgt am 28. Mai
«anno salutis recuperatae per unicum Jesum Christum> der
Geijtlihe an der Gabrielsfitde Sacobus Meddus, und fo
diente wohl jede Empfehlung zur Gewinnung einer neuen,
öfter als Reiſepaß und häufig genug wohl auch zur Vermitt-
lung eines Freiquartiers. Am 2. Juni trug ji) ein Gelehrter
von beitem Klang ein, Sfaac Cajfaubonus (1559—
1614), der große Univerjalgelehrte, der als Juriſt, Theologe
und bejonders als Philologe zu den führenden Geiftern feiner
Zeit zählte. Er jehreibt: «Isaac Casaubonus scribebam et
AACLS arauboses
je *
—A——— —
a Fr wir a
ur a TDfo
Va
360) Mer in Chrifto jelig leben will, ver muß tagtäglid) fi
ſelber jterben.
90
omnia fausta ac laeta tibi vir eruditissime a Deo optabam.>37)
Sn voller Wertihägung diefer Dedifation ermangelte der
Stammbudbeliger |päter nicht, das Todesjahr des großen
Forſchers ausdrüdlih) anzumerfen.
Noch im Suni 1612 traf Safob Meyer in Cambridge ein,
diesmal nicht zu bleibendem Aufenthalt wie jein Oheim
Wolfgang, jondern zu vorübergehendem Beſuch. Cs ift wohl
möglid, daß er zur Uebernahme amtlicher Verpflichtungen
(er wurde nad) feiner Rüdfehr Pfarrer in Großhüningen)
ih) binden mußte, auf einen beitimmten Termin in die Hei-
mat zurüdzufehren. Es würde zu weit führen, all die zahl-
reichen Studiengenofjen, Gelehrten und Profeſſoren, mit denen
Meyer hier in Kontaft fam, und die feinem Stammbud) ihre
Wünſche, Mahnungen und Warnungen anvertrauten, auf:
zuzählen; find es doch Heutzutage meiſt verjchollene Größen.
Meyer fand Gelegenheit, Grüße von feinem Oheim zu be-
jtellen und fi) damit Häufer und Herzen zu öffnen. So treffen
wir ihn bald bei verjehiedenen Mitgliedern «Collegii sanc-
tissimae Trinitatis38®) in Academia Cantabrigiensi» (9. Juni
1612), wo 15 Jahre früher fein Oheim Jich feines Freiplatzes
gefreut hatte, bald aud) bei einem Mitgliede «Collegii Christi
in eadem Academia» oder einem «ex collegio meo Divi Jo-
hannis Evangelistaey, welches ihn mahnt: «Omnia lege, per-
lege, nihil horribilius quam in eo statu vivere in quo non
audeas mori.239) Auch ein Vertreter «Collegii Divi Petri»
(am 25. Juni), jowie ein ehemaliger Studiengenojje Wolf—
gang Meyers und nunmehriger Geiftlicher fchreiben ſich ein.
Neben den Engländern taudt ausnahmsweije aud) ein Deut-
\her auf, Gedeon Birher aus Schleſien, der in Cam:
bridge jtudierte und durch das Band der Sprade fid) zu dem
Schweizer hingezogen fühlte. Selbſtverſtändlich Hojpitierte
7) Das jchrieb ih Iſaac Cafaubonus und wünſchte dir, ge-
lehrter Mann, von Gott alles Gute und Schöne.
38) der heiligiten Dreifaltigkeit.
39) Lies alles, betrachte es gründlich, nichts ijt Schlimmer, als in
einem Zuftande zu leben, in welhem man nicht zu fterben wagt.
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Meyer auch in Borlefungen, was durch folgende Aeußerung
bejtätigt wird: «Jacobo Majero Sacrae theologiae Candidato
et in scholis Cantabrigiensibus sedulo Auditori, in honorem
script, Johannes Richardson in eadem aca-
demia Professor Regius.>%%) Schon Anfang Juli (Calendas)
it Meyer im Begriff, weiter zu ziehen. Darauf deutet der
Gruß, den ihm der Profeſſor am Collegium Trinitatis
Thomas Comberus (1575—1654) an feinen Gtudien-
freund und Meyers Oheim mit auf den Weg gibt: «Orna-
tissimo doctissimogue viro D. Jacobo Meiero Basiliensi hoc
amicitiae testimonium adscripsi Thomas Comberus, quo me
tibi doctissimoque viro D. Wolfgango Meiero patruo tuo mihi
charissimo quem visurus discedis commendatissimum semper
esse cupio. Valeas in Christo foelieissime.»t!) Thomas
Harrijon (1556-1631) aus London, dur hebräiſche
Sprachkenntniſſe ausgezeichnet und durch feine ftreng puri-
tanijhe Gejinnung befannt, wünſcht ihm aud alles Gute zum
Abſchied, ebenjo der praefectus eines Kollegiums, der aus=
drüdlih von Meyer zu einer Widmung gepreßt zu fein er-
fHärt. Sodann fügt der Theologieprofefjor Soannes Da-
venant von Cambridge bei: «Haec scripsi rogatu doc-
tissimi juvenis Jacobi Meyeri cui opto felicem in patriam
reditum.>*2) Und zum guten Ende empfehlen fi) zwei Tiſch—
genojjen aus Kleve und Jülich angelegentlih zur Fortjegung
der in Cambridge eingefädelten Freundſchaft.
Zunächſt führte der Meg unfern Schweizer zu furzem
40) Jakob Majer, Candidaten der heil. Theologie und fleißigem
Zuhörer in den Cambridger Hörſälen, zu Ehren hat dies Joh.
Richardſon, kön. Profeſſor an der genannten Akademie, geſchrieben.
4) Dem geehrten und gelehrten Herrn Jac. Meyer aus Baſel
babe id, Thomas Comber, diejes Zeugnis der Freundſchaft hin-
geihrieben, um mid) dadurch dir und dem gelehrten Herrn Wolf-
gang Meyer, deinem Oheim, den du nad) deiner Abreije aufjuchen
wirst, nah Wunſch angelegentlih zu empfehlen. Lebe recht wohl
in Chrifto.
42) Beifolgendes habe ich auf die Bitte des gelehrten jungen
Jacob Meyer gejchrieben, dem ich eine glüdliche Heimkehr ins Vater:
land wünſche.
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Beſuch nah Drford. An wirffamen Empfehlungen fehlte
es auch hier nit. Doch Scheint der Aufenthalt dafelbft nur
von ganz furzer Dauer gewejen zu fein. Meyer traf hier
Landsleute, einen Joh. Rudolf Heß aus Zürid) und einen
Marcus Stapfer; beide trugen fih ins Stammbud) ein,
außerdem auch einige Profelloren. Bis Anfang September
bleibt das Stammbud ftumm. Nun muß der Heimweg an-
getreten werden. Am 5. September weilt unfer Reifender
in Paris und vom 6. Oktober an in Genf; wo er ih zwifchen:
hinein aufgehalten, wird nit erfihtlih. Aber im prote-
ftantiichen Rom Itattet er eine Anzahl Beſuche ab, zunädft
bei Antonius Fagus, bei Gabriel Cujfinus und
bei dem Graubündner Caſpar Alerius oder Alelc.
Letzterer war 1617 evangelifher Pfarrer in Sondrio, wurde
aber offenbar durch die Kriegswirren aus feiner Laufbahn
geworfen; 1621 geriet er auf der Reife nad) Heidelberg bei
Breiſach in Gefangenſchaft, wurde erit 1625 frei, befleidete
fpäter eine Profeſſur in Genf, wo er aud) theologifche Werke
berausgab. Dem «D. Jacobo Meyero Basiliensi charam pa-
triam post longas felicesque peregrinationes repetenti>3)
widmet „Simon Goulart Silvanectinus in Museo San-
gervasiano“, ein Franzoſe aus Genlis, der feit 1564 an Cal:
nins Stelle Pfarrer in Genf und durh Mitarbeit an einer
franzölifhen Bibelüberfegung befannt war, unterm 7. Ok—
tober einen Denfiprud aus dem Kirchenvater Auguftin, der
zur Demut mahnt. Ueber den 10. Oftober hinaus find feine
Spuren Meyers in Genf feitzuftellen, jo daß wir nicht irre
gehen werden, wenn wir ihn um diefe Zeit nad) Bajel zurüd-
fehren lajjen.
Mit dem Jahre 1613 nehmen die Stammbudeintragungen
in Bafel ihren Fortgang. Es begegnen uns zunädit am
6. März zwei Grafen von Ortenburg, Johann Phi—
Iipp und Heinricd, beide zeichnen als «antiquioris pro-
43) Dem die teure VBaterftadt nad) langen und glüdliden Wan:
derungen aufluchenden Herrn 3. M. aus Bajel.
93
sapiae Comes Ortenburgicus>.2*) Gie entjtammten einem
Kärntner Geſchlecht, das elſäſſiſche Bejigungen des Haujes
Deiterreihh inne Hatte, woraus ihre Beziehungen zu Baſel
fih leicht erflären, das ihnen ähnlich wie den Herzogen von
Württemberg als Wbjteigequartier diente. Noch intimer
wurden indeſſen ihre Beziehungen zu Bajel, jeitdem fie fi)
zum evangeliihen Glauben befannten. Go finden wir denn
ihre Namen auch in einem Götziſchen Stammbudjt5) ; auch hat
ihrem Geſchlecht jpäter, um 1650, Baſel in der Perſon des
nachmaligen Antiltes Peter Werenfels einen Hofprediger ge-
ſtellt. Heinrichs Denkſpruch Tautet: «Vincet qui sub luce,
Deo duce, pro cruce pugnat.>#) Cr fügt bei: «Memoriae
ac benevolentiae ergo serbt. Basileae.»?”) Und nun beginnen
die Herren Engländer, fi) zu revandieren und die Gelegen-
beiten wahrzunehmen, auf der Durchreiſe über Bafel ihren
Jakob Meyer aufzujuhen. So im Juli 1613 zum erjtenmal
ein im übrigen unbefannter Engländer. Am 13. Juli folgen
zunädit zwei Basler, Joh. Georg Wildiſen und Jo—
hannes Rodolphus Wildyfius mit dem Sprüch—
fein «L’arc trop tendu se rompt>; am 14. Auguſt folgt Aber a⸗
ham Musculus (Müslin), ein Abfömmling einer alten
Berner Paitorenfamilie, und nun ein auf der Abreiſe
von Bajel begriffener Engländer, Thomas Jefferay,
der den zurüdbleibenden Freund mit den Worten tröltet:
<Caelum, non animum, mutant, qui trans mare currunt.>*8)
Am 14. Januar 1614 bietet die Hochzeit eines gewiſſen
Bringhaim einigen Freunden franzöliiher Abkunft Anlaß,
ih im Stammbud) zu verewigen. Bald darauf ſcheint Meyer
Sreunde in Schaffhaujen bejuht zu haben; es [chreiben ſich
#4) Graf von Ortenburg ältere Linie,
) Vgl. Alb. Burdhardt a. a. DO.
46) Siegen wird, wer unter dem Lichte, unter Gottes Führung
für das Kreuz kämpft.
4) Schrieb es zu Bafel um der Erinnerung und des Wohl»
wollens willen.
#) Nur den Himmel vertauscht, das Herz nicht, wer über das
Meer jet.
94
>22 5) 0007
dDajelbft im Februar ins Stammbuh Joh. Taf. Ziegler,
Pfarrer Joh. Conrad Koh und Joh. Conrad Am-
mann, ferner «Reipublicae Scaphusianae Consul Henricus
'Schurtius>, jodann der vielgewandte Staatsmann und. Geijt:
lie 305. Segler jenior «paternae Ecclesiae Minister>4°)
und Antiltes Melhior HYurter. Am 12. März erhielt
Meyer den Bejuh des Engländers Sacobus Bromel.
Dhne nähere Datierung außer der Sahreszahl 1614 figuriert
mit dem Motto «Quo sublimior eo submissior>50) ein Graf
Wilhelm Otto von Iſenburg und Büdingen,
dem fi) unter Beifügung des Wappens aud Graf Bhilipp
Ernitvon Sfenburg und Büdingen anfdließt, und
als dritter gefellt jich ihnen ebenfalls mit feinem dreifad)
zufammengejegten Wappen Graf Conrad Ludwig von
Solms bei. Am 16. Auguft empfängt Meyer den Beſuch
eines Sobannes Cloppenburgh, der als eriter dem
Basler Freund, der mittlerweile zu Amt und Würde ge-
fommen war, «praestantissimo doctissimoque viro Jacobo
Meyero, ecclesiae Basiliensis diacono»51) feine Widmung
darbietet.
Es muß im allgemeinen auffallen, wie die vielen Wahl:
und Sinnſprüche unferes Stammbuds mit geringen Aus—
nahmen, ein durchaus ernites Gepräge tragen; Humor und
Scherz fehlen beinahe gänzlich, obſchon unter den Benüßern
des Stammbuchs auch Studierende find, die jonjt ihrer Herzen
Gedanken ergießen; und doch weiß man zur Genüge, daß ander=
wärts die Jugend gerade aud) in Stammbüdjern ihrer Phan—
tafie nad) feiner Richtung Hin Zügel anlegt. Die Erklärung
für diefen befonders erniten Charafter unjeres Stammbudes
werden wir hauptjählid darin finden, daß es meijt Theo:
logen find, die zum Teil der Würde ihres Standes nichts
#9) Diener der vaterländiichen Kirche.
50, Je erhabener, deito demütiger.
5) Dem vortreffliden und gelehrten Manne Jacob Meyer,
Diakon der Basler Kirche.
95
vergeben wollen, zum Teil aber aud in hohem Grad vom
Ernſt der Zeit durhdrungen find; lebte man doch in der
Periode der ſchärfſten Gegenreformation, da weitblidende
Beilter den friegerifhen Ausgang der fonfejlionellen Zwiitig-
feiten als etwas Unvermeidlidhes anfahen und unter dem
laſtenden Drud banger Ungewißheit ftanden. Wie ſchon er-
wähnt, waren die Anfnüpfungspunfte, die Meyer in Eng-
fand gefunden, vielfadh) von Dauer und trugen ihm manden
Beſuch von Engländern auf der Hinreife nad) und der Rüd-
teife von dem Feſtland ein, jo 3. B. am 5. September 1615
denjenigen des Drforders Johannes Rous (1584—1644),
der in Cambridge jtudiert hatte und 1607 Magiſter geworden
war. Rous verleiht jeiner Wahrheitsliebe mit folgendem
Zitat Ausdrud: «Mentiri nescio; librum, si malus est, nequeo
laudare»52) und fpridt die Hoffnung aus, „es mödte die
To glüdlih angefangene Freundſchaft niemals erlöfchen“.
Das Sahr 1615 eröffnet H9ermannus Xignaridus
(Dürrholz), aus Deutfchland gebürtig, ſpäter Theologie
profejjor in Genf und Bern; er trug fih im Stammbud ein
als «S. Theologiae in schola bernensi professor». Nun
folgen zwei Zürdher, Sohbann Steiner Vater und Sohn,
beide Theologen. Meyer bejuhte den Sohn in Züri, den
Pater in Baden, wo er nad) guter Zürder Gitte feinen Aus:
fpann nahm. Reichlich erwiejene Gaftfreundfhaft «propter
summum in me amorem, dum ibi fui peregrinus>d3) (der
Reit iſt leider weggejchnitten) verdanft Gregorius
Whright aus England, desgleihen au Gregorius
Baro Berfley Anglus, der ſich in Bafel aufhielt, ſowie
in italienijhder Spradhe der Engländer Nicola Hares.
Anfangs 1616 verewigt ih im Stammbud „QuciusPapa,
minister ecclesiae Samadenae in Engadina superiore apud
62) Ich kann nicht lügen und vermag nicht ein Bud, wenn es
Tchlecht ift, zu Toben.
83) Megen der reichlich mir erwiejenen Liebe, fo lange ich da-
Telbit ein Fremder war.
96
Rhetos“,52) er ftammte aus dem Puſchlav und tat fi durch
Ueberjegungen theologiſcher Literatur ins Romaniſche hervor.
Des weitern begegnen wir einem Friedrich Lingels-
heim, deſſen Vater Meyer in Heidelberg fennen gelernt
hatte und dem Engländer Richard HYHangarins aus
Cambridge, der feiner Widmung beifügt: «Hoc exaravi amoris
ergo in aedibus doctissimi Jacobi Meyeri Basileae mi-
noris.»55) Die nun folgenden Engländer zählen zu den poli-
tiſchen Größen und find in politiider Million auf der Durd-
reife nad) Venedig begriffen. Da taucht zuerit ein Rihard
Seymour auf, der am 30. April ſich mit den Worten ein-
trägt: «In amoris testimonium hoc reliquit Richardus Sey-
mour Anglus Basiliae in transitu ad Venetos trigessimo
die Aprilis an. dni. 1616.56) Sein Reijegeführte Rober-
tus Barnius fügt unter dem nämlidhen Datum bei:
Jacobo Mayero viro (ubique) Cantabrigiae potissimum de
Anglis omnibus bene merito hoc amoris symbolum reliquit
Basileae in transitu ad Venetias Robertus Barnius Anglo
Cantianus.»5”) Gr hält jih an den Wahliprud: «Virtus
sola vincit omnia.58) Und als dritter im Bunde fchliekt
fid) mit dem Motto «Cum scientia conscientia»5®?) am 2. Mai,
indem er gleichzeitig auf eine vorangehende Dedifation feines
Bruders Bezug nimmt, SjaacBargravius (1586—1643),
mit den Worten an: «Eidem subscripsit Thomae frater, Isaacus
5) Geiltliher der Kirche zu Samaden im Oberengadin bei den
Bündnern.
5) Das habe ich in der Wohnung des gelehrten Jakob Meyer
in Kleinbafel aus Liebe aufgezeichnet. (Gemeint ijt die Wohnung
Sonathan Meyers ‚der Tennier-(Antönier)hof‘).
56, Zum Beweis der Liebe hat dies der Engländer Rich. Seymour
in Bajel auf der Durchreije nach) Venedig am 30. April a. d. 1616
Dinterlaffen.
57, Dem (überall) bejonders in Cambridge um alle Engländer
wohlverdienten Herrn 3. M. hat dieſes Zeichen der Liebe in Balel
auf der Durchreiſe nad) Venedig der Engländer Rob. Barnius aus
‚Kent hinterlaffen.
88, Tüchtigkeit allein überwindet alles
59, Mit dem Willen aud) das Gemijjen.
97 7
Bargravius, nobilissimo Henrico Wottonio, secundo St. Re-
gis Angliae ad Venetos legato, a Sacellis. Basileae, in tran-
situ ad Venetias. May. 2. 1616.60) Er reijte in der Eigens
Ihaft eines Gejandtihaftspredigers; der Gejandte jelber, Sir
Henry Wotton (1568—1639), jtellte fih ein paar Wochen
ipäter ebenfalls in Bafel ein und Hinterließ feine Spuren
unter dem Wahlſpruch: «Philosophemur>6!) nebjt folgenden
Begleitworten im Stammbudh: «Scribebat Basileae XXVII
MDCXVI Fastis Julianis Henricus Wottonius Anglo-Can-
tianus Optimi Regum quantuluscunque legatus in transitu
ad Venetos.»62) Nähere Beziehungen zwiſchen dem hohen
Herrn und Jakob Meyer wird man aus den fnappen Aeuße—
rungen nicht herauslefen dürfen; Meyer wird fih ihm auf
Bitten feiner engliſchen Freunde in allerhand Reijeangelegen-
heiten gefällig erwiejen haben. Im übrigen war Wotton ein
vielfeitig gebildeter und vielgereilter Mann; er glänzte als
Dichter und Diplomat und wußte als Gejandter in Spanien,
Frankreich und Venedig jedenfalls in Dingen der Politik ge-
nauen Beſcheid; in Venedig war er zu verjhiedenen Malen
tätig, jo auch 1616—1619; er madte hier den engliſchen Eins
fluß in antipäpitlidem Sinn geltend und hatte feine Hand
in der nun folgenden Angelegenheit, zu deren Zeugen wir
unfer Stammbud aufrufen, im Spiel.
Sn eben dem Jahr 1616 nämlich erhielt Meyer Hohen
geiltlihen Beſuch. Der Erzbifhof von Spalato, Marcus
Antonius de Dominis von Arbe in Dalmatien (1560:
—1624), war in Glaubensdingen in ein Zerwürfnis mit Rom
geraten, was ihn in die Arme der Proteſtanten Englands und
auf der Reiſe dorthin zu Jakob Meyer nah Bafel führte.
6, Ihm, nämlich dem edeln Henry Wotton, zweiten Gejandten
Sr. Majeität des Königs von England in Venedig, hat fi der
Bruder des Thomas, Iſaak Bargravius, von Sacelli (?) unterzeichnet.
6) Laßt uns weije jein.
&2) Das jchrieb in Bajel anno 1616 am 27. Juli Henry Wotton
aus Kent in England, Gejandter des Belten der Könige auf der:
Durchreiſe nad) Venedig.
98
Der genannte Kirhenfürit ftammte aus der Familie Theo:
baldi de Placentia, trat mit 19 Jahren in die Gejellihaft
Sefu und bildete fich zum hervorragenden Lehrer der Philo-
jophie und Mathematik aus. Doc kehrte er 1596 den Se
juiten den Rüden; erhielt indefjen durch Vermittlung Kaifer
Rudolfs II. das Bistum Segni in Latium, avancierte bald
zum Erzbifhof von Spalato und wurde Primas von Dal:
matien, galt aber dem Bapite Baul V. wegen „antichriſtlicher
Reologie“ bald für verdächtig und wird den Jeſuiten bleibend
ein Dorn im Auge gewejen fein. Möglich, dag feinem Chr:
geiz in Rom ſcharfe Zügel angelegt wurden, wenigitens fühlte
er ih mit Gleichgültigfeit behandelt und war deshalb nicht
abgeneigt, ji) von zwei dajelbit weilenden Engländern Tür
die neue Lehre gewinnen zu laſſen. Natürlich verfiel er dem
Haß und der Verfolgungsjudt der Inquilition, die ihm vor—
warf, er verachte die Saframente, gebe ſich mit Keßern ab
und befämpfe den Bann des Papites gegen Venedig Mit
Verdacht aus der Haft entlaſſen, reijte er 1616 via Bafel nad
England, um hier im Hafen der Hohfirde Schuß zu finden.
Bon Jakob I. wohlwollend aufgenommen, legte er das angli-
kaniſche Glaubensbefenntnis ab, befämpite fortan aufs
Ihärfite die römiſche Kirche und den päpitliden Primat, be-
fürwortete die Briefterehe, ließ von den Saframenten nur
noch Taufe und Abendmahl gelten, weshalb er in proteitan-
tiſchen Kreifen ebenfo gefeiert wie in katholiſchen angefeindet
wurde. Aber jchlieklich erlebte Rom doc den Triumph, das
räudige Schaf wieder für ji) zu gewinnen. Marcus Antonius
de Dominis wurde neuerdings andern GSinnes, näherte fi)
wieder der römiſchen Kirche, floh durch Flandern und Yrant-
reich Heimlih nah) Rom, wo zwar die Freude über den buß—
fertigen Sünder groß, der Argwohn ihm gegenüber troßdem
unaustilgbar war. Er mußte gründlich Buße tun, ohne das
volle Vertrauen der römiſchen Kirche gewinnen zu Tönnen.
Unter Urban VIII. wurde er neuerdings verhaftet, jtarb aber
1624 vor Erledigung feines Prozeſſes, was nicht Hinderte,
99 7*
daß der Tote verurteilt, fein Leichnam verbrannt und feine
Aſche in den Tiber gejtreut wurde.
Auf der Durdreije nad) England ftieg unjer Kirhenfürft
in Meyers Haufe in Bajel ab, erwiefenermaßen auf die fpe-
zielle Empfehlung des oben genannten englilhen Gejandten
hin, und im Stammbud) erleicätert er fein bejchwertes Herz
mit folgender Eintragung: «Sequere Deum. Nemo sibi soli
natus; mea serviat omnis vis aliis; maneat gloria tota Deo. —
Ego Marcus Antonius de Dominis patricius Ar-
bensis et jadrensis, Dalmatus, comes palatinus natus, sacrae
theologiae Doctor, Archiepus spalatinus, alias Solanitanus,
totius Dalmatiae et Croatiae primas, eximiis eximii viri D.
Jacobi Mayeri, doctrina, sapientia, benignitate insignis,
praeclaris erga me, Christi eausa, peregrinum et cavea Ro-
mana elapsum, officiis devinctus, gratitudinis et memoriae
ergo ad ipsius obsegquium haec pauca hic mea manu scripsi.
Basileae, die 5. octobris. 1616.>63) — Der nädjte und zugleich
legte dem Pfarrer Jakob Meyer zu St. Elifabethen gewidmete
und auf feinen englilhen Freundſchaften fußende Eintrag
datiert vom 27. Mai 1622. Das Motto iſt Seneca entnommen
und Stellt die Frage: «Quis ergo generosus?»s) Die Ant-
wort lautet: «A natura ad virtutem bene compositus.>®5)
Schreiber des Denfipruds ift Antonius Straffordus,
«<D. Berkeley liberi Baronis servus humilimus, devotissi-
68, Folge Gott. Niemand ift nur für fi) allein geboren; alle
meine Kraft joll andern dienen; aller Ruhm joll Gott bleiben —
Sch Marcus Antonius de Dominis, Patrizier aus Arbe und Zara,
Dalmatien, als geborener Pfalzgraf, Doktor der h. Theologie, Erz—
biſchof von Spalato oder Salona, Primas von ganz Dalmatien und
Kroatien, durch ganz bejondere und hervorragende mir, einem
Fremden und dem Kerfer in Rom Entronnenen, um Ehrijti willen
erwiejene Dienjte des Herrn Jakob Meyer, eines durch Gelehrſam—
feit, Weisheit und Wohlwollen ausgezeichneten Mannes, verpflichtet,
babe aus Dankbarkeit und zum Andenfen auf feinen Wunſch dieje
paar Worte hier eigenhändig gejchrieben.
64) Mer iſt denn nun vornehm?
65) Der von der Natur zur Tüchtigkeit wohl veranlagte.
100
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mus.»66) Im nämliden Jahre nod, erjt 32jährig, ſtarb
Jakob Meyer, das Stammbuch wedjelte den Beliter; die Bei-
träge fließen fortan ungleich viel fpärlicher, und was nun nod)
folgt, jteht an Bedeutung dem Borangegangenen wejentlid)
nad. Zunädjt vererbte es ji) auf Jakob Meyers Vater Jo—
nathan, den Klingentalfchaffner, der erjt 1633 ftarb.
Aus dem Jahre 1628 datieren zwei Widmungen von im
übrigen unbefannten Größen, aus denen es wie ſchmerzliches
6) Ant. Strafford, des freigeborenen Barons, Herrn Berkeley,
untertänigjter und ergebenjter Diener.
101
Nachzucken der Trauer über das frühe Dahinwelfen des jungen
Pfarrherrn tönt, wenn das einemal daran erinnert wird, daß
wir hier feine bleibende Statt haben, fondern die zufünftige
ſuchen, oder wenn das andremal der Dedifant, Georg Wil:
helm Waltervon Freundſtein in „Bünningen“ fi
mit dem Gedanken tröltet: „Gott weiß, waß unß fürftehet.“
Sowohl die Trauer um den früh Heimgegangenen, als die
bange Sorge um alles, was der nod) immer wütende große
Krieg noch bringen fonnte, maden die rejignierte Stimmung,
die damals auch aus dem Stammbud auf Schritt und Tritt
zutage tritt, mehr als erflärlih. Wie Andeutung von Teil-
nahme Elingt der philojophifhe Erguß des Simeon Ru:
tingius junior (dem Vater find wir 1611 begegnet):
«Fert sapiens omnes casus patienter amaros»,67) und eine
ernite Mahnung enthält das auf die Unzulänglidkeit alles
Irdiſchen Hinzielende Wort eines Sodocus Heiden vom
Niederrhein: «Humana vita vere vitrea est, dum splendet,
insperato frangit.>e8) Einen Hinweis auf die Unruhe des
Kriegsgetümmels dürfen wir wohl aud) aus den Worten des
J. U. D. Chriftophorus Leibfried, Landicreibers
der Herrichaft NRötelen, heraushören, der am 21. Juni 1633,
zwei Sahre vor feinem Tod, «pro tempore exul Basileae>,s?)
wohin er um feiner perjönlihen Sicherheit willen modte
geflüchtet fein, ins Stammbud) ſchreibt: «Mea Pax Victoria
Christi.»70%) Aus eben der Zeit ilt uns folgende „Poeſie“
erhalten:
„Wer auff Erden hatt waß er will
Undt hatt vor ihm fein ander zill,
Der iſt ein Thor undt ift nicht weiß,
Kompt aud) nicht in das paradeiß.“
6) Alles bittre Geſchick weik der Weije geduldig zu tragen.
. &), Das Menſchenleben ijt wahrlid) wie Glas, während es
Ihimmert, zerbricht es unverhofft.
6%) zur Zeit abweſend in Baſel.
70) Mein Friede it der Sieg Ehrifti.
102
Am Rand Hat der anonyme Dichter beigefügt: «migrandum
est»?1) ; dann fährt er fort: «Pour tesmognage d’amitie j’ay
escrit cecy & Basle 26. d’augt 1633.>
Nun langes Schweigen bis zum Jahre 1677. Das Stamm-
buch ift in die Hände von Jakobs Entel Seremias Meyer
(1653— 1732) übergegangen, der feine pfarrherrlide Lauf:
bahn im Toggenburg, ſpäter in Brewil und Dltingen durch—
lief. Wohl zu feinem Amtsantritt ijt ihm das beifolgende
Sprüdjlein mitgegeben worden:
„Gelehrten und frommen Leuthen
Steht Gott bey zu allen Zeiten.
Mer will Chriſti Diener werden,
Mus Ihm nadfolg'n hier auf Erden.“
Dann wird beigefügt: „Herrn Jeremiage Meyer S. M. C.
wünſcht zu jeinem guten Borhaben viel Glüd und alle Wol-
fahrt Sebaſtian Spörlin des Rahts Lobl. Statt Bajel und
dehro Gravfhafft Karnspurg gewejener Landvogt. D. 16. No-
vembris Ao. 1677. In Bajel.“ Und Profeſſor Peter
MWerenfels (1627—1703), Lehrer der hebräiſchen Sprade
und Antiltes fleht auf den Stammbuchbeſitzer im Verein mit
Profeſſor Joh. Rudolf Wettftein <«virtutis avitae in-
crementa»>?2) vom Himmel herab. Mit dem lehrhaften Denf-
fprud) «Ruit hora>,73) den Bernhard Verzascha (1628
— 1680), der 21jährig in Montpellier promoviert hatte und
jeiner Baterjtadt jpäter als Deputat im Kirchen und Schul⸗
wejen, als Ratsherr und bejonders als Stadtarzt gute Dienjte
leijtete, dvem Stammbud) einverleibte («Dilectissimo Dn. Cog-
nato in singularis benevolentiae tessera adscripsit Bernardus
Verzascha»?®), verband er die Mahnung an die Flüdtigkeit
der Zeit. Es folgen ziemlich gleichzeitig Soh. Conrad
19 Man muß wandern.
2) Den Zuwachs großpäterlidher Tüchtigkeit.
73) Die Stunde eilt Hin.
4) Seinem geliebten Herrn Berwandten hat zum Zeichen be-
ſondern Wohlwollens geſchrieben Bernhard Verzascha.
103
Harder, Archigrammateus und Scholarcha,?5) der als
Dheim den Neffen an das Schriftwort: «Unum est necessa-
rium>?e) erinnert und den Troſt beifügt: «Deus provide-
bit>,77) fowie der Redtsgelehrte Nicolaus Paſſavant
mit dem Wahlſpruch: «Calamitas virtutis occasio.z7) Mit
weitern Glückwünſchen jtellen ih ein Hieronymus Ge-
mujfaeus, Pfarrer in Benfen, und Dr. med. et. phil. %. J.
Harder (1656—1711), Arzt und Profeſſor der Rhetorik.
Nah einer Pauſe von neun Jahren erläßt Hieronymus
Meyer an den Dltinger Pfarrherrn die Warnung:
„Kehr dich nit an Sedermann,
Der dir vor Augen dienen fann,
Nicht alles geht von Herzengrund,
Waß ſchön und Tieblich redt der Mund.“
Nah) dem 1732 erfolgten Tod des Seremias ging das
Album in die Hände feines Sohnes Benedikt über, wor-
über diefer im Stammbuch jelbitgefällig mit den Worten
quittiert: cCet & moy: Benedikt Meyer. den 2. Juli 1744.>
Aber Dedifationen Hat er feine zu verzeichnen. Erſt fein
Nachfolger im Belige des Stammbuds, der Wlumnenvater
S. M. C. und Praeceptor zu St. Beter Daniel Meyer
(1731—1798) läßt fi) zur Würde eines Seniors Collegii Alum-
norum von Profejlor Soh. Ludwig Frey (1682—1759),
dem Lehrer der altteſtamentlichen Theologie, feierlich gratu—
lieren. Se länger dejto mehr manifeltiert ſich auch in den
Eintragungen unjeres Albums der Wandel der Zeiten. Ar
die Stelle fräftiger Kernworte treten hohler Wortſchwall und
umjtändlihe Redewendungen; hausbadene Verſe und ge=
fünjtelte Empfindelei verdrängen das wahre und natürlidhe
Fühlen. ©o 3. 3. in der Widmung eines J. U. Vogel aus
Mülhaujen vom Jahre 1756, der den freund mit folgenden
Alerandrinern anreimt:
75) Stadtichreiber und Schulvoriteher.
76) Eins iſt not.
7) Gott wird fürjorgen.
8) Unglüd bietet Anlaß zur Tüchtigfeit.
104
„Ich ſoll Ihm Werther Freund zum Zeichen meiner Liebe
Und Freundſchaft gegen Ihn, ein Dendmahl fegen hier.
Kun dieſes joll geſchehn aus reinem Herz und Triebe,
Damit das jhöne Wort bey Uns bleib für und für:
Ein treuer Freund wird wohl ein theurer Schaf genennt,
Wann man im Unglüd Di jo wie im Glüde fennt.“
Mir dürfen Hier die Mehrzahl der nun folgenden Dent-
Iprüde mit ihren Gemeinpläßen und trivialen Redensarten
oder wohlfeilen Schmeicdheleien übergehen. Eine fleine Ab—
wedhslung in der äußern Daritellung bietet die Widmung des
Piarrers Safob Meyer in Mülhaufen vom Sahre 1756,
der fih die Mühe nahm, nad) dem Geſchmack der Zeit ein
reich verſchnörkeltes kalligraphiſches Meiſterſtück zu Tiefern,
das dem Schöndheitsfinn und Geſchmack und nicht zulegt au
der Geduld und den guten Augen des Kalligraphen zur höchften
Ehre gereiht. Und Zeit zu derartigen Liebhabereien hatte
man ja damals. Es wird in diefer Widmung der {Freund
mit einem fruchtſpendenden Baume verglichen, allerdings mit
dem Kleinen Unterjchied, daß man von einem Freunde täglich
Früchte (der Freundſchaft) einheimjen darf, von einem Baum
bloß jährlid. Im nämliden Jahr erinnert Baulus
Meyer, Burger zu Bafel und Mülhaufen, daran, daß:
„Nancder mich richt,
Beſchaut ſich felbit nicht,
Gedädht er fein,
Go vergäß er mein.“
Es folgt im Dezember 1756 ein V. D. M. Mathias
Kielmann, Diafon des «Coetus gallici qui Müllhusii col-
ligitur>.7%) Daß der Alumnenvater mit feinen Zöglingen auf
freundlidem Fuße lebte, geht aus den Eintragungen zweier
Ungarn, eines Samuel Nemethy, der fih als «Hun-
garus, peregrinus Basileae>,8%) einträgt, und eines „Jo—
79) des franzöfiihen Pfarrionvents, der fi) in Mühlhaufen ver:
fammeelt.
80) Ungar, fremd in Balel.
105
annes Szabi, Hungarus, Studiosus Peregrinus Basileae>
1756 hervor. Als widerwärtige Schmeicdhelei haben wir ohne
weiteres das Berslein eines Mülhaujer Theologen zu ta=
zieren:
„ou bilt ein Zweig von diefem Stammen,
Der immer Große Männer trug,
So bald man höret deinen Namen,
So hört man glei aud: Der iſt Hug.“
Nun folgt eine längere Pauſe. Am 26. Oftober jtiftet Da—
niel „Bourcard“ (gemeint ift der befannte Kunjtfreund
und Kunjtdilettant Dan. Burdhardt-Wildt, 1752—1819) dem
Daniel Meyer jun. (1761—1824) eine hübſch in Tuſch
gemalte Landſchaft mit zierlich gejchriebener Dedifation in
jranzöjiiher Sprade, die in dieſer letzten Epoche als Mode-
ſprache au) im Stammbud dominiert. Diejer Daniel Meyer
jun. S. M. C. war der Sohn des erwähnten Alumnenpaters
und beichloß feine Tage als Pfarrer von Arisdporf. Sn jungen
Sahren fam er ordentlid) in der Welt herum als Hauslehrer
in Chiavenna und Mayenfeld, deuticher Prediger in Genf und
Pfarrer in Markirch in den Vogeſen. Gein Aufenthalt in
Graubünden und im Beltlin trug ihm offenbar mande
Freundſchaften ein, deren Niederihläge wir im Stammbud)
Hauptjählidd von dem Zeitpunft an gewahr werden, da fein
Dienſt als Hauslehrer zu Ende ging. Da begegnen wir zuerſt
dem Major Michel im bündnerifhen Regiment «du Salis>,
der dem Herrn Candidaten und Hauslehrer in der Yamilie
Gugelberg:von Moos alles Glüd der Welt anwünfcht
(Dezember 1788), ferner einem Joh. Theodor Ender-
lin von Marzwil, der dem Stammbud einen gereimten Neu-
jahrswunſch einverleibt; ihm folgt am 2. Januar 1789 oh.
Friedrich Enderlin von Marzwif mit einer längern
moralijierenden Widmung, die ganz im fonventionellen
Zeitgefhmad gehalten iſt. In ſchwungvollen und ziemlich
geihwollenen Verſen feiert 1789 Ulyfjfes von Salis
das Andenken des Bürgermeifters Jakob Meyer als mutigen
106
Kämpfers gegen die (getreulich abfonterfeite) Hydra des
Irrtums und Stellt ihn als leuchtendes Vorbild den Nach—
tommen hin. Als Hauslehrer hielt fih Meyer bei der
Familie Gugelberg bald in Chiavenna, wo der Vater feiner
Zöglinge, Ulyjjes Gugelberg (1756—1820), als Com:
miſſari des Veltlin und Landesoberiter amtierte, bald in
Mayenfeld auf und Hatte reichlihe Gelegenheit, ſich mit
allerlei Notabilitäten von Altfry Rhätien angufreunden.
Sm Februar 1789 treffen wir ihn bald in Chur, bald
in Mayenfeld, und beiderorten verjäumte er offenbar nicht,
den betreffenden Hohen Herrihaften feine Aufwartung
zu maden. Am 17. Februar widmet ihm Joh. Ru—
volf von Salis von Marihlins ein Sprüdlein, am
19. verewigen ji im Stammbud) Pfarrer Anton Midhae-
lis von Mayenfeld und Ulerih Michel, am 21. trägt
<«Corneille Adelaide de Salis Marchlins in
Chur ihren Segenswunjd) ein, und am 26. widmet in Mayen-
feld ein Ulrih Konz dem Stammbudinhaber ein Wort des
Abſchieds. Man fieht, das Album war fleißig auf Reiſen,
und nun, da Meyer ſich nad) einer bleibendern Stellung um—
ſieht, jtellen fih in rührender Anhänglichkeit die Familien—
glieder nacheinander ein, um den Scheidenden ihrer unver-
brüchlichen Dankbarkeit zu verfihern. Am 1. März bejtätigt
ihm Alyſſes Gugelberg:von Moos feine wahre „Achtung und
Freundſchaft“ unter Beifügung feines ftattlihen Yamilien-
fies in effigie, und feine Gattin fügt bei: „Erinnern Sie fi
bey diefen Zeilen Ihrer wahren Freundin Margaretha
Gugelberg:»on Moos geborne von Galis-Goglio“,
und jpendet zum weitern Andenfen noch eine Miniaturland-
Ihaft in Aquarell bei. Der Mutter jchließen fich die Kinder,
Meyers Zöglinge, an, nämlid Joh. Rudolf, fodann An—
dDreas und endlih Heinrich Gugelberg:von Moos, der
nachmalige Landammann, Landesitatthalter und Tagjatungs-
gefandte. Sie fallen ihre Wünfhe in das Sprüdlein zu-
fammen:
107
„Himmel Halt du einen Gegen,
Der auf Erden glücklich madt,
D! jo jey er meinetwegen
Meinem Lehrer zugedadt!“
und die Feine Freundin und Schülerin Liſette Gugel-
berg:von Moos, der die Mutter beim Schreiben offenbar
die Hand geführt Hat, erflärt:
„Ich muß in meines Lehrers Stammbud hinein,
Sollt es nur gefrazt wie eine Henne fein.“
Meyer reijte nach Genf, wo er bis 1794 als Helfer an
der deutfchen Gemeinde wirkte. Cr heiratete dajelbit eine
2hyonerin, Caroline CHoll. Auf der Reife nah Genf
fehrte er in Lenzburg bei feinem Freunde, dem Kronenmwirt
Samuel Strauß, an. Bier Tage fpäter jhließt er in
Genf Freundſchaft mit einem Dr. Felß, der feine Widmung
im Stammbud neben das Porträt feines Landsmanns
Joachim Badian in den Scones ſetzt, der ihn zu dem Ausruf
Hinreikt: «Excellent Vadianus que je t'aime! Que ton esprit
repose sur les bons St. Gallois!» Unterm 14. Dezember 1789
maht ein „Sacobus Bernhard aus Bünten“ in emp
findfamen Berfen feinen überjhwänglihen Gefühlen Luft und
empfiehlt ſich als aufrichtiger Yreund und „halber Gefatters-
mahn“. Am 30. März 1790 mahnt fein Freund Jakob
Warimann, V.D. M. den Kollegen, im Hinblid auf die
zu erhoffende Uniterblichfeit weije und tugendhaft zu eben.
Seine Glüdwünjhe zu Handen des Stammbuchinhabers und
feiner Familie fügt am 25. März 1793 3. U. Beter bei.
Und bald hernad gibt Daniel Flournois, ministre du
St. Evangile, feinem Nachbar aufrichtig gemeinte Glüdwünjche
für das jpätere Leben mit. Als guter Freund und Nahbar
gibt ih auch Proſper Depoſſier zu erfennen und ſpricht
jeine Freude darüber aus, Meyer und feine Zamilie fennen
gelernt zu Haben. Aber 1794 nötigten die politiihen Wirren
den Helfer der deutſchen Gemeinde, raſch und nit ohne
Lebensgefahr zu fliehen. Er begab fih in die Vaterjtadt,
108
widmete jich hier vorübergehend dem Schuldienit und nahm
dann 1796 die Stelle eines reformierten Pfarrers in Mar:
fir) (Ste Marie-aux-Mines) in den Vogeſen an, die öfter
von Bajel aus paftoriert wurde. Das Stammbud wurde
natürlich mitgenommen, und am 8. Oftober 1796 erging id
darin %. Reber fen. über die Kreundihaft, 9. Frank
redete den jhönen Künſten und Wiſſenſchaften das Wort;
er muß, aus den nebenjtehenden Emblemen zu jchlieken,
eifriger Muſikfreund gewejen fein. Dann folgt Joh. Georg
Neber jun.; er ftammte aus Mülhaufen und führte als
Erfag für die eingegangenen Gilberminen die Fabrikation
von Baummollenartifeln im Tale ein. Er war ein Kind der
Aufklärung. Zugejtandenermaßen fein Sreund des geiltlichen
Standes, wendet er fich nicht als Gemeindegenofje, jondern als
Freund an den Prediger, dem er in gut rationaliltilder Weiſe
allerlei wohlgemeinte Ratichläge erteilt. Ganz bejonders
muntert er ihn auf, feine Fürſorge dem Schul: und Armen:
wefen und der Krankenpflege zuzuwenden. „Sc traue Ihrer
Philojophie zu, dag Sie meine Aufrichtigfeit nicht beleidigen
wird, wan ic) Sie mehr als Freund als als Pfarrer Tiebe.“
Die Zeiten waren nicht dazu angetan, ein ländlicdhes
Pfarrhausidyll in ſtiller Weltabgejchiedenheit durchzuleben;
nit nur nad Genf, jondern aud in das abjeits gelegene
Bogejental drang der Wellenſchlag der großen Revolution.
Sm Gedanken hieran vertraute Meyers Tutherifher Kollege
in Marfirh, der Prediger Fr. W. Schmidt, am 1. Auguft
1800, an ein Dichterwort Klopitods über die Religion an-
fnüpfend, dem Stammbud einen GStoßjeufzer an, der tief
blicken läßt. „Wandeln wir immer“, jo äußerte er fi), „ge—
troſt fort auf dem Wege unjers Berufs, wenn gleich die jezzigen
Zeiten demjelben jo mande Hindernilje in den Weg legen!
Unfer Werth jteigt Doch) immer nah) Makgabe unjerer An-
ftrengung, unjerer Pflicht Genüge zu leiten und jede
Schwürigfeit, die fi) bey Ihrer Ausübung zeigen mögen, mit
Klugheit, Sanftmuth oder Geduld zu befiegen! Schmäht uns
109
der große Haufen — immerhin! Es genügt uns dann die
Achtung der wenigen Weiſen und Redlidhen im Lande — die
uns gewiß nicht fehlen wird, wenn wir find, was wir ſeyn
follen!“ Und daß wir uns mitten im Revolutionszeitalter
bewegen, das beitätigen zum Ueberfluß nod die leßten Da-
tierungen nad) dem Revolutionstalender. Am 25. Meſſidor
des Sahres 13 (von der Abjhaffung des Königtums an ge-
rechnet) verjidern Ch. Caejar und ©. C. Basqual den
reformierten Prediger ihrer Sympathien, und am 7. Ther-
midor ebenfalls des Jahres 13 nimmt Frédéric Caeſar
nach einer ahtjährigen Freund: und Nachbarſchaft mit herz-
lihen Morten Abjhied von Daniel Meyer, der neuerdings
unter dem Drud der politiſchen Ereignijje den Wanderftab
ergreifen muß, um nun bleibend in die Heimat zurüdzufehren,
mo er von 1806 an als Geijtlicher der Gemeinde Arisdorf ein
beihauliches Dajein zu führen und in jtillen Stunden an
Hand feines Stammbuds Rückſchau über fein Geſchlecht und
fein eigenes Leben zu halten Muße genug finden modte.
Shlußbemerfung. Erit nah Drudlegung obiger
Arbeit hatte ich Gelegenheit, von dem mir vor kurzem be-
fannt gewordenen Briefwedjel der Familie Meyer (zum
Hirzen) im Beli der Kaijerlichen Univerlitäts- und Landes:
bibliothef in Straßburg Einfiht zu nehmen. Dieſe reich—
Baltige Sammlung von Briefen aus dem 16. und 17. Jahr⸗
Bundert wanderte im 18. Jahrhundert mit einem Zweig der
Familie M. nah Mülhaujen, fam jpäter durch Kauf in
den Beliß des Kirchenhijtorifers I. W. Baum in Straßburg
(Bgl. p. XVI feines Vorworts zur Biographie der Gtraß-
burger Reformatoren Capito und Bußer in „Leben und aus=
gewählte Schriften der Väter und Begründer der reformierten
Kirche“) und wurde endlih Eigentum der genannten Biblio-
thef, deren Verwaltung mir die Benüßung des Briefwechſels
in Straßburg und Bajel in Tiberaliter Weife geftattete. Ich
hoffe, gelegentlich auf ihn zurüdzufommen.
110
$ azaretterinnerungen
aus dem Ariege von 1870/71.
Don Dr. R. Deri-Sarafin.
In den erjten Sulitagen des Sahres 1870 war der Aus—
brud eines Krieges zwiſchen Frankreich und Deutſchland ſehr
wahrjheinlich geworden. Man atmete wieder auf, als die
Angelegenheit der ſpaniſchen Thronfolge geregelt ſchien.
Aber am Abend des 15. Juli, an einem Freitag, Iangten
Die Nachrichten von Ems und Berlin an über die Abweiſung
des Grafen Benedetti durh König Wilhelm und, als Echo
aus Paris, die Notiz: Guerre imminente.
Als Abends nad) 9 Uhr Trommelflang in den Straßen
Bafels erjchallte, eilte alles hinaus, da man glaubte, den
Generalmarih zu hören. Es waren aber die friedlichen
Waifenfnaben, die, von ihrem Sommerausflug heimfehrend,
jo großes Auffehen erregt hatten.
Am folgenden Tage, vormittags, wurde dann wirkflid
Generalmarſch geihlagen und das Einrüden des Auszüger
Halbbataillons durch öffentlihes Ausrufen befohlen. Während
der folgenden Nähte und Tage rüdten die eidgenöfliihen
Truppen in anjehnlider Menge zur Bejeßung der Grenzen
ein, als erite Schüßenfompagnien aus Yargau und Bajelland;
auch das Bajelbiet befam reihlihe Einquartierung.
Die Aufregung war allgemein jo groß, daß die Köpfe
wenig bei der Arbeit waren. Wir Studenten hatten ja
ohnehin jeßt Ferien, da damals in Bajel noch die eigentüms
*) Als Bortrag für das Rote Kreuz entworfen.
111
liche Einridtung beitand, daß das Sommerſemeſter durch vier
Wochen Ferien, — von Mitte Juli bis Mitte Auguft, — in
zwei Stüde geteilt war; von Mitte Augult bis Ende Gep-
tember wurden dann wieder Vorlefungen gehalten. Ge—
arbeitet wurde von den Studenten in jenen Ferientagen fait
nichts; man bummelte am Morgen bei den Soldaten in der
Stadt und am Nachmittag in den Dörfern herum und beriet,
wie man dem VBaterlande dienen könnte. Durd) ein ſchwung—
volles Telegramm unjeres Präſes, U. v. Salis, ftellten wir
Zofinger uns dem ſchweizeriſchen Bundestate zur Verfügung.
Als nun die erite Aufregung Jich gelegt hatte, forgte für
einige Ernüdterung der Umjtand, daß, nachdem am 19. Juli
die franzöfiihe Kriegserflärung in Berlin übergeben worden
war, nun ungefähr vierzehn Tage lang vom Kriege nidts
zu vernehmen war. Die Zeitungen fonnten nur ganz vage
und widerſprechende Gerüchte bringen, und jo fonnte man in
Crmangelung befjerer Einfiht jo recht fannegießern und, je
nah der Neigung, den Sieg bald den Deutjchen, bald den
Sranzofen zufpredhen. In Baſel erwartete die Mehrheit wohl
den Gieg der Franzoſen, deren friegeriicher Nimbus von 1859
troß des feitherigen Mikerfolgs in Mexiko weiter bejtand.
Man hätte eigentlich jeit 1864 und 1866 vorjihtiger urteilen
müjlen. Warum fo Biele ihre Sympathien Frankreich zu—
wandten, ilt mir heute nod) ein Rätjel, da man durch Sprade,
Bildung, Sitte und Religion doch dem Deutfhtum fo viel
näher jtand als dem Napoleoniſchen Yranfreid. Cs hieß,
daß die Kaufleute, von denen viele in Frankreich gelebt Hatten,
im Handelsverfehr die Franzoſen vorzögen, und daß dies die
Urſache ihrer franzöfiihen Sympathien ſei. Ein guter Teil
unferer Bevölferung aber, darunter viele der Gebildeten,
hoffte auf den Gieg der deutihen Waffen. Obwohl man nit
direkt beteiligt war, befämpften fi) doch die beiden Rich—
tungen in unfrer Stadt aufs fohroffite, es fam zum Bruch von
Freundſchaften und felbjt zu Spaltungen innerhalb der Fa—
milien. Man fann daraus nur auf die ungeheure Erregung
112
ſchließen, die die friegführenden Völker ſelbſt ergriffen Hatte.
Charafteriftifch für die damalige Stimmung iſt es, daß, als
ein Basler Kaufmann fih auf der Lejegejellihaft etwas
frei über Deutichland geäußert Hatte, er von einem anwejen-
ven Lejer auf der Stelle zur Satisfaftion mit den Waffen
gefordert wurde. Die Karte, die diejer übergab, trug den
Namen eines bedeutenden deutihen Profellors. Der Basler
hielt es nicht für nötig, diejer fremdartigen Forderung nach:
zufommen, und die Sache verlief im Sande.
Genug, man mußte abwarten, und das veranlaßte au)
mid, wieder an das Studium zu denken, jtand mir als Stu-
diosus medicinae doch für den Anfang des Winterfemeiters
das propädeutiihde Examen bevor.
Sch zog mit meinen Büchern aufs Land, um im Eltern-
Haus zu arbeiten; es fam aber nicht viel dabei heraus, da
unfere Gegend militärifch ſtark befegt war. Als id dann
durch die Thurgauer Bataillonsärzte Bridler und Albrecht
mit dem Bude: „Unter dem Rothen Kreuz“, einem nad) dem
Mufter von Dunants „Solferino“ gearbeiteten Werfe, be-
Iannt wurde, war vollends alles Intereſſe für die propä-
deutiſchen Fächer dahin und es erwadte die Sehnjudt, doch
aud hinaus zu fönnen, in eine nüglide Tätigkeit.
Sch Hatte ſchon im Winterjemejter 1869/70 bei Gocin
Allgemeine Chirurgie gehört, im Frühling 1870 bei Dr. Cour-
noilier im Verbandfurs Hofpitiert und im Sommer darauf
öfters die Klinik bei Socin bejudt. Ich Hatte eine Anzahl
von Operationen gejehen und mid Hinzugedrängt, jo daß
mid) Socin, bei der Fleinen Studentenzahl von damals, zum
Aſſiſtieren zuließ. Eigentlich hätte ih) nad) dem damaligen
Stande meiner Studien dort nichts zu tun gehabt. Als dann
am 4. Auguſt mit Weikenburg die Schladten begannen und
die Berichte von den großen Berlujten auf beiden Geiten
einliefen, wurde meine Unruhe größer, und es 309g mid) nad)
Bafel, aber nicht wegen der Kollegien, die in vierzehn Tagen
beginnen follten. Ich nahm an einem Verbandkurs teil, den
113 8
der damalige Aſſiſtenzarzt der hirurgiihen Klinik, Dr. Rus
dolf Maffini, im Hinblid auf den Krieg für einige Studenten
täglich abhielt. Wir übten uns fleikig, indem wir uns gegen-
feitig Verbände anlegten, und in furzer Zeit Hatte ich eine
gute Uebung aud in den fomplizierten Bandagen, deren Be—
herrſchung die damalige Chirurgie von ihren Süngern ver:
langte.
Profeſſor Auguſt Socin, der Direktor der dirur:
gifhen Klinik, war ſchon nit mehr in Bajel; er war vom
Badilchen Frauenverein, der unter dem WProteftorate der
Großherzogin von Baden ſtand, nad) Karlsruhe berufen
worden, um ein Rejervelazarett einzurichten und zu betreiben,
und war am 9. Yugujt mit Basler Aerzten, einigen Studenten
und Diakoniſſen abgereilt. Er wollte im Yalle des Bedürf- .
niſſes weitere Hilfskräfte heranziehen, und jo näherte ſich
aud) für meine ſchwache Kraft der Moment, wo meine Sehn—
ſucht geftillt werden fonnte. Dr. Maflini nahm mid auf
die Lite der zu Empfehlenden. Auch meine Eltern ließen
ihre anfänglichen Bedenken fallen.
Sch las damals noch ſchnell die vier chirurgiſchen Briefe,
die Brofejlor Nußbaum in Münden für die ins Feld ziehenden
Militärärzte gejchrieben Hatte. In Pirogows Grundzügen
der Allgemeinen Kriegshhirurgie, der Frucht feiner Tätigkeit
im Krimfriege, hatte ich ſchon früher herumgeftöbert, das
Bud war mir in der Kantonsbibliothef zu Lieftal in die
Hände gefallen.
Da man nun in der Schweiz deutlicher erfannte, daß fie,
mwenigitens vorerft, nicht Kriegsichauplaß fein werde, wurden
die eidgenöfliihen Truppen nah) und nad) von der Grenze
zurüdgezogen. Bevor fie Bafel verließen, fand am 17. Auguſt
durch General Herzog eine Mufterung über die abziehende
Divifion Egloff auf der Schüßenmatte ſtatt. Das Wetter
war prächtig, die Truppen machten auf die Bevölkerung, die
in Maſſe Hinausgejtrömt war, den beiten Eindrud. An jenem
Morgen erjt verbreitete fi) wie ein Lauffeuer das Gerücht,
114
daß Straßburg belagert werde, daß man die Stadt beichieke
und daß es an mehreren Orten brenne; es wurde zuerjt mit
Zweifel belädelt, als eine Unmöglichkeit in unjerem Humanen
Zeitalter. Und als nun die Nachrichten der folgenden Tage
die Sache beitätigten, entbrannte bei vielen der Zorn über
diefe Barbarei. Man wußte im Bublifum augenſcheinlich
gar nicht, daß die Stadt, von der man jo oft gefungen hatte:
„gu Straßburg auf der Schanz“, immer nod eine Feſtung
und Daher der Möglichkeit einer Belagerung ausgefeßt jei.
Yeberhaupt hatte man von einem Kriege feine rechte Vor—
ſtellung.
Am 25. Auguſt fragte Maſſini bei Socin an und erhielt
telegraphiſch die Antwort, daß ich kommen ſolle; am Nach—
mittage des 26. Auguſt fuhr ich mit der Badiſchen Bahn weg,
die Fahrt geſchah auf Koſten des Deutſchen Hilfsvereins in
einem Wagen dritter Klaſſe.
Es ging in der Eiſenbahn lebhaft zu; jedermann
politilierte, und weil man gerade in der Nähe der Schweiz
war, wurde auf dieſe gejchimpft. Die Deutjhen waren
durch die fo oft und oft aud unnötig geäußerten Sym—
pathien für Frankreich geärgert und empfanden jede Grenz-
fiherung gegen Baden als Schikane, aud) das heute jelbit-
verjtändlide Verbot, badilhe Truppen in Uniform die
Gebiete von Bajel und Schaffhaufen paflieren zu laſſen. Als
das Thema Schweiz erihöpft war, fam Frankreich an Die
Reihe, deſſen entjeglihe Niederlagen vom 14.—18. Augult
in den Schlachten von Colombey-Nouilly, Vionville-Mars-
la-Tour und Gravelotte-St Privat nun erjt jo recht befannt
geworden waren. Der Triumph des Siegers ftand auf allen
Gelihtern, der Spott über Napoleon Fang aus jedem Wort,
und das deutſche Gelbitgefühl jtand im Begriffe, feine höchſte
Stufe zu erjteigen. Ich verhielt mich ruhig, auch bei dem
Gefhimpfe über die Schweiz, da id) einiges als wahr aner:
fennen mußte; auch hätte ein Streit zu feinem vernünftigen
Refultat führen und höchſtens meine Pläne jtören fönnen.
115 8*
Das damals noch franzöſiſche Elſaß lag friedlich da drüben
im Dufte eines herrliden Sommerabends. Wie erjtaunte
ih, als ih im Laufe des Abends auf eine hohe Raudjäule
aufmerffam gemadt wurde, die vom Brande von Straßburg
herſtammen ſollte. Je weiter wir famen, um ſo deutlicher
wurde fie, und den ganzen Abend verlor ich fie nicht mehr
aus den Augen. Bon Offenburg an fam die Dämmerung,
die Raudfäule verfhwand und madte am Horizont einer
Brandröte Plat. War ſchon vorher die Fahrt ſehr Tangjam
mit Halt an jeder Station vor fi) gegangen, jo gab es nun
Aufenthalte von halbjtündiger Dauer. In der Gegend von
Appenweier fonnten wir vom Zug aus direft in das mächtige
teuer bliden und an einer Gtelle jogar einen neu auftreten-
den Brand beobadten; man jah das Aufbligen der Gefchüße
und feurige Bogen von Geſchoſſen in der Luft und hörte das
Donnern der Kanonen. In unfern Wagen drängte ji) ein
badifher Militärarzt, der gerade von den Batterien herfam
und einen Verwundeten in unferem Zuge untergebradt hatte.
Dies alles brachte mich in wenigen Stunden jo redht in die
Atmojphäre des Kriegs. Bom Beginn der Einjhliegung, am
11. Auguft, bis zum 24. waren vor Straßburg nur Feld—
batterien zur Beſchießung verwendet worden, in der Nadt
zum 25. traten die ſchweren Belagerungsgelhüßge in eine
Tätigkeit, die in der folgenden Nacht ihre höchſte Steigerung
erreichte; aud in der Naht zum 27., von welder hier die
Rede ijt, wurde die Beihießung allfeitig weitergeführt. —
Nachts Halb zwölf Uhr fam ih nad) Karlsruhe und war
froh, nahe beim Bahnhof im Grünen Hof ein Quartier zu
finden. Der Gajthof war ſtark befett, befonders auch von
Durdhreifenden Offizieren. Beim Frühſtück am nädjiten
Morgen Ärgerte mid) eine deutſche Yamilie, die die eben be—
fannt gewordene Berlegung des Straßburger Münfters durch
Schrapnellgeſchoſſe nicht nur begreiflich, ſondern löblich fand.
Meine gute Stimmung fehrte zurüd, als ein biederer älterer
Schweizer Arzt, ein Praktiker aus der Oſtſchweiz, ſich zu mir
116
fegte und mir erzählte, daß er auf eigene Fauſt nad den
Schlachtfeldern zum Helfen ausgerüdt jei und nun in Karls-
ruhe Weilungen zu erhalten Hoffe. Er zeigte mir einen Lein—
wandjad, in dem es unheimlich flapperte; es war fein In—
ftrumentarium, das aus einem Dubßend fußlanger Kugel:
sangen mit löffelförmiger Spite beitand und ſchon im Sonder:
bundsfriege oder weiß Gott in welchen ſchweizeriſchen Putſchen
gedient haben mochte. Sonſtige Inſtrumente Hatte er nicht,
feine Kriegshirurgie ſchien jih auf das Kugelausziehen zu
beſchränken. Ob er bei den Deutjchen ein Feld für feine
Tätigkeit gefunden Hat, weiß ich nicht.
Am Morgen des 27. Auguſt juhte ic) das von Socin
geleitete Bahnhoflazarett auf.
Deitli von der Stadt, eine Vierteljtunde vom Perſonen—
bahnhof entfernt, in einem flachen, etwas Jumpfigen Terrain
lag dieſer 140 Schritt lange und 72 breite Schedbau von
10% Meter Firithöhe mit feinem jtaffelförmigen Dache und
feinen nah Norden gerichteten Dedenfenftern. Im Innern
war das Dad durch eiferne Säulen gejtüßt. Der Bau war
erit vor furzem als Werfitätte für ZYofomotivreparaturen er:
richtet und noch nicht zu feiner Beitimmung gebraudt worden.
Ein Geleife der Eijenbahn führte an der nördlichen Schmal-
jeite mittelft zweier Tore durd) einen Vorbau Hindurd), fo daß
Züge durch diefes Ende des Raumes Hindurdfahren fonnten.
An der füdlichen Schmaljeite waren beim Beginn des Krieges
Zimmer für wachehabende Wärterinnen und Werzte, Weib-
zeugfammern, ein Verwaltungsraum, ein Operationsjaal und
ein Zimmer für den Chefarzt angebaut worden.
Beim Eintreten dur) das etwas erhöht liegende Bureau
überjah man den immenfen Lazarettjaal, — nur um weniges
fleiner als der Basler Münfterplat, — mit feinen 400 Betten
in einem einzigen Raum. Es war ein ganz überwältigender
Anblid, diefe durch Oberlicht hellerleuchtete Halle mit dem
bunten Gemifh von VBerwundeten, weißgeſchürzten Aerzten,
MWärtern und Schweitern und den wadeltehenden Soldaten.
117
Der Saal war jo groß, daß jeine entfernten Teile nur ein
allgemeines Gewimmel von Menſchen erkennen ließen und
ein Gejumme, aus dem man etwas deutlicher nur die Stimmen
der nächſten Aerzte und das Stöhnen Verwundeter vernahm.
Bunte Uniformjtüde, die rothen Kreuze des Wartperfonals,
die roten Kappen der Turfos, die hohen weißen Schleier der
fatholiihen Schweitern und die hellblauen Waſchkleider der
MWärterinnen gaben dem Bilde einige Farbe, Blumenjtöde
neben den Betten und einige Gebüſchgruppen dem Saal ein
freundliches Ausjehen.
Socin, der eben auf der Viſite begriffen war, winfte mid)
von weitem zu jih. „Recht, daß Sie gefommen Jind, ic) gebe
Shnen gleich Arbeit, ziehen Sie eine friſche Schürze an und
fommen Sie mit zu Lo.“ Er führte mid) in eine Abteilung
in der Mitte des Saales und übergab mich) dem mir faum
vom Sehen befannten jungen Basler Arzt mit den Morten:
„Sp, 208, hier haben Sie einen Aſſiſtenten, adieu.“ Dr. Lotz,
eben mit Verbinden bejhäftigt, war froh, einen Gehilfen zu
befommen, und ich froh, in weniger als zehn Minuten feit
meinem Eintritt jchon angreifen zu fünnen.
Socin Hatte bei feinem Eintreffen in Karlsruhe den
Dienit jo organijiert, daß er die Patienten in ſechs Haupt:
abteilungen mit je 60-70 Betten und einem Ordinations-
tiihe teilte. Sede Abteilung hatte einige Aerzte und Stu—
denten, eine Anzahl Schweitern und Wärter. Je nad) Zwed-
mäßigfeit zerfiel eine jolde Abteilung wieder in Unter:
abteilungen. Für einzelne Zufjtände, wie ſchwere Blutver-
giftung oder Wundjtarrframpf, waren abgejonderte Verſchläge
vorgejehen.
Dur die Mitte des Saales, von einer Schmalſeite zur
andern lief, um zwei Stufen tiefer als das übrige, ein breiter
Raum, in dem die Tiihde und Kommoden für Verbandzeug
und andere Utenjilien jo aufgeitellt waren, daß man da—
zwiſchen leicht zirfulieren fonnte. Diefer Raum wurde ge-
freuzt von einem zweiten, ebenfo breiten, der die Mitten der
118
Längswände miteinander verband; er nahm auf einer Seite
die Apotheke, auf der andern den Altar für den fatholiihen
Gottesdienit auf. Die Küche, die Vorratsräume und Abtritte
waren außerhalb des Saals an den Längswänden aus Balfen
und Brettern angebaut. Ganz außerhalb des Gebäudes ſtanden
Baraden für eine Waſchküche, eine Leihenfammer mit Gel:
tionsraum, ferner jolde für die militärishe Wachtmannſchaft
und zur Aufbewahrung der Monturjtüde.
Alle dieſe und die früher genannten Anbauten waren
mit unglaublider Schnelligkeit unter Zeitung der Ingenieure
von den Eifenbahnarbeitern hergeitellt worden. Der Badilche
Srauenverein jorgte für Betten, Geſchirr, Wäſche, Verband-
zeug, Nahrung und Medikamente. Als Socin, der ſich in die
Gegend von Wörth zur Heranholung Verwundeter verfügt
heite, am 14. Auguſt zurüdfehrte, fand er fein Lazarett mit
261 Bann bejegt. Ich bemerfe gleich Hier, daß die größte
Zahl am 14. Auguſt mit 283 Batienten erreiht wurde; eine
viel größere Zahl Hätte man faum aufnehmen fünnen, die
Belegung mit 300 Mann war von vorneherein als das Mari-
mum angenommen worden. Die Gejamtzahl der Verpflegten
beirug 643, wovon 373 Deutiche und 270 Franzoſen.
Die Anhäufung jo vieler Verwundeter in einem gemein:
jamen Raum Hatte am Anfang große Bedenken erregt, aber
man mußte bei dem großen Zudrange alle verfügbaren
Räumlidfeiten belegen. Um wenigitens feine jtagnierende
Luft zu haben, ließ Socin aus dem unteren Teil der Lazarett:
mauer und aus den Türen große Quftlöcher ausbreden und
einen Teil der Dachfenſter entfernen. Ein Abzugskanal, der
aus dem Gebäude ins Freie führte, fonnte mit dem Waljer
eines Sodbrunnens gejpült werden, der in der Mitte des
Gaals lag; einem Kanal neben dem Gebäude fonnte man
alle möglichen Abfälle übergeben.
Daß auf die Reinhaltung des Fußbodens und der Betten
große Sorgfalt verwendet wurde, war bei Gocin felbitver-
jtändli; ich erwähne es nur ausdrüdlich, weil ih noch 1872
119
jah, dag auch in dem friedlichen Betriebe einer deutſchen
Univerfitätsflinit nah Ddiefer Richtung nur wenig getan.
wurde.
Als es im Herbit Fühler wurde, mußte an Heizung ge=
daht werden. Man jtellte zuerjt große Kohlenbeden auf,
doch genügten fie nit. Schließlich Tießen die Ingenieure in
vergitterte Rinnen des Fußbodens eine Röhrenleitung legen,
die von einer Lokomotive mit Dampf gejpeijt wurde. Diefe
Einrihtung tat vorerft ihren Dienjt, verjagte aber, als es
Ende DOftober und Anfang November wirflih falt wurde.
Man fah fi auch gezwungen, einen Teil der Bentilations=
löcher zu fihließen, und das ſchien nicht ganz ohne nadteiligen
Einfluß auf den Gejundheitszujtand zu bleiben.
Die Drdnung für den Tagesdienjt jhrieb vor, daß vor—
mittags 8—11 Uhr in jeder Abteilung die ärztliche Viſite
Dur die Abteilungsärzte mit ihren Afjiitenten jtattfinden
ſollte. Dann verfammelten fi) Aerzte und Studenten in der
Dperationsbarade, wo Socin die großen Operationen, wie
Amputationen, NRejeftionen und ſchwierige Gplitterertraf-
tionen vornahm oder durch einzelne Aerzte ausführen ließ.
Als fein jpezieller Operationsafliitent funktionierte Dr. Cout=
poilier, der in der übrigen Zeit ji) mit Socin bald diejer bald
jener Abteilung widmete, um Rat zu erteilen oder Verbände
mit bejonders jehwieriger Technik, 3. B. Schwebeverbände,
auszuführen. Socin durdeilte das Lazarett nah allen Rich:
tungen und jtand immer zur Verfügung, wo man Schwierig-
feiten hatte, wo Entſcheidungen zu treffen waren, oder wo
eine dringende Not, 3. B. eine arterielle Blutung, raſches Ein—
greifen erforderte. Auch außer der offiziellen Operations-
ſtunde jah man die Wärter oft mit der Bahre nad) dem Ope—
tationsjaale eilen. Dort wurde der Patient von der Opera-
tionsjchweiter, der Riehener Schweiter Anna Stoll in Emp—
fang genommen, die Inſtrumente und Verbände jtets ge=
braudsfertig zu Halten Hatte.
Nachmittags zwiihen 1 und 4 Uhr waren die meilten
120
Aerzte in der Stadt, das Lazarett wurde dann von zwei
Yerzten und einigen Affiftenten gehütet. Bon 4—7 Uhr war
wieder Bilite,; auch) da, wo am Abend fein Verband gemadht
werden mußte, gab es doch Arbeit genug, bis alle Verwun—
deten für die Naht gut gelagert und einzelne in ein friſches
Bett gebradt worden waren. Während der Nacht blieben
zwei Aerzte mit zwei Aſſiſtenten und einer größeren Anzahl
von Pflegerinnen auf der Wache. Sämtlihe Ordensfchweitern
und Diafonijjen wohnten in Anbauten des Lazaretts, während
die freiwilligen Pflegerinnen in der Stadt übernadteten.
Die Abteilung, in welche ich zunächſt eingeteilt wurde,
beitand aus 15 Schwerverwundeten, Franzoſen und Deutſchen,
faſt ausjchließlich aus der Schlacht bei Wörth oder Rigshofen,
wie die Franzoſen jagten. Die meiften hatten Knochenſchüſſe
mit Zerſchmetterung der Knochen, bejonders der Oberſchenkel;
einige waren in Bruſt, Baud und Beden getroffen. Diele
15 Patienten gaben uns vollauf zu tun; bei einzelnen dauerte
es eine halbe Stunde und länger, bis fie verbunden und ge—
lagert waren. Melde Leiden Hatten diefe Zeute ſchon durch—
gemadt, bis fie mit ihren zerichojjenen Gliedern endlich im
Rejervelazarett der Heimat angelangt waren! Blutverlujte,
Schmerzen, Fieber, Eiterung, oft auch Diarrhoeen hatten zu
phyſiſchem und moraliſchem Elend geführt und jie in einen
beflagenswerten Zuitand gebradt. Wenn man dann aud
bei aller Schonung und Borliht diefen ſchwerbeweglichen
Leuten beim Reinigen, Verbinden und Lagern wehe tun und
all diefes Seufzen und wohl auch Schreien anhören mußte,
jo waren aud) den Behandelnden oft die Tränen nahe. Ich
jah gleich, daß es fi) da nicht nur um Helfen beim Verbande
und hirurgifhe Pflege der Wunden handle, fondern daß ich
mit meinen guten Körperfräften fajt am nützlichſten wirke,
wenn ic) beim Heben und Tragen diefer Unbeweglichen willig
angreife und die Leiden auf dieſe Weiſe zu mildern ſuche. Ich
habe mir damals eine Gejhidlichfeit nach diefer Richtung er=
worben, die mir fpäter in der Praris gute Dienite leijtete.
121
Einzelne der jungen Aſſiſtenten hielten fi) für zu vornehm zu
ſolchen Verrichtungen, die nad) ihrer Meinung nur für Wärter
paßten. Aber ein junger Menſch darf nicht mit Anſprüchen
auf bejondere Wertfhägung feiner Kenninijje an jeine Auf-
gabe gehen, fondern er foll da angreifen, wo es etwas Nüß-
lies zu tun gibt. Man fann nicht, wie man gerne wollte,
alle Leiden Heilen, aber man fann ohne große Wiſſenſchaft
wohltun, wenn es aud) nur durch Teilnahme, ein freundliches
Mort oder eine fleine Gefälligfeit geſchieht. Einer unſrer
MWärter, ein junger Schweizer mit dem Bornamen Karl, illu-
itrierte täglich das eben Gejagte beim Verbande des durch das
Knie geihoflenen deuten Füſiliers Schenf. Das Knie war
zeriplittert und in Eiterung begriffen, das Verbinden und
Lagern äußerſt ſchmerzhaft, und wir fürdteten uns täglich
vor diefem Verbande, der von dem Fläglidhen Geſchrei des
Patienten begleitet war. Schenf war bei Gravelotte getroffen
worden, in einem Kleeader liegen geblieben, war dann mittelft
der Hände und des gefunden Beins, auf dem Baudhe liegend,
an den Rand des Aders gefrohen und hatte dabei im Klee
eine hübjche hölzerne, mit Silber bejchlagene Tabafpfeife ge-
funden. „Die muß aud, mit“, fagte er zu ji und jtedte fie
ein. Wenn nun im Lazarett die Reihe des Verbindens bald
an ihn Fam, holte der Wärter aus dem Nachttiſchchen die er-
beutete Pfeife, jtopfte fie umjtändli mit Tabaf, entzündete
fie in dem Moment, wo die Schmerzen begannen und ftedte
tie dem Patienten in ven Mund. „So, Schenf; je ziehnd
Sie numme recht!“ Der arme Kerl zog nun aus Leibes-
fräften und blies dide Wolfen. „Nummesn-als witers
g’raudt“, jo ging es die ganze Zeit, „jo iſch's recht, witer,
witer“, jo daß der VBerwundete von unjerer Arbeit abgelentt,
jeine Schmerzen weniger empfand und, die Pfeife im Mund,
uns fein Schreien erjparte.
Ein anderer unfrer Batienten erregte meine bejondere
Zeilnahme aus anderen Gründen. Er war als Barifer
Studiosus juris unter die Fahne geeilt, hatte bei Wörth einen
122
“+
Schuß in den redten Oberarm mit Splitterung erhalten und
war am jiebenten Tage nad) Karlsruhe gelangt; man hatte
ihm bier zweimal Knochensplitter entfernt und war ge-
swungen, am 15. Tage die Amputation zu maden. Geine
Mutter, eine zarte Dame, hatte es unternommen, ihn aufzu-
juden, Hatte ihn endlich gefunden und mußte nun fein Elend
mit anjehen; jie wich) den ganzen Tag nicht von feinem Belt.
Nach der Amputation ſchien es gut zu gehen; der junge, jchöne
Mann verlor etwas von feinem Ddülteren Ausdrud, — da
plößlid, am 28. Tag jtellten ſich zwei Schüttelfröjte ein und
zugleid) der ominöſe fahlgelbe Teint der Pyämiſchen. Die
Mutter, aufs äußerſte erſchreckt, wünjchte den Sohn in einem
fleinern, ruhigeren Spital verjorgt zu jehen, und fo befam
ih von Socin den Auftrag, den Transport zum Diakoniſſen—
haus zu leiten. Der Kranfe wurde in einem Korbwagen von
Vadträgern durch die Stadt gezogen; die Mutter und ih
gingen neben ihm her. Auf dem Bahnhofplag hörten wir
das Stöhnen des Patienten; er hatte, auf dem Rüden liegend,
erbroden und fühlte fi) ſterbensſchwach. Während wir ihn
reinigten und jtärkten, drängte das neugierige Publikum
Hinzu, und es brauchte meiner energijhen Zurüdweijung, um
den nötigen Pla zum Helfen zu befommen. Nach diejer auj-
regenden Scene ging die traurige, langjame Fahrt weiter,
und nad) mehr als einer Stunde fonnte ich den Berwundeten
dem Diafonijjenhaus übergeben. Er jtarb acht Tage jpäter.
— Ungefähr eine Woche vorher war in einer anderen Ab—
teilung ein Heidelberger Studiosus juris mit Durchſchießung
der Hauptarterie des linfen Oberſchenkels, nad) Unterbindung
des Gefäkes, an Brand des Beins geitorben; man hatte ihn
zwei Tage vor dem Tode durd hohe Amputation zu retten
verjuht. Es iſt begreiflid), daß uns Studenten das Schidjal
diefer beiden Kommilitonen bejonders nahe ging.
Als Dr. 2oß für einige Tage mit dem badiſchen Lazarett—
zug nad) Frankreich gereijt war, wurde unjere Abteilung vor-
übergehend mit derjenigen der beiden Freiburger Werzte
123
Dr. Bögeli und Stabsarzt Dr. Thiry vereinigt. Hier waren
die Patienten meift Franzofen, darunter einige Hüninger
Küraffiere, die urchiges Sundgauer- oder Waggisdeutſch
ſprachen. Es waren darunter ältere Troupiers mit à la Na—
poleon geitugtem Schnurr- und Kinnbart; ein jeder trug
unter dem Hemde ein Sfapulier. Zwiſchen Franzoſen und
Deutfhen lagen Turfos, die nur wenige franzölilhe Broden
zur Verfügung Hatten und fi) durch ihren Dolmetſcher Haſſan
ben Abdallah veritändlich machen mußten.
Nach dieſem eriten Blid in die Stätte unjerer Tätigkeit
muß ich wieder auf die Organiſation zurüdfommen. Mit
Socin waren als Aerzte von Balel nach Karlsruhe gefommen:
Prof. E. E. E. Hoffmann, feines Berufs eigentlid) Projektor
an der Anatomie, im Lazarett jedoch ärztlich tätig, Dr. Fri
Müller, der jpätere Ratsherr, Dr. ©. 2. Courvoijier, Dr. Th.
208, Dr. 8. Breiting und Dr. Arnold Ott, leßterer als Leiter
einer Sfjolierabteilung tätig. Es ijt dies derjelbe Dr. Dtt,
der fi [päter als Dichter einen Namen gemadt hat. Später
famen noch hinzu die Doktoren U. Hugelshofer und Fr. Hold).
Von deutihen Aerzten waren angeltelit die Doktoren Bögeli,
Thiry und Brunner aus Freiburg, Dr. Niffel aus Lörrad),
Dr. Schüßenberger aus Konjtanz, Dr. Berton aus Baden-
Baden, Dr. v. Wänfer aus Karlsruhe, Dr. v. Dejlauer und
ein Oeſterreicher, Dr. Hechelmann, für einige Zeit aud) Dr.
Picard aus Karlsruhe. Brof. Edwin Klebs verjah Die
Funktion eines pathologiihen Anatomen und jpäter zugleich
die eines Spezialijten für Nervenverlegungen. Er hatte hiezu
eine eigene Barade mit eleftriiher Einrihtung Während
Abweſenheit von Klebs wurden einige Geftionen von Prof.
Hoffmann gemadt, mehrere von Prof. Meier aus Freiburg,
dem Verfaſſer der Gejchmulitlehre, einem vortrefflichen,
freundliden Manne. Im Herbit jah ich im Lazarett aud
zum eritenmale Prof. Ernit Bergmann, der dann jpäter an
Socins Stelle trat.
Als Hilfsaffiitenten waren von Schweizern angeltellt die
124
Basler Studenten Ineichen, Imfeld, van Hoeven, Deri, Barth
und Bojjart und die in Bern ftudierenden Studioli Sean:
neret und Müller. Dazu famen einige Freiburger und Heidel-
berger Studenten, an deren Namen id) mich nicht erinnere.
Als Apotheker funktionierte ein Mann mit dem paljenden
Namen Braunftein; er war zugleich Materialverwalter und
hatte bejtändig das in der Mitte des Lazaretts aufgeitellte
Faß mit Iprozentiger Carbollöfung gefüllt zu erhalten.
Die Aerzte und Studenten ftanden im Gold des badifchen
Srauenvereins; wir Studenten befamen einen Tagesfold von
zwei Talern und zur Legitimation die weiße Armbinde mit
dem roten Kreuz und dem Stempel des Krauenvereins.
Der Bewahungsdienit wurde von Soldaten ausgeübt,
die unter dem Plagfommando von Karlsruhe jtanden. An
jeder Pforte oder Lüde jtanden militäriihe Bolten. In Ge:
nejung begriffene Franzoſen wurden truppweije unter mili—
täriiher Esforte als Kriegsgefangene weggeführt und ver-
tauſchten ungern die gute Pflege und Kojt des Lazaretts mit
dem bevorjtehenden Aufenthalt in der Feſtung Rajtatt. Aber
der Plagfommandant, General von Freydorf, duldete im La—
zarett nur wirklich der Pflege Bedürftige und wollte feinen
allzu fentimentalen Kultus mit verwundeten Feinden auf:
fommen lafjjen, die bereits das Herz einiger gefühlvoller
KRarlsruherinnen gewonnen hatten. Um die innere Lazarett:
polizei madte fi) auf eigene Fauſt Prof. Hoffmann verdient;
er bejchränfte ſich nicht auf feine eigene Abteilung, jondern
ging überall herum und fand es fiher heraus, wenn und wo
etwas Ungerades vorfiel. Seinem Ordnungslinn entging
fein Handtud), das am Boden lag, feine Wärterin, die gaffend
daſtand oder unnötig lange mit einem Wärter jprad. a,
als Urbeiter auf dem Dache loſe gewordene enter feitzu-
maden hatten und in begreifliher Neugier in den Saal hin-
unterfchauten, rief er ihnen mit lauter Stimme zu: „Sie habe
da nir runter zu gude, gehn Sie an Ihre Arbeit.“ Einzig
Hoffmann gelang es aud ſchließlich ein Rätſel zu löſen, das
125
den jehr exakten Verwalter, Herrn Lecdjleitner in große Ver:
legenheit gebracht Hatte. Es zeigte fih nämlidh, daß, wenn
dDiefer am Tage die Patienten zählte, immer ein Mann
weniger vorhanden war, als wenn er nadts Eontrollierte.
Es war Hoffmann vorbehalten, Licht in die Sade zu bringen
und feitzuitellen, daß es ein als Afliitent angeitellter Heidel-
berger Korpsitudent war, der, um die Koſten einer Wohnung
in der Stadt zu ſparen, ſich jeden Abend nad) feiner Rückkehr
aus fröhlicher Geſellſchaft wieder ins Lazarett gejchlichen und
dort in ein Patientenbett gelegt hatte. — Eine andere Art
origineller Polizei übte ganz im Stillen Dr. Friedr. Müller.
Ein Hofgärtner hatte den Auftrag erhalten, auf jedes Nacht—
tifchchen nicht nur Blumen, jondern aud) einen Topf mit Erde
zu ſtellen, aus dem ein mit Honig beitrichener Stab hervor:
tagte. Dies jollte ein ausgezeichnetes Mittel gegen die
stiegen fein, die, anitatt den Patienten über's Geliht zu
laufen, an diefem Stode feitzufleben hatten. Das war aber
Müller zu Lebrig; in jtillen Stunden ſah man ihn, unter
jedem Arme einen folden Topf, aus dem Lazarett hinfen und
feine Lajt in den Kanal verjenfen.
Daß im übrigen alles jo raſch organiliert war und alle
Räder der großen, improvilierten Mafchine jo gut funftio-
nierten, war wejentlih das Berdienit einiger gebildeter
Männer aus Karlsruhe, die dem Lazarette täglich einige
Stunden opferten; ich erinnere mid) bejonders an die Herren
Wiedemann, den Profeſſor der Phyſik, und Prof. Neßler, den
Chemifer. Ihnen jtanden zur Seite einige Damen, an ihrer
Spike die vornehme Erſcheinung der rau von Berftett; fie
empfingen die Großherzogin, wenn fie ins Lazarett kam,
hielten Aufliht über das Wartperfonal, verfahen die Ab—
teilungen mit neuem VBerbandzeug und brachten von zu Haufe
Erfrifhungen, aud) für die Aerzte.
As Warteperjonal funftionierte eine Anzahl von
MWärtern von verfhiedener Güte, vielleiht zwanzig Mann,
einige davon aus der Schweiz. Einer der leßtern war von
126
einem Bibel: und Traftatfolporteur aus der welihen Schweiz
eingeführt worden und jah jo unfchuldig blühend aus wie der
fromme Knedt Fridolin. Einige Wochen jpäter Hatte fich eine
junge Wärterin feiner jpeziell angenommen und die Rofen
von ſeinen Wangen gepflüdt; er fehrte bald als erfahrener
und geprüfter Mann in die Heimat zurüd.
Die freiwilligen Kranfenpflegerinnen, die vom Frauen—
verein in vierzehntägigen Kurjen ausgebildet und mit einem
hübſchen hellblauen Waſchkleide, weißer Schürze, einem zier-
lihen Häubchen, einem weißen Armband mit dem roten
Kreuz, ſpäter aud mit einer Rotkreuzbroſche ausgeitattet
waren, brachten vielen guten Willen, aber auch einige Leicht:
lfebigfeit mit in ihre Gtellung, jo dak mandes zarte Band
ganz unmwillfürlich zwilchen ihnen und den Gepflegten oder
auch den Pflegern gewoben wurde, deſſen Fäden ſelbſt Hoff:
manns Scharfblick entgingen.
Zur Ausführung der vielen Temperaturmeſſungen war
eine Gruppe junger Leute, Polytechniker und Schüler, zur
Verfügung; ſie ſtanden unter der Leitung von Dr. Ador aus
Genf, der die Reſultate ſammelte und in Tabellen eintrug.
Einen Gegenſatz zu dieſen improviſierten weltlichen
Korps bildeten die weißen und ſchwarzen Ordensſchweſtern.
Die weißen, vom Orden St. Vincent de Paul, kamen von
Freiburg i. Br. und waren ebenſo tüchtige als freundliche
Pflegerinnen; es waren darunter ſehr gebildete Schweſtern,
deren ruhige und geduldige Pflege Reſpekt einflößte. Den
von uns „Ihwarze“ genannten Schweitern fehlte nicht nur der
hohe weiße Schleier der weißen, — ſie hatten über einer
Heinen weißen Haube ein jhwarzes Tuch) auf dem Kopf und
waren überhaupt ganz ſchwarz gekleidet, — jondern auch deren
Ausbildung. Dodh waren aud dieje, wenn ih nicht irre,
barmherzigen Schweitern des Drdens vom göttlichen Erlöjer,
aus Niederbronn, jehr pflichteifrig und braudbar. Ergänzt
wurde das Drdensperjonal durch drei Diafoniljen aus NRiehen,
die Schweitern Anna Stoll, Anna GSteinmann und Gophie
127
Mälti, die weniger dur die Schönheit ihres Koſtüms als
durch ihre Tüchtigkeit und ſchweizeriſche Einfachheit glänzten.
Sm Lazarett wurde in den verjchiedenen Abteilungen
regelmäßig Gottesdienjt durch die proteſtantiſchen und fatho-
liſchen Geiltliden von Karlsruhe gehalten. Die Mohamme-
daner hatten ihren eigenen Feldprieſter, einen alten grau=
bärtigen Araber, dem man den Arm amputiert hatte; in amt-
licher Funktion ſah ich ihn nie.
Täglich ein-, oft zweimal beſuchte die Großherzogin Luiſe
das Bahnhoflazarett, meiſt in Begleitung ihrer Schwägerin,
ver Prinzeſſin Wilhelm. Die Großherzogin jtand an der
Spite des Badilhen Frauenvereins und galt als vortrefflicdhe
Drganijatorin. ‚Nach dem Ausbrude des Krieges hatte fie
die vielen Lazarette in Karlsruhe unter ihre beſondere Ob—
hut genommen und bejudte aud ab und zu die der benad)-
barten Städte Freiburg, Heidelberg und Schweßingen. Das
Bahnhoflazarett mit feinen gewaltigen Dimenjionen befam
natürlich) ihre Fürſorge in bejonderem Maße zu ſpüren. Alle
Mittel wurden jo reichlich gewährt, dag auch der nicht jo Teicht
zu befriedigende Socin deren Fülle nur bewundern fonnte.
Wenn die Verwaltung des Frauenvereins bei dem Verbraudje
diefes Lazaretts mandhmal ein Grauen anfam, und man ihm
den Gpitnamen des Danaidenfaljes gab, fo war doch ftets
dafür gejorgt, dag die Mittel in gleihem Maße zuflojjen.
* *
*
Weil es nun von einigem Intereſſe, auch für uns
Schweizer ſein kann, zu ſehen, wie ein kleines Land von nicht
ganz 1% Millionen Einwohnern die Aufgabe bewältigt, in
der Zeit von ungefähr 9 Monaten über 30000 VBerwundete
aufzunehmen und zu verpflegen, ijt es wohl paſſend, hier furz
einen Bli auf die freiwillige Hilfstätigfeit im Großherzog:
tum Baden während des Krieges 1870/71 zu werfen. Ih
entnehme, außer meiner Erinnerung, genauere Angaben dem
128
1872 erſchienenen Rechenſchaftsbericht der vereinigten Hilfs-
Tomitees des Badilhen Krauenvereins unter dem Protefto-
rate I. 8. H. der Großherzogin Luiſe von Baden.
Der Badifhe Frauenverein hatte, 1859 bei
drohender Kriegsgefahr ins Leben gerufen, ſich vorerft mit
der Ausbildung von Pflegerinnen befaßt. Nachdem im Auguſt
1864 die Genfer Konvention, an der fih auch Baden beteiligte,
abgejchlofjen war, war der Frauenverein 1865 zum Zweig-
verein des in Genf gegründeten internationalen Hilfsvereins
zur Berbeflerung des Loſes im Kriege verwundeter und er—
franfter Soldaten geworden und Hatte im Krieg von 1866
feine erite Probe bejtanden und Erfahrung gewonnen. Im
Jahre 1869 wurde eine Hebereinfunft mit dem Deutfchen Zen—
tralverein geſchloſſen und ein Mutterhaus für Pflegerinnen
gegründet; 1870 war man an den Borbereitungen zur Er-
richtung von Reſervelazaretten für den Kriegsfall.
Beim Ausbrud des Krieges im Juli 1870 waren, ab-
gejehen von Karlsruhe, 70 Krauenvereine zu wohltätigen
Zwecken und (jeit 1866) aud für den Kriegsfall tätig. Die
Eriftenz dieſer Vereine war troß der loſen Drganijation
außerjt wertvoll. Als der Badilhe Frauenverein, an der
Spite die Großherzogin Luiſe, am 18. Juli einen Aufruf
erließ, ftieg die Zahl der Yrauenvereine auf 97, und in den
größeren Drtihaften wurden 16 Männerhilfsvereine neu
gebildet.
Der Aufruf verlangte Lieferung von Gebraudsgegen-
ftänden zum Verband, zur Verpflegung und Erquidung, Gtel-
lung von Wärtern und Oberwärtern für Garnijons- und
Kriegslazarette, Erridtung von Refervelazaretten, Samm:
lung von Geldmitteln zum Sanitätsdienft, zur Unterjtüßung
von Soldaten, ihrer Familien und Hinterbliebenen.
Den Männervereinen, eingeteilt in Rotten, fiel die Unter:
ftüßung Hilfsbedürftiger Yamilien, die Erfriihung Verwun—
deter und Kranker auf dem Transport, der Kranfentransport
und der Bureau: und Nachrichtendienſt zu.
129 9
Der Aufruf Hatte den großartigen Erfolg, daß allein aus
Baden (ic laſſe die auswärtigen Beiträge und die Rüdver-
gütung durch das Kriegsminijterium weg) in kürzeſter Zeit
in freiwilligen Geld: und Naturalgaben 2% Millionen Gul-
den, aljo über 5 Millionen Franken an die Zentralitelle des
Frauenvereins in Karlsruhe gelangten. Doch iſt dieje Zahl
weit unter der Wirklichkeit, weil die Leiftungen vieler Lokal—
vereine, Privatipitäler, Pflegeanitalten, Privatpflegen und
mwohltätiger Fonds nicht mitberehhnet find und viele Sen—
dungen direft an die Truppen gingen.
Bon obiger, dem Badiſchen Hauptverein anver-
trauten Summe wurden verwendet für die Tätigfeit auf dem
Kriegsichauplat 20%, für Kranfentransport 5%, für Lazarett
pflege 40%, für Fürſorge an Refonvaleszenten 3%, für Unter:
ſtützung Invalider 24% und für Verwaltung und Beiträge
an das deutſche Zentralfomitee 8%.
Man fann fi leicht vorjtellen, daß das Zentraldepot
in Karlsruhe bei der NReichlichkeit ſolchen Zufluſſes Mühe
hatte, alles zu ordnen und zu bemeijtern, um jo mehr, als ji)
die Leitung vielfach unerfüllbaren Wünfhen gegenüber jah.
War doc vielen Gaben die Bedingung beigefügt, daß fie an
beitimmte Truppen oder Lazarette gelangen jollten. Das
Gtreben vieler Geber, ihre Gabe im Geijte bis zu deren Ver—
wendung verfolgen zu können, und die Vorwürfe, daß im
Zentraldepot zu viel aufgefpeichert werde, waren zwar bes
greiflich bei Leuten, die die ganze Schwierigkeit einer zweck—
mäßigen und gleidhartigen Verwendung nicht fannten, aber
für die Verwaltung oft eine Berlegenheit. Sie führten denn
aud von Geiten einzelner Bereine und Perſonen zur Um:
gehung der Zentralitelle und zu Sendungen auf den Kriegs
Ihaupla ins Blaue hinein, die bejler unterblieben wären.
Der Bericht zieht aus diefen Erfeheinungen den Schluß, dag
in Zufunft, mit Vermeidung aller Zerjplitterung durch ört-
lihe und perfönlide Rückſichten und Saloufien, alle Mittel
fonzentrijch zu vereinigen und durch eine Kommilfjion mit Ver—
130
tretung der verjchiedenen Landesgegenden dahin zu leiten
jeien, wo jie nötig find. Einzelnen Bezirken würde dann in
pajlenden Fällen eine direkte Wirkung auf den Kriegsichau-
plat übertragen.
Der Ruf nad Pflegeperjonal fand 41 Bflegerinnen vor,
die, vom Frauenverein ausgebildet, zu einem Verbande ge:
hörten und von ihm Gehalt, freie Verpflegung und Gorge für
die Zeit ihrer Untauglicäfeit garantiert erhielten. Hiezu
famen 22 ebenfalls ausgebildete Pflegerinnen, zum Teil
Damen der höheren Gejellidaftsihichten, die nicht dem Ber:
bande angehörten. In Kurſen von vierzehn Tagen wurden
jodann 133 Yreiwillige ausgebildet und dann nod eine
größere Zahl Wärterinnen angeltellt, zulammen 254 welt-
lihe Pflegerinnen. Dazu famen 93 katholiſche Ordens-
Ihwejtern und 39 evangeliſche Diakoniſſen (wovon 7 aus
Riehen), im ganzen 386, die der Zentralitelle unterjtanden.
Nicht eingerechnet iſt eine Anzahl Schweitern verjchiedener
Herkunft, jo u. a. neun Schweitern aus Ingenbohl, die in
privaten Lazaretten wirkten, und ferner das ftändige Per-
lonal der Spitäler in Friedenszeiten.
Die Erfahrung mit den freiwilligen Pflegerinnen lehrte,
daß es am beiten da ging, wo zwei Freiwillige, von denen
jehr viele fih als tüchtig erwielen, mit einer berufsmäßigen
Schweſter zufammenwirften. Das männlide Perjonal wurde
auf das Nötigjte reduziert, da man mit ihm in Ordnung und
Gehorjam weniger gute Erfahrungen made.
Das Transportwefen hatte natürlih im Beginn des
Krieges, wo alle Bahnen und Straßen vorerft für die Truppen
und ihr Material in Anſpruch genommen waren, feine be-
jonderen Schwierigkeiten. In diejer erjten Sturmgzeit, bevor
durch den Gang der Kriegsereignilje die Wege gewiejen und
auch freier geworden und die Verhältniſſe des Transports
geregelt waren, madten ji) bejonders die Männerhilfs-
folonnen, an ihrer Spitze der Regiftrator Rangenberger,
(vielen Baslern von feiner fpäteren Stellung als Inſpektor
131 g*
des Badifhen Bahnhofs Her in guter Erinnerung) verdient;
es bedurfte gewaltiger Anjtrengungen, um, zum Beilpiel nad)
der Schlacht bei Wörth, die Transporte raſch an Ort und
Stelle zu bringen. Zwanzigmal während des Yeldzugs fuhr
der badiſche Lazarettzug mit je 6 württembergijchen Per:
ſonen- und 10 badilhen Güterwagen nah Yranfreih und
wurde, außer von den Xerzten, von diefen Männerrotten be-
gleitet. Die längſte Reife dauerte 13% Tage.
Verpflegt wurden im Laufe des Kriegs in den LRazaretten
des Großherzogtums Baden 30 884 Krieger mit 338 688 Ver—
pflegungstagen. Davon fielen 50% auf die Hauptvereins-
fazarette, 22% auf ungefähr 48 jelbitändige Refervelazarett:
anjtalten, Eleinere freie Lazarette und Brivatpflegen, 28%
auf Garnifonslazarette.
Auf die Hauptvereinslazarette der Städte Brudjfal,
Karlsruhe, Durlad, Mannheim, Schweßingen und Wertheim
famen 15 378 Mann, wovon 4446 auf Karlsruhe Das Ma:
zimum der einzig dem Hauptverein zur Verfügung jtehenden
Betten wurde am 21. September mit 5150 erreicht, die höchſte
Belegziffer am 21. Auguft mit 3800.
Ueberblickt man die gewaltigen Leiltungen des gejamten
freiwilligen Hilfswejens in Baden, jo müſſen fie Bewunde—
rung erregen. Die ſchon im ganzen Land beitehende Organi:
fation madte es den weitelten Kreijen möglich, für die Re—
gungen ihrer Baterlandsliebe und ihrer Menſchenfreundlich—
feit die rechten Wege zu finden. Wenn man fo im ganzen
badifhen Lande Männer, Frauen und Sungfrauen jeder
Gegend, jeden Standes und jeder Konfellion bemüht ſah in
der ſchönen Aufgabe, die Leiden zu heilen, die ein Krieg
bringen mußte, und wenn man in den Tagen der Prüfung
alle dieje Kleinen Hilfsquellen vereinigt fand zu dem ftarfen
Strom eines großartigen patriotifhen und allgemein menjd-
lihen Tuns für Freund und Feind, jo mußte das einem Ad}:
tung einflößen, Achtung bejonders auch vor der Einjiht und
dem Willen der Fürftin, die es zur rechten Zeit verjtanden
132
hatte, alle Human gelinnten Bolfsgenofjen zu einer großen
Tat zu jammeln.
* *
*
Die Großherzogin Luiſe, zu deren Lazarettätigkeit ich
nad dieſer Abſchweifung zurückkehre, war eine ſchöne, freund—
liche Dame von geſundem und energiſchem Ausdruck. Sie
hatte eine große Menſchenkenntnis, einen raſchen Blick für
das Wichtige und Nötige und ein vorzügliches Gedächtnis.
Mit den Aerzten und aud) mit uns Studenten jprad) fie in
ganz einfacher Weiſe, und es fchien ihr zu gefallen, wenn man
ihr ohne Scheu in ebenjo einfacher Weije antwortete. Ebenſo
einfah war ihr Verkehr mit den VBerwundeten, gleihgültig
ob Deutſchen oder Franzoſen. Lebtere wußten wohl oft zu—
erft gar nicht, wer die Dame war, die jie in gutem Franzö—
ih jo freundlich und teilnehmend nad ihrem Ergehen, der
Art ihrer Verwundung, ihren Yamilienverhältnijjen er-
fundigte und, wo fie einen Wunſch entdeden fonnte, am nächſten
Tage das Gewünſchte, ein Kleidungsjtüd, einen Toilettegegen-
Itand, ein Bud) oder eine Erfriihung bradte. So ging fie
alltäglich mehrere Stunden lang von Bett zu Bett und lernte
bald die Leute fehr gut fennen. Das war das Wohltuende
an ihrer Tätigfeit, daß es nicht ein oberflächliches, ſchablonen—
haftes Tun war, jondern daß die verjtändige und geduldige
Fürſorge von Anfang bis zum Ende die gleihe blieb. Nur
jelten jah man fie ungeduldig oder ärgerlich; einmal als ein
Sranzoje ihr gegenüber eine unanjtändige Haltung annahm,
und ein anderes Mal als ein Deuticher, den fie teilnehmen.
fragte, in welcher Schladjt er den großen Säbelhieb befommen
habe, antwortete: „Den hab’ id) von meinem eigenen Unter:
offizier erhalten!“ — da wandte fie fich entrüjtet ab. Un-
behilfliden Yeußerungen Verwundeter gegenüber, auch wenn
fie unfchön oder unzart klangen, hatte jie nur freundliche Teil-
nahme. Mit der Großherzogin fam gewöhnlich ihre Schwä-
gerin 3. KR. 9. die Prinzeſſin Wilhelm, eine muntere, intelli-
133
gente Dame, erfüllt von lebhaftem Intereſſe für das Lazarett.
Auch die badiihe Prinzejjin Elifabeth fam oftmals und er-
freute die Leute mit ihren Gaben. Vieles Vergnügen madte
es uns, den Verkehr des weltgewandten und geijtreichen Soctn
mit den fürftlichen Hoheiten zu beobadten. Geine witigen
Mendungen entlodten den hohen Damen mandes Lädeln;
dabei fehlte es ihm aud nicht an der nötigen Schmiegjam-
feit. Man erzählte ji, er habe es durchaus gebilligt, daß
eine Dame vom Hofe eine gewille Scheu davor empfunden
habe, das Bahnhoflazarett an einem Freitag eröffnet zu jehen,
indem er äußerte: „Auch ich würde jo etwas nie an einem
Freitag tun.“
Dem Großherzog Friedrich wurden wir vorgeitellt, als
er nad) der Einnahme von Straßburg aus dem Hauptquartier
für einige Tage nad) Karlsruhe fam. Cinmal jah ih aud
den Prinzen Wilhelm, nachdem er, bei Nuits an der Spitze
feines Regiments verwundet, raſch genejen war. Eine fran-
zöfifhe Kugel war ihm ins Wangenbein gedrungen und bald
ertrahiert worden.
Sch fehre nun wieder zur Aſſiſtententätigkeit im Lazarett
zurüd. Inder Nacht vom 30./31. Auguft wurde id) zum erſten—
mal zum Nahtwahen fommandiert; mein Borgejeßter in
jener Naht war Dr. Kiffel. Als das allgemeine Tages:
geräufch fi gelegt hatte und der große Raum, durd) Lampen
mäßig erhellt, noch immenfer erſchien als am Tage, erjhien
mir aud) das Elend, das hier angejammelt war, noch größer .
als vorher. Wenn aud) vieler der Krieger jih ein janfter
Schlaf bemädtigt hatte, jo hörte doch das Stöhnen und
Rufen derer nit auf, die von Schmerzen gepeinigt waren.
Einzelne VBerwundete waren in wilden Delirien, die mit,
dem an foldes noch nicht Gemwöhnten, einen jchauerliden
Eindrud madten. Sch hörte in jener Naht auf Deutſch, Pol-
niſch, Franzöſiſch und Arabiſch dvelirieren und jah, welche
134
Mühe die Schweitern und Märter Hatten, dieſe Furibunden
im Bette zu halten und fie daran zu verhindern, ihre Ver-
bände abzureißen. Ein junger Bole, geängitigt durch das
Thermometer unter feinem Arm, wurde durch mein Kommen
plöglich beruhigt, feine wilden Bewegungen legten fih, und
er begann lächelnd mein Gejiht zu jtreicheln, wie wenn ich
ihm als jein Bruder erſchienen wäre. Durch das Halbdunfel
ſah man die weißen Schleier in Bewegung und das Nieder:
beugen über den Betten. Alle Augenblide wurden wir ge-
rufen, bald wegen eines Schüttelfrojtes, bald wegen einer
Blutung, wegen unerträglier Schmerzen oder allzu lauter
Delirien. Bei zwei Blutungen fam ich zu felbitändigem Ein-
greifen, indem ich große blutende Höhlen mit Charpie feit
ausitopfen mußte. Einer der beiden Patienten ftarb noch in
derjelben Naht. Einen unvergekliden Eindruck machte mir
der Anblick zweier von Tetanus (Wunditarrframpf) Er:
griffener, deren Betten nebeneinander jtanden. Beide hatten
heftige Musfelfrämpfe, fo daß fie ji, auf dem Rüden liegend,
derart bäumten, daß fie mandymal nur auf Hinterhaupt und
Serjen lagen. Ihr Geftöhne ging die ganze Nacht weiter, und
der grauenhafte Anblick wurde nur zeitweife durch Chloral-
gaben gemildert. Es jtarben in jener Naht acht Verwundete,
und ih erinnere mid) noch wohl des Seufzers, den Sorin am
folgenden Morgen ausitieß, als er mid) nad) dem Verlaufe
der Nacht gefragt hatte.
Auch die Nachtwache vom 2. auf den 3. September ver-
Tief ähnli,; diesmal ftand ich unter den freundlichen und
geihidten Freiburger Doktoren Thiry und Vögeli, die mid
unter ihrer Auflicht vieles machen ließen und ſich bemühten,
mich chirurgiſch zu erziehen.
Am frühen Morgen des 3. September war ih nad)
meinem Zimmer in der Stadt geeilt, um mi) nad) der Nadt:
wache umzukleiden. Als ic) zurüdfehrte, bemerkte ich eine
eigentümliche Aufregung im ganzen Gaale, bejonders bei den
Deutihen; es war das Gerücht von einer großen Schladt ein-
135
gedrungen, doch wußte man nichts Genaueres. Gegen Mittag
fam die Großhergogin in unjere Abteilung; fie trat raſch auf
mid zu und jagte: „Und die herrlichen Siegesnadhridten,,
was jagen Sie dazu? Denken Gie, eine große Schlacht bei
Sedan und Napoleon mit Mac Mahon und der ganzen Armee:
gefangen!“ Ich war jo verblüfft, daß mein Glüdwunjd viel-
leicht etwas ungeſchickt ausfiel. Die Nachricht flog mit Blißes-
Ichnelle durch das Lazarett, und als dann draußen das Vik—
toriafehießen erſchallte, mijhte fih in den Donner der Ge-
ſchütze das Jauchzen verwundeter Deutjcher.
Am 12. September kam ein Nachſchub von 150 Verwun—
deten, nachdem der Tod und die Evakuation Geneſender einigen
Platz geſchaffen Hatte; von den 15 von mir angetretenen Pa—
tienten waren nur noch 8 vorhanden. Es begannen nun die
Deutſchen vorzumwiegen; fie jtammten meijt aus den Schladten
um Met, und aud Straßburg lieferte ziemlidhen Zuzug.
Unter den Franzoſen waren jehr nette, liebenswürdige
Reute; die Mehrzahl aber war wenig gebildet. Der Zu:
ſammenbruch Frankreichs bei Sedan erfüllte mande mit In—
grimm, die meilten jedoch ſchienen von erjtaunlider Gleich—
gültigfeit gegen die Geihide ihres Vaterlands. Auch die
Großherzogin, die an jenem Tage aus Zartgefühl die Fran—
zojen mied, war nachher erjtaunt über deren politiide In—
dolenz. Unter den Franzoſen waren neben jungen Leuten
viele Troupiers, die ſchon in der Krim 1854—55, in Italien
1859 und jpäter in Merifo gefämpft Hatten, und denen man
das Soldatenmetier anjah. Vieles Intereſſe erwedten die
Turkos, diefe afrifaniihe Truppe, durch deren Herbeiziehung
man das gelittete Deutjchland im Beginne des Kriegs er—
Ihredt Hatte. Es ging ihnen der Ruf großer Wildheit und:
Graufamfeit voraus, und man dachte mit Bangen an das
Einbrechen dieſer Horde in Deutihland. Bejonders die
Srauenwelt zitterte vor diefen Unholden, von denen es hieß,
daß jeder auf feinem Tornijter eine lebende Wildfage mit
ih führe. Diefer Truppe waren darum in den Schladjten
136
von Weißenburg und Wörth die Fräftigiten Kolbenjchläge
befonders durch Die Bayern gewidmet worden, und man fann
lagen, daß nad) Wörth die Turfos als befondere Truppe zu
eriftieren aufgehört Hatten. Im Lazarett waren fie nun ſchon
durch ihre Wunden gezähmt und führten fi ordentlih auf.
Sie waren, wie die andern, von verjhiedener Güte und aud
von verſchieden angenehmem Ausjehen. Die Mehrzahl Hatte
den feinen arabilhen Geſichtstypus bei ſchönem ſchlankem
Wuchs und brauner Haut, eine Fleinere Zahl war plumper
und näherte jih in Gejihtsbildung und Haarwuchs der Neger
tajje, es waren augenſcheinlich Miſchlinge. Alle Ließen fich
die Haare rings um den Kopf wegralieren, jo daß nur der
Scheitel einen Haarbuih trug. Ein jehr netter Mann vom
arabiſchen Typus war der Dolmetſcher Haljan ben Abdallah,
eine komiſche Figur der junge Dihil Ali ben Marfoli, der
fi) einige franzöſiſche, ja ſelbſt deutſche Sätze angeeignet hatte.
Er war ein jhlanfer Süngling mit freundlid) ſchlauem Aus—
drud, der raſch der Freund aller, auch) der Deutjchen wurde.
Er war leiht verwundet, trug einen Arm in der Schlinge
und benußte die freie Hand zu allerlei Hilfeleiltungen und
Diebereien, weld) legtere ihm niemand übel nahm. Er hatte
einen enormen Appetit und wußte ſich bald da bald dort Ep .
waren und Früchte zu verjchaffen, weil er beteuerte: «Moi!
jamais rien mange.» Wenn GSocin etwa mit einer Gruppe
fremder Aerzte durchs Lazarett ging, ſchloß er jich gerne dem
Zuge an, und jelbjt die Großherzogin mit ihren Hofdamen
wurde durch feine Begleitung beehrt. Er jtand bei ihren
Gejpräden mit den Werzten ftill und tat, als ob er die Unter—
haltung verjtehe, was er durch Lächeln und Niden bezeugte.
Ueberall wurde er geduldet, jo wie man etwa einen Lieb—
lingshund mitlaufen läßt. Endlich ſchlug auch jeine Stunde,
leine Wunde beijerte fich, jo daß er beim Verbinden nicht mehr
biri, biri, biri, d. H. 9 weh, o weh, o weh rufen mußte und mit
dem Ruf: «Mabul böseff!», das heißt etwa: „O ihr blöd—
finnigen Kerle!“ in die Feſtung abgeführt werden fonnte,
137
verjehen mit einem Neuen Tejtament, durch dejjen freundliche
Annahme er einen Bibelfolporteur erfreut hatte. — Einige
der Turfos waren ganz alte Leute, darunter der ſchon er-
wähnte Priejter. Einer der Alten war am Oberarm am:
putiert, und als die Wunde fhon fajt vernarbt war, jtand
immer nod) der Knochenſtumpf weit aus Dderjelben vor.
Das abgejtoßene tote Knochenende war ſchon gelöjt und wurde
einmal von Socin en passant fchnell mit zwei Fingern her:
ausgezogen. Das erregte, wiewohl ganz Jchmerzlos, den
höchſten Schreden des Alten, ich erinnere mid) noch feines
unheimlich erjtaunten Geſichts; er muß Socin für einen Zau—
berer gehalten haben.
Mit den alten faijerlichen Troupiers und den Afrikanern
verglichen, waren die Deutjchen unjerer Abteilung von beijerer
Qualität, gejunder, reinlicher, gebildeter, bejonders die vom
Lande jtammenden Leute madten einen guten, auch moraliſch
gejunden Eindrud. Auch von vielen Städtern läßt fi) das—
jelbe jagen, Doc waren da au ſchon Leute zweiter Güte mit
Neigung zu Unbotmäßigfeit und ſchnoddrigen Reden.
Zu jener Zeit befamen wir zwei Patienten, einen Deut-
Then und einen Franzoſen, die beide die gleiche, ſchwere Ver:
legung hatten, nämlich einen Schuß quer durch den Kopf mit
Verluſt beider Augen; ich erinnere mich ihrer mit Teilnahme.
Bei dem Deutſchen Hatten wohl auch die Geiltesfräfte etwas
gelitten; denn er vertrieb fi die Zeit mit dem Spielen einer
Heinen Kinderdrehorgel, einem Geſchenk der Großherzogin,
und hoffte ficher, auf den Geburtstag feines Königs das Augen—
licht wieder zu erhalten. Ein Ziethenhujar war beſſer davon—
gefommen: ein Granatjplitter hatte fein linkes Wangenbein,
den Jochbogen, die äußere Knochenwand der Augenhöhle, das
Auge und einen großen Teil der Wange weggeriljen; die Naje
und das rechte Auge blieben erhalten. Als die große Wunde
in Vernarbung war, jah der Mann, von der rechten Geite ge-
lehen, ganz hübſch aus, jo dak man die gräßlidhe Verunital:
tung der linken Seite nit ahnte. Er war jtets guter Dinge.
138
Wenn ich mittags oder abends bei Gängen nad) der Stadt
den Bahnhof kreuzte, jah ich oft württembergifhe und bay:
riſche Lazarettzüge, von denen mir bejonders die württem-
bergifchen gefielen, weil deren Einteilung fie zum Legen und
Aufhängen von Betten und zum Zirfulieren des Pflege:
perjonals geeigneter madte als die Wagen mit Querabtei-
lungen. Die am 12. September im Bahnhoflazarett an:
langenden Verwundeten wurden durd die Eiſenbahn ins
Lazarett gefahren, nadts 9 Uhr bei Fackelſchein ausgeladen
und auf Tragbahren direft zu den Betten getragen. Mehrere
Dale fah ich auch Lazarettzüge, die nicht Verwundete, fondern
Typhus- und Ruhrfranfe enthielten, Leute, die oft ebenfo
großes Elend durchgekoſtet hatten als die Blefjierten.
Sn grellem Gegenfaß zu diefen Zügen des Elends jtanden
joldhe, die junges Volk, oft Freiwillige, die eben in der
Heimat ihre erite kurze militäriihe Ausbildung erhalten
hatten, als Ergänzungsmannjhaften nad) Frankreich Hinein-
führten. Ich Höre jet noch das Jubelgeſchrei aus einem
ſchwäbiſchen Soldatenzug mit der Aufirift: „Turfos von
Ehlingen.“ Wie mander diejer Begeilterten mag ſpäter auf
dem Schlachtfelde von Champigny geblutet Haben! Ende Gep-
tember beobachtete ich größere Truppentransporte, die mittelft
der Eijenbahn rheinaufwärts gejandt wurden; es war dies
die Zeit, wo durch die bevoritehende oder geſchehene Kapi-
tulation von Straßburg die Deutſchen zu weiterem Vordringen
nad Süpdwelten freie Hand befommen hatten. Alles, was
Karlsruhe pajlierte, Kranfe und Gejunde, wurde am Bahn-
hofe verpflegt und erquidt.
Am 26. September waren nur noch 150 Patienten im
Lazarett. Socin kehrte nad) einem mehrtägigen Beſuch aus
dem badiſchen Hauptquartier nah) Karlsruhe zurüd, um am
4. Oftober einen Schub von 63 Verwundeten aufzunehmen,
die bis dahin in Nancy oder Nanzig, wie man jebt jagte, von
Profeſſor Heine aus Innsbrud behandelt worden waren. Viele
der neu Angefommenen hatten infolge des jehr langſamen
139
Transports Schmerzen und Fieber. Die Gypsverbände um
Die gebrochenen Extremitäten lagen zu enge, weniger weil fie
etwa zu ſtraff angelegt waren, als weil bei der Erjhütterung
durch den Transport die Glieder in den Berbänden an—
geihwollen waren. Durd die Jog. „Fenſter“, d. h. Deffnungen,
die man aus dem Gipsverbande über den Wunden aus=
Ichneidet, um dieſe bejorgen zu können, quollen die Granus
Iationen (das Fleiſch der Wunde) in üppigiter Wucherung
hervor. Man mußte die meilten Verbände gleich abnehmen
und vielen verjtedten Eiterherden Abflug verjchaffen, jo daß
der Arbeit für die folgenden Tage mehr als genug vorhanden
war.
Mittlerweile Hatte fih Straßburg am 28. September dem
General Werder ergeben; das dumpfe Dröhnen der Gejhüße,
das man außerhalb der Stadt Karlsruhe jeit Ende Auguft,
bejonders nadts, faſt ununterbroden gehört hatte, war ver-
ftummt, und mit Subel hörte ganz Deutjchland, daß dieje alte
deutihe Stadt zurüderobert ſei. Sch erhielt einen Tag Ur:
laub und mifhte mid am 12. Dftober unter die Völferflut,
die fi von Kehl aus mitteljt einer Schiffbrüde, neben der
im Beginn des Krieges zerjtörten Gitterbrüde, über den Rhein
wälzte. Auf dem Tinfen Ufer wurde man beim Kommen und
Gehen durch einen langen Brettergang getrieben und dort
mit Phenoldämpfen „geräudert“, da man auf diefe Weife die
Ein: und Ausjhleppung von Epidemien verhindern wollte.
Nachdem ich mich in der Stadt orientiert hatte, bejuchte ic
das Münjter und Jah die Schäden, die durch deutſche Geſchoſſe
angerichtet worden waren; jie waren groß genug, wenn id
mir fie auch noch ärger vorgeitellt hatte. Der Bau joll ge—
Ihont worden jein von dem Augenblid an, wo die Franzoſen
ihr Obfervatorium vom Dade des Münjters zurüdgezogen
hatten. Auf dem Kleberplat jah ich eine Revue deuticher
Truppen. Sn der Stadt wurde man öfters angelprodhen von
Leuten, die durch die Belagerung völlig hilflos geworden
waren, in den Gafthöfen befam man für vieles Geld recht
140
wenig zu ejlen. Der Kontraft zwiſchen den fatten, felbit-
bewußten Siegern und den ſchüchtern herumſchleichenden Ein-
wohnern war aud) jeßt noch auffallend. An den Straßeneden
war überall nod die Proflamation von General Uhrich an-
geichlagen, durch welche die Bevölferung aufgefordert wurde,
das Anerbieten der hodhherzigen Schweiz anzunehmen und
Greife, Frauen und Kinder der vor der Stadt erihienenen
Ihweizerijhen Delegation zu übergeben. General vn. Werder
beging dadurch, daß er während der Belagerung es geftattete,
einen hinderlihen Ballaft und eine große Zahl von Eſſern der
Ipärlich gewordenen Lebensmittel aus der Stadt zu entlajlen,
eine Tat jeltener Milde gegen den Feind, und wenn jebt in
Bajel durh das von einem danfbaren Franzoſen geſtiftete
Straßburger Denkmal die Nachwelt an die nahbarlidhe Hilfe
der Schweizer erinnert werden joll, jo muß man immer aud
daran denken, daß das Gelingen der ſchönen Tat nur dur
Die Noblefje des Belagerers möglich wurde. Ich Hatte im
September, als die Schweizer Delegierten Römer aus Züri),
von Büren aus Bern und unjer Basler Staatsſchreiber Gott-
lieb Bilhoff von Straßburg zurüdfehrten, den leßteren in
Karlsruhe gejehen; er hatte vor Straßburg den Großherzog
von Baden um Unterjtügung beim fommandierenden General
gebeten.
Mein Weg führte mich durch das zerjtörte Steinquartier
zu den durch die Belagerungsgeihichte befannten Lünetten
92 und 53 und zu der Stelle, wo Brefche gelegt und der Sturm
vorbereitet worden war, auch) befam ich zum erjtenmal einen
Begriff vom Bau der Parallelen und der unfäglichen Arbeit
und Gefahr, die das nächtliche Ausheben diefer für Gefchüße
pafitierbaren und durch Erdauffhüttungen geſchützten Gräben
verurfadt Haben mußte. Den Schluß der Wanderung madte
ein Bejuh in der Zitadelle, wo alles darniederlag und aud
die Kaſematten feinen Schuß mehr boten. „Dene habe mer
eingheißt, net?“ fagte mit felbftbemußter Miene ein Württem-
berger Kanonier zu einem Bejucher, „jedesmal wenn ſo⸗n⸗e
141
Granat’ wieder recht n’ein gſeſſen iſch, Habe fie drinn (die
Franzoſen in der Zitadelle) gjagt: Dees iſch wieder Aine v0
de Schwabe, dene... . köpf!“ Badiſche und württembergiſche
Batterien hatten in der Tat von Kehl aus die Zitadelle
niedergelegt. Auf dem NRüdwege ſah ih das Wegführen
großer Vorräte, u. a. aud) vieler Wagenladungen roten fran=
zöſiſchen Militärtudjs.
Einmal bejuchte ih an einem ſchönen Herbitfonntage auch
Heidelberg, deſſen Schloßruinen jo lebhaft an Deutichlands
Schwäche erinnerten, jet aber von einer jubelnden Menge
erfüllt waren, die den Klängen deutiher WBaterlandslieder
lauſchte.
Hier muß ich noch einen Beſuch erwähnen, den ich in
meiner erſten Lazarettzeit erhielt, und der mir beſondere
Freude machte. Am 8. September erblickte ich plötzlich in
unſerer Abteilung meinen Freund, Stud. theol. A. v. Salis.
Er war auf der Rückreiſe von einer mehrtägigen Fahrt, die
er als Mann des Sriedens, aber wohlverjehen mit geladenen
Piltolen, im Auftrage der Internationalen Agentur für die
Verwundeten in die Gegend von Met unternommen hatte,
um 40 Kolli von Berbandgeug, Hirurgifchen Inſtrumenten,
Meditamenten und Lebens: und Genußmitteln in die Laza=
rette zu bringen. Sein Weg Hatte ihn bis Pont-&-Mousson
geführt, und es war ihm troß aller Schwierigkeiten gelungen,
feine Schäße in zwei Eijenbahnwagen unverjehrt an den ge=
wollten Ort, das Seminarlazarett, zu bringen. Er Hatte
dort unjre Mitbürger Dr. Albert Burdhardt und Dr. Mori
Roth und zwei Doftoren Heß aus Züri in Tätigkeit ge—
troffen. Daß wir beide, unjerer gewohnten Tätigkeit ent-
rüdt, aber beide in gleihem Sinne wirfend, uns trafen, madte
uns großes Vergnügen, und wir Hatten uns bis tief in die
Naht zu erzählen.
Alle Welt war damals bereit, den Verwundeten Hilfe zu
Ipenden, und die Internationale Agentur vom Rothen Kreuz
in Bajel war einer der Sammelpunfte für diefe freiwilligen
142
Gaben. Der Prälivent des internationalen Komitees in
Genf Moynier war bei Beginn des Kriegs nad) Bajel ges
fommen, und nun bejchäftigte ji eine größere Anzahl Herren
und Damen in der Kapelle an der Nittergajfe damit, die
Gaben in Empfang zu nehmen und fie dahin zu ſpedieren,
wo die Not am größten war. Auch Salis hatte fi alltäglich
an den Arbeiten diejes Bureaus beteiligt und war jo dazu ges
fommen, eine wertvolle Sendung zu dirigieren. Die Agentur
entjaltete bis zum Friedensſchluß eine große und ſegensreiche
Tätigkeit, nieht nur dur die Vermittlung von Liebesgaben,
die Verpflegung von vielen Verwundeten, die auf der Heim:
reife durch Baſel famen, und jpäter die Sorge für die Inter—
nierten, Jondern namentlid) als zuverläjligite Auskunftsitelle
über das Schidjal Gefangener, VBerwundeter und Verſchollener
aus beiden Armeen.*)
Es mögen 1870 in der Schweiz nur wenige gebildete Fa—
milien gewejen fein, in denen man nicht abends beim Licht
aus alter Leinwand Charpie zupfte. Es war dieje damals.
das allgemein gebraudte Verbandmittel zum Bededen der
Wunden; war fie ſchön, Faden an Faden, geordnet, jo wurde
te von den Schweitern in handtellergroßen Päckchen als ſo—
genannte Plumasseaux, mit Karbol getränft oder mit Salben
beitrichen, den Werzten gereiht. Cinzelne Aerzte zogen ſchon
damals die nicht geordnete Charpie, die fog. „Kraufe“ vor,
gewiß mit Recht, da fie jo geeigneter war zur Aufjaugung der
Wundflüſſigkeiten. Die jest allgemein gebraudte Hydrophile
Berbandwatte, d. H. dur) Entfettung zum Auffaugen dienlich
gemadte und bejonders gereinigte Watte und aud) die Gaze—
Itoffe famen allgemein erjt nad) dem Kriege auf, ihre fabrif-
mäßige Herjtellung in der Internationalen Verbanditoff-
fabrif zu Schaffhaufen Hatte erjt im November 1870 begonnen.
Daß neben vielen guten Wünſchen, die das Charpiezupfen be=
*) Genauere Angaben finden fi in den Bulletins der Agentur
und in der intereflanten Arbeit von Dr. Fri Bauer: „Bor 25 Jahren”
im Basler Jahrbuch von 1896.
143
gleiteten, auch viele Unreinigfeiten in die Charpie hinein—
gerieten, wird man gerne glauben, wenn man bedenft, daß es
namentlih Kinderhände, und gewiß nur felten frijd-
gewaſchene, waren, die fi dDiefer humanen Tätigfeit wid-
meten. Socin war der Charpie gegenüber ſchon damals miß-
trauifch, und als fi einmal Fälle von Blutvergiftung auf-
fallend gehäuft Hatten, Tieß er einige große Ballen, ich glaube
aus Stalien jtammende Charpie, die einen eigentümlicdhen
Geruch hatten, zerjtören oder „in den Rhein werfen“, wie er
fi) ausdrüdte. Sie werden wohl in eine Papiermühle, wenn
nit gar in ein anderes Lazarett gewandert fein. Bon der
aus Bajel ftammenden Charpie hieß es damals natürlid,
fie fei die beite; fie wird es wohl auch gewejen ſein.
Von Oktober an war meine Stellung oft ziemlidh felb-
ftändig, weil die Patientenzahl ſchwankte und aud im ärzt-
lihen Berjonal viele Verſchiebungen ftattfanden. Stabsarzt
Thiry war nad) Kork fommandiert worden, was mit jehr leid
tat. Um fo enger ſchloß ich mich an Dr. Lotz an, der mir vom
erften Tage unſerer Befanntihaft an jehr freundlid ent-
gegengefommen war. Wir hatten uns auf den Gebieten der
Kunſt und Literatur von übereinjtimmendem Geſchmack ge-
funden, und jo fam es, daß ich bald vom Aſſiſtenten zum
Freund avancierte. Der Verkehr mit dem natürlichen, ge—
bildeten, wißigen und do jo wohlwollenden Mann bei un:
ferem Zufammenarbeiten gehört zu meinen ſchönſten Erinne-
tungen aus dem auch ſonſt jo interejlanten Lazarettleben.
Es waren unter den ersten die verjhiedeniten Cha—
taftere, vom menſchenfreundlichen und gebildeten Mann bis
zum läftigen Pedanten, und von da bis zum oberflädlichen
Shwadroneur. Auch die medizinishe Ausbildung war jehr
verſchieden, bejonders nad) der hirurgifchen Geite, und mander
junge Doktor machte erjt bei diejer Gelegenheit feine praf-
tiihe Lehre. Die Wirkjamfeit war natürlich) von verfchiedener
Güte je nad) dem Pflichteifer, dem auf Willen und Erfahrung
ruhenden Können, dem praftiihen Geſchick, der Reinlichkeit
144
und dem gefunden Menſchenverſtand, der auch da zur un-
entbehrlichiten Ausrüftung gehörte. Auch) wenig Bewanderte
fonnten in kurzer Zeit tühtig werden, während andere ver-
ftändnislofe Schablonenmenjhen blieben in all ihrem Tun.
In welhem Maße Vernunft Unfinn, Wohltat Plage werden
fann, fonnte man beijpielsweije beim Gebraud der dirur-
gilhen Sonde durch einzelne Aerzte beobachten. Die Sonde
ist ein notwendiges und wichtiges diagnoitifches Inſtrument
zur Aufluhung von Geſchoſſen und Knochenſplittern und war
damals nod) oft, viel mehr als fie es heute fein würde, nötig
zur Feſtſtellung der Lage des Schukfanals. Sie kann nützlich
wirfen, wenn fie rein ijt, nur mit leiter Hand geführt und
nur zu einem wohl erwogenen Zwed benüßt wird. Gefährlich
tft fie immer, wenn fie unfauber gehalten, unnötig oder gar
brutal gehandhabt wird. Ich erinnere mich nun eines jehr
pflichteifrigen deutichen Arztes, der es für ſeine Pflicht Hielt,
täglih ganz jchablonenhaft die Sonde in alle Schukfanäle
einzuführen, um deren Länge in Centimetern zu meſſen und
jo den Fortſchritt der Heilung feitzuftellen! Bei wie vielen
von feinen Pflegebefohlenen er dadurch Fieber, Entzündung,
— der Begriff der Wundinfeltion war damals erit in feinen
Anfängen, und von Gterilijation der Inſtrumente im heu-
tigen Sinne feine Rede — und Schlimmeres erzeugt hat, weiß
ich nicht, wohl aber daß die Viſite auf feiner Abteilung durd)
rieles Geächze und Geſchrei erfennbar war. „Hören Sie,“
jagte Dr. Bögeli zu mir, „wie's da drüben bei Bohrhubers
wieder zugeht!“ Jetzt haben wir es leicht, alles bejjer zu
willen, wo die Lehre von der MWundinfektion wiſſenſchaftlich
durch die Bakteriologie begründet ift. Damals war es ſchon
viel, daß Socin immer vor unnötigem Gondieren warnte und
die Desinfektion der Sonde verlangte. Er mußte es aber felbjt
einmal gefhehen Iafjen und mitanfehen, wie ein deutjcher
Brofeffjor, — eine der bedeutenditen Hirurgifhen Größen, —
bei einem Beſuche, durch feine Sonde, die er aus der Rocktaſche
309, einen Fall von perforierendem Knieſchuß verdarb. Socin
145 10
war außer ji), als dieſer Sondierung eine heftige Entzündung
folgte. ==
Mitte Dftober, als id) einmal über Mittag im Lazarett
zu hüten Hatte, fam eine Gruppe von fremden Aerzten, um
die Einridtungen zu jehen. Als fie in unfere Abteilung
famen, bat mich einer der Herren, ein älterer Mann, ihm
über die Patienten zu referieren. Ich tat das, jo gut ih es
fonnte, und hatte an dem Fragenden einen aufmerfjamen Zus
börer. Als id) von einem jungen deutſchen Verwundeten fagte,
daß jein Schultergelenf verle&t fei, betrachtete er aufmerfjam
die Lage des Arms und fagte dann: „Wenn Sie wirkflih fiher
find, daß das Gelenf eröffnet ift, dann liegt der Arm nit
gut, erlauben Gie, dak ich Ihnen zeige, was ich meine, haben
Sie einige Kiljen?“ Die Kiſſen wurden herbeigejhafft und
nun hieß mic) mein Beſucher den Arm des Kranken fanft in
die Höhe heben, jo daß das vorher etwas unter der Horizon-
talen ruhende Glied eine etwas erhöhte, mehr als wagerechte
Lage befam. Dann legte er den Patienten gerade, ſchob forg-
fam einige Killen unter, befejtigte fie und fagte: „So, nun
iſt das Gelenf entipannt, Sie müjjen immer ſuchen die Span—
nung zu vermindern.“ Der Mann, der mir diefe improviſierte
Lektion in fo netter, freundlicher und einleucdhtender Art ge-
geben hatte, war fein Geringerer als der berühmte Pirogow,
der rufliihe Chirurg des Krimkriegs, in jener Zeit neben
Stromeyer wohl eine der größten Autoritäten in der Kriegs—
chirurgie. Bon weiteren Hirurgiihen Größen ſah ich Victor
v. Bruns, meinen fpäteren Lehrer in Tübingen, und Theodor
Billroth, deſſen Schüler wir alle durch fein ausgezeichnetes
Lehrbuch über Allgemeine Chirurgie waren. Felix v. Nies
mepyer, der interne Klinifer von Tübingen, fam in unjer
Zazarett auf feiner Rüdreife aus Frankreich; er war wegen
ausbrechender Typhus- und Dyfenterieepidemien ins Feld
gejandt worden. Einen andern Internen, Prof. Kußmaul
von Freiburg i. Br. (fpäter in Straßburg und Heidelberg),
ſah ih, als ihm von Socin unjere Bruftverlegten vorgeitellt
146
wurden. Es fiel mir auf, wie jorgfältig er unterfudte und
feine Diagnofen ftellte, und wie liebenswürdig er ſich gegen
die Patienten und die Schweitern benahm. Viele andere her:
vorragende Werzte und Klinifer, die zum Bejuhe Tamen,
fannte ich nicht.
Der Beſuch von Pirogow gibt mir Anlaß, wieder auf die
ſtets interefjanten Nachtwachen zurüdzufommen. Ein badiſcher
Soldat, am 6. Oftober bei Etival verwundet, Hatte einen
Schuß durch die Achjelhöhle, der das Nervengeflecht getroffen
und zur Yähmung des Arms geführt hatte. Zehn Tage nad):
ber zeigte eine außerordentlich ftarfe Blutung, daß, was man
auch ſchon befürchtet Hatte, eine größere Arterie, vielleicht die
Hauptarterie der Achlel, getroffen war. Socin entihloß fi,
das blutende Gefäß aufzufudhen und zu unterbinden, was bei
der neu hHinzugetretenen jtarfen Schwellung eine ſchwierige
Sade zu werden verjprah. Als der Patient ſchon auf dem
DOperationstiihe lag, fam Pirogow mit feinen Begleitern.
Socin legte ihm den Fall vor und bat ihn um feinen Rat.
Pirogow riet, da die Blutung aufgehört Hatte, jet noch von
der Unterbindung abzuftehen und es vorerjt mit einer lange
fortgefegten Kompreſſion der Arteria subelavia mitteljt der
Singer zu probieren, von welcher er in einem ähnlichen Yalle
vor kurzem gute Wirkung gejehen hatte. Der VBerwundete
wurde wieder in fein Bett getragen, und nun unternahmen
es die Aerzte und Aſſiſtenten, je eine Stunde Hinter dem Pa:
tienten figend, mit zwei Fingern in die Grube oberhalb des
Schlüfjfelbeins tief einzudringen und die dort gefühlte große
Hauptarterie gegen die Rippe zu drüden. Es war eine harte
Arbeit und die Anftrengung faum eine Stunde lang aus=
zubalten, auch wenn man zeitweije die prejfende Hand mit
ihren taub gewordenen Yingern durch die andere Hand unter:
ftüßte oder dur) eine fremde Hand unterjtügen ließ. Cine
harte Arbeit für die Helfenden, aber zugleich welche Qual für
den Berwundeten! Freund Barth und id) Hatten den Pa=
tienten für die folgende Naht übernommen und bejorgten
147 10*
nun abwehslungsweife, je eine Stunde, die Kompreffion. Die
Qualen, die der arme Mann troß wiederholter Morphium-
gaben auszujtehen Hatte, vergejle ih nie. Am folgenden
Tage mußte die Kompreflion nad 22jtündiger Dauer auf:
gegeben werden. Da die Geihmwuljt noch zugenommen hatte,
unternahm es Gocin nun doch, Die blutende Stelle aufzu-
ſuchen; er fand nad) Ausräumung großer Blutgerinnfel aus
der Höhle zuerſt eine blutende Stelle an einem Nebenafte
(arteria circumflexa humeri) und dann ein fleines Lo zu
oberft am Hauptitamm (arteria axillaris). Beide Arterien
wurden unterbunden und die Blutung ftand. Aber nun folgte
Brand des ganzen Armes, dem der Patient am 6. Tage nad)
der Operation erlag. Die Erartifulation im Schultergelenk
wurde wegen des dejperaten Allgemeinzujtandes unterlaffen.
Nicht alle Nachtwachen verliefen jo anftrengend wie die
gejhilderte. Die aus Nancy übernommenen Patienten waren
in ein ruhigeres Stadium getreten; neue famen nur in Eleiner
3ahl. Da mußte man jhon, um wad) zu bleiben, zu anderen
Mitteln greifen. Viele Briefe wurden in jolden Nähten ge-
ichrieben, viele Bindenvorräte gerollt, au) Domino und
Neuntelftein taten ihren Dienft, und felbjt einzelne Ordens:
Ihweitern verſchmähten ein Spielden nidt. Ä
Es ging überhaupt mit der Zeit etwas gemütlicher zu,
und felbjt der Ernſt des Operationsjaales blieb von einzelnen
komiſchen Intermezzi nicht verfhont. Go erinnere ich mid,
wie Socin einen Arzt abfertigte, der die unangenehme Ge-
wohnheit hatte, überall dreinzureden und fi) dadurch etwas
unbeliebt gemadt hatte. Bei einer Operation afliftierte dieſer
Arzt, und da feine beiden Hände befchäftigt waren, hielt er
einen Schwamm mitteljt des Mundes bereit (das durfte man
damals no!) und bemerkte dazu mit zujammengefniffenen
Lippen: „Cine Hand mehr!“ — „Sa, und ein Maul weniger;
was auch nichts ſchadet“, war Socins ſchlagfertige Erwiderung.
Den Applaus der Zuhörerfhaft fann man fi) denken.
Eine andere Operationsgefhichte möge hier Pla finden.
148
Ein Basler Herr Hatte Socin einige Kiftchen vorzüglicher
Zigarren zum Gebraud für das ärztliche Perſonal übergeben.
Kurz vor einer leichten Operation, die keine Narfofe er-
forderte, — es handelte ſich um die plajtiiche Wiederheritellung
des Mundmwinfels bei einem Soldaten, der vor Toul in dem
Augenblid durch beide Wangen geſchoſſen worden war, als
er Hurrah ſchrie, und defjen Zunge wohl deshalb beim Pal:
fieren der Kugel durd die Mundhöhle nicht verlegt worden
war, — furz vor diefer Operation fam Socin auf den Einfall,
den Werzten von den Zigarren anzubieten und fogar jelbit
eine anzujteden. Schweiter Anna, die Hüterin des Operations:
taums, war wütend ob der unerhörten Entweihung diejer
Stätte und zeigte dies durch halblaute Bemerkungen, Ge:
brumm und ediges Wefen. Sie jtrafte Gocin, der zu dem
allem nur gelädhelt hatte, indem fie zu dem Käſtchen mit den
Zigarren ging und nah Schluß der Operation jedem Arzt
und Afiiitenten einen Bund Zigarren mit den Worten reichte:
„J will ſcho Iuege, daß do inne nümme g’raudt wird, me
bruucht do (auf Socin weifend) nit fo viel Zigare.“
Gegen Ende Oktober lichteten fi) die Reihen unjerer Ver—
wundeten immer mehr. Geheilte Deutſche gingen zurüd zur
Truppe, Franzoſen kamen in die Feſtung, invalid gewordene
aber transportable Leute wurden in die Heimat entlajien,
auh wohl in Karlsruher Kamilien weiter gepflegt, andere
nad Baden: Baden verlegt, wo ihre Wunden vollends Heilen
jollten. Die ſchweren Fälle wurden nah und nad) in die
neu eritellten Baraden verlegt. Dr. Courvoiſier mit Dr.
Hugelshofer Hatte ſchon vor einiger Zeit die erſte Barade
übernommen, die zweite Barade befam Dr. Lob, und mir
wurde auch da von Gocin wieder die Aifiitentenitelle an-
geboten. Einer unjerer ‚Patienten, ein prädtiger franzö—
jiiher Sergeant, war von einem Lungenſchuß und einer Schuß-
fraftur der Mittelhand genefen und als invalid in die Hei:
mat entlajjen worden. Bierzehn Tage ſpäter überraſchte er
uns durch die Anzeige feiner Verlobung mit einer Karls-
149
ruher Dame, einer Erzieherin, die zur Unterhaltung der Pa-
tienten oft im Lazarett gemweilt und ſich durch Vorlefen um
den Sergeant verdient gemacht hatte. Aber nit nur das,
denn jpäter hörten wir, daß der Franzoſe in der Heimat wieder
unter die Fahne getreten jei. Ueber feine ferneren Schidjale
weiß ih nichts, bejonders nicht, ob die Verlobung ebenjo
trenge gehalten wurde wie das Gelöbnis, laut Genfer Kon:
vention, in dDiefem Kriege nicht mehr gegen Deutichland dienen
zu wollen. General v. Freydorf hatte aljo doch nicht jo jehr
Unrecht, wenn ihm der Franzoſenkult und die Yeindesliebe
der Frauenwelt etwas verdädtig vorgefommen war.
An einem rauhen Dftobernadhmittage begleitete ich die
Reiche eines jungen Dffiziers auf den Friedhof. Es war eine
fleine militärijche Begleitung, die unter Trommelflang davon:
309; wenige Ziviliften Hatten ſich angeſchloſſen. Am Grabe
ſprach der Geijtlihe vom Treufein bis in den Tod und von
Der Krone des Lebens, während der herbitliche Sturm, der die
Bäume entblätterte, uns durch fein Braujen daran erinnerte,
Daß aud Hier ein blühendes Leben wie vom Sturm dahin:
gerafft worden fei. Ich war lebhaft ergriffen und beneidete
den jungen Mann, der jein Leben für das Baterland Hatte
opfern dürfen.
Man wird es aber begreifen und der Jugend zu gute
halten, wenn troß all dem Ergreifenden, was id) erlebt Hatte,
auch der jugendliche Leichtjinn wieder zum Vorſchein Fam.
Die geringe Patientenzahl gejtattete es uns, nun weniger
lange im Lazarett zu weilen und die Herbitnahmittage zu
Spaziergängen und einige Abende zum Bejuhe des Theaters
zu benügen. Das Hoftheater war während der erjten Zeit
des Krieges geſchloſſen geblieben, im Herbjt aber wieder und
zwar mit Schillers Wilhelm Telt eröffnet worden. Dann
waren Mozartſche und Gluckſche Opern gefolgt, in herrlichen
Aufführungen, wie fie unfer zwar damals gar nicht übles,
aber beicheidenes Basler Stadttheater nicht geboten hatte. —
Sm Lazarett wurden die Nächte fühl, obſchon die Dampf:
150
heizung ordentlich funktionierte. In der Naht vom 26. zum
27. Oktober herrſchte ein außerordentlich ſtarker Sturm, der,
wie id) aus Briefen von zu Haufe vernahm, aud) in der Schweiz
gewütet hatte. Die Fenſter unjeres Schedbaus rüttelten und
flapperten die ganze Nacht und drohten auf die Betten her:
unterzufallen, und alle Patienten wurden wach. Man ah,
daß das Lazarett für den Winter nicht taugen werde, und fo
fam denn deffen Aufhebung heran. Man evafuierte die Pa-
tienten jo raſch als möglid, jo daß zum Schluß, Sonntag
13. November, nur noch 32 Mann da waren. Die große Halle
hätte ganz fahl und öde ausgejehen, wenn nicht im Hinter-
grunde, von des Großherzogs Geburtstag her, eine große
Dekoration mit deutfhen und badijhen Fahnen den Raum
belebt und die Inſchrift:
„Ob zu Fuß, ob zu Pferd, ob Hinter der Kanone
Schützen wir das Vaterland und des Fürſten Krone!“
für patriotifhe Erhebung des Herzens gejorgt hätte. Vor—
mittag 11 Uhr war der feierlihe Schlußaft mit Gejängen der
Liedertafel und Anſprachen der Geijtliden. Die Großherzogin,
die mit Prinzeffin Wilhelm und Herren und Damen vom
Hofe erſchienen war, ſprach in ihrer liebenswürdigen Weije
mit jedem der Aerzte und Aſſiſtenten. Ein junger Schweizer
Alfiftent, der noch nicht lange da war, wurde dadurch jo ver:
wirrt, daß er auf eine Frage der Fürftin mit: „Sa, Frau
Profeſſor“ antwortete. Am 14. November wurden die legten
Patienten, in Möbelwagen gebettet, nad) der Turnhalle oder
in die fehs nun fertigen Baraden des Friedrihsbaraden-
lazaretts transportiert.
Es mögen nun hier nod) einige Nachträge zum Arztliden
Betriebe des Lazaretts folgen. Socin hielt auf wiſſenſchaft—
liche Beobachtung und bradte es dazu, daß Aerzte und Aſſi—
itenten richtige Krankengeſchichten mit Temperaturaufzeid)-
nungen führten, da fie jo am beiten veranlaßt wurden,
151
ihre Fälle genauer zu beobadten und ſich ſelbſt Rechenſchaft
von ihrem Tun zu geben. Die 643 Krankengeſchichten, die
Socin „als feine Kriegstrophäe“ mit nad) Haufe bradte,
madten es ihm möglid, nad) dem Kriege die Beobahtungen
willenfchaftlih zu bearbeiten und in dem Buche „Kriegs.
hirurgifhe Erfahrungen“ zu publizieren. In dieſem
Merfe find außer einer detaillierten Bejchreibung der Ver—
leßungen nad Körperregionen, ähnlich wie in den chirurgiſchen
Sahresberichten des Basler Bürgerfpitals, eine Anzahl äußerft
interejlanter Kapitel über die Geſchoſſe und die Art ihrer
Wirkung, über MWundverlauf und Wundbehandlung, über
MWundfieber, über Septicaemie (Blutvergiftung durch faulige
Stoffe) und Pyaemie (Blutvergiftung durch Eiter), über
Wundroſe, Hojpitalbrand und Wundſtarrkrampf, über Spät-
blutungen, über Nervenverlegungen und über künſtliche Glied-
maſſen.
Dieſe Abhandlungen geben Zeugnis von Socins hohem
wiſſenſchaftlichem Streben und von dem Forſchungstrieb und
Forſcherinſtinkt, die ihn bei ſeiner Auffaſſung in den Fragen
der Wundkrankheiten und der Wundheilung leiteten. Daß er
in dieſem wichtigſten Gebiete den meiſten ſeiner Kollegen vor—
ausgeeilt iſt, ergibt ſich aus der Stellung, die er zu dem Suchen
nach dem damals noch problematiſchen Contagium vivum, der
Lehre von den lebenden Anſteckungsſtoffen, einnahm, und aus
ſeinem Verhalten zu den Lehren Paſteurs und Liſters. Eine
kurze Skizze wird am beiten die auf rein naturwiſſenſchaft—
liher Forſchung beruhenden Anfänge der Folojjalen Um-
wälzung erkennen lajjen, die für die Chirurgie und hernach
für die ganze Medizin, von jener großen Zeit her datieren.
Man muß fi zuerſt vergegenwärtigen, daß man nod
Mitte der jechziger Fahre dem, was man heute Wundinfeftion
nennt, fajt Hilflos gegenüberitand, daß die Eiterung der
Munden fo regelmäßig eintrat, daß fie zum Normalen ge—
zechnet, die Heilung ohne Eiterung als Ausnahme angejehen
wurde. Auf Heilung offener Knochenbrüche (d. h. folder,
152
wo die Brudjitelle infolge von Durchtrennung der bededenden
Meichteile bloß liegt) war in den Spitälern faum zu rechnen,
meift folgte Blutvergiftung, jo daß viele Chirurgen, um diefer
zuvorzufommen, durch Amputation den Berletten zu retten
fudten. Aber aud) die einfachere Amputationswunde wurde,
wie jede größere Operations: und Verleungswunde, ſehr
oft zum Ausgangspunkt einer tödlichen Blutvergiftung.
Die Krankheiten der Wunden mit der folgenden Ber-
giftung des Blutes in ihren verjhiedenen Formen zu fehen,
hatte man nur allzu viele Gelegenheit, aber über das Weſen
des Giftes, die Urt feines Entjtehens und den Ort feines Ein:
dringens in den Körper wußte man nichts Sicheres.
Sn den Jahren kurz vor 1870 Hatten die erjten Forſchungen
begonnen, die von der Ahnung zum wiljenjchaftlihen Beweiſe
führten, daß die Störungen der Wundheilung auf der An:
wejenbeit kleinſter Lebewefen beruhen. Die Anweſenheit
diejer lebenden Keime erjhloß man vorerjt nur aus ihren
Wirkungen, fie ſelbſt fannte man noch nicht. Sie direft und
fihtbar nachzuweiſen, war einer |päteren Zeit vorbehalten.
Der franzöfiihe Chemiker Lo uis Palteur war im
Sahre 1860 nad vierjährigem Experimentieren zu der Sicher—
heit gelangt, daß feine Gärung oder Zerſetzung organijcher
Gubitanzen ohne den Einfluß Eleinjter lebender Organismen
zujtande fommen fann. Er hatte für diejen Satz die jtrengiten
Beweije erbradt und durch feine Anwendung ſchon großartige
praftifhe Erfolge auf induftriellen Gebieten erzielt, auch
hatte er oft darauf hingewieſen, daß viele Krankheiten des
menſchlichen Organismus auf dem Eindringen lebender Keime
beruhen dürften, und daß da ein weites Feld für eine nad
beſſerem Berjtehen der Krankheiten ſuchende Willenichaft
liegen werde. Aber er fand nur jelten Berjtändnis, bejonders
bei der franzöfiihen Gelehrtenwelt, mit der er die heftigiten
Kämpfe auszufehten Hatte; auch Liebig, der hervorragendite
deutſche Chemiker, verhielt fich noch 1869 durchaus ablehnend.
Paſteur war nicht Arzt, jondern Profeſſor der Chemie und
153
durch induftrielle Probleme (3. B. die Krankheiten der Geiden-
raupen) in jenen Jahren zu jehr in Anjprud) genommen,
als daß er die Mebertragung feiner Anſchauungen auf die
menjhlihe Kranfheitslehre jelbjt hätte übernehmen fönnen.
Die praftiih mediziniihen Schlüſſe zu ziehen war
Joſeph Lifter, damals Profeſſor der Chirurgie in Glas-
gow, vorbehalten. Er nahm an, dak nicht die Quft an fi,
noch ihr Sauerftoff, noch ein anderes Gas, jondern die in der
Luft ſchwebenden organiſchen Keime die Zerjegung in den
Munden bewirften und jo die Urjache aller Wundfranfheiten,
von der einfadhen Eiterung bis zu der fchweriten Blutver-
giftung, feien. Da es vorerjt nicht möglich jchien, die Keime
aus der Luft zu entfernen, etwa jo wie es Paſteur durch
Filtrierung der Luft bei feinen Gärungsverfuchen getan Hatte,
verjudhte er die Vernichtung der Keime durd) Imprägnierung
der Wunden mit der gärungshemmenden Karbolfäure und die
Sernhaltung neuer Keime durch einen Verband, der die Luft
möglichſt abhielt. Auf die Karbolfäure |peziell fiel jeine Wahl
infolge der guten Erfahrungen, die man zur Desodorierung
von NRiejelfeldern mit diefer Subitanz gemadt hatte.
Sm Sahre 1867 veröffentlichte Liſter feine erjten Erfolge.
Es war ihm troß der anfängliden Unvollkommenheit feiner
Methode gelungen, viele offene Knochenbrüche, die nad) der
bisherigen Erfahrung meijt zum Tode durch Blutvergiftung
geführt hätten, ohne das traurige und unſichere Hilfsmittel
der Amputation zu heilen. Bei einer Anzahl diefer Fälle
war fogar die Eiterung ausgeblieben, und die Heilung des
Knochenbruchs Hatte ſich ähnlich vollzogen, wie wenn feine
offene Wunde bejtanden hätte. Abgejehen von einigen ſpe—
ziellen Schülern nahm die mediziniihe Welt wenig Notiz
von diefen Erfolgen, und felbit in England glaubten Autori—
täten noh im Jahre 1871 die Sade mit Spott abtun zu
fönnen. |
Um fo erfreulider ift es, daß unfer Basler Klinifer
Socin fi frühe, ſchon im Sahre 1868, den Lijterfhen An-
154
Ihauungen zumwandte und ji, ohne einfach) nachzubeten, ein
eigenes Urteil zu bilden ſuchte. Es ijt wohl fein Zufall, daß
Bajel ein günjtiger Boden für die neuen Anſchauungen war.
Schon 1865 Hatte Profeſſor Carl Liebermeiiter in feiner An-
trittsporlefung „Ueber die Urſachen der Bolfsfranfheiten“
die Lehre vom Contagium vivum verfodhten, eine Lehre, die
damals allerdings mehr auf einer durch Paſteurs erite
Forſchungen beitärften Ahnung als auf fertiger Erfenntnis
beruhte. In den Sahren 1867 und 1868 jodann hatte Dr. J.
J. Biſchoff, der Schüler Sorins und Privatdozent der Ge-
burtshilfe, auf einer Urlaubsreiſe auch Glasgow berührt und
war im Sommer 1868 als Anhänger Lijters nach Bajel zu-
rüdgefehrt.
Auf Socins Anregung madte einer feiner Schüler Dr.
Karl Breiting chemiſche Unterfudungen, die die gärungs-
hemmende Kraft der Karboljäure bejtätigten, und eine Ber:
gleihung zwilhen zwei Gruppen von unter fi) ähnlichen Ma—
Ihinenverlegungen, die 1867 in der alten Weije und 1868 nad)
Liſter behandelt worden waren. Troß der damaligen Unvoll-
kommenheit der Methode gelang auch hier ganz unzweifelhaft
der Nachweis, daß eine intenjiv und pedantiſch durchgeführte
KRerbolbehandlung friiher Verlegungen die Eiterung nebit
allen ihren ſchlimmen Folgen in einem hohen Grad zu mindern
imſtande jei.
Als Socin 1870 das Bahnhoflazarett übernahm, war er
davon überzeugt, daß jede frifhe Wunde, aud die fompli-
zierteite, heilen fann, daß jede Störung im Heilungsporgang,
von der bisher für felbjtverjtändlich gehaltenen Eiterung bis
zu der ſchwerſten Blutvergiftung, von außen, vom Ein
dringenpon Keimen, fomme, und daß der Säftezuitand
und die Konftitution des Kranken, verglichen mit der Wirkung
der Keime, ohne wejentlihe Bedeutung ſei. Nicht nur die
Luft galt ihm als Träger der Keime, fondern aud) jede Be
rührung durch die Pilegenden. Dementſprechend begnügte
er fih nicht mit dem Liſterſchen Verbande, jondern forderte
155
Reinlichkeit, Desinfektion von Händen und Initrumenten und
möglichit feltenes Ausiprigen und Sondieren der Wunden,
überhaupt Unterlafjung jeder nicht abjolut nötigen Berüh-
rung. Der Abfluß der Wundabjonderungen jollte durch
paflende Lagerung und reihlihe Drainage begünjtigt werden.
Wenn die Erfolge im Bahnhoflazarett nicht völlig den
gehegten Erwartungen entipradhen, fo liegt das darin be=
gründet, daß man es nit mit friſchen Verlegungen zu tun
hatte. Die meilten Patienten famen erjt eine bis drei Wochen
nad der VBerwundung in die Behandlung, meijt mit ſtarker
Eiterung und fiebernd, einzelne ſchon mit ſchwerer Blutver-
giftung, jehr viele geſchwächt durch Schmerzen, Blutverlufte,
die Leiden des Transports und andere Gtrapazen; bei
manden Schußwunden hätte aud) die Eiterung nit ver-
hindert werden fönnen, weil fie dur mit hineingerifjene
Kleiderfegen ſchon infiziert waren. In den erjten Tagen des
Zazarettbetriebs war aud) die Zahl der Anfömmlinge zu groß,
als daß die zeitraubende, umjtändliche Befolgung aller Lijter-
Ihen Vorſchriften möglich gewejen wäre; die Sache war ferner
zu neu, um bei allen Aerzten Berjtändnis und die Ueber:
zeugung von der Zwedmäßigfeit der Methode zu finden.
Fügen wir noch bei, daß alle damaligen Beitrebungen im
Sinne der Lifterfhen Behandlung noch höchſt unvollfommen
und, vergliden mit den heutigen Prozeduren zur ern:
baltung und Abtötung der nun nachgewieſenen und in ihren
Rebensbedingungen befannten Keime, ungenügend waren.
Daß das Lazarett vorwiegend Schwerverleßte beherbergte,
erjieht man aus der Zahl von 351 Knochenſchüſſen. Bon den
643 dauernd Berpflegten (eine Anzahl leicht Verwundeter
wurde im Beginn rajch entlaffen und nicht mitgezählt) ftarben
93; 7 erlagen der Berblutung, 71 den ſchweren Formen der
Blutvergiftung (Septicaemie und Pyämie), 4 dem Wund-
ftarrframpf, 1 der Wundrofe, 1 dem Hofpitalbrand und 9
anderen Krankheiten, die von der bejtehenden Verwundung
nit direft abhingen.
156
Nun noch einiges über die Geſchoſſe. Viele der Kugeln
waren ſchon vor der Aufnahme der Leute in unjer Lazarett
entfernt worden, andere wurden erſt hier aufgefunden und
extrahiert. Biele waren durch das Auflagen und die damit
verbundene Erwärmung in volllommen veränderte Form ge:
bradt, ja geradezu umgeltülpt. Ein eigentümlider Fund
beitand in einer Chafjepotfugel, die den oberjten Uniform:
knopf Durhbohrt und mit in die Tiefe der Halswunde gerijjen
hatte. Man zog aus diefer Wundhöhle die Kugel famt dem
tingförmig darum liegenden Reſte des Knopfes. Da man
die extrahierten Kugeln, bejonders ſolche Kurioja, gerne für
die Sammlung aufbehielt, die Verwundeten aber ihrerfeits
fie gerne zur Erinnerung aufbehielten, fam es zuweilen zu
einem Eleinen GStreite. Hatte der Verwundete feine Kugel
wieder erbeutet, fo wurde fie ihm von der Großherzogin mit
einer jilbernen Einfaſſung zurüdgegeben. Die Sammlung im
Basler Bürgerjpital enthält eine Anzahl der damals ge-
fundenen Geſchoſſe.
Bei den Verſtorbenen wurde fajt ausnahmslos die Geftion
gemadt; fie follte, was ja im Yelde faum möglid it, die
Kenntnis der Schußverlegungen erweitern und was nod) wid)-
tiger war, Licht in das Wefen der vielfach) noch Jo rätjelhaften
tödlihen Komplifationen des Wundverlaufs bringen. Pro—
fejlor Edwin Klebs, der die Geftionen ausführte und feine
Beobachtungen nad) dem Kriege zum Gegenjtand einer wiljen-
ſchaftlichen Publikation machte, nahm den größern Teil der
gewonnenen Präparate mit nad) Bern, ein kleinerer Teil
fonnte auf eine Auseinanderfegung Hin für Bajel erhalten
bleiben; fie find in der Sammlung der Hirurgijhen Klinit,
ein Turfostopf und ein Turfosffelett im Bejaltanum.
Nach Mitte November trat ich meinen neuen Aſſiſtenten⸗
poſten in Barade Nr. II an. Mein bisheriges Zimmer in der
Nähe des Bahnhofs gab ich, weil zu abgelegen, auf und ſchlief
157
einige Nähte auf dem Fußboden der Turnhalle mit verſchie—
denen badilhen und ſchweizeriſchen Afliitenten der benad-
barten Zazarette. Es wurde mir bald von Dr. Lob, meinem
Vorgeſetzten, geitattet, dDiejes etwas ungemütlihe Nacdtlager
mit einer ganz nahe gelegenen Manfarde zu vertaujchen, in
der auch Freund Barth, nun Afliitent von Barade I, Pla
fand; man fonnte uns im Notfalle dort leicht holen.
Unjere Baraden gehörten zu den jehs das Friedrichs—
baradenlazarett bildenden Neubauten, die auf einer
Wieſe außerhalb der Stadt, nahe beim Lehrerjeminar, in zwei
Reihen zu je drei Baraden angeordnet waren. Die Dijtanz
zwifchen beiden Reihen betrug 60, diejenige zwifchen zwei
Baraden 33 Meter.
Jede Barade rubte auf 0,75 m Hohen Badijteinpfeilern,
jo daß die Luft unter dem Fußboden leicht zirkulieren konnte.
Die Länge betrug 45,3 m, die Breite 8,7 m, die Höhe 7,5 m.
Die Bentilation geſchah durch einen Dadreiter mit Klapp—
fenjtern und durch Klappen an und unter den %enitern der
Geitenwände, der Luftraum für jedes der 32 Berwundeten-
betten betrug nahezu 50 Kubikmeter. Die Betten ftanden,
quer zu den Längswänden in zwei Reihen angeorödnet, zwijchen
den Fenſtern etwas über 1 Meter von einander entfernt und
etwas von der Wand abjtehend. Breite Gänge mit Berband-
tijyden und Kommoden teilten den geräumigen Gaal nad
Länge und Quere in vier Abſchnitte und führten zu vier
Ausgängen mit Treppen. An der einen Schmaljeite waren
vier kleine Zimmer für die Aerzte und etwaige Operationen,
für die Schweitern, für Vorräte und für Bäder, am andern
Ende eine kleine Terraſſe; die Abtritte lagen in einem Kleinen
Anbau. Der Fußboden des Krankenjaals war mit Wachstuch
bededt, die Heizung geſchah durch ſechs eiferne Defen, die Be-
leudtung durh Gas. Die jehs Baraden hatten in ihrer
Mitte eine gemeinfame Küche, von welder aus die Speiſen
in Heinen Wagen auf Schienen hergeführt wurden.
Diefe von Baurat Hödjftetter in Karlsruhe entworfenen
158
Baraden waren aus Holz und Backſteinmauern fo fhön und
folide fonftruiert, daß jie den Namen Baraden faum ver-
dienten, dem doch ein gewiller Begriff von Improviſiertem
und Hinfälligem anhaftet. Baradenbau war damals die
Zojung, wenn man auf dem Neueiten und Beiten ſein wollte.
Die Idee war zwar nicht neu. Schon 1788*) Hatten die Oeſter—
reiher in Ungarn bei dem bevorjtehenden Türfenfriege ein
hölgernes, zerlegbares Spital erbaut, auch in den Kriegen
Napoleons I. waren jie gebraucht worden, ebenjo in der Krim
und in Algier. Große praftiihe Verwendung und zugleich
Verbeilerung aber Hatten fie bejonders im amerikaniſchen
Gezeflionsfriege, 1861—65, gefunden. Anjtatt in alte, un
teinliche, ja im eigentlichen Sinn des Wortes anrüdhige Spi—
täler, deren hygieniſchen Mißſtänden man das Schlimmite
zutrauen fonnte, follte der Verwundete in eine faubere, frifche,
noch nit durchſeuchte Wohnung fommen, die leiht zu im—
provilieren war und nicht viel EZoftete, jo daß fie ohne großen
Schaden wieder verbrannt werden fonnte. Ich erinnere mid
lebhaft, wie Socin 1869 in der Vorlefung über Allgemeine
Chirurgie für den Baradenbau eigentlih gejhwärmt und
überhaupt die Amerikaner, die auch die Spitalfchiffe einge-
führt Hatten, als Vorbild praftiiher Hygienifer Hingejtellt
hatte. Den oben gegebenen Begriffen entipradhen nun unfere
Baraden nit ganz. Sie waren jolide ausgebaut, für den
Winter eingerichtet; ihr Bau Hatte lange gedauert und viel
gefoftet. Eine einzelne Barade fam auf 16500 Franken, die
ſechs Baraden des Kriedrihsbaradenlazarettes mit den De-
pendenzen zufammen auf 149100 Franken zu jtehen, eine
Lagerſtelle auf 777 Franken. Dafür waren dieje Baraden
ehr jhön, freundlich, bequem und warm genug, wenn das
Wetter nicht allzu falt war. Es ließ fih da recht gut leben,
und man hatte das Gefühl, daß das Beite für die Patienten
geichehen fei. Ob dieje Baraden nad) dem Kriege wirklich) dem
*) S. Chirurgifche Enzyklopädie von Kocher und de Querwain.
159
Feuer übergeben wurden? Ich weiß es nicht, aber ich zweifle
beinahe; fie waren doch allzu ſchön geraten. Socin fam
übrigens im Laufe des Krieges, befonders nad) feinen relativ
günftigen Erfahrungen im Bahnhoflazarett, von dem
Schwärmen für die Baraden ein wenig ab und ſah es ein,
daß man die Hygiene des Yazarettraumes etwas zu hoc) oder
wenigſtens zu einfeitig eingejhäßt hatte. Die Reinlichkeit
der Pflege und die forgfältige antifeptijche Behandlung jedes
einzelnen alles hatte an Bedeutung zugenommen und fiel
nun ſchwerer ins Gewidt. Doc geht man wohl nit Fehl,
wenn man die 1875 erfolgte Erbauung der jet noch beftehen-
den hirurgiihen Barade im Garten des Basler Bürger:
pitals auf die Anregung von 1870 und das Karlsruher
Mufter zurüdführt.
Die 32 Patienten unjerer Barade gehörten fajt ohne Aus—
nahme zu den Schwerverwundeten und ftammten von Wörth,
Gravelotte und Straßburg; neuer Zufluß fam allmählich aus
den Gefehten und Schlahten der Werderjhen Armee. Die
Arbeit war daher viel einfacher, ruhiger, als in den eriten
Zeiten des Bahnhoflazaretis mit den vielen, relativ frifchen
Berlegungen. Nah Socins Abreiſe Mitte November hatte
Dr. Ernft Bergmann, damals Profeſſor in Dorpat, 34
Sahre alt, die Oberleitung übernommen, doch Tieß er die
Aerzte der erjten und zweiten Barade ziemlich gewähren. Ich
erinnere mich nur einmal, ihn als Operateur in unjerem
Saale gejehen zu haben, bei der Schulterrefeftion eines preu⸗
Bifhen Zeutnants, wo Courvoiſier und id) ihn affiitierten. Er
mar ein fhöner Mann, flinfer Operateur, von bedeutender
Körperfraft; er trug damals den Operierten felbjt ſehr ge—
wandt vom Dperationslager zum Bette. Am Abend fahen
wir ihn oft in der Gefellihaft der Aerzte. Den Abſchluß
feiner Karlsruher Tätigkeit bildete feine Verlobung mit
Fräulein v. Porbeck, der Vorfteherin feines Lazaretts.
Zu Bergmanns Verfügung ftand feit Mitte November
Dr. Rudolf Maffini aus Bajel, der u. a. im Auftrag des
160
Badiſchen Frauenvereins die Lazarette des Großherzogtums
veſuchte und hierüber einen Bericht auszuarbeiten hatte.
Beitand unfere Haupttätigfeit nun darin, unfere Pa:
tienten zu verbinden, Knochenſplitter und einzelne Geſchoſſe
zu entfernen, das gefährliche Aufliegen zu befämpfen, den
Geſamtzuſtand der oft recht heruntergefommenen Leute dur
gute Ernährung und Pflege zu heben, jo gab es doch aud)
aufregende Erlebnilje. Ein bei Belfort im Januar verwun—
deter polnisch [prehender Yandwehrmann, der mit Glüd ſchon
die Yeldzüge von 1864 und 1866 in Dänemarf und Böhmen
mitgemadt hatte und ſich nun nochmals von der Heimat, dies:
mal aud) von Weib und Kindern, hatte trennen müljen, hatte
einen harmlofen Fleiſchſchuß am Oberjchenkel, aus dem man
durch Schnitt die Kugel und Tuchfetzen entfernt hatte. Es
Thien alles gut zu gehen, aber am achten Tage nad) der Ber:
wundung madte eine plößlicd) auftretende arterielle Blutung
Die Unterbindung der Hauptſchlagader des Beines nötig. In
den folgenden Tagen mußte dann wegen Gangrän (Abfterben)
Des Unterjhenfels die Amputation unter dem Knie gemadit
werden. Der Mann genas, fehrte aber als Krüppel in die
Heimat zurüd. Ich bedauerte ihn um fo mehr, als er ein
einfacher Bauer und bei feiner polnischen Abſtammung gewiß
nit jo mit dem Herzen dabei war wie taufend andere, die
für ihr Deutihland freudig Leib und Leben opferten. —
Biel Arbeit gab uns ein Zeuerwerfer, der das Unglüd Hatte,
nit vom Feind verwundet zu fein, fondern bei feiner Arbeit
vor Straßburg in einen Keljel mit glühendem Metall zu
treten und Fuß und Unterjchenfel zu verbrennen; er wird
wohl fpäter amputiert worden fein. — Um Weihnadt ver-
loren wir einen Badenjer aus Singen, der am 6. Oftober bei
Etival einen Bruftihuß mit Rippen: und Lungenverletzung
erhalten Hatte. Trotz eines entzündliden Erguffes in der
Brufthöhle ſchien der Mann doch fi erholen zu wollen, als
plößlih brandiges Aufliegen am Kreuz entjtand, und feine
Wunde fi) mit einem ſchwarzen Schorf bedeckte, der ſich immer
161 11
weiter ausdehnte, jo daß die ganze Umgebung handgroß in
einen tintenfhwarzen Brandherd umgewandelt wurde; auch
eine Einfehnittwunde, durch die man Tuchfegen entfernt hatte,
wurde ergriffen. Diefen eigentümlidhen ſchwarzen Brand
Hatte ich vorher nie geſehen; bei den Fällen von Hojpitalbrand
im Bahnhoflazarett waren die Granulationen (das Fleiſch
der Wunde) grau, durchſcheinend, von traubenartigem Aus—
ſehen, aber nicht jchwarz geworden und Hatten nad fräftigen
Karboläßungen wieder die normale frifh rote Yarbe ge=
wonnen. In unjerm Halle folgten bald die Allgemein-
erjheinungen einer ſchweren Blutvergiftung, Herzihwäde
und Benommenbeit.
Bis Mitte Januar 1871, von wo an dann wieder friſch
Berwundete aus der Umgebung von Paris und von Belfort
gebracht wurden, war unjer Leben in den Baraden recht ruhig
und gemütlid. In Barade I herrihte Mufif und Gejang vor,
indem Barth ein Kleines Harmonium hatte herichaffen Iafjen.
Man fonnte ji) der Unterhaltung der Patienten widmen
und wurde darin vorzüglid durch unfern früheren Turnlehrer
aus Bajel Herrn Maul und Herrn Keller, einen ftrammen
Minifterialbdeamten, unterjtüßt. Es fehlte überhaupt während:
des ganzen Krieges in den vielen Lazaretten nirgends an
guten, treuen Leuten, die auch dann ausharrten, als die Ver:
wundetenpflege den Reiz der Neuheit verloren hatte. In
unferer Barade brachte die Diakoniſſin oft Heiterkeit in die
Gejellihaft, wenn fie in ihrem Aargauer oder Berner Hoch—
deutſch Sentenzen von id) gab und 3. B. damit prahlte, „daß
die Schweizer Soldaten denn doc anderi Kerli feien, wo nicht
auf den erjten Schuß umfallen wie Ihr“, oder wenn fie von
einem Patienten, der ein reich gefülltes Portemonnaie zeigte,
lagte: „Nei Iueget ou, der Bornholdt hat Geld wie ein Säu—
händler!“
Auch Befuher bradten Abwechslung. Als ein basle-
rilhes Ehepaar, das ich fannte, fi) freundlich mit den Pa—
tienten unterhielt, madte ich die Dame darauf aufmerffam,
162
daß fie Hier, in einem pommerfchen Füſilier, einen Mann ihres
Namens finde. Sie ſchenkte ihm ihre Teilnahme und jandte
mir am nächſten Tage „für ihren Namensvetter“ ein Gold-
ſtück. Diefes wurde aber anfänglid nicht gejchäßt, weil der
Patient, des Anblids einer goldenen Münze ungewohnt, —
es zirkulierte damals in Deutichland fein Gold im allgemeinen
Verkehr, — es für eine Spielmarfe hielt. Sein Bettnachbar,
ein Schleswiger, nannte ihn einen Schafstopp und bot ihm
zwölf Kreuzer dafür, doch gelang es ſchließlich, den Beſchenkten
von dem Werte der Gabe zu überzeugen und ihm ein danf-
bares Grunzen zu entloden.
Dit kamen KRolporteure und andere Menfchensreunde,
einmal aud ein teilnehmender, freundlicher, aber etwas furz-
fihtiger Enthuliaft aus Schwaben. Er jah, wie der Arm eines
bayriſchen Kranfenträgers, der bei Beaumont (oder Bonmot,
wie der Patient es ausſprach) getroffen worden war, in einer
Drahtihiene an einem Galgen aufgehängt, fchwebte, muß
aber die haltenden Schnüre nicht gefehen haben, denn er fand
fein Ende des VBerwunderns darüber, „Daß der Mann feinen
Arm bejtändig jo grad raus ftreden könne“. Gein Eritaunen
erheiterte alle und brachte ſelbſt den leidenden Belißer des
Armes zum Laden.
Neben der Diakoniſſin waren noch der uns von früher
ber befannte Schweizer Wärter Karl und zwei artige und
geſchickte freiwillige Pflegerinnen angeſtellt. Auch einige
Damen kamen regelmäßig, um zu helfen und die Kranken zu
unterhalten. Da zwei davon mehr das ariſtokratiſche und
eine das bürgerliche Element vertraten, kam es bald zu kleinen
Spannungen und Reibungen, bei denen wir die neutralen
Beobachter waren, doch hatte die Bürgerliche in unſern Augen
den Vorzug, zwei blühende Töchter zu haben, mit denen wir
Mittags gerne Schlittſchuh liefen.
Der Geburtstag der Großherzogin und das Weihnachts⸗
feſt wurde in der Barade gefeiert. Beide Male hatte der viel—
feitig begabte Wärter Karl Transparente gemalt, um Weih-
163 11%
nacht eine Darftellung der heiligen Geſchichte. Daß aus Ver-
ſehen das Chriftustind zwei linke Füße mit auf die Welt
befommen Hatte, ftörte außer den Medizinern niemanden,
aud nicht die Großherzogin, als fie unter den Klängen des
Seminariltendors zu der Anſprache von Hofprediger Doll in
die Barade fam. Gie dankte dem Künjtler, begrüßte hernad)
die Verwundeten und befam dabei ein Kompliment von der
Diakoniſſin. Es Hatte der Großherzogin jemand eine unjehl-
bare Salbe gegen das Aufliegen empfohlen, und dieſe war,
wie es jeheint, mit Erfolg gebraudt worden, denn ich hörte
die Schweiter jagen: „Ali, wo mit Ihrer Decubitusjalbe be-
handelt wurden, Königliche Hoheit, find geheilt.“
Nach Neujahr war man aud in Deutihland des Krieges
müde, und in Süddeutichland ſah man mit Sorgen nad) dem
Gewitter, das in Form von Bourbafis Armee de l’Est heran:
309. Paris hielt immer nod) einen großen Teil der deutjchen
Armee an fich gefettet, im Norden und um Orleans wurde
heftig gefämpft, — war es da möglid, die Belagerung von
Belfort aufrecht zu erhalten, der franzöjiihen Oftarmee zeitig
genug zu begegnen und fie unfchädlich zu maden? Wir willen,
dag Werder mit feinem Borftoß gegen Billerserel am 9.
Sanuar, das den Feind zwang, feine ganze Macht zu zeigen,
dann durch die raſche Befejtigung und feine heldenmütige Ver:
teidigung an der Lilaine vom 15.—17. Januar die Entjegung
von Belfort und den Durhbrud der Yranzojen nad) Süd—
deutjchland verhinderte, und daß gleichzeitig Manteuffel dur
feinen Gewaltmarſch mitten durch Frankreich eben recht fam,
um die an der Lijaine zurüdgewiefene franzöfiihe Armee
gegen den Jura nad) der Schweiz abzudrängen. Bevor dies
aber geſchehen war, aljo bis über Mitte Januar, war man
nicht ohne Sorge. Auch hatte der Krieg durch das Auftreten
irregulärer Feinde, Yranctireurs und Garibaldianer, einen
viel rauheren und gefährlicheren Charakter angenommen als
im Anfang, wo man es mit der regulären Armee zu tun hatte;
die badiihen Truppen waren befonders ftarf mitgenommen.
164
Und zu alledem die Strenge diefes Winters und die auf-
tretenden Epidemien! Auch in Karlsruhe machte man da-
mals die Bekanntſchaft von Poden und Typhus. Bon Paris
fam immer derjelbe Bericht, daß alles im alten jei, wenn man
auch in den Karlsruher Läden jet ſchon bedrudte Taſchen—
tücher mit dem Einzug der Deutſchen in Paris faufen fonnte.
Mehrere Male trafen Siegesnachrichten abends während der
Voritellungen im Hoftheater ein. Das Spiel wurde dann
unterbrochen und das Telegramm von der Bühne vorgelejen;
man erhob fih und Schauspieler und Publikum fangen unter
Orcheiterbegleitung die Wacht am Rhein.
Ich mußte nun an die Heimfehr denken, wenn ic) im Früh—
ling mein aufgeſchobenes Propaedeutitum machen wollte, das
ih in glüdlihen Momenten beinahe vergejjen Hatte, das aber
nad ſolchen Phaſen mit Sicherheit wieder als Geſpenſt auf:
tauchte. Ich ging ungern fort, da jett gerade viele neue Pa-
tienten eintrafen und die dreitägige Schlacht an der Lijaine
einen jtarfen Zufluß erwarten lieg. Man erfuhr aud, daß
Bourbafi nad) der Schweizergrenze Hingedrängt werde, und
der Wirt zum ſchwarzen oder weißen Bären an der Karl
Friedrichsſtraße, wo wir unſer Mittagefjen einnahmen, be-
merfte mit Shmungzeln: „Da habe ja jet die Herre Schweizer
vielleiht Gelegenheit, Bekanntſchaft zu made mit ihren
Freunde, de Franzoſe!“
Am 26. Sanuar 1871 verließen Barth und ih unfern
Dienft; als ih am 27. morgens zum Bahnhof ging, reute mid
mein Entihluß beinahe wieder; denn ich jah über die jchnee-
bededte Landihaft eine lange Kolonne von Trägern mit bela-
denen Bahren und von Fuhrwerken nad) den Lazaretten ziehen.
Mir fuhren über Tübingen und erfuhren am 28. Januar
auf dem Rückwege aus der Hirurgifhen Klinik von V. v.
Bruns, die wir beſucht Hatten, dur) den Phyliologen Bierordt
das Neueite, indem er den Studenten über die Straße zurief:
„Paris ift über!“ Nun großes Hallo, Deforation, Muſik und
abends ein Yadelzug unter Vorantritt der Stabdtreiter.
165
Auf der Heimreije wurden wir getrennt; denn Barth er-
hielt am Abend des 1. Februar das Telegramm eines be-
freundeten Arztes im Thurgau mit der Bitte, ihn in feiner
Praxis zu vertreten, da eine franzöſiſche Armee in die Schweiz
übertrete und er mit feinem Bataillon an die Grenze mülle.
Sch kehrte allein nad) Haufe zurüd und jah einige Tage jpäter
am Alten Markt die lange Kolonne der für Liejtal und Bafel
beitimmten Bourbafijoldaten, meilt Berittene, die vom
Bubendörfer Bad herfamen. Es war ein mitleiderregender
Anblid, dieſe elenden, hinfenden Mannſchaften mit ihren ab-
gemagerten Pferden, wie fie nad) all ihren Strapazen ihrem
Beitimmungsort zujhlidhen. Die Leute aus den Dörfern eilten
herzu und waren ergriffen von dem Anblid des traurigen
Zuges. Es rührte mic) zu jehen, wie einzelne unjerer Bauern
am Wege jtanden, um den Franzoſen aus großen Krügen ihr
gutes Bajelbieter Kirihwajler anzubieten. Dieſe Sprade
wurde jofort verjtanden, denn damals galt bei Müden und
Srierenden ein Kirſch noch als Herzitärfend und magen-
wärmend.
Es bildete ſich, nachdem dieſe Internierten in Lieſtal nach
einigen Tagen ausgeruht, gebadet, geſättigt und mit warmen
Kleidern verſehen waren, ein freundliches Verhältnis zwiſchen
ihnen und der Bevölkerung, und im Laufe der nächſten Wochen
ſah man den Soldaten das Wohlergehen an, wenn fie nad:
mittags folonnenweife in die Dörfer fpazieren geführt
wurden.
Die Doktoren Courvoiſier, Log und Maſſini harrten no
bis Ende März in Karlsruhe aus. Die zwei Erjtgenannten
fehrten dekoriert mit dem Zähringer Yöwenorden nad) Bajel
zurüd, Courvoilier außerdem als der glüdlide Bräutigam
einer Karlsruher Dame, die mit ihrer Mutter der Barade I
vorgeitanden Hatte. Maflini ging dann nad) Edinburg, wo
Liſter ſeit 1869 Profeſſor war; aus einem Brief, den er von
vort an Socin fhrieb, hörte ih zum erjtenmale von der
166
neueiten Etappe der Lijterfchen antijeptifchen Methode, der
Einführung der Karbolzerjtäubung durch den „Spray“, der
Dann fo lange zum unentbehrliden Rüftzeug der Chirurgen
gehörte, bis die Untifepfis (die Bekämpfung der lebenden
Keime in der Wunde) durdh die Aſepſis (die Außerft
ftrenge Desinfeftion des Operationsfeldes und der Hände
und die Gterilifierung der Inſtrumente, Fäden, Verbände
und Kleider durch Dampf) abgelöjt wurde.
Socin wurde in Anerfennung feiner Verdienite nicht nur
mit einem hohen Drden gejhmüdt, jondern aud) dadurd) aus=
gezeichnet, daß er nad) dem Kriege mit Billroth und 2. v.
Langenbeck in eine Dreier-Jury gewählt wurde für die Be:
urteilung des beiten Handbuchs der kriegschirurgiſchen Technik;
die Kaijerin Augusta Hatte auf die Wiener Weltausitellung
hin zwei große Preiſe für ein ſolches Werk geitiftet, „um die
Snterejfen der Humanität unter dem Symbol des Rothen
Kreuzes aud) im Frieden zu fördern“. Den erjten Preis er-
hielt der geniale Erfinder der fünftlichen Blutleere, Friedrich
Esmarch, für ein Werf, das erjt 1877 erjhienen, in feiner
Verbandlehre ſchon die ganze ausgebildete Antijeptif enthält.
Bei Anlaß der Beratungen der Jury in Berlin wurde Socin
zum Kaijer Wilhelm befohlen; er hat in einem im Korrejpon-
denzblatt für Schweizer Aerzte abgedrudten Briefe an Alb.
Burdhardt-Merian feinerzeit über dieſe Audienz in feiner
feinen und munteren Weile berichtet.
Als mit Beendigung des Krieges die Internationale
Agentur in Bafel ihre Tätigkeit einjtellte, ſchlug Socin als
deren Mitglied vor, einen Teil der übrig gebliebenen Geld-
mittel zur Anjhaffung von künſtlichen Gliedern für Ampu-
tierte beider Nationen zu bejtimmen und bot fi an, für Her:
ftellung folder Apparate zu forgen.
Mit Hilfe der Agentur, von Freunden und weiteren
Kreifen, bei denen die Idee Anklang gefunden hatte, wurde
in Bajel ein Haus gemietet und eingerichtet, das 17 Betten
für den Aufenthalt der Invaliden und außerdem den Raum
167
zu einer Werkitätte für den Orthopäden Weber-Moos aus
Züri enthielt, den Socin jhon als erfahrenen Fachmann
fannte.
Bis zum 1. Dezember 1871 wurden 45 deutiche, 37 fran—
zöfiihe und 18 eljaß-lothringifhe Snvalide, im ganzen 100
Mann mit 187 Apparaten verjehen. Ueber den weiteren Ver—
lauf fehlen mir die Notizen; man fah damals längere Zeit
Gruppen diefer Leute an Krüden herumhumpeln; id fand
Darunter mehrere alte Bekannte.
Die 1871 ad hoc zujammengetretene Gefellihaft gab An—
laß zur Gründung des feit 1871 beitehenden Vereins zur An=
Ihaffung künſtlicher Glieder, der aud) jet noch in ſegensreicher
Wirkſamkeit it.
Socin lud mid) im Sommer 1871, nahdem mein Eramen
abjolviert war, ein, ihm bei der Sichtung und Erzerpierung
der Karlsruher Krankengeſchichten zu helfen. Ich wohnte
bei ihm, am Abend diftierte er mir den Allgemeinen Teil
feiner „Kriegschirurgiſchen Erfahrungen“ und unterhielt mid
dur) fein geiltreiches Plaudern. Man wird mir es glauben,
daß die 14 Tage, die ich in dem bei der Einladung verheißenen
„abfolut freien und freundſchaftlichen Ton“ mit ihm verbradite,
das denkbar angenehmite Nachſpiel zur Lazarettätigfeit
bildeten.
Nun nod) einen Blid zurüd auf das Ende des Kriegs und
zugleid) auf das fernere Schidjal vieler von unferen Pa—
tienten.
Am 26. Yebruar 1871, während die franzöliihe National-
verfammlung in Bordeaur tagte, wurde zwiſchen der fran—
zöſiſchen Republik und dem deutihen Kaiferreich der Borfriede
zu Verfailles geſchloſſen; der definitive Friedensſchluß geichah
zu Frankfurt a M. am 10. Mai.
„D Ihöner Tag, wenn endlich der Soldat zum Frieden
heimfehrt, zu der Menſchlichkeit“, dieſes Wort aus Wallenftein
galt für die fiegreiche Armee, nicht aber für Die unterlegene.
168
Für viele Franzofen, Die dem Elend und den Gefahren
des unglüdlichen Feldzugs entronnen, für Viele, die von ihren
Wunden genejen oder aus der Gefangenfchaft entlajjen waren,
aud für die in der Schweiz interniert Gewejenen, hatte die
Stunde des Friedens no nicht gejchlagen.
Vom 18. März an war Paris der Rommune überliefert;
die Regierung unter Thiers hatte fi mit kleinen Beltänden
treu gebliebener Truppen nad) Berjailles zurüdgezogen. Aus
den Reiten bejiegter Yeldtruppen, heimfehrenden Gefangenen,
aus Genejenen, aus allen anjtändig denfenden Elementen
mußte eine neue Armee von allen Enden her gejammelt und
organiliert werden. Erſt am 21. Mai fonnte man zum eigent:
lihen Angriff jchreiten, und die Tage vom 25. Mai an, wo
die Truppen in das brennende Paris eindrangen, bis zum
28. vollendeten mit einem greuliden Gemeßel die entjeß-
lihden Prüfungen der franzöſiſchen Nation.
169
Die Theologen des Heubergs.
Don Jakob Aundig.
Menige Dertlichfeiten Bajels haben ihr früheres Aus—
jehen bis in unfre Tage fo wenig verändert als der Heuberg
und der früher unter derjelben Bezeichnung mit inbegriffene
Gemsberg. Sa gerade der letere hat wejentlih mit zum
Heuberg gehört. Denn der Name fommt daher, daß einjt dort
Scheunen und Ställe fi) befanden, in weldhen die Mebger
Bajels das von ihnen eingefaufte Schlahtvieh unterbradten.
Gerade am nunmehrigen Gemsberg aber befindet ſich das
Haus, einſt „zur Schheuren“ genannt, an feiner großen
Iheunenartigen Haustüre jet noch an feine urjprünglicdhe
Beitimmung erinnernd. Diejes Haus, die Stätte meiner Ge-
burt und Kindheit, gehört alfo recht eigentlich zum „Heuberg“.
Es begreift fih nun allerdings, daß, als an die Gtelle der
frühern durchgehenden Häufernummerierung eine ſolche nad
Gaſſen, Straßen und Pläßen trat, ein Teil jenes unter dem
Namen Heuberg vereinigten Gaſſenkomplexes einen andern
Namen erhalten mußte. Und da bot ſich als nädjftliegend der
Name Gemsberg dar, da das Haus unterhalb des großen
Brunnens, jetzt Gemsberg Nr. 7, zum Gemsberg hieß, alſo
von einem Tier der Berge feinen Namen hatte. Ueberdies
wurde zur jelben Zeit der frühere, faft immer defekte und gar
oft von den Arbeitern des Brunn: und Bauamtes zu flidende
Brunnen durch einen neuen, aus einem Golothurnerftein
gehauenen Brunnentrog erjeßt und in deſſen Mitte ein
Brunnenftod mit einer Gemsfigur errichtet. Beides, der neue
170
Brunnen und der neue Name, trat im Winter 1860 auf 1861
in Zunftion. Als ih im Frühling 1861 von einer aus:
wärtigen Hochſchule in die Ferien fam, war mein väterlidhes
Haus nit mehr Nr. 420 am Heuberg, ſondern, wie jeßt nod),
Nr. 9 am Gemsberg.
Sch mußte dieſen Hinweis auf die früher umfaljendere
Bedeutung des Namens Heuberg vorausihiden, weil aud) an
dem jet Gemsberg genannten Teil desſelben Theologen
wohnten. |
Unter diejen find vor allem zu nennen die beiden Pro-
felloren Karl Rudolf Hagenbach und Johann Jakob Stähelin,
welde zujammen mit Sohann Georg Müller gegen 50 Jahre
hindurch der Basler Fakultät angehörten (9. ftarb 1874,
St. und M. 1875). Hagenbah wohnte in dem Edhaufe des
obern Heubergs gegen den Leonhardsberg Hin, Nr. 33, dem
Eigentum der Frey-Grynäiſchen Stiftung Hagenbach war
ein um jeines freundliden Wejens willen bei alt und jung
beliebter Mann. Daß er ein Kinderfreund war, beweijen
feine hübſchen Kinder- und Schülergedihte. Wir erinnern an
das bekannte Weihnadtslied: „Wir danken dir, du gutes, du
liebes Weihnadtsfind“, und an das luſtige Yerienlied:
„Hundstagsferien, goldne Tage“, worin die damaligen Schul:
bücher von Beder, Blume, Feldbaufh, Selten auf köſtliche
Weiſe mit dem Yerientreiben in Beziehung gebracht werden.
Hagenbah war aud ein ftets gern gehörter Prediger; als
Mitglied des großen Rats und anderer Behörden nahm er
am öffentlichen Leben Anteil und begleitete jo ziemlich jedes
bedeutjame Ereignis in Bafel, namentlich Fejte, Berfamm-
lungen, Einweihung wichtiger Gebäude, mit einer poetiſchen
Gabe. So war er eine ftadtbefannte Perſönlichkeit. Gar
oft ging er den Gemsberg hinauf und hinunter und wurde
Taft von allen Leuten gegrükt.
Stähelin, deſſen Wohnhaus an den Leonhardsgraben
ging, während nur ein Hintergebäude mit Remiſe an den
obern Heuberg ſtieß, jet Nr. 30, wurde feltener gejehen. Er
171
war auch mehr als Hagenbach ausſchließlich mit feinem Fach—
ſtudium, demjenigen des alten Tejtaments und der jemitifchen
Spraden, beichäftigt, und darum dem PBublifum weit weniger
befannt. Auch Hatte er eigenes Fuhrwerk und fuhr darum
oft aus. Doch fam er au öfters bei meinem väterlichen
Haufe vorbei. Gut erinnere ih mid) noch eines Winter:
morgens, wo es über Naht „Glatteis“ gegeben Hatte. Mit
dem Sanditreuen war man gegen adt Uhr noch nit bis
an den Heuberg gelangt. Der Herr Profeſſor jtand, mehrere
Bücher unter dem Arm, oben und wagte nidt, den jpiegel-
glatten Abhang Hinunterzugehen. Da fam ihm aus meinem
Vaterhaus Hilfe in der Not. Wie einft beim Ueberfall im
Wildbad ein armer Hirte fi des alten Grafen Eberhard er-
barmte und ihn „von Herzen gern“ auf den Rüden nahm,
jo trat ein waderer Gejelle meines Baters heraus, bot dem
Herrn Profeſſor den Arm und führte ihn feiten Schrittes und
lider hinunter bis an den Spalenberg, wo Sand gejtreut war.
Ein Sohn Stähelins wurde auch Theologe und war zuerit
Pfarrer in Rheinfelden, fpäter bis zu feinem Tode zu
St. Theodor in Bafel. Er war ein gelehrter Kirhenhijtorifer
und Ehrendoftor der Theologie; auch ein ſehr geihäßter Pre:
diger und Geeljorger. Gein Sohn ilt fein Nadfolger im
Pfarramt geworden. Ein jüngerer Sohn Stähelins wurde
Arzt, ließ jih in Aarau nieder, befakte ſich viel mit Orni—
thologie und iſt erſt am 28. März diejes Jahres gejtorben.
Außer den zwei genannten Profejloren wohnten am
Heuberg zwei Pfarrer, weldhe zu den „Erulanten“ gehörten.
So hießen jene faſt ſämtlich aus Bafel gebürtigen Pfarrer,
welche bei der Trennung beider Kantonsteile im Jahr 1833
freiwillig oder unfreiwillig ihre Stellen auf der Landſchaft
verlajjen Hatten, weil fie der neuen, nah ihrem Dafürhalten
untehtmäßigen Regierung zu Lieftal nicht den Amtseid
leiften wollten. Einer derjelben, Huber-Schnell, vorher in
Benfen, wohnte mit feiner ziemlich) zahlreihen Familie neben
dem Hauje zum Gemsberg beim großen Brunnen, jeßt unterer
172
Heuberg Nr. 1, und fand ſeine Belhäftigung darin, daß er
dem OSpitalpfarrer in Ausübung feines Amtes Hilfe Ieijtete.
Einer jeiner Söhne war lange Jahre Pfarrer in Buchthalen
bei Schaffhaufen und lebt noch als Emeritus in diejer Stadt;
ein Sohn desſelben amtiert als Geiltlider in der ſchaff—
baufifden Gemeinde Diterfingen. Der andere Erulant wohnte
am obern Heuberg, vom Gemsberg aus gegen den Spalen-
berg Hin, jegt Nr. 24; das Haus ijt fenntlid) an dem bejonders
hohen Dache. Das war Emanuel Burdhardt-Preiswerf, zu:
vor Pfarrer in NRümlingen, zum Unterjhied von andern
Trägern diefes Namens furzweg €. B. genannt. Im „Eril“
befleidete er das bejcheidene und nicht einträgliche, aber doch
nit unwidtige Amt eines Gefretärs des Millionstomitees,
deſſen Protofolle er mit feiner ſchönen Handihrift multer-
giltig führte. Gar oft wanderte der freundlide Mann über
den obern Heuberg dem damaligen Miflfionshaufe an der
fillen Miſſionsgaſſe, der jeßigen innern Leonhardsitraße zu,
um dort feines Amts zu walten. Geine zweite Gattin, eine
geborene Preiswerf, war in eriter Ehe ebenfalls mit einem
Erulanten, Bfarrer Stähelin in Winterlingen, verheiratet ge—
wejen, feine erjte Gattin hatte meines Erinnerns auch Burd-
hardt geheißen. Kinder hatten diefe Eheleute nicht, wohl
aber viele Leibliche und „angeheiratete“ Verwandte. Unter
dDiefen waren, wie fi) denken läßt, auch viele Theologen; be-
fanntlich find unter denfelben die drei Namen Burdhardt,
Preiswerf und Stähelin mehrfad vertreten. Sie hatten denn
auch über zwanzig theologijche Neffen, deren jeder nad) Burd- -
hardts Tod einige feiner Bücher als Andenken erhielt. Frau
Pfarrer Burdhardt hieß in ziemlich) weiten Kreifen nur
„zante E. B.“. Gie Hatte lebhafte und freundliche Teil-
nahme, nicht nur für die Verwandten, fondern weit über deren
Kreis hinaus. Da ihr erfter und ihr zweiter Gatte Pfarrer im
Bezirk Siſſach gewejen waren und meine Mutter ebenfalls die
Tochter eines allerdings ältern, ſchon 1836 verjtorbenen Eru-
lanten aus demjelben Bezirk (Pfarrer Fäſch in Ormalingen)
173
war, jo erwies ih Frau Pfarrer Burdhardt gegen fie ftets
befonders freundlich und dienftbereit. Da fie in ihrem Haufe
einen großen Eftrich Hatte, fo pflegte meine Mutter fie bei
jeder Wäſche um die Erlaubnis zu bitten, ihr „Plunder“ dort
zum Trodnen aufhängen zu dürfen, was jederzeit gerne ge—
währt wurde. Beide Erulantenfamilien führten ein ftilles
Leben auf dem damals und nod jet jtillen Heuberg und ge-
hörten zu deſſen langjährigen Bewohnern.
Im Haufe zum Gemsberg, neben Pfarrer Huber, dem
damaligen Projelytenhaufe, wohnte damals ein weiterer
Theologe, der Projelytenvater Heman. Er wird, da er jelbit
urſprünglich Jude gewefen war, nit in jungen Jahren Theo-
logie jtudiert haben. Aber er war in den biblifchen Spraden
bewandert und hielt neben feiner engern Wirfjamfeit ge—
Ihäßte Bibelftunden. Zwei feiner Söhne ftudierten Theo:
logie; der ältere wurde Pfarrer in feinem Heimatlande
Bayern; der jüngere trat, nachdem er ebenfalls dort ein Pfarr:
amt innegehabt, an die Stelle des Vaters. Jetzt wirft er ſchon
viele Jahre an der Univerjität als Profeſſor der Philofophie
und Pädagogik.
Vater Heman und feine Gattin waren gleihfalls viele
Sabre lang freundliche und beliebte Heubergbewohner.
Zu unterft am Heuberg oder jegigen Gemsberg aber,
an der Ede des Spalenbergs, wohnte noch ein Mann, der als
ein „zugewandter Drt“ der theologifchen Zunft gelten konnte:
der „geiltlihe Weinherr“ Langmeſſer, feines Zeichens früher
MWeinhändler, in meiner Sugendzeit ſchon in höherm Alter und
Privatmann. Er trug jenen Titel nicht nur deshalb, weil er
den Abendmahlswein geliefert, jondern aud, weil er eine
Zeitlang Theologie jtudiert Hatte. Sch hörte ihn einmal
feinen Enteln und deren Spielfameraden, zu denen auch ih
gehörte, die erften Verfe des Johannesevangeliums griechiſch
zitieren, was uns fehr imponierte. Auch Tirchengeihichtliche
Kenntnijje gab der freundlihe und geiprädige alte Mann
gerne zum Belten.
174
Endlich ift noch derjenige Theologe zu nennen, der vom
Heuberg jtammte und auch feine legten Amtsjahre in deſſen
unmittelbarer Nähe zugebradht Hat: der in meinem väter-
lichen (und jhon großväterlihen) Haufe geborene und auf:
gewachſene Bruder meines Vaters, Cuharius Kündig, zuerft
1821—25 Pfarrer in Diegten, dann bis 1859 Helfer zu
St. Peter, zuleßt bis zu feinem NRüdtritt 1866 Hauptpfarrer
zu St. Leonhard. Der Hof des von ihm bewohnten Pfarr-
baufes, Zeonhardsgraben Nr. 63, geht auf den obern Heu=
berg binaus, jodaß er recht eigentlih ein Heubergtheologe
war. Er iſt namentlich weithin befannt geworden durd fein
1856 zuerſt erſchienenes und jeither bis in die Achtzigerjahre
wiederholt neu aufgelegtes Buch: „Erfahrungen am Kranfen:
und Gterbebette“.
So hat denn jene ftille Stadtgegend zu der Zeit, wo fie
nod einen halb Tändlihen Charakter Hatte, ungewöhnlich
viele Theologen beherbergt. Es war meine Jugendzeit, und
dDiefe Umgebung mag dazu beigetragen haben, daß ih ein
Theologe geworden bin. Set aber wohnt außer in den zwei
Amtswohnungen, dem Pfarrhauje und dem Frey:-Grynäum,
meines Wiffens fein Theologe mehr dort. Das Gejchlecht der
Erulanten ift Tängft ausgejtorben. Und wenn jet Pfarrer,
die fein Amt mehr befleiden, fih in Baſel niederlajjen, fo
ziehen fie in eines der außern Quartiere. Eine Aehnlichkeit
iſt aber doch geblieben. Wie nämlich der Heuberg nahe bei
der Leonhardsfirhe Liegt und ihrer Parodie zugeteilt ift,
jo jollen auch jegt noch) in feiner der Stadtgemeinden fo viele
ehemalige Pfarrer wohnen wie in derjenigen von St. Leon⸗
bard. Der Heuberg aber mitfamt dem Gemsberg iſt jegt no
eine der „ſtillen Gaſſen“ des alten Bajel.
175
Die Basler Saftnadıt.
Don Paul Aölner.*)
„Rur wer tüchtig trommeln kann,
Gibt ein guter Bürgersmann.“
Faſtnachtszettel 1843.
Menn in deutſchen und welfchen Landen!) die glänzenden
Quitbarfeiten des Faſchings und «carnevale> zur Neige gehen
und mit dem kirchlichen «memento quod cinis es et in cinerem
reverteris>?) der Aſchermittwoch fröhlichem Mummenſchanz
ein jähes Halt gebietet, dann legt Baſel die letzte rüſtende
Hand an ſeine Faſtnacht!
Dann ebbt am Montag und Mittwoch nach Invocavit
der Ernſt des grauen Werkeltages und flutet durch die Gaſſen
der Altſtadt eine Welle lebensvoller, volkstümlicher und ur-
Tprünglicher Eigenart, welche nirgends ihresgleichen findet.
Sung und alt feiert; die Schulen und Geidhäfte find ge-
ſchloſſen. Yrau Sorge verläßt während zweier Taglängen
die Rheinftadt, und wer nicht der Welt abgejtorben ift, feiert
Saltnadt. Jedweder auf feine Weije; die Kleinere Zahl in
felbftätiger Teilnahme, die große Menge in Eritifhem Be:
ſchauen und behaglichen Genießen der ji dem Auge und Ohr
dDarbietenden Dinge. |
Der Spur zu folgen, welde der «esprit moqueur> des
*) Der vorliegende Aufjag wird nad) Neujahr als jeparate
Publikation mit vermehrtem Bildſchmuck im Auftrage des Faſtnachts⸗
Komitees herausgegeben werden.
) Mit Ausnahme der Mailänder Diözefe.
2) Gedente, daß du Aſche biſt und wieder zu Aſche wirit.
176
Baslers gewandelt, bis diejes bedeutſamſte Volksfeſt feine
jeßige originelle Geftaltung und fein bodenftändiges Gepräge
angenommen bat, fei nachfolgend der Verſuch gemadit.
Faſtnacht, Faſching oder Karneval, alle drei Begriffe im
weitern Sinn des Wortes gleichbedeutend, wurzeln in Gitten
und Gebräuden, welde in Sahrhunderte zurüdliegenden
Zeitläufen Hauptjädlih von Italien, der Miege des Kar:
nevals, her, bejonders am Rhein und im füdlichen Teil des
heiligen Römiſchen Reiches deutiher Nation Eingang fanden
und fi je nad Ort und Bevölferung im Wechſel der Zeiten
zu typilchen Volfsfeiten auswuchſen.
Teils fußten fie auf uralt-heidniſchen Feitlichfeiten, welche
die Kirche wohl oder übel als Zugejtändnis an ihre Tebens-
bejahenden Angehörigen auch weiterhin duldete; teils ent-
Iprangen fie dem rein epifuräifhen Bedürfnis, ſich im vor:
aus für die fommende jtrenge Fajtenzeit auf Stunden und
Tage ſchadlos zu Halten.
Es vffenbart fi in diefem Treiben während des Mittel:
alters der Ausbruch unbändiger, ja roher Lebensluft und
einer Zebensauffajjung, die mit ganz andern Augen fah, als
unfer durch Erziehung und Bildung verfeinertes Zeitalter.
Die zahlreich erhaltenen Faſtnachtsſpiele deutſcher und
ſchweizeriſcher Poeten geben uns einen Begriff, auf welden
Grundton die alte Faſtnacht gejtimmt war. Denn was id
in diejen dialogilierten, zum Teil der Improvifation anheim-
geitellten Szenen widerjpiegelt, ijt in erjter Linie Grobianus,
der Heilige des Sahrhunderts; er madt ſich breit in un
gezügeltem Scherz, derbem Wit, nicht felten in Unflat und
Zote.
Wie mag es erjit in Wirklichkeit, auf Marftplag und
Gaſſe, wo ſich die Knechte der Handwerker in die Brunnen
warfen, wie auf Herberge und Zunftitube bei vollem Becher
und üppigem Schmaus zugegangen jein!
Als harmlojer Scherz darf da noch die „vaßnechtiſche ge—
ſchicht“ gelten, welche die Beinheimjhe Chronik wiedergibt,
177 13
wonach 1503 etliche Priefter und Studenten zu Naht Mut-
willen trieben und dem altersgrauen fteinernen Sanft Georg
auf dem Münjterplagbrunnen eine „Büttene“ über den Kopf
jtülpten; jedoch der „Serg zerbrach“ und einer der ſchalkhaften
Scholaren wurde für tot von dannen getragen.
Kit nur Gejinde und Bürgersleute ließen während der
Faſtnachtstage übermütigfter Laune freien Lauf, jondern aud
Perſonen von Stand und erlaudte Häupter ſchämten ſich nidt,
das tolle Treiben mitzumachen. Die Scherze, die ji) im Jahre
1376 Defterreihs Adel erlaubte, und deren ereignisichwere
Folgen find unter dem Namen „böje Faſtnacht“ zu trauriger
Berühmtheit gelangt. Der „heiße Stein“ auf dem Marftplag
ließ damals die Basler jahrelang der Faſtnachtsfreuden ver-
geljen. Auch ein Habsburger, Herzog Siegmund, Sohn Fried-
richs mit der leeren Tajche, war es, von dem allerdings viel
harmloſer, faſt ein Jahrhundert ſpäter berichtet wird, er jei
1467 nad) fröhlichem Turnier auf dem Münfterpla und nach—
folgendem großen Tanz in der „Müde“, am Wüſcheltag nad
Aſchermittwochweiſe im Geliht mit Ruß bemalt mit den
Frauen durch die Stadt gelaufen.
Gewiß weit war der Weg bis zu jenem reizvollen Kar—
neval von Venedig oder Rom, dem fein Geringerer als Goethe
in anmutiger Schilderung begeijterte Worte lieh... .
Die mittelalterlihen und neueren Quellen zur Geſchichte
der Basler Faſtnacht erfchließen fi) dem Forſcher in erſter
Linie in den Ratsprotofollen, den Ruf: und Ordnungsbüdern,
lowie in gedrudten obrigfeitlichen Verfügungen, weit weniger
in zeitgenöfliihen Aufzeichnungen Einzelner, acdhteten doch
Chroniffchreiber und Hiltoriographen etwa mit Ausnahme
geiftliher Autoren, die dagegen eiferten, jold tolle Mum—
mereien faum wert genug, um der Nachwelt hierüber aus-
führlide Kunde zu Hinterlajjen.
Wohl eines der ältelten erhaltenen Zeugnilje über allerlei
Ungebührlichfeiten während der Faſtenzeit reicht in das Jahr
1419 zurüd. Cs geht während der Faſtnacht, Heikt es in.
178
dem Rufbüdlein, gar „Ihalklih und wüſtlich‘ zu, daß wür—
dDige Herren und rauen auf ihren Stuben weder tanzen
fönnen noch Ruhe haben, davon „groß fumber und gebreit
ufarſton“ mörhte.
Vor allem find es dann die Erfanntnille und Mandate
der erniteren Reformationszeit und der nachfolgenden Jahr—
zehnte, welche Stoffes die Fülle bieten; Dofumente, die feines-
wegs das Hohelied basleriſcher Kaltnachtsfreuden anjtimmen,
jondern mit dem fittenjtrengen Maßitab eifernden Refor—
mationsgeijtes gegen die „abgöttifhen“ und „unzüchtigen“
Feſtivitäten zu Felde ziehen.
Die Beluftigungen beſchränkten fih nicht wie heute auf
die erjte, neue Wochenhälfte nad) Aſchermittwoch; ſchon Die
Meihnadtszeit, das Neujahrsfeit und andere Anläſſe benüßte
das fejtfreudige Volk zu VBermummungen. Erſt mit der Ab—
Ihaffung der vierzigtägigen Kalten durch die Reformation
von 1529 fonzentrierte fi das Faſtnachtsleben, um ih auch
bier in Gegenjaß zur alten Glaubenslehre zu jtellen, auf
Aſchermittwochs) und die nahfolgenden Tage und zwar in
einer Weiſe, welche den Rat zu energiihem Einſchreiten ver
anlaßte.
Einem der Hauptvergnügen, dem heute noch auf dem
Rande übliden Abbrennen von Yaltnadhtsfeuern, ſowie dem
Merfen von brennenden Holzjcheiben, in Verbindung mit Um—
zügen, wobei Yadeln getragen wurden, hatten die Behörden
Ihon nor der Reformation, wenigitens in der Stadt, auf
„ewige Zeiten“ ein Ende gejeßt.
Sm März 1546 wurde dann durch) die Räte erkannt, man
ſolle „fürohin fein Faßnacht noch Eſcher Mitwoden
me habenn, nod der Zit uff Zuenfften, Gefellfchaften, noch
Knechten Stuben nit me foden lan, noch zeren, ouch gantz
3) An diefem Tag wurde allgemein auf den Zünften üppig
geſchmauſt; heute nod) wehen alljährlih am Aſchermittwoch von den
Zunfthäufern zum „Schlüſſel“, zu „Hausgenofjen“ und „Safran“ die
Banner, die Brüder zum fröhliden Mahle Iadend.
179 12*
fein Faßnacht Buben Pfifen noch Trummen
pruden, fonder der Dingen aller müßig jtan“.
Smmerhin gejtattete man „gut Herren und gjellen“, auf
ihre Privatfoften Hin während diefer Tage in Zudt und
Ehren ein Mahl zu halten.
Bei dem Verbot des Trommelns und Pfeifens haben wir
weniger an Umzüge geordneter Tambouren- und Pfeifer:
gruppen zu denken, jondern man wollte damit in erjter Linie
der Gelegenheit zu ausgelajlenen unzühtigen Tänzen einen
Riegel fhieben,; denn Trommel und Querpfeife waren bis
tief ins 16. Jahrhundert hinein die Mufifinjtrumente, mit
denen allgemein zum Tanz aufgeſpielt wurde.
Von ſolchen Tänzen, die mancherorts geradezu als „hürt-
Ihe“ bezeichnet werden, wijjen auch die Basler Quellen zu
erzählen. Noch im ausgehenden 18. Sahrhundert beichwert
ih das NReformationskollegium, dem die Durhführung der
„Chriftlihen Reformation und Policey Ordnung der Stadt
Bajel, zu Beförderung Gottes Ehre, Pflant- und Erhaltung
aller Gottjeligfeit, Zucht, Chrbar=: und Frommkeit“ oblag, es
hätten anläßlich der Umzüge an einigen öffentlichen Orten
Erwadjene die ganze Woche hindurch ungejtüme und zügel-
loje Tänze gehalten. Der Rat verbot hierauf in einem An—
bang zur Reformationsordnung vom 2. Auguſt 1784, Erwadj-
fenen bei empfindlicher Strafe das Tanzen und gejtattete nur
den Kindern am Mittwoch Abend dieje „unjchuldige Freude“.
Ein Jahr jpäter, 1785, wurde aus dem nämliden Grund
20%, der Stubenfnedt zum „Greifen jenjeits“, einem pein-
lichen Verhör unterworfen wegen eines bei ihm am Donners-
tag der Faſtnachtswoche gehaltenen „ungejtümen“ Tanzes.
Die in der Folge angeflagten Beteiligten erklärten, es habe
id um eine „abgeredte Compagnie“, eine Harmloje „Lid:
teten“ gehandelt, deren Urheber der ehrſame Magijter Veit
und dejlen Ehehälfte nebjt einigen männlichen und weiblichen
Befannten gewejen jeien. Troßdem wurden alle Teilnehmer
je um einen Gulden gebüßt.
180
Ebenfalls des Tanzens wegen verfiel nach) der nämlichen
Faſtnacht der Indiennedruder Jakob Schwißer von Oberdorf
in Strafe. Er hatte in der Mägd vor dem Eſſen „im Har:
nifh“ einige Tänze zu Ehren des Herrn Borfjtadtmeilters
Ryhiner getan.
Mährend bis in das 16. Sahrhundert Hinein das Tanzen
als integrierender Beitandteil der Faſtnacht noch vielfach auf
offenen Plätzen vor ſich ging, verſchwand es in jpäterer Zeit
von den Straßen und fand, gehegt von den obrigfeitlichen
Erlafjen, auf den Stuben der Zünfte und Vorſtadtgeſellſchaften
Unterjehlupf, bis diefem Bergnügen in veredelter Form die
Neuzeit Bühne und Balljaal öffnete.
Der in allen Verfügungen des Mittelalters mannigfad)
wiederkehrende Ausdrud „Bußen“ bedeutet joviel als Schred-
geftalt.e Wer denft wohl heute nod) daran, wenn er feinen
lieben Nächſten einen Förchtibutz fhilt, daß in diefem Wort
gewillermaßen ein Ton längſt verrauſchter Faſtnachtsfreude
nadklingt !
Primitiver Art war anfänglid die Vermummung diejer
Bußen. Das Gejiht mit Kienruß bejhmiert, ein Hemd oder
ein Weiberfleid, aus den Truhen der Wohnſtube zufammen-
gejudht, über das Wams geworfen, jo tummelte fi) die Jung:
mannſchaft in den Gallen und jtürmte in die Häufer, um die
Leute zu „bremen“, das heißt im Geliht mit Ruß oder Aſche
zu ſchwärzen.
Die urjprüngliche Sitte, ſich durch Schwärzen des Antlies
unfenntlich zu maden, war bis in das 19. Jahrhundert Hin-
ein noch allgemein üblich.
So fuhr am Faſtnachtsmittwoch 1783 ein Wagen mit
zwölf Masfen durch die Stadt; die Teilnehmer, ein Trans-
port Refruten voritellend, hatten geſchwärzte Geſichter und
einige trugen dazu tuchene Nafen; 1816 berichtet ein Polizei:
tapport von einem vierjpännigen Yaltnadtswagen, deilen
Inſaſſen „verfchmierte Gefichter“ aufwiejen; ja 1833 noch arre-
181
tierten die Yandjäger eine Anzahl jhwarzgefleideter Masten
mit geſchwärzten Gelichtern.
Ausnahmsweiſe mögen aud) ſchon im Mittelalter in Bajel,
wie wir es von andern Orten willen, hölzerne oder metallene
Masten in Gebraud geweſen fein; erjt in den letzten Jahr—
zehnten des 18. Jahrhunderts famen nad) und nad) die Gtoff-
larven, jpäter die Wachslarven und zuleßt die aus ‘Papier:
made gefertigten Gelihtsmasfen auf. Das Larventragen
wurde übrigens bis in die dreißiger Jahre des 19. Jahr:
Hunderts jtreng geahndet. Man erblidte darin, wie es in
dem kirchenrätlichen Schreiben vom Jahre 1806 ſcharf hervor-
gehoben wird, ein großes Wergernis, „daß die Menfchen fi
in Tiergejtalten verfleideten oder das ihnen von dem gütigen
Schöpfer geſchenkte menſchliche Angeliht mit unmenſchlichen
abicheulihen Karifaturen verwedjelten“.
Als eigentlihe Koſtüme, wenn wir von der verwedjelten
Geſchlechtstracht abjehen, kommen bis in das 17. Sahrhundert
hinein beim Volk hauptſächlich in Betracht, der aus der ita-
lieniſchen Poſſe ftammende Harlefin, welder ih als
Hanswurit im deutihen Faſtnachtsſpiel Bürgerreht erwarb,
jowie der Teufel und der Bauer.
Für das Borfommen der eritgenannten Yigur als
Straßenmasfe in Bajel haben wir aus der alten Zeit feine
Belege finden können. Erjt gegen das ausgehende 18. Tahr:
Hundert gefchieht ihrer zu verfhiedenen Malen Erwähnung.
Sm Sahre 1783 wird ein Gabriel Berger um einen Neu-
taler gebüßt, weil er nädtlih im Gejellihaftshaus zum
Dolder, als „Hanswurjt“ verfleidet, feine Späſſe getrieben
hatte. Zur Rechenſchaft gezogen, erklärte er, nur eine weiße
„Veſte“ und eine Müte von Papier getragen zu haben. Rad)
gefallenem Bericht ergab ſich aber, daß er ji) in „wächſerner
Zarve“ und mit einer hohen Mübe, an welder vorn eine
Puppe befeitigt war, auf dem Tanzboden herumgetrieben
hatte.
Und 1790 mußte fih ein Bürger verantworten, der als
182
„Arlaquin“ in einem Nanktingrod und Kamijol, mit bor-
diertem Hut, großem Haarjedel mit einem Spiegel daran,
dem Spalemer Umzug gefolgt war.
Mir Haben es in dieſen Fällen eher mit flownartigen
Bermummungen zu tun; der eigentlide Harlefin mit zuder-
Hutförmiger Müte und ſchellengeſchmücktem buntlappigem
MWams fcheint nicht eigentlich heimiſch geweſen zu fein.
Weit zurüd nachweisbar find Dagegen die Masfen des
Teufels und Bauers. Schon 1432 verbieten die Behörden,
in „tüfels hüten“ zu laufen, und 1526 richtet ich ein
odrigfeitlicher Ruf gegen das „umbgan in Meyers oder
verglichen wyje“, das heißt in Bauernkleidung.
Wir Haben uns dieje Typen wahrſcheinlich als zufammen-
gehörendes Paar zu denfen, das Durch allerlei Spälle und
Geberden meiſt obizöner Art das Publifum belältigte und
beluftigte. Gerade deswegen vielleicht hielt das Volk durch
die Sahrhunderte hindurch zäh an diefer Art der Vermum—
mung feſt.
Noch 1783 ilt in den Reformationsaften von zwei jungen
Burſchen die Rede, von welden der eine als „heſſiſcher Bauer“
in weißem Hemd und der andere als Teufel in einem ver=
fehrten Pelz durch die Straßen gezogen war. In dem noch
au unjerer Zeit ziemlich häufig gejfehenen „Deifeli“ ift wohl
das letzte Ueberbleibjel diefer ein Halb Sahrtaufend alten
Faftnachtsmaske zu erbliden. Melde Koftüme in vornehmen
Kreifen bei privaten Masferaden oder bei Tanzbeluftigungen
auf den PBatrizierjtuben etwa getragen wurden, deutet das
aus dem Jahre 1595 ftammende Masfenbild im Stammbudj?*)
des Bürgermeilters Jakob Götz an. Wir finden dort ein vor—
nehmes Paar, begleitet von einem fadeltragenden Bajazzo
und einem Lautenfpieler in ebenfalls bajakartigem Kleid.
Die drei männliden Masten weijen faffeebraune Larven mit
langen Bärten auf, während die Dame eine gleidhfarbige
Halblarve trägt.
3) Aufbewahrt im Hiftor. Mujeum.
183
Die Sitte, ji zu masfieren, nahm bejonders im 18. Sahr=
hundert überhand, fo daß der Rat 1715 bei „Leib- und Lebens—
ſtraff“ dieſe „höchſt gefährlide Sach“ verbot; ein Verbot,
weldes 1727 „Sungen und Alten“ gegenüber erneuert wurde.
Gehr beliebt wurde nun beim Bolf das Verkleiden in
Trachten der benachbarten Landſchaften, da ſolche Koſtüme,
wo jedweder noch ſeine Landestracht beſaß, leicht erhältlich
waren. Groß iſt die Zahl der „Wälderbauern“, Markgräfle—
rinnen, „Bernermeidli“ und Baſelbieterinnen, welche ſich nach
verrauſchter Faſtnachtsherrlichkeit vor den würdigen Refor—
mationsherren verantworten mußten, und entweder als reuig
Büßende zu einem Neutaler, oder als verſtockte Sünder bis
zu zwanzig Pfund Strafe verurteilt wurden.
Dieſe Maßregelungen mögen uns heute als übertrieben
trenge vorfommen. Erklärlich werden fie aber, wenn wir
uns in die Anlihten der damaligen Zeit zurüdverfegen, wo
ih der Staat in engherziger Weije, wenn aud mit väterlid-
wohlwollender Abjicht in die Privatverhältnilje des Einzelnen
einmiſchte; wachte doch die Obrigkeit nit nur an der Faſt—
naht, jondern das ganze Jahr hindurch Iharf darüber, wie
ih ihre Schußbefohlenen kleideten.
Wenn noch zu Ende des 18. Jahrhunderts Bürgersfrauen,
welche in jeidenen Mantillen zur Kirche gingen, Mägde, die
ih Sonntags mit filber- oder goldbordierten Hauben
Ihmüdten, und Bürger, jo fich verfilbertes Pferdegefhirr an—
Ihafften, zur Verantwortung und Strafe gezogen wurden,
jo läßt ji aud) das Einjchhreiten der Stadtpäter wegen des
Verkleidens an der Faſtnacht begreifen. Noch Hatte die fran=
zöliihe Revolution nicht ihr erlöfendes Wort von Freiheit
auch in folden Dingen dur) die Länder Europas getragen!
Erjt im 19. Jahrhundert beleben dann die heute leider
mehr und mehr verjchwindenden Altfranfen, Dummen Beter
und „Bajaſſe“ das Yaltnachtsgetriebe und werden zu eigent-
lihen Wahrzeihen des Basler Karnevals.
Eine gänzlich verfhwundene Art der Verkleidung waren
184
die fogenannten „Hechelgaugelen“, auf welche laut Regie—
rungsbefehl von 1727 die Wachtknechte ihr befonderes Augen-
merf zu richten Hatten. Wo folche betroffen würden, jollten
lie ohne weiteres von der Straße weg und in den Turm ge=
führt werden. Wer waren dieje Hechelgaugelen, die in den
Erlaſſen von 1727, 1736, 1738, 1744, 1750, 1754 und 1758
Ipeziell erwähnt werden? Nach dem jehweizerifchen Idiotikon
bezeichnet der Ausdrud ein verfleidetes Meib mit einem
Spinnrocken in der Hand. E. Hoffmann-Krayer?) nimmt an,
daß fie jenes alte herenartige Weib daritellen jollten, welches
in den verjehiedeniten Gegenden Europas als Perjonififation
des ausgehenden Winters vorfommt und das als Buppe unter
feierlichen Zeremonien begraben, verbrannt, ertränft oder
zerfägt wird. Aus ethymologiſchen Gründen ſchließt genannter
Autor auf eine Verwandtihaft mit der uralt-geifterhaften
Berta oder Holda, der Frau Holle der Kindermärden.
Um eine Strohpuppe oder dergleichen fann es ſich bei der
Basler Hechelgaugelen nicht handeln, jondern um eine ver=
fleidete Berjon. Nun bedeutet das Wort im älteren Sprad)-
gebrauch aud ein jharfzüngiges böjes Weib, und da liegt die
Vermutung nahe, in diefer Faltnadtsfigur den Urtyp der
intriguierenden Masfe zu juchen, die auf der Straße mit
ſpaſſigen Bewegungen und Geberden die Vorübergehenden
umgaufelt und ihnen mit veritellter Stimme ihr Günden-
tegilter vorhält, fie gewiſſermaßen durchhedhelt, ähnlich der
heute noch jo beliebten „alten Tante“.
Belege, die auf den Braud) des Intriguierens hinweifen,
finden fih ſchon im Reformationsgeitalter.
Ein auf die Herrenfaltnadt 1526 ausgerufener Erlaß
wendet fich gegen allerlei „ſpey- und jpotworten“, welche bis
dahin von jung und alt gejproden und gejungen worden
leiten.
Die Sudt zu „furen“ und zu „ſchnöden“ ift noch Heute
9 E. Hoffmann-Krayer, die Faſtnachtsgebräuche in der Schweiz,
ſchweizeriſches Archiv für Volkskunde, Bd. I, ©. 189.
185
dem Basler in mehr oder minder hohem Maß zu eigen und
äußert fi in charakteriſtiſcher Weife an der Faſtnacht beim
Sntriguieren. Es hat übrigens aud fein Gutes, wenn man
einmal im Sahr die Schellenfappe aufjegt und unter ihrem
geheiligten Schuß eine Menge Wahrheiten vom Herzen wälgen
fann; hört fi) Doc die Wahrheit unter dem Panier der Narr:
heit noch am erträglidjten an!
Noch jind dem Verfaſſer „Fasnächtler“ bekannt, die das
Sahr hindurch geradezu Buh führen über allerlei Menſch—
lies ihrer Mitlebenden, um an der Faſtnacht von der durd)
das Maskenrecht garantierten NRedefreiheit ausgiebigen Ge:
braudh zu maden und das ſprichwörtliche böſe Baslermaul
auf der Straße, in der Wirtsitube und im Ballfaal wahre
Orgien feiern zu laſſen.
Sreilih) wird mit dem Wachen der Bevölferung und im
Trubel der kleinen Großitadt dieſe „Runjt“ jet mit weit
weniger VBirtuojität ausgeübt, als beilpielsweije noch in den
achtziger Jahren. Man fennt ji) eben nicht mehr jo gut wie
früher, wo an lauen Abenden auf den Bänflein vor den
Häufern bei regem Gedanfenaustaufh über die Familien—
und VBermögensverhältnilje, über die Tugenden und mehr nod)
über die Schwächen gemiljer Stadtinfajjen die Saat ausgeitreut
wurde, weldhe an der Faſtnacht Frucht zu tragen beitimmt
war. |
Zur gewiſſen Stunde, am gewiljen Tijh, war es nun
im alten „Kardinal“, im „Pflug“ oder „zu Shuhmadern“,
war man jeiner Leute fiher, und es gehörte zum Gelungen-
Iten, wenn fich in flinfer Rede und Gegenrede über Zuhörer,
Maste und „Opfer“ ein Sprühregen echten Basler Wites
entlud.
Wie fade Dagegen wirkten die überhandnehmenden
Waggis, welde in falſcher Elſäſſermundart gar oft Wit mit
OGrobheit und Schmutz verwedjeln.
Doch kehren wir ins 16. Jahrhundert zurüd!
Aehnlich Tautende Erlajje der gnädigen Herren und
186
Dbern, wie der obgenannte vom Sahr 1546, wiederholen ſich
in furzer Zeitfolge und befunden dadurch den geringen Er-
folg, von welchem fie begleitet waren.
Zu tief jagen die Wurzeln im Volk, um mit nod) jo ſcharf
geführten Arthieben den grünen Baum goldenen Yaltnadts-
lebens ernjtlich zu gefährden.
Belonders ausführli” und eindringlid wandten fidh
namens des Rats die Stadthäupter um die Wende des 16.
Sahrhunderts an ihre „lieben Bürger, Hinderjaflen und An—
gehörigen“.
Da es einer rijtlichen Obrigkeit nad) St. %. E.5) Weiſe
obliege, Heißt es im Eingang des Mandates vom Februar
1599, alles, was Gott und feinem Worte zumiderlaufe, allen
Ernftes abzujhaffen, und dies bejonders zu einer Zeit, da
ſich in der Chrijtenheit allerlei ſchwere, zuvor „unerhörte
ſachen, widerwertigfeitten, jomer und ellend ye lenger ye mer
eröugen“, habe die Regierung Urſache genug, alle Mutwillig-
feiten und übrigen „fröudenſpil“ abzuschaffen und an deren
Statt ehrbares Leben zu pflanzen und „anzuridten“.
Da hauptſächlich während der Kaltnadhtstage zu andern
Sahren viel „ungerümbter ſachen und mutwillen heidnifcher
art und weys geübt worden und fürgangen“ fei, jo ſolle fih
jeder Bürger, jeine „vienjtfind“, überhaupt fein ganzes Haus—
gefinde des „übermefligen unordentliden Bandetierens
Zächens und Praſſens fo wol uff allen ehren Zuenfften
und Geſellſchaften, alls andern mehr orten, Stem des ned t-
liden bin und widerlauffens uffden Gaffen,
des Ruedhlin Holens, Darumben fingens, des
umbaziehbens mit trommen und pfeiffen, des
verfleidens, verbußens, der Mommerigen?)
wie ebner gitalten des Braemens, judlens und
molens ander Ejhmittwod und all ander dergleidhen
erdichte Faßnachtſpilen und ſachen“ gänzlich enthalten.
5) ftreng, fürfihtig, ehrbar.
6) Mummereien.
187
Die Buße, in welde jeder „verbrecher“ zu bezahlen ver-
fällt wurde, betrug „fünff pfunden pfennig“, und zwar follte
diefelbe ohne alle Gnade von jedem erhoben werden.
„Das meinen offtwolermelt Unjer Gn. Herren gan
ernftlich“, Iautet der Schlukfa der Bekanntmachung.
Derlei jtrenge Ermahnungen aus dem Schoße des Rats
wie aus dem Munde der Geiftlichkeit und die relativ hohen
Strafen taten wohl den ärgjten Auswüchſen Abbrud; fie
zwängten den überwallenden Strom in fein Bett zurüd,
ohne aber jeinen Lauf hemmen zu können. Wir willen ja aus
zeitgenöjlifhen Aufzeichnungen von Baslern und Landes:
fremden zur Genüge, wie jehr man unter dem Krummitab
fröhlich zu leben gewohnt gewejen war, fröhlih bis zum
Ueberſchwang.
Faſtnachtsbeluſtigungen, wie ſie beiſpielsweiſe 1508 der
mehrtägige freundeidgenöſſiſche Beſuch der Luzerner mit ſich
brachte, die im Herbſt ihren geſtohlenen Bruder „Fritſchi“
holen kamen, lebten lange in der Erinnerung des Volkes nach.
Zu ſehr lag den Bewohnern der alten Konzilſtadt die
Lebensluſt im Blut und ſaß ihnen der Schalk im Nacken!
Sm Spiegel jener Zeit betrachtet war es eigentlich über—
ſchüſſige Kraft, die fi) austobte, ohne das Marf des Volkes
zu treffen; denn gerade in den Jahren des tolliten Subels
blühte Bafel wie nie...
Nicht Jo harmlos, wie die heute noch übliche Gitte, nad)
welcher während der Faſtnachtstage die Hausfrau guten
Steundinnen bei der Kaffeerifite die Iaubblattdünnen,
Iheibenförmigen Faſtnachtsküchlein auftiiht, war ehedem der
Braud) des „Küchleinholens“ und „Darumben fingens“. Was
der geniale Satirifer Filhart und Straßburgs Abraham a
Santa Clara, der originelle Domprediger Geiler von Keifers-
berg, hierüber aus benachbarten Städten berichten, mochte auch
für das Tebensluftige Bafel am obern Ende der Pfaffengajfe
zutreffen, famen doch bei diefem Küdjleinholen nicht felten
geſchlechtliche Exzeſſe vor.
188
Mährend wir im ausgehenden 16. Jahrhundert noch auf
Schritt und Tritt in Ratsprotofollen und Erlajjen den immer
wieder auftauchenden jtereotypen Klagen begegnen, ſchweigen
ih im friegserfüllten 17. Säfulum die amtliden Dokumente
mehr und mehr aus.
Nicht nur Hatten die fortgejegten Mandate jchließlich den
ärgerlihiten Uebelftänden gejteuert, jondern es madte id
überhaupt in jenen ereignisjchweren Zeitläufen eine Er-
nüchterung der braufenden Kräfte und daran anjhliekend
eine relative Beljerung der Sitten geltend.
An Stelle Tanger Erlajje und Jeremiaden erwähnen die
Ratsbücher nur in kurzer Bemerfung der Faſtnachtstage, etwa
durch den Beſchluß, das „Faſtnachtsgeplärr“ auf den Straßen
durch Umfagen von Haus zu Haus abzuftellen.
Erit das 18. Jahrhundert gab den jtaatlihen Auflihts-
organen wieder in reihem Make Gelegenheit, ji) mit der
Faſtnacht eingehend zu befajlen.
Vor allem waren es die Umzüge der Vorjtadtgefellihaften
und der drei Geſellſchaften Kleinbajels, die viel erwünſchten
Anlaß zu Masferaden, und der Trommelfunjt eine Kreijtätte
boten; aus den Umzügen der erfteren hauptſächlich Haben fid
in der Folgezeit die eigentlihen geordneten Faſtnachtszüge
herausgebildet. Peter Ochs?) entwirft in feinem Geſchichts—
wert aus eigener Anfchauung darüber folgendes Bild:
„... an der Faſtnacht, wenn der Rat es nicht verbietet,
Itellen fie) fog. Umzüge an. Dort wird das Wappender
Gejellfhaftin lebendiger Geftalt, masftiert
oder verjtellt in der Stadt herum begleitet. Cinige mit
der alten Schweizertradgt find die Begleiter. Dann folgen
junge Knaben mit Trommeln und Gewehren und mit der
Sahne der Geſellſchaft. Endlih Kinder von beiderley Ge—
Ihleht und allerleyg Kleidungsarten ſchließen den frohloden-
den Troß.“
7) Ochs, Geſchichte der Stadt und Landfhaft Bafel, Bd. V, 6.402.
8) Die Borjtadtgejellichaften.
189
Diefe Umzüge wiejen urjprünglid nit rein faſtnächt⸗
lerifches Gepräge auf; fie waren eher eine Art Sugendfeft mit
etweldem militärifhen Charakter, beitimmt in erſter Linie
als Sreudentag für die Tugend der Gefellidaftsbrüder.
TIroß öffentlich befannt gegebener Warnung, die auf An-
juhen des Antiftes Hans Rud. Merian den Schülern des
Gymnafiums noch bejonders vor verjammelter Klaſſe ein-
gefhärft wurde, fingen die jungen Leute an, vermummt und
masfiert an den Umzügen zu erjcheinen.
Mastierte Erwachſene ſchloſſen fi) diefen Quartier:
beluftigungen an; Vermummte auf Wagen, Berittene zu
Pferd, ja auf Efeln folgten als ausgelafjjener Nachtrupp und
gaben diefen Zügen nah und nad typiſchen Yaltnadts-
charakter.
Wir entnehmen der Zahl derer, welche im Jahre 1783
vermummt dem Spalemer- und Dalbemer Zuge gefolgt waren
und durch das Reformationskollegium beſtraft wurden, fol-
gende Blütenlefe:
Emanuel Weitnauer, als Marfgräflermädden,
Friedrich Murbadh, als Bauernmädden,
Peter Lindenmeyer, als Harlefin,
Joh. Ulrih Didenmann, als Bernermädden auf einem
Eſel reitend,
Emanuel Lindenmeyer, als Weib in der „Altbaſeltracht“,
Andreas Lindenmeyer in einem Amazonenfleid,
Joh. Taf. Stodmeyer, als Wälderbauer,
Balthajar Umbadh, als Wälder zu Pferd,
Jak. Schaub, in weißem Frauenzimmerfleid,
Joh. Salathe, als Quzerner Zuhrmann mit einer Beitjche,
Joh. Schaub, in einem Eidgenofjenfleid und eine Müße
auf.
Da aud) das zeitweilige Verbot?) der Umzüge nicht viel
%) Am 10. Januar 1756 befahl der Rat, alle Umzüge einzuftellen,
ebenio das Umlaufen der Tiere jenfeits; 1765 wiederholte ſich das
gleiche Verbot bei Strafe von 1 Mark Silber.
190
fruchtete, entjchied die Regierung in Anbetracht der Schädlich—
feit und der vielen Unanjtändigfeiten, die dabei vorgefommen
waren, Ddiejelben gänzlich abzuftellen mit der Beftimmung,
falls ſich erwachſene Knaben in den Waffen üben wollten,
denjelben nah Pfingſten Umzüge zu geitatten.
Mündliche Borftellungen und fohriftlihe Eingaben von
Geiten der Vorſtadtgeſellſchaften bewogen nad) Verfluß zweier
Sabre den Rat, feinen Beſchluß zurüdzunehmen. Die Umzüge
wurden wieder freigegeben und die Tage der Abhaltung auf
den eriten Montag und Dienstag im Brachmonat, im Hindes
rungsfalle acht Tage jpäter, feitgelegt.
Der Rat juhte damit in richtiger Erfenntnis des Urs
jprungs der Mißbräuche dieje Feitlichfeiten der Faſtnachts⸗
zeit zu entrüden, in der Hoffnung durch diefe Maßnahmen die
Quelle des Uebels zum Verſiegen zu bringen.
Alles Trommeln, Umfhlagen und Schießen, befonders an
den Sonntagen, wurde bei einer Strafe von drei Pfund ver—
boten. Eine Ausnahme Hinfihtlih des Trommelns erlaubte
man nur Einer Löbl. Freifompagnie, jenem militäriihen
Sreimwilligenforps, das ji) aus Söhnen wohlhabender Bürger:
familien refrutierte. Da diefe Truppe ihre Uebungen ge—
wöhnlih am Sonntag Nachmittag auf dem Peterspla ab-
hielt, wurde ihr gejtattet, bei den Ererzitien die Trommeln
zu rühren, aber erjt nach) Beendigung der Abendpredigt.
. Eine wirflidhe Unfitte, die das Mißfallen des Rates in
hohem Grade erregte, betraf das Schießen und Losbrennen
von Yeuerwerfsförpern anläßlich der Quartierumzüge.
Diejes gefährliche Vergnügen wurde bejonders während
der Faſtnachtszeit von der ftädtifhen Jugend eifrig gepflegt.
Nicht allein verbanden damit die Knaben eine ärgerliche und
unanftändige Bettelei, jondern das Werfen der „Feuerteuflen“
und „Schwärmerlin“, das Hantieren mit brennender. Zunte,
jowie das Abbrennen von Granaten und „Käſtenen“ veran=
191
laßte in den engen Straßen des öftern Unglüdsfälle und be-
deutete für die Stadt bejorgliche Feuersgefahr, abgejehen da—
von, daß bei Nacht „ganze Nachbarſchaften“ in Schreden und
Unruhe gejegt wurden.
Die regelmäßig nah Neujahr einjfegende Fehde für und
wider die Faſtnacht und deren Freiheiten, trug naturgemäß
nicht dazu bei, das Zeit in jeinen äußeren Formen zu heben,
ibm neue Impulſe zu geben und es ins Großzügige zu
fteigern.” Es war ein hartnädiges Kräftemellen zwiſchen den
einfchräntenden Maßnahmen der Regierung einerjeits und
dem beharrliden Feſthalten der bürgerliden Volksſchichten
an den allerdings nicht verbrieften, aber durch jahrhundert:
alte Gepflogenheit janftionierten Narrenrechten andererfetts.
Der Kampf erloſch auch keineswegs mit dem Zujammen-
bruch der alten Regierungsherrlichfeit im Jahre 1798; er
pielte in die bewegte Zeit der Helvetif hinüber, die fi in
der Behandlung der Faſtnacht nit weniger jtiefmütterlich
als die Zopfzeit zeigte; freilich nit aus den nämlichen Grün-
den. Trogdem ſahen ſich diejenigen, die gehofft Hatten, der
Sturm der Helvetif werde mit fo vielem Morſchem aud dieſes
altmodilche Felt der Torheit wegfegen, in ihren Erwartungen
getäuſcht.
Für die neuen Machthaber kamen bei ihrem Vorgehen
weniger religiöſe Bedenken in Betracht; vielmehr waren Er—
wägungen politiſcher Natur ausſchlaggebend, um die „Witz—
linge, die fi) in höhere Sphären gewagt“,19) in die Schranken
zu weifen. Nachdem ſchon 1798 ſämtliche Faſtnachtsbeluſti—
gungen durch das Regierungskomitee unterjagt worden waren,
hielt au) im folgenden Jahr der damalige Regierungsitatt-
Halter J. Schmid es als unumgänglich nötig, in Rüdficht auf
die Zeitumftände und die Anwejenheit franzöfiiher Truppen
10) Wie ſich der Deutfche Gottlob Heinr. Heine an einer Stelle
feiner Reijebejchreibung über die Basler Faſtnacht in den Neunziger
Jahren äußert.
192
das Verbot in vollem Umfang zu erneuern und durd)
Trommelſchlag befannt zu geben. Alle Wachtpoſten der Gar:
nijon, ſowohl franzöſiſche als baslerijche, erhielten Konfigne,
falls ſich Umzüge zeigen jollten, der Aufforderung der öffent:
lihen Beamten zu deren Anhaltung unbedingt Yolge zu
leilten. Auf dringendes Anſuchen der Tugend wurde immer:
hin diefe Berfügung am Vorabend der Faſtnacht dahin ge:
mildert, daß man den Knaben geitattete, von Tagesanbrud
an bis abends nach geſchlagenem Zapfenſtreich in Zivilfleidern
nad Herzenslujt zu trommeln.
Bürger Schmid fonnte ſich zu dieſem Zugejtändnis um fo
leichter entſchließen, als der franzöliihe Plaßfommandant
Peliljard den Jungen diefes Vergnügen „herzlich“ gönnte.
Mie jehr die Jugend an ihren Faſtnachtsbräuchen Hing,
illuſtriert in luſtiger Weile das Bittgejudh, welches einige
Kleindbasler Sünglinge im Februar 1801 an Regierungsitatt:
halter Zjchoffe, den Nachfolger Shmids, richteten; es hat jol-
genden Wortlaut:
Bürger Regierungs Stadthalter!
Ob wir gleich wohl ſchon von Ihnen, die Erlaubnis dieße
Faſtnacht, nad) alter Gewohnheit umzuziehen erhalten haben,
jo jehen wir uns doch auf die geitrige Anzeige des Cantons-
blatts genöthigt, nochmahls anzufragen ob das verboth aud
uns betrifft, wir haben feine andere Verkleidung, als die—
jenige mit weldher wir vergangenes Sahr mit Erlaubtnik
des damals gemwejener Bürger NRegierungs Stadthalters
Schmid den Umzug gehalten haben, Nemlid) ein Löw, ein
Greif, ein Wilder Mann und ein Ühly oder Hanswurft.
Unterzeicänete Knaben, worunter feiner unter 14 Jahre
alt, bitten den Bürger Regierungs Stadthalter nochmals
uns diefe unſchuldige Freude zu gönnen und uns Ihre gütige
Erlaubnis zu bejtätigen.
193 13.
Mir verfihern Ste daß feine Unanjtändigfeiten dabei
vorgehen ſollen.
Die bittende Knaben verharren mit aller Ehrfurdt
Des Bürger NRegierungs Stadthalters
Gehorjamite Diener
Wilhelm Fürbringer
Chriſtian Chrift
Philipp Hindenlang
Rudolf Biermann
Georg Hetzel
Ob Zſchokke als Nichtbasler fi) erweichen Tieß, ift aus
den Akten nicht erſichtlich; jedenfalls war er fein allzu eifriger
Anhänger diejer Volfsbelujtigungen. Dies bemweilt fein Vor-
gehen gegen den Schaujpieldireftor Klairfont im Ballenhaus
an der Theateritraße, dem er mit Schließung der Bühne
drohte, weil ih am Faſtnachtsdienstag dajelbit einige mas-
fierte Perfonen Hatten jehen lajjen.
Etwas mehr Bewegungsfreiheit wurde der Faſtnacht erjt
in den Mediationsjahren zuteil. 1803 begrub man auf dem
Petersplaß unter MWaldhornfanfaren einen Ochfenfopf jamt
grünstot:gelben Kofarden, um damit jymboliih das Ende
des helvetiſchen Einheitsitaates anzudeuten. Der Stadtrat,
dem nun die Aufitellung der Faſtnachtsverordnungen über:
bunden war, erlaubte das Trommeln ſchon vierzehn Tage!!)
vor der Faſtnacht und wies hiezu den Süngern des Kalb:
fells die Schanzen und Wälle als Uebungspläße an; er jeßte
auch den Beginn des Trommelns am Montag auf morgens
fünf Uhr feſt. Den Erwadjenen geitattete man das Mas—
fieren mit der Beihränfung, daß Religionsgebräude, gute
Sitten und Anjtand dabei nicht verlegt wurden... Auch) gegen=
über Terpfihorens Kunſt zeigte man ſich galanter und jeßte
der Abhaltung von Mastenbällen an beiden Tagen bis
11) Die Bewilligung, fhon vier Wochen vor der Faſtnacht zu
trommeln, datiert erſt aus dem Jahre 1852.
194
Mitternadt kein Hindernis entgegen; doch verfielen die—
jenigen, welde nad) 10 Uhr nachts ohne Licht auf der Straße
angetroffen wurden, einer Strafe von acht Franken.
Der Geijtlihfeit erfchienen auch diefe bejcheidenen Zu:
geitändnilje als ein Zuviel. Sie äußerte nad) der Faſtnacht
in einer langen Eingabe an den Rat ihre Bedenken und
beantragte beim gejeßgebenden Körper ausöfonomijden,
politifhen und ſittlich-religiöſen Riückſichten,
derlei Quitbarfeiten zu verbieten. Nicht nur bei Reichen
gingen bei der Anſchaffung fojtbarer Masfenkleider beträgt:
lihe Summen darauf, ſondern aud bei ſolchen, die wenig
übriges bejäßen, werde über Vermögen getan und drei Tage
herrli) und in Freuden gelebt, als wenn die Leute alles voll-
auf hätten.
Bon der politiihen Seite aus betrachtet, erwedten glän:
zende Karnevalsfeitlichfeiten den Anſchein, als ob Reichtum
und Külle in unfern Mauern wohnten, wodurd) der Neid
und die Eiferfuht unferer Nachbarn rege gemacht werde,
während doch die Klugheit anrate, ſich der altſchweizeriſchen
Einfalt und einer geräufhlojen Belcheidenheit und Ein-
gezogenheit zu befleiken, anjtatt um das Lob der auffallendften
Rarrheit zu wetteifern.
Als Beweis, wie ein Böjewicht ſich alle Arten des leicdht-
fertigjten Mutwillens erlauben, ja die alleriträflicgiten
Sreveltaten wagen fönne, weil er fi Hinter feiner Larve
gegen die Gefahr der Entdeckung und Beitrafung ſicher halte,
fügte der Schreiber der Eingabe, Antiſtes Merian, nod) bei,
es habe eine Masfe die glühenden Kohlen aus dem Dfen einer
Klajje des Gymnaſiums hervorgezogen, alles leicht entzünd-
bare Holzwerf, jo dageltanden, davorgeſtellt und alles Io
eingerichtet, daB das Feuer dasjelbe hätte ergreifen follen,
was aber dur den zufällig Hinzugefommenen Abwart ver-
hütet worden ſei.
Die Eingabe verfehlte ihre Wirkung nicht; 1807 verbot
der Nat alles Mastieren, alle Umzüge und Mastenbälle.
195 13*
Zur Handhabung der Verfügung verjtärfte man die
Wachen und ſowohl Tags als Nachts patrouillierte Mannſchaft
der Standesfompagnie und der Polizei durch) die Stadt, um
Maskierte anzuhalten und zu demaskieren. Ortsfremde und
Handwerfsburfhen führte man auf die Hauptwache beim
Rathaus, wo fie bis zur Erlegung der Strafe in Haft blieben;
fonnten fie nit zahlen, fo wurden ſie unverzüglidh aus-
geihafft. Maskierte Bürger, die ſich freiwillig zu erkennen
gaben, entließ man auf Ehrenwort; fie wurden dann nad)
träglich verzeigt und mit zwölf Sranfen gebüßt. Der gleichen
Strafe unterlagen Jolche, die jih vermummt auf Bällen ein:
fanden; zudem wurden die Hausbelier und Stubenverwalter
verantwortlich gemacht und für jede masfierte Berjon mit
vier Franken Buße belegt. —
So bezeichnen die Mediationsjahre im Leben der Faſt—
nadt feine Zeitijpanne bedeutender Entwidlung; fie bewegt
ih, immer noch eingeſchränkt und bevormundet, nur in ſchwach
auflteigender Linie und bietet mit Ausnahme eines größeren
Umzuges im Jahre 1812 — eines Aelpler- und Prinzen:
zuges — ungefähr das nämlide Bild dar, wie in den un—
mittelbar porausgegangenen Dezennien.
Zwei Momente ſind es aber, weldhe dieje Periode dod)
als wichtig erjcheinen lajjen: Der Morgenſtreich und das
Trommeln. 1808 tritt uns zum erjtenmal der Name
„Morgenjtreih“ in den amtlichen Bekanntmachungen ent:
gegen. Wir Haben bereits ausgeführt, wie im 18. Jahr:
Hundert der Beginn des Trommelns auf morgens fieben Uhr,
dann auf jehs Uhr, 1804 ausnahmsmweije auf fünf Uhr, und
nachher wieder auf ſechs Uhr feitgelegt worden war. Lebtere
Verfügung blieb dann bis zur Faſtnacht 1835, der Geburts-
tunde unjeres heutigen Morgenjtreichs, in Kraft; feit diejem
Zeitpunkt beginnt der Morgenitreich, deſſen Bezeichnung wohl
als Gegenjat zu dem am Abend gejchlagenen „Zapfenſtreich“
zu deuten ijt, als origineller Brologus des Basler Karnevals,
um die vierte Morgenjtunde.
196
Morgenitreih! Ein Zauberwort, das auf junges und
altes Baslerblut in ungefhwädter Kraft wirft.
— — — Um Marftplat und Gaſſen webt graues Dämmer:
dunkel. Menſchen, Masken ftreben erleudhteten Häujern zu.
Aus einer offenen Tür, dur) die eben die hohe Geitalt des
TZambourmajors in Sappeuruniform mit gewaltiger Bären:
müßte und weißem Lederjehurz eintritt, dringt der Duft wür-
ziger Mehlfuppe. Drinnen eine bunte Schar! In beblümtem
Schlafrod, die Larve auf die weiße Zipfelfappe gejtülpt, prüft
einer gelajjen ein mädtiges Stüd Zwiebelmähe Er zählt
lich Stolz zur ältejten Garde, mit zwei Dutzend Morgenjtreichen
hinter fih. Neben ihm ruht fchlagbereit die blanfgepußte
Trommel.
Unruhig, - erwartungsvoll, das Inſtrument marjhfertig
angehängt, jteht dicht dabei ein Junger, der zum erjtenmal
bei der trommelberühmten Gejellihaft mittun darf.
Ein weißer Pierrot mit breitlachender Masfe neitelt auf-
geregt mit der Linken an der Saitenjhraube, indes die Rechte
mit dem einen Schlegel leicht auf das Kalbfell tupft.
„Wie⸗-ne Gledli goht ji“, erklärt mit Kennermiene der
Ihwarzfeidene Domino, einen Augenblid verhoffend, um dann
liebevoll-vorfichtig die lette „Struppe“ an feinem „Keſſi“ zu
Itraffen, in das ihm beinahe ein ungefhidter ausgelajjener
MWaggis mit dem langen Stiel feiner Stedenlaterne ein
Loch geitoßen hätte.
Fröhliches Gelächter tönt vom andern Tiih Her. Ein
paar Platmader, als Soldaten aus der guten alten Zeit ge—
leidet, Haben jäbelrajjelnd einen Bekannten aufs Korn ge:
nommen und öffnen mit dem „Adi du, gäll de kenſch mi nit“
des Wites Schleufen.
„Barat made!“ tönt kurz, faſt militärifh in das
Stimmengewirr das Wort des als franzöfifher Oberft ges
fleideten Vortrommlers, dem die Yegbürftenepauletten und
der jchweinsboritene Schnauz ein martialifhes Ausſehen
geben.
197
Der bunte Knäuel wogt hinaus, wo eben der Tambour-
major mit dem ſchwarzweiß verſchnürten, Jilberbeichlagenen
Stock den Trägern zum Hochheben der erleuchteten Laterne
winft. |
Wie die Müden ums Licht, ſchwirrt lachend und lobend
die Menge der Zuſchauer um das hellleuchtende Transparent.
Noch ein dumpf aus der Larve des Hinterjten Tinfen
Slügelmannes hervorfommendes Mahnwort, und wie in Erz
gegofjen jtehen die vier Dreierreihen der Tambouren, denen
ji in der gleiden Ordnung der ſchwarze Troß des Bolfes
anreiht.
Jetzt — bimbam, bimbam, bimbam, bimbam Elingt’s klar
von der Martinsfirde her durch die kalte Nachtluft, und auf
Kommando und Gtodzeihen raufht aus den zujammen-
geitimmten Trommeln heraus in perlendem Rhythmus der
Morgenſtreich, begleitet von den jhrillen Klängen der
Piccolos:
Mer müend, mer müend, mer müend goh,
Mer müend 90,
Mer wänd, mer wänd, mer wänd goh,
Mer müend nit go in d'Schuel.12)
Mit gemeſſenem Schlag, auf welden allein der Basler
im Schritt marjhieren fann, jtrebt die Gruppe vorwärts,
Gaß auf, Gaß ab. Die Altitadt widerhallt von mächtigem
Trommelſchlag, der nur vor den Wohnungen Schwerfranfer
ichweigt, bis des Tages Helle das bunte Narrenvolf aus-
einanderjheudt ..... .
Ausgelajjener und toller ging es noch zu Großvaters
Zeiten am Morgenitreih zu. Bis an die Zähne bewaffnet,
mit Steinjhloßgewehren und alten Reiterfäbeln ſchritten der
Tambourengruppe die Platzmacher voraus.
Wie viele Uniformjtüde, wie mande Waffe, in napoleo-
niſchen Schlachten getragen, Hatten ſich beim Durchzuge
12) Der aus den Vierziger Jahren ſtammende, den Streichen
des Morgenftreichmarjches unterlegte Text.
198
fremder Heere zur Zeit, da die Kriegsfurie Europa peitſchte,
auf dieje oder jene Weije in die Rumpelfammern baslerijcher
Samilien verirrt, um ſpäter am Morgenitreih Krieg im
Srieden jpielen zu helfen. Nicht weniger gern trug man zu
dDiefer Bewaffnung als Beinfleider die unverwültlichen hirſch—
ledernen Unterhojen des „hni-Unfle“.
Den bewaffneten Grundftiod der PBlagmader um:
Ihwärmten pritihenfchlagende Pierrots, Plätzlibajaſſe mit
Spidrohren und alte Tanten, deren Schweinsblajenihläge
ven Betroffenen feinen Augenblid über das Geſchlecht der
Maste in Zweifel ließen. Bechjadeln vertraten die koſt—
pieligen formenreichen Transparent:Laternen, die erſt mit
den Bierzigerjahren allgemein in Gebrauh famen; jelbit-
verfertigte Kopf: und Rüdenlaternen aus Delpapier zeichneten
etwa die Trommler aus, die in bequemer, aber nicht minder
grotesfer Gewandung, wie fie beijpielsweije der Meijterjtift
Hieronymus Heß’ auf dem beiliegenden Bild feitgehalten hat,
einherjchritten.
Mährend heute beim Kreuzen zweier Züge jeder für fi
nur die rechte MWeghälfte beanſprucht, indejjen die Tambour-
majore mit den betreßten Stöden ſich militäriihen Gruß zu—
winken, fam es in früheren Sahren bei Begegnungen nidt
jelten zu heftigem Geplänfel, da feine Gruppe der andern
auswid, jondern jede die andere auf die Geite zu drüden
judte. An Wechſelreden voll derbem Hohn und Spott, ja an
Püffen und Schlägen fehlte es nicht, und mandem verdarb
das eingejhlagene Trommelfell die langerjehnte Faſtnachts—
freude. Noch in den GSiebenziger Jahren trieb eine Clique
einen befeindeten Zug auf der alten Rheinbrüde derart in
die Enge, daß die Laterne über das Geländer jtürzte und in
den Yluten des Rheins ein verfrühtes, betrübliches Ende
fand.
Uber ſelbſt derlei tragiihe Zwilchenfälle entfremdeten
den Morgenitreid) — ſeinem Hauptzweck: dem
Trommeln.
199
Getrommelt wurde in Bajel an der Faſtnacht ſchon jeit
den älteften Zeiten. Während aber heutzutage dieje Kunft jo
eigentlih das Rüdgrat des Feſtes bildet, war jie früher nur
eine der vielen gepflegten Beluftigungen, ohne ſich als ſolche
vor den andern Vergnügungen bejonders hervorzutun, fonjt
würde wohl die Tatjahe, wonach 1712 auf dem Betersplaß
fiebenzig Trommelfchläger mit dem Generaltambour, einem
aus Pratteln, in der Mitte, ein Konzert gaben, nit als ein
auffehenerregendes, noch) nie dageweſenes Ereignis der Nach—
welt überliefert worden jein.
Aber nicht nur zum Tanz und als getreuer Trabant fröh-
lihen Faſtnachtstreibens erflang die Trommel; ebenjo alt
tt ihre Verwendung als militäriihes Mufifinitrument. Bei
den militärishen Mujterungen der Zünfte, die nicht felten
farnevalesfen Bomp zur Schau trugen, fehlte Die Trommel nie.
Teile der alten Schweizermärjdhe!?) Haben ſchon den
Reisläufern vor Ilovarra und bei Marignano in den Ohren
geflungen, und von den Zeiten Sranz I. bis zum Fall der
Bourbonen in Neapel jtand die an) je und je
in hohen Ehren!
„Sy fummen mit einem großen getümmel, feßlen und
bodslen der trummen“, ſchrieb um 1540 der ſchweizeriſche Re—
formator Heinrih Bullinger.
Trommelwirbel führte auch die militäriihen Nahahmer
der Eidgenojjen, Srundsbergs zudtlofe Scharen zum Sturm,
wie denn überhaupt die Trommel in der Folgezeit bei allen
europäilden Heeren Eingang fand.
Nirgends aber haben fih Trommel und Trommelflang
jo eingebürgert, wie in Bafel. Sind fie aud für gewöhnlich
von der Straße verbannt, um die erniten Handelsherren
nit in ihren Berechnungen zu ftören, jo maden fie um jo
lauter und mädtiger ihre Herrichaft geltend, wenn nad) altem
13) Die Schweizermärjche beitehen aus den eigentlichen „alten
Schweizer“, denen ſich die „Schlegelmärjche”, der „Dr. Eijenbart“,
„Prinz Johann“ und „Hambacher“ angegliedert haben.
200
Brauch Jugendluſt und Uebermut das NRedt Hat, die ernite
ruhige Welt einmal auf den Kopf zu jtellen und gehörig durch—
zurütteln; ſie find der Grundton, der jih durch alle Har—
monien und Disharmonien des Straßenfalhings zieht.
Dhne Trommel wäre aud) fein anderes wirklides Basler
Feſt denkbar.
Menn 1857 die Basler Tugend den alten General Du—
four beim Bejuh ihrer Vaterſtadt mit einem Trommel—
ttändchen, von über Hundert Tambouren ausgeführt, vor den
„Dreifönigen“ begrüßte, jo lag darin nicht nur ein feltener
Beweis von Kertigfeit in der Handhabung dieſes Inſtru—
ments, fondern es offenbarte ſich darin in bezeichnender Weiſe
baslerijhe Eigenart überhaupt.
Die Wiege des heutigen raffinierten Basler Trommelns
haben wir aber nicht auf heimiſchem Boden zu juden; fie
Itand in Frankreich, von deſſen Herrihern ſchon der ftolze
<roi soleil» für das Trommeln eingenommen war.
Bejonders war es aber Napoleon I., welder die eigen-
artige Kunſt in auffallender Weiſe begünjtigte.e Das Inter—
ejfe, Das der ſchlachtengewaltige KRorje dem Trommeln ent:
gegenbradte, machte die Franzoſen zu den erſten Tambouren
der Welt. Glüdlich und beneidet war der «tambour maitre>,
weldem der Kaijer als Auszeihnung Schlegel von Ebenholz
mit goldbeichlagener Zwinge verlieh.
Die Anwejenheit franzöjiiher Garnilonstruppen und die
Durchmärſche der Alliierten 1813/14 hoben in Baſel das
Trommeln und trugen zu feiner Vervollkommnung bei.
Sn jenen Zeiten, da Bafel oft mehr einem Kriegslager
als einer ruhigen Handelsitadt gli, nahm die Jugend lern—
begierig die für fie neuen Streihe und Märſche an; jo wurden
damals alte Franzoſenmärſche den „Schweizern“ angereiht,
und angenehmer als das zurüdgelafjene Ungeziefer war für
die Basler die Erinnerung an den Durchzug des ruſſiſchen
Heeres, in Form eines langen ruſſiſchen Trommelmarſches,
der bis in die Zünfziger Jahre viel gejchlagen wurde.
201
Eine weitere Förderung erfuhr das Trommeln, als nad
der Sulirenolution 1830 die Schweizergarden aufgelöjt und
entlafjen wurden. Basler, die in Frankreichs Gold gejtanden
hatten, fehrten wieder in ihre Baterjtadt zurüd und madten
Säule.
Als gute Tambouren galten damals, bis in ihr hohes
Alter, Shuhmadjermeifter Kuhn und Goldſchmied Hand-
mann an der Brotlaube, vor allem aber Papa Bühler
an der „Steinenbrugg“. Er war bei den roten Schweizern
in Paris in Dienst geitanden und durch ihn wurde damals
<l’&cole du tambour» mit ihren vielfältigen und oft ver-
zwidten Streihen den Trommelliebhabern beigebradt. Bon
ihm und feinen Zöglingen lernten auch die Kontingents- und
Zanditurmtambouren ihre Streide.
In fpäteren Jahrzehnten jtanden bejonders Tambour=
initruftor „Dreji“ Sulzer,!t) der Schöpfer der „Japa—
nejen“ und Samuel Severin,!5) deilen Konzerte jeiner-
zeit viel bewundert wurden, im Rufe erjtflafjiger Trommler.
Die jegt faum mehr gehörten „Steinfohlen“ wurden von
Geverin, der wie Sulzer Berufstambour war, fomponiert in
Anlehnung an Märjche, welche die Internierten der Bourbafi-
armee während ihres Aufenthaltes in Bafel jchlugen.
Die beliebtejten Märſche von heute, wie die „Märmeli“,
die Burenmärjche“, dann auch die „Wallifer16) kennzeichnen
ih als charakteriſtiſche Schöpfungen der franzöſiſchen Schule
und verdanken ihre Entitehung nit einem Berufstambour,
londern einem Amateur: Emil Krug.) Bon Severin
nahm Arug das Kräftige, Baslermäßige des Schlages an,
14) Andreas Sulzer, Tambourinjtruftor, gebürtig aus dem Gt.
Galliihen; ſtarb im hieſigen Pfrundhaus, in welchem er durch Ver-
mittlung baslerijcher Offiziere Aufnahme gefunden hatte.
15) Samuel Severin (1838 — 1888) von Kleinhüningen, Tambour=
inſtruktor.
16) Krug übte mit Dornay in einem Walliſer Marmorſteinbruch;
daher die Namen „Märmeli“ und „Walliſer“.
164) Emil Krug (1841—1907), Kaufmann.
202
während der leichtfließende, feine Rhythmus jeiner Märjche
auf den Einfluß Jeines eigentlihen Lehrmeilters Cäſar
Dornay, eines Wallijers, der viele Jahre in franzöfiichen
Dienften gewejen war, zurüdzuführen if. Zu Krug und dem
früheren franzöſiſchen Milttärtambour Ch. Schmid in Bin-
ningen pilgerte in den Neunziger Jahren die Mehrzahl der
heute im erjten Rang jtehenden QTambourgrößen, um von
erjterem die Märjche, von letzterem die jehwierigen Streidhe
zu lernen. |
Auf zielbewußtem, unaufhörlidem Ueben, das fi auf
funjtgerechtes Zerlegen der einzelnen Streiche aufbaut, beruht
heute die erjtaunliche Sertigfeit der Basler Trommler.
Die Kunjt hat in den legten Jahren in Bezug auf Fein—
gefühl des Rhythmus und Präzifion der Streihe eine Höhe
erreicht, die faum mehr überjehritten werden kann; wer heute
noch „gnöpflet“ oder „böpperlet“, wird mit einem mitleidigen
Lächeln abgetan.
Wenn jet zwölfjährige „Binggis“ die Märſche mit
Doppelitreihen trommeln oder gar eine „Tagwaht“ zu
Ihlagen imjtande find, Kunjtjtüde, mit denen vor einem Jahr—
zehnt nur die Allerwägiten glänzen fonnten, jo entjpringt
diefes Können nit in leßter Linie dem Wirfen des Quod-
libet-Wurzengraber-Faſtnachtskomitees (1906—1909), weldjes
durch Einführung von Trommeljhulen die eigentliche metho-
diſche Grundlage geſchaffen hat.
Geit wenigen Jahren bejtehen auch bei den großen Faſt—
nadtsgejellihaften eigene Trommelſchulen, in denen junger
Nachwuchs für die „Jonderbare Basler Affektion“, wie Karl
Rud. Hagenbadh!?) in einem Brief an Jeremias Gotthelf
launig das Trommeln nennt, herangebildet wird.
In Bafel bot fih in der erjten Hälfte des vorigen Jahr:
hunderts noch täglich Gelegenheit, Trommelflängen zu laufen.
17) Karl Rud. Hagenbad) (1801—1874), Gelehrter und Dichter;
während eines halben Sahrhunderts Profejlor für Kirchengeſchichte
an der Basler Univerjität.
203
Allabendlih durchzog das Spiel der Gtänzler von
der Blömleinfaferne aus die Gtadt, den Zapfenitreich
Ihlagend. Starb ein der Garnijon Angehörender, jo ging
es bei gedämpfter Trommel Klang zum Kirchhof. Galt es die
Fruchtpreiſe, Holzganten und dergleihen Dinge dem Publi-
fum anzufünden, jo durchzog der Stadttambour, der obrig-
feitlihe Austufer, die Straßen, um unter Trommelwirbel
mit gewichtiger Amtsmiene die Verfügungen einer Hohen
Behörde befannt zu geben.
Sn der Erinnerung der ältern Generation lebt Heute
noch die jtadtbefannte ZYigur des Stadttambours Chriſtof
Beck,us) eines ausgezeichneten Trommlers, wie auch von
dellen Sohn, eines Meilters der Basler Trommelfunft, Jak.
Sriedr Bed!) im Volksmund derb „Schnurebed“ ge—
nennt.
Die begründete Vorausſetzung, daß jeder Basler trom-
meln fönne, führte vor Jahren einen ſchweizeriſchen Konful
in New Vork zu einer finnteichen, zeiterjparenden Einrichtung.
Sn einer Ede feines Bureaus ftand eine Trommel. Wenn
nun ein Hilfsbedürftiger, der ji als Basler ausgab, eintrat,
zeigte ihm der Konſul ohne feinen Schreibtifh zu verlaſſen
die Trommel. Da Eonnte ſich dann der Petent raſch und
fiher legitimieren und zwar nicht bloß dadurd, daß er feine
Fähigkeit im Trommeln überhaupt zeigte, fondern daß er
eine Nationalhymne aus dem Basler Repertoir trommelte.
Neben den anläßlich der Julirevolution verabſchiedeten
Militärs beeinflußten auch die Tambouren der Stänzler das
Basler „Rueßen“, wie das Trommeln jeit Ende der Sechziger
Sahre auch genannt wurde. Nicht nur barg die GStandes=
fompagnie ebenfalls eine jtarfe Zahl folder, die bei den
franzöfiihen Schweizerregimentern gedient hatten; unter
ihren Leuten waren auch viele ehemalige neapolitanifche und
18) Chriſtof Bed (1805—1876), Stadttambour.
19, Jak. Friedr. Bed (1834—1891) Tambour beim Artillerie:
fontingent.
204
römiſche Söldner. Durch letztere gejellten ſich zu den ſchon
beſtehenden Trommelmärſchen andere, wie die „Dreier“ oder
„Mariner“, die „Römer“ und „Näpeli“.
Neapel erwies fi, ähnlich wie Frankreich, als gute Schule
für das Trommeln. Der Bater des «Re bomba» war jelbit
ein leidenjhaftliher Trommler. Die Militärtambouren
mußten ihm jtundenlang in der Reitjehule nortrommeln unter
ſtändiger Regulierung der Kadenz durch ein befonderes nad)
der Uhr geridhtetes Pendel.
Wie das Trommeln, jo hat auch das hiezu benüßte In—
itrument, die Trommel, im Laufe der Zeiten große Verände-
rungen durchgemacht.
Bis in das 19. Jahrhundert hinein benügte man in Bafel
allgemein SHolztrommeln, die oft durch Bemalung in
Slammenform oder durch Anbringen eines Wappens verziert
wurden. Bis gegen Ende des 17. Jahrhunderts waren fieben
Schallöcher üblid, die außer ihrem eigentliden Zwed, in
ihrer freisförmigen oder rojettenartigen Anordnung aud) zur
Verzierung des Injtruments dienten. Sie wurden daher an
ihtbarer Stelle angebradt, indes jeit dem 18. Jahrhundert
das Schalloh ausnahmslos über der Spannjchraube feinen
Plaß fand.
Die im Zickzack über den Zylindermantel Taufende
Irommelleine wurde bei den ältelten Trommeln mittelft
Lederſchleifen ſtraff geipannt.
Später verfertigte man den Hohlzylinder, die „Zarge“,
oft aus Weißblech, oder Hämmerte fie aus Mefling oder Kupfer:
blehd. An Stelle der Lederſchleifen traten ziemlich früh die
noh Heute gebräudlichen „Struppen“. Bei der Basler
Trommel der Jetztzeit findet ausſchließlich dünn gewalztes
Meſſingblech oder Neuſilber, durch Hartlötung zuſammen—
gefügt, Verwendung; dadurch wird nicht nur das Gewicht
bedeutend verringert, ſondern auch ein heller, gleichmäßiger
Klang erzielt.
Auch in Bezug auf die Größe erlag das Inſtrument
205
mannigfahen Wenderungen. Während die Trommel des
16. Sahrhunderts bezüglich ihrer Höhe noch monjtröfe Kormen
aufweijt, ändert fih in den folgenden Jahrhunderten das Ver—
hältnis zuguniten des Durchmejlers.
Als Normalmaß der modernen Baslertrommel gilt die
Größe von 48—49 cm (Höhe inkl. Reifen) auf 42 cm (Dur
mefjer). Nah den Schäßungen des ſchon genannten Tam—
bours 3. F. Bed mochten in Bajel um die Achtziger Jahre
über zweitaufend Trommeln zu finden fein; diefe Zahl dürfte
heute bedeutend Höher veranihlagt werden, ein fchlagender
Beweis für die allgemeine Vorliebe, welche diefem Muſik—
injtrument in unferer Stadt entgegengebradt wird.
Neben der Trommel war als Begleitinitrument Die
Querpfeife ſchon im Baſel der Reformationszeit heimiſch.
Das Pfeifen trat dann aber mehr und mehr Hinter dem
Trommeln zurüd. Auf den alten Lithographien von Yalt-
nadtszügen ſuchen wir vergebens nad) Pfeifergruppen; einzig
eine Abbildung aus dem Jahre 1856 weilt zwei Piccolobläfer
auf.
Die Trommel war zur Alleinherriherin der Faſtnacht
geworden, bis in den Achtziger Tahren mit dem Auffommen
der „Arabi“20) anläßlich eines von Mitgliedern des Bürger:
turnvereins veranitalteten Zuges?%*) das Piccolo wieder mehr
zu Ehren fam. In jüngiter Zeit wird ihm mit Redt ver-
mehrte Aufmerkſamkeit geſchenkt, und Die neugejeßten
„Schweizermärjche", der „Arabi“, der „Vaudois“ und der
„Schützenfeſtmarſch“ find dazu berufen, baslerifcher Faſtnachts—
funft neue Triumphe zu ſchaffen.
Dem Auffhwung, den das Trommeln in den erjten Res
20) Der „Arabi“ beiteht aus 3 Märſchen: 1. Aus „The British
Grenadiers“ Regimentsmarfch der „Grenadier Guards“), 2. „Garry
Owen“ (Regimentsmarfjd) des XVII. Königl. Srifchen Reg. zu Fuß),
3. „The girl I left behind me“, einem Marſch, der in England oft
bei der Abreije von Truppen in überfeeilche Dienjte gepfiffen wird.
20) Faſtnachtszug 1883: Aufſtand Arabi Paſchas und die Eng
länder in Aegypten.
206
ftaurationsjahren durch fremde Einflüffe empfing, hielt die
allgemeine Entwidlung der Faſtnacht nicht Schritt. Dies
mag auf den eriten Anblid befremden, war doch das Kriegs:
elend gewichen, ſaß doch Napoleon mundtot auf weltfernem
Eiland an feinen Memoiren und braden doch Zeiten ruhiger
wirtihaftlider Entwidlung an.
Uber es ſchien, als ob die Politik, die fih in großen
Staatsaftionen als reaftionär fennzeihnete, auch in den
Kleinigfeiten des Alltags jede freiheitlihe Negung des Volfs-
lebens ängjtlih zu unterdrüden bejtrebt war. Und Bajel
madte hievon feine Ausnahme.
Wie weit dieſe Wengitlichfeit getrieben wurde, beweiſt
der Umijtand, dag man auf Boritellungen der Landpfarrer
hin die alljährlih im Kantonsblatt erſcheinende Faſtnachts—
verordnung demjelben während mehrerer Jahre nicht mehr
einverleibte, da fie ſonſt von der Bafelbieter Jugend nicht
nur als eine Erinnerung an die Belujtigungen angejehen
würde, jondern irregeleitet von dem faljhen Begriff, den
ih die jungen Leute von ihrer Freiheit und Gleichheit der
Rechte mit den Stadtbürgern madten, als eine Aufforderung
dazu, wodurd dann um jo größere Unfittlichfeit und lärmende
AYusihweifungen veranlakt würden, zumal die Landleute
noch auf einer niedereren Stufe der Bildung gegenüber den
Stadtbewohnern jtünden. —
Wenn auffallenderweife für das Jahr 1820 alle Schranten
Tielen, fo it die Urſache hiezu nicht allein in den wirtſchaftlich
günftigen Zeiten, welche dem Teuerungsjahr 1817 gefolgt
waren, zu ſuchen, fondern mehr in dem Umitand, daß man
in den oberjten Kreijen zu einem großartigen Umzug Bor:
bereitungen traf. Da die Schöpfer der Veranftaltung zum
Zeit felbjt in den maßgebenden Behörden faßen, war es fein
allzu jchwieriges Unterfangen, im Stadthaus und im Rats-
faal eine faſtnachtsfreundliche Mehrheit zu ſchaffen, die ich
dem Willen der jeunesse doree geneigt zeigte.
Mir können die Alten füglich beneiden, daß es damals
207
möglich war, den gejtrengen Polizeidireftor als Graf Walraf
von Tieritein an der Gpite des Maskenzuges auf ſtolzem
Pferd einherreiten zu jehen, und daß niemand daran Anſtoß
nahm, wenn die Gtaatsfanzlei, auf deren Amtsjtube der
Plan des Schwanfes durd) den damaligen „Ingroſſiſten“ ent-
mworfen wurde, ihre Angeitellten daran teilnehmen ließ, und
die den Grafen begleitenden Söldner durd) eine halbe Kom—
ragnie des Bundesfontingents dargeitellt wurden.
Dem Hundertfünfzig Teilnehmer zählenden Umzug lag
als Sujet die Brautfahrt des jungen Grafen Otto von Tier-
jtein mit Katharina von Klingen um das Jahr 1376 zu:
grunde. Der reich ausgeitattete Faſtnachtszug bewegte ji
durch die Stadt nad) dem Münjterplat, wojelbjt den Herren
Häuptern vor deren Amtswohnung in gebührender Weije
die Aufwartung gemadht wurde; gemwillermaßen als Danf
für die Sanftionierung dieſer außergewöhnlichen Faſtnachts—
belujtigung, von welcher noch Sahrzehnte ſpäter geſprochen
wurde.
Mar die Veranftaltung der Hauptſache nad) ein hiſto—
rider Schauzug ohne Trommlergruppen, jo entbehrte er doch
nit eines et basleriihen Faſtnachtseinſchlages.
Mie komiſch muß es gewirkt Haben, wenn die züchtige
Braut, die durh einen ſchmächtigen Süngling verkörpert
wurde, im Brautwagen von Zeit zu Zeit ein Leiterden an
ihren langen Bräutigam anjtellte, um ihm einen minnig-
lihen Kuß geben zu fönnen!
Das unter die Zuſchauer verteilte Programm — der
älteſte Basler Faſtnachtszettel — ahmt drollig
die alte Schreibweife nach und hat folgende Faſſung: |
MWueli ab Edhe, olt Burgvogt ze Varenspurgh, der zit
Kaſtellan ze Klingen, an
Heinrich Zielempe, Edelfnedt, in Bafell.
Myn fruendlih Grues zem voruus ſambt was i liebs
und guets vermag.
208
Edler und Ehrenveiter!
Yus Befelch mynes gejtrengen Herrn und Gepieters joll
ih Ewch Kunde thun, dafz ouf unferer Burgh groos Uufbrud
ftatt gehept, vond das jungh bruetlih Paar mit zahlrich Gi-
folche vnd im Gileite von viel edelen Rittern, Frowen, vnd
Froewlins von binnen nah dem Stein Pfeffinghen fuerbaß
gezogen jygend.
Schrib Hurtig dem ehrenwert Heini Zielempe en
Prieff, jagt mir gejtern der gijtreng Sryher von Klinghen,
myn Gipieter vnd Her, vnd gib em ze willende, daſz mer
uuf Montag vor Petri Stuelfüür durch Bafell ze ziehn ge-
dächtin, und dafz er unverfuumt louffen mag, gen Pfeffinghen
um den Zueten vnd Mannen uuf der Burg ze Jagen felbe
bereit ze Haltende, daſz ihr nuew brüütlich Gipieter mit
ſyner jung hulderichen Geſpunſin, all ſyn Gefolde des galt-
früündliden ufnehmen und beherpergen fönnende.
Vnd fo fpud ich my denn des dringentlichen und vermelt
Euch im Trewen die Worthe, wie ji us dem Muul mynes
Hern vnd Gipieters gefallen ſygend; ouch vermeld ih Ewch
zeglih wie ji uusgezogen ſynt ues der Burgh, vnd oud
durch Ewrer Stat und Bahn ziehen wöllint, damit Ir den
Zueten und Mannen ze Pfeffinghen jagen könnet, wie viel
edle Herren, Frowen vnd Froewlins ond wie viel Knappen
zem brütliden Gilage ires fuenftigen Gipieters bey ihnen
gaſtlichen Inzug Halten wöllind.
MWernli von Anweile,2!) der Edelfnedt, ritt allen
voran mit nüün Gewappneten ze Fueß, DI ime gehorfam vnd
giwärtig warend.
Ime volgeten ze Pferth Congmann2) vnd ULFF2)
die Hierolde des Grave ze Thierjtein.
Nach inen ritt inher fer Trummeter, ond ein Pauffen-
jchläger des Pferth zween Fuesknechte geleiteten.
2!) Meyer zum Kopf, gew. Leut. in franz. Dieniten.
22) Bärry v. Meyentels.
23) Rud. Gemujeus Sohn 3. Pflug.
209 14
nen volgeten fedan uuf ſtolzen Roſzen in blangher
Rieftung die zween biderbe Wallr afft) vnd Her
m an25) Graven von Thierjtein, Herren ze Varnspurg, Land⸗
graven im Sisgöw vnd Buchsgöw.
Vnd Burghhardt2e) Grave von Frooburgh
Herr ze Waldenburg vnd uuf beid Burghen von Ober vnd
unter Pirseck; Dry edle Herrn uus dem Stamme der Thier-
fteine iniglich bifrüündet ond verwant, ond Hinter jedwedem
thät riten ſyn Schiltfnap, denn fy hätten gilopt fier jeglich
Schimpf und Schmah ritterlih ze wachen vnd ze fempfen.
Brautwagen, Umzug 1820.
(PBrivatbefiß.)
Ine volgete jedan, die Perle des Zughes, der Wagen in
dem der jung Grave Dtto,?) mit ſym hold brütlid,
Gifpons, edel Fröwlin Katherine von Klinghen,®)
Erpin ze Hohenklingen, in minniglid) zartem Vertrowen by
enander falzen. Ir Wagen was giziehrt mit ein heitniſch
24) Oberftleut. Wieland, Polizeidirettor und Statthalter.
35) Gardehauptmann Landerer, in franz. Dieniten.
260) Qudw. Iſelin zu den „Dreikönigen“.
2) Rudolf Merian beim Totentan;.
3 Dietrich) Burdhardt-Werthemann.
210
Gößepilt, das ji namfeten Der klyn Liebspüfel, ond trug ſelbs
an em Spieſze, bildſamlich, zwei Herte fo durchpohrt gefyn.
Dem Wagen gehörrten bigifelt die drey Minejenger:
Mitr. SGromwenloop2P)
Mitr. Minewartd) vnd
Her Xobefan.:)
Volgete fedan ein zweyt Wagen bigleitet von delle
Knapen vnd Salzen darin gijtreng vnd gipietender Her Sige-
mund III2) Grave ze Thierjtein Pfalzgrave der
h. Stift Bafell, Her ze Pfeffinghen, Varenspurgh, Frooburgh,
Landgrave des Buechs- und Gisgöws, des Brütgams Bater
vnd myn liep Her ond Gepieter, Her Ulderil3) Fryher
ze Hohen Klinghen vnd Burghgrave uuf dem Stein ze
Rhynfelden, der Bruut Vockht ond Dehme.
Inen volgete ein Tragejejlel gitragen von zwey Muul-
ejlel, wo by jedem ein Yuerer geganghen vnd zween Fues—⸗
fneht neben inherluffen, worin ſaſz edele Frow Gräpin
Berenat) von Thierftein giborn von Nidau,
Mueter des Brütgams vnd edele Frow Konigond®s)
von Hohen Klinghen giporn Frye von Rappolt-
ftein des Brüütlins Mueme.
Stem volgete ein groos ritterlid Geferthe, wo da ſaſzen
mennidlid) olte Ritter vnd Heren als da feynt:
Hannemann Fryher von Rappolsßftein,3)
Erbher auf Kayſerſtuel
Edler Huldenrych von Ramjtein,”T) Her ze
Bretzewiel
Rudolf Grade ze Nidau,3) Her des Buechsgöws
2») Emil Thurneyfen.
0, Emanuel Bifhoff zum Sternenfels.
> =) Sohanne een Fark
ohannes Fäſch, Ingro
eter — Pi Totentanz, Lektor am Pädagogium.
=) Wilhelm Haas, Sohn, Xrtillerieleutnant.
35) Heinrich Miville, des Geridts.
8) Chriſtof Biſchoff älter.
3”) Abel Heußler.
8 Joh. Jak. Eglin, Leut. im Bundestont.
211 14°
Semmann, Fryer von Behburgh,) Her ze
Ballſtahll
Grave Werner von Homburgh,») Her ze
oft Rapperswyl vnd Landher der Schlöſzer Warthenberg
Hans Ulderid Edler von Buitidont!)
Mendolm Senn) Fryer ab Buecheckh
Ruman Graveze Homberghas)
Item volgete ein zweyter Trageſeſſel gitragen von zwey
Multier mo by ietem ein Fuerer gigangen vnd zween Yuep-
knechte inher luffen vnd darin ſaſzen myn liep vnd edel
Fröwlin Klaranna von Thierjtein“) ein ſchoen
frumm aber praeſthafft Kint, ift gewillet bh den Frowen im
Klingentall ze Baſell der Schleyer ze nehme, vnd ir Baajſz,
die Fröwlin Adelheit von Ramjtein“) fo hoffent if
eyn Fryersmann wert immer no fummen vnd ſy bifryn.
Sedann ritten hinter inen inher:
Edler Ritter Hugeli von Olt Shamwen-
burgh,t°) Mither ze Prattelen vnd Muttenze, ond ſyn tyres
Töchterling Eljin) Fröwlin von Olt Shawen-
burgh.
ond hinter inen ein Edelefnapp.
VBolgete ſedan edeler Ritter Goegemann von
Kienberght) Edeler ze Warthenfelz mit hHuldfelid
Fröwlin Sutta von Wiltenftein‘) ond Hinter inen
ein Edelefnapp.
3) Conrad Zäßlin.
0, Biltor von Sury, Xrtillerieoffizier und Großratsherr zu
Solothurn.
a, Toh. Jak. Meyer, Leut. im Bundeskont.
22) Auguſt Ballif
) Emil Frey, stud.
4) Emanuel Fäſch, ISnfanterieleut.
5) Adolf Legrand.
46) Ludwig Landerer zum Storden.
7) Carl Ryhiner, Hauptmann und eidgen. Stabsadj.
), Hieronymus Bilhoff-Reipinger.
4) Hieronymus Biihoff:Biichoff, Leut der Bundesteferve.
212
Bolgete jedan edeler Ritte Wernhert Bluem-
1in,50) Edeler ze Walteheimb ond Eshent, mit edel Fröwlin
Dttilie von Landeck,s1) vnd Hinter inen eyn Edel-
fnapp.
Volgete dan Ritter AUdelbergh5?) Edler von
Runfz mit Edelfröwlin Ennelivon Eshent>)
ond hinter inen ein Edelefnapp.
Volgete fodan der gijtreng Ritter Harthungest) von
Teghervelthen vnd Hern ze Klingenaw mit huldjelid
ond edele Fröwlin Clarinnen von Walthed;?)
ond Hinter inen ein Edelfnap.
Hinder inen ritten inher die edelen Ritter Lüd yse)
von Ehrenfelfz genannt Froweler, und Jungher Tie-
baltH”) ze Hohegeroldsedhb vnd Schenkhen—
berg.
Volgeten inen hernach uuf jtolgen Roſſen die edelen
Ritter:
Hans, Fry- vnd Zwingher von Valkenſteines)
Gipieter ze Blauenjtein vnd Geritshernn ze Muemmliswiel.
Dtto von Moerfepergh?) Fryher von Beffarth
ond Oeſtrichiſch Landvockdt ze Pfirdt
Huldenrickhvon Haſenpurgh,o) Her ze Datten-
rieth vnnd Blumenbergh
Wollff von Lihhtenfeljz,t) Her ze Angenftein
jammethafft Ritter vom Bundt ond Orden Santo Wilhelmy.
50) Hans Georg Yürltenberger, Stabsadjutant.
51) Iſaak Kürltenberger.
52) Joh. Jak. Iſelin.
53) Abraham NEBEN Kontingentshauptmann.
54) Iſaak Sfelin-Burdhardt
55) Peter Biſchoff⸗ Burtorf, Hauptmann bei der Sunbestejetue,
56) Samuel Baravicini im fl. Lüßel.
57) Emanuel Heußler im St. Albantal.
58) Chriſtof Biſchoff, jünger.
5) Sean Bilhoff.
6) Emanuel Burdhardt im deutſchen Haus.
61) Joh. de Peter Biihpff-
213
Stem volgeten jedan die edelen Ritter us Bafell:
Sungher Friderich ze Rhin®)
Cunrtat Monachus von Mündenftein,e)
Her ze Laimen
Sungbher Rüdiger Schaler,6) Her ze Benkhen
Gedan volgeten inen die frummen Ritter mit dem Crüßi
vom 9. Johann von Sierufalem, als de warend:
Ritter Goete von Kladhslanden,e) Her ze
Blutzheim
Ritter Wernhard von Frickhe,s«e) Erbe ze
Molfliswiel
Ritter Oßwalth von Uttenheim,s”) Her ze
Hapsheim
Ritter Cungemann Mönches) von Landscrohn.
Vnd als die edeln Nitter fürbaß gizogen giwelt, fam
onter der Schweere der Laſt krachende, der Wagen mit vier
Roſz fürgijpannt vnd gefuert von zween Fuerknechten, uuf
dem unfzer edel Fröwlin Bruutihat, war bigleitet von vier
Giwappniten — vnd hett ſich uuf en Geldtrog geſetzit,
Nickheles) vnſer Burgzwerd fagende: whenn die gijtrenge
Herfhafft uusziehende gihoere er ouch dazue.
Hinder dem Wagen ryt Uufliht Habende inher:
Sunghber Muranzi Shnedaphürli,) Zech—
meijter ze TIhierjtein mit [onen Bntergepnen ze Fues;
Sme volgete uuf eim Karre mit eim Roſz firgelpannt:
Cueni Wölffliander Birfe?!) deß jungh Grave
62, Major Grob aus St. Gallen.
6 Peter Schulz von Arlesheim, Leut. in der Landwehr.
6%), Albrecht Holzad), Leut. im Bundeskont.
65, Sohannes Debary, Leut. im Bundestont.
6, Abel Socin.
7) Joh. Jak. Biihoff-Merian Sohn.
6 Rarl Geigy.
*) Chrijtian Bühler, „Markör im Kämmerlein zum Rheined“.
7%) Samuel Braun, Quartierinjpeftor.
1) Tſchientſchy, Zöllner zu St. Jafob.
214
ſyn olt Schiltknap, als zelönftigen Kajtellvofth ze Pfeffinghen;
vnd neben im ſaſz ſy tik EwipFrow Medtilpdis.’)
Uuf dem Karre war uufgimacht ein Faeſzlin, das myn
giſtreng Her vnd Gipieter des Zechmeiſters Obhuet anver⸗
trowet het ſagende: traget Sorg dafür daß der edel Nieren-
fteiner halten mag bis gen Bafell wo newer tif ze han ilt.
Sedan volgete mit vier Roſſen bijpannt vnd gifuert
von zween Fuerknechten ein lang ſchmal Wagen doruuf ſaſzen
Spillüt genuug an der Zal zu feitlih Tanz ze ſpillen; vnd
Hinter inen drin ryten die Roſzknecht fuerende die Zug- vnd
Strytroß in den Burghital ze Pfeifinghen, die von dem olt
Grove fynen Sun giſchenkt ſygen.
Vnd hinder inen ſchryten vnter dem thierſteiniſch
Phanner von Varenspurgh inher vnd ſchloſzen den Zug vnter
den Bifelchen des edelen Ritter
Hans von Thengen'?s)
Dryſig Man thierſteiniſch Söldnere”*) alle giwappneth.
Vnnd ſolichen wollint ſy inzieen ze Baſell, Raſt halten,
vnd ſedan no gar menniglichen Biſuech wider fürbaß goon
uuf die Veſtin Pfeffinghe die dem jungs Grave Otto zur
Vusſtüür als fryes Mannslehn von ſym giſtreng Herrn vnd
Vater ibergepen wirt, vmb daſelbs des junghen Pars feſtlick
Bylager ze begeen end ze fyren vil Tag vnd Wuchen lang.
Derohalben ſummet nit, myn türer Fründ vnd Kempe,
vnd louffet ſobald Ewch dieſz myn Prieff zugekummen ſunder
Raſt uff die Burgh vnd bringet den Lüten vnd Mannen da—
ſelbft die fröwlich Pottſchafft vnd min fründlik Grues.
Veſtin Klinghen im Schwarzwalde am
St. Guperthustaghe 1376.
22) Lukas Ritter, Kanzleiſekretär, der aus einer noch häufig
erhaltenen Lithographie bekannte „Ritter Pulverrauch“.
73, Auguſt Wieland, Artillerieleutnant.
74, Mannſchaft vom Bundeskontingent, da Platzkommandant
Lichtenhahn nicht hatte erlauben wollen, Militär von der Standes⸗
kompagnie dazu zu nehmen.
215
Ebenfalls ein größerer Umzug, bereits mit leichter poli=
tiiher Schattierung, wurde zwei Jahre ſpäter, 1822, in Szene
gejeßt. Er ftellte einen Ausfall des Krähwinkler Heeres dar,
wobei berittene Ordonnanzen in der Chaljjeur-Uniform der
alten Sreifompagnie einen „Stadt-Armee=Befehl für die Ver—
teidigungsanitalten“ austeilten. Nach allgemeiner Anſicht
war diejes Tajtnädhtlerifche Unternehmen auf die militärischen
KReformpläne des Oberſten Johann Wieland, älter, ge=
münzt.?5)
Zur Ausrüjtung hatten auf Geſuch J. 5. Halters namens |
der Kaltnadhtsgejellihaft an das Zeugamt, die Shäße des
Zeughaujes herhalten müjjen. Unter anderm wurde aud) der
heute im hiſtoriſchen Muſeum aufbewahrte eijerne Kanonen—
lauf mitgeführt; in jenen Zeiten lag er jreilid nod un—
beachtet, jeder Witterung preisgegeben, irgendwo im Zeughof.
Bei diejen Anläufen, die Faſtnacht durch größere Schau:
züge zu verjchönern, blieb es, zumal fi) mit den beginnenden.
Dreikiger Wirren die politifhen Verhältniſſe in unferm
Kanton derart zujpigten, daß in eriter Linie den Militär-
behörden im Intereſſe der Aufrehterhaltung der Ordnung
und der Gejege das Unterjagen der herfömmlidhen Beluſti—
gungen als ſelbſtverſtändliches Gebot der Notwendigkeit er-
ſchien.
Nicht ſo jenen Elementen, die hauptſächlich dem Hand—
werkerſtand angehörend, regelmäßig beim Wirt Bell auf dem
Barfüßerplatz zum Trunk und Politiſieren zuſammenkamen
und die als „Bellſche Geſellſchaft“ während der Dreißiger
Mirren einen nicht unbedeutenden, aber feineswegs fegens-
reihen Einfluß auf den Gang der politifhen Dinge ausgeübt
haben.
Diefe „Bellihen Spießgejellen“, wie fie auch genannt
wurden, wagten es, der obrigfeitlichen Verfügung am Faſt—
nachtsmontag 1833 offen zu troßen.
5) Daniel Burdhardti:Werthemann, Die polit. Karikatur des
alten Bajel, Seite 7.
216
Nachdem ſchon am frühen Morgen die Jugend in allen
Quartieren haufenweije oder einzeln trommelnd durch Die
Straßen der Stadt gezogen war, ohne daß es die Polizei
hindern fonnte oder wollte, verfammelten ſich nadmittags
vier Uhr vor dem Hauje des Weinſchenken Bienz an der Tor:
Iteinen gegen Hundertfünfzig Trommler, unter andern Schuh:
mader Kuhn, Goldſchmied Wohlleb, Schloſſer Holzach,
die Mebgermeifter Mehel und Sinninger, Ueber—
reuter Mündh und Wirt Weniger. Die einen trugen
Ihwarze Kleider und Hatten geſchwärzte Gelichter; andere
waren masfiert und koſtümiert.
Einen Tambourmajor an der Spiße, in der Mitte ein
Ihwarzweißes Yahnlein mit einem Baſelſtab, ſetzte ſich nad
vier Uhr der Haufe, die Trommeln jchlagend, in Bewegung
und 309, von einer bedeutenden Menſchenmenge begleitet, beim
Blömlein vorbei, den Steinenberg hinauf, durch die Aeſchen—
vorjtadt und Malzgaſſe nad) der Albanvoritadt, hinter dem
Münfter durch rings um den Münjterplat, den Spitaljprung
und die Freienſtraße hinunter über den Markt und die Rhein-
brüde nad) der mindern Stadt, wo bei der Wirtin Schuler
am Niehentor eine halbjtündige Raſt gemadht wurde. Nah
fünf Uhr ſetzte fih der fröhlide Zug aufs neue in Bewegung
nad) dem Großbaſel zurüd, den Blumenrain hinauf, über den
Totentanz und St. Sohanngraben nad) dem Betersplat, durch
das Platzgäßlein die Spalenvorftadt Herein, den Spalenberg
hinunter, durch die Schneidergajje, bei der Brotlaube vorbei,
über den Korn: und Rindermarft die Gerbergalfe Hinauf nad
dem Barfüßerplag. Vor der Bellſchen Wirtſchaft löſte ſich
der Zug auf; die einen begaben fih nad) Haufe, andere in
Weinſchenken.
Eine beträchtliche Menſchenmenge jeden Geſchlechts und
Alters war dem Zuge auf ſeinem ganzen Wege gefolgt oder
hatte ſich in die Gaſſen geſtellt, um denſelben zu „begaffen“.
Bon Einbruch der Nacht bis morgens zwei Uhr durchkreuzten
itarfe Landjägerpatrouillen die Straßen; mehrere Berfonen,
217
welche noch trommelnd angetroffen wurden, wies die Polizei
nach Haufe.
Die ganze Veranitaltung verlief ohne Unfug und
Schlägerei, ohne Beleidigung oder Verfpottung. Darüber
war niemand froher als die jtädtiihen Hüter der Ordnung,
die durch widerſprechende Gerüchte irregeführt und dur den
damaligen überaus umjtändliden Initanzenweg in ihren
Dispofitionen gehindert, gute Miene zu dem nidt allzu
böfen Spiel gemadt Hatten. |
Wenn BPBolizeidireftor Landerer jpäter befannte, „es
bleibe doch immerhin eine jhwere Aufgabe für die Behörden,
ein fo altherfömmlidhes, fajt allgemein beliebtes Volksfeſt,
an dem man jehr zu Hängen fcheine, zu verbieten, auszu—
merzen oder aud) nur zu beihränfen“, jo galt diefer Stoß—
feufzer nicht allein den unzulänglichen polizeiliden Ein-
zihtungen und Gicherheitsporfehrungen, jondern LZanderer
Tieß damit auch durchblicken, ob es vielleicht nicht klüger wäre,
an Stelle jtrenger Verordnungen, deren Durhführung doch
nit garantiert werden fonnte, dem Volkswillen mehr Rech—
nung zu tragen und Faſtnachtsvergnügungen in anjtändigem
Rahmen der Bevölkerung nicht vorzuenthalten.
Zwar warf für das Sahr 1834 noch der 3. Augujt 1833
auf die Faſtnacht dunfeln Schatten, und alle Umzüge unter:
blieben auf obrigfeitlihes Geheik. Um jo eifriger fröhnte man
auf den Zunftituben unter Aufliht der Polizei dem Tanzen,
wozu ſich hauptſächlich junge Leute der obern Stände ein-
fanden. Wir fönnen uns nicht verfagen, aus der Reihe von
Rapporten zwei hier wiederzugeben, die fi) nad) Inhalt und
Drthographie als unfreiwilliger Beitrag zur Faſtnachtskomik
dofumentieren. Die denktwürdigen Schriftitüde lauten:
Ertra Rapport.
„Es Haben fih auf dem Tanzboden zu Sumaderenznupf
feine Larfen zu Sehen Laſen und hat fi) Weites Auch nichts
neüfes zugedragen Als der Sparr hat wordwäfel gehat mit
dem Knächt zum Schiff.
218
Zweites aud) der Kuchner?e) von Herren Bifof zum Luft
mit dem Giſy bey Heren Breyswerd und fonjt hat fih nit
neüjes zugedragen jo den Dinſt Bedrift.
Bafel den 20ten Hornung 1834 |
Beſcheint Landjäger Carpparal
Haldenmann
Bolyzey Rapport.
Zandjager Rietſchin und Landjager Elmer Haben die
Polyzeiliche Aufliht zum Grifen,
Gegen Halb 10 Uhr fam der Schwart Schneider Auf der
Rheindrud Mit Einer Masgen, ih) Sagte Sie Miefen Ihre
Masgen apthun da ihr wilt es ift verboden, er Sagdte es
Macht Sa nicht, Sch weis woll wer deran Schult ijt der Mus
aper Noch Brigel haben ihr Sied Nicht Schul, dan Hat Cer
Sein Masgen apgedan,
ferner
Siend Noch zwey Masgyerte und der Landjager Elmer
bat Sie Gewarnet und Gie haben Sie weg getan, auf dem
Dansboten Haben Sich feine Masgen Eingefunden
Sonjt it Richt Neus zumelten
Beſcheind
Landjr Rietſchin.“
Merkwürdig raſch fand Baſel nach den blutigen Ereig—
niſſen des Trennungskampfes ſein verlorenes Faſtnachtslachen
wieder. Cs war, als ob man im glänzenden, lärmenden Faſt—
nadtstreiben die Demütigenden Folgen der Dreikiger Wirren
vergellen wollte. |
Bon der Mitte des dritten Jahrzehnts an löſt in bunter
Reihenfolge ein Faſtnachtszug den andern ab. Den tollen
Reigen eröffnete das Jahr 1835. in großer Zug, betitelt
„Humoriftiihes Quodlibet“, vereinigte alle bedeutenderen
Masten. Die Milhung war aud bunt genug; die vier Ele
0) Kutſcher.
219
(J
Fr Da) ’IED
y TE) 1 Pe:
PERL T
— IS
Die vier nn Faſtnacht 1835.
(Aus der Sammlung des Staatsardivs.)
mente, die Safultäten, die Moden, der Nähr—-,
Lehr: und WeHhrftand folgten ſich und zwilchen binein-
geftreut ein Iujtiges Potpourri von Don Quichote und jeinem
Gefolge angeführt. Die Moden begannen mit wilden Figuren
25
„URErTs
va
en r
GE
En Rh N —
DH 1
RS | N j y
EL OL
Don Sailor md Dulemea
Don Quichote und Dulcines, Saftnscht 1835.
(Aus der Sammlung des Staatsardjivs.)
aus dem Sabre 1; ihnen jehlojjen fih Typen der Ritterzeit
und komiſche in altfränfifhem Habitus an. Lebteren war die
Inſchrift gewidmet:
220
Anno 1700
Stodfteif und fyitematiih dumm,
Perüden, Spitenftragen;
Sonſt gibt's von diefem Säkulum
Gar wenig mehr zu fagen.
*
N
vo
: *
Er 1 a
Nahr. Lehy Wehrkand
Naͤhr⸗, Lehr⸗- und Wehrſtand, Faſtnacht 1835.
(Aus der Sammlung des Staatsarchivs)
Aa)
Die Muſik, als eine der fieben freien Künjte, war mit
Berfen bedacht, die auch) Heute noch Dafeinsberehtigung be-
anſpruchen dürften:
Sie würget und quält fi fürchterlich kühn
An Rouladen und Trillern zu Tode;
Denn die einfachen Weifen und Melodie’n
Sie find jest Halt — aus der Mode!
Ebenfo fei der, der Architektur zugeeignete Vierzeiler
unferer im Zeichen der Mufeumsbaufrage jtehenden Gene-
ration nicht vorenthalten:
221
Architektur
Die Muſe iſt nun eine Putzmacherin,
Das Altertum wird zur Fabel;
Der Sinn iſt verwirrt, tappt her und hin
Wie einſt am Turmbau zu Babel!
Unter den zahlreichen im Zuge mitgeführten Wagen
erregte beſonders eine „Altweibermühle“, in der Evas Töchter
verjüngt wurden, große Heiterkeit.
Solche Mühlen waren jahrelang beſonders beliebte Faſt⸗
nadhtswagen. 1837 wurde an der Faſtnacht eine 15 Yuß hohe
„zaubermühle“ Herumgeführt. Alte wurden darin jung,
Geizhälfe zu Wohltätern und Arme zu Reihen gezaubert.
Bon Zeit zu Zeit hielt der Wagen an und zeigte den Zus
Ihauern feine Wunderfraft, die der Beliger in lujtiger Weije
anpries. Ein Bäuerlein vom Hoßenwald, das ſich die Faſt⸗
naht auch bejah, und eben zufchaute, wie ein armer Eremit
in das Flappernde Mühlwerk gejtedt wurde und als gepuderter
Herr mit großem Geldfad (100000 Taler!) unten erfchien,
nahm die wigige Zauberei für bare Münze und rief: „Der
Teufel wird mi nit hole, i will’s au probiere.“ Mit diejen
Morten wollte er mit Gewalt auf den Wagen. Daß der arme
Tropf Gegenitand nicht endenwollenden Gelädters war,
braucht wohl faum erwähnt zu werden.
Eine nod erhaltene Lithographie von Schabelig ver⸗
mittelt uns auch von der Faſtnacht 1836 ein anſchauliches Bild.
Aus den Zugseinzelheiten ragte befonders hervor ein mäch⸗
tiger, vierfpänniger Theaterwagen mit wohlbejegtem Or⸗
heiter, dejfen „Jäfularifierter Bak“ von einem feilten Kloſter⸗
Bruder bedient wurde. Die ergößlidhen Figuren des Mufik-
direftors und feiner Untergebenen ſprechen dafür, daß bei
ihrer Toilette die Laune des wihigen Hieronymus He das
Kammermädchen gemacht hat...
In die Dreißiger Jahre zurückverfolgen läßt ſich auch
eine ebenſo eigenartige als volkstümliche Aeußerung des
Faſtnachtswitzes: Die Schnitzelbänke. Ihre Vorläufer
222
baben wir wohl in jenen Schmäh- und Gpottliedern zu fuchen,
von denen ſchon in Erlajjen des 16. Jahrhunderts die Rede ijt.
Auf das Jahr 1839 deutet nad) feinem Inhalt die ältejte
befannte Schnigelbanft. Herr Profellor Fritz Burdhardt, der
fie als Knabe unter der Linde beim „Bäumlein“ an der
Freieſtraße fingen hörte, fonnte dem Berfaller aus der Er=-
innerung noch folgende Strophen mitteilen: .
Sich das nit e Spaletor?
So das ifch esn-Ejelsohr.
Ei du ſchöner, ei du fchöner,
ei du ſchöner Schnitzelbank.
Iſch das nit e Liehtpugfcheer?
Und das il e Hin und e her.
Und e Hin und e her
Und e Liechtputzſcheer
Und e⸗n⸗-Eſelsohr
Und e Spaletor
Ei du ſchöner, ei du ſchöner ꝛc.
Iſch das nit der Lindemeyer ?77)
So das fin drei Oftereier
Und drei Ditereier
Und der Lindemeyer
Und e Liechtputzſcheer zc.
Ei du ſchöner, ei du ſchöner ıc.
Iſch das nit der Lällefenig?
So das ifch erichredli wenig
Shredli wenig
Lällefenig
Dftereier 2c.
Sid das nit der Bonapart?
Jo das ih e MWagerad
7) Balthafar Lindenmeyer (1801—1857), Torzoller am Steinens
tor, eine wegen ihres Zeibesumfanges ftadtbelannte Perfönlidhkeit.
223
MWagerad
Bonapart
Rällefenig
Schreckli wenig zc.
Iſch das nit der Zintehans?”e)
Jo das iſch e fetti Gans
Fetti Gans
Zinfehans
Bonapart
MWagerad ıc.
Iſch das nit der Hofcheho?”?)
So das iſch e Salomo,
Salomo
Hoſcheho
Zinkehans
Fetti Gans ꝛc.
Dieſe Verſe, bald von groß und klein geſungen, wurden
geradezu Volksgut. Im Laufe der Jahre war man ſich der
darin enthaltenen Anſpielungen nicht mehr bewußt, und in
teilweiſe veränderter Form mit neu hinzugekommenen
Strophen haben ſie Aufnahme gefunden in der im Jahre
1857 durch Albert Brenner herausgegebenen Sammlung
Basleriſcher Kinder- und Volksreime.
Dieſe Art der Schnitzelbank blieb jahrzehntelang, nicht
nur an der Faſtnacht, jondern aud bei Yamilien- und
Bereinsanläfjen vorbildlid. In diefen Zweizeilern mit ihren
treffenden Schlagwörtern, ihrer draſtiſchen Pointe Tiegt das
urhig Baslerijche, gegen welches die mehr und mehr auf:
fommenden dreiſtimmig vorgetragenen Schnitzelbänke mit
78, Zintehans, ein Kleinbasler, befannt wegen feiner ungewöhn-
lich großen Nafe. |
79) Niklaus Hoſch (1806-1873), „Schildkrot“ genannt; wie Hold
zu Zunamen kam, wird in lujtiger Weife im Diftelifalender
erzählt. =
224
usoqueAlad Jalseg ul lad ınE von agjewahjsgp mama Ypeu wieysiig "y Yonıpıyol]
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— ” — 4 —7
x
ihrem vier- bis adtzeiligen Strophenbau heimatlofe Marft-
ware bedeuten.
Beſſer als mit den Schnitelbänfen fteht es in dieſer
Beziehung mit den fliegenden Zetteln, und echte Basler:
finder bietet die Faſtnachtsmuſe dar in den zwei Narren-
zeitungen „Giggernillis“ und „Dubel“.
Mit den Bierziger Jahren fing aud) die Prefje an, von
den Erfcheinungen des fajtnäcdhtlerifchen Lebens Vormerkung
zu nehmen, und von diejem Zeitpunft an ließen fih Dutzende
von Faſchingszügen von numeriſcher oder fünftlerifcher Be—
deutung anführen.
Bald waren es großartige, durch prädtige Koftümierung
fih auszeichnende Schauzüge, wie der 1844 infzenierte, den
Einzug des Kaiſers Nar-foustely in Narhalla darftellende
Chinefenzug; bald traten kleinere, mehr die Zeitereignifle
und lokalen Dinge perjiflierende Gruppen verjhhiedener
Gejellihaften auf den Plan. Sn der Regel aber fonzentrierte
ih) der Faſtnachtsgedanke in einem aus diverfen Einzel-
gruppen zufammengefügten Umzug, der gewöhnli nur an
einem der Faſtnachtstage ftattfand.
So jah den 1. März 1841 Bajel einen über ahthundert
Teilnehmer zählenden Kinder: Saftnadtszug, ver-
anjtaltet zur „Einleitung von anjtändigen allgemeinen
Sugendfelten“.
Schon Ende der Zwanziger Jahre war die Anregung ge:
fallen, die Tugend an der Faſtnacht in einem Tradtenzug
aufziehen zu lajjen, wie es 1815 während der Anmejenheit
des öſterreichiſchen Erzherzogs Johann geihehen war; da=
mals waren in dem Zuge die Schweizerfantone durch ihre
Landestrachten, Jowie durch allerhand Saden, die in den
Kantonen wuchſen oder fabriziert wurden, zur Daritellung
gelangt.
Bor allem regte der anonyme Schreiber in den „Bas-
lerifhen Mitteilungen“ vom Fahre 1828 an, follten fid) die
Schullehrer mit der Anordnung eines foldhen Zuges befallen.
225 16
Es wäre aud zu hoffen, dag reihe Srauenzimmer ihre Bei—
träge aus reiner Vaterlandsliebe darreichten, um für Uns
bemittelte eine Garderobe zu bilden. Es könnte aud ein
Fond angelegt werden, um der Tugend jährlich zwei fröhliche
Tage zu verſchaffen. Wäre einmal die liebe Jugend koſtü—
miert, jo follte fie aud am 26. Auguſt in den Schweizer⸗
tradhten und mit den PBannern der Kantone vom Verſamm—
lungsorte aus auf den Münjterplag ziehen und den Herren.
Häuptern durch einen ausgewählten Chor von Sängern und:
Sängerinnen ein auf die Geſchichte paſſendes Lied vortragen.
Auch die Landſchaft follte dabei nicht vergejjen werden!
Drdentlide Landfnaben und Landtöchter könnten zu dem.
Seite beigezogen werden.
Mit et basleriſchem Geſchäftsſinn jchließt der Artikel:
ichreiber: „Außerdem daß ein vaterländiiher Geilt dadurd
gepflanzt und die Eintracht befördert würde, würde die ganze
Gegend herbeijtrömen und unfern werten Mitbürgern eine
gute Börfe maden“ ....
Der farbenreihe Kinderzug von 1841 war für Bafel
ein „noch nie gejehenes Faſchings-Divertiſſement“.
Dem Zuge voran ritt Prinz Karneval mit zwei Bes
gleitern und Kahnenträgern, umgaufelt von einer Bande:
Iuftiger Pierrots und Bajazzos. Ihnen folgte eine berittene,
altertümlich Eoftümierte Blehmufit und Wilhelm Tell mit
feinem Knaben. Pannerträger der Zünfte zum Schlüffel, zu
Hausgenojjen und Weinleuten, Ziguren aus dem „Freiſchütz“
mit Samiel an der Spibe, Jäger und Jägerinnen, Tiroler
und Tirolerinnen leiteten die zweite Gruppe ein. Diefer
beitern Gejellihaft ſchloß jih) ein Tambourentorps Erwach—
fener als Altfranten an, gefolgt von Eidgenoffen und einer
großen Schar Xelpler und Welplerinnen in Trachten der
Innerſchweiz.
Die zweite Gruppe — Prezioſa betitelt — eröffnete
Prezioſa, begleitet vom Zigeunerhauptmann und einer Schar
phantaſtiſch gekleideter Zigeuner. Ihr fuhr auf einem von
226
Eſeln gezogenen Wagen und esfortiert von Koſaken der be-
rühtigte Viardo nad. Drei Pannerträger folgten, Hierauf
das Tambourenforps der Waiſenknabenso) in Sappeur-
uniformen und joldhen des roten Schweizerregiments; fie
bildeten die Vorhut der Kleinbasler Gefellfhaften, die felbit-
verjtändlih) Dur die Miracula der mindern Stadt — Leu,
Greif und wilder Mann — verkörpert wurden. Eine bunte
Gejellihaft, geführt von Zigaro und Figuren aus der Zauber:
flöte, ſchloß ih an. Eine Sanitiharenmufif mit fünfund-
zwanzig Tambouren leitete die Gruppe der „Stummen von
Portici“ ein. Eine neue Sektion eröffnete endlich die ko—
milde Figur des Staberl, gefolgt von Altfranfen und Alt:
franfinnen, ein echt faſtnächtleriſcher Krähwinklerzug des
Pähters Yeldfümmel, Tambouren und Ermwadjene als
Krieger in der Tradht des 15. Tahrhunderts bildeten den
Schluß des farbenreihen Zuges.
Zwei Jahre jpäter vereinigte noch einmal ein großer
Umzug, bereits mit mehr Betonung des Komiſchen, die
Kinderwelt Bajels. Prätenziös meldete fein Programm:
„Junger Wiß geht heute fühn voran,
Er zeigt den Alten die verlor'ne Bahn!“
Heutzutage zerfplittern fich die „Buebezigli“ in einzelne
Gruppen, und treffender Mutterwiß äußert ſich nicht ſelten
in der unbeholfenen Malerei und Dihtung der Jungen.
Mir entjinnen uns beifpielsweije einer von Knirpfenhand
gemalten Laterne, auf welder das für das Reich der Mitte
jo Eläglihe Ende des chineſiſch-japaniſchen Krieges in den
drolligen Bierzeiler gefaßt war:
Tſching Wai Hay,
Mir wän Hai;
Mer fennesn:is nit gmwohne
An Sapans Iharfi Bohne! |
80) Aus den Uniformen abgedankter Schweizergardiiten waren
den Waijenfnaben nad) 1830 Kojtüme zugejchnitten worden; die
jegige Kojtümierung der Waijentnaben datiert aus den Achtziger
Sahren.
227 15*
Aus der Menge der Züge Erwadjener in den fpäteren
Sahrzehnten des vorigen Jahrhunderts fei derer von 1849
und 1853 Erwähnung getan.
Ueber den erjteren beridtet Karl Rud. Hagenbach an
feinen Freund Seremias Gotthelf; zugleich ein zeitgenöfftiches
Stimmungsbild der damaligen Faſtnacht gebend:
„.... Ein Jahr ift’s nun, daß wir uns in dem Revo-
Iutionstaumel umbertrieben, und die Leutchen find dabei fo
fiher und fo luftig, als wäre alles im tiefiten Frieden! So
wollen fie diefen Nachmittag einen Faſchingszug Halten, der
das Sahr 1848 daritellen joll: Louis Philippe, Cavaignac,
Jellachich, Lola Montes, Deutihe Ylotte, Heder und Gtruve,
Eijele und Beijele joll alles in bunter Reihe an den Bliden
der Zuſchauer vorübergehen; zuletzt noch eine Demofraten-
mühle, in welcher gefrönte und bezopfte Häupter oben ein-
geworfen und mit Schnäuzen und Bärten wieder heraus-
fommen. Das feheint mir noch der beite Gedante.
Nebrigens könnte ihnen der Regen leicht das Gpiel ver-
derben, das mir überhaupt ein gewagtes Spiel ſcheint. Wir
hätten eher nötig, in Sad und in der Aſche Buße zu tun, als
mit dem erniten Jahr den Narren zu treiben. Wer weiß,
wie bald uns der Narr noch ausgetrieben wird! Dod Hilft
das Eifern dagegen audh nichts. Die Schalkheit Hat zu allen
Zeiten auch mit ihr Wejen getrieben, bis ihr das Handwerf
höhern Drts gelegt worden ift.“
Mit Iharfen Worten, die eines politifhen Beigeſchmacks
nit entbehren, wendet fi) der Basler Dichter und Pro-
feſſor am Schluß feiner Epiftel gegen die andern üblichen
Faſtnachtsvergnügungen:
„Ich will das am Ende noch lieber, als die brutale Roheit,
die in dieſen Tagen bis zur Vieheit ſich ausläßt, und was
will da Polizei und Obrigkeit machen mitten in der frommen
Stadt! Wo das Lumpengelindel immer mehr Meifter wird,
da — iſt es eben Meijter, nicht nur an der Faſtnacht, fondern
auch ſonſt.“ —
228
Sn Bezug auf witzige Karikatur und politiiche Satire
war der 1849er Umzug einer der beiten, den Bajel je gejeben.
Cine Tambourengruppe in franzöliihen Uniformen des
18. Jahrhunderts eröffnete ihn. Den eigentlichen Faſchings—
reigen führte eine Narren-Reitergruppe an mit der Stan—
darte „Närriſch ift was lebt und webt auf Erden.“ Unter
großem Gerajjel braujte dann ein jehsipänniger Wagen ein:
her, eine Lokomotive daritellend «l’aimable Zuricois, Nr. 2
der ſchweizeriſchen Centralbahn“, mit eflatanter Richtigkeit
die eigentlihe Bedeutung ihres Namens beweifend: Motiv
um in loco zu bleiben. Auf der Lofomotive Hatte Satur-
nus als Führer Pla genommen. Sohn Bull fungierte
als Kondufteur, Robert Macaire!) als Heigzer,
während der deutſche Michel die Kohlen herbeijchleppte.
Als glänzende Gruppe folgte König Qudmwigs?) mit feiner
geliebten Lola Montez33) „ſpaniſch von Gemütsart,
tanzliebend von Charakter, eigentümlich von Sitte und Ge:
wohnheit, aber voll Energie, Geijt mehr als Geld habend“,
begleitet von reitenden Studenten.
Der Ihwahe Wittelsbaher war durch folgende Verſe
gefennzeichnet:
„Wie hat's dem Manne Müh gemadt,
Als man von Hof fie fortgejagt;
Viel lieber er vom Throne fcheidet,
Als länger noch die Lola meidet;
Der Welt zum Spott — o König Ludi
Ruft jedermann: „fi äggi pfudi!“
3) ſ. v. w. Schuft, Schurfe.
&) Qudwig I (1786—1868) legte am 19. März 1846 die bairiſche
Krone nieder.
8) Lola Montez (1820—1861), Tänzerin, erwarb ſich 1848 die
Gunft Ludwigs I, der fie zur Gräfin von Zandsfeld erhob. Ihr
Betragen bewirkte im Volke ſolche Gährung, daß der König in ihre
Entfernung einwilligen mußte. Sie ſtarb nad) abenteuerlichen Irr⸗
fahrten in New York in großer Dürftigkeit.
229
Berittene Mufit gab dem Baar und feinem Gefolge das
Ehrengeleite mit dem Lied „Mueß i denn, mueß i denn ıc.“
Diejes Lied jollte aber feine Anzüglichfeit fein auf die
nahfolgende Spezereihbandlung:
Louis Philippest) Guizotss) & Comp.
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Louis Philippe als Epicier, Saftnacht 1899.
(Aus der Sammlung des Staatsardjivs.)
L: Philipp als —
welche ſich dem Publikum mit allem empfahl, was zu wünſchen
übrig blieb. Das von zwei Eſeln gezogene, als Kramladen
mit allem möglichen Giggernillis ausgeſtattete Wägelchen
dirigierte Thier sse) als Kutſcher.
8) Louis Philippe (1773 — 1850) der „Bürgerkönig“, der von
1830—48 den franzöſiſchen Thron innehatte.
8) Fr. Guizot (1787—1874), der reaftionär gejinnte Miniiter-
präfident Louis Philippe’s, der mitjamt feinem Herrn der Februar⸗
revolution weichen mußte.
5 Adolf Thiers (1797 — 1877), Staatsmann und Geſchichts⸗
ichreiber, befleidete unter Louis Philippe mehrere Male einen
Miniiterpoften.
J
230
Ihnen ſchloſſen jih an, ebenfalls zu Pferd, der badiſche
NRevolutionär Heders”) und Madame Strupve,8) erjterer
mit dem Vers aus Horaz: «Beatus ille qui procul negotiis.>
Das Admiralſchiff „Wafferfheu“ perfiflierte die noch in
den Windeln liegende deutſche Zlotte, deren Bemannung fi
fühn Dr. Eifele und fein Zögling Baron Beifeless:)
zugeſellt Hatten.
Ban Jellachichss) mit einer wilden Kroatenbande
bradte in gelungener Weije die öſterreichiſchen Verhältniſſe
des NRevolutionsjahres zum Ausdrud in den Berjen:
Pflanzt auf ein ſchwarzgelb Fähnchen,
Shmüdt ſchwarzgelb das Gemad);
Sonft fliegt das rote Hähnchen
Alsbald auf euer Dad!
Und wäret ihr aud) heiſer,
So ſchreit (um’s Leben geht’s):
„Hoch leb der gute Kaifer!
Hoch lebe Windiſchgrätz!“s0)
Den Clou des Zuges bildete die Demokraten—
mühle, erfunden vom „bekannten Ingenieur Metter—
37) Friedrich Hecker (1811 — 1881), Organiſator der badiſchen
Volkserhebung an der ſchweiz. Grenze im Frühjahr 1848, wanderte
im September gleichen Jahres nach Amerika aus, wo er als Farmer
lebte.
8 Madame Struve, die Gattin des Revolutionärs Struve.
88) Eiſele und Beijele, zwei politiihe Yiguren aus den
„Münchner liegenden Blättern“, die in jenen Jahren, entgegen
ihrem heutigen Standpunft, ihre Spalten häufig der politiſchen
Satire unb Karikatur öffneten.
8), Franz, Freiherr v. Jellachich de Buzim (1801—1859), öſtreich.
General und Banus des vereinigten Königreichs Kroatien, Slo—
wenien und Dalmatien, half 1848 die Revolution in Wien unter—
drücken.
%, Fürſt Alfred zu Windiſchgrätz (1787—1862) führte während
Der Oftoberrevolution in Wien das Oberfommando über die fai-
Jerliden Truppen.
231
'g
nid“?1) Oben fpazierten Louis Blanc?) und Kons
jorten hinein und kamen unten „gemwindilchgrägt“, etwas-
„geradetfyt“ und „mehr rechts“ heraus.
Die fünf Großmädte zierten als Orcheſter den Wagen
der Demofratenmühle mit folgender Inftrumentenverteilung:
Rußland ſchlägt mit Bärenpfoten
Auf der Trommel feine Noten;
Deftreicd bläſt die Klarinette,
Quakt mit Preußen um die Wette;
Trompete bläjt mit falſchem Ton
Frankreichs 2. Napoleon;
England führt den Yidelbogen
Hat Volk und Fürften angelogen!“
Die Entente cordiale der Großmächte gipfelte in dern
Keimen:
„Sorgt nur, daß ein jeder greife
Recht hoch und Fräftig den Ton,
Es tanzt nach unjerer Pfeife
Halt ganz Europa ſchon.
Die Schweizer allein, diefe Knoten,
Die mahen uns viel Beſchwer;
Sie fragen nad) unferen Noten
Schon längft feinen Teufel mehr.“
Ein jpleeniger Engländer, auf einem Ejel reitend, illu—
Itrierte die Beziehungen Albions zu Bafel mit den draftifchen
Berjen:
9), Fürſt Metternich (1773—1859), der allgewaltige öſtreichiſche
Haus:, Hof⸗ und Staatstanzler und Tonangeber der europäiſchen
Politik während der Reftauration; gegen ihn, als die verkörperte
Reaktion, richtete fi) vor allem die Bewegung von 1848.
*) Louis Blanc (1811—1882), franzöſ. Hiltorifer, 1848 Mitglied
der proviforifchen Regierung; er widmete ſich befonders den Arbeiter-
intereſſen.
232
Mögen aud alle fi) ſchlagen tot,
Die Himmeljadermenter!
So fürcht' ich die Basler Bänder allein
Und die Basler PBojamenter!
Sn der fih anſchließenden Gruppe „Frankreich“ glängte
als Führer auf ftolgem Roß Louis Bonaparte,3) ver-
drofjen gefolgt von Cavaignac’) mit den Mobilgarden
in Reih und Glied. Lebtere fangen das berühmte Klein
büninger Nationallied „Goft mer us em Rhi“.
Als Treppenwig der Weltgeſchichte fei die dem Präli-
denten Louis Napoleon gewidmete, drei Fahre ſpäter in Er-
füllung gegangene Prophezeiung wiedergegeben:
„Mitten in des Zugs Getümmel
Reitet flott auf ſchwarzem Schimmel
Präſident Napoleon.
Doch fein Sinn nad) höher'm tradtet,
Er die Republifveradtet,
Greift nach Franfreids Kaiferfron“
An den Kern der franzöliihen Nation reihten fih zu
Roß und zu Wagen Urbeiter der Nationalwerfitätten; fie
führten dem Publikum ihr Lieblingsjpiel, das „Barrifädlen“,
vor Augen.
Seudale Herren folgten den Blufenmännern, bemüht zu
beweijen, daß „Henri V.“25) für Frankreich das beite Re—
gierungsiyitem fein würde.
„O Henri Cinq! D Henri Ling!
Mo bleibt die weiße Fahne,
9) Louis Napoleon Bonaparte (1808-1873), am 10. Dezember
1848 zum Präfidenten der franzöj. Republif gewählt; am 2. Des
zember 1852 als Napoleon III zum Kaijer der Franzoſen proflamiert.
%, Louis Cavaignac (1802—1857), franzöſ. General, der Unter:
drüder des blutigen Aufitandes vom 23. Juni 1848.
5) Heinrih, Graf von Chambord (1820— 1883) bourbonifcher
Kronprätendent und als folder von den Legitimilten als Henri V.
bezeichnet.
233
Mann dreht einmal das Hälshen um
Die Lilie dem Hahne?!“
Der ins Riejengroße übertragene, in einer Kutſche auf
hoher Stange jtedende „Hut von Aufterliß“ follte andeuten,
daß nur ein Mann von der Energie und Rüdjihtsiojigfeit
eines Napoleon I. imjtande jei, Frankreichs Bürger unter
einen Hut zu befommen.
RN N O
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RAN
R 2 NZ — Br
— ——— —
Karl Albert von Sardinien, Faſtnacht 1840.
(Aus der Sammlung des Staatsarchivs.)
In einer Galakutſche, von einem Jeſuiten begleitet, fuhr
hierauf Karl Albertes) von Sardinien einher; auf
holperndem Bernerwägelein wurde ihm die eiſerne Krone
Mailands nachgeführt. Den würdigen Schluß des Ganzen
bildete Metternich mit der Hoffanzlei, esfortiert von
Krähminflern.
Der äbtende Spott, mit dem die Häupter und Minifter
benadbarter Staaten überfehüttet wurden, zeigt, daß man
damals an der Faſtnacht feiner Zenfur nachfragte.
Freilich verliefen die Dinge nicht immer fo glatt. Sm
Sabre 1852 gab ein Spottgediht auf Beſchwerde der fran-
%) Karl Albert (1798 —1849), König von Sardinien; durch ihn
erhoffte Oberitalien die Befreiung vom öitreihiihen Joch; der
anfangs glüdlich geführte Krieg gegen Deftreich erwarb ihm den
Beinamen „la spada d’Italia“, das Schwert Staliens.
234
Metternich
Metternich, Saitnacht 1849.
(Aus der Sammlung des Staatsardhivs.)
zöfiſchen Regierung Hin Anlaß zu diplomatiihen Verhand—
Iungen und bradte, vom fehweizerifchen Bundesrat an die
Basler Regierung gewieſen, Berfaller und Teilnehmer vor
die Gerichtsſchranken, wo der gewagte Spaß für die Be-
teiligten mit vier Wochen Haft endigte.
Der Dichter des als Schnigelbant auf einem Wagen ge-
fungenen Liedes war der aus den Dreikiger Wirren her be-
kannte Kölner der „Saure“.
Sn dem fliegenden, mit roten Lettern gedrudten Blatt,
das auch in Paris majjenhaft verbreitet worden war und
Auffehen erregt hatte, wurde der politiihe Werdegang des
nahmaligen zweiten Kaijers der Yranzofen in folgenden ge-
pfefferten Berjen gejchildert:
Ein Affe iſt ein komiſch Tier
Und gleidet einem Menſchen ſchier;
Gtedt er jih in die Uniform
Gleiht er dem „großen Mann“) enorm;
Die Ejel Halten ihn dafür,
Doc bleibt der Aff ein komiſch Tier.
M) Napoleon I., feinem Oheim.
235
Straßburger Gänsleber-Paitet’
Hat in die Nas’ dem Aff geweht,
Doch ad), er nimmt den Zinfenftrid,
Läßt feine Stiefel faſt im Stih.98)
Ein Cäſar muß fein Affe fein,
Sonſt darf er nit nad) Straßburg rein!
Auf einmal jteht er wieder da
Wohl in der Stadt Bolonia ;9°)
D weh! er jpringt dort in das Meer,
Sein zahmer Bogel Hint’r ihm her;
Doch beid Tierlein fiſcht man raus,
Sind beide nak wie eine Maus.
Im Fahre „Ahtundvierzig“ ſummt
Die Revolution und brummt!
Da ſchleicht der Affe fih ins Land,
Reicht allem Volk die Affenhand
Und grüßt mit falſchem Affenblid:
Es lebe hoch die Republif!
Doch „Einundfünfzig“ kocht's noch mehr,
Zu wählen iſt ein neuer Herr!
Ein jeder wählt nad freier Luſt,
Dod mit dem Degen auf der Bruft;
Der Aff wird wieder Präſident,
Das freut die Ejel ohne End.!00)
8), Der mißglüdte Verſuch vom 28. Oktober 1836, in der Zink:
mattlajerne, Straßburger Garnifonstruppen zum Aufitand au be=
9) Die der theatraliihen Poſe nicht entbehrende Landung Louis
Napoleons bei Boulogne am 5. Auguft 1840; gefleidet wie Napo-
leon I., mit einem abgerichteten Adler über dem Haupt und unter
dem Ruf „Vive l’empereur“ ſuchte er die dortige Beſatzung zu ge-
winnen, mußte aber fliehen und wurde, da jein Boot umſchlug, aus
dem Waller gezogen, gefangen genommen und zu lebenslänglicdher
Haft verurteilt.
100) Bonapartes Staatsitreid) vom 1. u. 2. Dezember 1851, der
Frankreich der Herrichaft einer Militärdiktatur unterwarf.
236
Und als die große Stadt erwacht,
Da Heißt es: Republik gut Nacht!
Beim Kreiheitsbaum wird nicht getanzt,
Kanonen Stehen aufgepflangzt;
Der Aff Hat alles umgekehrt,
Das halbe Land wird eingefperrt.
Und weil die wilde Mamſell Rot!ı)
Ruft: Sreiheit, Gleichheit oder Tod!
So läßt er mit Kartätfchen jie
Auflöjfen ganz in Harmonie,
So gibt der Aff dem Volke Brot,
Erſchießen ijt ein Ehrentod!
Das was der Aff noch ferner tut,
Noch in der Zufunft Dunfel ruht;
Vielleicht erhöht ihn das Geſchick!
Vielleicht bricht bald er das Genid!
Der Affe ift ein komiſch Tier
Und gleihet einem Menſchen ſchier.
Nun der Zug vom Jahre 1853!
Wochenlang vorher ſchon jtedte Baſel bis über die Ohren
im Karneval. Einladungen und luſtige Anzeigen in den
Rolalblättern riefen die Faſtnächtler zur närriihen Heer:
hau. Sitzungen aller Art fanden jtatt; das Hauptlomitee
war in permanenter Tagung; galt es doch einen Zug von
über fünfhundert Perſonen, zweihundert Pferden und gegen
fünfzig Fuhrwerken, meijt koloſſalen Wagen auszujtatten.
Der alles mitreißende Eifer follte die beſte Antwort fein
an die achtunddreißig Petenten, welde an den Stadtrat eine
Eingabe gerichtet Hatten, des Inhalts, die Faſtnacht auf
einen Tag zu beihränfen. Die Petition fand aber vor der
bürgerlihen Behörde feine Gnade, und am 19. Januar ſprach
101) Die „rote Revolution“; den Wideritand der Republitaner
brach Louis Napoleon in Ihonungslofen Straßentämpfen.
237
fi der Stadtrat mit erdrüdender Mehrheit für Nichteintreten
aus.
Das aus jüngern und ältern Männern beitehende Ko-
mitee hatte fih als Aufgabe gewählt, in humorijtifhen und
geihichtlicden Bildern den Einzug der zweiundzwanzig Kan-
tone zum Karneval in Narhalla darzuitellen.
Zur Beihaffung der Geldmittel wurden Faftnadjts-
altien!?2) mit folgenden Begleitverfen im Publikum ab-
gejeßt:
„Heute thun wir avertieren,
Daß wir Aktien kreieren,
Sie zu 5 Francs jtipulieren
Und fie hiemit offerieren,
Hoffend, daß fie acceptieren;
Denn, um Gie zu amülieren
Müſſen wir nun refurrieren —
An Ihr Beutel appellieren.
Biel ift noch zu arrangieren,
Herzuftellen, deforieren,
Auszufhmüden und garnieren,
Mas das ganze foll verzieren —
Soll der Faſching recht florieren.
Darum thun Sie acquirieren
Aktien, die wir gerieren;
Nichts iſt dabei zu riskieren,
Als das Ganze zu verlieren.
Mer uns drum will foutenieren,
Möge fih jet nicht genieren;
Nur wenn viel wir debitieren,
Kann die Faſtnacht reüflieren.
102) Sole Aktien oder auch Lotterien wurden fpäterhin noch
öfters veranjtaltet. 1867 beijpielsweije fand zur Dedung der Uns
koſten des großen Umzuges eine Berlofung Statt; der erite Gewinn
beitand in einem Ochſen, der zweite und dritte je in einem Widder:
238
In unterthänigem, närrifhen Reſpekt
thun perfiltieren
Die in dem Komite nun.
raſtlos dirigieren.“
Diefes gewandte Anpreifen des „Faſtnachtspapieres“
verfehlte denn aud feinen Zwed nit. Die noch erhaltene:
detaillierte Abrechnung weilt die für die damalige Zeit recht
hohe Einnahmenfumme von 2948 Franken auf. Nah) Abzug
der Unkojten, unter welchen ein Bolten von Fr. 24.85 „für
zwei geliehene Bären von Bern, nebit Porto“ figurierte, ver—
blieben über adhthundert Franken, welde vom Komitee zur
Gründung eines zukünftigen Karnevalfonds angelegt wurden.
Montag, den 14. Februar nadmittags 1% Uhr febte ſich
der vom Wetter nicht bejonders begünftigte Zug vom Klingen=
tal aus in Bewegung, erwartet von einer ungeheuren Menge
von Einheimifchen und Fremden. Er bewegte fit durch die
innere Stadt und jämtlide Vorjtädte, an deren Bewohner
das Komitee folgenden Wunſch gerichtet hatte: „Man ver-
traut der freundlichen Gefälligfeit aller verehrlichen Haus:
befißer, daß fie die Straßen, durch welche der Zug geht, wollen
rein halten laſſen.“
Eröffnet wurde das farbenprädtige Bild wie üblich von
Prinz Karneval zu Pferd, umgeben von feinem ganzen Hof-
ftaat. Hierauf folgten die zweiundzwanzig Kantone in der
Reihenfolge ihres Beitrittes zum Schweizerbund. An der
Spitze jedes Kantons ritt der in die Kantonsfarben gefleidete
Standesweibel.
Zuerft erblidte man Repräfentanten der Kantone Uri,
Shwyz und Unterwalden: die drei Eidgenofjen, Wilhelm
Tell und andere Geitalten jener Zeit; daran fchloß fih ein
Schwingerfeft und eine Sennerei. Einen Kontraft zu diejen
Katurkindern bildete die darauf folgende Karawane von
Engländern und Engländerinnen, auf einer Schweizerreife
begriffen.
239
Doch aud) bei den Urkantonen war der Wi nicht ganz
vergeſſen. Ein Bauer trug auf dem Rüden eine alt-ehr-
würdige Basler Stadtlaterne, wie fie nad) der Einführung
der Gasbeleudtung in Bajel nah Altdorf gejandt wurden;
der Faſtnachtsdichter bemerkte hiezu:
„gwar, man hört auch mandmal munteln,
Daß nit all’s in Ordnung ſei;
Daß dort tappe, tief im Dunteln,
Geijtlihfeit und Kleriſei.
Doch das wird jich jegt entfernen
Seit die liebe Bajel-Stadt
Ihnen fandte Dellaternen,
Die fie nit mehr nötig hat.
Zündet Freunde, daß es tage,
Daß es leucht' in jedem Ort;
Und des Landes Wahlſpruch fage:
Frei der Geiſt und frei das Wort!“
Luzern rückte ſelbſtverſtändlich mit ſeinem Bruder
Fritſchi auf.
Alter, biedrer, luſt'ger Fritſchi
Aus Lucerna's Heldenzeit;
Kluger Schalksnarr ohne gleichen
Ziehe mit uns in den Streit
Wider alle Jeſuiten,
Römiſch oder reformiert,
Die dem Faſching Tod geſchworen,
Weil ſein Spiegel ſie geniert.
In buntem Gewirr reihte ſich Gruppe an Gruppe.
Zürich mit dem „Sechſeläuten“, der Ueberlandpoſt von London
nach Kalkutta über Zürich; Bern zeigte den zukünftigen
Bundespalaſt, das neue Preßgeſetz von preußiſchen Orden um⸗
baumelt und von einem Krebs mit den Scheren gehalten;
ein großer Wagen, von Proletariern gezogen, ſtellte
240
1 F > *
—
y,\ J—
m DR
— > N
| Di |
Sattnach to wegen 1853.
(Aus der Sammlung des GStaatsardhivs.)
Stämpflis Millionenmajdine dar. Mannigfaltig und finn-
reich war Solothurn vertreten, wofür der „Pojtheiri“ in
höchſt eigener Perſon gejorgt Hatte.
Der Basler Gruppe mit dem originellen Zunftwagen ritt
der fünfundjechzigjährige Schlojjermeilter Münd, ein alter
Steilhärler, in feinem echten Koſtüm als Ueberreuter voran.
Den Schluß des gediegenen Umzuges bildeten Zußjoldaten
aus aller Herren Länder, ein Krähmwinflerforps par ex-
cellence!
Sn einer dreiundneunzig Geiten ftarfen Broſchüre, die
im Bublitum verfauft wurde, war von Faſtnachtsdichtern in
Verfen und PBrofa, mit attifdem Salz gewürzt, zu Handen
der Zuſchauer der erflärende Text niedergelegt.
Einige diejer Verſe feien an diefer Stelle der Vergeſſen—
heit entrijjen:
241 16
Quzern:
Quzern halt deine Leuchte rein
Bon allen Shmugigen Yleden,
Denn nichts für ungut, deine Partei’n
Haben beide Dred am Gteden!
Baſel:
Baſel ißt und trinket gern
Von dem Allerbeſten,
Drum find feine alten Herr'n
Noch die Ehrenfeiten!
Rechnet, zählt und jchöppelt aud);
Das ilt fein Vergnügen.
Konfervieret alten Braud,
Sit zu Schwer zum Fliegen!
Sreiburg:
Dben find fie liberal,
Mehr als das, felbit radikal;
Aber unten ijt der Belt’,
Wer am Alten bänget feit.
Beide unter einen Hut
Feſtzuſtecken geht nicht gut;
Am beiten wär für Freiburgs Ruh,
Der ein’ gab nad), der ander’ zu!
Aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Tießen
fih noch verſchiedene folder großer Umzüge befchreiben. Bor
allem war es feit den FYünfzigerjahren das Quodlibet,
deilen ins Leben gerufene Faſtnachtszüge ſich durch Wit und
Gehalt auszeichneten und anregend und veredelnd der Yajt-
nacht für die Zukunft den Weg wiejen.
Zahlreiche, oft jehr gute Züge arrangierte unter der
Führung des 1864 gegründeten „Turnerfränzli“ auch
der Bürgerturnverein. Die forgfältig geführten
Protofolle des „Turnerfränzli“ gewähren mand) interejfanten
Einblid in vergangene Faldhingstätigkeit und atmen un=
242
mittelbar friſche, oft feuchtfröhlichſte Faſtnachtſtimmung; fie
zeigen aber aud, mit wel einfaden Mitteln damals oft
Faſtnacht „gemacht“ wurde. Welche Gefellihaft hätte heute
das Glüd, protofollieren zu können, wie es 1865 der Aktuar
diejes Sreundesfkreijes tat: Dem Herrn N. N. als Gratifi-
kation für das Laternenmalen — ein Kilthen Zigarren zu
fpenden! ;
Den Spuren diefer Vereine, denen ſich als dritter während
mehrerer Jahre der „Verein junger Kaufleute“
beigejellte, folgten in den Giebenziger und Achtzigerjahren
die Quartiergejellihaften wie Aeſchlemer, Santihanslemer,
Gteinlemer, vereinigte Kleinbasler. In verjhiedenen Be—
jiehungen vorbildlih wurden aud die Darbietungen des
„Ruderflub“ und der „Alten Garde“, welche mit Fineſſe ihren
Stoffen et baslerifches Lofalkolorit zu geben wußten.
Heute unterziehen fih ein gutes Dugend Gejellichaften
und eigentlider Faſtnachtsvereine mit regftem Eifer und
großem Geſchick der Veranjtaltung von Umzügen.
Mehrfach wurde aud in den le&ten fünf Dezennien der
Verſuch gemadt, gegen die Faſtnacht Sturm zu laufen.
Das richtige Wort in diefer Angelegenheit traf wohl der
Kleine Rat im Jahre 1871, als angelihts der jchweren Not
in unferer nächſten Nähe die Frage entitand, ob es nicht ans
gemejlen wäre, von allen Yaltnadıtsbeluftigungen Umgang
zu nehmen. Die Regierung lehnte es ab, von der Ueber:
zeugung geleitet, daß ſolches Abgehen von alten Bräuden
nicht ſowohl durch ein Verbot, als vielmehr dadurd) anzus
itreben fei, daß es dem eigenen Gefühl und dem Taft jedes
Einzelnen überlajjen bleibe, ſich felbjt zu jagen, was der Ernft
der Zeit von ihm verlange.
Einen Erfolg, der aud den Beifall der Faſtnachts⸗
freunde fand, hatten dieje verfhiedenen Petitionen Doch im
Gefolge, indem unter ihrem Eindrud wirfliden Mebeljtänden
Abbruch getan wurde.
Prämierungen und Subventionen hoben die Faſtnacht
243 16*
und verliehen ihr vermehrten Glanz. Neuerungen, wie die
Zaternenausitellung und das Monftre-Trommelfonzert möchte
heute niemand mehr miljen, nicht weniger aber aud) die ſchöne,
alte Baslerjitte, welcher das jett an der Spibe jtehende Ko-
mitee Folge gibt, wenn es einen Teil der Faſtnachts—
einnahmen gemeinnügigen Zweden zumweilt.
So Steht Heute ungefährdet die FZaftnaht da. Auf den
Mildling des Mittelalters pflanzte die mahhaltende Neu-
zeit das Edelreis, das nun lujtig Bluft treibt.
Jahr für Jahr ſchwingt die Faſtnacht die Geißel der
Ironie und der Satyre; in witzigen Reimen hält ſie dem
Volk Torheiten, Schwächen und Fehler vor und unterſtreicht
den Text ausdrucksvoll durch oft köſtliche Laternenbilder und
originelle Koſtüme. Sie bietet gleichſam einen volkstümlich
abgefaßten, Leben gewordenen Jahresbericht dar, in dem
freilich mancher aufgeführt wird, dem es nicht lieb iſt. Aber
ſelbſt, wenn dann und wann dabei reſpektwidrig ſogar eine
Staatsperüde verſchoben wird und das Publikum über die
hervorgudende Schellenkappe ladt, jo mag ſich das für die
Stadt, in der Erasmus von Rotterdam fein „Lob der Narr:
heit“ geihaffen Hat, geziemen.
Solange es Basler gibt, wird auch das Wort des Nürn-
bergers Hans NRojenplüt!03) in der Rheinjtadt zu Recht be-
ſtehen:
„Die Faſtnacht kann manchen Narren machen.“
108) Hans Schnepperer, genannt Roſenplüt, wirkte als Faſtnachts⸗
ipieldichter von 1431— 1460.
244
Torhut und Scharwache zu Bafel
in der zweiten Halfte des XV. Jahrhunderts.
Don Dr. phil. 85. A. Geßler⸗Zuͤrich.
Schwere Zeiten waren im Beginn der fiebziger Jahre
des 15. Jahrhunderts über Bajel hereingebroden, und die
Stadt fpielte im Widerjtreit der großen europäiſchen Politik
eine wichtige Rolle. Ihre politiihe Bedeutung und ihre
itrategiiche Lage als Einfallstor in die Eidgenofjenichaft Tieß
fie ven Gegnern bejonders begehrenswert erjcheinen. Drohend
taudte um jene Zeit das Streben des burgundiſchen Reichs
nah Ausdehnung Jeiner Grenzen unter Herzog Karl dem
Kühnen, dem Bajel als Haupt der „niederen Vereinigung“
neben Straßburg bejonders verhaßt war, am Oberrhein auf.
Der in Auslicht jtehende, mit Sicherheit zu erwartende
Angriff Karls von Burgund mußte daher die Stadt gewappnet
jehen. Wieder wie zur Zeit des Armagnafenanmaridhes
trengte ſich Baſel an, jein Kriegswejen und feine Kriegs-
bereitihaft auf der Höhe zu halten und ji mit allen Mitteln
vor den Feinden zu |hüßen.
Sm Sahre 1473 glaubte man allgemein an eine plößliche
Gefahr durch einen Angriff Herzog Karls. Baſel rüftete mit
Macht, die Stadt wurde reichlich verproviantiert, Kriegs
material, Gejhüg und Handbüchſen wurden erworben; er-
fahrene fremde Büchjenmeifter und Schüßen wurden bei-
gezogen, die Befeltigungen ausgebejlert und teilweife neue
angelegt, jo der Borbau am Spalentor durch Jakob Sarbad)
245
im Herbit 1473. Leider find die Zeughausinventare diefer
Zeit, welde den genaueiten Einblid gegeben hätten, nicht
mehr vorhanden; troßdem fünnen wir uns auf Grund folder
vom 16. Sahrhundert und der Ausgabenbüder der Stadt ein
Bild davon machen; es würde jedoch) an dieſer Stelle zu weit
führen; hingegen darf ruhig behauptet werden, daß Bajel
völlig friegsbereit in die Burgunderfriege eintrat. Bis ins
fleinjte war alles vorbereitet worden, um die MWiderftands-
fraft der Stadt zu erhöhen. Uns fol nun hier ein Abſchnitt
aus jener bewegten Zeit um 1473 beſchäftigen, der zugleich
als typiich für die meilten Städte von Damals galt, für Bafel
aber durch dofumentariihen Beweis ſicher und ausführlid
belegt ijt, nämlich die Torhut und Bewachung Bajels von 1473.
Beitimmungen über die Bewachung von Baſel waren
Ihon früher vorhanden, jedoch nicht jo genau präzijiert wie
die 1473 entitandenen Anordnungen des Rats zur Bewahung
und Bewahrung der Stadt „Ordenunge zu fürs nott und
Kriegs:Leuff“. Man mußte fih auf alles gefaßt maden, jo:
gar auf einen plößlichen Ueberfall, daher waren die etwas
pedantiſch Icheinenden Maßregeln völlig am Plabe.
Es handelt jih vor allem um eine Verordnung über die
Torhut und über die Scharwade, die nachts für die Gidher-
heit der Stadt ſowohl als Polizei wie Feuerwehr und mili-
täriſche Truppe zu jorgen Hatte. Dieje Verordnungen bil-
deten das ganze Mittelalter hindurch die Grundlage der
Bewachung von Bajel. Die beiden Dokumente befinden fi
unter der Bezeihnung Mil. All. A2 Ordnungsbuh I
1463/1542 im Staatsarchiv Baſel.
Es joll Hier der Text folgen, an welchen ſich Crläute-
rungen fnüpfen werden. Dieje Urkunden geitatten uns einen
Einblid in ein jonjt ziemlich) unbekanntes Gebiet des Basler
Mehrwejens, und zeigen, wie ins Eleinjte |hon in einer mittel-
alterliden Stadt die Ausbildung des Kriegswejens ging.
Alfo in feine hohe Politik wird man ſich vertiefen, fondern
in echt zünfterifhe Kleinarbeit.
246
„Ein Ratſchlahen von der torhute
Anno etc. LXXIII (1473).
Zem eriten ijt verordnet das man in der meren jtatt
tagwedter haben Jollte eynen zu fannt Johanns und eynen
zu fannt Alban die jollent eyn warzeichen haben das ſy geben
follent wenn ſy zu Roß oder zu Fuß Iute Sm velde jehent /
Desgliden der zu ſannt Alban, wenn er jhiff uff dem Ryne
fommen fiht ouch warzeudhen geben fol.
Stem jo jollent die Zünffte alle Dage under yegliche
thore eynen ſchicken mit harneſch und gewere ſufer uß geruft /
mit den torhuter des thores und des grendels zu Huten und
zu wartten und den grendel beflojjen zu Halten.
Stem fo fol man ouch die thor zu rechter zyt Hinfur uff
und zu tun / nemliden jol man Sannt Johanns jannt Alban
und herthore vor den jybenen nit uff tun /
Stem Spalenthor und Eſchemerthor mag man uff tun
vor ſybenen nad) gelegenheit der ſachen / doch fol man dehein
thore uff tun one den Houptman der darzu verordnet ijt.
Stem wenn man oud) die thore uff tun wil Do fol der
Houptman vor uß jhiden über den faßenjteg / ouch uff die
thore umb ſich jehen lafjen / was oder ob yemand im velde
ige und darnach die wegen und farren fo vor den Thoren
halten ordenlid) und mit guter gewarjame In laſſen.
Ouch follent die tagwechter und Hüter underricht werden
der Schubgattern Halb ob es darzu feme daz fy denn wiftent
wie jy damit handlen Joltend.
Stem welher Huter oder tag wechter uff die zyt als vor
ſtat zu den thoren nit fumpt / ee das uff getan wird / der
ſoll 2 ss. d. (Schilling, Denar) one gnade verfallen fin / aber
wenn der Houptman zu rechter zyt darzu nit fumpt fo fol
er zwyfaltige pene das ijt 4 ss. d. verfallen fin / welicher
ouch felbs nit käme und eynen andren an fin ſtat ſchickte den
frangkheit nit entjhuldiget von deme follen 5 ss. d. one
gnade genommen werden / Dud) ſollen die louffende Knecht
247
wenn der uber dreye fint nit ingelafjen funder gutli fur
gewijen werden.
Dieſelben ouch eyn yegliher torhuter am Samstag fo er
die buchen uff das Richthus bringt / eigentlichen angeben
ſol / umb daz fy darumbe als objtat gejtraft werden mögen.
Stem die Houpter jollent oud) jo did |y das gut oder not—
turfftig fin bedundt / etlich zu Roß umbe jhiden / zu allen
thoren zu richten und zu bejehen ob diefe Ordnung in maßen
als vor jtad gehalten werde oder nit und welidher denn un—
gehorjam funden wirt der one alle gnade gejtrofft werde.“
Der Ratihlag von der Torhut jagt uns alfo in Kürze
folgendes:
Zwei Tagwädter auf dem St. Johanns- und St. Alban-
tor bejorgen den Wachtdienit am Tage; die Wächter waren
mit Rufhörnern ausgerüjtet, fie hatten durch Hornzeichen ſo—
wohl das Herannahen größerer Menjhhengruppen gegen die
Tore, wie aud) das Ankommen mehrerer Schiffe auf dem
Rhein zu fignalilieren.
Sedes Tor ftand unter einem bejonderen Torwächter,
diejer wurde unterjtüßt durch einen Zünfter, der „mit bar-
neſch und gewere ſufer uß geruft, des thores und des grendels
huten und warten“ mußte. Der Grendel hieß das Yallgatter,
welches ja noch heute 3. B. am Spalentor erhalten ift, wenn
auch heutzutage der Mechanismus nicht mehr funktioniert.
Zu jener Zeit jheint das FZallgatter am Tage nicht immer
hochgezogen geweſen zu fein. Die Yusrüftung mit Harniſch
und Gewehr bejtand aus der Sturmhaube oder einem Eijen-
hut; den Leib ſchützte gewöhnlich das Panzerhemd, Hier
aber bedeutet das „jauber ausgerüftet“ den ſog. halben Har—
niſch, einen Plattenharnijh, der aus Bruft: und Rüdenjtüd,
Dberarmzeug bis zum Ellenbogen und furze Baudreifen,
teilweife mit kurzem Oberbeinzeug „Beintafhen“ bejtand;
Unterarme und Beine waren ohne Schuß, als felbitverjtänd-
liche Waffe trat ein kurzes Schwert zu Hieb und Stich dazu.
Unter Gewehr haben wir feine Schußwaffe, fondern die Hal-
248
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nach einem Stiche |
Lichtdruck von Alfred Ditisheim
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und Vorstat :
im Besitze des Basler Staatsarchivs.
Staut %afel
man Mallh. Merian
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parte (Helmbarde) zu jehen, die Hauptwaffe des Fußvolks
neben dem langen Spieß.
Ein gleichzeitiges Bild veranihaulicht die basleriſche Be-
waffnung jener Zeit.
Auszug der Basler 3474 ins Sundgau.
Aus der Chronik Werner Schodolers in Yarau (BI. 247).
Die folgenden Abfehnitte beziehen ſich auf die Definungs-
zeit; über das Deffnen entſcheidet ein vom Nat eingejeßter
Torhauptmann; offen waren die Tore von jieben morgens,
Spalen= und Aeſchentor fonnten früher geöffnet werden. Nur
mit Borfiht fol das geſchehen, man fpähte zuerſt aus, ob
etwa ein Hinterhalt gelegt jei und die Zugbrüde wurde erjt
aufgezogen, wenn ein Wächter durch das kleine Tor, „das
Nadelöhr“, über eine kleine Zugbrüde, die gejondert herab-
gelajjen werden fonnte, „ven Katzenſteg“, geſchritten und fi
249
vergemwillert hatte, dag feine Gefahr drohe. Die Schlüjjel zu
den Toren verwahrten die Torhauptleute oder vertraute, in
der Nähe wohnende Bürger. In Ordnung hatte dann der
Eingang der ji vor den Toren jtauenden Wagen und Karren
vor ji) zu gehen. Torwächter und Hüter mußten genau wijlen,
wie die „Schußgatter“, die Kallgitter aus Pfahlwerk, ſchnell
bei plößliier Notwendigkeit herabgelafien werden fonnten.
Hauptmann, Hüter und Torwädter hatten pünftlih ihren
Dienſt anzutreten, im andern Falle drohte ziemlich empfind-
liche Strafe (pene, Pön). Stellvertretung war nur im Krank:
heitsfall zuläflig.e Die Kontrolle über die Präſenz der Mann:
haft mußte der Torwädter führen. Allwöchentlih, wenn
er die in den Standesfarben bemalte Blechbüchſe, in der die
Zorjournale über Eingang, Zölle ꝛc. Tagen, aufs Richthaus
bringen mußte, jollte er zugleich über die Verfehlungen der
Wächter Bericht erjtatten. Ob die Torwächter jamt der Wade
ihre Pflicht taten, wurde, wenn es nötig ſchien, Durch berittene
Ratsföldner „bejehen“, auf alle Verfehlungen folgte die Be:
ftrafung der Schuldigen.
Sn Kriegszeiten wurde die Torwache ſelbſtverſtändlich
vermehrt, man nannte das die „Jorglidhen „Läuffe“, die Wacht,
wenn man in Sorge iſt. Die Torwächter wurden regelmäßig
bejoldet und waren fejte Angeitellte der Stadt. Neben dieſen
Torwächtern mit ihrer Berjtärfung in Kriegszeiten übten bei
Tage in der Stadt die „wachtmeijter“ die Yunftionen der
Polizei aus, fie Hatten für Ordnung des Verfehrs, Ruhe und
Sicherheit zu forgen unter Oberauflicht des Rats. Des Nachts
hatte die Scharwade dieſe Tagwächter abzulöfen.
Neben der Torwacht war aber für den Kriegsfall ſowohl
wie für plößlich ausbrechenden Aufruhr oder Brandfälle ganz
genau beitimmt, wer den Dienjt auf den Ringmauern zu tun
hatte. Wir bejigen ein Aktenſtück, weldhes eine Ergänzung des
obigen aus dem gleichen Jahr 1473 bildet (Mil. Alt. Ord⸗
nungsbucd I. 1463/1542).
Hier werden nämlih die Namen der Torwäkhter für
250
diejes Sahr aufgezählt, ebenjo weldhe Zünfte beitimmte Teile
der Stadtbefejtigung zu verteidigen hatten. Die militärifche
Einteilung der Stadt geſchah auf der Grundlage des Zunft:
wejens, im Prinzip herrſchte die allgemeine Wehrpflicht; nicht
nur zogen die Zünfte ins Feld, fie bewachten auch die Stadt.
Ueber das Alarmweſen, das Aufgebot zum Wuszug, bei
Kriegs: und Feuersnot, bei Unorönungen und Aufläufen
waren genaue Reglemente aufgeitellt, deren Behandlung
über den Rahmen diejer Zeilen hinausgehen, hier ſei nur
herausgegriffen, was ſich auf die Torwacht bezieht.
„Ordenunge wie man fih In der Statt die Ringmure
zu beforgen ob die Statt belegert wurde halten jolle.“
„zu dem thore zu jannt Alban Und da dannen ung gen
Eihemerthore jol budhjjenmeifter fin Jorg Durre.“ Zur Ber-
teidigung dieſes Abjehnitts berufen waren „diſe zwo Zunffte
der winluten Zunfft und der Rebluten Zunfft“.
„Uff die portten ſannt Alban
Hanns der Torwadhter
Heinrih Müller Zimberman
Contat bußner ſchnider
Conrat von Elzenhein
Peter von Elzenhein“
Zu Egloffs thore und dem Spalenthor Und dannen ung
uff den thurm Luginslandt Sol budjjenmeilter fin Hans in
der Mulen.“ Diefem Teil „jint zugeben Der Schmyden Zunfft
und der Mebger Zunfft“.
„Uff Spalenthor die porten
Clewin der torwedter
Heinrich wechter murer
MWernlin veith wagner
Hennslin ſchnider von Waltzhut (Sötoner)
Sriblin Hans Ambergs knecht Wahrſceinnig Air neapmann
Zſchan von Metz Zimbermann. “cetzterer Söldner ?)
In dem Luginslandt und do dannen ung uff fannt Tho-
mas thurm am Ryn fol Budjjenmeijter fin Jerg wiß der
(dieſe en ns aus den
(die legteren wahrſcheinlich Söldner).
(Zünfter wie oben)
251
Kannengießer.“ (Zinngießer.) Diejem Teil „jint zugeben der
Brotbeden Zunffte und der Garthener: Schiffluten und
viſcher Zunffte.“
„Uff ſannt Sohanns thore die Porten.
Rudy der thorwadter
Hans tonnwalt tudhjcherer
Gtelli der vilher / „peter peiger“ jtellis tochterman
Steffan Ruß hafner (alle Zünfter).
Das Kleinbajel bejak die gleiche Ordnung mit Tor:
wächtern und zugeteilten Zünftern, die Mauer beitand aus
zwei Berteidigungsitreden mit bejonderen Hauptleuten, eben]o
Itanden die fünf PVorjtädte unter eigenen Hauptleuten.
Wir haben aus diefen Verordnungen erfannt, daß durch
ttändige Torwädter die Torwaht genau geregelt war und
ih aus ſtädtiſchen Beamten und zugeteilten Geharnifchten
aus den Zünften refrutierte, Daneben fungierte ein Büchſen—
meijter als Befehlshaber über die in jenen Türmen und
Mauerabſchnitten aufgeitellte Artillerie, ferner Hatte jedes
Tor noch einen bejonderen Torhauptmann, das Ganze jtand
unter der Kontrolle des Rats.
Außer diefen Wachen beitanden noch die Hochwachten, im
Großbajel auf dem Münjter und Martinsturm, beide bis in
neuere Zeit, und im Kleinbajel auf der jeßt verfchwundenen
Niklaujenfapelle beim Richthaus, dieſe dienten als Nacht—
wachen für Feuers und Kriegsgefahr, jowie zum Hornen oder
Anſchlagen der Stunden, ebenfalls jtändig im Dienſt wie die
Zorwädter. Deffnung und Schluß der Tore verfündeten
Münjter und St. Leonhard, die große Ratglode Hingegen
Feindesnot. Feuer wurde durch die der Branditätte zunächſt
liegende Kirchen- oder Klojtergloden angezeigt, worauf der in
den Feuerordnungen vorgeſehene Alarm jtattfand.
Noch widhtiger als die Tag: war die Nachtwache, die
Scharwadhe, weldhe fih aus den Zünften und Vorſtadtgeſell—
haften zufammenfeßte und des Nachts für die Sicherung der
Stadt zu forgen hatte, dieſe Scharwade, die in Kriegsnot und
252
drohender Gefahr aus einer ganzen Zunft zujammengeftellt
werden Ffonnte, war gemwöhnlid aus den verihiedenen
Zünften, welde der Reihe nad in gewöhnlichen Zeiten mit
je 15 Mann ausrüdten, genommen und diente unbejoldet, ihr
Entgelt war „win“, jei es in natura oder in Geltalt eines
Trinfgeldes. Am beiten lajjen wir die Ordnung jelbit
Iprechen.
„Ein Ratihlahen von der Scharwacht
Anno etc. 73 uff Sunndag Oculi.
Als yet in yeglichen vorjtatt zwen alle naht wachent
da follent Hinfur zu den felben zweyen in allen voritetten in
zuwaht wife drye verordnet werden von den zunfften jo
under derjelben vorjtetten thoren gewonlichen hutend aljo
das in yeglicher vorjtatt Hinfur 5 wachen und in den wach—
hußlin fin jollent wenn die wachter gehurnet hand, daz wirt fin
als man ſannt Lienharts fure gelutet und wenn die wechter
gehurnet hand So fol eyn yeglicher vorjtatt meilter zu den
Wachterhußlin gon und bejehen als ob die funff da ſyen.
Und weldher denn uff die felbe zyt da nit were der fol
2 s. d. ohne gnade den andern wechtern verfallen fin die ſy
uff Inn verdrinden mogend. Welcher ouch gant ukblibe und
nit feme von dem follent 10 s. d. one gnade genommen werden
die halber den Reten und halber dem vorjtadtmeilter volgen
jollent. Der felb vorjtatt meijter joll ouch by gejhwornen eyde
alle die rugen und angeben die jpate fomment oder gantz uß—
blibent ums daz ſy als obitat geitrofft werden mogent.
Item wenn oud) alsdenn die zu wadhter und die zwey uß
der vorjtatt als zu ſammen fommend fo fol der vorjtatt meijter
die teilen nemlihen eynen uß der vorjtatt zu eynen oder zweyen
von den zu wechteren und die [hiden zu den thoren und muren
umb zu gonde und da flyfiiglihen zu wachen und umb ſich zu
ſehen ung uff mitternadht alsdenn jollent ſy gelojt werden
von den übrigen In dem wechterhußlin vor mitternadt bliben
ind Die alsdenn furer wachen jollent un daz der wechter
den tag bloſet In aller maße als die vordrigen vor mitter:
253
naht gewadhet hand und weldher ouch da vor ab der wadt
gienge und fi) das erfunde der jol 5 s. d. one gnade den Reten
verfallen Jin.
Stem fo jollent ouch die wachter von dem richthufe in
alle vorjtett gejhidt werden zu bejehen ob die wacht als
obitat gehalten werde und was breiten ſy dar inn empfindent
follent jy dem houptman uff dem richthuſe rugen Der ouch
alsdenn das an die Houpter furer bringen foll umb daz un-
gehorfam nad) billicheit gejtrafft werden moge.
Item ſo ſollent oud) je zu zyten die houpter von etlichen
den Reten von der hohen jtuben mit iren knechten eyn heim-
lihe wacht ordenen bejehen und erfaren zu lafjen ob die wacht
in folider maßen als ob jtat nadjgegangen werde oder nit.
Stem jo jol ouch mengli an dem die wadht ijt mit
lin felbs libe wachen der alters oder frangheit halb muglid
und verfenglidh ift by eyner pen 5 s. d. Und follent oud) die
meijter in den Zunfften by iren geſchwornen eyden nyemands
darinn verſchonen.
Welicher ouch als frangfheit oder alters halb unver:
fenglid were zu waden, der fol eynen ander verfenglichen
fneht fur den meijter bringen. Bedundt denn den meijter
daz er in der wadht gut und verfenglich fye So blibe daby
were aber das nit jo joll der meilter in heißen eynen andern
verfengliden dar geben by der pene als ob tat.
Stem jo jollent ouch die zwen oberjden knecht mitjampt
dem knecht uff dem rihthuß alle nacht uff die jtunde als obitat
bejehen welhe gehorfamlich oder ungehorſamlich fommen oder
nit und oud) furer die wechter in die vorjtett umb zu ſchicken
als obitat und das mit dem fehler der je in zyten houptman
in wird uff dem richthuſe fur genemmen.“
Der Ratſchlag fett vorerit die Zahl der Wächter in den:
Vorftädten von zwei auf fünf Mann herauf, dieje drei Hinzu—
gefommenen Sollen aus den Zünften genommen werden, die am
jeweiligen Tor die Wache zu ftellen Hatten; der Borftadt-
meifter oder Hauptmann hatte die Kontrolle über An- und:
254
Abwefenheit der Wächter jowie den Befehl über diefe Schar:
wädter. Strafandrohungen follten Säumige jchreden, und
um dieſe durchzuführen, erhielten die andern Wächter und
auch der Meilter Anteil an der Buße, die Knechte zum „ver
drinden“, der Meilter Bargeld. Im folgenden wird dann der
Patrouillengang, der Dienjt, behandelt; die Wache wurde aus.
einem Mann aus der Vorjtadt und einem oder zwei aus den
Zünften zufammengejegt und in ihren Wachtbezirk geihidt,
die übrigen blieben zur Ablöfung in den Wachtlofalen; die
erite Runde-Xbteilung follte bis Mitternacht, die zweite bis
zu Tagbeginn die Stadt bewaden, und ihren Umgang auf
Türmen, Toren und Mauerring maden. Die Patrouillen
folgten abwedhslungsweije und Hatten auch innerhalb der
Mauern für Ordnung zu jorgen. Im Richthauſe (Rathaufe)
war ebenfalls eine ftändige Wache inftalliert unter einem
Hauptmann, über den wir im legten Abjat Näheres erfahren.
Diefe Rihthauswahe war dem Rat unterjtellt und führte
die Dberaufliht über die Tätigfeit der Scharwädter, indem
fie ebenfalls durch Runden jene fontrollierte. Die Wächter
im Richthauſe wurden aus den Stadtfnehten genommen. In
ganz gefährlidhen Zeitläufen wurde noch eine heimlihe Wacht
angeordnet, indem etliche der „Häupter von den Räten“ und
von der „hohen Stube“ mit ihren Knechten bejehen follten,
„ob die waht nachgegangen werde“. Gtellvertretung durfte
nit jtattfinden, „jelbs Tibe“ mit eigner Perſon foll Dienit
tun, wer „verfenglid“, tauglid, ilt. Die Wacht- und Hut-
pflidt war eben allgemein, und die Zunftooriteher waren
bei ihren Eiden gehalten, feine Ausnahme zu dulden. Auf
alle Fälle mußte an Stelle der perjönlihen Dienftpflicht bei
Unvermögen tauglidher Erſatz geitellt werden.
Der lebte Abſchnitt ordnet den Oberbefehl über die Schar=
wadhe. Einer der Sechſerherren erhielt als Hauptmann die
Oberaufſicht, ihm ftanden die beiden oberjten Stadtknechte,
meist friegsgewohnte Söldner, und der Gtadtfneht auf dem
Richthaus zur Geite, unterjtügt durch die gewöhnlichen Stadt=
255
földner. Dieje Hatten, wie ſchon erwähnt, zur beitimmten
Zeit die Ausführung des Dienstes durch die Torhut und
Scharwache zu „bejehen“. Dieje Oberleitung durch die Sechſer⸗
Herrn und in böfer Zeit noch verjtärft durch etliche Häupter
von den Räten und von der hohen Stube zeigt das Zufammen-
arbeiten aller Teile zum Wohl der Stadt und Gemeinde; Rat
und Zünfte im Berein führten wie die Regierung fo aud) die
Leitung der Bewachung der Stadt.
Mir erhalten in dieſem kleinen Ausſchnitt aus der Wehr:
organijation Bajels furz vor den Burgunderfriegen ein gutes
Bild, weldhe Anjtrengungen bis ins kleinſte Rat und Bürger:
haft madten, um die Stadt in diejen wilden Zeiten zu
Ihüßen, und wie in der Behandlung der Torhut und Schar:
wadhe alles aufs genauejte vorbereitet wurde; jo geſchah es
aud in der Anordnung für die Stadtverteidigung und der
Kriegführung gegen Herzog Karl. In den Burgunder:
friegen zeigte der Auszug der Stadt, gejichert durch die tüch—
tige Kriegsbereitichaft, daß der den Baslern fo oft vor:
geworfene Defenſivgeiſt einer kraftvollen Offenſive Platz ge:
macht Hatte, die ſie, Seite an Seite mit den Eidgenoſſen,
den mädtigen Gegner ruhmpoll bezwingen Tief. Diefe
MWaffenbrüderfhaft ebnete 1501 auch den Eintritt in den
ewigen Bund.
256
Kurze Ylotizen aus den
SB ebensumftänden von Stiedrich Lachenal
von Heinrich Schönauer.
1850.
Da in den letzten Jahren öfters vom Auftreten und
Wirken der Frau v. Krüdener in Baſel und Umgebung und
deren Beziehungen zu Profeſſor Friedrich Lachenal und deſſen
Ehefrau die Rede geweſen, ſo glaube ich, daß es für die Leſer
des Basler Jahrbuchs vielleicht von Intereſſe ſein kann,
aus einer Lebensbeſchreibung Lachenals, die dieſer in hohem
Alter und faſt erblindet, einer vertrauten Perſon in die
Feder diktiert hatte, zu erfahren, wie Lachenal ſelbſt, viele
Jahre nachher, dieſen wichtigen Abſchnitt ſeines Lebens
beurteilte.
Auch die in dieſer Autobiographie enthaltene Schilde—
rung ſeiner eigenen geiſtigen und religiöſen Entwicklung kann
zu richtiger und gerechter Beurteilung von Lachenals Perjön-
lichkeit beitragen:
Er beridtet:
Friedrich Lahenal wurde geboren in Bafel den
13. April 1772. — Geine Eltern waren: Herr Hie-
ronymus Lahenal!) und Frau Margaretha
Zwinger, beide von Bafel. Er wurde den 16. April in
der Betersfirhe getauft. Der Vater war ein Handelsmann;
der Großvater väterlicherfeits ein Apotheker, von der Mutter
257 17
Geite aber war es Herr Sriedrih Zwinger, ausübender Arzt
und Profeſſor der Medizin.2)
Friedrich war bis ins eilfte Yebensjahr ein gar ſchwäch—
lides Kind und Hatte den Unfall, im 5. Lebensjahre auf
der Wohnftube durch unvorjihtiges Rennen das linke Schien-
bein zu brechen. Dieje Shwädlichfeit des Anaben bewog die
Eltern, ihn bis in das eilfte Jahr nie ohne Begleitung vom
Haufe gehen zu lafjen.
Friedrich verbradte die Sahre feiner Kindheit bei der
Großmutter Zwinger zu,?) die kurz nad) dem Beinbrude des
Großfindes durch das Ableben ihres geſchätzten Gatten eine
Mitwe geworden war, und daher gerne ein munteres, leb-
haftes Großfind, wie Friedrich troß feiner Schwächlichkeit
war, bei ſich zur Unterhaltung Hatte.
Die Großmutter bewohnte mit einem Bruder, einem
SOjährigen Greiſens), der jehr freundlich gegen den kleinen
Knaben war, ein weitläufiges altes Gebäudes), das durch
einen Hofraum, der mit Gras bewadjen und mit Obitbäumen
bepflanzt und einem daran jtoßenden Garten durch eine hohe
Mauer von den daran ftoßenden Häufern getrennt war. Hier
war’s, wo der Eleine Knabe den erjten wohltätigen Einfluß
der ſchönen grünen Natur auf fein Gemüt empfing; bier
bradte er in der ſchönen Jahreszeit manche Stunden im
Schatten der Objtbäume zu unter den Augen der jorgfältigen
Großmutter; Hier lernte er auswendig und las die erjten
fleinen Kinderjeriften, bejonders in Gellert’s Fabeln und
Erzählungen. Späterhin mußte er der Großmutter, die faſt
Itaarblind geworden, im Zimmer täglich einige Kapitel in
der Bibel, aus geiftlichen Liedern und Betradhtungen, auf
häufig Stillings Jugendgeſchichte vorleſen. Diefe Lektüre
begleitete die alte, noch lebhafte Yrau mit nüßlichen Bes
merfungen und befonders die bibliſchen Geſchichten mit erbau=
lihen Erklärungen und mitunter auch) mit rührenden Herzens-
gebeten, die einen unauslöfhliden Eindrud auf fein Herz
madten, der fih auch in den reiferen Jugendjahren, mitten
258
unter allen Verſuchungen des Gfeptisismus und des Un-
glaubens bewährte und den Grund zu einer unbeihräntten
Hochſchätzung der Dffenbarungen Gottes an die Menjchheit in
fein Inneres legte, die ihm von jeher und bejonders im
Greifenalter zu einem großen Segen geworden Jind.
Sriedrich mußte nun nah drei Jahren wieder in das
päterlihe Haus zurüdfehren, weldes aud) im ganzen be-
trachtet, gut und heilfam für ihn war. Da lernte er unter
einen Geſchwiſtern aud mit andern Kindern friedlich Teben
und die Wechjelfälle des menſchlichen Lebens frühe erfahren;
denn das jüngjte Gejchwilter, ein freundliches Mädchen, jtarb
in zarter Kindheit. Der jüngite Bruders), der ſchon im
dritten Jahre ein munterer Knabe war und gut laufen
‚fonnte, wurde noch in demjelben Jahre von der Sfrophel-
franfheit ergriffen, befam mehrere offene Wunden, bejonders
an den Beinen, die ihm das Gehen zeitlebens unmöglid
madten. Auch der zweite Bruder”) wurde faft zu gleicher
Zeit von diefer Krankheit befallen und ſtarb ſchon im eilften
Lebensjahr an den Folgen derfelben.
Nicht Iange nad) Friedrichs Rüdfehr ins väterlidhe Haus
Itarb die für ihre Kinder jo bejorgte Großmutter, in einem
Alter von mehr als fiebenzig Jahren, welcher Friedrich fo
viel Gutes zu verdanken hatte. Ihren Verluft erjegte, jo viel
fie fonnte, die liebe fränflihe Mutter, eine fromme zart-
fühlende Geele, die ji) bei einer beſchwerlichen Haushaltung
für den Gatten und die Kinder ganz aufopferte.
Sriedrihs ganze Zeit war nun dem Lernen zu Haufe
und in der Schule gewidmet. Ein früh entwideltes Dent-
organ mit Lernbegierde verbunden und einem ziemlid guten
Gedädtnis verjehen, madte es ihm leichter als vielen andern
Knaben und bejonders foldhen, die zu Haufe feine Lehrer
batten, die fie auf die Schulitunden vorbereiteten.. Diejes
wurde unjerem Knaben von feinem Hauslehrer befonders be-
merft und dabei ermahnt, fi) deswegen nicht über andere
Knaben zu erheben.
259 17*
Nach einigen Jahren, als Friedrichs Schulzeit im jtädtt-
fhen Gymnafium zu Ende ging, jtarb die liebe Mutter an den
Folgen einer langjährigen Lungenkrankheit. Ihr Hinſchied
war für die ganze Familie ein unerjeglidher Verluſt, eine
wahre Kataftrophe. Der Vater fühlte bald darauf die erjten
Symptome jener traurigen Krankheit, die man Hypochondrie
nennt, die fih in den verjhiedenen Stadien der Hämorrhoidal-
franfheit immer erniter und heftiger entwidelte.
Etwas Sonderbares fühlte Friedrich bald nad) der
Mutter Hinjheid mehrere Monate Hindurd. Es war ihm
öfter, wenn er allein war, fie umſchwebe ihn, oder |tehe ihm
zur Geite; er gab diejes auch in der Familie einigen Gliedern
zu verjtehen; — man befremdete ſich jedoch nicht darüber
und jehrieb es der Sympathiemacht der Blutsverwandichaft zu.‘
Vom November 1785 bis Mai 1786 blieb nun Friedrich
zu Haufe, lernte und las fleißig unter der Leitung eines
Hauslehrers. Seinen Durft nad Wahrheit und Erkenntnis,
mit einer unerjättlichen Leſeluſt verbunden, hemmte oder be-
ſchränkte bloß eine Augenſchwäche, oder vielmehr Schwäde der
Augenlider, die ihm ein anhaltendes Leſen von mehreren
Stunden ohne Unterbrehung unmögli madten. Diefe
Schwäche der Augenlider war eine Folge der Mafernfrant:
heit, welche Friedrich im eilften Lebensjahre befallen Hatte.
Diejes fleikige Lefen und Lernen zu Haufe ermwedte bei
jeltener Veibesbewegung, die durch die Winterszeit veranlafßt
wurde, bei dem 13jährigen Knaben einen beſchwerlichen Hang
zum Nachtwandeln, der aud) wirflidh einige Monate hindurch
währte und nur durch) die VBorfehrungen des Vaters und die
wenige Monate darauf erfolgte gänzliche Lebensveränderung
Stiedrihs gehemmt wurde und endlih volllommen ſich
verlor.
Sm Mat 1786 erfolgte die wichtige Vebensveränderung;
Friedrich wurde nämlid, wie man in Bafel gemeinhin fagt,
mit feiner 12jährigen Schweſters), einem lebhaften Mädchen,
ins Welfchland getan. Dies war für ihn eine jchwere Probe,
260
für ihn, der nie unter fremde Leute geflommen war. Man
tröftete ihn aber mit manden erheblichen Gründen; unter
anderem aud, daß er verſchiedene Schulfameraden in jener
Erziehungsanftalt finden werde, daß dieſe Anjtalt im Haufe
einer achtbaren Yamilie fich befände und von ihr geleitet und
bejorgt werde, aud) ſei die Schweiter nur 2 kleine Stunden
von ihm entfernt, die er von Zeit zu Zeit bejuchen könnte.
Friedrich Fonnte gegen den Entihluß des Vaters, der
von der ganzen Familie gebilligt war, natürlicherweije
nidts einwenden, zumalen es in allen Yamilien Bajels, die
nur in einigem Wohlitand fi) befanden, üblih war, ihre
Kinder einige Zeit Hindurdh in franzöliihe Orte zu Tchiden,
um die franzölilhe Sprache gründlich zu erlernen.
Friedrich gelangte nun mit jeiner Schweiter, in Begleit
einer kleinen Gejellihaft von Anverwandten, an den Drt
leiner Beſtimmung, nämlid) nad) Neuenjtadt?) am Bielerjee,
die Schweiter nad) Montmirail, einem Schlofje zwiſchen dem
Neuenburger: und Bielerjee. Die Reife dorthin hatte für
Friedrich) großen Reiz, nämlich den der Neuheit und der
Ihönen Natur.
Sn Neuenitadt angelangt, gefiel ihm das Haus und die
Samilie von Herrn Pfarrer Chiffel; auch die Ortichaft nebit
der Umgegend madten einen angenehmen Eindrud auf ihn.
Schmerzlich aber war ihm die Trennung vom Vater und der
Abihied von den Anverwandten. Eine Kolge davon war das
Heimweh, das er aber aus Schamgefühl zu verbergen
wußte. Es verlor fi aber nad) einigen Monaten gänzlich.
Friedrichs Gejundheit jtärkte fich in diefer Schönen, an den
Ufern des Bielerjees gelegenen Gegend und in diejer für
Leib und Geele in mander Hinjiht wohl eingerichteten
Sugendanjtalt. Nur war das erjte Jahr feines Aufenthalts
in dem Chiffel’fden Haufe nit ganz angenehm für ihn,
wegen der Nedereien einiger Anaben aus feiner Vaterjtadt,
die doch einige Zeit nad) feiner Nüdfehr in die Heimat als
Mititudierende ihm Freunde wurden. Zu diefen Nedereien
261
trug teils Friedrichs Blödigfeit, teils Schwerfälfigfeit im Er-
lernen der franzöſiſchen Sprade und ein Gtottern bei, das
von Zeit zu Zeit fih merklich offenbarte. Die Blödigkeit ver-
Ior fi) aber bald durch das freundlihe Benehmen der Yamilie
Chiffel, und aud das Stottern fiel durch tägliche Sprad)-
übungen, die der Lehrer mit den Schülern pornahm, in
einigen Monaten gänzlich) weg.
Die legten 18 Monate von Friedrichs Aufenthalt in
Neuenftadt waren für ihn die angenehmiten, heiterjten Zeiten
des Lebens, für den äußeren Menſchen ein jugendlicdhes
Paradies; für den inneren Menſchen aber war wenig dabei
zu gewinnen. Während jener 18 Monate lernte Kriedrich
der Ihönen Natur einen gründlichen Geihmad abzugewinnen
und ein MWohlbehagen an einer harmloſen Gemütsart emp:
finden, die gerne anderen den Lebensgenuß gönnt, den man
jelbjt für ſich wünſcht und auch wirflich genießt.
Sm November 1788 wurde Friedrich von jeinem Vater
abgeholt und den 16. die Rüdreife von Neuenftadt nad) Bafel
angetreten. Sie ging durch manderlei Umwege, weil der
Bater verjchiedene Gegenden bereijen und auch alte Befannt-
Ihaften alldort bejuhen wollte. Dieje verjhiedenartigen
Gegenden prangten alle im Winterfleide der Natur und über-
raſchten und ergößten den Knaben, der diejes Schaufpiel im
Großen vorher nie gejehen hatte.
Der Abſchied von Neuenitadt ging Friedrich jehr nahe;
er trennte fi ungern von der werten Familie Chiffel, deren
gute Behandlung und Belehrung er binnen 21/, Jahren er-
fahren hatte.
Nah der Ankunft im väterlihen Haufe fühlte ſich
Friedrih, ungeadhtet der guten Aufnahme und der mehreren
Bequemlidkeiten, die er im väterliden Haufe genoß, Die
eriten Monate hindurch ziemlich einfam und beſchränkt; er
vermißte den Umgang mehrerer munterer Anaben vom
14. bis 15. Lebensjahre, die ihm Tieb geworden waren. Auch
trug der außerordentlih kalte Winter von 1788 auf 1789
262
vieles dazu bei, nämlid zur Einförmigfeit des Lebens im
ſtillen Baterhaufe, weil die außerordentlihe Kälte und die
mit Schnee und Eis bejchwerten Straßen die Bewegung im
Sreien jo beihwerlih madten und aud vielfältig ver:
hinderten.
Während diefer Zeit, nämlich in den erjten Monaten von
1789, dem verhängnisvolliten Jahre des achtzehnten Jahr:
Hunderts, wurde nun Friedrichs äußerer Stand und Beruf,
die Außere Lebenshbeitimmung, vom Vater und vom Oheim
Merner!?), welcher Lehrer der Anatomie und Botanik auf
hiejiger Univerlität war, beraten und von Friedrich mit ent-
Ihlojfener Vorliebe angenommen und von andern Lebens:
berufen ausgewählt, nämlid der Vorſchlag, ſich den Studien
zu widmen, wie man es gemeinhin nannte.
Zwar hatte der Vater ihm die Wahl gelafien, die Hand-
lung zu erlernen und die Ausſicht eröffnet, ihm einjt feinen
Anteil an einer blühenden Handlung abzutreten,!!) die er
mit einem Intereſſenten führte. Dieje jonft für mande Jüng—
linge reizende Ausſicht machte auf unjeren Friedrich wenig
Eindrud, und er entſchloß fih nad) wenigen Wochen Bedenk—
zeit immer fejter und bejtimmter, feine Yebenszeit den Studien
zu widmen. Zu dieſem Entſchluſſe trug auch bei die günftige
Meinung der Familie von der Gelehrjamfeit. Der Vater
fagte ihm nad feiner Rüdfehr von Neuenjtadt: Ein Gelehrter
habe in feinem Stande und durch feine Beihäftigungen weit
mehr Anlaß, Verjtand und Herz auszubilden, und vermöge
Dabei durch Erforihung der Wahrheit vielen Menſchen durch
Mitteilung der erworbenen Kenntnilje in hohem Grade nüß-
Tih zu werden. Solche Reden zündeten in der Phantafie und
dem Gemüte des 17jährigen Sünglings den feurigen Wunſch
an, ein großer Mann zu werden. Diefe NRüderinnerung
beuget noch jet den 78jährigen Greifen, der nun den Herrn
aller Herren preifen und Ihm danfen fann, daß Er ihn ſchon
in der Mitte der Jahre von allen Klippen der Selbfterhebung
hinwegführen und den Weg über Gethjemane und Golgatha
263
gehen hieß und auch durdh die Zudt der Gnade dorthin
geleitete, |
Im Sahre 1792 erhielt Friedrih nah überjtandenem
Eramen den Magijtergrad in der Philojophie, welcher in
Hinjiht der Würde und den Privilegien dem Doftorgrade
gleihfommt. Der Doktortitel Hat heutzutage den Magijter-
titel in der Philoſophie verdrängt, weil er hochtönender Klingt.
Nun galt es ein bejonderes willenihaftlides Zach aus: -
zuwählen. Friedrichs Lieblingsneigung war für die Theo-
logie, aber die Berbindlichkeit, auswendig gelernte Predigten
zu halten, fcehredten ihn wegen der Blödigfeit und Schüchtern—
heit, die er für unüberwindlich Hielt, ab, den jogenannten
geijtlihen Stand zu wählen; es blieb ihm alfo nur noch die
Medizin übrig; denn für Surisprudenz Hatte der Jüngling
eigentlih) feine Neigung und fein Vater war Dagegen.
Sriedrih wählte nun auf den Rat des Oheims die Arznei—
funde. Unter ihren Hilfswillenfhaften Hatte er am meijten
Neigung zur Botanif, materia medica und zur Phnfiologie,,
zur Anatomie nur injoweit, als fie zur Kenntnis des menſch—
lihen Körperbaus dient.
Sm Herbit 1794 oder fpätejtens im Yrühjahr 1795 follte
Stiedrih mit einigen hieſigen Sünglingen feine Studien
auf einer deutſchen Univerſität fortjfegen, aber der hypo—
chondriſche Bater wollte ihn nit fort laſſen, und als
Friedrich infiltierte und der Oheim ihm vorftellte, der Besuch
einer deutjchen Univerfität jei für Friedrich nit nur nützlich,
ſondern jelbjt notwendig, fo erklärte der Vater: Er könne den
Sohn nit zwingen, bei ihm zu bleiben, aber feine Abreije
würde ihn nicht nur kränken, fondern jeine Abweſenheit ihm
jo empfindlid werden, daß nit nur feine hypochondriſchen
Beihwerden dadurch vermehrt, fondern felbit fein Leben da=
durch verfürzt werden würde. — Dieje Erflärung, deren
Richtigkeit Friedrich einjehen und beurteilen fonnte, war für
das Zartgefühl des Sohnes hinreichend, um ihn zu beftimmen,
die Abreife aufzugeben; denn der Sohn ſah voraus, daß des
264
Vaters Unmut und Gram ihn aud im fernen Auslande
ſympathiſch verfolgen würde, daß er feine Studien nit mit
Ruhe fortjegen könnte. Deſſen ungeadtet aber erfolgte in
Friedrichs Gemüt ein großer Kampf und feine Nachgiebigkeit
erihien ihm ein ganzes Sahr hindurch als das größte Opfer,
das er nur immer in feiner Lage bringen fonnte. Nach diejer
Zeit ftieg in ihm nach) und nad) der Gedanke auf, es möchte in
diefer Sade die göttliche Vorſehung beteiligt fein. Diejer
Gedanke beihäftigte und beruhigte immer mehr jein Gemüt
und war beim Hinfcheide feines Vaters, der jechs Sahre nach—
her erfolgte, ihm zur vollen Ueberzeugung geworden. Die
Weigerung des Vaters, feinen ältejten Sohn von Haufe weg
auf eine entlegene fremde Univeriität ziehen zu lajlen!2),
war hauptjädlid darin gegründet, daß der hypochondriſche
fränflide Mann dann bei Haufe niemanden Habe, der ihm
Unterhaltung, Trojt und Stüße nur einigermaßen gewähren
fonnte; denn der jüngere Sohn war nit nur kränklich, ſon—
dern litt beitändig an ſolchen rachitiſchen Beſchwerden, daß
er nit nur nicht gehen, jondern aud) zuweilen aud) wegen
offenen Wunden ſich der Hände nicht bedienen fonnte. Er
hatte dabei eine heitere, gute Gemütsart; wer ihn kannte,
mußte ihn bedauern und lieben, aber deswegen war er doch
nicht geeignet, dem Vater die Abwejenheit des älteren Sohnes
zu erſetzen. Auch die Tochter, die jeit 1792 verheiratet war,
vermochte es nicht; jie Hatte Kinder, ging wenig aus, und ihr
Mann war in einer gewillen Spannung mit dem Schwieger:
vater.13) Dazu fam nod, dak der Bater außer dem Haufe
wenig oder feinen Umgang hatte. Geit 1795 trennte er ji)
immer ſchroffer von der menſchlichen Geſellſchaft, und der
früherhin jo gejellige und freundlide Mann ſah zuletzt nie-
manden mehr als feinen Bruder, den Arzt und einen Jugend-
freund, deſſen Umgang für ihn nicht vorteilhaft war. Der
Hauptgrund der immer mehr zunehmenden Menſchenſcheue
war die von Jahr zu Jahr zunehmende Hypochondrie und
Die immer mehr eintretenden unruhvollen Zeitumftände, Die
265
er faft gar nicht zu ertragen vermodte, und als die Revolution
Togar im Baterlande ausbrad, wollte er gar nicht mehr aus-
gehen, um weniger oder gar nichts davon zu hören.!t) Auch
war der Bater bei all feiner Gutmütigfeit dem Jähzorn ſehr
unterworfen, jo daß es zuweilen unangenehme Auftritte gab.
Mer nun dies alles wußte, fonnte nicht anders, als den
Vater bedauern, und fo erging es aud) dem Friedrich, der
neben diefem Bedauern auch ein Sohnesgefühl im Buſen
bewahrte.
Da nun Friedrih das Studium der Arzneilunde nicht
vollenden konnte, bemühte er fi, anderwärtige nübliche
Kenntniffe zu erwerben, und ſah fi} bejonders in der Philo—
fophie und in den ſchönen Wiſſenſchaften um; auch ftrebte er
bejonders nad) der Fähigkeit eines guten Gtils, einer gründ-
lichen, gedanfenreihen und doch allgemein faßlichen und be-
lebten Schreibart, welches ihm auch einigermaßen gelang und
bejonders in feinen nadhmaligen dreizehnjährigen aka—
demiſchen Vorlefungen und Vorträgen wohl zu ſtatten fam.
Diejes tat nun Friedrich in einem Zeitraum von un
gefähr drei Jahren. In diefen Tagen wußten der Vater und
die nächſten Anverwandten nit, was aus Friedrich werden
follte, und gaben ihm dieſes Hin und wieder auf eine
zarte, teilnehmende Weije zu verjtehen. Er verftand fie und
war noch lebhafter bejorgt als fie über feine fünftige Lebens—
bejtimmung; er fonnte jih aber ihnen nicht mitteilen, wie er
es einfah und ihnen gerne jagen modte.
Endlih eröffnete fih nah Verfluß von drei Jahren
einiges Licht über Friedrichs Fünftigen Stand und Beruf in
der menſchlichen Gejellihaft, und zwar auf eine vorfehungs-
volle Weife. Che diefes aber erzählt wird, folgt hier eine
furze Skizze über Friedrichs fittlichreligiöjen Gemüts- und
Herzenszuftand, foviel davon dem Autor dieſer Biographie
erfichtlich und erinnerlich war.
Während feinem Aufenthalte in Neuenftadt hielt er feſt
an der im elterliden Haufe erhaltenen fittlich-religiöfen
266
Richtung, die eine firchlich-gläubige war. Nach feiner Rück—
fehr bis zur Vollendung der drei philojophiihen Lehrjahre
Ihwanfte Friedrich) zwilhen dem alten Glauben und der
Theorie der Jogenannten Aufflärung hin und her, hielt ſich
aber in der chriſtlichen Gittenlehre Felt, Die er in der heiligen
Schrift gegründet und vorgetragen fand. Nachher aber
wirkte die Kant'ſche Philojophie und bejonders das Werf:
„Die Religion innerhalb der Grenzen der praftiihen Ber:
nunft“ jo ſtark auf ihn, daß er dadte, wenn die Drei
Kardinalfragen: Es ilt ein Gott; — der Wille des Menſchen
it frei; die menschliche Geele iſt uniterblid, — aus der
theoretijden Vernunft nicht vollftändig ausgemittelt, nicht
apodiktiſch dargetan, alfo nit unwiderſprechlich bewiefen
werden fönnen, jondern von ferne her als Grundlagen der
praktiſchen Vernunft, als Prinzipien (Urgründe) aller Reli-
gion und Sittlihfeit geglaubt werden müljen, jo willjt vu von
nun an, weil man doch glauben muß, dich nicht mehr Tange
an den Formeln des Glaubens aufhalten, jondern das Reale
desjelben in der Urkunde des israelitiihen Glaubens, in der
Bibel nachſuchen und darin forichen.
Und dies geihah auch wirflid. Friedrich fing an immer
mehr und mehr in der Bibel zu leſen und zu forjchen, jedod
hielt er ſich noch geraume Zeit an den fategoriihen Imperativ
der praftifhen Vernunft, der in der Formel enthalten it:
du ſollſt, du follft nit. Dieſer kategoriſche Imperativ ift
aber ein armfeliger Notbehelf, verglichen mit dem Geiſte der
göttlihen Zucht und Gnade; denn er fannı bei ftarfen, finn-
lihen Antrieben und heftigen Leidenjhaften durch Die
Klügeleien und Sophijtereien der natürlichen Vernunft irre-
geleitet und gleichſam beſtochen werden.
Friedrich lernte aber nad) und nad) ein wirkſames Mittel
zum Bellerwerden fennen; es bildete fi in feiner Imagi—
nation und in jeinem Gemüte ein Ideal einer Gott ähnlichen
Humanität, das er in Jeſus Chriſtus verwirklicht fand,
dejlen Leben ihm zur Nahahmung dienen follte. Dieje Idee
267
teilten mit ihm einige Freunde, die fih in der Schule
Peſtalozzi's zu Erziehern bildeten. Aber jobald es galt diejem
Ideale in Leben und Wandel ähnlich zu werden, lernte
Friedrich einen mächtigen Feind in feinem Innern kennen,
der, wie Gellert in einem Liede jagt: „ein Feind, der öfters
ſiegt als fällt.
Nun fam das Jahr 1798 und mit ihm die Revolution in
die Schweiz. Diefes Ereignis gab den Belhäftigungen
Friedrichs eine neue, unerwartete Richtung. Die National:
verfammlung, die aus der Bürgerſchaft der Stadt und der
Landihaft gewählt wurde, ernannte mehrere Komitees zur
Beratung der Geſchäfte, unter anderem aud) ein Erziehungs-
fomitee, das unjeren Friedrich zu feinem Schreiber berief.
Sriedrich Hatte nun mehrere Monate hindurch mit Schreiben
zu tun. Als diefes Amt mit der neuen helvetijhen Ver—
faljung aufhörte, Teiltete Friedrich verſchiedenen Angeflagten
feine Dienfte als Berteidiger vor dem Kantonsgeridte.
Diefer freiwilligen Bemühung verdankte Friedrich) feine Er-
nennung zum Guppleanten an das Kantonsgeridt. Hier
hatte Friedrich mehrere Monate Hindurd) an der Beurteilung
vieler wichtiger Prozeſſe teilzunehmen, unter denen aud ein
Todesurteil war. Diejes Todesurteil gab ihm viel - zu
Ihaffen, weil der Mörder ein Süngling von nidht gar ſieben—
zehn Sabren war. Nah) Beendigung dieſer zahlreichen,
wichtigen Prozelje wurde Friedrich im Dezember 1799 zum
Mitgliede des hieſigen Diltriktsgerihts gewählt. Er be—
fleidete dieje Stelle bis das Tribunal im Jahre 1803 infolge
der Mediation aufgelöjt wurde.
Sm Frühjahr 1804 wurde die Togifhe Profeſſur nad
altem Herfommen ausgefündet, und nachdem die Petenten,
unter denen auch Kriedrich war, die üblichen Präjtanda ge—
leiltet, wurde Friedrich duch Wahl und Los zum ordentlichen
Profeſſor der Logik und Methaphyfil!5) ernannt. Dieje
Stelle war ziemlich nad) feinem Geihmade und er hoffte da-
bei der afademilhen Jugend mit Herz und Sinn viele Dienite
268
leiten zu fönnen. Allein diefes alles wurde während den
13 Jahren feiner afademifchen Laufbahn nur gar ärmlich und
mangelhaft aus verjhiedenartigen Hinderungsgründen er:
füllt.
Aber hier müſſen wir noch einen Rückblick auf die Tage
ſeiner richterlichen Laufbahn werfen und geſtehen, daß nur
Gottes Güte und Weisheit durch ſeine gnädige Vorſehung den
jungen, vielfältig unbeholfenen, unerfahrenen Mann durch
manche Klippen und Gefahren unbeſchädigt und ſicher hin—
durchgeführt, an denen einige feiner Vorfahren und Zeit—
genojjen ſich bejchädigt Hatten. Nur mit dankbarer Rührung
fann Sriedrih an dieſe Tage der göttlichen Leitung, Be—
wahrung und Gnade gedenken.
Sm Herbſt 1800 Hatte Friedrih den Schmerz, feinen
geliebten Dheim, den Doktor und Profeſſor Werner Lachenal,
der als ein zweiter Vater an ihm fich bewiejen Hatte, durch
den Tod zu verlieren. In der erjten Hälfte des Januar 1802
erfolgte der Hinſcheid feines ſchon lange fränfelnden Vaters,
der ihm in mander Beziehung jehr empfindlih war. Kurz
vor jeinem Ende empfahl ihm der Vater, den rahitild
franfen Bruder nicht zu verlafjen, fondern zeitlebens bei ſich
zu behalten und für ihn zu forgen, weldes für Friedrich
freilich eine Lajt war, die er aber aus Achtung gegen den
väterlichen Willen und aus brüderlicher Zuneigung nit von
ih wälzen modte, fondern den väterlihen Willen bis zum
Hiniheid des Bruders Jacob in Vollziehung feßte.
Friedrich führte nun die Haushaltung im väterliden
Hauje mit feinem Bruder Jacob eine geraume Zeit fort,
mußte aber im jtillen noch eine Zeitlang des Vaters frühen
Hinſcheid bedauern, der ſchon im 59ten Lebensjahre erfolgt
war und für diefen Mann, der mande gute Eigenfchaften im
bürgerlihen Leben äußerte und dafür befannt war, und für
feine Kinder eine liebende, zärtlide Sorgfalt bewies, bis
auf diefe Stunde ein dankbares Anjehen im Bufen zu be-
wahren.!®)
269
Sm Sommer 1803 faufte Friedrich gemeinſchaftlich mit
feinem Bruder ein beträdtlihes Landgut vor dem Riehen-
tor.17) Zu Ddiefem Kaufe Hatten die franthaften Um:
ltände feines Bruders, denen ein Aufenthalt auf dem Lande
und eine Bewegung im freien zuträglidh erachtet wurden,
vieles beigetragen. Ende Auguſt wurde dieſes Landgut
in Bejig genommen. Kriedrich glaubte beim Antritt diefer
Mohnung das Ziel feiner Wünſche erreicht zu Haben, allein
die vielen Bauten, die man vornehmen mußte und die
anderthalb Jahre Hindurh dauerten, verfümmerten um
vieles den erjehnten Genuß des Landlebens.
Sm Frühjahr 1805 vermählte fih Friedrich mit Jung-
frau Urfula LaRochens), einem Yrauenzimmer von Beritand
und Gemüt, aus einer bürgerliden Familie feiner Vater:
itadt, von Stand und Vermögen. Sie wurde eine verjtändige
Hausfrau, war mit verjchiedenen geijtigen Gaben ausgerüjtet
und äußerte dabei auch einen echt religiöjen Sinn, der ſich
auch in einer tätigen, aufopfernden Liebe für die arme, not:
leidende Menſchheit in der legten Hälfte ihres Lebens dar-
itellte. riedrich Hatte mit diefer Gattin im ganzen eine
friedliche, vergnügte Ehe. In den erjten zehn Jahren ihrer
Verbindung beflagten die beiden Ehegatten den Finderlojen
Zujtand, mußten aber nachher diejen Umitand als ein weifes,
gütiges Gefchid aus der Hand der göttlichen Vorjehung dank:
bar erfennen.
Sn der eriten Hälfte ihrer ehelichen Verbindung Hatten
beide Ehegatten mehrere Todesfälle in ihrer Familie zu be:
flagen, nämlih den Hinfcheid der beiden Eltern Laroche
und Jacobs, Friedrichs Bruder.
Sn den Jahren 1816 und 1817 betraten beide Gatten
eine religiöjfe Yaufbahn, zu welder fie ſchon einige Zeit vor—
ber innerlich vorbereitet waren. Sie hatten nämlih die
Ueberzeugung erlangt, daß die große Weltkrijis vor dem An⸗
bruche des Friedensreiches im Anzuge fei und die Reiche diefer
Welt unferem Gott und feinem Gefalbten anheimfallen
270
werden. Sie hatten den Verfall der äußeren Kirche erfannt
und die Notwendigkeit eingefehen, von ihr auszugehen. Da
fam eine hohe Dame aus Eitland, einer ruſſiſchen Oſtſee—
provinz, Witwe eines Herrn Baron von Krüdener!?),
ruſſiſchen Geſandten an verjchiedenen hohen Höfen Europas,
eine Dame von feiner Weltbildung, die der Eitelfeiten der
MWeltgenüffe überdrüjlig, zur Buße fi gewendet und ihr
Geelenheil in der Gnade Gottes in Chrilto Jeſu gefunden
hatte. Dieſe Dame glaubte ſich nun verpflichtet, für das Neid)
Gottes und für das Heil der Geelen aus allen ihren Kräften
zu wirken. Gie reilte umher, um diefen Entſchluß auszu=
führen, fie predigte mit hinreißender Beredjamfeit Hohen
und Niedern die unausſprechliche Liebe und Barmherzigkeit
Gottes in und dur Jeſus Chriltus für die gefallene Menſch—
heit. Diefe Dame äußerte dabei einen jeltenen Grad von
Gelbitverleugnung und eine ungemeine Liebe und Wohltätig-
feit gegen alle Notleidenden und Dürftigen, bejonders für
Hriftlich gejinnte Seelen.
Frau von Krüdener war feine Somnambule, weder von
Natur, noch dur magnetiſche Bearbeitung geworden, fie war
auch Feine Prophetin, aber fie bejaß ein ausgebildetes
Ahnungsvermögen mit einem gebildeten Verſtande, und
fonnte daher mande Ereigniſſe der Zufunft vorausjehen.
Uber fie beging den Fehler, folhe Ereigniſſe auf beſtimmte
Zeiten deutlich vorauszubeitimmen. Wenn nun dieje Ereig-
niſſe nicht auf die angegebene Weije in Erfüllung gingen, ſo
wurde mit dem Glauben an die prophetifche Gabe der Frau
von Krüdener aud) der Glaube an das prophetiihe Wort
ſelbſt geſchwächt und den Gegnern der Offenbarung hie und.
da ein vorübergehender Triumph bereitet.
Zu der Belanntihaft mit diefer Dame, die in einem
hiefigen Gaſthofe herbergte2%), wurden wir teils durch den
allgemeinen Ruf, teils dur) das Hinitrömen mander Gläu—
bigen, teils neugieriger Weltleute, bejonders aber durch das
Zureden einer Schwägerin aus der familie meiner Gattin,
271
hingezogen, jedod nicht ohne Widerwillen, weil wir damals
nicht glauben fonnten, daß eine Dame aus der vornehmen
und hohen Welt uns etwas wahrhaft Erbaulides und Geilt-
reihes vortragen könnte. Wir gingen nun hin und fanden
uns nad dreimaligem Beſuche ihrer Erbauungsitunden, deren
Schluß fie noch mit einer bejonderen Anſprache an die Herzen
begleitete, angenehm getäujdt.
Mir Hatten diefe Dame nun 18 Monate Hindurd, da fie
in unferer Nähe wohnte, beobadtet und in ihr ein, foviel
wir einfehen fonnten, bejonderes Werkzeug zur Erwedung
der Buße und des Glaubens in allen Ständen der menſchlichen
Gefellfhaft zu finden geglaubt. Gie hatte uns ihr Vorhaben
mitgeteilt, eine Reife in die nördliche Schweiz zur Erwedung
des Kriltliden Sinnes und Lebens zu maden; fie glaubte,
wenn man bei der damaligen großen Teuerung der Lebens:
mittel unter den Dürftigen das irdiſche Brot unengeldlid
austeile, würde man fie geneigt maden, aud) etwas von
dem himmliſchen Brote zu hören. Wir gaben diefem Ge:
danken Gehör und fanden uns, da fie unjere Begleitung
wünſchte, ſchon einigermaßen veranlaßt, mit ihr zu gehen.
Dazu kam nod) der Umjtand, daß ih mih aus Mikmut und
Verdruß gerne, wenigitens für einige Zeit, von Baſel zu
entfernen wünſchte.
Die Regierung ging ſchon ſeit dem Jahre 1806 mit dem
Gedanken um, die in Verfall geratene Univerlität, wie man es
nannte, zu rejtaurieren. Allein erjt im Jahre 1816 wurde Hand
an das Werf gelegt und eine Univerjitätsfommijlion ernannt
aus Gliedern der Regierung und der Bürgerfchaft, in welcher
ih auf Hriedrih mit einem Kollegen und zwei Geiſtlichen
befand.
Friedrich legte diefer Kommiſſion einen Entwurf zur
Erridhtung einer neuen Akademie vor, in weldem alle
nötigen und nützlichen Lehrfächer berüdjichtigt wurden, den
er ſchon im Jahre 1798 dem damaligen helvetiſchen Minifter
der Wiljenihaften überreicht Hatte, und der nachher bei
272
diefem Anlaſſe von zwei feiner Kollegen durchſehen, geprüft
und beridtiget, dem 9. Bürgermeilter Wieland vorgelegt
und von ihm und einigen Regierungsgliedern wohl aufge:
nommen wurde.2?) Diefer Entwurf fam aber, foviel Frie⸗
drih erfahren konnte, nicht zur Beratung, weil die Partei
der Regierungsglieder, die eine möglichſt glänzende und voll-
ftändige Univerfität wollte, die Dberhand gewonnen Hatte.
Hingegen foll er bei der Erridtung des Pädagogiums be-
nutzt worden jein.
Die Untiverfitätsfommilfion betrieb nun vom Gpätherbft
1816 an die Vorbereitung zur Erneuerung der Univerlität
und des gejamten Schulwelens in der Stadt und auf der
Landſchaft. Sie ernannte aus ihrer eigenen Mitte einen
Ausſchuß von 4 Gliedern, unter welhem Friedrid, derzeit
Rektor, den Borji führen follte. Diefer Ausſchuß follte nun
über den Zujtand aller niedern und höhern Kantonsfchulen
Beriht erteilen und Vorſchläge zu ihrer Verbeſſerung
macen.2?)
Diefe Arbeit fiel nun Friedrich) zu ſchwer, der Teine
pädagogifhen Kenntnijje hatte und daher im Schulfache un-
fundig war. Dies und der Umitand, daß Friedrich immer
klarer in den Plan der einflußreichiten Glieder der Regierung
Hineinfah, die erledigten Kanzel: und Kathederitellen mit
Koryphäen der gepriefenen deutſchen Aufklärung zu bejegen,
Die nichts anderes als eine wahre Quziferation ift, beftimmte
ihn vollends, oben bedachte Reife zu unternehmen.
Sriedrih, der nun feine anfängliden Hoffnungen zu
einer wahren gründliden Verbeſſerung unferer hohen und
niedern Schulen vereitelt jah, dachte nun auf Mittel, fih der
ganzen Sade auf die glimpflidite Weile zu entziehen. Er
gab daher zuerit feine Demiffion als Glied des engern
Ausſchuſſes und eine geraume Zeit nachher reichte er dem
E. tleinen Rate aud fein Entlaffungsgefuh von dem Pro-
feſſorate felbjt ein. Diejes Begehren madte großes Auffehen
und die lettere Behörde nahm die Demiffion nicht gerne an,
273 18
londern gab Friedrichen acht Tage Bedenktzeit, mit dent
Wunſche, daß er an der Stelle bleiben möchte. Allein Friedrich
blieb bei feinem Entſchluſſe und erhielt jeine Entlajjung nad
der Yorm.23)
Nun fiel allgemein Tadel der Regierung und des
Publiftums über Friedrich) Her, der feinen Schritt nicht recht—
fertigen fonnte, weil feine entſchiedenen Beweggründe von
ehr wenigen aufgefaßt und gewürdiget, nur Unwillen und
Aufregung ohne Nuten und Frucht hervorgebradt hätten.
Friedrich Tieß nun mit Geduld alle widrigen Urteile fat ohne
Ermwiderung über fich ergehen, weil er wußte, nad) dem gött-
lichen Willen hierin gehandelt zu haben, worin feine Gattin
ihn auch beitärkte.
Indeſſen konnte Friedrich ſich des ſteigenden Unmuts
nicht erwehren, ſeine ſchöne Hoffnung, die vaterländiſche Uni—
verſität auf eine gemeinnützige, den Bedürfniſſen unſeres
kleinen Freiſtaates angenehme Weiſe zu reſtaurieren, die
auch dem göttlichen Willen nicht zuwider war, vereitelt zu
ſehen; er wünſchte deshalb ſich von Baſel auf einige Zeit zu
entfernen.
Dieſe Gelegenheit bereitete ihm, ohne es gerade zu
wiſſen, die Frau von Krüdener, die den Entſchluß gefaßt
hatte, einen Teil der öſtlichen Schweiz bis an das Voral—
bergiſche zu bereiſen, um bei der damaligen großen Teuerung
die irdiſche Speiſe mit dem Brote des Lebens auszuteilen.2)
Friedrich ergriff dDiefe Gelegenheit, um Bafel für einige:
Zeit zu verlafjen; feine Gattin gab hiezu mit einiger Bedenk—
lichkeit ihre Zuftimmung. Dieſe Bedenklichfeit verlor ſich
aber ſchon nad) einigen Tagen, wo wir in Quzern anlangten,
und von dDiefem Momente an war feine Gattin mutiger und
entſchloſſener als er jelbjt.25)
Sn Luzern angelangt nahm uns nebjt den beiden Berd-
beims Frau von Krüdener in ihre Herberge auf. Sie hatte:
nahe bei der Stadt ein Landhaus auf einer freundliden Ans
höhe gemietet, die dem Pilatus gerade gegenüber lag. Wir
274
fanden dort eine ziemliche Gejellichaft verjammelt, teils aus
Neugierde, teils um ein Wort der Erbauung zu hören. Ein
Nebengebäude des Landhaujes war täglich) mit einer großen
Schar von Hungernden umlagert, die mit Gemüſeſuppen ge—
Ipeilt wurden. Nach der Angabe des Hauswirts jollen an
einem Tage bei taujend Portionen Gemüfefuppen ausgeteilt
worden Jein.2®)
In Luzern, wo wir von verfhiedenen Klafjen der Ein-
wohnerſchaft eine freundlihe Aufnahme fanden und viele
leiblide Wohltaten geſpendet wurden, aud) hie und da gött-
liher Segen verjpürt wurde, verweilten wir 14 Tage, mußten
dann aber auf Anordnung der Polizei rajher Weije abreifen
und langten noch denjelben Tag bei Anbruch der Naht in
Zürich bei einem Freunde an, wo wir das Gajtredht einige
Tage genofjen.2?) Hier hatten wir viele Beſuche zu emp—
fangen, allein die beforgte Polizei von Zürich Tieß uns wegen
der Menge der Armen, die in dieſer Notzeit auf uns zu—
ſtrömten, nicht länger in der Stadt verweilen, und wir gingen
dann auf der Straße nah Schaffhaufen nad) LRottitetten,
einem Dorfe dicht an der badijchen Grenze, ab,28) wo wir
mehrere Tage verweilten, dajelbit viele Beſuche empfingen
und eine ziemliche Wirfjamfeit nad) den Bedürfniſſen der da—
maligen Zeit äußerten, Anſprachen an das Herz aller Klaſſen
der verfchiedenartigen Gejellihaft, die ſich dort befand,
richteten und au für materielle Bedürfnijfe der Armen und
Notleidenden zu jorgen hatten. Hierauf gingen wir auf die
Einladung verſchiedener Freunde nah Schaffhaufen??), wo
wir nun einige Tage hindurch in einem gajtfreundliden
Landhauſe unter manderlei geijtigem Gegen und vielen herz-
lihen Freundſchaftsbezeugungen verweilten; dafelbit erfuhr
ich nebjt meiner Gattin eine merfwürdige Lebenserrettung
aus einer unvermeidlichen Todesgefahr.30)
Von Schaffhauſen reijten wir nad) Konſtanz ab, wo wir
unterwegs einige Tage in Dießenhofen verweiltend!) und
naher ohne weitern Verzug in Konjtanz eintrafen. In
275 18*
Konftanz blieben wir zwei Tage und trafen von da unge-
fäumt in der Hueb, einer Boltitation auf der Höhe von
Romanshorn, ein, daſelbſt wir einige Tage uns aufhielten,
von wo wir uns nad) Arbon, einem Städtchen didt am
Bodenfee, verfügten. Bon Schaffhauſen bis Arbon Hatten
wir viele Beſuche, Almoſen an Geld und Lebensmittel zu
Ipenden; aud viele religiöfe Zujprühe wurden an heils-
begierige Seelen gerichtet; am ſtärkſten war der Zulauf in
Arbon, wo der Herr Oberamtmann uns aus eigener Be—
wegung polizeilide Hilfe jenden mußte.32) Bon Arbon
gingen wir einige Tage nachher über Rorſchach nad) Rheined,
famen bis an die öjterreichiiche Grenze gegen Bregenz,
gingen über den Rhein und nahmen in Hödjft ein Mittags:
mahl ein, wo wir von den Behörden freundlich empfangen,
aber unter Verdeutung der öſterreichiſchen Polizeigeſetze
abends über den Rhein zurüdgewiejen wurden.33) Bon
Rheine fehrten wir wieder denfelben Weg zurüd nad
Arbon und von da nah kurzer Friſt wieder zurück nad
Petershaufen, dicht bei Konjtanz, von Konitanz wieder nad
Shaffhaufen, von da nad) anderthalb Tagen Aufenthalt über
2otitetten nad) Rafz, von da den Rhein hinunter nad) einem
badiihen Dorfe, Lutgern gegenüber, wo wir zwei Tage ver-
weilten.3®) Von da gingen wir nad) Togern, von Togern
nah Sädingen und von Gädingen nad Wehr, wo wir uns
jo wie in defjen Umgegend wiederum einige Tage aufhielten
und uns dann nad) Kandern begaben, dajelbit Friedrich nad
einem eintägigen Aufenthalt von der badifchen Oberamts-
polizei angehalten und troß aller rechtlichen PBroteftation auf
Anfuchen der Regierung von Bafel in einigen Tagen dahin
abgeliefert mwurde,35) jedoch auf die ſchonendſte Weiſe, wo—
felbjt er vor dem Niehentor von feinen nädjiten Ans
verwandten freundlichit empfangen und nachher in feine vorige
Mohnung aufgenommen wurde.3%) Zwei Tage nachher wurde
feine Gattin in Badenweiler von ihrem jüngern Bruder,
Herrn Deputat Laroche, eingeholt und in ihre Wohnung ver-
276
bradit.37) So endete die Reife mit Frau von Krüdener, Die,
zwar widerredtlich abgejchnitten, aber doch auf einem vor-
jehungsvollem Wege geleitet und alfo beendigt wurde.
Sriedrih war über diefe Wendung der Dinge zwar
einigermaßen betroffen und beftürzt, fonnte ſich aber bald
darüber tröjten, weil er ja ſchon einige Zeit vorher ſich von
Frau von Krüdener zu trennen entihlojien Hatte, indem er
den glüdliden Erfolg diefer Reife zur Erwedung vieler
Geelen ſchon ziemlich vereitelt jah, weil Frau von Krüdener
mit dem guten Willen und Eifer die nötige Weisheit und
Klugheit nicht verband, die dazu erforderlih war. Diejes
Gebreden Tannten Friedrih und feine Umgebung vorher
nit, Jonjt würde man ji) in dieſes Unternehmen nicht ein-
gelajjen Haben. Friedrich fonnte ſich daher damit tröften, daß
er durch eine freiwillige Trennung von der Reijegejellihaft
einen jeweiligen guten Erfolg nicht gehindert Habe; denn er
fürdtete vorher immer, durch eigenes Abreijen etwas Gutes
zu hindern.38)
Er ſuchte nun feine Zeit durh das Studium der Bibel
und fernhafter theoſophiſcher Schriften nützlich anzuwenden
und über die Ausführung des theofratifchen Planes der Gott-
heit zur Herbeiführung des Friedensreiches Jeſu nahzulinnen
und Auszüge aus den bisherigen Eröffnungen darüber zu
maden.3?) Ein Jahr nad diefer Rückkehr wurde Friedrich
von der Armenpflege und dem Miljtionsfomitee, deren tätiges
Mitglied er vor der Befanntihaft mit Yrau von Krüdener
gewejen war, eingeladen, ihren Verhandlungen wieder bei-
zuwohnen und Teil an ihren Arbeiten zu nehmen, welches er
auch gerne tat und fi) wie vorhin mit Eifer ihren Angelegen-
heiten widmete. Bejonders angenehm und erquidend für ihn
und feine Gattin war der Umgang mit den erſten Miflions-
zöglingen, die feit Yrühjahr 1816 in das Miſſionsinſtitut ein-
getreten waren. Diefem Miffionstomitee und feinen Ge—
Ihäften wohnte Friedrih 6 Jahre ununterbrochen bei, bis er
auf Antrieb des Geiltes von derfelben abtrat, weil fie eine
277
andere von der evangeliſchen Einfalt durch Vervielfältigung
der Lehrfäher abweichende Richtung genommen hatte. Bald
nachher fnüpfte Friedrich einige Belanntihaften an, durch
welche er mit dem Zuſtande des Jogenannten Helljehens in der
Schweiz und im füdlihen Deutſchland nah und nad) befannt
wurde. Man jchidte ihm verjchiedene Protokolle von Reden
Hellfehender, und er hatte aud Gelegenheit, verjchiedene
Glieder diefer Geſellſchaft, beiderlei Gejchlechts, deren Zahl
ji über 30 belief, zu Hören und zu ſprechen. Er prüfte ihre
Ausſagen mit der HI. Schrift und fand viel Lehrreiches darin,
bejonders mande Belege zu den geiltigen Wahrheiten, die im
Mortverjtande der Bibel in der Tiefe verborgen liegen. Auf
Anſuchen verjhiedener ahtungswerter Lejer derjelben fand
fich Friedrich bewogen, eine Auswahl diefer Reden, mit einer
Vorrede begleitet, in zwei Bänden dem Drude zu über-
geben.?0)
Endlih fand er aud) einen Mann, dem der Herr dur
die Gabe der Einſprache viele tiefe geiltige Wahrheiten zur
Leitung und Belehrung der Gläubigen in Diejen legten
Tagen mitteilte. Er benußte mit einer Gemeinihaft Gleidh-
gefinnter den Umgang und die Schriften diefes Mannes bis
zum Sahre 1850, wobei er immerfort eine genaue Prüfung
mit vdenjelben nach obigen Grundfäßen und nidts ohne
Yebereinjtimmung mit den Lehren der HI. Schrift annahm.
Dieje leitenden Grundfäße wird man aud) in Friedrichs letter
Schrift, betitelt „Die Morgenröthe der nahen glüdjeligen
Zufunft“ beitätigt finden. — Mit dem Jahre 1850 hörte die
Verbindung mit diefem Manne auf, weil derjelbe von Dieter
Zeit an eine ganz andere Geiltesrihtung einfchlug, welder
Friedrich nah feinen Grundſätzen durdaus nit folgen
fonnte.2t)
Mährend einer Reihe von 33 Jahren, in denen fid)
Sriedrih oberwähnten Studien und Belhäftigungen wibd-
mete, die nur durch einen Aufenthalt von drei Jahren im
badiſchen Oberlande, in Sitzenkirch bei Kandern, unterbroden
278
wurden,?2) Hatte derjelbe mit Widrigfeiten manderlei Art,
die man gewöhnlid Kreuz und Leiden nennt, innerlid und
äußerlih zu kämpfen. Unter all diejen Leiden war das
Ihmerzlidjte für ihn die dreizehnjährige chroniſche Gemüts—
franfheit feiner Gattin, die im Jahre 1826 angefangen, erjt
mit Februar 1839 durch ihren Hinjcheid endete.
Diefer Hinfheid war ein ſchmerzlicher Berlujt für ihn,
obſchon er vom feligen Loſe derjelben in der Ewigkeit über-
zeugt war und es aud jet noch ganz volllommen iſt.
Friedrichs Verbindung mit dieſer Geele war ein merk:
würdiger Zug der Vorjehung Gottes in der Lebensführung
beider Gatten. Der Herr hat dadurch mandes Gute für ihn
und andere bewirft. Ihr Andenken iſt ihm noch immer lehrt:
reih und angenehm. Auch wurde ihr Ableben von vielen
Geelen, bejonders unter der dürftigen Menſchenklaſſe, be—
trauert und beweint.“
Nah dem Tode feiner Frau war Friedrich Lachenal nod)
ein ziemlich langer Lebensabend bejhieden, den er in Stiller
Zurüdgezogenheit auf einem kleinen Landgütdhen vor dem
Bläſitor eifriger Bibelforfgung widmete. Früchte derjelben
jind die in den Jahren 1838 und 1839 unter dem Titel
„Blide jenjeits des Grabes“ erſchienenen Schriften, worin er
an Hand von Bibelitellen und unter Berüdjihtigung da—
maliger, von myſtiſcher Geite gefundener neuer Aufſchlüſſe
den Zuſtand der Geele in der Ewigkeit zu fchildern ſuchte.
Diefe, ſowie die ein Jahrzehnt fpäter von ihm publizierten
„Gedanken über die Morgenröthe der nahen glüdjeligen Zu:
funft“ 23) fanden in der willenfhaftlihen Welt nur wenig
Anerfennung. Mehr jedoch können auch Heutzutagigen Leſern
Die im Jahre 1852 bei Detloff in Bafel erſchienenen Gedichte
Lachenals zuſagen, die in ſchöner Sprade und gewandtem
Versbau Zeugnis von Lachenals tief inniger Frömmigkeit
und feines ihm bis ins hohe Alter hinein gebliebenen Ginnes
für die Wunder und Herrlicäfeiten der Schöpfung ablegen.
279
Schon im Jahre 1850 Hatte fich bei Friedrich Lachenal eine
ftets zunehmende Schwädhe des Gefichts eingeltellt, die ſchließlich
in Blindheit überging, was ihn jedodh an feiner gewohnten.
geiltigen Tätigkeit nicht verhinderte. Im Dezember 1853
zeigten fi) bei ihm Anzeichen einer herannahenden Bruſt—
waſſerſucht, die aber wieder verſchwanden und einem relativen:
MWohlfein Pla madten, bis Mitte Suni 1854 Schwäche⸗
zultände eintraten, die nach vierzehntägigem Leiden den.
müden, aber glaubensitarfen Erdenpilger am Abend des.
27. Suni vom Glauben zum Schauen Hinüberführten.
Sriedrih Lachenals Wefen, Gefühls: und Denfungsart
Täßt fi wohl am beiten aus einem von ihm am 13. April 1852
zu feinem 81. Geburtstag verfaßten Eleinen Gedicht erkennen:
Gei hochgelobet Jeſus Chriſt,
Daß Du mir Alles worden bift,
Sn meinem langen Erdenleben,
Der Seele Schatz, ihr Troſt, ihr Licht,
Im Tode noch mir Zuverſicht!
— — — — — et
Anmerkungen.
1) Friedrich Lachenals Vater, deſſen Brüder Sean Jacques und
Werner, fowie die meilten Angehörigen des Geſchlechts ſchrieben fich
de la Chenal oder de Lachenal. Friedrich Lachenal aber, als ein
Freund der Grundjäße der Helvetik jchrieb fich von jener Zeit ab
einfad) Friedrich Lachenal, während er ſich dann fpäter in feinen
teſtamentariſchen Verfügungen wieder des „de“ bediente. Ob das
Geſchlecht, das einen filbernen Hund auf grünem Felde im Wappen=
jchilde führte und einen ebenſolchen als Helmzierde, adeliger Herkunft
war, ijt nicht ficher. In Bajel betrieben die Lachenal Handel, Fabri—
fation und Gewerbe.
2) geboren 1707, geitorben 1776, Sohn des befannten Medizin-
profeſſors Theodor Zwinger junior und Bruder des Profeſſors
Johann Rudolf Zwinger. |
3, Frau Dorothea Zwinger, geb. Battier, geb. 1711, geit. 1785.
4 Friedrich Ballier, geb. 1700, geft. 1781, Sohn des Friedrich
Ballier, Pfarrers zu St. Alban und der Margaretha Sielin.
5) Den Ehegatten Zwinger - Battier gehörte das Haus zum
„Sägerhof“ (Seebadherhof) oben am Blumenrain. Es fei damals
280
ein langgezogenes Gebäude mit frummer Faſſade geweſen. Nach
dem im. Sahre 1785 erfolgten Tode der Frau Zwinger-Battier wurde
die Liegenjchaft von deren Tochtermann Herrn Hieronymus deLachenal=
Zwinger an die Borfahren der jegigen Eigentümer verkauft, weldye
die alten Gebäulichfeiten abbrachen und das jetzige ſchöne Haus er=
richten ließen. Damals wurde dafelbit auch eine Straßenforreftion
vorgenommen, indem an Gtelle eines dort befindlichen jähen
Staldens eine Fahrbahn mit regelmäßiger Steigung erftellt wurde.
6, Sean Jacques de Lachenal geb. 1777, gejtorben 1808.
”) Hieronymus de Lachenal geb. 1773, gejtorben 1784.
8, Dorothea de Lachenal, geb. 1774, geſtorben 1854, jpäter ver⸗
heiratet mit dem Handelsmanne Hieronymus Bernoulli.
9% damals noch unter der Oberhoheit des Fürſtbiſchofs von Baſel.
10, Werner de Lachenal geb. 1737, geitorben 1800, Profeſſor der
Medizin, befannt als Botaniker, eifriger Förderer des hiefigen bota—
nifhen Gartens, Freund Haller’s, Yinne’s und anderer befannter
Naturforfcher.
11) Die Firma hieß: Hieronymus de Ia Chenal u. Burkhardt.
12) Das Verhalten von Friedrih Lachenals Vater it um fo
weniger zu begreifen, da diefer in jungen Jahren jelbit als Handels=
beflifjener lange Zeit in der Fremde geweilt Hatte, in Leipzig,
Berlin und Breslau, anfangs noch in den Zeiten des fiebenjährigen
Krieges.
13) Hieronymus de Lachenal ſtand mit feinem Schwiegerjohne
Bernoulli wegen politijher Meinungsverjhiedenheiten auf feinem
guten Fuße, weil legterer den neuen Ideen huldigte.
14) Hieronymus de Lachenal Hatte bald nad) dem Tode jeiner
Frau im Jahre 1786 das im obern Bajelbiete bei Reigoldswyl
gelegene Gut Goriſen gefauft, wo er fajt den größten Teil des Sahres
verbradte. Es ijt merfwürdig, dak fein Sohn in den vorliegenden
Notizen diefes Gut, wo er jedenfalls mit feinem Bater viele Zeit
zugebradht Hatte, mit feinem Worte erwähnt. Es ging jpäter nad
des Baters Tode an die Schweiter Frau Bernoulli über.
3) Unter der zu Ende des XVII und im Anfange des XIX.
Sahrhunderts jtark gepflegten Wiſſenſchaft der Metaphyſik veritand
man diejenige Ertenntnis, welche nit durch Empirie d. h Bes
obachtung, jondern nur auf dem Wege der geiltigen Spekulation
erworben wird, wie 3. B. politijche Utopien, ftrafrechtliche Theorien
und anderes. |
16) Hieronymus de Lachenal war ein für feine Zeit hochgebildeter
Kaufmann, der ji) für Willenihaft und Kunſt lebhaft interejjierte.
Er bejaß in Baſel, wie auf Goriſen jtattlihe Bibliotheken, an
legterem Orte auch eine bedeutende Mineralienfammlung Am
politifchen Leben feiner Vaterjtadt nahm er aktiv feinen Teil.
17) Das Lachenalſche, jpäter Schönauerijche, nad) 1859 parzellierte
Landgut an der Grenzaderitraße. Die zwei dazu gehörigen Wohnz
281
häuſer Nr. 83 und 85 find nod) vorhanden und wurden zu Ende des
XVIII. Sahrhunderts von einem Herrn Zanderer erbaut, der daſelbſt
eine Art Sommerfajfino errichten wollte, das aber nicht rentierte,
da Landerer, ftatt fih vorher auswärts derartige Injtitute anzu—
fehen, nad) eigenem Sinne baute, jodaß die Xofalitäten zu Flein.
und fi zur Abhaltung größerer Zeitlichkeiten als ungeeignet er—
wiejen. Der am oberen Ende des Gutes gelegene, heutzutage der
Familie Merian: Thurneyjen gehörige große englilhe Garten wurde
aber erjt von den Gebrüdern Lachenal angelegt.
18) Tochter von Herrn Emanuel Laroche und Frau Urjula geb.
Hermann. |
19) Baronin Juliana von Krüdener, geborene von Bietinghoff,
wurde im Sahre 1766 als Tochter eines Kurländiſchen Gutsbejigers
in Riga geboren und erhielt eine forgfältige Erziehung, 1783 hei—
tatete fie den Baron Burkhard Wlerander von Krüdener, ruſſiſchen
Gejandten in Kopenhagen und Benedig, einen gediegenen, ernit ver-
anlagten Mann, von dem jie ſich in der Folge trennte und fi) einem
leiytfinnigen Gejellihaftsleben Hingab. Später verjöhnte fie jich
wieder mit ihrem Manne furz vor deſſen Tod. In Paris veran-
Italtete fie zur Zeit Napoleons myſtiſche Zujfammenfünfte und jchrieb
den Roman Balerie. Sie war mittlerweile fromm geworden, hatte
fi) zur Buße befannt und hielt im Jahre 1814 in Paris religiöje
Berfammlungen mit Geiſterbeſchwörungen ab, bei welchen aud) Kaiſer
Alexander von Rußland zuweilen anwejend war. Wie yon früher,
Hate fie ihn für ihre Sdeen zu gewinnen gejudt und man glaubte, daß
fie Alerander den Gedanken zur Gründung der heiligen Allianz bei-
gebradht Habe. Im Jahre 1815 kam fie in die Schweiz, unternahm
im Sommer 1817 in Begleit mehrerer Gleichgejinnter eine Milfions-
reije in die nordöltlihe Schweiz, wurde aber überall, jowie in Baden,
zurüdgewiejen und kehrte im Frühjahr 1818 in ihr Vaterland zurüd.
Gie lebte dann auf einem ihrer Güter in Livland und jiedelte dann
im Sabre 1824 mit ihrem Schwiegerjohn Baron v. Berckheim zur
Anlegung einer religiöjen Kolonie nad) der Krim über, wo fie am
13 Dezember gleichen Jahres jtard. Frau von Krüdener, über die
Thon viel gejchrieben worden, war von edlen Abjichten erfüllt, aber
Haltlos und ſchwankend und eigenen Stimmungen und fremden
Einflüjjen jehr zugänglih. Theolog. Realencyclopaedie Bd. XI.
20) Die Schweizerifhe Monatschronit vom Jahre 1816 berichtet
ungefähr: Frau von Krüdener hat in etlichen Schweizerjtädten großes
Aufſehen erregt. Bereits anfangs 1816 befand fie ſich in Gejellichaft
eines Genfer Geiltlihen im Wilden Mann in Bajel und begann
dort in ihrem Zimmer für pietijtilhe PBerjonen Andadtsitunden zu
halten. Dann mußte fie wegen Zudrangs die Wirtsitube benußen.
Zuerſt fand jtilles Gebet jtatt, dann joldhes des Empeytaz, dem ein
franzölilher Vortrag des Lebteren in gewählter Form folgte und
Ichließlich wieder ein Gebet, das alle fnieend anhörten. Hieran
282
nahm Frau von Krüdener nur ftummen Anteil. Einige aber berief
fie auf ihr Zimmer und fing mit ihnen nachdrückliche Brivatunter-
Haltungen an. Gie zeigte fih aud im Wilden Manne etlichen Be-
vorzugten in idealer prielterliher Kleidung am Ende mehrerer
dunkler Zimmer,
21) Diejer Entwurf iſt nicht mehr aufzufinden.
2) Am 10. Oftober 1816 wurde auf Antrag von Bürgermeijter
Wieland ein engerer Ausſchuß ernannt, dem die Profeſſoren Lachenal,
Miville, Huber und Pfarrer Fäſch angehörten mit dem Auftrag, fi)
über Einrichtung der Elementarjchulen, des Gymnafii und eines
ebenfalls noch beizgufügenden Bädagogiums oder Lycäums als Vor:
bereitung zu den höheren Yafultäten und wie das eine in das
andere greifen und das Ganze zweckmäßig mit einander verbunden
werden fönnte zu beraten und der Kommilfion ihre Anfichten und
Vorſchläge darüber einzugeben.
23, Siehe Kleinratsprotofolle vom 22. und 27. Januar 1817.
24) Ein weiterer Grund zu Lachenals Verjtimmung, die ihn
veranlajjen fonnte, Bajel zu verlajjen, mag auch das im Mai 1817
erfolgte polizeiliche Einjchreiten gegen die damals in feinem Haufe
an der Grenzaderjtraße veranitalteten religiöjen Verſammlungen
geweſen jein, jowie jeine am 12. Mai gleichen Sahres erfolgte Be-
Itrafung mit Geldbuße wegen unerlaubten Beherbergens. Er Hatte,
nachdem rau von Krüdener ihren Aufenthalt am Grenzaderhorn
verlajlen, dieje, deren Tochter und Schwiegerjohn Herrn v. Berdheim,
ven Geijtlihen Empeytaz aus Genf, jowie die Damen Armand und
eine große Anzahl armer, elender und ſchriftenloſer Perſonen aus
dem Gefolge der rau von Krüdener bei ſich aufgenommen, wor:
über er im Berhör angab, er Habe dieje Leute nur deshalb nicht
polizeilich angemeldet, weil er immer gehofft, daß fie von Yrau
v. Krüdener anderswohin verjorgt würden. Prof Lachenal ſpeiſte
damals täglid) eine große Anzahl Hilfsbedürftiger Perjonen, wobei
Gebete gejprohen wurden. An Sonntagnadmittagen fanden bei
ihm Erbauungsitunden ftatt, zu denen jedermann Zutritt Hatte.
Lachenal las dabei Bibelterte vor, denen er dann und wann er-
läuternde Bemerfungen beifügte, während feine rau den Gejang
leitete und ein gewiſſer Onophrion Eglingsdörfer aus Kleinhünnigen
betete. Schon im Februar gl. Sahres waren in Lachenals Yandhaus,
das damals Herr von Berdheim bewohnte, religiöje Verfammlungen
und Suppenverteilungen gehalten worden. Siehe A. Viſcher. Die
Ausweifungen des Herrn v. Berdheim im Jahre 1817.
25) Die Miffionsreije der Frau von Krüdener muß ſchon in
den legten Wochen des Monats Mai 1817 begonnen haben. Gie
hielt ih in Zofingen auf, ging dann nad) Bern und fam am 31. Mai
in St. Urban an und bald darauf in Zuzern, wo fie die Villa des
MWeinhändlers Bälliger mietete.
283
26, Eine Stüße der Krüdener in Luzern war Schultheik Vincenz
Rüttimann, während andere Magiltrate ihr weniger freundlich
gegenüber jtanden Die katholiiche Geiltlichkeit nahm ihr gegenüber
zuerjt eine abwartende Stellung ein, prüfend, ob ihre Lehren dem
Katholizismus Nuten bringen könnten, Geijtliche fühlten ihr daher
wegen ihrer religiöjen Anjichten auf den Zahn und fanden diejelben
bald mit der firhlichen Zehre unvereinbar. Ihre Wegweiſung erfolgte
jedod nicht auf Veranlafjung kirchl Behörden. Als Frau v Krüdener
den obrigfeitlichen Befehlen zur Abreije nicht Folge leijtete, jegte fie
die Polizei in der Naht vom 2./3. Juli in eine Kutſche und ließ fie
unter polizeiliher Begleitung auf ihren Wunſch nad) Zürich führen,
während die aus aller Herren Länder zujammengejtrömte Bettler-
geleitjchaft auseinander getrieben wurde, Siehe Theodor v. Liebenau,
Frau v. Krüdener in Quzern; Cafimir Pfyffer, Gejchichte des Kontons
Zuzern, Bd. II.; Anonymus. Frau v. Krüdener in der Schweiz 1817,
jowie die Schweizeriihe Monatskronit.
27) Nad) dem Anonymus fam rau von Krüdener vom zürch—
eriihden Oberamtmann in Knonau begleitet, dem jie von der Luzerner
Polizei übergeben worden war, am 3. Juli Nadıts 10 Uhr in Zürich
an. Sie hielt um eine dreiwöchentliche Aufenthaltsbewilligung an;
doch wurde ihr bloß der folgende Tag zum Ausruhen geitattet. Nach
Ausfunft des Staatsarhivs Züri) hat fie bei einem Herrn Noß
auf der Platte gewohnt. |
33), In Lottitellen Stellte ji) wieder ein Teil ihres von der
Quzerner Polizei gejtreuten Gefolges ein, bis der Ortsvorſteher am
12. Zuli mit Hülfe der Bürgerſchaft den Ort jäubern ließ, was, wie
der boshafte Anonymus berichtet, Frau v. Krüdener jelbit nicht
gerade unangenehm geweſen jei.
Leider gibt Friedrich Lachenal die Daten der Aufenthalte an
den verjchiedenen Drten nit an. Sie lajjen ſich am beiten aus dem
Anonymus und der Schweizerifchen Monatskronik feititellen.
29, Frau v. Krüdener jtieg in Schaffhaujen bei Frau Katharina
von Peyer im Mühlental ab. Die Polizei geitattete ihr Montags
den 14. Juli. aber bloß bis Donnerstag, den 17. Aufenthalt und als
fie Freitags noh da war und jogar um Verlängerung des Auf:
enthalts bat, wurde diejes Geſuch abgewiejen und ihr angedeutet,
daß fie bis Schlag 4 Uhr abreifen müfje, anjonjt die Polizei Gewalt
brauden würde. Bei ihrer Abreife begegnete fie dem Gelehrten
Joh. Georg Müller, Bruder des Gejhichtsichreibers Johann
von Müller, der fie ſchon in LXottjtetten bejucht Hatte. Sie madıte
auf ihn einen guten Eindrud und er fand, daß er den Geijt der
Hriftlichen Weisheit, Demut und Liebe zum Herrn und um des
Herrn willen zu den Menſchen feit langem nie in diejer Voll:
kommenheit gejehen habe. Trotz allem Für und Wider gegen die
Krüdener, Habe die Krüdener, durch Das Aufſehen, das ſie madte,
lebhaites Intereſſe für die Religion und zur Sehnjudht nad) der
284
Mahrheit angeregt; aber es jei noch viel Unreines bei ihr. (Karl
Stodar, Decan; Ioh. Georg Müller, Doctor der Theologie, Profeffor
und Oberjchulherr zu Schaffhaujen, ein Lebensbild, Bafel 1885.)
30) Welcher Art dieje Lebensgefahr war, in der Profeſſor Lachenal
und feine Frau gejchwebt, ijt nicht zu ermitteln. Cinmal war nad
dem Anonymus die Rutiche der Frau von Krüdener in Schaffhaujen
nahe daran, von einer jhmalen Zufahrtsitraße zum Peyerſchen Gute,
in einen tiefen Bachtobel hinabzujtürzen. Die Sache lief aber noch
gut ab. Es iſt ungewiß, ob die Ehegatten LZachenal dabei waren.
31) Sie fand in Dießenhofen für einige Tage Aufenthalt in
einem Wirtshaufe vor dem Städtchen und trat von da aus mit den in
den benachbarten Dörfchen Gailingen und Randed zahlreich anfäljigen
Suden in Verbindung, welden fie bejondere Aufmerkſamkeit ſchenkte
als dem beim bevorjtehenden großen Umfchwung der Dinge vornehm-
lid) auserwählten Bolfe.
32) Sie fam am 10 Auguſt in Arbon an, entfaltete dort ihre
Tätigkeit, mußte aber ſchon am 12. wieder abreijen.
33) Nach dem Anonymus haben die Reijenden in Sankt Mar:
garethen das gegenüberliegende öjterreichiihe Ufer nicht betreten
fönnen, jondern es wurde ihnen von dem erpreß per Schiff hinüber:
gefahrenen öjterreichiichen Oberamtmann ein jtrenger Befehl aus
SInnsbrud mitgeteilt, wonad) weder Frau v. Krüdener nod) ihr
Gefolge das ölterr Ufer betreten durften.
4) Nach derjelben Quelle fam die Reiſegeſellſchaft am 20 Auguſt
nah Konſtanz, am 21. nad) Sießenhofen, am 22. in das Schaff—
hauſen gegenüber gelegene Zürcherjche Dorf Feuerthalen, dann nad)
Uhwiejen und Marthalen, bis jie am 23 abends vom Oberamtmann
in Andelfingen in Begleit von ſechs Landjägern bei Rheinau über
den Rhein gebracht wurde. Sie reiten nad) Lottitetten und famen
am 25. abends in Neuhaujen bei Schaffhbaufen an Im Zürcher
Staatsarchiv befinden ſich hierüber Aftenjtüde.
3) Die Zurüdberufung Lachenals war auf Beranlafjung der
Verwandten feiner Frau gejchehen, nachdem der Ehemann jeiner
einzigen Nichte dieſen Schritt als unerlaubten Eingriff in die Rechte
eines Dritten zu tun verweigert hatte.
% MWahrjcheinlich in feinem Haufe auf dem Nadelberg, da
Lachenal inzwiſchen feinen Landſitz veräußert Hatte.
37, Siehe hierüber einen deutjchen Brief vom 19. Sept. 1817 aus
Kandern, ohne Unterjchrift, vielleiht von der Hand der Frau von
Krüdener oder auch ihrer Tochter, der Frau v. Berdheim, an deren
Dann gerichtet, der ji) damals nicht mehr bei der Reijegefellichaft,
fondern auf einer Reife nad) Rukland befand. An diejen ſonſt
meijt franzöfiich gejchriebenen Briefen ſcheint oft mehrere Tage lang
geichrieben worden zu fein Es heißt darin: „Hier haben wir etwas
feltfames erlebt, unjer lieber Freund Lachenal wurde geitern mit
285
Gewalt nad) Lörrach) geführt, um von da vermuthlich nach Bafel zu
gehen. Wir erwarten jett die Folgen von diejem gewalthätigen
Schritt der Basler Regierung ; denn es ijt etwas unerhörtes, einen
freien Bürger wie Lachenal als einen Verbrecher durch Yandjäger
holen zu lafien..... Unfer lieber Freund weiß daher ruhig und
entſchloſſen vor Obrigkeit jein Befentniß abzulegen. Wir erhalten
ſoeben einen Brief vom lieben Zadhenal, wo er uns meldet, daß er troß
aller Bemühungen den Oberamtmann nicht jprechen konnte, aber
die MWeifung erhielt, fih ungefäumt nad) Bajel zu verfügen. Er
erklärte aber, daß er nicht freiwillig, jondern nur gezwungen dort=-
hin gehen würde. Der Profejjor wurde wie in KRandern, mit Ge—
walt fortgeführt, nur mit dem Unterjchied, daß in Lörrach ein
Amtsdiener in bürgerlicher Kleidung in die Chaife ſaß. Es jcheint,
daß von Seite des Oberamtmanns aud Willtühr im Spiele war;
denn die Berwandten waren bejtürzt über die Art feiner Ankunft.
Es jheint aud ein Blan zur Trennung unjerer Gejellihaft wirffam
zu fein.“
Aus dem Schreiben Lachenals teilt Schreiberin noch folgendes
mit: „Der Amtsdiener, der mich begleitete, Hat ein Schreiben an
den Kantonsrath mitgebradjt, worin id) als von der Frau von Krü—
dener irregeführt und nun gemüthskrank gejchildert werde und worin
darauf angetragen wird, mich unter polizeiliche Aufſicht zu jtellen
und den Wiedereintritt in das Badiſche zu unterjagen, bis daß ich
von der Gemüthstrankheit geheilt jein werde. In Folge dieſes
Schreibens hat der Rath mid) der Aufliht und Bejorgung der Fa—
milie übergeben und auferlegt, weder Leib noch Gut zu verändern,
das will jagen, daß ich mich von der Stadt nicht entfernen, auch
von meinem Bermögen nichts verändern darf, auch find mir alle
religiöjen Verſammlungen und Kinderlehren zu Halten oder Halten
zu lajjen, verboten.“ Auch habe Lachenal gejchrieben: „Ich weiß
nicht, wie mir zu Muthe ijt, ich lebe wie im Traum, in einem Zus
ſtand gemiſchter Gefühle Geſtern Abend erfüllte mich der Herr
mit dem Bemwußtfein des herrlichen Ausgangs der Sache. Mädtig
it der Zug, der mich von Euch, Geliebte, hinreißt (wahrſcheinlich ift
hiermit der Einfluß der Verwandten gemeint); Doch muß ich mich
jet noch zurüdhalten. Ich werde vielleicht hier noch) zeugen müjjen.
Sch Ipreche ganz unverhohlen mit allen unjeren Anverwandten und
Sreunden von der Notwendigkeit der Million. Die große Sade der
Miſſion bejchäftigt mir Kopf und Herz und id) lebe und webe im
Geilte ganz allein und ausſchließlich in Euerer Mitte.“
Ferner jchreibe Lachenal an feine rau: „Fürchte nicht, meine
Theuere, daß ich unthätig und bloß leidend in diejer meiner Lage
verbleiben werde. Sch bejchäftige mich mit der Verbreitung der
Aufſchlüſſe über die Offenbarung und werde auch fünftigen Mitt:
woch unjerem Kantonsrath meine Proteftation gegen das Benehmen
des Oberamts Lörrad) und ihren eigenen Beihluß überreichen,
286
worin ic) mich über den Zwed der Miſſion nahdrüdlih ausſprechen
werde, bittet, dag mir der Herr Kraft dazu gebe “
Der Brief berichtet aud) über die Heimberufung der Frau
Zachenal durch ihre Verwandten und Abholung durd) ihren Bruder
Deputat Germann Larode. „Der Herr Deputat brachte feiner
Schweiter ein Schreiben vom Rath, worin das Amt Lörrad) auf's
neue erſucht wird, zu veranitalten, daß auch Frau Lachenal ihrer
Familie übergeben werde. Herr Lachenal joll feiner Verwandtſchaft
zur Bejorgung überlafjen, demfelben die ſ. 3. erhaltenen Reijepäfje
abgefordert werden. Der I. Profeſſor ſchrieb jeiner Frau nichts
vor; erfagte ihr nur, er würde in ihrer Yage der Gewalt nachgeben.“
Auf einem diefem Briefe beigelegten Zeddelchen d. d. Krozingen,
25. Sept. 1817 heißt es noch: „Bon den lieben Yachenals haben wir
Nachrichten durch die Poſt. Sie weinten ſehr, als Jie Bajel wieder:
fahen und verbargen ſich vor ihren Berwandten, um in ihrem Zimmer
zu beten. Gie jagt, daß jie unmöglich von uns entfernt leben fann.
Der Profeſſor ilt ruhig und gefaßt und in feinem Innern glüdlid
und will für den Heiland zeugen.”
Giehe im Basler Staatsarhiv Briefe und Akten des Freiherrn
Franz Carl von Berdheim, meilt Briefe feiner rau an ihn und
folde anderer Perjonen, Reijepälle der Familien Krüdener und
Berfheim, Geſchenk von Herrn alt Appellationsgerichtspräfidenten
Dr. Auguſt La Roche-Burdhardt. Siehe auch Kleinrathsprotofoll vom
20. September 1817, Seite 397.
3) Qaut diejen erwähnten Briefen jegten Frau von Krüdener
und deren Tochter dieje Reife noch eine Zeitlang fort, bald im
Elfaß, bald im Großherzogtum Baden tätig, wobei fie immer nod)
mit den Ehegatten Lachenal in brieflihem Verfehr blieben. rau
von Berdheim bewahrte überhaupt dem Lachenalſchen Haufe äußerit
danfbare Gefühle In Freiburg erhielt Frau v. Krüdener im No—
vember Befehl, nah) Rußland zurüdzureijen, wo ſie im Frühjahr
nad) einer äußerjt bejchwerlichen Reife anlangte. Die Ehegatten von
Berdheim aber ind im Frühjahr 1818 wieder in Bajel, wohnen bei
Profeſſor Lachenal.
39) Lachenals Anhänger aber glaubten, derſelbe werde auch wie
fie auswandern. Dieſe Auswanderungen waren jo zahlreid), daß
Schweiz. Rantonstegierungen fi zu Maßnahmen veranlaft jahen.
So ſchrieb ein 3. 3. Koch unterm 30 April 1818 aus Groß
Liebenthal bei Odeſſa, an Frau von Krüderer, nahdem er bes
richtet, wie herrli er in Mostau von Kaiſer Alerander und
den beiden Kaiferinnen empfangen worden und wie diejer für die
Einwanderer nah) Grulien forge „wo bleibt aber unfer theuerer
Herr Profefior Lachenalle? ift er noch in der Schweiz oder ijt er
auf dem Wege zu uns. Der Herr wolle ihn doch bald mit nod)
vielen gejunden Schweizerbrüdern zu uns führen“. (Staatsardiv
Bajel, Briefe und Akten des Freiherrn Franz Carl von Berdheim.)
287
\
40) Krüchte dDiefer Studien waren die „Blide jenfeits des Grabes“.
4) Wer diefe einflußreiche Perjönlichkeit geweſen tft, ijt nicht
mehr fiher feitzuitellen. Am eheiten fann der in der Abhandlung
von Dr. E. Schaub: Bilder aus dem religiöien Leben Bafels um’s
Sahr 1830 erwähnte Jacob Wirz gemeint fein, da ſich unter La-
henals Papieren aus dem November 1850 Konzepte zu Schreiben
an einen gemwillen Bölfer vorfinden, in denen von einem Bruche
Lachenals mit Wirz die Rede iſt. Lachenal rechtfertigt fein Ver:
fahren dem Völker gegenüber, der ihm wegen jeines Verhaltens
gegen Wirz Vorhaltungen gemadt zu haben jcheint.
Merktwürdigerweile erwähnt Lachenal nicht die Fleine jepara-
titifche Vereinigung, die zu Ende der 1820er Jahre bei einer Miß
Blackwell im früher Reberichen, jpäter Hisichen Gute vor dem Gt.
Sohanntor zujammentam und der aud) Profeſſor Lachenal angehörte.
Siehe Basler Sahrbud) von 1909. Bilder aus dem religiöfen Leben
Bajels um’s Jahr 1830, von Emil Schaub und Chr. Volksbote Jahr⸗
gang 1911 Nr 35—38 Aus den Erinnerungen eines alten Mannes.
22) Cs war dies in der Mitte der 1830er Jahre.
43) Laut dem Vorworte durch den Beiltand der göttlichen Gnade
ausgearbeitet als eine Lehr: und Troſtſchrift für die Menjchheit in
diejen jtürmijchen und entjcheidenden Tagen.
288
Sin Spaziergang über Das Bruderbols,
Don Srisg Baur.
Vor Lüſchers Bild der trommelnden Waifenbuben im
Basler Mujeum trafen jih an einem Sonntag Vormittag
unvermutet zwei Freunde. Obwohl ſie fi) aud) in der Woche
häufig zu jehn pflegten, war doch die Freude groß. Geſtern
war ein dülterer Tag gewejen. Sonſt hätte man wohl einen
Ausflug auf den Paßwang anberaumt. Der unerwartete
Umſchlag zu günjtiger Witterung und heller Beleuchtung hatte
beide in die Gemäldefammlung geführt. Nun verabredeten
fe einen befcheidenen Nahmittagbummel.
Sie ftanden beide nod) ohne eigene Zamilie da. So war
es ihnen möglid), zur abgemachten Stunde einander zu treffen.
Ohne Zaudern wurde der Weg unter die Füße genommen,
über die Batterie und Reinach nad) Dornachbruck. Nicht ohne
eine fleine Meinungsverjchiedenheit hatten fi) die Freunde
noch im Mufeum für diefen Weg entihieden. Bon Hans,
dem Xelteren, war der Vorſchlag ausgegangen. Yerdinand
wandte dagegen ein, da jei man ja feine zwei Minuten vor
läftigen Begegnungen fiher. An einem Spaziergang fei ihm
das Tiebite das einjame Wandern zu zweit oder dritt und ein
vernünftiges Gejpräh dazu. Wem an lärmiger und unwill-
fommener Gejellihaft gelegen fei, der könne ja nad) dem
Waldhaus in der Hardt pilgern. Und wenn man aud noch
Leute fände auf dem Bruderholz, mit denen es ſich Iohnen
würde, zujammenzutreffen. Uber der reine Großſtadtpöbel
289 19
wälze ji über diefe Flur. Stumpflinnig trotteten jie ar
der ſchönſten Ausliht, an den reizendſten Waldwinteln vor—
über, nur auf das Glas Bier bevadht, das ihrer in der
Brauerei zu Reina Harre. Er Hatte jih in einen ordent=
lihen Aerger hineingefhimpft. Aber Hanſi fnüpfte an die
von feinem Kameraden jelber zugegebenen Borzüge der Land»
Ihaft an. Er ſtrich fie fo weiblich heraus, daß er ſchließlich
objiegte, zumal er Ferdinanden, der für alles Geihichtliche
eine Schwäche Hatte, von dem Thierjteinifchen Grenziteine
ſprach, der nicht fern vom Bruderholziträßchen im Felde jtehe.
So wanderten fie denn die neu angelegten Windungen
der Bruderholzitraße hinan, an den äußeriten Borpoften der
Stadt vorbei, an den Häufern, die dort oben in den letzten
Sahren entitanden find. Ihre zum Teil noch fnalltoten Dächer
hoben fi grell ab vom Hintergrund der Tannen und von
dem blauen Srühlingshimmel. Und wie Ferdinand befürchtet
hatte, jo erflomm mit ihnen eine Unzahl von Städtern die
Höhe, Schulbuben mit der qualmenden Zigarette im Mund;
Heilsarmeemädchen, am Hallelujahute kenntlich; Familien—
väter hinter dem mit zwei, drei Sprößlingen bepadten Kinder-
wagen, gefolgt von der Gattin, die den Reit der Hoffnungs-
vollen Brut im Schlepptau Hatte; Sünglinge mit den edigen
Bewegungen und den täppilchen Scherzen junger Hunde; ehr=
bare Bürger, die zufammen fannegießerten; Liebespärchen
und gepußte Frauen, furz der ganze Troß, den ein fehöner
lonniger Lenzjonntag aus der Straßen quetjhender Enge
berauslodt, ins 20. Sahrhundert überjegt der IOHEEIPOGIER:
gang aus des großen Dichters ſchönſtem Merf.
Unjere beiden Freunde waren auf feine läſtige Bekannt—
haft gejtoßen. Sie konnten alfo ruhig erörtern, wozu ihnen
die nächte Umgebung den Anlaß bot. Cs ſei doch Hübich,
wie jeßt überall der Heimatjchugitil zur Geltung fomme,
meinte Ferdinand. „Sa, du bilt auch einer von denen, die
jagen: Heimatihuß ijt, wenn man ein großes Dad baut“,
böhnte Hanfi. Und fo gerieten fie über die Frage, was unter
290
Heimatſchutz zu veritehen fei, in einen Gedankenaustauſch, der
fie den ganzen Nachmittag nicht mehr Ilosließ und durd
mandes, was fie auf ihrem Spaziergang an ji) porübergehn
fahen, nad) immer neuen Richtungen geleitet wurde und immer
friihe Anregungen erhielt. Freilich eine fnappe und jcharfe
Umſchreibung des Begriffes Heimatſchutz zu geben, erflärte ji)
Hans auf die Frage Jeines Kreundes außer Stande. Uber er
befannte jih als ein aufrihtiger Anhänger der Strömung,
die man als Heimatjchuß bezeichnet, injofern fie, und das Jet
jedenfalls ihre wichtigjte und am deutlichiten in die Augen
Ipringende Geite, auf allen Gebieten die Fabrikware gedanken—
lojer Schablone durch die Werfe guten Gejhmades zu ver:
drängen trachte. Er ſprach feine Zweifel darüber aus, ob
alle die Neubauten da oben den Anforderungen des Heimat:
Ihußes entipringen. Nicht jede Abfonderlichfeit fei, weil fie
dem herrſchenden Philiſter-Ungeſchmack widerſpreche, deshalb
ein Erzeugnis guten Geſchmacks. Das Gefühl für das Schöne
zeige ſich auch darin, daß der Geſamteindruck berückſichtigt
werde; und ob alle dieſe Häuſer gerade auf dieſe Halb ländliche
Anhöhe pajjen, ließe fi fragen. Wenige Hundert Schritt von
bier entfernt, Hinter der Spittelfheune an der Gundeldinger
Gtraße jtehe ein Häuschen, es ſei bloß zu verwundern, daß nicht
Nahahmungen davon, der Neuzeit anbequemt, zu Dußenden
entjtänden. Darin müßte ein heimelig Wohnen fein! Und wie
folde Bauten jeder Stadt und jedem Dorfe wohl anjtehn
würden! Er meine das Häuschen, das Thomas Platter einft
gefauft und in dem feine Nachkommen ihren Yandaufenthalt
genommen hätten. Darin trafen die Urteile beider Spazier-
gänger zujammen, daß heute mehr als früher jeder Bauherr
darnach tradtet, feine Wohnung nad ſeinen Bedürfniljen
und Liebhabereien einzurichten. Dadurch erhalten die Bauten
einen perjönlihen Anjtrid. Das Schablonenmäßige, das die
ältern Gtreden 3. B. der Eulerjtraße und der Holbeinitraße
jo unerträglich langweilig madt, verſchwindet dadurch mehr
und mehr.
291 19°
Unter folden Gefpräden waren fie zur weitſchauenden
Batterie gefommen. Hier waren alle Bänflein bejeßt. Hier
gab’s aud einen der gefürdteten unlieben Zujammenjtöße.
Hanfis Leibſchneider ſaß da, ein gemütlider alter Mann, aber
neben ihm fein geihwätiges Weib, das den Freunden von
weitem entgegenrief: „Guten Tag Herr U., guten Tag Herr B.,
ic) Habe Ihnen ſchon lange am Gang erkannt.“ Hanfi zudte
unter diefer Mikhandlung der Sprache zulammen, als hätte
man ihn förperlich beleidigt, und beinahe grob erwiderte er
furz den Gruß des biedern Paares. „Muß uns dies ver-
dDammte Weib den jhönen Punkt verefeln!“ zürnte er. Fer—
Dinand, mit einer ftillen Freude, daß feine Befürdtung fo
tajch eingetroffen war, verwies dem Xeltern fein abjtoßendes
Mefen. Aber Hanfi erklärte rundweg, er fünne nicht Höflich
fein mit jemandem, der „Shnen“ ſage anjtatt „Sie“. „Ad,
wenn’s das ijt,“ fagte Ferdinand, deſſen Vater aus Berlin
gekommen war, der Sohn aber war Schweizer, — „wenn’s
das ift, wie ſchwer mußt du dich denn ärgern, wenn du mit
meinem Alten am Tijche fieft, der mir und mid) aus Grund:
ja vertaufht!“ „Das läßt ji) gar nicht vergleichen“, ant-
wortete Hanfi; „im Berlinijchen iſt diefe Vertauſchung in Ord-
nung, fie entſpricht der Regel, fie ift Hajjiih. Aber das Ihnen
für Sie halten die Glätterinnen und Yadenjungfern für vor:
nehm und brauden es, genau wie fie jagen „i hätt jotte“ oder
„i ha wotte“ für i hätt jolle, i ha welle. Und jo viel ver-
Itehft gewiß auch du Baſeldeutſch, daß dir dieſe Yormen die
Haare zu Berg Iträuben.“
Das mußte Ferdinand zugeben. Die liebevolle Pflege
des Bafeldeutihen war ein GStedenpferd des guten Hans.
Aber bei diefen Ritten fonnte ihn der Freund nicht begleiten.
Diejem fehlte das richtige Ohr für die unverfälſchte Mundart.
Er war dazu im Vaterhaus nicht angelehrt worden. Aber
fein Gefühl gab dem Freunde bei ſolchen Herzensergießungen
immer Recht. Um es jedod nicht zugeben zu müjlen, |prang
er auf ein anderes Gebiet, gleichfalls ſprachlicher Natur über,
292
um Hanſi ein bißchen zu foppen. „Du Hoherprieiter der
reinen Sprache, wie fannit du es vor deinem Gewiſſen verant-
worten, den Ort, den wir joeben verlaſſen Haben, mit un—
deutihem Namen zu nennen? Warum heißen wir dieje Schanze
Batterie? Weshalb nit Hochwacht oder jo ähnlich?“ Aber
Hanſi nahm den Einwurf ernſt und fing an, fi) in längerer
Rede zu rechtfertigen. Wie es eine läherliche Ziererei wäre
und darum eine Sünde wider den guten Gejhmad, wenn er
die alte brave Batterie im Gegenſatz zu der ganzen Stadt
umtaufen wollte Gr mödte fi) überhaupt dagegen ver:
wahren, für einen Burilten zu gelten. Er bediene ſich des
Deutſchen mit Vorliebe, wo aber ein Fremdwort jeine Ge—
danken treffender wiedergebe, bediene er ſich unbedenklich des
Fremdworts.
„Aber ſieh,“ unterbrach er ſich plötzlich und wies auf einen
linker Hand in einiger Entfernung aus dem Feld aufragen—
den Steinpfoiten, „da iſt der Thierjteiniihe Grenzitein, von
dem ich dir gejprochen Habe. Man erkennt noch deutlich das
Reh im Wappen, und die form des ſtattlichen Balelitabs auf
der andern Seite beweijt deutlid, daß der Stein aus guter
Zeit jtammt. Schau, er trägt die Sahrzahl, 1519.“ Das
Baar trat an den Stein heran und unterfudte die Halb-
verwaſchenen Runen. Doch nit allzu lange.
Serdinand blidte auf und Tieß feine Augen ſchweifen
rundum von den Schwarzwaldhöhen über den Gempenitollen
nad) der langen Linie des Blauens, über das Tal, wo Dorf
an Dorf fih reiht und die verjhieden gefärbten Aecker den
Boden in unzählige Schadfelder ſchieden, er wies hin auf die
blühenden Obſtbäume und das frühlingfriide Grün der
Waldbeſtände. „Braudt diefes ſchöne Land überhaupt einen
Heimatihug!“ rief er aus. „Kann diefe Landſchaft unter
Gebilden von Menſchenhand leiden? Die Bahnlinie geht
unter im großen Bild. Den Ausſichtsturm auf dem Felſen
achtet man nicht mehr. Die Ruinen ringsum und die Dörfer
timmen zu den Linien der Gegend, daß alles in Eine große
293
4
Melodie zujammenflingt!“ Hanſens baslerijhe Nüchternheit
hätte fi zu einem jolden Loblied nie verjtiegen. Aber aus
des Sreundes Munde vernahm er’s gern. Wie fie von dem
alten Marfitein den blühenden Kirſchhbäumen des Weges
wieder entgegengingen, führte fie das Denfmal der Ber-
gangenheit von ſelbſt auf die Geſchichte. Daß fie hiſtoriſchen
Boden beſchritten, wußten fie wohl. Hans hatte erjt vor kurzem
in einem feiner Sahrbud-Bände die Geſchichte über das Ge—
feht auf dem Bruderholz gelefen. Ueber mandes Schloß,
deſſen Trümmer in der Ferne jihtbar wurden, wußte er Be—
Iheid aus dem Werf über die Sisgauer Burgen, das er eifrig
Itudierte. So trug der Marſch durch den Wald, am Dentmal
vorbei und über den Fleiſchbach fein eigenes Gepräge. Und
wenn aud, was der Freund dem (sreunde vortrug, nit das
Ergebnis eigner Forſchung, jondern nur aus abgeleiteten
Bächen gejhöpft war, jo gewann es doch feine Friſche und fein
eben dadurd, daß es an die Wirklichkeit anfnüpfte, feine
Märme dadurd, daß Vortragender und Zuhörer mit dem
Herzen dabei waren.
Gie traten aus dem Wald. Reinach lag vor ihnen. Mit
Einem Blid überfah man Birsed, Dornach, Pfeffingen. Die
Barodtürme der Domkirche in Arlesheim und die |pife Nadel
des Reinacher Kirhleins wie aud der Käsbiljen von Ober:
dornach, jedes mit der ji zu feinen Füßen ſcharenden Herde
von Dädern, alles in ein Meer von friihdem Grün und Blüten
getaucht, überftrahlt von zartblauem Yrühlingshimmel, an
dem weiße Wölklein Hinjtrichen, dieſes heimatliche Bild ließ
ihnen wieder den Gedanfen des Heimatſchutzes lebendig
werden. Warum blidt jo wenigen unſerer Mitwanderer hier
das ehrlide Entzüden aus den Augen? jo mußten fie fid
fragen. Beſitzen wir einen Sinn mehr als die große Menge,
die gleihgültig an diefer Frühlingpracht vorbeiläuft? Oder
maden wir große Worte über etwas, was dieje till genießen?
Dover belügen wir uns gar jelbit, wenn wir in diejer alltäg-
lihen Landſchaft etwas bejonderes ſehen?
294
Hans und Ferdinand mußten ſich geitehen, daß fie zum
Genuß der vor ihnen liegenden Landſchaft bejjer ausgerüjtet
waren als der Durchſchnitt der Sonntagsbummler. Bon
früher Jugend hatten die verjtändigen Eltern jie oft und viel
hinausgeführt. Später waren die Burfche auf eigene Fauſt
gewandert. So Hatten fie fih zu leidenjdaftlihen Fuß—
gängern ausgebildet. Sie jeßten ihren Chrgeiz Darin,
namentlih in der jchweizerijhen Umgegend von Bajel, im
herrliden Jura tüdhtig befannt zu werden, und je mehr Ge-
heimnijje fie dem Gebirg ablaujhten, um jo reizendere neue
Pfade jahen fie im Dickicht verihwinden, deren weiterem
Verlauf demnädjt nachzuſpüren jie ji) vornahmen. Und das
Feld ihrer erjten Märſche lag Heute vor ihnen. Kein Wald—
Tled, feine Blöße, feine weiße Kalfflippe, die fie nicht ſozu—
jagen perjönli fannten. An jede Anhöhe fnüpften fih für
jte Erinnerungen von meiſt gemeinjam ausgeführten Märſchen.
Aber, jo führte fie ihre Erörterung weiter, dieje Freude
an der Natur verdanfen wir dem Vaterhaus und einer Ge—
wöhnung von Jugend auf. Die Erziehung fam eigener Nei-
gung entgegen. Die Freude am Wandern, das Interejje für
alles, was auf dem Heimatboden ſteht und wächſt, ſich regt
und ſich zugetragen hat, taucht aus einer innerlichen Anlage
auf. Wir haben von Anfang an die Heimat lieb. Das ilt,
was uns von vielen andern unterjheidet. Wir dürfen’s uns
nit als Verdienſt anrechnen, ſondern zum Teil ijt’s Anlage,
zum Teil Erziehung. Wenn wir die Anlage, die wohl in
einem jeden ſchlummert, weden und leiten, dann treiben wir
rechten Heimatihuß.
Als fie mit ihrem Gedanfenaustaufc bis zu dieſem Punkt
gelangt waren — der Marſch Hatte fie inzwijchen mitten ins
Dorf Reina geführt —, jo braden beide Kameraden in
lautes Lachen aus. Feder fah den andern im Geilt als Präſi—
denten eines Heimatjchußvereins. Sie hatten aber beide ſo
gar nichts Pedantiſches oder gar Streberijches, daß die Vor—
stellung wirklich komiſch wirken mußte. Allein das Lachen ver-
295
ging ihnen raſch, als gleichzeitig von Aeſch Her ſchnaubend
und ftintend ein Auto, von der Stadt der Tram mit den erſten
übervollen Sommerwagen heranjaujte. Mit großen Sprüngen,
unter kräftigen Verwünſchungen retteten jie fih an die Wände
der Häufer. Kaum Hatten fie die Landſtraße betreten, jo war
fie ihnen auch gründlich verleidet. Es hätte aber diejes kleinen
Erlebniſſes gar nicht bedurft. Hans wäre dod) feinen andern.
Meg nad Dornahbrud gegangen, als den Fußweg über die:
Matten und die Weide und an dem Föhrenhölzchen vorbei.
Zwar hat aud) diejer Pfad verloren, feitdem fie den Dorf—
bad) eingededt haben. Aber es iſt doch immer noch anderlei
als die ftaubige Landitraße mit den langweiligen Arbeiter=
häuſern.
„Erinnerſt du dich, als wir letzten Herbſt hier vorbei—
kamen, die ſchönen Steinnägelein, wie Blutstropfen“, rief
Hans; „und die blühenden Waldkirſchen im Frühjahr, und
ſpäter die Akazien und die Waldreben“, ergänzte Ferdinand,
„ja, es iſt ein wahres Blumengärtlein hier, ſobald die Blumen
überhaupt anfangen.“ Dann begann man zu klagen, daß die
Blumenzudt nachgerade überfünitelt und verbildet werde.
Da jehe man auf jedem Balkon hochſtämmige Orangebäumchen
jtehn, aber der Dleander und der noch viel ſchönere Granat—
ſtrauch kämen in Abgang. In den Gärten mahe man den
Pflanz mit Canna und Gladiolen und Orchideen, während:
man eine währjchafte Geranien- oder Nelfenjammlung ſuchen
müſſe. Die jhönen Zugelrunden Dahlienblüten, der gegebene
Shmud für das Spundlod eines Faſſes Saufer, werden von
dem japanijchen Chryjanthemengewuder verdrängt, Ritter—
porn, Eijenhut, Türfenbund und Gretelein in der Hed finden
ih nur noch in den abgelegenjten Blumengärten, und ſelbſt
auf dem Roſenbeet blüht felten mehr die alteinheimiihe
Hundertblättrige. Dafür meint jedes Babi, es müſſe mit
Marechal Niel und Kaiferin Sofephine die tun.
"So nahmen unjere Spaziergänger den gärtnerifchen.
Heimatihuß übers Knie und ſchalten über der Zeiten Ver—
296
derbnis wie zwei Alte. Schon drohte noch einmal eine Er:
örterung über das Kapitel der Sprade, als Zerdinand einen
frühen Yalter als Schmetterling anitatt als Sommervogel
begrüßte. Aber zum Glüd waren fie jeßt vor dem Ochſen in
Dornahbrud angelangt. Hier famen ſie überein, daß fie
nit ſchöner Heimatſchutz pflegen fönnten, als indem fie nad
alter Väter ehrenwerter Sitte einträten und zufammen ein
Glas tränfen.
Unter den zart ergrünenden Bäumen im Goldihein der
finfenden Sonne, der Blick ſchweifend über die Waſſerfläche
der Birs und nad) der engen Klus dort Hinten, der waldigen
Lehne des Blauens entlang bis zur Dduftig verblauenden
Landskron war es ein behaglidhes Sitzen und ein gemütliches
Stündden. Noch einmal wurde das Keitmotiv des Nach—
mittags durchgenommen nad) feinen verjchiedeniten Geiten.
Wenn aud Hanſi wiederholt merken ließ, daß er als Alt:
eingejejlener in diefem Kapitel in erjter Linie berufen fei zu
reden, jo nahm ihm dies Kerdinand feineswegs übel, gut=
mütig wie er war, und grundjäglic mit ihm ja vollfommen
einverjtanden.
Eigentlich) hatten fie auch den Heimweg zu Fuß maden
wollen. Aber wem erging’s nicht ſchon Ähnlich, wie es ihnen
jegt bei der Tramijtation erging? Da jtand eben der Magen
zur Abfahrt bereit, und daneben im Begriff einzujteigen eın
Lehrer, zu dejien Klaſſe Hans und Ferdinand noch vor zehn
Sahren gehört Hatten. Sie waren beide gute Schüler ges
wejen. So war die Freude des Wiederjehens gegenjeitig.
Auf der Heimfahrt wurde dem erfahrenen und feinfinnigen
Gelehrten ein furzer Auszug der nachmittägigen Unterhaltung
vorgelegt. Da befannte ji) aud) der als ein aufrichtiger An—
hänger der Bewegung. Ihm blieb es vorbehalten, den Ge—
danken noch deutlicher auszujprechen, der aud) im Geſpräch
der beiden jungen Leute wiederholt ji) angefündigt, aber
nicht den richtigen Ausdrud gefunden Hatte: Heimatihuß,
richtig aufgefakt, als Schuß heimilcher altbewährter Art und
297
Gitte, ohne beſchränktes Felthalten am Alten, nur weil es alt,
ohne unverjtändigen Widerjtand gegen das Neue, nur weil
es neu ijt, das bezeichne ich als eine nationale, eine patrio-
tiſche Pflicht. Erſte Bedingung dazu ift Waterlandsliehe.
Auch auf dem Gebiete des Heimatjhußes, wie auf einem
andern gilt der Gab, daß wir ein tönendes Erz und eine
Hingende Schelle jind, jo wir der Liebe nicht Haben, der Liebe
zum Baterland, zur PVaterjtadt, zum Vaterhaus!
298
Das EZünftlerifche Leben in Bafel.
Dom 1. November J9]J bis zum 3). Oktober 1912,
Ein Rüdblid auf Theater, Mufif und bildende Kunft.
Don
Ernit Jenny, E. Th. Markees, Wilhelm Barth
und Robert Brüninger.
A. Theater.
Die Theaterjaifon begann am 18. September 1911 und
ihloß mit dem 31. Mai 1912. Bon den 260 Borftellungen
fielen 54 auf das Schauſpiel, 54 auf das Qujtipiel, 106 auf
die Oper, 37 auf die Operette; dazu famen 2 Poſſen und
einige Märchen: und Ballettarrangements. Drei Urauf-
Tübrungen von Werfen baslerifher Herkunft find
zu verzeichnen: „Das Kreuz der Rache“, ein Schaujpiel des
inzwilchen verjtorbenen, durch lyriſche Gedichte und durch Er-
zählungen befannt gewordenen Lehrers K. Alb. Burgbherr;
Die Oper „Simplicius“ unferes Dr. Hans Huber, und die
Operette „Die Wallfahrt nad) Mekka“ von unjerm Klarinet-
tilten KRapellmeilter Hermann Wetzel.
Der ſtatiſtiſche Rüdblid zeigt, daß das Iobenswerte Be:
itreben da war, nicht nur Neues, fondern auch Neues und
Gutes zu bringen. Was für den Plat Bajel neu war, das
durfte literariſch wie muſikaliſch wohl Intereſſe beanſpruchen,
wenn ihm auch eine ſtrengere Kritik nicht immer ihre un—
geteilte Billigung ſchenken konnte.
299
1. Das Shaujpiel bradte uns von Shafejpeare
den „Caejar“, den „Kaufmann von Benedig“, „König
Richard ILL“ und „Was Ihr wollt“. Bon Schiller jahen wir
den jeltener werdenden „Fiesco“ und „Maria Stuart“, von
Goethe den „Egmont“, von Leſſing „Minna von Barnhelm“ ;
fernere Höhepunkte im klaſſiſchen und nadklafliihen Drama
deutjcher oder fremder Zunge waren die Aufführungen von
Kleilts „Zerbrochenem Krug“ — eine bejcheidene Zentenar-
feier —, von Molieres „Geizigem“, von Sophocles’ „König
Dedipus“, von Calderons „Richter von Zalamea“, von Grill-
parzers „Des Meeres und der Liebe Wellen“, von Hebbels
„Judith“. Die neuere dramatifche Kunſt war vertreten durch
Sudermanns „Ehre“, Hauptmanns „Suhrmann Henjchel“,
„Weber“ und „Kollege Crampton“, Schönherrs „Glaube und
Heimat“ und Hardts „Tantris der Narr“. Bon Ibſen fahen
wir „Nora“, „Gejpenjter“ und „Stüßen der Gejellihaft“.
Zu den ftärfiten, wenn aud) äjthetifch nicht unwiderfprocdhenen
Eindrüden zählen die Aufführungen der Werke von Ibſen,
Calderon, Moliere, Hauptmann, dann Hebbel und Ernit
Hardt. Hervorragende Genüſſe verjhafften uns ein paar
Gajtjpiele: Frau Elje Lehmann vom Leſſingtheater
in Berlin trat in den „Gejpenjtern“ und in „Fuhrmann
Henjchel“ auf, die Basler Dtto Eppens vom Stadttheater in
Hamburg in „König Dedipus“ und im „Richter von Zalamea“
und Dr. Otto Groß vom Schauſpielhaus in Leipzig in der
„Verſunkenen Glode“; am meilten Beifall fand aber Herr
Alb. Ballermann vom Deutſchen Theater in Berlin, der Ge-
ftalten von padender Unmittelbarkeit und Lebenswahrheit
zeichnete und um ſich herum ein Zujammenjpiel der hiefigen
Kräfte zu erzielen wußte, wie man es noch ſelten hier gejehen
bat. | |
Um den Kern von Stüden anerfennenswerter Solidität
in fünftlerifher Beziehung gruppierte fih dann eine Anzahl
von ſolchen, die zur leihteren Theatermware gehören,
Theaterfutter, ohne das feine Bühne ausftommt. Daß darin
300
die eigentlihen Kaljenjtüde feinen allzu großen Raum ein:
nehmen, verdient bemerft zu werden, befonders aud), daß
leichtere Zujtipiele mit hiltorifhem Hintergrund und Koſtüm
wie Herihs „AnnasLije“ und Niemanns „Mie die Alten
jungen“ zu Ehren gezogen wurden. Zugitüde wie Rößlers
„Klubfeljel“ und „Fünf Frankfurter“ fanden nicht unver:
dienten Beifall.
Mehrmals bejuhten uns franzöfifhe Truppen.
Vom Standpunft eines anjprudgspolleren Geſchmacks in lite—
rariſchen Dingen fühlt man fi) allerdings verſucht zu Jagen:
fie juhhten uns heim; denn, was fie außer dem «Tartuffe>
brachten, war der abgeblaktejte Victor Hugo oder moderner
Shund. Man möchte diefen Herren gerne die Weisheit ein-
prägen, daß „hinter den Bergen auch Leute wohnen“. Viele
Bejuder freilich wollen ja im franzölifhen Schauspiel nichts
weiter genießen als die fultivierte Spradfunit, und da
fommen fie meijt auf ihre Rechnung.
2. Die Dper bradte verjchiedene Neueinftudierungen:
jo „Sphigenie in Aulis“, „Sojeph in Yegypten“, „Don Juan“,
„Sberon“, „Die verkaufte Braut“, ferner Wagners „Rhein
gold“, „Siegfried“ und „Götterdämmerung“. Auch einige
Dperetten erfuhren ein neues Studium; neu für Bafel waren
jodann die Oper „Robins Ende“ von Künnefe und die Ope—
retten „Walgertraum“ und „FZünfuhrtee” Von Wagnerfchen
Opern jah man nod) „Tannhäufer“ und „Lohengrin“, und mit
der „Walküre“ ſchloß jich der „Ring“, den man aljo im Monat
Mai zufammenhängend genießen fonnte. Freunde eines klaſ—
fihen Repertoirs freuten fih an „Don Juan“, „Figaro“,
„Sidelio“, an „Sphigenie in Aulis“, „Sreifhüg“ und „Oberon“
oder auch an „Sojeph in Aegypten“; Verdi, Thomas, Bizet,
Smetana, d'Albert famen aud etwa zum Wort; aud) der
„Rofenfavalier“ war troß den Prophezeiungen der Strauß:
Gegner noh am Leben. Und für die leichtere muſikaliſche
Unterhaltung jorgten die Operetten. Unvergehliche Abende
Ihufen die beiden MWagnerjänger Dr. Alf. von Bary von
301
Dresden und Fri Feinhals aus Münden. Den Bejudern
des jehweizerifhen Lehrertages wurde am 2. Oktober 1911
Gounods „Margarete“ geboten.
Die neue Spielzeit begann am 16. September 1912.
B. Konzerte.
Die Konzerte behielten ihren Charafter bei, und be-
ſondere Bemerfungen über das hiejige Muſikleben find nicht
zu machen. Wir geben daher, wie immer bisher, nur furz
eine Ueberfiht der hauptſächlichſten Erjcheinungen.
Die Allgemeine Muſikgeſellſchaft ftand mit
ihren von SKapellmeilter Suter geleiteten zehn Sym—
phoniefonzerten und ſechs Kammermufifabenden an der
Spitze des mufifalifhen Lebens. In die Programme der
Syrshoniefonzerte wurde durch Heranziehung von Chor=
mufif größere Abwechslung gebraht. Neben befannten
Merken famen aud eine ganze Anzahl Novitäten zu Gehör;
jo war Hans Huber mit einer neuen Symphonie
(A-dur, Rt. 6) vertreten, Siegmundvon Hausegger
ebenfalls miteiner SymphboniemitChorundDüOrgel,
und Sriedrih Kloſe mit einem Melodram „Die
Wallfahrt nah Kevlaar“. Das erjte Konzert fiel
auf die Hundertjährige Geburtstagsfeier rang Liſzts;
das Programm war dementjprehend gehalten. Bon den
Soliiten der Konzerte feien genannt Bujoni, rau Du-
tigo, Serato; außer ihnen wirkten eine Reihe unferer
einheimiſchen Kräfte in gewohnter Weije joliitiih mit. In
einem Konzert trat eine Sängergejellidaft, die Mündener
Madrigalvereinigung auf. Ein Ertrafonzert brachte
uns einen Bahabend, in dem Werfe für zwei und drei
Klaviere mit Orcheſter zur Aufführung gelangten. Soliſten
waren die Herren Prof. Mar Neger, Philipp Wolf:
rum und KRapellmeilter Hermann Suter, ferner die
Herren Buddenhagen und Kötſcher.
Bejondere Erwähnung verdient ein Orcheiterfonzert
302
größten Stiles, das im April jtattfand; es wirkten dabei die
Kapellen von Bafel, Züri und Bern und zum Teil aud vor
Sreiburg ti. Br. mit. Zur Aufführung famen u. a. unter
Kapellmeilter ri Brun aus Bern die C-moll-Symphonie
von Brahms und das Meilterfingervorjpiel von Wagner.
Die Rammermufiftabende hatten ebenfalls ihre
gewohnte Phyliognomie in Bezug auf ihre Programme wie
auch auf ihr Publifum. Die Quartettvereinigung beitand
aus den Herren Kötſcher, Berthoud, Kühler und
Treidhler.
Der Basler Geſangverein (Leitung: 9. Suter)
trat zuerſt am 9. Dezember mit den Hier jeit längerer Zeit
nit mehr gehörten «Beatitudes> von Cejar grand
auf den Plan. Am 8. und 9. März folgte dann, ebenfalls
im Münlter, das „Deutihe Requiem“ von Brahms
und im Juni als Abſchluß der Saiſon Sebaftian Bachs
„Matthbäuspaffion“, der ein weltlidies Bachkonzert ich
anſchloß. Soliſtiſch waren tätig im erjten Konzert die Damen
E. Homburger, A. Rahm-Fiaux, 2. Barblan und
die Herren R. Plamondon, San Reder, Dr P.
Deutſch und U. Siebenhaar; im zweiten: Frau Lo b—
tein-Wirz und Herr P. Bovepple; im dritten Frau
Koordewier-Redingius, Frl. M. Philippi, die
Herten van Dort, 9 Nahm, 9 Ernft.
Die Basler Liedertafel ließ fih erſtmals bet
Anlaß des 2. Shweizerifhen Lehrertages in
einem Münjterfonzert hören. Zur Aufführung gelangten
eine ganze Anzahl von Eleineren Geſängen der verſchiedenſten
Meilter. Dann beteiligte fie fih an der Liſztfeier der
Allgemeinen Mufitgefellfhaft und gab ihr Winter-
fonzert im Januar; es wurden dabei außer einem
Shubertjihen Werf nur Kompofitionen von ſchweize—
riſchen KRomponijten vorgeführt (VB. Undreae, 9. Huber,
O. Scho eck und 6. Weber). Solilten waren Frau Wirze
Wyhb (Bern), die BVereinsmitglieder Hö. Hans Ernft
303
und Karl Jakob und Herr €. ©. Breil (Orgel). Im
Programm des Frühjahrsfonzertes interejjierte be-
fonders eine Nummer, ein „Requiem“ für Männerchor
von Max Neger; außerdem famen noch Chöre von %r.
Hegar, Guſtav Weber und Auguſt Walter, ebenjo
von alten Meiftern des 16. Jahrhunderts (Orlando di
Laſſo und Donati) zu Gehör. Die Liedertafel wirkte
dann, wie der Gejangverein, bei der Aufführung eines von
Hermann Suter zum eidgenölliihen Turnfeit kom—
ponierten %eitipieles mit.
Der Basler Männerchor (Dirigent CE. Sul.
Shmidt) gab zwei Konzerte, eines im November, das
andere im Mai. Beide Programme enthielten Chöre der
befanntejten Meifter des Männergefangess. Mitwirkende
waren im eriten Konzert Frau E. Hügli (Bern), Herr 9.
Wetzel und Herr 3. Shlageter, im zweiten Frl. M.
Philippi und Herr A. Hamm. — Wir geben, wie oben
erwähnt, alles nur im Auszug und verweilen die LXejer, die
fih näher für diefen Zweig unferes fünftlerifhen Lebens
interefjieren, auf die Sahresberichte der betreffenden Geſell⸗
ſchaften und Vereine.
C. Malerei und Plaſtik.
Im November 1911 beherbergten die obern Räume der
Kunſthalle die in dieſem Jahre ſehr reichhaltige Ausſtellung
der „Basler Künjtlergejellihaft“. Neben mehr vereinzelten
Einjendungen waren darin mit Gruppen von Bildern ver
treten Eugen Ummann, E Beurmann, Paul Kam—
müller, Stanz Krauß Burkh. Mangold, Dtto
Mähly, Albr. Mayer, Fri Mod, Chriſtoph Dehler,
Karl Pflüger, Adolf Siegrift, Hans Süffert, Albert
Magen, Jakob Wagner (Locarno). Von Schweizern in
Münden beteiligten jih €. TH. Meyer, 9. B Wieland
und Ernit Rinderfpader, leßterer mit mehreren Glas:
bildern, aus Berlin das Künftlerpaar Burger. Bon plafti-
304
Ihen Arbeiten Hatten ausgeitellt Hans Frei einige Pla-
fetten und Medaillen, Aug. Heer (Münden) eine Marmor:
büjte, Safob Hofmann (Münden) mehrere Bronzen. —
Der erite Stod enthielt neben der Kolleftivausitellung von
YHquarellen Andre Engels (Laujanne) einige Land:
Ihaften von Hermann Daur (Detlingen) und eine größere
Serie Radierungen von R. Unheißer (Karlsruhe).
Die Meihnadtsausitelung war wie immer ſtark beſchickt.
Ihr Gejamtbild Hat fich feit ein paar Jahren verändert durch
die regelmäßige Beteiligung einiger jüngerer, hauptſächlich
in Baris ausgebildeter Maler, die auch diesmal mit teil-
weile umfangreichen Werfen auftraten; jo Numa Donze
mit einem überlebensgroßen Entwurf „Amazonenfampf“ und
einer Reihe Rheinlandihaften aus der Gegend unterhalb
Balels; Baul Barth mit den Früdten feines Sommer:
aufenthalts an der ſüdbretoniſchen Küſte; Karl Did mit
Zandichaften und dem Porträt feiner Mutter, wohl feiner
bis dahin feiniten und abgeflärteiten Leiſtung, die von unfrer
öffentlihen Kunitfammlung erworben wurde; Heinrich
Müller mit Landidaften und Volfstypen von feiner griedi-
Ihen Reife. Vom übrigen Inhalt diefer Weihnachts-Kunſt-—
Hau feien als bejonders bemerkenswert erwähnt: die Bild-
nile von Hermann Meyer, die Landfhaften von Paul
Burdhardt, deren eine vom Basler Kunftverein ange:
fauft wurde — eine weitere Erwerbung des Kunjtvereins war
das GSelbitporträt von Ed. Niethbammer —, die Marinen
von Rud. Löw, die Akt- und Porträtfompofitionen von
Eſther Mengold und die friſchen Studien von Ernit
Buhner. i
Sm Sanuar 1912 war der Oberlichtſaal Hermann
Meyer eingeräumt für die Kartons und Studien zu feinen
kirchlichen Malereien: die Bruftbilder der zwölf Apoftel, als
Glasbilder entworfen und ausgeführt für die Kirche von
Degersheim (St. Gallen); dann die ganzfigurige Doppeiferie
alt= und neutejtamentlicher Geitalten für die Fenſter der Kirche
305 20
von Flawil (St. Gallen); an der Rüdwand des Gaales die
tiefige Halbfreisfompolition der „Bergpredigt“, gleichfalls
Glasgemälde-Entwurf für die letztgenannte Kirche; endlich,
an der Eingangswand, das Driginalgemälde „Abendmahl“
von der Flawiler Orgelempore. Das Ganze umrahmt von
zahlreichen zeichnerijchen und farbigen Studien, die einen Ein=
blid gewährten in das Entjtehen diefer monumentalen Ar⸗
beiten.
Noch im Januar hielten die klaſſiſchen franzöſiſchen Im—
preflioniften ihren Einzug in die untern Räume der KRunit-
halle, mit einer jo zahlreichen Kollektion, wie fie Baſel unfres
Millens noch nie beieinander gejehen hatte. Einer fehlte zwar,
Ed. Manet, der einjtige Vorläufer der Richtung. Degas
und Renoir waren nicht mit bedeutenden Werfen ver=
treten. Dafür waren 5 Landihaften von Claude Monet
da, worunter namentlich zwei mädtige Marinen; von Gi s-
ley 8 und von Piſſarro gar 18 Gemälde. Lebterer konnte:
fo beinahe in allen feinen malerifhen Wandlungen verfolgt
werden. Ueberhaupt erhielt damit unfer Basler Publikum,
das die Entwidlung der modernen Malerei nit an den
Hauptfunftzentren jelbjt verfolgt hat, einen Begriff von jenen
Klaflitern des franzöſiſchen Plein-air. Zwei jüngere hiefige
Künjtler bemühten ji), eines oder zwei diefer Dokumente
moderner Kunjt durch Subjfription für Bafel zu ſichern und.
bradten es dazu, wenigjtens einen Pillarro für unfre Kunſt—
fammlung erwerben zu fönnen. Ihrer Bedeutung entſprechend
wurde die Smprejjionijtenausitellung bis Ende Februar ver=
längert. — Bon den Ausitellern des Januars fei noch der
junge, kräftig vorwärt jtrebende Bildhauer Auguſt Suter,
zurzeit in Paris, genannt.
Der Yebruar vereinigte in den obern Ausitellungslofalen
ein buntes Gemiſch kleinerer Kolleftionen, wobei Zeichnung
und Graphik überwogen. Es waren dies — um das Haupt—
fähhliche zu nennen — Studien landihaftlicher und figürlicher
Art von Ernit Buchner (Bajel), Landidhaftsitudien in
306
Tempera aus der Toscana von Roſa Paul (Baris), einige
größere Landihaftsbilder von Victor Surbed (Bern);
Borträtbilder in Del, Rötel: und Kohlezeichnung von Eſther
Mengold (Bafel); eine zahlreihe Kollektion von Ge—
mälden und Graphik in verfchiedener Technik von Hans
Bolfert (Münden); endlih eine Reihe Landfchaften von
30. Shönenberger (Bajel).
Im März bradte Heinrt Müller den größern Teil
jeiner malerifchen Ausbeute aus Griechenland zur Ausitellung,
BaulBarth zwei Kinderbilder, 5. Marg. Frey (Bern)
eine Serie Bildnijfe und landihaftlide Studien. Geſchloſſen
ftellten aus die aargauer Landidafter Otto Wpyler,
Erneſt Bolens, Dtto Ernfit, E Egger. Unter den
mehr als 100 Gemälden diejer Künjtlergruppe waren außer
der Landſchaft Porträt und Stilleben reich vertreten. Eine
interefjante Auswahl großer Radierungen Hatte W. D. 5.
Nieuwentamp aus Holland gefandt, Kleine zierlidhe
Bronzen U. Daumiller aus Münden. — Im erjten Stod
fand gleichzeitig die Separatausitellung Otto VBautier
(Genf) jtatt. Es waren 60 Werke, meijt in Del und Paſtell,
von diefem welſchen Maler vorhanden, deſſen erjtaunlicdhes
Können ebenjojehr der Boudoireleganz als der ländlichen
Srilche feiner aus disparaten Milieus geholten Bildvorwürfe
gerecht wird.
Sm April und Mai war die Kunjthalle der Schauplaf
einer über den Rahmen der üblichen Kunfthalle-Darbietungen
weit hinausgreifenden, durch eine vielgliedrige Kommiſſion
von langer Hand vorbereiteten Veranjtaltung, wie fie nur
etwa alle Vierteljahrhundert einmal unternommen wird:
der hiſtoriſchen Ausſtellung von Kunft und
KRunftgewerbe aus Basler Privatbeſitz, um—
faſſend die Perioden vom Ende des Mittelalters bis und mit
Empire, wobei das Dix-huitieme im Gejamtbild überwog.
Diefe große Unternehmung, zu der fi) die Hiftoriih-antiqua=
riſche Gejellfihaft und der Kunftverein zufammentaten, ein-
307 20*
gehender zu würdigen kann nit die Sache eines Beridht-
erjtatters über modernes Kunftleben in Bajel fein. Die
Hauptarbeit, das Sammeln und das Einridten, leitete
größtenteils der dem hiſtoriſchen Kunftgewerbe vorgeſetzte
Konfervator des hiſtoriſchen Mufeums. Das Plakat, eine
Altfranfen-Amateurgruppe in Oval, lieferte Burckh. Man-
gold. |
Mährend droben im Oberlidtjaal und zwei anjtoßenden
Gemädern die funftliebende Vergangenheit ihren Belig an
Mobiliar, Goldfchmiedearbeiten, Porzellan und Glas, Fächern,
Riechflacons und Tabafsdojen ausbreitete, bot jich dem Kunit-
verein Gelegenheit, gleichzeitig das Andenken an einen be-
deutenden Basler Künjtler aufzufriichen, der feit etwa einem
Sahrzehnt zu den Toten gehört. Sm Borjaal zur Sammlung
und bis in die Mitte des Sammlungsfaales ji) erjtredend,
ließ die Ausjtellung von Aquarellen Sans GSandreuters,
der ji) einige Temperagemälde und eine Anzahl Zeichnungen
angliederten, die für unſre ganze jüngere Künjtlergeneration
vorbildliche Meilterfchaft diefes Malers, jpeziell im Aquarell:
fach, noch Elarer hervortreten als zu feinen Lebzeiten. Die
Zahl der Beſucher jowie der Ankäufe bewiefen das Intereſſe,
das unjer gejamtes Publikum diefer Sandreuter-Ausftellung
entgegenbradte.
Sm Juni füllte die Kunjthallefäle ein buntes Gemiſch
verjehiedenartiger Einjendungen: einige Bilder und Studien
des Tiermalers RudolfKoller (T 1905) aus Privatbeſitz;
die größere Kollektion des Karlsruhers Arthur Grimm,
der in Porträt, Landihaft und Stilleben deutlich den dop⸗
pelten Einfluß feines Lehrers Trübner und der Pariſer Schu:
lung verriet; einige Gemälde feines Studiengenofien Rud.
W. Burdhardt (Bafel); eine Reihe Delbilder und gra-
philche Blätter der in Münden jchaffenden Baslerin Maria
La Roche; eine größere Zahl Aquarelle, meijt aus Holland,
von Fritz Mod (Bajel); Landihaften und Figürliches von
Paul Schürch (Olten); fehr bemerkenswerte graphifche
308
Blätter von Georg Jahn (Dresten). Dann eine
Brienzer Künjtlergruppe: Gemälde von Hans Wid—
mer, PBlaftit von Albert und Hans Yuggler. Eine
Geparatausftellung von plajtiihden Werfen veranitaltete
Auguſt Heer im eriten Stod. Endlich enthielt die Juni—
Ausftellung den fünjtleriihen Nachlaß des verjtorbenen Solo:
thurner Malers Walther von Vigier.
Rad) der zweimonatigen Sommerpauje eröffnete die Sep-
temberausjtellung mit jehr reichhaltigem Programm Die
Herbitjaifon.. Den Oberlichtjaal beherrſchte der in Paris
febende Schleſie Eugen Spiro mit 60 Bildern meilt
größern Yormats, aber nicht bloß durch Menge und Umfang,
londern durch die Verfhiedenartigfeit der Gegenjtände und
die befonders farblich hochſtehende künſtleriſche Qualität. Eine
ausgezeichnete Kopie von Manets „Olympia“ in Driginal-
größe eröffnete den Reigen jeiner Werke. Neben diejem
„Könner“ vermodten ſich immerhin zu halten der Landichafter
Affeltranger (Winterthur) mit feiner eigenartigen und
wirkſamen Technik, die an Gegantini und zugleid) an franzö-
fiihe Borbilder erinnert, und Srancois Gos (Münden)
mit feinen ſtark ftilijierten Landſchafts- und Figurenbildern.
Unter den übrigen Ausjtellern befanden ji) drei jüngere
Basler Künſtler mit größtenteils graphiihen Gerien: Ru:
dolfDürrwang, Arthur Riedel, Regnault Sa
raſin. Im eriten Stod veranitaltete EmilBeurmann
eine Sonderausitellung mit mehr als 100 Nummern. Dem
fauffräftigen Publifum gefielen namentlih feine friſchen
Aquarelle und die zahlreichen Blätter, in denen er mit Kohle
und Farbſtift die Eleganz modiſch gefleideter Frauen feit-
gehalten.
Für den Oftober endlich Hatte ſich die Parifer Societe
des Humoristes, der eine der beiden franzöſiſchen Karifa-
turiftenverbände, in Bajel zu Gajte geladen. In gewaltiger
Zahl langten die Produfte des franzöſiſchen Humors, der ja
nit jedermanns Sade it, in der Kunjthalle an — Skizzen
309
kleinſten Umfangs mit großen Delgemälden, lebensgroße
Gruppen in Gips neben Miniaturbronzen und — Terra=
totten — und wurden auf Wände, Sodel und Vitrinen ver:
teilt. Bon befannten Namen waren darunter Leandre,
Chapuy, Morin, Sandoz, Boutet de Monvel x. — Es war
bei den Raumpverhältnifjen der Kunfthalle beinahe ein Glüds-
fall, daß die für denjelben Monat angemeldete „Basler
Künftlergejellihaft“ nicht ihre fämtlihen Mitglieder zur Be-
teiligung veranlaljen fonnte. Ihre Kolleftivausjtellung bot
ein recht Tüdenhaftes Bild, in dem Karl Pflüger, E. TH.
Meyer (Münden), Chriſtoph Dehler und der Me:
dailleur Hans rei bejonders hervortraten. Auch der jeht
in Locarno anfällige Hans Garnjobit, der während
langer Sahre von Basler Ausjtellungen ſich ferngehalten,
hatte einige Gemälde eingejandt.
D. Urditeftur.
Sm vergangenen Jahre find an verſchiedenen durch Ver:
fehr und Lage hervorragenden Punkten der Stadt größere
Bauten entitanden, durch welche das Straßenbild jeweilen
befonders jtarf beeinflußt worden iſt. Vor allem können zwei
Beilpiele in der inneren Stadt angeführt werden, beides
Werke von Architekt Neufomm, die zurzeit noch unvoll-
endete Volksbank, weldhe für die diesjährige Chronik noch
außer Betradt fällt, und der Neubau des Walde an der
Mittleren Rheinbrüde auf Kleinbasler Ufer. Lebterer ijt
ein vierjtödiger Bau mit hohem Manſarddach; auf Höhe des
Brüdenniveaus wird zurzeit eine Terrajje über den Rheinweg
vorgebaut, was die abnorme Höhe des Haufes, von Weiten
gejehen, für das Auge etwas mildert und wenn die jeßt blen-
dend weike Steinmajfe in einigen Tahren eine natürliche
PBatina angenommen hat, wird fie jih auch harmonifcher in
die Umgebung einfügen.
Mehr der Umgebung angepaßt präjentiert fih an der
obern Treienftraße der ausgedehnte Erweiterungsbau der
310
Basler Handelsbant von Arditelt Fri Stehlin. Durd
die ftarfe und eigenartige, den neuſten Bedürfniſſen eines
großen Bankgeſchäftes entiprechende Gliederung, jtellt ſich die
helle Hauſteinfaſſade als jelbitändiger Teil des ganzen Ge-
bäudelompleres dar, in dem, von der Freienſtraße her durch
zwei weite Toröffnungen im hohen Sockelgeſchoß zugänglid),
einerfeits die Mechfeljtube, anderfeits der Schalterraum an-
geordnet Jind, leßterer in wirkungsvoller Ausitattung mit
Dunfelrötliher Marmorverfleidvung und mit feingearbeitetem
Mefiingwerf.
Ein weiteres Banfinftitut, die Hypothefenbant in Bajel,
an der Elijabethenjtraße Hat durch Umbau ihres alten Haufes
und durch einen Anbau an Gtelle des Nebenhaufes Nr. 34
ebenfalls neue Gefhäftsräume gewonnen. Die Faſſade des
ganzen Gebäudes hat durh Putarditeftur eine wohl über:
legte Umgeitaltung erfahren, dur) maßvolle, folide Einfach—
heit in Verhältniljen, Profilierung und Dekoration an die
guten Beilpiele einer vergangenen Zeit erinnernd; die Ardi-
teften waren Suter & Burdhardt.
Demnädjit wird noch ein weiteres Gejhäftshaus an der
Clifabethenftraße von denjelben Architekten im Aeußern fertig:
geitellt fein, der Neubau für die Speditionsfirma Goth & Co.,
deſſen Faſſade über dem maflig gehaltenen Sodelgeihoß eben:
falls in Pugarditeftur originell durchgebildet if. Die hohe
Pilajteritelung und der ausgiebig verwendete plajtifche
Schmud in Form von Guirlanden, Blumengehängen und Me:
Daillons ergeben eine überaus lebhafte Wirkung.
Das am Klofterberg errihtete Magazingebäude gliedert
fi) dank der guten arditektonifhen Geftaltung fehr günitig
den alten heimeligen Gebäulichfeiten an der Theaterjtraße an
(Architekt Fritz GStehlin).
In der Steinenvorſtadt, deren Straßenbild ſchon ſeit
Jahren durch keinen Neubau verändert worden iſt, fügt ſich
als ganz neuartiges Glied die Faſſade des Variété-Theaters
Küchlin in die alte Häuſerreihe ein. Der ganze Bau dieſes
311
Theaters erjtredt fi) von der Steinenvoritadt bis zum Birfig-
bett; neben den Haupteingängen befinden ji) Verfaufsläden,
im erjten Rang gegen die Straße liegt das in Grün gehaltene
Foyer, und gegen den Birfig find die Garderoben für die Ar—
tiften in einem befondern Bau untergebradt. Das Theater
fann bis 1500 Perſonen fallen; zwei amphitheatraliih an—
fteigende Ränge und das Barterre enthalten gegen 1000 Sitz-
pläte. Die Hauptfaſſade, vollitändig in Muſchelkalkimitation
ausgeführt, zeigt eine gewaltige Säulenjtellung doriſchen
Stils von fieben Halb-Säulen; in jeder Travee zwiſchen den
Senjtern des zweiten und dritten Geſchoſſes find figürliche
Hochreliefs mit allegorifhen Darjtellungen von Tanz, Mufik,
Gymnaftif u. |. w. angebradt.
Die eriten Entwürfe zu diefem Theater wurden dur
Baumeilter Echtermeyer in Berlin angefertigt, die weitere
definitive Bearbeitung des Projektes in fünjtlerifher und
fonjtruftiver Beziehung lag in den Händen der Arditelten
Widmer Erlader und Calini, Jowie des Prof.
Läuger in Karlsruhe.
Das Eckhaus Lindenhof-PBeter-Merianitraße der Archi—
teften E. Bijher & Söhne, mit Geihäftsräumen im Erd—
geſchoß zeigt einen originellen architektoniſchen Aufbau.
Die Bebauung der Edliegenihaft St. Jakobſtraße-Lange—
galje, über die ſchon im vorjährigen Jahrbuch berichtet wurde,
hat nun durch Erjtellung von zwei großen, zu einer einheit=
lihen Gruppe vereinigten zweiltödigen Einfamilienhäufern,
lowie eines Einzelwohnhaufes in reizuoller Lage, rings von
Gartenanlagen umgeben, ihren Abſchluß gefunden. Die beiden
Häufer Nr. 43 und 45 zeichnen fi durch eine in Form und
Farbe ſtark markierte architektoniſche Behandlung aus,
während das von der Straße abliegende Haus Nr. 10 an der
Langen Gafje jeiner Umgebung entſprechend in freiem, friſchem
Stil gehalten ift. Alle drei Neubauten find von den Archi⸗
tekten Burckhardt, Wenk & Eo. entworfen.
Im äußern St. Albanquartier finden wir keine nam-
312
haften Neubauten, außer den beiden zujammengebauten Ein-
familienhäufern Nr. 121 und 123 an der Harditraße unter
behäbigem Manjardendad), von den Arditeften La Rode,
Stähelin& Co, ferners dem Tierheim an der Peripherie
der Stadt bei Birsfelden, nahe der Birsbrüde, zwiſchen Fluß
und Bahndamm gelegen; Arditelt Heinrih Flügel hat
dort eine hübjche, in allen Teilen zwedentiprechende Anlage
geihaffen.
Auf dem rechten Birfigufer bleibt noch über die beiden
bedeutenditen Bauten zu berichten, welche diefen Herbit voll:
endet worden find. Das neue Verwaltungsgebäude der Basler
Lebensverjiherungsgejellihaft am Aeſchenplatz fand bei Ge-
legenheit jhon in beiden vorhergehenden Sahrbüdern Er:
wähnung. Heute ijt dieſer ftattlide Bau der Arditekten
E. Bifher & Söhne in allen Teilen fertiggeftellt. Die
ganze Baumajje in ihrer Geſchloſſenheit mit der jtrengen, faft
erniten Formengebung und Gliederung fommt auf dem weiten
Plaß zu jtarfer Wirkung.
Um 26. und 27. Oftober fand fodann die Einweihung
der Heilig-Geiltfirde der römijch-fatholifhen Gemeinde an
der Thierjteinerallee ftatt; eine bei diefem Anlaß heraus-
gegebene Denfihrift berichtet ausführlih über die Baus
geihichte und die Bauausführung, über das Geläute und die
Baufoiten. Die Pläne zu diefer Kirche wurden gemeinfam
dur) die Architekten EC. A. Medelin Freiburg im Breisgau
und Guſtav Doppler in Bafel ausgearbeitet; auch der
fürzli) verjtorbene Baudireftor Mar Medel, Bater des
Obigen, war noch am Entwurf fünjtlerijch beteiligt. Die
ganze Anlage umfaßt außer der Kirche das Pfarrhaus und
die Giegrijtenwohnung, diefe im Hof an die Südſeite des
Chores angebaut, jenes an der Thierfteinerallee durch einen
zweigeſchoſſigen Querbau, mit offener Durchgangshalle von
der Straße nad) dem Hof, mit der Kirche verbunden; für ein
Vereinshaus, als fpäterer ſüdlicher Hofabſchluß gedacht, ift
noch Pla vorhanden. Der fchlanfe Turm mit feinem hohen
313
ziegelgededten Helmdah iſt an der Weitfafjade, zwiſchen
Mittelfchiff und Verbindungsbau nad) dem Pfarrhaus, an=
geordnet. Kirche und Nebengebäude find in charaktervollem
Ipätgotifhem Stil gehalten; die Gruppierung der Gebäude tft
ar und in der Silhouette einfach; um jo reiher und als be=
fonderer Schmud wirken die reizvollen Steinhauerarbeiten in
hellem Vogefenjandftein an Fenſtern und Portalen, an Balu-
ftraden, Kanzel und Taufitein.
Für das Stadtbild des äußern Gteinenquartiers un—
mittelbar am linken Birjigufer fommt die wirkungsvolle,
große Miethausgruppe, die zwiſchen Birfigjtrake und Tier:
gartentain am Viadukt von Arditet Rudolf Linder
erbaut worden ift, zu enticheidender Geltung. Die tiefe Lage
des Bauplates unter dem Niveau des Viaduftes einerjeits
und andererfeits die freie Ausfiht über das Nachtigallen—
wäldchen weg nad) den Jurahöhen veranlakten den Architekten
zu der eigenartigen Löſung in der Yusnükung des Terrains.
Der Haupteingang zu den Wohnungen ilt an die Nordfaſſade
auf eine Terrajje über dem hohen Sockelgeſchoß gelegt; von
dieſer nad) dem Viadukt ſpannt fich eine Betonbrüde über den
Ziergartenrain. Die eigentlihen Wohngeſchoſſe des Haufes
find jo ziemlih Hoch über die Birfigftraße gehoben, um den
Wohnungen eine möglichjt alljeitig freie Lage zu fihern. An
der Nordfeite iſt die Faſſadenflucht gegen die Mittelachfe hin
ſtark zurüdgebogen, fo daß zwei Flügelrifalite vortreten; die
Mittelpartie gegen den Viaduft läuft oben in einen breiten
gejchweiften Giebel aus. Das ganze Gebäude mit dem ziegel-
gededten Manſarddach ijt unter Anlehnung an alte hiefige
Beilpiele in gemäßigten baroden Yormen gehalten. Längs
des Rümelinbaches befindet ſich zurzeit ein ebenfalls für Miet-
wohnungen bejtimmter Ylügelbau in Ausführung, der fidh
dem Hauptbau unmittelbar anjchließt.
Die bejtändige und ziemlich rafche Ausdehnung der Stadt
gegen Weiten fann auch diejes Jahr wieder Zonjtatiert
werden; ohne die einzelnen Objekte des Nähern zu beſprechen,
314
jeien hier einige Gruppen von Keinen Einfamilienhäufern
erwähnt. So an der Kluſerſtraße die Häufer Nr. 33, 35
und 37, an der Marſchalkenſtraße Nr. 40 bis 46, an der
Benkenſtraße Nr. 7 bis 19, ferners vier Häujer Ede Bätt-
wiler:Neubaditraße.
Sm übrigen erbaute das Baugefhäft Gebr. Stamm
an der Obermwilerjtraße bei Einmündung der Bachlettenſtraße
einige größere Miethäufer mit anſprechender Faffadenbildung.
Auch das Haus NRütimeyerftraße 64 mit hübſcher Straßen:
front verdient an diejer Stelle Erwähnung.
Außerhalb der Yeltwiefe auf der Schüßenmatte ver-
größert ji) das Kleine Quartier zufehends; als Beifpiel fet
hier nur die große Gruppe von komfortablen Einfamilien-
häufern Nr. 110 bis 118 an der Neubaditraße von Architekt
Heinrich Flügel genannt.
Das äußere Spalenquartier, wo Die Bebauung ebenfalls
ftetig fortjchreitet, Liefert für diefe Chronik felten nennens=
werte Beijpiele der Bautätigkeit.
Die drei Fleinen eingebauten Häufer Sennheimeritraße
55, 57 und 59 feien als einzige Repräjentanten jener Gegend
hier namhaft gemadit.
Erit wieder auf bajellandihaftlidem Boden, im langen
Lohn wird unfere Aufmerffamfeit auf eine hübjhe Gruppe
von fieben aneinander gebauten Häuschen und ein einzel-
ftehendes größeres Einfamilienhaus gelenkt, wo der Anfang
zur Anlage einer kleinen Gartenjtadt gemadt ift; der Be—
bauungsplan dazu und die bis jet erftellten Bauten find
von Architekt Cugen Tamm entworfen. Die großen, ein-
fachen, roten Dachflächen, das rotgeftrihene Holzwerk und der
hellgraue Verputz verfehlen nicht eine frifhe frohe Wirkung
und man empfindet, daß der Architekt bei Anlage diejer
Häufer niht dur hemmende ftädtifhe Bauvorſchriften ge-
bunden war.
Die Leine, duch die Basler Baugeſellſchaft er
jtellte Eigenheimfolonie an der Lenzgaſſe Hat auch diefes Fahr
315
durch eine neue Vierhäufergruppe, Nr. 6 bis 12, eine Ber:
größerung erfahren.
Auch ſonſt vollzieht fih im St. Johannquartier die Aus—
breitung der Stadt für hiefige Verhältnijfe ziemlich jchnell
und es zeigen fich dort vor allem indujtrielle Anlagen, Zager=
und Geihäftshäufer, die gegen St. Ludwig und Hüningen
hinaus entitehen. Ein neuer Gajfometer von ebenjo mon=
ſtruoſen Dimenfionen wie fein älterer jhwarzer Kamerad
trägt nicht eben zur Berjchönerung des Gtädtebildes bei.
Dagegen Hat der Allgemeine Konfumverein ein jtattliches
Geihäftshaus mit Lagerräumen für ſein Haushaltungs-,
Obit: und Gemüjegeihäft an der Elſäſſerſtraße Nr. 209 er-
baut; das Weußere des Gebäudes, in einfahren und zwedent-
Iprechenden Formen gehalten, mit ziemlid) lebhafter Färbung,
macht einen günjtigen Eindrud. Cs ilt dies der einzige Neu-
bau in jenem Teil des Quartiers, der für diefe Chronik in
Betracht fallt, denn die verjhiedenen mehritödigen Miet-
bäujer, die jtadtwärts des St. Tohannbahnhofs fih Jahr für
Sahr eins ans andere reihen, fünnen nit Anſpruch erheben,
an diejer Stelle einzeln erwähnt zu werden.
Im Kleinbajel verfolgt der Basler jtets mit befonderem
Snterejle den Kortichritt der Arbeiten an dem feit Jahren
im Bau begriffenen Badischen Bahnhof, jpeziell am Perfonen:
bahnhof. Der Ausbau des Aufnahmegebäudes, dejjen äußere
Geitaltung beinahe vollendet ijt, jehreitet vorwärts und die
Perronhallen in wudtiger Eiſenkonſtruktion find fertig
montiert.
Das Fernheizwerk für den ganzen Bahnhof ift am untern
Ende der Schwarzwaldallee errichtet worden; außer dem Heiz-
werk find in diefem Bau noch Transformatoren, elektrifche
Maſchinen, Affumulatorenbatterien und anderes unter
gebradt. Glüdlicherweije bietet das Fernheizwerk mit feinem
mafjigen Turm, den Hohen, roten Ziegeldähern und dem
gelblih) getönten Sprißbewurf der Umfajjungsmauern nit -
den trojtlos Tangweiligen Anblid, bei dem man für ſolche
316
untergeordneten Baumwerfe des Verfehrs oder der Induſtrie
nod) bis vor wenigen Jahren überall leider glaubte fich be-
gnügen zu dürfen. Unmittelbar nebenan reihen ſich vier im
Bau begriffene Gruppen Beamtenwohnhäujer an. Dieje un=
glei) großen Gruppen find jo angeordnet, daß durch deren
verjhhiedenartige Stellung zufammen mit dem Fernheizwerk
eine gute Gruppierung der einzelnen Gebäudemajjen erzielt
wird.
Ein für Bafel ganz neuartiger Bau ijt das gegenüber den
beſprochenen Wohnhäujfern auf dem Areal des badilchen Güter:
bahnhofs liegende Silogebäude, von der Basler Bau:
geſellſchaft für die Basler Lagerhausgeſellſchaft errichtet.
Weußerlih zeichnet ſich dieſer Bau durd feinen Formen—
reihtum, jondern nur durch feine beträdtlichen Abmejjungen
aus. Um jo interejjanter ijt er in fonjtruftiver Hinjicht,; der
Snnenraum ilt in der obern Hälfte in hodjjtehende, unten
trihterförmig geſchloſſene Zellen von quadratiidem Grund:
riß aufgeteilt und das ganze Haus iſt von Sundamentjohle
bis Dachfirſt in Eifenbeton ausgeführt.
Sobald der neue badiſche Bahnhof dem Betrieb über:
geben ift, joll das jegige alte Bahnhofgelände teilweiſe der
Bebauung erihloffen werden; infolgedeſſen macht ſich jeßt
Ihon zwiſchen Riehen: und Grenzaderjtraße, vorerjt an der
neuerjtellten Turner- und Rötelerſtraße eine regere Baus
tätigfeit geltend, die jedod) bis heute feine nennenswerten
Rejultate geliefert hat.
Bevor der Schreiber feinen diesjährigen Bericht jhließt,
it er gezwungen, auf eine Notiz im Jahrbuch von 1911 Hin-
zumeifen. Es iſt dort die Wiederherjtellung des überaus
malerifchen Haujes PBetersgraben Nr. 35, Eigentum der Gefell-
Ihaft für das Hriftlihe Vereinshaus, lobend hervorgehoben
worden. Nun Hat dort aber in diefem Jahr leider eine un-
glüdlihe bauliche Wenderung bei Umbau des Erdgeſchoſſes
Itattgefunden. Dabei ift aud) der üppig rantende wilde Wein,
der uns Sahr für Jahr durch feine Farbenpracht erfreute und
317
das Haus wie mit einem reich gefärbten [hmüdenden Kleid,
umgab, verfhwunden und der reizende Aſpekt dieſer ganzen
Häuferpartie verdorben. Es mag dies ein warnendes Bei—
fpiel und ein Beweis dafür fein, wie berechtigt die Forderung
des Heimatſchutzes war, Fünjtlerijch Hervorragende oder ſonſt
typilhe Stadtteile und Gebäude von Staatswegen zu ſchützen,
um zu verhindern, daß ſolche ohne Not, wie in genanntem
Ball, verunftaltet werden, und es wird in Zufunft Aufgabe
der ftaatlihen Heimatihuglommillion fein, darauf zu achten,
daß feine ähnlihen Mikgriffe mehr getan werden.
318
Basler Chronik.
J. November 1911 bis 3]. Oktober 1912,
Don Dr. Srig Baur.
November 1911.
4. 5 Im zweiten Wahlgang der Nationalrats-
wahlen für 1911—14 muß die ganze Deputation von 7 Mit-
gliedern neu bejeßt werden, da der erjte Wahlgang, 28./29. Okt.,
rejultatlos verlaufen war. Baſelſtadt Hat feit der Bolfs-
zählung vom 1. Dez. 1910 fieben Mitglieder des Nationalrats
zu wählen. Gewählt wurden bei 13,407 abgegebenen gültigen
Stimmen Konjumverwalter B. Jäggi (ſoz.) mit 7099,
Red. J. Frei (j03.) mit 6429, €. Müry (freij.) mit 5004,
Oberit Iſaak Iſelin (lib.) mit 4588, Dr. Chr. Rothen-
berger (freij.) mit 4296, Reg.-Rat E. Chr. Burdhardt
(lib.) mit 4211 und Dr. Em. Göttisheim ffreif.) mit
3782 St.; weitere Stimmen madten Ing. Rud. Gelpfe, von
der fortjehrittl. Bürgerpartei und den Liberalen portiert
(3609), und der fatholijhe Dr. U. Joos (2844). Für Näheres
lei auf die vorjährige Chronik verwieſen.
An diefe Wahlen fnüpfte fih ein Nachſpiel an, indem am
Tage nad) den Stichwahlen befannt wurde, daß der beitätigte
Nat.Rat E. Müry-Flück aus der freijinnigen Partei aus:
getreten fei. Er begründete den Schritt damit, daß er vom
linken jungfreijinnigen Slügel der Partei illoyal fei behandelt
worden. Auf die Aufforderung feiner bisherigen politifchen
Freunde, aus feinem Entihluß die Konjequenzen zu ziehen,
antwortete er mit dem Hinweis, daß er nit von den Kreis
319
finnigen allein gewählt worden jei, daß er im übrigen feinen
Entſchluß abhängig made vom Entiheid des Zentralaus-
ſchuſſes der ſchweizeriſchen freilinnigen Partei. An diejen
habe er appelliert. Ohne den Spruch abzuwarten, legt in-
dejlen Hr. Müry fein Mandat am 22. Nov. nieder.
5. Die Delegiertenverfammlung des Föderativ—
verbandes eidgen. Beamter, die in Bafel tagt, be-
ſchließt, Schritte zu tun, um dem Perſonal der eidgenöſſiſchen
Militäranitalten das Recht der Vereinssteiheit zu ſichern.
Die Reformationsfollefte, zugunjten eines
Kirchenbaus in Saignelegier erhoben, wirft im ganzen Kan—
ton netto 4457 Fr. 76 ab.
In der St. Leonhardsfirhe wird der neue Helfer zu
St. Leonhard, Pfr. Hans Baur, bisher an der Matthäus:
firche, feierlich in fein Amt eingeführt.
9. Der Große Rat hört zunädft eine Interpellatien
über die Teuerung, die von der Regierung unter Hinweis
auf die bereits getroffenen Maßregeln zur Zufriedenheit des
Snterpellanten beantwortet wird, erledigt dann einige
tleinere Geſchäfte, nimmt das Gejeß betr. das ftändige ftaat-
lihe Einigungsamt nad) zweiter Leſung an und beginnt die
Beratung des Verwaltungsberidäts für 1910.
Der Genojjenihaftsrat des Allg Konſum—
vereins behandelt die partielle Reviſion der Genofjen-
Ihaftsitatuten und weilt eine Motion ab, die dem Bureaus
perjonal den Samstag Nachmittag frei geben wollte.
10. An der Rettoratsfeier in der Martinskirche
Ipriht Prof. Metzner als Rektor über das ſympathetiſche
Nervenſyſtem. Zu Chrendoftoren der Medizin werden er:
nannt Prof. Dr. Karl Vonder Mühll und Fri
Viſcher-Bachofen. Die Preisfrage der medizinifchen Fa—
fultät wird gelöft von Dr. med. Hans Hößly. An den Alt
Ihließt fih das als Rektoratseſſen befannte Zunftellen der
afademijchen Zunft, am Abend ein Kommers der Studenten:
Ichaft in der Burgvogteihalle an.
320
14—16. König Betervon Serbien hält fih auf der
Durdreife nah Paris zum Beſuche des Präſidenten Fallières
zwei Tage in Bajel auf.
16. Großer Rat. Den ganzen Gikungstag nimmt die
Meiterberatung des Prüfungsberidhts für 1910 in Anfprud.
Am Abend um *11 Uhr [hredt ein ungewöhnlich heftiges
Erdbeben die ganze Stadt auf. Zum Glüd hat es nirgends
bedenflihe Folgen. Das Zentrum des Bebens jhien in Süd—
deutichland zu liegen.
18. Das vom Regierungsrat zufammengeftellte Budget
für 1912 jieht vor an Einnahmen 17,317,661 %r. 80, an Aus»
gaben 19,517,490 Fr. 60, fomit ein Defizit von 2,199,828 %r. 20,
wozu nod) 500,000 Fr. auf das Konto „Eijenbahnumbauten“
fommen.
18. 19. Zum Bfarrer der Matthäusgemeinde wird an
Stelle des nad) St. Yeonhard gewählten Pfarrers Hans Baur
einftimmig gewählt der vom Kirchenvorſtand vorgefhlagene,
der freifinnigen Richtung angehörende Pfr. Otto Marbad,
d. 3. in Giteig bei Interlafen.
21. Die Regen; wählt zum Rektor der Univerjität für
1912 Brof. Eberhard Viſcher und beitätigt als ihren
Schreiber Prof. J. Wendland.
22. Zum 2. Gefretär der Bormundihaftsbehörde wird
von der Regierung gewählt Otto Stoder- Müller, Gel.-
Lehrer.
Die Freiwillige Schulſynode hält im Ber—
noullianum ihre 20. Jahresverſammlung ab. Nah Er—⸗
ledigung der Geſchäfte Hält ihr Präſident Dr. W. Brenner
einen Bortrag über Wert und Unmwert der Schulzeugniijle.
Die Synode beſchließt, die Diskufjion auf eine außerordent-
liche Verfammlung zu verſchieben.
Die Pofitiven Gemeindevereine halten ihre
Sahresverfammlung in der Burgvogtei ab. Das Referat über
ChHriftlide Religion und Charafterbildung hält Dr. F. W.
Förſter aus Zürid.
321 21
24. Der Genoſſenſchaftsrat des Allgem. Konfum=-
vereins ſchließt Tarifverträge ab für die im A.C.V. bes
m. Fuhrleute, Mebger und Bäder.
. Die Peſtalozzi-Geſellſchaft begeht ihre
wo im Münjter mit einer Anſprache von Pfr.
K. Stüdelberger und verſchiedenen künſtleriſchen Dar=
bietungen. u
28. Die evangelifh:reformierte Synode ge
nehmigt einige Nadhtragfredite für 1911 und das vom Kirchen
tat zufammengeftellte Budget für 1912 und heißt den auf
5 Sahre mit dem Bürgerrat abgeſchloſſenen Vertrag über
Verteilung des Kirchenopfers gut. Zum Mitglied und Vize-
präliventen des Kirchenrats an Gtelle des zurüdtretenden
Reg.-Rat Dr. E. Chr. Burdhardt wählt fie nad) politivem
Vorihlag Dr. Ed. Kern, zum Abgeordneten für das theo-
logiihe Konkordat Prof. PB. Böhringer.
Die Basler Abjtinenten begehen in der Burg—
vogtei eine Bunge-%eier zur Erinnerung daran, daß
vor 25 Sahren, am 23. Nov. 1886 Prof. G. v. Bunge mit
feinem akademiſchen Bortrag über den Alkoholismus die Anti—
alfoholbewegung in der Schweiz eingeleitet hat.
29. Sm Alter von 76 Jahren jtirbt Laurent Wers
singer- Walt, Seniorchef der Firma Danzas u. Cie. U. ©.,
die unter den Gpeditionshäufern des Kontinents einen
hohen Rang einnimmt.
30. Großer Rat. Zu Beginn der Sitzung gedenft der
Vorſitzende des am 27. verjtorbenen Bundesrat Schhobinger.
Nah einer nterpellation berät Jodann die Behörde den
Rechenſchaftsbericht für 1910 zu Ende und übermweilt ver-
Ihiedene dazu geitellte Poſtulate. Zu Landanfäufen für
Zwede des Gaswerfs bewilligt der Rat 300,000 Fr. und weift
die Vorlage betr. Anlage einer Terrafie auf der Kleinbasler
Geite der mittleren NRheinbrüde an die Regierung zurüd.
Der Genojfenfhaftsrat des A.C.V. fährt fort
in der Beratung der Tarifverträge mit feinen Arbeitern.
322
Witterung. Die meteorologiihen Hauptwerte des
Monats November 1911 waren: Mittel der Temperatur 6,19,
mittleres Temperatur-Marimum 9,17, mittleres Temperatur-
Minimum 3,80 Cellius, Mittel des Quftdruds 735,5, Summe
der Niederihlagsmenge 73,9 mm, Summe der Sonnenſchein⸗
dauer 82,9 Stunden. An dem langjährigen Durchſchnitt ge—
meſſen, ift der Monat viel zu milde gefallen und hat einen
anſehnlichen Ueberſchuß an Niederſchlägen ergeben.
Dezember 1911.
3. In den Gottesdienſten der reformierten Kirche wird
das Opfer für die Miſſion erhoben und ergibt für die
Basler Miſſion 5434 Fr. 41, für die allgemeine evangeliſche
Miſſion 660 Fr. 16, beide Summen netto.
5. Der Weitere Bürgerrat genehmigt den Ver:
waltungsbericht des Engern Bürgerrats für 1910, beitellt die
Prüfungstommiffion für 1911 und erledigt eine Reihe Be:
gehren um Aufnahme ins Bürgerredt.
7. Der Große Rat überweilt den Anzug Gehrig, der
die Leichenverbrennung zur Regel, die Erdbeitattung zur Aus⸗
nahme maden möchte, bejchließt den Ankauf der Liegenſchaft
zum „großen Collmar“ am St. Albangraben zu Verwaltungs:
zwecken und genehmigt die Staatsrehnung für 1910.
9./10. Zum Wppellationsgerichtspräjidenten an Gtelle
des zurüdtretenden Dr. Hans Völlmy wird ohne Gegenfandi-
daten gewählt Dr. Gerhard Börlin, bisher Zivilgeridhts-
prälident, mit 1283 von 1318 abgegebenen Stimmen bei 21,757
Stimmberedtigten.
12. Dr. Ernſt Heidric Hält feine Antrittsporlefung
über die Anfänge der neuern Kunſtgeſchichtſchreibung. Prof.
Sans v. Friſch nimmt einen Ruf an die Univerfität Czerno—
wiß an. |
13. Die Frequenz der Univerfität im Winter:
femejter 1911/12 weijt folgende Zahlen auf: 60 ordentliche
und 27 außerordentlihe Profeſſoren und 36 Privatdogenten;
323 21*
772 Studierende (39 Damen) und 158 (93) nit immatrifu-
lierte Zuhörer; von den Studenten find 604 (34) Schweizer.
Theologie jtudieren 64, Jurisprudenz 64, Medizin 227 (13),
Philoſophie I 214 (18) und Philoſophie II 203 (8). Yon den
226 (20) in Bafel ftudierenden Angehörigen des Katons Bajel-
ftadt widmen fie) der Theologie 11, der Jurisprudenz 39, der
Medizin 39 (2), der Philojophie I 90 (12), der Philoſophie II
87 (6).
14. Der Große Rat überweilt im Anſchluß an eine
Snterpellation der Regierung eine Motion betr. Aenderung
der Statuten der Krankenkaſſe der Straßenbahner, befchließt
mit Dringlichkeit Erwerbung des Cleftrigitätsneges in
Niehen, nimmt eine Abänderung des Beamten- und Bejol-
Dungsgejeßes vor, genehmigt die Vorlage betr. Wohnpflicht
der Beamten und Angeltellten des Erziehungsdepartements
und erledigt in erjter Lejung das Geſetz betr. Kanalijation
im Kantonsgebiete.
15. Der Genoffenfhaftsrat des Allg. Kon
jumvereins berät die Tarifverträge mit dem Perjonal
zu Ende, nimmt die revidierten Statuten in der von der
Kommillion vorgeſchlagenen Form an, ändert das Beloldungs-
reglement und nimmt ein Reglement für den Perfonalaus-
ſchuß an.
19. Wie die Regierungsratsverhandlungen mitteilen,
haben Freunde der Univerfität auf 6 Jahre einen Betrag
von jährlih 4950 Fr. fiher geftellt als Dotation für eine
PBrofeffurder Geographie.
21. Ein Sturm von ungewohnter Heftigfeit wirft die
Buden des Weihnadtfronfaitenmarfts auf dem Barfüßerplaß
über den Haufen und dedt die Barfükerfirhe zum Teil ab.
22. Beim Skifahren in der Umgegend von Davos fommt
der auf dem Spießhof als Beamter der ©. B. B. arbeitende
Ernft Cornu in einer Lawine ums Leben.
Gemeinnüßige Geſellſchaft. Die Zinstragende
Erjparnistafje erhält übereinftimmend mit den Forderungen
324
des am 1. Januar 1912 in Kraft tretenden neuen Schweize-
riſchen Zivilgejegbudes den Charakter einer Stiftung.
Die Stimmberedtigten von Riehen nehmen in einer
Verfammlung Stellung gegen das vom Großen Rat in erfter
Leſung beſchloſſene Gefeg betr. Ranalifation des
KRantonsgebiets, das der Gemeinde unerträgliche Be:
laſtung ſchaffe.
28. In einer Nachmittagsſitzung wählt der Große Rat
zum Unterſuchungsrichter Dr. Walter Meyer, validiert die
Wahl vom 9./10. Dezember, nimmt das Geſetz betr. Aus—
übung von Initiative und Referendum an, erledigt etliche
Petitionen und genehmigt die Vorlage betr. Verbeflerung der
Einwohnerfontrolle.
30. Die Regierung erteilt Prof. Ed. Hagenbad-
Burdhardt die gewünſchte Entlaſſung auf Ende des laufenden
MWinterfemeiters.
31. Die Hauptzahlen im Zivilftandspverfehrdes
Jahres 1911 ftellen fih wie folgt: Gejeßlide Trauungen
wurden 1107 vollzogen. Geburten fanden 3473 ftatt, dar:
unter 692 Rafjantengeburten. Bon den 3340 Lebendgebornen
waren 1663 Knaben, 1677 Mädchen, legitim 1545 Knaben (55
Totgeburten) und 1543 Mädchen (33), illegitim 178 (5)
Knaben und 171 (4) Mädchen. Todesfälle ereigneten fich 2029,
darunter 275 von Paſſanten; nad) Abzug von 97 Totgeburten
bleiben 1932 Todesfälle. Davon waren 950 Perſonen männ-
lien, 982 weibliden Geſchlechts. Das Jahr ſchließt, wenn
nur die Zahlen der Zivilſtandsbücher berüdfichtigt werden,
mit einer Zunahme der Wohnbevölferung um 1091 Perfonen,
960 männliche und 531 weibliche, nämlich 104 Kantonsbürger,
407 Schweizerbürger andrer Kantone, 580 Ausländer.
Witterung Das Mittel der Temperatur mit
+4,77 überitieg um 4,0% den normalen Mittelwert des
Dezembers, und zwar zählte man nur 2 Tage, wo die Tem—
peratur unbedeutend unter 0 ſank. Das mittlere Tem:
peratur-Marimum betrug + 7,39 das mittlere Temperatur:
325
Minimum + 2,619, der mittlere Barometerftand 737,6, die
Summe der Niederjchlagmenge 55,6 mm, ohne daß es je zu
einer Schneedede kam, die Sonnenfcheindauer im ganzen
endlich 65,0 Stunden. So trug der Monat mehr den Stempel
eines unfreundlien März oder April als eines regelrechten
Chrijtmonats.
Sanuar 1912,
1. Mit dem heutigen Tag tritt in der ganzen Schweiz
das neue Shweizerifhe Zivilgefegbud in Kraft.
Dadurd) werden die fantonalen Zivilgefege hinfällig Für
jeden Kanton bejondere Einführungsgejege erleichtern den
Uebergang von den alten in die neuen Verhältniſſe, paſſen
die kantonale Behördenorganilation dem neuen Recht nad
Möglichkeit an und verteilen die Kompetenzen. Das neue
Recht wird in alle Beziehungen des bürgerliden Lebens
tief einjchneiden, wenn auch die Aenderung nah außen zu:
nächſt wenig jihtbar wird. Es ijt auch in den letzten Wochen
in allen Kreifen dur aufflärende Vorträge und ähnliche
Maßregeln, wie 3. B. populäre Flugſchriften, das Menſchen—
mögliche geleiltet worden, um die Bevölkerung aufzuflären
und fie zu den beim Eintritt neuen Rechtes aud) ihrerfeits zu
treffenden Maßnahmen aufzufordern.
6. Die Regierung ernennt zum außerordentlihen Pro:
fejlor an der philoſophiſchen Fakultät II Dr. Heinrih Preis:
werf, bisherigen Privatdozenten.
8. Eine Berfammlung von Staatsarbeitern und Ange:
itellten in der Burgvogteihalle beſchließt angeſichts der Teue-
tung der notwendigen Lebensmittel durch eine Eingabe an
den Großen Rat Teuerungszulage zu verlangen.
11.6 roBßer Nat. Nah Erledigung einer Interpellation
wird Ankauf der Liegenihaft Grünpfahlgäßlein 8 beſchloſſen
und werden drei neue Lehrjtühle an der philofophiihen Fa—
fultät (Engliih, Geographie, Chemie) geihaffen. Hierauf
weilt der Rat die Vorlage betr. Ausbau des Tramnetes an
326
Die Regierung zurüd und überweilt einen Anzug betr. Ber-
tretung der Lehrerſchaft im Erziehungsrat.
13. Umzug der drei Ehrenzeichen Kleinbaſels.
16. Der Shweizerifhe Bankvperein fulioniert
mit dem Bankhaus A.G. von Speyr u. Cie. unter Bor:
behalt der NRatififation durch die beidjeitigen Generalver-
Tammlungen.
17. Brof. Sriedr. Münzer folgt einem Ruf als ordent-
licher Profeſſor für römiſche Geſchichte nad) Königsberg.
Eine in Baſel tagende internationale Kommiſſion von
Sonntagsireunden beſchließt die Organilation eines Welt:
bundes für Sonntagsfeier.
Die Verhandlungen der Freiwilligen Schul—
ſynode betr. Schulzeugnijje, die am 22, November v. J.
nicht fonnten zu Ende geführt werden, werden in einer außer-
ordentliden Nachmittagsjigung durch Annahme einer Reihe
von Thefen erledigt.
19. Der Bundesrat wählt zum Mitglied der Kommiſſion
zur Schweizerifhen Scilleritiftung u. a. Regierungsrat Dr.
P. Speifer in Bajel.
25. Großer Rat. Nah Abwandlung einer Inter:
pellation über den Modus der Lehrerbejoldungen bewilligt
der Rat einen Kredit für Anfauf einer Liegenihaft am
Schlüfjelberg, beſchließt Legung der Tramlinie Heumwage-
Margarethenftraße, weiſt die auf das Turnfeit geplante Tram:
linie dur) die Arnold Bödlin-Straße an die Regierung zu—
rück und beſchließt Eintreten auf die Beratung des Budgets
für 1912,
27. Die deutfhe Kolonie Bafels feiert im Muſik⸗
Taal Kaifers Geburtstag.
28. Der in die Matthäusgemeinde neu gewählte Pfarrer
O. Marbad, bisher in Giteig bei Interlaken, wird durch
den PBräfidenten -des Kirchenrates Pfr. U. v. Salis, in fein
Amt eingeführt. |
30. Sm Alter von 87 Jahren ftirbt Eduard Brudner-
327
Merian, Baumeijter, der in den Jahren feiner Kraft dent
Staat und der Stadt in mannigfadher Weiſe gedient hat. Sein.
Hauptinterejje galt ftets den chriſtlichen Liebeswerken.
31. Witterung. Das Mittel der Temperatur im.
Sanuar 1912 betrug 2,0, das mittlere Temperatur-Marimum
4,7, das mittlere Temperatur-Minimum — 0,49 Celfius, das-
Mittel des Luftdrucks 737,6, Die Summe der Niederfchlags-
menge 53,5 mm, die Summe der Sonnenfheindauer 65,6
Stunden. Der Monat fiel bedeutend milder und wärmer aus-
als der Durdfehnitt der Januare, und der Ueberjhuß der
Wärme würde nod) viel bedeutender ausgefallen fein ohne
die fälteren le&ten Tage, die normalerweije am wärmiten.
hätten fein jollen.
Februar 1912.
3. 4 Die eidgenöflifhe Vorlage betr. Kran
ken- und Unfallverfiherung madt in Bajelitadt
9089 Ja und 3777 Nein, wie fie aud) in der ganzen Schweiz,
bei einer Beteiligung von rund 530000 Stimmenden mit:
einer Mehrheit von rund 50000 Stimmen angenommen
wurde. Sn Bajel Hatten alle Barteien für Annahme gewirkt
mit Ausnahme der liberalen, die die Stimme freigab. Führer
der Oppojition war die Handelsfammer; in der Tat hatte fi
der ſtärkſte Widerſpruch aus Kreifen der Handel: und Ge-
werbetreibenden erhoben. Die Agitation hatte ſchon feit Neus
jahr gewaltet. Intereffenverbände, politiihe Parteien, ein=
zelne Stände, die Mitglieder der Kaſſen waren für und wider
bearbeitet worden. — Gleichzeitig wurde zum Mitglied des
Nationalrats gewählt an Stelle des zurüdtretenden E. Müry
Regierungsrat Eugen Wullſchleger mit 7324 Stimmen.
Gein Gegentandidat, der fatholiihe Dr. Albert Soos wurde
von einer Gruppe fozialijtenfeindliher Gewerbetreibender:
unterjtüßt und madte 3659 Stimmen. Die freilinnige und
die liberale Partei enthielten jih. Ingenieur Rud. Gelpfe
hatte fi eine Kandidatur verbeten. — Zum Präfidenten des
328
Zivilgerihts wurde ohne Widerjpruh der von allen Par-
teten unteritüßte Vertrauensmann der Sozialdemofraten
Dr. Eugen Bloder, Subſtitut des Zivilgerichtsſchreibers,
gewählt mit 7917 Stimmen.
8. Großer Rat. Der Rat faßt Beihluß betr. Auf:
ftellung von Bauvorſchriften für die Geftaltung der Faſſaden
an der Schwarzwaldallee gegenüber dem neuen badifchen
Bahnhof, bewilligt einen Kredit von 60,000 Fr. für Erweite—
rung des ſtädtiſchen Clektrizitätswerfes am Dolderweg und
fährt fort in der Beratung des Budgets für 1912.
11. Die GejellfhaftfürCvangelifde Stadt
mijfion begeht ihre SJahresfeier im Vereinshaus. Als
Seftredner tritt bei diefem Anlaß auf Pfr. ©. Oettli aus
Köniz (Ktn. Bern).
13. Der Weitere Bürgerrat genehmigt die Bubd-
gets der bürgerlichen Verwaltungen für 1912, ratifiziert den
Vertrag mit der evangelijchsreformierten Kirche betr. das
Kirhenopfer, genehmigt den Verkauf non 6600 m? Spital:
land auf dem innerjten Teil des Margarethenfeldes an die
Bundesbahnen und erledigt eine Reihe Begehren um Auf:
nahme ins Bürgerredt.
Un einem unglüdliden Sturz fjtirbt 69jährig Kranz
Bühler:Thon, der Begründer und Iangjährige Wirt der
Alten Bayriſchen Bierhalle in Bajel.
14. Die Regierung ernennt zu Kommandanten von
Süftlier-Bataillon 54 Major Guftan Senn, von Fülilier:
Bataillon 97 Major Manfred Alioth, von Füſilier—
Bataillon 144 ad interim Hauptmann Hans Lihtenhahn.
18. In Bern jtirbt der Münfterorganift Karl Hep-
Rüetſchi, geb. 1859 in Bajel, der troß feiner faſt 30jährigen
Wirkſamkeit in Bern ein guter Basler geblieben iſt.
Beim Fußball-Meiſterſchaftsmatch Serie A, der zugleich
die Entfcheidung über die Zugehörigkeit des Anglo-CLups
bradte, fiegen mit 7:0 Toren OlId Boys Bajfel über den
Fußballklub Biel.
329
21. Die BVorfteherfhaft der Evangelifden Pre—
dDigerfhule teilt mit, daß fie die Leitung diefer Anftalt,
die feit der Gründung in den Händen des nun zurüdtretenden
Pir. W. Arnold geruht Hatte, dem Privatdozenten der Theo-
logie in Berlin Lic. theol. DO. Shmi übertragen hat.
22. Der Große Rat validiert die am 3./4. Ds. ge-
troffene Wahl eines Zivilgerihtsprälidenten, ratifiziert eine
Anzahl Aufnahmen ins Bürgerrecht und führt die Beratung
des Budgets für 1912 weiter.
23. Dr. Hans Iſe lin von Bafel wird die venia legendi
für Chirurgie erteilt.
25. An einer raſch verlaufenden Blutvergiftung ftirbt in
Bern, an deſſen Univerfität er feit 1891 als hochgeſchätzter
theologiiher Xehrer wirkte, Prof. D. Fri B artb-Sartorlus
aus Baſel, 55 Jahre alt.
26.—28. Die Faſtnacht mit Morgenjtreih, Umzügen,
Schnigelbänfen und Bällen, bei der ſchönen Witterung unter
einem ſtarken Volkszuſtrom von nah und fern nimmt ihren
gewohnten Berlauf. Kenner rühmen, daß die Bemühungen
des Faſtnachtskomitees um die Hebung der Trommelfunjt und
der Faſtnacht im allgemeinen nicht vergeblih) waren. Zum
eritenmal diefes Jahr wurde mit Erlaubnis der Polizei am
Montag und am Mittwoch bis abends 10 Uhr getrommelt.
Dafür fiel der Morgenjtreih am Mittwoch weg.
28. Zum Sekretär des eidgenöjjiihen politiihen Depar-
tements an Gtelle des zurüdtretenden Dr. Graffina wählt
der Bundesrat Dr. Ch. Bourcart in Bajel, ehemaligen
Tchweizerifchen Gefandten in London.
29. Das Zivilgeriht wählt zum Gubfitituten des Zivil:
gerichtsſchreibers Dr. I. Trott aus Bafel.
Witterung. Die meteorologiihen Hauptwerte des
Monats Februar 1912 waren: Mittel der Temperatur 5,1,
mittleres Temperatur-Marimum 9,4, mittleres Temperatur:
Minimum 1,59 Celjius, Mittel des Luftdruds 734,0, Summe
der Niederjejlagsmenge 47,0 mm, Summe der Sonnenſchein⸗
330
dauer 113,4 Stunden. Obwohl vom 1. bis zum 5. Februar
eine Kälte berrichte, die am 4. bis — 17,49 Celfius fant,
bradte der übrige Teil des Monats einen folhen Wärme-
überjhuß, daß das Mittel der Temperatur noch immer 3,4
wärmer ausfiel als der 80jährige Durchſchnitt.
März 1912.
2. Die Regierung wählt zum außerordentliden Profellor
für Geographie Dr. Guftan Braun, d. 3. Privatdozenten
in Berlin.
3. In Bern Siegen im Meifterfhaftsmaih OId Boys
Bafel über Fußballklub Bern mit 2:1.
4. Das ZeppelinLuftihiff „Victoria Luiſe“ fliegt
bei feiner erſten Fernfahrt Friedrichshafen-Frankfurt übe
Bajel. |
6. Die Regierung ernennt zu ordentliden Profeſſoren die
bisherigen außerordentliden %. Fichter für anorganiſche
und 9. Rupe für organiſche Chemie und 9. Heidrid für
Kunitgeihichte, und überträgt dem ordentliden PBrofellor 9.
Hecht die Profellur für engliſche Geſchichte und Literatur.
7. Der Große Rat genehmigt die Bauvorſchriften für
die Umgebung des neuen badifhen Bahnhofs. Sodann wird
die Budgetberatung für 1912 zu Ende geführt und mit Be:
Handlung der dazu geitellten Poſtulate begonnen.
8. Dr. med. Baul Breiswerf hält jeine Habilitations-
vorlejung als Privatdozent an der mediziniihen Fakultät
über Mundhöhle und Gefamtorganismus.
Die Gemeinnügige Geſellſchaft befchließt, ih an Grün:
dung und Unterhalt eines Walderhbolungsheims zu
beteiligen.
10. In Serie A gewinnen OId Boys I Baſel gegen
Norditern I Baſel mit 3:1 Goals.
13. Die Regierung erteilt Prof. Dr. 2. Courvoifier
die erbetene Entlajjung mit den üblichen Danf- und Ehren-
bezeugungen.
331
14. Großer Rat. Nah Erledigung zweier Interpella-
tionen, die den ganzen Bormittag beanjprudhten, wird die
Behandlung der Poitulate zum Budget auf jpäter zurüdgelegt,
ein Antrag betr. Zuſchlag zur Erbichaftsiteuer abgelehnt und
das Budget angenommen mit 19,506,805 Fr. 40 Ausgaben und
17,342,661 Fr. 80 Einnahmen und einer Zahlung von 500,000
Franken an den Konto Eijenbahnbauten. Endlih wird an—
genommen die Vorlage betr. Ableitung des Abwaſſers der
Kanalifation von Lörrach nad) dem Rhein.
16. Die Regierung beruft als Profeſſor der Tateinijchen
Sprade und Literatur Prof. E. Lommatzſch aus Münden.
17. Die Generalverfammlung der römiſch-katho—
lifhen Gemeinde genehmigt Jahresbericht und Rechnung
ihres Voritandes für 1911.
Die Stimmfähigen der Hriltfatholifden Ge
meinde wählen ihren Kirchgemeinderat (Präſ. E. Frey⸗
Vogt) und die Delegierten in die Nationaliynode. |
In Bern fiegen in der Meiſterſchaftsſerie A die Young
Boys Bern gegen den Fußballklub Bajel mit 6:0, in Bajel
in der gleihen Serie Norditern Bafel gegen ——
klub Biel mit 5:0 Goals.
In Augſt ftirbt nur 32 Fahre alt der frühere Salinen—
direktor F. Frey, einer der beſten Kenner der Ruinen von
Augſt und Verfaſſer des Führers durch die Trümmerſtätte.
18. Die Hiſtoriſche Geſellſchaft wählt an Stelle des nad
Bern überfiedelnden Dr. Charles Bourcart zu ihrem Präſi—
denten Dr. 2. Aug. Burdhardt.
20. Die Synode der evangelijchreformierten Kirche
berät nad Erledigung einer nterpellation eine Ordnung
für Wahlen und Abſtimmung, beſchließt die Wahl einer
Prüfungsfommilfion, verfügt über Verwendung des Kirchen:
opfers vom Karfreitag und Bettag 1911, bewilligt einen Nad)-
tragsfredit für 1911 von 4500 Fr. und ſetzt ein Gteuer-
minimum von 1 Fr. im Jahr feſt.
332
21. Der Vehrerverein ernennt in feiner General:
verfammlung zum Präjidenten Dr. Geiger von der Untern
Realſchule.
22. Die Regenz erteilt die venia legendi den DDr. Julius
Obermiller von Cannſtadt für Chemie und Wilhelm
Saraſin von Baſel für orientaliſche Philologie.
23. Ein Vortrag von Ingenieur R. Gelpke im benach—
barten Arlesheim rollt die Frage der Wiedervereini—
gung beider Baſel auf und begründet ſie mit der mißlichen
wirtſchaftlichen Lage, worin die beiden Kantonsteile wegen
der Trennung ſich befinden.
24. Zum Abſchluß der diesjährigen Lehrlings—
prüfungen findet in der Aula des Muſeums die Preis—
vertetilung ftatt, wobei u. a. Regierungsrat Wullfchleger
eine Anſprache hält.
Im Meiſterſchaftsmatch Serie A fiegt 3. CE. Baſel gegen
5. ©. La Chaursde-Fonds mit 2:0, im Finalmath Con:
cordia TI gegen Etoile II La Chaux-de-Fonds mit 4:0 und
wird Champion der Schweiz, endlihd OId Boys gegen
Etoile I 2a Chaursde:Tonds mit 2:0 Goals.
27. Die Regierung beruft als außerordentlien Profefjor
für phyfifalifche Chemie Dr. Auguft Bernoulli,d. 3. Pri⸗
vatdozenten in Bonn.
28. Der Große Rat hört zwei Interpellationen, bes
fließt den Verkauf eines Areals an der Birsitraße für ein
Tierheim, nimmt die Vorlagen betr. Kanalijation von Riehen
und betr. Vergrößerung der öffentlichen Bibliothek an, über:
weilt einen Anzug Baumann betr. Gewerbegejeßgebung und
geht zur Tagesordnung über die Anzüge Gaß betr. Zenjur
der Plakatanſchläge und Karli betr. Aufhebung der Geheim-
haltung der Gteuerfontrolle.
29. Der Genoſſenſchaftsrat des Allg. Kon
fumvereins genehmigt Sahresberidht und Jahresrechnung
für 1911 ſamt den Anträgen der Berwaltung.
333
30. Gegen Mitternadt findet auf dem neuen badiſchen
Verfhubbahnhof auf der Leopoldshöhe die Entgleifung
einer Lokomotive ftatt, wobei der Lofomotivführer
und der Heizer getötet werden.
31. Sm Entiheidungsmatd) über die ſchweizeriſche Meifter-
haft Serie A jiegt 3. C. OId Boys Bafel über Young
Boys Bern endgültig mit 1:0 Goal.
Witterung Das Mittel der Temperatur im März
betrug 85°, das mittlere Temperatur-Marimum 12,8, das
mittlere Temperatur-Minimum 4,79 Celſius, das Mittel des
Luftoruds 735,9, die Summe der Niederfchlagsmenge 77,4 mm,
die Summe der Sonnenjheindauer 140,9 Stunden. Der Monat
fiel viel zu warm aus, 3,70 Celjius wärmer als der 80jährige
Durchſchnitt, wärmer als je ſeit 1826 ein März, aber aud) die
Niederjchläge ergaben 150% des Normalwerts und verteilten
ich jo über den ganzen Monat, daß nur 9 Tage ohne Nieder:
Ihläge regiltriert wurden. Dagegen waren Bewöltung,
Sonnenjdein und Luftdrud annähernd normal.
April 1912.
2. Der Weitere Bürgerrat ratifiziert den Berfauf
zweier Landparzellen der Chr. Merianfchen Stiftung außer-
halb des Wolfbahnhofs an die Schweizerilhen Bundesbahnen
und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgers
recht. |
9. Das Teftament des jüngſt 78jährig verjtorbenen E m a=
nuel Meyer wird eröffnet. Es ſetzt außer einer Anzahl
von Legaten an Berwandte und Freunde über 100,000 Fr. für
wohltätige und gemeinnüßige Zwede aus. Der Reit joll der
Akademiſchen Gejellihaft zufallen.
10. Im Alter von 64 Jahren ftirbt Hans Linder—
Stehelin, von 1882 bis 1907 GStaatskaffier, dann bis 1911
Quäjtor der Univerfität, ein mufterhafter Beamter. |
334
13. Die Regierung wählt als Profejlor der Kinderheil-
funde an der Univerjität den Oberarzt des Kinderjpitals Dr.
Cnil Wieland.
18. Der Große Rat wählt zum Präjidenten 9. Je z⸗
ler, bisher Statthalter, zum Statthalter Dr. Iſaak Iſelin;
er beitellt für ein neues Jahr das Bureau, wählt zum Regie—
rungspräjidenten für 1912/13 Dr. 9. Blocher, zum Vize:
präjidenten Dr. %. Aemmer, gewährt einige Nadtrags-
fredite, ratifiziert eine Anzahl von Bürgerrehtsaufnahmen
und tritt ein auf die Beratung des Rückſtändeberichts. Er wird
genehmigt und ein Zujag abgelehnt, der die Regierung ein
laden will, zur Vorbereitung dringender Arbeiten Rommij-
fionen beizuziehen. in Landverfauf an die Methodilten-
gemeinden wird angenommen, die Abtretung eines Stückes
Land an der Eijengaffe zum Neubau Spillmann genehmigt,
endlich) die Diskufjion eröffnet über den Vertrag mit der
Basler Wohngenofjenfdaft.
Großes Auffehen erregt in der Stadt die in der Naht
vom 14. zum 15. ds. erfolgte Kataftrophe der „Titanic“.
Diefe, das gegenwärtig größte Schiff der Welt, jtieß auf ihrer
Sungfernfahrt von Southampton nad) New York mit einem
Eisberg zufammen. Das Schiff ging unter, es famen 1565
Menihen um, 775 wurden. gerettet, unter ihnen Oberſt A.
Simonius und Dr. Mar Stähelin aus Baſel. Der Untergang
der „Titanic“ ift die größte Schiffskataſtrophe aller Zeiten
in Bezug auf Berluft an Menjchenleben.
20. Die Hiftorifhe Ausstellung von Erzeugnijien
des Runftgewerbes aus Basler Privatbefig in der Kunſthalle,
veranjtaltet von der Hiſtoriſchen Gejellihaft, wird eröffnet.
21. Die Rehrlingsprämierungen nehmen ihren
regelmäßigen Verlauf.
25. Der Große Rat behandelt nad) der Erledigung
einer Interpellation und nad) Bewilligung eines Nacdhtrags-
fredites den Vertrag mit der Basler Wohngenoſſenſchaft über
335
Abtretung eines Stüdes Land mit Erbbauredht auf 30 Sabre.
Der Bertrag wird [chlieglih unter Namensaufruf ange:
nommen. Gin in der letten Situng (18. April) gewähltes
Bureaumitglied lehnt die Wahl ab.
26. Die Generalverfammlung Des Allg.
Konjumvereins genehmigt die Anträge ihres Genofjen-
ſchaftsrates.
27. 28. Der Verkehrsverein veranſtaltet ein Flug—
meeting auf der St. Jafobsmatte mit dem Schweizer
Flieger Grandjean und dem Franzoſen Kimmerling, die beide
mit ihren Hoch- und Dauerflügen viel Erfolg ernten. -
27. fig. Auf dem ehemaligen Kohlenplat beim Bundes-
bahnhof veranftaltet ver Zirfus Mar Shumanın feine
Boritellungen.
30. Witterung. Die meteorologiihen Hauptwerte
des Monats waren: Mittel der Temperatur 8,8, mittleres
TZemperatur-Marimum 14,2, mittleres Temperatur: Minimum
3,69, Mittel des Quftdruds 738,3, Summe der Niederſchlags⸗
menge 20 mm, Summe der Sonnenfheindauer 198 Stunden.
Der April 1912 ijt der erſte Monat feit Juni 1911, der nit
Wärmeüberſchuß über das langjährige Mittel ergab. Aufs
fallend gering war das Ergebnis der Niederſchläge. Sn den
eriten Tagen und wieder in der Mitte des Monats gab es
Fröſte. Am Morgen des 13. ſank das Thermometer unter 2°
und richtete an den frühzeitig blühenden Obftbäumen, nament:
lich Kirihen, ganz erheblichen Schaden an.
Mai 1912.
1. Die organtjierte Arbeiterſchaft begeht in üblicher Weife
die geierdes1.Mai. Am Vormittag in der Burgnogteis
halle jpricht Obergerihtspräfident Otto Lang aus Zürich), der
Nachmittag in den Zangen Erlen wird durd) die u un
froftige Witterung beeinträdtigt.
2. Sn den Langen Erlen, in der Nähe des Eglifees, wird
eine Walderholungsjtätte für tuberfulöfe Frauen
336
aus Privatmitteln mit Staatshilfe unter der Aegide der Ge-
meinnüßigen Geſellſchaft eröffnet.
4. An einem Herzſchlag ftirbt 37jährig auf offener Straße
Lehrer E. Alb. Burgherr, der fih aud als Dichter hervor:
gewagt und noch im Hinter uns liegenden Winter ein Schau-
ipiel „Das Kreuz der Rache“ auf dem Basler Stadttheater
aufgeführt hat.
5. Die Flieger Grandjean und fimmerling, die
vor acht Tagen mit ungenügendem finanziellen Erfolg auf:
gejtiegen find, verſuchen noch einmal ihr Glüd.
6. Der Hausbeligerverein beichließt das Referendum
gegen den vom Großen Rat am 25. v. M. angenommenen Ber:
trag mit der Basler Wohngenofjenihaft betr. Ueberlaſſung
eines Stüdes Staatsland in Erbpadt. Am folgenden Abend
wird eine Gejellihaft für Bodenbefigreform
gegründet, die ji) u. a. die Aufgabe jtellt, diefes Referendum
zu befämpfen.
9. Der Große Rat wählt nad) Erledigung einer Inter:
pellation und Bewilligung eines Nacdtragsfredits zu einem
Beiliger des Bureaus Dr. Rud. Niederhaufer, weift Die
zweite Vorlage der Regierung betr. Bau einer Terraſſe an
der mittleren Rheinbrüde fleinbaslerjeits zurüd, weijt die
Snitiative betr. die Erhebung von Schulgeld von auswärts
wohnenden Zöglingen hieliger Schulen ab und nimmt dafür
ein Projekt der Regierung an, das den Snitianten teilweife
entgegenfommt. Der Beihluß betr. Ablehnung der Snitia-
tive unterliegt einer Volksabſtimmung.
Sm Alter von wenig über 70 Jahren ftirbt Prof. Karl
Von der Mühll, 1868—1889 in Leipzig, jeit 1889 in Baſel
Profeſſor für mathematiſche Phyſik, 1895 und 1910 Rektor der
Univerjität, viel verdient als Curator fiscorum und als Vor:
iteher der Mufeumsgefellfhaft, Chrendoftor der Medizin und
der Jurisprudenz.
10. Sn Haufen i. W. findet das üblihde Hebelmähli
ſtatt.
337 22
11. 12. Die ftimmfähigen Mitglieder der enangelijcherefor-
mierten Kirche von Bafeljtadt wählen für eine Amtsdauer
von fehs Jahren ihre Synode und die Kirhenvor
ftände nad dem proportionalen Wahlverfahren, zum erjten-
mal ohne Aufiiht des Staates. Es lagen drei Lilten vor:
die der Firchlich freilinnigen Vereine, die von den jozialdemo-
fratiihen Kirdhgenojjen Kandidaten aufgenommen hatte und
von ihnen unterjtüßt war, die der politinen Gemeindevereine
und — für einzelne Gemeinden — die der unabhängigen
Kirhgenofien („Freunde der Neuen Wege‘). In Klein
hüningen und Riehen-Bettingen jtanden eine „Dorflijte“ und
die freilinnige Lite einander gegenüber. Die Wahlen er:
gaben für die Synode eine pojitive Mehrheit von etwa 40
gegen 30 Stimmen, etwas mehr als bisher. Die Yusländer,
die zum erjtenmal mitjtimmten, haben ihre Vertretung er=
halten; die unabhängigen Kirchgenoſſen feßten nur einen ihrer
Kandidaten durch. Die Beteiligung betrug rund nur 25%
bei 21,000 Stimmberedtigten.
12. Auf dem Rhein ftößt ein Boot mit der Birs-
felder Fähre zujammen, wobei zwei Perſonen umfommen.
13. Der Tod des Lic. theol. Albert Brudner, Pfarrers
in Eſperanza (Argentinien), früher Pfarrers in Klein-
hüningen und Privatdozenten an der Univerjität Bafel, wird
angezeigt.
18. Die Staatsrednung für 1910 fließt bei
18,699,162 Fr. 65 Ausgaben und 18,326,162 Fr. 40 Einnahmen
mit einem Defizit von 372,276 %r. 25, während das Budget:
defizit 2,088,360 Fr. 45 betragen hatte. Die Einnahmen Stiegen
rund 1,800,000 Fr. höher als im Budget vorgejehen, die Aus—
gaben jtiegen 60,000 Fr.
21. Die meilten Brimar: und Mittelſchulklaſſen benügen
den heutigen Tag zu Shulfpaziergängen. Leider
wird er wiederholt durch Regengüſſe getrübt.
22. In der letzten Sigung ihrer Amtsperiode genehmigt
338
die Synode der evangelilhreformierten Kirche Jahres—
berit und Jahresrechnung des Kirchenrates für 1911.
23. Der Große Rat hört zwei nterpellationen, be-
willigt einen Nachkredit für Bau einer Schwebebahn im
Schlachthaus, beſchließt den Anſchluß des badiſchen Bahnhofs
ans Straßenbahnnetz, faßt einen Beſchluß betr. Verſchwiegen—
heitspflicht von Mitgliedern der Großratskommiſſionen, er⸗
klärt das Initiativbegehren betr. Abſchaffung der Straßen:
reinigungsiteuer nicht erheblich (welch letzterer Beſchluß nod)
vor die Bolk:abjtimmung fommen wird), beſchließt Neubauten
für das Urbeitsnadhweisbureau, genehmigt Sahresbericht und
Jahresrechnung der Kantonalbant für 1911, erledigt eine
Reihe von Petitionen und erflärt endlich Anzüge erheblich
hetr. Einführung einer obligatoriſchen Kranfenverficherung
und betr. die Kleinfinderfchulen.
24. Dr. Obermiller hält feine Habilitationsvorlefung
als Privatdozent über „Natürliche und fünjtliche Farbſtoffe“.
28. Die Regenz erteilt den DDr. Eonitantin v. Sanidi
aus Betersburg an der medizinifhen und Fri Viſcher aus
Bafel an der philofophiihen Fakultät die venia legendi.
31. Prof. Rud, Braun hält feine Antrittsporlefung als
Profelior der Geographie über Probleme der Polar—
welt.
31. 1. Juni. An der ordentlidhen Sigung der Schweiz.
Yerzteverfammlung nehmen etwa 400 Aerzte teil.
Die Profefforen Stähelin und de Quervain referieren über
das Neueſte auf dem Gebiete der Röntgentherapie.
Witterung. Meteorologiihe Hauptwerte des Monats
Mai: Mittel der Temperatur 14,6, mittleres Temperatur:
Marimum 20,0, mittleres Temperatur-Minimum 9,79. Mittel
des Yuftoruds 737,4, Summe der Niederſchlagsmenge 82 mm,
Summe der Sonnenfdeindauer 229 Stunden. Den Monat
zeichnete jtarfe Veränderlichkeit aus. Er bradte einen Ueber:
ſchuß an Niederfchlägen und die hödhjfte aller bis jegt in Baſel
beobachteten Maitemperaturen (am 12. 33,00 Celfius).
339 22*
uni 1912.
1. Die Untere Realjchule Halt den erften Naturfhuß-
tag der Schweiz ab mit einer Anſprache im Freien, beim
Safobsberger Hölzchen, und nachher anſchließenden klaſſen—
weijen Ausflügen.
1. 2. Bajel beherbergt den Delegiertentag der evan-
gelifh:-jozgialen Arbeitervereine der Schweiz
im Wettfteinhof. Vorträge Halten Pfr. ©. Benz über
„Unſere Sadhe“ und Frl. T. Schaffner, Aſſiſtentin des
Gewerbeinfpeftorats, über „Die Basler Heimarbeit“.
13. Die Schweizerifhen Chriftliden VBereine
junger Männer halten in Bajel ihr 32. Bundesfejt ab.
2. Der Deutſche Liederkranz feiert unter ftarker
Beteiligung das gelungene Jubiläum feines 50jährigen Be-
jtehens.
3. Die neugewählte Synode der evangelijd-
reformierten Kirche, eröffnet von W. Backofen:
Dennler als Alterspräfidenten, wählt zum Prälidenten Prof.
Eberhard Bilder, zum Vizepräſidenten Rektor Flatt, beitellt
den Kirchenrat aus Prof. Böhringer (freil.), Prof. Handmann
(pof.), Oberit Sfelin (pof.), Dr. Kern (poſ.), Kantonsbau—
meiſter Leijinger (freij.), alt-Nationaltat Müry (freil.), U.
Raillard (poj.), Antijtes v. Galis (pof.) und W. Sänger:Lang
(freif.), wählt zum Präſidenten des Kirchenrates Antiftes D.
v. Galis und zum Bizeprälidenten Prof. Böhringer.
5. Die Regierung erteilt dem Prof. Dr. John Meter
die erbetene Entlajjung mit Belafjung von Titel und Rechten
eines ordentlichen Profeſſors. — Die Naturforihende Geſell—
haft wählt zu ihrem Präſidenten Prof. Dr. ©. Senn —
Sm Bernoullianum hält auf Einladung der Freijtudenten-
Ihaft der durd) feinen Konflikt mit den Zürcher Erziehungs-
behörden befannt gewordene Pädagog Prof. Dr. %. W.
Förſter einen Vortrag über die Kunft des Befehlens. —
Der Genojienidhaftsrat des Allgem. Ronfumvereins
340
beichliegt, fein Perjonal bei der Verficherungsfafje des Schweiz.
Konjumverbandes auf Alter und Invalidität zu verſichern.
6. Bei einem Gewitterregen in der Nacdmittags-
ftunde nad) 3 Uhr fällt in Zeit von 8 Minuten eine Nieder:
Ihlagsmenge von 6 Millimetern.
7. Zum Borjteher der Gemeinnügigen Geſellſchaft für das
nächſte Gefchäftsjahr wird gewählt 2. Tre u-Neufomm.
8. Die Regierung erteilt Prof. Dr. Dan. Burkhardt:
MWerthemann die erbetene Entlafjung.
DieSalineShweizerhalle vor den Toren Bafels
begeht die eier ihres 75jährigen Beitandes unter Anweſen—
heit der Leiter vieler befreundeter Unternehmungen.
9. Beim Finalmatch um die [HK weizerifhe Meiſter—
ſchaft im Zußballipiel auf dem Landhof in Bajel fiegt mit
3:1 Fußballklub Yarau über Zußballflub Etoile La Chaur-
de-⸗Fonds.
10. Die Synode der evangeliſch-reformierten Kirche va—
lidtert die Wahlen vom 11./12. Mai, trifft Bejtimmungen
über Berwendung des Kirchenopfers an den der Kirche vor—
behaltenen Sonn und Feſttagen des Sahres 1912, wählt als
Delegierten zum theologijhen Konkordat Prof. Böhringer, als
Erjagmann Dr. Kern und wählt die Petitions- und die Ge—
Ihäftsprüfungsfommillion.
11. Bon 1580 Stimmberedtigten ijt dem Regierungsrat
ein Referendumsbegehren gegen den Großrats-
beihluß vom 25. April betr. ven Bauredhtsvertrag mit
der Basler Wohngenojjenihaft eingereicht worden.
Die Frequenz Der Univerfität im Sommer:
jemejter 1912 beträgt 799 immatrifulierte Studierende (dar—
unter 42 Damen) und 142 (51) nicht immatrifulierte Hörer.
Von den ISmmatrifulierten gehören an der theologiihen Fa—
fultät 81, der juriſtiſchen 74, der mediziniſchen 230, der philo-
jophifhen I 217, der philojophifchen II 197; Schweizer find
630 (36), Ausländer 169 (6). Bon den 303 (21) Bajeljtädtern
341
tudierten Theologie 19, Turisprudenz 47, Medizin 49 (2),
PHilofophie I 98 (16) und Philoſophie II 90 (3).
13. Der Große Rat nimmt ein Vollziehungsgejeg zum
Bundesgeſetz betr. das Ablinthverbot an, beichließt Hausfäufe
zur Vollendung der Marktplaßforreftion, den Kauf eines Ter:
tains an MWiefendamm und MWiejenitraße, jowie zweier Par:
zellen beim Tramdepot und überweilt endlich der Regierung
eine Reihe von Anzügen, nämlich betr. Ausarbeitung eines
generellen Straßenbahnneßes; betr. Uebernahme des Grund:
beliges des Bürgerjpitals durch den Staat; betr. Wahl der
jtändigen Kommiſſionen dur) den Großen Rat; betr. Reviſion
des Bürgerredtsgejeßes,; betr. Bebauung der begrenzenden
Straßen von Billenquartieren und betr. Erridtung eines
Braujebades im St. Albangquartier.
15. Die Regierung wählt zum ordentliden Profellor für
öffentlides Net an der Univerjität Dr. Erwin Ruck, d. 2.
Privatdozent in Tübingen.
20. Großer Rat. Nach Erledigung einer Interpellation
wird die von der Regierung geforderte Dringlidfeit für die
Wahlfreiseinteilung zu den Bürgerratswahlen abgelehnt und
werden Kredite bewilligt für Anfauf einer Qandparzelle in
Kleinhüningen, für Ankauf der Liegenihaft Kanonengaſſe 11
für die Frauenarbeitsſchule, für Inſtandſtellung des St. Alban—⸗
teihwuhrs, für Vergrößerung der Schladitanitalt, endlich für
Vermehrung des Perjonals der Vormundidaftsbehörde; der
Rat weilt die Vorlage über Webertretungen des Pflanzen:
ſchutzgeſetzes an die Regierung zurüd, überweilt die Reviſion
des Gemeindegejeßes einer KRommilfion und hört ein Referat
über Errichtung einer fantonalen öffentliden Krankenkaſſe.
23. fig. wird die üblihde Woche der religiöfen
Sahresfejte gefeiert.
25. Der Weitere Bürgerrat beihließt über Ver-
teilung des Ertrags der Chriſt. Merianſchen Stiftung an die
bürgerliden Anſtalten für 1912, legt einen Verkauf von Land
diefer Stiftung an der Lagerhausftraße an den Staat zur
342
Kanzlei und erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins
Bürgerreht. — Der neue Lehrer der Hafjiihen Philologie
an der Univerfität, Prof. Ernit Lommatzſch, Hält feine
Antrittsporlefung über die Bedeutung der Provinzen in der
römischen Literatur.
27. Der Große Rat ratifiziert eine Anzahl Bürger:
aufnahmen, weilt die Vorlage betr. Errichtung einer außer-
ordentliden Krankenkaſſe an eine neungliedrige Kommiſſion
und weilt die Borlage betr. Wahlfreiseinteilung für die
Mahlen in den Weitern Bürgerrat ab in der Meinung, daß
fie fünftig in einem Wahlfreis zu erfolgen haben. Am Nad)-
mittag jtattet der Rat in corpore dem feiner Vollendung ent-
gegengehenden bafeljtädtilhen Kraftwerk Augſt-Wyhlen einen
Beſuch ab.
28. Prof. Sicher, feit 10 Fahren Lehrer der Botanik
an der Univerjität, reiht der Negierung fein Entlaljungs-
geſuch ein.
Der Genoffenfhaftsratdes A. C. V. beſchließt
ven Bau eines KRohlenmagazins auf dem Lisbücdhel und nimmt
eine Rautionsordnung an.
Der Komponijt Dr. Hans Huber feiert feinen 60. Ge—
burtstag und mit ihm das gejamte muſikaliſche Bajel.
29. 30. Der Deutſche Hilfsverein begeht das Feſt
feines 50jährigen Beitandes mit Konzert und Feſteſſen im
Sommerfajino unter Anwefenheit zahlreicher glüdwünfchender
Gäſte.
30. Sm Alter von 63 Jahren ſtirbt Dr. Edouard Boi-
vin, Drieftor der Banque fonciere du Jura.
Witterung. Im Monat Suni 1912 betrug das Mittel
der Temperatur 16,7, das mittlere Temperatur-Marimum
21,7, das mittlere Temperatur-Minimum 12,4 Celfius, das
Mittel des Luftdruds 736,5, Die Summe der Niederfchlags-
menge 108 mm, die Summe der Sonneniheindauer 227 Stun:
den. Der Hauptharafter des Monats war unbejtändig. Wenn
343
die Monatsmittel nirgends jtarfe Anomalien zeigen, fo ge=
ſchah dies, weil die Einfeitigfeit durch die günjtige RANG
einer Mode ſtark beeinträchtigt wurde.
Juli 1912.
2. Dr. Wilhelm Sarajfin hält als Privatdozent an der
philofophifchen Fakultät I der Univerlität feine Antrittspor=
lefung über „Die Reifen im mittelalterliden Orient“.
5.—9. Die Stadt Bajel feiert das 56. eidgenöſſiſche
Turnfeft. Längit Hatten fi zahlreihe Bürger und Ein—
wohner unferer Stadt, Oberjtforpsfommandant Iſaak Sjelin
als Präſident des Organifationsfomitees an der Spibe, in.
vielen Ausihüllen der Vorbereitung diejes Anlafjes gewidmet.
Die Turner, die etwa 15,000 an Zahl aus dem In- und dem.
Ausland anrüdten, fanden eine wohl vorbereitete Feſtſtadt.
Unter den Auswärtigen wurden namentlich bemerft Schweizer
Turner aus Bittsburg in den Vereinigten Staaten Nord-
amerifas und jolhe aus Buenos-Wires. Das Metter war mit
Ausnahme eines heftigen Gemwitters am 6., das feine Nach—
zügler noch am 7. ausjandte, jehr günſtig. In die tägliche
Arbeit der Uebungen bradten die Abendunterhaltungen, in
dem großen, 10,000 Menſchen fallenden Feſtzelt auf der Feſt—
wieje außerhalb des Shütenmattparfs, wo ji) das ganze Feſt
abjpielte, willlommene Abwechslung. Die Hauptnummer
bildete jeweilen das von C. Albr. Bernoulli in Arlesheim ge—
Ihriebene Feitipiel „St. Jakob an der Birs“, zu dem Kapell—
meijter Suter die Muſik gefchrieben hatte. Um die Aufführung
madten ji der Gejangverein und eine Menge Basler Dilet-
tanten verdient. Die Leitung führte Theaterdireftor Melit,
unterjtüßt von den Herren Boepple und Schaub; die ſtim—
mungsvolle, finnreid) angelegte Bühne war das Werf von
Franz Baur und Burkhard Mangold. Neben dem Feſtſpiel
erfreuten allabendlih die Basler Turnvereine mit ihren
flotten Darbietungen die zahllofe Menge. Wer nicht in der
Haupthütte Raum fand, den nahmen nebenan die Bierzelte
344
auf, in denen jeden Abend Konzert war. Die Höhepunkte des
Feſtes bildeten am Samstag 9. Juli nachmittags die Ein-
holung der von Lauſanne fommenden eidgenöflilhen Zentral
fahne, von Nationalrat Decoppet überreicht, von Oberſt Iſelin
entgegengenommen, ferner der Sonntag. Diejer bradte am
Nachmittag das überwältigende Schaufpiel der Freiübungen
von 10,600 Schweizer Turnern mit Mufifbegleitung. Es folgte
darauf eine Anſprache des Vertreters des Bundesrates,
Bundesrat Müller, endlih ein Zug durch die rei und ge—
Ihmadvoll geijhmüdte Stadt, deſſen Vorbeimarſch 1% Stun-
den in Anſpruch nahm. Am Dienstag, 9. Juli, wurde nad
einer Wiederholung der allgemeinen Freiübungen die Preis:
verteilung vorgenommen. Erſte Preisgewinner im Geftions-
turnen fönnen wir nicht nennen, da hier nur ſehr zahlreiche
Rangklafjen gebildet wurden. Die erjten Preife im Kunſt—
turnen fielen auf Otto Ineichen (Veltheim, Züri) und Gott:
lieb Siebenmann, Bafel, mit je 94,5 Runften, im National-
turnen auf Gotthold Wernli, Bafel, mit 96,5 Puntten. Am
Geftionsturnen beteiligten jih die Angehörigen des Kan
tonalturnverbandes als der feitgebenden Organijation nit.
An die Preisverteilung ſchloß fi ein zweiter Zug durch die
Stadt und die Kahnenübergabe vor dem Rathaus. Im Laufe
des Dienstags führten Ertrazüge der von Bafel ausgehenden
Bahnen die Turner in ihre Heimat. Die Freude über das
Ihöne Gelingen des Feſtes ift allgemein.
11. Ein großes allgemeines Jugendfeſt, das
Taufende von Kindern, zum Teil in reizenden Koftümen, zu
Fuß und zu Wagen vereinigt und einen Umzug voll Leben
und Bewegung und Buntheit zuitande bradte, wird mit voll:
fommenem Gelingen im Feſtzelt und auf dem weiten Plan
des Turnfeltes abgehalten.
14. Das franzöſiſche Nationalfeit wird von
der hiefigen franzöfifhen Kolonie durch einen Empfang im
Konfulat und durch ein diesmal von privater Seite, nicht vom
345
Zentralfomitee der Kolonie organifiertes Gartenfejt im
Sommerfalino gefeiert.
Bei einem ſchweizeriſchen Schadfptelertag in Lauſanne
zeihnen ih Basler Schachſpieler in großer Zahl durch
hervorragende Leiltungen aus.
18. Das Baudepartement ſetzt eine Kommijjion nieder
zur Unterfugung des bauliden Zuftandes Des
Münfters.
19. Eine ſozialdemokratiſche Parteiver—
fammlung jpriht den Zürcher Genojjen, die am 12. Juli
zu Demonjtrationszweden einen Generaljtreit durchgeführt
Hatten, ihre Sympathie aus. — Schon am vorangegangenen
Tag hatte die Partei mit Mehrheit dem von einem Teil feiner
Genofjen Hart angefochtenen Vorſteher des Polizeideparte-
ments Regierungsrat Dr. 9. Blodher ihr Vertrauen kund—
getan.
21. Auf einer Hochtour am Wletfchhorn findet den Tod
45 Sahre alt Dr. Andreas Fiſcher, feit 1896 Lehrer des
Deutijhen an der Obern Realſchule in Bajel.
25. Delegierte ftadtbasleriiher Vereine befchließen, auch
diefes Jahr ein St. Jakobsfeſt abzuhalten. Gleichzeitig
wird die Peſtalozzigeſellſchaft, wie ſchon vor 1 und 2 Jahren,
einen Blumentag veranitalten.
26. 27. Auf einem Flug Straßburg-Baſel über-
fliegen verjchiedene deutjche Dffiziere mit ihren Flugzeugen
unſre Stadt. Am Abend des 26. und am frühen Morgen des
27, erleidet je einer der Aeroplane hart an der Grenze Ha—
varie, jo daß die Flieger gezwungen find, vorübergehend hier
zu bleiben.
27. Zum eritenmal fährt ein Schleppzug mit
Kohlen über die mittlere Nheinbrüde in Bafel hinaus nad)
SHhweizerhalle und eröffnet damit ein neues Kapitel
in der Rheinſchiffahrt.
31. Witterung. Das Mittel der Temperatur für
den Juli 1912 betrug 18,2, das mittlere Temperatur-Marimum
346
23,3, das mittlere Temperatur-Minimum 13,50 Celfius, das
Mittel des Luftdruds 736,8, die Summe der Niederjchlags-
menge 75 mm, die Summe der Sonnenjheindauer 226 Gtun-
ven. Das erite Drittel des Monats verlief unbejtändig, meift
regneriih, das zweite (Turnfeft) brachte ſchöne warme Wit:
terung, das letzte war gewitterhaft und hatte viel Regen.
Auguft 1912.
1. Bei allgemeiner Feſtmüdigkeit und ungünjtiger Witte-
rung nimmt die Bundesfeier einen flauen Berlauf.
3. fig. Auf dem Kohlenplage hat der Zirfus Biſini
feine Zelte aufgeſchlagen und gibt feine equeitrifchen und akro—
batiſchen Vorſtellungen.
7. Die Arbeiterunion beſchließt Anſtellung eines zweiten
Arbeiterſekretärs und wählt an die neue Stelle Max Bock,
bisher in Zürich.
12. Der neue Verſchubbahnhof der Badiſchen
Bahn, der in einer anſehnlichen Breite von Leopoldshöhe
bis Haltingen reicht und als eine der großartigſten Anlagen
dieſer Art in ganz Mitteleuropa gerühmt wird, wird mit dem
heutigen Tag dem Betrieb übergeben.
15. In Innsbruck ſtirbt an einem Schlaganfall 65jährig
Dr. Stanz La Roche, 1872—1875 Regierungsfefretär von
Bafeljtadt, jpäter in verjchiedenen gemeinnüßigen Unter:
nehmungen tätig, feit Mitte der 1890er Jahre nicht mehr in
Baſel anfällig, jondern meilt auf Reifen, im Winter in
Münden oder in Innsbrud.
16. Die Arditeften Rud. Linder und Emil Berder legen
den Plan eines Mujfeumsbaus im Shüßenmatt
part der Deffentlichfeit vor und tragen damit dazu bei, die
duch die Petition der Künjtler in Fluß gebrachte Mufeums-
angelegenheit noch mehr aktuell zu machen. Am 17. überreidt
die Regierung der Muſeumskommiſſion die erſten Petitions-
bogen und Stellt ihr eine Friſt bis Ende September, um fid)
Darüber zu äußern.
347
Der ſchwerſte Shleppzug, der je nah Bafel kam,
beitehend aus drei Dampfern und Drei Kähnen, trifft am
Rheinhafen ein. — Es wird befannt, daß das Stadttheater
im Laufe des nächſten Winters im Bömlytheater durd
feine Truppe leichtere Luſtſpiele u. dgl. wird aufführen laſſen.
17. Nachdem feit dem 6. ds. langjam der Rhein oberhalb
des Staumwehrs bei Augjt ift gejtaut worden, liefert mit dem
heutigen Tag das bafelftädtifhe Kraftwert bei
Augſt-Wyhlen zum erjtenmal probeweife Strom nad
der Stadt mit vollfommenitem Gelingen. — Die Infan—
terierefruten von Bajelftadt, etwa 300 an Zahl, mar-
Ihieren unter Borantritt der Muſik des militärifhen Vor:
unterrihts bei ihrer Rückkehr aus Luzern durch die Stadt.
Es waren diejfes Jahr vom Bundesrat regimentweife Re—
frutenjchulen der Infanterie angeordnet worden.
18. Die Fußballſaiſon des Winters 1912/13 be-
ginnt mit einem Match des %. C. Bajel I gegen Straßburg,
der mit 2:2 Goals unentichieden bleibt.
19. Die außerordentlihe Generalverfammlung des
Shweiz. Banfvereins genehmigt einjtimmig die
Sufion mit der Banque d’Escompte et de Depöts in Lau—
ſanne und bezeichnet Muret als Direktor der Laujanner Fi-
liale.
24. Der Regierungsrat wählt zum ordentlichen Profeſſor
an der Univerſität für deutſche Sprache und Literatur mit be—
ſonderer Berückſichtigung der Literaturgeſchichte mit Amts—
antritt auf das Sommerſemeſter 1913 Herrn Dr. Sul. Beter:
jen, zurzeit PBrivatdozenten in München. Gleichzeitig erhält
Prof. Dr. E. Hoffmann-Krayer auf den gleihen Zeitpunft
eine der gejeglihen foordinierte Profeſſur für Germanijche
Philologie.
25. In den Gottesdieniten der evangeliihen Volkskirche
wird für jpezielle Gemeindezwede eine Kollefte erhoben.
26. Das St. Jakobsfeſt wickelt fih in den her:
gebraten Formen ab, nur daß das Münftergeläut früh 5 Uhr
348
den Tag eröffnete. Keitredner war Pfr. Hans Baur zu
St. Leonhard. Am Abend wurde im Sommerfalino das Zeuer-
wert abgebrannt, deſſen Abbrennen am 1. Auguſt unmöglid
geworden war. Die Feier wurde vielfach durch Ungunit der
Mitterung gehemmt und unterbroden. Mit ihr im Zu:
fammenhang wurde der Dritte Basler Blumentag
abgehalten, dejjen Ertrag, 26,000 Fr. verſchiedenen Unter:
nehmungen der Peſtalozzigeſellſchaft, Ferienheim Preles,
Waldſchulen, Kleinbasler Krippen zu gute kommt.
27. In der Morgenfrühe ſeines 87. Geburtstages ſtirbt
an Altersſchwäche Pfr. D. theol. Samuel Preiswerk,
älteſter Sohn des 1871 geſtorbenen Antiſtes gleichen Namens.
Er war 1847—1859 Pfarrer in Langenbruck, dann bis 1897
Pfarrer zu St. Alban. Preiswerf hat durd) feine tiefgründen-
den Predigten auf weite Kreije einen großen Einfluß ge:
übt. In dem Amt und in der Synode vertrat er pofitive An-
ſchauungen. Auf willenihaftlidem Gebiete Hatte er als
Hebrailt einen Namen. In verjhiedenen chrijtlichen und ge-
meinnüßigen Unternehmungen wirkte er an leitender Gtelle
eifrig mit.
28. Zur Hausmutter des Basler Kerienheims für Mädchen
der Beitalozzigejellihaft in PBreles wird gewählt Wwe. 9 ü m:
merli, ehemals Waifenmutter in Burgdorf.
30. Witterung. Die Hauptwerte des Monats Auguſt
1912 waren: Mittel der Temperatur 14,8 (3° weniger als
das 8jährige Mittel!), mittleres Temperatur-Minimum 11,9,
mittleres Temperatur-Marimum 18,99 Celſius, Mittel des
Luftdrucks 736,2, Summe der Niederfchlagsmenge 145 mm,
Summe der Sonnenfdeindauer 126 Gtunden (98 Stunden
weniger als das 26jährige Mittel!). Es war ein regneriſcher,
naſſer und unerfreulicher August und fuchte in diefer Richtung
jeinesgleiden. Die Kulturen litten jtarf unter der Witte-
rung des Monats. Nur die Obſtbäume verſprechen troß der
Näſſe und dem Mangel an Sonnenjdein einen reihen Herbit-
fegen.
349
September 1912.
1. Guſtav Donze, Hauptkaſſier des 1. ſchweiz. Zoll»
freifes, begeht jein 5Ojähriges Jubiläum als Beamter der
ichweiz. Zollverwaltung. Beim feitliden Alt in der Reb—
leutenzunft wird u. a. eine Anſprache verlejen, die der vor
acht Tagen verjtorbene Zollamtsvorjteher K. E. Pfeiffer-
Amsler noch verfaßt Hatte.
2. Der Genojjenihaftsrat des Allg. Kon-
ſumvereins beſchließt Ankauf der Liegenihaft Dornader-
ſtraße 74/ Gempenſtraße 39 für 162,000 Fr. und faßt eine Re—
lolution zugunften des zur Volksabſtimmung gelangenden
Bauredhtsvertrages mit der Basler Wohngenoſſenſchaft.
3. Raijer Wilhelm II. von Deutſchland hält ji auf
feiner Reife zu den ſchweizeriſchen Manövern in der Oſtſchweiz
mit einem großen und glänzenden Gefolge wenige Minuten
auf dem Bundesbahnhof auf. Er wird begrüßt von einer
Delegation der Basler Regierung, es ftellen ſich ihm die zu
einem Gefolge fommandierten Schweizer Offiziere General:
ſtabschef Oberft v. Spreder, Oberjtdinifionär Audeoud und
Dberjtleutnant Alfr. Wieland zur Verfügung. Er empfängt
die Spißen der deutihen Kolonie von Bafel und verleiht
einige Orden, u. a. an den Kemponijten Dr. Hans Huber den
fönigl. Aronenorden 3. Klaſſe. Der geſchmackvoll deforierte
Bahnhof war polizeilich abgejperrt. Während der Anwejen-
heit des Kaijers Donnerten die Kanonen den Ehrengruß.
5. Der im Auftrag des Vereins für die Schiffahrt auf
dem Oberrhein gebaute 17 m lange Motordampfer mit
Vetrolheizung unternimmt feine erjte Fahrt nad) Rheinfelden.
Er braudt dazu 2 Stunden, von denen 25 Minuten auf die
Durchſchleuſung fallen.
8. Sn Bafel tagt unter Borfi von Dr. U. Kramer (Zürid))
die 46. Wanderverfammlung des Bereines ſchwei—
zeriſcher Bienenfreunde, zu der fi) etwa 400 Mit:
glieder eingefunden haben. — Die erſte Mannihaft des % u B-
350
ball£lubs Bafel gewinnt einen internationalen Match
gegen %. EC. Phönir (Karlsruhe) mit 4:0.
9. Nachdem durch Die neue Armeeeinteilung (April 1912)
die beiden bajeljtädtilhen Bataillone 54 und 97 zu einem
Snfanterieregiment 22 find vereinigt worden, rüdt
diejes zum eritenmal unter Oberjtleutnant Dtto Senn zu den
Borfurjen des diesjährigen Wiederholungsfurfes der 4. Di:
vifion aus, Bataillon 54 (Major ©. Senn) nad) Reinad)
Bataillon 97 (Major M. Alioth) nad Aeſch. Das Ausrüden
ging im ftrömenden Regen vor fi).
10. Der alte fpätgotifde Taufftein Der St. Theo:
dorskirche, jeit längeren Sahren verjchollen, geht aus
Privatbelig in das Eigentum der Kirdhe über und wird an
feinem urſprünglichen Ort aufgeltellt.
12. Lic. theol. Otto Shmik, bisher Privatdozent der
Theologie in Berlin, wird als neuer Vorfteher der Evans
geliſchen Predigerſchule in fein Amt eingeführt.
14. Der Berein für Shiffahbrtaufdem Ober
thein hält feine 8. Generalverfammlung in Bajel unter An—
wejenheit jehr zahlreicher Bejuder von auswärts. Sm Uns
Hluß an die Verfammlung fand eine gemeinfame Dampfer-
fahrt nad) Rheinfelden ſtatt.
15. Die firhlide Kollefte des heutigen Bet-
tags wird zu verſchiedenen kirchlichen Zweden der einzelnen
Gemeinden bejtimmt und wirft mit Einrechinung einiger Nach—
träge insgejamt 6810 Fr. ab.
18. Die Bundesräte Decoppet und Forrer nehmen
in Begleitung von Fachmännern einen Augenſchein der
Rheinhafjfenanlage vor.
19. Im Alter von 74 Jahren ftirbt Oberjt Hans
v. Mechel, in feiner Jugend Offizier in königlich neapoli-
tanijhen Dienjten, jpäter lange Zeit Schießinitruftor in
Wallenſtadt, jeit 1883 Kreisftommandant und bis in die erjten
Sahre des 20. Jahrhunderts defignierter Rlagfommandant
von Bajel, 18 Jahre lang Mitglied des Basler Großen Rates.
351
Die Diafoniffenanftalt Riehen begeht ihr
60. Sahresfeft. Die Zeitpredigt hält Pfr. W. Shhlatter.
Die Photographiſche Geſellſchaft feiert mit
einer Feltfigung ihr 25jähriges Jubiläum. Dabei
hält Prof. %. Schmidt aus Karlsruhe einen Vortrag über
die geſchichtliche Entwidlung der Photographie.
20. Das Basler ISnfanterie-Regiment 22
fehrt in Extrazügen aus feinem im Bajelbiet abjolvierten
Miederholungsfurs heim, bringt die Naht in der Kaferne
und in benachbarten Schulhäujern zu und wird am 21. ent-
laſſen.
21. Der Regierungsrat entläßt Frau U. Rothen—
berger:Klein auf ihren Wunſch aus dem Amt als In—
fpeftorin der Kleinfinderanitalten.
25. Die Regierung ernennt zum ordentliden Profeffor
für Botanif an der Univerfität Guſt. Senn, bisher außer-
ordentliden Brofeljor.
26. Die Spiten der badilhen Behörden, des Handels und
der Induſtrie unferes Nachbarlandes nehmen die Kraftwerfe
von Augſt-Wyhlen und von Laufenburg in Augenjcdein.
Die Reife geht von Bajel aus und erfolgt bis Rheinfelden
auf den vom Berein für Schiffahrt auf dem Oberrhein zur
Verfügung gejtellten Dampfern.
27. Die Liedertafel wählt zu ihrem Präfidenten an
Etelle des zurüdtretenden Dr. E. Budherer den bisherigen
Bizepräliventen E. Keifer:Handidin.
28. 29. Die Initiative der fortſchrittlichen Bürgerpartei
betr. Erhebung von Schulgeld von auswärts
wohnenden Shülern wird mit 7824 gegen 2990 Gtim-
men angenommen, troß der Empfehlung der Ablehnung durch
die Hauptparteien, mit Ausnahme der freifinnigen, die die
Stimme freigab; die vom Hausbelißerverein ausgehende
Snitiative betr. Abſchaffung der Straßenreini-
gungsjteuer wird entiprechend der Empfehlung des
Großteils der Preſſe verworfen mit 6417 gegen 4559 Stim-—
men; die Referendumsabitimmung über den Bauredhts:
vertrag mit der Basler Wohngenoſſenſchaft,
zu der die Liberalen und die Katholiken keine beitimmte
Mahlparole ausgegeben Hatten, während Freilinnige und
Sozialdemofraten Annahme empfahlen, fiel bejahend aus
mit 5620 gegen 5295 Stimmen. Außerdem wurden eine Zivil:
richter- und eine Strafriditerftelle neu bejegt. Der Abſtim—
mung, namentlich über den Bauredtsvertrag, ging eine leb-
bafte Polemik in der Preſſe voran. Die Zahl der Stimm:
berechtigten betrug 22,236, die der Teilnehmer am Wahl-
und Abjtimmungsgejchäft 11,170.
Die Shweizerijhen Neuphilologen Halten
ihre vom Basler Verein Gay Saber veranftaltete Jahres—
verfammlung in Bajel ab. Die Tagung ift großenteils durch
willenihaftlihe Vorträge ausgefüllt. Als Vorort auf drei
Sahre wird Bajel bezeichnet.
30. Sm Alter von 50 Jahren ftirbt Albert B u B-Wenger,
Gründer der fpäter in eine Aktiengefellidaft umgewandelten
Eijenfonjtruftione und Bauunternehmerfirma, ein Self made
man, der fih vom einfaden Arbeiter zum großen Indu—
itriellen aufgefhwungen hat. Buß gehörte u. a. dem Basler
Großen Rate an. Einige Hauptwerfe der non dem Ber:
torbenen gegründeten Yirma find: Mittlere Rheinbrüde in
Bafel, Kuppel: und Hallenbau des neuen Bundesbahnhofes
in Bajel, Kuppelbau des Bundesbahnhofes in Yuzern, Rhein:
brüde bei Eglisau, Bietijhtalviaduft für die Lötſchbergbahn,
Verlegung der Elſäſſer-Linie in Bajel, Bau eines Teiljtüdes
der Direften Linie Bern:Neuenburg, ſowie der Bodenfee-
Toggenburg-Bahn, ferner die Golothurn-Münfter-Bahn,
Spiez.Erlenbah- Bahn, Berninabahn, Wajlerwert Wangen
a. A., Waflerfraftanlage Augſt-Wyhlen u. a. m.
Witterung. Die mittlere Temperatur des Monats
September 1912 betrug 10,0, das mittlere Temperatur-
Marimum 14,1, das mittlere Temperatur-Minimum 6,49
Celfius, das Mittel des Quftoruds 740,4, Die Summe der
353 23
Niederihlagsmenge 43 mm, die Summe der Sonnenfdhein-
dauer 104 Stunden. Wir ftehen hinter dem weitaus Tälteften
September, feit in Bajel die Wärme notiert wird, d. 5. feit
86 Jahren. Das Mittel der Temperatur blieb 4,39% unter
dem S6jährigen! Die erfte Hälfte des Monats war regne-
riſch und die zweite nebelreih und darum fonnenlos, beide
daher übermäßig falt.
Dltober 1912.
1. Der Weitere Bürgerrat verfauft einen Streifen
Land der Chr. Merianfchen Stiftung an der Lagerhausitraße
zum Bau eines Zeughaujes an den Staat, genehmigt einen
mit der chriſtkatholiſchen Kirche abgeſchloſſenen Vertrag über
das Kirhhenopfer, beichließt den Umbau des Wirtshaufes zu
St. Jakob und behandelt eine Reihe von Bürgerredts-
begehren. |
5. 6. Der Raufmännijhe Verein Bajel, ehe
mals Verein Junger Kaufleute begeht die Feier feines 50-
jährigen Beitehens, nachdem er ſchon vor einigen Tagen die
mit der Sahresverfammlung zufammenhängenden Bereins-
geihäfte im engern Kreis erledigt hat. Das Zeit beiteht in
einer Abendunterhaltung am 5., einem Feſtmahl mit nadf-
folgendem großem Ball und zahlreien Vergnügungsveran-
ſtaltungen im Stadtfajino am 6.
Der Verband ſchweizeriſche Lehrfräfte für
geiltes hwaKhe Kinder hielt am Samstag und Sonn:
tag feine gut bejuchte jiebente FJahresverfammlung in Bafel
ab unter dem Borlig von K. Jauch (Züri). In der Situng
vom Samstag referierte Yehrer Graf (Bajel) über das Thema
„Lehrbuchfragen“. In der Hauptverfammlung vom Sonntag
hielt Privatdozent Dr. med. Billiger (Bajel) einen Vortrag
über Erkennung des Shwadjlinnes beim Kinde mit Berüd-
ihtigung der Methodik der Intelligenzprüfung.
6. Der Fußballklub Old Boys Bafel fiegt gegen Nord-
tern Bafel mit 3:2 Goals.
354
7. 8. Der Basler Verein für Sonntagsfeier
begeht jein 5Ojähriges Jubiläum mit einer öffentlichen
Abendverfammlung in der Martinskirche (Redner Pfr. Stod:
meyer und Pir. Benz) und mit Verhandlungen in der
Schmiedenzunft über „Sonntagsfeier und Sonntagsheiligung“
(Referenten Pfr. Thurneyfen, Bajel, und Pfr. Sublet, Val-
lorbe).
9. Der Große Rat eröffnet feine Tätigfeit für das
beginnende Winterjemeiter mit zwei Interpellationen. Die
eine, über das von der Regierung publizierte Werbot, bet
Streits, Boykott und Sperren die Poſten näher als 50 Meter
von dem dur die Maßregel betroffenen Lokal aufzuftellen,
wählt fih zu einer weit in den Nachmittag ausgedehnten
Debatte aus, ohne mit einem tatlählihen Ergebnis zu
ſchließen. Der Rat bewilligt einige Nacdjfredite, nimmt die
Refultate der Wahlen vom 28./29. September entgegen und
bewilligt 173,000 Fr. für Verlängerung der NRinglinie bis
zur Eljäjjer-Straße und Anlegung des Kannenfeldplaßes.
19. Sm Alter von 63 Jahren ftirbt Direktor Ed. Spieß,
jeit 1891 der Leiter der Allgemeinen Gewerbeſchule.
20. Georg Bonder Mühll, Mitglied des Engern
Bürgerrats, eine Hauptitüße aller wohltätigen und gemein-
nüßigen Bejtrebungen Bafels, erliegt 60jährig einem Schlag:
anfall.
21. Die Basler chirurgiſche Klinik entjendet unter Mit:
wirfung des Roten Kreuzes ihre Aſſiſtenten Dr. Ad. Viſcher
und Dr. Ed. Stierlin, denen fih Dr. Chriftoph Socin
angeſchloſſen hat, nad) dem Kriegsihauplag auf dem Balkan.
23. Im Alter von 40 Jahren ftirbt nad) kurzer fchwerer
Krankheit Advokat Dr. Joſef Knörr, einer der Wortführer
der Jozialdemofratiihen Partei im Großen Rat.
24. Großer Rat. Nah der Ratifikation von 65
Bürgeraufnahmen beichließt die Behörde in erjter Leſung
Erweiterung des Grundbuchgeometerbureaus, nimmt die Er-
355 23*
gänzung der Wiejenforreftion und die Erwerbung der Bad-
und Waſchanſtalten an der Binninger: und an der Matten
ftraße an, beauftragt die Regierung mit Eritellung eines
Braujebades im St. Albanquartier, nimmt ein Gefeß betr.
Pflanzenfhug und den Großratsbeihluß betr. Verbot von
KRunitwein und Kunftmoit an, geht über den Anzug Ader betr.
neue Beredhnung der Beleudtungs- und NReinigungsiteuer
zur Tagesordnung, überweilt den Anzug Bürgin betr. Ver-
längerung der Kafernenitraße, bejchließt gegenüber dem Anz
zug Brändlin betr. Erjtellung von LZagerhäujern beim Rhein=
bafen eine motivierte Tagesordnung und genehmigt die
Schritte, die die Regierung für Einbürgerung des heimat-
loſen Knaben Härtel getan hat.
Der Schweizerifhe Zentralvereinfür Krippen—
weſen hält in Bajel eine hauptſächlich den laufenden Ge—
Ihäften gewidmete Sitzung ab.
26. Da der 27. Oftober heuer auf einen Sonntag fällt,
jo wird die Meſſe jhon am 26. eingeläutet. Gie breitet.
fih über Barfüßer:, Peters: und Kohlenplat aus, hat aud
für den Häfelimarkt die Gegend der Heumwage in Anfprud
genonmen, weil die Bernoulliltraße wegen der Ermweiterungs-
bauten an der Bibliothef mit Beichlag belegt ijt, bietet aber
nichts bejonderes.
Das Programm der Bopulären Kurfe des nädften
Winters fieht folgende Zyflen vor: Dr. Baul Steinmann:
Bererbungseriheinungen bei Pflanze, Tier und Menſch;
Dr. Ernit Did: Der engliſche Roman; Ingenieur Rudolf
Gelpke: Kantonale und eidgenöffiihe Wirtfchaftspolitif;
Paul Häberlin: Einführung in das Weſen der Philo—
ſophie.
26. 27. Die an der Thierſteinerallee neu gebaute Heilig—
geiſt-Kirche der römijchefatholiihen Gemeinde wurde am
Samstag vormittag durch Biſchof Jakob Stammler geweiht.
Dann fand darin die erite Meile und die erjte Predigt ftatt.
Am Sonntag wurde der Rektor der Kirche, Pfarrer R. Mäder,
356
bisher in Mümliswil, eingeführt, und der Biſchof firmte
600 Kinder.
27. 28. Die Shweiz. Statiſtiſche Geſellſchaft
und die Vereinigung der Ichweizerifhen amtliden Statijtifer
begehen ihre Sahresverfammlung in Bajel.
29. Ein gewaltiger neuer, über 50,000 m? faljender © a s:
behälter bei der Gasfabrif vor dem St. Sohanntor wird
ausprobiert. Bein: Graben des Fundamentes zu dem Bau
waren im Sommer 1911 die NReite einer vorgeihichtlichen,
äußerſt primitiven, ziemlich ausgedehnten gallifden An-
jiedelung zutage gefürdert worden. Kacjleute verlegen
den Untergang diejes ältelten befannten Bafel ins 1. Jahr—
Hundert v. Chr.
31. Dr. Selig Speifer, der vor einigen Monaten von
einem mehrjährigen Forſchungsaufenthalt auf den Neuen
Hebriden zurüdgefehrt ift, macht feine außerordentlich reiche
von dort mitgebradjte Sammlung einem geladenen Bublifum
zugänglid. Gleichfalls im Laufe des Sommers find aud mit
reiher Ausbeute Dr. Fri Sarajin und Dr. J. Roux von
einer wiſſenſchaftlichen Reiſe nad) Neu-Kaledonien zurüd-
gefehrt. Die Speilerihe wie die Sarajinige Sammlung find
zur Vermehrung unleres ethnographiſchen Muſeums bejtimmt,
das dadurch zu einem der reichiten feiner Art auf dem Kon:
tinent wird.
Die erjten drei nach dem neuen Wrbeitsfelde ver Basler
Miſſion in Nord-Togo beitimmten Mifjionare werden
im Miflionshaus eingefegnet.
Witterung. Das Mittel der Temperatur im Oktober
1912 betrug 8,6 das mittlere Temperatur-Minimum 5,7, das
mittlere Temperatur-Marimum 12,5 Celſius, das Mittel des
Zuftoruds 738,1, Die Summe der Niederfchlagsmenge 94 mm,
die Summe der Sonnenjheindauer 97 Stunden. Barometer-
tand und Niederjchlagsmenge überjtiegen das 85-, rejp. 48-
jährige Mittel, die Temperatur blieb unter dem 86jährigen,
die Sonnenjcheindauer unter dem 2djährigen Normalwert.
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