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Basler ahrbuch
2 1915
herausgegeben von Albert Geßler u. Auguſt Huber
Baſel
Verlag von helbing a Lichtenhahn
Drud von Friedrich Reinhardt in Bajel.
Inbaltsverzeichnis.
W. Bilder, Carl Koechlin-Iſelin 1856—1914
R. Deri:-Sarafin, Eine iiid m im
Sabre 1809
Hans Merian-Genaſt, rReiſeſkigzen von aEduard Genef
Balel, 1865
Auguſt Burdhardt, Stände ih Verfaſſung in See
vom 16. bis 18. Jahrhundert .
Wilhelm Degen, Gin kirhlicher Streit iii Birsed vor
achtzig Jahren
Saul Meyer, Aus den Wanderjahren ei eines s Basler Stus
benten bes 17. Jahrhunderts .
€. Mieſcher, Ablaßbrief von Anno 1517 zu Sunfen ber
Satobusaltars in St. Leonhard .
Paul Wernle, Aus den Tagen ber franzöſiſchen Revo
lution unb ber Helvetik 1789—1808 . .
Albert Geßler, C. Th. Martees, Mar riot;
Das fünftleriidje Leben in Bafel
Fritz Baur: Basler Chronit vom 1. November 1913 bis
31. Oftober 1914 M re:
245
320
Carl Roedhlin -Ifelin
| J856—]914.
Don W. Dif det.
Su Beginn biefe8 Sabres iff bei uns ein Mann zu
Grabe getragen worden, bem aufrichtige allgemeine Trauer
unb ber Ausdrud der Verehrung unb des Danfes nach-
folgten für ein Leben und Wirken, das in reicher Tätigkeit
auf weiten Gebieten vieles Gute erftrebt und erreicht bat.
Onamifden find Ereignifle eingetreten, welche in gewaltiger
Weile in ale Verhältniffe und Anfchauungen eingegriffen
baben und in mancher Beziehung frühere Gefichtspunfte unb
den OXaBífab, ben wir anzulegen gewohnt waren, verrüdt
haben. Manches, was wichtig und groß erfchien, finft zu-
fammen vor der Wucht von Tatſachen, bie mit brutaler
Gewalt $[nerbórte8 zur Wirklichkeit machen. Aber bie
fchweren Eindrüde, unter denen wir jest fteben, follen nicht
verwifchen, was von bleibendem Werte uns früher zuteil
geworden ift, und gerade in diefer Zeit, wo das Streben der
Völker beinahe nut nod) auf Vernichtung und Serftörung
gerichtet fcheint, und allein der Ruhm Triegerifcher Erfolge
bie Phantafie erfüllt, darf man daran erinnert werden, daß
bie Menſchheit noch andere Ziele bat, und daß Pflichterfül-
fung und Heldentum aud) ohne Schlachtenlärm möglich ift,
daß felbft Eriegerifche Tugenden aud) im Zrieden zur Gel-
tung fommen fónnen.
Es fol daher nicht unterbleiben, an diefer Stelle des
uns zu früh entrifjenen Carl Roechlin zu gedenken, wenn aud)
der Verſuch, einen Turzen Sleberblid über das Leben diefes
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Mannes zu geben, ben wir gerne in fefter Erinnerung be-
halten möchten, unter der Ungunſt der Zeit leiden muß, die
nicht bie Muße bot, welche wünfchbar gewefen wäre. Aber
daß inter arma silent musae, daß bie Ge[djidtsfdreibung
zu kurz fommt, folange bie Waffen Elingen, das hätte bet,
bem biefe Zeilen gelten, am erften verftanden.
Wenn wir an jemandes Leben berantreten, fragen wir
gerne nad) feinem Urſprung, feiner Herkunft, um die Kräfte
und Umſtände fennen zu lernen, welche für feine Art unb
feine Entwidlung beftimmend gemefen fein mögen. Auch in
unferm demokratiſchen Gemeinwefen fpielt die Erblichkeit
feine geringe Rolle, und in den Erwartungen, bie wir in
Semanden feßen, laſſen wir uns beffimmen duch die Er:
fabrungen, welche wir an feinen Vorfahren glauben gemacht
zu haben.
Carl Koechlin ftammte aus Streifen, in denen Handel
und Onbuftrie vorwiegend vertreten waren. Die Familie
Koechlin batte während drei Sabrbunberten zu Mülbaufen
im Elfaß geblüht, wohin fie aus bem Zürichbiet eingewandert
war. Sm Sabre 1746 bat Samuel Soed)lin in Mülhaufen
bie erfte Buntdruderei von 93aummollgereben errichtet und
damit den Grund zu einer Snbuftrie gelegt, welche bald zu
großer Bedeutung gelangte. Seine Familie ftellte fid) damit
in bie vorderſte Reihe der Vertreter der rafch auffteigenden
elfäßifchen Gewerbetreibenden. Samuel Roechlin war, wie
andere Glieder der Familie, durch reihen Kinderfegen aus-
gezeichnet; feine Frau, Elifabeth Hofer, fchenkte ibm 17 Söhne
und Töchter, von denen der ältefte Sohn ihn noch übertraf
mit 20 Kindern aus einer Ehe. Die zahlreihen Otadfommen
haben das Geſchäft ihres Vaters mit großem Erfolg fort-
gefet unb eine ganze Anzahl von Unternehmungen auf ver-
fchiedenen Gebieten ins Leben gerufen, von denen manche
jest nod) in 93[üte fteben. Der Sohn Samuels, Hartmann,
ebenfalls Inhaber eines großen Gefchäfts, heiratete die
Tochter des Basler Ratſchreibers Iſaak Sfelin, des befannten
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Gründers der Gefellfhaft zur Förderung des Guten und
Gemeinnüßigen in Bafel, und diefe Verbindung mit einer
Bürgerin unferer Stadt, zu welcher die benachbarte elfäf-
fíde Reichsftadt von jeber in naben Beziehungen ftanb,
führte einen Zweig der Familie hierher. Hartmann Koechlin
erhielt zu Ehren feines Schwiegervaters das Bürgerrecht von
Baſel geſchenkt, das damals fonft Fremden verfchloffen war.
Einer feiner Söhne blieb der neuen Vaterftadt treu und ver-
band fid) ebenfalls mit einer Vaslerin. Es war Samuel
S8oed)fin-93urdbarbt in der St. Sohannvorftadt;, in den Er-
innerungen feines GnfeI8 Carl lebte er als freundlicher, gütiger
Großvater weiter. Er wandte fid) einem in feiner neuen Heimat
blühenden Snöduftriezweig zu und führte mit feinen Söhnen
ein Bandfabrikationsgefchäft, bem allerdings Fein langes Ge-
beiben befhieden war. Gein Sohn, der Ratsherr und
Ständerat Alfons Roechlin-Geigy war vollftändig Basler
und Schweizer unb bat in feinem engeren und weiteren QVater-
[anb eine bedeutende Stellung eingenommen als Mitglied
der. oberften Behörden wie als geachteter Kenner vollswirt-
Ihaftlicher Fragen und als gegebener Vertreter von Baſels
Handel und Induſtrie. Er war einer der Gründer Der
Basler Handelsbant und während vieler Sabre Präfident
der Basler Handelstammer. Auch feine Gbefrau, Frau
Adele geborene Geigy, bie Tochter des Ratsherrn Carl
Geigy, Präfident des Finanzkollegiums und Inhabers
eines bedeutenden KRolonialwarengefchäftes, entfproß einer
Familie, bie im Basler Handel eine hervorragende Stelle
einnabm.
Ihrem Sohne Earl war fo ein wertvolles Erbe zuteil
geworden. Er bat es fid) burd fein Verdienft zu eigenem
Beſitz neu erworben.
Aber nicht nur die Tradition erfolgreichen Wirkens
fand ihm zur Ceite. Wertwolle Eigenfchaften des Geiftes
und des Gemütes fonnten von frühe an auf ihn wirken.
Scharfer, mit bebeutenbem Wiffen gepaarter Verftand unb
3 zd
ſchlagfertiger Wit wie warme mitteilfame Liebe waren ver-
einigt im Elternhaus, in welchem ein ftarfes Gefühl der
Sufammengehörigfeit und reges Pflihtbewußtfein alle An-
gehörigen verband. Mit Greube hat der Sohn oft Proben
der launigen Verſe zitiert, mit denen Ratsherr Koechlin
Ereigniffe in der Familie zu begleiten pflegte, und bie zeigten,
in welch gemütpoller Weife das Gamilienbaupt dem Haufe
vorftand. Der Sohn hat e8 ftet8 banfbar anetfannt und bat
fi angelegen fein faffen, durch fein Zeifpiel im eigenen
Haufe die Erkenntnis zu verwerten, wie wichtig für Das
ganae [pátere Leben Eindrüde und Anregungen im Eltern:
baufe find.
Carl Koechlin war geboren am 5. November 1856. Es
war, wie gejagt, eine gute Kinderftube, in welcher er das
Licht der Welt erblidte und beranwuchs. Vorzügliche natür-
[ide Gaben des PVerftandes und des Gemütes, bie ihm in
bie Wiege gelegt waren, wurden butd) eine forgfältige Er-
ziehung entwidelt und in der Richtung, die ihnen angemelfen
war, ausgebildet. Schon der Knabe zeigte bie große 93emeg-
Lichfeit des Geifte8 und des Körpers und den natürlichen
Frohſinn, bie den Mann auszeichnen follten. Heiter, aud)
zu luſtigen Streichen aufgelegt, war er ein belebenber, gerne
gefehener Gefpiele im Kreife ber AUltersgenoflen in und außer
der Schule, ein guter Ramerad bei den Kadetten, wo er
bereit3 feine erften militärifchen Neigungen betätigte. Ent-
fprechend der Gamilientrabition und feiner natürlichen Ver:
anlagung, bie nicht auf befchauliche Forfchung, fondern auf
raſches Erfaflen praftifcher Siele ging, war er für den Kauf:
mannsberuf beftimmt, für deflen Ausübung bie Familien-
beziehungen günftige Wege wiefen. Wie fein Vater machte
aud) er das humaniſtiſche Gymnafium durch; er hat immer
anerkannt, daß der Kaufmann die dort vermittelte 93ilbung
nur fhäsen Tann. Die lebten Schuljahre wurden in Genf
abfolviert bi8 zur Reife für die Univerſität. Diefe Sabre in
Genf find Koechlin in feinem ganzen fpäteren Leben zuftatten
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gefommen. Dort bat er nicht nur fid) gründlich und gut
bie Kenntnis ber franzöfifhen Sprache angeeignet, fondern
aud) Art und Weife ber welfchen Gibgenolen kennen unb
verftehben gelernt und wertvolle dauernde Beziehungen ge:
fnüpft. Stets erinnerte er fid) gerne an den Aufenthalt im
Haufe des Pfarrers Goetz, das nad) ibm nod) manden
Basler beherbergt bat, und mit den damal3 erworbenen
Genfer Greunden iff er Zeitlebens in treuer Verbindung
geblieben.
Nach dem Aufenthalt im Welfchland ging’s in bie Lehre.
Damals konnte und wollte man nod) nicht das Studium an
einer Handelshochſchule an bie Stelle einer Faufmännifchen
Lehre fegen. Roechlin bat immer betont, daß bie methodifche
Einführung in das praftifche Arbeiten eines faufmannes, bie
er als Lehrling genoffen, und bie Kenntnis aller Details, die
Damit erworben wurde, nicht durch rein theoretifche Aus-
bildung zu erfegen gemefen wäre. Es war allerdings eine
febr gute Lehre, bie er dDurchmachte, in bem Gefchäfte 3áslin,
Baumann u. Gie. in der St. Iohannvorftadt, einem Hand-
Iungshaufe, das fid) eine Pflicht daraus machte, feine Lehr-
[inge wirklich etwas lernen zu laffen und zu gebildeten fvauf-
leuten zu erziehen. Die Chefs, unter ihnen namentlich
Emanuel Zäslin-Sulzberger, gaben fid) Mühe, ihre jungen
Leute aud) auper den Gefhäftsftunden zu vereinigen unb zur
Diskuffion von wirtfchaftlihen Fragen wie zum Verftändnis
und Genuß von Werfen der Literatur und der funft anzu:
regen. Die Lehre in diefem Haufe war daher gefucht, und
bie einftigen Lehrlinge btefer Firma hielten die -Veziehungen
zu ihr und untereinander fpäter nod) aufrecht. Es war
Koechlins Art, einmal gefnüpfte Beziehungen treu zu pflegen,
und [o bat er für feine Prinzipale und feine follegen jener
Lehrzeit ffet8 ein dankbares Andenken und gute Greund-
Ihaft bewahrt.
Die weitere Ausbildung erfolgte in Lyon und in Lon-
don, nun [don im Hinblid auf die Stellung, welche bem
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tüchtigen jungen Manne in ?fusfidit ftand in bem urfprüng-
lid) großpäterlichen Gefchäfte, das fein beim Rudolf Geigp-
Merian als einen GroBbetrieb für Serftellung von Farb—
waren zu bober Blüte weiter entwidelt batte. Aus der
Fremde aurüdgefebrt fonnte Koechlin in die Firma Sob.
Otub. Geigy u. Cie. eintreten. Er batte den Vorzug, fid)
unter der direkten Leitung feines Oheims vortrefflich ein-
arbeiten zu fónnen; er erfaßte feine Aufgabe mit aller Energie
und füllte feinen Plab fo aus, da er bald eine leitende Stel-
lung einnehmen fonnte. Dem bod) angefebenen Unternehmen,
für das er als Partner mitverantwortlich wurde, galt nun
in erfter Linie die Arbeit feines Lebens; ibm hat er feine
große faufmünnijd)e Begabung unb eine mit praftifcher 23il-
bung vereinte bedeutende Arbeitskraft gewidmet, und er hatte
bie Genugtuung, an der Geite feines Oheims unb von deſſen
Söhnen ibm mit beftem Erfolge vorzuftehen und es zu ſtets
weiterem Gedeihen zu führen.
Mit dem Eintritt in eine Vertrauensftellung bei Joh.
Rud. Geigy u. Gie. war foed)lin ein, wie man fo zu [agen
pflegt, gemachhter Mann, und dem jungen flotten Vertreter
des bedeutenden Handlungshaufes, der daneben mit 26
Sahren [don in der Armee ben Grad eines Generalftabs-
hauptmannes bekleidete, fanden die Türen offen zu Erfolg
und Ehren.
Was zum irdifchen Glüde nod) fehlen fonnte, fand
Koechlin in dem Hausftand, ben er im Sabre 1884 begründete
burd) feine Ehe mit Grau Elifabeth geborener Sfelin aus
dem QGeibenpof in Baſel, einer Gattin, welche, reid) an
liebenswerten Gigenfdjaffen des Geiftes und des Herzens,
fein eigenes Wefen in ber glüdlichften Weife ergänzte und
mit ihrer imnerlihen und Doch heiteren Art dem in
ungeforgten Verhältniſſen herangewachſenen lebensfrohen
Manne eine nie verſagende Stütze war. Wer je in dem
gaſtlichen Heim des jungen Paares verkehrt hat, ſei es in
der Stadt, ſei es in Riehen, wo im Sommer ein altes
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Landhaus zu dem allen Gäften offenen unb gemütlichen Git
der glüdlich heranwachfenden Familie gemacht wurde, der
wird nicht vergeffen, in welch ungezwungener, einnehmender
Weife man verftand, einen Son erklingen zu laflen, der
jedermann fid) bebaglid) fühlen lied. Manch größerer oder
Heinerer Anlaß wurde verfchönt Durch poetifche Gaben, welche
die Hausfrau mit feinem Sinn und herzlihem Humor zu
bieten verftand. Koechlin genof ungemein das ihm erblübte
häusliche Glüd; der Familie, der Gattin und der wachſenden
Kinderſchaar, war in erfter Linie bie freie Zeit gewidmet,
weld bie mit großer Pflichttreue ausgeübte Tätigkeit im
Gefchäfte ließ; Daneben war ber Militärdienft fozufagen die
einzige anderweitige Beſchäftigung, bie er fid geftatten
fonnte. Eine große Freude und Befriedigung war die Er:
richtung eines eigenen Heims in dem fohönen Bau an ber
Engelgafle, der durch Künftlerhband ausgefchmüdt wurde unb
dazu beftimmt fchien, ein Mittelpunkt beiterer und edler
Gefelligfeit zu werden. Er wurde durch fröhliche Feſte im
Kreife der Familie und ihrer zahlreichen Freunde einge-
tveibt. Aber nicht nur fie follten daran teilnehmen. Es entíprad)
dem Charakter des Hausherren, daß auch alle, welche als Ver⸗
treter des Handwerks am Bau mitgewirkt hatten, zu einem
Weite geladen wurden, an dem man in den fdónen neuen
Räumen in gemütlicher Weife beifammen faf. Yald fam
aud) bie erfte Gelegenheit zu erfolgreichem öffentlichem Auf:
treten. Sn bem Zeftfpiel zur VBereinigungsfeier von 1892
übernahm Koechlin bie Rolle des Herzogs Leopold von
Defterreich, und es wird Manchem nod) in febbafter Grinne-
rung fein, mie er auf feinem feurigen Rofle der in die
Schlacht aiebenben öfterreichifchen Ritterfchar voranritt. Der
Basler Liederfranz, welcher den ibm folgenden Streit:
haufen ftellte, unb fid) feither feiner freundlichen Fürſorge
erfreute, ernannte damals feinen Anführer zum Ehren—
mitglied und iff ibm auch fpäter ftets treu geblieben. Die
raſch errungene allgemeine Popularität trug Koechlin auch
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Das erfte öffentliche Amt ein, dasjenige eines Civilrichters.
Als feine Wahl, auf Vorſchlag ber liberal-fonfervativen
Graftion gegenüber einem von anderen Parteien vorgelchla-
genen Kandidaten im Großen Rate, ber damals nod) bie
Richter wählte, erfolgt war, berichtete eine Zeitung mit nicht
unrihtiger Betonung, daß gewählt worden fet Herzog Leo-
pold von Defterreich, das heißt Herr Roechlin-Sfelin. Es
war ein guter und vielverfprechender Eintritt ins öffentliche
Leben. Über fo febr aud) Koechlin an Popularität eine
Freude hatte, nad) intenfiver Betätigung in der Deffentlich-
feit, gar auf politifhem Gebiete, ftanb fein Sinn nod) nidt.
Gr batte genügend Arbeit in feinem Gefchäft und Ding zu
febr an feiner Häuslichkeit, al daß er gewünfcht hätte, bie
Muße, bie er biefer widmen fonnte, einer nad) außen Detvor-
tretenden Tätigkeit zu opfern.
Da traf den zufrieden feines Glüdes fid Freuenden ein
Schlag, wie er fchwerer nicht hätte fallen fónnen. Zu Beginn
des Zahres 1893 ftarb an tajd) verlaufender Krankheit feine
Gattin, nachdem fie ihm kurz vorher ein fechftes Rind gefchenkt
batte. Der I6jährige Mann, dem bisher das Glüd fo bolb
geweſen, war ins Mark getroffen. Er bat biefen unerjeglichen
Verluſt nie verfchmerzt, aber bod) in tapferem Rampfe den
Schmerz überwinden gelernt. Die noch unerwachſenen Rinder,
für deren Erziehung er in einer älteren Schwefter feiner Gattin
eine treue Hilfe fand, konnten noch nicht das Leben mit ibm
teilen, mehr als vorher Tieß er fid) baber bereit finden, fich
außer feinem Haufe an Aufgaben des Öffentlichen Lebens
unb Gemeinmwefens zu betätigen. An Anlaß dazu fehlte es
nit, wer in Baſel einmal die Meinung für [fid Dat,
der follte gleich überall dabei fein. Dem allgemein beliebten,
nun fo fchwer betroffenen Manne wandte fid) in aufrichtiger
Teilnahme noch vermehrte Sympathie zu, bie in Gelegenheit
zur Vetätigung Sroft bieten und den fo brauchbaren Helfer
für irgend eine Arbeit gewinnen wollte. Wer fann es einem
Manne in foldhen Umftänden verargen, wenn er, um fein
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Leben neu zu geftalten, fid) mehr nad) außen ausgiebt, als
auf bie Dauer vielleicht aut tut. Koechlin bat, wenn er es
auf Roften feiner Rube tat, zuweilen mehr als feinen Nächiten
lieb fein fonnte, wohl aud) Vielen damit Gutes getan, unb
wenn er aud) einmal etwas übernahm, das nicht jedermann
notwendig erfchien, fo bat er bod) damit irgend jemandem
und damit fid) felbft eine Freude gemacht, und das war ihm
aud) zu gönnen.
Bon nahhaltiger Bedeutung ift für Koechlin bie An-
regung geworden, bie ihm damals von einem Manne gu.
ging, der in verfchiedener Hinfiht Manches mit ihm ge-
mein hatte, von Rudolf Sarafin. Diefer ebenfalls fo erfolg-
reihe GroBinbuftrielle, ber fein eigenes Gefchäft bereits
jüngeren Händen übergeben batte, deflen Lebbafte8 Tempera-
ment aber Ginjamfeit und Untätigkeit nicht ertrug, fügte einer
reihen Wirkſamkeit auf gemeinnüßigem Gebiet unb für
Wohlfahrtseinrichtungen immer noch neue Unternehmungen
hinzu. Damals war e$ bie FZürforge für Bruſtkranke, für bie
einzutreten er fid) bereit fand. Er mar Präfident der von
der Gemeinnützigen Geſellſchaft dafür eingefetten Rommif-
fion; deren Schreiber wurde, wohl nicht ohne fein Sutun,
Carl Koechlin, bem er feine ganze Sympathie zumandte. Es
war der Anfang zu einem gemeinfamen Wirken auf verfchie-
denen Gebieten. Koechlin bat das Vorbild diefes gemein:
nüßigen Mannes und das teilnehmende väterlihe Wohl:
wollen, das er von ibm genoß, bod) gefhäßt. Er bat ihm
nad) feinem Tode ein fchönes Denkmal geſetzt in bem mit
befonderer Wärme gefchriebenen Nachruf in diefem Jahr⸗
buche, wohl dem beiten Erzeuaniffe feiner Feder; er bat
gewiffermaßen fein eigenes Wefen hineingelegt. Dort bat
er aud) die Gntftebung und Entwidlung der Bewegung
gefchildert, bie in DBafel zur Gründung des evangelilch-
fozialen Vereines, des evangelifchen Arbeitervereines unb
ber Gefellfhaft zum Wettfteinhof führte, an welchen Unter⸗
nebmungen er gemeinfam mit Rudolf Sarafin fid) eifrig
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betätigte. Es war namentlich bet evangelifche AUrbeiterverein
im Wettfteinbof, der ibm viel Freude machte, und es blieb
ibm ftets eine Genugtuung, mitgebolfen zu haben, als deflen
erften Leiter Pfarrer Guftav Benz nad) Bafel zu ziehen. Er
bat oft ausgefprochen, wie ibm bie Betätigung in diefem
Kreife über manche [dere Stunde binmeggebolfen babe. Er
beteiligte fid) gerne an den Sitzungen und Diskuffionen; er
war auch dort ftet8 gerne gejeben und gehört, und das tat ibm
wohl. Die Arbeiterfchaft fühlte auch, daß ihr Wohl ibm am
Herzen lag, und als im Sabre 1896, nad) der Wahl von
Dr. €. Brenner zum Yundesrat, eine Erfagwahl in den
Nationalrat nötig wurde unb bie Eonfervative Partei Koechlin
porfehlug, wurde biefer im dritten Wahlgange, nicht ohne
ftillen Zuzug aus gegnerifchen Lagern, gewählt.
Damit war ibm ein neues Zeld wichtiger Tätigkeit
eröffnet. Seine Wahl wurde in Baſel allgemein begrüßt,
als bie glüdliche Erfüllung des Wunfches, wieder einen Ver-
treter von Handel und Snbuftrie in Bern zu haben. Soed)-
[in faBte aud) feine Aufgabe durchaus dahin auf, daß e$
gelte, ben Basler Handelsftand zu repräfentieren. „Il y a
une place à prendre;jelaprendrai“, fehrieb er feinem Bruder
zurüd, ber ibm zur erften von ibm bejudbten Sigung einen
Gruß an feinen Pla gelegt batte. Er fühlte fid) als Nach—
folger feines Vaters und feines Oheims Rudolf Geigp-
Merian und fam mit dem Vorſatz, deren Plat als Autori-
täten auf bem Gebiete des Handels und des Verfehrs ein-
zunehmen; und er nahm feinen Pla und füllte ihn aus.
Koechlin war nicht Politiker und wollte es aud) nicht fein.
Politiſche Fragen lagen ibm nicht und intereffierten ihn auch
nicht ftark; er trat auf als Fachmann für praftifche vollswirt-
ſchaftliche Gragen; bie politifche Seite fam ihm weniger in
Betracht. Er wäre wohl am liebften bei feiner. politifchen
Partei gemefen, und es fag ibm nicht recht, daß er, um
gewählt zu werden, bod) von einer jofden vorgeichlagen
werden mußte; er wäre lieber der Kandidat Aller geweſen.
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Es freute ihn aber, als bei ben Neuwahlen im Jahre 1899,
obwohl bie verfchiedenen Parteien fid nicht auf eine ge-
meinfame Lifte geeinigt hatten, er die größte Stimmenzahl
auf fid) vereinigte. Er genoß aud) wirflih Zutrauen auf
allen Seiten. |
On Bern ſchloß Roechlin fid) bem fogenannten Zentrum
an, wohin ihn gefellichaftliche Stellung und perfünliche Be—
ziehbungen wiefen. Diefe Fraktion ffanb damals unter bem
Opráfibium von Conrad Eramer-Srei, bem Zürcher Präfidenten
des Schweizerifchen Handels: und Snbuftriepereines und all-
gemein geachteten Fachmanne für Handelsfragen. Ihm bat
nad) feinem im Jahre 1900 erfolgten Hinfchied Roechlin, der
als berufener Vertreter vom Nationalrat zur Beerdigungs⸗
feier abgeordnet wurde, am Grabe einen Nachruf gehalten.
Was er von dem als Vorbild verehrten Kollegen als map-
gebenbe Eigenfchaft bervorhob, daß er ,ftet8 ber praftifchen
Entwidlung der Dinge offenen Auges und Sinnes zu folgen,
von ihr weiter zu lernen und aus ihr mit großer Klarheit
bie ftonjequengen zu ziehen wußte”, das ließ er aud) fein
Streben und feine Art fein. Man fann fagen, daß aud) er
als Autorität in handelspolitifchen und wirtfchaftlichen Fragen
in den Vordergrund zu treten berufen war. Doch war es
ibm nicht befchieden, eine Bahn weiter zu verfolgen, bie ibm
verlodende Ausficht auf Genugtuung und ehrenvolle Wirk-
famfeit bot. Die Rüdficht auf fein Geſchäft nötigte ihn in
Anbetracht anderer zeitraubender PVerpflichtungen, bie er
votberbanb nicht zurüdftellen wollte, namentlich feiner hoben
militärifchen Stellung, bei der Erneuerung des Nationalrates
im Jahre 1902 auf eine Wiederwahl zu verzichten. Es tat
ihm leid, wie feinen Mitbürgern und feinen Kollegen in
Bern. Koechlin iff in der Bundesverfammlung in feiner
fpezielen Eignung als Saufmann nicht erfegt worden; er
bedauerte das und ſchied aud) fonft nicht gerne aus bem
Kreife in Bern, wo er fid) wohl fühlte, und wo er aud)
überall gerne gefeben war. Aber er jab, daß er etwas ab-
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geben mußte unb wählte ben Verzicht auf das Amt, das die
meifte Abweſenheit von Baſel mit fid) brachte. Es blieb ihm
votberbanb nod) genug anderes.
Beinahe als abnte er, daß feine parlamentarifhe Wirk:
lamfeit feine zu lange fein fünne, verlor er während
ihr feine Zeit mit Warten, fondern griff ohne Zaudern
ein, wo er bie ihm paffenbe Gelegenheit fand. In praf:
tifcher Weife batte er, beljen Sache e8 nicht mar, in zeit:
raubendes Studium von Details fid) einzulaffen, fid) bie
Mitwirkung des gründlichen Kenners nationaldfonomifcher
Stagen Dr. Jakob Steiger in Bern, gefichert, damit er ibm bei
Beihaffung der Unterlagen an Material behilflich fei. So
fonnte er wohlvorbereitet an die zu behandelnden Fragen
betantreten, was er ftet3 als Grundbedingung eines Erfolges
anfahb. Das ihm dargebotene Material wußte Koechlin gut
fid) anzueignen, zu beberrfchen und gejchidt zu verwerten, in-
dem er bie ausfchlaggebenden Punkte in prägnanter Weife
bervorhbob. Auch im Drud erfchienene Arbeiten gaben davon
Kenntnis und zeigten, daß ibm, der das Wort gefchidt zu
handhaben wußte, der fchriftliche Ausdrud nicht minder zur
Verfügung ffanb. Alle diefe Eigenfchaften, verbunden mit
dem Gewicht der anerkannten praftifchen Erfahrung des er-
folgreihen Broßinduftriellen fiherten ibm eine einflußreiche
Stellung im Rate, welche durch den Eindrud feiner mit dem
Reiz der Liebenswürdigkeit ausgeftatteten Perfönlichkeit
wejentlich verftärft wurde.
Die Hauptfrucht feiner parlamentarifhen Tätigkeit, ein
Refultat von bleibendem Werte, iff bie Einführung des
Poftcheds in der Schweiz, nad) dem Vorbild anderer Länder.
Sie iff von ibm angeregt worden burd) eine Motion, die er
im Nationalrat im Jahre 1900 ftellte und nachher in einer
Flugſchrift mit Belegmaterial veröffentlichte, nachdem ein
Entwurf zu einem Nationalbanfgefeß, welches den Geldver-
febr verbeffern follte, gefcheitert war. Das im Poftched vor-
gefchlagene Mittel zur QVerminderung des Geldumlaufs und
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zur Erleichterung von 3ablungen ift verhältnismäßig raſch
als richtig anerkannt und im Sabre 1906 praftifch eingeführt
worden. Dem Vater des Gebanfenà wurde in Anerfennung
feines Verdienftes der bedfonto Nr. 1 eröffnet, als erfter
von vielen Taufenden, die bald nachfolgten und diefe neue
Einrichtung rafch populär machten. Mit ihr wird fein Name
ftets in Verbindung bleiben.
Nicht denfelben Erfolg Hatte fein Eintreten für bie erfte
von Forrer ausgearbeitete Vorlage für ein Bundesgeſetz für
Sranfen- und Unfallverfiherung, die [ogenannte ler Forrer,
die er empfahl, weil er bie darin zum Ausdrud fommenbe ein-
beitfidóe Durchführung des Verficherungsgedanktens unb die
Einbeziehung aller Volksklafien ſchätzte. Diefer Entwurf ift
befanntlich abgelehnt worden. Der fpäteren Vorlage, die 1912
Geje& geworden ift, bat Roechlin nicht beigeffimmt. Nicht
einverftanden war er mit ber Perftaatlichung der Eifen-
bahnen, wie fie im Beginn feiner Tätigkeit in ber Bun—
desverfammlung durchgeführt worden if. Obwohl fein
pringipieller Gegner des Staatsbetriebes fürchtete er bie Ge-
fahr, welche entiteben kann aus der ungeheuren Landesſchuld,
wie fie bie vorgefchlagene Art der Perftaatlichung mit
fi bringen mußte. Daß er in diefen Fragen, bie zu Volls-
abftimmungen führten, auf der andern Geite ffanb als bie
Mehrheit unferer Bevölkerung, zeigt, wie er bei aller Rüd-
fit auf bie Vollsftimmung fid) die Freiheit feiner Lleber-
zeugung mabrte.
Sn Hebereinftimmung mit feinen Wählern, namentlich
aus Arbeiterfreifen, wußte er fid), als er warm eintrat für ben
früheren Arbeitsfhluß am Samstag Nachmittag. Koechlin,
ber felbft das Familienleben fo bod) fchäste, wollte damit
mödglichft vielen Familien zu einem rechten Greierabenb, als
bet VBorbedingung zur richtigen Verwendung des Sonntags,
verhelfen.
Bei den Verhandlungen über den Solltarif von 1903 -
nahm er nod) in verföühnlichem Sinne teil, in Abweichung
13
wieder von ber in Baſel herrfchenden Strömung, bie fid) auch
in ben von ibm fpeziell vertretenen und beratenen reifen
gegen ihn febrte. Er war davon überzeugt, baB ber bier
beliebte Sreihandel einem zunehmenden Schußzoll weichen
mülffe.
Ueber alle wirtfchaftlihen Fragen, bie in der 93unbes-
verfammlung im Vordergrund ftanben, bat Roechlin jeweilen
in der Basler Sjanbelsfammer berichtet. Seine Stellung in
Bern ftanb in enger Verbindung mit feiner Tätigkeit in
bieler Rorporation der Vertreter von Baſels Handel unb
Onbuftrie. Koehlin war Mitglied des Q3orffanbe8 ber
Handelsfammer geworden nod) vor feinem Eintritt in die
ZBundesverfammlung, im Sabre 1896. 3mei Sabre nachher
wurde er Vizepräfident; 1906, als er freilich bem Otationat-
tate nicht mehr angehörte, Präafident. Es war ganz gegeben,
daß er ein Amt übernahm, das viele Sabre mit anerkannter
Autorität fein Vater, vorher fein Großvater, fpäter fein
Oheim mütterlicherfeit$ innegebabt hatten. Wie Dbiefen
feinen Vorgängern war ibm die Aufgabe, der Organifation
für die Vertretung des Basler Handels vorzufteben, febr
angelegen; ihr widmete er in intenfiver Weiſe feine Kraft,
was ihm durch feinen Austritt aus ber YBundesverfammlung
möglich gemaht war. Kaum eine Frage von Bedeutung
für das wirtichaftlihe Leben wurde nicht von ibm in forg-
fältigem, flar burd)bad)tem Vortrage beleuchtet. Auch bier
gaben gründliche Vorbereitung und [fiere Grfaljung ber
wejentlihen Punkte feiner Meinung Wert und Nachdrud;
Daneben legte er Gewicht darauf, mit den führenden Perfön-
lichkeiten in ber übrigen Schweiz in Fühlung zu bleiben und
auf bem Laufenden zu fein, was fid) bei ihm dank feiner 3abl-
reihen Beziehungen infolge feiner eidgenöffifhen Stellungen
von felbft ergab.
Sowohl die Stellung in der Bundesverfammlung als
diejenige bei ber Handelstammer hatten e8 mit fid) gebracht,
daß Koehlin aud) nad) dem Austritt aus bem Nationalrat
14
nod) im anderen eidgendffiihen Behörden fap, nicht in fo
vielen freilich, als ibm offen geftanden wären, wenn [eine
Seit e8 erlaubt hätte. Nur Eurze Zeit war er im Bankrat
bet Nationalbanf, bie er in der Kommiffion des Nationalrates
batte vorbereiten helfen. Länger und von größerer Bedeutung
war feine Mitgliedfchaft im Verwaltungsrat der Bundes—
bahnen, in den er 1904 vom Bundesrat delegiert wurde, als
Nachfolger des verftorbenen Wilhelm Heusler-VBonder Mühl.
Koechlin war fein Neuling in Eifenbahnfahen. Im Sabre
1893 war ibm nad) dem Tode feines Vaters beljen Stelle im
Verwaltungsrat der Schweizerifhen 3entralbabn zugefallen.
Otad) feiner Wahl in den Nationalrat hatte er dort bie Gnt-
laſſung genommen, da in der Bundesverfammlung der Rüd:
fauf der Eifenbahnen auf den Traftanden war und er fid)
feinem Vorwurf ausfegen wollte, in Eifenbahnfachen irgenb-
wie andere als allgemeine Interefien zu vertreten. Er fühlte
fid bann auch frei, nicht für bie Verftaatlichung zu ftimmen.
Als fie einmal erfolgt war, bat er an feinem Orte nad) Kräften
mitgearbeitet an einer rationellen Ausgeftaltung und Weiter:
entwidlung der Schweizerifchen Eifenbahnen im Sinne einer
nationalen Verkehrspolitif.
Eine Wahl in bie ftändige Rommilfion ber Yundes-
bahnverwaltung, bie 1909 erfolgte, fonnte er mit Rüdfiht auf
feine damals fdon erfchütterte Gefundheit nicht mehr an-
nehmen. Im PVerwaltungsrate dagegen blieb er bis 1913
als einflußreiches und gern gefehenes Mitglied. Mit Erfolg
bat er fid) bei Neuregelung ber Penfionsverhältnifle für die
begründeten, aber zuerft nicht anerkannten Anfprüche der
oberen Beamten eingefebt, feinen Grundfägen getreu, gleiches
Recht für alle zu fchaffen. Diefes Vorgehen hat ihm warmen
Dank in den betroffenen Kreiſen gefichert. Auch bei ben
Bundesbahnen bat Koechlin ſtets die allgemeinen natio-
nalen Gefichtspunfte vertreten und vorangeftellt gegenüber
Somderinterefien, aud) wenn biefe anfcheinend ber engeren
Heimat zugute famen. Er nahm ben höheren Ctanbpuntft
15
ein, daß der einzelne Landesteil feine Wünfche den Inter⸗
effen des ganzen Landes unterzuordnen babe. Don biefem
Gefichtspuntte aus nahm er aud) in der Basler Handels-
fammer zu den Verkehrsfragen Stellung, wobei ihm nicht
immer bie Mehrheit ber engeren Landsleute folgte.
Seine Stellung bem Lötfchberg gegenüber, der ibm als
ein Pfahl im Fleiſch des Schweizerifchen Eifenbahnnetes
erfchien, fowie zum Splügen, war bemnad) eine gegebene.
Auch den Gotthardvertrag hat er nicht begrüßt, da er in der
Ausdehnung der Meiftbegünftigung und der unbegrenzten
Zeitdauer eine nationale Gefahr (a5, und diefe fdoien ihm wich-
tiger als bie Vorteile, bie man für Yafel vorausfah. Seine
Anfichten über bie Stellung Baſels in ber fchweizerifchen
Verkehrspolitik bat Roechlin dargelegt in einem Vortrag an
ber Zahresverfammlung des Basler Handels- und Snbuftrie-
vereines vom 28. Mai 1907. 9((8 Richtſchnur bezeichnete er
bie Gleichſetzung unferer Verkehrspolitik mit derjenigen ber
Bundesbahnen. Zhr folgend entfchied er fid) gegenüber einer
Waflerfallenbahn, für bie in Baſel Stimmung zu machen
gefucht wurde, febr beftimmt für bie Verbeflerung der Hauen-
fteinlinie burd) einen 93aftstunnel. Für diefe Idee fette er
feinen ganzen Einfluß ein; ihr galten noch feine letzten 23e-
mübungen im Verwaltungsrate der Bundesbahnen, und er
vornehmlich bat ihr dort zum Durchbruch und zur baldigen
Berwirklichung verholfen.
Ein guter Seil von Koechlins Hffentliher Wirkſamkeit
lag, wie man fiebt, auf eidgendffifchem Gebiet. Dem Yasler
Großen Rate bat er nie angehört. Als er einmal dafür vor-
geichlagen war, wurde er nicht gewählt. Er ließ fid) jpäter
nicht mehr für eine Wahl in diefe Behörde gewinnen und
verzichtete nicht ungern auf eine zeitraubende Mitwirkung in
der fantonalen Politif. Nicht daß er in feiner Vaterftadt
nicht auch an vielem teilgenommen báfte. Es war fchon bie
Rede von ben Beftrebungen auf fozialem Gebiete, von der
Zürforge für 93ruftfranfe, bei denen er fid) mit Rudolf Gata-
16
fin begegnete. Der fchöne Yau des Wettfteinhofes, in wel:
chem der evangelifche Arbeiterverein fein Heim fand, und die
Basler Heilftätte für Bruſtkranke in Davos find fichtbare
Zeugen davon. Noechlin fonnte felbft bie Erftellung des
Sanatoriums, „des fehönen Baslerhaufes im Bündnerland“,
wie er es nannte, erwähnen in feinem Schlußbericht ala Vor:
fteber ber Gemeinnützigen Gefellichaft für das Jahr 1896/97.
Es war ganz natürlich, daß ibm aud) diefes Amt übertragen
wurde, das ibn in den Mittelpunkt gemeinnüßiger Inter:
nehmen ſtellte. Ginige Seit gehörte er dem Direftions-
Komitee der Arbeiter-Rolonie Setbern an, bis zu feinem
Ende bem KRonfiftorium ber franzöfifhen Kirche in Baſel,
ebenfo dem Vorftand der Zunft zum Schlüflel, wo im Kreife
der 3unfftgenoffen feine Rede gerne gehört war. Wenn er
nicht allzuviel mehr übernehmen konnte, fo lag es nicht daran,
daß er nicht begehrt worden wäre, fein treffendes Wort,
fein guter Rat waren überall geſchätzt; bod) auch feine Kraft
reichte nicht für alles. Und neben der immerhin durchaus im
Vordergrund ftebenben und mit Pflichteifer und Erfolg ge-
führten Leitung eines großen, fid) ftets ausdehnenden Ge-
ſchäftes batte er noch eine wichtige Aufgabe, bie ihn über bie
Grenzen der Paterftadt binausfübrte, unb an der er mit
ganzer Seele hing. Koechlin war aud) hoher Militär und
bat fid) als folcher nicht weniger ausgezeichnet al8 in feinem
bürgerlichen Beruf; ja in diefer Stellung fonnten fid) manche
feiner Eigenſchaften am glänzendften zeigen.
Seine Laufbahn war ein rafcher und ehrenvoller Auf-
flieg. Koechlin ift aus der Hauptwaffe, der Infanterie, ber-
vorgegangen; zuerft gehörte er bem von Baſelſtadt aeftellten
Bataillon 54 an. Er 308 bald bie Ylide ber Vorgefesten
auf fid und wurde zum Stab des Basler Regiments 18
abfommanbiert. Noch gebenff man des flotten Adjutanten,
bet, ftolz auf feine roten Schnüre, feinen Dienft mit ebenfoviel
Cdneib wie Liebenswürdigfeit verfah. Er fam rafch weiter.
Der damalige Chef des Generalftabs, Oberft Alphons
17 2
Opfoffer, erfannte bie Fähigkeiten des jungen Offiziers unb
wußte in Sleberwindung gefchäftlicher Bedenken, welche in
der Familie fid) geltend machten, feinen Eintritt in den Gene-
talftab zu ermirfen, auch mit dem Hinweis auf das Beifpiel
des Großoheims mütterlicherfeits, des Oberſten Wilhelm
Geigy, ber feine hervorragenden militärifhen Eigenjchaften
ebenfalls ber Eidgenoflenfchaft zur Verfügung geftellt hatte.
Nie verlegen, den richtigen Weg zu finden, um eine Aufgabe
gut und ra[d) zu löfen, war Roechlin ein geſchätzter General-
ftabsoffizier.
Mit 26 Sabren war Roechlin Hauptmann im General-
ffab; er wurde der neunten Snfanterie-23rigabe zugeteilt, bet
deren Kommandanten, Oberft Wilhelm Bifchoff, er fon
als Adjutant Dienft getan batte. Er erwarb fid) die volle
Zufriedenheit und das Vertrauen diefes vortrefflichen Vor⸗
gefe&ten, bem er feinerfeit8 aufrichtige Achtung entgegen-
brachte, unb blieb ibm ftet8 in treuer Anhänglichkeit ergeben.
Bis an ihr Ende, das für beide beinahe gleichzeitig eintrat,
waren bie beiden, an Alter wie in ihrer Art febr verfchiedenen
Männer, bie fid in gemeinfamer Arbeit gegenfeitig fennen
und ſchätzen gelernt hatten, einander herzlich zugetan.
Auch mit allen weiteren Vorgeſetzten, denen er zugeteilt
war, wenn fie auch anderer Art waren, ift Roechlin ftet8 gut
ausgelommen, fchon deshalb, weil feine Dienfte nie vet-
fagten, aber auch, weil feine verbindliche und bod) entfchiedene
Art unb feine große Gewandtheit im Umgang jede Reibung
befeitigte._ Dasfelbe war ben Intergebenen gegenüber der
Gall; fein Auftreten war durchaus fameradfchaftlich, wahrte
aber ftet8 bie burd) Willen und Können geficherte Autorität.
Als Generalftabsoffizier war Koechlin nod) Stabschef
der 5. Divifion, in welcher Eigenfchaft er die Korps:
mandver von 1897 mitmadjfe; er bat aud) den Grenz:
bewachungsdienft im Divifionskreis neu und burdgreifenb
geordnet. Er würde gerne in der 5. Divifion, bei deren
Sruppen er befannt und beliebt war, ein Rommando über-
18
nommen baben. Als ibm aber im Jahre 1899 die Führung
der erften Infanteriebrigade, eines Truppenkoͤrpers ber fran-
zöſiſchen Schweiz, übertragen wurde, ergriff er lebhaft bie für
einen Deutfchfchweizer etwas heifle Aufgabe und wußte fid)
bei feinen welfchen Rriegsgefährten, bie neben feinen andern
Eigenfhaften auch feine vorzügliche Kenntnis ihrer Sprache
bewundern mußten, bald fo heimifch zu machen, daß er als
Führer wie als Ramerad volles Vertrauen und allgemeine
Verehrung genofB. Und während zuerft nod) die Waadt-
länder bie ungewohnte Ernennung eines deutſchſchweizeriſchen
93rigabefommanbanten mit einigem Unbehagen aufgenommen
hatten, wurde, als 1905 Koechlin zum Kommandanten ber
damals aus Freiburg, Neuenburg, dem franzöfifhen Berner
Aura und Genf refrutierten 2. Divifion befördert wurde, Diefe
Ernennung aud) in.der franzöfifchen Schweiz allfeitig be-
grüßt, unb eine welfche Zeitung fand fogar heraus, daß
Koechlin in bezug auf Temperament und Phyfiognomie nod)
mehr als fein Waadtländer Kollege, der Kommandant der
1. Divifion, Oberft Secretan, bie Stige und den Charakter
des Welfchichweizers zu haben fcheine. Allerdings, Koechlin
verftand es, fchon indem er bie bet franzöfilhen Sprache
eigene Eleganz und Klarheit des Ausdruds zu ſchätzen und
gefdjidt zu handhaben wußte, bie für Efprit empfänglichen
welfchen Eidgenofien zu gewinnen. Nach feinem Hinfchied
bat ein Waadtländer Blatt folgende bezeichnende Gefchichte
von ihm erzählt.
Als er einmal mit Offizieren durch S)petbon fam, wurde
er mit feinen 93egleitern vom Präfelten nad) Waadtländer
Brauch in den Keller geladen unb vom Faß bewirtet. Koech⸗
[in dankte im Namen der anmwefenden Offiziere und ſchloß
feine Anfprahe mit den Worten, bie bier wohl wieder-
gegeben werden dürfen: „Messieurs les officiers! Quelques-
uns d'entre vous trouveront peut-étre dröle que Mr. le
Préfet nous regoive à la cave plutöt que dans son salon.
Eh bien, c'est une tradition dans le canton de Vaud:
19 Sii
au salon on recoit tout le monde, tandis qu'à la cave
on ne recoit que des amis."
Man fann fid) benfen, daß ſolche Worte, in bem Koechlin
zu Gebote ftebenben verbindlichen unb einbringliden Ton
bei einem guten Glas Dezaley gefprochen, bie Waadtländer-
herzen öffneten. |
Und nicht weniger wußte Roechlin bie Gelegenheit zu
benii&en, Worte vaterländifcher 93egeifterung an feine Trup⸗
pen zu richten, wie, als feine Brigade über das Schlachtfeld
von Murten mar[djierte; da erließ er einen Befehl, ber an
der biftorifchen Stätte zu verlefen war und, des Sieges der
Gibgenoffen gebenfenb, in fnappen, eindringlichen Worten
einen warmen Appell an den Patriotismus der Truppe
enthielt.
Aber nicht bie für jemanden von fo ganz deutfcher Ab:
ftammung ungewöhnliche Fähigkeit des Eingehens auf bie
Art ber welſchen Kameraden, die Koechlin befaß, ober die
Ihönen Worte, bie er zu ihnen zu fprechen verftand, fonnten
allein den Erfolg berbeiführen, ben er erreichte. Koechlin
vermochte nicht nur mit Worten zu glänzen. Er beſaß wirf-
lid) bie militärifhen Eigenfchaften eines Führers unb bat
fie gezeigt. Gründliche Kenntnis des Dienftes war bei ibm
gepaart mit großer Leichtigkeit zu rafhem und zwedent-
fprehendem Handeln.
Allgemein ift anerfannt worden, daß bie Führung feiner
Divifion in ben KRorpsmandvern von 1907 eine vorzligliche
war und in Überzeugender Weife feine Gemanbtbeit erkennen
ließ, wie die nicht gewöhnliche Treffficherheit, mit der er jede
Lage Sofort zu erfaflen und durch rafches unb klares Dispo-
nieren zu beberrichen imftande war. Man fab, baB glüdliche
natürliche Veranlagung durch vorzügliche Schulung zu hohem
Können berangebilbef war. Und menn jeweilen aud) feine
Liebenswürdigkeit, fein Verftändnis für bie Truppe, fein
fameradfchaftliches 93enebmen, aud) gegen bie Mannichaft,
bervorgehoben worden find, Pura fein einnehmendes Wefen,
20
beffen Eindrud durch eine feinem äußern Auftreten eigene
atoBe Claftizität gefördert wurde, fo waren das eben
aud) Eigenfchaften, die ftet8 das Anfehen unb den Einfluß
eines Führers erhöht haben. Es war eine Perfönlichkeit, bie
Vertrauen und Liebe wedte. Das fpricht deutlich aus allen
funbgebungen bei feinem Rüdtritt vom Kommando, bei
feinem Hinfchied, und es hatte feinen Grund, daß er ebenjo
bie volle Achtung feines Vorgeſetzten, des Oberft-Rorpskom:
mandanten Teechtermann, genoB, bie nicht jedermann zuteil
geworden iff, wie die liebevolle Verehrung feiner Rameraden
und Intergebenen.
Zur Zeichnung der Art und Weife, wie er auf feine
Truppe in patriotifcher und militärifcher Weife einzuwirken
fuchte, mag die Mitteilung eines 93efeble8 dienen, ben er an
eine Rekrutenfchule richtete, als er fie bei ihrem Marſch nad)
Verrieres infpizierte, bie Worte von damals dürfen gerade
jet wohl wieder gelefen werden.
Officiers, sous-officiers et soldats!
La course et les exercices de ces derniers jour nous
ont fait quitter le beau rivage du lac de Neuchätel et
nous ont conduits à travers les montagnes à la frontiere
de notre pays. —
Les Verriéres, c'est du sol historique, une page
d'honneur dans l'histoire de la Suisse.
Fin Janvier 1871 la Grande Armée de l'Est aprés
de courageux efforts pour libérer Belfort, vint s'échouer
à noire frontiére, harcelée par l'ennemi, à bout de res-
sources et d'espoir.
Le danger fut grand, que le flot de cette immense
armée n'innondát notre pays, et ne portát ainsi les ter-
reurs de la guerre dans nos paisibles et fertiles vallées.
Mais la Suisse avait mis son armée sur pied, pour
protéger sa frontiére et pour sauvegarder sa neutralité.
Dans les journées critiques des bataillons disciplinés et
21
fermement conduits furent sur place pour barrer le
passage à ces masses en déroute.
Le but fut atteint et l'invasion écartée.
Une convention datée du 1*' Février 1871, conclue
entre le Général Herzog au nom de la Confédération,
et le Général Clinchant, successeur de Bourbaki, régla
le désarmement et l'entrée en Suisse de 85000 hommes,
qui furent ensuite internés en bon ordre, jusqu'à la
conclusion de la paix, dans toutes les parties de la
Suisse, et qui y trouvérent l'hospitalité et la sympathie
dües à leur malheur. Les deux parties belligérantes
nous sürent gré de notre fermeté et de notre courtoisie. —
Ces souvenirs nous disent, que, pour protéger notre
pays et sa liberté à l'heure du danger, il faut une armée
forte et vaillante, et que, en maintenant l'armée Suisse
à la hauteur de sa täche, nous ne défendons pas seule-
ment notre belle patrie, nous sommes sürs aussi d'ob-
tenir la considération et le respect des nations voisines
et amies.
C'est done une double honneur pour nous Suisses
d'étre appelés à porter l'uniforme et à contribuer, chacun
à sa place et de toutes ses forces, à ce que la patrie
qui nous est chére sache à toute heure remplir digne-
ment la haute mission, que sa neutralité lui confere
parmis les nations, et d'aprés laquelle notre liberté ne
doit pas seulement étre notre propre partage, mais aussi
un abri sür pour les victimes de l’infortune. —
Voilà ce que l'histoire nous apprend en ces lieux!
Je voudrais que chacun de nous Suisses püt graver
ces Souvenirs dans sa mémoire, afin de se rappeler tou-
jours que d'étre soldat Suisse est à la fois un grand privi-
lége et une grande responsabilité. —
Soyez-en fiers et dignes! —
Es war das Glüdlihe an Koechlins Art, daß ihr gegen-
über ein Gegenfa6 von deutfch und welfch nicht auffommen
22
fonnte; das war nicht nur militärifch, fondern auch politifch
von Wert und bat bewirkt, daß feine Stellung eine unbe-
ftrittene war. KRoechlin war ein vorbildliches Beispiel des
Offiziers, wie ihn unfere Armee braucht.
Zu feinen militärifhen Verdienften gehörte auch feine
Tätigkeit in der Offiziersgefellfchaft fowohl in der allge:
meinen fchweizerifchen Organifation als in derjenigen Baſels.
Namentlich bier bat er belebend und antegenb während vielen
Gabren mitgewirkt, auch ben jüngeren Nachwuchs in famerad-
Ihaftlicher Weile zur Mitarbeit aufmunternb. Daß et
aud) anderen militärifchen Vereinen feine ftet8 begehrte Kraft
bei manchen Anläſſen zur Verfügung ftellte, war bei ihm
felbftverftändlih. Die Schweizerifche Dffiziersgefellfchaft bat
ihm feinerzeit die erfte Gelegenheit zu einer größeren patrio-
tifhen Rede gegeben, bie ibm einen nicht zu unterfchäßenden
Erfolg eintrug. Zu ber Zeier der Einweihung des Sell-
denfmals in Altdorf im Sabre 1895 war er von der Schwei-
zerifchen Offiziersgefellfchaft abgeorbnet. Im Namen ber
Armee ergriff er am Bankett das Wort. Die Zeftfreude
war [don ziemlich fortgefchritten, und in der Feſthalle
berrfchte mehr Begeifterung als Aufmerkfamteit. Aber obſchon
bie Worte des Redners wohl ben wenigften Zuhörern all-
gemein verftändlich fein fonnten, hatte bie frifche, lebendige
Art des Auftretens bie Wirkung, bie Zeftverfammlung zu
allgemeinem Beifall fortzureißen. Es war felbftverftändlich,
daß der populäre Oberft und Nationalrat aud) einmal die
übliche Rede am 93asler St. Zakobsfefte hielt, deffen Präfi-
bent er 1900 war; feine auf den militärifchen Ton geftimmte
Anſprache fand aud) da vollen Anklang.
Koechlin batte aroße Freude an feiner militärischen
Tätigkeit. Als fid) bie Ausübung eines hohen Kommandos
neben der Stellung im Parlament als mit feinen gefchäftlichen
Pflichten nicht mehr vereinbar erwies, wählte er den Ver:
ziht auf den Nationalrat, obwohl auch diefer ibm fchwer
fiel, und wahrte fid) bie Moglichkeit, zu einer höheren mili-
23
tärifchen Stellung zu gelangen, bie ibm bann aud) zuteil ge-
worden ift. Das Kommando feiner Divifion bat er erft
niedergelegt, al8 der Zuftand feiner Gefundheit es nicht
anders zuließ. Er tat e8 mit fchwerem Herzen, 308 fid) aber
aud) dann nicht mipmutig zurüd. Es wurde ibm das Plaß-
fommanbo von Baſel übertragen. Seine unbeftrittene mili-
tärifche Autorität, bie genaue Kenntnis der Bedürfniffe des
biefigen Plabes, feine are präzife Art, welche auf rafche,
einfache Erledigung ging, bat fid) auch bier bewährt. Es
machte ibm nod) Freude, einmal bie Mobilmachung des
Basler Infanterie-Regimentes zu leiten; es war zu Friedens:
zeit. Zur Ausübung diefer Funktion im Grnftfalle iit er
nicht gefommen.
Die Mandver des Zahres 1907, in welchen Koechlin
an der Spiße feiner Divifion frijd und freudig eine ibm
ergebene Truppe mit anerfanntem Erfolg führte, war ein
äußerer Blanzpunft, den er gerne genoB. Nicht lange dar-
auf fam die Seit, in welcher der fo tätige Mann lang-
famer aber unaufhaltfamer Abrüftung entgegengeben mußte.
Ein erfter leichter Anfall Ließ im Sabre 1908 bie Wirkung
einer faum zu hebenden fchweren Allgemeinerfranfung ver-
muten und nötigte ihn, der bis jegt nicht durch Ferien ver-
wöhnt war, zu längerer Erholung. Auch eine an ihm fonft
nicht gewohnte gemütliche Depreffion mußte befämpft werden.
Ein Aufenthalt in Algier in der Gefellfchaft feiner Töchter
bradhte wieder Freude und Kräftigung. Den fchmerzlichen
Schritt, fein Kommando niederzulegen, batte er fid) allerdings
nicht erfparen fónnen; feine fonftige Tätigkeit aber nahm er
wieder auf mit gewohntem Pflichteifer und auch mit ber
beiteren Lebhaftigkeit, bie ihn auszeichnete. Für fein Ge-
Ihäft unternahm er noch eine Reife nad) Rußland; beffen
Sprade batte er im Hinblid auf die Intereſſen, bie ihn
dorthin führten, (bon feinerzeit mit feiner Gattin zu erlernen
fi) angeſchickt.
Die größere Zurüdhaltung gegenüber alfgugroBer Tätig:
24
feit in weiterem Seife, zu der er fid) bod) nad) unb nad,
vielleicht zu fpät, entichließen mußte, fam feinen Nächten
zugute, in erfter Linie feinen Kindern. Mit ihnen und für
fie lebte er, in inniger Gemeinfchaft, eben[o darauf bedacht,
auf ihre Sntereflen einzugehen als fte an den feinen teilnehmen
zu laffen und immer beftrebt, ihnen ein Vorbild zu fein in
ernfter Auffafiung der Pflichten gegen fid) und feine Nächften.
Früher zur Gefelligfeit auch in weiterem Freundeskreiſe auf:
gelegt, batte er fid) feit bem Hinfchied feiner Gattin, foweit
nicht Öffentlihe Anläffe in Frage famen, mehr auf feine
Familie zurüdgezogen. In ihr blieb er ein belebender Mit-
telpunft, ftet8 auch bereit, mitzufühlen und beizuftehen mit
Rat und Tat, wo Hilfe erwünfht war. Er batte nod) bie
Sreude, den Kreis der Kinder fid) erweitern zu feben und
freute fid) herzlich an dem fchönen Pfarrhaus in bem freund-
[iden Stein am Rhein, in das fein ältefter Sohn einge:
z0gen war; gerne weilte er dort. (Sr hoffte, bet feinen Kin:
dern noch ruhige Tage genieBen zu fünnen, wenn die andern
Söhne, die für fein Gefchäft herangezogen wurden, ihm
Erleichterung bringen würden. Erneute Berfchlimmerung
feiner Gefunbbeit brachte Verzicht auf folhe Ausfichten.
Schon hatte er Stellungen, bie ibm lieb waren, eine nad) der
andern, aufgeben müflen, fo im Frühling des Zahres 1913
ben Vorfiß in ber Handelstammer; bald auch erklärte er ben
Austritt aus der Wehrpflicht, mit Wehmut eine [dne und
ibm nod) in der Erinnerung liebe Dienftzeit abſchließend.
Mit diefem Entfchluß fiel ein größerer Sufammenbrud) der
Kräfte zufammen, der ihn aufs franfenfaget warf. Er erhob
fi davon nod) zeitweilig; die Hoffnung auf wefentliche
Erholung fchwand jedoch immer mehr. Wie er ohne Klage
eines nad) dem andern aus der Hand gegeben batte, [o fab
er mutig dem Leiden entgegen und ertrug es mit Geduld.
Sn der Arbeit barrte er aus, folange es überhaupt ging,
bis zum letzten Augenblid erfüllend, was er für feine Pflicht
hielt. Mit einer lebten großen Anftrengung nod) gab er
25
feinem Sohne bie Weifungen zur Erledigung eines wichtigen
Auftrages in Amerika; er fandte ihn übers Meer, nicht
adfenb, daß er ihn wohl für immer entfafje. Cs iit
ibm als lebte große Freude zuteil geworden, ihn nad)
glücklich erfüllter Pflicht beimfebren zu fehben. Die Hoff:
nung und der Wille, das nod) zu erleben, batte feine Lebens:
energie aufrecht erhalten. Ruhig und ergeben und die
irdifchen Sorgen hinter fid) [affenb, fab er dem Ende ent-
gegen, bis zulegt bie freundliche Heiterkeit des Gemütes und
bie Klarheit und Geiftesgegenwart bewahrend, bie ihn ftets
ausgezeichnet hatten. „Man wird eben bei ben himmlifchen
Heerfcharen bald einen Oberft brauchen”, bemerkte er einmal
ſcherzhaft tröftend zu jemand, ber ihm betrübt feine Zeil:
nahme bezeugte. Als zu Neujahr 1914, da man [don täglich
fein Ende erwartete, der Evangelifche Arbeiterverein vor
feinem Genfter einige Choräle vortrug, erhob er fid) zur Leber:
rafehung feiner Umgebung von feinem Krantenbett und
begeugte, noch einmal zu militärifcher Haltung fid) aufrichtend,
freundlich minfenb ben alten Greunben Greube und Danf.
Am 2. Februar 1914 trat ber Tod als ein Freund an ihn
beran; er batte ihn mit freubiger Zuverficht erwartet. Ein
reiches Leben fand einen fchönen Abfchluß.
Koechlin ift im beften Mannesalter babingegangen; ein
langfames Altern, ein allmähliches Abnehmen iff bem an
tätiges Handeln gewöhnten Manne erfpart geblieben. Wie
man ihn bis vor Kurzem gefannt bat, als ber lebhafte,
allgemein beliebte Mann, der leichten Ganges fchaffensfroh
und freudig zur Pflicht fchritt, und, ſtets ein treffendes Wort
auf den Lippen, für jedermann eine freundliche Begrüßung
batte, fo bleibt er in der Erinnerung.
Es ift der Vorzug derer, bie in der Kraft der Sabre
fterben, daß nod) viele ihren Verluft fühlen und beflagen.
Die allgemeine aufrichtige Trauer, bie Carl Koechlin nad)-
folgte, zeigte, bap jemand babingegangen war, ber eine Lüde
hinterließ, weil er feine Aufgabe voll erfüllt batte.
26
Carl Roechlin war jemand, ber ein großes ibm anver-
trautes Gut in gewiflenhafter Pflichterfüllung reich aus-
genüßt hat, und wenn ibm, bem viel gegeben war, auch viel
genommen worden ift, fo bat auch das zum Erfolg feines
Lebens beitragen dürfen.
Gin alter Basler pflegte von Mitmenfchen, bie ibm
weniger angenehm waren, zu jagen: „il n'a pas le bonheur
de me plaire". Es gibt Leute, die nicht das Blüd haben,
zu gefallen, oft troß, manchmal auch wegen achtungswerter
Eigenfchaften. Andere haben es, und wer diefes Glüd hat,
bem pflegt es treu zu bleiben. Koechlin war e$ zuteil gewor⸗
ben mit allen Eigenfchaften, bie ermöglichen, e8 zu bewahren.
Er war liebenswürdig im eigentlichen Sinne des Wortes
unb durfte bie Liebe, derer er wert war, auch genießen. Wer
ibn gefannt hat, wird fid) eines freundlichen Wortes erinnern,
das ét von ibm gehört bat, und dankbar der herzlichen Wärme
gedenken, bie von ihm au$ging. Die natürliche Gabe des
leichten Umgangs mit jedermann war ihm in hohem Maße
eigen und bat ibm den Erfolg in allem febr erleichtert; fie
hätte aber nicht ausgereicht, dazu zu verhelfen, wenn nicht
aud) außerordentliche Fähigkeiten zur Bewältigung erniter
Aufgaben ihr zur Seite geftanden hätten. Koechlin bejaB
neben allgemeinen reichen Gaben des PVerftandes bervor-
tragende Eigenfchaften, welche für die praftifche Erfaflung
des Lebens von Wert find.
Gin hervortretender Zug feines Wefens war eine große
Beweglichkeit. Nicht von großer Statur, aber ftets im Eben-
maß bleibend unb nie zu Rörperfülle neigend, fprang er nod)
al3 Familienvater im Kreife von Rameraden nad) fröhlichen
Mahle über einen gededten Tiſch, ohne etwas zu berühren.
Wie fein Körper, fo war und blieb fein Geift ftet8 außer-
ordentlich beweglih. Seine Germanbtbeit in allen Lebens-
lagen, feine Schlagfertigkeit und bie Sicherheit, mit der er
in ben heifelften Situationen überrafchend einen Ausweg
fand, fonnten oft Bewunderung hervorrufen. Koechlin befaß
27
bie Gabe, fofort zu erfaffen unb das Erfaßte fchnell zu ver-
werten, unbefhwert von Hemmungen allzu tief gebender 23e-
denklichkeit.
Die glückliche, einfache und klare Organiſation ſeines
Geiſtes half ihm, auch über ſchwierige und unangenehme
Dinge hinwegzukommen. Er war imftande, ein Hindernis,
das er niht aus dem Wege räumen fonnte, in elegantem
Schwunge zu nehmen und ohne Grübeln auch einmal fünfe
gerade fein au laffen. Er fonnte auch Liebenswürdig über
etwas fprechen, ohne in alle Tiefen des Gegenftandes binab-
geftiegen zu fein. Das borazifche nonum prematur in an-
num war mnidft für ihn gefchrieben, und bie Arbeit
ging ihm leicht von der Hand. Rafch wie feine Bewegungen
waren fein Denken und fein Handeln, und fchnell bereit war
er in bet Rede, ohne bod) unbefonnen zu fein; davor bemabrte
ihn eine faum verfagende Gegenwart des Geiftes und bie
Herrfchaft, bie er über fid) felbft auszuüben gewohnt war.
Denn die großen Fähigkeiten des Verftandes wurden in die
rihtige 93abn gewiefen durch ebenfo fchägenswerte Eigen-
Ihaften eines Charakters, der in der Schule der Pflicht
gebildet war. Der Erfüllung beffen, was fid) als nádit
liegende Aufgabe darftellte, galt es in erfter Stelle, und Roech-
[in8 im Grunde einfache Natur, bie feine ausgefuchten 23e-
bürfniffe und Liebhabereien kannte, ftand einer Beſchränkung
auf das Wefentliche und Wichtige nicht im Wege.
So fonnte Koechlin als Mann der praftifchen Arbeit
Hervorragendes leiften unb viel erreihen. Es wäre eine
unnötige Uebertreibung, zu fagen, daß alle Werke, bie er
gefördert bat, nur feiner Initiative und feinen S been ihre
Entitehung verdankten. Koechlin verftanb es, aud) An—
regungen, bie ibm geboten wurden, wenn er fie als richtig
anerkannte, aufzugreifen, fie mit der Tat zu unterftügen und
zu verwirklichen; er fonnte auch andere mitarbeiten laflen und
ihre Arbeit würdigen. Deshalb batte man ihn überall gerne
dabei; feine Mitwirkung, fein Name fdon fchien den Erfola
28
zu verbürgen. Alles fonnte aud) er nicht zum Gedeihen
bringen. Er wußte dann rechtzeitig abzubrechen und über
AUnerfreuliches ftillfehweigend megaugeben.
Unterftüßt und erleichtert wurde fein ftet8 aufs Ziel
gehendes Auftreten duch bie ungemein verbindliche Art, mit
der er alles und jedermann zu behandeln wußte. Es war
ihm darin eine wirkliche Runft eigen. Und wenn man etwa
eine Abficht merken mochte, fie verftimmte nicht, denn man
fühlte, bap alles von Herzen fam. Und das war e$, was
feinem Wirken folhen Wert gab. Die äußere Suporfom-
menbeit war ber Ausdrud eines wirklichen innerlichen Wohl⸗
wollens und des aufrichtigen Beſtrebens, Gutes zu tun, im
Kleinen wie im Großen. Einen Unterfehied in ber Sreund-
lichkeit und Hilfsbereitfchaft nad) der fozialen Stellung feiner
Mitmenfhen fannte er niht. Es war ibm, der felbft jo
fhweres Leid erfahren mußte, ein Bedürfnis und ernites
Anliegen, andern zu helfen und in Teilnahme beizuftehen.
Das bat er auch im gefchäftlichen Leben nicht außer
Acht gelafien. Das Wohl feiner Arbeiter lag ihm am Herzen,
und er bat die Einrichtungen, die dafür getroffen wurden,
lebhaft gefördert. DBefondere Freude machte es ibm, in
wohnlichen Heimftätten für eigenes ficheres Heim und damit
für ba$ Gebeiben des Familienlebens zu forgen. Die fo
Dübfd gelegene Giebefung von Wohnungen für Arbeiter
feiner Firma, die bei der Schoren errichtet war, hat leider der
Erweiterung des badifchen Bahnhofs weichen müffen. Daß
die frühere patriarchalifche Fürforge mehr und mehr durch ben
modernen Standpunkt ber gefeßlichen Nötigung verdrängt
wurde, tat ibm leid. Er ließ fid) aber nicht abhalten, auf
jozialem Gebiete für bie Erleichterung ber Eriftenz ber 9fr-
beiter mitzuwirken, fowohl burd) Seilnabme an der Gefeb-
gebung, wie in freiwilliger Tätigkeit in den evangelifch-
fozialen Vereinen. Dielen andern gemeinnüsßigen Beftre-
bungen hat er feine Mithilfe nad) Kräften gewährt, als
ein würdiger Nachfolger feines Vorfahren Sfaaf Iſelin,
29
mit bem er, nach deflen Bildniffen zu urteilen, auch äußerlich
eine gewiſſe Aehnlichkeit hatte.
Was er Einzelnen im Stillen erwiefen bat, das fet nur
angedeutet. Geine Verhältniſſe erlaubten ihm, eine offene
Hand zu haben, und er hatte fie.
Koechlin batte alle Eigenfchaften, welche allgemeine
Achtung und Beliebtheit fihern. Er erfreute fid) deflen und
genoB ehrlich bie ihm zuteil werdenden Erfolge. Er blieb
aber aufrecht, als er verzichten mußte. Er entfagte ohne Mur:
ren und bewies in der Zeit des Leidens unb der Abnahme
des Wirkens nad) außen eine Ergebung, bie nur auf innerer
Abgeklärtheit beruhen fonnte, und die ihn größer zeigte als
alle vorangehenden glänzenden Erfolge.
Gerne hätte man diefes Leben, in bem fid) in verhält-
nismäßig kurzer Seit, im vollen Mannesalter, ein fo reiches
öffentliches Wirken zufammengedrängt hat, noch weiter fid)
entwideln feben; man hätte von ibm noch viel erwartet und
bedauert, baB e8 fo rafch geendet. Und bod) erkennen wir, daß
e3 feine Aufgabe vol erfüllt bat, wie ein Geſchoß nach hohem
Aufftieg aud) wieder abwärts feine Bahn befchreiben muß,
um ans Ziel zu gelangen.
Co fteben wir vor diefem Leben wie vor einem füunlt-
werk, das burd) feine barmonifche Abgefchlofienheit volles
Wohlgefallen erregt.
Doch der es zu fchildern verfucht, muß bie Feder ablegen
mit dem Gefühl, daß die Darftellung, aud) wenn fie voll-
Künbiget fein könnte, unzulänglich bleiben muß. Das Beſte
fann nicht befchrieben werden. Es ift der tiefe Grund, bie
innere Entwidlung eines Mannes, der fid) von feinem Gott
bat führen laffen und überwunden bat. Das ift das wahrhaft
Große und Heldenhafte,; das foll aud) in biefer Seit, wo
andere Erfolge Elein werden, ein Vorbild bleiben.
ine Baofelbieter Dorfrevolte
im Jahre 1809.
Don Dr. X. Oeri⸗Saraſin.
Wie aus bem Titel zu erfeben ift, handelt es fi) bei
biefer Mitteilung nicht um ein bedeutendes biftorifches Er:
eignis.
Der Verfaffer glaubt jedoch, baf bie zu ſchildernde Dorf:
geſchichte Eulturhiftorifches Intereſſe bieten fann, da fie einen
93[id in den ländlichen Aberglauben zu Anfang des 19. Zahr-
hundert3 zu tun geftattet. Zugleich Liegt fie zeitlich noch nahe
genug, um die mündliche Leberlieferung neben der aften-
mäßig feftftellbaren Gefhichte zum Worte fommen zu laflen.
Man wird an einem an fid) unbedeutenden Beifpiel erfeben
fónnen, wie fid) diefelbe Gefchichte nach Ablauf von hundert
Jahren in den zwei Verfionen darftellt.
Sur münbliden Üeberlieferung.
An der Straße, bie landaufwärts burd) Laufen führt,
fand [infá am Anfange des Dorfes das Gafthbaus zum
Röpli. Der Bau ber Eifenbahn machte diefem [forie vielen
andern Gafthäufern des Tales ein Ende, die früher bei dem
großen Wagenverkehr über ben unterm Hauenftein ihr Ge-
beiben gehabt hatten und aud) von Baſel aus oft zu gefelligen
Anläffen und Zamilienfeften benußt worden waren. Der
Berfafler, in Laufen aufgewachſen, erinnert fid) aus feinen
Kinderjahren in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahr⸗
hunderts an bie vielen Kutfchen, Omnibuffe und Güter-
wagen, bie beim Rößli anbielten. Seitlich vom Gafthaus
91
war ein großer Pla&, umgeben von ausgedehnten Ställen,
Scheunen und Remifen.
An ber weftlihen Ede des Gafthaufes waren merk:
würdigerweife bie nächften feitlichen Fenſter des Erdgefchofles
und des erften Stodes zugemauert, bie vermauerten Stellen
waren noch leicht erfennbar; im erften Stod war darüber
eine Figur gemalt, das Bild aber Anfang der fechziger
Sabre fo verblid)en, baB es nur noch in den gröbften Zügen
als Mannsgeftalt zu erfennen war. Es verfhwand zuletzt
ganz, denn bie Dorfjugend übte fid) gerne darin, ben Mann
mit Schneebällen oder Steinen an den Kopf zu treffen.
Nachdem das Röpli feine Rolle als Gaftbaus fdon lange
ausgefpielt batte, wurde in den früheren Remifen und Ställen
eine Ziegelbütte, fpäter eine Toͤpferei eingerichtet, bie jeßt
nod) bejteben; ber Tanzboden diente zwei Tunftfinnigen
Deforationsmalern, den Brüdern Gris und Wilhelm
Balmer, als Atelier.
Bon Seit zu Seit hörte man von Leuten aus dem
Dorfe, bap es im Roͤßli — fo hieß das Haus immer nod) —
nicht gana gebeuer fei, und man fonnte nad) einer fchwülen
Gewitternacht etwa gefragt werden, „ob man fie nicht gehört
babe fdjmieben". Wer follte nachts gefchmiedet haben?
„He, bie zwei Schmiede.”
Es blieb vorerft bei geheimnisvollen Andeutungen,
fpäter vernahm ber Verfafler mehreres, namentlich durch ben
alten Drechslermeifter Sy. 3. Furlenmeyer!), einen freundlichen,
geſchickten, auch mufifalifch begabten Mann, ber, wie auch feine
Grau, eine Menge alter Gefhichten wußte, und dem Knaben,
der fein Zutrauen gewonnen hatte, über das geheimnisvolle
Schmieden im Röpli folgendes mitteilte:
Die weftliche Ede des Haufes, ba, wo die Fenſter zu-
gemauert waren, batte früher nicht zum eigentlichen Gaftbaus
1) S. S. Furlenmeyer war 1803 geboren, feine Frau, eine geborene
Grautmyler, 1815. Der Mann war alfo im Jahre 1809 ſechs Sabre alf:
et und feine Frau mußten das im Sabre 1772 unb 1809 Gefchehene von
ihren Eltern gehört haben.
32
gehört, fonbern eine Schmiede beherbergt; man mar alfo in näch-
fter Nähe darauf eingerichtet, verlorene oder [ofe gewordene
Hufeifen zu erfegen und Schäden an Fuhrwerken auszubeflern.
Om Sabre 1772 batte bet dort wohnende Schmied
Andreas ©. in feinem 59. Sabre fid) das Leben genommen,
und fein Sohn Jakob hatte nicht nur des Vaters Gefchäft,
fonbern aud) befjen Schwermut zum Erbe befommen und fid)
am 1. Brachmonat des Jahres 1809, 66 Sabre alt, mie fein
Vater, erhängt.
Unfere Zeit wäre barmberziger als die damalige in der
Beurteilung diefer armen, augenscheinlich gemütsfranfen Leute,
und befonders ber Umſtand, bap der Sohn feines Vaters
trauriges Schidfal teilte, würde dafür fprechen, bap eine erb-
liche franfpafte Gemütsanlage im Spiele fei. Zu jener Zeit
galten aber bie Geiftesfranfen als befeflen von böfen Geiftern,
unb bie Gnbfatajtropbe fchien es zu beftätigen, baB ber Böſe
Meifter geworden [ei. Kein Wunder, wenn bie Leute ben
Körper des Entfeelten nur mit Grauen [eben oder berühren
mochten und baB man fid) fcheute, ihn auf dem Kirchhof in
der Reihe ber auf natürlihe Weife Verftorbenen zu begraben.
Gür mande war es ein unerträglicher Gedanke, eines feiner
Angehörigen neben einem GSelbftmörder begraben zu willen,
der ja nad) der damaligen volkstümlichen Auffaflung zu
Stadt und Land im Grabe fchwerlid Ruhe haben fonnte
fondern „wandeln” mußte.
Diele Gebilbete, befonders bie Geiftlichen, dachten fchon
damals unter bem Einfluffe der Aufklärung freier und emp-
fanden humaner, barmherziger.
Sedenfals war die Basler Regierung jener Seit auf-
geflärter; fie muß vor 1809 eine Verordnung erlaflen haben,
nad) welcher ein Selbftmörder wie andere Verftorbene öffent:
[id und auf dem Gottesader begraben, nicht aber eta bei
Naht im Walde verfcharrt werden follte.
Charafteriftifch für die Stellung der weltlichen und geijt-
lihen Behörden zu der Frage des Erfcheinens Verftorbener
39 3
ift es, daß ber Rat am 24. September 1808 ben Verkauf der
Schrift „Theorie der Geifterfunde”, verfaßt von dem aud)
in Baſel viele Freunde zählenden Jung Stilling, verboten
batte, „damit fhwache Gemüther nicht in bem Wahn bleiben
mögen, alg wenn dergleihen Schwärmereien und Er:
Dichtungen mit obrigkeitlicher Bewilligung gedrudt und ver-
fauft werden”. Während bie Sache zur Begutachtung durch
bie Geiftlichkeit an den Antiſtes gewiefen wurde, bielt der
ftreitbare Pfarrer S. S. Güfd zu St. Theodor am 9. OF:
tober eine heftige Predigt gegen ben Aberglauben und [pesiell
gegen den Glauben an bie Erfcheinungen Verftorbener. Am
18. Oktober in voller Rapitelfigtung waren alle Mitglieder
des Minifteriums der Meinung, bap der Kantonsrat erfucht
werden folle, das ſchon vorher erlafiene Verbot nicht wieder
aufzuheben. Durch das von Antiftes Merian wohl aus:
geführte und gründlich abgefaBte Gutachten erwarb fid) die
Geiftlichkeit den Dank des Rats. Durch) Ratsbeihluß vom
28. Dezember „blieb Stilling’s Buch allhier verboten".?)
Den älteren Schmied batte man vor 37 Zahren nad)
altem Gebraud) im Walde verfcharrt. Als nun der Sohn am
1. Suni 1809 fid) entleibt batte, war man im Dorfe darüber
einig, daß man der Ratsverordnung fid) nicht fügen, fonbern
den Leichnam in einem entfernten Walde, bem Kohlholz, ver-
lochen wolle. Zur Zegleitung wurde eine ganze Schar von
Männern aufgeboten. Wie wollte man den Körper in den
Wald bringen? Da war guter Rat teuer, da niemand den
Entleibten tragen und auch niemand fein Fuhrwerk hergeben
wollte. Schließlich famen findige Köpfe zum Vorſchlag,
einen zweirädrigen Karren im Nachbardorf Sttingen zu ent-
wenden. Gefagt, getan; die Begleiter fuhren bei Nacht mit
ihrer unheimlihen Lat den GStodhalden hinauf, dann
zwiſchen Müsbrunnen und Zurlen über den Sattel zum
Kohlholz hinauf, alle innerlich bebenb.
2) Diefe Darftellung ift entnommen aus: U.v. Salis: Sung
Stilling in Baſel verboten. Basler Jahrbuch 1894.
34
Als fie nun oben im Walde das Loch gegraben unb ben
Leichnam hineingefenkt hatten, rief einer der Begleiter, wohl
unter dem Eindrud eines Bildes feiner aufgeregten Pbhan-
tafie, mit lauter Stimme: „Er dunnt". Alle, bie dabei
waren, erſchraken tödlich und bald eilten fie, einer bem andern
nad, den Berg hinunter, den Leichnam unbededt in der
Grube, den Karren, ihre Bidel und Schaufeln im Walde
[affenb. Erft in der Nähe des Dorfes gewannen fie einige
Otube, zu Haufe fprachen fie gebeimnispoll von bem Erlebnis,
baB der Tote auf einmal aufgeftanden fei, und manche
glaubten fchliehlich, feinen Geift gejehen zu haben.
Die Cade blieb aber nicht geheim. Es wurde eine
Unterfuchung wegen Unfolgſamkeit gegen bie obrigkeitliche
Verordnung, wegen des Karrendiebftahls und wegen ber
ganzen anftóBigen Gefchichte überhaupt angehoben, der Ge-
meinderat verantwortlich gemacht und mit Gefängnis beftraft.
Herr Jakob 23urdbarbt (des Verfaflerd Großvater) war
am 27. Mai 1809 nad) Laufen als Pfarrer gewählt worden,
und als er einige Tage nachher, e$ mag am 11. ober 12. Suni
gewefen fein, nad) feiner neuen Gemeinde fam, um jid) ben
Behörden vorzuftellen, waren weder. der Präfident nod) bie
Gemeinderäte noch ber Schullehrer zu finden. Er erfundigte
fid) und vernahm nun aus zögernden Andeutungen den Grund
ihrer Abwefenheit und den Ort ihres Aufenthalts. Am
folgenden Sage ſuchte er fie in 93afel im Gefängnis auf.
Man war beiderfeit3 verwundert und betrübt, fid) an diefem
Orte zum erften Male begrüßen zu müflen. Auf bie feil-
nebmenben Fragen rüdten nun die Leute erft recht mit bet
Wahrheit heraus. Der junge Pfarrer ging darauf zum
YVürgermeifter und den Ratsherren, um Fürſprache ein-
zulegen, indem er den ganzen Hergang erzählte; bie Herren
follen bei der Schilderung der Flucht aus dem Walde das
Laden nicht unterdrüdt haben und raſch in eine gnábige
Stimmung verfegt worden fein, denn bald nachher fonnte ber
Geiftlihe als Zriedensbote feinen Gemeinderäten bie Q3e-
35 9
freiung anfünbigen. Pfarrer Surdbarbt amtete in Laufen
bis 1816, wo er zum Oberfthelfer in Baſel gewählt wurde.
Zeitlebens machte es ihm Vergnügen, daß er feinem Ge-
meinderat gleich bei Beginn feines Amtes biejen Dienft batte
erweifen können; er blieb mit einzelnen Gemeindegenoflen,
auch über bie Revolutionszeit der dreißiger Sabre hinaus,
befreundet unb auch Dadurch verbunden, bap feine in Laufen ge:
borene Tochter im Sabre 1843 ebendafelbft Dfarrfrau wurde.
Von ihr, feiner Mutter, hörte der Verfafler bie Befreiung
der Gemeinderäte erzählen; ihre Angaben ergänzten das,
was er von Dorfbewohnern, befonders von bem alten
Drechsler Zurlenmeyer, gehört hatte und was er nod) weiter
von beffen Erzählungen mitzuteilen bat.
Denn bie Gefchichte von den Schmieden ift noch nicht zu
Ende.
Wenn man aud) annehmen fann, daß vielleicht einige
Mitleidige am folgenden Sage bie unterbrochene 93eerbigung
vollendeten oder daß fie von ber Behörde erzwungen wurde,
fo fonnte bod) der Schmied fern im Walde feine Rube
finden; bald börten einzelne, fpäter viele, ein nächtliches
Hämmern in ber verlaflenen und verjchloffenen Schmiede:
werfftätte im Dorf, befonders in Cfurmnádten ober wenn
Wetterwechfel im Anzug war, aber aud) in ftillen Mond:
nähten. Da zwei Hämmer im Saft auf ben Ambos fchlugen,
fonnte es nicht anders fein: bie zwei Schmiede, der Vater
und der Sohn, mußten wie in früheren Zeiten miteinander
am Ambos fteben und draufichlagen. Es wurde nie erzählt,
daß man die beiden gejeben habe, aber jedermann wußte, daß
fie im Grabe feine Ruhe haben und Schmieden müſſen.
Als eg zu arg wurde, wandte fid) ber Hausbefiger und
Wirt auf guten Rat bin nah Dornach, und eines Tages
ftellte fid) ein Kapuziner in Laufen ein und übernahm die 23e-
ſchwörung der Geifter, nachdem er fid) außer einer beftimmten
Summe unb gutem Gffen noch täglich zwei ober drei Maß
Wein ausbedungen hatte. Gr ſchloß fid) ein und es gelang ibm,
36
fid) mit ben Geiftern in Verbindung zu feben und fie ſchließ⸗
[id in zwei Glasflafchen zu bannen. Mit dem Geift des
jüngeren Schmieds ging das nicht fo leiht. Der Geift fagte
zum KRapuziner: „Du Fannft mich nicht bannen, ich brauche
dir nicht zu gehorchen, denn du haft fchon einmal geftohlen.”
Der Pater beftritt das. „Sreilich haft bu fchon einmal ge-
ftohlen, weißt bu, Damals als du ftudierteft!" Nun erinnerte
fi der Kapuziner eines Heinen Gelddiebftahls aus feiner
Augendzeit und gab ihn zu. „Weil du aber jenes Gelb für
Papier unb Schreibzeug zum Studium brauchteft, will ich
bid) gewähren laſſen“, fagte der Geift und ließ fid) ebenfalls
in eine Flaſche einfperren.
Daraufhin hörte das Hämmern auf, und die Nächte
blieben ftill. Man legte bie zugebundenen Zlafchen oben auf
einen Kaften, in die Vertiefung des Kaftenfranzes in bem
Zimmer über der Schmiede, unb es iff zu vermuten, baB man
damals bie Zenfter im Erdgefchoß und im erffen Stod zu⸗
mauerte und außen mit dem Bilde eines Mannes fchmüdte.
Die Geifter rubten nun viele Jahre, allerdings nicht im
Grabe, fondern in den Flafchen.
Wie leicht vergißt man felbft wichtige Dinge, menn
man nicht öfters, befonders etwa in unangenehmer Weiſe,
daran erinnert wird. Mit der Erinnerung an den Spuf
verblaßte aud) bie Erinnerung an die Flaſchen, bie mit ber
Zeit unter eine bide Staubfchicht geraten waren. Nur
wenige wußten, daß fie eriftierten unb wo fie lagen, und als
einmal, — eg ift zu vermuten, es fei bei einer Srübjahrs-
pußete gewefen oder beim Aufziehen eines neuen Wirts, —
Unkundige fid) mit dem Kaften zu fchaffen machten, fielen
bie Flaſchen herunter und aerbrad)en mit großem Geklirr.
Wann das gefdjeben ift, kann nicht angegeben werden, bod)
haben dem Zerfafler biefe Wendung ber alte Drechsler unb
feine Grau erzählt, bie, wie aud) andere Leute, bie Schmiede
oft wieder an der Arbeit gehört haben wollten und überzeugt
waren, daß diefe armen QGeifter, aus den Flaſchen befreit,
37
nun wieder ihr Wefen trieben. Manche gingen nachts nur
mit Scheu an dem Haufe vorbei und vermieden e$, ben
Mann, ber beim Mondſchein aus dem zugemauerten Fenſter
zu bliden ſchien, anzufchauen.
Man wird an diefe Darftelung nicht den ?[n|prud)
machen, bap bem Verfafler alles genau fo erzählt wurde, wie
er es nad der Erinnerung aus feiner Kindheit nieder:
gefchrieben bat. Durch Leute aus bem Dorfe hörte er von
dem Cpuf, durch einzelne Glieder ber eigenen Familie von
dem Konflikt ber Caufener mit den Basler Behörden. Das
Erzählte ift bie Summe beffen, was fid) in feiner Erinnerung
feftgefegt und in der jugendlichen Phantafie zu einem Bilde
vereinigt bat.
Es bot nun einiges Intereffe, nachzufehen, was fid) in
den flaatlichen Alten über bie Beerdigungsgeſchichte der
zwei Schmiede finden läßt. Die Herren Dr. Rudolf Wader-
nagel und Dr. Auguft Huber waren fo freundlich, bem Ver⸗
faffer auf dem Archiv bie Ratsprotofolle zugänglich zu
machen, bie bann wieder auf eine gerichtliche Unterfuchung
wiefen. Die Alten fiber die lettere find zum Heineren Teil in
Bafel, zum größeren im baſellandſchaftlichen Archiv zu
Lieftal. Sie wurden alle durch Vermittlung des Basler
Archivs benutzt; ihre Kenntnis ermöglicht es, bie Gefchichte
vom Gelbftmord des Schmieds Safob S. im Sabre 1809
und die dadurch bedingten Unruhen in Laufen darzuftellen.
Sie gibt, wenn aud) im engen Rahmen des einfachen Dorf-
lebens, ein Bild von der zähen Herrfchaft alter Anſchauungen
und von der Macht der Vorftellung im Empfinden und Tun
des Volkes.
Otad ben Alten
läßt fi) das Folgende Feftitellen:
As am Donnerstag, 1. Juni 1809, nachmittags, ber
Küfermeifter Sohannes Schaffner im Keller des Gafthaufes
38
zum Rößli an feiner Arbeit war, hörte er plößlich ben Sohn
des Wirts, ber ihn rief, er folle bod) berauffommen, es [fet
in der Schmiede etwas pa[fiert. Zohannes Maddri, Peter
Singeifen, Hans Jakob S dubi, der 93ed, und Heinrich
Grieder, der Maurer, waren auf das Rufen ebenfalls, wohl
aus ber Wirtfchaft, betbeigeeilt. Da die Schmiede voller
Otaud) war und alle glaubten, es brenne, gingen fie um das
Haus berum und die Treppe binauf. Als dann Peter
Singeifen eine NRammertür im dritten Stod aufgeftoßen unb
bineingeblidt batte, fam er fotenbleid) heraus, und als
Schaffner und feine 93egleiter in bie Kammer fchauten, faben
fie den Schmied Safob ©. halb fnieenb auf feinem Bette,
regunaslos an einem Gtride hängend, ber an der Dede
befeftigf war. Nach dem erften Schred fchnitt Johannes
Madöðri den Strid entzwei, in der Hoffnung, den Erhängten
noch zu retten; der Körper fiel rüdwärts auf das Bett unb
alle Bemühungen, den Schmied zum Leben zu bringen,
waren vergeblich.
Schaffner ging nun wieder ins Wirtshaus zurüd und
veranlaßte, daB nad) dem Bezirksphyſikus Bohny in Lieftal
gefhidt wurde, der bann aud) febr rafch, begleitet vom
Ehirurgus Paulus Noerbel, nad) Laufen fam unb die Ulnter-
fuhung der Leiche vornabm. Das zu Handen des Ciatt-
balters verfapte Gutachten berichtet, „Daß bei der Ankunft
der Körper nod) angef(eibet im Bette gelegen und der ent-
zwei gefchnittene Strid nod) am Balken gebangen babe;
Augenlider unb Mund waren gefchloflen, bie Gefichtsfarbe
etwas blaulächt, am Hals lief tiber den Kehlkopf ringsum
eine vertiefte Sigullierte?) Zurche, fo wie der Strang ge-
offen. Da andere VBerlegungen fehlten, fchloffen bie beiden
Unterfuchenden, daß diefer Unglückliche fid) felbften erdroflelt
babe. Alle Velebungsmittel, bie von ihnen angewandt
worden waren, feien erfolglos gemefen".
Om Wirtshaus hatten fid) mittlerweile viele Leute ein-
$) Sol heißen: jugillierte (blutunterlaufene).
39
gefunden, ba durch Nachbarn der Vorfall bald im ganzen
Dorfe ruchbar geworden war. Jedermann war entjeßt und
es nüste nichts, bap ber Phyſikus Bohny, ber fid) nun aud
einfand, bie Leute wollte glauben machen, daß er am Körper
des ©. nichts PVerlegtes gefunden babe und daß Derfelbe
natürlih, am Stedfluß, müfle verftorben fein, auch daß der
zerfehnittene Strid an der Bühne nichts bemeije. Der Rüfer
Schaffner erwiderte-ihm, es feien denn bod) zu viele Zeugen
dabei gewefen, als der Körper am Strid hing und berunter-
gefchnitten wurde. Es nüste aud) nichts, als ber Phyſikus
drohte, man werde bie folches reden zur Verantwortung
ziehen, denn es entitanb fofort das Gerede, „Daß es am
beften wäre, wenn man den Körper des fid) felbft entleibten
gleich burd) den Wafenmeifter wegfchaffen ließe, damit bie
Cade der Gemeinde fein ‚weiteres $f[nglüd und Nachteil
zuziebe". Sedermann war darüber einig, daß man den
Leichnam nicht auf den Kirchhof begraben wolle. Sa, als
bie Nachbarn des Entleibten äußerten, „Daß biejer von den
Händen weggethban werden folle, denen er fid) durch feine
Handlung übergeben babe, ließ fid) ber Gemeinberatb Hans
Jakob Schaffner verlauten, daß er aud) biefer Meynung
fepe".
Der Statthalter Nörbel war an jenem Tage von Lieftal
abmejenb, unb fo batte fid), außer den Mevdizinalperjonen,
an jeiner Stelle der Bezirksſchreiber nad) Laufen begeben.
Ihn beftürmten nun bie Laufener mit ihrem Begehren, ben
Leichnam nicht auf bem Gottesader begraben zu müſſen und
um Wegſchaffung durch den QUajenmeilter. Der oben
genannte Gemeinderat Safob Schaffner drängte, nicht als
Mitglied der Behörde, fondern im Namen der Nachbarn
und ber Wirtin, deren Vogt er war. Da die Schmiede mit
dem Wirtshaus zum Rößli eng aufammenbing, war es be-
greiflich, baB bie Wirtin möglichſt raſche ———— des
Entleibten wünſchte.
Der Präfident und die Gemeinderäte müſſen der
40
gleichen Anficht gemefen fein wie ihre Dorfgenofien, denn
als der Bezirksfchreiber dem Statthalter über bie Sache be-
richtet batte, machte diefer am folgenden Tag dem Rat in
Bafel niht nur Mitteilung von dem Verkommnis, bem
Refultat der ärztlihen Unterſuchung und den Familien-
verhältniffen des ©., ber eine Witwe und Großfinder
(Rinder einer verftorbenen Tochter) hinterlafie und ziemlich
vermöglich gewefen fet, fondern er übermittelte zugleich auch
bie Vitte des Gemeinderats, den Körper durch den Wafen-
meifter aus dem Haufe fdaffen und an einem entlegenen
Ort verfcharren zu Laffen.
Der Kleine Rat in 93afel war anderer Anficht; in der
Sisung vom 3. Zuni, alfo Samftag morgen, faßte er
folgenden Beſchluß:
„Bird ben Anverwandten geftattet, ben Gürper des
unglüdlichen ©. in der Stille auf dem Kirchhof beerdigen
zu laflen. Herr Statthalter wird dem Gemeinde Rath
das Unfchicliche ihres Begehrens vorftellen, darauf
feben, daß feine Hindernifie gegen bie Veerdigung ge-
macht werden und das DBetragen des Joh. Madöri
beloben."
Als Samstag nachmittag biefer Ratsbefchluß durch ben
Statthalter dem Gemeinderat befannt gegeben wurde, war
man in Laufen [don einig über bie Art, wie man die Ver:
fharrung vornehmen und auch darüber, daß man fi der
Beerdigung auf dem Kirchhof mit Gewalt widerfegen wolle,
wenn fie von den Behörden gefordert würde. Den Trans:
port und bie Verfcharrung follten, menn der Wafenmeifter
nicht zu haben war, Heinrich Plattner, Heinrich Genfer und
Jakob Graumiler (vielleicht als Totengräber, vielleicht als
Gemeinwerchspflichtige) beforgen; ferner bewaffneten fid)
auf Aufforderung des Gemeinderats zehn Mann mit Ober:
und Untergewehr, „um bei dem Eörper Wache zu halten”.
Der obrigkeitliche Beſchluß mit dem Tadel der Unfchid-
lichfeit an den Gemeinderat machte nun ganz böfes Blut.
41 -
Aus bem bisherigen Gemurmel, Gefchwäte, Geichimpfe
klangen jetzt Drohworte, gegenfeitiges Ermahnen zum
äußerften Widerftand und Worte von allgemeiner 93ervaff-
nung unb Gomplott. Weiber und Kinder fchimpften unb
beulten und erklärten, nicht mehr zur Kirche zu geben, wenn
man bem Dorfe nicht willfahre. Andere Anfichten, aud
wenn fie vorhanden waren, wagten fid) nicht hervor. Die
Witwe und bie Verwandten des ©. mußten wohl ober übel
fchweigen, wollten fie nicht zu ihrem Kummer nod) den Haß
der Mitbürger auf fid laden. Die Gemeinderäte machten
gemeinſame Sache mit ben Vürgern, unb wenn auch ber
Präfident Heinrih Sidubin fpäter es als 9[berglauben be:
zeichnet haben wollte, daß ein Selbſtmörder im Grabe nicht
ruhen fünne, jo ift das wenig glaubhaft, denn er machte
nicht den leifeften Zerfuch, die Leute zur Beſinnung zu
bringen und bem Ratsbefhluß Achtung zu verfchaffen. Er
will zwar „einem ganzen Trupp Bürger” QGeborjam ge-
predigt haben, fonnte aber fpäter bei ber Unterſuchung feinen
der Zuhörer nennen. Gin Geiftliher hätte am ebeften
einigen Widerftand leiften fónnen, aber am 22. April war
Herr Pfarrer Eglinger geftorben und der vor wenigen
Sagen gewählte Nachfolger, Herr Safob 93urdbarbt, war
nod) in Baſel.
Der Statthalter Noerbel in Lieftal war in großer Ver:
legenbeit. Auf ber einen Geite das beftimmte Gebot ber
Regierung, auf der andern das Dorf in vollem Aufruhr und
im Begriffe fid) zu bewaffnen, was follte er ba tun? Als
bie Berichte von Laufen immer brobenber Fangen, fragte er
den Geiftlichen von Lieftal, Herrn Pfarrer von93runn, um
Rat, unb biefer anerbot fid) gütig, mit ibm nach Laufen zu
geben, um die Gemeinde zur Ruhe und Ordnung bei Q3oll-
ziehbung der bochobrigkeitlihen Verfügung aufzufordern.
Otoetbel nahm das Anerbieten, das ibm febr angenehm war,
dankbar an, Überzeugt von dem Sutrauen der Gemeinde
Laufen in biefen Geiftlihen. In einem Schreiben vom
: 42
5. Zuni an Vürgermeifter unb Rat berichtet der Statthalter
über den gemeinfamen Beſuch in Laufen Folgendes:
„Nachdem alfo der Präfident benadhrichtiget worden
war, die Gemeinde ordnungsgemäß zu verfammeln, fo be-
gaben wir uns dahin. Ich machte bie Gemeinde auf bie
irrige Stimmung, die in Dderfelben obwalte und wodurd
unfere Gegenwart veranlaßt wurde, aufmerfjam, eröffnete
berfefben den Inhalt des Hochobrigkeitl. Schreibens und
forderte felbige auf, fid diejenigen Lehren und Zuredt-
weifungen, melde ©. WohlEhrwürden Herr Pfarrer
BonDBrunn ihnen ertbeilen werde, dazu dienen zu laflen,
daß fie ber quäftl. Beerdigung feine Hindernifle in den Weg
fegen würden. Hierauf that Herr Pfarrer VonBrunn eine
lieblihe Rede an bie VBürgerfchaft, worin er berjelben zwed-
mäßige 93elebrungen ertheilte und fie fodann zur Befolgung
der Hochobrigkeitl. Verfügung ermabnte und aufforderte.
Allein troß früftigem Zureden von Seiten des Herrn Pfarrer
BonQrunn bebatrte bie VBürgerfchaft einffimmig auf ihrer
Aeußerung, daß fte die Beerdigung des fid) felbft erbenften ©.
auf dem Kirchhof nie zugeben werde, denn erftlich gründe
fi ihre Meinung auf alte Erfahrungen und Geſchichten
(welche wir vergeblich zu widerlegen verfuchten); überdieß
werden fie fid) nie überzeugen, bap der Körper eines Celbit-
mörders zu denjenigen natürlich Geftorbener gelegt werden
folle. Endlich, und da alle gütigen Ermahnungen fruchtlos
waren, bedrohte ich bie Gemeinde, baB id fie 9X. 9. ©. 9X.
Herren €. G. unb W. W. Raths als Ungehorfame verzeigen
werde, welches aber aud) ohne Wirkung mar."
Zur Gemeindeverfammlung waren die Leute fchnell ver:
fammelt, da alle fdon baufentoeife berumftanden; fie fand
abends um 7 Uhr ftatt; man hatte den ganzen Sag an-
genommen, daB bod) nod) eine Abänderung des Rats:
befchlufles einlaufen werde. Als nun der Statthalter unb
der Lieftaler Pfarrer Gehorfam gepredigt hatten, entitand
sum Schluß ein großes Getümmel und Toben, und einzelne
43
hatten ben Mut, den beiden Abgeordneten zu widerfprechen
unb aud) ihre Meinung zu fagen, da man bod) zur Gemeinde:
verfammlung aufgeboten worden [ei und nun auch |prechen
dürfe. Der Küfer Schaffner fagte, „es werde feine Ruhe
werden, bevor man der Gemeinde millfabre. Man babe das
Grempel, daß GSelbftmörder nad) dem Tode feine Rube
fänden, am Vater des ©. erlebt, ber fid) vor 37 Syabren ent:
[eibte. Diefer fet ihm felbft einmal auf der Straße er-
fchienen, fo bap fein Pferd den Reifaus genommen babe.
Andern feye Dies auch begegnet, Deswegen feien bie Laufener
bei biejem neuen Anlaß wieder in Beforgniß und Furt
getafben". Und Zacob Kaifer war ber gleid)en Meinung,
„und zwar aus felbftgemachter Erfahrung. Der Pfarrer
Bon Brunn babe der Gemeinde vorgeftellt, baB es ein Aber:
glauben fepe, wenn man behaupte, baB bie Gelbftmörder den
Leuten erjd)einen; er wifle das aber leyder befler, denn als
er 17 Zahre alt gewefen, jepe ihm einsmals ein folcher im
Wald erfchienen, worüber ibm während zehn Jahren ein
fallendes Wehe zugeftoßen fepe."
Daß man bei Anfchauungen, wie fie aus diefen Er:
fabrungen mit ,manbelnben" Geiftern hervorgehen und die
bie ganze Gemeinde teilte, bie Ruhe der Toten auf bem
Kirchhof nicht geftört haben wollte, läßt fid) einigermaßen
begreifen. Erfcheinungen Zerftorbener waren ja auch burd)
einzelne Gefchichten des alten unb neuen Teftaments bezeugt.
Die Amtsperfonen batte man, ohne fie zu ftóten, angehört
fo lange fie fprachen, nun aber ging der Rumor und Lärm
von neuem an. Man babe dem Toben nicht widerfprechen
dürfen, faate [páter ber Präfivdent, ba die Leute in folchen
Sällen feine Vernunft annehmen. Die Gemeinderäte
Heinrih 93almer und Friedrich 93ufer, aud) ber Scul-
meifter Rolle fprachen es im Verhör aus, baB wenn etwas
auf bie verfammelten Bürger hätte Ginbrud machen follen,
jo wären es bie fchönen Reden gegen ben Aberglauben ge-
weſen, welche der Statthalter und Herr Pfarrer Bon Brunn
44
bielten; fie hätten das felbft einen Augenblid gehofft, aber
leider babe das GStillfchweigen nur [o lange gedauert als
die beiden Herren gefprochen hätten und dann fei das Lärmen
gleich wieder angegangen.
Schließlih fanden bie Gemeinderäte den Weg aus
der beiderfeitigen Verlegenheit. Sie drängten zwar darauf,
daß der Leichnam bei dem heißen Wetter wegen ber vor-
gefchrittenen Fäulnis aus dem Haus gefchafft und begraben
werden müfle, zeigten fid) aber zugleich etwas gefügiger und
ihienen bie Beerdigung auf dem Kirchhof aulaffen zu wollen,
fofern nicht etwa bie S.’fchen Verwandten felbft hievon ab:
ftrabieren würden. Der Statthalter ließ fid) auf dieſen Q3er-
mittlungsporfchlag ein, weil er dachte, „Daß [o am beiten
unruhigen Auftritten vorgebogen werden fónne". Er war
jedenfalls frob, eine [olde Form des Rüdzugs zu finden,
denn er batte gefeben, „Daß nicht ein einziger Mann in
Laufen feye, der nicht gegen bie Deerdigung auf bem
Kirhhof die größte Widrigfeit batte, und daß bie Be—
erdigung des quäftl. Körpers auf bem Kirchhof anderft nicht
hätte in Vollziehung gefeSt werden fónnen als wenn ein
feines Truppencorps, jedoch feine Landmiliz, fondern von
der Standescompagnie, mit etl. Ranonen gegen bie Gemeinde
Laufen gezogen wäre”.
Nachdem der Statthalter in den Rompromiß mit bem
Gemeinderat eingetreten war und eine bezügliche Erklärung
abgegeben batte, verließ er mit feinem geiftlichen Begleiter
die Gemeinde und begab fid) auf ben Heimweg, vernahm aber
Ihon am Ende des Dorfes von einigen der S.'ſchen Ver-
wandten, daß fie um des Friedens willen geneigt feien, von
der Beerdigung auf dem Kirchhof abzuftehen, in der Hoff:
nung, bap ihnen ſolches jedoch feine Verantwortung auateben
werde. Am folgenden Morgen meldete ihm auch der zur
Sicherung ber Orbnung in Laufen zurüdgelaffene Harfchier,
daß ein freundfchaftliher Vergleich zwifchen dem Gemeinbe-
rat unb den S.'ſchen Verwandten zuftande gekommen fei
45
unb ber Leichnam an einem abgelegenen Orte in bie Erde
getan werde. Es brauchte einer fein Prophet zu fein, um
vorausjehen zu können, daß der Rompromiß mit dem Ge:
meinderat fo ausgehen werde.
On Laufen hatte man erreicht, was man wollte. So—
bald bie zwei Herren weg waren, in der Nacht vom GCams-
fag auf den Sonntag, 3./4. Juni, führten die drei Diegu
beftimmten Männer den Leichnam in einen entfernten Wald
„an den gleichen Ort, wo ſchon vor 37 Zahren ber Vater
des Unglüdlichen, ebenfalls Selbftmörder, begraben worden
war”. Begleitet wurde bie Fuhre von zehn 93emaffneten,
námlid):
Hans Jakob Sidubin, Hirt.
Hans Safob S idubin, Weber.
Jakob Kaiſer.
Jakob Madöðri, Broſis.
Hans Tſchudin, Schuhmacher.
Hans Tſchudin, Schauben Sohn.
Peter Genfer, jung.
Jakob Tſchudin, Schuhmacher.
Jakob Schaub von Furlen.
Jakob Madöri, Jakobs.
Vom Gemeinderat ging niemand mit.
Wie es bei dem Begraben im Walde zuging, darüber
wurde Schweigen beobachtet; nur einer der Bewaffneten,
Jakob Kaiſer, ſagte ſpäter im Verhör aus, „daß, während
ſie den Körper in die Grube gethan, ſeye deſſen Geiſt dem
Jakob Schaub erſchienen, welcher Ober- unb Untergewehr
ſogleich weggeworfen unb fid) unter bie verſammelte Mann-
ſchaft veritedt babe". Darüber, ob unb wie das Grab zu:
geldbüttet worden und wie ber Heimweg ber Mannfchaft
erfolgt fei, ſchweigt bie Gefchichte, fo weit fie fid aus ben
Alten belegen läßt. Wer batte überhaupt bie bewaffnete
Begleitung angeordnet und wozu? Don ben Q3emaffneten
46
fagten acht, fie feien vom Gemeinderat aufgefordert worden,
und zwei bemerften, „Daß die Shen Verwandten Dis:
fallá mit dem Gemeinderatb abgeredt ober denfelben be:
auftragt bätten”. Der Präfident Heinrih Tſchudin ſagte
aus, „Diefe Leute fepen als Wächter beim Verftorbenen ge-
wefen und bann vom Gemeinberatb aufgeboten worden, ben
Leichnam zur Erde zu begleiten; fie hätten nicht anders als
bewaffnet mitgeben wollen, weil e8 ebebem immer fo üblich
geweſen feye; der Vater ©., welcher fid) vor 37 Zahren
etbenft babe, fepe auf bie gleiche Art, mit bewaffneter
Mannfhaft, am gleichen Ort, wo jet der Sohn liege,
begraben worden. Der Gemeinderatb babe geglaubt,
weil e$ ebebefen [o üblich gemefen, fo jeye es je&t aud)
wieder Recht, unb babe es zugegeben”. Der Ort ber Ver:
Iharrung ftebt nirgends in den Alten. |
Bewachung und Begleitung geſchahen nicht etwa un:
entgeltlih, von den zehn Mann forderte jeder anfänglich
drei Nthl. Es erhielt aber jeder nur 1, Nthl., und zwar
von der Vogtei der S.'ſchen Großfinder; der Gemeinderat
hatte wohl befohlen, aber nicht bezahlt.
Unter dem Datum des 5. uni, alfo am Montag, be-
richtete der Statthalter den Behörden in Baſel über die
Verſammlung vom Samstag und den Ausweg, ben er darin
gefunden habe, daß er erklärt habe, es werde von der 23e-
erdigung auf dem Kirchhof nicht abgewichen, eg wäre denn,
daß die C.'[den Verwandten dies felbft fordern würden;
zugleich meldete er aud, er babe feithber vernommen,
baB die Shen Verwandten fid) verftanden hätten, den
Körper an einem abgelegenen Ort beerdigen zu laflen. Als
er am Schluffe feines Schreibens bie Hoffnung ausſprach,
na M. 9 G. $$. fein 93enebmen nicht mißbilligen
werden, ba die erhaltene Weifung gewiß ohne Militär-
gemalt nicht hätte in Vollgiehung gebracht werden fónnen",
war er einigermaßen im Srrtum, denn der Ratsbeichluß vom
7. Zuli lautete:
47
„Sol $. Statthalter das 93efremben M. $. G. $$.
bezeugt werden, daß er ben ibm gegebenen Auftrag
nicht in Vollziehung gefegt babe. Der Präfident unb
die Mitglieder des Gemeinberatb8 fowie der Schul:
meifter von Laufen follen anbero in Gewahrfam ge:
tiefen und tiber ihren Ungehorſam gegen einen obrigfeit-
[iden Befehl burd Herrn Statthalter befprochen
werden.”
Schon am 8. Zuni fehrieb der Statthalter an den Wohl:
weifen Herrn Bürgermeifter und die Hochgeachteten Herren,
„DaB Hochdero verebríid)em Befehl gemäß bie Gemeinde:
räthe und ber Schulmeifter fid am 9. Juni im Gewahrfam
in Baſel einfinden würden”. 3u feinem eigenen Benehmen
bei der Perfammlung in Laufen bemerft er: „Niemals
würde id) bie getbane fchließl. Erklärung gegeben haben,
wenn ich nicht geglaubt hätte, bap biefelbe in Ueber:
einftimmung mit der folgenden Stelle des Hochobrigfeitlichen
Schreibens ftühnde, nämlich „wir wollen alfo auch den Ver:
wandten des Verunglüdten überlaflen, deſſen Leichnam auf
dem Kirchhof in der Stille beerdigen zu lafen", — id)
meinte bierin die 3ulafjung der einzigen Ausnahme zu
finden, falls nehmlich bie Verwandten von ber Veerdigung
auf dem Kirchhof freywillig abiteben oder folche nicht be-
gehren würden. Denn id Tann Eurer Weisheit und
OX. Hochgeachteten Herren die Verficherung geben, daß id)
fonft gewiß nicht in diefe Abweichung der Hochobrigkeitlichen
Verfügung eingebilliget, fondern Hochdenfelben über die ob:
waltenden Umſtände berichtet haben würde.” Leber ben
Gemeinderat urteilt er, daß er fid) zwar nicht widerfpenftig
benommen, aber fid) feine Mühe gegeben hätte, die Behörden
zu unterflügen. Zwei Mitglieder bätten unvorfichtige
Aeußerungen getan, Jacob Schaffner, indem er zuerft, und
zwar in des Präfidenten Haus, vom Wafenmeifter fprach,
und Hans Safob Tſchudin, ber zum Harfchier Ludwig Senn
48
gefagt batte, es fepe noch gut gegangen, indem es fonft ein
Unglück bätte geben fónnen, weil fchon mehrere ein
Eomplott gemaht hätten, fid mit Gewehren zu be-
waffnen; aud) Sobann Schaffner, der Küfer, babe fid) durch
widerfpenftige Reden ausgezeichnet. Die Laufener bätten
fid bei ber Veerdigung ganz lächerlich benommen, indem bie
93egleitung aus 10 wohlbewaffneten Vürgern beftund, ohne
bie 2 oder 3, welche eigentlich fid) mit bem Gefchäft befaffen
mußten.
Die am 9. Zuni in Bafel zur Haft eingetroffenen Ge-
meinderäte wurden am felben Sage von Gyfendörffer, bem
Statthalter des Diftriktes Baſel, einem erften Verhör unter-
worfen und das Refultat desfelben, zugleich mit bem obigen
Schreiben Noerbels dem Rate vorgelegt. Der Ratsbefchluß
vom 10. uni ging dahin, daB Syafob Kaifer und oh.
Schaffner, der Küfer, ebenfalls in Gewahrfam zu feSen feien;
durch den Statthalter von Lieftal follte in Laufen und durch
Gyfendörffer bei den Gefangenen bie Namen der Bewaff—
nefen unb befonders derer, bie vom Komplott gefprochen
oder fonft widerfpenftige Reden geführt hatten, feftgeftellt,
aud) aufgeklärt werden, wer den Befehl zur Bewaffnung
gegeben babe, und warum diefer ohne Erlaubnis des Ctatt-
walter8 vom Gemeinberat geduldet worden fei.
Am 12. unb 13. Zuni wurden die adt Gefangenen von
Gpfendörffer zum zweiten Male und genauer verhört. Aus
diefem Verhoͤr und zugleich aus einem Bericht des Statt:
halters kennen wir die Namen der Teilnehmer an der be-
waffneten Geforte und miffen wir aud), baf die Leute vom
Gemeinderat aufgeboten waren. Dem Ilnterfuchungsrichter
Gyfendörffer war es augenfcheinlich nicht barum zu tun, ge-
nauere Kenntnis über bie Art unb den Ort der Verfcharrung
und bie dabei zutage getretene aberaläubifche Befinnung zu
befommen, dadurch hätte er bie Leute nur fopffdeu gemadit,
aud) fonnte es ja an bem vollaogenen ungefeglichen Akt nichts
mehr ändern; ihm war die Hauptfache bie Auflehnung gegen
49 4
bie obrigfeitfid)e Verfügung und fpeziel das fogenannte
Gomplott.
... Qo vernehmen wir außer ber Erfcheinung, bie ben Safob
Schaub (laut Safob Kaifers Ausfage C. 46) in Schreden
verfeßte, nichts über das Verhalten der andern und be-
fonders über deren laut mündlicher Tradition erfolgte und
pſychologiſch wahrſcheinliche Flucht. Nichts vernehmen wir
aud) über ben Karrendiebftahl in Sttingen, der dem Ver-
fafler vom alten Drechsler jo beftimmt erzählt worden war.
Es ift bier möglich, daß es fid) nicht um einen eigentlichen
Diebftahl handelte, fondern um ein unerlaubtes Entlehnen,
fo daß man den Karren wieder freiwillig zurüdzugeben die
Abficht batte unb ben Vefiger in irgend einer Weife fo be-
Ihwichtigen fonnte, baB er eine Klage unterlieB, um der
Sache ber Landleute nicht zu fchaden.
Der müßte bie Bauern ſchlecht fennen, nicht nur bie
des Baſelbiets, ber glauben wollte, baB ba bei einer Inter:
fud)ung, die das ganze Dorf betrifft, viel heraustommen
würde. Co viel aud) in einem Dorf zwifchen Einzelnen und
Familien geftritten und progeffiert wird, fo ift gleich alles
einig, wenn fid) das ganze Dorf gefchädigt ober angegriffen
fühlt. Niemand will fpäter durch fein Zeugnis behaftet
werden fónnen und als Angeber gelten, und jeder gibt fo un-
beftimmte Antworten als es ibm möglich iff, wenn er nicht
vorzieht, zu jagen, daß er nichts wife ober fid) nicht erinnere.
Co wird e8 aus ben Ulten nicht einmal völlig be-
miejen, ob der Gemeinderat bie Bewaffnung befchloffen oder
fie nur gutgehbeißen babe, nachdem einzelne ihre Zlinten
bervorgeholt haften. Der Präfident Tfchudin glaubte, einer
Erlaubnis zu bewaffneter Zegleitung vom Statthalter nicht
zu bedürfen, „weil es ebbem immer fo üblich war”. Die,
welche gegen die Beerdigung auf dem Kirchhof gefprochen
hatten, hatten dies entweder gleid) am Anfang getan, bem
Bezirksfchreiber gegenüber, oder wenigftens ehe die ftrenge
obrigfeitfide Weifung eingetroffen war; unvorfichtige Ge-
meinderäte wollten ihre Aeußerungen privatim getan haben;
einzelne Bürger gaben ihren Widerftand zu, hatten ibn aber
in der Gemeindeverfammlung geltend gemacht, zu der fie
aufgeboten waren und wo, follte man denken, man nod) reden
und feine Meinung fagen dürfe.
Vom fogenannten Romplott wollte erit recht niemand
etwas DBeftimmtes willen, auch nicht bie be[onber8 ver:
bddjfigen Kaifer und Küfer Schaffner. Der Gemeinderat
Hans Adam Tſchudin gab zu, „nach befchebener 93eerbigung
fepe biefe Rede bald bier, bald dort gegangen, von Männern
unb Weibern, er wifle aber nicht, ob wirklich ein folches
Gomplott eriftiert babe, er babe biefe allgemein ergangene
Rede blos als folhe wieder bem Harfchier Senn erzählt,
..... er verfichere, daß er Weiteres darum nicht iffe". Und
der Präfident fagte aus, „es fet wohl fo ein Gemurmel von
Complott im Dorf gewefen, aber er wiſſe nicht, ob ein folches
beftanden habe, e8 fepe ein Weibergefhwäg gewefen, über-
baupt fepe damals die ganze Gemeinde in Rumor gewejen,
Männer, Weiber und Kinder”.
Man wird nicht weit nad) dem Komplott fuchen müffen,
wenn es auch der Unterfuchung nicht gelang, einzelne des
felben zu überführen, denn in Wirklichkeit hatte das ganze
Dorf im Komplott geftanben. Gegen wen hatte man fid) be-
waffnet? Doch gewiß nicht gegen ben verwefenden Gr:
bängten! — alfo gegen die oberen Behörden, ben GCiatt-
halter, wenn er fid)'8 etwa einfallen ließ, der Familie durch
Harfchiere bei der Veerdigung auf dem Kirchhof helfen zu
(affen, oder auch gegen ein militärifches Aufgebot, wenn die
Regierung ihren Willen mit größerer Gewalt durchfeßen
wollte. Hinter den zehn erften Bewaffneten wären in biefem
Zalle, aud) ohne befonderes Aufgebot, alle waffenfähigen
Männer, vielleicht fogar bie Weiber geftanden unb die ganze
Aktion hätte am Gemeinderat, dem Schullehrer und ber
ganzen Bevölkerung, ber öÖffentlihen Meinung, wie man
je6t jagen würde, einen Rüdhalt gehabt.
51 4*
Am 12. Juni berichtete Statthalter Noerbel bem Rat
über das Ergebnis feiner weiteren Unterfuchung in Laufen.
Es bedt fid) mit dem, was Gyfendörffer bei den Gefangenen
in 93afel erfahren batte. In ber Ratsfigung vom 14. Syuni
wurde über bie Sache verhandelt. Dabei fam der beftebenbe
Aberglaube, wie er in den offenen Belenntniffen von Job.
Schaffner und Jakob Kaifer zutage getreten war, zur
Sprache, und aud) bie Geſchichte des Schaub, bem beim Ver:
lochen S.'s deſſen Geiſt fo deutlich erídbienen war, daß er
Slinte und Säbel wegwarf unb fid unter der Mannfchaft
verftedte.
Es iff nun wahrfheinlih, bap in diefer Sigung bie
Herren des Rats mehreres über bie Verfcharrung unb mas
fid) dabei ereignet batte, wußten, al8 was ihnen durch bie
IInterfuchungsaften geboten wurde. Die durch mündliche
Sleberlieferung — befannte Zürfprahe des neugewählten
Pfarrers, an der gar nicht zu zweifeln ijt, wird wohl in die
Sage kurz vor der Situng gefallen fein. Jedenfalls war der
Rat jest plöglich zur Milde geftimmt; auch das „Complott“
Scheint er nicht mehr ernft genommen zu haben. Der gefaßte
Ratsbeichluß Tautet:
„Sollen die Mitglieder des Gemeinberatb$ und ber
Schulmeifter gegen Bezahlung der Roften der Haft entlafien
und ihnen für ihr Benehmen M. $. ©. $$. Mißfallen
bezeugt werden. Jakob Schaffner aber foll wegen feiner
9feuperungen von der Gemeinderathsftelle entje&t und Johann
Schaffner, der Küfer, unb Sob. Raifer noch bis zum nächſten
Otatbstag mit GefüngniBbaft beftraft werden. Die zehn
Mann, welche den Sarg des ©. bewaffnet begleitet, follen
die erhaltene Belohnung in ben Armenfedel der Gemeinde
zurüdgeben. Endlich follen diefe Alten bem U. 93. Herrn
Antiftes zugeftellt werden, um wegen bem herrichenden Uber:
glauben burd) den Herrn Geiftlichen bie angemeflenen Be:
lehrungen ertheilen laſſen.“
Hier ſchließen bie amtlichen Alten. Der Präfident, die
52
Gemeinderäte unb ber Lehrer febrten, nachdem fie vom 9. bis
12. Zuni gefeflen hatten, in bie Heimat, unb, mit Ausnahme
des Sob. Schaffner, aud) in ihre amtlihe Stellung zurüd;
bet Schulmeifter Rolli, der neben der Kirche beim Gottes:
ader wohnte, fonte ruhig fchlafen, ohne zu riskieren, etwa
burd) das Herummwandeln des verjtorbenen Schmieds et-
fchredt zu werden. Jakob Schaffner, ber aus dem Gemeinde:
tat ausfheiden mußte, Johannes Schaffner, der füfer, und
Jakob Kaifer, welche nod) einige Sage gefangen blieben,
hatten nad) unferem Gefühl eigentlich feine ftrengere Strafe
verdient als die andern, hatten fie bod) nur, aufrichtiger als
biefe, Anfichten ausgefprochen, bie bie ganze Bevölkerung
teilte, unb fid) frei zu bem allgemein berrichenden Glauben
an Erfcheinung und Serummanbeln (Wandeln) von Geiftern
Berftorbener befannt. Es ijt [jon größeren Belennern nicht
befier ergangen!
Zur Gtürfung des obrigfeitliden Anfehens mag die
ganze Geihichte nicht gedient haben. Es war miflid), daß
der Statthalter am erften Tag nicht felbft da mar; er hätte
gleid unb febr energifch eingreifen müflen. Als er, an-
gelpornt durch den Tadel des Rats, fefbft erfchien, fand er
das Dorf in Aufruhr und zum äußerften Widerftand bereit.
Da e8 ibm an Machtmitteln und aud) an Zeit fehlte, war er
dann zum Paktieren genötigt; von diefem Augenblid an
hatten bie Laufener gewonnenes Spiel und konnten ohne
Aufſchub ihren Willen durchſetzen.
Schließlid wird der Gemeinderat Hans Adam Tſchudin
wohl recht gehabt haben mit feinem Ausſpruch: „es fei nod)
gut gegangen, indem es fonft ein Unglüd hätte geben können”.
Reifeftiszen von Eduard Genaſt.
Bafel 1865.
Mitgeteilt von Prof. Dr. Hans Merisn-Benaft
in Sran?furt a. Mein.
Sm Sabre 1866 ftarb zu Wiesbaden im Haufe feiner
Tochter Doris, der Gattin des Komponiften Soadjim Raff,
das Ehrenmitglied des Weimarer Hoftheaters, der ehemalige
Hoffhaufpieler Eduard Genaft.
„Eduard Genaft, von der Natur begünftigt, durch Fleiß
und Hebung gefördert, nehme die beiten Wünfche zum Geleit
auf feine Runftreife”, fo batte im Sabre 1817 G oetbe bem
Oüngling in ein Bändchen feiner Gedichte gefchrieben.
Und mit der Zeit war ein tüchtiger Stünitler aus ibm ge-
worden, der den Don Juan gefungen und den Wallenftein
gefpielt, den Schillerfhen und Roffini’fhen Tell ver-
fórpert bat. Unter Goethe war ber Vater Anton Genaft
Regifleur gemejen, und deflen Erinnerungen an die große
Seit bilden den wertvollften Zeil des „Tagebuchs eines alten
Cdaujpielers", das Eduard nad) feinem Rüdtritt von der
Bühne veröffentlicht bat. Diefe Aufzeichnungen machen
aud) heute nod) das Tagebuch zu einer wichtigen Quelle
für alle, bie fid) mit Goethes Theaterleitung befchäftigen.
Natürlich find fie hiftorifch nicht einwandfrei; und es ift et-
beiternd zu beobachten, wie das faft alle Theaterhiſtoriker
etwas von oben herab verfichern, um dann die Erinnerungen
bod) recht gründlich auszufchöpfen.
Bon biejem Tagebuch bat Rob. Kohlrauſch im Verlag
von Luß in Stuttgart (Memoirenbibl. II. Ser. Bd. 5) zum
Borteil der Wirkung eine verkürzte Ausgabe veranftaltet.
So ift das Tiebenswürdige Q3ud) in weitere Kreife ge-
94
brungen; es hält fid) von ber fonft oft unangenehm bervor:
tretenden Eitelkeit der Schaufpielererinnerungen frei und
führt uns in bie bedeutendften Epochen des Weimarer
Theaters ein.
Genaft batte ein Jahr vor feinem Tode feine jüngfte
Tochter Emilie befucht, die, al8 Ronzertfängerin in den
fünfziger Jahren gefchäßt, feit 1863 an den Dr. jur. Emil
Merian in Baſel verheiratet war. Die Aufnahme, bie bem
alten Herrn in dem angeregten Rreife des Paares Merian:
Genaft zuteil wurde, erfreute ihn febr. In diefer Stim-
mung bat er zur Feder gegriffen und ben begeifterten Lob-
preis niedergefchrieben, ben wir hiermit zum Abdruck bringen.
Dat aud) an den alten Genaft nod) Erinnerungen in
Baſel lebendig find, bewies mir vor nicht langer Seit ein
Gefpräh mit einer geiffig ebenfo angeregten wie Tiebens-
würdigen Freundin meiner Eltern aus jener Zeit, bie mit
einer erftaunlichen Kraft des Gedächtniſſes bie auch ihr
unvergeßlichen Sage vor mir aufleben ließ. Don jener
Sreundesgeneration mögen nur noch wenige unter Den
Lebenden fein; aber vielleicht bieten ihren Nachkommen unb
ebenfo den Freunden des Basler Runftlebens die folgenden
Genaſt'ſchen Aufzeihnungen einiges Sntereflante.
An bem breiten, etwas altväterifh blumigen Stil iit
nichts geändert, ebenfowenig an dem uns heute ein Lächeln
erwedenden Urteil, das Schöpfungen eines Brahms hinter
folhe von Rubinftein und Raff ftelt und für Kirchners
Albumblätter mehr anerfennenbe Worte findet als für bie
fammermuft£ des großen Hamburger OXeifters. Man darf
eben nicht vergeflen, baB Genaft, ber mit Liszt zufammen
ben Lohengrin zum eritenmal auf bie Bühne gebracht bat,
einer ber wenigen war, bie [don in den fünfziger Sahren
vol echter 93egeifferung für bie ,neubeut(d)e" Mufifrichtung
eintraten. So erklärt fid) die 93efangenbeit des Arteils
gegenüber der ftreng formalen Mufil eines Brahms.
55
Genaft’s Bericht lautet:
„Es war im Sabre 1842, wo ich, aus der innern Schweiz
gurüdfebrenb, in bie engen Gaffen der alten Bifchofsftadt
Bafel einfubr. Ein ftarfer Nebel umbüllte die ganze
Gegend, unb von bem romantifchen Jura-Gebirge unb feinem
Gegenüber, dem Schwarzwald, war nicht ein Umriß zu er-
bliden. Es war eine traurige Umgebung. Weder Klein-
Baſel noch der Rhein fam uns zu Gefiht. Nur ein grauer
Mantel, ber fid) endlich in einen Sprühregen auflöfte, um-
gab alles, unb froh febrte id) nach wenigen Stunden biefem
Stieffind der Schweiz, für welches ich das Stüdchen Erde
damals hielt, den Rüden. Ich fuhr mit Dampf gen
Straßburg.
Damals gab e8 nur ein funfenfprühendes Roß, das
auf eifernem Geleis den Wanderer von Helvetiens Grenzen
über franzöfifchen Boden nah Deutfchland führte, jest
gibt es deren genug, bie ben Reifeluftigen nad) allen
Himmelsgegenden in das Wunderland unb aus ibm tragen.
Greilid) wird durch ſolche 93efürberung viel Zeit gewonnen,
aber die Gemütlichkeit, bie Poefie des Reifelebens geht
Dabei verloren. Man eilt und eilt, um nur fo fdnell als
möglich bie Schneeberge mit ihren Gletfchern in Sicht zu
befommen, fid) auf ben romantifchen und idyllifchen Seen
zu Ichaufeln, und glaubt alles Schöne und Sehenswerte ber
Schweiz in fid) aufgenommen zu haben, menn mam. bie
erfteren erftiegen, bie leßteren befahren bat.
Gteilid) find es Wunderblumen, die das Auge entzüden
und das Herz erheben. Uber warum das Veilchen am Wege
beifeite liegen laflen, den Kelch ber Lilie nicht näher be-
trachten, den beraufchenden Duft der Rofe nicht genießen?
Zu ſolchen Ylumen gehört zweifellos Bafel mit feinen
blühenden Tälern, duftenden Höhen und erfrifchenden
Wäldern. Hier fann man mit Schiller fagen: „Und wie ein
Garten i Das Land zu fdjauen."
Die meiften Reifenden begnügen fi, das herrliche
96
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Panorama von ber Münferterraffe aus zu be:
trachten. Hier fieht man in großer Ausdehnung die grünen
Wellen des Rheins in ftürmifcher Eile dahinraufchen, Klein:
93afel mit feinen großartigen Fabrifgebäuden, umgeben von
sefhmadvollen Parkanlagen, aus denen fid) die prachtvollen
Landfige des Reichtums erheben. Weiter weilt das Auge
auf üppigen Saatfeldern und Weingärten, deren faftgrüne
Blätter aud) die nächften Höhen ſchmücken. Hinter ihnen
erhebt fid) der mächtige Schwarzwald, der gleich einem Vater
die zu feinen Füßen rubenben Kinder des Bacchus vor den
rauhen Winden des Nordens zu [dien fucht.
Hat ber Reifende diefes entzüdende Bild, das nod) in
feinem Innern [o viele einzelne Schönheiten befißt, in fid)
aufgenommen, das etbabene Münfter mit feinen Rreuz-
gängen und Altertümern, das Mufeum mit feinen Runft-
ſchätzen betrachtet, fo glaubt er ein glänzendes Bild von
Stadt und Land gewonnen zu Daben und eilt fo ſchnell als
möglich in bie Berge, deren Häupter mit ewigem Schnee
bebedt find.
Co ergeht es vielen und würde es auch mir ergangen
fein, hätten nicht Gamilienbanbe mid) auf längere Zeit an
Baſel gefeflelt. (rft im Jahre 1865 wurde mir Gelegenheit,
die ganze Blütenpracht diefes Gartens zu fchauen.
Man nennt 23ajel eine der reichften Städte in ber
Handelswelt,; manche fügen aber hinzu, daß ein ungemeflener
Geldftolz dort berrfche, der jeden Gremben unbequem an-
webe, ber bie fchönen Künfte nur als unnüge Spielerei be-
trachte unb bie Wiſſenſchaft nur infofern gelten laſſe, foweit
fie bem Handel unb der Snbuffrie förderlich fei. Wohl mag
es aud) bier wie in jeder großen Handelsftadt folche Käuze
geben, bie fid) aus ihren Geldfäden einen Thron erbauen
und von ibm mit aufgeblafenen 93aden und bimmelanftür-
menden Naſen auf bie herabbliden, bie weniger Millionen
befigen. Doch mögen fie febr vereinzelt bafteben..
Die Familien, die id) bie Ehre gehabt habe fennen zu
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lernen und die man aud) zu ben Millionären zählt, find nicht
folher Natur. In diefen Streifen. fühlt man fid bald
heimifh. Humanität und ungeldminfte Gaftfreundfchaft,
nid Hochmut und Geldftolz walten bier; bald fühlt fid) der
Grembe nicht mehr beengt von den prachtvollen Räumen, in
denen fid) die Ilnterhaltung um Kunft, Wiflenfchaft unb
interefiante Tagesneuigkeiten dreht, Frohſinn und Heiter—
feit wie ein guter Genius waltet.
Co verlebt nad) des Tages Laft und Mühen der reiche,
gebildete 93afeler feinen Abend. Sich und andern weiß er
das Leben angenehm zu machen; und man bedauert beim
Aufbruch nur, baB bie genußreichen Stunden, bie das Herz
erwärmt und den Geift erfrifcht, fo fchnell entfloben find.
Wenden wir uns nun zur Runft, zunähft der mufi-
falifden.
Als id) vor 23 Zahren zum erftenmal bie Schweiz
befuchte, lernte id) außer ihren Naturwundern teilweife aud)
bie dortigen mufikalifchen Zuftände fennen. Es war ein
Kind, das nod) in der Wiege lag. Jetzt aber, nachdem id)
am 16. Suni einer großartigen Aufführung ber
Mattbäi-Paffion im Münfter beigewohnt batte,
konnte ich mich Überzeugen, baB das Kind zu einer fchönen,
gebildeten Sungfrau berangeblüht war.
Ein waderr Mann, Kapellmeifter Reiter!) ftebt
feit 25 Sabren an der Spige ber mufifalifchen KRunftpflege.
Seinem Perdienft, wie mir allgemein gefagt wurde, ijt es
bauptfächlich zuzufchreiben, daß der Geſchmack ber Baſeler
für das wahre Schöne eine [o hohe Stufe erreicht hat. Inter
feiner Leitung ift ein Enfemble entitanben, das man zu ben
beiten in ber Muſikwelt zählen darf, wenn man bedenkt, mit
welchen geringen Mitteln er e8 anfänglich ins Leben gerufen.
Reiters Ruf als Virtuos unb Romponift war uns
bereits befannt. Dei diefer Gelegenheit follte ich ihn als
1 Ernſt Reiter. geb. 1814 in Wertheim a. Main, jeit 1841 in
Baſel, wo er 1875 ſtarb. |
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einen ausgezeichneten Dirigenten fchägen lernen. Da mir
vergönnt war, mehreren Proben beizumohnen, überzeugte id)
mich perfönlich, mit welcher Umſicht, mit welcher poetifch-
dramatischen Auffaflung Reiter das Riefenwert leitete. Alle
Gürbungen, an denen Bach, namentlich in diefer fom-
pofition, fo reich ift, Schatten und Licht, befonders in den
Chorälen, wußte er zur Geltung zu bringen. Nur felten
babe id) in Maflen Pianos und Zortes, das An- und Ab—
fhwellen der Tanggezogenen Töne fo trefflih ausführen
bören. Das Orchefter beffanb aus etwa hundert Mufikern,
bie zum Seil aus ber inneren Schweiz Derbeigefommen
waren. Ausgezeichnete einheimifhe und fremde Kräfte
waren barunter. Den Orgelpart batte der geniale
Kirchner?) aus Winterthur übernommen und führte ihn
mit vollendeter Meifterfhaft aus. Unwillkürlich mußte ich
bei ben gewaltigen Tönen an bie Worte Goethes benfen:
„Wenn’s vom Gewölbe niederfhallt, Fühlt man erft recht
des Baſſes Grundgewalt.“
Der Chor beſtand aus etwa 250 Perſonen, zumeift
Dilettanten, doch bewährten ſie ſich als Künſtler, und
mancher großen Oper wäre ſolcher Chor zu wünſchen.
Für die Partie des Chriſtus batte man Stock—
baufen,?) für die des Gpangeliften Gdneiber*) aus
Rotterdamm gewonnen.
Grau Merian:-Genaf,?) die fh aus bem
Künftlerftande feit einigen Zahren ins Privatleben zurüd-
gezogen, hatte bie Sopranpartie übernommen, desgleichen
Sräulein Rüttimann,?) eine wadere junge Klavier:
2) Theodor Kirchner geb. 1823 im Kar. Sachſen, geft. 1908 in
Hamburg, war von 1843—62 in Winterthur, dann in Zürich tätig.
5) Der große Cangesmeijter ultus Stodhaufen, geb. 1826 in
fBaris, damals in Hamburg, geit. 1906 in Frankfurt a. M.
4) Karl Schneider, geb. 1822 in Strehlen, feit 1872 in Köln, dort
geit. 1882, ein berühmter Vertreter der Partie des Evangelien.
5) Emile Merian-Genajt geb. 1833, geft. 1905 in Weimar.
sr, Beide Künftler find vielen Baslern nod) wohlbelannt.
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ipielerin, und eine mir unbefannte Dame bie des Alt, die
Herren Gglinger?) und Kern?) bie des Senor und
93aB. Cümtíid) mit Hangvoll fchönen Stimmen begabt,
führten fie ihre Parts nicht dilettantifch, fonbetn Fünft-
lerifch aus.
G3 war ein wirklicher Hochgenuß, und Reiter bat fid)
durch biefe alanzpolle Aufführung, an der nicht ein Jota
fehlte und die ung ein vollendetes Tongemälde des unfterb-
lihen 93ad) gab, ein großes Verdienft erworben. Er bat ba-
durch dokumentiert, daß er nicht nur ein tüchtiger, feiner
Muſiker iff, fonbern aud) als Dirigent zu ben Aus-
erwählten gehört.
Bei diefer Gelegenheit war es, wo id) Gtodbaufen
zum erftenmal al$ Sänger fennen lernte; und obwohl fid
fein Ruf als eines einzig baftebenben Künftlers feit einer
langen Reihe von Jahren über Europa verbreitet, fo wurden
meine Erwartungen bod) weit übertroffen. Man muB ihn
hören, um ein Urteil über feine Meifterfchaft zu gewinnen,
um fid) zu überzeugen, baB er das Höchfte leiftet, was in ber
Gefanastunft geleiftet werden fann. Golden Tonanfchlag,
der ung gleich einem warmen Frühlingshauch antoebt, folche
Bildung und Beherrſchung des Atems, fold) edlen Vortrag,
welcher die ffeinfte muſikaliſche Phrafe obne alle Effekt—
bafcherei zur Geltung zu bringen weiß, babe id) von einem
Sänger noch nie gehört.
Man fagt, bap biefer Meifter in Hamburg eine Ge-
fangsf&hule errichten wird; und wahrlich bie Zünger,
die fid) feiner Leitung widmen werden, fónnen feinen befferen
Lehrer noch befieres Vorbild finden.
Außer dem Part des Chriftus hatte Stodhaufen nod)
einige Baß-Soli übernommen, unter anderen bie Urie „Am
Abend, wo es fühle war”. Hier entfaltete er den ganzen
Reichtum feiner Meikterfchaft. Kurz, er gehört zu jenen
8) Herr Eduard Kern-Werthemann, ein um feiner außergewöhn-
lihen Stimmittel willen jehr gejd)übtes Mitglied des Gejangvereins.
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Kometen, die, wenn fie am Himmel der muſikaliſchen Kunſt
erfcheinen, die andern Sternbilder verbunteln.
Schneider, der fid) (don feit längerer Zeit den Ruf
eines ausgezeichneten Kirchenfängers erworben bat und
defien Mitwirkung man überall, wo diefes erhabene Wert
zur Aufführung gebracht werden fol, zu erlangen ſucht, führte
ben Part des Evanaeliften trefflich aus. Seine nod) immer
fhöne, klangvolle Stimme, bie ihm erlaubt, bie böchiten
Korden mit Leichtigkeit anzufchlagen, fein deklamatorifcher
Vortrag mit deutlicher Ausfprache, bie jedes Teertbuch ent:
behrlih macht, feine mufifalifhe Bildung und Sicherheit
waren mächtige Stüten feiner gelungenen Leiftung.. Nur
fand ih, daß er fid) bei einigen Stellen von feinem Gefühl
zu weit fortreißen ließ. Der Evangelift ift eine ergáblenbe
unb feine bandelnde Perfon, barum darf er feiner Gmp-
findung nicht fo viel Raum geben, daß fie in Tränen aus:
bricht; und das tat Schneider bei ben Worten „und weinete
bitterfid)". Das find Theatereffelte, bie nicht in bie Kirche
gehören; felbft auf ber Bühne find fie bei einer erzählenden
Derfon nidt am Plate. Ich erinnere mich eines Schau:
fpielers, der als fchwedifcher Hauptmann im Wallenftein
feinen Beriht über Marens Tod vorfchluchzte. Was bleibt
dann der armen Thekla nod) übrig? Der Künftler muß ftets
bie Situation im Auge haben und das Zuviel und Zuwenig
zu vermeiden fuchen.
Die andern Soliften fchloffen fid) den beiden Genannten
würdig an, und das Ganze bildete ein Enjemble, wie man
es nicht Leicht befler hören fann.
Aber nicht nur die in allen Teilen gelungene Aufführung
bieler erbabenen Schöpfung war e$, bie fo gewaltig auf mid)
wirkte, der mächtige Dom, in ber fie ftattfanb, trug vieles
dazu bei, meine Stimmung auf das Höchfte zu fteigern. Die
heiligen Räume waren zu diefem Zwec feftfid) geordnet.
Aus bem Mittelichiff der Kirche erhob fid) eine mit Blumen
und Kränzen reich gefchmücdte Eftrade, bie fid ampbi-
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theatralifh bis an bie Emporkirche erftredte. Auf diefer
Eftrade nahmen bie Sänger unb OXufifer ihre Plätze. Ob-
gleich bie untergebenbe Sonne ihre Strahlen noch durch bie
oberen bunten Senfterfcheiben warf, fo waren bod) bie unteren
Räume, bie mit Hunderten von OXen[den gefüllt waren,
bereits mit Lampenlicht erleuchtet. Das zweierlei Licht tat
dem Auge nicht web, vielmehr geftaltete fid) dag Ganze zu
einem magifhen Bild. Die große Unruhe, bie vor dem
Beginn berrfchte, Tieß befürchten, baB der erwartete mufi-
falifche Genuß nicht ungetrübt vorübergeben würde, da das
Publikum faft aus allen Schichten der Gefellichaft beftanb.
Aber eine heilige Sabbatftille verbreitete fid) über die unab-
febbare Menge, als bie erften Töne etfíangen, und dieſe
andachtspolle Aufmerkfamkeit, die beinahe drei Stunden in
Anfpruch genommen wurde, bielt an bis zur letzten Note.
Das war mir das befte Zeugnis dafür, wie anders fid) bie
muſikaliſchen Zuftände in der Schweiz geftaltet und wie fid)
der Geſchmack für das Edle und Schöne felbft bei den Laien
ausgebildet batte. Mit wahrer Erbauung und Dober Be:
friedigung verließ ich den Tempel Gottes.
Tags darauf fand im Saal des Winter-Cafinos
eine mufiltalifhe Abendunterbaltung ftatt, bie
mehr einer Smpropifation glid. Da fein beftimmtes Pro:
. gramm entworfen war, fo begnügte man fid), bie Produktionen
mündlich anzuzeigen. Auch war das Ganze nicht für bie
Deffentlichkeit, fondern für bie Mitglieder des Vereins be-
ftimmt und nur anmejenben Fremden war der Zutritt erlaubt.
Den Reigen eröffnete ein neues Klavier-Ouartett von
23rab m3. Robert Schumann fagte einft — wenn id
nicht irre, in der Brendel'ſchen Mufilzeitung — Brahms
fei das bedeutendfte Talent der Neuzeit, denn alle feine
Schöpfungen wären genial. Dem möchte ich nun nicht fo un-
bedingt beiftimmen. Obgleich bie genannte Rompofition viel
Schäßenswertes und Schönes enthält, jo ftebt fie bod) hinter
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ben Werken, bie Joachim Raff unb Anton Rubinftein auf
diefem Gebiete gefchaffen, zurüd, und diefe gehören aud) ber
Neuzeit an.
Die Ausführung war vortrefflich zu nennen. Die Ge:
brüber Friedrich?) und Emil!) Hegar, beide ge
borene Bafeler, von denen ber erfte gegenwärtig als Konzert: —
meifter in Zürich angeftellt iff, der andere in Hamburg lebt,
bewährten fid) als Meifter ihrer Inftrumente (Geige und
Cello). Herr Abel,!!) Mitglied des DBafeler Orchefters,
der in ber Matthäi-Paffion das Piolinfolo ganz aus:
gezeichnet vorgetragen, hatte bier die Bratichen-Stimme
übernommen unb zeigte fid) aud) darin als Virtuos. Brahms
felbft führte den Klavierpart vortrefflich aus; wenn man ihn
aud) nicht zu ben Korpphäen diefes nftrumentes zählen
fann, fo gehört er bod) gewiß zu ben Schäßenswerteften. Das
Ganze war ein 93ilb. mufilalifcher Schönheit.
Ihm folgte Schumanns „Spanifheg Lieder-
fpiel", von ben Damen Merian unb Rüttimann,
den Herren Schneider unb Gtodbaujen vorgetragen.
Kirchner hatte das AUccompagnement übernommen, wobei
er befundete, daß er ebenfo meilterbaft das Klavier beberrfcht
wie bie Orgel. Sd) möchte bieje Rompofition Schumanns, in
der fid) Scherz und Ernft vereint, und deren Ausführung als
den Gíangpunft des Abends bezeichnen. Die fchönen, ſym⸗
pathifhen Stimmen, verbunden mit Fünftlerifhem Vortrag,
wobei Schatten und Licht auf das ftrengfte beobachtet wurden,
fhufen das Ganze zu einem dramatifhen S&ongemálbe um.
Wenn es fo ausgeführt wird, muß biefem genialen Werke
überall der ungeteiltefte Beifall werden.
Ein zweites Quartett von Brahms wurde
aufgeführt, an der Stelle des ftomponiften batte Kirchner
ben Klavierpart übernommen, moburd) das Snterefje an der
gelungenen fompofttion noch gefteigert wurde.
9) Geb. 1841, bereits 1865 Dirigent in Zürich.
10) Geb, 1843, [eit 1866 längere Seit in Leipzig tätig.
11) Ludwig bel, geb. 1834 in Thüringen, geft. 1895 in Münden.
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Am Schluß gab uns fitdner nod) einige feiner
nutfifatifen Albumblätter zum Veften. Obgleich nur
Gragmente, möchte id) fie bod) Heine Erzählungen ohne
Namen nennen oder mit Blitzen bezeichnen, bie eine eleftrifche
Wirkung auf ung ausüben, ba ein genialer Gedanke ben
andern jagt. Man wußte wahrlich nicht, ob man dem Rom:
poniften oder bem trefflichen Virtuoſen mehr Beifall fpenben
follte.
So ſchloſſen bie beiden mufilalifchen Abende, bie mir
unvergehlich bleiben werden. Nach diefen geiftigen Genüflen
verfammelte man fid in dem Lolal des Sommer-
Cafinos, vor bem Aeſchentor dicht neben dem Denkmal
von St. Safob gelegen. Ehe man fid) zur Tafel febte, ge:
noß man ben berrlichen Abend im Grein. Damen und
Herren, bie wohl faft ale Mitwirkende in der Matthäi-
Paffion gewefen waren, durchwandelten bie Räume der
teigenben Parfanlage.. Die Sonne felbft [dien zu zögern,
den fröhlichen Gruppen gute Nacht zu jagen, ehe fie hinter
den blauen Bergen der Vogeſen verfehwand.
Manche fchätenswerte und intereffante Bekanntſchaft
wurde mir bei diefer Gelegenheit zuteil. Das Gefpräh
drehte fid) hauptfählih um alte und neuere OXtufif; ich war
nif wenig erftaunt, felbft unter einigen jungen Damen
große Verehrerinnen des alten 93ad) zu finden. Froͤhlich
faß man bei Tiſche; geiftreihe und humoriſtiſche Toaſte
würzten die wohlfchmedenden Speifen, und den Schlußftein
des Ganzen bildete ein improvifiertes Tänzchen, an dem fid
die junge Welt erfreute.
Ehe id) das Gebiet der Tonkunft verlaffe, muß id) nod)
Reiters Gattin gedenken, in ber id) eine ber treff-
[iften Harfeniftinnen fennen lernte. (ie war fo
freundlich, bei einem Heinen Abendzirkel in ihrem Haufe
unfern Bitten nachzugeben und einige Piecen vorzutragen.
Einen fo wobltuenben Tonanſchlag, verbunden. mit einer
immenfen Technik, bie alle Schwierigkeiten überwindet, einen
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fo reinen Sriller, der fid) ganz gleichmäßig zwilchen zwei
Tönen bewegt unb fid) bis zur höchiten Schnelligkeit fteigert,
babe id) nur bei den erften Meiftern diefes Inftrumentes
gehört. Vor allem aber find der gefühlvolle Vortrag, der
uns in das Land der Poefie führt, unb bie Sicherheit, mit
ber Grau Reiter ihr Inſtrument beberricht, Vorzüge, bie
man felten vereinigt findet. Auch biefer Abend wird mir
unvergeßlich bleiben.”
Genaft weift bann noch auf „die trefflihen Winter-
tonzerte bin, deren Dirigent Reiter ift und zu denen
tüchtige Kräfte aus QGranfreid) berbeigegogen werden; fie
geben bie befte Anregung. Das Snftitut befteht feit langen
Fahren und bewährt fid) immer mehr.”
Kurz ftreift er bann bie Verdienfte, bie fid) „Der Reich-
tum Baſels“ um bie Förderung ber bildenden Runft
erworben bat, unb nennt unter ben vielen wertvollen Vildern,
bie man in Privatfammlungen finde, Calames „Am
Vierwaldftätter See" aus bem Beſitz des Herrn Peter
Viſcher-Burckhardt, „eine Landfchaft, bie er zu ben
Ihönften Schöpfungen diefes Meifters zählen möchte”.
Daß ber alte Weimarer Schaufpieler an der Pflege der
dramatifhen Kunſt im damaligen Baſel manches
auszufegen bat, iit begreiflihd. Genaft nennt als einen der
Gründe für das Darniederliegen des Schaufpiels dag geringe
Onterefje der führenden Basler Kreife, bie „nach Paris
reifen, um fid) an Oper, Ballet und Schaufpiel zu ergößen“.
Daflir könne freilich in 93afe( fein. Grfa& geboten werden.
God) fdieBt ber Neftor der Weimarer Bühne mit bem
Ausdrud der Hoffnung, daß man „auch für bie Dramatifche
Kunſt ein Snftitut in Bafel fchaffen werde, das der reichen
Stadt und ihrer Bewohner würdig fei."
Er fährt dann fort: „Wende ich mich nun wieder zur
Natur, fo fehwelgt mein Herz nod) je6t in der Erinnerung
65 b
an al bie fdjónen Punkte, bie Baſel wie ein Blütenkranz
umgeben. Diefe etwas näher ins Auge zu faflen und davon
eine wenn auch nur unvolllommene Skizze zu entwerfen, fei
nun meine Aufgabe. Der freundliche Lefer fürchte aber
nicht, daß ich ibn an Orte führe, bie in jedem Reifehandbuch
zu finden find; ich führe ihn zu jenen verborgenen Veilchen,
die Seele und Herz erfrifchen.
Lenken wir unfere Schritte zunächft auf das rechte Ufer
des Rheins, fo führt uns ein Weg durch Obft- und Wein-
gärten einen Hligel binan bem Wentenhof!2) zu Wir
gelangen aundd)ft auf ein umfangreihes Plateau, wo uns
ein gefd)madboller Dart in feine Schatten aufnimmt.
Mächtige Baumgruppen erheben fid) aus den ſmaragdgrünen
Wiefen, bie mit den fchönften Ylumen und Sierpflanzen ge-
Ihmüdt find. Die größte zeigt ein Baſſin in ihrer Mitte,
in meldem Goldfifhe ihr Spiel mit ben berabfallenden
Perlen einer Fontaine treiben. Schattige Lindenalleen
führen ung zu beiden Seiten nad) einer Terrafle, auf ber das
prachtvolle Herrenhaus ftebt, mit feiner Gronte dem Weften
zugewendet. Hochftämmige Kaftanienbäume fohügen es auf
bet Cübfeite famt feinen Bewohnern vor den heißen Strahlen
der Mittagsfonne.. Dies traulihe Pläschen, das durch
einen Kleinen Waflerfall noch mehr Kühlung gewinnt, [abet
ung zur Ruhe und Erquidung ein; bier muß felbft ein
Mifanthrop fid) mit ber Menfchheit und Natur verföhnen
fónnen.
Aber nicht nur ber Körper, aud) das geiftige unb leibliche
Auge wird durch das entzüdende Panorama, das fid
uns an bieler Stelle barbietet, erfrifcht. Zu unfer Füßen
breitet fid) das blühende Tal von Klein-Baſel aus mit
feinen reichen Gaatfeldern, von unzähligen Obftbäumen
unterbrochen, feinen Weingärten, prachtvollen Landhäufern,
12) Auf dem Wentenhbof berrichte, dankt den Familien Burd-
bardt-Stephbant, Burdhardt-Hik u Burdhardt-Schridel
ein ebenjo gaftfreies wie muſikaliſch angeregtes Leben.
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in denen Gaftfreundfchaft wohnt, feinen Parkanlagen und
mächtigen Fabrikgebäuden. Kunftftraßen und Eifenbahnen
durchkreuzen das Gebiet und erleichtern fo den Verkehr diefer
reihen Landfchaft. Jenſeits des Rheins erhebt fid) von
feinen Ufern ab terraffenartig bie alte Biſchofsſtadt,
deren Spite das mächtige Münfter if. Den Hintergrund
des ganzen Bemäldes nad) Süden bildet das zadige Jura
Gebirge mit feinen fchroffen Gelfen, grünen Matten unb
Waldungen, an weldes fid die blauen Berge der
Bogefen fchließen.
Betreten wir das Herrenhaus, fo empfängt
uns eine große Halle, deren fleinerner Fußboden reich mit
S'eppid)en belegt iit; bie Wände find mit Familienbildern
gefhmüdt. An biefe Halle, bie ben Mittelpunkt des Ganzen
bildet, fchließen fid) zu beiden Seiten noch mehrere prachtvoll
eingerichtete Gemächer. Der obere Stod, an deflen Haupt-
front fid) zu beiden Seiten offene Niefchen befinden, damit
man aud) bei unglünftiger Witterung bie frifhe Luft ge.
nießen fónne, gewährt uns nod) ein größeres Rundgemälde.
Wenden wir unfern Ylid nad) Norden, fo tritt uns ein Tal
des Schwarzwalds mit feinem mächtigen Feldberg
entgegen, der das Wiefental begrenzt.
Doch ehe ich den Lefer in das reigenbe Tal einführe,
das von bem kriftallhellen Bach, bie Wiefe, feinen Namen
trägt, betradften wir ung bie Defonomie-Gebäude,
bie fónen Gartenanfagen unb ben Wildpark,
bie hinter bem Herrenhaus liegen. Ein großer Hof, ben ſüd⸗
[ide Gewächſe, Orangen, Lorbeern, Dleanderbäume u. a.,
Ihmüden, ihre balfamifhen Düfte mit bem Tau einer hoch-
ftrebenden Fontaine mifchend, empfängt uns. Wir fchreiten
weiter in die Delonomie-Gebäude, wo uns viele „braune
Liefels” mit ihrem gutmütigen „Muh“ begrüßen und uns
mit frifder Mil erquiden. Bon da treten wir in ben
Wildpark, ein bergiges Terrain, das ein hochflämmiger
Buchenwald befdjattet. In einer der Vertiefungen weiden
67 5
Hirfhe und Rebe, bie fid) aber duch unjer Kommen nicht
ftören laſſen und ung nur von Zeit zu Seit mit ihren
frommen, gutmütigen Augen neugierig anbliden.
Hier, lieber Lefer, haft du eine ſchwache Beſchreibung
von biefem Eldorado, das eine glüdlihe Familie be:
wohnt. Auch von ihr will id) ein Heines Bild entwerfen,
das ich zufällig zu feben befam.
Die Schwüle des Tages bat nachgelaflen, und fchon be-
ginnt bie Sonne mit ihren Strahlen bie blauen Berge der
Vogeſen zu vergolden. Die Friſche des Abends [odt bie
Bewohner wieder ins Freie. Da fehen wir zwei junge
Srauen, mit weiblicher Arbeit befchäftigt, an der Vorder-
feite des Haufes figen, zwei liebliche Rinder zu ihren Füßen
mit Blumen fpielend. Die eine mit fchwarzem Haar und
dunklen Augen von zartem Körperbau zeigt bie Südländerin
an; bie andere mit üppigen Formen, blondem Haar und
blauen Augen bie Nordländerin. Zwei lieblihe Mädchen
fißen im Sande; unb Öfters finft der Mütter Arbeit in den
Schoß, die Augen folgen bem DBlumenfpiel der füßen
Kleinen mit zärtlichen Blicken.
Otid weit von diefer Gruppe bat ein fhöner S üng-
[ing von ungefähr 15 bis 16 Sabren, eifrig in einem Bude
lefend, Pla genommen. Der Hausherr muftert mit
prüfendem 93lid die neuen Anpflanzungen und gibt feinen
Intergebenen mit freundlicher Milde weitere Befehle. Den
Vordergrund nimmt ein Greis mit weißen Haaren ein
und lehrt einem beiteren, fróbliden Rnaben das preußifche
Grerzieren, wie es vor mehr als hundert Jahren üblich war.
Der Kleine, wilde Burſche will fid über die fteifen Be—
wegungen unb die gefpreizten Beine vor Lachen ausfchütten,
abmf aber alles geichidt nach.
Das Ganze war mit feiner reigenben Umgebung ein
Genrebilb der Heblichften Art.
Hült fid) dann die Natur in ihr Nachtgewand, fo
wendet man fid) zur erleuchteten Halle, wo beitere Ge-
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fpráde, Dichtkunſt und Muſik bie Unterhaltung bilden. Go
verlebt ber gebildete 93as[er nad) ben Mühen des Tages
feinen Abend im Kreife der Familie und feiner Freunde.”
Hier briht bie „Reifeflizze" des alten Weimarer
Schaufpielers ab. Die Abfiht einer Weiterführung, die
uns die Stelle über das Wiefental verrät, ift Leider nicht
verwirklicht worden.
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Stände unb Derfaflung in Bafel
vom Jó. bis 18. Jahrhundert.
Don Auguſt Burdhardt.
Man lieft etwa in Reifehandbüchern über bie Schweiz
nicht bloß von ben ftofgen Basler Patrizierhäufern — womit
3. DB. das weiße und blaue Haus, das Haus zum Delphin,
ber Ramfteinerhof, das His'ſche Haus auf bem Petersplatz
gemeint find —, fonbern auch von ben alten Basler Patrizier-
gefchlechtern, bie einft biefe Paläfte erbaut haben und fie
zum Teil nod) bis auf den heutigen Sag bewohnen follen. Zft
nun aber diefe Anfchauung von ber Weitereriftenz eines Pa-
triziates in 93afel im 17. und 18. Zahrhundert wirklich be-
redjtigt? Die Antwort auf diefe Frage iit nicht fo leicht und
einfach, wie es auf den erften Blick wohl ben Anfchein haben
mag. Das freilich willen wir ja wohl alle, baB bei uns [don
feit bem erften Viertel des 16. Jahrhunderts von einem eigent-
[iden Patriziat, b. b. von einer erflufiv organifierten und
verfaffungsgemäß bevorrechteten Sondergruppe von Bürgern,
bie allein regimentsfähig gewefen wären, nicht mehr ge-
fprochen werden kann. In diefem Punkte unterfcheidet fid)
aber befanntlich Baſel von allen übrigen Städtelantonen ber
alten Eidgenoflenfchaft, bie entweder — wie Bern, Grei-
burg, Solothurn und Luzern — einige wenige regierende
unb auch allein regimentsfähige Familien befaßen, oder
aber wo, wie in Zürich, neben ber weiteren, in Zünfte ein-
geteilten Bürgerfchaft, nod) ein in einer befonderen Stube
— bet Konftaffel — inkorporiertes Patriziat beffanb, das
freilich feine politifden Vorrechte mehr befaß, außer daß es
70
— und zwar von Rechts wegen und offiziell — ben auszeidh-
nenden Sunfertitel weiterführte, das aber andrerfeits, mas die
Beteiligung am Regimente der Stadt anbelangte, bis 1798
ben übrigen Zünften aud) nicht nachſtand, fondern ihnen
durchaus gleichgeftellt war. Aehnlich wie in Zürich lagen
die Verhältniſſe in Schaffhauſen. Baſel war alfo die
Stadt mit ber bem Wortlaute ber Verfaflung nad) weitaus
demofratifchften NRegierungsform. Und dennoch werden wir
bei náberem Sufehen auch bier ganz deutlich zwei Klaſſen
von Bürgern — und zwar Qollbürgern — unterfcheiden
können: eine im Regimente der Stadt tatfächlich vertretene
und eine zweite, bie von bemfelben mehr oder weniger aus-
gefchloffen blieb. Zroß der ftreng demofratifchen Verfaſſung,
die innerhalb der eigenen Yürgerfchaft feine Unterſchiede zu
fennen vorgab und [auf welcher daher auch die fremden
Adelstitel, bie nicht wenige Familien aufweifen fonnten,!)
nicht anerkannt wurden — im Gegenfa zu der in ben meiften
anderen Orten übliden Praxis — war eben das Baſel des
16. bis 18. Sabrbunbert$ bennod) ein durchaus arifto-
fratifches Staatswefen; nur war es feine Geburtsariftofratie,
die berrfchte, freilich auch nicht, wie man etwa hören fann,
eine bloße Geldariftofratie, fondern es war viel eher, wie
wir nod) feben werden, eine Art Handelsariftofratie, b. D.
richtiger eine Ariftofratie der Großfaufleute.
Obre Glieder wurden vom Q3olfe furgmeg als „Herren“
bezeichnet, aber nicht etwa aus dem Grunde, weil fie einer
befonderen ober gar bevorrechteten Herrenfafte angehörten,
fondern lediglich deswegen, weil fie vor allem in den vier
erften, feit alters ber fogenannten Herrenzünften zum
Schlüffel, zu Hausgenofien, Weinleuten und Safran faßen,
die damals fchon lange feine Privilegien mehr vor ben
1) Bon altbasler Geſchlechtern find Hier zu nennen unter
anderen bie Irmy, Petri, Brand, Falkner, 6605, Krug, Sed unb aus
Ipäterer Zeit die Wettftein, von Refugianten namentlich) bte deBary,
be£adjenat, Curioni, D’Annone, SSertematt, Sozzini, Paravicini unb
Bellizari.
71
übrigen, den fogenannten Meifter- oder Handwerferzünften,
genoffen. Die Vezeichnung paBte dann freilich umfo befler,
als die Betreffenden in der Tat die Regierung faft aus:
fhlieglih in Händen hatten; bod) ift es, wie geſagt, mehr
nur ein zufälliges Iufammentreffen, daß gerade bie Herren:
zünftler zugleich auch die Herren im Regimente der Stadt
gewefen find. „Patrizier" können fie daher — zwar aud) fo
nod) immer nur mißbräuchlich — höchſtens genannt werden
nad) Analogie ber Verhältniſſe, wie fie in den deutſchen
Reihsftädten um die Mitte des 18. Zahrhunderts waren
nnb monad) 3. 93. Goethe als Srankfurter Patrizier galt,
bloß weil fein Vater dafelbft den Rat befeflen hatte und fein
mütterlicher Großvater 93ürgermeifter gemejen war.
Es handelt fid) nun barum, in Folgendem erftens ein:
mal zu unterfuchen, ob au bieler Klafle der fogenannten
„Herren” ein bearenzter Kreis beftimmter Familien gehörte
unb ob er ferner mit der Ausübung gewifler Berufe zu-
fammenbing, und zweitens, darzulegen, in was denn eigent-
lich bie politifchen Vorrechte derfelben beftanden haben und
in welcher Form, beziehungsweife unter welchem Rechtstitel,
oder vielleicht auch bloß Vorwand, fie diefelben ausgeübt
haben. Wie wir nämlich im Verlaufe unferer Unterfuchung
nod) finden werden, handelt es fid) dabei entjchieden um
mehr als nur um einige im Grunde ja nichtsfagende rein
äußerliche Auszeichnungen, wie fie 3. 93. die fonftaffel in
Zürich nod) genoß; diefe Familien haben vielmehr, wie
(on betont worden ift, von. der Mitte des 17. bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts tatfächlih bie Leitung ſowohl
der inneren als auch der äußeren Politik Baſels ausfchließ-
[id in Händen gehabt. Zur 93eantmortung aller biejet
Fragen iff es nötig, einen kurzen Rüdblid über das Re:
giment in Baſel aud) in früheren Sabrbunberten zu tun.
23i8 zum Jahre 1382 hatte dasjelbe noch durchaus beim
Bifhof — alfo dem legalen Stadtherrn — geftanben, der es
durch den von ihm gefe6ten 93ürgermeifter, ber dem Ritter-
72
ftande angehören mußte und gewöhnlich aud) aus ben Lehens⸗
leuten unb Minifterialen des Biſchofs genommen wurde, fo-
wie durch einen Rat, bejftebenb aus vier Rittern, aht Mit-
gliedern der hohen Stube — den deswegen fogenanten Acht:
burgern — forie einem aus jeder der fünfzehn Zünfte durch
bie bifchöflichen Kiefer gewählten Ratsherrn ausüben ließ.
Erft feit 1382, als aud) die durch bie Zunftgemeinden felbft
gewählten 3unftmeiffer zuerft in den Rat gelangten, kann
man mit einigem Recht von einer wirklichen Beteiligung der
zünftigen Bürgerſchaft am Regimente der Stadt prechen,
obgleih ihre Mitwirkung vorläufig fi nod) ausfchlieplich
auf Stagen ber inneren Politif und Verwaltung erftreden
mochte; bie äußere Politif war nad) wie vor in erfter Linie
Sache des nad) jeder Richtung bin vom Biſchof abhängigen
Bürgermeiſters. Trotzdem fortan den dreißig Ratsherren
unb Meiftern der 3ünffe zufammen bloß zwölf Ritter unb
Achtburger gegenüberftanden, [o war bod) das fafti[de
Uebergewicht im Rate auch fernerhin nod) bei le&teren, ba
erftens einmal die Mitglieder ber vier erften Zünfte — der
ſchon erwähnten fpäter fogenannten Herrenzünfte — ihrem
gangen nterefienkreife nad) weit näher ben Achtburgern
fanden, die fi, wie id im folgenden nod) an einigen
Veifpielen zeigen werde, aus ihnen immer wieder ihren
frifen Nachwuchs holten, als den übrigen Zünften.
Zweitens wurde ber ebenfo 1382 zum erften Male genannte
Oberftzunftmeifter gleichfalls aus den Achtburgern genom-
men. Gerade die beiden bódjiten und wichtigften Staats-
ämter waren fomit damals den Zünften noch vorenthalten;
diefe mit der Zeit aber bod) nod) für fid) zu erobern, machte
baber fortan ihr ganzes Beftreben aus. Doch erreichten fie
ihr Ziel erft im 16. Sahrhundert. Uber menn es ihnen
damals auch gelungen ift, Adel und Patriziat endgültig aus
bem Regimente zu ftoßen, fo hatten fie damit, wie fid) bald
zeigte, nur einer Gruppe neuer Herren den Weg zur Macht
gebabnt. Deren Herrfhaft aber machte dann erft das Jahr
73
1798 ein Ende, nachdem ein erfter 1691 gewagter Verfuch,
ihnen bie angemaBte Macht wieder zu entreißen, befanntlich
Häglich gefcheitert war. Doch, bevor wir uns biefer neuen
Ariftofratie, bie zum mindeften ebenfo abfolut herrfchte, wie
es das ehemalige Patriziat getan batte, zuwenden, wollen wir
vorerft noch näher unterfuchen, aus welchen Bevölkerungs⸗
fchichten denn eigentlich bie Achtburger fid) refrutierten.
Wie Schon angedeutet worden ift, in der großen Mehrzahl
aus den vier erften Zünften.
Dreierlei war da möglich: entweder frat ein ganzes
Gefchleht ben Achtburgern bei — fucceffive vielleicht, wie
3. 23. bie von Schliengen — oder bloß eine Linie, wie dies
im 15. Sabrbunbert mit ben von Brunn — Heinrich und feinem
Sohn Morand — ber Gall geweſen ift, ober aber endlich
aud) bloß einzelne PDerfonen, nachdem fie fid) von den Ge-
Ichäften auríidgegogen unb diefelben ihren Söhnen überlafien
hatten, wie wir dies namentlih bei den Sfcheggenbürlin
beobachten können. Schon fett bem 14. Sabrbunbert nämlich
beftand die hohe Stube außer aus ein paar uralten, noch zur
urfprünglihen Hausgenoſſenſchaft bes Biſchofs gehörenden
Gefchlehtern wie ben (Gina, Rot, Münzmeifter, Sfelin
(älteres Gefchleht) unb aem Angen, in erfter Linie aus
fogenannten Müffiggängern, b. b. folchen, bie entweder aus
ihren Renten oder aus ihren Landeinkünften lebten, alfo
aus GroBfapitaliiten und Großarundbefigern; dabei war es
gana gleichgültig, ob ber Grundbefiß Eigen, Lehen oder
Pfand war. Weiter iff es ein bloßer Zufall und ent(prad)
durchaus nicht etwa einem Erfordernis, baB einige diefer
ipáteren Achtburgerfamilien ungefähr gleichzeitig mit ihrem
Eintritt in bie Gemeinfchaft des Patriziates aud) Wappen-
briefe oder gar Adelsdiplome erhalten haben, wie a. Q3. bie
Kilchmann und bie von Brunn, meld) letztere fogar zu An-
fang des 16. Zahrhunderts in den Matrikeln der Orte—
nauer Ritterfehaft figurierten;!) denn einerfeitS haben bie
1) Brgl. „Wappenbuch der Ortenauer Ritterfhaftsbibliothet“
74
Irmy, bie zu Ende des 15. Zahrhunderts ebenfalls geadelt
worden find, deswegen doch niemals zu den Achtburgern
gezählt, und andrerfeits haben bie Sürlin, die fchon feit bem
13. Sabrbunbert als Achtburger im Rate faBen, erft im
15. Zahrhundert noch einen Eaiferlihen Wappenbrief erhalten.
Verfolgen wir nun einige biefer jüngeren Achtburger:
gefchlechter in ihrem Werdegang: 1359 nod) war Hartmann
Stöweler Ratsherr von Hausgenofien, 1361 fißt er unter
den ?[dfburgern im Rate; Sobannes$ Helbling, der 1361
Ratsherr zu Weinleuten iit, erfcheint feit 1371 unter den
Achtburgern; Ronrads Sevogel, ber nod) 1370 Ratsherr zu
Hausgenoflen war, Sohn Petermann fitt feit 1375 als Acht:
burger im Rate; Petermann aem Asgtftein, noch 1375 Rats:
bert zu Hausgenoflen, fit feit 1380 ebenfalls als Acht:
burger im Rate; Safob Zyboll, Pfandherr zu Wartenberg,
Schenfenberg, Rheinfelden und der Grafichaft Homberg,
1380 nod) Ratsherr zum Schlüffel, tit feit 1382 Achtburger;
Niklaus Schilling, 1385 Ratsherr zu Hausgenofien unb
früher vom Schlüffel, ift feit mindeftens 1403 — leider fehlen
bie Ratsbefagungen von 1385 bis 1405 — des Rats von
Achtburgern. Erft im 15. Sahrhundert fleigen dann — eben:
fall8 aus den vier erften Zünften — ferner nod) ins Patri-
ziat hinauf namentlich bie Murer, Offenburg, zem Haupt,
Grieb und 3eigler. Des weiteren fei darauf bingemiefen,
daß wir mit einer einzigen Ausnahme, bie bie Kilchmann
betrifft, nie ein Mitglied einer eigentlichen Handwerferzunft
bitelt aus diefer in den Kreis ber Achtburger übertreten feben.
So waren im 15. Sahrhundert bie Hegenheim von ber Brot⸗
bedenzunft, der fie urfprünglich angehört hatten, über bie
Safranzunft in bie hohe Stube gelangt, und über bie Haus:
genoflenzunft, ebenfalls aus der Brotbedenzunft, freilich erft
zu Anfang des 16. Zahrhunderts, bie Meyer von Balders-
in des Freiherrn v. Neuenftein „Wappentunde“, Jahrgang IX (1902),
Tafel 24. Wir finden von Basler Geſchlechtern ferner in bemjelben
nod) die Brand, Offenburg und Kindweiler, meld) legtere erit 1640
vom Kaijer geadelt worden find.
75
dorf; fon im 15. Sahrhundert wieder waren die Efringen
— urfprüngli Spengler — über bie Schlüflelzaunft zu den
Achtburgern emporgeftiegen, ebenfo bie Schlierbach und Mel-
finger, beide urfprünglich zu Gerbern zünftig, endlich von
ber Grautücherzunft, bie im 15. Sahrhundert mit ber Oteb.
leutenzunft zu einer Zunft vereinigt war, über Weinleuten
und Schlüffel bie von Laufen. Alle diefe Familien hatten
drei bis vier Generationen gebraud)f, um den genannten
Weg zurüdzulegen. Wir fennen weiter nod) verjchiedene
Familien, deren Mitglieder um die Wende des 15. zum
16. Sahrhundert gelegentlich ebenfalls ben Syunfertitel führten,
trogdem fie nicht als 9(dtburger, fondern als Sünftler im
Rate faBen, aber ausfchließlich auch wieder als Vertreter
der vier Serrengünfte; zu diefen Familien gehörten 3. 23.
bie gem Luft — urfprünglich Sattler —, bie Eberler, Bär
und Meyer zum Pfeil. Wir müffen annehmen, daß bie
Betreffenden bei den Achtburgern vorerft einmal Stuben:
recht bejaBen und daß fie dann in vorgerüdteren Jahren wohl
felbft nod) — jedenfalls aber fpäter ihre Söhne — aud) ganz
zu ihnen übergegangen wären, menn nicht durch bie Refor:
mation, bie ja befanntlich nicht bloß auf Firchlichem, fondern
ebenfofehr auch auf politifhem Gebiete in demofratiihem
Sinne wirkte, biejer ganzen Bewegung ein vorzeitiges Ende
bereitet worden wäre. Es find Leute, bie zum Teil größere
Lehen in Händen hatten, wie 3. 293. bie Meyer zum Pfeil
bie Herrfchaft Büren, ober bie einen berrfchaftlichen Sig als
Eigen erworben hatten, wie bie Eberler Schloß Hiltelingen,
oder die im Domkapitel vertreten waren, gleich den zem
Luft, oder endlich bie mit bem Patriziate ſchon mehrfach
verfchwägert waren, wie namentlich bie Bär — mif einem
Worte alles Familien, die mitten in der Entwidlung von
Herrenzünftlern zu Achtburgern fanden.
Mit diefen paar Beifpielen mag e8 feine Bewendung
haben; es follte an ihnen bloß gezeigt werden, wie in der
Tat fdjon im 14. und 15. Jahrhundert bie vier erften Sünfte
76
eine gewifle Sonderftellung gegenüber den anderen Zünften
einnabmen, b. b. wie fie eine Art Vorftufe zur hohen Stube
bildeten. Durch ihren Eintritt in die hohe Stube und ihre
Permifchung mit bem Patriziate, bie gewöhnlich gleichzeitig
damit erfolgte, aber etwa auch einmal demfelben voranging,
waren diefe ehemaligen Zünftler für die eigentlichen ftädti-
fhen Sintereffen mit wenigen Ausnahmen bald völlig verloren.
Cie feßten fid mehr und mehr in Gegenfat zu der übrigen
Bürgerſchaft, indem ihr Hauptbeftreben von nun an auf
Hofdienft und Erwerbung bifchöflicher ober Hfterreichifcher
Leben gerichtet war; damit aber wieder Fetteten fie: fid)
immer enger an den Bifchof, der, obgleich Herr der Stadt,
bod) — ober vielleicht gerade deswegen — der größte Feind
ihrer aufftrebenden, in den Zünften verfürperten Bürger⸗
[haft war. Diefe allmáblide Entfremdung von der Stadt
der ritterlichen und patrizifchen Gefchlechter, bie ja urfprüng-
[id, wie wir gejeben baben, im Namen des Bifchofs bie
Stadt allein regiert und dann auch noch big in die Mitte des
15. Sahrhunderts, zum größeren Zeile wenigftens, deren
Leitung in Händen gehabt hatten, batte bie weitere Folge,
baB von diefem 3eitpunfte an es immer fchwieriger wurde,
den Rat verfaffungsgemäß mit vier Rittern und adt Glie-
dern ber boben Stube zu beſetzen; fchon 1480 faßen bloß
nod) zwei Ritter und fünf Achtburger im Rate. Dazu
fam, bap fchon feit ungefähr der gleichen Zeit aud) ber Oberft-
zunftmeifter nicht mehr ausfchließlich aus ben Achtburgern
genommen wurde, fondern abwechfelnd aus ben Achtburgern
und ben Zünften, allerdings mit einer einzigen Ausnahme
aus den Herrenzünften; bloß in ben Stonffiftjabren 1481 und
1483 war es ber Bürgerſchaft gelungen, ihren Vertrauens:
mann, ben Meifter zu Schiffleuten und Fiſchern, Oswald
Holzach, als Gegenfanbibaten gegen ben vom Biſchof eigent-
lid) [don ernannten , unfer", wie er fid) mit Unrecht nannte,
Adam Walch!) burdaujeben.
1) Brgl. Beiträge zur vaterländifhen Geihihte N. F. V
G. 498, Anmerf. 113.
77
Eine weitere wichtige Grrungen[d)aft war es bann für
die Zünfte, als e8 ihnen gelang, felbft bie ausfchließliche Be⸗
fegung ber Bürgermeifterwürde durch bie Ritter zu burd-
brechen, indem 1516 in ber Perfon Jakob Meyers zum
Hafen ber erfte Zünftler — wenn aud) ein Herrenzünftler
— gu diefem Amte gelangte, ba feine zwei Ritter mehr in
der Stadt waren, die, wie es bie Verfaffung vorfchrieb, alter:
nierend diefe Würde hätten beffeiben fónnen. Allerdings
war Safob Meyer nod) nicht burd) bie Bürgerſchaft Telbft
gewählt, fondern gleich den bisherigen ritterlihen Bürger⸗
meiftern durch den Biſchof eingefeßt worden; immerhin war
feine Ernennung bod) eine recht weitgehende Konzeffion des
Biſchofs an bie Bürgerſchaft. Der erfte wirklich durch bie
Zünfte gewählte Bürgermeifter war bann ber 1521 au diefer
Würde gelangte Adelberg Meyer zum Pfeil, gemefener Rats:
bert zu Safran, feines Berufes ein „Watman” oder Sud-
händler, der, troßdem er aus einer Familie ftammte, bie, wie
wir gejeben baben, bei Achtburgern Stubenrecht befaß,
dennoch bem Biſchof und deſſen Partei gegenüber viel unab-
bängiger daftand als Jakob Meyer, welcher aus der, wie
Ihon ihr Name bemeift, bem Biſchof befonders naheftehenden
Hausgenofienzunft hervorgegangen war. Inter Adelberg
Meyers Amtsführung wurden bann den Achtburgern bie
legten Vorrechte genommen, indem fie von nun an hinficht-
lich der Vertretung im Rate den Zünften gleichgeftellt wur-
ben; wie dieſe follten fünftigbin auch die beiden Stuben
„zum GCeufgen" und „zum Brunnen” nur noch je zwei Ver—⸗
freter in den Rat fenden. De facto aber haben fie fchon
von 1523 an nur nod) einen Ratsherrn geftellt, da nicht
mehr die nötige Anzahl von Achtburgern in der Stadt vor-
handen war zu einer doppelten 93efegung. Bald fam eg
fo weit, daß man fogar fremde Junker nad) Baſel ziehen
mußte, um überhaupt noch einen patrizifchen Vertreter
in den Rat fenden zu füónnen; fo jaB von 1538—1542
unter Niklaus Efcher aus Züri — durch feine Heirat
78
mit Urfula Grieb Mitbefiger von Binningen unb etit feit
furgem Basler Bürger — neben Chriftof Offenburg von bet
boben Stube im Rate. Gerade zwanzig Sabre [páter aber,
1543, wurde dem Patriziate —, genauer gejagt der hoben
Stube — überhaupt jegliche Mitwirkung am Regimente ge-
nommen, indem der lebte und nod) einzige Vertreter der:
felben im Rate, der [dort genannte Junker Gbriftof Offen-
burg, wegen Liederlichkeit und unregelmäßigen Befuches
ber Ci&ungen feines Amtes ftille geftellt werden mußte.')
Schon vorher aber batte bie gewalttätige Durchführung
der Reformation, bie, wie fchon gefagt, nicht bloß eine
Eirchliche, fondern aud) eine eminent politifche Bewegung
geme[en war — eine Revolution der demofratifchen Elemente
in der Bürgerfchaft gegen den Bifchof und feinen ariftofrati-
fen Anhang in Domkapitel und Rat — ber Vorherrſchaft
der bisher regierenden Gefchlechter für alle Zeiten ein
Ende bereitet. Die paar patrizifchen Gefchlechter, bie ben
neuen Glauben annahmen unb aud) nad) Einführung der
Reformation nod) in Baſel blieben, find von feiner Be—
beufung mehr für bie weitere Gefchichte ber Stadt gemefen;
entweder verfchmolzen fie mit ber übrigen Vürgerfchaft, wie
es mit den Meltingern, von denen, als fie zu Ende des
17. Sahrhunderts nod) einmal in einem Gliede in den Rat
gelangten, wohl niemand mehr wußte, daß fie zu Anfang
des 16. Zahrhunderts zu den Achtburgern gezählt hatten,
unb ben fdon mehrfach erwähnten Meyern zum Pfeil der
Gall gewefen iff. Oder aber, wenn fie fid) aud) fernerhin in
ihrer bisherigen fozialen Stellung zu halten vermochten, wie
die Offenburg, fo fuchte man fie fortan womöglich außerhalb
1) Als bloße Trintftube bes umwohnenden Adels, ohne jegliche
politiidje Rechte, friftete fortan bte Stube „zum Seufzen“ nod bis
ins 17. Sahrhundert ihr Dafein weiter; bte Stube zum Brunnen
aber war ſchon früher, noch im 16. Jahrhundert, eingegangen. Ganz
anders alſo in Zürich, woſelbſt, wie wir geſehen haben, die Kon⸗
ſtaffel das ganze 17. und 18. —— hindurch, gleich wie die
Zünfte, ihre Vertretung im Rathe hatt
79
bet Stadt zu befchäftigen, indem man fie al$ Obervögte auf
bie 9anbvogteien [djidte. So waren nod) von 1545—1550
Henman und von 1555—1577 fein Sohn Junker Hans
Philipp Offenburg Obervögte auf Farnsburg erfterer nach-
bem er vorher fogar nod) während zwei Amtsperioden
Bürgermeifter gemefen war; die beiden Genannten find aber
aud) bie letzten Vertreter des Patriziates gewefen, die ein
öffentliches Amt in der Stadt oder deren Herrfchaftsgebieten
bekleidet haben. Daß Henman nod) von 1542—1545 Bür⸗
germeifter fein fonnte, zeigt einerfeitsS wie bod) man aud)
damals nod) bie mannigfachen Verdienfte biefes Gefchlechtes
um feine Heimat in Bafel einfchäßte unb iff zugleich ein
glänzendes Zutrauensvotum ber bod) fonft fo Demofratifch ge-
finnten und auf ihre Rechte fo eiferfüchtigen Bürgerfchaft an
dDasfelbe. Daß er aber nur fo furge Zeit DBürgermeifter
geblieben iff und nicht, wie es ſchon damals allgemein üblich
war, bis zu feinem Tode — er ftarb erft 1558 —, ift dann
andrerfeits wieder ein Beweis dafür, daß man auf bie Dauer
das Erperiment bod) als zu gewagt anjab; dadurch, baB man
ibm 1545 die große und reiche Landvogtei Farnsburg zur
Oermaltung übergab, wurde aber ber Nichtwiederwahl als
DBürgermeifter der verfe&enbe Stachel genommen.
Bon den ehemaligen Basler Ritter- und? Minifterial:
sefhlehtern — um aud) von ihnen nod) ein kurzes Wort
zu Jagen — ift nur ein einziges fchon 1529 zur Reformation
üibergetreten: das der Herren von Värenfels. Sie erfcheinen
daher auch allein von allen, troSbem fie [don feit Ende des
15. Sahrhunderts nicht mehr in Baſel wohnten, fondern meift
auf ihren Schlöflern zu Segenbeim und Grenzach faßen, bis zu
ihrem Ausfterben 1835 — wenigftens theoretifh — als Voll:
bürger,!) während 3. 23. die Herren von Eptingen zu Hagen-
1) In Wirklichkeit aber haben fie fortan, da fie eben feiner
Zunft beigetreten waren, nie mehr weder das paſſive nod) das aftive
MWahlreht je ausgeübt; erit zu Anfang bes 19. Jahrhunderts war
einer der febten Vertreter bes Geldjfedjts als Zunftbruder zu Haus:
genofjen nod) einmal Mitglied des großen Rats geworden.
80
tal, bie Reich von Reichenftein zu Viedertal und Snalingen,
fowie die Herren von Rotberg zu Bamlach unb Rheinweiler
bloß ein fogenanntes Ehrenbürgerrecht genofien, defien 93or-
rechte gegenüber dem gewöhnlichen Ausbürgerrecht, wie es
3. 93. bie Herren von Ernau — öſterreichiſche Religionsflücht:
[inge —, bie Waldner von QGreunbftein und endlich auch die
Markgrafen von Baden-Hochberg befaßen, im wefentlichen
darin beftanben, Daß es erblich war und aud) nicht auf eine be-
flimmte Zeitdauer befchränkt wie le&teres, das alle paar Sabre
gegen Erlegung eines Schirmgeldes erneuert werden mußte.
Ganz anders ging da bekanntlich Bern vot, wofelbft nicht
bloß 1657 bie 93urggrafen von Dohna als Bürger ange:
nommen wurden, jonbern wofelbft fie auch zu Anfang des
18. Sabrbunbert$ fogar nod) in den Großen Rat gelangten.
Wir fommen zu unferem eigentlichen Thema. Mit bem
Sabre 1529 alfo batte, wie wir gefehen haben, eine neue Aera
begonnen. Wer waren in ihr die Regierenden? Laut ber
Verfaſſung bie ganze in bie 15 Zünfte eingeteilte Yürger-
(daft, die fowohl das aktive als auch das paffive Wahlrecht
für fämtliche Staatsftelen befaß und bie alljährlich auf
Samstag vor St. Sobanns des Täufers Tag fämtliche Aemter
— [ei es nun direkt oder indirekt, durch bie fog. Sechſer —
befe6te. Wie ftellte fid) aber die Sache in der Praxis dar?
Zur Beantwortung diefer Frage wird es fid) empfehlen, ein-
mal die Liften aller höheren Beamtungen, wie namentlich die
der Bürgermeifter, Oberftzunftmeifter und Dreizehnerberren
oder geheimen Räte einer eingehenden Prüfung auf ihre 3u-
fammenfegung zu unterziehen. Da finden wir nun, daß von
ben 43 Bürgermeiftern, bie von 1529 bis 1798 an der Spibe
des Basler Staatswefens geftanden haben, nicht weniger als
30 den Herrenzünften — die hohe Stube mit eingefchloffen —
angehört haben, unb zwar waren 14 aus der Schlüflel-
zunft hervorgegangen, 9 aus der Hausgenoflenzunft, nur noch
je drei aus ber Weinleuten- und aus der Safranzunft, foie
alfo nod) einer — Henman Offenburg — aus der hoben
81 s
Stube. Bon ben übrigen 13 93ürgermeiftern fallen je 4 auf
bie Schneidern- und Spinnwetternzunft, je 2 auf bie Gart-
nern- unb Otebleuten- unb nod) einer auf bie Schärernzunft.
Ganz ähnlich ift das Verhältnis zwifchen den Serren- unb
Handwerkerzünften bei den Oberftzunftmeiftern: von 1529 bis
1798 zählen wir 30 Oberftzunftmeifter, die fpäter nicht auch nod)
Dlirgermeifter geworden find; 20 davon fallen auf bie Herren-
zünfte: nämlich 8 auf bie Schlüffel-, 7 auf bie Hausgenoflen-,
4 auf bie Weinleuten- und nod) einer auf die Safranzunft.
Die übrigen 10 Oberftzunftmeifter verteilen fid) auf bie
Zünfte zu Gartnern (4), Schmieden (3), Webern (2) und
Rebleuten (1). Don ben 73 Häuptern des Standes Baſel
in den Sabren 1529 his 1798 fallen demnach 50 — b. b. mehr
als zwei Drittel — auf bie Herrenzünfte, nur allein auf bie
erfte derfelben, den Schlüffel, bie Zunft der Groptfaufleute,
aber nicht weniger als 22 (14 + 8).
Sehen wir nun aud) nod) nad), wie es mit bem fogen.
Dreizebnerkollegium in biefer Hinficht beftellt war. Diefes,
urfprünglich bloß Kriegsrat und nur in Zeiten der Gefahr in
Funktion tretend, wurde erft im Le&ten Viertel des 16. Sabr-
hunderts zu einer ftánbigen Beamtung, weshalb wir aud) feit
biefer Zeit — genauer feit 1571 — Mitgliederverzeichniffe
desfelben befiten; ein regelmäßig geführtes Protokoll eriftiert
fogar erft feit 1653. Grft feitbem iit das Dreizehnerkollegium
vom bloßen SKriegsrat zum eigentlihen Geheimen: oder
Staatsrat geworden, das beiBt zu einem engeren Ausichufle,
ber zufammen mit den beiden 93ürgermeiftern und Oberft-
zunftmeiftern, bie bemfelben er Officio angehörten, bie eigent-
[ide Regierung bildete, namentíid) auch bie Leitung ber
äußeren Politik ausfchließlih in Händen batte; aber aud) in
allen Gragen der innern Politit bildeten die Dreizehner—
herren fortan die lebte Inſtanz, bie bisherige Bedeutung
nicht bloß des Großen-, fondern aud) des Kleinen Rates
berabfeSenb. Der verfafiungsgemäße Verlauf der Ge:
fchäfte wäre ja bod) eigentlich ber gemefen, bap der Kleine
82
Rat, der bie erefutive Gewalt verkörperte, alle Geſetze unb
alle weiteren Verhandlungsgegenftände von großer Wichtig:
feit dem Großen Rate als ber Legislativgewalt vorgelegt
hätte. Doc fdon feit dem zweiten Viertel des 16. Fahr:
hundert8S wurde der Große Rat außerordentlichermweife,
b. b. außer an den alljährlich mieberfebrenben Schwörtagen,
nur nod) bódft felten einberufen; von 1529 big zu Ende
des Jahrhunderts iff es ein einziges Mal gefchehen (1585),
während des ganzen 17. Jahrhunderts bis zur Revolution
von 1691 im ganzen fünfzehnmal. Damals aber wurde be-
fchloffen, vierteljährlich eine Situng abzuhalten, 1718 bann
wenigftens alle Monate; aber ber häufigeren Einberufung
des Großen Rates entíprad) nicht etwa auch eine größere
Bedeutung der ihm zur 93ebanb[ung überwiefenen Gefchäfte.
Sm Gegenteil: bie ihm von Rechts wegen aufommenben
Obliegenheiten wurden einfad) vom Geheimen Rate über-
nommen, fo daß alfo bie gefamte [egisfatipe und erefutive
Gewalt im Kleinen Rate vereinigt, b. b. ausſchließlich Mit-
gliedern biefer Behörde vorbehalten war, bie wichtigere legis-
lative fogar bloß einem Ausſchuß von neun Ratsgliedern,
denfelben, bie zufammen mit ben vier Häuptern ben Gebeimen-
oder Dreizehnerrat bildeten. Es iff daher nur allzu be-
greiflich, Daß bie Volksausſchüſſe 1691 bie Abfchaffung diefes
alimádjfigen Kollegiums verlangt und — allerdings nur
für febr kurze Zeit — auch wirklich burd)gefe&t haben. Ueber
feine Wahlart babe ich nichts finden fónnen; bie Mitglieder
werden fid) daher wohl durch Rooptation ergänzt haben. Wie
war diefes wichtige Kollegium nun zufammengefett?! Don
1571 bis 1798 zählen wir im ganzen 128 Mitglieder des Ge-
beimen Rates, natürlich bie Häupter nicht mitgezählt, von
denen 71 — alfo wieder weit über die Hälfte — den Herren-
zünften angehörten: 22 dem Schlüffel, 17 den Hausgenoflen,
13 den Weinleuten und 19 der Safranzunft,; bie übrigen
verteilen fid) auf bie Sünfte zu Rebleuten (13), Gartnern
(11), Spinnwettern (6), Webern (5), Schmieden (4), 93rot-
83 9"
beden, Himmel und Schiffleuten (je 3), Kürſchnern, Gerbern
und Zifchern (je 2), endlich Schuhmachern, Schneidern unb
Schärern (nod) je einer). Die Zerfplitterung auf die Hand:
werferzünfte ift alfo bier eine viel größere als bei Bürger:
meiftern und Oberftzunftmeiftern; wir werden noch darauf
zurückzukommen haben.
93epor wir weiter geben, mögen mir nod) einige Be—
merfungen mehr allgemeiner Natur geftattet fein. Bekanntlich
war das 17. Zahrhundert die Zeit, in der fid) in fait allen
Orten der alten Eidgenoflenfchaft — in ben €anbfantonen fo
gut wie in den Stadtfantonen — die bisher bod) noch mehr
oder weniger bemofratilden Regierungsformen zu immer
erflufiver werdenden WUriftofratien, zum Zeil eigentlichen
Dligarhien, ausbildeten. Die genannte Entwidlung erfolgte
zumeift nad) zwei Richtungen bin: erftens einmal, indem, wie
wir e8 foeben für Bafel nachgewiefen haben, bie oberen
Kollegien alle Gefchäfte an fid) riffen und damit bie urfprüng:
lich wichtigeren unteren Kollegien zu faft gänzlicher Be—
deutungslofigfeit reduzierten; unb dann zweitens, indem fie
zu diefen nun an Wichtigkeit gewonnen habenden höheren
Aemtern bloß einen Heinen Kreis bevorzugter Familien zu-
ließen. Baſel bildete aud) in diefem zweiten Punfte feine
Ausnahme. In was es fid) dabei von den Übrigen Städten,
wie namentlich Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern unter-
fchied, war bloß der Umſtand, daß in Le&teren dieſer Zuftand
ein legitimer war, indem bier bie Verfaffung felbft zwifchen
regimentsfähigen und nicht regimentsfähigen Familien unter:
ſchied; in Bafel dagegen eriftierte dieſer Unterſchied theoretifch
nicht, bier gab es aljo feine regimentsfähige, wohl aber
de facto allein regierende „Herrengefchlechter”.
Die bisherige Darftellung bat ung gezeigt, wie diefe
Familien, bie wir im einzelnen nod) werden fennen lernen,
vermittelft ihrer Snforporierung in den fogenannten Herren-
zünften zu biefer Stellung gelangt find. Um nun möglichſt
genau und zugleich recht anfchaulich nachweifen zu können,
84
wie ganz allmählih, namentlich feit bem beginnenden
17. Zahrhundert das Regiment fid) immer ausfchließlicher
auf bie Herrenzünfte befchränkte, dürfte es fid) empfehlen, den
langen Zeitraum von 1529 bis 1798 in fünf Eeinere Ab-
fchnitte einzuteilen, von denen ber erfte bie Jahre 1529 bis
1571, d.h. bis zur Einführung des Dreizehnerkollegiumg,
umfaßt, der zweite von 1571 bis 1652, d.h. bis zur Um—
wandlung diefes urfprünglich bloßen Kriegsrates zum eigent-
lichen geheimen Staatsrate, reicht, der dritte, vierte und fünfte
einfach je rund fünfzig Sabre umfaffen follen.
Bon ben neun Vürgermeiftern nun und den ſechs Oberft-
zunftmeiftern der erften Periode gehörten bloß drei feiner
Herrenzunft an; es find dies die Bürgermeiſter Theodor
Brand (Oberftzunftmeifter 1534, 93ürgermeifter 1544), der
als Wundarzt und Chirurg zur Schärernzunft gehörte, und
Kaſpar Krug (Oberftzunftmeifter 1557, 93ürgermeifter 1559),
der als Eifenhändler zu Schmieden zünftig war, forie der
1529 ein erftes Mal zum Oberftzunftmeifter gelangte — ein
zweites Mal 1538 — Mare Heidelin, ber als Schürligweber
bie Webernzunft befaf. Alle drei gehörten aber troßdem
nicht zu den Handwerkern, Krug und Heidelin waren fogar
richtige GroBfauffeute. Sm nächften Zeitabfchnitte, ber alfo
bie Sabre 1571 bis 1652 umfaßt, zählen wir im ganzen
12 Bürgermeifter und ebenfoviele Oberftzunftmeifter, fowie
nit weniger als 55 Mitglieder des Dreizehnerkollegiums.
Sprechen wir zuerft von biefen. Wie [don früher betont
wurde, hatten fie in biefem Seitraume nod) nicht bie große
Bedeutung wie fpäter, Dementfprechend ift aud) — mwenigfteng
im 16. Sabrbunbert — nod) fein Heberwiegen der Herren:
aünfte über bie Handwerkferzünfte bei ihnen zu Eonftatieren;
anders iff es dann freilich fdon in den Sahren 1601 big
1652, bie plößlich ein ftarfe8 Zurüdtreten ber letzteren auf:
weifen; alfo gleichzeitig mit der zunehmenden Wichtigkeit
aud) eine ftärfere 93eteiligung von feiten der „Herren”! Es
iit Dies tupifch für ben herrſchenden Geift in jener Zeit. Es
85
mag genügen, auf diefe Tatfache bier Dingemiefen zu haben,
ein Nachweis im einzelnen darf bier ausbleiben; für die
fpäteren Perioden aber, bie das Kollegium auf der Höhe
feiner Mactftellung zeigen, wird ein folcher allerdings nicht
zu umgeben fein.
Bon den 12 Vürgermeiftern find 8 — alfo zwei Drittel
— aus ben Herrenzünften hervorgegangen; bie übrigen vier
verteilen fid) auf bie Zünfte zu Schmieden (Melchior Horn-
Locher, Oberftzunftmeifter 1601, 93tirgermeifter 1609), Spinn-
wettern (Gebaftian Cpürlin, Oberftzunftmeifter 1619,
Dürgermeifter 1621), Gartnern (Sob. Friedrich Ryhiner
Oberftzunftmeifter 1628, 93tirgermeifter 1630) unb Rebleuten
(Sob. Rudolf Wettftein, Oberftzunftmeifter 1635, Bürger⸗
meifter 1645). Von ben ebenfalls 12 Oberftzunftmeiftern ge-
bóten fogar drei Viertel ben Herrenzünften an, bie Übrigen ber
Schmieden: (Sebaftian Bed 1609), Webern- (Sob. Heinrich
Steiger 1621) und Gartnernzunft (Sofepb Socin 1636). Wir
haben dabei etwas zu verweilen. Unter den Handwerfer-
zünften hatten fid) nämlich einige [don früh aud) anderen
Berufen geöffnet, einesteils aus dem Grunde, weil fie nicht
mehr genügenben Nachwuchs aus ihren Sanbmerfen hatten,
wie e8 3. Q3. mit ber Rebleutenzunft ber Fall geweſen ijt,
bie Schon feit bem 16. Sabrbunbert ausdrüdlich aud) ,, Sanbels-
leute unb folche, bie aus ihren Renten lebten”, aufnahm,
da es in Bafel damals nur nod) febr wenige wirklihe Reb-
leute gab.!) Die gleihe Notwendigkeit mag ungefähr um
die gleiche Zeit auch bie Gartnernzunft, zu der übrigens außer
den Gärtnern und „Kremplern” (b. b. Obft- und Gemtje-
bändlern) namentlih aud) die Wirte gehörten, zu dieſer
largeren Praris veranlaßt haben. So finden wir mehrfach
fon im 16. Sabrbunbert andere, namentlich gelebrte Berufe,
in ihr vertreten: 1530 wurde „Doctor Johannes Husfchin
1) Vrgl. Jakob Chriſtoph Bed in den Anmerkungen zu feiner
beutidjen Ausgabe von Wurftifens ,Epitome historiae basiliensis“,
Bajel 1757, ©. 364. |
86
genannt Ecolympadius unb Eufebius Husſchin, fin eelicher
fon“ zu Gartnetn zünftig, unb [don 1517 „Heinricus Richener
unb Gbriftoffel, fin eelicher fon”; Otpbiner war damals nod)
Procurator der bifhöflihen Kanzlei. Bei einer weiteren
Gruppe von Zünften war es vielleicht das finanzielle Inter-
effe oder das 93eftreben nad) einer einflußreichen Vertretung
im Rate, bie fie dazu veranlaßte, gelegentlich aud) ihrem
Berufe nad S3unftfrembe in ihre Reiben aufzunehmen;
leßterer 93emeggrunb bat ganz offenfichtlih 3. 93. bei ber
Schneidernzunft mitgewirkt, als fie bem rebegervanbten Ad⸗
vofaten Dr. Franz Henric-Petri Zunftrecht bei fid) gewährte,
dem Vater des bekannten Leiters der demofratifchen Be—
wegung ber Sabre 1690 und 1691, Dr. Jakob Henric-Petri.
Zu biefer Gruppe von Zünften dürften ferner aud) bie Halb-
aünfte zu Sifchern und Schiffleuten gehört haben. Als dann
im Verlaufe des 17. Sabrbunbert8 — hauptfächlich burd) bie
immer zahlreicher nach Baſel ftrómenben Refugianten —
ftetsfort neue Berufe eingeführt wurden, da genügte bie alte
Zunftverfafiung nicht mehr, um biefe alle in den beftebenben
Zünften unterzubringen; im Anfang bebalf man fid) damit,
baB man die betreffenden Kaufleute für jeden Zweig ihrer
fomplizierten Tätigkeit eine befondere Zunft anzunehmen
zwang, und in der Tat waren die großen Seidenherren dann
meift fowohl im Schlüffel, als aud) zu Weberen, zum Zeil
aud) nod) zu Safran oder Hausgenoflen zünftig, je nachdem fte
Daneben mehr auf den Detailhandel ober auf bie Spedition
und das 93anfgefd)dft das Hauptgewicht legten.!) Doch auf
die Dauer genügte das nicht. Ein neuer Ausweg, der dann
zum Zeil auch wirklich bie gewünſchte Abhilfe brachte, war, bap
einige bisher rein handwerkliche Zünfte fogenannte Parität
aufftellten zwifchen,, Herren“ und Handwerkern, b. b. zur Hälfte
1) Schon zu Ende bes 16. Jahrhunderts waren einige Groß-
taufleute — jo namentlidy Andreas Ryff — ſowohl beim Schlüjfel,
als aud) zu Hausgenofjen und Webern zünftig gemejen; Ryff bildet
aber in der Tat eines ber früheiten Beiſpiele für diefe Entwidlung.
87
»Serten" aufnahmen unb nur nod) zur anderen Hälfte Hand-
wetter; fo machte es [don feit 1640 bie Schmiedenzunft, forie,
ebenfalls nod) im 17. Jahrhundert, bie Webern- und bie
Spinnwetternzunft. Natürlich wurden von biefen „Herren“
nun die Zünfte nicht mehr in erfter Linie nad) beruflichen Rüd-
fichten ausgewählt, fonbern fie traten eben in Diejenigen ber
paar paritätiihen Zünfte ein, bie nod) am wenigften vollzählig
waren und wo fie Daher bie arößte Möglichkeit Garriere zu
machen, vorfanben. Sa nicht felten traten fie aus ihrer ur-
fprünglihen Zunft, wohin fie von Berufswegen gehörten und
in der fie vielleicht aud) ſchon eine Sechferftelle befleideten,
um rafcher in den Rat zu gelangen als es ihnen bier wegen
der viel größeren Konkurrenz möglich war, in eine andere
Zunft über; fo machte e$ Adelberg Meyer, bisher Sechfer
zum Schlüffel, ber 1613 Ratsherr zu Fifchern wurde, Ema-
nuel Ruffinger, Sechfer zu Weinleuten, der 1625 ebenfalls
Ratsherr zu Fifchern wurde, der fhon genannte Dr. Franz
Petri, Sechfer zu Hausgenoflen, der 1664 Ratsherr zu
Schneidern, und Emanuel König, Sechler zu Safran, ber 1669
Ratsherr zu Schiffleuten wurde. Wie wir fhon aus diefen
paar Beifpielen erfehen und wie e$ ja eigentlich begreiflich tit,
wurde bielen in bie Handwerferzünfte übergetretenen Herren
nie bie Meifterftelle, fondern bloß bie Ratsherrenftelle über:
[ajjen. Wir werden fpäter nochmals auf dieſe paritätifchen
Zünfte und ihre zunehmende Abhängigkeit oon den „Herren“
zurüdzufommen haben.
Geben wir in unferer Unterfuchung weiter! In den
48 Jahren von 1653 bis 1700 — alfo in ber Zeit des begin-
nenden Abjolutismus nicht nur in Bafel — zählen wir bloß
10 93ürgermeifter und 7 Oberftzunftmeifter, forie 31 Mit-
glieder des Geheimen Rats. Bon diefen 48 Männern nun ge-
hörten 28 ben vier Herrenzünften an, je 6 der Gartnern- und
Rebleuten-, je 3 der Schmieden- und Spinnwettern-, endlich
je einer der Fifchern- und der Schiffleutenzunft an. Nur zwei
unter ihnen waren feine „Herren”, nämlich Johannes 23iens,
88
ein Rebmann, [don feit 1619 Meifter zu Rebleuten, ber 1653
Mitglied des Geheimen Rates wurde, und Hans Heinrich
Pfannenſchmid, gewefener Ratsherr zu Fifchern, aus einer
alten, (on feit der Mitte des 16. Jahrhunderts ben Fifcher-
beruf ausübenden Rleinbasler Familie ftammenb, ber 1665 in
den Geheimen Rat gelangte. Don ben 10 VBürgermeiftern
gehörten 3 nicht den Herrenzünften an, nämlih Niklaus
Rippel, der aus der Gartnern-, Andreas Burdhardt, der aus
der Cpinnmettern- und Hans Ludwig Krug, der aus der
Schmiedenzunft hervorgegangen war; al(o aud) fie aber aus
ben paritätifhen 3ünften. on 1701 bis 1750 zählen wir
6 Bürgermeifter, 3 Oberftzunftmeifter und 27 Geheime Räte,
bie fämtlich „Herren” waren, menn fie fid) auch faft zur Hälfte
— nämlich 16 von 36 — auf die paritätifchen 3ünfte ver-
teilten. Um ein paar Namen berausaugreifen, waren 3. 23.
bie beiden Bürgermeifter Andreas 93urdbarbt ber Züngere
unb Sobann Rudolf Wettftein ber Jüngere beide zu Cpinn-
wettern zünftig, troßdem der erftere bie Rechte ftubiert und
der le&tere in der Kanzlei emporgeftiegen war; Geheimrat
Lukas Fäſch, ber von der Schiffleutenzunft in den Rat ge:
Ihidt wurde, war Bankier und Spediteur, endlich Johannes
Schweighaufer, der als Meifter der Himmelzunft in den Ge:
Deimen Rat gelangte, war feines Berufes Notar. Wir
fommen zur Behandlung der legten Periode, bie bie Jahre
1751 bis 1798 umfaßt. Von den 8 Bürgermeiftern, 3 Oberft-
zunftmeiftern und 26 Geheimen Räten diefes Zeitraums ge-
hörten bie 93tirgermeifter zufälligerweife fämtlich den Serren-
zünften an, von ben Oberftzunftmeiftern dagegen feiner, fon-
dern fie verteilten fid) auf die paritätifchen Handwerferzünfte
zu Gartnern, Rebleuten und Schmieden; auf lebterer ift 3. 23.
Deter Ochs, der lebte Basler Oberftzunftmeifter, zünftig ge:
weien. Was bie Dreizehnerherren anbelangt, fo dienten fie
gerade zur Hälfte auf den Herrenzünften und zur anderen
auf ben Handwerkerzünften; bemerkenswert aber ift, bap zwei
unter ihnen — nämlih Philipp Kern unb Griebrid) Münch,
89
ber befannte Dreierherr Münch — wirkliche Handwerker,
unb zwar beide merfwürdigerweife 93ádermeifter gemefen find.
Das Refultat unferer Prüfung iit nun alfo erftens, baB
in ben faft 150 Sabren von 1653— 1798 im ganzen nur vier
Handwerker Teilhaber ber höchften Regierungsgewalt gewefen
find, nämlich bie in den Sabren 1653, 1665, 1753 und 1777
zum Dreizehnertum gelangten Ratsherren Johannes DBienz,
ber Otebmann, Sob. S$einrid) Pfannenfhmid, von Beruf
Gifder, und bie beiden Bäckermeiſter Philipp Kern unb
Griebrid Münch; unter allen 93ürgermeiftern und Oberft-
zunftmeiftern biefer Sabre aber finden wir feinen einzigen
Handwerker. Ferner zweitens, daß aud) von ben in ben
Handwerkerzünften inkorporierten und von biefen in ben
Rat geldidten Männern bei weitem lange nicht alle
deswegen auch als Handwerker anzufeben find!); das Ver—⸗
hältnis war bier vielmehr ganz ähnlich wie in bezug auf die
3ufammenfe&ung des Großen Rates im erften Drittel des
vorigen Zahrhunderts zwifchen Stadt: und Landbürgern: wie
bis 1830 neben bie von den Stadtbürgern aus ihrer Mitte
gewählten Großratsmitglieder aud) von den Landbürgern
aus den Stadtbürgern gewählte Großräte traten, fo im 17.
unb 18. Sabrbunbert neben bie von ben Herrenzünften ge-
wählten „Herren“ nod) folche, bie von ben Handwerkerzünften
gewählt waren. Dazu fam, bap mit nur vier Ausnahmen
von ben Ratsherren ber Handwerferzünfte bloß die „Herren“
in das eigentlihe Regiment gelangten.
Zu den Zünften, bie fdjon feit bem 17. Jahrhundert mit
Vorliebe aud) „Herren” aufnahmen, gehörte, wie wir gefehen
haben, aud) bie Webernzunft. Sntereflant iff nun, zu beob-
achten, wie in biejer es biejelben verftanden, bie Handwerfer-
1) Auch in ben Aemterverzeichniffen ber paritátijen Zünfte
wurde jemeilen genau unterſchieden zwiſchen „Herren“ und wir:
lihen Handwerfermeiftern, jo leſen wir in einer Gedjerlifte der
Spinnwetternzunft aus dem Ende des 17. Jahrhunderts: „Herr
Andreas Burdhardt, Herr Lucas Burdhardt, Herr Iſaak Fäſch,
Meifter Balthafer Hüglin, Meifter Peter Schherb, Meifter Stephan
Bieler.“
90
meifter mit der Zeit ganz zu verdrängen, fo daß 1787 bie
legteren an den Geheimen Rat mit der Bitte um Bewilli-
gung der Parität zwifchen den beiden Ständen einfamen, und
zwar in dem Sinne, baB die Handwerker im Vorftande bod)
wenigftens wieder bie Hälfte der Stellen erlangten! Die zu
Webern von Rechtswegen zünftigen Handwerker nun waren
bie Leinenweber, Bleiher, Schön: und Schwarzfärber, Paſſa⸗
mentierer, Wollenweber und GCeibenfütber. Wie biefe in
ihrem Memorial fagen, find fie mit der Zeit nicht bloß durch
bie ja in gemifjem Sinne nod) zu ihrer Zunft in Beziehung
ftebenben Fabrikanten — als da find Indienne- unb Mouffe-
Iinefabrifanten, Strumpffabrilanten uſw. — zurüdgedrängt
worden, fondern haben e$ fid) fogat gefallen [affen müffen,
daß fid) aud) bie anderen Herrenberufe, bie fie weiter nichts
angingen, in ihrer Zunft breit machten und bie erfte Celle
darin einnahmen. Bei biefem Anlaffe erfahren wir nun enb-
[id) einmal von fompetenter Seite wer diefe „Herren“, von
denen fchon fo viel bie Rede gewefen ift, eigentlich geweſen
find, d.h. wer mit diefem Titel im 17. und 18. Jahrhundert
bezeichnet worden ift. Die Handwerfermeifter der Webern⸗
zunft antworten ung: „die Offiziers, Gelehrten, Rapitaliften,
Fabrifanten, Kaufleute bie en Gros handeln, Banquiers,
Buchhändler und Speditoren”. Diefe alle hatten Damals feine
eigene Zunft, mit Ausnahme der Großfaufleute, bie auf die
Schlüfjel- und ber Banquiers, bie auf bie Hausgenoffenzunft
gehörten; fie verteilten fid) baber außer auf bie vier Herren:
aünffe aud) nod) auf die übrigen 3ünfte, wofelbft fie eben-
falls das Uebergewicht erlangten. Eine große Rolle unter
bielen fpielten bie im Memoriale an erfter Stelle genannten,
aus fremden, meift franzöfifchen Dienften zurüdgefehrten Offi-
ziere, ganz ähnlich wie ja bekanntlich aud) in 93ern. Von
folhen find zu nennen Geheimrat Emanuel Zäfch (geb. 1646,
aeft. 1693), gewefener Brigadegeneral in Eaiferlichen Dienften,
fowie fein Sohn, ber fpätere 93trgermeifter Johann Rudolf
Fäſch ber Züngere (geb. 1680, geft. 1762), gewefener Oberft-
91
[ieutenant in franzöfifhen Kriegsdienften, jomie die als
Hauptleute ebenfalls in franzöfifhen Dienften geftandenen
Geheimen Räte und Oberften der Basler Landmiliz Hans
Bernhard (geb. 1645, geft. 1740), Gbriftopb (geb. 1660, geft.
1728), Iſaak (geb. 1700, geft. 1757) unb Sobann Safob 93urd-
batbf (geb. 1717, geft. 1796). Sn gewiffem Sinne find btebet
aud) zu zählen bie zwei Bürgermeiſter 0b. Rudolf Wett:
ftein (geb. 1594, geft. 1666), ber, wie befannt ift, in feiner
Ougenb al$ Hauptmann in venetianifchen Dienften geftanden
batte, und Emanuel Socin (geb. 1628, geft. 1717), gewejener
Dragonerrittmeifter in fóniglid) ſchwediſchen Kriegsdieniten,
wenn fie beide auch [don frühe fid) ganz und ausschließlich den
Staatsgefhäften zu widmen begonnen hatten.
Die bisherigen Refultate unferer Unterfuchung zufam-
menfaflend, koͤnnen wir den Sa aufftellen: aud) in Baſel
batte, wie anderwärts, während des 17. und 18. Sabrbunberts
eine Heine Sondergruppe von Bürgern alle Gewalt an fid)
gerifien, aud) bier, wie anderwärts, bat fid) in genanntem
Zeitraume ein Kreis von tatfächlic allein regierenden aber
nid aud) ftaatsrechtlich allein regimentsfähigen Bürgern
ausgebildet; doch ift es nicht, wie in ben meiften andern
Orten, eine Geburtsariftofratie, bie herrfcht, fondern vielmehr
ein Cynbifat von Gropfauffeuten und Gabrifanten, zu denen
nod) bie aus den fremden Militärdienften zurüdgelehrten
Offiziere fommen, fowie einige wenige Gelehrte, in der
Mehrzahl Zuriften, bie in der Verwaltung zu ben Aemtern
aufgeftiegen find, etwa entfprechend den modernen deutfchen
höheren Verwaltungsbeamten und Berufsbürgermeiftern. 3u
diefen find a. 23. zu zählen bie Vürgermeifter Sob. Rudolf
(geb. 1620, geft. 1683) unb Sob. Yalthafar Yurdhardt (geb.
1642, geft. 1722) und Andreas Merian (geb. 1742, geft. 1811),
fowie bie Oberftzunftmeifter Niklaus Harder (geb. 1651, geft.
1730), Dietrich) Gorcart (geb. 1684, geft. 1740) unb ſchließlich
aud) Peter Ochs (geb. 1752, geft. 1821). Diefe ganze
Gruppe, die aljo im Sprachgebrauch des 18. Sahrhunderts
92
allgemein als „Herren” bezeichnet wurde, faß anfänglich aus-
fchließlich in ben vier erften Zünften, ben von altersher foge-
nannten Herrenzünften zum Schlüſſel, zu Hausgenoflen,
Weinleuten und Safran; allmählich batten fie dann in
einigen Sanbmerfergünften, zunächft freilich bloße Parität,
bald aber aud) bie Vorherrſchaft erlangt, jo namentlich zu
Gartnern, Rebleuten, Schmieden, Spinnwettern unb Webern,
in denen die eigentlich von Berufswegen dorthin gehörenden
Handwerker immer weniger zu jagen hatten. Ganz verfchont
von den „Herren“ blieben bloß die Zünfte zu Brotbeden,
Schuhmachern, Gerbern, Kürfchnern, Mebgern und Schärern.
Einterfuchen wir nun ferner, ob nidf Hand in Hand
mit diefer Vorberrfchaft der GroBfaufleute vielleicht auch ein
Heberwiegen einzelner Samilien ging. Bekannt tit, daß
Dr. Petri in feiner Schmähſchrift „Vaſel — Babel” im
Sabre 1693 gegen bie beiden Familien 93urdbarbt unb Socin
den Vorwurf erhoben bat, fie hätten allein alle 9femter auf
fi und ihren Anhang vereinigt. Da finden wir denn fol-
gendes: Wirklich bominierenb vertreten ift nur die Familie
Burdhardt, bie im Zeitraume von 1653—1798 nicht weniger
al8 7 Bürgermeiſter, 2 Oberftzunftmeifter und 16 weitere
Mitglieder des Geheimen Rates aufweift!); ihr zunächſt an
Zahl fommen bie Fäſch mit 2 Vürgermeiftern, 1 Oberftzunft-
meifter und 5 Gebeimen Räten. Während erftere alfo mit
im Ganzen 25 Mitgliedern im eigentlichen Regimente ver:
treten find, zählen leßtere noch 8 in bemjelben. 5 Mitglieder
fteliten in bie Regierung bie Familien Socin und Merian,
je 4 bie Wettftein, Hagenbach, Stähelin und Mit, nod) 3
die 93ed, Galfner und Sfelin; bod) bat bie fe6tere Familie
ihon fein „Haupt“ (feinen Bürgermeiſter ober Oberft-
zunftmeifter) mehr aufzuweifen. In 2 Gliedern vertreten
finden wir bie de Bary, Ryhiner, Zäslin und DBrunfchweiler,
bie alle vier aud) nod) unter den eigentlichen Häuptern vor-
1) $m Jahre 1666 waren fogar beide Oberftzunftmeifter unb
bet eine Bürgermeifter — b. b. drei von ben vier Standeshäuptern
— Burdhardte!
93
fommen, ſowie bie Sarafin, Ote[pinger, Hoffmann, Wieland,
Grey, Harfcher und Ortmann. Endlich begegnen uns nod)
36 Familiennamen bloß einmal. Die Namen verteilen fid)
alfo auf 58 Familien, von denen aber nur 22 mehr als einmal
in den Reihen ber Regierenden porfommen. Don den ins-
gefamt 125 Namen fommt demnach gerade ein Fünftel allein
auf bie Familie. 93urdbarbt, und über die Hälfte ber ganzen
Regierung wird nur von den zehn Familien ber 93urdbarbt,
Zah, Merian, Socin, $agenbad), Wettftein, Mitz, Bed,
Stähelin und Sfelin beftritten.?) Wir müjjen daher in der
Sat für bie legten 150 Sabre des alten Baſel von einer Art
von Familienregiment fprechen, das aber, wie fchon betont,
weniger in der Zugehörigkeit zu einer beftimmten Familie
als in der Zugehörigkeit zum Kreife der Großinduftriellen
wurzelt. Denn zweierlei ift nicht außer Acht zu Taflen:
eritens, baB das ftarfe Sleberwiegen der beiden Familien
Zurdhardt und Fäſch — zum Teil menigftens — feinen
Grund aud) in ber außerordentlihen Fruchtbarkeit derfelben
gehabt bat; fie find nachweislich die beiden Finderreichften
Familien Baſels aus der uns befchäftigenden SZeitperiode.
Ihnen am nächſten fommen dann die Merian und GSocin,
bie wir aud) richtig nad) jenen am ſtärkſten in ber Regierung
vertreten finden.
Zweitens begegnen ung — was befonders inftruftiv ift
— zum großen Seife ganz bie gleihen Namen auch wieder
unter den Sanbiverfermeiftern, bie im Sabre 1787 die vorhin
1) Unterfudt man den Anteil der einzelnen Yamilien bloß
am Bürgermeifter- und OÖberftzunftmeiftertum, dafür aber in bem
größeren Zeitraume von 1529 bis 1798, fo findet man wieder die
Familie Burdhardt mit fieben Bürgermeiftern und drei Oberftzunft-
meiftern an der Spitze ftehen; e8 folgen bie Fäſch mit drei Bürger-
meiftern unb einem Oberſtzunftmeiſter, bie Merian mit zwei Bürger-
meiftern unb einem OÖberftzunftmeilter, die Meyer zum Pfeil, Ober-
riet, Krug, Ryhiner unb Wettftein mit zwei Bürgermeiftern, bie
Gocin, Falkner und Brand mit einem Bürgermeifter und zwei Oberft-
zunftmeiftern und endlid bie von Brunn mit einem Bürgermeifter
und einem Öberjtzunftmeifter jowie bte Bed mit zwei Oberitgunft:
meiftern.
94
erwähnte Beſchwerdeſchrift ber Webernzunft mit unter-
zeichnet haben; das Schriftftüd ift nämlich unter anderen unter:
(hrieben von den DBleichermeiftern Johann Ludwig und
Hieronymus Sfelin unb Niklaus Hagenbach, von ben Färber—
meiftern Emanuel unb Sobann Jakob 93ifdjoff und Ehriftoph
Burdhardt, von dem Paflamentierermeifter Bernhard unb
den Wollenwebermeiftern Wernhard und Emanuel Fäſch.
Ahr Proteft richtete fid) alfo gana offenfidbtlid) nicht gegen
das Leberwiegen einzelner Herren familien in der Zunft
— denn zu denen gehörten fie fe[bft ja auch, wie ihre Namen
zeigen — .fondern ganz ausfchlieglih nur gegen das Domi-
nieren der Herrenbetriebe und Berufe innerhalb der
Zunft. Wie ein Blid in bie Aemterbücher lehrt, find in bet
Sat 1787 fämtliche Sechfer-, OXeifter- und Ratsherrenftellen
ber Webernzunft in den Händen ber oben bezeichneten Grop-
induftriellen und Gabrifanten geweſen; bie Vleicher-, Färber-
unb Webermeifter find durch fie vollftändig zurüdgedrängt
worden.
Saft unbegreiflih muß einem unter diefen Umftänden
zunächft bie Gutmtitigfeit der Handwerker erfcheinen, bie feit
der mißlungenen Revolution von 1691 fo ohne jeden weiteren
Widerftand die ihnen bod) nad) ber Verfaflung immer nod)
zuflommende Mitbeteiligung am NRegimente einfach durch bie
„Herren” fid) haben entreißen laflen. Die Entfchädigung
dafür beftand aber erftens in bem weitgehenden Cube, ben
das einheimifche Handwerk von feiten der Regierung genoB
und burd) den dasfelbe vor aller ausländifchen Konkurrenz
fihergeftellt wurde. Dahin gehört ferner bie immer eng.
berziger werdende Bürgerrechtspolitik, bie ja auch wieder
in erfter Linie den Handwerkern zugute fam, ba baburd) das
Aufkommen neuer Konkurrenz verhindert wurde; war e$ ja
fogar den Untertanen von der Landfchaft, die mehrfach feit
Generationen ſchon ala Niedergelaflene in der Stadt wohnten,
nicht erlaubt, eigene Q3efriebe zu errichten. Ein weiterer
wirffamer Schuß des heimifchen Handwerks beftand in ber
95
Gotberung des Zunftziwanges, bie unter anderem aud) bie
„Herren“, bie ihr Beruf eigentlich in feine Zunft mies — wie
alfo bie Beamten und Offiziere —, nötigte, bei den Hand-
metfern Zunftrecht zu nehmen, wenn fie politifche Karriere
machen wollten. Endlich) wurden durch bie wahrhaft arop-
artige und weitgehende foziale Fürforge, wie fie namentlich
in bem fogenannten Armenrechte zutage trat, das außer einer
reichlich bemeflenen Naturalunterftügung verarmten Bürgern
aud) nod) abjofut Eoftenlofe juriftifche Hilfe in allen vor-
fommenben Zällen zuficherte, bie 3ünfte zum Schweigen ge:
bradt. Es waren alfo hauptſächlich KRompenfationen
materieller Natur, bie bie Handwerker dazu vermochten, das
verfaflungswidrige Gamiltenregiment weiter zu dulden. Da:
neben aber wurde ihnen bod) ein Gebiet des Hffentlichen
Lebens in recht weitgehbendem Maße referviert, wo auch fie
ihrem Bedürfnis, gelegentlich einmal den Herrn beraus-
aufebren, nad) Herzensluft nachgeben fonnten.
Es ift fon angedeutet worden, wie geradezu chifands
oft bie meift aus der Landfchaft ffammenben Niedergelaflenen
bon feiten ber Bürgerſchaft — und nicht in leßter Linie von
ben auf ihre Vorrechte ftolzen Handwerkern — behandelt wor:
den find. Sn nod) viel höherem Maße war dies gegenüber den
Untertanen der Landfchaft felbft ber Gall. Das brutale und
verlegende Gebahren, das bie bem Handwerkerftande an-
gehörenden Landvögte fid) oft ben Untertanen gegenüber er:
laubten, bat gewiß nicht wenig zu dem tiefgewurzelten Haß
beigetragen, den die Bauern im Baſelbiet bem ftädtifchen
Regimente entgegengebracht haben. In erfter Linie waren es
die großen Landvogteien Farnsburg und Waldenburg, bie
feit bem 17. Gabrbunbert hauptſächlich von Handwerkern, bie
je für acht Sabre aufaogen, verwaltet wurden; nur ganz ver-
einzelt treffen wir aud) auf Homburg und Münchenftein
Handwerfermeifter als Landvögte. Auf Farnsburg faBen
à. 93. bie Mebgermeifter Nillaus 93ufader und Leonhard
Schardt, bie Schuhmachermeifter Safob Dietrih und Johann
96
Jakob ftpburt, fowie ber Schloffermeifter Jakob Seller als
Landvögte. Die Landvogtei Waldenburg verwalteten fol-
gende Handwerfermeifter: bie Zifchermeifter Rudolf Göbelin
und Georg Schazmann, die Kürfchnermeifter Niklaus Gey-
müller, Johann Urich Wagner und Emanuel Schmid, ber
Schuhmachermeifter Safob Landis, fowie endlich bie beiden
Mebgermeifter Rarl Kundig und Sohann Safob Müller. Auf
Homburg finden wir als Landvogt ben Gerbermeifter Johann
Safob Müller unb auf Münchenftein den Bäckermeiſter
Niklaus Munzinger; die übrigen Landvdgte in diefen beiden
Aemtern waren alles „Herren”. Nur „Herren” treffen wir
ferner auf Ramftein, welche Vogtei aber nod) im 17. Zahr-
hundert mit derjenigen von Waldenburg ift vereinigt worden;
ben Häuptern referviert blieben bie beiden rechtsrheinifchen
Vogteien Otieben und Kleinhüningen.
Neben den beiden Klafien ber Vürger und Nieder
gelaffienen gab es in Baſel aber nun mod) eine dritte
Kategorie von Einwohnern, die fowohl aus Bürgern, bezw.
DVürgerföhnen, als aud) aus Landesfremden — zu fleinem
Zeile fogar aus Intertanen!) — beftand, von denen jedoch
aud) erftere weder das aktive nod) das paffive Wahlrecht be.
faBen, da fie außerhalb der SZunftverfafiung fanden; e$
waren dies die fogenannten Cives Academici, bte akademiſchen
93ürger ober Univerfitätsverwandten, bie unter eigenem
Rechte ftanden und ihre befonderen Privilegien hatten. Nur
eine ganz verfehwindend Heine Zahl aus ben bei ihnen in-
forporierten Bürgerföhnen tft in bie Sünffe eingetreten und
bat am politifchen Leben aktiven Anteil genommen. Don
Heinrih Ryhiner ift [don bie Rede geweſen; drei weitere
Beifpiele find die beiden Oberftzunftmeifter Bernhard
Strand (geb. 1523, geft. 1594), gewefener Profeflor der In-
Ritutionen, und Sobann Rudolf 93utdbatbt (geb. 1585, geft.
1657), Profeflor der Ethik, fowie der befannte Gbronift unb
1) Sd) erinnere an die Lieftaler Familie ber Strübin, bte
burdj viele Generationen hindurch bie Pfarrer zu Bubendorf und
Ziefen geftellt Bat.
97 7
Stadtſchreiber Chriftian Wurftifen (geb. 1544, geft. 1588),
gemejener Profefior ber Mathematik an unferer Univerfität.
Ein ganz eigentümlicher Gall ereignete fid) Ende des 17. Sabt-
bunbert$ mit den 93aubin, die bekanntlich ſchon 1542 in ber
Derfon des berühmten Arztes Dr. Sobanne8 Bauhin aus
Amiens nach 93afel gefommen waren; feine Nachkommen —
durch Generationen binburd) Profefloren an biefiger 2Iniberfi-
tät und bemnad) afademifche Bürger — waren infolgebeffen
nie in den Fall gefommen, förmlich um das hiefige Bürgerrecht
einzufommen. Gie galten — befonders da fie fid) von jeher
mit DBürgerstöchtern verheiratet hatten — allgemein als
richtige Vollbürger. Als nun 1691 Johann Ludwig 93aubin,
€icenciat der Rechte, als 93eifi&er an das Stadtgericht ge-
wählt wurde, ftellte fid) heraus, daß er gar nicht Bürger war
und daß bemnad) diefe Wahl für ungültig erklärt werden
mußte. Man bebalf fid) in ber Verlegenheit damit, daß
man ibm unb feinen Gefchwiftern, um der großen Verdienfte
ihrer Vorfahren willen, das Bürgerrecht noch nachträglich
fdbenfte, wie man es 1670 aud) den 23urtorfen gegenüber
fon getan hatte, bie ja gleichfalls feinerzeit als Gives
Academici nad) Baſel gefommen waren.
Caf Übrigens gerade die Akademiker, alfo bie gebildeten
Schichten der Bevölkerung, von der Teilnahme an ber Re-
gierung mehr oder weniger ausgefchloflen bleiben follten,
die baburd) eine rein merfantile Richtung erhielt, ift bod)
etra bie und ba [don im 18. Sabrbunbert als LHebelftand
empfunden worden. Einen intereflanten Beleg biefür be-
fiten wir in einem vom Mai 1787 datierten Memorial, das
Deter Ochs, der damals nod) — als Nachfolger Iſaak
Sfelins — Ratsfchreiber war, zum PVerfafler bat, und in
welchem derfelbe fon Damals die Errichtung einer befonderen
afabemifden Zunft verlangte. Sch erlaube mir, das ziemlich
umfangreihe Schriftftüd!) in feinen Hauptftüden mitzu-
1) Es findet fid) — leider nur in Kopie — jebt im Staats:
archiv unter den Alten „Zünfte A"; früher war es in Band O.8*
98
teilen, felbft auf bie Gefahr bin, daß fchon Gefagte8 wieder:
holt werde, unb (affe bloß bie Diftorijden Rüdblide weg,
in welchen fid) der Zerfaffer hauptfächlich über bie Organi-
fation der Stuben „zur Müde”, „zum Seufzen” und „zum
Brunnen” ausfprad, um zum Schlufle zu fonitatieren, daß
eine Wiederaufrihtung in anderer Form, wie er fie eben
plante, der Verfaffung nicht entgegen fei. Das Gutachten
lautete von Wort zu Wort folgendermaßen: „Wobhlweifer
Herr VBürgermeifter, hochgeachtete gnädige Herren! Niemand
iff vielleicht fo febr überzeugt, als ich es bin, daß in unferer
Heinen Republik, bei der nicht beträchtlichen Vollsmenge bie-
fer Stadt und hingegen bei der großen Anzahl der obrigfeit-
lichen Derfonen, bie Vermiſchung der Stände in ber 9tegie-
rung ein gutes Kennzeichen unferer Verfaflung ift. Das dient
zur Pflanzung des republifanifden Geiftes und der bürget-
[iden Eintracht. Dadurch tft ferners zu verboffen, bap man eine
beffete Auswahl haben werde und baB die vereinigten fennt-
nile verfchiedener Klafien in manchem Galle bie Gntbedung
bet anwendbaren Grundfäße erleichtern werde. Allein, um
biefe Vorteile zu genießen, muß nicht eine der nüßlichften
Klaſſen für ben obrigkeitlihen Stand gleichfam von ber Re-
sierung entfernt werden, ich meine bie Klaſſe derjenigen, bie
den Studien obgelegen unb ftd) den Öffentlichen Gefchäften
widmen. Nun ift leider ein folcher Ausfchluß immer mehr
zu befürchten, unb nad) und nach bat fid) derfelbe im Laufe
diefes Sabrbunbert$ vorbereitet. — Die erfte Veranlaflung
dazu fann darin gefucht werden, daB man jener Klaſſe den
Zutritt auf gewiflen Zünften gefperrt bat, wo fie ehedeſſen
ohne Anftand angenommen werden mußte. Es war im
16. Jahrhundert ein allgemeiner Grunbfaó, daß wer fein
ber vaterländiihen Bibliothek enthalten. Cs ift nit unwahr-
ffeiniid, daß es dahin aus bem Rachlaſſe von Bürgermeifter Wie
[anb gelangt ift, von bem genannte Bibliothek aud) fonit nod) ver-
ſchiedene Aufzeichnungen bejaß, jedenfalls war es einft, wie wir nod)
(eben werden, im Beſitze von Wielands Schwiegervater Schweig-
Baufen gewejen.
99 di
Handwerk trieb, fid) zu jeder Zunft fchlagen fonnte, bie er
den Übrigen vorzog — oder, nad) der damaligen Sprache,
„nda dienen mochte, wohin er mollte"". Und noch gegen Ende
des vorigen 17. Zahrhunderts findet man davon ein be-
fannte8 Zeifpiel in der Perfon des Doktor Heinrich Petri,
ber Sechſer auf G. G. Zunft zu Schneidern war. — Die zweite
Urfache des bevorftehbenden Ausfchluffes fee ich in ben
Vergleich, fo bie Herren Vorgeſetzten der Ehrenzünfte zu
Spinnwettern und Schmieden wegen einer fogenannten
Darität unter fid) getroffen haben. Denn dadurch find bie
Erledigungsfälle für jede Klaſſe feltener geworden; und wenn
ein Studierter eine diefer Ehrenzünfte angenommen bat, fo
fann er fid) faum träumen [affen, je vor Neige des Alters zu
einer Sechfer- oder Ratsftelle zu gefangen. — Eine dritte
Urfache fd)reibt man mit Grund der Einführung des Lofes
zu, infonderheit bem Los zu Sechſen. Die natürliche Folge
davon war fogleich, daß der Eifer für bie Studien von Jahr
zu Jahr nachließ, indem die Eltern burd) bie Ungewißheit
einer Beförderung von den Unkoſten ber Univerſitätsjahre ab-
gefchredt wurden und täglich mehr abgefchredt werden. —
Gnbíid) bat bie Zunahme und Vervielfältigung der Hand-
lungszweige die Anzahl der Herren vermehrt und den Stu⸗
dierten wenige Pläße übrig gelaflen. Da nun die Herren
Kaufleute arößtenteils das fremde Geld ins Land bringen
und burd) ihren Aufwand oder durch Heiraten und Erbfälle
unter G. E. Vürgerfchaft, bobe und niedere, nad) und nad)
verteilen — des Pfundzolles!) nicht einmal zu gedenken
— fo will die Billigkeit, daß fie fi in dem obrig-
feitlihen Stand erhalten, und gleichfalls macht e$ das Ge-
meinwefen zur Notwendigkeit; denn nicht nur ihre eigene
Sicherftellung, fondern auch bie Unterftügung ber allgemeinen
Anduftrie und Handelfchaft, bie Erfahrung in Berechnungs⸗
fachen, bie Berichtigung kaufmännifcher und anderer damit
verwandter Anftände, bie Interhaltung duferlider Ver-
1) 3. 5. bes Eingangszolles.
100
bindungen, bie richtige unb fdleunige Kenntnis der poli-
tifhen Begebenheiten anderer Staaten und die minder
oder mehr anftändige Erziehung und Lebensart find fo viel
Betrahtungen, bie zu gunften der Herren Handelsleute das
Wort reden. — Aus diefer Lleberfiht der Urfachen, welche
bie Veförderung ber Studierten erfchweren, iff. leicht zu '
fchließen, baB bie Zukunft feine befferen Ausfichten verfpricht.
Wir fónnen das Gegenteil umfo weniger erwarten, ba bie
Folge hierin felbft zur Urfache wird. Die fchlechten Aus-
fihten machen daß immer wenigere gründlich ftubieren; unb
je wenigere ftubieren, befto ſchwächer empfindet man ben
Mangel und defto minder eifrig erzeigt man fid), bemfelben
abgubelfen. Weil aber feine glüdliche Regierung ohne Auf-
Härung, feine Aufllärung ohne Kultur des Geiftes, feine
nüslihe Kultur des Geiftes ohne zwedmäßige Studien in
der Länge Plaß haben fann, alfo foll es billig jeder gut-
benfenbe Vürger zu Herzen faflen, wie er fein Vaterland, und
infonderheit bie Nachkommenſchaft, vor den traurigen Seiten
bewahren möge, wo man zwar mit gutem Wiffen unb Ge-
wiflen ber beften Meinung folgen möchte, wo aber, in
verwidelten oder nicht gewöhnlichen Fällen, wenige vorhanden
fein dürften, um angemeflene Vorſchläge zu eröffnen unb
felbige zu prüfen, zu berichtigen oder zu unterftügen. Jeder
gutbenfenbe Bürger foll eingebent fein, baB feine Vaterftadt,
bei Aufnahme in den eibgenóffifden 93unb, in 93etradt der
bei uns blühenden Univerfität, ben Rang vor Freiburg und
Solothurn erhielt; er foll. in ?fngebenfen behalten, daß bie
berrlichften Zreibeiten, jo unfer Bafel in den 14. und 15. Zahr-
Dunberten von den Kaiſern erlangte, baB die glüdfelige
Bereinigung zur löblichen Eidgenoflenfhaft, daß bie Final⸗
verfomnis mit den Herren Bifchöfen, baB der glänzende
Einfhluß in den weftfäliihen Frieden folchen Standes-
gliedern zu verdanken find, die teils aus der Regierung ihren
einzigen Beruf machten, teils Zöglinge der QUiffenfdjaften
waren. — Solche wichtige Betrachtungen fordern mich gegen-
101
wärtig auf, bei Euer Gnaben in aller 2Intertünigfeit zu
erfcheinen, und zwar „„zugunften derjenigen, bie den Gtu-
bien in ihrer Jugend obgelegen, wenigftens bie academifche
Stufe eines 9Dbilojopbiae Doctoris und Studiofi in einer
höheren Facultät beitiegen haben, weder Kaufmannſchaft noch
Küunſte, nod) Sjanbmerfe treiben, und auf den Zünften, wo
Herren aufgenommen werden nur eine [páte Beförderung ober
gat feine vorfehen. Zu dem Ende nehme id) bie Freiheit, um
bie Erneuerung einer der fogenannten Stuben bei Hochdenfel-
ben in pflichtfchuldigfter Ehrfurcht anaubalten."" — Es ift
befannt, daß um die Zeiten des eidgendffifchen Bundes ber
Rat aus drei Rlaffen beftanb: aus den Rittern und ben zwo
Stuben (deren Vereinigung bie hohe Stube genannt wurde)
und aus den Zünften, bie man ohne Unterſchied mit ber
allgemeinen Benennung von Handwerkern bezeichnete; denn
Handwerker und Zunftangehörige waren in bem Mittelalter
gleid)bebeutenbe Wörter”. — Das Memorial fchließt bann
mit den Worten: „Weil nun, wohlweifer Herr 93ürgermeifter,
gnübige Herren, alle Betrachtungen der Q3illigfeit, des un-
leugbaren Wohles des Staats unb ber Fundamentalver-
fügungen unferer Zerfafiung fid) zu Gunften meines beft-
gemeinten Vorſchlages vereinigen, fo wiederbole id) mein
untertänigftes Begehren dahin, ,,bap Euren Gnaden ge-
fallen möchte, bie Wiederberftellung der Stube zu gewähren,
bod) mit bem Unterfchiede, daß fie zweckmäßiger eingerichtet
und nur den Cfubierten eingeräumt werde."". Das wird
ein unfehlbares Mittel abgeben, ohne Aufwand nod) Swang
— fondern lediglich durch den natürlichen Lauf der Dinge
— ben Studien wieder aufzubelfen, das Anfehen unferes
Baſels zu erhöhen und eine Pflanzfchule für die Gerichte
und ben obrigkeitlichen Stand zu ftiften."
Ochs fügt bann nod) einen Statutenentwurf bei, den wir,
feiner oft febr charakteriftiichen 23eftimmungen wegen, eben-
falls noch in der Hauptfache mitteilen wollen. Die Einleitung
zu Demfelben lautet folgendermaßen: „Artikel ber zu erneuern-
102
ben Stube: fie wird heißen bie Stube oder Zunft zum Q9or-
beerzweige. Ihr Wappen wird ein Andreasfreuz von zwei
€otbeerameigen in einem weißen Gelbe fein, ber Ootbeergmeig
als Kennzeichen ber Wiflenfchaft und bie weiße Farbe als
Rennzeichen der Reinheit ihrer Abficht. Man wird anfangs
fein befonderes Haus kaufen nod) unterhalten, fondern fid)
mit einer geräumigen Stube im Kollegio oder anderswo
begnügen.” Es folgen bie einzelnen Paragraphen, von
denen id) aber nur die wictigften anführen will unb bie:
jenigen mehr allgemeiner oder bloß interner Natur (über.
geben: „Das academifche Bürgerrecht wird neben bem
Stubenrecht befteben fónnen bis und fo lange man in ben
Heinen Rat befördert werde oder eine Predigerftelle erhalten
babe; Kandidaten abet werden nad) erbaltenem Gechlertum
bie Kanzel nicht mehr befteigen. — [uper ben ffein- unb
großen Ratsgefchäften unb ben allgemeinen Pflichten ber
Borgefesten übriger Zünfte (a8 Bevdgtigungen, Abnehmen
der Pogtsrechnungen, Verwaltung des Stubenſeckels, ge-
wöhnlihe Publikationen) werden bie Vorgefesten bie Auf:
Härung in Sachen des gemeinen Wefens befördern und
tüchtige Staatsmänner und Richter zu bilden trachten. Sie
werden die erlangten Ilniverfitätsfenntniffe und Fertigkeiten
auf biefigen Stand und Juſtizpflege anwenden und näber
richten und beftimmen. Zu dem Ende werden fie Anfangs
gemeinſchaftlich daran fein, daß über jedes Fach pragmatifche
und mit Erläuterungen begleitete Auszüge von ihnen gemacht
werden, Damit fie in der Folge befondere Eorpora Doctrinae
daraus verfertigen und um fo defto Leichter nachführen
mögen. Dach diefem werden fie einen Zufammenzug aus
benfelben abfaflen und jedem neuen Zunft⸗ oder Stuben-
genofien ein Eremplar davon auftellen, welches ihm ber alte
Ratsherr ober Meifter unentgeldlich erklären unb ihn darüber
nad) Verlauf eines Sabres in Gegenwart der übrigen Vor-
gefe&ten befragen wird. — Syeber Sechfer wird fchuldig fein,
wenn ein Standesglied von den Übrigen Zünften einigen
103
Unterricht über unfere Regierung verlangte unb zu ibm
geben wollte, ihm diefen Unterricht unentgeldlich zu geben,
bod) fo daß er nicht verbunden fein folle, fid) mit mehr als
einem folchen Unterrichte auf einmal zu beladen. Sollte
man ibm dafür eine Belohnung antragen, fo wird er fie
zwar annehmen, aber folche dem Sedel der Stube einliefern.
— Die Q3orgefebten werden fid) ein Verzeichnis der außer:
ordentlichen, beftrittenen unb fchweren Fälle über unfere
Politik und Syuftigpf(ege nad) und nad) verfertigen, zu Seiten
fid) über bie Entwidlung derfelben verabreden, und nad)bem
fie die nötigen Unterfuchungen angeftellt, fid) zufammentun
und ihre Gedanken einander mitteilen. — Geder neue Stuben:
genofle wird verfprechen, fid) als ein aufgeflürter Menfchen-
freund, ein frommer Chrift, ein biederer Eidgenofle, ein
treuer Untergebener der Obrigkeit, ein eifriger Bewerber ber
Ehre und des Wohles unferes Bafels, ein befcheidener und
wabhrheitsjuchender Zoͤgling der Wiflenfchaften, ein fried-
[iebenber und republifanifch gefinnter 93ürger unb erem-
plarifcher, tätiger und vorfichtiger Hausvater in allen Zer-
fallenheiten des öffentlichen und privaten Lebens zu betragen.
— Wenn Parteien (fie mögen zünftig fein wo fie wollen)
das Armenrecht von unferen gnädigen Herren erhalten haben,
wird jeder Stubengenoß, der zugleich aud) Advofat iit, fid)
willig erzeigen, felbigen unentgeldlih vor Gericht und Rat
zu dienen, und zu Belohnung beffen werden ihn bie Herren
PVorgefesten zu einigen Beftellungen nad) Maßgabe ber
gebabten Mühe als Kiefer oder überzähligen Sechfer ziehen.
— Die Stubengenofien werden abwechslungsweije dreimal
des Jahres in Gegenwart der Herren Vorgeſetzten über
flimulierte Anläſſe teils Reden halten, teils 23erat(d)lagungen
anftellen, teif$ Prozeſſe führen.”
Es möge mir geftattet fein, nod) einige wenige An-
merfungen dazu zu machen: Zunächſt glaube ich, ift dieſes
Dokument ein neuer Beweis für bie Reinheit ber politifchen
Abfichten von Ochs. Es atmet einerfeitS durchaus ben
104
Geift der damaligen idealen wirklichfeit3- unb meltfremben
Rouffeau’fhen Aufllärung unb iff dann andrerfeitsS bod)
wieder fo topifd) fchweizerifch, daB man fid) beim Durchlefen
geradezu in bie Kreife der belvetifchen Gefellichaft verfebt
glaubt. Beſonders das von den Stubengenoffen anftatt des
fonft üblichen Zunfteides abzulegende Verſprechen gemahnt
volftändig an das Gelübde, das bie Mitglieder ber bel-
vetifchen Gefellfchaft bei ihrem Eintritt ablegen mußten unb
iff wohl bireft dorther übernommen. Als Schüler Iſaak
Sfelins ermeiff fid Ochs bann in der Forderung, bie
Stubengenofien follten fid) zur eigenen unb fremden 23e.
[ebrung Auszüge aus Gefchichte und ZVerfaffung der Heimat
machen; die vaterländifche Bibliothek befíGt nod) ein paar
Bände folher Auszüge von Sfelins Hand; und einem andern
Schüler desfelben, dem bekannten Dekan Johann Jakob
Huber zu Siffach, verdanken wir das wertvolle Gompenbium
des GStatutarium DBafilienfe, unter anderen eine der wich-
tigften Quellen aud) für unfere vorliegenden Unterfuchungen.
Beſonders bemerkenswert will mir Dchfens ganz moderner
Vorſchlag zur Errichtung eines eigentlichen ftaatswiflenfchaft-
[iden Seminars mit obligatorifchen Debatten für bie Zunft-
brüder und der Verpflichtung, unentgeltlihen Unterricht in
Bürgerkunde zu erteilen, erfcheinen. Intereſſant iff dann
aud) bie in der Einleitung zum Ausdrud gefommene überaus
bobe Wertung und Einfhäsung des damaligen baslerifchen
Saufmannsftanbe8 — alfo der „Herren“, wie er fie ja felbft
auch fo bezeichnet —, der in ber Sat eben in der großen
Mehrzahl feiner Glieder auf einem febr hoben geiftigen
Niveau fand und fid) auf feinen nicht nur zur rein fom.
merziellen, [onbern aud) zur geiftigen Ausbildung unternom-
menen, nicht felten mehrjährigen Reifen einen fiheren Ylid
und einen weiten Horizont erworben hatte, der ihn bod) bis
zu einem gewiflen Grade dazu befábigte, fi) der Staats⸗
leitung anzunehmen. So viel ich verftehe, will Ochs bie
bloß afabemifden Bürger nicht ämterfähig machen, fondern
105
will nur ben Vürgerföhnen, bie alademifche Berufe treiben —
mit Einfhluß ber Sbeologieprofefloren, mit Ausfchluß aber
ber Pfarrer — ermöglichen, fid) aud) politifch zu betätigen,
was ihnen bisher, bei der ftarfen $[eberfüllung der [don
beftebenben Zünfte durch bie Vertreter ber Raufmannfchaft
unb des Handwerfs, [o gut wie abgefchnitten war. 93efannt-
lich bat erft bie Verfaſſung von 1833 allen Gelehrtenberufen
ohne Ausnahme den Zutritt in den Großen Rat geöffnet;
1835 ift bann bie afabemifd)e Zunft errichtet worden.
Es dürfte nun nicht unintereffant fein, bie Erforderniffe,
bie $909 an den Eintritt in bie von ihm projeftierte „Stube
zum Lorbeerzweig“ ftellte, zu vergleichen mit den Anfor:
derungen, bie bie alademifche Zunft für ihre Mitglieder ver-
langt. Erftere follte errichtet werden „ zu Gunſten derjenigen,
die den Studien in ihrer Jugend obgefegen, wenigftens bie
afabemi[de Stufe eines 9Dbilojopbiae Doctoris und Stu:
bioft in einer höheren Fakultät beftiegen haben, weder Kauf:
mannfchaft, nod) fünfte, noch Sanbmerfe treiben, und auf
ben Zünften, wo Herren aufgenommen werden, nur eine
fpäte Beförderung oder gar feine vorfeben." Die Statuten
der alademifchen Zunft beftimmen: „Mitglieder diefer Zunft
find fämtlihe Stadtbürger, welche an den öffentlichen Qebr-
anftalten als Profefloren oder Lehrer angenommen oder
Mitglieder des Minifteriums oder Doctores der Medizin
find; aud) andere Bürger, welche eine wiflenfchaftlihe 93il-
dung erworben haben, fónnen die Aufnahme in diefe Zunft
verlangen.” Der Anterſchied der beiden Zaflungen ift in
die Augen fpringenb, und jede charakterifiert ganz vortrefflich
ihre Zeitepoche: dort noch bie änaftlihe Rüdfichtsnahme auf
eine beengende Zunftverfaffung, bie nun aber doch gu-
gunften eines neuen Standes burd)brod)en werden foll, und
baber ber ffatfe Otad)brud, ber auf bie Zurückweiſung ber
Kaufleute und Sanbmerfer gelegt wird; bier dagegen bie
einfache Aufzählung aller zum Eintritt Berechtigten: eine
Einladung an alle Gebilbeten ohne Ausnahme. DBegreiflich
106
if, daß Ochs auf bie Wahlart durch das Los nicht gut zu
fprechen ift, ba ja gerade bie Gelehrten in erfter Linie ihre
Otadjteile zu fpüren befamen; denn wenn je6t unter 6 Kan—
bibaten, bie für ein Amt in Vorfchlag famen, fid) aud) ein
Studierter befinden mochte, fo war feine Chance bod) um
fehsmal Heiner als früher. Auch hatte bie Einführung des
9ofe8 bie fogenannten „Praftiten”, b. b. bie Beeinflufiung
ber Wahl durch gróbere oder feinere Beftechung, durch:
aus nicht gänzlich aus bem Wege zu fchaffen vermodt, nur
befchränkte fie fid) jest auf bie Zufammenfegung der ganzen
KRandidatenlifte und nicht mehr auf jeden einzelnen Be—
werber um ein beftimmtes Amt.
Das Ideal, das Ochs vorſchwebte und bem er mit feinem
Vorſchlag mit zum Durchbruch verhelfen wollte — die Herr:
fchaft einer Geiftesariftofratie — war und blieb eine Utopie;
fein Projekt ift nie von ben Räten behandelt worden; es ift
überhaupt wohl nie eingegeben worden. Der fpätere Rats:
bert und damalige Appellationsrat Johannes Schweighaufer,
bem offenbar Ochs fein Manuffript zur Begutachtung über-
geben hatte, äußerte fid) folgendermaßen über dasfelbe:
„Dante für bie Mitteilung; leicht ift ber Vorſchlag, fo ſchön
er fdjeint, nicht in Erfüllung zu fe&en. Die Bürger — unb
befonders die Handwerker — find nod) zu eiferfüchtig ba-
gegen. Den Rat zu vermehren ift [o wenig ratfam als viel-
leicht dem Gtaate vorteilhaft. Wenn einmal ganze Zünfte
der Handwerker — wie es bei einigen das ?[nfeben bat —
ausfterben, bann werden wohl für bie Gelehrten aud) Vor:
Ihläge zum Vorſchein fommen dürfen. Snbeffen rate id) ben
Academicis fid) fo auszubilden, wie bie angehängten 93ebing-
niffe e$ erbeifd)en, bann erfordert ihre Aufnahme das Wohl
des Vaterlandes. — Doc gelebt, dDiefe Stube werde ber-
malen errichtet, was wird der Gelehrten Gewinnft fein?
Teuer erfaufte Ehre, bie wenige bezahlen können, obne
darunter zu leiden, denn der Verfafler diefes Projects wird
feine Seinesgleichen dort antreffen. Ehre ift wohl ſchön, aber
107
fie nährt nicht alle auf gleiche Weife. Darüber könnte vieles
sefagt werden, mehr hier nicht. Nur follte man beim Ganzen
des gegenwärtigen Zeitpunftes Rechnung tragen, ber ganz
nicht für Neuerungen günftig zu fein fcheint.” — Dieler
Schlußſatz zeigt ung an einem neuen Zeifpiel, wie kurzfichtig
und falfch fefbft aufgeflärte Männer bie innere Lage der
Schweiz nod) am Vorabend der großen Revolution im all-
gemeinen zu beurteilen pflesten. Ochſens Größe dagegen
liegt darin, baB er fchon frühe bie Zeichen ber neuen Zeit zu
erfennen vermochte.
Als Anhang gebe id) im Folgenden noch die Liften ber
Bürgermeifter, Oberftzunftmeifter und Geheimen Räte von
zirfa 1650 bis 1798, mit Angabe der Zunft, aus ber fie
hervorgegangen find, und des Berufes, ben fie bisher be-
trieben hatten:
Lifte der Bürgermeifter.
1636—1659: Sob. Rudolf Fäſch, Spediteur; von Haus-
genoflen. |
1645— 1666: Sob. Rudolf Wettftein, gewejener Hauptmann '
in venetianifchen Kriegsdienften; von Reb-
leuten. | B
1660—1666: Niklaus Rippel, Stadtfchreiber, von Gartnern.
1666—1683: Sob. Rudolf ZYVurdhardt, 3. U. G., Gtabt-
fchreiber, von Safran.
1667: Andreas Burdhardt, gewefener Rittmeifter in
füóniglid) däniſchen Kriegsdienften; von Spinn-
wettern.
1667— 1683: Sob. Ludwig Krug, Eifenhändler; von Schmie-
den.
1683—1717: Emanuel Socin, gewefener Rittmeifter in fónig-
[ic ſchwediſchen Krriegsdienften; vom Schlüflel.
108
1684—1690:
1690—1691:
1691 —1705:
1705—1722:
4717—1723:
1722—1731:
..1723—1734:
1731—1760:
1734— 1760:
1760—1767:
1760—1762:
1762—1777:
^ 1767 —1796:
1777 —1789:
1789—1790:
1790—1798:
1796—1798:
Joh. Safob Yurdhardt, gewefener fanglift und
Kloſterſchaffner; von Sausgenoffen.
Franz Robert Vrunfchweiler, Spezerei- und
Materialwarenhändler; von Gartnern.
Lucas Burdhardt, S. U. Dr., geweſener Schult-
heiß des Stadtgerichts, von Hausgenoflen.
Joh. Balthaſar Burdhardt, 3. U. G., gewefener
KRanzlift; vom Schlüffel.
Joh. Safob Merian, Gifenbünbler; von Schmie:
den.
Andreas DBurdhardt, S. U. Lic.,
Kanzlift; von Spinnwelttern.
oh. Rudolf Wettftein, S. U. G., gewefener
fanglift; von Spinnwettern.
Samuel Merian, 93anquier; von Hausgenoflen.
Emanuel Falkner, Seidenbandfabrifant; von
Rebleuten.
geweſener
'Gelir 93attier, S3anquier; von Weinleuten.
Joh. Rudolf Fäfch, gemefener Oberftlieutenant
in fóniglid) franzöfifchen Kriegsdienften; von
Hausgenoflen.
Iſaak Sagenbad), Tuhhändler; vom Schlüflel.
Sohannes be Bary, Seidenbandfabrifant, vom
Schlüſſel.
Daniel Mitz, 3. U. Lic., geweſener Sani;
vom Schlüffel.
Sohannes Rohiner, Indiennenfabrikant; von
Hausgenoſſen.
Peter Burckhardt, Seidenbandfabrikant; von
Weinleuten.!)
Andreas Yurtorf, S. U. G., gemefener fanglift;
von Hausgenoflen.
1) Ein zweites Mal Bürgermeifter von 1811—1815, ſowie für
1812 Landammann der Schweiz.
109
Lifte bet Oberftgunftmeifter.
1650—1655:
1655—1661:
1656—1657:
1660—1664:
1683—1705:
1691:
1691:
1702—1730:
1731—1740:
1734—1735:
1762—1777:
1790—1798:
1796—1798:
Leonhard Wenz, Tuchhändler; vom Schlüffel.
oh. Heinrih Galfner, Klofterfchaffner; von
Weinleuten.
Joh. Rudolf S3urdbarbt, S. U. Dr., erit Pro:
feflor der Ethik, dann Stadtfchreiber; vom
Schlüfſel.
Benedikt Socin, Spediteur; von Gartnern.
Chriſtoph Burckhardt, 3. U. C., geweſener
Kanzliſt und Kloſterſchaffner; vom Schlüſſel.
Johann Heinrich Zäslin, Eiſenhändler; von
Schmieden.
Martin Stähelin, Goldſchmied, von Haus—
genoſſen.
Niklaus Harder, 3. U. Dr., geweſener Kanzliſt
und CdjultbeiB des Stadtgerichts; von Wein-
leuten.
Dietrih Forcart, S. U. E., gewefener Ranzlift;
vom Schlüffel.
Joh. Heinrih Bed, Sudbüánbler; von Gart-
nern.
Johannes Fäſch, Wollenhändler unb Wollen-
weber; von Garfnern.
Andreas Merian, S. U. G., Stadtfchreiber;
von Rebleuten.!)
Peter Ochs, S. U. Dr., Gtabtidreiber; von
Schmieden.
Lifte ber Geheimen Räte.
1645—1661 :
Sebaftian Bed, Klofterfchaffner,; von Wein-
leuten.
1) Bon 1803—1811 Bürgermeifter [orote für 1806 Landammann
der Schweiz.
110
1648—1655:
1650—1660:
1650—1656:
1653—1657:
1655—1665:
1656—16060:
1657—1666:
1660—1662:
1660—1672:
1661—1666:
1662—1675:
1663—1672:
1665—1666:
1666—1677:
1666—1707:
1667 —1670:
1669—1686:
1670—1691:
1672—1674:
Emanuel Ruffinger, Seidenhändler; von
Weinleuten. |
Bonifacius Yurdhardt, Seidenhändler; vom
Schlüſſel.
Wolfgang Gernler, 3. U. G., Notar; von Reb⸗
leuten.
Johannes Bienz, Rebmann; von Rebleuten.
Onophrion Merian, Spezerei- unb Mate—
rialwarenhändler; von Safran.
Johannes Stähelin, Eiſenhändler; von Schmie-
den.
Sob. Balthaſar Burckhardt, geweſener Haupt⸗
mann in markgräfl. badiſchen Kriegsdienſten;
von Rebleuten.
Jeremias Gemuſeus, Buchdrucker; von Haus:
genoſſen.
Johannes Dausmann, Kloſterſchaffner; von
Spinnwettern.
Stanz Brunſchweiler, Spezerei⸗ unb Material-
warenhändler; von Safran.
Lucas Hagenbach, Tuchhändler; vom Schlüſſel.
Leonhard Felber, Tuchhändler; vom Schlüſſel.
Joh. Heinrich Pfannenſchmid, Fiſcher; von
Fiſchern.
Jakob Beck, Kloſterſchaffner; von Weinleuten.
Daniel Burckhardt, J. U. C., geweſener
Kanzliſt; von Rebleuten.
Joh. Jak. Meltinger, Marſtaller; von Gartnern.
Joh. Heinrich Uebelin, Kloſterſchaffner; von
Weinleuten. |
Theodor 93urdbarbt, Tuch: und Seidenhändler;
von Safran.
Joh. Heinrih Ryhiner, Apotheker; von Gart-
nern.
111
1672—1676:
1672—1686:
1675—1691 :
1676—1706:
1683—1719:
1686—1689:
1686—1719:
1689—1709:
1690—1699:
1691—1693:
1691—1719:
1691 —1702:
1699—1714:
1701 —1713:
1701 —1708:
1706—1740:
1709—1736:
1713—1738:
Johannes König, Buchhändler; von Schiff:
leuten.
Andreas Mitz, Spezerei- und Materialwaren:
händler; von Safran.
Joh. Friedrich Wettftein, Klofterfchaffner und
Schultheiß des Stadtgerichts; von Rebleuten.
Niklaus Weib, S. U. Lic., gewefener Ranzlift
und Schultheiß des Stadtgerichts; vom Schlüflel.
Cafob Chriftoph Sfelin, Geibenbanbfabrifant;
von Gartnern.
Gregorius Brandmüller,
Sjausgenoffen.
Lucas Burdhardt, gewefener Kanzlift unb
Kloſterſchaffner; von Spinnwettern.
Joh. Rudolph Fäſch, Klofterfhaffner, von
Meinleuten.
Joh. Safob Socin, Spediteur; von Gartnern.
Emanuel Zäfch, gewefener Oberft und Brigade:
fommandant in Eaiferl. SKriegsdienften, von
Hausgenoflen.
Opeter Sarafin,Seidenbandfabrifant;von Safran.
Cob. Wernhard Huber, gewefener Lieutenant in
fónigl. franzöfifchen Kriegsdienften; von Safran.
Peter Raillard, Sudbünbler; von Haus:
genoflen.
Chriftoph DBurdhardt, S. U. Lic., gemefener
Kanzliſt; von Hausgenoflen. |
Leonhard Refpinger, Spezerei- und Material-
marenbünbler; von Safran.
30h. Bernhard Burdhardt, gewefener Saupt-
mann in Eönigl. franzöfifchen Kriegsdienſten;
von Rebleuten. |
Sofeph Gocin, Spediteur; von Hausgenofien.
Joh. Rudolf Burdhardt, S. U. E., geweſener
Kanzlift; von Spinnwettern.
Goldihmied; von
112
1714—1718:
1718—1742:
1719—1727:
1719—1728:
1719—1728:
1722—1738:
1724—1725:
1725—1738:
1728—1731:
1731—1761:
1734—1751:
1735—1750:
1736—1740:
1737—1758:
1737 —1744:
1738—1757:
Joh. Jakob Hoffmann, Geibenbanbfabrifant;
von Webern.
Lucas Fäſch, Wollenhändler und Wollenweber;
von Schiffleuten.
Auguftin Schnell, S. U. G., gewefener Kanzliſt;
von Gartnern.
Gbriftopb 93urdbarbt, gewefener Hauptmann in
fünigl. franzöfifchen Kriegsdienften, von Haus⸗
genoffen.
Martin Stähbelin, Goldfhmied; von Haus⸗
genoflen. |
93enebict Miß, Spezerei- und Materialwaren-
händler; vom Schlüffel.
Cyob. Konrad Wieland, S. U. C., gemejenet
Sanglift und Klofterfchaffner; vom Schlüſſel.
Daniel Louis, Spezerei- unb Materialwaren-
händler; von Safran.
Emanuel Müller, Seidenbandfabrilant; von
Weinleuten.
Sohannes Schweighaufer, S. U. G., Notar;
vom Himmel.
Lucas fjagenbad), Tuchhändler; von Webern.
Joh. $[(rid) Paffavant, gemefener Lieutenant
in fónigl. franzöfifhen SKriegsdienften; von
Weinleuten. |
Joh. Balthafar 93utdbatbt, Seidenbandfabri-
fant; vom Schlüffel.
Lucas Schaub, S. U. Lic., englifher Geſchäfts⸗
träger in Paris; vom Schlüflel.
Jakob Gbriftopb Grey, S. U. Lic., gemejener
Kanzlift; von Weinleuten.
Saat 93urdbarbt, gewefener Hauptmann und
Aidemajor in königl. franzöfifhen Kriegs⸗
dienften; von Rebleuten.
113 s
1740—1771:
1740—1754:
1740—1757:
1742—1748:
1744—1762:
1748—1750:
1750—1760:
1750—1773:
1751—1774:
1753—1769:
1754—1784:
1757 —1789:
1761—1787:
1762—1798:
1762—1765:
1765—1784:
1771—1792:
1771—1794:
1773—1777:
Sohannes Sarafin, Geibenbanbfabrifant; vom
Schlüſſel.
Johannes de Bary, Seidenbandfabrikant; von
Spinnwettern.
Joh. Rudolf Burckhardt, geweſener Kadett in
fónigl. franzöfifchen Kriegsdienſten; von Haus:
genoflen.
Abel Mis, Tuchhändler; von Schmieden.
Sohannes Merian, YBanquier; von Haus-
genoflen.
Niklaus Harfcher, Tuchhändler; von Gartnern.
Abel Wettitein, gewefener Lieutenant in koͤnigl.
franzöfifchen Kriegsdienften,; von Weinleuten.
oh. Balthaſar Burkhardt, Seidenbandfabri-
fant; von Rebleuten.
Joh. Lucas Sfelin, Tuchhändler; von Reb-
leuten.
Philipp Kern, 93ádermeifter; von S3rotbeden.
Seremias Ortmann, Banquier und Spediteur;
von Weinleuten.
Cob. Heinrih 3üslin,
Safran.
Benedict Stähelin, Eiſenhändler; von Webern.
Lucas Fäſch, geweſener Hauptmann in bol-
ländiſchen Kriegsdienſten; von Gartnern.
Emanuel Hoffmann, Seidenbandfabrikant; von
Webern.
Leonhard Reſpinger, Spezerei⸗ und Material-
warenhändler; vom Schlüffel.
Lucas Fäſch, gewefener Hauptmann in bol:
ländilchen Kriegsdienften; von Rebleuten.
Hieronymus Wieland, Seidenbandfabrifant;
vom Schlüfiel.
Soh. Ludwig Frey, Tuchhändler; vom Schlüffel.
Eifenpändler; von
114
1774—1798:
1777 —1796:
1777 —1784:
1777 —1798:
1784—1789:
1784:
1784—1788:
1787 —1798:
1788—1798:
1789—1798:
1789—1798:
1789—1794:
1793—1798:
1794—1798:
1794—1798:
1796—1798:
Sohannes Fürftenberger, Wollenhändler unb
Wollenweber; von Rebleuten.
Joh. Jakob Burdhardt, gewefener Hauptmann
in fónigl. franzöfifhen SKriegsdienften; von
Schmieden.
Marcus Heußler, Papierfabrifant, von Haus:
genoffen.
Friedrich Münch, Bäckermeiſter; von YBrot-
becken.
Hieronymus Burchhardt, Floretſeidenfabrikant;
vom Schlüſſel.
Joh. Jakob Thurneyſen, Seidenbandfabrikant;
von Gartnern.
Johannes Biſchoff, Banquier; von Haus—
genoffen.
Andreas Ortmann, 3. U. G., gewefener Sang:
lift; von Gartnern.
Sohannes Hagenbach, Tuchhändler; von Haus:
genoflen.
Abraham Iſelin, Sudbünbler; von Spinn-
wettern.
Hieronymus Gemuſeus, Spezerei- und? Ma—
terialwarenhändler; von Webern.
Niklaus Harfcher, Geibenbanbfabrifant; von
Weinleuten.
Emanuel Falkner, Seidenbandfabrifant,; von
Rebleuten.
Leonhard Burdhardt, Snbiennenfabrifant; vom
Schlüſſel.
Jakob Chriſtoph Roſenburger, Papierfabrikant;
von Safran.
Samuel Parqvicini,
Schmieden.
Eiſenhändler; von
115
Bin Eirchlicher Streit im Birsed
vor achtzig abren.
Nach ben Akten dargeftelit von Wilhelm Degen.
I.
Borbemerkungen. — Das Birsed und das proteftantifche Bafelbiet. —
Die revolutionären Ideen unb bie kirchlichen Angelegenheiten. —
Die Erledigung der Pfarrei Allſchwil. — Die Wahlart der Geift-
lichen. — Das „Verkommnis“ von 1830.
Wenn ein Dorf von der Größe Oberwilg — es zählte
bis in die neunziger Sabre des [e&ten Jahrhunderts weniger
als taufend Einwohner — in feiner Geſchichte eine militärifche
Okkupation wegen Auflehnung der DBürgerfchaft gegen die
gefeglihe Ordnung zu verzeichnen bat, fo muß ein folches
Ereignis fid) in dem Gedächtnis ber Mitlebenden und in bet
Tradition etlihe Generationen hindurch tief eingegraben
baben. ch erinnere mich denn auch aus meiner Sugenb-
zeit, mit welch gefpannter Aufmerkſamkeit jeweilen Augen-
zeugen aus den Tagen der fogenannten „Zandjäger-
Gefchichte" angehört wurden, wenn der Fluß der IUnter-
haltung etwa an einem Winterabend auch bie benfmirbigen
Greignife von 1834 unb 1835 beríübrte. Schon der Um—
ftand, bap ich eine ganze Reihe der Beteiligten nod) perfön-
[id) fannte, mußte in mir den Wunfch meden, diefe Lokale
Epifode gelegentlih im Zufammenhang zu erzählen. Ein
auch nur oberflächliches Studium der Alten lehrte mid) bann,
daß ben Vorfällen wegen ihres 3ujammenbanges mit ben
liberalen Tendenzen innerhalb der Eatholifchen Kirche eine
116
tiefere Bedeutung al8 nur diejenige eines Drt(id)en Streites
um bie 93efe&ung einer Pfarrftelle zulam, und biefe Grfennt-
nis mußte mid in meiner Abficht beftärfen. rüber oder
fpäter bätte die Affäre, das ift meine feffe Lleberzeugung,
bod) einen Bearbeiter finden müflen, denn bie auf bet
Kanzlei des bafellandfchaftlichen Obergerichts in Lieftal ver-
wahrten diden Bände wohlgeordneter Alten fónnen nicht
anders als einladend wirken; bat bod) fchon ber verftorbene
Oprofeffor Albert Burdhardt-FZinsler das Thema gelegentlich
mit andern den Mitgliedern feines biftorifchen Kränzchens
zur Bearbeitung empfohlen.
Meine Darftelung bringt übrigens nicht bie erfte 23e-
handlung der Angelegenheit, denn es ift bereits einmal ein
ganzes Büchlein über fte gefchrieben worden. Aber biefe
Dublikation ift [don Längft vergriffen, und ich vermochte fie
froß vielfachen Nachfragen bloß nod) in zwei Eremplaren
feftzuftellen.‘) Cine neue Bearbeitung des Themas redbt-
fertigt fid) aber noch aus andern Gründen. Das erwähnte
Büchlein erfhien wahrfcheinlich bald nad) bem Abſchluß ber
Ereigniffe, bie feinen Inhalt ausmachen, und bie Ano—
nymität, in die fid) allem Anfchein nach der Verfafler hüllte,
weift darauf bin, daß wir es nicht mif einer von rein
biftorifchen Rüdfichten geleiteten Publikation zu tun haben.
Der Autor war offenbar ein Kleriker ber liberalen ober
bod) fiberalifierenben Richtung — er bemüht fid) übrigens
gar nicht, feinen perfönlihen Standpunkt zu verdeden —
und darum hält er fid) etwas lange bei der Schilderung Kirch:
licher 3uftánbe unb der Erörterung der Differenzen zwifchen
der geiftlichen Behörde und ben ftaatfiden Organen auf,
während das, was für ein fpäteres Geſchlecht bie Hauptfache
fein dürfte, bie Zufpigung des Konflikts big zur Rataftrophe
unb die Einzelheiten fiber biefe, etwas zu fura kommt.
1) Stud) diefe Eremplare weijen beide einen unliebfamen De-
feft auf: das Titelblatt fehlt, und es ift weder Autor, nod) Jahr
bes Cridjeinens, nod) Drudort feftzuftellen.
OMS or ee SER
117
Was fodann bie rein politifche, nicht religiöfe unb kirch⸗
[ide Bedeutung der Oberwiler Landjäger-Gefchichte betrifft,
fo darf fie einigermaßen auf Beachtung Anfpruch erheben als
Beitrag zur Beleuchtung der Schwierigkeiten, mit denen die
leitenden Röpfe des jungen Staates Baſelland in ben erften
Jahren feines Beſtehens zu kämpfen batten. In Firchlicher
Beziehung machte ihnen zwar der proteftantifche €anbesteil
mehr zu fchaffen, weil nämlich deflen Geiftliche der Herkunft
ihrer Mehrzahl gemäß baslerifch gefinnt waren und bet
Lieftaler Regierung wegen ihres revolutionären Urfprungs
ben Sreueib nicht leiften wollten; man bebalf fid) mit von
weiterber, aud) aus bem Ausland, bezogenen Theologen und
madíe mit biefen in der Folge nicht durchweg gute Gr-
fabrungen, fo daß Firchliche Händel auf eine ganze Reihe von
OGabren an der Tagesordnung waren. So unruhig ging es
im fatbolifden Landesteil nicht zu, aber bie Regierenden
machten immerhin die Erfahrung, daß das ehemalige fürft-
bifhöflihe Territorium dem fogenannten alten 23afelbiet,
bem einftigen SÍntertanenfanb der Stadt, noch keineswegs
affimiliert war. Gerner zeigte fid auch bier, wie eigentlich
natürlich und wie man in der Folge des näheren erjehen
wird, eine ftarfe Nachwirkung ber Revolutionsjahre und der
von ihnen aufgebrachten Zdeen unb Anfchauungen, und zwar
in einem folchen Sinne, baB den Staatsmännern ber neuen
Hera das Regieren nicht erleichtert wurde.
Run lieferte zwar das Birseck, wie man bie neun
Zatholifchen, bis zur franzöfiihen Revolution zum Fürft-
bistum DBafel gehörenden Gemeinden des Kantons 23afel-
landſchaft zufammenfaffend nennt, ber Revolution von 1830
bis 1832 hervorragende Führer, bie wefentlih zu bem
ſchließlichen Refultat ber von ber Tagſatzung in Luzern aus-
gefprochenen Trennung von Stadt und Landfchaft Baſel
beitrugen. Doc mar auch bier die Stimmung keineswegs
einheitlich; in allen Dörfern gab es außer „Patrioten” auch
ſtädtiſch gefinnte „Ariftofraten”, und die Ortfchaft Reinach
i
118
mif einer überwiegend zu Baſel haltenden Bevölkerung
bildete für das DBirsed das, was Gelterfinden und das
Reigoldswilertal für den obern Rantonsteil barftellten. Die
Religion jedoch fpielte in der Basler Revolution feine Rolle,
wenigftens nicht in den Gedanken und Anfchauungen ber
großen Maffe, wenn fie aud) vom hiftorifchen Gefichtspuntte
aus als treibendes Motiv nicht ganz ausgefchaltet werden
darf: Lebte nicht in dem im Freihof zu Aeſch niedergelaflenen
Gefchlehte von 93farer ber einft öfterreichifch gefinnte unb
reformationsfeindliche Landadel fort, und war nicht bie
hervorragende Beteiligung diefer Familie an den Greigniffen
der erften dreißiger Sabre in erfter Linie der Ausfluß einer
biftorifchen Gegnerfchaft gegenüber der Stadt? Die Blarer
waren bod) von Haufe aus Ariftofraten, und ihr 93ünbnis
mit den Widerfachern ber bafelftädtifchen Herrfchaft trägt
feinesweas den Stempel eines von einheitlichen Auffaffungen
biftierten Zuſammengehens; es dürfte ihnen allerdings will-
fommen geweſen fein, baB fie an Stephan Gutzwiller einen
überaus tätigen und gewandten YBundesgenoflen bejaBen,
der, aud) in den Künften des Demagogentums bewandert,
das Bindeglied zwifchen ihnen und weiteren Bevölkerungs⸗
freifen bilden konnte.
Co wenig nun aud) religidfe Dinge und die fonfelfio-
nelle Zugehörigkeit der verfchiedenen Gegenden des neuen
Kantons bei der Trennung mitwirkten, ganz glatt ging es
für das junge Staatswefen in ber nächſten Zeit aud) in
diefer Hinficht nicht ab. Von einem fulturfampr in einer
etwa ein halbes Menfchenalter hinter der Erklärung des
SinfeblbatfeitSbogmas zurüdliegenden Zeit fann man aller:
dings nicht reden, denn es fanden fid) nicht bie Vertreter der
Gorberungen des modernen Staates und diejenigen Der
bierardifchen Anfprüche gegenüber, bloß teilweife ftritf man
fi um Dinge, bie in den fiebziger Jahren des legten Jahr⸗
hunderts bie prinzipielle Seite des Kampfes zwifchen Staat
und Kirche ausmadten. Lofale Urfachen führten dazu, daß
119
im Bolt Unzufriedenheit mit bem Vorgehen der geiftlichen
Behörden bei der Beſetzung von Pfarritellen entitand; ba lag
es nahe, daß bie „Patrioten”, bie in ben unrubigen Seiten
von 1830—33 für bie neuen Sbeen geftritten, bie Frage auf-
warfen, warum die Souveränität des Volles vor den
traditionellen Anfprüchen der fatbolifden Hierarchie Halt
machen follte in Dingen, die Glauben unb Dogma nicht
berühren. Das Eigentümliche an der Situation war, daß
gerade die Vertreter der Staatsgewalt und die Vorfahren
der fpäteren Rulturfämpfer bie Autorität des Biſchofs von
23afel verteidigen halfen, während die ftreng Klerikalen, alfo
bie Ultramontanen der damaligen Zeit, den Gemeinden das
Recht der Wahl ihrer Seelforger zugeftanden willen wollten.
Doch war bei biefem Austaufch der Rollen nicht das Prinzip
das treibende Motiv, fondern befondere Umftände in ben
Derfonenverhältnifien wiefen ben Parteien ihre Stellung an.
Am 4. Auguft 1834 verzichtete Pfarrer Weber in
Allſchwil auf eine weitere. Ausübung feiner geiftlihen
Gunftionen. Er hatte fein Amt in dem Dorfe neun Sabre
verfeben, nachdem er in dasfelbe gegen den Willen der
Mehrheit der Bevölkerung eingefeßt worden war. Webers
Rüdtritt war nicht freiwillig, denn ihm drohte bie Abfegung
duch den Biſchof, weil fein fittlihes Verhalten Anlaß zu
Klagen lieferte. Am 12. Auguft 1834 wandte fid) nun ber
Gemeinderat der Ortfchaft an bie Regierung in Lieftal und
ſprach ihr den Wunſch aus, e8 möchte den Gemeinden als
einem Zeil des fouveränen Volkes das Recht zugeftanden
werden, ihre Geelforger felbft zu wählen, wie das bereits
(laut Gefe& vom Dezember 1832) im proteftantifchen Landes:
teil fowie in mehreren anderen Kantonen der Gall fei. 23e-
gründet wurde das Gefuch außerdem mit bem Hinweis, daß
der Gemeinde viele Inannehmlichkeiten erfpart geblieben
wären, wenn fie [don neun Sabre früher das Recht bet
Dfarrwahl gehabt hätte, es fei ber ungmeibeutige Wunſch
der Gemeinde, baB fie als Geiftlichen ben zur Zeit in Räders-
120
dorf im Amt Pfirt wirkenden (aus Allſchwil ftammenben)
Abbe Adam erhalte.
Mit der Abfendung diefer Petition nad) Lieftal war
bie Stage zur Diskuffion geftellt, auf welche Weife im neuen
Kanton DBafellandfhaft bie Ernennung der katholiſchen
Geiftlichen zu erfolgen habe. Im Januar desjelben Jahres
waren auf einer von fieben Kantonen beichidten Konferenz
die fogenannten Badener Artikel vereinbart worden, die die
Wahrung der ftaatlihen Hoheit gegenüber den Macht:
anfprüchen der römifch-fatholifhen Kirche begmedten; fie
betrafen u. a. bie Plazetfrage, bie gemifchten Ehen, bie Be:
fteuerung der Klöfter, bie Verpflichtung der Geiftlichen zum
Eid auf bie fantonalen Verfaffungen, unb fie erklärten ferner
das Verbot der Abtretung von Kollaturen an geiftliche
Körperfchaften oder Behörden. Grundfäglih mußte die
Regierung des Kantons Yafellandfchaft, der den Badener
Konferenzbeſchlüſſen förmlich beigetreten war, dem von
Allſchwil erhobenen Begehren günftig geftimmt jein; es
fragte fid) bloß, ob fid) der Staat refp. bie Gemeinden ohne
weiteres das Rollaturrecht, ba8 Recht der Beſetzung erledigter
Opfrünben, zumweifen fonnten. 9m Birsed übte dasjelbe big
je8t ber Bifchof von 93afel aus. Er bejap es felbftverftänd:
lich uneingefchräntt, fo lange er zugleich weltlicher Gebieter
war, und aud) nad) der Belegung des Bistums durch bie
Alliierten im Jahre 1814 nahm es Zürftbifhof Franz
Xaver v. Neveu, der zu Offenburg lebte, neuerdings in
Anſpruch. Als bann die Kantone Bern und Baſel fid) in
ben Landbefit der einftigen Fürftbifchöfe teilten, anerkannten
fie die geiftlichen Rechte des Biſchofs, unb biefer widerftand
mit Erfolg bem Verfuhe Baſels, ein Uebereinfommen über
bie 93efe&ung der Pfarrftellen abzufchließen. Im Jahre 1828
erfolgte dann die Otefonftruftion des Bistums Baſel, bie
als bifchöflihe Refidenz Solothurn beftimmte und als erften
Snhaber des bifchöflichen Stuhles Sofepb Anton Salzmann
berief. Die Regierung von Baſel Inlipfte nun mit diefem
121
Perhandlungen an, und deren Ergebnis war eine vom
26. Oktober 1830 datierte Vereinbarung, ein [ogenanntes
Verkommnis. Darnach mußte beim Eintritt einer Vakanz
die erledigte Pfarrftelle durch den Dekan auf vier Wochen
ausgefchrieben und nad) Ablauf diefer Griff von feiten des
Defans eine Einladung zum Konkordats-Eramen erlaflen
werden, jedoch mit ber Beſchränkung auf Schweizer Bürger.
Zeugniſſe und Eramenarbeiten erhielt der Bifhof in Solo—
thurn zur Senjur, bod) batte diefer vor der eigentlichen Gr-
nennung die Regierung anzufragen, ob fie Einwendungen
gegen bie in Ausficht genommene Perfönlichkeit zu machen
babe; erfolgte feine (Gintebe, fo erteilte der Biſchof bem
Pfarrer die kirchenrechtliche Einfegung, der bifchöfliche
Kommiffar führte ihn in fein geiftliches und der Bezirks—
ftattbalter im Namen der Regierung in fein weltliches
Benefizium ein. Auf Grund diefes Verfommnifles waren
nad) dem Eintritt von Vakanzen bie Pfarreien in Gttingen,
Reinach, Alfhwil und Therwil beje&t worden.
Die Regierung in Lieftal erachtete nun diefes Ver:
fommnis nad) der Trennung des Kantons Bafel nicht mehr
für bindend und wollte mit der definitiven 23efeGung der
Pfarrei Allſchwil bis nad) bem Abſchluß eines neuen Ab—
fommens zumwarten. Über der Biſchof belebrte fie, daß
ihre Anfchauung einer Unkenntnis der Geſetze entfpringe;
es fei ein vom ofumenifden Konzil in Trient ausgefprochener
Grundfag, daß das Rollaturreht aller Eirhlichen Benefizien
dem Didzefan-Bifchof zukomme; im Birsed fei es immer jo
gehalten worden, der Status quo ante fei geblieben, al8 das
Gebiet laut Beſchluß des Wiener Ronarefies an Baſel über:
ging, und die Trennung von Stadt und Landichaft babe
daran nichts geändert. Auf diefen Beſcheid bin fchidte bie
Regierung den Pizepräfidenten des Landrats, Stephan
Guswiller, nad) Solothurn zum 3mede von Unterhandlungen
mit bem Biſchof, aber ohne ein eigentlihes Refultat zu
erzielen. Der Delegierte vertrat bie Auffaflung, der Stifter
122
unb Unterhalter einer Pfründe müffe aud) der follator fein
(ber 93efeSer ber Pfarrei); bie Bifchöfe hätten vor ber Re:
volution das Kollaturrecht als Landesherren und nicht in
ihrer bierarchifchen Eigenfchaft ausgeübt. Im übrigen [ei
die Regierung geneigt, ihre Rechte bei der Beſetzung er:
ledigter Pfründen entweder mit einer Tatholifchen Kom-
miffion oder mit den Gemeinden zu teilen. Der Biſchof
anerfannte zwar das Gewicht einzelner Argumente, bod)
wandte er ein, er müfle feinen Stuhl dem Nachfolger mit
denjenigen Rechten binterlaffen, mit welchen er ihn an-
getreten; er fei zu Unterhandlungen bereit, bod) werde ber
Umftand, daß bie Lieftaler Regierung proteftantifch fei, beim
Domkapitel, bem bie Entichließung auftebe, große Schwierig:
feiten madjen. Als Ronzeffion brachte Gutzwiller bloß einen
Zuſatz zum Verkommnis von 1830 zurüd, wonach bie Re-
gierung eine Prüfung der Kandidaten durch zu bezeichnende
fatholifche Geiftliche von fid aus ober in Gemeinfchaft mit
dem bifchöflichen General-Provifar fónne vornehmen Iaffen.
Die Allſchwiler erreichten immerhin fo viel, bap fie einft-
weilen einen Rapuzinerpater aus dem Klofter Dornach als
Pfarrverwefer erhielten, eine Löfung, bie noch heutzutage
im Birseck beim Ableben eines Geiftlichen üblich tit. Dekan
Gürtler hätte ihnen gerne feinen (unbefoldeten) Gehilfen
Abbe Schmidlin, einen gebürtigen Arlesheimer, gegeben,
aber fie widerfegten fid) diefer Abficht, fie wollten fid) nad
Gürtlers eigenem Zeugnis „von bem Pfäfflein in Arles-
beim feinen Pfarrer geben laſſen“. Was jedoch Gürtler im
Sommer nicht gelang, nämlich feinen Schügling Schmidlin
vorläufig unterzubringen, das jollte ibm im felben Spätjahr
glüden.
123
II.
Abbe Schmidlin al8 Vikar in Oberwil. — Politifche Größen in ber
Gemeinde. — Abbe Doswald als Refleftant auf bie Pfarrftelle. —
Schwierigleiten feiner Bewerbung. — Lärmende Störung des —
Gottesdienftes bei Anlaß feiner Probepredigt.
On Oberwil ftarb am 28. November 1834 in jungen
Jahren Pfarrer Defchger, und bereit3 am andern Tage fand
fi in der Gemeinde Abbe Schmidlin als vom Dekan ge-
ſchickter Verweſer eim. Gürtler meldete bie neue Vakanz
nad) Lieital, und bie Landestanzlei (nicht der Dekan, ber e3
nad dem „Verkommnis“ hätte tun follen), fdrieb am
13. Dezember die beiden erledigten Stellen auf drei Wochen
im Amtsblatt aus. Lnterdeflen batte fid) in Oberwil Vikar
Schmidlin bereits in den erften Wochen feiner Tätigkeit
einen ftarfen. Anhang zu verfchaffen gewußt. Namentlich
der weibliche Zeil der Bevölkerung war ibm faft durchweg
blind ergeben, und auch bei ber jungen männlichen Ge—
neration erfreute er fid) einer ausgefprochenen Beliebtheit.
Er logierte in der Mühle, dem Herrenhaufe des Dorfes,
und genop bie Gunft bes Müllers Andreas Hügly, ben man
al3 das Haupt der fferifalen Partei bezeichnen fann, wenn
fi aud) fein Einfluß mehr hinter ben Nuliffen als auf
offener Bühne zu betätigen pflegte. Einen ftarfen Rüdhalt
batte Hügly am Gemeinderat, denn befjen fünf Mitglieder,
Jakob Sütterlin, Leonhard Seiler, Fridolin Sbürfauf, Jakob
Düblin und Jakob Wehrlin, waren fämtlich feine Ge-
finnungsgenofien; zudem war die treibende Kraft im Ge-
meinberat der Schwiegerfohn des Müllers, Friedensrichter
Sbürfauf, während Präfident Sütterlin?) einer ber bab-
Lichften Bauern der Ortfchaft, fein Amt offenbar mehr feiner
ökonomiſchen Stellung als hervorragenden Fähigkeiten ver-
dankte, denn er bewies in den fchwierigen Situationen, bie
die Folgezeit brachte, durchweg einen unverkennbaren Mangel
2) Sein Dorfname war „Zollerjoggi.“
124
an Gelbftünbigfeit. An Regſamkeit des Geiftes war ibm ohne
Zweifel der Führer der Liberalen Partei überlegen — ſo—
weit man beim Fehlen einer Organifation und auch bei
bem ſtarken Hervortreten der perfönlichen ftatt der prin-
zipiellen Gegenfäge von Parteien überhaupt reden fanm.
Das war Landrat Peter Hügin, ein Mann, der fid) (don
lange in Gemeindeangelegenheiten eine angefebene Stellung
erworben unb aud) weiteren Kreifen moblbefannt war, denn
er war Mitglied des Bezirksgerichts Arlesheim und fpäter
des bafellandfchaftlichen ObergerichtS.
Dem „alten Hügin”, wie ihn die ältere Generation in
meiner Zugendzeit nannte, war es nun darum zu fun, einen
aufgellärten Geiftlichen in die erledigte Pfarrei zu bringen,
und er wandte fid babet an ben Fatholifchen Pfarrer in
Züri, ‚Robert Kälin, der als Student mehrmals feine
Serien bei dem langjährigen Pfarrer Nußbaumer in Ober-
Til verbracht hatte unb von jener Zeit ber einen Kleinen
Bekanntenkreis im Dorfe befaß, mit der Anfrage, ob er fid)
nidf um die Stelle bewerben wolle. Kälin antwortete, er:
freut über das ihm bewiefene Zutrauen, bap ihn Pflichten
der Dankbarkeit an feinen bisherigen QUirfungsfreis feflelten;
da es ihm indeflen leid täte, wenn die Pfarrei Oberwil in
bie Hände eines Lepviten fallen follte, der Judentum und
Knechtſchaft ftatt ein großartiges Chriftentum und Freiheit
predigen würde, fo empfehle er feinen Vikar Peter Dos—
wald, einen hellen, waderen, aufgef[árten Geiftlichen, für den
Hügin feinen Einfluß aufbieten folle. Der im Jahre 1809
geborene und aus Menzingen im Kanton Zug ftammenbe
Doswald begab fid) mit diefem Briefe Kälins am 11. De:
zember von Sürich nad) Oberwil, in der Abficht, fid) um die
Stelle zu bewerben und am nächften Sonntag in ber bortigen
Kirche zu predigen. Sym Dorfe angefommen, fragte er zu-
nächft nad) ber Wohnung von Landrat Hügin, ber ihm riet,
zu dem als Lehrer amtenben Abbe Kiefer und zum Verweſer
Schmidlin zu geben. Doswald tat das, ber Vikar aber ant-
125
wortete auf feine Anfrage, ob er am Sonntag predigen
dürfe, bie Erlaubnis dazu fei Cade des Defans, und biefet
würde eine folche faum erteilen. Doswald verfügte fid) zu
Hügin zurüd, und diefer riet ihm jest, fid an Regierungsrat
Meyer in Lieftal, den damaligen Präfidenten der Kirchen:
unb Schullommiffion, zu wenden, ibm den Zweck feiner
Reife auseinanderzufegen und fich über die ihm in den Weg
gelegten Hindernifle zu befchweren. Doswald hatte, wie er
fi fpäter äußerte, die Hoffnung auf einen Erfolg feiner
Reife eigentlich aufgegeben, aber Meyer fagte ibm, er wolle
es [don möglich machen.
Mit einem Schreiben Meyers, worin über Schmidlins
Benehmen Klage geführt unb Doswalds Erfuchen unter-
fügt wurde, begab fid) biefer am 12. Dezember gegen Mittag
nad) Arlesheim zu Dekan Gürtler, der zwar den Inhalt des
DBriefes (überaus ungnädig aufnahm, beffen Sleberbringer
aber fchlieflich bod) ein Schreiben an Vikar Schmidlin mit-
gab, worin er biejem überließ, bie Erlaubnis zum Predigen
zu erteilen oder zu verweigern. Doswald fam am Abend
des gleichen Tages zu Schmidlin zurüd, ber zwar jebt feine
Einwilligung gab, jedoch bemerkte, er [ei überzeugt, es
werde unfer dem Volke einen Aufftand geben, falls ein
fremder Geiftlicher am Sonntag den Gottesdienft halte; er
berief fid) auf den Willen des Gemeindepräfidenten, der
gegen die Erteilung der Erlaubnis fei. Am anderen Tage
al3 dem Ottilientag, dem Arlesheimer Kirchenpatronsfefte,
[eint man unter ben beim Dekan verfammelten 9Dfarrberren
des ganzen Bezirks auf unliebfame CEreigniffe vorbereitet
gewejen zu fein, wenigftens äußerte fid) Pfarrer Eueni in
Therwil nad) feiner Otüdfebr gegenüber Lehrer Anaheim,
er wifle nicht, wie e8 Doswald am Sonntag ergehen werde.
Auh Dekan Gürtler gab im Verhör zu, er babe fid) am
Dttilientag gegenüber Schmidlin (der laut Verabredung mit
einzelnen Gemeinderäten gelegentlich des Feſtes die in
Oberwil gefchaffene Sachlage mit bem Beazirkspfarrer be-
126
ſprechen follte) dahin geäußert, er febe ein, bap e$ eine
„Sauerei“ abfegen werde; unter den Geiftlichen, fügte er
hinzu, wurde gefagt, es fei eine Frechheit von Doswald, daß
er prebigen wolle, ohne fid) bei der Offizialität angemeldet
zu haben.
Unter biejen Umſtänden war es allerdings ein Wagnis,
daß Doswald tro& allen Sinberniljen auf feinem Vorhaben
beftand; er mochte fid) fagen, daß er nad) feiner Reife von
Zürich nad) Oberwil unb nad) feinen Befuchen in Arles-
beim und Lieftal immerhin auf einer Probepredigt beftehen
dürfe; viel zu verlieren batte er ja nicht mehr. Die Nacht
zum Sonntag verlief im Dorfe überaus unruhig; bie
„Knaben“, bie unverbeirateten jungen Burſchen, liefen in
der Ortfchaft berum, um bie Leute aufzufordern, nicht eber
in bie Kirche zu geben, als bis die Predigt zu Ende fei.
Schmidlin batte nämlich bei feiner Otüdfebr von Arlesheim
in der Mühle mehrere Gemeinderäte getroffen und mit ihnen
ausgemacht, baB er unmittelbar nad) Doswalds Predigt
das Hochamt halten werde. Einen direkten Anteil der Ge-
meinderäte an den Treibereien, die gegen den „fremden
Priefter” gerichtet waren, vermochte bie Unterfuchung nicht
nachzuweiſen, bod) war bie Gefchäftigkeit verdächtig, mit ber
der Knecht des Präfidenten, Johannes Häring, fowie bie
Söhne der Gemeinderäte Düblin und Geiler bie Agitation
betrieben. Dem Organiften Martin Ley?) wurden Prügel
angedroht, wenn er am Sonntag vor der Predigt bie Orgel
Ipielen würde. Vielleicht noch in der Nacht, als fid) die
jungen Leute in Privathäufern und in einer Pintenwirtfchaft
zufammenrotteten, wahrſcheinlich aber erft am Sonntag
Morgen, al8 man fid) unmittelbar vor bem Gottesbienfte auf
bem Kirchhof wieder von neuem beriet, wurde bann eine
andere Parole ausgegeben: Man follte nicht während der
Dauer der Predigt einfad) der Kirche fernbleiben, fondern
zum 3mede einer eindrudspollen Manifeftation die Kirche
5) Der jpätere langjährige Lehrer, T 1893,
127
beim Beginn ber Predigt in OXaffen verfajjen. Auf jeden
Gall beuteten alle Zeichen auf einen nabenben Sturm bin.
Der Sonntag fam. Doswald begab fid) vom Wirts-
haus zum „Ochfen”, wo er logierte, nad) der Mühle, um
Schmidlin abzuholen, ber ihn ziemlich unfreundlich empfing.
Etwa zehn „Knaben“ riefen bald Schmidlin beifeite, der fie
gebeten baben foll, ruhig zu bleiben, weil alles, was fie
unternähmen, nur ihm felber fchaden würde. Gegen 9 Uhr,
als bie Glode rief, machten fid) bie beiden Geiftlichen zur
Kirche auf, in deren Nähe unterdeflen verfchiedene Perfonen
von Anhängern Schmidlins angehalten und teilmeife fogar
bedroht wurden. Auf dem Kirchhofe wurde Schmidlin von
ben jungen Leuten mit demonftrativer Freundlichkeit begrüßt.
Der Gottesdienft begann. Martin Ley fpielte wie ge-
wöhnlich bie Orgel, nachdem ihm Lehrer Kiefer bie Furcht
vor ben am Vorabend vernommenen Drohungen zerftreut
batte. Schon während des Erdffnungsgefanges war es auf
der Emporlirche, wo bie „Knaben“ fapen, unruhig. Dos$-
wald beftieg bie Kanzel und verlas das Evangelium, das
handelte vom Wort Zohannes’ des Täufers: „Ich bin die
Stimme des Rufenden in ber Wüfte: NRichtet den Weg des
Herrn!” Als er eben bie Predigt beginnen wollte, erneuerte
fi bie Unruhe auf der Gmporfirdje und fteigerte fi, unter-
ftüst von folder im Chor, fogleich zu Lärm und Getöfe;
polternd fam eine ganze Schar von Klirchenbefuchern die
Sreppe herunter und bewegte fid), verftärkt durch im Chor
fi&enbe Männer, Grauen und Töchter, durch den Mittel-
gang nad) vorn bis dahin, wo auf der der Kanzel gegenüber:
liegenden Geite ein Gang zur Heinen Sire hinausführte.
Durch biefe begaben fid) etwa zwei Dritteile der Kirchen-
befucher, geführt vom älteften Cobne von Gemeinderat
Düblin, ing Freie, während einzelne von ihnen bie Sitzen—⸗
bleibenden mit Rufen „Ujä! Nochä, nod)d, wär eppis Rächts
if! Das fi Spisbuebe, wo binná blibä!“ zum Anfchluß
aufforderten unb den Prediger im Weitergeben verhöhnten
128
ober fogar „auslällten“. Deſſen ungeachtet feste der
amtierende Geiftliche mit Fräftiger Stimme feine ftangelrebe
fort, was einzelne der Demonftranten fo ftark ärgerte, daß
fie auf dem Kirchhof weiter lärmten; fie fchmetterten die
Kirchtüren unaufhörlich auf unb zu und riefen dem Priefter
wie feinen zurüdgebliebenen Zuhörern beleidigende und
böhnifhe Worte zu: „Gang abá, bu Cord)! Abä, bu
Dunnerwätter! Wollen fie nicht bald hinaus, die Spih-
buben, die Sjalunfen! Seid Ihr nicht bald fertig!" Diefen
empörenden Auftritten gegenüber verhielt fid Schmidlin, der
fi nod) vor Beginn des Gottesdienftes in der Sakriſtei
mißbilligend über Doswalds Vorgehen geäußert batte, —
durchaus paffiv, obihon Dekan Gürtler ihn ausdrüdlich et-
mahnt haben will, bie Leute von Unordnung abgubalten.*)
Dagegen fuchte Lehrer Kiefer den fanatifierten Lärmmachern
Vernunft beizubringen, er erntete jedoch für feine Be—
mühungen nur Grobbeiten.
Auf bem Kirchhofe machte jemand ben Vorſchlag, man
[folle wieder Dineingeben und den Prediger mit bem Beten
des Rofenkranzes niederbrüllen; im Verhör wollte ber Mann
dann bloß gejagt haben, man hätte es nicht fo machen, fondern
einen Rofenfranz beten follen. Die meiften Demonftranten,
namentlich bie ,,$Stnaben", zogen nad) dem Auszug aus der
Kirche dorfabwärts; in ihrem nod) nicht völlig geftillten
Satenbrang wollten fie ben beim Schulhaus errichteten
Freiheitsbaum umbauen, bod) brachte fie Präfident Sütterlin
von ihrem Vorhaben ab. Die Gemeinderäte waren während
der Predigt nicht in ber Kirche. Sie äußerten fid) fpäter,
fie hätten entweder gar nicht gehen wollen oder feien zu fpät
gefommen. Unter den Leuten hieß es, fie feien während
der Predigt im Haufe des Gemeinderats Wehrlin ver:
9 Der geiftlihe Anonymus jagt von Schmidlin: Unberührt von
äußeren Gegenftänden, fntete er vor bem Hocdaltare, anjdjeinenb in
heilige Betrachtungen vertieft, wie in Unterredung vor dem Aller:
höchſten.
129
fammelt gemefen, unb tatfächlich fonnte ben meiften von ihnen
bie Anweſenheit Dort nachgewiefen werden, nur wollten fie
einander nicht geſehen haben und aus unverfänglicher Ur—
fade zu Wehrlin, der einen Kramladen führte, gefommen
fein. Präfident Sütterlin behauptete erft, der Gemeinderat
babe bei feinem Mitglied Wehrlin eine amtliche Beratung
namentlich wegen des Gabholzes gehabt, bod) als feine Aus-
fage mit derjenigen feiner Kollegen nicht tübereinjitimmte,
meinte er: „Sch muß mich überjeben haben.” Hingegen be-
gaben fid) alle Gemeinderäte, nachdem nochmals mit allen
vier Gloden geläutet worden war, in das von Schmidlin
gehaltene Hochamt; eines der Parteihäupter, Alt-Präfident
Heinrich Sütterlin, zählte beim Eintritt bie in der Kirche
verbliebenen Zuhörer Doswalds böhnifch mit bem Finger
ab. Auf meljen Anordnung zum Amt ertra geläutet wurde,
fonnte wegen ber offenbar nicht aufrichtigen Ausfagen des
Siegrift8 93annier unb feiner Grau nicht feftgeftellt werden.
Nah dem Schluß des Gottesdienites fand nahe ber
Kirche Gemeindeverfammlung ftatt, an der aber offenbar
bloß das Amtsblatt verlefen wurde. Hierauf begaben fid)
fämtliche Gemeinderäte nad) dem im Unterdorf gelegenen
„Dchfen” und fragten Doswald, den auf bem Wege nad)
feinem Quartier das Gefchrei von Kindern: „Den Schmidlin
wollen wir!” begleitet batte, nad) feinen Ausweiſen.
Gemeinderat Geiler?) febte in Zweifel, daß er überhaupt
fatbolifd)er Geiftlicher fei, und meinte, mancher trage einen
Grad und fei bod) ein Spigbube; fpäter fchwächte er feine
Aeußerung dahin ab, er babe gefagt, es trage mancher einen
5) Geiler fatte aud) fonjt eine ziemlich idjarje Zunge; es tjt
beijpielsweije von ibm befannt, daß er, als er mit anderen Birs-
edetn von Basler Herren wegen Zahlung ber alten Bodenzinje ver-
flagt wurde, diefen vor Bezirksgeriht Arlesheim Prügel itatt Bo-
denzins offerierte. Die Beklagten itellten fid) auf den GCtanbpuntt,
die im neuen Kanton Bafellandichaft zuguniten der Allgemeinheit er-
hobenen Steuern auf Bermögen und Erwerb feien an Stelle ber alten
Feudallaſten getreten.
130
ſchwarzen Grad unb babe bod) darunter fein weißes Hemd
an. Ferner fagte der Ochfenwirt, ber fand, bie Gemeinbe-
räte feien dem Abbe jchändlich begegnet, vor bem Unter:
fuhungsrichter aus, die Anwefenden bätten alle lachen
míüffen, als bie Ortsgewaltigen mit dem „fremden Priefter“
hätten hochdeutfch fprechen wollen, es aber nicht fonnten.
Mit Datum vom 15. Dezember, doch erft als der
Regierungsrat bereit3 den Bezirksverwalter oder Gtatt-
halter) in Arlesheim mit einer Unterfuchung der Vorgänge
betraut batte, erftattete der Gemeinderat diefem Beamten
mittelft des folgenden, von Präfident Cütterlin unterzeich-
neten Schreibens Anzeige: „Wir Präfident und Gemeinde-
räte der Gemeinde Oberwiller machen Ihnen die Anzeige,
daß fid verwichene Woche, als ben 11. diefes ein fremder
Priefter in unfere Pfarrei begeben bat, Funktionen machen
zu wollen, ohne daß er bei uns Vorftebern angefragt bat; da
biefer Priefter Sonntags ben 14. biefe8 bie Kanzel betreten
foll haben, fo foll fid), wie wir vernommen, ein Aufftand
unter der Bürgerfhaft fid) ereignet haben, indem bie
Bürgerfhaft geglaubt, der fremde und unfennbare Priefter
wolle fid mit Gewalt in unfere Pfarrei eindringen und
denjenigen Priefter, ber untetbefjen von der geiftlichen 23e-
börde ift zugetan worden, zu verdrängen fuchen.
Wie mir in Kenntnis gefe&t worden find, foll obgefagtet
Aufftand in dem beftehen, als diefer unkennbare Priefter
bie Predigt foll angefangen haben, fo foll fid) beinahe bie
ganze Gemeinde aus der Kirche begeben haben, indem die
ganze Gemeinde, wenige ausgenommen, der wichtigen Q3e-
ftellung eines Geelforgers abwarten und inbep mit bem-
jenigen uns begnügen, ben bie geiftliche Behörde beftellt bat."
6) Der Name Bezirtsverwalter wurde offenbar aus Oppofition
gegen bie baslerijche Bezeichnung für die Vertreter ihrer Regierung
auf der Landihaft gewählt, er hat fid) aber nicht Tange gehalten,
man kehrte bald wieder zum altgewohnten „Statthalter“ zurüd.
131 d
III.
Prüfung ber fanbibaten für Allſchwil und Oberwil. — Oppofition
der Gemeinden gegen bie vom Q3ifd)of getroffenen Wahlen Doswalds
unb Anaheims. — Poftulate des ganzen Birsecks. — Beichlüffe des
Landrats. — Der bebrüngte Bifchof.
Auch ben geiftlihen Behörden famen bie Greignifje
bald zu Ohren. Drei Sage nad) bem biftorifchen Sonntag
berichtete Dekan Gürtler darüber an General-Provilar
Dr. Wohnlich, Domlapitular und Propſt des Stiftes
St. Martin zu Rheinfelden, und biefer wieder äußerte fid)
in einem Schreiben an die Regierung in Lieftal, der Skandal
fei lediglich burd) ein unüberlegtes Betragen des Herrn
Doswald provoziert worden, bem die Probepredigt vor
Landleuten bod) beim Biſchof und bei der Regierung nicht
viel hätte nützen fönnen. Die Gemeinden (Allſchwil und
Oberwil) fünnten nichts befleres tun, als Regierung
und Bifchof zu vertrauen, welche fid) je&t bie Hand bieten,
um ihnen Tenntnispolle und gute Geelforger zu geben.
Der General-Provilar verwies damit auf die bevorftehende
Prüfung, welde ein paar Wochen fpäter, nümlid am
13. und 14. Sanuar 1835, in Rheinfelden ftattfand. Als
Graminatoren fungierten bie Pfarrer von Ar in Witters-
wil unb Probft in Dornach, die ihren Bericht bereit3 am
15. Januar erftatteten. Die Prüfung umfapte neun Fächer,
námlid) 923ibelerf(árung, Dogmatit, Moral, Kirchenrecht,
Paftoraltheologie, Homiletif (Predigt und KRatechefe), Seel-
forge am ftranfenbett unb Pädagogik. Das Ergebnis wurde
fogleich bem Regierungsrat in Lieftal und von diefem bem
Biſchof in Solothurn mitgeteilt mit der Aufforderung, unter
den Bewerbern diejenigen zu bezeichnen, die er für die beiden
erledigten Pfarreien in PVorfchlag bringe. Der Biſchof
bielt fid) lediglich an die vorliegende Prüfungstabelle, da in
Hinficht der Sitten nichts Rlagbares vorliege, und beftimmte,
wer in feinem einzigen Fache die Note ber erften Klaſſe
errungen babe, fónne gar nicht in Frage fommen. Da num
132
von ben adf 23emerberm — Paul Adam von Alichwil,
Sofeph Anaheim von Loftorf, Sob. Berger von Gifen, Peter
Doswald von Menzingen, Sofepb Kiefer von Wihl, Joh.
Schmidlin von Arlesheim, 3. 93apt. Schmidlin von Arles-
beim und Sofepb Gu&miller von Therwil (defien Anmeldung
übrigens verfpätet einlief) — nur zwei btefer 93ebingung
genligten, fprach ftd) 93ifd)of Salzmann in einem Schreiben
vom 22. Sanuar für Anaheim und Doswald aus; wegen ber
in Oberwil oorgefommenen Greignifje folle Doswald nad)
Allſchwil geben, Anaheim alfo bie Pfarrei Oberwil über:
nehmen. Der Regierungsrat erklärte, bie vom Biſchof be-
zeichneten Geiftlichen feien ihm „Lieb und angenehm”, und
erfuchte den Bifchof, unverweilt deren Einführung in die
ihnen beftimmten Pfarreien anzuordnen. Mit einer ber-
artigen Mafnahme hatte es jedoch nod) gute Wege.
On Oberwil batte ber am 14. Dezember 1834 in der Kirche
angerichtete Skandal bie Geifter definitiv in zwei fi in
etbitterter Feindſchaft gegenübertretende Lager geteilt. Die
Mehrheit der VBürgerfchaft, deren Leiter auch terroriftifche
Mittel zugunften ihrer Sache nicht verfd)mábfen, wollten
alles daran fe&en, um Schmidlin als Geeljorger behalten zu
fónnen, während bie Minderheit, unter Führung von Land-
rat Hügin, in eine immer entfchiedenere Oppofitionsftellung
gegenüber dem Vikar unb bem ihn protegierenden Gemeinbe-
rat gedrängt wurde. Am 7. Sanuar 1835 richtete bie Mebhr-
beit an den Regierungsrat von Bafelland eine Petition für
Schmidlin, bie nicht weniger als 132 Unterfchriften trug
unb u. a. für bie Gemeinde das Recht ber freien Pfarrwahl
in Anſpruch nahm. Der bisherige Verwefer, fo fchrieben bie
Gefuchfteller, fei ihnen lieb und treu geworden, er würde mit
überwiegender Mehrheit gewählt werden. Gegen biefen
Willen der Gemeinde fuche eine Partei eine ſchwache Kon—
furrenz auf gewaltfame Weife herbeizuführen, welchem Ver⸗
fahren bie beim Auftreten des Herrn Doswald in ber
Kirche vorgefallenen Auftrifte allein beigumeffen feien. Es
133
ffebe zu befürchten, bap bie Gegenpartei bie Gemeinde ver-
unglimpfe, wie es fürzlich in den Öffentlichen Blättern (don
geſchehen fei") ferner, bap bie QCanbesfinber bintangeleót
würden. An der Spite der Unterfchriebenen ftand ber Ochfen-
wirt Matthias Stödlin, am Schluffe der ganze Gemeinderat.
Am 24. Zanuar, nachdem die getroffenen Wahlen in den
Gemeinden befannt geworden waren und Diele Nachricht
feinesweos zur 93erubigung der Gemüter beigetragen batte,
folgte eine Petition von Allſchwil, unterfchrieben vom
firdenrat und vom Gemeinderat, bie verlangte, es jolle
weder Schmidlin nod) Doswald die dortige Pfründe er-
halten. Schmidlin fei eine Kreatur Gürtlers, „welcher
unfere Pfarrei fdon gefd)dnbet bat mit der Aufdrängung
des Pfarrers Weber und unter melden Dantoffel wir nur
gezwungen aurüdfebren würden”. Doswald fei nod) jung,
man babe noch feine 93etveije für guten Wandel unb Sitten;
ungefe&lid)e Empfehlungen und fremdartige Papiere jeien
öfter unterfchoben, auch Weber babe folche mitgebracht, Doc
waren in fie bloß feine Lafter eingewidelt. „Wir verwahren
uns feierlich gegen folche Leute, Abbe Adam verdient vor
allen anderen den Vorzug.”
Die Oppofition von Allſchwil batte alfo einen weſent—
fid) andern Charakter als diejenige von Oberwil. Die
Stimmung der Bevölkerung war ebenfalls für die Berufung
eines ihr (don befannten Priefters, aber fie war bem Schüß-
ling des Defans, für ben die Oberwiler jid) einje&ten, gar
nicht hold. Das von ben Allichwilern verfochtene Prinzip,
bie Förderung ber freien Wahl, batte einen ficheren Unter-
grund, denn feine Vertreter fonnten die Erfahrungen der
7) Sm „Unerfhrodenen Rauracher“ wurde eine Polemik wegen
einer gegen den Lehrer Abbe Kiefer injgenterten Hege ausgefodhten,
bei der bte Gemeinde ſchlecht wegkam; ferner wurde diefe in einem
Bericht über den gegen Doswald aufgeführten Standal als moraltjd)
tief gejunfen bezeichnet. Bon „Hottentotten und Heiden,” wie aud)
pud „Schmidlianern“ behauptet wurde, babe id) in bem Artikel nid)ts
gefunden.
134
Bergangenheit zu deſſen Gunften anführen, während in
Oberwil die Anrufung der Vollsfouveränität bloß Mittel zu
dem Zwed war, bem aus einer perfönlichen Vorliebe für ben
Pfarrverwefer entfprungenen Anfpruh mehr Kraft zu ver:
leihen. Die Abneigung ber Allſchwiler gegen Gürtler bin-
berte fie allerdings nicht, in der Folge feine Bundesgenoſſen
zu werden. Wer bei biefer unnatürlichen Allianz bie minbere
Rolle fpielte, ob bie Alfchwiler, bie fid) mit ihrem Vorgehen
ausdrüdlich ber 93epormunbung burd) den Dekan entzogen,
oder der VBezirkspfarrer in Arlesheim, ber fid) in einen auf-
fallenden Gegenfat zum Bifchof ftellte und fid) nicht fcheute,
gemeinfame Cade mit ben Allihwilern zu machen, bie fo
defpeftierlih von ihm geredet, das ift leicht auszumachen.
Aber freilih, des Dekans heiter Wunſch, Schmidlin nad)
Oberwil zu bringen, fonnte eben nur bann in Erfüllung
geben, wenn bie birsedifchen Gemeinden das Recht der
Pfarrwahl erhielten, und fo ftieß er, gedämpfter zwar, in
das gleiche Horn wie bie Allichwiler, von deren adber Ent-
ſchloſſenheit er offenbar viel erwartete.
Die Regierung ſchritt zwar tiber bie beiden Eingaben
zur Tagesordnung, aber ihrem Vertreter im Bezirk Arles-
beim, Statthalter Stummler, gab bie widerfpenftige Stimmung
in den Gemeinden bod) zu denken. Am 28. Sanuar erfchienen
bei ibm die Allfchwiler Gemeinderäte Haufer und Werden-
berg und erklärten ibm bündig, die Kirche fei Eigentum der
Gemeinde, und biefe werde das Gotteshaus nur Adam
öffnen. Sn einem an die Regierung gerichteten Schreiben
fieht Rummler die Lage für überaus ernft an; er will zwar
den ganzen Gemeinderat von Allſchwil vor fid) berufen, bod)
erwartet er nicht viel von den Mahnungen, denn die Leute
feien furchtbar fanatifiert. Es ftánben Auftritte zu befürchten,
wie man fie vielleicht noch nie erlebt habe, denn man babe
e3 mit dem ganzen Fatholifchen Landesteil zu tun. Dann
Hagt der Statthalter über die Gerichte: Hätte das Ober:
135
gericht ſchnell eingefchritten in der Muttenzer Geichichte,?)
fo hätte es wahrfcheinlich feine QGalbenburger?) — unb wer
weiß, was fonft nod) bevorfteht — gegeben. Wegen der
Religionsftörung in Oberwil fei noch nicht eine einzige Perſon
verhört worden (vom Obergericht nämlich, deſſen Verhör⸗
fommiffion fid) erft am 2. Februar zur Spezialunterfuchung in
Oberwil einfanb). Bei der Regierung fand der Statthalter
fein fonderliches Gehör, denn fie wies den Beamten bloß
an, auf bem Wege der Belehrung bie Unzufriedenen von
ihrem Irrtum abzubringen, zur Ruhe unb Ordnung bin-
zuleiten und zu verhüten, daß Graefje entitehen.
On dem Stadium, in das die Pfarrwahlangelegenheit
zu biefer Zeit geraten war, konnte des Regierungsrats Wille
leider bloß ein frommer Wunſch bleiben, denn, wie bereits
der Statthalter angedeutet, hatten es die beiden Gemeinden
verftanden, den ganzen Eatholifchen Landesteil für ihre Sache
zu intereffieren. Eine vom 29., 30., 31. Sanuar und
1. Hornung 1835 datierte und an den Landrat gerichtete
Opetition, die von einer Verfammlung „aller gut benfenben
Bürger aus dem Birsed” in Reinadh!?) ausging, machte
das Begehren der beiden Gemeinden zu einer Angelegenheit
des ganzen Bezirks. Das Virsed, beiBt es darin u. a., fühlt
8) In Muttenz fam es im Sabre 1833 zu [djmeren Unruben,
weil fid) bei Anlaß ber von Regierungsrat und Landrat befd)fojjenen
Abberufung des Pfarrers tyebr zwei einander heftig befehdende Par⸗
teien gebildet hatten. Es wurde ſogar ein militärtfches Einfchreiten
notwendig,
9) Die Regierung Hatte Pfarrer Jäck in Waldenburg die Aus:
übung geijtlicher Funktionen unterjagt, unb als er verhaftet wurde,
befreiten ihn im Auguft 1834 bie Waldenburger, was ebenfalls zu
einem Truppenaufgebot führte.
10) Nach bem geijtfidjen Anonymus las Verweſer Schmidlin
am Tage ber Berfammlung extra eine Frühmeſſe, zu dem Zwede
und in der Meinung, auf fie den Gegen des Himmels unb ben hl.
Geijt Herabzurufen; vor der Wahl, namentlich zur Zeit der Prüfung
in Rheinfelden, habe er Wallfahrten für eine „gute Wahl“ begün-
figt unb zum gleiden Zwede oftmals die Kinder feiner Partei
zum Rofenfranz verjammelt.
136
ben Mangel an gefe&lid)en Beſtimmungen binftcbtlid) feiner
firhlihen ?íngelegenbeiten. Während DBafel, biefe fonit
berrfchfüchtige Stadt, bem fatbolifden Landesteil eine eigene
PVerwaltungstommiffion zugeftand und bie Rechte der Be:
fenner des fatbolifd)en Glaubens nie antaftete, warten die
Birseder nod) immer vergebens auf bie Ausführung von
S 25 der Verfaflung (in biefem wurden bem Birseck bie burd)
ben Wiener Kongreß zugeficherten Rechte gewährleiftet); fte
baben wohl nod) eine eigene Kirchenguts-Verwaltungs:
fommi[fion, aber ihre Ausfchüfle werden in Kirchen: und
Schulangelegenbeiten nicht zu Rate gezogen, und die 23e.
lebung ber religiöfen Elemente ift Männern anvertraut, bie
weder bie fatbolifd)e Religion noch bie befonderen Firchlichen
und traditionellen Rechte des Birsecks fennen. Im pro:
teftantifchen Landesteil hingegen bat der Staat den Ge:
meinden das freie Wahlrecht abgetreten, ohne auf bie
Reklamation des Basler KRonfiftoriums zu hören. Die
Volksſtimme fpricht fid) laut und börbar für die Gleich:
ftellung aus; auch in Uri und Unterwalden werden bie Geijt-
lichen feineswegs auf Lebenszeit, fondern immer bloß auf
eine gewifle Anzahl Sabre vom Volke erwählt. Der Bilchof
bat etit neulich bem Regierungsrat gefchrieben, er wolle ibm
das Beftätigungsrecht übertragen; fonnte er das fun, [o
fann er nod) viel natürlicher biefes Beſtätigungsrecht ben
Gemeinden überlaffen. Die Gemeinden müflen bie Priefter
erhalten, ihr Fonds ift das weltliche Benefizium, das fie
ihnen erteilen, und dafür gehört den Gemeinden das Wahl:
reht. Der Landrat möge entweder neue Verhandlungen
mit dem Biſchof anknüpfen oder von fid) aus Liberale Gefebe
erlaflen, bie dem Volke bie Souveränität nicht fchmälern.
Sodann wird dem Regierungsrat die Kompetenz zum
Abſchluß eines Verkommniſſes beftritten, biefe fomme bloß
dem Landrat zu; ferner fei beim Abfchluß allfälliger SLeberein-
fommen, welche das Birseck und den Katholizismus be:
treffen, ein Ausſchuß aus diefem Landesteil zu Rate zu
137
ziehen, unb ſchließlich fei bei allen Wahlen den Kantons-
bürgern ein Vorrecht zu gewähren, wenn gleiche Befähigung
ba iff oder bie erforderliche Prüfung beftanben iit, mit Aus:
nahme jedoch derjenigen Kantone, welche Gegentecht halten.
Der Streit gelangte alfo vor den Landrat, während
Bifhof Salzmann vergebens verfjuchte, den renitenten Ge-
meinben fowohl bie Tadellofigkeit wie bie Gefegmäßigfeit
der von ihm getroffenen Wahlen beizubringen. Es gefchah
dies in einem vom 30. Sanuar 1835 datierten Hirtenbrief;
darin wird darauf verwiefen, wie der Biſchof nad) Vorſchrift
der Kirchengefebe gehandelt babe, welche es ibm zur Pflicht
machten, unter den geprüften Bewerbern bie würdigften zu
wählen, unb es wird den Pfarrangehörigen verfichert, fie
würden gute Ceelenbirten erhalten, denen fie ihr volles 3u-
trauen fchenten dürfen. Am Schluffe feines Hirtenbriefs
ſchrieb Biſchof Salzmann, der Präfident unb bie Gemeinbe-
räte möchten das Schreiben fämtlihen Pfarrangehörigen
befannt geben. Dies ift nun in Oberwil nicht gefchehen, zum
mindeften nicht in einwandfreier Weife. Der Hirtenbrief
fand fid) nämlich faft ein volles Zahr fpäter, als der ganze
Gemeinderat wegen Fahrläſſigkeit in Unterfuhung fand,
unter den Papieren des Präfidenten Cütterlin vor; als dann
bie Bürgerfehaft angefragt wurde, ob das Schreiben an einer
Gemeindeverfammlung verlefen worden fei, verneinten das
52 Bürger, während 41 andere, darunter der Gemeinderat
und feine Anhänger, entweder behaupteten, es fei verlejen
. worden oder fie hätten fonft davon Kunde erhalten. Wann
jedoch bie fragliche Gemeindeverfammlung follte ftattgefunden
haben, darüber fonnte niemand beftimmte Auskunft geben;
es wurde bloß behauptet, e8 fei das in früher Morgenftunde
in des Präfidenten Haus gefchehen, um ben in Baſel
Arbeitenden Gelegenheit zur Teilnahme an der Verſamm—
[ung zu geben. Sm Protokoll der Gemeindeverfammlungen
findet fid) fein Vermerk.
Ein paar Tage nad) dem Abgang diefes Hirtenbriefs,
138
am 4. Zebruar, wurde von Oberwil aus ein Schreiben an
den Landrat gerichtet, worin 29 Bürger, an ihrer pibe
Landrat Hügin, erklärten, „alle vom Biſchofe getroffenen
oder nod) zu treffenden Anordnungen als Katholiken achten
und ehren zu wollen”, und fid gegen bie Schritte unb
OfeuBerungen ber 132 verwahrten, weil fie die bifchöfliche
Autorität verfannt und verhöhnt hätten. Hügins Anhänger
biegen bald im Hinblid auf ihre geringe Anzahl Acht:
undzwanziger, bisweilen findet fid) aud) ber Cpottname
„Bottsnamler”, weil ihre Erklärung begann mit: „Im
Namen Gottes. Amen.” Diefe Oberwiler Minderheit et-
hielt aud) Sukkurs, allerdings nicht aus Allſchwil, wo fid)
nod) feine Gegenbewegung angebahnt zu baben fcheint,
fondern aus bem näher gelegenen, aber nicht direkt beteiligten
S bettvil, von wo aus fid) 85 Bürger in einer Sufchrift an bie
Regierung gegen bie Erklärung der Gemeinden des Birsecks
ausfprahen. Vermutlich hängt biefe Stimmung in Ser.
wil damit zufammen, daß der für bie Oberwiler Pfarrei
dDefignierte Geiftliche Anaheim in dem erftgenannten Dorfe
als Lehrer wirkte. Die Therwiler galten übrigens als in
firhlihen Dingen nicht Leicht trätabel, denn fie hatten fid)
ein paar Syabre vorher des Pfarrverwefers Schaub, jeSigen
Pfarrers in Reina, einfach dadurch entledigt, daß fie ihn
zum Dorf binausfübrten.
Der Landrat überwies zunädhft am 2. Februar bie
Detition aus bem Birsed an eine Rommiffion von fünf
Mitgliedern, worauf das Plenum des Rats das Trak—⸗
tandum am 23. Februar behandeln konnte. Die Mehrheit
bet Rommiffion, beftebenb aus Landratspizepräfident Stephan
Guswiller, Obergerichtspräfident Frey und Anton v. Vlarer,
war der Meinung, fowohl das Verkommnis vom 26. Of:
tober 1830 wie ber von Stephan Gutzwiller ermirfte 3uja6
vom 10. November 1834 feien gültig, bie getroffenen Pfarr-
wahlen alfo rechtskräftig, bie vier übrigen Begehren ber
dirsedifhen Gemeinden hingegen — Beiziehung eines fatbo-
139
lifden Ausfchufles bei ber Abfchließung von das Birseck be-
rührenden $[ebereinfommen, freies Wahlrecht mit der Ein-
ſchränkung, daß dem birsedifchen Ausfhuß bie Kompetenz
zur Beftätigung ber von ben Gemeinden getroffenen Wahlen
guftebe, Aufhebung der Lebenslänglichkeit der Pfarritellen
und Vorrechte ber Rantonsbürger — feien gerechtfertigt; ba
jedoch vertragsmäßige Verhältniffe mit bem Biſchof befteben,
fo folle ber Regierungsrat mit Verhandlungen zur Verwirf-
fidjung biefer 93egebren beauftragt werden. Die Minder-
heit, .beftebend aus Landratspräfident Aenishensly und
Oberrichter Vogt, beftritt dem Regierungsrat die Befugnis,
durch eine Abänderung des Verkommnifles von 1830 diefem
felbft eine Art von Beſtätigung zu erteilen, daber folle das
Abkommen vom 10. November 1834 ben Birseckern nicht
binderli fein, ihren Wünfchen mnadgumerben; in ben.
übrigen Punkten pflichtete fie ber Mehrheit bei. Der Land:
rat befchloß nun aunddft am 23. Februar nad den Vor—
ſchlägen ber Rommiffionsminderbeit, bie Fatholifch-Firchlichen
Angelegenheiten feien einer befonderen Rommiffion aus bem
Birseck zu übermeijen; die gegenwärtigen Eatholifchen Geift-
[iden feien als proviforifch erklärt und bei ber einftigen
MWiederbefegung nicht mehr wählbar. Am 24. Zebruar
jedoch, alſo am Sage nachher, erkannte bie Mehrheit des
Rates bie unberechenbare Tragweite diefes DBefchlufles!!)
unb fchwächte deſſen Bedeutung dadurch ab, daß bie Stelle,
welche bie amtierenden Geiftlichen für proviforifch und [püter
nicht mehr wählbar erklärte, al8 Redaktionsfehler wieder
geftrichen wurde. Zugleich wurde beftimmt, bap bie Rom:
miffion für bie Eatholifch-Firchlichen WUngelegenheiten aus
11) Der geiltliche Anonymus behauptet, der Landrat jet einiger:
maßen von der Tribüne beeinflußt worden, von wo aus ganze Scha-
zen von Birsedern, mit tüchtigen Stöden bewaffnet, ben Verhand⸗
lungen folgten. Landrat Hügin wurde, wie fid aus Prozeßakten
ergibt, an biejem Tage auf der Straße vor bem Rathauje von Ge:
meinderat Geiler, der in Begleitung mehrerer Gefinnungsgenojjen
war, mit ber Fauſt bedroht.
140
fieben Mitgliedern befteben und bereits am 1. März, an der
Faſtnacht, vom Volle gewählt werden jollte.
Diefe Wahl fand in Arlesheim wirklich ftatt. Es ſcheint
an diefem Sage im Vezirkshauptort recht Lebbaft zugegangen
zu fein, denn, wie dem „Unerſchrockenen Rauracher” zu ent-
nehmen ift, fchleppten die Allichwiler drei Böller oder
„Katzenköpfe“ mit, bie jedesmal, wenn wieder ein Mitglied
ber Rommiffion gewählt war, auf dem Domplatz eine Salve
abgaben, [o baB an ben Häufern des Herrn Süry und der
Zungfrauen Geigy an ber 9plaófeite faft alle Scheiben
fprangen. Die Kanoniere meinten alsdann, bie Leute
hätten eben während des Schiefens bie Fenſter öffnen und
die Läden fchließen follen. In Oberwil gab es beim Auszug
der Schmidlianer zur Arlesheimer Verfammlung einen Auf:
lauf, weil Schmied Häring eine von ibm feit ber Revolutions⸗
zeit verwahrte Fahne des patriotifchen Vereins nicht beraus-
geben wollte. Zu Tätlichkeiten fcheint es indeflen nicht ge-
fommen zu fein. An bem Wahlakt in Arlesheim beteiligten
fi 412 Stimmen; es wurden gewählt Friedensrichter
Simon und Landrat Paulus Vogt in AMlihwil, Friedens:
tidfer Thürkauf in Oberwil, Landrat Schaub in Gttingen,
Präfident G[d)minb in Therwil, Landrat Nebel in ?fefd)
und Dekan Gürtler in Arlesheim. Diefe Rommiffion beauf-
fragte einen aus Simon, Vogt und Gürtler beftehenden
engeren Ausfhuß mit der Erledigung der Gefchäfte, der fid
dann aud) eifrig an die Arbeit machte, ibm lag nun haupt:
fächlich bie Auseinanderfegung mit bem Biſchof ob.
Diefer erklärte allerdings ben Abgeordneten des Virseds,
als fie bei ibm in Colotburn vorfprachen, er fühle fid) ge-
brungen, vorerft eine Zufchrift an den Landrat zu richten,
ehe in Interhandlungen eingetreten werden fónne; aber ba
der Landrat fid) an bie birsedifche Rommilfion hielt, jo befam
bod) dieſe bie Weiterführung der Angelegenheit in ihre
Hände. Zn feinem vom 22. März datierten Schreiben be-
merkt der Bifchof u. a., e8 fei ihm gleichgültig, welche 23e-
141
hörde das Recht der Genehmigung der von ibm getroffenen
Pfarrwahlen ausübe, ob Regierungsrat oder Landrat oder
birsedifche fommijfion; nur müffe er beftimmt willen, woran
er fid) zu halten babe. Beim Antritt des Bistums babe er
fi zum Grundfag gemacht, als ein wahrer Vater des
Friedens zu allem, was möglich fei, gefällige Hand zu bieten,
nur dürfe der Landrat nicht das Unmögliche von ibm er-
warten. Daß 3. 3. fämtlihe fatbolifde Pfarrer als
proviforifch erklärt werden, widerftreite allem Rechte, und
bie Beſtimmung der Verfaſſung Über die Zeitdauer poli-
tifher 93eamtungen auf Fatholifche Pfarrer anwenden zu
wollen, das bedeute einen Eingriff in bie Rechte ber Kirche.
Er, der Bischof, finde an der Firhlihen Disziplin und an
dem Wiener Friedensihluß eine Schranfe, bie er bei all
feinem bewährten DNachgiebigkeitsfinn nicht überfchreiten
dürfe.
Diefes Schreiben wurde der birsedifchen fommijfion
zur Begutachtung überwiefen, bie zur Erledigung des Auf-
trags mehrere Wochen brauchte. Unterdefien wandte fid) der
Regierungsrat, bei bem der Statthalter von Arlesheim auf eine
Befeitigung der in Oberwil unbaltbar gewordenen Situation
drängte, an den Landrat mit der Aufforderung, fid) genau
und deutlich darüber auszusprechen, ob bie auf Grund des
Berfommnifles vom 20. November 1834 vorgenommenen
Wahlen Anaheims und Doswalds gültig feien oder nicht.
Am 22. April gab bie birsedifche Kommiſſion ihr Gutachten
babin ab, daß der Biſchof fid) nicht auf ben Wiener Friedens⸗
Ihluß berufen fónne, weil er ben Statusquo butd) das
Verkommnis von 1830 verändert habe. Wegen Verlegung
der Formen — Ausfchaltung des Defanats bei der Aus—
fchreibung der vafanten Stellen — feien bie Wahlen Ana-
heims unb Doswalds ungültig. Als Letter unterfchrieb das
"Gutachten Dekan Gürtler, auf ben offenbar das ganze
Schriftftüd, in der Hauptfache ein Plädoyer für Schmidlin
und Adam, zurüdgeht. Am 18. Mai beftätigte der Landrat
142
feinen Befhluß vom 24. Zebruar, mit der näheren Er:
läuterung jedoch, daß die beiden Verkommniſſe fo lange als
rechtskräftig anzufehen feien, bis ein anderes Verkommnis
an beffet Stelle gefegt und vom Landrat janftioniert fein
werde. Ein folches fam mit Ratifilationsporbehalt bereits
ein paar Tage fpäter, am 22. Mai, zuftande; darin wurde
beftimmt, daß bie Eanonifche Snftitution feinem neu erwählten
Pfarrer erteilt werden dürfe, ehe bie birsedifche Kommiſſion
ihre Genehmigung ausgefprochen, fowie daß fähigen Be:
werbern aus dem Dirsed der Vorzug vor Nichtkantons-
bürgern folle zuerkannt werden. Diejes Ergebnis der Be:
mühungen der Rommiffion fonnte nun nicht anders als
dürftig genannt werden, denn dem Biſchof follte nad) wie
vor das Wahlrecht verbleiben, und er mußte bloß mit der
Firchenrechtlichen Einfeßung eines Geiftlid)en warten, big bie
birsedifche Rirchenfommiffion ihre Genehmigung erteilt hätte.
Der Entwurf wurde aud) nie dem Landrat vorgelegt, ba
die Delegierten fid) gegenüber dem Regierungsrat den An-
fhein gaben, es werde nod) etliches an ben Beftimmungen
abgeändert unb erweitert. So fam es, daß diefer Entwurf
zu einem Verkommnis auf ben weitern Gang der Dinge
nicht im geringften einwirkte.
Als ber Otegierungsrat von Baſellandſchaft den Biſchof
vom Landratsbefchluffe vom 18. Mai in Renntnis feste und
ihn um die Snftallation der beiden Pfarrer erjuchte, ant-
wortete diefer am 23. Mai, wegen ber in den beiden Ort:
ſchaften herrfhenden Stimmung trage er je6t Bedenken, den
zwei Pfarrern die Eirchenrechtlihe Einfeßung zu erteilen;
aud) ift er fid Über den legten Landratsbefhluß nidt ganz
Har (offenbar batten die Delegierten ibm eine ihren
Wunſchen entfprechende Auslegung gegeben), denn ber bud)-
ftäblihe Sinn fale bie Deutung zu, bie Anerkennung der
beiden neuernannten Pfarrer fei nur vorübergehender
Natur. Es bleibe ihm alfo nichts anderes übrig, als in
Geduld abzuwarten, wie fid) der Landrat hierüber näher und
143
beftimmter ausfprechen werde. Der Biſchof hatte wohl das
Gefühl, bie Situation bedürfe in Anbetracht ber von Baſel⸗
[anb ber an ihn gelangten widerfprechenden amtlidhen und
privaten 9feuperungen zunächſt einer Klärung.
IV.
Scharfe Parteigegenfäge in Oberwil. — Unficherheit unb Otaufereten.
— Ger Zuror der Weiber. — Schlägerei an einer Gemeindeverfamm-
lung. — Nachficht des Gemeinderats.
Schon bie Nachrichten über bie innere Lage der beiden
Gemeinden berechtigten Biſchof Salzmann zu feiner ab-
wartenden Haltung. Speziell in Oberwil geftaltete fich die
Situation geradezu bedrohlich; bie PDarteigegenfäte Tpisten
fid) derart zu, daB mande Leute für ihre perfönliche Sicher:
heit fürchten mußten. Am 26. Februar 1835 abends wurde
eine Anna Maria Wittlin, als fie ihren Vater in das Haus
von Landrat Hligin begleitete, mit Steinen beworfen und
am Hals gefährlich verlegt, fo baB fie drei Wochen arbeits-
unfähig war. Fünf junge Burſchen wurden als Täter
eruiert und zu 16 Granfen Schadenerfab fowie zur De:
zahlung der Roften verurteilt. In der Nacht vom 8. auf ben
9. März foll auf das Haus von Gemeinderat Düblin ein
Schuß abgegeben worden fein, bod) wurde bie Sache burd)
die Unterfuchung nicht aufgeklärt, denn es fand fid) in einer
Zenfterfcheibe ein rundes Loch von einem halben Zoll Durch:
mefjer vor, aber in der ganzen Stube nicht bie mindefte Spur
von einem Geſchoß; wahrfcheinlich wurde nur blind gefeuert.
Nett muB es bann am 17. März in der Kirche zugegangen
fein, denn Statthalter Rummler fchreibt unter bem 28. März
an die Regierung: „Zaft táglid laufen Klagen über
Raufereien aus Oberwil ein. Am Gt. Sojepbstage!?)
gerieten Sungfrauen und junge Weiber in der Kirche ber-
geftalt miteinander in Streit, daß fie einander Rappen,
„Strähle" und felbit Haare vom Kopfe berunterrifien,
12) Der damals nod) Feiertag war.
144
einander mit Fäuſten fchlugen, fid zu Boden warfen ufw.
Daß man fid in der Kirche mit Fußtritten begegnet, daß
man DPerfonen der andern Partei mit Gewalt aus den
Stühlen verdrängt ober ausftößt, das find Auftritte, bie in
Oberwil ganz zur Tagesordnung geworden find. Und folche
Auftritte ereignen und wiederholen fid) meiftenteils im An-
gefidót des dafelbft funktionierenden Geiftlihen! Ich will
nicht fagen, baB es in deflen Macht ftebe, fie zu verhindern,
aber fo viel iff gewiß, daß nichts Ruhe und Ordnung in
bieler Gemeinde herzuftellen unb den gegenwärtigen traurigen
Zuftand zu befeitigen imftanbe ift, als fofortige definitive
93efe&ung diefer Pfarrftelle. Es iff unmöglich, eine Ilnter-
fuhung einzuleiten; bie Raufereien finden gewöhnlich bann
ftatt, wenn eine oder einzelne Perfonen der einen Partei
einer größeren Anzahl der anderen Partei in die Hände ge-
raten. Don 3eugenabbüren fann nicht wohl bie Rede fein,
weil in Oberwil alles Partei ift." Am 10. Mai fodann, nachts
10 Uhr, wurde ein Joſeph Wittlin, als er fi vom Wirts-
baufe weg nad) feiner im 3ollbaus im $[nterborf gelegenen
Wohnung begeben wollte, dergeftalt mit Steinen beworfen,
daß ibm das Blut über Geficht und Kleider beruntertann.
Als mutmaßliche Täter famen drei halbwüchfige Yurfchen in
93etrad)f, darunter der Sohn eines Gemeinderats, bod)
mußten fie mit Verdacht von der Inſtanz entlaffen werden.
Die fchlimmfte Szene ereignete fid aber im Sommer,
am 5. Zuli 1835, bei Anlaß einer Gemeindeverfammlung.
Diefe Verfammlung wurde Sonntag abends 6 Ihr nicht
wie gewöhnlich im Schulhaufe, fondern im Garten vor bem
Haufe des Präfidenten Sütterlin abgehalten. Die Anhänger
Anaheims behaupteten nachher, man babe fie abfichtlich fern-
halten wollen; Zatfache ift jedenfalls, daß den Leuten nicht
regelrecht zu der Verfammlung „geboten wurde, denn der
Wächter fagte aus, er habe nur diejenigen an bie Gemeinde
eingeladen, bie er gerade auf ber Straße traf, fowie bie-
jenigen, deren Haus er wegen Einzug des Wachtgeldes be-
145 10
treten mußte. Ferner ftebt feft, baB fib aud) entgegen allem
93raud) Weiber fowie nod) nicht majorenne „Knaben“ in
anjebnfider 3abl zu ben Verhandlungen einfanden, um
feineswegs bie Rolle von müßigen Zufchauern zu fpielen.
Zu einer eigentlihen 93eratung fam es überhaupt nicht,
denn ein 3mifdenfall artete in einen müffen Sumult und
in eine regelrechte Schlägerei aus. Als Gemeinderat Geiler
das Amtsblatt (das damals u. a. aud) bie gerichtlichen
Urteile enthielt), verlefen batte, fragte Peter Degen Beden,
warum beute über fremde Perfonen ergangene Urteile mit-
geteilt würden, während vor adi Sagen die Verurteilung
eines Bürgers wegen eines Diebftahls mit Stillſchweigen
übergangen worden fei. Diefe Interpellation, bie auf ben
Konflikt eines eifrigen „Schmidlianers” mit den Gerichten
anfpielte, wurde das Signal zu einem wirren Durcheinander:
Mehrere Gefinnungsgenoflen des Betroffenen drangen auf
Degen ein, miBbanbelten ihn und zerriflen ihm Gilet und
Hemd; eine Anna Maria Degen padte ihn mit beiden
Händen am Badenbart und zerrte ibn, fo arg fie fonnte.
Nur mit Mühe vermochte ber Angegriffene fid) fchließlich
aus dem Gedränge zu winden unb die Flucht in das Haus
feines Bruders Niklaus zu ergreifen, der Bäder und Pinten-
wirt am „Pfaffenrain” war.
2308 ging es aud) Alt-Präfident Johannes Häring,
Schmied, der Degen belfen wollte, denn eine ganze Anzahl
von Männern ber Gegenpartei fchlugen auf ihn ein und
drängten ihn unter Hohn und Spott, woran aud) Weiber
ihren Anteil batten, zum Haufe von Kirchmeier Häring,
wo ber OXtiBbanbelte mit zerrifienem Hemd unb Gilet und
defekten Hofen anfam. Gemeinderat und Griedensrichter
Sbürfauf wollte zwar bem Ilnterfuchungsrichter gegenüber
Schmied Häring aus dem Getümmel geleitet und in Schuß
genommen haben unb ftellte bie Sache nur als eine
„Haarrupfete” bar, bei der nicht gefchlagen wurde, von der
Gegenfeite aus wurde jedoch mit Beſtimmtheit erklärt, er jet
146
einer ber tätigften unter ben Beteiligten gerefen. Doch ber
S'umult befchräntte fid) nicht auf das Vorgehen gegen Degen
und Häring; „es famen bann", erzählte ein Zeteiligter,
„ale hintereinander und „trolten” (fugelten) den Rain
hinunter”; es ging halt zu wie in einem Bienenforb, meinte
ein anderer. Die Prügelei, an ber fid) auch etliche, gerade von
einer Mufterung auf der „Munimatte” bei Muttenz beim-
febrenbe Bürger in Uniform beteiligten, batte bann nod) ein
drittes unb am fchwerften betroffenes Opfer: Heinrich Laub
Nazis fam in bem Getümmel im Graben zwifchen des
Präfidenten Garten und der Straße zu Fall und trug eine
Verrenkung des Ellbogens unb einen Bruch der Speiche
davon, beffen Heilungsfrift fid alsdann wegen zweckwidriger
Behandlung auf fünfzehn Wochen ausdehnte. Alt-Präfident
Heinrih Sütterlin, Ochfenwirts, wurde [páter überführt, fid)
gerübmt zu haben, er babe den Laub jdn übers Bord
binuntergeftoßen, und, nachdem er fid) fchließlich zu dieſer
OfeuBerung und zur Sat felber befannt, zur Bezahlung einer
Geldbuße von 20 Zr. und der fämtlihen Prozeß: und Arzt:
foften mit Inbegriff einer Entichädigung von 180 Gr. an
Heinrih Laub verurteilt.
Die Unruhen fanden übrigens im Unterdorf fein Ende,
denn als Deter Degen beimgeben wollte, erfuhr er, daß vor
feinem Haufe (an ber Hohlen Gaſſe) ein großer Auflauf
ftattfanb und daß die Anführer einer gegnerifchen Rotte ihn
fortwährend zum Serausfommen aufforderten: „Heraus, Ihr
ſchlechten Kerle, wir fürchten bie Achtundzwanziger nicht!
Heraus, Sbr Anaheim-Zeufell" Auf bie Aufforderung des
in Therwil ftationierten Landjägers 93runner, ber auf einem
Rundgang begriffen war, fam fchlieglih Präfident Sütterlin
an den Ort des Speftafels mit, um Ruhe zu ftiften, und bie
beiden fanden, bap bie Anfammlung vom Haufe Peter
Degens bis zu demjenigen von Landrat Hügin reichte, aud)
biefer wurde mit Zurufen wie: „Rommt heraus, Ihr Spiß-
buben, Ihr Halunken!“ berausgeforbert, während Degens
147 10°
Sjauptgegnet Aloys Bannier bie Drohung ausftieB, Degen
müfle bod nod) petr.....
On feiner Zeugenausfage zu ber Schlägerei am ber
Gemeindeverfammlung bemerkte Landrat Hügin u. a., er
babe ſchon oft, fchriftlih und mündlich, bie Behörden darauf
aufmerkffam gemacht, daß bie Ortsporgefeßten in Oberwil
bie meifte Schuld an folchen Auftritten fragen; wenn e3
(mit dem langfamen Prozeßverfahren) jo fortgebe, jo müßten
traurige Folgen entfteben. Ebenſo batte fid) bereits im
Grebruar ein anderer Anhänger Anaheims, Syofepb Sütterlin,
Gerihtsamtmann, in der Unterfuchung wegen der ſtandalöſen
Auftritte während der Predigt Doswalds geäußert: „Ich
trage befonders darauf an, daß ber jegige Gemeinderat ab-
berufen wird, denn fo lange er funktioniert, gibt's feine
Ruhe und Ordnung in der Gemeinde.” Gtatthalter
Kummler ftanb alfo mit feinem Wunſche nad) größerer
Strenge nicht allein ba, wenn er auch mehr die Gerichte als
bie Adminiftrativbehörden im Auge batte. Bezeichnend für
bie im Gemeinderat herrſchende Stimmung gegen das gericht-
liche Einfchreiten war auch der Umſtand, bap bie am 2. Fe—
bruar 1835 in Oberwil zu einer Spezialunterfuchung wegen
der Gtörung des Gottesdienftes eingetroffene Verhör—⸗
fommiffion des Obergerichts im Dorfe fein geeignetes Lokal
für ihre Sigungen fand; der Gemeinderat wollte ihr das
unbewohnte Pfarrhaus — Abbe Schmidlin Iogierte in der
Mühle — nicht einräumen, und bie KRommiffion verfügte
fi zunähft nad Benken. Da fam jebod) Präfident
Sütterlin und bat um ihre Otüdfebr nad) Oberwil, er wolle
ihr dort ein Lokal im „Rößli“ anmweifen. Das Zimmer
war jedoch duBerit „ringhörig”, nur eine Wand trennte es
bon der Gaftftube, und des Wirtes Brüder gehörten zu den
Onfufpaten. Ein Sohn von Gemeinderat Düblin foll ftd)
über bie Bedenken der Verhörrichter nicht gerade Tiebens-
würdig geäußert haben: „Man wird den Kerlen zuerft ben
Buckel vollihlagen müfjen, bevor ihnen ein Zimmer gefällt.“
148
Die Rommiffion ging bann in ben „Ochjen”, aber niemand
binberte das Horchen an ben Türen (gebürte bod) ber Wirt
zu den eifrigften „Schmidlianern”), unb fo verlegte fie
fchlieglich bie Verböre in ben Binninger „Schlüffel”.-
V.
Ende des bipfomatijd)en Streits zwifchen Regierung unb Biſchof. —
Neue Bermittlungen infolge ber drohenden Haltung ber Gemeinden.
— Verſuch einer Inftallation von Pfarrer Anaheim Durch bie welt-
lide Behörde. — Die „Schmidlianer“ brauchen Gewalt.
Bevor jebod) der Prozeß wegen der Störung des
Gottesdienftes (am 14. Dezember 1834) zum Abfchluß ge-
langte, zeitigte der Streit um bie 93efeGung der erledigten
Pfarreien Greignifje, bie den Gerichten nod) viel mehr
Arbeit verurfachen follten. Die Behörden fanden es an der
Zeit, bem feit Monaten andauernden Proviforium in Ober:
wil unb Allſchwil ein Ende zu machen, und fo zögerte der
Regierungsrat nicht, bem Biſchof auf beffen Zufchrift vom
23. Mai zu antworten, er halte dafür, daß die Ernennung
der beiden Pfarrer (Anaheim und Doswald) ald unter bem
gewährleifteten Statusquo erfolgt, in fortdauernder Gültig:
feit beftehe; ber Bifchof dürfe ihm, als bem gejeglichen Aus-
leger der Landratsbefchlüffe, wohl trauen. Der Biſchof be-
fand jedoch am 6. Juni auf einer Erläuterung durch ben
Landrat felbft: Hier tritt augenfcheinlich bie Wirkung bet
Schritte hervor, welche Abgeordnete von Allſchwil und Ober:
wil perfönlih in Solothurn unternahmen. Wenn folche, fo
wurde fpäter im Verhör gefagt, von Solothurn famen, fo
behaupteten fie, der Biſchof wolle es auf bie Mehrheit an-
fommen [affen. Ferner erzählte Präfident Sütterlin, er fei
mit Friedensrichter Thürkauf beim Biſchof gemefen, als bie
Prüfung der Afpiranten fchon ftattgefunben hatte; ber Biſchof
fagte, bie von ibm Ernannten hätten das Eramen am beften
beftanden, bod) wolle er feben, ob es fid) machen faffe, daß
Schmidlin in Oberwil bleibe. Offenbar pflegte Biſchof
149
Salzmann, eine milde, gütige Natur, feinen Ctanbpunft im
perfönlichen QSerfebr den Delegierten gegenüber weniger ent:
fhieden zu vertreten als im Notenaustaufh mit ber Re-
sierung in Lieftal, und fo fonnten bie Abgeordneten jeweilen
feine Ueußerungen in dem ihnen genebmen Sinn deuten.
Es fam fogar dazu, baB die birsedifehe Kommiſſion in einer
Eingabe vom 15. Zuni zu Handen des Landrat behauptete,
ber Biſchof babe ihrer Deputation erklärt, er wolle die Be—
dürfniffe und Wünfche der beiden Gemeinden berüdfichtigen
und bie gegen ben Volkswillen und das Volksrecht ge-
troffenen Pfarrwahlen abändern, wenn der Landrat damit
einverftanden fei. Selbftverftändlih machte diefe Behauptung
feinen Eindrud, bie Regierung beeilte fid) vielmehr, beim
Biſchof auf bie endliche Einfegung der beiden Geiftlichen zu
dringen, unfer der Androhung, vom 15. Zuli ab bie 23e-
zablung der Verweferkoften zu fiftieren. Das wirkte, denn
ber Vifchof erteilte am 2. Zuli dem General-Provifar von
neuem bie Weifung, den beiden Pfarrern bie feit vier Mo:
naten in Rheinfelden liegenden GinleSungsSurfunben aus-
zubändigen und die Einführung in eigener Perfon vor-
zunehmen. Diejenige Doswalds gedahte Wohnlih in
Allſchwil am 13. Zuli und diejenige Anaheims in Oberwil
am 14. Zuli vorzunehmen, was er ſowohl der Regierung in
€ieftal als dem Dekan in Arlesheim anzeigte. Allein aud)
jest war man nicht fo weit.
Unter bem 8. Zuli fchrieb nämlich der General-Provifar
an den Regierungsrat, er babe an diefem Sage zwei fürm-
liche, mit allem Nachdrud verfaBte Proteftationen der Ge—
meinden Oberwil und Allſchwil erhalten, bie fo abgefaßt
feien, daß jeder Unbefangene bie Unmöglichkeit einjehen
müſſe, eine geiftliche Snftitution aud) nur zu verfuchen, ohne
bie unangenehmften Auftritte bervorzurufen. Es jei feine
Ausfiht, baB die Inftallation ohne Anrufung der Staats:
gemalt erfolgen fónne; ein folder Schritt aber müßte für bie
zukünftigen Geelforger in den Gemeinden von unberechen-
150
baren, fchlimmen Folgen fein, daher fónne er fein Vorhaben
nicht ausführen. Mündlich hatten bie Abgeordneten ber Ge-
meinden Wohnlich erklärt, daß fie fid) ebenfomenig durch
etwa zu erfolgende Kirchliche Strafverfügungen des Biſchofs
als durch bie Gewalt des Staates zur Aufnahme der ihnen
zugewiefenen Geiftlichen bewegen und zwingen laflen würden;
der General-Provikar folle es verfuchen, wenn er es nicht
glaube. Mit ähnlichen Proteften wandten fid) die beiden
Gemeinden an den Landrat. Derjenige von Oberwil war
von 128 Bürgern unterzeichnet; bie Partei der „Schmid-
[ianer" war alfo nicht mehr gana fo ftarf wie ein halbes
Fahr früher, wo fie 132 Unterfchriften aufbrachte, wobei aud)
nod) zu bedenken iit, daß fid) unterdeflen vorher noch Unent-
fhiedene bem einen oder andern Haufen angefchloflen
baben dürften.) 9n ihren gleichlautenden Schreiben
nahmen bie Befchwerdeführer namentlich den Regierungsrat
aufs Korn, ber bem deutlihen Vollswillen zuwider immer
nad) Solothurn fchreibe und jetzt entgegen den gerechten
Wünfchen ber Vürgerfchaft bie Snftallation der beiden Geift-
[iden durchfegen wolle, bie unbeilbringenb wäre für bie
Volksrechte unb verderblih für die beiden Gemeinden.
Durh ben Beſchluß, bie Synftallation der beiden Pfarrer
vorzunehmen, hätte man J3unber in ein Pulverfaß ge-
fchleudert oder das Meffer an eine heilende Wunde gefebt.
Könnte man nid ebenfo gut bie Statthalter und bie alte
Regierung wieder einfe&en, wenn das Volk auf fein Wahl⸗
recht unb feine Freiheit verzichtete und in trägem Schlummer
dahinſchnarchte?
Trotzdem wandte fid) bie Regierung angeſichts dieſer
neuen Verwicklung wieder an den Biſchof und ſchrieb ihm
unter bem 14. Juli, bie Proteſte bezwedten lediglich eine
——— 9) Die Ahtundzwanziger waren übrigens wohl von Anfang an
ftürfer, als ihr Name befagt; ba aber die Erklärung vom 4. Yebruar
1835 aud) im Namen ihrer familien abgegeben war, jo unter[d)rteben
loídje nicht, deren rauen „Schmidlianerinnen“ waren. Ein foldes
Verhältnis beitand beifpielsweife in ber (yamilie meines GroBoaters.
151
Verzögerung ber Inftallation, unb bie in ben Gemeinden
berr[d)enbe Parteiung, durhaus nur von perjón(id) De:
teiligten angeregt, fei nicht von der Art, daB man bedenkliche
tumultuarifche Auftritte zu fürchten babe. Darauf meinte
ber Vifchof, es möchte wohl am beiten fein, wenn der Re-
gierungsrat durch einen Kommiflär eine Perfammlung
beider Gemeinden abhalten unb fid) ein ruhiges Betragen
verfprechen laſſe. Zu diefem 3mede legte er einen bei diefer
Gelegenheit zu verlefenden Hirtenbrief bei, worin ber. Biſchof
nochmals bie Erwartung ausſprach, die Allihwiler und Ober-
wiler würden in ihrem echt religiöfen Sinn und Geifte ben
ihnen zugewiefenen Geiftlichen, al8 welche er pflichtgemäß
bie Würdigften bezeichnet habe, jobalb fie ihnen vorgeftellt
feien, alle Achtung und Liebe und volllommenen Gehorfam
ermeijen. Statthalter Rummler wurde nun beauftragt, bie
Gemeinden zu verfammeln, ihnen den SHirtenbrief vor-
zulefen und auf die bevorftehenden Snitallationen bin mit
allem Nahdrud zur Ordnung zu mahnen. Er entledigte fid)
feiner Miffion am 19. Juli und berichtet darüber (von
anderer Seite liegen feine Meldungen vor):
„Zn Oberwil fonnte ich den Auftrag bei zahlreich ver-
fammelter Gemeinde durchführen, ohne daß fid) eine einzige
Stimme gegen die bevorftehende Snftallation bören ließ.
Ein einziger Bürger, Safob Häring, Gattfer, ein eifriger
„Schmidlianer”, fagte ganz leife: „Wir beten halt einige
PBaterunfer weniger, wenn Schmidlin fort if." Mit ber
Bemerkung, daß die Gemeinde, bie ben Entſcheid des
Biſchofs unb der Regierung fenne, der Synftallation feine
Schwierigkeiten in den Weg legen werde, ſchloß ich bie Ge-
meindeverfammlung. Anders in Allfchwil. Gemeinbepráfibent
Vogt jagfe fd)m vor Beginn der Verfammlung: „Wir
achten weder auf Beſchlüſſe der Regierung, nod auf
Gaufeleien des Bifchofs, wir haben nicht dafür geftritten,
um einigen Röpfen auf den Thron und einigen Pfaffen zu
Stellen zu verhelfen.” Ebenſo äußerten fid) bie Gemeinde:
152
räte Werdenberg unb Chriftoph Saujer. Sm „Rößli“ (mo
Kummler abftieg) bat Vogt nod) gefagt: „Der Biſchof iit
ein elender Tropf, der miferabelfte „Zittel”, den es auf der
Welt gibt; er ift ein Srautfopf, ein Wafchweib; er follte
nidf Salzmann, fondern Salzfrau beißen; fura, er ift ber
fchlechtefte „Zittel”; id) fage das Öffentlich unb menn ich
auch in den Bann komme.” Doswald nannte er wiederholt
einen Schurfen. Mittlerweile verfammelte fid) bie Bürger:
fhaft auf bem Gemeindeplag. Wie id) das bifchöfliche
Schreiben zu verlefen begann, entitand allgemeines Ge:
murmel: „Darf ber noch fo reden, ja ber ift ein Cauberer."
Ale Lippen waren in Bewegung, ebenfo am Schluß. In
Oberwil batte id) nur leife auf bie Folgen aufmerffam ge:
madt; bier verwies id) mit allem Nachdrud auf bie Folgen
ber QOiberfelidbfeit. Die Matadoren riefen: „So darf bie
Regierung zu uns reden, bie Regierung, die uns ihre
Eriftenz zu verdanken bat. Haben wir dafür geftritten?”
Sriedensrihter Simon behauptete, der Biſchof babe es ibm
am Abend vorher um 6 hr felbft gefagt, baB er bie Regie:
rung erfucht babe, durch einen Kommiſſär eine Abftimmung
vornehmen zu lafien, ob bie Mehrheit Dosmwald wolle oder
nicht.” — Der Statthalter fonnte nicht aus bem Gedränge ber
ihn umgebenden Leute und mußte zufeben, wie eine Ab—
fiimmung vorgenommen wurde: Keine Hand erhob fid) für
Doswald. Wer ibn aber nicht wolle: Alle Hände gingen
in die Höhe, wenigftens berjeingen, bie um den Statthalter
berumftanben. Immerhin eriftierte jebt eine Gegenpartei,
denn Rummler nennt mit Namen mehrere Anhänger Dos$-
walds, bie er an der Verfammlung vermißte. Auch aus ber
Filiale Schönenbud,!t) bie fid nie gegen Doswald aus-
gefprochen, war niemand zugegen. Am anderen Sage be-
Hasten fid) bie Allfchwiler in einer Zufchrift an bie Regie-
tung über bie unangemeflene Art, wie Rummler die Bürger
über bie Stimmung verhörte, und ebenjo befchwerten fid) bie
ſchonenbuch wurde erft im Sabre 1861 felbftändige Pfarrei.
153
Oberwiler, weil er nur ben Brief des Biſchofs verlefen und
dann bie Gemeindeverfammlung wieder aufgelöft babe.
Nun wandte fid) bie Regierung am 21. Zuli neuerdings
an ben Biſchof mit bem Erfuchen, er möge den beiden Geift-
[iden bie kanoniſche Inftitution erteilen, und diefer erließ
eine babingebenbe Weifung nad) Rheinfelden; die öffentliche
Einführung falle aus, die Geiftlihen mögen fid) entweder
felbft einführen oder fid) durch bie Regierung einführen faffen.
Doswald erhielt am 26. Zuli bie fanonifd)e Snftitution für
Allſchwil, Anaheim am folgenden Tage diejenige für Ober:
wil. Am 28. Zuli nahm die Regierung in Lieftal den beiden
ben Amtseid ab; zugleich ermächtigte fie den Statthalter, in
Gemeinfhaft mit dem Dekan, oder nötigenfalls allein, den
Zeitpunkt zu beftimmen, an welchem die Pfarrer ihren Ge-
meinden vorgeftellt werden follten. Als jedoch Rummler jein
Anfuhen Gürtler vortrug, erklärte diefer, er fónne Der
Snftallation nur in feiner Eigenſchaft als bifchöflicher fom-
miſſar beimohnen, bod) babe er dazu keinen Auftrag und könne
baber dem Gefuch nicht Folge leiften. So befchloß denn ber
Statthalter, gemäß ber regierungsrätliden Weifung die Gin-
führung von fid) aus vorzunehmen, und zwar gedachte er ben
Anfang am 30. Zuli mit Oberwil zu machen, wo er am
. 19. Juli nicht auf namhaften Widerftand geftoßen war.
Daß bie geiftlihen Behörden mit ihrer Befürchtung
wegen eines Aufruhrs bie Sachlage nicht zu [dara anjaben,
dafür gab e8 in jenen ereignisfchweren Zulitagen gerade in
Oberwil auffallende Symptome. Zunächſt bewies bie [don
im letzten Kapitel erzählte Prügelei an der Gemeinde:
verfammlung, baB man von einem Appell an bie Waffen
nicht mehr weit entfernt war. Sodann wurde Martin
Thürkauf, Gejdeibsridter, fo viel als überwiefen, daß er fid)
in Therwil, bem Wohnorte Anaheims, dahin geäußert babe,
wenn Anaheim nad) Oberwil fomme, fo ftänden feine Söhne
mit den Waffen in der Hand bereit, ihn fortzutreiben.
Diefe, vier an der Zahl, patrouillierten jede Nacht mit Ge:
154
wehren im Dorf berum. Anaheim würde erfchoflen werden,
unb mit ibm nod) vier Männer, nämlich Landrat Hligin,
Alt-Prafident Häring, Gerichtsamtmann Sütterlin und
Kirhmeier Grana Sofepb Häring. Die Eorreftionelle Ab—
teilung des Obergerichts verurteilte Thürkauf au fechs
Wochen Gefängnis unb den Roften, bod) eine vom gefamten
Dbergericht angeordnete nochmalige Verhandlung verlief für
den Angeklagten alimpflicher; er mußte bloß durch zwei „an-
nebmbare" 93ürgen Gt. 1200 Kaution leiften, daß die aus-
gefprochenen Drohungen nicht ausgeführt werden. Ferner
fagte Deter Hügin Jakobs im Wirtshaufe, menn Schmidlin
fort müfle, fo würden fünf ,9[nabeimer" totgefchlagen
werden; Heinrih Erismann meinte fogar, alle Achtund-
zwanzig müßten umgebracht werden. Nach Ausfage von Land-
jäger Brunner foll dann Sob. Thürkauf im Wirtshaufe von
Jakob Löw in Viel gejagt haben, menn Anaheim nad) Ober-
wil fomme, jo müfle es noch ärger geben, al8 am 3. Auguft
(Gefeht von Pratteln 1833). Einen neuen Strauß batte
Opeter Degen, 93eden, zu befteben, als er einige Tage vor
der erftmal8 geplanten Inftallation Anaheims (14. Zuli) am
Bade, wo er filchte, mit einer Rotte Gegner zufammentraf,
bie gerade aus dem Verhör von Arlesheim wegen ber
Störung des Gottesdienftes bei der Predigt Doswalds
zurüdfehrten. Degen und fein 93egletter, Sofeph Schweizer
von Reinach, wurden gefragt, warum fie filchten, worauf
Degen antwortete: „Wit Ihr nicht, baB am Dienstag ber
Pfarrer vorgeftelt wird? Da müffen wir bod) eine Platte
Gifde haben." Da fam bie Gntgegnung: „Das wird nicht
gefchehen, eher wird es in Oberwil ein 93lutbab geben, fie
werden bie Gemeinde nicht zwingen; Ihr müßt bod) nicht
glauben, Ihr Achtundzwanziger, bap Ihr bie Gemeinde
zwingen werdet.” Degen wurde zum Bache berausgefordert,
wo ihn bie Rotte umringte und mit Drohungen nicht geiate;
zu Zätlichleiten fam es nicht, bloß wollte der bereits in
Kapitel IV genannte Aloys Bannier feinem Sauptfeinb ben
155
Kübel [amt ben Zifchen in den Bach werfen, wurde jedoch
von feinem Vorhaben burd) den Sohn von Landrat Hügin
abgehalten. „Das find die Früchte ber pflichtvergeflenen
Vorgeſetzten in Hier”, fchrieb Degen in feiner Beſchwerde
an den Statthalter.
Die Naht vom 29. auf den 30. Zuli verlief in Oberwil
wieder unruhig, ganz wie diejenige, bie bem Sonntag mit
der Prediot Doswalds vorangegangen war. Am Abend
hatte Schmidlin das Dorf verlaflen, und feine Anhänger
fhlofien daraus, daß etwas im Werke fei, das ihre Hoff:
nungen definitiv zunichte machen würde. Zei ber herrichenden
Aufregung war es den Agitatoren ein leichtes, das Feuer
des Widerftands gegen das Kommende zu ſchüren. In den
Galen fammelten fid Gruppen von Männern und weib-
[iden Perfonen, und im Haufe des Präfidenten ging es Ieb-
haft zu; ein Vorübergehender hörte, wie jemand erklärte, es
wäre eine Schande, wenn bie Achtundzwanziger Meifter
würden, man werde jest zeigen, wer Herr fei. Wieder
wurden Anhänger Anaheims herausgefordert oder e8 wurde
ihnen bedeutet, fie follten fid) in acht nehmen und nicht auf
der Straße erfcheinen. Als bie Landjäger Brunner und
Schäublin fid) auf einem Rundgang, der fie einerfeitsS nad)
23enfen unb anbrerjeit8 bis ins Oteubab nad) Binningen
führte, bem Dorfe Oberwil näberten, fonftatierten fie Lärm
und 3ujammentottungen; auf ihre Gtage nad) der Arſache
wollte Präfident Sütterlin nichts miffen. Auf bie Mab-
nung zur Ruhe wurde den Landjägern geantwortet, fie hätten
nichts zu befeblen. Bei ber Mühlebrüde waren Wachen
ausgeftellt, und als bie Hliter der Ordnung fragten, was das
su bedeuten habe, hieß es, man gebe bloß fpazieren. Auf
eine QVermahnung wurde mit Drohungen geantwortet, bie
fih zu Püffen und Schlägen fteigerten, fo daß bie beiden, Durch
das ganze Dorf verfolgt, biefe8 auf der Seite nad) 23ott-
mingen zu verlaflen mußten. Joh. Häring, Huffchmied, der
Sohn eines ber Häupter der „Anaheimer”, fam gerade von
156
Sbermil ber unb mußte fid zur Seite machen, um der
fanatifierten Rotte nicht in bie Hände zu fallen.
Unter diefen Umftänden alfo unternahm es Statthalter
Rummler, am 30. Zuli den Pfarrer Anaheim in Oberwil
einzuführen. Er verfügte fid) morgens 8 Uhr mit diefem in
einem Chaischen nad) der Ortichaft, bie bet der Ankunft ber
beiden menfchenleer fchien. „Wir fliegen”, fchrieb Rummler
in feinem Bericht an den Regierungsrat, „beim „Ochſen“
ab; das Haus war gefchloflen, ein Kind fagte, alles fei auf
bem Gelbe. Wir verfügten ung nun zum Gemeinde:
präfidenten, waren aber faum einige Minuten dort, als das
Haus fid) mit Leuten anfüllte, welche riefen: „Entfernt Euch
auf der Stelle, wir wollen ihn nicht und dulden ihn nicht,
unb zwar feinen Augenblid, wir wollen den Schmidlin!"
Cd) bemerkte, davon fónne feine Rede fein, Anaheim fei jest
ihr Pfarrer, er babe als folcher der Regierung den Eid ge:
leiftet. Er werde das Pfarrhaus in Beſitz nehmen und dort
wohnen; wer fid) gegen ibn verfehle, werde ber geſetzlichen
Strafe nicht entgehen. „Sperrt uns ein, macht mit uns,
was Sr wollt, aber wir wollen ihn nicht, fort muß er!”
Od) forderte vom Präfidenten bie Schlüffel zum Pfarrhaus,
er fuchte fie. Snbeffen wurde das Haus dicht angefüllt. Sch
babnte mir einen Weg und lief mit Anaheim dem Pfarr:
baufe zu. Uber gewaltfam zurüdgedrängt, bin ich faum zehn
Schritte weit gefommen. „Zum Dorf hinaus mit Euch!“
hieß es. Man padte uns, ferte uns und führte ung zum
Dorf hinaus. Ich wollte bie NRädelsführer notieren, bie
Gemeinderäte zögerten aber, ihre Namen zu nennen. Nach:
dem ich fie an Eid und Pflicht gemahnt, gelang es mir, drei
oder vier aufzuzeichnen, aber das Papier wurde mir aus den
Händen geriflen, es war nicht mehr möglich, nur einen ein:
zigen aufzuzeichnen. Endlich, nachdem wir lange hin- und
betgeftopen unb mit Schimpfworten tiberhäuft waren, gelang
e3 uns, uns zu entfernen. Anaheim erhielt nidt nur Stöße
und Schimpfworte, fondern aud) von hinten einen tüchtigen
157
Streich auf ben Kopf. Es fielen Schimpfworte: „Schlechter,
miferabler Kerl! 93rotbieb! Du ftiehlft bem Herrn Schmidlin
das Brot weg; Ihäme Sid" Ein Zubelgefchrei tiber den et-
rungenen Gieg, das wohl ftundenweit hätte gehört werden
fónnen, wurde ung von der Menge nachgefchidt, bie aus
70 bis 80 Männern und beinahe doppelt fo viel Weibern
beftand. Die Gemeinderäte haben anfangs gezögert, die
Namen ber Rädelsführer zu nennen; aber dann haben fie
alle Mühe angewendet, um uns vor Mißhandlungen zu
fhüten, ohne fie wären wir fchwerlich mit beiler Haut
Davongefommen.”
Dies der Bericht des Statthalters, defien Inhalt in den
weſentlichen Punkten nachher burd) die gerichtliche Unter⸗
fud)ung beftätigt wurde. Zur Ergänzung muß nod) beigefügt
werden, daß Pfarrer Anaheim fdon beim „Ochſen“ einen
Mann bemerkte, der burd) das Dorf lief unb bie Leute
zufammentrommelte mit bem Ruf: „Sebt gilt’s!" Um bie
Bauern vom Gelbe ins Dorf zu rufen, wurde Sturm ge-
läutet, wie bei einer Geuersbrunit. Unter den in Baſel
arbeitenden Leuten war am Sage vorher bie Lofung aus:
gegeben worden, man müfle am Donnerstag zu Haufe
bleiben; der Gemeinderat follte es fo befohlen haben. (Wir
erfahren bei diefer Gelegenheit, daß rund 40 Mann aus
Oberwil tagtäglich des DVerdienftes wegen in die Stadt
gingen; das Dorf wies al(o bereits damals einen ziemlichen
Prozentfa von Snduftriearbeitern auf.) Der Dorfwächter
erhielt vom Präfidenten den Auftrag, bie Kirchenbücher in
der Mühle (mo Schmidlin fogiert hatte) zu holen und ins
Pfarrhaus zu fragen, bod) in der Mühle befam er den 23e-
fheid, bie Bücher würden erft ausgeliefert werden, wenn
ein Mitglied des Gemeinderates fomme. Als der erfte und
vorderfte ſtieß Rößliwirt Sütterlin den Statthalter zurüd;
fein Bruder Johannes entriB Rummler das Papier, auf dem
diefer bie Rubheftörer aufgezeichnet hatte.
158
VI.
Maßnahmen von Regierung unb Bezirksverwalter gegen bie Reni-
feng ber Oberwiler. — Die Miffton ber fech8 Landjäger. — Die
Entichloffenhelt zum Widerftand gegen Arreftationen. — Die gewalt-
fame Befreiung eines Verhafteten. — Eine ftataftropbe.
Statthalter Rummler, der unter diefen Umftänden ben
Verſuch einer SInftallation in dem wenigftens ebenfo
fhwierigen Alfchwil gar nicht machte, eritattete über den
Mißerfolg feiner Sendung in Oberwil fofort Bericht an bie
Regierung in Lieftal, und diefe beauftragte ihn mit der Ein-
leitung einer Unterfuchung über bie Widerfeglichleiten vom
Donnerstag vormiftag; bie Hauptteilnehmer feien fofort zu
arretieren und nad) Cieffal zu verbringen. Wegen der In—
ftallation fei ein nod am gleichen Tage zu erlaflfendes
Schreiben des Regierungsrat3 an gebotener Gemeinde:
verfammlung zu verlefen, das bie 93ürger in Oberwil auf:
fordern folle, fid) den gejfegmäßigen Anordnungen und De:
[hlüffen des Regierungsrats zu fügen, widrigenfalls gegen
bie Widerfeglichen nad) S 50 des Kriminalgefeßbuches ver:
fahren würde. KRummler zitierte fofort bie Hauptbeteiligten
auf Freitag früh nad) Arlesheim, aber als ihnen der Land-
jäger bie Vorladung brachte, erhielt er zur Antwort, fie
würden ihr feine Zolge leiften, fie nábmen von foldhen
€umpenbunben von Regierungsrat und Statthalter feine
Befehle an. Nur einer, Seinrid) Gutzwiller, verfprach, fid
zu ftellen, ließ fid) jedoch ebenfo wenig in Arlesheim bliden.
Nun ging Rummler energifch vor. Er beauftragte bie Land⸗
jäger Brunner (ftationiert in Sbermil), Schäublin (Ober:
Toi, Hägler (Arlesheim) 9Xafgad) (?fejd und Dil
(Lieftal), unter Führung des Korporals Meyer, fid) fofort
nad) Oberwil zu begeben und bie Widerfpenftigen mit polizei-
licher Gewalt nad) Arlesheim zu führen, es waren das
Sofepb Sütterlin, Wirt zum ,,Otopli", Matthias Sütterlin,
Martin Häring, fowie einen Geiler unb einen Düblin, die
159
ber Gemeindepräfident näher bezeichnen [ol[te.1») Kummler
gab ben Landjägern nod) ein Schreiben an den Gemeinbe-
rat mit, worin er den Zweck ihrer Sendung anzeigte unb die
93ebotbe bei Eid und Pflicht aufforderte, bie Diener der
öffentlichen Gewalt bei der Ausführung ihres Auftrags mit
allen ihr zu Gebote ftehenden Mitteln zu unterftüGen und
denjenigen Perfonen, bie fid) etwa unteriteben follten, ihnen
Hindernifle in ben Weg zu legen, mit allem Nachdruck vor:
auftellen, daß fie fid) Dadurch des in ben SS 50 unb 51 des
Kriminalgefegbuches verzeichneten Verbrechens (des fort:
geſetzten Aufruhrs) ſchuldig machten.!!) Ein Eremplar
diefes Gefetbuches wurde dem Schreiben beigelegt.
Die Landjäger machten fid) auf den Weg. Auf ber
Höhe des Bruderholzes angefommen, beredeten fie fid) über
das Vorgehen bei der Ausführung ihres Auftrags. Rorporal
Meyer und Brunner follten fi) voraus zum Gemeinde:
präfidenten verfügen, während Hägler unb Malzach mit ber
Berbaftung des Röpliwirts Joſeph GSütterlin, Dil unb
Schäublin mit derjenigen von Matthias GSütterlin (der wie
Joſeph Sütterlin im Ilnterdorfe wohnte) betraut wurden.
Aber Matthias Sütterlin war nicht zu Haufe, er hielt fid)
in den Grasgärten hinter dem „Ochſen“ verborgen, während
andere von ben gu Qerbaffenben fid) nad) der Allmend
flüchteten, die in ber Richtung nad) bem elſäſſiſchen Dorfe
Oteumil ber Landesarenze nahe liegt. Dil und Schäublin
begaben fid) nun ebenfalls ins Rößli, von wo aus Malzach
bereit3 mit ber Meldung zu ihnen gefommen war, Sofepb
Sütterlin fei daheim. Bald ftellten fid) aud) Meyer und
Brunner ein, bie von den Gemeinderäten begleitet waren.
Diefe waren in einer fatalen Lage. Cie waren eifrige
DParteigänger auf ber Seite der „Schmidlianer”, fie hatten
3) Gpüter ftellte fid) heraus, bap die beiden Joſeph Geiler,
Färber und Mathias Düblin, Gemeinderats Sohn waren.
16) Das Schreiben fand fid) nachher nicht mehr vor, aber daß es
eriitierte und an feinen Beftimmungsort gelangte, unterliegt feinem
Zweifel.
160
nichts getan, um bie Entwidlung des Konflikts zu feiner
jegigen gefährlichen Geftalt zu verbüten, fie fannten bie
Stimmung der fanatifierten Bevölkerung, bie aus Solidarität
mit ben Erzedenten des vorhergehenden Tages diefe den Be:
bótben nicht ausliefern wollte, aber es bámmerte ihnen aud)
die Erfenntnis auf, daß ihnen ein anfehnlicher Teil der
Verantwortung für die Folgen eines SZufammenitoßes
zwifchen der Polizei und den ertremen „Schmidlianern” zu:
gefchrieben werden müßte. Der Gemeinderat fuchte fid) nun
um eine Entfcheidung zu brüden und wollte e8 der Gemeinde:
verfammlung anbeimftellen, ob bie von der Polizei gefuchten
Fünf ihr überantwortet werden follten; er vertrat bie An—
fibt, es wäre beffer, angefichts der gereizten Stimmung feine
Arreftationen vorzunehmen, während bie Landjäger auf bie
erhaltenen ftriften Befehle hinwiefen. Gegen die Gin-
berufung einer Gemeindeverfammlung hatten fie nichts ein-
zuwenden, und eg wurde aud) zu einer jolchen geläutet, ebenfo
wurden Leute vom Felde ins Dorf geholt, und u. a. wurde
bezeugt, daß eine Frau bie Männer mit den Worten aufrief:
„Wer etwas Rechtes ift, fommt an die Gemeinde!”
Das Volk fammelte fid) vor dem Roöpli!”) an, und
wieder bewies das weibliche Gefchlecht fein befonderes
Intereſſe an der Angelegenheit durch [ebDafte Zeteiligung
an der erregten und lauten Diskuffion, bie unter dem Haufen
bin- und berging. Don einer eigentlichen Gemeindeverfamm:-
Iung konnte unter diefen Umftänden feine Rede fein, und
Opráfibent Cütterlin fcheint aud) feinen Verfuh gemacht zu
haben, eine regelrechte 93eratung zu pflegen; feine Rolle
beſchränkte fid) darauf, den Landjägern das Gefährliche einer
Wegführung ber Manifeftanten des vorhergehenden Tages
auseinanderzufegen und jemeilen dem Volke wieder Mit:
1?) Das Röpli fteht nod, tft aber längſt nift mehr Wirtshaus;
es iit bas dritte Haus lints am Eingang des Dorfes von Bottmingen
ber. Der Haupteingang bes Haufes fag vor achtzig Jahren gegen
das ſchmale GüBdjen auf der Güboftfelte zu.
161 11
teilung von bem Stand ber Verhandlungen zu machen.
Diefe fanden in ber Wirtsftube ftatt, und durch das offene
Genfter drang von Seit zu Zeit eine nicht mißverftändliche
Drohung oder eine Infulte an bie Adreſſe der Poliziften ein,
bie die fiebetbafte Erregung der Volksmenge verrieten.
Enter biefer war nun einmal die Parole ausgegeben, man
müſſe den mit der Verhaftung Bedrohten beifteben und dürfe
ihre Wegführung nicht dulden. Es nüste aud) nichts, daß
KRorporal Meyer das Schreiben der Regierung verlas,
worin bie Gemeinde unter Hinweis auf das KRriminalgefeb-
bud) zum Geborfam gegen bie Verfügungen der Behörden
aufgefordert wurde; die Menge fchrie: „Zerreißt e8 bod)
(das Geſetzbuch); wir fragen dem nichts nah, mir .....
pfeifen auf bie Landjäger, den Verwalter, bie Regierung
und das Gefegbuch; lieber laſſen wir das Leben, als daß
wir einen wegführen Iaffen.” Ein Zeil ber in der Wirts-
ftube befindlichen Leute fuchte bie Landjäger zu beruhigen
mit der Verficherung, fie hätten nichts zu befürchten, bin-
gegen fonnte ihnen bei dem Toben der Menge vor dem
Haufe bennod) nicht gebeuer fein, denn fie hörten Drohungen
wie: „Rommt nur heraus, bier müßt Shr verr.... unter
unferen Händen, Ihr Salunfen."
Die Landjäger waren fid) alfo bewußt, welch gefährliche
Miffion ihnen übertragen war, und fie erklärten fid baber
auch zu Konzeffionen bereit. Sie machten dem Gemeinderat
ben Vorſchlag, er folle bie Schuldigen berzitieren und ihnen
ans Herz legen, in welch unberechenbares Unglück fie die
ganze Ortſchaft burd) bie Widerfeslichkeit gegen bie Be—
bórbe flürzten; bie Arreſtanten würden gar nicht geführt
werden, fondern follten ben Landjägern voraus in Begleitung
von Gemeinderäten nad) Arlesheim gehen. Es half alles
nichts, bie Kluft zwifchen dem Standpunkt des Gemeinbe-
rats, daB das Volk niemand zum Dorfe binaustaffe, und
demjenigen der Poliziften, bap fie unbedingt bie Schuldigen,
deren fie habhaft werden fónnten, dem Statthalter vorführen
162
müßten, biefe Kluft war nun einmal nicht zu überbrüden.
Möglich, baB Bezirksverwalter Rummler nicht bie Verant-
mwortung für eine in folcher Lage zu bewerfftelligende Ar-
reftation übernommen bätte, wenn er zur Stelle gewefen
wäre; den Landjägern jedoch fann man feinen Vorwurf
mahen, daß fie als untergeordnete Organe den erhaltenen
gemeljenen Befehl nicht wegen der Beſorgnis vor Gewalt:
tätigfeiten für babingefallen betrachteten. Es wurde auch be-
bauptet, bie Landjäger hätten getrunken, fie feien deshalb zu
hitzig vorgegangen, und es iff auch nicht wahrfcheinlich, baB
fie während des mehrere Stunden dauernden Aufenthalts im
Otopli ihren Durft bloß mit Waſſer gelöfcht haben; hingegen
bat unzweifelhaft auch bei den Dorfbewohnern der Pier:
unddreißiger, einer der beften Sahrgänge des ganzen ver:
flofienen Sabrbunberts, redlich zur Aufftachelung der gefähr⸗
lichen Leidenfchaften beigetragen. Ein Symptom für bie
Stimmung kann man darin feben, daß zur Seit, als fid) im
Dorfe bie Runde von der Ankunft der Landjäger verbreitete,
ein Heißfporn der „Schmidlianer” einen etwa 14jábrigen
Zungen nad) Binningen fchidte, um dortige Einwohner um
93eiftanb anzugehen, bod) bat man dort über das Anfinnen
bloß gelacht. Auch foll der Knecht von Gemeinderat Thürkauf
(an der Hohen Straße) mittags nad) Allſchwil geritten fein,
um von dort Hilfe zu holen, bod) iit auf feinen Fall jemand
gefommen.
Nun, aud) ohne auswärtigen Zuzug wurden bie Ober:
wiler über bie Landjäger Meifter, wie fid) bald zeigen [ollte.
Nah mehr als dreiftündigem Zuwarten, als eine Einigung
definitiv ausgefchlofien erfcheinen mußte, machten fid) bie
Landjäger auf, um ben Röfliwirt Zofeph Sütterlin, ber
einzig von allen Manifeftanten in ihrer Gewalt war, nad)
Arlesheim zu verbringen. Sütterlin will fowiefo bie Abficht
gebabt haben, fid am Nachmittag bem Bezirksverwalter zu
ftellen; am Qormittag hätte er es bloß deswegen unterlaflen,
weil er Getreide in der Scheune hatte, das gedrofchen werden
163 n*
mußte. Auf jeden Fall zeigte er fid) willig, eine Haltung,
die ffarf von feiner Aktivität am vorhergehenden Tage ab-
ftiht. Er wußte offenbar, daß ibm nicht viel geſchehen könne,
unb es berichtete denn auch fpäter ein Zeuge von einer fton-
ferenz des Rößliwirts mit feinem Schwager Schweig-
baufer!$)) und feinem Nahbarn Laub in einem oberen
Zimmer des Wirtshaufes, wobei bie Genannten — es war
zu Beginn der Anfammlung vor dem Haufe — fid) äußerten,
man dürfe den Röpliwirt nicht fortlaflen, man müſſe zu-
fammenbalten, gebe es, was es wolle, während Gütterlin
bemerkte, er fei dann heraus, b. b. er fei gegen die Anklage
ber Widerfeglichkeit gebedt, wenn feine Mitbürger ihn nicht
fortführen Tießen.
An der Mitte ber Landjäger machte fid) ber Rößliwirt,
das Ramifol der heißen Jahreszeit wegen über eine Schulter
gehängt, auf den Weg, und zwar zu der Haustüre auf der
Stüdoftfeite hinaus, von wo ein Weglein burd) die Obftgärten
nad) dem fogenannten „Hofmattfteg” führte. Er war aber
mit der Eskorte faum vor das Haus getreten, da machten
fih Grauen feiner Verwandtichaft, namentlich eine Schwä-
gerin,!?) an ihn heran, riffen ihm das Ramifol ab und riefen: .
„Du barfft nicht fort!" Auf der Stelle drängte bie Volks—
menge, bie fid) in bem Raum zwifchen bem Wirtshaufe unb
ber Schmiede pon Jak. Stödlin angefammelt batte, gegen bie
9anbjáger vor, wobei namentlich bie Weiber ein aufreizendes
Gefchrei erhoben, während bie Männer zu Tätlichkeiten
übergingen. Dem Landjäger Dill wurde der Tſchako vom
Kopfe gefhlagen, und als er den Säbel zu ziehen verfuchte,
wurde ibm biefer entrifien. Der Röpliwirt wurde befreit,
bie Landjäger hierhin und dorthin gezerrt, und es hätte wohl
18) Die Schweighaufer find vor etwa fünfzig Jahren in Oberwil
ausgeftorben. Der ftarfe Zweig bes Geſchlechtes in Bottmingen foll
nad der Tradition auf Einwanderung zur Zeit ber Gegenreformation
zurüdgeben.
d i Die tyrau feines Bruders Tohannes; er felber war Jung:
gejelle.
164
nicht ber Aufmunterung burd) bie Weiber bedurft, bie brauf-
los fdrien: „Hauet fie, bauet fiel" um der angejammelten
und bis je6t gurüdgebaltenen Erbitterung der fanatifterten
Menge einen Abfluß auf das Haupt ber Abgefandten des
Statthalters unb der Regierung zu weifen. Sn dem dichten
Gedränge vermochten fid) bie Landjäger faum zu verteidigen,
fie waren den Streichen der zum Zeil wenigftens mit Reb-
fteden bewaffneten Gegner faft wehrlos ausgeſetzt, fo daß fie
zu Boden fielen. Die meiften konnten fid) bald wieder auf:
rihten und fuchten fid) aus bem Getümmel heraus in bie
Obftgärten zu flüchten, um einigermaßen freie Vewegung zu
befommen. Schäublin leiftete Dil 93eiffanb, der im erften
Augenblid ber Wut der Menge am meiften ausgefe6t war
und ber infolge eines auf den Kopf erhaltenen Schlages viel
Blut verlor, und bieb mit dem Karabiner [inf$ und rechts
brein. Auch DiN babnte fid) mit bem Karabiner einen Weg
burd) das Volk, und als er fab, bap ein Mann aus ber
nadjbrüngenben Menge — bie Landjäger zogen fid) rüdwärts
gehend zurüd — feinem Kameraden Hägler den Karabiner
entreiBen wollte, gab er jenem, Matth. Thürkauf Ctrápis,
mit bem Kolben einen Streih in den Naden, daß er
ohnmädtig niederftürzte unb wie tot bafag. Der Gall
eines der Sbrigen fteigerte natürlich bie Wut der Angreifer,
fie drängten, mit Gabeln, Hauen und Kärften bewaffnet,
mit erneutem Grimm auf die Landjäger ein und fchlugen
Rorporal Meyer fowie Brunner nieder; aud) Hägler
vermochte fid) zunächſt dem Gedränge nicht zu entwinden.
Die übrigen drei, alfo Dil, Schäublin unb Malzach, ge-
langten, weniger mitgenommen als ihre Kameraden, ins
Greie, nümlid aus dem Raum zwifchen den eingezäunten
Gemüfegärten in bie Wiefen, und dort fchoffen fie, um fid)
der Verfolger zu erwehren, ihre Karabiner ab. Ein Jo—
bannes Hügin Frieds fiel, von zwei Kugeln getroffen, (mer
verlegt zu Q3oben; nad) ber fpäteren Ausfage der Land:
jäger war Hügin, einer ber vorderften und wütendften
165
aus ber Menge, mit einem Karft auf fie eingedrungen,
während ber Verwundete dies beftritt und behauptete, er
babe bloß dem Matthias Thürkauf Hilfe leiften wollen.
fleber Hügins Rolle im kritifchen Moment liegt von anderer
Seite feine 3eugenausfage vor, bloß fab ihn jemand, wie er
beim Röoßli ffanb und bie Hände in den Hofen batte, als bie
Maſſe fid burd den Raum zwifchen den Gemüjegärten
drängte, bann fei er dem Schwarm nad) und etwa drei
Minuten fpäter feien die Schüffe gefallen.
Nah bem Abfeuern der Karabiner ergriffen die drei
€anbjáger die Flucht dem Bruderholz zu, während bie
Menge unter fteten Todesdrohungen ihnen nachſetzte. ALS
Schäublin den Birſig durchwatete, wurde ihm eine foge-
nannte Schußgabel?°) nachgeworfen, die ein paar Fuß von
ihm ins 93orb hineinfuhr; eine zweite durchlöcherte ibm den
Tſchako. Im Bruderholz verftedten fid bie drei Ent:
ronnenen, bod) fie waren nod) nicht in Sicherheit, weil bie
Verfolger fie auch dort hartnädig fuchten. Dill hörte fte nod)
fagen: „Er muß da drinnen fein, wenn wir ihn aber haben,
muB er taufendmal burd)bobrt werden.” Als fie fchließlich
weg waren, machte fid) Dill auf, fiel aber, als er eben in bie
Nähe von mit der Ernte befchäftigten Leuten gelangte, in
Ohnmacht; bieje labten ihn mit Waffer und Wein unb
wufchen ihm das Blut ab. Er wurde nad) Reinach geführt,
wo er feinen Kameraden Malzach traf; beide machten bann
ben Rüdweg nad) Arlesheim auf einem Wägelein des
Ochfenwirts Scherer in SDornad. Ebenfo war Schäublin
genótigt, fid von Reinach nad) Arlesheim auf einem Gefährt
führen zu laflen; er batte ftarfes Blutſpucken.
Während diefe drei Landjäger, die immerhin mit Aus-
nahme von Malzach von ben Mißhandlungen ziemlich ſtark
mitgenommen wurden, nur relativ furge Zeit der Gefahr des
Erfchlagenwerdens ausgefeßt waren, ging es den drei anderen,
?0) Eine Gabel mit langem Stiel, wird hauptſächlich beim Laden
non Garben verwendet.
166
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bie bem fie bebrüngenben Volkshaufen nicht zu entrinnen
vermochten, wefentlich fchlimmer. Brunner wurde gleich zu
Beginn ber Tätlichkeiten zu Boden gefchlagen, jo daß er
wie tot balag. Er richtete fid) jedoch fpäter wieder auf unb
lief ohne Waffen und barhaupt, bloß den Weidfad an der
Seite, bem Hofmattftege zu, verfolgt von einem ganzen
Haufen Volkes. Er hatte bereits Löcher im Kopfe, unb aud)
ein Arm foll ibm (mit Brunners eigenem Karabiner) ab-
sefhlagen gewefen fein. Der Zlüchtige gelangte auch über
den Gteg auf bie [ogenannte Hüslimatte, wurde jedoch,
wahrfcheinlich von halbwüchfigen Burſchen, bei der Wieſe
von Martin Schweighaufer, bie man aud) ,'$ Schneider:
banjen Matte” nannte, „Dort, wo ein Waflergräblein den
Pfad durchfchneidet”, eingeholt und von neuem zu Boden
geichlagen, worauf es nochmals über ibn berging. Die beiden
Oberwiler, die fpäter wegen unvorfäglider Tötung
DBrunners zu langjähriger Kettenftrafe verurteilt wurden,
wollten ihn nur mit einem SKmüttelein refp. mit einem
weidenen GCteden gefchlagen haben; immerhin fchlugen fie
nad) ber Ausfage eines Zeugen zu wie bie Dreſcher. „Ich
babe ibm", fagte ber eine, „einen Streich auf den Kopf ge-
geben, fo ang Ohr, aber er bat davon fein Blut vergoljen
unb iff nicht davon tot geblieben. Ich babe auch feinen Laut
von ihm gehört und nicht gejeben, daß er fid) firedte; von
unferem Schlagen ift er nicht tot geblieben.” Und der
andere: „Sch babe gewiß feinen Karſt gehabt, nur einen
Steden; aber zu unterft zu oberft babe ich ihn gemacht mit
meinem Gteden ..... . Er bat gewiß feinen Tropfen Blut
davon verloren. a, ich geftehe ein, ich babe ihn mit meinem
Steden niedergefchlagen. Einen Laut babe id) von ihm nicht
gehört, aber er richtete das Geficht auf bie Seite unb [uote
mid) an. Daß er fid) geftredt, babe ich nicht gefeben." All⸗
gemein war bie $[ebergeugung, daß Brunner dort den Tod
gefunden hat, mo die bejd)riebenen Mifhandlungen beobachtet
wurden, aber feine Leiche wurde viel weiter oben auf den
168
Wieſen, gegen Therwil zu, in ber Nähe des fogenannten
Heinen Bielgrabens beim ,, Zelgenſteg“ aufgefunden; dort ſahen
nod) gleichen Abends Porübergehende bie Leiche, und am
folgenden Morgen wurde fie nah Therwil verbracht. Zu
erwähnen ift nod) bie Anficht von Dr. Herbft, ber die Leiche
des Erfchlagenen ſchon vor dem Eintreffen der kantonalen
Wundfchau befichtigte, es fcheine aus der Art einiger Ver:
fe&ungen bervorzugehen, daB auf Brunner nod) nad) bem
Tode dreingefchlagen worden fei. Nah bem Erfund ber
Sektion waren fowohl bie KRopfverlegungen — bie Hirn-
ſchale war an zwei Stellen gebrochen — als bie Verlegungen
des rechten Oberarms — Serfplitterung der Knochen, 3er:
reißen und 3erftörung der Ylutgefäße, Bänder und Muskeln
am Gelent — als unbedingt tödlich zu bezeichnen.
Wie Brunner, fo wurde wahrfcheinlich auch Hägler bie
todbringende Wunde mit einem Karft beigebracht; auch fie
— „eine etwa einen Fünfbätzner große, eingedrüdte Stelle
am [infen Seitenwandbein, wobei fid) mehrere Knochenbrüche
vorfanden” — war unbedingt tödlich. Hägler wurde eben-
falis (bon hinter bem Roöpli zu Boden gefchlagen, er fonnte
fid) jedoch wieder erheben und bem Bache zulaufen, ben er
einige Schritte links vom Hofmattfteg Durchwaten wollte; bod)
die Verfolger waren [don jenfeit8 auf der „Hüslimatte”,
und dort fielen fie aufs neue, mit allerlei Werkzeug be:
waffnet, über ihn ber. Die Unterſuchung vermochte nicht
mebr feftzuftellen, ob Hägler den tödlichen Streich im Bache
jelber ober auf ber Wiefe am jenfeitigen Ufer erhielt. Eine
Zeugin, Katharina Hügin Mathifen, behauptete, fie habe ihn
in den Bach ftürzen feben unb ibn mit Hilfe anderer Per-
fonen herausgezogen; wie fie ihn erreichte, fei niemand bei
ibm gemefen. Damit ftimmt nicht, was eine diefer Per:
jonen, Sob. Dannacder, Bäder, ausfagte, denn diefer be-
hauptete, Matthias Thürkauf Elfelis habe bloß etwa einen
Schritt von Hägler weg mit einer „Scheie”" von einem
Gartenbag am Birfig geftanden, etwa zehn oder zwölf
169
Schritte vom Steg am Üfer gegen Therwil zu. Sm übrigen
ftellte der Zeuge, ber vor dem Tumult im Otópli war und
dort mit Hägler angeftoßen batte, den Verlauf folgenber-
maßen dar: „Außer ein paar Weibsbildern war niemand
mebr bier (in den Obftgärten binter dem Rößli, wo
Matthias Sb5ürfauf Sträßis wie tot unter einem Baume
lag) zugegen, alles Volk lief den flüchtigen Landjägern nad.
Od) eilte nun dem Volt nad) unb rief, fo faut ich fonnte,
daß man bod) abgeben folle. Nun bemerkte ich, daß €anb-
jäger Brunner über den Steg lief. Jenſeits machte ibm ein
Srupp Leute Plab, und id) dachte, Gottlob, ber ift gerettet;
aber bald fab id) aus ber Gerne, daß mehrere ibm nacheilten.
Nun ging id zurüd, um nad) den Toten (Thürkauf unb
KRorporal Meyer, bie er tot glaubte) zu feben, aber fie waren
wegtransportiert worden. Nun hörte id) plöglich furchtbaren
Lärm in der Nähe des Stegs. Ich eilte bin und fab, daß
man auf einen Landjäger dreinfhlu. Mit den Fäuften
drängte ich mich durch das Volt und nahm den Landjäger
in Schuß. ch ftieB diejenigen, welche um ihn berum waren,
von ihm, erhielt aber bei diefem Anlaß drei Streiche auf das
Genid, bap es mir finfter vor den Augen ward. Snbeffen ge-
lang es mir bod), ihn aus dem Volk berausgubringen und
mit Hilfe der Katharina Laub ins Rößli zu transportieren.
Gr batte ungebeuren Blutverluſt; indeflen glaubte id) bod)
nicht, baB es ibm etwas fun werde, denn er war nod) gut
bei Berftand, er fagte immer zu mir: „Dannacher, Sbr habt
mir das Leben gerettet." Auf bem Wege gum Rößli wollte
eine Rotte, mit Hebeln und Latten bewaffnet, auf uns dar;
ich rief aber, fo laut id) fonnte, und minfte mit Häglers
MWeidfad, baB fie nicht kommen follten, worauf fie eine
andere Richtung einfchlugen. Wie wir zum Röpli famen,
wollten wieder zwei auf Hägler los, id) verhütete aber, bap
ibm nod) mehr Leides gefchehe.” Auch im Röpli war er
nod) Inſulten ausgefeßt, denn zwei weitere Fanatiker hielten
ihm dort bie Fauſt unter bie Nafe und fluchten ibn an.
170
Dannachers Vermutung, daß Hägler nicht gefährlich ver-
wunbef ei, beitätigte fid allerdings nicht, denn er ftarb
morgens 2 Uhr im Rößli troß der ibm durch Dr. Seyffert
aus Binningen zuteil gewordenen ärztlichen Pflege.
Beſſer als Brunner und Hägler erging e8 Korporal
Meyer. Er ging als letter mit Malzach aus bem Röpli
und erhielt einen Schlag, bald nachdem die Menge den
Röpliwirt den Händen der Polizei entriffen hatte; von
diefem Schlag ftürzte er ohnmächtig zu Boden und fab daher
bom weiteren Verlauf des Zumultes nichts mehr. Gegen
die Ausfage eines Zeugen, baf er Meyer bloß etwa zehn bis
zwölf Schritte vom Bach entfernt gefunden, daß der Rorporal
alfo faft den ganzen Weg über bie fog. Hofmatt gemacht
babe, fpricht das Zeugnis Dannachers ausdrüdlich, ber fagte,
et babe gefeben, wie Meyer etwa fünf Schritte von bem
ebenfalls verwundeten Sob. Hügin im Grafe lag, alfo in ben
Baumgärten unweit des Rößli. Meyers Wunden beftanden
in einer Quetfchung des rechten Ohrs, einer folchen des
linken GuBgelenf8 forie in Rontufionen am rechten Ober-
arm und am rechten Schenkel; er muß demnach nicht bloß
einen Schlag auf den Kopf erhalten haben.
VII. |
Rapporte ber Landjäger. — Eine Darftellung aus bem andern Lager.
— (in parteiifches Schreiben des Gemeinderats.
Es wird fid) lohnen, bier noch bie Darftellung der Vor:
sänge im Wortlaut zu wiederholen, wie fie mehrere Augen-
zeugen, in erfter Linie zwei Landjäger, fpäter zu Protokoll
gaben. Korporal Meyer erzählte: „Brunner und id) gingen
zum Gemeinbepráfibenten; er fagte, er müfje querit den Ge-
meinderat zufammenberufen, ehe er etwas in biefer Cade
tun fónne. Und der Gemeinderat, im Röpliwirtshaus zu-
fammenfigend, äußerte fid) dahin, daß er nicht einzig handeln
dürfe, fondern vorerft bie Gemeinde verfammeln unb fie an-
171
fragen müfje, ob bie verlangten Bürger verabfolgt werden
dürfen. Der Gemeinderat fragte mich, ob man an die Ge-
meinbe läuten dürfe. Ich bemerkte, baB man bie Gemeinde
auf gewöhnliche Weife unb auf bem Gemeindeplaß ver-
fammeln follte, nicht etwa bier vor bem Röpliwirtshaufe
unb von einer Menge Weibsbilder umgeben. Diefe Be:
merfung half aber nichts. Statt auf gewöhnlihe Art zu
läuten, wurde ,geffürmt" 2!) und bie Gemeinde vor bem
Röpli verfammelt, wo nahezu 100 Weiber teilnahmen. Es
wurde ein ernftes Schreiben der Regierung und die darin
angezogenen Paragraphen des Kriminalgeſetzbuches verlefen;
das Refultat der Gemeindeverfammlung ging troßdem da-
bin, daß man feinen Bürger zum Dorf hinaus [affe. Ich
machte den Antrag, nicht darauf zu bebarren, daß die Be—
treffenden mit ung geben, fondern wenn fie verjprechen, ftei-
willig zu geben, daß ich mich damit begnüge, wenn nur ein
Mitglied des Gemeinderats fie begleite. Da fam Röfliwirt
Sütterlin: „Sch fürchte mid) nicht, mit Gud) zu geben, ich
gebe mit Euch." Ich bemerkte ihm, dies fei ganz recht, er
folle fid nur bereit machen, einen Rod anziehen u. f. f. Er
309 andere Kleider an, nahm den Rod auf die Schulter und
fagte, jet fei er bereit. Auch wir waren bereit; wir ftellten
uns in Reih und Glied und marfchierten, je zwei und zwei
beifammen und den. Arreftanten in der Mitte, zum Haufe
hinaus. Eine Menge Weibsbilder entrifjen uns mit furcht-
barem Gebrül ben Arreftanten, aud) Mannsbilder fingen
nun an dreinzufchlagen. Ich bemerkte feine Waffen, außer
daß bier unb ba einer einen Garbentnebel in den Händen
bielt.
Wir wanden uns nun aus ber Volksmenge beraus;
mir gelang dies, ohne daß id) in ben Gall fam, von meinen
Waffen Gebraud) zu mahen. Wie wir aus dem Volks—
haufen heraus waren, wollte id) meine Landjäger in Ord-
2) Das ijt ein Irrtum, denn am 31, Juli wurde nicht „geitürmt“,
bloß am 30.
172
nung ftellen unb mit ihnen den Seimmeg antreten, obne auf
ben ?[rreftanten, der uns gewaltfam entriffen worden, nod)
. Rüdfiht zu nehmen. Wie ich mid) aber umfebrte gegen das
Volk, bemerkte ich, baB der Haufe, mit Gabeln, €atten und
allem Möglichen bewaffnet (Rärfte und Schußgabeln be-
merkte ich bier noch feine) wütend auf uns bergog. Ich ging
diefem Volkshaufen entgegen, ohne mich zur Wehr zu ftellen.
Den Karabiner und den Säbel an der Seite hängen laffend,
wie gewöhnlich, trat ich zu diefen Leuten und forderte fie mit
ernften Worten, aber guten, nicht rauben, auf, fid) bod) ruhig
zu verhalten unb fein Unglüd anzuftellen; wie ich aber jo
zu ihnen fprach, erhielt id) unverfehens einen Streich auf
den Kopf, daß id) bewußtlos zu Boden ftürate. Von diefem
Augenblid an weiß id) nichts mehr. Ganz dunkel, es fchwebt
mir wie ein Traum vor den Augen, glaube ich mich erinnern
zu können, baB ein großer junger Mann, während ich auf
ber Wiefe lag, mit einem Lattenftüd auf mich dreingefchlagen
babe. Syd) fam erft wieder zur Beſinnung in der Wohnung
des Präfidenten, der mir ein Glas Wein reichte und wo
mir meine Wunden ausgewafchen wurden. Hier fam Joſeph
Ley, Küfer, zu mir und fagte: „Bift Du ba, Cpi6bube, Du
bift der Chef, Du wirft wohl Feuer fommandiert haben,
Du mußt jest fommen, und menn Du nicht freiwillig gebft,
reißt man Sid) an den Haaren bin, Du mußt den Per:
wundeten anfehben und Dich unterfchreiben, daß Ihr an-
gefangen habt." Ich fagte, er möchte mid) bod) ruhig faffen,
bis meine Wunden verbunden feien, dann wolle ich ja gerne
fommen. Er ging nun fort, und nachdem meine Wunden
verbunden waren, führten mid) die $.5. Dr. Gepffert und
Mivile ins Röpliwirtshaus, wo ich Hägler bewußtlos in
einem Bette liegend antraf. Ich wurde ebenfalls in ein
Bett gelegt. Nun fam Küfer Ley noch mehrere Male und
war jebt fo höflich unb fo gefällig, baB er zu mir fagte, id)
möge bedürfen, was id) wolle, ich müfle es haben. Dann
fagte ih zu dem Rößliwirt, dies fei bod) ein fo artiger
173
Mann, wer e8 aud) fei. Da bemerkte er, es fei ihr Nachbar,
der Küfer Sofepb Ley. Sm Röoßliwirtshaus bat Ley gefagt,
es fei ihm nur nicht ums Springen gewefen, fonft wäre fein
Landjäger bapongefonunen. Noch am gleichen Nachmittag
wurde ich nach Arlesheim transportiert.” j
Und Landjäger Sofepb Malzach fagte aus: „An der
Spige derjenigen, welche mit den Gemeinderäten ing Wirt3-
haus traten, war ein Schmidlin, 93ruber von Abbe Schmid-
lin, der unaufhörlic zum Volk prebigte, daß man der Re-
sierung fid) ja nicht unterwerfen folle. Ich bemerkte ibm,
et folle fid) nicht einmifchen, er entgegnete: „Sch bin von
Arlesheim, ein aktiver Bürger des Birsecks und babe alo
aud) dazu zu reden. Wir laſſen niemand fort" uf. nd
er fuhr fort, das Volk aufzumwiegeln und es in feiner Wider:
feßlichkeit zu beffürfen. Dann begehrte aud) des Rößliwirts
Bruder (er bat einen bunten Gied an der linten Yade)
furchtbar auf. Er fchimpfte auf die Regierung, den Ver—
walter unb bie Landjäger, baB man nicht fagen fann, wie arg.
Halunken, Spisbuben ufw. waren noch bie gelinbeften Aus-
drüde. Auch er be&te das Volt unausgefebt auf. Nach
langem Hin- und Herreden, welches menigitens drei Stunden
dauerte, während welcher Zeit wir alles aufboten, um bie
Leute eines 93efferen zu belehren und fie zur Nachgiebigkeit
zu bewegen, entfchloffen wir uns, beimaugeben. Röpliwirt
Sütterlin hatte fi anders angeffeibet, feßte den Hut auf,
nahm das Ramifol auf bie Schulter unb fam mit uns. Wer
im Hausgang und in der Stube war, machte uns Plaß, baB
wir ganz bequem vorbeimarfchieren fonnten. Als wir aber
zum Haufe binausfamen, ba ging'$ anders. Mir ward ber
Tſchako zwar nicht ab-, aber ganz tief in den Kopf ins Genid
hineingefchlagen. Sch war ber hinterfte und fief neben Kor-
poral Meyer einher. Nun ward ich gepadt und zufammen-
gebrüdt am Unterleib und zurüdgerifien. Sch hielt mid) an
Meyer feft, ward jedoch überwältigt unb zu Boden gebradt.
Cd) ftanb jedoch fogleid) wieder auf und brad) Bahn durch
174
bie Volksmenge mit bem Stuben, indem id) Links unb rechts
ausmebrte. So machten’s aud) meine ftameraben.
Wie wir uns aus ber Volksmaſſe berausgewunden
hatten, kehrten wir ung um, daß wir den Rüden frei hatten.
Aber mit Erftaunen bemerkten wir, daß die Bürgerſchaft,
mit Kärften, Schußgabeln, Hebeln u. f. f. bewaffnet, auf
uns berftürmte. Brunner pürzelte zu Boden unb ftredte
fih.2?) Meyer und Hägler waren fchon verfchwunden; wie
fie fielen, weiß ich nit. Als nun wir drei, Schäublin, Dill
unb id, noch einzig daftanden und diejenigen, welche bie
andern zu Boden gemacht, mit Kärften auf uns berftürmten,
fagte einer von meinen Kameraden, id) glaube Schäublin:
„Gebt Geuer." Ich drüdte ab, ohne lange zu (eben auf men.
Sch glaube, id) babe denjenigen getroffen, welcher, mit einem
aufgezogenen Karft in der Hand, der vorderfte war unb der
aud) von Dil einen Schuß erhalten haben fol. Er ftürmte
wie ein Löwe mit feinem Karft auf den Dill los. Nun
ergriffen wir die Flucht dem Bruderholz zu, wurden aber
von einer Menge Menfchen verfolgt. Ich verftedte mich im
Gebüfh. Als e8 wieder fill war, ging id) bem Bruderholz
entlang bem Therwiler Bann zu. Hier verließ ich den Wald
und ging wieder auf Matten von Oberwil ganz nahe bis
zum Dorf, um nachzufehen, ob etwa nod) einer von meinen
Kameraden, welche niedergefchlagen wurden, vielleicht balb-
tot auf der Matte liege. Sch fab niemand, mußte aber gleich
wieder zurüd, indem zwei Männer gegen mid) berliefen, von
denen der eine eine Art und der andere eine Miftgabel bei
fid) trug. Sd) ging nun nad) Reinach zu und traf nahe am
Dorfe den Dil, mit dem ich dann auf dem Wägelein des
Herrn Scherer bieber fuhr. Wunden trug id) feine davon
als eine Quetfchung an der Bade; aber Stöße und „Renne”
erhielt ich genug, daß ich nachher einmal über das andere
mid) etbreden mußte.“
2) Wie man jebod) weiß, vermodte fi Brunner wieder zu
erheben. -
175
Bon der Gegenpartei liegt als zufammenhängende Dar:
ftellung eigentlich nur bie Ausſage vor, bie Friedensrichter
und Gemeinderat Fridolin Sbürfauf im Derhör machte:
„Als bie Landjäger angefommen waren, um Verbaftungen
vorzunehmen, rief mich der Wächter zum Präfidenten. Als
id) dahin fam, war diefer bereits im Otópli Jamt den übrigen
Gemeinderäten, wohin id) mid) nun ebenfalls begab. Es
batte fid) fd)on viel Volk dort verfammelt, weil durch das
Suchen nad) denen, bie verhaftet werden follten, bie Abficht
ber Landjäger befannt geworden war. Das Vol verlangte
nun, bap dieſe Leute nid burd Landjäger fortgeführt
würden, fondern baB fie fid) follten frei vor die Obrigkeit
ftellen dürfen. Wir (die Gemeinderäte) ftellten den €anb-
jägern vor, fie follten von der Verhaftung ablaflen, da leicht
ein Unglüd entfteben fónne, weil das Volk in großer Auf:
regung fei, und boten ihnen dagegen an, baB wir die Be:
treffenden des folgenden Tages felbft zum Herrn Verwalter
führen wollen unb mit unferer Perfon für fie einftehen.??)
Daß fid) dies fo verhält, haben der Wächter Geiler, Ge-
meindefchreiber Bannier, Sofepb und Heinrih Sütterlin
unb nod) zwei oder drei andere gehört. Zwei oder drei von
den Landjägern wollten fid) hiezu verfteben, die übrigen aber
fagten, fie fónnen und dürfen niht. Das Herz zerfprang mir
faft im Leibe, als bie Landjäger durchaus darauf beftanden,
ben Röpliwirt fortzunehmen, unb auf unfer Anerbieten, das
gewiß vernünftig war, nicht eingingen. Denn das Volt
war febr in Aufregung und daher ein Unglüd zu befürchten,
wenn fie wirklich verfuchen würden, den Röfliwirt ab-
zuführen.
Cd) befand mid) nod) im Haufe, als bie Landjäger das-
jelbe verließen; auf den Lärm aber, ber entftand, als fie
draußen waren, eilte ich vor die Tür und fab, bap bte 9anb-
jäger in einem Vollshaufen brin waren, der ihnen eben den
33, C'anbjüger Shäublin Beitritt entidjieben, daß bte Gemeinbe:
tüte mit ihrer Perſon für bie Arreitanten haften wollten.
176
Röpliwirt abgenommen hatte; fie hatten den Säbel gezogen,
aber id) fab nicht, daß jemand damit befchädigt worden wäre.
Als bie Landjäger aus dem Gäßlein heraus in die Gärten
famen, fonnten fie aus bem Vollshaufen fid) berausminben.
Cie entfernten fid etwas vom Volk unb fchoflen. Der
Wächter Seiler will gehört haben, wie Feuer fommanbierf
wurde. Das Volt ftob auseinander und ich flüchtete ins
Haus. Nach) einer Viertelftunde verließ ich das Haus, fand
Meyer verwundet, halb figend, halb liegend im Grafe und
half ihn ins Röpli führen. Er wollte aber nicht bableiben,
ba er einen neuen Angriff befürchtete, fondern verlangte in
des Präfidenten Haus. Dorthin wurde er gebracht, jedoch
bald wieder in das Roßli zurüd, weil man in des Präfidenten
Haus fein 93ett für ibn hatte.“
Hier mag bann nod) das Schreiben Pla finden, mit
welchem der Gemeinderat dem Verwalter Rummler Mit-
teilung von ben Zorfällen des 31. Juli machte. Noch in
der Nacht, zwifchen 1 und 2 Uhr, brachten es drei bewaffnete
Männer, Küfer Ley, Joſeph Laub, Mebgers unb Aloys
Bannier, nad) Arleshbeim. Die gleichen erfuhten Dekan
Gürtler, bem bifchöflihen Offizial Wohnlih Kenntnis von
ben Vorfällen des Tages zu geben. „Heute gegen Mittag”,
fo beiBt es in dem Schreiben, „erfchienen ſechs Landjäger
der Bafellandfhaft in unferer Gemeinde, beauftragt, wie fie
fagten, einige S3ürger biefiger Gemeinde gefangen fort:
zuführen; obdem fie in bie Wohnung des Präfidenten ein:
gekehrt und bie Abwefenheit desfelben vernommen hatten,
verfügten fie fid) fofort in das Gafthaus zum Rößli. Die
DVevölkerung des Dorfes, von der Ankunft der Landjäger
und ihrer Abficht in Kenntnis gefebt, verfammelte fid in
Maſſe vor und um befagtes Haus zum Rößli. Dafelbft be-
fand fid) ohne Verzug ber E. Gemeinderat ein. Auf bie
Heußerung der Landjäger, bap fie nicht aus bem Dorfe fid)
entfernen würden, bis fie wenigftens einen ber zu Arretie-
renden, nämlich den Eigentümer des genannten Gaftwirts-
177 12
haufes zum Röͤßli, würden gefangen mit fid) führen fünnen,
— bie übrigen zu Wrretierenden waren abwejend, — da
ftelte ihnen der G. Gemeinderat wiederholt bie traurigen,
daraus zu befürchtenden Folgen vor unb bot fid) an, für ben
fid) freiwillig ftellenden Gaftwirt Raution zu leiften, mit bet
Verſicherung, daß fid) derfelbe morgen freiwillig vor der be-
treffenden Behörde ftelen werde. Ale Bitten, alle Er-
mabnungen, alle PVorftellungen blieben fruchtlos. Die
befagten €anbjáger brachen auf und führten den Arreftanten
einige Schritte mit fi. Die Volksmaſſe, bie feinen ihrer
redlihen Bürger wie einen Kriminalverbrecher aus ihrer
Mitte wollte fortführen laflen, wurde durch folche Verwegen-
heit aufs böchite empört, — und wagte es, benjelben den
Händen ber Landjäger zu entreißen. Es geſchah; bie Land-
jäger entfernten fid) einige Schritte von bem Vollshaufen —
unb feuerten in denfelben. Ein Bürger biefiger Gemeinde
wurde gefährlich durch zwei Schüfle verwundet. Nun über:
nahm bie Wut das Voll, — Bitten und Drohungen von
feiten der Gemeinderäte achtete es nicht mehr. Zwei von
ben fíiebenben Landjägern??) fielen in feine Hände und
wurden verwundet zurüdgebraht zur Verpflegung. Das
find nun bie Refultate des heutigen Vorfalls. Wer fie
hervorgerufen, ift leicht zu ermitteln.” Unterzeichnet war
biefe Zufchrift von fämtlichen Gemeinderäten, gejchrieben von
der Hand des Gemeindefchreibers Seraphin Bannier.
VIII.
Bezirksverwalter unb Regierung zur neuen Lage. — Truppenauf-
gebot durch den Landrat. — Militärifche Befesung des Dorfes Ober-
tvi, — Die Rüdwirkung auf Allſchwil. — Die fchließliche Inftallation
Doswalds.
Vor dem Eintreffen des Schreibens des Gemeinderats
ſchon war Statthalter Kummler durch bie drei über das
34 Von Brunner wußte alſo ber Gemeinderat nichts ober tat,
als ob er nichts wiſſe, da ſeine Leiche nicht im Dorfe ſelber lag.
178
93ruberbofa entfommenen 9anbjáger von ben ernften Greig-
niflen des 31. Zuli unterrichtet worden. Auch Dekan Gürtler
erfuhr bald davon, denn Andreas Hügly, ein Sohn des
Müllers, ritt am Abend (alfo vor den drei bewaffneten Boten
des Gemeinderats) nad) Arlesheim und bat den Dekan, einen
Öeiftlihen zu bezeichnen, um einen Schwerverwundeten
(Sob. Hügin) mit ben Gterbefaframenten zu verfeben;
Gürtler wies ihn an Pfarrer Eueni in Therwil, und diefer
übernahm die Funktion, nachdem er vorerft nod) Pfarrer
Anaheim angefragt hatte. Rummler machte fofort burd) einen
Erprefien dem Regierungsrat Mitteilung von dem Ge:
ſchehenen und begab fid) nod) am gleichen Abend nad) Sber-
wil, um Grfunbigungen über das Schidfal der Übrigen drei
€anbjdger einzuziehen. Er erfuhr, Brunner [iege tot auf
ben Wiefen amijden Oberwil und Therwil, und ließ bie
Leiche durch mehrere Bürger von Therwil nad) der dortigen
Sriedhoffapelle verbringen; bie beiden andern Vermißten, et-
fuhr Rummler weiter, lägen fehwerverwundet im Rößli unb
würden von Dr. Gepffert behandelt. Am folgenden Tage
Ihidte bie Regierung ihr Mitglied Sórin als Kommiſſär
nad) Arlesheim; mit ibm follte fid) Rummler in eine Oberwil
zunäcdhftgelegene Gemeinde begeben und von den Bürgern der
renitenten Gemeinde eine unummundene GErflärung ver:
langen, ob fie wieder zur gefeglihen Ordnung zurüdfehren
unb bie Verbrecher ausliefern wollte. Don Therwil aus
wurde die Aufforderung burd) einen Erpreflen nad) Oberwil
gefdjidt; innert zwei Stunden follte der Gemeinderat die
Erklärung perfünlich nad) Therwil bringen. In der geftellten
Grift erfolgte feine Antwort, erit am nächſten Morgen fchrieb
der Gemeinderat, er werde die Gemeinde zufammenberufen
und das „Desfallfige Refultat” übermitteln. Später wurde
von einzelnen feiner Mitglieder gefagt, bie Friſt fei nicht
innegebalten worden, weil der Präfident und bie meiften
Gemeinderäte mit der Getreibeernte befchäftigt und in ver-
fhiedenen Richtungen vom Dorfe abmejenb waren; der Prä-
179 12°
fibent babe eben nad) Therwil geben wollen, als ibm
Dr. Gepffert fagte, Sórin und Rummler feien [bon fort.
9fud) jebt begriff der Gemeinderat den Ernft der Situation
nod) immer nicht, denn fonft hätte er fid) nicht neuerdings
wieder hinter die Notwendigkeit einer Einvernahme der Ge-
meindeverfammlung verfchangt.
fnterbeffen fchrieb der Statthalter neuerdings nad)
Cieftat, Hägler fei geftorben, mit Meyer ftebe es b03; warum
aud) das Militär fo lange nicht fomme; fónne bod) der Re:
gierungsrat in Fällen der Gefahr nad) S 60 ber Verfaſſung
von fid) aus Militärgewalt anwenden. Kummler befürchtete
zwar feine weiteren Gewalttaten mehr, denn bie Schuldigen
fähen ihr Verbrechen ein, wohl aber bejorgte er, daß ein
großer Seil von ihnen bie Flucht ergreife (wohl über die
franzöfifhe Grenze). „Landjäger muß ich haben, bie noch
lebenden liegen alle im Bett.” Am gleichen Sage, am
1. Auguft, verlangten zwölf Landräte, darunter Hügin und
der aus ber Revolutionszeit befannte ,, General" 93ujer, die
fofortige Einberufung einer außerordentlihen Sitzung des
Landrats, während von der Regierung die Weifung am
Oberftleutnant Rohrdorf erging, Lieftal nicht zu verlaflen;
fie rechnete alfo mit der Wahrfcheinlichkeit eines Sruppen-
aufgebots, aber fie wollte diesmal ein folches nicht von fid
aus befchließen, nachdem ihr Vorgehen bei den Unruhen in
Muttenz und Waldenburg vielfah Tadel erfahren batte.
Der Landrat verfammelte fid) am 2. Auguft, einem Sonntag.
Die Regierung gab Kenntnis von ihren an den Z23egirfe-
verwalter in Arlesheim erlaffenen Weifungen und von ihren
eigenen nad) Oberwil ergangenen Befehlen; auf Verlangen
wurde aud) die Rorrefpondenz amijd)en Regierungsrat einer-
feit8 unb 93ifd)of Salzmann und General-Provilar Wohnlich
andrerfeits wegen der Synftitution der beiden Pfarrer Do$-
wald und Anaheim befannt gegeben; auf den Antrag, daß
das gefamte Altenmaterial vorzulegen jei, ging der Rat ba-
gegen nicht ein, ba e$ fid) gegenwärtig bloß um bie Bei—
180
legung der Unruhen handle. Auf ben Antrag von Vogt
(Allſchwil) gelangte auch ber bifchöflihe Sirtenbrief vom
18. Zuli (Rap. V) zur Perlefung. Darauf wurde ein
Sruppenaufgebot befchloffen, um in Oberwil die Herrfchaft
bet beftebenben Geſetze wieberberauftellen; e8 folle bem Auf-
gebot eine von der Regierung zu ernennende Deputation bei-
gegeben werden, und nad) Bezahlung der Ofkupationskoften
hätten bie Truppen den Ort wieder zu verlaffen. Endlich
wurde nod) eine Kommiſſion von fünf Mitgliedern ernannt,
um zu unterfuchen, inwiefern der Regierungsrat in der
Opfarrangelegenbeit der beiden Gemeinden gemäß ben et.
gangenen Landratsbefchlüflen verfahren fet und in was der
Grund beftehe, daß im Kanton Aufftände gegen bie gefetliche
Ordnung fid) erneuern. Die Snffallation der beiden Pfarrer
fei dem Biſchof zu überlaffen.
Der erhaltenen Weifung gemäß ordnete ber Regierungs:
rat nod) am Sonntag das Aufgebot eines Bataillons In-
fanterie, einer Rompagnie Scharfihüsen und zweier Piecen
Artillerie mit gebüriger Beſpannung an; an Kavallerie
wurden bloß jeds$ Mann beigegeben. Kommandant der
etwa 700 Mann ftarfen Truppen wurde Oberftleutnant
Rohrdorf, der Befehl erhielt, das Einrüden in Oberwil
nüfigenfall8 mit Waffengewalt zu erzwingen. As Re-
sierungsfommifläre wurden bezeichnet Regierungsrat Syórin
und Landrat Rummler-Hartmann (von Münchenftein, wegen
feiner aktiven Rolle in der Revolutionszeit bekannt), bie die
DOberauffiht über den Sruppenfommanbanten zu führen
batten. Die Verpflegung und 93ejolbung der Truppen wurde
ber Gemeinde Oberwil tiberbürbet; mit der Ginquattierung
folten diejenigen 23türger nicht bebelligt werden, die feinen
Anteil an den Widerfeslichkeiten genommen hatten.) Schon
am 3. Auguft festen fid) bie Truppen von Lieftal aus in 23e-
25) Das wurde nicht fo gehalten, und fonnte e8 wahrſcheinlich
aud) nidjt, weil bie 700 Mann mehr Pla braudten, als ihnen
bie direkt Beteiligten zu bieten vermodten.
181
wegung. Gie rüdten über Muttenz, wo fie einige Snfulten
zu hören befamen,?°) unb über Münchenftein, wo fie bie Birs
paffierten, nad) Reinach; bier erfuhren bie Kommiſſäre vom
Drtsgeiftlihen, bie Oberwiler würden fehr wahrjcheinlich
Miderftand leiften, jo bap Zörin und Rummler-Hartmann
bie Möglichkeit eines Truppennahfchubs ins Auge faßten.
Am Nachmittag des 3. Auguft 1835, des zweiten Jahres⸗
tages des Gefechts bei Pratteln, ließen bie Kommiſſäre
amifden Sbermil und Oberwil Halt machen und [didten
durch zwei Chaſſeurs ein Schreiben an den Gemeinderat von
Oberwil mit der Aufforderung, fid) vor das Dorf zu begeben
und zu erklären, ob bie Gemeinde zur gejeglichen Ordnung
gurüdfebren molle. Nah Verfluß von etwa zwei Stunden,
nadbem die Truppen unterdefien am Fuße des 93ruberbolaes
9fufftellung genommen, famen die Reiter zurüd und über-
brachten die fchriftliche Sintermerfungserflürung des Ge:
meinderats nebft der Einladung, ing Dorf einzurüden. Der
Gemeinderat fam den Truppen bis über bie fogenannte
,Keinerne Brüde” 27) an der Straße nad) Bottmingen ent:
gegen und wiederholte feine Bereitwilligfeit zu unbedingter
Unterwerfung, worauf die Truppen zwifchen 6 und 7 Uhr
in die Ortfchaft einrüdten. Sie wurden zu je zehn bis
zwanzig Mann einquartiert, und bie Nacht verlief durchaus
ruhig; man Eagte über mangelhafte Verpflegung, Doch batte
fie ihre Urſache nicht im fchlechten Willen der Dorfbewohner,
fondern in dem leicht erflärlihen Mangel an Fleiſch für
die etlichen hundert Soldaten.
On der Grrübe des 4. Auguft wurde bie Gemeinde in der
Kirche verfammelt, wo nad) einer Auseinanderfegung der
Rommiffäre über den Zweck der Erpedition ohne weiteres bie
Erklärung abgegeben wurde, man werde der gefeßlichen Ord-
*$) Offenbar von foídjen, die noch wegen ber militári[den Be⸗
jegung ihres Dorfes ergrimmt waren.
77) Diefe aus bem Jahre 1779 ftammende Brüde, ein überaus
ſolides Wert, ijt feiber ber im Jahre 1911 durchgeführten ftorref-
tion zum Opfer gefallen.
182
nung nichts mehr in ben Weg legen. Zugleich erhielten die
Landjäger Dil, Malzach und Schäublin Gelegenheit, unter
den verfammelten Bürgern Nahfhau nah ihren Un:
greifern zu halten, aber der Lebelftand lag, wie Rummler
in feinem Bericht an die Regierung bemerkte, darin, daß
die überlebenden Poliziften Feine Orts- unb Cperfonen-
fenntni$ hatten; der einzige, ber fie befaß, nämlich der von
Therwil gebürtige SOrunner?5) war am 31. Zuli tot auf bem
Platz geblieben. Unter militärifcher (sforte wurden bie
Verdächtigen, 23 Mann an der Zahl, nad) Lieftal gebracht,
wo bereits am 5. Auguft im Regierungsgebäude die erften
Verhöre ffattfanben. Am 6. Auguſt begab fid) Pfarrer
Anaheim nad) Oberwil und Iogierte fid) im Pfarrhaus ein;
am gleiden Tage waren die verlangten 3000 Gr. Ofku-
pationskoften erfegt, und am 7. Auguft, acht Sage nad) ben
blutigen Ereigniffen hinter dem Roßli, rüdten bie Truppen
wieder ab, nachdem fie ber Untätigkeit in dem Dorfe bald
überdrüffig geworden waren.2?) Weil fämtliche Gemeinde:
räte derart belaftet erfchienen, daß der Statthalter fie eben-
falls in Haft feSen Tieß, richtete diefer das Gefud) an bie
Regierung, er möge einen proviforifchen Gemeinderat be-
ftellen. Das gefdjab; bie neue Behörde beftand aus Land-
taf Hügin als Präfident, bem als weitere Mitglieder bei-
gegeben wurden Joſeph Gütterlin, Gerichtsamtmann,
Benedikt Degen, Niklaus Degen, Bäder, und Hans Martin
Wehrlin. Gemeindefchreiber wurde Peter Degen.
Den von Lieftal her wehenden fcharfen Wind bekam
je8t aud) General-Provitar Wohnlih in Rheinfelden zu
fpüren. Diefem war nämlich von Dekan Gürtler mitgeteilt
worden, der Landrat babe am 2. Auguſt bie Aufhebung der
2, Schäublin [djeint erft kurze Zeit in Oberwil ftattoniert ges
wejen zu fein.
:9) Sm „Unerfhrodenen 9tauradjer" ftellten bie Gemeinderäte
am 2. September den Truppen zur Widerlegung eines Gerüchtes
das Zeugnis aus, fie hätten fid) jederzeit jo betragen, wie es wahren
Baterlandsfreunden geziemt.
183
Ernennung der Geiftlihen Anaheim und Doswald be.
fhlofien und ben Birsedern die Perftändigung mit bem
Biſchof über bie Vefegung der beiden Pfarrftellen anbeim-
gegeben. Daraufhin batte Wohnlih Anaheim angewiefen,
einftweilen in Sbermil zu bleiben und die Funktionen in
Oberwil Pfarrer Eueni zu überlaffen. Die Regierung for:
derte nun den General-Provifar energifch auf, bie Weifung
zurüdzunehmen, denn fie werde in diefer Sache feine weiteren
KRolifionen dulden und allenfalls jeden anderen, ber in
Oberwil ober Allſchwil Funktionen ausüben würde, polizei:
[id) megfübren lafien. Mit Gürtlers Hoffnung, nun neuer-
dings Verweſer in bie Gemeinden jchiden zu können, war
es aljo nichts. Die Regierung befchwerte fid) über Wohnlich
aud) beim Biſchof, ber den General-Provilar zur 3urüd-
nahme feiner Anordnung veranlaßte.
Am 4. Auguft fchrieben bie Regierungstommifläre von
Oberwil aus nad) Lieftal, es wäre vielleicht gut, fid) über
Allſchwil zu informieren, ehe bie Truppen abgezogen feien;
zweifellos forrefponbiere Allſchwil im geheimen mit Ober:
mil. Nachdem bann Pfarrer Doswald am gleihen Tage
wie fein Kollege Anaheim fid) in feine Pfarrei begeben batte,
[uben die Kommiſſäre den Gemeinderat von Allſchwil nad)
Oberwil vor, um fie zu belehren, aber bie Miffion batte
anjdeinenb feinen Erfolg, denn Doswald wurde von ben
Gemeindebehörden nicht anerkannt, Kirche und Pfarrhaus
blieben ibm verfchlofien, troßdem der Verweſer Pater
Sigisbert am 30. Zuli, am gleid)en Sage wie Schmidlin,
bie Pfarrei wieder verlaflen hatte. Immerhin vergrößerte
fid Doswalds Anhang bod) zujehends, denn am 7. Auguft
verlangten 49 Allichwiler, an ihrer Cpi&e Turmwirt Gürtler,
bie Deffnung von firde und Pfarrhaus und bie Heraus-
gabe ber Pfarrbücher an den rechtmäßigen Geiftlichen; in
ihrer Zufchrift beffagten fie fid) über den von der Partei
Adams ausgeübten Terrorismus. Einige Sage fpäter
ſchloſſen fid) 15 weitere Bürger an, aber der Gemeinderat
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bebatrte auf feinem Standpunkt, daß Doswalds Wahl un-
gefetlich fei, und wollte erft auf einen fürmlichen Beſchluß
des Landrats nachgeben. Un diefen richtete er unter bem
22. Auguft nochmals eine geharnifchte Zufhrift: „Man will
uns”, fo beißt es darin, „einem lebenslänglichen Pfaffentum
unterjohen (wegen der auf Lebenszeit übertragenen
Opfrünben) und fomit unfere befchworene Landesverfaffung
auf fträfliche Art verlegen. Daber findet fid) bie Gemeinde
verpflichtet, gegen jede ariftofratifche, defpotifche ober will-
fürliche Unterjochung, gegen jede Pfarrwahl und amtliche
Pfarreinfegung förmlich zu proteftieren, indem unfere ber-
gebrachten fränfifchen kirchlichen birsedijd)en Rechte gar
feine Pfarrherren zulaflen, fo daB wir auch während der
Seit, ba wir Franzoſen waren, nie feine Pfarrherren, fondern
immer nur Pfarrgebilfen, Deffervants, gehabt haben." Der
Grund, warum auf die franzöfifche Seit gurüdgegriffen wird,
liegt darin, baB die Deflervants nach bem im Sabre 1801
zwifchen bem Erften Konful Bonaparte mit Papft Pius VII.
abgefchlofienen Stonforbate eine überaus ptefüte Stellung
inne hatten. Es gab in einem 93egirf nur einen regelrechten,
auf Lebensdauer beftellten Pfarrer; die übrigen Geiftlichen
mußten als bloße Grilial- ober Hilfspriefter bem Staate feinen
Eid leiften, weil fie von ihm nichts erhielten, und waren ganz
der Gnade des Biſchofs ausgeliefert, ber fie jederzeit ab-
berufen fonnte, und dem guten Willen der Gemeinden, bie
für eine Wohnung famt Garten auffommen mußten. Die
Aufchwiler glaubten alfo damit am ebeften ans Ziel zu
fommen, wenn fie ein „lebenslängliches Pfaffentum” als
mit der Rechtslage unvereinbar darzuftellen fuchten, da ja
der Wiener Kongreß bie Fortdauer der kirchlichen Rechte
der franzöfifchen Seit gewährleiftet habe.
So mußte Doswald noch einige Wochen warten, bis
nämlich 93egirfSpermalter Rummler auf bie Bitte angefehener
Bürger fid) am 19. September nach Allichwil begab, um
dafür zu forgen, daß ber Gottesdienft am Bettag in ber:
185
fónunfider Weife gefeiert werden fónne. (Gr fette es beim
Gemeinderat burd), daß zu einer Gemeindeverfammlung ge:
läutet wurde, und an biefer verlag er zwei Schreiben, nämlich
ein folhes von Biſchof Salzmann, worin der Regierungsrat
aufgefordert wurde, bie Gemeinde zur Herausgabe der Schlüfiel
angubalten, und ein zweites von der Regierung in Lieftal,
worin der Vezirksverwalter mit der Inftallation Doswalds
betraut wurde. Kummler hielt fodann eine Anfprache, worin
er ben entfchiedenen Willen der geiftlichen und weltlichen
Behörden betonte, den gefe&mápigen Zuftand in der Pfarrei
wieder berzuftellen; hoffentlich werde nicht Allſchwil die ein-
zige Gemeinde fein, bie den Bettag nicht feiere. Als fid)
dann feine Oppofition gegen des Gtatthalters Begehren
geltend machte, fagte Präfident Vogt: „Set verlange id)
meine Demiffion”; gleichzeitig 309 er bie Schlüffel aus der
Safde und übergab fie Rummler, worauf diefer Doswald in
bie Kirche und in das Pfarrhaus einfübrte. Am DBettag
habe der Pfarrer bann, wie ber Vezirksverwalter von Augen-
und Obrenzeugen vernahm, eine fo herzdurdpdringende Pre:
bigt gehalten, daß drei Viertel der Zuhörer meinten und
nachher ausriefen: Sft es auch möglich, daß man dieſen herr⸗
lichen, frommen Mann fo verleumden und als einen fchlechten
Menichen bezeichnen Eonnte! — Ungefähr um die gleiche Zeit,
nämlih am 22. September, bejchloß der Landrat auf ben
Antrag des Regierungsrats, der den gefamten Pfarrftreit in
Allſchwil und Oberwil für erledigt anjab, fowohl bie auf
©. 151 erwähnten Protefte der beiden Gemeinden, als die
Allſchwiler Beſchwerde vom 22. Auguft ab acta zu legen.
Hingegen erklärte er eine Zuſchrift mehrerer patriotifcher
Ofereine vom 13.September 1835, worin die Aufhebung der
Lebenslänglichkeit der geiftlichen Stellen im Birseck verlangt
wurde, für erheblich und überwies fie dem Regierungsrat
zur Begutachtung.
186
IX.
Die beiden Prozeffe wegen Störung des Gottesdienfte® unb wegen
ber Mißhandlung und Tötung ber Landjäger. — Ausreden und
Widerfprüche. — Die Entfhädigungen an bie Opfer. — Segnabigungé-
aft des Landrats.
Selbftverftändlich hatten nun bie Gerichte neuerdings
einen Zuwachs an Arbeit zu verzeichnen, bie Oberwiler
Affären nahmen auf Monate hinaus die Tätigkeit ber
Unterfuchungsbehörden in Anſpruch, und ihre gerichtliche Er-
ledigung Eonnte erft gegen Ende des Jahres 1836 ftattfinden.
Am 5. Auguft 1835 begannen, wie bereits mitgeteilt wurde,
im Regierungsgebäude zu Cieftal bie Verhöre wegen der
tödlihen Mißhandlung der Landjäger, und am 19. Auguft
wurde auch bie Unterfuchung wegen der Störung des Gottes-
Dienftes bei Anlaß der Predigt von Pfarrer Doswald wieder
aufgenommen. Man fann aber nicht fagen, daß in der letzt⸗
genannten Angelegenheit mehr Derausfam als vorher. Es
wurde bereits erzählt, daß bie Gemeinderäte zum mindeften
eine verdächtige Rolle fpielten, als fie während der Predigt
Doswalds nicht in der Kirche waren, fondern fi, mit Aus-
nahme von Düblin, zu ihrem Kollegen Wehrlin begaben, wenn
aud) der Nachweis nicht gelang, baB fie dort am Komplott
gegen ben ,unfennbaren DPriefter” mithalfen. Stimmten
fchon die Ausfagen der Gemeinderäte nicht miteinander über-
ein, jo war es nod) weniger möglich, aus dem Chaos der
von den übrigen Dorfbewohnern gemachten Angaben über
ihr Benehmen in der Kirche Hug zu werden. Einige fagten
zur Begründung ihres demonftrativen Hinausgebens, fie
hätten geglaubt, bie Basler feien ausgerüdt (nümfid) um
die Landſchaft wieder mit Waffengewalt zurüdzuerobern);
andere wollen ber Anficht geme[en fein, e8 brenne irgendwo,
oder es fei jemand zu Tode gefallen, und wieder andere
wollen einfad) den übrigen nachgegangen fein. Den einen
plagte im Eritifhen Moment YBauchgrimmen, dem er durch
ein Bläschen Schnaps abhelfen mußte, den andern ein
187
franfe8 93ein, ben dritten ein Zurunfel am Obr, während
ein vierter, ein Maurer, Ratenjammer von einer am Sams:
fag mitgemachten „Aufrichte” ber verfpürte und ein fünfter
bie Sabafebofe zu Haufe vergeflen hatte. Einer will gehört
haben, wie fein Kind auf dem Kirchhofe meinte, einem andern
foll ein Stüd Zieh feine Ruhe gelaffen haben, dem Tags
zuvor eine Kartoffel im Halfe fteden geblieben war; etliche
verfpürten plößli das Bedürfnis, einen verfchwiegenen
Ort aufzufuchen, und wieder andere meinten, fie [eien eben
feine Liebhaber von Predigten. Merkwürdig viele wollen
fid) verfpätet haben und gerade zur Kirchtüre gefommen fein,
als bie Demonftranten berausftrömten. Auch der Setroris-
mus der Schmidlianer wurde als Grund angeführt: Einer
ging mit hinaus aus Beſorgnis, verfolgt zu werden, denn
man bätte ibm Fenſter einwerfen fónnen; ein anderer, der
während der Revolution als „Ariftofrat” verfchrien wurde,
wollte fid diesmal neutral halten, um niemand zu ärgern;
ein Schreiner fürchtete, er würde feine Arbeit mehr befommen
haben, wenn er in der Kirche geblieben wäre, und ein Färber
wußte nicht, ob er nicht darunter zu leiden hätte, wenn er
nicht machte wie bie anderen. Einen ausgefprochen ideellen
Grund gab ein früherer Gemeindepräfident an, der an dem
Texte der Predigt Anftoß nahm: Er fei jest ſchon 55 Sabre
alt und brauche feine Bußpredigt mehr, während ein Mebger
viel materialiftifcher dachte mit der Behauptung, er habe ein
unmwiderftehliches Bedürfnis nad) dem ,3nüni" empfunden,
weil er überhaupt ein durftiger 93ruber fei.
Ommerbin, unter den vielen, bie fid) derart ausredeten
oder einfach fagten, fie feien den andern nachgegangen, gab
e8 auch einige, bie in ihren Ausfagen den wahren 3u-
fammenbang durchfcehimmern Tießen; wurden fie nämlich vom
Verhörrichter auf das Widerfinnige ihrer Depofition auf:
merfjam gemacht, fo entfiel ihnen ein Tadel gegen Landrat
$jügin; diefer hätte Doswald ohne der Gemeinde Willen
unb Wiffen fommen laffen und man hätte Lieber den gehört,
188
ben der Dekan gefchidt batte. Unummunden [prad) fid) in
diefem Sinne eine Jungfrau, Katharina Häring, aus: „Sch
bin nicht fchuldig und verbunden, einen Pfarrer anzuhören,
den uns ber Hügin bat kommen [affen, fondern nur einen
folhen, den uns bie geiftlihe Obrigkeit gefebt bat." Im
übrigen bildeten bie Ausfagen der weiblichen Angeklagten
ein Pendant zu denen der männlichen, denn es rüdte eine
ganze Reihe von Ausreden auf, wie falte Füße, Winter:
gefrörne, Uebelkeit ufm.; mitunter fommt auch bie Beſorgnis
vor einem Ausrüden ber Basler unb einmal bie Furcht vor
ben Wriftofraten vor. Kein fchmeichelhaftes Zeugnis ftellte
eine Barbara Degen, Männlis, ihren Mitbürgern aus:
„Das achte Gebot, bu follft fein falfches Zeugnis geben, ift
bei uns in Oberwil babinten geblieben.” Daß mit bet
Wahrheit zum mindeften nicht gewiflenhaft umgegangen
wurde, das erhellt auch daraus, daß vielfach, fo vom Sohne
des Gemeinderats Düblin, al Grund, warum die Leute von
der Emporfirche weg ftatt zur näheren großen Kirchtüre
fid) zur Heinen Geitentüre zwifchen Chor und Schiff hinaus:
begeben hätten, geäußert wurde, e8 wäre dort eine „Drudete”
gewefen, während zahlreihe Zeugen, darunter aud) aus:
gefprohene „Schmidlianer”, erklärten, fie hätten ohne ben
mindeften Anftand zur hinteren Züre hinausgehen fónnen.
Auch vermochte niemand Angaben darüber zu machen, wie
er fid) vergewiflert babe, ob die Vermutung wegen ber
Basler ober wegen einer Feuersbrunft richtig fei oder nicht.
Unter folchen Umftänden war es allerdings für bie Ge-
richte ſchwer, bie Grenze zu ziehen zwifchen denen, bie wegen
tatfähhliher Störung des Gottesdienftes beftraft werden
fonnten, und denen, bie bloß dem Zuge des Augenblids nad).
gegeben und den treibenden Elementen faft unwillfürlich
Gefolgſchaft geleiftet hatten. So verurteilte denn das Ober:
gericht bloß vier Perfonen als ſchuldig des Verbrecheng der
Religionsftörung, und zwar gleichzeitig in Anwendung von
S 81 unb 82 des Kriminalgefegbuches zu einer einjährigen
189
3udjfbausfirafe. Der Verteidiger Dr. Herold ftellte fid)
auf ben Standpunkt, es liege gar feine Religionsftörung vot,
denn Doswald fei von der geiftlichen Behorde nicht et-
mädtigt worden, alfo könne man feine Predigt nicht als
Gottesbienft betrachten. Das Gericht folgte jedoch biefen
Deduktionen nicht, nahm aber an, zum Grfordernis der
Religionsftörung gehöre allgemeines Wergernis, unb ein
ſolches fei nicht erregt worden, ba bei den ftatbolifen das
Hinaus- und Hineinlaufen aud) während der Predigt nichts
Ungewöhnliches fei; fo wurden nur Diejenigen Perfonen
wegen Störung des Gottesdienftes verurteilt, bie ,biefe Ab⸗
fibt burd Sumultuieren in der Kirche, burd) Auf: unb
Zufchlagen ber Kirchtüren, burd) Hineinrufen ufw. zu er-
fennen gegeben.” Die übrigen Angeklagten, nicht weniger als
93 an der Zahl, wurden der forreftionellen Abteilung des
Obergerichts überwiefen und von biefer zur gemeinfamen
Sragung der Koſten mit ben vier friminell beurteilten
verfällt.
Das Urteil des bafellandfchaftlichen Obergerichts gegen
bie Otubeftórer in der Kirche ift vom 16. Dezember 1837
datiert, dasjenige gegen bie an den Gemalttütigfeiten gegen-
über den Landjägern Beteiligten vom 16. und 17. Dezember
desielben Sabre8. Hier waren im ganzen 33 Perfonen an-
geklagt, unter biefen alle früheren Gemeinderäte; in Unter⸗
fuhungshaft befanden fie fid von 9 bis zu 122 Sagen.
Am 13. September 1835 verwandte fid) eine nach Arlesheim
einberufene Berfammlung aus dem ganzen Bezirk dafür,
bie Behörden möchten die feit adt Wochen im Gefängnis
Ihmachtenden Leute ihren Familien zurüdgeben; wenigftens
neun Zehntel feien am Totſchlag unfhuldig.e Die von bet
Verſammlung beſchloſſene Petition trägt aud) verfchiedene
Unterfchriften aus den proteftantifhen Gemeinden, wie
Binningen und Muttenz; aus Therwil und Arlesheim find
bie Präfidenten der dortigen patriotifchen Vereine vertreten.
Darauf beſchloß das Obergericht, es feien einige Angeklagte
1%
-
ohne Kaution und dreizehn andere, darunter bie Mitglieder
des früheren Gemeinderats, gegen Kaution aus ber Haft
zu entlaflen; der Verhörkommiſſion wurde empfohlen, bie
Unterfuhung zu befchleunigen.e Dennoch zog fid diefe, bie
zwifchenhinein auch wieder im „Schlüflel” in 93inningen ge:
führt wurde, tief in das Jahr 1836 hinein.
Wie eigentlich felbftverftändlich, fuchten fid) bie An-
geffagten aud) in biefem Prozefle nach Kräften zu entlaften,
unb wenn ihnen ZTätlichleiten nachgewiefen wurden, [o
räumten fie fie bloß gegenüber den mit dem Leben davon:
gefommenen Landjägern ein; einer geffanb zwar zu, auf der
Hofmatt mit einem (mabr[deinfid) Brunners) Karabiner
Hägler einen Streich verfegt zu haben, aber auf den Rüden,
nit auf den Kopf. Ziele wollten nur abgewehrt haben,
was Landjäger Malzach während einer Konfrontation zu
der Anklage veranfapte: „Es bat niemand abwehren wollen,
es war fein barmberziger Menſch ba, fondern bie ganze
Mafle fchrie (auf der Hofmatt): „Macht fie bin, macht fie
bin!” Der 3anf darüber, wer mit ben Tätlichkeiten begonnen
habe, war eigentlich ziemlich müßig, denn bie Luft war mit
Konfliktſtoff überladen und es mußte zur Kataſtrophe
fommen, fobald bie Landjäger auf der Ausführung ihres
Auftrags beftanden; aud) bie Gemeinderäte fagten aus:
drüdlich, das Volk fei entfchloffen gewefen, niemand zum
Dorfe hinauszulaſſen. So ergaben fid) faft von ſelbſt Tät-
lichkeiten der Volksmenge, die allerdings kaum fo ſchwere
Folgen nad) fid) gezogen hätten, wenn nicht butd) das
Niederftürzen Matthias SbürfaufS und bie Verwundung
Sob. Hügins durch bie Schüffe ber Fanatismus veranlaft
worden wäre, fid) gründlich auszutoben. Etwa einmal wird
über bie hetzeriſche Tätigkeit ber Weiber geklagt, noch mehr
fiber bie Rolle bet Allfchwiler, bie bie Gemeinde ins Unglüd
gebracht hätten dadurch, Daß fie den Obermwilern rieten, nicht
nadjgugeben, fowie dadurch, daß ihre von Solothurn ber:
fommenben Delegierten den Willen des Biſchofs nicht richtig
191
übermittelten, fonbern fagten, es fomme auf bie Mehrheit in
ben Gemeinden an. Auch der Bifchof babe ben Oberwilern
Hoffnung gemacht, daß fie verlangen fónnten, was fie
wollten; hätte er den Delegierten fein Gehör gefchenkt, fo
hätte man fid) bei der getroffenen Wahl beruhigt und das
Unglück wäre nicht entftanden. Etliche erklärten ihre
Stellungnahme einfad) damit, bap fie gewohnt feien, zum
größeren Haufen zu halten, und viele gaben am, fie feien
deswegen zu einer fehroffen 9Darteinabme gelangt, weil fie
fanden, da bie Verfafiung bie Souveränität des Volles aus-
fpreche, komme es aud) in Firdjliden Dingen auf bie Mebr-
heit an.
Der Gemeinderat war bireff weniger belaftet, feine Mit-
glieder zeigten fid) aber viel zu febr als Partei, als daß fie
von ber Mitfchuld an ben tief bedauerlichen Vorgängen frei-
geiprochen werden fonnten. Landjäger Dil erzählte u. a.,
während des Parlamentierens im Rößli babe ibn ein junger
Mann aus Oberwil auf bie Seite genommen und ihm gejagt,
er folle fid) bod) mit bem Gemeinderat feine Mühe geben,
denn er babe eben gehört, wie ber Präfident zum Röpliwirt
gefagt babe, er folle nur ftandhaft bleiben und nicht geben,
wenn fchon fie, bie Gemeinderäte, ihn hießen, denn vor den
Landjägern müßten fie anders reden, als fie benfen. Das
Zeugnis ift nicht einwandfrei, denn der junge Mann wollte
feinen Namen nicht nennen, aber das ganze Verhalten des
Gemeinderats läßt die Annahme zu, daß er bie Wahrheit
ſprach. Ein arger Mißgriff war das Schreiben, in welchem
bem Bezirfsverwalter offiziell Anzeige von den Ereigniflen
des 31. Zuli 1835 gemacht wurde; es ftammt eigentlich nicht
vom Gemeinderat ber, fondern beruhte auf einem Konzept,
das ein Sohn des Müllers, der Student der Theologie
Stanz Hügly, bem Gemeindefchreiber Bannier diktiert hatte.
Rummler verfehlte nicht, darauf aufmerfjam zu machen, wie
unangebrad)f. der Ausdrud von der „Verwegenheit“ der
9anbjáger war, und die Gemeinderäte geftanden auch felber
192
zu, daß bie Poliziften mit ber Ausführung ihres Auftrags
nur ihre Pfliht taten.
Defters fommt in ben Ausfagen der Angeflagten der
Gedanke zum Ausdrud, man babe fid) zum Widerftand be-
rechtigt geglaubt, weil bem Fatholifchen 9anbesteil nad) bet
Verfafſſung ebenfo viele Rechte zuftänden, wie ben pro-
teftantifchen 93egirfen; haben wir das verdient am 3. Auguft?
wurde u. a. aus bem vor dem Röpli zur fogenannten Ge-
meindeverfammlung vereinigten Volke gerufen. Auch fonft
wirkten bie Ereignifle ber aufgeregten, faum hinter den ban-
belnben Perfonen liegenden Revolutionsjahre nad) Land⸗
tat Hügin und Peter Degen, Beden, führten bie Renitenz
der „Schmidlianer” auf ihre heimliche Gegnerfchaft gegen die
neue Ordnung der Dinge zurüd; „fie willen wohl”, fagte
Hügin, „DaB das Heberhandnehmen folder Unordnungen in
unferm Staat zulegt deffen Auflöfung herbeiführen unb fie
wieder in den Schoß der lieben Basler verjegen würde.”
Opeter Degen wird feine Rolle in der Revolutionszeit?")
zum Vorwurf gemacht; „ich baBte ihn halt”, fagte einer ber
ausbrüdlid) als „gute Patrioten” bezeugten 93rüber Thür⸗
fauf, Elfelis, von ibm, „weil er früher während der Re-
volution niemals unjerer Meinung tar." Während Degen
allerdings nur unter dem Zwang ber Umftände zu ben
Gegnern der Stadt gehalten hatte, waren Landrat Hügin und
Alt-Präfident Häring, ein anderes Haupt der „Anaheimer”,
von jeber erklärte „Patrioten” gewefen. .
3abíreid) find bie Widerfprüche, bie in den Konfron-
tationen amifden Landjägern und Angefchuldigten zutage
traten; fie dürften außer in der mangelhaften Perfonenfenntnis
bet ortsfremden Poliziften auch in der Aufregung des Augen:
blid$ und in bem allgemeinen Durcheinander neben dem
Rößli ihre Erklärung finden. Bezeichnend ift, daß erft
bie Denunziation eines im Übrigen ftarf Verdächtigen die
9) Siehe darüber Bernoulli, Bajel in ben Dreißigerwirren,
Neujahrsblatt 1908, S. 30 und ©. 54.
193 *
Eruierung der beiden ermöglichte, bie Brunner auf der [o-
genannten Hüslimatte mißhandelten, während niemand
wegen des an Hägler begangenen Totſchlags überführt
werden fonnte, weil der gleihe Denunziant nur zu fagen
wußte, wer im Dorfe als derjenige galt, ber gegen Hägler
den tödlichen Streich, wahrfcheinlich im Bach, geführt babe,
wo er von ben Obftgärten, bem Standort des Denunzianten
aus, nicht beobachtet werden fonnte. Als charakteriftiich für
bie Art, wie bie Verdächtigen ihre Mittäterfchaft abzuleugnen
ober bod) abzufhwächen fid) bemíübten, darf bie Ausfage
eines Walch gelten. Diefer fchlug, wie einer feiner eben.
falls ftatf belafteten Mitbürger begeugte, fon auf Dill ein,
als bie Landjäger das Haus verließen; ber Angefchuldigte
wollte jebod) nur mit einem 23obneniteden „jo auf den
Tſchako geftupft" haben, und in der Konfrontation meinte er
Ihließlih, er babe Dil fo auf ben Sjdafo „bepperlet”.
Anfangs wollte er nicht einmal „geftupft”, fondern bloß einen
Steden zu feiner Verteidigung in die Hand genommen
haben: „Man fann nicht immer willen, was für Feinde man
bat." Und der fdon mehrfach genannte Aloys Bannier,
den bie Landjäger Malzach und Dil mit 93eitimmtbeit be-
Ichuldigten, fd)on vor dem Rößli mit einem Hebel ober
dergleichen dreingefchlagen zu baben, leugnete zuerft, über:
haupt etwas in den Händen gehabt zu haben, bequemte fid)
aber fchlieflich zu dem Geftändnis, er habe ein Cid von
einer Stange in den Händen gehabt, damit jedoch nicht ge-
ſchlagen. Auch auf der Hofmatte wollte er fid) nicht agareffiv
verhalten haben, obſchon auper einem Landjäger ein Mit-
angefíagter darauf beftand, 93annier babe auch dort einen
Steden gehabt. Zugeben mußte er, daß er über bie Hofmatt
bis über ben Bach lief, aber er habe den Steden zwiſchen
dem Bache unb dem Dorfe fallen fafjen; Malzach und
Schäublin wollte er nur deshalb nadgejebt haben, damit
fie nicht mehr follten laden fónnen: „Sch hätte fie vielleicht
gefragt, warum fie gejchoflen haben, aber getan hätte id)
194
feinem etwas." Niemand wollte bem Landjäger Dill neben
bem Roͤßli den Säbel abgenommen haben; als 9peter Degen,
Ceibentveber,?!) defien befchuldigt wurde — im Volk galt er
allgemein als der Täter — bebauptete er, andere hätten bem
Landjäger bie Waffe entriffen. Da er jedoch überführt
werden fonnte, daß er den Säbel nad) Haufe mitgenommen
babe, fuchte er feine Rolle damit zu erklären, er babe ihn
Dil, der - vielleiht damit nur bie Weibsbilder (bie ben
Otbplimirt feftbieffen) erfchreden wollte, deswegen ab-
genommen, um ein Unglüd zu verhüten. „Er liegt nun
daheim in meinem Haufe. Ich dachte, menn ich ihn dort
babe, fei er gut aufgehoben; id) wollte ihn dann fpäter ab-
liefern.“
Auch zu bem, was mit Schimpfen, insbefondere gegen
ben Bezirksverwalter gefündigt wurde, wollte nachher nie-
manb fteben, und bod) ift fonnenklar, daß in diefer Be—
ziehung namentlich während der Verhandlung zwifchen Ge-
meinderat und Landjägern vor bem Rößli ganz Erhebliches
geleiftet wurde. Vom Knecht des Präfidenten Gütterlin,
Joh. Häring, fagte Malzach, er babe gewaltig auf bie Re-
sierung gefhimpft und wie ein Löwe gebrüllt, Doch ber
Belchuldigte ftellte es in Abrede. Als dann Schäublin feinen
Rameraden Malzach unterftüßte und erklärte, Häring habe
niht nur „furchtbar aufbegebrt", fondern auch drein-
gefchlagen, ba fam das feilmeife Geftändnis: „Das Maul
babe ich gebraucht, aber gefchlagen gewiß nicht.” Gin
Matthias Degen batte fid vor dem Röfli geäußert, ber
Verwalter, der Spisbube, folle nur felber nad) Oberwil
fommen, um bie Sache auszumachen, und menn Regierung$-
tat Meyer fid) ins Virsed wage, fo müſſe er totgefchlagen
werden. Diefe lebte Aeußerung wurde ſchließlich zugegeben,
er babe es eben „in der Dummheit” gefagt. Und ein Joſeph
Wittlin entfchuldigte fid) mit feinem „dummen Charakter”,
81) Nicht zu verwedjeln mit dem „Anaheimer“ Peter Degen
Beden.
195 18
ben jedermann fenne, als ibm vorgeworfen wurde, er babe
am Sage nad) den Vorgängen beim Rößli zum Widerftand
aufgefordert: „Segt muß man fid) wehren und zufammen-
halten und nicht abgeben, frijd) gewagt iit halb gewonnen.”
Wieder fchied das Obergericht den größeren Teil ber
Angeklagten aus und Überwies fie feiner Forreftionellen Ab-
teilung zur Aburteilung, während es gegen bie am ftärkiten
93elafteten außer dem Tatbeftand des Widerftands gegen die
Obrigkeit denjenigen der unvorfäßlichen Tötung und ber ge-
waltfamen Zerlegung für binlänglich fonftatiert erachtete.
Co wurden fieben Angeklagte zu (trafen verurteilt, die
zwilchen achtzehnjähriger reſp. fiebzehnjähriger Kettenftrafe
erften Grades (wegen des an Brunner begangenen er:
bredhens) bis herab zu anderthalbjähriger Zuchthausftrafe
variierten.3?) Bier Angeklagte wurden mit hohem Verdacht,
achtzehn weitere, darunter acht weibliche, mit entferntem
Verdacht „der Inſtanz entlaffen” und zufammen nebft den
übrigen, wobei fid) auch bie fünf Mitglieder des alten Ge-
meinbetat8 befanden, wegen Widerfeblichkeit refp. Fahr⸗
läffigkeit dem Eorreftionellen Gericht zur Beurteilung über-
wiefen. Sämtliche PVerurteilten, Verdächtigen und ver
Snftanz Entlaffenen wurden in folidarifcher Verbindung zu
den Prozeß: und Ofkupationskoften verurteilt. Als Ent-
Thädigungen fe&te das Obergericht feft: Sr. 120 für Korporal
Meyer, Zr. 60 für Landjäger Dil, Gr. 1600 für Witwe
und Kinder Brunners, Sr. 400 für die Eltern Häglers unb
je Gr. 20 für Schäublin und Malzad).
Die forreftionelle Abteilung, bie nun neben ben nicht
bireft an ber Mißhandlung der Landjäger beteiligten Per:
fonen auch die Erzedenten gegen ben Bezirksverwalter be-
urteilen mußte, ftellte fid) in ihrem Erfenntnis vom 11. Ja—
83) Sch verzichte darauf, die Verurteilten mit Namen aufzuzählen.
Mer Orts- unb Perſonenkenntnis befibt, weiß vom Hörenjagen, um
welche Berfonen es fid) Handelt, und wer fid) font dafür intereffiert,
findet im bajellandichaftlichen Amtsblatt Nr. 3 des Jahrgangs 1837
viele Details der Unterſuchung und das ausführlide Urteil.
196
nuar 1837 auf den Standpunkt, bie von Kummler verfuchte
Onftallation Anaheims habe, weil fie von der geiftlichen 23e-
bórbe nicht gebilligt war, ben Kirchgenofien von Oberwil als
ein Eingriff in bie Rechte der römifch-tatholifchen Kirche
erfcheinen müflen, und darum feien bie bei diefer Gelegen-
heit begangenen Erzefle bloß als Vergehen wider Privat:
perfonen angufeben; fo wurden nur die drei Brüder Gütterlin,
unter ihnen ber Röpliwirt, zu je achttägiger Ginfpetrung
verurteilt, ferner Sofepb Ley, Rüfer, wegen feiner Drohungen
gegen den verwundeten Korporal Meyer zu dreitägiger Ein-
fperrung, während bie übrigen Angellagten, unter ihnen bie
ehemaligen Gemeinderäte, freigefprodhen wurden. Auf bie
Appellation der Regierung änderte jedoch das Plenum des
Obergerihts am 26. Januar 1837 diefes Urteil in dem
Sinne ab, die drei GSütterlin hätten fid) tatfächlich ber
Widerfeglichkeit ſchuldig gemacht; in Anbetracht jedoch, daß
fie 65—67 Tage in Unterfuchungshaft gefeflen und ihnen
diefe Haft billigerweife al8 ein Seil der Strafe angerechnet
werden dürfe, wurde bie Strafe von adj Tagen Einfperrung
belaffen, während Sofeph Ley ftatt bloß drei, ſechs Tage zu-
diktiert erhielt. Ferner befam der (von Dill hinter bem
Röpli niebergefcblagene) Matthias Sbürfauf, Sträßis, weil
er Landjäger Hägler den Karabiner hatte entreißen wollen,
ebenfalls ſechs Tage (er batte zudem 115, Ley 71 Sage in
Unterfuchungshaft geſeſſen). Sämtlihen Gemeinderäten
wurde bie ausgeftandene Interfuchungshaft (bei den meiften
betrug fie 56 Sage) als Strafe angerechnet. Alle An—
geffagten, mit Ausnahme von zweien, wurden in folidarifcher
Verbindung mif den Friminell Veurteilten zu den Okku—
pation$-, Entfhädigungs- unb Prozeßkoſten verfällt.
Die vom Obergericht verfällten Sreiheitsftrafen fommen
uns heute überaus hart vor, namentlich bie wegen des an
Brunner begangenen PBerbrechens ausgefprochenen — fang:
jährigen Kettenftrafen erften Grades; die beiden von ihnen
betroffenen Graebenten hatten eben das LUnglüd, daß ihnen
197
bie Teilnahme an ben Mißhandlungen — gleichviel ob
gerade biefe ober bie von anderer Geite ausgegangenen
DBrunners Tod betbeifübtten — genau nadjgemte[fen werden
fonnten, während die nähere Art und Weife, wie Hägler in
der Ausübung feines Berufes bie tödliche Verwundung er:
hielt, ftatf umftritten war. Diefe Erwägung mag wohl der
Grund gewefen fein, daß der Landrat des Kantons Baſel—
landfchaft, als er gegenüber den an der Oberwiler Landjäger:
Affäre Beteiligten von feinem Begnadigungsrecht Gebrauch
machte, ohne Rüdfiht auf bie Höhe ber ausgeiprochenen
Strafen, fämtlihe Verurteilte, neben ben ber unvorfäßlichen
Tötung Überwiefenen aud) bie wegen ber Störung des
Gottesdienftes vom 14. Dezember 1834 ins Zuchthaus ge-
fommenen, [don nad) einigen Monaten wieder in Grei-
beit fegen ließ. Aus zwölf Gemeinden des Kantons waren
mehrere hundert Unterfchriften mit dem Gefud) um Amneftie
für bie Verurteilten eingelangt, und die vom Landrat mit
der Vorberatung des Sraftanbums betraute Rommiffion be-
zeichnete in ihrem Bericht bie ganze Affäre als das „Er:
gebnis einer Reihe durch mehrere Mißgriffe der 93ebütben
begleiteter, aus gefteigertem Sro& und religiófem Fanatis—
mus bervorgegangener, immerhin aber frafbarer Hand—
lungen.” Die wenigften Mitglieder ber Sommijfion waren für
bie fofortige Freilaſſung der Zerurteilten, aber nad) langer
Diskuffion wurde in diefem Sinne befchlofien. Es geſchah
das am 2. Mai 1837, unb zwar mit ber Vedingung, daß
bie an Witwe Drummer zu zahlende Entfchädigung von
1600 auf 2000 Gt. erhöht wurbe.?®)
8 Ein nod) jebt lebender Zeitgenofje ber Ereigniſſe jagte mir
einmal, es jei für bas Dorf ein wahres Feſt geweien, als fid) die
Kunde verbreitete, bte Verurteilten ſeien begnabigt; fie hätten, als
fie fid) von ber Mübhlebrüde her ins Dorf begaben, einen Empfang
gefunden, der fa|t einem Triumph glidh. Ueber bie Distuflion tm Ple-
num des 9anbrats verzeichnet bas Protokoll leider feine Einzelheiten.
Bon Zeitgenofjen wurde erzählt, &anbratspigeprüjibent Stephan Guß-
willer habe mit allem Nahdrud auf einen vollitändigen Erlaß ber
Sreiheitsitrafen gebrungen und fogar gedroht, im Falle ber Ablehnung
198
Man darf immerhin nicht überfehen, daß das Geld —
e3 waren ja nod) alte Franken — damals einen bedeutend
höheren Wert batte als heutzutage. Doch war eine größere
Entihädigung an bie Witwe Brunners in jedem Falle wohl
angebracht, denn der etwa 44 Sabre alt gewordene Landjäger
hinterließ mehrere Kinder. Man hätte aud) den Eltern
Häglers, deren Entſchädigung nad) heutigen Vegriffen eben-
fals mehr als befcheiden genannt werden muß, eine ent.
fprechende Erhöhung gönnen mögen, namentlich) wenn man
erfährt, daß ber auf fo traurige Weife mit 21 Sabren Um-
gefommene der einzige Sohn feiner Eltern war und daß biefe
in Maiſprach wegen eines bem Vater zugeftoßenen Unfalles
in dußerft dürftigen Zerhältniflen lebten.
X.
Die finanziellen Folgen ber Landjäger-Affäre in Oberwil. — Die
Drahtzieher Hinter den Auliffen. — Die Stimmung in ber Gemeinde.
— Das fpätere Schidfal ber beteiligten Kleriker. — Die Weffen-
bergianer. — Schluß.
Nah ber Q93efeifigung der ftrafrechtlichen Folgen der
Affäre blieben für bie beteiligten Oberwiler nod) immer bie
finanziellen beffeben, unb biefe waren für eine große Anzahl
von ihnen fdymer genug. In mehreren Familien trugen fie
zur Befchleunigung des Ökonomifchen Niederganges bei, bet
allerdings fchon vorher eingefett batte, oder fie brüdten bod)
bie Leute [ange Jahre hindurch empfindlih. Mit der 93e-
zablung der Okkupationskoſten preffierte es allerdings ben
dazu Derpflichteten nicht, wie fid aus einer mir vor-
liegenden, von meinem Großvater infolge eines Auftrags im
Mai 1849 aufgeftellten Verteilungslifte ergibt. Darnach hat
des Antrags den ihm vom Suit 1837 ab aufommenben Borfig im
Landrat nit zu Übernehmen, Ferner wurde beridjtet, aud) ein
Landrat aus Pratteln habe fid) der Verurteilten mit bejonberem Eifer
angenommen, weil er fie beim Neubau einer Straße im Gebiete
feiner Gemeinde Hatte Frondienſte verrichten feben unb fo auf ihr
trauriges Geſchick aufmerkſam geworden war.
199
Andreas Hügly, Müller, der Gemeinde am 6. Auguſt 1835
den Betrag von 3000 Zr. vorgefhoflen; dazu famen
13 SZahreszinfe bis 1848 à 4% — 1560 Qr. Marchzins
vom 6. Auguft 1848 bis 23. Mai 1849 à 4% — 95.62, von
zwölf Sabresainfen bie Verzugsinterefien à 4% — 373.60,
ferner von Hügly ausgelegte Gerichtskoften und Advofaten-
gebühren — Gr. 50.05. 3u diefen Sr. 5079.27 treten nod)
neue Schreibgebühren von Zr. 19.75, fo daß Gr. 5099.02
auf bie PVerurteilten zu verteilen find. Dieſe waren ur:
fprünglich 41 Perfonen, fie wurden jedoch burd) Konkurs und
Auswanderung auf 30 reduziert, für die je Gr. 169.97 als
Betreffnis ausgefegt wurden. Die in demfelben Schriftftüd
enthaltene Anleitung zur Anfertigung fogenannter „Doppel”
für bie Ronkursbetreibung läßt erfennen, daß die als 93ürgen
für bie Schuld vom 6. Auguft 1835 haftenden Gemeinderäte
refp. deren Erben aud) jet nod) Mühe hatten, das Geld
von den Schuldnern einzutreiben. Möglicherweife waren bie
Perurteilten der Meinung, der reihe Müller werde die
Folgen des Anglücks wenigſtens teilweife mittragen helfen,
nachdem in der Mühle, wo Schmidlin fein Quartier hatte,
bie Fäden der Partei des Vikars ihren Vereinigungspunft
gefunden hatten; galt bod) Hügly als derjenige, ber moralijd)
niht am wenigften für die fchlimme Wendung der Dinge
verantwortlich war. Er bielt fid) zwar vorfihtig im Hinter:
grund, bod) fann außer feinem Einfluß auf feinen Schwieger-
fobn Gemeinderat Thürkauf, feiner Freundfchaft mit
Schmidlin und dem verdächtigen fonpentifel der Gemeinbe-
räte mit bem in ben Ferien weilenden Theologieftudenten
Hügly am Abend des 31. Zuli nod) ein direfter 93emeis
bafür angeführt werden, daß von der Mühle aus das Feuer
der Leidenfchaft gefchürt wurde: Einer ber fieben friminell
Perurteilten, ein Nachbar des Müllers, fagte námlid im
Verhör aus, er fei am fritijden Nachmittag von einem Sohn
Hüglys überredet worden, zum Otopli zu geben, um bie Ver—
haftungen hindern zu belfen, da man zulammenbalten und
200
ftanbbaft fein müfle; er, ber Nachbar des Müllers, wollte
gerade aufs Feld, um Getreide zu fchneiden, er wäre ohne
Hüglys 3utun nicht in das Unglück Dineingefommen.
Nicht bloß finanziell, aud) in anderer Hinficht wurden
bie fchweren Folgen des unglüdlichen Pfarrwahlftreits in
Oberwil nur langfam überwunden. Zwar der neue Geift-
[ide Anaheim widerlegte durch feine Wirkfamkeit das von
der Mehrheit in ihn gefette und von ben Rädelsführern an.
baltend genábrte Miftrauen, nod) ehe die Unterfuchung
abgefchloffen war, wandte fid) ibm (wie fid) aus den Alten
ergibt) ein Seil der früheren Gegner vertrauenspoll zu.
„Run find mir", äußerte fid) [don zu Beginn des Winters
einer der in den Prozeß wegen Religionsftörung Der:
widelten, „aufs befte mit ibm zufrieden, ich und meine Fa-
milie geben bei ibm fo fleißig in bie Kirche wie bei Herrn
Schmidlin. Er iff ein herrlicher, braver Herr." Den
treibenden Elementen ber „Schmidlianer” bebagten aller-
dings folhe Zeugniffe nicht. Als die drei Brüder Thürkauf,
die feilveife an den Vorfällen vom 31. Zuli ftarf beteiligt
waren, aber nod) vor Beendigung des Prozefles ihre
Gegnerfchaft gegen Anaheim aufgaben, fid) dagegen aus:
fprachen, daß das bifhöfliche Schreiben vom 30. Sanuar 1835
je an einer Gemeindeverfammlung verlefen worden fei,
machte ihnen Sriedensrichter Ihürfauf den Vorwurf, fie
ſtänden jetzt aus Leidenfchaft plöglich gegen ihre frühere
Partei auf. Deren Häupter und die meiften der in die
Unterfuhung Berflochtenen bebarrten aud) fpäter in ihrem
Widerftand gegen den Pfarrer, denn fie zogen es vor, den
fonntäglichen Gottesdienft in Therwil zu befuchen.3®)
Man darf annehmen, daß die anhaltende Oppofition
eines Teils feiner Pfarrkinder mit ein Grund dafür war,
*4) Der geiftlide Anonymus ſchreibt bte Schuld an diefer beharr⸗
lien Renitenz Dekan Gürtler zu, ber es entgegen ben Kirchengeſetzen
zulafje und fogar fürdere, bag Anhänger Schmidlins ftatt in ihrer
Pfarrkirche beim Dekan zur öfterliden Kommunion geben.
201
daß Anaheim Oberwil ſchon nad) ſechs Zahren verließ, um
einen Ruf nad) feinem Heimatfanton, nad) bem an der Grenze
nad bem Elfaß zu liegenden Rodersdorf anzunehmen;
nur ungern fab ihn bie Mehrheit ber Kirchgenoflen fcheiden.
Später, im Sabre 1852, fiedelte Anaheim nad) Wolfwil im
Gäu über, und dort iff er im Frühjahr 1883 im Alter von
77 Jahren geftorben. Aus feiner fpäteren Tätigkeit bleibt
hervorzuheben, daß er in den fünfziger Sabren ein eifriger
Anhänger ber fogenannten roten Partei Vigiers war, aber
zur 3eit der Erklärung des Infehlbarfeitspogmas eine
Schwenkung machte und beifpielsweife gegen bie Revifion
ber DBundesverfaflung auftrat. Anaheims perfünliche Q3e-
liebtheit in feiner lebten Pfarrgemeinde wurde durch feine
politifhe Tätigkeit Feineswegs erfchüttert. Sein Freund
Doswald blieb von 1835 bis 1848 in Allſchwil, wo bie ganze
Gemeinde mit geringen Ausnahmen dem tüchtigen Geel-
forger in Verehrung zugetan war; er ging bann nad) Aarau,
weil er, wie er in der Anmeldung fchrieb, für feine religidfen
Vorträge eine Kanzel in der Stadt fuchte, bei mehr gebildeten
Zuhörern, am liebften in einem paritätifchen Ort, ähnlich
wie fein Freund Pfarrer Kälin in 3ürid. Auch in Aarau
erfreute fid Doswald als Priefter von bervorragendem
Willen, weitgehender Toleranz und fittlich ftrengem Wandel
großer Beliebtheit, unb allgemein wurde fein verhältnis: |
mäßig früber Tod im Sahre 1860 bedauert. Der Wider:
facher Anaheims und Doswald, Abbe Schmidlin, fiedelte
bald nad) feinem Wegzug von Oberwil nad) Dugaingen im
Kanton Bern über, wo er erft Lehrer, dann Vikar und zulebt
Pfarrer war. In der Rulturfampfzeit mußte er als Mit-
unterzeichner des Proteftes ber 97 juraffiihen Geiftlichen
gegen bie Amtsentfegung des Biſchofs Lachats den Kanton
verlaffen und foll in Frankreich geftorben fein.
Wenn wir gerade unter Würdigung der daran be-
teiligten Perfonen geiftlihen Standes ben Vorfällen von
1834 unb 1835 näher zu treten fuchen, fo ijt ohne weiteres
202
Har, baB wir hinter bem Gtrei£ um zwei erledigte Pfarr-
ftellen nicht bloße Lokalhändel fuchen müflen, fondern daß
fid) hinter ihm Dinge von prinzipieller Bedeutung verbergen.
Defien waren fid) die Führer auf beiden Seiten ziemlich Klar
bewußt, weniger natürlich ihr Anhang im Volke. Die
Schmidlianer glaubten bie Religion in Gefahr, und fo fagte
einer ber Brüder Sütterlin zur Rechtfertigung feiner Anteil-
nahme an ber Widerfeglichkeit gegen Statthalter Rummler:
„Dh weiß, daß in ben neuen Schulen, wie es nun in Ther—⸗
til und Oberwil ber Gall ift, biefelben Bücher gebraucht und
gelefen werden, wie in den Gemeinden des reformierten
Landesteils. Den alten Katholizismus, fagen bie neuen
Lehrer, fónne man nicht mehr brauchen. Auch bat unfer
Lehrer in Oberwil?5) den Englifhen Gruß, der früher in der
Schule gebetet wurde, abgefdjafft; nichts mehr läßt er beten
als das Vaterunfer. Sn folhen Sachen [oll man nichts ver-
befiern, man [oll es beim Alten bewenden laflen; wer ver-
beffern will, glaubt fid) ja weifer als Gott." Auf der andern
Seite fprad) Landrat Hügin in einem Schreiben an bie
Unterfuchhungsbehörde davon, wie Leute wie bie fünf Ge.
meinderäte jeweilen „bei ihren Pfaffen und anderen ihrer
Führer” fragen, wie fie fid) zu benehmen hätten, weil fie nicht
felbftändig handeln könnten und deswegen zu bedauern feien.
Hügin wollte eben einen Mann feiner Richtung als Pfarrer
in Oberwil haben, deswegen wandte er fid an Kälin in
Züri, bei bem er volles ZVerftändnis für feinen Wunfch
fand. Dies beweift nicht nur Kälins Antwort auf Hügins
Anfrage (f. ©. 125), Jondern wir willen auch fonft von des
damaligen Eatholifchen Sürcher Pfarrers Denkart und Ge-
finnung [o viel, daß wir ihn herzhaft als einen der aus-
gefprochenften Vertreter des Tiberalen Katholizismus jener
Sage bezeichnen dürfen, jener freien und dabei national ge-
8) Offenbar ber bereits in Kap. II genannte Abbe Kiefer, der
aud) mit dem vorherigen Pfarrer Oeſchger Differenzen wegen ber
Art der Einteilung bes Schulunterridhts hatte.
203
finnten Richtung, bie im ehemaligen Genetalpifat des Bis-
tums Ronftanz, Weflenberg, ihr Haupt verehrte. Zur Gba-
rakteriftif Rälins follte eigentlich genügen, baB er es wagte,
an der Seite des nad) dem zweiten Sreifcharenzug in Luzern
eingeferkert gemefenen und von Freunden aus bem Keſſel⸗
turm geretteten Dr. Robert Steiger in Zürich einzuziehen,
nachdem er das meifte zur Sammlung des für die Befreiung
nötigen Geldes getan hatte. Doch fei noch bemerkt, daß
Kälin Gegner der Ohrenbeichte war und biele Snftitution
lieber burd) gemeinjame Bußandachten erje&t hätte; ferner
las er nicht mehr Meſſen um Geld und äußerte fid) nament-
ich Scharf über den Zölibatszwang. Daß Kälin wegen jeiner
freien Anficht viel angefeinbet wurde, ift nichts als natürlich.
Deifpielsweife fdrieb ibm im Sahre 1847 fein Freund
Anaheim von Rodersdorf aus, im Kloſter Mariaftein be-
finde fid) ein elfäffifcher Priefter, der als Vikar nad) Zürich
geben werde, um einen anderen Geift unter bie bortigen
fatbolifen zu bringen; man wolle, heißt es weiter, jedem
freifinnigen Geiftlichen einen Laufcher und Spion an bie
Seite feßen, damit bann ein KRebergericht das Verdammungs-
urteil fprechen fónne.59)
Der Unterfchied zwifchen den beiden Richtungen im
Katholizismus drüdte fid namentlich in der abweichenden
Wertihägung der Zeremonien einerfeits und der Ilnter-
meijung im Evangelium durch Gbriffenfebre und Predigt
anbrerjeit8 aus. Der geiftlihe Anonymus gebt jedenfalls
zu weit, wenn er von den Oberwilern und den Birsedern
der damaligen Zeit — fein Büchlein ift offenbar noch vor
1840 entftanden — überhaupt fast, fie Fännten von bert
fatbolijd)en Religion im allgemeinen wenig mehr als einige
Aeußerlichkeiten, aber er dürfte damit recht haben, daß er
Schmidlins Beliebtheit auf Vorzüge zurüdführte, die für
den innern Wert eines Menfchen, und fpeziell eines
96) Diefe Angaben find entnommen ber Brojhüre von Biſchof
Dr. Herzog: Robert Kälin, 1830—1863 fatbolij[djer Pfarrer in Zürid).
204
Prieſters, nicht viel bedeuten. In ben 3eugenausfagen ver:
mipt man Hinweife auf hervorragende Eigenfchaften, bie
feine ungewöhnliche Weliebtheit hätten erklären können;
man vernimmt eigentlich nicht mehr, als daß er, wie ein
Anhänger fid) im Verhör ausdrüdte, feine Funktionen fo
machte, daß die Leute Freude daran hatten. Der Uno:
nymus behauptet, Schmidlin babe feine Parrfinder oft ge-
fragt: „Hab id)'$ recht gemaht? Befehlet nur, id) mach's
Gud, wie Ihr wollt." Hingegen babe er monatlich bloß
zweimal gepredigt und während feiner achtmonatigen An-
wefenheit in Oberwil bloß dreimal Chriftenlehre gehalten.
Wie bem aud) fei, bie unbebingte Ergebenheit namentlich der
weiblichen Dorfbewohner an feine Perfon läßt bie Annahme
zu, baB er vorzugsweife mit äußeren Mitteln einen guten
Eindrud zu machen unb fo einen zuverläffigen Anhang zu
bilden fuchte. Charakteriftiich ift auch, baB der Anonymus
Schmidlin vorwirft, er babe bie Schule in Oberwil bfop
zweimal befucht, denn nichts lag den Weflenbergianern
außer den rein geiftlichen Funktionen fo febr am Herzen wie
bie Sorge um die Volksbildung, bie fie als bie Vor—⸗
bebingung für bie Pflege eines echten religiöfen Sinnes be-
trachteten.
Die Partei der „Schmidlianer” beberrfchte in Ober:
wil aud) ferner das Feld, was fchon daraus hervorgeht, daß
im Spätherbft 1836 ber im Auguft 1835 im Beiſein von
Statthalter Kummler gewählte proviforifche Gemeinderat
mit Landrat Hügin als Präfident wieder befeitigt wurde;
bei 102 Wablteilnehmern erhielt der neue Gemeinde:
vorfteber, Müller Hügly, nicht weniger af$ 81 Stimmen.
Der gleihfam im Zeichen der 93ajonette zum Präfidenten
gewordene Hügin wurde auch (bereits im Mai 1836) als
Landrat bejeitigt, ba fid) bie in Oberwil gegen ihn berr-
fhende Stimmung offenbar im ganzen Wahlkreis bemerkbar
machte; damals waren Alfchwil und Schoͤnenbuch nebft
Therwil und Oberwil zu einem Wahlkreis vereinigt. Erft
205
CHE NES 07M — — —
im Sabre 1841 fand er wieder Gnade bei ben Wählern.
Hügin, ber gegen Ende der vierziger Sabre ftatb, blieb zeit:
lebens eine ftark beftrittene Perfönlichkeit; die Befähigung
zu einer führenden Stellung innerhalb der Gemeinde und
über ihr Gebiet hinaus ftritten ibm jedoch auch feine Gegner
nid ab, wenigftens erinnere id) mich, mehrmals Urteile über
feine Perfon von Leuten aus dem gegnerifhhen Lager (von
jüngeren allerdings, bie ihn jedoch nod) perfönlich gekannt
hatten) gehört zu haben, bie durchaus zu feinen Gunften
[auteten. Nah Pfarrer Anaheims Weggang wurde ein
Zirseder fein Nachfolger, der von Therwil gebürtige
Hr. Sofepb Gutzwiller, ber aud) ſchon unter ben Bewerbern
^on 1834/35 gemefen war. Er war fein. Weffenbergianer
der Gefinnung nad, aber jener Schule bod) durch angeborene
Milde und Toleranz verwandt.
Auch bei der burd) Anaheims Weggang entftandenen
Vakanz übte 93ifdjof Salzmann feine im Sturmjahr 1835
behaupteten Rechte aus, aber bie Virseder hatten tro&bem
nicht vergeblich für bie Erweiterung ihrer Rechte in Firch-
[iden Angelegenheiten geftritten. Dank ihrem Drängen
rubten in den nächſten Sabren bie durch den Streit um bie
Dfarrftellen in Oberwil unb Alfchwil aufgeworfenen Fragen
nie ganz, und im Sommer 1842 fam ein neues „DBerkomm:
nis" zwifchen dem S3ifdjf von DBafel unb dem Kanton
Bafelland zuftande, das am 25. Oktober desfelben Zahres
vom Landrat ratifiziert wurde. Als birsedifche Abgeord-
nete batten an den Verhandlungen Pfarrer Weber in
Opfeffingen und Landrat Hügly in Oberwil teilgenommen.
Das Abkommen beftimmte, baB ben birsedifchen Kirchen-
gemeinben bloß Pfarrverwefer, nicht Pfarrer vorftehen; ein
folcher ift allein der Dekan, defien Amt indes nicht an eine
beftimmte Pfarrei gebunden ift, denn der Bifchof fann Diele
Würde übertragen, wem er will, nur darf es feine der Re—
gierung unangenehme Perfönlichkeit fein. Dem Biſchof ver-
bleibt aud) das Wahlrecht unb dem Regierungsrat das 23e-
206
fätigungsrecht für bie Pfarrverwefer. Neu ift jedoch, baB
bie Gemeinden auf Verlangen bie über bie Grgebnifje der
Prüfung abgefaBten CDrotofolle einjeben und daß fie bem
Bifhof ihre Wünfche wegen ber zu treffenden Wahl über:
mitteln dürfen; jedoch müflen fie nie weniger als zwei ftan-
didaten als ihnen erwünfcht bezeichnen. Die Amtsdauer
eines Pfarrverwefers ift nicht unbedingt lebenslänglich, er
fann jedoch nur durch den Bifchof abberufen werden, ber fid)
dazu bei begründeten Klagen zum Heil ber Pfarrangehörigen
verftehen wird. Wie man fieht, fteden in biefem Verkomm⸗
nis ftatfe Anfänge zu einem Wahlrecht der Gemeinden, unb
e8 ift in mehr. als einem Punkt dem Verlangen der Allfch-
wiler nad einem Zurüdgreifen auf die Verhältnifle der
Sranzofenzeit Rechnung getragen. Das vollftändige Wahl-
recht brachten jedoch erft bie fiebziger Sabre, nicht ohne daß
der Klerus durch einen Spezialbefhluß des Landrats zur
Anerlennung des neuen gefetlihen Zuſtands angehalten
werden mußte. ]
Nicht unerwähnt darf wohl in biefem SZufammen-
bang bleiben, bap im Kampfe für und wider bie Ideen
Weſſenbergs fid) aud) ein Literat aus unferer Gegend, menn
aud) nicht aus dem Birseck felbft, Dat vernehmen laflen:
Dr. Syofepb Gihr von Witterswil, ber Verfafler der „Volks:
seihichten aus dem Schwarzbubenland” unb von „Zwiſchen
braunen und fchwarzen Kutten”. In dem legtgenannten
Buche [djilbert Franz von Somnenfeld — das ift fein
Schriftftellername — neben vielen anderen Einzelepifoden,
wie bie Leute von Lohnftetten, von ben Rapuzinern in 23on-
Dorf (Sornad) und ben DBenediktineen in Marienberg
(Mariaftein) bearbeitet, den ihnen zugedahhten Pfarrer Faber .
nit annehmen wollten, weil er fid) gegen Wallfahrten und
Klöfter ausgefprodhen babe und Sonjur und Soutane ver:
achte, wie bem erften Bezirksbeamten die Einführung des
Pfarrers nicht gelang und wie die Zuhilfenahme der Polizei
diefer fe[bft zum Unheil ausfchlug. Die Oberwiler Landjäger-
207
geſchichte mit ihrer tieferen Bedeutung als Kampf zwifchen
den zwei Strömungen im damaligen Katholizismus ift alfo
bier literarifd) verwertet, wenn aud) zu der Geftalt des
Pfarrers Faber, der an einem Sängerfeft in der Zeit zwifchen
Sreifcharenzügen und Sonderbundsfrieg eine Rede gegen die
Sefuiten hielt, Faum Pfarrer Anaheim Modell geftanden Dat,
fondern ber in Kap. III als Eraminator bei ber Konkurrenz⸗
prüfung in Rheinfelden genannte Johann von Arr, von
1830—1881 Pfarrer in Witterswil.?”)
87) Dies ergibt jid) mit aller Deutlichkeit aus bem gefühlswarmen
Nachruf, den Franz von Gonnenfelb in ben „Basler 9tadjridten"
vom 6. unb 9. Juli 1881 feinem Yreunde und Gefinnungsgenofjen
Pfarrer von Arz widmete.
208
Aus den YDanberjabren eines Basler
Studenten des J7. Jahrhunderts.
Don Paul Meyer.
(dgl. Basler Jahrbuch 1013: Kin Basler Gtammbud des 17. Jahrhunderte.)
Unter bem Titel „Manufcripta Bibliothecae Bau:
mianae” beherbergt bie Eaiferliche Univerfitäts- und Landes:
bibliotbef in Straßburg fünf Faszikel eines Briefwechſels
von Gliedern der Familie Meyer zum Hirzen in
Bafel.) Diefer umfangreihe Briefwechſel wanderte im
18. Zahrhundert mit einem Zweig der Familie nad) Mül:
haufen, wo ihn der dortige Pfarrer Matthias Graf in ben
1825 erfchienenen ,,23eptrágen zur Renntniß der Gefchichte
der Synode von Dordrecht“ nebft einem von Wolfgang
Meyer binterlaffenen Ctammbud) vermertete. ?Ím die
Mitte des 19. Sabrbunberf8 ging er burd) Kauf in ben
93efi& des Kirchenhiftorikers 3. W. Baum über und fand
endlich feinen bleibenden Aufenthalt in der Straßburger
Iniverfitätsbibliothet. Weitaus den größten Anteil an der
genannten Korrefpondenz haben bie Briefe von unb an
Wolfgang Meyer aus feiner Studienzeit in Cam-
1) Band 1 enthält Briefe und Aufzeihnungen von Jakob
Meyer dem ältern (1524-1604) und feinen Söhnen Jonathan und
Jakob aus den Fahren 1564-1633, Band 2 Briefe an Jakob Meyer
den ältern, Band 3-5 Briefe an Prof. Wolfgang Meyer (1577—
1653), ferner Briefe non Jakob Meyer (1590—1622), Sonathans Sohn,
an Sonatban und Wolfgang aus den Jahren 1608-1618, ferner
folde von ftajpar Wafer an Jakob den ältern, Jonathan und Wolf:
gang Meyer, endlich nod) foldje von Jakob Meyer (Wolfgangs Sohn)
aus den Jahren 1628—1632 u. a. m.
200 14
bridge, andernteils von feiner Teilnahme an der Dordrechter
Synode 1618 unb von feiner Tätigkeit in Mülhaufen ber,
wofelbft ibm vom Basler Rat 1621 big 1622 bie Organi-
fation des Kirchenwefens übertragen war.
Wir greifen aus biefem reihhaltigen Material haupt:
fählih bie Korrefpondenz zwifhen Sonatban Meyer
(1557—1633) und feinem Sohn Safob (1590 —1622)
heraus, bem fein Vater das im Basler Sabrbud) 1913 be-
fprochene Stammbuch gefchenkt bat, und es foll der Verſuch
gewagt werden, an Hand der genannten KRorrefpondenz unb
befonbet8 ber von Syafob Meyer gefchriebenen und an ihn
gerichteten Briefe ein annähernd anſchauliches Bild über
Reifen und Studiengang eines VBaslers im Ausland zu Ve:
ginn des 17. Zahrhunderts zu gewinnen.
Die allerorten drohende Gegenreformation trieb aud)
allerorten die Proteftanten zu engem Zufammenfchluß, der
u. a. im gegenfeitigen Beſuch der proteftantijden Uni-
verfitäten zum Ausdrud fam. Ein 93lid in die Liften der
Basler Univerfitätsmatrifel vom Ende des 16. und zu 23e-
sinn des 17. Zahrhunderts weift Namen aus allen evan-
gelifchen Ländern, der Schweiz, Polen, Ungarn, Defterreich,
Deutichland, Dänemark, den Niederlanden und Groß:
britannien auf, und die Beziehungen, die fid) da zwifchen
den Studierenden der verfchiedenen Nationen anbahnten,
verftand man aud) für fpätere Zeiten fruchtbringend zu ge-
falten. So ſchreibt 1591 ber viel gereifte Gborberr am
Großmünfterftift in 3üri, Kaſpar Wafer (1565—
1625) an Pfarrer Safob Meyer zu St. Alban: „Adhyemem
speramus in Angliam abire et sequente aestate redire
Basileam.^?) Er fügt Grüße an Jonathan und deflen
Bruder Jakob (1563—1604), den Schaffner des Prediger-
Fofters, und an deren Schweftern Magdalena und Verena
bei. Der erfte Brief Safob Meyers des jüngern datiert von
2) Auf den Winter hoffen wir nad) England abzugehen und
im folgenden Sommer nad) Bafel zurüdzufehren.
210
1595 unb ift natürlich bem Fünfjährigen in bie Feder diktiert.
Gr fchreibt feinem SO beim Wolfgang über Fortſchritte im
Lateinifchen, über bie bevorftehende Erlernung des Griedi-
fhen (das Pater Jonathan gewandt las und fchrieb) und
über bie ihn fördernde treue Nachhilfe des Vaters.
Das Zahr 1597 führte den Studiofus der Theologie
Wolfgang (häufig aud) Wollgang gejdrieben) Meyer
auf bie Univerfität Cambridge, wofelbft ihm das Bucer'ſche
Gamilienftipenbium zur Verfügung ftanb. Rönig Eduard VI.
hatte nämlich, die Verdienſte des Reformators Bucer
ebrenb, in einem Gnadenbrief allen feinen 9tadjfommen,
wann fie wollten und wünfchten, in England zu wohnen, bie
Privilegien englifher Bürger ge[d)enft. Trotzdem waren
fpezielle Empfehlungen feineswegs zu verachten; man ſuchte
fih folche vielmehr allenthalben, nicht aule&t bei Bürger:
meifter und Rat zu verfchaffen, und lettere Behörde betonte
ausdrüdiih, Baſel müffe mit ber englifchen Kirche Fühlung
haben. Ein typifches Beiſpiel eines Empfehlungsbriefes
bietet dasjenige eines jungen Emanuel Näf vom Jahr 1618,
ben ber Vater allentbalben zu freundlicher Aufnahme emp-
Reblt; denn er möchte „fremde Länder und Schulen nad)
Art gebildeter junger Leute um des Lernens willen einiger-
maßen feben, befuchen, prüfen und etwas fennen lernen.”
Gerne ift der Vater bereit, vorkommendenfalls Gegenrecht zu
halten. Go wurde denn aud) Wolfgang dem Schuge Ihrer
Majeftät der Königin Elifabetb angelegentlich anbefohlen.
Gerne nahm er aud) die IInterftügung Rafpar Wafers
an, ber fid) nod) 1591 in Cambridge aufgehalten hatte und
fi nun in einem Brief anheifhig mahte, Wolfgang an
feine dortigen Freunde zu empfehlen. Voll Selbſtgefühl gab
er in feinem Schreiben zu verfteben, es werde dasfelbe von
großem Gewicht fein, und man folle dafür forgen, bap es auf
zuverläffige Weife an feinen Beftimmungsort gelange. Wolf:
gang folle eg domino Castello übergeben, der werde ihn bann
den andern Freunden empfehlen, deren er febr viele und an-
211 *
gelebene, fefbft am Hofe, babe, fo ben Georgius Hunger-
fortus, einen vornehmen Engländer, bem er Wolfgang
fráftig berausftreichen werde. Geben wir uns zur Abwechs⸗
[ung eine damalige Q3riefabrefje an. Da lefen wir 3. 23.
„Bonae spei Adolescenti Magistro Wollgango Meiero,
Orthodoxae Theologiae studioso Filio dilecto“.?) Aus:
nahmsweife fchwingt fid) aud) einmal bie Mutter, bie das
Schreiben gewiß fauer ankam, zu einem rief auf und unter:
zeichnet „Agnes Capito din mutter." — Gefiegelt find bie
Driefe meift mit dem Familienwappen. Mit dem Beftellen
batte e8 oft feine guten Wege. Die Unficherheit und öfter
aud) Unberechenbarkeit der oft bloß bei günitigen Gelegen-
heiten durch reifende fauffeute, Buchdruder, aud) Studenten
ermöglichten Briefbeförderung gab häufig Anlaß zu mancher:
lei Sorge und Reklamation, indem bald auf der einen, bald
auf der andern Seite ein Brief, wenn nicht geradezu ver-
loren ging, fo bod) unheimlich lang unterwegs war. Wolf:
gangs Brüder unterzeichnen ungefähr fo: „Jonathan und
Oafob Meyer Gebrieder monasteriorum Clingenthal und
praedicatorum quaestores“*) Der Verkehr mit den aus:
wärtigen Buchdrudern erleichterte auch bie Reglierung von
Gelbangelegenbeiten. So erfuhen 3. Q3. bie genannten
Brüder ben Buchhändler von Cambridge um einen Vor:
hub an Wolfgang, der bann offenbar von zureijenden
Basler DBuhdrudern — begliden wurde. Sonatban
Meyer Eorrefpondiert mit Bruder und Sohn häufig la-
teinifd), bin und wieder aud) griehifh. (Gr batte 1569 bie
Univerſität 93afel bezogen; TZonjola erwähnt feine pere-
grinationes und bezeichnet ihn ausdrüdlich als typographum
wofür auch feine beiden Heiraten mit YBuchdruderstöchtern
fprechen. Vermutlich war er in der Offizin feines Schwieger-
pater8 Ambrofius Froben und befen Bruders
5) Dem zu guter Hoffnung beredjtigenben Züngling Wollgang
Meyer, dem Studenten ber orthodoren Theologie und geliebten
Cobne.
4) Schaffner ber Klöfter im Klingental unb zu Predigern.
212
AYurelius Erasmus Froben tätig. Diefer feiner
Verwandtſchaft mit der Froben'ſchen Familie verbanfte
Oonatban Meyer ein wertvolles Andenken an Erasmus
von Rotterdam, deflen er im Stammbuch mit bewußtem
Stolze gebenft mit den Worten: Ambrosii Frobenii gener;
ejusque in custodia literati monumenti, dignissimi Cra-
teris Erasmici, legitimus successor per Annam priorem
conjugem.?) Diefen vergoldeten Becher, ein Gefchent des
furfürffert von Mainz, Albrehts von Branden-
burg, legierte Erasmus dem großen Hieronymus
Groben, nad) deſſen Tod er an Ambrofius Froben und ber-
nad) an Jonathan Meyer fam. — Geitber iff er verfchollen.®)
Om Teftament des Erasmus iff er bezeichnet wie folgt:
XStem — unter der Rubrik Silbergefhirr — ein zwifacher
vergulter ftouff, mit des Garbinal8 zu Men zeichen” und im
Opus Epiftolarum Defiderii Erasmi (C. 420 der ?[u$g.
von 1529) ift uns noch die liebenswürdige Dankfagung des
Empfängers erhalten.
Aus dem Zahr 1598 ift ung ein Brief Jonathans an
feinen Bruder Wolfgang in griechiſcher Sprache unb präch-
tiger Steilfchrift erhalten. Er nennt fid) darin „Iwrddas
Mevegos 6 toU KAwyyevráAov äyvevinglov, 10 eoriv &v Baoí-
Ana ®Adooovı, Eyybs Pivov norapo, tamevs,”) und adreffiert
folgendermaßen an Wolfgang: „Serenissimae Regiae Maje-
statis Tooplup?) und fehüttet dem Bruder das Herz aus,
ibm fei das Glüd entgegen, Wolfgang folle feine Zeit wohl
anwenden und etwas Tüchtiges leiften, er fet dag der ganzen
Familie fhuldig, die unverdienterweife vom Mißgeſchick
6) „Des Ambrofius Frobenius Schwiegerjohn und defjen in ber
Bewahrung feines gelebrten Nachlaſſes, bes [o wertvollen Bechers
von Erasmus, rehtmäßiger Nachfolger burd) Anna, feine erfte Gattin.“
6) Vgl. €. Sieber: Inventarium über bie Hinterlaffenichaft bes
Erasmus vom 21. Juli 1636 unb Teftament des Erasmus nom 24.
Sanuar 1527.
7) Sonathan Meyer, Schaffner des Klofters Klingenthal, bas
im mindern Bafel nah dem Rheinftrom liegt.
8) Seiner Durdjfaudt der Königlihen Majeftät Zögling.
213
barniebergebalten werde, ,... ut taceam Jacobulum no-
strum octennem, jam in Castris Oleierianis?) militantem,
qui si ita pervexerit, habebis sexdecim annorum magister-
culum et doctoratum tuum unice flagitantem.!?) Von eben
Diefem unferm Sacobulus fpriht aud) in einem Brief an
Wolfgang vom 24. Auguft 1598 Leonhard Näf von
Roöteln: „Quod attinet Nepotem tuum ex fratre tuo Jo-
natha genitum, Jacobum Meierum, discipulum meum
privatum studiosissimum, noveris, illum esse diligentissi-
mum inter suos consodales, ille divinum habet ingenium,
ille omnia capere et percipere potest, quaecunque illi
praeponuntur, ille perfectissime optimeque legit Graeca,
de Latinis nihil dicam: ille hac futura Autumnali pro-
motione D. O. M. juvante promovebitur ex classe Secunda
à D. M. Petro Schockio ad D. M. Theobaldum Oleje-
rum in tertiam classem, qua in elasse etiam suum offi-
cium diligentissime perficiet Deo sic permittente . . .!!)
Näf bat fein Schreiben einem Brief Jonathans beigefügt
und wohl deshalb das Lob feines Zöglings mit [o vollen
Pofaunenftößen verfündigt.
Und nun folgen allerhand familiäre Grürterungen, Gr-
mabnungen und Zurechtweifungen, man ftößt da und dort
9 Theobaldus Dleyer war Lehrer der 2. Gymnaſialklaſſe. (Burd-
hardt-Biedermann: Geſchichte bes Gymnafiums, Geite 63.)
10) Nicht zu reden von unjerm adjtjábrigen Jaköbli, ber ich
ion im Oleyers Lager tummelt, und an dem du, wenn er fo fort-
fahren wird, ein Magiiterlein von 16 Jahren haben wirft, bas fid)
einzig nad) deiner Gelehrtenwürde jehnen wird.
1) Was deinen Neffen, deines Bruders Jonathan Sohn, Jakob
Meyer, betrifft, meinen jebr eifrigen Privatſchüler, jo jollft du willen,
DaB jener unter feinen Mitichülern der fleigigite iit, er hat eine
göttliche Begabung, er vermag alles zu erfajlen und zu begreifen,
was ihm vorgelegt wird, er liejt perfelt und trefflich Griechiſch, um
pom Latein zu [djmeigen: er wird bei ber beporjitebenben Herbft-
prüfung, jo Gott will, aus der zweiten Klafje vom Magiſter Peter
Schock zum Magiiter Theobald Dleyer in die 3. Klafje befördert
werden, in welcher er, wenn es Gottes Wille ijt, jeine Pflicht aufs
fteiBigite erfüllen wird.“
214
aud) auf Unftimmigkeiten zwifchen ben Brüdern ober zwifchen
Pater unb Sohn, oder e8 bat ben Anfchein, als ob alt und
jung fid) nicht mehr recht verftünden, oder es bewegt fid) der
Sohn in der Fremde mit freiern Schwingen al$ dem Ver:
ſtändnis des Heinftädtifch fühlenden Basler Bürgers paflend
er[deinen will, und vollends ftößt das allzu fd)nelle Ser-
fließen des väterlihen Mammons in des Sohnes Händen
feineswegs auf volles Verftändnis des Elternhaufes. Und
in biefes Gejammer ftimmt auch der 93ruber Jonathan ein
und bedauert, daß Wofgangs Krankheit viel Geld Eofte, unb
daß er überhaupt zu viel Geld brauche. „Mußteft nit alle
triumph und fchomwfpiel fähen”, heißt es 1598. Immerhin
[deinen dabei dank der SKlatfchfucht durchreifender Mit-
bürger mancherlei Uebertreibungen mit untergelaufen zu fein.
Anderfeits ging es aber im Pfarrhaus zu St. Alban bei Wolf:
gangs Vater oft recht fnapp zu, und wir begreifen, bap der
78jábrige Vater fehnfüchtig ber nach der Heimkehr des Sohnes
ibm in Ausficht ftebenben Unterftügung entgegenfab. Darum
bie erneute Mahnung, Wolfgang möge ja bie 3eit recht aus⸗
faufen; er folle fid) body, fügt bie Mutter Agnes in liebevoll
ernfter Mahnung bei, das Schuldenmachen abgewöhnen unb
fid) etwas mehr in der Demut üben, auch der Sorgen feines
Bruders Jonathan gedenken, der ohne Amt fei, und fid daher
bemühen, fobald wie möglich feines alten Vaters Stüße zu
werden, der fid) fchon genug wegen feines Tochtermanns Heiß:
mann mit feinen zwölf Kindern forge. 93alb tönt e8 wieder
nad) unverfieglihem Stadtklatih: diesmal bringt Vetter
Adelberg Meyer (ftudiert 1605 in YVafel) den Wolf:
gang mit ebrbaren Vürgerstöchtern ing Gefchwäß oder breitet
böswilliges Gerede über ibn aus. Dann meldet fid) bie
Mutter wieder zum Wort und hält dem Sohn feine Groß:
fuerei vot; er gebe zu viel aus, ſchwänze KRollegia, bummle,
hänge fid an jeden Landsmann; er fole in der Burs in
Paris wader Sranzöfifh lernen und fid vor unfauberer
Geſellſchaft in acht nehmen.
215
Nun treten aud) bie Beziehungen ber Familie OXteper
zu den Brüdern Gebeon und Efaye be Montmartin in
den Vordergrund. 1601 wendet fid) Sonatban an Gedeon
de Montmartin und fchreibt: „Domino Gedeoni du Matz
Britanno," bet allem Anfchein nach abwechjelnd in Cambridge
und in Frankreich lebte, in frübern Sabren offenbar aud) in
23afel, wo er 1602 einem Gnfelfinb des alten Jakob Meyer
zu St. Alban *Datenftelle vertrat (, generosus dominus herr
Gedeon Montmartin”); er fónnte febr wohl im Pfarrhaus
zu St.. Alban in Penfion gelebt haben. Der Brief foll ibm
in Paris eingehändigt werden. Der Schreiber verdankt darin
alle feinem Bruder Wolfgang erwiefene Förderung in der
franzöfifhen Sprache und ergeht fid) in weitfchweifigen
Bitten und beboten Dankjagungen an den hoben Herrn, was
er in Anbetracht der jahrelang anftebenben Schulden des-
felben an feine Basler Freunde durchaus nicht nötig gehabt
hätte. In einer Antwort aus dem Sabre 1602 nimmt Herr
Gedeon den Wolfgang gegen das böfe Geſchwätz fíatid-
füchtiger Landsleute in Schug und rühmt feinen foliden unb
fparfamen Lebenswandel. 1603 tritt in der Korreſpondenz
Andreas Knuthius PVefalius (aus Wefel) auf; er be-
juchte nachweislich 1602 die Basler Univerfität, lebte als
Denfionär bei Sonatban Meyer und fcheint deflen Söhnlein
Jakob zeitenweife unterrichtet zu haben; daher bie Anrede:
„discipule amanter colende“!?); er ftellt ibm die Vorfahren
als Teuchtende Beifpiele zur 9tadjabmung bin und abtej-
fiert: „Dem Ehrenachtparen, fürfichtigen und fürnemmen Hr
Jonathae Meyero, meinem großgünftigen Herren und Freundt
wonende Ihn Klein Bafel im Tennier Hoff zu Baſell.“
Knuthius gebenft feiner Abreiſe von Baſel ad patrios
lares!5); er erkundigt fid) nad) ben Fortfchritten des jungen
Jakob und hofft, biejer werde „columen et insigne decus
Familiae Vestrae et Patriae suae“ werden; ibn werde
1) Mit Liebe zu umfajjenber Schüler.
18) zu den väterlihen Hausgöttern.
216
Jakob, fei' in 9epben, fei'8 in England finden, fobald er
einmal auf Reifen gebe. 1605 trifft wieder ein Brief von
Gedeon de Montmartin aus Paris an Wolfgang ein, worin
der ZDrieffchreiber die Hoffnung ausfpricht, nad) Otupella
(9a Rocelle) zu reifen, von wo aus er 1606 nad) 23afel
forrefpondiert; bald nachher fchlägt ihm das Gewiflen wegen
feiner immer noch nicht bezahlten Schulden; er vertröftet bie
Meyerſchen damit, bap fein. Bruder eine abfolut zuverläffige
3abígelegenbeit abwarten wolle: „Er dachte an einen aus:
führlichen 93rief und hatte 150 coronatos (Kronen) zur Ab-
fendung an Gud) bereit, zögerte aber aus Aengftlichkeit wegen
günftiger Gelegenheit und entſchloß fid) endlich, bie Cade
nod) ein paar Monate zu verfchieben, wobei ibm bann mög-
fid) wäre, mit Gottes Hilfe die ganze Summe und nod)
anderes zu begleichen.”
Mittlerweile war nun aud) Sonatban Meyers Sohn
Gafob betangemadfen; er batte fid) 1604 an der Univerſität
immatrifulieren laſſen und im Sommer 1608 den Masgifter:
grad erworben. Bald bernad) begab er fid) auf Reifen, zu-
nádit na Saumur, wo er mit Hilfe der Familie be
Montmartin Fuß faffen, das Studium der Theologie an
der dortigen hugenottifchen Akademie und bie Erlernung der
franzöfifhen Sprache betreiben follte. An Hand der et-
baltenen Briefe vermögen wir ihn auf feiner Reife einiger-
maßen zu begleiten. Unterm 14. Auguſt 1608 meldet Jakob
Meyer nad) Haufe, er fei per Schiff glüdlich in Straßburg
angefommen, babe bafelbft feine 23afe Katharina aufgefucht
unb eine günftige Grabrgelegenbeit nad) Paris gefunden.
Schon im Geptember weilt er in Saumur, im November
wiederum in Paris, unb am 23. November traf er von €a
Rochelle her in Saumur per Schiff ein. (Salmurium
appulisse. Die herrſchende S&eurung fcheint einem Briefe
Sonathans zufolge Jakobs Reiferoute, bie Efaye be Mont-
martin von Paris nad) La Rocelle für ihn entworfen hatte,
beeinflußt zu haben. In Saumur gebe es ibm orbent-
217
fid. Aber ſchon fíagt er über Geldfnappheit, es berrfche
„tanta in Gallia caritas annonae" !*) baB man eben ohne
Geld nit ausfomme; er braude im Monat adt „coro-
natos" und hoffe mit einem „florenus“ (Gulden) per Woche
auszufommen. Gin gewifler Cominus Ambrofius
ftredt ibm 30 florenos (Gulden) vor. Sechs Pfund
verausgabf er „pro elegantissima testudine quae me alli-
ciebat, aliqua commoda occasione data’)... Laudabile
enim judico hoc studium, quod senium delectat, juvenibus
ornamento est... $Ílebrigen$: sin vero aliud mens mea
subierit consilium, quovis tempore instrumentum sine ullo
damno vendere possum ... Rupellae (ovv des — mit Gott) ita
me geram, ut me tuam prolem sis experturus*. 23efannt-
lid) pflegte auch Felix Platter fid) in Montpellier bie Zeit
mit Lautenfpiel zu vertreiben. Offenbar wurde von Baſel
aus damit gerechnet, es werde Jakobs Aufenthalt in Saumur
burd) Abtragung der Schulden der Familie Montmartin
fid) bezahlt machen; bod) meldet Safob nod) 1608 kleinlaut
bem Vater: Die Montmartinfchen, „wie ich nod) von allen
shört bab, follen gar arm fein unb febr viel ſchuldig und
vaft das irig alles fammen verfeat."
Am 27. November ſchreibt Safob: „Viro honorando
variisque animi dotibus conspicuo, Domino Jonathae
Mejero, parenti meo summa qua decet observantia
colendo. Basileam^.!9) Syonatban merft an: „Sind fünff
wochen auf der Straß gſin.“ Danach wäre Safob von
M) Cine jo große Getreideteurung.
1) Für eine febr feine Laute, bie mid) gelüftete, indem eine
günftige Gelegenheit fid) bot... Denn id) Halte bas für einen löb⸗
lien Zeitvertrieb, der bas Alter erfreut unb der Jugend wohl an-
ftebt ... Sollte id) übrigens hierin andern Ginnes werden, fo kann
id) bas Inſtrument jederzeit ohne irgendweldhen Verluft verfaufen.
In La Rochelle, jo Gott will, werde id) mich fo benehmen, daß bu
mid als deinen Sohn erkennen ſollſt.
16) Dem verehrten, ob manderlei Geiftesgaben angejehenen
Herrn Jonathan Meyer, meinem burd) bódjite Achtung zu verehrenden
Bater, Bafel.
218
La Rocelle auf bem Waflerweg bie Loire hinauf nad
Saumur gefommen; begleitet von einem Fährmann (nuncius)
des Herrn von Montmartin, ber für feine Bemühung fünf
aureos (Connenftonen) erhielt; in Angers gab'8 nod) einen
Aufenthalt von zwei Tagen; dann wurde der junge Reifende
pon einem andern nuncius vollends nad) Saumur geleitet
und während einer Nacht von ibm beherbergt. „Die von
der Reformirten Religion haben in der Statt einen gar
Ihönen Tempel und Collegium, unnd in biefem eine be-
rühmbte Schule, fo fi eine Academi nennen. Und halten fid)
bey folcher nicht allein wegen Luftbarkeit beB orths, und baf
allba wolfeil zu aebren; fondern auch allerhand Erercitien
halber, bie man da haben fann, gemeinlich viel Zeutfche,
Otiber- und Engelländer, auf." (Matth. Merian, Topogr.
Galliae.) Am folgenden Sag galt fein erfter Gang bem
Rektor der Schule, b e 8 Ot odes, bem er ein Empfehlungs:
Ichreiben abgab, unb bei bem er monfieur Boudhereau,
Ecclesiae minister und derzeitigen Otector magnificus der
9ffabemie, traf; al8 Geiftlihder war er „un des plus
grands orateurs de son temps.“ Syafob fand freundliche
Aufnahme und Geneigtheit zu mancherlei Entgegentommen,
was ibn ermutigte, ben des Roces, ber aud) fonft Stu—
dierende beherbergte, um gaftliche Aufnahme für eine Woche
zu erfuchen, damit er mittlerweile überlegen könne, was er
weiter anfangen wolle. Bon dem Treiben bei des Roches
meldet er: „Er bat noch fieben andere weniger burd) Wiffen
als burd) Anftand und auffallende DBefcheidenheit hervor:
tragende Koftgänger, mit ihnen babe id) große Freundſchaft
geſchloſſen, bod) nicht dergeftalt, bap einer bem andern beim
Studieren binderlich wäre, durchaus nicht, ba ein jeder fein
eigenes Cfubiergimmer (Mufaeum) bat... Es berricht
eine folche Zucht in biefer Wohnung, daß ich heilig verfichern
fann, baB ich nirgends frömmer und muóbringenber leben
fónnte. feine heiligen Verſammlungen werden vernad)-
[áffigt, fondern von allen aufs fleifigfte befucbt. Es finden
219
ihrer zwei in ber Woche ftatt, bie eine am Mittwoch; bie
andre am Sage des Herrn. Gebete und Dankfagungen
werden aufs fleißigfte dargebracht. Mein gebildeter Gait-
freund begegnet mir unb den andern mit väterlicdher Hin:
gebung. Wir halten unfere mehr frommen als praftifchen
Ererzitien. Nach bem Abendeſſen lieft einer franzöfifeh ein
Kapitel des Neuen Teftaments vor, nachher bringen wir
duch Anftimmen eines Pfalms des königlichen Propheten
dem bimmlifchen Vater unfern Dank für feine unzähligen
uns ermiejenen Wohltaten. Ich felber lefe an einigen
Abenden meinem Gaftgeber franzöfifch vor; er iff bei Einzel-
beiten, bie ich nicht verftebe, ein freundlicher Erflärer und
bittet oft feine Frau, ebenfo feine Kinder, mit mir zu fon-
verfieren, fo daß ich unbedingt in kurzem hierin großen Ge-
winn baben werde. So wird mir zu meinem Porteil in
der ganzen Stadt feine paflendere unb für meine Studien
geeignetere Stätte geboten. Denn id) wohne im Kollegium
felber, in welchem alle Vorlefungen, aud) alle privaten Ber:
fammlungen ftattfinden, welche man propofitiones nennt,
deren zwei per Woche abgehalten werben." Sm weitern
erwähnt ber Briefſchreiber, es feien drei Theologieprofefloren
da, e8 gebe Burſen (Rofthäufer), in denen man 51% bis
6 Kronen per Monat bezahle; in den billigern fei aber auch
die Gefellfhaft danach.
Jakob Meyer weif in Saumur fein Stammbuch
fofort (am 24. November) dem Gouverneur der Stadt,
dem bir nobilis unb um bie Hugenottenfache bochverdienten
Philippe Mornaye be Bleffys vor; ber ibm mit
befonderer Höflichkeit begegnet, fobald er inne wird, „quam
honesto loco natus“’?) er fei, „und er bulbete unter feinen
Umftänden, baB id) ihn mit entblößtem Haupt anrebete".
Sodann berichtet er, Gebeon be Montmartin, das Haupt
unb bie Sierde ber Familie, fet fchwer erfranft. Weiter
folgen nod) fanfte Winke in Bezug auf ben unentbehrlichen
9) Bon was für angefebener Abftammung.
220
nervus rerum. Schwerlich werde er mit biefen feinen
Kleidern ben harten Winter praeftieren fónnen; denn von
Tag zu Tag werden fie flidbedürftiger . . . „dem Schneider
babe id) ben Thorar (Wams) zum Ausbeflern gegeben; wie-
viel er dafür verlangen wird, weiß id) nod) nicht.” Dann
rechnet er den Eltern alle feine Ausgaben vor und bittet,
nicht alle über ibn in Umlauf gefe6ten Klatfchereien zu
glauben.
Om Frühjahr 1609 berichtet Jakob dem Vater über feine
Fortſchritte im Franzöſiſchen, Hagt aber auch, er müſſe punkto
Kleidung fchofel auftreten. „Wenn unfere englifchen
Maecenaten fid) nicht einigermaßen auporfommenb. erwiefen
hätten, [o wäre es beſſer geweſen, Daheim zu bleiben." Aus—
führlich ergeht er fid) in einer Antwort auf einen Brief
Jonathans, der mehr als fieben Wochen nad) Saumur ge:
braucht batte. Auch bier betont er feine zunehmende Sicher:
beit im Franzöſiſchen, wovon fid) der Vater in Bälde werde
überzeugen können. (ein Greunb Georg Wyß befíage
fid über bie Anrempeleien ber deutfchen Studenten und babe
Herrn Montmartin befragt, wie er fid ihnen entziehen
fónne. Der riet ibm, die Bude zu wechleln, damit er
„ab irruptione Germanorum“!8) ficher fei, und in Meyers
Kollegium zu fommen. Jakob bat zwar aud) Bedenken, e$
fónnte ibm das fdaben. Doch bat ibm Wyß gefchworen,
ih fleißig unb anftändig aufzuführen und feine Zeit bem
Studium zu widmen, weshalb er im Rollesium Aufnahme
findet. Wyß hat das in ihn gefe&te 3utrauen vollauf ge-
rechtfertigt und wurde fo befreit, „ab omni molestia Ger-
manicae turbae.“!) Doch nun mußte Jakob Gtellung
nehmen gegen gewifle Zuträgereien, als ob Wyß auf ibn
feinen guten Einfluß hätte, darauf erwiderte er: „Derartiges
iff nicht au befürchten, fowohl wegen feines als meines
Naturells, das niemals fid) vom Weg zum Rechten unb
18) Vor einem Überfall der Germanen.
19) Bon jeder Beläftigung ber germaniſchen Rotte.
221
Guten ablenfen ließe.” Zudem würde fchlimmftenfalls das
wachſame Auge ber Profefloren ihn raſch auf den rechten
Weg zurüdführen.. Er beruft fid ausdrüdlih auf ben
Dominus hospes, auf ben fleifigen Beſuch der Lektionen
und erwähnt, wie er daheim unverdroflen fid) der Qeftüre
widme und in Gefellihaft nur „gallice“ rede. Das Gu-
bicufum??) teile er mit dem Freund und gemeinfam freuen
fie fid) einer febr angenehmen Studierbude. Schon ftedt ibm
England im Kopf; im Oktober hoffe er dorthin reifefertig zu
fein und „familiae Mejerianae decus“ zu werden.
Ende Auguft 1609 treffen wir Safob in Paris, von
wo er fpäter wieder nad) Saumur aurüdfebrt; ob er nur die
Serien in Paris zubringen, ob er fid bier mit guten
Empfehlungen nad) England verfeben wollte, ober was fonft
ber 3med feiner Reife bieber war, gebt aus feiner Kor:
refpondenz nicht zur Genüge hervor. Sm „Eifernen Kreuz”
(fchreibt er dem Vater) fliegen wir (als Reifegenofie wird
ber Dominus Ambrofius genannt) ab und blieben dafelbft
zwei Tage. Dann mieteten wir in der Nähe des Eifernen
Kreuzes ein Zimmer im „Goldenen Schlüflel”, wo wir per
Monat „quatuor coronatos cum francone“?!) auslegen
müffen; punfto Koft find wir mif ber Wirtin überein-
gefommen, bap fie uns für wöchentlich 49 23a6en „quod libet
eogatur dare“??) womit fie febr zufrieden ift." Mit ber
Klage, es fei alles fo teuer, follte wohl der gute Vater auf
erneute Attentate auf feinen Geldbeutel vorbereitet werden.
„Anterwegs waren wir genötigt, für bie Maß Wein 8,
ja neun Baten zu bezahlen. Wollte fid) jemand mit Waſſer
begnügen, fo wäre es ohne Nachteil für die Gefundheit nicht
möglich." Defter babe er mehr nad) Wafler als nad) Wein
gelechzt, was ber Dr. Ambrofius dem Vater nad) ber Rüd-
febr bezeugen fónne. Sobald fein Gepäd nachfolge, werde
30) Das Schlafzimmer.
21) In Saumur braudte er monatlih adt Kronen.
22) Alles zu geben verpflichtet fei.
222
et fid alsbald zu Herrn Gebeon (be Montmartin) begeben.
Den Efajas (be Montmartin) babe er nirgends auftreiben
können, er fcheine auswärts zu weilen, und als Grund biefür
werde — wohl nur Hatfchweife — angegeben, er bätte
„in matrimonium petiisse praestantissimam ac nobilissi-
mam quandam foeminam“?®) und weil er einen Korb
erhalten, fei er aus Zorn nad) England perbuftet. Sollte er
in Paris auftauchen, fo würde er ibn fofort befuchen.
„Dies erzählte mir der Schweizer des Duc de Rony, ber
mir aud) beffen Palaft gezeigt bat. Der Herzog felber ift
abwefend, weil mit Aufträgen des Königs befchäftigt. Sch
babe mein „pallium“ gewechfelt und mußte hiefür 2 aureos
coronatos?*) ausgeben, babe mir aud) Schuhe ange[dafft.
Dem Kutfcher (aurigae) mußte ih 7% f (florenos)
zahlen, fo baB mir kaum genug bleibt, um bie Wirtin zu
befriedigen, befonders wenn id) wegen WUusbleibens des
Gepäds länger bei ihr [ogieren müßte. Herr Ambrofius wird
mit, wenn er von bir biegu Auftrag bat, gut an die Hand
geben können. Seine Majeftät der König (Heinrich IV.) mit
ber Rönigin und feinem Gefolge begegnete uns am 21. Auguft
bei ber feften Burg (Name unleferlih), — fie liegt eine
Tagereiſe von der Stadt entfernt —; dafelbft vermochten wir
ibn felbft zu fehen. Und als der König bemerkte, bap unfere
23lide auf ihn gerichtet waren (als er eben über das Waller
fegen wollte unb fchon bei der Königin im Boot fap), redete
er uns freundlich an unb fragte ung, ob wir uns nach Paris
begádben. In unferm Namen antwortete Cn. Ambrofius:
„Gewiß, erlauchter König”; jener fuhr fort zu fragen, ob wir
ben Mufen zuliebe dorthin reiften, und als erwidert wurde,
das fei der Fall, wünfchte er ung viel Heil. — Unterwegs
batte id) ein paar vornehme Nürnberger zu Begleitern.
=) Er Hätte eine vortreffliche unb vornehme Dame ehelichen
wollen.
*4) Gold-Kronen.
223
Ausführlih unb gelehrt mid) auszudrüden ift mir wegen
Mangels an Zeit niht möglich." Der DBrieffchreiber bittet
um Zufendung einer lateinifchen Bibel und anderer Bücher
und trägt viele Grüße auf an alle Freunde, an bie verehrte
Großmutter, an Wolfgang, feinen beim Jakob und ihre
Grauen, an bie Schweftern, Vettern und Baſen, bie er nicht
namentlich aufzählen fónne, befonders aud) an Dr. Ryff,'
„patrono ac cognato meo summe colendo“?°) und hofft,
feinem Heimweh möge ein frohes Wiederfehen folgen,
Gott möge alle bie Seinen bebüten und ihnen Neftorios
annos?®) fdenfen.
Einige Wochen fpäter fíagt Safob von Saumur aus
über das lange Schweigen der Eltern und benüßt die Ge-
legenbeit, einem beimreifenden Schweizer einen Brief an
fie mitzugeben; ferner erbittet er fid von Dr. Swinger”)
Empfehlungen nad) England, wohin er im September zu ge-
langen bofft, wenn ibm der Vater rechtzeitig Geld fchidt.
On Saumur beginnen je&t ohnehin die Ferien, Franzoͤſiſch
fónne er nun genug, und das Leben [ei teuer. So fuche
3. 99. feine Philifterin, Eoftbare Gefchenfe — 6 filberne
Löffel — zu ergattern und entpuppe fid) überhaupt als bab-
fühtiges Weib, deren Gier er, falls er nod) länger in
Saumur bleiben müffe, nur burd) Budenwechſel entrinnen
fónne. Seber des Vaters Cparjamfeit fcheint ber lebens:
Iuftige Syafob gelegentlich Dritten gegenüber den Kropf ge:
[eert zu haben; das trug ibm von Heinricus Scalihius
aus Glepe, ber 1609 in Baſel ftudierte, eine Zurechtweifung
ein, in welcher der Schreiber ibm, wie es jdeint, triffige
Gründe für des Vaters Sparfamkeit und Strenge ins Feld
führte und ihn aud) an beffen liebevolle Treue erinnerte, die
ihn, als er vom Sohne Gutes vernahm, nicht in Ruhe ließ,
2) Meinen bod) zu verehrenden Gönner und Verwandten ; Peter
Ryff (1552—1629) war Dr. med. und Profeſſor ber Mathematit.
26) So hohe Jahre wie Neftor.
71) Sat. Zwinger geb. 1569, Sohn bes Arztes Theodor Zwinger.
224
bis et digitos in lyram resolveret“?) In einem bem
viro Clarissimo consultissimoque Domino principali
des Rosches Salmurium“??) zugedachten Brief dankt ber
Pater Jonathan für bie Empfehlung eines amicus do-
mesticus und läßt e8 in einem weitern an den Sohn nicht
an Grmabnungen und moraliihen Grórterungen fehlen;
damit freuste fid ein vom 24. September aus Saumur
batierfer 93rief des Sohnes an den Vater „ex Musaeo
raptim^,9 in welchem er in dringender Weife ben Wunſch
äußert, bald nad) England reifen zu füónnen. Ob er des
Vaters 3uftimmung zu diefem Plan abgewartet bat, ijt nicht
erfihtlih, wohl aber, daß er am 2. Oktober in 9'itré
(Dep. Ille et Zilaine) weilte, von wo er fid nad Ct.
Malo wandte und im Dezember in London eintraf.
Wohl zu fpät, um ihn in Qranfreid) noch zurüdhalten zu
fónnen, traf neuer Bericht vom Vater ein mit ber Weifung,
Jakob folle fuchen, durch Vermittlung des Efajas de Mont:
martin eine vornebme Sjauslebrerítelle zu erhalten, dann
könnte er auch ordentlich [paren und aufhören, auf des Vaters
Kredit Geld aufzunehmen. Offenbar brauche er zu viel;
auch folle er die Zeit beſſer ausfaufen, früh auffteben und
ih das Bummeln abgewöhnen. Ungefähr gleichzeitig
gratuliert Sonatban dem Efajas de Montmartin de fa Tur-
piniere zur Hochzeit, verdankt einen aus Terchant (unweit
Vitré) erhaltenen Brief, fowie alle feinem Syafob erwiefene
Steundlichkeit, fann es aber nicht faffen, Darüber zu jammern,
daß fein Sohn bie Reife nah 9a Rochelle anftatt auf
Schufters Rappen bod) zu Roß zurüdgelegt bat.
Was nun fofgt, iff ein im Dezember 1609 in London
abgefaßter und via Paris nad) Baſel fpedierter rief
Jakobs an ben Vater, in weldhem von ben Verbindlichkeiten
der Familie Montmartin gegenüber der Familie Meyer
3) Mit den Fingern in die Leier griff.
29) Dem angejehenen, gelehrten unb vorzüglidden Herrn bes
9todjes. Saumur.
% Aus bem Studiergimmer in Eile.
225 T
und feinen Reifeabenteuern bie Rede ift. Jakob fchreibt
diesmal franzöfifh, um fid) über feine Fortfchritte in der
Sprache und über das Recht, nad) England zu reifen, aus-
zumweifen und um zu berichten „des adventures qu'il a
pleu & Dieu de m’envoyer en l’espace de mes voyages
. eterreurs.^ Er war von Saumur nad (dem Schlofle?)
Terchant unweit Vitre geteilt, um den alten Herrn be Mont-
martin aufaufuden unb an die finanziellen Verpflichtungen
der Familie zu erinnern; aber er fam fid) bei bem vornehmen
Herrn „pourtant mal venu et assez froidement recu“
vor. Da ibm vor allem England im Kopf ftedt, wandert er
zunähft zu Fuß nad) Vitré, um fid bernad in St. Malo
einzufchiffen. Aber in Vitroͤ trifft er den Gouverneur des
Schloſſes an, den Herrn von Serdant, 93ruber des Gfape
be Montmartin, unb der erzählt ibm nad) ber Rückkehr aus
der Predigt feine Schidfale und eröffnet ibm, der Bruder
weile mit dem Vater „en Poitou, pour tracter d’un
mariage entre lui et une Damoiselle bien opulente.“ Auf
den Rat des Herrn Zerchant wartet Safob Meyer die
Heimkehr ber Montmartins ab; es erfcheint aber nur ber
alte Herr und läßt Meyer zu fid bitten. Diefer ftellt fich
ein. Der alte Herr gibt Auftrag „de me faire bonne
chere“, worauf ber Geladene „des trippes bien sal&es“
erhält, „que jay mangées en la chambre de la despense.“
Sm übrigen fiebt er fid) gefoppt und febrt unverrichteter
Dinge und ärgerli zu Fuß nad) Vitré zurüd, um dort auf
den jungen Herrn de Montmartin zu warten „en un temps
auquel (je vous asseure) ni la terre ni les hommes deman-
daient de l'eau céleste pour &tre arronsés et rafraichis.“
Offenbar rohen bie Montmarting bie Q9unte. Nun be-
ſchwerte fid) Safob beim Herrn von Serdjant, ber ibm feinen
Zelter entgegenfendet, damit er nad) Terchant gelangen
fónne. Hier wird ibm ein fchönes Zimmer [amt Bibliothek
überlaffen und franzöfifche Gaftfreundfchaft feinfter Art an
ibm geübt, [o daß Meyer nicht genug Rühmens von aller
226
ibm erwiefenen Eourtoifie madjen kann. So lebt er vierzehn
Sage in Abrahams Schoß, bis er nochmals zum alten Herrn
de Montmartin entboten wird. Der empfängt ihn, da die
Söhne nod) auf ber Sagb find, ,honorablement" und
weift ibm ein Arbeitszimmer an. Hier kann er fid) nod)
weitere vier Sage im Warten üben. Eine weitere Ver-
zögerung verurfacht der feierliche Empfang der Madame be
[a Trémoille, bie nah Vitré reift, um an bem in allen
Kirchen Frankreichs ffattfinbenben universel jeusne“ teil-
zunehmen. „On faisait donc un grand appareil pour 1a
recevoir, laquella arriva avec son fils au soir et
soupait et disnait le jour suivant à Terchant.^ Dieſem
Sohn „henrycus Tremolius Dux Thuartij anno 1609“
begegnen wir im Stammbudh. In Vitré, wohin der bobe
Gaft von den Herren von Montmartin gebracht wird, darf
Meyer neuerdings drei Sage warten. Doch endlich bietet
fi) Gelegenheit, die Montmartins daran zu mahnen,
„de satisfaire à mon hoste (Hrn. des Roches in Saumur)
et que luy m'eust accepté en sa maison sur 8a recom-
mandation... Au reste il m'a baillé encore 82 € Gallicas,
plus encore qu'il ne falloit, pour laquelle somme je luy
ay baillé un recepisse. Auch verfpricht er zudem, meinem
Oheim (Wolfgang M.) 200 escus en or. zu fdjiden und
mir 50 bis 60 escus. „Si feroit cela nous aurions suject de
le remercier. Ses affaires de mariage se portent fort
bien.“ Diefe unerwartete Vereitwilligteit zum Zahlen fam
offenbar auf Rechnung der mit der „Damoiselle bien opu-
lente" geglüdten Heirat! Vor der Abreife von Zitre teilte
Meyer feinem Gaftgeber in Saumur den günftigen Stand
ber Dinge mit; bann bricht er gegen Bezahlung eines
Saler8 zu Pferd (des fchlechten Wetters wegen) nad
Ct. Malo auf, wo er nad) drei Tagen eintrifft, „oü est le
plus prochain port de la mer“. Big er Zahrgelegenbeit
findet, vergehen 15 Sage, und als endlich günftiger Wind
einfeßt, ftibf er auf einem englifhen Schiff in See. Raum
997 15*
find 15 Meilen aurüdgelegt, [o müſſen fie des ftürmifchen
Wetters wegen umkehren (e8 war November!) und nod)
weitere 4 Tage in St. Malo Srübfal blafen. Endlich fonnte
man bie Meerfahrt riskieren, und nachdem man einen Sag
und eine Naht auf dem Wafler zugebracht batte, erreichte
man einen Heinen Fleden und legte 7 Meilen bis zur nächften
srößern Ortfchaft zu Fuß zurüd. Am folgenden Tag fonnte
fi Jakob Meyer einer Gefellihaft von englifchen Kauf:
leuten anfchließen und mit ihnen in die zunächſt gelegene
größere Stadt reiten, wo er einen Boten fand, der ihn gegen
Bezahlung von 5 Talern für Roß und Reiter mit nad)
London nahm. Eſaye be Montmartin hatte ibm eine Emp-
fehlung an ben Geiftlichen der dortigen franzöfifchen Ge-
meinde, einen gewiflen Aurelius, mitgegeben, bie ihm
von Nußen mar; ferner trug er ein Empfehlungsfchreiben
von Mr. be Pleffisan Serm dela Fontaine, ben
Senior ber bugengttifchen Geiftlichkeit in London, bei fidh.
Diefe beiden Herren bittet er, „de me presser la main
pour avoir quelque entrée chez Mr le Grand Thrésorier,
qui m'adressoient aux ministres de l'Eglise Flamenne“,
ba ber Gefretär des Threforier ein Flamländer mar. Durch
Vermittlung des Grand Threforier hoffte er auf Gelegen-
beit, bem König felber vorgeftellt zu werden, um ihn daran
erinnern zu fónnen, mit welchem Recht er Anſpruch auf
einen Greiplag an ber Univerfität zu Cambridge erheben
dürfe. Otebenber laufen dann freilich noch andere, geichäft-
[ide Ungelegenbeiten, fo a. Q3. der Auftrag des Vaters,
einen Magifer Laurentius, ministre de l'eglise
Francaise, an Erfüllung alter Verbindlichkeiten zu mahnen,
wobei fid) ihm deflen Better, der Arzt Dr. Clement, ber
1596 als „Guilhelmus Clemens Anglus" in der Basler
Univerſitätsmatrikel figuriert, febr hilfreich erweift. Dr. Cle-
ment nimmt Meyer zu einem gemijlen Suded mit, der,
wie e8 fcheint, im Falle war, auf ben faumfeligen Laurentius
einen Drud zu üben. Allein zu Haufe tft Suded [o wenig
228
aufzutreiben wie an ber Börſe, „ou les marchands ont
leur assemblée à midy“, unb Meyer fcheint beide, Lau-
rentius und Suded, im Verdacht gemeinfam verabredeter
Srülerei gehabt zu haben. Sicher war nur das Eine, daß
des Laurentius Gläubiger in Baſel das Nachfehen hatten.
Ein anderes Mitglied der flämifchen Geiftlichkeit in
London, Symeon Ruytind (er nennt fid im Stamm-
buch „Ecclesiae Londino-belgicae pastor“), der uns 1599
unfer der Bezeichnung „Simeon Rutingius Anglus“ in ber
Basler Univerfitätsmatrifel begegnet, führte Meyer beim
Gefretár des Grand Threforier ein, der ihn „honorable-
ment“ aufnimmt. Nun bittet Meyer dringend, dem Thre-
forier vorgeftellt zu werden, „pour obtenir quelque faveur
de luy profitable à mes affaires.“ [ber der Geltetär
gibt ibm deutlich zu verfteben, daß ber Q3ittfteller vor allem
feine Empfehlungsſchreiben abzugeben babe, vorher dürfe er
auf Feinerlei Gefälligfeiten zählen; andernfalls hingegen
werde er ihn „tout droit chez Monsieur“ führen. Den
Schluß des Briefes bildet das alte Lamento tiber des Vaters
Knorzerei, bie den ungenügend ausgeftatteten Sohn zwinge,
Drittperfonen angupumpen. Zum Glüd babe Efajas be
Montmartin ibm aushelfen können, aber einen einzigen
Sohn follte man nicht in der Fremde fo fteden faffen.
Auf der andern Geite hielt nun freilich der Sohn ben
Vater aud) nicht immer auf dem Laufenden. Wenigftens
fab fid) anfangs Februar 1609 der Vater Sonatban ver:
anlaft, bei Gebeon de Montmartin nachzufragen, ob eg
richtig fei, baB Safob fdon im Oktober nad) England ver-
reift fei, und ihn zu bitten, ibm über Jakobs Auslagen Rech:
nung zu ftellen; gleichzeitig empfiehlt er ibm feinen Sohn
zu freundlicher Aufnahme und fügt bei, er fei leider durch
Amt und Gefchäfte zu früh ben Wiffenfchaften entfremdet
worden. Auf mancherlei bange Fragen, bie den befümmerten
Vater beunrubigten, gibt nun ein fehr ausführliches
Schreiben des Sohnes vom 4. Februar 1610 aus Cambridge
229
in lateinifcher Sprache eingehende, menn auch nicht febr er-
freulihe Auskunft. Er verleiht zunächft feiner Ungeduld
über das [ange Ausbleiben von Nachrichten aus der Heimat
Ausdrud. Nicht einmal Zantalus könne mehr nad dem
von den Lippen zurüdweichenden Wafler geſchmachtet haben
als er, Safob, nad) Nachrichten aus der Heimat; denn feit
fünf Monaten babe ibm „nil patriorum radiorum“®!)
gefchienen, er fei von Trauer und Trübfinn heimgefucht, und
es mögen nun bie Seinigen aus dem Folgenden die Summe
feines Mißgeſchicks erfahren. Zunächft wehrt er fid) gegen ben
Vorwurf, als ob er fid) unverantwortlic lange in London
berumgetrieben hätte; nicht länger als ad) Tage hätte er
fid) bier aufgehalten, b. b. nur fo lange, bis ibm Freunde für
fein Austommen in Cambridge geforgt hätten. Denn mit
ber Zreiftelle an der dortigen Univerfität batte es, wie wir
nod) feben werden, feine Häkchen. Ohnehin wäre es ibm
übrig geblieben, zum bloßen Zeitvertreib bier zu bleiben, ba
er von allen Mitteln entblößt gewefen fei. Zum Glüd babe
ibm Dominus Laurentius mit 50 englifden Minen aus-
geholfen unb fonnte auf bieje Weife feinen Verbindlichkeiten
gegen die Basler Freunde wenigftens teilweife nach—
fommen; fodann erwies fid) Dr. Clemens als getreuer Not-
helfer, fonft, meint Salob, wäre er ärmer als weiland König
Gobrus. Aber Clemens babe ihn an einen 23ürger von
Cambridge gewiefen und der babe ibm 3 ,coronatos
Gallicos“ gepumpt; freilich fei ihm aud) Geld geftohlen
worden, „ich weiß zwar nicht, warn und mo. Aus bem
geliebenen Geld taufchte id) meinen weißen Mantel gegen
einen fchwarzen um, damit id) nicht „Marti potius quam -
Arti Minervae“®?) ergeben [djeinen möchte. Mit einem ge-
wöhnlichen Gubrmann fam ich mübhfelig und unter Schwierig:
keiten bei heftigem Sturm und fcharfer Kälte und Schnee-
‚geftöber nad) Cambridge, wogegen id) mich wegen Mangels
81) Nichts von den (Liebes)itrahlen des Vaters.
$$) Mehr dem (Kriegsgott) Mars als Minervas Kunft.
230
an ordentlicher Kleidung nicht genügend wehren fonnte."
An Cambridge bezog Jakob Meyer vorerft eine dem
Gollegium Trinitatis gegenüberliegende Herberge beim näm-
[iden Wirt, bei bem fdon Onkel Wolfgang zu Gafte ge-
wefen war. „Bei ibm haufen einige Magiftri artium,?2)
ferner Studenten der Theologie, Gelehrte, mit denen id) in
ber erften Nacht zu Abend fpeifte.e Sie beftätigten, Lau-
rentius fei in Cambridge, und fandten einen Famulus zu
ihm. Das führte zu einem Beſuch Meyers bei Laurentius,
ber ben jungen Basler freundlich aufnahm und behauptete,
feinen Verpflichtungen gegen Sonathan Meyer nad)gefommen
zu fein. „Er ver[prad) mir aureas monetas,?*) bod) war
er, wie gewohnt, halb betrunfen. Am folgenden Tag...
gedachte id) Digniffimum D. Ratcleif zu befuchen, an
ben id) von bir empfohlen war, unb ihn in Sachen um guten
Rat anzugeben. Der fam mir mit väterliher Güte ent-
gegen und rief mir, in der zuerft befuchten Herberge zu
bleiben, und verfchaffte mir beim Wirt Kredit. Laurentius
fuhhte mid) mit fchönen Redensarten bingubalten, er werde
mid) nicht im Stiche faffen; er verduftete aber nad) London,
während Dr. Ratcleif mir burd Zreunde beigufteben
verfuchte.“
Nun kommt bie Rede auf einen Brief des jungen
Aerander Henric Petri) den diefer aus London an
Jakob Meyer gefchrieben batte; Petri mar ein Studiengenofle
Meyers und gleich ibm 1604 in 93afel immatrifuliert. Im eben
erwähnten Brief befchwert fid) der Schreiber über bie Zer-
dächtigung von Jakobs Vater, als habe er, Petri, bem Jakob
feinen Mammon burdjagen helfen, aufs bitterfte. Immerhin
geht aus bem Mitgeteilten hervor, baB die beiden in London
fröhlich gelebt und auf einen Si 12 coronatos verjubelt
hatten, zum großen Verdruß des haushälterifchen Sonatban.
Magiiter ber (freien) fünfte,
94 Gold.
9$) Sebaftian Henric⸗Petri; es ijt fonft nichts über ihn befannt;
vgl. Familiengeſchichte der Petri 1891—1918. Nürnberg 1918.
231
Der junge Henric Petri fcheint bem Vater Meyer deswegen
auf der Basler Pfalz eine ffanbalófe Szene aufgeführt zu
haben, die beim Sohn noch nachzittert, wenn er plößlich aus
dem Lateinifchen in die Heimatfprache fällt und fortfährt,
„mit meldem Web id) das vernahm, fann ich nicht fagen,
zumal id) hiezu Urfache mar." — Am Neujahrstag 1610 [ub
ihn der Genefhall (Oberhofmeifter) auf Geheiß des
Dr. Ratcleif zu einer Mahlzeit ein, bei ber er gerade .
aud) die Feierlichkeiten des Collegiums S. Srinitati8 zu
leben befam; die Bewirtung bezeichnet er als einfad) unb
feineswegs köftlih. „Sch wurde”, fügt er bei, „aufs freunb-
lichfte von ben Genoffen des Collegiums aufgenommen wegen
meines Oheims Wolfgang, ber bier in fo gutem Rufe ftebt,
daß felbit Heigmann (Wolfgangs ZTochtermann) feinen
Ruhm nicht verbunfelr fann. Ic bentüte auf das freiefte
bie Bibliothek des Collegiums ZTrinitatis. Da id) aber bei
meinem Wirt fein bequemes Studierzimmer und Bett fand,
mietete ich auf den Rat des Dr. Ratcleif ein Zimmer bei
einem Bürger, das id) mit bem Franzoſen Capellus ?9)
teile, defien Bruder Geiftlicher an der Kirche von Géban ift;
jener iff ein gebildeter und verftändiger Mann.” Mit ibm
fonverfiert Safob häufig. Unter der Winterfälte [itt unfer
Studiofus nicht wenig und war baber bem Dr. Clemens
febr dankbar, als er ibm zur 23efdjaffung eines Anzugs be-
bilffid war. Bei einem Londoner Tuchhändler wurde der
gewünfchte Stoff für Wams (thorax), Mantel (superindu-
mentum) und Rniehofen (foemoralibus) gefunden. Sud) und
Macerlohn famen auf 3 englifhe Pfund unb 10 As zu
feben. Dr. Clemens bewies feine Anbhänglichkeit an Baſel
duch Wohlwollen und herzliche Freundlichkeit gegen Jakob
Meper.
Aber freili in der Hauptfache, b. b. für den Bezug
des DBucerfhen Stipendiums, fchlugen feine Hoffnungen
fehl. Er fam bald zur Ueberzeugung, daß er unter allen
35) Vgl. Jahrbuch 1913. ©. 89.
232
Umſtänden gewichtiger Empfehlungsichreiben bedürfe; nicht
bloß die hohe Regierung, fondern aud) bie Verwandtichaft
(Wolfgang) und bie amicitia Magnatum waren erwünfcdt,
und nicht eine Empfehlung für fid allein, [onbern eine ganze
Reihe von folhen vermöchte allenfalls den gewünſchten Gin-
brud bervorzurufen. Da baben wohl bange Ahnungen den
Srobfinn des jungen Mannes niebergebalten, auch ver:
ftimmte ihn bie Spärlichkeit der Meldungen aus dem Eltern:
haus und vor allem die Knappheit der Mitte. Dur
Privatunterricht fuht er aus der Klemme zu fommen unb
beinahe wäre e8 ibm gelungen, duch Vermittlung von
Dr. Ratcleif bei einem Herten von Mel eine Hauslehrer:
ftelle zu befommen, bie ihn allerdings zum Leben auf bem
Land gendtigt hätte, aber es fam ihm ein anderer zuvor,
ebenfo batte er mit feinen Verfuchen, durch Unterrichten im
Stanzöfifchen fid) durchzufchlagen, nur Pech. Kurz, er ver:
fteigt fid) zu bittern Vorwürfen gegen den Vater, der ibm
zumute, in Cambridge von Geldern zu Leben, bie er fchon
le&te8 Jahr in Frankreich aufgebraucht babe. Wohl kenne
er das Gebot „Ehre Vater und Mutter”; es heiße aber
aud): „Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht!" Und menn
Gott von den Kindern Gehorfam gegen die Eltern fordere,
fo fchreibe er eben auch diefen vor, fid) gegen bie Kinder [o
zu benebmen, daß fie des Eindlichen Geborjams würdig er-
(einen. Er molle ja gerne die Auslagen für oft unb
Kleider verdienen, aber wenn das nicht gerade auf bet
Stelle möglich fei, fo follte ibm der Vater die Mittel zum
Leben und zum Studium nicht verweigern und amaden, er
fei ja bod) der einzige Sohn. Hoffentlich treffe fein Brief
rechtzeitig genug daheim ein, daß er die Antwort durch bie
an bie Srankfurter Meſſe reifenden YBuchhändler (biblio-
polae) erhalten könne. Sm übrigen babe er fid) divina gratia
immer fo aufgeführt, baB er den Unterfchied zwifchen Gut
unb 9308 fenne unb Gott immer bitte, ihn vor bem Böſen
zu bewahren und das etfannte Gute erftreben zu laflen. In
233
biefem Ton geht es weiter. „Sch erinnere mid), mie ungern
bu es (abeft, wenn (deine Studenten und Hauslehrer)
Knuthins und Pfifter mir nicht bie größere Hälfte des Tages
widmeten. Dem Laurentius habt Sbr Gutes ermiejen in
Hoffnung auf Bezahlung und Rüderftattung . . . Grfenne
barum endlich, baB es Zeit iit, denen Gutes zu erweifen, die
mir Geld [eiben." Nun hätte freilich Laurentius ber Fa-
milie Meyer Schulden abzuzahlen, fo lange das aber nicht
geſchehe, folle nicht ber Schreiber e8 büßen müffen; auf jenen
fónne man nun einmal nicht zählen und noch weniger einen
Drud auf ibn ausüben. Er, Safob, babe verfucht, mit Hilfe
des Dr. Ratcleif in das Kränzchen (calculus) der Theologie-
ftudenten aufgenommen zu werden, wodurd ihm das Recht
zur Seilnabme an den Disputationen aufiele; aber Ratcleif
hielt ibm indigentiam nummorum?") vor; nut wer im
Golfegium wohne, werde zu ben Disputationen zugelaflen.
Satalerweife babe Obeim Wolfgang ihn nicht genügend auf
diefe Schwierigkeiten aufmerfjam gemadt. Dem Dr. Gry-
naeus und Polanus läßt er für ihre 93emübungen
danken. Sollte er bod) nod) im Collegium Aufnahme finden,
fo müßte er fid) eine Toga anfchaffen. Noch ein le6ter Stoß:
feufzer entringt fid) dem jugendlichen Dulder: wie gut hätten
e8 bod) die Studenten, bie, von feinen Sorgen bedrüdt,
immer rechtzeitig ihr Gelb vorfänden; fie könnten in erjprieß-
lider Weife arbeiten, ruhig und unbeirrt ihren Kon—
templationen nad)büngen, er aber fühle jid) in feinem Senfen
und Sinnen geftórt. Wolle ihn der Vater ftudieren laflen,
fo müfle er ibm aud) die Mittel dazu an bie Hand geben.
Durch bie Gefülligfeit des Petri, ber via Paris nad) Granf-
furt reife, gebe diefer Brief ab, und durch ihn oder einen
andern Buchhändler erwarte er Antwort.
Gleichzeitig mit biefem Brief ging ein Schreiben an
Polanus ab, in weldhem Jakob dringend um Fürſprache
beim Rat für ein Empfehlungsichreiben an den König
8) Den Geldmangel.
234
bittet. Der Q3ittfteller möchte „eadem studiorum subsidia
in Anglia“ finden, „quae olim patruus meus.“?®) Er be-
nötige gar mancherlei Empfehlungen, „praecipue autem In-
clyti nostri Magistratus, quae plurimum haberent momenti
ad Regis animum emolliendum.^??)
Ob Safob$ Lamentationen beim Vater Eindrud machten,
möchten wir bezweifeln, menn man in einem Brief des
le&tern, im März 1610 an Safob ad Nundinas (auf bie
Srühlingsmefle) gerichtet, Tief, wie er dem Sohn vom
nobilis juvenis Bernhardus Brand‘) berichtet,
biefer babe auf Reifen 1000 Gulden gewonnen, Safob da-
gegen ebenfoviel verbrauht. So febrt die leidige Geld-
frage in allen nur denkbaren Variationen wieder. Serm
93artbolomé PBincent gegenüber erwähnt Sonatban,
Monfieur Efaye de Montmartin fei „nostre vieil debiteur“
von „trois cents Escus“, unb es wird bem Jakob vor-
gehalten, er babe Bezahlungen verfprochen beffen „que
nous avons déboursé désja sept ans.“ Und ba Mon—
fieur be Montmartin den Safob in Saumur ,aupreés de
Monsieur des Roches“ einquartiert babe, [o möchte er num
aud) in Sonatbans Auftrag biefem das Koftgeld für Jakob
ausbezahlen und auf biefe Weife feine alten Basler Schulden
abtragen. Sod) Montmartin drüdte fid) um diefen Auftrag,
ba er gerade Hochzeit feierte, fo daß fid Sonatban fpäter
bitter über bie „ingratitude et négligence de Mr de Mont-
martin“ befchwerte. Er babe ibn feinerzeit überredet, Jakob
nad) Granfreid) reifen zu [affen; wegen der franzöfiichen
Sprache hätte e8 Genf aud) getan. Beide Montmartins
lohnten bie in Baſel ihnen erwiefenen Wohltaten mit
fhnödem Undank. Sm Oftober 1610 meldet Sonatban, die
88) Die nümlidje förderung feiner Studien in England, wie
mein Obeim.
8) Beionders aber unjerer Erlaudten Obrigkeit, welche (fc. Em:
pfehlungen) am meiften Einfluß auf die Umftimmung des Königs
haben dürften.
49) Geb. 1586, Oberftzunftmeiiter.
235
Opeft regiere in 23afef, aud) Wolfgang babe einen bubo.
Jakob ermibert, fie breite fid aud) in Cambridge aus, fie
baufe (fchreibt er am 4. Auguft 1610) in 3 bis 4 Häufern
in ber Nähe der Golfegien; „nostra platea ov» 9e adhuc
libera^*!) QGinige Genioren des Collegiums — Srinitatis
feien deshalb aufs Land gezogen und würden vor Michaelis
nicht gutüdfebren. Aus 23afel lauteten bie Nachrichten über
bie Peſt düfter genug. ,?ínbertbalb Sabre lang (ses-
quiennium) ſchreibt Jonathan Meyer am 3. Zuli 1611 an
Dr. Ser. Ratcleif, „bat uns bie Peft beimgefudbt"; nur
aus biejem Grunde babe er fo [ange nicht gefchrieben,
4000 Menfchen jeien daran geftorben;??) allein in ber engern
Familie beflage man 34 Tote. Inter dem Drud der er:
fchütternden Ereignifle erklärt fid) auch einigermaßen die
Schwarzfeberei des Vaters in bezug auf das lange Schweigen
des Sohnes. Am Ende fei er unter dem Einfluß leicht:
finniger Freunde auf Abwege geraten, wie fhon in Franf-
reich. Auf ben Sohn fcheint des Vaters gedrüdte Stimmung
nicht ohne Ginbrud geblieben zu fein. Schon in einem 93rief
vom 4. Auguft 1610 aus Cambridge fucht er, nachdem er
eines Totſchlags bei einer ftudentifchen Rauferei erwähnt,
den Pater aufzubeitern mit dem Dichterwort: „Tu ne
cede malis, sed contra audentior ito“*°) er hält für befler,
ibn zu tröften als zu bemitleiden, und muntert ihn auf, bei
allen Anfechtungen und Kränkungen aufrecht zu bleiben. Ihm
rate man, fid) in Cambridge ins Collegium Zrinitatis auf-
nehmen zu laflen, „utpote opulentissimum"**) e$ fei liberal
gegen Fremde, und man [ei dort nicht teurer als anderswo,
auch finde er dort noch viele Freunde aus Wolfgangs Zeit,
bie ibm gewogen feien, fodann ftebe eine reich ausgeftattete
Bibliothek zur Verfügung Gurd Haringtonii S'ermitt-
4) Unfere Straße iit Gott jet Dant nod) frei.
2) Genau 3968 nad) Felix Platters Zählung (Vgl. Basler Uni-
verfitätsprogramm 1908 von 9f. (€. Burdhardt.)
49) Weiche bem Mißgeſchick nicht, tritt ibm nur fiibner entgegen!
4) Gewißermaßen bas pornehmifte.
236
[ung befam Jakob zunächſt ein jährlihes Stipendium von
10 Pfund. Wenn er aber von daheim fein Geld befomme,
fo müſſe er eben heimfliegen. „Don der englifchen Sprache
babe id) mir [o viel angeeignet, baB id) bas Gelefene meiftens
perftebe unb zu fprechen anfange; aber id) finde bie Aus:
fprache biefet Sprache febr fchwierig; ber Obeim wird meiner
Meinung beipflichten.”
Dem Arzt Dr. Arthur Dee in London, der 1609
in Baſel ftubiert batte, Hagt Jonathan in refignierter
Stimmung, Hauptfache bleibe das Ignorieren des nun hinter
ihm liegenden Lebens und ein gedeihliches Studium feines
Sohnes, über deflen Verbleiben er feit mehr als 2 Jahren
nichts erfahren babe (?). Ebenſo fchüttet er bem Buch—
händler Otimaeus in London fein Herz aus: „Er (Safob)
wurde bod) bochverehrter patrone, auf bie bochberühmte
Schule von Cambridge gefchict, nicht aber nad) London,
mwofelbft er leider öfters unb nur allzu lange foll bangen ge:
blieben fein." Er babe fdjon in Frankreich allzu viel vertan
und fei von einem andern Basler verführt worden, ber fid)
nun leider aud) in London herumtreibe. Ein paar Wochen
fpäter bittet Jonathan den Sekretär: „des Suisses du roi“,
Sebaftian Ramfped in Paris, er möchte bod) möglichkt
verhindern, daß, wie verlaute, fein ungehorfamer Sohn mit
dem Schlingel Alerander Petri nad) Mailand durchbrenne,
und ihn vielmehr — Jakob war alfo fdon in Paris — zur
ORüdfebr nad) England veranlaffen.
Saktifh Lehrte Safob aus feiner faum zu leugnender
Sturm: und Drangperiode im September 1611 nad) Baſel
zurüd und trat dann im April 1612 neuerdings die Reife
nad) England an. In ber Zwifchenzeit amtierte er in der
PBaterftadt ale Gemeinhelfer. Unterm 24. Suni 1612
fchreibt Safob aus Cambridge lateinifh dem Pater: „Nun
follft du wiflen, daß ich nad ber Durchwanderung von
Holland und Geeland in Pliffingen ein Lazarettichiff
(valetudinariam navem) beftiegen habe (denn es plagte mid)
237
anhaltend ein fchleichendes Zieber) unb bei günffigem und
erwünfhten Wind nad England gefommen bin. Diefe
Seberfahrt war mir einigermaßen zuträglich, denn fie be.
feitigte viele in meinem Leib verborgene fchlechte Säfte.”
Otad) feiner Ankunft in London übergab er fofort dem König
auf den Rat unb nad) der Anleitung des hochverehrten Rates
(praesulis) Bathon fein Empfehlungsichreiben. Wie
es fcheint, ohne Erfolg. „Das Schreiben wurde vom König
gelefen und aurüdbebalten, aber ohne irgenbmeld)en Nuten
oder irgendwelche Erfprießlichkeit für mich; es erfolgte von
feiten des Königs feinerlei Antwort, feine Wohltat, und ich
fann aud) fürberbin auf feine zählen.” Meyer Eonferierte in
Saden mit Dr. 9(rtbur Dee. Swifchenhinein taucht
dann ber unvermeidliche Laurentius auf, bem Syafob keinerlei
Geftändnis bet dem Pater Sonatban fehuldigen Summe
entwinden zu fónnen hofft. Da es nun bod) zu feinem Sti⸗
pendium reichen wird, fo entfchließt fid) Safob, nur [o lange
in England zu verweilen, als die vorhandenen Mittel es
geftatten. Während feines vierwöchentlichen Aufenthalts in
London bat er fid) einen „nicht gewöhnlichen Schag von
engliihen Büchern“ erftanben, mit denen er daheim zu
paradieren hofft. Hierauf iff er nad Cambridge zurüd-
gekehrt und dafelbft früheren Verpflichtungen nadgefommen ;
leider bat er auch erfahren, daß „patronus noster, Doctor
Radcliffus“ geftorben jei, und überhaupt manches während
feiner Abwefenheit fid) geändert babe. Er gebenft nun noch,
Orford zu befuchen und fo lange dafelbft zu verweilen, als
bie Mittel reichen werden. Das Eöniglihe Stipendium
fchlägt er fid aus dem Sinn und beabfichtigt, im September
nad) Haufe zu reifen, falls er nicht von daheim zur Ver—⸗
längerung feines Aufenthalts aufgemuntert wird.
Der gleichzeitig an den Oheim Wolfgang aufgegebene
Brief ergänzt und erweitert den obigen in verfchiedenen
Punkten, jo befonders im Reifeberiht. Was er unterwegs
bis nad) Köln erlebt, werde man feinen aus Frankfurt und
238
f ín batierten Briefen entnommen haben. In Heidelberg
fei er von feinem Verwandten Rodolphus, ben die Eltern
kurz hielten, angepumpt worden; unter Tränen babe er ihm
einige Gulden entlodt und ihn mit der Entfchädigung ber
Eltern vertröftet, er aber habe vorgezogen, ibm ein Geld-
sefhent zu mahen „Am 16. April verließ id) in Be—
gleitung ber 93rüber Zfelin Frankfurt, um Köln zu er-
reihen, wobei mich unabläffig jenes effe (pallida) Fieber
begleitete, das id) nicht einmal duch eine Purgaz mit
22 Ci&ungen in Köln los werden konnte (purgatione viginti
duarum sedium). Auf alle Dertlichkeiten, bie ihm Wolf:
gang im Reifeplan notiert, gab er acht, mußte aber aud) bie
befannte Wahrnehmung machen, bap manchem Studien-
freund feines Oheims Wolfgang, an ben er Grüße aus:
richten follte, defien Name entfallen war per injuriam tem-
poris,*) wohl aber hätte fid) feiner der Geiftlihe Joh.
Le Marie in Amfterdam nod) febr wohl erinnert. „Ebenda
nahm id einen Aderlaß vor und wurde von Emanuel
Gfelin freundlich aufgenommen. Am 7. Mai neuen Stils
brad) id) von Amfterdam nad) Harlem auf, und von da ge-
langte id) nad) Leyden, unb da fann id) nicht genug bie
Leutfeligkeit unferes Arnold (,Soannes Arnoldus Lug-
buno Batavus“ ftudierte 1603 in Baſel) rühmen und bie
Rechtſchaffenheit jenes einäugigen Bürgers, bem wir in
Bafel nicht ebenfo mit Wegzehrung beigeftanden hatten.
Bon ibm war D. Arnold von meiner Ankunft unterrichtet,
unb er zeigte mir nicht bloß alle Sehenswürdigfeiten, fondern
bedachte mich obendrein aufs gütigfte mit einer Mahlzeit,
einem Bett und einem Frühſtück und nahm mich, mas id
am höchſten fchäße, unter die Zahl feiner Freunde auf.
Jener aber (der Einäugige) [ub mich nicht nur in fein Haus
ein, fondern wollte aud) unfer Trinkgeld zurüderftatten; als
. id) es nicht zuließ, übergab er’s bem D. Arnoldus zur Ver:
teilung an die Armen, gewiß ein nicht gewöhnliches Beiſpiel
) Durch bie Unbilden der Zeit. |
239
außerordentlicher Noblefle . . . Yon Leyden fam id nad
bem Haag (des Grafen), wo id ben Mauritius (von
Oranien, 1567—1625) frübftüden (ab, von bier aus nad)
Delft (Delphos), Rotterdam, Dordreht unb endlich nad)
Dliffingen, und zwar fo günftig, baB ich gerade ein zur
Abfahrt bereites Schiff traf, auf welchem wir nad) 21 Stunden
oi» de (mit Gott) in Grapefinba (Gravesend an der
Sbemjemünbung) lanbeten: ber Wind ent[prad) durchaus
unfern Wünfchen, und zwar fo, daß er einen gewaltigen
Waſſerſchwall in das Schiff warf, fodaß viele ben Namen
des Erlöfers anzurufen begannen. Es war ber 13. Tag des
Mai, da mir von neuem England zu erbliden zuteil ward.
Nach meiner Ankunft in London gab ich meine Briefe ab.
Seiner Majeftät dem König (Safob I. von England
1566—1625) gab ich den ihrigen fofort am folgenden Tag
eigenhändig, als fie ad sacellum**) ſchritt, dem Biſchof
Bathon den feinigen, bem O. Harington den feinigen,
ebenfo den andern die ibrigen." Jakob Meyer war auf den
Rat des Biſchofs 93atbon fo vorgegangen, der König hatte
das Schreiben genommen, „und als er aus ber Verſamm—
[ung fam, hielt er es in der Hand und trug es mit fid) auf
fein 3immer. Ich wartete in London ungefähr einen Monat
auf Antwort, drängte, fuchte den Biſchof auf, bat ihn, er
möchte den König an bie Antwort mabnen und ibm meine
Perſon empfehlen; endlich, als ich nichts ausrichtete, beſchloß
id) nad) Cambridge zu meinen Freunden und Studien zurüd-
gufebren. Der Biſchof machte vielerlei Gründe geltend,
warum er ©. Majeftät den König nicht wohl auffuden
fónne, und ich muß gefteben, daß er durch febr viele Sorgen
unb Geichäfte in 9[nfprud) genommen war. Es waren
nämlich [don vor meiner Ankunft am Hofe anmefenb bie
Gefandten des Königs von Frankreich, der Herzog von
23ouillon (Bullioneus) zufammen mit bem Serm von Tre- —
mouille, Herzog von Thouars; beide unterhandelten mit
49) In die Kapelle.
240
bem nig, baB er feine Zuftimmung zu ber Heirat des
Stanzofen mit der Spanierin erteilte, (Ludwigs XIII. mit
der Tochter Philipps III. von Spanien, der Infantin
Donna Anna) unb aud) feine Tochter Elifabeth dem Pfalz:
srafen (Zriedrih V. von der Pfalz, bem fog. Winterfönig)
zur Ehe gäbe; fie follen beides durchgefegt haben. Als bie
Gefandten nad Frankreich zurüdgelehrt waren, fühlte fid)
der König mehrere Tage nicht febr wohl; bald nachher wird
ibm ber Zod des Großfchagmeifters (Magni Thesaurarii)
gemeldet, der ihn mit neuen Sorgen erfüllte. (o fam es,
daß ich wegen diefer febr wichtigen Staatsangelegenheiten
mit meinen Privatangelegenheiten ignoriert wurde. Weil
id) fomit allem Anfchein nad) mich vergeblich bemühte, reifte
id) nad) Cambridge ab; zuvor aber fah ich mich nad) jemand
um, ber in meiner Abwefenheit den König und ben Biſchof
beeinfluflen fónnte. Denn ber Bifchof batte veriprochen,
bei erfter Gelegenheit vom König eine Antwort zu erbeten.
Anderfeits batte Meddus (Medufius — ftubierte 1595
in 93afef) verfprochen, den Bifchof zu drängen . . ."
„Leber die Angelegenheit des Carlyle”, (Laurentius
„Carleil“ Londinenfis Anglus ftudierte 1608 in 93afef), ber
allem Anfchein nah in 93afef. Schulden binterlaffen batte,
„Tann id) bir nichts Beſtimmtes fchreiben, außer das eine,
daß id) zuerft mit den Freunden verhandelte, baB ich feine
Eltern auffuchte und nachfah, ob fie ihren Sohn von ihren
Schulden befreien wollten, daß ich ferner, da diefer Weg
nicht zum Ziel führen wollte, über den Rechtsweg nachfann
und meine Freunde in biefer Sache um Rat fragte. Endlich
merkte ich fo viel, daß ich felber der Sache wegen zu Fall
fommen Eünnte, menn Garlyle burd) einen Eid verficherte,
er fei niemanden etwas fchuldig, und er babe jenes Schrift:
ftüd (offenbar einen Schuldbrief) nicht ausgefertigt und mit
feinem Giegel verfehen, und feine Vergleichung weder ber
Schrift nod) der Cdulbanfprüd)e gelte bierin etwas; id)
merkte ferner, bap ich überhaupt in der Cade nichts gegen
241 16
ibn ausrichten fónne, fobald er alles beftreiten wolle, ba mir
feine lebenden Zeugen zur Hand feien, bie allein in biejem
Königreih von Gewicht und Geltung find. Endlid wurde
erfannt, daß in „curia Conscientiae", in elder bert
Kanzler den Vorſitz bat, der Mann vor bie Geridtsfdranfen
zu rufen fei, wo die (Cade leichter in fürgerm Verfahren,
aud) mit geringern Auslagen zu Ende geführt werden könne,
wobei ich felber aber aud) den fürgern ziehen kann, falls
Carlyle einen Meineid leiften follte.” An anderer Stelle be-
merkt der Driefichreiber: „Die Leute wollen an derartiges
nicht gern erinnert fein und find in biefem Punkt febr ver-
geBlid) . . . in bezug auf Erwerbung englifher Bücher habe
id) befanntlich weder Zeit, nod) Mühe, nod) Koften gefcheut
und fcheue fie aud) jetzt nicht.”
Mit diefem ausführlichen Brief, aus bem die Erfolg-
Lofigfeit aller Bemühungen Jakob Meyers, einen Zreiplat in
Cambridge zu gewinnen, deutlich hervorgeht, Ereuzte fid) ein
am 15. Suni 1612 gefchriebener des Vaters, ber erneute
dringende Mahnungen über ben Ernft des Lebens enthält
und ibn, wenn er bie Rüdreife über Genf antrete, bem
Henrico Wottonio (vgl. Sabrb. 1913, S. 98), ehemaligen
Gefandten in Venedig, zur Zeit in Savoyen, empfiehlt und
ibm nebenbei wieder einmal bie Verfchleuderung des väter:
[iden Vermögens vorhält. Der letzte Bettelbrief Safobs
fam hinter des Vaters Rüden von Genf aus im September
1612 an den Oheim Wolfgang, der wohl aus eigener Er:
fabrung für bie Geldnöten eines jungen Mannes ein beljeres
Perftändnis befaB als ber Vater. Jakob fchreibt da, er
würde gerne länger in Genf bleiben, wenn er Zutritt in
Familien bátte. Gott felber babe ibm in diefer Stadt alle
Schäße feiner Güter ausgebreitet, nur folle man ibm, ohne
bap es die Eltern erfahren, bod) Geld zur Heimreife fenben,
etwa 14—15 cotonatos.
Damit fdlieBt bie auf Jakob Meyers Wanderjahre
bezügliche Rorrefpondenz. Was wir nod) als Nachtrag bei-
242
fügen, find ein paar Briefe, bie entweder geeignet find, ein
Licht auf bie 93eberbergung junger Herren von Stand in
Basler Gelehrtenfamilien jener Zeit zu werfen, oder bie
durchreifende Studenten oder Glaubensgenofien zu gaft-
freundlicher Aufnahme zu empfehlen. Am 19. September
1614 fenbet Agnes, BGräfinzu Solms, an Wolfgang
Meyer ein Dankfchreiben dafür, dag Wolfgangs Familie
bie Vettern der Solms, bie Yenburg, gaftfreundlich
aufgenommen und „denfelben viel liebs unb gutt8 ermiffen,
fonderlich aber mit unferm Sohn (Conrad — ftudierte 1614
in 33afel) in feinem zugeftandenen Unfall großes mittleiden
getragen, und ftattliche Handtreichung getban . . . Und follet
Ot hiernechft in ber Thatt fpürren, baB wir folche ung und
ben Unßerigen erzeigte guttbaten zuvergelten ung wollen an-
gelegen fein IaBen." Ganz ähnlich brüdt fid) am 2. Oktober
1614 der Gemahl, Albrecht, Graf zu Solms, in einem
Drief an Wolfgang Meyer aus; auch er verdankt alle feinem
Sohn Gonrabt Ludwig, Graf zu Solms, bei feinem
Unfall erwiefene Hilfe und Freundlichkeit wie aud) bie
feinem Better, Grafen von 9)fenburg bezeigte Gaft-
freundſchaft und verfpricht, fid) erfenntlich zu zeigen, verdankt
aud) bie Bürgſchaft für das von bem jungen Herrn in Baſel
aufgenommene Geld.
Sn die Zeiten der Inquifition berfebt uns ein
Brief des alten Kaſpar Wafer aus Zürich vom 13. Auguft
1615 an Wolfgang Meyer; er lautet: „Der Leberbringer
vorliegenden Schreibens ift zu euch gefommen, ein Staliener
von Geburt, wegen feines evangelifhen Glaubens verbannt.
Gr durchreiſte mehrere Fahre fang verfchiedene Gegenden
Deutfchlands wie aud) Englands. Als er aber vernahm, daß
feine Eltern geftorben feien, begab er fid) in fein Vaterland,
um fein väterliches Erbe zu beanfpruchen. Aber dafelbft er-
bielt er mit Mühe einen Sebrpfennig und wurde wegen der
Snquifition jofort zur Abreiſe genötigt, nicht ohne Lebens-
gefahr." Wolfgang wird erfucht, ibm zur Weiterreiſe nad)
243 16*
Heidelberg behilflich zu fein. — Ueber bie Aufnahme des
Marcus Antoniusde Dominis in 23afel bat das
Cabrbud) 1913 (C. 98) berichtet. Der bier zum Schluß
noch folgende Brief des englifchen Gefandten in Venedig,
Henry Wotton, an Wolfgang Meyer vom 13. September
1616 mag als Beleg dafür dienen, mit welcher Klugheit und
PBorfiht man zu Werke geben mußte, um einen ber rümi[cben
Rurie Verdächtigen gíüdíid) über bie Grenze zu bringen.
Der Gefandte fchreibt: „Ich empfehle Deiner freundlichen
Aufnahme (melde im eigentlichften Sinn zu allen Greunb-
fchaftsleiftungen geneigt iff) biefen Mann. Wer er fei,
wirft bu duch unfern Landsmann, Herrn Robert
DBarnefiusg, ben id ihm als 93egleiter beigeorbnet babe,
erfahren. Bon bier werden fie zu euch reifen (durch Grau-
bünden), um dann den Rhein binabaufabren, wobei fie beim
Beſchaffen eines Fahrzeugs fid) gerne deines Zeiftandes
bedienen werden. Was mich betrifft, fchien es mir unferer
Steundfhaft nicht unmtürbig, in diefer Gelegenheit deine
Hilfe anzurufen . . . Sd fchreibe jet etwas dunkler, weil
bie Sache geheimnisvol if. Nichte, bitte, deinem wohl-
weifen und geftrengen Bruder in meinem Namen einen
Gruß aus. Gbenfo dem erlauchten Grafler (a. a. . ©. 78),
an den ich burd) eben denjenigen gefchrieben habe, ber mit
bir verhandeln wird... Gott wird mitten im Waffen:
getöfe feinem Evangelium den Weg bahnen.
Venedig, 13. September 1616.
Dein Henry Wotton.“
244
Ablaßbrief von Anno 1517 zu Bunften
des Jakobusaltars ín St. Leonhard.
Don Pfarrer ££. Mieſcher.
On unferm biftorifhen Mufeum befindet fi, unter
Glas ausgeftellt, ein fchon durch Fünftlerifche Ausftattung,
aber aud) durch feinen Inhalt bedeutfames Aktenftüd, das
wohl bem einen oder andern Mufeumsbefucher im Vorüber⸗
geben aufgefallen, wahrfcheinlich aber von den wenigften
einer genaueren Betrachtung ift unterzogen worden.
Unferes Wiffens iff das Dokument vor dem Hinweis
darauf, zu bem ein im Chriftlichen Volksfreund abgedrudtes
und nachher aud) als Broſchüre erfchienenes Stüd Geſchichte
von Ct. Leonhard uns Anlaf gab, nod) von feiner Seite
einer befonderen VBefprehung!) gewürdigt worden, unb bod)
verdient e8 diefelbe in mehrfacher Hinficht. Wir haben darum
der Aufforderung der Herausgeber diefes Jahrbuchs gerne
Folge geleiftet, ben Sert der Urkunde unter Beifügung einer
&eberfegung bier mitzuteilen und benfelben mit einigen
Worten der Einleitung zu verfeben. Wir freuen uns, daß
wir burd) bie, ungefähr auf den vierten Zeil des Umfangs
des Originals reduzierte, Wiedergabe des Dokuments ?)
unfere Ausführungen zu unterftügen imftande find.
Es handelt fid) um einen Ablaßbrief, wohl einen
der legten, wenn nicht wirklich den lebten, ber für das vor-
1) R. 9Badernagel in Mitl. über R. Peraudi. Basl. Zeitſchr. f.
Geld. u. 9I[t.-Stunbe II, erwähnt die Urkunde ©. 221. Siehe i. Staats-
ardjio, St. Leonh. 856 a.
3) Sinfautotypie, auf Grund einer Photographie des Serm
3B. Anutty angefertigt von der Kunftanftalt Yrobentus U. ©.
245
reformatorifche 93ajel ift ausgeftelt worden. (ein Datum
ift der 29. November 1517 und der Tag der Veröffentlichung
butd) bie bifchöfliche Kanzlei der 27. Zuni 1518. — Am
31. Oktober 1517 batten bereits bie Hammerfchläge, womit
bet Auguftinermöndh bie 95 Theſen an der Schloßfirdhe zu
Wittenberg anfchlug, das erfte Signal zur gewaltigen Be—
wegung gegeben, aus ber bie im Geift und in der Wahrheit
des Evangeliums erneuerte Kirche hervorging, der Kirche,
für welche mit fo vielem andern, was im Lichte des Wortes
Gottes nicht beftand, aud) bie Abläſſe der päpftlichen Kirche
ihren Wert endgültig verloren haben. |
Ungefähr aus derfelben Seit ftammt ein ber Sankt
OXagnusSfirde in St. Gallen gewidmeter Ablaß—
brief,?) den im Namen des Papſtes Leo ber damalige
Nuntius Antonius Puccius (Pucci)?) am 18. Auguft 1518
noch, alfo nur viereinhalb Monate, bevor Zwingli daſelbſt
ſeine Tätigkeit begann, in Zürich gefertigt hat. |
Dergleichen Ablaßbriefe waren in ben lebten Syabr-
zehnten des 15. Zahrhunderts und im Beginn des 16. Sabr-
bunderts überaus zahlreid. Man erwarb und holte fie in
Rom oder gewann fie gelegentlich ber Anweſenheit von pápft-
lichen 9egaten; bald für diefen, bald für jenen 3med.
Bei aller Unmöglichkeit ben fittlihen Verfall auf:
zubalten, hatte doch in jener Zeit der, allerdings vielfach recht
äußerliche, Eifer für die Kirche einen mächtigen Aufihwung
genommen, bie Devotion, bie für die GSicherftellung des
eigenen Heils und deflen der lebenden und verftorbenen Fa—
milienglieder beforgt unb den in mancherlei Heimfuchungen
empfundenen göttlichen Grimm zu befhwichtigen bemüht
war, eine auffallende Steigerung erfahren. R. Wader:-
9) Karl Peſtalozzi. Die St. 9'tagnustirdje i. St. Gallen während
1000 Jahren. Berl. b. Fehrſchen Buchh. S. 66.
9 Bon 1531 bis zu feinem Tode 1541 Kardinal. Brgl. Konr.
&ubel. Hier. cath. med. aevi. Ueber Buccius Tätigkeit in der Schweiz
f. Egli. . Schweiz. Ref.Geſch. I. ©. 122.
246
nagel weift das in feinen Mitteilungen über Raymundus
ODeraubi^) big in alle Details überzeugend nad). (S8 berrichte
ein vor den größten Unternehmungen nicht zurüdicheuender
93augeift. Unglaublich viel gefd)ab zur Ausfchmüdung ber
Kirchen und Altäre, zur Stiftung und Bereicherung von
kultiſchen Handlungen, zur Erlangung von Reliquien, in Aus-
führung von Wallfahrten, in Suwendungen aud) an wohl:
tätige Anftalten wie Pilgerherbergen, Spitäler ufw. Es lag
burdjau$ im Intereſſe der Hierarchie, zumal bem fid et:
bebenben Humanismus gegenüber, diefen Eifer zu unter:
ftügen. Durch bie von ihr zu gemährenden Abläſſe aber ver:
mochte fie für die Unternehmungen Eoftfpieligerer Art der
Gläubigen mit Leichtigkeit bie Mittel flüffig zu machen unb
dabei erft noch für ftd felber ben entiprechenden Anteil ab-
gubefommen.
Co beſitzt das Staatsarchiv von St. Gallen, außer bem
obenerwähnten nod) einen, ebenfalls für St. Magnus be-
ftimmten Ablaßbrief vom Sabre 1467, defien Vorteile allen
zugute fommen follten, bie an gewiflen Seiligentagen bie
Kirche befuchten und für fie beifteuerten. An der Spiße der
zehn Rardinäle, die fid) mit ihrer Vollmacht an dem Gnaben-
erlaß beteiligt haben, fteht ber befannte Gelehrte 23effarion,
Bifhof von Tusculum, ber die gründliche Kenntnis ber
griechifchen Sprache nad) bem Abendlande gebracht bat.9)
Gin für Bern beftimmter Ablaßbrief diefer Art ift
jüngft veröffentlicht worden.) 1421 hatte Bern ben Bau
feines St. Vincenzmünfters begonnen. Anfangs der fiebziger
Sahre waren bereit8 40000 Goldgulden darauf verwendet
worden, und noch war der Bau nicht zur Hälfte vollendet.
5) Basl. Zeitſchr. f. Geih. u. Altertumstunde II. ©. 171.
6, Der Wortlaut des Briefes bei Karl Peſtalozzi a. a. Ort. ©. 188.
7) Ablaßbulle Sixtus IV zu Guniten bes Vincenzmünfters 1473.
Eriter im Auftrag Berns ausgeführter Suid durh Martin Flach in
Bafel. iyacjimiles9Reprobuftion nad) dem einzig befannten Ex. des
Keſtner Mujeums in Hannover, berausg. unter Mithilfe von Staats-
ardivar Tine v. U. Flur. Bern, Buchdr. Bühler & (o. 1918.
247
Da nahm man feine Zuflucht aud) zu dem ergiebigen Werbe-
mittel der 3eit. Am 18. Sanuar 1473 wurde der Stadt:
fohreiber Meifter Sbüring Srider burd) Rat und Burger:
Ihaft von Bern nad) Rom gejanbt, um bie Gewährung eines
Ablafjes zu ermirfen, der das Aufbringen der noch fehlenden
60 000 Goldgulden erleichterte. Ende April oder anfangs
Mai beimfebrenb, brachte er nicht nur eine, fondern gleich
zwei Bullen nad) Haufe, bie eine mit Geltung vom 29. Sep:
tember 1476, bem Feſte des Erzengel3 Michael, an. Gie
verfpricht den an diefem Zeft unb den darauffolgenden Tagen
bie Kirche andächtig befuchenden und zum Ausbau derjelben
ihre Unterftügung darreichenden Gläubigen volllommenen
Ablaß und Vergebung ber bereuten und gebeichteten Sünden,
und dies viermal von drei zu drei Jahren. Dabei wird,
um bei dem offenbar erwarteten größern Zudrang den fid)
häufenden Beichtbegehren genügen zu können, geftattet, daß
Dazu geeignete weltliche und DOrdensgeiftliche aus jedem be-
liebigen Orden al8 DBeichtiger durften zugezogen werden.
Dieſe follten berechtigt fein, alle Gelübde, mit Ausnahme
derjenigen für Pilgerfahrten übers Meer (Serufalem), nad)
Rom und Gompoftella abzuändern und davon [oszufprechen.
Der dritte Teil aber der eingegangenen Gaben muß aum
Schuße des ortboboren Glaubens zu Handen des apoftolifchen
Stuhles abgegeben werden. — Diefe 93ulle erfchien nachher
im Drud, und zwar burd) bie Offizin des Martin Flach in
Bafel, der biegu von Bern den Auftrag erhalten batte. —
Die zweite Yulle (von Sanct Vincengien unferes hu$-
herren boupts wegen) gewährt denen Ablaß, welche an des
Heiligen Tag die Kirche, bie deſſen Haupt vermabtte,
frequentieren und zu ihrem Unterhalt beitragen. —
Aber aud Baslerfirhen werden reichlich mit
Ablaß bedacht, befonders St. Theodor. Wlerander von Forli
fpendete 1477 einen folchen für St. Theodor und St. Nico-
laus, 1487 Nicolaus von Tripolis ebenfalls für St. Theodor.
Der Verwendung des eifrigen Pfarrer8 Dr. Surgant, ber
248
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ntionem cc miatoncr^ b voi manuec pom ptus D:xupant-
agmine B reftave Los - azbimalce! pie T Witelien-
xnerabılus Viri jdanme . Amgler poni aie e —»ut-
«ctus melhnan x3 omm ydeenne xeimia ac brator fektrı di; :
lw tiu ftc Ie [eue xpifieclibue ucic peritennbue et con feſſis
nudioie s andi 2 in ncecnop vum Oonmmcax ——
Septenbris er Decembris ac Umex menfzh? nuncdiate
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BETEN
felber in Rom war, um Reliquien ber 10000 Ritter für
feine Kirche zu gewinnen, bat diefe den im Staatsarchiv nod)
vorhandenen, von nicht weniger al8 16 Kardinälen aus:
geftellten Ablaßbrief von 1490 zu verdanken) Auf feiner
Durchreiſe burd) Deutfchland fam ber von Ulerander VI. als
Ablaßkommiſſär gefandte Kardinal Raymundus Pe—
taubi — e$ handelt fid) babet um ben Ablaß des Zubel-
jahres 1500, beffen Ertrag teilweife für einen Türfenfeldzug
beftimmt war — aud) nad) Baſel. Schon 1502 von Straß:
burg aus erhielt durch ihn die bei den Dominifanern be-
ftebenbe Bruderſchaft der Schuhmashermeifter zu Ehren ber
Heiligen Erifpinus und Grijpinianus einen Ablaßbrief?),
ebenjo wurde durch benjelben auf Begehren von Bürger:
meifter und Rat denen Ablaß zugedacht, bie an bem von bet
23ebbtbe felbft in etlichen Kirchen eingeführten Gefang der
Antiphonie Media vita und dem Credo „mit ausgeipannten
Armen” teilnahmen.!!) Uber nod) reichlicher erfolgten bie
Gnaben, als 1504 der Kardinal wohl ein Vierteljahr bier
fid) aufhielt.e Da wurden mit erwünfchten Abläſſen beglüdt
bie Schiltbruderfchaft am Münfter, bie Wolfgangsbruderfchaft
an St. Leonhard, bie an gewiflen Sagen fid) einfindenden
Beſucher ber Predigerficche, fofern fie der Abfingung des
„Salve regina" beimohnen und vor einzelnen Ultären ihre
Gebete verrichten, ebenfo die bei beftimmten Anläſſen in der
Klofterfiche des Klingentals ihre Andacht Q3erridtenben.
St. Leonhard erfreute fid) fpezieller Gunft des Starbinals, da
er im Stift Wohnung genommen und demfelben auch feine
einfaffierten Wblaßgelder in Verwahrung gegeben batte.
Wie bie Wolfgangsbruderfchaft bedacht worden ift, wurde
Ihon erwähnt. (9 wurde aber überdies nod) ein Ablaß be-
willigt für die bei Anlaß der jährlich einmal flattfindenden
8) R. Wadernagel. Mitl. über Raym. Ber, Basl. Zeitſchr. f.
6. u. A. II ©. 199.
9) bito ©. 231.
10) dito 232.
249
Ausftellung ber fämtlichen Reliquien von St. Leonhard ein-
treffenden Andächtigen. —
Diefe Ablaßbriefe, fomeit uns folche zu Geficht ge-
fommen find, baben alle ähnlichen Charakter und find in
breitfpurigem Stil mit vielen ftereotppen Ausdrüden ab-
gefaßt. Dies gilt auch von demjenigen, dem wir bier unfere
befondere 9[ufmerffamfeit zuwenden. Bei feinem aber von
den uns befannt gewordenen ijf auf bie Ausführung fo viel
Kunſt verwendet worden, als bei dem unfrigen. Die Koſten
biefür haben wohl die 93efteller aufbringen müflen. '
Wer find bier bie Vefteller gewejen? 9 war, wie wir aus
dem Brief felbft erfahren, bie Löbliche aus Gläubigen beiderlei
Geſchlechts beftebenbe Bruderfhaft zu Ehren der
Heiligen Sacobus (des älteren) und Rochus
unb der ehrwürdige Priefter Joh. Ringler, wohl der
Beichtvater der Bruderſchaft.
Die Bruderfhaften,!!) die burd das ganze
Mittelalter vorhanden waren, aber namentlich feit dem
Schluß des 14. Jahrhunderts in Auffchwung famen, waren
freie Vereinigungen zur Erreichung religiöfer und häufig,
damit verbunden, humanitärer 3mede. Es gab Bruder:
fhaften von Geiftliden, wie bie Ct. Sobannisbruber-
fchaft auf 93urg, zu welchen bie Sapláne unfres Münfters
und außer diefen etliche Klerifer der benachbarten Gemeinden
gehörten. Diefelbe batte ihre eigene, eben bie St. Sobanns-
Kapelle, mit mehreren Altären. Viel zahlreicher hingegen
waren die Laien bruderfchaften. Sie ftanben im Anfchluß
an eine Kirche und dienten der Verehrung eines befonderen
Heiligen. Man errichtete aus den Mitteln der Vereinigung
die betreffenden Altäre, unterhielt deren Bedienung, forgte
für Altarzier und nötige Kerzen und lief fid) bie Andachts-
übung an diefen heiligen Stätten, namentlich an den Heiligen:
tagen, angelegen fein. Manche biefer Bruderfchaften waren
11) R. Wadern. Bruderfhaften u. Zünfte zu Bafel i. Mittelalter.
Basl. Jahrb. 1883 ©. 220 ff.
250
zugleich Berufsgenofjenfchaften, wie bie ber obengenannten
Schildfnehte am Münfter und der Schuftermeifter zu Dre: .
bigern, und ebenfo bie der Schloflerfnechte zu St. Leonhard
unb ber Gerber zu St. Oswald. Andere fannten diefe 93e- *
fóránfung nid. Das Verbindende war bier das 3utrauen
au einem beftimmten Heiligen. (Sine folche war die bereits
erwähnte Ct. Wolfgangsbruderfchaft, bie dem Patron ber
€abmen Dulbigte, und diejenige, für bie ber ung befchäftigende
Ablaßbrief erlangt worden iit, bie Sacobusbruderfchaft.
Was diefe leStere anbetrifft, fo Fällt ihre Gründung ins
Jahr 1481. Die Urkunde ihrer 93effütigung burd) Biſchof
Cafpar befindet fid) im Staatsarhiv.1?) Sm weitern liegt
bier in Doppel der Entwurf zu einem ihr geltenden Schreiben
von Seiten des Priors Sobann (von ZTeffenter) und des
Kapitels St. Leonhard, datiert 1486, vor. Darnach waren
bie Meifter der Bruderfchaft „genannt bie ellende Bruder:
Tchaft fant Sacob$" mit dem Begehren an das Stift gelangt,
daß durch dasfelbe täglich eine Meſſe an ihrem Altar gehalten
werde unter Ginfügung einer Fürbitte für bie Yrüder und
Schweftern ihrer Genoflenfchaft, ſowohl die lebenden als
bie verftorbenen. Ebenſo wünfchten bie Petenten, daß an
ben vier Grobnfaften 9 igilien unb je Tags darauf zwei
Seelenmeflen, bie eine gelefen, bie andere gefungen werden,
zum Beften ber abgefdjiebenen Seelen. Dem Begehren ift
das Verſprechen beigefügt, folhen Dienft mit jährlich
5 Gulden, zu 25 Schilling gerechnet, fällig je an Syacobi
zu lohnen.
Der vorliegende Entwurf zeigt nun an, daß Prior und
Gapitel befchloflen hätten, der Bitte zu entfprechen, unter ber
Bedingung, 1) daß bie Bruderfchaft ihr Grab und den 93aum
(fie befaß aljo in Verbindung mit ihrem Altar ein heil. Grab
und einen Stammbaum Chrifti) auf eigene Koſten bebiene
unb beleuchte, 2) daß der feſtgeſetzte Lohn richtig bezahlt
werde. In ber einen Handfchrift tff noch bemerkt, daß wenn
15) Bruderſchaften Urf. 4.
251
bie Verhältniffe ber 93ruber[djaft fid) verbeflern follten, bann
‚auch eine beffere Belöhnung des Firchlichen Dienftes erwartet
werde.
Aus diefem Dokument ift deutlich zu erkennen, was die
Bruderſchaft vornehmlich bezwedte, nämlich für ihre lebenden
wie ihre verftorbenen Mitglieder burd) Sufammenfteben die
Heilsvorteile zu verfchaffen, bie 23egüterte vermöge ihres
Reichtums fid) ohne bie Hilfe anderer gugumenben imftande
waren. Ein Mathis Eberler 3. B. — feine Mittel erlaubten
eg — verfügte 1499, daß zu feinem und feiner Frau Seelen:
heil drei Meſſen wöchentlich geleſen und nach jeder Meſſe
auf den Gräbern vor dem Altar eine Miferere und eine Rol-
lefte mit Weihwaſſerbeſprengung gefprochen werde.13) Be—
Icheidenern Leuten war folches verjagt, aber durch bie Ver:
bindung mit andern fonnte man aud) das Nötige für folche
fegenbringenbe Meilen aufbringen. — Zu gleicher Zeit er:
fährt man aus der Urkunde, von welcherlei Art die Leiftungen
der Genofienfchaft beichaffen waren.
Offenbar beftand unfere YBruderfchaft aus ärmeren
Leuten. Sie wird die ,ellenbe" genannt. So wurden aller-
dings häufig aud) Bruderſchaften bezeichnet, bie der Unter⸗
ftügung landfahrender Perfonen, wie etwa von Pilgern, fid)
widmeten. Allein bier in Baſel handelte es fi um eine
Bruderfchaft ber Elenden, der fremden Landfahrer felbft.
Hatte bod) diefes Landfahrervolk feit alter Zeit eine Grei-
ftätte auf bem Kohlenberg, wo es Haus und Scheune befaß
unb wo jährlich am Safobstag eine 3ufammenfunft ftattfanb,
zu der bis auf eine Entfernung von 10 Meilen im Umkreis
von Baſel jedes Mitglied ber Bruderſchaft bei drei Pfund
Buße fid) einzufinden batte. Die Bruderſchaft hielt etwas
auf ih. Wer unehrbarlich fid) aufführte, follte ausgeſchloſſen
werden und die ungerechtfertigte Beſchimpfung eines Ge-
noflen wurde gebüßt.!*)
13 R. Wadern. Mitteil. über Raym. Peraudi. a. a. O. ©. 178.
M) Urkunde von 1481.
252
Zu beachten ift, baB in bem oben erwähnten Schreiben
von 1486 nur von bem Zwölfboten Jacobus bie Rede ift,
bagegen ber im Ablaßbrief von 1517/18 erwähnte Rochus
fehlt. Daraus iff zu fchließen, daß erft in den auf 1486
folgenden Seiten ber Peftheilige Rochus neben Jacobus
zum Heiligen der DBruderfchaft iff erforen worden. Es
mochte das in bem in diefer Epoche wiederholten Auftreten
der Deft feinen Grund haben. 1488, 1494 und 1502 waren
Opeftjabre.15)
Aus ben wohl befcheidenen, durch GintrittSgebübren unb
regelmäßige 93eifteuern, aud) allfällige Gaben und Legate
zufammenfließenden Mitteln waren die Ausgaben für die
eigenen Altäre und deren Dienft — neben bem Zacobusaltar
bejaß bie Bruderſchaft noch einen bem Thomas getveibten!?)
— zu beftreiten.. Daneben aber batten die Genofien in
Krankheits- und Zodesfällen den Brüdern oder Schweftern
zu Hilfe zu fommen mit zwei Schillingen zu Gbr und Lob
des b. Sacobus.!7) Das mag in Peftzeiten eine den armen
Leuten keineswegs leichte Verpflichtung gewefen fein, daber
es im Intereſſe ber Genoffenidjaft war, den Heiligen, der im
Rufe ftanb, Peftkranten wunderbare Hilfe zu bringen, durch
befondere Verehrung günftig zu flimmen.
Es ſcheint aber, daß deß ungeachtet bie Genoflenfchaft
Mühe batte, ihren Verpflichtungen nadjgufommen. Wir
dürfen nicht vergeflen, daß die großartige Umbaute und Er:
weiterung des Gotteshaufes um die Wende des Jahr—
hunderts auch außerordentlihe KRoften für die Wieder:
berftellung der einzelnen Altäre bat mit fid) bringen müffen.
Co verfiel man bier auf den Gedanken, in Rom um die
Gewährung von bejonberem Ablaß eingufommen, moburd)
15) Ds V ©. 214 redet von ,j|terbenben Läuffen” im Jahre
1488 u. Groß, Chronik ©. 131 meldet, daß anno 1494 4000 u. ©. 136,
daß 1502 5000 der Peſt erlegen feien. Siehe aud) Basl. Chron. IV ©. 86.
16) Urt. v. 1481, Bruderichaften.
1) Starb der Kranke, jo hatte bie Bruderjchaft, genas er, der
Gejundgewordene dem Geber 1 Schilling zurüdzuvergüten.
253
viel Volks nicht nur zum Beſuch, fondern aud) zu Opfer:
gaben für benjelben veranlaft würde.
Ob ber genannte Priefter Sob. Ringler, wie einft bet
bernifche Stadtjchreiber Thüring Grifer unb ber Pfarrer von
St. Theodor Dr. Surgant, felber in Rom gewejen, das Be—
gebren durchzufegen, ift nicht berichtet, aber wohl möglich.
Jedenfalls beweift der vorhandene Brief, daß die quu
zum Ziel geführt bat.
Zwölf Rardinäle fanden fid) in biefem Falle bereit, ihre
Vollmacht zu gunften ber Petenten auszunügen. Zu den
zirta 70 farbindfen, die es gab, gehörten bie ſechs Biſchöfe
ber Metropolitanprovinzg Rom, 50 Priefter, welche ben
Sjauptfirden Roms, und 14 Diakone, welche ber römifchen
Armenpflege vorftanden. Die obigen zwölf find wohl nicht
zufällig beteiligt, — andere Male find es allerdings, wie wir
gejeben haben, nur zehn oder dann wieder mehr, nämlich
ſechzehn —; fie bildeten ohne Zweifel bie fpezielle Behörde,
die für die Behandlung der Ablaßſachen geordnet war. Seit
Clemens IX. (1689) gibt e$ jedenfalls eine offizielle con-
gregatio indulgentiarum et reliquiarum, der bie Ablaß- und
Reliquienangelegenbeiten unterftellt find.
Die im Brief genannten Rardinäle finden fid) alle in
der „Hierarchia catholica mediiaevi“von Conrad Eubel ver-
zeichnet. Es find bie vier Biſchöfe Raphael (Riario),
1 1521, von Oftia; Dominicus be Grimanis, T 1523, von
Porto; Sranciscus (Soderinus), T 1523, von Praenefte ober
Poaleftrina, und Franciscus (Remolinus), T 1518, von
Albano; bie fünf Priefter: Thomas (Bakocz), T 1521,
von San Martino ai Monti auf dem Esquilin; Leonardus
(Großius be Rovere), F 1520, von San Pietro ad vincula,
ber ebenfall auf bem Esquilin liegenden Kirche, mo bie
fetten des Apoftels Petrus follen aufbewahrt fein unb wo
das Denkmal Zulius II. mit der gewaltigen Mofesftatue fid)
befindet; Petrus (de Uccoltis), FT 1523, von San Eufebio,
einer [don im 5. Sabtbunbert erwähnten, feither allerdings
254
erneuerten Kirche, bie wenig mehr von ihrem einitigen Gba-
rafter zeigt; Achilles (de Graßis), T 1523, von ©. Maria in
Traftevere, b. b. im Stadtteil jenjeit8 der Tiber, nad) ber
Sage [don im 3. Jahrhundert durch Papft Ealirt banf einem
wunderbar entfprungenen Delquell gegründet; Laurentius
(Duccius), T 1524, von ©. ©. quattro coronati, einem
zwilchen bem Koloffeum und bem Lateran gelegenen Gottes-
haus, das feinen Namen von vier Brüdern trägt, welche 304
unter Diofletian den Märtyrertod follen erlitten haben;
endlich nod) drei von ben vierzehn Kardinaldialonen:
9 fferanber (Farneſius), T 1519, von ©. Euſtachio, einer ber
älteften Diakonien Roms, 1196 von Cöleſtin IIT. reftauriert;
Marcus (ornatus), T 1523, von ©. Maria in via fata,
ebenfalls uralte römifche Diakonie, deren Kirche über bem
Hochaltar ein angeblich von Lucas gemaltes Marienbild be-
fit und bem Künftler famt bem Apoſtel Paulus einft zur
Wohnung foll gedient haben, und endlih: Sigismundus
(Gonaaga), tr 1525, von ©. Maria Novicella, welche wegen
einer an gleicher Stelle geftanbenen ältern Kirche gewöhnlich
Gbieja nuova genannt wird und von weitläufigen und prád-
tigen Rloftergebäulichkeiten umgeben ift.!°)
Da fämtliche Rardinäle, jeder für fib, wie es in ihrer
Vollmacht fand, 100 Tage Ablaß bewilligen, der Biſchof
Chriftof von Lttenheim in Baſel nad) feinem Recht nod)
40 Sage hinzufügte, jo umfaßt bie Gnade des vorliegenden
Driefs 1240 Tage. Der Ablaß iff bemnad, im Unterſchied
von einem plenaren, ben zu erteilen allein bem Papft vor:
behalten ift, ein befchränfter. Er bezieht fid) auf die zeitlichen
Strafen der Sünde, wozu aud) bie €áuferung im Feofeuer
zu zählen ift. Vorausgeſetzt iit Dabei aufrichtige Reue und
Buße. Durch ſolche wird allerdings bie göttliche Ver—
gebung, Sreifprehung unb ber Erlaß der ewigen Gtrafe
bereits erlangt. Allein damit find einem die zeitlichen Strafen
nicht erfpart. Der göttlichen Gerechtigkeit muB Genugtuung
18) Ernit Platner unb Ludw. Ulrihs. Beichreibg. Roms.
255
werden. Das ge[djiebt butd) Pönitenzien, fog. gute Werke,
durch welche das begangene Unrecht ausgeglichen wird. Da
fann nun aber die Kirche auf Grund des von ihr ange:
nommenen unendlichen Schaßes ber Verdienfte Ehrifti, der
Gottesmutter und aller Erwählten, deflen Verwaltung zu:
nähft bem Papft als dem Nachfolger Detri zuiteht, ftell-
vertretend einfteben, und das Fann fie tun ſowohl für Lebende
als für Tote. Seit der Mitte des 15. Sabrbunberte ijf bie
Ausdehnung des Ablaſſes auch auf Verftorbene in Aufnahme
gefommen. Ausdrüdlich wird in unferm Brief bemerkt, daß
es fid) nit um einen temporären Ablaß handelt, wie er
offenbar im oben erwähnten Vernerbrief gewährt ift, ſondern
um einen fortdauernd geltenden. Solche indulgentia per-
petue galten für alle Zeiten, fofern fie wenigftens nicht wider-
rufen wurden.
Auf bie weitere Gefchichte des Ablaſſes und. allen Miß—
brauch, ber mit dem Ablafhandel verbunden gewefen, können
wir ung bier nicht einlaffen. Es erübrigt uns nur nod), auf
die in unferm Brief geftellten Forderungen Dingumeifen.
Perlangt wird für Erlangung des Ablaffes der an:
dächtige 93e[ud) des betreffenden Altars an den Feſttagen
des b. Zacobus am 25. Zuli und des Rochus am 16. Auguft,
und an je einem Sonntag nad) ben Quatemberfaften im Sep-
tember, Dezember und nad) dem Afchermittwoch. Schon zur
Zeit Leos des Großen, der bie Quatemberfaften (von quator
tempora) als eine auf göttlicher Eingebung berubenbe Anord-
nung ber Apoſtel erklärt, galt das Zaften im eriten Monat
eines jeden Vierteljahres an einem Mittwoch, Freitag unb
Samstag als Pfliht. Der SQuatemberfafttag im September
war ber Sag der Kreuzerhöhung, der 14. des Monats, im
Dezember der Tag der b. Lucia, der Märtyrerin von Syrakus,
b. b. ber 13. des Monats. Cpfingften war ebenfalls einer
der Quatemberfafttage. Der fällt hinweg, weil in dem be-
treffenden Quartal bie Sage des Zacobus und des Rochus
in Betracht fommen. Die Andacht dauerte von der erften
256
bis zur zweiten Vefper, diefe mit eingeſchloſſen. Gewöhnlich
ift bie Vefper ber um 6 Uhr beginnende Abendgottesdienft,
der durch feine Zeremonien, Schriftleftionen, Gebete, Ge-
länge bie Heilsgefchichte von der Schöpfung bis zur Geburt
Jeſu ſymboliſch darftellt. In ben Klöftern aber nennt man
Beipern bie ben Zeften Tags vorher vorausgehenden Feier:
lichkeiten, und zwar Vesperae primae, eríte Veſpern, bie-
jenigen, bie von nachmittags 3 Uhr bis Sonnenuntergang
ftattfinben, und vesperae secundae die, welche nad) Sonnen:
untergang beginnen. So find wohl aud) im Stift St. Leon:
hard folche Veſpern, und zwar doppelte, zelebriert worden,
und ber Ablaßſuchende batte dabei fid) zu beteiligen, Daneben
aber aud) — darauf war es ja namentlich abgejehen —
durch eine Geldgabe den Altarfchmud und -dienft zu unter-
ftügen. Und jedesmal, wenn er es tat, und zwar Jahr für
Sabt, gewann er nad) der früfffiden 3ujage des mit ben
Sigeln fämtlicher zwölf NRardinäle und des Hochwürdigen
Biſchofs befräftigten 93riefe8 feine 1240 Tage Nachlaß an
den fchuldigen Pönitenzien. —
Co unevangelifch ung alle dieſe Vorftelungen erfcheinen
und fo dankbar wir der Reformation find, bte uns aus deren
Bannkreis berausgeführt bat, fo begreifen wir bod vom
Standpunkt der mittefalterfid)en Frömmigkeit aus, was für
eine Anziehungskraft und Wirkung auf den Geldbeutel ein
mit folchen Heilsverfprechungen ausgeftatteter Altar haben
mußte. Uber bier bieft die Wirkung nicht mehr lange an.
Sie mußte ein Ende haben, jobalb man wieder den Chriftus
des Evangeliums fannte und aus feiner Fülle ohne Entgelt
Gnade um Gnade nahm, aud) bie Lehre vom Fegfeuer als
eine fchriftwidrige menfchliche Erfindung erkannt hatte. Und
das trat (don nach wenigen Zahren ein. —
Wir laſſen nun ben Tert des Briefes ſelbſt ſamt der
Ueberſetzung folgen unb bitten, dabei bie hinten angefügte
Abbildung ins Auge zu faſſen.
257 2
On ben Eden des YBlumengewindes bemetfen wir bie
vier Evangeliftentiere. Oben in ber Mitte das Wappen ber
St. Jacobsbruderſchaft, vier Mufcheln zwifchen ben ge-
kreuzten Pilgerftäben, das Wappen, wie man es heute nod)
in der St. €eonbarbsfird)e über bem Gborlettner gegen den
Kichplag zu am Gewölbe gemalt findet. Ueber dem
Wappen mit fegnenden Händen der Heilige; zur Seite in bet
Weife, wie auf Q3otipbilbern die Stifter erfcheinen, in
Iniender Stellung ein Beter, wohl als Repräfentant ber
93rubetidjaft. In einiger Entfernung, für den Beſchauer
rechts, der Schild mit bem 23afelftab — und zwar dem von
Dapft Zulius II. den Baslern zuerfannten goldenen,
wie er fid) auch oben im mittleren Chorfenfter von St. Leon-
batb findet. Gegenüber linf$ das Wappen Leos, des
mediceifchen Papftes. Sm beruntergebenben Gewinde Links
St. Zacobus, fenntlih an Muſchel und Pilgerftab, drunter
der eine Rirchenpatron St. Leonhard, den Biſchofsſtab in ber
einen, die Kette, fein Emblem, in der andern Hand, rechts
St. Rochus, ber Peftheilige, bem ein Engel das franfe 93ein
berührt, und drunter der zweite Rirchenpatron St. 93artfolo-
mäus, in der einen Hand das Mefler, in der andern die fopf-
baut tragend, als Hinweis darauf, bap ibm foll bei lebendigem
Leib die Haut abgezogen worden fein. —
Schade, daß in der Reproduktion die zarte Farben:
gebung, in der das Kleine Kunſtwerk ausgeführt ilt, ver-
borgen bleibt.
Der Tert felber lautet:
Raphael Ostiensis Dominicus Portuensis Franciscus
Penestrinus et Franciscus Albanensis epistoli, Thomas
tituli sancti Martini in montibus Leonardus tituli sancti
Petri ad vincula Petrus tituli sancti Eusebii Achilles
tituli sancte Marie trans Tiberim et Laurentius tituli sanc-
torum quatuor coronatorum presbyteri, Alexander sancti
Eustachii Marcus sancte Marie in via lata ac Sigismundus
sancte Marie nove diaconi, miseratione divina sacrosancte
208
Romane ecclesie cardinales universis et singulis Christi
fidelibus presentes literas inspecturis salutem in domino
sempiternam. Quanto frequentius fidelium mentes ad opera
caritatis inducimus tanto salubrius animarum suarum saluti
consulimus. Cupientes igitur ut altare sancti Jacobi situm
in parrochiali ecclesia sancti Leonardi Basiliensis ad quod
ut accepimus quedam laudabilis utriusque sexus Christi
fidelium confraternitas in honorem sanctorum Jacobi et
Rochi instituta existit congruis frequentetur honoribus et
a Christi fidelibus jugiter veneretur ac in suis structuris
et edificiis debite reparetur conservetur et manuteneatur
nec non libris calicibus luminaribus ornamentis ecclesiasticis
ac rebus aliis divino cultu inibi necessariis decenter munia-
tur atque Christi fideles ipsi eo libentius devocionis causa
confluant ad dictum altare et ad reparationem conserva-
tionem manutentionem ac munitionem hujusmodo manus
promptius porrigant adjutrices quo ex hoc ibidem dono
celestis gratie uberius conspexerint se refectos, nos car-
dinales prefati videlicet quilibet nostrum per se suppli-
cationibus dilectorum nobis in Christo venerabilis viri
Johannis Ringler presbyteri Basiliensis et dicte confraterni-
tatis nobis super hoc humiliter porrectis inclinati de om-
nipotentis dei misericordia ac beatorum Petri et Pauli
apostolorum ejus auctoritate confisi omnibus et singulis
utriusque sexus Christi fidelibus vere penitentibus et con-
fessis qui dictum altare in singulis videlicet beati apostoli
Jacobi majoris et sancti Rochi nec non trium dominicarum
post tria tempora ex quatuor temporibus anni videlicet
de septembris et decembris ac cinerum mensibus imme-
diate sequentium festivitatibus et diebus a primis vesperis
usque ad secundas vesperas inclusive devote visitaverint
annuatim et ad premissa manus porrexerint adjutrices pro
singulis festivitatibus seu diebus predictis quibus id fecerint
centum dies de injunctis eis penitentiis misericorditer in
domino relaxamus presentibus perpetuis futuris temporibus
259 *
duraturis. In quorum fidem literas nostras hujusmodi fieri
nostrorumque sigillorum jussimus appensione communiri.
Datum Rome in domibus nostris anno a nativitate domini
millesimo quingentesimo decimo septimo die vero vigesima
nona mensis novembris pontificatus sanctissimi in Christo
patris et domini nostri Leonis divina providentia pape
decimi anno quinto. —
Un das Dokument angeheftet, ber bifchöfliche Confens:
Christophorus dei et apostolice sedis gracia episcopus
Basiliensis notum facimus universis quod nos ad omnes
et singulas indulgencias per reverendissimos dominos
sacrosancte Romane ecclesie cardinales in literis quibus
presentes per transfixum sunt annexe descriptas et ad
altare sancti Jacobi situm in parrochiali ecclesia sancti
Leonardi civitatis nostre Basiliensis concessas nostros ut
loci ordinarius consensum et assensum dandum duximus
prout easdem confirmando et approbando ipsis consentimus
et assentimus presentium per tenorem. Verum ut Christi
fideles eo libentius devocionis causa confluant ad dictum
altare quo majoribus donis et graciis videlicet spiritualibus
conspexerint se refectos, nos de omnipotentis dei miseri-
cordia necnon beatorum Petri et Pauli apostolorum ejus
auctoritate confisi onmibus et singulis utriusque sexus
hominibus vere penitentibus et confessis qui ea que in
hujusmodi affixis literis contenta sunt fecerint totiens
quotiens quadraginta dies criminalium peccatorum de in-
junctis eis penitentiis in domino misericorditer relaxamus
presentibus nostris literis perpetuis futuris temporibus dura-
turis. In quorum testimonium sigillum nostrum per trans-
fixum duximus appendendum sub anno domini millesimo
quingentesimo decimo octavo die vero vicesima septima
mensis junii, indictione sexta.
fleberfegung. Die Bifchöfe Raphael von Oftia, Oominifus
von Porto, Franzistus von Pränefte und Sranzistus von Albano;
bie Priefter Thomas von St. Martin in Montibus, Leonhard von
260
St. Peter ab vinculas, Petrus von St. Eufebius, Achilles von St. Maria,
jenfeits des Tiber und Laurentius von den Vier heiligen Gefrönten;
bie Dialone Alerander von St. Guftadjius, Markus von St. Maria
in via lata und Sigismund von St. Maria nuova, bant ber göttlichen
Barmherzigkeit Rardinäle ber heil. römifchen Kirche, wünfchen ber
Gefamtheit ber Chriftusgläubigen, wie allen Einzelnen, bie von
biefem Brief Einficht nehmen, ewiges Heil.
Oe Häufiger wir bie Gedanken ber Gläubigen zu Liebeswerfen
anleiten, um fo heilfamer beraten wir fie zum Beften ihrer Geelen.
Demgemäß ift unfer Anliegen, baB ber Altar des 5. Sacobug, in ber
Gemeinbefirde von St. Leonhard in Bafel befindlich, für welchen
laut Bericht eine Löbliche Bruderfchaft von Chriftusgläubigen beiderlei
Gefchlehts, geftiftet zu Ehren des Heiligen Jakobus und Rochus,
beftebt, mit gebührenden Ehrenbezeugungen befucht und von ben
Chriftusgläubigen ohne Unterlaß verehrt, und, was feinen Unterhalt
anbetrifft, geziemend repariert, bewahrt und unterhalten, aud) mit
den nötigen Büchern, Relchen, Leuchtern und kirchlichen Gdymudgegen-
ftänden würdig ausgeftattet werde. Und damit bie Chriftusgläubigen
felbft umfo lieber andachtshalber zu befagtem Altar fid) herbeifinden
und umfo bereitwilliger zu Unterhalt unb Ausftattung besfelben Sanb-
reidjung tun, als fie fid) durch ber himmlifchen Gnade Gefchent befto
reichlicher entfchädigt fehen, gewähren wir vorgenannte Rardinäle,
nämlich jeder von uns für fi, ben Bitten unferer Geliebten in
Chrifto, des ebrtotirbigen Herrn Sob. Ringler, Priefters von Bafel,
unb der erwähnten Brüderfchaft entfprechend, im Vertrauen auf des
allmächtigen Gottes Barmherzigteit und in Vollmacht feiner feligen
Apoftel Petrus und Paulus ber Gefamtheit der Chriftusgläubigen
wie den Einzelnen, bie in aufrichtiger Buße Beichte ablegen — fofern
fie den genannten Altar an den jeweiligen Feften und Sagen des fe-
ligen Apoſtels Jacobus des ältern und des heiligen Rochus unb Dreier
Sonntage, welche unmittelbar nad) breien von ben vier Quatember-
faften, nämlich denen vom September und Dezember unb von Denen
des Afchermittwochmonats folgen, von ber erften bi$ zu der zweiten
Veſper, biefe eingefchloffen, andächtig Sabr für Jahr befuchen und zu bem
Obenerwähnten hilfreiche Hand bieten — für die einzelnen Grefte unb
vorbezeichneten Tage, an denen fie folches tun, batmberaig im Herrn
hundert Tage Ablaß von den ihnen auferlegten Büßungen, unb Das
fol für alle Seiten gelten. Zu beffen Gültigkeit haben wir unfern
Brief burd) Anhängen unjerer Siegel zu beglaubigen befohlen. Ge-
geben zu Rom in unferm Haufe anno 1517 nad) Gor. Geburt, ben
29ten November; im 15ten Sabr des heiligen Pontifilats unferes
Baters und Herrn in Chrifto, Des Herrn Leo, Pabftes nad) der
Vorſehung Gottes. —
Biſchöfl. Eonfens.
Wir, Chriftophorus, durch Gottes und des apoftolifchen Stuhles
Gnaben Bifchof zu Bafel, tun aller Welt funb, daß wir zu allen
261
unb ben einzelnen AUbläffen, welche Durch bie verehrungswürdigen
Rardinäle ber heiligen römifchen Kirche in bem Brief, bem Gegen-
wärtiges angeheftet ift, befchrieben und bem in ber Parochiallirche
Gf. Leonhard in Bafel gelegenen Altar des heil. Sacobus gewährt
find, als Ordinarius des Orts unjern Gonfenà unb Affens zu geben
verfügt baben, wie wir in Beftätigung unb Billigung berfelben es
burd) den Inhalt des Gegenwärtigen ausfprechen. Sn ber Tat,
damit bie Ehriftusgläubigen umfo lieber verehrungshalber zum be-
fagten Altar berzuftrömen, als fie mit fo viel größeren geiftlichen
Gaben und Gnaben ftd) entjchädigt finden, erfaffen wir, von Gottes,
des Allmächtigen, unb ber jeligen Apoftel Petrus und Paulus
Gnaden mit ber Vollmacht Dazu betraut, fämtlichen wie ben ein-
zelnen Menfchen beiderlei Gefchlechts, bie in wahrhafter Buße Beichte
ablegen und Das, was in bem angefügten Brief enthalten ijt, fun,
ebenfo oft vierzig Tage von ben ihnen für friminelle Vergehen auf-
erlegten Büßungen gnädig im Herrn Durch unjern Brief, ber für alle
Zufunft Geltung haben foll. Deffen zum Zeugnis haben wir verfügt,
baB unfer Siegel angehängt werde. Im Sabre des Herrn 1518 am
27 ften des Zunimonats, in der fechften Sinbiftion. —
262
Aus den Tagen der franzöfifchen
Revolution und der Helvetif.
Berichte der Dor(teber der Brüder-Sosietät
in Baſel 1789—1803.
Don Paul Wernle
Sm Folgenden fol aus den Berichten der Basler
Sozietätsvorftehber Graßmann und Bridenftein nad
Herrnhut alles, was bie politifchen Vorgänge der bewegten
Seit von 1789—1803 berührt, im Auszug dargeboten werden
mit Slebergehung des Privaten und Sntimen, das der Ge-
fhichte der 93rüber-Cogietát in Baſel vorbehalten bleiben
muß. Die 93asler Sozietät war in den Sabren 1739 unb
1740 begründet worden innerhalb der Landeskirche, im Ein-
verftändnis mit einzelnen Pfarrern, zur Pflege eines engeren
Gemeinfchaftslebens nad) ben Spealen ber Herrnhuter. War
fie in ihrer erften Zeit von ber fchwärmerifchen Erregung,
welche damals bie 93rübergemeine wie eine Verfuchung über:
fallen batte, nicht unberührt geblieben und batte fie deshalb
zu Zeiten gegenüber ber Yasler Obrigkeit feine leichte Pofi-
fion, fo nahm aud) fie im Lauf einiger Jahrzehnte an
bet allgemeinen Ernüchterung und inneren 93efeftigung der
beutfden Q3rüber-S[nitüt teil und batte fid) zu Stadt und
Landfehaft nicht nur Duldung, fondern aud) Anſehen und
Anhang erworben. Bei Beginn der franzöfifchen Revolution
zählte man in der Stadt Yafel 330 erwachfene Sozietät3mit-
olieder und dazu gegen 50 Kinder, auf der Landichaft 598
Brüder und Schweftern, im ganzen alfo 928 Mitglieder; die
Zahl fteigt in ben nádjften Sabren big gegen 1000, eingerechnet
263
Heine Gruppen in Mülhaufen unb in Weil. Auf der 93asler
Landfhaft hatten fid in Binningen und DBottmingen, in
Biel-Benken, in Muttenz und in Pratteln, in Lieftal unb
Laufen, in Bubendorf, 3iefen und Arboldswil, in Otüm-
fingen, in Diepflingen, endlich in Riehen, fog. „Verbundene
Häuflein” gebildet, bie unter der Leitung von Caien-Gebilfen
und Gebilfinnen ftanben und regelmäßig von ben Vorftehern
in der Stadt befucht zu werden pflegten. Die Gebilfen hatten
dann wieder mit den Vorftehern apart ihre Gebilfengufam-
menfünfte. In einzelnen Gemeinden beteiligten fid) herrn⸗
butifch gefinnte Pfarrer an der Arbeit unter den Brüdern;
eine Reihe von ihnen trat 1785 zu einer Predigerfonferenz
zufammen, die in Herrnhut ihren geiftigen Mittelpunkt fab
und dorthin ihre jährlichen 93eridbfe einfanbte. Es waren
Andreas Battier, Pfarrer in Binningen, feit 1790
in Bafel zu St. Leonhard (11793), Simon Eglinger,
Pfarrer in Laufen, Alerander Preiswert Adjunkt
in Bubendorf, feit 1797 Pfarrer in Rümlingen, Eman.
Raillard, damals Kandidat der Theologie, von 1790 an
Pfarrer in Binningen; im folgenden Jahr ſchloß fid) Nic.
Sfelin, der Pfarrer in Rümlingen (feit 1797 in Winter:
fingen) an, 1789 aud) Andreas Edlin, Pfarer in
Dltingen; in den Mer Sabren traten diefer Herrnhuter
Oprebigerfonfereng aud) zwei ältere Basler Stadt: Pfarrer,
Gob. Griebr. Meyenrod zu St. Alban unb Sob.
Rud. Burckhardt zu St. Peter bei, melde beide ein
Jahrzehnt vorher fid) an der Gründung ber fog. Chriftentums-
gefellfchaft beteiligt hatten, nun aber gerne aud) bie Gemein-
Ihaft mit den Herrnhutern auffuchten. Ohne der Prediger:
fonferenz beizutreten, zählte in Lieftal ber alte Dekan
Zwinger zu den treueflen Greunben der Sozietät. So
wertvoll aber auch der Beitritt unb die Mitarbeit mancher
Pfarrer den Herrnhutern fein mochte, fie änderten nichts an
dem entihiedenen Qaiendjarafter der brüderifchen Gemein-
ſchaft. Daß bier Laien, vornebme wie einfache Leute, in
264
mannigfaltigen Gottesdienften und ernfter jeelforgerlicher
Ausiprahe fid) zufammenfanden wie eine größere Familie
unb fid) wirklich als Brüder und Schweftern untereinander
fühlten in fráftiger Gemeinfchaftlichkeit, wie bie Staatsfirche
fie nicht gab und geben fonnte, das war der hbauptjächliche
Anziehungspunft. So beftand auch die „Heine Gefellichaft”,
welche bie Basler Sozietät gefchäftlich leitete, aus lauter
Laien, und die Vorfteher, bie von Herrnhut aus nad) Baſel
geihidt wurden und das gottesdienftliche Leben dirigierten,
waren ebenfalls Laien deuticher Herkunft, von 1787—1796
Sobann Chrifian Graßmann, von 1796—1816
Joh. Gbriftof Bridenftein aus Magdeburg. Dieſe
deutſchen Vorſteher hätten nad) ber dem Buchſtaben nad)
geltenden Kirchenordnung eigentlich in Baſel nicht geduldet
werden dürfen, denn die Rirchenordnung erlaubte wohl reli-
siöfe 3ujammenfünfte privater Art, jedoch nicht unter fremder
Leitung. Seit ben letten Jahrzehnten des 18. Sahrhunderts
hatten fie jedoch inoffiziell Duldung erhalten; fie machten fura
nad) ihrer Ankunft dem Antiftes und den Häuptern Beſuch
unb legitimierten fid) dabei. Won diefen beutiden Vorftehern
find bie jährlichen ober auch halbjährlihen 93erid)te nad)
Herrnhut gefchrieben, aus denen die folgenden Mitteilungen
ftammen!); gewöhnlich wurden bie wichtigften Ereignifle tage-
budjattig notiert. Man muß es bei der Lektüre im Auge
behalten, daß nicht Stadtbasler, fondern Ausländer über die
unjre Stadt fo nahe angehenden Greignifle berichten.
Zur Würdigung des Inhalts aber genüge eine einzige
Bemerkung. Das Bedeutſame diefer Berichte liegt vor allem
darin, baB fie ung Runde geben von bem ftórenben unb ver-
wirrenden Einbruch der Politik in eine gänzlich unpolitifche,
rein auf die Snmerlichkeit der Seele konzentrierte Gemein:
ſchaft. Man muß fid) daran erinnern, bap den Herrnhutern
1) Es jet aud) bier dem Borfteher des Archivs ber Brüder-
unität in SerrnDut, Herrn Dr. Sof. Müller, für die Vermittlung
biefer Berichte ber wärmfte Danf ausgeiproden.
265
allenthalben noch aus ber Zeit des Grafen unb von ibm felbit
jedes Kritifieren der Obrigkeit, fo gut als der Kirche, in deren
Bereich fie fid) aufbielten, ftreng verboten war. Diefes Ver-
bot war nicht bloß Klugheit. Es war innere Logik, bap, wer
gang in der Liebe zum Heiland und zur Gemeine aufging,
nicht Zeit batte zur Kritik ober zur Reform der Außenwelt
und durch alle Sorgen um Welt und weltliche Dinge nur
abgelenft werden fonnte von dem Einen, was not fat. Nach
diefen Prinzipien hätten fid) bie Herrnhutifchen Brüder und
Schweftern überall rein indifferent zu der großen Revolutions-
bewegung verhalten follen; fie hätten bann durch diefe In—
differenz zur Unterftügung des 93eftebenben beigetragen. Die
folgenden Erzählungen beweifen aber, wie mächtig der Strom
bet Revolutions- und Kriegsereigniffe auch das Heine enge
Leben ber Herrnhutifchen Kreife ergriff. Gar viele unter
ihnen wurden fo in das Welttreiben verflochten, daß fie der
Gemeinfhaft dauernd oder bod) vorübergehend den Rüden
febrten. Die Geſchwiſter in der Stadt gingen von 1797 auf
1799 von 293 Perfonen auf 278 zurüd, die Mitglieder auf
ber Landfchaft in berfelben Zeit gar von 578 auf 465 Per-
fonen. on 1799 fteigt bie Mitgliederzahl dann wieder
[angjam. Die Krifis wurde fchliehlich überitanben und e$
folgte ihr im nächiten Zahrzehnt eine Periode immer mad)
fenden Einfluffes der Herrnhuter auf bie Basler Landes:
fire. Das Ganze dient zur Slluftration, wie diefe Kräfte
des alten Chriftentums burd) die Revolution zwar fchwer
erfchüttert, aber nicht überwunden worden find.
Aus Berihten GraBbmanns.
1789.
Den 20. Zuli trafen der Eöniglich franzöfifche Minifter
Oteder wie auch nod) mehrere Herren von Paris auf ihrer
Retirade bier ein, bie fi) einige Seit mit obrigfeitlicher 23e-
willigung bier aufbielten. In diefen Sagen liefen die trau-
rigſten und erfchredlichften Nachrichten von bem in Paris
266
und bem ganzen Königreich Frankreich entftanbenen Tumult
und Aufruhr und von ben Verheerungen der Bauern in bem
benachbarten Elfaß ein. In ben legten Sagen Zuli waren
febr viel vertriebene Juden aus dem Eljaß mit Weib und
Kindern hieher geflüchtet, denen bann die hiefige Obrigkeit
unb bie Bürger einige Wochen unb bis fie wieder ficher
an ihre Orte gurüdfebren fonnten, viel leiblihe Wohltaten
hatten zufließen laſſen. Beim Abzug ließ ein Rabbiner ein
mwohlabgefaßtes Lob- unb Dankgebet im Drud erfcheinen
unb dasfelbe der hiefigen Bürgerfchaft hinterlafien: , Gebet,
welches ein jeder Vorfinger an jedem heiligen Sabbath nad)
bem Gebet für den König, fo anfängt: Du Herr gibft Heil
den fünigen (Pf. 114,10) . . . für bie Wohlfahrt der (0b-
[iden Stadt Bafel und ihrer Angehörigen mit Andacht beten
fon“.
30. Zuli. Tod des regierenden Q3ürgermeifters Mi sb,
der nod) Tags zuvor dem geheimen Kriegsrat beigewohnt
batte und bei gegenwärtiger unruhiger Zeit mit vielem Eifer
und Klugheit die Wohlfahrt und Sicherheit der Stadt unb
Landſchaft 93afel beraten hatte.
1790.
(Sommer.) Auf bem Rüdweg Gehilfengefellfhaft in
Lieftal. Zn derfelben wird angezogen, daß verfchiedene von
ben biefigen Bürgern mißvergnügt find und in gewiflen
Punkten von der Obrigkeit bie Reftitution ihrer ehemaligen
Rechte begehren. Man nahm die Abrede, bap bie Gefell-
fchaftshalter ihre Brüder in Liebe warnen möchten, fid) nicht
mit dergleihen Dingen zu befaflen, fonbern fid) vielmehr fti
und genügſam zu beweifen und vor jedermann zu zeigen, wes
Geiftes Rinder fie find.
1791.
(Sanuar.) In der erften Sitzung der „Heinen Gefell-
ſchaft“ bittet Graßmann die Brüder, mehr den Heiland und
267
die Angelegenheiten der Sozietät im Auge zu halten und nicht,
wie ſchon gefchehen, politifche Begebenheiten und Neuigkeiten
anzuziehen. |
9. Februar. Im bielen Sagen wurden wegen vor:
banbener Unruhen im Bifchöflichen auf weife Vorkehrung
unferer I. Obrigkeit fowohl die Stadt als aud) bie Grenzen
des Kantons mit binlänglicher Landmiliz beſetzt und bie
Stadttore und Rheingrenzen mit doppelten Bürgerwacen.
Den 18. März paffierten burd) unfern Kanton dicht
bei den Stadtgräben vorbei 350 Mann Eaiferliche Infanterie
unb 50 Mann Kavallerie, nebft Bagagewagen ins Bilchöf-
fide nad Pruntrut in aller Stille und Ordnung Da
man bei diefer feltenen 93egebenbett unangenehme Auftritte
befürchtete und im Gegenteil nichts Bedenkliches darauf er-
folgte, jo gereichte uns die heutige Zufage in der Lofung:
„Fürchte bid) nicht, ich bin dein Schild und dein febr großer
Lohn”, zu befonderem Troft.
1792.
Den 22. Zebruar geben in der Stadt bie tollen und
elenben Faftnachtsfreuden an, wozu heuer nod) das Bacchus—
feft und der fiefertang fam. Die Geichwifter werden ermabnt,
vor der Welt zu zeigen, was für ein großes OXtiBfallen fie an
fofd)en ausfchweifenden Sreuden und beidnifchen Gemobn-
heiten haben. Manche ließen fid) aber bod) von der Oteu-
gierde hinreißen und find nicht unbermunbet bavongefommen.
Eine verheiratete Schwefter, welcher meine Grau eine Grin-
nerung deswegen gab, bap fie ihre Tochter, welche unfere
KRinderverfammlung befucht, erpreß an einen fofd)en Ort
geführt, wo fie die in einen wilden Mann oder Vogel Greif
oder Löwen verkleideten Perſonen befchauen konnte, wurde
empfindlich barüber und ift nachher aus unferer Gemeinschaft
abgetreten.
2.—6. Mai. WUufforderung an alle Sozietätsgefchwifter
in den Chorverfammlungen aus Anlaf des Rriegsausbruchs
268
zwiſchen Granfreid) und Defterreich zu beten um Bewahrung
vor Leichtfinn, Parteigeift und Fleifchestuft und um Gottes
Beiftand für die Obrigkeit, bie zur Cidjerftellung der Stadt
und Grenzen alle Anftalten trifft, um der fünftig zu befürch-
tenden Raubfuht und Mordbrennerei ber Stanzofen zu
wehren. Die Repräfentanten von Zürich und Luzern er-
feinen in Baſel für ein Vierteljahr, um mit der Basler
Obrigkeit das Beſte der Schweiz zu beraten.
3. Suni. Der erffe Zuzug aus dem Kanton Zürich
rüdt ein mit Ober: und Untergewehr, einigen Kanonen und
Pulverwagen in gebóriger Stille und Ordnung Etwa in
Zeit von 8—10 Tagen war der ganze bewaffnete Zuzug von
1375 Mann aus der ganzen Schweiz beifammen; bie eine
Hälfte von 700 Mann wurde in die Stadtquartiere, bie
andern in bie benachbarten Dorfichaften einquartiert, und alle
14 Sage wechfeln diefe mit ber Ginquartierung. Es war ein
feltener rührender Anblid, diefe unfere Eidgenofjen mit [o
frobem Mut zu unferm Schuße berbeifommen zu fehen, unb
jedermann machte fih’s zur Pflicht, ihnen mit freundlicher
Begeanung und liebreiher Bewirtung auborgufommen.
6. September. Dank-, Buß: und Bettag. Beſuch in
Lieftal und Laufen. Diele Hagten fid) darüber an,
bap fie in biefen Seiten, da bald täglich Truppen bier durd)-
marfchierten und einquartiert würden, viel Zerftreuung hätten
unb fid) ihr Gemüt fo leicht unb zu viel vom Kriegswefen ein-
nehmen ließen, daß fie barüber den Genuß am Heiland ver-
[óren. Doch wär der Heiland fo treu und brächte fie wieder
in die Stille und gäbe es ihnen zu erfahren, daß nur die
Stunden felig find, bie fie im Umgang mit ihm zubringen.
Den 16. September hatte fid) in der ganzen Stadt ein
allgemeines Gerücht verbreitet, daß der faijerfide General
Gfterbaft von Rheinfelden ber in diefer Nacht über ben
Schweizerboden bei Augft ins Elfaß einfallen würde mit
20 000 Mann Infanterie und weil man deswegen eine Plün-
derung befürchtete, fo padten viele Kaufleute in Eile ihre
269
Waren und transportierten fie zur Sicherheit tiefer in bie
Schweiz. Da es aber diesmal gottlob nur bei einem blinden
Lärm und Cdreden geblieben, unb man betnad) vernommen
bat, daß fid) bie Eaiferlihen Truppen Tags darauf weiter
am Rhein hinunter nad) 93reifad) gezogen, fo beftätigte fid)
an uns die Wahrheit herrlich: baB, menn bie Not am
arößten, Gott mit feiner Hilfe am nádften.
Am 2. Dezember war in einer Gefellfdjaff von Brüdern
bie Rede davon, baB man bei gegenmürtigen unrubigen
Seiten in Gefahr fei, fid) zu tief ing Politifche einzulaffen, und
vom Parteigeift hingeriffen zu werden, fo daß man dadurch)
Schaden an feiner Seele nehmen und gleichgültig gegen bie
Zerfammlungen und brüderliche Anfaffung werden koͤnne.
Diefe Anmerkung gab Anlaß zu offenberaigen Aeußerungen.
Ein Bruder fagte: „ich muß e8 zu meiner Schande befennen,
bap id) mid) ganz troden und unempfindlich fühle und id)
mich oft über bie Veftrafung des heiligen Geiftes in meinem
Herzen weggefett habe. Ruhig bin ich nicht babet, befonders
wenn ich zurüddenfe, wie felig id) fonft meine Zeit im Um—
gang mit dem Heiland zugebracht habe unb wie falt id) gegen
alles andere gewefen bin." Gin anderer fagte: „Sch bin [o
zerftreut in meinem Gemüt, daß id) wenig unb manche Sage
gat nicht an den Heiland denke, ja fogar der Mordgeift ift in
mir tege geworden, als ich bie fchredlichen und unmenfchlichen
Geihichten, bie in Frankreich vorgeben, in den Zeitungen
gelefen, fo daß id) duBerff erbittert in meinem Geifte bin,
wenn id) nur Sranzofen fehe. Ich habe mir zwar vorgenom-
men, feine Zeitungen mehr zu halten, aber auch das hilft mir
nichts, indem id) als Gaftwirt bod) im Fall bin, allerlei anzu-
hören von meinen Gäften, denen ich mich nicht wohl entziehen
fann. Es bleibt mir daher nichts übrig, al8 mich in bie
Fürbitte meiner lieben Brüder zu empfehlen, daß fid) der
Heiland über mid) erbarme und mid in Gnaben vor allem
Schaden bewahre.“
270
1793.
1. Januar. Gürbitfe für alle Anfchläge unb Sleber-
legungen unferer lieben Obrigkeit und ber von ung geſchätzten
Repräfentanten, bie zum Beſten des ganzen Schweizerlandes
gefaßt werden.
Am 17. März wurden in ben 4 Hauptlirchen bie Abend⸗
predigten ausgefeßt, weil eine Kriegsübung follte vorgenom-
men werden. Es wurde fodann um 2 Uhr Generalmar[d)
gefchlagen. Alle Bürger, Schirmverwandte und fremde Hand-
werksgeſellen eilten alsbald auf ihren Sammelplatz und
in einer Viertelftunde war die ganze Stadt unter den Waffen.
Man nahm bei jedem Bataillon ben namentlichen Aufruf vor,
um fid dadurch zu Überzeugen, ob alle erforderlichen Per⸗
fonen zugegen wären. Sowohl die obrigfeitlid)en Perfonen
famt den Herren Repräfentanten als aud) der fämtliche
Kriegsrat nahmen alle Pläge in Augenfchein und bezeugten
über die verfügten Anſtalten völlige Zufriedenheit. Um
7 Uhr abends wurde bann die Retraite gefchlagen.
22. März. Benten, auf der einen Geite ans Biſchöf⸗-
liche, auf der andern ans GljaB grengenb, von denen beiden
Ländern bie Sranzofen die Grenzen ftatf befegt halten, ift
bis daher durch Gottes Güte und Wache von Schreden unb
Unfug bewahrt worden.
4. 9fuguft. Beſuch in Lieftal, wo mande zu ihrem
Schaden der Neugierde nach politifchen Begebenheiten
zu viel eingeräumt batten. In Muttenz ernfter Verſuch
neuer Auffaffung. In Binningen und DBottmingen, bier
sroßes Lob.
Der 17. September war bier ein unrubiger Tag, indem
bie Nachricht einging, bap die Sranzofen oberhalb der Zeitung
$üningen und längs bem jenfeitigen Rheinufer im 23e-
Griff wären, um irgendwo auf ber markgräflichen Seite an-
aufabren. Es wurde dann vormittags um 10 Uhr General:
marſch geihlagen und die nötige Zeranftaltung zur Be—
271
fóü&ung ber Stadt getroffen. Indeſſen eilten bie in ben
deutfhen Grenzorten einquartierten deutfhen Truppen in
aller Gefchwindigfeit herbei, fhoffen ihre (— der Franzofen)
mit Mannfchaft befeste und mit 93alfen und Brettern über-
bauten Schiffe zufammen, ba bann viele entweder getötet ober
gefangen wurden oder erjoffen und nur wenige fid) durch
Schwimmen retten konnten. Nach vollbradbter glüdlicher
Aktion und bergeftellter Ruhe wurde bann nachmittags um
3 Uhr Retraite gefchlagen, und wir banften Gott in unferm
Herzen für feine gnädige Bewahrung und Abwendung alles
zu befürdhtenden Unglücks.
1794.
Den 10. März vernahm man, daß geftern im Großen
Rat ein Schreiben von Bern behandelt worden, darin
gemeldet wird: daß dortige gnábige und weile Herren in
bero Landen einen allgemeinen Bettag angelegt und zwar
ben 16. März und biegu alle Stände ber lieben Eidgenoflen-
ſchaft, auch bie katholifchen, einladen, um Gott gemeinfchaft-
lid) wegen ben abgewandten Gefahren zu danken, um fernere
Schonung zu bitten, aud) den Zerfall der Religion zu be-
bergigen. Unfere G. W. $5. und Oberen hätten nun folchen
genehmigt und viel Schönes darüber geäußert.
16. März. Allgemeiner 93ettag in der Stadt mit drei
Predigten. Wir Hatten große Urſache, Gott von Herzen
zu danken für unfere liebe Obrigkeit, indem fie viele An—
gelegenbeit zeigte, baB der heutige 93ettag im Segen begangen
werden möchte. Beſonders einer von unfern teuern Regenten
war darum bemüht, indem er an verfchiedene Orte auf dem
Lande eine zum Dank gegen Gott erwedliche Piece: Suruf
an die freien Helvetier, austeilen ließ. Ueberhaupt machte
es uns einen lieblichen Eindrud, bap fi) bie Landespäter
aller Kantone vor Gott bemütigten und der fummerpollen
Sorge ungeachtet, bie fie bisher für das Land getragen, bod)
nicht fih, ihrer Klugheit und Borfichtigkeit, fondern Gott
allein bie Ehre gaben.
272
1795.
f[ngebeure Rälte in der Stadt, bis 31 Grab unter Null am
27. Sanuar. Vielen erfrieren ihre vorrätigen Gemüfe. Es wird
der Anlaß zu befonderem Gebet, wobei das Danken nicht ver-
geflen wird. Bei der ftrengen Kälte legten manche bemittelte
Bürger aus Baſel ihre Teilnahme und Wohltun Tieblich zu-
tage. Man batte bie Herren, bie Pferde haben, faum auf-
gefordert, ben Armen das Holz, fo ihnen bie Obrigkeit wohlfeil
gibt, mit ihren Equipagen zu fahren, fogleich rollten bie ftofaen
Pferde und Wagen vor bie Häufer der Armen, ihnen Teuerung
gratis zuzuführen. Und fo konnte man manche Züge der
Wohltätigkeit bemerken, indem aud) in den fogenannten Räm-
merlein Cub[friptionen und Kollekten für bie Armen ge-
Tchahen, und dies fam aud) einigen unferer armen Gefchwifter
zugute.
27. Sanuar. Nachricht von der Vereinigung Hollands
mit Granfreidj. Sorge um die Gemeine in 3epft. Heute
wurde der bier angefommene franzöfifhe Ambafladeur Bar-
thelemy mit der großen Zeierlichkeit nad) dem höchften
Rang fomplimentiert; er, wie aud) ber preußifhe Minifter
Golz hatten ihre Grebitipen ausgewechſelt. Des Herrn
Stadtfchreiber Och ſens Anrede an Serm Varthelemy, ba
er ihn mit dem ogefamten heimlichen Rat fomplimentierte,
war febr erbaben und zierlih, bie franzöfiihe Republik iit
darin förmlich anerkannt worden. Des Ambaffadeurs Ant-
wort war fura, fimpel und freundfchaftlich: in beiden war
bie Rede vom Frieden.
11. März. Nachricht von Lieftal, daß geftern Nacht
in bafiger Kirche das Gewölbe, worinnen die Gelder ber
Pflegereien aufbewahrt werden, erbrochen und jämtliches
Geld, 1009 Louis d'Or, geftoblen worden ijt. Am darauf:
folgenden Tag bat unfer lieber Bruder Oefan Zwinger
in feiner Predigt ben in der Lieftaler Kirche begangenen Dieb-
ſtahl überaus herzdurchſchneidend angezogen und u. a. gejagt:
273 1
Es fei ibm dadurch eine Wunde gefchlagen worden, bie in
feinem Leben nie mehr ganz geheilt werden könne, denn fie
werde ihm jedesmal, wenn er die foangeltreppe Dinauf- ober
berabfteigen werde, wieder aufgerifjen werden, weil ibm da
bie forcierte Thüre in die Augen falle. Er wünfche nie-
mandem nichts Lebles; den Thätern aber wünfche er, daß
fie in ihrem Gewiſſen nie Ruhe nod) Raſt finden mögen,
bis fie bie begangene teuflifche Höllentat befennen, uf. In
furzer Zeit darauf wurden bie Kirchenräuber, bie mit ihrem
Anbang 7 Perfonen ausmachten, entdedt, bie Haupttäter aber
waren der Bürger und Ziegler Strübi in ieftal und ein
fremder Töpfergefelle aus dem Raiferlichen, der in Lieftal in
Arbeit ftanb. Diefelben find bann auf hohen obrigfeitlichen
Befehl gefänglich eingezogen und zeitlebens in das biefige
Zuchthaus verbannt worden.
Den 5. April als am heiligen Oftertage wurde bier der
Sriede zwifchen der franzöfifhen Otepublif und dem König
von Preußen geſchloſſen. Wir banften Gott, baB nun ber
erfte Schritt zum Friedenmachen gefcheben.
Der Bericht von 1796 ift nicht vorhanden.
Berichte Sob. Saf. Bridenfteins.
1797.
1. Februar. Nachdem wir ſchon 3 Nächte wegen des
erfkaunlichen Ranonierens ber Franzoſen aus der Zeitung
$üningen auf bie Eaiferlihen Arbeiter in den Lauf:
gräben nicht gefchlafen hatten, indem nicht nur unfere Senfter
in einer immerwährenden Erfchütterung blieben — fondern
aud) Durch das Peloton euer, bei denen 3- bis 4maligen
Ausfällen ber Grangojen in einer Nacht und beftändigem
Leuchtkugelwerfen ganz erleuchtet waren, fo fam heute eine
Kapitulation zuftande, wodurch fid) des Krieges Schauplaß
ganz von unfern Grenzen 30g, wofür wir unferm lieben Herrn
mit gerührten Herzen banften und es al8 einen neuen Be—
274
weis feiner gnábigen Aufficht tiber unfere Stadt unb Land
annahmen. |
Den 6. März waren bier die fogenannten jährlichen £Im-
züge zum Andenken des Schweizer Yundes, wobei diesmal
befonders viel Unordnung und Ausgelaſſenheit vorfam.; fie
waren feit Anfang des Krieges von der Obrigkeit verboten
gemejen, baber bie Sache denen Leuten je6t um fo mehr lieb
und neu war. Uns fam fie völlig heidnifch vor. Schon feit
14 Sagen war vom Morgen bis in bie fpäte Nacht in ber
ganzen Stadt und auf allen Gaffen nichts als trommeln und
Ihießen zu hören, Rinder von 5, 6 Sabren gingen trüpplein-
weis zu zehn, zwölfen, ein jedes mit einer fo großen
Srommel als e$ nur tragen konnte, Straß auf, Straß ab,
unb größere ſchoſſen Dabei aus Heinen Büchfen und Piftolen,
fodaß jchredhafte Gemtitber fid) faum aus dem Haufe zu
gehen getrauten; zwifchen inne famen bann die Umzüge ſelbſt,
mit unzähligen Trommeln von Großen und Kleinen begleitet,
bald der Wilhelm Doll (T) mit feinem Heinen Sohn in alt--
fhweizerifcher Tracht, erfterer mit einem Bogen und Pfeil
unb lebterer mit einem Apfel auf dem Kopf, dann wieder
einige alte Schweizer mit Gtrettfofben und Spießen, bald von
denen zwei verfleideten Thieren, der Löwe und Vogel Greif,
hernad der wilde Mann, unb fo ging'$ den ganzen Tag;
heute nun, da das traurige Feft am berrlichften war, wurde
fhon 4 hr morgens dazu mit [depen und trommeln in
finfterer Nacht gemedt, bie ganze Stadt war in Alarm und
nun famen die Umzüge und unzählige Gaufeleien, unter
anderem der Tod, von 12 geharnifchten Männern feftgebalten,
auf einem Wagen mit 4 Ochfen be[pannt, nebft noch einigen
Wagen fo ganz Heiner in Schweizertracht gekleideter Kinder
noch zum leßtenmal durch jede Straße, und nachher waren für
groß und Klein angeftellte Bälle bis den andern Morgen; ben
andern Tag konnten wir uns endlich mal wieder befinnen unb
gleihfam von unferer Betäubung erholen, e8 war uns, als
wenn nad) einer anhaltenden größten Windsbraut, wofür
275 18°
man weder hören nod) feben fann, nun eine gänzlihe Wind-
ſtille herrſcht.
Das traurigſte war noch dabei, daß der Mann, ſo in
den Vogel Greif verkleidet war, durch einen Fall ſich den
Daumen ſehr verſtauchte und weil er nichts darauf gab, kam
der Brand dazu und ſchon den andern Tag gegen Abend
war er tot. Ein ähnliches ſoll das letztemal mit dem Menſchen,
fo im Löwen war, durch Erhitzung geſchehen fein.
1798.
Den 5. Januar blieben bie Landgehilfen, welche ge-
wöhnlich von ben nächſten Orten in bie Chorverfammlungen
fommen, nod) etwas beieinander, wo ich denn zuvörderſt von
bem Beſchluß des alten unb Wiederanfang des neuen Jahres
Gelegenheit nahm, berzlih mit ibnen zu reden, und fie
befonders zu neuer Treue in ihrem Auftrag ermunterte.
Nächſt bem redete id) mit ihnen wegen denen bieljer
Sage auf dem Lande fid) beroorgetbanen Unruhen, daß weder
fie noch von ihren Häuflein, unter was auch immer für einem
guten Schein ober Vorwand, daran Antheil nehmen, Ton-
bern es je&t vielmehr zu beweifen fuchen möchten, daß fie
der Obrigkeit um des Herrn willen untertban feien, und
es alauben, daß wer fid) wider bie Obrigkeit fe8e, Gottes
Ord nung miberftrebe. Dies veranlafte eine [ange Unter⸗
redung, nach welcher mehrere Brüder bezeugten, wie frob
fie wären, daß darüber fo umständlich gefprochen worden,
weil fie zum Theil bod) nicht recht gewußt hätten, wie fie fid)
Dabei benebmen follen, und einer geftand offenberzig, Daß
et fhon ganz für bie Sache geftimmt gewefen, aber nun über-
zeugt fei, bap ihn feine Vernunft betrogen babe, weshalb er
fid nun mit feinem Gedanken mehr deshalb einlaflen wolle.
Den 9. Januar brachen querit in Arisdorfdie Unruhen
aus, indem eine Anzahl Bauern in ber Nacht das Schloß
zu Farnsburg beftürmten: es befand fi aud ein
Bruder dabei, der jedoch nur aus Furcht, weil man ibm das
276
Leben zu nehmen brobete, mitging; ber arme 93ruber, ber ein
einfáltiger Menſch, aber fonft ein treues Herz iit, war auf
bem Weg dahin mehr tot als lebendig, bod) ba es zu feinen
Gewalttätigfeiten fam, fo batte er weiter nichts als ben
Schred und die fchlechte Behandlung von biefen böfen Leuten
zu erbulben.
Einige Tage darauf wurden die Unruhen allgemein, bod)
bei weitem in Lieftal am fohlimmften, und man fahe nun
erit, daß es auf eine gänzliche Staatsumwälzung ab-
gefehen fei; leider war auch hier ein S3ruber, und zwar nicht
gezwungen, babet, der fid noch dazu an bie Cpite der un:
ruhigen Landleute ftellte, freilich, nach feiner Aeußerung, in
der guten Abficht, bap, indem er die billigen Forderungen
feiner Mitbürger unterftüße, er zugleich ihr Vertrauen dahin
zu benugen fuche, fo viel möglich Gewalttätigkeiten ab-
zuwenden, unb man muß (agen, daß nächſtdem, baB Gottes
Ginger in der ganzen Sache gleid) vom Anfang an zu fpüren
war, et wirflich vieles dazu beigetragen bat, daß alles fo gut
ablief, denn e$ ift doch merkwürdig, daß bei dem ganzen
Umfturz der Staatsverfaffung des Kantons Baſel aud) nicht
eines Menſchen Ylut vergofien worden; indeflen für feine
Derfon fann ihn ebenfowenig Dies — als das tedt-
fertigen, daß er nun, unb alle die, welche für bie Revolution
waren, jest fagen, ja ſo war's nicht gemeint, das haben wir
nicht gedacht, daß es f o geben follte.
Mitte Sanuar. Da in diefen Tagen bier febr viele
beuntubigenbe Gerüchte gehört wurden, jo nahm ich beute
Gelegenheit, mit den Gefchwiftern deshalb zu reden unb fie
zu ermuntern, ihre Gemüter bod) davon nicht fo ganz ein-
nehmen und zerftreuen zu laflen, vielmehr fid) jolches dahin
zu benuten, daß fie ihren Ruf und Gnadenwahl, ein Eigen:
tum Syefu zu fein — nur befto fefter zu machen fuchten, als⸗
dann würden fie fid) aud) die tröftlichen Worte Jeſu ganz
zueignen können, daß nicht ein Haar uns ohne feinen Willen
entfallen folle; was Gr aber tiber uns gefchehen ließe, würde
277
unferm Herzen zum Beſten gereid)en müflen, wenn’s uns
gleich äußerlich befchwerlich und drüdend werden könnte.
Den 22. Januar hatten wir einen febr unrubigen Tag,
da, nachdem unfere Obrigkeit denen Forderungen der Land-
leute nachgegeben, heute Nachmittag unter Abfeuerung der
Kanonen und Läutung aller Gloden ber Zreiheitsbaum auf
bem Münfterplab gefeSt wurde: je wilder und ausgelaflener
fib fowohl von Stadt als Land eine Anzahl Menfchen dabei
bezeugten, befto gedrüdter und niedergefchlagener war ber bei
weitem größte Teil ber Bürger, die ruhig zu Haufe blieben
unb über das Unglück ihres Vaterlands manche ftille Träne
weinten..
Den 1. März wurden wir am frühen Morgen mit der
Nachricht erfchredt, baB bie Feindfeligfeiten zwifchen den
Schweizern und Grangofen bei Solothurn wirklich ihren.
Anfang genommen; obwohl aus unferm Kanton gar feine
Truppen gegeben worden, jo [abe man nun zum voraus, daß
ber Durchmarfch ber Franzoſen durch unfere Stadt nun nicht
mehr zu vermeiden ei.
Den 13. erklärte fid) einer unferer Landgehülfen- Brüder
vor mehreren Gefchwiftern, „die jeSigen Zeitumftände find
mir für mein Herz febr gefegnet, der Heiland macht mich von
vielem los, woran id) bisher noch geklebt babe, und barum
fühle id) mich auch jeßo jo Leicht, ihn zu fuchen und angu.
bangen und fann ruhig und Findlich abwarten, was er über
mid) fommen faffen will. Aber manchen Menichen”, fette er
hinzu, „machen diefe Umſtände nur noch widriger gegen ben
Heiland, bod) weiß er fie aud) zu finden, wovon ich letzthin
ein Erempel gejeben babe." Er erzählte darauf folgenden
anmerklichen Umftand: „Sch war kürzlich Gefchäfte wegen in
einem andern Dorf und mußte dort bei einem 93efannten
‚übernachten, bei bem ich auch nod) einige andere zur Herberge
antraf. Das Gefpräh fam, wie gewöhnlich, gleich auf bie
jegigen Umftände; ich fagte nicht viel dazu, bis mid) der
Hauswirt geradezu frug, wie id) denn bie Sache anfähe?
278
Ich fagte ihm: „ich verftehe wenig davon, fann aber glauben,
was unfer lieber Heiland (hierbei fagte id) ihm, baB ich
meinen Gott meinen Heiland nenne) tbut und läßt gefchehen,
das nimmt ein gutes End; für meine Perfon aber verlafle id)
mid ganz auf ihn, daß er mid) in allen nod) fo fchweren
Umftänden gnábiglid) unterftüßen und durchhelfen wird.”
Hier fuhr der Mann ganz hisig auf und fagte: „ich babe
feinen Heiland und brauche aud) feinen und will bod) durch:
fommen. Ihr Pietiften feid bod) recht arme elende Troͤpfe,
daß ihr fold) närrifh Ding glaubt." Sch antwortete ihm:
,9 da habt ihr ganz recht, daß ich ein armer elender Tropf
bin, aber eben darum brauche id) einen Heiland, barum muß
id) einen haben und fann anders unmöglich zurecht fommen,
unb mir iff Gott Lob unb Dank ganz wohl dabei, aber euch
iit nicht wohl. Sap das aber fein närrifches Ding ift, fónntet
ihr wohl nod) einmal mit Schreden erfahren.” Hierauf brad)
id) ab und redete mit den andern Leuten. Der Mann wurde
wie vor den Kopf geichlagen, jchwieg ftille und redete fait
nichts mehr, bis wir wollten fchlafen geben, da fing er mit
einmal an, ich wollte einen Louisdor brum geben, wenn ich das
nicht gefagt hätte, was ich gefagt babe." Weil die andern
nichts darauf antworteten, fo fagte ich nur fo viel zu ihm,
daß ich für meinen Seil feinen ihm nachteiligen Gebraud)
davon machen würde; er bezeugte, „Darum fei es ihm nicht”,
fchwieg aber wieder und erklärte fid) nicht weiter. Am
Morgen fabe ber Mann ganz verftört aus, redete nichts, und
beim Abſchiednehmen war’s ibm faft nicht mdalih, nur ein
einziges Wort verftändlich zu reden, da feine Zunge fonft
fo febr geläufig war, welches auf mich unb alle übrigen Leute
einen gar eigenen Eindrud machte.”
Den 15. waren wir auf einem Landbefuh in Vin-
ningen, wo wir nad ber Verfammlung den Gefchwiftern
Geſellſchaft hielten. Sie äußerten fid) offenbergig und [ünber-
haft, nur find ihnen bie jeBigen Umftände immer oben auf
und benebmen ihnen viel Genuß. Doc war dies weniger
279
bei den ledigen Schweitern der Gall, bie fid) dadurch zum
Zeil mehr zum lieben Heiland treiben faffen, und in einem
recht bübfchen Herzens-Gang find; der hiefige Herr Pfarrer
Rapp fährt fort, Freundfchaftlich gegen bie Gefchwifter zu
bleiben und bat fid) Eürzlich bie Gemein-Nachrichten aus-
gebeten. Bei unferer Nachhauſekunft fanden wir einen Ge-
hülfen-Bruder von Diepflingen auf uns warten, der
über Verfhiedenes wegen der dortigen Häuflein in Abficht
der jetzigen Lage mit uns fprad). Für feine Perfon, fagte er,
babe ibm der liebe Heiland Klarheit gefchenkt, zu erkennen,
daß alles eine Verwirrung und Verführung vom böfen Geift
fei, er hätte daher, al8 man ibn letzthin genbtiget, fi vor
der ganzen Gemeine zu etf(üren, ob er aud) willig fei, wenn
ihre Forderungen nicht bewilligt würden, fogleich gegen Baſel
zu marfchieren, fid) ganz freimütig erklärt, baB das wider
fein Gemiffen fet und gegen den Eid, welchen er feiner Obrig-
feit gefchworen, und darüber möchte es ibm geben wie es
wolle. Raum batte er die legten Worte ausgeredet, als alles
über ihn ber wollte, unb nur mit größter Not brachten ibn
10d) ein paar vernünftige Männer zur Stube hinaus. Nach—
bet durfte er bei allen oft febr tumultuarifchen Sufammen-
fünften zu Haufe bleiben, welches weiterhin gar manche
wünfchten und für feine Aeußerungen und Benehmen aldann
großen Reſpekt hatten. Durch einen faft ähnlichen Vorfall
unb 93etragen bat fid) aud) ein anderer Bruder in Lieftal
bei vielen legitimiert.
Den 17. April waren wir bei der Pfarrer-Interredung,
wo es ben anme[enben Pfarrer-Brüdern und uns vor:
züglich zum befonderen Vergnügen und Dank gegen unfern
lieben Heiland gereichte, baB wir bet der jebigen Zeit uns
nod) fo in Ruhe wieder beifammen finden und einander zur
Aufmunterung fein fónnten.
Den 26. April famen die erften franzöfifhen Truppen
zum Slebernachten bier an; es ift über alle Befchreibung, in
was für Furcht und ängftliher Erwartung alles in der Stadt
280
war. Sch muß gefteben, e8 war uns aud) ganz eigen
zu Mute, doch fonnten wir mit Zuverficht auf den Heiland
fehen, und e$ blieb uns fo; wir find in feiner Hand, was
will uns fdjaben? Meine Frau, die fid) zu Anfang der fran-
zöfifhen Revolution in Neufalz fürchtete, bie Franzoſen
fónnten bis dahin fommen, war jest ruhig und überlaflen, ba
bie ganze Stadt davon wimmelte und wir felbft 4 Mann
im Haufe hatten. So fann der liebe Heiland alles in
feinen armen Kindern, bie fid) Ihm überlaffen.
Den 5. Mai magten wir e8 im Vertrauen auf ben
Heiland, unerachtet der — durch bie fortwährenden Durch:
märfche ſowohl zu Stadt und Land noch dauernden — Un—
ruhe und Unficherheit, warum wir bisher feine weitern 23e-
fude unternehmen fonnten, einen nötigen Beſuch zu
Bubendorf, 3iefen, Arboldswil uf. zu machen.
G3 iff dies ber Diftrikt, in welchem der liebe Bruder Preis-
werk 13 Sabre Pfarradjunctus war.
Den 9. Mai gefchahe einem unferer jungen ledigen
Brüder ein febr vorteilhaftes Anerbieten, bei den Staats:
gefchäften in Aarau angeftellt zu werden. Anfänglich lehnte
er es aus treuem Sinn und Mißtrauen gegen fid) ſelbſt gleich
ab, nad)ber aber wurde er durch Zureden und baB man ihm
die fünffigen Erwartungen davon fo vorteilhaft fchilderte,
wanfend, und hätte es angenommen, wenn feine Eltern unb
id) nicht geradezu ihm folches widerraten müflen. Einige
Tage drauf äußerte er fid febr fünderhaft, wie er fid) von
Herzen fchäme, daB nur der Gebanfe in ihm Pla greifen
fónnen, fid) auf fo eine Art in bie Welt hinein zu wagen,
ba et bod) dem Heiland fo oft verfprochen, fein ganzes Eigen:
fum zu fein und alles in der Welt um ihn fahren zu falfen;
er dankte nun gar herzlich, daß man ihm fo ganz beitimmt
davon abgeraten, das habe ibn erfchredt, ſonſt würde er nicht
fo bald von feinem Vorhaben abgefommen fein.
Den 12. Auguft wurde von den biefigen Bürgern bie
neue Ronftitution auf bem Münfterplag befchworen, und da
281
zur Greier diejes Tages von ber Obrigkeit, bie bier fonft nicht
für gewöhnlich, gefehweige an einem Sonntag, erlaubte Luft:
barkeit von Mufif und Tanzen angeordnet war, [o hörte man,
daß viele, fonft ganz natürliche Leute damit unzufrieden
waren unb weder für fid) nod) ihre Rinder daran teilnahmen.
Reife ins Baſelbiet, 18. Auguft.
Zuleßt famen wir denn aud) nad) Lieftal und fanden
gegen Erwarten faft alles nad) unferem Beſuch febr ver-
langend. Es zeigte fid) freilich, baB die 3eitumftánbe an
den Herzen viel Schaden getan, bod) war bei ben meijten
eine große Sehnfuht zu fpüren, aus bem Gewirre wieder
berausgufommen, worüber fid) einzeln und in den Gefell-
fhaften geäußert und viele Tränen vergoflen wurden. In
ber Verfammlung war alles gedrängt voll und mußten nod)
vor die Tür fiten, ohngeachtet das Sälchen wohl 100 Per:
fonen fapt. Ziele bezeugten nachher, wie fühlbarlich ihnen
der Heiland nahe gemefen und wieder mit neuer Gnade an-
gefaßt babe; möchte Er fie ihnen bod) auch erhalten Finnen!
Wir waren nicht fobald in Baſel angefommen, als
wir vernahmen, daß 2000 Mann franzöfifcher Truppen nod)
heute bier einrüden und morgen weiter ins Ober-Vafelbiet
geben würden; wie [rob und dankbar waren wir nicht ba
bem lieben Heiland, daß mir unjere 93ejudje grade nod) jo
ungeftört hatten machen fónnen.
Den 26. Oftober befamen wir bier mit einemmal,
nadbem die Ginquartierung und der Sruppenmarjd) der
Sranzofen durch unfere Stadt täglich noch fortgewähret batte,
eine bleibende Garnifon, bie Tore wurden befe&t und ſowohl
die Schlüffel hiervon als die.vom Zeughaus mußten fogleich
dem franzöfiihen Rommandanten überliefert werden, : zu:
gleich fam das Gerücht, bap fofort einige Taufend unferer
jungen Leute zum Kriegsdienft ausgehoben werden follten;
das alles, bejonders aber le$tere8 verbreitete einen außer:
ordentlichen Schreden in der Stadt, und viele von den jungen
Leuten, worunter aud) 5 Söhne unferer Gefchwifter waren,
282
machten fid) gleich in ben erften Tagen davon, fe6tere nahmen
ihren Weg nad) Ebersdorf und zwei davon famen bald bernad)
zur Gemeine, ber ledige Bruder Wilhelm Wenk zum
Wohnen nad) Neufalz, und der Süngling 30h. Saf. Senn
auf eine Probe nad) Neu-Dietendorf.
Uns ijt hierbei auch ganz eigen zumute, ba wir ung jest
wie in Baſel eingefchlofjen befinden, bod) je bebenflid)er und
trüber e$ um uns berum wird, je mehr erfahren wir, bap der
Heiland unfere Herzen fröftet und die Zuverfiht zu ihm.
ſtärkt.
Den 1. November kamen die Landgehülfen-Brüder zu
einer Unterredung hier zuſammen, 17 an der Zahl, welches
dieſes Mal um ſo mehr Freude und Ermunterung gewährte,
als es ber Umſtände wegen gar nicht zu erwarten geweſen,
daß fo viele ſich würden einfinden können. Zwei, die fehlten,
ſchickten fdriftfid und machten mit ihrer fo amed- als berz-
mäßigen Erklärung von fidy und ihrem Auftrag fo viel Ein-
drud, daß es die Lieblichfte Veranlafiung für alle andern gab,
dem nachzufolgen. Die jebigen Zeiten machten bei ein und
andern nod) mande Störung, bod) waren fie durchgängig
darauf geftellt, dabei nicht mehr auf Menfchen, fonbern nur
auf den Heiland zu fehen und verbanden ft aufs neue,
fowohl ihren Ruf und Gnadenwahl für fid) felbit immer
fefter machen zu laflen, als aud) mit Angelegenheit die Ge-
fchwifter dazu herzlich aufzumuntern zu fuchen.
179.
Den 3. April war bier in der Nacht bie AUrretierung
mehrerer Bürger, bie fid) wegen politifcher Meinung zu viel
geäußert haben follten, welches, da es morgens befannt und
zugleich an diefen und den folgenden Tagen noch mehrere
Sut[den mit dergleichen Perfonen von Zürich, Bern unb
Solothurn u. a. teils bier, teils nad) Frankreich in Der:
wahrung gebracht wurden, ein folch allgemeines Erjchreden
in der Stadt verbreitete, bap alles zitterte. Lange ließ fid)
283
eine über alle Beſchreibung drüdende bumpfe Stille ver-
fpüren, und in den erften Tagen getraute ftd) faft niemand
nur mit den andern zu reden. Furcht war auf allen Gefichtern,
und bie fernern Maßregeln der Regierung, unter anderm
die häufige Eröffnung der Briefe, trugen dazu bei, daß folche
nod) länger unterhalten wurde. Da bei erftern Erempel vor:
famen, daß auf bloße [ügenbafte Angabe fchlechter Leute
mitten in der Naht Perfonen aus dem Bett geholt und
arretiert wurden, [o verurfachte anfangs die Vorftellung, wie
leicht auf bie Art aud) uns fo etwas begegnen könnte, ung eine
gang eigene Verlegenheit und machte mehr Ginbrud auf uns
als alle noch bisherigen Erfahrungen bei diefen Umſtänden.
Doch erfüllte ber liebe Heiland unfere Herzen bald wieder
mit getrofter Zuverficht, fo daß wir uns feine Verheißung,
„daß ohne feinen Willen nicht ein Haar von unferem Haupte
entfallen fónne" mehr als je vorher gläubig zueignen fonnten.
Den 6. Nachdem alle Tage eine Nachricht fürchterlicher
als bie andere, wegen erlittenen Verluften und dem gänzlichen
Rüdzug der Franzoſen von Shaffhbaufen, bier einge:
troffen und das Aufgebot zum Marfchieren an unfere jungen
Leute ergangen war, fo bieß es heute mit einemmal, bie
Raiferlichen wären nur noch auf 2 Stunden von Klein-Baſel,
weshalb fogleich angefangen wurde, bie Rheinbrüde zwiſchen
unfrer und der Heinen Stadt abzubrechen: es befanden fid)
aber einige Gefchwifter aus Klein-Bafel zum Beſuche bei
uns. Sie erfchrafen allerdings über diefe Nachricht gar febr,
aber der Gedanke, von uns und allen bieftgen Gefchwiftern
fo mit einemmal getrennt zu werden, ging ihnen doch noch
tiefer; fie wurden äußerft bewegt, und beim Abſchied, ben fie
ungefäumt machen mußten, brachen fie in ein lautes Weinen
aus; wir weinten mit ihnen und empfablen fie und alle
dortigen Gefchwifter mit der innigften Herzensangelegenbeit
unferm treuen Heiland in feinen allmächtigen Schuß und
Bewahrung.
Inzwiſchen wurde nicht bie eine Hälfte ber Rheinbrüde,
284
wie e8 im erften Augenblid hieß, gana abgetragen, fondern
nur die eine DVreite vom mittleren Zoch, fobap noch für's
erfte bie 93reite für einen Wagen blieb; bod) war man in
ben erften Sagen feinen Augenblid ficher, baB bie andere
93reite aud) abgenommen wurde; unterbefjen flüchtete. man
Sag unb Naht Menfhen unb Vieh unb Sachen nad) Groß:
Bafel.
Den 9. wagte ich es mit meiner Grau nod) zu einem
Beſuch unferer Gefchwifter in Klein-Bafel zu geben. Gie
freuten fi), wie wir Dinfamen, als wenn fie uns fdon ein
ganzes Fahr nicht mehr gefehen hätten; aber wir waren nur
noch bei wenigen gewefen, als uns ein neuer außerordentlicher
Lärm vom abermaligen Anrüden der Kaiferlihen — und
diesmal waren fie wirklich nad) Riehben, eine Stunde von
ung, gefommen, wo fie in der Gefchwindigkeit eine Kaiferliche
Proflamation an bie Schweiz anhefteten und den Freiheits—
baum umbauen liefen — nötigte, eiligft nad) Groß-Bafel
wieder zurüdzufehren; Ravallerie, Infanterie, Menfchen und
Vieh Tief auf den Gaffen alles fo durcheinander, daß man
feinen Augenblid feines Lebens fid)er war, und wir banften
Gott, da wir glüdlich wieder zu Haufe waren.
So ging es wohl über 4 Wochen, einen Tag mehr, den
andern weniger unruhig zu, bis die Kleine Stadt burd) eine
hinlängliche Anzahl franzöfifcher Truppen befeßt und nad) und
nad) eine Kette von Batterien vor derfelben angelegt wurde;
. feitbem haben bie Kaiferlichen fi von der Seite nur wenig
mehr feben laſſen, und die Gefchwifter von KRlein-Bafel fom-
men bor wie nad) wieder in unire Verfammlung.
Ende April. Sn diefen Tagen erfuhr einer unfrer ver-
heirateten Brüder eine befondere Bewahrung Gottes; es
batte nämlich berjelbe noch [pdt abends auszugehn und mußte
vor einem Haus vorbei, wo an bemjelben Tag eine fran-
zöfifche friegsfaffe einlogiert worden war. Die Schildwache
rief ihn zweimal an, ohne daß er, weil er febr übel hört, es
eigentlich vernahm; auch zum dritten mal wußte er nicht,
285
was e8 zu bedeuten hatte, aber indem bet Soldat das Ge-
mebr in die Hand fallen ließ, um Feuer auf ibn zu geben,
fo war’s, als wenn ibm mit einemmal das Gehör aufging, er
börte es und hatte fogleich bie Befinnung, auch zu antworten,
wodurch er febr wahrfcheinlich fein Leben rettete.
Den 20. Zuni erzählte einer unfrer Landgehilfen- Brüder
von fid) folgenden merkwürdigen Umftand. Der liebe. Hei:
land babe ibm bisher bei ber jeßigen Kriegsnot auf eine
gana vorzügliche Weife in allem febr gnábig durchgeholfen,
unb befonders babe Er es mit der Einquartierung fo geleitet,
daß er bis dato mit feinen Soldaten immer gut ausgefommen
unb die meiften ihn febr ungern und mande mit Tränen in
den Augen verlafien haben; dafür wäre er dem Heiland als
Grbórung feiner Vitte anfangs gar von Herzen als für die
größte Wohltat dankbar geme[en, nad) und nad) aber babe
er fid)'8 fo genommen, als fónnte das nicht fehlen, unb darüber
die Dankbarkeit vergelfen.
Bor einigen Tagen babe er dann zwei franzöfiihe Dra-
goner befommen, die fid) ibm beim erften Eintritt gezeigt, es
Geiftes Rinder fie feien; er babe fie aufs böflichtte empfangen,
und wie gewöhnlich alles gegeben, was zu geben fei und
noch mehr, aber bie waren mit nichts zufrieden, fie taten, was
fie wollten; er ließ es ihnen zu und waren bod) nicht zu-
frieben. Den dritten Tag hatte er in ein naheliegendes Dorf
zu geben und ging vor Tage, um zur rechten Seit zur Grüt-
terung feiner beiden Kühe wieder ba zu fein, indeilen fam
er bod) etwas fpäter, unb feine Kühe b(óften ihm hungrig
entgegen. Er lief in bie Scheune, das grüne Futter, welches
er tags vorher weit geholt, ihnen zu geben; aber fiebe bie
Grangofen battens derweil ihren Pferden zum Freſſen und
zur Spreu gegeben. Das bradte ihn fo auf, daß er fi
vergaß unb mit vielem Ernft bie FSranzofen darüber zur Rede
fette. Dies war wohl, was fie fuchten. Sie fuhren wie
rafend auf ihn zu, zogen beide ihre Säbel, und nod) heute
weiß er nicht, was fie abgehalten als Gottes Engel, daß fie
286
ibn nicht in taufend Stüde bieben; er eilte aber unbefchädigt
von ihnen davon und fuchte ein Winfelchen, fein Herz vor
ben lieben Heiland auszufchütten, denn nun ftanb ihm alles
vor Augen, wo et'8 beim Heiland verjebu unb fid) aud)
hierbei nicht als ein Kind Gottes betragen hatte; er fchrie
von ganzem Herzen zum Heiland und nebte bie Stätte, wo
et fag, mit vielen Tränen, unb befonders ging aud) fein Flehen
dahin, daß ihm der Heiland bod) von diefen Menfchen Los
helfen wolle, weil bod) fein Recht zu fuchen fei. Er wollte
darauf in den Stall zurüdgeben, als ihm der Sergeant begeg-
nefe und ihm fagte, baB er morgen andere Ginquartierung
und nur einen Mann befommen würde, welches ihn dann,
wie leicht zu erraten, außerordentlich befchämte unb [o vor
dem Heiland beugte, daß ihm diefer Umftand gewiß auf feine
ganze Lebenszeit was austragen wird.
Den 22. Zuli erhielt der Bruder Stephens aus
Oteftenbad) nad) einem fiebenwächigen Gefängnis bier in
unfrer Stadt zu feiner und unfer aller großen Freude wieder
feine Gntfafjung. Er mar von den Qrangolen bei einem
Alarm in feinem Orte, wo die Einwohner fid) gegen erftere
mit Gewehr verteidigt hatten, nebft noch 8 andern gefangen,
bet Gegenwehr befchuldigt und zur Veftrafung hierher geführt
worden; fie wurden anfangs ftreng bewacht, welches erwarten
ließ, daß es ihnen fchlimm ergeben würde. Ciner unirer
ledigen Brüder befam bald in den erften Sagen bie Wacht
vor dem Gefängnis, worinnen Stephens mit feinen Stame-
taben war, Stephens fab ibn, und es wurde ibm fo: das ijt
ein Bruder; er wagte es, ihm durchs eiferne Gitter zuzu-
tufen unb zu fragen, ob er mit Pfarrer Raillard in 23e-
kanntſchaft ftünbe, auf bie Antwort ja, ob er ibm wohl ein
Setteld)en an denfelben beforgen wolle? und als er auch bat-
auf ja erhielt, fo brachte ibm Stephens bald ein paar Zeilen,
bie er mit DVleiftift auf ein leeres Blatt aus feiner Loſung,
die ibm die Granaofen auf vieles Bitten gelaflen, gefchrieben
batte; der Inhalt war, daß er in Bekanntſchaft mit der
287
Brüdergemeine ftünde, feinen (Raillards) Namen mal im
Protokoll ber Prediger-Konferenz gelejen und ibn bäte, weil
er von den Gefchwiftern hier niemand kenne, fid) feiner anzu-
nehmen, da er mit aller Wahrheit verfichern fónne, bap er
wegen der ihm befchuldigten Gegenwehr gänzlich unfchuldig
fei. Nach gefchehener Üeberlegung fuchte man allervörderft
ibm felbft zuzuſprechen, welches auch einem unfrer verheirateten
Brüder nad) einigen Schwierigkeiten, bod) nur von außen
butdjs Gitter, zugelaflen wurde. Durch den vernahmen wir
dann, baB er ber Schulmeifter von Neftenbach jei und in
feinem Haus bisher bie Verfammlungen gehalten worden,
weshalb ibn fowohl Bruder Müller als ehedefien Bruder
Mofel wohl kenne, übrigens fei er ein armer Mann und
ein Vater von 16 Rindern, davon nod) 9 unverforgt zu Haufe
und vielleicht jeßt mit feiner Grau ohne Brot wären; et
babe fie nicht mehr gejeben, fondern wie er gegangen und
seftanden, ohne Kleider unb Wäſche, auf ber Gtelle fort .
gemupt.
G3 ift nicht zu fagen, wie fid) auf biefen Bericht bie Teil-
nahme derjenigen Gefchwifter, denen man'$ im erften Augen-
blid willen laſſen fonnte, regte. Kleider, Wäſche und Geld
waren gleich [o binlánglid) beifammen, daß er fid) mit erfteren
beiden mehr als nötig beforgt fahe, und von leóterem ibm
nicht nur bie ganze Zeit hindurch eine gute Soft verfchafft,
[onbern bei feiner Abreife ein nicht unbedeutender Reft davon
ibm noch mitgegeben werden fonnte. Zu mehrerer Sicher:
gebung wurde denn bod) erit nod) an Bruder Müller ge-
Ichrieben, unterdeflen ein 93ruber bewirkte, daß er weniger
ftreng gehalten, auch zugelaflen wurde, daß man ihn einige-
mal allein fprechen fonnte, wo er fid) bann gar fünderhaft und
dahin erklärte: „ich bin wohl in der Sache, marum ich hier
gefangen bin, vor Menfchen unfchuldig, aber id) bin es nicht
vor bem lieben Heiland. Er hat Urſache genug, marum Er
biefe8 tiber mich zugelaflen bat; ich finde alles in meinem
bisherigen Herzensgang; ich war troden und gleicheiltig und
288
in manchen Untreuen vor Ihm, aud) in ber, bap id mid)
gegen das Erinnern in meinem Herzen viel zu viel mit
den politifchen Umftänden abgegeben, oft ziemlich unzufrieden
und [aut zum Schaden anderer, bie auf mich faben, Darüber
gedacht batte, überhaupt Er war nicht mehr mein Ein und
Alles; 0 wie danke id) Ihm, bap er mich gedemütigt und
wiederum auf mein Herz gebracht hat. Er fue nun mit mir,
was ihm gefällt. Zreilich meine arme Frau und Kinder liegen
mir bei Tag und Naht im Sinn, aber der Heiland wird auch
mein Gíeben für fie erhören und fid) nad) Notdurft ihrer
annehmen.”
Diefes bat der Heiland auch wirklich getan, wie man
bernad) vernommen, denn obwohl bie Franzoſen den Ort
geplündert unb feine Frau und Rinder mit allen Einwohnern
flüchtig werden mußten, fo ift ihnen bod) fein Leids wider:
fahren, haben fid) bie und da bei Gefchwiftern aufgehalten und
endlich alle bis auf eine erwachſene Tochter, bie fid) ihres
Vaters Unglüd fo zu Herzen nahm, daß fie darüber ftarb,
wieder nad) Neftenbach auríidfebren können.
Nachdem nun das Zeugnis von Bruder Müller ein-
gegangen und, wie man erwartete, gut ausgefallen war, [o
verwendete man fid) fogleich feinetwegen öffentlich. Anfäng-
lich (dien bie Sache bedenklich und Längerhin febr weitläufig
zu werden, aber ganz unvermutet lenkte der Heiland die
Herzen zweier Menſchenfreunde, daß fie fid) aud) der übrigen
8 Kameraden des Stephens mit großer Angelegenheit an-
nahmen, und in Verbindung mit denen gelang es endlich
unfern Brüdern, bie Loslaflung des guten Stephens und mit
bet auch bie für bie übrigen zu bewirken; es war aber dabei
für ung und ibn die unangenehme Bedingung, daß er fid)
jogleich mit feinen Kameraden nad) erhaltener Freiheit aus
23ajel begeben und er uns und fid) baburd) das Vergnügen,
jest erft einander zu feben und zu genießen, berauben mußte,
und dennoch fam er wegen damaliger Stellung der Armeen
noch nicht jo bald nad) Haufe, fondern wurde, ba er endlich
289 19
durch viele Umwege zu ben ruffifhen Qiorpoften gelangte
und feinen Paß vorzeigte, für einen Spion angefeben, ge-
fangen genommen und nad) Zürich gebracht, wo er aber auf
Verwendung der dortigen Gejchwifter, auf deren Belannt-
fchaft er fid) berief, bald wieder freigelaflen wurde und enb-
[id) zu feiner, feiner Frauen und Kinder großen Freude in
Oteftenbad) anfam.
Den 17. Auguft empfingen wir nad) 7 Monaten wieder
die erften Gemein-Nahrichten mit der Poft über Sranf-
furt a. M., worüber alle Gefchwifter in große Greube verfebt
wurden. Da feit einiger Zeit ftare Briefe und Pakete wegen
verbotener politifcher Rorrefpondenz bier viel geöffnet wur:
ben, fo refolvierte man, zuerft unferm Herrn Statthalter bie
Anzeige zu machen, daß ein Paket Schriften für uns eingehen
würde, welches Nachrichten aus dem Reich Gottes enthalte,
unb daß, wenn folches zu eröffnen nötig wäre, man ihn Dof-
ich erfuche, baB folches durch ibn gejdbeben möchte. Er nahm
folches gat gut auf, ließ aufs freundfchaftlichfte für das gute
Sutrauen danken und zugleich verfichern, baB mann wir auch
einen ganzen Schublarren voll diefer Nachrichten fommen
laſſen wollten, bier fein Siegel daran verle&t werden follte.
Dei meiner Nachhauſekunft (von der Beſuchsreiſe ing
Bafelbiet) am 27. September, hörte ich bie fid) beftätigende
Nachricht, daß Zürich wieder von den Franzoſen erobert
worden, weshalb nun auf der obern Straße alles gar unruhig
unb fid) jet vieles Militär wieder herabzöge. Wie froh unb
dankbar war ich bem lieben Heiland, wieder ruhig zu Haufe
zu fein!
Anfangs November. Zn biefen Tagen erfüllte die For⸗
derung über 11, Millionen 9o franzöfifcher Anleihe von
der Stadt Baſel faft alle Gemüter; bei den bisher und nod)
immerfort zu tragenden vielen Koften und Laften des Krieges
wollte es dem größten Seil der Einwohner fait zu ſchwer
fallen, fid) nod) zu einer fo harten Buße zu verftehen, und
batte vielen Anfchein zu einer Bärung ing Ganze, aber unfer
290
lieber Herr, ber bisher vorzüglich unferm Kanton bie Ge-
müter aum Nachgeben zu ftimmen wußte, fonnte auch diesmal
den größten Seil dahin lenken, und [o wurde gegeben, was
fein mußte, wobei unfere Gefchwifter, die mebriten mit ihrer
baldigen Ergebung und Willigfeit, ein gutes Grempel gaben.
1800.
Den 8. Mai gingen ih und meine Frau zu einem
Beſuch unferer Gefchwifter im weitern Zeil vom Ober-
Bafelbiet und waren erfreut, diefelben größtenteils in einem
lieblichen Gang zu finden, nur in Rümlingen famen zu
unferer Betrübnis nur drei in bie Verfammlung, und es hat
feine andere Ausficht, als daß biefe8 Häuflein fomie das
Zeglinger ganz eingebet.
Qn Diepflingen waren wir über Sonntag wie
gewöhnlich mit Vergnügen, weil wir immer nod) bie alte
Herzlichleit und CEinfalt hier wieder finden. Don ben
3 Orten, jo zu bem Oltinger Häuflein gehören, ijt fürz-
fid von Anwil ein lediger Bruder namens Johannes
Schaffner nad Neuwied Erlaubnis fuchen gegangen, die
er auch fpäterhin dort erhalten bat; fonft waren die Ge-
fhwifter bier erfreut über unferen Befuh und machten fid)
folchen für ihre Herzen zunuße.
Die Geſchwiſter in Lieftal nehmen nad) und nad
ziemlich ab, ba, wie überall auf dem Lande, gar feine neuen
Leute dazu fommen und bie jungen Leute fid) auch nicht mehr
wie bisher noch nachnehmen faffen; wir fanden hier ein paar
Sachen zu fchlichten, bie mit vieler Mühe, aber endlich bod)
durchs Heilands Gnade ganz abgemaht wurden, fonft waren
ung bie Herzens-Erflärungen der Gefchwifter arößtenteils
zur Steude, wenn fdon mandem mehr GSelbfterfenntnis,
fowie andern das ununterbrochene Bleiben beim Heiland
noch zu wünfchen gemefen wäre.
Diesmal hatten mit auf unferer ganzen Reife faft feinen
Franzoſen gefehen und nirgends bei unfern Gefchwiftern Ein-
291 19*
quartierung getroffen, welches uns febr wohl tat. Auch hier
in Dafel geht es damit febr erträglich, fo daß es gegen
ber vorigen Laft ein leichtes Bündelchen zu fein fcheint, wo-
für unfere Gefchwifter gar herzlich dankbar find, wenn einem
nur nicht bie armen Menfchen einfielen, bie bie Laft jet nur
nod) in einem weit höhern Grab zu tragen haben.
Den 8. Zuni machten wir einen vergnügten 93e[ud) bei
unfern Gefhwiftern in Binningen; es find dort 2 Ge
bülfen, von welchen ber eine bei den jeSigen Umftänden ganz
aufs neue — ba et fid) zu feinem Schaden eine ziemliche
Zeitlang darinnen fehr zerftreuet hatte — auf fein Herz ge-
fommen, welches einen lieblichen Einfluß aufs Häuflein
gehabt, daß Verfchiedene baburd) mit angefapt und ermuntert
worden, bem lieben Heiland aufs neue Treue zuzufagen.
Am 31. Auguft hatten bie ledigen Brüder in Baſel
aud) bie Nachfeier ihres Chor-Feftes, wozu fid aber vom
Sande diesmal nur wenige einfanben. Die äußeren Um—
fände haben auch auf manchen von denfelben einen gar jchäd-
[iden Einfluß gehabt, daß ihre obnebin nod) wenig ge-
gründeten Herzen von bem Geift diefer Zeit zur Ungebunden-
beit bingeriffen worden, bie fid) nun aus bem Wirrwar nicht
mehr herausfinden fünnen.
Aus unferm Ober-Bafelbiet vernahnten wir in diefen
Sagen allerlei bedenkliche Aeußerungen wegen ber von ber
Obrigkeit wieder hergeftellt werdenden Abgabe des Boden:
zinjes und 3ebnten auf dem Lande, welches auch unjere
armen Gefchwifter mehr oder weniger. in neue Serftreuung
brachte.
Wegen leótern fchrieb einer unferer ledigen Brüder
auf dem Lande folgendes an mid: „Was mir jet obenauf
[iegt, iff bie Wehmut, baB alle Gemüter, und teild aud)
unfere Gefchwifter, von ber befannten Sache erfüllt find; das
Evangelium fann nur noch bei wenigen wirken und fein
Totes läßt fid) mehr ins Leben rufen. . . ."
September. Nachdem wir am 18. unfere Gefchwifter
292
in Viel und 93enfen bejudjf, bie wir über ibre
äußere Ruhe, daß fie jet feine Einquartierung hatten, febr
pergnügt und fonft größtenteils den Genuß am Heiland
fanden, fo gingen wir am 27. zum andern Seil unferes 23e-
fuhs ins Ober-Vafelbit. Wir fanden insg Ganze viel
Urfache, bem Heiland zu danken, daß Er fein Werk unter
denen nod) immer beträchtlichen Häuflein in Qubendorf,
Ziefen und Arboldswil ferner gnábiglid) fortfübrt,
die treuen Seelen mehr auf fid) gründet und manche andere
aus Not und Liebe mehr nad) ihm bliden macht, aber bod)
faben wir aud) mit DBetrübnis, baB ber Geift diefer Zeit
bei den ungegründeten Gemütern immer mebrem Einfluß
erhält, fie entweder mit vergeblicher Hoffnung von beffern
Seiten blenbet oder ihre Herzen mit Sorgen der Nahrung
für jet und für die 3ufunft fo befchwert, baB das Fünkchen
Glaube und Liebe zum Heiland nad) unb nad) verweht und
erftirbt, welches bie Urfache war, daB wir auch diesmal Diet
einen ftarfen Abgang fanden.
Den 26. Oktober erzählte mir ein Bruder von Aris-
Dorf, der unlängft evít fid an das dortige Häuflein an-
gefchloffen, Folgenden Umftand, welcher ibm bei denen zu An:
fang biefe8 Monats vorgemefenem Aufftand der Landleute
wegen von der Obrigkeit wieder geforderten 3ebnfen und
Bodenzins vorgefommen. „Sch war ganz der Meinung”, fagte
er, „Die Obrigkeit babe Unrecht, bap fie biefe Abgabe wieder
forderte, und als man die Gemeine in unferem Ort sufam-
menfommen ließ und diejenigen aufrief, welche den Zehnten
und Bodenzins nicht geben wollten, aus dem großen Haufen
berauszutreten, damit: man fie gleich auf ber Gtelle biet
niebermad)en und ihre Familien von Haus und Hof jagen
fönnte, und fid) aus Furcht niemand meldete, fondern viel-
mehr alle beim zweiten Aufruf, wer nun deshalb gegen bie
Obrigkeit marfchieren und Leib und Leben für bie Cade
wagen wollte, willig waren, fo war ich ohne 23ebenfen von
ber Partei. Als wir nun aber bald darauf nad Lieftal
293
gingen, vor bem Haufe des Gehülfen- Bruders vorbeifamen,
der mit vieler Mühe im Ort auf der Wache zu bleiben er-
langt hatte, fahe mich ber febr betrübt und nachdenklich an;
das fuhr febr in mich, fonnte aber in dem Getümmel unb
Lärmen, ber auf dem Weg und immerfort bei Tag und
Naht währte, feine Leberlegung anftelen. Da wir aber
nad) 2 Sagen einftweilen wieder ung nad) Haus zu begeben
beordnet wurden, fo ging ich gleich zu ihm und fragte ihn
bieferbalb; da erfuhr id) nun, bap er gar nicht meiner Mei-
nung fei, unb er fagte: „Sünger und Nachfolger Sefu follen
unter keinerlei Umftänden, wenn's nicht ihr Gewiſſen betrifft,
widerftreben, und wer befonders der Obrigkeit widerftrebt,
würde über fid) ein Urteil empfabn."
Od) fonnte ibm gar nicht beiffimmen und verlieh ibn
ziemlich unzufrieden, aber nun wurde id) febr unruhig, unb
je mehr id) mit jemand anderem von der Sache redete, je
mehr nahm folche zu; ich wußte mich nicht zu laſſen, Tief aufs
Gelb, im Haus überall berum, meine Frau, Vater, Mutter
unb viele Leute fragten mich, ich gab feine Antwort, endlich
ſchrie id) aus aller Macht: „Herr Jeſu, erbarme dich meiner”,
und gleich war’s mir fo: „der Gebilfe bat recht, du darfit
nicht widerftreben, bu biff dem Heiland zur Cdmad) und
Schande damit gewefen, aber nun will ich’S für aller Welt
befennen und wenn id) gleich mein Leben laſſen müßte.“ Ich
fagte es darauf gleich in meinem ganzen Haufe, bie fid) alle
höchlich über bie Veränderung wunderten, der Gebilfe aber
fid von Herzen mit mir darüber freute, id) wurde aber bod)
nicht eber ganz ruhig, als bis nad) einigen Tagen bie Nach—
richt fam, daß die Sranzofen in Giffad wären, und welche
von ben Landleuten nicht fogleich ihre Waffen ablieferten,
folíten als Rebellen behandelt und ihr Srt mit Geuer ver-
brannt werden, ba trug ich mein Gewehr mit Sreuden bin,
nun war ich ganz ruhig und nun Ffonnte ich aud) erft recht
glauben, bap mir der liebe Heiland alles vergeben habe.”
Den 2. November befuchten wir bie Gefchwifter in
294
Riehen Wir fanden bie alten Gefdwifter Went
wiederum von ihrer fürglid) gebabten Krankheit hergeftellt
und voll Lobes und Dankes über alles, was der Heiland in
ihrem Alter und bei ben febr drüdenden äußern Umſtänden,
ba befonders diefer Ort vom franzöfifhen Militär duperft
mitgenommen worden, an ihnen getan bätte.
1801.
Den 18. Februar fam aud) bier die fröhliche Botſchaft
des zu Lunöville geichloflenen Friedens an, aber die Freude
darüber währte nur die erften Tage, denn es zeigten fid) bald
bebenflide Spuren von Unruhen auf dem Lande, bie bei
einer abermalig veränderten Regierungsverfaflung unver-
meiblid) ausbrechen würden, menn bie Schweiz, wie es hieß,
fid) dabei felbft überlaflen fein follte!
Den 11. April Landbefuh in Diepflingen Die
Erwartung wegen einer neuen Regierungsform befchäftigt
nun wieder bie armen Landleute und unfere Gefchwilter
fommen dabei teils in abermalige Zerftreuung, teils in neue
Berlegenheit, menn fie von den Drtsbeamten um ihre
Meinung dieferhalb befragt werden; ber hiefige Gebülfe bat
ihnen indes abermals febr weislich geantwortet: „Ihr wißt
wohl”, fagte er zu ihnen, „Daß ich bei ber neuen Ordnung
der Dinge nichts babe helfen aufbauen, barum iff meine be-
flimmte Meinung, daß id aud) nichts will helfen niebet-
reißen”, und damit fam er zur Verwunderung der ganzen
Gemeine ohne weitere Anfechtung durch.
1802.
Qiom 11. bis 13. Mai machte id) einen erfreulichen
Beſuch in Lieftal. Sn der Gefellichaft der verheirateten
Brüder fielen diesmal gat offenherzige Erklärungen; unter
andern äußerten fid) drei davon, welche anfangs, wenn nicht
jeldft tätig, bod) ziemlich laut Für bie neue Ordnung ber
Dinge waren, einer wie der andere darüber febr fünderhaft,
295
fie begeugten, daß fie an ihren Herzen, befonders bei Sanb-
babung des obrigkeitlichen Amts, welches fie feitdem befleidet,
viel Schaden gelitten, denn fowohl der Umgang mit fo vielen
andern Menfchen, als die fortwährende ungewohnte 3et-
ftreuung bätte fie je länger je mehr vom Heiland entfernt, und
bie beftändige Uneinigkeit und Zwift, bie mit der Ausführung
einer jeden neuen Verordnung an ihre Mitbürger verbunden
gemejen und immer fchlimmer werde, fei ihnen gleichfam ein
nagender Wurm an ihren Herzen; wiederholendlich dringend
hätten fie fchon einzeln und gemeinfchaftlich um die Ablöfung
von ihren Aemtern, aber immer noch vergebens gebeten, nur
gang Fürzlich hätten fie endlich Hoffnung dazu, fie fähen aber
voraus, daß fie ganz zulett Lostommen würden, welches fie fich
inbelfen als eine gerechte und die Eleinfte Strafe dafür nähmen,
daß fie fid mit einer fofd)en Sache befaßt und manchen
Gefchwiftern baburd) Anftoß gegeben hätten; bod) wären fie
dem lieben Heiland mit Tränen dankbar, daß Er es ihnen
nut recht [der werden Laflen, weil E t ihnen dadurch wieder
auf ihr Herz unb zu einem ganz andern 93lid in die jeßigen
Zeiten verholfen.
Da aud) in Lieftal feit Jahr und Sag eine Art von
Kantonsſchule errichtet und den Teilnehmern große Ver—
beiBungen in Abficht des Unterrichts in allen nötigen Wiffen-
ſchaften und Religion gemacht worden, fo haben fid) aud)
einige von unfern Geſchwiſtern belieben laſſen, ihre Kinder
dahin zu fdiden, aber fie feben mit Betrübnis, daß ihre
Kinder leibli und geiftlich Schaden leiden und fie das
Engagement von 3 Zahren nicht werden ausdauern können.
„Man füllt den Kindern”, fagte einer von den Eltern, „den
Kopf mit lauter Dingen, bie, wenn nicht ſchädlich, bod) für
fie größtenteilg unnüß find, und wobei felbft bie gute Abficht
des lieben Bruders Pfarrer Eglinger, ihnen gratis felbft
ben Religionsunterricht zu geben, wenig Nuten bat.”
Den 14. September Befuh in Binningen, bie Ge-
fhwifter äußerten fi), daß fie jeit 5 Sabr gar viel mehr
296
wieder an ihrem Herr Pfarrer (Rapp) bütten, welcher aud)
gegen uns aufs neue wieder recht freundfchaftlih und auf
die Einladung des einen Gebülfen, mit feiner Grau mit ung
zu Mittag zu effe, gefommen war, bod) ift er nod) nicht
gang von feiner politifhen Meinung und dem in fo vielerlei
Irrtum verführenden Geift der Zeit Tog.
Den 16. traten wir unfere nod) übrigen Landbefuche
ins Ober-Vafelbiet, ungeachtet ber bie und da fid) fdon
zeigenden Unruhen, in Gottes Namen an und fonnten bie-
felben mit der Hülfe unferes Lieben Herrn am 27. aud) un-
geftört beenbigen, unb aller Orten waren bie Gefchwilter über
unfern 93efud) umfo erfreuter, a[8 er ihnen wegen den Um-
ftánben unverhofft, aber fonft befto nótiger fam.
Sn Lieftal, aufen, Ober- unb Niederdorf
fanden wir die Gemüter freilih mit denen Gebanfen unb
Wünfchen für bie Wiederhberftelung der alten Regierung
mehr oder weniger eingenommen, bod) nicht mit folcher gänz-
lichen 3erffreuung wie bei der Revolution vor 4 Jahren,
gegenteils trieben diefe Imftände mehrere von unfern Ge-
fhwiftern zum Heiland, daß Er das faff unvermeidlich
fcheinende große Blutvergießen ber gegen einander fo duBerft
erbitterten Parteien im Lande aus Gnaden verhüten molle.
Sn Lieftal war es zwar wie gewöhnlih am unruhigften
unb in der Nacht vom 18. auf den 19. ftürmte ein Srupp
von mehr als 40 jungen mutwilligen Leuten das Haus des
Statthalters und hatten wohl bie böfefte Abficht, er batte fid)
aber auf dringendes Anhalten feiner Stau, welche eine
legitimierte Schwefter ift, nod) zu rechter Seit davon gemacht,
und fo mußten fie unverrichteter Sache wieder abziehen, in-
deflen zogen fie mit einem wütenden Gefchrei und Gefang
bie ganze Nacht in der Stadt berum und niemand war, der
ihnen Einhalt tun mochte; wir hatten ziemlich den größten
Seil des Lärmes verfchlafen, ba unfer Logis diesmal an
einer abgelegenen Seite des Städtchens bei unferm lieben
Bruder Pfarrer Eglinger war.
297
27. September. Bei unferer 3urüdfunft in Baſel
trafen wir in Abficht der Regierung alles febr verändert und
voller Freude an, daß faft niemand mehr zweifelte, daß bie
alte Zerfaflung wieder fo gut als bergeftellt war, als bie
Proflamation Bonapartes am 7. Oktober, daß bie revo-
[utiondte Regierung wieder eingefeßt werden follte, bie ganze
Cade unb alle froben und guten Ausfichten mit einem Mal
umwarf; es machte bei den Greunben ber alten Verfaflung
eine erflaunende Alteration, wie verfteinert wußte niemand,
was er fagen follte; bod) war fein ander Mittel, als fid) zu
beugen.
1803.
Den 17. und 18. Auguft befuchten wir in Lieftal und
fanden zu unferm Schmerz viele unter dem dortigen Häuflein,
und was das fchlimmfte war, auch bie Gebülfen, in neue poli-
tide Händel verwidelt, wodurch denn mehr als je zuvor Lieb-
[ofigfeit und Swietracht unter ihnen herrſchte; wir machten
verfchiedene Verfuche, fie auf bie Art zu vereinigen, daß wir
uns weder mit bem einen fein Recht, noch mit dem andern
fein Unrecht zur Unterfuchung einließen, fondern fie nur auf
ihr Herz und wie ein jedes für feinen Seil damit vor bem
Heiland ftehe, zu führen fuchten, aber wir faben mit großer
Wehmut, daß e8 wenig oder gar feinen Eingang fand unb
daß für bie Zeit nun gar nichts zu machen fei; wobei ung
denn befonders um mehrere treue Seelen unter ihnen leid
unb bange war, daß fie zuletzt auch nod) mehr oder weniger
Schaden nehmen und von ber Einfalt in Gbrijto verrüdt
werden möchten.
Sn Arisdorf ift in bielem Jahr das Häuflein bis
auf 8 Derfonen vermindert worden, 2 Ehepaare, bie ziemlich
bemittelt waren, find mit Kind und Kindeskindern nad)
Amerika ausgewandert, bloß um, wie fie fagten, ihre Greibeit
wieder zu erlangen, keine PVorftelungen fonnten fie auf
andere Gedanken bringen, fie verficherten, daß ihr Sinn fei,
298
nicht nur Dort aud) bem Heiland zu leben, fondern fid) nit-
gends anders als nahe bei einem PBrüder-Etabliffemente
niederzulafien und der Brüder Gemeinfchaft zu fuchen, und
mußten wir fie bann mit vielem Bedauern in einer Gefellfchaft
von mehr als 200 erwachfenen Perfonen von hier zu affer
abreifen fehn; bei einem dritten Transport iff ihnen nod)
ein Ehepaar mit 2 Kindern von unfern Gefchwiftern in
Laufen nachgefolgt.
Befuh in Rieben. Sonſt hatten wir nicht viel
Steude bier; ba feit mehreren Zahren nicht eine Seele zu
dem Häuflein bingugefommen, fo wird dasfelbe immer Heiner,
bie wenigen alten und reellen Gefchwifter fterben weg und
die übrigen find mehr oder weniger in einem ziemlich [chläf-
rigen und gleihgültigen Gang, wozu wohl auch ber bierortige
Gebilfe, welcher feit ber Revolution von feinem ganzen Sinn
für den Heiland verloren unb fid auch nicht wieder retten
fann, das Geinige beigetragen haben fann; es blieb uns
nichts übrig, als fie insgefamt bem erbarmenden Herzen Jeſu
zu neuer Belebung und Anfaflung zu empfehlen.
299
Das Zünftlerifche Leben ín Baſel.
Dom J. November ]9J3 bis sum 3J. Oktober J9J4.
Ein Rüdblid
auf Theater, Mufil und bildende Runfe.
Don Albert Gefler, ££. Cb. Markees und Mar Alioth.
A. Sheater.
Sollen wir jammern? Der Theaterbefuh bat im De:
rihtsjahr immer mehr abgenommen; der Finanzausweis
zeigt auf allen Punkten Otüdgang. Das Inftitut bat
Gr. 95 885.42 Verluſt erlitten. Inter folchen Umſtänden
war ber Entihluß der Theaterkommiſſion begreiflich, auf:
zubören, wenn nicht große ftaatlihe und private Hilfe
fomme. Iſt das nicht zum Weinen?
Aber e8 gibt aud) in biejem Unglüd Lichtftrahlen.
Erftens ift ein Sheaterverein gegründet worden, zweitens
find Weltereigniffe hereingebrochen, welche einen Theater:
betrieb unmöglich zu machen fchienen; aber gerade daraus
it eine neue Hoffnung erwaht. Die Verträge auf die
Saifon 1914/15 hatten zwar gelöft werden müffen, da taten
ft aber Männer aus ber Theaterfommiffion unb bem S beatet-
verein zufammen und berieten eine Hilfsaftion, um dem
Künftlerperfonal Gelegenheit zu geben, auch während der
Kriegszeit fid zu betätigen. Einftweilen wurde auf zwei
Monate ein Theaterbetrieb gefichert, allerdings ein be-
Iheidener. Opern werden nicht gegeben; Schau: und Luft:
fpiele follen den Hauptteil des Repertoirs bilden; nur drei-
mal in der Woche foll gefpielt werden. Und fiebe ba: das
Theater füllt fid) wieder; frühere beffere Zeiten jcheinen
300
wiederzufehren. Das ift ein Segen in biefer trüben Zeit und
eine Hoffnung auf die Zukunft.
Cod) nun vom lebten Sabre.
Die Spielzeit begann am 22. September 1913 und
dauerte bis zum 29. Mai 1914. Es wurden 276 Vor—
ftellungen gegeben.
Unter biefen war eine raufführung: Felix Möſ chlins
Schauſpiel „Diamanten“.
Schau: unb Luſtſpiele wurden 35, Opern 32, Operetten
12, ein Ballett unb vier franzöſiſche Vorſtellungen gegeben.
Das Schaufpiel bradyfe vier Stüde zum erftenmal auf bie
Basler Bühne, nämlih: „Ein idealer Gatte" von Bernard
Shaw, „Die Arlefierin” von Alfonſe Daudet, mit Muſik
von Bizet, „Candida”, abermals von Shaw, „Kampf“ von
Galsworthy und ,93elinbe" von QGulenberg. Erſtauffüh—⸗
rungen von Luftfpielen waren: „Die heitere Refidenz” von
Guftav Engel, „Der getreue Edehardt”" von Hans Sturm
und „Lyfanders Mädchen” von 3. Q3. Widmann. An
Dpern ftanben „Der Schmud der Madonna” von Wolf:
Serrari, „La serva Padrona“ von ©. B. Pergolefi und „Don
Pasquale“ von Donizetti zum erftenmal auf den Basler
Brettern, an Operette „Srühlingsluft” von Grnft Reiterer,
„Alt: Wien” von Emil Stern, „Suſi“ von 9f. Renyi unb
„Polenblut” von Oskar Nedbal. Ein YBalletdivertiffement
. fieferten ung die Gefchwifter Wiefenthal.
Neu einftubierf waren folgende Gchaufpiele: „Die
Braut von Meffina” von Schiller, „Sappho” von Grill
parzer, „Der Erbförfter" von Otto Ludwig, „Das Glüd
im Winkel” von Sudermann, „Ein Sommernadtstraum”
von GChbafe[peate, „Ein Falliffiement”" von 93jórnfon. Im
Luftfpiel wurde ein biftorifcher Cyklus geboten, welcher
Stüde von Hans Sachs, Goethe, fo&ebue, Körner, Kleift,
Gutzkow, Anzengruber und Freytag umfaßte. — In ber Oper
waren Verdis „Othello”, Mozarts „Entführung aus bem
Serail" und „Don Juan”, Humperdinds „Hänfel und
301
Gretel”, Wagners „Rienzi”", Maſſenets „Manon” und
Aubers „ra Diavolo“ neu wiederaufgenommen, in ber
Operette „La Mascotte”" und „Die Puppe” von Edm.
Audran.
Als Güffe traten auf: der Basler Schaufpieler Otto
Eppens vom Stadttheater in Hamburg im „Tell“, im „Erb-
förfter” unb im „Zalliffement”, Silla Durieue vom Leifing-
theater in Berlin in Wedefinds „Erdgeift" und in Brieur’
„Roter Robe”. Zn ber Oper faben wir Marguerite Sylva
in „Carmen“, in „Cavalleria rufficana" und im „Bajazzo“,
Gri& Vogelſtrom als „Lohengrin“, Gácilia Ruefche-Endorf
in der „Walküre“, Georg Baklanoff als Gauft und Heinrich
Henfel als Siegfried.
Die Basler Dramatiihe Gefellidjaft gab „Alt-Heidel-
berg" und „Stein unter Steinen”.
Die vier franzöfifchen Vorftellungen waren meift wert-
Iofe, aber gut ge[pielte Sentimentalitäten. — Un der Spiße
des Theaters ftand Herr Direktor Leo Meliß.
B. Konzerte.
Die Ronzerte bet Allgemeinen dteritssfetbs
haft nahmen wie gewohnt ihren Anfang im Oftober 1913
und dauerten bis Ende März 1914. An Otovitáten brachten
bie Cgmpbonieabenbe u. a. eine DBallet-Suite von
Mar Reger, eine „Suitefympbonique” („Prin-
temps”) von Debuffy, ein Violinkonzert von
Zulius Weismann, ben „Lebenstanz” von Fr.
Delius unb Guftav Mabhlers „Lied von ber
Erde. Daß außerdem die großen Meifter ber Haffiichen
unb ber romantifchen Richtung ausgiebig zu Wort famen,
if felbftverftändlich; biefe Konzerte follen ja jedem etwas
bieten. Auch die Rammermufifabende, deren Programme der
Hauptſache nad) bie Herren des Basler Streihquar-
tetts Kötſcher, Krüger Küchler unb Treid-
302
Ler) beftreiten, ateben, wo fid) Gelegenheit dazu bietet, gute
Erfcheinungen der neueren Literatur heran, wenn fie auch,
wie e8 in der Natur diefer intimen Kunſt liegt, mehr auf
den ebernen Beſtand klaſſiſcher Meifterwerke angemiefen find.
Soliftifeh betátigten fid) in den Symphonie- und Kammer:
muftfabenben eine Reihe ausgezeichneter Rünftler und Künſt⸗
lerinnen, von denen wir bier indeflen nur einige aufführen:
Rudolf Gana, Sofepb Szigeti, Alfred Gor-
tot, Gerard Helling Paul Otto Mödel,
Paul Zuon Frau Noordewier Grau Du-
rigo, Unna Hegner und einige andere unfrer einhei-
mifchen Künftler. Geleitet wurden die N
von Rapellmeifter Hermann Suter.
Der unter gleicher Direktion ftebenbe Basler Ge-
fangverein bradte am 5. und 6. Dezember 1913 ein
neues geiftlihes Chorwerf von Hans Huber, „Weis-
fagung und Erfüllung” (Soliften: Grau Mühle:
mann- Did, Gt. $. Brenner Hr. Rühlborn,
H.R. Q8 9 B). Sodann erinnerte er fid) im März (14. und
15.) nach längerer Zeit wieder des Requiems von
Verdi. Hier waren die mitmirfenben Soliften bie Damen
9t. Zacques-Dalcroze Nahm-Fiaurx, ſowie
die Herren Plamondon unb Boepple. Sum Ab—
Ihluß eines Saifonprogrammes hatte der Gefangverein ben
Händel’fhen „Meffias” beftimmt; das Werk erfíang
denn auch am 6. und 7. Juni im Münfter. Das Golilten-
quartett ftellten bie Damen Noordewier, Philippi,
und die Herren Ot. Jung und Th. Denys. An biele
Aufführung ſchloß fid) am 8. Sunt ein Vollsliederfongert, in
dem fowohl der Chor wie aud) bie eben Genannten eine An-
zahl von Volksliedern verfchiedener Nationen zum Vortrag
brachten.
Voͤllig auf kirchliche Kunſt beſchränkt bat fid aud) in
diefer Saifon wieder ber 33a dj - Gb or (Dirigent: Adolf
Hamm); feine Programme enthielten einen Teil des
303
93ad'íden Weihnahtsoratoriums (bie Kan-
taten 4—6; Soliften waren Grf. € Homberger, Gi. 9.
Brenner, H. Richard Fifher und Hr. Nahbm);
bie G-bur-OXeffe von Mozart, eine Motette
unb eine Kantate von Bad. Goliften: Grau Wesler,
Gi. 9. Gautſchy, Hr. &ron unb Hr. Deutſch. Das
erfte Konzert fand am 21. Dezember 1913, das zweite am
7. April 1914 ftatt.
Die Liedertafel vereinigte fi am 18. unb
20. Sanuar 1914 mit bem Gefangperein zu einer Auf-
führung ber „Damnationde Fauſt“ von Berlioz.
Die Coliften waren Grau Cahnbley-Hinken und bie
Herren Plamondon, v. Raab-Brodmann unb
QUpfB. Das übliche Soliftenkonzert folgte am 19. Januar.
— Das Frühlingsktonzert des Vereins (9. und 10. Mai) war
ausihlieglih Werken Friedrich Hegars gewidmet. Es
wirkten dabei foliftifh mit Frau Lobftein-Wirz unb
Hr. Willemde 93oer.
Der Basler Männerhor (Direktion: G. Zul.
Schmidt) hielt am 9. November 1913 ein Orchefterkongert
ab unb bob eine febr beifällig aufgenommene Novität aus ber
Saufe: „Belfazars Gefidjt" vn Hans Huber
(Mitwirkende Ooliftin: Frl. €. Huber). — Mas Lieder-
fonzert fiel auf den 17. Mai 1914. Gofijtin war Fräulein
A. Hegner.
Der Basler Volkschor, der unter der Leitung
von G. f$ id) Ler ftebt, batte fid) eine Aufführung von Men-
delsſohn's „Daulus” zum Ziel gefebt und trat mit
bielem Werk im April vor das Publitum. Als Soliſten
hörten wir bie Damen Zaeslin und Gaut[d y, fowie
die Herren Ernft und Reiner.
Aus der Zahl ber übrigen Konzerte erwähnen wir einen
Liederabend von Frl. M. Philippi mit Walter
Courvoifier und einen folden von Grau Durigo.
Einen glänzenden Verlauf nahm am 22. Februar ein Ertra-
304
tonzert der Allgemeinen Muſikgeſellſchaft mit Eugen
d'Albert. Die Orgelfongerte, bie Adolf Hamm im
Münfter veranftaltete, erfreuten fid) eines [febr zahlreichen
Beſuches. Ernſt Th. Markees.
C. Malerei unb Plaſtik.
Der erſte Kunſtanlaß im Berichtsjahr war die ſo—
genannte Jubiläumsausſtellung. Der Kunſtverein feierte
feinen fünfzisften Geburtstag und hatte deswegen Die
Basler Künftler zu einer befonderen Schauftellung ihrer
Werke eingeladen. Es war aber wenig mehr als eine gembbn-
fide Weihnahtsausftellung. Hervorragende 93ilber waren ein
fitendes Mädchen von Paul 93. Barth, eine Grablegung
Ehrifti von Numa Donze unb ein Bildnis von Hermann
Meyer. Alle drei hatten aud) originelle Landſchaften zu
zeigen. Figürliches boten ber in Zeichnung und Farbe ftarfe
Eugen Ammann, ferner Paul Altherr, Wilhelm Balmer,
Theodor Barth, Creszentia Bächler, Walther Bär, Ida 23au-
mann, Emil Beurmann, Rarl Did, Hans Garnjobft, Mar von
Geymüller, Frau Haßler-Ernft, Frau Hedwig Reerl-Thoma,
Marie Lob, Albreht Mayer, Frau Mons- Smbof, Gitber
Mengold, Fritz Mod, Heinrih Müller, Eduard Niethammer,
Chriſtoph Debler, Otto Plattner, Rarl Pflüger, Arthur
Riedel, Augufta Roßmann, Hedwig Schenermann, Alfred
Soder, Gertrud Stüdelberg, Marie Gtüdelberg, Eſther
Socin, Marguerite Tiffot, Hans Beat Wieland und E. QU.
Wolf. Die meiften ber Genannten hatten aud) Landfchaften
au$geftellt. In diefem Fache waren teils gute, teils febr
idivade Gemälde vorhanden. Wir nennen Paul M.
Artaria, Charles Bernoulli, Grnft 93reitenftein, Paul 93urd-
bardt, Mar Bucherer, Ernft Yuchner, Luife David, QU. be
Goumois, 9. Diſchler, Rud. Dürrwang, Walther Gnbols,
Paul Flury, Arnold Fiechter, Gottfried Herzig, Albert
305 20
Kohler, Franz Krauß, Adolf Kron, $. U. Kündig, Maria
9a Roche, Alfred Leite, Rudolf Löw, Otto Mähly, 23utt-
hard Mangold, Alfred Meyer, Carl Theodor Meyer,
Mar Müller, Hans Portmann, Karl Reber, S. €.
Rüdifühli, Regnault Sarafin, Grnjt Schieß, Emil Schill,
Maria E. Schultheh, Gertrud Schwabe, Q3. Seefeld, Ernft
Seifert, W. Siegrift, Hermann Sondermann, Carl Speifer,
D. Gfaiger, Fri Voirol, Albert Wagen, Charlotte Weiß
unb Grau Martha Wittwer. — Plaftit gab'$8 von Hans
Grei, Auguft Herr, Hanns Zörin, Otto Meyer, Jakob Drobfl,
Dtto Roos unb Auguft Suter.
. Nach diefer Zubiläumsfhau, melde im Grunde nichts
Zubilierendes an fid) hatte, jonbern eher unter bem Grid)
des Gemwöhnlichen war, fam eine äußerft fehenswerte Aus-
ftellung von nur vier Künftlern. Erftens war der Nachlaß
des Thurgauers Hans Brühlmann zu fehen: flotte Akte,
figürlide KRompofitiosnen von großem Wurfe, Porträts,
Landfchaften und namentlich Stilleben von einer Zeichnung
und farbigen Pracht, bie an die beften modernen Sranzofen
denken ließen. Sweitens der Basler Heinrich Altherr,
Profeffor an der Stuttgarter Stunitid)ule. Auch er gab be-
beutenbe Rompofitionen, unter welchen ein „Orpheus und
bie Mänaden” bie gemaltigite war, ferner fchlichte, groß:
empfundene Porträts, fchlieflih Landfchaften. Alles dies
erregte Intereffe und Greube. — Carl Gafpar in München
Ihafft refigiófe 93ilber, welche burd) den Naturalismus
bindurchgegangen find, aber weit über ibm ftehen. Ein
„Ehriftus am Delberg” ragte weit hervor. Als vierten lernte
man ben Ruſſen Robert Genin kennen, den Maler traum-
bafter, aber innig empfundener Figuren und Landfchaften.
Cafpar und Genin erregten Kopfſchütteln; aber fie zeigten
eine Richtung der modernen Runft, in der manches Neue
und feltfam Schöne erreicht wird.
Im Februar fam eine Ausftelung, bie mehrfach an die
alten „Permanten” im fehlimmeren Sinne gemahnte. Emit
306
Dreitenftein, 3. €. Raufmann (Luzern), Charles Flach
(Srigels) batten viel zu viele 93ilber, auch folche von
minderem Werte, ausftellen dürfen, als daß ihre Kollektionen
irgendwie oder irgendwen hätten anziehen fónnen. Die Mit-
telmäßigfeit ber Ausftellung wirkte fo drüdend, bap Walther
Bär mit farbig und zeichnerifch originellen finberbilbern,
ja daß nicht einmal Mar 93urgmaier (?larau) mit gtof-
artigen AJuralandfchaften, feinen Blumenftüden und 2[qua-
rellen den Befchauer reftlos erfreuen fonnten. Auch Marie
90$, bie fid) als farbenftarfe Porträtiftin zeigte, und Plinio
Gofombi, der bod) fonft mit feinen Winter- und Verner-
landfchaften einzufchlagen pflegt, fonnten den Gejamteinbrud
der Ausftellung nicht heben; noch weniger vermochten dies
Ettore Burzi (Lugano), Felice Desclabiffae (Gmunden),
Joſeph Schönenberger, Albert Schweizer und U. 98. Züricher
(Ringoldswil), trogdem auch fie, namentlich in Landfchaften,
Gutes gebracht hatten.
Om März wurden wir dann reichlich entſchädigt. Da
ftellte der Maler und Bildhauer Carl 93utdbarbt Modelle
und Entwürfe für bie Sandfteinrelief am Kunſthaus in
Zürih aus: Fünf gewaltige Metopen, die Hälfte eines
Amazonentampfes; fie riefen mit ihrer prächtigen Verteilung
im Raum, ihrer antifen Ruhe und ihrer Einfachheit im Aus—
drud bet Künftlern und Laien Bewunderung hervor. Dazu
waren eine Menge Rötel-, Kohlen- und DVleiftiftftudien zu
feben, welche das Können Earl 93urdbarbts ebenfalls ins
befte Licht fetten. Ueber den ganzen Eyflus, das bebeut-
famfte Bildhauerwerf eines Gchweizers, wird in der
Münchener „Runft für Alle” (29. Sabrg. 22. Heft, ©. 526 ff.)
berichtet. — Im untern Saale waren Arbeiten des 93asler
Malers Gbriftopb Oehler ausgeftellt: große Figuren:
fompofitionten, Portraits und Landichaften. — Gleichzeitig
waren wieder einmal eine Anzahl Originalzeichnungen aus
dem „Simpliziffimus” und franzöfifhe Otabierungen (von
M. Achener in Paris) zu feben.
307 20°
Die April-Ausftellung brachte ungefähr fünfzig alt-
bolländifche Gemälde zur Schau, bie recht gute Bilder und
noch beljere Namen aufwies. Daneben gab'$ wieder einmal
eine Carl Theodor OXteper-Galerie. Der in München lebende
Basler Landfchafter, der Sohn des gemütvollen Dichters
Dr. Theodor Meyer-Merian, ift immer nod) in Q9anb-
Ihaften, Paftellen, farbigen Zeichnungen, €itbograpbien und
Radierungen jo frijd und tief wie vor fünf Luftren und
fand darum unter alten und jungen Yasler Runftfreunden
verdiente Anerkennung. Neben feinen Bildern bingen
farbige Suralandfchaften von Albert Kron. Ein Basler, der
felten bei uns erfcheint, ift Carlo Bödlin, ber jüngfte Sohn
des Meifters. Er batte eigenartig aufgefaßte fonnige italie-
nifhe 9anbidaften ba. — Ein ausgefuchtes Ertra diefer
April-Ausftelung waren Handzeichnungen und Skizzen⸗
bücher von bem verftorbenen Karl Stauffer-Vern, bem großen
Künftler und [der vom Schidfal beimgejudbten Menſchen
(1857—1891).
Sm Mai beftritt ein junger Basler Figuren- und
Landſchaftsmaler, Arnold Fiechter, den Hauptteil der Aus—
ftellung. Er leiftete den Beweis — wenn ein folcher über-
haupt nötig wäre — dab in Baſel eine Anzahl junger
Maler am Werk tit, welche, nicht im Geleife ber jogenannten
„Modernen Schweizer” wandelnd, eine Runft hervorbringen,
die in Form, Farbe und Auffaffung originell, ja ftellenmeije
groß ijt. Neben Fiechter batte Lucien Mainffieur in Paris
ausgeftellt, römifche, Dauphine- und Bugey⸗Landſchaften,
welche treffliches franzöfiiches Können zum Ausdrud einer
eigentümlihen Melancholie verwenden. — Daneben gab
Pablo Picaffo in mehr als vierzig Bildern und 3eid-
nungen bem Basler Publitum fubiftifd)e und futuriftifche
Rätfel auf. Trotz biejen Verkleidungen mar der virtuofe
Zeichner unb Farbenzauberer wohl zu erfennen. — Bilder
von Julius Moos in Birsfelden und von ber Baslerin
Grau Martha Wittwer-Gelpfe füllten, zufammen mit
308
Werfen von bem Münchner Rudolf Cief unb dem Ham-
burger W. p. Rudtefchell den übrigen Raum der vier Säle.
Sm Zuni fam ein alter treuer Freund zu uns in bie
funftballe, Hans Thoma, der Karlsruher Meifter, als ge-
botener Schwarzwälder unjer guter Nachbar. Der ganze
otoBe Oberlichtfaal war ihm referviert worden. Die Aus—
ftellung zeigte neben manchem alten vorzüglichen Bild eine
Reihe neuer unb neuefter Gemälde, bie barfaten, daß ber
nahezu fünfundfiebzigjährige Künftler immer nod) an ber
Arbeit iff unb dann und mann Dinge fchafft, welche einem
ungen und Züngften zur Ehre gereichen würden. Auch von
Thomas verftorbener Gattin war einiges in der Austellung
zu feben. — Ein Geiftesverwandter Thomas, nicht fein
Schüler, aud) nicht ein Nachahmer, ijt ber pbantafie- und
gemütvolle tüchtige Basler Radierer Arthur Riedel. Er gab
Figürliches, fowohl ganze Rompofitionen wie Porträts, und
Landſchaftliches; an allem fonnte man berzlihde Freude
haben, weil in allem, neben gutem Können, Seele lebt. —
G. W. Wolf, Baſel, batte Plaftifen ausgeftellt, an denen
Reinheit der Form und der Empfindung wahrgenommen
werden fonnte. Sn Zeichnungen unb Radierungen puljterte
eigenartig ruhiges unb bewegtes Leben.
Sm Zuli und Auguft tit die Runfthalle gefchloffen. Sie
sing aud) im September nicht auf; die Kriegsereignifle
bringen den Künften und den Rünftlern harte Tage. Uber aud)
bier taten fi, wie für das Theater, Freunde zufammen,
b. b. ber Runftverein arrangierte zwei außerordentliche Aus-
ftellungen, die eine für Malerei, die zweite für Plaftit und
Graphit. Die erfte bat ftattgefunden unb fällt, ba fie im
Dftober eröffnet wurde und bis zum 1. November gedauert
bat, nod) in unfer Berichtsjahr. Site umfapte 235 Nummern
unb bot einiges ganz Ausgezeichnete. Das Hauptſtück barin
war ein Dedenbild „Sommertag” von Hermann Meyer, eine
lebensfreudige, farbenftrablende Rompofition. Indiſche Land-
haften, von einer Fürafid) vollbrachten Reife ber, hatte Paul
309
Burckhardt aufzumweifen, ftarkfarbige, raufchende Bilder
voller Zropenpradt. 3. S. Lüfcher batte ſüdfranzöſiſche
Gegenden zu zeigen: fonnige Landichaften von üppiger Fülle.
Dtto Roos, der Bildhauer, bat fid) in einigen fimplen Land-
ſchaften als Maler von trefflichen Eigenfchaften ermiefen.
Die übrigen Bilder ftammten ebenfalls von Basler Künſtlern
unb Künftlerinnen, bie meift (don Eingangs, bei Gelegenheit
der fogenannten Zubildäumsausftellung genannt worden find.
Dort Hatten bie Paftelliftin Sophie 93urdbarbt-Dipp, bie
Figuren: und Landichaftsmalerin Frau Guftava Sfelin-
Häger, bie Landfchafter Paul Rammüller und Mar Kind—
baufet, der Porträtift und Stillebenmaler Werner Koch, bie
€anbfdjafter $. Morftatt und Zulius Moos, der Figuren:
maler Alfred Peter, bie Landfchafter Joſeph Schönenberger
und Albert Schweizer, der Figurentomponift Paul Schweizer,
bie Stillebenmalerin Selma Siebenmann, der Porträtift und
Landfchafter Robert Strüdel gefehlt, die in biefer Le&ten Aus-
ftellung mit zum guten Seil vorzügliden Bildern vertreten
geweſen find.
D. 9 rdjiteftur.
Om Anſchluß an bie legtes Sabr gemachten Andeutungen
müflen wir auch jetzt wieder vor allem unjere Blicke dem
Rheinufer ber Altftadt von Großbafel zuwenden.
Nah dem jahrelangen bedauerlihden Vorhandenfein von
Srünmerfelbern und leeren Baupläßen an der Schifflände
iff nun bier endlich ein Gebäude entftanben, das den Kopf
der mittleren Otbeinbrüde würdig beberricbt. Auf einfache
und glüdliche Art haben bie Architekten ber Basler Bau—
geſellſchaft unter einer durchgehenden Barodarditektur
drei Häufer zu vereinigen gewußt. Das Edhaus hat ben
Otamen „zum Lällenkönig" erhalten, das mittlere foll in Erin-
nerung an das ehemalige Wirtshaus „zum Kopf" genannt .
werden. Es ift eine gute Basler Tradition, diefe angeftamm-
310
ten Häufernamen aud) bei modernen Neubauten nicht unter-
geben zu lafien. Leber alle drei Häufer fpannt fid) das große,
mit alten Ziegeln gebedte Dach, von zwei Segmentgiebeln
belebt. Seine äußere Form unb die Anordnung ber Kamine
auf der Zirft find ben Dächern vom blauen und weißen Haus
nachgebildet, was wefentlich zur Ruhe und Einheit des ganzen
Städtebildes beiträgt.
Die Gleichmäßigkeit der Form der Dächer ift befannt-
fid) eine Grundbedingung für bie gute und harmoniſche Gr-
fheinung von Stadtteilen und ganzen Drtfchaften. Ein
Gemifch von flachen, fteilen und halbfteilen Dächern, womög⸗
fid) nod) mit verfehiedenem Material bebedt, wirkt auf den
Beſchauer immer ftörend und unangenehm. Wie durch das
Zufammenftimmen der Dachformen ber genannten Häufer-
gruppe an der Schifflände mit alten dominierenden Dächern
bier eine wohltuende Wirkung erzielt worden ift, fo erregt in
dem fonft fo herrlichen Stadtbild auf der andern Geite des
Münfters ber flachgededte Rloß ber untern Realfchule immer
noch ben Aerger unb die Unzufriedenheit des Betrachters. Es
iff baber erfreulich, baB das Baudepartement einen Sadauf-
bau beabfichtigt, um bem Raummangel der Schule abaubelfen
und die Harmonie mit der Umgebung fo gut wie möglich
mieberberaujtellen. Es wird allerdings eine beiffe Aufgabe
fein, die ohnehin (don maßlofen Höhendimenfionen fo zu
behandeln, daß fie nicht beeinträchtigend auf bie Größe des
Münfters wirken. |
Wenden wir uns von ber Schifflände gegen ben
Blumenrain, jo [haut ung das hohe Manſardendach des
Haufes „zum Korb” entgegen, erbaut von Architet Rudolf
Linder Die ganze Gafjabe ift in einem lebhaft farbigen
gelben Hauftein ausgeführt. Zu ben glatt gehaltenen Mauer-
flächen Eontraftiert angenehm der in Gechsedform vor-
[pringenbe Erfer. Die Details find modern, wenngleich das
Ganze Anklänge an die deutfhe Renaiffance bat. Das
Hinterhbaus an ber Cpiegefgalje iff mit rubigem Sad) und
911
gelbverpugten Mauerflächen als GefdjüftSbaus mit großen
Senftern ausgebildet. Zwiſchen beiden ift gefchidt ein flach:
gebedter niedriger Verbindungstraft eingefügt. Gegenüber
an der Spiegelgafle find burd) Otieberlegung alter Häufer
vor Kurzem wieder Ruinenfelder entffanben, die ihrer Neu:
geftaltung harren; hoffentlich nicht allzulange.
Auf bem Marftplag iff ber bem Rathaus gegenüber:
liegenden Gruppe bie Ede an der Hutgafle beigefügt worden.
Sie ift nach dem feinerzeit mit einem erften Preis bedachten
Konkurrenzentwurf der Herren Widmer unb Erladher
in freier Symmetrie zur andern Ede an der GSattelgaffe von
Architekt Lodewig ausgeführt worden. Schräg gegenüber bat
bie Nationalzeitung ihren Schalterraum umgebaut und die
Faſſade für bie Bemalung hergerichtet, bie der junge Basler
Künftler Numa Donze anbringen fol. Wenngleich
äußere Bemalungen unferem Klima nicht zu troßen vermögen,
fo behalten gute Farben bod) auf bie Dauer eines Menfchen-
alters ihre Leuchtkraft, und es ift erfreulich, wenn Verſuche
gemacht werden, biefe in unferer Stadt einftmals beimifche
Kunſt zu neuem Leben zu erweden. Es fei hier anfchließend
erwähnt, daß bie Abficht vorhanden iit, aud) bie Kirche von
Gt. Safob mit einer äußern Bemalung zu verfeben und daß
zurzeit ein freier Wettbewerb unter Basler Künftlern zur
Erlangung von Entwürfen hiefür ausgefchrieben if. Mögen
biefe 93eftrebungen dazu beitragen, daß Architekten und
Maler wieder lernen, zufammen zu arbeiten, wie einft im
goldenen 3eitalter ber Renaiffance!
Kehren wir nad) biefer Abfchweifung zu unferem Rund-
gang in bie Stadt zurüid, wo auf bem Barfüßerplatz an Stelle
des alten heimeligen Wirtshaufes „zum braunen Muß”
unter der Leitung von Arhitet R. Sandreuter ein
Neubau entftanben iff. Auch bier ift durch Farbe, allerdings
nur ſchwarz und grau, bie Galfabenardjiteftur in gelungener
Weiſe bereichert worden. Man fieht, wie der Architelt be-
müht war, das Dach fo niedrig als möglich zu halten, um
312
bie darüber ftebenben malerifchen Partien des Lohnhofs bem
93(id tunlichſt offen zu Laflen.
Wenn wir ben Gteinenberg aufwärts geben, fo in-
tereffiert uns vor allem das neue Edhaus Aefchenvorftadt-
Elifabethenftraße, von Architekt Heinrih Flügel, mit
feinen pier rythmiſch fid) mieberbolenben Grferm im Stil
moderner Gefchäftshäufer. Man hätte es wahrjcheinlich mehr
begrüßt, bier eine Edlöfung in der Art der Handelsbanf ent-
Keben zu feben, wie fie aud) von ber Handwerferbant und
vom Bankverein verfucht worden find, bod) fcheint dies mit
einer rationellen Grunbriplófung unvereinbar gemefen zu fein.
Auch bie gegenüberliegende Handwerkerbant bat unter der
Leitung bet Arhitelten Suter und Burdbhardt ihre
Geftalt etwas verändert. Die beiden Portale am St. Alban-
graben find in gewöhnliche Fenſter verwandelt und beide
Eingänge an bie Freieftraße verlegt worden. Sm Innern
find dadurch ein großer Schalterraum und gutbelichtete
93ureaur entftanden. Die gleichen Architekten haben aud) das
Edhaus Albangraben-Dufourftraße für bie Zwecke ber
Schweizerifchen Eifenbahnbanf umgebaut und Die Fable
Giebelwand mit Zenftern durchbrochen, unter Beibehaltung
des anfpruchslofen altmodifchen Stile.
Zwei größere Neubauten im Innern der Stadt mögen
nod) erwähnt fein: Der Mufeumsumbau auf bem Rollerhof-
areal und am Schlüffelberg, von ben Architekten Viſcher
und Söhne, unb die Frauenarbeitsfhule an der Kohlen
berggaffe, von ber Basler Baugefellfhaft. Beide
find noch unvollendet und werden erft das nächfte Zahr aus-
führlicher befchrieben werden fünnen.
Wenn wir uns von der innern Stadt ben Außen:
quartieren zuwenden, fo bemetfen wir, wie im Ct. Alban:
und WUefchenquartier befonders Architekt Fritz Stehlin
eine rege Tätigkeit entfaltet hat. In feinen gediegenen alten
Barodformen bat er vier größere Privathäufer erftellt, wovon
313
wohl das befte unb umfangreichfte in der St. Albanvorftadt.
Das Haus ftebt ein gutes Stüd hinter der Straßenflucht
zurüd, wodurch ein geräumiger Vorhof entftanden iff, ben
gegen bie Straße ein einfaches Gitter abfchließt. Zwei alte
fteinerne Zürpfoften aus dem 18. Sabrbunbert find babet zu
Ehren gezogen worden. Das breitgelagerte einftódige Wohn-
haus wird von einem hoben Manfardendach gekrönt, die
Verhältniſſe find bei aller Einfachheit vornebm und ruhig:
bie Mitteltravee ift als Rifalit vorgezogen, und durch bie
offene Haustüre dringt ber Blick in den Garten, in deflen
Grund in ber Hauptare des Gebäudes ein altes barodes
Gartenbáusd)en einen vortrefflihen Abfchluß bildet. Der
Oteubau St. Safobsitrape 25 läßt fid) fofort als Werk des
gleihen Architekten erfennen; aud) bier ein einftödiges
Oprivatbaus mit Manfardendah, die Mittelpartie vor-
gezogen, mit einer Freitreppe gegen den Garten. Der Heinere
DBauplag und wohl aud) bie Rüdfiht auf bie vorhandene
Bepflanzung geftatteten eine weniger freie Entwidlung, fo
mußte das Gebäude an den daneben liegenden 23lod an-
gelebnt und bie Schmalfront der Straße zugefehrt werden,
während die Sauptfaljabe ſenkrecht dazu ftehbt. In ungefähr
gleicher Stellung ijt das nod) unvollendete Haus an der
Rapellenftraße 25 in Architektur und Dachform den beiden
vorigen ähnlich. Bei bem beidfeitig eingebauten Reiben:
haus WUefchengraben 5 find die Verhältniffe etwas anders:
Die Faſſade iff ameiftódig, ganz mit hellem Hauſtein ver:
Heidet, mit achtedig vorgegogenem Mittelbau; darüber, wie
bei den andern, das mit 3iege[n gebedte Manfardendad).
Sn bet Parkftraße 12—18 haben bie 9(rdjiteften Suter
unb Burckhardt eine Reihe einitódiger Einfamilien-
häufer erbaut in anfprechender Putzarchitektur und von ruhig
wirfender fymetrifcher Gliederung.
Om übrigen war die Bautätigkeit in diefem Quartier
eine febr befchränfte, und wir willen einzig nod) das
anfpruchslofe, aber hübſche Haus Hardtitraße 131 von ben
314
9(rdjiteften La Roche, Gtábelin u. Gie. zu nennen,
bevor mir unfere Schritte bem neuen Zeughaus zumenden,
einem Werk von Architekt Ceifinger vom 23aubepatte-
ment. Es iff in feiner großzügigen und flaren Gliederung
ein Öffentlicher Bau, an dem jedermann feine Freude haben
fann. Die guten Verbältnifie von Fenſtern und Flächen
find von nobler Wirkung, der Aufbau und die Profilierungen
fráftig und berb, aber keineswegs tob. Ueber dem kompakten
Sodelgefhoß verbinden durchgehende Lifenen die beiden
oberen Ctodmerfe. Darauf liegt bebábig das Manfarden:
bad) mit weit ausladendem Gefims. In etwas reicherer
93arodardjiteftur als das übrige tif ber Vorbau in der Mitte
mit dem Portal gehalten. Wenn es möglich gewefen wäre,
bie Architelturformen des Zeughaufes aud) in ben SOefonomie-
gebäuden im Hof zur Anwendung zu bringen, fo hätte die
Wirkung der ganzen Anlage nod) gefteigert werden können.
On ber Breite find an verfchiedenen Orten neue Miet-
häufer entftanden; wir führen bie Gruppe Ede Redingftraße-
Lehenmattweg an, von Arhitet Eugen Tamm. Als er-
freulihes Zeichen für die induftrielle Entwidlung der Stadt
wollen wir bie neue Fabrik an der Weidengafle auffaflen,
erbaut von Preiswerf u. Cie. |
Sm Gundoldingerquartier ift das Schulhaus, welches
den ganzen Rompler zwifchen Güter: und Dornacerftraße,
Bärſchwyler- und Liesbergerftraße ausfüllt, fo weit vorgerüdt,
daß über feine äußere Erfcheinung gefprochen werden fann.
Die Gebäude find an die Güter: und Bärfchwilerftraße ge:
tüdf, während an der andern Ede der Hof fid) ausdehnt.
Der große 93aupla6 bat es ermöglicht, bie Gebäulichkeiten
mebr in bie Breite als in bie Höhe auszudehnen, wodurch
fie fid ungezwungen ihrer Umgebung anpaflen. Den ver-
fhiedenen Zweckbeſtimmungen des Innern entfprechend, ift
aud) das Aeußere febr mannigfaltig gegliedert und zu einer
malerijden Baugruppe mit reizenden Cinzelbeiten aus-
gebildet worden. Etwas fompligiert geftalten fib Dabei
315
ftellenweife bie Dachverfchneidungen. Architekt ift Herr Th.
Hünermwadel vom VBaudepardement.
Unter den meift drei- big vierftódigen Spekulations
bäufern, bie in jener Gegend neu entflanden find, befinden
fid mitunter fünftleri[d) nicht unintereffante Faffadenlöfungen,
fo bat an weithin fichtbarer Stelle oben am Thierfteinerrain
Arhitet Emil Dettwiler eine Gruppe von drei
Häufern in fymmetrifcher Anordnung erbaut.
Somit find wir auf dem Bruderholz angelangt, wo vor:
läufig am Ausbau des neuen Straßenneges gearbeitet wird,
während im Gebiet des Hochbaues bie Tätigkeit in letzter
Zeit nod) ſchwach war. Es ift hier im weiteren nur die im
Bau begriffene Villa zwifchen Amfel- und Droffelftraße, in
einem günftig am oberen Rand des Abhanges gelegenen
Garten von den Architekte Widmer Erlaher und
Gafininambaft zu mahen. Es verfpricht eine tntereffante
Leiftung zu werden in modernen Formen mit ftarfer 23e-
tonung der Horizontalen.
Hatten im Innern der Stadt und auf dem Oftplateau
einige fertige oder in Ausführung begriffene Monumental:
bauten vornehmlich unfere 9fufmerffamfeit auf fid) gezogen,
fo iff dem nichts ähnliches auf dem Weftplateau entgegen
zu ſtellen. Abgeſehen von Eeineren Gegenftänden fann Diet
nur von Projekten gefprochen werden, bie fchon feit Jahren
auf: unb untertauchen, nun aber bod) greifbare Form an-
zunehmen verfprehen. Wir meinen damit die heiß um-
' friftene Frage des Kunſtmuſeums. — Gnbgültig ift fon im
vorigen Sabr burd) Großratsbefchluß der Schützenmattpark
als Bauplatz beftimmt worden. Eine Planfonfurrenz unter
fhweizerifhen Architekten mit Termin auf Ende März
1914 lieferte eine ftattliche Anzahl bedeutender Projefte.
Das Preisgericht bat dabei zwei gleichwertige erfte Preife
an Herrn Emil Fäſch und an bie Basler Bau—
gefellfhaft (Architekte BVernoulli und Grü-
ninger) erteilt unb ben Fäſchiſchen Entwurf als Grund-
316
lage für bie Ausführung empfohlen. In biejem ijt ein in
bie Axe des Bauplatzes gefteltes Mufeum mit Hauptfaſſade
gegen ben Ring vorge[eben, während 93ernoulli ben Bau
mehr pom Ring zurüd unb in feiner Längsausdehnung an
bie Seite des Weiherweges ftelt. Wie in der Situation, fo
find aud) in der Grundrißausbildung die beiden Vorjchläge
gänzlich verfchieden. Die Parteien find von der Regierung
eingeladen worden, auf Grund ihrer Seen neue Projelte
vorzulegen, und es wird mit Spannung erwartet, wem
fchließlich bie Ausführung aufallen fol.
Während biefer Rampf ftd) einftweilen auf dem Papier
abfpielt, ift auf der Ede des gleichen Areals am Wielands-
pla6 der Rohbau für den Polizeipoften von den Architekten
Widmer Erlacher und Calini nahezu vollendet
‚worden; feine Beſprechung müſſen wir indes für fpäter ver-
fchieben.
| Auf der Mitte des 93unbesplate8 hat das S3aubeparte-
ment den Verſuch gemacht, einen der fonft meift fo banal
ausfehbenden eifernen DBeleuchtungsmaften in äſthetiſche
Gormen zu Heiden, was burd) einen Sodel aus Kunftitein
erreicht worden iff, mit ringsumgehender Sitzbank und bat-
über einem Sigurenfries von Bildhauer Auguft Heer.
Am Steinenring 15—21 haben bie Gebrüder Stamm
eine Reihe anmutiger Einfamilienhäufer erftellt, daran an-
fchließend (Wr. 25) ift ein Privathaus der Architekten
Guter unb Burckhardt im Bau.
Geben wir ftadteinwärts, fo entbeden wir, bap bie
ehemals freiftehende Zaflade der Marienkirche von zwei
Flügelbauten eingerahmt worden if, die als Pfarr:
und Gigriftenwohnung dienen. Der Architekt Guftav
Doppler bat baburd) einen anmutigen gefchloffenen Vor:
bof gefchaffen, was dem Eingang zum Gotteshaus mehr Reiz
und Stimmung verleiht, als der frühere 3uftanb. Vom
gleihen Architekten iff an der GSocinftraße 42 das neue
Sinzenzianum in einfacher, gut gegliederter Putzarchitektur.
317
Weiter innen, an derfelben Straße Nr. 8, iit ein Eleines, ein-
ftödiges CDripatbaus von Architekt Pfrunder zu er:
wähnen. |
Om äußeren Spalenquartier ift ftellenweife febr eifrig
gebaut worden; es handelt fid) aber ausſchließlich um Miet-
báufer. Don ben verfchiedenartigen Typen nennen wir als
gute Veifpiele für eine Reihe dreiftödiger Wohnbauten ben
Block an der Ede Eichen: und Buchenftraße, vom Verband
fchweizerifher Ronfumvereine mit neunundneunzigjährigem
Pachtrecht auf Staatsboden erftellt. Als gute, ganz einfach
gehaltene zweiftöcdige Typen führen wir bie Cerie an der
Stöberftraße 19—31 und Ede Otufadjer- und Schlettftadter:
firaBe von der Basler BDaugefellfhaft an. Von
der gleihen Firma find an ber gebogenen Flucht ber
Sierenzerftraße 47—63 und 44—62 zwei Reiben Heiner
Einfamilienhäufer, bie nur aus Erdgeſchoß mit bobem
Manfardendach befteben.
Auch find im äußeren St. Sobannquartier da und dort
neue Spefulationsbauten entffanben; bod) wenige davon
fónnen einen Fünftlerifchen Wert beanfpruchen. Innerhalb
dem St. Sobanntor an der Ede SobanniterftraBe und St. 3o-
bannvorftadt ift ein großer Häuferblod durch die Architekten
Burdhardt, Wenk u. Cie. erbaut worden. Dem
Schlachthaus bat das 93aubepartement im Stil ber alten Ge-
bäulichfeiten ein neues Sreibank- und Portierhaus zugefügt.
Es erübrigt uns nun, aud) dem Kleinbafel unfern jähr-
[iden 93efud) abauftatten:
. Qüt bie Neugeftaltung des großen Areals des alten
Badifhen Bahnhofs ift zurzeit unter Basler Architekten
ein Ideen⸗Wettbewerb ausgefchrieben; unterdeffen ift an
der Schwarzwaldallee, gegenüber dem neuen Bahnhof, bie
Bebauung in erfreulicher Weife fortgefchritten: Es Tann
jest faft als gefichert betrachtet werden, daß es gelingen
wird, den größten Teil des Plabes mit einer einheitlichen
Architektur einzurahmen. In den zum Zeil ausgeführten und
318
zum Seil nod) im 93au befindlihen Häufern haben bie
Architekten Gebrüder Stamm es meifterlich verftanden,
unter Beibehaltung der gleichen Gefims- und Gefdopbóben
und des durchgehenden Lifenenfyftems, burd) Vor⸗ und
Zurüdjegen einzelner Partien, fowie burd) die Variation
im Detail bem Aufnahmegebäude der Bahn ein gutes, groß:
zügiges Vis-a-vis zu fchaffen. Bis jest find ausgeführt:
Der ganze Block zwifchen Riebenftraße und Rofentalftraße,
bie fommetrifch angeordnete Reihe zwifchen Rofental- und
Riehenteichftraße, ohne den Mittelbau, fowie Rojental:
ftraße 68.
Auh in Kleinbafel find, befonders in der Richtung
gegen SWeinbüningen und ben 93abnbof, neue Miethäufer
aus bem Boden gewachfen, auf bie wir ung aber ein näheres
Eingehen aus den gleichen Gründen wie am andern Rhein—
ufer erfparen fónnen. Die ſchon legtes Jahr genannte
Ede Unterer Rheinweg-Floraftraße, von Achitet Ernft
Mutſchler, ift unterdeflen vollendet worden; nicht fern
davon iff das Haus Unterer Rheinweg 118 bemerkbar mit
feinem balbrund vorjpringenden Verandenbau, von Architekt
Pfrunder. Die St. Sofepbsfitdje bat an ber Ammerbach-
ftraße 9 ein neues Pfarrhaus erhalten, das in Form und
Gatbe der Kirche gut angepaßt ift. Architekt tit Herr Guftav
Doppler.
Bon mehr wirtfchaftlichem als Fünftlerifchem Intereſſe
find die Vergrößerung ber Zärberei in der Gärtnerftraße,
fowie einige induftrielle Neubauten in Rleinhüningen.
3um Schluß wollen wir einem Wert von Architelt
G. Mutfchler, der Heinen Villa am Schaffhaufer 9tbein-
weg 101, das verdiente Lob fpenden. Gegen den Rhein zu
fhaut ein traulicher Giebel mit einer tiefen €oggia in ber
Mitte, eine Bogenhalle verbindet den Hauptbau mit bem
Gärtnerhäuschen an ber Allemannengafle. Durch Liebevolle,
forgfältige Behandlung ift hier in befcheidenen Dimenfionen
aus Haus und Garten ein reigoolle8 Ganzes gefchaffen worden.
319
Basler Cbroníit.
Dom J. November J9]3 bis 3]. Oktober 7914.
Don Srít Baur.
November 1913.
2. Das Rirhenopfer wird in ben Gottesbieniten
bet evangelifch-reformierten Kirche für evangelifche Schulhaus:
bauten in 93ulle und Gíamatt erhoben und wirft 5043 Zr. ab.
6. Der Große Rat beſchließt mit Dringlichkeit Er-
werbung der Liegenfhaft Schlüffelberg 5 (S3ud)bruderei
Widmer) und Abtretung eines Areals am Blumenrain, ge-
nehmigt mit einer von der Regierung akzeptierten Aenderung
ben neuen Bebauungsplan für Rleinbafel und befchließt ent-
gegen einem Antrag auf Heberweifung an eine Rommilfion
Eintreten auf den Entwurf der Regierung für einen Der:
faljungsartifel betr. Erhebung eines Schulgeldes von aus:
wärtigen Schülern bafelftädtifcher Schulanftalten.
On Greiburg in der Schweiz ftirbt plöglich in feinem
60. 9[(ter$jabr Dr. Fritz Speifer, früher Zivilgericht:
fchreiber in feiner Vaterſtadt Baſel, nad) feinem Lebertritt
zum Katholizismus Abbe und Profeſſor des Kirchenrechts
an der Univerfität Freiburg.
12. Die Synode ber epang.-ref. Kirche von
93afel berät in erfter Lefung eine Befoldungs- unb Penfions-
ordnung ber Kirchenbeamten, bewilligt einige Nachtrags:
frebite für 1913, nimmt das Yudget für 1914 an, beſchließt
den Ankauf eines Stüdes Land im äußern St. Sobann-
quartier zum Bau einer Kirche und beauftragt den Rirchen-
tat, bei ben ftaatlichen Erziehungsbehörden für 93eibebaltung
320
des Religionsunterrihts in der Volksſchule nachdrüdlich
einzutreten.
13. Der Große Rat nimmt einen Verfaflungsartifel
an, ber bem vom Volk angenommenen Grundjaß der Gr-
bebung eines Schulgeldes von Auswärtigen Rechnung trägt;
er befchließt bie Rorrektion ber 93abnbofítrape, genehmigt bie
Staatsrechnung von 1912 und befchließt Eintreten auf bie
von einer Rommiffion vorberatenen Gefe&e betr. eine offent-
lide Sranfenfaffe und betr. obligatorische Rrantenverficherung.
14. Zei ber Reftoratsfeier der Univerfität in
ber Martinskirche Spricht ber abtretende Rektor Prof. Karl
3081 über bie philofophifche Krifis der Gegenwart. Daran
Schließen fid) das Rektoratseflen, ein $[maug der Studenten-
fdjaff und ein Kommers in der 93urgvogtei.
15. 16. Die Rihterwahlen famen im erften
Wahlgang nur teilweife zuftande. Die Sozialiften hatten
nur die Richter ihrer Parteifärbung auf die Liften ge-
nommen. Dies veranlaßte die bürgerlichen Parteien, von
dem Vorſchlag fozialiftifcher Randidaten abzufehen und die
entiprechenden Stellen frei zu laflen. So famen zuftande
bie Wahlen von je drei Appellations-, Zivil- und Gtraf-
gerichtspräfidenten, von ſechs Appellations-, vier Zivil- und
fünf Strafrichtern, ſämtlich Beftätigungswahlen; von Sozial:
bemofraten wurde nur das fozialiftifhe Mitglied des
Appellationsgerichtes beftätigt. Für einen zweiten Wahl—
gang bleiben zu wählen ein Präfident des Zivilgerichts, bet
Statthalter des Strafgerichts, je drei Zivil: und Strafrichter.
Die Beteiligung betrug nur etwa 25% ber Stimmberech-
figten.
Zum Geelforger der Elifabethengemeinde wird etnbellig
gewählt Pfr. W. Merz (freif.), derzeit in Baden, an Stelle
des aus Gefundheitsrüdfichten zurüdtretenden 3. (9. Birn—
ftiel. Die pofitipe Richtung batte feinen Kandidaten vor-
seichlagen.
16. Der Fußballklub Baſel feiert feinen 20-
321 21
jährigen 93effanb mit einem für ihn glänzend verlaufenen
Math gegen den 5. G. Zreiburg i. 293. und mit einem
Herrenabend.
22. 9n feinem 82. Altersjahr ftirbt, bis in feine lebten
Sage nod) beneidenswert rüftig, Wilhelm Biſchoff, der
in ben mannigfaltigften Aemtern feinem Vaterland gedient
bat. Von Beruf war er Landwirt. Schon in den 1860er
unb 70er Zahren wurde er in richterliche Stellungen unb in
den Großen Rat berufen. Nach der Neuordnung der bafel-
ftädtifchen Dinge burd) bie Verfaffung von 1875 fiel ihm als
Statthalter des Stadtrates nad) dem Tode des Präfidenten
Minder vor allem die Arbeit ber Ausfcheidung zwifchen
Bürger: und Einwohnergemeinde zu, und er wurde bann der
erfte Präfident des Engern Bürgerrats. Bon 1878 bis 1905
faß er in der Regierung als Vorſteher teils des Departe-
ments des Innern, teil des Sanitätsdepartements. Als
Militär flieg er zum Range des DBrigadefommandanten.
Bis in feine legten Lebensjahre bat er al8 Mitglied des
Weitern Bürgerrates nod) regen Anteil am öffentlichen Leben
genommen. Ohne im eigentlihen Sinne des Wortes
populär zu fein, genoB er allgemeine Hochachtung und un-
befchränttes Zutrauen feiner Mitbürger.
22. 23. Sm zweiten Wahlgang ber Rihterwahlen
wurden die Stellen befeót, bie vor acht Sagen bei ber Herr-
ſchaft des abfoluten Mehrs nicht zuftande gefommen waren.
Dabei wurden die bisherigen fozialdemokratifhen Mit:
glieder der Gerichte beftätigt, ber von freifinniger Geite
unterftüßte Liberale Kandidat für die Statthalterftele am
Strafgericht gegen den fatbolijcen Anwärter gewählt, ferner
neu ein fozialiftifcher Sivilrichter, ein fiberaler und ein frei⸗
finniger Strafrichter.
23. Der langjährige Mädchenfetundarlehrer 3.G.&rei-
Scherrer, aud) in Stenographenkreifen wohlbefannt, ftirbt
im 68. Altersjahr.
On einem von Stennern als febr intereffant gerühmten
322
GuBbalímatd befiegen die Young Boys Bern ben
Gootball-R(ub Bafel mit 2:1 Goal.
25. Der Weitere Bürgerrat bewilligt einen
Kredit von 70000 Zr. auf Rechnung des Spitalvermögens
für Ankauf zweier Häufer in der bintern Opitalftraße und
an ber Davidsgaffe und erledigt eine Reihe Begehren um
Aufnahme ins Bürgerrecht.
Sum Rektor ber Univerfität für 1914 wählt bie Regenz
Prof. Otto Eger.
Sn einer Sitzung in der Aula des Mufeums Eonftituiert
fi ber Shweizerifhe Bund Für Naturfhus,
gibt fid) Statuten unb beftellt feinen Vorftand aus Dr. Paul
Sarafin, Präfident, Dr. St. Yrunies, ?(ftuat und Prof.
F. Zſchokke.
26. Die Poſitiven Gemeindevereine ver—
anftalten ihre gemeinſame Verſammlung in der 93urgvogtei.
Miſſionsinſpektor 3. Frohnmeyer ſpricht über Theoſophie
und Chriſtentum. Nachher wird das Spiel vom Sterben
des reichen Mannes, „Jedermann“, von Hugo von Hof—
mannsthal, aufgeführt.
27. Der Große Rat beſchließt den Bau eines
chemiſchen Laboratoriums und nimmt bie neue Quartier:
einteilung an, nad) ber bie Stadt in drei große Wahlkreiſe
zerfällt; das Geſetz betr. WUenderung der 88 57—59 des
Strafgefeges (Schuß ber freien Ausübung von Snitiative
und Referendum) wird, nachdem ein Rüdweifungsantrag zu
einer feiner wichtigften Beſtimmungen beliebt bat, auf eine
fpätere Ci&ung vertagt. Hierauf wird fortgefahren in ber
Beratung des Gefetes über eine Öffentliche Krankenkaſſe.
28. Die Freiwillige Schulfynode befpridt
die Frage der Fürſorge für die fchulentlaffene männliche
Jugend und nimmt nach ftark benüster Diskuffion eine Reihe
Thefen darüber an.
30. Die italienifhbe Handelsfammer in
der Schweiz hält in 93afel ihre Generalverfammlung ab.
323 21°
Nah ben gefchäftlichen Verhandlungen vereinigen fid) bie
Teilnehmer zu einem Bankett, bem der italienifche Gefandte
in der Schweiz, Marchefe Paulucci di Calboli, der italie-
nifhe Generalfonful in Bafel, Gommanbatore Nagra, unb
als Vertreter der Basler Regierung Reg.-Rat. Speiſer
anmwohnen.
Am Eup-Match ftegt F. E. Bafel über F. €. Old Boys
mit 7 :2.
Das KRirhenopfer des Miffionsfonn-
tages ergibt 6178 Fr. und zwar für bie Basler Miffion
5037, für den Allg. Prot. Miffionsverein 574 und für bie
Miſſion Romande 567 Gr.
Witterung. Die meteorologifchen Hauptwerte des
Monats November find: Mittel der Temperatur 8,3, mittl.
Zemp.-Marimum 11,2, mitt. Zemp.- Minimum 62 C,
Mittel des €uftbrude 739,6, Summe ber Niederfchlagsmenge
109 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 52 Std. Der Mo-
naf fiel zu warm, zu reich an Niederichlägen und zu trübe
aus, verglichen mit dem langjährigen Mittel und war ein
durchaus unerfreulicher Zeitabfchnitt.
Dezember 1913,
2. Prof. Julius Peterfen hält feine Antritts-
vorlefung über bie Literaturgefhichte als Wiflenfchaft.
3. Das vom Regierungsrat ausgearbeitete Budget
für 1914 fieht vor an Ausgaben 22 369 450, an Einnahmen
19 084 600 Gr., fomit ein Defizit von 3 284,850 Gr.
Die evangelifh-reformierte Synode er-
lebigt in zweiter Lefung bie Vefoldungsordnung, bereinigt
das 93ubgef und nimmt den Bericht des Kirchenrats über
die rüdftändigen Aufträge entgegen. Weiter beauftragt fie
ben Kirchenrat, über das Wahl: und Stimmrecht der Frauen
zu berichten.
4. Dr. Eugen Bernoulli erhält die venia legendi
an der medizinischen Fakultät für Pharmakologie.
324
5. Der QGenofenfdafts$rat des Allg Konſum—
vereins befchließt eine Unterſtützung von 10000 Zr. für
bie Arbeitslofen und Verzicht auf ein Taggeld zu demfelben
Zweck.
7. Ser Fußballklub Baſel befiegt ben F. G.
Bern auf bem Landhof mit 7:1 Goal. |
8. Die Freiwillige Shulfynode führt in
einer Nachmittagsfisung, bie am 28. November begonnene
Beratung mit Referat und Diskuffion über bie fchulentlaffene
weibliche Zugend zu Ende.
10. Die AUrbeitslofigkeit mad fid früher und
empfindlicher geltend als in den le&ten Wintern. Die ftaat-
liche Arbeitslofentommiffion fteht in Tätigkeit. Daneben bat
bie „National Zeitung” eine Sammlung durchgeführt, bie in
verhältnismäßig furger Zeit über 10000 Gr. abwarf.
11. Der Große Rat befchließt nad) 9tatififation einer
Anzahl Aufnahmen ing Bürgerrecht und ber Richterwahlen
vom 22./23. November ben Verkauf ber Liegenfchaft
G[ifabetbenftraBe 1 und WUenderung ber Baulinie dafelbft
unb Erwerbung ber Liegenfchaft St. Albanvorftadt 1; da-
gegen verzichtet er auf den Umbau des „Großen Gollmar"
unb beauftragt bie Regierung, Studien vorzunehmen über
definitive Unterbringung der ftaatlichen Verwaltungen; Diet-
auf bewilligt er eine Reihe von Nachtragkrediten, ferner
88000 Qr. für Aufftellung einer Umformer⸗Gruppe im
Elektrizitätswert am Dolderweg und 290 000 Gr. für Aus-
bau der eleftrifchen Kraftübertragung von Augft nach Baſel;
endlich führte er bie 93eratung der Vorlage über die Öffent-
[ide Krankenkaſſe in erfter Lefung zu Ende.
12. Sn der erften Sigung ber Gemeinnüßigen
Gefellfhaft diefes Winterd wird an Gtelle der bis
dahin üblichen fchriftlihen bie mündliche Berichterſtattung
über die einzelnen Unternehmungen der Gefellfchaft durch:
geführt.
325
13. Drof. Alb. Geßler wird von ber Regierung ge-
mäß feinem Anfuchen aus feiner Lebrverpflichtung an der
Aniverſität entlaffen, unter 93eibebaltung von Zitel und
Rechten eines a. o. Profeff ors.
13./14. Die Wahl ber gewerblichen Schieds—
gerichte wird bei mäßiger Beteiligung für eine neue
Amtsdauer von ſechs Jahren vorgenommen.
15. Die Frequenz ber Aniverſität im lau:
fenben Winterjemefter beträgt 935 immatrifulierte Studenten
(darunter 48 Damen) und 221 (132) Hörer, total alfo 1156
(180) Schüler. Davon fallen auf die tbeologiid)e Fakultät 76,
auf die juriftifche 77, bie medizinifche 325, Pbhilofophie I 222,
Philofophie II 285. Aus der Schweiz ftammen 673 (42),
aus dem Ausland 262 (6) Smmatrifulierte, Davon aus dem
europäifchen Rußland 140. Von ben 335 (25) immatri-
fulierten Bafelftädtern ftubieren Theologie 16, Zurisprudenz
48, Medizin 54 (6), Philofophie I 108 (15) unb Philo-
fopbie II 109 (4).
18. Der Große Rat wählt bie Erfagrichter zu ben
verfchiedenen Gerichten, nimmt eine Revifion des baulichen
Heimatfchuges vor, nimmt das (GinfübrungSgefe& zur eid-
genöffiichen Kranken: und Infallverfiherung an, ferner bie
Vorlage betr. Einrichtung einer Klinik für Dermatologie und
Venereologie, bewilligt einen Kredit von 40 000 Zr. für Um—
bau des Schügenhaufes unb tritt ein in bie 93eratung ber
Vorlage betr. obligatorifehe KRrankenverficherung.
20./21. Der zweite Wahlgang zur Wahl dergewerb-
[iden Schiedsgerichte vervollitändist den Beſtand
diefes Richterförpers mit Ausnahme des Arbeitgebers einer
Gruppe, von der fid) Fein Wähler eingefunben hatte.
23. Der Weitere Dürgerrat genehmigt ben
PBerwaltungsbericht des Engern Bürgerrats für 1912 und
erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
24. Der Regierungsrat beglüdwünfcht bie Witwe 9f.
Simmerli- Schweizer, bie heute ihr hundertftes Lebens-
326
jahr vollendet, zu ihrem Geburtstag und läßt ihr ein Geſchenk
überreichen.
Otad) langem Leiden ftirbt alt Stadtförfter Sr. Vär-
DPlattner, geb. 1846 in Zürich, ber bie Waldungen ber Stadt-
gemeinde, zumal die Hardt, und zum Zeil aud) die des
Staates jahrzehntelang mufterhaft bewirtfchaftete.e. Der
Stadt 93ajel leiftete er wertvolle Dienfte als langjähriger
Kommandant der Feuerwehr, ber Gibgenoljenicbaft als tüch-
tiger Artillerieoffizier.
27. Ein gewaltiger Sturm richtet trot feiner furgen
Dauer von wenigen Stunden an Gebäuden und namentlich
aud) in den Anlagen beträchtlichen Schaden an.
31. Witterung. Die meteorologifchen Hauptwerte
des Monats Dezember find: Mittel der Temperatur 22,
mittl. Temp. -Marimum 5,0, mittl. Temp. Minimum 0,25,
Mittel des Luftdruds 740,4, Summe ber Niederfchlagmenge
54 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 61 Stunden. Die
Temperatur des Monats war zu hoch, der ganze Monat fehr
mild, menn auch feine Werte fid) meift in ber Nähe der lang-
jährigen Durchſchnittszahlen bewegten.
Januar 1914.
1. Der Zivilftandsverfehr Bafels im Sabre
1913 weift folgende Hauptzahlen auf: Srauungen 1086
(1912: 1185). Lebendgeburten 3338 (3304), wovon abgeben
553 (553) 9paffantengeburten; S&otgeburten 104 (91); von
ben Lebendgeborenen find 1758 $naben, 1580 Mädchen; von
auswärts wurden angezeigt 28 lebendgeborene Knaben und
19 lebendgeborene Mädchen biefiger Einwohner. Todesfälle
wurden verzeichnet 1820 (1770), darunter 203 9paffanten-
Todesfälle; in diefen Zahlen find bie S&otgeburten nicht in-
begriffen. Nach dem Gefchlecht teilen fid) bie Geftorbenen
in 932 männlichen und 888 weiblichen Gefchlechts; außerdem
wurden 67 Anzeigen gemacht über den auswärts erfolgten
Sob biefiger Einwohner. Es waren 669 Neugeborene und
327
586 Geftorbene biefige Rantonsbürger, 1109 unb 557
Schweizer aus andern Kantonen und 1560 und 677 Aus:
länder. Durch Ueberſchuß ber Geburten über bie Todesfälle
vermehrte fid) bie ortsanwefende Bevölkerung um 1518
Seelen. Nah Abzug ber Paflanten-Lebendgeburten und
der Paflanten-Zodesfäle und nad) Hinzurechnung der
auswärts geborenen unb verftorbenen biefigen Einwohner
ergab fid) ein Geburtenüberfhuß ber Wohnbevöllerung von
1148 9perjonen, 645 männlichen unb 503 weiblichen, unb
zwar 63 Rantonsbürgern, 378 Schweizern anderer Kantone
und 707 Ausländern.
Om Alter von 75 Syabren ftirbt Dr. med. W. Ber:
noulli-Gartorius, eine Autorität auf dem Gebiete bet
epidemifchen Krankheiten und ein gewiegter Botaniker, deſſen
Herbarium in Fachkreiſen weit befannt war. Vereinigt mit
bem von Dr. Herm. Chrift bildet es, Schon bei Lebzeiten ber
beiden Sammler abgetreten, eine Zierde des botanifchen
Inſtitutes.
Reg.Rat Dr. F. Mangold lehnt einen ehrenvollen
Ruf als Vorſteher des eidgenöſſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus ab.
6. Die älteſte Bürgerin und Einwohnerin von Baſel,
Witwe M. Hetzel-Wunderlich, ſtirbt im Alter von
10015 Jahren.
7. Zum ordentlichen Profeſſor an der theologiſchen Fa—
kultät wird ernannt Albrecht Alt, derzeit außerordentlicher
Profeſſor in Greifswald.
8. Der Große Rat beauftragt im Anſchluß an die
Oprüfung ber Wahlakten vom 13./14. unb 20./21. Dezember
1913 bie Regierung mit einer Revifion der Vorſchriften
betr. bie Wahl der gewerblichen Schiedsgerichte und tritt
dann ein auf den Bericht der Prüfungstommiffion über den
1912er Verwaltungsbericht.
10. Der Regierungsrat nimmt ein von 1955 Stimm-
berechtigten unterſtützes Referendumsbegehren
gegen das Geſetz betr. die Einteilung der Stadt Baſel in
328
brei Wahlquartiere (Gr. Rat vom 27. Nov. 1913)
entgegen.
12. Der Landratvon Bafelland überweift eine
Motion von Blarer und Konſ. betr. Maßnahmen zu einer
zielbewußten Wirtfchaftspolitit an eine Rommilfion. Die
Motion geht aus von Vorgängen in Bafelftadt: Erhebung
von Schulgeld von Auswärtigen, ftädtifcher Zentralfriedhof
auf Landihäftler 93oben in der Hardt, einander gegenüber:
ftebenbe 9tbeinbafenprojefte, Trambahnen von der Stadt auf
die Landfchaft u. dgl. m.
14. Sm Alter von 66 Zahren ftirbt Arnold Refardt-
Biſchoff. Ein geborener Hamburger, bat er feiner zweiten
Heimat in verfchiedenen chriftlichen und gemeinnüßigen
Unternehmungen treu gedient.
15. Der Große Rat bewilligt einen weitern Nach:
fredit von 10000 Zr. an die Koften der Auslieferung des
Bankiers 93auber, fowie 176625 Gr. für Liegenfchafts:
anfáufe, die teils bem Gaswerf, teils der Erftellung eines
Braufebads im äußern St. WUlbanquartier dienen follen.
Dann wird fortgefahren in der Befprechung des Prüfungs:
berichts für 1912.
17. Bon ber Eleftrizitätsausftellung des
legten Sommers bleibt nad) Tilgung aller Unkoſten, fowie
nad) Ausrichtung verfchiedener Gratififationen und Ge-
ſchenke ein Otettoertrag von 30 000 Zr. Der Regierungsrat
befchließt nad) Antrag der Kommiffion zur Ausftellung, ihn
je zur Hälfte bem phyſikaliſchen Snftitut der Univerfität und
zur Anfhaffung von Radium für 93ebanb(ung von Krebs:
leiden im Frauenſpital zu verwenden.
18. Die Delegierten-Berfammlung der Union
Shweizerifhber Volkskrankenkaſſen Ton:
ftituiert fid) mit Sentralfiß der Union in Baſel.
19. Die Abftinenz- Vereinigungen Bafels feiern in einer
äußerft zahlreich befuchten Verfammlung in ber Burgvogtei—
balle den fiebzigften Geburtstag des Gründers der
329
wiflenfchaftlichen Abftinenzbewegung in Europa, Prof. ©.
v. Bunge, ber feit Jahren als Lehrer der phyfiologifchen
Chemie an der Univerſität 93afel wirkt.
20. Lic. theol. Otto Schmitz hält feine Sabilitations-
vorlefung als Privatdozent ber Theologie über ben Qrreibeits-
gebanfen bei Paulus.
20. Die Altiengefellfhaft Bell erhöht ihr
Aktienkapital auf 2600 000 Gr. Diefe Transaktion büngt
zufammen mit der Sntereffengemeinidjaft, die bie Gefellfchaft
mit bem Verband GSchweizerifher Konfumvereine ein-
gegangen iif. Schon am 19. hat der Auffichtsrat des 9f. G. 2.
Baſel, des einzigen ſchweizeriſchen Ronfumvereins, ber fid)
zurzeit mit Schlächterei befaßt und alfo bei der Angelegen-
beit direkt intereffiert ift, feine 93illigung des Gefchäftes aus-
geiprochen.
24. Die Regierung nimmt von Freunden und Schülern
von Prof. G. v. Bunge einen zur Erinnerung an deflen
70. Geburtstag geftifteten Brunnen entgegen.
28. gm Mufitfaal wird ein Zeffinerabend ver-
anftaltet, ber den Hauptzwed verfolgt, ähnlich wie verwandte
Peranftaltungen in Genf und Zürich mehr Fühlung zwifchen
bem Zeffin und der übrigen Schweiz berzuftellen. Im Mittel:
punft ftebt, umrahmt von mufikalifchen und pantomimifchen
Darbietungen, eine Rede von Prof. Bovet aus Zürid).
29. Der Große Rat verwendet den größten Zeil
feiner heutigen Sigung auf drei Snterpellationen. Die eine
betr. den Schuß von auswärts beftellten Arbeitswilligen
burd) bie Polizei nimmt die Zeit bis in den Nachmittag
hinein in Anfprud. Hierauf wird in ber Beſprechung des
Verwaltungsberichts fortgefahren.
30. Dr. med. R. Maffini hält feine Habilitations-
vorlefung: Neuere Anfchauungen über bie Entftehung der
Zuberfulofe.
31. Dr. 9. &urían erhält bie venia legendi an der
Univerfität für Otationalüfonomie unb Gtatiftif.
330
Witterung. As meteorofogi[de Sauptmerte des
Monats Zanuar 1914 notieren wir: Mittel der Temperatur
— 29, mitt. Semp.OXarimum — 0,3, mittl. Semp.-
Minimum — 5,5%, Mittel des Luftdruds 740,7, Summe
ber Niederfchlagmenge 51 mm, Summe der Sonnenfchein-
dauer 64 Stunden. Der Monat war feit mehreren Sabren
wieder ein richtiger Wintermonat, ohne allzu harte Kälte.
Bloß die Schneedede hätte höher fein dürfen.
Sebruar 1914.
31. San./1. Febr. In ber Vollsabftimmung wird bei
23015 Stimmberechtigten ber ber Abftimmung vom 28./29.
Sept. 1912 entfprehende Verfaffungsartifelbetr.
Grbebung eines Schulgeldes von Aus-
wärtigen mit 4714 gegen 4703 Stimmen und das von
der freifinnigen Partei vor das Referendum gezogene Gefeß
betr. Einteilung der Stadt in drei Wahl:
quartiere mit 5990 gegen 3387 Stimmen angenommen.
Gür den Verfaflungsartifel batte die fortfchrittliche Bürger:
partei geftimmt und die freifinnige Partei bie Stimme frei-
gegeben, gegen das Quartiergeſetz ftimmte allein die frei-
finnige Partei. Go lautete bie erfte Nachricht. Eine Nach:
prüfung der Stimmzettel durch das ftatiftiiche Amt ergab
aber am 5. Gebr. nadbem die Abftimmungstommentare
längft gefchrieben und veröffentlicht waren, baB bie Schulgeld-
initiative mit einer Mehrheit von fehs Stimmen ver-
worfenift. Gin Wahlbureau batte irrtümlich ein Pädchen
verwerfende Stimmen zu den annehmenden gezählt.
1. Der Skiklub Baſel veranftaltet in CLangenbrud
fein V. Sfi-Rennen. (G3 nimmt bei febr günftiget
Witterung einen glänzenden Verlauf. — Die beut(d)e fto-
[onie feiert im Mufilfaal ben 55. Geburtstag Staifet
Wilhelms II. Der deutfhe Gefandte bei der Eid-
genoflenfchaft, v. Romberg, hält dabei bie Feſtrede.
331
2. Sym Alter von 57 Zahren ftirbt Oberſt Karl Köchlin—
Sfelin nad) ſchwerem Leiden. Neben feiner Stellung als
fommerzieller Leiter der Firma S. X. Geigy u. Cie. fand er
Zeit, der Deffentlichkeit in mannigfacher Weife zu dienen.
Er war Sivilrichter, fünf Sabre lang Mitglied des National:
rats, über ein Jahrzehnt Präfident der Basler Sjanbels-
fammer, Mitglied des Verwaltungsrates der Schweiz.
Bundesbahnen u. f. f.; im Militär erwarb er den Oberften-
grab und fommanbierte bie 2. Divifion. Köchlin war in
allen Klaſſen ber Basler Bevölkerung einer ber populárften
Männer.
5. Großer Rat. Es werden Kredite bewilligt für
den Ankauf der Liegenfhaft Münfterplag 2/3 (St. Johann:
fapelle), fowie Petersberg 28/32 und es wird dem Theater
auch für 1914/15 die gewünfchte Subvention zugefichert. Der
Rat fährt fort in der Behandlung des Verwaltungsberichts
für 1912.
Mit dem Ankauf der Liegenfchaft OX ünfterpla& 2/3 bat
es folgende Bewandtnis: das Haus enthält eine unihäß-
bare Sammlung alter, meift deutfcher und niederländifcher
Gemälde, die laut aroßherziger Stiftung ber 23efiSerin Frau
2. Bahofen-Burdhardt zum Andenken an ihren verftorbenen
Gemabl als Prof. Sob. Jak. Bachofen-Burck—
barbt-Ctiffung bereinft der Basler Runftfammlung
zufallen wird. Um der Sammlung ein vorläufiges Heim zu
fihern, faufte der Große Rat bie Liegenfhhaft. Am 10. Gebr.
bejucbten bie Mitglieder des Rates bie Galerie.
5. ffg. Nachdem im vorigen Sabr bie Aerzte und die Pro-
fefioren der medizinifchen Fakultät unter ber 9fegibe ber Anti-
Zuberfulofe-Liga den Bewohnern Bafels das Wefen der
Suberfulofe durch Vorträge unb eine Ausftellung nahe ge-
bracht hatten (j. Basl. Chron. zum 26. April 1913), fo wurde
dDiefes Zahr durch die Schweiz. Vereinigung für Krebs:
befämpfung das gleiche für ben Krebs unternommen. Sn
Borträgen unb in Demonftrationen wurde Aufklärung ge-
332
boten über das Wefen und die Heilungsmöglichkeiten bielet
Krankheit.
6. Das Ordefterber Allgem. Mufilgejell-
Saft wird zur Mitwirkung bei den bevorftehenden Genfer
Aubiläumsfeftlichkeiten verpflichtet.
Der Genoffenfhaftsrat des Allg Kon-
fumvereins befchlieft, fi dem Schokoladekrieg anzu-
fchließen und billigt das Vorgehen des Verbands Schweiz.
Konfumvereine bei der Intereflengemeinfchaft mit der Firma
Bel A. ©. (©. zum 20. Sanuar d. 3.)
7. Prof. R. Herzog erhält einen Ruf nad) Gießen
als Nachfolger Rörtes. |
8. Der neue Pfarrer zu St. Elifabethben, W. Merz,
wird in fein Amt eingeführt.
Eine auBetorbentlide Delegiertenverfammlung des
VBerbands Schweiz. KRonfumpvereine billigte
das Vorgehen feiner Leitung in Sachen des Schokoladefriegs
und ber Snterefiengemeinfhaft mit Zell (f. oben zum
6. Sebr.).
10. Der Flieger Theodor Borrer landet glatt auf
der St. Jakobsmatte, nachdem er die GCtrede Solothurn:
Baſel in 19 Minuten zurüdgelegt bat. Er wird in ben
nádjiten Wochen Schau: und Paflagierflüge ausführen.
12. Großer Rat. Nah der Gewährung eines
Nachtrags zum Budgets wird in erfter und zweiter Lefung
eine fantonale Erziehungsanftalt für ſchwachſinnige bilbungs-
fähige Jugendliche befchloffen, was die Verftaatlichung der
bisher privaten Anftalt zur Hoffnung in Riehen bedeutet.
Hierauf Üüberweift ber Rat im Anfchluß an den 1912er Ver:
waltungsbericht das Poftulat betr. Erweiterung der Fried-
matt und lehnt das betr. Vereinheitlichung des Gaspreifes
ab. In zweiter Lefung wird bie Vorlage betr. Vermehrung
des Perſonals ber Erziehungstanzlei und 23ejolbung bet
Schulfelretäre in der Faſſung der Regierung genehmigt, b. D.
e3 werden bie in erfter Lefung befchloffenen erhöhten 23e.
333
foldungen abgelehnt. Ein Anzug betr. Bau eines Volks—
haufes mit Schwimmbad wird überwiefen, in bie Behandlung
eines zweiten, betr. Einführung ber Polizeiftunde und einer
Petition von 25000 Grauen zu gleihem Ziel wird ein-
getreten.
13. Die theologifhe Fakultät ernennt zum Doktor der
Theologie hon. causa den Lic. Prof. Heinrih Hadmann
in Amfterdam.
15. Die evangel. Stadtmiffion hält ihre
Sahresverfammlung ab. Die Hauptanfprahe hält Pfr.
D. 93ufd) aus Grranffurt a. 9X.
Die Kollekte in ben Gottesdienften der evangelifch-
reformierten Kirche zugunften ber Bibelgefellfchaft,
fpeziel zur Anſchaffung von Sraubibeln, wirft 1863 Sr. ab.
. 17.19. 9teg.-9tat. G. Chr. Burdhardt hatte in der
Großratsfigung vom 27. Nov. 1913 gegen Dr. 2. €.
Scherer ben Vorwurf erhoben, biefer babe in einem Straf:
ptogep, ben er zu führen batte, einen Hauptzeugen zu falfchem
Zeugnis zu verführen verfucht. Gr hatte ben Vorwurf nad-
fráglid) in einer Weife wiederholt, daß ihm bie parla-
mentarifche Immunität nicht zu ftatten fam und ber An—
gegriffene Hagen fonnte. Am 24. Dez. 1913 reichte Dr.
Scherer Klage ein. Am 17. und 19. Gebr. 1914 fam bie
Cade vor Strafgericht zur Verhandlung. Das Urteil lautete
gegen Reg.Rat DBurdhardt wegen übler Nachrede auf
60 Fr. Buße, ev. 6 Tage Gefängnis, gegen den wieder:
beflagten Dr. Q3. €. Scherer wegen Beſchimpfung durch bie
Prefle auf 10 Gr. Buße, ev. 1 Sag Gefängnis.
20. Die von den Basler Behörden gewünfchte Aus-
lieferung des 93anfier8 Hans 93auber war von ben
amerifanifhen Gerichten nad) langen Verhandlungen ab-
gelehnt worden. Dafür hatten fie befchloflen, ihn als Läftigen
Ausländer abzufchieben. Bei feiner Ankunft auf bem Boden
Europas in Gberbourg wird er unter Mithilfe von Basler
Polizeibeamten feftgenommen und vorläufig in ein fran-
334
zöfifches Gefängnis gebraht. Die franzöfiichen Behörden
haben zu entjcheiden, ob die ibm zur Laft gelegten Be—
frügereien nad) franzöfiihem Recht bie Auslieferung recht-
fertigen.
Prof. Bieberbad hält feine Antrittsporlefung über
die Grundlagen der modernen Mathematif.
23. Auf ber Durcdreife nad) Aegypten bält fid) die
Berliner Liedertafel einen Tag in 23ajel auf, von
der befreundeten hieſigen Liedertafel empfangen und gefeiert.
Es waren etwa 300 Mann, darunter 150 Aktive. Am
Abend gibt der Verein im überfüllten Münfter ein Wohl:
tätigfeitsfongert mit ftarfem fünftferijdem und äußerem
Erfole. |
24. Das vom Faſtnachtkomitee wie üblich arrangierte
OXonfre-Srommelfongert findet im Pariete-
theater Rüchlin, anftatt wie in den legten Jahren im Muſik⸗
faal, ftatt. -
26. Der Große Rat genehmigt nad) zwei Snter:
pellationen nicht ohne lebhafte Diskuffion das berichtigte
Abftimmungsergebnis vom 31. Jan./1. Gebr, fapt einen
Beſchluß betr. Anwendung ber neuen Quartiereinteilung auf
bie bevorftehbenden Wahlen und tritt ein auf bie zweite
Leſung des Gefees betr. die Öffentlichen Krankenkaſſen.
28. Die Regierung erteilt dem Lehrer des Griechifchen
an der Univerfität, Prof. Rud. Herzog, der einem Rufe
nad) Gießen folgt, bie gewünfchte Entlaffung.
Witterung. As meteorologifhe Hauptwerte des
Monats Februar 1914 notieren wir: Mittel der Temperatur
37, mittl. Semp.-OXtarimum 7,7, mittl. Zemp.-Minimum 0,50,
Mittel des Luftdruds 737 1, Summe ber Niederfchlagmenge
29 mm, Summe der Sonnenfheindauer 109 Stunden. Die
erften 11 Sage des Monats waren winterlich hell, ber Reft
früb und regnerifch; bie Niederfchläge fielen weit geringer
aus als der langjährige Durchſchnitt.
3839
März; 1914.
1.—3. Die Vereinigung für ffaatsSmijfen-
ſchaftliche Studien in Berlin tritt in Baſel eine
Studienreife burd) bie Schweiz an. Die Statiſtiſch-volks⸗
wirtfchaftliche Geſellſchaft bietet den Herren theoretifche 23e-
lehrung; bei den Beſuchen verfchiedener Großbetriebe, u. a.
Des Waſſerwerks Augſt-Wyhlen wird ihnen bie Praris vor
Augen geführt.
2.—4. Die &aftnad t geht im üblichen Rahmen vor
fij, von der Witterung wenig begünftigt.
3. Der Kirchenrat erteilt Prof. p. Böhringer die
mit Gefundheitsrüdfichten begründete Gntlajjung aus bem
37 Sabre in Baſel verfehenen Kirchendienft auf den Herbft
1914.
6. Dr. Eugen Bernoulli hält feine Habilitations-
vorlefung als Privatdozent ber Medizin über das Thema:
Zur Theorie ber Narkoſe.
8. Sn Bafel wird ein fogtialbemofrati[der
Srauentag abgehalten, wobei redend auftreten Grau
Pfr. Reichen (Winterthur) und Nat.:Rat Gugfter-3üft.
12. Der Große Rat beenbigt bie zweite Lefung der
Krantenverficherungsvporlagen und nimmt fie mit großer
Mehrheit an, genehmigt den Bebauungsplan für Klein-
büningen und erledigt einen großen Teil des Budgets für
1914. — Der aus den Vereinigten Staaten ausgewiefene unb
in Cherbourg verhaftete gewefne Bankier Hans
Bauder, dem zahlreiche Schwindeleien zur 9ajt gelegt
werden, trifft in 23afel ein und wird im Lohnhof feſtgeſetzt.
13. Der erfte Gdleppaug der 1914er Schiffahrts-
fampagne trifft von Straßburg bier ein.
. 14. Die Regierung ernennt zum außerordentlichen Pro-
feflor an ber philojophifchen Fakultät ber Univerfität, II. Ab-
teilung, Dr. Aug. Burtorf, bisher Privatdozent.
16. Prof. Dr. Ernft Heidrich bat einen Ruf nad
336
Straßburg aí$ Nachfolger Dehios erhalten unb wird ibm
auf den Serbft Folge leiften.
18. Eine ftatf befuchte Verfammlung zu Rebleuten, ein-
berufen von fieben Großratsmitgliedern verfchiedener Par:
feien, bie fämtlih aus dem Kanton Bafelland ftammen,
faBt nad einem Referat von Ing. R. Gelpfe eine ber
Wiedervereinigung von Bafel-Stadt und Land
günftige Refolution und fett zur Förderung des Gedanfens
eine 15gliedrige Rommiffion nieder.
20. Eine von biefigen Modefirmen im Mufitfaal
veranftaltete Modefhau mit Übendtee und Tango—
tänzen vereinigt ein großes Publikum und wird zu einem
eigentlichen gejellfchaftlichen Erfolg.
22. Während auf bem Landhof bie 93asler O[b 93098
nad) ritterlicher Gegenmebr von ben Berner Young Boys
befiegt werden, an die jetzt bie Meifterfchaft für bie
Zentralſchweiz übergeht, produzieren fid in einem Schau-
fliegen auf ber Ct. Safobsmatte ber franzöfifhe Sturz:
flieger Montmain und der GSolothurner 23orrer. Leider
ftürzt ber le&tere, noch nicht 20 Sabre alt, gegen Abend in
der Nähe des Hofes Rüttihard und findet einen plößlichen
Tod. Ein Zufchauer erliegt infolge des jáben Schredens
einem Herzſchlag.
24. Der Weitere Bürgerrat weit bie Vorlage
bett. einen Neubau an der Stadthausgafje gegenüber bem
Stadthaus, auf welcher Liegenfchaft bie VBürgergemeinde
eine Servitut befit, an eine Kommiſſion, nimmt bie Budgets
der bürgerlichen Verwaltungen für 1914 entgegen, wählt bie
Prüfungstommiffion für 1913 und erledigt eine Reihe 23e-
gebren um Aufnahme ing Bürgerrecht.
25. Der Genoflenfchaftsrat des Allg Ronfum:
vereins genehmigt Jahresbericht und Rechnung der Ge-
fhäftsleitung für 1913 und damit eine Dividende von 8%
und überweift bem Verwaltungsrat verfchiedene Aufträge.
26. Der Große Rat nimmt den Beriht der Re-
337 "
sierung über bie Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes betr.
bie Schulgeldinitiative entgegen, beenbigt bie Beratung des
93ubget8 für 1914, das ein Defizit von weit über brei
Millionen vorfieht, und nimmt ben Bericht des Regierungs:
rats entgegen über Maßnahmen zur PVereinfahung des
Staatshaushalts.
27. Die neu gegründete Univerfität Frankfurt a. 9X.
beruft an ihre juriftifche Fakultät Dr. Hans Planig für
Rechtsgefchichte, und an ihre philofophifche Fakultät Dr.
W. Otto für Haffiihe Philologie.
28. Das Appellationsgericht verurteilt t. ©. Dr. 95. G.
Scherergegen Reg:-RatE. Chr Burdhardt-
Shazmann in Abänderung des Urteils erfter Inſtanz
Reg. Rat 93urdbatbt wegen übler Nachrede zu 30 Sr. Buße
und wies deffen Widerklage auf Beichimpfung burd bie
Prefle ab. Die Koften find von beiden Parteien zur Hälfte
zu tragen (f. zum 19. Grebr.).
29. Sn der Aula des Mufeums findet die diesjährige
Schlußfeierder Faufmánnifden Lehrlings—
prüfungen ftat. — Der Sturz: und Schleifen:
flieger Montmain veranftaltet auf den Gt. Syafobs-
matten ein von der Witterung in hohem Grad begünftigtes
ſtark befuchtes Schaufliegen. Der Nettoertrag iit für die
Hinterlaflenen des vor adt Sagen verunglüdten 93orrer be-
fimmt. Für biefe, forie für die Witwe und bie Waifen des
bei jenem Anlaß vom Herzichlag betroffenen Arbeiters ift
in Bafel und auch in weitern Kreifen der Schweiz eine Öffent-
lihe Sammlung im Gang.
31. Die Generalverfammlung des Runftvereing,
von 200 Mitgliedern befucht, ergänzt bie Rommilfion und
wählt zum Präfidenten den bisherigen Gtatthalter Fritz
Stäbelin- Vernoulli.
Witterung. Das Mittel der Temperatur im Mo:
nat März 1914 betrug 7,1, das mittl. Temp. -Marimum
11,3, das mitt. Temp.-Minimum 3,7% C., das Mittel des
338
Luftdruds 733,5, bie Summe ber Niederfchlagmenge 84 mm,
die Summe der Sommenfheindauer 115 Ofunden. Das
Wetter zeigte während des ganzen Monats Unbeſtändigkeit
und Lnficherheit, viel Wind bei ftarfer Bewoölkung und
häufige Niederſchläge. Die Entwidlung ber —
wurde glücklich zurückgehalten.
April 1914.
1. Die Regierung wählt zum Verwalter der öffentfichen
Krankenkaſſe unter Vorbehalt des Referendums Alfred
Geiger von Bafel.
2. Der Große Rat tritt nad Erledigung einer
Petition ein auf die Vorlage betr. Lehrerbefoldungen und
nimmt fie in erfter Lefung mit wenigen Uenderungen an.
5. Die Delegiertenverfammlung des
Schweiz Shügenvereins tagt in Baſel und be-
ſchließt u. a., das auf 1914 vorgeſehene eidgenöſſiſche Schüßen-
feit in Laufanne angefichtS der duch zwei Mißernten veran-
laßten Notlage in ber Waadt auf 1916 zu verfchieben.
6. Der Allg. Ronfumverein fchließt mit dem Verband
nordweftjchweizerifcher Milchproduzenten einen Pertrag
betr. Milchlieferung ab, der bem [feit längerer Zeit an-
dauernden fogenannten Milchkrieg ein Ende mad.
8. Der Fürzlich verftorbene Hans Vondermühll
vermadte teftamentarifch feine wertvolle Galerie nieder:
ländifher und vlämifher Meifter der öffentlichen Kunſt⸗
fammlung.
13. Das Rarfreitagopfer in ben Gottesbtenften
der evangelifch-reformierten Kirchen für das bürger!. Armen-
amt und die Allgem. Armenpflege ergibt 2086, das Dfter-
fonntagopfer für den Proteftantiich-firhlihen Hilfs-
idi 4364 Sr.
. Sn der Morgenfrühe erliegt einem Herzſchlag
Dr. 2 Zulius Masinger, Direktor der Hypotheken:
339 22*
banf, vormals Redakteur ber ,Grenapoft" unb Gerichts-
beamter, ein in ber Gemeinnü&igfeit viel verdienter Bürger.
Prof. Dr. Q8ifb. Bruckner nimmt feine Tätigkeit
an ber Univerfität wieder auf. — Zum a. o. Profefior für
griehifche Sprache und Literatur wird berufen Dr. Werner
Jaeger, derzeit Privatdozent in Berlin.
12. 9tad) ſchwerem Leiden ftirbt, erft 47jährig, Dr. Serm.
Rey, Direktor der „Geſellſchaft für Chemiſche Induſtrie“,
früher Präfident des fchweizerifchen Landfturmfchießvereins.
15. 16. 3u bem Wettbewerb für ein Sunft-
mufeum waren 71 9projefte eingelaufen. Das Preis-
gericht erteilte zwei Preife von je 3000 Fr., an Architekt
Emil Fäſch und an die Basler Baugeſellſchaft (Architekten
Hans Bernoulli und Rob. Grüninger); zwei Preife von je
2000 Gr. , an Gebr. Bräm in Züri) unb Architekt Albert
Maurer aus Zürich, in Düffeldorfz zwei Preife von je
1000 Fr., an Architekt Karl Moſer in Karlsruhe und Willi
Meyer, Alfiftent an ber technifchen Hochfchule in Dresden. —
Die Pläne werden auf einige Seit im Gewerbemufeum aus-
geftellt.
16. Der Große Rat hört zunächſt eine Snterpellation
über ben Flugtag vom 29. o. M. Diefer hatte in der Stadt
viel zu fprechen gegeben, weil man dem Veranſtalter vor-
warf, er babe den wohltätigen Zweck — Unterftügung ber
Angehörigen des verunglüdten 93orter — zu eigener 23e-
reicherung benüßt. Die Beantwortung der Snterpellation
mußte übrigens im wefentlichen abgewiefen werden, weil die
beanftandete Veranftaltung auf bafellandichaftlihem Boden
vor fid) ging. Der Rat befchloß hierauf den Ankauf ber
Liegenschaft zur Meerlage am Petersberg, nahm den Bericht
des Resierungsrats über feine rüdftändigen Aufträge und
feiner Rommiffionen entgegen, nahm in zweiter ejung das
Lehrerbefoldungsgefeß an und ging Über einen Anzug zur
Einführung der Polizeiftunde zur Tagesordnung. Der Prä-
fibent fprad) bem nad) langjähriger erfolgreicher Tätigkeit aus
340
bem Öffentlichen Leben fcheidenden Reg.-Rat Dr. P. Speifer
den Dank des Gemeinme[ens für jein Wirken aus und ſchloß
damit bie Amtsperiode des Rates. |
22. Zum 9[nbenfen an eine Verftorbene war der evan-
gelifchen Kirche fd)on vor geraumer Zeit eine Summe von
15000 Gr. für efeftri[de Beleuchtung Des
Münfters übergeben worden. Der Kirchenvoritand der
Münftergemeinde befchließt nach lángeren zeitraubenden
Studien, diefe Beleuchtung durch in ben Geitenarfaden
hängende Bronzeleuchter durchzuführen.
25. An einer Lungenentzündung ftirbt, 69jährig, Konrad
Merk, feit 1881 als Lehrer in Baſel tätig, feit über zehn
Sahren Rektor der Töchterfchule. — Während eines vorübet-
gehenden Aufenthalts in Männedorf ftirbt ber 1843 ge-
borene Ed. 933urdbarbt- Zahn, in chriftlihen und ge-
meinnügigen Werfen vielfach tätig.
27. Die Generalverfammlung des Allg Ronfum-
vereins befchließt definitiv für 1913 eine Rüdvergütung
bon 8%.
29. Die Delegiertenverfammlung ber Allg. Kranken—
pflege bringt ihre Statuten mit der eidgenöffifchen und
fantonalen PVerficherungsgefeggebung in Einklang und be-
ſchließt Erhöhung des Zahresbeitrags auf 21 Gr.
30. Die Zahresverfammlung der Freiwilligen
Akademiſchen Gefellfhaft wählt zum Vorſteher
an Stelle des nad) 25jáDriger Verwaltung diefes Amtes
zurüdtretenden Oberft Iſaak Sfelin neu Dr. Aug. Sulger.
Aus bem Zahresbericht vernimmt man, bap Frau Prof.
Miefher-Rüfh zum Andenken an ihren verftorbenen Sohn
der Geſellſchaft 100 000 Zr. gefchenkt bat.
Witterung Im Monat April 1914 betrug das
Mittel der Temperatur 12,0, das mittl. Temp.-Marimum
179, das mittl. Temp.-Minimum 6,4° C., das Mittel des
€uftoruds 739,7, bie Summe ber Niederfchlagmenge 41 mm,
bie Summe ber Sonnenfcheindauer 230 Stunden. Der
341
Monat zeichnete fid) entgegen der Regel aus durch gleich-
mäßig [höne Temperatur, durch Ausbleiben fchroffer Witte:
rungsumfchläge und von Froſt. Dem entfprechend entwidelte
fi bie Natur vielverfprechend.
Mai 1914.
1. Der Maifefttag der organifierten Arbeiterfchaft
leidet unter ber Ungunſt der Witterung.
2. 3. Die Großratswahlen werden für eine neue
Operiobe von drei Jahren vorgenommen, und zwar in ben
drei neu gefchaffenen großen Wahlkreifen der Stadt. Die
Beteiligung der Wählerfchaft betrug 65% ber Gtimm-
berechtigten. Die Wahlbureaur fonnten am Abend des
Dienstags, 5. Mai, das Gefamtergebnis der Wahlen vor-
legen. Es lautet wie folgt: Sozialdemokraten 44 (im ab-
tretenden Großen Rat 47), Sreifinnige 27 (35), Liberale 20
(21), Ratholiten 17 (17), Fortfchrittliche 93trgerpartei 17 (6),
Demofraten 2 (0), Dorflifte Otieben (von den Liberalen
empfohlen) 2 (2), Dorflifte 93ettingen (von Greifinnigen unb
Liberalen empfohlen) 1 (1). — Bei ben Regierungs:
ratswabhlen fam mit einem abjoluten Mehr — 7698
von fieben Wahlen nur eine zuftand: Der von Liberalen und
Sozialdemokraten empfohlene Reg.-Rat Dr. F. Mangold
wurde mit 8483 Stimmen gewählt. Die übrigen aus-
fcheidenden Regierungsräte wurden nur von ihren Parteien
empfohlen. Außerdem lagen zum Erſatz für den zurüd-
tretenden Reg.-Rat Speifer vor bie ftanbibaturen bet
Liberalen (Dr. Rud. Miefcher, Vorfteher des Betreibungs-
amtes), der fatbolifen (Advokat Dr. E. Zeigenwinter) und
der Fortfchrittlichen Bürgerpartei (Polizeiinfp. 93. Müller,
freifinnis). Es mahten Stimmen: Reg.-Rat. Wullichleger
7161, Blocher 5849, Uemmer 4859, Gtüdlim 4723 und
93urdbatbt 4706, ferner Dr. Miefcher 3736, Dr. Zeigen-
winter 3302, Onfpeltor Müller 2431. Vereinzelt fielen
703 Stimmen.
342
5. Prof. Dr. Aug. Schovetenfad hielt feine öffent:
fiche Antrittsporlefung über den Rechtsſatz.
8. Der beutid)e Raifer fährt auf ber Rückreiſe
von Korfu, von Genua fommend, in feinem Hofzug obne
Aufenthalt über Bafel. |
9./10. Sm zweiten Wahlgang ber Regierung:
ratswahle.n werden bei einer Beteiligung von 58% ber
Stimmberecdhtigten gewählt bie noch nicht beftätigten Aus:
fheidenden: QWWullfchleger mit 7234, Aemmer mit 6292,
Blocher mit 6261, Stödlin mit 5741 unb Burckhardt mit
5469, unb neu an Gtelle des zurüdtretenden Reg.-Rat
Speifer Dr. Rud. Miefcher mit 4896 Stimmen. Die Re:
gierung befteht fomit wie bisher aus je zwei Sreifinnigen,
Liberalen und Sozialiften und einem Parteilofen (Mangold).
Die freifinnige Partei batte ihre bisherigen Vertreter
9femmer und Stödlin, bie katholifche Partei fämtliche Aus-
fheidende und neu Dr. Feigenwinter, der 3929 Stimmen
machte, bie fozialdemofratifehe Partei ihre bisherigen Ver:
trauensmänner Blocher und Wullichleger vorgefchlagen; die
forticbrittfide Bürgerpartei hatte bie Stimmen freigegeben
nahdem ihr Kandidat, CDoligetinfpeftor Müller, zurüd:
getreten war. — Mit diefer Wahl fcheidet Reg.-Rat Dr.
Paul Speifer aus der aktiven Politik, nachdem er ber
Regierung von Bafelftadt mit wenigen Unterbrechungen
mehr als drei Zahrzehnte mit größter Auszeichnung ange-
hört bat.
10. Sn einem GuBballmatd des ZFootballclub
gegen bie engliihen 93eruffpieler des Bradford Eity Club
fiegen bie leßteren mit 4:2 Goals. — 9n dem benachbarten
Haufen t. W. findet das Hebelmähli ftatt unter zahl:
reicher Beteiligung von 23aslern.
13. In Neu-Mfchwil, alfo auf bafellandfchaftlichem
Boden, läßt fid) feit einigen Sagen W. Hagenbeds
Tierfhau nieder, ein großes Unternehmen mit zahl:
343
teidjem eigenem Perfonal unb großem Parf, das fid) [eb-
bafteften Zufpruches erfreut.
14. Der neu gewählte Große Rat hält feine kon—
fituierenbe Sitzung ab, eröffnet burd) Elias Weiß (93et-
fingen) als Alterspräfidenten. Er wählte zu feinem Prä-
fibenten G. 9[ngft (Soz.), zum Statthalter Dr. R. Nieder:
baufer (Rath.) und beftellt die ftánbigen Ausſchüſſe (Bureau,
Wahlprüfungs-, Rechnungs- unb CDetitionsfommijfton).
15. Die philofophifche Fakultät der Ilniverfität Dat
Reg.-Rat Dr. Paul Speifer am heutigen Sage, da er
von feinen Öffentlichen Aemtern zurüdtritt, Durch eine De-
putation bie Urkunde feiner Ernennung zum Ehrendoftor ber
Philoſophie überreichen Laffen. — Der neue Profektor Prof.
Dr. Eugen Ludwig bält feine Antrittsporlefung über
„das morphologiſche Subftrat der Vererbung”.
19. Der Große Rat hört in einer Nachmittagsfigung -
eine Snterpellation betr. bie Hagenbedfchau (f. 3. 13. ds.) und
deren Beantwortung an, validiert bie Wahlen des Großen
Rates und des Regierungsrates, wählt zum Präfidenten
der Regierung Dr. Mangold, zum Pizepräfidenten Dr.
G. Chr. Burckhardt, wählt den Bankrat, bewilligt eine
Reihe Nachtragstredite und nimmt die Anträge ber Otegie-
rung betr. Rorreftionslinien der Greifengafle und betr. Sauf
der Häufer Ochfengafle 1 unb 3 an.
20. Die Regierung überträgt bie Leitung des durch
den Rüdtritt Reg.-Rat Speijers erledigten Finanzdeparte-
ments Reg.-Rat Wullfchleger, an deflen Stelle übernimmt
das Departement des Innern Reg.-Rat. Blocher; das von
dDiefem bisher geleitete Polizeidepartement wird bem neu
gewählten Reg.-Rat Miefcher übertragen. Außerdem nimmt
Reg. Rat Miefher Reg.- Rat Aemmer die Militärdiref:
tion ab. In der Leitung ber übrigen Departemente tritt
feine Uenderung ein. Es bleiben Reg.:Rat ?femmer am
Sanitäts-, Oteg.Otat 93urdbarbt am Juſtiz-⸗,, Reg.Rat
344
Mangold am Erziehungs- unb Reg.-Rat Stödlin am Bau-
Departement. |
23. Das bafelftädtifche und das bafellandfchaftliche Ko—
mitee für Wiedervereinigung beider Baſel
halten unter bem Vorfig von Ing. R. Gelpfe ihre erfte ge-
meinjame Sitzung zu Safran ab. Gie befichließen Die
Gründung eines Verbandes zur Förderung und Verbreitung
des Gedankens ber Wiedervereinigung.
24. Als Pfarrer der St. Petersgemeinde zum Erſatz
von Prof. P. Böhringer wird ohne Gegenfanbibaten ge-
wählt Pfr. Son € pa, zurzeit in Filifur, freifinnig.
25. Die Sntetpellation im Großen Rat am 19. d3. batte
fi) darauf bezogen, daß dem bisherigen Vorfteher des
Polizeidepartements, Reg.Rat Blocher, vorgeworfen wurde,
er babe burd) fein Verhalten bie $5agenbedidau ge:
zwungen, jenfeit3 der Kantonsgrenze ihre Selte aufzu-
ftellen. Auf die Snterpellationsberatung im Großen Rat
erwidert Hagenbed in ber Prefle, Reg.-Rat Blocher du-
pliziert, und dag Ende iit eine Klage Hagenbeds und Wider:
f(age Blochers.
26. Der Weitere Bürgerrat enticheidet über bie
Verteilung des für 1914 ber Bürgergemeinde zufallenden
Anteil3 am Ertrag der br. Merian’fchen Stiftung an bie
bürgerlichen Armenanftalten, bewilligt den Verkauf von
10600 m? Gtiftungslanb beim Wolfgottesader an den
Staat für Anlegung einer Tramremife, befchließt auf Grund
des Berichts feiner Rommiffion im Sinne der Anträge des
Engern Bürgerrats (j. zum 24. März) feine Einwilligung
zu einem Neubau auf ber dem Stadthaus gegenüberliegenden
Liegenfhaft an der Ctabtbausgafje und erledigt eine Reihe
Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
27. Die evangelifbh-reformierte Synode
genehmigt ben Zahresbericht des Kirchenrats für 1913 und
nimmt eine Gehaltsordnung für Sigriſte, Organiften unb
Orgeldiener an.
345
On feinem 75. Altersjahre ftirbt Dr. Theophil Burck—
barbt-Q3iebermann, gewejener Gpmnafiallebrer, viel ver-
dient um. bie baterlánbi[d)e unb vaterftädtifche Gefchichte,
namentlich als Renner des römifchen Altertums (Augſt) unb
der Humaniftenzeit. Auch als Schriftfteller ift Theophil
Burdhardt wiederholt mit Erfolg aufgetreten. In Fach—
reifen geno er einen bochangefehenen Namen.
28. Der Große Rat beftellt auf eine neue Amts-
dauer den Erziehungsrat, nimmt das Geſetz betr. Zulafiung
von Ausländerinnen als Studierende an, beichließt eine
Landerwerbung in Kleinhüningen, genehmigt einige Aende—
rungen am WÜrbeitslojfengefeß, gebt zur Tagesordnung über
einen Anzug betr. Uenderung eines Artikels des Rantonal-
banfgeleSe8 und erklärt zwei andere betr. Tramverkehr auf
ber Sobanniterbrüde und betr. Aenderung der Sitzungszeit
des Großen Rates erheblich.
29. Sn ber Schlüffelzunft findet zu Ehren des von feiner
politifchen Wirkſamkeit zurüdtretenden Prof. «D. Speifer
ein Feſtmahl ftatt, wobei dem Genannten von feinen Ge-
finnungsgenofien der Dank für feine erfolgreiche öffentliche
Wirkſamkeit ausgefprochen wird.
30./31. Sn Bafel tagt eine interparlamentariihe Kon -
ferenz für eine beut[íd-franabDjifde Ver—
ſtändigung. Sie ift befucht von zahlreichen franzöfifchen
Senatoren und Deputierten einer- und Mitgliedern des
deutfchen Neichstages anderfeits. In ber Deffentlichkeit
macht fie fid) nicht bemerkbar, wie auch ihre Verhandlungen
ent|pred)enb der diskreten Natur nicht Öffentlich waren. An
einem Schußbanfett nahm Reg. Rat Blocher teil. Die
Regierung batte bie Herren fchriftlich willlommen gebetpen.
31. Witterung Im Monat Mai 1914 betrug das
Mittel der Temperatur 11,7, das mittl. Temp. -Marimum
159, das mitt. Temp. - Minimum 8,1° C., ber mittlere
Barometerftand 738,5, bie Summe ber Niederfehlagmenge
124 mm, die Summe der Sonnenfcheindauer 126 Stunden.
346
Seit mehr als 30 Zahren batte 93ajel nicht mehr einen [o
falten, fonnen[deinatmen und regenreihen Monat Mai.
God) iff dank dem günftigen April in der Vegetation unb in
der Landwirtfchaft noch nichts verdorben. Zum Glüd brachte
der Monat feine Srofttage, obwohl die Gefahr ee
nabe zu liegen j&hien.
Suni 1914.
5. Zum 3ivilgerichtfchreiber an Stelle des in bie Re-
sierung gewählten Dr. Rud. Miefher wurde gewählt
Dr. Saf. Trott, zum Gubftituten Dr. Serm. Siegrift.
9. Prof. Alt hält feine Antrittsporlefung über den
firíprung der Meffiashoffnung.
10. Der Große Rat fi6t des Sronleichnamfeftes
wegen am Mittwoch ftatt am Donnerstag. Der Anzug betr.
Bereinbarung mit Baſelland wegen Vereinigung der Ver:
waltung wird überwiefen. Bei biejem Anlaß präzifiert Oteg.-
Rat WUemmer den zumartenden, von Fall zu Fall fid
richtenden Ctanbpunft ber Regierung von Baſelſtadt.
Weiter nimmt der Rat eine Uenderung des Geſetzes betr.
das Loöſchweſen an, genehmigt Beriht und Rechnung ber
Kantonalbank für 1913, erledigt bie Revifion der Geſetze
betr. Gewerbejchule und Gewerbemufeum unter Verzicht auf
eine zweite Lefung und befchließt Eintreten auf das Geſetz
bett. das IIniverfitätsgut, bie Sammlungen und Anftalten ber
Univerfität.
Nah fchwerer Krankheit ftirbt, erft 42 Jahre alt,
Dr. Hans Buſer, f. 3. Lehrer an der Untern Real-
Ihule, dann Redakteur der „Basl. Nachr.“, feit 1909 Lehrer
am Seminar in Kreuzlingen, ein vielverfprechender Hiftoriker.
11. Die Regen; ber Iniverfität erteilt die venia
legendi an ber medizinifhen Fakultät Dr. Sal. Schön:
berg für allgemeine Pathologie und für patbologifche
Anatomie und Dr. S. Louis Burckhardt für Hygiene
unb 93afteriofogie.
947
13. Die Regierung beruft zum außerordentlichen Pro-
fefjor an der theologischen Fakultät ber Univerfität Lic. theol.
Gerd. Heinzelmann, derzeit Privatdozent in Göttingen.
13.—15. Der Otánnerdor Goncorbia Bafel
geftaltet die Feier feines 75jährigen Beſtehens aus zu einem
Snternationalen Sängerwettftreit. Es be-
teiligten fid) daran zahlreiche Vereine aus bem In- und Aus-
land, fogar ein ungarifcher aus bem entlegenen 23ubapelt.
Das Zeft, beffe Sauptafte fid) in Kleinbafel auf dem Areal
des alten badifchen Bahnhofs abfpielten, nahm unter der
Gunft der Witterung einen in allen Zeilen befriedigenden
Berlauf.
15. Die Staatsrehnung für 1913 jdlieBt bei
20478937 Qr. (93ubgef 18337 037) Einnahmen und
20 921 627 Fr. (21120743) Ausgaben mit einem Defizit
von 442690 (2633 688) Zr. Doch find für PVerzinfung
und Amortifation der Staatsichulden 510172 Zr. mehr
ausgegeben als budgetiert.
16. Die Frequenz der Univerfität im
Sommerjemefter 1914 beträgt 940 Studierende (59 Damen),
und zwar 85 Theologen, 78 Zuriften, 327 Mediziner, 229
Philofophen I und 221 Philofophen II. Schweizer find
665 (50), davon Bafelftädter 352 (31), und zwar Theo:
[ogen 20, Zuriften 54, Mediziner 54 (5), Philofophen I
224 (26), Philofophen II 105 (6).
18. Der Große Rat befchließt zur Durchführung des
Baues Ginger zwifhen Marktgaſſe und Stadthausgaſſe
Verkauf feiner Liegenfhaft an biejer Stelle und Ankauf ber
Liegenfhaft Fifchmarft 12 unter gleichzeitiger Aenderung
ber Baulinien an Markt: und Stadthausgaſſe; er bewilligt
die nötige Summe zum Landerwerb beim Wolf für Anlage
eines weitern Straßenbahndepots und befchließt, fi mit
250000 Qr. an einer zu gründenden „Schweizerifchen
Rheinfchiffahrt-Aktiengefelfchaft in 93afel" zu beteiligen.
Der Regierungsrat bat bie ergiebige Unterſtützung des
348
Stadttheaters aus Hffentlihen Mitteln davon abhängig ge-
macht, daß von privater Seite entfprechende Subventionen
geleiftet werden. Um dies zu ermöglichen, fonftitutert fid)
nach längerer intenfiver Propaganda heute ein Theater:
verein mit Oberftleutnant W. Dietfchy- Furſtenberger als
Präſidenten.
19. Der Genoſſenſchaftsrat des Allgem.
Konſumverein beſtellt fein Bureau und beſchließt, in
Zukunft bei dieſem Geſchäft das proportionale Wahl—
verfahren anzuwenden. |
20. Sm Alter von 33 Jahren [ftirbt Dr. Rud.
Dietſchy, Chefarzt des fantonal folothurnifchen Sana—
toriums Allerheiligenberg.
21. Sn Lieftal findet die fonitituierenbe Verfammlung
der Gefelfhaft zur Wiedervereinigung beider
Baſel flatt. Vorträge hielten Dr. Aug. Heine. Wieland
aus Bafel und Gemerbejefretár Sidubin aus Siffah. Ein
Statutenentwurf wurde angenommen und zum Präfidenten
des Verbandes Ing. R. Gelpfe gewählt.
Der Basler Ruderflub hält auf dem Staufee bei Ausft
eme Snternationale Ruderregatta ab, ver:
bunden mit feinem 30. Gtiftungsfef. Die PVeranftaltung
nahm bei großer Beteiligung der Ruderer und des Publi-
hnn$ den beften Verlauf.
Die Saubftummenanftalt in 9tieben be
geht mit bejcheidener Feier bie Erinnerung an ihr 75jähriges
23efteben.
22. QGefunbatlebrer Walter Bader-Nitter ver-
unglüdt tödlich burd) Sturz mit bem Fahrrad im Alter von
60 Syabren.
24. Die evangelifd-rteformierte Synode
faßt eine Refolution zugunften der fogenannten Spielbant-
Snitiative (Urt. 35 der Yundesverf.), ferner befchließt fie,
das Gunbelbinger Quartier füblid) vom Bahnhof unb alter
Surababníinie mit der St. Elifabethengemeinde zu ver-
349
einigen und biefer außer bem (Gt. Elifabethenpfarrer zwei
neue Geiftliche zu geben. — Die Regierung beruft als
ordentl. Profeflor der Kunſtgeſchichte den Privatdozenten
Dr. Sriedr. Rintelen in Berlin.
25. Der Große Rat bewilligt einen Kredit von
126 000 Zr. für die öffentlichen franfenfaljen und berät
in erfter Lefung 25 Paragraphen des Gefetes über das
Univerfitätsaut.
26. Die Gemeinnützige Gefellfhaft wählt
zu ihrem neuen Vorſteher Dr. €. 5. W. Burdhardt,
zum Schreiber Dr. Zelir Iſelin. — Die außerordentl.
Hauptverfammlung der Allg Rranfenpflege ge-
nebmigt bie Verträge mit den Werzten und Apothefern und
bie bereinigten Statuten, bie den Forderungen des Yundes-
amtes für Sogialverficherung ent[pred)en. Die Statuten
treten mit dem 1. Zuli 1914 in Kraft; baburd) wird bie
Krankenpflege des Yundesbeitrages für 1914 teilDaftig.
27. Der Verband für Schiffahrt auf bem
Dberrhein genehmigt in feiner Generalverfammlung
Beriht und Rechnung für 1913 und wählt in ben Vorftand
Prof. Gejare Bolla in Bellinzona unb Ing. Bitterli in
Rheinfelden. An die Verhandlungen fchloß fid) als zweiter
At eine Dampferfahrt nad) Rheinweiler.
27. Suni bis 5. Juli. Das VI. Shüßenfef
beider Bafel wird in Siffach abgehalten. Bei ber
Sahnenübergabe am 28. fprachen für Baſelſtadt Dr. €.
Stödlin, für 93afellanb Gewerbeſekretär Tſchudin; febteter
mit ausdrüdlicher Befürwortung des Wiedervereinigungs-
gebanfeng. Der gleichen dee dient das wiederholt mit
größtem Beifall aufgeführte Zeftfpiel von E. A. 93ernoulli
in Arlesheim: „Die Umkehr der Stäbe”. Gleichzeitig feiert
der Genannte Sriumpbe an ber Landesausftellung in Bern
mit feinem Feſtſpiel „Die Bundesburg“.
|. 209.ffg. Die Woche ber religidfen Jahres—
fefte geht in üblicher Weife vor fid.
350
Witterung Das Mittel der Temperatur im
Monat Suni 1914 betrug 15,3, das mittl. Temp.- Minimum
11,0, das mitt. Temp.-Marimum 20,0° C., dag Mittel des
Luftoruds 737,2, die Summe der Niederſchlagmenge
110 mm, die Summe der. Sonnenfcheindauer 207 Stunden.
Diefe Zahlen entiprechen ziemlich genau den Normalwerten.
Es fommt dies zum großen Seil daher, daß ber Monat
zwifchen ben Grtremen bin und ber jchwanfte. WUußer:
gewöhnlich groß war die Getittertátigfeit.
Suli 1914,
3. Der Vorftand des Verbandes zur Wiedervereinigung
beider 93afel wählt zum Präfidenten Ing. Rud. Gelpke.
— Die venia legendi für das Lektorat ber franzöfifchen
Sprabe an ber LUniverfität wird erteilt an Hubert
Matthey von Vallorbe.
4.ffg. Das Quodlibet führt am Heimatfchuß:-
theater in Bern unter großem Beifall bafeldeutfche Schwänte
von Dominit Müller auf, nachdem [don zu Anfang des
Monats Zung-Bafel mit wiederholter Aufführung des
Schaufpiels „Laupen” von Caefar von Arr bie Berner ent:
zückt bat und während das gleichfalls aus einer baslerijcben
Geber (CE. U. DBernoulli) entftammende Zeftipiel „Die
Bundesburg“ zu immer neuer Freude zahllojer Zufchauer
über die Bretter gebt. |
5. Der Relegationsmatch Ser. A. der Schweiz. GuBball-
vereinigung in 93ern gebt mit 7:0 zugunften von Old
Boys Bafel gegen Fußballklub Viel aus. — In Baſel
finden bie zentralfchweizerifihen Vorbereitungs-
fámpfe für das große fchweizerifhe Leichtathletik—
Sportfeft am 19. ds. in Bern ftatt.
7. Der Weitere Bürgerrat behandelt eine Reihe
Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
9 Der Große Rat erledigt in erfter Lejung das
Gefe& über das Iniverfitätsgut, geht über einen Anzug betr.
351
Verlegung des Bauplages des Kunftmufeums hinter ben
Schützenmattpark, b. b. auf bie Feſtwieſe, zur Tagesordnung,
weift das revidierte Hochbautengefe an eine Rommilfion,
beginnt die zweite Cejung des Gefebes betr. Organifation
des Zrauenfpitals unb nimmt eine 9[fenberung am Ein-
führungsgefe für Kranken: und Unfallverficherung an.
Die Rommiffion für populäre Vorträge ver:
anftaltet zur Feier des 5Ojährigen Beſtehens diefer Gin-
rihtung ein Feſtmahl auf ber Otebleutengunft; es werden
dazu fämtliche noch lebenden von ben 368 Vortragenden ein-
geladen, bie fid) in den Dienft ber Rommiffion geftellt haben.
Es fanden fid) zu bem Feftchen über 70 Teilnehmer ein.
11. 12. Das 10. bafelftädtifhe ftantonal-
turnfeft wird auf dem Platz des ehemaligen badifchen
Bahnhofs abgehalten. Zeftgebende Sektion war ber Turn-
verein Horburg, Feftpräfident Reg.-Rat Wullfchleger. Das
Seit erfreute fid) großer 93eteiligung der Turner aus bem
Kanton und der Umgebung und verlief ohne Unfall bei
prächtiger Sommerwitterung.
14. ffg. Die erfte Ferienwoche wird benüßt zur Ab:
haltung ber üblien Quartier-Zugendfefte
14. Sm Alter von 52 Sabren ftitbt Grau €. Zell—
weger-Steiger, Präfidentin des Verbandes ber fchwei-
zerifchen Vereine zur Hebung der Cittlidfeit. — Die fran-
zöſiſche Kolonie hält ihr Nationalfeft in üblicher
Weife im Sommerfafino ab bei febr günjtiger Witterung.
15. Der Regierungsrat ernennt zum außerordentlichen
Drofeflor für deutfhe Rechtsgefchichte und deutſches Privat-
reht an der Univerfität Dr. Edard Meifter, Privat-
Dozenten in Leipzig.
19. Ein vom Wafferfahrverein Horburg veranftaltetes
interfantonales DWettfahbren auf dem
Rhein verläuft bei prachtvoller Witterung und zahlreicher
Beteiligung äußerft gelungen und ohne jeden Unfall. — Im
Alter von 61 Zahren ftitbt ber Sournalift S. D. Hager,
352
eine in Pereinen und Gefellicaften Bafels, fomie in
Künftlerkreifen durch bie fleißige Ausübung feines Berufes
befannte Perfönlichkeit.
27. Der Privatdozent Johannes Strour in Straß:
burg nimmt einen Ruf als ordentlicher Profeflor für alte
Philologie in Baſel an. |
29. Zum Gubftituten des Grundbuchverwalters wählt
bie Regierung Dr. Gb. Wenk von Bafel.
31. Witterung Das Mittel der Temperatur im
Monat Zuli betrug 17,4, das mittl. Temp.-Marimum 22,0,
das mitt. Temp. -Minimum 13,4? C., das Mittel des Luft-
druds 736,2, die Summe der Niederfchlagmenge 111 mm,
die Summe der GConnen[deinbauer 194 Stunden. Der
Monat weift ein Manko an Wärme, einen Ueberſchuß an
Niederfchlägen und bei weitem nicht bie normale Sonnen:
jheindauer (228 Stunden im 25jährigen Mittel) auf. Er
bat alfo, wie der Zuli 1913, feiner Pflicht als Hochfommer-
monat nicht genügt.
Der Ausbrubh der Feindfeligteiten zwi—
hen Defterreih und Serbien am 28. Juli zieht
aud) bei uns feine Folgen nad) fid). Die Börſe wird für
einige Tage gefchloffen. Der Allg. Ronjumverein erklärt,
Migros-Beftelungen auf Lebensmittel vorläufig nicht mehr
ausführen zu fónnen. Die Lebensmittelgefchäfte follen zum
Seil durch die Anfchaffungen der Haushaltungen aus:
verkauft fein. Einzelne Sparbanten haben Runs ihrer Ein-
leger. fandzuhalten — all dies, ebe noch irgend ein ernft-
baftes Anzeichen vorlag, daß unfer Land bei ben Wirren
irgend in Mitleidenschaft fónnte gezogen werden. In den
folgenden Sagen wuchs die Aufregung zur fopffofen Angft
an. Schon am 30. Zuli richtete bie Regierung eine 93efannt-
machung an die Bevölkerung. Darin warnte fie vor über-
triebener Aengftlichkeit und mahnte insbefondere vor preis-
Heigernden großen Lebensmitteleinfäufen und vor Bezügen
von Bargeld aus den Banken, wodurch dem Handel und Ver-
353 23
febr das Nötige entzogen werde. Als am 31. das Aufgebot
des Landfturms zur Grenzbeobachtung und die Pilett-
ftellung der ganzen 9[rmee durch den Bundesrat verfügt
wurde, trug dies zur Beruhigung nicht bei. Die Banken
mußten Polizei zu Hilfe holen, um bie Menge ihrer Runden,
bie weit in bie Straßen hinein den Verkehr bemmte, einiger:
maBen in Ordnung zu halten. Diele Lebensmittelgefchäfte,
auch von den größten am Plab, mußten zeitweilig fchließen,
weil ihre Vorräte in den Läden erfchöpft waren. Auch vom
Allg. Ronfumverein geſchah dies in einzelnen Verkaufs—
Lofalen troß der erwähnten Maßregel, wenn aud) die Zentral-
lager hinreichend verfehen waren. Sn allen Perbältnifien
wurde ein empfindlicher Mangel an Hartgeld füblbar. Don
Bern wurden die längft für [olde Fälle bereit liegenden
20 Fr.Noten ausgegeben.
An ber Grenze gab es freilich nod) andere Be—
weife des Krieaszuftandes als bloß bie Aufregung des Ein-
zelnen. Der badifche Bahnhof wurde am 31. gefperrt. Die
Grenzfperre wurde an allen Slebergängen ins deutfche Gebiet,
namentlih links vom Rhein, fireng durchgeführt. Der
Sram nad) St. Ludwig und nad Hüningen verkehrte nur
noch bis zum Lisbüchel. Auf allen Straßen bis in die ab-
gelegenften Cunbgduerbürfd)en hinderten ftarfe Barrikaden
ben Verkehr zwifchen ben Nachbarftaaten. Alle 93rüden
waren militärifch bewacht. An ben erften Sagen wurde das
Verbot der Lebensmittelausfuhr aus dem Reich peinlich
durchgeführt. Bald wurde jedoch bie Gemüfeverforgung aus
Neudorf, mit bem 1. September bann aud) die Einfuhr aus
dem Badiſchen wieder geftattet. Das OXatrfgrafenfanb bot,
foviel man erfahren fonnte, den gewöhnlichen friedlichen An-
blid. Dagegen wimmelte es in den elſäſſiſchen Grenzorten
von deutſchem Militär, Zußfoldaten und Reitern, in ben
neuen grauen Felduniformen.
On der Stadt wurden die abenteuerlichiten Gerüchte
berumgeboten und bereitwillig geglaubt.
354
Auguft 1914.
1. Die Bundesfeier nimmt, wo fie überhaupt
n0d) begangen wurde, einen ernften Gbarafter an. Man
vernahm feinen Feuerwerklärm. Nur das feierliche Gloden-
geláute erinnerte an den vaterländifchen Feſttag.
12. Die Regierung befchließt, von der Abhaltung der
auf dieſes Sabr fallenden ftaatlihen St. Safobs:-
Shlahtfeier Umgang zu nehmen.
15. Zn ber Regierungsratsfigung wir
ben Departementen bie Weifung erteilt, die budgetierten Aus-
gaben zu bezeichnen, bie für das Gabr 1914 unterbleiben
fónnen, unb in das Budget des Zahres 1915 nur bie un-
vermeidlichen Ausgaben aufzunehmen.
17. Der Recdtsftreit zwiſchen Reg.-Rat Dr. 9.
Blocher unb W. $agenbed (f. zum 25. Mai 1914)
wird durch einen Vergleich erledigt.
18. Der Genoffenfhaftsrat des Allgem.
Ronfumvereins läßt fid) durch feine Verwaltung be-
richten über bie durch den Krieg notwendig gewordenen
Aenderungen im Betrieb. Ein Beſchluß erfolgt aber erft
in der Sigung vom 21. in dem Sinne, daß der Verwaltung
ein Kredit bewilligt wird von 70 000 Zr. für eine teilmeije
€obnaablung der unter die Fahnen gerufenen Angeftellten
und Arbeiter, vorläufig auf drei Monate.
22. Der Regierungsrat befördet den interimiftifchen
Kommandanten des Landfturmbataillons 51, Hauptmann
G. Röhlin, zum Major. — Der PVerband Schweiz.
Konfumvereine, ber Allg. KRonfumverein Baſel und die
Bel A. G. tun fid) zufammen zur Gründung einer Volks-
fü de, bie zum Preife von 25 Ets. eine genügende, nahr-
bafte Mahlzeit liefern mill. Ein etwaiger Ueberſchuß foll
der Regierung eingebünbigt werden. — Die von ber Regie-
tung eingefegte itaattide Hilfstommiffion (Präf.
Pfr. G. Benz) tritt mit einem Aufruf zur Spendung von —
355 28”
Gaben an bie Deffentlichkeit. Ihr Auftrag ift, aller burd)
den Krieg bervorgerufenen Not im weiteften Sinne nad)
Möglichkeit abaubelfen.
On ber mit bem 22. Auguft zu Ende gehenden Woche
bat ber Schulbetrieb wieder eingefegt mit mannig-
faden burd) die Verhältniſſe gebotenen Hemmungen und
Gin[dránfungen. Diele Lehrer tun Militärdienft, viele
Schulhäufer find mit Truppen belegt oder als Cagatette
u. drgl. hergerichtet. So nimmt vielfach der Unterricht den
Charakter eines Kinderhortes an, wird zum Seil im Greien
gehalten und fommt wohl oft mehr den Eltern als den
Kindern zugut.
22. Das Polizeidepartement tritt mit einer War-
nung bervor, in der namentlich bie Ausländer gemahnt
werden, fid) überflüffigen und aufreigenben Redens zu ent-
balten.
25. Sm Alter von 52 Zahren ftirbt Red. Sob. Frei-
Grether von ber „Nationalzeitung”. Er gehörte längere
Sabre dem Großen Rat und der Synode an und war im
Vereinsweſen Bajels tätig.
26. Das St. Safobsfeft geht fozufagen unbeachtet
vorüber (f. zum 12. b. M.). Zwei Kränze werden mit be-
fcheidener Feier am Denkmal niedergelegt, ber eine von einer
Abteilung des Landwehrbataillong 144, der andere vom
Bataillon 53. Die Abendgottesdienfte der evangelifch-
reformierten Kirche waren ftarf bejudbt. Das für bie ftaat-
lide Hilfstommilfion erhobene Opfer warf 2350 Gr. ab.
Am Abend fanden fid) bie dienftfreien Truppen der Grenz-
befegung in ber Burgvogtei zufammen.
31. Witterung Das Mittel der Temperatur im
Auguft 1914 betrug 17,8, das mitt. Semp.-OXtarimum 23,0,
das mittl. Temp. - Minimum 13,50 C., das Mittel des Luft:
druds 7390, bie Summe ber Niederfchlagmenge 141 mm,
die Summe der Sonnenfcheindauer 219 Stunden. Der
Monat verhielt fid) im ganzen normal mit Neigung zu
356
ichöner Witterung. Bloß bie Menge des Niederfchlags
erreichte 168% des Normalwerts, wie denn der Monat an
Gewittern außerordentlich reich war.
Schon bie obigen nad) ben Tagen geordneten Aufzeich-
nungen bemeijen, wie ausjchließlich Baſel während diefes
ganzen Monats Auguft vom europäifhen Rriege
beberr[dt wurde. Es muß als befannt vorausgejegt werden,
daß bis Ende des Monats der größte Teil unferes Erdteils
in zwei Lager ge[palten war, auf der einen Seite Defterreich-
Ungarn und Deutfchland, auf der andern Rußland, Grant-
reich, England, Belgien, Serbien, Montenegro, endlich auch
Sapan. Baſel unb die Schweiz interefliert vor allem das
Verhältnis Deutfchland-Franfreih. Während bie Saupt-
fhläge in 33elgien und im Norden Frankreichs fielen, hatten
wir einen fefunbdten Kriegsichauplag in unferer Nähe im
Oberelfaß. So viel zur allgemeinen Orientierung.
Am Samstag, 1. Auguft, vormittag, erfolgte der 23e-
Ihluß des Bundesrats über bie Mobilifation ber
sanzenfhweizerifhen Armee auf den 3. unb 4.
Am 1. ?fuguft Schon hatten bie Landfturmbataillone bet
Grenzbezirke einzurüden, u. a. Bataillon 51 Baſelſtadt unter
bem interimiftifchen Kommando von Hauptmann E. Köchlin.
Am Nachmittag 2 Uhr verfammelte es fid auf ber
Margarethenwiefe und wurde organifiert. Hernach legte es
ben Fahneneid ab und bezog bann bie Wache an Bahn—
höfen und Brüden und an der Grenze von St. Chrifcehona
bis Allſchwil. Auf der Schligenmatte, dem Schellenmättli
unb der Luftmatte wurden zum Teil erit am 2. und 3. bie
Pferdemufterungen vorgenommen.
Durh die Stadt bewegte fid) ein ununterbrochener
Strom von aus ber innert Schweiz heimmwärtsftrebenden
Sommerfrifhlern aller Nationen Da bie
Bahnftrede Bafel-St. Ludwig, YBafel-Leopoldshöhe, 93afel-
Lörrach, Bafel-Grenzah und umgekehrt nicht mehr betrieben
wurden, fo berrfchte, namentlich zwifchen dem Bundes⸗
357
bahnhof unb St. Ludwig (über bie Rinoftraße auf zum Teil
febr abenteuerlichen Zuhrwerfen ein äußerft lebhafter Zer-
febr. Eine fcharfe Kontrolle der deutfchen Behörden wurde
über die Einwanderung an der deutfchen Grenze geübt. Es
fam deshalb vielfad) zu Stauungen. Die Gafthöfe in der
Stadt, namentlich bie in der Nähe des Bahnhofes, waren
mit Reifenden fo überfüllt, daß Hunderte in den Warte-
fälen und auf ben Perrons des Bahnhofs übernadbteten.
Mit biefem Zuge ber heimftrebenden Ausländer freuaten fid)
aus bem Auslande agurüdfebrenbe Schweizer Webhrpflichtige.
Aber bie große Einwanderung in die Schweiz beftand in diefen
erften Rriegstagen in Zehntaufenden von aus Deutfchland
beimfebrenben oder aus Frankreich über bie Elfäfler Grenze
gefhobenen Italienern, die den Heimweg über den
Gotthard fuhten. Die armen Leute benützten die gleiche
Straße, wie jene aus der Schweiz nad Haufe flüchtenden
Erholungsbedürftigen. Die auf dem Bahnhof für burd-
wandernde Staliener bereit geftellten Räume genügten dem
Andrang von ferne nicht. Es wurden auf dem Zußball-
fpielplag an der Margarethenftraße und fonft in der Nähe
unter freiem Himmel Maflenlager eingerichtet. In den fol-
genden Tagen bot diefer unvermutete Zuzug ernfte Verlegen:
beit. Da das italienifche Ronfulat der Menge hilflos gegen-
überftand, fo mußten öffentliche und private Wohltätigfeits-
unternebmungen in ben OB treten, um wenigftens die
allernotwendigften Lebensbedürfniffe zu befchaffen. Es war
dafür geforgt, bap Baſel feine alte Aufgabe, ein Hort ber
Notleidenden zu fein, nicht vergaß. Das Militär mußte
herangezogen werden zur Bewachung der nicht immer be-
quemen GBäfte. Die Menge fämtlicher durchreifender
Staliener, Männer, Weiber und Kinder, wurde auf weit
über 40 000 geſchätzt. Man fab fid) genötigt, zeitweiſe die
Grenze bei St. Ludwig für diefe Zuwanderung zu fchließen.
So bildete fid) dort auf deutfchem Boden aud) ein Lager
von Taufenden, ein Gegenftüd zu dem auf ber OXatgaretben-
358
wiefe. Erft nachdem jámtíid)e in Baſel lagernden, jomie
2—3000 bisher in 93afel Aufenthalt babenbe Italiener nad)
Chiaſſo abgefchoben waren, wurden aud) bieje bereingelalfen
unb wie ihre Vorgänger in Gonbergügen an bie Grenze
ihres Heimatlandes befördert. Sm Gegenfa zu 1870/71
famen mit Ausnahme diefer Italiener in der erften Zeit des
Krieges feine Flüchtlinge in größeren Mengen nad) 23ajel.
Die dichte Ubfperrung der Grenze ließ es nicht zu. Conit
würden bie Ereigniffe im Sundgau wohl dazu Anlaß ge:
boten haben.
On den Verkehr bradte die ftrenge Abfchließung der
deutfchen Grenze nad) allen Richtungen viele Störungen.
Die Schnellzgüge in Deutfchland wie in Granfreid) liefen der
Mobilifation wegen nicht mehr. Dazu fam die Unter:
bredjung des internationalen und die Beſchränkung des
binnenländifhen Zelegraphen: und Telephonverkehrs, bald
aud) der bie Reifemöglichkeiten auf ein lächerliches Mindeft-
maß zurüdichraubende Kriegsfahrplan. Erft gegen Ende des
Monats wurden die regelmäßigen Fahrten der YBundes-
bahnen wenigftens in befchränftem Umfange wieder auf:
genommen. Dergeftalt befamen wir, obwohl nicht unmittel-
bar in den Krieg verwidelt, bod) viele feiner Unannehmlich-
feiten [don in biefen etffen Sagen reichlich zu fchmeden.
Der 3. Auguft fand unter bem Zeichen ber Mobili-
fation Des Auszugs unb ber Landwehr von
Bafelftadt, von der Infanterie des Auszugsregiments 22
(Oberftlt. Senn) mit Bataillon 54 (Major Senn) und Ya:
faillon 97 (Major Alioth) und des Landwehrbataillons 144
(Major Lichtenhahn), fowie fämtlicher Spezialwaffen. Die
Snfanterie rüdte mehr als Friegsftarf ein, fo daß bald drei
KRompagnien Auszug als Depotmannfhaft ausgefchieden
und in bie innere Schweiz geführt werden konnten. Die
Leute tüdten um 2 Uhr nachmittags ein und brachten bie
folgenden. Wochen in unferer Stadt und deren unmittelbarer:
Nähe zu. Bataillon 144 wurde am 4. September entlaffen,
359
nachdem [don Ende Auguft Auszugregiment 22 in unferer
Stadt durch andere Truppen abgelöft und in neue Rantonne-
mente gelegt worden war. Genaues kann hierüber nicht mit-
geteilt werden, ba die militärifchen Inſtanzen über bie
Standorte der Truppen fchwiegen und auch bie Prefie durch
eine militärifehe Senfur in Saum gehalten wurde. Immer:
‚hin, fo viel iff fein Geheimnis, daß in Baſel und in beffen
nächſter Umgebung febr ftarfe Truppenmaflen aller Waffen
lagen. Gegen Ende des Monats wurden den Gtädtern
wiederholt größere Rolonnen Infanterie, Kavallerie, Ar-
tillerie und Parf vorgeführt, was immer eine Menge Volk
auf die Straßen lodte und manchmal zu abfonderlichen
Huldigungen führte. So pflegten bie Marktfrauen unfere
PBaterlandsverteidiger jeweilen mit Obftfpenden zu bewerfen.
Während all diefer Zeit bewegte fi in unfern Straßen
bedeutend mehr Militär als in gewöhnlichen Tagen und
gab der Stadt ein befonderes Ausſehen.
Die Stimmung ber Bevdlferung, bie Phy-
fiognomie der Straße, bie [d)mirrenben Gerüchte gehören aud)
zum Bilde diefer Wochen. Aber fie Laffen fid) nur fchwer er-
faflen, vor allem nicht auf ein beftimmtes Datum feftlegen. Es
mag erwähnt werden, bap am 4. Auguft bie Beeidigung
ber bafelftädtifchen Infanterie des Auszugs unb der Land-
wehr bei ftrömendem Regen erfolgte. Die Mobilifation bat
Rd) auch bei uns ruhig und ohne Reibung vollzogen. Neben
der Regierung übernahm ein Plaglommando mit Oberft
Büel an der Cpi&e bie militärifehe Leitung der Stadt.
Es richtete fid mit feinen 93uteaur im Schulhaus der Ge-
werbefchule am Petersgraben ein. Ueber die Truppen:
bewegungen und die Standorte der Einheiten erfuhr man
nidts. Mancher hätte unferer Bevölkerung nicht fo viel
Surüdbaltung zugetraut. Die Schweigfamkeit machte einen
- febr guten Eindrud.
Die Bevölkerung war während ber fchwülen eriten
Kriegstage wie begreiflich jebr aufgeregt. Die Ab—
360
fperrung ber Landesgrenze vermehrte bie Aengſtlichkeit. Es
war unmöglich, von jenfeits irgend eine annähernd verbürgte
Nachricht zu erhalten. Dies beförderte bie Gntitebung der
wildeften Gerüchte. Allgemein war bie Befürchtung, daß
Granfreid) von Belfort ber einen Vorftoß verfuhen und daß
Deutichland mit einem Gegenftoß antworten werde. Glaub:
haft wurde verfichert, wie fid) fpäter auch betätigte, baB in
ber elfäffifchen Nachbarfchaft einzeln ftehende Geböfte und
ODappelteiben am Rhein und am Kanal, bie das Schußfeld
von Sftein ber ftórten, zerftört und umgebauen worden waren,
[oie daß ber Viaduft bei Dammerficch gelprengt war. Die
Räumung ganzer, mit Namen genannter Dörfer, ſowie bie
meiften der mit allen Einzelheiten gefchilderten ſtandrecht⸗
[iden Erſchießungen dagegen erwiefen fid) in der Folge als
Slebertreibungen. Diele behaupteten, im Wiefen- und
im Randertal lägen ganze Armeekorps, darunter ein öfter-
reihifches. Dagegen iit wahr, bap unmittelbar nad) Aus-
brud) des Kriegs ein ganzes Neft Franzöfiicher Spione von
der Polizei ausgenommen wurde, und daß ein feit Sabr-
zehnten in Yafel niedergelaflener Deutjcher wegen Spionage
im Dienfte Deutfchlands ausgewiefen werden mußte.
Die militärifhben Maßnahmen in der
Stadt wurden zum Seil fchon erwähnt. Es jei weiter ge-
meldet, baB außer den Bahnhöfen auch Brüden und
Straßenfreuzungen VBewahung erhielten. Die Opitäler
wurden zu Lazaretten eingerichtet und mit der Fahne des
Roten Kreuzes bezeichnet. Die Schulhäufer wurden bereit-
geftellt zur Aufnahme von Soldaten. Private wurden auf:
gefordert, fid) für Einquartierung zu rüften. Die Minen-
fammern ber Yrüden wurden geladen, bie 93rüdenfópfe mit
93arrifaben zur Perteidigung eingerihtet. Auf ber
Straße berrfchte der Fußgängerverfehr vor. Viele Pferde
und die meiften Automobile waren ausgeboben. Dagegen
verihwand nad den eriten Mobilmachhungstagen das
Militär fait vollftändig. Unter den Ziviliften trugen mande
361
bie rote Armbinde. Es waren Hilfskräfte für bie Militär:
verwaltung. Der ftädtifche Tram führt nur noch reduzierten
Betrieb aus, weil ein großer Seil des Perfonals in den
Dienft berufen if. Daß ber Bahnverfehr nad) dem Aus:
land unterbrochen, im Inland außerordentlich eingejd)rántt
iit, wurde jchon erwähnt. Auf ber Landftraße nad) Lörrach
bewegt fid ein ununterbrodenerer 3ug von deutlichen
Stellungspflichtigen. Ihnen fommen Schweizer aus bem
Ausland entgegen, bie bem Ruf unter die Sahne folgen.
Sn der Stadt bemerkt man zahlreiche Engländer, bie aus bet
Sommerfrifche heimfehren möchten und denen es dazu an
OReifegelegenbeit fehlt. Diele von ihnen find darum übel
daran, weil fie zwar Geld befiSen, aber bloß ausländifches.
Solhes wird gegenwärtig im täglichen Verkehr aud) zu
hoben Rurfen faum angenommen.
Die Behörden, Regierung wie Platzkommando,
erlafien 93efanntmad)ungen aller Art, betr. Unterſtützung
von notleidenden Familien Wehrpflichtiger, betr. Erhebung
von Nahrungsmittelbeftänden, betr. Hilfe für bie Landwirt:
Schaft burd) in der Stadt brad) liegende Kräfte, ebenfo die
Ronfulate ausmürtiger Staaten für ihre bedürftigen An—
gehörigen. Mannisfache private Unternehmungen und Ge:
felffd)aften treten ihnen belfend zur (eite. Das Rote
Kreuz trat am 7. Auguft mit einem Aufruf zur Spendung
von Gaben in bar oder in natura in die Linie.
On ben Tagen vom 6. bis zum 10. Auguft
laftete auf der Stadt ein ſchwüler Drud. Senfeit8 der
Grenze gingen Dinge vor, bte um fo ſchwerer auf bie Stim-
mung DBafels wirkten, al8 man Genaues darüber nicht
wußte. Am Abend des 7. Auguft erfchien eine Bekannt—
madung des Platfommandos. Sie fprad) von der Mög:
lichkeit, „Daß nod) heute ober in ben nächſten Tagen in
unferer Nähe Zufammenftöße zwifchen deutfchen und fran-
aófiíden Truppen ftattfinben" füónnten und mahnte bie 23e-
völferung zur Ruhe. Auf den Ernft ber Lage wies ferner
362
bie farfe Anfammlung fchweizerifcher Truppen in und um
Baſel bin. Bei ber ftrengen Zurüdhaltung, die darüber
beobachtet wurde, läßt fid Genaues nicht melden. So viel
fteht feit, baB rings um Baſel, namentlich auf bem 93ruber-
bolz unb auf ber Anhöhe weftfid vom Birfigtal ftarfe
Artillerieftellungen bezogen unb mif entjprechendem infante-
riftifchem Schuß verfehen wurden. Auch fab man die Stäbe
häufig die Stellungen befuchen.
Zu biefer Seit hatten nach unbebeutenben Gefechten an
ber deutich-franzöfifchen Grenze weftlih von Altkirch bie
Deutfhen das oberfte Elſaß geräumt und waren über den
Rhein zurüdgegangen, eine arößere franzöfifche Macht von
Belfort bis zur Höhe von Volkensberg hinter fid) her atebenb.
Durch den Rhein getrennt, fanden einander bie Feinde
gegenüber. Die Cade fab für 93afel in der Tat gefährlich
aus. Daß bie Gefahr nicht bloB auf Ginbilbung berubte,
das bewies der gelegentlich bis zu ung dringende Ranonen-
donner und das nächtliche Spiel ber Scheinwerfer von den
badifhen Höhen. Gegen das Ende der Woche — ber
Samstag fiel auf ben 8. Auguft — fdienen bie Grangofen
fi mehr nad) Norden zu ziehen. Am Sonntag fam bie
Nachricht, fie feien, ohne auf Widerftand zu ftopen, in
Mülhaufen eingerüdt und hätten als nádftes Siel
Colmar gewählt. Auf der ganzen Linie waren bie Deutfchen
zurüdgegangen. Auch ihre Poften an der Schweizer Grenze
hatten fie eingezogen. In der Naht vom 9. auf den 10.
wurden aber in heftigen Rämpfen, deren Lärm deutlich nad)
Baſel hinein dröhnte, bie Franzoſen wieder zurüdgewiefen.
Die unmittelbare Gefahr war befhworen. Man atmete in
Baſel erleihtert auf. Die Berichte fprachen von außer:
ordentlih blutigen Kämpfen und vielen Toten. Für bie
Lazarette in 93abenmeiler wurde ärztliche Hilfe in Baſel
erbeten und gewährt. Acht Tage fpäter wiederholte fid) nod)
einmal das gleiche Spiel. Wieder zogen die Franzofen in
Mülhaufen ein und wurden wieder hinausgewiefen, dies:
363
mal unter befonders mörderifchen Kämpfen, bei denen u. a.
der Vorort Yurzweiler [der mitgenommen wurde.
Gür den Krieg felber hatten bieje fümpfe im Oberelfaß
wenig Vedeutung. Die Entfcheidung fällt im Norden, an
der belgifchen Grenze. Auch (deinen Ende des Monats
franzöfifche Truppen diefes füdlichen Krieasfchauplages nad)
Lothringen gezogen worden zu fein.
AN dies wurde in Baſel mit einer verbaltenen
Bangigkeit vernommen. Man börte feine lauten Aus:
brüche ber Angſt und feine Klagen. Über es unterblieben
aud) alle 93eluftigungen, wenn man nicht bie 93ejudje der
Soldatenfrauen, Rinder und Mütter bei ihren Wache
haltenden Gatten, Vätern und Söhnen als jofde rechnen
mill. Der Ernft gewann die Oberhand. Über es ift ibm nicht
gelungen, der allgemeinen Aufregung Herr zu werden. Als
am Montag, 10. Auguft, unter den Augen einiger hoben
Offiziere eine Probe mit ber Wbfperrung ber mittleren
Rheinbrüde vorgenommen wurde, was nicht eine Piertel-
ftunde erforderte, fo entitanb daraus fofort das Gerücht,
Kleinbaſel müſſe geräumt werden. Handel und
Wandel liegen batnieber. Alle Internehmungsluft wird
duch bie $f[nfid)erbeit ber gegenwärtigen Verhältniſſe und
bie trübe Zukunft erftidt. Der Mangel an barem Geld geht
nur langfam zurüd. In den Kirchen werden regelmäßige
abendlihe Andahtftunden abgehalten und zahl-
reich befucht.
September 1914.
1. Dur) Verfügung des deutfchen Reichsfanzlers wird
die Einfuhr von frifhem Obft und Gemüfe
aus bem OXarfgrafenfanb bis auf weiteres wieder geftattet.
Mit Ausnahme der erften Tage der Grenzfperre war diefer
Verkehr aus dem Elfaß nie formell unterbrochen, wohl aber
zeitweife tatfächlih unmöglich gemefen, weil Pferde und
Fuhrwerke requiriert waren u. dgl.
364
5. Die Regierung befördert zum Hauptmann ben
Snfanterie-Oberleutnant Samuel Burckhardt.
8. Sn ?farau ftirbt, 73jährig, Placid Weißenbach,
gewefener Generaldireftor der Schweiz. Bundesbahnen,
neben Bundesrat Zemp der Hauptförderer der ZPerftaat-
fidung der Schweiger 93abnen. Sn den 1880er und 90er
Oabren wohnte er als Mitalied der Direktion der Zentral:
babn in Baſel und beteiligte fid) als freifinniger Politiker
lebhaft an unferm Hffentlihen Leben. Er bat 1890 ben
Großen Rat präfidiert.
9. Der Regierungsrat befchließt, diefes Sahr wohl bie
üblide Verkauf⸗, aber niht bie Schaumeffe abhalten
zu [affen.
11. Der auf Ende Geptember für Baſel geplante
internationale KRongreß für ſoziales
Chriftentum kann laut Mitteilung des Komitees wegen
des Krieges nicht ftattFinben.
11. Sn Grabs ftirbt, 82 Sabre alt, Prof. Hermann
Schieß, früher Lehrer ber Augenheillunde an ber Basler
niverfität und bochgefchäßter SOperateur, auch als namhafter
Freund und Förderer der bildenden Kunft, injonbetbeit ber
Malerei, weit befannt.
12. An einem Herzichlag ftirbt Wilhelm Arnold,
66 Zahre alt, Redakteur des ſozialiſtiſchen, Vorwärts“. Arnold
aus bem Kanton Lri flammend, war der erfte Sozial:
demofrat, ber 1888 in den Großen Rat fam.
14. Der neu gegründete TSheaterverein befchließt,
für einen befchräntten Sbeaterbetrieb im Winter 1914/15
einzutreten und dafür auch einen Zeitrag zu leiften, mit
Rüdfiht auf das fonft arbeits- unb verdienftlofe Perfonal.
15. Der Weitere Bürgerrat behandelt eine An-
zahl Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht.
19. Die Regierung ernennt zum Vorfteher der bermato-
Iogifch-venereologifchen Klinik und 9potiffinif Prof. Dr. £.
Blood.
365
20. Das Bettagopfer in ben Gottesdienften bet
evangelifch-reformierten Kirche iff zu amet Dritteln für bie
Kaatfide Hilfstommiffion, zu einem Drittel für bas Rote
Kreuz beftimmt und wirft 8672 Zr. (1913 : 6006) ab.
25. Die Generalverfammlung der ?fftionüre Des
Stadtthbeaters befchließt übereinftimmend mit dem
Theaterverein (f. a. 14. d8.) befchränkten Sbeaterbetrieb im
beporftebenben Winter.
30. Unter ben gabíreien Prämierungen bad
lerifcher Ausfteller an der Landesausftellung in Bern, die
im Laufe des Monats September befannt geworden find,
feien bier hervorgehoben bie Gemeinntütige Gefell-
fóaft unb ba$ Shweizerifhe Wirtfhafts:-
archiv, bie beide mit ber bód)ften für Unternehmungen
bieler Art erreichbaren Auszeichnung, der Urkunde für ver-
dienftvolle Beftrebungen auf bem Gebiete ber Volkswohlfahrt
ausgezeichnet wurden.
Witterung. Im Monat September 1914 wurden
beobachtet eine mittlere Temperatur von 13,9, ein mittl.
Semp.-OXarimum von 18,6 unb ein mittl. Temp.- Minimum
von 10,2° C., ein Mittel des Luftdruds von 740,1 und eine
Summe der Niederfchlagsmenge von 79 mm, und eine Son-
nenfcheindauer von 159 Std. Wie diefe zahlenmäßigen Werte
fid) alle in ber Nähe des Iangjährigen Durchſchnitts halten,
fo war aud) ber allgemeine Witterungscharakter des Monats
normal.
Die Stimmung der Stadt hat fid) gegenüber
dem vorangegangenen Monat wefentlich beruhigt. Es ift
nicht anders denkbar unb wohl begreiflich, baB der Krieg
fortfährt, in allen. Dingen fein Machtwort mitzufprechen.
Ueberall nimmt man auf ihn Rüdfiht, jedermann läßt fid)
durch ibn beeinfluffen. Aber im ganzen fängt man an, fid)
Darauf einzurihten. Man fucht, den gewöhnlichen Gang
ber Gefchäfte fo viel wie möglich wieder aufzunehmen. Frei-
lich greift da bie Stodung, bie bie Unterbindung des Welt-
366
verfehrs, fowie des Verkehrs mit unfern Nachbarn jenfeits
der Grenze verurfacht, fowie bie Abwefenheit Saufenber von
unfern Einwohnern, die teils unter bie Fahnen der Schweiz,
teils zu den Heeren der Kriegführenden einberufen find, viel-
fad) bemmenb ein. . Doch bat die Stadt wenigftens am Tag
ihr gewohntes Geficht wieder angenommen. Erſt am Abend
pflegt fichtbar zu werden, daß Baſel jest eine Garni[on ift.
Dann wimmelt es von Uniformen. Die Zivilbevölferung
freut fi), daß die regelmäßige Roblenverforgung und bie
Getreideeinfuhr aus dem Ausland wieder einfegen, bap über-
haupt bie nötigften Beziehungen zu unfern Nachbarn, wenn
auch nicht ohne Schwierigkeit wieder angefnüpft werden.
Was das Militäriſche anbetrifft, fo wurde am
12. September die 4. Divifion in unferm Grenzabfchnitt durch
bie 6. erfe6t. Un Stelle der Luzerner, bie in den lebten
Wochen in und um Baſel gelegen hatten, traten nun Thur:
gauer und St. Galler. Die Nacht vom 15. zum 16. brachte
die Luzerner Infanteriebrigade gleichzeitig mit ber neuen
Oftfchweizer Befagung in unferer Stadt zu, wobei bie Schul-
häufer als KRantonnemente befte Dienfte leiffeten. Die 4.
Divifion bezog neue Stellungen im Baſelbiet. Das bafel-
ftädtifhe Landwehrbataillon 144 war am 4. September ent-
laſſen worden und rüdte am 21. wieder ein. Es verreifte am
22. nad) dem Gotthard. Zum Glüd genoflen bis Ende des
Monats unfere Wehrmänner im Hochgebirge bie Gunft der
Witterung, nachdem fie unfre Stadt bei abfcheulichem Hudel⸗
wetter verlaflen hatten. Am 17. hatten wir ben 93efud) des
Bundesrats. Er befuchte in Begleitung einiger ber höchften
Offiziere die Stellungen an der Grenze von Pruntrut big
Baſel.
An den Krieg wurde man in Baſel immer unmittelbar
erinnert durch bie fortwährenden Scharmützel im oberſten
Elſaß. Immer wieder vernahm man die Stimmen der
Kanonen. Lange fab man über Volkensberg einen Feſſel⸗
ballon ſchweben. Während des ganzen Monats gingen bald
367
größere, bald f(einete Transporte franzöfifcher ober deutfcher
Sanitätsmannfhaft mit Aerzten durch unfere Stadt, bie auf
bem Kriegsſchauplatz von ihren Heeren abgefchnitten worden
unb in bie Hände des Zeindes gefallen waren. Sie wurden
jeweilen gemäß den Beftimmungen des Roten Sreuges nad)
fürgerm oder längerm Aufenthalt hinter der Front des
Gegners über neutrales Gebiet ihrer Macht ‚wieder aus—
geliefert. Derartige Durchzüge pflesten viele Schauluftige
anzuziehen. Einmal fam es aud) zu einem gemeinjamen
Mahl deutfcher und franzöfifcher Aerzte mit Offizieren des
Platzkommandos.
Im öffentlichen Leben ſetzt eine kräftige Nei—
gung zur Sparſamkeit ein. Ihre wichtigſten Anzeichen
werden hier erſt zu erwähnen ſein, wenn im Laufe des
Monats Oktober ber Große Rat feine Tätigkeit wieder auf-
nimmt. Einſtweilen ſei der Beſchluß der Regierung notiert,
vom 1. April 1915 an das ſogenannte weltliche Geläute mit
Ausnahme des Silveſter⸗ und Bundesfeierläutens, voie aus-
drücklich bemerkt wird, aus Sparfamlkeitsrüdfichten einzuftellen,
fowie ber Beſchluß vieler Sunftvorftände, auf die gemein-
famen Mahlzeiten zu verzichten und den baburd) frei werden⸗
den Betrag zur Unterftüßung ber Notleidenden zu verwenden.
Oftober 1914.
8. Sn feiner erften Sitzung nad) den Ferien unb nad) bem
Kriegsausbruch befchäftigte fid ber Große Rat nad Er-
ledigung einiger Bürgerrechtsaufnahmen und Nachtrags:
freditbegehren mit ben Maßnahmen des Regierungsrat, die
burd) Krieg und Mobilmachung erforderlich geworden find.
Er beißt fie fämtlich gut mit Ausnahme der Vorlage betr.
Lohnzahlung an das Perfonal der öffentlichen Verwaltung
während des Militärdienftes. Diefe wird an bie Regierung
zurüdgewiefen mit Direktiven. Für Notflandsarbeiten wird
ein Kredit von 604,000 Wr. bewilligt und für Vergehen
368
gegen bie bundesrätliche Verordnung wegen Verteuerung der
Lebensmittel das Strafgericht zuftändig erklärt.
11. Ein &uBballmatd) des Zußballliubs Baſel
gegen bie Old Boys bleibt mit 2:2 Goals unentſchieden.
13. Einem Lungenfchlag erliegt 60 Sabre alt ber Fabri-
fant Werner Rumpf :v. Salis, der in mannigfacher gewerb-
fider und gemeinnüßiger Tätigkeit fid) hervorgetan Dat.
14. Sm benachbarten Riehen ftirbt Sljährig Paulin
Gſchwind, der f. 3. als Pfarrer von Starrfirch und von
Raifer-Augft in der fchweizerifchen altkatholifchen Bewegung
eine führende Rolle fpielte, auch einige Zeit bifchöflicher
Vikar war.
18. Pfr. Son Eya wird zu St. Peter in fein Amt
eingeführt.
19. Die Hiftorifhe Geſellſchaft beſtätigt ihre
&ommi[fton mit Dr. Aug. Yurdhardt als Präfidenten.
21. Der Regierungsrat beauftragt bie Verfaſſer der im
erften Range prämierten Pläne für ein neues Runft-
mufeum, 9. 23ernoullt und R. Grüninger und E. Fäſch
mit einer Umarbeitung ihrer Projekte gemäß den Bemer—
tungen ber Runftlommiffion.
22. Der Große Rat genehmigt bie nad) feinen
Direftiven vom 8. b3. umgearbeitete Vorlage betr. Lohn-
gablung an das Perfonal der öffentlichen Verwaltung wäh-
rend des Militärdienftes, erklärt fid) einverftanden mit ber
ratenweifen Bezahlung ber Wirtfchaftspatenttaren im Jahre
1915, befchließt Errichtung eines Daches auf bem Schulhaus
der Untern Realſchule an ber Rittergaffe und nimmt in
zweiter Lefung das Geje& betr. Organifation des Frauen:
Ipitals an.
25./26. Die Wahlen in ben National: und
in ben Ständerat für eine neue Amtsdauer von drei
Sahren vollzogen fid in Yafelftadt wie in den meiften andern
Kantonen in Anbetracht ber Eriegerifchen Ereigniffe auf Grund
einer Verftändigung ber Hauptparteien, der Liberalen, ber
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rabifalen unb ber fozialdemofratifchen — fortfhrittlihe 93ür-
gerpartei und Katholiken hatten Ctimmentbaltung profla-
miert — im Sinne ber 23effütigung. Den Milizen war
Gelegenheit gegeben, in ihren Rantonnementen zu ftimmen.
Die Beteiligung war ſchwach, wie aud) fein Wahlfampf
porausgegangen war. Gewählt wurden bei einem abjoluten
Mehr von 3343 9teg.-Otat GG. Wullſchleger mit 5754,
Reg. Rat G. Gbr. Burckhardt mit 5252, Oberft S.
Sfelin mit 5123, S. G rei mit 5068, 3. 3äg gi mit 5061,
Dr. €. Göttisheim mit 4608 unb Dr. Chr. Rothen:-
berger mit 4509 Stimmen. Als Ständerat wurde be-
ftätigt mit 5622 Stimmen Dr. Paul Scherrer.
Zugleich wurde abgeftimmt über bie Revifion von Art. 103
der DBundesverfafiung und Aufnahme eines neuen Para-
graphen 114 bis (Gefhäftsverteilung des Bun-
desrats unb eidgendffifhes Verwaltungs-
und Disziplinargeriht) Die Vorlage wurde mit
6000 Sa gegen 775 Rein angenommen. In ber gefamten
Schweiz erfolgte gleihfalls mit großem Mehr Annahme.
26. Das Programm der populären Vorträge fiebt für
den Winter 1914/15 folgende populäre Rurfe vor:
Bor Neujahr Ing. 9X. Knapp über „Altes und Neues aus
ber Aftronomie” und Dr. Emil Dürr über „Grundlagen der
auswärtigen Politik ber alten Eidgenoflenfchaft”; nad) Neu-
jahr Phyſikus Dr. $. Hunziker über „Der Rampf gegen die
Krankheit”, und Dr. Aug. Otüegg über Homer.
27. Die 9X ef fe läutet ein wie gewohnt. (ie befchränkt
fid) aber laut einem Regierungsbefehluß auf bie Warenmeſſe
des DPetersplages. Schauftellungen und Luftbarkeiten find
. dies Sahr ausgefchloflen.
28. Der Regierungsrat fest für bie Mebgereien maß:
gebende Fleiſchpreiſe fef. Die Mebgereien erheben
Dagegen Einfpruh und erklären, dabei nicht befteben zu
konnen. |
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29. Das 3ibilgerid)t wählt zu einem Cubftituten des
Zivilgerichtiehreibers Dr. Karl Huber, b. 3. in 23ern.
.31. Die Regierung beftätigt die vom Erziehungsrat
getroffene Wahl von Dr. Albert Barth, Seminardireftor
in Schaffhaufen zum Rektor der Töchterfchule.
Witterung. Die meteorologifhen Hauptwerte des
Monats Oktober find: Mittel der Temperatur 9,4, mittl.
Temp. -Marimum 13,0, mitfl. Zemp.- Minimum 0,1° C.,
Mittel des Luftoruds 7371. Summe der Niederfchlags-
menge 22 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 108 Std.
Hatte der Monat gegenüber dem langjährigen Durchſchnitt
ein Manko an Gonnen[dein, jo blieb er aud) in der Regen-
menge, unb zwar bedeutend, hinter dem Durchſchnitt zurüd,
jo daß er im ganzen bod) ein gutes Andenken hinterläßt.
Curd) den anhaltenden KRriegszuftand nimmt
Baſel nad)gerabe das Ausfehen einer Garnifonsftadt an. Es
ift überflüffig, bier den Wechfel in ben Mannfchaften zu tegi:
ftrieren, ber in längeren Zwiſchenräumen erfolgt; jeweilen
bezeichnet durch großen Zapfenftreich, Verdankung der guten
Aufnahme in den Öffentlichen Ylättern unb dgl. Ab unb zu
forgt ein größerer Zufammenzug irgend welcher Art für Be—
friedigung der Schauluft. Sn den Monat Oktober fällt (2.
bi$ 12.) ber erfte gemeinfame längere Urlaub ber 4. Divifion,
der unfere 54et unb 97er für einige Tage dem SZivilleben
wiedergab. Am 12. fam das €anbmebr-Snfanterie-Q3ataillon
144 von feinem mehrwöchigen, durch bie Witterung befonders
begünftigten Dienft am Gotthard zurüd. Der Gebanfe an
eine Entlaflung der Truppen fommt in Baſel nicht auf. Die
Kriegslage im Sundgau erinnert ffet8 eindringlich an Die
Notwendigkeit des Grenzfchußges. So bonnerten am 13. bie
Kanonen vernehmbarer als je über bie Grenze. Der Verkehr
mit dem Eljaß wird erfchwert. Die Regierung warnt in
amtlicher 23efanntmadjung zu Ende des Monats vor un-
nötigem Betreten des Nachbarlandes wegen der damit ver-
bundenen Unannehmlichleiten und Gefahren. Dagegen ,
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nimmt der Verkehr mit Baden weitern Aufſchwung, obfchon
er noch weit hinter dem normalen Zuftand zurüdbleibt. Der
Güterverkehr iff wenigftens wieder aufgenommen. Greilich
Ihafft der Rriegszuftand auch bier nod) mande Schwierig:
feiten. Cie find bod) lange nicht fo Läftig, wie beim Reifen:
benberfebr. Noch immer fahren bie Perfonenzüge nur bis
Leopoldshöhe, Lörrah und Grengad. Ein burdgebenber
Fahrverfehr über die Grenze iff ber 93arrifaben wegen aus-
geſchloſſen. Wenn aud) Baden nicht bireft mit Krieg über:
zogen ift, fo find doch, foviel man zuverläffig vernimmt, bie
Zeiten dort nicht gewöhnlich. Sahlreich find in unferm
Grenzgebiet namentlih in den Ortfchaften am Rhein, bie
Einquartierungen geflüchteter Elſäſſer. Da bie Franzofen
bei ihren Befuchen in den Sundgauer Dörfern wiederholt
die waffenfähige Mannfchaft mit fid) genommen hatten, fo
waren die Deutfchen bem entgegengetreten und hatten aus den
bedrohten Ortichaften alle Männer etwa von 17 big 45
Gabren mitgeführt und jenfeits des Rheins einquartiert. Die
Dörfer in ber Umgegend von Müllheim follen 3. S. eine
Ginquartierung von Elfäflern haben, die ihre gewöhnliche
Einwohnerzahl weit übertrifft. Die Leute ftehen unter mili-
tärifhem fommanbo und werden einererziert.
Die Durchzüge aus Frankreich fommenber deutſcher
Sanitätsmannfhaften nehmen fein Ende. Gie
pflegen mit den Abendzügen von Genf eingutreffen. Dann
bringen fie bie Nacht bier zu. Am folgenden Morgen werden
fie von ben militärifchen Behörden unferes Landes am Otter:
bad) ben Sbrigen ausgeliefert. Bei ihrem Marſch burd) bie
Stadt ermeift ihnen bie Basler Bevölkerung, allen voran die
deutfche Kolonie, burd) Spendung von Genufßmitteln aller
Art fo viel Liebes als in ihren Kräften ftebt. Seltener find
in Bafel bie Durchzlige von Grangofen. Dieſe werden meift
in der Gegend des Bodenſees an bie Schweizer Grenze ge-
ftellt und verlaflen dann bei Genf unfer Land.
ge mehr Opfer der Krieg fordert und je mehr Notflände
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aller Urt durch ihn gejdjaffen werden, defto mehr regt fich
aud) in 93afel ber Drang zur Hilfe. Wir reden nicht
bom fchweizerifchen Roten Kreuz und von der flaatlichen
Hilfskfommiffion, deren Sammlungen erfreulich marjchieren.
Dagegen muß erwähnt werden, daß in den lebten Tagen des
Monats ein Hilfskomitee für bie notfeibenben Belgier an
die Deffentlichleit trat und daß ein anderes für bie von hüben
und drüben gemachten Geifeln und für die Vermittlung von
deren Verkehr mit ihren Angehörigen in Bildung begriffen ift.
A
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