Skip to main content

Full text of "Basler Jahrbuch 1915"

See other formats











E E 


LOS ccc Milli dil A illl 1lIQlll lll] lo 1jáiíi1i 01, 1010 1. 0 ^7)dmuad mM 


13] 























Basler ahrbuch 
2 1915 








herausgegeben von Albert Geßler u. Auguſt Huber 





Baſel 
Verlag von helbing a Lichtenhahn 


Drud von Friedrich Reinhardt in Bajel. 


Inbaltsverzeichnis. 


W. Bilder, Carl Koechlin-Iſelin 1856—1914 

R. Deri:-Sarafin, Eine iiid m im 
Sabre 1809 

Hans Merian-Genaſt, rReiſeſkigzen von aEduard Genef 
Balel, 1865 

Auguſt Burdhardt, Stände ih Verfaſſung in See 
vom 16. bis 18. Jahrhundert . 

Wilhelm Degen, Gin kirhlicher Streit iii Birsed vor 
achtzig Jahren 

Saul Meyer, Aus den Wanderjahren ei eines s Basler Stus 
benten bes 17. Jahrhunderts . 

€. Mieſcher, Ablaßbrief von Anno 1517 zu Sunfen ber 
Satobusaltars in St. Leonhard . 

Paul Wernle, Aus den Tagen ber franzöſiſchen Revo 
lution unb ber Helvetik 1789—1808 . . 

Albert Geßler, C. Th. Martees, Mar riot; 
Das fünftleriidje Leben in Bafel 


Fritz Baur: Basler Chronit vom 1. November 1913 bis 
31. Oftober 1914 M re: 


245 


320 





Carl Roedhlin -Ifelin 
| J856—]914. 
Don W. Dif det. 


Su Beginn biefe8 Sabres iff bei uns ein Mann zu 
Grabe getragen worden, bem aufrichtige allgemeine Trauer 
unb ber Ausdrud der Verehrung unb des Danfes nach- 
folgten für ein Leben und Wirken, das in reicher Tätigkeit 
auf weiten Gebieten vieles Gute erftrebt und erreicht bat. 
Onamifden find Ereignifle eingetreten, welche in gewaltiger 
Weile in ale Verhältniffe und Anfchauungen eingegriffen 
baben und in mancher Beziehung frühere Gefichtspunfte unb 
den OXaBífab, ben wir anzulegen gewohnt waren, verrüdt 
haben. Manches, was wichtig und groß erfchien, finft zu- 
fammen vor der Wucht von Tatſachen, bie mit brutaler 
Gewalt $[nerbórte8 zur Wirklichkeit machen. Aber bie 
fchweren Eindrüde, unter denen wir jest fteben, follen nicht 
verwifchen, was von bleibendem Werte uns früher zuteil 
geworden ift, und gerade in diefer Zeit, wo das Streben der 
Völker beinahe nut nod) auf Vernichtung und Serftörung 
gerichtet fcheint, und allein der Ruhm Triegerifcher Erfolge 
bie Phantafie erfüllt, darf man daran erinnert werden, daß 
bie Menſchheit noch andere Ziele bat, und daß Pflichterfül- 
fung und Heldentum aud) ohne Schlachtenlärm möglich ift, 
daß felbft Eriegerifche Tugenden aud) im Zrieden zur Gel- 
tung fommen fónnen. 

Es fol daher nicht unterbleiben, an diefer Stelle des 
uns zu früh entrifjenen Carl Roechlin zu gedenken, wenn aud) 
der Verſuch, einen Turzen Sleberblid über das Leben diefes 


1 1 


Mannes zu geben, ben wir gerne in fefter Erinnerung be- 
halten möchten, unter der Ungunſt der Zeit leiden muß, die 
nicht bie Muße bot, welche wünfchbar gewefen wäre. Aber 
daß inter arma silent musae, daß bie Ge[djidtsfdreibung 
zu kurz fommt, folange bie Waffen Elingen, das hätte bet, 
bem biefe Zeilen gelten, am erften verftanden. 

Wenn wir an jemandes Leben berantreten, fragen wir 
gerne nad) feinem Urſprung, feiner Herkunft, um die Kräfte 
und Umſtände fennen zu lernen, welche für feine Art unb 
feine Entwidlung beftimmend gemefen fein mögen. Auch in 
unferm demokratiſchen Gemeinwefen fpielt die Erblichkeit 
feine geringe Rolle, und in den Erwartungen, bie wir in 
Semanden feßen, laſſen wir uns beffimmen duch die Er: 
fabrungen, welche wir an feinen Vorfahren glauben gemacht 
zu haben. 

Carl Koechlin ftammte aus Streifen, in denen Handel 
und Onbuftrie vorwiegend vertreten waren. Die Familie 
Koechlin batte während drei Sabrbunberten zu Mülbaufen 
im Elfaß geblüht, wohin fie aus bem Zürichbiet eingewandert 
war. Sm Sabre 1746 bat Samuel Soed)lin in Mülhaufen 
bie erfte Buntdruderei von 93aummollgereben errichtet und 
damit den Grund zu einer Snbuftrie gelegt, welche bald zu 
großer Bedeutung gelangte. Seine Familie ftellte fid) damit 
in bie vorderſte Reihe der Vertreter der rafch auffteigenden 
elfäßifchen Gewerbetreibenden. Samuel Roechlin war, wie 
andere Glieder der Familie, durch reihen Kinderfegen aus- 
gezeichnet; feine Frau, Elifabeth Hofer, fchenkte ibm 17 Söhne 
und Töchter, von denen der ältefte Sohn ihn noch übertraf 
mit 20 Kindern aus einer Ehe. Die zahlreihen Otadfommen 
haben das Geſchäft ihres Vaters mit großem Erfolg fort- 
gefet unb eine ganze Anzahl von Unternehmungen auf ver- 
fchiedenen Gebieten ins Leben gerufen, von denen manche 
jest nod) in 93[üte fteben. Der Sohn Samuels, Hartmann, 
ebenfalls Inhaber eines großen Gefchäfts, heiratete die 
Tochter des Basler Ratſchreibers Iſaak Sfelin, des befannten 


2 


Gründers der Gefellfhaft zur Förderung des Guten und 
Gemeinnüßigen in Bafel, und diefe Verbindung mit einer 
Bürgerin unferer Stadt, zu welcher die benachbarte elfäf- 
fíde Reichsftadt von jeber in naben Beziehungen ftanb, 
führte einen Zweig der Familie hierher. Hartmann Koechlin 
erhielt zu Ehren feines Schwiegervaters das Bürgerrecht von 
Baſel geſchenkt, das damals fonft Fremden verfchloffen war. 
Einer feiner Söhne blieb der neuen Vaterftadt treu und ver- 
band fid) ebenfalls mit einer Vaslerin. Es war Samuel 
S8oed)fin-93urdbarbt in der St. Sohannvorftadt;, in den Er- 
innerungen feines GnfeI8 Carl lebte er als freundlicher, gütiger 
Großvater weiter. Er wandte fid) einem in feiner neuen Heimat 
blühenden Snöduftriezweig zu und führte mit feinen Söhnen 
ein Bandfabrikationsgefchäft, bem allerdings Fein langes Ge- 
beiben befhieden war. Gein Sohn, der Ratsherr und 
Ständerat Alfons Roechlin-Geigy war vollftändig Basler 
und Schweizer unb bat in feinem engeren und weiteren QVater- 
[anb eine bedeutende Stellung eingenommen als Mitglied 
der. oberften Behörden wie als geachteter Kenner vollswirt- 
Ihaftlicher Fragen und als gegebener Vertreter von Baſels 
Handel und Induſtrie. Er war einer der Gründer Der 
Basler Handelsbant und während vieler Sabre Präfident 
der Basler Handelstammer. Auch feine Gbefrau, Frau 
Adele geborene Geigy, bie Tochter des Ratsherrn Carl 
Geigy, Präfident des Finanzkollegiums und Inhabers 
eines bedeutenden KRolonialwarengefchäftes, entfproß einer 
Familie, bie im Basler Handel eine hervorragende Stelle 
einnabm. 

Ihrem Sohne Earl war fo ein wertvolles Erbe zuteil 
geworden. Er bat es fid) burd fein Verdienft zu eigenem 
Beſitz neu erworben. 

Aber nicht nur die Tradition erfolgreichen Wirkens 
fand ihm zur Ceite. Wertwolle Eigenfchaften des Geiftes 
und des Gemütes fonnten von frühe an auf ihn wirken. 
Scharfer, mit bebeutenbem Wiffen gepaarter Verftand unb 


3 zd 


ſchlagfertiger Wit wie warme mitteilfame Liebe waren ver- 
einigt im Elternhaus, in welchem ein ftarfes Gefühl der 
Sufammengehörigfeit und reges Pflihtbewußtfein alle An- 
gehörigen verband. Mit Greube hat der Sohn oft Proben 
der launigen Verſe zitiert, mit denen Ratsherr Koechlin 
Ereigniffe in der Familie zu begleiten pflegte, und bie zeigten, 
in welch gemütpoller Weife das Gamilienbaupt dem Haufe 
vorftand. Der Sohn hat e8 ftet8 banfbar anetfannt und bat 
fi angelegen fein faffen, durch fein Zeifpiel im eigenen 
Haufe die Erkenntnis zu verwerten, wie wichtig für Das 
ganae [pátere Leben Eindrüde und Anregungen im Eltern: 
baufe find. 

Carl Koechlin war geboren am 5. November 1856. Es 
war, wie gejagt, eine gute Kinderftube, in welcher er das 
Licht der Welt erblidte und beranwuchs. Vorzügliche natür- 
[ide Gaben des PVerftandes und des Gemütes, bie ihm in 
bie Wiege gelegt waren, wurden butd) eine forgfältige Er- 
ziehung entwidelt und in der Richtung, die ihnen angemelfen 
war, ausgebildet. Schon der Knabe zeigte bie große 93emeg- 
Lichfeit des Geifte8 und des Körpers und den natürlichen 
Frohſinn, bie den Mann auszeichnen follten. Heiter, aud) 
zu luſtigen Streichen aufgelegt, war er ein belebenber, gerne 
gefehener Gefpiele im Kreife ber AUltersgenoflen in und außer 
der Schule, ein guter Ramerad bei den Kadetten, wo er 
bereit3 feine erften militärifchen Neigungen betätigte. Ent- 
fprechend der Gamilientrabition und feiner natürlichen Ver: 
anlagung, bie nicht auf befchauliche Forfchung, fondern auf 
raſches Erfaflen praftifcher Siele ging, war er für den Kauf: 
mannsberuf beftimmt, für deflen Ausübung bie Familien- 
beziehungen günftige Wege wiefen. Wie fein Vater machte 
aud) er das humaniſtiſche Gymnafium durch; er hat immer 
anerkannt, daß der Kaufmann die dort vermittelte 93ilbung 
nur fhäsen Tann. Die lebten Schuljahre wurden in Genf 
abfolviert bi8 zur Reife für die Univerſität. Diefe Sabre in 
Genf find Koechlin in feinem ganzen fpäteren Leben zuftatten 


4 


gefommen. Dort bat er nicht nur fid) gründlich und gut 
bie Kenntnis ber franzöfifhen Sprache angeeignet, fondern 
aud) Art und Weife ber welfchen Gibgenolen kennen unb 
verftehben gelernt und wertvolle dauernde Beziehungen ge: 
fnüpft. Stets erinnerte er fid) gerne an den Aufenthalt im 
Haufe des Pfarrers Goetz, das nad) ibm nod) manden 
Basler beherbergt bat, und mit den damal3 erworbenen 
Genfer Greunden iff er Zeitlebens in treuer Verbindung 
geblieben. 

Nach dem Aufenthalt im Welfchland ging’s in bie Lehre. 
Damals konnte und wollte man nod) nicht das Studium an 
einer Handelshochſchule an bie Stelle einer Faufmännifchen 
Lehre fegen. Roechlin bat immer betont, daß bie methodifche 
Einführung in das praftifche Arbeiten eines faufmannes, bie 
er als Lehrling genoffen, und bie Kenntnis aller Details, die 
Damit erworben wurde, nicht durch rein theoretifche Aus- 
bildung zu erfegen gemefen wäre. Es war allerdings eine 
febr gute Lehre, bie er dDurchmachte, in bem Gefchäfte 3áslin, 
Baumann u. Gie. in der St. Iohannvorftadt, einem Hand- 
Iungshaufe, das fid) eine Pflicht daraus machte, feine Lehr- 
[inge wirklich etwas lernen zu laffen und zu gebildeten fvauf- 
leuten zu erziehen. Die Chefs, unter ihnen namentlich 
Emanuel Zäslin-Sulzberger, gaben fid) Mühe, ihre jungen 
Leute aud) auper den Gefhäftsftunden zu vereinigen unb zur 
Diskuffion von wirtfchaftlihen Fragen wie zum Verftändnis 
und Genuß von Werfen der Literatur und der funft anzu: 
regen. Die Lehre in diefem Haufe war daher gefucht, und 
bie einftigen Lehrlinge btefer Firma hielten die -Veziehungen 
zu ihr und untereinander fpäter nod) aufrecht. Es war 
Koechlins Art, einmal gefnüpfte Beziehungen treu zu pflegen, 
und [o bat er für feine Prinzipale und feine follegen jener 
Lehrzeit ffet8 ein dankbares Andenken und gute Greund- 
Ihaft bewahrt. 

Die weitere Ausbildung erfolgte in Lyon und in Lon- 
don, nun [don im Hinblid auf die Stellung, welche bem 


5 


tüchtigen jungen Manne in ?fusfidit ftand in bem urfprüng- 
lid) großpäterlichen Gefchäfte, das fein beim Rudolf Geigp- 
Merian als einen GroBbetrieb für Serftellung von Farb— 
waren zu bober Blüte weiter entwidelt batte. Aus der 
Fremde aurüdgefebrt fonnte Koechlin in die Firma Sob. 
Otub. Geigy u. Cie. eintreten. Er batte den Vorzug, fid) 
unter der direkten Leitung feines Oheims vortrefflich ein- 
arbeiten zu fónnen; er erfaßte feine Aufgabe mit aller Energie 
und füllte feinen Plab fo aus, da er bald eine leitende Stel- 
lung einnehmen fonnte. Dem bod) angefebenen Unternehmen, 
für das er als Partner mitverantwortlich wurde, galt nun 
in erfter Linie die Arbeit feines Lebens; ibm hat er feine 
große faufmünnijd)e Begabung unb eine mit praftifcher 23il- 
bung vereinte bedeutende Arbeitskraft gewidmet, und er hatte 
bie Genugtuung, an der Geite feines Oheims unb von deſſen 
Söhnen ibm mit beftem Erfolge vorzuftehen und es zu ſtets 
weiterem Gedeihen zu führen. 

Mit dem Eintritt in eine Vertrauensftellung bei Joh. 
Rud. Geigy u. Gie. war foed)lin ein, wie man fo zu [agen 
pflegt, gemachhter Mann, und dem jungen flotten Vertreter 
des bedeutenden Handlungshaufes, der daneben mit 26 
Sahren [don in der Armee ben Grad eines Generalftabs- 
hauptmannes bekleidete, fanden die Türen offen zu Erfolg 
und Ehren. 

Was zum irdifchen Glüde nod) fehlen fonnte, fand 
Koechlin in dem Hausftand, ben er im Sabre 1884 begründete 
burd) feine Ehe mit Grau Elifabeth geborener Sfelin aus 
dem QGeibenpof in Baſel, einer Gattin, welche, reid) an 
liebenswerten Gigenfdjaffen des Geiftes und des Herzens, 
fein eigenes Wefen in ber glüdlichften Weife ergänzte und 
mit ihrer imnerlihen und Doch heiteren Art dem in 
ungeforgten Verhältniſſen herangewachſenen lebensfrohen 
Manne eine nie verſagende Stütze war. Wer je in dem 
gaſtlichen Heim des jungen Paares verkehrt hat, ſei es in 
der Stadt, ſei es in Riehen, wo im Sommer ein altes 


6 


Landhaus zu dem allen Gäften offenen unb gemütlichen Git 
der glüdlich heranwachfenden Familie gemacht wurde, der 
wird nicht vergeffen, in welch ungezwungener, einnehmender 
Weife man verftand, einen Son erklingen zu laflen, der 
jedermann fid) bebaglid) fühlen lied. Manch größerer oder 
Heinerer Anlaß wurde verfchönt Durch poetifche Gaben, welche 
die Hausfrau mit feinem Sinn und herzlihem Humor zu 
bieten verftand. Koechlin genof ungemein das ihm erblübte 
häusliche Glüd; der Familie, der Gattin und der wachſenden 
Kinderſchaar, war in erfter Linie bie freie Zeit gewidmet, 
weld bie mit großer Pflichttreue ausgeübte Tätigkeit im 
Gefchäfte ließ; Daneben war ber Militärdienft fozufagen die 
einzige anderweitige Beſchäftigung, bie er fid geftatten 
fonnte. Eine große Freude und Befriedigung war die Er: 
richtung eines eigenen Heims in dem fohönen Bau an ber 
Engelgafle, der durch Künftlerhband ausgefchmüdt wurde unb 
dazu beftimmt fchien, ein Mittelpunkt beiterer und edler 
Gefelligfeit zu werden. Er wurde durch fröhliche Feſte im 
Kreife der Familie und ihrer zahlreichen Freunde einge- 
tveibt. Aber nicht nur fie follten daran teilnehmen. Es entíprad) 
dem Charakter des Hausherren, daß auch alle, welche als Ver⸗ 
treter des Handwerks am Bau mitgewirkt hatten, zu einem 
Weite geladen wurden, an dem man in den fdónen neuen 
Räumen in gemütlicher Weife beifammen faf. Yald fam 
aud) bie erfte Gelegenheit zu erfolgreichem öffentlichem Auf: 
treten. Sn bem Zeftfpiel zur VBereinigungsfeier von 1892 
übernahm Koechlin bie Rolle des Herzogs Leopold von 
Defterreich, und es wird Manchem nod) in febbafter Grinne- 
rung fein, mie er auf feinem feurigen Rofle der in die 
Schlacht aiebenben öfterreichifchen Ritterfchar voranritt. Der 
Basler Liederfranz, welcher den ibm folgenden Streit: 
haufen ftellte, unb fid) feither feiner freundlichen Fürſorge 
erfreute, ernannte damals feinen Anführer zum Ehren— 
mitglied und iff ibm auch fpäter ftets treu geblieben. Die 
raſch errungene allgemeine Popularität trug Koechlin auch 


7 


Das erfte öffentliche Amt ein, dasjenige eines Civilrichters. 
Als feine Wahl, auf Vorſchlag ber liberal-fonfervativen 
Graftion gegenüber einem von anderen Parteien vorgelchla- 
genen Kandidaten im Großen Rate, ber damals nod) bie 
Richter wählte, erfolgt war, berichtete eine Zeitung mit nicht 
unrihtiger Betonung, daß gewählt worden fet Herzog Leo- 
pold von Defterreich, das heißt Herr Roechlin-Sfelin. Es 
war ein guter und vielverfprechender Eintritt ins öffentliche 
Leben. Über fo febr aud) Koechlin an Popularität eine 
Freude hatte, nad) intenfiver Betätigung in der Deffentlich- 
feit, gar auf politifhem Gebiete, ftanb fein Sinn nod) nidt. 
Gr batte genügend Arbeit in feinem Gefchäft und Ding zu 
febr an feiner Häuslichkeit, al daß er gewünfcht hätte, bie 
Muße, bie er biefer widmen fonnte, einer nad) außen Detvor- 
tretenden Tätigkeit zu opfern. 

Da traf den zufrieden feines Glüdes fid Freuenden ein 
Schlag, wie er fchwerer nicht hätte fallen fónnen. Zu Beginn 
des Zahres 1893 ftarb an tajd) verlaufender Krankheit feine 
Gattin, nachdem fie ihm kurz vorher ein fechftes Rind gefchenkt 
batte. Der I6jährige Mann, dem bisher das Glüd fo bolb 
geweſen, war ins Mark getroffen. Er bat biefen unerjeglichen 
Verluſt nie verfchmerzt, aber bod) in tapferem Rampfe den 
Schmerz überwinden gelernt. Die noch unerwachſenen Rinder, 
für deren Erziehung er in einer älteren Schwefter feiner Gattin 
eine treue Hilfe fand, konnten noch nicht das Leben mit ibm 
teilen, mehr als vorher Tieß er fid) baber bereit finden, fich 
außer feinem Haufe an Aufgaben des Öffentlichen Lebens 
unb Gemeinmwefens zu betätigen. An Anlaß dazu fehlte es 
nit, wer in Baſel einmal die Meinung für [fid Dat, 
der follte gleich überall dabei fein. Dem allgemein beliebten, 
nun fo fchwer betroffenen Manne wandte fid) in aufrichtiger 
Teilnahme noch vermehrte Sympathie zu, bie in Gelegenheit 
zur Vetätigung Sroft bieten und den fo brauchbaren Helfer 
für irgend eine Arbeit gewinnen wollte. Wer fann es einem 
Manne in foldhen Umftänden verargen, wenn er, um fein 


8 


Leben neu zu geftalten, fid) mehr nad) außen ausgiebt, als 
auf bie Dauer vielleicht aut tut. Koechlin bat, wenn er es 
auf Roften feiner Rube tat, zuweilen mehr als feinen Nächiten 
lieb fein fonnte, wohl aud) Vielen damit Gutes getan, unb 
wenn er aud) einmal etwas übernahm, das nicht jedermann 
notwendig erfchien, fo bat er bod) damit irgend jemandem 
und damit fid) felbft eine Freude gemacht, und das war ihm 
aud) zu gönnen. 

Bon nahhaltiger Bedeutung ift für Koechlin bie An- 
regung geworden, bie ihm damals von einem Manne gu. 
ging, der in verfchiedener Hinfiht Manches mit ihm ge- 
mein hatte, von Rudolf Sarafin. Diefer ebenfalls fo erfolg- 
reihe GroBinbuftrielle, ber fein eigenes Gefchäft bereits 
jüngeren Händen übergeben batte, deflen Lebbafte8 Tempera- 
ment aber Ginjamfeit und Untätigkeit nicht ertrug, fügte einer 
reihen Wirkſamkeit auf gemeinnüßigem Gebiet unb für 
Wohlfahrtseinrichtungen immer noch neue Unternehmungen 
hinzu. Damals war e$ bie FZürforge für Bruſtkranke, für bie 
einzutreten er fid) bereit fand. Er mar Präfident der von 
der Gemeinnützigen Geſellſchaft dafür eingefetten Rommif- 
fion; deren Schreiber wurde, wohl nicht ohne fein Sutun, 
Carl Koechlin, bem er feine ganze Sympathie zumandte. Es 
war der Anfang zu einem gemeinfamen Wirken auf verfchie- 
denen Gebieten. Koechlin bat das Vorbild diefes gemein: 
nüßigen Mannes und das teilnehmende väterlihe Wohl: 
wollen, das er von ibm genoß, bod) gefhäßt. Er bat ihm 
nad) feinem Tode ein fchönes Denkmal geſetzt in bem mit 
befonderer Wärme gefchriebenen Nachruf in diefem Jahr⸗ 
buche, wohl dem beiten Erzeuaniffe feiner Feder; er bat 
gewiffermaßen fein eigenes Wefen hineingelegt. Dort bat 
er aud) die Gntftebung und Entwidlung der Bewegung 
gefchildert, bie in DBafel zur Gründung des evangelilch- 
fozialen Vereines, des evangelifchen Arbeitervereines unb 
ber Gefellfhaft zum Wettfteinhof führte, an welchen Unter⸗ 
nebmungen er gemeinfam mit Rudolf Sarafin fid) eifrig 


9 


betätigte. Es war namentlich bet evangelifche AUrbeiterverein 
im Wettfteinbof, der ibm viel Freude machte, und es blieb 
ibm ftets eine Genugtuung, mitgebolfen zu haben, als deflen 
erften Leiter Pfarrer Guftav Benz nad) Bafel zu ziehen. Er 
bat oft ausgefprochen, wie ibm bie Betätigung in diefem 
Kreife über manche [dere Stunde binmeggebolfen babe. Er 
beteiligte fid) gerne an den Sitzungen und Diskuffionen; er 
war auch dort ftet8 gerne gejeben und gehört, und das tat ibm 
wohl. Die Arbeiterfchaft fühlte auch, daß ihr Wohl ibm am 
Herzen lag, und als im Sabre 1896, nad) der Wahl von 
Dr. €. Brenner zum Yundesrat, eine Erfagwahl in den 
Nationalrat nötig wurde unb bie Eonfervative Partei Koechlin 
porfehlug, wurde biefer im dritten Wahlgange, nicht ohne 
ftillen Zuzug aus gegnerifchen Lagern, gewählt. 

Damit war ibm ein neues Zeld wichtiger Tätigkeit 
eröffnet. Seine Wahl wurde in Baſel allgemein begrüßt, 
als bie glüdliche Erfüllung des Wunfches, wieder einen Ver- 
treter von Handel und Snbuftrie in Bern zu haben. Soed)- 
[in faBte aud) feine Aufgabe durchaus dahin auf, daß e$ 
gelte, ben Basler Handelsftand zu repräfentieren. „Il y a 
une place à prendre;jelaprendrai“, fehrieb er feinem Bruder 
zurüd, ber ibm zur erften von ibm bejudbten Sigung einen 
Gruß an feinen Pla gelegt batte. Er fühlte fid) als Nach— 
folger feines Vaters und feines Oheims Rudolf Geigp- 
Merian und fam mit dem Vorſatz, deren Plat als Autori- 
täten auf bem Gebiete des Handels und des Verfehrs ein- 
zunehmen; und er nahm feinen Pla und füllte ihn aus. 
Koechlin war nicht Politiker und wollte es aud) nicht fein. 
Politiſche Fragen lagen ibm nicht und intereffierten ihn auch 
nicht ftark; er trat auf als Fachmann für praftifche vollswirt- 
ſchaftliche Gragen; bie politifche Seite fam ihm weniger in 
Betracht. Er wäre wohl am liebften bei feiner. politifchen 
Partei gemefen, und es fag ibm nicht recht, daß er, um 
gewählt zu werden, bod) von einer jofden vorgeichlagen 
werden mußte; er wäre lieber der Kandidat Aller geweſen. 


10 


Es freute ihn aber, als bei ben Neuwahlen im Jahre 1899, 
obwohl bie verfchiedenen Parteien fid nicht auf eine ge- 
meinfame Lifte geeinigt hatten, er die größte Stimmenzahl 
auf fid) vereinigte. Er genoß aud) wirflih Zutrauen auf 
allen Seiten. | 

On Bern ſchloß Roechlin fid) bem fogenannten Zentrum 
an, wohin ihn gefellichaftliche Stellung und perfünliche Be— 
ziehbungen wiefen. Diefe Fraktion ffanb damals unter bem 
Opráfibium von Conrad Eramer-Srei, bem Zürcher Präfidenten 
des Schweizerifchen Handels: und Snbuftriepereines und all- 
gemein geachteten Fachmanne für Handelsfragen. Ihm bat 
nad) feinem im Jahre 1900 erfolgten Hinfchied Roechlin, der 
als berufener Vertreter vom Nationalrat zur Beerdigungs⸗ 
feier abgeordnet wurde, am Grabe einen Nachruf gehalten. 
Was er von dem als Vorbild verehrten Kollegen als map- 
gebenbe Eigenfchaft bervorhob, daß er ,ftet8 ber praftifchen 
Entwidlung der Dinge offenen Auges und Sinnes zu folgen, 
von ihr weiter zu lernen und aus ihr mit großer Klarheit 
bie ftonjequengen zu ziehen wußte”, das ließ er aud) fein 
Streben und feine Art fein. Man fann fagen, daß aud) er 
als Autorität in handelspolitifchen und wirtfchaftlichen Fragen 
in den Vordergrund zu treten berufen war. Doch war es 
ibm nicht befchieden, eine Bahn weiter zu verfolgen, bie ibm 
verlodende Ausficht auf Genugtuung und ehrenvolle Wirk- 
famfeit bot. Die Rüdficht auf fein Geſchäft nötigte ihn in 
Anbetracht anderer zeitraubender PVerpflichtungen, bie er 
votberbanb nicht zurüdftellen wollte, namentlich feiner hoben 
militärifchen Stellung, bei der Erneuerung des Nationalrates 
im Jahre 1902 auf eine Wiederwahl zu verzichten. Es tat 
ihm leid, wie feinen Mitbürgern und feinen Kollegen in 
Bern. Koechlin iff in der Bundesverfammlung in feiner 
fpezielen Eignung als Saufmann nicht erfegt worden; er 
bedauerte das und ſchied aud) fonft nicht gerne aus bem 
Kreife in Bern, wo er fid) wohl fühlte, und wo er aud) 
überall gerne gefeben war. Aber er jab, daß er etwas ab- 


11 


geben mußte unb wählte ben Verzicht auf das Amt, das die 
meifte Abweſenheit von Baſel mit fid) brachte. Es blieb ihm 
votberbanb nod) genug anderes. 

Beinahe als abnte er, daß feine parlamentarifhe Wirk: 
lamfeit feine zu lange fein fünne, verlor er während 
ihr feine Zeit mit Warten, fondern griff ohne Zaudern 
ein, wo er bie ihm paffenbe Gelegenheit fand. In praf: 
tifcher Weife batte er, beljen Sache e8 nicht mar, in zeit: 
raubendes Studium von Details fid) einzulaffen, fid) bie 
Mitwirkung des gründlichen Kenners nationaldfonomifcher 
Stagen Dr. Jakob Steiger in Bern, gefichert, damit er ibm bei 
Beihaffung der Unterlagen an Material behilflich fei. So 
fonnte er wohlvorbereitet an die zu behandelnden Fragen 
betantreten, was er ftet3 als Grundbedingung eines Erfolges 
anfahb. Das ihm dargebotene Material wußte Koechlin gut 
fid) anzueignen, zu beberrfchen und gejchidt zu verwerten, in- 
dem er bie ausfchlaggebenden Punkte in prägnanter Weife 
bervorhbob. Auch im Drud erfchienene Arbeiten gaben davon 
Kenntnis und zeigten, daß ibm, der das Wort gefchidt zu 
handhaben wußte, der fchriftliche Ausdrud nicht minder zur 
Verfügung ffanb. Alle diefe Eigenfchaften, verbunden mit 
dem Gewicht der anerkannten praftifchen Erfahrung des er- 
folgreihen Broßinduftriellen fiherten ibm eine einflußreiche 
Stellung im Rate, welche durch den Eindrud feiner mit dem 
Reiz der Liebenswürdigkeit ausgeftatteten Perfönlichkeit 
wejentlich verftärft wurde. 

Die Hauptfrucht feiner parlamentarifhen Tätigkeit, ein 
Refultat von bleibendem Werte, iff bie Einführung des 
Poftcheds in der Schweiz, nad) dem Vorbild anderer Länder. 
Sie iff von ibm angeregt worden burd) eine Motion, die er 
im Nationalrat im Jahre 1900 ftellte und nachher in einer 
Flugſchrift mit Belegmaterial veröffentlichte, nachdem ein 
Entwurf zu einem Nationalbanfgefeß, welches den Geldver- 
febr verbeffern follte, gefcheitert war. Das im Poftched vor- 
gefchlagene Mittel zur QVerminderung des Geldumlaufs und 


12 


zur Erleichterung von 3ablungen ift verhältnismäßig raſch 
als richtig anerkannt und im Sabre 1906 praftifch eingeführt 
worden. Dem Vater des Gebanfenà wurde in Anerfennung 
feines Verdienftes der bedfonto Nr. 1 eröffnet, als erfter 
von vielen Taufenden, die bald nachfolgten und diefe neue 
Einrichtung rafch populär machten. Mit ihr wird fein Name 
ftets in Verbindung bleiben. 

Nicht denfelben Erfolg Hatte fein Eintreten für bie erfte 
von Forrer ausgearbeitete Vorlage für ein Bundesgeſetz für 
Sranfen- und Unfallverfiherung, die [ogenannte ler Forrer, 
die er empfahl, weil er bie darin zum Ausdrud fommenbe ein- 
beitfidóe Durchführung des Verficherungsgedanktens unb die 
Einbeziehung aller Volksklafien ſchätzte. Diefer Entwurf ift 
befanntlich abgelehnt worden. Der fpäteren Vorlage, die 1912 
Geje& geworden ift, bat Roechlin nicht beigeffimmt. Nicht 
einverftanden war er mit ber Perftaatlichung der Eifen- 
bahnen, wie fie im Beginn feiner Tätigkeit in ber Bun— 
desverfammlung durchgeführt worden if. Obwohl fein 
pringipieller Gegner des Staatsbetriebes fürchtete er bie Ge- 
fahr, welche entiteben kann aus der ungeheuren Landesſchuld, 
wie fie bie vorgefchlagene Art der Perftaatlichung mit 
fi bringen mußte. Daß er in diefen Fragen, bie zu Volls- 
abftimmungen führten, auf der andern Geite ffanb als bie 
Mehrheit unferer Bevölkerung, zeigt, wie er bei aller Rüd- 
fit auf bie Vollsftimmung fid) die Freiheit feiner Lleber- 
zeugung mabrte. 

Sn Hebereinftimmung mit feinen Wählern, namentlich 
aus Arbeiterfreifen, wußte er fid), als er warm eintrat für ben 
früheren Arbeitsfhluß am Samstag Nachmittag. Koechlin, 
ber felbft das Familienleben fo bod) fchäste, wollte damit 
mödglichft vielen Familien zu einem rechten Greierabenb, als 
bet VBorbedingung zur richtigen Verwendung des Sonntags, 
verhelfen. 

Bei den Verhandlungen über den Solltarif von 1903 - 
nahm er nod) in verföühnlichem Sinne teil, in Abweichung 


13 


wieder von ber in Baſel herrfchenden Strömung, bie fid) auch 
in ben von ibm fpeziell vertretenen und beratenen reifen 
gegen ihn febrte. Er war davon überzeugt, baB ber bier 
beliebte Sreihandel einem zunehmenden Schußzoll weichen 
mülffe. 

Ueber alle wirtfchaftlihen Fragen, bie in der 93unbes- 
verfammlung im Vordergrund ftanben, bat Roechlin jeweilen 
in der Basler Sjanbelsfammer berichtet. Seine Stellung in 
Bern ftanb in enger Verbindung mit feiner Tätigkeit in 
bieler Rorporation der Vertreter von Baſels Handel unb 
Onbuftrie. Koehlin war Mitglied des Q3orffanbe8 ber 
Handelsfammer geworden nod) vor feinem Eintritt in die 
ZBundesverfammlung, im Sabre 1896. 3mei Sabre nachher 
wurde er Vizepräfident; 1906, als er freilich bem Otationat- 
tate nicht mehr angehörte, Präafident. Es war ganz gegeben, 
daß er ein Amt übernahm, das viele Sabre mit anerkannter 
Autorität fein Vater, vorher fein Großvater, fpäter fein 
Oheim mütterlicherfeit$ innegebabt hatten. Wie Dbiefen 
feinen Vorgängern war ibm die Aufgabe, der Organifation 
für die Vertretung des Basler Handels vorzufteben, febr 
angelegen; ihr widmete er in intenfiver Weiſe feine Kraft, 
was ihm durch feinen Austritt aus ber YBundesverfammlung 
möglich gemaht war. Kaum eine Frage von Bedeutung 
für das wirtichaftlihe Leben wurde nicht von ibm in forg- 
fältigem, flar burd)bad)tem Vortrage beleuchtet. Auch bier 
gaben gründliche Vorbereitung und [fiere Grfaljung ber 
wejentlihen Punkte feiner Meinung Wert und Nachdrud; 
Daneben legte er Gewicht darauf, mit den führenden Perfön- 
lichkeiten in ber übrigen Schweiz in Fühlung zu bleiben und 
auf bem Laufenden zu fein, was fid) bei ihm dank feiner 3abl- 
reihen Beziehungen infolge feiner eidgenöffifhen Stellungen 
von felbft ergab. 

Sowohl die Stellung in der Bundesverfammlung als 
diejenige bei ber Handelstammer hatten e8 mit fid) gebracht, 
daß Koehlin aud) nad) dem Austritt aus bem Nationalrat 


14 


nod) im anderen eidgendffiihen Behörden fap, nicht in fo 
vielen freilich, als ibm offen geftanden wären, wenn [eine 
Seit e8 erlaubt hätte. Nur Eurze Zeit war er im Bankrat 
bet Nationalbanf, bie er in der Kommiffion des Nationalrates 
batte vorbereiten helfen. Länger und von größerer Bedeutung 
war feine Mitgliedfchaft im Verwaltungsrat der Bundes— 
bahnen, in den er 1904 vom Bundesrat delegiert wurde, als 
Nachfolger des verftorbenen Wilhelm Heusler-VBonder Mühl. 
Koechlin war fein Neuling in Eifenbahnfahen. Im Sabre 
1893 war ibm nad) dem Tode feines Vaters beljen Stelle im 
Verwaltungsrat der Schweizerifhen 3entralbabn zugefallen. 
Otad) feiner Wahl in den Nationalrat hatte er dort bie Gnt- 
laſſung genommen, da in der Bundesverfammlung der Rüd: 
fauf der Eifenbahnen auf den Traftanden war und er fid) 
feinem Vorwurf ausfegen wollte, in Eifenbahnfachen irgenb- 
wie andere als allgemeine Interefien zu vertreten. Er fühlte 
fid bann auch frei, nicht für bie Verftaatlichung zu ftimmen. 
Als fie einmal erfolgt war, bat er an feinem Orte nad) Kräften 
mitgearbeitet an einer rationellen Ausgeftaltung und Weiter: 
entwidlung der Schweizerifchen Eifenbahnen im Sinne einer 
nationalen Verkehrspolitif. 

Eine Wahl in bie ftändige Rommilfion ber Yundes- 
bahnverwaltung, bie 1909 erfolgte, fonnte er mit Rüdfiht auf 
feine damals fdon erfchütterte Gefundheit nicht mehr an- 
nehmen. Im PVerwaltungsrate dagegen blieb er bis 1913 
als einflußreiches und gern gefehenes Mitglied. Mit Erfolg 
bat er fid) bei Neuregelung ber Penfionsverhältnifle für die 
begründeten, aber zuerft nicht anerkannten Anfprüche der 
oberen Beamten eingefebt, feinen Grundfägen getreu, gleiches 
Recht für alle zu fchaffen. Diefes Vorgehen hat ihm warmen 
Dank in den betroffenen Kreiſen gefichert. Auch bei ben 
Bundesbahnen bat Koechlin ſtets die allgemeinen natio- 
nalen Gefichtspunfte vertreten und vorangeftellt gegenüber 
Somderinterefien, aud) wenn biefe anfcheinend ber engeren 
Heimat zugute famen. Er nahm ben höheren Ctanbpuntft 


15 


ein, daß der einzelne Landesteil feine Wünfche den Inter⸗ 
effen des ganzen Landes unterzuordnen babe. Don biefem 
Gefichtspuntte aus nahm er aud) in der Basler Handels- 
fammer zu den Verkehrsfragen Stellung, wobei ihm nicht 
immer bie Mehrheit ber engeren Landsleute folgte. 

Seine Stellung bem Lötfchberg gegenüber, der ibm als 
ein Pfahl im Fleiſch des Schweizerifchen Eifenbahnnetes 
erfchien, fowie zum Splügen, war bemnad) eine gegebene. 
Auch den Gotthardvertrag hat er nicht begrüßt, da er in der 
Ausdehnung der Meiftbegünftigung und der unbegrenzten 
Zeitdauer eine nationale Gefahr (a5, und diefe fdoien ihm wich- 
tiger als bie Vorteile, bie man für Yafel vorausfah. Seine 
Anfichten über bie Stellung Baſels in ber fchweizerifchen 
Verkehrspolitik bat Roechlin dargelegt in einem Vortrag an 
ber Zahresverfammlung des Basler Handels- und Snbuftrie- 
vereines vom 28. Mai 1907. 9((8 Richtſchnur bezeichnete er 
bie Gleichſetzung unferer Verkehrspolitik mit derjenigen ber 
Bundesbahnen. Zhr folgend entfchied er fid) gegenüber einer 
Waflerfallenbahn, für bie in Baſel Stimmung zu machen 
gefucht wurde, febr beftimmt für bie Verbeflerung der Hauen- 
fteinlinie burd) einen 93aftstunnel. Für diefe Idee fette er 
feinen ganzen Einfluß ein; ihr galten noch feine letzten 23e- 
mübungen im Verwaltungsrate der Bundesbahnen, und er 
vornehmlich bat ihr dort zum Durchbruch und zur baldigen 
Berwirklichung verholfen. 

Ein guter Seil von Koechlins Hffentliher Wirkſamkeit 
lag, wie man fiebt, auf eidgendffifchem Gebiet. Dem Yasler 
Großen Rate bat er nie angehört. Als er einmal dafür vor- 
geichlagen war, wurde er nicht gewählt. Er ließ fid) jpäter 
nicht mehr für eine Wahl in diefe Behörde gewinnen und 
verzichtete nicht ungern auf eine zeitraubende Mitwirkung in 
der fantonalen Politif. Nicht daß er in feiner Vaterftadt 
nicht auch an vielem teilgenommen báfte. Es war fchon bie 
Rede von ben Beftrebungen auf fozialem Gebiete, von der 
Zürforge für 93ruftfranfe, bei denen er fid) mit Rudolf Gata- 


16 


fin begegnete. Der fchöne Yau des Wettfteinhofes, in wel: 
chem der evangelifche Arbeiterverein fein Heim fand, und die 
Basler Heilftätte für Bruſtkranke in Davos find fichtbare 
Zeugen davon. Noechlin fonnte felbft bie Erftellung des 
Sanatoriums, „des fehönen Baslerhaufes im Bündnerland“, 
wie er es nannte, erwähnen in feinem Schlußbericht ala Vor: 
fteber ber Gemeinnützigen Gefellichaft für das Jahr 1896/97. 
Es war ganz natürlich, daß ibm aud) diefes Amt übertragen 
wurde, das ibn in den Mittelpunkt gemeinnüßiger Inter: 
nehmen ſtellte. Ginige Seit gehörte er dem Direftions- 
Komitee der Arbeiter-Rolonie Setbern an, bis zu feinem 
Ende bem KRonfiftorium ber franzöfifhen Kirche in Baſel, 
ebenfo dem Vorftand der Zunft zum Schlüflel, wo im Kreife 
der 3unfftgenoffen feine Rede gerne gehört war. Wenn er 
nicht allzuviel mehr übernehmen konnte, fo lag es nicht daran, 
daß er nicht begehrt worden wäre, fein treffendes Wort, 
fein guter Rat waren überall geſchätzt; bod) auch feine Kraft 
reichte nicht für alles. Und neben der immerhin durchaus im 
Vordergrund ftebenben und mit Pflichteifer und Erfolg ge- 
führten Leitung eines großen, fid) ftets ausdehnenden Ge- 
ſchäftes batte er noch eine wichtige Aufgabe, bie ihn über bie 
Grenzen der Paterftadt binausfübrte, unb an der er mit 
ganzer Seele hing. Koechlin war aud) hoher Militär und 
bat fid) als folcher nicht weniger ausgezeichnet al8 in feinem 
bürgerlichen Beruf; ja in diefer Stellung fonnten fid) manche 
feiner Eigenſchaften am glänzendften zeigen. 

Seine Laufbahn war ein rafcher und ehrenvoller Auf- 
flieg. Koechlin ift aus der Hauptwaffe, der Infanterie, ber- 
vorgegangen; zuerft gehörte er bem von Baſelſtadt aeftellten 
Bataillon 54 an. Er 308 bald bie Ylide ber Vorgefesten 
auf fid und wurde zum Stab des Basler Regiments 18 
abfommanbiert. Noch gebenff man des flotten Adjutanten, 
bet, ftolz auf feine roten Schnüre, feinen Dienft mit ebenfoviel 
Cdneib wie Liebenswürdigfeit verfah. Er fam rafch weiter. 
Der damalige Chef des Generalftabs, Oberft Alphons 


17 2 


Opfoffer, erfannte bie Fähigkeiten des jungen Offiziers unb 
wußte in Sleberwindung gefchäftlicher Bedenken, welche in 
der Familie fid) geltend machten, feinen Eintritt in den Gene- 
talftab zu ermirfen, auch mit dem Hinweis auf das Beifpiel 
des Großoheims mütterlicherfeits, des Oberſten Wilhelm 
Geigy, ber feine hervorragenden militärifhen Eigenjchaften 
ebenfalls ber Eidgenoflenfchaft zur Verfügung geftellt hatte. 
Nie verlegen, den richtigen Weg zu finden, um eine Aufgabe 
gut und ra[d) zu löfen, war Roechlin ein geſchätzter General- 
ftabsoffizier. 

Mit 26 Sabren war Roechlin Hauptmann im General- 
ffab; er wurde der neunten Snfanterie-23rigabe zugeteilt, bet 
deren Kommandanten, Oberft Wilhelm Bifchoff, er fon 
als Adjutant Dienft getan batte. Er erwarb fid) die volle 
Zufriedenheit und das Vertrauen diefes vortrefflichen Vor⸗ 
gefe&ten, bem er feinerfeit8 aufrichtige Achtung entgegen- 
brachte, unb blieb ibm ftet8 in treuer Anhänglichkeit ergeben. 
Bis an ihr Ende, das für beide beinahe gleichzeitig eintrat, 
waren bie beiden, an Alter wie in ihrer Art febr verfchiedenen 
Männer, bie fid in gemeinfamer Arbeit gegenfeitig fennen 
und ſchätzen gelernt hatten, einander herzlich zugetan. 

Auch mit allen weiteren Vorgeſetzten, denen er zugeteilt 
war, wenn fie auch anderer Art waren, ift Roechlin ftet8 gut 
ausgelommen, fchon deshalb, weil feine Dienfte nie vet- 
fagten, aber auch, weil feine verbindliche und bod) entfchiedene 
Art unb feine große Gewandtheit im Umgang jede Reibung 
befeitigte._ Dasfelbe war ben Intergebenen gegenüber der 
Gall; fein Auftreten war durchaus fameradfchaftlich, wahrte 
aber ftet8 bie burd) Willen und Können geficherte Autorität. 

Als Generalftabsoffizier war Koechlin nod) Stabschef 
der 5. Divifion, in welcher Eigenfchaft er die Korps: 
mandver von 1897 mitmadjfe; er bat aud) den Grenz: 
bewachungsdienft im Divifionskreis neu und burdgreifenb 
geordnet. Er würde gerne in der 5. Divifion, bei deren 
Sruppen er befannt und beliebt war, ein Rommando über- 


18 


nommen baben. Als ibm aber im Jahre 1899 die Führung 
der erften Infanteriebrigade, eines Truppenkoͤrpers ber fran- 
zöſiſchen Schweiz, übertragen wurde, ergriff er lebhaft bie für 
einen Deutfchfchweizer etwas heifle Aufgabe und wußte fid) 
bei feinen welfchen Rriegsgefährten, bie neben feinen andern 
Eigenfhaften auch feine vorzügliche Kenntnis ihrer Sprache 
bewundern mußten, bald fo heimifch zu machen, daß er als 
Führer wie als Ramerad volles Vertrauen und allgemeine 
Verehrung genofB. Und während zuerft nod) die Waadt- 
länder bie ungewohnte Ernennung eines deutſchſchweizeriſchen 
93rigabefommanbanten mit einigem Unbehagen aufgenommen 
hatten, wurde, als 1905 Koechlin zum Kommandanten ber 
damals aus Freiburg, Neuenburg, dem franzöfifhen Berner 
Aura und Genf refrutierten 2. Divifion befördert wurde, Diefe 
Ernennung aud) in.der franzöfifchen Schweiz allfeitig be- 
grüßt, unb eine welfche Zeitung fand fogar heraus, daß 
Koechlin in bezug auf Temperament und Phyfiognomie nod) 
mehr als fein Waadtländer Kollege, der Kommandant der 
1. Divifion, Oberft Secretan, bie Stige und den Charakter 
des Welfchichweizers zu haben fcheine. Allerdings, Koechlin 
verftand es, fchon indem er bie bet franzöfilhen Sprache 
eigene Eleganz und Klarheit des Ausdruds zu ſchätzen und 
gefdjidt zu handhaben wußte, bie für Efprit empfänglichen 
welfchen Eidgenofien zu gewinnen. Nach feinem Hinfchied 
bat ein Waadtländer Blatt folgende bezeichnende Gefchichte 
von ihm erzählt. 

Als er einmal mit Offizieren durch S)petbon fam, wurde 
er mit feinen 93egleitern vom Präfelten nad) Waadtländer 
Brauch in den Keller geladen unb vom Faß bewirtet. Koech⸗ 
[in dankte im Namen der anmwefenden Offiziere und ſchloß 
feine Anfprahe mit den Worten, bie bier wohl wieder- 
gegeben werden dürfen: „Messieurs les officiers! Quelques- 
uns d'entre vous trouveront peut-étre dröle que Mr. le 
Préfet nous regoive à la cave plutöt que dans son salon. 
Eh bien, c'est une tradition dans le canton de Vaud: 


19 Sii 


au salon on recoit tout le monde, tandis qu'à la cave 
on ne recoit que des amis." 

Man fann fid) benfen, daß ſolche Worte, in bem Koechlin 
zu Gebote ftebenben verbindlichen unb einbringliden Ton 
bei einem guten Glas Dezaley gefprochen, bie Waadtländer- 
herzen öffneten. | 

Und nicht weniger wußte Roechlin bie Gelegenheit zu 
benii&en, Worte vaterländifcher 93egeifterung an feine Trup⸗ 
pen zu richten, wie, als feine Brigade über das Schlachtfeld 
von Murten mar[djierte; da erließ er einen Befehl, ber an 
der biftorifchen Stätte zu verlefen war und, des Sieges der 
Gibgenoffen gebenfenb, in fnappen, eindringlichen Worten 
einen warmen Appell an den Patriotismus der Truppe 
enthielt. 

Aber nicht bie für jemanden von fo ganz deutfcher Ab: 
ftammung ungewöhnliche Fähigkeit des Eingehens auf bie 
Art ber welſchen Kameraden, die Koechlin befaß, ober die 
Ihönen Worte, bie er zu ihnen zu fprechen verftand, fonnten 
allein den Erfolg berbeiführen, ben er erreichte. Koechlin 
vermochte nicht nur mit Worten zu glänzen. Er beſaß wirf- 
lid) bie militärifhen Eigenfchaften eines Führers unb bat 
fie gezeigt. Gründliche Kenntnis des Dienftes war bei ibm 
gepaart mit großer Leichtigkeit zu rafhem und zwedent- 
fprehendem Handeln. 

Allgemein ift anerfannt worden, daß bie Führung feiner 
Divifion in ben KRorpsmandvern von 1907 eine vorzligliche 
war und in Überzeugender Weife feine Gemanbtbeit erkennen 
ließ, wie die nicht gewöhnliche Treffficherheit, mit der er jede 
Lage Sofort zu erfaflen und durch rafches unb klares Dispo- 
nieren zu beberrichen imftande war. Man fab, baB glüdliche 
natürliche Veranlagung durch vorzügliche Schulung zu hohem 
Können berangebilbef war. Und menn jeweilen aud) feine 
Liebenswürdigkeit, fein Verftändnis für bie Truppe, fein 
fameradfchaftliches 93enebmen, aud) gegen bie Mannichaft, 
bervorgehoben worden find, Pura fein einnehmendes Wefen, 


20 


beffen Eindrud durch eine feinem äußern Auftreten eigene 
atoBe Claftizität gefördert wurde, fo waren das eben 
aud) Eigenfchaften, die ftet8 das Anfehen unb den Einfluß 
eines Führers erhöht haben. Es war eine Perfönlichkeit, bie 
Vertrauen und Liebe wedte. Das fpricht deutlich aus allen 
funbgebungen bei feinem Rüdtritt vom Kommando, bei 
feinem Hinfchied, und es hatte feinen Grund, daß er ebenjo 
bie volle Achtung feines Vorgeſetzten, des Oberft-Rorpskom: 
mandanten Teechtermann, genoB, bie nicht jedermann zuteil 
geworden iff, wie die liebevolle Verehrung feiner Rameraden 
und Intergebenen. 

Zur Zeichnung der Art und Weife, wie er auf feine 
Truppe in patriotifcher und militärifcher Weife einzuwirken 
fuchte, mag die Mitteilung eines 93efeble8 dienen, ben er an 
eine Rekrutenfchule richtete, als er fie bei ihrem Marſch nad) 
Verrieres infpizierte, bie Worte von damals dürfen gerade 
jet wohl wieder gelefen werden. 


Officiers, sous-officiers et soldats! 


La course et les exercices de ces derniers jour nous 
ont fait quitter le beau rivage du lac de Neuchätel et 
nous ont conduits à travers les montagnes à la frontiere 
de notre pays. — 

Les Verriéres, c'est du sol historique, une page 
d'honneur dans l'histoire de la Suisse. 

Fin Janvier 1871 la Grande Armée de l'Est aprés 
de courageux efforts pour libérer Belfort, vint s'échouer 
à noire frontiére, harcelée par l'ennemi, à bout de res- 
sources et d'espoir. 

Le danger fut grand, que le flot de cette immense 
armée n'innondát notre pays, et ne portát ainsi les ter- 
reurs de la guerre dans nos paisibles et fertiles vallées. 

Mais la Suisse avait mis son armée sur pied, pour 
protéger sa frontiére et pour sauvegarder sa neutralité. 
Dans les journées critiques des bataillons disciplinés et 


21 


fermement conduits furent sur place pour barrer le 
passage à ces masses en déroute. 

Le but fut atteint et l'invasion écartée. 

Une convention datée du 1*' Février 1871, conclue 
entre le Général Herzog au nom de la Confédération, 
et le Général Clinchant, successeur de Bourbaki, régla 
le désarmement et l'entrée en Suisse de 85000 hommes, 
qui furent ensuite internés en bon ordre, jusqu'à la 
conclusion de la paix, dans toutes les parties de la 
Suisse, et qui y trouvérent l'hospitalité et la sympathie 
dües à leur malheur. Les deux parties belligérantes 
nous sürent gré de notre fermeté et de notre courtoisie. — 

Ces souvenirs nous disent, que, pour protéger notre 
pays et sa liberté à l'heure du danger, il faut une armée 
forte et vaillante, et que, en maintenant l'armée Suisse 
à la hauteur de sa täche, nous ne défendons pas seule- 
ment notre belle patrie, nous sommes sürs aussi d'ob- 
tenir la considération et le respect des nations voisines 
et amies. 

C'est done une double honneur pour nous Suisses 
d'étre appelés à porter l'uniforme et à contribuer, chacun 
à sa place et de toutes ses forces, à ce que la patrie 
qui nous est chére sache à toute heure remplir digne- 
ment la haute mission, que sa neutralité lui confere 
parmis les nations, et d'aprés laquelle notre liberté ne 
doit pas seulement étre notre propre partage, mais aussi 
un abri sür pour les victimes de l’infortune. — 

Voilà ce que l'histoire nous apprend en ces lieux! 

Je voudrais que chacun de nous Suisses püt graver 
ces Souvenirs dans sa mémoire, afin de se rappeler tou- 
jours que d'étre soldat Suisse est à la fois un grand privi- 
lége et une grande responsabilité. — 

Soyez-en fiers et dignes! — 

Es war das Glüdlihe an Koechlins Art, daß ihr gegen- 
über ein Gegenfa6 von deutfch und welfch nicht auffommen 


22 


fonnte; das war nicht nur militärifch, fondern auch politifch 
von Wert und bat bewirkt, daß feine Stellung eine unbe- 
ftrittene war. KRoechlin war ein vorbildliches Beispiel des 
Offiziers, wie ihn unfere Armee braucht. 

Zu feinen militärifhen Verdienften gehörte auch feine 
Tätigkeit in der Offiziersgefellfchaft fowohl in der allge: 
meinen fchweizerifchen Organifation als in derjenigen Baſels. 
Namentlich bier bat er belebend und antegenb während vielen 
Gabren mitgewirkt, auch ben jüngeren Nachwuchs in famerad- 
Ihaftlicher Weile zur Mitarbeit aufmunternb. Daß et 
aud) anderen militärifchen Vereinen feine ftet8 begehrte Kraft 
bei manchen Anläſſen zur Verfügung ftellte, war bei ihm 
felbftverftändlih. Die Schweizerifche Dffiziersgefellfchaft bat 
ihm feinerzeit die erfte Gelegenheit zu einer größeren patrio- 
tifhen Rede gegeben, bie ibm einen nicht zu unterfchäßenden 
Erfolg eintrug. Zu ber Zeier der Einweihung des Sell- 
denfmals in Altdorf im Sabre 1895 war er von der Schwei- 
zerifchen Offiziersgefellfchaft abgeorbnet. Im Namen ber 
Armee ergriff er am Bankett das Wort. Die Zeftfreude 
war [don ziemlich fortgefchritten, und in der Feſthalle 
berrfchte mehr Begeifterung als Aufmerkfamteit. Aber obſchon 
bie Worte des Redners wohl ben wenigften Zuhörern all- 
gemein verftändlich fein fonnten, hatte bie frifche, lebendige 
Art des Auftretens bie Wirkung, bie Zeftverfammlung zu 
allgemeinem Beifall fortzureißen. Es war felbftverftändlich, 
daß der populäre Oberft und Nationalrat aud) einmal die 
übliche Rede am 93asler St. Zakobsfefte hielt, deffen Präfi- 
bent er 1900 war; feine auf den militärifchen Ton geftimmte 
Anſprache fand aud) da vollen Anklang. 

Koechlin batte aroße Freude an feiner militärischen 
Tätigkeit. Als fid) bie Ausübung eines hohen Kommandos 
neben der Stellung im Parlament als mit feinen gefchäftlichen 
Pflichten nicht mehr vereinbar erwies, wählte er den Ver: 
ziht auf den Nationalrat, obwohl auch diefer ibm fchwer 
fiel, und wahrte fid) bie Moglichkeit, zu einer höheren mili- 


23 


tärifchen Stellung zu gelangen, bie ibm bann aud) zuteil ge- 
worden ift. Das Kommando feiner Divifion bat er erft 
niedergelegt, al8 der Zuftand feiner Gefundheit es nicht 
anders zuließ. Er tat e8 mit fchwerem Herzen, 308 fid) aber 
aud) dann nicht mipmutig zurüd. Es wurde ibm das Plaß- 
fommanbo von Baſel übertragen. Seine unbeftrittene mili- 
tärifche Autorität, bie genaue Kenntnis der Bedürfniffe des 
biefigen Plabes, feine are präzife Art, welche auf rafche, 
einfache Erledigung ging, bat fid) auch bier bewährt. Es 
machte ibm nod) Freude, einmal bie Mobilmachung des 
Basler Infanterie-Regimentes zu leiten; es war zu Friedens: 
zeit. Zur Ausübung diefer Funktion im Grnftfalle iit er 
nicht gefommen. 

Die Mandver des Zahres 1907, in welchen Koechlin 
an der Spiße feiner Divifion frijd und freudig eine ibm 
ergebene Truppe mit anerfanntem Erfolg führte, war ein 
äußerer Blanzpunft, den er gerne genoB. Nicht lange dar- 
auf fam die Seit, in welcher der fo tätige Mann lang- 
famer aber unaufhaltfamer Abrüftung entgegengeben mußte. 
Ein erfter leichter Anfall Ließ im Sabre 1908 bie Wirkung 
einer faum zu hebenden fchweren Allgemeinerfranfung ver- 
muten und nötigte ihn, der bis jegt nicht durch Ferien ver- 
wöhnt war, zu längerer Erholung. Auch eine an ihm fonft 
nicht gewohnte gemütliche Depreffion mußte befämpft werden. 
Ein Aufenthalt in Algier in der Gefellfchaft feiner Töchter 
bradhte wieder Freude und Kräftigung. Den fchmerzlichen 
Schritt, fein Kommando niederzulegen, batte er fid) allerdings 
nicht erfparen fónnen; feine fonftige Tätigkeit aber nahm er 
wieder auf mit gewohntem Pflichteifer und auch mit ber 
beiteren Lebhaftigkeit, bie ihn auszeichnete. Für fein Ge- 
Ihäft unternahm er noch eine Reife nad) Rußland; beffen 
Sprade batte er im Hinblid auf die Intereſſen, bie ihn 
dorthin führten, (bon feinerzeit mit feiner Gattin zu erlernen 
fi) angeſchickt. 

Die größere Zurüdhaltung gegenüber alfgugroBer Tätig: 


24 


feit in weiterem Seife, zu der er fid) bod) nad) unb nad, 
vielleicht zu fpät, entichließen mußte, fam feinen Nächten 
zugute, in erfter Linie feinen Kindern. Mit ihnen und für 
fie lebte er, in inniger Gemeinfchaft, eben[o darauf bedacht, 
auf ihre Sntereflen einzugehen als fte an den feinen teilnehmen 
zu laffen und immer beftrebt, ihnen ein Vorbild zu fein in 
ernfter Auffafiung der Pflichten gegen fid) und feine Nächften. 
Früher zur Gefelligfeit auch in weiterem Freundeskreiſe auf: 
gelegt, batte er fid) feit bem Hinfchied feiner Gattin, foweit 
nicht Öffentlihe Anläffe in Frage famen, mehr auf feine 
Familie zurüdgezogen. In ihr blieb er ein belebender Mit- 
telpunft, ftet8 auch bereit, mitzufühlen und beizuftehen mit 
Rat und Tat, wo Hilfe erwünfht war. Er batte nod) bie 
Sreude, den Kreis der Kinder fid) erweitern zu feben und 
freute fid) herzlich an dem fchönen Pfarrhaus in bem freund- 
[iden Stein am Rhein, in das fein ältefter Sohn einge: 
z0gen war; gerne weilte er dort. (Sr hoffte, bet feinen Kin: 
dern noch ruhige Tage genieBen zu fünnen, wenn die andern 
Söhne, die für fein Gefchäft herangezogen wurden, ihm 
Erleichterung bringen würden. Erneute Berfchlimmerung 
feiner Gefunbbeit brachte Verzicht auf folhe Ausfichten. 
Schon hatte er Stellungen, bie ibm lieb waren, eine nad) der 
andern, aufgeben müflen, fo im Frühling des Zahres 1913 
ben Vorfiß in ber Handelstammer; bald auch erklärte er ben 
Austritt aus der Wehrpflicht, mit Wehmut eine [dne und 
ibm nod) in der Erinnerung liebe Dienftzeit abſchließend. 
Mit diefem Entfchluß fiel ein größerer Sufammenbrud) der 
Kräfte zufammen, der ihn aufs franfenfaget warf. Er erhob 
fi davon nod) zeitweilig; die Hoffnung auf wefentliche 
Erholung fchwand jedoch immer mehr. Wie er ohne Klage 
eines nad) dem andern aus der Hand gegeben batte, [o fab 
er mutig dem Leiden entgegen und ertrug es mit Geduld. 

Sn der Arbeit barrte er aus, folange es überhaupt ging, 
bis zum letzten Augenblid erfüllend, was er für feine Pflicht 
hielt. Mit einer lebten großen Anftrengung nod) gab er 


25 


feinem Sohne bie Weifungen zur Erledigung eines wichtigen 
Auftrages in Amerika; er fandte ihn übers Meer, nicht 
adfenb, daß er ihn wohl für immer entfafje. Cs iit 
ibm als lebte große Freude zuteil geworden, ihn nad) 
glücklich erfüllter Pflicht beimfebren zu fehben. Die Hoff: 
nung und der Wille, das nod) zu erleben, batte feine Lebens: 
energie aufrecht erhalten. Ruhig und ergeben und die 
irdifchen Sorgen hinter fid) [affenb, fab er dem Ende ent- 
gegen, bis zulegt bie freundliche Heiterkeit des Gemütes und 
bie Klarheit und Geiftesgegenwart bewahrend, bie ihn ftets 
ausgezeichnet hatten. „Man wird eben bei ben himmlifchen 
Heerfcharen bald einen Oberft brauchen”, bemerkte er einmal 
ſcherzhaft tröftend zu jemand, ber ihm betrübt feine Zeil: 
nahme bezeugte. Als zu Neujahr 1914, da man [don täglich 
fein Ende erwartete, der Evangelifche Arbeiterverein vor 
feinem Genfter einige Choräle vortrug, erhob er fid) zur Leber: 
rafehung feiner Umgebung von feinem Krantenbett und 
begeugte, noch einmal zu militärifcher Haltung fid) aufrichtend, 
freundlich minfenb ben alten Greunben Greube und Danf. 
Am 2. Februar 1914 trat ber Tod als ein Freund an ihn 
beran; er batte ihn mit freubiger Zuverficht erwartet. Ein 
reiches Leben fand einen fchönen Abfchluß. 

Koechlin ift im beften Mannesalter babingegangen; ein 
langfames Altern, ein allmähliches Abnehmen iff bem an 
tätiges Handeln gewöhnten Manne erfpart geblieben. Wie 
man ihn bis vor Kurzem gefannt bat, als ber lebhafte, 
allgemein beliebte Mann, der leichten Ganges fchaffensfroh 
und freudig zur Pflicht fchritt, und, ſtets ein treffendes Wort 
auf den Lippen, für jedermann eine freundliche Begrüßung 
batte, fo bleibt er in der Erinnerung. 

Es ift der Vorzug derer, bie in der Kraft der Sabre 
fterben, daß nod) viele ihren Verluft fühlen und beflagen. 
Die allgemeine aufrichtige Trauer, bie Carl Koechlin nad)- 
folgte, zeigte, bap jemand babingegangen war, ber eine Lüde 
hinterließ, weil er feine Aufgabe voll erfüllt batte. 


26 


Carl Roechlin war jemand, ber ein großes ibm anver- 
trautes Gut in gewiflenhafter Pflichterfüllung reich aus- 
genüßt hat, und wenn ibm, bem viel gegeben war, auch viel 
genommen worden ift, fo bat auch das zum Erfolg feines 
Lebens beitragen dürfen. 

Gin alter Basler pflegte von Mitmenfchen, bie ibm 
weniger angenehm waren, zu jagen: „il n'a pas le bonheur 
de me plaire". Es gibt Leute, die nicht das Blüd haben, 
zu gefallen, oft troß, manchmal auch wegen achtungswerter 
Eigenfchaften. Andere haben es, und wer diefes Glüd hat, 
bem pflegt es treu zu bleiben. Koechlin war e$ zuteil gewor⸗ 
ben mit allen Eigenfchaften, bie ermöglichen, e8 zu bewahren. 
Er war liebenswürdig im eigentlichen Sinne des Wortes 
unb durfte bie Liebe, derer er wert war, auch genießen. Wer 
ibn gefannt hat, wird fid) eines freundlichen Wortes erinnern, 
das ét von ibm gehört bat, und dankbar der herzlichen Wärme 
gedenken, bie von ihm au$ging. Die natürliche Gabe des 
leichten Umgangs mit jedermann war ihm in hohem Maße 
eigen und bat ibm den Erfolg in allem febr erleichtert; fie 
hätte aber nicht ausgereicht, dazu zu verhelfen, wenn nicht 
aud) außerordentliche Fähigkeiten zur Bewältigung erniter 
Aufgaben ihr zur Seite geftanden hätten. Koechlin bejaB 
neben allgemeinen reichen Gaben des PVerftandes bervor- 
tragende Eigenfchaften, welche für die praftifche Erfaflung 
des Lebens von Wert find. 

Gin hervortretender Zug feines Wefens war eine große 
Beweglichkeit. Nicht von großer Statur, aber ftets im Eben- 
maß bleibend unb nie zu Rörperfülle neigend, fprang er nod) 
al3 Familienvater im Kreife von Rameraden nad) fröhlichen 
Mahle über einen gededten Tiſch, ohne etwas zu berühren. 
Wie fein Körper, fo war und blieb fein Geift ftet8 außer- 
ordentlich beweglih. Seine Germanbtbeit in allen Lebens- 
lagen, feine Schlagfertigkeit und bie Sicherheit, mit der er 
in ben heifelften Situationen überrafchend einen Ausweg 
fand, fonnten oft Bewunderung hervorrufen. Koechlin befaß 


27 


bie Gabe, fofort zu erfaffen unb das Erfaßte fchnell zu ver- 
werten, unbefhwert von Hemmungen allzu tief gebender 23e- 
denklichkeit. 

Die glückliche, einfache und klare Organiſation ſeines 
Geiſtes half ihm, auch über ſchwierige und unangenehme 
Dinge hinwegzukommen. Er war imftande, ein Hindernis, 
das er niht aus dem Wege räumen fonnte, in elegantem 
Schwunge zu nehmen und ohne Grübeln auch einmal fünfe 
gerade fein au laffen. Er fonnte auch Liebenswürdig über 
etwas fprechen, ohne in alle Tiefen des Gegenftandes binab- 
geftiegen zu fein. Das borazifche nonum prematur in an- 
num war mnidft für ihn gefchrieben, und bie Arbeit 
ging ihm leicht von der Hand. Rafch wie feine Bewegungen 
waren fein Denken und fein Handeln, und fchnell bereit war 
er in bet Rede, ohne bod) unbefonnen zu fein; davor bemabrte 
ihn eine faum verfagende Gegenwart des Geiftes und bie 
Herrfchaft, bie er über fid) felbft auszuüben gewohnt war. 
Denn die großen Fähigkeiten des Verftandes wurden in die 
rihtige 93abn gewiefen durch ebenfo fchägenswerte Eigen- 
Ihaften eines Charakters, der in der Schule der Pflicht 
gebildet war. Der Erfüllung beffen, was fid) als nádit 
liegende Aufgabe darftellte, galt es in erfter Stelle, und Roech- 
[in8 im Grunde einfache Natur, bie feine ausgefuchten 23e- 
bürfniffe und Liebhabereien kannte, ftand einer Beſchränkung 
auf das Wefentliche und Wichtige nicht im Wege. 

So fonnte Koechlin als Mann der praftifchen Arbeit 
Hervorragendes leiften unb viel erreihen. Es wäre eine 
unnötige Uebertreibung, zu fagen, daß alle Werke, bie er 
gefördert bat, nur feiner Initiative und feinen S been ihre 
Entitehung verdankten. Koechlin verftanb es, aud) An— 
regungen, bie ibm geboten wurden, wenn er fie als richtig 
anerkannte, aufzugreifen, fie mit der Tat zu unterftügen und 
zu verwirklichen; er fonnte auch andere mitarbeiten laflen und 
ihre Arbeit würdigen. Deshalb batte man ihn überall gerne 
dabei; feine Mitwirkung, fein Name fdon fchien den Erfola 


28 


zu verbürgen. Alles fonnte aud) er nicht zum Gedeihen 
bringen. Er wußte dann rechtzeitig abzubrechen und über 
AUnerfreuliches ftillfehweigend megaugeben. 

Unterftüßt und erleichtert wurde fein ftet8 aufs Ziel 
gehendes Auftreten duch bie ungemein verbindliche Art, mit 
der er alles und jedermann zu behandeln wußte. Es war 
ihm darin eine wirkliche Runft eigen. Und wenn man etwa 
eine Abficht merken mochte, fie verftimmte nicht, denn man 
fühlte, bap alles von Herzen fam. Und das war e$, was 
feinem Wirken folhen Wert gab. Die äußere Suporfom- 
menbeit war ber Ausdrud eines wirklichen innerlichen Wohl⸗ 
wollens und des aufrichtigen Beſtrebens, Gutes zu tun, im 
Kleinen wie im Großen. Einen Unterfehied in ber Sreund- 
lichkeit und Hilfsbereitfchaft nad) der fozialen Stellung feiner 
Mitmenfhen fannte er niht. Es war ibm, der felbft jo 
fhweres Leid erfahren mußte, ein Bedürfnis und ernites 
Anliegen, andern zu helfen und in Teilnahme beizuftehen. 

Das bat er auch im gefchäftlichen Leben nicht außer 
Acht gelafien. Das Wohl feiner Arbeiter lag ihm am Herzen, 
und er bat die Einrichtungen, die dafür getroffen wurden, 
lebhaft gefördert. DBefondere Freude machte es ibm, in 
wohnlichen Heimftätten für eigenes ficheres Heim und damit 
für ba$ Gebeiben des Familienlebens zu forgen. Die fo 
Dübfd gelegene Giebefung von Wohnungen für Arbeiter 
feiner Firma, die bei der Schoren errichtet war, hat leider der 
Erweiterung des badifchen Bahnhofs weichen müffen. Daß 
die frühere patriarchalifche Fürforge mehr und mehr durch ben 
modernen Standpunkt ber gefeßlichen Nötigung verdrängt 
wurde, tat ibm leid. Er ließ fid) aber nicht abhalten, auf 
jozialem Gebiete für bie Erleichterung ber Eriftenz ber 9fr- 
beiter mitzuwirken, fowohl burd) Seilnabme an der Gefeb- 
gebung, wie in freiwilliger Tätigkeit in den evangelifch- 
fozialen Vereinen. Dielen andern gemeinnüsßigen Beftre- 
bungen hat er feine Mithilfe nad) Kräften gewährt, als 
ein würdiger Nachfolger feines Vorfahren Sfaaf Iſelin, 


29 


mit bem er, nach deflen Bildniffen zu urteilen, auch äußerlich 
eine gewiſſe Aehnlichkeit hatte. 

Was er Einzelnen im Stillen erwiefen bat, das fet nur 
angedeutet. Geine Verhältniſſe erlaubten ihm, eine offene 
Hand zu haben, und er hatte fie. 

Koechlin batte alle Eigenfchaften, welche allgemeine 
Achtung und Beliebtheit fihern. Er erfreute fid) deflen und 
genoB ehrlich bie ihm zuteil werdenden Erfolge. Er blieb 
aber aufrecht, als er verzichten mußte. Er entfagte ohne Mur: 
ren und bewies in der Zeit des Leidens unb der Abnahme 
des Wirkens nad) außen eine Ergebung, bie nur auf innerer 
Abgeklärtheit beruhen fonnte, und die ihn größer zeigte als 
alle vorangehenden glänzenden Erfolge. 

Gerne hätte man diefes Leben, in bem fid) in verhält- 
nismäßig kurzer Seit, im vollen Mannesalter, ein fo reiches 
öffentliches Wirken zufammengedrängt hat, noch weiter fid) 
entwideln feben; man hätte von ibm noch viel erwartet und 
bedauert, baB e8 fo rafch geendet. Und bod) erkennen wir, daß 
e3 feine Aufgabe vol erfüllt bat, wie ein Geſchoß nach hohem 
Aufftieg aud) wieder abwärts feine Bahn befchreiben muß, 
um ans Ziel zu gelangen. 

Co fteben wir vor diefem Leben wie vor einem füunlt- 
werk, das burd) feine barmonifche Abgefchlofienheit volles 
Wohlgefallen erregt. 

Doch der es zu fchildern verfucht, muß bie Feder ablegen 
mit dem Gefühl, daß die Darftellung, aud) wenn fie voll- 
Künbiget fein könnte, unzulänglich bleiben muß. Das Beſte 
fann nicht befchrieben werden. Es ift der tiefe Grund, bie 
innere Entwidlung eines Mannes, der fid) von feinem Gott 
bat führen laffen und überwunden bat. Das ift das wahrhaft 
Große und Heldenhafte,; das foll aud) in biefer Seit, wo 
andere Erfolge Elein werden, ein Vorbild bleiben. 


ine Baofelbieter Dorfrevolte 
im Jahre 1809. 


Don Dr. X. Oeri⸗Saraſin. 


Wie aus bem Titel zu erfeben ift, handelt es fi) bei 
biefer Mitteilung nicht um ein bedeutendes biftorifches Er: 
eignis. 

Der Verfaffer glaubt jedoch, baf bie zu ſchildernde Dorf: 
geſchichte Eulturhiftorifches Intereſſe bieten fann, da fie einen 
93[id in den ländlichen Aberglauben zu Anfang des 19. Zahr- 
hundert3 zu tun geftattet. Zugleich Liegt fie zeitlich noch nahe 
genug, um die mündliche Leberlieferung neben der aften- 
mäßig feftftellbaren Gefhichte zum Worte fommen zu laflen. 
Man wird an einem an fid) unbedeutenden Beifpiel erfeben 
fónnen, wie fid) diefelbe Gefchichte nach Ablauf von hundert 
Jahren in den zwei Verfionen darftellt. 


Sur münbliden Üeberlieferung. 


An der Straße, bie landaufwärts burd) Laufen führt, 
fand [infá am Anfange des Dorfes das Gafthbaus zum 
Röpli. Der Bau ber Eifenbahn machte diefem [forie vielen 
andern Gafthäufern des Tales ein Ende, die früher bei dem 
großen Wagenverkehr über ben unterm Hauenftein ihr Ge- 
beiben gehabt hatten und aud) von Baſel aus oft zu gefelligen 
Anläffen und Zamilienfeften benußt worden waren. Der 
Berfafler, in Laufen aufgewachſen, erinnert fid) aus feinen 
Kinderjahren in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahr⸗ 
hunderts an bie vielen Kutfchen, Omnibuffe und Güter- 
wagen, bie beim Rößli anbielten. Seitlich vom Gafthaus 


91 


war ein großer Pla&, umgeben von ausgedehnten Ställen, 
Scheunen und Remifen. 

An ber weftlihen Ede des Gafthaufes waren merk: 
würdigerweife bie nächften feitlichen Fenſter des Erdgefchofles 
und des erften Stodes zugemauert, bie vermauerten Stellen 
waren noch leicht erfennbar; im erften Stod war darüber 
eine Figur gemalt, das Bild aber Anfang der fechziger 
Sabre fo verblid)en, baB es nur noch in den gröbften Zügen 
als Mannsgeftalt zu erfennen war. Es verfhwand zuletzt 
ganz, denn bie Dorfjugend übte fid) gerne darin, ben Mann 
mit Schneebällen oder Steinen an den Kopf zu treffen. 
Nachdem das Röpli feine Rolle als Gaftbaus fdon lange 
ausgefpielt batte, wurde in den früheren Remifen und Ställen 
eine Ziegelbütte, fpäter eine Toͤpferei eingerichtet, bie jeßt 
nod) bejteben; ber Tanzboden diente zwei Tunftfinnigen 
Deforationsmalern, den Brüdern Gris und Wilhelm 
Balmer, als Atelier. 

Bon Seit zu Seit hörte man von Leuten aus dem 
Dorfe, bap es im Roͤßli — fo hieß das Haus immer nod) — 
nicht gana gebeuer fei, und man fonnte nad) einer fchwülen 
Gewitternacht etwa gefragt werden, „ob man fie nicht gehört 
babe fdjmieben". Wer follte nachts gefchmiedet haben? 
„He, bie zwei Schmiede.” 

Es blieb vorerft bei geheimnisvollen Andeutungen, 
fpäter vernahm ber Verfafler mehreres, namentlich durch ben 
alten Drechslermeifter Sy. 3. Furlenmeyer!), einen freundlichen, 
geſchickten, auch mufifalifch begabten Mann, ber, wie auch feine 
Grau, eine Menge alter Gefhichten wußte, und dem Knaben, 
der fein Zutrauen gewonnen hatte, über das geheimnisvolle 
Schmieden im Röpli folgendes mitteilte: 

Die weftliche Ede des Haufes, ba, wo die Fenſter zu- 
gemauert waren, batte früher nicht zum eigentlichen Gaftbaus 

1) S. S. Furlenmeyer war 1803 geboren, feine Frau, eine geborene 
Grautmyler, 1815. Der Mann war alfo im Jahre 1809 ſechs Sabre alf: 


et und feine Frau mußten das im Sabre 1772 unb 1809 Gefchehene von 
ihren Eltern gehört haben. 


32 


gehört, fonbern eine Schmiede beherbergt; man mar alfo in näch- 
fter Nähe darauf eingerichtet, verlorene oder [ofe gewordene 
Hufeifen zu erfegen und Schäden an Fuhrwerken auszubeflern. 

Om Sabre 1772 batte bet dort wohnende Schmied 
Andreas ©. in feinem 59. Sabre fid) das Leben genommen, 
und fein Sohn Jakob hatte nicht nur des Vaters Gefchäft, 
fonbern aud) befjen Schwermut zum Erbe befommen und fid) 
am 1. Brachmonat des Jahres 1809, 66 Sabre alt, mie fein 
Vater, erhängt. 

Unfere Zeit wäre barmberziger als die damalige in der 
Beurteilung diefer armen, augenscheinlich gemütsfranfen Leute, 
und befonders ber Umſtand, bap der Sohn feines Vaters 
trauriges Schidfal teilte, würde dafür fprechen, bap eine erb- 
liche franfpafte Gemütsanlage im Spiele fei. Zu jener Zeit 
galten aber bie Geiftesfranfen als befeflen von böfen Geiftern, 
unb bie Gnbfatajtropbe fchien es zu beftätigen, baB ber Böſe 
Meifter geworden [ei. Kein Wunder, wenn bie Leute ben 
Körper des Entfeelten nur mit Grauen [eben oder berühren 
mochten und baB man fid) fcheute, ihn auf dem Kirchhof in 
der Reihe ber auf natürlihe Weife Verftorbenen zu begraben. 
Gür mande war es ein unerträglicher Gedanke, eines feiner 
Angehörigen neben einem GSelbftmörder begraben zu willen, 
der ja nad) der damaligen volkstümlichen Auffaflung zu 
Stadt und Land im Grabe fchwerlid Ruhe haben fonnte 
fondern „wandeln” mußte. 

Diele Gebilbete, befonders bie Geiftlichen, dachten fchon 
damals unter bem Einfluffe der Aufklärung freier und emp- 
fanden humaner, barmherziger. 

Sedenfals war die Basler Regierung jener Seit auf- 
geflärter; fie muß vor 1809 eine Verordnung erlaflen haben, 
nad) welcher ein Selbftmörder wie andere Verftorbene öffent: 
[id und auf dem Gottesader begraben, nicht aber eta bei 
Naht im Walde verfcharrt werden follte. 

Charafteriftifch für die Stellung der weltlichen und geijt- 
lihen Behörden zu der Frage des Erfcheinens Verftorbener 


39 3 


ift es, daß ber Rat am 24. September 1808 ben Verkauf der 
Schrift „Theorie der Geifterfunde”, verfaßt von dem aud) 
in Baſel viele Freunde zählenden Jung Stilling, verboten 
batte, „damit fhwache Gemüther nicht in bem Wahn bleiben 
mögen, alg wenn dergleihen Schwärmereien und Er: 
Dichtungen mit obrigkeitlicher Bewilligung gedrudt und ver- 
fauft werden”. Während bie Sache zur Begutachtung durch 
bie Geiftlichkeit an den Antiſtes gewiefen wurde, bielt der 
ftreitbare Pfarrer S. S. Güfd zu St. Theodor am 9. OF: 
tober eine heftige Predigt gegen ben Aberglauben und [pesiell 
gegen den Glauben an bie Erfcheinungen Verftorbener. Am 
18. Oktober in voller Rapitelfigtung waren alle Mitglieder 
des Minifteriums der Meinung, bap der Kantonsrat erfucht 
werden folle, das ſchon vorher erlafiene Verbot nicht wieder 
aufzuheben. Durch das von Antiftes Merian wohl aus: 
geführte und gründlich abgefaBte Gutachten erwarb fid) die 
Geiftlichkeit den Dank des Rats. Durch) Ratsbeihluß vom 
28. Dezember „blieb Stilling’s Buch allhier verboten".?) 

Den älteren Schmied batte man vor 37 Zahren nad) 
altem Gebraud) im Walde verfcharrt. Als nun der Sohn am 
1. Suni 1809 fid) entleibt batte, war man im Dorfe darüber 
einig, daß man der Ratsverordnung fid) nicht fügen, fonbern 
den Leichnam in einem entfernten Walde, bem Kohlholz, ver- 
lochen wolle. Zur Zegleitung wurde eine ganze Schar von 
Männern aufgeboten. Wie wollte man den Körper in den 
Wald bringen? Da war guter Rat teuer, da niemand den 
Entleibten tragen und auch niemand fein Fuhrwerk hergeben 
wollte. Schließlich famen findige Köpfe zum Vorſchlag, 
einen zweirädrigen Karren im Nachbardorf Sttingen zu ent- 
wenden. Gefagt, getan; die Begleiter fuhren bei Nacht mit 
ihrer unheimlihen Lat den GStodhalden hinauf, dann 
zwiſchen Müsbrunnen und Zurlen über den Sattel zum 
Kohlholz hinauf, alle innerlich bebenb. 


2) Diefe Darftellung ift entnommen aus: U.v. Salis: Sung 
Stilling in Baſel verboten. Basler Jahrbuch 1894. 


34 


Als fie nun oben im Walde das Loch gegraben unb ben 
Leichnam hineingefenkt hatten, rief einer der Begleiter, wohl 
unter dem Eindrud eines Bildes feiner aufgeregten Pbhan- 
tafie, mit lauter Stimme: „Er dunnt". Alle, bie dabei 
waren, erſchraken tödlich und bald eilten fie, einer bem andern 
nad, den Berg hinunter, den Leichnam unbededt in der 
Grube, den Karren, ihre Bidel und Schaufeln im Walde 
[affenb. Erft in der Nähe des Dorfes gewannen fie einige 
Otube, zu Haufe fprachen fie gebeimnispoll von bem Erlebnis, 
baB der Tote auf einmal aufgeftanden fei, und manche 
glaubten fchliehlich, feinen Geift gejehen zu haben. 

Die Cade blieb aber nicht geheim. Es wurde eine 
Unterfuchung wegen Unfolgſamkeit gegen bie obrigkeitliche 
Verordnung, wegen des Karrendiebftahls und wegen ber 
ganzen anftóBigen Gefchichte überhaupt angehoben, der Ge- 
meinderat verantwortlich gemacht und mit Gefängnis beftraft. 

Herr Jakob 23urdbarbt (des Verfaflerd Großvater) war 
am 27. Mai 1809 nad) Laufen als Pfarrer gewählt worden, 
und als er einige Tage nachher, e$ mag am 11. ober 12. Suni 
gewefen fein, nad) feiner neuen Gemeinde fam, um jid) ben 
Behörden vorzuftellen, waren weder. der Präfident nod) bie 
Gemeinderäte noch ber Schullehrer zu finden. Er erfundigte 
fid) und vernahm nun aus zögernden Andeutungen den Grund 
ihrer Abwefenheit und den Ort ihres Aufenthalts. Am 
folgenden Sage ſuchte er fie in 93afel im Gefängnis auf. 
Man war beiderfeit3 verwundert und betrübt, fid) an diefem 
Orte zum erften Male begrüßen zu müflen. Auf bie feil- 
nebmenben Fragen rüdten nun die Leute erft recht mit bet 
Wahrheit heraus. Der junge Pfarrer ging darauf zum 
YVürgermeifter und den Ratsherren, um Fürſprache ein- 
zulegen, indem er den ganzen Hergang erzählte; bie Herren 
follen bei der Schilderung der Flucht aus dem Walde das 
Laden nicht unterdrüdt haben und raſch in eine gnábige 
Stimmung verfegt worden fein, denn bald nachher fonnte ber 
Geiftlihe als Zriedensbote feinen Gemeinderäten bie Q3e- 


35 9 


freiung anfünbigen. Pfarrer Surdbarbt amtete in Laufen 
bis 1816, wo er zum Oberfthelfer in Baſel gewählt wurde. 
Zeitlebens machte es ihm Vergnügen, daß er feinem Ge- 
meinderat gleich bei Beginn feines Amtes biejen Dienft batte 
erweifen können; er blieb mit einzelnen Gemeindegenoflen, 
auch über bie Revolutionszeit der dreißiger Sabre hinaus, 
befreundet unb auch Dadurch verbunden, bap feine in Laufen ge: 
borene Tochter im Sabre 1843 ebendafelbft Dfarrfrau wurde. 
Von ihr, feiner Mutter, hörte der Verfafler bie Befreiung 
der Gemeinderäte erzählen; ihre Angaben ergänzten das, 
was er von Dorfbewohnern, befonders von bem alten 
Drechsler Zurlenmeyer, gehört hatte und was er nod) weiter 
von beffen Erzählungen mitzuteilen bat. 

Denn bie Gefchichte von den Schmieden ift noch nicht zu 
Ende. 

Wenn man aud) annehmen fann, daß vielleicht einige 
Mitleidige am folgenden Sage bie unterbrochene 93eerbigung 
vollendeten oder daß fie von ber Behörde erzwungen wurde, 
fo fonnte bod) der Schmied fern im Walde feine Rube 
finden; bald börten einzelne, fpäter viele, ein nächtliches 
Hämmern in ber verlaflenen und verjchloffenen Schmiede: 
werfftätte im Dorf, befonders in Cfurmnádten ober wenn 
Wetterwechfel im Anzug war, aber aud) in ftillen Mond: 
nähten. Da zwei Hämmer im Saft auf ben Ambos fchlugen, 
fonnte es nicht anders fein: bie zwei Schmiede, der Vater 
und der Sohn, mußten wie in früheren Zeiten miteinander 
am Ambos fteben und draufichlagen. Es wurde nie erzählt, 
daß man die beiden gejeben habe, aber jedermann wußte, daß 
fie im Grabe feine Ruhe haben und Schmieden müſſen. 

Als eg zu arg wurde, wandte fid) ber Hausbefiger und 
Wirt auf guten Rat bin nah Dornach, und eines Tages 
ftellte fid) ein Kapuziner in Laufen ein und übernahm die 23e- 
ſchwörung der Geifter, nachdem er fid) außer einer beftimmten 
Summe unb gutem Gffen noch täglich zwei ober drei Maß 
Wein ausbedungen hatte. Gr ſchloß fid) ein und es gelang ibm, 


36 


fid) mit ben Geiftern in Verbindung zu feben und fie ſchließ⸗ 
[id in zwei Glasflafchen zu bannen. Mit dem Geift des 
jüngeren Schmieds ging das nicht fo leiht. Der Geift fagte 
zum KRapuziner: „Du Fannft mich nicht bannen, ich brauche 
dir nicht zu gehorchen, denn du haft fchon einmal geftohlen.” 
Der Pater beftritt das. „Sreilich haft bu fchon einmal ge- 
ftohlen, weißt bu, Damals als du ftudierteft!" Nun erinnerte 
fi der Kapuziner eines Heinen Gelddiebftahls aus feiner 
Augendzeit und gab ihn zu. „Weil du aber jenes Gelb für 
Papier unb Schreibzeug zum Studium brauchteft, will ich 
bid) gewähren laſſen“, fagte der Geift und ließ fid) ebenfalls 
in eine Flaſche einfperren. 

Daraufhin hörte das Hämmern auf, und die Nächte 
blieben ftill. Man legte bie zugebundenen Zlafchen oben auf 
einen Kaften, in die Vertiefung des Kaftenfranzes in bem 
Zimmer über der Schmiede, unb es iff zu vermuten, baB man 
damals bie Zenfter im Erdgefchoß und im erffen Stod zu⸗ 
mauerte und außen mit dem Bilde eines Mannes fchmüdte. 

Die Geifter rubten nun viele Jahre, allerdings nicht im 
Grabe, fondern in den Flafchen. 

Wie leicht vergißt man felbft wichtige Dinge, menn 
man nicht öfters, befonders etwa in unangenehmer Weiſe, 
daran erinnert wird. Mit der Erinnerung an den Spuf 
verblaßte aud) bie Erinnerung an die Flaſchen, bie mit ber 
Zeit unter eine bide Staubfchicht geraten waren. Nur 
wenige wußten, daß fie eriftierten unb wo fie lagen, und als 
einmal, — eg ift zu vermuten, es fei bei einer Srübjahrs- 
pußete gewefen oder beim Aufziehen eines neuen Wirts, — 
Unkundige fid) mit dem Kaften zu fchaffen machten, fielen 
bie Flaſchen herunter und aerbrad)en mit großem Geklirr. 
Wann das gefdjeben ift, kann nicht angegeben werden, bod) 
haben dem Zerfafler biefe Wendung ber alte Drechsler unb 
feine Grau erzählt, bie, wie aud) andere Leute, bie Schmiede 
oft wieder an der Arbeit gehört haben wollten und überzeugt 
waren, daß diefe armen QGeifter, aus den Flaſchen befreit, 


37 


nun wieder ihr Wefen trieben. Manche gingen nachts nur 
mit Scheu an dem Haufe vorbei und vermieden e$, ben 
Mann, ber beim Mondſchein aus dem zugemauerten Fenſter 
zu bliden ſchien, anzufchauen. 


Man wird an diefe Darftelung nicht den ?[n|prud) 
machen, bap bem Verfafler alles genau fo erzählt wurde, wie 
er es nad der Erinnerung aus feiner Kindheit nieder: 
gefchrieben bat. Durch Leute aus bem Dorfe hörte er von 
dem Cpuf, durch einzelne Glieder ber eigenen Familie von 
dem Konflikt ber Caufener mit den Basler Behörden. Das 
Erzählte ift bie Summe beffen, was fid) in feiner Erinnerung 
feftgefegt und in der jugendlichen Phantafie zu einem Bilde 
vereinigt bat. 

Es bot nun einiges Intereffe, nachzufehen, was fid) in 
den flaatlichen Alten über bie Beerdigungsgeſchichte der 
zwei Schmiede finden läßt. Die Herren Dr. Rudolf Wader- 
nagel und Dr. Auguft Huber waren fo freundlich, bem Ver⸗ 
faffer auf dem Archiv bie Ratsprotofolle zugänglich zu 
machen, bie bann wieder auf eine gerichtliche Unterfuchung 
wiefen. Die Alten fiber die lettere find zum Heineren Teil in 
Bafel, zum größeren im baſellandſchaftlichen Archiv zu 
Lieftal. Sie wurden alle durch Vermittlung des Basler 
Archivs benutzt; ihre Kenntnis ermöglicht es, bie Gefchichte 
vom Gelbftmord des Schmieds Safob S. im Sabre 1809 
und die dadurch bedingten Unruhen in Laufen darzuftellen. 
Sie gibt, wenn aud) im engen Rahmen des einfachen Dorf- 
lebens, ein Bild von der zähen Herrfchaft alter Anſchauungen 
und von der Macht der Vorftellung im Empfinden und Tun 
des Volkes. 


Otad ben Alten 


läßt fi) das Folgende Feftitellen: 
As am Donnerstag, 1. Juni 1809, nachmittags, ber 
Küfermeifter Sohannes Schaffner im Keller des Gafthaufes 


38 


zum Rößli an feiner Arbeit war, hörte er plößlich ben Sohn 
des Wirts, ber ihn rief, er folle bod) berauffommen, es [fet 
in der Schmiede etwas pa[fiert. Zohannes Maddri, Peter 
Singeifen, Hans Jakob S dubi, der 93ed, und Heinrich 
Grieder, der Maurer, waren auf das Rufen ebenfalls, wohl 
aus ber Wirtfchaft, betbeigeeilt. Da die Schmiede voller 
Otaud) war und alle glaubten, es brenne, gingen fie um das 
Haus berum und die Treppe binauf. Als dann Peter 
Singeifen eine NRammertür im dritten Stod aufgeftoßen unb 
bineingeblidt batte, fam er fotenbleid) heraus, und als 
Schaffner und feine 93egleiter in bie Kammer fchauten, faben 
fie den Schmied Safob ©. halb fnieenb auf feinem Bette, 
regunaslos an einem Gtride hängend, ber an der Dede 
befeftigf war. Nach dem erften Schred fchnitt Johannes 
Madöðri den Strid entzwei, in der Hoffnung, den Erhängten 
noch zu retten; der Körper fiel rüdwärts auf das Bett unb 
alle Bemühungen, den Schmied zum Leben zu bringen, 
waren vergeblich. 

Schaffner ging nun wieder ins Wirtshaus zurüd und 
veranlaßte, daB nad) dem Bezirksphyſikus Bohny in Lieftal 
gefhidt wurde, der bann aud) febr rafch, begleitet vom 
Ehirurgus Paulus Noerbel, nad) Laufen fam unb die Ulnter- 
fuhung der Leiche vornabm. Das zu Handen des Ciatt- 
balters verfapte Gutachten berichtet, „Daß bei der Ankunft 
der Körper nod) angef(eibet im Bette gelegen und der ent- 
zwei gefchnittene Strid nod) am Balken gebangen babe; 
Augenlider unb Mund waren gefchloflen, bie Gefichtsfarbe 
etwas blaulächt, am Hals lief tiber den Kehlkopf ringsum 
eine vertiefte Sigullierte?) Zurche, fo wie der Strang ge- 
offen. Da andere VBerlegungen fehlten, fchloffen bie beiden 
Unterfuchenden, daß diefer Unglückliche fid) felbften erdroflelt 
babe. Alle Velebungsmittel, bie von ihnen angewandt 
worden waren, feien erfolglos gemefen". 

Om Wirtshaus hatten fid) mittlerweile viele Leute ein- 

$) Sol heißen: jugillierte (blutunterlaufene). 


39 


gefunden, ba durch Nachbarn der Vorfall bald im ganzen 
Dorfe ruchbar geworden war. Jedermann war entjeßt und 
es nüste nichts, bap ber Phyſikus Bohny, ber fid) nun aud 
einfand, bie Leute wollte glauben machen, daß er am Körper 
des ©. nichts PVerlegtes gefunden babe und daß Derfelbe 
natürlih, am Stedfluß, müfle verftorben fein, auch daß der 
zerfehnittene Strid an der Bühne nichts bemeije. Der Rüfer 
Schaffner erwiderte-ihm, es feien denn bod) zu viele Zeugen 
dabei gewefen, als der Körper am Strid hing und berunter- 
gefchnitten wurde. Es nüste aud) nichts, als ber Phyſikus 
drohte, man werde bie folches reden zur Verantwortung 
ziehen, denn es entitanb fofort das Gerede, „Daß es am 
beften wäre, wenn man den Körper des fid) felbft entleibten 
gleich burd) den Wafenmeifter wegfchaffen ließe, damit bie 
Cade der Gemeinde fein ‚weiteres $f[nglüd und Nachteil 
zuziebe". Sedermann war darüber einig, daß man den 
Leichnam nicht auf den Kirchhof begraben wolle. Sa, als 
bie Nachbarn des Entleibten äußerten, „Daß biejer von den 
Händen weggethban werden folle, denen er fid) durch feine 
Handlung übergeben babe, ließ fid) ber Gemeinberatb Hans 
Jakob Schaffner verlauten, daß er aud) biefer Meynung 
fepe". 

Der Statthalter Nörbel war an jenem Tage von Lieftal 
abmejenb, unb fo batte fid), außer den Mevdizinalperjonen, 
an jeiner Stelle der Bezirksſchreiber nad) Laufen begeben. 
Ihn beftürmten nun bie Laufener mit ihrem Begehren, ben 
Leichnam nicht auf bem Gottesader begraben zu müſſen und 
um Wegſchaffung durch den QUajenmeilter. Der oben 
genannte Gemeinderat Safob Schaffner drängte, nicht als 
Mitglied der Behörde, fondern im Namen der Nachbarn 
und ber Wirtin, deren Vogt er war. Da die Schmiede mit 
dem Wirtshaus zum Rößli eng aufammenbing, war es be- 
greiflich, baB bie Wirtin möglichſt raſche ———— des 
Entleibten wünſchte. 

Der Präfident und die Gemeinderäte müſſen der 


40 


gleichen Anficht gemefen fein wie ihre Dorfgenofien, denn 
als der Bezirksfchreiber dem Statthalter über bie Sache be- 
richtet batte, machte diefer am folgenden Tag dem Rat in 
Bafel niht nur Mitteilung von dem Verkommnis, bem 
Refultat der ärztlihen Unterſuchung und den Familien- 
verhältniffen des ©., ber eine Witwe und Großfinder 
(Rinder einer verftorbenen Tochter) hinterlafie und ziemlich 
vermöglich gewefen fet, fondern er übermittelte zugleich auch 
bie Vitte des Gemeinderats, den Körper durch den Wafen- 
meifter aus dem Haufe fdaffen und an einem entlegenen 
Ort verfcharren zu Laffen. 

Der Kleine Rat in 93afel war anderer Anficht; in der 
Sisung vom 3. Zuni, alfo Samftag morgen, faßte er 
folgenden Beſchluß: 

„Bird ben Anverwandten geftattet, ben Gürper des 
unglüdlichen ©. in der Stille auf dem Kirchhof beerdigen 
zu laflen. Herr Statthalter wird dem Gemeinde Rath 
das Unfchicliche ihres Begehrens vorftellen, darauf 
feben, daß feine Hindernifie gegen bie Veerdigung ge- 
macht werden und das DBetragen des Joh. Madöri 
beloben." 

Als Samstag nachmittag biefer Ratsbefchluß durch ben 
Statthalter dem Gemeinderat befannt gegeben wurde, war 
man in Laufen [don einig über bie Art, wie man die Ver: 
fharrung vornehmen und auch darüber, daß man fi der 
Beerdigung auf dem Kirchhof mit Gewalt widerfegen wolle, 
wenn fie von den Behörden gefordert würde. Den Trans: 
port und bie Verfcharrung follten, menn der Wafenmeifter 
nicht zu haben war, Heinrich Plattner, Heinrich Genfer und 
Jakob Graumiler (vielleicht als Totengräber, vielleicht als 
Gemeinwerchspflichtige) beforgen; ferner bewaffneten fid) 
auf Aufforderung des Gemeinderats zehn Mann mit Ober: 
und Untergewehr, „um bei dem Eörper Wache zu halten”. 

Der obrigkeitliche Beſchluß mit dem Tadel der Unfchid- 
lichfeit an den Gemeinderat machte nun ganz böfes Blut. 


41 - 


Aus bem bisherigen Gemurmel, Gefchwäte, Geichimpfe 
klangen jetzt Drohworte, gegenfeitiges Ermahnen zum 
äußerften Widerftand und Worte von allgemeiner 93ervaff- 
nung unb Gomplott. Weiber und Kinder fchimpften unb 
beulten und erklärten, nicht mehr zur Kirche zu geben, wenn 
man bem Dorfe nicht willfahre. Andere Anfichten, aud 
wenn fie vorhanden waren, wagten fid) nicht hervor. Die 
Witwe und bie Verwandten des ©. mußten wohl ober übel 
fchweigen, wollten fie nicht zu ihrem Kummer nod) den Haß 
der Mitbürger auf fid laden. Die Gemeinderäte machten 
gemeinſame Sache mit ben Vürgern, unb wenn auch ber 
Präfident Heinrih Sidubin fpäter es als 9[berglauben be: 
zeichnet haben wollte, daß ein Selbſtmörder im Grabe nicht 
ruhen fünne, jo ift das wenig glaubhaft, denn er machte 
nicht den leifeften Zerfuch, die Leute zur Beſinnung zu 
bringen und bem Ratsbefhluß Achtung zu verfchaffen. Er 
will zwar „einem ganzen Trupp Bürger” QGeborjam ge- 
predigt haben, fonnte aber fpäter bei ber Unterſuchung feinen 
der Zuhörer nennen. Gin Geiftliher hätte am ebeften 
einigen Widerftand leiften fónnen, aber am 22. April war 
Herr Pfarrer Eglinger geftorben und der vor wenigen 
Sagen gewählte Nachfolger, Herr Safob 93urdbarbt, war 
nod) in Baſel. 

Der Statthalter Noerbel in Lieftal war in großer Ver: 
legenbeit. Auf ber einen Geite das beftimmte Gebot ber 
Regierung, auf der andern das Dorf in vollem Aufruhr und 
im Begriffe fid) zu bewaffnen, was follte er ba tun? Als 
bie Berichte von Laufen immer brobenber Fangen, fragte er 
den Geiftlichen von Lieftal, Herrn Pfarrer von93runn, um 
Rat, unb biefer anerbot fid) gütig, mit ibm nach Laufen zu 
geben, um die Gemeinde zur Ruhe und Ordnung bei Q3oll- 
ziehbung der bochobrigkeitlihen Verfügung aufzufordern. 
Otoetbel nahm das Anerbieten, das ibm febr angenehm war, 
dankbar an, Überzeugt von dem Sutrauen der Gemeinde 
Laufen in biefen Geiftlihen. In einem Schreiben vom 


: 42 


5. Zuni an Vürgermeifter unb Rat berichtet der Statthalter 
über den gemeinfamen Beſuch in Laufen Folgendes: 

„Nachdem alfo der Präfident benadhrichtiget worden 
war, die Gemeinde ordnungsgemäß zu verfammeln, fo be- 
gaben wir uns dahin. Ich machte bie Gemeinde auf bie 
irrige Stimmung, die in Dderfelben obwalte und wodurd 
unfere Gegenwart veranlaßt wurde, aufmerfjam, eröffnete 
berfefben den Inhalt des Hochobrigkeitl. Schreibens und 
forderte felbige auf, fid diejenigen Lehren und Zuredt- 
weifungen, melde ©. WohlEhrwürden Herr Pfarrer 
BonDBrunn ihnen ertbeilen werde, dazu dienen zu laflen, 
daß fie ber quäftl. Beerdigung feine Hindernifle in den Weg 
fegen würden. Hierauf that Herr Pfarrer VonBrunn eine 
lieblihe Rede an bie VBürgerfchaft, worin er berjelben zwed- 
mäßige 93elebrungen ertheilte und fie fodann zur Befolgung 
der Hochobrigkeitl. Verfügung ermabnte und aufforderte. 
Allein troß früftigem Zureden von Seiten des Herrn Pfarrer 
BonQrunn bebatrte bie VBürgerfchaft einffimmig auf ihrer 
Aeußerung, daß fte die Beerdigung des fid) felbft erbenften ©. 
auf dem Kirchhof nie zugeben werde, denn erftlich gründe 
fi ihre Meinung auf alte Erfahrungen und Geſchichten 
(welche wir vergeblich zu widerlegen verfuchten); überdieß 
werden fie fid) nie überzeugen, bap der Körper eines Celbit- 
mörders zu denjenigen natürlich Geftorbener gelegt werden 
folle. Endlich, und da alle gütigen Ermahnungen fruchtlos 
waren, bedrohte ich bie Gemeinde, baB id fie 9X. 9. ©. 9X. 
Herren €. G. unb W. W. Raths als Ungehorfame verzeigen 
werde, welches aber aud) ohne Wirkung mar." 

Zur Gemeindeverfammlung waren die Leute fchnell ver: 
fammelt, da alle fdon baufentoeife berumftanden; fie fand 
abends um 7 Uhr ftatt; man hatte den ganzen Sag an- 
genommen, daB bod) nod) eine Abänderung des Rats: 
befchlufles einlaufen werde. Als nun der Statthalter unb 
der Lieftaler Pfarrer Gehorfam gepredigt hatten, entitand 
sum Schluß ein großes Getümmel und Toben, und einzelne 


43 


hatten ben Mut, den beiden Abgeordneten zu widerfprechen 
unb aud) ihre Meinung zu fagen, da man bod) zur Gemeinde: 
verfammlung aufgeboten worden [ei und nun auch |prechen 
dürfe. Der Küfer Schaffner fagte, „es werde feine Ruhe 
werden, bevor man der Gemeinde millfabre. Man babe das 
Grempel, daß GSelbftmörder nad) dem Tode feine Rube 
fänden, am Vater des ©. erlebt, ber fid) vor 37 Syabren ent: 
[eibte. Diefer fet ihm felbft einmal auf der Straße er- 
fchienen, fo bap fein Pferd den Reifaus genommen babe. 
Andern feye Dies auch begegnet, Deswegen feien bie Laufener 
bei biejem neuen Anlaß wieder in Beforgniß und Furt 
getafben". Und Zacob Kaifer war ber gleid)en Meinung, 
„und zwar aus felbftgemachter Erfahrung. Der Pfarrer 
Bon Brunn babe der Gemeinde vorgeftellt, baB es ein Aber: 
glauben fepe, wenn man behaupte, baB bie Gelbftmörder den 
Leuten erjd)einen; er wifle das aber leyder befler, denn als 
er 17 Zahre alt gewefen, jepe ihm einsmals ein folcher im 
Wald erfchienen, worüber ibm während zehn Jahren ein 
fallendes Wehe zugeftoßen fepe." 

Daß man bei Anfchauungen, wie fie aus diefen Er: 
fabrungen mit ,manbelnben" Geiftern hervorgehen und die 
bie ganze Gemeinde teilte, bie Ruhe der Toten auf bem 
Kirchhof nicht geftört haben wollte, läßt fid) einigermaßen 
begreifen. Erfcheinungen Zerftorbener waren ja auch burd) 
einzelne Gefchichten des alten unb neuen Teftaments bezeugt. 
Die Amtsperfonen batte man, ohne fie zu ftóten, angehört 
fo lange fie fprachen, nun aber ging der Rumor und Lärm 
von neuem an. Man babe dem Toben nicht widerfprechen 
dürfen, faate [páter ber Präfivdent, ba die Leute in folchen 
Sällen feine Vernunft annehmen. Die Gemeinderäte 
Heinrih 93almer und Friedrich 93ufer, aud) ber Scul- 
meifter Rolle fprachen es im Verhör aus, baB wenn etwas 
auf bie verfammelten Bürger hätte Ginbrud machen follen, 
jo wären es bie fchönen Reden gegen ben Aberglauben ge- 
weſen, welche der Statthalter und Herr Pfarrer Bon Brunn 


44 


bielten; fie hätten das felbft einen Augenblid gehofft, aber 
leider babe das GStillfchweigen nur [o lange gedauert als 
die beiden Herren gefprochen hätten und dann fei das Lärmen 
gleich wieder angegangen. 

Schließlih fanden bie Gemeinderäte den Weg aus 
der beiderfeitigen Verlegenheit. Sie drängten zwar darauf, 
daß der Leichnam bei dem heißen Wetter wegen ber vor- 
gefchrittenen Fäulnis aus dem Haus gefchafft und begraben 
werden müfle, zeigten fid) aber zugleich etwas gefügiger und 
ihienen bie Beerdigung auf dem Kirchhof aulaffen zu wollen, 
fofern nicht etwa bie S.’fchen Verwandten felbft hievon ab: 
ftrabieren würden. Der Statthalter ließ fid) auf dieſen Q3er- 
mittlungsporfchlag ein, weil er dachte, „Daß [o am beiten 
unruhigen Auftritten vorgebogen werden fónne". Er war 
jedenfalls frob, eine [olde Form des Rüdzugs zu finden, 
denn er batte gefeben, „Daß nicht ein einziger Mann in 
Laufen feye, der nicht gegen bie Deerdigung auf bem 
Kirhhof die größte Widrigfeit batte, und daß bie Be— 
erdigung des quäftl. Körpers auf bem Kirchhof anderft nicht 
hätte in Vollziehung gefeSt werden fónnen als wenn ein 
feines Truppencorps, jedoch feine Landmiliz, fondern von 
der Standescompagnie, mit etl. Ranonen gegen bie Gemeinde 
Laufen gezogen wäre”. 

Nachdem der Statthalter in den Rompromiß mit bem 
Gemeinderat eingetreten war und eine bezügliche Erklärung 
abgegeben batte, verließ er mit feinem geiftlichen Begleiter 
die Gemeinde und begab fid) auf ben Heimweg, vernahm aber 
Ihon am Ende des Dorfes von einigen der S.'ſchen Ver- 
wandten, daß fie um des Friedens willen geneigt feien, von 
der Beerdigung auf dem Kirchhof abzuftehen, in der Hoff: 
nung, bap ihnen ſolches jedoch feine Verantwortung auateben 
werde. Am folgenden Morgen meldete ihm auch der zur 
Sicherung ber Orbnung in Laufen zurüdgelaffene Harfchier, 
daß ein freundfchaftliher Vergleich zwifchen dem Gemeinbe- 
rat unb den S.'ſchen Verwandten zuftande gekommen fei 


45 


unb ber Leichnam an einem abgelegenen Orte in bie Erde 
getan werde. Es brauchte einer fein Prophet zu fein, um 
vorausjehen zu können, daß der Rompromiß mit dem Ge: 
meinderat fo ausgehen werde. 

On Laufen hatte man erreicht, was man wollte. So— 
bald bie zwei Herren weg waren, in der Nacht vom GCams- 
fag auf den Sonntag, 3./4. Juni, führten die drei Diegu 
beftimmten Männer den Leichnam in einen entfernten Wald 
„an den gleichen Ort, wo ſchon vor 37 Zahren ber Vater 
des Unglüdlichen, ebenfalls Selbftmörder, begraben worden 
war”. Begleitet wurde bie Fuhre von zehn 93emaffneten, 
námlid): 

Hans Jakob Sidubin, Hirt. 

Hans Safob S idubin, Weber. 

Jakob Kaiſer. 

Jakob Madöðri, Broſis. 

Hans Tſchudin, Schuhmacher. 

Hans Tſchudin, Schauben Sohn. 

Peter Genfer, jung. 

Jakob Tſchudin, Schuhmacher. 

Jakob Schaub von Furlen. 

Jakob Madöri, Jakobs. 


Vom Gemeinderat ging niemand mit. 

Wie es bei dem Begraben im Walde zuging, darüber 
wurde Schweigen beobachtet; nur einer der Bewaffneten, 
Jakob Kaiſer, ſagte ſpäter im Verhör aus, „daß, während 
ſie den Körper in die Grube gethan, ſeye deſſen Geiſt dem 
Jakob Schaub erſchienen, welcher Ober- unb Untergewehr 
ſogleich weggeworfen unb fid) unter bie verſammelte Mann- 
ſchaft veritedt babe". Darüber, ob unb wie das Grab zu: 
geldbüttet worden und wie ber Heimweg ber Mannfchaft 
erfolgt fei, ſchweigt bie Gefchichte, fo weit fie fid aus ben 
Alten belegen läßt. Wer batte überhaupt bie bewaffnete 
Begleitung angeordnet und wozu? Don ben Q3emaffneten 


46 


fagten acht, fie feien vom Gemeinderat aufgefordert worden, 
und zwei bemerften, „Daß die Shen Verwandten Dis: 
fallá mit dem Gemeinderatb abgeredt ober denfelben be: 
auftragt bätten”. Der Präfident Heinrih Tſchudin ſagte 
aus, „Diefe Leute fepen als Wächter beim Verftorbenen ge- 
wefen und bann vom Gemeinberatb aufgeboten worden, ben 
Leichnam zur Erde zu begleiten; fie hätten nicht anders als 
bewaffnet mitgeben wollen, weil e8 ebebem immer fo üblich 
geweſen feye; der Vater ©., welcher fid) vor 37 Zahren 
etbenft babe, fepe auf bie gleiche Art, mit bewaffneter 
Mannfhaft, am gleichen Ort, wo jet der Sohn liege, 
begraben worden. Der Gemeinderatb babe geglaubt, 
weil e$ ebebefen [o üblich gemefen, fo jeye es je&t aud) 
wieder Recht, unb babe es zugegeben”. Der Ort ber Ver: 

Iharrung ftebt nirgends in den Alten. | 

Bewachung und Begleitung geſchahen nicht etwa un: 
entgeltlih, von den zehn Mann forderte jeder anfänglich 
drei Nthl. Es erhielt aber jeder nur 1, Nthl., und zwar 
von der Vogtei der S.'ſchen Großfinder; der Gemeinderat 
hatte wohl befohlen, aber nicht bezahlt. 

Unter dem Datum des 5. uni, alfo am Montag, be- 
richtete der Statthalter den Behörden in Baſel über die 
Verſammlung vom Samstag und den Ausweg, ben er darin 
gefunden habe, daß er erklärt habe, es werde von der 23e- 
erdigung auf dem Kirchhof nicht abgewichen, eg wäre denn, 
daß die C.'[den Verwandten dies felbft fordern würden; 
zugleich meldete er aud, er babe feithber vernommen, 
baB die Shen Verwandten fid) verftanden hätten, den 
Körper an einem abgelegenen Ort beerdigen zu laflen. Als 
er am Schluffe feines Schreibens bie Hoffnung ausſprach, 
na M. 9 G. $$. fein 93enebmen nicht mißbilligen 
werden, ba die erhaltene Weifung gewiß ohne Militär- 
gemalt nicht hätte in Vollgiehung gebracht werden fónnen", 
war er einigermaßen im Srrtum, denn der Ratsbeichluß vom 
7. Zuli lautete: 


47 


„Sol $. Statthalter das 93efremben M. $. G. $$. 
bezeugt werden, daß er ben ibm gegebenen Auftrag 
nicht in Vollziehung gefegt babe. Der Präfident unb 
die Mitglieder des Gemeinberatb8 fowie der Schul: 
meifter von Laufen follen anbero in Gewahrfam ge: 
tiefen und tiber ihren Ungehorſam gegen einen obrigfeit- 
[iden Befehl burd Herrn Statthalter befprochen 
werden.” 


Schon am 8. Zuni fehrieb der Statthalter an den Wohl: 
weifen Herrn Bürgermeifter und die Hochgeachteten Herren, 
„DaB Hochdero verebríid)em Befehl gemäß bie Gemeinde: 
räthe und ber Schulmeifter fid am 9. Juni im Gewahrfam 
in Baſel einfinden würden”.  3u feinem eigenen Benehmen 
bei der Perfammlung in Laufen bemerft er: „Niemals 
würde id) bie getbane fchließl. Erklärung gegeben haben, 
wenn ich nicht geglaubt hätte, bap biefelbe in Ueber: 
einftimmung mit der folgenden Stelle des Hochobrigfeitlichen 
Schreibens ftühnde, nämlich „wir wollen alfo auch den Ver: 
wandten des Verunglüdten überlaflen, deſſen Leichnam auf 
dem Kirchhof in der Stille beerdigen zu lafen", — id) 
meinte bierin die 3ulafjung der einzigen Ausnahme zu 
finden, falls nehmlich bie Verwandten von ber Veerdigung 
auf dem Kirchhof freywillig abiteben oder folche nicht be- 
gehren würden. Denn id Tann Eurer Weisheit und 
OX. Hochgeachteten Herren die Verficherung geben, daß id) 
fonft gewiß nicht in diefe Abweichung der Hochobrigkeitlichen 
Verfügung eingebilliget, fondern Hochdenfelben über die ob: 
waltenden Umſtände berichtet haben würde.” Leber ben 
Gemeinderat urteilt er, daß er fid) zwar nicht widerfpenftig 
benommen, aber fid) feine Mühe gegeben hätte, die Behörden 
zu unterflügen. Zwei Mitglieder bätten unvorfichtige 
Aeußerungen getan, Jacob Schaffner, indem er zuerft, und 
zwar in des Präfidenten Haus, vom Wafenmeifter fprach, 
und Hans Safob Tſchudin, ber zum Harfchier Ludwig Senn 


48 


gefagt batte, es fepe noch gut gegangen, indem es fonft ein 
Unglück bätte geben fónnen, weil fchon mehrere ein 
Eomplott gemaht hätten, fid mit Gewehren zu be- 
waffnen; aud) Sobann Schaffner, der Küfer, babe fid) durch 
widerfpenftige Reden ausgezeichnet. Die Laufener bätten 
fid bei ber Veerdigung ganz lächerlich benommen, indem bie 
93egleitung aus 10 wohlbewaffneten Vürgern beftund, ohne 
bie 2 oder 3, welche eigentlich fid) mit bem Gefchäft befaffen 
mußten. 

Die am 9. Zuni in Bafel zur Haft eingetroffenen Ge- 
meinderäte wurden am felben Sage von Gyfendörffer, bem 
Statthalter des Diftriktes Baſel, einem erften Verhör unter- 
worfen und das Refultat desfelben, zugleich mit bem obigen 
Schreiben Noerbels dem Rate vorgelegt. Der Ratsbefchluß 
vom 10. uni ging dahin, daB Syafob Kaifer und oh. 
Schaffner, der Küfer, ebenfalls in Gewahrfam zu feSen feien; 
durch den Statthalter von Lieftal follte in Laufen und durch 
Gyfendörffer bei den Gefangenen bie Namen der Bewaff— 
nefen unb befonders derer, bie vom Komplott gefprochen 
oder fonft widerfpenftige Reden geführt hatten, feftgeftellt, 
aud) aufgeklärt werden, wer den Befehl zur Bewaffnung 
gegeben babe, und warum diefer ohne Erlaubnis des Ctatt- 
walter8 vom Gemeinberat geduldet worden fei. 

Am 12. unb 13. Zuni wurden die adt Gefangenen von 
Gpfendörffer zum zweiten Male und genauer verhört. Aus 
diefem Verhoͤr und zugleich aus einem Bericht des Statt: 
halters kennen wir die Namen der Teilnehmer an der be- 
waffneten Geforte und miffen wir aud), baf die Leute vom 
Gemeinderat aufgeboten waren. Dem Ilnterfuchungsrichter 
Gyfendörffer war es augenfcheinlich nicht barum zu tun, ge- 
nauere Kenntnis über bie Art unb den Ort der Verfcharrung 
und bie dabei zutage getretene aberaläubifche Befinnung zu 
befommen, dadurch hätte er bie Leute nur fopffdeu gemadit, 
aud) fonnte es ja an bem vollaogenen ungefeglichen Akt nichts 
mehr ändern; ihm war die Hauptfache bie Auflehnung gegen 


49 4 


bie obrigfeitfid)e Verfügung und fpeziel das fogenannte 
Gomplott. 

... Qo vernehmen wir außer ber Erfcheinung, bie ben Safob 
Schaub (laut Safob Kaifers Ausfage C. 46) in Schreden 
verfeßte, nichts über das Verhalten der andern und be- 
fonders über deren laut mündlicher Tradition erfolgte und 
pſychologiſch wahrſcheinliche Flucht. Nichts vernehmen wir 
aud) über ben Karrendiebftahl in Sttingen, der dem Ver- 
fafler vom alten Drechsler jo beftimmt erzählt worden war. 
Es ift bier möglich, daß es fid) nicht um einen eigentlichen 
Diebftahl handelte, fondern um ein unerlaubtes Entlehnen, 
fo daß man den Karren wieder freiwillig zurüdzugeben die 
Abficht batte unb ben Vefiger in irgend einer Weife fo be- 
Ihwichtigen fonnte, baB er eine Klage unterlieB, um der 
Sache ber Landleute nicht zu fchaden. 

Der müßte bie Bauern ſchlecht fennen, nicht nur bie 
des Baſelbiets, ber glauben wollte, baB ba bei einer Inter: 
fud)ung, die das ganze Dorf betrifft, viel heraustommen 
würde. Co viel aud) in einem Dorf zwifchen Einzelnen und 
Familien geftritten und progeffiert wird, fo ift gleich alles 
einig, wenn fid) das ganze Dorf gefchädigt ober angegriffen 
fühlt. Niemand will fpäter durch fein Zeugnis behaftet 
werden fónnen und als Angeber gelten, und jeder gibt fo un- 
beftimmte Antworten als es ibm möglich iff, wenn er nicht 
vorzieht, zu jagen, daß er nichts wife ober fid) nicht erinnere. 

Co wird e8 aus ben Ulten nicht einmal völlig be- 
miejen, ob der Gemeinderat bie Bewaffnung befchloffen oder 
fie nur gutgehbeißen babe, nachdem einzelne ihre Zlinten 
bervorgeholt haften. Der Präfident Tfchudin glaubte, einer 
Erlaubnis zu bewaffneter Zegleitung vom Statthalter nicht 
zu bedürfen, „weil es ebbem immer fo üblich war”. Die, 
welche gegen die Beerdigung auf dem Kirchhof gefprochen 
hatten, hatten dies entweder gleid) am Anfang getan, bem 
Bezirksfchreiber gegenüber, oder wenigftens ehe die ftrenge 
obrigfeitfide Weifung eingetroffen war; unvorfichtige Ge- 


meinderäte wollten ihre Aeußerungen privatim getan haben; 
einzelne Bürger gaben ihren Widerftand zu, hatten ibn aber 
in der Gemeindeverfammlung geltend gemacht, zu der fie 
aufgeboten waren und wo, follte man denken, man nod) reden 
und feine Meinung fagen dürfe. 

Vom fogenannten Romplott wollte erit recht niemand 
etwas DBeftimmtes willen, auch nicht bie be[onber8 ver: 
bddjfigen Kaifer und Küfer Schaffner. Der Gemeinderat 
Hans Adam Tſchudin gab zu, „nach befchebener 93eerbigung 
fepe biefe Rede bald bier, bald dort gegangen, von Männern 
unb Weibern, er wifle aber nicht, ob wirklich ein folches 
Gomplott eriftiert babe, er babe biefe allgemein ergangene 
Rede blos als folhe wieder bem Harfchier Senn erzählt, 
..... er verfichere, daß er Weiteres darum nicht iffe". Und 
der Präfident fagte aus, „es fet wohl fo ein Gemurmel von 
Complott im Dorf gewefen, aber er wiſſe nicht, ob ein folches 
beftanden habe, e8 fepe ein Weibergefhwäg gewefen, über- 
baupt fepe damals die ganze Gemeinde in Rumor gewejen, 
Männer, Weiber und Kinder”. 

Man wird nicht weit nad) dem Komplott fuchen müffen, 
wenn es auch der Unterfuchung nicht gelang, einzelne des 
felben zu überführen, denn in Wirklichkeit hatte das ganze 
Dorf im Komplott geftanben. Gegen wen hatte man fid) be- 
waffnet? Doch gewiß nicht gegen ben verwefenden Gr: 
bängten! — alfo gegen die oberen Behörden, ben GCiatt- 
halter, wenn er fid)'8 etwa einfallen ließ, der Familie durch 
Harfchiere bei der Veerdigung auf dem Kirchhof helfen zu 
(affen, oder auch gegen ein militärifches Aufgebot, wenn die 
Regierung ihren Willen mit größerer Gewalt durchfeßen 
wollte. Hinter den zehn erften Bewaffneten wären in biefem 
Zalle, aud) ohne befonderes Aufgebot, alle waffenfähigen 
Männer, vielleicht fogar bie Weiber geftanden unb die ganze 
Aktion hätte am Gemeinderat, dem Schullehrer und ber 
ganzen Bevölkerung, ber öÖffentlihen Meinung, wie man 
je6t jagen würde, einen Rüdhalt gehabt. 


51 4* 


Am 12. Juni berichtete Statthalter Noerbel bem Rat 
über das Ergebnis feiner weiteren Unterfuchung in Laufen. 
Es bedt fid) mit dem, was Gyfendörffer bei den Gefangenen 
in 93afel erfahren batte. In ber Ratsfigung vom 14. Syuni 
wurde über bie Sache verhandelt. Dabei fam der beftebenbe 
Aberglaube, wie er in den offenen Belenntniffen von Job. 
Schaffner und Jakob Kaifer zutage getreten war, zur 
Sprache, und aud) bie Geſchichte des Schaub, bem beim Ver: 
lochen S.'s deſſen Geiſt fo deutlich erídbienen war, daß er 
Slinte und Säbel wegwarf unb fid unter der Mannfchaft 
verftedte. 

Es iff nun wahrfheinlih, bap in diefer Sigung bie 
Herren des Rats mehreres über bie Verfcharrung unb mas 
fid) dabei ereignet batte, wußten, al8 was ihnen durch bie 
IInterfuchungsaften geboten wurde. Die durch mündliche 
Sleberlieferung — befannte Zürfprahe des neugewählten 
Pfarrers, an der gar nicht zu zweifeln ijt, wird wohl in die 
Sage kurz vor der Situng gefallen fein. Jedenfalls war der 
Rat jest plöglich zur Milde geftimmt; auch das „Complott“ 
Scheint er nicht mehr ernft genommen zu haben. Der gefaßte 
Ratsbeichluß Tautet: 

„Sollen die Mitglieder des Gemeinberatb$ und ber 
Schulmeifter gegen Bezahlung der Roften der Haft entlafien 
und ihnen für ihr Benehmen M. $. ©. $$. Mißfallen 
bezeugt werden. Jakob Schaffner aber foll wegen feiner 
9feuperungen von der Gemeinderathsftelle entje&t und Johann 
Schaffner, der Küfer, unb Sob. Raifer noch bis zum nächſten 
Otatbstag mit GefüngniBbaft beftraft werden. Die zehn 
Mann, welche den Sarg des ©. bewaffnet begleitet, follen 
die erhaltene Belohnung in ben Armenfedel der Gemeinde 
zurüdgeben. Endlich follen diefe Alten bem U. 93. Herrn 
Antiftes zugeftellt werden, um wegen bem herrichenden Uber: 
glauben burd) den Herrn Geiftlichen bie angemeflenen Be: 
lehrungen ertheilen laſſen.“ 

Hier ſchließen bie amtlichen Alten. Der Präfident, die 


52 


Gemeinderäte unb ber Lehrer febrten, nachdem fie vom 9. bis 
12. Zuni gefeflen hatten, in bie Heimat, unb, mit Ausnahme 
des Sob. Schaffner, aud) in ihre amtlihe Stellung zurüd; 
bet Schulmeifter Rolli, der neben der Kirche beim Gottes: 
ader wohnte, fonte ruhig fchlafen, ohne zu riskieren, etwa 
burd) das Herummwandeln des verjtorbenen Schmieds et- 
fchredt zu werden. Jakob Schaffner, ber aus dem Gemeinde: 
tat ausfheiden mußte, Johannes Schaffner, der füfer, und 
Jakob Kaifer, welche nod) einige Sage gefangen blieben, 
hatten nad) unferem Gefühl eigentlich feine ftrengere Strafe 
verdient als die andern, hatten fie bod) nur, aufrichtiger als 
biefe, Anfichten ausgefprochen, bie bie ganze Bevölkerung 
teilte, unb fid) frei zu bem allgemein berrichenden Glauben 
an Erfcheinung und Serummanbeln (Wandeln) von Geiftern 
Berftorbener befannt. Es ijt [jon größeren Belennern nicht 
befier ergangen! 

Zur Gtürfung des obrigfeitliden Anfehens mag die 
ganze Geihichte nicht gedient haben. Es war miflid), daß 
der Statthalter am erften Tag nicht felbft da mar; er hätte 
gleid unb febr energifch eingreifen müflen. Als er, an- 
gelpornt durch den Tadel des Rats, fefbft erfchien, fand er 
das Dorf in Aufruhr und zum äußerften Widerftand bereit. 
Da e8 ibm an Machtmitteln und aud) an Zeit fehlte, war er 
dann zum Paktieren genötigt; von diefem Augenblid an 
hatten bie Laufener gewonnenes Spiel und konnten ohne 
Aufſchub ihren Willen durchſetzen. 

Schließlid wird der Gemeinderat Hans Adam Tſchudin 
wohl recht gehabt haben mit feinem Ausſpruch: „es fei nod) 
gut gegangen, indem es fonft ein Unglüd hätte geben können”. 


Reifeftiszen von Eduard Genaſt. 
Bafel 1865. 


Mitgeteilt von Prof. Dr. Hans Merisn-Benaft 
in Sran?furt a. Mein. 


Sm Sabre 1866 ftarb zu Wiesbaden im Haufe feiner 
Tochter Doris, der Gattin des Komponiften Soadjim Raff, 
das Ehrenmitglied des Weimarer Hoftheaters, der ehemalige 
Hoffhaufpieler Eduard Genaft. 

„Eduard Genaft, von der Natur begünftigt, durch Fleiß 
und Hebung gefördert, nehme die beiten Wünfche zum Geleit 
auf feine Runftreife”, fo batte im Sabre 1817 G oetbe bem 
Oüngling in ein Bändchen feiner Gedichte gefchrieben. 
Und mit der Zeit war ein tüchtiger Stünitler aus ibm ge- 
worden, der den Don Juan gefungen und den Wallenftein 
gefpielt, den Schillerfhen und Roffini’fhen Tell ver- 
fórpert bat. Unter Goethe war ber Vater Anton Genaft 
Regifleur gemejen, und deflen Erinnerungen an die große 
Seit bilden den wertvollften Zeil des „Tagebuchs eines alten 
Cdaujpielers", das Eduard nad) feinem Rüdtritt von der 
Bühne veröffentlicht bat. Diefe Aufzeichnungen machen 
aud) heute nod) das Tagebuch zu einer wichtigen Quelle 
für alle, bie fid) mit Goethes Theaterleitung befchäftigen. 
Natürlich find fie hiftorifch nicht einwandfrei; und es ift et- 
beiternd zu beobachten, wie das faft alle Theaterhiſtoriker 
etwas von oben herab verfichern, um dann die Erinnerungen 
bod) recht gründlich auszufchöpfen. 

Bon biejem Tagebuch bat Rob. Kohlrauſch im Verlag 
von Luß in Stuttgart (Memoirenbibl. II. Ser. Bd. 5) zum 
Borteil der Wirkung eine verkürzte Ausgabe veranftaltet. 
So ift das Tiebenswürdige Q3ud) in weitere Kreife ge- 


94 


brungen; es hält fid) von ber fonft oft unangenehm bervor: 
tretenden Eitelkeit der Schaufpielererinnerungen frei und 
führt uns in bie bedeutendften Epochen des Weimarer 
Theaters ein. 

Genaft batte ein Jahr vor feinem Tode feine jüngfte 
Tochter Emilie befucht, die, al8 Ronzertfängerin in den 
fünfziger Jahren gefchäßt, feit 1863 an den Dr. jur. Emil 
Merian in Baſel verheiratet war. Die Aufnahme, bie bem 
alten Herrn in dem angeregten Rreife des Paares Merian: 
Genaft zuteil wurde, erfreute ihn febr. In diefer Stim- 
mung bat er zur Feder gegriffen und ben begeifterten Lob- 
preis niedergefchrieben, ben wir hiermit zum Abdruck bringen. 

Dat aud) an den alten Genaft nod) Erinnerungen in 
Baſel lebendig find, bewies mir vor nicht langer Seit ein 
Gefpräh mit einer geiffig ebenfo angeregten wie Tiebens- 
würdigen Freundin meiner Eltern aus jener Zeit, bie mit 
einer erftaunlichen Kraft des Gedächtniſſes bie auch ihr 
unvergeßlichen Sage vor mir aufleben ließ. Don jener 
Sreundesgeneration mögen nur noch wenige unter Den 
Lebenden fein; aber vielleicht bieten ihren Nachkommen unb 
ebenfo den Freunden des Basler Runftlebens die folgenden 
Genaſt'ſchen Aufzeihnungen einiges Sntereflante. 

An bem breiten, etwas altväterifh blumigen Stil iit 
nichts geändert, ebenfowenig an dem uns heute ein Lächeln 
erwedenden Urteil, das Schöpfungen eines Brahms hinter 
folhe von Rubinftein und Raff ftelt und für Kirchners 
Albumblätter mehr anerfennenbe Worte findet als für bie 
fammermuft£ des großen Hamburger OXeifters. Man darf 
eben nicht vergeflen, baB Genaft, ber mit Liszt zufammen 
ben Lohengrin zum eritenmal auf bie Bühne gebracht bat, 
einer ber wenigen war, bie [don in den fünfziger Sahren 
vol echter 93egeifferung für bie ,neubeut(d)e" Mufifrichtung 
eintraten. So erklärt fid) die 93efangenbeit des Arteils 
gegenüber der ftreng formalen Mufil eines Brahms. 


55 


Genaft’s Bericht lautet: 

„Es war im Sabre 1842, wo ich, aus der innern Schweiz 
gurüdfebrenb, in bie engen Gaffen der alten Bifchofsftadt 
Bafel einfubr. Ein ftarfer Nebel umbüllte die ganze 
Gegend, unb von bem romantifchen Jura-Gebirge unb feinem 
Gegenüber, dem Schwarzwald, war nicht ein Umriß zu er- 
bliden. Es war eine traurige Umgebung. Weder Klein- 
Baſel noch der Rhein fam uns zu Gefiht. Nur ein grauer 
Mantel, ber fid) endlich in einen Sprühregen auflöfte, um- 
gab alles, unb froh febrte id) nach wenigen Stunden biefem 
Stieffind der Schweiz, für welches ich das Stüdchen Erde 
damals hielt, den Rüden. Ich fuhr mit Dampf gen 
Straßburg. 

Damals gab e8 nur ein funfenfprühendes Roß, das 
auf eifernem Geleis den Wanderer von Helvetiens Grenzen 
über franzöfifchen Boden nah Deutfchland führte, jest 
gibt es deren genug, bie ben Reifeluftigen nad) allen 
Himmelsgegenden in das Wunderland unb aus ibm tragen. 
Greilid) wird durch ſolche 93efürberung viel Zeit gewonnen, 
aber die Gemütlichkeit, bie Poefie des Reifelebens geht 
Dabei verloren. Man eilt und eilt, um nur fo fdnell als 
möglich bie Schneeberge mit ihren Gletfchern in Sicht zu 
befommen, fid) auf ben romantifchen und idyllifchen Seen 
zu Ichaufeln, und glaubt alles Schöne und Sehenswerte ber 
Schweiz in fid) aufgenommen zu haben, menn mam. bie 
erfteren erftiegen, bie leßteren befahren bat. 

Gteilid) find es Wunderblumen, die das Auge entzüden 
und das Herz erheben. Uber warum das Veilchen am Wege 
beifeite liegen laflen, den Kelch ber Lilie nicht näher be- 
trachten, den beraufchenden Duft der Rofe nicht genießen? 
Zu ſolchen Ylumen gehört zweifellos Bafel mit feinen 
blühenden Tälern, duftenden Höhen und erfrifchenden 
Wäldern. Hier fann man mit Schiller fagen: „Und wie ein 
Garten i Das Land zu fdjauen." 

Die meiften Reifenden begnügen fi, das herrliche 


96 


'drof wey 3 


?fog) aaugovu 2, 1n^30 
r 


1 c 
YonmujXoblo e usanfg c  anWyno: 


fog: 
* * Lena Fach 











I: E E 


Hu BUM ERN MAREA. nn 
2/747 LP MM Pau 
or d dd A 


x 
X 


A 75 EN J ir | 


— — 


— — — 


Panorama von ber Münferterraffe aus zu be: 
trachten. Hier fieht man in großer Ausdehnung die grünen 
Wellen des Rheins in ftürmifcher Eile dahinraufchen, Klein: 
93afel mit feinen großartigen Fabrifgebäuden, umgeben von 
sefhmadvollen Parkanlagen, aus denen fid) die prachtvollen 
Landfige des Reichtums erheben. Weiter weilt das Auge 
auf üppigen Saatfeldern und Weingärten, deren faftgrüne 
Blätter aud) die nächften Höhen ſchmücken. Hinter ihnen 
erhebt fid) der mächtige Schwarzwald, der gleich einem Vater 
die zu feinen Füßen rubenben Kinder des Bacchus vor den 
rauhen Winden des Nordens zu [dien fucht. 

Hat ber Reifende diefes entzüdende Bild, das nod) in 
feinem Innern [o viele einzelne Schönheiten befißt, in fid) 
aufgenommen, das etbabene Münfter mit feinen Rreuz- 
gängen und Altertümern, das Mufeum mit feinen Runft- 
ſchätzen betrachtet, fo glaubt er ein glänzendes Bild von 
Stadt und Land gewonnen zu Daben und eilt fo ſchnell als 
möglich in bie Berge, deren Häupter mit ewigem Schnee 
bebedt find. 

Co ergeht es vielen und würde es auch mir ergangen 
fein, hätten nicht Gamilienbanbe mid) auf längere Zeit an 
Baſel gefeflelt. (rft im Jahre 1865 wurde mir Gelegenheit, 
die ganze Blütenpracht diefes Gartens zu fchauen. 

Man nennt 23ajel eine der reichften Städte in ber 
Handelswelt,; manche fügen aber hinzu, daß ein ungemeflener 
Geldftolz dort berrfche, der jeden Gremben unbequem an- 
webe, ber bie fchönen Künfte nur als unnüge Spielerei be- 
trachte unb bie Wiſſenſchaft nur infofern gelten laſſe, foweit 
fie bem Handel unb der Snbuffrie förderlich fei. Wohl mag 
es aud) bier wie in jeder großen Handelsftadt folche Käuze 
geben, bie fid) aus ihren Geldfäden einen Thron erbauen 
und von ibm mit aufgeblafenen 93aden und bimmelanftür- 
menden Naſen auf bie herabbliden, bie weniger Millionen 
befigen. Doch mögen fie febr vereinzelt bafteben.. 

Die Familien, die id) bie Ehre gehabt habe fennen zu 


o7 


lernen und die man aud) zu ben Millionären zählt, find nicht 
folher Natur. In diefen Streifen. fühlt man fid bald 
heimifh. Humanität und ungeldminfte Gaftfreundfchaft, 
nid Hochmut und Geldftolz walten bier; bald fühlt fid) der 
Grembe nicht mehr beengt von den prachtvollen Räumen, in 
denen fid) die Ilnterhaltung um Kunft, Wiflenfchaft unb 
interefiante Tagesneuigkeiten dreht, Frohſinn und Heiter— 
feit wie ein guter Genius waltet. 

Co verlebt nad) des Tages Laft und Mühen der reiche, 
gebildete 93afeler feinen Abend. Sich und andern weiß er 
das Leben angenehm zu machen; und man bedauert beim 
Aufbruch nur, baB bie genußreichen Stunden, bie das Herz 
erwärmt und den Geift erfrifcht, fo fchnell entfloben find. 

Wenden wir uns nun zur Runft, zunähft der mufi- 
falifden. 

Als id) vor 23 Zahren zum erftenmal bie Schweiz 
befuchte, lernte id) außer ihren Naturwundern teilweife aud) 
bie dortigen mufikalifchen Zuftände fennen. Es war ein 
Kind, das nod) in der Wiege lag. Jetzt aber, nachdem id) 
am 16. Suni einer großartigen Aufführung ber 
Mattbäi-Paffion im Münfter beigewohnt batte, 
konnte ich mich Überzeugen, baB das Kind zu einer fchönen, 
gebildeten Sungfrau berangeblüht war. 

Ein waderr Mann, Kapellmeifter Reiter!) ftebt 
feit 25 Sabren an der Spige ber mufifalifchen KRunftpflege. 
Seinem Perdienft, wie mir allgemein gefagt wurde, ijt es 
bauptfächlich zuzufchreiben, daß der Geſchmack ber Baſeler 
für das wahre Schöne eine [o hohe Stufe erreicht hat. Inter 
feiner Leitung ift ein Enfemble entitanben, das man zu ben 
beiten in ber Muſikwelt zählen darf, wenn man bedenkt, mit 
welchen geringen Mitteln er e8 anfänglich ins Leben gerufen. 

Reiters Ruf als Virtuos unb Romponift war uns 
bereits befannt. Dei diefer Gelegenheit follte ich ihn als 


1 Ernſt Reiter. geb. 1814 in Wertheim a. Main, jeit 1841 in 
Baſel, wo er 1875 ſtarb. | 


98 


einen ausgezeichneten Dirigenten fchägen lernen. Da mir 
vergönnt war, mehreren Proben beizumohnen, überzeugte id) 
mich perfönlich, mit welcher Umſicht, mit welcher poetifch- 
dramatischen Auffaflung Reiter das Riefenwert leitete. Alle 
Gürbungen, an denen Bach, namentlich in diefer fom- 
pofition, fo reich ift, Schatten und Licht, befonders in den 
Chorälen, wußte er zur Geltung zu bringen. Nur felten 
babe id) in Maflen Pianos und Zortes, das An- und Ab— 
fhwellen der Tanggezogenen Töne fo trefflih ausführen 
bören. Das Orchefter beffanb aus etwa hundert Mufikern, 
bie zum Seil aus ber inneren Schweiz Derbeigefommen 
waren. Ausgezeichnete einheimifhe und fremde Kräfte 
waren barunter. Den Orgelpart batte der geniale 
Kirchner?) aus Winterthur übernommen und führte ihn 
mit vollendeter Meifterfhaft aus. Unwillkürlich mußte ich 
bei ben gewaltigen Tönen an bie Worte Goethes benfen: 
„Wenn’s vom Gewölbe niederfhallt, Fühlt man erft recht 
des Baſſes Grundgewalt.“ 

Der Chor beſtand aus etwa 250 Perſonen, zumeift 
Dilettanten, doch bewährten ſie ſich als Künſtler, und 
mancher großen Oper wäre ſolcher Chor zu wünſchen. 

Für die Partie des Chriſtus batte man Stock— 
baufen,?) für die des Gpangeliften Gdneiber*) aus 
Rotterdamm gewonnen. 

Grau Merian:-Genaf,?) die fh aus bem 
Künftlerftande feit einigen Zahren ins Privatleben zurüd- 
gezogen, hatte bie Sopranpartie übernommen, desgleichen 
Sräulein Rüttimann,?) eine wadere junge Klavier: 


2) Theodor Kirchner geb. 1823 im Kar. Sachſen, geft. 1908 in 
Hamburg, war von 1843—62 in Winterthur, dann in Zürich tätig. 

5) Der große Cangesmeijter ultus Stodhaufen, geb. 1826 in 
fBaris, damals in Hamburg, geit. 1906 in Frankfurt a. M. 

4) Karl Schneider, geb. 1822 in Strehlen, feit 1872 in Köln, dort 
geit. 1882, ein berühmter Vertreter der Partie des Evangelien. 

5) Emile Merian-Genajt geb. 1833, geft. 1905 in Weimar. 

sr, Beide Künftler find vielen Baslern nod) wohlbelannt. 


59 


ipielerin, und eine mir unbefannte Dame bie des Alt, die 
Herren Gglinger?) und Kern?) bie des Senor und 
93aB.  Cümtíid) mit Hangvoll fchönen Stimmen begabt, 
führten fie ihre Parts nicht dilettantifch, fonbetn Fünft- 
lerifch aus. 

G3 war ein wirklicher Hochgenuß, und Reiter bat fid) 
durch biefe alanzpolle Aufführung, an der nicht ein Jota 
fehlte und die ung ein vollendetes Tongemälde des unfterb- 
lihen 93ad) gab, ein großes Verdienft erworben. Er bat ba- 
durch dokumentiert, daß er nicht nur ein tüchtiger, feiner 
Muſiker iff, fonbern aud) als Dirigent zu ben Aus- 
erwählten gehört. 

Bei diefer Gelegenheit war es, wo id) Gtodbaufen 
zum erftenmal al$ Sänger fennen lernte; und obwohl fid 
fein Ruf als eines einzig baftebenben Künftlers feit einer 
langen Reihe von Jahren über Europa verbreitet, fo wurden 
meine Erwartungen bod) weit übertroffen. Man muB ihn 
hören, um ein Urteil über feine Meifterfchaft zu gewinnen, 
um fid) zu überzeugen, baB er das Höchfte leiftet, was in ber 
Gefanastunft geleiftet werden fann. Golden Tonanfchlag, 
der ung gleich einem warmen Frühlingshauch antoebt, folche 
Bildung und Beherrſchung des Atems, fold) edlen Vortrag, 
welcher die ffeinfte muſikaliſche Phrafe obne alle Effekt— 
bafcherei zur Geltung zu bringen weiß, babe id) von einem 
Sänger noch nie gehört. 

Man fagt, bap biefer Meifter in Hamburg eine Ge- 
fangsf&hule errichten wird; und wahrlich bie Zünger, 
die fid) feiner Leitung widmen werden, fónnen feinen befferen 
Lehrer noch befieres Vorbild finden. 

Außer dem Part des Chriftus hatte Stodhaufen nod) 
einige Baß-Soli übernommen, unter anderen bie Urie „Am 
Abend, wo es fühle war”. Hier entfaltete er den ganzen 
Reichtum feiner Meikterfchaft. Kurz, er gehört zu jenen 


8) Herr Eduard Kern-Werthemann, ein um feiner außergewöhn- 
lihen Stimmittel willen jehr gejd)übtes Mitglied des Gejangvereins. 


60 


Kometen, die, wenn fie am Himmel der muſikaliſchen Kunſt 
erfcheinen, die andern Sternbilder verbunteln. 

Schneider, der fid) (don feit längerer Zeit den Ruf 
eines ausgezeichneten Kirchenfängers erworben bat und 
defien Mitwirkung man überall, wo diefes erhabene Wert 
zur Aufführung gebracht werden fol, zu erlangen ſucht, führte 
ben Part des Evanaeliften trefflich aus. Seine nod) immer 
fhöne, klangvolle Stimme, bie ihm erlaubt, bie böchiten 
Korden mit Leichtigkeit anzufchlagen, fein deklamatorifcher 
Vortrag mit deutlicher Ausfprache, bie jedes Teertbuch ent: 
behrlih macht, feine mufifalifhe Bildung und Sicherheit 
waren mächtige Stüten feiner gelungenen Leiftung.. Nur 
fand ih, daß er fid) bei einigen Stellen von feinem Gefühl 
zu weit fortreißen ließ. Der Evangelift ift eine ergáblenbe 
unb feine bandelnde Perfon, barum darf er feiner Gmp- 
findung nicht fo viel Raum geben, daß fie in Tränen aus: 
bricht; und das tat Schneider bei ben Worten „und weinete 
bitterfid)". Das find Theatereffelte, bie nicht in bie Kirche 
gehören; felbft auf ber Bühne find fie bei einer erzählenden 
Derfon nidt am Plate. Ich erinnere mich eines Schau: 
fpielers, der als fchwedifcher Hauptmann im Wallenftein 
feinen Beriht über Marens Tod vorfchluchzte. Was bleibt 
dann der armen Thekla nod) übrig? Der Künftler muß ftets 
bie Situation im Auge haben und das Zuviel und Zuwenig 
zu vermeiden fuchen. 

Die andern Soliften fchloffen fid) den beiden Genannten 
würdig an, und das Ganze bildete ein Enjemble, wie man 
es nicht Leicht befler hören fann. 

Aber nicht nur die in allen Teilen gelungene Aufführung 
bieler erbabenen Schöpfung war e$, bie fo gewaltig auf mid) 
wirkte, der mächtige Dom, in ber fie ftattfanb, trug vieles 
dazu bei, meine Stimmung auf das Höchfte zu fteigern. Die 
heiligen Räume waren zu diefem Zwec feftfid) geordnet. 
Aus bem Mittelichiff der Kirche erhob fid) eine mit Blumen 
und Kränzen reich gefchmücdte Eftrade, bie fid ampbi- 


61 


theatralifh bis an bie Emporkirche erftredte. Auf diefer 
Eftrade nahmen bie Sänger unb OXufifer ihre Plätze. Ob- 
gleich bie untergebenbe Sonne ihre Strahlen noch durch bie 
oberen bunten Senfterfcheiben warf, fo waren bod) bie unteren 
Räume, bie mit Hunderten von OXen[den gefüllt waren, 
bereits mit Lampenlicht erleuchtet. Das zweierlei Licht tat 
dem Auge nicht web, vielmehr geftaltete fid) dag Ganze zu 
einem magifhen Bild. Die große Unruhe, bie vor dem 
Beginn berrfchte, Tieß befürchten, baB der erwartete mufi- 
falifche Genuß nicht ungetrübt vorübergeben würde, da das 
Publikum faft aus allen Schichten der Gefellichaft beftanb. 
Aber eine heilige Sabbatftille verbreitete fid) über die unab- 
febbare Menge, als bie erften Töne etfíangen, und dieſe 
andachtspolle Aufmerkfamkeit, die beinahe drei Stunden in 
Anfpruch genommen wurde, bielt an bis zur letzten Note. 
Das war mir das befte Zeugnis dafür, wie anders fid) bie 
muſikaliſchen Zuftände in der Schweiz geftaltet und wie fid) 
der Geſchmack für das Edle und Schöne felbft bei den Laien 
ausgebildet batte. Mit wahrer Erbauung und Dober Be: 
friedigung verließ ich den Tempel Gottes. 


Tags darauf fand im Saal des Winter-Cafinos 
eine mufiltalifhe Abendunterbaltung ftatt, bie 
mehr einer Smpropifation glid. Da fein beftimmtes Pro: 
. gramm entworfen war, fo begnügte man fid), bie Produktionen 
mündlich anzuzeigen. Auch war das Ganze nicht für bie 
Deffentlichkeit, fondern für bie Mitglieder des Vereins be- 
ftimmt und nur anmejenben Fremden war der Zutritt erlaubt. 
Den Reigen eröffnete ein neues Klavier-Ouartett von 
23rab m3. Robert Schumann fagte einft — wenn id 
nicht irre, in der Brendel'ſchen Mufilzeitung — Brahms 
fei das bedeutendfte Talent der Neuzeit, denn alle feine 
Schöpfungen wären genial. Dem möchte ich nun nicht fo un- 
bedingt beiftimmen. Obgleich bie genannte Rompofition viel 
Schäßenswertes und Schönes enthält, jo ftebt fie bod) hinter 


62 


ben Werken, bie Joachim Raff unb Anton Rubinftein auf 
diefem Gebiete gefchaffen, zurüd, und diefe gehören aud) ber 
Neuzeit an. 

Die Ausführung war vortrefflich zu nennen. Die Ge: 
brüber Friedrich?) und Emil!) Hegar, beide ge 
borene Bafeler, von denen ber erfte gegenwärtig als Konzert: — 
meifter in Zürich angeftellt iff, der andere in Hamburg lebt, 
bewährten fid) als Meifter ihrer Inftrumente (Geige und 
Cello). Herr Abel,!!) Mitglied des DBafeler Orchefters, 
der in ber Matthäi-Paffion das Piolinfolo ganz aus: 
gezeichnet vorgetragen, hatte bier die Bratichen-Stimme 
übernommen unb zeigte fid) aud) darin als Virtuos. Brahms 
felbft führte den Klavierpart vortrefflich aus; wenn man ihn 
aud) nicht zu ben Korpphäen diefes nftrumentes zählen 
fann, fo gehört er bod) gewiß zu ben Schäßenswerteften. Das 
Ganze war ein 93ilb. mufilalifcher Schönheit. 

Ihm folgte Schumanns „Spanifheg Lieder- 
fpiel", von ben Damen Merian unb Rüttimann, 
den Herren Schneider unb Gtodbaujen vorgetragen. 
Kirchner hatte das AUccompagnement übernommen, wobei 
er befundete, daß er ebenfo meilterbaft das Klavier beberrfcht 
wie bie Orgel. Sd) möchte bieje Rompofition Schumanns, in 
der fid) Scherz und Ernft vereint, und deren Ausführung als 
den Gíangpunft des Abends bezeichnen. Die fchönen, ſym⸗ 
pathifhen Stimmen, verbunden mit Fünftlerifhem Vortrag, 
wobei Schatten und Licht auf das ftrengfte beobachtet wurden, 
fhufen das Ganze zu einem dramatifhen S&ongemálbe um. 
Wenn es fo ausgeführt wird, muß biefem genialen Werke 
überall der ungeteiltefte Beifall werden. 

Ein zweites Quartett von Brahms wurde 
aufgeführt, an der Stelle des ftomponiften batte Kirchner 
ben Klavierpart übernommen, moburd) das Snterefje an der 
gelungenen fompofttion noch gefteigert wurde. 

9) Geb. 1841, bereits 1865 Dirigent in Zürich. 


10) Geb, 1843, [eit 1866 längere Seit in Leipzig tätig. 
11) Ludwig bel, geb. 1834 in Thüringen, geft. 1895 in Münden. 


63 


Am Schluß gab uns fitdner nod) einige feiner 
nutfifatifen Albumblätter zum Veften. Obgleich nur 
Gragmente, möchte id) fie bod) Heine Erzählungen ohne 
Namen nennen oder mit Blitzen bezeichnen, bie eine eleftrifche 
Wirkung auf ung ausüben, ba ein genialer Gedanke ben 
andern jagt. Man wußte wahrlich nicht, ob man dem Rom: 
poniften oder bem trefflichen Virtuoſen mehr Beifall fpenben 
follte. 

So ſchloſſen bie beiden mufilalifchen Abende, bie mir 
unvergehlich bleiben werden. Nach diefen geiftigen Genüflen 
verfammelte man fid in dem Lolal des Sommer- 
Cafinos, vor bem Aeſchentor dicht neben dem Denkmal 
von St. Safob gelegen. Ehe man fid) zur Tafel febte, ge: 
noß man ben berrlichen Abend im Grein. Damen und 
Herren, bie wohl faft ale Mitwirkende in der Matthäi- 
Paffion gewefen waren, durchwandelten bie Räume der 
teigenben Parfanlage.. Die Sonne felbft [dien zu zögern, 
den fröhlichen Gruppen gute Nacht zu jagen, ehe fie hinter 
den blauen Bergen der Vogeſen verfehwand. 

Manche fchätenswerte und intereffante Bekanntſchaft 
wurde mir bei diefer Gelegenheit zuteil. Das Gefpräh 
drehte fid) hauptfählih um alte und neuere OXtufif; ich war 
nif wenig erftaunt, felbft unter einigen jungen Damen 
große Verehrerinnen des alten 93ad) zu finden. Froͤhlich 
faß man bei Tiſche; geiftreihe und humoriſtiſche Toaſte 
würzten die wohlfchmedenden Speifen, und den Schlußftein 
des Ganzen bildete ein improvifiertes Tänzchen, an dem fid 
die junge Welt erfreute. 

Ehe id) das Gebiet der Tonkunft verlaffe, muß id) nod) 
Reiters Gattin gedenken, in ber id) eine ber treff- 
[iften Harfeniftinnen fennen lernte. (ie war fo 
freundlich, bei einem Heinen Abendzirkel in ihrem Haufe 
unfern Bitten nachzugeben und einige Piecen vorzutragen. 
Einen fo wobltuenben Tonanſchlag, verbunden. mit einer 
immenfen Technik, bie alle Schwierigkeiten überwindet, einen 


64 


fo reinen Sriller, der fid) ganz gleichmäßig zwilchen zwei 
Tönen bewegt unb fid) bis zur höchiten Schnelligkeit fteigert, 
babe id) nur bei den erften Meiftern diefes Inftrumentes 
gehört. Vor allem aber find der gefühlvolle Vortrag, der 
uns in das Land der Poefie führt, unb bie Sicherheit, mit 
ber Grau Reiter ihr Inſtrument beberricht, Vorzüge, bie 
man felten vereinigt findet. Auch biefer Abend wird mir 
unvergeßlich bleiben.” 


Genaft weift bann noch auf „die trefflihen Winter- 
tonzerte bin, deren Dirigent Reiter ift und zu denen 
tüchtige Kräfte aus QGranfreid) berbeigegogen werden; fie 
geben bie befte Anregung. Das Snftitut befteht feit langen 
Fahren und bewährt fid) immer mehr.” 


Kurz ftreift er bann bie Verdienfte, bie fid) „Der Reich- 
tum Baſels“ um bie Förderung ber bildenden Runft 
erworben bat, unb nennt unter ben vielen wertvollen Vildern, 
bie man in Privatfammlungen finde, Calames „Am 
Vierwaldftätter See" aus bem Beſitz des Herrn Peter 
Viſcher-Burckhardt, „eine Landfchaft, bie er zu ben 
Ihönften Schöpfungen diefes Meifters zählen möchte”. 


Daß ber alte Weimarer Schaufpieler an der Pflege der 
dramatifhen Kunſt im damaligen Baſel manches 
auszufegen bat, iit begreiflihd. Genaft nennt als einen der 
Gründe für das Darniederliegen des Schaufpiels dag geringe 
Onterefje der führenden Basler Kreife, bie „nach Paris 
reifen, um fid) an Oper, Ballet und Schaufpiel zu ergößen“. 
Daflir könne freilich in 93afe( fein. Grfa& geboten werden. 
God) fdieBt ber Neftor der Weimarer Bühne mit bem 
Ausdrud der Hoffnung, daß man „auch für bie Dramatifche 
Kunſt ein Snftitut in Bafel fchaffen werde, das der reichen 
Stadt und ihrer Bewohner würdig fei." 

Er fährt dann fort: „Wende ich mich nun wieder zur 
Natur, fo fehwelgt mein Herz nod) je6t in der Erinnerung 


65 b 


an al bie fdjónen Punkte, bie Baſel wie ein Blütenkranz 
umgeben. Diefe etwas näher ins Auge zu faflen und davon 
eine wenn auch nur unvolllommene Skizze zu entwerfen, fei 
nun meine Aufgabe. Der freundliche Lefer fürchte aber 
nicht, daß ich ibn an Orte führe, bie in jedem Reifehandbuch 
zu finden find; ich führe ihn zu jenen verborgenen Veilchen, 
die Seele und Herz erfrifchen. 

Lenken wir unfere Schritte zunächft auf das rechte Ufer 
des Rheins, fo führt uns ein Weg durch Obft- und Wein- 
gärten einen Hligel binan bem Wentenhof!2) zu Wir 
gelangen aundd)ft auf ein umfangreihes Plateau, wo uns 
ein gefd)madboller Dart in feine Schatten aufnimmt. 
Mächtige Baumgruppen erheben fid) aus den ſmaragdgrünen 
Wiefen, bie mit den fchönften Ylumen und Sierpflanzen ge- 
Ihmüdt find. Die größte zeigt ein Baſſin in ihrer Mitte, 
in meldem Goldfifhe ihr Spiel mit ben berabfallenden 
Perlen einer Fontaine treiben. Schattige Lindenalleen 
führen ung zu beiden Seiten nad) einer Terrafle, auf ber das 
prachtvolle Herrenhaus ftebt, mit feiner Gronte dem Weften 
zugewendet. Hochftämmige Kaftanienbäume fohügen es auf 
bet Cübfeite famt feinen Bewohnern vor den heißen Strahlen 
der Mittagsfonne.. Dies traulihe Pläschen, das durch 
einen Kleinen Waflerfall noch mehr Kühlung gewinnt, [abet 
ung zur Ruhe und Erquidung ein; bier muß felbft ein 
Mifanthrop fid) mit ber Menfchheit und Natur verföhnen 
fónnen. 

Aber nicht nur ber Körper, aud) das geiftige unb leibliche 
Auge wird durch das entzüdende Panorama, das fid 
uns an bieler Stelle barbietet, erfrifcht. Zu unfer Füßen 
breitet fid) das blühende Tal von Klein-Baſel aus mit 
feinen reichen Gaatfeldern, von unzähligen Obftbäumen 
unterbrochen, feinen Weingärten, prachtvollen Landhäufern, 

12) Auf dem Wentenhbof berrichte, dankt den Familien Burd- 
bardt-Stephbant, Burdhardt-Hik u Burdhardt-Schridel 
ein ebenjo gaftfreies wie muſikaliſch angeregtes Leben. 


66 


in denen Gaftfreundfchaft wohnt, feinen Parkanlagen und 
mächtigen Fabrikgebäuden. Kunftftraßen und Eifenbahnen 
durchkreuzen das Gebiet und erleichtern fo den Verkehr diefer 
reihen Landfchaft. Jenſeits des Rheins erhebt fid) von 
feinen Ufern ab terraffenartig bie alte Biſchofsſtadt, 
deren Spite das mächtige Münfter if. Den Hintergrund 
des ganzen Bemäldes nad) Süden bildet das zadige Jura 
Gebirge mit feinen fchroffen Gelfen, grünen Matten unb 
Waldungen, an weldes fid die blauen Berge der 
Bogefen fchließen. 

Betreten wir das Herrenhaus, fo empfängt 
uns eine große Halle, deren fleinerner Fußboden reich mit 
S'eppid)en belegt iit; bie Wände find mit Familienbildern 
gefhmüdt. An biefe Halle, bie ben Mittelpunkt des Ganzen 
bildet, fchließen fid) zu beiden Seiten noch mehrere prachtvoll 
eingerichtete Gemächer. Der obere Stod, an deflen Haupt- 
front fid) zu beiden Seiten offene Niefchen befinden, damit 
man aud) bei unglünftiger Witterung bie frifhe Luft ge. 
nießen fónne, gewährt uns nod) ein größeres Rundgemälde. 
Wenden wir unfern Ylid nad) Norden, fo tritt uns ein Tal 
des Schwarzwalds mit feinem mächtigen Feldberg 
entgegen, der das Wiefental begrenzt. 

Doch ehe ich den Lefer in das reigenbe Tal einführe, 
das von bem kriftallhellen Bach, bie Wiefe, feinen Namen 
trägt, betradften wir ung bie Defonomie-Gebäude, 
bie fónen Gartenanfagen unb ben Wildpark, 
bie hinter bem Herrenhaus liegen. Ein großer Hof, ben ſüd⸗ 
[ide Gewächſe, Orangen, Lorbeern, Dleanderbäume u. a., 
Ihmüden, ihre balfamifhen Düfte mit bem Tau einer hoch- 
ftrebenden Fontaine mifchend, empfängt uns. Wir fchreiten 
weiter in die Delonomie-Gebäude, wo uns viele „braune 
Liefels” mit ihrem gutmütigen „Muh“ begrüßen und uns 
mit frifder Mil erquiden. Bon da treten wir in ben 
Wildpark, ein bergiges Terrain, das ein hochflämmiger 
Buchenwald befdjattet. In einer der Vertiefungen weiden 


67 5 


Hirfhe und Rebe, bie fid) aber duch unjer Kommen nicht 
ftören laſſen und ung nur von Zeit zu Seit mit ihren 
frommen, gutmütigen Augen neugierig anbliden. 

Hier, lieber Lefer, haft du eine ſchwache Beſchreibung 
von biefem Eldorado, das eine glüdlihe Familie be: 
wohnt. Auch von ihr will id) ein Heines Bild entwerfen, 
das ich zufällig zu feben befam. 

Die Schwüle des Tages bat nachgelaflen, und fchon be- 
ginnt bie Sonne mit ihren Strahlen bie blauen Berge der 
Vogeſen zu vergolden. Die Friſche des Abends [odt bie 
Bewohner wieder ins Freie. Da fehen wir zwei junge 
Srauen, mit weiblicher Arbeit befchäftigt, an der Vorder- 
feite des Haufes figen, zwei liebliche Rinder zu ihren Füßen 
mit Blumen fpielend. Die eine mit fchwarzem Haar und 
dunklen Augen von zartem Körperbau zeigt bie Südländerin 
an; bie andere mit üppigen Formen, blondem Haar und 
blauen Augen bie Nordländerin. Zwei lieblihe Mädchen 
fißen im Sande; unb Öfters finft der Mütter Arbeit in den 
Schoß, die Augen folgen bem DBlumenfpiel der füßen 
Kleinen mit zärtlichen Blicken. 

Otid weit von diefer Gruppe bat ein fhöner S üng- 
[ing von ungefähr 15 bis 16 Sabren, eifrig in einem Bude 
lefend, Pla genommen. Der Hausherr muftert mit 
prüfendem 93lid die neuen Anpflanzungen und gibt feinen 
Intergebenen mit freundlicher Milde weitere Befehle. Den 
Vordergrund nimmt ein Greis mit weißen Haaren ein 
und lehrt einem beiteren, fróbliden Rnaben das preußifche 
Grerzieren, wie es vor mehr als hundert Jahren üblich war. 
Der Kleine, wilde Burſche will fid über die fteifen Be— 
wegungen unb die gefpreizten Beine vor Lachen ausfchütten, 
abmf aber alles geichidt nach. 

Das Ganze war mit feiner reigenben Umgebung ein 
Genrebilb der Heblichften Art. 

Hült fid) dann die Natur in ihr Nachtgewand, fo 
wendet man fid) zur erleuchteten Halle, wo beitere Ge- 


68 


fpráde, Dichtkunſt und Muſik bie Unterhaltung bilden. Go 
verlebt ber gebildete 93as[er nad) ben Mühen des Tages 
feinen Abend im Kreife der Familie und feiner Freunde.” 


Hier briht bie „Reifeflizze" des alten Weimarer 
Schaufpielers ab. Die Abfiht einer Weiterführung, die 
uns die Stelle über das Wiefental verrät, ift Leider nicht 
verwirklicht worden. 


69 


Stände unb Derfaflung in Bafel 
vom Jó. bis 18. Jahrhundert. 


Don Auguſt Burdhardt. 


Man lieft etwa in Reifehandbüchern über bie Schweiz 
nicht bloß von ben ftofgen Basler Patrizierhäufern — womit 
3. DB. das weiße und blaue Haus, das Haus zum Delphin, 
ber Ramfteinerhof, das His'ſche Haus auf bem Petersplatz 
gemeint find —, fonbern auch von ben alten Basler Patrizier- 
gefchlechtern, bie einft biefe Paläfte erbaut haben und fie 
zum Teil nod) bis auf den heutigen Sag bewohnen follen. Zft 
nun aber diefe Anfchauung von ber Weitereriftenz eines Pa- 
triziates in 93afel im 17. und 18. Zahrhundert wirklich be- 
redjtigt? Die Antwort auf diefe Frage iit nicht fo leicht und 
einfach, wie es auf den erften Blick wohl ben Anfchein haben 
mag. Das freilich willen wir ja wohl alle, baB bei uns [don 
feit bem erften Viertel des 16. Jahrhunderts von einem eigent- 
[iden Patriziat, b. b. von einer erflufiv organifierten und 
verfaffungsgemäß bevorrechteten Sondergruppe von Bürgern, 
bie allein regimentsfähig gewefen wären, nicht mehr ge- 
fprochen werden kann. In diefem Punkte unterfcheidet fid) 
aber befanntlich Baſel von allen übrigen Städtelantonen ber 
alten Eidgenoflenfchaft, bie entweder — wie Bern, Grei- 
burg, Solothurn und Luzern — einige wenige regierende 
unb auch allein regimentsfähige Familien befaßen, oder 
aber wo, wie in Zürich, neben ber weiteren, in Zünfte ein- 
geteilten Bürgerfchaft, nod) ein in einer befonderen Stube 
— bet Konftaffel — inkorporiertes Patriziat beffanb, das 
freilich feine politifden Vorrechte mehr befaß, außer daß es 


70 


— und zwar von Rechts wegen und offiziell — ben auszeidh- 
nenden Sunfertitel weiterführte, das aber andrerfeits, mas die 
Beteiligung am Regimente der Stadt anbelangte, bis 1798 
ben übrigen Zünften aud) nicht nachſtand, fondern ihnen 
durchaus gleichgeftellt war. Aehnlich wie in Zürich lagen 
die Verhältniſſe in Schaffhauſen. Baſel war alfo die 
Stadt mit ber bem Wortlaute ber Verfaflung nad) weitaus 
demofratifchften NRegierungsform. Und dennoch werden wir 
bei náberem Sufehen auch bier ganz deutlich zwei Klaſſen 
von Bürgern — und zwar Qollbürgern — unterfcheiden 
können: eine im Regimente der Stadt tatfächlich vertretene 
und eine zweite, bie von bemfelben mehr oder weniger aus- 
gefchloffen blieb. Zroß der ftreng demofratifchen Verfaſſung, 
die innerhalb der eigenen Yürgerfchaft feine Unterſchiede zu 
fennen vorgab und [auf welcher daher auch die fremden 
Adelstitel, bie nicht wenige Familien aufweifen fonnten,!) 
nicht anerkannt wurden — im Gegenfa zu der in ben meiften 
anderen Orten übliden Praxis — war eben das Baſel des 
16. bis 18. Sabrbunbert$ bennod) ein durchaus arifto- 
fratifches Staatswefen; nur war es feine Geburtsariftofratie, 
die berrfchte, freilich auch nicht, wie man etwa hören fann, 
eine bloße Geldariftofratie, fondern es war viel eher, wie 
wir nod) feben werden, eine Art Handelsariftofratie, b. D. 
richtiger eine Ariftofratie der Großfaufleute. 

Obre Glieder wurden vom Q3olfe furgmeg als „Herren“ 
bezeichnet, aber nicht etwa aus dem Grunde, weil fie einer 
befonderen ober gar bevorrechteten Herrenfafte angehörten, 
fondern lediglich deswegen, weil fie vor allem in den vier 
erften, feit alters ber fogenannten Herrenzünften zum 
Schlüffel, zu Hausgenofien, Weinleuten und Safran faßen, 
die damals fchon lange feine Privilegien mehr vor ben 

1) Bon altbasler Geſchlechtern find Hier zu nennen unter 
anderen bie Irmy, Petri, Brand, Falkner, 6605, Krug, Sed unb aus 
Ipäterer Zeit die Wettftein, von Refugianten namentlich) bte deBary, 


be£adjenat, Curioni, D’Annone, SSertematt, Sozzini, Paravicini unb 
Bellizari. 


71 


übrigen, den fogenannten Meifter- oder Handwerferzünften, 
genoffen. Die Vezeichnung paBte dann freilich umfo befler, 
als die Betreffenden in der Tat die Regierung faft aus: 
fhlieglih in Händen hatten; bod) ift es, wie geſagt, mehr 
nur ein zufälliges Iufammentreffen, daß gerade bie Herren: 
zünftler zugleich auch die Herren im Regimente der Stadt 
gewefen find. „Patrizier" können fie daher — zwar aud) fo 
nod) immer nur mißbräuchlich — höchſtens genannt werden 
nad) Analogie ber Verhältniſſe, wie fie in den deutſchen 
Reihsftädten um die Mitte des 18. Zahrhunderts waren 
nnb monad) 3. 93. Goethe als Srankfurter Patrizier galt, 
bloß weil fein Vater dafelbft den Rat befeflen hatte und fein 
mütterlicher Großvater 93ürgermeifter gemejen war. 

Es handelt fid) nun barum, in Folgendem erftens ein: 
mal zu unterfuchen, ob au bieler Klafle der fogenannten 
„Herren” ein bearenzter Kreis beftimmter Familien gehörte 
unb ob er ferner mit der Ausübung gewifler Berufe zu- 
fammenbing, und zweitens, darzulegen, in was denn eigent- 
lich bie politifchen Vorrechte derfelben beftanden haben und 
in welcher Form, beziehungsweife unter welchem Rechtstitel, 
oder vielleicht auch bloß Vorwand, fie diefelben ausgeübt 
haben. Wie wir nämlich im Verlaufe unferer Unterfuchung 
nod) finden werden, handelt es fid) dabei entjchieden um 
mehr als nur um einige im Grunde ja nichtsfagende rein 
äußerliche Auszeichnungen, wie fie 3. 93. die fonftaffel in 
Zürich nod) genoß; diefe Familien haben vielmehr, wie 
(on betont worden ift, von. der Mitte des 17. bis zum 
Ende des 18. Jahrhunderts tatfächlih bie Leitung ſowohl 
der inneren als auch der äußeren Politik Baſels ausfchließ- 
[id in Händen gehabt. Zur 93eantmortung aller biejet 
Fragen iff es nötig, einen kurzen Rüdblid über das Re: 
giment in Baſel aud) in früheren Sabrbunberten zu tun. 

23i8 zum Jahre 1382 hatte dasjelbe noch durchaus beim 
Bifhof — alfo dem legalen Stadtherrn — geftanben, der es 
durch den von ihm gefe6ten 93ürgermeifter, ber dem Ritter- 


72 


ftande angehören mußte und gewöhnlich aud) aus ben Lehens⸗ 
leuten unb Minifterialen des Biſchofs genommen wurde, fo- 
wie durch einen Rat, bejftebenb aus vier Rittern, aht Mit- 
gliedern der hohen Stube — den deswegen fogenanten Acht: 
burgern — forie einem aus jeder der fünfzehn Zünfte durch 
bie bifchöflichen Kiefer gewählten Ratsherrn ausüben ließ. 
Erft feit 1382, als aud) die durch bie Zunftgemeinden felbft 
gewählten 3unftmeiffer zuerft in den Rat gelangten, kann 
man mit einigem Recht von einer wirklichen Beteiligung der 
zünftigen Bürgerſchaft am Regimente der Stadt prechen, 
obgleih ihre Mitwirkung vorläufig fi nod) ausfchlieplich 
auf Stagen ber inneren Politif und Verwaltung erftreden 
mochte; bie äußere Politif war nad) wie vor in erfter Linie 
Sache des nad) jeder Richtung bin vom Biſchof abhängigen 
Bürgermeiſters. Trotzdem fortan den dreißig Ratsherren 
unb Meiftern der 3ünffe zufammen bloß zwölf Ritter unb 
Achtburger gegenüberftanden, [o war bod) das fafti[de 
Uebergewicht im Rate auch fernerhin nod) bei le&teren, ba 
erftens einmal die Mitglieder ber vier erften Zünfte — der 
ſchon erwähnten fpäter fogenannten Herrenzünfte — ihrem 
gangen nterefienkreife nad) weit näher ben Achtburgern 
fanden, die fi, wie id im folgenden nod) an einigen 
Veifpielen zeigen werde, aus ihnen immer wieder ihren 
frifen Nachwuchs holten, als den übrigen Zünften. 
Zweitens wurde ber ebenfo 1382 zum erften Male genannte 
Oberftzunftmeifter gleichfalls aus den Achtburgern genom- 
men. Gerade die beiden bódjiten und wichtigften Staats- 
ämter waren fomit damals den Zünften noch vorenthalten; 
diefe mit der Zeit aber bod) nod) für fid) zu erobern, machte 
baber fortan ihr ganzes Beftreben aus. Doch erreichten fie 
ihr Ziel erft im 16. Sahrhundert. Uber menn es ihnen 
damals auch gelungen ift, Adel und Patriziat endgültig aus 
bem Regimente zu ftoßen, fo hatten fie damit, wie fid) bald 
zeigte, nur einer Gruppe neuer Herren den Weg zur Macht 
gebabnt. Deren Herrfhaft aber machte dann erft das Jahr 


73 


1798 ein Ende, nachdem ein erfter 1691 gewagter Verfuch, 
ihnen bie angemaBte Macht wieder zu entreißen, befanntlich 
Häglich gefcheitert war. Doch, bevor wir uns biefer neuen 
Ariftofratie, bie zum mindeften ebenfo abfolut herrfchte, wie 
es das ehemalige Patriziat getan batte, zuwenden, wollen wir 
vorerft noch näher unterfuchen, aus welchen Bevölkerungs⸗ 
fchichten denn eigentlich bie Achtburger fid) refrutierten. 
Wie Schon angedeutet worden ift, in der großen Mehrzahl 
aus den vier erften Zünften. 

Dreierlei war da möglich: entweder frat ein ganzes 
Gefchleht ben Achtburgern bei — fucceffive vielleicht, wie 
3. 23. bie von Schliengen — oder bloß eine Linie, wie dies 
im 15. Sabrbunbert mit ben von Brunn — Heinrich und feinem 
Sohn Morand — ber Gall geweſen ift, ober aber endlich 
aud) bloß einzelne PDerfonen, nachdem fie fid) von den Ge- 
Ichäften auríidgegogen unb diefelben ihren Söhnen überlafien 
hatten, wie wir dies namentlih bei den Sfcheggenbürlin 
beobachten können. Schon fett bem 14. Sabrbunbert nämlich 
beftand die hohe Stube außer aus ein paar uralten, noch zur 
urfprünglihen Hausgenoſſenſchaft bes Biſchofs gehörenden 
Gefchlehtern wie ben (Gina, Rot, Münzmeifter, Sfelin 
(älteres Gefchleht) unb aem Angen, in erfter Linie aus 
fogenannten Müffiggängern, b. b. folchen, bie entweder aus 
ihren Renten oder aus ihren Landeinkünften lebten, alfo 
aus GroBfapitaliiten und Großarundbefigern; dabei war es 
gana gleichgültig, ob ber Grundbefiß Eigen, Lehen oder 
Pfand war. Weiter iff es ein bloßer Zufall und ent(prad) 
durchaus nicht etwa einem Erfordernis, baB einige diefer 
ipáteren Achtburgerfamilien ungefähr gleichzeitig mit ihrem 
Eintritt in bie Gemeinfchaft des Patriziates aud) Wappen- 
briefe oder gar Adelsdiplome erhalten haben, wie a. Q3. bie 
Kilchmann und bie von Brunn, meld) letztere fogar zu An- 
fang des 16. Zahrhunderts in den Matrikeln der Orte— 
nauer Ritterfehaft figurierten;!) denn einerfeitS haben bie 

1) Brgl. „Wappenbuch der Ortenauer Ritterfhaftsbibliothet“ 


74 


Irmy, bie zu Ende des 15. Zahrhunderts ebenfalls geadelt 
worden find, deswegen doch niemals zu den Achtburgern 
gezählt, und andrerfeits haben bie Sürlin, die fchon feit bem 
13. Sabrbunbert als Achtburger im Rate faBen, erft im 
15. Zahrhundert noch einen Eaiferlihen Wappenbrief erhalten. 

Verfolgen wir nun einige biefer jüngeren Achtburger: 
gefchlechter in ihrem Werdegang: 1359 nod) war Hartmann 
Stöweler Ratsherr von Hausgenofien, 1361 fißt er unter 
den ?[dfburgern im Rate; Sobannes$ Helbling, der 1361 
Ratsherr zu Weinleuten iit, erfcheint feit 1371 unter den 
Achtburgern; Ronrads Sevogel, ber nod) 1370 Ratsherr zu 
Hausgenoflen war, Sohn Petermann fitt feit 1375 als Acht: 
burger im Rate; Petermann aem Asgtftein, noch 1375 Rats: 
bert zu Hausgenoflen, fit feit 1380 ebenfalls als Acht: 
burger im Rate; Safob Zyboll, Pfandherr zu Wartenberg, 
Schenfenberg, Rheinfelden und der Grafichaft Homberg, 
1380 nod) Ratsherr zum Schlüffel, tit feit 1382 Achtburger; 
Niklaus Schilling, 1385 Ratsherr zu Hausgenofien unb 
früher vom Schlüffel, ift feit mindeftens 1403 — leider fehlen 
bie Ratsbefagungen von 1385 bis 1405 — des Rats von 
Achtburgern. Erft im 15. Sahrhundert fleigen dann — eben: 
fall8 aus den vier erften Zünften — ferner nod) ins Patri- 
ziat hinauf namentlich bie Murer, Offenburg, zem Haupt, 
Grieb und 3eigler. Des weiteren fei darauf bingemiefen, 
daß wir mit einer einzigen Ausnahme, bie bie Kilchmann 
betrifft, nie ein Mitglied einer eigentlichen Handwerferzunft 
bitelt aus diefer in den Kreis ber Achtburger übertreten feben. 
So waren im 15. Sahrhundert bie Hegenheim von ber Brot⸗ 
bedenzunft, der fie urfprünglich angehört hatten, über bie 
Safranzunft in bie hohe Stube gelangt, und über bie Haus: 
genoflenzunft, ebenfalls aus der Brotbedenzunft, freilich erft 
zu Anfang des 16. Zahrhunderts, bie Meyer von Balders- 
in des Freiherrn v. Neuenftein „Wappentunde“, Jahrgang IX (1902), 
Tafel 24. Wir finden von Basler Geſchlechtern ferner in bemjelben 


nod) die Brand, Offenburg und Kindweiler, meld) legtere erit 1640 
vom Kaijer geadelt worden find. 


75 


dorf; fon im 15. Sahrhundert wieder waren die Efringen 
— urfprüngli Spengler — über bie Schlüflelzaunft zu den 
Achtburgern emporgeftiegen, ebenfo bie Schlierbach und Mel- 
finger, beide urfprünglich zu Gerbern zünftig, endlich von 
ber Grautücherzunft, bie im 15. Sahrhundert mit ber Oteb. 
leutenzunft zu einer Zunft vereinigt war, über Weinleuten 
und Schlüffel bie von Laufen. Alle diefe Familien hatten 
drei bis vier Generationen gebraud)f, um den genannten 
Weg zurüdzulegen. Wir fennen weiter nod) verjchiedene 
Familien, deren Mitglieder um die Wende des 15. zum 
16. Sahrhundert gelegentlich ebenfalls ben Syunfertitel führten, 
trogdem fie nicht als 9(dtburger, fondern als Sünftler im 
Rate faBen, aber ausfchließlich auch wieder als Vertreter 
der vier Serrengünfte; zu diefen Familien gehörten 3. 23. 
bie gem Luft — urfprünglich Sattler —, bie Eberler, Bär 
und Meyer zum Pfeil. Wir müffen annehmen, daß bie 
Betreffenden bei den Achtburgern vorerft einmal Stuben: 
recht bejaBen und daß fie dann in vorgerüdteren Jahren wohl 
felbft nod) — jedenfalls aber fpäter ihre Söhne — aud) ganz 
zu ihnen übergegangen wären, menn nicht durch bie Refor: 
mation, bie ja befanntlich nicht bloß auf Firchlichem, fondern 
ebenfofehr auch auf politifhem Gebiete in demofratiihem 
Sinne wirkte, biejer ganzen Bewegung ein vorzeitiges Ende 
bereitet worden wäre. Es find Leute, bie zum Teil größere 
Lehen in Händen hatten, wie 3. 293. bie Meyer zum Pfeil 
bie Herrfchaft Büren, ober bie einen berrfchaftlichen Sig als 
Eigen erworben hatten, wie bie Eberler Schloß Hiltelingen, 
oder die im Domkapitel vertreten waren, gleich den zem 
Luft, oder endlich bie mit bem Patriziate ſchon mehrfach 
verfchwägert waren, wie namentlich bie Bär — mif einem 
Worte alles Familien, die mitten in der Entwidlung von 
Herrenzünftlern zu Achtburgern fanden. 

Mit diefen paar Beifpielen mag e8 feine Bewendung 
haben; es follte an ihnen bloß gezeigt werden, wie in der 
Tat fdjon im 14. und 15. Jahrhundert bie vier erften Sünfte 


76 


eine gewifle Sonderftellung gegenüber den anderen Zünften 
einnabmen, b. b. wie fie eine Art Vorftufe zur hohen Stube 
bildeten. Durch ihren Eintritt in die hohe Stube und ihre 
Permifchung mit bem Patriziate, bie gewöhnlich gleichzeitig 
damit erfolgte, aber etwa auch einmal demfelben voranging, 
waren diefe ehemaligen Zünftler für die eigentlichen ftädti- 
fhen Sintereffen mit wenigen Ausnahmen bald völlig verloren. 
Cie feßten fid mehr und mehr in Gegenfat zu der übrigen 
Bürgerſchaft, indem ihr Hauptbeftreben von nun an auf 
Hofdienft und Erwerbung bifchöflicher ober Hfterreichifcher 
Leben gerichtet war; damit aber wieder Fetteten fie: fid) 
immer enger an den Bifchof, der, obgleich Herr der Stadt, 
bod) — ober vielleicht gerade deswegen — der größte Feind 
ihrer aufftrebenden, in den Zünften verfürperten Bürger⸗ 
[haft war. Diefe allmáblide Entfremdung von der Stadt 
der ritterlichen und patrizifchen Gefchlechter, bie ja urfprüng- 
[id, wie wir gejeben baben, im Namen des Bifchofs bie 
Stadt allein regiert und dann auch noch big in die Mitte des 
15. Sahrhunderts, zum größeren Zeile wenigftens, deren 
Leitung in Händen gehabt hatten, batte bie weitere Folge, 
baB von diefem 3eitpunfte an es immer fchwieriger wurde, 
den Rat verfaffungsgemäß mit vier Rittern und adt Glie- 
dern ber boben Stube zu beſetzen; fchon 1480 faßen bloß 
nod) zwei Ritter und fünf Achtburger im Rate. Dazu 
fam, bap fchon feit ungefähr der gleichen Zeit aud) ber Oberft- 
zunftmeifter nicht mehr ausfchließlich aus ben Achtburgern 
genommen wurde, fondern abwechfelnd aus ben Achtburgern 
und ben Zünften, allerdings mit einer einzigen Ausnahme 
aus den Herrenzünften; bloß in ben Stonffiftjabren 1481 und 
1483 war es ber Bürgerſchaft gelungen, ihren Vertrauens: 
mann, ben Meifter zu Schiffleuten und Fiſchern, Oswald 
Holzach, als Gegenfanbibaten gegen ben vom Biſchof eigent- 
lid) [don ernannten , unfer", wie er fid) mit Unrecht nannte, 
Adam Walch!) burdaujeben. 

1) Brgl. Beiträge zur vaterländifhen Geihihte N. F. V 
G. 498, Anmerf. 113. 

77 


Eine weitere wichtige Grrungen[d)aft war es bann für 
die Zünfte, als e8 ihnen gelang, felbft bie ausfchließliche Be⸗ 
fegung ber Bürgermeifterwürde durch bie Ritter zu burd- 
brechen, indem 1516 in ber Perfon Jakob Meyers zum 
Hafen ber erfte Zünftler — wenn aud) ein Herrenzünftler 
— gu diefem Amte gelangte, ba feine zwei Ritter mehr in 
der Stadt waren, die, wie es bie Verfaffung vorfchrieb, alter: 
nierend diefe Würde hätten beffeiben fónnen. Allerdings 
war Safob Meyer nod) nicht burd) bie Bürgerſchaft Telbft 
gewählt, fondern gleich den bisherigen ritterlihen Bürger⸗ 
meiftern durch den Biſchof eingefeßt worden; immerhin war 
feine Ernennung bod) eine recht weitgehende Konzeffion des 
Biſchofs an bie Bürgerſchaft. Der erfte wirklich durch bie 
Zünfte gewählte Bürgermeifter war bann ber 1521 au diefer 
Würde gelangte Adelberg Meyer zum Pfeil, gemefener Rats: 
bert zu Safran, feines Berufes ein „Watman” oder Sud- 
händler, der, troßdem er aus einer Familie ftammte, bie, wie 
wir gejeben baben, bei Achtburgern Stubenrecht befaß, 
dennoch bem Biſchof und deſſen Partei gegenüber viel unab- 
bängiger daftand als Jakob Meyer, welcher aus der, wie 
Ihon ihr Name bemeift, bem Biſchof befonders naheftehenden 
Hausgenofienzunft hervorgegangen war. Inter Adelberg 
Meyers Amtsführung wurden bann den Achtburgern bie 
legten Vorrechte genommen, indem fie von nun an hinficht- 
lich der Vertretung im Rate den Zünften gleichgeftellt wur- 
ben; wie dieſe follten fünftigbin auch die beiden Stuben 
„zum GCeufgen" und „zum Brunnen” nur noch je zwei Ver—⸗ 
freter in den Rat fenden. De facto aber haben fie fchon 
von 1523 an nur nod) einen Ratsherrn geftellt, da nicht 
mehr die nötige Anzahl von Achtburgern in der Stadt vor- 
handen war zu einer doppelten 93efegung. Bald fam eg 
fo weit, daß man fogar fremde Junker nad) Baſel ziehen 
mußte, um überhaupt noch einen patrizifchen Vertreter 
in den Rat fenden zu füónnen; fo jaB von 1538—1542 
unter Niklaus Efcher aus Züri — durch feine Heirat 


78 


mit Urfula Grieb Mitbefiger von Binningen unb etit feit 
furgem Basler Bürger — neben Chriftof Offenburg von bet 
boben Stube im Rate. Gerade zwanzig Sabre [páter aber, 
1543, wurde dem Patriziate —, genauer gejagt der hoben 
Stube — überhaupt jegliche Mitwirkung am Regimente ge- 
nommen, indem der lebte und nod) einzige Vertreter der: 
felben im Rate, der [dort genannte Junker Gbriftof Offen- 
burg, wegen Liederlichkeit und unregelmäßigen Befuches 
ber Ci&ungen feines Amtes ftille geftellt werden mußte.') 
Schon vorher aber batte bie gewalttätige Durchführung 
der Reformation, bie, wie fchon gefagt, nicht bloß eine 
Eirchliche, fondern aud) eine eminent politifche Bewegung 
geme[en war — eine Revolution der demofratifchen Elemente 
in der Bürgerfchaft gegen den Bifchof und feinen ariftofrati- 
fen Anhang in Domkapitel und Rat — ber Vorherrſchaft 
der bisher regierenden Gefchlechter für alle Zeiten ein 
Ende bereitet. Die paar patrizifchen Gefchlechter, bie ben 
neuen Glauben annahmen unb aud) nad) Einführung der 
Reformation nod) in Baſel blieben, find von feiner Be— 
beufung mehr für bie weitere Gefchichte ber Stadt gemefen; 
entweder verfchmolzen fie mit ber übrigen Vürgerfchaft, wie 
es mit den Meltingern, von denen, als fie zu Ende des 
17. Sahrhunderts nod) einmal in einem Gliede in den Rat 
gelangten, wohl niemand mehr wußte, daß fie zu Anfang 
des 16. Zahrhunderts zu den Achtburgern gezählt hatten, 
unb ben fdon mehrfach erwähnten Meyern zum Pfeil der 
Gall gewefen iff. Oder aber, wenn fie fid) aud) fernerhin in 
ihrer bisherigen fozialen Stellung zu halten vermochten, wie 
die Offenburg, fo fuchte man fie fortan womöglich außerhalb 


1) Als bloße Trintftube bes umwohnenden Adels, ohne jegliche 
politiidje Rechte, friftete fortan bte Stube „zum Seufzen“ nod bis 
ins 17. Sahrhundert ihr Dafein weiter; bte Stube zum Brunnen 
aber war ſchon früher, noch im 16. Jahrhundert, eingegangen. Ganz 
anders alſo in Zürich, woſelbſt, wie wir geſehen haben, die Kon⸗ 
ſtaffel das ganze 17. und 18. —— hindurch, gleich wie die 
Zünfte, ihre Vertretung im Rathe hatt 


79 


bet Stadt zu befchäftigen, indem man fie al$ Obervögte auf 
bie 9anbvogteien [djidte. So waren nod) von 1545—1550 
Henman und von 1555—1577 fein Sohn Junker Hans 
Philipp Offenburg Obervögte auf Farnsburg erfterer nach- 
bem er vorher fogar nod) während zwei Amtsperioden 
Bürgermeifter gemefen war; die beiden Genannten find aber 
aud) bie letzten Vertreter des Patriziates gewefen, die ein 
öffentliches Amt in der Stadt oder deren Herrfchaftsgebieten 
bekleidet haben. Daß Henman nod) von 1542—1545 Bür⸗ 
germeifter fein fonnte, zeigt einerfeitsS wie bod) man aud) 
damals nod) bie mannigfachen Verdienfte biefes Gefchlechtes 
um feine Heimat in Bafel einfchäßte unb iff zugleich ein 
glänzendes Zutrauensvotum ber bod) fonft fo Demofratifch ge- 
finnten und auf ihre Rechte fo eiferfüchtigen Bürgerfchaft an 
dDasfelbe. Daß er aber nur fo furge Zeit DBürgermeifter 
geblieben iff und nicht, wie es ſchon damals allgemein üblich 
war, bis zu feinem Tode — er ftarb erft 1558 —, ift dann 
andrerfeits wieder ein Beweis dafür, daß man auf bie Dauer 
das Erperiment bod) als zu gewagt anjab; dadurch, baB man 
ibm 1545 die große und reiche Landvogtei Farnsburg zur 
Oermaltung übergab, wurde aber ber Nichtwiederwahl als 
DBürgermeifter der verfe&enbe Stachel genommen. 

Bon den ehemaligen Basler Ritter- und? Minifterial: 
sefhlehtern — um aud) von ihnen nod) ein kurzes Wort 
zu Jagen — ift nur ein einziges fchon 1529 zur Reformation 
üibergetreten: das der Herren von Värenfels. Sie erfcheinen 
daher auch allein von allen, troSbem fie [don feit Ende des 
15. Sahrhunderts nicht mehr in Baſel wohnten, fondern meift 
auf ihren Schlöflern zu Segenbeim und Grenzach faßen, bis zu 
ihrem Ausfterben 1835 — wenigftens theoretifh — als Voll: 
bürger,!) während 3. 23. die Herren von Eptingen zu Hagen- 

1) In Wirklichkeit aber haben fie fortan, da fie eben feiner 
Zunft beigetreten waren, nie mehr weder das paſſive nod) das aftive 
MWahlreht je ausgeübt; erit zu Anfang bes 19. Jahrhunderts war 


einer der febten Vertreter bes Geldjfedjts als Zunftbruder zu Haus: 
genofjen nod) einmal Mitglied des großen Rats geworden. 


80 


tal, bie Reich von Reichenftein zu Viedertal und Snalingen, 
fowie die Herren von Rotberg zu Bamlach unb Rheinweiler 
bloß ein fogenanntes Ehrenbürgerrecht genofien, defien 93or- 
rechte gegenüber dem gewöhnlichen Ausbürgerrecht, wie es 
3. 93. bie Herren von Ernau — öſterreichiſche Religionsflücht: 
[inge —, bie Waldner von QGreunbftein und endlich auch die 
Markgrafen von Baden-Hochberg befaßen, im wefentlichen 
darin beftanben, Daß es erblich war und aud) nicht auf eine be- 
flimmte Zeitdauer befchränkt wie le&teres, das alle paar Sabre 
gegen Erlegung eines Schirmgeldes erneuert werden mußte. 
Ganz anders ging da bekanntlich Bern vot, wofelbft nicht 
bloß 1657 bie 93urggrafen von Dohna als Bürger ange: 
nommen wurden, jonbern wofelbft fie auch zu Anfang des 
18. Sabrbunbert$ fogar nod) in den Großen Rat gelangten. 

Wir fommen zu unferem eigentlichen Thema. Mit bem 
Sabre 1529 alfo batte, wie wir gefehen haben, eine neue Aera 
begonnen. Wer waren in ihr die Regierenden? Laut ber 
Verfaſſung bie ganze in bie 15 Zünfte eingeteilte Yürger- 
(daft, die fowohl das aktive als auch das paffive Wahlrecht 
für fämtliche Staatsftelen befaß und bie alljährlich auf 
Samstag vor St. Sobanns des Täufers Tag fämtliche Aemter 
— [ei es nun direkt oder indirekt, durch bie fog. Sechſer — 
befe6te. Wie ftellte fid) aber die Sache in der Praxis dar? 
Zur Beantwortung diefer Frage wird es fid) empfehlen, ein- 
mal die Liften aller höheren Beamtungen, wie namentlich die 
der Bürgermeifter, Oberftzunftmeifter und Dreizehnerberren 
oder geheimen Räte einer eingehenden Prüfung auf ihre 3u- 
fammenfegung zu unterziehen. Da finden wir nun, daß von 
ben 43 Bürgermeiftern, bie von 1529 bis 1798 an der Spibe 
des Basler Staatswefens geftanden haben, nicht weniger als 
30 den Herrenzünften — die hohe Stube mit eingefchloffen — 
angehört haben, unb zwar waren 14 aus der Schlüflel- 
zunft hervorgegangen, 9 aus der Hausgenoflenzunft, nur noch 
je drei aus ber Weinleuten- und aus der Safranzunft, foie 
alfo nod) einer — Henman Offenburg — aus der hoben 


81 s 


Stube. Bon ben übrigen 13 93ürgermeiftern fallen je 4 auf 
bie Schneidern- und Spinnwetternzunft, je 2 auf bie Gart- 
nern- unb Otebleuten- unb nod) einer auf bie Schärernzunft. 
Ganz ähnlich ift das Verhältnis zwifchen den Serren- unb 
Handwerkerzünften bei den Oberftzunftmeiftern: von 1529 bis 
1798 zählen wir 30 Oberftzunftmeifter, die fpäter nicht auch nod) 
Dlirgermeifter geworden find; 20 davon fallen auf bie Herren- 
zünfte: nämlich 8 auf bie Schlüffel-, 7 auf bie Hausgenoflen-, 
4 auf bie Weinleuten- und nod) einer auf die Safranzunft. 
Die übrigen 10 Oberftzunftmeifter verteilen fid) auf bie 
Zünfte zu Gartnern (4), Schmieden (3), Webern (2) und 
Rebleuten (1). Don ben 73 Häuptern des Standes Baſel 
in den Sabren 1529 his 1798 fallen demnach 50 — b. b. mehr 
als zwei Drittel — auf bie Herrenzünfte, nur allein auf bie 
erfte derfelben, den Schlüffel, bie Zunft der Groptfaufleute, 
aber nicht weniger als 22 (14 + 8). 

Sehen wir nun aud) nod) nad), wie es mit bem fogen. 
Dreizebnerkollegium in biefer Hinficht beftellt war. Diefes, 
urfprünglich bloß Kriegsrat und nur in Zeiten der Gefahr in 
Funktion tretend, wurde erft im Le&ten Viertel des 16. Sabr- 
hunderts zu einer ftánbigen Beamtung, weshalb wir aud) feit 
biefer Zeit — genauer feit 1571 — Mitgliederverzeichniffe 
desfelben befiten; ein regelmäßig geführtes Protokoll eriftiert 
fogar erft feit 1653. Grft feitbem iit das Dreizehnerkollegium 
vom bloßen SKriegsrat zum eigentlihen Geheimen: oder 
Staatsrat geworden, das beiBt zu einem engeren Ausichufle, 
ber zufammen mit den beiden 93ürgermeiftern und Oberft- 
zunftmeiftern, bie bemfelben er Officio angehörten, bie eigent- 
[ide Regierung bildete, namentíid) auch bie Leitung ber 
äußeren Politik ausfchließlih in Händen batte; aber aud) in 
allen Gragen der innern Politit bildeten die Dreizehner— 
herren fortan die lebte Inſtanz, bie bisherige Bedeutung 
nicht bloß des Großen-, fondern aud) des Kleinen Rates 
berabfeSenb. Der verfafiungsgemäße Verlauf der Ge: 
fchäfte wäre ja bod) eigentlich ber gemefen, bap der Kleine 


82 


Rat, der bie erefutive Gewalt verkörperte, alle Geſetze unb 
alle weiteren Verhandlungsgegenftände von großer Wichtig: 
feit dem Großen Rate als ber Legislativgewalt vorgelegt 
hätte. Doc fdon feit dem zweiten Viertel des 16. Fahr: 
hundert8S wurde der Große Rat außerordentlichermweife, 
b. b. außer an den alljährlich mieberfebrenben Schwörtagen, 
nur nod) bódft felten einberufen; von 1529 big zu Ende 
des Jahrhunderts iff es ein einziges Mal gefchehen (1585), 
während des ganzen 17. Jahrhunderts bis zur Revolution 
von 1691 im ganzen fünfzehnmal. Damals aber wurde be- 
fchloffen, vierteljährlich eine Situng abzuhalten, 1718 bann 
wenigftens alle Monate; aber ber häufigeren Einberufung 
des Großen Rates entíprad) nicht etwa auch eine größere 
Bedeutung der ihm zur 93ebanb[ung überwiefenen Gefchäfte. 
Sm Gegenteil: bie ihm von Rechts wegen aufommenben 
Obliegenheiten wurden einfad) vom Geheimen Rate über- 
nommen, fo daß alfo bie gefamte [egisfatipe und erefutive 
Gewalt im Kleinen Rate vereinigt, b. b. ausſchließlich Mit- 
gliedern biefer Behörde vorbehalten war, bie wichtigere legis- 
lative fogar bloß einem Ausſchuß von neun Ratsgliedern, 
denfelben, bie zufammen mit ben vier Häuptern ben Gebeimen- 
oder Dreizehnerrat bildeten. Es iff daher nur allzu be- 
greiflich, Daß bie Volksausſchüſſe 1691 bie Abfchaffung diefes 
alimádjfigen Kollegiums verlangt und — allerdings nur 
für febr kurze Zeit — auch wirklich burd)gefe&t haben. Ueber 
feine Wahlart babe ich nichts finden fónnen; bie Mitglieder 
werden fid) daher wohl durch Rooptation ergänzt haben. Wie 
war diefes wichtige Kollegium nun zufammengefett?! Don 
1571 bis 1798 zählen wir im ganzen 128 Mitglieder des Ge- 
beimen Rates, natürlich bie Häupter nicht mitgezählt, von 
denen 71 — alfo wieder weit über die Hälfte — den Herren- 
zünften angehörten: 22 dem Schlüffel, 17 den Hausgenoflen, 
13 den Weinleuten und 19 der Safranzunft,; bie übrigen 
verteilen fid) auf bie Sünfte zu Rebleuten (13), Gartnern 
(11), Spinnwettern (6), Webern (5), Schmieden (4), 93rot- 


83 9" 


beden, Himmel und Schiffleuten (je 3), Kürſchnern, Gerbern 
und Zifchern (je 2), endlich Schuhmachern, Schneidern unb 
Schärern (nod) je einer). Die Zerfplitterung auf die Hand: 
werferzünfte ift alfo bier eine viel größere als bei Bürger: 
meiftern und Oberftzunftmeiftern; wir werden noch darauf 
zurückzukommen haben. 

93epor wir weiter geben, mögen mir nod) einige Be— 
merfungen mehr allgemeiner Natur geftattet fein. Bekanntlich 
war das 17. Zahrhundert die Zeit, in der fid) in fait allen 
Orten der alten Eidgenoflenfchaft — in ben €anbfantonen fo 
gut wie in den Stadtfantonen — die bisher bod) noch mehr 
oder weniger bemofratilden Regierungsformen zu immer 
erflufiver werdenden WUriftofratien, zum Zeil eigentlichen 
Dligarhien, ausbildeten. Die genannte Entwidlung erfolgte 
zumeift nad) zwei Richtungen bin: erftens einmal, indem, wie 
wir e8 foeben für Bafel nachgewiefen haben, bie oberen 
Kollegien alle Gefchäfte an fid) riffen und damit bie urfprüng: 
lich wichtigeren unteren Kollegien zu faft gänzlicher Be— 
deutungslofigfeit reduzierten; unb dann zweitens, indem fie 
zu diefen nun an Wichtigkeit gewonnen habenden höheren 
Aemtern bloß einen Heinen Kreis bevorzugter Familien zu- 
ließen. Baſel bildete aud) in diefem zweiten Punfte feine 
Ausnahme. In was es fid) dabei von den Übrigen Städten, 
wie namentlich Bern, Freiburg, Solothurn und Luzern unter- 
fchied, war bloß der Umſtand, daß in Le&teren dieſer Zuftand 
ein legitimer war, indem bier bie Verfaffung felbft zwifchen 
regimentsfähigen und nicht regimentsfähigen Familien unter: 
ſchied; in Bafel dagegen eriftierte dieſer Unterſchied theoretifch 
nicht, bier gab es aljo feine regimentsfähige, wohl aber 
de facto allein regierende „Herrengefchlechter”. 

Die bisherige Darftellung bat ung gezeigt, wie diefe 
Familien, bie wir im einzelnen nod) werden fennen lernen, 
vermittelft ihrer Snforporierung in den fogenannten Herren- 
zünften zu biefer Stellung gelangt find. Um nun möglichſt 
genau und zugleich recht anfchaulich nachweifen zu können, 


84 


wie ganz allmählih, namentlich feit bem beginnenden 
17. Zahrhundert das Regiment fid) immer ausfchließlicher 
auf bie Herrenzünfte befchränkte, dürfte es fid) empfehlen, den 
langen Zeitraum von 1529 bis 1798 in fünf Eeinere Ab- 
fchnitte einzuteilen, von denen ber erfte bie Jahre 1529 bis 
1571, d.h. bis zur Einführung des Dreizehnerkollegiumg, 
umfaßt, der zweite von 1571 bis 1652, d.h. bis zur Um— 
wandlung diefes urfprünglich bloßen Kriegsrates zum eigent- 
lichen geheimen Staatsrate, reicht, der dritte, vierte und fünfte 
einfach je rund fünfzig Sabre umfaffen follen. 

Bon ben neun Vürgermeiftern nun und den ſechs Oberft- 
zunftmeiftern der erften Periode gehörten bloß drei feiner 
Herrenzunft an; es find dies die Bürgermeiſter Theodor 
Brand (Oberftzunftmeifter 1534, 93ürgermeifter 1544), der 
als Wundarzt und Chirurg zur Schärernzunft gehörte, und 
Kaſpar Krug (Oberftzunftmeifter 1557, 93ürgermeifter 1559), 
der als Eifenhändler zu Schmieden zünftig war, forie der 
1529 ein erftes Mal zum Oberftzunftmeifter gelangte — ein 
zweites Mal 1538 — Mare Heidelin, ber als Schürligweber 
bie Webernzunft befaf. Alle drei gehörten aber troßdem 
nicht zu den Handwerkern, Krug und Heidelin waren fogar 
richtige GroBfauffeute. Sm nächften Zeitabfchnitte, ber alfo 
bie Sabre 1571 bis 1652 umfaßt, zählen wir im ganzen 
12 Bürgermeifter und ebenfoviele Oberftzunftmeifter, fowie 
nit weniger als 55 Mitglieder des Dreizehnerkollegiums. 
Sprechen wir zuerft von biefen. Wie [don früher betont 
wurde, hatten fie in biefem Seitraume nod) nicht bie große 
Bedeutung wie fpäter, Dementfprechend ift aud) — mwenigfteng 
im 16. Sabrbunbert — nod) fein Heberwiegen der Herren: 
aünfte über bie Handwerkferzünfte bei ihnen zu Eonftatieren; 
anders iff es dann freilich fdon in den Sahren 1601 big 
1652, bie plößlich ein ftarfe8 Zurüdtreten ber letzteren auf: 
weifen; alfo gleichzeitig mit der zunehmenden Wichtigkeit 
aud) eine ftärfere 93eteiligung von feiten der „Herren”! Es 
iit Dies tupifch für ben herrſchenden Geift in jener Zeit. Es 


85 


mag genügen, auf diefe Tatfache bier Dingemiefen zu haben, 
ein Nachweis im einzelnen darf bier ausbleiben; für die 
fpäteren Perioden aber, bie das Kollegium auf der Höhe 
feiner Mactftellung zeigen, wird ein folcher allerdings nicht 
zu umgeben fein. 

Bon den 12 Vürgermeiftern find 8 — alfo zwei Drittel 
— aus ben Herrenzünften hervorgegangen; bie übrigen vier 
verteilen fid) auf bie Zünfte zu Schmieden (Melchior Horn- 
Locher, Oberftzunftmeifter 1601, 93tirgermeifter 1609), Spinn- 
wettern  (Gebaftian  Cpürlin, Oberftzunftmeifter 1619, 
Dürgermeifter 1621), Gartnern (Sob. Friedrich Ryhiner 
Oberftzunftmeifter 1628, 93tirgermeifter 1630) unb Rebleuten 
(Sob. Rudolf Wettftein, Oberftzunftmeifter 1635, Bürger⸗ 
meifter 1645). Von ben ebenfalls 12 Oberftzunftmeiftern ge- 
bóten fogar drei Viertel ben Herrenzünften an, bie Übrigen ber 
Schmieden: (Sebaftian Bed 1609), Webern- (Sob. Heinrich 
Steiger 1621) und Gartnernzunft (Sofepb Socin 1636). Wir 
haben dabei etwas zu verweilen. Unter den Handwerfer- 
zünften hatten fid) nämlich einige [don früh aud) anderen 
Berufen geöffnet, einesteils aus dem Grunde, weil fie nicht 
mehr genügenben Nachwuchs aus ihren Sanbmerfen hatten, 
wie e8 3. Q3. mit ber Rebleutenzunft ber Fall geweſen ijt, 
bie Schon feit bem 16. Sabrbunbert ausdrüdlich aud) ,, Sanbels- 
leute unb folche, bie aus ihren Renten lebten”, aufnahm, 
da es in Bafel damals nur nod) febr wenige wirklihe Reb- 
leute gab.!) Die gleihe Notwendigkeit mag ungefähr um 
die gleiche Zeit auch bie Gartnernzunft, zu der übrigens außer 
den Gärtnern und „Kremplern” (b. b. Obft- und Gemtje- 
bändlern) namentlih aud) die Wirte gehörten, zu dieſer 
largeren Praris veranlaßt haben. So finden wir mehrfach 
fon im 16. Sabrbunbert andere, namentlich gelebrte Berufe, 
in ihr vertreten: 1530 wurde „Doctor Johannes Husfchin 


1) Vrgl. Jakob Chriſtoph Bed in den Anmerkungen zu feiner 
beutidjen Ausgabe von Wurftifens ,Epitome historiae basiliensis“, 
Bajel 1757, ©. 364. | 


86 


genannt Ecolympadius unb Eufebius Husſchin, fin eelicher 
fon“ zu Gartnetn zünftig, unb [don 1517 „Heinricus Richener 
unb Gbriftoffel, fin eelicher fon”; Otpbiner war damals nod) 
Procurator der bifhöflihen Kanzlei. Bei einer weiteren 
Gruppe von Zünften war es vielleicht das finanzielle Inter- 
effe oder das 93eftreben nad) einer einflußreichen Vertretung 
im Rate, bie fie dazu veranlaßte, gelegentlich aud) ihrem 
Berufe nad S3unftfrembe in ihre Reiben aufzunehmen; 
leßterer 93emeggrunb bat ganz offenfichtlih 3. 93. bei ber 
Schneidernzunft mitgewirkt, als fie bem rebegervanbten Ad⸗ 
vofaten Dr. Franz Henric-Petri Zunftrecht bei fid) gewährte, 
dem Vater des bekannten Leiters der demofratifchen Be— 
wegung ber Sabre 1690 und 1691, Dr. Jakob Henric-Petri. 
Zu biefer Gruppe von Zünften dürften ferner aud) bie Halb- 
aünfte zu Sifchern und Schiffleuten gehört haben. Als dann 
im Verlaufe des 17. Sabrbunbert8 — hauptfächlich burd) bie 
immer zahlreicher nach Baſel ftrómenben Refugianten — 
ftetsfort neue Berufe eingeführt wurden, da genügte bie alte 
Zunftverfafiung nicht mehr, um biefe alle in den beftebenben 
Zünften unterzubringen; im Anfang bebalf man fid) damit, 
baB man die betreffenden Kaufleute für jeden Zweig ihrer 
fomplizierten Tätigkeit eine befondere Zunft anzunehmen 
zwang, und in der Tat waren die großen Seidenherren dann 
meift fowohl im Schlüffel, als aud) zu Weberen, zum Zeil 
aud) nod) zu Safran oder Hausgenoflen zünftig, je nachdem fte 
Daneben mehr auf den Detailhandel ober auf bie Spedition 
und das 93anfgefd)dft das Hauptgewicht legten.!) Doch auf 
die Dauer genügte das nicht. Ein neuer Ausweg, der dann 
zum Zeil auch wirklich bie gewünſchte Abhilfe brachte, war, bap 
einige bisher rein handwerkliche Zünfte fogenannte Parität 
aufftellten zwifchen,, Herren“ und Handwerkern, b. b. zur Hälfte 


1) Schon zu Ende bes 16. Jahrhunderts waren einige Groß- 
taufleute — jo namentlidy Andreas Ryff — ſowohl beim Schlüjfel, 
als aud) zu Hausgenofjen und Webern zünftig gemejen; Ryff bildet 
aber in der Tat eines ber früheiten Beiſpiele für diefe Entwidlung. 


87 


»Serten" aufnahmen unb nur nod) zur anderen Hälfte Hand- 
wetter; fo machte es [don feit 1640 bie Schmiedenzunft, forie, 
ebenfalls nod) im 17. Jahrhundert, bie Webern- und bie 
Spinnwetternzunft. Natürlich wurden von biefen „Herren“ 
nun die Zünfte nicht mehr in erfter Linie nad) beruflichen Rüd- 
fichten ausgewählt, fonbern fie traten eben in Diejenigen ber 
paar paritätiihen Zünfte ein, bie nod) am wenigften vollzählig 
waren und wo fie Daher bie arößte Möglichkeit Garriere zu 
machen, vorfanben. Sa nicht felten traten fie aus ihrer ur- 
fprünglihen Zunft, wohin fie von Berufswegen gehörten und 
in der fie vielleicht aud) ſchon eine Sechferftelle befleideten, 
um rafcher in den Rat zu gelangen als es ihnen bier wegen 
der viel größeren Konkurrenz möglich war, in eine andere 
Zunft über; fo machte e$ Adelberg Meyer, bisher Sechfer 
zum Schlüffel, ber 1613 Ratsherr zu Fifchern wurde, Ema- 
nuel Ruffinger, Sechfer zu Weinleuten, der 1625 ebenfalls 
Ratsherr zu Fifchern wurde, der fhon genannte Dr. Franz 
Petri, Sechfer zu Hausgenoflen, der 1664 Ratsherr zu 
Schneidern, und Emanuel König, Sechler zu Safran, ber 1669 
Ratsherr zu Schiffleuten wurde. Wie wir fhon aus diefen 
paar Beifpielen erfehen und wie e$ ja eigentlich begreiflich tit, 
wurde bielen in bie Handwerferzünfte übergetretenen Herren 
nie bie Meifterftelle, fondern bloß bie Ratsherrenftelle über: 
[ajjen. Wir werden fpäter nochmals auf dieſe paritätifchen 
Zünfte und ihre zunehmende Abhängigkeit oon den „Herren“ 
zurüdzufommen haben. 

Geben wir in unferer Unterfuchung weiter! In den 
48 Jahren von 1653 bis 1700 — alfo in ber Zeit des begin- 
nenden Abjolutismus nicht nur in Bafel — zählen wir bloß 
10 93ürgermeifter und 7 Oberftzunftmeifter, forie 31 Mit- 
glieder des Geheimen Rats. Bon diefen 48 Männern nun ge- 
hörten 28 ben vier Herrenzünften an, je 6 der Gartnern- und 
Rebleuten-, je 3 der Schmieden- und Spinnwettern-, endlich 
je einer der Fifchern- und der Schiffleutenzunft an. Nur zwei 
unter ihnen waren feine „Herren”, nämlich Johannes 23iens, 


88 


ein Rebmann, [don feit 1619 Meifter zu Rebleuten, ber 1653 
Mitglied des Geheimen Rates wurde, und Hans Heinrich 
Pfannenſchmid, gewefener Ratsherr zu Fifchern, aus einer 
alten, (on feit der Mitte des 16. Jahrhunderts ben Fifcher- 
beruf ausübenden Rleinbasler Familie ftammenb, ber 1665 in 
den Geheimen Rat gelangte. Don ben 10 VBürgermeiftern 
gehörten 3 nicht den Herrenzünften an, nämlih Niklaus 
Rippel, der aus der Gartnern-, Andreas Burdhardt, der aus 
der Cpinnmettern- und Hans Ludwig Krug, der aus der 
Schmiedenzunft hervorgegangen war; al(o aud) fie aber aus 
ben paritätifhen 3ünften. on 1701 bis 1750 zählen wir 
6 Bürgermeifter, 3 Oberftzunftmeifter und 27 Geheime Räte, 
bie fämtlich „Herren” waren, menn fie fid) auch faft zur Hälfte 
— nämlich 16 von 36 — auf die paritätifchen 3ünfte ver- 
teilten. Um ein paar Namen berausaugreifen, waren 3. 23. 
bie beiden Bürgermeifter Andreas 93urdbarbt ber Züngere 
unb Sobann Rudolf Wettftein ber Jüngere beide zu Cpinn- 
wettern zünftig, troßdem der erftere bie Rechte ftubiert und 
der le&tere in der Kanzlei emporgeftiegen war; Geheimrat 
Lukas Fäſch, ber von der Schiffleutenzunft in den Rat ge: 
Ihidt wurde, war Bankier und Spediteur, endlich Johannes 
Schweighaufer, der als Meifter der Himmelzunft in den Ge: 
Deimen Rat gelangte, war feines Berufes Notar. Wir 
fommen zur Behandlung der legten Periode, bie bie Jahre 
1751 bis 1798 umfaßt. Von den 8 Bürgermeiftern, 3 Oberft- 
zunftmeiftern und 26 Geheimen Räten diefes Zeitraums ge- 
hörten bie 93tirgermeifter zufälligerweife fämtlich den Serren- 
zünften an, von ben Oberftzunftmeiftern dagegen feiner, fon- 
dern fie verteilten fid) auf die paritätifchen Handwerferzünfte 
zu Gartnern, Rebleuten und Schmieden; auf lebterer ift 3. 23. 
Deter Ochs, der lebte Basler Oberftzunftmeifter, zünftig ge: 
weien. Was bie Dreizehnerherren anbelangt, fo dienten fie 
gerade zur Hälfte auf den Herrenzünften und zur anderen 
auf ben Handwerkerzünften; bemerkenswert aber ift, bap zwei 
unter ihnen — nämlih Philipp Kern unb Griebrid) Münch, 


89 


ber befannte Dreierherr Münch — wirkliche Handwerker, 
unb zwar beide merfwürdigerweife 93ádermeifter gemefen find. 

Das Refultat unferer Prüfung iit nun alfo erftens, baB 
in ben faft 150 Sabren von 1653— 1798 im ganzen nur vier 
Handwerker Teilhaber ber höchften Regierungsgewalt gewefen 
find, nämlich bie in den Sabren 1653, 1665, 1753 und 1777 
zum Dreizehnertum gelangten Ratsherren Johannes DBienz, 
ber Otebmann, Sob. S$einrid) Pfannenfhmid, von Beruf 
Gifder, und bie beiden Bäckermeiſter Philipp Kern unb 
Griebrid Münch; unter allen 93ürgermeiftern und  Oberft- 
zunftmeiftern biefer Sabre aber finden wir feinen einzigen 
Handwerker. Ferner zweitens, daß aud) von ben in ben 
Handwerkerzünften inkorporierten und von biefen in ben 
Rat geldidten Männern bei weitem lange nicht alle 
deswegen auch als Handwerker anzufeben find!); das Ver—⸗ 
hältnis war bier vielmehr ganz ähnlich wie in bezug auf die 
3ufammenfe&ung des Großen Rates im erften Drittel des 
vorigen Zahrhunderts zwifchen Stadt: und Landbürgern: wie 
bis 1830 neben bie von den Stadtbürgern aus ihrer Mitte 
gewählten Großratsmitglieder aud) von den Landbürgern 
aus den Stadtbürgern gewählte Großräte traten, fo im 17. 
unb 18. Sabrbunbert neben bie von ben Herrenzünften ge- 
wählten „Herren“ nod) folche, bie von ben Handwerkerzünften 
gewählt waren. Dazu fam, bap mit nur vier Ausnahmen 
von ben Ratsherren ber Handwerferzünfte bloß die „Herren“ 
in das eigentlihe Regiment gelangten. 

Zu den Zünften, bie fdjon feit bem 17. Jahrhundert mit 
Vorliebe aud) „Herren” aufnahmen, gehörte, wie wir gefehen 
haben, aud) bie Webernzunft. Sntereflant iff nun, zu beob- 
achten, wie in biejer es biejelben verftanden, bie Handwerfer- 

1) Auch in ben Aemterverzeichniffen ber paritátijen Zünfte 
wurde jemeilen genau unterſchieden zwiſchen „Herren“ und wir: 
lihen Handwerfermeiftern, jo leſen wir in einer Gedjerlifte der 
Spinnwetternzunft aus dem Ende des 17. Jahrhunderts: „Herr 
Andreas Burdhardt, Herr Lucas Burdhardt, Herr Iſaak Fäſch, 


Meifter Balthafer Hüglin, Meifter Peter Schherb, Meifter Stephan 
Bieler.“ 


90 


meifter mit der Zeit ganz zu verdrängen, fo daß 1787 bie 
legteren an den Geheimen Rat mit der Bitte um Bewilli- 
gung der Parität zwifchen den beiden Ständen einfamen, und 
zwar in dem Sinne, baB die Handwerker im Vorftande bod) 
wenigftens wieder bie Hälfte der Stellen erlangten! Die zu 
Webern von Rechtswegen zünftigen Handwerker nun waren 
bie Leinenweber, Bleiher, Schön: und Schwarzfärber, Paſſa⸗ 
mentierer, Wollenweber und GCeibenfütber. Wie biefe in 
ihrem Memorial fagen, find fie mit der Zeit nicht bloß durch 
bie ja in gemifjem Sinne nod) zu ihrer Zunft in Beziehung 
ftebenben Fabrikanten — als da find Indienne- unb Mouffe- 
Iinefabrifanten, Strumpffabrilanten uſw. — zurüdgedrängt 
worden, fondern haben e$ fid) fogat gefallen [affen müffen, 
daß fid) aud) bie anderen Herrenberufe, bie fie weiter nichts 
angingen, in ihrer Zunft breit machten und bie erfte Celle 
darin einnahmen. Bei biefem Anlaffe erfahren wir nun enb- 
[id) einmal von fompetenter Seite wer diefe „Herren“, von 
denen fchon fo viel bie Rede gewefen ift, eigentlich geweſen 
find, d.h. wer mit diefem Titel im 17. und 18. Jahrhundert 
bezeichnet worden ift. Die Handwerfermeifter der Webern⸗ 
zunft antworten ung: „die Offiziers, Gelehrten, Rapitaliften, 
Fabrifanten, Kaufleute bie en Gros handeln, Banquiers, 
Buchhändler und Speditoren”. Diefe alle hatten Damals feine 
eigene Zunft, mit Ausnahme der Großfaufleute, bie auf die 
Schlüfjel- und ber Banquiers, bie auf bie Hausgenoffenzunft 
gehörten; fie verteilten fid) baber außer auf bie vier Herren: 
aünffe aud) nod) auf die übrigen 3ünfte, wofelbft fie eben- 
falls das Uebergewicht erlangten. Eine große Rolle unter 
bielen fpielten bie im Memoriale an erfter Stelle genannten, 
aus fremden, meift franzöfifchen Dienften zurüdgefehrten Offi- 
ziere, ganz ähnlich wie ja bekanntlich aud) in 93ern. Von 
folhen find zu nennen Geheimrat Emanuel Zäfch (geb. 1646, 
aeft. 1693), gewefener Brigadegeneral in Eaiferlichen Dienften, 
fowie fein Sohn, ber fpätere 93trgermeifter Johann Rudolf 
Fäſch ber Züngere (geb. 1680, geft. 1762), gewefener Oberft- 


91 


[ieutenant in franzöfifhen Kriegsdienften, jomie die als 
Hauptleute ebenfalls in franzöfifhen Dienften geftandenen 
Geheimen Räte und Oberften der Basler Landmiliz Hans 
Bernhard (geb. 1645, geft. 1740), Gbriftopb (geb. 1660, geft. 
1728), Iſaak (geb. 1700, geft. 1757) unb Sobann Safob 93urd- 
batbf (geb. 1717, geft. 1796). Sn gewiffem Sinne find btebet 
aud) zu zählen bie zwei Bürgermeiſter 0b. Rudolf Wett: 
ftein (geb. 1594, geft. 1666), ber, wie befannt ift, in feiner 
Ougenb al$ Hauptmann in venetianifchen Dienften geftanden 
batte, und Emanuel Socin (geb. 1628, geft. 1717), gewejener 
Dragonerrittmeifter in fóniglid) ſchwediſchen Kriegsdieniten, 
wenn fie beide auch [don frühe fid) ganz und ausschließlich den 
Staatsgefhäften zu widmen begonnen hatten. 

Die bisherigen Refultate unferer Unterfuchung zufam- 
menfaflend, koͤnnen wir den Sa aufftellen: aud) in Baſel 
batte, wie anderwärts, während des 17. und 18. Sabrbunberts 
eine Heine Sondergruppe von Bürgern alle Gewalt an fid) 
gerifien, aud) bier, wie anderwärts, bat fid) in genanntem 
Zeitraume ein Kreis von tatfächlic allein regierenden aber 
nid aud) ftaatsrechtlich allein regimentsfähigen Bürgern 
ausgebildet; doch ift es nicht, wie in ben meiften andern 
Orten, eine Geburtsariftofratie, bie herrfcht, fondern vielmehr 
ein Cynbifat von Gropfauffeuten und Gabrifanten, zu denen 
nod) bie aus den fremden Militärdienften zurüdgelehrten 
Offiziere fommen, fowie einige wenige Gelehrte, in der 
Mehrzahl Zuriften, bie in der Verwaltung zu ben Aemtern 
aufgeftiegen find, etwa entfprechend den modernen deutfchen 
höheren Verwaltungsbeamten und Berufsbürgermeiftern. 3u 
diefen find a. 23. zu zählen bie Vürgermeifter Sob. Rudolf 
(geb. 1620, geft. 1683) unb Sob. Yalthafar Yurdhardt (geb. 
1642, geft. 1722) und Andreas Merian (geb. 1742, geft. 1811), 
fowie bie Oberftzunftmeifter Niklaus Harder (geb. 1651, geft. 
1730), Dietrich) Gorcart (geb. 1684, geft. 1740) unb ſchließlich 
aud) Peter Ochs (geb. 1752, geft. 1821). Diefe ganze 
Gruppe, die aljo im Sprachgebrauch des 18. Sahrhunderts 


92 


allgemein als „Herren” bezeichnet wurde, faß anfänglich aus- 
fchließlich in ben vier erften Zünften, ben von altersher foge- 
nannten Herrenzünften zum Schlüſſel, zu Hausgenoflen, 
Weinleuten und Safran; allmählich batten fie dann in 
einigen Sanbmerfergünften, zunächft freilich bloße Parität, 
bald aber aud) bie Vorherrſchaft erlangt, jo namentlich zu 
Gartnern, Rebleuten, Schmieden, Spinnwettern unb Webern, 
in denen die eigentlich von Berufswegen dorthin gehörenden 
Handwerker immer weniger zu jagen hatten. Ganz verfchont 
von den „Herren“ blieben bloß die Zünfte zu Brotbeden, 
Schuhmachern, Gerbern, Kürfchnern, Mebgern und Schärern. 

Einterfuchen wir nun ferner, ob nidf Hand in Hand 
mit diefer Vorberrfchaft der GroBfaufleute vielleicht auch ein 
Heberwiegen einzelner Samilien ging. Bekannt tit, daß 
Dr. Petri in feiner Schmähſchrift „Vaſel — Babel” im 
Sabre 1693 gegen bie beiden Familien 93urdbarbt unb Socin 
den Vorwurf erhoben bat, fie hätten allein alle 9femter auf 
fi und ihren Anhang vereinigt. Da finden wir denn fol- 
gendes: Wirklich bominierenb vertreten ift nur die Familie 
Burdhardt, bie im Zeitraume von 1653—1798 nicht weniger 
al8 7 Bürgermeiſter, 2 Oberftzunftmeifter und 16 weitere 
Mitglieder des Geheimen Rates aufweift!); ihr zunächſt an 
Zahl fommen bie Fäſch mit 2 Vürgermeiftern, 1 Oberftzunft- 
meifter und 5 Gebeimen Räten. Während erftere alfo mit 
im Ganzen 25 Mitgliedern im eigentlichen Regimente ver: 
treten find, zählen leßtere noch 8 in bemjelben. 5 Mitglieder 
fteliten in bie Regierung bie Familien Socin und Merian, 
je 4 bie Wettftein, Hagenbach, Stähelin und Mit, nod) 3 
die 93ed, Galfner und Sfelin; bod) bat bie fe6tere Familie 
ihon fein „Haupt“ (feinen Bürgermeiſter ober Oberft- 
zunftmeifter) mehr aufzuweifen. In 2 Gliedern vertreten 
finden wir bie de Bary, Ryhiner, Zäslin und DBrunfchweiler, 
bie alle vier aud) nod) unter den eigentlichen Häuptern vor- 


1) $m Jahre 1666 waren fogar beide Oberftzunftmeifter unb 
bet eine Bürgermeifter — b. b. drei von ben vier Standeshäuptern 
— Burdhardte! 


93 


fommen, ſowie bie Sarafin, Ote[pinger, Hoffmann, Wieland, 
Grey, Harfcher und Ortmann. Endlich begegnen uns nod) 
36 Familiennamen bloß einmal. Die Namen verteilen fid) 
alfo auf 58 Familien, von denen aber nur 22 mehr als einmal 
in den Reihen ber Regierenden porfommen. Don den ins- 
gefamt 125 Namen fommt demnach gerade ein Fünftel allein 
auf bie Familie. 93urdbarbt, und über die Hälfte ber ganzen 
Regierung wird nur von den zehn Familien ber 93urdbarbt, 
Zah, Merian, Socin, $agenbad), Wettftein, Mitz, Bed, 
Stähelin und Sfelin beftritten.?) Wir müjjen daher in der 
Sat für bie legten 150 Sabre des alten Baſel von einer Art 
von Familienregiment fprechen, das aber, wie fchon betont, 
weniger in der Zugehörigkeit zu einer beftimmten Familie 
als in der Zugehörigkeit zum Kreife der Großinduftriellen 
wurzelt. Denn zweierlei ift nicht außer Acht zu Taflen: 
eritens, baB das ftarfe Sleberwiegen der beiden Familien 
Zurdhardt und Fäſch — zum Teil menigftens — feinen 
Grund aud) in ber außerordentlihen Fruchtbarkeit derfelben 
gehabt bat; fie find nachweislich die beiden Finderreichften 
Familien Baſels aus der uns befchäftigenden SZeitperiode. 
Ihnen am nächſten fommen dann die Merian und GSocin, 
bie wir aud) richtig nad) jenen am ſtärkſten in ber Regierung 
vertreten finden. 

Zweitens begegnen ung — was befonders inftruftiv ift 
— zum großen Seife ganz bie gleihen Namen auch wieder 
unter den Sanbiverfermeiftern, bie im Sabre 1787 die vorhin 

1) Unterfudt man den Anteil der einzelnen Yamilien bloß 
am Bürgermeifter- und OÖberftzunftmeiftertum, dafür aber in bem 
größeren Zeitraume von 1529 bis 1798, fo findet man wieder die 
Familie Burdhardt mit fieben Bürgermeiftern und drei Oberftzunft- 
meiftern an der Spitze ftehen; e8 folgen bie Fäſch mit drei Bürger- 
meiftern unb einem Oberſtzunftmeiſter, bie Merian mit zwei Bürger- 
meiftern unb einem OÖberftzunftmeilter, die Meyer zum Pfeil, Ober- 
riet, Krug, Ryhiner unb Wettftein mit zwei Bürgermeiftern, bie 
Gocin, Falkner und Brand mit einem Bürgermeifter und zwei Oberft- 
zunftmeiftern und endlid bie von Brunn mit einem Bürgermeifter 


und einem Öberjtzunftmeifter jowie bte Bed mit zwei Oberitgunft: 
meiftern. 


94 


erwähnte Beſchwerdeſchrift ber Webernzunft mit unter- 
zeichnet haben; das Schriftftüd ift nämlich unter anderen unter: 
(hrieben von den DBleichermeiftern Johann Ludwig und 
Hieronymus Sfelin unb Niklaus Hagenbach, von ben Färber— 
meiftern Emanuel unb Sobann Jakob 93ifdjoff und Ehriftoph 
Burdhardt, von dem Paflamentierermeifter Bernhard unb 
den Wollenwebermeiftern Wernhard und Emanuel Fäſch. 
Ahr Proteft richtete fid) alfo gana offenfidbtlid) nicht gegen 
das Leberwiegen einzelner Herren familien in der Zunft 
— denn zu denen gehörten fie fe[bft ja auch, wie ihre Namen 
zeigen — .fondern ganz ausfchlieglih nur gegen das Domi- 
nieren der Herrenbetriebe und Berufe innerhalb der 
Zunft. Wie ein Blid in bie Aemterbücher lehrt, find in bet 
Sat 1787 fämtliche Sechfer-, OXeifter- und Ratsherrenftellen 
ber Webernzunft in den Händen ber oben bezeichneten Grop- 
induftriellen und Gabrifanten geweſen; bie Vleicher-, Färber- 
unb Webermeifter find durch fie vollftändig zurüdgedrängt 
worden. 

Saft unbegreiflih muß einem unter diefen Umftänden 
zunächft bie Gutmtitigfeit der Handwerker erfcheinen, bie feit 
der mißlungenen Revolution von 1691 fo ohne jeden weiteren 
Widerftand die ihnen bod) nad) ber Verfaflung immer nod) 
zuflommende Mitbeteiligung am NRegimente einfach durch bie 
„Herren” fid) haben entreißen laflen. Die Entfchädigung 
dafür beftand aber erftens in bem weitgehenden Cube, ben 
das einheimifche Handwerk von feiten der Regierung genoB 
und burd) den dasfelbe vor aller ausländifchen Konkurrenz 
fihergeftellt wurde. Dahin gehört ferner bie immer eng. 
berziger werdende Bürgerrechtspolitik, bie ja auch wieder 
in erfter Linie den Handwerkern zugute fam, ba baburd) das 
Aufkommen neuer Konkurrenz verhindert wurde; war e$ ja 
fogar den Untertanen von der Landfchaft, die mehrfach feit 
Generationen ſchon ala Niedergelaflene in der Stadt wohnten, 
nicht erlaubt, eigene Q3efriebe zu errichten. Ein weiterer 
wirffamer Schuß des heimifchen Handwerks beftand in ber 


95 


Gotberung des Zunftziwanges, bie unter anderem aud) bie 
„Herren“, bie ihr Beruf eigentlich in feine Zunft mies — wie 
alfo bie Beamten und Offiziere —, nötigte, bei den Hand- 
metfern Zunftrecht zu nehmen, wenn fie politifche Karriere 
machen wollten. Endlich) wurden durch bie wahrhaft arop- 
artige und weitgehende foziale Fürforge, wie fie namentlich 
in bem fogenannten Armenrechte zutage trat, das außer einer 
reichlich bemeflenen Naturalunterftügung verarmten Bürgern 
aud) nod) abjofut Eoftenlofe juriftifche Hilfe in allen vor- 
fommenben Zällen zuficherte, bie 3ünfte zum Schweigen ge: 
bradt. Es waren alfo hauptſächlich KRompenfationen 
materieller Natur, bie bie Handwerker dazu vermochten, das 
verfaflungswidrige Gamiltenregiment weiter zu dulden. Da: 
neben aber wurde ihnen bod) ein Gebiet des Hffentlichen 
Lebens in recht weitgehbendem Maße referviert, wo auch fie 
ihrem Bedürfnis, gelegentlich einmal den Herrn beraus- 
aufebren, nad) Herzensluft nachgeben fonnten. 

Es ift fon angedeutet worden, wie geradezu chifands 
oft bie meift aus der Landfchaft ffammenben Niedergelaflenen 
bon feiten ber Bürgerſchaft — und nicht in leßter Linie von 
ben auf ihre Vorrechte ftolzen Handwerkern — behandelt wor: 
den find. Sn nod) viel höherem Maße war dies gegenüber den 
Untertanen der Landfchaft felbft ber Gall. Das brutale und 
verlegende Gebahren, das bie bem Handwerkerftande an- 
gehörenden Landvögte fid) oft ben Untertanen gegenüber er: 
laubten, bat gewiß nicht wenig zu dem tiefgewurzelten Haß 
beigetragen, den die Bauern im Baſelbiet bem ftädtifchen 
Regimente entgegengebracht haben. In erfter Linie waren es 
die großen Landvogteien Farnsburg und Waldenburg, bie 
feit bem 17. Gabrbunbert hauptſächlich von Handwerkern, bie 
je für acht Sabre aufaogen, verwaltet wurden; nur ganz ver- 
einzelt treffen wir aud) auf Homburg und Münchenftein 
Handwerfermeifter als Landvögte. Auf Farnsburg faBen 
à. 93. bie Mebgermeifter Nillaus 93ufader und Leonhard 
Schardt, bie Schuhmachermeifter Safob Dietrih und Johann 


96 


Jakob ftpburt, fowie ber Schloffermeifter Jakob Seller als 
Landvögte. Die Landvogtei Waldenburg verwalteten fol- 
gende Handwerfermeifter: bie Zifchermeifter Rudolf Göbelin 
und Georg Schazmann, die Kürfchnermeifter Niklaus Gey- 
müller, Johann Urich Wagner und Emanuel Schmid, ber 
Schuhmachermeifter Safob Landis, fowie endlich bie beiden 
Mebgermeifter Rarl Kundig und Sohann Safob Müller. Auf 
Homburg finden wir als Landvogt ben Gerbermeifter Johann 
Safob Müller unb auf Münchenftein den Bäckermeiſter 
Niklaus Munzinger; die übrigen Landvdgte in diefen beiden 
Aemtern waren alles „Herren”. Nur „Herren” treffen wir 
ferner auf Ramftein, welche Vogtei aber nod) im 17. Zahr- 
hundert mit derjenigen von Waldenburg ift vereinigt worden; 
ben Häuptern referviert blieben bie beiden rechtsrheinifchen 
Vogteien Otieben und Kleinhüningen. 

Neben den beiden Klafien ber Vürger und Nieder 
gelaffienen gab es in Baſel aber nun mod) eine dritte 
Kategorie von Einwohnern, die fowohl aus Bürgern, bezw. 
DVürgerföhnen, als aud) aus Landesfremden — zu fleinem 
Zeile fogar aus Intertanen!) — beftand, von denen jedoch 
aud) erftere weder das aktive nod) das paffive Wahlrecht be. 
faBen, da fie außerhalb der SZunftverfafiung fanden; e$ 
waren dies die fogenannten Cives Academici, bte akademiſchen 
93ürger ober Univerfitätsverwandten, bie unter eigenem 
Rechte ftanden und ihre befonderen Privilegien hatten. Nur 
eine ganz verfehwindend Heine Zahl aus ben bei ihnen in- 
forporierten Bürgerföhnen tft in bie Sünffe eingetreten und 
bat am politifchen Leben aktiven Anteil genommen. Don 
Heinrih Ryhiner ift [don bie Rede geweſen; drei weitere 
Beifpiele find die beiden Oberftzunftmeifter Bernhard 
Strand (geb. 1523, geft. 1594), gewefener Profeflor der In- 
Ritutionen, und Sobann Rudolf 93utdbatbt (geb. 1585, geft. 
1657), Profeflor der Ethik, fowie der befannte Gbronift unb 


1) Sd) erinnere an die Lieftaler Familie ber Strübin, bte 
burdj viele Generationen hindurch bie Pfarrer zu Bubendorf und 
Ziefen geftellt Bat. 


97 7 


Stadtſchreiber Chriftian Wurftifen (geb. 1544, geft. 1588), 
gemejener Profefior ber Mathematik an unferer Univerfität. 
Ein ganz eigentümlicher Gall ereignete fid) Ende des 17. Sabt- 
bunbert$ mit den 93aubin, die bekanntlich ſchon 1542 in ber 
Derfon des berühmten Arztes Dr. Sobanne8 Bauhin aus 
Amiens nach 93afel gefommen waren; feine Nachkommen — 
durch Generationen binburd) Profefloren an biefiger 2Iniberfi- 
tät und bemnad) afademifche Bürger — waren infolgebeffen 
nie in den Fall gefommen, förmlich um das hiefige Bürgerrecht 
einzufommen. Gie galten — befonders da fie fid) von jeher 
mit DBürgerstöchtern verheiratet hatten — allgemein als 
richtige Vollbürger. Als nun 1691 Johann Ludwig 93aubin, 
€icenciat der Rechte, als 93eifi&er an das Stadtgericht ge- 
wählt wurde, ftellte fid) heraus, daß er gar nicht Bürger war 
und daß bemnad) diefe Wahl für ungültig erklärt werden 
mußte. Man bebalf fid) in ber Verlegenheit damit, daß 
man ibm unb feinen Gefchwiftern, um der großen Verdienfte 
ihrer Vorfahren willen, das Bürgerrecht noch nachträglich 
fdbenfte, wie man es 1670 aud) den 23urtorfen gegenüber 
fon getan hatte, bie ja gleichfalls feinerzeit als Gives 
Academici nad) Baſel gefommen waren. 

Caf Übrigens gerade die Akademiker, alfo bie gebildeten 
Schichten der Bevölkerung, von der Teilnahme an ber Re- 
gierung mehr oder weniger ausgefchloflen bleiben follten, 
die baburd) eine rein merfantile Richtung erhielt, ift bod) 
etra bie und ba [don im 18. Sabrbunbert als LHebelftand 
empfunden worden. Einen intereflanten Beleg biefür be- 
fiten wir in einem vom Mai 1787 datierten Memorial, das 
Deter Ochs, der damals nod) — als Nachfolger Iſaak 
Sfelins — Ratsfchreiber war, zum PVerfafler bat, und in 
welchem derfelbe fon Damals die Errichtung einer befonderen 
afabemifden Zunft verlangte. Sch erlaube mir, das ziemlich 
umfangreihe Schriftftüd!) in feinen Hauptftüden mitzu- 

1) Es findet fid) — leider nur in Kopie — jebt im Staats: 
archiv unter den Alten „Zünfte A"; früher war es in Band O.8* 


98 


teilen, felbft auf bie Gefahr bin, daß fchon Gefagte8 wieder: 
holt werde, unb (affe bloß bie Diftorijden Rüdblide weg, 
in welchen fid) der Zerfaffer hauptfächlich über bie Organi- 
fation der Stuben „zur Müde”, „zum Seufzen” und „zum 
Brunnen” ausfprad, um zum Schlufle zu fonitatieren, daß 
eine Wiederaufrihtung in anderer Form, wie er fie eben 
plante, der Verfaffung nicht entgegen fei. Das Gutachten 
lautete von Wort zu Wort folgendermaßen: „Wobhlweifer 
Herr VBürgermeifter, hochgeachtete gnädige Herren! Niemand 
iff vielleicht fo febr überzeugt, als ich es bin, daß in unferer 
Heinen Republik, bei der nicht beträchtlichen Vollsmenge bie- 
fer Stadt und hingegen bei der großen Anzahl der obrigfeit- 
lichen Derfonen, bie Vermiſchung der Stände in ber 9tegie- 
rung ein gutes Kennzeichen unferer Verfaflung ift. Das dient 
zur Pflanzung des republifanifden Geiftes und der bürget- 
[iden Eintracht. Dadurch tft ferners zu verboffen, bap man eine 
beffete Auswahl haben werde und baB die vereinigten fennt- 
nile verfchiedener Klafien in manchem Galle bie Gntbedung 
bet anwendbaren Grundfäße erleichtern werde. Allein, um 
biefe Vorteile zu genießen, muß nicht eine der nüßlichften 
Klaſſen für ben obrigkeitlihen Stand gleichfam von ber Re- 
sierung entfernt werden, ich meine bie Klaſſe derjenigen, bie 
den Studien obgelegen unb ftd) den Öffentlichen Gefchäften 
widmen. Nun ift leider ein folcher Ausfchluß immer mehr 
zu befürchten, unb nad) und nach bat fid) derfelbe im Laufe 
diefes Sabrbunbert$ vorbereitet. — Die erfte Veranlaflung 
dazu fann darin gefucht werden, daB man jener Klaſſe den 
Zutritt auf gewiflen Zünften gefperrt bat, wo fie ehedeſſen 
ohne Anftand angenommen werden mußte. Es war im 
16. Jahrhundert ein allgemeiner Grunbfaó, daß wer fein 


ber vaterländiihen Bibliothek enthalten. Cs ift nit unwahr- 
ffeiniid, daß es dahin aus bem Rachlaſſe von Bürgermeifter Wie 
[anb gelangt ift, von bem genannte Bibliothek aud) fonit nod) ver- 
ſchiedene Aufzeichnungen bejaß, jedenfalls war es einft, wie wir nod) 
(eben werden, im Beſitze von Wielands Schwiegervater Schweig- 
Baufen gewejen. 


99 di 


Handwerk trieb, fid) zu jeder Zunft fchlagen fonnte, bie er 
den Übrigen vorzog — oder, nad) der damaligen Sprache, 
„nda dienen mochte, wohin er mollte"". Und noch gegen Ende 
des vorigen 17. Zahrhunderts findet man davon ein be- 
fannte8 Zeifpiel in der Perfon des Doktor Heinrich Petri, 
ber Sechſer auf G. G. Zunft zu Schneidern war. — Die zweite 
Urfache des bevorftehbenden Ausfchluffes fee ich in ben 
Vergleich, fo bie Herren Vorgeſetzten der Ehrenzünfte zu 
Spinnwettern und Schmieden wegen einer fogenannten 
Darität unter fid) getroffen haben. Denn dadurch find bie 
Erledigungsfälle für jede Klaſſe feltener geworden; und wenn 
ein Studierter eine diefer Ehrenzünfte angenommen bat, fo 
fann er fid) faum träumen [affen, je vor Neige des Alters zu 
einer Sechfer- oder Ratsftelle zu gefangen. — Eine dritte 
Urfache fd)reibt man mit Grund der Einführung des Lofes 
zu, infonderheit bem Los zu Sechſen. Die natürliche Folge 
davon war fogleich, daß der Eifer für bie Studien von Jahr 
zu Jahr nachließ, indem die Eltern burd) bie Ungewißheit 
einer Beförderung von den Unkoſten ber Univerſitätsjahre ab- 
gefchredt wurden und täglich mehr abgefchredt werden. — 
Gnbíid) bat bie Zunahme und Vervielfältigung der Hand- 
lungszweige die Anzahl der Herren vermehrt und den Stu⸗ 
dierten wenige Pläße übrig gelaflen. Da nun die Herren 
Kaufleute arößtenteils das fremde Geld ins Land bringen 
und burd) ihren Aufwand oder durch Heiraten und Erbfälle 
unter G. E. Vürgerfchaft, bobe und niedere, nad) und nad) 
verteilen — des Pfundzolles!) nicht einmal zu gedenken 
— fo will die Billigkeit, daß fie fi in dem obrig- 
feitlihen Stand erhalten, und gleichfalls macht e$ das Ge- 
meinwefen zur Notwendigkeit; denn nicht nur ihre eigene 
Sicherftellung, fondern auch bie Unterftügung ber allgemeinen 
Anduftrie und Handelfchaft, bie Erfahrung in Berechnungs⸗ 
fachen, bie Berichtigung kaufmännifcher und anderer damit 
verwandter Anftände, bie Interhaltung duferlider Ver- 


1) 3. 5. bes Eingangszolles. 
100 


bindungen, bie richtige unb fdleunige Kenntnis der poli- 
tifhen Begebenheiten anderer Staaten und die minder 
oder mehr anftändige Erziehung und Lebensart find fo viel 
Betrahtungen, bie zu gunften der Herren Handelsleute das 
Wort reden. — Aus diefer Lleberfiht der Urfachen, welche 
bie Veförderung ber Studierten erfchweren, iff. leicht zu ' 
fchließen, baB bie Zukunft feine befferen Ausfichten verfpricht. 
Wir fónnen das Gegenteil umfo weniger erwarten, ba bie 
Folge hierin felbft zur Urfache wird. Die fchlechten Aus- 
fihten machen daß immer wenigere gründlich ftubieren; unb 
je wenigere ftubieren, befto ſchwächer empfindet man ben 
Mangel und defto minder eifrig erzeigt man fid), bemfelben 
abgubelfen. Weil aber feine glüdliche Regierung ohne Auf- 
Härung, feine Aufllärung ohne Kultur des Geiftes, feine 
nüslihe Kultur des Geiftes ohne zwedmäßige Studien in 
der Länge Plaß haben fann, alfo foll es billig jeder gut- 
benfenbe Vürger zu Herzen faflen, wie er fein Vaterland, und 
infonderheit bie Nachkommenſchaft, vor den traurigen Seiten 
bewahren möge, wo man zwar mit gutem Wiffen unb Ge- 
wiflen ber beften Meinung folgen möchte, wo aber, in 
verwidelten oder nicht gewöhnlichen Fällen, wenige vorhanden 
fein dürften, um angemeflene Vorſchläge zu eröffnen unb 
felbige zu prüfen, zu berichtigen oder zu unterftügen. Jeder 
gutbenfenbe Bürger foll eingebent fein, baB feine Vaterftadt, 
bei Aufnahme in den eibgenóffifden 93unb, in 93etradt der 
bei uns blühenden Univerfität, ben Rang vor Freiburg und 
Solothurn erhielt; er foll. in ?fngebenfen behalten, daß bie 
berrlichften Zreibeiten, jo unfer Bafel in den 14. und 15. Zahr- 
Dunberten von den Kaiſern erlangte, baB die glüdfelige 
Bereinigung zur löblichen Eidgenoflenfhaft, daß bie Final⸗ 
verfomnis mit den Herren Bifchöfen, baB der glänzende 
Einfhluß in den weftfäliihen Frieden folchen Standes- 
gliedern zu verdanken find, die teils aus der Regierung ihren 
einzigen Beruf machten, teils Zöglinge der QUiffenfdjaften 
waren. — Solche wichtige Betrachtungen fordern mich gegen- 


101 


wärtig auf, bei Euer Gnaben in aller 2Intertünigfeit zu 
erfcheinen, und zwar „„zugunften derjenigen, bie den Gtu- 
bien in ihrer Jugend obgelegen, wenigftens bie academifche 
Stufe eines 9Dbilojopbiae Doctoris und Studiofi in einer 
höheren Facultät beitiegen haben, weder Kaufmannſchaft noch 
Küunſte, nod) Sjanbmerfe treiben, und auf den Zünften, wo 
Herren aufgenommen werden nur eine [páte Beförderung ober 
gat feine vorfehen. Zu dem Ende nehme id) bie Freiheit, um 
bie Erneuerung einer der fogenannten Stuben bei Hochdenfel- 
ben in pflichtfchuldigfter Ehrfurcht anaubalten."" — Es ift 
befannt, daß um die Zeiten des eidgendffifchen Bundes ber 
Rat aus drei Rlaffen beftanb: aus den Rittern und ben zwo 
Stuben (deren Vereinigung bie hohe Stube genannt wurde) 
und aus den Zünften, bie man ohne Unterſchied mit ber 
allgemeinen Benennung von Handwerkern bezeichnete; denn 
Handwerker und Zunftangehörige waren in bem Mittelalter 
gleid)bebeutenbe Wörter”. — Das Memorial fchließt bann 
mit den Worten: „Weil nun, wohlweifer Herr 93ürgermeifter, 
gnübige Herren, alle Betrachtungen der Q3illigfeit, des un- 
leugbaren Wohles des Staats unb ber Fundamentalver- 
fügungen unferer Zerfafiung fid) zu Gunften meines beft- 
gemeinten Vorſchlages vereinigen, fo wiederbole id) mein 
untertänigftes Begehren dahin, ,,bap Euren Gnaden ge- 
fallen möchte, bie Wiederberftellung der Stube zu gewähren, 
bod) mit bem Unterfchiede, daß fie zweckmäßiger eingerichtet 
und nur den Cfubierten eingeräumt werde."". Das wird 
ein unfehlbares Mittel abgeben, ohne Aufwand nod) Swang 
— fondern lediglich durch den natürlichen Lauf der Dinge 
— ben Studien wieder aufzubelfen, das Anfehen unferes 
Baſels zu erhöhen und eine Pflanzfchule für die Gerichte 
und ben obrigkeitlichen Stand zu ftiften." 

Ochs fügt bann nod) einen Statutenentwurf bei, den wir, 
feiner oft febr charakteriftiichen 23eftimmungen wegen, eben- 
falls noch in der Hauptfache mitteilen wollen. Die Einleitung 
zu Demfelben lautet folgendermaßen: „Artikel ber zu erneuern- 


102 


ben Stube: fie wird heißen bie Stube oder Zunft zum Q9or- 
beerzweige. Ihr Wappen wird ein Andreasfreuz von zwei 
€otbeerameigen in einem weißen Gelbe fein, ber Ootbeergmeig 
als Kennzeichen ber Wiflenfchaft und bie weiße Farbe als 
Rennzeichen der Reinheit ihrer Abficht. Man wird anfangs 
fein befonderes Haus kaufen nod) unterhalten, fondern fid) 
mit einer geräumigen Stube im Kollegio oder anderswo 
begnügen.” Es folgen bie einzelnen Paragraphen, von 
denen id) aber nur die wictigften anführen will unb bie: 
jenigen mehr allgemeiner oder bloß interner Natur (über. 
geben: „Das academifche Bürgerrecht wird neben bem 
Stubenrecht befteben fónnen bis und fo lange man in ben 
Heinen Rat befördert werde oder eine Predigerftelle erhalten 
babe; Kandidaten abet werden nad) erbaltenem Gechlertum 
bie Kanzel nicht mehr befteigen. — [uper ben ffein- unb 
großen Ratsgefchäften unb ben allgemeinen Pflichten ber 
Borgefesten übriger Zünfte (a8 Bevdgtigungen, Abnehmen 
der Pogtsrechnungen, Verwaltung des Stubenſeckels, ge- 
wöhnlihe Publikationen) werden bie Vorgefesten bie Auf: 
Härung in Sachen des gemeinen Wefens befördern und 
tüchtige Staatsmänner und Richter zu bilden trachten. Sie 
werden die erlangten Ilniverfitätsfenntniffe und Fertigkeiten 
auf biefigen Stand und Juſtizpflege anwenden und näber 
richten und beftimmen. Zu dem Ende werden fie Anfangs 
gemeinſchaftlich daran fein, daß über jedes Fach pragmatifche 
und mit Erläuterungen begleitete Auszüge von ihnen gemacht 
werden, Damit fie in der Folge befondere Eorpora Doctrinae 
daraus verfertigen und um fo defto Leichter nachführen 
mögen. Dach diefem werden fie einen Zufammenzug aus 
benfelben abfaflen und jedem neuen Zunft⸗ oder Stuben- 
genofien ein Eremplar davon auftellen, welches ihm ber alte 
Ratsherr ober Meifter unentgeldlich erklären unb ihn darüber 
nad) Verlauf eines Sabres in Gegenwart der übrigen Vor- 
gefe&ten befragen wird. — Syeber Sechfer wird fchuldig fein, 
wenn ein Standesglied von den Übrigen Zünften einigen 


103 


Unterricht über unfere Regierung verlangte unb zu ibm 
geben wollte, ihm diefen Unterricht unentgeldlich zu geben, 
bod) fo daß er nicht verbunden fein folle, fid) mit mehr als 
einem folchen Unterrichte auf einmal zu beladen. Sollte 
man ibm dafür eine Belohnung antragen, fo wird er fie 
zwar annehmen, aber folche dem Sedel der Stube einliefern. 
— Die Q3orgefebten werden fid) ein Verzeichnis der außer: 
ordentlichen, beftrittenen unb fchweren Fälle über unfere 
Politik und Syuftigpf(ege nad) und nad) verfertigen, zu Seiten 
fid) über bie Entwidlung derfelben verabreden, und nad)bem 
fie die nötigen Unterfuchungen angeftellt, fid) zufammentun 
und ihre Gedanken einander mitteilen. — Geder neue Stuben: 
genofle wird verfprechen, fid) als ein aufgeflürter Menfchen- 
freund, ein frommer Chrift, ein biederer Eidgenofle, ein 
treuer Untergebener der Obrigkeit, ein eifriger Bewerber ber 
Ehre und des Wohles unferes Bafels, ein befcheidener und 
wabhrheitsjuchender Zoͤgling der Wiflenfchaften, ein fried- 
[iebenber und republifanifch gefinnter 93ürger unb erem- 
plarifcher, tätiger und vorfichtiger Hausvater in allen Zer- 
fallenheiten des öffentlichen und privaten Lebens zu betragen. 
— Wenn Parteien (fie mögen zünftig fein wo fie wollen) 
das Armenrecht von unferen gnädigen Herren erhalten haben, 
wird jeder Stubengenoß, der zugleich aud) Advofat iit, fid) 
willig erzeigen, felbigen unentgeldlih vor Gericht und Rat 
zu dienen, und zu Belohnung beffen werden ihn bie Herren 
PVorgefesten zu einigen Beftellungen nad) Maßgabe ber 
gebabten Mühe als Kiefer oder überzähligen Sechfer ziehen. 
— Die Stubengenofien werden abwechslungsweije dreimal 
des Jahres in Gegenwart der Herren Vorgeſetzten über 
flimulierte Anläſſe teils Reden halten, teils 23erat(d)lagungen 
anftellen, teif$ Prozeſſe führen.” 

Es möge mir geftattet fein, nod) einige wenige An- 
merfungen dazu zu machen: Zunächſt glaube ich, ift dieſes 
Dokument ein neuer Beweis für bie Reinheit ber politifchen 
Abfichten von Ochs. Es atmet einerfeitS durchaus ben 


104 


Geift der damaligen idealen wirklichfeit3- unb meltfremben 
Rouffeau’fhen Aufllärung unb iff dann andrerfeitsS bod) 
wieder fo topifd) fchweizerifch, daB man fid) beim Durchlefen 
geradezu in bie Kreife der belvetifchen Gefellichaft verfebt 
glaubt. Beſonders das von den Stubengenoffen anftatt des 
fonft üblichen Zunfteides abzulegende Verſprechen gemahnt 
volftändig an das Gelübde, das bie Mitglieder ber bel- 
vetifchen Gefellfchaft bei ihrem Eintritt ablegen mußten unb 
iff wohl bireft dorther übernommen. Als Schüler Iſaak 
Sfelins ermeiff fid Ochs bann in der Forderung, bie 
Stubengenofien follten fid) zur eigenen unb fremden 23e. 
[ebrung Auszüge aus Gefchichte und ZVerfaffung der Heimat 
machen; die vaterländifche Bibliothek befíGt nod) ein paar 
Bände folher Auszüge von Sfelins Hand; und einem andern 
Schüler desfelben, dem bekannten Dekan Johann Jakob 
Huber zu Siffach, verdanken wir das wertvolle Gompenbium 
des GStatutarium DBafilienfe, unter anderen eine der wich- 
tigften Quellen aud) für unfere vorliegenden Unterfuchungen. 
Beſonders bemerkenswert will mir Dchfens ganz moderner 
Vorſchlag zur Errichtung eines eigentlichen ftaatswiflenfchaft- 
[iden Seminars mit obligatorifchen Debatten für bie Zunft- 
brüder und der Verpflichtung, unentgeltlihen Unterricht in 
Bürgerkunde zu erteilen, erfcheinen. Intereſſant iff dann 
aud) bie in der Einleitung zum Ausdrud gefommene überaus 
bobe Wertung und Einfhäsung des damaligen baslerifchen 
Saufmannsftanbe8 — alfo der „Herren“, wie er fie ja felbft 
auch fo bezeichnet —, der in ber Sat eben in der großen 
Mehrzahl feiner Glieder auf einem febr hoben geiftigen 
Niveau fand und fid) auf feinen nicht nur zur rein fom. 
merziellen, [onbern aud) zur geiftigen Ausbildung unternom- 
menen, nicht felten mehrjährigen Reifen einen fiheren Ylid 
und einen weiten Horizont erworben hatte, der ihn bod) bis 
zu einem gewiflen Grade dazu befábigte, fi) der Staats⸗ 
leitung anzunehmen. So viel ich verftehe, will Ochs bie 
bloß afabemifden Bürger nicht ämterfähig machen, fondern 


105 


will nur ben Vürgerföhnen, bie alademifche Berufe treiben — 
mit Einfhluß ber Sbeologieprofefloren, mit Ausfchluß aber 
ber Pfarrer — ermöglichen, fid) aud) politifch zu betätigen, 
was ihnen bisher, bei der ftarfen $[eberfüllung der [don 
beftebenben Zünfte durch bie Vertreter ber Raufmannfchaft 
unb des Handwerfs, [o gut wie abgefchnitten war.  93efannt- 
lich bat erft bie Verfaſſung von 1833 allen Gelehrtenberufen 
ohne Ausnahme den Zutritt in den Großen Rat geöffnet; 
1835 ift bann bie afabemifd)e Zunft errichtet worden. 

Es dürfte nun nicht unintereffant fein, bie Erforderniffe, 
bie $909 an den Eintritt in bie von ihm projeftierte „Stube 
zum Lorbeerzweig“ ftellte, zu vergleichen mit den Anfor: 
derungen, bie bie alademifche Zunft für ihre Mitglieder ver- 
langt. Erftere follte errichtet werden „ zu Gunſten derjenigen, 
die den Studien in ihrer Jugend obgefegen, wenigftens bie 
afabemi[de Stufe eines 9Dbilojopbiae Doctoris und Stu: 
bioft in einer höheren Fakultät beftiegen haben, weder Kauf: 
mannfchaft, nod) fünfte, noch Sanbmerfe treiben, und auf 
ben Zünften, wo Herren aufgenommen werden, nur eine 
fpäte Beförderung oder gar feine vorfeben." Die Statuten 
der alademifchen Zunft beftimmen: „Mitglieder diefer Zunft 
find fämtlihe Stadtbürger, welche an den öffentlichen Qebr- 
anftalten als Profefloren oder Lehrer angenommen oder 
Mitglieder des Minifteriums oder Doctores der Medizin 
find; aud) andere Bürger, welche eine wiflenfchaftlihe 93il- 
dung erworben haben, fónnen die Aufnahme in diefe Zunft 
verlangen.” Der Anterſchied der beiden Zaflungen ift in 
die Augen fpringenb, und jede charakterifiert ganz vortrefflich 
ihre Zeitepoche: dort noch bie änaftlihe Rüdfichtsnahme auf 
eine beengende Zunftverfaffung, bie nun aber doch gu- 
gunften eines neuen Standes burd)brod)en werden foll, und 
baber ber ffatfe Otad)brud, ber auf bie Zurückweiſung ber 
Kaufleute und Sanbmerfer gelegt wird; bier dagegen bie 
einfache Aufzählung aller zum Eintritt Berechtigten: eine 
Einladung an alle Gebilbeten ohne Ausnahme. DBegreiflich 


106 


if, daß Ochs auf bie Wahlart durch das Los nicht gut zu 
fprechen ift, ba ja gerade bie Gelehrten in erfter Linie ihre 
Otadjteile zu fpüren befamen; denn wenn je6t unter 6 Kan— 
bibaten, bie für ein Amt in Vorfchlag famen, fid) aud) ein 
Studierter befinden mochte, fo war feine Chance bod) um 
fehsmal Heiner als früher. Auch hatte bie Einführung des 
9ofe8 bie fogenannten „Praftiten”, b. b. bie Beeinflufiung 
ber Wahl durch gróbere oder feinere Beftechung, durch: 
aus nicht gänzlich aus bem Wege zu fchaffen vermodt, nur 
befchränkte fie fid) jest auf bie Zufammenfegung der ganzen 
KRandidatenlifte und nicht mehr auf jeden einzelnen Be— 
werber um ein beftimmtes Amt. 

Das Ideal, das Ochs vorſchwebte und bem er mit feinem 
Vorſchlag mit zum Durchbruch verhelfen wollte — die Herr: 
fchaft einer Geiftesariftofratie — war und blieb eine Utopie; 
fein Projekt ift nie von ben Räten behandelt worden; es ift 
überhaupt wohl nie eingegeben worden. Der fpätere Rats: 
bert und damalige Appellationsrat Johannes Schweighaufer, 
bem offenbar Ochs fein Manuffript zur Begutachtung über- 
geben hatte, äußerte fid) folgendermaßen über dasfelbe: 
„Dante für bie Mitteilung; leicht ift ber Vorſchlag, fo ſchön 
er fdjeint, nicht in Erfüllung zu fe&en. Die Bürger — unb 
befonders die Handwerker — find nod) zu eiferfüchtig ba- 
gegen. Den Rat zu vermehren ift [o wenig ratfam als viel- 
leicht dem Gtaate vorteilhaft. Wenn einmal ganze Zünfte 
der Handwerker — wie es bei einigen das ?[nfeben bat — 
ausfterben, bann werden wohl für bie Gelehrten aud) Vor: 
Ihläge zum Vorſchein fommen dürfen. Snbeffen rate id) ben 
Academicis fid) fo auszubilden, wie bie angehängten 93ebing- 
niffe e$ erbeifd)en, bann erfordert ihre Aufnahme das Wohl 
des Vaterlandes. — Doc gelebt, dDiefe Stube werde ber- 
malen errichtet, was wird der Gelehrten Gewinnft fein? 
Teuer erfaufte Ehre, bie wenige bezahlen können, obne 
darunter zu leiden, denn der Verfafler diefes Projects wird 
feine Seinesgleichen dort antreffen. Ehre ift wohl ſchön, aber 


107 


fie nährt nicht alle auf gleiche Weife. Darüber könnte vieles 
sefagt werden, mehr hier nicht. Nur follte man beim Ganzen 
des gegenwärtigen Zeitpunftes Rechnung tragen, ber ganz 
nicht für Neuerungen günftig zu fein fcheint.” — Dieler 
Schlußſatz zeigt ung an einem neuen Zeifpiel, wie kurzfichtig 
und falfch fefbft aufgeflärte Männer bie innere Lage der 
Schweiz nod) am Vorabend der großen Revolution im all- 
gemeinen zu beurteilen pflesten. Ochſens Größe dagegen 
liegt darin, baB er fchon frühe bie Zeichen ber neuen Zeit zu 
erfennen vermochte. 


Als Anhang gebe id) im Folgenden noch die Liften ber 
Bürgermeifter, Oberftzunftmeifter und Geheimen Räte von 
zirfa 1650 bis 1798, mit Angabe der Zunft, aus ber fie 
hervorgegangen find, und des Berufes, ben fie bisher be- 
trieben hatten: 


Lifte der Bürgermeifter. 


1636—1659: Sob. Rudolf Fäſch, Spediteur; von Haus- 
genoflen. | 

1645— 1666: Sob. Rudolf Wettftein, gewejener Hauptmann ' 
in venetianifchen Kriegsdienften; von Reb- 
leuten. | B 

1660—1666: Niklaus Rippel, Stadtfchreiber, von Gartnern. 

1666—1683: Sob. Rudolf ZYVurdhardt, 3. U. G., Gtabt- 
fchreiber, von Safran. 


1667: Andreas Burdhardt, gewefener Rittmeifter in 
füóniglid) däniſchen Kriegsdienften; von Spinn- 
wettern. 

1667— 1683: Sob. Ludwig Krug, Eifenhändler; von Schmie- 
den. 


1683—1717: Emanuel Socin, gewefener Rittmeifter in fónig- 
[ic ſchwediſchen Krriegsdienften; vom Schlüflel. 


108 


1684—1690: 
1690—1691: 
1691 —1705: 
1705—1722: 
4717—1723: 
1722—1731: 
..1723—1734: 


1731—1760: 
1734— 1760: 


1760—1767: 
1760—1762: 
1762—1777: 
^ 1767 —1796: 
1777 —1789: 
1789—1790: 
1790—1798: 


1796—1798: 


Joh. Safob Yurdhardt, gewefener fanglift und 
Kloſterſchaffner; von Sausgenoffen. 

Franz Robert Vrunfchweiler, Spezerei- und 
Materialwarenhändler; von Gartnern. 

Lucas Burdhardt, S. U. Dr., geweſener Schult- 
heiß des Stadtgerichts, von Hausgenoflen. 
Joh. Balthaſar Burdhardt, 3. U. G., gewefener 
KRanzlift; vom Schlüffel. 

Joh. Safob Merian, Gifenbünbler; von Schmie: 
den. 

Andreas DBurdhardt, S. U. Lic., 
Kanzlift; von Spinnwelttern. 

oh. Rudolf Wettftein, S. U. G., gewefener 
fanglift; von Spinnwettern. 

Samuel Merian, 93anquier; von Hausgenoflen. 
Emanuel Falkner, Seidenbandfabrifant; von 
Rebleuten. 


geweſener 


'Gelir 93attier, S3anquier; von Weinleuten. 


Joh. Rudolf Fäfch, gemefener Oberftlieutenant 
in fóniglid) franzöfifchen Kriegsdienften; von 
Hausgenoflen. 

Iſaak Sagenbad), Tuhhändler; vom Schlüflel. 
Sohannes be Bary, Seidenbandfabrifant, vom 
Schlüſſel. 

Daniel Mitz, 3. U. Lic., geweſener Sani; 
vom Schlüffel. 

Sohannes Rohiner, Indiennenfabrikant; von 
Hausgenoſſen. 

Peter Burckhardt, Seidenbandfabrikant; von 
Weinleuten.!) 

Andreas Yurtorf, S. U. G., gemefener fanglift; 
von Hausgenoflen. 


1) Ein zweites Mal Bürgermeifter von 1811—1815, ſowie für 
1812 Landammann der Schweiz. 


109 


Lifte bet Oberftgunftmeifter. 


1650—1655: 


1655—1661: 


1656—1657: 
1660—1664: 
1683—1705: 
1691: 
1691: 


1702—1730: 


1731—1740: 
1734—1735: 
1762—1777: 
1790—1798: 


1796—1798: 


Leonhard Wenz, Tuchhändler; vom Schlüffel. 
oh. Heinrih Galfner, Klofterfchaffner; von 
Weinleuten. 

Joh. Rudolf S3urdbarbt, S. U. Dr., erit Pro: 
feflor der Ethik, dann Stadtfchreiber; vom 
Schlüfſel. 

Benedikt Socin, Spediteur; von Gartnern. 
Chriſtoph Burckhardt, 3. U. C., geweſener 
Kanzliſt und Kloſterſchaffner; vom Schlüſſel. 
Johann Heinrich Zäslin, Eiſenhändler; von 
Schmieden. 

Martin Stähelin, Goldſchmied, von Haus— 
genoſſen. 

Niklaus Harder, 3. U. Dr., geweſener Kanzliſt 
und CdjultbeiB des Stadtgerichts; von Wein- 
leuten. 

Dietrih Forcart, S. U. E., gewefener Ranzlift; 
vom Schlüffel. 

Joh. Heinrih Bed, Sudbüánbler; von Gart- 
nern. 

Johannes Fäſch, Wollenhändler unb Wollen- 
weber; von Garfnern. 

Andreas Merian, S. U. G., Stadtfchreiber; 
von Rebleuten.!) 

Peter Ochs, S. U. Dr., Gtabtidreiber; von 
Schmieden. 


Lifte ber Geheimen Räte. 


1645—1661 : 


Sebaftian Bed, Klofterfchaffner,; von Wein- 


leuten. 


1) Bon 1803—1811 Bürgermeifter [orote für 1806 Landammann 


der Schweiz. 


110 


1648—1655: 
1650—1660: 
1650—1656: 


1653—1657: 
1655—1665: 


1656—16060: 


1657—1666: 


1660—1662: 
1660—1672: 
1661—1666: 
1662—1675: 
1663—1672: 
1665—1666: 


1666—1677: 
1666—1707: 


1667 —1670: 
1669—1686: 


1670—1691: 


1672—1674: 


Emanuel Ruffinger, Seidenhändler; von 
Weinleuten. | 

Bonifacius Yurdhardt, Seidenhändler; vom 
Schlüſſel. 


Wolfgang Gernler, 3. U. G., Notar; von Reb⸗ 
leuten. 
Johannes Bienz, Rebmann; von Rebleuten. 
Onophrion Merian, Spezerei- unb Mate— 
rialwarenhändler; von Safran. 

Johannes Stähelin, Eiſenhändler; von Schmie- 
den. 

Sob. Balthaſar Burckhardt, geweſener Haupt⸗ 
mann in markgräfl. badiſchen Kriegsdienſten; 
von Rebleuten. 

Jeremias Gemuſeus, Buchdrucker; von Haus: 
genoſſen. 

Johannes Dausmann, Kloſterſchaffner; von 
Spinnwettern. 

Stanz Brunſchweiler, Spezerei⸗ unb Material- 
warenhändler; von Safran. 

Lucas Hagenbach, Tuchhändler; vom Schlüſſel. 
Leonhard Felber, Tuchhändler; vom Schlüſſel. 
Joh. Heinrich Pfannenſchmid, Fiſcher; von 
Fiſchern. 

Jakob Beck, Kloſterſchaffner; von Weinleuten. 
Daniel Burckhardt, J. U. C., geweſener 
Kanzliſt; von Rebleuten. 

Joh. Jak. Meltinger, Marſtaller; von Gartnern. 
Joh. Heinrich Uebelin, Kloſterſchaffner; von 
Weinleuten. | 
Theodor 93urdbarbt, Tuch: und Seidenhändler; 
von Safran. 

Joh. Heinrih Ryhiner, Apotheker; von Gart- 
nern. 


111 


1672—1676: 
1672—1686: 
1675—1691 : 
1676—1706: 
1683—1719: 
1686—1689: 
1686—1719: 
1689—1709: 
1690—1699: 
1691—1693: 
1691—1719: 
1691 —1702: 
1699—1714: 
1701 —1713: 
1701 —1708: 
1706—1740: 


1709—1736: 
1713—1738: 


Johannes König, Buchhändler; von Schiff: 

leuten. 

Andreas Mitz, Spezerei- und Materialwaren: 

händler; von Safran. 

Joh. Friedrich Wettftein, Klofterfchaffner und 

Schultheiß des Stadtgerichts; von Rebleuten. 

Niklaus Weib, S. U. Lic., gewefener Ranzlift 

und Schultheiß des Stadtgerichts; vom Schlüflel. 

Cafob Chriftoph Sfelin, Geibenbanbfabrifant; 

von Gartnern. 

Gregorius Brandmüller, 

Sjausgenoffen. 

Lucas Burdhardt, gewefener Kanzlift unb 

Kloſterſchaffner; von Spinnwettern. 

Joh. Rudolph Fäſch, Klofterfhaffner, von 

Meinleuten. 

Joh. Safob Socin, Spediteur; von Gartnern. 

Emanuel Zäfch, gewefener Oberft und Brigade: 

fommandant in Eaiferl. SKriegsdienften, von 

Hausgenoflen. 

Opeter Sarafin,Seidenbandfabrifant;von Safran. 

Cob. Wernhard Huber, gewefener Lieutenant in 

fónigl. franzöfifchen Kriegsdienften; von Safran. 

Peter Raillard, Sudbünbler; von Haus: 

genoflen. 

Chriftoph DBurdhardt, S. U. Lic., gemefener 

Kanzliſt; von Hausgenoflen. | 

Leonhard Refpinger, Spezerei- und Material- 

marenbünbler; von Safran. 

30h. Bernhard Burdhardt, gewefener Saupt- 

mann in Eönigl. franzöfifchen Kriegsdienſten; 

von Rebleuten. | 

Sofeph Gocin, Spediteur; von Hausgenofien. 

Joh. Rudolf Burdhardt, S. U. E., geweſener 
Kanzlift; von Spinnwettern. 


Goldihmied; von 


112 


1714—1718: 
1718—1742: 
1719—1727: 


1719—1728: 


1719—1728: 
1722—1738: 
1724—1725: 
1725—1738: 
1728—1731: 
1731—1761: 
1734—1751: 
1735—1750: 
1736—1740: 
1737—1758: 
1737 —1744: 


1738—1757: 


Joh. Jakob Hoffmann, Geibenbanbfabrifant; 
von Webern. 

Lucas Fäſch, Wollenhändler und Wollenweber; 
von Schiffleuten. 

Auguftin Schnell, S. U. G., gewefener Kanzliſt; 
von Gartnern. 

Gbriftopb 93urdbarbt, gewefener Hauptmann in 
fünigl. franzöfifchen Kriegsdienften, von Haus⸗ 
genoffen. 
Martin Stähbelin, Goldfhmied; von Haus⸗ 
genoflen. | 
93enebict Miß, Spezerei- und Materialwaren- 
händler; vom Schlüffel. 

Cyob. Konrad Wieland, S. U. C., gemejenet 
Sanglift und Klofterfchaffner; vom Schlüſſel. 
Daniel Louis, Spezerei- unb Materialwaren- 
händler; von Safran. 

Emanuel Müller, Seidenbandfabrilant; von 
Weinleuten. 

Sohannes Schweighaufer, S. U. G., Notar; 
vom Himmel. 

Lucas fjagenbad), Tuchhändler; von Webern. 
Joh. $[(rid) Paffavant, gemefener Lieutenant 
in fónigl. franzöfifhen SKriegsdienften; von 
Weinleuten. | 

Joh. Balthafar 93utdbatbt, Seidenbandfabri- 
fant; vom Schlüffel. 

Lucas Schaub, S. U. Lic., englifher Geſchäfts⸗ 
träger in Paris; vom Schlüflel. 

Jakob Gbriftopb Grey, S. U. Lic., gemejener 
Kanzlift; von Weinleuten. 

Saat 93urdbarbt, gewefener Hauptmann und 
Aidemajor in königl. franzöfifhen Kriegs⸗ 
dienften; von Rebleuten. 


113 s 


1740—1771: 
1740—1754: 


1740—1757: 


1742—1748: 
1744—1762: 


1748—1750: 
1750—1760: 


1750—1773: 
1751—1774: 


1753—1769: 
1754—1784: 


1757 —1789: 


1761—1787: 
1762—1798: 


1762—1765: 


1765—1784: 


1771—1792: 


1771—1794: 


1773—1777: 


Sohannes Sarafin, Geibenbanbfabrifant; vom 
Schlüſſel. 

Johannes de Bary, Seidenbandfabrikant; von 
Spinnwettern. 

Joh. Rudolf Burckhardt, geweſener Kadett in 
fónigl. franzöfifchen Kriegsdienſten; von Haus: 
genoflen. 

Abel Mis, Tuchhändler; von Schmieden. 
Sohannes Merian, YBanquier; von Haus- 
genoflen. 

Niklaus Harfcher, Tuchhändler; von Gartnern. 
Abel Wettitein, gewefener Lieutenant in koͤnigl. 
franzöfifchen Kriegsdienften,; von Weinleuten. 
oh. Balthaſar Burkhardt, Seidenbandfabri- 
fant; von Rebleuten. 

Joh. Lucas Sfelin, Tuchhändler; von Reb- 
leuten. 

Philipp Kern, 93ádermeifter; von S3rotbeden. 
Seremias Ortmann, Banquier und Spediteur; 
von Weinleuten. 

Cob. Heinrih 3üslin, 
Safran. 

Benedict Stähelin, Eiſenhändler; von Webern. 
Lucas Fäſch, geweſener Hauptmann in bol- 
ländiſchen Kriegsdienſten; von Gartnern. 
Emanuel Hoffmann, Seidenbandfabrikant; von 
Webern. 

Leonhard Reſpinger, Spezerei⸗ und Material- 
warenhändler; vom Schlüffel. 

Lucas Fäſch, gewefener Hauptmann in bol: 
ländilchen Kriegsdienften; von Rebleuten. 
Hieronymus Wieland, Seidenbandfabrifant; 
vom Schlüfiel. 

Soh. Ludwig Frey, Tuchhändler; vom Schlüffel. 


Eifenpändler; von 


114 


1774—1798: 


1777 —1796: 


1777 —1784: 
1777 —1798: 


1784—1789: 


1784: 


1784—1788: 
1787 —1798: 
1788—1798: 
1789—1798: 
1789—1798: 
1789—1794: 
1793—1798: 
1794—1798: 
1794—1798: 


1796—1798: 


Sohannes Fürftenberger, Wollenhändler unb 
Wollenweber; von Rebleuten. 

Joh. Jakob Burdhardt, gewefener Hauptmann 
in fónigl. franzöfifhen SKriegsdienften; von 
Schmieden. 

Marcus Heußler, Papierfabrifant, von Haus: 
genoffen. 

Friedrich Münch, Bäckermeiſter; von YBrot- 
becken. 

Hieronymus Burchhardt, Floretſeidenfabrikant; 
vom Schlüſſel. 

Joh. Jakob Thurneyſen, Seidenbandfabrikant; 
von Gartnern. 

Johannes Biſchoff, Banquier; von Haus— 
genoffen. 

Andreas Ortmann, 3. U. G., gewefener Sang: 
lift; von Gartnern. 

Sohannes Hagenbach, Tuchhändler; von Haus: 
genoflen. 

Abraham Iſelin, Sudbünbler; von Spinn- 
wettern. 

Hieronymus Gemuſeus, Spezerei- und? Ma— 
terialwarenhändler; von Webern. 

Niklaus Harfcher, Geibenbanbfabrifant; von 
Weinleuten. 

Emanuel Falkner, Seidenbandfabrifant,; von 
Rebleuten. 

Leonhard Burdhardt, Snbiennenfabrifant; vom 
Schlüſſel. 

Jakob Chriſtoph Roſenburger, Papierfabrikant; 
von Safran. 

Samuel Parqvicini, 
Schmieden. 


Eiſenhändler; von 


115 


Bin Eirchlicher Streit im Birsed 
vor achtzig abren. 


Nach ben Akten dargeftelit von Wilhelm Degen. 


I. 


Borbemerkungen. — Das Birsed und das proteftantifche Bafelbiet. — 
Die revolutionären Ideen unb bie kirchlichen Angelegenheiten. — 
Die Erledigung der Pfarrei Allſchwil. — Die Wahlart der Geift- 
lichen. — Das „Verkommnis“ von 1830. 


Wenn ein Dorf von der Größe Oberwilg — es zählte 
bis in die neunziger Sabre des [e&ten Jahrhunderts weniger 
als taufend Einwohner — in feiner Geſchichte eine militärifche 
Okkupation wegen Auflehnung der DBürgerfchaft gegen die 
gefeglihe Ordnung zu verzeichnen bat, fo muß ein folches 
Ereignis fid) in dem Gedächtnis ber Mitlebenden und in bet 
Tradition etlihe Generationen hindurch tief eingegraben 
baben. ch erinnere mich denn auch aus meiner Sugenb- 
zeit, mit welch gefpannter Aufmerkſamkeit jeweilen Augen- 
zeugen aus den Tagen der fogenannten „Zandjäger- 
Gefchichte" angehört wurden, wenn der Fluß der IUnter- 
haltung etwa an einem Winterabend auch bie benfmirbigen 
Greignife von 1834 unb 1835 beríübrte. Schon der Um— 
ftand, bap ich eine ganze Reihe der Beteiligten nod) perfön- 
[id) fannte, mußte in mir den Wunfch meden, diefe Lokale 
Epifode gelegentlih im Zufammenhang zu erzählen. Ein 
auch nur oberflächliches Studium der Alten lehrte mid) bann, 
daß ben Vorfällen wegen ihres 3ujammenbanges mit ben 
liberalen Tendenzen innerhalb der Eatholifchen Kirche eine 


116 


tiefere Bedeutung al8 nur diejenige eines Drt(id)en Streites 
um bie 93efe&ung einer Pfarrftelle zulam, und biefe Grfennt- 
nis mußte mid in meiner Abficht beftärfen. rüber oder 
fpäter bätte die Affäre, das ift meine feffe Lleberzeugung, 
bod) einen Bearbeiter finden müflen, denn bie auf bet 
Kanzlei des bafellandfchaftlichen Obergerichts in Lieftal ver- 
wahrten diden Bände wohlgeordneter Alten fónnen nicht 
anders als einladend wirken; bat bod) fchon ber verftorbene 
Oprofeffor Albert Burdhardt-FZinsler das Thema gelegentlich 
mit andern den Mitgliedern feines biftorifchen Kränzchens 
zur Bearbeitung empfohlen. 

Meine Darftelung bringt übrigens nicht bie erfte 23e- 
handlung der Angelegenheit, denn es ift bereits einmal ein 
ganzes Büchlein über fte gefchrieben worden. Aber biefe 
Dublikation ift [don Längft vergriffen, und ich vermochte fie 
froß vielfachen Nachfragen bloß nod) in zwei Eremplaren 
feftzuftellen.‘) Cine neue Bearbeitung des Themas redbt- 
fertigt fid) aber noch aus andern Gründen. Das erwähnte 
Büchlein erfhien wahrfcheinlich bald nad) bem Abſchluß ber 
Ereigniffe, bie feinen Inhalt ausmachen, und bie Ano— 
nymität, in die fid) allem Anfchein nach der Verfafler hüllte, 
weift darauf bin, daß wir es nicht mif einer von rein 
biftorifchen Rüdfichten geleiteten Publikation zu tun haben. 
Der Autor war offenbar ein Kleriker ber liberalen ober 
bod) fiberalifierenben Richtung — er bemüht fid) übrigens 
gar nicht, feinen perfönlihen Standpunkt zu verdeden — 
und darum hält er fid) etwas lange bei der Schilderung Kirch: 
licher 3uftánbe unb der Erörterung der Differenzen zwifchen 
der geiftlichen Behörde und ben ftaatfiden Organen auf, 
während das, was für ein fpäteres Geſchlecht bie Hauptfache 
fein dürfte, bie Zufpigung des Konflikts big zur Rataftrophe 
unb die Einzelheiten fiber biefe, etwas zu fura kommt. 


1) Stud) diefe Eremplare weijen beide einen unliebfamen De- 
feft auf: das Titelblatt fehlt, und es ift weder Autor, nod) Jahr 
bes Cridjeinens, nod) Drudort feftzuftellen. 

OMS or ee SER 


117 


Was fodann bie rein politifche, nicht religiöfe unb kirch⸗ 
[ide Bedeutung der Oberwiler Landjäger-Gefchichte betrifft, 
fo darf fie einigermaßen auf Beachtung Anfpruch erheben als 
Beitrag zur Beleuchtung der Schwierigkeiten, mit denen die 
leitenden Röpfe des jungen Staates Baſelland in ben erften 
Jahren feines Beſtehens zu kämpfen batten. In Firchlicher 
Beziehung machte ihnen zwar der proteftantifche €anbesteil 
mehr zu fchaffen, weil nämlich deflen Geiftliche der Herkunft 
ihrer Mehrzahl gemäß baslerifch gefinnt waren und bet 
Lieftaler Regierung wegen ihres revolutionären Urfprungs 
ben Sreueib nicht leiften wollten; man bebalf fid) mit von 
weiterber, aud) aus bem Ausland, bezogenen Theologen und 
madíe mit biefen in der Folge nicht durchweg gute Gr- 
fabrungen, fo daß Firchliche Händel auf eine ganze Reihe von 
OGabren an der Tagesordnung waren. So unruhig ging es 
im fatbolifden Landesteil nicht zu, aber bie Regierenden 
machten immerhin die Erfahrung, daß das ehemalige fürft- 
bifhöflihe Territorium dem fogenannten alten 23afelbiet, 
bem einftigen SÍntertanenfanb der Stadt, noch keineswegs 
affimiliert war. Gerner zeigte fid auch bier, wie eigentlich 
natürlich und wie man in der Folge des näheren erjehen 
wird, eine ftarfe Nachwirkung ber Revolutionsjahre und der 
von ihnen aufgebrachten Zdeen unb Anfchauungen, und zwar 
in einem folchen Sinne, baB den Staatsmännern ber neuen 
Hera das Regieren nicht erleichtert wurde. 

Run lieferte zwar das Birseck, wie man bie neun 
Zatholifchen, bis zur franzöfiihen Revolution zum Fürft- 
bistum DBafel gehörenden Gemeinden des Kantons 23afel- 
landſchaft zufammenfaffend nennt, ber Revolution von 1830 
bis 1832 hervorragende Führer, bie wefentlih zu bem 
ſchließlichen Refultat ber von ber Tagſatzung in Luzern aus- 
gefprochenen Trennung von Stadt und Landfchaft Baſel 
beitrugen. Doc mar auch bier die Stimmung keineswegs 
einheitlich; in allen Dörfern gab es außer „Patrioten” auch 
ſtädtiſch gefinnte „Ariftofraten”, und die Ortfchaft Reinach 


i 


118 


mif einer überwiegend zu Baſel haltenden Bevölkerung 
bildete für das DBirsed das, was Gelterfinden und das 
Reigoldswilertal für den obern Rantonsteil barftellten. Die 
Religion jedoch fpielte in der Basler Revolution feine Rolle, 
wenigftens nicht in den Gedanken und Anfchauungen ber 
großen Maffe, wenn fie aud) vom hiftorifchen Gefichtspuntte 
aus als treibendes Motiv nicht ganz ausgefchaltet werden 
darf: Lebte nicht in dem im Freihof zu Aeſch niedergelaflenen 
Gefchlehte von 93farer ber einft öfterreichifch gefinnte unb 
reformationsfeindliche Landadel fort, und war nicht bie 
hervorragende Beteiligung diefer Familie an den Greigniffen 
der erften dreißiger Sabre in erfter Linie der Ausfluß einer 
biftorifchen Gegnerfchaft gegenüber der Stadt? Die Blarer 
waren bod) von Haufe aus Ariftofraten, und ihr 93ünbnis 
mit den Widerfachern ber bafelftädtifchen Herrfchaft trägt 
feinesweas den Stempel eines von einheitlichen Auffaffungen 
biftierten Zuſammengehens; es dürfte ihnen allerdings will- 
fommen geweſen fein, baB fie an Stephan Gutzwiller einen 
überaus tätigen und gewandten YBundesgenoflen bejaBen, 
der, aud) in den Künften des Demagogentums bewandert, 
das Bindeglied zwifchen ihnen und weiteren Bevölkerungs⸗ 
freifen bilden konnte. 

Co wenig nun aud) religidfe Dinge und die fonfelfio- 
nelle Zugehörigkeit der verfchiedenen Gegenden des neuen 
Kantons bei der Trennung mitwirkten, ganz glatt ging es 
für das junge Staatswefen in ber nächſten Zeit aud) in 
diefer Hinficht nicht ab. Von einem fulturfampr in einer 
etwa ein halbes Menfchenalter hinter der Erklärung des 
SinfeblbatfeitSbogmas zurüdliegenden Zeit fann man aller: 
dings nicht reden, denn es fanden fid) nicht bie Vertreter der 
Gorberungen des modernen Staates und diejenigen Der 
bierardifchen Anfprüche gegenüber, bloß teilweife ftritf man 
fi um Dinge, bie in den fiebziger Jahren des legten Jahr⸗ 
hunderts bie prinzipielle Seite des Kampfes zwifchen Staat 
und Kirche ausmadten. Lofale Urfachen führten dazu, daß 


119 


im Bolt Unzufriedenheit mit bem Vorgehen der geiftlichen 
Behörden bei der Beſetzung von Pfarritellen entitand; ba lag 
es nahe, daß bie „Patrioten”, bie in ben unrubigen Seiten 
von 1830—33 für bie neuen Sbeen geftritten, bie Frage auf- 
warfen, warum die Souveränität des Volles vor den 
traditionellen Anfprüchen der fatbolifden Hierarchie Halt 
machen follte in Dingen, die Glauben unb Dogma nicht 
berühren. Das Eigentümliche an der Situation war, daß 
gerade die Vertreter der Staatsgewalt und die Vorfahren 
der fpäteren Rulturfämpfer bie Autorität des Biſchofs von 
23afel verteidigen halfen, während die ftreng Klerikalen, alfo 
bie Ultramontanen der damaligen Zeit, den Gemeinden das 
Recht der Wahl ihrer Seelforger zugeftanden willen wollten. 
Doch war bei biefem Austaufch der Rollen nicht das Prinzip 
das treibende Motiv, fondern befondere Umftände in ben 
Derfonenverhältnifien wiefen ben Parteien ihre Stellung an. 

Am 4. Auguft 1834 verzichtete Pfarrer Weber in 
Allſchwil auf eine weitere. Ausübung feiner geiftlihen 
Gunftionen. Er hatte fein Amt in dem Dorfe neun Sabre 
verfeben, nachdem er in dasfelbe gegen den Willen der 
Mehrheit der Bevölkerung eingefeßt worden war. Webers 
Rüdtritt war nicht freiwillig, denn ihm drohte bie Abfegung 
duch den Biſchof, weil fein fittlihes Verhalten Anlaß zu 
Klagen lieferte. Am 12. Auguft 1834 wandte fid) nun ber 
Gemeinderat der Ortfchaft an bie Regierung in Lieftal und 
ſprach ihr den Wunſch aus, e8 möchte den Gemeinden als 
einem Zeil des fouveränen Volkes das Recht zugeftanden 
werden, ihre Geelforger felbft zu wählen, wie das bereits 
(laut Gefe& vom Dezember 1832) im proteftantifchen Landes: 
teil fowie in mehreren anderen Kantonen der Gall fei. 23e- 
gründet wurde das Gefuch außerdem mit bem Hinweis, daß 
der Gemeinde viele Inannehmlichkeiten erfpart geblieben 
wären, wenn fie [don neun Sabre früher das Recht bet 
Dfarrwahl gehabt hätte, es fei ber ungmeibeutige Wunſch 
der Gemeinde, baB fie als Geiftlichen ben zur Zeit in Räders- 


120 


dorf im Amt Pfirt wirkenden (aus Allſchwil ftammenben) 
Abbe Adam erhalte. 

Mit der Abfendung diefer Petition nad) Lieftal war 
bie Stage zur Diskuffion geftellt, auf welche Weife im neuen 
Kanton DBafellandfhaft bie Ernennung der katholiſchen 
Geiftlichen zu erfolgen habe. Im Januar desjelben Jahres 
waren auf einer von fieben Kantonen beichidten Konferenz 
die fogenannten Badener Artikel vereinbart worden, die die 
Wahrung der ftaatlihen Hoheit gegenüber den Macht: 
anfprüchen der römifch-fatholifhen Kirche begmedten; fie 
betrafen u. a. bie Plazetfrage, bie gemifchten Ehen, bie Be: 
fteuerung der Klöfter, bie Verpflichtung der Geiftlichen zum 
Eid auf bie fantonalen Verfaffungen, unb fie erklärten ferner 
das Verbot der Abtretung von Kollaturen an geiftliche 
Körperfchaften oder Behörden. Grundfäglih mußte die 
Regierung des Kantons Yafellandfchaft, der den Badener 
Konferenzbeſchlüſſen förmlich beigetreten war, dem von 
Allſchwil erhobenen Begehren günftig geftimmt jein; es 
fragte fid) bloß, ob fid) der Staat refp. bie Gemeinden ohne 
weiteres das Rollaturrecht, ba8 Recht der Beſetzung erledigter 
Opfrünben, zumweifen fonnten. 9m Birsed übte dasjelbe big 
je8t ber Bifchof von 93afel aus. Er bejap es felbftverftänd: 
lich uneingefchräntt, fo lange er zugleich weltlicher Gebieter 
war, und aud) nad) der Belegung des Bistums durch bie 
Alliierten im Jahre 1814 nahm es Zürftbifhof Franz 
Xaver v. Neveu, der zu Offenburg lebte, neuerdings in 
Anſpruch. Als bann die Kantone Bern und Baſel fid) in 
ben Landbefit der einftigen Fürftbifchöfe teilten, anerkannten 
fie die geiftlichen Rechte des Biſchofs, unb biefer widerftand 
mit Erfolg bem Verfuhe Baſels, ein Uebereinfommen über 
bie 93efe&ung der Pfarrftellen abzufchließen. Im Jahre 1828 
erfolgte dann die Otefonftruftion des Bistums Baſel, bie 
als bifchöflihe Refidenz Solothurn beftimmte und als erften 
Snhaber des bifchöflichen Stuhles Sofepb Anton Salzmann 
berief. Die Regierung von Baſel Inlipfte nun mit diefem 


121 


Perhandlungen an, und deren Ergebnis war eine vom 
26. Oktober 1830 datierte Vereinbarung, ein [ogenanntes 
Verkommnis. Darnach mußte beim Eintritt einer Vakanz 
die erledigte Pfarrftelle durch den Dekan auf vier Wochen 
ausgefchrieben und nad) Ablauf diefer Griff von feiten des 
Defans eine Einladung zum Konkordats-Eramen erlaflen 
werden, jedoch mit ber Beſchränkung auf Schweizer Bürger. 
Zeugniſſe und Eramenarbeiten erhielt der Bifhof in Solo— 
thurn zur Senjur, bod) batte diefer vor der eigentlichen Gr- 
nennung die Regierung anzufragen, ob fie Einwendungen 
gegen bie in Ausficht genommene Perfönlichkeit zu machen 
babe; erfolgte feine (Gintebe, fo erteilte der Biſchof bem 
Pfarrer die kirchenrechtliche Einfegung, der bifchöfliche 
Kommiffar führte ihn in fein geiftliches und der Bezirks— 
ftattbalter im Namen der Regierung in fein weltliches 
Benefizium ein. Auf Grund diefes Verfommnifles waren 
nad) dem Eintritt von Vakanzen bie Pfarreien in Gttingen, 
Reinach, Alfhwil und Therwil beje&t worden. 

Die Regierung in Lieftal erachtete nun diefes Ver: 
fommnis nad) der Trennung des Kantons Bafel nicht mehr 
für bindend und wollte mit der definitiven 23efeGung der 
Pfarrei Allſchwil bis nad) bem Abſchluß eines neuen Ab— 
fommens zumwarten. Über der Biſchof belebrte fie, daß 
ihre Anfchauung einer Unkenntnis der Geſetze entfpringe; 
es fei ein vom ofumenifden Konzil in Trient ausgefprochener 
Grundfag, daß das Rollaturreht aller Eirhlichen Benefizien 
dem Didzefan-Bifchof zukomme; im Birsed fei es immer jo 
gehalten worden, der Status quo ante fei geblieben, al8 das 
Gebiet laut Beſchluß des Wiener Ronarefies an Baſel über: 
ging, und die Trennung von Stadt und Landichaft babe 
daran nichts geändert. Auf diefen Beſcheid bin fchidte bie 
Regierung den Pizepräfidenten des Landrats, Stephan 
Guswiller, nad) Solothurn zum 3mede von Unterhandlungen 
mit bem Biſchof, aber ohne ein eigentlihes Refultat zu 
erzielen. Der Delegierte vertrat bie Auffaflung, der Stifter 


122 


unb Unterhalter einer Pfründe müffe aud) der follator fein 
(ber 93efeSer ber Pfarrei); bie Bifchöfe hätten vor ber Re: 
volution das Kollaturrecht als Landesherren und nicht in 
ihrer bierarchifchen Eigenfchaft ausgeübt. Im übrigen [ei 
die Regierung geneigt, ihre Rechte bei der Beſetzung er: 
ledigter Pfründen entweder mit einer Tatholifchen Kom- 
miffion oder mit den Gemeinden zu teilen. Der Biſchof 
anerfannte zwar das Gewicht einzelner Argumente, bod) 
wandte er ein, er müfle feinen Stuhl dem Nachfolger mit 
denjenigen Rechten binterlaffen, mit welchen er ihn an- 
getreten; er fei zu Unterhandlungen bereit, bod) werde ber 
Umftand, daß bie Lieftaler Regierung proteftantifch fei, beim 
Domkapitel, bem bie Entichließung auftebe, große Schwierig: 
feiten madjen. Als Ronzeffion brachte Gutzwiller bloß einen 
Zuſatz zum Verkommnis von 1830 zurüd, wonach bie Re- 
gierung eine Prüfung der Kandidaten durch zu bezeichnende 
fatholifche Geiftliche von fid aus ober in Gemeinfchaft mit 
dem bifchöflichen General-Provifar fónne vornehmen Iaffen. 
Die Allſchwiler erreichten immerhin fo viel, bap fie einft- 
weilen einen Rapuzinerpater aus dem Klofter Dornach als 
Pfarrverwefer erhielten, eine Löfung, bie noch heutzutage 
im Birseck beim Ableben eines Geiftlichen üblich tit. Dekan 
Gürtler hätte ihnen gerne feinen (unbefoldeten) Gehilfen 
Abbe Schmidlin, einen gebürtigen Arlesheimer, gegeben, 
aber fie widerfegten fid) diefer Abficht, fie wollten fid) nad 
Gürtlers eigenem Zeugnis „von bem Pfäfflein in Arles- 
beim feinen Pfarrer geben laſſen“. Was jedoch Gürtler im 
Sommer nicht gelang, nämlich feinen Schügling Schmidlin 
vorläufig unterzubringen, das jollte ibm im felben Spätjahr 
glüden. 


123 


II. 


Abbe Schmidlin al8 Vikar in Oberwil. — Politifche Größen in ber 

Gemeinde. — Abbe Doswald als Refleftant auf bie Pfarrftelle. — 

Schwierigleiten feiner Bewerbung. — Lärmende Störung des — 
Gottesdienftes bei Anlaß feiner Probepredigt. 

On Oberwil ftarb am 28. November 1834 in jungen 
Jahren Pfarrer Defchger, und bereit3 am andern Tage fand 
fi in der Gemeinde Abbe Schmidlin als vom Dekan ge- 
ſchickter Verweſer eim. Gürtler meldete bie neue Vakanz 
nad) Lieital, und bie Landestanzlei (nicht der Dekan, ber e3 
nad dem „Verkommnis“ hätte tun follen), fdrieb am 
13. Dezember die beiden erledigten Stellen auf drei Wochen 
im Amtsblatt aus. Lnterdeflen batte fid) in Oberwil Vikar 
Schmidlin bereits in den erften Wochen feiner Tätigkeit 
einen ftarfen. Anhang zu verfchaffen gewußt. Namentlich 
der weibliche Zeil der Bevölkerung war ibm faft durchweg 
blind ergeben, und auch bei ber jungen männlichen Ge— 
neration erfreute er fid) einer ausgefprochenen Beliebtheit. 
Er logierte in der Mühle, dem Herrenhaufe des Dorfes, 
und genop bie Gunft bes Müllers Andreas Hügly, ben man 
al3 das Haupt der fferifalen Partei bezeichnen fann, wenn 
fi aud) fein Einfluß mehr hinter ben Nuliffen als auf 
offener Bühne zu betätigen pflegte. Einen ftarfen Rüdhalt 
batte Hügly am Gemeinderat, denn befjen fünf Mitglieder, 
Jakob Sütterlin, Leonhard Seiler, Fridolin Sbürfauf, Jakob 
Düblin und Jakob Wehrlin, waren fämtlich feine Ge- 
finnungsgenofien; zudem war die treibende Kraft im Ge- 
meinberat der Schwiegerfohn des Müllers, Friedensrichter 
Sbürfauf, während Präfident Sütterlin?) einer ber bab- 
Lichften Bauern der Ortfchaft, fein Amt offenbar mehr feiner 
ökonomiſchen Stellung als hervorragenden Fähigkeiten ver- 
dankte, denn er bewies in den fchwierigen Situationen, bie 
die Folgezeit brachte, durchweg einen unverkennbaren Mangel 


2) Sein Dorfname war „Zollerjoggi.“ 


124 





an Gelbftünbigfeit. An Regſamkeit des Geiftes war ibm ohne 
Zweifel der Führer der Liberalen Partei überlegen — ſo— 
weit man beim Fehlen einer Organifation und auch bei 
bem ſtarken Hervortreten der perfönlichen ftatt der prin- 
zipiellen Gegenfäge von Parteien überhaupt reden fanm. 
Das war Landrat Peter Hügin, ein Mann, der fid) (don 
lange in Gemeindeangelegenheiten eine angefebene Stellung 
erworben unb aud) weiteren Kreifen moblbefannt war, denn 
er war Mitglied des Bezirksgerichts Arlesheim und fpäter 
des bafellandfchaftlichen ObergerichtS. 

Dem „alten Hügin”, wie ihn die ältere Generation in 
meiner Zugendzeit nannte, war es nun darum zu fun, einen 
aufgellärten Geiftlichen in die erledigte Pfarrei zu bringen, 
und er wandte fid babet an ben Fatholifchen Pfarrer in 
Züri, ‚Robert Kälin, der als Student mehrmals feine 
Serien bei dem langjährigen Pfarrer Nußbaumer in Ober- 
Til verbracht hatte unb von jener Zeit ber einen Kleinen 
Bekanntenkreis im Dorfe befaß, mit der Anfrage, ob er fid) 
nidf um die Stelle bewerben wolle. Kälin antwortete, er: 
freut über das ihm bewiefene Zutrauen, bap ihn Pflichten 
der Dankbarkeit an feinen bisherigen QUirfungsfreis feflelten; 
da es ihm indeflen leid täte, wenn die Pfarrei Oberwil in 
bie Hände eines Lepviten fallen follte, der Judentum und 
Knechtſchaft ftatt ein großartiges Chriftentum und Freiheit 
predigen würde, fo empfehle er feinen Vikar Peter Dos— 
wald, einen hellen, waderen, aufgef[árten Geiftlichen, für den 
Hügin feinen Einfluß aufbieten folle. Der im Jahre 1809 
geborene und aus Menzingen im Kanton Zug ftammenbe 
Doswald begab fid) mit diefem Briefe Kälins am 11. De: 
zember von Sürich nad) Oberwil, in der Abficht, fid) um die 
Stelle zu bewerben und am nächften Sonntag in ber bortigen 
Kirche zu predigen. Sym Dorfe angefommen, fragte er zu- 
nächft nad) ber Wohnung von Landrat Hügin, ber ihm riet, 
zu dem als Lehrer amtenben Abbe Kiefer und zum Verweſer 
Schmidlin zu geben. Doswald tat das, ber Vikar aber ant- 


125 


wortete auf feine Anfrage, ob er am Sonntag predigen 
dürfe, bie Erlaubnis dazu fei Cade des Defans, und biefet 
würde eine folche faum erteilen. Doswald verfügte fid) zu 
Hügin zurüd, und diefer riet ihm jest, fid an Regierungsrat 
Meyer in Lieftal, den damaligen Präfidenten der Kirchen: 
unb Schullommiffion, zu wenden, ibm den Zweck feiner 
Reife auseinanderzufegen und fich über die ihm in den Weg 
gelegten Hindernifle zu befchweren. Doswald hatte, wie er 
fi fpäter äußerte, die Hoffnung auf einen Erfolg feiner 
Reife eigentlich aufgegeben, aber Meyer fagte ibm, er wolle 
es [don möglich machen. 

Mit einem Schreiben Meyers, worin über Schmidlins 
Benehmen Klage geführt unb Doswalds Erfuchen unter- 
fügt wurde, begab fid) biefer am 12. Dezember gegen Mittag 
nad) Arlesheim zu Dekan Gürtler, der zwar den Inhalt des 
DBriefes (überaus ungnädig aufnahm, beffen Sleberbringer 
aber fchlieflich bod) ein Schreiben an Vikar Schmidlin mit- 
gab, worin er biejem überließ, bie Erlaubnis zum Predigen 
zu erteilen oder zu verweigern. Doswald fam am Abend 
des gleichen Tages zu Schmidlin zurüd, ber zwar jebt feine 
Einwilligung gab, jedoch bemerkte, er [ei überzeugt, es 
werde unfer dem Volke einen Aufftand geben, falls ein 
fremder Geiftlicher am Sonntag den Gottesdienft halte; er 
berief fid) auf den Willen des Gemeindepräfidenten, der 
gegen die Erteilung der Erlaubnis fei. Am anderen Tage 
al3 dem Ottilientag, dem Arlesheimer Kirchenpatronsfefte, 
[eint man unter ben beim Dekan verfammelten 9Dfarrberren 
des ganzen Bezirks auf unliebfame CEreigniffe vorbereitet 
gewejen zu fein, wenigftens äußerte fid) Pfarrer Eueni in 
Therwil nad) feiner Otüdfebr gegenüber Lehrer Anaheim, 
er wifle nicht, wie e8 Doswald am Sonntag ergehen werde. 
Auh Dekan Gürtler gab im Verhör zu, er babe fid) am 
Dttilientag gegenüber Schmidlin (der laut Verabredung mit 
einzelnen Gemeinderäten gelegentlich des Feſtes die in 
Oberwil gefchaffene Sachlage mit bem Beazirkspfarrer be- 


126 


ſprechen follte) dahin geäußert, er febe ein, bap e$ eine 
„Sauerei“ abfegen werde; unter den Geiftlichen, fügte er 
hinzu, wurde gefagt, es fei eine Frechheit von Doswald, daß 
er prebigen wolle, ohne fid) bei der Offizialität angemeldet 
zu haben. 

Unter biejen Umſtänden war es allerdings ein Wagnis, 
daß Doswald tro& allen Sinberniljen auf feinem Vorhaben 
beftand; er mochte fid) fagen, daß er nad) feiner Reife von 
Zürich nad) Oberwil unb nad) feinen Befuchen in Arles- 
beim und Lieftal immerhin auf einer Probepredigt beftehen 
dürfe; viel zu verlieren batte er ja nicht mehr. Die Nacht 
zum Sonntag verlief im Dorfe überaus unruhig; bie 
„Knaben“, bie unverbeirateten jungen Burſchen, liefen in 
der Ortfchaft berum, um bie Leute aufzufordern, nicht eber 
in bie Kirche zu geben, als bis die Predigt zu Ende fei. 
Schmidlin batte nämlich bei feiner Otüdfebr von Arlesheim 
in der Mühle mehrere Gemeinderäte getroffen und mit ihnen 
ausgemacht, baB er unmittelbar nad) Doswalds Predigt 
das Hochamt halten werde. Einen direkten Anteil der Ge- 
meinderäte an den Treibereien, die gegen den „fremden 
Priefter” gerichtet waren, vermochte bie Unterfuchung nicht 
nachzuweiſen, bod) war bie Gefchäftigkeit verdächtig, mit ber 
der Knecht des Präfidenten, Johannes Häring, fowie bie 
Söhne der Gemeinderäte Düblin und Geiler bie Agitation 
betrieben. Dem Organiften Martin Ley?) wurden Prügel 
angedroht, wenn er am Sonntag vor der Predigt bie Orgel 
Ipielen würde. Vielleicht noch in der Nacht, als fid) die 
jungen Leute in Privathäufern und in einer Pintenwirtfchaft 
zufammenrotteten, wahrſcheinlich aber erft am Sonntag 
Morgen, al8 man fid) unmittelbar vor bem Gottesbienfte auf 
bem Kirchhof wieder von neuem beriet, wurde bann eine 
andere Parole ausgegeben: Man follte nicht während der 
Dauer der Predigt einfad) der Kirche fernbleiben, fondern 
zum 3mede einer eindrudspollen Manifeftation die Kirche 

5) Der jpätere langjährige Lehrer, T 1893, 


127 


beim Beginn ber Predigt in OXaffen verfajjen. Auf jeden 
Gall beuteten alle Zeichen auf einen nabenben Sturm bin. 
Der Sonntag fam. Doswald begab fid) vom Wirts- 
haus zum „Ochfen”, wo er logierte, nad) der Mühle, um 
Schmidlin abzuholen, ber ihn ziemlich unfreundlich empfing. 
Etwa zehn „Knaben“ riefen bald Schmidlin beifeite, der fie 
gebeten baben foll, ruhig zu bleiben, weil alles, was fie 
unternähmen, nur ihm felber fchaden würde. Gegen 9 Uhr, 
als bie Glode rief, machten fid) bie beiden Geiftlichen zur 
Kirche auf, in deren Nähe unterdeflen verfchiedene Perfonen 
von Anhängern Schmidlins angehalten und teilmeife fogar 
bedroht wurden. Auf dem Kirchhofe wurde Schmidlin von 
ben jungen Leuten mit demonftrativer Freundlichkeit begrüßt. 
Der Gottesdienft begann. Martin Ley fpielte wie ge- 
wöhnlich bie Orgel, nachdem ihm Lehrer Kiefer bie Furcht 
vor ben am Vorabend vernommenen Drohungen zerftreut 
batte. Schon während des Erdffnungsgefanges war es auf 
der Emporlirche, wo bie „Knaben“ fapen, unruhig. Dos$- 
wald beftieg bie Kanzel und verlas das Evangelium, das 
handelte vom Wort Zohannes’ des Täufers: „Ich bin die 
Stimme des Rufenden in ber Wüfte: NRichtet den Weg des 
Herrn!” Als er eben bie Predigt beginnen wollte, erneuerte 
fi bie Unruhe auf der Gmporfirdje und fteigerte fi, unter- 
ftüst von folder im Chor, fogleich zu Lärm und Getöfe; 
polternd fam eine ganze Schar von Klirchenbefuchern die 
Sreppe herunter und bewegte fid), verftärkt durch im Chor 
fi&enbe Männer, Grauen und Töchter, durch den Mittel- 
gang nad) vorn bis dahin, wo auf der der Kanzel gegenüber: 
liegenden Geite ein Gang zur Heinen Sire hinausführte. 
Durch biefe begaben fid) etwa zwei Dritteile der Kirchen- 
befucher, geführt vom älteften Cobne von Gemeinderat 
Düblin, ing Freie, während einzelne von ihnen bie Sitzen—⸗ 
bleibenden mit Rufen „Ujä! Nochä, nod)d, wär eppis Rächts 
if! Das fi Spisbuebe, wo binná blibä!“ zum Anfchluß 
aufforderten unb den Prediger im Weitergeben verhöhnten 


128 


ober fogar „auslällten“. Deſſen ungeachtet feste der 
amtierende Geiftliche mit Fräftiger Stimme feine ftangelrebe 
fort, was einzelne der Demonftranten fo ftark ärgerte, daß 
fie auf dem Kirchhof weiter lärmten; fie fchmetterten die 
Kirchtüren unaufhörlich auf unb zu und riefen dem Priefter 
wie feinen zurüdgebliebenen Zuhörern beleidigende und 
böhnifhe Worte zu: „Gang abá, bu Cord)! Abä, bu 
Dunnerwätter! Wollen fie nicht bald hinaus, die Spih- 
buben, die Sjalunfen! Seid Ihr nicht bald fertig!" Diefen 
empörenden Auftritten gegenüber verhielt fid Schmidlin, der 
fi nod) vor Beginn des Gottesdienftes in der Sakriſtei 
mißbilligend über Doswalds Vorgehen geäußert batte, — 
durchaus paffiv, obihon Dekan Gürtler ihn ausdrüdlich et- 
mahnt haben will, bie Leute von Unordnung abgubalten.*) 
Dagegen fuchte Lehrer Kiefer den fanatifierten Lärmmachern 
Vernunft beizubringen, er erntete jedoch für feine Be— 
mühungen nur Grobbeiten. 

Auf bem Kirchhofe machte jemand ben Vorſchlag, man 
[folle wieder Dineingeben und den Prediger mit bem Beten 
des Rofenkranzes niederbrüllen; im Verhör wollte ber Mann 
dann bloß gejagt haben, man hätte es nicht fo machen, fondern 
einen Rofenfranz beten follen. Die meiften Demonftranten, 
namentlich bie ,,$Stnaben", zogen nad) dem Auszug aus der 
Kirche dorfabwärts; in ihrem nod) nicht völlig geftillten 
Satenbrang wollten fie ben beim Schulhaus errichteten 
Freiheitsbaum umbauen, bod) brachte fie Präfident Sütterlin 
von ihrem Vorhaben ab. Die Gemeinderäte waren während 
der Predigt nicht in ber Kirche. Sie äußerten fid) fpäter, 
fie hätten entweder gar nicht gehen wollen oder feien zu fpät 
gefommen. Unter den Leuten hieß es, fie feien während 
der Predigt im Haufe des Gemeinderats Wehrlin ver: 


9 Der geiftlihe Anonymus jagt von Schmidlin: Unberührt von 
äußeren Gegenftänden, fntete er vor bem Hocdaltare, anjdjeinenb in 
heilige Betrachtungen vertieft, wie in Unterredung vor dem Aller: 
höchſten. 


129 


fammelt gemefen, unb tatfächlich fonnte ben meiften von ihnen 
bie Anweſenheit Dort nachgewiefen werden, nur wollten fie 
einander nicht geſehen haben und aus unverfänglicher Ur— 
fade zu Wehrlin, der einen Kramladen führte, gefommen 
fein. Präfident Sütterlin behauptete erft, der Gemeinderat 
babe bei feinem Mitglied Wehrlin eine amtliche Beratung 
namentlich wegen des Gabholzes gehabt, bod) als feine Aus- 
fage mit derjenigen feiner Kollegen nicht tübereinjitimmte, 
meinte er: „Sch muß mich überjeben haben.” Hingegen be- 
gaben fid) alle Gemeinderäte, nachdem nochmals mit allen 
vier Gloden geläutet worden war, in das von Schmidlin 
gehaltene Hochamt; eines der Parteihäupter, Alt-Präfident 
Heinrich Sütterlin, zählte beim Eintritt bie in der Kirche 
verbliebenen Zuhörer Doswalds böhnifch mit bem Finger 
ab. Auf meljen Anordnung zum Amt ertra geläutet wurde, 
fonnte wegen ber offenbar nicht aufrichtigen Ausfagen des 
Siegrift8 93annier unb feiner Grau nicht feftgeftellt werden. 

Nah dem Schluß des Gottesdienites fand nahe ber 
Kirche Gemeindeverfammlung ftatt, an der aber offenbar 
bloß das Amtsblatt verlefen wurde. Hierauf begaben fid) 
fämtliche Gemeinderäte nad) dem im Unterdorf gelegenen 
„Dchfen” und fragten Doswald, den auf bem Wege nad) 
feinem Quartier das Gefchrei von Kindern: „Den Schmidlin 
wollen wir!” begleitet batte, nad) feinen Ausweiſen. 
Gemeinderat Geiler?) febte in Zweifel, daß er überhaupt 
fatbolifd)er Geiftlicher fei, und meinte, mancher trage einen 
Grad und fei bod) ein Spigbube; fpäter fchwächte er feine 
Aeußerung dahin ab, er babe gefagt, es trage mancher einen 


5) Geiler fatte aud) fonjt eine ziemlich idjarje Zunge; es tjt 
beijpielsweije von ibm befannt, daß er, als er mit anderen Birs- 
edetn von Basler Herren wegen Zahlung ber alten Bodenzinje ver- 
flagt wurde, diefen vor Bezirksgeriht Arlesheim Prügel itatt Bo- 
denzins offerierte. Die Beklagten itellten fid) auf den GCtanbpuntt, 
die im neuen Kanton Bafellandichaft zuguniten der Allgemeinheit er- 
hobenen Steuern auf Bermögen und Erwerb feien an Stelle ber alten 
Feudallaſten getreten. 


130 


ſchwarzen Grad unb babe bod) darunter fein weißes Hemd 
an. Ferner fagte der Ochfenwirt, ber fand, bie Gemeinbe- 
räte feien dem Abbe jchändlich begegnet, vor bem Unter: 
fuhungsrichter aus, die Anwefenden bätten alle lachen 
míüffen, als bie Ortsgewaltigen mit dem „fremden Priefter“ 
hätten hochdeutfch fprechen wollen, es aber nicht fonnten. 

Mit Datum vom 15. Dezember, doch erft als der 
Regierungsrat bereit3 den Bezirksverwalter oder Gtatt- 
halter) in Arlesheim mit einer Unterfuchung der Vorgänge 
betraut batte, erftattete der Gemeinderat diefem Beamten 
mittelft des folgenden, von Präfident Cütterlin unterzeich- 
neten Schreibens Anzeige: „Wir Präfident und Gemeinde- 
räte der Gemeinde Oberwiller machen Ihnen die Anzeige, 
daß fid verwichene Woche, als ben 11. diefes ein fremder 
Priefter in unfere Pfarrei begeben bat, Funktionen machen 
zu wollen, ohne daß er bei uns Vorftebern angefragt bat; da 
biefer Priefter Sonntags ben 14. biefe8 bie Kanzel betreten 
foll haben, fo foll fid), wie wir vernommen, ein Aufftand 
unter der Bürgerfhaft fid) ereignet haben, indem bie 
Bürgerfhaft geglaubt, der fremde und unfennbare Priefter 
wolle fid mit Gewalt in unfere Pfarrei eindringen und 
denjenigen Priefter, ber untetbefjen von der geiftlichen 23e- 
börde ift zugetan worden, zu verdrängen fuchen. 

Wie mir in Kenntnis gefe&t worden find, foll obgefagtet 
Aufftand in dem beftehen, als diefer unkennbare Priefter 
bie Predigt foll angefangen haben, fo foll fid) beinahe bie 
ganze Gemeinde aus der Kirche begeben haben, indem die 
ganze Gemeinde, wenige ausgenommen, der wichtigen Q3e- 
ftellung eines Geelforgers abwarten und inbep mit bem- 
jenigen uns begnügen, ben bie geiftliche Behörde beftellt bat." 


6) Der Name Bezirtsverwalter wurde offenbar aus Oppofition 
gegen bie baslerijche Bezeichnung für die Vertreter ihrer Regierung 
auf der Landihaft gewählt, er hat fid) aber nicht Tange gehalten, 
man kehrte bald wieder zum altgewohnten „Statthalter“ zurüd. 


131 d 


III. 


Prüfung ber fanbibaten für Allſchwil und Oberwil. — Oppofition 

der Gemeinden gegen bie vom Q3ifd)of getroffenen Wahlen Doswalds 

unb Anaheims. — Poftulate des ganzen Birsecks. — Beichlüffe des 
Landrats. — Der bebrüngte Bifchof. 

Auch ben geiftlihen Behörden famen bie Greignifje 
bald zu Ohren. Drei Sage nad) bem biftorifchen Sonntag 
berichtete Dekan Gürtler darüber an General-Provilar 
Dr. Wohnlich, Domlapitular und Propſt des Stiftes 
St. Martin zu Rheinfelden, und biefer wieder äußerte fid) 
in einem Schreiben an die Regierung in Lieftal, der Skandal 
fei lediglich burd) ein unüberlegtes Betragen des Herrn 
Doswald provoziert worden, bem die Probepredigt vor 
Landleuten bod) beim Biſchof und bei der Regierung nicht 
viel hätte nützen fönnen. Die Gemeinden (Allſchwil und 
Oberwil) fünnten nichts befleres tun, als Regierung 
und Bifchof zu vertrauen, welche fid) je&t bie Hand bieten, 
um ihnen Tenntnispolle und gute Geelforger zu geben. 
Der General-Provilar verwies damit auf die bevorftehende 
Prüfung, welde ein paar Wochen fpäter, nümlid am 
13. und 14. Sanuar 1835, in Rheinfelden ftattfand. Als 
Graminatoren fungierten bie Pfarrer von Ar in Witters- 
wil unb Probft in Dornach, die ihren Bericht bereit3 am 
15. Januar erftatteten. Die Prüfung umfapte neun Fächer, 
námlid) 923ibelerf(árung, Dogmatit, Moral, Kirchenrecht, 
Paftoraltheologie, Homiletif (Predigt und KRatechefe), Seel- 
forge am ftranfenbett unb Pädagogik. Das Ergebnis wurde 
fogleich bem Regierungsrat in Lieftal und von diefem bem 
Biſchof in Solothurn mitgeteilt mit der Aufforderung, unter 
den Bewerbern diejenigen zu bezeichnen, die er für die beiden 
erledigten Pfarreien in PVorfchlag bringe. Der Biſchof 
bielt fid) lediglich an die vorliegende Prüfungstabelle, da in 
Hinficht der Sitten nichts Rlagbares vorliege, und beftimmte, 
wer in feinem einzigen Fache die Note ber erften Klaſſe 
errungen babe, fónne gar nicht in Frage fommen. Da num 


132 


von ben adf 23emerberm — Paul Adam von Alichwil, 
Sofeph Anaheim von Loftorf, Sob. Berger von Gifen, Peter 
Doswald von Menzingen, Sofepb Kiefer von Wihl, Joh. 
Schmidlin von Arlesheim, 3. 93apt. Schmidlin von Arles- 
beim und Sofepb Gu&miller von Therwil (defien Anmeldung 
übrigens verfpätet einlief) — nur zwei btefer 93ebingung 
genligten, fprach ftd) 93ifd)of Salzmann in einem Schreiben 
vom 22. Sanuar für Anaheim und Doswald aus; wegen ber 
in Oberwil oorgefommenen Greignifje folle Doswald nad) 
Allſchwil geben, Anaheim alfo bie Pfarrei Oberwil über: 
nehmen. Der Regierungsrat erklärte, bie vom Biſchof be- 
zeichneten Geiftlichen feien ihm „Lieb und angenehm”, und 
erfuchte den Bifchof, unverweilt deren Einführung in die 
ihnen beftimmten Pfarreien anzuordnen. Mit einer ber- 
artigen Mafnahme hatte es jedoch nod) gute Wege. 

On Oberwil batte ber am 14. Dezember 1834 in der Kirche 
angerichtete Skandal bie Geifter definitiv in zwei fi in 
etbitterter Feindſchaft gegenübertretende Lager geteilt. Die 
Mehrheit der VBürgerfchaft, deren Leiter auch terroriftifche 
Mittel zugunften ihrer Sache nicht verfd)mábfen, wollten 
alles daran fe&en, um Schmidlin als Geeljorger behalten zu 
fónnen, während bie Minderheit, unter Führung von Land- 
rat Hügin, in eine immer entfchiedenere Oppofitionsftellung 
gegenüber dem Vikar unb bem ihn protegierenden Gemeinbe- 
rat gedrängt wurde. Am 7. Sanuar 1835 richtete bie Mebhr- 
beit an den Regierungsrat von Bafelland eine Petition für 
Schmidlin, bie nicht weniger als 132 Unterfchriften trug 
unb u. a. für bie Gemeinde das Recht ber freien Pfarrwahl 
in Anſpruch nahm. Der bisherige Verwefer, fo fchrieben bie 
Gefuchfteller, fei ihnen lieb und treu geworden, er würde mit 
überwiegender Mehrheit gewählt werden. Gegen biefen 
Willen der Gemeinde fuche eine Partei eine ſchwache Kon— 
furrenz auf gewaltfame Weife herbeizuführen, welchem Ver⸗ 
fahren bie beim Auftreten des Herrn Doswald in ber 
Kirche vorgefallenen Auftrifte allein beigumeffen feien. Es 


133 


ffebe zu befürchten, bap bie Gegenpartei bie Gemeinde ver- 
unglimpfe, wie es fürzlich in den Öffentlichen Blättern (don 
geſchehen fei") ferner, bap bie QCanbesfinber bintangeleót 
würden. An der Spite der Unterfchriebenen ftand ber Ochfen- 
wirt Matthias Stödlin, am Schluffe der ganze Gemeinderat. 
Am 24. Zanuar, nachdem die getroffenen Wahlen in den 
Gemeinden befannt geworden waren und Diele Nachricht 
feinesweos zur 93erubigung der Gemüter beigetragen batte, 
folgte eine Petition von Allſchwil, unterfchrieben vom 
firdenrat und vom Gemeinderat, bie verlangte, es jolle 
weder Schmidlin nod) Doswald die dortige Pfründe er- 
halten. Schmidlin fei eine Kreatur Gürtlers, „welcher 
unfere Pfarrei fdon gefd)dnbet bat mit der Aufdrängung 
des Pfarrers Weber und unter melden Dantoffel wir nur 
gezwungen aurüdfebren würden”. Doswald fei nod) jung, 
man babe noch feine 93etveije für guten Wandel unb Sitten; 
ungefe&lid)e Empfehlungen und fremdartige Papiere jeien 
öfter unterfchoben, auch Weber babe folche mitgebracht, Doc 
waren in fie bloß feine Lafter eingewidelt. „Wir verwahren 
uns feierlich gegen folche Leute, Abbe Adam verdient vor 
allen anderen den Vorzug.” 

Die Oppofition von Allſchwil batte alfo einen weſent— 
fid) andern Charakter als diejenige von Oberwil. Die 
Stimmung der Bevölkerung war ebenfalls für die Berufung 
eines ihr (don befannten Priefters, aber fie war bem Schüß- 
ling des Defans, für ben die Oberwiler jid) einje&ten, gar 
nicht hold. Das von ben Allichwilern verfochtene Prinzip, 
bie Förderung ber freien Wahl, batte einen ficheren Unter- 
grund, denn feine Vertreter fonnten die Erfahrungen der 


7) Sm „Unerfhrodenen Rauracher“ wurde eine Polemik wegen 
einer gegen den Lehrer Abbe Kiefer injgenterten Hege ausgefodhten, 
bei der bte Gemeinde ſchlecht wegkam; ferner wurde diefe in einem 
Bericht über den gegen Doswald aufgeführten Standal als moraltjd) 
tief gejunfen bezeichnet. Bon „Hottentotten und Heiden,” wie aud) 
pud „Schmidlianern“ behauptet wurde, babe id) in bem Artikel nid)ts 
gefunden. 


134 


Bergangenheit zu deſſen Gunften anführen, während in 
Oberwil die Anrufung der Vollsfouveränität bloß Mittel zu 
dem Zwed war, bem aus einer perfönlichen Vorliebe für ben 
Pfarrverwefer entfprungenen Anfpruh mehr Kraft zu ver: 
leihen. Die Abneigung ber Allſchwiler gegen Gürtler bin- 
berte fie allerdings nicht, in der Folge feine Bundesgenoſſen 
zu werden. Wer bei biefer unnatürlichen Allianz bie minbere 
Rolle fpielte, ob bie Alfchwiler, bie fid) mit ihrem Vorgehen 
ausdrüdlich ber 93epormunbung burd) den Dekan entzogen, 
oder der VBezirkspfarrer in Arlesheim, ber fid) in einen auf- 
fallenden Gegenfat zum Bifchof ftellte und fid) nicht fcheute, 
gemeinfame Cade mit ben Allihwilern zu machen, bie fo 
defpeftierlih von ihm geredet, das ift leicht auszumachen. 
Aber freilih, des Dekans heiter Wunſch, Schmidlin nad) 
Oberwil zu bringen, fonnte eben nur bann in Erfüllung 
geben, wenn bie birsedifchen Gemeinden das Recht der 
Pfarrwahl erhielten, und fo ftieß er, gedämpfter zwar, in 
das gleiche Horn wie bie Allichwiler, von deren adber Ent- 
ſchloſſenheit er offenbar viel erwartete. 

Die Regierung ſchritt zwar tiber bie beiden Eingaben 
zur Tagesordnung, aber ihrem Vertreter im Bezirk Arles- 
beim, Statthalter Stummler, gab bie widerfpenftige Stimmung 
in den Gemeinden bod) zu denken. Am 28. Sanuar erfchienen 
bei ibm die Allfchwiler Gemeinderäte Haufer und Werden- 
berg und erklärten ibm bündig, die Kirche fei Eigentum der 
Gemeinde, und biefe werde das Gotteshaus nur Adam 
öffnen. Sn einem an die Regierung gerichteten Schreiben 
fieht Rummler die Lage für überaus ernft an; er will zwar 
den ganzen Gemeinderat von Allſchwil vor fid) berufen, bod) 
erwartet er nicht viel von den Mahnungen, denn die Leute 
feien furchtbar fanatifiert. Es ftánben Auftritte zu befürchten, 
wie man fie vielleicht noch nie erlebt habe, denn man babe 
e3 mit dem ganzen Fatholifchen Landesteil zu tun. Dann 
Hagt der Statthalter über die Gerichte: Hätte das Ober: 


135 


gericht ſchnell eingefchritten in der Muttenzer Geichichte,?) 
fo hätte es wahrfcheinlich feine QGalbenburger?) — unb wer 
weiß, was fonft nod) bevorfteht — gegeben. Wegen der 
Religionsftörung in Oberwil fei noch nicht eine einzige Perſon 
verhört worden (vom Obergericht nämlich, deſſen Verhör⸗ 
fommiffion fid) erft am 2. Februar zur Spezialunterfuchung in 
Oberwil einfanb). Bei der Regierung fand der Statthalter 
fein fonderliches Gehör, denn fie wies den Beamten bloß 
an, auf bem Wege der Belehrung bie Unzufriedenen von 
ihrem Irrtum abzubringen, zur Ruhe unb Ordnung bin- 
zuleiten und zu verhüten, daß Graefje entitehen. 

On dem Stadium, in das die Pfarrwahlangelegenheit 
zu biefer Zeit geraten war, konnte des Regierungsrats Wille 
leider bloß ein frommer Wunſch bleiben, denn, wie bereits 
der Statthalter angedeutet, hatten es die beiden Gemeinden 
verftanden, den ganzen Eatholifchen Landesteil für ihre Sache 
zu intereffieren. Eine vom 29., 30., 31. Sanuar und 
1. Hornung 1835 datierte und an den Landrat gerichtete 
Opetition, die von einer Verfammlung „aller gut benfenben 
Bürger aus dem Birsed” in Reinadh!?) ausging, machte 
das Begehren der beiden Gemeinden zu einer Angelegenheit 
des ganzen Bezirks. Das Virsed, beiBt es darin u. a., fühlt 


8) In Muttenz fam es im Sabre 1833 zu [djmeren Unruben, 
weil fid) bei Anlaß ber von Regierungsrat und Landrat befd)fojjenen 
Abberufung des Pfarrers tyebr zwei einander heftig befehdende Par⸗ 
teien gebildet hatten. Es wurde ſogar ein militärtfches Einfchreiten 
notwendig, 

9) Die Regierung Hatte Pfarrer Jäck in Waldenburg die Aus: 
übung geijtlicher Funktionen unterjagt, unb als er verhaftet wurde, 
befreiten ihn im Auguft 1834 bie Waldenburger, was ebenfalls zu 
einem Truppenaufgebot führte. 

10) Nach bem geijtfidjen Anonymus las Verweſer Schmidlin 
am Tage ber Berfammlung extra eine Frühmeſſe, zu dem Zwede 
und in der Meinung, auf fie den Gegen des Himmels unb ben hl. 
Geijt Herabzurufen; vor der Wahl, namentlich zur Zeit der Prüfung 
in Rheinfelden, habe er Wallfahrten für eine „gute Wahl“ begün- 
figt unb zum gleiden Zwede oftmals die Kinder feiner Partei 
zum Rofenfranz verjammelt. 


136 


ben Mangel an gefe&lid)en Beſtimmungen binftcbtlid) feiner 
firhlihen ?íngelegenbeiten. Während DBafel, biefe fonit 
berrfchfüchtige Stadt, bem fatbolifden Landesteil eine eigene 
PVerwaltungstommiffion zugeftand und bie Rechte der Be: 
fenner des fatbolifd)en Glaubens nie antaftete, warten die 
Birseder nod) immer vergebens auf bie Ausführung von 
S 25 der Verfaflung (in biefem wurden bem Birseck bie burd) 
ben Wiener Kongreß zugeficherten Rechte gewährleiftet); fte 
baben wohl nod) eine eigene Kirchenguts-Verwaltungs: 
fommi[fion, aber ihre Ausfchüfle werden in Kirchen: und 
Schulangelegenbeiten nicht zu Rate gezogen, und die 23e. 
lebung ber religiöfen Elemente ift Männern anvertraut, bie 
weder bie fatbolifd)e Religion noch bie befonderen Firchlichen 
und traditionellen Rechte des Birsecks fennen. Im pro: 
teftantifchen Landesteil hingegen bat der Staat den Ge: 
meinden das freie Wahlrecht abgetreten, ohne auf bie 
Reklamation des Basler KRonfiftoriums zu hören. Die 
Volksſtimme fpricht fid) laut und börbar für die Gleich: 
ftellung aus; auch in Uri und Unterwalden werden bie Geijt- 
lichen feineswegs auf Lebenszeit, fondern immer bloß auf 
eine gewifle Anzahl Sabre vom Volke erwählt. Der Bilchof 
bat etit neulich bem Regierungsrat gefchrieben, er wolle ibm 
das Beftätigungsrecht übertragen; fonnte er das fun, [o 
fann er nod) viel natürlicher biefes Beſtätigungsrecht ben 
Gemeinden überlaffen. Die Gemeinden müflen bie Priefter 
erhalten, ihr Fonds ift das weltliche Benefizium, das fie 
ihnen erteilen, und dafür gehört den Gemeinden das Wahl: 
reht. Der Landrat möge entweder neue Verhandlungen 
mit dem Biſchof anknüpfen oder von fid) aus Liberale Gefebe 
erlaflen, bie dem Volke bie Souveränität nicht fchmälern. 
Sodann wird dem Regierungsrat die Kompetenz zum 
Abſchluß eines Verkommniſſes beftritten, biefe fomme bloß 
dem Landrat zu; ferner fei beim Abfchluß allfälliger SLeberein- 
fommen, welche das Birseck und den Katholizismus be: 
treffen, ein Ausſchuß aus diefem Landesteil zu Rate zu 


137 


ziehen, unb ſchließlich fei bei allen Wahlen den Kantons- 
bürgern ein Vorrecht zu gewähren, wenn gleiche Befähigung 
ba iff oder bie erforderliche Prüfung beftanben iit, mit Aus: 
nahme jedoch derjenigen Kantone, welche Gegentecht halten. 

Der Streit gelangte alfo vor den Landrat, während 
Bifhof Salzmann vergebens verfjuchte, den renitenten Ge- 
meinben fowohl bie Tadellofigkeit wie bie Gefegmäßigfeit 
der von ihm getroffenen Wahlen beizubringen. Es gefchah 
dies in einem vom 30. Sanuar 1835 datierten Hirtenbrief; 
darin wird darauf verwiefen, wie der Biſchof nad) Vorſchrift 
der Kirchengefebe gehandelt babe, welche es ibm zur Pflicht 
machten, unter den geprüften Bewerbern bie würdigften zu 
wählen, unb es wird den Pfarrangehörigen verfichert, fie 
würden gute Ceelenbirten erhalten, denen fie ihr volles 3u- 
trauen fchenten dürfen. Am Schluffe feines Hirtenbriefs 
ſchrieb Biſchof Salzmann, der Präfident unb bie Gemeinbe- 
räte möchten das Schreiben fämtlihen Pfarrangehörigen 
befannt geben. Dies ift nun in Oberwil nicht gefchehen, zum 
mindeften nicht in einwandfreier Weife. Der Hirtenbrief 
fand fid) nämlich faft ein volles Zahr fpäter, als der ganze 
Gemeinderat wegen Fahrläſſigkeit in Unterfuhung fand, 
unter den Papieren des Präfidenten Cütterlin vor; als dann 
bie Bürgerfehaft angefragt wurde, ob das Schreiben an einer 
Gemeindeverfammlung verlefen worden fei, verneinten das 
52 Bürger, während 41 andere, darunter der Gemeinderat 
und feine Anhänger, entweder behaupteten, es fei verlejen 
. worden oder fie hätten fonft davon Kunde erhalten. Wann 
jedoch bie fragliche Gemeindeverfammlung follte ftattgefunden 
haben, darüber fonnte niemand beftimmte Auskunft geben; 
es wurde bloß behauptet, e8 fei das in früher Morgenftunde 
in des Präfidenten Haus gefchehen, um ben in Baſel 
Arbeitenden Gelegenheit zur Teilnahme an der Verſamm— 
[ung zu geben. Sm Protokoll der Gemeindeverfammlungen 
findet fid) fein Vermerk. 

Ein paar Tage nad) dem Abgang diefes Hirtenbriefs, 


138 


am 4. Zebruar, wurde von Oberwil aus ein Schreiben an 
den Landrat gerichtet, worin 29 Bürger, an ihrer pibe 
Landrat Hügin, erklärten, „alle vom Biſchofe getroffenen 
oder nod) zu treffenden Anordnungen als Katholiken achten 
und ehren zu wollen”, und fid gegen bie Schritte unb 
OfeuBerungen ber 132 verwahrten, weil fie die bifchöfliche 
Autorität verfannt und verhöhnt hätten. Hügins Anhänger 
biegen bald im Hinblid auf ihre geringe Anzahl Acht: 
undzwanziger, bisweilen findet fid) aud) ber Cpottname 
„Bottsnamler”, weil ihre Erklärung begann mit: „Im 
Namen Gottes. Amen.” Diefe Oberwiler Minderheit et- 
hielt aud) Sukkurs, allerdings nicht aus Allſchwil, wo fid) 
nod) feine Gegenbewegung angebahnt zu baben fcheint, 
fondern aus bem näher gelegenen, aber nicht direkt beteiligten 
S bettvil, von wo aus fid) 85 Bürger in einer Sufchrift an bie 
Regierung gegen bie Erklärung der Gemeinden des Birsecks 
ausfprahen. Vermutlich hängt biefe Stimmung in Ser. 
wil damit zufammen, daß der für bie Oberwiler Pfarrei 
dDefignierte Geiftliche Anaheim in dem erftgenannten Dorfe 
als Lehrer wirkte. Die Therwiler galten übrigens als in 
firhlihen Dingen nicht Leicht trätabel, denn fie hatten fid) 
ein paar Syabre vorher des Pfarrverwefers Schaub, jeSigen 
Pfarrers in Reina, einfach dadurch entledigt, daß fie ihn 
zum Dorf binausfübrten. 

Der Landrat überwies zunädhft am 2. Februar bie 
Detition aus bem Birsed an eine Rommiffion von fünf 
Mitgliedern, worauf das Plenum des Rats das Trak—⸗ 
tandum am 23. Februar behandeln konnte. Die Mehrheit 
bet Rommiffion, beftebenb aus Landratspizepräfident Stephan 
Guswiller, Obergerichtspräfident Frey und Anton v. Vlarer, 
war der Meinung, fowohl das Verkommnis vom 26. Of: 
tober 1830 wie ber von Stephan Gutzwiller ermirfte 3uja6 
vom 10. November 1834 feien gültig, bie getroffenen Pfarr- 
wahlen alfo rechtskräftig, bie vier übrigen Begehren ber 
dirsedifhen Gemeinden hingegen — Beiziehung eines fatbo- 


139 


lifden Ausfchufles bei ber Abfchließung von das Birseck be- 
rührenden $[ebereinfommen, freies Wahlrecht mit der Ein- 
ſchränkung, daß dem birsedifchen Ausfhuß bie Kompetenz 
zur Beftätigung ber von ben Gemeinden getroffenen Wahlen 
guftebe, Aufhebung der Lebenslänglichkeit der Pfarritellen 
und Vorrechte ber Rantonsbürger — feien gerechtfertigt; ba 
jedoch vertragsmäßige Verhältniffe mit bem Biſchof befteben, 
fo folle ber Regierungsrat mit Verhandlungen zur Verwirf- 
fidjung biefer 93egebren beauftragt werden. Die Minder- 
heit, .beftebend aus Landratspräfident Aenishensly und 
Oberrichter Vogt, beftritt dem Regierungsrat die Befugnis, 
durch eine Abänderung des Verkommnifles von 1830 diefem 
felbft eine Art von Beſtätigung zu erteilen, daber folle das 
Abkommen vom 10. November 1834 ben Birseckern nicht 
binderli fein, ihren Wünfchen mnadgumerben; in ben. 
übrigen Punkten pflichtete fie ber Mehrheit bei. Der Land: 
rat befchloß nun aunddft am 23. Februar nad den Vor— 
ſchlägen ber Rommiffionsminderbeit, bie Fatholifch-Firchlichen 
Angelegenheiten feien einer befonderen Rommiffion aus bem 
Birseck zu übermeijen; die gegenwärtigen Eatholifchen Geift- 
[iden feien als proviforifch erklärt und bei ber einftigen 
MWiederbefegung nicht mehr wählbar. Am 24. Zebruar 
jedoch, alſo am Sage nachher, erkannte bie Mehrheit des 
Rates bie unberechenbare Tragweite diefes DBefchlufles!!) 
unb fchwächte deſſen Bedeutung dadurch ab, daß bie Stelle, 
welche bie amtierenden Geiftlichen für proviforifch und [püter 
nicht mehr wählbar erklärte, al8 Redaktionsfehler wieder 
geftrichen wurde. Zugleich wurde beftimmt, bap bie Rom: 
miffion für bie Eatholifch-Firchlichen WUngelegenheiten aus 


11) Der geiltliche Anonymus behauptet, der Landrat jet einiger: 
maßen von der Tribüne beeinflußt worden, von wo aus ganze Scha- 
zen von Birsedern, mit tüchtigen Stöden bewaffnet, ben Verhand⸗ 
lungen folgten. Landrat Hügin wurde, wie fid aus Prozeßakten 
ergibt, an biejem Tage auf der Straße vor bem Rathauje von Ge: 
meinderat Geiler, der in Begleitung mehrerer Gefinnungsgenojjen 
war, mit ber Fauſt bedroht. 


140 


fieben Mitgliedern befteben und bereits am 1. März, an der 
Faſtnacht, vom Volle gewählt werden jollte. 

Diefe Wahl fand in Arlesheim wirklich ftatt. Es ſcheint 
an diefem Sage im Vezirkshauptort recht Lebbaft zugegangen 
zu fein, denn, wie dem „Unerſchrockenen Rauracher” zu ent- 
nehmen ift, fchleppten die Allichwiler drei Böller oder 
„Katzenköpfe“ mit, bie jedesmal, wenn wieder ein Mitglied 
ber Rommiffion gewählt war, auf dem Domplatz eine Salve 
abgaben, [o baB an ben Häufern des Herrn Süry und der 
Zungfrauen Geigy an ber 9plaófeite faft alle Scheiben 
fprangen. Die Kanoniere meinten alsdann, bie Leute 
hätten eben während des Schiefens bie Fenſter öffnen und 
die Läden fchließen follen. In Oberwil gab es beim Auszug 
der Schmidlianer zur Arlesheimer Verfammlung einen Auf: 
lauf, weil Schmied Häring eine von ibm feit ber Revolutions⸗ 
zeit verwahrte Fahne des patriotifchen Vereins nicht beraus- 
geben wollte. Zu Tätlichkeiten fcheint es indeflen nicht ge- 
fommen zu fein. An bem Wahlakt in Arlesheim beteiligten 
fi 412 Stimmen; es wurden gewählt Friedensrichter 
Simon und Landrat Paulus Vogt in AMlihwil, Friedens: 
tidfer Thürkauf in Oberwil, Landrat Schaub in Gttingen, 
Präfident G[d)minb in Therwil, Landrat Nebel in ?fefd) 
und Dekan Gürtler in Arlesheim. Diefe Rommiffion beauf- 
fragte einen aus Simon, Vogt und Gürtler beftehenden 
engeren Ausfhuß mit der Erledigung der Gefchäfte, der fid 
dann aud) eifrig an die Arbeit machte, ibm lag nun haupt: 
fächlich bie Auseinanderfegung mit bem Biſchof ob. 

Diefer erklärte allerdings ben Abgeordneten des Virseds, 
als fie bei ibm in Colotburn vorfprachen, er fühle fid) ge- 
brungen, vorerft eine Zufchrift an den Landrat zu richten, 
ehe in Interhandlungen eingetreten werden fónne; aber ba 
der Landrat fid) an bie birsedifche Rommilfion hielt, jo befam 
bod) dieſe bie Weiterführung der Angelegenheit in ihre 
Hände. Zn feinem vom 22. März datierten Schreiben be- 
merkt der Bifchof u. a., e8 fei ihm gleichgültig, welche 23e- 


141 


hörde das Recht der Genehmigung der von ibm getroffenen 
Pfarrwahlen ausübe, ob Regierungsrat oder Landrat oder 
birsedifche fommijfion; nur müffe er beftimmt willen, woran 
er fid) zu halten babe. Beim Antritt des Bistums babe er 
fi zum Grundfag gemacht, als ein wahrer Vater des 
Friedens zu allem, was möglich fei, gefällige Hand zu bieten, 
nur dürfe der Landrat nicht das Unmögliche von ibm er- 
warten. Daß 3. 3. fämtlihe fatbolifde Pfarrer als 
proviforifch erklärt werden, widerftreite allem Rechte, und 
bie Beſtimmung der Verfaſſung Über die Zeitdauer poli- 
tifher 93eamtungen auf Fatholifche Pfarrer anwenden zu 
wollen, das bedeute einen Eingriff in bie Rechte ber Kirche. 
Er, der Bischof, finde an der Firhlihen Disziplin und an 
dem Wiener Friedensihluß eine Schranfe, bie er bei all 
feinem bewährten DNachgiebigkeitsfinn nicht überfchreiten 
dürfe. 

Diefes Schreiben wurde der birsedifchen fommijfion 
zur Begutachtung überwiefen, bie zur Erledigung des Auf- 
trags mehrere Wochen brauchte. Unterdefien wandte fid) der 
Regierungsrat, bei bem der Statthalter von Arlesheim auf eine 
Befeitigung der in Oberwil unbaltbar gewordenen Situation 
drängte, an den Landrat mit der Aufforderung, fid) genau 
und deutlich darüber auszusprechen, ob bie auf Grund des 
Berfommnifles vom 20. November 1834 vorgenommenen 
Wahlen Anaheims und Doswalds gültig feien oder nicht. 
Am 22. April gab bie birsedifche Kommiſſion ihr Gutachten 
babin ab, daß der Biſchof fid) nicht auf ben Wiener Friedens⸗ 
Ihluß berufen fónne, weil er ben Statusquo butd) das 
Verkommnis von 1830 verändert habe. Wegen Verlegung 
der Formen — Ausfchaltung des Defanats bei der Aus— 
fchreibung der vafanten Stellen — feien bie Wahlen Ana- 
heims unb Doswalds ungültig. Als Letter unterfchrieb das 
"Gutachten Dekan Gürtler, auf ben offenbar das ganze 
Schriftftüd, in der Hauptfache ein Plädoyer für Schmidlin 
und Adam, zurüdgeht. Am 18. Mai beftätigte der Landrat 


142 


feinen Befhluß vom 24. Zebruar, mit der näheren Er: 
läuterung jedoch, daß die beiden Verkommniſſe fo lange als 
rechtskräftig anzufehen feien, bis ein anderes Verkommnis 
an beffet Stelle gefegt und vom Landrat janftioniert fein 
werde. Ein folches fam mit Ratifilationsporbehalt bereits 
ein paar Tage fpäter, am 22. Mai, zuftande; darin wurde 
beftimmt, daß bie Eanonifche Snftitution feinem neu erwählten 
Pfarrer erteilt werden dürfe, ehe bie birsedifche Kommiſſion 
ihre Genehmigung ausgefprochen, fowie daß fähigen Be: 
werbern aus dem Dirsed der Vorzug vor Nichtkantons- 
bürgern folle zuerkannt werden. Diejes Ergebnis der Be: 
mühungen der Rommiffion fonnte nun nicht anders als 
dürftig genannt werden, denn dem Biſchof follte nad) wie 
vor das Wahlrecht verbleiben, und er mußte bloß mit der 
Firchenrechtlichen Einfeßung eines Geiftlid)en warten, big bie 
birsedifche Rirchenfommiffion ihre Genehmigung erteilt hätte. 
Der Entwurf wurde aud) nie dem Landrat vorgelegt, ba 
die Delegierten fid) gegenüber dem Regierungsrat den An- 
fhein gaben, es werde nod) etliches an ben Beftimmungen 
abgeändert unb erweitert. So fam es, daß diefer Entwurf 
zu einem Verkommnis auf ben weitern Gang der Dinge 
nicht im geringften einwirkte. 

Als ber Otegierungsrat von Baſellandſchaft den Biſchof 
vom Landratsbefchluffe vom 18. Mai in Renntnis feste und 
ihn um die Snftallation der beiden Pfarrer erjuchte, ant- 
wortete diefer am 23. Mai, wegen ber in den beiden Ort: 
ſchaften herrfhenden Stimmung trage er je6t Bedenken, den 
zwei Pfarrern die Eirchenrechtlihe Einfeßung zu erteilen; 
aud) ift er fid Über den legten Landratsbefhluß nidt ganz 
Har (offenbar batten die Delegierten ibm eine ihren 
Wunſchen entfprechende Auslegung gegeben), denn ber bud)- 
ftäblihe Sinn fale bie Deutung zu, bie Anerkennung der 
beiden neuernannten Pfarrer fei nur vorübergehender 
Natur. Es bleibe ihm alfo nichts anderes übrig, als in 
Geduld abzuwarten, wie fid) der Landrat hierüber näher und 


143 


beftimmter ausfprechen werde. Der Biſchof hatte wohl das 
Gefühl, bie Situation bedürfe in Anbetracht ber von Baſel⸗ 
[anb ber an ihn gelangten widerfprechenden amtlidhen und 
privaten 9feuperungen zunächſt einer Klärung. 


IV. 


Scharfe Parteigegenfäge in Oberwil. — Unficherheit unb Otaufereten. 
— Ger Zuror der Weiber. — Schlägerei an einer Gemeindeverfamm- 
lung. — Nachficht des Gemeinderats. 

Schon bie Nachrichten über bie innere Lage der beiden 
Gemeinden berechtigten Biſchof Salzmann zu feiner ab- 
wartenden Haltung. Speziell in Oberwil geftaltete fich die 
Situation geradezu bedrohlich; bie PDarteigegenfäte Tpisten 
fid) derart zu, daB mande Leute für ihre perfönliche Sicher: 
heit fürchten mußten. Am 26. Februar 1835 abends wurde 
eine Anna Maria Wittlin, als fie ihren Vater in das Haus 
von Landrat Hligin begleitete, mit Steinen beworfen und 
am Hals gefährlich verlegt, fo baB fie drei Wochen arbeits- 
unfähig war. Fünf junge Burſchen wurden als Täter 
eruiert und zu 16 Granfen Schadenerfab fowie zur De: 
zahlung der Roften verurteilt. In der Nacht vom 8. auf ben 
9. März foll auf das Haus von Gemeinderat Düblin ein 
Schuß abgegeben worden fein, bod) wurde bie Sache burd) 
die Unterfuchung nicht aufgeklärt, denn es fand fid) in einer 
Zenfterfcheibe ein rundes Loch von einem halben Zoll Durch: 
mefjer vor, aber in der ganzen Stube nicht bie mindefte Spur 
von einem Geſchoß; wahrfcheinlich wurde nur blind gefeuert. 
Nett muB es bann am 17. März in der Kirche zugegangen 
fein, denn Statthalter Rummler fchreibt unter bem 28. März 
an die Regierung: „Zaft táglid laufen Klagen über 
Raufereien aus Oberwil ein. Am Gt. Sojepbstage!?) 
gerieten Sungfrauen und junge Weiber in der Kirche ber- 
geftalt miteinander in Streit, daß fie einander Rappen, 
„Strähle" und felbit Haare vom Kopfe berunterrifien, 


12) Der damals nod) Feiertag war. 


144 


einander mit Fäuſten fchlugen, fid zu Boden warfen ufw. 
Daß man fid in der Kirche mit Fußtritten begegnet, daß 
man DPerfonen der andern Partei mit Gewalt aus den 
Stühlen verdrängt ober ausftößt, das find Auftritte, bie in 
Oberwil ganz zur Tagesordnung geworden find. Und folche 
Auftritte ereignen und wiederholen fid) meiftenteils im An- 
gefidót des dafelbft funktionierenden Geiftlihen! Ich will 
nicht fagen, baB es in deflen Macht ftebe, fie zu verhindern, 
aber fo viel iff gewiß, daß nichts Ruhe und Ordnung in 
bieler Gemeinde herzuftellen unb den gegenwärtigen traurigen 
Zuftand zu befeitigen imftanbe ift, als fofortige definitive 
93efe&ung diefer Pfarrftelle. Es iff unmöglich, eine Ilnter- 
fuhung einzuleiten; bie Raufereien finden gewöhnlich bann 
ftatt, wenn eine oder einzelne Perfonen der einen Partei 
einer größeren Anzahl der anderen Partei in die Hände ge- 
raten. Don 3eugenabbüren fann nicht wohl bie Rede fein, 
weil in Oberwil alles Partei ift." Am 10. Mai fodann, nachts 
10 Uhr, wurde ein Joſeph Wittlin, als er fi vom Wirts- 
baufe weg nad) feiner im 3ollbaus im $[nterborf gelegenen 
Wohnung begeben wollte, dergeftalt mit Steinen beworfen, 
daß ibm das Blut über Geficht und Kleider beruntertann. 
Als mutmaßliche Täter famen drei halbwüchfige Yurfchen in 
93etrad)f, darunter der Sohn eines Gemeinderats, bod) 
mußten fie mit Verdacht von der Inſtanz entlaffen werden. 

Die fchlimmfte Szene ereignete fid aber im Sommer, 
am 5. Zuli 1835, bei Anlaß einer Gemeindeverfammlung. 
Diefe Verfammlung wurde Sonntag abends 6 Ihr nicht 
wie gewöhnlich im Schulhaufe, fondern im Garten vor bem 
Haufe des Präfidenten Sütterlin abgehalten. Die Anhänger 
Anaheims behaupteten nachher, man babe fie abfichtlich fern- 
halten wollen; Zatfache ift jedenfalls, daß den Leuten nicht 
regelrecht zu der Verfammlung „geboten wurde, denn der 
Wächter fagte aus, er habe nur diejenigen an bie Gemeinde 
eingeladen, bie er gerade auf ber Straße traf, fowie bie- 
jenigen, deren Haus er wegen Einzug des Wachtgeldes be- 


145 10 


treten mußte. Ferner ftebt feft, baB fib aud) entgegen allem 
93raud) Weiber fowie nod) nicht majorenne „Knaben“ in 
anjebnfider 3abl zu ben Verhandlungen einfanden, um 
feineswegs bie Rolle von müßigen Zufchauern zu fpielen. 
Zu einer eigentlihen 93eratung fam es überhaupt nicht, 
denn ein 3mifdenfall artete in einen müffen Sumult und 
in eine regelrechte Schlägerei aus. Als Gemeinderat Geiler 
das Amtsblatt (das damals u. a. aud) bie gerichtlichen 
Urteile enthielt), verlefen batte, fragte Peter Degen Beden, 
warum beute über fremde Perfonen ergangene Urteile mit- 
geteilt würden, während vor adi Sagen die Verurteilung 
eines Bürgers wegen eines Diebftahls mit Stillſchweigen 
übergangen worden fei. Diefe Interpellation, bie auf ben 
Konflikt eines eifrigen „Schmidlianers” mit den Gerichten 
anfpielte, wurde das Signal zu einem wirren Durcheinander: 
Mehrere Gefinnungsgenoflen des Betroffenen drangen auf 
Degen ein, miBbanbelten ihn und zerriflen ihm Gilet und 
Hemd; eine Anna Maria Degen padte ihn mit beiden 
Händen am Badenbart und zerrte ibn, fo arg fie fonnte. 
Nur mit Mühe vermochte ber Angegriffene fid) fchließlich 
aus dem Gedränge zu winden unb die Flucht in das Haus 
feines Bruders Niklaus zu ergreifen, der Bäder und Pinten- 
wirt am „Pfaffenrain” war. 

2308 ging es aud) Alt-Präfident Johannes Häring, 
Schmied, der Degen belfen wollte, denn eine ganze Anzahl 
von Männern ber Gegenpartei fchlugen auf ihn ein und 
drängten ihn unter Hohn und Spott, woran aud) Weiber 
ihren Anteil batten, zum Haufe von Kirchmeier Häring, 
wo ber OXtiBbanbelte mit zerrifienem Hemd unb Gilet und 
defekten Hofen anfam. Gemeinderat und Griedensrichter 
Sbürfauf wollte zwar bem Ilnterfuchungsrichter gegenüber 
Schmied Häring aus dem Getümmel geleitet und in Schuß 
genommen haben unb ftellte bie Sache nur als eine 
„Haarrupfete” bar, bei der nicht gefchlagen wurde, von der 
Gegenfeite aus wurde jedoch mit Beſtimmtheit erklärt, er jet 


146 


einer ber tätigften unter ben Beteiligten gerefen. Doch ber 
S'umult befchräntte fid) nicht auf das Vorgehen gegen Degen 
und Häring; „es famen bann", erzählte ein Zeteiligter, 
„ale hintereinander und „trolten” (fugelten) den Rain 
hinunter”; es ging halt zu wie in einem Bienenforb, meinte 
ein anderer. Die Prügelei, an ber fid) auch etliche, gerade von 
einer Mufterung auf der „Munimatte” bei Muttenz beim- 
febrenbe Bürger in Uniform beteiligten, batte bann nod) ein 
drittes unb am fchwerften betroffenes Opfer: Heinrich Laub 
Nazis fam in bem Getümmel im Graben zwifchen des 
Präfidenten Garten und der Straße zu Fall und trug eine 
Verrenkung des Ellbogens unb einen Bruch der Speiche 
davon, beffen Heilungsfrift fid alsdann wegen zweckwidriger 
Behandlung auf fünfzehn Wochen ausdehnte. Alt-Präfident 
Heinrih Sütterlin, Ochfenwirts, wurde [páter überführt, fid) 
gerübmt zu haben, er babe den Laub jdn übers Bord 
binuntergeftoßen, und, nachdem er fid) fchließlich zu dieſer 
OfeuBerung und zur Sat felber befannt, zur Bezahlung einer 
Geldbuße von 20 Zr. und der fämtlihen Prozeß: und Arzt: 
foften mit Inbegriff einer Entichädigung von 180 Gr. an 
Heinrih Laub verurteilt. 

Die Unruhen fanden übrigens im Unterdorf fein Ende, 
denn als Deter Degen beimgeben wollte, erfuhr er, daß vor 
feinem Haufe (an ber Hohlen Gaſſe) ein großer Auflauf 
ftattfanb und daß die Anführer einer gegnerifchen Rotte ihn 
fortwährend zum Serausfommen aufforderten: „Heraus, Ihr 
ſchlechten Kerle, wir fürchten bie Achtundzwanziger nicht! 
Heraus, Sbr Anaheim-Zeufell" Auf bie Aufforderung des 
in Therwil ftationierten Landjägers 93runner, ber auf einem 
Rundgang begriffen war, fam fchlieglih Präfident Sütterlin 
an den Ort des Speftafels mit, um Ruhe zu ftiften, und bie 
beiden fanden, bap bie Anfammlung vom Haufe Peter 
Degens bis zu demjenigen von Landrat Hügin reichte, aud) 
biefer wurde mit Zurufen wie: „Rommt heraus, Ihr Spiß- 
buben, Ihr Halunken!“ berausgeforbert, während Degens 


147 10° 


Sjauptgegnet Aloys Bannier bie Drohung ausftieB, Degen 
müfle bod nod) petr..... 

On feiner Zeugenausfage zu ber Schlägerei am ber 
Gemeindeverfammlung bemerkte Landrat Hügin u. a., er 
babe ſchon oft, fchriftlih und mündlich, bie Behörden darauf 
aufmerkffam gemacht, daß bie Ortsporgefeßten in Oberwil 
bie meifte Schuld an folchen Auftritten fragen; wenn e3 
(mit dem langfamen Prozeßverfahren) jo fortgebe, jo müßten 
traurige Folgen entfteben. Ebenſo batte fid) bereits im 
Grebruar ein anderer Anhänger Anaheims, Syofepb Sütterlin, 
Gerihtsamtmann, in der Unterfuchung wegen der ſtandalöſen 
Auftritte während der Predigt Doswalds geäußert: „Ich 
trage befonders darauf an, daß ber jegige Gemeinderat ab- 
berufen wird, denn fo lange er funktioniert, gibt's feine 
Ruhe und Ordnung in der Gemeinde.” Gtatthalter 
Kummler ftanb alfo mit feinem Wunſche nad) größerer 
Strenge nicht allein ba, wenn er auch mehr die Gerichte als 
bie Adminiftrativbehörden im Auge batte. Bezeichnend für 
bie im Gemeinderat herrſchende Stimmung gegen das gericht- 
liche Einfchreiten war auch der Umſtand, bap bie am 2. Fe— 
bruar 1835 in Oberwil zu einer Spezialunterfuchung wegen 
der Gtörung des Gottesdienftes eingetroffene Verhör—⸗ 
fommiffion des Obergerichts im Dorfe fein geeignetes Lokal 
für ihre Sigungen fand; der Gemeinderat wollte ihr das 
unbewohnte Pfarrhaus — Abbe Schmidlin Iogierte in der 
Mühle — nicht einräumen, und bie KRommiffion verfügte 
fi zunähft nad Benken. Da fam jebod) Präfident 
Sütterlin und bat um ihre Otüdfebr nad) Oberwil, er wolle 
ihr dort ein Lokal im „Rößli“ anmweifen. Das Zimmer 
war jedoch duBerit „ringhörig”, nur eine Wand trennte es 
bon der Gaftftube, und des Wirtes Brüder gehörten zu den 
Onfufpaten. Ein Sohn von Gemeinderat Düblin foll ftd) 
über bie Bedenken der Verhörrichter nicht gerade Tiebens- 
würdig geäußert haben: „Man wird den Kerlen zuerft ben 
Buckel vollihlagen müfjen, bevor ihnen ein Zimmer gefällt.“ 


148 


Die Rommiffion ging bann in ben „Ochjen”, aber niemand 
binberte das Horchen an ben Türen (gebürte bod) ber Wirt 
zu den eifrigften „Schmidlianern”), unb fo verlegte fie 
fchlieglich bie Verböre in ben Binninger „Schlüffel”.- 


V. 


Ende des bipfomatijd)en Streits zwifchen Regierung unb Biſchof. — 
Neue Bermittlungen infolge ber drohenden Haltung ber Gemeinden. 
— Verſuch einer Inftallation von Pfarrer Anaheim Durch bie welt- 

lide Behörde. — Die „Schmidlianer“ brauchen Gewalt. 

Bevor jebod) der Prozeß wegen der Störung des 
Gottesdienftes (am 14. Dezember 1834) zum Abfchluß ge- 
langte, zeitigte der Streit um bie 93efeGung der erledigten 
Pfarreien Greignifje, bie den Gerichten nod) viel mehr 
Arbeit verurfachen follten. Die Behörden fanden es an der 
Zeit, bem feit Monaten andauernden Proviforium in Ober: 
wil unb Allſchwil ein Ende zu machen, und fo zögerte der 
Regierungsrat nicht, bem Biſchof auf beffen Zufchrift vom 
23. Mai zu antworten, er halte dafür, daß die Ernennung 
der beiden Pfarrer (Anaheim und Doswald) ald unter bem 
gewährleifteten Statusquo erfolgt, in fortdauernder Gültig: 
feit beftehe; ber Bifchof dürfe ihm, als bem gejeglichen Aus- 
leger der Landratsbefchlüffe, wohl trauen. Der Biſchof be- 
fand jedoch am 6. Juni auf einer Erläuterung durch ben 
Landrat felbft: Hier tritt augenfcheinlich bie Wirkung bet 
Schritte hervor, welche Abgeordnete von Allſchwil und Ober: 
wil perfönlih in Solothurn unternahmen. Wenn folche, fo 
wurde fpäter im Verhör gefagt, von Solothurn famen, fo 
behaupteten fie, der Biſchof wolle es auf bie Mehrheit an- 
fommen [affen. Ferner erzählte Präfident Sütterlin, er fei 
mit Friedensrichter Thürkauf beim Biſchof gemefen, als bie 
Prüfung der Afpiranten fchon ftattgefunben hatte; ber Biſchof 
fagte, bie von ibm Ernannten hätten das Eramen am beften 
beftanden, bod) wolle er feben, ob es fid) machen faffe, daß 
Schmidlin in Oberwil bleibe. Offenbar pflegte Biſchof 


149 


Salzmann, eine milde, gütige Natur, feinen Ctanbpunft im 
perfönlichen QSerfebr den Delegierten gegenüber weniger ent: 
fhieden zu vertreten als im Notenaustaufh mit ber Re- 
sierung in Lieftal, und fo fonnten bie Abgeordneten jeweilen 
feine Ueußerungen in dem ihnen genebmen Sinn deuten. 
Es fam fogar dazu, baB die birsedifehe Kommiſſion in einer 
Eingabe vom 15. Zuni zu Handen des Landrat behauptete, 
ber Biſchof babe ihrer Deputation erklärt, er wolle die Be— 
dürfniffe und Wünfche der beiden Gemeinden berüdfichtigen 
und bie gegen ben Volkswillen und das Volksrecht ge- 
troffenen Pfarrwahlen abändern, wenn der Landrat damit 
einverftanden fei. Selbftverftändlih machte diefe Behauptung 
feinen Eindrud, bie Regierung beeilte fid) vielmehr, beim 
Biſchof auf bie endliche Einfegung der beiden Geiftlichen zu 
dringen, unfer der Androhung, vom 15. Zuli ab bie 23e- 
zablung der Verweferkoften zu fiftieren. Das wirkte, denn 
ber Vifchof erteilte am 2. Zuli dem General-Provifar von 
neuem bie Weifung, den beiden Pfarrern bie feit vier Mo: 
naten in Rheinfelden liegenden GinleSungsSurfunben aus- 
zubändigen und die Einführung in eigener Perfon vor- 
zunehmen. Diejenige Doswalds gedahte Wohnlih in 
Allſchwil am 13. Zuli und diejenige Anaheims in Oberwil 
am 14. Zuli vorzunehmen, was er ſowohl der Regierung in 
€ieftal als dem Dekan in Arlesheim anzeigte. Allein aud) 
jest war man nicht fo weit. 

Unter bem 8. Zuli fchrieb nämlich der General-Provifar 
an den Regierungsrat, er babe an diefem Sage zwei fürm- 
liche, mit allem Nachdrud verfaBte Proteftationen der Ge— 
meinden Oberwil und Allſchwil erhalten, bie fo abgefaßt 
feien, daß jeder Unbefangene bie Unmöglichkeit einjehen 
müſſe, eine geiftliche Snftitution aud) nur zu verfuchen, ohne 
bie unangenehmften Auftritte bervorzurufen. Es jei feine 
Ausfiht, baB die Inftallation ohne Anrufung der Staats: 
gemalt erfolgen fónne; ein folder Schritt aber müßte für bie 
zukünftigen Geelforger in den Gemeinden von unberechen- 


150 


baren, fchlimmen Folgen fein, daher fónne er fein Vorhaben 
nicht ausführen. Mündlich hatten bie Abgeordneten ber Ge- 
meinden Wohnlich erklärt, daß fie fid) ebenfomenig durch 
etwa zu erfolgende Kirchliche Strafverfügungen des Biſchofs 
als durch bie Gewalt des Staates zur Aufnahme der ihnen 
zugewiefenen Geiftlichen bewegen und zwingen laflen würden; 
der General-Provikar folle es verfuchen, wenn er es nicht 
glaube. Mit ähnlichen Proteften wandten fid) die beiden 
Gemeinden an den Landrat. Derjenige von Oberwil war 
von 128 Bürgern unterzeichnet; bie Partei der „Schmid- 
[ianer" war alfo nicht mehr gana fo ftarf wie ein halbes 
Fahr früher, wo fie 132 Unterfchriften aufbrachte, wobei aud) 
nod) zu bedenken iit, daß fid) unterdeflen vorher noch Unent- 
fhiedene bem einen oder andern Haufen angefchloflen 
baben dürften.) 9n ihren gleichlautenden Schreiben 
nahmen bie Befchwerdeführer namentlich den Regierungsrat 
aufs Korn, ber bem deutlihen Vollswillen zuwider immer 
nad) Solothurn fchreibe und jetzt entgegen den gerechten 
Wünfchen ber Vürgerfchaft bie Snftallation der beiden Geift- 
[iden durchfegen wolle, bie unbeilbringenb wäre für bie 
Volksrechte unb verderblih für die beiden Gemeinden. 
Durh ben Beſchluß, bie Synftallation der beiden Pfarrer 
vorzunehmen, hätte man J3unber in ein Pulverfaß ge- 
fchleudert oder das Meffer an eine heilende Wunde gefebt. 
Könnte man nid ebenfo gut bie Statthalter und bie alte 
Regierung wieder einfe&en, wenn das Volk auf fein Wahl⸗ 
recht unb feine Freiheit verzichtete und in trägem Schlummer 
dahinſchnarchte? 

Trotzdem wandte fid) bie Regierung angeſichts dieſer 
neuen Verwicklung wieder an den Biſchof und ſchrieb ihm 
unter bem 14. Juli, bie Proteſte bezwedten lediglich eine 
——— 9) Die Ahtundzwanziger waren übrigens wohl von Anfang an 
ftürfer, als ihr Name befagt; ba aber die Erklärung vom 4. Yebruar 
1835 aud) im Namen ihrer familien abgegeben war, jo unter[d)rteben 


loídje nicht, deren rauen „Schmidlianerinnen“ waren. Ein foldes 
Verhältnis beitand beifpielsweife in ber (yamilie meines GroBoaters. 


151 


Verzögerung ber Inftallation, unb bie in ben Gemeinden 
berr[d)enbe Parteiung, durhaus nur von perjón(id) De: 
teiligten angeregt, fei nicht von der Art, daB man bedenkliche 
tumultuarifche Auftritte zu fürchten babe. Darauf meinte 
ber Vifchof, es möchte wohl am beiten fein, wenn der Re- 
gierungsrat durch einen Kommiflär eine Perfammlung 
beider Gemeinden abhalten unb fid) ein ruhiges Betragen 
verfprechen laſſe. Zu diefem 3mede legte er einen bei diefer 
Gelegenheit zu verlefenden Hirtenbrief bei, worin ber. Biſchof 
nochmals bie Erwartung ausſprach, die Allihwiler und Ober- 
wiler würden in ihrem echt religiöfen Sinn und Geifte ben 
ihnen zugewiefenen Geiftlichen, al8 welche er pflichtgemäß 
bie Würdigften bezeichnet habe, jobalb fie ihnen vorgeftellt 
feien, alle Achtung und Liebe und volllommenen Gehorfam 
ermeijen. Statthalter Rummler wurde nun beauftragt, bie 
Gemeinden zu verfammeln, ihnen den SHirtenbrief vor- 
zulefen und auf die bevorftehenden Snitallationen bin mit 
allem Nahdrud zur Ordnung zu mahnen. Er entledigte fid) 
feiner Miffion am 19. Juli und berichtet darüber (von 
anderer Seite liegen feine Meldungen vor): 

„Zn Oberwil fonnte ich den Auftrag bei zahlreich ver- 
fammelter Gemeinde durchführen, ohne daß fid) eine einzige 
Stimme gegen die bevorftehende Snftallation bören ließ. 
Ein einziger Bürger, Safob Häring, Gattfer, ein eifriger 
„Schmidlianer”, fagte ganz leife: „Wir beten halt einige 
PBaterunfer weniger, wenn Schmidlin fort if." Mit ber 
Bemerkung, daß die Gemeinde, bie ben Entſcheid des 
Biſchofs unb der Regierung fenne, der Synftallation feine 
Schwierigkeiten in den Weg legen werde, ſchloß ich bie Ge- 
meindeverfammlung. Anders in Allfchwil. Gemeinbepráfibent 
Vogt jagfe fd)m vor Beginn der Verfammlung: „Wir 
achten weder auf Beſchlüſſe der Regierung, nod auf 
Gaufeleien des Bifchofs, wir haben nicht dafür geftritten, 
um einigen Röpfen auf den Thron und einigen Pfaffen zu 
Stellen zu verhelfen.” Ebenſo äußerten fid) bie Gemeinde: 


152 


räte Werdenberg unb Chriftoph Saujer. Sm „Rößli“ (mo 
Kummler abftieg) bat Vogt nod) gefagt: „Der Biſchof iit 
ein elender Tropf, der miferabelfte „Zittel”, den es auf der 
Welt gibt; er ift ein Srautfopf, ein Wafchweib; er follte 
nidf Salzmann, fondern Salzfrau beißen; fura, er ift ber 
fchlechtefte „Zittel”; id) fage das Öffentlich unb menn ich 
auch in den Bann komme.” Doswald nannte er wiederholt 
einen Schurfen. Mittlerweile verfammelte fid) bie Bürger: 
fhaft auf bem Gemeindeplag. Wie id) das bifchöfliche 
Schreiben zu verlefen begann, entitand allgemeines Ge: 
murmel: „Darf ber noch fo reden, ja ber ift ein Cauberer." 
Ale Lippen waren in Bewegung, ebenfo am Schluß. In 
Oberwil batte id) nur leife auf bie Folgen aufmerffam ge: 
madt; bier verwies id) mit allem Nachdrud auf bie Folgen 
ber QOiberfelidbfeit. Die Matadoren riefen: „So darf bie 
Regierung zu uns reden, bie Regierung, die uns ihre 
Eriftenz zu verdanken bat. Haben wir dafür geftritten?” 
Sriedensrihter Simon behauptete, der Biſchof babe es ibm 
am Abend vorher um 6 hr felbft gefagt, baB er bie Regie: 
rung erfucht babe, durch einen Kommiſſär eine Abftimmung 
vornehmen zu lafien, ob bie Mehrheit Dosmwald wolle oder 
nicht.” — Der Statthalter fonnte nicht aus bem Gedränge ber 
ihn umgebenden Leute und mußte zufeben, wie eine Ab— 
fiimmung vorgenommen wurde: Keine Hand erhob fid) für 
Doswald. Wer ibn aber nicht wolle: Alle Hände gingen 
in die Höhe, wenigftens berjeingen, bie um den Statthalter 
berumftanben. Immerhin eriftierte jebt eine Gegenpartei, 
denn Rummler nennt mit Namen mehrere Anhänger Dos$- 
walds, bie er an der Verfammlung vermißte. Auch aus ber 
Filiale Schönenbud,!t) bie fid nie gegen Doswald aus- 
gefprochen, war niemand zugegen. Am anderen Sage be- 
Hasten fid) bie Allfchwiler in einer Zufchrift an bie Regie- 
tung über bie unangemeflene Art, wie Rummler die Bürger 
über bie Stimmung verhörte, und ebenjo befchwerten fid) bie 
ſchonenbuch wurde erft im Sabre 1861 felbftändige Pfarrei. 


153 


Oberwiler, weil er nur ben Brief des Biſchofs verlefen und 
dann bie Gemeindeverfammlung wieder aufgelöft babe. 

Nun wandte fid) bie Regierung am 21. Zuli neuerdings 
an ben Biſchof mit bem Erfuchen, er möge den beiden Geift- 
[iden bie kanoniſche Inftitution erteilen, und diefer erließ 
eine babingebenbe Weifung nad) Rheinfelden; die öffentliche 
Einführung falle aus, die Geiftlihen mögen fid) entweder 
felbft einführen oder fid) durch bie Regierung einführen faffen. 
Doswald erhielt am 26. Zuli bie fanonifd)e Snftitution für 
Allſchwil, Anaheim am folgenden Tage diejenige für Ober: 
wil. Am 28. Zuli nahm die Regierung in Lieftal den beiden 
ben Amtseid ab; zugleich ermächtigte fie den Statthalter, in 
Gemeinfhaft mit dem Dekan, oder nötigenfalls allein, den 
Zeitpunkt zu beftimmen, an welchem die Pfarrer ihren Ge- 
meinden vorgeftellt werden follten. Als jedoch Rummler jein 
Anfuhen Gürtler vortrug, erklärte diefer, er fónne Der 
Snftallation nur in feiner Eigenſchaft als bifchöflicher fom- 
miſſar beimohnen, bod) babe er dazu keinen Auftrag und könne 
baber dem Gefuch nicht Folge leiften. So befchloß denn ber 
Statthalter, gemäß ber regierungsrätliden Weifung die Gin- 
führung von fid) aus vorzunehmen, und zwar gedachte er ben 
Anfang am 30. Zuli mit Oberwil zu machen, wo er am 
. 19. Juli nicht auf namhaften Widerftand geftoßen war. 

Daß bie geiftlihen Behörden mit ihrer Befürchtung 
wegen eines Aufruhrs bie Sachlage nicht zu [dara anjaben, 
dafür gab e8 in jenen ereignisfchweren Zulitagen gerade in 
Oberwil auffallende Symptome. Zunächſt bewies bie [don 
im letzten Kapitel erzählte Prügelei an der Gemeinde: 
verfammlung, baB man von einem Appell an bie Waffen 
nicht mehr weit entfernt war. Sodann wurde Martin 
Thürkauf, Gejdeibsridter, fo viel als überwiefen, daß er fid) 
in Therwil, bem Wohnorte Anaheims, dahin geäußert babe, 
wenn Anaheim nad) Oberwil fomme, fo ftänden feine Söhne 
mit den Waffen in der Hand bereit, ihn fortzutreiben. 
Diefe, vier an der Zahl, patrouillierten jede Nacht mit Ge: 


154 


wehren im Dorf berum. Anaheim würde erfchoflen werden, 
unb mit ibm nod) vier Männer, nämlich Landrat Hligin, 
Alt-Prafident Häring, Gerichtsamtmann Sütterlin und 
Kirhmeier Grana Sofepb Häring. Die Eorreftionelle Ab— 
teilung des Obergerichts verurteilte Thürkauf au fechs 
Wochen Gefängnis unb den Roften, bod) eine vom gefamten 
Dbergericht angeordnete nochmalige Verhandlung verlief für 
den Angeklagten alimpflicher; er mußte bloß durch zwei „an- 
nebmbare" 93ürgen Gt. 1200 Kaution leiften, daß die aus- 
gefprochenen Drohungen nicht ausgeführt werden. Ferner 
fagte Deter Hügin Jakobs im Wirtshaufe, menn Schmidlin 
fort müfle, fo würden fünf ,9[nabeimer" totgefchlagen 
werden; Heinrih Erismann meinte fogar, alle Achtund- 
zwanzig müßten umgebracht werden. Nach Ausfage von Land- 
jäger Brunner foll dann Sob. Thürkauf im Wirtshaufe von 
Jakob Löw in Viel gejagt haben, menn Anaheim nad) Ober- 
wil fomme, jo müfle es noch ärger geben, al8 am 3. Auguft 
(Gefeht von Pratteln 1833). Einen neuen Strauß batte 
Opeter Degen, 93eden, zu befteben, als er einige Tage vor 
der erftmal8 geplanten Inftallation Anaheims (14. Zuli) am 
Bade, wo er filchte, mit einer Rotte Gegner zufammentraf, 
bie gerade aus dem Verhör von Arlesheim wegen ber 
Störung des Gottesdienftes bei der Predigt Doswalds 
zurüdfehrten. Degen und fein 93egletter, Sofeph Schweizer 
von Reinach, wurden gefragt, warum fie filchten, worauf 
Degen antwortete: „Wit Ihr nicht, baB am Dienstag ber 
Pfarrer vorgeftelt wird? Da müffen wir bod) eine Platte 
Gifde haben." Da fam bie Gntgegnung: „Das wird nicht 
gefchehen, eher wird es in Oberwil ein 93lutbab geben, fie 
werden bie Gemeinde nicht zwingen; Ihr müßt bod) nicht 
glauben, Ihr Achtundzwanziger, bap Ihr bie Gemeinde 
zwingen werdet.” Degen wurde zum Bache berausgefordert, 
wo ihn bie Rotte umringte und mit Drohungen nicht geiate; 
zu Zätlichleiten fam es nicht, bloß wollte der bereits in 
Kapitel IV genannte Aloys Bannier feinem Sauptfeinb ben 


155 


Kübel [amt ben Zifchen in den Bach werfen, wurde jedoch 
von feinem Vorhaben burd) den Sohn von Landrat Hügin 
abgehalten. „Das find die Früchte ber pflichtvergeflenen 
Vorgeſetzten in Hier”, fchrieb Degen in feiner Beſchwerde 
an den Statthalter. 

Die Naht vom 29. auf den 30. Zuli verlief in Oberwil 
wieder unruhig, ganz wie diejenige, bie bem Sonntag mit 
der Prediot Doswalds vorangegangen war. Am Abend 
hatte Schmidlin das Dorf verlaflen, und feine Anhänger 
fhlofien daraus, daß etwas im Werke fei, das ihre Hoff: 
nungen definitiv zunichte machen würde. Zei ber herrichenden 
Aufregung war es den Agitatoren ein leichtes, das Feuer 
des Widerftands gegen das Kommende zu ſchüren. In den 
Galen fammelten fid Gruppen von Männern und weib- 
[iden Perfonen, und im Haufe des Präfidenten ging es Ieb- 
haft zu; ein Vorübergehender hörte, wie jemand erklärte, es 
wäre eine Schande, wenn bie Achtundzwanziger Meifter 
würden, man werde jest zeigen, wer Herr fei. Wieder 
wurden Anhänger Anaheims herausgefordert oder e8 wurde 
ihnen bedeutet, fie follten fid) in acht nehmen und nicht auf 
der Straße erfcheinen. Als bie Landjäger Brunner und 
Schäublin fid) auf einem Rundgang, der fie einerfeitsS nad) 
23enfen unb anbrerjeit8 bis ins Oteubab nad) Binningen 
führte, bem Dorfe Oberwil näberten, fonftatierten fie Lärm 
und 3ujammentottungen; auf ihre Gtage nad) der Arſache 
wollte Präfident Sütterlin nichts miffen. Auf bie Mab- 
nung zur Ruhe wurde den Landjägern geantwortet, fie hätten 
nichts zu befeblen. Bei ber Mühlebrüde waren Wachen 
ausgeftellt, und als bie Hliter der Ordnung fragten, was das 
su bedeuten habe, hieß es, man gebe bloß fpazieren. Auf 
eine QVermahnung wurde mit Drohungen geantwortet, bie 
fih zu Püffen und Schlägen fteigerten, fo daß bie beiden, Durch 
das ganze Dorf verfolgt, biefe8 auf der Seite nad) 23ott- 
mingen zu verlaflen mußten. Joh. Häring, Huffchmied, der 
Sohn eines ber Häupter der „Anaheimer”, fam gerade von 


156 


Sbermil ber unb mußte fid zur Seite machen, um der 
fanatifierten Rotte nicht in bie Hände zu fallen. 

Unter diefen Umftänden alfo unternahm es Statthalter 
Rummler, am 30. Zuli den Pfarrer Anaheim in Oberwil 
einzuführen. Er verfügte fid) morgens 8 Uhr mit diefem in 
einem Chaischen nad) der Ortichaft, bie bet der Ankunft ber 
beiden menfchenleer fchien. „Wir fliegen”, fchrieb Rummler 
in feinem Bericht an den Regierungsrat, „beim „Ochſen“ 
ab; das Haus war gefchloflen, ein Kind fagte, alles fei auf 
bem Gelbe. Wir verfügten ung nun zum Gemeinde: 
präfidenten, waren aber faum einige Minuten dort, als das 
Haus fid) mit Leuten anfüllte, welche riefen: „Entfernt Euch 
auf der Stelle, wir wollen ihn nicht und dulden ihn nicht, 
unb zwar feinen Augenblid, wir wollen den Schmidlin!" 
Cd) bemerkte, davon fónne feine Rede fein, Anaheim fei jest 
ihr Pfarrer, er babe als folcher der Regierung den Eid ge: 
leiftet. Er werde das Pfarrhaus in Beſitz nehmen und dort 
wohnen; wer fid) gegen ibn verfehle, werde ber geſetzlichen 
Strafe nicht entgehen. „Sperrt uns ein, macht mit uns, 
was Sr wollt, aber wir wollen ihn nicht, fort muß er!” 
Od) forderte vom Präfidenten bie Schlüffel zum Pfarrhaus, 
er fuchte fie. Snbeffen wurde das Haus dicht angefüllt. Sch 
babnte mir einen Weg und lief mit Anaheim dem Pfarr: 
baufe zu. Uber gewaltfam zurüdgedrängt, bin ich faum zehn 
Schritte weit gefommen. „Zum Dorf hinaus mit Euch!“ 
hieß es. Man padte uns, ferte uns und führte ung zum 
Dorf hinaus. Ich wollte bie NRädelsführer notieren, bie 
Gemeinderäte zögerten aber, ihre Namen zu nennen. Nach: 
dem ich fie an Eid und Pflicht gemahnt, gelang es mir, drei 
oder vier aufzuzeichnen, aber das Papier wurde mir aus den 
Händen geriflen, es war nicht mehr möglich, nur einen ein: 
zigen aufzuzeichnen. Endlich, nachdem wir lange hin- und 
betgeftopen unb mit Schimpfworten tiberhäuft waren, gelang 
e3 uns, uns zu entfernen. Anaheim erhielt nidt nur Stöße 
und Schimpfworte, fondern aud) von hinten einen tüchtigen 


157 


Streich auf ben Kopf. Es fielen Schimpfworte: „Schlechter, 
miferabler Kerl! 93rotbieb! Du ftiehlft bem Herrn Schmidlin 
das Brot weg; Ihäme Sid" Ein Zubelgefchrei tiber den et- 
rungenen Gieg, das wohl ftundenweit hätte gehört werden 
fónnen, wurde ung von der Menge nachgefchidt, bie aus 
70 bis 80 Männern und beinahe doppelt fo viel Weibern 
beftand. Die Gemeinderäte haben anfangs gezögert, die 
Namen ber Rädelsführer zu nennen; aber dann haben fie 
alle Mühe angewendet, um uns vor Mißhandlungen zu 
fhüten, ohne fie wären wir fchwerlich mit beiler Haut 
Davongefommen.” 

Dies der Bericht des Statthalters, defien Inhalt in den 
weſentlichen Punkten nachher burd) die gerichtliche Unter⸗ 
fud)ung beftätigt wurde. Zur Ergänzung muß nod) beigefügt 
werden, daß Pfarrer Anaheim fdon beim „Ochſen“ einen 
Mann bemerkte, der burd) das Dorf lief unb bie Leute 
zufammentrommelte mit bem Ruf: „Sebt gilt’s!" Um bie 
Bauern vom Gelbe ins Dorf zu rufen, wurde Sturm ge- 
läutet, wie bei einer Geuersbrunit. Unter den in Baſel 
arbeitenden Leuten war am Sage vorher bie Lofung aus: 
gegeben worden, man müfle am Donnerstag zu Haufe 
bleiben; der Gemeinderat follte es fo befohlen haben. (Wir 
erfahren bei diefer Gelegenheit, daß rund 40 Mann aus 
Oberwil tagtäglich des DVerdienftes wegen in die Stadt 
gingen; das Dorf wies al(o bereits damals einen ziemlichen 
Prozentfa von Snduftriearbeitern auf.) Der Dorfwächter 
erhielt vom Präfidenten den Auftrag, bie Kirchenbücher in 
der Mühle (mo Schmidlin fogiert hatte) zu holen und ins 
Pfarrhaus zu fragen, bod) in der Mühle befam er den 23e- 
fheid, bie Bücher würden erft ausgeliefert werden, wenn 
ein Mitglied des Gemeinderates fomme. Als der erfte und 
vorderfte ſtieß Rößliwirt Sütterlin den Statthalter zurüd; 
fein Bruder Johannes entriB Rummler das Papier, auf dem 
diefer bie Rubheftörer aufgezeichnet hatte. 


158 


VI. 


Maßnahmen von Regierung unb Bezirksverwalter gegen bie Reni- 
feng ber Oberwiler. — Die Miffton ber fech8 Landjäger. — Die 
Entichloffenhelt zum Widerftand gegen Arreftationen. — Die gewalt- 

fame Befreiung eines Verhafteten. — Eine ftataftropbe. 

Statthalter Rummler, der unter diefen Umftänden ben 
Verſuch einer SInftallation in dem wenigftens ebenfo 
fhwierigen Alfchwil gar nicht machte, eritattete über den 
Mißerfolg feiner Sendung in Oberwil fofort Bericht an bie 
Regierung in Lieftal, und diefe beauftragte ihn mit der Ein- 
leitung einer Unterfuchung über bie Widerfeglichleiten vom 
Donnerstag vormiftag; bie Hauptteilnehmer feien fofort zu 
arretieren und nad) Cieffal zu verbringen. Wegen der In— 
ftallation fei ein nod am gleichen Tage zu erlaflfendes 
Schreiben des Regierungsrat3 an gebotener Gemeinde: 
verfammlung zu verlefen, das bie 93ürger in Oberwil auf: 
fordern folle, fid) den gejfegmäßigen Anordnungen und De: 
[hlüffen des Regierungsrats zu fügen, widrigenfalls gegen 
bie Widerfeglichen nad) S 50 des Kriminalgefeßbuches ver: 
fahren würde. KRummler zitierte fofort bie Hauptbeteiligten 
auf Freitag früh nad) Arlesheim, aber als ihnen der Land- 
jäger bie Vorladung brachte, erhielt er zur Antwort, fie 
würden ihr feine Zolge leiften, fie nábmen von foldhen 
€umpenbunben von Regierungsrat und Statthalter feine 
Befehle an. Nur einer, Seinrid) Gutzwiller, verfprach, fid 
zu ftellen, ließ fid) jedoch ebenfo wenig in Arlesheim bliden. 
Nun ging Rummler energifch vor. Er beauftragte bie Land⸗ 
jäger Brunner (ftationiert in Sbermil), Schäublin (Ober: 
Toi, Hägler (Arlesheim) 9Xafgad) (?fejd und Dil 
(Lieftal), unter Führung des Korporals Meyer, fid) fofort 
nad) Oberwil zu begeben und bie Widerfpenftigen mit polizei- 
licher Gewalt nad) Arlesheim zu führen, es waren das 
Sofepb Sütterlin, Wirt zum ,,Otopli", Matthias Sütterlin, 
Martin Häring, fowie einen Geiler unb einen Düblin, die 


159 


ber Gemeindepräfident näher bezeichnen [ol[te.1») Kummler 
gab ben Landjägern nod) ein Schreiben an den Gemeinbe- 
rat mit, worin er den Zweck ihrer Sendung anzeigte unb die 
93ebotbe bei Eid und Pflicht aufforderte, bie Diener der 
öffentlichen Gewalt bei der Ausführung ihres Auftrags mit 
allen ihr zu Gebote ftehenden Mitteln zu unterftüGen und 
denjenigen Perfonen, bie fid) etwa unteriteben follten, ihnen 
Hindernifle in ben Weg zu legen, mit allem Nachdruck vor: 
auftellen, daß fie fid) Dadurch des in ben SS 50 unb 51 des 
Kriminalgefegbuches verzeichneten Verbrechens (des fort: 
geſetzten Aufruhrs) ſchuldig machten.!!) Ein Eremplar 
diefes Gefetbuches wurde dem Schreiben beigelegt. 

Die Landjäger machten fid) auf den Weg. Auf ber 
Höhe des Bruderholzes angefommen, beredeten fie fid) über 
das Vorgehen bei der Ausführung ihres Auftrags. Rorporal 
Meyer und Brunner follten fi) voraus zum Gemeinde: 
präfidenten verfügen, während Hägler unb Malzach mit ber 
Berbaftung des Röpliwirts Joſeph GSütterlin, Dil unb 
Schäublin mit derjenigen von Matthias GSütterlin (der wie 
Joſeph Sütterlin im Ilnterdorfe wohnte) betraut wurden. 
Aber Matthias Sütterlin war nicht zu Haufe, er hielt fid) 
in den Grasgärten hinter dem „Ochſen“ verborgen, während 
andere von ben gu Qerbaffenben fid) nad) der Allmend 
flüchteten, die in ber Richtung nad) bem elſäſſiſchen Dorfe 
Oteumil ber Landesarenze nahe liegt. Dil und Schäublin 
begaben fid) nun ebenfalls ins Rößli, von wo aus Malzach 
bereit3 mit ber Meldung zu ihnen gefommen war, Sofepb 
Sütterlin fei daheim. Bald ftellten fid) aud) Meyer und 
Brunner ein, bie von den Gemeinderäten begleitet waren. 
Diefe waren in einer fatalen Lage. Cie waren eifrige 
DParteigänger auf ber Seite der „Schmidlianer”, fie hatten 
3) Gpüter ftellte fid) heraus, bap die beiden Joſeph Geiler, 
Färber und Mathias Düblin, Gemeinderats Sohn waren. 

16) Das Schreiben fand fid) nachher nicht mehr vor, aber daß es 


eriitierte und an feinen Beftimmungsort gelangte, unterliegt feinem 
Zweifel. 


160 


nichts getan, um bie Entwidlung des Konflikts zu feiner 
jegigen gefährlichen Geftalt zu verbüten, fie fannten bie 
Stimmung der fanatifierten Bevölkerung, bie aus Solidarität 
mit ben Erzedenten des vorhergehenden Tages diefe den Be: 
bótben nicht ausliefern wollte, aber es bámmerte ihnen aud) 
die Erfenntnis auf, daß ihnen ein anfehnlicher Teil der 
Verantwortung für die Folgen eines SZufammenitoßes 
zwifchen der Polizei und den ertremen „Schmidlianern” zu: 
gefchrieben werden müßte. Der Gemeinderat fuchte fid) nun 
um eine Entfcheidung zu brüden und wollte e8 der Gemeinde: 
verfammlung anbeimftellen, ob bie von der Polizei gefuchten 
Fünf ihr überantwortet werden follten; er vertrat bie An— 
fibt, es wäre beffer, angefichts der gereizten Stimmung feine 
Arreftationen vorzunehmen, während bie Landjäger auf bie 
erhaltenen ftriften Befehle hinwiefen. Gegen die Gin- 
berufung einer Gemeindeverfammlung hatten fie nichts ein- 
zuwenden, und eg wurde aud) zu einer jolchen geläutet, ebenfo 
wurden Leute vom Felde ins Dorf geholt, und u. a. wurde 
bezeugt, daß eine Frau bie Männer mit den Worten aufrief: 
„Wer etwas Rechtes ift, fommt an die Gemeinde!” 

Das Volk fammelte fid) vor dem Roöpli!”) an, und 
wieder bewies das weibliche Gefchlecht fein befonderes 
Intereſſe an der Angelegenheit durch [ebDafte Zeteiligung 
an der erregten und lauten Diskuffion, bie unter dem Haufen 
bin- und berging. Don einer eigentlichen Gemeindeverfamm:- 
Iung konnte unter diefen Umftänden feine Rede fein, und 
Opráfibent Cütterlin fcheint aud) feinen Verfuh gemacht zu 
haben, eine regelrechte 93eratung zu pflegen; feine Rolle 
beſchränkte fid) darauf, den Landjägern das Gefährliche einer 
Wegführung ber Manifeftanten des vorhergehenden Tages 
auseinanderzufegen und jemeilen dem Volke wieder Mit: 


1?) Das Röpli fteht nod, tft aber längſt nift mehr Wirtshaus; 
es iit bas dritte Haus lints am Eingang des Dorfes von Bottmingen 
ber. Der Haupteingang bes Haufes fag vor achtzig Jahren gegen 
das ſchmale GüBdjen auf der Güboftfelte zu. 


161 11 


teilung von bem Stand ber Verhandlungen zu machen. 
Diefe fanden in ber Wirtsftube ftatt, und durch das offene 
Genfter drang von Seit zu Zeit eine nicht mißverftändliche 
Drohung oder eine Infulte an bie Adreſſe der Poliziften ein, 
bie die fiebetbafte Erregung der Volksmenge verrieten. 
Enter biefer war nun einmal die Parole ausgegeben, man 
müſſe den mit der Verhaftung Bedrohten beifteben und dürfe 
ihre Wegführung nicht dulden. Es nüste aud) nichts, daß 
KRorporal Meyer das Schreiben der Regierung verlas, 
worin bie Gemeinde unter Hinweis auf das KRriminalgefeb- 
bud) zum Geborfam gegen bie Verfügungen der Behörden 
aufgefordert wurde; die Menge fchrie: „Zerreißt e8 bod) 
(das Geſetzbuch); wir fragen dem nichts nah, mir ..... 
pfeifen auf bie Landjäger, den Verwalter, bie Regierung 
und das Gefegbuch; lieber laſſen wir das Leben, als daß 
wir einen wegführen Iaffen.” Ein Zeil ber in der Wirts- 
ftube befindlichen Leute fuchte bie Landjäger zu beruhigen 
mit der Verficherung, fie hätten nichts zu befürchten, bin- 
gegen fonnte ihnen bei dem Toben der Menge vor dem 
Haufe bennod) nicht gebeuer fein, denn fie hörten Drohungen 
wie: „Rommt nur heraus, bier müßt Shr verr.... unter 
unferen Händen, Ihr Salunfen." 

Die Landjäger waren fid) alfo bewußt, welch gefährliche 
Miffion ihnen übertragen war, und fie erklärten fid baber 
auch zu Konzeffionen bereit. Sie machten dem Gemeinderat 
ben Vorſchlag, er folle bie Schuldigen berzitieren und ihnen 
ans Herz legen, in welch unberechenbares Unglück fie die 
ganze Ortſchaft burd) bie Widerfeslichkeit gegen bie Be— 
bórbe flürzten; bie Arreſtanten würden gar nicht geführt 
werden, fondern follten ben Landjägern voraus in Begleitung 
von Gemeinderäten nad) Arlesheim gehen. Es half alles 
nichts, bie Kluft zwifchen dem Standpunkt des Gemeinbe- 
rats, daB das Volk niemand zum Dorfe binaustaffe, und 
demjenigen der Poliziften, bap fie unbedingt bie Schuldigen, 
deren fie habhaft werden fónnten, dem Statthalter vorführen 


162 


müßten, biefe Kluft war nun einmal nicht zu überbrüden. 
Möglich, baB Bezirksverwalter Rummler nicht bie Verant- 
mwortung für eine in folcher Lage zu bewerfftelligende Ar- 
reftation übernommen bätte, wenn er zur Stelle gewefen 
wäre; den Landjägern jedoch fann man feinen Vorwurf 
mahen, daß fie als untergeordnete Organe den erhaltenen 
gemeljenen Befehl nicht wegen der Beſorgnis vor Gewalt: 
tätigfeiten für babingefallen betrachteten. Es wurde auch be- 
bauptet, bie Landjäger hätten getrunken, fie feien deshalb zu 
hitzig vorgegangen, und es iff auch nicht wahrfcheinlich, baB 
fie während des mehrere Stunden dauernden Aufenthalts im 
Otopli ihren Durft bloß mit Waſſer gelöfcht haben; hingegen 
bat unzweifelhaft auch bei den Dorfbewohnern der Pier: 
unddreißiger, einer der beften Sahrgänge des ganzen ver: 
flofienen Sabrbunberts, redlich zur Aufftachelung der gefähr⸗ 
lichen Leidenfchaften beigetragen. Ein Symptom für bie 
Stimmung kann man darin feben, daß zur Seit, als fid) im 
Dorfe bie Runde von der Ankunft der Landjäger verbreitete, 
ein Heißfporn der „Schmidlianer” einen etwa 14jábrigen 
Zungen nad) Binningen fchidte, um dortige Einwohner um 
93eiftanb anzugehen, bod) bat man dort über das Anfinnen 
bloß gelacht. Auch foll der Knecht von Gemeinderat Thürkauf 
(an der Hohen Straße) mittags nad) Allſchwil geritten fein, 
um von dort Hilfe zu holen, bod) iit auf feinen Fall jemand 
gefommen. 

Nun, aud) ohne auswärtigen Zuzug wurden bie Ober: 
wiler über bie Landjäger Meifter, wie fid) bald zeigen [ollte. 
Nah mehr als dreiftündigem Zuwarten, als eine Einigung 
definitiv ausgefchlofien erfcheinen mußte, machten fid) bie 
Landjäger auf, um ben Röfliwirt Zofeph Sütterlin, ber 
einzig von allen Manifeftanten in ihrer Gewalt war, nad) 
Arlesheim zu verbringen. Sütterlin will fowiefo bie Abficht 
gebabt haben, fid am Nachmittag bem Bezirksverwalter zu 
ftellen; am Qormittag hätte er es bloß deswegen unterlaflen, 
weil er Getreide in der Scheune hatte, das gedrofchen werden 


163 n* 


mußte. Auf jeden Fall zeigte er fid) willig, eine Haltung, 
die ffarf von feiner Aktivität am vorhergehenden Tage ab- 
ftiht. Er wußte offenbar, daß ibm nicht viel geſchehen könne, 
unb es berichtete denn auch fpäter ein Zeuge von einer fton- 
ferenz des Rößliwirts mit feinem Schwager Schweig- 
baufer!$)) und feinem Nahbarn Laub in einem oberen 
Zimmer des Wirtshaufes, wobei bie Genannten — es war 
zu Beginn der Anfammlung vor dem Haufe — fid) äußerten, 
man dürfe den Röpliwirt nicht fortlaflen, man müſſe zu- 
fammenbalten, gebe es, was es wolle, während Gütterlin 
bemerkte, er fei dann heraus, b. b. er fei gegen die Anklage 
ber Widerfeglichkeit gebedt, wenn feine Mitbürger ihn nicht 
fortführen Tießen. 

An der Mitte ber Landjäger machte fid) ber Rößliwirt, 
das Ramifol der heißen Jahreszeit wegen über eine Schulter 
gehängt, auf den Weg, und zwar zu der Haustüre auf der 
Stüdoftfeite hinaus, von wo ein Weglein burd) die Obftgärten 
nad) dem fogenannten „Hofmattfteg” führte. Er war aber 
mit der Eskorte faum vor das Haus getreten, da machten 
fih Grauen feiner Verwandtichaft, namentlich eine Schwä- 
gerin,!?) an ihn heran, riffen ihm das Ramifol ab und riefen: . 
„Du barfft nicht fort!" Auf der Stelle drängte bie Volks— 
menge, bie fid) in bem Raum zwifchen bem Wirtshaufe unb 
ber Schmiede pon Jak. Stödlin angefammelt batte, gegen bie 
9anbjáger vor, wobei namentlich bie Weiber ein aufreizendes 
Gefchrei erhoben, während bie Männer zu Tätlichkeiten 
übergingen. Dem Landjäger Dill wurde der Tſchako vom 
Kopfe gefhlagen, und als er den Säbel zu ziehen verfuchte, 
wurde ibm biefer entrifien. Der Röpliwirt wurde befreit, 
bie Landjäger hierhin und dorthin gezerrt, und es hätte wohl 


18) Die Schweighaufer find vor etwa fünfzig Jahren in Oberwil 
ausgeftorben. Der ftarfe Zweig bes Geſchlechtes in Bottmingen foll 
nad der Tradition auf Einwanderung zur Zeit ber Gegenreformation 
zurüdgeben. 

d i Die tyrau feines Bruders Tohannes; er felber war Jung: 
gejelle. 


164 


nicht ber Aufmunterung burd) bie Weiber bedurft, bie brauf- 
los fdrien: „Hauet fie, bauet fiel" um der angejammelten 
und bis je6t gurüdgebaltenen Erbitterung der fanatifterten 
Menge einen Abfluß auf das Haupt ber Abgefandten des 
Statthalters unb der Regierung zu weifen. Sn dem dichten 
Gedränge vermochten fid) bie Landjäger faum zu verteidigen, 
fie waren den Streichen der zum Zeil wenigftens mit Reb- 
fteden bewaffneten Gegner faft wehrlos ausgeſetzt, fo daß fie 
zu Boden fielen. Die meiften konnten fid) bald wieder auf: 
rihten und fuchten fid) aus bem Getümmel heraus in bie 
Obftgärten zu flüchten, um einigermaßen freie Vewegung zu 
befommen. Schäublin leiftete Dil 93eiffanb, der im erften 
Augenblid ber Wut der Menge am meiften ausgefe6t war 
und ber infolge eines auf den Kopf erhaltenen Schlages viel 
Blut verlor, und bieb mit dem Karabiner [inf$ und rechts 
brein. Auch DiN babnte fid) mit bem Karabiner einen Weg 
burd) das Volk, und als er fab, bap ein Mann aus ber 
nadjbrüngenben Menge — bie Landjäger zogen fid) rüdwärts 
gehend zurüd — feinem Kameraden Hägler den Karabiner 
entreiBen wollte, gab er jenem, Matth. Thürkauf Ctrápis, 
mit bem Kolben einen Streih in den Naden, daß er 
ohnmädtig niederftürzte unb wie tot bafag. Der Gall 
eines der Sbrigen fteigerte natürlich bie Wut der Angreifer, 
fie drängten, mit Gabeln, Hauen und Kärften bewaffnet, 
mit erneutem Grimm auf die Landjäger ein und fchlugen 
Rorporal Meyer fowie Brunner nieder; aud) Hägler 
vermochte fid) zunächſt dem Gedränge nicht zu entwinden. 
Die übrigen drei, alfo Dil, Schäublin unb Malzach, ge- 
langten, weniger mitgenommen als ihre Kameraden, ins 
Greie, nümlid aus dem Raum zwifchen den eingezäunten 
Gemüfegärten in bie Wiefen, und dort fchoffen fie, um fid) 
der Verfolger zu erwehren, ihre Karabiner ab. Ein Jo— 
bannes Hügin Frieds fiel, von zwei Kugeln getroffen, (mer 
verlegt zu Q3oben; nad) ber fpäteren Ausfage der Land: 
jäger war Hügin, einer ber vorderften und wütendften 


165 


aus ber Menge, mit einem Karft auf fie eingedrungen, 
während ber Verwundete dies beftritt und behauptete, er 
babe bloß dem Matthias Thürkauf Hilfe leiften wollen. 
fleber Hügins Rolle im kritifchen Moment liegt von anderer 
Seite feine 3eugenausfage vor, bloß fab ihn jemand, wie er 
beim Röoßli ffanb und bie Hände in den Hofen batte, als bie 
Maſſe fid burd den Raum zwifchen den Gemüjegärten 
drängte, bann fei er dem Schwarm nad) und etwa drei 
Minuten fpäter feien die Schüffe gefallen. 

Nah bem Abfeuern der Karabiner ergriffen die drei 
€anbjáger die Flucht dem Bruderholz zu, während bie 
Menge unter fteten Todesdrohungen ihnen nachſetzte. ALS 
Schäublin den Birſig durchwatete, wurde ihm eine foge- 
nannte Schußgabel?°) nachgeworfen, die ein paar Fuß von 
ihm ins 93orb hineinfuhr; eine zweite durchlöcherte ibm den 
Tſchako. Im Bruderholz verftedten fid bie drei Ent: 
ronnenen, bod) fie waren nod) nicht in Sicherheit, weil bie 
Verfolger fie auch dort hartnädig fuchten. Dill hörte fte nod) 
fagen: „Er muß da drinnen fein, wenn wir ihn aber haben, 
muB er taufendmal burd)bobrt werden.” Als fie fchließlich 
weg waren, machte fid) Dill auf, fiel aber, als er eben in bie 
Nähe von mit der Ernte befchäftigten Leuten gelangte, in 
Ohnmacht; bieje labten ihn mit Waffer und Wein unb 
wufchen ihm das Blut ab. Er wurde nad) Reinach geführt, 
wo er feinen Kameraden Malzach traf; beide machten bann 
ben Rüdweg nad) Arlesheim auf einem Wägelein des 
Ochfenwirts Scherer in SDornad. Ebenfo war Schäublin 
genótigt, fid von Reinach nad) Arlesheim auf einem Gefährt 
führen zu laflen; er batte ftarfes Blutſpucken. 

Während diefe drei Landjäger, die immerhin mit Aus- 
nahme von Malzach von ben Mißhandlungen ziemlich ſtark 
mitgenommen wurden, nur relativ furge Zeit der Gefahr des 
Erfchlagenwerdens ausgefeßt waren, ging es den drei anderen, 


?0) Eine Gabel mit langem Stiel, wird hauptſächlich beim Laden 
non Garben verwendet. 


166 





‚polyvxg qun uy 
oqanai -qnn(o NG aobplquvg aoq ↄꝛnoꝛ "G 
uobvj ꝙlabaoqoꝛu sbuiqaonou qun Udqs usq aoaiuiq goajluauuving °F 


noqobuio aauuna; 0m 99 '8 "805 wn? enoóeruQp '€ 
“3695 inp abu 39319Q4€ ^/ "jpoo enoc 7 
'£23l33bitlo Gs ^9 PM sui(u133O '[ 


"SEgI HRS 'I£ 89q uoDup$1og; uoq n? upjdeuoptmio 


bie bem fie bebrüngenben Volkshaufen nicht zu entrinnen 
vermochten, wefentlich fchlimmer. Brunner wurde gleich zu 
Beginn ber Tätlichkeiten zu Boden gefchlagen, jo daß er 
wie tot balag. Er richtete fid) jedoch fpäter wieder auf unb 
lief ohne Waffen und barhaupt, bloß den Weidfad an der 
Seite, bem Hofmattftege zu, verfolgt von einem ganzen 
Haufen Volkes. Er hatte bereits Löcher im Kopfe, unb aud) 
ein Arm foll ibm (mit Brunners eigenem Karabiner) ab- 
sefhlagen gewefen fein. Der Zlüchtige gelangte auch über 
den Gteg auf bie [ogenannte Hüslimatte, wurde jedoch, 
wahrfcheinlich von halbwüchfigen Burſchen, bei der Wieſe 
von Martin Schweighaufer, bie man aud) ,'$ Schneider: 
banjen Matte” nannte, „Dort, wo ein Waflergräblein den 
Pfad durchfchneidet”, eingeholt und von neuem zu Boden 
geichlagen, worauf es nochmals über ibn berging. Die beiden 
Oberwiler, die fpäter wegen unvorfäglider Tötung 
DBrunners zu langjähriger Kettenftrafe verurteilt wurden, 
wollten ihn nur mit einem SKmüttelein refp. mit einem 
weidenen GCteden gefchlagen haben; immerhin fchlugen fie 
nad) ber Ausfage eines Zeugen zu wie bie Dreſcher. „Ich 
babe ibm", fagte ber eine, „einen Streich auf den Kopf ge- 
geben, fo ang Ohr, aber er bat davon fein Blut vergoljen 
unb iff nicht davon tot geblieben. Ich babe auch feinen Laut 
von ihm gehört und nicht gejeben, daß er fid) firedte; von 
unferem Schlagen ift er nicht tot geblieben.” Und der 
andere: „Sch babe gewiß feinen Karſt gehabt, nur einen 
Steden; aber zu unterft zu oberft babe ich ihn gemacht mit 
meinem Gteden ..... . Er bat gewiß feinen Tropfen Blut 
davon verloren. a, ich geftehe ein, ich babe ihn mit meinem 
Steden niedergefchlagen. Einen Laut babe id) von ihm nicht 
gehört, aber er richtete das Geficht auf bie Seite unb [uote 
mid) an. Daß er fid) geftredt, babe ich nicht gefeben." All⸗ 
gemein war bie $[ebergeugung, daß Brunner dort den Tod 
gefunden hat, mo die bejd)riebenen Mifhandlungen beobachtet 
wurden, aber feine Leiche wurde viel weiter oben auf den 


168 


Wieſen, gegen Therwil zu, in ber Nähe des fogenannten 
Heinen Bielgrabens beim ,, Zelgenſteg“ aufgefunden; dort ſahen 
nod) gleichen Abends Porübergehende bie Leiche, und am 
folgenden Morgen wurde fie nah Therwil verbracht. Zu 
erwähnen ift nod) bie Anficht von Dr. Herbft, ber die Leiche 
des Erfchlagenen ſchon vor dem Eintreffen der kantonalen 
Wundfchau befichtigte, es fcheine aus der Art einiger Ver: 
fe&ungen bervorzugehen, daB auf Brunner nod) nad) bem 
Tode dreingefchlagen worden fei. Nah bem Erfund ber 
Sektion waren fowohl bie KRopfverlegungen — bie Hirn- 
ſchale war an zwei Stellen gebrochen — als bie Verlegungen 
des rechten Oberarms — Serfplitterung der Knochen, 3er: 
reißen und 3erftörung der Ylutgefäße, Bänder und Muskeln 
am Gelent — als unbedingt tödlich zu bezeichnen. 

Wie Brunner, fo wurde wahrfcheinlich auch Hägler bie 
todbringende Wunde mit einem Karft beigebracht; auch fie 
— „eine etwa einen Fünfbätzner große, eingedrüdte Stelle 
am [infen Seitenwandbein, wobei fid) mehrere Knochenbrüche 
vorfanden” — war unbedingt tödlich. Hägler wurde eben- 
falis (bon hinter bem Roöpli zu Boden gefchlagen, er fonnte 
fid) jedoch wieder erheben und bem Bache zulaufen, ben er 
einige Schritte links vom Hofmattfteg Durchwaten wollte; bod) 
die Verfolger waren [don jenfeit8 auf der „Hüslimatte”, 
und dort fielen fie aufs neue, mit allerlei Werkzeug be: 
waffnet, über ihn ber. Die Unterſuchung vermochte nicht 
mebr feftzuftellen, ob Hägler den tödlichen Streich im Bache 
jelber ober auf ber Wiefe am jenfeitigen Ufer erhielt. Eine 
Zeugin, Katharina Hügin Mathifen, behauptete, fie habe ihn 
in den Bach ftürzen feben unb ibn mit Hilfe anderer Per- 
fonen herausgezogen; wie fie ihn erreichte, fei niemand bei 
ibm gemefen. Damit ftimmt nicht, was eine diefer Per: 
jonen, Sob. Dannacder, Bäder, ausfagte, denn diefer be- 
hauptete, Matthias Thürkauf Elfelis habe bloß etwa einen 
Schritt von Hägler weg mit einer „Scheie”" von einem 
Gartenbag am Birfig geftanden, etwa zehn oder zwölf 


169 


Schritte vom Steg am Üfer gegen Therwil zu. Sm übrigen 
ftellte der Zeuge, ber vor dem Tumult im Otópli war und 
dort mit Hägler angeftoßen batte, den Verlauf folgenber- 
maßen dar: „Außer ein paar Weibsbildern war niemand 
mebr bier (in den Obftgärten binter dem Rößli, wo 
Matthias Sb5ürfauf Sträßis wie tot unter einem Baume 
lag) zugegen, alles Volk lief den flüchtigen Landjägern nad. 
Od) eilte nun dem Volt nad) unb rief, fo faut ich fonnte, 
daß man bod) abgeben folle. Nun bemerkte ich, daß €anb- 
jäger Brunner über den Steg lief. Jenſeits machte ibm ein 
Srupp Leute Plab, und id) dachte, Gottlob, ber ift gerettet; 
aber bald fab id) aus ber Gerne, daß mehrere ibm nacheilten. 
Nun ging id zurüd, um nad) den Toten (Thürkauf unb 
KRorporal Meyer, bie er tot glaubte) zu feben, aber fie waren 
wegtransportiert worden. Nun hörte id) plöglich furchtbaren 
Lärm in der Nähe des Stegs. Ich eilte bin und fab, daß 
man auf einen Landjäger dreinfhlu. Mit den Fäuften 
drängte ich mich durch das Volt und nahm den Landjäger 
in Schuß. ch ftieB diejenigen, welche um ihn berum waren, 
von ihm, erhielt aber bei diefem Anlaß drei Streiche auf das 
Genid, bap es mir finfter vor den Augen ward. Snbeffen ge- 
lang es mir bod), ihn aus dem Volk berausgubringen und 
mit Hilfe der Katharina Laub ins Rößli zu transportieren. 
Gr batte ungebeuren Blutverluſt; indeflen glaubte id) bod) 
nicht, baB es ibm etwas fun werde, denn er war nod) gut 
bei Berftand, er fagte immer zu mir: „Dannacher, Sbr habt 
mir das Leben gerettet." Auf bem Wege gum Rößli wollte 
eine Rotte, mit Hebeln und Latten bewaffnet, auf uns dar; 
ich rief aber, fo laut id) fonnte, und minfte mit Häglers 
MWeidfad, baB fie nicht kommen follten, worauf fie eine 
andere Richtung einfchlugen. Wie wir zum Röpli famen, 
wollten wieder zwei auf Hägler los, id) verhütete aber, bap 
ibm nod) mehr Leides gefchehe.” Auch im Röpli war er 
nod) Inſulten ausgefeßt, denn zwei weitere Fanatiker hielten 
ihm dort bie Fauſt unter bie Nafe und fluchten ibn an. 


170 


Dannachers Vermutung, daß Hägler nicht gefährlich ver- 
wunbef ei, beitätigte fid allerdings nicht, denn er ftarb 
morgens 2 Uhr im Rößli troß der ibm durch Dr. Seyffert 
aus Binningen zuteil gewordenen ärztlichen Pflege. 

Beſſer als Brunner und Hägler erging e8 Korporal 
Meyer. Er ging als letter mit Malzach aus bem Röpli 
und erhielt einen Schlag, bald nachdem die Menge den 
Röpliwirt den Händen der Polizei entriffen hatte; von 
diefem Schlag ftürzte er ohnmächtig zu Boden und fab daher 
bom weiteren Verlauf des Zumultes nichts mehr. Gegen 
die Ausfage eines Zeugen, baf er Meyer bloß etwa zehn bis 
zwölf Schritte vom Bach entfernt gefunden, daß der Rorporal 
alfo faft den ganzen Weg über bie fog. Hofmatt gemacht 
babe, fpricht das Zeugnis Dannachers ausdrüdlich, ber fagte, 
et babe gefeben, wie Meyer etwa fünf Schritte von bem 
ebenfalls verwundeten Sob. Hügin im Grafe lag, alfo in ben 
Baumgärten unweit des Rößli. Meyers Wunden beftanden 
in einer Quetfchung des rechten Ohrs, einer folchen des 
linken GuBgelenf8 forie in Rontufionen am rechten Ober- 
arm und am rechten Schenkel; er muß demnach nicht bloß 
einen Schlag auf den Kopf erhalten haben. 


VII. | 
Rapporte ber Landjäger. — Eine Darftellung aus bem andern Lager. 
— (in parteiifches Schreiben des Gemeinderats. 

Es wird fid) lohnen, bier noch bie Darftellung der Vor: 
sänge im Wortlaut zu wiederholen, wie fie mehrere Augen- 
zeugen, in erfter Linie zwei Landjäger, fpäter zu Protokoll 
gaben. Korporal Meyer erzählte: „Brunner und id) gingen 
zum Gemeinbepráfibenten; er fagte, er müfje querit den Ge- 
meinderat zufammenberufen, ehe er etwas in biefer Cade 
tun fónne. Und der Gemeinderat, im Röpliwirtshaus zu- 
fammenfigend, äußerte fid) dahin, daß er nicht einzig handeln 
dürfe, fondern vorerft bie Gemeinde verfammeln unb fie an- 


171 


fragen müfje, ob bie verlangten Bürger verabfolgt werden 
dürfen. Der Gemeinderat fragte mich, ob man an die Ge- 
meinbe läuten dürfe. Ich bemerkte, baB man bie Gemeinde 
auf gewöhnliche Weife unb auf bem Gemeindeplaß ver- 
fammeln follte, nicht etwa bier vor bem Röpliwirtshaufe 
unb von einer Menge Weibsbilder umgeben. Diefe Be: 
merfung half aber nichts. Statt auf gewöhnlihe Art zu 
läuten, wurde ,geffürmt" 2!) und bie Gemeinde vor bem 
Röpli verfammelt, wo nahezu 100 Weiber teilnahmen. Es 
wurde ein ernftes Schreiben der Regierung und die darin 
angezogenen Paragraphen des Kriminalgeſetzbuches verlefen; 
das Refultat der Gemeindeverfammlung ging troßdem da- 
bin, daß man feinen Bürger zum Dorf hinaus [affe. Ich 
machte den Antrag, nicht darauf zu bebarren, daß die Be— 
treffenden mit ung geben, fondern wenn fie verjprechen, ftei- 
willig zu geben, daß ich mich damit begnüge, wenn nur ein 
Mitglied des Gemeinderats fie begleite. Da fam Röfliwirt 
Sütterlin: „Sch fürchte mid) nicht, mit Gud) zu geben, ich 
gebe mit Euch." Ich bemerkte ihm, dies fei ganz recht, er 
folle fid nur bereit machen, einen Rod anziehen u. f. f. Er 
309 andere Kleider an, nahm den Rod auf die Schulter und 
fagte, jet fei er bereit. Auch wir waren bereit; wir ftellten 
uns in Reih und Glied und marfchierten, je zwei und zwei 
beifammen und den. Arreftanten in der Mitte, zum Haufe 
hinaus. Eine Menge Weibsbilder entrifjen uns mit furcht- 
barem Gebrül ben Arreftanten, aud) Mannsbilder fingen 
nun an dreinzufchlagen. Ich bemerkte feine Waffen, außer 
daß bier unb ba einer einen Garbentnebel in den Händen 
bielt. 

Wir wanden uns nun aus ber Volksmenge beraus; 
mir gelang dies, ohne daß id) in ben Gall fam, von meinen 
Waffen Gebraud) zu mahen. Wie wir aus dem Volks— 
haufen heraus waren, wollte id) meine Landjäger in Ord- 


2) Das ijt ein Irrtum, denn am 31, Juli wurde nicht „geitürmt“, 
bloß am 30. 


172 


nung ftellen unb mit ihnen den Seimmeg antreten, obne auf 
ben ?[rreftanten, der uns gewaltfam entriffen worden, nod) 
. Rüdfiht zu nehmen. Wie ich mid) aber umfebrte gegen das 
Volk, bemerkte ich, baB der Haufe, mit Gabeln, €atten und 
allem Möglichen bewaffnet (Rärfte und Schußgabeln be- 
merkte ich bier noch feine) wütend auf uns bergog. Ich ging 
diefem Volkshaufen entgegen, ohne mich zur Wehr zu ftellen. 
Den Karabiner und den Säbel an der Seite hängen laffend, 
wie gewöhnlich, trat ich zu diefen Leuten und forderte fie mit 
ernften Worten, aber guten, nicht rauben, auf, fid) bod) ruhig 
zu verhalten unb fein Unglüd anzuftellen; wie ich aber jo 
zu ihnen fprach, erhielt id) unverfehens einen Streich auf 
den Kopf, daß id) bewußtlos zu Boden ftürate. Von diefem 
Augenblid an weiß id) nichts mehr. Ganz dunkel, es fchwebt 
mir wie ein Traum vor den Augen, glaube ich mich erinnern 
zu können, baB ein großer junger Mann, während ich auf 
ber Wiefe lag, mit einem Lattenftüd auf mich dreingefchlagen 
babe. Syd) fam erft wieder zur Beſinnung in der Wohnung 
des Präfidenten, der mir ein Glas Wein reichte und wo 
mir meine Wunden ausgewafchen wurden. Hier fam Joſeph 
Ley, Küfer, zu mir und fagte: „Bift Du ba, Cpi6bube, Du 
bift der Chef, Du wirft wohl Feuer fommandiert haben, 
Du mußt jest fommen, und menn Du nicht freiwillig gebft, 
reißt man Sid) an den Haaren bin, Du mußt den Per: 
wundeten anfehben und Dich unterfchreiben, daß Ihr an- 
gefangen habt." Ich fagte, er möchte mid) bod) ruhig faffen, 
bis meine Wunden verbunden feien, dann wolle ich ja gerne 
fommen. Er ging nun fort, und nachdem meine Wunden 
verbunden waren, führten mid) die $.5. Dr. Gepffert und 
Mivile ins Röpliwirtshaus, wo ich Hägler bewußtlos in 
einem Bette liegend antraf. Ich wurde ebenfalls in ein 
Bett gelegt. Nun fam Küfer Ley noch mehrere Male und 
war jebt fo höflich unb fo gefällig, baB er zu mir fagte, id) 
möge bedürfen, was id) wolle, ich müfle es haben. Dann 
fagte ih zu dem Rößliwirt, dies fei bod) ein fo artiger 


173 


Mann, wer e8 aud) fei. Da bemerkte er, es fei ihr Nachbar, 
der Küfer Sofepb Ley. Sm Röoßliwirtshaus bat Ley gefagt, 
es fei ihm nur nicht ums Springen gewefen, fonft wäre fein 
Landjäger bapongefonunen. Noch am gleichen Nachmittag 
wurde ich nach Arlesheim transportiert.” j 
Und Landjäger Sofepb Malzach fagte aus: „An der 
Spige derjenigen, welche mit den Gemeinderäten ing Wirt3- 
haus traten, war ein Schmidlin, 93ruber von Abbe Schmid- 
lin, der unaufhörlic zum Volk prebigte, daß man der Re- 
sierung fid) ja nicht unterwerfen folle. Ich bemerkte ibm, 
et folle fid) nicht einmifchen, er entgegnete: „Sch bin von 
Arlesheim, ein aktiver Bürger des Birsecks und babe alo 
aud) dazu zu reden. Wir laſſen niemand fort" uf. nd 
er fuhr fort, das Volk aufzumwiegeln und es in feiner Wider: 
feßlichkeit zu beffürfen. Dann begehrte aud) des Rößliwirts 
Bruder (er bat einen bunten Gied an der linten Yade) 
furchtbar auf. Er fchimpfte auf die Regierung, den Ver— 
walter unb bie Landjäger, baB man nicht fagen fann, wie arg. 
Halunken, Spisbuben ufw. waren noch bie gelinbeften Aus- 
drüde. Auch er be&te das Volt unausgefebt auf. Nach 
langem Hin- und Herreden, welches menigitens drei Stunden 
dauerte, während welcher Zeit wir alles aufboten, um bie 
Leute eines 93efferen zu belehren und fie zur Nachgiebigkeit 
zu bewegen, entfchloffen wir uns, beimaugeben. Röpliwirt 
Sütterlin hatte fi anders angeffeibet, feßte den Hut auf, 
nahm das Ramifol auf bie Schulter unb fam mit uns. Wer 
im Hausgang und in der Stube war, machte uns Plaß, baB 
wir ganz bequem vorbeimarfchieren fonnten. Als wir aber 
zum Haufe binausfamen, ba ging'$ anders. Mir ward ber 
Tſchako zwar nicht ab-, aber ganz tief in den Kopf ins Genid 
hineingefchlagen. Sch war ber hinterfte und fief neben Kor- 
poral Meyer einher. Nun ward ich gepadt und zufammen- 
gebrüdt am Unterleib und zurüdgerifien. Sch hielt mid) an 
Meyer feft, ward jedoch überwältigt unb zu Boden gebradt. 
Cd) ftanb jedoch fogleid) wieder auf und brad) Bahn durch 


174 


bie Volksmenge mit bem Stuben, indem id) Links unb rechts 
ausmebrte. So machten’s aud) meine ftameraben. 

Wie wir uns aus ber Volksmaſſe berausgewunden 
hatten, kehrten wir ung um, daß wir den Rüden frei hatten. 
Aber mit Erftaunen bemerkten wir, daß die Bürgerſchaft, 
mit Kärften, Schußgabeln, Hebeln u. f. f. bewaffnet, auf 
uns berftürmte. Brunner pürzelte zu Boden unb ftredte 
fih.2?) Meyer und Hägler waren fchon verfchwunden; wie 
fie fielen, weiß ich nit. Als nun wir drei, Schäublin, Dill 
unb id, noch einzig daftanden und diejenigen, welche bie 
andern zu Boden gemacht, mit Kärften auf uns berftürmten, 
fagte einer von meinen Kameraden, id) glaube Schäublin: 
„Gebt Geuer." Ich drüdte ab, ohne lange zu (eben auf men. 
Sch glaube, id) babe denjenigen getroffen, welcher, mit einem 
aufgezogenen Karft in der Hand, der vorderfte war unb der 
aud) von Dil einen Schuß erhalten haben fol. Er ftürmte 
wie ein Löwe mit feinem Karft auf den Dill los. Nun 
ergriffen wir die Flucht dem Bruderholz zu, wurden aber 
von einer Menge Menfchen verfolgt. Ich verftedte mich im 
Gebüfh. Als e8 wieder fill war, ging id) bem Bruderholz 
entlang bem Therwiler Bann zu. Hier verließ ich den Wald 
und ging wieder auf Matten von Oberwil ganz nahe bis 
zum Dorf, um nachzufehen, ob etwa nod) einer von meinen 
Kameraden, welche niedergefchlagen wurden, vielleicht balb- 
tot auf der Matte liege. Sch fab niemand, mußte aber gleich 
wieder zurüd, indem zwei Männer gegen mid) berliefen, von 
denen der eine eine Art und der andere eine Miftgabel bei 
fid) trug. Sd) ging nun nad) Reinach zu und traf nahe am 
Dorfe den Dil, mit dem ich dann auf dem Wägelein des 
Herrn Scherer bieber fuhr. Wunden trug id) feine davon 
als eine Quetfchung an der Bade; aber Stöße und „Renne” 
erhielt ich genug, daß ich nachher einmal über das andere 
mid) etbreden mußte.“ 

2) Wie man jebod) weiß, vermodte fi Brunner wieder zu 
erheben. - 


175 


Bon der Gegenpartei liegt als zufammenhängende Dar: 
ftellung eigentlich nur bie Ausſage vor, bie Friedensrichter 
und Gemeinderat Fridolin Sbürfauf im Derhör machte: 
„Als bie Landjäger angefommen waren, um Verbaftungen 
vorzunehmen, rief mich der Wächter zum Präfidenten. Als 
id) dahin fam, war diefer bereits im Otópli Jamt den übrigen 
Gemeinderäten, wohin id) mid) nun ebenfalls begab. Es 
batte fid) fd)on viel Volk dort verfammelt, weil durch das 
Suchen nad) denen, bie verhaftet werden follten, bie Abficht 
ber Landjäger befannt geworden war. Das Vol verlangte 
nun, bap dieſe Leute nid burd Landjäger fortgeführt 
würden, fondern baB fie fid) follten frei vor die Obrigkeit 
ftellen dürfen. Wir (die Gemeinderäte) ftellten den €anb- 
jägern vor, fie follten von der Verhaftung ablaflen, da leicht 
ein Unglüd entfteben fónne, weil das Volk in großer Auf: 
regung fei, und boten ihnen dagegen an, baB wir die Be: 
treffenden des folgenden Tages felbft zum Herrn Verwalter 
führen wollen unb mit unferer Perfon für fie einftehen.??) 
Daß fid) dies fo verhält, haben der Wächter Geiler, Ge- 
meindefchreiber Bannier, Sofepb und Heinrih Sütterlin 
unb nod) zwei oder drei andere gehört. Zwei oder drei von 
den Landjägern wollten fid) hiezu verfteben, die übrigen aber 
fagten, fie fónnen und dürfen niht. Das Herz zerfprang mir 
faft im Leibe, als bie Landjäger durchaus darauf beftanden, 
ben Röpliwirt fortzunehmen, unb auf unfer Anerbieten, das 
gewiß vernünftig war, nicht eingingen. Denn das Volt 
war febr in Aufregung und daher ein Unglüd zu befürchten, 
wenn fie wirklich verfuchen würden, den Röfliwirt ab- 
zuführen. 

Cd) befand mid) nod) im Haufe, als bie Landjäger das- 
jelbe verließen; auf den Lärm aber, ber entftand, als fie 
draußen waren, eilte ich vor die Tür und fab, bap bte 9anb- 
jäger in einem Vollshaufen brin waren, der ihnen eben den 


33, C'anbjüger Shäublin Beitritt entidjieben, daß bte Gemeinbe: 
tüte mit ihrer Perſon für bie Arreitanten haften wollten. 


176 


Röpliwirt abgenommen hatte; fie hatten den Säbel gezogen, 
aber id) fab nicht, daß jemand damit befchädigt worden wäre. 
Als bie Landjäger aus dem Gäßlein heraus in die Gärten 
famen, fonnten fie aus bem Vollshaufen fid) berausminben. 
Cie entfernten fid etwas vom Volk unb fchoflen. Der 
Wächter Seiler will gehört haben, wie Feuer fommanbierf 
wurde. Das Volt ftob auseinander und ich flüchtete ins 
Haus. Nach) einer Viertelftunde verließ ich das Haus, fand 
Meyer verwundet, halb figend, halb liegend im Grafe und 
half ihn ins Röpli führen. Er wollte aber nicht bableiben, 
ba er einen neuen Angriff befürchtete, fondern verlangte in 
des Präfidenten Haus. Dorthin wurde er gebracht, jedoch 
bald wieder in das Roßli zurüd, weil man in des Präfidenten 
Haus fein 93ett für ibn hatte.“ 

Hier mag bann nod) das Schreiben Pla finden, mit 
welchem der Gemeinderat dem Verwalter Rummler Mit- 
teilung von ben Zorfällen des 31. Juli machte. Noch in 
der Nacht, zwifchen 1 und 2 Uhr, brachten es drei bewaffnete 
Männer, Küfer Ley, Joſeph Laub, Mebgers unb Aloys 
Bannier, nad) Arleshbeim. Die gleichen erfuhten Dekan 
Gürtler, bem bifchöflihen Offizial Wohnlih Kenntnis von 
ben Vorfällen des Tages zu geben. „Heute gegen Mittag”, 
fo beiBt es in dem Schreiben, „erfchienen ſechs Landjäger 
der Bafellandfhaft in unferer Gemeinde, beauftragt, wie fie 
fagten, einige S3ürger biefiger Gemeinde gefangen fort: 
zuführen; obdem fie in bie Wohnung des Präfidenten ein: 
gekehrt und bie Abwefenheit desfelben vernommen hatten, 
verfügten fie fid) fofort in das Gafthaus zum Rößli. Die 
DVevölkerung des Dorfes, von der Ankunft der Landjäger 
und ihrer Abficht in Kenntnis gefebt, verfammelte fid in 
Maſſe vor und um befagtes Haus zum Rößli. Dafelbft be- 
fand fid) ohne Verzug ber E. Gemeinderat ein. Auf bie 
Heußerung der Landjäger, bap fie nicht aus bem Dorfe fid) 
entfernen würden, bis fie wenigftens einen ber zu Arretie- 
renden, nämlich den Eigentümer des genannten Gaftwirts- 


177 12 


haufes zum Röͤßli, würden gefangen mit fid) führen fünnen, 
— bie übrigen zu Wrretierenden waren abwejend, — da 
ftelte ihnen der G. Gemeinderat wiederholt bie traurigen, 
daraus zu befürchtenden Folgen vor unb bot fid) an, für ben 
fid) freiwillig ftellenden Gaftwirt Raution zu leiften, mit bet 
Verſicherung, daß fid) derfelbe morgen freiwillig vor der be- 
treffenden Behörde ftelen werde. Ale Bitten, alle Er- 
mabnungen, alle PVorftellungen blieben fruchtlos. Die 
befagten €anbjáger brachen auf und führten den Arreftanten 
einige Schritte mit fi. Die Volksmaſſe, bie feinen ihrer 
redlihen Bürger wie einen Kriminalverbrecher aus ihrer 
Mitte wollte fortführen laflen, wurde durch folche Verwegen- 
heit aufs böchite empört, — und wagte es, benjelben den 
Händen ber Landjäger zu entreißen. Es geſchah; bie Land- 
jäger entfernten fid) einige Schritte von bem Vollshaufen — 
unb feuerten in denfelben. Ein Bürger biefiger Gemeinde 
wurde gefährlich durch zwei Schüfle verwundet. Nun über: 
nahm bie Wut das Voll, — Bitten und Drohungen von 
feiten der Gemeinderäte achtete es nicht mehr. Zwei von 
ben fíiebenben Landjägern??) fielen in feine Hände und 
wurden verwundet zurüdgebraht zur Verpflegung. Das 
find nun bie Refultate des heutigen Vorfalls. Wer fie 
hervorgerufen, ift leicht zu ermitteln.” Unterzeichnet war 
biefe Zufchrift von fämtlichen Gemeinderäten, gejchrieben von 
der Hand des Gemeindefchreibers Seraphin Bannier. 


VIII. 


Bezirksverwalter unb Regierung zur neuen Lage. — Truppenauf- 

gebot durch den Landrat. — Militärifche Befesung des Dorfes Ober- 

tvi, — Die Rüdwirkung auf Allſchwil. — Die fchließliche Inftallation 
Doswalds. 

Vor dem Eintreffen des Schreibens des Gemeinderats 

ſchon war Statthalter Kummler durch bie drei über das 


34 Von Brunner wußte alſo ber Gemeinderat nichts ober tat, 
als ob er nichts wiſſe, da ſeine Leiche nicht im Dorfe ſelber lag. 


178 


93ruberbofa entfommenen 9anbjáger von ben ernften Greig- 
niflen des 31. Zuli unterrichtet worden. Auch Dekan Gürtler 
erfuhr bald davon, denn Andreas Hügly, ein Sohn des 
Müllers, ritt am Abend (alfo vor den drei bewaffneten Boten 
des Gemeinderats) nad) Arlesheim und bat den Dekan, einen 
Öeiftlihen zu bezeichnen, um einen Schwerverwundeten 
(Sob. Hügin) mit ben Gterbefaframenten zu  verfeben; 
Gürtler wies ihn an Pfarrer Eueni in Therwil, und diefer 
übernahm die Funktion, nachdem er vorerft nod) Pfarrer 
Anaheim angefragt hatte. Rummler machte fofort burd) einen 
Erprefien dem Regierungsrat Mitteilung von dem Ge: 
ſchehenen und begab fid) nod) am gleichen Abend nad) Sber- 
wil, um Grfunbigungen über das Schidfal der Übrigen drei 
€anbjdger einzuziehen. Er erfuhr, Brunner [iege tot auf 
ben Wiefen amijden Oberwil und Therwil, und ließ bie 
Leiche durch mehrere Bürger von Therwil nad) der dortigen 
Sriedhoffapelle verbringen; bie beiden andern Vermißten, et- 
fuhr Rummler weiter, lägen fehwerverwundet im Rößli unb 
würden von Dr. Gepffert behandelt. Am folgenden Tage 
Ihidte bie Regierung ihr Mitglied Sórin als Kommiſſär 
nad) Arlesheim; mit ibm follte fid) Rummler in eine Oberwil 
zunäcdhftgelegene Gemeinde begeben und von den Bürgern der 
renitenten Gemeinde eine unummundene GErflärung ver: 
langen, ob fie wieder zur gefeglihen Ordnung zurüdfehren 
unb bie Verbrecher ausliefern wollte. Don Therwil aus 
wurde die Aufforderung burd) einen Erpreflen nad) Oberwil 
gefdjidt; innert zwei Stunden follte der Gemeinderat die 
Erklärung perfünlich nad) Therwil bringen. In der geftellten 
Grift erfolgte feine Antwort, erit am nächſten Morgen fchrieb 
der Gemeinderat, er werde die Gemeinde zufammenberufen 
und das „Desfallfige Refultat” übermitteln. Später wurde 
von einzelnen feiner Mitglieder gefagt, bie Friſt fei nicht 
innegebalten worden, weil der Präfident und bie meiften 
Gemeinderäte mit der Getreibeernte befchäftigt und in ver- 
fhiedenen Richtungen vom Dorfe abmejenb waren; der Prä- 


179 12° 


fibent babe eben nad) Therwil geben wollen, als ibm 
Dr. Gepffert fagte, Sórin und Rummler feien [bon fort. 
9fud) jebt begriff der Gemeinderat den Ernft der Situation 
nod) immer nicht, denn fonft hätte er fid) nicht neuerdings 
wieder hinter die Notwendigkeit einer Einvernahme der Ge- 
meindeverfammlung verfchangt. 

fnterbeffen fchrieb der Statthalter neuerdings nad) 
Cieftat, Hägler fei geftorben, mit Meyer ftebe es b03; warum 
aud) das Militär fo lange nicht fomme; fónne bod) der Re: 
gierungsrat in Fällen der Gefahr nad) S 60 ber Verfaſſung 
von fid) aus Militärgewalt anwenden. Kummler befürchtete 
zwar feine weiteren Gewalttaten mehr, denn bie Schuldigen 
fähen ihr Verbrechen ein, wohl aber bejorgte er, daß ein 
großer Seil von ihnen bie Flucht ergreife (wohl über die 
franzöfifhe Grenze). „Landjäger muß ich haben, bie noch 
lebenden liegen alle im Bett.” Am gleichen Sage, am 
1. Auguft, verlangten zwölf Landräte, darunter Hügin und 
der aus ber Revolutionszeit befannte ,, General" 93ujer, die 
fofortige Einberufung einer außerordentlihen Sitzung des 
Landrats, während von der Regierung die Weifung am 
Oberftleutnant Rohrdorf erging, Lieftal nicht zu verlaflen; 
fie rechnete alfo mit der Wahrfcheinlichkeit eines Sruppen- 
aufgebots, aber fie wollte diesmal ein folches nicht von fid 
aus befchließen, nachdem ihr Vorgehen bei den Unruhen in 
Muttenz und Waldenburg vielfah Tadel erfahren batte. 
Der Landrat verfammelte fid) am 2. Auguft, einem Sonntag. 
Die Regierung gab Kenntnis von ihren an den Z23egirfe- 
verwalter in Arlesheim erlaffenen Weifungen und von ihren 
eigenen nad) Oberwil ergangenen Befehlen; auf Verlangen 
wurde aud) die Rorrefpondenz amijd)en Regierungsrat einer- 
feit8 unb 93ifd)of Salzmann und General-Provilar Wohnlich 
andrerfeits wegen der Synftitution der beiden Pfarrer Do$- 
wald und Anaheim befannt gegeben; auf den Antrag, daß 
das gefamte Altenmaterial vorzulegen jei, ging der Rat ba- 
gegen nicht ein, ba e$ fid) gegenwärtig bloß um bie Bei— 


180 


legung der Unruhen handle. Auf ben Antrag von Vogt 
(Allſchwil) gelangte auch ber bifchöflihe Sirtenbrief vom 
18. Zuli (Rap. V) zur Perlefung. Darauf wurde ein 
Sruppenaufgebot befchloffen, um in Oberwil die Herrfchaft 
bet beftebenben Geſetze wieberberauftellen; e8 folle bem Auf- 
gebot eine von der Regierung zu ernennende Deputation bei- 
gegeben werden, und nad) Bezahlung der Ofkupationskoften 
hätten bie Truppen den Ort wieder zu verlaffen. Endlich 
wurde nod) eine Kommiſſion von fünf Mitgliedern ernannt, 
um zu unterfuchen, inwiefern der Regierungsrat in der 
Opfarrangelegenbeit der beiden Gemeinden gemäß ben et. 
gangenen Landratsbefchlüflen verfahren fet und in was der 
Grund beftehe, daß im Kanton Aufftände gegen bie gefetliche 
Ordnung fid) erneuern. Die Snffallation der beiden Pfarrer 
fei dem Biſchof zu überlaffen. 

Der erhaltenen Weifung gemäß ordnete ber Regierungs: 
rat nod) am Sonntag das Aufgebot eines Bataillons In- 
fanterie, einer Rompagnie Scharfihüsen und zweier Piecen 
Artillerie mit gebüriger Beſpannung an; an Kavallerie 
wurden bloß jeds$ Mann beigegeben. Kommandant der 
etwa 700 Mann ftarfen Truppen wurde Oberftleutnant 
Rohrdorf, der Befehl erhielt, das Einrüden in Oberwil 
nüfigenfall8 mit Waffengewalt zu erzwingen. As Re- 
sierungsfommifläre wurden bezeichnet Regierungsrat Syórin 
und Landrat Rummler-Hartmann (von Münchenftein, wegen 
feiner aktiven Rolle in der Revolutionszeit bekannt), bie die 
DOberauffiht über den Sruppenfommanbanten zu führen 
batten. Die Verpflegung und 93ejolbung der Truppen wurde 
ber Gemeinde Oberwil tiberbürbet; mit der Ginquattierung 
folten diejenigen 23türger nicht bebelligt werden, die feinen 
Anteil an den Widerfeslichkeiten genommen hatten.) Schon 
am 3. Auguft festen fid) bie Truppen von Lieftal aus in 23e- 


25) Das wurde nicht fo gehalten, und fonnte e8 wahrſcheinlich 
aud) nidjt, weil bie 700 Mann mehr Pla braudten, als ihnen 
bie direkt Beteiligten zu bieten vermodten. 


181 


wegung. Gie rüdten über Muttenz, wo fie einige Snfulten 
zu hören befamen,?°) unb über Münchenftein, wo fie bie Birs 
paffierten, nad) Reinach; bier erfuhren bie Kommiſſäre vom 
Drtsgeiftlihen, bie Oberwiler würden fehr wahrjcheinlich 
Miderftand leiften, jo bap Zörin und Rummler-Hartmann 
bie Möglichkeit eines Truppennahfchubs ins Auge faßten. 

Am Nachmittag des 3. Auguft 1835, des zweiten Jahres⸗ 
tages des Gefechts bei Pratteln, ließen bie Kommiſſäre 
amifden Sbermil und Oberwil Halt machen und [didten 
durch zwei Chaſſeurs ein Schreiben an den Gemeinderat von 
Oberwil mit der Aufforderung, fid) vor das Dorf zu begeben 
und zu erklären, ob bie Gemeinde zur gejeglichen Ordnung 
gurüdfebren molle. Nah Verfluß von etwa zwei Stunden, 
nadbem die Truppen unterdefien am Fuße des 93ruberbolaes 
9fufftellung genommen, famen die Reiter zurüd und über- 
brachten die fchriftliche Sintermerfungserflürung des Ge: 
meinderats nebft der Einladung, ing Dorf einzurüden. Der 
Gemeinderat fam den Truppen bis über bie fogenannte 
,Keinerne Brüde” 27) an der Straße nad) Bottmingen ent: 
gegen und wiederholte feine Bereitwilligfeit zu unbedingter 
Unterwerfung, worauf die Truppen zwifchen 6 und 7 Uhr 
in die Ortfchaft einrüdten. Sie wurden zu je zehn bis 
zwanzig Mann einquartiert, und bie Nacht verlief durchaus 
ruhig; man Eagte über mangelhafte Verpflegung, Doch batte 
fie ihre Urſache nicht im fchlechten Willen der Dorfbewohner, 
fondern in dem leicht erflärlihen Mangel an Fleiſch für 
die etlichen hundert Soldaten. 

On der Grrübe des 4. Auguft wurde bie Gemeinde in der 
Kirche verfammelt, wo nad) einer Auseinanderfegung der 
Rommiffäre über den Zweck der Erpedition ohne weiteres bie 
Erklärung abgegeben wurde, man werde der gefeßlichen Ord- 

*$) Offenbar von foídjen, die noch wegen ber militári[den Be⸗ 
jegung ihres Dorfes ergrimmt waren. 

77) Diefe aus bem Jahre 1779 ftammende Brüde, ein überaus 


ſolides Wert, ijt feiber ber im Jahre 1911 durchgeführten ftorref- 
tion zum Opfer gefallen. 


182 


nung nichts mehr in ben Weg legen. Zugleich erhielten die 
Landjäger Dil, Malzach und Schäublin Gelegenheit, unter 
den verfammelten Bürgern Nahfhau nah ihren Un: 
greifern zu halten, aber der Lebelftand lag, wie Rummler 
in feinem Bericht an die Regierung bemerkte, darin, daß 
die überlebenden Poliziften Feine Orts- unb Cperfonen- 
fenntni$ hatten; der einzige, ber fie befaß, nämlich der von 
Therwil gebürtige SOrunner?5) war am 31. Zuli tot auf bem 
Platz geblieben. Unter militärifcher (sforte wurden bie 
Verdächtigen, 23 Mann an der Zahl, nad) Lieftal gebracht, 
wo bereits am 5. Auguft im Regierungsgebäude die erften 
Verhöre ffattfanben. Am 6. Auguſt begab fid) Pfarrer 
Anaheim nad) Oberwil und Iogierte fid) im Pfarrhaus ein; 
am gleiden Tage waren die verlangten 3000 Gr. Ofku- 
pationskoften erfegt, und am 7. Auguft, acht Sage nad) ben 
blutigen Ereigniffen hinter dem Roßli, rüdten bie Truppen 
wieder ab, nachdem fie ber Untätigkeit in dem Dorfe bald 
überdrüffig geworden waren.2?) Weil fämtliche Gemeinde: 
räte derart belaftet erfchienen, daß der Statthalter fie eben- 
falls in Haft feSen Tieß, richtete diefer das Gefud) an bie 
Regierung, er möge einen proviforifchen Gemeinderat be- 
ftellen. Das gefdjab; bie neue Behörde beftand aus Land- 
taf Hügin als Präfident, bem als weitere Mitglieder bei- 
gegeben wurden Joſeph Gütterlin, Gerichtsamtmann, 
Benedikt Degen, Niklaus Degen, Bäder, und Hans Martin 
Wehrlin. Gemeindefchreiber wurde Peter Degen. 

Den von Lieftal her wehenden fcharfen Wind bekam 
je8t aud) General-Provitar Wohnlih in Rheinfelden zu 
fpüren. Diefem war nämlich von Dekan Gürtler mitgeteilt 
worden, der Landrat babe am 2. Auguſt bie Aufhebung der 


2, Schäublin [djeint erft kurze Zeit in Oberwil ftattoniert ges 
wejen zu fein. 

:9) Sm „Unerfhrodenen 9tauradjer" ftellten bie Gemeinderäte 
am 2. September den Truppen zur Widerlegung eines Gerüchtes 
das Zeugnis aus, fie hätten fid) jederzeit jo betragen, wie es wahren 
Baterlandsfreunden geziemt. 


183 


Ernennung der Geiftlihen Anaheim und Doswald be. 
fhlofien und ben Birsedern die Perftändigung mit bem 
Biſchof über bie Vefegung der beiden Pfarrftellen anbeim- 
gegeben. Daraufhin batte Wohnlih Anaheim angewiefen, 
einftweilen in Sbermil zu bleiben und die Funktionen in 
Oberwil Pfarrer Eueni zu überlaffen. Die Regierung for: 
derte nun den General-Provifar energifch auf, bie Weifung 
zurüdzunehmen, denn fie werde in diefer Sache feine weiteren 
KRolifionen dulden und allenfalls jeden anderen, ber in 
Oberwil ober Allſchwil Funktionen ausüben würde, polizei: 
[id) megfübren lafien. Mit Gürtlers Hoffnung, nun neuer- 
dings Verweſer in bie Gemeinden jchiden zu können, war 
es aljo nichts. Die Regierung befchwerte fid) über Wohnlich 
aud) beim Biſchof, ber den General-Provilar zur 3urüd- 
nahme feiner Anordnung veranlaßte. 

Am 4. Auguft fchrieben bie Regierungstommifläre von 
Oberwil aus nad) Lieftal, es wäre vielleicht gut, fid) über 
Allſchwil zu informieren, ehe bie Truppen abgezogen feien; 
zweifellos forrefponbiere Allſchwil im geheimen mit Ober: 
mil. Nachdem bann Pfarrer Doswald am gleihen Tage 
wie fein Kollege Anaheim fid) in feine Pfarrei begeben batte, 
[uben die Kommiſſäre den Gemeinderat von Allſchwil nad) 
Oberwil vor, um fie zu belehren, aber bie Miffion batte 
anjdeinenb feinen Erfolg, denn Doswald wurde von ben 
Gemeindebehörden nicht anerkannt, Kirche und Pfarrhaus 
blieben ibm verfchlofien, troßdem der Verweſer Pater 
Sigisbert am 30. Zuli, am gleid)en Sage wie Schmidlin, 
bie Pfarrei wieder verlaflen hatte. Immerhin vergrößerte 
fid Doswalds Anhang bod) zujehends, denn am 7. Auguft 
verlangten 49 Allichwiler, an ihrer Cpi&e Turmwirt Gürtler, 
bie Deffnung von firde und Pfarrhaus und bie Heraus- 
gabe ber Pfarrbücher an den rechtmäßigen Geiftlichen; in 
ihrer Zufchrift beffagten fie fid) über den von der Partei 
Adams ausgeübten Terrorismus. Einige Sage fpäter 
ſchloſſen fid) 15 weitere Bürger an, aber der Gemeinderat 


184 








d A 


—T 


d 


be der Oemeinde Oberwyler 


tu 


den oU" 


3 
c. 
E 
„m 
X 
> 
(* 
x 
X 





WS de — IPS m 


an die Gruppen von rer 
uf 1835. m 


7 — Junge, or 


bebatrte auf feinem Standpunkt, daß Doswalds Wahl un- 
gefetlich fei, und wollte erft auf einen fürmlichen Beſchluß 
des Landrats nachgeben. Un diefen richtete er unter bem 
22. Auguft nochmals eine geharnifchte Zufhrift: „Man will 
uns”, fo beißt es darin, „einem lebenslänglichen Pfaffentum 
unterjohen (wegen der auf Lebenszeit übertragenen 
Opfrünben) und fomit unfere befchworene Landesverfaffung 
auf fträfliche Art verlegen. Daber findet fid) bie Gemeinde 
verpflichtet, gegen jede ariftofratifche, defpotifche ober will- 
fürliche Unterjochung, gegen jede Pfarrwahl und amtliche 
Pfarreinfegung förmlich zu proteftieren, indem unfere ber- 
gebrachten fränfifchen kirchlichen birsedijd)en Rechte gar 
feine Pfarrherren zulaflen, fo daB wir auch während der 
Seit, ba wir Franzoſen waren, nie feine Pfarrherren, fondern 
immer nur Pfarrgebilfen, Deffervants, gehabt haben." Der 
Grund, warum auf die franzöfifche Seit gurüdgegriffen wird, 
liegt darin, baB die Deflervants nach bem im Sabre 1801 
zwifchen bem Erften Konful Bonaparte mit Papft Pius VII. 
abgefchlofienen Stonforbate eine überaus ptefüte Stellung 
inne hatten. Es gab in einem 93egirf nur einen regelrechten, 
auf Lebensdauer beftellten Pfarrer; die übrigen Geiftlichen 
mußten als bloße Grilial- ober Hilfspriefter bem Staate feinen 
Eid leiften, weil fie von ihm nichts erhielten, und waren ganz 
der Gnade des Biſchofs ausgeliefert, ber fie jederzeit ab- 
berufen fonnte, und dem guten Willen der Gemeinden, bie 
für eine Wohnung famt Garten auffommen mußten. Die 
Aufchwiler glaubten alfo damit am ebeften ans Ziel zu 
fommen, wenn fie ein „lebenslängliches Pfaffentum” als 
mit der Rechtslage unvereinbar darzuftellen fuchten, da ja 
der Wiener Kongreß bie Fortdauer der kirchlichen Rechte 
der franzöfifchen Seit gewährleiftet habe. 

So mußte Doswald noch einige Wochen warten, bis 
nämlich 93egirfSpermalter Rummler auf bie Bitte angefehener 
Bürger fid) am 19. September nach Allichwil begab, um 
dafür zu forgen, daß ber Gottesdienft am Bettag in ber: 


185 


fónunfider Weife gefeiert werden fónne. (Gr fette es beim 
Gemeinderat burd), daß zu einer Gemeindeverfammlung ge: 
läutet wurde, und an biefer verlag er zwei Schreiben, nämlich 
ein folhes von Biſchof Salzmann, worin der Regierungsrat 
aufgefordert wurde, bie Gemeinde zur Herausgabe der Schlüfiel 
angubalten, und ein zweites von der Regierung in Lieftal, 
worin der Vezirksverwalter mit der Inftallation Doswalds 
betraut wurde. Kummler hielt fodann eine Anfprache, worin 
er ben entfchiedenen Willen der geiftlichen und weltlichen 
Behörden betonte, den gefe&mápigen Zuftand in der Pfarrei 
wieder berzuftellen; hoffentlich werde nicht Allſchwil die ein- 
zige Gemeinde fein, bie den Bettag nicht feiere. Als fid) 
dann feine Oppofition gegen des Gtatthalters Begehren 
geltend machte, fagte Präfident Vogt: „Set verlange id) 
meine Demiffion”; gleichzeitig 309 er bie Schlüffel aus der 
Safde und übergab fie Rummler, worauf diefer Doswald in 
bie Kirche und in das Pfarrhaus einfübrte. Am DBettag 
habe der Pfarrer bann, wie ber Vezirksverwalter von Augen- 
und Obrenzeugen vernahm, eine fo herzdurdpdringende Pre: 
bigt gehalten, daß drei Viertel der Zuhörer meinten und 
nachher ausriefen: Sft es auch möglich, daß man dieſen herr⸗ 
lichen, frommen Mann fo verleumden und als einen fchlechten 
Menichen bezeichnen Eonnte! — Ungefähr um die gleiche Zeit, 
nämlih am 22. September, bejchloß der Landrat auf ben 
Antrag des Regierungsrats, der den gefamten Pfarrftreit in 
Allſchwil und Oberwil für erledigt anjab, fowohl bie auf 
©. 151 erwähnten Protefte der beiden Gemeinden, als die 
Allſchwiler Beſchwerde vom 22. Auguft ab acta zu legen. 
Hingegen erklärte er eine Zuſchrift mehrerer patriotifcher 
Ofereine vom 13.September 1835, worin die Aufhebung der 
Lebenslänglichkeit der geiftlichen Stellen im Birseck verlangt 
wurde, für erheblich und überwies fie dem Regierungsrat 
zur Begutachtung. 


186 


IX. 


Die beiden Prozeffe wegen Störung des Gottesdienfte® unb wegen 

ber Mißhandlung und Tötung ber Landjäger. — Ausreden und 

Widerfprüche. — Die Entfhädigungen an bie Opfer. — Segnabigungé- 
aft des Landrats. 

Selbftverftändlich hatten nun bie Gerichte neuerdings 
einen Zuwachs an Arbeit zu verzeichnen, bie Oberwiler 
Affären nahmen auf Monate hinaus die Tätigkeit ber 
Unterfuchungsbehörden in Anſpruch, und ihre gerichtliche Er- 
ledigung Eonnte erft gegen Ende des Jahres 1836 ftattfinden. 
Am 5. Auguft 1835 begannen, wie bereits mitgeteilt wurde, 
im Regierungsgebäude zu Cieftal bie Verhöre wegen der 
tödlihen Mißhandlung der Landjäger, und am 19. Auguft 
wurde auch bie Unterfuchung wegen der Störung des Gottes- 
Dienftes bei Anlaß der Predigt von Pfarrer Doswald wieder 
aufgenommen. Man fann aber nicht fagen, daß in der letzt⸗ 
genannten Angelegenheit mehr Derausfam als vorher. Es 
wurde bereits erzählt, daß bie Gemeinderäte zum mindeften 
eine verdächtige Rolle fpielten, als fie während der Predigt 
Doswalds nicht in der Kirche waren, fondern fi, mit Aus- 
nahme von Düblin, zu ihrem Kollegen Wehrlin begaben, wenn 
aud) der Nachweis nicht gelang, baB fie dort am Komplott 
gegen ben ,unfennbaren DPriefter” mithalfen. Stimmten 
fchon die Ausfagen der Gemeinderäte nicht miteinander über- 
ein, jo war es nod) weniger möglich, aus dem Chaos der 
von den übrigen Dorfbewohnern gemachten Angaben über 
ihr Benehmen in der Kirche Hug zu werden. Einige fagten 
zur Begründung ihres demonftrativen Hinausgebens, fie 
hätten geglaubt, bie Basler feien ausgerüdt (nümfid) um 
die Landſchaft wieder mit Waffengewalt zurüdzuerobern); 
andere wollen ber Anficht geme[en fein, e8 brenne irgendwo, 
oder es fei jemand zu Tode gefallen, und wieder andere 
wollen einfad) den übrigen nachgegangen fein. Den einen 
plagte im Eritifhen Moment YBauchgrimmen, dem er durch 
ein Bläschen Schnaps abhelfen mußte, den andern ein 


187 


franfe8 93ein, ben dritten ein Zurunfel am Obr, während 
ein vierter, ein Maurer, Ratenjammer von einer am Sams: 
fag mitgemachten „Aufrichte” ber verfpürte und ein fünfter 
bie Sabafebofe zu Haufe vergeflen hatte. Einer will gehört 
haben, wie fein Kind auf dem Kirchhofe meinte, einem andern 
foll ein Stüd Zieh feine Ruhe gelaffen haben, dem Tags 
zuvor eine Kartoffel im Halfe fteden geblieben war; etliche 
verfpürten plößli das Bedürfnis, einen verfchwiegenen 
Ort aufzufuchen, und wieder andere meinten, fie [eien eben 
feine Liebhaber von Predigten. Merkwürdig viele wollen 
fid) verfpätet haben und gerade zur Kirchtüre gefommen fein, 
als bie Demonftranten berausftrömten. Auch der Setroris- 
mus der Schmidlianer wurde als Grund angeführt: Einer 
ging mit hinaus aus Beſorgnis, verfolgt zu werden, denn 
man bätte ibm Fenſter einwerfen fónnen; ein anderer, der 
während der Revolution als „Ariftofrat” verfchrien wurde, 
wollte fid diesmal neutral halten, um niemand zu ärgern; 
ein Schreiner fürchtete, er würde feine Arbeit mehr befommen 
haben, wenn er in der Kirche geblieben wäre, und ein Färber 
wußte nicht, ob er nicht darunter zu leiden hätte, wenn er 
nicht machte wie bie anderen. Einen ausgefprochen ideellen 
Grund gab ein früherer Gemeindepräfident an, der an dem 
Texte der Predigt Anftoß nahm: Er fei jest ſchon 55 Sabre 
alt und brauche feine Bußpredigt mehr, während ein Mebger 
viel materialiftifcher dachte mit der Behauptung, er habe ein 
unmwiderftehliches Bedürfnis nad) dem ,3nüni" empfunden, 
weil er überhaupt ein durftiger 93ruber fei. 

Ommerbin, unter den vielen, bie fid) derart ausredeten 
oder einfach fagten, fie feien den andern nachgegangen, gab 
e8 auch einige, bie in ihren Ausfagen den wahren 3u- 
fammenbang durchfcehimmern Tießen; wurden fie nämlich vom 
Verhörrichter auf das Widerfinnige ihrer Depofition auf: 
merfjam gemacht, fo entfiel ihnen ein Tadel gegen Landrat 
$jügin; diefer hätte Doswald ohne der Gemeinde Willen 
unb Wiffen fommen laffen und man hätte Lieber den gehört, 


188 


ben der Dekan gefchidt batte. Unummunden [prad) fid) in 
diefem Sinne eine Jungfrau, Katharina Häring, aus: „Sch 
bin nicht fchuldig und verbunden, einen Pfarrer anzuhören, 
den uns ber Hügin bat kommen [affen, fondern nur einen 
folhen, den uns bie geiftlihe Obrigkeit gefebt bat." Im 
übrigen bildeten bie Ausfagen der weiblichen Angeklagten 
ein Pendant zu denen der männlichen, denn es rüdte eine 
ganze Reihe von Ausreden auf, wie falte Füße, Winter: 
gefrörne, Uebelkeit ufm.; mitunter fommt auch bie Beſorgnis 
vor einem Ausrüden ber Basler unb einmal bie Furcht vor 
ben Wriftofraten vor. Kein fchmeichelhaftes Zeugnis ftellte 
eine Barbara Degen, Männlis, ihren Mitbürgern aus: 
„Das achte Gebot, bu follft fein falfches Zeugnis geben, ift 
bei uns in Oberwil babinten geblieben.” Daß mit bet 
Wahrheit zum mindeften nicht gewiflenhaft umgegangen 
wurde, das erhellt auch daraus, daß vielfach, fo vom Sohne 
des Gemeinderats Düblin, al Grund, warum die Leute von 
der Emporfirche weg ftatt zur näheren großen Kirchtüre 
fid) zur Heinen Geitentüre zwifchen Chor und Schiff hinaus: 
begeben hätten, geäußert wurde, e8 wäre dort eine „Drudete” 
gewefen, während zahlreihe Zeugen, darunter aud) aus: 
gefprohene „Schmidlianer”, erklärten, fie hätten ohne ben 
mindeften Anftand zur hinteren Züre hinausgehen fónnen. 
Auch vermochte niemand Angaben darüber zu machen, wie 
er fid) vergewiflert babe, ob die Vermutung wegen ber 
Basler ober wegen einer Feuersbrunft richtig fei oder nicht. 

Unter folchen Umftänden war es allerdings für bie Ge- 
richte ſchwer, bie Grenze zu ziehen zwifchen denen, bie wegen 
tatfähhliher Störung des Gottesdienftes beftraft werden 
fonnten, und denen, bie bloß dem Zuge des Augenblids nad). 
gegeben und den treibenden Elementen faft unwillfürlich 
Gefolgſchaft geleiftet hatten. So verurteilte denn das Ober: 
gericht bloß vier Perfonen als ſchuldig des Verbrecheng der 
Religionsftörung, und zwar gleichzeitig in Anwendung von 
S 81 unb 82 des Kriminalgefegbuches zu einer einjährigen 


189 


3udjfbausfirafe. Der Verteidiger Dr. Herold ftellte fid) 
auf ben Standpunkt, es liege gar feine Religionsftörung vot, 
denn Doswald fei von der geiftlichen Behorde nicht et- 
mädtigt worden, alfo könne man feine Predigt nicht als 
Gottesbienft betrachten. Das Gericht folgte jedoch biefen 
Deduktionen nicht, nahm aber an, zum Grfordernis der 
Religionsftörung gehöre allgemeines Wergernis, unb ein 
ſolches fei nicht erregt worden, ba bei den ftatbolifen das 
Hinaus- und Hineinlaufen aud) während der Predigt nichts 
Ungewöhnliches fei; fo wurden nur Diejenigen Perfonen 
wegen Störung des Gottesdienftes verurteilt, bie ,biefe Ab⸗ 
fibt burd Sumultuieren in der Kirche, burd) Auf: unb 
Zufchlagen ber Kirchtüren, burd) Hineinrufen ufw. zu er- 
fennen gegeben.” Die übrigen Angeklagten, nicht weniger als 
93 an der Zahl, wurden der forreftionellen Abteilung des 
Obergerichts überwiefen und von biefer zur gemeinfamen 
Sragung der Koſten mit ben vier friminell beurteilten 
verfällt. 

Das Urteil des bafellandfchaftlichen Obergerichts gegen 
bie Otubeftórer in der Kirche ift vom 16. Dezember 1837 
datiert, dasjenige gegen bie an den Gemalttütigfeiten gegen- 
über den Landjägern Beteiligten vom 16. und 17. Dezember 
desielben Sabre8. Hier waren im ganzen 33 Perfonen an- 
geklagt, unter biefen alle früheren Gemeinderäte; in Unter⸗ 
fuhungshaft befanden fie fid von 9 bis zu 122 Sagen. 
Am 13. September 1835 verwandte fid) eine nach Arlesheim 
einberufene Berfammlung aus dem ganzen Bezirk dafür, 
bie Behörden möchten die feit adt Wochen im Gefängnis 
Ihmachtenden Leute ihren Familien zurüdgeben; wenigftens 
neun Zehntel feien am Totſchlag unfhuldig.e Die von bet 
Verſammlung beſchloſſene Petition trägt aud) verfchiedene 
Unterfchriften aus den proteftantifhen Gemeinden, wie 
Binningen und Muttenz; aus Therwil und Arlesheim find 
bie Präfidenten der dortigen patriotifchen Vereine vertreten. 
Darauf beſchloß das Obergericht, es feien einige Angeklagte 


1% 


- 


ohne Kaution und dreizehn andere, darunter bie Mitglieder 
des früheren Gemeinderats, gegen Kaution aus ber Haft 
zu entlaflen; der Verhörkommiſſion wurde empfohlen, bie 
Unterfuhung zu befchleunigen.e Dennoch zog fid diefe, bie 
zwifchenhinein auch wieder im „Schlüflel” in 93inningen ge: 
führt wurde, tief in das Jahr 1836 hinein. 

Wie eigentlich felbftverftändlich, fuchten fid) bie An- 
geffagten aud) in biefem Prozefle nach Kräften zu entlaften, 
unb wenn ihnen ZTätlichleiten nachgewiefen wurden, [o 
räumten fie fie bloß gegenüber den mit dem Leben davon: 
gefommenen Landjägern ein; einer geffanb zwar zu, auf der 
Hofmatt mit einem (mabr[deinfid) Brunners) Karabiner 
Hägler einen Streich verfegt zu haben, aber auf den Rüden, 
nit auf den Kopf. Ziele wollten nur abgewehrt haben, 
was Landjäger Malzach während einer Konfrontation zu 
der Anklage veranfapte: „Es bat niemand abwehren wollen, 
es war fein barmberziger Menſch ba, fondern bie ganze 
Mafle fchrie (auf der Hofmatt): „Macht fie bin, macht fie 
bin!” Der 3anf darüber, wer mit ben Tätlichkeiten begonnen 
habe, war eigentlich ziemlich müßig, denn bie Luft war mit 
Konfliktſtoff überladen und es mußte zur Kataſtrophe 
fommen, fobald bie Landjäger auf der Ausführung ihres 
Auftrags beftanden; aud) bie Gemeinderäte fagten aus: 
drüdlich, das Volk fei entfchloffen gewefen, niemand zum 
Dorfe hinauszulaſſen. So ergaben fid) faft von ſelbſt Tät- 
lichkeiten der Volksmenge, die allerdings kaum fo ſchwere 
Folgen nad) fid) gezogen hätten, wenn nicht butd) das 
Niederftürzen Matthias SbürfaufS und bie Verwundung 
Sob. Hügins durch bie Schüffe ber Fanatismus veranlaft 
worden wäre, fid) gründlich auszutoben. Etwa einmal wird 
über bie hetzeriſche Tätigkeit ber Weiber geklagt, noch mehr 
fiber bie Rolle bet Allfchwiler, bie bie Gemeinde ins Unglüd 
gebracht hätten dadurch, Daß fie den Obermwilern rieten, nicht 
nadjgugeben, fowie dadurch, daß ihre von Solothurn ber: 
fommenben Delegierten den Willen des Biſchofs nicht richtig 


191 


übermittelten, fonbern fagten, es fomme auf bie Mehrheit in 
ben Gemeinden an. Auch der Bifchof babe ben Oberwilern 
Hoffnung gemacht, daß fie verlangen fónnten, was fie 
wollten; hätte er den Delegierten fein Gehör gefchenkt, fo 
hätte man fid) bei der getroffenen Wahl beruhigt und das 
Unglück wäre nicht entftanden. Etliche erklärten ihre 
Stellungnahme einfad) damit, bap fie gewohnt feien, zum 
größeren Haufen zu halten, und viele gaben am, fie feien 
deswegen zu einer fehroffen 9Darteinabme gelangt, weil fie 
fanden, da bie Verfafiung bie Souveränität des Volles aus- 
fpreche, komme es aud) in Firdjliden Dingen auf bie Mebr- 
heit an. 

Der Gemeinderat war bireff weniger belaftet, feine Mit- 
glieder zeigten fid) aber viel zu febr als Partei, als daß fie 
von ber Mitfchuld an ben tief bedauerlichen Vorgängen frei- 
geiprochen werden fonnten. Landjäger Dil erzählte u. a., 
während des Parlamentierens im Rößli babe ibn ein junger 
Mann aus Oberwil auf bie Seite genommen und ihm gejagt, 
er folle fid) bod) mit bem Gemeinderat feine Mühe geben, 
denn er babe eben gehört, wie ber Präfident zum Röpliwirt 
gefagt babe, er folle nur ftandhaft bleiben und nicht geben, 
wenn fchon fie, bie Gemeinderäte, ihn hießen, denn vor den 
Landjägern müßten fie anders reden, als fie benfen. Das 
Zeugnis ift nicht einwandfrei, denn der junge Mann wollte 
feinen Namen nicht nennen, aber das ganze Verhalten des 
Gemeinderats läßt die Annahme zu, daß er bie Wahrheit 
ſprach. Ein arger Mißgriff war das Schreiben, in welchem 
bem Bezirfsverwalter offiziell Anzeige von den Ereigniflen 
des 31. Zuli 1835 gemacht wurde; es ftammt eigentlich nicht 
vom Gemeinderat ber, fondern beruhte auf einem Konzept, 
das ein Sohn des Müllers, der Student der Theologie 
Stanz Hügly, bem Gemeindefchreiber Bannier diktiert hatte. 
Rummler verfehlte nicht, darauf aufmerfjam zu machen, wie 
unangebrad)f. der Ausdrud von der „Verwegenheit“ der 
9anbjáger war, und die Gemeinderäte geftanden auch felber 


192 


zu, daß bie Poliziften mit ber Ausführung ihres Auftrags 
nur ihre Pfliht taten. 

Defters fommt in ben Ausfagen der Angeflagten der 
Gedanke zum Ausdrud, man babe fid) zum Widerftand be- 
rechtigt geglaubt, weil bem Fatholifchen 9anbesteil nad) bet 
Verfafſſung ebenfo viele Rechte zuftänden, wie ben pro- 
teftantifchen 93egirfen; haben wir das verdient am 3. Auguft? 
wurde u. a. aus bem vor dem Röpli zur fogenannten Ge- 
meindeverfammlung vereinigten Volke gerufen. Auch fonft 
wirkten bie Ereignifle ber aufgeregten, faum hinter den ban- 
belnben Perfonen liegenden Revolutionsjahre nad) Land⸗ 
tat Hügin und Peter Degen, Beden, führten bie Renitenz 
der „Schmidlianer” auf ihre heimliche Gegnerfchaft gegen die 
neue Ordnung der Dinge zurüd; „fie willen wohl”, fagte 
Hügin, „DaB das Heberhandnehmen folder Unordnungen in 
unferm Staat zulegt deffen Auflöfung herbeiführen unb fie 
wieder in den Schoß der lieben Basler verjegen würde.” 
Opeter Degen wird feine Rolle in der Revolutionszeit?") 
zum Vorwurf gemacht; „ich baBte ihn halt”, fagte einer ber 
ausbrüdlid) als „gute Patrioten” bezeugten 93rüber Thür⸗ 
fauf, Elfelis, von ibm, „weil er früher während der Re- 
volution niemals unjerer Meinung tar." Während Degen 
allerdings nur unter dem Zwang ber Umftände zu ben 
Gegnern der Stadt gehalten hatte, waren Landrat Hügin und 
Alt-Präfident Häring, ein anderes Haupt der „Anaheimer”, 
von jeber erklärte „Patrioten” gewefen. . 

3abíreid) find bie Widerfprüche, bie in den Konfron- 
tationen amifden Landjägern und Angefchuldigten zutage 
traten; fie dürften außer in der mangelhaften Perfonenfenntnis 
bet ortsfremden Poliziften auch in der Aufregung des Augen: 
blid$ und in bem allgemeinen Durcheinander neben dem 
Rößli ihre Erklärung finden. Bezeichnend ift, daß erft 
bie Denunziation eines im Übrigen ftarf Verdächtigen die 








9) Siehe darüber Bernoulli, Bajel in ben Dreißigerwirren, 
Neujahrsblatt 1908, S. 30 und ©. 54. 


193 * 


Eruierung der beiden ermöglichte, bie Brunner auf der [o- 
genannten Hüslimatte mißhandelten, während niemand 
wegen des an Hägler begangenen Totſchlags überführt 
werden fonnte, weil der gleihe Denunziant nur zu fagen 
wußte, wer im Dorfe als derjenige galt, ber gegen Hägler 
den tödlichen Streich, wahrfcheinlich im Bach, geführt babe, 
wo er von ben Obftgärten, bem Standort des Denunzianten 
aus, nicht beobachtet werden fonnte. Als charakteriftiich für 
bie Art, wie bie Verdächtigen ihre Mittäterfchaft abzuleugnen 
ober bod) abzufhwächen fid) bemíübten, darf bie Ausfage 
eines Walch gelten. Diefer fchlug, wie einer feiner eben. 
falls ftatf belafteten Mitbürger begeugte, fon auf Dill ein, 
als bie Landjäger das Haus verließen; ber Angefchuldigte 
wollte jebod) nur mit einem 23obneniteden „jo auf den 
Tſchako geftupft" haben, und in der Konfrontation meinte er 
Ihließlih, er babe Dil fo auf ben Sjdafo „bepperlet”. 
Anfangs wollte er nicht einmal „geftupft”, fondern bloß einen 
Steden zu feiner Verteidigung in die Hand genommen 
haben: „Man fann nicht immer willen, was für Feinde man 
bat." Und der fdon mehrfach genannte Aloys Bannier, 
den bie Landjäger Malzach und Dil mit 93eitimmtbeit be- 
Ichuldigten, fd)on vor dem Rößli mit einem Hebel ober 
dergleichen dreingefchlagen zu baben, leugnete zuerft, über: 
haupt etwas in den Händen gehabt zu haben, bequemte fid) 
aber fchlieflich zu dem Geftändnis, er habe ein Cid von 
einer Stange in den Händen gehabt, damit jedoch nicht ge- 
ſchlagen. Auch auf der Hofmatte wollte er fid) nicht agareffiv 
verhalten haben, obſchon auper einem Landjäger ein Mit- 
angefíagter darauf beftand, 93annier babe auch dort einen 
Steden gehabt. Zugeben mußte er, daß er über bie Hofmatt 
bis über ben Bach lief, aber er habe den Steden zwiſchen 
dem Bache unb dem Dorfe fallen fafjen; Malzach und 
Schäublin wollte er nur deshalb nadgejebt haben, damit 
fie nicht mehr follten laden fónnen: „Sch hätte fie vielleicht 
gefragt, warum fie gejchoflen haben, aber getan hätte id) 


194 


feinem etwas." Niemand wollte bem Landjäger Dill neben 
bem Roͤßli den Säbel abgenommen haben; als 9peter Degen, 
Ceibentveber,?!) defien befchuldigt wurde — im Volk galt er 
allgemein als der Täter — bebauptete er, andere hätten bem 
Landjäger bie Waffe entriffen. Da er jedoch überführt 
werden fonnte, daß er den Säbel nad) Haufe mitgenommen 
babe, fuchte er feine Rolle damit zu erklären, er babe ihn 
Dil, der - vielleiht damit nur bie Weibsbilder (bie ben 
Otbplimirt feftbieffen) erfchreden wollte, deswegen ab- 
genommen, um ein Unglüd zu verhüten. „Er liegt nun 
daheim in meinem Haufe. Ich dachte, menn ich ihn dort 
babe, fei er gut aufgehoben; id) wollte ihn dann fpäter ab- 
liefern.“ 

Auch zu bem, was mit Schimpfen, insbefondere gegen 
ben Bezirksverwalter gefündigt wurde, wollte nachher nie- 
manb fteben, und bod) ift fonnenklar, daß in diefer Be— 
ziehung namentlich während der Verhandlung zwifchen Ge- 
meinderat und Landjägern vor bem Rößli ganz Erhebliches 
geleiftet wurde. Vom Knecht des Präfidenten Gütterlin, 
Joh. Häring, fagte Malzach, er babe gewaltig auf bie Re- 
sierung gefhimpft und wie ein Löwe gebrüllt, Doch ber 
Belchuldigte ftellte es in Abrede. Als dann Schäublin feinen 
Rameraden Malzach unterftüßte und erklärte, Häring habe 
niht nur „furchtbar aufbegebrt", fondern auch drein- 
gefchlagen, ba fam das feilmeife Geftändnis: „Das Maul 
babe ich gebraucht, aber gefchlagen gewiß nicht.” Gin 
Matthias Degen batte fid vor dem Röfli geäußert, ber 
Verwalter, der Spisbube, folle nur felber nad) Oberwil 
fommen, um bie Sache auszumachen, und menn Regierung$- 
tat Meyer fid) ins Virsed wage, fo müſſe er totgefchlagen 
werden. Diefe lebte Aeußerung wurde ſchließlich zugegeben, 
er babe es eben „in der Dummheit” gefagt. Und ein Joſeph 
Wittlin entfchuldigte fid) mit feinem „dummen Charakter”, 


81) Nicht zu verwedjeln mit dem „Anaheimer“ Peter Degen 
Beden. 


195 18 


ben jedermann fenne, als ibm vorgeworfen wurde, er babe 
am Sage nad) den Vorgängen beim Rößli zum Widerftand 
aufgefordert: „Segt muß man fid) wehren und zufammen- 
halten und nicht abgeben, frijd) gewagt iit halb gewonnen.” 

Wieder fchied das Obergericht den größeren Teil ber 
Angeklagten aus und Überwies fie feiner Forreftionellen Ab- 
teilung zur Aburteilung, während es gegen bie am ftärkiten 
93elafteten außer dem Tatbeftand des Widerftands gegen die 
Obrigkeit denjenigen der unvorfäßlichen Tötung und ber ge- 
waltfamen Zerlegung für binlänglich fonftatiert erachtete. 
Co wurden fieben Angeklagte zu (trafen verurteilt, die 
zwilchen achtzehnjähriger reſp. fiebzehnjähriger Kettenftrafe 
erften Grades (wegen des an Brunner begangenen er: 
bredhens) bis herab zu anderthalbjähriger Zuchthausftrafe 
variierten.3?) Bier Angeklagte wurden mit hohem Verdacht, 
achtzehn weitere, darunter acht weibliche, mit entferntem 
Verdacht „der Inſtanz entlaffen” und zufammen nebft den 
übrigen, wobei fid) auch bie fünf Mitglieder des alten Ge- 
meinbetat8 befanden, wegen Widerfeblichkeit refp. Fahr⸗ 
läffigkeit dem Eorreftionellen Gericht zur Beurteilung über- 
wiefen. Sämtliche PVerurteilten, Verdächtigen und ver 
Snftanz Entlaffenen wurden in folidarifcher Verbindung zu 
den Prozeß: und Ofkupationskoften verurteilt. Als Ent- 
Thädigungen fe&te das Obergericht feft: Sr. 120 für Korporal 
Meyer, Zr. 60 für Landjäger Dil, Gr. 1600 für Witwe 
und Kinder Brunners, Sr. 400 für die Eltern Häglers unb 
je Gr. 20 für Schäublin und Malzad). 

Die forreftionelle Abteilung, bie nun neben ben nicht 
bireft an ber Mißhandlung der Landjäger beteiligten Per: 
fonen auch die Erzedenten gegen ben Bezirksverwalter be- 
urteilen mußte, ftellte fid) in ihrem Erfenntnis vom 11. Ja— 

83) Sch verzichte darauf, die Verurteilten mit Namen aufzuzählen. 
Mer Orts- unb Perſonenkenntnis befibt, weiß vom Hörenjagen, um 
welche Berfonen es fid) Handelt, und wer fid) font dafür intereffiert, 


findet im bajellandichaftlichen Amtsblatt Nr. 3 des Jahrgangs 1837 
viele Details der Unterſuchung und das ausführlide Urteil. 


196 


nuar 1837 auf den Standpunkt, bie von Kummler verfuchte 
Onftallation Anaheims habe, weil fie von der geiftlichen 23e- 
bórbe nicht gebilligt war, ben Kirchgenofien von Oberwil als 
ein Eingriff in bie Rechte der römifch-tatholifchen Kirche 
erfcheinen müflen, und darum feien bie bei diefer Gelegen- 
heit begangenen Erzefle bloß als Vergehen wider Privat: 
perfonen angufeben; fo wurden nur die drei Brüder Gütterlin, 
unter ihnen ber Röpliwirt, zu je achttägiger Ginfpetrung 
verurteilt, ferner Sofepb Ley, Rüfer, wegen feiner Drohungen 
gegen den verwundeten Korporal Meyer zu dreitägiger Ein- 
fperrung, während bie übrigen Angellagten, unter ihnen bie 
ehemaligen Gemeinderäte, freigefprodhen wurden. Auf bie 
Appellation der Regierung änderte jedoch das Plenum des 
Obergerihts am 26. Januar 1837 diefes Urteil in dem 
Sinne ab, die drei GSütterlin hätten fid) tatfächlich ber 
Widerfeglichkeit ſchuldig gemacht; in Anbetracht jedoch, daß 
fie 65—67 Tage in Unterfuchungshaft gefeflen und ihnen 
diefe Haft billigerweife al8 ein Seil der Strafe angerechnet 
werden dürfe, wurde bie Strafe von adj Tagen Einfperrung 
belaffen, während Sofeph Ley ftatt bloß drei, ſechs Tage zu- 
diktiert erhielt. Ferner befam der (von Dill hinter bem 
Röpli niebergefcblagene) Matthias Sbürfauf, Sträßis, weil 
er Landjäger Hägler den Karabiner hatte entreißen wollen, 
ebenfalls ſechs Tage (er batte zudem 115, Ley 71 Sage in 
Unterfuchungshaft geſeſſen). Sämtlihen Gemeinderäten 
wurde bie ausgeftandene Interfuchungshaft (bei den meiften 
betrug fie 56 Sage) als Strafe angerechnet. Alle An— 
geffagten, mit Ausnahme von zweien, wurden in folidarifcher 
Verbindung mif den Friminell Veurteilten zu den Okku— 
pation$-, Entfhädigungs- unb Prozeßkoſten verfällt. 

Die vom Obergericht verfällten Sreiheitsftrafen fommen 
uns heute überaus hart vor, namentlich bie wegen des an 
Brunner begangenen PBerbrechens ausgefprochenen — fang: 
jährigen Kettenftrafen erften Grades; die beiden von ihnen 
betroffenen Graebenten hatten eben das LUnglüd, daß ihnen 


197 


bie Teilnahme an ben Mißhandlungen — gleichviel ob 
gerade biefe ober bie von anderer Geite ausgegangenen 
DBrunners Tod betbeifübtten — genau nadjgemte[fen werden 
fonnten, während die nähere Art und Weife, wie Hägler in 
der Ausübung feines Berufes bie tödliche Verwundung er: 
hielt, ftatf umftritten war. Diefe Erwägung mag wohl der 
Grund gewefen fein, daß der Landrat des Kantons Baſel— 
landfchaft, als er gegenüber den an der Oberwiler Landjäger: 
Affäre Beteiligten von feinem Begnadigungsrecht Gebrauch 
machte, ohne Rüdfiht auf bie Höhe ber ausgeiprochenen 
Strafen, fämtlihe Verurteilte, neben ben ber unvorfäßlichen 
Tötung Überwiefenen aud) bie wegen ber Störung des 
Gottesdienftes vom 14. Dezember 1834 ins Zuchthaus ge- 
fommenen, [don nad) einigen Monaten wieder in Grei- 
beit fegen ließ. Aus zwölf Gemeinden des Kantons waren 
mehrere hundert Unterfchriften mit dem Gefud) um Amneftie 
für bie Verurteilten eingelangt, und die vom Landrat mit 
der Vorberatung des Sraftanbums betraute Rommiffion be- 
zeichnete in ihrem Bericht bie ganze Affäre als das „Er: 
gebnis einer Reihe durch mehrere Mißgriffe der 93ebütben 
begleiteter, aus gefteigertem Sro& und religiófem Fanatis— 
mus bervorgegangener, immerhin aber frafbarer Hand— 
lungen.” Die wenigften Mitglieder ber Sommijfion waren für 
bie fofortige Freilaſſung der Zerurteilten, aber nad) langer 
Diskuffion wurde in diefem Sinne befchlofien. Es geſchah 
das am 2. Mai 1837, unb zwar mit ber Vedingung, daß 
bie an Witwe Drummer zu zahlende Entfchädigung von 
1600 auf 2000 Gt. erhöht wurbe.?®) 

8 Ein nod) jebt lebender Zeitgenofje ber Ereigniſſe jagte mir 
einmal, es jei für bas Dorf ein wahres Feſt geweien, als fid) die 
Kunde verbreitete, bte Verurteilten ſeien begnabigt; fie hätten, als 
fie fid) von ber Mübhlebrüde her ins Dorf begaben, einen Empfang 
gefunden, der fa|t einem Triumph glidh. Ueber bie Distuflion tm Ple- 
num des 9anbrats verzeichnet bas Protokoll leider feine Einzelheiten. 
Bon Zeitgenofjen wurde erzählt, &anbratspigeprüjibent Stephan Guß- 


willer habe mit allem Nahdrud auf einen vollitändigen Erlaß ber 
Sreiheitsitrafen gebrungen und fogar gedroht, im Falle ber Ablehnung 


198 





Man darf immerhin nicht überfehen, daß das Geld — 
e3 waren ja nod) alte Franken — damals einen bedeutend 
höheren Wert batte als heutzutage. Doch war eine größere 
Entihädigung an bie Witwe Brunners in jedem Falle wohl 
angebracht, denn der etwa 44 Sabre alt gewordene Landjäger 
hinterließ mehrere Kinder. Man hätte aud) den Eltern 
Häglers, deren Entſchädigung nad) heutigen Vegriffen eben- 
fals mehr als befcheiden genannt werden muß, eine ent. 
fprechende Erhöhung gönnen mögen, namentlich) wenn man 
erfährt, daß ber auf fo traurige Weife mit 21 Sabren Um- 
gefommene der einzige Sohn feiner Eltern war und daß biefe 
in Maiſprach wegen eines bem Vater zugeftoßenen Unfalles 
in dußerft dürftigen Zerhältniflen lebten. 


X. 


Die finanziellen Folgen ber Landjäger-Affäre in Oberwil. — Die 

Drahtzieher Hinter den Auliffen. — Die Stimmung in ber Gemeinde. 

— Das fpätere Schidfal ber beteiligten Kleriker. — Die Weffen- 
bergianer. — Schluß. 

Nah ber Q93efeifigung der ftrafrechtlichen Folgen der 
Affäre blieben für bie beteiligten Oberwiler nod) immer bie 
finanziellen beffeben, unb biefe waren für eine große Anzahl 
von ihnen fdymer genug. In mehreren Familien trugen fie 
zur Befchleunigung des Ökonomifchen Niederganges bei, bet 
allerdings fchon vorher eingefett batte, oder fie brüdten bod) 
bie Leute [ange Jahre hindurch empfindlih. Mit der 93e- 
zablung der Okkupationskoſten preffierte es allerdings ben 
dazu Derpflichteten nicht, wie fid aus einer mir vor- 
liegenden, von meinem Großvater infolge eines Auftrags im 
Mai 1849 aufgeftellten Verteilungslifte ergibt. Darnach hat 
des Antrags den ihm vom Suit 1837 ab aufommenben Borfig im 
Landrat nit zu Übernehmen, Ferner wurde beridjtet, aud) ein 
Landrat aus Pratteln habe fid) der Verurteilten mit bejonberem Eifer 
angenommen, weil er fie beim Neubau einer Straße im Gebiete 


feiner Gemeinde Hatte Frondienſte verrichten feben unb fo auf ihr 
trauriges Geſchick aufmerkſam geworden war. 


199 


Andreas Hügly, Müller, der Gemeinde am 6. Auguſt 1835 
den Betrag von 3000 Zr. vorgefhoflen; dazu famen 
13 SZahreszinfe bis 1848 à 4% — 1560 Qr. Marchzins 
vom 6. Auguft 1848 bis 23. Mai 1849 à 4% — 95.62, von 
zwölf Sabresainfen bie Verzugsinterefien à 4% — 373.60, 
ferner von Hügly ausgelegte Gerichtskoften und Advofaten- 
gebühren — Gr. 50.05. 3u diefen Sr. 5079.27 treten nod) 
neue Schreibgebühren von Zr. 19.75, fo daß Gr. 5099.02 
auf bie PVerurteilten zu verteilen find. Dieſe waren ur: 
fprünglich 41 Perfonen, fie wurden jedoch burd) Konkurs und 
Auswanderung auf 30 reduziert, für die je Gr. 169.97 als 
Betreffnis ausgefegt wurden. Die in demfelben Schriftftüd 
enthaltene Anleitung zur Anfertigung fogenannter „Doppel” 
für bie Ronkursbetreibung läßt erfennen, daß die als 93ürgen 
für bie Schuld vom 6. Auguft 1835 haftenden Gemeinderäte 
refp. deren Erben aud) jet nod) Mühe hatten, das Geld 
von den Schuldnern einzutreiben. Möglicherweife waren bie 
Perurteilten der Meinung, der reihe Müller werde die 
Folgen des Anglücks wenigſtens teilweife mittragen helfen, 
nachdem in der Mühle, wo Schmidlin fein Quartier hatte, 
bie Fäden der Partei des Vikars ihren Vereinigungspunft 
gefunden hatten; galt bod) Hügly als derjenige, ber moralijd) 
niht am wenigften für die fchlimme Wendung der Dinge 
verantwortlich war. Er bielt fid) zwar vorfihtig im Hinter: 
grund, bod) fann außer feinem Einfluß auf feinen Schwieger- 
fobn Gemeinderat Thürkauf, feiner Freundfchaft mit 
Schmidlin und dem verdächtigen fonpentifel der Gemeinbe- 
räte mit bem in ben Ferien weilenden Theologieftudenten 
Hügly am Abend des 31. Zuli nod) ein direfter 93emeis 
bafür angeführt werden, daß von der Mühle aus das Feuer 
der Leidenfchaft gefchürt wurde: Einer ber fieben friminell 
Perurteilten, ein Nachbar des Müllers, fagte námlid im 
Verhör aus, er fei am fritijden Nachmittag von einem Sohn 
Hüglys überredet worden, zum Otopli zu geben, um bie Ver— 
haftungen hindern zu belfen, da man zulammenbalten und 


200 


ftanbbaft fein müfle; er, ber Nachbar des Müllers, wollte 
gerade aufs Feld, um Getreide zu fchneiden, er wäre ohne 
Hüglys 3utun nicht in das Unglück Dineingefommen. 

Nicht bloß finanziell, aud) in anderer Hinficht wurden 
bie fchweren Folgen des unglüdlichen Pfarrwahlftreits in 
Oberwil nur langfam überwunden. Zwar der neue Geift- 
[ide Anaheim widerlegte durch feine Wirkfamkeit das von 
der Mehrheit in ihn gefette und von ben Rädelsführern an. 
baltend genábrte Miftrauen, nod) ehe die Unterfuchung 
abgefchloffen war, wandte fid) ibm (wie fid) aus den Alten 
ergibt) ein Seil der früheren Gegner vertrauenspoll zu. 
„Run find mir", äußerte fid) [don zu Beginn des Winters 
einer der in den Prozeß wegen Religionsftörung Der: 
widelten, „aufs befte mit ibm zufrieden, ich und meine Fa- 
milie geben bei ibm fo fleißig in bie Kirche wie bei Herrn 
Schmidlin. Er iff ein herrlicher, braver Herr." Den 
treibenden Elementen ber „Schmidlianer” bebagten aller- 
dings folhe Zeugniffe nicht. Als die drei Brüder Thürkauf, 
die feilveife an den Vorfällen vom 31. Zuli ftarf beteiligt 
waren, aber nod) vor Beendigung des Prozefles ihre 
Gegnerfchaft gegen Anaheim aufgaben, fid) dagegen aus: 
fprachen, daß das bifhöfliche Schreiben vom 30. Sanuar 1835 
je an einer Gemeindeverfammlung verlefen worden fei, 
machte ihnen Sriedensrichter Ihürfauf den Vorwurf, fie 
ſtänden jetzt aus Leidenfchaft plöglich gegen ihre frühere 
Partei auf. Deren Häupter und die meiften der in die 
Unterfuhung Berflochtenen bebarrten aud) fpäter in ihrem 
Widerftand gegen den Pfarrer, denn fie zogen es vor, den 
fonntäglichen Gottesdienft in Therwil zu befuchen.3®) 

Man darf annehmen, daß die anhaltende Oppofition 
eines Teils feiner Pfarrkinder mit ein Grund dafür war, 


*4) Der geiftlide Anonymus ſchreibt bte Schuld an diefer beharr⸗ 
lien Renitenz Dekan Gürtler zu, ber es entgegen ben Kirchengeſetzen 
zulafje und fogar fürdere, bag Anhänger Schmidlins ftatt in ihrer 
Pfarrkirche beim Dekan zur öfterliden Kommunion geben. 


201 


daß Anaheim Oberwil ſchon nad) ſechs Zahren verließ, um 
einen Ruf nad) feinem Heimatfanton, nad) bem an der Grenze 
nad bem Elfaß zu liegenden Rodersdorf anzunehmen; 
nur ungern fab ihn bie Mehrheit ber Kirchgenoflen fcheiden. 
Später, im Sabre 1852, fiedelte Anaheim nad) Wolfwil im 
Gäu über, und dort iff er im Frühjahr 1883 im Alter von 
77 Jahren geftorben. Aus feiner fpäteren Tätigkeit bleibt 
hervorzuheben, daß er in den fünfziger Sabren ein eifriger 
Anhänger ber fogenannten roten Partei Vigiers war, aber 
zur 3eit der Erklärung des Infehlbarfeitspogmas eine 
Schwenkung machte und beifpielsweife gegen bie Revifion 
ber DBundesverfaflung auftrat. Anaheims perfünliche Q3e- 
liebtheit in feiner lebten Pfarrgemeinde wurde durch feine 
politifhe Tätigkeit Feineswegs erfchüttert. Sein Freund 
Doswald blieb von 1835 bis 1848 in Allſchwil, wo bie ganze 
Gemeinde mit geringen Ausnahmen dem tüchtigen Geel- 
forger in Verehrung zugetan war; er ging bann nad) Aarau, 
weil er, wie er in der Anmeldung fchrieb, für feine religidfen 
Vorträge eine Kanzel in der Stadt fuchte, bei mehr gebildeten 
Zuhörern, am liebften in einem paritätifchen Ort, ähnlich 
wie fein Freund Pfarrer Kälin in 3ürid. Auch in Aarau 
erfreute fid Doswald als Priefter von bervorragendem 
Willen, weitgehender Toleranz und fittlich ftrengem Wandel 
großer Beliebtheit, unb allgemein wurde fein verhältnis: | 
mäßig früber Tod im Sahre 1860 bedauert. Der Wider: 
facher Anaheims und Doswald, Abbe Schmidlin, fiedelte 
bald nad) feinem Wegzug von Oberwil nad) Dugaingen im 
Kanton Bern über, wo er erft Lehrer, dann Vikar und zulebt 
Pfarrer war. In der Rulturfampfzeit mußte er als Mit- 
unterzeichner des Proteftes ber 97 juraffiihen Geiftlichen 
gegen bie Amtsentfegung des Biſchofs Lachats den Kanton 
verlaffen und foll in Frankreich geftorben fein. 

Wenn wir gerade unter Würdigung der daran be- 
teiligten Perfonen geiftlihen Standes ben Vorfällen von 
1834 unb 1835 näher zu treten fuchen, fo ijt ohne weiteres 


202 


Har, baB wir hinter bem Gtrei£ um zwei erledigte Pfarr- 
ftellen nicht bloße Lokalhändel fuchen müflen, fondern daß 
fid) hinter ihm Dinge von prinzipieller Bedeutung verbergen. 
Defien waren fid) die Führer auf beiden Seiten ziemlich Klar 
bewußt, weniger natürlich ihr Anhang im Volke. Die 
Schmidlianer glaubten bie Religion in Gefahr, und fo fagte 
einer ber Brüder Sütterlin zur Rechtfertigung feiner Anteil- 
nahme an ber Widerfeglichkeit gegen Statthalter Rummler: 
„Dh weiß, daß in ben neuen Schulen, wie es nun in Ther—⸗ 
til und Oberwil ber Gall ift, biefelben Bücher gebraucht und 
gelefen werden, wie in den Gemeinden des reformierten 
Landesteils. Den alten Katholizismus, fagen bie neuen 
Lehrer, fónne man nicht mehr brauchen. Auch bat unfer 
Lehrer in Oberwil?5) den Englifhen Gruß, der früher in der 
Schule gebetet wurde, abgefdjafft; nichts mehr läßt er beten 
als das Vaterunfer. Sn folhen Sachen [oll man nichts ver- 
befiern, man [oll es beim Alten bewenden laflen; wer ver- 
beffern will, glaubt fid) ja weifer als Gott." Auf der andern 
Seite fprad) Landrat Hügin in einem Schreiben an bie 
Unterfuchhungsbehörde davon, wie Leute wie bie fünf Ge. 
meinderäte jeweilen „bei ihren Pfaffen und anderen ihrer 
Führer” fragen, wie fie fid) zu benehmen hätten, weil fie nicht 
felbftändig handeln könnten und deswegen zu bedauern feien. 
Hügin wollte eben einen Mann feiner Richtung als Pfarrer 
in Oberwil haben, deswegen wandte er fid an Kälin in 
Züri, bei bem er volles ZVerftändnis für feinen Wunfch 
fand. Dies beweift nicht nur Kälins Antwort auf Hügins 
Anfrage (f. ©. 125), Jondern wir willen auch fonft von des 
damaligen Eatholifchen Sürcher Pfarrers Denkart und Ge- 
finnung [o viel, daß wir ihn herzhaft als einen der aus- 
gefprochenften Vertreter des Tiberalen Katholizismus jener 
Sage bezeichnen dürfen, jener freien und dabei national ge- 


8) Offenbar ber bereits in Kap. II genannte Abbe Kiefer, der 
aud) mit dem vorherigen Pfarrer Oeſchger Differenzen wegen ber 
Art der Einteilung bes Schulunterridhts hatte. 


203 


finnten Richtung, bie im ehemaligen Genetalpifat des Bis- 
tums Ronftanz, Weflenberg, ihr Haupt verehrte. Zur Gba- 
rakteriftif Rälins follte eigentlich genügen, baB er es wagte, 
an der Seite des nad) dem zweiten Sreifcharenzug in Luzern 
eingeferkert gemefenen und von Freunden aus bem Keſſel⸗ 
turm geretteten Dr. Robert Steiger in Zürich einzuziehen, 
nachdem er das meifte zur Sammlung des für die Befreiung 
nötigen Geldes getan hatte. Doch fei noch bemerkt, daß 
Kälin Gegner der Ohrenbeichte war und biele Snftitution 
lieber burd) gemeinjame Bußandachten erje&t hätte; ferner 
las er nicht mehr Meſſen um Geld und äußerte fid) nament- 
ich Scharf über den Zölibatszwang. Daß Kälin wegen jeiner 
freien Anficht viel angefeinbet wurde, ift nichts als natürlich. 
Deifpielsweife fdrieb ibm im Sahre 1847 fein Freund 
Anaheim von Rodersdorf aus, im Kloſter Mariaftein be- 
finde fid) ein elfäffifcher Priefter, der als Vikar nad) Zürich 
geben werde, um einen anderen Geift unter bie bortigen 
fatbolifen zu bringen; man wolle, heißt es weiter, jedem 
freifinnigen Geiftlichen einen Laufcher und Spion an bie 
Seite feßen, damit bann ein KRebergericht das Verdammungs- 
urteil fprechen fónne.59) 

Der Unterfchied zwifchen den beiden Richtungen im 
Katholizismus drüdte fid namentlich in der abweichenden 
Wertihägung der Zeremonien einerfeits und der Ilnter- 
meijung im Evangelium durch Gbriffenfebre und Predigt 
anbrerjeit8 aus. Der geiftlihe Anonymus gebt jedenfalls 
zu weit, wenn er von den Oberwilern und den Birsedern 
der damaligen Zeit — fein Büchlein ift offenbar noch vor 
1840 entftanden — überhaupt fast, fie Fännten von bert 
fatbolijd)en Religion im allgemeinen wenig mehr als einige 
Aeußerlichkeiten, aber er dürfte damit recht haben, daß er 
Schmidlins Beliebtheit auf Vorzüge zurüdführte, die für 
den innern Wert eines Menfchen, und fpeziell eines 


96) Diefe Angaben find entnommen ber Brojhüre von Biſchof 
Dr. Herzog: Robert Kälin, 1830—1863 fatbolij[djer Pfarrer in Zürid). 


204 





Prieſters, nicht viel bedeuten. In ben 3eugenausfagen ver: 
mipt man Hinweife auf hervorragende Eigenfchaften, bie 
feine ungewöhnliche Weliebtheit hätten erklären können; 
man vernimmt eigentlich nicht mehr, als daß er, wie ein 
Anhänger fid) im Verhör ausdrüdte, feine Funktionen fo 
machte, daß die Leute Freude daran hatten. Der Uno: 
nymus behauptet, Schmidlin babe feine Parrfinder oft ge- 
fragt: „Hab id)'$ recht gemaht? Befehlet nur, id) mach's 
Gud, wie Ihr wollt." Hingegen babe er monatlich bloß 
zweimal gepredigt und während feiner achtmonatigen An- 
wefenheit in Oberwil bloß dreimal Chriftenlehre gehalten. 
Wie bem aud) fei, bie unbebingte Ergebenheit namentlich der 
weiblichen Dorfbewohner an feine Perfon läßt bie Annahme 
zu, baB er vorzugsweife mit äußeren Mitteln einen guten 
Eindrud zu machen unb fo einen zuverläffigen Anhang zu 
bilden fuchte. Charakteriftiich ift auch, baB der Anonymus 
Schmidlin vorwirft, er babe bie Schule in Oberwil bfop 
zweimal befucht, denn nichts lag den Weflenbergianern 
außer den rein geiftlichen Funktionen fo febr am Herzen wie 
bie Sorge um die Volksbildung, bie fie als bie Vor—⸗ 
bebingung für bie Pflege eines echten religiöfen Sinnes be- 
trachteten. 

Die Partei der „Schmidlianer” beberrfchte in Ober: 
wil aud) ferner das Feld, was fchon daraus hervorgeht, daß 
im Spätherbft 1836 ber im Auguft 1835 im Beiſein von 
Statthalter Kummler gewählte proviforifche Gemeinderat 
mit Landrat Hügin als Präfident wieder befeitigt wurde; 
bei 102 Wablteilnehmern erhielt der neue Gemeinde: 
vorfteber, Müller Hügly, nicht weniger af$ 81 Stimmen. 
Der gleihfam im Zeichen der 93ajonette zum Präfidenten 
gewordene Hügin wurde auch (bereits im Mai 1836) als 
Landrat bejeitigt, ba fid) bie in Oberwil gegen ihn berr- 
fhende Stimmung offenbar im ganzen Wahlkreis bemerkbar 
machte; damals waren Alfchwil und Schoͤnenbuch nebft 
Therwil und Oberwil zu einem Wahlkreis vereinigt. Erft 


205 


CHE NES 07M — — — 


im Sabre 1841 fand er wieder Gnade bei ben Wählern. 
Hügin, ber gegen Ende der vierziger Sabre ftatb, blieb zeit: 
lebens eine ftark beftrittene Perfönlichkeit; die Befähigung 
zu einer führenden Stellung innerhalb der Gemeinde und 
über ihr Gebiet hinaus ftritten ibm jedoch auch feine Gegner 
nid ab, wenigftens erinnere id) mich, mehrmals Urteile über 
feine Perfon von Leuten aus dem gegnerifhhen Lager (von 
jüngeren allerdings, bie ihn jedoch nod) perfönlich gekannt 
hatten) gehört zu haben, bie durchaus zu feinen Gunften 
[auteten. Nah Pfarrer Anaheims Weggang wurde ein 
Zirseder fein Nachfolger, der von Therwil gebürtige 
Hr. Sofepb Gutzwiller, ber aud) ſchon unter ben Bewerbern 
^on 1834/35 gemefen war. Er war fein. Weffenbergianer 
der Gefinnung nad, aber jener Schule bod) durch angeborene 
Milde und Toleranz verwandt. 

Auch bei der burd) Anaheims Weggang entftandenen 
Vakanz übte 93ifdjof Salzmann feine im Sturmjahr 1835 
behaupteten Rechte aus, aber bie Virseder hatten tro&bem 
nicht vergeblich für bie Erweiterung ihrer Rechte in Firch- 
[iden Angelegenheiten geftritten. Dank ihrem Drängen 
rubten in den nächſten Sabren bie durch den Streit um bie 
Dfarrftellen in Oberwil unb Alfchwil aufgeworfenen Fragen 
nie ganz, und im Sommer 1842 fam ein neues „DBerkomm: 
nis" zwifchen dem S3ifdjf von DBafel unb dem Kanton 
Bafelland zuftande, das am 25. Oktober desfelben Zahres 
vom Landrat ratifiziert wurde. Als birsedifche Abgeord- 
nete batten an den Verhandlungen Pfarrer Weber in 
Opfeffingen und Landrat Hügly in Oberwil teilgenommen. 
Das Abkommen beftimmte, baB ben birsedifchen Kirchen- 
gemeinben bloß Pfarrverwefer, nicht Pfarrer vorftehen; ein 
folcher ift allein der Dekan, defien Amt indes nicht an eine 
beftimmte Pfarrei gebunden ift, denn der Bifchof fann Diele 
Würde übertragen, wem er will, nur darf es feine der Re— 
gierung unangenehme Perfönlichkeit fein. Dem Biſchof ver- 
bleibt aud) das Wahlrecht unb dem Regierungsrat das 23e- 


206 








fätigungsrecht für bie Pfarrverwefer. Neu ift jedoch, baB 
bie Gemeinden auf Verlangen bie über bie Grgebnifje der 
Prüfung abgefaBten CDrotofolle einjeben und daß fie bem 
Bifhof ihre Wünfche wegen ber zu treffenden Wahl über: 
mitteln dürfen; jedoch müflen fie nie weniger als zwei ftan- 
didaten als ihnen erwünfcht bezeichnen. Die Amtsdauer 
eines Pfarrverwefers ift nicht unbedingt lebenslänglich, er 
fann jedoch nur durch den Bifchof abberufen werden, ber fid) 
dazu bei begründeten Klagen zum Heil ber Pfarrangehörigen 
verftehen wird. Wie man fieht, fteden in biefem Verkomm⸗ 
nis ftatfe Anfänge zu einem Wahlrecht der Gemeinden, unb 
e8 ift in mehr. als einem Punkt dem Verlangen der Allfch- 
wiler nad einem Zurüdgreifen auf die Verhältnifle der 
Sranzofenzeit Rechnung getragen. Das vollftändige Wahl- 
recht brachten jedoch erft bie fiebziger Sabre, nicht ohne daß 
der Klerus durch einen Spezialbefhluß des Landrats zur 
Anerlennung des neuen gefetlihen Zuſtands angehalten 
werden mußte. ] 

Nicht unerwähnt darf wohl in biefem SZufammen- 
bang bleiben, bap im Kampfe für und wider bie Ideen 
Weſſenbergs fid) aud) ein Literat aus unferer Gegend, menn 
aud) nicht aus dem Birseck felbft, Dat vernehmen laflen: 
Dr. Syofepb Gihr von Witterswil, ber Verfafler der „Volks: 
seihichten aus dem Schwarzbubenland” unb von „Zwiſchen 
braunen und fchwarzen Kutten”. In dem legtgenannten 
Buche [djilbert Franz von Somnenfeld — das ift fein 
Schriftftellername — neben vielen anderen Einzelepifoden, 
wie bie Leute von Lohnftetten, von ben Rapuzinern in 23on- 
Dorf (Sornad) und ben DBenediktineen in Marienberg 
(Mariaftein) bearbeitet, den ihnen zugedahhten Pfarrer Faber . 
nit annehmen wollten, weil er fid) gegen Wallfahrten und 
Klöfter ausgefprodhen babe und Sonjur und Soutane ver: 
achte, wie bem erften Bezirksbeamten die Einführung des 
Pfarrers nicht gelang und wie die Zuhilfenahme der Polizei 
diefer fe[bft zum Unheil ausfchlug. Die Oberwiler Landjäger- 


207 


geſchichte mit ihrer tieferen Bedeutung als Kampf zwifchen 
den zwei Strömungen im damaligen Katholizismus ift alfo 
bier literarifd) verwertet, wenn aud) zu der Geftalt des 
Pfarrers Faber, der an einem Sängerfeft in der Zeit zwifchen 
Sreifcharenzügen und Sonderbundsfrieg eine Rede gegen die 
Sefuiten hielt, Faum Pfarrer Anaheim Modell geftanden Dat, 
fondern ber in Kap. III als Eraminator bei ber Konkurrenz⸗ 
prüfung in Rheinfelden genannte Johann von Arr, von 
1830—1881 Pfarrer in Witterswil.?”) 

87) Dies ergibt jid) mit aller Deutlichkeit aus bem gefühlswarmen 
Nachruf, den Franz von Gonnenfelb in ben „Basler 9tadjridten" 


vom 6. unb 9. Juli 1881 feinem Yreunde und Gefinnungsgenofjen 
Pfarrer von Arz widmete. 


208 


Aus den YDanberjabren eines Basler 
Studenten des J7. Jahrhunderts. 


Don Paul Meyer. 
(dgl. Basler Jahrbuch 1013: Kin Basler Gtammbud des 17. Jahrhunderte.) 


Unter bem Titel „Manufcripta Bibliothecae Bau: 
mianae” beherbergt bie Eaiferliche Univerfitäts- und Landes: 
bibliotbef in Straßburg fünf Faszikel eines Briefwechſels 
von Gliedern der Familie Meyer zum Hirzen in 
Bafel.) Diefer umfangreihe Briefwechſel wanderte im 
18. Zahrhundert mit einem Zweig der Familie nad) Mül: 
haufen, wo ihn der dortige Pfarrer Matthias Graf in ben 
1825 erfchienenen ,,23eptrágen zur Renntniß der Gefchichte 
der Synode von Dordrecht“ nebft einem von Wolfgang 
Meyer binterlaffenen Ctammbud) vermertete.  ?Ím die 
Mitte des 19. Sabrbunberf8 ging er burd) Kauf in ben 
93efi& des Kirchenhiftorikers 3. W. Baum über und fand 
endlich feinen bleibenden Aufenthalt in der Straßburger 
Iniverfitätsbibliothet. Weitaus den größten Anteil an der 
genannten Korrefpondenz haben bie Briefe von unb an 
Wolfgang Meyer aus feiner Studienzeit in Cam- 


1) Band 1 enthält Briefe und Aufzeihnungen von Jakob 
Meyer dem ältern (1524-1604) und feinen Söhnen Jonathan und 
Jakob aus den Fahren 1564-1633, Band 2 Briefe an Jakob Meyer 
den ältern, Band 3-5 Briefe an Prof. Wolfgang Meyer (1577— 
1653), ferner Briefe non Jakob Meyer (1590—1622), Sonathans Sohn, 
an Sonatban und Wolfgang aus den Jahren 1608-1618, ferner 
folde von ftajpar Wafer an Jakob den ältern, Jonathan und Wolf: 
gang Meyer, endlich nod) foldje von Jakob Meyer (Wolfgangs Sohn) 
aus den Jahren 1628—1632 u. a. m. 


200 14 


bridge, andernteils von feiner Teilnahme an der Dordrechter 
Synode 1618 unb von feiner Tätigkeit in Mülhaufen ber, 
wofelbft ibm vom Basler Rat 1621 big 1622 bie Organi- 
fation des Kirchenwefens übertragen war. 

Wir greifen aus biefem reihhaltigen Material haupt: 
fählih bie Korrefpondenz zwifhen Sonatban Meyer 
(1557—1633) und feinem Sohn Safob (1590 —1622) 
heraus, bem fein Vater das im Basler Sabrbud) 1913 be- 
fprochene Stammbuch gefchenkt bat, und es foll der Verſuch 
gewagt werden, an Hand der genannten KRorrefpondenz unb 
befonbet8 ber von Syafob Meyer gefchriebenen und an ihn 
gerichteten Briefe ein annähernd anſchauliches Bild über 
Reifen und Studiengang eines VBaslers im Ausland zu Ve: 
ginn des 17. Zahrhunderts zu gewinnen. 

Die allerorten drohende Gegenreformation trieb aud) 
allerorten die Proteftanten zu engem Zufammenfchluß, der 
u. a. im gegenfeitigen Beſuch der proteftantijden Uni- 
verfitäten zum Ausdrud fam. Ein 93lid in die Liften der 
Basler Univerfitätsmatrifel vom Ende des 16. und zu 23e- 
sinn des 17. Zahrhunderts weift Namen aus allen evan- 
gelifchen Ländern, der Schweiz, Polen, Ungarn, Defterreich, 
Deutichland, Dänemark, den Niederlanden und Groß: 
britannien auf, und die Beziehungen, die fid) da zwifchen 
den Studierenden der verfchiedenen Nationen anbahnten, 
verftand man aud) für fpätere Zeiten fruchtbringend zu ge- 
falten. So ſchreibt 1591 ber viel gereifte Gborberr am 
Großmünfterftift in 3üri, Kaſpar Wafer (1565— 
1625) an Pfarrer Safob Meyer zu St. Alban: „Adhyemem 
speramus in Angliam abire et sequente aestate redire 
Basileam.^?) Er fügt Grüße an Jonathan und deflen 
Bruder Jakob (1563—1604), den Schaffner des Prediger- 
Fofters, und an deren Schweftern Magdalena und Verena 
bei. Der erfte Brief Safob Meyers des jüngern datiert von 


2) Auf den Winter hoffen wir nad) England abzugehen und 
im folgenden Sommer nad) Bafel zurüdzufehren. 


210 


1595 unb ift natürlich bem Fünfjährigen in bie Feder diktiert. 
Gr fchreibt feinem SO beim Wolfgang über Fortſchritte im 
Lateinifchen, über bie bevorftehende Erlernung des Griedi- 
fhen (das Pater Jonathan gewandt las und fchrieb) und 
über bie ihn fördernde treue Nachhilfe des Vaters. 

Das Zahr 1597 führte den Studiofus der Theologie 
Wolfgang (häufig aud) Wollgang gejdrieben) Meyer 
auf bie Univerfität Cambridge, wofelbft ihm das Bucer'ſche 
Gamilienftipenbium zur Verfügung ftanb. Rönig Eduard VI. 
hatte nämlich, die Verdienſte des Reformators Bucer 
ebrenb, in einem Gnadenbrief allen feinen 9tadjfommen, 
wann fie wollten und wünfchten, in England zu wohnen, bie 
Privilegien englifher Bürger ge[d)enft. Trotzdem waren 
fpezielle Empfehlungen feineswegs zu verachten; man ſuchte 
fih folche vielmehr allenthalben, nicht aule&t bei Bürger: 
meifter und Rat zu verfchaffen, und lettere Behörde betonte 
ausdrüdiih, Baſel müffe mit ber englifchen Kirche Fühlung 
haben. Ein typifches Beiſpiel eines Empfehlungsbriefes 
bietet dasjenige eines jungen Emanuel Näf vom Jahr 1618, 
ben ber Vater allentbalben zu freundlicher Aufnahme emp- 
Reblt; denn er möchte „fremde Länder und Schulen nad) 
Art gebildeter junger Leute um des Lernens willen einiger- 
maßen feben, befuchen, prüfen und etwas fennen lernen.” 
Gerne ift der Vater bereit, vorkommendenfalls Gegenrecht zu 
halten. Go wurde denn aud) Wolfgang dem Schuge Ihrer 
Majeftät der Königin Elifabetb angelegentlich anbefohlen. 
Gerne nahm er aud) die IInterftügung Rafpar Wafers 
an, ber fid) nod) 1591 in Cambridge aufgehalten hatte und 
fi nun in einem Brief anheifhig mahte, Wolfgang an 
feine dortigen Freunde zu empfehlen. Voll Selbſtgefühl gab 
er in feinem Schreiben zu verfteben, es werde dasfelbe von 
großem Gewicht fein, und man folle dafür forgen, bap es auf 
zuverläffige Weife an feinen Beftimmungsort gelange. Wolf: 
gang folle eg domino Castello übergeben, der werde ihn bann 
den andern Freunden empfehlen, deren er febr viele und an- 


211 * 


gelebene, fefbft am Hofe, babe, fo ben Georgius Hunger- 
fortus, einen vornehmen Engländer, bem er Wolfgang 
fráftig berausftreichen werde. Geben wir uns zur Abwechs⸗ 
[ung eine damalige Q3riefabrefje an. Da lefen wir 3. 23. 
„Bonae spei Adolescenti Magistro Wollgango Meiero, 
Orthodoxae Theologiae studioso Filio dilecto“.?) Aus: 
nahmsweife fchwingt fid) aud) einmal bie Mutter, bie das 
Schreiben gewiß fauer ankam, zu einem rief auf und unter: 
zeichnet „Agnes Capito din mutter." — Gefiegelt find bie 
Driefe meift mit dem Familienwappen. Mit dem Beftellen 
batte e8 oft feine guten Wege. Die Unficherheit und öfter 
aud) Unberechenbarkeit der oft bloß bei günitigen Gelegen- 
heiten durch reifende fauffeute, Buchdruder, aud) Studenten 
ermöglichten Briefbeförderung gab häufig Anlaß zu mancher: 
lei Sorge und Reklamation, indem bald auf der einen, bald 
auf der andern Seite ein Brief, wenn nicht geradezu ver- 
loren ging, fo bod) unheimlich lang unterwegs war. Wolf: 
gangs Brüder unterzeichnen ungefähr fo: „Jonathan und 
Oafob Meyer Gebrieder monasteriorum Clingenthal und 
praedicatorum quaestores“*) Der Verkehr mit den aus: 
wärtigen Buchdrudern erleichterte auch bie Reglierung von 
Gelbangelegenbeiten. So erfuhen 3. Q3. bie genannten 
Brüder ben Buchhändler von Cambridge um einen Vor: 
hub an Wolfgang, der bann offenbar von zureijenden 
Basler DBuhdrudern — begliden wurde. Sonatban 
Meyer Eorrefpondiert mit Bruder und Sohn häufig la- 
teinifd), bin und wieder aud) griehifh. (Gr batte 1569 bie 
Univerſität 93afel bezogen; TZonjola erwähnt feine pere- 
grinationes und bezeichnet ihn ausdrüdlich als typographum 
wofür auch feine beiden Heiraten mit YBuchdruderstöchtern 
fprechen. Vermutlich war er in der Offizin feines Schwieger- 
pater8 Ambrofius Froben und befen Bruders 

5) Dem zu guter Hoffnung beredjtigenben Züngling Wollgang 
Meyer, dem Studenten ber orthodoren Theologie und geliebten 


Cobne. 
4) Schaffner ber Klöfter im Klingental unb zu Predigern. 


212 


AYurelius Erasmus Froben tätig. Diefer feiner 
Verwandtſchaft mit der Froben'ſchen Familie verbanfte 
Oonatban Meyer ein wertvolles Andenken an Erasmus 
von Rotterdam, deflen er im Stammbuch mit bewußtem 
Stolze gebenft mit den Worten: Ambrosii Frobenii gener; 
ejusque in custodia literati monumenti, dignissimi Cra- 
teris Erasmici, legitimus successor per Annam priorem 
conjugem.?) Diefen vergoldeten Becher, ein Gefchent des 
furfürffert von Mainz, Albrehts von Branden- 
burg, legierte Erasmus dem großen Hieronymus 
Groben, nad) deſſen Tod er an Ambrofius Froben und ber- 
nad) an Jonathan Meyer fam. — Geitber iff er verfchollen.®) 
Om Teftament des Erasmus iff er bezeichnet wie folgt: 
XStem — unter der Rubrik Silbergefhirr — ein zwifacher 
vergulter ftouff, mit des Garbinal8 zu Men zeichen” und im 
Opus Epiftolarum Defiderii Erasmi (C. 420 der ?[u$g. 
von 1529) ift uns noch die liebenswürdige Dankfagung des 
Empfängers erhalten. 

Aus dem Zahr 1598 ift ung ein Brief Jonathans an 
feinen Bruder Wolfgang in griechiſcher Sprache unb präch- 
tiger Steilfchrift erhalten. Er nennt fid) darin „Iwrddas 
Mevegos 6 toU  KAwyyevráAov  äyvevinglov, 10 eoriv &v Baoí- 
Ana ®Adooovı, Eyybs Pivov norapo, tamevs,”) und adreffiert 
folgendermaßen an Wolfgang: „Serenissimae Regiae Maje- 
statis Tooplup?) und fehüttet dem Bruder das Herz aus, 
ibm fei das Glüd entgegen, Wolfgang folle feine Zeit wohl 
anwenden und etwas Tüchtiges leiften, er fet dag der ganzen 
Familie fhuldig, die unverdienterweife vom Mißgeſchick 

6) „Des Ambrofius Frobenius Schwiegerjohn und defjen in ber 
Bewahrung feines gelebrten Nachlaſſes, bes [o wertvollen Bechers 
von Erasmus, rehtmäßiger Nachfolger burd) Anna, feine erfte Gattin.“ 

6) Vgl. €. Sieber: Inventarium über bie Hinterlaffenichaft bes 
Erasmus vom 21. Juli 1636 unb Teftament des Erasmus nom 24. 
Sanuar 1527. 

7) Sonathan Meyer, Schaffner des Klofters Klingenthal, bas 
im mindern Bafel nah dem Rheinftrom liegt. 

8) Seiner Durdjfaudt der Königlihen Majeftät Zögling. 


213 


barniebergebalten werde, ,... ut taceam Jacobulum no- 
strum octennem, jam in Castris Oleierianis?) militantem, 
qui si ita pervexerit, habebis sexdecim annorum magister- 
culum et doctoratum tuum unice flagitantem.!?) Von eben 
Diefem unferm Sacobulus fpriht aud) in einem Brief an 
Wolfgang vom 24. Auguft 1598 Leonhard Näf von 
Roöteln: „Quod attinet Nepotem tuum ex fratre tuo Jo- 
natha genitum, Jacobum Meierum, discipulum meum 
privatum studiosissimum, noveris, illum esse diligentissi- 
mum inter suos consodales, ille divinum habet ingenium, 
ille omnia capere et percipere potest, quaecunque illi 
praeponuntur, ille perfectissime optimeque legit Graeca, 
de Latinis nihil dicam: ille hac futura Autumnali pro- 
motione D. O. M. juvante promovebitur ex classe Secunda 
à D. M. Petro Schockio ad D. M. Theobaldum Oleje- 
rum in tertiam classem, qua in elasse etiam suum offi- 
cium diligentissime perficiet Deo sic permittente . . .!!) 
Näf bat fein Schreiben einem Brief Jonathans beigefügt 
und wohl deshalb das Lob feines Zöglings mit [o vollen 
Pofaunenftößen verfündigt. 

Und nun folgen allerhand familiäre Grürterungen, Gr- 
mabnungen und Zurechtweifungen, man ftößt da und dort 


9 Theobaldus Dleyer war Lehrer der 2. Gymnaſialklaſſe. (Burd- 
hardt-Biedermann: Geſchichte bes Gymnafiums, Geite 63.) 

10) Nicht zu reden von unjerm adjtjábrigen Jaköbli, ber ich 
ion im Oleyers Lager tummelt, und an dem du, wenn er fo fort- 
fahren wird, ein Magiiterlein von 16 Jahren haben wirft, bas fid) 
einzig nad) deiner Gelehrtenwürde jehnen wird. 

1) Was deinen Neffen, deines Bruders Jonathan Sohn, Jakob 
Meyer, betrifft, meinen jebr eifrigen Privatſchüler, jo jollft du willen, 
DaB jener unter feinen Mitichülern der fleigigite iit, er hat eine 
göttliche Begabung, er vermag alles zu erfajlen und zu begreifen, 
was ihm vorgelegt wird, er liejt perfelt und trefflich Griechiſch, um 
pom Latein zu [djmeigen: er wird bei ber beporjitebenben Herbft- 
prüfung, jo Gott will, aus der zweiten Klafje vom Magiſter Peter 
Schock zum Magiiter Theobald Dleyer in die 3. Klafje befördert 
werden, in welcher er, wenn es Gottes Wille ijt, jeine Pflicht aufs 
fteiBigite erfüllen wird.“ 


214 


aud) auf Unftimmigkeiten zwifchen ben Brüdern ober zwifchen 
Pater unb Sohn, oder e8 bat ben Anfchein, als ob alt und 
jung fid) nicht mehr recht verftünden, oder es bewegt fid) der 
Sohn in der Fremde mit freiern Schwingen al$ dem Ver: 
ſtändnis des Heinftädtifch fühlenden Basler Bürgers paflend 
er[deinen will, und vollends ftößt das allzu fd)nelle Ser- 
fließen des väterlihen Mammons in des Sohnes Händen 
feineswegs auf volles Verftändnis des Elternhaufes. Und 
in biefes Gejammer ftimmt auch der 93ruber Jonathan ein 
und bedauert, daß Wofgangs Krankheit viel Geld Eofte, unb 
daß er überhaupt zu viel Geld brauche. „Mußteft nit alle 
triumph und fchomwfpiel fähen”, heißt es 1598. Immerhin 
[deinen dabei dank der SKlatfchfucht durchreifender Mit- 
bürger mancherlei Uebertreibungen mit untergelaufen zu fein. 
Anderfeits ging es aber im Pfarrhaus zu St. Alban bei Wolf: 
gangs Vater oft recht fnapp zu, und wir begreifen, bap der 
78jábrige Vater fehnfüchtig ber nach der Heimkehr des Sohnes 
ibm in Ausficht ftebenben Unterftügung entgegenfab. Darum 
bie erneute Mahnung, Wolfgang möge ja bie 3eit recht aus⸗ 
faufen; er folle fid) body, fügt bie Mutter Agnes in liebevoll 
ernfter Mahnung bei, das Schuldenmachen abgewöhnen unb 
fid) etwas mehr in der Demut üben, auch der Sorgen feines 
Bruders Jonathan gedenken, der ohne Amt fei, und fid daher 
bemühen, fobald wie möglich feines alten Vaters Stüße zu 
werden, der fid) fchon genug wegen feines Tochtermanns Heiß: 
mann mit feinen zwölf Kindern forge. 93alb tönt e8 wieder 
nad) unverfieglihem Stadtklatih: diesmal bringt Vetter 
Adelberg Meyer (ftudiert 1605 in YVafel) den Wolf: 
gang mit ebrbaren Vürgerstöchtern ing Gefchwäß oder breitet 
böswilliges Gerede über ibn aus. Dann meldet fid) bie 
Mutter wieder zum Wort und hält dem Sohn feine Groß: 
fuerei vot; er gebe zu viel aus, ſchwänze KRollegia, bummle, 
hänge fid an jeden Landsmann; er fole in der Burs in 
Paris wader Sranzöfifh lernen und fid vor unfauberer 
Geſellſchaft in acht nehmen. 


215 


Nun treten aud) bie Beziehungen ber Familie OXteper 
zu den Brüdern Gebeon und Efaye be Montmartin in 
den Vordergrund. 1601 wendet fid) Sonatban an Gedeon 
de Montmartin und fchreibt: „Domino Gedeoni du Matz 
Britanno," bet allem Anfchein nach abwechjelnd in Cambridge 
und in Frankreich lebte, in frübern Sabren offenbar aud) in 
23afel, wo er 1602 einem Gnfelfinb des alten Jakob Meyer 
zu St. Alban *Datenftelle vertrat (, generosus dominus herr 
Gedeon Montmartin”); er fónnte febr wohl im Pfarrhaus 
zu St.. Alban in Penfion gelebt haben. Der Brief foll ibm 
in Paris eingehändigt werden. Der Schreiber verdankt darin 
alle feinem Bruder Wolfgang erwiefene Förderung in der 
franzöfifhen Sprache und ergeht fid) in weitfchweifigen 
Bitten und beboten Dankjagungen an den hoben Herrn, was 
er in Anbetracht der jahrelang anftebenben Schulden des- 
felben an feine Basler Freunde durchaus nicht nötig gehabt 
hätte. In einer Antwort aus dem Sabre 1602 nimmt Herr 
Gedeon den Wolfgang gegen das böfe Geſchwätz fíatid- 
füchtiger Landsleute in Schug und rühmt feinen foliden unb 
fparfamen Lebenswandel. 1603 tritt in der Korreſpondenz 
Andreas Knuthius PVefalius (aus Wefel) auf; er be- 
juchte nachweislich 1602 die Basler Univerfität, lebte als 
Denfionär bei Sonatban Meyer und fcheint deflen Söhnlein 
Jakob zeitenweife unterrichtet zu haben; daher bie Anrede: 
„discipule amanter colende“!?); er ftellt ibm die Vorfahren 
als Teuchtende Beifpiele zur 9tadjabmung bin und abtej- 
fiert: „Dem Ehrenachtparen, fürfichtigen und fürnemmen Hr 
Jonathae Meyero, meinem großgünftigen Herren und Freundt 
wonende Ihn Klein Bafel im Tennier Hoff zu Baſell.“ 
Knuthius gebenft feiner Abreiſe von Baſel ad patrios 
lares!5); er erkundigt fid) nad) ben Fortfchritten des jungen 
Jakob und hofft, biejer werde „columen et insigne decus 
Familiae Vestrae et Patriae suae“ werden; ibn werde 


1) Mit Liebe zu umfajjenber Schüler. 
18) zu den väterlihen Hausgöttern. 


216 


Jakob, fei' in 9epben, fei'8 in England finden, fobald er 
einmal auf Reifen gebe. 1605 trifft wieder ein Brief von 
Gedeon de Montmartin aus Paris an Wolfgang ein, worin 
der ZDrieffchreiber die Hoffnung ausfpricht, nad) Otupella 
(9a Rocelle) zu reifen, von wo aus er 1606 nad) 23afel 
forrefpondiert; bald nachher fchlägt ihm das Gewiflen wegen 
feiner immer noch nicht bezahlten Schulden; er vertröftet bie 
Meyerſchen damit, bap fein. Bruder eine abfolut zuverläffige 
3abígelegenbeit abwarten wolle: „Er dachte an einen aus: 
führlichen 93rief und hatte 150 coronatos (Kronen) zur Ab- 
fendung an Gud) bereit, zögerte aber aus Aengftlichkeit wegen 
günftiger Gelegenheit und entſchloß fid) endlich, bie Cade 
nod) ein paar Monate zu verfchieben, wobei ibm bann mög- 
fid) wäre, mit Gottes Hilfe die ganze Summe und nod) 
anderes zu begleichen.” 

Mittlerweile war nun aud) Sonatban Meyers Sohn 
Gafob betangemadfen; er batte fid) 1604 an der Univerſität 
immatrifulieren laſſen und im Sommer 1608 den Masgifter: 
grad erworben. Bald bernad) begab er fid) auf Reifen, zu- 
nádit na Saumur, wo er mit Hilfe der Familie be 
Montmartin Fuß faffen, das Studium der Theologie an 
der dortigen hugenottifchen Akademie und bie Erlernung der 
franzöfifhen Sprache betreiben follte. An Hand der et- 
baltenen Briefe vermögen wir ihn auf feiner Reife einiger- 
maßen zu begleiten. Unterm 14. Auguſt 1608 meldet Jakob 
Meyer nad) Haufe, er fei per Schiff glüdlich in Straßburg 
angefommen, babe bafelbft feine 23afe Katharina aufgefucht 
unb eine günftige Grabrgelegenbeit nad) Paris gefunden. 
Schon im Geptember weilt er in Saumur, im November 
wiederum in Paris, unb am 23. November traf er von €a 
Rochelle her in Saumur per Schiff ein. (Salmurium 
appulisse. Die herrſchende S&eurung fcheint einem Briefe 
Sonathans zufolge Jakobs Reiferoute, bie Efaye be Mont- 
martin von Paris nad) La Rocelle für ihn entworfen hatte, 
beeinflußt zu haben. In Saumur gebe es ibm orbent- 


217 


fid. Aber ſchon fíagt er über Geldfnappheit, es berrfche 
„tanta in Gallia caritas annonae" !*) baB man eben ohne 
Geld nit ausfomme; er braude im Monat adt „coro- 
natos" und hoffe mit einem „florenus“ (Gulden) per Woche 
auszufommen. Gin gewifler Cominus Ambrofius 
ftredt ibm 30 florenos (Gulden) vor. Sechs Pfund 
verausgabf er „pro elegantissima testudine quae me alli- 
ciebat, aliqua commoda occasione data’)... Laudabile 
enim judico hoc studium, quod senium delectat, juvenibus 
ornamento est... $Ílebrigen$: sin vero aliud mens mea 
subierit consilium, quovis tempore instrumentum sine ullo 
damno vendere possum ... Rupellae (ovv des — mit Gott) ita 
me geram, ut me tuam prolem sis experturus*. 23efannt- 
lid) pflegte auch Felix Platter fid) in Montpellier bie Zeit 
mit Lautenfpiel zu vertreiben. Offenbar wurde von Baſel 
aus damit gerechnet, es werde Jakobs Aufenthalt in Saumur 
burd) Abtragung der Schulden der Familie Montmartin 
fid) bezahlt machen; bod) meldet Safob nod) 1608 kleinlaut 
bem Vater: Die Montmartinfchen, „wie ich nod) von allen 
shört bab, follen gar arm fein unb febr viel ſchuldig und 
vaft das irig alles fammen verfeat." 

Am 27. November ſchreibt Safob: „Viro honorando 
variisque animi dotibus conspicuo, Domino Jonathae 
Mejero, parenti meo summa qua decet observantia 
colendo. Basileam^.!9) Syonatban merft an: „Sind fünff 
wochen auf der Straß gſin.“ Danach wäre Safob von 


M) Cine jo große Getreideteurung. 

1) Für eine febr feine Laute, bie mid) gelüftete, indem eine 
günftige Gelegenheit fid) bot... Denn id) Halte bas für einen löb⸗ 
lien Zeitvertrieb, der bas Alter erfreut unb der Jugend wohl an- 
ftebt ... Sollte id) übrigens hierin andern Ginnes werden, fo kann 
id) bas Inſtrument jederzeit ohne irgendweldhen Verluft verfaufen. 
In La Rochelle, jo Gott will, werde id) mich fo benehmen, daß bu 
mid als deinen Sohn erkennen ſollſt. 

16) Dem verehrten, ob manderlei Geiftesgaben angejehenen 
Herrn Jonathan Meyer, meinem burd) bódjite Achtung zu verehrenden 
Bater, Bafel. 


218 





La Rocelle auf bem Waflerweg bie Loire hinauf nad 
Saumur gefommen; begleitet von einem Fährmann (nuncius) 
des Herrn von Montmartin, ber für feine Bemühung fünf 
aureos (Connenftonen) erhielt; in Angers gab'8 nod) einen 
Aufenthalt von zwei Tagen; dann wurde der junge Reifende 
pon einem andern nuncius vollends nad) Saumur geleitet 
und während einer Nacht von ibm beherbergt. „Die von 
der Reformirten Religion haben in der Statt einen gar 
Ihönen Tempel und Collegium, unnd in biefem eine be- 
rühmbte Schule, fo fi eine Academi nennen. Und halten fid) 
bey folcher nicht allein wegen Luftbarkeit beB orths, und baf 
allba wolfeil zu aebren; fondern auch allerhand Erercitien 
halber, bie man da haben fann, gemeinlich viel Zeutfche, 
Otiber- und Engelländer, auf." (Matth. Merian, Topogr. 
Galliae.) Am folgenden Sag galt fein erfter Gang bem 
Rektor der Schule, b e 8 Ot odes, bem er ein Empfehlungs: 
Ichreiben abgab, unb bei bem er monfieur Boudhereau, 
Ecclesiae minister und derzeitigen Otector magnificus der 
9ffabemie, traf; al8 Geiftlihder war er „un des plus 
grands orateurs de son temps.“  Syafob fand freundliche 
Aufnahme und Geneigtheit zu mancherlei Entgegentommen, 
was ibn ermutigte, ben des Roces, ber aud) fonft Stu— 
dierende beherbergte, um gaftliche Aufnahme für eine Woche 
zu erfuchen, damit er mittlerweile überlegen könne, was er 
weiter anfangen wolle. Bon dem Treiben bei des Roches 
meldet er: „Er bat noch fieben andere weniger burd) Wiffen 
als burd) Anftand und auffallende DBefcheidenheit hervor: 
tragende Koftgänger, mit ihnen babe id) große Freundſchaft 
geſchloſſen, bod) nicht dergeftalt, bap einer bem andern beim 
Studieren binderlich wäre, durchaus nicht, ba ein jeder fein 
eigenes  Cfubiergimmer (Mufaeum) bat... Es berricht 
eine folche Zucht in biefer Wohnung, daß ich heilig verfichern 
fann, baB ich nirgends frömmer und muóbringenber leben 
fónnte. feine heiligen Verſammlungen werden vernad)- 
[áffigt, fondern von allen aufs fleifigfte befucbt. Es finden 


219 


ihrer zwei in ber Woche ftatt, bie eine am Mittwoch; bie 
andre am Sage des Herrn. Gebete und Dankfagungen 
werden aufs fleißigfte dargebracht. Mein gebildeter Gait- 
freund begegnet mir unb den andern mit väterlicdher Hin: 
gebung. Wir halten unfere mehr frommen als praftifchen 
Ererzitien. Nach bem Abendeſſen lieft einer franzöfifeh ein 
Kapitel des Neuen Teftaments vor, nachher bringen wir 
duch Anftimmen eines Pfalms des königlichen Propheten 
dem bimmlifchen Vater unfern Dank für feine unzähligen 
uns ermiejenen Wohltaten. Ich felber lefe an einigen 
Abenden meinem Gaftgeber franzöfifch vor; er iff bei Einzel- 
beiten, bie ich nicht verftebe, ein freundlicher Erflärer und 
bittet oft feine Frau, ebenfo feine Kinder, mit mir zu fon- 
verfieren, fo daß ich unbedingt in kurzem hierin großen Ge- 
winn baben werde. So wird mir zu meinem Porteil in 
der ganzen Stadt feine paflendere unb für meine Studien 
geeignetere Stätte geboten. Denn id) wohne im Kollegium 
felber, in welchem alle Vorlefungen, aud) alle privaten Ber: 
fammlungen ftattfinden, welche man propofitiones nennt, 
deren zwei per Woche abgehalten werben." Sm weitern 
erwähnt ber Briefſchreiber, es feien drei Theologieprofefloren 
da, e8 gebe Burſen (Rofthäufer), in denen man 51% bis 
6 Kronen per Monat bezahle; in den billigern fei aber auch 
die Gefellfhaft danach. 

Jakob Meyer weif in Saumur fein Stammbuch 
fofort (am 24. November) dem Gouverneur der Stadt, 
dem bir nobilis unb um bie Hugenottenfache bochverdienten 
Philippe Mornaye be Bleffys vor; ber ibm mit 
befonderer Höflichkeit begegnet, fobald er inne wird, „quam 
honesto loco natus“’?) er fei, „und er bulbete unter feinen 
Umftänden, baB id) ihn mit entblößtem Haupt anrebete". 
Sodann berichtet er, Gebeon be Montmartin, das Haupt 
unb bie Sierde ber Familie, fet fchwer erfranft. Weiter 
folgen nod) fanfte Winke in Bezug auf ben unentbehrlichen 
9) Bon was für angefebener Abftammung. 


220 


nervus rerum. Schwerlich werde er mit biefen feinen 
Kleidern ben harten Winter praeftieren fónnen; denn von 
Tag zu Tag werden fie flidbedürftiger . . . „dem Schneider 
babe id) ben Thorar (Wams) zum Ausbeflern gegeben; wie- 
viel er dafür verlangen wird, weiß id) nod) nicht.” Dann 
rechnet er den Eltern alle feine Ausgaben vor und bittet, 
nicht alle über ibn in Umlauf gefe6ten Klatfchereien zu 
glauben. 

Om Frühjahr 1609 berichtet Jakob dem Vater über feine 
Fortſchritte im Franzöſiſchen, Hagt aber auch, er müſſe punkto 
Kleidung fchofel auftreten. „Wenn unfere englifchen 
Maecenaten fid) nicht einigermaßen auporfommenb. erwiefen 
hätten, [o wäre es beſſer geweſen, Daheim zu bleiben." Aus— 
führlich ergeht er fid) in einer Antwort auf einen Brief 
Jonathans, der mehr als fieben Wochen nad) Saumur ge: 
braucht batte. Auch bier betont er feine zunehmende Sicher: 
beit im Franzöſiſchen, wovon fid) der Vater in Bälde werde 
überzeugen können. (ein Greunb Georg Wyß befíage 
fid über bie Anrempeleien ber deutfchen Studenten und babe 
Herrn Montmartin befragt, wie er fid ihnen entziehen 
fónne. Der riet ibm, die Bude zu wechleln, damit er 
„ab irruptione Germanorum“!8) ficher fei, und in Meyers 
Kollegium zu fommen. Jakob bat zwar aud) Bedenken, e$ 
fónnte ibm das fdaben. Doch bat ibm Wyß gefchworen, 
ih fleißig unb anftändig aufzuführen und feine Zeit bem 
Studium zu widmen, weshalb er im Rollesium Aufnahme 
findet. Wyß hat das in ihn gefe&te 3utrauen vollauf ge- 
rechtfertigt und wurde fo befreit, „ab omni molestia Ger- 
manicae turbae.“!) Doch nun mußte Jakob Gtellung 
nehmen gegen gewifle Zuträgereien, als ob Wyß auf ibn 
feinen guten Einfluß hätte, darauf erwiderte er: „Derartiges 
iff nicht au befürchten, fowohl wegen feines als meines 
Naturells, das niemals fid) vom Weg zum Rechten unb 


18) Vor einem Überfall der Germanen. 
19) Bon jeder Beläftigung ber germaniſchen Rotte. 


221 


Guten ablenfen ließe.” Zudem würde fchlimmftenfalls das 
wachſame Auge ber Profefloren ihn raſch auf den rechten 
Weg zurüdführen.. Er beruft fid ausdrüdlih auf ben 
Dominus hospes, auf ben fleifigen Beſuch der Lektionen 
und erwähnt, wie er daheim unverdroflen fid) der Qeftüre 
widme und in Gefellihaft nur „gallice“ rede. Das Gu- 
bicufum??) teile er mit dem Freund und gemeinfam freuen 
fie fid) einer febr angenehmen Studierbude. Schon ftedt ibm 
England im Kopf; im Oktober hoffe er dorthin reifefertig zu 
fein und „familiae Mejerianae decus“ zu werden. 

Ende Auguft 1609 treffen wir Safob in Paris, von 
wo er fpäter wieder nad) Saumur aurüdfebrt; ob er nur die 
Serien in Paris zubringen, ob er fid bier mit guten 
Empfehlungen nad) England verfeben wollte, ober was fonft 
ber 3med feiner Reife bieber war, gebt aus feiner Kor: 
refpondenz nicht zur Genüge hervor. Sm „Eifernen Kreuz” 
(fchreibt er dem Vater) fliegen wir (als Reifegenofie wird 
ber Dominus Ambrofius genannt) ab und blieben dafelbft 
zwei Tage. Dann mieteten wir in der Nähe des Eifernen 
Kreuzes ein Zimmer im „Goldenen Schlüflel”, wo wir per 
Monat „quatuor coronatos cum francone“?!) auslegen 
müffen; punfto Koft find wir mif ber Wirtin überein- 
gefommen, bap fie uns für wöchentlich 49 23a6en „quod libet 
eogatur dare“??) womit fie febr zufrieden ift." Mit ber 
Klage, es fei alles fo teuer, follte wohl der gute Vater auf 
erneute Attentate auf feinen Geldbeutel vorbereitet werden. 
„Anterwegs waren wir genötigt, für bie Maß Wein 8, 
ja neun Baten zu bezahlen. Wollte fid) jemand mit Waſſer 
begnügen, fo wäre es ohne Nachteil für die Gefundheit nicht 
möglich." Defter babe er mehr nad) Wafler als nad) Wein 
gelechzt, was ber Dr. Ambrofius dem Vater nad) ber Rüd- 
febr bezeugen fónne. Sobald fein Gepäd nachfolge, werde 


30) Das Schlafzimmer. 
21) In Saumur braudte er monatlih adt Kronen. 
22) Alles zu geben verpflichtet fei. 


222 


et fid alsbald zu Herrn Gebeon (be Montmartin) begeben. 
Den Efajas (be Montmartin) babe er nirgends auftreiben 
können, er fcheine auswärts zu weilen, und als Grund biefür 
werde — wohl nur Hatfchweife — angegeben, er bätte 
„in matrimonium petiisse praestantissimam ac nobilissi- 
mam quandam foeminam“?®) und weil er einen Korb 
erhalten, fei er aus Zorn nad) England perbuftet. Sollte er 
in Paris auftauchen, fo würde er ibn fofort befuchen. 
„Dies erzählte mir der Schweizer des Duc de Rony, ber 
mir aud) beffen Palaft gezeigt bat. Der Herzog felber ift 
abwefend, weil mit Aufträgen des Königs befchäftigt. Sch 
babe mein „pallium“ gewechfelt und mußte hiefür 2 aureos 
coronatos?*) ausgeben, babe mir aud) Schuhe ange[dafft. 
Dem Kutfcher (aurigae) mußte ih 7% f (florenos) 
zahlen, fo baB mir kaum genug bleibt, um bie Wirtin zu 
befriedigen, befonders wenn id) wegen WUusbleibens des 
Gepäds länger bei ihr [ogieren müßte. Herr Ambrofius wird 
mit, wenn er von bir biegu Auftrag bat, gut an die Hand 
geben können. Seine Majeftät der König (Heinrich IV.) mit 
ber Rönigin und feinem Gefolge begegnete uns am 21. Auguft 
bei ber feften Burg (Name unleferlih), — fie liegt eine 
Tagereiſe von der Stadt entfernt —; dafelbft vermochten wir 
ibn felbft zu fehen. Und als der König bemerkte, bap unfere 
23lide auf ihn gerichtet waren (als er eben über das Waller 
fegen wollte unb fchon bei der Königin im Boot fap), redete 
er uns freundlich an unb fragte ung, ob wir uns nach Paris 
begádben. In unferm Namen antwortete Cn. Ambrofius: 
„Gewiß, erlauchter König”; jener fuhr fort zu fragen, ob wir 
ben Mufen zuliebe dorthin reiften, und als erwidert wurde, 
das fei der Fall, wünfchte er ung viel Heil. — Unterwegs 
batte id) ein paar vornehme Nürnberger zu Begleitern. 

=) Er Hätte eine vortreffliche unb vornehme Dame ehelichen 


wollen. 
*4) Gold-Kronen. 


223 


Ausführlih unb gelehrt mid) auszudrüden ift mir wegen 
Mangels an Zeit niht möglich." Der DBrieffchreiber bittet 
um Zufendung einer lateinifchen Bibel und anderer Bücher 
und trägt viele Grüße auf an alle Freunde, an bie verehrte 
Großmutter, an Wolfgang, feinen beim Jakob und ihre 
Grauen, an bie Schweftern, Vettern und Baſen, bie er nicht 
namentlich aufzählen fónne, befonders aud) an Dr. Ryff,' 
„patrono ac cognato meo summe colendo“?°) und hofft, 
feinem Heimweh möge ein frohes Wiederfehen folgen, 
Gott möge alle bie Seinen bebüten und ihnen Neftorios 
annos?®) fdenfen. 

Einige Wochen fpäter fíagt Safob von Saumur aus 
über das lange Schweigen der Eltern und benüßt die Ge- 
legenbeit, einem beimreifenden Schweizer einen Brief an 
fie mitzugeben; ferner erbittet er fid von Dr. Swinger”) 
Empfehlungen nad) England, wohin er im September zu ge- 
langen bofft, wenn ibm der Vater rechtzeitig Geld fchidt. 
On Saumur beginnen je&t ohnehin die Ferien, Franzoͤſiſch 
fónne er nun genug, und das Leben [ei teuer. So fuche 
3. 99. feine Philifterin, Eoftbare Gefchenfe — 6 filberne 
Löffel — zu ergattern und entpuppe fid) überhaupt als bab- 
fühtiges Weib, deren Gier er, falls er nod) länger in 
Saumur bleiben müffe, nur burd) Budenwechſel entrinnen 
fónne. Seber des Vaters Cparjamfeit fcheint ber lebens: 
Iuftige Syafob gelegentlich Dritten gegenüber den Kropf ge: 
[eert zu haben; das trug ibm von Heinricus Scalihius 
aus Glepe, ber 1609 in Baſel ftudierte, eine Zurechtweifung 
ein, in welcher der Schreiber ibm, wie es jdeint, triffige 
Gründe für des Vaters Sparfamkeit und Strenge ins Feld 
führte und ihn aud) an beffen liebevolle Treue erinnerte, die 
ihn, als er vom Sohne Gutes vernahm, nicht in Ruhe ließ, 


2) Meinen bod) zu verehrenden Gönner und Verwandten ; Peter 
Ryff (1552—1629) war Dr. med. und Profeſſor ber Mathematit. 

26) So hohe Jahre wie Neftor. 

71) Sat. Zwinger geb. 1569, Sohn bes Arztes Theodor Zwinger. 


224 


bis et digitos in lyram resolveret“?) In einem bem 
viro Clarissimo consultissimoque Domino principali 
des Rosches Salmurium“??) zugedachten Brief dankt ber 
Pater Jonathan für bie Empfehlung eines amicus do- 
mesticus und läßt e8 in einem weitern an den Sohn nicht 
an Grmabnungen und moraliihen Grórterungen fehlen; 
damit freuste fid ein vom 24. September aus Saumur 
batierfer 93rief des Sohnes an den Vater „ex Musaeo 
raptim^,9 in welchem er in dringender Weife ben Wunſch 
äußert, bald nad) England reifen zu füónnen. Ob er des 
Vaters 3uftimmung zu diefem Plan abgewartet bat, ijt nicht 
erfihtlih, wohl aber, daß er am 2. Oktober in 9'itré 
(Dep. Ille et Zilaine) weilte, von wo er fid nad Ct. 
Malo wandte und im Dezember in London eintraf. 
Wohl zu fpät, um ihn in Qranfreid) noch zurüdhalten zu 
fónnen, traf neuer Bericht vom Vater ein mit ber Weifung, 
Jakob folle fuchen, durch Vermittlung des Efajas de Mont: 
martin eine vornebme Sjauslebrerítelle zu erhalten, dann 
könnte er auch ordentlich [paren und aufhören, auf des Vaters 
Kredit Geld aufzunehmen. Offenbar brauche er zu viel; 
auch folle er die Zeit beſſer ausfaufen, früh auffteben und 
ih das Bummeln abgewöhnen. Ungefähr gleichzeitig 
gratuliert Sonatban dem Efajas de Montmartin de fa Tur- 
piniere zur Hochzeit, verdankt einen aus Terchant (unweit 
Vitré) erhaltenen Brief, fowie alle feinem Syafob erwiefene 
Steundlichkeit, fann es aber nicht faffen, Darüber zu jammern, 
daß fein Sohn bie Reife nah 9a Rochelle anftatt auf 
Schufters Rappen bod) zu Roß zurüdgelegt bat. 

Was nun fofgt, iff ein im Dezember 1609 in London 
abgefaßter und via Paris nad) Baſel fpedierter rief 
Jakobs an ben Vater, in weldhem von ben Verbindlichkeiten 
der Familie Montmartin gegenüber der Familie Meyer 
3) Mit den Fingern in die Leier griff. 

29) Dem angejehenen, gelehrten unb vorzüglidden Herrn bes 


9todjes. Saumur. 
% Aus bem Studiergimmer in Eile. 


225 T 


und feinen Reifeabenteuern bie Rede ift. Jakob fchreibt 
diesmal franzöfifh, um fid) über feine Fortfchritte in der 
Sprache und über das Recht, nad) England zu reifen, aus- 
zumweifen und um zu berichten „des adventures qu'il a 
pleu & Dieu de m’envoyer en l’espace de mes voyages 
. eterreurs.^ Er war von Saumur nad (dem Schlofle?) 
Terchant unweit Vitre geteilt, um den alten Herrn be Mont- 
martin aufaufuden unb an die finanziellen Verpflichtungen 
der Familie zu erinnern; aber er fam fid) bei bem vornehmen 
Herrn „pourtant mal venu et assez froidement recu“ 
vor. Da ibm vor allem England im Kopf ftedt, wandert er 
zunähft zu Fuß nad) Vitré, um fid bernad in St. Malo 
einzufchiffen. Aber in Vitroͤ trifft er den Gouverneur des 
Schloſſes an, den Herrn von Serdant, 93ruber des Gfape 
be Montmartin, unb der erzählt ibm nad) ber Rückkehr aus 
der Predigt feine Schidfale und eröffnet ibm, der Bruder 
weile mit dem Vater „en Poitou, pour tracter d’un 
mariage entre lui et une Damoiselle bien opulente.“ Auf 
den Rat des Herrn Zerchant wartet Safob Meyer die 
Heimkehr ber Montmartins ab; es erfcheint aber nur ber 
alte Herr und läßt Meyer zu fid bitten. Diefer ftellt fich 
ein. Der alte Herr gibt Auftrag „de me faire bonne 
chere“, worauf ber Geladene „des trippes bien sal&es“ 
erhält, „que jay mangées en la chambre de la despense.“ 
Sm übrigen fiebt er fid) gefoppt und febrt unverrichteter 
Dinge und ärgerli zu Fuß nad) Vitré zurüd, um dort auf 
den jungen Herrn de Montmartin zu warten „en un temps 
auquel (je vous asseure) ni la terre ni les hommes deman- 
daient de l'eau céleste pour &tre arronsés et rafraichis.“ 
Offenbar rohen bie Montmarting bie Q9unte. Nun be- 
ſchwerte fid) Safob beim Herrn von Serdjant, ber ibm feinen 
Zelter entgegenfendet, damit er nad) Terchant gelangen 
fónne. Hier wird ibm ein fchönes Zimmer [amt Bibliothek 
überlaffen und franzöfifche Gaftfreundfchaft feinfter Art an 
ibm geübt, [o daß Meyer nicht genug Rühmens von aller 


226 


ibm erwiefenen Eourtoifie madjen kann. So lebt er vierzehn 
Sage in Abrahams Schoß, bis er nochmals zum alten Herrn 
de Montmartin entboten wird. Der empfängt ihn, da die 
Söhne nod) auf ber Sagb find, ,honorablement" und 
weift ibm ein Arbeitszimmer an. Hier kann er fid) nod) 
weitere vier Sage im Warten üben. Eine weitere Ver- 
zögerung verurfacht der feierliche Empfang der Madame be 
[a Trémoille, bie nah Vitré reift, um an bem in allen 
Kirchen Frankreichs ffattfinbenben universel jeusne“ teil- 
zunehmen. „On faisait donc un grand appareil pour 1a 
recevoir, laquella arriva avec son fils au soir et 
soupait et disnait le jour suivant à Terchant.^ Dieſem 
Sohn „henrycus Tremolius Dux Thuartij anno 1609“ 
begegnen wir im Stammbudh. In Vitré, wohin der bobe 
Gaft von den Herren von Montmartin gebracht wird, darf 
Meyer neuerdings drei Sage warten. Doch endlich bietet 
fi) Gelegenheit, die Montmartins daran zu mahnen, 
„de satisfaire à mon hoste (Hrn. des Roches in Saumur) 
et que luy m'eust accepté en sa maison sur 8a recom- 
mandation... Au reste il m'a baillé encore 82 € Gallicas, 
plus encore qu'il ne falloit, pour laquelle somme je luy 
ay baillé un recepisse. Auch verfpricht er zudem, meinem 
Oheim (Wolfgang M.) 200 escus en or. zu fdjiden und 
mir 50 bis 60 escus. „Si feroit cela nous aurions suject de 
le remercier. Ses affaires de mariage se portent fort 
bien.“ Diefe unerwartete Vereitwilligteit zum Zahlen fam 
offenbar auf Rechnung der mit der „Damoiselle bien opu- 
lente" geglüdten Heirat! Vor der Abreife von Zitre teilte 
Meyer feinem Gaftgeber in Saumur den günftigen Stand 
ber Dinge mit; bann bricht er gegen Bezahlung eines 
Saler8 zu Pferd (des fchlechten Wetters wegen) nad 
Ct. Malo auf, wo er nad) drei Tagen eintrifft, „oü est le 
plus prochain port de la mer“. Big er Zahrgelegenbeit 
findet, vergehen 15 Sage, und als endlich günftiger Wind 
einfeßt, ftibf er auf einem englifhen Schiff in See. Raum 


997 15* 


find 15 Meilen aurüdgelegt, [o müſſen fie des ftürmifchen 
Wetters wegen umkehren (e8 war November!) und nod) 
weitere 4 Tage in St. Malo Srübfal blafen. Endlich fonnte 
man bie Meerfahrt riskieren, und nachdem man einen Sag 
und eine Naht auf dem Wafler zugebracht batte, erreichte 
man einen Heinen Fleden und legte 7 Meilen bis zur nächften 
srößern Ortfchaft zu Fuß zurüd. Am folgenden Tag fonnte 
fi Jakob Meyer einer Gefellihaft von englifchen Kauf: 
leuten anfchließen und mit ihnen in die zunächſt gelegene 
größere Stadt reiten, wo er einen Boten fand, der ihn gegen 
Bezahlung von 5 Talern für Roß und Reiter mit nad) 
London nahm. Eſaye be Montmartin hatte ibm eine Emp- 
fehlung an ben Geiftlichen der dortigen franzöfifchen Ge- 
meinde, einen gewiflen Aurelius, mitgegeben, bie ihm 
von Nußen mar; ferner trug er ein Empfehlungsfchreiben 
von Mr. be Pleffisan Serm dela Fontaine, ben 
Senior ber bugengttifchen Geiftlichkeit in London, bei fidh. 
Diefe beiden Herren bittet er, „de me presser la main 
pour avoir quelque entrée chez Mr le Grand Thrésorier, 
qui m'adressoient aux ministres de l'Eglise Flamenne“, 
ba ber Gefretär des Threforier ein Flamländer mar. Durch 
Vermittlung des Grand Threforier hoffte er auf Gelegen- 
beit, bem König felber vorgeftellt zu werden, um ihn daran 
erinnern zu fónnen, mit welchem Recht er Anſpruch auf 
einen Greiplag an ber Univerfität zu Cambridge erheben 
dürfe. Otebenber laufen dann freilich noch andere, geichäft- 
[ide Ungelegenbeiten, fo a. Q3. der Auftrag des Vaters, 
einen Magifer Laurentius, ministre de l'eglise 
Francaise, an Erfüllung alter Verbindlichkeiten zu mahnen, 
wobei fid) ihm deflen Better, der Arzt Dr. Clement, ber 
1596 als „Guilhelmus Clemens Anglus" in der Basler 
Univerſitätsmatrikel figuriert, febr hilfreich erweift. Dr. Cle- 
ment nimmt Meyer zu einem gemijlen Suded mit, der, 
wie e8 fcheint, im Falle war, auf ben faumfeligen Laurentius 
einen Drud zu üben. Allein zu Haufe tft Suded [o wenig 


228 


aufzutreiben wie an ber Börſe, „ou les marchands ont 
leur assemblée à midy“, unb Meyer fcheint beide, Lau- 
rentius und Suded, im Verdacht gemeinfam verabredeter 
Srülerei gehabt zu haben. Sicher war nur das Eine, daß 
des Laurentius Gläubiger in Baſel das Nachfehen hatten. 

Ein anderes Mitglied der flämifchen Geiftlichkeit in 
London, Symeon Ruytind (er nennt fid im Stamm- 
buch „Ecclesiae Londino-belgicae pastor“), der uns 1599 
unfer der Bezeichnung „Simeon Rutingius Anglus“ in ber 
Basler Univerfitätsmatrifel begegnet, führte Meyer beim 
Gefretár des Grand Threforier ein, der ihn „honorable- 
ment“ aufnimmt. Nun bittet Meyer dringend, dem Thre- 
forier vorgeftellt zu werden, „pour obtenir quelque faveur 
de luy profitable à mes affaires.“ [ber der Geltetär 
gibt ibm deutlich zu verfteben, daß ber Q3ittfteller vor allem 
feine Empfehlungsſchreiben abzugeben babe, vorher dürfe er 
auf Feinerlei Gefälligfeiten zählen; andernfalls hingegen 
werde er ihn „tout droit chez Monsieur“ führen. Den 
Schluß des Briefes bildet das alte Lamento tiber des Vaters 
Knorzerei, bie den ungenügend ausgeftatteten Sohn zwinge, 
Drittperfonen angupumpen. Zum Glüd babe Efajas be 
Montmartin ibm aushelfen können, aber einen einzigen 
Sohn follte man nicht in der Fremde fo fteden faffen. 

Auf der andern Geite hielt nun freilich der Sohn ben 
Vater aud) nicht immer auf dem Laufenden. Wenigftens 
fab fid) anfangs Februar 1609 der Vater Sonatban ver: 
anlaft, bei Gebeon de Montmartin nachzufragen, ob eg 
richtig fei, baB Safob fdon im Oktober nad) England ver- 
reift fei, und ihn zu bitten, ibm über Jakobs Auslagen Rech: 
nung zu ftellen; gleichzeitig empfiehlt er ibm feinen Sohn 
zu freundlicher Aufnahme und fügt bei, er fei leider durch 
Amt und Gefchäfte zu früh ben Wiffenfchaften entfremdet 
worden. Auf mancherlei bange Fragen, bie den befümmerten 
Vater beunrubigten, gibt nun ein fehr ausführliches 
Schreiben des Sohnes vom 4. Februar 1610 aus Cambridge 


229 


in lateinifcher Sprache eingehende, menn auch nicht febr er- 
freulihe Auskunft. Er verleiht zunächft feiner Ungeduld 
über das [ange Ausbleiben von Nachrichten aus der Heimat 
Ausdrud. Nicht einmal Zantalus könne mehr nad dem 
von den Lippen zurüdweichenden Wafler geſchmachtet haben 
als er, Safob, nad) Nachrichten aus der Heimat; denn feit 
fünf Monaten babe ibm „nil patriorum radiorum“®!) 
gefchienen, er fei von Trauer und Trübfinn heimgefucht, und 
es mögen nun bie Seinigen aus dem Folgenden die Summe 
feines Mißgeſchicks erfahren. Zunächft wehrt er fid) gegen ben 
Vorwurf, als ob er fid) unverantwortlic lange in London 
berumgetrieben hätte; nicht länger als ad) Tage hätte er 
fid) bier aufgehalten, b. b. nur fo lange, bis ibm Freunde für 
fein Austommen in Cambridge geforgt hätten. Denn mit 
ber Zreiftelle an der dortigen Univerfität batte es, wie wir 
nod) feben werden, feine Häkchen. Ohnehin wäre es ibm 
übrig geblieben, zum bloßen Zeitvertreib bier zu bleiben, ba 
er von allen Mitteln entblößt gewefen fei. Zum Glüd babe 
ibm Dominus Laurentius mit 50 englifden Minen aus- 
geholfen unb fonnte auf bieje Weife feinen Verbindlichkeiten 
gegen die Basler Freunde wenigftens teilweife nach— 
fommen; fodann erwies fid) Dr. Clemens als getreuer Not- 
helfer, fonft, meint Salob, wäre er ärmer als weiland König 
Gobrus. Aber Clemens babe ihn an einen 23ürger von 
Cambridge gewiefen und der babe ibm 3 ,coronatos 
Gallicos“ gepumpt; freilich fei ihm aud) Geld geftohlen 
worden, „ich weiß zwar nicht, warn und mo. Aus bem 
geliebenen Geld taufchte id) meinen weißen Mantel gegen 
einen fchwarzen um, damit id) nicht „Marti potius quam - 
Arti Minervae“®?) ergeben [djeinen möchte. Mit einem ge- 
wöhnlichen Gubrmann fam ich mübhfelig und unter Schwierig: 
keiten bei heftigem Sturm und fcharfer Kälte und Schnee- 
‚geftöber nad) Cambridge, wogegen id) mich wegen Mangels 
81) Nichts von den (Liebes)itrahlen des Vaters. 

$$) Mehr dem (Kriegsgott) Mars als Minervas Kunft. 


230 


an ordentlicher Kleidung nicht genügend wehren fonnte." 
An Cambridge bezog Jakob Meyer vorerft eine dem 
Gollegium Trinitatis gegenüberliegende Herberge beim näm- 
[iden Wirt, bei bem fdon Onkel Wolfgang zu Gafte ge- 
wefen war. „Bei ibm haufen einige Magiftri artium,?2) 
ferner Studenten der Theologie, Gelehrte, mit denen id) in 
ber erften Nacht zu Abend fpeifte.e Sie beftätigten, Lau- 
rentius fei in Cambridge, und fandten einen Famulus zu 
ihm. Das führte zu einem Beſuch Meyers bei Laurentius, 
ber ben jungen Basler freundlich aufnahm und behauptete, 
feinen Verpflichtungen gegen Sonathan Meyer nad)gefommen 
zu fein. „Er ver[prad) mir aureas monetas,?*) bod) war 
er, wie gewohnt, halb betrunfen. Am folgenden Tag... 
gedachte id) Digniffimum D. Ratcleif zu befuchen, an 
ben id) von bir empfohlen war, unb ihn in Sachen um guten 
Rat anzugeben. Der fam mir mit väterliher Güte ent- 
gegen und rief mir, in der zuerft befuchten Herberge zu 
bleiben, und verfchaffte mir beim Wirt Kredit. Laurentius 
fuhhte mid) mit fchönen Redensarten bingubalten, er werde 
mid) nicht im Stiche faffen; er verduftete aber nad) London, 
während Dr. Ratcleif mir burd Zreunde beigufteben 
verfuchte.“ 

Nun kommt bie Rede auf einen Brief des jungen 
Aerander Henric Petri) den diefer aus London an 
Jakob Meyer gefchrieben batte; Petri mar ein Studiengenofle 
Meyers und gleich ibm 1604 in 93afel immatrifuliert. Im eben 
erwähnten Brief befchwert fid) der Schreiber über bie Zer- 
dächtigung von Jakobs Vater, als habe er, Petri, bem Jakob 
feinen Mammon burdjagen helfen, aufs bitterfte. Immerhin 
geht aus bem Mitgeteilten hervor, baB die beiden in London 
fröhlich gelebt und auf einen Si 12 coronatos verjubelt 
hatten, zum großen Verdruß des haushälterifchen Sonatban. 

 Magiiter ber (freien) fünfte, 

94 Gold. 


9$) Sebaftian Henric⸗Petri; es ijt fonft nichts über ihn befannt; 
vgl. Familiengeſchichte der Petri 1891—1918. Nürnberg 1918. 


231 


Der junge Henric Petri fcheint bem Vater Meyer deswegen 
auf der Basler Pfalz eine ffanbalófe Szene aufgeführt zu 
haben, die beim Sohn noch nachzittert, wenn er plößlich aus 
dem Lateinifchen in die Heimatfprache fällt und fortfährt, 
„mit meldem Web id) das vernahm, fann ich nicht fagen, 
zumal id) hiezu Urfache mar." — Am Neujahrstag 1610 [ub 
ihn der Genefhall (Oberhofmeifter) auf Geheiß des 
Dr. Ratcleif zu einer Mahlzeit ein, bei ber er gerade . 
aud) die Feierlichkeiten des Collegiums S. Srinitati8 zu 
leben befam; die Bewirtung bezeichnet er als einfad) unb 
feineswegs köftlih. „Sch wurde”, fügt er bei, „aufs freunb- 
lichfte von ben Genoffen des Collegiums aufgenommen wegen 
meines Oheims Wolfgang, ber bier in fo gutem Rufe ftebt, 
daß felbit Heigmann (Wolfgangs ZTochtermann) feinen 
Ruhm nicht verbunfelr fann. Ic bentüte auf das freiefte 
bie Bibliothek des Collegiums ZTrinitatis. Da id) aber bei 
meinem Wirt fein bequemes Studierzimmer und Bett fand, 
mietete ich auf den Rat des Dr. Ratcleif ein Zimmer bei 
einem Bürger, das id) mit bem Franzoſen Capellus ?9) 
teile, defien Bruder Geiftlicher an der Kirche von Géban ift; 
jener iff ein gebildeter und verftändiger Mann.” Mit ibm 
fonverfiert Safob häufig. Unter der Winterfälte [itt unfer 
Studiofus nicht wenig und war baber bem Dr. Clemens 
febr dankbar, als er ibm zur 23efdjaffung eines Anzugs be- 
bilffid war. Bei einem Londoner Tuchhändler wurde der 
gewünfchte Stoff für Wams (thorax), Mantel (superindu- 
mentum) und Rniehofen (foemoralibus) gefunden. Sud) und 
Macerlohn famen auf 3 englifhe Pfund unb 10 As zu 
feben. Dr. Clemens bewies feine Anbhänglichkeit an Baſel 
duch Wohlwollen und herzliche Freundlichkeit gegen Jakob 
Meper. 

Aber freili in der Hauptfache, b. b. für den Bezug 
des DBucerfhen Stipendiums, fchlugen feine Hoffnungen 
fehl. Er fam bald zur Ueberzeugung, daß er unter allen 

35) Vgl. Jahrbuch 1913. ©. 89. 


232 


Umſtänden gewichtiger Empfehlungsichreiben bedürfe; nicht 
bloß die hohe Regierung, fondern aud) bie Verwandtichaft 
(Wolfgang) und bie amicitia Magnatum waren erwünfcdt, 
und nicht eine Empfehlung für fid allein, [onbern eine ganze 
Reihe von folhen vermöchte allenfalls den gewünſchten Gin- 
brud bervorzurufen. Da baben wohl bange Ahnungen den 
Srobfinn des jungen Mannes niebergebalten, auch ver: 
ftimmte ihn bie Spärlichkeit der Meldungen aus dem Eltern: 
haus und vor allem die Knappheit der Mitte. Dur 
Privatunterricht fuht er aus der Klemme zu fommen unb 
beinahe wäre e8 ibm gelungen, duch Vermittlung von 
Dr. Ratcleif bei einem Herten von Mel eine Hauslehrer: 
ftelle zu befommen, bie ihn allerdings zum Leben auf bem 
Land gendtigt hätte, aber es fam ihm ein anderer zuvor, 
ebenfo batte er mit feinen Verfuchen, durch Unterrichten im 
Stanzöfifchen fid) durchzufchlagen, nur Pech. Kurz, er ver: 
fteigt fid) zu bittern Vorwürfen gegen den Vater, der ibm 
zumute, in Cambridge von Geldern zu Leben, bie er fchon 
le&te8 Jahr in Frankreich aufgebraucht babe. Wohl kenne 
er das Gebot „Ehre Vater und Mutter”; es heiße aber 
aud): „Ihr Väter, reizet eure Kinder nicht!" Und menn 
Gott von den Kindern Gehorfam gegen die Eltern fordere, 
fo fchreibe er eben auch diefen vor, fid) gegen bie Kinder [o 
zu benebmen, daß fie des Eindlichen Geborjams würdig er- 
(einen. Er molle ja gerne die Auslagen für oft unb 
Kleider verdienen, aber wenn das nicht gerade auf bet 
Stelle möglich fei, fo follte ibm der Vater die Mittel zum 
Leben und zum Studium nicht verweigern und amaden, er 
fei ja bod) der einzige Sohn. Hoffentlich treffe fein Brief 
rechtzeitig genug daheim ein, daß er die Antwort durch bie 
an bie Srankfurter Meſſe reifenden YBuchhändler (biblio- 
polae) erhalten könne. Sm übrigen babe er fid) divina gratia 
immer fo aufgeführt, baB er den Unterfchied zwifchen Gut 
unb 9308 fenne unb Gott immer bitte, ihn vor bem Böſen 
zu bewahren und das etfannte Gute erftreben zu laflen. In 


233 


biefem Ton geht es weiter. „Sch erinnere mid), mie ungern 
bu es (abeft, wenn (deine Studenten und Hauslehrer) 
Knuthins und Pfifter mir nicht bie größere Hälfte des Tages 
widmeten. Dem Laurentius habt Sbr Gutes ermiejen in 
Hoffnung auf Bezahlung und Rüderftattung . . . Grfenne 
barum endlich, baB es Zeit iit, denen Gutes zu erweifen, die 
mir Geld [eiben." Nun hätte freilich Laurentius ber Fa- 
milie Meyer Schulden abzuzahlen, fo lange das aber nicht 
geſchehe, folle nicht ber Schreiber e8 büßen müffen; auf jenen 
fónne man nun einmal nicht zählen und noch weniger einen 
Drud auf ibn ausüben. Er, Safob, babe verfucht, mit Hilfe 
des Dr. Ratcleif in das Kränzchen (calculus) der Theologie- 
ftudenten aufgenommen zu werden, wodurd ihm das Recht 
zur Seilnabme an den Disputationen aufiele; aber Ratcleif 
hielt ibm indigentiam nummorum?") vor; nut wer im 
Golfegium wohne, werde zu ben Disputationen zugelaflen. 
Satalerweife babe Obeim Wolfgang ihn nicht genügend auf 
diefe Schwierigkeiten aufmerfjam gemadt. Dem Dr. Gry- 
naeus und Polanus läßt er für ihre 93emübungen 
danken. Sollte er bod) nod) im Collegium Aufnahme finden, 
fo müßte er fid) eine Toga anfchaffen. Noch ein le6ter Stoß: 
feufzer entringt fid) dem jugendlichen Dulder: wie gut hätten 
e8 bod) die Studenten, bie, von feinen Sorgen bedrüdt, 
immer rechtzeitig ihr Gelb vorfänden; fie könnten in erjprieß- 
lider Weife arbeiten, ruhig und unbeirrt ihren Kon— 
templationen nad)büngen, er aber fühle jid) in feinem Senfen 
und Sinnen geftórt. Wolle ihn der Vater ftudieren laflen, 
fo müfle er ibm aud) die Mittel dazu an bie Hand geben. 
Durch bie Gefülligfeit des Petri, ber via Paris nad) Granf- 
furt reife, gebe diefer Brief ab, und durch ihn oder einen 
andern Buchhändler erwarte er Antwort. 

Gleichzeitig mit biefem Brief ging ein Schreiben an 
Polanus ab, in weldhem Jakob dringend um Fürſprache 
beim Rat für ein Empfehlungsichreiben an den König 

8) Den Geldmangel. 


234 





bittet. Der Q3ittfteller möchte „eadem studiorum subsidia 
in Anglia“ finden, „quae olim patruus meus.“?®) Er be- 
nötige gar mancherlei Empfehlungen, „praecipue autem In- 
clyti nostri Magistratus, quae plurimum haberent momenti 
ad Regis animum emolliendum.^??) 

Ob Safob$ Lamentationen beim Vater Eindrud machten, 
möchten wir bezweifeln, menn man in einem Brief des 
le&tern, im März 1610 an Safob ad Nundinas (auf bie 
Srühlingsmefle) gerichtet, Tief, wie er dem Sohn vom 
nobilis juvenis Bernhardus Brand‘) berichtet, 
biefer babe auf Reifen 1000 Gulden gewonnen, Safob da- 
gegen ebenfoviel verbrauht. So febrt die leidige Geld- 
frage in allen nur denkbaren Variationen wieder. Serm 
93artbolomé PBincent gegenüber erwähnt Sonatban, 
Monfieur Efaye de Montmartin fei „nostre vieil debiteur“ 
von „trois cents Escus“, unb es wird bem Jakob vor- 
gehalten, er babe Bezahlungen verfprochen beffen „que 
nous avons déboursé désja sept ans.“ Und ba Mon— 
fieur be Montmartin den Safob in Saumur ,aupreés de 
Monsieur des Roches“ einquartiert babe, [o möchte er num 
aud) in Sonatbans Auftrag biefem das Koftgeld für Jakob 
ausbezahlen und auf biefe Weife feine alten Basler Schulden 
abtragen. Sod) Montmartin drüdte fid) um diefen Auftrag, 
ba er gerade Hochzeit feierte, fo daß fid Sonatban fpäter 
bitter über bie „ingratitude et négligence de Mr de Mont- 
martin“ befchwerte. Er babe ibn feinerzeit überredet, Jakob 
nad) Granfreid) reifen zu [affen; wegen der franzöfiichen 
Sprache hätte e8 Genf aud) getan. Beide Montmartins 
lohnten bie in Baſel ihnen erwiefenen Wohltaten mit 
fhnödem Undank. Sm Oftober 1610 meldet Sonatban, die 


88) Die nümlidje förderung feiner Studien in England, wie 
mein Obeim. 

8) Beionders aber unjerer Erlaudten Obrigkeit, welche (fc. Em: 
pfehlungen) am meiften Einfluß auf die Umftimmung des Königs 
haben dürften. 

49) Geb. 1586, Oberftzunftmeiiter. 


235 


Opeft regiere in 23afef, aud) Wolfgang babe einen bubo. 
Jakob ermibert, fie breite fid aud) in Cambridge aus, fie 
baufe (fchreibt er am 4. Auguft 1610) in 3 bis 4 Häufern 
in ber Nähe der Golfegien; „nostra platea ov» 9e adhuc 
libera^*!) QGinige Genioren des Collegiums — Srinitatis 
feien deshalb aufs Land gezogen und würden vor Michaelis 
nicht gutüdfebren. Aus 23afel lauteten bie Nachrichten über 
bie Peſt düfter genug.  ,?ínbertbalb Sabre lang (ses- 
quiennium) ſchreibt Jonathan Meyer am 3. Zuli 1611 an 
Dr. Ser. Ratcleif, „bat uns bie Peft beimgefudbt"; nur 
aus biejem Grunde babe er fo [ange nicht gefchrieben, 
4000 Menfchen jeien daran geftorben;??) allein in ber engern 
Familie beflage man 34 Tote. Inter dem Drud der er: 
fchütternden Ereignifle erklärt fid) auch einigermaßen die 
Schwarzfeberei des Vaters in bezug auf das lange Schweigen 
des Sohnes. Am Ende fei er unter dem Einfluß leicht: 
finniger Freunde auf Abwege geraten, wie fhon in Franf- 
reich. Auf ben Sohn fcheint des Vaters gedrüdte Stimmung 
nicht ohne Ginbrud geblieben zu fein. Schon in einem 93rief 
vom 4. Auguft 1610 aus Cambridge fucht er, nachdem er 
eines Totſchlags bei einer ftudentifchen Rauferei erwähnt, 
den Pater aufzubeitern mit dem Dichterwort: „Tu ne 
cede malis, sed contra audentior ito“*°) er hält für befler, 
ibn zu tröften als zu bemitleiden, und muntert ihn auf, bei 
allen Anfechtungen und Kränkungen aufrecht zu bleiben. Ihm 
rate man, fid) in Cambridge ins Collegium Zrinitatis auf- 
nehmen zu laflen, „utpote opulentissimum"**) e$ fei liberal 
gegen Fremde, und man [ei dort nicht teurer als anderswo, 
auch finde er dort noch viele Freunde aus Wolfgangs Zeit, 
bie ibm gewogen feien, fodann ftebe eine reich ausgeftattete 
Bibliothek zur Verfügung  Gurd Haringtonii S'ermitt- 
4) Unfere Straße iit Gott jet Dant nod) frei. 

2) Genau 3968 nad) Felix Platters Zählung (Vgl. Basler Uni- 
verfitätsprogramm 1908 von 9f. (€. Burdhardt.) 


49) Weiche bem Mißgeſchick nicht, tritt ibm nur fiibner entgegen! 
4) Gewißermaßen bas pornehmifte. 


236 


[ung befam Jakob zunächſt ein jährlihes Stipendium von 
10 Pfund. Wenn er aber von daheim fein Geld befomme, 
fo müſſe er eben heimfliegen. „Don der englifchen Sprache 
babe id) mir [o viel angeeignet, baB id) bas Gelefene meiftens 
perftebe unb zu fprechen anfange; aber id) finde bie Aus: 
fprache biefet Sprache febr fchwierig; ber Obeim wird meiner 
Meinung beipflichten.” 

Dem Arzt Dr. Arthur Dee in London, der 1609 
in Baſel ftubiert batte, Hagt Jonathan in refignierter 
Stimmung, Hauptfache bleibe das Ignorieren des nun hinter 
ihm liegenden Lebens und ein gedeihliches Studium feines 
Sohnes, über deflen Verbleiben er feit mehr als 2 Jahren 
nichts erfahren babe (?). Ebenſo fchüttet er bem Buch— 
händler Otimaeus in London fein Herz aus: „Er (Safob) 
wurde bod) bochverehrter patrone, auf bie bochberühmte 
Schule von Cambridge gefchict, nicht aber nad) London, 
mwofelbft er leider öfters unb nur allzu lange foll bangen ge: 
blieben fein." Er babe fdjon in Frankreich allzu viel vertan 
und fei von einem andern Basler verführt worden, ber fid) 
nun leider aud) in London herumtreibe. Ein paar Wochen 
fpäter bittet Jonathan den Sekretär: „des Suisses du roi“, 
Sebaftian Ramfped in Paris, er möchte bod) möglichkt 
verhindern, daß, wie verlaute, fein ungehorfamer Sohn mit 
dem Schlingel Alerander Petri nad) Mailand durchbrenne, 
und ihn vielmehr — Jakob war alfo fdon in Paris — zur 
ORüdfebr nad) England veranlaffen. 

Saktifh Lehrte Safob aus feiner faum zu leugnender 
Sturm: und Drangperiode im September 1611 nad) Baſel 
zurüd und trat dann im April 1612 neuerdings die Reife 
nad) England an. In ber Zwifchenzeit amtierte er in der 
PBaterftadt ale Gemeinhelfer. Unterm 24. Suni 1612 
fchreibt Safob aus Cambridge lateinifh dem Pater: „Nun 
follft du wiflen, daß ich nad ber Durchwanderung von 
Holland und Geeland in Pliffingen ein Lazarettichiff 
(valetudinariam navem) beftiegen habe (denn es plagte mid) 


237 


anhaltend ein fchleichendes Zieber) unb bei günffigem und 
erwünfhten Wind nad England gefommen bin. Diefe 
Seberfahrt war mir einigermaßen zuträglich, denn fie be. 
feitigte viele in meinem Leib verborgene fchlechte Säfte.” 
Otad) feiner Ankunft in London übergab er fofort dem König 
auf den Rat unb nad) der Anleitung des hochverehrten Rates 
(praesulis) Bathon fein Empfehlungsichreiben. Wie 
es fcheint, ohne Erfolg. „Das Schreiben wurde vom König 
gelefen und aurüdbebalten, aber ohne irgenbmeld)en Nuten 
oder irgendwelche Erfprießlichkeit für mich; es erfolgte von 
feiten des Königs feinerlei Antwort, feine Wohltat, und ich 
fann aud) fürberbin auf feine zählen.” Meyer Eonferierte in 
Saden mit Dr. 9(rtbur Dee. Swifchenhinein taucht 
dann ber unvermeidliche Laurentius auf, bem Syafob keinerlei 
Geftändnis bet dem Pater Sonatban fehuldigen Summe 
entwinden zu fónnen hofft. Da es nun bod) zu feinem Sti⸗ 
pendium reichen wird, fo entfchließt fid) Safob, nur [o lange 
in England zu verweilen, als die vorhandenen Mittel es 
geftatten. Während feines vierwöchentlichen Aufenthalts in 
London bat er fid) einen „nicht gewöhnlichen Schag von 
engliihen Büchern“ erftanben, mit denen er daheim zu 
paradieren hofft. Hierauf iff er nad Cambridge zurüd- 
gekehrt und dafelbft früheren Verpflichtungen nadgefommen ; 
leider bat er auch erfahren, daß „patronus noster, Doctor 
Radcliffus“ geftorben jei, und überhaupt manches während 
feiner Abwefenheit fid) geändert babe. Er gebenft nun noch, 
Orford zu befuchen und fo lange dafelbft zu verweilen, als 
bie Mittel reichen werden. Das Eöniglihe Stipendium 
fchlägt er fid aus dem Sinn und beabfichtigt, im September 
nad) Haufe zu reifen, falls er nicht von daheim zur Ver—⸗ 
längerung feines Aufenthalts aufgemuntert wird. 

Der gleichzeitig an den Oheim Wolfgang aufgegebene 
Brief ergänzt und erweitert den obigen in verfchiedenen 
Punkten, jo befonders im Reifeberiht. Was er unterwegs 
bis nad) Köln erlebt, werde man feinen aus Frankfurt und 


238 


f ín batierten Briefen entnommen haben. In Heidelberg 
fei er von feinem Verwandten Rodolphus, ben die Eltern 
kurz hielten, angepumpt worden; unter Tränen babe er ihm 
einige Gulden entlodt und ihn mit der Entfchädigung ber 
Eltern vertröftet, er aber habe vorgezogen, ibm ein Geld- 
sefhent zu mahen „Am 16. April verließ id) in Be— 
gleitung ber 93rüber Zfelin Frankfurt, um Köln zu er- 
reihen, wobei mich unabläffig jenes effe (pallida) Fieber 
begleitete, das id) nicht einmal duch eine Purgaz mit 
22 Ci&ungen in Köln los werden konnte (purgatione viginti 
duarum sedium). Auf alle Dertlichkeiten, bie ihm Wolf: 
gang im Reifeplan notiert, gab er acht, mußte aber aud) bie 
befannte Wahrnehmung machen, bap manchem Studien- 
freund feines Oheims Wolfgang, an ben er Grüße aus: 
richten follte, defien Name entfallen war per injuriam tem- 
poris,*) wohl aber hätte fid) feiner der Geiftlihe Joh. 
Le Marie in Amfterdam nod) febr wohl erinnert. „Ebenda 
nahm id einen Aderlaß vor und wurde von Emanuel 
Gfelin freundlich aufgenommen. Am 7. Mai neuen Stils 
brad) id) von Amfterdam nad) Harlem auf, und von da ge- 
langte id) nad) Leyden, unb da fann id) nicht genug bie 
Leutfeligkeit unferes Arnold (,Soannes Arnoldus Lug- 
buno Batavus“ ftudierte 1603 in Baſel) rühmen und bie 
Rechtſchaffenheit jenes einäugigen Bürgers, bem wir in 
Bafel nicht ebenfo mit Wegzehrung beigeftanden hatten. 
Bon ibm war D. Arnold von meiner Ankunft unterrichtet, 
unb er zeigte mir nicht bloß alle Sehenswürdigfeiten, fondern 
bedachte mich obendrein aufs gütigfte mit einer Mahlzeit, 
einem Bett und einem Frühſtück und nahm mich, mas id 
am höchſten fchäße, unter die Zahl feiner Freunde auf. 
Jener aber (der Einäugige) [ub mich nicht nur in fein Haus 
ein, fondern wollte aud) unfer Trinkgeld zurüderftatten; als 
. id) es nicht zuließ, übergab er’s bem D. Arnoldus zur Ver: 
teilung an die Armen, gewiß ein nicht gewöhnliches Beiſpiel 
) Durch bie Unbilden der Zeit. | 


239 


außerordentlicher Noblefle . . . Yon Leyden fam id nad 
bem Haag (des Grafen), wo id ben Mauritius (von 
Oranien, 1567—1625) frübftüden (ab, von bier aus nad) 
Delft (Delphos), Rotterdam, Dordreht unb endlich nad) 
Dliffingen, und zwar fo günftig, baB ich gerade ein zur 
Abfahrt bereites Schiff traf, auf welchem wir nad) 21 Stunden 
oi» de (mit Gott) in Grapefinba (Gravesend an der 
Sbemjemünbung) lanbeten: ber Wind ent[prad) durchaus 
unfern Wünfchen, und zwar fo, daß er einen gewaltigen 
Waſſerſchwall in das Schiff warf, fodaß viele ben Namen 
des Erlöfers anzurufen begannen. Es war ber 13. Tag des 
Mai, da mir von neuem England zu erbliden zuteil ward. 
Nach meiner Ankunft in London gab ich meine Briefe ab. 

Seiner Majeftät dem König (Safob I. von England 
1566—1625) gab ich den ihrigen fofort am folgenden Tag 
eigenhändig, als fie ad sacellum**) ſchritt, dem Biſchof 
Bathon den feinigen, bem O. Harington den feinigen, 
ebenfo den andern die ibrigen." Jakob Meyer war auf den 
Rat des Biſchofs 93atbon fo vorgegangen, der König hatte 
das Schreiben genommen, „und als er aus ber Verſamm— 
[ung fam, hielt er es in der Hand und trug es mit fid) auf 
fein 3immer. Ich wartete in London ungefähr einen Monat 
auf Antwort, drängte, fuchte den Biſchof auf, bat ihn, er 
möchte den König an bie Antwort mabnen und ibm meine 
Perſon empfehlen; endlich, als ich nichts ausrichtete, beſchloß 
id) nad) Cambridge zu meinen Freunden und Studien zurüd- 
gufebren. Der Biſchof machte vielerlei Gründe geltend, 
warum er ©. Majeftät den König nicht wohl auffuden 
fónne, und ich muß gefteben, daß er durch febr viele Sorgen 
unb Geichäfte in 9[nfprud) genommen war. Es waren 
nämlich [don vor meiner Ankunft am Hofe anmefenb bie 
Gefandten des Königs von Frankreich, der Herzog von 
23ouillon (Bullioneus) zufammen mit bem Serm von Tre- — 
mouille, Herzog von Thouars; beide unterhandelten mit 


49) In die Kapelle. 


240 


bem nig, baB er feine Zuftimmung zu ber Heirat des 
Stanzofen mit der Spanierin erteilte, (Ludwigs XIII. mit 
der Tochter Philipps III. von Spanien, der Infantin 
Donna Anna) unb aud) feine Tochter Elifabeth dem Pfalz: 
srafen (Zriedrih V. von der Pfalz, bem fog. Winterfönig) 
zur Ehe gäbe; fie follen beides durchgefegt haben. Als bie 
Gefandten nad Frankreich zurüdgelehrt waren, fühlte fid) 
der König mehrere Tage nicht febr wohl; bald nachher wird 
ibm ber Zod des Großfchagmeifters (Magni Thesaurarii) 
gemeldet, der ihn mit neuen Sorgen erfüllte. (o fam es, 
daß ich wegen diefer febr wichtigen Staatsangelegenheiten 
mit meinen Privatangelegenheiten ignoriert wurde. Weil 
id) fomit allem Anfchein nad) mich vergeblich bemühte, reifte 
id) nad) Cambridge ab; zuvor aber fah ich mich nad) jemand 
um, ber in meiner Abwefenheit den König und ben Biſchof 
beeinfluflen fónnte. Denn ber Bifchof batte veriprochen, 
bei erfter Gelegenheit vom König eine Antwort zu erbeten. 
Anderfeits batte Meddus (Medufius — ftubierte 1595 
in 93afef) verfprochen, den Bifchof zu drängen . . ." 
„Leber die Angelegenheit des Carlyle”, (Laurentius 
„Carleil“ Londinenfis Anglus ftudierte 1608 in 93afef), ber 
allem Anfchein nah in 93afef. Schulden binterlaffen batte, 
„Tann id) bir nichts Beſtimmtes fchreiben, außer das eine, 
daß id) zuerft mit den Freunden verhandelte, baB ich feine 
Eltern auffuchte und nachfah, ob fie ihren Sohn von ihren 
Schulden befreien wollten, daß ich ferner, da diefer Weg 
nicht zum Ziel führen wollte, über den Rechtsweg nachfann 
und meine Freunde in biefer Sache um Rat fragte. Endlich 
merkte ich fo viel, daß ich felber der Sache wegen zu Fall 
fommen Eünnte, menn Garlyle burd) einen Eid verficherte, 
er fei niemanden etwas fchuldig, und er babe jenes Schrift: 
ftüd (offenbar einen Schuldbrief) nicht ausgefertigt und mit 
feinem Giegel verfehen, und feine Vergleichung weder ber 
Schrift nod) der Cdulbanfprüd)e gelte bierin etwas; id) 
merkte ferner, bap ich überhaupt in der Cade nichts gegen 


241 16 


ibn ausrichten fónne, fobald er alles beftreiten wolle, ba mir 
feine lebenden Zeugen zur Hand feien, bie allein in biejem 
Königreih von Gewicht und Geltung find. Endlid wurde 
erfannt, daß in „curia Conscientiae", in elder bert 
Kanzler den Vorſitz bat, der Mann vor bie Geridtsfdranfen 
zu rufen fei, wo die (Cade leichter in fürgerm Verfahren, 
aud) mit geringern Auslagen zu Ende geführt werden könne, 
wobei ich felber aber aud) den fürgern ziehen kann, falls 
Carlyle einen Meineid leiften follte.” An anderer Stelle be- 
merkt der Driefichreiber: „Die Leute wollen an derartiges 
nicht gern erinnert fein und find in biefem Punkt febr ver- 
geBlid) . . . in bezug auf Erwerbung englifher Bücher habe 
id) befanntlich weder Zeit, nod) Mühe, nod) Koften gefcheut 
und fcheue fie aud) jetzt nicht.” 

Mit diefem ausführlichen Brief, aus bem die Erfolg- 
Lofigfeit aller Bemühungen Jakob Meyers, einen Zreiplat in 
Cambridge zu gewinnen, deutlich hervorgeht, Ereuzte fid) ein 
am 15. Suni 1612 gefchriebener des Vaters, ber erneute 
dringende Mahnungen über ben Ernft des Lebens enthält 
und ibn, wenn er bie Rüdreife über Genf antrete, bem 
Henrico Wottonio (vgl. Sabrb. 1913, S. 98), ehemaligen 
Gefandten in Venedig, zur Zeit in Savoyen, empfiehlt und 
ibm nebenbei wieder einmal bie Verfchleuderung des väter: 
[iden Vermögens vorhält. Der letzte Bettelbrief Safobs 
fam hinter des Vaters Rüden von Genf aus im September 
1612 an den Oheim Wolfgang, der wohl aus eigener Er: 
fabrung für bie Geldnöten eines jungen Mannes ein beljeres 
Perftändnis befaB als ber Vater. Jakob fchreibt da, er 
würde gerne länger in Genf bleiben, wenn er Zutritt in 
Familien bátte. Gott felber babe ibm in diefer Stadt alle 
Schäße feiner Güter ausgebreitet, nur folle man ibm, ohne 
bap es die Eltern erfahren, bod) Geld zur Heimreife fenben, 
etwa 14—15 cotonatos. 

Damit fdlieBt bie auf Jakob Meyers Wanderjahre 
bezügliche Rorrefpondenz. Was wir nod) als Nachtrag bei- 


242 


fügen, find ein paar Briefe, bie entweder geeignet find, ein 
Licht auf bie 93eberbergung junger Herren von Stand in 
Basler Gelehrtenfamilien jener Zeit zu werfen, oder bie 
durchreifende Studenten oder Glaubensgenofien zu gaft- 
freundlicher Aufnahme zu empfehlen. Am 19. September 
1614 fenbet Agnes, BGräfinzu Solms, an Wolfgang 
Meyer ein Dankfchreiben dafür, dag Wolfgangs Familie 
bie Vettern der Solms, bie Yenburg, gaftfreundlich 
aufgenommen und „denfelben viel liebs unb gutt8 ermiffen, 
fonderlich aber mit unferm Sohn (Conrad — ftudierte 1614 
in 33afel) in feinem zugeftandenen Unfall großes mittleiden 
getragen, und ftattliche Handtreichung getban . . . Und follet 
Ot hiernechft in ber Thatt fpürren, baB wir folche ung und 
ben Unßerigen erzeigte guttbaten zuvergelten ung wollen an- 
gelegen fein IaBen." Ganz ähnlich brüdt fid) am 2. Oktober 
1614 der Gemahl, Albrecht, Graf zu Solms, in einem 
Drief an Wolfgang Meyer aus; auch er verdankt alle feinem 
Sohn Gonrabt Ludwig, Graf zu Solms, bei feinem 
Unfall erwiefene Hilfe und Freundlichkeit wie aud) bie 
feinem Better, Grafen von 9)fenburg bezeigte Gaft- 
freundſchaft und verfpricht, fid) erfenntlich zu zeigen, verdankt 
aud) bie Bürgſchaft für das von bem jungen Herrn in Baſel 
aufgenommene Geld. 

Sn die Zeiten der Inquifition berfebt uns ein 
Brief des alten Kaſpar Wafer aus Zürich vom 13. Auguft 
1615 an Wolfgang Meyer; er lautet: „Der Leberbringer 
vorliegenden Schreibens ift zu euch gefommen, ein Staliener 
von Geburt, wegen feines evangelifhen Glaubens verbannt. 
Gr durchreiſte mehrere Fahre fang verfchiedene Gegenden 
Deutfchlands wie aud) Englands. Als er aber vernahm, daß 
feine Eltern geftorben feien, begab er fid) in fein Vaterland, 
um fein väterliches Erbe zu beanfpruchen. Aber dafelbft er- 
bielt er mit Mühe einen Sebrpfennig und wurde wegen der 
Snquifition jofort zur Abreiſe genötigt, nicht ohne Lebens- 
gefahr." Wolfgang wird erfucht, ibm zur Weiterreiſe nad) 


243 16* 


Heidelberg behilflich zu fein. — Ueber bie Aufnahme des 
Marcus Antoniusde Dominis in 23afel bat das 
Cabrbud) 1913 (C. 98) berichtet. Der bier zum Schluß 
noch folgende Brief des englifchen Gefandten in Venedig, 
Henry Wotton, an Wolfgang Meyer vom 13. September 
1616 mag als Beleg dafür dienen, mit welcher Klugheit und 
PBorfiht man zu Werke geben mußte, um einen ber rümi[cben 
Rurie Verdächtigen gíüdíid) über bie Grenze zu bringen. 
Der Gefandte fchreibt: „Ich empfehle Deiner freundlichen 
Aufnahme (melde im eigentlichften Sinn zu allen Greunb- 
fchaftsleiftungen geneigt iff) biefen Mann. Wer er fei, 
wirft bu duch unfern Landsmann, Herrn Robert 
DBarnefiusg, ben id ihm als 93egleiter beigeorbnet babe, 
erfahren. Bon bier werden fie zu euch reifen (durch Grau- 
bünden), um dann den Rhein binabaufabren, wobei fie beim 
Beſchaffen eines Fahrzeugs fid) gerne deines Zeiftandes 
bedienen werden. Was mich betrifft, fchien es mir unferer 
Steundfhaft nicht unmtürbig, in diefer Gelegenheit deine 
Hilfe anzurufen . . . Sd fchreibe jet etwas dunkler, weil 
bie Sache geheimnisvol if. Nichte, bitte, deinem wohl- 
weifen und geftrengen Bruder in meinem Namen einen 
Gruß aus. Gbenfo dem erlauchten Grafler (a. a. . ©. 78), 
an den ich burd) eben denjenigen gefchrieben habe, ber mit 
bir verhandeln wird... Gott wird mitten im Waffen: 
getöfe feinem Evangelium den Weg bahnen. 


Venedig, 13. September 1616. 
Dein Henry Wotton.“ 


244 


Ablaßbrief von Anno 1517 zu Bunften 


des Jakobusaltars ín St. Leonhard. 
Don Pfarrer ££. Mieſcher. 


On unferm biftorifhen Mufeum befindet fi, unter 
Glas ausgeftellt, ein fchon durch Fünftlerifche Ausftattung, 
aber aud) durch feinen Inhalt bedeutfames Aktenftüd, das 
wohl bem einen oder andern Mufeumsbefucher im Vorüber⸗ 
geben aufgefallen, wahrfcheinlich aber von den wenigften 
einer genaueren Betrachtung ift unterzogen worden. 

Unferes Wiffens iff das Dokument vor dem Hinweis 
darauf, zu bem ein im Chriftlichen Volksfreund abgedrudtes 
und nachher aud) als Broſchüre erfchienenes Stüd Geſchichte 
von Ct. Leonhard uns Anlaf gab, nod) von feiner Seite 
einer befonderen VBefprehung!) gewürdigt worden, unb bod) 
verdient e8 diefelbe in mehrfacher Hinficht. Wir haben darum 
der Aufforderung der Herausgeber diefes Jahrbuchs gerne 
Folge geleiftet, ben Sert der Urkunde unter Beifügung einer 
&eberfegung bier mitzuteilen und benfelben mit einigen 
Worten der Einleitung zu verfeben. Wir freuen uns, daß 
wir burd) bie, ungefähr auf den vierten Zeil des Umfangs 
des Originals reduzierte, Wiedergabe des Dokuments ?) 
unfere Ausführungen zu unterftügen imftande find. 

Es handelt fid) um einen Ablaßbrief, wohl einen 
der legten, wenn nicht wirklich den lebten, ber für das vor- 

1) R. 9Badernagel in Mitl. über R. Peraudi. Basl. Zeitſchr. f. 
Geld. u. 9I[t.-Stunbe II, erwähnt die Urkunde ©. 221. Siehe i. Staats- 
ardjio, St. Leonh. 856 a. 


3) Sinfautotypie, auf Grund einer Photographie des Serm 
3B. Anutty angefertigt von der Kunftanftalt Yrobentus U. ©. 


245 


reformatorifche 93ajel ift ausgeftelt worden. (ein Datum 
ift der 29. November 1517 und der Tag der Veröffentlichung 
butd) bie bifchöfliche Kanzlei der 27. Zuni 1518. — Am 
31. Oktober 1517 batten bereits bie Hammerfchläge, womit 
bet Auguftinermöndh bie 95 Theſen an der Schloßfirdhe zu 
Wittenberg anfchlug, das erfte Signal zur gewaltigen Be— 
wegung gegeben, aus ber bie im Geift und in der Wahrheit 
des Evangeliums erneuerte Kirche hervorging, der Kirche, 
für welche mit fo vielem andern, was im Lichte des Wortes 
Gottes nicht beftand, aud) bie Abläſſe der päpftlichen Kirche 
ihren Wert endgültig verloren haben. | 

Ungefähr aus derfelben Seit ftammt ein ber Sankt 
OXagnusSfirde in St. Gallen gewidmeter Ablaß— 
brief,?) den im Namen des Papſtes Leo ber damalige 
Nuntius Antonius Puccius (Pucci)?) am 18. Auguft 1518 
noch, alfo nur viereinhalb Monate, bevor Zwingli daſelbſt 
ſeine Tätigkeit begann, in Zürich gefertigt hat. | 

Dergleichen Ablaßbriefe waren in ben lebten Syabr- 
zehnten des 15. Zahrhunderts und im Beginn des 16. Sabr- 
bunderts überaus zahlreid. Man erwarb und holte fie in 
Rom oder gewann fie gelegentlich ber Anweſenheit von pápft- 
lichen 9egaten; bald für diefen, bald für jenen 3med. 

Bei aller Unmöglichkeit ben fittlihen Verfall auf: 
zubalten, hatte doch in jener Zeit der, allerdings vielfach recht 
äußerliche, Eifer für die Kirche einen mächtigen Aufihwung 
genommen, bie Devotion, bie für die GSicherftellung des 
eigenen Heils und deflen der lebenden und verftorbenen Fa— 
milienglieder beforgt unb den in mancherlei Heimfuchungen 
empfundenen göttlichen Grimm zu befhwichtigen bemüht 
war, eine auffallende Steigerung erfahren. R. Wader:- 


9) Karl Peſtalozzi. Die St. 9'tagnustirdje i. St. Gallen während 
1000 Jahren. Berl. b. Fehrſchen Buchh. S. 66. 


9 Bon 1531 bis zu feinem Tode 1541 Kardinal. Brgl. Konr. 
&ubel. Hier. cath. med. aevi. Ueber Buccius Tätigkeit in der Schweiz 
f. Egli. . Schweiz. Ref.Geſch. I. ©. 122. 


246 


nagel weift das in feinen Mitteilungen über Raymundus 
ODeraubi^) big in alle Details überzeugend nad). (S8 berrichte 
ein vor den größten Unternehmungen nicht zurüdicheuender 
93augeift. Unglaublich viel gefd)ab zur Ausfchmüdung ber 
Kirchen und Altäre, zur Stiftung und Bereicherung von 
kultiſchen Handlungen, zur Erlangung von Reliquien, in Aus- 
führung von Wallfahrten, in Suwendungen aud) an wohl: 
tätige Anftalten wie Pilgerherbergen, Spitäler ufw. Es lag 
burdjau$ im Intereſſe der Hierarchie, zumal bem fid et: 
bebenben Humanismus gegenüber, diefen Eifer zu unter: 
ftügen. Durch bie von ihr zu gemährenden Abläſſe aber ver: 
mochte fie für die Unternehmungen Eoftfpieligerer Art der 
Gläubigen mit Leichtigkeit bie Mittel flüffig zu machen unb 
dabei erft noch für ftd felber ben entiprechenden Anteil ab- 
gubefommen. 

Co beſitzt das Staatsarchiv von St. Gallen, außer bem 
obenerwähnten nod) einen, ebenfalls für St. Magnus be- 
ftimmten Ablaßbrief vom Sabre 1467, defien Vorteile allen 
zugute fommen follten, bie an gewiflen Seiligentagen bie 
Kirche befuchten und für fie beifteuerten. An der Spiße der 
zehn Rardinäle, die fid) mit ihrer Vollmacht an dem Gnaben- 
erlaß beteiligt haben, fteht ber befannte Gelehrte 23effarion, 
Bifhof von Tusculum, ber die gründliche Kenntnis ber 
griechifchen Sprache nad) bem Abendlande gebracht bat.9) 

Gin für Bern beftimmter Ablaßbrief diefer Art ift 
jüngft veröffentlicht worden.) 1421 hatte Bern ben Bau 
feines St. Vincenzmünfters begonnen. Anfangs der fiebziger 
Sahre waren bereit8 40000 Goldgulden darauf verwendet 
worden, und noch war der Bau nicht zur Hälfte vollendet. 


5) Basl. Zeitſchr. f. Geih. u. Altertumstunde II. ©. 171. 

6, Der Wortlaut des Briefes bei Karl Peſtalozzi a. a. Ort. ©. 188. 

7) Ablaßbulle Sixtus IV zu Guniten bes Vincenzmünfters 1473. 
Eriter im Auftrag Berns ausgeführter Suid durh Martin Flach in 
Bafel. iyacjimiles9Reprobuftion nad) dem einzig befannten Ex. des 
Keſtner Mujeums in Hannover, berausg. unter Mithilfe von Staats- 
ardivar Tine v. U. Flur. Bern, Buchdr. Bühler & (o. 1918. 


247 


Da nahm man feine Zuflucht aud) zu dem ergiebigen Werbe- 
mittel der 3eit. Am 18. Sanuar 1473 wurde der Stadt: 
fohreiber Meifter Sbüring Srider burd) Rat und Burger: 
Ihaft von Bern nad) Rom gejanbt, um bie Gewährung eines 
Ablafjes zu ermirfen, der das Aufbringen der noch fehlenden 
60 000 Goldgulden erleichterte. Ende April oder anfangs 
Mai beimfebrenb, brachte er nicht nur eine, fondern gleich 
zwei Bullen nad) Haufe, bie eine mit Geltung vom 29. Sep: 
tember 1476, bem Feſte des Erzengel3 Michael, an. Gie 
verfpricht den an diefem Zeft unb den darauffolgenden Tagen 
bie Kirche andächtig befuchenden und zum Ausbau derjelben 
ihre Unterftügung darreichenden Gläubigen volllommenen 
Ablaß und Vergebung ber bereuten und gebeichteten Sünden, 
und dies viermal von drei zu drei Jahren. Dabei wird, 
um bei dem offenbar erwarteten größern Zudrang den fid) 
häufenden Beichtbegehren genügen zu können, geftattet, daß 
Dazu geeignete weltliche und DOrdensgeiftliche aus jedem be- 
liebigen Orden al8 DBeichtiger durften zugezogen werden. 
Dieſe follten berechtigt fein, alle Gelübde, mit Ausnahme 
derjenigen für Pilgerfahrten übers Meer (Serufalem), nad) 
Rom und Gompoftella abzuändern und davon [oszufprechen. 
Der dritte Teil aber der eingegangenen Gaben muß aum 
Schuße des ortboboren Glaubens zu Handen des apoftolifchen 
Stuhles abgegeben werden. — Diefe 93ulle erfchien nachher 
im Drud, und zwar burd) bie Offizin des Martin Flach in 
Bafel, der biegu von Bern den Auftrag erhalten batte. — 

Die zweite Yulle (von Sanct Vincengien unferes hu$- 
herren boupts wegen) gewährt denen Ablaß, welche an des 
Heiligen Tag die Kirche, bie deſſen Haupt vermabtte, 
frequentieren und zu ihrem Unterhalt beitragen. — 

Aber aud Baslerfirhen werden reichlich mit 
Ablaß bedacht, befonders St. Theodor. Wlerander von Forli 
fpendete 1477 einen folchen für St. Theodor und St. Nico- 
laus, 1487 Nicolaus von Tripolis ebenfalls für St. Theodor. 
Der Verwendung des eifrigen Pfarrer8 Dr. Surgant, ber 


248 
































I E ce ^w XI 'líbiner — pt - bjwmac 4€: 
sl etre e |n 6. té 4 Ales tt [nun Maren 
loca: AUS [ts cinj Mazcue fa tc e3t Darie "ATI 
n "ad ^ rürtonc & A E crofande — PD omn ccc airvma 
ali "YT —— m e mar Ba xc! 
ug» 1nay futi ip^! we piece 198 AC, A luec Jj 
av queo ut aca pur te Mero Lauoabilue rel crue X 
e " "htuta exif & ^ aqru t js "ntetuz bou ibus cc dq xv 
K P e COR tar code netu: 7" manneeneatuz nccaon ub | 
Ov —X n vu mbi eier. * 
Dictum tax cr du cop: aíoncm sen ie zuatlonen“ cuiua ut 
domtricce Quoc: by doces Teure ticis geane ula 5 
uilibet nin e fugy'icatomb:s vla nobie m xpo 
ift ne; T omumen nobıs fi fur: bo: kumilı 01 
fad pli: v5 Auct irit coufi fi Wee 3 fr "rt 
au chin LM Cad. WI finguhr vieler lan - 
ott Ira ta ma ex OQuatun: tempori ib? ami ge F 
————— t jn atatibue et Tichus a Primus Defferie uf 
et ad prenaſſa anus porem ** qe * jaqulue | 


"Y mn mg evt ym mx d$ mue ihn 





wüc nm: pino 


u! ih TO T ee Tr Sow sc MS rn 
i J * — 8 Maren au ap gx «jos Seen yay AS 
- a coe — NE DUM CD — MV Lr o3 dei 


In — vow s de as Is 
—— —8 XX Me Kun om 
RE e LR * cw tv * N 
donus po VER Min 


I heme s Tess, Sun 4 ya vt vire Valete Bas el 
N 


BMae Tas 2 n M NS bir et 
—— i: 


Myers SN X buds 
— — 
M — — Su xX — 3b gue Mw i SNC URN 


ellos 3 T en 









* € p N 
Bit. : 
| X fe 
A A das ne 1e loztucr fef ug 
ade Jconaiouc & pow Deest dL Re 
af lern et Jaurentuus t£. facto CQuatuos Foronurox bia Ou 
[ dam ac i^7Wugif maious [anac Maru piae i C. | 
OX ninesfie et figuli: xpiftdelib pute Ie imperi 7 
"n — d? oera —— mouriImug tgnto falub-- Ite 
tte acob t fitum io juszochiali caclia fand.) conatw 9 > »jilen 
nb. Anm É onfrate: imtuüe m honoren fanaox acobi ec JH o: An 
Rechib-- - Mater uenezctus ac : | ius. | trudurıs er 7f te- 


3 — annnar; bus ouw nentie erclia fee ac vebus- 
n viefimslao an co lilentuie weuorene ca a 


ntionem cc miatoncr^ b voi manuec pom ptus D:xupant- 
agmine B reftave Los - azbimalce! pie T Witelien- 
xnerabılus Viri jdanme . Amgler poni aie e —»ut- 
«ctus melhnan x3 omm ydeenne xeimia ac brator fektrı di; : 
lw tiu ftc Ie [eue xpifieclibue ucic peritennbue et con feſſis 


nudioie s andi 2 in ncecnop vum Oonmmcax —— 


 Septenbris er Decembris ac Umex menfzh? nuncdiate 
" ao counts — tas mel fine brun de itauermt diaatim 
































RR 


— — te 1* — Ó( “er um“ ab Xv quos fem 
- hod Aaliuitaie om 
H iini iv xpo pr we 


9e a 9. Uu 






ek RER — 
" k EDU APO m * 


* qu cc 
i FAM — — Ee MS IM C "Hess m 
M A prb a — 


T. E. — — ver HER er t 
pee a Caci. —— — dus v y —— 
ipie iA SS Ia Nt, sn cuml — X o 
AAA — UR DNI dil 4 ta à 
LAS xa a. * I 
is meis d XEM ty Das ET abdo Dat — Mis 





BETEN 


felber in Rom war, um Reliquien ber 10000 Ritter für 
feine Kirche zu gewinnen, bat diefe den im Staatsarchiv nod) 
vorhandenen, von nicht weniger al8 16 Kardinälen aus: 
geftellten Ablaßbrief von 1490 zu verdanken) Auf feiner 
Durchreiſe burd) Deutfchland fam ber von Ulerander VI. als 
Ablaßkommiſſär gefandte Kardinal Raymundus Pe— 
taubi — e$ handelt fid) babet um ben Ablaß des Zubel- 
jahres 1500, beffen Ertrag teilweife für einen Türfenfeldzug 
beftimmt war — aud) nad) Baſel. Schon 1502 von Straß: 
burg aus erhielt durch ihn die bei den Dominifanern be- 
ftebenbe Bruderſchaft der Schuhmashermeifter zu Ehren ber 
Heiligen Erifpinus und Grijpinianus einen Ablaßbrief?), 
ebenjo wurde durch benjelben auf Begehren von Bürger: 
meifter und Rat denen Ablaß zugedacht, bie an bem von bet 
23ebbtbe felbft in etlichen Kirchen eingeführten Gefang der 
Antiphonie Media vita und dem Credo „mit ausgeipannten 
Armen” teilnahmen.!!) Uber nod) reichlicher erfolgten bie 
Gnaben, als 1504 der Kardinal wohl ein Vierteljahr bier 
fid) aufhielt.e Da wurden mit erwünfchten Abläſſen beglüdt 
bie Schiltbruderfchaft am Münfter, bie Wolfgangsbruderfchaft 
an St. Leonhard, bie an gewiflen Sagen fid) einfindenden 
Beſucher ber Predigerficche, fofern fie der Abfingung des 
„Salve regina" beimohnen und vor einzelnen Ultären ihre 
Gebete verrichten, ebenfo die bei beftimmten Anläſſen in der 
Klofterfiche des Klingentals ihre Andacht Q3erridtenben. 
St. Leonhard erfreute fid) fpezieller Gunft des Starbinals, da 
er im Stift Wohnung genommen und demfelben auch feine 
einfaffierten Wblaßgelder in Verwahrung gegeben batte. 
Wie bie Wolfgangsbruderfchaft bedacht worden ift, wurde 
Ihon erwähnt. (9 wurde aber überdies nod) ein Ablaß be- 
willigt für die bei Anlaß der jährlich einmal flattfindenden 


8) R. Wadernagel. Mitl. über Raym. Ber, Basl. Zeitſchr. f. 
6. u. A. II ©. 199. 

9) bito ©. 231. 

10) dito 232. 


249 


Ausftellung ber fämtlichen Reliquien von St. Leonhard ein- 
treffenden Andächtigen. — 

Diefe Ablaßbriefe, fomeit uns folche zu Geficht ge- 
fommen find, baben alle ähnlichen Charakter und find in 
breitfpurigem Stil mit vielen ftereotppen Ausdrüden ab- 
gefaßt. Dies gilt auch von demjenigen, dem wir bier unfere 
befondere 9[ufmerffamfeit zuwenden. Bei feinem aber von 
den uns befannt gewordenen ijf auf bie Ausführung fo viel 
Kunſt verwendet worden, als bei dem unfrigen. Die Koſten 
biefür haben wohl die 93efteller aufbringen müflen. ' 

Wer find bier bie Vefteller gewejen? 9 war, wie wir aus 
dem Brief felbft erfahren, bie Löbliche aus Gläubigen beiderlei 
Geſchlechts beftebenbe Bruderfhaft zu Ehren der 
Heiligen Sacobus (des älteren) und Rochus 
unb der ehrwürdige Priefter Joh. Ringler, wohl der 
Beichtvater der Bruderſchaft. 

Die Bruderfhaften,!!) die burd das ganze 
Mittelalter vorhanden waren, aber namentlich feit dem 
Schluß des 14. Jahrhunderts in Auffchwung famen, waren 
freie Vereinigungen zur Erreichung religiöfer und häufig, 
damit verbunden, humanitärer 3mede. Es gab Bruder: 
fhaften von Geiftliden, wie bie Ct. Sobannisbruber- 
fchaft auf 93urg, zu welchen bie Sapláne unfres Münfters 
und außer diefen etliche Klerifer der benachbarten Gemeinden 
gehörten. Diefelbe batte ihre eigene, eben bie St. Sobanns- 
Kapelle, mit mehreren Altären. Viel zahlreicher hingegen 
waren die Laien bruderfchaften. Sie ftanben im Anfchluß 
an eine Kirche und dienten der Verehrung eines befonderen 
Heiligen. Man errichtete aus den Mitteln der Vereinigung 
die betreffenden Altäre, unterhielt deren Bedienung, forgte 
für Altarzier und nötige Kerzen und lief fid) bie Andachts- 
übung an diefen heiligen Stätten, namentlich an den Heiligen: 
tagen, angelegen fein. Manche biefer Bruderfchaften waren 


11) R. Wadern. Bruderfhaften u. Zünfte zu Bafel i. Mittelalter. 
Basl. Jahrb. 1883 ©. 220 ff. 


250 


zugleich Berufsgenofjenfchaften, wie bie ber obengenannten 
Schildfnehte am Münfter und der Schuftermeifter zu Dre: . 
bigern, und ebenfo bie der Schloflerfnechte zu St. Leonhard 
unb ber Gerber zu St. Oswald. Andere fannten diefe 93e- * 
fóránfung nid. Das Verbindende war bier das 3utrauen 
au einem beftimmten Heiligen. (Sine folche war die bereits 
erwähnte Ct. Wolfgangsbruderfchaft, bie dem Patron ber 
€abmen Dulbigte, und diejenige, für bie ber ung befchäftigende 
Ablaßbrief erlangt worden iit, bie Sacobusbruderfchaft. 

Was diefe leStere anbetrifft, fo Fällt ihre Gründung ins 
Jahr 1481. Die Urkunde ihrer 93effütigung burd) Biſchof 
Cafpar befindet fid) im Staatsarhiv.1?) Sm weitern liegt 
bier in Doppel der Entwurf zu einem ihr geltenden Schreiben 
von Seiten des Priors Sobann (von ZTeffenter) und des 
Kapitels St. Leonhard, datiert 1486, vor. Darnach waren 
bie Meifter der Bruderfchaft „genannt bie ellende Bruder: 
Tchaft fant Sacob$" mit dem Begehren an das Stift gelangt, 
daß durch dasfelbe täglich eine Meſſe an ihrem Altar gehalten 
werde unter Ginfügung einer Fürbitte für bie Yrüder und 
Schweftern ihrer Genoflenfchaft, ſowohl die lebenden als 
bie verftorbenen. Ebenſo wünfchten bie Petenten, daß an 
ben vier Grobnfaften 9 igilien unb je Tags darauf zwei 
Seelenmeflen, bie eine gelefen, bie andere gefungen werden, 
zum Beften ber abgefdjiebenen Seelen. Dem Begehren ift 
das Verſprechen beigefügt, folhen Dienft mit jährlich 
5 Gulden, zu 25 Schilling gerechnet, fällig je an Syacobi 
zu lohnen. 

Der vorliegende Entwurf zeigt nun an, daß Prior und 
Gapitel befchloflen hätten, der Bitte zu entfprechen, unter ber 
Bedingung, 1) daß bie Bruderfchaft ihr Grab und den 93aum 
(fie befaß aljo in Verbindung mit ihrem Altar ein heil. Grab 
und einen Stammbaum Chrifti) auf eigene Koſten bebiene 
unb beleuchte, 2) daß der feſtgeſetzte Lohn richtig bezahlt 
werde. In ber einen Handfchrift tff noch bemerkt, daß wenn 

15) Bruderſchaften Urf. 4. 


251 


bie Verhältniffe ber 93ruber[djaft fid) verbeflern follten, bann 
‚auch eine beffere Belöhnung des Firchlichen Dienftes erwartet 
werde. 

Aus diefem Dokument ift deutlich zu erkennen, was die 
Bruderſchaft vornehmlich bezwedte, nämlich für ihre lebenden 
wie ihre verftorbenen Mitglieder burd) Sufammenfteben die 
Heilsvorteile zu verfchaffen, bie 23egüterte vermöge ihres 
Reichtums fid) ohne bie Hilfe anderer gugumenben imftande 
waren. Ein Mathis Eberler 3. B. — feine Mittel erlaubten 
eg — verfügte 1499, daß zu feinem und feiner Frau Seelen: 
heil drei Meſſen wöchentlich geleſen und nach jeder Meſſe 
auf den Gräbern vor dem Altar eine Miferere und eine Rol- 
lefte mit Weihwaſſerbeſprengung gefprochen werde.13) Be— 
Icheidenern Leuten war folches verjagt, aber durch bie Ver: 
bindung mit andern fonnte man aud) das Nötige für folche 
fegenbringenbe Meilen aufbringen. — Zu gleicher Zeit er: 
fährt man aus der Urkunde, von welcherlei Art die Leiftungen 
der Genofienfchaft beichaffen waren. 

Offenbar beftand unfere YBruderfchaft aus ärmeren 
Leuten. Sie wird die ,ellenbe" genannt. So wurden aller- 
dings häufig aud) Bruderſchaften bezeichnet, bie der Unter⸗ 
ftügung landfahrender Perfonen, wie etwa von Pilgern, fid) 
widmeten. Allein bier in Baſel handelte es fi um eine 
Bruderfchaft ber Elenden, der fremden Landfahrer felbft. 
Hatte bod) diefes Landfahrervolk feit alter Zeit eine Grei- 
ftätte auf bem Kohlenberg, wo es Haus und Scheune befaß 
unb wo jährlich am Safobstag eine 3ufammenfunft ftattfanb, 
zu der bis auf eine Entfernung von 10 Meilen im Umkreis 
von Baſel jedes Mitglied ber Bruderſchaft bei drei Pfund 
Buße fid) einzufinden batte. Die Bruderſchaft hielt etwas 
auf ih. Wer unehrbarlich fid) aufführte, follte ausgeſchloſſen 
werden und die ungerechtfertigte Beſchimpfung eines Ge- 
noflen wurde gebüßt.!*) 

13 R. Wadern. Mitteil. über Raym. Peraudi. a. a. O. ©. 178. 

M) Urkunde von 1481. 


252 


Zu beachten ift, baB in bem oben erwähnten Schreiben 
von 1486 nur von bem Zwölfboten Jacobus bie Rede ift, 
bagegen ber im Ablaßbrief von 1517/18 erwähnte Rochus 
fehlt. Daraus iff zu fchließen, daß erft in den auf 1486 
folgenden Seiten ber Peftheilige Rochus neben Jacobus 
zum Heiligen der DBruderfchaft iff erforen worden. Es 
mochte das in bem in diefer Epoche wiederholten Auftreten 
der Deft feinen Grund haben. 1488, 1494 und 1502 waren 
Opeftjabre.15) 

Aus ben wohl befcheidenen, durch GintrittSgebübren unb 
regelmäßige 93eifteuern, aud) allfällige Gaben und Legate 
zufammenfließenden Mitteln waren die Ausgaben für die 
eigenen Altäre und deren Dienft — neben bem Zacobusaltar 
bejaß bie Bruderſchaft noch einen bem Thomas getveibten!?) 
— zu beftreiten.. Daneben aber batten die Genofien in 
Krankheits- und Zodesfällen den Brüdern oder Schweftern 
zu Hilfe zu fommen mit zwei Schillingen zu Gbr und Lob 
des b. Sacobus.!7) Das mag in Peftzeiten eine den armen 
Leuten keineswegs leichte Verpflichtung gewefen fein, daber 
es im Intereſſe ber Genoffenidjaft war, den Heiligen, der im 
Rufe ftanb, Peftkranten wunderbare Hilfe zu bringen, durch 
befondere Verehrung günftig zu flimmen. 

Es ſcheint aber, daß deß ungeachtet bie Genoflenfchaft 
Mühe batte, ihren Verpflichtungen nadjgufommen. Wir 
dürfen nicht vergeflen, daß die großartige Umbaute und Er: 
weiterung des Gotteshaufes um die Wende des Jahr— 
hunderts auch außerordentlihe KRoften für die Wieder: 
berftellung der einzelnen Altäre bat mit fid) bringen müffen. 
Co verfiel man bier auf den Gedanken, in Rom um die 
Gewährung von bejonberem Ablaß eingufommen, moburd) 


15) Ds V ©. 214 redet von ,j|terbenben Läuffen” im Jahre 
1488 u. Groß, Chronik ©. 131 meldet, daß anno 1494 4000 u. ©. 136, 
daß 1502 5000 der Peſt erlegen feien. Siehe aud) Basl. Chron. IV ©. 86. 

16) Urt. v. 1481, Bruderichaften. 

1) Starb der Kranke, jo hatte bie Bruderjchaft, genas er, der 
Gejundgewordene dem Geber 1 Schilling zurüdzuvergüten. 


253 


viel Volks nicht nur zum Beſuch, fondern aud) zu Opfer: 
gaben für benjelben veranlaft würde. 

Ob ber genannte Priefter Sob. Ringler, wie einft bet 
bernifche Stadtjchreiber Thüring Grifer unb ber Pfarrer von 
St. Theodor Dr. Surgant, felber in Rom gewejen, das Be— 
gebren durchzufegen, ift nicht berichtet, aber wohl möglich. 
Jedenfalls beweift der vorhandene Brief, daß die quu 
zum Ziel geführt bat. 

Zwölf Rardinäle fanden fid) in biefem Falle bereit, ihre 
Vollmacht zu gunften ber Petenten auszunügen. Zu den 
zirta 70 farbindfen, die es gab, gehörten bie ſechs Biſchöfe 
ber Metropolitanprovinzg Rom, 50 Priefter, welche ben 
Sjauptfirden Roms, und 14 Diakone, welche ber römifchen 
Armenpflege vorftanden. Die obigen zwölf find wohl nicht 
zufällig beteiligt, — andere Male find es allerdings, wie wir 
gejeben haben, nur zehn oder dann wieder mehr, nämlich 
ſechzehn —; fie bildeten ohne Zweifel bie fpezielle Behörde, 
die für die Behandlung der Ablaßſachen geordnet war. Seit 
Clemens IX. (1689) gibt e$ jedenfalls eine offizielle con- 
gregatio indulgentiarum et reliquiarum, der bie Ablaß- und 
Reliquienangelegenbeiten unterftellt find. 

Die im Brief genannten Rardinäle finden fid) alle in 
der „Hierarchia catholica mediiaevi“von Conrad Eubel ver- 
zeichnet. Es find bie vier Biſchöfe Raphael (Riario), 
1 1521, von Oftia; Dominicus be Grimanis, T 1523, von 
Porto; Sranciscus (Soderinus), T 1523, von Praenefte ober 
Poaleftrina, und Franciscus (Remolinus), T 1518, von 
Albano; bie fünf Priefter: Thomas (Bakocz), T 1521, 
von San Martino ai Monti auf dem Esquilin; Leonardus 
(Großius be Rovere), F 1520, von San Pietro ad vincula, 
ber ebenfall auf bem Esquilin liegenden Kirche, mo bie 
fetten des Apoftels Petrus follen aufbewahrt fein unb wo 
das Denkmal Zulius II. mit der gewaltigen Mofesftatue fid) 
befindet; Petrus (de Uccoltis), FT 1523, von San Eufebio, 
einer [don im 5. Sabtbunbert erwähnten, feither allerdings 


254 


erneuerten Kirche, bie wenig mehr von ihrem einitigen Gba- 
rafter zeigt; Achilles (de Graßis), T 1523, von ©. Maria in 
Traftevere, b. b. im Stadtteil jenjeit8 der Tiber, nad) ber 
Sage [don im 3. Jahrhundert durch Papft Ealirt banf einem 
wunderbar entfprungenen Delquell gegründet; Laurentius 
(Duccius), T 1524, von ©. ©. quattro coronati, einem 
zwilchen bem Koloffeum und bem Lateran gelegenen Gottes- 
haus, das feinen Namen von vier Brüdern trägt, welche 304 
unter Diofletian den Märtyrertod follen erlitten haben; 
endlich nod) drei von ben vierzehn Kardinaldialonen: 
9 fferanber (Farneſius), T 1519, von ©. Euſtachio, einer ber 
älteften Diakonien Roms, 1196 von Cöleſtin IIT. reftauriert; 
Marcus (ornatus), T 1523, von ©. Maria in via fata, 
ebenfalls uralte römifche Diakonie, deren Kirche über bem 
Hochaltar ein angeblich von Lucas gemaltes Marienbild be- 
fit und bem Künftler famt bem Apoſtel Paulus einft zur 
Wohnung foll gedient haben, und endlih: Sigismundus 
(Gonaaga), tr 1525, von ©. Maria Novicella, welche wegen 
einer an gleicher Stelle geftanbenen ältern Kirche gewöhnlich 
Gbieja nuova genannt wird und von weitläufigen und prád- 
tigen Rloftergebäulichkeiten umgeben ift.!°) 

Da fämtliche Rardinäle, jeder für fib, wie es in ihrer 
Vollmacht fand, 100 Tage Ablaß bewilligen, der Biſchof 
Chriftof von Lttenheim in Baſel nad) feinem Recht nod) 
40 Sage hinzufügte, jo umfaßt bie Gnade des vorliegenden 
Driefs 1240 Tage. Der Ablaß iff bemnad, im Unterſchied 
von einem plenaren, ben zu erteilen allein bem Papft vor: 
behalten ift, ein befchränfter. Er bezieht fid) auf die zeitlichen 
Strafen der Sünde, wozu aud) bie €áuferung im Feofeuer 
zu zählen ift. Vorausgeſetzt iit Dabei aufrichtige Reue und 
Buße. Durch ſolche wird allerdings bie göttliche Ver— 
gebung, Sreifprehung unb ber Erlaß der ewigen Gtrafe 
bereits erlangt. Allein damit find einem die zeitlichen Strafen 
nicht erfpart. Der göttlichen Gerechtigkeit muB Genugtuung 

18) Ernit Platner unb Ludw. Ulrihs. Beichreibg. Roms. 


255 


werden. Das ge[djiebt butd) Pönitenzien, fog. gute Werke, 
durch welche das begangene Unrecht ausgeglichen wird. Da 
fann nun aber die Kirche auf Grund des von ihr ange: 
nommenen unendlichen Schaßes ber Verdienfte Ehrifti, der 
Gottesmutter und aller Erwählten, deflen Verwaltung zu: 
nähft bem Papft als dem Nachfolger Detri zuiteht, ftell- 
vertretend einfteben, und das Fann fie tun ſowohl für Lebende 
als für Tote. Seit der Mitte des 15. Sabrbunberte ijf bie 
Ausdehnung des Ablaſſes auch auf Verftorbene in Aufnahme 
gefommen. Ausdrüdlich wird in unferm Brief bemerkt, daß 
es fid) nit um einen temporären Ablaß handelt, wie er 
offenbar im oben erwähnten Vernerbrief gewährt ift, ſondern 
um einen fortdauernd geltenden. Solche indulgentia per- 
petue galten für alle Zeiten, fofern fie wenigftens nicht wider- 
rufen wurden. 

Auf bie weitere Gefchichte des Ablaſſes und. allen Miß— 
brauch, ber mit dem Ablafhandel verbunden gewefen, können 
wir ung bier nicht einlaffen. Es erübrigt uns nur nod), auf 
die in unferm Brief geftellten Forderungen Dingumeifen. 

Perlangt wird für Erlangung des Ablaffes der an: 
dächtige 93e[ud) des betreffenden Altars an den Feſttagen 
des b. Zacobus am 25. Zuli und des Rochus am 16. Auguft, 
und an je einem Sonntag nad) ben Quatemberfaften im Sep- 
tember, Dezember und nad) dem Afchermittwoch. Schon zur 
Zeit Leos des Großen, der bie Quatemberfaften (von quator 
tempora) als eine auf göttlicher Eingebung berubenbe Anord- 
nung ber Apoſtel erklärt, galt das Zaften im eriten Monat 
eines jeden Vierteljahres an einem Mittwoch, Freitag unb 
Samstag als Pfliht. Der SQuatemberfafttag im September 
war ber Sag der Kreuzerhöhung, der 14. des Monats, im 
Dezember der Tag der b. Lucia, der Märtyrerin von Syrakus, 
b. b. ber 13. des Monats. Cpfingften war ebenfalls einer 
der Quatemberfafttage. Der fällt hinweg, weil in dem be- 
treffenden Quartal bie Sage des Zacobus und des Rochus 
in Betracht fommen. Die Andacht dauerte von der erften 


256 


bis zur zweiten Vefper, diefe mit eingeſchloſſen. Gewöhnlich 
ift bie Vefper ber um 6 Uhr beginnende Abendgottesdienft, 
der durch feine Zeremonien, Schriftleftionen, Gebete, Ge- 
länge bie Heilsgefchichte von der Schöpfung bis zur Geburt 
Jeſu ſymboliſch darftellt. In ben Klöftern aber nennt man 
Beipern bie ben Zeften Tags vorher vorausgehenden Feier: 
lichkeiten, und zwar Vesperae primae, eríte Veſpern, bie- 
jenigen, bie von nachmittags 3 Uhr bis Sonnenuntergang 
ftattfinben, und vesperae secundae die, welche nad) Sonnen: 
untergang beginnen. So find wohl aud) im Stift St. Leon: 
hard folche Veſpern, und zwar doppelte, zelebriert worden, 
und ber Ablaßſuchende batte dabei fid) zu beteiligen, Daneben 
aber aud) — darauf war es ja namentlich abgejehen — 
durch eine Geldgabe den Altarfchmud und -dienft zu unter- 
ftügen. Und jedesmal, wenn er es tat, und zwar Jahr für 
Sabt, gewann er nad) der früfffiden 3ujage des mit ben 
Sigeln fämtlicher zwölf NRardinäle und des Hochwürdigen 
Biſchofs befräftigten 93riefe8 feine 1240 Tage Nachlaß an 
den fchuldigen Pönitenzien. — 

Co unevangelifch ung alle dieſe Vorftelungen erfcheinen 
und fo dankbar wir der Reformation find, bte uns aus deren 
Bannkreis berausgeführt bat, fo begreifen wir bod vom 
Standpunkt der mittefalterfid)en Frömmigkeit aus, was für 
eine Anziehungskraft und Wirkung auf den Geldbeutel ein 
mit folchen Heilsverfprechungen ausgeftatteter Altar haben 
mußte. Uber bier bieft die Wirkung nicht mehr lange an. 
Sie mußte ein Ende haben, jobalb man wieder den Chriftus 
des Evangeliums fannte und aus feiner Fülle ohne Entgelt 
Gnade um Gnade nahm, aud) bie Lehre vom Fegfeuer als 
eine fchriftwidrige menfchliche Erfindung erkannt hatte. Und 
das trat (don nach wenigen Zahren ein. — 


Wir laſſen nun ben Tert des Briefes ſelbſt ſamt der 
Ueberſetzung folgen unb bitten, dabei bie hinten angefügte 
Abbildung ins Auge zu faſſen. 


257 2 


On ben Eden des YBlumengewindes bemetfen wir bie 
vier Evangeliftentiere. Oben in ber Mitte das Wappen ber 
St. Jacobsbruderſchaft, vier Mufcheln zwifchen ben ge- 
kreuzten Pilgerftäben, das Wappen, wie man es heute nod) 
in der St. €eonbarbsfird)e über bem Gborlettner gegen den 
Kichplag zu am Gewölbe gemalt findet. Ueber dem 
Wappen mit fegnenden Händen der Heilige; zur Seite in bet 
Weife, wie auf Q3otipbilbern die Stifter erfcheinen, in 
Iniender Stellung ein Beter, wohl als Repräfentant ber 
93rubetidjaft. In einiger Entfernung, für den Beſchauer 
rechts, der Schild mit bem 23afelftab — und zwar dem von 
Dapft Zulius II. den Baslern zuerfannten goldenen, 
wie er fid) auch oben im mittleren Chorfenfter von St. Leon- 
batb findet. Gegenüber linf$ das Wappen Leos, des 
mediceifchen Papftes. Sm beruntergebenben Gewinde Links 
St. Zacobus, fenntlih an Muſchel und Pilgerftab, drunter 
der eine Rirchenpatron St. Leonhard, den Biſchofsſtab in ber 
einen, die Kette, fein Emblem, in der andern Hand, rechts 
St. Rochus, ber Peftheilige, bem ein Engel das franfe 93ein 
berührt, und drunter der zweite Rirchenpatron St. 93artfolo- 
mäus, in der einen Hand das Mefler, in der andern die fopf- 
baut tragend, als Hinweis darauf, bap ibm foll bei lebendigem 
Leib die Haut abgezogen worden fein. — 

Schade, daß in der Reproduktion die zarte Farben: 
gebung, in der das Kleine Kunſtwerk ausgeführt ilt, ver- 
borgen bleibt. 

Der Tert felber lautet: 

Raphael Ostiensis Dominicus Portuensis Franciscus 
Penestrinus et Franciscus Albanensis epistoli, Thomas 
tituli sancti Martini in montibus Leonardus tituli sancti 
Petri ad vincula Petrus tituli sancti Eusebii Achilles 
tituli sancte Marie trans Tiberim et Laurentius tituli sanc- 
torum quatuor coronatorum presbyteri, Alexander sancti 
Eustachii Marcus sancte Marie in via lata ac Sigismundus 
sancte Marie nove diaconi, miseratione divina sacrosancte 


208 


Romane ecclesie cardinales universis et singulis Christi 
fidelibus presentes literas inspecturis salutem in domino 
sempiternam. Quanto frequentius fidelium mentes ad opera 
caritatis inducimus tanto salubrius animarum suarum saluti 
consulimus. Cupientes igitur ut altare sancti Jacobi situm 
in parrochiali ecclesia sancti Leonardi Basiliensis ad quod 
ut accepimus quedam laudabilis utriusque sexus Christi 
fidelium confraternitas in honorem sanctorum Jacobi et 
Rochi instituta existit congruis frequentetur honoribus et 
a Christi fidelibus jugiter veneretur ac in suis structuris 
et edificiis debite reparetur conservetur et manuteneatur 
nec non libris calicibus luminaribus ornamentis ecclesiasticis 
ac rebus aliis divino cultu inibi necessariis decenter munia- 
tur atque Christi fideles ipsi eo libentius devocionis causa 
confluant ad dictum altare et ad reparationem conserva- 
tionem manutentionem ac munitionem hujusmodo manus 
promptius porrigant adjutrices quo ex hoc ibidem dono 
celestis gratie uberius conspexerint se refectos, nos car- 
dinales prefati videlicet quilibet nostrum per se suppli- 
cationibus dilectorum nobis in Christo venerabilis viri 
Johannis Ringler presbyteri Basiliensis et dicte confraterni- 
tatis nobis super hoc humiliter porrectis inclinati de om- 
nipotentis dei misericordia ac beatorum Petri et Pauli 
apostolorum ejus auctoritate confisi omnibus et singulis 
utriusque sexus Christi fidelibus vere penitentibus et con- 
fessis qui dictum altare in singulis videlicet beati apostoli 
Jacobi majoris et sancti Rochi nec non trium dominicarum 
post tria tempora ex quatuor temporibus anni videlicet 
de septembris et decembris ac cinerum mensibus imme- 
diate sequentium festivitatibus et diebus a primis vesperis 
usque ad secundas vesperas inclusive devote visitaverint 
annuatim et ad premissa manus porrexerint adjutrices pro 
singulis festivitatibus seu diebus predictis quibus id fecerint 
centum dies de injunctis eis penitentiis misericorditer in 
domino relaxamus presentibus perpetuis futuris temporibus 


259 * 


duraturis. In quorum fidem literas nostras hujusmodi fieri 
nostrorumque sigillorum jussimus appensione communiri. 
Datum Rome in domibus nostris anno a nativitate domini 
millesimo quingentesimo decimo septimo die vero vigesima 
nona mensis novembris pontificatus sanctissimi in Christo 
patris et domini nostri Leonis divina providentia pape 
decimi anno quinto. — 


Un das Dokument angeheftet, ber bifchöfliche Confens: 

Christophorus dei et apostolice sedis gracia episcopus 
Basiliensis notum facimus universis quod nos ad omnes 
et singulas indulgencias per reverendissimos dominos 
sacrosancte Romane ecclesie cardinales in literis quibus 
presentes per transfixum sunt annexe descriptas et ad 
altare sancti Jacobi situm in parrochiali ecclesia sancti 
Leonardi civitatis nostre Basiliensis concessas nostros ut 
loci ordinarius consensum et assensum dandum duximus 
prout easdem confirmando et approbando ipsis consentimus 
et assentimus presentium per tenorem. Verum ut Christi 
fideles eo libentius devocionis causa confluant ad dictum 
altare quo majoribus donis et graciis videlicet spiritualibus 
conspexerint se refectos, nos de omnipotentis dei miseri- 
cordia necnon beatorum Petri et Pauli apostolorum ejus 
auctoritate confisi onmibus et singulis utriusque sexus 
hominibus vere penitentibus et confessis qui ea que in 
hujusmodi affixis literis contenta sunt fecerint totiens 
quotiens quadraginta dies criminalium peccatorum de in- 
junctis eis penitentiis in domino misericorditer relaxamus 
presentibus nostris literis perpetuis futuris temporibus dura- 
turis. In quorum testimonium sigillum nostrum per trans- 
fixum duximus appendendum sub anno domini millesimo 
quingentesimo decimo octavo die vero vicesima septima 
mensis junii, indictione sexta. 


fleberfegung. Die Bifchöfe Raphael von Oftia, Oominifus 
von Porto, Franzistus von Pränefte und Sranzistus von Albano; 
bie Priefter Thomas von St. Martin in Montibus, Leonhard von 


260 


St. Peter ab vinculas, Petrus von St. Eufebius, Achilles von St. Maria, 
jenfeits des Tiber und Laurentius von den Vier heiligen Gefrönten; 
bie Dialone Alerander von St. Guftadjius, Markus von St. Maria 
in via lata und Sigismund von St. Maria nuova, bant ber göttlichen 
Barmherzigkeit Rardinäle ber heil. römifchen Kirche, wünfchen ber 
Gefamtheit ber Chriftusgläubigen, wie allen Einzelnen, bie von 
biefem Brief Einficht nehmen, ewiges Heil. 

Oe Häufiger wir bie Gedanken ber Gläubigen zu Liebeswerfen 
anleiten, um fo heilfamer beraten wir fie zum Beften ihrer Geelen. 
Demgemäß ift unfer Anliegen, baB ber Altar des 5. Sacobug, in ber 
Gemeinbefirde von St. Leonhard in Bafel befindlich, für welchen 
laut Bericht eine Löbliche Bruderfchaft von Chriftusgläubigen beiderlei 
Gefchlehts, geftiftet zu Ehren des Heiligen Jakobus und Rochus, 
beftebt, mit gebührenden Ehrenbezeugungen befucht und von ben 
Chriftusgläubigen ohne Unterlaß verehrt, und, was feinen Unterhalt 
anbetrifft, geziemend repariert, bewahrt und unterhalten, aud) mit 
den nötigen Büchern, Relchen, Leuchtern und kirchlichen Gdymudgegen- 
ftänden würdig ausgeftattet werde. Und damit bie Chriftusgläubigen 
felbft umfo lieber andachtshalber zu befagtem Altar fid) herbeifinden 
und umfo bereitwilliger zu Unterhalt unb Ausftattung besfelben Sanb- 
reidjung tun, als fie fid) durch ber himmlifchen Gnade Gefchent befto 
reichlicher entfchädigt fehen, gewähren wir vorgenannte Rardinäle, 
nämlich jeder von uns für fi, ben Bitten unferer Geliebten in 
Chrifto, des ebrtotirbigen Herrn Sob. Ringler, Priefters von Bafel, 
unb der erwähnten Brüderfchaft entfprechend, im Vertrauen auf des 
allmächtigen Gottes Barmherzigteit und in Vollmacht feiner feligen 
Apoftel Petrus und Paulus ber Gefamtheit der Chriftusgläubigen 
wie den Einzelnen, bie in aufrichtiger Buße Beichte ablegen — fofern 
fie den genannten Altar an den jeweiligen Feften und Sagen des fe- 
ligen Apoſtels Jacobus des ältern und des heiligen Rochus unb Dreier 
Sonntage, welche unmittelbar nad) breien von ben vier Quatember- 
faften, nämlich denen vom September und Dezember unb von Denen 
des Afchermittwochmonats folgen, von ber erften bi$ zu der zweiten 
Veſper, biefe eingefchloffen, andächtig Sabr für Jahr befuchen und zu bem 
Obenerwähnten hilfreiche Hand bieten — für die einzelnen Grefte unb 
vorbezeichneten Tage, an denen fie folches tun, batmberaig im Herrn 
hundert Tage Ablaß von den ihnen auferlegten Büßungen, unb Das 
fol für alle Seiten gelten. Zu beffen Gültigkeit haben wir unfern 
Brief burd) Anhängen unjerer Siegel zu beglaubigen befohlen. Ge- 
geben zu Rom in unferm Haufe anno 1517 nad) Gor. Geburt, ben 
29ten November; im 15ten Sabr des heiligen Pontifilats unferes 
Baters und Herrn in Chrifto, Des Herrn Leo, Pabftes nad) der 
Vorſehung Gottes. — 

Biſchöfl. Eonfens. 


Wir, Chriftophorus, durch Gottes und des apoftolifchen Stuhles 
Gnaben Bifchof zu Bafel, tun aller Welt funb, daß wir zu allen 


261 


unb ben einzelnen AUbläffen, welche Durch bie verehrungswürdigen 
Rardinäle ber heiligen römifchen Kirche in bem Brief, bem Gegen- 
wärtiges angeheftet ift, befchrieben und bem in ber Parochiallirche 
Gf. Leonhard in Bafel gelegenen Altar des heil. Sacobus gewährt 
find, als Ordinarius des Orts unjern Gonfenà unb Affens zu geben 
verfügt baben, wie wir in Beftätigung unb Billigung berfelben es 
burd) den Inhalt des Gegenwärtigen ausfprechen. Sn ber Tat, 
damit bie Ehriftusgläubigen umfo lieber verehrungshalber zum be- 
fagten Altar berzuftrömen, als fie mit fo viel größeren geiftlichen 
Gaben und Gnaben ftd) entjchädigt finden, erfaffen wir, von Gottes, 
des Allmächtigen, unb ber jeligen Apoftel Petrus und Paulus 
Gnaden mit ber Vollmacht Dazu betraut, fämtlichen wie ben ein- 
zelnen Menfchen beiderlei Gefchlechts, bie in wahrhafter Buße Beichte 
ablegen und Das, was in bem angefügten Brief enthalten ijt, fun, 
ebenfo oft vierzig Tage von ben ihnen für friminelle Vergehen auf- 
erlegten Büßungen gnädig im Herrn Durch unjern Brief, ber für alle 
Zufunft Geltung haben foll. Deffen zum Zeugnis haben wir verfügt, 
baB unfer Siegel angehängt werde. Im Sabre des Herrn 1518 am 
27 ften des Zunimonats, in der fechften Sinbiftion. — 


262 


Aus den Tagen der franzöfifchen 
Revolution und der Helvetif. 


Berichte der Dor(teber der Brüder-Sosietät 
in Baſel 1789—1803. 


Don Paul Wernle 


Sm Folgenden fol aus den Berichten der Basler 
Sozietätsvorftehber Graßmann und Bridenftein nad 
Herrnhut alles, was bie politifchen Vorgänge der bewegten 
Seit von 1789—1803 berührt, im Auszug dargeboten werden 
mit Slebergehung des Privaten und Sntimen, das der Ge- 
fhichte der 93rüber-Cogietát in Baſel vorbehalten bleiben 
muß. Die 93asler Sozietät war in den Sabren 1739 unb 
1740 begründet worden innerhalb der Landeskirche, im Ein- 
verftändnis mit einzelnen Pfarrern, zur Pflege eines engeren 
Gemeinfchaftslebens nad) ben Spealen ber Herrnhuter. War 
fie in ihrer erften Zeit von ber fchwärmerifchen Erregung, 
welche damals bie 93rübergemeine wie eine Verfuchung über: 
fallen batte, nicht unberührt geblieben und batte fie deshalb 
zu Zeiten gegenüber ber Yasler Obrigkeit feine leichte Pofi- 
fion, fo nahm aud) fie im Lauf einiger Jahrzehnte an 
bet allgemeinen Ernüchterung und inneren 93efeftigung der 
beutfden Q3rüber-S[nitüt teil und batte fid) zu Stadt und 
Landfehaft nicht nur Duldung, fondern aud) Anſehen und 
Anhang erworben. Bei Beginn der franzöfifchen Revolution 
zählte man in der Stadt Yafel 330 erwachfene Sozietät3mit- 
olieder und dazu gegen 50 Kinder, auf der Landichaft 598 
Brüder und Schweftern, im ganzen alfo 928 Mitglieder; die 
Zahl fteigt in ben nádjften Sabren big gegen 1000, eingerechnet 


263 


Heine Gruppen in Mülhaufen unb in Weil. Auf der 93asler 
Landfhaft hatten fid in Binningen und DBottmingen, in 
Biel-Benken, in Muttenz und in Pratteln, in Lieftal unb 
Laufen, in Bubendorf, 3iefen und Arboldswil, in Otüm- 
fingen, in Diepflingen, endlich in Riehen, fog. „Verbundene 
Häuflein” gebildet, bie unter der Leitung von Caien-Gebilfen 
und Gebilfinnen ftanben und regelmäßig von ben Vorftehern 
in der Stadt befucht zu werden pflegten. Die Gebilfen hatten 
dann wieder mit den Vorftehern apart ihre Gebilfengufam- 
menfünfte. In einzelnen Gemeinden beteiligten fid) herrn⸗ 
butifch gefinnte Pfarrer an der Arbeit unter den Brüdern; 
eine Reihe von ihnen trat 1785 zu einer Predigerfonferenz 
zufammen, die in Herrnhut ihren geiftigen Mittelpunkt fab 
und dorthin ihre jährlichen 93eridbfe einfanbte. Es waren 
Andreas Battier, Pfarrer in Binningen, feit 1790 
in Bafel zu St. Leonhard (11793), Simon Eglinger, 
Pfarrer in Laufen, Alerander Preiswert Adjunkt 
in Bubendorf, feit 1797 Pfarrer in Rümlingen, Eman. 
Raillard, damals Kandidat der Theologie, von 1790 an 
Pfarrer in Binningen; im folgenden Jahr ſchloß fid) Nic. 
Sfelin, der Pfarrer in Rümlingen (feit 1797 in Winter: 
fingen) an, 1789 aud) Andreas Edlin, Pfarer in 
Dltingen; in den Mer Sabren traten diefer Herrnhuter 
Oprebigerfonfereng aud) zwei ältere Basler Stadt: Pfarrer, 
Gob. Griebr. Meyenrod zu St. Alban unb Sob. 
Rud. Burckhardt zu St. Peter bei, melde beide ein 
Jahrzehnt vorher fid) an der Gründung ber fog. Chriftentums- 
gefellfchaft beteiligt hatten, nun aber gerne aud) bie Gemein- 
Ihaft mit den Herrnhutern auffuchten. Ohne der Prediger: 
fonferenz beizutreten, zählte in Lieftal ber alte Dekan 
Zwinger zu den treueflen Greunben der Sozietät. So 
wertvoll aber auch der Beitritt unb die Mitarbeit mancher 
Pfarrer den Herrnhutern fein mochte, fie änderten nichts an 
dem entihiedenen Qaiendjarafter der brüderifchen Gemein- 
ſchaft. Daß bier Laien, vornebme wie einfache Leute, in 


264 


mannigfaltigen Gottesdienften und ernfter jeelforgerlicher 
Ausiprahe fid) zufammenfanden wie eine größere Familie 
unb fid) wirklich als Brüder und Schweftern untereinander 
fühlten in fráftiger Gemeinfchaftlichkeit, wie bie Staatsfirche 
fie nicht gab und geben fonnte, das war der hbauptjächliche 
Anziehungspunft. So beftand auch die „Heine Gefellichaft”, 
welche bie Basler Sozietät gefchäftlich leitete, aus lauter 
Laien, und die Vorfteher, bie von Herrnhut aus nad) Baſel 
geihidt wurden und das gottesdienftliche Leben dirigierten, 
waren ebenfalls Laien deuticher Herkunft, von 1787—1796 
Sobann Chrifian Graßmann, von 1796—1816 
Joh. Gbriftof Bridenftein aus Magdeburg. Dieſe 
deutſchen Vorſteher hätten nad) ber dem Buchſtaben nad) 
geltenden Kirchenordnung eigentlich in Baſel nicht geduldet 
werden dürfen, denn die Rirchenordnung erlaubte wohl reli- 
siöfe 3ujammenfünfte privater Art, jedoch nicht unter fremder 
Leitung. Seit ben letten Jahrzehnten des 18. Sahrhunderts 
hatten fie jedoch inoffiziell Duldung erhalten; fie machten fura 
nad) ihrer Ankunft dem Antiftes und den Häuptern Beſuch 
unb legitimierten fid) dabei. Won diefen beutiden Vorftehern 
find bie jährlichen ober auch halbjährlihen 93erid)te nad) 
Herrnhut gefchrieben, aus denen die folgenden Mitteilungen 
ftammen!); gewöhnlich wurden bie wichtigften Ereignifle tage- 
budjattig notiert. Man muß es bei der Lektüre im Auge 
behalten, daß nicht Stadtbasler, fondern Ausländer über die 
unjre Stadt fo nahe angehenden Greignifle berichten. 

Zur Würdigung des Inhalts aber genüge eine einzige 
Bemerkung. Das Bedeutſame diefer Berichte liegt vor allem 
darin, baB fie ung Runde geben von bem ftórenben unb ver- 
wirrenden Einbruch der Politik in eine gänzlich unpolitifche, 
rein auf die Snmerlichkeit der Seele konzentrierte Gemein: 
ſchaft. Man muß fid) daran erinnern, bap den Herrnhutern 


1) Es jet aud) bier dem Borfteher des Archivs ber Brüder- 
unität in SerrnDut, Herrn Dr. Sof. Müller, für die Vermittlung 
biefer Berichte ber wärmfte Danf ausgeiproden. 


265 


allenthalben noch aus ber Zeit des Grafen unb von ibm felbit 
jedes Kritifieren der Obrigkeit, fo gut als der Kirche, in deren 
Bereich fie fid) aufbielten, ftreng verboten war. Diefes Ver- 
bot war nicht bloß Klugheit. Es war innere Logik, bap, wer 
gang in der Liebe zum Heiland und zur Gemeine aufging, 
nicht Zeit batte zur Kritik ober zur Reform der Außenwelt 
und durch alle Sorgen um Welt und weltliche Dinge nur 
abgelenft werden fonnte von dem Einen, was not fat. Nach 
diefen Prinzipien hätten fid) bie Herrnhutifchen Brüder und 
Schweftern überall rein indifferent zu der großen Revolutions- 
bewegung verhalten follen; fie hätten bann durch diefe In— 
differenz zur Unterftügung des 93eftebenben beigetragen. Die 
folgenden Erzählungen beweifen aber, wie mächtig der Strom 
bet Revolutions- und Kriegsereigniffe auch das Heine enge 
Leben ber Herrnhutifchen Kreife ergriff. Gar viele unter 
ihnen wurden fo in das Welttreiben verflochten, daß fie der 
Gemeinfhaft dauernd oder bod) vorübergehend den Rüden 
febrten. Die Geſchwiſter in der Stadt gingen von 1797 auf 
1799 von 293 Perfonen auf 278 zurüd, die Mitglieder auf 
ber Landfchaft in berfelben Zeit gar von 578 auf 465 Per- 
fonen. on 1799 fteigt bie Mitgliederzahl dann wieder 
[angjam. Die Krifis wurde fchliehlich überitanben und e$ 
folgte ihr im nächiten Zahrzehnt eine Periode immer mad) 
fenden Einfluffes der Herrnhuter auf bie Basler Landes: 
fire. Das Ganze dient zur Slluftration, wie diefe Kräfte 
des alten Chriftentums burd) die Revolution zwar fchwer 
erfchüttert, aber nicht überwunden worden find. 


Aus Berihten GraBbmanns. 
1789. 

Den 20. Zuli trafen der Eöniglich franzöfifche Minifter 
Oteder wie auch nod) mehrere Herren von Paris auf ihrer 
Retirade bier ein, bie fi) einige Seit mit obrigfeitlicher 23e- 
willigung bier aufbielten. In diefen Sagen liefen die trau- 
rigſten und erfchredlichften Nachrichten von bem in Paris 


266 


und bem ganzen Königreich Frankreich entftanbenen Tumult 
und Aufruhr und von ben Verheerungen der Bauern in bem 
benachbarten Elfaß ein. In ben legten Sagen Zuli waren 
febr viel vertriebene Juden aus dem Eljaß mit Weib und 
Kindern hieher geflüchtet, denen bann die hiefige Obrigkeit 
unb bie Bürger einige Wochen unb bis fie wieder ficher 
an ihre Orte gurüdfebren fonnten, viel leiblihe Wohltaten 
hatten zufließen laſſen. Beim Abzug ließ ein Rabbiner ein 
mwohlabgefaßtes Lob- unb Dankgebet im Drud erfcheinen 
unb dasfelbe der hiefigen Bürgerfchaft hinterlafien: , Gebet, 
welches ein jeder Vorfinger an jedem heiligen Sabbath nad) 
bem Gebet für den König, fo anfängt: Du Herr gibft Heil 
den fünigen (Pf. 114,10) . . . für bie Wohlfahrt der (0b- 
[iden Stadt Bafel und ihrer Angehörigen mit Andacht beten 
fon“. 

30. Zuli. Tod des regierenden Q3ürgermeifters Mi sb, 
der nod) Tags zuvor dem geheimen Kriegsrat beigewohnt 
batte und bei gegenwärtiger unruhiger Zeit mit vielem Eifer 
und Klugheit die Wohlfahrt und Sicherheit der Stadt unb 
Landſchaft 93afel beraten hatte. 


1790. 

(Sommer.) Auf bem Rüdweg Gehilfengefellfhaft in 
Lieftal. Zn derfelben wird angezogen, daß verfchiedene von 
ben biefigen Bürgern mißvergnügt find und in gewiflen 
Punkten von der Obrigkeit bie Reftitution ihrer ehemaligen 
Rechte begehren. Man nahm die Abrede, bap bie Gefell- 
fchaftshalter ihre Brüder in Liebe warnen möchten, fid) nicht 
mit dergleihen Dingen zu befaflen, fonbern fid) vielmehr fti 
und genügſam zu beweifen und vor jedermann zu zeigen, wes 
Geiftes Rinder fie find. 


1791. 


(Sanuar.) In der erften Sitzung der „Heinen Gefell- 
ſchaft“ bittet Graßmann die Brüder, mehr den Heiland und 


267 


die Angelegenheiten der Sozietät im Auge zu halten und nicht, 
wie ſchon gefchehen, politifche Begebenheiten und Neuigkeiten 
anzuziehen. | 

9. Februar. Im bielen Sagen wurden wegen vor: 
banbener Unruhen im Bifchöflichen auf weife Vorkehrung 
unferer I. Obrigkeit fowohl die Stadt als aud) bie Grenzen 
des Kantons mit binlänglicher Landmiliz beſetzt und bie 
Stadttore und Rheingrenzen mit doppelten Bürgerwacen. 

Den 18. März paffierten burd) unfern Kanton dicht 
bei den Stadtgräben vorbei 350 Mann Eaiferliche Infanterie 
unb 50 Mann Kavallerie, nebft Bagagewagen ins Bilchöf- 
fide nad Pruntrut in aller Stille und Ordnung Da 
man bei diefer feltenen 93egebenbett unangenehme Auftritte 
befürchtete und im Gegenteil nichts Bedenkliches darauf er- 
folgte, jo gereichte uns die heutige Zufage in der Lofung: 
„Fürchte bid) nicht, ich bin dein Schild und dein febr großer 
Lohn”, zu befonderem Troft. 


1792. 


Den 22. Zebruar geben in der Stadt bie tollen und 
elenben Faftnachtsfreuden an, wozu heuer nod) das Bacchus— 
feft und der fiefertang fam. Die Geichwifter werden ermabnt, 
vor der Welt zu zeigen, was für ein großes OXtiBfallen fie an 
fofd)en ausfchweifenden Sreuden und beidnifchen Gemobn- 
heiten haben. Manche ließen fid) aber bod) von der Oteu- 
gierde hinreißen und find nicht unbermunbet bavongefommen. 
Eine verheiratete Schwefter, welcher meine Grau eine Grin- 
nerung deswegen gab, bap fie ihre Tochter, welche unfere 
KRinderverfammlung befucht, erpreß an einen fofd)en Ort 
geführt, wo fie die in einen wilden Mann oder Vogel Greif 
oder Löwen verkleideten Perſonen befchauen konnte, wurde 
empfindlich barüber und ift nachher aus unferer Gemeinschaft 
abgetreten. 

2.—6. Mai. WUufforderung an alle Sozietätsgefchwifter 
in den Chorverfammlungen aus Anlaf des Rriegsausbruchs 


268 


zwiſchen Granfreid) und Defterreich zu beten um Bewahrung 
vor Leichtfinn, Parteigeift und Fleifchestuft und um Gottes 
Beiftand für die Obrigkeit, bie zur Cidjerftellung der Stadt 
und Grenzen alle Anftalten trifft, um der fünftig zu befürch- 
tenden Raubfuht und Mordbrennerei ber Stanzofen zu 
wehren. Die Repräfentanten von Zürich und Luzern er- 
feinen in Baſel für ein Vierteljahr, um mit der Basler 
Obrigkeit das Beſte der Schweiz zu beraten. 

3. Suni. Der erffe Zuzug aus dem Kanton Zürich 
rüdt ein mit Ober: und Untergewehr, einigen Kanonen und 
Pulverwagen in gebóriger Stille und Ordnung Etwa in 
Zeit von 8—10 Tagen war der ganze bewaffnete Zuzug von 
1375 Mann aus der ganzen Schweiz beifammen; bie eine 
Hälfte von 700 Mann wurde in die Stadtquartiere, bie 
andern in bie benachbarten Dorfichaften einquartiert, und alle 
14 Sage wechfeln diefe mit ber Ginquartierung. Es war ein 
feltener rührender Anblid, diefe unfere Eidgenofjen mit [o 
frobem Mut zu unferm Schuße berbeifommen zu fehen, unb 
jedermann machte fih’s zur Pflicht, ihnen mit freundlicher 
Begeanung und liebreiher Bewirtung auborgufommen. 

6. September. Dank-, Buß: und Bettag. Beſuch in 
Lieftal und Laufen. Diele Hagten fid) darüber an, 
bap fie in biefen Seiten, da bald täglich Truppen bier durd)- 
marfchierten und einquartiert würden, viel Zerftreuung hätten 
unb fid) ihr Gemüt fo leicht unb zu viel vom Kriegswefen ein- 
nehmen ließen, daß fie barüber den Genuß am Heiland ver- 
[óren. Doch wär der Heiland fo treu und brächte fie wieder 
in die Stille und gäbe es ihnen zu erfahren, daß nur die 
Stunden felig find, bie fie im Umgang mit ihm zubringen. 

Den 16. September hatte fid) in der ganzen Stadt ein 
allgemeines Gerücht verbreitet, daß der faijerfide General 
Gfterbaft von Rheinfelden ber in diefer Nacht über ben 
Schweizerboden bei Augft ins Elfaß einfallen würde mit 
20 000 Mann Infanterie und weil man deswegen eine Plün- 
derung befürchtete, fo padten viele Kaufleute in Eile ihre 


269 


Waren und transportierten fie zur Sicherheit tiefer in bie 
Schweiz. Da es aber diesmal gottlob nur bei einem blinden 
Lärm und Cdreden geblieben, unb man betnad) vernommen 
bat, daß fid) bie Eaiferlihen Truppen Tags darauf weiter 
am Rhein hinunter nad) 93reifad) gezogen, fo beftätigte fid) 
an uns die Wahrheit herrlich: baB, menn bie Not am 
arößten, Gott mit feiner Hilfe am nádften. 

Am 2. Dezember war in einer Gefellfdjaff von Brüdern 
bie Rede davon, baB man bei gegenmürtigen unrubigen 
Seiten in Gefahr fei, fid) zu tief ing Politifche einzulaffen, und 
vom Parteigeift hingeriffen zu werden, fo daß man dadurch) 
Schaden an feiner Seele nehmen und gleichgültig gegen bie 
Zerfammlungen und brüderliche Anfaffung werden koͤnne. 
Diefe Anmerkung gab Anlaß zu offenberaigen Aeußerungen. 
Ein Bruder fagte: „ich muß e8 zu meiner Schande befennen, 
bap id) mid) ganz troden und unempfindlich fühle und id) 
mich oft über bie Veftrafung des heiligen Geiftes in meinem 
Herzen weggefett habe. Ruhig bin ich nicht babet, befonders 
wenn ich zurüddenfe, wie felig id) fonft meine Zeit im Um— 
gang mit dem Heiland zugebracht habe unb wie falt id) gegen 
alles andere gewefen bin." Gin anderer fagte: „Sch bin [o 
zerftreut in meinem Gemüt, daß id) wenig unb manche Sage 
gat nicht an den Heiland denke, ja fogar der Mordgeift ift in 
mir tege geworden, als ich bie fchredlichen und unmenfchlichen 
Geihichten, bie in Frankreich vorgeben, in den Zeitungen 
gelefen, fo daß id) duBerff erbittert in meinem Geifte bin, 
wenn id) nur Sranzofen fehe. Ich habe mir zwar vorgenom- 
men, feine Zeitungen mehr zu halten, aber auch das hilft mir 
nichts, indem id) als Gaftwirt bod) im Fall bin, allerlei anzu- 
hören von meinen Gäften, denen ich mich nicht wohl entziehen 
fann. Es bleibt mir daher nichts übrig, al8 mich in bie 
Fürbitte meiner lieben Brüder zu empfehlen, daß fid) der 
Heiland über mid) erbarme und mid in Gnaben vor allem 
Schaden bewahre.“ 


270 


1793. 


1. Januar. Gürbitfe für alle Anfchläge unb Sleber- 
legungen unferer lieben Obrigkeit und ber von ung geſchätzten 
Repräfentanten, bie zum Beſten des ganzen Schweizerlandes 
gefaßt werden. 

Am 17. März wurden in ben 4 Hauptlirchen bie Abend⸗ 
predigten ausgefeßt, weil eine Kriegsübung follte vorgenom- 
men werden. Es wurde fodann um 2 Uhr Generalmar[d) 
gefchlagen. Alle Bürger, Schirmverwandte und fremde Hand- 
werksgeſellen eilten alsbald auf ihren Sammelplatz und 
in einer Viertelftunde war die ganze Stadt unter den Waffen. 
Man nahm bei jedem Bataillon ben namentlichen Aufruf vor, 
um fid dadurch zu Überzeugen, ob alle erforderlichen Per⸗ 
fonen zugegen wären. Sowohl die obrigfeitlid)en Perfonen 
famt den Herren Repräfentanten als aud) der fämtliche 
Kriegsrat nahmen alle Pläge in Augenfchein und bezeugten 
über die verfügten Anſtalten völlige Zufriedenheit. Um 
7 Uhr abends wurde bann die Retraite gefchlagen. 

22. März. Benten, auf der einen Geite ans Biſchöf⸗- 
liche, auf der andern ans GljaB grengenb, von denen beiden 
Ländern bie Sranzofen die Grenzen ftatf befegt halten, ift 
bis daher durch Gottes Güte und Wache von Schreden unb 
Unfug bewahrt worden. 

4. 9fuguft. Beſuch in Lieftal, wo mande zu ihrem 
Schaden der Neugierde nach politifchen Begebenheiten 
zu viel eingeräumt batten. In Muttenz ernfter Verſuch 
neuer Auffaffung. In Binningen und DBottmingen, bier 
sroßes Lob. 

Der 17. September war bier ein unrubiger Tag, indem 
bie Nachricht einging, bap die Sranzofen oberhalb der Zeitung 
$üningen und längs bem jenfeitigen Rheinufer im 23e- 
Griff wären, um irgendwo auf ber markgräflichen Seite an- 
aufabren. Es wurde dann vormittags um 10 Uhr General: 
marſch geihlagen und die nötige Zeranftaltung zur Be— 


271 


fóü&ung ber Stadt getroffen. Indeſſen eilten bie in ben 
deutfhen Grenzorten einquartierten deutfhen Truppen in 
aller Gefchwindigfeit herbei, fhoffen ihre (— der Franzofen) 
mit Mannfchaft befeste und mit 93alfen und Brettern über- 
bauten Schiffe zufammen, ba bann viele entweder getötet ober 
gefangen wurden oder erjoffen und nur wenige fid) durch 
Schwimmen retten konnten. Nach vollbradbter glüdlicher 
Aktion und bergeftellter Ruhe wurde bann nachmittags um 
3 Uhr Retraite gefchlagen, und wir banften Gott in unferm 
Herzen für feine gnädige Bewahrung und Abwendung alles 
zu befürdhtenden Unglücks. 
1794. 

Den 10. März vernahm man, daß geftern im Großen 
Rat ein Schreiben von Bern behandelt worden, darin 
gemeldet wird: daß dortige gnábige und weile Herren in 
bero Landen einen allgemeinen Bettag angelegt und zwar 
ben 16. März und biegu alle Stände ber lieben Eidgenoflen- 
ſchaft, auch bie katholifchen, einladen, um Gott gemeinfchaft- 
lid) wegen ben abgewandten Gefahren zu danken, um fernere 
Schonung zu bitten, aud) den Zerfall der Religion zu be- 
bergigen. Unfere G. W. $5. und Oberen hätten nun folchen 
genehmigt und viel Schönes darüber geäußert. 

16. März. Allgemeiner 93ettag in der Stadt mit drei 
Predigten. Wir Hatten große Urſache, Gott von Herzen 
zu danken für unfere liebe Obrigkeit, indem fie viele An— 
gelegenbeit zeigte, baB der heutige 93ettag im Segen begangen 
werden möchte. Beſonders einer von unfern teuern Regenten 
war darum bemüht, indem er an verfchiedene Orte auf dem 
Lande eine zum Dank gegen Gott erwedliche Piece: Suruf 
an die freien Helvetier, austeilen ließ. Ueberhaupt machte 
es uns einen lieblichen Eindrud, bap fi) bie Landespäter 
aller Kantone vor Gott bemütigten und der fummerpollen 
Sorge ungeachtet, bie fie bisher für das Land getragen, bod) 
nicht fih, ihrer Klugheit und Borfichtigkeit, fondern Gott 
allein bie Ehre gaben. 


272 


1795. 


f[ngebeure Rälte in der Stadt, bis 31 Grab unter Null am 
27. Sanuar. Vielen erfrieren ihre vorrätigen Gemüfe. Es wird 
der Anlaß zu befonderem Gebet, wobei das Danken nicht ver- 
geflen wird. Bei der ftrengen Kälte legten manche bemittelte 
Bürger aus Baſel ihre Teilnahme und Wohltun Tieblich zu- 
tage. Man batte bie Herren, bie Pferde haben, faum auf- 
gefordert, ben Armen das Holz, fo ihnen bie Obrigkeit wohlfeil 
gibt, mit ihren Equipagen zu fahren, fogleich rollten bie ftofaen 
Pferde und Wagen vor bie Häufer der Armen, ihnen Teuerung 
gratis zuzuführen. Und fo konnte man manche Züge der 
Wohltätigkeit bemerken, indem aud) in den fogenannten Räm- 
merlein Cub[friptionen und Kollekten für bie Armen ge- 
Tchahen, und dies fam aud) einigen unferer armen Gefchwifter 
zugute. 

27. Sanuar. Nachricht von der Vereinigung Hollands 
mit Granfreidj. Sorge um die Gemeine in 3epft. Heute 
wurde der bier angefommene franzöfifhe Ambafladeur Bar- 
thelemy mit der großen Zeierlichkeit nad) dem höchften 
Rang fomplimentiert; er, wie aud) ber preußifhe Minifter 
Golz hatten ihre Grebitipen ausgewechſelt. Des Herrn 
Stadtfchreiber Och ſens Anrede an Serm Varthelemy, ba 
er ihn mit dem ogefamten heimlichen Rat fomplimentierte, 
war febr erbaben und zierlih, bie franzöfiihe Republik iit 
darin förmlich anerkannt worden. Des Ambaffadeurs Ant- 
wort war fura, fimpel und freundfchaftlich: in beiden war 
bie Rede vom Frieden. 

11. März. Nachricht von Lieftal, daß geftern Nacht 
in bafiger Kirche das Gewölbe, worinnen die Gelder ber 
Pflegereien aufbewahrt werden, erbrochen und jämtliches 
Geld, 1009 Louis d'Or, geftoblen worden ijt. Am darauf: 
folgenden Tag bat unfer lieber Bruder Oefan Zwinger 
in feiner Predigt ben in der Lieftaler Kirche begangenen Dieb- 
ſtahl überaus herzdurchſchneidend angezogen und u. a. gejagt: 


273 1 


Es fei ibm dadurch eine Wunde gefchlagen worden, bie in 
feinem Leben nie mehr ganz geheilt werden könne, denn fie 
werde ihm jedesmal, wenn er die foangeltreppe Dinauf- ober 
berabfteigen werde, wieder aufgerifjen werden, weil ibm da 
bie forcierte Thüre in die Augen falle. Er wünfche nie- 
mandem nichts Lebles; den Thätern aber wünfche er, daß 
fie in ihrem Gewiſſen nie Ruhe nod) Raſt finden mögen, 
bis fie bie begangene teuflifche Höllentat befennen, uf. In 
furzer Zeit darauf wurden bie Kirchenräuber, bie mit ihrem 
Anbang 7 Perfonen ausmachten, entdedt, bie Haupttäter aber 
waren der Bürger und Ziegler Strübi in ieftal und ein 
fremder Töpfergefelle aus dem Raiferlichen, der in Lieftal in 
Arbeit ftanb. Diefelben find bann auf hohen obrigfeitlichen 
Befehl gefänglich eingezogen und zeitlebens in das biefige 
Zuchthaus verbannt worden. 

Den 5. April als am heiligen Oftertage wurde bier der 
Sriede zwifchen der franzöfifhen Otepublif und dem König 
von Preußen geſchloſſen. Wir banften Gott, baB nun ber 
erfte Schritt zum Friedenmachen gefcheben. 

Der Bericht von 1796 ift nicht vorhanden. 


Berichte Sob. Saf. Bridenfteins. 
1797. 


1. Februar. Nachdem wir ſchon 3 Nächte wegen des 
erfkaunlichen Ranonierens ber Franzoſen aus der Zeitung 
$üningen auf bie Eaiferlihen Arbeiter in den Lauf: 
gräben nicht gefchlafen hatten, indem nicht nur unfere Senfter 
in einer immerwährenden Erfchütterung blieben — fondern 
aud) Durch das Peloton euer, bei denen 3- bis 4maligen 
Ausfällen ber Grangojen in einer Nacht und beftändigem 
Leuchtkugelwerfen ganz erleuchtet waren, fo fam heute eine 
Kapitulation zuftande, wodurch fid) des Krieges Schauplaß 
ganz von unfern Grenzen 30g, wofür wir unferm lieben Herrn 
mit gerührten Herzen banften und es al8 einen neuen Be— 


274 


weis feiner gnábigen Aufficht tiber unfere Stadt unb Land 
annahmen. | 

Den 6. März waren bier die fogenannten jährlichen £Im- 
züge zum Andenken des Schweizer Yundes, wobei diesmal 
befonders viel Unordnung und Ausgelaſſenheit vorfam.; fie 
waren feit Anfang des Krieges von der Obrigkeit verboten 
gemejen, baber bie Sache denen Leuten je6t um fo mehr lieb 
und neu war. Uns fam fie völlig heidnifch vor. Schon feit 
14 Sagen war vom Morgen bis in bie fpäte Nacht in ber 
ganzen Stadt und auf allen Gaffen nichts als trommeln und 
Ihießen zu hören, Rinder von 5, 6 Sabren gingen trüpplein- 
weis zu zehn, zwölfen, ein jedes mit einer fo großen 
Srommel als e$ nur tragen konnte, Straß auf, Straß ab, 
unb größere ſchoſſen Dabei aus Heinen Büchfen und Piftolen, 
fodaß jchredhafte Gemtitber fid) faum aus dem Haufe zu 
gehen getrauten; zwifchen inne famen bann die Umzüge ſelbſt, 
mit unzähligen Trommeln von Großen und Kleinen begleitet, 
bald der Wilhelm Doll (T) mit feinem Heinen Sohn in alt-- 
fhweizerifcher Tracht, erfterer mit einem Bogen und Pfeil 
unb lebterer mit einem Apfel auf dem Kopf, dann wieder 
einige alte Schweizer mit Gtrettfofben und Spießen, bald von 
denen zwei verfleideten Thieren, der Löwe und Vogel Greif, 
hernad der wilde Mann, unb fo ging'$ den ganzen Tag; 
heute nun, da das traurige Feft am berrlichften war, wurde 
fhon 4 hr morgens dazu mit [depen und trommeln in 
finfterer Nacht gemedt, bie ganze Stadt war in Alarm und 
nun famen die Umzüge und unzählige Gaufeleien, unter 
anderem der Tod, von 12 geharnifchten Männern feftgebalten, 
auf einem Wagen mit 4 Ochfen be[pannt, nebft noch einigen 
Wagen fo ganz Heiner in Schweizertracht gekleideter Kinder 
noch zum leßtenmal durch jede Straße, und nachher waren für 
groß und Klein angeftellte Bälle bis den andern Morgen; ben 
andern Tag konnten wir uns endlich mal wieder befinnen unb 
gleihfam von unferer Betäubung erholen, e8 war uns, als 
wenn nad) einer anhaltenden größten Windsbraut, wofür 


275 18° 


man weder hören nod) feben fann, nun eine gänzlihe Wind- 
ſtille herrſcht. 

Das traurigſte war noch dabei, daß der Mann, ſo in 
den Vogel Greif verkleidet war, durch einen Fall ſich den 
Daumen ſehr verſtauchte und weil er nichts darauf gab, kam 
der Brand dazu und ſchon den andern Tag gegen Abend 

war er tot. Ein ähnliches ſoll das letztemal mit dem Menſchen, 
fo im Löwen war, durch Erhitzung geſchehen fein. 


1798. 


Den 5. Januar blieben bie Landgehilfen, welche ge- 
wöhnlich von ben nächſten Orten in bie Chorverfammlungen 
fommen, nod) etwas beieinander, wo ich denn zuvörderſt von 
bem Beſchluß des alten unb Wiederanfang des neuen Jahres 
Gelegenheit nahm, berzlih mit ibnen zu reden, und fie 
befonders zu neuer Treue in ihrem Auftrag ermunterte. 

Nächſt bem redete id) mit ihnen wegen denen bieljer 
Sage auf dem Lande fid) beroorgetbanen Unruhen, daß weder 
fie noch von ihren Häuflein, unter was auch immer für einem 
guten Schein ober Vorwand, daran Antheil nehmen, Ton- 
bern es je&t vielmehr zu beweifen fuchen möchten, daß fie 
der Obrigkeit um des Herrn willen untertban feien, und 
es alauben, daß wer fid) wider bie Obrigkeit fe8e, Gottes 
Ord nung miberftrebe. Dies veranlafte eine [ange Unter⸗ 
redung, nach welcher mehrere Brüder bezeugten, wie frob 
fie wären, daß darüber fo umständlich gefprochen worden, 
weil fie zum Theil bod) nicht recht gewußt hätten, wie fie fid) 
Dabei benebmen follen, und einer geftand offenberzig, Daß 
et fhon ganz für bie Sache geftimmt gewefen, aber nun über- 
zeugt fei, bap ihn feine Vernunft betrogen babe, weshalb er 
fid nun mit feinem Gedanken mehr deshalb einlaflen wolle. 

Den 9. Januar brachen querit in Arisdorfdie Unruhen 
aus, indem eine Anzahl Bauern in ber Nacht das Schloß 
zu Farnsburg beftürmten: es befand fi aud ein 
Bruder dabei, der jedoch nur aus Furcht, weil man ibm das 


276 


Leben zu nehmen brobete, mitging; ber arme 93ruber, ber ein 
einfáltiger Menſch, aber fonft ein treues Herz iit, war auf 
bem Weg dahin mehr tot als lebendig, bod) ba es zu feinen 
Gewalttätigfeiten fam, fo batte er weiter nichts als ben 
Schred und die fchlechte Behandlung von biefen böfen Leuten 
zu erbulben. 

Einige Tage darauf wurden die Unruhen allgemein, bod) 
bei weitem in Lieftal am fohlimmften, und man fahe nun 
erit, daß es auf eine gänzliche Staatsumwälzung ab- 
gefehen fei; leider war auch hier ein S3ruber, und zwar nicht 
gezwungen, babet, der fid noch dazu an bie Cpite der un: 
ruhigen Landleute ftellte, freilich, nach feiner Aeußerung, in 
der guten Abficht, bap, indem er die billigen Forderungen 
feiner Mitbürger unterftüße, er zugleich ihr Vertrauen dahin 
zu benugen fuche, fo viel möglich Gewalttätigkeiten ab- 
zuwenden, unb man muß (agen, daß nächſtdem, baB Gottes 
Ginger in der ganzen Sache gleid) vom Anfang an zu fpüren 
war, et wirflich vieles dazu beigetragen bat, daß alles fo gut 
ablief, denn e$ ift doch merkwürdig, daß bei dem ganzen 
Umfturz der Staatsverfaffung des Kantons Baſel aud) nicht 
eines Menſchen Ylut vergofien worden; indeflen für feine 
Derfon fann ihn ebenfowenig Dies — als das tedt- 
fertigen, daß er nun, unb alle die, welche für bie Revolution 
waren, jest fagen, ja ſo war's nicht gemeint, das haben wir 
nicht gedacht, daß es f o geben follte. 

Mitte Sanuar. Da in diefen Tagen bier febr viele 
beuntubigenbe Gerüchte gehört wurden, jo nahm ich beute 
Gelegenheit, mit den Gefchwiftern deshalb zu reden unb fie 
zu ermuntern, ihre Gemüter bod) davon nicht fo ganz ein- 
nehmen und zerftreuen zu laflen, vielmehr fid) jolches dahin 
zu benuten, daß fie ihren Ruf und Gnadenwahl, ein Eigen: 
tum Syefu zu fein — nur befto fefter zu machen fuchten, als⸗ 
dann würden fie fid) aud) die tröftlichen Worte Jeſu ganz 
zueignen können, daß nicht ein Haar uns ohne feinen Willen 
entfallen folle; was Gr aber tiber uns gefchehen ließe, würde 


277 


unferm Herzen zum Beſten gereid)en müflen, wenn’s uns 
gleich äußerlich befchwerlich und drüdend werden könnte. 

Den 22. Januar hatten wir einen febr unrubigen Tag, 
da, nachdem unfere Obrigkeit denen Forderungen der Land- 
leute nachgegeben, heute Nachmittag unter Abfeuerung der 
Kanonen und Läutung aller Gloden ber Zreiheitsbaum auf 
bem Münfterplab gefeSt wurde: je wilder und ausgelaflener 
fib fowohl von Stadt als Land eine Anzahl Menfchen dabei 
bezeugten, befto gedrüdter und niedergefchlagener war ber bei 
weitem größte Teil ber Bürger, die ruhig zu Haufe blieben 
unb über das Unglück ihres Vaterlands manche ftille Träne 
weinten.. 

Den 1. März wurden wir am frühen Morgen mit der 
Nachricht erfchredt, baB bie Feindfeligfeiten zwifchen den 
Schweizern und Grangofen bei Solothurn wirklich ihren. 
Anfang genommen; obwohl aus unferm Kanton gar feine 
Truppen gegeben worden, jo [abe man nun zum voraus, daß 
ber Durchmarfch ber Franzoſen durch unfere Stadt nun nicht 
mehr zu vermeiden ei. 

Den 13. erklärte fid) einer unferer Landgehülfen- Brüder 
vor mehreren Gefchwiftern, „die jeSigen Zeitumftände find 
mir für mein Herz febr gefegnet, der Heiland macht mich von 
vielem los, woran id) bisher noch geklebt babe, und barum 
fühle id) mich auch jeßo jo Leicht, ihn zu fuchen und angu. 
bangen und fann ruhig und Findlich abwarten, was er über 
mid) fommen faffen will. Aber manchen Menichen”, fette er 
hinzu, „machen diefe Umſtände nur noch widriger gegen ben 
Heiland, bod) weiß er fie aud) zu finden, wovon ich letzthin 
ein Erempel gejeben babe." Er erzählte darauf folgenden 
anmerklichen Umftand: „Sch war kürzlich Gefchäfte wegen in 
einem andern Dorf und mußte dort bei einem 93efannten 
‚übernachten, bei bem ich auch nod) einige andere zur Herberge 
antraf. Das Gefpräh fam, wie gewöhnlich, gleich auf bie 
jegigen Umftände; ich fagte nicht viel dazu, bis mid) der 
Hauswirt geradezu frug, wie id) denn bie Sache anfähe? 


278 


Ich fagte ihm: „ich verftehe wenig davon, fann aber glauben, 
was unfer lieber Heiland (hierbei fagte id) ihm, baB ich 
meinen Gott meinen Heiland nenne) tbut und läßt gefchehen, 
das nimmt ein gutes End; für meine Perfon aber verlafle id) 
mid ganz auf ihn, daß er mid) in allen nod) fo fchweren 
Umftänden gnábiglid) unterftüßen und durchhelfen wird.” 
Hier fuhr der Mann ganz hisig auf und fagte: „ich babe 
feinen Heiland und brauche aud) feinen und will bod) durch: 
fommen. Ihr Pietiften feid bod) recht arme elende Troͤpfe, 
daß ihr fold) närrifh Ding glaubt." Sch antwortete ihm: 
,9 da habt ihr ganz recht, daß ich ein armer elender Tropf 
bin, aber eben darum brauche id) einen Heiland, barum muß 
id) einen haben und fann anders unmöglich zurecht fommen, 
unb mir iff Gott Lob unb Dank ganz wohl dabei, aber euch 
iit nicht wohl. Sap das aber fein närrifches Ding ift, fónntet 
ihr wohl nod) einmal mit Schreden erfahren.” Hierauf brad) 
id) ab und redete mit den andern Leuten. Der Mann wurde 
wie vor den Kopf geichlagen, jchwieg ftille und redete fait 
nichts mehr, bis wir wollten fchlafen geben, da fing er mit 
einmal an, ich wollte einen Louisdor brum geben, wenn ich das 
nicht gefagt hätte, was ich gefagt babe." Weil die andern 
nichts darauf antworteten, fo fagte ich nur fo viel zu ihm, 
daß ich für meinen Seil feinen ihm nachteiligen Gebraud) 
davon machen würde; er bezeugte, „Darum fei es ihm nicht”, 
fchwieg aber wieder und erklärte fid) nicht weiter. Am 
Morgen fabe ber Mann ganz verftört aus, redete nichts, und 
beim Abſchiednehmen war’s ibm faft nicht mdalih, nur ein 
einziges Wort verftändlich zu reden, da feine Zunge fonft 
fo febr geläufig war, welches auf mich unb alle übrigen Leute 
einen gar eigenen Eindrud machte.” 

Den 15. waren wir auf einem Landbefuh in Vin- 
ningen, wo wir nad ber Verfammlung den Gefchwiftern 
Geſellſchaft hielten. Sie äußerten fid) offenbergig und [ünber- 
haft, nur find ihnen bie jeBigen Umftände immer oben auf 
und benebmen ihnen viel Genuß. Doc war dies weniger 


279 


bei den ledigen Schweitern der Gall, bie fid) dadurch zum 
Zeil mehr zum lieben Heiland treiben faffen, und in einem 
recht bübfchen Herzens-Gang find; der hiefige Herr Pfarrer 
Rapp fährt fort, Freundfchaftlich gegen bie Gefchwifter zu 
bleiben und bat fid) Eürzlich bie Gemein-Nachrichten aus- 
gebeten. Bei unferer Nachhauſekunft fanden wir einen Ge- 
hülfen-Bruder von Diepflingen auf uns warten, der 
über Verfhiedenes wegen der dortigen Häuflein in Abficht 
der jetzigen Lage mit uns fprad). Für feine Perfon, fagte er, 
babe ibm der liebe Heiland Klarheit gefchenkt, zu erkennen, 
daß alles eine Verwirrung und Verführung vom böfen Geift 
fei, er hätte daher, al8 man ibn letzthin genbtiget, fi vor 
der ganzen Gemeine zu etf(üren, ob er aud) willig fei, wenn 
ihre Forderungen nicht bewilligt würden, fogleich gegen Baſel 
zu marfchieren, fid) ganz freimütig erklärt, baB das wider 
fein Gemiffen fet und gegen den Eid, welchen er feiner Obrig- 
feit gefchworen, und darüber möchte es ibm geben wie es 
wolle. Raum batte er die legten Worte ausgeredet, als alles 
über ihn ber wollte, unb nur mit größter Not brachten ibn 
10d) ein paar vernünftige Männer zur Stube hinaus. Nach— 
bet durfte er bei allen oft febr tumultuarifchen Sufammen- 
fünften zu Haufe bleiben, welches weiterhin gar manche 
wünfchten und für feine Aeußerungen und Benehmen aldann 
großen Reſpekt hatten. Durch einen faft ähnlichen Vorfall 
unb 93etragen bat fid) aud) ein anderer Bruder in Lieftal 
bei vielen legitimiert. 

Den 17. April waren wir bei der Pfarrer-Interredung, 
wo es ben anme[enben Pfarrer-Brüdern und uns vor: 
züglich zum befonderen Vergnügen und Dank gegen unfern 
lieben Heiland gereichte, baB wir bet der jebigen Zeit uns 
nod) fo in Ruhe wieder beifammen finden und einander zur 
Aufmunterung fein fónnten. 

Den 26. April famen die erften franzöfifhen Truppen 
zum Slebernachten bier an; es ift über alle Befchreibung, in 
was für Furcht und ängftliher Erwartung alles in der Stadt 


280 


war. Sch muß gefteben, e8 war uns aud) ganz eigen 
zu Mute, doch fonnten wir mit Zuverficht auf den Heiland 
fehen, und e$ blieb uns fo; wir find in feiner Hand, was 
will uns fdjaben? Meine Frau, die fid) zu Anfang der fran- 
zöfifhen Revolution in Neufalz fürchtete, bie Franzoſen 
fónnten bis dahin fommen, war jest ruhig und überlaflen, ba 
bie ganze Stadt davon wimmelte und wir felbft 4 Mann 
im Haufe hatten. So fann der liebe Heiland alles in 
feinen armen Kindern, bie fid) Ihm überlaffen. 

Den 5. Mai magten wir e8 im Vertrauen auf ben 
Heiland, unerachtet der — durch bie fortwährenden Durch: 
märfche ſowohl zu Stadt und Land noch dauernden — Un— 
ruhe und Unficherheit, warum wir bisher feine weitern 23e- 
fude unternehmen  fonnten, einen nötigen Beſuch zu 
Bubendorf, 3iefen, Arboldswil uf. zu machen. 
G3 iff dies ber Diftrikt, in welchem der liebe Bruder Preis- 
werk 13 Sabre Pfarradjunctus war. 

Den 9. Mai gefchahe einem unferer jungen ledigen 
Brüder ein febr vorteilhaftes Anerbieten, bei den Staats: 
gefchäften in Aarau angeftellt zu werden. Anfänglich lehnte 
er es aus treuem Sinn und Mißtrauen gegen fid) ſelbſt gleich 
ab, nad)ber aber wurde er durch Zureden und baB man ihm 
die fünffigen Erwartungen davon fo vorteilhaft fchilderte, 
wanfend, und hätte es angenommen, wenn feine Eltern unb 
id) nicht geradezu ihm folches widerraten müflen. Einige 
Tage drauf äußerte er fid febr fünderhaft, wie er fid) von 
Herzen fchäme, daB nur der Gebanfe in ihm Pla greifen 
fónnen, fid) auf fo eine Art in bie Welt hinein zu wagen, 
ba et bod) dem Heiland fo oft verfprochen, fein ganzes Eigen: 
fum zu fein und alles in der Welt um ihn fahren zu falfen; 
er dankte nun gar herzlich, daß man ihm fo ganz beitimmt 
davon abgeraten, das habe ibn erfchredt, ſonſt würde er nicht 
fo bald von feinem Vorhaben abgefommen fein. 

Den 12. Auguft wurde von den biefigen Bürgern bie 
neue Ronftitution auf bem Münfterplag befchworen, und da 


281 


zur Greier diejes Tages von ber Obrigkeit, bie bier fonft nicht 
für gewöhnlich, gefehweige an einem Sonntag, erlaubte Luft: 
barkeit von Mufif und Tanzen angeordnet war, [o hörte man, 
daß viele, fonft ganz natürliche Leute damit unzufrieden 
waren unb weder für fid) nod) ihre Rinder daran teilnahmen. 

Reife ins Baſelbiet, 18. Auguft. 

Zuleßt famen wir denn aud) nad) Lieftal und fanden 
gegen Erwarten faft alles nad) unferem Beſuch febr ver- 
langend. Es zeigte fid) freilich, baB die 3eitumftánbe an 
den Herzen viel Schaden getan, bod) war bei ben meijten 
eine große Sehnfuht zu fpüren, aus bem Gewirre wieder 
berausgufommen, worüber fid) einzeln und in den Gefell- 
fhaften geäußert und viele Tränen vergoflen wurden. In 
ber Verfammlung war alles gedrängt voll und mußten nod) 
vor die Tür fiten, ohngeachtet das Sälchen wohl 100 Per: 
fonen fapt. Ziele bezeugten nachher, wie fühlbarlich ihnen 
der Heiland nahe gemefen und wieder mit neuer Gnade an- 
gefaßt babe; möchte Er fie ihnen bod) auch erhalten Finnen! 

Wir waren nicht fobald in Baſel angefommen, als 
wir vernahmen, daß 2000 Mann franzöfifcher Truppen nod) 
heute bier einrüden und morgen weiter ins Ober-Vafelbiet 
geben würden; wie [rob und dankbar waren wir nicht ba 
bem lieben Heiland, daß mir unjere 93ejudje grade nod) jo 
ungeftört hatten machen fónnen. 

Den 26. Oftober befamen wir bier mit einemmal, 
nadbem die Ginquartierung und der Sruppenmarjd) der 
Sranzofen durch unfere Stadt täglich noch fortgewähret batte, 
eine bleibende Garnifon, bie Tore wurden befe&t und ſowohl 
die Schlüffel hiervon als die.vom Zeughaus mußten fogleich 
dem franzöfiihen Rommandanten überliefert werden, : zu: 
gleich fam das Gerücht, bap fofort einige Taufend unferer 
jungen Leute zum Kriegsdienft ausgehoben werden follten; 
das alles, bejonders aber le$tere8 verbreitete einen außer: 
ordentlichen Schreden in der Stadt, und viele von den jungen 
Leuten, worunter aud) 5 Söhne unferer Gefchwifter waren, 


282 


machten fid) gleich in ben erften Tagen davon, fe6tere nahmen 
ihren Weg nad) Ebersdorf und zwei davon famen bald bernad) 
zur Gemeine, ber ledige Bruder Wilhelm Wenk zum 
Wohnen nad) Neufalz, und der Süngling 30h. Saf. Senn 
auf eine Probe nad) Neu-Dietendorf. 

Uns ijt hierbei auch ganz eigen zumute, ba wir ung jest 
wie in Baſel eingefchlofjen befinden, bod) je bebenflid)er und 
trüber e$ um uns berum wird, je mehr erfahren wir, bap der 
Heiland unfere Herzen fröftet und die Zuverfiht zu ihm. 
ſtärkt. 

Den 1. November kamen die Landgehülfen-Brüder zu 
einer Unterredung hier zuſammen, 17 an der Zahl, welches 
dieſes Mal um ſo mehr Freude und Ermunterung gewährte, 
als es ber Umſtände wegen gar nicht zu erwarten geweſen, 
daß fo viele ſich würden einfinden können. Zwei, die fehlten, 
ſchickten fdriftfid und machten mit ihrer fo amed- als berz- 
mäßigen Erklärung von fidy und ihrem Auftrag fo viel Ein- 
drud, daß es die Lieblichfte Veranlafiung für alle andern gab, 
dem nachzufolgen. Die jebigen Zeiten machten bei ein und 
andern nod) mande Störung, bod) waren fie durchgängig 
darauf geftellt, dabei nicht mehr auf Menfchen, fonbern nur 
auf den Heiland zu fehen und verbanden ft aufs neue, 
fowohl ihren Ruf und Gnadenwahl für fid) felbit immer 
fefter machen zu laflen, als aud) mit Angelegenheit die Ge- 
fchwifter dazu herzlich aufzumuntern zu fuchen. 


179. 


Den 3. April war bier in der Nacht bie AUrretierung 
mehrerer Bürger, bie fid) wegen politifcher Meinung zu viel 
geäußert haben follten, welches, da es morgens befannt und 
zugleich an diefen und den folgenden Tagen noch mehrere 
Sut[den mit dergleichen Perfonen von Zürich, Bern unb 
Solothurn u. a. teils bier, teils nad) Frankreich in Der: 
wahrung gebracht wurden, ein folch allgemeines Erjchreden 
in der Stadt verbreitete, bap alles zitterte. Lange ließ fid) 


283 


eine über alle Beſchreibung drüdende bumpfe Stille ver- 
fpüren, und in den erften Tagen getraute ftd) faft niemand 
nur mit den andern zu reden. Furcht war auf allen Gefichtern, 
und bie fernern Maßregeln der Regierung, unter anderm 
die häufige Eröffnung der Briefe, trugen dazu bei, daß folche 
nod) länger unterhalten wurde. Da bei erftern Erempel vor: 
famen, daß auf bloße [ügenbafte Angabe fchlechter Leute 
mitten in der Naht Perfonen aus dem Bett geholt und 
arretiert wurden, [o verurfachte anfangs die Vorftellung, wie 
leicht auf bie Art aud) uns fo etwas begegnen könnte, ung eine 
gang eigene Verlegenheit und machte mehr Ginbrud auf uns 
als alle noch bisherigen Erfahrungen bei diefen Umſtänden. 
Doch erfüllte ber liebe Heiland unfere Herzen bald wieder 
mit getrofter Zuverficht, fo daß wir uns feine Verheißung, 
„daß ohne feinen Willen nicht ein Haar von unferem Haupte 
entfallen fónne" mehr als je vorher gläubig zueignen fonnten. 

Den 6. Nachdem alle Tage eine Nachricht fürchterlicher 
als bie andere, wegen erlittenen Verluften und dem gänzlichen 
Rüdzug der Franzoſen von Shaffhbaufen, bier einge: 
troffen und das Aufgebot zum Marfchieren an unfere jungen 
Leute ergangen war, fo bieß es heute mit einemmal, bie 
Raiferlichen wären nur noch auf 2 Stunden von Klein-Baſel, 
weshalb fogleich angefangen wurde, bie Rheinbrüde zwiſchen 
unfrer und der Heinen Stadt abzubrechen: es befanden fid) 
aber einige Gefchwifter aus Klein-Bafel zum Beſuche bei 
uns. Sie erfchrafen allerdings über diefe Nachricht gar febr, 
aber der Gedanke, von uns und allen bieftgen Gefchwiftern 
fo mit einemmal getrennt zu werden, ging ihnen doch noch 
tiefer; fie wurden äußerft bewegt, und beim Abſchied, ben fie 
ungefäumt machen mußten, brachen fie in ein lautes Weinen 
aus; wir weinten mit ihnen und empfablen fie und alle 
dortigen Gefchwifter mit der innigften Herzensangelegenbeit 
unferm treuen Heiland in feinen allmächtigen Schuß und 
Bewahrung. 

Inzwiſchen wurde nicht bie eine Hälfte ber Rheinbrüde, 


284 


wie e8 im erften Augenblid hieß, gana abgetragen, fondern 
nur die eine DVreite vom mittleren Zoch, fobap noch für's 
erfte bie 93reite für einen Wagen blieb; bod) war man in 
ben erften Sagen feinen Augenblid ficher, baB bie andere 
93reite aud) abgenommen wurde; unterbefjen flüchtete. man 
Sag unb Naht Menfhen unb Vieh unb Sachen nad) Groß: 
Bafel. 

Den 9. wagte ich es mit meiner Grau nod) zu einem 
Beſuch unferer Gefchwifter in Klein-Bafel zu geben. Gie 
freuten fi), wie wir Dinfamen, als wenn fie uns fdon ein 
ganzes Fahr nicht mehr gefehen hätten; aber wir waren nur 
noch bei wenigen gewefen, als uns ein neuer außerordentlicher 
Lärm vom abermaligen Anrüden der Kaiferlihen — und 
diesmal waren fie wirklich nad) Riehben, eine Stunde von 
ung, gefommen, wo fie in der Gefchwindigkeit eine Kaiferliche 
Proflamation an bie Schweiz anhefteten und den Freiheits— 
baum umbauen liefen — nötigte, eiligft nad) Groß-Bafel 
wieder zurüdzufehren; Ravallerie, Infanterie, Menfchen und 
Vieh Tief auf den Gaffen alles fo durcheinander, daß man 
feinen Augenblid feines Lebens fid)er war, und wir banften 
Gott, da wir glüdlich wieder zu Haufe waren. 

So ging es wohl über 4 Wochen, einen Tag mehr, den 
andern weniger unruhig zu, bis die Kleine Stadt burd) eine 
hinlängliche Anzahl franzöfifcher Truppen befeßt und nad) und 
nad) eine Kette von Batterien vor derfelben angelegt wurde; 
. feitbem haben bie Kaiferlichen fi von der Seite nur wenig 
mehr feben laſſen, und die Gefchwifter von KRlein-Bafel fom- 
men bor wie nad) wieder in unire Verfammlung. 

Ende April. Sn diefen Tagen erfuhr einer unfrer ver- 
heirateten Brüder eine befondere Bewahrung Gottes; es 
batte nämlich berjelbe noch [pdt abends auszugehn und mußte 
vor einem Haus vorbei, wo an bemjelben Tag eine fran- 
zöfifche friegsfaffe einlogiert worden war. Die Schildwache 
rief ihn zweimal an, ohne daß er, weil er febr übel hört, es 
eigentlich vernahm; auch zum dritten mal wußte er nicht, 


285 


was e8 zu bedeuten hatte, aber indem bet Soldat das Ge- 
mebr in die Hand fallen ließ, um Feuer auf ibn zu geben, 
fo war’s, als wenn ibm mit einemmal das Gehör aufging, er 
börte es und hatte fogleich bie Befinnung, auch zu antworten, 
wodurch er febr wahrfcheinlich fein Leben rettete. 

Den 20. Zuni erzählte einer unfrer Landgehilfen- Brüder 
von fid) folgenden merkwürdigen Umftand. Der liebe. Hei: 
land babe ibm bisher bei ber jeßigen Kriegsnot auf eine 
gana vorzügliche Weife in allem febr gnábig durchgeholfen, 
unb befonders babe Er es mit der Einquartierung fo geleitet, 
daß er bis dato mit feinen Soldaten immer gut ausgefommen 
unb die meiften ihn febr ungern und mande mit Tränen in 
den Augen verlafien haben; dafür wäre er dem Heiland als 
Grbórung feiner Vitte anfangs gar von Herzen als für die 
größte Wohltat dankbar geme[en, nad) und nad) aber babe 
er fid)'8 fo genommen, als fónnte das nicht fehlen, unb darüber 
die Dankbarkeit vergelfen. 

Bor einigen Tagen babe er dann zwei franzöfiihe Dra- 
goner befommen, die fid) ibm beim erften Eintritt gezeigt, es 
Geiftes Rinder fie feien; er babe fie aufs böflichtte empfangen, 
und wie gewöhnlich alles gegeben, was zu geben fei und 
noch mehr, aber bie waren mit nichts zufrieden, fie taten, was 
fie wollten; er ließ es ihnen zu und waren bod) nicht zu- 
frieben. Den dritten Tag hatte er in ein naheliegendes Dorf 
zu geben und ging vor Tage, um zur rechten Seit zur Grüt- 
terung feiner beiden Kühe wieder ba zu fein, indeilen fam 
er bod) etwas fpäter, unb feine Kühe b(óften ihm hungrig 
entgegen. Er lief in bie Scheune, das grüne Futter, welches 
er tags vorher weit geholt, ihnen zu geben; aber fiebe bie 
Grangofen battens derweil ihren Pferden zum Freſſen und 
zur Spreu gegeben. Das bradte ihn fo auf, daß er fi 
vergaß unb mit vielem Ernft bie FSranzofen darüber zur Rede 
fette. Dies war wohl, was fie fuchten. Sie fuhren wie 
rafend auf ihn zu, zogen beide ihre Säbel, und nod) heute 
weiß er nicht, was fie abgehalten als Gottes Engel, daß fie 


286 


ibn nicht in taufend Stüde bieben; er eilte aber unbefchädigt 
von ihnen davon und fuchte ein Winfelchen, fein Herz vor 
ben lieben Heiland auszufchütten, denn nun ftanb ihm alles 
vor Augen, wo et'8 beim Heiland verjebu unb fid) aud) 
hierbei nicht als ein Kind Gottes betragen hatte; er fchrie 
von ganzem Herzen zum Heiland und nebte bie Stätte, wo 
et fag, mit vielen Tränen, unb befonders ging aud) fein Flehen 
dahin, daß ihm der Heiland bod) von diefen Menfchen Los 
helfen wolle, weil bod) fein Recht zu fuchen fei. Er wollte 
darauf in den Stall zurüdgeben, als ihm der Sergeant begeg- 
nefe und ihm fagte, baB er morgen andere Ginquartierung 
und nur einen Mann befommen würde, welches ihn dann, 
wie leicht zu erraten, außerordentlich befchämte unb [o vor 
dem Heiland beugte, daß ihm diefer Umftand gewiß auf feine 
ganze Lebenszeit was austragen wird. 

Den 22. Zuli erhielt der Bruder Stephens aus 
Oteftenbad) nad) einem fiebenwächigen Gefängnis bier in 
unfrer Stadt zu feiner und unfer aller großen Freude wieder 
feine Gntfafjung. Er mar von den Qrangolen bei einem 
Alarm in feinem Orte, wo die Einwohner fid) gegen erftere 
mit Gewehr verteidigt hatten, nebft noch 8 andern gefangen, 
bet Gegenwehr befchuldigt und zur Veftrafung hierher geführt 
worden; fie wurden anfangs ftreng bewacht, welches erwarten 
ließ, daß es ihnen fchlimm ergeben würde. Ciner unirer 
ledigen Brüder befam bald in den erften Sagen bie Wacht 
vor dem Gefängnis, worinnen Stephens mit feinen Stame- 
taben war, Stephens fab ibn, und es wurde ibm fo: das ijt 
ein Bruder; er wagte es, ihm durchs eiferne Gitter zuzu- 
tufen unb zu fragen, ob er mit Pfarrer Raillard in 23e- 
kanntſchaft ftünbe, auf bie Antwort ja, ob er ibm wohl ein 
Setteld)en an denfelben beforgen wolle? und als er auch bat- 
auf ja erhielt, fo brachte ibm Stephens bald ein paar Zeilen, 
bie er mit DVleiftift auf ein leeres Blatt aus feiner Loſung, 
die ibm die Granaofen auf vieles Bitten gelaflen, gefchrieben 
batte; der Inhalt war, daß er in Bekanntſchaft mit der 


287 


Brüdergemeine ftünde, feinen (Raillards) Namen mal im 
Protokoll ber Prediger-Konferenz gelejen und ibn bäte, weil 
er von den Gefchwiftern hier niemand kenne, fid) feiner anzu- 
nehmen, da er mit aller Wahrheit verfichern fónne, bap er 
wegen der ihm befchuldigten Gegenwehr gänzlich unfchuldig 
fei. Nach gefchehener Üeberlegung fuchte man allervörderft 
ibm felbft zuzuſprechen, welches auch einem unfrer verheirateten 
Brüder nad) einigen Schwierigkeiten, bod) nur von außen 
butdjs Gitter, zugelaflen wurde. Durch den vernahmen wir 
dann, baB er ber Schulmeifter von Neftenbach jei und in 
feinem Haus bisher bie Verfammlungen gehalten worden, 
weshalb ibn fowohl Bruder Müller als ehedefien Bruder 
Mofel wohl kenne, übrigens fei er ein armer Mann und 
ein Vater von 16 Rindern, davon nod) 9 unverforgt zu Haufe 
und vielleicht jeßt mit feiner Grau ohne Brot wären; et 
babe fie nicht mehr gejeben, fondern wie er gegangen und 
seftanden, ohne Kleider unb Wäſche, auf ber Gtelle fort . 
gemupt. 

G3 ift nicht zu fagen, wie fid) auf biefen Bericht bie Teil- 
nahme derjenigen Gefchwifter, denen man'$ im erften Augen- 
blid willen laſſen fonnte, regte. Kleider, Wäſche und Geld 
waren gleich [o binlánglid) beifammen, daß er fid) mit erfteren 
beiden mehr als nötig beforgt fahe, und von leóterem ibm 
nicht nur bie ganze Zeit hindurch eine gute Soft verfchafft, 
[onbern bei feiner Abreife ein nicht unbedeutender Reft davon 
ibm noch mitgegeben werden fonnte. Zu mehrerer Sicher: 
gebung wurde denn bod) erit nod) an Bruder Müller ge- 
Ichrieben, unterdeflen ein 93ruber bewirkte, daß er weniger 
ftreng gehalten, auch zugelaflen wurde, daß man ihn einige- 
mal allein fprechen fonnte, wo er fid) bann gar fünderhaft und 
dahin erklärte: „ich bin wohl in der Sache, marum ich hier 
gefangen bin, vor Menfchen unfchuldig, aber id) bin es nicht 
vor bem lieben Heiland. Er hat Urſache genug, marum Er 
biefe8 tiber mich zugelaflen bat; ich finde alles in meinem 
bisherigen Herzensgang; ich war troden und gleicheiltig und 


288 


in manchen Untreuen vor Ihm, aud) in ber, bap id mid) 
gegen das Erinnern in meinem Herzen viel zu viel mit 
den politifchen Umftänden abgegeben, oft ziemlich unzufrieden 
und [aut zum Schaden anderer, bie auf mich faben, Darüber 
gedacht batte, überhaupt Er war nicht mehr mein Ein und 
Alles; 0 wie danke id) Ihm, bap er mich gedemütigt und 
wiederum auf mein Herz gebracht hat. Er fue nun mit mir, 
was ihm gefällt. Zreilich meine arme Frau und Kinder liegen 
mir bei Tag und Naht im Sinn, aber der Heiland wird auch 
mein Gíeben für fie erhören und fid) nad) Notdurft ihrer 
annehmen.” 

Diefes bat der Heiland auch wirklich getan, wie man 
bernad) vernommen, denn obwohl bie Franzoſen den Ort 
geplündert unb feine Frau und Rinder mit allen Einwohnern 
flüchtig werden mußten, fo ift ihnen bod) fein Leids wider: 
fahren, haben fid) bie und da bei Gefchwiftern aufgehalten und 
endlich alle bis auf eine erwachſene Tochter, bie fid) ihres 
Vaters Unglüd fo zu Herzen nahm, daß fie darüber ftarb, 
wieder nad) Neftenbach auríidfebren können. 

Nachdem nun das Zeugnis von Bruder Müller ein- 
gegangen und, wie man erwartete, gut ausgefallen war, [o 
verwendete man fid) fogleich feinetwegen öffentlich. Anfäng- 
lich (dien bie Sache bedenklich und Längerhin febr weitläufig 
zu werden, aber ganz unvermutet lenkte der Heiland die 
Herzen zweier Menſchenfreunde, daß fie fid) aud) der übrigen 
8 Kameraden des Stephens mit großer Angelegenheit an- 
nahmen, und in Verbindung mit denen gelang es endlich 
unfern Brüdern, bie Loslaflung des guten Stephens und mit 
bet auch bie für bie übrigen zu bewirken; es war aber dabei 
für ung und ibn die unangenehme Bedingung, daß er fid) 
jogleich mit feinen Kameraden nad) erhaltener Freiheit aus 
23ajel begeben und er uns und fid) baburd) das Vergnügen, 
jest erft einander zu feben und zu genießen, berauben mußte, 
und dennoch fam er wegen damaliger Stellung der Armeen 
noch nicht jo bald nad) Haufe, fondern wurde, ba er endlich 


289 19 


durch viele Umwege zu ben ruffifhen Qiorpoften gelangte 
und feinen Paß vorzeigte, für einen Spion angefeben, ge- 
fangen genommen und nad) Zürich gebracht, wo er aber auf 
Verwendung der dortigen Gejchwifter, auf deren Belannt- 
fchaft er fid) berief, bald wieder freigelaflen wurde und enb- 
[id) zu feiner, feiner Frauen und Kinder großen Freude in 
Oteftenbad) anfam. 

Den 17. Auguft empfingen wir nad) 7 Monaten wieder 
die erften Gemein-Nahrichten mit der Poft über Sranf- 
furt a. M., worüber alle Gefchwifter in große Greube verfebt 
wurden. Da feit einiger Zeit ftare Briefe und Pakete wegen 
verbotener politifcher Rorrefpondenz bier viel geöffnet wur: 
ben, fo refolvierte man, zuerft unferm Herrn Statthalter bie 
Anzeige zu machen, daß ein Paket Schriften für uns eingehen 
würde, welches Nachrichten aus dem Reich Gottes enthalte, 
unb daß, wenn folches zu eröffnen nötig wäre, man ihn Dof- 
ich erfuche, baB folches durch ibn gejdbeben möchte. Er nahm 
folches gat gut auf, ließ aufs freundfchaftlichfte für das gute 
Sutrauen danken und zugleich verfichern, baB mann wir auch 
einen ganzen Schublarren voll diefer Nachrichten fommen 
laſſen wollten, bier fein Siegel daran verle&t werden follte. 

Dei meiner Nachhauſekunft (von der Beſuchsreiſe ing 
Bafelbiet) am 27. September, hörte ich bie fid) beftätigende 
Nachricht, daß Zürich wieder von den Franzoſen erobert 
worden, weshalb nun auf der obern Straße alles gar unruhig 
unb fid) jet vieles Militär wieder herabzöge. Wie froh unb 
dankbar war ich bem lieben Heiland, wieder ruhig zu Haufe 
zu fein! 

Anfangs November. Zn biefen Tagen erfüllte die For⸗ 
derung über 11, Millionen 9o franzöfifcher Anleihe von 
der Stadt Baſel faft alle Gemüter; bei den bisher und nod) 
immerfort zu tragenden vielen Koften und Laften des Krieges 
wollte es dem größten Seil der Einwohner fait zu ſchwer 
fallen, fid) nod) zu einer fo harten Buße zu verftehen, und 
batte vielen Anfchein zu einer Bärung ing Ganze, aber unfer 


290 


lieber Herr, ber bisher vorzüglich unferm Kanton bie Ge- 
müter aum Nachgeben zu ftimmen wußte, fonnte auch diesmal 
den größten Seil dahin lenken, und [o wurde gegeben, was 
fein mußte, wobei unfere Gefchwifter, die mebriten mit ihrer 
baldigen Ergebung und Willigfeit, ein gutes Grempel gaben. 


1800. 


Den 8. Mai gingen ih und meine Frau zu einem 
Beſuch unferer Gefchwifter im weitern Zeil vom Ober- 
Bafelbiet und waren erfreut, diefelben größtenteils in einem 
lieblichen Gang zu finden, nur in Rümlingen famen zu 
unferer Betrübnis nur drei in bie Verfammlung, und es hat 
feine andere Ausficht, als daß biefe8 Häuflein fomie das 
Zeglinger ganz eingebet. 

Qn Diepflingen waren wir über Sonntag wie 
gewöhnlich mit Vergnügen, weil wir immer nod) bie alte 
Herzlichleit und CEinfalt hier wieder finden. Don ben 
3 Orten, jo zu bem Oltinger Häuflein gehören, ijt fürz- 
fid von Anwil ein lediger Bruder namens Johannes 
Schaffner nad Neuwied Erlaubnis fuchen gegangen, die 
er auch fpäterhin dort erhalten bat; fonft waren die Ge- 
fhwifter bier erfreut über unferen Befuh und machten fid) 
folchen für ihre Herzen zunuße. 

Die Geſchwiſter in Lieftal nehmen nad) und nad 
ziemlich ab, ba, wie überall auf dem Lande, gar feine neuen 
Leute dazu fommen und bie jungen Leute fid) auch nicht mehr 
wie bisher noch nachnehmen faffen; wir fanden hier ein paar 
Sachen zu fchlichten, bie mit vieler Mühe, aber endlich bod) 
durchs Heilands Gnade ganz abgemaht wurden, fonft waren 
ung bie Herzens-Erflärungen der Gefchwifter arößtenteils 
zur Steude, wenn fdon mandem mehr GSelbfterfenntnis, 
fowie andern das ununterbrochene Bleiben beim Heiland 
noch zu wünfchen gemefen wäre. 

Diesmal hatten mit auf unferer ganzen Reife faft feinen 
Franzoſen gefehen und nirgends bei unfern Gefchwiftern Ein- 


291 19* 


quartierung getroffen, welches uns febr wohl tat. Auch hier 
in Dafel geht es damit febr erträglich, fo daß es gegen 
ber vorigen Laft ein leichtes Bündelchen zu fein fcheint, wo- 
für unfere Gefchwifter gar herzlich dankbar find, wenn einem 
nur nicht bie armen Menfchen einfielen, bie bie Laft jet nur 
nod) in einem weit höhern Grab zu tragen haben. 

Den 8. Zuni machten wir einen vergnügten 93e[ud) bei 
unfern Gefhwiftern in Binningen; es find dort 2 Ge 
bülfen, von welchen ber eine bei den jeSigen Umftänden ganz 
aufs neue — ba et fid) zu feinem Schaden eine ziemliche 
Zeitlang darinnen fehr zerftreuet hatte — auf fein Herz ge- 
fommen, welches einen lieblichen Einfluß aufs Häuflein 
gehabt, daß Verfchiedene baburd) mit angefapt und ermuntert 
worden, bem lieben Heiland aufs neue Treue zuzufagen. 

Am 31. Auguft hatten bie ledigen Brüder in Baſel 
aud) bie Nachfeier ihres Chor-Feftes, wozu fid aber vom 
Sande diesmal nur wenige einfanben. Die äußeren Um— 
fände haben auch auf manchen von denfelben einen gar jchäd- 
[iden Einfluß gehabt, daß ihre obnebin nod) wenig ge- 
gründeten Herzen von bem Geift diefer Zeit zur Ungebunden- 
beit bingeriffen worden, bie fid) nun aus bem Wirrwar nicht 
mehr herausfinden fünnen. 

Aus unferm Ober-Bafelbiet vernahnten wir in diefen 
Sagen allerlei bedenkliche Aeußerungen wegen ber von ber 
Obrigkeit wieder hergeftellt werdenden Abgabe des Boden: 
zinjes und 3ebnten auf dem Lande, welches auch unjere 
armen Gefchwifter mehr oder weniger. in neue Serftreuung 
brachte. 

Wegen leótern fchrieb einer unferer ledigen Brüder 
auf dem Lande folgendes an mid: „Was mir jet obenauf 
[iegt, iff bie Wehmut, baB alle Gemüter, und teild aud) 
unfere Gefchwifter, von ber befannten Sache erfüllt find; das 
Evangelium fann nur noch bei wenigen wirken und fein 
Totes läßt fid) mehr ins Leben rufen. . . ." 

September. Nachdem wir am 18. unfere Gefchwifter 


292 


in Viel und 93enfen bejudjf, bie wir über ibre 
äußere Ruhe, daß fie jet feine Einquartierung hatten, febr 
pergnügt und fonft größtenteils den Genuß am Heiland 
fanden, fo gingen wir am 27. zum andern Seil unferes 23e- 
fuhs ins Ober-Vafelbit. Wir fanden insg Ganze viel 
Urfache, bem Heiland zu danken, daß Er fein Werk unter 
denen nod) immer beträchtlichen Häuflein in Qubendorf, 
Ziefen und Arboldswil ferner gnábiglid) fortfübrt, 
die treuen Seelen mehr auf fid) gründet und manche andere 
aus Not und Liebe mehr nad) ihm bliden macht, aber bod) 
faben wir aud) mit DBetrübnis, baB ber Geift diefer Zeit 
bei den ungegründeten Gemütern immer mebrem Einfluß 
erhält, fie entweder mit vergeblicher Hoffnung von beffern 
Seiten blenbet oder ihre Herzen mit Sorgen der Nahrung 
für jet und für die 3ufunft fo befchwert, baB das Fünkchen 
Glaube und Liebe zum Heiland nad) unb nad) verweht und 
erftirbt, welches bie Urfache war, daB wir auch diesmal Diet 
einen ftarfen Abgang fanden. 

Den 26. Oktober erzählte mir ein Bruder von Aris- 
Dorf, der unlängft evít fid an das dortige Häuflein an- 
gefchloffen, Folgenden Umftand, welcher ibm bei denen zu An: 
fang biefe8 Monats vorgemefenem Aufftand der Landleute 
wegen von der Obrigkeit wieder geforderten 3ebnfen und 
Bodenzins vorgefommen. „Sch war ganz der Meinung”, fagte 
er, „Die Obrigkeit babe Unrecht, bap fie biefe Abgabe wieder 
forderte, und als man die Gemeine in unferem Ort sufam- 
menfommen ließ und diejenigen aufrief, welche den Zehnten 
und Bodenzins nicht geben wollten, aus dem großen Haufen 
berauszutreten, damit: man fie gleich auf ber Gtelle biet 
niebermad)en und ihre Familien von Haus und Hof jagen 
fönnte, und fid) aus Furcht niemand meldete, fondern viel- 
mehr alle beim zweiten Aufruf, wer nun deshalb gegen bie 
Obrigkeit marfchieren und Leib und Leben für bie Cade 
wagen wollte, willig waren, fo war ich ohne 23ebenfen von 
ber Partei. Als wir nun aber bald darauf nad Lieftal 


293 


gingen, vor bem Haufe des Gehülfen- Bruders vorbeifamen, 
der mit vieler Mühe im Ort auf der Wache zu bleiben er- 
langt hatte, fahe mich ber febr betrübt und nachdenklich an; 
das fuhr febr in mich, fonnte aber in dem Getümmel unb 
Lärmen, ber auf dem Weg und immerfort bei Tag und 
Naht währte, feine Leberlegung anftelen. Da wir aber 
nad) 2 Sagen einftweilen wieder ung nad) Haus zu begeben 
beordnet wurden, fo ging ich gleich zu ihm und fragte ihn 
bieferbalb; da erfuhr id) nun, bap er gar nicht meiner Mei- 
nung fei, unb er fagte: „Sünger und Nachfolger Sefu follen 
unter keinerlei Umftänden, wenn's nicht ihr Gewiſſen betrifft, 
widerftreben, und wer befonders der Obrigkeit widerftrebt, 
würde über fid) ein Urteil empfabn." 

Od) fonnte ibm gar nicht beiffimmen und verlieh ibn 
ziemlich unzufrieden, aber nun wurde id) febr unruhig, unb 
je mehr id) mit jemand anderem von der Sache redete, je 
mehr nahm folche zu; ich wußte mich nicht zu laſſen, Tief aufs 
Gelb, im Haus überall berum, meine Frau, Vater, Mutter 
unb viele Leute fragten mich, ich gab feine Antwort, endlich 
ſchrie id) aus aller Macht: „Herr Jeſu, erbarme dich meiner”, 
und gleich war’s mir fo: „der Gebilfe bat recht, du darfit 
nicht widerftreben, bu biff dem Heiland zur Cdmad) und 
Schande damit gewefen, aber nun will ich’S für aller Welt 
 befennen und wenn id) gleich mein Leben laſſen müßte.“ Ich 

fagte es darauf gleich in meinem ganzen Haufe, bie fid) alle 

höchlich über bie Veränderung wunderten, der Gebilfe aber 
fid von Herzen mit mir darüber freute, id) wurde aber bod) 
nicht eber ganz ruhig, als bis nad) einigen Tagen bie Nach— 
richt fam, daß die Sranzofen in Giffad wären, und welche 
von ben Landleuten nicht fogleich ihre Waffen ablieferten, 
folíten als Rebellen behandelt und ihr Srt mit Geuer ver- 
brannt werden, ba trug ich mein Gewehr mit Sreuden bin, 
nun war ich ganz ruhig und nun Ffonnte ich aud) erft recht 
glauben, bap mir der liebe Heiland alles vergeben habe.” 

Den 2. November befuchten wir bie Gefchwifter in 


294 


Riehen Wir fanden bie alten Gefdwifter Went 
wiederum von ihrer fürglid) gebabten Krankheit hergeftellt 
und voll Lobes und Dankes über alles, was der Heiland in 
ihrem Alter und bei ben febr drüdenden äußern Umſtänden, 
ba befonders diefer Ort vom franzöfifhen Militär duperft 
mitgenommen worden, an ihnen getan bätte. 


1801. 


Den 18. Februar fam aud) bier die fröhliche Botſchaft 
des zu Lunöville geichloflenen Friedens an, aber die Freude 
darüber währte nur die erften Tage, denn es zeigten fid) bald 
bebenflide Spuren von Unruhen auf dem Lande, bie bei 
einer abermalig veränderten Regierungsverfaflung unver- 
meiblid) ausbrechen würden, menn bie Schweiz, wie es hieß, 
fid) dabei felbft überlaflen fein follte! 

Den 11. April Landbefuh in Diepflingen Die 
Erwartung wegen einer neuen Regierungsform befchäftigt 
nun wieder bie armen Landleute und unfere Gefchwilter 
fommen dabei teils in abermalige Zerftreuung, teils in neue 
Berlegenheit, menn fie von den Drtsbeamten um ihre 
Meinung dieferhalb befragt werden; ber hiefige Gebülfe bat 
ihnen indes abermals febr weislich geantwortet: „Ihr wißt 
wohl”, fagte er zu ihnen, „Daß ich bei ber neuen Ordnung 
der Dinge nichts babe helfen aufbauen, barum iff meine be- 
flimmte Meinung, daß id aud) nichts will helfen niebet- 
reißen”, und damit fam er zur Verwunderung der ganzen 
Gemeine ohne weitere Anfechtung durch. 


1802. 


Qiom 11. bis 13. Mai machte id) einen erfreulichen 
Beſuch in Lieftal. Sn der Gefellichaft der verheirateten 
Brüder fielen diesmal gat offenherzige Erklärungen; unter 
andern äußerten fid) drei davon, welche anfangs, wenn nicht 
jeldft tätig, bod) ziemlich laut Für bie neue Ordnung ber 
Dinge waren, einer wie der andere darüber febr fünderhaft, 


295 


fie begeugten, daß fie an ihren Herzen, befonders bei Sanb- 
babung des obrigkeitlichen Amts, welches fie feitdem befleidet, 
viel Schaden gelitten, denn fowohl der Umgang mit fo vielen 
andern Menfchen, als die fortwährende ungewohnte 3et- 
ftreuung bätte fie je länger je mehr vom Heiland entfernt, und 
bie beftändige Uneinigkeit und Zwift, bie mit der Ausführung 
einer jeden neuen Verordnung an ihre Mitbürger verbunden 
gemejen und immer fchlimmer werde, fei ihnen gleichfam ein 
nagender Wurm an ihren Herzen; wiederholendlich dringend 
hätten fie fchon einzeln und gemeinfchaftlich um die Ablöfung 
von ihren Aemtern, aber immer noch vergebens gebeten, nur 
gang Fürzlich hätten fie endlich Hoffnung dazu, fie fähen aber 
voraus, daß fie ganz zulett Lostommen würden, welches fie fich 
inbelfen als eine gerechte und die Eleinfte Strafe dafür nähmen, 
daß fie fid mit einer fofd)en Sache befaßt und manchen 
Gefchwiftern baburd) Anftoß gegeben hätten; bod) wären fie 
dem lieben Heiland mit Tränen dankbar, daß Er es ihnen 
nut recht [der werden Laflen, weil E t ihnen dadurch wieder 
auf ihr Herz unb zu einem ganz andern 93lid in die jeßigen 
Zeiten verholfen. 

Da aud) in Lieftal feit Jahr und Sag eine Art von 
Kantonsſchule errichtet und den Teilnehmern große Ver— 
beiBungen in Abficht des Unterrichts in allen nötigen Wiffen- 
ſchaften und Religion gemacht worden, fo haben fid) aud) 
einige von unfern Geſchwiſtern belieben laſſen, ihre Kinder 
dahin zu fdiden, aber fie feben mit Betrübnis, daß ihre 
Kinder leibli und geiftlich Schaden leiden und fie das 
Engagement von 3 Zahren nicht werden ausdauern können. 
„Man füllt den Kindern”, fagte einer von den Eltern, „den 
Kopf mit lauter Dingen, bie, wenn nicht ſchädlich, bod) für 
fie größtenteilg unnüß find, und wobei felbft bie gute Abficht 
des lieben Bruders Pfarrer Eglinger, ihnen gratis felbft 
ben Religionsunterricht zu geben, wenig Nuten bat.” 

Den 14. September Befuh in Binningen, bie Ge- 
fhwifter äußerten fi), daß fie jeit 5 Sabr gar viel mehr 


296 


wieder an ihrem Herr Pfarrer (Rapp) bütten, welcher aud) 
gegen uns aufs neue wieder recht freundfchaftlih und auf 
die Einladung des einen Gebülfen, mit feiner Grau mit ung 
zu Mittag zu effe, gefommen war, bod) ift er nod) nicht 
gang von feiner politifhen Meinung und dem in fo vielerlei 
Irrtum verführenden Geift der Zeit Tog. 

Den 16. traten wir unfere nod) übrigen Landbefuche 
ins Ober-Vafelbiet, ungeachtet ber bie und da fid) fdon 
zeigenden Unruhen, in Gottes Namen an und fonnten bie- 
felben mit der Hülfe unferes Lieben Herrn am 27. aud) un- 
geftört beenbigen, unb aller Orten waren bie Gefchwilter über 
unfern 93efud) umfo erfreuter, a[8 er ihnen wegen den Um- 
ftánben unverhofft, aber fonft befto nótiger fam. 

Sn Lieftal, aufen, Ober- unb Niederdorf 
fanden wir die Gemüter freilih mit denen Gebanfen unb 
Wünfchen für bie Wiederhberftelung der alten Regierung 
mehr oder weniger eingenommen, bod) nicht mit folcher gänz- 
lichen 3erffreuung wie bei der Revolution vor 4 Jahren, 
gegenteils trieben diefe Imftände mehrere von unfern Ge- 
fhwiftern zum Heiland, daß Er das faff unvermeidlich 
fcheinende große Blutvergießen ber gegen einander fo duBerft 
erbitterten Parteien im Lande aus Gnaden verhüten molle. 
Sn Lieftal war es zwar wie gewöhnlih am unruhigften 
unb in der Nacht vom 18. auf den 19. ftürmte ein Srupp 
von mehr als 40 jungen mutwilligen Leuten das Haus des 
Statthalters und hatten wohl bie böfefte Abficht, er batte fid) 
aber auf dringendes Anhalten feiner Stau, welche eine 
legitimierte Schwefter ift, nod) zu rechter Seit davon gemacht, 
und fo mußten fie unverrichteter Sache wieder abziehen, in- 
deflen zogen fie mit einem wütenden Gefchrei und Gefang 
bie ganze Nacht in der Stadt berum und niemand war, der 
ihnen Einhalt tun mochte; wir hatten ziemlich den größten 
Seil des Lärmes verfchlafen, ba unfer Logis diesmal an 
einer abgelegenen Seite des Städtchens bei unferm lieben 
Bruder Pfarrer Eglinger war. 


297 


27. September. Bei unferer 3urüdfunft in Baſel 
trafen wir in Abficht der Regierung alles febr verändert und 
voller Freude an, daß faft niemand mehr zweifelte, daß bie 
alte Zerfaflung wieder fo gut als bergeftellt war, als bie 
Proflamation Bonapartes am 7. Oktober, daß bie revo- 
[utiondte Regierung wieder eingefeßt werden follte, bie ganze 
Cade unb alle froben und guten Ausfichten mit einem Mal 
umwarf; es machte bei den Greunben ber alten Verfaflung 
eine erflaunende Alteration, wie verfteinert wußte niemand, 
was er fagen follte; bod) war fein ander Mittel, als fid) zu 
beugen. 


1803. 


Den 17. und 18. Auguft befuchten wir in Lieftal und 
fanden zu unferm Schmerz viele unter dem dortigen Häuflein, 
und was das fchlimmfte war, auch bie Gebülfen, in neue poli- 
tide Händel verwidelt, wodurch denn mehr als je zuvor Lieb- 
[ofigfeit und Swietracht unter ihnen herrſchte; wir machten 
verfchiedene Verfuche, fie auf bie Art zu vereinigen, daß wir 
uns weder mit bem einen fein Recht, noch mit dem andern 
fein Unrecht zur Unterfuchung einließen, fondern fie nur auf 
ihr Herz und wie ein jedes für feinen Seil damit vor bem 
Heiland ftehe, zu führen fuchten, aber wir faben mit großer 
Wehmut, daß e8 wenig oder gar feinen Eingang fand unb 
daß für bie Zeit nun gar nichts zu machen fei; wobei ung 
denn befonders um mehrere treue Seelen unter ihnen leid 
unb bange war, daß fie zuletzt auch nod) mehr oder weniger 
Schaden nehmen und von ber Einfalt in Gbrijto verrüdt 
werden möchten. 

Sn Arisdorf ift in bielem Jahr das Häuflein bis 
auf 8 Derfonen vermindert worden, 2 Ehepaare, bie ziemlich 
bemittelt waren, find mit Kind und Kindeskindern nad) 
Amerika ausgewandert, bloß um, wie fie fagten, ihre Greibeit 
wieder zu erlangen, keine PVorftelungen fonnten fie auf 
andere Gedanken bringen, fie verficherten, daß ihr Sinn fei, 


298 


nicht nur Dort aud) bem Heiland zu leben, fondern fid) nit- 
gends anders als nahe bei einem PBrüder-Etabliffemente 
niederzulafien und der Brüder Gemeinfchaft zu fuchen, und 
mußten wir fie bann mit vielem Bedauern in einer Gefellfchaft 
von mehr als 200 erwachfenen Perfonen von hier zu affer 
abreifen fehn; bei einem dritten Transport iff ihnen nod) 
ein Ehepaar mit 2 Kindern von unfern Gefchwiftern in 
Laufen nachgefolgt. 

Befuh in Rieben. Sonſt hatten wir nicht viel 
Steude bier; ba feit mehreren Zahren nicht eine Seele zu 
dem Häuflein bingugefommen, fo wird dasfelbe immer Heiner, 
bie wenigen alten und reellen Gefchwifter fterben weg und 
die übrigen find mehr oder weniger in einem ziemlich [chläf- 
rigen und gleihgültigen Gang, wozu wohl auch ber bierortige 
Gebilfe, welcher feit ber Revolution von feinem ganzen Sinn 
für den Heiland verloren unb fid auch nicht wieder retten 
fann, das Geinige beigetragen haben fann; es blieb uns 
nichts übrig, als fie insgefamt bem erbarmenden Herzen Jeſu 
zu neuer Belebung und Anfaflung zu empfehlen. 


299 


Das Zünftlerifche Leben ín Baſel. 


Dom J. November ]9J3 bis sum 3J. Oktober J9J4. 


Ein Rüdblid 
auf Theater, Mufil und bildende Runfe. 


Don Albert Gefler, ££. Cb. Markees und Mar Alioth. 


A. Sheater. 


Sollen wir jammern? Der Theaterbefuh bat im De: 
rihtsjahr immer mehr abgenommen; der Finanzausweis 
zeigt auf allen Punkten Otüdgang. Das Inftitut bat 
Gr. 95 885.42 Verluſt erlitten. Inter folchen Umſtänden 
war ber Entihluß der Theaterkommiſſion begreiflich, auf: 
zubören, wenn nicht große ftaatlihe und private Hilfe 
fomme. Iſt das nicht zum Weinen? 

Aber e8 gibt aud) in biejem Unglüd Lichtftrahlen. 
Erftens ift ein Sheaterverein gegründet worden, zweitens 
find Weltereigniffe hereingebrochen, welche einen Theater: 
betrieb unmöglich zu machen fchienen; aber gerade daraus 
it eine neue Hoffnung erwaht. Die Verträge auf die 
Saifon 1914/15 hatten zwar gelöft werden müffen, da taten 
ft aber Männer aus ber Theaterfommiffion unb bem S beatet- 
verein zufammen und berieten eine Hilfsaftion, um dem 
Künftlerperfonal Gelegenheit zu geben, auch während der 
Kriegszeit fid zu betätigen. Einftweilen wurde auf zwei 
Monate ein Theaterbetrieb gefichert, allerdings ein be- 
Iheidener. Opern werden nicht gegeben; Schau: und Luft: 
fpiele follen den Hauptteil des Repertoirs bilden; nur drei- 
mal in der Woche foll gefpielt werden. Und fiebe ba: das 
Theater füllt fid) wieder; frühere beffere Zeiten jcheinen 


300 


wiederzufehren. Das ift ein Segen in biefer trüben Zeit und 
eine Hoffnung auf die Zukunft. 

Cod) nun vom lebten Sabre. 

Die Spielzeit begann am 22. September 1913 und 
dauerte bis zum 29. Mai 1914. Es wurden 276 Vor— 
ftellungen gegeben. 

Unter biefen war eine raufführung: Felix Möſ chlins 
Schauſpiel „Diamanten“. 

Schau: unb Luſtſpiele wurden 35, Opern 32, Operetten 
12, ein Ballett unb vier franzöſiſche Vorſtellungen gegeben. 
Das Schaufpiel bradyfe vier Stüde zum erftenmal auf bie 
Basler Bühne, nämlih: „Ein idealer Gatte" von Bernard 
Shaw, „Die Arlefierin” von Alfonſe Daudet, mit Muſik 
von Bizet, „Candida”, abermals von Shaw, „Kampf“ von 
Galsworthy und ,93elinbe" von QGulenberg. Erſtauffüh—⸗ 
rungen von Luftfpielen waren: „Die heitere Refidenz” von 
Guftav Engel, „Der getreue Edehardt”" von Hans Sturm 
und „Lyfanders Mädchen” von 3. Q3. Widmann. An 
Dpern ftanben „Der Schmud der Madonna” von Wolf: 
Serrari, „La serva Padrona“ von ©. B. Pergolefi und „Don 
Pasquale“ von Donizetti zum erftenmal auf den Basler 
Brettern, an Operette „Srühlingsluft” von Grnft Reiterer, 
„Alt: Wien” von Emil Stern, „Suſi“ von 9f. Renyi unb 
„Polenblut” von Oskar Nedbal. Ein YBalletdivertiffement 
. fieferten ung die Gefchwifter Wiefenthal. 

Neu einftubierf waren folgende Gchaufpiele: „Die 
Braut von Meffina” von Schiller, „Sappho” von Grill 
parzer, „Der Erbförfter" von Otto Ludwig, „Das Glüd 
im Winkel” von Sudermann, „Ein Sommernadtstraum” 
von GChbafe[peate, „Ein Falliffiement”" von 93jórnfon. Im 
Luftfpiel wurde ein biftorifcher Cyklus geboten, welcher 
Stüde von Hans Sachs, Goethe, fo&ebue, Körner, Kleift, 
Gutzkow, Anzengruber und Freytag umfaßte. — In ber Oper 
waren Verdis „Othello”, Mozarts „Entführung aus bem 
Serail" und „Don Juan”, Humperdinds „Hänfel und 


301 


Gretel”, Wagners „Rienzi”", Maſſenets „Manon” und 
Aubers „ra Diavolo“ neu wiederaufgenommen, in ber 
Operette „La Mascotte”" und „Die Puppe” von Edm. 
Audran. 

Als Güffe traten auf: der Basler Schaufpieler Otto 
Eppens vom Stadttheater in Hamburg im „Tell“, im „Erb- 
förfter” unb im „Zalliffement”, Silla Durieue vom Leifing- 
theater in Berlin in Wedefinds „Erdgeift" und in Brieur’ 
„Roter Robe”. Zn ber Oper faben wir Marguerite Sylva 
in „Carmen“, in „Cavalleria rufficana" und im „Bajazzo“, 
Gri& Vogelſtrom als „Lohengrin“, Gácilia Ruefche-Endorf 
in der „Walküre“, Georg Baklanoff als Gauft und Heinrich 
Henfel als Siegfried. 

Die Basler Dramatiihe Gefellidjaft gab „Alt-Heidel- 
berg" und „Stein unter Steinen”. 

Die vier franzöfifchen Vorftellungen waren meift wert- 
Iofe, aber gut ge[pielte Sentimentalitäten. — Un der Spiße 
des Theaters ftand Herr Direktor Leo Meliß. 


B. Konzerte. 


Die Ronzerte bet Allgemeinen dteritssfetbs 
haft nahmen wie gewohnt ihren Anfang im Oftober 1913 
und dauerten bis Ende März 1914. An Otovitáten brachten 
bie Cgmpbonieabenbe u. a. eine DBallet-Suite von 
Mar Reger, eine „Suitefympbonique” („Prin- 
temps”) von Debuffy, ein Violinkonzert von 
Zulius Weismann, ben „Lebenstanz” von Fr. 
Delius unb Guftav Mabhlers „Lied von ber 
Erde. Daß außerdem die großen Meifter ber Haffiichen 
unb ber romantifchen Richtung ausgiebig zu Wort famen, 
if felbftverftändlich; biefe Konzerte follen ja jedem etwas 
bieten. Auch die Rammermufifabende, deren Programme der 
Hauptſache nad) bie Herren des Basler Streihquar- 
tetts Kötſcher, Krüger Küchler unb Treid- 


302 


Ler) beftreiten, ateben, wo fid) Gelegenheit dazu bietet, gute 
Erfcheinungen der neueren Literatur heran, wenn fie auch, 
wie e8 in der Natur diefer intimen Kunſt liegt, mehr auf 
den ebernen Beſtand klaſſiſcher Meifterwerke angemiefen find. 
Soliftifeh betátigten fid) in den Symphonie- und Kammer: 
muftfabenben eine Reihe ausgezeichneter Rünftler und Künſt⸗ 
lerinnen, von denen wir bier indeflen nur einige aufführen: 
Rudolf Gana, Sofepb Szigeti, Alfred Gor- 
tot, Gerard Helling Paul Otto Mödel, 
Paul Zuon Frau Noordewier Grau Du- 
rigo, Unna Hegner und einige andere unfrer einhei- 
mifchen Künftler. Geleitet wurden die N 
von Rapellmeifter Hermann Suter. 

Der unter gleicher Direktion ftebenbe Basler Ge- 
fangverein bradte am 5. und 6. Dezember 1913 ein 
neues geiftlihes Chorwerf von Hans Huber, „Weis- 
fagung und Erfüllung” (Soliften: Grau Mühle: 
mann- Did, Gt. $. Brenner Hr. Rühlborn, 
H.R. Q8 9 B). Sodann erinnerte er fid) im März (14. und 
15.) nach längerer Zeit wieder des Requiems von 
Verdi. Hier waren die mitmirfenben Soliften bie Damen 
9t. Zacques-Dalcroze Nahm-Fiaurx, ſowie 
die Herren Plamondon unb Boepple. Sum Ab— 
Ihluß eines Saifonprogrammes hatte der Gefangverein ben 
Händel’fhen „Meffias” beftimmt; das Werk erfíang 
denn auch am 6. und 7. Juni im Münfter. Das Golilten- 
quartett ftellten bie Damen Noordewier, Philippi, 
und die Herren Ot. Jung und Th. Denys. An biele 
Aufführung ſchloß fid) am 8. Sunt ein Vollsliederfongert, in 
dem fowohl der Chor wie aud) bie eben Genannten eine An- 
zahl von Volksliedern verfchiedener Nationen zum Vortrag 
brachten. 

Voͤllig auf kirchliche Kunſt beſchränkt bat fid aud) in 
diefer Saifon wieder ber 33a dj - Gb or (Dirigent: Adolf 
Hamm); feine Programme enthielten einen Teil des 


303 


93ad'íden Weihnahtsoratoriums (bie Kan- 
taten 4—6; Soliften waren Grf. € Homberger, Gi. 9. 
Brenner, H. Richard Fifher und Hr. Nahbm); 
bie G-bur-OXeffe von Mozart, eine Motette 
unb eine Kantate von Bad. Goliften: Grau Wesler, 
Gi. 9. Gautſchy, Hr. &ron unb Hr. Deutſch. Das 
erfte Konzert fand am 21. Dezember 1913, das zweite am 
7. April 1914 ftatt. 

Die Liedertafel vereinigte fi am 18. unb 
20. Sanuar 1914 mit bem Gefangperein zu einer Auf- 
führung ber „Damnationde Fauſt“ von Berlioz. 
Die Coliften waren Grau Cahnbley-Hinken und bie 
Herren Plamondon, v. Raab-Brodmann unb 
QUpfB. Das übliche Soliftenkonzert folgte am 19. Januar. 
— Das Frühlingsktonzert des Vereins (9. und 10. Mai) war 
ausihlieglih Werken Friedrich Hegars gewidmet. Es 
wirkten dabei foliftifh mit Frau Lobftein-Wirz unb 
Hr. Willemde 93oer. 

Der Basler Männerhor (Direktion: G. Zul. 
Schmidt) hielt am 9. November 1913 ein Orchefterkongert 
ab unb bob eine febr beifällig aufgenommene Novität aus ber 
Saufe: „Belfazars Gefidjt" vn Hans Huber 
(Mitwirkende Ooliftin: Frl. €. Huber). — Mas Lieder- 
fonzert fiel auf den 17. Mai 1914. Gofijtin war Fräulein 
A. Hegner. 

Der Basler Volkschor, der unter der Leitung 
von G. f$ id) Ler ftebt, batte fid) eine Aufführung von Men- 
delsſohn's „Daulus” zum Ziel gefebt und trat mit 
bielem Werk im April vor das Publitum. Als Soliſten 
hörten wir bie Damen Zaeslin und Gaut[d y, fowie 
die Herren Ernft und Reiner. 

Aus der Zahl ber übrigen Konzerte erwähnen wir einen 
Liederabend von Frl. M. Philippi mit Walter 
Courvoifier und einen folden von Grau Durigo. 
Einen glänzenden Verlauf nahm am 22. Februar ein Ertra- 


304 


tonzert der Allgemeinen Muſikgeſellſchaft mit Eugen 
d'Albert. Die Orgelfongerte, bie Adolf Hamm im 
Münfter veranftaltete, erfreuten fid) eines [febr zahlreichen 


Beſuches. Ernſt Th. Markees. 


C. Malerei unb Plaſtik. 

Der erſte Kunſtanlaß im Berichtsjahr war die ſo— 
genannte Jubiläumsausſtellung. Der Kunſtverein feierte 
feinen fünfzisften Geburtstag und hatte deswegen Die 
Basler Künftler zu einer befonderen Schauftellung ihrer 
Werke eingeladen. Es war aber wenig mehr als eine gembbn- 
fide Weihnahtsausftellung. Hervorragende 93ilber waren ein 
fitendes Mädchen von Paul 93. Barth, eine Grablegung 
Ehrifti von Numa Donze unb ein Bildnis von Hermann 
Meyer. Alle drei hatten aud) originelle Landſchaften zu 
zeigen. Figürliches boten ber in Zeichnung und Farbe ftarfe 
Eugen Ammann, ferner Paul Altherr, Wilhelm Balmer, 
Theodor Barth, Creszentia Bächler, Walther Bär, Ida 23au- 
mann, Emil Beurmann, Rarl Did, Hans Garnjobft, Mar von 
Geymüller, Frau Haßler-Ernft, Frau Hedwig Reerl-Thoma, 
Marie Lob, Albreht Mayer, Frau Mons- Smbof, Gitber 
Mengold, Fritz Mod, Heinrih Müller, Eduard Niethammer, 
Chriſtoph Debler, Otto Plattner, Rarl Pflüger, Arthur 
Riedel, Augufta Roßmann, Hedwig Schenermann, Alfred 
Soder, Gertrud Stüdelberg, Marie Gtüdelberg, Eſther 
Socin, Marguerite Tiffot, Hans Beat Wieland und E. QU. 
Wolf. Die meiften ber Genannten hatten aud) Landfchaften 
au$geftellt. In diefem Fache waren teils gute, teils febr 
idivade Gemälde vorhanden. Wir nennen Paul M. 
Artaria, Charles Bernoulli, Grnft 93reitenftein, Paul 93urd- 
bardt, Mar Bucherer, Ernft Yuchner, Luife David, QU. be 
Goumois, 9. Diſchler, Rud. Dürrwang, Walther Gnbols, 
Paul Flury, Arnold Fiechter, Gottfried Herzig, Albert 


305 20 


Kohler, Franz Krauß, Adolf Kron, $. U. Kündig, Maria 
9a Roche, Alfred Leite, Rudolf Löw, Otto Mähly, 23utt- 
hard Mangold, Alfred Meyer, Carl Theodor Meyer, 
Mar Müller, Hans Portmann, Karl Reber, S. €. 
Rüdifühli, Regnault Sarafin, Grnjt Schieß, Emil Schill, 
Maria E. Schultheh, Gertrud Schwabe, Q3. Seefeld, Ernft 
Seifert, W. Siegrift, Hermann Sondermann, Carl Speifer, 
D. Gfaiger, Fri Voirol, Albert Wagen, Charlotte Weiß 
unb Grau Martha Wittwer. — Plaftit gab'$8 von Hans 
Grei, Auguft Herr, Hanns Zörin, Otto Meyer, Jakob Drobfl, 
Dtto Roos unb Auguft Suter. 

. Nach diefer Zubiläumsfhau, melde im Grunde nichts 
Zubilierendes an fid) hatte, jonbern eher unter bem Grid) 
des Gemwöhnlichen war, fam eine äußerft fehenswerte Aus- 
ftellung von nur vier Künftlern. Erftens war der Nachlaß 
des Thurgauers Hans Brühlmann zu fehen: flotte Akte, 
figürlide KRompofitiosnen von großem Wurfe, Porträts, 
Landfchaften und namentlich Stilleben von einer Zeichnung 
und farbigen Pracht, bie an die beften modernen Sranzofen 
denken ließen. Sweitens der Basler Heinrich Altherr, 
Profeffor an der Stuttgarter Stunitid)ule. Auch er gab be- 
beutenbe Rompofitionen, unter welchen ein „Orpheus und 
bie Mänaden” bie gemaltigite war, ferner fchlichte, groß: 
empfundene Porträts, fchlieflih Landfchaften. Alles dies 
erregte Intereffe und Greube. — Carl Gafpar in München 
Ihafft refigiófe 93ilber, welche burd) den Naturalismus 
bindurchgegangen find, aber weit über ibm ftehen. Ein 
„Ehriftus am Delberg” ragte weit hervor. Als vierten lernte 
man ben Ruſſen Robert Genin kennen, den Maler traum- 
bafter, aber innig empfundener Figuren und Landfchaften. 
Cafpar und Genin erregten Kopfſchütteln; aber fie zeigten 
eine Richtung der modernen Runft, in der manches Neue 
und feltfam Schöne erreicht wird. 

Im Februar fam eine Ausftelung, bie mehrfach an die 
alten „Permanten” im fehlimmeren Sinne gemahnte. Emit 


306 


Dreitenftein, 3. €. Raufmann (Luzern), Charles Flach 
(Srigels) batten viel zu viele 93ilber, auch folche von 
minderem Werte, ausftellen dürfen, als daß ihre Kollektionen 
irgendwie oder irgendwen hätten anziehen fónnen. Die Mit- 
telmäßigfeit ber Ausftellung wirkte fo drüdend, bap Walther 
Bär mit farbig und zeichnerifch originellen finberbilbern, 
ja daß nicht einmal Mar 93urgmaier (?larau) mit gtof- 
artigen AJuralandfchaften, feinen Blumenftüden und 2[qua- 
rellen den Befchauer reftlos erfreuen fonnten. Auch Marie 
90$, bie fid) als farbenftarfe Porträtiftin zeigte, und Plinio 
Gofombi, der bod) fonft mit feinen Winter- und Verner- 
landfchaften einzufchlagen pflegt, fonnten den Gejamteinbrud 
der Ausftellung nicht heben; noch weniger vermochten dies 
Ettore Burzi (Lugano), Felice Desclabiffae (Gmunden), 
Joſeph Schönenberger, Albert Schweizer und U. 98. Züricher 
(Ringoldswil), trogdem auch fie, namentlich in Landfchaften, 
Gutes gebracht hatten. 

Om März wurden wir dann reichlich entſchädigt. Da 
ftellte der Maler und Bildhauer Carl 93utdbarbt Modelle 
und Entwürfe für bie Sandfteinrelief am Kunſthaus in 
Zürih aus: Fünf gewaltige Metopen, die Hälfte eines 
Amazonentampfes; fie riefen mit ihrer prächtigen Verteilung 
im Raum, ihrer antifen Ruhe und ihrer Einfachheit im Aus— 
drud bet Künftlern und Laien Bewunderung hervor. Dazu 
waren eine Menge Rötel-, Kohlen- und DVleiftiftftudien zu 
feben, welche das Können Earl 93urdbarbts ebenfalls ins 
befte Licht fetten. Ueber den ganzen Eyflus, das bebeut- 
famfte Bildhauerwerf eines Gchweizers, wird in der 
Münchener „Runft für Alle” (29. Sabrg. 22. Heft, ©. 526 ff.) 
berichtet. — Im untern Saale waren Arbeiten des 93asler 
Malers  Gbriftopb Oehler ausgeftellt: große Figuren: 
fompofitionten, Portraits und Landichaften. — Gleichzeitig 
waren wieder einmal eine Anzahl Originalzeichnungen aus 
dem „Simpliziffimus” und franzöfifhe Otabierungen (von 
M. Achener in Paris) zu feben. 


307 20° 


Die April-Ausftellung brachte ungefähr fünfzig alt- 
bolländifche Gemälde zur Schau, bie recht gute Bilder und 
noch beljere Namen aufwies. Daneben gab'$ wieder einmal 
eine Carl Theodor OXteper-Galerie. Der in München lebende 
Basler Landfchafter, der Sohn des gemütvollen Dichters 
Dr. Theodor Meyer-Merian, ift immer nod) in Q9anb- 
Ihaften, Paftellen, farbigen Zeichnungen, €itbograpbien und 
Radierungen jo frijd und tief wie vor fünf Luftren und 
fand darum unter alten und jungen Yasler Runftfreunden 
verdiente Anerkennung. Neben feinen Bildern bingen 
farbige Suralandfchaften von Albert Kron. Ein Basler, der 
felten bei uns erfcheint, ift Carlo Bödlin, ber jüngfte Sohn 
des Meifters. Er batte eigenartig aufgefaßte fonnige italie- 
nifhe 9anbidaften ba. — Ein ausgefuchtes Ertra diefer 
April-Ausftelung waren Handzeichnungen und Skizzen⸗ 
bücher von bem verftorbenen Karl Stauffer-Vern, bem großen 
Künftler und [der vom Schidfal beimgejudbten Menſchen 
(1857—1891). 

Sm Mai beftritt ein junger Basler Figuren- und 
Landſchaftsmaler, Arnold Fiechter, den Hauptteil der Aus— 
ftellung. Er leiftete den Beweis — wenn ein folcher über- 
haupt nötig wäre — dab in Baſel eine Anzahl junger 
Maler am Werk tit, welche, nicht im Geleife ber jogenannten 
„Modernen Schweizer” wandelnd, eine Runft hervorbringen, 
die in Form, Farbe und Auffaffung originell, ja ftellenmeije 
groß ijt. Neben Fiechter batte Lucien Mainffieur in Paris 
ausgeftellt, römifche, Dauphine- und Bugey⸗Landſchaften, 
welche treffliches franzöfiiches Können zum Ausdrud einer 
eigentümlihen Melancholie verwenden. — Daneben gab 
Pablo Picaffo in mehr als vierzig Bildern und 3eid- 
nungen bem Basler Publitum fubiftifd)e und futuriftifche 
Rätfel auf. Trotz biejen Verkleidungen mar der virtuofe 
Zeichner unb Farbenzauberer wohl zu erfennen. — Bilder 
von Julius Moos in Birsfelden und von ber Baslerin 
Grau Martha Wittwer-Gelpfe füllten, zufammen mit 


308 


Werfen von bem Münchner Rudolf Cief unb dem Ham- 
burger W. p. Rudtefchell den übrigen Raum der vier Säle. 

Sm Zuni fam ein alter treuer Freund zu uns in bie 
funftballe, Hans Thoma, der Karlsruher Meifter, als ge- 
botener Schwarzwälder unjer guter Nachbar. Der ganze 
otoBe Oberlichtfaal war ihm referviert worden. Die Aus— 
ftellung zeigte neben manchem alten vorzüglichen Bild eine 
Reihe neuer unb neuefter Gemälde, bie barfaten, daß ber 
nahezu fünfundfiebzigjährige Künftler immer nod) an ber 
Arbeit iff unb dann und mann Dinge fchafft, welche einem 
ungen und Züngften zur Ehre gereichen würden. Auch von 
Thomas verftorbener Gattin war einiges in der Austellung 
zu feben. — Ein Geiftesverwandter Thomas, nicht fein 
Schüler, aud) nicht ein Nachahmer, ijt ber pbantafie- und 
gemütvolle tüchtige Basler Radierer Arthur Riedel. Er gab 
Figürliches, fowohl ganze Rompofitionen wie Porträts, und 
Landſchaftliches; an allem fonnte man berzlihde Freude 
haben, weil in allem, neben gutem Können, Seele lebt. — 
G. W. Wolf, Baſel, batte Plaftifen ausgeftellt, an denen 
Reinheit der Form und der Empfindung wahrgenommen 
werden fonnte. Sn Zeichnungen unb Radierungen puljterte 
eigenartig ruhiges unb bewegtes Leben. 

Sm Zuli und Auguft tit die Runfthalle gefchloffen. Sie 
sing aud) im September nicht auf; die Kriegsereignifle 
bringen den Künften und den Rünftlern harte Tage. Uber aud) 
bier taten fi, wie für das Theater, Freunde zufammen, 
b. b. ber Runftverein arrangierte zwei außerordentliche Aus- 
ftellungen, die eine für Malerei, die zweite für Plaftit und 
Graphit. Die erfte bat ftattgefunden unb fällt, ba fie im 
Dftober eröffnet wurde und bis zum 1. November gedauert 
bat, nod) in unfer Berichtsjahr. Site umfapte 235 Nummern 
unb bot einiges ganz Ausgezeichnete. Das Hauptſtück barin 
war ein Dedenbild „Sommertag” von Hermann Meyer, eine 
lebensfreudige, farbenftrablende Rompofition. Indiſche Land- 
haften, von einer Fürafid) vollbrachten Reife ber, hatte Paul 


309 


Burckhardt aufzumweifen, ftarkfarbige, raufchende Bilder 
voller Zropenpradt. 3. S. Lüfcher batte ſüdfranzöſiſche 
Gegenden zu zeigen: fonnige Landichaften von üppiger Fülle. 
Dtto Roos, der Bildhauer, bat fid) in einigen fimplen Land- 
ſchaften als Maler von trefflichen Eigenfchaften ermiefen. 
Die übrigen Bilder ftammten ebenfalls von Basler Künſtlern 
unb Künftlerinnen, bie meift (don Eingangs, bei Gelegenheit 
der fogenannten Zubildäumsausftellung genannt worden find. 
Dort Hatten bie Paftelliftin Sophie 93urdbarbt-Dipp, bie 
Figuren: und Landichaftsmalerin Frau Guftava Sfelin- 
Häger, bie Landfchafter Paul Rammüller und Mar Kind— 
baufet, der Porträtift und Stillebenmaler Werner Koch, bie 
€anbfdjafter $. Morftatt und Zulius Moos, der Figuren: 
maler Alfred Peter, bie Landfchafter Joſeph Schönenberger 
und Albert Schweizer, der Figurentomponift Paul Schweizer, 
bie Stillebenmalerin Selma Siebenmann, der Porträtift und 
Landfchafter Robert Strüdel gefehlt, die in biefer Le&ten Aus- 
ftellung mit zum guten Seil vorzügliden Bildern vertreten 
geweſen find. 


D. 9 rdjiteftur. 


Om Anſchluß an bie legtes Sabr gemachten Andeutungen 
müflen wir auch jetzt wieder vor allem unjere Blicke dem 
Rheinufer ber Altftadt von Großbafel zuwenden. 

Nah dem jahrelangen bedauerlihden Vorhandenfein von 
Srünmerfelbern und leeren Baupläßen an der Schifflände 
iff nun bier endlich ein Gebäude entftanben, das den Kopf 
der mittleren Otbeinbrüde würdig beberricbt. Auf einfache 
und glüdliche Art haben bie Architekten ber Basler Bau— 
geſellſchaft unter einer durchgehenden Barodarditektur 
drei Häufer zu vereinigen gewußt. Das Edhaus hat ben 
Otamen „zum Lällenkönig" erhalten, das mittlere foll in Erin- 
nerung an das ehemalige Wirtshaus „zum Kopf" genannt . 
werden. Es ift eine gute Basler Tradition, diefe angeftamm- 


310 


ten Häufernamen aud) bei modernen Neubauten nicht unter- 
geben zu lafien. Leber alle drei Häufer fpannt fid) das große, 
mit alten Ziegeln gebedte Dach, von zwei Segmentgiebeln 
belebt. Seine äußere Form unb die Anordnung ber Kamine 
auf der Zirft find ben Dächern vom blauen und weißen Haus 
nachgebildet, was wefentlich zur Ruhe und Einheit des ganzen 
Städtebildes beiträgt. 

Die Gleichmäßigkeit der Form der Dächer ift befannt- 
fid) eine Grundbedingung für bie gute und harmoniſche Gr- 
fheinung von Stadtteilen und ganzen Drtfchaften. Ein 
Gemifch von flachen, fteilen und halbfteilen Dächern, womög⸗ 
fid) nod) mit verfehiedenem Material bebedt, wirkt auf den 
Beſchauer immer ftörend und unangenehm. Wie durch das 
Zufammenftimmen der Dachformen ber genannten Häufer- 
gruppe an der Schifflände mit alten dominierenden Dächern 
bier eine wohltuende Wirkung erzielt worden ift, fo erregt in 
dem fonft fo herrlichen Stadtbild auf der andern Geite des 
Münfters ber flachgededte Rloß ber untern Realfchule immer 
noch ben Aerger unb die Unzufriedenheit des Betrachters. Es 
iff baber erfreulich, baB das Baudepartement einen Sadauf- 
bau beabfichtigt, um bem Raummangel der Schule abaubelfen 
und die Harmonie mit der Umgebung fo gut wie möglich 
mieberberaujtellen. Es wird allerdings eine beiffe Aufgabe 
fein, die ohnehin (don maßlofen Höhendimenfionen fo zu 
behandeln, daß fie nicht beeinträchtigend auf bie Größe des 
Münfters wirken. | 

Wenden wir uns von ber Schifflände gegen ben 
Blumenrain, jo [haut ung das hohe Manſardendach des 
Haufes „zum Korb” entgegen, erbaut von Architet Rudolf 
Linder Die ganze Gafjabe ift in einem lebhaft farbigen 
gelben Hauftein ausgeführt. Zu ben glatt gehaltenen Mauer- 
flächen Eontraftiert angenehm der in Gechsedform vor- 
[pringenbe Erfer. Die Details find modern, wenngleich das 
Ganze Anklänge an die deutfhe Renaiffance bat. Das 
Hinterhbaus an ber Cpiegefgalje iff mit rubigem Sad) und 


911 


gelbverpugten Mauerflächen als GefdjüftSbaus mit großen 
Senftern ausgebildet. Zwiſchen beiden ift gefchidt ein flach: 
gebedter niedriger Verbindungstraft eingefügt. Gegenüber 
an der Spiegelgafle find burd) Otieberlegung alter Häufer 
vor Kurzem wieder Ruinenfelder entffanben, die ihrer Neu: 
geftaltung harren; hoffentlich nicht allzulange. 

Auf bem Marftplag iff ber bem Rathaus gegenüber: 
liegenden Gruppe bie Ede an der Hutgafle beigefügt worden. 
Sie ift nach dem feinerzeit mit einem erften Preis bedachten 
Konkurrenzentwurf der Herren Widmer unb Erladher 
in freier Symmetrie zur andern Ede an der GSattelgaffe von 
Architekt Lodewig ausgeführt worden. Schräg gegenüber bat 
bie Nationalzeitung ihren Schalterraum umgebaut und die 
Faſſade für bie Bemalung hergerichtet, bie der junge Basler 
Künftler Numa Donze anbringen fol. Wenngleich 
äußere Bemalungen unferem Klima nicht zu troßen vermögen, 
fo behalten gute Farben bod) auf bie Dauer eines Menfchen- 
alters ihre Leuchtkraft, und es ift erfreulich, wenn Verſuche 
gemacht werden, biefe in unferer Stadt einftmals beimifche 
Kunſt zu neuem Leben zu erweden. Es fei hier anfchließend 
erwähnt, daß bie Abficht vorhanden iit, aud) bie Kirche von 
Gt. Safob mit einer äußern Bemalung zu verfeben und daß 
zurzeit ein freier Wettbewerb unter Basler Künftlern zur 
Erlangung von Entwürfen hiefür ausgefchrieben if. Mögen 
biefe 93eftrebungen dazu beitragen, daß Architekten und 
Maler wieder lernen, zufammen zu arbeiten, wie einft im 
goldenen 3eitalter ber Renaiffance! 

Kehren wir nad) biefer Abfchweifung zu unferem Rund- 
gang in bie Stadt zurüid, wo auf bem Barfüßerplatz an Stelle 
des alten heimeligen Wirtshaufes „zum braunen Muß” 
unter der Leitung von Arhitet R. Sandreuter ein 
Neubau entftanben iff. Auch bier ift durch Farbe, allerdings 
nur ſchwarz und grau, bie Galfabenardjiteftur in gelungener 
Weiſe bereichert worden. Man fieht, wie der Architelt be- 
müht war, das Dach fo niedrig als möglich zu halten, um 


312 


bie darüber ftebenben malerifchen Partien des Lohnhofs bem 
93(id tunlichſt offen zu Laflen. 

Wenn wir ben Gteinenberg aufwärts geben, fo in- 
tereffiert uns vor allem das neue Edhaus Aefchenvorftadt- 
Elifabethenftraße, von Architekt Heinrih Flügel, mit 
feinen pier rythmiſch fid) mieberbolenben Grferm im Stil 
moderner Gefchäftshäufer. Man hätte es wahrjcheinlich mehr 
begrüßt, bier eine Edlöfung in der Art der Handelsbanf ent- 
Keben zu feben, wie fie aud) von ber Handwerferbant und 
vom Bankverein verfucht worden find, bod) fcheint dies mit 
einer rationellen Grunbriplófung unvereinbar gemefen zu fein. 
Auch bie gegenüberliegende Handwerkerbant bat unter der 
Leitung bet Arhitelten Suter und Burdbhardt ihre 
Geftalt etwas verändert. Die beiden Portale am St. Alban- 
graben find in gewöhnliche Fenſter verwandelt und beide 
Eingänge an bie Freieftraße verlegt worden. Sm Innern 
find dadurch ein großer Schalterraum und gutbelichtete 
93ureaur entftanden. Die gleichen Architekten haben aud) das 
Edhaus Albangraben-Dufourftraße für bie Zwecke ber 
Schweizerifchen Eifenbahnbanf umgebaut und Die Fable 
Giebelwand mit Zenftern durchbrochen, unter Beibehaltung 
des anfpruchslofen altmodifchen Stile. 

Zwei größere Neubauten im Innern der Stadt mögen 
nod) erwähnt fein: Der Mufeumsumbau auf bem Rollerhof- 
areal und am Schlüffelberg, von ben Architekten Viſcher 
und Söhne, unb die Frauenarbeitsfhule an der Kohlen 
berggaffe, von ber Basler Baugefellfhaft. Beide 
find noch unvollendet und werden erft das nächfte Zahr aus- 
führlicher befchrieben werden fünnen. 

Wenn wir uns von der innern Stadt ben Außen: 
quartieren zuwenden, fo bemetfen wir, wie im Ct. Alban: 
und WUefchenquartier befonders Architekt Fritz Stehlin 
eine rege Tätigkeit entfaltet hat. In feinen gediegenen alten 
Barodformen bat er vier größere Privathäufer erftellt, wovon 


313 


wohl das befte unb umfangreichfte in der St. Albanvorftadt. 
Das Haus ftebt ein gutes Stüd hinter der Straßenflucht 
zurüd, wodurch ein geräumiger Vorhof entftanden iff, ben 
gegen bie Straße ein einfaches Gitter abfchließt. Zwei alte 
fteinerne Zürpfoften aus dem 18. Sabrbunbert find babet zu 
Ehren gezogen worden. Das breitgelagerte einftódige Wohn- 
haus wird von einem hoben Manfardendach gekrönt, die 
Verhältniſſe find bei aller Einfachheit vornebm und ruhig: 
bie Mitteltravee ift als Rifalit vorgezogen, und durch bie 
offene Haustüre dringt ber Blick in den Garten, in deflen 
Grund in ber Hauptare des Gebäudes ein altes barodes 
Gartenbáusd)en einen vortrefflihen Abfchluß bildet. Der 
Oteubau St. Safobsitrape 25 läßt fid) fofort als Werk des 
gleihen Architekten  erfennen; aud) bier ein einftödiges 
Oprivatbaus mit Manfardendah, die Mittelpartie vor- 
gezogen, mit einer Freitreppe gegen den Garten. Der Heinere 
DBauplag und wohl aud) bie Rüdfiht auf bie vorhandene 
Bepflanzung geftatteten eine weniger freie Entwidlung, fo 
mußte das Gebäude an den daneben liegenden 23lod an- 
gelebnt und bie Schmalfront der Straße zugefehrt werden, 
während die Sauptfaljabe ſenkrecht dazu ftehbt. In ungefähr 
gleicher Stellung ijt das nod) unvollendete Haus an der 
Rapellenftraße 25 in Architektur und Dachform den beiden 
vorigen ähnlich. Bei bem beidfeitig eingebauten Reiben: 
haus WUefchengraben 5 find die Verhältniffe etwas anders: 
Die Faſſade iff ameiftódig, ganz mit hellem Hauſtein ver: 
Heidet, mit achtedig vorgegogenem Mittelbau; darüber, wie 
bei den andern, das mit 3iege[n gebedte Manfardendad). 

Sn bet Parkftraße 12—18 haben bie 9(rdjiteften Suter 
unb Burckhardt eine Reihe einitódiger Einfamilien- 
häufer erbaut in anfprechender Putzarchitektur und von ruhig 
wirfender fymetrifcher Gliederung. 

Om übrigen war die Bautätigkeit in diefem Quartier 
eine febr befchränfte, und wir willen einzig nod) das 
anfpruchslofe, aber hübſche Haus Hardtitraße 131 von ben 


314 


9(rdjiteften La Roche, Gtábelin u. Gie. zu nennen, 
bevor mir unfere Schritte bem neuen Zeughaus zumenden, 
einem Werk von Architekt Ceifinger vom 23aubepatte- 
ment. Es iff in feiner großzügigen und flaren Gliederung 
ein Öffentlicher Bau, an dem jedermann feine Freude haben 
fann. Die guten Verbältnifie von Fenſtern und Flächen 
find von nobler Wirkung, der Aufbau und die Profilierungen 
fráftig und berb, aber keineswegs tob. Ueber dem kompakten 
Sodelgefhoß verbinden durchgehende Lifenen die beiden 
oberen Ctodmerfe. Darauf liegt bebábig das Manfarden: 
bad) mit weit ausladendem Gefims. In etwas reicherer 
93arodardjiteftur als das übrige tif ber Vorbau in der Mitte 
mit dem Portal gehalten. Wenn es möglich gewefen wäre, 
bie Architelturformen des Zeughaufes aud) in ben SOefonomie- 
gebäuden im Hof zur Anwendung zu bringen, fo hätte die 
Wirkung der ganzen Anlage nod) gefteigert werden können. 

On ber Breite find an verfchiedenen Orten neue Miet- 
häufer entftanden; wir führen bie Gruppe Ede Redingftraße- 
Lehenmattweg an, von Arhitet Eugen Tamm. Als er- 
freulihes Zeichen für die induftrielle Entwidlung der Stadt 
wollen wir bie neue Fabrik an der Weidengafle auffaflen, 
erbaut von Preiswerf u. Cie. | 

Sm Gundoldingerquartier ift das Schulhaus, welches 
den ganzen Rompler zwifchen Güter: und Dornacerftraße, 
Bärſchwyler- und Liesbergerftraße ausfüllt, fo weit vorgerüdt, 
daß über feine äußere Erfcheinung gefprochen werden fann. 
Die Gebäude find an die Güter: und Bärfchwilerftraße ge: 
tüdf, während an der andern Ede der Hof fid) ausdehnt. 
Der große 93aupla6 bat es ermöglicht, bie Gebäulichkeiten 
mebr in bie Breite als in bie Höhe auszudehnen, wodurch 
fie fid ungezwungen ihrer Umgebung anpaflen. Den ver- 
fhiedenen Zweckbeſtimmungen des Innern entfprechend, ift 
aud) das Aeußere febr mannigfaltig gegliedert und zu einer 
malerijden Baugruppe mit reizenden Cinzelbeiten  aus- 
gebildet worden. Etwas fompligiert geftalten fib Dabei 


315 


ftellenweife bie Dachverfchneidungen. Architekt ift Herr Th. 
Hünermwadel vom VBaudepardement. 

Unter den meift drei- big vierftódigen Spekulations 
bäufern, bie in jener Gegend neu entflanden find, befinden 
fid mitunter fünftleri[d) nicht unintereffante Faffadenlöfungen, 
fo bat an weithin fichtbarer Stelle oben am Thierfteinerrain 
Arhitet Emil Dettwiler eine Gruppe von drei 
Häufern in fymmetrifcher Anordnung erbaut. 

Somit find wir auf dem Bruderholz angelangt, wo vor: 
läufig am Ausbau des neuen Straßenneges gearbeitet wird, 
während im Gebiet des Hochbaues bie Tätigkeit in letzter 
Zeit nod) ſchwach war. Es ift hier im weiteren nur die im 
Bau begriffene Villa zwifchen Amfel- und Droffelftraße, in 
einem günftig am oberen Rand des Abhanges gelegenen 
Garten von den Architekte Widmer Erlaher und 
Gafininambaft zu mahen. Es verfpricht eine tntereffante 
Leiftung zu werden in modernen Formen mit ftarfer 23e- 
tonung der Horizontalen. 

Hatten im Innern der Stadt und auf dem Oftplateau 
einige fertige oder in Ausführung begriffene Monumental: 
bauten vornehmlich unfere 9fufmerffamfeit auf fid) gezogen, 
fo iff dem nichts ähnliches auf dem Weftplateau entgegen 
zu ſtellen. Abgeſehen von Eeineren Gegenftänden fann Diet 
nur von Projekten gefprochen werden, bie fchon feit Jahren 
auf: unb untertauchen, nun aber bod) greifbare Form an- 
zunehmen verfprehen. Wir meinen damit die heiß um- 
' friftene Frage des Kunſtmuſeums. — Gnbgültig ift fon im 
vorigen Sabr burd) Großratsbefchluß der Schützenmattpark 
als Bauplatz beftimmt worden. Eine Planfonfurrenz unter 
fhweizerifhen Architekten mit Termin auf Ende März 
1914 lieferte eine ftattliche Anzahl bedeutender Projefte. 
Das Preisgericht bat dabei zwei gleichwertige erfte Preife 
an Herrn Emil Fäſch und an bie Basler Bau— 
gefellfhaft (Architekte BVernoulli und Grü- 
ninger) erteilt unb ben Fäſchiſchen Entwurf als Grund- 


316 


lage für bie Ausführung empfohlen. In biejem ijt ein in 
bie Axe des Bauplatzes gefteltes Mufeum mit Hauptfaſſade 
gegen ben Ring vorge[eben, während 93ernoulli ben Bau 
mehr pom Ring zurüd unb in feiner Längsausdehnung an 
bie Seite des Weiherweges ftelt. Wie in der Situation, fo 
find aud) in der Grundrißausbildung die beiden Vorjchläge 
gänzlich verfchieden. Die Parteien find von der Regierung 
eingeladen worden, auf Grund ihrer Seen neue Projelte 
vorzulegen, und es wird mit Spannung erwartet, wem 
fchließlich bie Ausführung aufallen fol. 

Während biefer Rampf ftd) einftweilen auf dem Papier 
abfpielt, ift auf der Ede des gleichen Areals am Wielands- 
pla6 der Rohbau für den Polizeipoften von den Architekten 
Widmer Erlacher und Calini nahezu vollendet 
‚worden; feine Beſprechung müſſen wir indes für fpäter ver- 
fchieben. 
| Auf der Mitte des 93unbesplate8 hat das S3aubeparte- 

ment den Verſuch gemacht, einen der fonft meift fo banal 
ausfehbenden eifernen DBeleuchtungsmaften in äſthetiſche 
Gormen zu Heiden, was burd) einen Sodel aus Kunftitein 
erreicht worden iff, mit ringsumgehender Sitzbank und bat- 
über einem Sigurenfries von Bildhauer Auguft Heer. 
Am Steinenring 15—21 haben bie Gebrüder Stamm 
eine Reihe anmutiger Einfamilienhäufer erftellt, daran an- 
fchließend (Wr. 25) ift ein Privathaus der Architekten 
Guter unb Burckhardt im Bau. 

Geben wir ftadteinwärts, fo entbeden wir, bap bie 
ehemals freiftehende Zaflade der Marienkirche von zwei 
Flügelbauten eingerahmt worden if, die als Pfarr: 
und Gigriftenwohnung dienen. Der Architekt Guftav 
Doppler bat baburd) einen anmutigen gefchloffenen Vor: 
bof gefchaffen, was dem Eingang zum Gotteshaus mehr Reiz 
und Stimmung verleiht, als der frühere 3uftanb. Vom 
gleihen Architekten iff an der GSocinftraße 42 das neue 
Sinzenzianum in einfacher, gut gegliederter Putzarchitektur. 


317 


Weiter innen, an derfelben Straße Nr. 8, iit ein Eleines, ein- 
ftödiges CDripatbaus von Architekt Pfrunder zu er: 
wähnen. | 

Om äußeren Spalenquartier ift ftellenweife febr eifrig 
gebaut worden; es handelt fid) aber ausſchließlich um Miet- 
báufer. Don ben verfchiedenartigen Typen nennen wir als 
gute Veifpiele für eine Reihe dreiftödiger Wohnbauten ben 
Block an der Ede Eichen: und Buchenftraße, vom Verband 
fchweizerifher Ronfumvereine mit neunundneunzigjährigem 
Pachtrecht auf Staatsboden erftellt. Als gute, ganz einfach 
gehaltene zweiftöcdige Typen führen wir bie Cerie an der 
Stöberftraße 19—31 und Ede Otufadjer- und Schlettftadter: 
firaBe von der Basler BDaugefellfhaft an. Von 
der gleihen Firma find an ber gebogenen Flucht ber 
Sierenzerftraße 47—63 und 44—62 zwei Reiben Heiner 
Einfamilienhäufer, bie nur aus Erdgeſchoß mit bobem 
Manfardendach befteben. 

Auch find im äußeren St. Sobannquartier da und dort 
neue Spefulationsbauten entffanben; bod) wenige davon 
fónnen einen Fünftlerifchen Wert beanfpruchen. Innerhalb 
dem St. Sobanntor an der Ede SobanniterftraBe und St. 3o- 
bannvorftadt ift ein großer Häuferblod durch die Architekten 
Burdhardt, Wenk u. Cie. erbaut worden. Dem 
Schlachthaus bat das 93aubepartement im Stil ber alten Ge- 
bäulichfeiten ein neues Sreibank- und Portierhaus zugefügt. 

Es erübrigt uns nun, aud) dem Kleinbafel unfern jähr- 
[iden 93efud) abauftatten: 

.  Qüt bie Neugeftaltung des großen Areals des alten 
Badifhen Bahnhofs ift zurzeit unter Basler Architekten 
ein Ideen⸗Wettbewerb ausgefchrieben; unterdeffen ift an 
der Schwarzwaldallee, gegenüber dem neuen Bahnhof, bie 
Bebauung in erfreulicher Weife fortgefchritten: Es Tann 
jest faft als gefichert betrachtet werden, daß es gelingen 
wird, den größten Teil des Plabes mit einer einheitlichen 
Architektur einzurahmen. In den zum Zeil ausgeführten und 


318 


zum Seil nod) im 93au befindlihen Häufern haben bie 
Architekten Gebrüder Stamm es meifterlich verftanden, 
unter Beibehaltung der gleichen Gefims- und Gefdopbóben 
und des durchgehenden Lifenenfyftems, burd) Vor⸗ und 
Zurüdjegen einzelner Partien, fowie burd) die Variation 
im Detail bem Aufnahmegebäude der Bahn ein gutes, groß: 
zügiges Vis-a-vis zu fchaffen. Bis jest find ausgeführt: 
Der ganze Block zwifchen Riebenftraße und Rofentalftraße, 
bie fommetrifch angeordnete Reihe zwifchen Rofental- und 
Riehenteichftraße, ohne den Mittelbau, fowie Rojental: 
ftraße 68. 

Auh in Kleinbafel find, befonders in der Richtung 
gegen SWeinbüningen und ben 93abnbof, neue Miethäufer 
aus bem Boden gewachfen, auf bie wir ung aber ein näheres 
Eingehen aus den gleichen Gründen wie am andern Rhein— 
ufer erfparen fónnen. Die ſchon legtes Jahr genannte 
Ede Unterer Rheinweg-Floraftraße, von Achitet Ernft 
Mutſchler, ift unterdeflen vollendet worden; nicht fern 
davon iff das Haus Unterer Rheinweg 118 bemerkbar mit 
feinem balbrund vorjpringenden Verandenbau, von Architekt 
Pfrunder. Die St. Sofepbsfitdje bat an ber Ammerbach- 
ftraße 9 ein neues Pfarrhaus erhalten, das in Form und 
Gatbe der Kirche gut angepaßt ift. Architekt tit Herr Guftav 
Doppler. 

Bon mehr wirtfchaftlichem als Fünftlerifchem Intereſſe 
find die Vergrößerung ber Zärberei in der Gärtnerftraße, 
fowie einige induftrielle Neubauten in Rleinhüningen. 

3um Schluß wollen wir einem Wert von Architelt 
G. Mutfchler, der Heinen Villa am Schaffhaufer 9tbein- 
weg 101, das verdiente Lob fpenden. Gegen den Rhein zu 
fhaut ein traulicher Giebel mit einer tiefen €oggia in ber 
Mitte, eine Bogenhalle verbindet den Hauptbau mit bem 
Gärtnerhäuschen an ber Allemannengafle. Durch Liebevolle, 
forgfältige Behandlung ift hier in befcheidenen Dimenfionen 
aus Haus und Garten ein reigoolle8 Ganzes gefchaffen worden. 


319 


Basler Cbroníit. 
Dom J. November J9]3 bis 3]. Oktober 7914. 
Don Srít Baur. 


November 1913. 

2. Das Rirhenopfer wird in ben Gottesbieniten 
bet evangelifch-reformierten Kirche für evangelifche Schulhaus: 
bauten in 93ulle und Gíamatt erhoben und wirft 5043 Zr. ab. 

6. Der Große Rat beſchließt mit Dringlichkeit Er- 
werbung der Liegenfhaft Schlüffelberg 5  (S3ud)bruderei 
Widmer) und Abtretung eines Areals am Blumenrain, ge- 
nehmigt mit einer von der Regierung akzeptierten Aenderung 
ben neuen Bebauungsplan für Rleinbafel und befchließt ent- 
gegen einem Antrag auf Heberweifung an eine Rommilfion 
Eintreten auf den Entwurf der Regierung für einen Der: 
faljungsartifel betr. Erhebung eines Schulgeldes von aus: 
wärtigen Schülern bafelftädtifcher Schulanftalten. 

On Greiburg in der Schweiz ftirbt plöglich in feinem 
60. 9[(ter$jabr Dr. Fritz Speifer, früher Zivilgericht: 
fchreiber in feiner Vaterſtadt Baſel, nad) feinem Lebertritt 
zum Katholizismus Abbe und Profeſſor des Kirchenrechts 
an der Univerfität Freiburg. 

12. Die Synode ber epang.-ref. Kirche von 
93afel berät in erfter Lefung eine Befoldungs- unb Penfions- 
ordnung ber Kirchenbeamten, bewilligt einige Nachtrags: 
frebite für 1913, nimmt das Yudget für 1914 an, beſchließt 
den Ankauf eines Stüdes Land im äußern St. Sobann- 
quartier zum Bau einer Kirche und beauftragt den Rirchen- 
tat, bei ben ftaatlichen Erziehungsbehörden für 93eibebaltung 


320 


des Religionsunterrihts in der Volksſchule nachdrüdlich 
einzutreten. 

13. Der Große Rat nimmt einen Verfaflungsartifel 
an, ber bem vom Volk angenommenen Grundjaß der Gr- 
bebung eines Schulgeldes von Auswärtigen Rechnung trägt; 
er befchließt bie Rorrektion ber 93abnbofítrape, genehmigt bie 
Staatsrechnung von 1912 und befchließt Eintreten auf bie 
von einer Rommiffion vorberatenen Gefe&e betr. eine offent- 
lide Sranfenfaffe und betr. obligatorische Rrantenverficherung. 

14. Zei ber Reftoratsfeier der Univerfität in 
ber Martinskirche Spricht ber abtretende Rektor Prof. Karl 
3081 über bie philofophifche Krifis der Gegenwart. Daran 
Schließen fid) das Rektoratseflen, ein $[maug der Studenten- 
fdjaff und ein Kommers in der 93urgvogtei. 

15. 16. Die Rihterwahlen famen im erften 
Wahlgang nur teilweife zuftande. Die Sozialiften hatten 
nur die Richter ihrer Parteifärbung auf die Liften ge- 
nommen. Dies veranlaßte die bürgerlichen Parteien, von 
dem Vorſchlag fozialiftifcher Randidaten abzufehen und die 
entiprechenden Stellen frei zu laflen. So famen zuftande 
bie Wahlen von je drei Appellations-, Zivil- und Gtraf- 
gerichtspräfidenten, von ſechs Appellations-, vier Zivil- und 
fünf Strafrichtern, ſämtlich Beftätigungswahlen; von Sozial: 
bemofraten wurde nur das fozialiftifhe Mitglied des 
Appellationsgerichtes beftätigt. Für einen zweiten Wahl— 
gang bleiben zu wählen ein Präfident des Zivilgerichts, bet 
Statthalter des Strafgerichts, je drei Zivil: und Strafrichter. 
Die Beteiligung betrug nur etwa 25% ber Stimmberech- 
figten. 

Zum Geelforger der Elifabethengemeinde wird etnbellig 
gewählt Pfr. W. Merz (freif.), derzeit in Baden, an Stelle 
des aus Gefundheitsrüdfichten zurüdtretenden 3. (9. Birn— 
ftiel. Die pofitipe Richtung batte feinen Kandidaten vor- 
seichlagen. 

16. Der Fußballklub Baſel feiert feinen 20- 


321 21 


jährigen 93effanb mit einem für ihn glänzend verlaufenen 
Math gegen den 5. G. Zreiburg i. 293. und mit einem 
Herrenabend. 

22. 9n feinem 82. Altersjahr ftirbt, bis in feine lebten 
Sage nod) beneidenswert rüftig, Wilhelm Biſchoff, der 
in ben mannigfaltigften Aemtern feinem Vaterland gedient 
bat. Von Beruf war er Landwirt. Schon in den 1860er 
unb 70er Zahren wurde er in richterliche Stellungen unb in 
den Großen Rat berufen. Nach der Neuordnung der bafel- 
ftädtifchen Dinge burd) bie Verfaffung von 1875 fiel ihm als 
Statthalter des Stadtrates nad) dem Tode des Präfidenten 
Minder vor allem die Arbeit ber Ausfcheidung zwifchen 
Bürger: und Einwohnergemeinde zu, und er wurde bann der 
erfte Präfident des Engern Bürgerrats. Bon 1878 bis 1905 
faß er in der Regierung als Vorſteher teils des Departe- 
ments des Innern, teil des Sanitätsdepartements. Als 
Militär flieg er zum Range des DBrigadefommandanten. 
Bis in feine legten Lebensjahre bat er al8 Mitglied des 
Weitern Bürgerrates nod) regen Anteil am öffentlichen Leben 
genommen. Ohne im eigentlihen Sinne des Wortes 
populär zu fein, genoB er allgemeine Hochachtung und un- 
befchränttes Zutrauen feiner Mitbürger. 

22. 23. Sm zweiten Wahlgang ber Rihterwahlen 
wurden die Stellen befeót, bie vor acht Sagen bei ber Herr- 
ſchaft des abfoluten Mehrs nicht zuftande gefommen waren. 
Dabei wurden die bisherigen fozialdemokratifhen Mit: 
glieder der Gerichte beftätigt, ber von freifinniger Geite 
unterftüßte Liberale Kandidat für die Statthalterftele am 
Strafgericht gegen den fatbolijcen Anwärter gewählt, ferner 
neu ein fozialiftifcher Sivilrichter, ein fiberaler und ein frei⸗ 
finniger Strafrichter. 

23. Der langjährige Mädchenfetundarlehrer 3.G.&rei- 
Scherrer, aud) in Stenographenkreifen wohlbefannt, ftirbt 
im 68. Altersjahr. 

On einem von Stennern als febr intereffant gerühmten 


322 


GuBbalímatd befiegen die Young Boys Bern ben 
Gootball-R(ub Bafel mit 2:1 Goal. 

25. Der Weitere Bürgerrat bewilligt einen 
Kredit von 70000 Zr. auf Rechnung des Spitalvermögens 
für Ankauf zweier Häufer in der bintern Opitalftraße und 
an ber Davidsgaffe und erledigt eine Reihe Begehren um 
Aufnahme ins Bürgerrecht. 

Sum Rektor ber Univerfität für 1914 wählt bie Regenz 
Prof. Otto Eger. 

Sn einer Sitzung in der Aula des Mufeums Eonftituiert 
fi ber Shweizerifhe Bund Für Naturfhus, 
gibt fid) Statuten unb beftellt feinen Vorftand aus Dr. Paul 
Sarafin, Präfident, Dr. St. Yrunies, ?(ftuat und Prof. 
F. Zſchokke. 

26. Die Poſitiven Gemeindevereine ver— 
anftalten ihre gemeinſame Verſammlung in der 93urgvogtei. 
Miſſionsinſpektor 3. Frohnmeyer ſpricht über Theoſophie 
und Chriſtentum. Nachher wird das Spiel vom Sterben 
des reichen Mannes, „Jedermann“, von Hugo von Hof— 
mannsthal, aufgeführt. 

27. Der Große Rat beſchließt den Bau eines 
chemiſchen Laboratoriums und nimmt bie neue Quartier: 
einteilung an, nad) ber bie Stadt in drei große Wahlkreiſe 
zerfällt; das Geſetz betr. WUenderung der 88 57—59 des 
Strafgefeges (Schuß ber freien Ausübung von Snitiative 
und Referendum) wird, nachdem ein Rüdweifungsantrag zu 
einer feiner wichtigften Beſtimmungen beliebt bat, auf eine 
fpätere Ci&ung vertagt. Hierauf wird fortgefahren in ber 
Beratung des Gefetes über eine Öffentliche Krankenkaſſe. 

28. Die Freiwillige Schulfynode befpridt 
die Frage der Fürſorge für die fchulentlaffene männliche 
Jugend und nimmt nach ftark benüster Diskuffion eine Reihe 
Thefen darüber an. 

30. Die italienifhbe Handelsfammer in 
der Schweiz hält in 93afel ihre Generalverfammlung ab. 


323 21° 


Nah ben gefchäftlichen Verhandlungen vereinigen fid) bie 
Teilnehmer zu einem Bankett, bem der italienifche Gefandte 
in der Schweiz, Marchefe Paulucci di Calboli, der italie- 
nifhe Generalfonful in Bafel, Gommanbatore Nagra, unb 
als Vertreter der Basler Regierung Reg.-Rat. Speiſer 
anmwohnen. 

Am Eup-Match ftegt F. E. Bafel über F. €. Old Boys 
mit 7 :2. 

Das KRirhenopfer des Miffionsfonn- 
tages ergibt 6178 Fr. und zwar für bie Basler Miffion 
5037, für den Allg. Prot. Miffionsverein 574 und für bie 
Miſſion Romande 567 Gr. 

Witterung. Die meteorologifchen Hauptwerte des 
Monats November find: Mittel der Temperatur 8,3, mittl. 
Zemp.-Marimum 11,2, mitt. Zemp.- Minimum 62 C, 
Mittel des €uftbrude 739,6, Summe ber Niederfchlagsmenge 
109 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 52 Std. Der Mo- 
naf fiel zu warm, zu reich an Niederichlägen und zu trübe 
aus, verglichen mit dem langjährigen Mittel und war ein 
durchaus unerfreulicher Zeitabfchnitt. 


Dezember 1913, 


2. Prof. Julius Peterfen hält feine Antritts- 
vorlefung über bie Literaturgefhichte als Wiflenfchaft. 

3. Das vom Regierungsrat ausgearbeitete Budget 
für 1914 fieht vor an Ausgaben 22 369 450, an Einnahmen 
19 084 600 Gr., fomit ein Defizit von 3 284,850 Gr. 

Die evangelifh-reformierte Synode er- 
lebigt in zweiter Lefung bie Vefoldungsordnung, bereinigt 
das 93ubgef und nimmt den Bericht des Kirchenrats über 
die rüdftändigen Aufträge entgegen. Weiter beauftragt fie 
ben Kirchenrat, über das Wahl: und Stimmrecht der Frauen 
zu berichten. 

4. Dr. Eugen Bernoulli erhält die venia legendi 
an der medizinischen Fakultät für Pharmakologie. 


324 


5. Der QGenofenfdafts$rat des Allg Konſum— 
vereins befchließt eine Unterſtützung von 10000 Zr. für 
bie Arbeitslofen und Verzicht auf ein Taggeld zu demfelben 
Zweck. 

7. Ser Fußballklub Baſel befiegt ben F. G. 
Bern auf bem Landhof mit 7:1 Goal. | 

8. Die Freiwillige Shulfynode führt in 
einer Nachmittagsfisung, bie am 28. November begonnene 
Beratung mit Referat und Diskuffion über bie fchulentlaffene 
weibliche Zugend zu Ende. 

10. Die AUrbeitslofigkeit mad fid früher und 
empfindlicher geltend als in den le&ten Wintern. Die ftaat- 
liche Arbeitslofentommiffion fteht in Tätigkeit. Daneben bat 
bie „National Zeitung” eine Sammlung durchgeführt, bie in 
verhältnismäßig furger Zeit über 10000 Gr. abwarf. 

11. Der Große Rat befchließt nad) 9tatififation einer 
Anzahl Aufnahmen ing Bürgerrecht und ber Richterwahlen 
vom 22./23. November ben Verkauf ber Liegenfchaft 
G[ifabetbenftraBe 1 und WUenderung ber Baulinie dafelbft 
unb Erwerbung ber Liegenfchaft St. Albanvorftadt 1; da- 
gegen verzichtet er auf den Umbau des „Großen Gollmar" 
unb beauftragt bie Regierung, Studien vorzunehmen über 
definitive Unterbringung der ftaatlichen Verwaltungen; Diet- 
auf bewilligt er eine Reihe von Nachtragkrediten, ferner 
88000 Qr. für Aufftellung einer Umformer⸗Gruppe im 
Elektrizitätswert am Dolderweg und 290 000 Gr. für Aus- 
bau der eleftrifchen Kraftübertragung von Augft nach Baſel; 
endlich führte er bie 93eratung der Vorlage über die Öffent- 
[ide Krankenkaſſe in erfter Lefung zu Ende. 

12. Sn der erften Sigung ber Gemeinnüßigen 
Gefellfhaft diefes Winterd wird an Gtelle der bis 
dahin üblichen fchriftlihen bie mündliche Berichterſtattung 
über die einzelnen Unternehmungen der Gefellfchaft durch: 
geführt. 


325 


13. Drof. Alb. Geßler wird von ber Regierung ge- 
mäß feinem Anfuchen aus feiner Lebrverpflichtung an der 
Aniverſität entlaffen, unter 93eibebaltung von Zitel und 
Rechten eines a. o. Profeff ors. 

13./14. Die Wahl ber gewerblichen Schieds— 
gerichte wird bei mäßiger Beteiligung für eine neue 
Amtsdauer von ſechs Jahren vorgenommen. 

15. Die Frequenz ber Aniverſität im lau: 
fenben Winterjemefter beträgt 935 immatrifulierte Studenten 
(darunter 48 Damen) und 221 (132) Hörer, total alfo 1156 
(180) Schüler. Davon fallen auf die tbeologiid)e Fakultät 76, 
auf die juriftifche 77, bie medizinifche 325, Pbhilofophie I 222, 
Philofophie II 285. Aus der Schweiz ftammen 673 (42), 
aus dem Ausland 262 (6) Smmatrifulierte, Davon aus dem 
europäifchen Rußland 140. Von ben 335 (25) immatri- 
fulierten Bafelftädtern ftubieren Theologie 16, Zurisprudenz 
48, Medizin 54 (6), Philofophie I 108 (15) unb Philo- 
fopbie II 109 (4). 

18. Der Große Rat wählt bie Erfagrichter zu ben 
verfchiedenen Gerichten, nimmt eine Revifion des baulichen 
Heimatfchuges vor, nimmt das (GinfübrungSgefe& zur eid- 
genöffiichen Kranken: und Infallverfiherung an, ferner bie 
Vorlage betr. Einrichtung einer Klinik für Dermatologie und 
Venereologie, bewilligt einen Kredit von 40 000 Zr. für Um— 
bau des Schügenhaufes unb tritt ein in bie 93eratung ber 
Vorlage betr. obligatorifehe KRrankenverficherung. 

20./21. Der zweite Wahlgang zur Wahl dergewerb- 
[iden Schiedsgerichte vervollitändist den Beſtand 
diefes Richterförpers mit Ausnahme des Arbeitgebers einer 
Gruppe, von der fid) Fein Wähler eingefunben hatte. 

23. Der Weitere Dürgerrat genehmigt ben 
PBerwaltungsbericht des Engern Bürgerrats für 1912 und 
erledigt eine Reihe Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht. 

24. Der Regierungsrat beglüdwünfcht bie Witwe 9f. 
Simmerli- Schweizer, bie heute ihr hundertftes Lebens- 


326 


jahr vollendet, zu ihrem Geburtstag und läßt ihr ein Geſchenk 
überreichen. 

Otad) langem Leiden ftirbt alt Stadtförfter Sr. Vär- 
DPlattner, geb. 1846 in Zürich, ber bie Waldungen ber Stadt- 
gemeinde, zumal die Hardt, und zum Zeil aud) die des 
Staates jahrzehntelang mufterhaft bewirtfchaftete.e. Der 
Stadt 93ajel leiftete er wertvolle Dienfte als langjähriger 
Kommandant der Feuerwehr, ber Gibgenoljenicbaft als tüch- 
tiger Artillerieoffizier. 

27. Ein gewaltiger Sturm richtet trot feiner furgen 
Dauer von wenigen Stunden an Gebäuden und namentlich 
aud) in den Anlagen beträchtlichen Schaden an. 

31. Witterung. Die meteorologifchen Hauptwerte 
des Monats Dezember find: Mittel der Temperatur 22, 
mittl. Temp. -Marimum 5,0, mittl. Temp. Minimum 0,25, 
Mittel des Luftdruds 740,4, Summe ber Niederfchlagmenge 
54 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 61 Stunden. Die 
Temperatur des Monats war zu hoch, der ganze Monat fehr 
mild, menn auch feine Werte fid) meift in ber Nähe der lang- 
jährigen Durchſchnittszahlen bewegten. 


Januar 1914. 


1. Der Zivilftandsverfehr Bafels im Sabre 
1913 weift folgende Hauptzahlen auf: Srauungen 1086 
(1912: 1185). Lebendgeburten 3338 (3304), wovon abgeben 
553 (553) 9paffantengeburten; S&otgeburten 104 (91); von 
ben Lebendgeborenen find 1758 $naben, 1580 Mädchen; von 
auswärts wurden angezeigt 28 lebendgeborene Knaben und 
19 lebendgeborene Mädchen biefiger Einwohner. Todesfälle 
wurden verzeichnet 1820 (1770), darunter 203 9paffanten- 
Todesfälle; in diefen Zahlen find bie S&otgeburten nicht in- 
begriffen. Nach dem Gefchlecht teilen fid) bie Geftorbenen 
in 932 männlichen und 888 weiblichen Gefchlechts; außerdem 
wurden 67 Anzeigen gemacht über den auswärts erfolgten 
Sob biefiger Einwohner. Es waren 669 Neugeborene und 


327 


586 Geftorbene biefige Rantonsbürger, 1109 unb 557 
Schweizer aus andern Kantonen und 1560 und 677 Aus: 
länder. Durch Ueberſchuß ber Geburten über bie Todesfälle 
vermehrte fid) bie ortsanwefende Bevölkerung um 1518 
Seelen. Nah Abzug ber Paflanten-Lebendgeburten und 
der Paflanten-Zodesfäle und nad) Hinzurechnung der 
auswärts geborenen unb verftorbenen biefigen Einwohner 
ergab fid) ein Geburtenüberfhuß ber Wohnbevöllerung von 
1148 9perjonen, 645 männlichen unb 503 weiblichen, unb 
zwar 63 Rantonsbürgern, 378 Schweizern anderer Kantone 
und 707 Ausländern. 

Om Alter von 75 Syabren ftirbt Dr. med. W. Ber: 
noulli-Gartorius, eine Autorität auf dem Gebiete bet 
epidemifchen Krankheiten und ein gewiegter Botaniker, deſſen 
Herbarium in Fachkreiſen weit befannt war. Vereinigt mit 
bem von Dr. Herm. Chrift bildet es, Schon bei Lebzeiten ber 
beiden Sammler abgetreten, eine Zierde des botanifchen 
Inſtitutes. 

Reg.Rat Dr. F. Mangold lehnt einen ehrenvollen 
Ruf als Vorſteher des eidgenöſſiſchen ſtatiſtiſchen Bureaus ab. 

6. Die älteſte Bürgerin und Einwohnerin von Baſel, 
Witwe M. Hetzel-Wunderlich, ſtirbt im Alter von 
10015 Jahren. 

7. Zum ordentlichen Profeſſor an der theologiſchen Fa— 
kultät wird ernannt Albrecht Alt, derzeit außerordentlicher 
Profeſſor in Greifswald. 

8. Der Große Rat beauftragt im Anſchluß an die 
Oprüfung ber Wahlakten vom 13./14. unb 20./21. Dezember 
1913 bie Regierung mit einer Revifion der Vorſchriften 
betr. bie Wahl der gewerblichen Schiedsgerichte und tritt 
dann ein auf den Bericht der Prüfungstommiffion über den 
1912er Verwaltungsbericht. 

10. Der Regierungsrat nimmt ein von 1955 Stimm- 
berechtigten unterſtützes Referendumsbegehren 
gegen das Geſetz betr. die Einteilung der Stadt Baſel in 


328 


brei Wahlquartiere (Gr. Rat vom 27. Nov. 1913) 
entgegen. 

12. Der Landratvon Bafelland überweift eine 
Motion von Blarer und Konſ. betr. Maßnahmen zu einer 
zielbewußten Wirtfchaftspolitit an eine Rommilfion. Die 
Motion geht aus von Vorgängen in Bafelftadt: Erhebung 
von Schulgeld von Auswärtigen, ftädtifcher Zentralfriedhof 
auf Landihäftler 93oben in der Hardt, einander gegenüber: 
ftebenbe 9tbeinbafenprojefte, Trambahnen von der Stadt auf 
die Landfchaft u. dgl. m. 

14. Sm Alter von 66 Zahren ftirbt Arnold Refardt- 
Biſchoff. Ein geborener Hamburger, bat er feiner zweiten 
Heimat in verfchiedenen chriftlichen und gemeinnüßigen 
Unternehmungen treu gedient. 

15. Der Große Rat bewilligt einen weitern Nach: 
fredit von 10000 Zr. an die Koften der Auslieferung des 
Bankiers 93auber, fowie 176625 Gr. für Liegenfchafts: 
anfáufe, die teils bem Gaswerf, teils der Erftellung eines 
Braufebads im äußern St. WUlbanquartier dienen follen. 
Dann wird fortgefahren in der Befprechung des Prüfungs: 
berichts für 1912. 

17. Bon ber Eleftrizitätsausftellung des 
legten Sommers bleibt nad) Tilgung aller Unkoſten, fowie 
nad) Ausrichtung verfchiedener Gratififationen und Ge- 
ſchenke ein Otettoertrag von 30 000 Zr. Der Regierungsrat 
befchließt nad) Antrag der Kommiffion zur Ausftellung, ihn 
je zur Hälfte bem phyſikaliſchen Snftitut der Univerfität und 
zur Anfhaffung von Radium für 93ebanb(ung von Krebs: 
leiden im Frauenſpital zu verwenden. 

18. Die Delegierten-Berfammlung der Union 
Shweizerifhber Volkskrankenkaſſen Ton: 
ftituiert fid) mit Sentralfiß der Union in Baſel. 

19. Die Abftinenz- Vereinigungen Bafels feiern in einer 
äußerft zahlreich befuchten Verfammlung in ber Burgvogtei— 
balle den fiebzigften Geburtstag des Gründers der 


329 


wiflenfchaftlichen Abftinenzbewegung in Europa, Prof. ©. 
v. Bunge, ber feit Jahren als Lehrer der phyfiologifchen 
Chemie an der Univerſität 93afel wirkt. 

20. Lic. theol. Otto Schmitz hält feine Sabilitations- 
vorlefung als Privatdozent ber Theologie über ben Qrreibeits- 
gebanfen bei Paulus. 

20. Die Altiengefellfhaft Bell erhöht ihr 
Aktienkapital auf 2600 000 Gr. Diefe Transaktion büngt 
zufammen mit der Sntereffengemeinidjaft, die bie Gefellfchaft 
mit bem Verband GSchweizerifher Konfumvereine  ein- 
gegangen iif. Schon am 19. hat der Auffichtsrat des 9f. G. 2. 
Baſel, des einzigen ſchweizeriſchen Ronfumvereins, ber fid) 
zurzeit mit Schlächterei befaßt und alfo bei der Angelegen- 
beit direkt intereffiert ift, feine 93illigung des Gefchäftes aus- 
geiprochen. 

24. Die Regierung nimmt von Freunden und Schülern 
von Prof. G. v. Bunge einen zur Erinnerung an deflen 
70. Geburtstag geftifteten Brunnen entgegen. 

28. gm Mufitfaal wird ein Zeffinerabend ver- 
anftaltet, ber den Hauptzwed verfolgt, ähnlich wie verwandte 
Peranftaltungen in Genf und Zürich mehr Fühlung zwifchen 
bem Zeffin und der übrigen Schweiz berzuftellen. Im Mittel: 
punft ftebt, umrahmt von mufikalifchen und pantomimifchen 
Darbietungen, eine Rede von Prof. Bovet aus Zürid). 

29. Der Große Rat verwendet den größten Zeil 
feiner heutigen Sigung auf drei Snterpellationen. Die eine 
betr. den Schuß von auswärts beftellten Arbeitswilligen 
burd) bie Polizei nimmt die Zeit bis in den Nachmittag 
hinein in Anfprud. Hierauf wird in ber Beſprechung des 
Verwaltungsberichts fortgefahren. 

30. Dr. med. R. Maffini hält feine Habilitations- 
vorlefung: Neuere Anfchauungen über bie Entftehung der 
Zuberfulofe. 

31. Dr. 9. &urían erhält bie venia legendi an der 
Univerfität für Otationalüfonomie unb Gtatiftif. 


330 


Witterung. As meteorofogi[de Sauptmerte des 
Monats Zanuar 1914 notieren wir: Mittel der Temperatur 
— 29, mitt. Semp.OXarimum — 0,3, mittl. Semp.- 
Minimum — 5,5%, Mittel des Luftdruds 740,7, Summe 
ber Niederfchlagmenge 51 mm, Summe der Sonnenfchein- 
dauer 64 Stunden. Der Monat war feit mehreren Sabren 
wieder ein richtiger Wintermonat, ohne allzu harte Kälte. 
Bloß die Schneedede hätte höher fein dürfen. 


Sebruar 1914. 


31. San./1. Febr. In ber Vollsabftimmung wird bei 
23015 Stimmberechtigten ber ber Abftimmung vom 28./29. 
Sept. 1912 entfprehende Verfaffungsartifelbetr. 
Grbebung eines Schulgeldes von Aus- 
wärtigen mit 4714 gegen 4703 Stimmen und das von 
der freifinnigen Partei vor das Referendum gezogene Gefeß 
betr. Einteilung der Stadt in drei Wahl: 
quartiere mit 5990 gegen 3387 Stimmen angenommen. 
Gür den Verfaflungsartifel batte die fortfchrittliche Bürger: 
partei geftimmt und die freifinnige Partei bie Stimme frei- 
gegeben, gegen das Quartiergeſetz ftimmte allein die frei- 
finnige Partei. Go lautete bie erfte Nachricht. Eine Nach: 
prüfung der Stimmzettel durch das ftatiftiiche Amt ergab 
aber am 5. Gebr. nadbem die Abftimmungstommentare 
längft gefchrieben und veröffentlicht waren, baB bie Schulgeld- 
initiative mit einer Mehrheit von fehs Stimmen ver- 
worfenift. Gin Wahlbureau batte irrtümlich ein Pädchen 
verwerfende Stimmen zu den annehmenden gezählt. 

1. Der Skiklub Baſel veranftaltet in CLangenbrud 
fein V. Sfi-Rennen. (G3 nimmt bei febr günftiget 
Witterung einen glänzenden Verlauf. — Die beut(d)e fto- 
[onie feiert im Mufilfaal ben 55. Geburtstag Staifet 
Wilhelms II. Der deutfhe Gefandte bei der Eid- 
genoflenfchaft, v. Romberg, hält dabei bie Feſtrede. 


331 


2. Sym Alter von 57 Zahren ftirbt Oberſt Karl Köchlin— 
Sfelin nad) ſchwerem Leiden. Neben feiner Stellung als 
fommerzieller Leiter der Firma S. X. Geigy u. Cie. fand er 
Zeit, der Deffentlichkeit in mannigfacher Weife zu dienen. 
Er war Sivilrichter, fünf Sabre lang Mitglied des National: 
rats, über ein Jahrzehnt Präfident der Basler Sjanbels- 
fammer, Mitglied des Verwaltungsrates der Schweiz. 
Bundesbahnen u. f. f.; im Militär erwarb er den Oberften- 
grab und fommanbierte bie 2. Divifion. Köchlin war in 
allen Klaſſen ber Basler Bevölkerung einer ber populárften 
Männer. 

5. Großer Rat. Es werden Kredite bewilligt für 
den Ankauf der Liegenfhaft Münfterplag 2/3 (St. Johann: 
fapelle), fowie Petersberg 28/32 und es wird dem Theater 
auch für 1914/15 die gewünfchte Subvention zugefichert. Der 
Rat fährt fort in der Behandlung des Verwaltungsberichts 
für 1912. 

Mit dem Ankauf der Liegenfchaft OX ünfterpla& 2/3 bat 
es folgende Bewandtnis: das Haus enthält eine unihäß- 
bare Sammlung alter, meift deutfcher und niederländifcher 
Gemälde, die laut aroßherziger Stiftung ber 23efiSerin Frau 
2. Bahofen-Burdhardt zum Andenken an ihren verftorbenen 
Gemabl als Prof. Sob. Jak. Bachofen-Burck— 
barbt-Ctiffung bereinft der Basler Runftfammlung 
zufallen wird. Um der Sammlung ein vorläufiges Heim zu 
fihern, faufte der Große Rat bie Liegenfhhaft. Am 10. Gebr. 
bejucbten bie Mitglieder des Rates bie Galerie. 

5. ffg. Nachdem im vorigen Sabr bie Aerzte und die Pro- 
fefioren der medizinifchen Fakultät unter ber 9fegibe ber Anti- 
Zuberfulofe-Liga den Bewohnern Bafels das Wefen der 
Suberfulofe durch Vorträge unb eine Ausftellung nahe ge- 
bracht hatten (j. Basl. Chron. zum 26. April 1913), fo wurde 
dDiefes Zahr durch die Schweiz. Vereinigung für Krebs: 
befämpfung das gleiche für ben Krebs unternommen. Sn 
Borträgen unb in Demonftrationen wurde Aufklärung ge- 


332 


boten über das Wefen und die Heilungsmöglichkeiten bielet 
Krankheit. 

6. Das Ordefterber Allgem. Mufilgejell- 
Saft wird zur Mitwirkung bei den bevorftehenden Genfer 
Aubiläumsfeftlichkeiten verpflichtet. 

Der Genoffenfhaftsrat des Allg Kon- 
fumvereins befchlieft, fi dem Schokoladekrieg anzu- 
fchließen und billigt das Vorgehen des Verbands Schweiz. 
Konfumvereine bei der Intereflengemeinfchaft mit der Firma 
Bel A. ©. (©. zum 20. Sanuar d. 3.) 

7. Prof. R. Herzog erhält einen Ruf nad) Gießen 
als Nachfolger Rörtes. | 

8. Der neue Pfarrer zu St. Elifabethben, W. Merz, 
wird in fein Amt eingeführt. 

Eine  auBetorbentlide Delegiertenverfammlung des 
VBerbands Schweiz. KRonfumpvereine billigte 
das Vorgehen feiner Leitung in Sachen des Schokoladefriegs 
und ber Snterefiengemeinfhaft mit Zell (f. oben zum 
6. Sebr.). 

10. Der Flieger Theodor Borrer landet glatt auf 
der St. Jakobsmatte, nachdem er die GCtrede Solothurn: 
Baſel in 19 Minuten zurüdgelegt bat. Er wird in ben 
nádjiten Wochen Schau: und Paflagierflüge ausführen. 

12. Großer Rat. Nah der Gewährung eines 
Nachtrags zum Budgets wird in erfter und zweiter Lefung 
eine fantonale Erziehungsanftalt für ſchwachſinnige bilbungs- 
fähige Jugendliche befchloffen, was die Verftaatlichung der 
bisher privaten Anftalt zur Hoffnung in Riehen bedeutet. 
Hierauf Üüberweift ber Rat im Anfchluß an den 1912er Ver: 
waltungsbericht das Poftulat betr. Erweiterung der Fried- 
matt und lehnt das betr. Vereinheitlichung des Gaspreifes 
ab. In zweiter Lefung wird bie Vorlage betr. Vermehrung 
des Perſonals ber Erziehungstanzlei und 23ejolbung bet 
Schulfelretäre in der Faſſung der Regierung genehmigt, b. D. 
e3 werden bie in erfter Lefung befchloffenen erhöhten 23e. 


333 


foldungen abgelehnt. Ein Anzug betr. Bau eines Volks— 
haufes mit Schwimmbad wird überwiefen, in bie Behandlung 
eines zweiten, betr. Einführung ber Polizeiftunde und einer 
Petition von 25000 Grauen zu gleihem Ziel wird ein- 
getreten. 

13. Die theologifhe Fakultät ernennt zum Doktor der 
Theologie hon. causa den Lic. Prof. Heinrih Hadmann 
in Amfterdam. 

15. Die evangel. Stadtmiffion hält ihre 
Sahresverfammlung ab. Die Hauptanfprahe hält Pfr. 
D. 93ufd) aus Grranffurt a. 9X. 

Die Kollekte in ben Gottesdienften der evangelifch- 
reformierten Kirche zugunften ber Bibelgefellfchaft, 
fpeziel zur Anſchaffung von Sraubibeln, wirft 1863 Sr. ab. 
. 17.19. 9teg.-9tat. G. Chr. Burdhardt hatte in der 
Großratsfigung vom 27. Nov. 1913 gegen Dr. 2. €. 
Scherer ben Vorwurf erhoben, biefer babe in einem Straf: 
ptogep, ben er zu führen batte, einen Hauptzeugen zu falfchem 
Zeugnis zu verführen verfucht. Gr hatte ben Vorwurf nad- 
fráglid) in einer Weife wiederholt, daß ihm bie parla- 
mentarifche Immunität nicht zu ftatten fam und ber An— 
gegriffene Hagen fonnte. Am 24. Dez. 1913 reichte Dr. 
Scherer Klage ein. Am 17. und 19. Gebr. 1914 fam bie 
Cade vor Strafgericht zur Verhandlung. Das Urteil lautete 
gegen Reg.Rat DBurdhardt wegen übler Nachrede auf 
60 Fr. Buße, ev. 6 Tage Gefängnis, gegen den wieder: 
beflagten Dr. Q3. €. Scherer wegen Beſchimpfung durch bie 
Prefle auf 10 Gr. Buße, ev. 1 Sag Gefängnis. 

20. Die von den Basler Behörden gewünfchte Aus- 
lieferung des 93anfier8 Hans 93auber war von ben 
amerifanifhen Gerichten nad) langen Verhandlungen ab- 
gelehnt worden. Dafür hatten fie befchloflen, ihn als Läftigen 
Ausländer abzufchieben. Bei feiner Ankunft auf bem Boden 
Europas in Gberbourg wird er unter Mithilfe von Basler 
Polizeibeamten feftgenommen und vorläufig in ein fran- 


334 


zöfifches Gefängnis gebraht. Die franzöfiichen Behörden 
haben zu entjcheiden, ob die ibm zur Laft gelegten Be— 
frügereien nad) franzöfiihem Recht bie Auslieferung recht- 
fertigen. 

Prof. Bieberbad hält feine Antrittsporlefung über 
die Grundlagen der modernen Mathematif. 

23. Auf ber Durcdreife nad) Aegypten bält fid) die 
Berliner Liedertafel einen Tag in 23ajel auf, von 
der befreundeten hieſigen Liedertafel empfangen und gefeiert. 
Es waren etwa 300 Mann, darunter 150 Aktive. Am 
Abend gibt der Verein im überfüllten Münfter ein Wohl: 
tätigfeitsfongert mit ftarfem  fünftferijdem und äußerem 
Erfole. | 

24. Das vom Faſtnachtkomitee wie üblich arrangierte 
OXonfre-Srommelfongert findet im Pariete- 
theater Rüchlin, anftatt wie in den legten Jahren im Muſik⸗ 
faal, ftatt. - 

26. Der Große Rat genehmigt nad) zwei Snter: 
pellationen nicht ohne lebhafte Diskuffion das berichtigte 
Abftimmungsergebnis vom 31. Jan./1. Gebr, fapt einen 
Beſchluß betr. Anwendung ber neuen Quartiereinteilung auf 
bie bevorftehbenden Wahlen und tritt ein auf bie zweite 
Leſung des Gefees betr. die Öffentlichen Krankenkaſſen. 

28. Die Regierung erteilt dem Lehrer des Griechifchen 
an der Univerfität, Prof. Rud. Herzog, der einem Rufe 
nad) Gießen folgt, bie gewünfchte Entlaffung. 

Witterung. As meteorologifhe Hauptwerte des 
Monats Februar 1914 notieren wir: Mittel der Temperatur 
37, mittl. Semp.-OXtarimum 7,7, mittl. Zemp.-Minimum 0,50, 
Mittel des Luftdruds 737 1, Summe ber Niederfchlagmenge 
29 mm, Summe der Sonnenfheindauer 109 Stunden. Die 
erften 11 Sage des Monats waren winterlich hell, ber Reft 
früb und regnerifch; bie Niederfchläge fielen weit geringer 
aus als der langjährige Durchſchnitt. 


3839 


März; 1914. 


1.—3. Die Vereinigung für ffaatsSmijfen- 
ſchaftliche Studien in Berlin tritt in Baſel eine 
Studienreife burd) bie Schweiz an. Die Statiſtiſch-volks⸗ 
wirtfchaftliche Geſellſchaft bietet den Herren theoretifche 23e- 
lehrung; bei den Beſuchen verfchiedener Großbetriebe, u. a. 
Des Waſſerwerks Augſt-Wyhlen wird ihnen bie Praris vor 
Augen geführt. 

2.—4. Die &aftnad t geht im üblichen Rahmen vor 
fij, von der Witterung wenig begünftigt. 

3. Der Kirchenrat erteilt Prof. p. Böhringer die 
mit Gefundheitsrüdfichten begründete Gntlajjung aus bem 
37 Sabre in Baſel verfehenen Kirchendienft auf den Herbft 
1914. 

6. Dr. Eugen Bernoulli hält feine Habilitations- 
vorlefung als Privatdozent ber Medizin über das Thema: 
Zur Theorie ber Narkoſe. 

8. Sn Bafel wird ein fogtialbemofrati[der 
Srauentag abgehalten, wobei redend auftreten Grau 
Pfr. Reichen (Winterthur) und Nat.:Rat Gugfter-3üft. 

12. Der Große Rat beenbigt bie zweite Lefung der 
Krantenverficherungsvporlagen und nimmt fie mit großer 
Mehrheit an, genehmigt den Bebauungsplan für Klein- 
büningen und erledigt einen großen Teil des Budgets für 
1914. — Der aus den Vereinigten Staaten ausgewiefene unb 
in Cherbourg verhaftete gewefne Bankier Hans 
Bauder, dem zahlreiche Schwindeleien zur 9ajt gelegt 
werden, trifft in 23afel ein und wird im Lohnhof feſtgeſetzt. 

13. Der erfte Gdleppaug der 1914er Schiffahrts- 
fampagne trifft von Straßburg bier ein. 

. 14. Die Regierung ernennt zum außerordentlichen Pro- 
feflor an ber philojophifchen Fakultät ber Univerfität, II. Ab- 
teilung, Dr. Aug. Burtorf, bisher Privatdozent. 

16. Prof. Dr. Ernft Heidrich bat einen Ruf nad 


336 


Straßburg aí$ Nachfolger Dehios erhalten unb wird ibm 
auf den Serbft Folge leiften. 

18. Eine ftatf befuchte Verfammlung zu Rebleuten, ein- 
berufen von fieben Großratsmitgliedern verfchiedener Par: 
feien, bie fämtlih aus dem Kanton Bafelland ftammen, 
faBt nad einem Referat von Ing. R. Gelpfe eine ber 
Wiedervereinigung von Bafel-Stadt und Land 
günftige Refolution und fett zur Förderung des Gedanfens 
eine 15gliedrige Rommiffion nieder. 

20. Eine von biefigen Modefirmen im Mufitfaal 
veranftaltete Modefhau mit Übendtee und Tango— 
tänzen vereinigt ein großes Publikum und wird zu einem 
eigentlichen gejellfchaftlichen Erfolg. 

22. Während auf bem Landhof bie 93asler O[b 93098 
nad) ritterlicher Gegenmebr von ben Berner Young Boys 
befiegt werden, an die jetzt bie Meifterfchaft für bie 
Zentralſchweiz übergeht, produzieren fid in einem Schau- 
fliegen auf ber Ct. Safobsmatte ber franzöfifhe Sturz: 
flieger Montmain und der GSolothurner 23orrer. Leider 
ftürzt ber le&tere, noch nicht 20 Sabre alt, gegen Abend in 
der Nähe des Hofes Rüttihard und findet einen plößlichen 
Tod. Ein Zufchauer erliegt infolge des jáben Schredens 
einem Herzſchlag. 

24. Der Weitere Bürgerrat weit bie Vorlage 
bett. einen Neubau an der Stadthausgafje gegenüber bem 
Stadthaus, auf welcher Liegenfchaft bie VBürgergemeinde 
eine Servitut befit, an eine Kommiſſion, nimmt bie Budgets 
der bürgerlichen Verwaltungen für 1914 entgegen, wählt bie 
Prüfungstommiffion für 1913 und erledigt eine Reihe 23e- 
gebren um Aufnahme ing Bürgerrecht. 

25. Der Genoflenfchaftsrat des Allg Ronfum: 
vereins genehmigt Jahresbericht und Rechnung der Ge- 
fhäftsleitung für 1913 und damit eine Dividende von 8% 
und überweift bem Verwaltungsrat verfchiedene Aufträge. 

26. Der Große Rat nimmt den Beriht der Re- 


337 " 


sierung über bie Prüfung des Abſtimmungsergebniſſes betr. 
bie Schulgeldinitiative entgegen, beenbigt bie Beratung des 
93ubget8 für 1914, das ein Defizit von weit über brei 
Millionen vorfieht, und nimmt ben Bericht des Regierungs: 
rats entgegen über Maßnahmen zur PVereinfahung des 
Staatshaushalts. 

27. Die neu gegründete Univerfität Frankfurt a. 9X. 
beruft an ihre juriftifche Fakultät Dr. Hans Planig für 
Rechtsgefchichte, und an ihre philofophifche Fakultät Dr. 
W. Otto für Haffiihe Philologie. 

28. Das Appellationsgericht verurteilt t. ©. Dr. 95. G. 
Scherergegen Reg:-RatE. Chr Burdhardt- 
Shazmann in Abänderung des Urteils erfter Inſtanz 
Reg. Rat 93urdbatbt wegen übler Nachrede zu 30 Sr. Buße 
und wies deffen Widerklage auf Beichimpfung burd bie 
Prefle ab. Die Koften find von beiden Parteien zur Hälfte 
zu tragen (f. zum 19. Grebr.). 

29. Sn der Aula des Mufeums findet die diesjährige 
Schlußfeierder Faufmánnifden Lehrlings— 
prüfungen ftat. — Der Sturz: und Schleifen: 
flieger Montmain veranftaltet auf den Gt. Syafobs- 
matten ein von der Witterung in hohem Grad begünftigtes 
ſtark befuchtes Schaufliegen. Der Nettoertrag iit für die 
Hinterlaflenen des vor adt Sagen verunglüdten 93orrer be- 
fimmt. Für biefe, forie für die Witwe und bie Waifen des 
bei jenem Anlaß vom Herzichlag betroffenen Arbeiters ift 
in Bafel und auch in weitern Kreifen der Schweiz eine Öffent- 
lihe Sammlung im Gang. 

31. Die Generalverfammlung des Runftvereing, 
von 200 Mitgliedern befucht, ergänzt bie Rommilfion und 
wählt zum Präfidenten den bisherigen Gtatthalter Fritz 
Stäbelin- Vernoulli. 

Witterung. Das Mittel der Temperatur im Mo: 
nat März 1914 betrug 7,1, das mittl. Temp. -Marimum 
11,3, das mitt. Temp.-Minimum 3,7% C., das Mittel des 


338 


Luftdruds 733,5, bie Summe ber Niederfchlagmenge 84 mm, 
die Summe der Sommenfheindauer 115 Ofunden. Das 
Wetter zeigte während des ganzen Monats Unbeſtändigkeit 
und Lnficherheit, viel Wind bei ftarfer Bewoölkung und 
häufige Niederſchläge. Die Entwidlung ber — 
wurde glücklich zurückgehalten. 


April 1914. 


1. Die Regierung wählt zum Verwalter der öffentfichen 
Krankenkaſſe unter Vorbehalt des Referendums Alfred 
Geiger von Bafel. 

2. Der Große Rat tritt nad Erledigung einer 
Petition ein auf die Vorlage betr. Lehrerbefoldungen und 
nimmt fie in erfter Lefung mit wenigen Uenderungen an. 
5. Die Delegiertenverfammlung des 
Schweiz Shügenvereins tagt in Baſel und be- 
ſchließt u. a., das auf 1914 vorgeſehene eidgenöſſiſche Schüßen- 
feit in Laufanne angefichtS der duch zwei Mißernten veran- 
laßten Notlage in ber Waadt auf 1916 zu verfchieben. 

6. Der Allg. Ronfumverein fchließt mit dem Verband 
nordweftjchweizerifcher Milchproduzenten einen Pertrag 
betr. Milchlieferung ab, der bem [feit längerer Zeit an- 
dauernden fogenannten Milchkrieg ein Ende mad. 

8. Der Fürzlich verftorbene Hans Vondermühll 
vermadte teftamentarifch feine wertvolle Galerie nieder: 
ländifher und vlämifher Meifter der öffentlichen Kunſt⸗ 
fammlung. 

13. Das Rarfreitagopfer in ben Gottesbtenften 
der evangelifch-reformierten Kirchen für das bürger!. Armen- 
amt und die Allgem. Armenpflege ergibt 2086, das Dfter- 
fonntagopfer für den Proteftantiich-firhlihen Hilfs- 
idi 4364 Sr. 

. Sn der Morgenfrühe erliegt einem Herzſchlag 
Dr. 2 Zulius Masinger, Direktor der Hypotheken: 


339 22* 


banf, vormals Redakteur ber ,Grenapoft" unb Gerichts- 
beamter, ein in ber Gemeinnü&igfeit viel verdienter Bürger. 

Prof. Dr. Q8ifb. Bruckner nimmt feine Tätigkeit 
an ber Univerfität wieder auf. — Zum a. o. Profefior für 
griehifche Sprache und Literatur wird berufen Dr. Werner 
Jaeger, derzeit Privatdozent in Berlin. 

12. 9tad) ſchwerem Leiden ftirbt, erft 47jährig, Dr. Serm. 
Rey, Direktor der „Geſellſchaft für Chemiſche Induſtrie“, 
früher Präfident des fchweizerifchen Landfturmfchießvereins. 

15. 16. 3u bem Wettbewerb für ein Sunft- 
mufeum waren 71 9projefte eingelaufen. Das Preis- 
gericht erteilte zwei Preife von je 3000 Fr., an Architekt 
Emil Fäſch und an die Basler Baugeſellſchaft (Architekten 
Hans Bernoulli und Rob. Grüninger); zwei Preife von je 
2000 Gr. , an Gebr. Bräm in Züri) unb Architekt Albert 
Maurer aus Zürich, in Düffeldorfz zwei Preife von je 
1000 Fr., an Architekt Karl Moſer in Karlsruhe und Willi 
Meyer, Alfiftent an ber technifchen Hochfchule in Dresden. — 
Die Pläne werden auf einige Seit im Gewerbemufeum aus- 
geftellt. 

16. Der Große Rat hört zunächſt eine Snterpellation 
über ben Flugtag vom 29. o. M. Diefer hatte in der Stadt 
viel zu fprechen gegeben, weil man dem Veranſtalter vor- 
warf, er babe den wohltätigen Zweck — Unterftügung ber 
Angehörigen des verunglüdten 93orter — zu eigener 23e- 
reicherung benüßt. Die Beantwortung der Snterpellation 
mußte übrigens im wefentlichen abgewiefen werden, weil die 
beanftandete Veranftaltung auf bafellandichaftlihem Boden 
vor fid) ging. Der Rat befchloß hierauf den Ankauf ber 
Liegenschaft zur Meerlage am Petersberg, nahm den Bericht 
des Resierungsrats über feine rüdftändigen Aufträge und 
feiner Rommiffionen entgegen, nahm in zweiter ejung das 
Lehrerbefoldungsgefeß an und ging Über einen Anzug zur 
Einführung der Polizeiftunde zur Tagesordnung. Der Prä- 
fibent fprad) bem nad) langjähriger erfolgreicher Tätigkeit aus 


340 


bem Öffentlichen Leben fcheidenden Reg.-Rat Dr. P. Speifer 
den Dank des Gemeinme[ens für jein Wirken aus und ſchloß 
damit bie Amtsperiode des Rates. | 

22. Zum 9[nbenfen an eine Verftorbene war der evan- 
gelifchen Kirche fd)on vor geraumer Zeit eine Summe von 
15000 Gr. für efeftri[de Beleuchtung Des 
Münfters übergeben worden. Der Kirchenvoritand der 
Münftergemeinde befchließt nach lángeren zeitraubenden 
Studien, diefe Beleuchtung durch in ben Geitenarfaden 
hängende Bronzeleuchter durchzuführen. 

25. An einer Lungenentzündung ftirbt, 69jährig, Konrad 
Merk, feit 1881 als Lehrer in Baſel tätig, feit über zehn 
Sahren Rektor der Töchterfchule. — Während eines vorübet- 
gehenden Aufenthalts in Männedorf ftirbt ber 1843 ge- 
borene Ed. 933urdbarbt- Zahn, in chriftlihen und ge- 
meinnügigen Werfen vielfach tätig. 

27. Die Generalverfammlung des Allg Ronfum- 
vereins befchließt definitiv für 1913 eine Rüdvergütung 
bon 8%. 

29. Die Delegiertenverfammlung ber Allg. Kranken— 
pflege bringt ihre Statuten mit der eidgenöffifchen und 
fantonalen PVerficherungsgefeggebung in Einklang und be- 
ſchließt Erhöhung des Zahresbeitrags auf 21 Gr. 

30. Die Zahresverfammlung der Freiwilligen 
Akademiſchen Gefellfhaft wählt zum Vorſteher 
an Stelle des nad) 25jáDriger Verwaltung diefes Amtes 
zurüdtretenden Oberft Iſaak Sfelin neu Dr. Aug. Sulger. 
Aus bem Zahresbericht vernimmt man, bap Frau Prof. 
Miefher-Rüfh zum Andenken an ihren verftorbenen Sohn 
der Geſellſchaft 100 000 Zr. gefchenkt bat. 

Witterung Im Monat April 1914 betrug das 
Mittel der Temperatur 12,0, das mittl. Temp.-Marimum 
179, das mittl. Temp.-Minimum 6,4° C., das Mittel des 
€uftoruds 739,7, bie Summe ber Niederfchlagmenge 41 mm, 
bie Summe ber Sonnenfcheindauer 230 Stunden. Der 


341 


Monat zeichnete fid) entgegen der Regel aus durch gleich- 
mäßig [höne Temperatur, durch Ausbleiben fchroffer Witte: 
rungsumfchläge und von Froſt. Dem entfprechend entwidelte 
fi bie Natur vielverfprechend. 


Mai 1914. 


1. Der Maifefttag der organifierten Arbeiterfchaft 
leidet unter ber Ungunſt der Witterung. 

2. 3. Die Großratswahlen werden für eine neue 
Operiobe von drei Jahren vorgenommen, und zwar in ben 
drei neu gefchaffenen großen Wahlkreifen der Stadt. Die 
Beteiligung der Wählerfchaft betrug 65% ber Gtimm- 
berechtigten. Die Wahlbureaur fonnten am Abend des 
Dienstags, 5. Mai, das Gefamtergebnis der Wahlen vor- 
legen. Es lautet wie folgt: Sozialdemokraten 44 (im ab- 
tretenden Großen Rat 47), Sreifinnige 27 (35), Liberale 20 
(21), Ratholiten 17 (17), Fortfchrittliche 93trgerpartei 17 (6), 
Demofraten 2 (0), Dorflifte Otieben (von den Liberalen 
empfohlen) 2 (2), Dorflifte 93ettingen (von Greifinnigen unb 
Liberalen empfohlen) 1 (1). — Bei ben Regierungs: 
ratswabhlen fam mit einem abjoluten Mehr — 7698 
von fieben Wahlen nur eine zuftand: Der von Liberalen und 
Sozialdemokraten empfohlene Reg.-Rat Dr. F. Mangold 
wurde mit 8483 Stimmen gewählt. Die übrigen aus- 
fcheidenden Regierungsräte wurden nur von ihren Parteien 
empfohlen. Außerdem lagen zum Erſatz für den zurüd- 
tretenden Reg.-Rat Speifer vor bie ftanbibaturen bet 
Liberalen (Dr. Rud. Miefcher, Vorfteher des Betreibungs- 
amtes), der fatbolifen (Advokat Dr. E. Zeigenwinter) und 
der Fortfchrittlichen Bürgerpartei (Polizeiinfp. 93. Müller, 
freifinnis). Es mahten Stimmen: Reg.-Rat. Wullichleger 
7161, Blocher 5849, Uemmer 4859, Gtüdlim 4723 und 
93urdbatbt 4706, ferner Dr. Miefcher 3736, Dr. Zeigen- 
winter 3302, Onfpeltor Müller 2431. Vereinzelt fielen 
703 Stimmen. 


342 


5. Prof. Dr. Aug. Schovetenfad hielt feine öffent: 
fiche Antrittsporlefung über den Rechtsſatz. 

8. Der beutid)e Raifer fährt auf ber Rückreiſe 
von Korfu, von Genua fommend, in feinem Hofzug obne 
Aufenthalt über Bafel. | 

9./10. Sm zweiten Wahlgang ber Regierung: 
ratswahle.n werden bei einer Beteiligung von 58% ber 
Stimmberecdhtigten gewählt bie noch nicht beftätigten Aus: 
fheidenden: QWWullfchleger mit 7234, Aemmer mit 6292, 
Blocher mit 6261, Stödlin mit 5741 unb Burckhardt mit 
5469, unb neu an Gtelle des zurüdtretenden Reg.-Rat 
Speifer Dr. Rud. Miefcher mit 4896 Stimmen. Die Re: 
gierung befteht fomit wie bisher aus je zwei Sreifinnigen, 
Liberalen und Sozialiften und einem Parteilofen (Mangold). 
Die freifinnige Partei batte ihre bisherigen Vertreter 
9femmer und Stödlin, bie katholifche Partei fämtliche Aus- 
fheidende und neu Dr. Feigenwinter, der 3929 Stimmen 
machte, bie fozialdemofratifehe Partei ihre bisherigen Ver: 
trauensmänner Blocher und Wullichleger vorgefchlagen; die 
forticbrittfide Bürgerpartei hatte bie Stimmen freigegeben 
nahdem ihr Kandidat, CDoligetinfpeftor Müller, zurüd: 
getreten war. — Mit diefer Wahl fcheidet Reg.-Rat Dr. 
Paul Speifer aus der aktiven Politik, nachdem er ber 
Regierung von Bafelftadt mit wenigen Unterbrechungen 
mehr als drei Zahrzehnte mit größter Auszeichnung ange- 
hört bat. 

10. Sn einem GuBballmatd des ZFootballclub 
gegen bie engliihen 93eruffpieler des Bradford Eity Club 
fiegen bie leßteren mit 4:2 Goals. — 9n dem benachbarten 
Haufen t. W. findet das Hebelmähli ftatt unter zahl: 
reicher Beteiligung von 23aslern. 

13. In Neu-Mfchwil, alfo auf bafellandfchaftlichem 
Boden, läßt fid) feit einigen Sagen W. Hagenbeds 
Tierfhau nieder, ein großes Unternehmen mit zahl: 


343 


teidjem eigenem Perfonal unb großem Parf, das fid) [eb- 
bafteften Zufpruches erfreut. 

14. Der neu gewählte Große Rat hält feine kon— 
fituierenbe Sitzung ab, eröffnet burd) Elias Weiß (93et- 
fingen) als Alterspräfidenten. Er wählte zu feinem Prä- 
fibenten G. 9[ngft (Soz.), zum Statthalter Dr. R. Nieder: 
baufer (Rath.) und beftellt die ftánbigen Ausſchüſſe (Bureau, 
Wahlprüfungs-, Rechnungs- unb CDetitionsfommijfton). 

15. Die philofophifche Fakultät der Ilniverfität Dat 
Reg.-Rat Dr. Paul Speifer am heutigen Sage, da er 
von feinen Öffentlichen Aemtern zurüdtritt, Durch eine De- 
putation bie Urkunde feiner Ernennung zum Ehrendoftor ber 
Philoſophie überreichen Laffen. — Der neue Profektor Prof. 
Dr. Eugen Ludwig bält feine Antrittsporlefung über 
„das morphologiſche Subftrat der Vererbung”. 

19. Der Große Rat hört in einer Nachmittagsfigung - 
eine Snterpellation betr. bie Hagenbedfchau (f. 3. 13. ds.) und 
deren Beantwortung an, validiert bie Wahlen des Großen 
Rates und des Regierungsrates, wählt zum Präfidenten 
der Regierung Dr. Mangold, zum Pizepräfidenten Dr. 
G. Chr. Burckhardt, wählt den Bankrat, bewilligt eine 
Reihe Nachtragstredite und nimmt die Anträge ber Otegie- 
rung betr. Rorreftionslinien der Greifengafle und betr. Sauf 
der Häufer Ochfengafle 1 unb 3 an. 

20. Die Regierung überträgt bie Leitung des durch 
den Rüdtritt Reg.-Rat Speijers erledigten Finanzdeparte- 
ments Reg.-Rat Wullfchleger, an deflen Stelle übernimmt 
das Departement des Innern Reg.-Rat. Blocher; das von 
dDiefem bisher geleitete Polizeidepartement wird bem neu 
gewählten Reg.-Rat Miefcher übertragen. Außerdem nimmt 
Reg. Rat Miefher Reg.- Rat Aemmer die Militärdiref: 
tion ab. In der Leitung ber übrigen Departemente tritt 
feine Uenderung ein. Es bleiben Reg.:Rat ?femmer am 
Sanitäts-, Oteg.Otat 93urdbarbt am Juſtiz-⸗,, Reg.Rat 


344 


Mangold am Erziehungs- unb Reg.-Rat Stödlin am Bau- 
Departement. | 

23. Das bafelftädtifche und das bafellandfchaftliche Ko— 
mitee für Wiedervereinigung beider Baſel 
halten unter bem Vorfig von Ing. R. Gelpfe ihre erfte ge- 
meinjame Sitzung zu Safran ab. Gie befichließen Die 
Gründung eines Verbandes zur Förderung und Verbreitung 
des Gedankens ber Wiedervereinigung. 

24. Als Pfarrer der St. Petersgemeinde zum Erſatz 
von Prof. P. Böhringer wird ohne Gegenfanbibaten ge- 
wählt Pfr. Son € pa, zurzeit in Filifur, freifinnig. 

25. Die Sntetpellation im Großen Rat am 19. d3. batte 
fi) darauf bezogen, daß dem bisherigen Vorfteher des 
Polizeidepartements, Reg.Rat Blocher, vorgeworfen wurde, 
er babe burd) fein Verhalten bie $5agenbedidau ge: 
zwungen, jenfeit3 der Kantonsgrenze ihre Selte aufzu- 
ftellen. Auf die Snterpellationsberatung im Großen Rat 
erwidert Hagenbed in ber Prefle, Reg.-Rat Blocher du- 
pliziert, und dag Ende iit eine Klage Hagenbeds und Wider: 
f(age Blochers. 

26. Der Weitere Bürgerrat enticheidet über bie 
Verteilung des für 1914 ber Bürgergemeinde zufallenden 
Anteil3 am Ertrag der br. Merian’fchen Stiftung an bie 
bürgerlichen Armenanftalten, bewilligt den Verkauf von 
10600 m? Gtiftungslanb beim Wolfgottesader an den 
Staat für Anlegung einer Tramremife, befchließt auf Grund 
des Berichts feiner Rommiffion im Sinne der Anträge des 
Engern Bürgerrats (j. zum 24. März) feine Einwilligung 
zu einem Neubau auf ber dem Stadthaus gegenüberliegenden 
Liegenfhaft an der Ctabtbausgafje und erledigt eine Reihe 
Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht. 

27. Die evangelifbh-reformierte Synode 
genehmigt ben Zahresbericht des Kirchenrats für 1913 und 
nimmt eine Gehaltsordnung für Sigriſte, Organiften unb 
Orgeldiener an. 


345 


On feinem 75. Altersjahre ftirbt Dr. Theophil Burck— 
barbt-Q3iebermann, gewejener Gpmnafiallebrer, viel ver- 
dient um. bie baterlánbi[d)e unb vaterftädtifche Gefchichte, 
namentlich als Renner des römifchen Altertums (Augſt) unb 
der Humaniftenzeit. Auch als Schriftfteller ift Theophil 
Burdhardt wiederholt mit Erfolg aufgetreten. In Fach— 
reifen geno er einen bochangefehenen Namen. 

28. Der Große Rat beftellt auf eine neue Amts- 
dauer den Erziehungsrat, nimmt das Geſetz betr. Zulafiung 
von Ausländerinnen als Studierende an, beichließt eine 
Landerwerbung in Kleinhüningen, genehmigt einige Aende— 
rungen am WÜrbeitslojfengefeß, gebt zur Tagesordnung über 
einen Anzug betr. Uenderung eines Artikels des Rantonal- 
banfgeleSe8 und erklärt zwei andere betr. Tramverkehr auf 
ber Sobanniterbrüde und betr. Aenderung der Sitzungszeit 
des Großen Rates erheblich. 

29. Sn ber Schlüffelzunft findet zu Ehren des von feiner 
politifchen Wirkſamkeit zurüdtretenden Prof. «D. Speifer 
ein Feſtmahl ftatt, wobei dem Genannten von feinen Ge- 
finnungsgenofien der Dank für feine erfolgreiche öffentliche 
Wirkſamkeit ausgefprochen wird. 

30./31. Sn Bafel tagt eine interparlamentariihe Kon - 
ferenz für eine beut[íd-franabDjifde Ver— 
ſtändigung. Sie ift befucht von zahlreichen franzöfifchen 
Senatoren und Deputierten einer- und Mitgliedern des 
deutfchen Neichstages anderfeits. In ber Deffentlichkeit 
macht fie fid) nicht bemerkbar, wie auch ihre Verhandlungen 
ent|pred)enb der diskreten Natur nicht Öffentlich waren. An 
einem Schußbanfett nahm Reg. Rat Blocher teil. Die 
Regierung batte bie Herren fchriftlich willlommen gebetpen. 

31. Witterung Im Monat Mai 1914 betrug das 
Mittel der Temperatur 11,7, das mittl. Temp. -Marimum 
159, das mitt. Temp. - Minimum 8,1° C., ber mittlere 
Barometerftand 738,5, bie Summe ber Niederfehlagmenge 
124 mm, die Summe der Sonnenfcheindauer 126 Stunden. 


346 


Seit mehr als 30 Zahren batte 93ajel nicht mehr einen [o 
falten, fonnen[deinatmen und regenreihen Monat Mai. 
God) iff dank dem günftigen April in der Vegetation unb in 
der Landwirtfchaft noch nichts verdorben. Zum Glüd brachte 
der Monat feine Srofttage, obwohl die Gefahr ee 
nabe zu liegen j&hien. 


Suni 1914. 


5. Zum 3ivilgerichtfchreiber an Stelle des in bie Re- 
sierung gewählten Dr. Rud. Miefher wurde gewählt 
Dr. Saf. Trott, zum Gubftituten Dr. Serm. Siegrift. 

9. Prof. Alt hält feine Antrittsporlefung über den 
firíprung der Meffiashoffnung. 

10. Der Große Rat fi6t des Sronleichnamfeftes 
wegen am Mittwoch ftatt am Donnerstag. Der Anzug betr. 
Bereinbarung mit Baſelland wegen Vereinigung der Ver: 
waltung wird überwiefen. Bei biejem Anlaß präzifiert Oteg.- 
Rat WUemmer den zumartenden, von Fall zu Fall fid 
richtenden  Ctanbpunft ber Regierung von Baſelſtadt. 
Weiter nimmt der Rat eine Uenderung des Geſetzes betr. 
das Loöſchweſen an, genehmigt Beriht und Rechnung ber 
Kantonalbank für 1913, erledigt bie Revifion der Geſetze 
betr. Gewerbejchule und Gewerbemufeum unter Verzicht auf 
eine zweite Lefung und befchließt Eintreten auf das Geſetz 
bett. das IIniverfitätsgut, bie Sammlungen und Anftalten ber 
Univerfität. 

Nah fchwerer Krankheit ftirbt, erft 42 Jahre alt, 
Dr. Hans Buſer, f. 3. Lehrer an der Untern Real- 
Ihule, dann Redakteur der „Basl. Nachr.“, feit 1909 Lehrer 
am Seminar in Kreuzlingen, ein vielverfprechender Hiftoriker. 

11. Die Regen; ber Iniverfität erteilt die venia 
legendi an ber medizinifhen Fakultät Dr. Sal. Schön: 
berg für allgemeine Pathologie und für patbologifche 
Anatomie und Dr. S. Louis Burckhardt für Hygiene 
unb 93afteriofogie. 


947 


13. Die Regierung beruft zum außerordentlichen Pro- 
fefjor an der theologischen Fakultät ber Univerfität Lic. theol. 
Gerd. Heinzelmann, derzeit Privatdozent in Göttingen. 

13.—15. Der Otánnerdor Goncorbia Bafel 
geftaltet die Feier feines 75jährigen Beſtehens aus zu einem 
Snternationalen Sängerwettftreit. Es be- 
teiligten fid) daran zahlreiche Vereine aus bem In- und Aus- 
land, fogar ein ungarifcher aus bem entlegenen 23ubapelt. 
Das Zeft, beffe Sauptafte fid) in Kleinbafel auf dem Areal 
des alten badifchen Bahnhofs abfpielten, nahm unter der 
Gunft der Witterung einen in allen Zeilen befriedigenden 
Berlauf. 

15. Die Staatsrehnung für 1913 jdlieBt bei 
20478937 Qr. (93ubgef 18337 037) Einnahmen und 
20 921 627 Fr. (21120743) Ausgaben mit einem Defizit 
von 442690 (2633 688) Zr. Doch find für PVerzinfung 
und Amortifation der Staatsichulden 510172 Zr. mehr 
ausgegeben als budgetiert. 

16. Die Frequenz der Univerfität im 
Sommerjemefter 1914 beträgt 940 Studierende (59 Damen), 
und zwar 85 Theologen, 78 Zuriften, 327 Mediziner, 229 
Philofophen I und 221 Philofophen II. Schweizer find 
665 (50), davon Bafelftädter 352 (31), und zwar Theo: 
[ogen 20, Zuriften 54, Mediziner 54 (5), Philofophen I 
224 (26), Philofophen II 105 (6). 

18. Der Große Rat befchließt zur Durchführung des 
Baues Ginger zwifhen Marktgaſſe und Stadthausgaſſe 
Verkauf feiner Liegenfhaft an biejer Stelle und Ankauf ber 
Liegenfhaft Fifchmarft 12 unter gleichzeitiger Aenderung 
ber Baulinien an Markt: und Stadthausgaſſe; er bewilligt 
die nötige Summe zum Landerwerb beim Wolf für Anlage 
eines weitern Straßenbahndepots und befchließt, fi mit 
250000 Qr. an einer zu gründenden „Schweizerifchen 
Rheinfchiffahrt-Aktiengefelfchaft in 93afel" zu beteiligen. 

Der Regierungsrat bat bie ergiebige Unterſtützung des 


348 


Stadttheaters aus Hffentlihen Mitteln davon abhängig ge- 
macht, daß von privater Seite entfprechende Subventionen 
geleiftet werden. Um dies zu ermöglichen, fonftitutert fid) 
nach längerer intenfiver Propaganda heute ein Theater: 
verein mit Oberftleutnant W. Dietfchy- Furſtenberger als 
Präſidenten. 

19. Der Genoſſenſchaftsrat des Allgem. 
Konſumverein beſtellt fein Bureau und beſchließt, in 
Zukunft bei dieſem Geſchäft das proportionale Wahl— 
verfahren anzuwenden. | 

20. Sm Alter von 33 Jahren [ftirbt Dr. Rud. 
Dietſchy, Chefarzt des fantonal folothurnifchen Sana— 
toriums Allerheiligenberg. 

21. Sn Lieftal findet die fonitituierenbe Verfammlung 
der Gefelfhaft zur Wiedervereinigung beider 
Baſel flatt. Vorträge hielten Dr. Aug. Heine. Wieland 
aus Bafel und Gemerbejefretár Sidubin aus Siffah. Ein 
Statutenentwurf wurde angenommen und zum Präfidenten 
des Verbandes Ing. R. Gelpfe gewählt. 

Der Basler Ruderflub hält auf dem Staufee bei Ausft 
eme Snternationale Ruderregatta ab, ver: 
bunden mit feinem 30. Gtiftungsfef. Die PVeranftaltung 
nahm bei großer Beteiligung der Ruderer und des Publi- 
hnn$ den beften Verlauf. 

Die Saubftummenanftalt in 9tieben be 
geht mit bejcheidener Feier bie Erinnerung an ihr 75jähriges 
23efteben. 

22. QGefunbatlebrer Walter Bader-Nitter ver- 
unglüdt tödlich burd) Sturz mit bem Fahrrad im Alter von 
60 Syabren. 

24. Die evangelifd-rteformierte Synode 
faßt eine Refolution zugunften der fogenannten Spielbant- 
Snitiative (Urt. 35 der Yundesverf.), ferner befchließt fie, 
das Gunbelbinger Quartier füblid) vom Bahnhof unb alter 
Surababníinie mit der St. Elifabethengemeinde zu ver- 


349 


einigen und biefer außer bem (Gt. Elifabethenpfarrer zwei 
neue Geiftliche zu geben. — Die Regierung beruft als 
ordentl. Profeflor der Kunſtgeſchichte den Privatdozenten 
Dr. Sriedr. Rintelen in Berlin. 

25. Der Große Rat bewilligt einen Kredit von 
126 000 Zr. für die öffentlichen franfenfaljen und berät 
in erfter Lefung 25 Paragraphen des Gefetes über das 
Univerfitätsaut. 

26. Die Gemeinnützige Gefellfhaft wählt 
zu ihrem neuen Vorſteher Dr. €. 5. W. Burdhardt, 
zum Schreiber Dr. Zelir Iſelin. — Die außerordentl. 
Hauptverfammlung der Allg Rranfenpflege ge- 
nebmigt bie Verträge mit den Werzten und Apothefern und 
bie bereinigten Statuten, bie den Forderungen des Yundes- 
amtes für Sogialverficherung ent[pred)en. Die Statuten 
treten mit dem 1. Zuli 1914 in Kraft; baburd) wird bie 
Krankenpflege des Yundesbeitrages für 1914 teilDaftig. 

27. Der Verband für Schiffahrt auf bem 
Dberrhein genehmigt in feiner Generalverfammlung 
Beriht und Rechnung für 1913 und wählt in ben Vorftand 
Prof. Gejare Bolla in Bellinzona unb Ing. Bitterli in 
Rheinfelden. An die Verhandlungen fchloß fid) als zweiter 
At eine Dampferfahrt nad) Rheinweiler. 

27. Suni bis 5. Juli. Das VI. Shüßenfef 
beider Bafel wird in Siffach abgehalten. Bei ber 
Sahnenübergabe am 28. fprachen für Baſelſtadt Dr. €. 
Stödlin, für 93afellanb Gewerbeſekretär Tſchudin; febteter 
mit ausdrüdlicher Befürwortung des Wiedervereinigungs- 
gebanfeng. Der gleichen dee dient das wiederholt mit 
größtem Beifall aufgeführte Zeftfpiel von E. A. 93ernoulli 
in Arlesheim: „Die Umkehr der Stäbe”. Gleichzeitig feiert 
der Genannte Sriumpbe an ber Landesausftellung in Bern 
mit feinem Feſtſpiel „Die Bundesburg“. 
|. 209.ffg. Die Woche ber religidfen Jahres— 
fefte geht in üblicher Weife vor fid. 


350 


Witterung Das Mittel der Temperatur im 
Monat Suni 1914 betrug 15,3, das mittl. Temp.- Minimum 
11,0, das mitt. Temp.-Marimum 20,0° C., dag Mittel des 
Luftoruds 737,2, die Summe der Niederſchlagmenge 
110 mm, die Summe der. Sonnenfcheindauer 207 Stunden. 
Diefe Zahlen entiprechen ziemlich genau den Normalwerten. 
Es fommt dies zum großen Seil daher, daß ber Monat 
zwifchen ben Grtremen bin und ber jchwanfte. WUußer: 
gewöhnlich groß war die Getittertátigfeit. 


Suli 1914, 


3. Der Vorftand des Verbandes zur Wiedervereinigung 
beider 93afel wählt zum Präfidenten Ing. Rud. Gelpke. 
— Die venia legendi für das Lektorat ber franzöfifchen 
Sprabe an ber LUniverfität wird erteilt an Hubert 
Matthey von Vallorbe. 

4.ffg. Das Quodlibet führt am Heimatfchuß:- 
theater in Bern unter großem Beifall bafeldeutfche Schwänte 
von Dominit Müller auf, nachdem [don zu Anfang des 
Monats Zung-Bafel mit wiederholter Aufführung des 
Schaufpiels „Laupen” von Caefar von Arr bie Berner ent: 
zückt bat und während das gleichfalls aus einer baslerijcben 
Geber (CE. U. DBernoulli) entftammende Zeftipiel „Die 
Bundesburg“ zu immer neuer Freude zahllojer Zufchauer 
über die Bretter gebt. | 

5. Der Relegationsmatch Ser. A. der Schweiz. GuBball- 
vereinigung in 93ern gebt mit 7:0 zugunften von Old 
Boys Bafel gegen Fußballklub Viel aus. — In Baſel 
finden bie zentralfchweizerifihen Vorbereitungs- 
fámpfe für das große fchweizerifhe Leichtathletik— 
Sportfeft am 19. ds. in Bern ftatt. 

7. Der Weitere Bürgerrat behandelt eine Reihe 
Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht. 

9 Der Große Rat erledigt in erfter Lejung das 
Gefe& über das Iniverfitätsgut, geht über einen Anzug betr. 


351 


Verlegung des Bauplages des Kunftmufeums hinter ben 
Schützenmattpark, b. b. auf bie Feſtwieſe, zur Tagesordnung, 
weift das revidierte Hochbautengefe an eine Rommilfion, 
beginnt die zweite Cejung des Gefebes betr. Organifation 
des Zrauenfpitals unb nimmt eine 9[fenberung am Ein- 
führungsgefe für Kranken: und Unfallverficherung an. 

Die Rommiffion für populäre Vorträge ver: 
anftaltet zur Feier des 5Ojährigen Beſtehens diefer Gin- 
rihtung ein Feſtmahl auf ber Otebleutengunft; es werden 
dazu fämtliche noch lebenden von ben 368 Vortragenden ein- 
geladen, bie fid) in den Dienft ber Rommiffion geftellt haben. 
Es fanden fid) zu bem Feftchen über 70 Teilnehmer ein. 

11. 12. Das 10. bafelftädtifhe ftantonal- 
turnfeft wird auf dem Platz des ehemaligen badifchen 
Bahnhofs abgehalten. Zeftgebende Sektion war ber Turn- 
verein Horburg, Feftpräfident Reg.-Rat Wullfchleger. Das 
Seit erfreute fid) großer 93eteiligung der Turner aus bem 
Kanton und der Umgebung und verlief ohne Unfall bei 
prächtiger Sommerwitterung. 

14. ffg. Die erfte Ferienwoche wird benüßt zur Ab: 
haltung ber üblien Quartier-Zugendfefte 

14. Sm Alter von 52 Sabren ftitbt Grau €. Zell— 
weger-Steiger, Präfidentin des Verbandes ber fchwei- 
zerifchen Vereine zur Hebung der Cittlidfeit. — Die fran- 
zöſiſche Kolonie hält ihr Nationalfeft in üblicher 
Weife im Sommerfafino ab bei febr günjtiger Witterung. 

15. Der Regierungsrat ernennt zum außerordentlichen 
Drofeflor für deutfhe Rechtsgefchichte und deutſches Privat- 
reht an der Univerfität Dr. Edard Meifter, Privat- 
Dozenten in Leipzig. 

19. Ein vom Wafferfahrverein Horburg veranftaltetes 
interfantonales DWettfahbren auf dem 
Rhein verläuft bei prachtvoller Witterung und zahlreicher 
Beteiligung äußerft gelungen und ohne jeden Unfall. — Im 
Alter von 61 Zahren ftitbt ber Sournalift S. D. Hager, 


352 


eine in Pereinen und Gefellicaften Bafels, fomie in 
Künftlerkreifen durch bie fleißige Ausübung feines Berufes 
befannte Perfönlichkeit. 

27. Der Privatdozent Johannes Strour in Straß: 
burg nimmt einen Ruf als ordentlicher Profeflor für alte 
Philologie in Baſel an. | 

29. Zum Gubftituten des Grundbuchverwalters wählt 
bie Regierung Dr. Gb. Wenk von Bafel. 

31. Witterung Das Mittel der Temperatur im 
Monat Zuli betrug 17,4, das mittl. Temp.-Marimum 22,0, 
das mitt. Temp. -Minimum 13,4? C., das Mittel des Luft- 
druds 736,2, die Summe der Niederfchlagmenge 111 mm, 
die Summe der GConnen[deinbauer 194 Stunden. Der 
Monat weift ein Manko an Wärme, einen Ueberſchuß an 
Niederfchlägen und bei weitem nicht bie normale Sonnen: 
jheindauer (228 Stunden im 25jährigen Mittel) auf. Er 
bat alfo, wie der Zuli 1913, feiner Pflicht als Hochfommer- 
monat nicht genügt. 

Der Ausbrubh der Feindfeligteiten zwi— 
hen Defterreih und Serbien am 28. Juli zieht 
aud) bei uns feine Folgen nad) fid). Die Börſe wird für 
einige Tage gefchloffen. Der Allg. Ronjumverein erklärt, 
Migros-Beftelungen auf Lebensmittel vorläufig nicht mehr 
ausführen zu fónnen. Die Lebensmittelgefchäfte follen zum 
Seil durch die Anfchaffungen der Haushaltungen aus: 
verkauft fein. Einzelne Sparbanten haben Runs ihrer Ein- 
leger. fandzuhalten — all dies, ebe noch irgend ein ernft- 
baftes Anzeichen vorlag, daß unfer Land bei ben Wirren 
irgend in Mitleidenschaft fónnte gezogen werden. In den 
folgenden Sagen wuchs die Aufregung zur fopffofen Angft 
an. Schon am 30. Zuli richtete bie Regierung eine 93efannt- 
machung an die Bevölkerung. Darin warnte fie vor über- 
triebener Aengftlichkeit und mahnte insbefondere vor preis- 
Heigernden großen Lebensmitteleinfäufen und vor Bezügen 
von Bargeld aus den Banken, wodurch dem Handel und Ver- 


353 23 


febr das Nötige entzogen werde. Als am 31. das Aufgebot 
des Landfturms zur Grenzbeobachtung und die Pilett- 
ftellung der ganzen 9[rmee durch den Bundesrat verfügt 
wurde, trug dies zur Beruhigung nicht bei. Die Banken 
mußten Polizei zu Hilfe holen, um bie Menge ihrer Runden, 
bie weit in bie Straßen hinein den Verkehr bemmte, einiger: 
maBen in Ordnung zu halten. Diele Lebensmittelgefchäfte, 
auch von den größten am Plab, mußten zeitweilig fchließen, 
weil ihre Vorräte in den Läden erfchöpft waren. Auch vom 
Allg. Ronfumverein geſchah dies in einzelnen Verkaufs— 
Lofalen troß der erwähnten Maßregel, wenn aud) die Zentral- 
lager hinreichend verfehen waren. Sn allen Perbältnifien 
wurde ein empfindlicher Mangel an Hartgeld füblbar. Don 
Bern wurden die längft für [olde Fälle bereit liegenden 
20 Fr.Noten ausgegeben. 

An ber Grenze gab es freilich nod) andere Be— 
weife des Krieaszuftandes als bloß bie Aufregung des Ein- 
zelnen. Der badifche Bahnhof wurde am 31. gefperrt. Die 
Grenzfperre wurde an allen Slebergängen ins deutfche Gebiet, 
namentlih links vom Rhein, fireng durchgeführt. Der 
Sram nad) St. Ludwig und nad Hüningen verkehrte nur 
noch bis zum Lisbüchel. Auf allen Straßen bis in die ab- 
gelegenften Cunbgduerbürfd)en hinderten ftarfe Barrikaden 
ben Verkehr zwifchen ben Nachbarftaaten. Alle 93rüden 
waren militärifch bewacht. An ben erften Sagen wurde das 
Verbot der Lebensmittelausfuhr aus dem Reich peinlich 
durchgeführt. Bald wurde jedoch bie Gemüfeverforgung aus 
Neudorf, mit bem 1. September bann aud) die Einfuhr aus 
dem Badiſchen wieder geftattet. Das OXatrfgrafenfanb bot, 
foviel man erfahren fonnte, den gewöhnlichen friedlichen An- 
blid. Dagegen wimmelte es in den elſäſſiſchen Grenzorten 
von deutſchem Militär, Zußfoldaten und Reitern, in ben 
neuen grauen Felduniformen. 

On der Stadt wurden die abenteuerlichiten Gerüchte 
berumgeboten und bereitwillig geglaubt. 


354 


Auguft 1914. 


1. Die Bundesfeier nimmt, wo fie überhaupt 
n0d) begangen wurde, einen ernften Gbarafter an. Man 
vernahm feinen Feuerwerklärm. Nur das feierliche Gloden- 
geláute erinnerte an den vaterländifchen Feſttag. 

12. Die Regierung befchließt, von der Abhaltung der 
auf dieſes Sabr fallenden ftaatlihen St. Safobs:- 
Shlahtfeier Umgang zu nehmen. 

15. Zn ber Regierungsratsfigung wir 
ben Departementen bie Weifung erteilt, die budgetierten Aus- 
gaben zu bezeichnen, bie für das Gabr 1914 unterbleiben 
fónnen, unb in das Budget des Zahres 1915 nur bie un- 
vermeidlichen Ausgaben aufzunehmen. 

17. Der Recdtsftreit zwiſchen Reg.-Rat Dr. 9. 
Blocher unb W. $agenbed (f. zum 25. Mai 1914) 
wird durch einen Vergleich erledigt. 

18. Der Genoffenfhaftsrat des Allgem. 
Ronfumvereins läßt fid) durch feine Verwaltung be- 
richten über bie durch den Krieg notwendig gewordenen 
Aenderungen im Betrieb. Ein Beſchluß erfolgt aber erft 
in der Sigung vom 21. in dem Sinne, daß der Verwaltung 
ein Kredit bewilligt wird von 70 000 Zr. für eine teilmeije 
€obnaablung der unter die Fahnen gerufenen Angeftellten 
und Arbeiter, vorläufig auf drei Monate. 

22. Der Regierungsrat befördet den interimiftifchen 
Kommandanten des Landfturmbataillons 51, Hauptmann 
G. Röhlin, zum Major. — Der PVerband Schweiz. 
Konfumvereine, ber Allg. KRonfumverein Baſel und die 
Bel A. G. tun fid) zufammen zur Gründung einer Volks- 
fü de, bie zum Preife von 25 Ets. eine genügende, nahr- 
bafte Mahlzeit liefern mill. Ein etwaiger Ueberſchuß foll 
der Regierung eingebünbigt werden. — Die von ber Regie- 
tung eingefegte itaattide Hilfstommiffion (Präf. 
Pfr. G. Benz) tritt mit einem Aufruf zur Spendung von — 


355 28” 


Gaben an bie Deffentlichkeit. Ihr Auftrag ift, aller burd) 
den Krieg bervorgerufenen Not im weiteften Sinne nad) 
Möglichkeit abaubelfen. 

On ber mit bem 22. Auguft zu Ende gehenden Woche 
bat ber Schulbetrieb wieder eingefegt mit mannig- 
faden burd) die Verhältniſſe gebotenen Hemmungen und 
Gin[dránfungen. Diele Lehrer tun Militärdienft, viele 
Schulhäufer find mit Truppen belegt oder als Cagatette 
u. drgl. hergerichtet. So nimmt vielfach der Unterricht den 
Charakter eines Kinderhortes an, wird zum Seil im Greien 
gehalten und fommt wohl oft mehr den Eltern als den 
Kindern zugut. 

22. Das Polizeidepartement tritt mit einer War- 
nung bervor, in der namentlich bie Ausländer gemahnt 
werden, fid) überflüffigen und aufreigenben Redens zu ent- 
balten. 

25. Sm Alter von 52 Zahren ftirbt Red. Sob. Frei- 
Grether von ber „Nationalzeitung”. Er gehörte längere 
Sabre dem Großen Rat und der Synode an und war im 
Vereinsweſen Bajels tätig. 

26. Das St. Safobsfeft geht fozufagen unbeachtet 
vorüber (f. zum 12. b. M.). Zwei Kränze werden mit be- 
fcheidener Feier am Denkmal niedergelegt, ber eine von einer 
Abteilung des Landwehrbataillong 144, der andere vom 
Bataillon 53. Die Abendgottesdienfte der evangelifch- 
reformierten Kirche waren ftarf bejudbt. Das für bie ftaat- 
lide Hilfstommilfion erhobene Opfer warf 2350 Gr. ab. 
Am Abend fanden fid) bie dienftfreien Truppen der Grenz- 
befegung in ber Burgvogtei zufammen. 

31. Witterung Das Mittel der Temperatur im 
Auguft 1914 betrug 17,8, das mitt. Semp.-OXtarimum 23,0, 
das mittl. Temp. - Minimum 13,50 C., das Mittel des Luft: 
druds 7390, bie Summe ber Niederfchlagmenge 141 mm, 
die Summe der Sonnenfcheindauer 219 Stunden. Der 
Monat verhielt fid) im ganzen normal mit Neigung zu 


356 


ichöner Witterung. Bloß bie Menge des Niederfchlags 
erreichte 168% des Normalwerts, wie denn der Monat an 
Gewittern außerordentlich reich war. 

Schon bie obigen nad) ben Tagen geordneten Aufzeich- 
nungen bemeijen, wie ausjchließlich Baſel während diefes 
ganzen Monats Auguft vom europäifhen Rriege 
beberr[dt wurde. Es muß als befannt vorausgejegt werden, 
daß bis Ende des Monats der größte Teil unferes Erdteils 
in zwei Lager ge[palten war, auf der einen Seite Defterreich- 
Ungarn und Deutfchland, auf der andern Rußland, Grant- 
reich, England, Belgien, Serbien, Montenegro, endlich auch 
Sapan. Baſel unb die Schweiz interefliert vor allem das 
Verhältnis Deutfchland-Franfreih. Während bie Saupt- 
fhläge in 33elgien und im Norden Frankreichs fielen, hatten 
wir einen fefunbdten Kriegsichauplag in unferer Nähe im 
Oberelfaß. So viel zur allgemeinen Orientierung. 

Am Samstag, 1. Auguft, vormittag, erfolgte der 23e- 
Ihluß des Bundesrats über bie Mobilifation ber 
sanzenfhweizerifhen Armee auf den 3. unb 4. 
Am 1. ?fuguft Schon hatten bie Landfturmbataillone bet 
Grenzbezirke einzurüden, u. a. Bataillon 51 Baſelſtadt unter 
bem interimiftifchen Kommando von Hauptmann E. Köchlin. 
Am Nachmittag 2 Uhr verfammelte es fid auf ber 
Margarethenwiefe und wurde organifiert. Hernach legte es 
ben Fahneneid ab und bezog bann bie Wache an Bahn— 
höfen und Brüden und an der Grenze von St. Chrifcehona 
bis Allſchwil. Auf der Schligenmatte, dem Schellenmättli 
unb der Luftmatte wurden zum Teil erit am 2. und 3. bie 
Pferdemufterungen vorgenommen. 

Durh die Stadt bewegte fid) ein ununterbrochener 
Strom von aus ber innert Schweiz heimmwärtsftrebenden 
Sommerfrifhlern aller Nationen Da bie 
Bahnftrede Bafel-St. Ludwig, YBafel-Leopoldshöhe, 93afel- 
Lörrach, Bafel-Grenzah und umgekehrt nicht mehr betrieben 
wurden, fo berrfchte, namentlich zwifchen dem Bundes⸗ 


357 


bahnhof unb St. Ludwig (über bie Rinoftraße auf zum Teil 
febr abenteuerlichen Zuhrwerfen ein äußerft lebhafter Zer- 
febr. Eine fcharfe Kontrolle der deutfchen Behörden wurde 
über die Einwanderung an der deutfchen Grenze geübt. Es 
fam deshalb vielfad) zu Stauungen. Die Gafthöfe in der 
Stadt, namentlich bie in der Nähe des Bahnhofes, waren 
mit Reifenden fo überfüllt, daß Hunderte in den Warte- 
fälen und auf ben Perrons des Bahnhofs übernadbteten. 
Mit biefem Zuge ber heimftrebenden Ausländer freuaten fid) 
aus bem Auslande agurüdfebrenbe Schweizer Webhrpflichtige. 
Aber bie große Einwanderung in die Schweiz beftand in diefen 
erften Rriegstagen in Zehntaufenden von aus Deutfchland 
beimfebrenben oder aus Frankreich über bie Elfäfler Grenze 
gefhobenen Italienern, die den Heimweg über den 
Gotthard fuhten. Die armen Leute benützten die gleiche 
Straße, wie jene aus der Schweiz nad Haufe flüchtenden 
Erholungsbedürftigen. Die auf dem Bahnhof für burd- 
wandernde Staliener bereit geftellten Räume genügten dem 
Andrang von ferne nicht. Es wurden auf dem Zußball- 
fpielplag an der Margarethenftraße und fonft in der Nähe 
unter freiem Himmel Maflenlager eingerichtet. In den fol- 
genden Tagen bot diefer unvermutete Zuzug ernfte Verlegen: 
beit. Da das italienifche Ronfulat der Menge hilflos gegen- 
überftand, fo mußten öffentliche und private Wohltätigfeits- 
unternebmungen in ben OB treten, um wenigftens die 
allernotwendigften Lebensbedürfniffe zu befchaffen. Es war 
dafür geforgt, bap Baſel feine alte Aufgabe, ein Hort ber 
Notleidenden zu fein, nicht vergaß. Das Militär mußte 
herangezogen werden zur Bewachung der nicht immer be- 
quemen GBäfte. Die Menge fämtlicher durchreifender 
Staliener, Männer, Weiber und Kinder, wurde auf weit 
über 40 000 geſchätzt. Man fab fid) genötigt, zeitweiſe die 
Grenze bei St. Ludwig für diefe Zuwanderung zu fchließen. 
So bildete fid) dort auf deutfchem Boden aud) ein Lager 
von Taufenden, ein Gegenftüd zu dem auf ber OXatgaretben- 


358 


wiefe. Erft nachdem jámtíid)e in Baſel lagernden, jomie 
2—3000 bisher in 93afel Aufenthalt babenbe Italiener nad) 
Chiaſſo abgefchoben waren, wurden aud) bieje bereingelalfen 
unb wie ihre Vorgänger in Gonbergügen an bie Grenze 
ihres Heimatlandes befördert. Sm Gegenfa zu 1870/71 
famen mit Ausnahme diefer Italiener in der erften Zeit des 
Krieges feine Flüchtlinge in größeren Mengen nad) 23ajel. 
Die dichte Ubfperrung der Grenze ließ es nicht zu. Conit 
würden bie Ereigniffe im Sundgau wohl dazu Anlaß ge: 
boten haben. 

On den Verkehr bradte die ftrenge Abfchließung der 
deutfchen Grenze nad) allen Richtungen viele Störungen. 
Die Schnellzgüge in Deutfchland wie in Granfreid) liefen der 
Mobilifation wegen nicht mehr. Dazu fam die Unter: 
bredjung des internationalen und die Beſchränkung des 
binnenländifhen Zelegraphen: und Telephonverkehrs, bald 
aud) der bie Reifemöglichkeiten auf ein lächerliches Mindeft- 
maß zurüdichraubende Kriegsfahrplan. Erft gegen Ende des 
Monats wurden die regelmäßigen Fahrten der YBundes- 
bahnen wenigftens in befchränftem Umfange wieder auf: 
genommen. Dergeftalt befamen wir, obwohl nicht unmittel- 
bar in den Krieg verwidelt, bod) viele feiner Unannehmlich- 
feiten [don in biefen etffen Sagen reichlich zu fchmeden. 

Der 3. Auguft fand unter bem Zeichen ber Mobili- 
fation Des Auszugs unb ber Landwehr von 
Bafelftadt, von der Infanterie des Auszugsregiments 22 
(Oberftlt. Senn) mit Bataillon 54 (Major Senn) und Ya: 
faillon 97 (Major Alioth) und des Landwehrbataillons 144 
(Major Lichtenhahn), fowie fämtlicher Spezialwaffen. Die 
Snfanterie rüdte mehr als Friegsftarf ein, fo daß bald drei 
KRompagnien Auszug als Depotmannfhaft ausgefchieden 
und in bie innere Schweiz geführt werden konnten. Die 
Leute tüdten um 2 Uhr nachmittags ein und brachten bie 
folgenden. Wochen in unferer Stadt und deren unmittelbarer: 
Nähe zu. Bataillon 144 wurde am 4. September entlaffen, 


359 


nachdem [don Ende Auguft Auszugregiment 22 in unferer 
Stadt durch andere Truppen abgelöft und in neue Rantonne- 
mente gelegt worden war. Genaues kann hierüber nicht mit- 
geteilt werden, ba die militärifchen Inſtanzen über bie 
Standorte der Truppen fchwiegen und auch bie Prefie durch 
eine militärifehe Senfur in Saum gehalten wurde. Immer: 
‚hin, fo viel iff fein Geheimnis, daß in Baſel und in beffen 
nächſter Umgebung febr ftarfe Truppenmaflen aller Waffen 
lagen. Gegen Ende des Monats wurden den Gtädtern 
wiederholt größere Rolonnen Infanterie, Kavallerie, Ar- 
tillerie und Parf vorgeführt, was immer eine Menge Volk 
auf die Straßen lodte und manchmal zu abfonderlichen 
Huldigungen führte. So pflegten bie Marktfrauen unfere 
PBaterlandsverteidiger jeweilen mit Obftfpenden zu bewerfen. 
Während all diefer Zeit bewegte fi in unfern Straßen 
bedeutend mehr Militär als in gewöhnlichen Tagen und 
gab der Stadt ein befonderes Ausſehen. 

Die Stimmung ber Bevdlferung, bie Phy- 
fiognomie der Straße, bie [d)mirrenben Gerüchte gehören aud) 
zum Bilde diefer Wochen. Aber fie Laffen fid) nur fchwer er- 
faflen, vor allem nicht auf ein beftimmtes Datum feftlegen. Es 
mag erwähnt werden, bap am 4. Auguft bie Beeidigung 
ber bafelftädtifchen Infanterie des Auszugs unb der Land- 
wehr bei ftrömendem Regen erfolgte. Die Mobilifation bat 
Rd) auch bei uns ruhig und ohne Reibung vollzogen. Neben 
der Regierung übernahm ein Plaglommando mit Oberft 
Büel an der Cpi&e bie militärifehe Leitung der Stadt. 
Es richtete fid mit feinen 93uteaur im Schulhaus der Ge- 
werbefchule am Petersgraben ein. Ueber die Truppen: 
bewegungen und die Standorte der Einheiten erfuhr man 
nidts. Mancher hätte unferer Bevölkerung nicht fo viel 
Surüdbaltung zugetraut. Die Schweigfamkeit machte einen 
- febr guten Eindrud. 

Die Bevölkerung war während ber fchwülen eriten 
Kriegstage wie begreiflich jebr aufgeregt. Die Ab— 


360 


fperrung ber Landesgrenze vermehrte bie Aengſtlichkeit. Es 
war unmöglich, von jenfeits irgend eine annähernd verbürgte 
Nachricht zu erhalten. Dies beförderte bie Gntitebung der 
wildeften Gerüchte. Allgemein war bie Befürchtung, daß 
Granfreid) von Belfort ber einen Vorftoß verfuhen und daß 
Deutichland mit einem Gegenftoß antworten werde. Glaub: 
haft wurde verfichert, wie fid) fpäter auch betätigte, baB in 
ber elfäffifchen Nachbarfchaft einzeln ftehende Geböfte und 
ODappelteiben am Rhein und am Kanal, bie das Schußfeld 
von Sftein ber ftórten, zerftört und umgebauen worden waren, 
[oie daß ber Viaduft bei Dammerficch gelprengt war. Die 
Räumung ganzer, mit Namen genannter Dörfer, ſowie bie 
meiften der mit allen Einzelheiten gefchilderten ſtandrecht⸗ 
[iden Erſchießungen dagegen erwiefen fid) in der Folge als 
Slebertreibungen. Diele behaupteten, im Wiefen- und 
im Randertal lägen ganze Armeekorps, darunter ein öfter- 
reihifches. Dagegen iit wahr, bap unmittelbar nad) Aus- 
brud) des Kriegs ein ganzes Neft Franzöfiicher Spione von 
der Polizei ausgenommen wurde, und daß ein feit Sabr- 
zehnten in Yafel niedergelaflener Deutjcher wegen Spionage 
im Dienfte Deutfchlands ausgewiefen werden mußte. 

Die militärifhben Maßnahmen in der 
Stadt wurden zum Seil fchon erwähnt. Es jei weiter ge- 
meldet, baB außer den Bahnhöfen auch Brüden und 
Straßenfreuzungen VBewahung erhielten. Die Opitäler 
wurden zu Lazaretten eingerichtet und mit der Fahne des 
Roten Kreuzes bezeichnet. Die Schulhäufer wurden bereit- 
geftellt zur Aufnahme von Soldaten. Private wurden auf: 
gefordert, fid) für Einquartierung zu rüften. Die Minen- 
fammern ber Yrüden wurden geladen, bie 93rüdenfópfe mit 
93arrifaben zur Perteidigung eingerihtet. Auf ber 
Straße berrfchte der Fußgängerverfehr vor. Viele Pferde 
und die meiften Automobile waren ausgeboben. Dagegen 
verihwand nad den eriten Mobilmachhungstagen das 
Militär fait vollftändig. Unter den Ziviliften trugen mande 


361 


bie rote Armbinde. Es waren Hilfskräfte für bie Militär: 
verwaltung. Der ftädtifche Tram führt nur noch reduzierten 
Betrieb aus, weil ein großer Seil des Perfonals in den 
Dienft berufen if. Daß ber Bahnverfehr nad) dem Aus: 
land unterbrochen, im Inland außerordentlich eingejd)rántt 
iit, wurde jchon erwähnt. Auf ber Landftraße nad) Lörrach 
bewegt fid ein ununterbrodenerer 3ug von deutlichen 
Stellungspflichtigen. Ihnen fommen Schweizer aus bem 
Ausland entgegen, bie bem Ruf unter die Sahne folgen. 
Sn der Stadt bemerkt man zahlreiche Engländer, bie aus bet 
Sommerfrifche heimfehren möchten und denen es dazu an 
OReifegelegenbeit fehlt. Diele von ihnen find darum übel 
daran, weil fie zwar Geld befiSen, aber bloß ausländifches. 
Solhes wird gegenwärtig im täglichen Verkehr aud) zu 
hoben Rurfen faum angenommen. 

Die Behörden, Regierung wie Platzkommando, 
erlafien 93efanntmad)ungen aller Art, betr. Unterſtützung 
von notleidenden Familien Wehrpflichtiger, betr. Erhebung 
von Nahrungsmittelbeftänden, betr. Hilfe für bie Landwirt: 
Schaft burd) in der Stadt brad) liegende Kräfte, ebenfo die 
Ronfulate ausmürtiger Staaten für ihre bedürftigen An— 
gehörigen. Mannisfache private Unternehmungen und Ge: 
felffd)aften treten ihnen belfend zur (eite. Das Rote 
Kreuz trat am 7. Auguft mit einem Aufruf zur Spendung 
von Gaben in bar oder in natura in die Linie. 

On ben Tagen vom 6. bis zum 10. Auguft 
laftete auf der Stadt ein ſchwüler Drud.  Senfeit8 der 
Grenze gingen Dinge vor, bte um fo ſchwerer auf bie Stim- 
mung DBafels wirkten, al8 man Genaues darüber nicht 
wußte. Am Abend des 7. Auguft erfchien eine Bekannt— 
madung des Platfommandos. Sie fprad) von der Mög: 
lichkeit, „Daß nod) heute ober in ben nächſten Tagen in 
unferer Nähe Zufammenftöße zwifchen deutfchen und fran- 
aófiíden Truppen ftattfinben" füónnten und mahnte bie 23e- 
völferung zur Ruhe. Auf den Ernft ber Lage wies ferner 


362 


bie farfe Anfammlung fchweizerifcher Truppen in und um 
Baſel bin. Bei ber ftrengen Zurüdhaltung, die darüber 
beobachtet wurde, läßt fid Genaues nicht melden. So viel 
fteht feit, baB rings um Baſel, namentlich auf bem 93ruber- 
bolz unb auf ber Anhöhe weftfid vom Birfigtal ftarfe 
Artillerieftellungen bezogen unb mif entjprechendem infante- 
riftifchem Schuß verfehen wurden. Auch fab man die Stäbe 
häufig die Stellungen befuchen. 

Zu biefer Seit hatten nach unbebeutenben Gefechten an 
ber deutich-franzöfifchen Grenze weftlih von Altkirch bie 
Deutfhen das oberfte Elſaß geräumt und waren über den 
Rhein zurüdgegangen, eine arößere franzöfifche Macht von 
Belfort bis zur Höhe von Volkensberg hinter fid) her atebenb. 
Durch den Rhein getrennt, fanden einander bie Feinde 
gegenüber. Die Cade fab für 93afel in der Tat gefährlich 
aus. Daß bie Gefahr nicht bloB auf Ginbilbung berubte, 
das bewies der gelegentlich bis zu ung dringende Ranonen- 
donner und das nächtliche Spiel ber Scheinwerfer von den 
badifhen Höhen. Gegen das Ende der Woche — ber 
Samstag fiel auf ben 8. Auguft — fdienen bie Grangofen 
fi mehr nad) Norden zu ziehen. Am Sonntag fam bie 
Nachricht, fie feien, ohne auf Widerftand zu ftopen, in 
Mülhaufen eingerüdt und hätten als nádftes Siel 
Colmar gewählt. Auf der ganzen Linie waren bie Deutfchen 
zurüdgegangen. Auch ihre Poften an der Schweizer Grenze 
hatten fie eingezogen. In der Naht vom 9. auf den 10. 
wurden aber in heftigen Rämpfen, deren Lärm deutlich nad) 
Baſel hinein dröhnte, bie Franzoſen wieder zurüdgewiefen. 
Die unmittelbare Gefahr war befhworen. Man atmete in 
Baſel erleihtert auf. Die Berichte fprachen von außer: 
ordentlih blutigen Kämpfen und vielen Toten. Für bie 
Lazarette in 93abenmeiler wurde ärztliche Hilfe in Baſel 
erbeten und gewährt. Acht Tage fpäter wiederholte fid) nod) 
einmal das gleiche Spiel. Wieder zogen die Franzofen in 
Mülhaufen ein und wurden wieder hinausgewiefen, dies: 


363 


mal unter befonders mörderifchen Kämpfen, bei denen u. a. 
der Vorort Yurzweiler [der mitgenommen wurde. 

Gür den Krieg felber hatten bieje fümpfe im Oberelfaß 
wenig Vedeutung. Die Entfcheidung fällt im Norden, an 
der belgifchen Grenze. Auch (deinen Ende des Monats 
franzöfifche Truppen diefes füdlichen Krieasfchauplages nad) 
Lothringen gezogen worden zu fein. 

AN dies wurde in Baſel mit einer verbaltenen 
Bangigkeit vernommen. Man börte feine lauten Aus: 
brüche ber Angſt und feine Klagen. Über es unterblieben 
aud) alle 93eluftigungen, wenn man nicht bie 93ejudje der 
Soldatenfrauen, Rinder und Mütter bei ihren Wache 
haltenden Gatten, Vätern und Söhnen als jofde rechnen 
mill. Der Ernft gewann die Oberhand. Über es ift ibm nicht 
gelungen, der allgemeinen Aufregung Herr zu werden. Als 
am Montag, 10. Auguft, unter den Augen einiger hoben 
Offiziere eine Probe mit ber Wbfperrung ber mittleren 
Rheinbrüde vorgenommen wurde, was nicht eine Piertel- 
ftunde erforderte, fo entitanb daraus fofort das Gerücht, 
Kleinbaſel müſſe geräumt werden. Handel und 
Wandel liegen batnieber. Alle Internehmungsluft wird 
duch bie $f[nfid)erbeit ber gegenwärtigen Verhältniſſe und 
bie trübe Zukunft erftidt. Der Mangel an barem Geld geht 
nur langfam zurüd. In den Kirchen werden regelmäßige 
abendlihe Andahtftunden abgehalten und zahl- 
reich befucht. 


September 1914. 


1. Dur) Verfügung des deutfchen Reichsfanzlers wird 
die Einfuhr von frifhem Obft und Gemüfe 
aus bem OXarfgrafenfanb bis auf weiteres wieder geftattet. 
Mit Ausnahme der erften Tage der Grenzfperre war diefer 
Verkehr aus dem Elfaß nie formell unterbrochen, wohl aber 
zeitweife tatfächlih unmöglich gemefen, weil Pferde und 
Fuhrwerke requiriert waren u. dgl. 


364 


5. Die Regierung befördert zum Hauptmann ben 
Snfanterie-Oberleutnant Samuel Burckhardt. 

8. Sn ?farau ftirbt, 73jährig, Placid Weißenbach, 
gewefener Generaldireftor der Schweiz. Bundesbahnen, 
neben Bundesrat Zemp der Hauptförderer der ZPerftaat- 
fidung der Schweiger 93abnen. Sn den 1880er und 90er 
Oabren wohnte er als Mitalied der Direktion der Zentral: 
babn in Baſel und beteiligte fid) als freifinniger Politiker 
lebhaft an unferm Hffentlihen Leben. Er bat 1890 ben 
Großen Rat präfidiert. 

9. Der Regierungsrat befchließt, diefes Sahr wohl bie 
üblide Verkauf⸗, aber niht bie Schaumeffe abhalten 
zu [affen. 

11. Der auf Ende Geptember für Baſel geplante 
internationale KRongreß für ſoziales 
Chriftentum kann laut Mitteilung des Komitees wegen 
des Krieges nicht ftattFinben. 

11. Sn Grabs ftirbt, 82 Sabre alt, Prof. Hermann 
Schieß, früher Lehrer ber Augenheillunde an ber Basler 
niverfität und bochgefchäßter SOperateur, auch als namhafter 
Freund und Förderer der bildenden Kunft, injonbetbeit ber 
Malerei, weit befannt. 

12. An einem Herzichlag ftirbt Wilhelm Arnold, 
66 Zahre alt, Redakteur des ſozialiſtiſchen, Vorwärts“. Arnold 
aus bem Kanton Lri flammend, war der erfte Sozial: 
demofrat, ber 1888 in den Großen Rat fam. 

14. Der neu gegründete TSheaterverein befchließt, 
für einen befchräntten Sbeaterbetrieb im Winter 1914/15 
einzutreten und dafür auch einen Zeitrag zu leiften, mit 
Rüdfiht auf das fonft arbeits- unb verdienftlofe Perfonal. 

15. Der Weitere Bürgerrat behandelt eine An- 
zahl Begehren um Aufnahme ins Bürgerrecht. 

19. Die Regierung ernennt zum Vorfteher der bermato- 
Iogifch-venereologifchen Klinik und 9potiffinif Prof. Dr. £. 
Blood. 


365 


20. Das Bettagopfer in ben Gottesdienften bet 
evangelifch-reformierten Kirche iff zu amet Dritteln für bie 
Kaatfide Hilfstommiffion, zu einem Drittel für bas Rote 
Kreuz beftimmt und wirft 8672 Zr. (1913 : 6006) ab. 

25. Die Generalverfammlung der ?fftionüre Des 
Stadtthbeaters befchließt übereinftimmend mit dem 
Theaterverein (f. a. 14. d8.) befchränkten Sbeaterbetrieb im 
beporftebenben Winter. 

30. Unter ben gabíreien Prämierungen bad 
lerifcher Ausfteller an der Landesausftellung in Bern, die 
im Laufe des Monats September befannt geworden find, 
feien bier hervorgehoben bie Gemeinntütige Gefell- 
fóaft unb ba$ Shweizerifhe Wirtfhafts:- 
archiv, bie beide mit ber bód)ften für Unternehmungen 
bieler Art erreichbaren Auszeichnung, der Urkunde für ver- 
dienftvolle Beftrebungen auf bem Gebiete ber Volkswohlfahrt 
ausgezeichnet wurden. 

Witterung. Im Monat September 1914 wurden 
beobachtet eine mittlere Temperatur von 13,9, ein mittl. 
Semp.-OXarimum von 18,6 unb ein mittl. Temp.- Minimum 
von 10,2° C., ein Mittel des Luftdruds von 740,1 und eine 
Summe der Niederfchlagsmenge von 79 mm, und eine Son- 
nenfcheindauer von 159 Std. Wie diefe zahlenmäßigen Werte 
fid) alle in ber Nähe des Iangjährigen Durchſchnitts halten, 
fo war aud) ber allgemeine Witterungscharakter des Monats 
normal. 

Die Stimmung der Stadt hat fid) gegenüber 
dem vorangegangenen Monat wefentlich beruhigt. Es ift 
nicht anders denkbar unb wohl begreiflich, baB der Krieg 
fortfährt, in allen. Dingen fein Machtwort mitzufprechen. 
Ueberall nimmt man auf ihn Rüdfiht, jedermann läßt fid) 
durch ibn beeinfluffen. Aber im ganzen fängt man an, fid) 
Darauf einzurihten. Man fucht, den gewöhnlichen Gang 
ber Gefchäfte fo viel wie möglich wieder aufzunehmen. Frei- 
lich greift da bie Stodung, bie bie Unterbindung des Welt- 


366 


verfehrs, fowie des Verkehrs mit unfern Nachbarn jenfeits 
der Grenze verurfacht, fowie bie Abwefenheit Saufenber von 
unfern Einwohnern, die teils unter bie Fahnen der Schweiz, 
teils zu den Heeren der Kriegführenden einberufen find, viel- 
fad) bemmenb ein. . Doch bat die Stadt wenigftens am Tag 
ihr gewohntes Geficht wieder angenommen. Erſt am Abend 
pflegt fichtbar zu werden, daß Baſel jest eine Garni[on ift. 
Dann wimmelt es von Uniformen. Die Zivilbevölferung 
freut fi), daß die regelmäßige Roblenverforgung und bie 
Getreideeinfuhr aus dem Ausland wieder einfegen, bap über- 
haupt bie nötigften Beziehungen zu unfern Nachbarn, wenn 
auch nicht ohne Schwierigkeit wieder angefnüpft werden. 

Was das Militäriſche anbetrifft, fo wurde am 
12. September die 4. Divifion in unferm Grenzabfchnitt durch 
bie 6. erfe6t. Un Stelle der Luzerner, bie in den lebten 
Wochen in und um Baſel gelegen hatten, traten nun Thur: 
gauer und St. Galler. Die Nacht vom 15. zum 16. brachte 
die Luzerner Infanteriebrigade gleichzeitig mit ber neuen 
Oftfchweizer Befagung in unferer Stadt zu, wobei bie Schul- 
häufer als KRantonnemente befte Dienfte leiffeten. Die 4. 
Divifion bezog neue Stellungen im Baſelbiet. Das bafel- 
ftädtifhe Landwehrbataillon 144 war am 4. September ent- 
laſſen worden und rüdte am 21. wieder ein. Es verreifte am 
22. nad) dem Gotthard. Zum Glüd genoflen bis Ende des 
Monats unfere Wehrmänner im Hochgebirge bie Gunft der 
Witterung, nachdem fie unfre Stadt bei abfcheulichem Hudel⸗ 
wetter verlaflen hatten. Am 17. hatten wir ben 93efud) des 
Bundesrats. Er befuchte in Begleitung einiger ber höchften 
Offiziere die Stellungen an der Grenze von Pruntrut big 
Baſel. 

An den Krieg wurde man in Baſel immer unmittelbar 
erinnert durch bie fortwährenden Scharmützel im oberſten 
Elſaß. Immer wieder vernahm man die Stimmen der 
Kanonen. Lange fab man über Volkensberg einen Feſſel⸗ 
ballon ſchweben. Während des ganzen Monats gingen bald 


367 


größere, bald f(einete Transporte franzöfifcher ober deutfcher 
Sanitätsmannfhaft mit Aerzten durch unfere Stadt, bie auf 
bem Kriegsſchauplatz von ihren Heeren abgefchnitten worden 
unb in bie Hände des Zeindes gefallen waren. Sie wurden 
jeweilen gemäß den Beftimmungen des Roten Sreuges nad) 
fürgerm oder längerm Aufenthalt hinter der Front des 
Gegners über neutrales Gebiet ihrer Macht ‚wieder aus— 
geliefert. Derartige Durchzüge pflesten viele Schauluftige 
anzuziehen. Einmal fam es aud) zu einem gemeinjamen 
Mahl deutfcher und franzöfifcher Aerzte mit Offizieren des 
Platzkommandos. 

Im öffentlichen Leben ſetzt eine kräftige Nei— 
gung zur Sparſamkeit ein. Ihre wichtigſten Anzeichen 
werden hier erſt zu erwähnen ſein, wenn im Laufe des 
Monats Oktober ber Große Rat feine Tätigkeit wieder auf- 
nimmt. Einſtweilen ſei der Beſchluß der Regierung notiert, 
vom 1. April 1915 an das ſogenannte weltliche Geläute mit 
Ausnahme des Silveſter⸗ und Bundesfeierläutens, voie aus- 
drücklich bemerkt wird, aus Sparfamlkeitsrüdfichten einzuftellen, 
fowie ber Beſchluß vieler Sunftvorftände, auf die gemein- 
famen Mahlzeiten zu verzichten und den baburd) frei werden⸗ 
den Betrag zur Unterftüßung ber Notleidenden zu verwenden. 


Oftober 1914. 


8. Sn feiner erften Sitzung nad) den Ferien unb nad) bem 
Kriegsausbruch befchäftigte fid ber Große Rat nad Er- 
ledigung einiger Bürgerrechtsaufnahmen und Nachtrags: 
freditbegehren mit ben Maßnahmen des Regierungsrat, die 
burd) Krieg und Mobilmachung erforderlich geworden find. 
Er beißt fie fämtlich gut mit Ausnahme der Vorlage betr. 
Lohnzahlung an das Perfonal der öffentlichen Verwaltung 
während des Militärdienftes. Diefe wird an bie Regierung 
zurüdgewiefen mit Direktiven. Für Notflandsarbeiten wird 
ein Kredit von 604,000 Wr. bewilligt und für Vergehen 


368 


gegen bie bundesrätliche Verordnung wegen Verteuerung der 
Lebensmittel das Strafgericht zuftändig erklärt. 

11. Ein &uBballmatd) des Zußballliubs Baſel 
gegen bie Old Boys bleibt mit 2:2 Goals unentſchieden. 

13. Einem Lungenfchlag erliegt 60 Sabre alt ber Fabri- 
fant Werner Rumpf :v. Salis, der in mannigfacher gewerb- 
fider und gemeinnüßiger Tätigkeit fid) hervorgetan Dat. 

14. Sm benachbarten Riehen ftirbt Sljährig Paulin 
Gſchwind, der f. 3. als Pfarrer von Starrfirch und von 
Raifer-Augft in der fchweizerifchen altkatholifchen Bewegung 
eine führende Rolle fpielte, auch einige Zeit bifchöflicher 
Vikar war. 

18. Pfr. Son Eya wird zu St. Peter in fein Amt 
eingeführt. 

19. Die Hiftorifhe Geſellſchaft beſtätigt ihre 
&ommi[fton mit Dr. Aug. Yurdhardt als Präfidenten. 

21. Der Regierungsrat beauftragt bie Verfaſſer der im 
erften Range prämierten Pläne für ein neues Runft- 
mufeum, 9. 23ernoullt und R. Grüninger und E. Fäſch 
mit einer Umarbeitung ihrer Projekte gemäß den Bemer— 
tungen ber Runftlommiffion. 

22. Der Große Rat genehmigt bie nad) feinen 
Direftiven vom 8. b3. umgearbeitete Vorlage betr. Lohn- 
gablung an das Perfonal der öffentlichen Verwaltung wäh- 
rend des Militärdienftes, erklärt fid) einverftanden mit ber 
ratenweifen Bezahlung ber Wirtfchaftspatenttaren im Jahre 
1915, befchließt Errichtung eines Daches auf bem Schulhaus 
der Untern Realſchule an ber Rittergaffe und nimmt in 
zweiter Lefung das Geje& betr. Organifation des Frauen: 
Ipitals an. 

25./26. Die Wahlen in ben National: und 
in ben Ständerat für eine neue Amtsdauer von drei 
Sahren vollzogen fid in Yafelftadt wie in den meiften andern 
Kantonen in Anbetracht ber Eriegerifchen Ereigniffe auf Grund 
einer Verftändigung ber Hauptparteien, der Liberalen, ber 


369 24 


rabifalen unb ber fozialdemofratifchen — fortfhrittlihe 93ür- 
gerpartei und Katholiken hatten Ctimmentbaltung profla- 
miert — im Sinne ber 23effütigung. Den Milizen war 
Gelegenheit gegeben, in ihren Rantonnementen zu ftimmen. 
Die Beteiligung war ſchwach, wie aud) fein Wahlfampf 
porausgegangen war. Gewählt wurden bei einem abjoluten 
Mehr von 3343 9teg.-Otat GG. Wullſchleger mit 5754, 
Reg. Rat G. Gbr. Burckhardt mit 5252, Oberft S. 
Sfelin mit 5123, S. G rei mit 5068, 3. 3äg gi mit 5061, 
Dr. €. Göttisheim mit 4608 unb Dr. Chr. Rothen:- 
berger mit 4509 Stimmen. Als Ständerat wurde be- 
ftätigt mit 5622 Stimmen Dr. Paul Scherrer. 

Zugleich wurde abgeftimmt über bie Revifion von Art. 103 
der DBundesverfafiung und Aufnahme eines neuen Para- 
graphen 114 bis (Gefhäftsverteilung des Bun- 
desrats unb eidgendffifhes Verwaltungs- 
und Disziplinargeriht) Die Vorlage wurde mit 
6000 Sa gegen 775 Rein angenommen. In ber gefamten 
Schweiz erfolgte gleihfalls mit großem Mehr Annahme. 

26. Das Programm der populären Vorträge fiebt für 
den Winter 1914/15 folgende populäre Rurfe vor: 
Bor Neujahr Ing. 9X. Knapp über „Altes und Neues aus 
ber Aftronomie” und Dr. Emil Dürr über „Grundlagen der 
auswärtigen Politik ber alten Eidgenoflenfchaft”; nad) Neu- 
jahr Phyſikus Dr. $. Hunziker über „Der Rampf gegen die 
Krankheit”, und Dr. Aug. Otüegg über Homer. 

27. Die 9X ef fe läutet ein wie gewohnt. (ie befchränkt 
fid) aber laut einem Regierungsbefehluß auf bie Warenmeſſe 
des DPetersplages. Schauftellungen und Luftbarkeiten find 
. dies Sahr ausgefchloflen. 

28. Der Regierungsrat fest für bie Mebgereien maß: 
gebende Fleiſchpreiſe fef. Die Mebgereien erheben 
Dagegen Einfpruh und erklären, dabei nicht befteben zu 
konnen. | 


370 


29. Das 3ibilgerid)t wählt zu einem Cubftituten des 
Zivilgerichtiehreibers Dr. Karl Huber, b. 3. in 23ern. 
.31. Die Regierung beftätigt die vom Erziehungsrat 
getroffene Wahl von Dr. Albert Barth, Seminardireftor 
in Schaffhaufen zum Rektor der Töchterfchule. 
Witterung. Die meteorologifhen Hauptwerte des 
Monats Oktober find: Mittel der Temperatur 9,4, mittl. 
Temp. -Marimum 13,0, mitfl. Zemp.- Minimum 0,1° C., 
Mittel des Luftoruds 7371. Summe der Niederfchlags- 
menge 22 mm, Summe der Sonnenfcheindauer 108 Std. 
Hatte der Monat gegenüber dem langjährigen Durchſchnitt 
ein Manko an Gonnen[dein, jo blieb er aud) in der Regen- 
menge, unb zwar bedeutend, hinter dem Durchſchnitt zurüd, 
jo daß er im ganzen bod) ein gutes Andenken hinterläßt. 
Curd) den anhaltenden KRriegszuftand nimmt 
Baſel nad)gerabe das Ausfehen einer Garnifonsftadt an. Es 
ift überflüffig, bier den Wechfel in ben Mannfchaften zu tegi: 
ftrieren, ber in längeren Zwiſchenräumen erfolgt; jeweilen 
bezeichnet durch großen Zapfenftreich, Verdankung der guten 
Aufnahme in den Öffentlichen Ylättern unb dgl. Ab unb zu 
forgt ein größerer Zufammenzug irgend welcher Art für Be— 
friedigung der Schauluft. Sn den Monat Oktober fällt (2. 
bi$ 12.) ber erfte gemeinfame längere Urlaub ber 4. Divifion, 
der unfere 54et unb 97er für einige Tage dem SZivilleben 
wiedergab. Am 12. fam das €anbmebr-Snfanterie-Q3ataillon 
144 von feinem mehrwöchigen, durch bie Witterung befonders 
begünftigten Dienft am Gotthard zurüd. Der Gebanfe an 
eine Entlaflung der Truppen fommt in Baſel nicht auf. Die 
Kriegslage im Sundgau erinnert ffet8 eindringlich an Die 
Notwendigkeit des Grenzfchußges. So bonnerten am 13. bie 
Kanonen vernehmbarer als je über bie Grenze. Der Verkehr 
mit dem Eljaß wird erfchwert. Die Regierung warnt in 
amtlicher 23efanntmadjung zu Ende des Monats vor un- 
nötigem Betreten des Nachbarlandes wegen der damit ver- 
bundenen Unannehmlichleiten und Gefahren. Dagegen , 


371 | 24 


nimmt der Verkehr mit Baden weitern Aufſchwung, obfchon 
er noch weit hinter dem normalen Zuftand zurüdbleibt. Der 
Güterverkehr iff wenigftens wieder aufgenommen. Greilich 
Ihafft der Rriegszuftand auch bier nod) mande Schwierig: 
feiten. Cie find bod) lange nicht fo Läftig, wie beim Reifen: 
benberfebr. Noch immer fahren bie Perfonenzüge nur bis 
Leopoldshöhe, Lörrah und Grengad. Ein burdgebenber 
Fahrverfehr über die Grenze iff ber 93arrifaben wegen aus- 
geſchloſſen. Wenn aud) Baden nicht bireft mit Krieg über: 
zogen ift, fo find doch, foviel man zuverläffig vernimmt, bie 
Zeiten dort nicht gewöhnlich. Sahlreich find in unferm 
Grenzgebiet namentlih in den Ortfchaften am Rhein, bie 
Einquartierungen geflüchteter Elſäſſer. Da bie Franzofen 
bei ihren Befuchen in den Sundgauer Dörfern wiederholt 
die waffenfähige Mannfchaft mit fid) genommen hatten, fo 
waren die Deutfchen bem entgegengetreten und hatten aus den 
bedrohten Ortichaften alle Männer etwa von 17 big 45 
Gabren mitgeführt und jenfeits des Rheins einquartiert. Die 
Dörfer in ber Umgegend von Müllheim follen 3. S. eine 
Ginquartierung von Elfäflern haben, die ihre gewöhnliche 
Einwohnerzahl weit übertrifft. Die Leute ftehen unter mili- 
tärifhem fommanbo und werden einererziert. 

Die Durchzüge aus Frankreich fommenber deutſcher 
Sanitätsmannfhaften nehmen fein Ende. Gie 
pflegen mit den Abendzügen von Genf eingutreffen. Dann 
bringen fie bie Nacht bier zu. Am folgenden Morgen werden 
fie von ben militärifchen Behörden unferes Landes am Otter: 
bad) ben Sbrigen ausgeliefert. Bei ihrem Marſch burd) bie 
Stadt ermeift ihnen bie Basler Bevölkerung, allen voran die 
deutfche Kolonie, burd) Spendung von Genufßmitteln aller 
Art fo viel Liebes als in ihren Kräften ftebt. Seltener find 
in Bafel bie Durchzlige von Grangofen. Dieſe werden meift 
in der Gegend des Bodenſees an bie Schweizer Grenze ge- 
ftellt und verlaflen dann bei Genf unfer Land. 

ge mehr Opfer der Krieg fordert und je mehr Notflände 


372 


aller Urt durch ihn gejdjaffen werden, defto mehr regt fich 
aud) in 93afel ber Drang zur Hilfe. Wir reden nicht 
bom fchweizerifchen Roten Kreuz und von der flaatlichen 
Hilfskfommiffion, deren Sammlungen erfreulich marjchieren. 
Dagegen muß erwähnt werden, daß in den lebten Tagen des 
Monats ein Hilfskomitee für bie notfeibenben Belgier an 
die Deffentlichleit trat und daß ein anderes für bie von hüben 
und drüben gemachten Geifeln und für die Vermittlung von 
deren Verkehr mit ihren Angehörigen in Bildung begriffen ift. 


A 


979 .