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BEIHEFTE
Zeitidhriit für angewandte Pivdologie
|
Herausgegeben von
WIbLIAM STERN und OTTO bIPMANN.
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Piydiiide
- Geidhledtsunteridiede.
Ergebnilie der difierentiellen Pivdıologie
ftatiftiih bearbeitet
von
Otto bipmann.
Zwei Teile
I. Teil.
|
|
| heipzig 1917.
| Verlag von Johann Ambrofius Barth. |
Dorrienstr. 16. |
ee
Verlag von Johann Ambrosius Barth in | Leipzig.
Zeitschrift fur angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
6 Hefte bilden einen Band von etwa 36 Bogen mit mehreren Tafeln. Preis des Bandes 20 M.
Der 12. Band ist im Erscheinen begriffen.
Die Antgabe der Zeitschrift ist die Bearbeitung psychologischer Probleme unter be-
sonderer Berücksichtigung ihrer Verwertbarkeit für anderweitige praktische und wissen-
schaftliche Fragestellungen und die Ausgestaltung der besonderen experimentellen, psycho-
grap phischen, statistischen und Sammel-Methoden für diese Zwecke. Hauptgebiete der
Zeitschrift sind die pädagogische, forensische, pathologische, literarische, ethnologische und
vergleichende Psychologie.
Die Zeitschrift enthält Abhandlungen, Mitteilungen, Sammel- und Einzelberichte und
verfolgt ständig die internationale Bewegung auf dem Gebiete der angewandten Psycho-
logie. Sie ist Organ des Instituts für angewandte Psychologie in Kleinglienicke, des
psychologischen Laboratoriums in Hamburg und mehrerer Universitäts-Seminare.
Seit 1911 erscheinen:
BEIHEFTE
zur
Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
Die Beihefte sind einzeln käuflich.
Heft 1. Orro Liruann. Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihre eke:
‘Theorie, Methoden und Ergebnisse der „Tatbestandsdiagnostik“. IV, 96
Heft 2. J. Coun u. F. Direvrensacner (Freiburg). Untersuchungen über Geschlechts-,
Alters- und Begabungs-Unterschiede bei Schülern. VI, 213 Seiten. M. 6.40
Heft 3. W. Berz. Über Korrelation. VI, 88 S. M. 3.—
Heft 4. PauL Marcis. E. T. A. Hoffmann. Eine Individualanalyse mit 2 Faksimiles,
2 Stammtafeln und 2 graphologischen Urteilen. VIII, 220 S M. 7.—
Heft 5. Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen ge-
sammelt und herausgegeben vom Institut fiir angewandte Psychologie und psycho-
logische Sammelforschung (Institut der Gesellschaft fiir experimentelle Psychologie).
1. Teil. IV, 124 Seiten mit 1 Tafel im Text. M. 4.—
Heft 6. RICHARD Tati way. Etbno-psychologische Studien an Südseevölkern auf
dem Bismarck-Archipel u. den Salomo-Inseln. IV, 163 S. mit 21 Taf. M. 9.—
Heft 7. Fritz Gıese. Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen.
2 Teile. XVI, 220 u. IV, 242 Seiten mit 4 Abbildungen. 1914. M. 14.
Heft 8. Herea Ene. Abstrakte Begriffe im Sprechen und Denken des Kindes. V],
112 Seiten. 1914. M. 3.60
Heft 9. Hermann Damm. Korrelative Beziehungen zwischen elementaren Vergleichs-
leistungen. Ein ut zur psychologischen Korrelationsforschung. IV, 84 Seiten
mit 4 Abbildungen, 31 Tabellen und 4 Tafeln. 1914. M. 2.60
Heft 10. Gzors BrAnDELL. Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfächern.
IV, 168 Seiten mit 37 Figuren. 1915. M
Heft 11. Curt Pıorkowskı. Beiträge zur psychologischen Methodologie der wirt-
schaftlichen Berufseignung. IX, 84 S. 1915. M. 3.—
Heft 12. Jugendliches Seelenleben und Krieg. Materialien und Berichte. Unter Mit-
wirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Schulreform und von O. Bobertag,
K. W. Dix, C. Kik, A. Mann herausgegeben von WırLıam Stern. 181 Seiten
mit 15 Abbildungen. 1915. M. 5.—
Heft 13. Tu. Vatentiner. Die Phantasie im freien Anfsatze der Kinder und Jugend-
lichen. VI, 168 S. mit 1 Kurventafel. 1916. M. 5.60
Heft 14. Orro LIPMANN. Psychische Geschlechtsunterschiede. Ergebnisse der differen-
tiellen Psychologie. Zwei Teile. IV, 108 und 172 Seiten mit 9 Kurven im
Text. 1917. M. 12.—
BEIHEFTE
zur
Zeitichrift für angewandte Piyhologie.
Herausgegeben von
WILLIAM STERN und OTTO bIPMANR.
V. Folge (Beiheft 14—17).
Inhalt:
Heft 14a und b.
Orro Lipmann, Psychische Geschlechtsunterschiede. Ergebnisse der differen-
tiellen Psychologie statistisch bearbeitet. 2 Teile.
Heft 15.
Franziska Baumgarten, Die Liige bei Kindern und Jugendlichen. Eine Um-
frage in den Polnischen Schulen von Lodz.
Heft 16.
Kart Büren, Das Tastlesen in der Blinden-Punktschrift. Nebst kleinen
Beiträgen zur Blindenpsychologie von P. GRAsEMAnN, L. CoHn, W. STENBERG.
Heft 17.
CHaarLorts BünLer, Das Märchen und die Phantasie des Kindes.
Leipzig, 1918.
Verlag von Johann Ambrosius Barth.
Dörrienstraße 16.
EDUC.
PSYCH.
LIBRARY
BEIHEFTE
zur
Zeitimrift fir angewandte Piyhologie
Herausgegeben von
WILLIAM STERN und OTTO LIPMANN.
>22.222220.222.2 143 OOOO OO OOO OS OS OOOO
Pivdide
Geidledtsunteridiede.
Ergebnifie der difierentiellen Piydologie
Hatiftiih bearbeitet
von
Otto bipmann.
Zwei Telle.
beipzig 1917.
Verlag von Johann Ambrofius Barth.
Dorrienstr. 16.
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Erster Teil.
Beiheft zur Zeitschrift fiir angewandte Psychologie. 14. Erster Teil.
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re) J aJ 3
1
$S le Vorwort os a CGS ae aS Reh
Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
§ 2. Problemstellung . . . 2 2 2 2 00 rn ne
$ 3. Die Bestimmung des Umfanges der ‚Normal‘-Zone der
Leistungsskala. .. 2.. 2.2 E dÉ EE o Ä
$ 4. Die Bestimmung des Verhältnisses der Geschlechter in den
drei Zonen der Leistungsskala . . . . 2 2 2 22220.
Anhang: Rechenbeispiel . -. . . » so s 2 2 22 220. .
$ 5. Die Beurteilung der Zuverlässigkeit der herangezogenen Er-
eeng éi Aë A e ee RR ER En
Kapitel II. Die Einzelergebnisse.
$ 6.. Vorbemerkung = s = 6 m.» 2 = 2.8 2. 8 NL
$ 7. Die aus unveröffentlichten Materialien herrührenden Er-
gebnisse (s. Teil II A S. 6). . 2. 2. 2 2 2 2 2 2 2 00.
$ 8. Die der Literatur entnommenen Ergebnisse. .......
Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzel-
ergebnisse.
§ 9.: Vorbemerkung x... 0... we re a SS l
$ 10. Empfindungen.
1. Raumsinn der Haut ........2.2.2.2.2.22.220448-.4
2. Druck- und Schmerzsinn ..........2.2.2264.-.
3. Gewichtsinn unter normalen und täuschenden Bedin-
Pungen zn a A wre Ae rr e e ee E E
4. Geschmacksinn. a ve e AN E E NN DN e er CS
0, 2GEHOFRIDN 8 ed ir eee a ac a E E E ae e
6. Gesichtsinn.
a} Heligkeit a a a a-r anai eT EE e e e Aa
D) Farben io ao & tw Wee e A A eer, der e e G
c) Optischer Raumsinn. Augenmafs unter normalen und
täuschenden Bedingungen . . . 2.2 2.2.2.2...
ls LENSI a aaa E e D ee tw
17
20
24
25
30
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31
32
33
33
34
35
36
36
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Eu.
§ 12,
§ 13.
un un un un UN ton tor
DO bei bei bei bei bei teed
§ 21.
§ 22.
oF eae
Inhalt.
Bewegung.
1. Schnelligkeit einfacher Bewegungen und Verrichtungen.
„Psychisches Tempo“ . . .. 2... 2 2 2 2 een.
2. Reaktionszeit.
a) Einfache Reaktion . . . . . 2: 2: 2 2 2 e a e
b) Unterscheidungsreaktion. . e a a ‘e’
c) Wahlreaktion . . . . 2: 2 2 m EEE rn.
d) Wortreaktion . . . 2 2 2 2 2 e e o es osseo
3. Präzision der Bewegungen und Bewegungs-Koordination
4. Gefiihlsbetonung der Bewegung. ...........
Vorstellungen.
1. Das Lernen und das Reproduzieren von Erlerntem . . .
2. Erinnerung und Aussage . . 2. 2: 2 2 2200.
3. Assoziation.
a) Freie Assoziation. „Einfälle“ . . . . 2 2 2 2202.
b) Gebundene Assoziation . . . . 2 2 22 22 e ne
4. Phantäsie: 9. 222 Sur. wie Bl Bee
9: Kenntnisse: 2... u... Ge ee OE ae Ar a a ae ae
Rechnen und Mathematik.
1, Begabung s w si t maa eae p ee BOR 8
2. Unterrichts- und Examens-Leistungen ........
3. Leistungen im Experiment .............
4: Interesse... e oe ke a me ck e a a KE a
Naturwissenschaften. . . » 2: 2 2 2 Er Er nn nn.
Technik un a Be SO ae, ee ER er a
Fremdsprachen (Geisteswissenschaften) ..........
Muttersprache.
-Leistungen se a ei a ENEE
2. Eigentümlichkeiten der Schrift- und Sprechsprache. . .
3. Interess6 ; : = a... wu we ee E e e
Allgemeine geistige Entwicklung (Intelligenz, Schulleistungen
im allgemeinen). . 2 2 2 2 2 2 2 2 0 Er er nn.
Eigenschaften des Gefühls- und Willenslebens. . . . .. .
1. Neigung zu intellektueller Bet&étigung. ........
2. Neigung zu politischer Betätigung ..........
3. Neigung zu philantrophischer Betétigung .......
4. Beligiosität 3-2... ee we ee ews FE ër
5. Neigung zu praktischer Betétigung ..........
6. Erwerbssimn e NNN ENEE we we 8 e
7. Streben nach Macht ........2.2.2.2.2.2.22...
8. Streben nach Ehre . . .. 2.2.22 2 2 22020.
9. Eitelkeit `, . . . 222 22020. ee Br a N
10. Neigung zu Geselligkeit . . . . . 2 2 2 220220.
EE Sexualleben .- sa sua a a ee BR os ae eS
12. Moralität im allgemeinen . . . 2.22 2 2 22000.
13... Betragen AN. Ae is. ee Se ee ee a 65
14: IOUS e e He ee a a BR ee a a e 66
15. Ordnungsliebe. - . a a a a a 66
16. Piinktlichkeit. ................220428. 66
17. Wahrheiteliebe ..........2.2.222.228228-48 67
184 Treuen wë e ét ër Wee ër dee ët E e e 67
19: Geduld. 2 eu. 35. 20 0 a e Ee e e e 67
SO MING: Bos, 4%. 5 Su WE an war te 67
21. Bescheidenheit . . . 2 2 2 2 Em En nn. 68
22. Emotionalität . . . 2: 2 aoa a 68
23. Allgemeine Gefühlsrichtung ........2.2.2.2.. 68
24. Impulivität . . 2 Co a e 69
$ 23. Aufmerksamkeit.
l. Beobachtung. .: 2... ra nn. au e ee éi 69
2. UXPEHMENE: u it d e e AE A Eee We Ee t 70
3. Intravariation (Regelmälsigkeit der Reaktion). . . . . . 70
§ 24. Suggestibilitét . . . . .. l.ou 71
§ 25. Zusammenfassung . . . . osoo oo e e e a 71
§ 26. Anhang: Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei ver-
schiedenen Eigenschaften ............2.2.2.. 74
Kapitel IV. Vergleich des Geschlechtsverhältnisses in
verschiedenen Altersstufen.
$ 27. Vorbemerkung . . 2.2 2 2 m nn nen 81
§ 28. Richtungsänderungen des Geschlechtsunterschiedes .... 81
§ 29. Die Grölse des Geschlechtsunterschiedes in seiner Abhängig-
keit vom Alter ae see wk See BO eee a 82
§ 30. Die Besserleistung eines Geschlechtes in seiner Abhängigkeit
vom- Alter s-r -© aw gmd ee er e 84
§ 31. Anhang: Das Verhalten des Geschlechtsunterschiedes im Ver-
laufe eines Schuljahres .......2.2.2.2.2.2.020.. 85
Kapitel V. Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
6 32. Übersicht. x. 3. 0 0... 2. we n.c aa ae bee 88
§ 33. Die Gröfsenordnung und Zuverlässigkeit der Ergebnisse . . 89
§ 34. Das Verhältnis der Geschlechter in der „Normalzone‘ (mitt-
leren Leistungshaélfte). — Die Intervariation ....... 94
696. (Schlala: 6 6 an Gc Sey Soe we YE Gok Se eee ad 104
§ 36. Inhaltsübersicht ........2.2.2.2.22022202.282428- 107
a “Ay
Vorwort.
§ 1,
Die Fragen, ob das Seelenleben des männlichen und des weib-
lichen Menschen typische Verschiedenheit aufweist, in welcher
Richtung solche Unterschiede vorliegen, ob die Unterschiede groß
genug sind, um praktische Unterscheidungen z. B. hinsichtlich
der Erziehung zu rechtfertigen, sind in neuerer Zeit wohl besonders
durch die berühmten oder berüchtigten Schriften Mösıus’ und
dann WEININGERS in Flufs gekommen. In Deutschland hat dann
die Tatsache, daß die Universitäten und höheren Schulen den
Mädchen eröffnet wurden, die Mädchenschulreform und die sich
daran anschliefsende Diskussion über Koedukation in weiten
Kreisen Interesse für die Frage der Geschlechtsunterschiede er-
weckt. Wenn man als geschulter Psychologe diese Diskussion
verfolgt, so erschrickt man über die Leichtfertigkeit, mit der da
oft mit blofsen Schlagworten operiert wird, und man muls sich
fragen, wieweit es denn wissenschaftlich berechtigt ist, vom
, schwachsinn“, von der ,,Emotionalitaét‘‘, der ,,Rezeptivitat usw.
des Weibes zu sprechen. Freilich ist anzuerkennen, dals viele,
aber nicht einmal alle, der Autoren, die ein solches ‚grundlegendes“
Unterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Geschlechtern ent-
deckt zu haben glauben, imstande sind, dies Resultat durch irgend-
welche Ergebnisse der experimentellen Psychologie zu stützen;
man ist also gezwungen, ihren Spuren zu folgen und die von ihnen
herangezogenen psychologischen Ergebnisse auf ihre Stichhaltig-
keit zu prüfen. Dabei wird sich ergeben, daß bei sehr vielen Re-
sultaten diese Stichhaltigkeit eine recht fragwürdige ist, weil die
herangezogenen Resultate im Sinne der differentiellen Psychologie
nur Scheinresultate sind, die auf der zufälligen Auswahl der mit-
einander verglichenen Versuchspersonen beruhen können.
6 § 1. Vorwort.
6
Einmal nämlich werden sich, wenn man die Materialsammlung
umfassend genug anlegt, eine Anzahl von Resultaten finden, aus
denen sich die gegenteilige Behauptung herleiten ließe. Zum
anderen aber werden auch sehr viele derjenigen Ergebnisse, bei
denen solche gegenteiligen Befunde nicht vorliegen, wenn man sie
kritisch betrachtet, nicht als einwandfrei gelten dürfen; sehr
häufig sind die sich ergebenden Unterschiede und die Zahl der
miteinander verglichenen Personen so klein, daß dem Resultat
eine wissenschaftliche oder gar eine praktische Bedeutung nicht
beigelegt werden kann.
Eine derartige Sammlung und Sichtung des in aulserordent-
licher Fülle vorliegenden Materials erscheint darum als eine durch-
aus dringende Angelegenheit, weil die Diskussion über praktische
Konsequenzen etwaiger Geschlechtsunterschiede wohl so bald
nicht einschlafen wird, und weil andererseits beim gegenwärtigen
Stande der Sache jeder Vertreter beider an der Diskussion be-
teiligter Parteien mühelos seine vorgefalste Meinung über den
Unterschied der Geschlechter durch irgendwelche ‚Ergebnisse‘
der experimentellen Psychologie zu belegen imstande ist.
Die hier von mir vorgelegte Materialsammlung umfalst freilich,
trotz ihrer Umfänglichkeit — es sind fast 5000 Einzelresultate
von mir gesammelt und verarbeitet worden — noch lange nicht
das ganze Material. Ich habe nur dasjenige berücksichtigt, was
l. sich wirklich auf psychische Geschlechtsunterschiede
bezieht. Ich habe also rein oder vorwiegend anatomische und
physiologische Untersuchungen außer Betracht gelassen ;
2. was sich auf psychische Geschlechtsunterschiede nor-
maler Individuen bezieht. Ich habe also alle Untersuchungen
an Geisteskranken, Geistesschwachen und Mindersinnigen aus-
geschlossen, und ebenso z. B. auch Verbrecher-Statistiken unbe-
rücksichtigt gelassen. Ein Grund hierfür war der, daß, wenn sich
z. B. bei Untersuchungen an Schwachsinnigen ein Geschlechts-
unterschied ergibt, die Frage offen bleibt, ob nicht der Grad des
Schwachsinns bei den beiden Geschlechtern durchschnittlich ein
verschiedener war, d. h. ob die Auswahl der Versuchspersonen
nicht schon das Resultat vorher bestimmte;
3. was sich der von mir verwendeten, statistischen Methode
zugänglich erwies, und
4. was gewissen Anforderungen an Zuverlässigkeit zu ent-
sprechen schien. Diese Anforderungen beziehen sich |
§ 1. Vorwort. 7
a) auf die Versuchsanordnung als solche: absolut gleiche
Untersuchungsbedingungen fiir die miteinander zu vergleichenden
Versuchspersonengruppen, insbesondere auch gleiches Alter der-
selben ;
"bi auf die Zahl der in jeder der miteinander zu vergleichenden
Versuchspersonengruppen enthaltenden Personen.
Es sind aus dem einen oder dem anderen Grunde eine nicht
geringe Zahl von Arbeiten oder auch von einzelnen Resultaten
sonst verwendeter Arbeiten stillschweigend unberücksichtigt ge-
blieben ; es hätte mich zu weit geführt, wenn ich in jedem einzelnen
Falle angegeben hätte, warum ich eine bestimmte Angabe unbe-
rücksichtigt lasse; auch die nicht verwendeten Arbeiten finden
sich im Literaturverzeichnis angeführt. Meine Arbeit hat nicht,
wie z. B. das Buch von Haverock Erris die Tendenz, ein mög-
lichst vollständiges Sammelreferat zu sein.
Ich habe ferner darauf verzichtet, mich mit der Fülle der
in der Literatur sich findenden teils wissenschaftlichen, teils
laienhaften, teils begründeten, teils nur scheinbar begründeten
und teils ganz unbegründeten Meinungen über das Wesen der
Geschlechtsunterschiede auseinander zu setzen oder auch nur
sie zu referieren. Auch für solche Zusammenstellung liegt nach
den zusammenfassenden Arbeiten von HEYMANS, GIESE, STERN,
WREScCHNER m. E. kein Bedürfnis vor. Eine Kritik dieser Mei-
nungen liegt, wie ich hoffe, implizite in unseren Resultaten
vor, insofern, als die Einzelresultate, auf die jene Autoren
ihre Ansicht stützen, durch meine Untersuchung bestätigt oder .
widerlegt werden. Es wird sich, im ganzen genommen, durch
meine Untersuchung herausstellen, dafs der Stand unseres Pro-
blems heute noch ein derartiger ist, dals es verfrüht erscheinen
muls, die psychischen Geschlechtsunterschiede auf eine Formel
zu bringen.
Was mir wesentlich erscheint, ist dies: wir werden zugeben
müssen, daß auf sehr vielen Gebieten des Seelenlebens sich Ge-
schlechtsunterschiede zeigen, d. h. dafs viele psychische Eigen-
schaften, sich bei dem einen oder anderen Geschlechte, sei es über-
haupt, sei es in ihrer stärkeren Ausprägung häufiger finden. Was
uns gegenwärtig interessiert, ist nicht die Frage des Vorhanden-
seins, sondern vielmehr die Frage der Grölse der Geschlechts-
unterschiede. Sind sie so beträchtlich (bzw. welche von ihnen sind
so beträchtlich), dafs sie z. B. eine gemeinsame Erziehung der
8
§ 1. Vorwort.
beiden Geschlechter als untunlich erscheinen lassen, oder sind
vielleicht gerade diejenigen Eigenschaften, bei denen sich die be-
merkenswertesten Geschlechtsunterschiede finden, für die Frage
der
Koedukation und Koinstruktion irrelevant ?
Dem von mir verwendeten Material liegen zum Teil publizierte
Resultate, zum anderen Teil unveröffentlichte, nur im Manuskript
existierende Daten zugrunde. Die letzteren verdanke ich:
den
der Atlanta University, Atlanta, G. A., U. S. A.,
dem Bristol Education Comittee, Bristol,
Herrn Prof. Dr. Cyrit Burt, London,
Herrn Wituiam T. Crank, Head Master of the Merrywood
Secondary School, Bristol,
Herrn Rektor A. Francken, Bielefeld,
Herrn Prof. Dr. G. Hrymans, Groningen,
Herrn Dr. JaEDERHOLM, Stockholm,
der Indiana University, College of Liberal Arts, Bloemington,
Indiana, U. S. A.
Herrn Henry C. Kınc, President of the Oberlin College,
Ohio U. S. A.,
Herrn Direktor Luserke, Freie Schulgemeinde Wickersdorf
in Thüringen,
Herrn Dr. J. van DER TorREN, Hilversum,
Für die Überlassung gedruckter Materialien bin ich den folgen-
Herren und Behörden zu Danke verpflichtet:
Herrn Dr. G. I. Burness, Stratford E, Principal of the Muni-
cipal Central Secondary School,
Herrn Prof. Dr. Cyrit Burt, London,
Herrn Colonel R. 8. Curtis, Walmer, Kent,
dem Department of the Interior, Bureau of Education,
Washington, U. S. A.,
Herrn Prof. Davin Spencer Hitt, New Orleans, U. S. A.,
der Leland Stanford Junior University, California, U. S. A.,
Herrn Wituam H. MaxweE 1, City Superintendent of Schools,
The City of New York, U. S. A.,
Herrn Prof. I. B. Miner, University of Minnesota, Mineapolis,
U. S. A.,
8 1. Vorwort. 9
der University of Missouri, U. S. A.,
dem Board of Public Education, Office of Superintendent of
Schools, Philadelphia, U. S. A.,
Herrn Universitaéts-Sekretér Riznnarpt, Tübingen,
dem Board of Education of the City of St. Louis. Office of
the Superintendent of Instruction.
Literaturverzeichnisse und sonstige literarische Nachweise,
die sich allerdings meist auf die Frage der Koedukation direkt
bezogen, stellten mir freundlichst zur Verfügung :
Herr Colonel R. S. Curtis, Walmer, Kent,
Edinburgh School Board, Edinburgh,
Herr Pıur GEHEEB, Direktor der Odenwaldschule, Ober-
hambach bei Heppenheim,
Herr Pavut H. Hanus, Harvard University, Cambridge, Mass.
Herr Direktor Hensınc, Oppenheim a. Rh.,
Herr Norman Hupcson, St. George’s School, Harpenden,
Instituts Solvay, Institut de Sociologie, Socialwissenschaftliche
Zentralstelle, Briissel,
Herr L. A. Karsacs, Acting Commissioner of Education,
Department of Interior, Washington, D. C., U. S. A.,
Herr Universitäts-Sekretär RırnsArpr, Tübingen,
Herr Geh. Reg.-R. Dr. v. SırıLwürk, Karlsruhe,
Herr Prof. Dr. Scauyten, Antwerpen,
Herr Oberlehrer Dr. Ziertmann, Steglitz.
Die Beziehungen zu den genannten Personen und Behörden
verdanke ich großenteils der Internationalen Union zur Förderung
der Wissenschaft (Sekretariat Berlin), z. T. auch — durch deren
Vermittlung — den Herren Colonel Curts und Dr. ZIERTMANN,
sowie dem Amerika-Institut zu Berlin (Dr. DrecHsrer).
Ohne die gütige Unterstützung aller dieser Herren, Behörden
und Institutionen wäre mir die Abfassung dieser Arbeit nicht oder
wenigstens in diesem Umfange nicht möglich gewesen; ich hätte
ohne sie auf die Verwertung gerade der wertvollsten Materialien
verzichten müssen. Es ist also nicht nur meine Pflicht, sondern
es entspricht auch meinem Wunsche, ihnen auch an dieser Stelle
meinen verbindlichsten Dank abzustatten.
Für Auskünfte in rechnerischen und mathematischen Fragen
danke ich Herrn Dr. W. Berz in Mainz, Herrn Dr. G. JAEDERHOLM
in Lund und Herrn Dr. E. FreunpLuich an der Sternwarte in
Neubabelsberg.
10 SL Vorwort.
Die Materialsammlung wurde im Juli 1914 abgeschlossen ; ich
habe nach meiner Rückkehr aus dem Feldzuge eine weitere Ver-
mehrung des Materials nicht mehr in Angriff nehmen wollen,
sondern die bereits begonnene Niederschrift der Ergebnisse fort-
gesetzt. Das Literaturverzeichnis enthält jedoch auch solche Ar-
beiten, die nach dem genannten Termin erschienen sind.
E
11
Kapitel I.
Die Methode der Untersuchung.
§ 2.
Problemstellung.
Das psychologische Problem der Koedukation ist ein doppeltes:
1. Wie wirkt die gemeinsame Erziehung (und der gemeinsame
Unterricht) auf jedes der beiden Geschlechter ?
2. Wieweit sind Koinstruktion und Koedukation durch die
gleiche Veranlagung der beiden Geschlechter gerechtfertigt, bzw.
wieweit verbieten sie sich durch grundlegende Wesensunterschiede ?
Die erste dieser beiden Fragen zu behandeln, ist nicht Sache
des Psychologen, sondern — wenigstens zunächst — nur die des
Praktikers. Bevor der Psychologe hierzu Stellung nehmen kann,
muß der Praktiker Beobachtungen sammeln über die Wirkung
der Koedukation auf den Ehrgeiz, auf die Sexualität im weitesten
Sinne des Wortes, auf die Verstärkung oder Abschwächung etwa
vorhandener Geschlechtsunterschiede usw. Die heute hierüber
vorliegenden Erfahrungen widersprechen sich noch so, dafs der
Psychologe nichts weiter tun kann, als zu weiteren Beobachtungen
anregen und etwa noch neue Fragen und Beobachtungsmethoden
formulieren. Von einer eigenen Stellungnahme hält er sich besser
noch zurück. Daher soll auch die vorliegende Arbeit diese Problem-
gruppe unberücksichtigt lassen.
Anders liegt die Sache bezüglich der zweiten der oben formu-
lierten Fragen, die durchaus dem Gebiete der differentiellen
Psychologie angehören. Wir haben uns hier sogar, wenn wir diese
Frage wissenschaftlich behandeln wollen, möglichst von den ge-
legentlichen Beobachtungen der Praktiker zu emanzipieren, da
ihre Ergebnisse fast immer auf einem zu kleinen Material beruhen
12 Kapitel 1. Die Methode der Untersuchung.
und überhaupt meist methodisch unzulänglich sind. Freilich
teilen sie diesen Mangel mit einer nicht geringen Zahl auch der
wissenschaftlichen Untersuchungen.
: Demgegenüber wollen wir uns zunächst einmal klar machen,
welche Anforderungen ein Resultat über Geschlechtsunterschiede
erfüllen mufs, um als praktisch (für die Frage der Koedukation)
oder auch nur als theoretisch-wissenschaftlich relevant gelten zu
können. Ausscheiden müssen zunächst selbstverständlich alle
` Resultate, die auf der Beobachtung oder der Untersuchung nur
weniger Personen beider Geschlechter beruhen, bzw. diejenigen,
bei denen die Personenzahl im Verhältnis zu dem sich ergebenden
Unterschied zu klein ist; wir werden später einen genaueren Mals-
stab dafür finden, welche Personenzahl jedesmal im Hinblick auf
das gefundene Resultat als genügend grols betrachtet werden
kann. — Ferner müssen wir diejenigen Resultate ausscheiden,
die in einem Vergleich zweier sogenannter Mittelwerte bestehen.
Es hat m.E. weder eine wissenschaftliche noch viel weniger eine
praktische Bedeutung, wenn z. B. die durchschnittliche Gedächtnis-
leistung der beiden Geschlechter in Vergleich gestellt wird, sei es,
dafs die Leistung zweier fingierter ‚duschschnittlicher Personen“
(die arithmetischen Mittel), sei es auch, dafs die Leistungen der
beiden mittleren Personen (die Zentralwerte) miteinander ver-
glichen werden. In beiden Fällen bleibt es ganz dahingestellt,
wie die übrigen Personen der beiden miteinander zu vergleichenden
Gruppen sich zueinander verhalten. (Nur wenn die Streuung der
einzelnen Werte, ihre Abweichung vom repräsentierenden Werte,
die ‚‚mittlere Variation‘‘ sehr klein ist, oder mit anderen Worten,
wenn sehr viele Einzelpersonen die betreffende Eigenschaft
etwa in der durchschnittlichen Stärke aufweisen, kann man in
der Tat die Durchschnitts- oder die mittleren Personen als
repräsentierend für die beiden Gruppen ansehen.) Zweifellos
ist aber, selbst wenn die Streuung klein ist, die Frage, wie
die übrigen Personen der beiden Gruppen sich zueinander
verhalten, ob z. B. der beste Knabe besseres leistet als das beste
Mädchen, das schlechteste Mädchen noch schlechteres als der
schlechteste Knabe usw., nicht nur theoretisch interessant, sondern
auch von praktischer Bedeutung. Dieideale Veranschaulichung eines
Geschlechtsunterschiedes wäre also eine Tabelle oder graphische
Darstellung, die für jede der untersuchten Personen ihren Leistungs-
grad aufzeigt, derart, dafs die Leistung jeder Person der einen
A.
er ee
8 2. Problemstellung. 13
Gruppe mit der Leistung der ihr im Range gleichen der anderen
Gruppe verglichen werden kann!).
Wenn es sich um die Darstellung eines einzelnen Geschleohts-
unterschiedes handelt, erscheint die eben kurz skizzierte Methode
ın der Tat als einwandfrei, und schon deshalb als die beste, weil
jeder spätere Benutzer der betr. Arbeit aus einer solchen Tabelle
oder Kurve alle die zahlenmälsigen Angaben entnehmen kann,
deren er für seine spezielle Fragestellung gerade bedarf. Für
unsere Zwecke ist diese Darstellungsform jedoch aus mehreren
Gründen nicht die geeignete. Ein mehr äulfserlicher Grund dafür,
dafs wir auf sie verzichten, ist der, dafs in der Literatur nur aulser-
ordentlich wenig Resultate vorliegen, die alle diejenigen Angaben
enthalten, deren wir für die eben erwähnte Darstellungsform be-
dürfen, dafs wir unsere Ausführungen also bei ihrer Verwendung
auf ein relativ geringes Material beschränken mülsten. Zweitens
ist sie nicht recht geeignet für einen Vergleich der Geschlechts-
unterschiede auf verschiedenen Leistungsgebieten. Wenn wir
z. B. hinsichtlich des Gedächtnisumfanges einen durchgehenden
Unterschied von zwei Elementen, hinsichtlich des Aufmerksam-
keitsumfanges einen Unterschied von einem Element finden
würden, so könnten wir doch nicht sagen, dafs der Geschlechts-
unterschied bezüglich des Gedächtnisumfanges grölser ist, als
der des Aufmerksamkeitsumfanges. Dies tritt noch deutlicher
in die Erscheinung, wenn die Mafszahlen nicht einmal scheinbar,
wie im obigen Beispiel, dieselbe Benennung haben, sondern wenn
es einmal, z. B. bei Ästhesiometerschwellen, Millimeter, im anderen
Falle, z. B. bei der Unterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen,
Schwingungszahlen sind. Meistens werden auch die Unterschiede
keine durchgängigen sein, sondern es werden sich z. B. bei den
Individuen mit geringer Intelligenz geringe Intelligenzunterschiede,
bei denen mit hoher Intelligenz gröfsere Unterschiede zwischen
den Geschlechtern ergeben; oder der Geschlechtsunterschied wird
sich gar von einem zum anderen Ende der Rangskala hin um-
kehren. Drittens haben wir es nicht nur, wie in all den vorher-
1) Eine derartige Methode habe ich in meiner Arbeit „Eine Methode
zum Vergleich zweier Kollektivgegenstände‘“‘ Z Ps. 48, 1908 vorgeschlagen,
Ich benutzte gern diese Gelegenheit, zu bemerken, dafs lange vor mir schon
GALTON eine sehr ähnliche Methode, die graphische Darstellungsform der
„Ogive“ verwendet hat; dies war mir bei Abfassung der oben zitierten
Arbeit noch unbekannt. Vgl. STERN, Differentielle Psychologie, S. 246/7.
14 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
gehenden Beispielen, mit abstufbaren Eigenschaften zu tun,
sondern sehr vielfach auch mit sogenannten Alternativeigen-
schaften!), die nicht in verschiedenem Grade vorkommen, sondern
bei denen nur das Vorhandensein oder Fehlen konstatiert wird,
wie. z. B. bei allen Kenntnisprüfungen. Da wir bei diesen Eigen-
schaften notgedrungen auf die Herstellung zweier miteinander
zu vergleichender Rangreihen (die hier immer nur zwei Rang-
stufen umfassen würden) verzichten müssen, so ist es im Interesse
der Einheitlichkeit unserer Untersuchung geboten, auch bei den
abstufbaren Eigenschaften darauf zu verzichten und eine Dar-
stellungsform zu wählen, die beiden Arten von Resultaten ge-
recht wird.
Für Resultate nun bezüglich der Alternativ-Eigenschaften
ist die nächstliegende Form diejenige von Prozent-Angaben; es
wird mitgeteilt, wieviel Prozent der untersuchten Personen beider
Geschlechter die betreffende Eigenschaft besitzen und wieviel
Prozent sie nicht besitzen. Da wir alle Resultate miteinander
vergleichbar machen, also möglichst auf dieselbe Form bringen
wollen, so müssen wir nun also auch die Resultate bezüglich ab-
stufbarer Eigenschaft in Prozent-Angaben verwandeln. Damit
kommen dann auch die an der vorher empfohlenen Darstellungs-
weise hervorgehobenen Übelstände in Fortfall. Schon Gatton ist,
um heterogene Resultate miteinander vergleichbar zu machen,
diesen Weg gegangen, indem er zunächst für die eine der beiden
Gruppen (a) den Zentralwert bestimmte und dann fragte, wieviel
Prozent der Angehörigen der anderen Gruppe (b) eine bessere
Leistung als die durch jenen Zentralwert repräsentierte aufwiese ;
diese Prozentzahl ist immer zu vergleichen mit der Zahl 50°% der
Angehörigen der Gruppe a, die besseres leisten als den Zentral-
wert dieser Gruppe. Wir sehen so, wie Resultate über abstufbare
Leistungen auf eine Form gebracht werden, die denen über Alter--
nativ-Eigenschaften ähnlich ist; nur dals die Alternative hier
nicht Vorhandensein oder Fehlen, sondern Stärker-Vorhandensein
oder Schwächer-Vorhandensein lautet.
1) Die Unterscheidung von abstufbaren oder Klassifikationseigen-
schaften einerseits und Alternativ-Eigenschaften andererseits ist natürlich
nicht neu. G. UDNY YULE z. B. unterscheidet ‚„Variables‘‘ und ‚„Attributes“
(An Introduction to the Theory of Statistics. London, Charles Griffin and
Company, 2. Aufl. 1912, S. 7). Doch erscheint die von mir gebrauchte
Terminologie mir besser.
e së
4 --
$ 2. Problemstellung. 15
Diese ‚Percentile‘‘-Methode hat jedoch einen Nachteil, den-
selben, den wir schon oben als einen Mangel der blofsen Ver-
gleichung der Zentralwerte hinstellten, — dals nämlich das Re-
sultat nur je einen Wert in Betracht zieht und die Verteilung,
die Streuung der Einzelwerte unberücksichtigt lälst (auch wenn
die mittlere Variation besonders mitgeteilt wird). Ebenso wie wir
dort eine Ergänzung des Vergleichs der Zentralwerte durch einen
Vergleich auch sämtlicher anderer Malszahlen der Rangskala vor-
schlagen, so dürfen wir uns hier nicht auf den Vergleich der Prozent-
zahlen beschränken, denen der Zentralwert zugrunde liegt, sondern
müssen ebensolche Prozentzahlen auch auf alle anderen Mals-
zahlen basieren. Etwas Ähnliches wird bereits durch die soge-
nannte Streuungs- oder Verteilungskurve oder -Tafel erreicht,
die angibt, mit welcher Häufigkeit sich die einzelnen Malszahlen
in den beiden Personen-Gruppen finden. Nur fragen wir nicht
nach der Häufigkeit einer Malszahl, sondern nach der Häufigkeit
einer Gruppe von Malszahlen, nämlich aller derer, die gröler
(bzw. kleiner) sind als eine bestimmte Mafszahl. In graphischer
Darstellung ergibt sich so ein Kurvenpaar, in dessen Abszissen
zu zb x%> l..%n > Indie einzelnen Mafszahlen I,, I,... In
der Reihe nach auftreten, denen als Ordinaten die ent-
sprechenden Prozentzahlen zugeordnet sind (y,% der Vpp.
leisten Besseres als I}, y,% leisten Besseres als I, usw.). Indem
jedem I zwei Prozentzahlen (eine auf die männlichen und eine auf
die weiblichen Vpp. bezügliche) zugeordnet werden, erhalten wir
eine Reihe von Differenzen von Prozentzahlen. — Die Relevanz
dieser Differenzen hängt jedoch nicht nur von ihrer absoluten
Grölfse, sondern auch von der Grölsenordnung des Minuendus und
Subtrahendus ab; die Differenz 60%, — 40%, wird für den Ge-
schlechtsunterschied nicht mehr besagen als die Differenz 6%, — 4%.
Es empfiehlt sich also, die in Betracht kommenden Differenzen
alle vergleichbar zu machen, indem man sie so umformt, dals die
Summen von Subtrahendus und Minuendus stets gleich, z. B.
gleich 100 sind ; das bedeutet gleichzeitig eine Änderung der Frage-
stellung. Anstatt zu fragen: wieviel Prozent der Knaben und
Mädchen zeigen eine Leistung, die besser ist als I, fragt man:
Unter den Personen, deren Leistung besser ist als I, sind wieviel
Prozent männlich und wievjel Prozent weiblich ® Auch dies lälst
sich natürlich wieder für alle verschiedenen I durchführen.
Praktisch dürfte es allerdings nur schwer durchführbar sein,
16 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
diese Vergleichung hinsichtlich aller die einzelnen Resultate
zusammensetzenden Teilresultate durchzuführen. Man wird unter
den zugrunde zu legenden I eine Auswahl treffen müssen. Nur
den Zentralwert zu verwenden, erschien uns unzureichend, alle
I zu verwenden, undurchführbar; wohl aber erscheint es aus-
reichend und durchführbar, für zwei solche I das Verhalten
der beiden Geschlechter zu vergleichen, vorausgesetzt, dals diese
I zweckmälsig gewählt werden. Es liegt nahe, das Verhältnis
der beiden Geschlechter innerhalb derjenigen Teile der Leistungs-
skala miteinander zu vergleichen, die als eut", als „normal“ und
als „schlecht“ bezeichnet zu werden pflegen!). Wenn wir uns also
die Leistungsskala durch zwei Werte Io und Iu in drei Teile
gegliedert denken, derart, dafs die normalen Leistungsgrade durch
Io und Iu begrenzt werden, so fragen wir uns: Wieviel Prozent
der Personen, die eine bessere Leistung haben als Io, bzw. deren
Leistung zwischen Io und Iu liegt, bzw. die eine schlechtere
Leistung haben als Iu, sind männlich und wieviel Prozent sind
weiblich? Anders formuliert: Mit welcher Wahrscheinlichkeit
kann man aus der Tatsache, dafs eine Person bestimmten Alters
u. dgl. sich in einer bestimmten Beziehung übernormal bzw.
normal bzw. unternormal verhält, auf das Geschlecht dieser Person
einen Schlufs ziehen ? — Wir verzichten mit dieser Fragestellung
allerdings ganz bewulst auf gewisse Nebenergebnisse unserer
Untersuchung und fassen eben nur die Frage der Geschlechtsunter-
schiede scharf ins Auge. Wenn es sich z. B. innerhalb eines be-
stimmten Leistungsgebietes, z. B. des Gedächtnisses, um die
Frage des Altersfortschrittes handelt, so geht aus unseren Zahlen
nur hervor, ob der Geschlechtsunterschied mit wachsendem Alter
grölser oder kleiner wird ; es bleibt aber offen, ob z.B.das Grölser-
werden zugunsten der Knaben auf einer Beschleunigung des Ent-
wicklungstempos der Knaben oder auf einer Verlangsamung des
Entwicklungstempos der Mädchen beruht; das sind auch streng-
genommen nicht mehr Fragen der differentiellen Psychologie der
Geschlechter, sondern der differentiellen Psychologie der Alters-
stufen.
1) Ähnlich wie bei der „Quartile“‘-Methode. Vgl. z. B. G. UDNY YULE,
An Introduction to the Theory of Statistics. London, Charles Griffin and
Company, 2. Aufl. 1912, S. 147.
8 3. Umfang der Normalzone. 17
§ 3.
Die Bestimmung des Umfanges der ‚„Normal“-Zone der
Leistungsskala.
Wir haben es bei der Untersuchung der Geschlechtsunter-
schiede mit zwei Gruppen von Eigenschaften zu tun:
1. solchen, die nur vorhandensein oder fehlen können; wir
wollen sie als ‚„Alternativ-Eigenschaften‘‘ bezeichnen ;
2. solchen, die in verschiedener Stärke vorhandensein können,
die wir „abstufbare Eigenschaften‘ nennen wollen.
Freilich sind diejenigen Eigenschaften, die im Sprachgebrauch
als „Eigenschaften‘‘ bezeichnet werden, sämtlich abstufbare; z.B.
die Intelligenz, die Stärke des Wollens, die Gefühlserregbarkeit
usw. Wir wollen aber im folgenden als Eigenschaften auch dies
bezeichnen, was in strengerer Terminologie gewöhnlich ‚„Ver-
haltungsweisen‘‘ genannt wird. Diese werden in unserer Unter-
suchung darum eine große Rolle spielen, weil zu ihnen auch Lei-
stungen, insbesondere auch die experimentellen Verhaltungsweisen
gehören. Hier nun handelt es sich sehr oft nur darum, ob eine
bestimmte ‚Test‘‘-Aufgabe von der Versuchsperson gelöst wird
oder nicht, z. B. ob die Versuchsperson die vier Grundfarben
kennt, ob sie eine komplizierte mathematische Aufgabe zu lösen
vermag oder dergleichen.
Aulserdem müssen wir der Art der in der Literatur vor-
liegenden Ergebnisse Rechnung tragen. So gehören zwar natürlich
z. B. die Schulleistungen eigentlich zu den abstufbaren Eigen-
schaften ; wenn wir aber die Schulleistungen der Geschlechter nach
einer Versetzungsstatistik beurteilen wollen, so ist ja das Versetzt-
werden eine Alternativ-Leistung. Wir wollen untersuchen, welchen
relativen zahlenmälsigen Anteil die beiden Geschlechter an den-
jenigen Teilen der Eigenschafts- oder Leistungsskala!) haben, die
wir als gut, hoch, stark, übernormal — als normal, mittelmälsig —
als schlecht, tief, schwach, unternormal zu bezeichnen haben. Hier-
zu ist es nötig, zunächst diese etwas vagen Ausdrücke schärfer
zu präzisieren und zahlenmälsig zu definieren.
1) Da wir es in gleicher Weise mit Eigenschaften, wie mit Verhaltungs-
weisen und Leistungen zu tun haben, so werden in diesem Kapitel, das sich
auf die allgemeine Methode bezieht, diese Termini nicht scharf auseinander-
gehalten.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Erster Teil. 2
18 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
Wir gehen von dem Bilde einer Schulklasse aus; eine Leistungs-
statistik wird ergeben!), dafs ungefähr ein Viertel der Schüler
als „gute“, eine Hälfte als „genügende‘ und ein letztes Viertel
als ‚„ungenügende“ zu gelten haben. Ebenso können wir nun auch
die Menschen nach der Stärke einer Eigenschaft in eine Reihe:
ordnen und wiederum dasjenige Viertel abtrennen, bei denen die
betreffende Eigenschaft ‚stark‘, und dasjenige Viertel, bei denen
sie „schwach‘‘ vertreten ist; was übrig bleibt, ist diejenige Hälfte
der Menschen, bei denen sich die Eigenschaft in solchen Stärke-
graden findet, die als ‚mittlere‘ oder ‚normale‘ Grade zu be-
zeichnen sind. Diese Mittelzone wird also begrenzt durch zwei
Stärkegrade, die wir als Io und Iu bezeichnen wollen, jenseits
derer wir von starken bzw. von schwachen Stärkegraden sprechen.
Io ist derjenige Stärkegrad, der von genau einem Viertel der
Vpp. übertroffen wird, Iu derjenige Stärkegrad, hinter dem die:
Leistung bei genau einem Viertel der Vpp. zurückbleibt.
Natürlich sollen die von uns zu bestimmenden Io und Iu
nicht für die Gesamtheit aller Menschen und für alle möglichen
Versuchsumstände gelten, sondern sie sind vielmehr für jede unter-
suchte, nach Alter, Bildung, Rasse usw. definierte Personen-
Kategorie und für jede spezielle Versuchsanordnung, Zeitlage
u. dgl. gesondert zu bestimmen. Wir fassen also die beiden nach
Geschlecht verschiedenen, aber im übrigen gleichen und unter
gleichen Umständen untersuchten Gruppen einer Kategorie zu
einer „Klasse‘‘ zusammen und definieren als Io die Leistung der
Person %-Nr. 26,?), als Iu die Leistung der Person %-Nr. 75.
Wenn also die Anzahl der männlichen Vpp. der betreffenden
Kategorie nm, die der weiblichen nf beträgt, und demnach die
Personenzahl der ‚Klasse‘ nz = nm E nf ist, so ist Io die Leistung
26
der Person %-Nr. 26 = Nr. —
1 a , Iu die Leistung der Person
75° nz
%-Nr. 75 = Nr. "oe Allerdings gilt dies nur dann, wenn die
Leistung der Person %-Nr. 25 von derjenigen der Person %-Nr. 26
und ebenso die der Person %-Nr. 76 von derjenigen der Person %-
1) Vgl. BoBERTAG, ZAngPs. 6, 508.
2) Nach der von STERN (Differentielle Psychologie, S. 235/6) vor-
geschlagenen Symbolik: %,-Nr. 26 ist diejenige Person, die, wenn die Anzahl
der Personen 100 betrüge, in der nach der Stärke der Leistung ERBEN
Reihe der Personen die Ordnungszahl 26 erhalten würde.
§ 3. Umfang der Normaizone. 19
Nr.75 verschieden ist, d.h. wenn die Leistungsskala eine genügend
grofse Anzahl von Graden umfalst. Ist dies nicht der Fall, und
fallen gerade an den kritischen Punkten die Leistungen mehrerer
Personen auf denselben Stärkegrad, so würde, wenn wir Io als die
Leistung der Person %-Nr. 26 definieren, weniger als ein Viertel
der Personen eine bessere Leistung aufweisen ; Entsprechendes gilt
von Iu. In diesem Falle mülsten also Io und Iu durch Inter-
polation bestimmt werden; wir können allerdings für den Fortgang
unserer Rechnung auf die zahlenmälsige Bestimmung von Io und
Ju selbst verzichten und uns damit begnügen, die Prozentzahlen
der Personen, die Besseres bzw. Schlechteres leisten, durch Inter-
polation zu bestimmen. Besonders gilt dies, wenn die Leistungs-
skala überhaupt nur zwei Grade umfalst, wie dies bei den soge-
nannten Alternativ-Eigenschaften der Fall ist. Dafs wir diese
überhaupt mit den abstufbaren Eigenschaften unter einen Hut
bringen, bedarf noch einer besonderen Begründung:
In Form von Alternativ-Resultaten werden die Ergebnisse
bezüglich solcher Eigenschaften oder Leistungen mitgeteilt, bei
denen es sich nur um Vorhandensein oder Fehlen handelt, wie
bei Kenntnisprüfungen, Versetzungsstatistiken u. dgl. So sehr
nun solche Resultate als grundsätzlich von denen bezüglich ab-
stufbarer Eigenschaften (z. B. die zum Lernen eines Stoffes er-
forderliche Anzahl von Lesungen) verschieden erscheinen, so gibt
es doch zweifellos Übergänge zwischen ihnen: es kann z. B. neben
der Zahl der Versetzten und derjenigen der Nicht-Versetzten
auch die Zahl derjenigen mitgeteilt werden, die ‚mit Vorbehalt‘
versetzt werden ; die Kenntnis eines Stoffes kann nicht nur deutlich
vorhanden sein oder deutlich fehlen, sondern mehr oder weniger
auch zweifelhaft sein, u. dgl. Wir können also auch diejenigen
Eigenschaften, die uns als Alternativ-Eigenschaften entgegentreten,
als abstufbare Eigenschaften interpretieren, von denen uns aller-
dings nur zwei Stärkegrade gegeben sind. Wir dürfen annehmen,
dafs dieser letztere Umstand häufig nur auf praktischen Schwierig-
keiten oder Unvollkommenheiten der Messung beruht (ich er-
innere an den oben erwähnten Fall der Versetzungsstatistik), und
dafs wir berechtigt sind, theoretisch weitere Zwischenstufen zu
fingieren, die nur in dem tatsächlich vorliegenden Resultat zu
den beiden gröberen Stufen zusammengezogen sind. Wir dürfen
auch psychologisch annehmen, dafs nur wenigen Menschen irgend-
eine menschliche Eigenschaft völlig fehlt, und dals es sich meist
9s
20 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
nur darum handelt, ob er mehr oder weniger starke Spuren dieser
Eigenschaft besitzt, oder, dafs die Aktualisierung solcher Spuren
leichter oder schwerer zu vollziehen ist.
Wir suchen also auch hier den Anteil der beiden Geschlechter
an der Zahl derjenigen Personen zu finden, die sich in dem Viertel
der stärksten, in der Hälfte der mittleren und in dem Viertel der
schwächsten Stärkegrade der betr. Eigenschaft befinden. Auch
hier wäre eine Interpolation auf die Werte Io und Iu aus den
gegebenen Malszahlen möglich; auch hier können wir allerdings
darauf verzichten und direkt auf die entsprechenden Prozentzahlen
interpolieren.
§ 4,
Die Bestimmung des Verhältnisses der Geschlechter in
den drei Zonen der Leistungsskala.
Die Anzahl der männlichen Vpp. der zu untersuchenden
Klasse sei nm, die der weiblichen nf, die beider Gruppen zusammen
nz = nm +. nf. Das oberste Viertel der Leistungsgrade wird von
der mittleren Hälfte durch Io, das unterste Viertel durch Iu ab-
gegrenzt.
Es seien ferner die Anzahlen der männlichen und der weib-
lichen Personen,
die sich im obersten Viertel befinden, pom und pof
nz
(pom + pof = 4»
die sich in der mittleren Hälfte befinden, pcm und pef
nz
(pem T pef = 2)
die sich im untersten Viertel befinden, pum und puf
nz
(pum + puf = 7).
Diese Zahlen pom .. . puf können jedoch aus der Verteilungs-
tafel!) die das gesamte zahlenmälsige Resultat der betr. Unter-
suchung widergibt, nur dann durch einfaches Abzählen erhalten
1) Die Verteilungstafel ist so anzulegen, dafs die Resultate beider
(Geschlechter-) Gruppen der Vpp. in einer Tafel zusammengefaist werden,
innerhalb dieser aber unterschieden werden können.
8 4. Verhältnis der Geschlechter. 91
werden, wenn die Leistungsskala eine genügende Anzahl von
Graden umfafst, d. h. wenn die Leistungen der Personen %-Nr. 25
und %-Nr. 26 bzw. die der Personen %-Nr. 75 und %-Nr. 76 von-
einander verschieden sind. Ist dies nicht der Fall, so müssen pom
und pof bzw. pum und puf durch Interpolation bestimmt werden.
Wir bilden also durch Abzählen diejenige Summe p,om + pof,
die eben kleiner, und ferner die Summe pom + p,of, die eben
nz
grölser ist als T Die einzelnen Summanden dieser Summen sind
uns gleichfalls durch Abzählen zahlenmälsig bekannt. Wenn wir
nun eine lineare!) Verteilung zugrunde legen, so ergibt sich pom =
nz
(paom — p,om) (poz — 7)
Daf — — ~~. I dieser Formel können
P302 — Pı02
— zur Erleichterung der Rechnung — ev. die Indices 1 und 2
miteinander vertauscht werden. Ferner erhalten wir, indem wir
u für o bzw. f für m einsetzen, die entsprechenden Formeln für
pof, pum und puf. Die den Werten pum, puf, pom, pof entsprechen-
den Prozentzahlen sind:
pum . 100 puf . 100
Pum = — P'uf = ——
nm nf
m . 100 of . 100
Peon o porase
nm nf
Es kommt nun für unsere Untersuchung auf den Betrag der
Differenzen P'um — P’uf und P’om — P’of an. Eine solche Diffe-
renz hat jedoch immer nur einen relativen Wert; sie besagt bei
gleichem absolutem Betrage um so mehr, je kleiner die Summe von
Minuendus und Subtrahendus ist. Nun werden zwar die Summen
P’um -+ P’uf und P’om + P’of immer ungefähr 50 betragen;
sie werden diesen Betrag genau aber nur dann erreichen, wenn die
Anzahlen der männlichen und der weiblichen Vpp. gleich sind
(nm = nf). Es empfiehlt sich also, um die Differenzen miteinander
vergleichbar zu machen, die Summanden so umzuformen, dafs ihr
Verhältnis (P’um : P’uf und P’om : P’of) unverändert bleibt, ihre
1) Strenggenommen mülste natürlich in dubio eine der GAuss’schen
-` Kurve entsprechende Verteilung zugrunde gelegt werden; doch scheint
bei Zugrundelegung einer linearen Verteilung der Fehler nur unbeträchtlich
zu sein, weshalb wir diese, rechnerisch weit einfachere Methode gewählt
haben. |
22 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
Summen aber die gleichen (= 100) werden; d. h. wir stellen die
Frage: Wieviel männliche und wieviel weibliche Vpp. würden sich
im stärksten und wieviel im schwächsten Stärkeviertel -befinden,
wenn die Anzahl sämtlicher Vpp. 400 betrüge, und die Anzahlen
der m und der f Vpp. die gleiche (= 200) wäre? Die Antwort
auf diese Frage geben die Werte:
P’um . 100 P’uf . 100
Bun P’um + P’uf ul P’um -+ P'uf
P’om . 100 P’of . 100
Pom = Pom Tol Pot = biom + Pol
Die entsprechenden Werte fiir die mittlere Halfte der Starke-
skala, die nach unserer Voraussetzung 200 Personen umfalst,
ergeben sich dann als
Pem = 200 — (Pom + Pum) und Pcf = 200 — (Pof + Puf)
Diese Werte besagen also:
Wenn wir 200 männliche + 200 weibliche Personen danach
ordnen, mit welcher Stärke sie eine bestimmte Eigenschaft be-
sitzen, so befinden sich unter denjenigen 100 Personen, welche
die schwachen Grade der Eigenschaft aufweisen, Pum männliche
und Puf weibliche, unter den 200 Personen mit mittleren Stärke-
graden Pcm männliche und Pcf weibliche, unter den 100 Personen
mit hohen Stärkegraden Pom männliche und Pof weibliche.
Oder:
Wenn eine Person eines gewissen Alters usw. eine bestimmte
Eigenschaft in einem hohen Grade besitzt, so ist mit der Wahr-
scheinlichkeit Pom : Pof darauf zu schliefsen, dals sie männlich
ist; bei einer mittleren Stärke der Eigenschaft ist die entsprechende
Pem Pef,
Wahrscheinlichkeit "e "a
einem geringen Grade besitzt, Pum : Puf.
und, wenn sie die Eigenschaft in
Gewisse Abweichungen von der oben geschilderten Berechnungs-
methode ergeben sich dann, wenn in den zugrunde liegenden Einzelresultaten
d. h. in der uns literarisch zur Verfügung stehenden Verteilungstafel nicht
die absoluten Zahlen der Vpp., die eine bestimmte Leistung aufweisen,
sondern die entsprechenden Prozentzahlen mitgeteilt sind. Wir können
dann aus der Verteilungstafel entweder die Prozentzahlen P’om usw. direkt
entnehmen (nämlich dann, wenn P’om + P’of = 50) oder wir müssen,
ähnlich wie oben, aus den Prozentzahlen P,’om und P,’om auf P’om inter- `
polieren. Streng genommen wäre es allerdings im Interesse absoluter Ein-
heitlichkeit aller Berechnungen erforderlich, entweder alle als Prozentzahlen
gegebenen Einzelresultate auf absolute Zahlen oder umgekehrt alle als
§ 4. Verhältnis der Geschlechter. 23
absolute Zahlen gegebenen noch vor der Interpolation auf Prozent-
zahlen umzurechnen; denn zu genau demselben Resultat führen
die beiden möglichen Wege nur dann, wenn die Anzahlen der männlichen
und der weiblichen Vpp. gleich sind. Wesentlich verschieden fallen die
Berechnungen allerdings nur dann aus, wenn auch die Anzahlen der Vpp.
wesentlich verschieden sind; ich habe daher auf die absolute Einheitlichkeit
der Methode verzichtet und im Interesse einer sehr bedeutenden Verein-
fachung meiner Berechnungen je nach der Art, in der mir die Einzelresultate
gegeben waren, bald diese, bald jene Methode verwendet. .
Als Prozentzahlen sind uns gewöhnlich auch die Resultate
der Untersuchung von Alternativ-Eigenschaften gegeben ; nur dafs
die Stärkeskala hier nur zwei Stufen umfalst; wir können sie er-
gänzen durch zwei weitere fingierte Stufen, die so zu wählen sind,
dals keine Vpp. den betr. Stärkegrad erreicht bzw. dals alle
Vpp. ihn übertreffen. Zu den beiden Paaren der uns gegebenen
Prozentzahlen [ P’;om und P’,of; P’,um (= 100 — P’,om) und P’,uf
(= 100 — P’,of)] kommen also noch die beiden weiteren P’,om
‘(= 100) und P’,of (= 100) sowie P’;um (= 0) und P’,uf (= 0).
Wir können nun wiederum, wie vorher auf P’om usw. inter-
polieren.
Die Berechtigung einer solchen (linearen) Interpolation ist
allerdings auch hier fraglich ; sie geht von der Annahme aus, dals,
wenn sich z. B. unter den 25 besten Vpp. 12 männliche und 13
weibliche befinden, sich dann unter den 100 besten 48 männliche
und 52 weibliche befinden werden. Diese Annahme ist natürlich
nicht ohne weiteres berechtigt, da sie einen gleichen Verlauf der
Verteilungskurve bei den m und f zur Voraussetzung hat; diese
Voraussetzung aber ist sicherlich, wie wir später sehen werden,
in den meisten Fällen unzutreffend. Dennoch halten wir unter
den gegebenen Umständen, bei denen wir Näheres über die Form
der Verteilungskurve noch nicht wissen, die obige Art der Inter-
polation für relativ berechtigt, da die ihr zugrunde liegende An-
nahme und Berechnungsweise von allen sonst in Betracht kommen-
den Möglichkeiten die weitaus einfachsten sind, und die etwaigen
Fehler jedenfalls im Sinne des Zieles unserer Untersuchung nicht
sehr beträchtlich sein können.
Wir brauchen aber diese Interpolationsrechnung nicht aus-
zuführen, sondern kommen zu demselben Resultate, wenn wir
Pom usw. direkt aus den folgenden Formeln berechnen:
24 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
P,’om . 100 P’,of . 100
EO Pieri Por Pot = prom + P'of’
P,'um . 100 P’,uf . 100
Pum = P’,um + P, uf’ Puf = P’,gum + P‘,uf i
Pem = 200 — (Pom + Pum) Pcf= 200 — (Pof + Puf).
Diese ganze Methode läuft also darauf hinaus, dals wir die
eine uns gegebene Differenz zweier Prozentzahlen (P’,om — P',of)
in zwei (bzw. drei) solche Differenzen zerlegen und diese Differenzen
dann zur absoluten Grölse von Minuendus und Subtrahendus in
Beziehung setzen. — Eine solche Zerlegung dürften wir auch dann
vornehmen, wenn unsere Auffassung der Alternativ-Eigenschaften
als einer besonderen Klasse der abstufbaren Eigenschaften un-
zulässig wäre.
Rechenbeispiel.
Schulalter der 12jährigen Schüler und Schülerinnen der ‚Regular
Classes‘ sämtlicher Public Schools in Philadelphia am 15. Dezember
1909, berechnet aus ,,Annual Report of the Superintendent of
Public Schools of the City of Philadelphia, for the year ending
Dezember 31, 1910“, Tables 53—55, S. 138—143.
Von den 12jährigen Schülern Schülerinnen Summe
befanden sich in der
1. Klasse d. Elem.-Sch. 63 69 132
2. sg a 5 307 258 565
3. 5 > = 1022 831 1853
de 3 1852 1670 3522
5. Se s5 4 2185 2471 4656
6. 5 pe e 1906 2037 3943
7. gé Sé d 1036 1143 2179
8. 4, 5 s, 159 133 292
ly. = », High ,, 9 9 18
Summe nm = 8539 nf = 8621 nz = 17160
nz
“4 = 4290, %-Nr. 26 = 4462, %-Nr. 75 = 12870.
In einer höheren Klasse als der
6. befinden sich 2489 Kinder = 1204 Schüler + 1285 Schülerinnen
5. befinden sich 6432 Kinder = 3110 Schüler + 3322 Schülerinnen
Io liegt also zwischen der 5. und 6. Klasse.
In einer niedrigeren Klasse als der
§ 5. Zuverlässigkeit der herangezogenen Resultate. 25
4. befinden sich 2550 Kinder = 1392 Schüler + 1158 Schülerinnen
5. befinden sich 6072 Kinder = 3244 Schiller + 2828 Schülerinnen
Iu liegt also zwischen der 4. und 5. Klasse
p,om = 1204 pom = 3110 ' p,um = 1392 pum = 3244
p,of = 1285 p,of = 3322 pıuf = 1158 p uf = 2828
p,0z = 2489 poz = 6432 pıuz = 2550 p,uz = 6072
Daraus ergibt sich
pom = 2047 pum = 2307
pof = 2216 puf = 1983
P’om= 24 P’um= 27
Pof = 26 P' uf = 23
Pom = 48 Pcm = 98 Pum = 54
Pof = 52 Pcf = 102 Puf = 46
Do =-— 4 Du = — 8 (vgl. § 9)
Qo = 8 Qu = 32 (vgl. § 5)
Vm = 0,20 Vf = 0,20 (vgl. § 28).
8 5.
Die Beurteilung der Zuverlässigkeit der herange-
gezogenen Resultate.
Das in der psychologischen und pädagogischen Literatur oder
sonstwie (z. B. als Zensuren) vorliegende Material über psychische
Geschlechtsunterschiede ist aulserordentlich umfangreich; ich
glaube, die Zahl der der Forschung unmittelbar zugänglichen
Einzelresultate nicht zu überschätzen, wenn ich sie auf etwa
10000 veranschlage. Was die psychologische Literatur betrifft,
so wären ja nicht nur diejenigen Arbeiten heranzuziehen, die aus-
drücklich mit der Absicht, Geschlechtsunterschiede zu konstatieren,
unternommen wurden, sondern auch alle diejenigen, bei denen
zum Zwecke einer allgemein psychologischen Feststellung neben
männlichen auch weibliche Versuchspersonen verwendet wurden.
Abgesehen davon, dals diese Fülle des Materials schon an sich
eine gewisse Beschränkung auferlegt, so ist auch der Wert der
vorliegenden Resultate für unsere Fragestellung ein sehr ver-
schiedener.
Als Gesichtspunkt für die Auswahl des von uns heranzu-
ziehenden Materials entscheiden wir uns also für den der Zuver-
lässigkeit.
26 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
Für die Beurteilung der Zuverlässigkeit eines Resultates über
Geschlechtsunterschiede stehen uns folgende Kriterien zur Ver-
fügung:
1. Die Bedingungen, unter denen das Resultat gewonnen
wurde, müssen für die Personen beider Geschlechter durchaus die
gleichen gewesen sein, und auch die Personen selbst, an denen die
Resultate gewonnen wurden, müssen in bezug auf Alter, Bildungs-
grad, Bildungsart, Übungsgrad u. dgl. einander gleichen und dürfen
sich nur durch ihr Geschlecht, d. h. primäre und sekundäre Ge-
schlechtsmerkmale unterscheiden.
Die Frage der Gleichheit der Versuchsbedingungen wird sich
im allgemeinen leicht entscheiden lassen. Nur ein Punkt ist dabei
fraglich: liegt es in der Forderung der Gleichheit der Versuchs-
bedingungen, dafs der Versuchsleiter für beide Geschlechter die-
selbe Person ist, oder ist diese Gleichheit dann in höherem Grade
gewährleistet, wenn der Versuchsleiter stets von demselben oder
stets von dem anderen Geschlecht ist wie die Versuchspersonen ?
Die Frage wird z. B. dann relevant, wenn wir uns entscheiden
sollen, ob wir zum Vergleich der Schulleistungen der beiden Ge-
schlechter die Leistungen in Mädchenschulen mit den Leistungen
in Knabenschulen miteinander vergleichen sollen, oder ob wir
Wert auf die gleichbleibende Person des ‚‚Versuchsleiters‘‘ legen,
d. h. nur die aus Koinstruktion stammenden Schulleistungen in
Vergleich setzen sollen. Wir haben uns für das letztere ent-
schieden!), werden aber damit rechnen müssen, dafs möglicher-
weise bei Koinstruktion dasjenige Geschlecht dem auch die Lehr-
person angehört, eo ipso im Vorteil oder eo ipso im Nachteil sei.
2. Nachdem wir die Herkunft der Resultate geprüft haben,
müssen wir die Resultate selbst daraufhin untersuchen, ob sie für
unsere Zwecke verwertbar sind. Eine Bedingung dafür ist natürlich
zunächst die, dals die vorliegenden Zahlenangaben die für unsere
Berechnungsweise erforderlichen Grundlagen enthalten. Bei ab-
1) Wir haben also nur solche Schulzensuren und Examensleistungen
männlicher und weiblicher Personen in Vergleich gestellt, bei denen die
zensierende Lehrperson dieselbe war. Eine Ausnahme bilden die Leistungen
der über 10 Jahre alten Stockholmer Schulkinder (7), da in Stockholm
nur bis zu diesem Alter Koinstruktion herrscht. Aber da es sich hier um
dieselben Kinder handelt, deren Schulleistungen durch ihre ganze Schul-
laufbahn hindurch verfolgt wurden, so haben wir auch die Leistungen der
über 10 Jahre alten gerade des Vergleichs wegen mit aufgenommen.
§ 5. Zuverlässigkeit der herangezogenen Resultate. 27
stufbaren Eigenschaften dürfen also nicht nur die arithmetischen
Mittel oder Zentralwerte gegeben sein, sondern wir mussen aus
einer Verteilungstafel entnehmen können, wie viele Personen jedes
Geschlechts auf jeden Stärkegrad der Eigenschaft entfallen; bei
nicht abstufbaren Eigenschaften dürfen die mitgeteilten Prozent-
zahlen keine ‚gemischten‘ semi), d bh die Zahl der zugrunde
liegenden Versuche (n) darf nicht nur als Produkt aus der Zahl der
Vpp. und der Zahl der mit jeder Vp. angestellten Versuche mit-
geteilt sein. ® .
Wir haben dann zu untersuchen, ob die Zahl der Personen
jedes Geschlechts ausreichend war, um jeden Zufall auszuschliefsen,
d. h. um die Möglichkeit als unwahrscheinlich hinzustellen, dafs
von dem einen Geschlecht zufällig z. B. besonders Intelligente,
vom anderen besonders Unintelligente als Versuchspersonen aus-
gewählt wurden, die nicht als typische Vertreter ihres Geschlechts
betrachtet werden können. Dals ein Resultat in diesem Sinne auf
Zufall beruhe, wird um so weniger wahrscheinlich sein, je grölser
entweder der gefundene Unterschied oder die Zahl der Personen
beider Gruppen ist. Je grölser der Unterschied, desto kleiner
kann die Zahl der Personen sein, wenn die Wahrscheinlichkeit,
dafs das Resultat nicht auf Zufall beruhe, denselben Wert behalten
soll. Diese Gesetzmälsigkeit kommt in der von Berz*) angegebenen
Formel für den wahrscheinlichen Fehler der Differenz. zweier
Prozentzahlen zum Ausdruck. Das Resultat kann mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit dann als zuverlässig betrachtet werden, wenn
die Differenz der Prozentzahlen wenigstens doppelt?) so grols ist
wie der Betrag des wahrscheinlichen Fehlers:
41/P’um (100 — P’um) P’uf (100 — P’uf)
| P'um — P'uf So a ren
3 nm nf
1) Vgl. LIPMANN, Welche Mindestzahl von Versuchen ist zur Sicherung
eines zahlenmälsigen Resultates erforderlich ? Z Ang Ps. 7, 409—414, 1913.
2) BETZ, Der wahrscheinliche Fehler von prozentuellen Häufigkeiten,
Z Ang Ps. 5, S. 365, 1911.
3) Bei astronomischen und physikalischen Beobachtungsreihen be-
trachtet man ein Ergebnis erst dann als verbürgt, wenn es seinem Betrage
nach etwa 4mal so grof» ist wie der w. F. — Übrigens verwendet man dort
fast ausschliefslich den mittleren Fehler als Maís der erreichten Genauig-
keit. — Bei Anwendung eines ebensoscharfen Kriteriums hätte ich nur
solohe Differenzen verwenden dürfen, bei denen Q > 7;d.h. ich hätte mehr
als die Hälfte der verwerteten Einzelergebnisse aulser Betracht lassen müssen.
28 Kapitel I. Die Methode der Untersuchung.
ke (P’um — P’uf)® S 16
` P'um (100 — Pum) Puf (100 — Puf)~ 9
a ee nn,
nm nf
Bezeichnen wir die linke Seite der letzten Ungleichung mit
Qu, so ist also das Bestehen einer Differenz P’um — P’uf dann als
relativ sicher gestellt zu betrachten, wenn Qu > 2.
Ebenso können wir, indem wir den Wert
(P’om — Doft
od
Pom. (100— Pom) Prof ,(100- Pop ~ Q?
nm + nf
setzen, das Bestehen der Differenzen P’om — P’of dann als relativ
sichergestellt betrachten, wenn Qo = 2')*).
Diese Methode ist nur dann unbrauchbar,
a) wenn P’um = P’uf bzw. P’om = P’of, weil dann der
Betrag von Qu bzw. Qo immer gleich 0 wird, d. h. eine unendlich
grolse Zahl von Versuchspersonen erforderlich wäre, um dem
Quotienten einen endlichen Wert zu verleihen. Wir helfen uns
in diesem Falle, indem wir den Quotienten so berechnen, als ob
P’um = P’uf + 1 bzw. P’om = P’of + 1 ware.
b) Wenn von den Werten P’um und P’uf bzw. P’om und P’of
der eine gleich 100, der andere gleich 0 ist, weil dann immer Qu =
co bzw.Qo = oo, auch wenn nm und nf nur gleich 1 sind. Ebenso
waren rein rechnerisch betrachtet allzu kleine Anzahlen von Vpp. er-
forderlich, wenn die Differenzen P'um — P’uf bzw. P'om — P’of
gleich 99,98... sind. Die Berzsche Formel führt nur dann zu
praktisch brauchbaren Werten, wenn die Differenzen der Prozent-
1) Wenn Q = 2 479 11 16 22 25 28 36 44 49 64 81
u a = 2,13445 6 6 77,5 8 9 10 10,5 12 13,5 usf.
3) Die Grölse des wahrscheinlichen Fehlers hängt, abgesehen von der
Personenzahl, nicht nur von der Grofse der Differenz, der beiden Prozent-
zahlen, sondern auch davon ab, ob diese mehr oder weniger nahe an 50
liegen. Nun ist die Summe der nach der Klassifikationsmethode gewonnenen
Prozentzahlen (P’om + P’of bzw. P’um + P’uf) stets annähernd gleich 50;
diese Prozentzahlen selbst liegen also meist in der Nähe von 25; dagegen
können die nach der Alternativmethode berechneten Prozentzahlen-
Summen P’om + P’of und P’um + P’uf jeden Zahlenwert zwischen 0 und
100 annehmen, und daher sind auch die einzelnen Summanden in ihrer
Gröfse völlig frei. Aus diesem Grunde sind die zu abstufbaren und zu
Alternativresultaten zugehörigen Q miteinander nicht völlig vergleichbar,
so ist
BA Zuverlässigkeit der herangezogenen Resultate. 29
zahlen höchstens etwa gleich 15 sind. In allen Fällen, in denen
sie grölser sind, wird man als Mindestzahl von Vpp. wenigstens
10 m und 10 f fordern müssen, auch wenn sich þei geringeren An-
zahlen noch Werte von Qu > 2 bzw. Qo > 2 ergeben.
Wir scheiden also zunächst alle Fälle aus, in denen die Zahl
der m und der f nicht wenigstens je 10 ist. Bei den übrig bleibenden
Resultaten stellen wir den wahrscheinlichen Fehler und den
Quotienten @ fest und scheiden ferner diejenigen Fälle aus, in
denen Q < 2.
Sind die Resultate in einer nach irgendwelchen Gesichts-
punkten fraktionierten Form gegeben, werden also z. B. die ge-
bildeten m und f getrennt von den ungebildeten, die jüngeren
getrennt von den älteren behandelt, oder war eine Veränderung
der Versuchsanordnung für die Fraktionierung malsgebend, so
behalten wir sie in möglichst hohem Grade bei. Wir berechnen
also auch den wahrscheinlichen Fehler für jedes Teilresultat be-
sonders. Nur dann, wenn die Teilresultate — jedes für sich be-
trachtet — zu kleine Q ergeben, in sich aber, was die Richtung
des Unterschiedes zwischen den m und den f betrifft, überein-
stimmen, ziehen wir sie zu einem Gesamtresultat zusammen und
berechnen für dieses den wahrscheinlichen Fehler.
Die Zusammenziehung der Teilresultate (a, b ...) zu einem Gesamt-
resultat kann auf zwei Wegen erfolgen:
1. Wir bilden pum puma + pumb +...
puf = pufa + pufb +...
pom = poma + pomb +...
pof = pofa + pofb +...
berechnen aus pum bzw. puf bzw. pom bzw. pof
und den Werten nm = nma + nmb +...
und nf =nfa +nfb +...
die Werte P’um, P’uf, P’om und P’of,
berechnen nach der angegebenen Methode die wahrscheinlichen Fehler der
Differenzen P’um — P’uf und P’om — P’of und bilden die Werte Qo und Qu.
2. Von dieser Methode kann man dann abweichen, wenn die zwei oder
mehr Teilreihen (a, b, ...), deren Resultate jedes für sich nicht ausreichen,
um gleiche Zentralwerte (Icz) gruppiert sind. Man kann dann von der Be-
stimmung der den Teilreihen entsprechenden Werte puma ... pofb ab-
sehen, die Einzelwerte beider Reihen zu einer Reihe kombinieren und
gleich fiir diese kombinierte Reihe die Werte pom ... pof bestimmen und
mit ihnen wie oben verfahren.
30
Kapitel II.
Die Einzelergebnisse.
§ 6.
Vorbemerkung.
Ich habe indiesem Kapitel die sämtlichen , meinen weiteren Aus-
führungen zugrunde liegenden zahlenmälsigen Resultate zusammen-
gestellt, und zwar inder Form, dals für jede Einzeluntersuchung und
für jede Gruppe von Vpp. angegeben wird, wie viele männliche Vpp.
sich im obersten Leistungsviertel (Pom), in der mittleren Leistungs-
hälfte (Pem) und im untersten Leistungsviertel (Pum) befinden
würden, wenn die Gesamtanzahlen der männlichen und der weib-
lichen Vpp. gleich (= 200) wären, wenn sich also im obersten
Leistungsviertel im ganzen 100, in der mittleren Hälfte im ganzen
200 und im untersten Leistungsviertel im ganzen 100 Vpp. be-
fänden. Die entsprechenden Anzahlen für die weiblichen Vpp.
(Pof, Pef, und Puf) sind also aus den angegebenen Zahlen ohne
weiteres durch Subtraktion von 100, bzw. 200 zu ermitteln. Einer
Überlegenheit der männlichen Vpp. über die weiblichen hinsichtlich
einer bestimmten Eigenschaft entspricht also die Tatsache, dafs
ein Pom > 50 oder ein Pum < 50.
Die mitgeteilten Zahlen können auch so verstanden werden:
Sie bezeichnen die Wahrscheinlichkeit, mit der aus einer guten,
bzw. schlechten Leistung bei der betreffenden Untersuchung auf
das männliche Geschlecht der Vpp. geschlossen werden kann. Ins-
besondere ergibt sich bei der Untersuchung der Alternativ-Eigen-
schaften, dafs oft nur das Vorhandensein, nicht aber das Fehlen
der betreffenden Eigenschaft als charakteristisch für das eine oder
das andere Geschlecht betrachtet werden kann, nämlich wenn die
Eigenschaft überhaupt selten ist (dann ist im extremsten Falle
Pom = 100, Pem = 50, Pum = 50 oder Pom = 0, Pem = 150,
Pum = 50); auch umgekehrt ist, bei Eigenschaften, die tiberhaupt
nur sehr selten fehlen, natürlich nur das Fehlen, nicht aber das
Vorhandensein für ein Geschlecht charakteristisch (im extremsten
Falle ist dann Pom = 50, Pem = 150, Pum = 0 oder Pom = 50,
Pem = 50, Pum = 100).
Der Grad der Zuverlassigkeit des betreffenden Resultates
§ 6. Vorbemerkung. | 31
wird durch die Symbole Qo und Qu bezeichnet. Sie zeigen an,
wieviel mal die Differenz der zugrunde liegenden Prozentzahlen
grölser ist als ihr wahrscheinlicher Fehler. Resultate, bei denen
Q < 2, sind nicht mit angeführt. Häufig war bei einem Resultat
nur Qo oder Qu grölser als 2; dann wird nur Pom bzw. nur Pum
mitgeteilt, und die fehlenden Angaben sind durch — ersetzt.
Die aus einer und derselben Untersuchung herrührenden
Einzelergebnisse sind im allgemeinen — d. h. so weit sachliche
Gründe (inhaltliche Zusammenhänge) nicht eine andere Reihen-
folge bedingten — so angeordnet, dafs diejenigen Fragen, bei
denen sich durchschnittlich die gröfste Überlegenheit der männ-
lichen Versuchspersonen ergab, an die Spitze, und diejenigen, bei
denen die weiblichen Versuchspersonen sich am stärksten über-
legen zeigten, ans Ende gestellt sind.
Diejenigen Ergebnisse, zu denen als Malsstab der Inter-
variation Vm und Vf berechnet werden konnte (vgl. Teil II B
S. 53 und § 34) sind durch x bezeichnet; diejenigen Ergebnisse,
bei denen als Mafsstab der Intervariation einer kombinierten
Gruppe auch Vz berechnet werden konnte, sind durch x x be-
zeichnet.
Ich teile die Resultate in zwei Abteilungen, indem ich zu-
nächst die aus nicht veröffentlichten Materialien herrührenden,
und im nächsten Paragraphen die der Literatur entnommenen
zusammenstelle, alphabetisch nach den Namen der Untersucher
geordnet.
3.7.
Die aus unveröffentlichten Materialien herrührenden
Ergebnisse siehe Teil II A,.S. 6ff.
§ 8.
Die der Literatur entnommenen Ergebnisse.
Wegen des grofsen Umfanges der hierhergehörigen Tabellen
mulste von einer Drucklegung abgesehen werden. Die Tabellen
liegen im Archiv des Instituts für angewandte Psychologie, Berlin,
und stehen von dort aus Interessenten zur Einsichtsnahme zur
Verfügung. |
32
Kapitel III.
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
§ 9.
Vorbemerkung.
Der Hauptzweck dieses Kapitels ist der, die bisher nur nach
Autoren geordneten Einzelresultate einigermalsen in ein System
zu bringen. Es soll also eine Übersicht darüber ermöglicht werden,
ob und inwieweit die Autoren, welche dieselben oder verwandte
Probleme bearbeitet haben, hinsichtlich der Geschlechtsunter-
schiede zu demselben Resultat gekommen sind, oder ob Wider-
sprüche vorliegen, wie solche sich etwa lösen lassen usw. Es werden
also in diesem Kapitel nicht sämtliche Resultate des Kapitels II
noch einmal angeführt werden; andererseits werden manche Er-
gebnisse auch zwei oder mehreren Schlagworten unterzuordnen sein.
Ich gebe die zahlenmälsigen Resultate hier in verkürzter
Form in groben Durchschnittszahlen wieder, nur um eine ganz
ungefähre Übersicht über die Grölse etwaiger Geschlechtsunter-
schiede zu ermöglichen; für eingehendere Untersuchungen muß
auf das Studium der Tabellen des Kapitels II verwiesen werden.
Was die Form, in der ich diese Durchschnittsresultate hier mit-
teile, betrifft, so habe ich die Werte Do = Pom — Pof und Du
= Puf — Pum gewählt. Die Werte Do und Du zeigen also an, um
wieviel Personen die männlichen Vpp. unter den 100 Personen des
obersten Viertels stärker bzw. unter den 100 Personen des untersten
Viertels schwächer vertreten sind als die weiblichen Vpp. Positives
Vorzeichen deutet also stets auf Überlegenheit der männlichen,
negatives Vorzeichen auf Überlegenheit der weiblichen Personen. —
Wenn sich z. B. bei einer Ästhesiometer-Schwellen-Bestimmung
Do = — 92, Du = — 32 ergibt, so bedeutet dies, dafs sich unter
den Personen mit relativ niedrigen Schwellen (oberstes Leistungs-
viertel) 4% männliche und 96% weibliche (4 — 96 = — 92) be-
fanden; und unter den Personen mit relativ hohen Schwellen
(unterstes Leistungsviertel) 66%, männliche und 34% weibliche
(34 — 66 = — 32).
Die den Paragraphenüberschriften hinzugefügten Nummern
verweisen auf diejenigen im Literaturverzeichnis angeführten
Arbeiten bzw. auf diejenigen in Kapitel II angeführten Ergebnisse,
die im betr. Abschnitt herangezogen werden.
§ 10. Empfindungen. 33
Tabellarische Übersichten über die hier besprochenen Er-
gebnisse finden sich im Teil II C, S. 56ff.
§ 10.
Empfindungen.
1. Raumsinn der Haut.
(20, 35, 88/89, 97, 105.)
Die Ergebnisse der von Burrt-MoorE, GALTON, SCHUYTEN,
STERN und Taomrson an Personen verschiedenen Alters und an
verschiedenen Stellen der Körperoberfläche (rechter Unterarm,
rechtes und linkes Jochbein, rechter Zeigefinger) angestellten
Versuche stimmen i. A. darin überein, dafs die f!) zwei die Haut
gleichzeitig berührende Zirkelspitzen noch bei kleinerer Spitzen-
distanz als zwei zu erkennen vermögen als diem. Ein Unterschied
findet sich nur bei den intelligenteren Vpp. ScauyTEns, d.h. denen,
die sich bei gleichem Alter (10 Jahre) bereits in einer höheren
Schulklasse befinden als ihre Altersgenossen. Hier ist die Haut-
empfindlichkeit der Knaben deutlich feiner als die der Mädchen;
bei den weniger intelligenten 10jährigen scheint die Überlegenheit
der Mädchen bei fortgesetzten Versuchen unter dem Einflusse
der Übung abzunehmen.
2. Druck- und Schmerzsinn.
(8, 96, 105.)
Nach Tuoursons Untersuchungen gibt es unter den wenig
gegen Druck und Schmerz empfindlichen Studenten mehr m als f
(Du = — 38).
Ebenso deutet das Ergebnis von Hreymans, dafs unter den
übertrieben gegen Kälte empfindlichen Kindern sich mehr Mädchen
als Knaben befinden, auf eine grölsere Hautsensibilität der f (Do =
— 28, Du = — 2).
Andererseits könnte man aus dem Ergebnis Srarsucks, dals
nämlich nur bei Männern einer ‚inneren Wandlung“ manchmal
1) Wenn ein Resultat nur für gewisse Altersstufen gilt, so sprechen
wir vom Gegensatz der Knaben und Mädchen bzw. der Männer und Frauen.
Gilt es allgemeiner, so verwenden wir die Symbole m = männliche Personen,
f = weibliche Personen.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Erster Teil. 3
34 Kapitel IIl. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Sensibilitätsstörungen vorausgehen, schlielsen, dals die Sen-
sibilität im Seelenleben des Mannes eine grölsere Rolle spielt als
in dem der Frau (Do = + 100, Du = + 16).
3. Gewichtsinn unter normalen und unter täuschenden
Bedingungen.
(10, 91, 105, 118.)
Die Unterschiedsempfindlichkeit für zu hebende Gewichte
ist von THompson unter normalen, von SEASHORE und WoLFE
unter täuschenden Bedingungen an Studenten untersucht worden;
in den letzteren Fällen unterschieden die miteinander zu ver-
gleichenden Gewichte sich auch durch ihr Material und ihre Raum-
grölse. Es ergab sich, unabhängig von solchen Bedingungen, fast
durchgängig eine Überlegenheit der Männer. Ebenso fanden
Broca-Preiss, die von Kindern fünf Gewichte in eine Reihe ordnen
liefsen, eine Überlegenheit der Knaben, die aber mit wachsendem
Alter abzunehmen scheint.
4. Geschmacksinn.
(48, 76, 105.)
Nach den Ergebnissen Tnomrsons an Studenten werden Chinin-
(bittre) und Schwefelsäure- (saure) Lösungen von reinem Wasser
von Frauen bereits bei schwächeren Lösungsgraden unterschieden
als von Männern; unter den Personen mit mangelhaftem Unter-
scheidungsvermögen befinden sich nur relativ wenig Frauen.
Auch die Konzentration einer Schwefelsäurelösung, die zur
Erkennung des saueren Geschmackes eben ausreicht, braucht für
Frauen nur eine weniger gesättigte zu sein als für Männer.
Dafs Geschmackseindrücke auf Frauen lebhafter wirken als
auf Männer, geht vielleicht auch aus der Feststellung Potwins
hervor, wonach die am weitesten zurückreichende Erinnerung nur
bei Frauen sich manchmal auf einen Geschmackseindruck bezieht
(Do = — 100, Du = — 4).
Andererseits legen Männer mehr Wert auf gutes Essen und
Trinken, wie auch aus der Enquete von HEeyMans-WieErsMa hervor-
geht (Do = + 20, Du = + 15).
§ 10. Empfindungen. 35
5. Gehorsinn.
(1, 7, 8, 20, 48, 61, 65, 82, 90, 91, 96, 98, 105, 112.)
Unter den Studenten, deren Hörgrenze weit herabreicht, fand
Taosrson mehr Männer als Frauen.
Die Unterschiedsempfindlichkeit für Tonhöhen fanden Burr-
Moore und SEASHoRE übereinstimmend bei f besser als beim. Unter
den von ScuwasE-BarrtHotomir untersuchten Schulrekruten ver-
mochten jedoch mehr Knaben als Mädchen einen vorgesungenen
Ton richtig nachzusingen (Do = + 8, Du = + 10).
In gewissem Zusammenhange mit der besseren Unterschieds-
empfindlichkeit steht vielleicht auch die übereinstimmend von
. Heymans und Heymans-Wiersma konstatierte weitere Verbreitung
der musikalischen Begabung unter den Frauen, der Amusie bei
den Mannern.
Das gleiche Bild zeigen im allgemeinen die Schulleistungen
in Bielefeld, Bristol, Stockholm und Washington.
Ebenso ist die Beschäftigung mit Musik bei mehr Frauen als
Männern die Lieblingsbeschäftigung, wie sich übereinstimmend
bei Heymans und Txompson zeigt.
Gesang als Lieblingsfach in der Schule zeigt keine überein-
stimmenden Ergebnisse (H. Stern, Wiederkehr). Hier ist wohl
auch weniger Freude an der Musik malsgebend, als z. B. der Um-
stand, dals „Gesang‘‘ zu den Fächern gehört, für die keine häus-
lichen Arbeiten u. dgl. zu leisten sind.
Auch dafs nach Monroe und ScHEirter mehr Knaben als
Mädchen das Spielen mit Trommeln und Blasinstrumenten usw.
als Lieblingsspiel bezeichnen, deutet wohl nicht auf eine grölsere
Vorliebe der Knaben für „Musik“!
Dafs das Hören im Seelenleben der Frau öfter eine Rolle
spielt als in dem des Mannes, geht endlich vielleicht auch aus
StArBucks Feststellungen hervor, wonach nur bei Frauen einer
„inneren Wandlung‘ manchmal Hörstörungen vorausgingen (Do =
— 100, Du = — 4).
3*
35 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
6. Gesichtssinn.
a) Helligkeit.
(95, 105.)
Spearman fand unter den 10-—13jährigen Kindern mit
schlechter Unterschiedsempfindlichkeit für Grau-Nuancen mehr
Knaben.
Dagegen zeigen die Ergebnisse Tuomrsons an Studenten eine
bessere Unterschiedsempfindlichkeit der Männer.
b) Farben.
(11, 30, 44, 51, 76, 84, 96, 105, 110, 111.)
Bei Schwellenuntersuchungen fanden sowohl Jones wie
Tompson eine Überlegenheit des männlichen Geschlechts: ersterer
untersuchte den Grad der Sättigung, die eine Mischung von Blau
mit Grau haben muls, damit das Blau erkannt wird, und fand,
dals sich unter den Kindern mit niedriger Erkennungsschwelle '
mehr Knaben befanden. Tnaomrson fand, dals unter den Studenten,
welche die Farben nur bei geringer Entfernung zu erkennen
vermochten, mehr weibliche waren.
Für Unterschiede der Farben untereinander dagegen scheinen
f empfindlicher zu sein. Dies geht sowohl aus Untersuchungen
von ENGELSPERGER-ZIEGLER hervor, der 6jährige Kärtchen gleicher
Farbe einander paarweise zuordnen liefs, wie auch aus der Unter-
suchung Henmons, der Studenten Rot-Gelb-Nuancen in eine Reihe
von Rot iiber Orange zu Gelb ordnen liefs, wie endlich aus der
Untersuchung Tuomrsons, die Studenten allgemein nach der Güte
ihres Farbensinns klassifizierte. Auch sonst ist es ja bekannt,
dals Farbenblindheit bei weiblichen Personen nur äulserst selten
vorkommt.
Ebenso sind nach den Ergebnissen von BoBERTAG, ENGELS-
PERGER-ZIEGLER und WARBURG an Schulkindern die Kenntnis der
Farbworte und ihrer richtigen Anwendung unter den Mädchen
weiter verbreitet als unter den Knaben. Nach Warsurcs Resul-
taten ist es besonders die Nicht-Kenntnis der zu einer Farbe
gehörigen Bezeichnung, die mit wachsendem Alter immer mehr
nur bei Knaben zu finden ist.
Nach We tts Untersuchungen an Studenten wirkt Gelb auf
mehr Männer als Frauen anregend und auf mehr Frauen als Männer
§ 10. Empfindungen. 37
beruhigend; dagegen wirken Karmoisinrot und besonders Blau-
grün auf mehr Frauen als Männer anregend.
Was die Beliebtheit der Farben betrifft, so sind die Ergebnisse
in sich relativ wenig übereinstimmend. Mit einiger Sicherheit
läfst sich nach ScHUYTEN nur dies sagen, dafs Grün und besonders
Weils von Mädchen, Rot von Knaben bevorzugt wird. EnGELSs-
PERGER-ZIEGLER fanden Beliebtheit von Lila-Purpur häufiger bei
Mädchen, Beliebtheit des Orange häufiger bei Knaben, — dagegen
Unbeliebtheit des Orange häufiger bei Mädchen, Unbeliebtheit
des Schwarz häufiger bei Knaben.
Dals endlich ganz allgemein Gesichtseindrücke häufiger auf
weibliche Personen als auf männliche einen besonders starken
Eindruck machen, läfst sich vielleicht aus einer Feststellung
Porwıns entnehmen, wonach das in der Erinnerung am weitesten
zurückliegende Erlebnis öfter bei Frauen als bei Männern ein
Gesichtseindruck ist (Do = — 52, Du = — 10).
c) Optischer Raumsinn. Augenmafs unter normalen
und täuschenden Bedingungen.
(20, 22, 37, 67.)
Bei den hier vorliegenden Versuchen (von GiERING und Burr-
Moore) an Schulkindern erwiesen sich die Knaben den Mädchen
überlegen ; nur bei den Untersuchungen GiErınGs über die Tiefen-
dimension waren unter den älteren (l4jährigen) Vpp. fast
immer mehr Mädchen als Knaben, welche die relative Entfernung
zweier Stäbe vom Auge häufiger richtig und seltener falsch be-
urteilten.
Dagegen erzielten, wie gesagt, die Knaben bessere Resultate
bei der Zwei- und der Dreiteilung einer Strecke, sowie bei der
Reproduktion einer 10 cm langen Linie (Burt-Moore), beim Si-
multan- und Sukzessivvergleich horizontaler und vertikaler Punkt-
und Strichdistanzen, beim Vergleich der Höhe und der Breite
eines Rechtecks, beim Vergleich zweier Kreise, von denen der eine
die äulsere Begrenzung eines Ringes, der andere die innere Be-
grenzung eines anderen Ringes darstellt (Gierıns). Die Knaben
widerstanden also sowohl der Quadrat- wie der Ringtäuschung
im höheren Grade als die Mädchen; die Überlegenheit der Knaben
über die Mädchen bei der Quadrattäuschung ist gröfser bei den
14 jährigen als bei den 6jährigen.
38 Kapitel 111. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Auch richtige Schätzungen finden sich nach CLArAREDES
Untersuchungen bei Männern häufiger als bei Frauen, und zwar
macht es dafür anscheinend wenig aus, wie grols das zu schätzende
Objekt ist, und ob es bei unmittelbarer Wahrnehmung oder aus
der Erinnerung geschätzt wird. Bei Fehlschätzungen neigen mehr
Männer als Frauen zu Überschätzungen. Umgekehrt fand Myers
bei Versuchen, auf die ich später ($ 12,2) noch zu sprechen komme,
dafs bei der Reproduktion von Geldmünzen u. dgl. Überschätzungen
sich öfter bei Frauen, Unterschätzungen öfter bei Männern finden.
7. Zeitsinn.
(67, 91, 114.)
Nach den Versuchen von SEASHORE und YERKES-ÜRBAN sind
die Männer den Frauen sowohl in der Reproduktion wie in der
Schätzung kurzer Intervalle überlegen, und zwar anscheinend
um so mehr, je kürzer das zu schätzende oder zu reproduzierende
Intervall ist. Damit stimmt überein, dals bei der Schätzung von
Intervallen, die sich über Jahre erstrecken, nach Versuchen von
Myers, eine deutliche Überlegenheit des einen Geschlechts über-
haupt kaum mehr zu konstatieren ist. Von neun Fragen, die sich
auf die zeitliche Lokalisation zurückliegender Ereignisse bezogen,
wurden sechs von Männern, drei von Frauen besser und sicherer
beantwortet.
Die Männer neigen im allgemeinen mehr zur Überschätzung,
die Frauen mehr zur Unterschätzung der Intervalle; oder — anders
ausgedrückt — die Männer reagieren zu langsam, die Frauen zu
rasch. Mit der Grölse der Intervalle scheint die Überschätzungs-
tendenz der Männer zuzunehmen.
Die Schätzung der Männer ist derjenigen der Frauen am meisten
überlegen, wenn das Intervall durch eine eigens darauf gerichtete
Aufmerksamkeit, am wenigsten, wenn es durch Diktatschreiben
ausgefüllt wird. Ebenso zeichnen sich die Männer im ersten Falle
am meisten, im letzten Falle am wenigsten durch Überschätzung
des Intervalles aus; auch die Unterschätzungstendenz der Frauen
ist im letzten Falle am geringsten.
§ 11. Bewegung. 39
§ 11.
Bewegung.
1. Schnelligkeit einfacher Bewegungen und Verrich-
tungen (psychisches Tempo).
(8, 20, 21, 26, 88, 48, 91, 104, 105, 114.)
Die Untersuchungen von Burt-Moore, Giese und Txompson
stimmen darin überein, dafs sich unter den Personen, die ein
rasches Klopftempo wählen, mehr m, unter den Personen mit lang-
samem Klopftempo mehr f befinden. SEAsHorE allerdings kommt
zu dem entgegengesetzten Resultat; doch nimmt die Minorität
der Frauen in dem Viertel mit langsamem Klopftempo bei
länger fortgesetztem Versuche ab, was auf stärkere Ermüdbarkeit
der Frauen deutet. Auch bei THompsons Versuchen zeigen sich
unter den weniger ausdauernden Personen mehr Frauen (Du =
+ 38). |
Die Knaben befinden sich ferner zahlreicher unter den schnellen
Gehern (nach SzcymMansx1) und weniger zahlreich unter denen, die
die Schule langsam verlassen (nach Heymans). Nach YERKES-
Ursan können Männer auch schneller Buchstaben zählen.
Dagegen sind nach Burt-Moore die Mädchen in der Schnellig-
keit des Zählens und des Lesens, nach Courtis auch in der Schnellig-
keit des Abschreibens, nach Carree in der Schnelligkeit des Aus-
teilens von Karten überlegen. Auch nach Heymans-WIeERsMa be-
finden sich unter den „gesetzten und ruhigen‘ Personen etwas
mehr Manner (Do = + 4).
2. Reaktionszeit.
a) Einfache Reaktion.
(20, 105.)
Die Ergebnisse bez. einfacher Reaktionszeiten stimmen nicht
überein : Tuo{mrson liefs ihre Vpp. (Studenten) auf einfache optische
oder akustische Reize reagieren und fand dabei unter den langsamen
Reagenten eine Minorität der Männer (Du = + 46).
Dabei findet sich ‚‚motorische Reaktionsweise‘“ (d.h. Richtung
der Aufmerksamkeit auf die auszuführende Bewegung) häufiger
bei Männern, ‚sensorische Reaktionsweise‘‘ (Richtung der Auf-
merksamkeit auf den erwarteten Reiz) häufiger bei Frauen.
40 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Burt-Moore fanden bei ihren 13jährigen Vpp., dafs das Tempo,
bei dem noch richtiges Zielen auf vorüberziehende kleine Kreise
möglich ist, für Knaben langsamer sein muls (Do = — 42, Du =
— 22).
b) Unterscheidungsreaktion.
(45, 91.)
Ebensowenig finden sich bei den Untersuchungen über Unter-
scheidungs-Reaktionszeiten übereinstimmende Resultate. SEASHORE
liefs Studenten nur dann reagieren, wenn nicht eine, sondern zwei
Crookessche Röhren aufleuchteten. Er fand unter den schnellen
Reagenten eine Majorität der Männer (Do = + 38). HENROTIN
dagegen konstatierte gerade unter den älteren (9%,- bis15 jährigen)
seiner Vpp. ein langsameres Reagieren der Knaben (Do = — 43,
Du = — 57) und nur bei den jüngeren (6- bis 9jährigen), dafs die
Knaben den Mädchen hinsichtlich der Schnelligkeit der Reaktion
überlegen sind (Do = + 32, Du = + 54). Allerdings verhält es
sich umgekehrt mit der Richtigkeit der Reaktion. Der Versuch
bestand hier darin, dals die Vpp. innerhalb eines gedruckten Textes
gewisse Buchstaben anzustreichen hatten (,‚Bournon-Test‘“).
c) Wahlreaktion.
(18, 20, 21, 105.)
Bei Versuchen, bei denen Vp. auf verschiedene Reize in ver-
schiedener Weise zu reagieren hatte, zeigte sich eine fast durch-
gängige Überlegenheit der Mädchen hinsichtlich der Kürze der
Reaktionszeit: Die Versuche bestanden sämtlich darin, dafs
Karten entweder nach ihrer Farbe oder nach der Zahl der auf ihnen
enthaltenen Figuren oder nach den darauf gedruckten Buchstaben
in 4, 5 oder 26 Haufen zu sortieren waren.
Eine Majorität der Männer unter denjenigen Personen, die
schnell mit einer solchen Aufgabe fertig wurden, fand sich nur
bei Brown. Hier blieb die Majorität der Männer auch während
der an 13 Tagen mit je 8 Versuchen fortgesetzten Übung konstant.
d) Wortreaktion.
(8, 10, 20, 105.)
In der Schnelligkeit der ‚Einfälle‘ scheinen die Knaben den
Mädchen überlegen zu sein. Übereinstimmend fanden Burr-Moore
§ 11. Bewegung. 41
bei 13jährigen, dals die Zahl der in 71%’ auf 100 Reizworte nieder-
geschriebenen Reaktionsworte bei Knaben gröfser war (Do = + 26,
Du = + 54), und Brocn-Preiss, dafs mehr 8jährige Knaben als
Mädchen imstande waren, innerhalb 1’ 60 Worte zu nennen
(Do = + 18).
Andererseits wurden bei THompson auf die Reizworte ,,Matri-
culation“ und ‚Faculty‘“ innerhalb 1%’ von den Frauen mehr
Einzelvorstellungen enthaltende Worte niedergeschrieben als von
Männern (Do = — 54, Du = — 46).
Auch nach Heyuans sich die 14- bis 17jährigen Mädchen im
Antworten rascher als die Knaben (Do = — 20, Du = — 16).
3. Präzision der Bewegungen und Bewegungs-
koordination.
(1, 2, 7, 8, 20, 86, 46, 48, 52, 61, 72, 104, 105, 115.)
Bei den Versuchen über die Genauigkeit der Ausführung einer
an sich ungewohnten Bewegung erwiesen sich i. a. die m überlegen.
Nur YoArun-CALree fanden eine beträchtliche Überlegenheit, d.h.
grölsere Schnelligkeit im Vollenden der Aufgabe bei den Frauen,
was auch bei über 6 Versuchen fortgesetzter Übung erhalten blieb.
Die Versuche bestanden darin, dafs Vp. die Ecken eines Zwölfecks
miteinander zu verbinden hatte; doch lag das Papier, auf dem
sich die Zeichnung befand, so, dafs es der Vp. nur indirekt ver-
mittels eines Spiegels sichtbar war; die zur Lösung der Aufgabe
erforderlichen Bewegungen waren also den gewohnten entgegen-
gesetzt.
Bei einem ganz ähnlichen Versuch von Burt-Moore, sowie
auch bei folgenden anderen Versuchen dagegen fand sich eine
Überlegenheit der Männer: bei Sczymanskı handelte es sich um
das Innehalten der Vertikalen beim Geradeausgehen mit ge-
schlossenen Augen, bei HERDERSCHEE um das Nachahmen einer
vorgemachten Bewegung, bei Tuompson darum, zwischen den
beiden Schenkeln eines Winkels möglichst weit in der Richtung
auf den Scheitelpunkt zu eine Linie zu ziehen, ohne einen der
beiden Schenkel zu berühren. Die Überlegenheit der Männer war
hier am grölsten, wenn die Bewegung mit der linken Hand und
in der Richtung auf die Vp. hin zu erfolgen hatte. — Norris fand,
dafs gewisse Fertigkeiten sich bei Knaben häufiger finden als bei
Mädchen.
42 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Die Präzision der Bewegung und das Beherrschen von un-
gewohnten oder erst neu erlernten Bewegungskoordinationen
spielt ferner eine Rolle bei gewissen Schulunterrichtsfächern,
nämlich beim Schreiben, beim Turnen und beim Handarbeits- bzw.
Handfertigkeitsunterricht. Die Schulleistungen im Turnen haben
wir aulser Betracht gelassen, da selbst in den Schulen, in denen
sonst Koinstruktion herrscht, der Unterricht im Turnen für Knaben
und Mädchen getrennt erteilt zu werden pflegt.
Im Schreiben und in Handarbeit bzw. Handfertigkeit sind
die Leistungen der Mädchen fast durchgängig bessere als die der
Knaben. Nach Geseur scheint dieser Geschlechtsunterschied mit
dem Alter zuzunehmen. Auch die allgemeine Geschicklichkeit
findet sich nach Heymans-Wıersma bei Mädchen häufiger.
4. Gefühlsbetonung der Bewegung.
(8, 48, 62, 65, 72, 80, 82, 93, 98, 105, 112.)
In der tabellarischen Übersicht ist aus unserem Material
alles das zusammengestellt, was einen Schlufs darauf zulassen
könnte, ob die Bewegung als solche mehr für das eine oder für das
andere Geschlecht lust- oder unlustbetont ist. Eine dahingehende
Gesetzmälsigkeit kann ich nicht entdecken. Ebensowenig ist es
mir möglich, aus dem Material einen Gesichtspunkt zu entnehmen,
welche Arten von Bewegungen etwa mehr für das eine, welche
mehr für das andere Geschlecht lustvoll sind. Allem Anscheine
nach sind für die Wahl des künftigen Berufes, für die Wahl eines
Lieblingsfaches, Lieblingsspieles, für die Beteiligung an einem
Verein usw. doch Motive malsgebend, die nicht die Bewegung als
solche betreffen, selbst wenn als Motiv der Berufswahl oder des
Spielgefährten ausdrücklich gewisse Bewegungsformen genannt
werden.
§ 12.
Vorstellungen.
1. Das Lernen und das Reproduzieren von Erlerntem.
(8, 20, 43, 48, 67, 68, 88/89, 90, 105.)
Nach den auf Fremdbeobachtungen beruhenden Ergebnissen
von Heymans-WıErsMA sind unter den Personen mit gutem Ge-
dächtnis und mit treuem Behalten von Gelesenem die Männer,
§ 12. Vorstellungen. 43
unter denen mit schlechtem Gedächtnis die Frauen stärker ver-
treten.
Die Ergebnisse von Hry=mans über die Genauigkeit des Be-
haltens und über die Nachwirkung von früher Gelerntem sind nicht
eindeutig. Jedenfalls stehen im Widerspruch mit dem obigen
Resultat sowohl das Enqueteergebnis von Heymans über die
Leichtigkeit des Auswendiglernens wie auch die Resultate ver-
schiedener Experimente von Burr-MooreE, Myers und TxHompson.
Nur die nicht ganz klaren und auch in ihrem Ergebnis nicht ganz
eindeutigen Versuche von ScHUYTEN weisen wiederum z. T. auf
eine gewisse Überlegenheit der Knaben. — In der Rechtschreibung,
d. i. Gedächtnis für Orthographie (vgl. $ 20, 1), finden sich
bessere Leistungen überall häufiger bei den Mädchen.
Nach Txompson befinden sich unter den auditiv Lernenden,
sowohl bei optischer wie bei akustischer Darbietung des Stoffes,
die Männer in der Majorität (Do = + 50).
Bezüglich der Resultate über das Gedächtnis für einfache
Sinneseindrücke vgl. $ 10.
2. Erinnerung und Aussage.
(10, 12, 14, 22, 25, 54, 59, 67, 76, 88, 87, 108, 109.)
Die Ergebnisse, über die hier berichtet wird, haben das Ge-
meinsame, dals sie das Gedächtnis für solche Dinge betreffen,
die ein- oder mehrmals erlebt wurden, aber immer ohne dafs mit
dem Erlebnis auch ein auf seine Einprägung gerichteter Willens-
akt verbunden war.
-Ein Teil der Feststellungen betrifft also Wahrnehmungen des
täglichen Lebens. Hier zeigt sich häufig, aber durchaus nicht durch-
gingig, eine Uberlegenheit der Manner, so bei CrararipeE, der
Studenten nach Einzelheiten des Universitätsgebäudes fragte und
auf drei Fragen mehr richtige Antworten von Männern, auf eine
Frage mehr richtige Antworten von Frauen erhielt. Botox erhielt
auf die Frage, wohin die Spitzen der Apfelkerne zeigen, sicherere
Antworten von Frauen Die Ergebnisse Myers’, der das Ziffer-
blatt der Uhr reproduzieren liefs, sind nicht eindeutig. Myers
liefs ferner einen Dollarschein, eine Briefmarke und Geldmiinzen
reproduzieren, bzw. diejenigen Kreise bezeichnen, die gewissen
Münzen an Grölse gleichen. Bei diesen letzteren Versuchen stellte
sich die Überlegenheit der m erst im Alter von 16 Jahren ein,
44 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
während vorher die Mädchen genauer arbeiteten. Ähnlich ver-
hielt es sich bei den Zeichnungen eines Männchens, die ScHUYTEN
hinsichtlich gewisser Einzelheiten untersuchte: Das Vorhandensein
gewisser wichtiger Details wie Mund, Ohren, Schuhe, Nase, Augen,
und bessere Darstellungsformen von Händen und Armen sind in
den niederen Altersstufen (von 314 bis 5, 6, 7, 8 Jahren) charakte-
ristisch für die Mädchenzeichnungen, verlieren aber allmählich
diese Eigenschaft als Charakteristika, bis sie dann sogar für die
Knabenzeichnungen charakteristisch werden ; in den oberen Alters-
stufen (bis 121, Jahren) ist dann umgekehrt das Fehlen solcher
Details bezeichnend dafür, dafs es sich um eine Mädchenzeichnung
handelt. Gewisse Details, wie die richtige Zahl der Finger und
Arme, aber auch Nabel und Geschlechtsteile, finden sich in allen
Altersstufen häufiger bei Mädchen. Demgegenüber sind — ebenso
in allen Altersstufen — das Vorhandensein von Zigarre oder Pfeife,
Bart, Brille, der Bekleidung von Hals und Beinen, korrektere
Darstellungsformen von Beinen, Kopf, Hals, Fingern, Rumpf und
Füfsen Charakteristika der Knabenzeichnungen.
Ebenso kommen 14 Einzelheiten eines Trambahnwagens
(KERSCHENSTEINER) in Knabenzeichnungen häufiger vor; aber der
Altersfortschritt scheint hier eher ein umgekehrter zu sein und
mit wachsendem Alter abzunehmen, d. h. sich zugunsten der
Mädchen zu verschieben.
Übrigens sind diese Resultate von KERScHENSTEINER und
SCHUYTEN und ebenso das noch zu erwähnende von WAGxer nicht
ohne weiteres der besseren und detailreicheren Erinnerung der
Knaben zugute zu schreiben; sie beruhen wohl wenigstens z. T.
auf der besseren zeichnerischen Ausdrucksfähigkeit der Knaben,
auf die wir noch später zu sprechen kommen.
Im Gegensatz zu der früher ($ 10, 6c) erwähnten Über-
schätzungstendenz der Männer zeigt sich hier bei den Versuchen
Myers’, dafs bei den Männern die Unter-, bei den Frauen die Über-
schätzungen überwiegen.
Die sprachliche oder zeichnerische Wiedergabe einer un-
mittelbar oder 1 bis 3 Tage vorher vorgelesenen Geschichte gelingt
anscheinend den Knaben besser als den Mädchen, aber den Frauen
besser als den Männern. ScHramM fand — genau wie Borsr bei
dem Bericht über ein 3 bis 9 Tage vorher gesehenes Bild — 1 Tag
nach der Erzählung der Geschichte sowohl den Berichtsumfang
wie die Berichtstreue (Verhältnis der richtigen zu sämtlichen
8 12. Vorstellungen. 45
Angaben) bei den Studentinnen gröfser. Dagegen fanden Bıoch#-
Preiss, dafs 8jahrige Knaben eine Geschichte besser zu repro-
duzieren vermoehten als gleichaltrige Mädchen. Vos fand,. dafs
von den Fragen bez. des Inhaltes einer 3 Tage vorher vorgelesenen
Geschiehte 20 besser von Knaben und nur 4 besser von Mädchen
beantwortet wurden. Wacner liels die vorher vorgelesenen ersten
50 Zeilen des Gedichtes ‚‚Schlaraffenland‘‘ von Hans Sacus zeichne-
risch illustrieren; ein deutlicher Geschlechtsunterschied lälst sich
hier nicht nachweisen, da die Ergebnisse der gleichen, in Walden-
burg und in Breslau angestellten Versuche sich häufig widersprechen:
im allgemeinen findet sich eine Überlegenheit der Knaben häufiger
in Breslau, eine Überlegenheit der Mädchen öfter in Waldenburg.
Übereinstimmend fand sich nur bei vier Einzelheiten wenigstens
in gewissen Altersstufen eine Überlegenheit der Knaben, bei drei
Einzelheiten ebenso eine Überlegenheit der Mädchen; ein Detail
wird in den niederen Altersstufen häufiger von den Knaben und
erst später häufiger von den Mädchen dargestellt; bei einer weiteren
Einzelheit ist es umgekehrt und bei einer letzten endlich folgt
einer Überlegenheit der Knaben zunächst eine der Mädchen und
dann wiederum eine der Knaben.
Ähnlich wie das Experiment Vos’ ist das von Myers aufzu-
fassen, der zwar auch die Aufmerksamkeit seiner Vpp. auf den
Gesamtgegenstand der späteren Aussage richtete, aber dann nach
Einzelheiten fragte, deren spätere Reproduktion von der Vp.
während der Wahrnehmung nicht vorhergesehen werden konnte.
Das, worauf die Aufmerksamkeit ausdrücklich gerichtet wurde,
die Zahl der auf einer Tafel enthaltenen 0, wurde von mehr
Mädchen richtig reproduziert; ebenso wurden auch Fragen nach
anderen ‚nebensächlichen‘‘ Einzelheiten von mehr Mädchen richtig
beantwortet; nur dafs der Versuchsleiter während des Versuches
in der linken Hand eine Uhr gehalten hatte, wulsten mehr Knaben
als Mädchen.
Die Frage Bottons: ,,was fiir Wetter war heute vor 8 Tagen“
wurde von Frauen besser und sicherer beantwortet als von Mannern.
Endlich ist auch noch das Problem untersucht: worden, welche
Arten von Erinnerungen das Gedächtnis der Männer und Frauen
bevorzugt. Nach CoLesrove findet sich bei Frauen die Erinnerung
sowohl an angenehme wie an unangenehme Erlebnisse häufiger
als bei Männern, woraus man also schliefsen kann, dafs gefühls-
betonte Erlebnisse überhaupt in der Erinnerung der Frauen
46 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
besser haften als in derjenigen der Männer. Nach Porwın be-
zieht sich aber die am weitesten zurückreichende Erinnerung
sehr viel häufiger bei Frauen als bei Männern auf gleichgültige
Einzelheiten.
Leresz fand, dafs mehr Frauen als Männer dazu neigen, ein
gezeigtes Bild ‚im ganzen‘ aufzufassen, sich nur mit den wichtigen
Einzelheiten zu beschäftigen und einer Tendenz zu widerstehen,
die Gedanken zu systematisieren und zu koordinieren (Do = — 38,
Du = — 18).
3. Assoziation.
a) Freie Assoziation. „Einfälle“.
(20, 82, 48.)
Die Frage, welche Vorstellungen im Vordergrunde des Be-
wulstseins stehen, so dals sie am leichtesten zur Reproduktion
gebracht werden können, pflegt durch das sogenannte Asso-
ziationsexperiment untersucht zu werden. Uns liegt von solchen
Experimenten nur das von Burr-MoorE vor. Danach ist bei
13jährigen Knaben das Wort ‚Enemy‘, bei Mädchen das Wort
„Girl“ fester mit ‚Friend‘ assoziiert bzw. in höherer Bereitschaft.
„Girl“ wird auch durch das Wort ‚Kiss‘ häufiger bei Mädchen
als bei Knaben zur Reproduktion gebracht. ‚Lie‘ wird von
Knaben öfters in der Bedeutung ‚Lüge‘ aufgefalst und mit
„Truth“ beantwortet, während mehr Mädchen es in der Bedeutung
„Liegen‘‘ auffassen und es mit ‚down‘ beantworten.
Nach Fürst neigen nur ungebildete Frauen manchmal dazu,
oberflächlich zu reagieren, während nur Männer manchmal die
Tendenz haben, das zugerufene Reizwort zu definieren.
Aus der Enquete von Hrymans-WıErsmA geht hervor, dals
Männer häufiger die Tendenz haben, über sachliche Dinge zu
sprechen, während für die Frauen soweit dies aus dem Inhalte
ihrer Gespräche hervorgeht — mehr Persönliches und besonders
die eigene Person im Vordergrunde des Bewulstseins steht. Im
Zusammenhange damit mag es stehen, dafs die Frauen auch in
Verwandtschaftsbeziehungen usw. mehr bewandert sind als die
Männer. Bei letzteren dagegen scheinen sexuelle Vorstellungen
eine grolse Rolle zu spielen, was aus ihrer Vorliebe für derartige
Witze hervorgehen kann.
Bezüglich der Reaktionszeiten vgl. $ 11, 2d.
8 12. Vorstellungen. 47
b) Gebundene Assoziation.
(18, 20.)
Die hierhergehörigen Untersuchungen unterscheiden sich von
den vorigen dadurch, dafs hier auf das Reizwort oder die Reiz-
worte nicht in beliebiger Weise geantwortet werden darf, sondern
dafs die Reaktion durch eine bestimmte ‚Aufgabe‘ eingeengt ist.
Die Einengung kann so stark sein, dals das Experiment überhaupt
nicht mehr als Assoziationsexperiment betrachtet werden kann,
sondern schon eine eigentliche Kenntnisprüfung ist. Wenn es sich
nur oder wenigstens hauptsächlich um die Schnelligkeit der
Reaktion handelt, wenn also das Vorhandensein der betreffenden
Kenntnis bei der betr. Vpp.-Kategorie als selbstverständlich vor-
ausgesetzt wird, werden wir das Experiment als Assoziations-
experiment, im anderen Falle als Kenntnisprüfung aufzufassen
haben.
Die Aufgaben bei den hier vorliegenden Experimenten waren
die folgenden: Bonser und Burr-Moore lielsen zu einer Reihe
von Worten das Gegenteil nennen; Burt-Moor: lielsen ein Wort-
paar, von dem ein Wort (c) gegeben ist, so ergänzen, dals das zu
ergänzende Wort (d) zu c in demselben Verhältnis steht wie die
beiden gleichfalls gegebenen Worte b:a (z. B. Paris: Frankreich
= London: . ?..) (sog. Analogietest); Bonser liefs das fehlende
Wort in einem Satze ergänzen oder von zwei zur Ergänzung ge-
gebenen Worten das falsche durchstreichen; die höchste Form
dieser Art gebundener Assoziationen endlich ist der EssincHaussche
Kombinationstest, den Burr-MoorE verwendeten.
Nach unseren Ergebnissen leisten die Mädchen Besseres im
Gegenteil- und Analogietest, die Knaben im Substitutions- und
Kombinationstest.
4. Phantasie.
(8, 39, 48, 57, 62, 72, 98, 106.)
Phantasie findet sich häufiger bei f als beim. Dies zeigt sich
sowohl in den Schulaufsätzen (Heymans), wie auch darin, dafs
die Fähigkeit und die Neigung, Geschichten zu erfinden (LEaRoy-
Tayıor) und selbst erfundene Geschichten zu erzählen (HryYmans)
bei Frauen häufiger vorkommt. Ebenso finden sich unter den
Literaturprodukten von Kindern und Jugendlichen mehr von
48 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Mädchen als von Knaben herrührende Märchen (GiEse), und als
Lieblingslektüre werden Märchen gleichfalls durchgängig von
Mädchen häufiger genannt als von Knaben (vgl. $ 12, 5).
VAN DER Torren deutet sein Resultat, dafs beim Benennen
unvollständiger Bilder die Mädchen sehr viel mehr als die Knaben
mit ihren Antworten wechseln, gleichfalls in dem Sinne, dafs die
Knaben weniger Phantasie besälsen.
5. Kenntnisse.
(42, 48, 46, 72, 73, 77a, 90, 105.)
Wir behandeln in diesem Abschnitt nur solche Kenntnisse,
die nicht erlernt, sondern durch die Erfahrungen des täglichen
Lebens oder sonst auf mehr zufällige Weise erworben sind. Den
eigentlichen Schulkenntnissen widmen wir besondere Paragraphen.
Die Kenntnisse, um die es sich hier handelt, sind also grolsenteils
solche, die schon vor Eintritt in die Schule erworben werden;
daher gehören hierher insbesondere die mehrfach (von Hatt,
HARTMANN, HERDERSCHEE, RicHTER, SCHWABE-BARTHOLOMAI) an
Schulrekruten vorgenommenen ‚Bestandsaufnahmen‘ oder ‚Ana-
lysen des kindlichen Gedankenkreises“. Ähnliche Untersuchungen
haben Norris und O’FaArreıı bei höheren Altersstufen und Tnuomr-
son bei Erwachsenen vorgenommen.
Eine inhaltliche Gruppierung der Fragen ergibt etwa folgendes:
Von Knaben wurden i. a. häufiger richtig beantwortet
a) Fragen bez. der Kenntnis der Münzen (HERDERSCHEE:
Do = + 30, Du = + 38).
b) Fragen wie z. B. die folgende: „Was kostet ein Pfund
Butter ?“‘ (O’Farrett: Do = + 12, Du = + 62).
c) Fragen wie z. B. ‚Wo findet man Goldruthe ?“ (Norris:
Do = + 6, Du = + 24).
d) Fragen wie z. B. ‚Was veranlafst das Wasser, aus der
Wasserleitung oder Pumpe herauszuflielsen ?“ (O’FarkeLr: Do =
+ 28, Du = + 15).
e) Fragen wie z. B. die nach der Kenntnis des Zeughauses in
Berlin (ScowasE-BartHotomii: Do = + 12, Du = + 4).
f) Fragen wie z. B. die nach der Kenntnis des Pflügens
(SchwaBE-BaRrtHoLomär: Do = + 30, Du = + 10).
g) Fragen wie z. B. „Wo findet man Spechte ?“ (Norris:
Do = + 10, Du = + 48).
Ce
$ 13. Rechnen und Mathematik. 49
h) Fragen wie z. B. „Woher kommt Gummi ?‘“ (O’FARRELL:
Do = + 28, Du = + 18).
i) Fragen wie z.B. „Warum tele wir den 4. Juli °“ (O’Far-
RELL: Do = + 8, Du = + 12).
Dagegen zeigten die Mädchen i. a. häufiger richtige Kennt-
nisse bei
a) Fragen wie z. B. nach dem Märchen vom Aschenbrödel
(ScHhwaBE-BArTHoLoMÄI: Do = — 24, Du = — 12).
b) Fragen wie z. B. „Zählen von 1— 10“ (Rıcnter: Do = — 22,
Du = — 26).
c) Fragen wie z. B. ‚Wo ist das Handgelenk ?“ (Harz: Do =
— 8, Du = — 24).
d) Fragen wie z. B. nach einem Lied (Hartmann: Do = — 24,
Du = — 6).
e) Fragen wie z. B. nach dem Namen des Vaters (ScHWABE-
Barrtsotomit: Do = — 6, Du = — 32).
Tuomrson fand, dafs schlechte Antworten auf physikalische
Fragen seltener bei Männern (Du = + 38), schlechte Antworten
auf biologische Fragen seltener bei Frauen (Du = — 38) vor-
kommen.
§ 13.
Rechnen und Mathematik.
l. Begabung.
(8, 23, 48, 52, 105.)
Die Urteile von Ärzten über ihre Bekannten (Heymans-
Wiersma) und von Lehrern über ihre Schüler (Heymans, Ivanorr,
Coun) stimmen darin überein, dafs mathematische Veranlagung,
Gewandtheit im Auflösen mathematischer Probleme, eine bessere
Veranlagung für Mathematik als für Sprachen usw. sich bei m
häufiger findet als bei f.
Nach Heymans-WiersMa findet sich diese Überlegenheit der
Männer in der älteren Generation noch stärker ausgeprägt als in
der jüngeren.
Im Widerspruch mit dem allgemeinen Ergebnis bez. der
besseren Veranlagung der Männer für Mathematik steht das Er-
gebnis THompsons; hier waren es mehr Manner als Frauen, die von
sich selbst aussagten, dafs die Mathematik ihnen schwer fällt.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Erster Teil. 4
50 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
2. Unterrichts- und Examensleistungen.
(1, 2, 8, 4, 5, 7, 8, 19, 61.)
In Mathematik sind nach den vorliegenden Ergebnissen die
Leistungen der m übereinstimmend besser als die der f. Und zwar
wächst auch hier, wenn man die Examensleistung der Junior- mit
derjenigen der Senior-Klasse in Cambridge vergleicht, die Über-
legenheit der Männer mit dem Alter (nach Burnsss).
In Geometrie stellt sich die Überlegenheit der Knaben —
nach den Zensuren der Merrywood Secondary School — überhaupt
erst mit 15 Jahren ein, während ihr — im Alter von 111; Jahren —
eine Überlegenheit der Mädchen vorangeht.
Ebenso verhält es sich — nach den Zensuren der Merrywood-
School und aus Bielefeld — in Rechnen und Arithmetik, indem
dort nur in den unteren Klassen die Mädchen Besseres leisten;
sonst — bei Mac Donan und den Volksschulen in Liverpool und
Stockholm — sind die Knaben überlegen.
Dagegen stimmen die Ergebnisse Mac Donatps und der
St. Margarets-School in der Überlegenheit der Mädchen in Algebra
überein. Hier ist auch — nach den Zensuren der Holt-School —
der Altersfortschritt ein umgekehrter: auf eine Überlegenheit der
Knaben im Alter von 13 bis 15 Jahren folgt im Alter von 16 Jahren
die auch anderweitig festgestellte Überlegenheit der Mädchen.
3. Leistungen im Experiment.
(13, 26, 55, 102, 107.)
Die Ergebnisse der Experimentaluntersuchungen über die
Rechenfertigkeit sind nicht ganz eindeutig.
Eine Überlegenheit der Knaben kann, sowohl was die Richtig-
keit, wie die Schnelligkeit der Lösung und endlich auch, was das
richtige und schnelle Verständnis betrifft, jedenfalls hinsichtlich
eingekleideter Aufgaben konstatiert werden; doch sind hierbei ja
psychische Funktionen beteiligt, die nicht nur als eigentlich
„technerische‘‘ zu bezeichnen sind.
Die Ergebnisse der reinen Rechenexperimente deuten mehr
auf eine Überlegenheit der Mädchen. Sie stellt sich — nach den
Ergebnissen Voıcrs — teils erst im Alter von 12 Jahren ein, teils
wächst sie jedenfalls mit dem Alter von 11 bis 14 Jahren. Die
Ergebnisse der eigenartigen Versuche Voicts zeigen auch, dafs die
Überlegenheit der Mädchen im Rechnen nicht nur als eine Er-
§ 13. Rechnen und Mathematik. 51
scheinungsform einer allgemein besseren Schultüchtigkeit aufzu-
fassen ist. — Nach den Ergebnissen Courris’ ist übrigens der Alters-
fortschritt ein umgekehrter; hier tritt im Alter von 18 Jahren
eine Überlegenheit der m ein, was mit den im vorigen Abschnitt
besprochenen Ergebnissen auch besser übereinstimmt.
4. Interesse.
(8, 19, 71, 99, 112.)
Ebenso wie bei THompson nach den Selbstbeurteilungsangaben
der Studenten bei den f die Begabung für Mathematik häufiger--
zu sein scheint, so gehört auch nach den Selbstbeurteilungsangaben
der Schulkinder bei W. Srern und Norpıunn das Rechnen bei
den Mädchen häufiger zu den beliebten bzw. seltener zu den un-
beliebten Schulfächern.
In höheren Altersstufen aber und nach dem Lehrerurteil bzw.
nach den gewählten Studien- und Examensfächern zu schlielsen,
ist bei den m die Vorliebe und das Interesse für Mathematik weiter
verbreitet als bei den f. Der Vergleich der Meldungen zur Auf-
nahmeprüfung in die Junior- und Senior-Class in Cambridge (nach
Burness) und die Ergebnisse von Hry=ans stimmen darin überein,
dals dieser Geschlechtsunterschied mit wachsendem Alter zu-
nimmt. Ferner zeigt der Vergleich der Juli- und Dezember-
Prüfungen in Cambridge nach Burness, dals durchgängig im Winter
die Zahl der in Mathematik geprüften m die der f weit stärker über-
trifft als im Sommer; ich weise auf dieses sehr auffällige Resultat
nur hin, ohne dafs ich bei der mir fehlenden Kenntnis der näheren
Verhältnisse eine Erklärung versuchen könnte.
§ 14.
Naturwissenschaften.
(1, 2, 3, 5, 7, 8, 17, 19, 28, 39, 47, 48, 53, 55, 61, 63, 69, 77a, 78,
80, 94, 98, 99, 105, 112.)
Die Bearbeitung dieses Paragraphen bereitet besondere
Schwierigkeiten, weil die Form der vorliegenden Ergebnisse eine
so mannigfaltige ist, dals es fast unmöglich ist, sie einheitlichen
Gesichtspunkten unterzuordnen. Ein Autor trennt beispielsweise
„Chemie“ und „Physik“, ein anderer spricht allgemeiner von
„Naturlehre‘‘ oder ‚Naturwissenschaften‘, ein Dritter falst gar
„Mathematik“ und ‚Naturwissenschaften‘‘ zusammen. Bei der-
E
52 Kapitel 1II. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
artigen Zusammenfassungen nun ist es durchaus möglich, ja wahr-
scheinlich, dals etwa vorhandene Geschlechtsunterschiede ver-
wischt werden und im Gesamtresultat nicht mehr deutlich zur
Erscheinung kommen.
Ein weiterer, die Verarbeitung und Übersicht erschwerender
Umstand ist der, dals die Terminologie der Unterrichtsgegenstände
eine sehr wechselnde ist; es ist mir gegenwärtig nicht möglich,
festzustellen; was — besonders in ausländischen Schulen und
Universitäten — unter ‚Science‘, ‚General Elements of Science‘,
„Naturwissenschaft“, ,,Naturlehre“, ‚Naturkunde‘, ,,Natur-
geschichte‘, „Nature Study‘ verstanden und welche speziellen
Unterrichtsgegenstände dem betr.Oberbegriff untergeordnet werden.
Ferner sind die Resultate, soweit sie das Universitätsstudium
betreffen, insofern nur mit grolser Vorsicht zu verwenden, als ja
bei der Vorbereitung für einen künftigen Beruf nicht nur das
Interesse, sondern besonders der Umstand berücksichtigt wird,
. ob der betreffende Beruf in dem betreffenden Lande Frauen offen
steht oder nicht. Umgekehrt: wenn andere Berufe den Frauen
verschlossen sind, so drängen sich eben deshalb viele Frauen, die
studieren wollen, zum Studium der Medizin und Naturwissenschaft,
ohne dafs dies auf ein besonderes Interesse für diese Gebiete zu
deuten braucht. Aus diesem Grunde habe ich die deutschen
Universitäts-Statistiken (17, 78) aufser Betracht gelassen; aber
auch für die Vereinigten Staaten (69, 80, 94), England (19) und
Holland (47), bei denen mir eine genauere Kenntnis der Verhältnisse
fehlt, ist dieser Umstand wohl mitzuberücksichtigen.
Endlich gilt hier, wie für alle weiteren Paragraphen, in denen
wir hauptsächlich Unterrichtsergebnisse heranzuziehen haben:
Die Unterrichtsleistung — die Zensur, das Prüfungsresultat — ist
nicht ein reiner Ausdruck für den Grad der vorhandenen Begabung,
sondern auch in sehr hohem Grade von Fleifs und ähnlichen
Faktoren abhangig. Wir konnen nicht feststellen, in welchem
Verhältnis, Fleils, Begabung und Interesse an dem Zustandekom-
men eines Ergebnisses mitwirken.
Diese Umstände bringen es nun mit sich, dals eindeutige Re-
sultate hier kaum festgestellt werden können. Im ganzen scheint
es, dals gute Begabung, gute Leistungen und Interesse für die
anorganischen Naturwissenschaften (Physik und Chemie) bei
den männlichen Personen häufiger vorkommen, während für
die biologischen Fächer der Geschlechtsunterschied kleiner ist
er
§ 16. Zeichnen. 53
oder gar in den umgekehrten umschlägt. Für Botanik finden wir
jedenfalls übereinstimmend sowohl bessere Leistungen wie auch
ein höheres Interesse bei weiblichen Personen.
§ 15.
Technik.
(20, 31, 41, 53, 54, 82, 105.)
Unter ‚Technik‘ fassen wir diejenigen Betätigungen zu-
sammen, welche die Lösung einer Aufgabe mit Hilfe manueller
Verrichtungen zum Gegenstande haben, ohne dafs jedoch die
Handgeschicklichkeit eine ausschlaggebende Rolle dabei spielt.
Vielmehr erfordert die Lösung dieser Aufgaben ein gewisses Mals
von optischem Vorstellungsvermögen, auch von Phantasie, die
Fähigkeit des systematischen Ausprobierens und andere dergl.
Eigenschaften, die in ihrer höheren Ausbildung eben den guten
Techniker ausmachen. Deshalb stellen wir die Fertigkeit im Lösen
solcher Aufgaben mit dem Interesse an Erfindungen der Technik
und für technische Einzelheiten zusammen.
In allen diesen Beziehungen nun zeigen sich die m überlegen:
sowohl in der Schnelligkeit der Lösungen von Aufgaben der oben
erwähnten Art (Gopparn, Burr-MoorE, Taompson), wie auch in
dem Interesse an solchen Betätigungen (ScHEIFLER), an technischen
Erfindungen (Katzarorr) und technischen Einzelheiten (KErscHEn-
STEINER), wie endlich auch darin, dals sie selbst einem Erfinder
oder Entdecker gleichen möchten (FRIEDRICH).
§ 16.
Zeichnen.
(1, 2, 3, 4, 7, 8, 19, 24, 31, 48, 52, 53, 54, 60, 61, 66, 82, 87, 98, 99, 112.)
Wie im vorigen Paragraphen ‚Technik‘ und vielleicht auch
in einem gewissen Zusammenhange damit können wir auch beim
Zeichnen durchaus eine Überlegenheit der m feststellen, sowohl
was ihre Begabung wie auch was ihre Leistungen im Unterricht
und im Experiment, wie endlich auch, was ihr Interesse betrifft,
Diese Überlegenheit der m ist überall da, wo überhaupt; ein
deutlicher Altersfortschritt hinsichtlich des Geschlechtsunter-
schiedes konstatierbar ist, bei den älteren Personen weit deutlicher
ausgeprägt, als bei den jüngeren; und in den wenigen Fällen
(Bielefeld und Stockholm), in denen unter den guten Leistungen
54 Kapitel 1II. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
der jüngeren Kinder die der Mädchen überwiegen, schlägt dies
bei den älteren wiederum in Besserleistungen der Knaben um. .
Bessere Leistungen der Mädchen fand nur Mac DonarLp und
Lossen, der die verhältnismälsige Grölse verschiedener Körper-
teile der zeichnerischen Menschendarstellungen mit den Normal-
verhältnissen verglich. |
Dafs in Liverpool unter den Kindern, deren Leistungen im
„Malen“ schlecht zensiert sind, die Knaben in der Überzahl sind,
verdient vielleicht deshalb besondere Beachtung, weil auch in dem
Experiment KerscHEnsteiners allem Anscheine nach ornamentale
Aufgaben von Mädchen besser gelöst werden. So finden sich bei
der Ausschmückung eines Tellers am Tellerrand rhythmische
Reihungen und im inneren Tellerkreis zusammenhängende Bor-
düren häufiger bei den Mädchen, während z. B. die planlose Ver-
streuung vieler Motive, sowohl am Rand wie im Tellerkreis sich
häufiger bei den Knaben findet; auch bei der Verzierung eines
Buchdeckels finden sich charakteristischerweise Eckverzierungen
durchgängighäufiger beiden Mädchen. Dies kann damitzusammen-
hängen, dafs die Mädchen durch ihre vielfache Beschäftigung mit
‚Handarbeiten‘ es viel mehr mit Ornamenten zu tun haben als
Knaben.
Bezüglich des Detailreichtums der Zeichnungen, der auch fast
durchgängig bei den Knaben grölser ist, und zwar gleichfalls um
so mehr je älter sie sind, vgl. $ 12, 2 und $ 14.
Natürlich bevorzugen die Knaben, wenn ihnen das Zeichen-
objekt freigestellt wird, auch andere Gegenstände als die Mädchen
(vgl. $$ 14 und 15 und Karzarorr).
§ 17,
Erdkunde.
(1, 2, 8, 4, 7, 19, 28, 52, 55, 62, 65, 98, 112.)
Die Unterrichtsleistungen in Geographie gewähren kein ein-
deutiges Bild über einen etwa vorhandenen Geschlechtsunterschied.
Wenn bald unter den Kindern mit besseren Leistungen die Knaben,
bald die Mädchen in der Überzahl sind, und wenn der Vorsprung
des einen oder des anderen Geschlechts sich bald nur in den unteren,
bald nur in den oberen Schulklassen findet, so müssen wir das wohl
dem Umstande zuschreiben, dafs das Wissensgebiet ‚Erdkunde‘
psychologisch nichts Einheitliches ist, und dafs die Stellungnahme
§ 18. Geschichte. 55
zu ihr sich je nach dem gerade behandelten Gebiete differen-
ziert.
Unter den Teilgebieten der Erdkunde haben wir nun nicht
nur die einzelnen Länder zu verstehen, sondern auch der Kultur-
geographie, der historischen, der Handelsgeographie, bringen die
Knaben und Mädchen, wie aus den Ergebnissen von MonroE und
Dück hervorgeht, ein sehr verschiedenes Interesse entgegen, das
dann wohl auch auf die Leistungen abfärben wird; mit solchen
Motiven steht es wohl auch im Zusammenhang, dafs unter den
jungen Leuten in Innsbruck (Dück) die m sich mehr für England
und Frankreich, die f sich mehr für Skandinavien, Italien, Spanien,
den Orient und Rulsland interessieren, ebenso dafs unter den
amerikanischen Schulkindern (Monror) mehr Knaben nach dem
Yellowstonepark und mehr Mädchen .nach Paris reisen wollen.
Ohne genauer zu wissen, welches Teilgebiet der Erdkunde in
der betr. Schule und Klasse gerade behandelt wurde, können wir
also aus den Unterrichtsergebnissen für die uns interessierende
Frage des Geschlechtsunterschiedes nichts Wesentliches entnehmen.
Immerhin scheint jedenfalls die Reiselust (H. STERN, MAYER),
vielleicht auch das Interesse für Geographie überhaupt, bei den
Knaben weiter verbreitet zu sein als bei den Mädchen. Auch bei
den Leistungen stehen 6 Fälle von Überlegenheit der Knaben
4 Fällen von Überlegenheit der Mädchen gegenüber.
§ 18.
Geschichte.
(1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 15, 19, 27, 31, 40, 49, 50, 61, 62, 63, 69, 72, 77,
98, 99, 105, 112.)
Ebenso ist der in den Schulen als ,,Geschichte‘‘ behandelte
Stoff zweifellos sehr heterogener Art. So erklärt es sich, dals
auch hier eine Überlegenheit des einen oder des andern Ge-
schlechtes nicht deutlich in die Erscheinung tritt. Auch wenn
wir, wie z.B.in Liverpool, einen scheinbar vom Altersunterschied
abhängigen Geschlechtsunterschied konstatieren, bin ich geneigt,
dies auf die verschiedenen in den unteren und den oberen Klassen
behandelten Themen zurückzuführen.
Zur näheren Erläuterung des oben Gesagten sei auf die Diffe-
renzierung des Interesses verwiesen: Dück findet bei männlichen
Handelshochschülern häufiger ein Interesse für Wirtschafts-
56 Kapitel ILI. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
geschichte, bei weiblichen häufiger ein Interesse für Kunst-
geschichte. Wenn wir auch die verschiedenen Feststellungen
darüber, aus welchem Personenkreise das Kind diejenige Person
entnimmt, die sie am meisten bewundert, der sie am liebsten gleichen
möchte usw., als Malsstab dafür betrachten wollen, für welchen
Personenkreis das Kind das grölste Interesse hat, so finden wir
zwar im allgemeinen, dafs geschichtliche Personen von Knaben
bevorzugt werden; aber abgesehen davon, dafs auch dies, z. B.
bei Goppar sich erst in höheren Altersstufen einstellt (was viel-
leicht auch mit dem gerade in der Schule behandelten Stoffgebiet
zusammenhängt), finden wir hier auch weitere Differenzierungen :
die Knaben interessieren sich mehr für Personen der eigenen, die
Mädchen mehr für Personen der fremden Geschichte (z. B. H111),
die Knaben mehr für Kriegs-, die Mädchen mehr für Kultur-
geschichte (z. B. BranDELL), die Knaben mehr für männliche,
die Mädchen mehr für weibliche historische Personen (H. STERN).
Im ganzen mufs man aus den Feststellungen von WIEDERKEHR;
H. Stern und W. Stern über die Beliebtheit der Unterrichtsfacher
und aus denen von Norris und Mayer über Lieblingslektüre
schliefsen, dafs ein Interesse fiir Geschichte bei den Knaben
häufiger vorhanden ist als bei Mädchen. Auch in den freien lite-
rarischen Erzeugnissen der Knaben werden geschichtliche Stoffe
öfter behandelt als in denen der Mädchen (GiEsE).
§ 19.
Fremdsprachen (Geisteswissenschaften).
(2, 3, 5, 8, 17, 19, 23, 39, 48, 52, 55, 63, 69, 78, 80, 94, 105.)
Die Zusammenfassung der Ergebnisse über Interesse und Be-
gabung für Fremdsprachen leidet wiederum an der Schwierigkeit,
dals sie häufig nur mit Ergebnissen bez. anderer Geisteswissen-
schaften zusammen mitgeteilt werden. Wenn sich trotzdem mit
ziemlich grolser Übereinstimmung in diesem Paragraphen ergibt,
dals das Interesse der Mädchen ein grölseres und die Leistungen
der Mädchen bessere sind, so müssen wir dies wohl dahin inter-
pretieren, dals sowohl bei der Immatrikulation für geisteswissen-.
schaftliche Fächer, wie auch bei den geisteswissenschaftlichen
Prüfungen die fremdsprachlichen Fächer die Hauptrolle spielen ;
denn für das gleichfalls unter Geisteswissenschaften rubrizierte
Fach ‚Geschichte‘ fanden wir ja eher eine stärkere Beteiligung
§ 20. Muttersprache. | 57
der Männer, und die geringen Zahlen, die für Philosophie i. e. S.
in Betracht kommen, können das Resultat wohl auch nur wenig
in diesem oder jenem Sinne beeinflussen.
Die einzigen Ausnahmen von der Überlegenheit der Mädchen
hinsichtlich fremdsprachlicher Leistungen finden sich in den
Examensleistungen in Latein in den New Yorker High-Schools
(69). Auch die Ergebnisse der Holt-Secondary-School in Bristol
in Latein sind wenigstens nicht eindeutig. Ob auch im englischen
Lehrerexamen (19) das Latein eine ausschlaggebende Rolle spielt,
ist mir unbekannt; desgl., ob vielleicht gleichfalls aus diesem Grunde
das Interesse am High-School-Classical-Course in St. Louis (80)
bei den männlichen Personen grölser ist als bei den weiblichen;
überall jedenfalls, wo wir es ausgesprochen nur mit einer
lebenden Fremdsprache (Französisch) zu tun haben, finden die
besseren Leistungen sich häufiger bei den Mädchen, die schlechteren
häufiger bei den Knaben.
§ 20.
Muttersprache.
1. Leistungen.
(1, 2, 3, 5, 7, 8, 13, 19, 24, 48, 57, 61, 63, 69, 100, 105.)
Die Unterrichts- und Examensleistungen in deutschen Schulen
in Deutsch, in englischen und amerikanischen Schulen in Englisch
sind ganz allgemein — bis auf eine wohl zu vernachlässigende
Ausnahme — besser bei den f. Dies erstreckt sich auch, soweit
die vorliegenden Ergebnisse eine Untersuchung hierüber gestatten,
auf die unter dem Namen ‚‚Deutsch‘‘ bzw. ‚Englisch‘ zusammen-
gefalsten Teildisziplinen: auch in Rechtschreibung, Sprachlehre
und Aufsatz finden sich i. a. mehr bessere Leistungen bei den
‘ Mädchen, mehr schlechtere bei den Knaben. Im ‚Aufsatz‘ ist
hier allerdings eine Ausnahme zu erwähnen: in der Volksschule
zu Stockholm tritt mit wachsendem Alter eine Überlegenheit der
Knaben ein, welche die vorher vorhandene Überlegenheit der
Mädchen ablöst!). Aus den Ergebnissen W. Sterns über die
!) Dem ist übrigens keine grolse Bedeutung beizumessen, da in den
oberen Klassen der Stockholmer Volksschulen keine Koinstruktion mehr
vorliegt. Diese Resultate gehören also eigentlich gar nicht mehr in unsere
Zusammenstellung und sind nur des Vergleichs wegen beigefügt. Dasselbe
gilt auch von den Unterrichtsleistungen in anderen Fächern.
58 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Wiedergabe einer bildlich dargestellten Geschichte ist ein ein-
deutiges Ergebnis über einen Geschlechtsunterschied nicht abzu-
leiten. — Nach Heymans-Wiersma findet sich ein Talent für
Schriftstellerei häufiger bei Männern. Da nichts Näheres über
den Inhalt der Schriftstellerei (vielleicht handelt es sich im wesent-
lichen um wissenschaftliche, politische u. dgl. Themata) gesagt
ist, so braucht in diesem Resultat nicht notwendig ein Widerspruch
zu dem weiteren Ergebnis von Hevymans-WiersMma und dem von
Learoy-TayLor zu liegen, wonach das Erfinden von Geschichten
belletristischen Inhaltes bei Frauen häufiger zu finden ist.
Im mündlichen Ausdruck scheinen eher die Männer überlegen
zu sein.
2. Eigentümlichkeiten der Schrift- und Sprechsprache.
(8, 24, 39, 48, 74.)
Die sprachlichen Leistungen der m und f gestatten aber nicht
nur eine Klassifizierung unter dem Gesichtspunkte von Besser
und Schlechter — wobei, wie wir gesehen haben, die Besser-
leistungen sich häufiger bei Mädchen, Schlechterleistungen
häufiger bei Knaben finden —, sondern auch die Form des Aus-
druckes, die nicht ohne weiteres irgendwie zensiert werden kann,
ist gleichfalls bei m und f in manchen Richtungen verschieden.
PFEIFFER fand einen ,,beobachtenden Arbeitstyp“ haufiger bei
Knaben (Do = + 40, Du = + 24), einen „subjektiven Arbeitstyp“
häufiger bei Mädchen (Do = — 68, Du = — 16), Conn- DIEFFEN-
BACHER einen „erzählenden Typus“ gleichfalls häufiger bei Mädchen
(Do = — 22, Du = — 28).
CoHn-DIEFFENBACHER fanden ferner eine temporale Disposition
häufiger bei Mädchen (Do = — 20, Du = — 28), eine juxtappo-
nierende häufiger bei Knaben (Do = +58, Du = + 28), und
Heymans findet häufiger die Aufsätze der Knaben als die der
Mädchen ausgezeichnet durch logische Einteilung (Do = + 44,
Du = + 3).
Andererseits finden sich nach Heymans Phantasie (Do = — 32,
Du = — 3), und korrekter Satzbau (Do = — 35, Du = — 4),
häufiger bei Mädchen, während nach Conun-DiErFENBACHER sich ein
Mangel an Gefühlen häufiger bei Knaben (-+ 38) offenbart.
Eine ganze Reihe von Geschlechtsunterschieden ergeben sich
aus der Untersuchung GiEses über freie, literarische Produkte:
bei poetischen Erzeugnissen rühren solche mit freiem Versmals, mit
8 20. Muttersprache. 59
ungewöhnlicher Zeilenzahl der Strophen und mit komplizierterem
oder ganz freiem Strophenaufbau meist von Knaben her, während
Daktylus und Hexameter, Drei- und Vierzeiler und die Reim-
formen abab und abba sich häufiger bei Mädchen finden. — Auch
in der Wahl der Stoffe sind die literarischen Produkte der Knaben
und Mädchen sehr verschieden; doch gehört das wohl eher in das
Gebiet der Interessen. Was die literarische Form der Produkte
betrifft, so rühren ‚Aufsätze‘ meist von Knaben, dagegen Briefe,
Skizzen, Erzählungen öfters von Mädchen her.
Die von Hermans und Heymans-Wiersma gefundenen Unter-
schiede der Sprechsprache von Männern und Frauen gehören
wenigstens z. T. eigentlich mehr in das Gebiet der Charakterlehre.
Danach ist Gesprächigkeit öfter eine Eigenschaft der Frauen
(Hermans: Do = — 16, Du = — 31; Heymans- Wiersma: Do =
— 4, Du = — 11). Wiirdevolles und gemessenes, sachliches, kurz
abbeilsendes Reden und Sprechen findet sich öfters bei Männern;
ebenso auch die Ironie, womit ein Ergebnis GıEses übereinstimmt;
dagegen sind eine gemütliche Redeweise, gedehnter und schleppen-
der Sprechton, eine gleichmälsig dahinfliefsende Sprechweise und
einfaches Drauflosschwätzen eher Charakteristika der Frauen.
3. Interesse.
(8, 9, 15, 69, 77, 92, 98, 99, 105, 112.)
Nicht so deutlich wie bei den Leistungen in der Muttersprache
ist beim Interesse für dieselbe ein Geschlechteunterschied festzu-
stellen. Während die Sprache als Ganzes genommen eher die
Mädchen mehr zu interessieren scheint, finden wir bei den Teil-
disziplinen Rechtschreibung, Sprachlehre, Aufsatz fast überall —
mit einer Ausnahme — die grölsere Vorliebe bei den Knaben.
Dale ep neben dieser logischen Einteilung des Gebietes der
Muttersprache auch andere Gesichtspunkte sind, nach denen die
Interessen der Geschlechter sich differenzieren, geht zunächst
einmal aus einer Untersuchung von Seemann hervor, der die
Kinder ‚‚die drei schönsten Gedichte des Lesebuches‘‘ bezeichnen
liefs. Aufserdem wären hier natürlich die Untersuchungen über
die Lieblingslektüre zu nennen; doch ist es hier sicher nur mehr
der Stoff und nicht ein unter das Stichwort ‚Muttersprache‘ ge-
höriger Gesichtspunkt, der die Wahl bestimmt.
Anders verhält es sich mit einer Untersuchung Battarps, der,
60 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
— eben um dieser Schwierigkeit zu entgehen — denselben Stoff
in mehreren verschiedenen Formen den Kindern zur Begutachtung
vorlegte. Er fand, dafs die Knaben öfter den ‚antiken‘ und den
„blumigen‘“, die Mädchen öfter einen ‚schlichten‘ Prosastil be-
vorzugen.
§ 21.
Allgemeine geistige Entwicklung (Intelligenz, Schul-
leistungen im allgemeinen).
(4, 6,7, 8, 10, 13, 17, 36, 41, 42, 46, 47, 48, 58, 61, 63, 64, 70, 75, 95,
100, 106, 108.)
Die allgemeine Schulleistungsfähigkeit, soweit sie sich in dem
Bestehen von Prüfungen, dem Versetztwerden in eine höhere
Klasse oder in Gesamtzensuren ausspricht, findet sich in ihren
besseren Graden häufiger bei den Mädchen; doch zeigt sich die
Überlegenheit der Mädchen noch stärker darin, dafs die schlechteren
Grade (das Sitzenbleiben, das Durchfallen bei Prüfungen usw.)
häufiger bei den Knaben vorkommen. Allerdings finden sich
einige Ausnahmen, und zwar in Philadelphia und in Liverpool in
den Altersstufen 14 bis 15 bzw. 11 bis 13.
Wir könnten geneigt sein, diese fast durchweg besseren Unter-
richteleistungen der Mädchen aut eine besser entwickelte Intelligenz
zurückzuführen, und wir könnten in dieser Meinung bestärkt
werden durch den ganz allgemein zugunsten der Mädchen sprechen-
den Ausfall von Intelligenzschätzungen, die an verschiedenen
Stellen von Lehreın vorgenommen wurden. (Auch hier zeigt der
Unterschied sich übrigens besonders in dem Überwiegen der Knaben
unter den schlecht zensierten.) Aber die Resultate von Einzel-
untersuchungen über logische Funktionen, die mit mehr oder
weniger Recht als Untersuchungen von Teilerscheinungen der
Intelligenz aufzufassen sind, zeigen uns fast durchgängig eine
Überlegenheit der Knaben. Ebenso führt die Beurteilung einzelner
Eigenschaften (Hrymans-WıERsMA) meist dazu, dals solche Eigen-
schaften, die als Funktionen der Intelligenz aufzufassen sind, sich
häufiger bei Männern finden. (Freilich fand Heymans bei Lehrer-
urteilen über Schulkinder z. T. auch widersprechende Ergebnisse.)
Wir dürfen also wohl die besseren Schulleistungen der Mädchen
nicht so sehr auf eine besser entwickelte Intelligenz zurückführen ;
wir müssen vielmehr die Urteile der Lehrer über die bessere In-
§ 22. Eigenschaften des Gefühls- und Willenslebens. 61
telligenz der Madchen als durch deren bessere Schulleistungen
beeinflufst ansehen. Die besseren Schulleistungen aber werden
wir wohl mehr durch den grofseren Fleifs der Madchen zu erklaren
haben (vgl. $ 22, 14).
§ 22.
Eigenschaften des Gefühls- und Willenslebens.
Wir behandeln in diesem Paragraphen
1. diejenigen Charaktereigenschaften, die
al Ärzte (Hrvmans-WıersmA),
b) andere Beobachter (Gatton),
c) Lehrer (Hermans, Iwanorr, Bielefeld, Stockholm, Mac
Donatp, Bristol Merr Sec. Se.)
an ihren Beobachtungsobjekten feststellen konnten.
2. diejenigen Eigenschaften, welche die Beobachtungsobjekte
an sich selbst konstatierten, indem sie sie als Motive
&) ihrer Berufswahl (Mayer, Monroe),
b) ihrer Lieblingslektüre (Mayer, Norrıs, H. STERN),
c) ihres Lieblingsspieles (ScHEIFLER),
d) der Wahl eines Spielgefährten oder Freundes (Monroe,
MayER),
e) des Sparens (Monroe) u. dgl. (ScHirer, Monroe)
bezeichneten.
3. diejenigen Eigenschaften, welche die Vp. gern besitzen oder
nicht besitzen möchten, indem sie sie namhaft machen
a) als beste bzw. schlechteste menschliche Eigenschaft
überhaupt (H. STERN),
b) als diejenige Eigenschaft, die ihre ‚‚Idealperson‘‘ besitzt,
d. h. die Person, die ihnen am besten gefällt oder der
sie am liebsten gleichen möchten (BRANDELL, FRIEDRICH,
GoDDARD, MAyErR, RıcHtEr, H. STERN),
c) als diejenige Eigenschaft, die sie selbst in der Zukunft
gern betätigen möchten (H. STERN).
4. Gewisse Gefühls- und Willensrichtungen sind ferner in-
direkt zu erschliefsen
&) aus der Art des gewählten oder zu wählenden Berufes
(Taompson),
b) aus der Art der Lieblingsbeschäftigung (Hrvmans,
NoRrRIS, SCHEIFLER, THOMPSON),
62 Kapitel Ill. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
c) aus der Art der Lieblingslektüre (Mayer),
d) aus der Art der literarischen Produktion (GrEsE, Coun-
+ DIeFENBACHER),
e) aus der Art des Klubs, dem Vp. angehört (SHELDON),
f) aus der Beliebtheit gewisser Unterrichtsfächer (H.
STERN, W. STERN),
g) aus den Leistungen in gewissen Unterrichtsfächern (Biele-
feld, Liverpool El.-Sch., Stockholm).
1. Neigung zu intellektueller Betätigung.
(1, 4, 7, 8, 15, 48, 62, 65, 72, 77, 82, 98, 98, 99, 105.)
Durchgängig findet sich eine ausgesprochene Neigung zu
intellektueller Betätigung, d. h. Freude am Lernen und Studieren,
aber auch an künstlerischer Betätigung häufiger bei den Mädchen
und Frauen. Nur als diejenigen Eigenschaften, deren Besitz eine
bestimmte Person der Geschichte usw. in den Augen der Kinder
zu einer besonders bewunderswerten macht, werden gewisse in-
tellektuelle und künstlerische Eigenschaften öfter von Knaben als
von Mädchen namhaft gemacht. Auch unter den Liebhabern von
Verstandesspielen finden sich mehr Männer als Frauen.
Man könnte annehmen, dafs die i. a. häufigere Neigung der
Mädchen zu intellektueller Betätigung sich auch darin aussprechen
miifste, dafs die Mädchen lieber lesen als die Knaben, und dafs
sie im Lesen Besseres leisten. Dies trifft — wenigstens in dieser
allgemeinen Formulierung — nicht zu. Offenbar kommt es dabei
sehr auf den Lesestoff an; in der Tat bevorzugen die Knaben und
Mädchen, wie aus den Untersuchungen von Mayer, Norris und
H. Stern hervorgeht, sehr verschiedene Lesestoffe; das Marchen
z. B. ist — sowohl hinsichtlich der Rezeption wie der Produktion —
durchaus von den Mädchen bevorzugt (vgl. $ 12, 4).
2. Neigung zu politischer Betätigung.
(15, 31, 48, 62, 98.)
Ein Interesse für Politik findet sich im allgemeinen häufiger
bei den Knaben und Männern. Z. T. mag dies damit zusammen-
hängen, dafs die politischen Rechte der Männer und damit die
Gelegenheit eine wirksame politische Tatigkeit zu entfalten,
allenthalben gröfser sind als die der Frauen.
§ 22. Eigenschaften des Gefühle- und Willenslebens. 63
3. Neigung zu philanthropischer Betätigung.
(8, 15, 31, 40, 48, 62, 65, 77, 81, 98, 98.)
Dafs das gröfseıe Interesse der Männer an politischen Dingen
jedenfalls nicht oder nicht nur ein Ausflufs ihrer stärker ent-
wickelten sozialen Gesinnung ist, beweist die durchgehend fest-
stellbare stärkere Beteiligung der Mädchen an philanthropischen
Betätigungen und das häufigere Vorhandensein der diesen Be-
tätigungen entsprechenden Gesinnungen und Eigenschaften: Mit-
leid, Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft u. dgl. Andererseits finden
die entgegengesetzten Eigenschaften Egoismus, Grausamkeit u. dgl.
sich häufiger bei den Knaben und Männern.
Vielleicht lälst sich das stärkere Interesse der Männer an
Politik und das stärkere Interesse der Frauen an Philanthropie
auch auf die folgende Formel bringen: Die Frauen sind mehr
bestrebt, dem einzelnen Individuum zu helfen, das Streben der
Männer gilt mehr der Heilung von Schäden, unter denen die —
als unpersönlich gedachte — Gesamtheit leidet.
Es wird ja auch sonst vielfach behauptet, dafs das Interesse
der Frauen mehr auf das einzelne, Konkrete, das der Männer mehr
auf das Allgemeine, Abstrakte, gerichtet sei.
4. Religiosität.
(1, 7, 31, 39, 48, 62, 65, 81, 98, 105.)
Religiöse Gesinnung, Festigkeit der religiösen Überzeugung
Streben nach Verwirklichung des religiösen Ideals, Interesse an
religiösen Dingen usw. finden sich fast durchgängig häufiger bei f.
Demgegenüber steht eine vielleicht bei den Knaben häufiger
zu findende Tendenz ihre eigenen Handlungen usw. durch religiöse
Motive zu begründen.
5. Neigung zu praktischer Betätigung.
(98, 105.)
Neigung zu praktischer Betätigung findet sich häufiger bei m;
allerdings sind es auch mehr Mädchen, die gewisse Unterrichts-
fächer deshalb nicht mögen, weil sie ‚nutzlos‘ seien.
64 Kapitel Ill. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
6. Erwerbssinn.
(40, 48, 62, 65, 77, 82.)
Ein Erwerbssinn, d. h. eine auf Geldverdienst und materiellen
Besitz gerichtete Neigung, ist i. a. bei m mehr als bei f vorhanden.
Allerdings scheinen — nach einem Resultat von HEYMANs-WIERSMA
— die Männer das Geld auch leichter wieder auszugeben, während
die Mädchen mehr zu Sparsamkeit und Geiz neigen.
7. Streben nach Macht.
(40, 48, 62, 77.)
Bedeutend mehr Knaben als Mädchen bezeichnen als die-
jenige Eigenschaft, um derentwillen eine Person ihnen als vorbild-
lich gilt, die Macht, — und ebenso als das Motiv, weswegen sie
einen bestimmten Beruf ergreifen wollen, dies, dafs dieser Beruf
ihnen Gelegenheit zum Befehlen gibt.
Damit steht im Widerspruch, dafs bei HEymans-WiERsMA mehr
Frauen als Manner als herrschsiichtig bezeichnet werden.
8. Streben nach Ehre.
(8, 48, 62.)
Auch Ehrgeiz findet sich i. a. bei m häufiger als bei f; nur nach
Heymans sind unter den ehrgeizigen 15—18jahrigen mehr f als m.
9. Eitelkeit.
(8, 48, 62, 65, 77, 98.)
Mit grofser Übereinstimmung ist aus verschiedenen Indizien
zu schlielsen, dafs Eigenschaften der äufseren Erscheinung und
überhaupt körperliche Vorzüge im Interesse der Mädchen häufiger
eine Rolle spielen, als in dem der Knaben. Nur unter den 18- bis
19jährigen ,,stutzerhaften‘‘ Beobachtungsobjekten von Heymans,
und unter denjenigen l4jährigen, deren Idealpersonen durch
Eigenschaften der äufseren Erscheinung ausgezeichnet sind
(RıcHTEr), gibt es mehr m.
10. Neigung zu Geselligkeit.
(8, 72, 82, 93, 105.)
Unter den Kindern und Jugendlichen (bis zu 19 Jahren),
welche die Gesellschaft anderer lieben, nicht gern allein sind usw.,
sind nach verschiedenen Feststellungen die f in der Überzahl.
$ 22. Eigenschaften des Gefühls- und Willenslebens. 65
Unter den Studenten aber sind es nach THompson mehr Männer,
die sich lieber in Gesellschaft als allein befinden, und mehr Frauen,
die kein Vergnügen an geselligen Vereinigungen finden.
11. Sexualleben.
(31, 48, 98.)
Die Sexualität spielt nach Hrymans-Wırrsma im Leben des
Mannes öfters eine grolse Rolle als in dem der Frau.
Man könnte hier auch anführen, dafs mehr Mädchen als
Knaben die ‚„Keuschheit‘“ und ‚Unschuld‘ als diejenige Eigen-
schaft bezeichnen, die eine Idealperson nachahmungswert macht
(FriEpricH), und ebenso die als schlechteste menschliche Eigen-
schaft den ‚Leichtsinn‘‘ und , schlechte Lebensweise“ nennen
(H. STERN); aber es ist doch sehr zweifelhaft, ob diese Begriffe
von den 121,- und l4jährigen schon in dem spezifisch auf das
Sexuelle gerichteten Sinne aufgefalst werden, in dem wir sie zu
verwenden pflegen.
12. Moralität im allgemeinen.
(15, 40, 62, 98.)
Während, wie wir gesehen haben, die Aufmerksamkeit der
Knaben sich vorwiegend auf materielle Dinge richtet und solche
Eigenschaften wie Besitz, Ehre und Macht als begehrenswert er-
scheinen lälst, ist das Interesse der Mädchen mehr auf intellektuelle
und, wie wir hier festzustellen haben, auf moralische Eigenschaften
gerichtet. Allerdings scheint — nach den Befunden von BRANDELL
und Gopparp — die Majoritét der Mädchen in dieser Beziehung
erst im Alter von 9—10 Jahren einzutreten ; während vorher gerade
die Knaben auf Eigensehaften des Charakters Wert legen.
13. Betragen.
(1, 8, 7, 8, 34, 48, 52, 61, 62, 98.)
Das, was man in der Schule unter gutem ,,Betragen“ (,,con-
duct“) versteht — und ebenso die einzelnen Teileigenschaften
dieser Eigenschaftsgruppe (Milde, Höflichkeit, Fügsamkeit, Freund-
lichkeit) — finden sich allenthalben häufiger bei Mädchen als bei
Knaben, die gegensätzlichen Eigenschaften — schlechtes Betragen,
Heftigkeit, Herrschsucht, Flegelei, Frechheit usw. — ebenso durch-
gängig häufiger bei Knaben. Die einzigen Ausnahmen sind : Wider-
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Erster Teil. 5
66 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
spenstigkeit ist bei 16jährigen Mädchen häufiger als bei gleich-
eltrigen Knaben (Hrymans), Herrschsucht bei Frauen häufiger
als Männern (Hrymans-Wırssma), Höflichkeit wird von mehr
14jährigen Knaben als Mädchen als beste Eigenschaft bezeichnet,
(H. STERN).
14. Fleils.
(1, 7, 8, 81, 48, 52, 61, 65, 98.)
Auch hinsichtlich des Fleifses sind die Madchen den Knaben
fast durchgängig überlegen. Nur unter den l1ljahrigen Volks-
schülern in Stockholm bekommen mehr Mädchen als Knaben
eine schlechte Schulzensur in ‚‚Fleifs“!). Ferner sind es bei HEY-
MAns mehr Knaben als Mädchen, die in einzelnen Fächern mehr
arbeiten, als die Schule von ihnen verlangt; aber es sind nur eben
„einzelne Fächer‘, und zwar wohl die eben interessierenden, und
es ist wohl nicht eigentlich als ‚‚Fleifs‘“ zu bezeichnen, wenn die-
Knaben ihre Interessen hier intensiver betätigen als die Mädchen.
Gegenüber dem sonst überall festgestellten grölseren Fleils
der Mädchen wirkt es fast wie eine Art Selbsterkenntnis der Knaben,
wenn sie oft als beste Eigenschaft den Fleils, als schlechteste
Eigenschaft Faulheit, Trägheit, Mülsiggang namhaft machen
(H. STERN).
15. Ordnungsliebe.
(8, 48, 98.)
Es sind überall mehr Mädchen als Knaben, die auf Reinlich-
keit und Ordnung halten und als beste Eigenschaften Ordnungs--
liebe und Sauberkeit, als schlechteste Eigenschaften Unordnung und
Unsauberkeit bezeichnen. Sofern diese Angaben sich auf Körper
und Kleidung erstrecken, hängen sie wohl mit der oben erwähnten.
grölseren Eitelkeit der Mädchen zusammen.
16. Pünktlichkeit?)
(8, 48.)
Unter den pünktlichen Schulkindern fand Heymans mehr
Mädchen, unter den pünktlichen Erwachsenen fanden HEYMANS-
Wiersma mehr Männer. |
1) Siehe Anm. auf 8. 26 und S. 67.
23) HEYMANS und HEYMANS-WIERSMA scheinen „Pünktlichkeit“ in
einem allgemeineren Sinne zu verstehen, als es i. a. üblich ist. Während.
§ 22. Eigenschaften des Gefühls- und Willensleben. 67
17. Wahrheitsliebe.
(8, 48, 62, 65, 98, 105.)
Auch die Wahrheitsliebe ist eine Eigenschaft, die sich im
allgemeinen bei Mädchen häufiger findet. Doch ist auch dies nicht
ausnahmslos: bei Tuompson bezeichnen sich mehr Studentinnen
als Studenten selbst als unaufrichtig; bei Heymans bezeichnen die
Lehrer von den 19jährigen mehr m als f als solche, die ein Ver-
gehen ehrlich gestehen ; allerdings ist hier der Zusatz nicht zu über-
sehen: ‚um anderen keine Ungelegenheiten zu machen.“
18. Treue,
(31, 62, 98.)
„Treue“ ist ein so vager Begriff, der so sehr zu phrasenhafter
Verwendung verführt, dafs wir uns nicht wundern dürfen, wenn
unter den Kindern, welche die Treue — und ebenso Dankbar-
keit, Pietät u. dgl. — als beste oder erstrebenswerte Eigenschaft,
als Motiv ihrer Berufswahl usw. bezeichnen, bald die Knaben,
bald die Mädchen in der Überzahl sind.
19. Geduld.
(31, 48, 62.)
Auch über Geduld läfst sich nur dies sagen, dafs bei Heymans-
Wiersma die Ärzte mehr Frauen als Männer als ‚bei Krankheit
geduldig‘“ bezeichnen.
Die Ergebnisse über Geduld als erstrebenswerte Eigenschaft
stimmen nicht überein.
20. Mut.
(8, 81, 48, 62, 98.)
Mut findet sich überall öfter bei Knaben als bei Mädchen; nur
bei Krankheiten scheinen sich — nach Hrymans-WiERsMmaA — mehr
f als m mutig zu benehmen.
Das freimütige oder schüchterne Benehmen bei öffentlichem
Auftreten — beides findet sich bei 14- bis 17jährigen Mädchen
häufiger als bei gleichaltrigen Knaben (Hrymans) — hat mit dem
„Mut“ im eigentlichen Sinne des Wortes ja nur sehr indirekt zu tun.
wir bei Pünktlichkeit im wesentlichen an das genaue Innehalten eines ver-
abredeten oder festgesetzten Zeitpunktes denken, scheinen die beiden ge-
nannten Verfasser darunter mehr ‚„Gewissenhaftigkeit‘‘ i. a. zu verstehen.
E
68 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
21. Bescheidenheit.
(8, 31, 48, 98.)
Unbescheidenheit, Selbstzufriedenheit, Prahlerei, Grofstuerei
u. dgl. ist i. a. mehr eine Eigenschaft der Knaben als der Mädchen,
und dementsprechend wird die Bescheidenheit auch von den
Mädchen höher geschätzt als von den Knaben.
Allerdings ist Hochmut nach Heymans bei Knaben häufiger
als bei Mädchen.
22. Emotionalität.
(8, 25, 48, 62.)
Emotionalität, Reizbarkeit, leichte Verstimmbarkeit u. dgl.
sind bei weiblichen Personen häufiger zu finden als bei männlichen.
Nur unter den 1l3jäbrigen sind mehr Knaben als Mädchen leicht
in Begeisterung zu versetzen.
Dals die Mädchen ihre Emotionalität nicht gerade für eine
Tugend halten, kann vielleicht aus dem Resultate Mayers er-
schlossen werden, wonach nur Mädchen als wesentlichste Eigen-
schaft einer Freundin die bezeichnen, dafs sie nicht empfindlich
und neidisch sein darf.
Entsprechend der gröfseren Emotionalität der Mädchen finden
sich höhere Grade von Konstanz der Stimmungen, der Sympathien,
der Gewohnheiten und ebenso auch ‚Dickköpfigkeit‘‘ meist
häufiger beim. Nur in der Trauer sind — nach HeYmans-WIERSMA
— f ausdauernder. Im ganzen erscheint danach die ‚„Sekundär-
funktion‘‘ bei den Männern grölser zu sein, während die Frauen
mehr ,,primarfunktionierend“ sind, mit Ausnahme stark gefühls-
betonter Eindrücke, die bei Frauen länger nachwirken. So fand
auch CoLEGRoOVE, dafs die Frauen sich an gefühlsbetonte Eindrücke
besser erinnern als Männer (vgl. $ 12, 2).
23. Allgemeine Gefühlsrichtung.
(8, 24, 39, 48, 62, 65.)
Heiterkeit, Munterkeit u. dgl. kann als Charakteristikum des
weiblichen, Schwermut, Düsterkeit als eine bei m sich öfter findende
Eigenschaft bezeichnet werden. Dies äulsert sich unter anderem
auch — wenn auch nicht ausnahmslos — in der Art der literarischen
Produktion der Knaben und Mädchen.
Bei der Lieblingslektüre findet sich, allerdings nicht nur bei
§ 23. Aufmerksamkeit. 69
der Bevorzugung der lustigen, sondern auch bei derjenigen der
traurigen und rührenden Schriften eine Majorität der Mädchen,
was wohl mit ihrer überhaupt grölseren Emotionalität zusammen-
hängt.
Entsprechend der heiteren Gemütsverfassung der Mädchen
sind diese auch lachlustiger als m.
Andererseits sind letztere mehr als f zu Witz und Satire
geneigt.
24. Impulsivitat.
(8, 48.)
Bedächtigkeit und Handeln nach Prinzipien ist häufiger bei m;
dagegen sind impulsives und entschlossenes Handeln öfters bei
Frauen zu finden.
§ 23.
Aufmerksamkeit.
1. Beobachtung.
(1, 8, 52, 85.)
Die vorliegenden Schulzensuren und Lehrerbeobachtungen
stimmen darin überein, dals Aufmerksamkeit in höherem Grade
eine Eigenschaft der Mädchen, Zerstreutheit, leichte Ablenkbarkeit,
plötzliches Nachlassen der Aufmerksamkeit dagegen mehr Cha-
rakteristika der Knaben sind. |
Auch Scuuyten, der während eines ganzen Schuljahres täglich
während einiger Minuten methodische Beobachtungen über die
Aufmerksamkeit der Schulkinder veranstaltete, fand an 110 Be-
obachtungstagen mehr Aufmerksame unter den Mädchen, und nur
an 18 Tagen mehr Aufmerksame unter den Knaben. Nimmt man
dazu diejenigen 6 Beobachtungstage, an denen wenigstens eine
Hälfte des Versuchsresultates — der Versuch wurde in 2 Klassen
veranstaltet — zugunsten der Knaben spricht, so finden sich
Besserleistungen der Knaben einmal besonders in der unteren der
beiden Klassen, zweitens besonders im Frühjahr vom 5. März bis
1. Mai und drittens dann, wenn dem Versuch eine 5 Minuten lange
Erholungspause vorherging. Vielleicht hängen die beiden ersten
der genannten Ergebnisse damit zusammen, dafs die Mädchen im
Präpubertätsalter etwas mehr als die Knaben den klimatischen
Einflüssen des Frühjahrs unterliegen; mit der Temperatur, die
70 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
von SCHUYTEN mit aufgezeichnet wurde, ist jedoch ein Zusammen-
hang nicht feststellbar.
2. Experiment.
(29, 45, 114.)
Das experimentelle Verhalten der m und f zeigt nicht die eben
konstatierte grölsere Aufmerksamkeit der letzteren. Bei Dück
besserte sich die Arbeitsleistung — Lernen von Zahlenreihen —
unter dem Einfluls von Störungen bei den Knaben mehr als bei
den Mädchen, bzw. verschlechterte sich bei diesen mehr als bei
jenen. — Beim Bourovon-Test, bei dem es sich darum handelte,
möglichst rasch sämtliche in einem Test vorkommende a, e und
u zu durchstreichen, fand Henrorın, dals unter den jüngeren.
Vpp. (etwa bis zum 10. Lebensjahre) die Knaben schneller aber
fehlerhafter arbeiteten, während dann die Fehlerhaftigkeit aber
auch die Schnelligkeit bei den Mädchen grölser ist. Es ist schwer
zu sagen, ob mehr die Richtigkeit oder mehr die Schnelligkeit des
Arbeitens als Aufmerksamkeitsindex zu betrachten ist.
Bei den Intervallschätzungen von YERKES-ÜRBAN zeigt sich
der meist zugunsten der Männer konstatierte Geschlechtsunter-
schied vom Verhalten der Aufmerksamkeit während des zu
schätzenden Intervalles relativ unabhängig.
3. Intervariation (Regelmälsigkeit der Reaktion).
(16, 51, 91, 101, 105.)
Wenn man bei länger fortgesetzten Experimentalunter-
suchungen für jede Versuchsperson das arithmetische Mittel ihrer
Leistungen und den Durchschnitt der Abweichung der Einzelbe-
stimmungen von diesem Mittelwert feststellt, so erhält man in
diesem Ausdruck (m. V. = mittlere Variation), einen Maflsstab
dafür, ob die Versuchsperson mehr oder weniger regelmälsig
reagiert. Ist m. V. klein, so kann man also schliefsen, dafs die
Aufmerksamkeit der Versuchsperson sich über die ganze Versuchs-
reihe hin relativ konstant verhalten hat, während eine grofse m. V.
auf grolse Schwankungen der Aufmerksamkeit hinweist.
Wir finden nun unter den uns vorliegenden Resultaten meist
— aber nicht durchgängig — kleinere m. V. häufiger bei den m,
grölsere häufiger bei den f. Wenn man die Resultate nur in bezug
auf die untersuchten Altersstufen betrachtet, so kann man vielleicht
§ 25. Zusammenfassung. 71
sagen, dals Ausnahmen hiervon (also kleinere m. V., d. i. kon-
stantere Aufmerksamkeit der f) sich im wesentlichen auf das
Präpubertätsalter zu konzentrieren scheinen.
Mit der meist geringeren Intravariation der m hängt vielleicht
auch die bereits früher ($ 22, 22) erwähnte grölsere Konstanz ihrer
Gewohnheiten, Stimmungen, Sympathien zusammen.
§ 24.
Suggestibilitat.
(8, 29, 37, 56, 91, 113, 116.)
Hinsichtlich der Suggestibilität ist ein eindeutiger Geschlechts-
unterschied nicht feststellbar.
Gewissen Suggestionen — Wahrnehmung eines objektiv nicht
vorhandenen Tones oder Geruches — leisteten mehr Mädchen
Widerstand (Kosoc), anderen Suggestionen dagegen erlagen mehr
Mädchen als Knaben, so der einer Tastempfindung (Kosoc), dem
„Bemerken“, dals eine Karte ‚magnetisiert‘ sei (Yunc), der Fäl-
schung eines Erinnerungsbildes (Dück).
Unter denjenigen Kindern, die eher geneigt sind, es anderen
nachzuahmen, als sich selbst zum Führer zu machen, sind die
Knaben in geringer Überzahl (Heymans).
Für eine geringere Suggestibilität der m spricht vielleicht auch
der Umstand, dafs sie sich gegenüber der Demoorschen Täuschung
auf dem Gebiete des Gesichstsinnes (SEASHORE, WOLFE), sowie der
Quadrat- und Ringtäuschung auf dem Gebiete des optischen
Raumsinnes (GiErınG), als die widerstandsfähigeren erwiesen
($ 10, 3 und 6c). | See
$ 25.
0... Zusammenfassung.
Es ist nicht der Zweck dieses dritten Kapitels meines Buches
— und überhaupt nicht der Zweck dieses Buches — eine voll-
ständige Übersicht über die in bezug auf Geschlechtsunterschiede
vorliegenden Resultate zu gewähren. Wir hätten uns dann nicht
auf diejenigen Resultate beschränken dürfen, die sich der von uns
gewählten statistischen Methode fügen. `
Die Absicht dieses 3. Kapitels ist vielmehr nur die, eine unge-
fähre Übersicht über die von uns zusammengestellten und weiter
zu verwendenden Ergebnisse zu ermöglichen, die gleichartigen
72 Kapitel III. Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
zusammenzuordnen, Übereinstimmungen und Nichtübereinstim-
mungen verschiedener Untersucher festzustellen.
Auch die Zusammenfassung, die in diesem Paragraphen ge-
geben wird, soll nur diesem Zwecke dienen und die hier sicherge-
stellten Ergebnisse noch einmal vereinigen. Die Lückenhaftigkeit
unseres Materials gestattet uns nicht — und es lag auch, wie
gesagt, von vornherein nicht in unserer Absicht —, die Ergebnisse
hinsichtlich einzelner psychischer Funktionen nun wiederum noch
grölseren umfassenderen Gesichtspunkten unterzuordnen, oder
ihren Zusammenhang untereinander zu untersuchen, wie HEYMANS,
W. STERN und andere es getan haben. Man wird deshalb in dieser
Zusammenstellung nach Schlagworten wie ‚„Spontaneität“, ‚„Re-
zeptivität“, „Sekundärfunktion‘ u. dgl. vergeblich suchen.
Mit hinreichender Übereinstimmung fanden sich Majoritäten
der männlichen (m) bzw. der weiblichen (f) Personen bei den
stärkeren Graden (bzw. Minoritäten bei den schwächeren Graden)
folgender Leistungen und Eigenschaften:
m ss f §§
Raumsinn der Haut . . 10,1
Gewichtssinn ..... 10, 3
Geschmackssinn . . . . 10,4
Gehörssinn ...... 10, 5
Farbensinn (U. E.) . . 10, 6b
Optischer Raumsinn . . 10, 66
Zeitsinn ....... 10,7
Überschätzung von Zeit- Unterschätzung von Zeit-
intervallen . .... 10,7 intervallen ..... 10,7
Schnelligkeit der Wahl-
reaktion ...... 11, 20
Präzision und Koordi-
nation von Bewegungen 11, 3
Schreiben - : . : . . . 11, 3
Handfertigkeit . . . . 11,3
Detailreichtum von Zeich-
nungen >... a.. 12, 2
Phantasie. ...... 12,4
Begabung fiir Mathe-
matik. ....... 13,1
§ 25. Zusammenfassung. 13
m $$
Unterrichtsleistung in
Mathematik . . . . .. 13, 2a
Unterrichtsleistung in
Rechnen und Arith-
metik ....... 13, 2d
Rechnen eingekleideter
Aufgaben...... 13,8
Interesse fiir Mathematik 13, 4
Lösung technischer Auf-
gaben. .. wid 15
Interesse für Technik . 15
Leistungen im Zeichnen 16
Interesse für Zeichnen . 16
Interesse für Geschichte 18
Einzeltests zur Intelli-
genzprüfung ... . 21
Einzeleigenschaften der
Intelligenz . . . . . 21
Neigung zu politischer
Betätigung ein (ks Wak: e ù 22, 2
Neigung zu praktischer
Betätigung - - - - - 22,5
f 88
Schnelligkeit des elemen-
taren Rechnens . . . 13,3
Leistung in lebenden
Fremdsprachen . . . 19
Interesse für lebende
Fremdsprachen . . . 19
Leistung in der Mutter-
sprachhe.......- 20, 1
Leistung in Rechtschrei-
bung .......-.- 20, 1
Allgemeine geistige Ent-
wicklung (Lehrerurteil) 21
Neigung zu intellektueller 22, 1
Betätigung
Neigung zu philanthro-
pischer Betätigung
Religiosität
74 Kapitel III. Anhang.
m §§ f §§
Erwerbssinn ..... 22,6
Streben nach Macht . . 22,7
Ehrgeiz ....... 22,8
| Hitelkeit ....... 22,9
Sexualität ...... 22,11
Unart ........ 22,13 Artigkeit ....... 22,13
Faulheit........ 22,14 Fleifs ........ 22,14
Unordnung ...... 22,15 Ordnungsliebe . . . . . 22, 15
Unwahrhaftigkeit . 22,16 Wahrheitsliebe 22, 16
Mut & = 5.0 €. 8 % 22,20 Furchtsamkeit 22, 20
Unbescheidenheit . 22,21 Bescheidenheit 22, 21
Emotionalität . . - - - 22, 22
Ernste Stimmung . 22,23 Heiterkeit ...... 22, 23
Witz . . lg Ae A 22, 23
Bedächtigkeit . - - - - 22,24 Impulsivität .... . 22, 24
Ablenkbarkeit (Lehrer- Konstanz der Aufmerk-
urteil) . ...: . . 28 samkeit (Lehrerurteil) 23, 1
§ 26 Anhang.
Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschie-
schiedenen Eigenschaften.
Nachdem wir in den vorigen Paragraphen diejenigen Ergebnisse
über das Verhältnis der Geschlechter zusammengestellt haben, die
sich auf ein und dieselbe psychische Funktion oder Eigenschaft
beziehen, und gesehen haben, inwiefern bei gewissen Leistungen
oder Eigenschaften eine Überlegenheit des einen Geschlechtes über
das andere feststellbar war, wollen wir nun noch anhangsweise
untersuchen, wie sich die einzelnen Leistungen einiger Haupt-
gebiete bez. des Geschlechtsunterschiedes zueinander verhalten.
Wenn wir z. B. vorher gefunden haben, dals ein Interesse sowohl
für Mathematik wie für Zeichnen bei m häufiger ist als bei f, so
interessiert es wohl, nun weiter zu fragen, ob die Überlegenheit der
m über die f hinsichtlich des Interesses für Mathematik grölser
oder kleiner ist als die Überlegenheit hinsichtlich des Interesses
für Zeichnen ; oder, mit anderen Worten, ob diese oder jene Eigen-
schaft in höherem Grade als ein Charakteristikum des betreffenden
Geschlechts zu betrachten ist.
Eine derartige Untersuchung wird uns auch noch durch
§ 26. Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften. 75
folgende Erwägung nahegelegt: Es kann leicht sein, dals die Er-
gebnisse mancher Untersuchungen durch konstante, aulserhalb des
Zieles der Untersuchung gelegene Einflüsse in bestimmter Richtung
gefälscht sind, die einen etwa vorhandenen Geschlechtsunterschied
zum Verschwinden bringen oder gar ihn in den gegenteiligen um-
schlagen lassen. Eine Überlegenheit der Mädchen in den Schul-
leistungen könnte z. B. durch einen grölseren ‚‚Schulwillen‘“ (Fleifs,
Aufmerksamkeit) hervorgebracht sein, und wir dürften daraus nicht
auf eine grölsere Begabung der Mädchen für die betreffenden
Unterrichtsfächer schlielsen. Umgekehrt kann bei gewissen Ex-
perimenten eine grölsere Schüchternheit der Mädchen Besser-
leistungen der Knaben zum Erfolge haben, also eine grölsere In-
telligenz oder dergl. der Knaben vortäuschen. Eine derartige
konstante ‚Fehlerquelle‘ kann z. B. auch in der Person des Expe-
rimentators oder Lehrers liegen, sei es, dals er die männlichen und
weiblichen Versuchspersonen oder Schüler nicht ganz gleich be-
handelt!), sei es, dals — infolge seines eigenen Geschlechtes —
eine ihm selbst unbewulste ,,sexuelle‘‘ Wirkung von ihm ausgeht,
welche die Angehörigen des einen Geschlechtes zu höherem Eifer
anspornt, die des anderen ,,langweilt*‘. Aus solchen und ähnlichen
Gründen mögen sich auch zum Teil die einander widersprechenden
Ergebnisse verschiedener Autoren erklären.
Derartige konstante Fehlerquellen nun können wir freilich aus
den uns vorliegenden Ergebnissen nicht eliminieren. Wenn die Schul-
leistungen der Mädchen infolge ihres gröfseren Schulwillens bessere
sind als die der Knaben, so wird eben bei allen Schulleistungen
eine Differenz zu ihren Gunsten entstehen, die wir als Tatsache
hinnehmen müssen ; ein etwa vorhandenes Do oder Du wird seinem
absoluten Betrage nach verkleinert, ein negatives vergrölsert
werden. Wir können zwar aus einem negativen D in Sprachen
nicht ohne weiteres auf eine gröfsere Sprachbegabung der Mädchen
schlielsen, wohl aber können wir daraus, dals ein D bei Sprachen
kleiner ist als ein entsprechendes D bei Mathematik, entnehmen,
dafs die Mädchen in Sprachen den Knaben in höherem Grade
1) Aus den Unterrichtsleistungen der Stockholmer Schulkinder (7)
scheint hervorzugehen, dafs durch den gemeinsamen Unterricht, der bis
zum 10. Lebensjahre durch Lehrerinnen erteilt wird, die Knaben benach-
teiligt werden. Jedenfalls treten mit dem Moment der Geschlechtertrennung
— damit beginnt für die Knaben der Unterricht durch männliche Lehrer
— deutliche Besserleistung der Knaben zutage.
16 Kapitel IIl. Anhang.
überlegen sind als in Mathematik, oder dafs die Knaben in Mathe-
matik den Mädchen mehr überlegen sind als in Sprachen.
In dieser Weise haben wir nun die D, die innerhalb einer
Reihe von Versuchen u. dgl. an denselben Versuchspersonen (Schul-
kindern usw.) gewonnen wurden, paarweise miteinander verglichen
und jedesmal gefragt, ob die relative Überlegenheit der m oder
der f bei dem Ergebnis A grölser ist als bei dem Ergebnis B.
Wenn im folgenden gesagt wird, dals die.m den f in einer
Leistung A relativ stärker überlegen sind als in einer Leistung B,
so bedeutet dies, dals sich bei einer Klassifikation nach A sowohl
im obersten Leistungsviertel mehr m, wie auch, dals sich im unter-
sten Leistungsviertel weniger m finden als bei einer Klassifikation
nach B, — oder dals für die m die höheren Stärkegrade der Eigen-
schaft A charakteristischer sind als die der Eigenschaft B, und dafs
umgekehrt für die f die niedrigeren Stärkegrade der Eigenschaft B
charakteristischer sind als die der Eigenschaft A.
Wir haben nämlich die Stärkeverhältnisse im obersten (Do)
und im untersten (Du) Leistungsviertel getrennt behandelt und
hier nur solche Ergebnisse berücksichtigt, die in sich genügend
übereinstimmen, d. h. also z. B. nur solche, bei denen zugleich
Do A > Do Bund Du A > Du B. Ferner wurden in die Tabellen
(s. Teil II D S. 85ff.) nur solche Ergebnisse aufgenommen, die auch
bei verschiedenen Personengruppen die gleichen waren. Nicht be-
rücksichtigt blieben also von vornherein solche Resultate, die sich
aus der Untersuchung nur einer Personengruppe ergaben.
Aulfserdem beschränkten wir uns auf einige wichtigere Gebiete,
wie „Schulleistungen‘“, ‚Interesserichtungen‘“ usw., während z. B.
bei den umfassenderen Eigenschaftslisten von Heymans (8) und
Heymans-WıERsMA (48) die paarweise Vergleichung nicht durch-
geführt wurde.
Wir begnügen uns hier damit, einige Ergebnisse dieser paar-
weisen Vergleichung zu besprechen; im übrigen verweisen wir auf
die in Teil IID S. 385ff. mitgeteilten Tabellen.
Wir haben in $ 13, 1 gefunden, dals eine Begabung für Mathe-
matik deutlich häufiger bei m als bei f feststellbar ist. Wir können
der Liste der Begabungen hier nun noch einige hinzufügen und
zunächst der Mathematik die Begabung für Anekdotenerzählen an-
fügen und ihnen die Begabungen für Sprachen und Musik, in
geringerem Grade auch für Schauspielkunst und für das Erzählen
§ 26. Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften. 77
selbsterfundener Geschichten, bei denen die f relativ überlegen
sind, gegenüberstellen. Die m sind im Zeichnen relativ überlegener
als in den anderen verglichenen Begabungsgebieten mit Ausnahme
des Anekdotenerzählens. Die relative Überlegenheit der m für
Schriftstellerei bleibt zurück hinter der für Mathematik, Anekdoten-
erzählen und Zeichnen, übertrifft aber die für Musik und Sprachen.
Diese Reihenfolge der Gebiete nach der relativen Überlegen-
heit der m — Mathematik, Zeichnen, Aufsatz, Sprachen, Musik —
findet sich auch bei einem Vergleich der Schulunterrichts- und
Examensfächer bestätigt. Zwischen die Fächer, in denen wir
schon in den vorigen Paragraphen eine Überlegenheit der m fest-
stellten — Mathematik ($ 13, 28), Zeichnen ($ 16), Rechnen ($ 13,
2b) — und diejenigen, in denen die f überlegen sind — Singen
(§ 10, 5), Rechtschreibung ($ 20, 1), Handfertigkeit ($ 11, 5), Auf-
merksamkeit (§ 23, 1) und Fleifs (§ 22, 14), Betragen ($ 22, 21),
Schreiben ($11, 3), Fremdsprachen ($19), Muttersprache (§ 20, 1) —
schieben sich nun einige weitere ein, für die wir vorher zu ein-
deutigen Resultaten nicht gelangt waren: Geographie und Ge-
schichte zwischen Zeichnen und Rechnen, — Aufsatz, anorganische
Naturwissenschaften (Science) und Lesen zwischen Rechnen und
Sprachen, — Religion zwischen Fleils und Handarbeit, — Gram-
matik und Biologie zwischen Rechtschreibung und Singen.
Es wäre nun vielleicht zu erwarten, dafs wir für das Interesse
an den Wissensgebieten eine ähnliche Reihenfolge finden.
Wenn wir diese Erwartung bei einem oberflächlichen Vergleich
der entsprechenden Tabellen zunächst nicht bestätigt finden, so
darf uns dies nicht irritieren; denn auf Grund der literarisch vor-
liegenden Daten mulsten wir hier teilweise Gebiete zusammen-
fassen, die in der Reihenfolge der Fächer nach Leistungen weit
entfernte Orte einnehmen. So werden unter ‚Geisteswissen-
schaften‘‘ Fächer wie Geschichte und Literatur, unter ‚„Mathe-
matik und Naturwissenschaften‘‘ Gebiete wie Mathematik und
Biologie zusammengefalst, von denen jeweilig das eine durch relativ
stärkste Überlegenheit der m, das andere durch relativ stärkste
Überlegenheit der f ausgezeichnet ist. Wir sehen daher einmal
von diesen mehrdeutigen Fächern ab — deren Bezeichnungen sich
auch in den beiden zu vergleichenden Tabellen, sofern sie über-
haupt in beiden vorkommen, nicht scharf decken — und beschränken
uns darauf, diejenigen paarweisen Vergleiche zwischen den Fächern
Zeichnen, Geographie, Geschichte, Lesen, Muttersprache, Schreiben
78 Kapitel III. Anhang.
Religion, Handfertigkeit, Sprachlehre, Gesang, die sich in der
Tabelle des Interessengebietes finden, auch in der Tabelle der
Leistungen aufzusuchen; wir finden dann in sämtlichen 4 Fällen,
in denen in beiden Tabellen dieselben Fächerpaare verglichen
sind, dasselbe Verhältnis; dazu kommen 7 Fälle, in denen das Ver-
gleichspaar in der Leistungstabelle zwar fehlt, aber durch Inter-
polation als wahrscheinlich dem der Interessentabelle gleich be-
stimmt werden kann; nur in 2 Fällen (Zeichnen-Handfertigkeit
und Religion-Gesang) führt eine derartige Interpolation zu dem
entgegengesetzten Resultat. Zusammenfassend können wir also
wohl sagen, dafs je besser die relative Leistung eines Geschlechtes
in einem Unterrichtsfache ist, desto grölser auch die relative Über-
legenheit seines Interesses für dieses Fach. Ob das höhere Interesse
die bessere Leistung, oder ob die grölsere Begabung das höhere
Interesse verursacht — das zu untersuchen ist hier nicht der Ort.
Bei den Zeichnungen verdient besondere Beachtung, dafs die
Überlegenheit der Knaben am stärksten bei der Darstellung eines
Trambahnwagens ist. Wenn wir auch hier einen Zusammenhang
zwischen Begabung und Interesse vermuten, so deutet dieses
Resultat auf das in § 15 behandelte stärkere Interesse für Technik.
Diese Vermutung wird bestärkt, wenn wir sehen, dafs auch inner-
halb der Trambahnwagenzeichnungen die Überlegenheit der Knaben
sich besonders stark bei gewissen technischen Details zeigt, die
zwar für die Konstruktion und Funktion des Wagens wesentlich
sind, aber schon aufserhalb des eigentlichen Wagens liegen: die
Leitungsstange, die Leine zur Leitungsstange, de: Leitungsdraht.
die Kuppelvorrichtung, die Geleise. Umgekehrt ist die relative
Überlegenheit der Mädchen charakteristischerweise am stärksten
bei der Darstellung der Fahrgäste; sie interessieren sich auch hier
mehr für Persönliches als für Sachliches. Ferner zeigen sie hier
ein relativ stärkeres Interesse für Zahl und Ordnung: In der Dar-
stellung der Zahl der Räder und Fenster sind sie gleichfalls relativ
überlegen.
Auch bei den Einzelheiten einer Menschendarstellung finden
wir die relative Überlegenheit der Mädchen am grölsten für die
Zahl der Finger und der Arme. Überhaupt können wir sagen,
dafs die Mädchen sich relativ am meisten bei solchen Einzelheiten
auszeichnen, die für die Güte der Zeichnung unwesentlich sind;
§ 26. Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften. 79
denn es ist natürlich durchaus kein Kriterium einer guten Zeich-
nung, dafs beide Arme oder gar, dals alle zehn Finger deutlich
sichtbar sind. Ebensowenig brauchen die Zähne, Nabel und Ge-
schlechtsteile dargestellt zu sein. So sind also die Mädchen-
zeichnungen in relativ viel höherem Grade als die Knabenzeich-
nungen Darstellungen dessen, was das Kind vom Menschen weils,
als dessen, was man vom Menschen sieht; sie gehören also, was
unsere sonstigen Ergebnisse über die zeichnerische Begabung be-
stätigt (vgl. $ 16) einem primitiveren Stadium als die Knaben-
zeichnungen an.
Bei den Einzelheiten der Schlaraffenlandzeichnungen ist viel-
leicht dies anzumerken, dafs das Interesse der Mädchen für ‚Schlaf-
rocktragen‘‘ — also ein Kleidungsmerkmal — merklich relativ
höher ist, als für die anderen verglichenen Einzelheiten. — Gleiches
gilt für den ,,Kuchenberg“.
Unter den Lieblingsbeschäftigungen notieren wir — ab-
gesehen von der Vorliebe der m für Basteln, Bauen und Sport —,
dals die f Glücksspiele vor Verstandesspielen bevorzugen. Bei den
Lieblingsspielen begnügen wir uns damit, auf das gegensätz-
liche Verhalten einiger charakteristischer Spiele hinzuweisen. Der
Knabe bevorzugt die wilderen Rasenballspiele, das Mädchen das
sanftere gewöhnliche Ballspiel. Die meisten der übrigen Gegen-
sätzlichkeiten lassen sich dem Satze unterordnen: ‚Des Mannes
— auch schon des Knaben — Haus ist die Welt; die Welt der Frau
— und des Mädchens — ist das Haus‘. Der Knabe spielt ‚‚öffent-
liches Leben‘, das Mädchen bevorzugt ‚Vater-Mutter-Kind‘, und
ahmt Elternberufe (z. B. Verkaufen) nach. Auch der extreme
Gegensatz Soldatenspiel — Puppenspiel ordnet sich diesem Ge-
sichtspunkt unter.
Diese Gegensätzlichkeit der Interessensphären bekundet sich
ferner auch in der Wahl derjenigen Person, der die Kinder am
liebsten gleichen möchten: Die Knaben nennen häufig einen
Herrscher, eine aus der Geschichte bekannte Persönlichkeit oder
eine Person des öffentlichen Lebens; die Mädchen bevorzugen
dagegen eine Person ihres Bekannten- und Verwandtenkreises,
besonders die Mutter. Daneben zeigt sich allerdings auch eine
Vorliebe für biblische Personen und für Personen der Dichtung und
Sage, sowie endlich für Schriftsteller und Künstler.
80 Kapitel III. Anhang.
Dem entspricht selbstverständlich auch das Verhältnis der
Eigenschaften, welche die Kinder am liebsten besitzen oder
betätigen möchten: Die Knaben wollen Macht ausüben, wollen
sich militärisch, politisch, sozial betätigen; die Mädchen dagegen
ziehen es vor „gut‘‘ zu sein und ihre „Nächsten zu lieben‘, sie
wollen bestimmte Eigenschaften religiöser Art, der äulseren Er-
scheinung, der Intelligenz usw. besitzen.
Bei einem Vergleich der Experimentalleistungen würde uns
besonders die Frage interessieren, ob vielleicht der Grad der Über-
legenheit eines Geschlechtes in irgendwelchem Zusammenhang
mit dem Grade der Schwierigkeit der Aufgabe steht. Diese Ver-
mutung wird uns nahegelegt besonders durch ein Ergebnis THomp-
sons (105); bei ihren Versuchen über Bewegungssicherheit war die
Überlegenheit der Männer, wenn die linke Hand zu arbeiten hatte,
grölser, als bei dem rechtshändigen Versuch, und der linkshändige
Versuch ist auch, nach den Ergebnissen zu urteilen, der schwerere.
Ebenso waren bei SrAsHorE (91) die Schätzungen grölserer Zeit-
strecken schwieriger (wenigstens für die Frauen; für die Männer
waren alle Schätzungen etwa gleich schwierig); auch hier ist die
relative Überlegenheit der Männer bei den schwierigeren Auf-
gaben grölser. — Ein grölseres Material zur Untersuchung dieser
Frage liegt uns in den Rechenexperimenten Voicts (107) vor, die
aber kein einheitliches Ergebnis zeigen; von denjenigen Aufgaben,
bei denen durchgängig die Überlegenheit der Mädchen grölser ist
als bei der mit ihr verglichenen anderen eines Aufgabenpaares, ist
in etwa gleich vielen Fällen die erste die schwierigere wie die
zweite, soweit sich dies aus der Zahl der überhaupt gelieferten
richtigen Lösungen ersehen lälst. Wir können also nur zur weiteren
Untersuchung dieser Frage anregen.
81
Kapitel IV.
Vergleich des Geschlechtsverhaltnisses in verschiedenen
Altersstufen.
(1, 2, 3, 4, 5, 7, 8, 9, 10, 13, 15, 16, 19, 24, 25, 26, 31, 37, 39, 40, 45,
48, 49, 54, 60, 61, 63, 65, 66, 67, 70, 73, 75, 77, 81, 82, 84, 87, 92, 98,
100, 101, 106, 107, 109, 110.)
§ 27.
Vorbemerkung.
Die meisten der in Kapiel II angeführten Untersuchungen be-
gnügen sich nicht mit der Feststellung eines Geschlechtsunter-
schiedes in einer Altersstufe, sondern sehr häufig wird mit der-
selben Fragestellung an Personen beider Geschlechter und ver-
schiedener Altersstufen experimentiert. Wir sind dadurch in die
Lage versetzt, untersuchen zu können:
1. Ob der einmal gefundene Geschlechtsunterschied auch in
einer höheren Altersstufe der Richtung nach der gleiche bleibt,
oder wie häufig ein in einer niederen Altersstufe festgestellter
Unterschied zugunsten der Knaben später in einen zugunsten
der f umschlägt und umgekehrt.
2. Ob der in einer niederen Altersstufe gefundene Geschlechts-
unterschied — vorausgesetzt, dals er seine Richtung beibehält —
sich mit wachsendem Alter gewöhnlich vergrölsert oder verringert.
3. Ob bei denjenigen Eigenschaften, die Werturteile in sich
enthalten, bei denen also von der ‚Überlegenheit‘ oder der
„Besser“leistung des einen Geschlechtes im engeren Sinne die
Rede sein kann, diese Überlegenheit sich mit wachsendem Alter
vergrölsert oder verkleinert.
§ 28.
Richtungsaénderungen des Geschlechtsunterschiedes?).
Unter den 4688 Paaren von Altersstufen, bei denen mit gleich-
bleibender Fragestellung und Untersuchungsmethode ein Ge-
schlechtsunterschied gefunden wurde, befinden sich 618 (13%)
Alterspaare, bei denen die Richtung des Geschlechtsunterschiedes
1) Vgl. Teil II E, 8. 97ff.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Erster Teil. 6
82 Kapitel IV. Vergleich der Geschlechtsverhdlinisse in verschied. Altersstufen.
sich ändert, d.h. also: Wenn hinsichtlich einer bestimmten Funktion
in der niederen zweier Altersstufen das eine Geschlecht eine Über-
legenheit (die hier nicht notwendig eine Besserleistung zu sein
braucht) zeigt, so ist in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der
Fälle (87 %) dasselbe Geschlecht auch in der höheren Altersstufe
das überlegene.
Die Richtungsänderungen verteilen sich über die Altersstufen
von 3 bis 17 Jahren derart, dals, je weiter entfernt die beiden mit-
einander verglichenen Altersstufen sind, desto häufiger auch
Richtungsänderungen auftreten. Beträgt die Differenz der ver-
glichenen Altersstufen 1 bis 2 Jahre, so finden wir nur 9% Rich-
tungsänderungen, beträgt die Differenz 3 bis 4 Jahre, so ist die
Zahl der Richtungsänderungen 14%, und diese letzteren wachsen.
bis auf 21%, wenn die verglichenen Altersstufen um mehr als
4 Jahre differieren.
Die geringe Zahl der Richtungsänderungen überhaupt — und
ihre Abhängigkeit von der Differenz der Altersstufen — darf als
ein Beweis für die allgemeine Zuverlässigkeit der Einzelbestim.
mungen betrachtet werden; die relative Seltenheit der Richtungs-
änderungen gibt uns das Recht, von Geschlechtsunterschieden i. a.,
ohne Rücksicht auf die eben untersuchte Altersstufe, zu sprechen.
§ 29.
Die Gröfse des Geschlechtsunterschiedes in seiner
Abhängigkeit vom Alter!).
Unter den 4688 Paaren von Altersstufen finden wir ferner:
2162 (46%) Fälle, in denen der Geschlechtsunterschied mit
wachsendem Alter zunimmt;
1563 (33%) Fälle, in denen der Geschlechtsunterschied ab-
nimmt;
345 (7%) Fälle, in denen der Geschlechtsunterschied gleich
bleibt.
Wenn wir die Gleichheitsfalle aufser Betracht lassen, so
haben wir unter 3725 Änderungsfällen 58% Zunahmen und 42%
Abnahmen des Geschlechtsunterschiedes mit wachsendem Alter.
Die Differenz ist im Hinblick auf die grolse absolute Zahl der Ver-
1) Vgl. Teil II E, S. att,
829. Die Gröfse des Geschlechtsunterschiedes in seiner Abhängigkeit vom Alter. 83
gleichsfälle grols genug, dafs wir allgemein von einer Tendenz der
Geschlechtsunterschiede, mit wachsendem Alter zuzunehmen,
sprechen dürfen.
Auch wenn wir nun die einzelnen miteinander verglichenen
Alterspaare näher betrachten, finden wir fast überall da, wo die
Zahl der Vergleichsfälle hinreichend grols ist, ein Zunehmen des
Geschlechtsunterschiedes von der niederen zur höheren Alters-
stufe hin. Eine Ausnahme bildet nur die Altersstufe von 4 Jahren,
bei der sich in der Mehrzahl grölsere Geschlechtsunterschiede zeigen
als in den verglichenen Altersstufen von 8, 9 und 10 Jahren. Von
da ab aber bis zum Alter von 19 Jahren finden wir nur Vergröfse-
rungen des Geschlechtsunterschiedes.
Vielleicht ist dies so zu interpretieren, dals ein von Natur vor-
handener oder in der frühen Kindheit anerzogener Geschlechts-
unterschied zunächst durch den nivellierenden Einflufs der Schule
vermindert wird, dafs aber dann die Geschlechtsunterschiede,
nachdem diese Hemmung überwunden ist, sich wieder lebhaft
entwickeln.
Es fragt sich nun, ob die immerhin doch beträchtliche Zahl
der Abnahmen des Geschlechtsunterschiedes vielleicht anderen
psychischen Funktionen zuzurechnen sei, d. h. ob die psychischen
Eigenschaften sich in eine (gröfsere) Zahl solcher differenzieren,
bei denen der Geschlechtsunterschied mit wachsendem Alter zu-
nimmt, und in eine (kleinere) Zahl solcher, bei denen er mit wachsen-
dem Alter abnimmt. Es liegt ja in der Tat nahe, dies anzunehmen;
denn wenn die Knaben und die Mädchen sich z. B. in ihren Spiel-
interessen (Soldaten — Puppe) sehr wesentlich unterscheiden, so
wird dieser Geschlechtsunterschied im Alter von 20 Jahren wohl
ziemlich verschwunden sein ; wenn andererseits Männer und Frauen
in ihrem politischen oder wissenschaftlichen Interesse stark diffe-
rieren, so liegt es in der Natur der Sache, dafs dieser Geschlechts-
unterschied sich erst mit wachsendem Alter entwickeln kann. —
Allerdings ist es mir nicht gelungen, unser Material nach psycho-
logischen Gesichtspunkten so zu gruppieren, dafs die Zu- oder
Abnahme des Geschlechtsunterschiedes sich als charakteristisch
für grölsere Gruppen bestimmter psychischer Funktionen ergibt;
aber es ist wohl möglich, dafs andere bei einer Untersuchung unseres
Materials oder neu zu beschaffender Materialien mit derartigen
Versuchen mehr Erfolg haben. — Übrigens wurde in Kapitel III
bei der Besprechung der einzelnen Funktionen jedesmal auf die
6*
84 Kapitel IV. Vergleich der Geschlechtsverhältnisse in verschied. Altersstufen.
Abhängigkeit der betreffenden Geschlechtsunterschiede vom Alter
hingewiesen, soweit die vorliegenden Ergebnisse einen solchen
Schlu/s gestatten.
§ 30.
Die Besserleistung eines Geschlechts in seiner Ab-
hangigkeit vom Alter’).
Während wir in den beiden vorigen Paragraphen alle Ergebnisse
unseres Materials herangezogen haben, so weit sie an wenigstens
zwei Altersstufen in gleicher Weise erzielt wurden, beschränken
wir uns hier auf solche Resultate (Schul-, Testleistungen u. dgl.),
bei denen im engeren Sinne von der Überlegenheit eines Ge-
schlechtes die Rede sein kann. Für derartige ‚Wertungs‘-Ergeb-
nisse liegt uns der Vergleich von 3180 Alterspaaren vor. Wir finden,
dafs ;
in 1708 (54%) der Falle die Leistung der m,
in 1240 (39%) der Falle die Leistung der f eine relative Besse-
rung (d.h. im Verhältnis zu der Leistung des anderen Geschlechts)
aufweist;
in 232 (7%) der Fälle bleibt das Geschlechtsverhältnis das
gleiche.
Wenn wir wiederum die Gleichheitsfälle vernachlässigen,
so stehen unter den 2948 Änderungsfällen 58%, einer relativen
Besserung der männlichen Personen 42% einer relativen Besserung
der weiblichen Personen gegenüber. (In 58% der Fälle wird also
entweder eine Überlegenheit der Mädchen mit wachsendem Alter
kleiner oder eine Überlegenheit der Knaben mit wachsenden: Alter
grölser; in den übrigen 42%, der Fälle verhält es sich umgekehrt.)
Dieser Altersfortschritt ist jedoch durchaus kein so stetiger
wie der des Geschlechtsunterschiedes, den wir im vorigen Para-
graphen gefunden haben: Wir finden vielmehr, abgesehen von
kleineren Schwankungen eine relative Besserung der Knaben-
leistungen beschränkt auf die Altersstufen von 31, bis 12 Jahren,
von 12 bis 19 Jahren jedoch eine relative Besserung der Mädchen-
leistungen. Im Zusammenhang mit dem in einem späteren Para-
graphen zu erörternden Resultat, dafs bei diesen Wertungsergeb-
nissen die Knabenleistungen im allgemeinen bessere sind als die
1) Vgl. Teil II, F S. 99ff.
8 31. Das Verhalten d. Geschlechtsunterschiedes i. Verlaufe eines Schuljahres. 85
Mädchenleistungen, — und in Übereinstimmung mit den Be-
funden anderer Autoren können wir dieses Resultat vielleicht
folgendermalsen interpretieren: Die Kurve der Knabenleistungen
verläuft i. a. oberhalb der Mädchenleistungen, und zwar steigt sie
zuerst steil an, um dann flacher zu werden; sie bildet also einen
nach unten offenen Bogen. Der Verlauf der Mädchenkurve ist
umgekehrt; sie verläuft unterhalb der Knabenkurve, erst flach,
dann steil und bildet somit einen nach oben offenen Bogen. So
liegen die Anfangs- und die Endpunkte der Kurve (bei 4 und
19 Jahren) nahe beieinander; etwa bei der Abszisse 12 Jahre sind
die Kurven — die Scheitelpunkte des nach unten und des nach
oben offenen Bogens — am weitesten voneinander entfernt (vgl.
die graphische Darstellung in Teil II F S. 101).
Ist diese Darstellung des Entwicklungsganges der beiden
Geschlechter annähernd richtig, so könnte sie besagen, dafs die
Präpubertätszeit bei den Knaben eine Beschleunigung, bei den
Mädchen eine Hemmung der Entwicklung mit sich bringt, während
umgekehrt die Pubertät selber die Entwicklung der Knaben hemmt,
die der Mädchen beschleunigt. (Dabei sind natürlich die Ausdrücke
„Beschleunigung‘‘ und ‚Hemmung‘ immer nur relativ zu dem
Entwicklungstempo des anderen Geschlechts zu verstehen, da wir
ja einen absoluten Mafsstab für das Entwicklungstempo nicht
besitzen.)
$ 31. Anhang.
Das Verhalten des Geschlechtsunterschiedes im Ver-
laufe eines Schuljahres?).
(2, 3, 4, 85.)
Der in einer Schule oder Klasse einmal vorhandene Ge-
schlechtsunterschied, der in manchen Fachern als Besserleistung
der Madchen, in anderen als Besserleistung der Knaben zum Aus-
druck kommt, darf natürlich nicht als eine feststehende Grölse
betrachtet werden. Wir müssen vielmehr annehmen, dals er —
auch abgesehen von den durch das wachsende Alter bedingten
Schwankungen, die wir wohl, wenn wir nur ein Schuljahr in Be-
tracht ziehen, vernachlässigen dürfen —, im Laufe des Schuljahres
gewissen Schwankungen unterliegt. Es fragt sich nur, ob wir diese
1) Vgl. Teil II G, S. 102ff.
86 Kapitel IV. Vergleich der Geschlechtsverhältnisse in verschied. Altersstufen.
Schwankungen in eine gesetzmälsige Beziehung bringen können,
vielleicht zur Aufsentemperatur oder der Jahreszeit, oder ob sich
vielleicht das eine oder das andere Geschlecht den in jeder neuen
Klasse auftretenden Neuanforderungen des Pensums schneller
adaptiert u. dgl.
Derartige Untersuchungen können wir nur dann anstellen,
wenn an demselben Schülermaterial über eine längere Zeitspanne
hin gleichartige Erhebungen vorgenommen worden sind. Uns
liegen von derartigen Ergebnissen hauptsächlich die ScHUYTENS
und die l4tägigen Schulzensuren der Bristol Holt Secondary
School vor.
Wenn wir zunächst an dem letzteren Material untersuchen,
ob sich im Laufe des Schuljahres von früheren zu späteren Zeugnis-
terminen hin die Geschlechtsunterschiede in gesetzmälsiger Weise
verschieben, ob also etwa vielleicht zu Beginn des Schuljahres
der Vorsprung der Mädchen grölser (bzw. die Rückständigkeit der
Knaben kleiner) ist als am Ende — was darauf schlie[sen liefse,
dals die Knaben längere Zeit dazu brauchen, um sich an den neuen
Lehrstoff zu adaptieren — oder ob es sich vielleicht umgekehrt
verhält, so müssen wir gestehen, dals unser Material hierauf eine
eindeutige Antwort nicht zulälst. Unter den 275 Paaren von
Zensuren, die in derselben Klasse während eines Schuljahres in
demselben Fache erteilt wurden, finden wir
42 Fälle, in denen der Geschlechtsunterschied gleichblieb,
118 Fälle, in denen er sich zugunsten der Knaben vergrölserte
bzw. zuungunsten der Mädchen verkleinerte, und
115 Fälle, in denen er sich zugunsten der Mädchen vergrölserte
bzw. zuungunsten der Knaben verkleinerte.
Es bleibt aber nicht bei diesem negativen Resultat, wenn man
die einzelnen Zeugnistermine gesondert ins Auge falst: Wir finden
gewisse Zeugnistermine, zu denen hin die Knabenleistungen sich
meist relativ verbessern, von denen weg aber wiederum die Mädchen-
leistungen relativ besser werden, und andere, bei denen umgekehrt
in entsprechender Weise Maxima der Mädchenleistungen zu kon-
statieren sind. Berücksichtigen wir nun ferner die Trimester-
einteilung des englischen Schuljahres, so finden wir die Maxima
der Knabenleistungen immer am Ende eines Trimesters, die Maxima
der Mädchenleistungen in zweien der drei Trimester am Beginne
desselben. Die Schwankungen sind zwar nicht sehr grols, aber doch
beträchtlich genug, dals wir sie als gesetzmälsig betrachten dürfen.
8 31. Anhang. 87
Wir finden hierin ein weiteres Argument für unsere Vermutung,
dals die allgemeine Besserleistung der Mädchen im Schulunterricht
nicht so sehr eine Folge ihrer besseren Begabung wie ein Produkt
ihres stetigeren Fleilses ist. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach
sind ja doch die jeweilig letzten Zensuren eines Trimesters durch
besondere Wichtigkeit ausgezeichnet; infolgedessen wird, je mehr
das Trimester sich seinem Ende nähert, desto mehr auch infolge
ihres grolsen Ehrgeizes (vgl. $ 22, 8) der Fleils der Knaben ein-
setzen; dies wiederum hat zur Folge, dafs der Vorsprung der
Mädchen verringert wird. Dann kommen die Ferien, in denen die
Knaben alle Schulsorgen vergessen, während die fleilsigen Mädchen
sicher nicht ganz so sehr alle Schulangelegenheiten vernachlässigen ;
wenn nun die Schule wieder beginnt, sind also die Knaben wieder
zurückgeblieben. So können wir vielleicht den Verlauf der in
‘Teil II GS. 104 berechneten und abgebildeten Kurve interpretieren.
Vielleicht liegt in unserer Kurve auch ein Hinweis auf eine
gewisse Abhängigkeit des Geschlechtsunterschiedes von der Jahres-
zeit: im Frühjahrstrimester sind die Leistungen der Knaben,
bezogen auf die der Mädchen, bessere als im Sommertrimester.
Wir legen diesem Resultate nur deshalb eine besondere Bedeutung
bei, weil sich auch aus den Aufmerksamkeitsuntersuchungen
ScHUYTENs (vgl. $ 23) zu ergeben scheint, dals die Mädchen im
Präpubertätsalter den klimatischen Einflüssen des Frühjahrs etwas
stärker unterliegen als die Knaben. Auch in der Merrywood
Secondary School ist in 9 von den 14 Vergleichsfällen im Frühjahr
das Prüfungsergebnis für die Knaben weniger ungünstig als im
Herbst, und nur in 2 Fällen ungünstiger, während es in 3 Fällen
gleichbleibt.
In den sämtlichen — allerdings nur 5 — Vergleichsfällen, die
wir dem Material der Liverpool Elementary School entnehmen
können, sind im Winter (Dezember) die Unterrichtsleistungen der
Knaben bessere als im Sommer (Juni).
88
Kapitel V.
Allgemeine Statistik der Ergebnisse’).
§ 32.
Ubersicht.
Unser Material umfalst 8542 Geschlechtsvergleiche. Hiervon
beziehen sich 4263 Ergebnisse auf das Verhältnis der Geschlechter
im jeweilig als ‚oberstes‘ betrachteten Leistungsviertel, 4279 Er-
gebnisse auf das Verhältnis im ‚untersten‘ Leistungsviertel.
5804 Ergebnisse wurden als Alternativergebnisse gewonnen
und 2738 wurden nach der Klassifikationsmethode berechnet.
3787 Ergebnisse sind derart, dafs aus ihnen sich eine Über-
legenheit — im engeren Sinne des Wortes — des einen oder anderen
Geschlechtes ergibt; sie beziehen sich auf Test- oder Schulleistungen
Intelligenzschätzungen u. dgl. (Hiervon sind 1624 Alternativ- und
2163 Klassifikationsergebnisse.) Die übrigen 4755 Ergebnisse be-
ziehen sich meist auf Charaktereigenschaften u. dgl., und sind
jedenfalls derart, dafs weder das Vorhandensein oder Fehlen. (bei
den 4180 AlternativResultaten) noch das eine oder das andere
Ende der Intensitätsskala (bei den 575 Klassifikationsergebnissen),
eindeutig als das ‚‚bessere‘‘ oder ‚‚schlechtere‘“ bezeichnet werden
kann.
Von den 3787 Ergebnissen einer Wertung sprechen zugunsten
der m 2269 = 60%, zugunsten der f 1518 = 40%. Die ersteren
setzen sich zusammen aus 1086 Alternativergebnissen, 606 Er-
gebnissen, nach denen die m im obersten Leistungsviertel stärker
vertreten sind als die f, und 577 Ergebnissen, in denen die m im
untersten Leistungsviertel schwächer vertreten sind als die f.
Die 1518 Ergebnisse, welche eine Überlegenheit der f zeigen,
bestehen aus 538 Alternativergebnissen, 467 Fallen einer Majoritat.
der f im obersten und 513 Fällen einer Minorität der f im untersten
Leistungsviertel.
Von den 1624 Alternativ-Wertungsergebnissen sprechen also
1086 = 67% zugunsten der m, 538 = 33%, zugunsten der f.
Von den 1073 Ergebnissen über die Geschlechtsverteilung im
obersten Leistungsviertel sprechen 606 = 56% zugunsten der m,
467 = 44%, zugunsten der f.
1) Vgl. Teil II H, S. 105ff.
§ 33. Die Gröfsenordnung und Zuverlässigkeit der Ergebnisse. 89
Von den 1090 Ergebnissen über die Geschlechtsverteilung im
untersten Leistungsviertel sprechen 577 = 53%, zugunsten der m,
513 = 47%, zugunsten der f.
Die Majorität der m im obersten Leistungsviertel ist also etwas
häufiger (56%) als ihre Minorität im untersten Leistungsviertel
(53%); daraus müssen wir schliefsen, dals sich diese Majorität und
diese Minorität häufig nicht ausgleichen, und dafs zum Ausgleich
der Majorität im obersten Leistungsviertel auch die Zahl der in
der mittleren Leistungshälfte befindlichen m vermindert wird,
dh mt anderen Worten, dals ‚Normal‘“leistungen bei den m
etwas seltener sind als bei den f, oder dafs die Intervariabilität
der m grofser ist als die der f.
Dementsprechend zeigt eine Uberlegenheit der m sich haufiger
im obersten Leistungsviertel, nämlich in 606 von 1183 Fällen
(= 51%), eine Überlegenheit der f häufiger im untersten Leistungs-
viertel, nämlich in 513 von 979 Fällen (= 52%).
§ 33.
Die Grölsenordnung und Zuverlässigkeit der Ergebnisse.
Wir haben Q aus dem Verhältnis eines Ergebnisses und seines
wahrscheinlichen Fehlers berechnet TO ist dieser Quotient ins
Quadrat erhoben und mit %/, multipliziert). Das Ergebnis selbst
ist die Differenz zweier Prozentzahlen, und zwar für Qo die Diffe-
renz P’om — P’of, für Qu die Differenz P’um — P’uf.
Der wahrscheinliche Fehler einer solchen Differenz ist:
2 y (100—P'm) , P'£100— P'f
wFm- t= }wFm? + wFr? = 3
nm nf
Somit ergibt sich:
Qo =(P’ Profi: TU P’om) AT
o =(P’om— P’of)?: nee rec
P’um (100 — P’um) P’uf (100—P’uf)
ers d __._ p/ Bu Ee ee” gn ee EE
Qu = (P’um — P’uf)? : | Ee + nf |
Die Gröfse eines Q ist von drei Variablen abhängig:
1. Von der Grölse der Prozentzahlendifferenz,
2. von der Grölse der den Prozentzahlen zugrunde liegenden
Personenzahlen (n),
3. von der Lage der Prozentzahlen im Zahlenraum zwischen 0
und 100.
90 Kapitel V. Allgemeine Slatistik der Ergebnisse.
Wenn ein Q kleiner ist als ein anderes, so ist entweder
1. die betr. Prozentzahlendifferenz kleiner, oder
2. die Zahl der Versuchspersonen kleiner, oder
_ 3. die Prozentzahlen liegen näher an 50 (denn der Divisor
des Bruches Q wird um so kleiner, je mehr P’m oder P’f nach der
einen oder anderen Richtung von 50 verschieden sind; 100.0
WIN aus < 50.50 >...... > 10 . 90 > 0 . 100).
Wir finden nun, dafs die Q unserer 8542 Ergebnisse sich in
einer anscheinend sehr gesetzmälsigen Weise nach ihren Grölsen
verteilen, und zwar sind regelmälsig kleine @ häufiger als grofse;
doch wird die Differenz zwischen den Anzahlen zweier benach-
barter Gröfsenklassen mit wachsenden Grölsenklassen kleiner, so
dals die Streuungskurve erst — bei kleinen @ — steil, dann — bei
grofseren Q — immer flacher abfällt, ganz ähnlich wie bei der
Gaussschen Kurve (vgl. Teil II H, Figur 1, S. 208). Verteilen wir
die Q auf zwei Hälften, z. B. in solche, die Resultaten zugunsten
der m, und in solche, die Resultaten zugunsten der f zugehören,
so nimmt die Streuungskurve fast völlig die Glockenform der
Gaussschen Kurve an (vgl. Teil IIH, Figuren 2 und 3, S. 109/110).
Es fragt sich nun, welche der drei oben erwähnten Variabeln,
welche die Grölse eines Q bestimmen, als Ursache für dieses gesetz-
mälsige Verhalten zu betrachten ist. Begreiflicherweise hätten
wir wenig Interesse darari, wenn sich ergäbe, dals die oben unter
2 und 3 angeführten Bedingungen sich entsprechend dem Gauss-
schen Gesetze verteilen. Dagegen wäre es für uns von grolsem
theoretischen Interesse, wenn wir zeigen könnten, dafs dies das
Gesetz ist, welches der ersten der oben genannten Bedingungen,
der Grölsenverteilung der Geschlechterdifferenzen zugrunde liegt.
Was zunächst die dritte der erwähnten Variablen, die Lage
der Prozentzahlen selbst im Zahlenraum zwischen 0 und 100 be-
trifft, so scheint dieser Faktor für die Grölsenverteilung der Q
wenig auszumachen. Während nämlich bei den nach der Alter-
nativmethode berechneten Ergebnissen diese Lage in keiner Weise
eingeschränkt war, lag es in der Methode unserer Klassifikations-
berechnungen, dafs hier die beiden Prozentzahlen, für deren
Differenz die Q berechnet wurden, immer im Mittel etwa gleich 25
waren (ihre Summe etwa gleich 50). Da sich nun aber die zu
Alternativergebnissen gehörigen Q fast ganz genau so verteilen
wie die zu Klassifikationsergebnissen gehörigen, so scheint damit
die relative Unwirksamkeit des auf die Lage der Prozentzahlen
§ 33. Die Gröfsenordnung und Zuverlässigkeit der Ergebnisse. 91
bezüglichen Faktors hinreichend wahrscheinlich gemacht. Bei den
zu Klassifikationsergebnissen gehörigen Q sind die kleinen Werte,
bei den zu Alternativergebnissen gehörigen die grolsen Werte
von Q etwas häufiger, was also darauf hindeutet, dals die Ein-
schränkung der Klassifikationsergebnisse auf Prozentzahlen, die
ungefähr gleich 25 sind, im ganzen die Q etwas verkleinerte. Aber
der Häufigkeitsunterschied zwischen den zu Alternativ- und
Klassifikationsergebnissen gehörigen @ beträgt in den einzelnen
Grölsenklassen nicht mehr als durchschnittlich 1,1%, (vgl. Teil IIH,
Figur 1, S. 108).
| Schwieriger ist die andere Frage zu entscheiden, ob und in
welchem Grade die Grölse der den einzelnen Ergebnissen zugrunde
liegenden Versuchspersonen-Anzahlen die Grölse der Q und ihre
Streuungskurve bestimmt. Diese könnte ja auch als so zustande
gekommen gedacht werden, dafs zwar in jeder einzelnen Versuchs-
reihe mehr grofse Prozentzahlen-Differenzen, also auch grolse @
vorkommen als kleine, dafs aber die Zahl der Versuchsreihen mit
kleinen Versuchspersonen-Anzahlen, also wiederum mit kleinen Q,
diejenige der Versuchsreihen mit viel Versuchspersonen, also
grofsen Q, noch mehr übersteigt. Wir können diesen Einwand
dadurch widerlegen, dafs wir zeigen, dals auch beim Vergleich
der Q innerhalb einer Versuchsreihe — bei gleichbleibenden
Versuchspersonen-Anzahlen — die kleinen Q entsprechend häufiger
vorkommen als die grofsen; das kann hier nur so erklärt werden,
dafs tatsächlich kleine Prozentzahlen-Differenzen häufiger vor-
kommen als grolse (vgl. Teil II H, Tabelle la, S. 108).
Ein zweites Argument dafür, dals wir berechtigt sind, die Q
als Malsstab für die Grölse der Prozentzahlen-Differenzen, also
der gefundenen Geschlechtsunterschiede, aufzufassen, ist dies, dafs
die daraus sich ergebenden Resultate über das Verhalten der
Geschlechtsunterschiede im allgemeinen, sich sehr gut als eine
Weiterführung der im vorigen Paragraphen gefundenen allgemeinen
Ergebnisse auffassen lassen, wie wir gleich zeigen werden.
Endlich sei noch dies erwähnt, dafs eine frühere Zusammen-
stellung von Resultaten über Geschlechtsunterschiede!), der z. T.
andere Einzelergebnisse zugrunde liegen, gleichfalls eine annähernd
Gausssche Verteilung der Geschlechtsunterschieds-Gröfsen ergab,
1) LIPMANN, Die statistische Untersuchung von psychischen Ge-
schlechtsunterschieden, Arb Bund Sc Ref 8, S. 160. Hier war das Kriterium
Q > 2 nicht streng durchgeführt.
92 Kapitel V. Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
obwohl hier nicht die Q, sondern die Prozentzahlen-Differenzen
selbst in die Rechnung eingestellt wurden.
Bevor ich nunmehr auf die Ergebnisse einer Statistik der Q
eingehe, mufs ich noch begründen, warum ich denn nicht doch
lieber direkt die Prozentzahlen-Differenzen (Do und Du) ver-
wendet habe.
Wie erwähnt, habe ich in meine Materialsammlung nur die-
jenigen Ergebnisse aufgenommen, bei denen Q > 2. Es sind
also alle diejenigen Ergebnisse weggeblieben, bei denen die Prozent-
zahl-Differenz oder die Versuchspersonen-Anzahl so klein ist, dafs
der wahrscheinliche Fehler der Differenz mehr als halb so grols
als die Differenz selbst ist. Es sind also — wenn wir von der Ver-
suchspersonen-Anzahl absehen —, um so mehr Ergebnisse fort-
gefallen, je kleiner sie sind; und selbst, wenn wir annehmen, dals
tatsächlich mehr kleine Differenzen vorliegen als grolse, wären im
Endergebnis vielleicht etwa gleich viele grolse wie kleine übrig-
geblieben. Jedenfalls hätten wir eine statistische Untersuchung
über die relative Häufigkeit kleiner und grolser Differenzen nicht
anstellen können. Aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen,
der Statistik die Q zugrunde zu legen, wenn dies auch streng-
genommen keine Statistik über die Grölse der gefundenen Ge-
schlechtsunterschiede, sondern vielmehr eine Statistik ihrer Zu-
verlässigkeit ist; aber aus den vorher entwickelten Gründen
können wir, wie ich glaube, für die hier vorliegenden Fragen Grölse
und Sicherheit gewissermalsen identifizieren.
Diese Statistik der Q nun ergibt folgende Resultate:
1. Wir haben im vorigen Paragraphen gesehen, dals die Mehr-
zahl der eine Wertung in sich tragenden Ergebnisse zugunsten
der m spricht, und dafs diese Mehrzahl am grölsten bei den Alter-
nativresultaten ist. Wir finden hier, dafs jedes Q einer be-
stimmten Grölse sich bei denjenigen Alternativ-Resultaten, die
zugunsten der m sprechen, häufiger findet als bei denjenigen
Resultaten, die zugunsten der f sprechen (vgl. Teil II H, Figur 2,
S. 109).
2. Bei den Wertungsklassifikations-Ergebnissen finden wir
kleine Q häufiger bei den zugunsten der f sprechenden Resultaten,
grolse Qhäufiger bei den zugunstender m sprechenden. Dies zeigt
also, dafs die zugunsten der m sprechenden Ergebnisse nicht nur,
8 33. Die Gröfsenordnung und Zuverlässigkeit der Ergebnisse. 93
wie vorher gezeigt, zahlreicher, sondern auch im ganzen genommen
sicherer sind (vgl. Teil II H, Figur 2, S. 109).
3. Auch wenn wir die Wertungsklassifikations-Ergebnisse in
solche des obersten und des untersten Leistungsviertsel trennen,
finden wir letzteres bestätigt: Q > 5 finden sich häufiger bei den
zugunsten der m sprechenden Ergebnissen, Q < 5 häufiger bei
den zugunsten der f ausfallenden (vgl. Teil II H, Figur 3, S. 110).
4. Wir haben vorher gefunden, dafs eine Überlegenheit der m
sich häufiger im obersten Leistungsviertel, eine Überlegenheit der f
sich häufiger im untersten Leistungsviertel findet. Dem entspricht
hier die Tatsache, dafs bei den zugunsten der m sprechenden
Ergebnissen erolse Q (zuverlässige Resultate) sich häufiger bei
den Geschlechtsvergleichen im obersten als bei denen im untersten
Leistungsviertel finden, während bei den zugunsten der f sprechen-
den Resultaten fast jede Grölsenklasse der Q, am deutlichsten aber
auch wiederum die grofsen, sich bei den Geschlechtsvergleichen
im untersten Leistungsviertel häufiger zeigen als im obersten
(vgl. Teil II H, Figur 3, S. 110).
5. Als Hauptresultat jedoch verzeichnen wir dies, dals die
Verteilung der Q, wenn man die Ergebnisse zugunsten der m
und diejenigen zugunsten der f trennt, und wenn man von der
durch die Überlegenheit der m bedingten relativ geringen Schief-
heit der Kurve absieht, recht nahe der Gaussschen Verteilung zu
gehorchen scheint. Für die Zuverlässigkeit oder Grölse der Er-
gebnisse über Geschlechtsunterschiede gilt also das QuETELETsche
Gesetz: Die Einzelresultate sind um einen Wert zentriert, sie sind
um so seltener, je stärker sie von diesem Wert abweichen. Dieser
zentrale Wert liegt in der Nähe der Differenz 0. In weitaus den
meisten Beziehungen liegen also keine oder nur minimale Ge-
schlechtsunterschiede vor, und nur einige wenige Eigenschaften
können als sekundäre Geschlechtsmerkmale betrachtet werden.
Wenn wir nicht gerade von den Ergebnissen kleinster oder kleiner
Geschlechtsunterschiede die meisten von der Betrachtung hätten
ausschliefsen müssen, so würde die monotypische Gliederung der
psychischen Geschlechtsunterschiede um den Wert 0 noch sehr
viel deutlicher in Erscheinung treten.
Dieses Resultat verdient um so mehr betont zu werden, als
es allem Anscheine nach für das Gebiet der somatischen Eigen-
schaften nichtgilt. Freilich liegen hier statistische Untersuchungen
in der Weise, wie ich sie für psychische Eigenschaften angestellt
94 | Kapitel V. Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
habe, meines Wissens nicht vor; doch wäre zu erwarten, dafs sich
hier bei einer entsprechenden Untersuchung eine zweigipfelige
Kurve ergeben würde!). Die Tatsache, dafs die Kurve der Q-Häufig
keiten annähernd mit der einer Gaussschen Fehlerkurve zusammen-
fällt (vgl. Teil II H, Figur 1, S. 108), lälst sich auch folgender-
mafsen erläutern : Wenn ich darauf ausgehe, psychische Geschlechts-
unterschiede zu finden, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dafs
ich bei einer Untersuchung einen Geschlechtsunterschied mit dem
Sicherheitsgrade Q = 4a erhalte, ebenso grols, wie die Wahr-
scheinlichkeit, dafs ich bei einer Messungsreihe einen Fehler von
der Grölse a0 begehe (wobei o den ‚‚mittleren Fehler‘‘ der Messungs-
reihe bedeutet).
8 34.
Das Verhältnis der Geschlechter in der „Normalzone‘“
(mittleren Leistungshälfte). — Die Intervariation.
Wir haben bereits in $ 32 einen Hinweis darauf gefunden, dals
in der mittleren Leistungshälfte die Anzahl der m häufiger kleiner
als grölser sein wird als die der f. Wir wollen diese Frage hier nun
an der Hand unserer Ergebnisse genauer untersuchen. Zugrunde
zu legen sind aus unserem Material die Werte Dem und Det Es
ist stets
Pem + Pef 200
Pom + Pum + Pcm = 200
Pof + Puf + Pef 200
Wir untersuchen, in wie vielen Fällen Pem die Werte 50, 51,
DZ sia 99, 100, 101 ...... 148, 149, 150 annimmt; fiir Pcf
ergeben sich dann von selbst die Werte fiir die umgekehrte Zahlen-
reihe.
Fassen wir zunächst einmal allein die Klassifikationsergeb-
nisse ins Auge, so ergibt sich sowohl theoretisch wie auch aus der
Statistik, dafs eine Trennung in solche Ergebnisse, denen eine
Wertung zugrunde liegt, und solche ohne Wertung hier nicht er-
forderlich ist. Was die Statistik betrifft, so zeigen die Pem bei
Klassifikations-Ergebnissen mit und ohne Wertung fast genau
dieselbe Streuung, und auch theoretisch ist es klar, dafs der Ge-
1) Z. T. wörtlich zitiert aus LIPMANN, Die statistische Untersuchung
von psychischen Geschlechtsunterschieden, Arb Bund Sc Ref 8, S. 159/160.
§ 34. Das Verhältnis der Geschlechter in der „Normalzone“. 95
sichtspunkt der Wertung hier kaum eine Rolle spielen kann; es
ist für die Frage, wie häufig mittlere Stärkegrade der betr. Lei-
-= stung oder Eigenschaft vorkommen, offenbar gleichgültig, welches
Ende der Leistungs- oder Eigenschaftsskala ich als das obere, und
welches ich als das untere betrachte.
Eine zahlenmälsige Bestimmung der Grölse von Pcm ist bei
unserer Berechnungsweise nur dann möglich, wenn Pom und Pum
berechnet werden konnten, denn wir haben ja Pem aus dem Ansatz
Pcm = 200 — (Pom + Pum) bestimmt. Nun liegen uns aber eine
grolse Zahl von Klassifikationsergebnissen vor (1073 unter 1905),
bei denen nur Pom oder Pum bestimmt werden konnte, weil für
den anderen der beiden Werte @ < 2 war. Diese 1073 Fälle müssen
also aus der zahlenmälsigen Berechnung von Pem ausscheiden;
aber wir können sie doch dazu benutzen, zu untersuchen, ob und
in wie vielen dieser Fälle Pem > 100 oder Pem < 100 ist. Denn
wenn bei einem bestimmten Versuchsergebnis z. B. nur Qo > 2,
aber Qu < 2, so geht daraus hervor, dals in diesem Falle
|Pom — 50| >|50 — Pum|
Ist also bei einem Ergebnis zugunsten der m nur Qo > 2, so
ist Pem > 100. Bei einem Ergebnis zugunsten der f ist Pem < 100,
wenn nur Qo > 2, aber Pcm > 100, wenn nur Qu > 2.
Die oben genannten 1073 Fälle umfassen 236 Klassifikations-
ergebnisse ohne Wertung, 378 Ergebnisse zugunsten der m und
459 Ergebnisse zugunsten der f. Unter den ersteren sind 125
(= 53%), unter den m-Ergebnissen 202 (= 53%) und unter den
f-Ergebnissen 251 (= 55%), in denen Pcm < 100.
Die übrigen 832 Klassifikationsergebnisse gestatten es, die
Grölse von Pcm genauer zahlenmälsig zu bestimmen.
Es ergibt sich wiederum eine der Gaussschen ähnliche Streu-
ungskurve. Ihr Zentrum liegt etwa bei dem Werte 100, vielleicht
sogar etwas in der Richtung auf kleinere Werte hin verschoben,
also etwa bei 98. Die Kurve ist ferner deutlich schief, insofern als
allenthalben Werte von Pcm, die kleiner sind als 100, häufiger
vorkommen, als die entsprechenden grölseren Werte (also z. B.
Pem = 90 häufiger als Pem = 110 usw.). Am deutlichsten zeigt
diese Schiefheit der Kurve sich bei denjenigen Klassifikations-
ergebnissen, die zugunsten der f sprechen (vgl. Teil II H Tabelle 10,
S. 112 und Figur 4, S. 114).
Dieses Resultat besagt also, dafs in der Mehrzahl der Fälle
die Intervariation der m und der f annähernd die gleiche ist. Ist
96 Kapitel V. Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
sie aber verschieden — und dies ist besonders häufig bei den-
jenigen Resultaten der Fall, die zugunsten der f sprechen —, so ist
sie bei den m eher grölser als bei den f. Nehmen wir dieses Resultat
mit demjenigen der vorigen Paragraphen zusammen, so besagt
dies, dafs wir häufig die folgende, wenn auch nicht sehr beträcht-
liche, so doch deutliche Abweichung von einer ‚normalen‘ Ver-
teilung zu konstatieren haben:
Eine Vermehrung der m im obersten Leistungsviertel, die
kompensiert wird zum grölsten Teil durch eine Vermehrung der
f im untersten Leistungsviertel, zum kleineren Teil durch eine
Vermehrung der f in der mittleren Leistungshälfte — etwa wie
im folgenden Schema:
Po Pc Pu
m 53 99 48
f 47 101 52
Ein zweiter, nicht ganz so häufiger Fall ist der einer Ver-
minderung der f im untersten Leistungsviertel, kompensiert zum
grölsten Teil durch eine Verminderung der m im obersten Leistungs-
viertel, zum kleineren Teil durch eine Verminderung der m in der
mittleren Leistungshälfte — etwa wie in folgendem Schema:
Po Pc Pu
m 48 99 53
f 52 101 47
Diese beiden Formen der Verteilung bilden zwar den weitaus
überwiegenden Teil der Klassifikationsergebnisse ; aber die anderen
möglichen Verteilungsformen sind doch auch so häufig, dals jene
nicht geradezu als die normalen Verteilungsformen bezeichnet
werden dürfen.
Bevor wir uns weiter mit der Intervariation beschäftigen, müssen wir
noch einen kurzen Blick auf die bisher unbeachtet gelassenen Pem bei
Alternativ-Resultaten werfen. Die Pem dürfen hier nicht ohne weitere-
als Mafsstab für die Intervariation betrachtet werden, weil bei den Alter-
nativ-Resultaten der Begriff der mittleren Leistungshälfte überhaupt ein
etwas fragwürdiger ist. Während nämlich die Klassifikations-Ergebnisse
sich aus je zwei Zahlenpaaren zusammensetzen, deren Gröfsenverhältnisse
unabhängig variabel sind, liegt den Alternativ-Ergebnissen nur ein solches
Zahlenpaar zugrunde, aus denen die Verhältnisse Pom : Pof und Pum : Puf
und ebenso auch das Verhältnis Pem : Pef sich rein rechnerisch ergeben.
Auch die Frage, ob Pem gröfser oder kleiner als 100 ist, ist im wesentlichen
nur eine Untersuchung des Gröfsenverhältnisses der allen Berechnungen
zugrunde liegenden Original-Prozentzahlen (P’om und P’of) Wenn wir
finden, dafs bei denjenigen Alternativ-Ergebnissen ohne Wertung, bei denen
§ 34. Das Verhältnis der Geschlechter in der , Normalzone“. 97
sich die betreffende Leistung oder Eigenschaft häufiger bei den m findet,
in den weitaus meisten Fällen Pem < 100, und bei denjenigen, bei denen
die Leistung oder Eigenschaft häufiger bei den f ist, meist Pem > 100, so
bedeutet dies nur, dafs wir es hier meist mit solchen Leistungen oder Eigen-
schaften zu tun haben, die überhaupt sehr selten sind.
Denn wenn
P’om = not so ist Pom = 100, Pum = 50, Pem = 50
Pof = 0% Pf = 0, Puf = 50, Pef = 150
und wenn P’om = 0%\ so ist Pom = 0, Pum = 50, Pem = 150
Piof = 1%) Pof = 100, Puf = 50, Pcf = 50
Dies wundert uns nicht, wenn wir bedenken, dafs es sich ja hier meist
um das Nennen von Idealpersonen, Lieblingsbüchern, Lieblingsspielen,
Interessegebieten usw. handelt.
Wir sehen (vgl. Teil II H, Figur 5, S. 115), dafs Alternativ-Ergebnisse
ohne Wertung sich im allgemeinen um so häufiger finden, je seltener die
betr. Reaktionsweise tiberhaupt ist. Dies gilt besonders fiir die m-Ergebnisse:
Die Kurve der m-Alternativ-Ergebnisse ohne Wertung hat ihr Maximum
bei Reaktionen von geringem, die der f-Ergebnisse bei Reaktionen von
mittlerem Häufigkeitsgrade; d. h. dafs Reaktionsweisen, die überhaupt
selten sind, sich häufiger bei den m finden, und dafs bei Reaktionen, die
überhaupt häufig sind, sich nur selten ein Geschlechtsunterschied ergibt.
Dies scheint für eine grölsere Originalität der m zu sprechen, und dies
Resultat würde ja mit der grölseren Intervariation der m nicht schlecht
zusammenstimmen, wenn wir auch Originalität und Intervariation nicht
ohne weiteres identifizieren dürfen.
Anders verhält es sich mit denjenigen Alternativ-Ergebnissen, denen
eine Wertung zugrunde liegt; denn hierher gehören Versetzungsstatistiken,
Examensergebnisse usw., und somit stehen diese Alternativ-Ergebnisse
überhaupt den Klassifikations-Ergebnissen näher. Auch das Verhalten
der Pcm wird hier eher als Malsstab für die Intervariation betrachtet werden
können. In der Tat ergibt eine Statistik der Pcm hier ein Resultat, das dem
der Klassifikations-Ergebnisse ziemlich genau entspricht. Nur sind die
Unterschiede der einzelnen Häufigkeiten, obwohl sie in derselben Richtung
liegen wie dort, hier weniger beträchtlich. Im ganzen genommen finden
wir aber das dort angeführte Ergebnis auch hier bestätigt.
Das Resultat bezüglich der durchschnittlich grölseren Inter-
variabilität der m erscheint zwar schon durch die Untersuchung
der Pom genügend sichergestellt, ist aber doch noch nicht so deutlich,
um nicht noch eine Nachprüfung auf einem anderen, direkteren,
Wege zu rechtfertigen.
Wir können die Intervariation einer Personengruppe hinsicht-
lich einer bestimmten Eigenschaft auch als eine Malszahl definieren,
die angibt, wie sehr oder wie wenig die Stärkegrade der Eigenschaft
innerhalb der Personen dieser Gruppe verschieden sind. Man
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Erster Teil. 7
98 Kapitel V. Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
könnte die Intervariation z. B. dadurch messen, dals man die
Differenzen derjenigen beiden Mafszahlen bildet, welche den
stärksten und den schwächsten in der Gruppe vorkommenden
Stärkegrad der Eigenschaft bezeichnen, das wäre aber unzweck-
mälsig, weil die Grölse solcher extremen Werte eine zufällige
sein kann.
Wir verwenden vielmehr die Differenz derjenigen Malszahlen
Iox und Iux, welche gewisse ‚mittlere‘ Stärkegrade nach oben
und nach unten gegen ,,starke“ und ‚schwache‘ Stärkegrade ab-
nzen.
Es handelt sich zunächst nur darum, diese Stärkegrade Iox und Iux
zahlenmälsig zu bestimmen. Sie werden bei manchen Eigenschaften je
nach dem Alter, dem Bildungsgrade, der Übung usw. der Versuchspersonen
verschieden sein, müssen also nicht nur natürlich für jede Eigenschaft,
sondern für je zwei miteinander zu vergleichende Personengruppen ge-
sondert bestimmt werden.
Wenn man sich die Häufigkeit, mit der die einzelnen Stärkegrade
einer Eigenschaft bei einer Gruppe von Personen vorkommen, als Kurve
dargestellt denkt, derart, dals die Abszissen die Stärkegrade, die entsprechen-
den Ordinaten die Anzablen der Personen kennzeichnen, bei denen die be-
treffenden Stärkegrade vorkommen, so kann man rechts und links von dem
Punkte der Kurve, der dem mittelsten Stärkegrade entspricht, durch zwei
Senkrechte einen solchen Teil der Kurvenfläche herausschneiden, dafs die
Summe der zwischen den beiden Senkrechten und die Summe der aulser-
halb der Senkrechten liegenden Ordinaten (Zahlen von Versuchspersonen)
die gleiche wird. Der Betrag, um den die Abszissen dieser Senkrechten sich
von der Abszisse des mittelsten Stärkegrades unterscheiden, nennt man den
wahrscheinlichen Fehler der Bestimmung dieses mittelsten Stärkegrades.
Es liegt nun nahe, als Iox und Iux diejenigen Maiszahlen zu wählen,
bei denen die erwähnten beiden Senkrechten die Ordinaten-Achse treffen,
damit teilen wir die Personen (ähnlich wie in $ 3 geschildert) in 3 Teile,
eine mittlere Hälfte, ein oberes und ein unteres Viertel, nun aber nicht für
eine Gruppe von Personen, die aus m und f kombiniert ist, sondern für die
Gruppe der m und der f besonders. Wir verwenden also als Maisstab für
die Intervariation der m die Differenz Iom — Ium und für die der f die
Differenz Iof — Iuf. Da aber die Relevanz dieser Differenz nicht nur
von ihrem eigenen Betrage, sondern auch davon abhängt, an welcher Stelle
der Eigenschafts-Stärkeskala sie sich findet, so setzen wir sie noch in Be-
ziehung zu dem mittelsten Stärkegrade der Eigenschaft innerhalb derselben
Gruppe, d. h. wir bilden die Werte
5 Iom — Ium a Iof — Iuf
SE 2.Icm ar a 2. Let
Wenn wir in einer Gruppe 100 Personen haben und sie nach der Stärke,
in der sie eine bestimmte Eigenschaft besitzen, in eine Reihe ordnen, derart,
dafs die Person, bei der die Eigenschaft am schwächsten ist, Nr. 1, die-
jenige, bei der sie am stärksten ist Nr. 100 erhält, so ist Iux die Stärke der
§ 34. Das Verhältnis der Geschlechter in der „Normalzone“. 99
Eigenschaft, die sich bei der Person, Nr. 26 findet, Iox diejenige Stärke
der Eigenschaft, wie sie Person Nr. 75 besitzt, und die Stärke Icx würde
sich bei der Person Nr. 50%, finden.
Ist die Zahl der Personen dieser Gruppe nicht 100, sondern n, so
findet sich
. 26.
Iux bei der Person %-Nr. 26 = mn
. 75.
Jos bei der Person %-Nr. 75 2 Nr. 75. n : GE
N e 501 e
Icx bei der Person %-Nr. 50, = 2 a -
Ich habe bei den mir vorliegenden Klassifikationsergebnissen,
soweit es möglich war, in der angegebenen Weise die Vm und Vf
berechnet. Voraussetzung hierfür war, 1. dafs in der zugrunde-
liegenden Arbeit die erforderlichen Mafszahlen (und ihre Streuung)
mitgeteilt sind, 2. dals die Leistungs- oder Stärkegrade in Mafs-
zahlen oder doch in einer solchen Weise mitgeteilt sind, dafs sie
leicht in Malszahlen verwandelt werden konnten (z. B. Zensuren),
3. dafs das Ergebnis sowohl im oberen wie im unteren Viertel
als genügend zuverlässig betrachtet werden konnte, d. h. dafs
Qo >2 und Qu>2.
Es blieben so 440 Klassifikationsergebnisse übrig!), für
welche die Vm und Vf berechnet werden konnten. Wir finden in
233 (53%) dieser 440 Fälle, dafs die Intervariation der m grölser
ist als die der f, in 154 (35%) der Fälle, dafs die Intervariation
der f grölser ist, und in 53 (12%), dafs die Intervariation der m und
der f gleich ist. |
Eine Streuungskurve der Differenzen Vm-—Vf gibt uns
wiederum das uns schon bekannte Bild: die Streuungskurve hat
ihren Gipfel bei der Differenz 0; die positiven Differenzen sind
ferner stets häufiger als die absolut genommen gleichgrofsen
negativen Differenzen, so dafs die Kurve wiederum schief erscheint
(vgl. Teil II H, Figur 6, S. 117). |
Ordnen wir die Vm und die Vf unabhängig voneinander nach
ihrer Gröfse, so ist ein Vm von bestimmter Ordnungszahl stets
grölser als das Vf derselben Ordnungszahl. Der Zentralwert der
Vm ist 0,20, der Zentralwert der Vf 0,17. Der mittlere Bereich
der Vm liegt zwischen 0,13 und 0,28, derjenige der Vf zwischen
1) Diese Ergebnisse sind in den Tabellen des Kapitels II (Teil II A,
S. 6ff.) durch x bezeichnet; die dazugehörigen Vm und Vf sind in Teil II B,
S. 54/55 zusammengestellt.
Vë
100 Kapitel V. Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
0,11 und 0,25. Die Vm sind also durchschnittlich um 0,03 gröfser
als die Vf. =
Zusammenfassend finden wir also auch hier, dafs in der Mehr-
zahl der Fälle die Intervariation der m um ein Geringes grölser ist
als die der f. `
Wir können endlich als Beleg für die grölsere Intervariabilität
der m aus unseren Versuchsmaterialien noch ein Ergebnis von
YERKES-UrBaNn (114) heranziehen. Diese Autoren liefsen Zeiten
von 18, 36, 72 und 108 Sekunden schätzen und fanden hierbei,
einmal, dafs bestimmte Formen der Schätzungsangaben überhaupt
bevorzugt wurden, ferner dals der Grad solcher Bevorzugungen
sich als sehr stark vom Geschlecht der Vpp. abhängig erwies.
Mit Marse pflegt man die Tatsache, dafs bei derartigen Experi-
menten gewisse Formen der Angabe allgemein bevorzugt werden,
als die „Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens‘ zu be-
zeichnen, und es ist unter anderen durch Bauca!) nachgewiesen
worden, dafs bei Schätzungsangaben solche bevorzugt werden,
die auf Oendigen, dann folgen nach ihrer Häufigkeit die Endziffern
5, 8, 2, 3, 7, 6, 4, 9, 1. Wenn wir nun finden, dafs bei YERKEs-URBAN
Schätzungsangaben, die ein Vielfaches von 60" oder von 30” sind,
sehr viel häufiger bei Frauen, dals dagegen Schätzungsangaben
mit der Endziffer 9 und dann weiter abnehmend mit den Endziffern
4, 6, 1, 7, 8, 2, 3, 5 häufiger bei den Männern sind, so ist leicht er-
sichtlich (die Korrelation der beiden Endziffernreihen ist 0,98),
dafs die überhaupt bevorzugten Endziffern besonders stark von
den Frauen bevorzugt werden, dals also die ‚„‚Gleichförmigkeit des
psychischen Geschehens“ in besonders hohem Grade für die Frauen
gilt. Das heifst mit anderen Worten wiederum, dals die Frauen
gleichförmiger reagieren oder dals die Intervariation der Männer
grölser ist.
Nachdem sich nunmehr die im allgemeinen grölsere Inter-
variabilität der m durch die verschiedensten Untersuchungs-
methoden immer wieder ergeben hat und somit als ein feststehendes
Resultat betrachtet werden kann, seien im Anschlufs daran noch
einige Ausblicke gestattet.
ı) M. Bauch, Psychologische Untersuchungen über Beobachtungs-
fehler, FsPs. 1, S. 210, 1913.
$ 34. Das Verhältnis der Geschlechter in dr „Normalsone" © 2.4Q)
Zunächst sei daran erinnert, dals diese grölsere Intervaria-
bilität der m auch aus den Erfahrungen des täglichen Lebens
bekannt ist oder doch aus ihnen abgeleitet werden könnte. Wir
finden sowohl übernormales, wie auch — und dies wird von den
Antifeministen häufig übersehen oder verschwiegen — unter-
normales Verhalten häufiger bei Männern. Ersteres ergibt sich
evident aus der politischen Geschichte, wie aus der Geschichte
der Wissenschaften und Künste; letzteres liefse sich unschwer aus
Verbrechens- und Irrenstatistiken, wie aus einer Statistik von
Degenerationsmerkmalen überhaupt (z. B. Farbenblindheit) nach-
weisen.
Immerhin wird wohl doch auch dies zugegeben werden müssen,
dals die Majorität der m auf dem Gebiete der übernormalen
Leistungen noch etwas grölser ist als ihre Majorität innerhalb der
Unternormalitätszone, und dies wiederum scheint uns darauf
hinzudeuten, dals die übernormalen Leistungen — soweit es sich
eben um intellektuelle Leistungen handelt — tatsächlich oft
auf eine grölsere Begabung der m hindeuten, während unter-
normale Leistungen der m vielleicht häufig nicht so sehr durch
Mängel der Begabung als durch mangelhafte Ausbildung von
‘Willens- oder Charaktereigenschaften zu erklären sind.
Zur Verdeutlichung dessen, was ich meine, vergegenwärtigen
wir uns eine gemischte Schulklasse mit der eben geschilderten
Verteilung der Knaben und Mädchen. Wir erinnern uns ferner
daran, dafs mit grolser Übereinstimmung der Autoren die Mädchen
als die fleilsigeren charakterisiert werden. Nun wird wohl zugegeben
werden müssen, dals gröfserer Fleils im allgemeinen zu über-
normalen Leistungen nicht führen wird; wohl aber kann er eine
an sich unternormale Leistungsfähigkeit zu normalen Leistungen
heraufschrauben. So erklärt es sich vielleicht, dals von den Mädchen
eine grölsere Anzahl aus dem untersten Leistungsviertel in die
mittlere Hälfte sozusagen hinüberwandert, dals aber das oberste
Viertel von nur verhältnismälsig wenigen erreicht wird. Anders bei
den Knaben: die schwachen Schüler bleiben in ihren Leistungen
schwach, weil der kompensatorisch wirkende grölsere Fleils fehlt;
andererseits bewirkt die grölsere Begabung auch ohne zu Hilfe
kommenden Fleifs ein verhältnismälsig häufiges Auftreten guter
Leistungen’).
- 1) Z. T. wörtlich übernommen aus meiner „vorläufigen Mitteilung‘,
Arb Bund Sc Ref 8, S. 164.
2308: 223.2: Kopitel Ve" Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
Ich bin in diesem Paragraphen auf die Frage der Intervariation
der Geschlechter mit grölserer Ausführlichkeit eingegangen, weil
dieses Problem, abgesehen von seinem theoretischen Interesse auch
von praktischer Bedeutung für die Frage der Koedukation zu sein
scheint. Das psychologische Koedukationsproblem ist bisher allzu
ausschliefslich so gestellt worden, ob das eine Geschlecht hinsicht-
lich seiner Leistungen dem anderen überlegen sei; ich glaube gezeigt
zu haben, dafs diese Fragestellung eine irrtümliche ist und eine
einfache Beantwortung meist gar nicht gestattet. Es ist aber auch
gar nicht von praktischer Wichtigkeit, ob das Niveau einer Klasse
durch Aufnahme von Kindern anderen Geschlechts herauf- oder
herabgedrückt wird ; eines wäre für die Schüler, die den Stamm der
Klasse bilden, so schädlich wie das andere, und würde die Schwierig-
keiten für den unterrichtenden Lehrer in gleicher Weise vermehren.
Das Grundproblem der Schulorganisation scheint mir vielmehr dies
zu sein, möglichst homogene Klassen zu bilden, d. h. solche Unter-
richtseinheiten, deren Intervariation eine möglichst geringe ist;
dies ist ja offenbar auch die Richtung, in der die schwebenden
Schulorganisationsfragen zu ihrer Entscheidung drängen. Die
Grundfrage des Koedukationsproblems ist demnach die : wird durch
Gemeinsamkeit des Unterrichts die Intervariation der zu unter-
richtenden Gruppen erhöht oder vermindert ?
Wir konnten diese Frage nur an einem kleinen Teil unseres
Materials untersuchen, da die Intervariation einer kombinierten
Gruppe natürlich nur dann unabhängig von der Grölse jeder der
beiden zusammengefalsten Gruppen ist, wenn diese gleich grols
sind. Bei 42 der 440 Intervariationsresultate!) wurde aufser
Vm und Vf auch Vz berechnet, und zwar aus der Formel
|Ioz — Iuz| .
Vz = 2 Ten in der
Jos die Leistung der Person %-Nr. 26
Iuz 9 „ an IT %-Nr. 75
Icz an „ „ 99 %-Nr. 50%
bedeuten; bei der Zählung werden hier m- und f-Personen nicht
unterschieden.
Wenn wir nun mit Vg denjenigen Wert von Vm oder Vf be-
2) Diese Ergebnisse sind in den Tabellen des Kapitels II, Teil II A,
S. 6ff. durch x x bezeichnet; die dazugehörigen Vz sind in Teil II B,
S. 54/55 zusammengestellt.
§ 34. Das Verhältnis der Geschlechter in der „Normalzone“. 103
zeichnen, welcher der grölsere ist, und mit Vk den kleineren von
beiden, so ist
Vg > Vz < Vkin 3 i
Vg > Vz = Vk in 7 Cae
Vg > Vz > Vk in 10 D
Vg = Vz > Vk in 121 25
Vg < Vz > Vk in 12 e
Die Intervariation der kombinierten Gruppen zeigt also eine
deutliche Tendenz gröfser zu sein als die Intervariation jeder der
beiden zusammengefalsten Gruppen, d. h. die ‚„Normalzonen“ der
Leistungen der beiden Geschlechter pflegen sich zu ihrem grölseren
Teile nicht zu decken, die Verteilungskurve der kombinierten
Gruppe ist meist zweigipfelig (vgl. Teil HI H, Figur 7, S. 119), die
beiden Geschlechter bilden in der Tat ein inhomogenes Material
— die Koedukation wäre nicht gerechtfertigt. All dies kann natür-
lich nur mit grölstem Vorbehalt ausgesprochen werden; aber es
scheint mit wichtig, dals das Koeduktationsproblem einmal unter
diesem Gesichtspunkte auf Grund eines ad hoo beschafften
gröíseren Materials behandelt wird.
104 8 35. Schluß.
§ 35.
Schlufs.
Der Gegenstand unserer Untersuchung war eine rein theo-
retische Frage der differentiellen Psychologie. Wenn öfters auf
das Koedukationsproblem hingewiesen wurde, so geschah dies
nicht, weil wir unmittelbar zur Lösung dieser Frage der praktischen
Pädagogik einen Beitrag liefern wollten, sondern mehr zum Zwecke
der Verdeutlichung unserer Fragestellung, — in Form einer Exem-
plifikation. Aber hier, am Schlusse unserer Untersuchung, ist
vielleicht doch der Ort, einmal ausdrücklich darauf einzugehen,
in welcher Beziehung das psychologische Problem der Geschlechts-
unterschiede und das pädagogische der Koinstruktion zueinander
stehen.
Dals diese Probleme sich nicht decken, liegt auf der Hand:
Die Geschlechtsunterschiede würden uns theoretisch auch dann
interessieren, wenn eine gemeinschaftliche Erziehung niemals in
Frage gestanden hätte, — wenn sie immer indiskutabel oder immer
' selbstverständlich gewesen wäre. Und umgekehrt: Auch wenn es
der Psychologie nicht gelungen wäre, irgendwelche Geschlechts-
unterschiede festzustellen, oder wenn es ihr gar geglückt wäre,
nachzuweisen, dafs auf den fraglichen Gebieten die Geschlechter
sich gleich verhalten, so wäre damit die gemeinschaftliche Er-
ziehungdoch nur als möglich ‚nicht aber auch schon als wünschens-
wert hingestellt. Wenn die Psychologie andererseits Geschlechts-
unterschiede findet, so ist damit auch noch nicht die Koedukation
ad absurdum geführt; man kann z. B. wünschen, dafs eben durch
die gemeinschaftliche Erziehung die Geschlechter einander an-
geähnelt werden usw. usw.
Die drei Fragen, die der Koinstruktionspolitiker zu beant-
worten hat, sind die folgenden:
l. Ist es — nationalökonomisch, ethisch, politisch usw. —
wünschenswert, dafs die Frauen (oder wenigstens einige Frauen)
dieselbe Bildung (quantitativ und qualitativ) besitzen wie die
Männer oder nicht ?
2. Sind die Wirkungen, die ein inniges Zusammenleben der
Geschlechter während der Jugend auf die Angehörigen der beiden
Geschlechter ausübt, im ganzen genommen wünschenswert oder
nicht ?
8 35. Schluß. 105
3. Sind die psychologischen Bedingungen für einen gemein-
schaftlichen Unterricht der beiden Geschlechter vorhanden, ist die
‚psychische Veranlagung der beiden Geschlechter hinreichend
ähnlich, um einen gemeinschaftlichen Unterricht zu gestatten, oder
ist diese Ähnlichkeit überhaupt, oder in einzelnen Funktionen oder
während gewisser Altersstufen so gering, dafs der gemeinschaftliche
Unterricht überhaupt oder in einzelnen Fächern oder während
gewisser Altersstufen untunlich erscheint ?
| Eine wissenschaftlich begründete Stellungnahme zum Ko-
instruktionsproblem wird natürlich von der Beantwortung aller
drei dieser Fragen abhängen. Psychologischer Natur (i. e. S.) aber
sind nur die beiden letzten Fragen, und die vorliegende Arbeit
‚beschäftigt sich nur mit der dritten von ihnen.
Nehmen wir nun einmal an, die beiden ersten Fragen wären
im Sinne der Anhänger der Koinstruktion beantwortet, würden
dann die von uns beigebrachten Ergebnisse die Koinstruktion als
möglich oder als untunlich erscheinen lassen ?
Auch hier ist eine eindeutige Antwort so lange nicht möglich,
als wir nicht wissen, welcher Grad von Ähnlichkeit zwischen zwei
Menschen (oder zwei Gruppen von Menschen) erforderlich ist, um
eine gemeinschaftliche Erziehung zu ermöglichen. Es ist ja klar:
je ähnlicher sie sind, desto leichter, je unähnlicher sie sind, desto
schwieriger ist ihre gemeinschaftliche Erziehung; aber wo ist die
Grenze? In der praktischen Pädagogik scheint man bisher mit
den Anforderungen, die man an die Homogeneität einer gemein-
schaftlichen zu unterrichtenden Schülergruppe stellt, recht be-
scheiden zu sein; denn trotz des Auswahlprinzipes des ‚Sitzen-
bleibens‘ ist der Unterschied zwischen den begabten und den un-
begabten Schülern einer Klasse doch zweifellos immer noch ein
aufserordentlich grofser und sicherlich ein viel grölserer als zwischen
den mittelbegabten männlichen und den mittelbegabten weiblichen
Kindern eines Jahrganges. So gıolse Unterschiede wir also auch
in einzelnen Fächern und einzelnen Altersstufen und in der Inter-
variation überhaupt zwischen Knaben und Mädchen gefunden
haben, — solange die Schulen nicht noch viel mehr als bisher nach
dem Begabungsprinzip differenziert sind, solange ist auch
psychologisch kein Grund einzusehen, sie nach dem Geschlechts-
prinzip zu differenzieren.
Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dals, wenn wir überall
anstatt männliche und weibliche Personen Begabte und Unbegabte
106 § 35. Schluß.
oder Intelligente und Unintelligente verglichen hatten, wir zu viel
krasseren Unterschieden gelangt waren.
Ubrigens —, so umfassend diese Arbeit auch angelegt war,
so sind ihr doch wahrscheinlich eine grolse Zahl von Gebieten,
in denen sich Geschlechtsunterschiede finden, und vielleicht gerade
mit die wichtigsten, entgangen. ,,Die Arbeit vergleicht durchweg
Einzelerscheinungen bzw. Einzeleigenschaften miteinander, und
zwar selbstverständlich nur solche, die quantitativ melsbar bzw.
bisher gemessen sind. Demnach sind nicht in Betracht gezogen:
1. Eigenschaften, die sich bisher oder überhaupt der quanti-
tativen Bestimmung entziehen; und sie können oft gerade die
wesentlichsten und zentralsten sein; denn man darf nicht ver-
kennen, dafs eine Eigenschaft um so leichter quantifizierbar ist,
je peripherer sie ist. |
2. Strukturzusammenhänge von Eigenschaften; und wenn
man nicht der Meinung ist, dafs der Mensch aus einer blofsen
Addition seiner Eigenschaften besteht, so wird man gerade in
jenen Strukturerscheinungen auch das Wesentliche der Unter-
schiede zwischen Mensch und Mensch, zwischen Geschlecht und
Geschlecht usw. vermuten. So könnte man sich z. B. denken,
dafs Frauen und Männer in bezug auf gewisse Begabungen nicht
allzusehr differieren und auch in bezug auf gewisse Interessen
nicht sehr, und dafs trotzdem die Beziehung von Begabung und
Interesse bei beiden Geschlechtern eine fundamental verschiedene
ist. Solche Strukturfragen werden in der Arbeit nicht berührt.
Aus beiden Gründen sind nun die hier konstatierten Ge-
schlechtsunterschiede wahrscheinlich bei weitem geringer als die-
jenigen, die wirklich vorhanden sind!).“
3) Zitiert aus einer brieflichen Mitteilung von Prof. W. STERN.
CO? Ger
DD =
§ 3.
T
§ 5.
§ 36. Inhaltsübersicht. 107
§ 36.
Inhaltsübersicht.
. Übersicht über das verwendete Material.
. Das Verhältnis der Geschlechter wird innerhalb derjenigen
Teile der Leistungs- oder Eigenschafts-Skala verglichen, die
als „gut“ oder „stark“ — als ‚normal‘ — als ‚schlecht‘‘ oder
„schwach“ bezeichnet zu werden pflegen.
Als „gut“ oder ‚stark‘ und ebenso als ‚schlecht‘“ oder
„schwach‘‘ werden diejenigen Leistungs- oder Eigenschafts-
grade betrachtet, die sich bei genau einem (dem obersten
bzw. dem untersten) Viertel der Vpp. finden, als normal die-
jenigen, die durch die mittlere Hälfte der Vpp. vertreten sind.
Es werden diejenigen Werte Pum ... Pof bestimmt, welche
folgendes besagen : Wenn wir 200 m + 200 f Personen danach
ordnen, mit welcher Stärke sie eine bestimmte Eigenschaft
besitzen, so befinden sich unter denjenigen 100 Personen,
welche die schwachen Grade der Eigenschaft aufweisen,
Pum männliche und Puf weibliche, unter den 100 Personen
mit hohen Stärkegraden Pom männliche und Pof weibliche.
Es werden nur solche Ergebnisse verwendet, welche die
üblichen Anforderungen an Exaktheit der Feststellung
erfüllen, und bei denen Q>2. Q ist der quadrierte und mit
*/, multiplizierte Quotient aus demjenigen Verhältnis, dessen
Dividendus durch die Differenz der beiden zugrunde liegenden
Prozentzahlen und dessen Divisor durch den dieser Differenz
zugehörigen wahrscheinlichen Fehler gebildet werden.
ss 6—8. Übersicht über die Einzelergebnisse (Pom, Pem, Pum),
geordnet nach Quellen.
$$ 9—24. Übersicht über die Einzelergebnisse (Do = Pom — Pof,
Du = Puf — Pum), systematisch geordnet.
$ 25. Zusammenstellung derjenigen Eigenschaften, bei denen sich
übereinstimmend eine Überlegenheit der m oder der f ergibt.
$ 26. Je besser die relative Leistung eines Geschlechtes in einem
Unterrichtsfach (je grölser die Begabung), desto grölser ist
auch die relative Überlegenheit seines Interesses für dieses
Fach. — Die Mädchenzeichnungen sind in relativ viel höherem
Grade als die Knabenzeichnungen Darstellungen dessen, was
das Kind weils, als dessen, was man vom Menschen sieht. —
108
§ 36. Inhaltsübersicht.
Die Gegensätzlichkeit der Spielinteressen läfst sich mit dem
Schlagworte bezeichnen: Der Knabe spielt relativ lieber
„Welt“, das Mädchen ‚Haus‘. — Das Interesse der Knaben
ist relativ stäker auf das Betätigen, das der Mädchen mehr
auf den blofsen Besitz von gewissen Eigenschaften gerichtet.
$$ 27—30. Beim Vergleich verschiedener Altersstufen zeigt sich
§ 31.
eine gewisse Tendenz der Geschlechtsunterschiede, mit
wachsendem Alter zuzunehmen. Richtungsänderungen des
Geschlechtsunterschiedes sind selten. — Zwischen den Alters-
stufen von 34, und 12 Jahren zeigt sich eine gewisse
Tendenz der relativen Besserung der Knabenleistungen, von
12 bis 19 Jahren eine gewisse "Tendenz der relativen Besserung
der Mädchenleistungen. Wahrscheinlich jedoch haben diese
Ergebnisse keine allgemeine Bedeutung, sondern es müssen
bei künftigen Untersuchungen diejenigen psychischen Funk-
tionen unterschieden werden, bei denen mit wachsendem
Alter die relative Überlegenheit der m, und diejenigen, bei
denen die relative Überlegenheit der f wächst.
Innerhalb 'eines Schuljahres finden sich die relativen Best-
leistungen der Knaben am Ende, die relativen Bestleistungen
der Mädchen meist am Anfange eines Trimesters (England). —
Im Frühjahre sind die Leistungen der Mädchen, besonders
der im Pubertätsalter befindlichen, relativ schlecht.
§§ 32—34. Die Geschlechtsunterschiede sind ihrer Grdfse bzw.
Sicherheit nach um einen Wert zentriert; sie sind um so
seltener, je stärker „ie von diesem Wert abweichen. Dieser
zentrale Wert liegt in der Nähe der Differenz 0. — Die zu-
gunsten der m sprechenden Ergebnisse sind zahlreicher und
sicherer als die zugunsten der f ausfallenden. — Die Über-
legenheit der m zeigt sich häufiger darin, dals die m im
obersten Leistungsviertel stärker vertreten sind; eine
Überlegenheit der f öfters darin, dafs sie im untersten
Leistungsviertel weniger zahlreich sind. Dementsprechend
sind die m im allgemeinen auch in der mittleren Leistungs-
hälfte in der Minorität. Die Intervariation der m ist grofser
als die der f; besonders deutlich ist dies in den Fällen einer
Überlegenheit der f. — Die Intervariation einer aus beiden Ge-
schlechtern kombinierten Gruppe ist meist gröfser als die der
. beiden einzelnen Gruppen.
$ 35. Die Beziehung unserer Ergebnisse zum Koedukationsproblem.
BEIHEFTE
Zeitihriit für angewandte Pivdologie
Herausgegeben von
| WIDDIAM STERN und OTTO LIPMANN.
| |
|
SS 222222292222 14) <> 222222220
Piydiiidıe
ON ial oe
Geidtleditsunteridtiede.
Ergebnilie der difierentiellen Piyhologie
von
Otto hipmann.
Zwei Teile.
Il. Teil.
Mit 9 Kurven.
|
PWN OF:
| |
| heipzig 1917.
Verlag von Johann Ambrofius Barth.
Dorrienstr. 16.
— nn a ne Pair
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
6 Hefte bilden einen Band von etwa 36 Bogen mit mehreren Tafeln. Preis des Bandes 20 M.
Der 12. Band ist im Erscheinen begriffen.
Die Au E der Zeitschrift ist die Bearbeitung psychologischer Probleme unter be-
sonderer Berücksichtigung ihrer Verwertbarkeit für anderweitige praktische und wissen-
schaftliche Fragestellungen und die Ausgestaltung der besonderen experimentellen, psycho-
phischen, statistischen und Sammel-Methoden für diese Zwecke. Hauptgebiete der
Zeitschrift sind die pädagogische, forensische, pathologische, literarische, ethnologische und
vergleichende Psychologie.
Die Zeitschrift enthält Abhandlungen, Mitteilungen, Sammel- und Einzelberichte und
verfolgt ständig die internationale Bewegung auf dem Gebiete der angewandten Psycho-
logie. Sie ist Organ des Instituts für angewandte Psychologie in Kleinglienicke, des
psychologischen Laboratoriums in Hamburg und mehrerer Universitäts-Seminare.
Seit 1911 erscheinen:
BEIHEFTE
zur
Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
Die Beihefte sind einzeln käuflich.
Heft 1. Orro Lıruann. Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihre Pantons.
Theorie, Methoden und Ergebnisse der „Tatbestandsdiagnostik“. IV, Op
Heft 2. J. Coun u. F. Dierrensacner (Freiburg). Untersuchungen über Geschlechts-,
Alters- und Begabungs-Unterschiede bei Schülern. VI, 213 Seiten. M. 6.40
Heft 3. W. Berz. Über Korrelation. VI, 88 S. M. 3.—
Heft 4. Paur Marcıs. E. T. A. Hoffmann. Eine Individualanalyse mit 2 Faksimiles,
2 Stammtafeln und 2 graphologischen Urteilen. VIII, 220 S. M. 7.—
Heft 5. Vorschlige zur psychologischen Untersuchung eee Menschen ge-
sammelt und herausgegeben vom Institut für angewandte EE und psycho-
logische Sammelforschung (Institut der Gesellschaft fiir experimentelle Kee ege
1. Teil. IV, 124 Seiten mit 1 Tafel im Text. .4.—
Heft 6. RicuarpD deet Ethno-psychologische Studien an ee auf
dem Bismarck-Archipel u. den Salomo-Inseln. IV, 163 S. mit 21 Taf. M.9.—
Heft 7. Fritz Giese Das freie literarische Schaffen bei Kindern und REES
2 Teile. XVI, 220 u. IV, 242 Seiten mit 4 Abbildungen. 1914. M. 14.—
Heft 8. Herea Exe. Abstrakte Begriffe im Sprechen und Denken des Kindes. V),
112 Seiten. 1914. M. 3.60
Heft 9. Hermann Damm. Korrelative Beziehungen zwischen elementaren Vergleichs-
leistungen. Ein Beitrag zur psychologischen Korrelationsforschung. IV, 84 Seiten
mit 4 Abbildungen, 31 Tabellen und 4 Tafeln. 1914. M. 2.60
Heft 10. Grora Branperr. Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfachern.
IV, 168 Seiten mit 37 Figuren. 1915. M. 5.60
Heft 11. Curt Pıorkowskı. Beiträge zur psychologischen Methodologie der wirt-
schaftlichen Berufseignung. IX, 84 S. 1915. M. 3.—
Heft 12. Jugendliches Seelenleben und Krieg. Materialien und Berichte. Unter Mit-
wirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes fiir Schulreform und von O. Bobertag,
K. W. Dix, C. Kik, A. Mann herausgegeben von WıLLıam Stern. 181 Seiten
mit 15 Abbildungen. 1915. M. 5.—
Heft 13. Tu. Vavextiner. Die Phautasie im freien Anfsatze der Kinder und Jugend-
lichen. VI, 168 S. mit 1 Kurventafel. 1916. M. 5.60
Heft 14. Orro LIPMANN. Psychische Geschlechtsunterschiede. Ergebnisse der differen-
tiellen Psychologie. Zwei Teile. IV, 108 und 172 Seiten mit 9 Kurven im
Text. 1917. M. 12.—
u a a er u e
a rr Ren nn y a a.
BEIHEFTE
Zeitidriit fir angewandte Piydologie
Herausgegeben von
WILLIAM STERN und OTTO LIPMANN.
©©2222920222220>0. 14) POSS SOO OS PPO
er
Pivdiide `
Geidileditsunteridiede.
Ergebnilie der difierentiellen Pipchologie
fatiftiih bearbeitet
von
Otto bipmann.
Zinel Telle.
Mit 9 Kurven.
beipzig 1917.
Verlag von Johann Ambrofus Barth.
Dörrienstr. 16.
Zweiter Teil.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Teil.
Inhalt.
Teil I.
A. Tabellen des Kapitels II. Die Einzelergebnisse.
Vorbemerkung
C. Tabellen zu Kapitel III.
Die aus unveröffentlichten Materialien herrührenden Ergebnisse
B. Zusammenstellung der Vm, Vfund Vz .......
die Einzelergebnisse
Vorbemerkung
Tabelle zu $ 10,
» § 10,
99
§ 10,
§ 10,
§ 10, 6a.
$ 10, 6b.
$ 10, 6c.
un wren ert un N nm wm
CO? m MN U UN CO? 602 CO? GC
kel pt
kent jat
we
bet Fi
bei bel ` kel ` bei be ` kel Feel
oo E kä bo
O hi Fei Fi Fi bei bd bei bi Fa
bäi
`~
Fi Ga
-
pt
më
4.
be bo
=
bs
bo
Zi
oO
Systematische Übersicht über
Raumsinn der Haut .......
Gewichtsinn unter normalen und
täuschenden Bedingungen .... .
Geschmacksinn ..........
Gehorsinn .........4...
Helligkeit. . .. 2.2 2 22200.
Karben. : sos s e aso a a, we 08
Optischer Raumsinn unter normalen
und téuschenden Bedingungen. . .
Zeiteinn wee NNN Ke e
Schnelligkeit einfacher Bewegungen
und Verrichtungen ........
. Wahlreaktion. . . . 2 2 2 2 2 o o
Präzision der Bewegungen und Be-
wegungskoordination. .......
Gefiihlsbetonung von Bewegungen .
Das Lernen und das Reproduzieren
von Erlerntem ..........
Erinnerung und Aussage. .....
2, 3a. Freie Assoziation. Einfälle
ae.
SSOMAR AP & o
m
PT
Së
mm Ce
bk
wë
-
Co
D
e
kel
e
. Gebundene Assoziation ......
Phantasie . . . 2 2 2 2 2 220.0
Kenntnisse . . . . 2 2 2 2 2 2 0.
Begabung für Rechnen undMathematik
Unterrichts- und Examens-Leistungen
in Mathematik, Geometrie, Algebra,
Rechnen . . . . 2. 2 2 2 220.0
Leistungen im Rechenexperiment. .
Interesse für Rechnen und Mathematik
Naturwissenschaften . . . 2. 2.2...
TSchnile: +4 Ar iu rs nr ar
Fremdsprachen( Geinteswisenschaften)
Leistungen in Muttersprache . . . .
Interesse für Muttersprache
H g
Inhalt.
Tabelle zu $ 21. Allgemeine geistige Entwicklung . .
ge » § 22, 1. Neigung zu intellektueller Betätigung
Ge » § 22, 2. Neigung zu politischer Betätigung .
> „ $ 22, 3. Neigung zu philantropischerBetätigung
Se „ 8 22,4. Religiosität.. . . . 2. 2 222200
ge » § 22, 5. Neigung zu praktischer Betätigung .
an » § 22, 6 Erwerbssinn .......4.2...
e » § 22, 7. Streben nach Macht .......
= „ $ 22, 8. Streben nach Ehre . . ..... ;
E „ 822,9 Eitelkit `, . 2. 22 2 22202200.
= » § 22, 10. Neigung zu Geselligkeit . . . . . .
35 » § 22, 11. Sexualleben. .......2.2.2..
ge „ $ 22, 12. Moralitét im allgememen..... .
5 „ 8 22, 13. Betragen..........
e » § 22, 14. Fleifs.......... Lae d
; » § 22, 15. Ordnungsliebe. .......2...
9° ” § 22, 16. Pünktlichkeit . ..........
ee » § 22, 17. Wahrbeitsliebe. .......2...
= „ $§ 22, 18. Treue: e e A Aw nn ee
ge » § 22,19. Geduld. .............
5 pe G22; 20 Mut a aaa a a e e ER
2 „ § 22, 21. Bescheidenheit ..........
es » § 22, 22. Emotionalitét. .......4.2.2.
a » § 22, 23. Allgemeine Gefühlsrichtung. Er.
Fe » § 22 24. Impulsivität. . ee oae a a
= „ $ 23, 1. Aufmerksamkeit. Ergebnisse der Be-
obachtung e NNN ISSN e
S » § 23, 2. Aufmerksamkeit. Ergebnisse des Ex-
periments . . 2. 22 2 202000
= » § 23. 3. Intravariation. Begelmälsigkeit der
Reaktion . .. ... 2. 2 2 2 20.0.
i » § 24. Suggestibilitat. . . .....4.4..
. Tabellen zu $ 26. Vergleich des Geschlechtsverhält-
nisses bei verschiedenen Eigenschaften ........
Tabellen zu §§ 28 und 29. Anderungen des Geschlechts-
unterschiedes in ihrer Abhängigkeit vom Alter... .
F. Tabelle und Figur zu $ 30. Die Besserleistung eines Ge-
schlechts in seiner Abhängigkeit vom Alter ......
G. Tabelleund Figur zu $31. Das Verhalten des Geschlechts-
unterschiedes im Verlaufe eines Schuljahres . . ... .
H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V. Allgemeine Statistik
der Ergebnisse .. 2: 2 2 0 er er. .
J« Bibliographic: ¢-.« «s,s a-% BS awe & Sw eR ee RS
Anhang: Abkürzungen der Zeitschriften-Titel usw. . . ;
K. Briefliche Mitteilungen über das Problem der Go-
schlechtsunterschiede und der Koedukation .....
1*
102
105
120
162
A. Tabellen des Kapitels II.
Die Einzelergebnisse.
Vorbemerkung.
Ich stelle in diesem Kapitel die sämtlichen, meinen weiteren
Ausführungen zugrunde liegenden zahlenmälsigen Resultate zu-
sammen, und zwar in der Form, dafs für jede Einzelunter-
suchung und für jede Gruppe von Vpp. angegeben wird, wie viele
männliche Vpp. sich im obersten Leistungsviertel (Pom), in der
mittleren Leistungshälfte (Pem) und im untersten Leistungsviertel
(Pum) befinden würde, wenn die Gesamtanzahlen der männlichen
und der weiblichen Vpp. gleich (= 200) wären, wenn sich also im
obersten Leistungsviertel im ganzen 100, in der mittleren Hälfte
im ganzen 200 und im untersten Leistungsviertel im ganzen
100 Vpp. befänden. Die entsprechenden Anzahlen für die weiblichen
Vpp. (Pof, Pcf und Puf) sind also aus den angegebenen Zahlen
ohne weiteres durch Subtraktion von 100,.bzw. 200 zu ermitteln.
Einer Überlegenheit der männlichen Vpp. über die weiblichen hin-
sichtlich einer bestimmten Eigenschaft entspricht also die Tat-
sache, dafs ein Pom > 50 oder ein Pum < 50.
Die mitgeteilten Zahlen können auch so verstanden werden:
Sie bezeichnen die Wahrscheinlichkeit, mit der aus einer guten,
bzw. schlechten Leistung bei der betreffenden Untersuchung auf
das männliche Geschlecht der Vpp. geschlossen werden kann. Ins-
besondere ergibt sich bei der Untersuchung der Alternativ-Eigen-
schaften, dafs oft nur das Vorhandensein, nicht aber das Fehlen
der betreffenden Eigenschaft als charakteristisch für das eine oder
das andere Geschlecht betrachtet werden kann, nämlich wenn die
Eigenschaft überhaupt selten ist (dann ist im extremsten Falle
A. Tabellen des Kapitels II. Die Einzelergebnisse. 5
Pom = 100, Pem = 50, Pum = 50 oder Pom = 0, Pcm = 150,
Pum = 50); auch umgekehrt ist, bei Eigenschaften, die überhaupt
nur sehr selten fehlen, natürlich nur das Fehlen, nicht aber das
Vorhandensein für ein Geschlecht charakteristisch (im extremsten
Falle ist dann Pom = 50, Pem = 150, Pum = 0 oder Pom = 50,
Pem = 50, Pum = 100). > 3
Der Grad der Zuverlässigkeit des betreffenden Resultates
wird durch die Symbole Qo und Qu bezeichnet. Sie zeigen an,
wieviel mal die Differenz der zugrunde liegenden Pıozentzahlen
grölser ist als ihr wahrscheinlicher Fehler. Resultate, bei denen
Q < 2, sind nicht mit angeführt. Häufig war bei einem Resultat
nur Qo oder Qu grölser als 2; dann wird nur Pom bzw. nur Pum
mitgeteilt, und die fehlenden Angaben sind durch — ersetzt.
Die aus einer und derselben Untersuchung herrührenden
Einzelergebnisse sind im allgemeinen — d. h. so weit sachliche
Gründe (inhaltliche Zusammenhänge) nicht eine andere Reihen-
folge bedingten — so angeordnet, dafs diejenigen Fragen, bei
denen sich durchschnittlich die gröfste Überlegenheit der männ-
lichen Versuchspersonen ergab, an die Spitze, und diejenigen, bei
denen die weiblichen Versuchspersonen sich am stärksten über-
legen zeigten, ans Ende gestellt sind.
Diejenigen Ergebnisse, zu denen als Mafsstab der Inter-
variation Vm und Vf berechnet werden konnte (vgl. Teil II B,
S. 58) sind durch x bezeichnet; diejenigen Ergebnisse, bei denen
als Mafsstab der Intervariation einer kombinierten Gruppe auch
Vz berechnet werden konnte, sind durch x x bezeichnet.
Ich teile das Resultat in zwei Abteilungen, -die aus nicht
veröffentlichten Materialien herrührenden und die der Literatur
entnommenen. Aus Gründen der Raumersparnis mufs jedoch von
einer Drucklegung der letzteren abgesehen werden; die hierher
gehörigen Tabellen liegen im Archiv des Instituts für angewandte
Psychologie und stehen von dort aus Interessenten zur Einsicht-
nahme zur Verfügung. left
Die aus unveröffentlichten Materialien herrühren-
den Ergebnisse sind die folgenden:
A. Tabellen des Kapitels 11.
1. Bielefeld. Zensureneiner Volksschule.
Alter etwa: 7 8 9
Fleifs........ | ES
3. Rechnen. ...... | —
| 61
Ke 4l
4. Deutsch, mündlicher =
Ausdruck ...... SC
5. Zeichnen . . ...
30 x
6. Schreiben . . . ... 98
72
29 x
7. Religion. ...... 98
73
20 x 32 x | —
8. Lesen ....... 111 97 —
69 71 72
9. Geschichte. .....
10. Geographie. ..... |
11. Naturkunde `... |
12. Deutsch, schriftlicher = ` SS
Ausdruck ...... SE a
13. Biblische Geschichte
20 x | 33 x | — 25
14. Singen ... 101 | 90 | — —
79 ! 77 | 68 —
Ostern 1913. Klassifikation.
Die Einzelergebnisse.
70
17 x
111
72
30 x
96
14
33 x
85
82
22
104
70
74
23
96
77
81
.19
33
35
27
29
34
34
19
144
100
90
100
85
88
65
33
37
67
75
x
71
81
83
5, 9, 6, 4
7, 3, 5, 2
6, 2, 5, 4, 9
3, 3, 3, 3, 10
11, 3, 6
5, 7, 2, 8, 1!
A. Tabellen des Kapitels Il.
2. Bristol. Holt Secondary School. l4tägige Zen-
Alter etwa: | 10 12 13 14
Klasse: ooma ee ee U B ITA HI OC
aa LI "Jel II
Termin:
14. X.
28. X.
l. Geometrie
15. III.
14. X.
28. X.
18. XI.
9. XI.
2. II.
2. Algebra. 23. II.
15. III.
80
Die Einzelergebnisse. 9
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
13 14 15 16
eene leegen
II PB IMA | IVB | IV A Remove BRemove A
KE 23
a a ie
=
24 3
85 | aS
d, H =
er 25 5 2
13 x
104 |
23 2 3
22 3
2
77
= 2
— ı73 x: 73 m
— | 104 | = =
70 23 = 21 2,2 3, 3, 2
73 x: 83 x
116 | 92
11 25 | 2, 4 8, 2
78 73 x 17
e 23. u 2,2,4| 3
87 x —
89 =
24 19 6 3, 3
23 3
83 22
| Den =
| as —| 4,2
22 -= l4 x
= | = 105
— 0 81 | 2,5 20, 3
10 A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forts.) Bristol. Holt Secondary School. 14tägige Zen-
Alter etwa: 10 12 13 14
Klasse: | Prepa- | IIB D A LIT O
Fach ratory
Termin:
25. V.
2, Algebra (Forts.) 15. VI.
6. VII.
28. X. —
81
18. XI. a
27
100 x
9. XII. 100
0
100 —
2. II. — —
— 27
84 X |77 xX
3. Zeichnen ... 23. I. 103 109
13 14
15. III.
25. V.
86
15. VI. —
6. VII. —
27
27
14. X. =
4. Geschichte . . ES |
Die Einzelergebnisse.
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
13 14 15 16
paa a, | a
IB IA | IVB | IVA |Remove B| Remove /
Qo
| 3 x =
105 —
12 78] 4
i
fei
23
22 — 17
Bar 24 u 3, 3
87
a 18, 6
11
5, 3
24 x
76
100 i 3
23
— 2
14
— 5, &
| 2
76 — 7 |
= == gl
— 73. 13 | 2
11
13
12
A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forte.) Bristol. Holt Secondary School. . 14tägige Zen-
Alter etwa: 10 12 13 14
Klasse: | Prepa- | IIB II A IIIC
Die Einselergebnisse. 13
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
13 14 15 16
pS NEEE 1 wemmer" emer,
DIR | IIIA | IVB | IV A |Remove B|Remove A
73 x
106
21 2 3
713 x173 sie
108, =) =
19 u 28 2, 2 6, 2
| 100 x
82
18 | 9 3
78 2
83 x 100 x
92 | 75
25 25 4, 10 2, 2
= 25
15 = 2 3, 3
16
SE | 2, 3, & 2, 3
82 5, 3
85 x 2 |
93 — |
22 23 5 3, 3
25 3
24 3
u T E 2 |
25 22 2,3
25 | ce
= 29 2 3
2 |
= |
em | 2
25 x |
98
| 77 2 2
14 A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forts.) Bristol. Holt Secondary School. l4tägige Zen-
28. X. —
|
27
18. XI.
9. XI.
6. Geographie . . 2. II.
15
23. I. —
15. III.
re er
68 x —_-
25. V. 104 =
28 25
— mme
72
15. VI. =
—— —
31
28. X | vr
S
7. Practical 69
Arithmetic .. 15. III. —
— |235 x|—
15. VI. — 100 —
14 75 100
Die Einzelergebnisse.
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
13 14 15 16
PP nl EE,
iB | DIA B | A |Remove B| Remove /
|
86 x
114
0
71 25
73
73 |
81 x 29
104 —
15 | —
| ee
| 75
16 x
109
75
18 25 80
Qo Qu
4, 6 2, 16
2
2, 2
2
2
6, 3, 3| 5
2
2 5, 3, 10
16 A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forts.) Bristol. Holt Secondary School. 14tägige Zen-
10 12 13
ITB ITA
14
DI
Alter etwa:
Klasse: | Prepa-
ratory
9. General Ele-
ments of 18. XI,
Science... .
9. XL. |
|
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25. V. 100
80
Die Einzelergebnisse.
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
13 |
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2] = 11
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82 24 |
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100
100
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83 12
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100
100 |
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie.
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15 x
103
82.
22 x
96
82
12, 13
2, 14
14. Zweiter Teil.
2
17
3, 3
4, 12, 3
5, 10, 3,3
5, 3, 9
16
2, 15
18 A. Tabellen des Kapitels Il.
2. (Fortse.) Bristol. Holt Secondary School. 14tägige Zen-
Alter etwa: 10 12 13 | 14
Prepa- | IIB
ratory
Klasse:
Fach
Termin:
28. X.
18. XI.
10. Chemie . . .
16. III.
15. VI.
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| |
| |
| |
14. X. ee
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18. XI.
9. XII mee
| 13
| 24 Xx
11. Nature Study 2. II. | SC
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15. V
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6. VII. h Se =
87 20
Die Einzelergebnisse. 19
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
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| | | | 2 | 3
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| | 3, 3 | 4, 2
| |
| |
20
A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forts.) Bristol. Holt Secondary School. G4 tagize Zen-
10 12 13 14
Prepa- II B ITA III C
ratory
Fach
Alter etwa:
Klasse;
12. Scripture...
13. Französisch . .
Termin:
14. X.
28. X.
9. XL.
23. II.
15. VI.
9. XL.
15 x |
100 |
85)
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88 x
85
86
13
18
28
13 x
103 |
84
Ss 15
85 a
28B x
94
78
207 x
98
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28
77 ' 68
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Së | 100 100
72 | 75 80
|
|
21
Die Einzelergebnisse.
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
15
104
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80
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| |
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gm
N
|
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m ©
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| a
N
24
22 A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forts.) Bristol. Holt Secondary School. 14tägige Zen-
Alter etwa: 10 12 13 14
Klasse: Prepa- II B ITA IN C
Fach ratory
Termin: 26 x | | |
25. V. 93
81 | |
14. Schreiben... . = | | |
15. VI. = | !
76 |
| 25 x x
15. III. | | 100 |
| 75
| 14
16. Dictation... 25. V. | | —
| | 25 |
15. VI. | Sem j
— |
eer |
16. Historische | |
Geographie 18. XI. |
14. X. | |
17. Zoologie e e œ i |
|
15. VI. |
25 Ä
14. X. =
28. X. | — |
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, 15
18. XI. | ieee
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27
9. XII. ge
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2. II. — | — |
| 100 =)
25 xl! 25 |
18. Englisch Vu 23. IL. a oe
| | 100 — |
23
Die Einzelergebnisse.
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
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15
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|
A. Tabellen des Kapitels II.
2. (Forts.) Bristol. Holt Secondary School.
l4tägige Zen
Fach
Alter etwa: 10
Prepa-
ratory
Klasse: II B
—
18. Englisch (Forts.)
E
20. Biologie
Termin:
15. III.
“
25
Die Einzelergebn isse.
suren des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII, Klassifikation.
A. Tabellen des Kapitels II.
26
oe 0 0 | 88
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Die Einzelergebnisse.
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A. Tabellen des Kapitels II.
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29
Die Einzelergebnisse.
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30 A. Tabellen des Kapitels II.
4. Liverpool. Elementary School. (Eine
Ausfall der Prüfungen 1911 XII., 1912 VI. und 1912 XL,
Alter etwa:
Klasse:
Fach
Termin:
H Lesen .....
| VI. 1912
9. Malen ..... XII. 1911
{
1. Gesamt-Leistung XI. 1912 | —
Be 80. 15
72 x 31 7 x | 74
2. Zeichnen . . . . | XII. 1911 98 a 103 Ce
Si — 20 —
XII. 1911 | |
|
3. Arithmetik | |
VI. 1912 |
69 | | |
4. Crayon Work . . | XII. 1911 — | |
ze |
| !
5. Geographie . . . [ XI. 1911 |
| | | 27
6. Geschichte. . . . | XII. 1911 | | Ä ! z=
= og | | 28
XII. 1911 = — | =
77 — | —
7. Writing. 2... Ä |
VI. 1912 | | |
30 70 xi | | =
XII. 1911 = 60 | | | =
= 70 | | | 85
|
|
|
|
Anmerkungen: zu 1. Die „Gesamtleistung“ entsteht durch Zusammenziehung der
zu 3. „Arithmetik‘“ schliefst Kopfrechnen ein.
zu 7. „Writing“ umschliefst Komposition, Stil und Schönschrift.
m ne ege
Die Einzelergebnisse. 31
grofse Schule in einem armen Stadtteil.)
gewertet nach Punkten. Klassifikation.
| Se
10 11 12 13 |
| — N Ni
IVB | IVA VB | VA VI ' VII
| |
|
|
| 6 10 = 12 3,2,4,3,3,11,2,28 2,4,16,11,11
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— | | 102 | ~ |
29 ni 10 | 11 | 2,4
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ì | |
| | | | !
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74 | 26 25 25| 3, 7, 4 4444
— 24 x'— | 73 Be |
— | 10 | — | — |
mm g | —| — 25 4, 5, 3 | 4,4, 4,7
26 69 xi |
So | | 100 | | D
—- | 31 | 3, 4, 4, 2 42
18 xx — | | |
| 96 | — i i
| 86 | 72: | 7 | 7,8
Zr Ze os |
71 | 90 _|- | 2, 2, 4 2, 11, 3, 11
Weg = | Ir 3
Su. ote | = 67
80 70 | 75 | 4, 4, 4
ds | | | |
69 | 2
Prüfungsresultate aller Fächer.
32 A. Tabellen des Kapitels II.
5. Liverpool. St. Margaret’s Higher Grade School.
ME NE: gewertet nach Punkten. Klassifikation.
i
Alter etwa: bs |
Fach Klasse: VII je 2 Qo Qua
1. Geschichte .
|
2. Science |
3. Arithmetik .
4. Englische Autoren.
| 2
5. ‘Algebra
6. Französische Gramımatik
4
7. Französische Autoren .
ll
8. Englische Literatur .
ll
6 Oberlin College, Ohio.
Aufnahme in die ®£X.-Society 1895—1910.
(In die #K.-Society werden diejenigen Studenten aufgenommen, die nach
dem Urteil der Lehrer das oberste Leistungsviertel der Klasse bilden.)
Alternativ.
1895—1900 | 1902 | 1903—1904 1905 | 1907 ' 1910 | Qo = Qu
a
37 24 36 27 30 26
I m n2 ` M 117 121 |
52 55 52 | 3 53 53) 4, 6, 2, 3, 3.6
z
Die Einzelergebnisse.
‘. Stockholm. Volksschule: Zensuren einer Gruppe im Jahre 1899
geborener Schüler und Schülerinnen während
1906 XII bis 1912 XII. (Koinstruktion-Unterricht nur durch Lehrerinnen
— nur bis zum 10. Lebensjahre einschliefslich.
Klassifikation (K).
1 | om
ihrer Schullaufbahn von
Alternativ (A) und
Alter: |
| Qo | , Qu
Fach Termin: | 1906 XII | 1907 VI. |
1. Fleils | |
2, Verstandesentwicklung | .
| 48 |
3. Betragen , A 52 |
100} 4 4
4. Geschichte |
5. Rechnen |
6. Naturkunde
7. Geographie |
8. Freihandzeichnen
9. Religion |
33 x | 37 x |
10. Gesang . . K 96 | 100 |
71 63 ! 2, 2 | 1,.2
11. Schönschreiben Ix — |
64 3
12. Aufsatz |
0 |
13. Lesen , A 148 |
52) 4 4
20 x | 28 x
14. Handarbeit .K 110 | 102 |
70° 70} 16. 8 66
Beiliett zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Teil.
34
7: (Forte.) Stockholm. Volksschule: Zensuren einer Gruppe im Jahre
von 1906 XII. bis 1912 XII. (Koinstruktion — Unterricht nur durch
A. Tabellen des Kapitels lI.
| 10
Alter: 8 81% 9 , Bis
Fach | |
Termin: | 1907 sn 1908 VI. 1908 XII. 1909 VI. | 1909 NII.
l
L Fleifs. ... . K =e
l 62
23 |
2. Verstandesentwicklung A 125 `,
52 |
48 48 49 49
3. Betragen A 52 52 1 I 31 |
100 100 | 100 100
4. Geschichte. . K |
|
| |
5. Rechnen K |
6. Naturkunde . K |
i
7. Geographie . K | !
| | |
8. Freihandzeichnen K | | Ä |
| | |
i | |
9. Religion | | Ä
! |
BG SEN Se ee ' 38 x x
10. Gesang . K 98 | 94 | — | 99 98
68 68 | 62 | 63 | 66
38 — — | — x
ll. Schönschreiben. K An | oa | Be 2.
— | 64 | 67 64 65
Ä | N
12. Aufsatz . K | | 108
| l 62
i 28
13. Lesen | 120 |
A 52 |
25 oT BR ae Be
14. Handarbeit K 105 © 101 > mı |
70 67 | 67 |
|
|
15
e
Die Einzelergebnisse.
1899 geborener Schüler und Schülerinnen während ihrer Schullaufbahn
Lehrerinnen — nur bis zum 10. Lebensjahre einschlielslich.)
121, 13
12
11%
11
Qu
Qo
1910 VLJ1910XI1.|1911 VI.1911 XII. 1912 VI.|1912 XII.
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N a | > N | =H |
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=| Pl rel
op op D at | a |
=H e M oa m
3*
36 A. Tabellen des Kapitels 11.
8. Heymans. Schulénquete. Beantwortung von Fragen nach Charaktereigen-
dischen Schulen. (Die Ergebnisse
Schulen: Realschulen und
Die den Lehrern vorgelegten Fragen: Alter etwa: Di SIE SE
Entschiedene Vorliebe für: |
l. E E E E A AO re ay d A |
|
2. GByDImBBRuE pn E ré be ersat EE AE A {100 100
50 | 50
50 50
3. Physik, Chemie... 4.% 3 27.00 n aetti E EES |
51 |
49
4. Mathematische Wissenschaften . ...... A | ‚59
| .92
| 49
5. Geschichte und Geographie ........ A | 60
| | 91
| 49
6. Naturgeschictte ..... Se ae ee A | 62
89
| 49
be Sprache und Literatur < s s-o att e a @ e A ‚30 33
| 117 tr LL
| 53 52
8. Geneigt zu stillem Widerstand . . . . 2.2... A |
|
|
9. Wohl einmal grausam Tieren gegenüber . . . . A [100 ‚100
50 ı 50 |
50 50
10. Geneigt, seine Mitschiiler dem Lehrer gegeniiber her- 71 | | 100
EE una Alaa ce, Seat OS. be oe ohh SS A 81 | 52
48 | 48
11. Mitglied eines Turnvereins .........-. A | 75 ' 100
76 | 51
49 | 49
12. Geneigt zum Handeltreiben (mit Büchern, Brief- 83 86 | 88
E, E E EE EE A 68 65 ' 64
49 49 48
ls. “Geneigt grolszutun 2... 0 w 2 a2 a ke, Së 80 | 78
| (Str 28
49 49
14, In seinem Verhalten in der Schule geneigt, bis zur 60
äulsersten Grenze zu gehen .......... A 91
Die Einzelergebnisse. 37
schaften der Schüler und Schülerinnen durch Lehrer und Lehrerinnen an 54 hollän-
sind z. T. in Nr. 47 veröffentlicht.) Alternativ (A) und Klassifikation (K).
| Real- | Gym-
Gymnasien schulen | nasien
16 m 18 | 19 |13—19/13—191 Qu
| o |
| | |
| ‘100 |
| | KZG |
| | 49 4 4
100 100 100 i |
50 | 650 50 |
50 50 50 | 3,5 4,4,2 | 3, 5, 4, 4, 2
73 | 69 | 90 |100 | |
78 83 62 | 52, |
49. 48 48) 48 8, 8, 7, 13, 16 | 8, 8, 7, 13, 16
76 3 |
84 84 79 | |
49 49 u | 2, 5, 2, 5 | SS
| 73 | | | |
78 : | |
49, | | 2, 3 | 2, 3
| |
| | |
! ! .
| | | 2 | 2
41 34 126 | | |
108 113 ' 119 | | |
51 3 | 55, 107,273 10, 7, 2, 7, 3
| | |
| 100 100 |
52 | 52 |
48 48, | 16, 16 . 16, 16
100 100 !100 !
50 | so 50 3, 4, 4, 2, 2 3,4, 4, 2, 2
Së 100 100 '
65 52 | 61 |
49 48 49 | 7, 32, 12, 18, 12 7, 32, 12, 18, 12
10:86 on jo | |
Sl | 65 ; 71 ; 52 | |
49 49 49 48 3, 16, 9, 13, 4,18 3,16, 9.13, 4,18
80 100 100 | |
71 au a. |
49 E | 49 8, 13, 18, 5, 15, 4! 8, 13, 18, 5, 15,4
100 | |
| | | 82 | |
! 48 | 5, 12, 16 5,12, 16
| i
| 100 |
| | 52 | |
| 48 4, 16 4, 16
38 A. Tabellen des Kapitels Il.
8. (Forts.) HEYMANS.
Schulenquéte.
Beantwortung
15.
20.
21
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
Schulen:
Alter etwa:
Die den Lehrern vorgelegten Fragen
Aus falscher Scham bei etwas Verkehrtem beharren A
. Verwenden unehrlicher Mittel zu eigenem Nutzen
(abschreiben u. dgl.). .
. Geneigt, sich von den anderen abzusondern (etwa
auf dem Spielplatz)
. Ungezogen (in der Schule oder auf der Strafse andere
belästigen)
. Während des Unterrichts oft nach der Uhr sehen . A
Eingebildet, (übertriebene Meinung vom eigenen
Wissen)
Sammler (Postmarken, Naturobjekte usw.) ... A
Rädelsführer (bei Störungen der Schulordnung) . A
Geneigt, vorsätzlich die Schulordnung zu stören . A
Plötzliches Nachlassen der Aufmerksamkeit gegen
Ende der Unterrichtsstunde .......... A
Pei Prüfungen ruhig (o) oder nervös (u) .... K
Nacheiner begangenen Dummheit:
SRICHENIEIE. A. 8 8 EE e Ai e A
EEN a ër Ae, aber be, Zë A A
THUELOB IN u a eraf dan RE ër ve A
Realschulen und
13 | 14
75
76
49
69
83
48
Vë
o0
42
63
88
49
62
90
48
| 15
Er
| 84
49
| 65
87
48
62
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73
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65
86
49
60
91
49
62
90
48
67
84
49
63
88
49
73
79
43
| 40
|
108
mm a An -—
Die Einzelergebnisse.
39
von Fragen nach Charaktereigenschaften von Schülern und Schülerinnen
Gymnasien
16 | 17 18 | 19
| ee
| 51
| 75 100
Real- | Gym-
schulen | nasien
13—19| 13—19
|
3, 16, 3, 2, 8, 18
|
|
|
{
|
|
4, 8, 5, 6,16 |
20, 3, 13, 3
6, 10, 8, 28, 4, `
4, 4, 4, 12 Ä
3, 5, 9, 2, 16
10, 6, 2
2, 7, 8
2, 12, 4, 4
3, 2
4, 2
9, 7, 9, 30
3, 33
3, 16, 3, 2, 8, 18
4, 8, 5, 6, 16
20, 3, 13, 3
6, 10, 8, 28, 4, 33
4, 4, 4, 12
3, 5, 9, 2, 16
10, 6, 2
4, 11, 8
2, 12, 4, 4
40 A. Tabellen des Kapitels II.
8. (Forte) Hrymans. Schulen Si uéte. Beantwortung von
Schulen: Realschulen und
Die den Lehrern vorgelegten Fragen Alter etwa: "Bu.
Verhalten bei einem Verweis von |
seiten des Lehrers:
29. räsonnieren A
30. Mech u 2 4.28 we ei ah GS A
|
31. gleichgültig A | 64 60 64
88 | 92 88
48 48 45
32. weinen A | 60 | 35
92 113
48 52
33. schmollen A |
34. Starrköpfig A | 71 |
80
49
35. In der Unsicherheit eine eigene Meinung erproben; =
fragen: Ist das nicht so? (o) Oder sich belehren | oo
lassen; fragen: Wie ist das? (u) . K | 42
36. Besser SE fur Mathematik (o) ‘oder fiir = :58 DS
Sprachen (u) . gh, eee eal se Rte we acd. ES — : 100 . 104
42 42 38
37. Für einzelne Fächer über das Schulpensum hinaus 78 |
arbeiten A 73 `
49
38. Gleichmälsig von Stimmung (o) oder abwechselnd 62 58
beiter und schwermütig (u) K — : 98
= 44
39. Witzig . A | 69 |
82 ` |
49,
40. Widerspenstig (geneigt, absichtlich den Vorschriften |
zuwider zu handeln). . . s. 222.22... A |
|
41. Einer der ersten (o) oder einer der letzten (u), die — |
nach Beendigung der Schule da» Lokal verlassen . R — |
42. Mehr empfindlich für einen derben Verweis (0) oder 60 | 54
für Ironie (u)
Die Einzelergebnisse. 41
Fragen nach Charaktereigenschaften von Schülern und Schülerinnen.
| Real- | Gym-| E oo
Gymnasien schulen | nasien |
16 | 17 | 18 | 19 |13—19|13—19| Qo | Qu
to] |]
1 vu o
ee |
158 70 ‘72 | |
| 93 | 84 | a |
A8 46 47 | 2,9, 4 12, 9, 4
5 1
| 87 |
| 49 2 2
57 66 | 63 | ,
94 | 87 | 90 | | | |
49° 47 47 | 3,4, 10, 2, 6, 2! 3, 4, 10. 2, 6, 2
38 20 21 | | ! |
111 | 127 | 126 | | | |
51! 53, 53 | | 2, 8, 3, 10,6 | 2, 8, 3, 10.6
Bee d | | | | | |
115 . | | |
52 | 3 | | 6 6
| |
ei
86 | | | |
| 49) | | 3,2 1 2
= | i Ä | !
a er | !
42° 36, | | 4, 4, 5
60 58 | |
106 | 106 | | | |
34 36 | Ä 5, 5, 8, 3 2, 4, 11, 18, 8
NOE,
| | 59 |
| 92 | | |
| | 49 | 6, 6 6,6
56 62 am | | | |
104 100 + 100 | | |
40, 38 4 | 6, 5, 2,7,2 | 2,7, 12,2
60 | | | |
91 | | | |
49 | | 3,2 | 5, 2
29 | | 100
120 | | 52
al | 48 3, 16 3, 16
ya“
fo
| 1
In | | o
56 | | |
100 | | | |
44 | | | 4,08 L2
43. Bei Schwierigkeiten mit einem Problem geneigt
4,2 A. Tabellen des Kapitels II.
(8. Torg ) Hermans. Schulenquéte. Beantwortung von
Realschulen und
14 15
Schulen:
Die den Lehrern vorgelegten Fragen:
4
l
o = a), sich darin zu verbeifsen, b) sich helfen zu
|
|
lassen, c) die Sache aufzugeben = u..... . K |
44. Zeichentalent . . . .. . ce ee a a A
45. Eher schweigsam (o) oder übermälsig wortreich (u) K 53
46. Mutig,ein Raufbold (o) oder furchtsaın von Natur (u) K | 58 B
alll
47. Bei der Zurechnung von Fehlern geneigt, es dabei 58 56 =
bewenden zu lassen (o) oder abzufeilschen (u). . RK — | 104 —
— 40 42
48. Geneigt, sich in Verhandlungen zwischen dem Lehrer
und anderen Schülern einzumischen. ...... A
49. Freimütig (o) oder schüchtern (u), etwa beim Vor- 44 —
lesen eigener Aufsätze. . . . . Sh ee, eee dr e ne | —
: a 44
50. Im Auftreten natiirlich (0) oder eine Rolle spielend(u) K | — l
42 |
51. Geneigt, entschieden (o) oder bedingungsweise (u) | |
zu sprechen K | |
. S emmmer, gem were |
52. Richtig zwischen Haupt- und Nebensachen unter- 54 40
scheiden (0) oder an unwesentlichen en — I
hängen bleiben (u) ....... eat. KK — —
53. Ehrlich etwas gestehen, um andere nicht in Un- A4 37
gelegenheiten zu bringen .........-.. A 104 107
52 56
54. Führer (0) oder eher geneigt, es zu machen wie die ee
anderen (u) .......- Gi
ae : ; e 53
55. Mitglied eines Vereins zur Pflege der Beredsamkeit A , 25
| 124
| 51
56. In bezug auf Kleidung etwas stutzerhaft (o) oder — = —
dafür gleichgültig (u) . bb — | — —
66 62 64
—— re a ana
Die Einzelergebnisse.
von Fragen nach Charaktereigenschaften von Schüler und Schülerinnen.
Qo
Gym-
!
schulen | nasien
13—19 13—19|
19
|
| 17
18
Gymnasien
16
'58
t
100
44
62
89
49
58
N
40;
7, 5, 2, 2
<H
H
19 a
a a
N © = of
ei ei ei en es
~H
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E: A
a o>
ow re od Gë
+ E ei E
© e)
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seh © ©
ce Ep Raa eg ate ae a D
a
= e
a 00 ~H o>
~H en Te) =~
| © Te) nm
© © CO
H pel
N == | ~H |
a FM net, em:
=H + ey
$ $ )
= |
pal
=
12, 12, 17, 7
44 A. Tubellen des Kapitels Il.
8. (Forts.) Hrymass. Schulenquéte. Beantwortung von
Schulen:
Alter etwa:
Realschulen und
15
Die den Lehrern vorgelegten Fragen:
57. Wirkt früher Gelerntes nach (in Bemerkungen oder | A0
Fragen bei späterer Behandlung eines verwandten 104
Gegenstandes (o) oder nicht (u) . . .. . wen... BR | 56
58. Bei seinen Mitschülern in Ansehen stehend (o) oder 44 46
von ihnen geneckt (U) . . 2.2... ..... K | — —
59. Im Verkehr mit Kindern anderen Geschlechts o = — 44
a) einfach und natiirlich, b) schiichtern, c) EE NEE
dieselben zu necken =u....... K 44 —
60. Merklich verstimmt, wenn der Lehrer ha zum 4l |
Narren hält: 2%. 20 28 wma 2 ee aa we A ' 108
| 51
Blu. Bachlustie. x... 2 Su a G2 eo ee eee ee A ‘44 ‚42
' 102 : 104
54 54
62. Höflich und freundlich (o) oder mürrisch und flegel- | —
Halt (u) ers ine a ae ee IR ! —
| | 56
63. Teicht in Begeisterung (fiir historische oder lebende 64 35 129
Personen, Natur, Kunst) ........... A 87 114 ; 119
49 51 52
64. Dauernd verstimmt (etwa nach einer vermeintlich |
unverdienten Behandlung) ........... A }
65. Geneigt, den Mitschiilern bei Schulaufgaben zu A4 138
helfen (vorsagen usw.) . 2. 2» 2 2.2.2000... A | 104 : 108
52 ot
66. Eine Erklärung leicht (o) oder schwer (u) begreifen K = 42
44 —
67. Mit häuslichen Arbeiten bald (o) oder spät (u) fertig K —
58
68. Geschickt (o) oder ungeschickt (u) (z. B. beim |44
Zeichnen, praktischen Ubungen) ........ K GC es
69. Musikalisch 2.5 25.¢ 44204424 2244 A A0
| 109
| 51
70. Bei Probearbeiten früh (0) oder spät (u) fertig... K itt
71. Ehrgeiz, (Wert auf gute Noten legen, ungefragt ant- A7
REESEN, Rei E e at, AE ue, Cee ee ee Bowe ve de A | 103
Die Einzelergebnisse.
von Fragen nach Charaktereigenschaften von Schülern und Schülerinnen.
107
Real-
Gym- |
schulen | nasien
13—19 13—19
4, 7,
to
Qo
10, 3, 3
8, 5
e, E Aë
Gi
EE are ee i ee i en en re me mm EE EE mn nn - ote
Co
4,
bo
to
Qu
7, 10, 3, 3
5, 8, 5
to
46 A. Tabellen des Kapitels Il.
8. oer: ) Hrymans. Schulenquéte. Beantwortung von
Realschulen und
13 | 14 | 15
Schulen:
Die den Lehrern vorgelegten Fragen: Alter etwa:
72. Auf Reinlichkeit und Ordnung haltend (o) oder un- 44
ordentlich (uU) . 2. s. 1. 2 2 2 2 ee we we we ww ew K 100
56
73. Übermälsig empfindlich für Kälte (fürchten vor
Zugluft u. dgl.) = #% 32.0.0 8 IR E e A 119 |
51
74. Hochmiitig (Wertlegen auf Klassenunterschiede usw.) 44
(oi oder nicht (U) ...........2..-. K =. H —
Lieblingsbeschaftigung aufserhalb
der Schule: |
75. SPORE oe eke Sd e ee E aa e e E 62
88 91
47, 47
76. Spazierengehen . . . A
|
77 lee: d AN ` de Lt ée ed ee ee es ew oe ` EE 30
109 : 118
5l 52
78. TICS OW, EENS, 40
107
53
79. o = a) regelmäfsig eifrig bei der Arbeit, b) blofs SH
zeitweise eifrig, e) faul = u... an ar ee ee AS —
| 56
80. Einen Witz sofort begreifen (o) oder nicht (u) . . K 42
a
, oo
Sl. Stets wach (stets mit ganzer Scele bei der gegen- Ad
wiirtigen Beschäftigung) (o) oder zerstreut (oft mit — | 98
Gedanken abwesend) (U) ..... K 58 38
82. Ängstlich und bedenklich (etwa vor den. enee 42
(o) oder leichtmütig (u) . . s. aa >... K — —
83. Impulsiv (0) oder bedachtsam (u) ....... ~K 42
84. Herzlich (0) oder kühl (u). . . bh 42
Die Einzelergebnisse.
CS
g
D
5
H In
.-
~
D
on
E
a
©
> o
oO
= CS
os
=
=
E
—
Mec eh a
sll. 2
TM a)
a
gio § e
> ze e
e
514387
Siss |
Së.
sales &
© mM
u EN Rz
S |
D
Ep =)
CS —
ka
S Ce
id
S
= oO
a =
Q
3 —
e ~ |
= el"
SI © |
|
P Re)
el Biz
©
> OH
Lé
e A A
10, 10, 9,10,2 4,2
|
|
` 10, 10, 9, 10, 2, 4,2
106
90
40
19
9, 5, 5, 4
54
5 N
19
JS A. Tabellen des Kapitels JI
Schulen:
Die den Lehrern vorgelegten Fragen: Alter etwa:
85. Demonstrativ (0) oder verschlossen (u) . . ... K
86. o = a) wahrheitsliebend, b) sagen, was einem eben
vor den Mund kommt, c) vorsätzlich lügen = u . K
87. In Antworten schnell (0) oder langsam (u) ... K
88. An Entwicklung dem Alter voraus (o) oder dahinter
BUTUCR I) ag e eg e een JR
ImAufsatz sich auszeichnend durch:
89. Logische Einteilung . A
90. Phäntasie 32.66 .¢ « 2 8 3.8 wen A
91. Korrekten Satzbau . . . 2 2 2 2 2 2.2... Ä
92. Gelerntes behalten genau und geordnet (o) oder
ungenau und verwirrt (u) ........... K
93. Auswendig Jernen (Sprachregeln, Gedichte) leicht
(ol oder schwer (u) . ............. XK
94. Leicht verletzt . . A
95. Der Umgebung gegenüber mild (o) oder scharf und
E ae E de woe ve e a OS
96. Geneigt, auswendig zu lernen (o) oder darauf
haltend, die Sachen zu begreifen (u) . bk
97. Pünktlich (zeitig in der Schule, Einliefern der Ar-
beiten zur vorgeschriebenen Zeit) (o) oder nicht (oft
etwas vergessen, nachlässige Fehler machen (u) .
98. Heiter und munter (o) oder schwermütig (u) . . K
8. (Forts.) Hryıvans. Schulenquäte. Beantwortung von
Realschulen und
13 | 14 | 15
42
40
` 100
| 60
58
|
80 |
7I
49
33
116
| 51
36 36
113 113
51 5l
Be 40
= 104
60 56
= | 40
as nee
|
58! —
42 25
— 116
| | 56
44
=
ao '40
u 100
60 60
Die Einzelergebnisse. 49
von Fragen nach Charaktereigenschaften von Schüler und Schülerinnen.
Real- | Gym»
Gymnasien schulen | nasien
16 | 17 | 18 | 19 | 13—19| 13—19 Qo Q
42
98
60 5, 2 5
44 42
— — 7, 2,2 8
44 36
— 106
— 58 2, 8 3
56 64 5, 2, 2
64 25
88 122
48 53 5, 7, 2 5, 7, 2
35
113
| 5 4, 4 4, 4
38 | 19
111 125
61 56 2, 3, 3, 5 2, 3, 3, 5
68 op
104 114
38 66 | 7,3, 7 4, 3, 6, 3
42 42 34 | |
— 98 98
— 60 68 7, 2, 2, 2 3, 3, 4
31 |
116 |
53 | 12 12
40 |
— 4, 37, 3 3
38 68 85
102 98
60 34 2, 6, 4 5, 2
62 72 7 4, 8, 4, 7
42 40 | 30
— — ! 106
— —| 64 5, 4, 4, 3 2
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Teil. 4
50 A. Tabellen des Kapitels II.
8. (Forts.) Heymans. Schulenquäte. Beantwortung von
Schulen: Realschulen und
Die den Lehrern vorgelegten Fragen: Alter etwa:
99. o = a) durchgängig aufmerksam, b) leicht abge-
lenkt, c) geneigt, während der Unterrichtszeit zu
spielen, d) oft mit anderen Dingen beschäftigt
(schwatzen, zeichnen ins Heft oder auf den Tisch
Besonders gewandt (0) oder beson-
dere Schwierigkeiten (u) im:
Ee on,
100. Auflösen mathematischer Probleme .... K 54
101. Übersetzen . : 2: 2 m m rn rn K
102. Thema: gea woo a a Se eS K
103. Aufsatz ......... Vert Bate ea. TS
Die Einzelergebnisse. | 51
von Fragen nach Charaktereigenschaften von Sehülern und Schülerinnen.
Real- | Gym-
Gymnasien schulen| nasien
16 17 18 | 19 13—19 | 13—19 Qo Qu
56 68
100 —
44 — 2, 2, 3 2
54 3
= 44 =
— 102 —
64 54 62: 6 2, 3, 11
26
| 106
68 4 4
4*
53
B.
Zusammenstellung der Vm, Vf und Vz.
Zu den in Teil II A durch x bezeichneten Ergebnissen wurde
als Malsstab für die Intervariation der m und f Vm und Vf be-
rechnet (über die Methode der Berechnung vgl. Teil I $ 34 S. 98ff.).
Bei den durch x x bezeichneten Ergebnissen wurde aulser-
dem als Malsstab für die Intervariation einer aus gleich vielen m
und f kombinierten Gruppe Vz berechnet (vgl. Teil I $ 34, S. 102).
Diese 440 Vm und Vf und 42 Vz wurden tabellarisch zu-
sammengestellt. Die hinzugefügten Nummern verweisen 1. auf
die Nummer des Literaturverzeichnisses (Teil DI J, S. 120ff.) bzw.
der Tabellen des Kapitels II (Teil II A, S. 6f.) und 2. auf die
Nummer der Zeile innerhalb dieser Tabelle.
Es sind hier nur diejenigen Ergebnisse abgedruckt, die auf die
Materialien des $ 7 Bezug haben; die auf die Materialien des $ 8
bezüglichen werden auf Wunsch gleichfalls vom Archiv des In-
stituts für angewandte Psychologie zur Verfügung gestellt.
54
Nummer des Ergebnisses
Vm
vf
Vz
Nummer des Ergebnisses| 1, 14 2, 1
gu) rn, mmm,
0,00 GE
Vm
VE
Vz
Nummer des Ergebnisses
Vm
VE
Vz
Nummer des Ergebnisses
Vm
Vf
Vz
Nummer des Ergebnisses
Vm
vf
Vz
Nummer des Ergebnisses
Vm
Vf
Vz
Nummer des Ergebnisses| 4, 6
0,17
Vm
Vf
Vz
Nummer des Ergebnisses
Vm
VE
Vz
B. Zusammenstellung der Vm, Vf und Vz.
1, 2
0,14
0,17
1, 6
ee
0,00; 0,13) 0,13| 0,13
0,17| 0,13} 0,13) 0,17
1, 7
LOE NED, PETE,
0,25; 0,13] 0,17
0,33| 0,17] 0,13
2, 2
0,30 | 0,29
0,25| 0,44
0,33
0,20
0,30| 0,08
0,17, 0,25
0,00
0,25
0,20
SC
2, 5
(TI NATED,
0,29 | 0,20
0,25| 0,17
— | —
2, 6
0,33 | 0,30
0,25 | 0,25
— | eee
2, 7
0,33 | 0,33
0,17| 0,25
0,17
0,20
0,11
0,09
2, 9
0,43 | 0,50
0,33) 0,25
0,50; —
2, il
0,50| 0,25
0,25) 0,20
— | 0,25
2, 12
0,30
0,08
0,43
0,25
0,27
0,17
0,17
0,25
0,21
2, 18
0,30; 0,10
0,07; 0,14
— | ==,
2, 19
0,20| 0,10 0,25 | 0,38
0,171 0,10 | 0,14
— | =e | «== i[| j|j ==
0,20
0,13
0,22
0,17
0,25
3, 12
ES EE,
0,21| 0,17
0,14| 0,21
ee | ===
3, 13 3, 14
zu un, ut un,
0,257| 0,28
0,261; 0,17
3, 15
p
0,25' 0,13
0,16, 0,07
0,29; —
3, 17
Lien, mme
0,20| 0,50
0,10| 0,10
4, 7
0,17
0,06
0,14
4,8 5,6 5,7 5,8
zum un, u un, mmm eem, mmm
0,83 | 0,13| 0,20| 0,14
0,25| 0,07| 0,10| 0,09
0,17
0,13
0,03
0,06
0,08
7, 10
0,00
0,13
7, 11
un) nn,
0,00
0,13
7, 12
[m eme,
0,00; 0,13
0,13); 0,17
0,00
0,00
0,00
0,13
—
0,25
0,13
0,25
0,13
B. Zusammenstellung der Vm, Vf und Vz. 55
1, 8 1, 10 1, 11 4, 12 1, 13 1, 14
zul nun u Nem cm, mmm gg
0,13 | 0,00 | 0,13 | 0,14 | 0,17 | 0,13 | 0,13] 0,13] 0,38| 0,25] 0,13
| = 0,13 | 0,17 | 0,17 | 0,17 | 0,17) 0,13) 0,40; 0,13) 0,17
2, 3 2, 4
0,38 | 0,56 | 0,09 | 0,25 | 0,50 | 0,33 | 0,20, 0,25| 0,08| 0,07| 0,08
0,27 | 1,50 | 0,67 | 0,60 | 0,17; 0,10 | 0,17! 0,50; 0,20) 0,00} 0,20
SA e deen H een DEE
2, 8 :
0,50 | 0,00 | 0,50 | 0,17 | 0,09 | 0,21 | 0,08; 0,13] 0,13) 0,25
0,17 | 0,16 | 0,50 | 0,25 | 0,25 | 0,25 | 0,07! 0,21) 0,20; 0,10 |
2, 13 2, 14 2, 15
EN, u un
0,50 | 0,25 | 0,25 | 0,30 | 0,20 | 0,33 | 0,25| 0,20| 0,30| 0,17
0,25 | 0,25 | 0,13 | 0,25 | 0,23 | 0,30 | 0,10| 0,09| 0,15| 0,14
— — — | — — 0,38 | — | — | — | 0,85
2, 20 2, 21 3, 1 3, 2 3, 10
u un | ENEE I
0,20 | 0,021] 0,04 | 0,07 0,05 0,03 | 0,20) 0,14| 0,26| 0,32
0,10 | 0,015| 0,01 0,02 0,01 0,01 | 0,32; 0,29| 0,13| 0,21
— | 0,021| 0,06 | — — — zl zl
4, 1 4, 2 4, 3 4, 5
“0,10 0,11 | 0,27 | 0,56| 0,56 | 0,29 | 0,15| 0,10! 0,25 |0,36| 0,30| 0,10
0,24 | 0,15 | 0,30; œ ! 1,00 | 0,38 | 0,25) 0,40) 0,60 |0,27) 0,23] 0,13
er, Neel Ae EC e SE eg
7, 5 7, 6 7, 7 7, 8 7, 10
— i A
0,17 | 0,25 | 0,13 | 0,33 | 0,17 | 0,17 | 0,17| 0,13) 0,13] 0,13] 0,13
0,13 | 0,13 | 0,00 | 0,13 | 0,13 | 0,13 = 0,00; 0,00; 0,00! 0,00
Sete ote ee elo ie le
7» 13 7 14
0,17 | 0,17 | 0,00 | 0,00 ! 0,00 | 0,13 |! 0,13] 0,13!
0,17 | 0,17 0,13 | 0,17 | 0,17 | 0,17 | 0,17 E
56
C. Tabellen zu Kapitel III.
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Vorbemerkung.
Die Tabellen, welche den Text des I. Teiles (Kapitel III,
$$ 10—24) näher illustrieren sollen, enthalten die zahlenmälsigen
Resultate des Kapitels II noch einmal, aber in verkürzter Form
und in groben Durchschnittszahlen. Sie sollen nur eine ganz un-
gefähre Übersicht über die Grölse etwaiger Geschlechtsunter-
schiede ermöglichen; für eingehendere Untersuchungen muls auf
Kapitel II verwiesen werden.
Die Resultate werden hier in der Form Do = Pom — Pum
und Du = Puf — Pum mitgeteilt. Die Werte Do und Du zeigen
also an, um wieviel Personen die männlichen Vpp. unter den 100
Personen des obersten Viertels stärker bzw. unter den 100 Personen
des untersten Viertels schwächer vertreten sind als die weiblichen
Vpp. Positives Vorzeichen deutet also stets auf Überlegenheit des
männlichen, negatives Vorzeichen auf Überlegenheit des weiblichen
Geschlechts.
Wenn sich z. B. bei einer Ästhesiometerschwellen-Bestimmung
Do = — 92, Du = — 32 ergibt, so bedeutet dies, dafs sich unter
den Personen mit relativ niedrigen Schwellen (oberstes Leistungs-
viertel) 4%, männliche und 96% weibliche (4 — 96 = — 92) be-
fanden; und unter den Personen mit relativ hohen Schwellen
(unterstes Leistungsviertel) 66% männliche und 34% weibliche
(34 — 66 = — 32).
Die den Verfassernamen hinzugefügten Nummern verweisen
auf das Literaturverzeichnis (Teil II J, S. 120ff.) bzw. auf die in
Kapitel II enthaltene Zusammenstellung der Einzelresultate.
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 57
Untersucher | Vpp Do | Du
§ 10. Empfindungen.
1, Raumsinn der Haut.
Asthesiometer-Schwelle.
| | 9jahrig | — 92! — 32
Burt-Moore 20 | rechter Unterarm { a > = — 58| — 28
i 10—14 , — 32
A. STERN 97 | rechter Zeigefinger { Erwachsene: 98
GALTON 35 | Nacken — 82)+ 0
T 105 { Arm. Querrichtung Studenten |— 38
„ Längsrichtung $ — 54| — 70
10jähr.intell. |-+ 68| + 70
ScHUYTEN 88/89 | Jochbein ¢ 3. Versuch „ unintell.| — 62) — 78
5. Versuch = — 54
3. Gewichtsinn unter normalen und unter täuschenden
Bedingungen.
: 8jährig |+ 100) + 38
Biocu-PRg1838 10 | Ordnen von Gewichten { 10 , + 22| + 30
THOMPSON 105 | Sukzessiv- Vergleich Studenten | + 38
Vergl. v. Gew. versch. Materials S -+ 50
SEASHORE 91 nn „ Gröfse ‘ + 86.
= » Materials = + 64! + 76
WOLFE us{ , . Grätse , + 30] 418
4. Geschmacksinn.
bitter Studenten | — 84
NEES 105 Absolute Schwelle für d SE y | — 54
Erkennungs-Schwelle f. „ See — 66 — 52
5. Gehörsinn.
THOMPSON 105 | untere Hörgrenze Studenten |-+-38
SEASHORB 91 |UE £. Tonhöhen (NR. 435 Schw.) a — 52
Burt-Moore 20 e (, 320 , ) Yjährig — 40) — 22
HeyYnans- WIERSMA 48 | musikalisches Gehör — 16
HEYMANS 8 | musikalische Begabung 15—18jährig | — 20| — 6
Bielefeld Volksschule 1 Schulleistung in Gesang 7-14 , — 52| — 55
BristoL, Merr Sec. S. 3 ‘4 „ Musik 1% , — 79
Mac DONALD 61 = u > 6—17 , — 22 — 34
Stockholm Volkssch. 7 = „ Gesang 7-10 „ — E — 32
HEYMANS 8 Musik als Lieblingsbesch. | 13—18 „ —21 — 3
Besuch v. Opern 5 Studenten — 54
THOMPSON 105 , „Konzerten , , op
58 C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher | Vpp Do | Du
§ 10. 6. Gesichtsinn.
a) Helligkeit.
| 10—13 jahri — 10
SPEARMAN 95 | UE für Grau-Nuancen i Stu ne | + 3 + g i
b) Farben.
Jones 51 | Sättigungsschwelle für Blau 4—l4jahrig |-+ 44
Entfernungsschwelle für die
THOMPSON 105 Erkennung Studenten +4
Güte des Farbensinnes e — 38! — 70
HENMON 44 | Herstellen e. Rot-Gelb-Reihe = | — 34
Paarweises Zuordnen gleicher |
` : Farben 6jährig | — 8 — 20
EES Verstindnis der Farbennamen 6 , — 16 — 10
Kenntnis der Farbennamen 6 „ —2) — 16
BOBERTAG 11 | e be e 8 „ — 22: — 20
f ” ” j (1—10 , — 18 — 18
WARBURG 110 \ f j : 11-12 | S 14 ou
Rot 4—15jahrig | + 22. + 6
SCHUYTEN 84 | Beliebtheitdes {Grün S —40;— 4
Weils Zu: — 6i — 3
Wirkung:
Anre- Beru-
gend higend
E | Studenten | -+ 12: —68
WELLS 111 re ds Karmoisinrot u | + 36
g Blaugrün e — 64: + 60
c) Optischer Raumsinn (Augenmafs) unter normalen und
täuschenden Bedingungen.
Do Du
| Reproduktion e. Linie v. 10 cm Qjahrig |+24 + 44
Burt-Moore 20 | Zweiteilung einer Linie 13 „ +18 + 26
Dreiteilung , a es ifs +16 + 22
Vgl. von Punkt- u. Strichdist. 14 „ | + 50
Widerstand g. d. Ringtäusch. 6 „ + 50 + 74
Quadrat 6 + 22. -+ 60
D n n n n
GIERING 37 í 14 4 36! 4.70
Vergleich der Entfernung
zweier Stäbe vom Auge gi og — 14
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 59
Untersucher | Vpp Do | Du
8 10. 6c (Fortsetzung).
| Uber- |Unter-
Wahrnehmungsschätzung | schätzung
einer Strecke von 3,8 m Studenten + 52
n n » 3,88 , n +52 +64 — 56
Crarpırkoe 22)| Erinnerungssch. e. Str. v. 5,5 m e +- 66 | +- 20
Wahrnehmungssch. e. Str. v.
5,75 m +-100 | + 46 |
Erinnerungssch. e. Str. v. 85 m p 4-42 |-+- 14] + 52;
7. Zeitsinn.
|, zu | zu
| langs.'schnell
2,8° sim. Studenten |-+-36 | + 88, — 38
| VU a h 2” 46
SEASHORE 91 ‘Linge des zu re- SE SR í +50 T 78
RE 10“ - j i + 58 | + 50| — 58
ntervalls 20“ i n -+- 58 | — 38
pi n n 99 + 38
u i +22 |+24|— 4j — 28
Länge des zu 3g“ ! +16/+22| +14 — 36
schätzenden 798 14
— + 20| +16; — 28
Ne Intervalle 108” . + 2/+16|-+ 22] — 28
Unsan 114 . fdar.ger.Aufmksk. ` + 26 | + 28 | + 18; — 32
Beschäftig. Zuhören a.Vorles. a -+ 18 | + 20) + 12) — 34
=... ohne Instruktion s +10j+26 + 4 — 34
N Diktatschreiben j I+ 4|+16 — 20
$ 11. Bewegung.
1. Schnelligkeit einfacher Bewegungen und Verrichtungen
(„psychisches Tempo“).
Zahl der in
SzasHorg 91 |... ausgef. Klopfbew. | Beginn Studenten — 58
| n. 45" e — 46
GIESE 38 | Cy Š 3 Erwachsene + 88
THompsonl06 | 20% E a Studenten +- 84 | + 54
Burrt-
Moore 20 | 15" e . Yjährig +16/ +24
SZYMANSKI Schnelligkeit des
104 Gehense. Str.v.10m | 13—16 jährig | + 56
Hermans 8 » Verlassens d. Schule 14 jährig +16
YERKES- Zahl der in 30‘ gezählten
Ussan 114 Buchstaben Studenten |+12/ +20
Boir | Zählens 13 jihrig — 42 | — 24
Schnelligkeit d. < laut. Lesens = — 58 | — 28
Moore 50 leis. , , — 36| — 20
: Zahl der in 1‘ abgeschriebenen
EE EC oo ern 10—15jahrig |— 8|— 4
c Schnelligkeit des Austeilens
ALFEE 21
von Karten -Studenten | i — 24
60 C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher | Vpp Do | Du
§ 11. 2. Reaktionszeit.
c) Wahl-Reaktion.
Schnelligkeit des Sortierens von Spielkarten.
Brown 18 | 4 Haufen nach Farbe Erwachsene |-+ 64
Trompsonl05 | „ a j S Studenten | — 54| — 38
Burr- i
Moors 20 | 5 = s = 13 jährig — 52) — 26
x S „ Zahl der Figuren Studenten |— 68! — 68
(sures et | 26 „ „ Buchstaben > — 38) — 68
3. Präzision der Bewegungen und Bewegungs-Koordination.
YOoAKUM- l
CaLree 115 | Schnelligkeit des Spiegelzeichnens Studenten |— 76! — 48
Bort- |
Moore 20 5 = $ 9 jährig +24 +a
SEYMANSKI Genauigkeit des Geradeausgehens mit
104 geschlossenen Augen 13—16 jährig i+ 46
HERDER- |
scHze 46 | Nachahmen e. vorgemachten Bewegung 6 jährig + 6-+100
Genauigkeit des Inne- rechte Hand Studenten’ | + 38 + 38
haltens der Mitte linke Hand 5 + 46| + 46
Tnourson106 zwischen zwei konver- | Richtung v. Vp weg ‘ -+ 38) + 38
genten Schenkeln e 8. „ zu n +46 + 54
Schwimmenkönnen 12—18jahrig | + 73} + 75
Norris 7241 Baseballspielen „ = + 56! + 98
Rudern e e + 41| + 58
Ivaxorr 52 | Begabung für Schönschreiben Kinder +8 — 8
GESELL 36 { Güte der Handschrift 6—14jährig | — 25; — 45
SN, "o ý 14—18 , — " — 63
Mac
Donwan 61 | Schulleistung im Schreiben 6-17 , |—1%)—28
Stockholm |
Volkssch.? e > 5 7—10'% — 32| — 28
Bielefeld „1 e h b 9—14 — 56; — 20
Bristol Holt |
Sec. Sch. 2 e S = 10 , — 48 — 57
Ivanorr 52 | Begabung für Handfertigkeit Kinder —12 + 8
Mac |
Donatp 61 a e S — 20 — 21
Stockholm |
Volkssch.? | Schulleistung in Handarbeit 1—12 jährig |— 48. — 36
MILES 63 e e Handfertigkeit 14 „ — 86 — 82
Heymans 8 | Geschicklichkeit (im Zeichnen usw.) 15 — 12
HEYMANS- |
Wiersma 48 | Geschicklichkeit j — 13 — 26
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
61
Untersucher |
Mongog
Sr. Lovis
H. STERN
WIEDERKEHR
Vpp Do
8 11. 4 Gefühlsbetonung von Bewegungen.
8-16jährig | 18; A
65 | Künftiger Beruf: Handwerker
80 | Immatrik f. Manual Training Course
98
112
HzyYmans- WIERSMA
HEyYMANS
SHELDON
MAYER
MoxNRog
SCHEIPLER
MONROE
Norris
ScHEIFLER
THOMPSON
SCHEIFLER
Monnos
Norris
THOMPSON
HEYMANS
ScHEIFLER
Norris
MONROR
ScHEIFLER
MONROE
SCHEIFLER
s}
93
82
e
n
62 | Motiv der
Lieblingsfach: Schreiben
e Turnen
” n
Sportliebhaberei
Vorliebe für Gymnastik
Mitglied eines Turnvereins
„ Athletic Clubs
er lebhaft und munter ist
Rasenballspiele
Basteln
Wintersport
Pferd, Wagen, Auto
Treffspiele
Wassersport
Bauen
mit Murmeln
im Sommer: Spiele im Freien
Turnspiele
Spiele im Freien
Fangen
mit Fahrzeugen
im Winter: Schlittschuhlaufen
Sport im Freien
Sport
Spazierengehen
Wandern
im Sommer: Wandern
Kroquet
Diabolo
Htpfspiel
Ball
Kreisspiele
Handarbeitsspiele
Berufswahl: Gelegenheit
zum Fahren, Schiefsen, Fliegen
Heru.-Wıersua 48 | Auch in Mufsestunden meist besch.
65 | Motiv der Wahl eines Gespielen: weil
10—12
12—18
18 „
14 „
13—14 ,
9—18 ,
13—18 ,
13—19 ,
8—16 ,
9—16 ,
1—16 ,
Lieblingsspiel bzw. Lieblingsbeschäftigung.
8—14 juhrig
9—14
8
9—13
7—14
9—12
71—16
333 333 «3 «3 «8
8—13
Studenten
9—14 jahrig
(1—16 „
12-18 ,
Studenten
13—19 jährig
T
Eech
o>
3333 3 3 a
Du
+35
+14
—18
— 8
+ 36| -+ 23
+100 + 0
tet 2
+10
— 26
+77) +19
+100
— 12] — 25
—60|— 2
4-100} + 12
+100) + 3
+100 + 8
+100 + 2
00 + 2
0
2
62 C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher Vpp | Do | Du
§ 12. Vorstellungen.
l- Das Lernen und das Reproduzieren von Erlerntem.
HEYMANS- ‘(| Güte des Gedächtnisses | + 10} 4- 12!
Wiersma 48\| Genauigkeit des Behaltens v. Geles. + 15) + 16
HEYMANS 8 | Leichtigkeit d. Auswendiglernens | 13—19 jährig | — 21| — 24
Burt-Moore 20 | Repr. v. 1 mal gel. Wort und Silben ee — 58) —
Myers 68 » E o vorgespr. Reihe v. W.| 17—20 — 47| — 64
Zahl der richtig repr. |
Repr. e. dikt.} Worte 8—25 — 40 — 33
M 67 n
ro Reihe v.Wort. |Reihenfolge der repr. |
Worte a e — 33) — 50
Tuomrson 105 | Zahl d. z. Erlern.erforderl. Wiederh.! Studenten |— 38 |
11 jähr. unintell.| — 54 — 68
Scuvuyten 88/89 Repr. von Zahlenreihen In „ intell. +56 + 8
| 10 „ unintell.| -+ 20) + 40
2. Erinnerung und Aussage. FET
„Wieviel Fenster h. Vestibül d. Un.?“| Studenten | + 54| + 12 £ §
CLAPARÈDE 22° |„Wie hoch sind d. Säulen d. Vestib.?“ a +66-+20 5 | 5
„Wie weit v. Un. b. Rue de Candolle?“ e +42) +14 +52
Zeichnen o. Ausschn. v. Dollarsch.usw. + 401 +6 —28j+19
MEYERS 67; | Aussuchen von Kreisen, die den D'Zäite | — 40] —6
| Geldmtinzen an Gréfse gleichen a ii + 80 + 6 (|—13)-+-34
Erwachsene |+38| +4
Wohin zeigen die Spitzen der Apfel-
”
E S kerne?“ Sicherheit: Studenten | — 68
KERSCHEN- Zeichnung eines Trambahnwagens. 6—10jahrig |-+ 48) + 20
STEINER 654 14 Einzelheiten 11—13 „ + 34| + 14
e 14 Bericht über ein 3—9 Tage { Umfang | 12—49 , — 70
vorher gesehenes Bild Treue e u; — 68
S 83 Wiedergabe einer 1 Tag Umfang| Studenten |— 50
vorher vorgel. Gesch. \ Treue 6 — 50
Buiocu-Preissl10 |Wiedergabe e erzählten Geschichte 8jährig + 48] + 56
Fragen nach dem Inhalt einer 3 Tage o
ZS E? vorher vorgelesenen Geschichte SÉ y TA
i Zahl der O. (10—15 , — 26
Fragen nach einem |
SE ëmge: mes Andere Buchst. „ e — 68| — 6
MYERS 67 8° VOR Farbe d. Randes ; — 42| — 34
her veranstalteten í |
Experiment VE TER
P Hand des V1 e S + 14) + 30
Mc 12 „Was für Wetter war heut ee Studenten — 48| — 28
vor 8 Tagen?“ Sicherh. d —100 |
Potwin 76 |Erste Erinnerung: Gleichgült. Erleb. ï — 70| — 56
an- | unan-|
‘ è e ` genehm
Conzcrove 25 „Erinnern Sie sich sich besser an 15—20jahrig | — 56 = ai
angen. oder unangen. Erlebnisse?“
Systematische Übessicht über die Einzelergebnisse. 63
Untersucher | Vpp Do Du
§ 12. 3. Assoziation.
a) Freie Assoziation. „Einfälle.“
Friend-Enemy| 13jährig | + 50] +12
: Friend-Girl = — 100| — 8
Bus Moos ` 20 | Häufigkeit der | Kiss-Girl ; — 568| —50
0n: | Lie-Truth + 24| +16
Lie-Down e — 26| — 8
7 Definitions-Typus Erwachsene | +100| + 3
Forst et Typus a — 100| — 3
Vorliebe für obscöne Witze j + 26; +16
Bewandertin Verwandschaftsverh. $ — 23| — 9
Heymans- Wiersma 48
Sachen | Personen
Bevorzugtes Gesprichsthema g + 383; —36
b. Gebundene Assoziation.
o Du
BoNnsER 18 |Gegenteiltest 10—14 jährig| — 29 | — 19
e 18 ‘5 —26 | —18
Poar Moos 20{ Analogietest 13 , |—18 | —14
BonsBR 13 |Substitutionstest 1—16 „ +30 | +25
Burt-Moore 20 |Kombinationstest 13 i +24 | +44
4. Phantasie.
HEyYMAnNs 8 |In Aufsätzen: Phantasie 15—17 jährig| — 32| — 3
Hryuans-Wımesua 48 |Erzählen selbsterfundener Ge-
schichten — 48) — 6
Lxzarorp-TarLop 57 |Vorhandensein einer ,continued| Studenten
story“ — 54| — 24
Griese 39 |Literarische Prod. von Märchen | 9-17 jährig| —10| — 7
MAYER 62 |Lieblingslektüre: Märchen 9—16 , — 42) —10
Norris 72 5 5 12—18 , — 42| — 14
Märchen
H. STERN 98 2 Erzählungen Im a — 16) —24
Sagen
v. d. TORREN 106 |Verschiedenheit der Antworten 4-12 „ — 68}; —60
C. Tabellen zu Kapitel III.
64
§ 12. 5. Kenntnisse.
[M bedeutet die Zahl der Fragen, die häufiger von Knaben richtig beantwortet wurden.
F ” ” ” n ” ” ” ” Mädchen n ” ” ]
Unter- =) ER HERD ES _ SCHWABE- OT. EDN S
Thema der sucher: Harn 42 43 = ix BE) RICHTER 77 Banruoro- 63 D| Norris 72 im
A
Frage Vpp: | 4—8jahr. 6jähr. 6 jähr. 6jähr. 6jähr. | 8—17jahr. | 12—18jahr. | 29270
M FM FM FIM F IM F M F IM FIM F
Münzen a
„Was kostet...?“ b
Pflanzen C
Physik d 6 1 2 8 2
Geogr. und Strafsen e 16 2 2 2 20 3
Landwirtschaft f 4 5 1
Tiere g 21a Ile 8 11 251. 91:
„Woher kommt...?“ h 21 8
Geschichte, Politik i
Orientiertheit e
Gelerntes Gedicht d
Körperteile c
Zahlen b
Märchen a
im ganzen | 2
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 65
Untersucher | | Vpp | Do | Du
$ 18. Rechnen und Mathematik.
L Begabung.
THOMPSON 105 | Mathematik fallt leicht | Studenten — 38
ält
HEYMANs-WIERSMA 48 | Talent fir Mathematik { j en. 14 > T S
n
g / Gewandheit im Auflés. math. Prob. |14—17 jahrig| + ae 4 i
Heymans Besser veranlagt für Math. als für 5 +17
Sprache
IVANOFP 52 | Begabung fir Rechnen a +24| +12
2. Unterrichts- und Examensleistungen.
a. Mathematik.
Mac DonaLD 61 |Schulleistungen 6—17 jährig | + 20| +20
KLINKENBERG 55 | Schulaufnahme-Prifung 13 „ + 28} +- 20
BuRNgEss 19 | Univ. Aufnahme-Prifung { 5 „ + 18) + 18
19 , + 24| + 27
New-York 70 | High-School Abschlufs-Prifung 16 „ + 12| + 24
BURNESS 18 | Lebrerexamen 19 „ +59 + 5
b. Geometrie.
: | ; 11!/, jährig | — 60
Bristol, Merr. Sec.Sch. 3 | Schulleistungen { 15 , +70] + 65
Bristol, Holt.Sec.Sch. 2 S 13—14 „ + 55
c. Algebra.
Mac DoxaLD 61 | Schulleistungen 6—17 jährig — 20
Liverpool, Marg. H. G. Sch. 5 ` 13—14 , — 54
Bristol, Holt. Sec. Sch. 2 g { 13—16 „ |+60+ =
16 „ — 64 —
d. Rechnen und Arithmetik.
Mac DonaLD 61 | Schulleistungen | 6—17 jährig| + 5+ 9
Bielefeld, Volkesch. 1 ? | , — 37
Ums-1 „ |+2
Liverpool, El.-Sch. 4 $ ll , +724 34
Bristol, Merr. Sec. Sch. 3 S 11'⁄4—12'/⁄ j. —õ9— 54
15 jährig +100
3. Leistungen im Experiment.
| Addierens 11)/, jährig| — 12| — 12
Schnelligk. d. Multiplizierens 14—14", , |— 13—16
COURTIS 26 element. Rechnens| 10—15 le 8— 8
D (10—17 , =E=
Lösen komplizierter Aufgaben \ 18 , +30) +22
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Teil. 5
C. Tabellen zu Kapitel III.
66
Untersucher | Vpp Do | Du
$ 13. 3. (Fortsetzung).
| | Se | -
Umrechnen a. d. hex. u. okt. Syst. d 12 aise u T 2
VG 107 Sp mel ae
Rechnen im hex. u. okt. System | ee ee
EE \ 14 „ |—38 — 65
BONSER 13 | Lösen eingekleideter Aufgaben 8—16 , + 36: + 31
STONE 102 A = > 12 „ |+40 +39
a y Richtigkeit 10—18 „ |+28 + 4
Geer ve! Lösen eing. Aufg.\ gchnelligkeit |171,—18 „ |+44 +12
| Verständnis eing. y Richtigkeit }14—141, „ |+ 19| +23
Aufgaben \ Schnelligkeit | 10-15 „ |+ O+ 4
4. Interesse.
W. STERN 99 | Beliebtheit des Rechnens a. UntF.| 9—14jähr. | — 16'
WIEDERKEHR 112 5 der Geometrie „ , | 9—13 , +16;+ 8
NỌRDLUND 71 5 der Mathemat. „ o Kinder — 56
8 Vorliebe für mathematische 15jihr. |+ 18; — 2
NEES Wissenschaften d 16—18 , +38 + 3
New York 70 | Immatrikulation für Mathematik 16 +11} + 8
Sommer| 15—19 + 19) +58
Wahl der Mathematik als | Winter Se yi + 38) + 66
Burness 19%| Prüfungsgegenstand | JunKl. 15 „ + 22: + 33
SenKl. 19 , + 31! + 5%
Wahl d. höh. Mathm. als PrüfGeg. 19 „ + 62] + 24
§ 14. Naturwissenschaften.
(| Begabung für Physik und Chemie’ 13—19jahr. |+ 71|-++ 3
KSE a e „ Naturgeschichte | 14 „ +24 + 2
Bessere Leistung in math.-nat.
GER 28 | Fächern ale in Fremdsprach Sch
chern als in Fremdsprachen chüler + 44' + 40
BURNESS 19 | Bestehen d. BSc.- o. DSc.-Examens| Studenten — 13) — 24
Unterrichtsleistung in:
Mac Dona.p 61 Naturwissenschaften 6—17 jähr. | — &)
Bristol, Holt Sec. Sch. 2 General-Elements of Science| 13—14 ,„ — 5 — 23
Liverpool, Marg. HSe. 5 Science 13'/,—14,, + 53
Mires 63 Naturwissenschaften 16 , — 38:
Rare 47 J| Bestehen d. Medizin. Fakultäts-Prüf.| Studenten +24
i \ z „ naturk. Ex. (Staats-Prüf.) = — 9-5
Burness 19 e „ Lehrer-Prüfung m. Ausz.| 19 , +67 — 4
Systematische Ubersicht tiber die Einzelergebnisse. 67
Untersucher | Vpp Do | Du
§ 14. (Fortsetzung.)
THOMPSON 105 |Beantwortung von physik. Fragen| Studenten |-+38
KLINKENBERG 55 |Unterrichtsleistung in Physik 16 jährig | + 20| -+ 24
Bristol, Merr. Sec. Sch. 3 e e 5 llh , — 58) — 72
Bristol, Merr. Sec.Sch. 3 i „ Chemie EL ` — 60
Bristol, Holt. Sec. Sch. 2 d a e 14 „ — 65| — 26
Bristol, Holt. Sec. Sch. 2 5 „ Biologie 13 „ — 73) — 54
Bielefeld, Volkssch. 1 „ Naturkunde 14 „ — 32| — 62
THOMPSON 105 Beantwortung von piles: Fragen| Studenten — 38
Bristol, Holt.Sec.Sch. 2 E in Botanik 14 jihrig , — 73) — 66
Bristol, Holt.Sec.Sch. 2 „ Zoologie 15—16 „ — 61
BurneEss 19 Meldung 2 z. BSc- oder DSc-Examen| Studenten |-+34/+ 4
St. Louis 80 |lmmatrik. zu einem Scientific Course 18 jährig | +66) + 5
SMITH 94 |Teilnahme an „ 5 +19) +15
H. STERN 98 Beliebtheit der Naturlehreals Unter- 13—14 „ |+16)+12
richtsfach
New York 69 |Immatrikulation für Physik 16 —38 + 2
New York 69 » Chemie 16 +45 + 2
W. STERN 99 Beliebtheit der Chemie als Unter-| 9—14 — 12| — 40
richtsfach
n | Beliebtheit der Naturgeschichte ee n |+ 8+8
. STERN j EE = n (+ 8+ 8
HW. Steak 98 als Unterrichtsfac 13-14 , — 8
Bourngss 19 |Wahl der Botanik als Prüfungsfach 19 — 90| — 30
KATZAROFF 57 |Bevorzugtes Zeichenobj.: Pflanzen Kinder — 56 + 6
KATZAROFF 57 g j Tiere Kinder + 22)+ 4
Heymans- WIERSMA 48 |„Tierfreund“ + 4
§ 15. Technik.
GODDARD 40 |Lösung einer geometrischen Kon-
struktionsaufgabe 15—16 jährig |+- 26| + 18
Schnelligkeit der Lösung einer Ge-
duldspielaufgabe 13 „ |+ 18+28
Burt-Moore 20 )|Schnelligkeit des Zusammensetzens!
eines Bildes aus Blöcken j -+ 24; + 28
eee der Lösung einer
Schachbrettaufgabe Studenten |+ 18
THOMPSON 105 | Schnelligkeit des Verständnisses für
die Handhabung eines Apparates = + 44
Schnelligkeit des Verständnisses
| der Konstruktion eines Schlosses e + 34| +38
SCHEIFLER 82 |Lieblingsspiel: f SE a: a i S
KATZAROFF 53 Bevorzugtes Zeichen- nn en Be : >
objekt: Schiffe S Leet?
K BRSCHENSTEINER 54 Zeichnung eines Trambahnwagens.
14 technische Einzelheiten 6—13 jihrig + 43) +18
FRIEDRICH 31 |ldealperson: Erfinder od. Entdecker 11, „ LEID E A
5*
68 C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher | Vpp Do | Du
8 16. Zeichnen.
Hermans 8 | Zeichentalent 17jährig +24 + 2
jüng. Gener.|+ 6 + 2
HeymAans-WIERSMA 48 | Talent für Zeichnen { ältere , +24 4
Bielefeld, Volkssch.
Bristol, Holt Sec. Sch.
Stockholm, Volkssch.
Liverpool, El. Sch.
Mac DonaLD
BuRness
KERSCHENSTBINER
SCHUYTEN
LOBSIEN
KERSCHENSTEINER
CoHn-DIEFFENBACHER
KERSCHENSTEINER
1 | Unterrichtsleistung in Zeichnen | en —100, — 40
n +34
2 e 5 j 12—14 , -+- 15) + 30
7 ke » Freihand- 10", , — 24
Zeichnen
e : . SZeichnen | 7—12 „ +46 + 69
4 | Unterrichtsleietung in re 10 , — 38
6—17 jährig
61 e „ Zeichnen Neger +16
Weilse — 14
19 | Examensleistung „ e 19 jährig | + 12! + 9
Darstellungen des Menschen.
jährig | +51] +- 17
Mensch aus dem Gedächtnis ee , 162 163
, n |+38 + 23
Stehendes Kind nach der Natur {| 40° 10— 3 = 167 +6
54 Stehendes Kind mit Schirm nach { 6— »n :4+41+5
der Natur oa i | 4+ 56 +58
g (|) 6—9 „ + 21|+ 31
Sitzendes Kind nach der N atur \ 10—13 , +63 +52
Bewegte Menschen aus dem Ge- | 6—13 „ +54 + 41
dachtnis (Schneeballschl.) |
87 | Mensch ASA , + 2)-+ 30
60 | Menschendarstellung. Richtige |
Proportionen 8—14 , — 53 — 77
Darstellungen von Tieren.
: 6—9 jährig | + 48 +- 29
54 | Pferd aus dem Gedächtnis { 10-18, Se 60! +5 50
Ente „ e e (1—10 , {+836
24 | Schwein a. d. Ged. (Schlaraffenl.) |10—19 „ + 42|
Darstellungen von Pflanzen.
| Blume aus dem Gedächtnis 7—12 jährig Pa +13
54 f 8—10 „ |+40 +27
Pu. e 3 \ 11—13 «0 [4.59 4.65
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 69
Untersucher | | Vpp | Do | Du
Darstellungen des Raumes.
CoHn-DierrEnBACHER 24 'Schlaraffenland 10—19 jährig |+-100| 1 58
KERSCHENTSEINER 54 |Schneeballschlacht 6—13 „ |+ 55] + 43
Verschiedenes.
Schla- ( Qualit. d. Gesamtzeichnung| 9—18 „ |+ 511 +48
WAGNER 109 ratten- | Darstellg. d. Kuchenberges| 7—13 „ |+ 82|+47
land S „ Hauses 9—18 , |+ 49) +50
Darst. einer Geige nach der Natur 1 nn : pi a E
KE 54 „ @inesStuhles „ , S 6—13 „ E ët 8
EE "> Rn ausd.Gedächtnis 6-18 „ |4 61/452
| „ einer Kirche „ „ 5 6-12 „ |+ 43/448
e » Trambahn,, , j 6—13 „ |+ 481 +57
MÜLLER 66 | , n ` u. 5 12—14 „ |+ 48/-+ 44
IVANOPF 52 !Verschiedene Darstellungen Kinder -+ 27| -+35
|
CoHx-DiEFFENBACHER 24 |Schlaraffenland. Gröfed. Zeichnung! 10—19 jährig + 24! +66
Interesse.
WIRDERKEHR 112 |Beliebth. d. Unterr.faches Zeichnen| 9—13 „ |+ 8+ 2
W. STERN 99 u 5 » 5 9—14 , (+ 24/+ 8
H. STERN 98 5 5 y Ge 13—14 , |+ 12! +32
n n jr n j 14 „ |+ 20) + 20
Heyuans 8 Vorliebe für Zeichnen 19 „ |+101+ 2
SCHEIFFLER 82 |Lieblingsspiel: Zeichnen u. Tusch. 1 „ +100 + 2
FRIEDRICH öl |Idealperson: Künstler 12, „ EI Et 4
8 17. Erdkunde.
Ivanorr b2 |Begabung Schulkinder |+ 8
Bielefeld, Volkssch. 1 |Unterrichtsleistung 10—14 jährig |— 42) — 49
: 10—18 rk 38+ 44
Bristol, Holt Sec. Sch. 2 e | 14 „ | 5—50
. 10 , |— 34| — 28
Liperpool, El. Sch. 4 : 11—13 5 a 4.49
Bristol, Merr. Sec. Sch. 3 e 15 „ +73
KLINKENBERG 5b ý 15 „ — 20
Borness 19 |Examensleistung im Lehrerexamen 19 ,, |+ 54/4 8
WIEDERKEHR 112 |Beliebth. d. Unterr.fach. Erdkunde) 9—13 ., 7 D — 12
13—14 , 28) + 44
H. Stern 98 n n n o 14 a + 16 +20
MAYER 62 |Motiv d. Berufswahl: Reisen mach.| 9—16 „ |+%-+ 0
H. STERN 98 |Zukunftsplan: a e 14 „ [4100/4 2
Interesse f. Sitten u. Gebr.| 8—16 „ |+12!+ 0
Monroe sl Motiv a Historisches Interesse e — 6— 2
geplant.! Interesse f. Kunstwerke » — 14 + 0
Dück 28 | Reise : | „ f. Handelu. Verkehr| 16—22 ,, |+ 72|-4+ 16
„ &anGeheimnisvollem 5 —100| — 12
70 C. Tabellen zu Kapitel III.
Du
Untersucher | Vpp | Do
§ 18. Geschichte.
Mac DonALD 61 | Unterrichtsleistung (Neger) | 6—17 jährig | — 12!
Liverpool, El.-Sch. 4 ! d ae = a
Liverpool, St. Marg. 5 P 13, „ | 4 62
Bielefeld, Volkssch. 1 a 14 „ — 46:
MILES 63 | n | 16 „ |—26 +28
New York 69 | Examensleistung. High-School, |
Abschlufsprüfung 16 „ + 6; —10
Burnxss 19 | Examensleistung. Lehrerprifung 19 „ |+31+ 2
THOMPSON 105 | Geschichte fällt schwer Studenten |— 38
WIEDERKEHR 112 | Beliebth.d.Unt.faches Geschichte | 9—13 „ + ö
W. STERN 99 5 = 2 R 9-14 , |+20 +16
H. STERN 98 5 e a e | e e i 4.12) e
Heymans 8 | Vorliebe f. Geschichte u. Geogr. | 15—18 „ !+35 +2
New York 69 | Immatrik. f. Gesch. High-School 6 „ j— 26 — 6
Dück anf Interesse für Wirtschaftsgesch. |16—22 „ ‚+72 +%
|. % „ Kunstgeschichte |16—22 , — 70 — 3%
Norris 72 | Lieblingslekttire: Geschichtliches |12—18 „ ,+100:+ 6
Mayer 62 S , 916, |+alre
Die Person, die Vp am meisten bewundert, oder der Vp am liebsten
gleichen möchte, ist:
MAYER 62 | aus d. Weltgesch. od. histor. Sage | 9—16 jährig| +24 + 2
Hoescu-Ernst 50 | aus der Geschichte 10—17 , |+34 +2
RICHTER 77 | aus d. deutsch. od. fremd. Gesch. | 10—14 ,„ +66 + 9
FRIEDRICH 31 | aus d. Geschichte, ein Feldherr | 111/,—12}/,j. Eh
GODDARD 40 | aus d. deutsch. od. fremd. Gesch. | N + E S 2
Hitt 49 aus der amerikanischen Gesch. | 7—15 „ + 39; 4+ 28
aus der fremden Geschichte 111-18, [—41/-—-::
Í aus der Geschichte | 8-13, +o +29
BRANDELL 15,; Herrscher oder Krieger 7—18 , + 49; + 16
| histor. Person m. friedl. Beschift. 9—14 „ — 23. — 4
(| Friedrich der Grofse | 14 „ |+40 +10
H. STERN 98| Königin Luise | 14 , |—82 —10
§ 19. Fremdsprachen (Geisteswissenschaften).
Begabung.
IVANOFF 52 |Begabung fiir Sprachen | Kinder 16 = 16
Besser beanl. f. Sprachen als f. Math.‘ 13—17 jähr. | — 25 — 17
HEYMANS \|Gewandtheit im Ubersetzen | 13—19 „
=
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 71
Untersucher | Vpp Do | Du
8 19 (Fortsetzung).
Leistungen.
Bcryess 19 |Examens-Leistung im BA-Examen| Studenten |— 4|— 6
Coun 93 Bess. Leistungen in Fremdsprachen
als in math.-nat. Fächern Schüler — 40| — 44
MILES 63 |Unt.-Leistungeni. fremden Sprachen 16jähr. | — 26| — 38
THOMPSON 105 |Beste Arbeiten in alten Sprachen | Studenten |— 46| — 20
New York 69 |Examens-Leistung in Latein 16jähr. |+12|-H16
Bristol, Holt Sec. Sch. 2 |Unterrichts-Leistung in Französisch 10—16 „, — 49) — 49
Bristol, Merr Sec. Sch. 3 5 5 S = 11» —15 „ — 63| — 63
Liverpool, St. Marg. 5 a a d e 13',,—14 ,, — 62) — 66
KLINKENBERG 55 ji St a i 14 , — 20| — 36
Examens-leistung „ ge
BURNESS s in Univ.-Ex.,Cambridge 19: « — 4/— 8
i » Lehrer ,, e +20 + 2
New York b 69 » „ Deutsch 16 , — 12| — 38
Interesse.
Bardini 78 (e fir Philosophie,
Philologie oder Geschichte Studenten |— 38) — 26
Breslau 4 | Ge e e 5 — 52| — 29
BURNESS 19 Meldung zu einem BA-Ex., London 53 — 10; — 22
SMITH 94 Teilnahme an einem(Classical Course
der High-School 18jahr. |—15|—19
St. Louis 80 Se S R e + 64:4 2
THOMPSON 105 Spezialstudium: Alte Sprachen Studenten |—100| — 8
Immatrikulation für Latein an der
‘ High-School 16jähr. |—14 — 5
BD Ork sj a. Französisch ,, = — 17 8
| ” Deutsch 5 e + 12) + 4
Mac DonaLD 61
Bielefeld 1
Bristol, Holt Sec. Sch. 2
Bristol, Merr Sec. Sch. 3
Liverpool, St. Marg. Sch. 5
MILES 63
New York 69
BURNESS 19
THOMPSON 105
§ 20. Muttersprache.
1. Leistungen.
Unterrichtsleistung in Sprachen ! 6—17jahr. |—13'— 15
Se „ Deutsch 8—14 , |—35 — 46
Ge » Englisch 10—14 , — 55 — 71
„ nm ” 11',—15 „ — 58 — 36
” D ” 1314—14 „ —100, — 52
” ” d 16 nm u |
Examens-Leistung _,, 5 16, |— 6— 4
bei der Lehrerprüfung 19 „ + 9+ 1
Englisch als Studienfach fillt leicht’ Studenten | — 38)
72 C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher |
e § 20. 1. (Fortsetzung.)
Mac DONALD 61
Unterrichtsleist.in Rechtschreibg. | 6—17jährig |— 15| — 13
Bristol, Holt Sec. Sch. 2 = . a 13 „ — 57| — 50
MILES 63 s 5 = 144 , |—64|—3
BoNsER 13 |Experim.leist. „ S 8—14 „ 1-29 —3
MILEs 63 | Unterrichtsleistung in Grammatik |
und Sprachlehre 14 ew |—56!— 46
Stockholm 7 | Unterrichtsleistung im Aufsatz 10-10'% „ — 58 — 2%
Coun-DIEFFENBACHER 24 | Experimentalleistung im Aufsatz 10-19 „ — 44 — 5%
BoxserR 13 |Inhaltsangabe eines Gedichtes 2-14 „ — 34| — 9
HEYMANS 8 | Gewandtheit im Aufsatz 19 , — 48} — 36
Heymans- WIERSMA 48 |Talent fir Schriftstellerei +19 + 2
LearoyD-TAYLOR 57 | Vorhandensein einer „continued
story“ Studenten |— 54| — 24
HeymĮmans-WIERSMA ` 48 | Erzählen von selbsterfundenen
Geschichten — 48 — 6
(| Erzähltalent +29 7
HEYMANS-WIERSMA 48! | Fähigkeit, unvorbereitet öffent-
\ liche Reden zu halten +70 +18
HEYMANS 8 | Gewandtheit im Thema 13—19jährig | — 12 — 16
3. Interesse.
BRANDELL 15 |Idealperson: Schriftsteller oder |
Künstler Kinder — 66; — 27
HEYMANS 8 | Vorliebe für Sprache u. Literatur | 14—19jährig | — 34/— 6
WIEDERKEHR 112 | Beliebtheitd.Unterrichtsf.Deutsch | 9-13 „ I+ 8
H. STERN 98 S j e b 13—14 — 44| — 1?
New York 69 | Immatrikulation für Englisch an
der High School 16 e + 16) + 30
THOMPSON 105 | Interessantestes Fach: Englisch Studenten |— 34 — 14
H. STERN 98 | Beliebtheit des Unterrichtsfaches
Rechtschreibung 13—14 jahrig | + 20
WIEDERKEHR 112 | Beliebtheit des Unterrichtsfaches
Sprachlehre 9-18 „ |— 8-2
W. STERN 99 | Beliebtheit des Unterrichtsfaches
Sprachlehre 9—14 , +16
H. STERN 98 | Beliebtheit des Unterrichtsfaches[|13—14 „ |+20+?
Sprachlehre 14 „ J+ +18
H. STERN 98 | Beliebtheit des Unterrichtsfaches |
Aufsatz 13—14 , + 28)
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 73
Untersucher | Vpp | Do Du
§ 21. Allgemeine geistige Entwicklung.
New York 70 |Versetzung in eine höhere gegen 6—13 jährig | — 1/— 6
MINER 64 |Immatrikulation für d. 2. Semester 18 , |— 6— 50
Oberlin Coll 6 |Aufnahme in die BK-Society Studenten |—40— 6
Leland Stanford Univ. 58 "Bestehen der Abschlufsprüfung 5 — e 66
HEYMANS 47 > „ Fakultätsprüfungen be — 21
7-13 jährig |— 6— 7
Philadelphia 75 [Schulalter | 14—15 „ + SÉ 6
17-20 „ |—42— 48
Mac Donn 61 ‚Gesamt-Unterrichtsleistung 6—17 „ |—16—- 12
. 8—10 , + 40/— 49
Liverpool, El.-Sch. 4 e d | 11—13 „ [-+80-+ 54
MILES = e 14—16 — 45\— 44
GESELL 36 Intelligenz n. Schätzung d. Lehrer Kinder — 6— 10
Mac DONALD 61 | Mental Ability“ n. Sch., , | 6—17jahrig —15|— 22
Stockholm 7 |Verstandesentwicklung n. Sch. d. L. 9 , —54— 4
WEE n. Sch. d. Lehrer} 10—13 „ —100
SPEARMAN 95! Gesunder Menschenverstand nach
\ Schätzung der Mitschüler —100
HEYMANNS 8 ‘Allgemeine Entwicklungn.Sch.d.L 15—19 ° — 19
GODDARD 41 |Intelligenzvorsprung bzw. Rück-
| stand nach Experiment 4—15 „ !— 8—10
Einzeltests zur Intelligenzprüfung.
HALL 42 |Unterscheidung von rechts u. links 6 jährig | — 6|/— 22
n n n n n n F 34 T 38
Erkennen von Gegenständen bei
HERDERSCHEE “| geschlossenen Augen + 6+100
Erkennen von Zeichnungen — 211— 63
v. D. TORREN „ unvollst. 5 4—12 , + 82'+ 75
Bilden eines Satzes, in dem drei |
gegebene Worte vorkommen 10 , 34+ 54
Biocu- Preiss JS Beantwortung von Unter- = i
schiedsfragen 8 „ +18-+ 38
Finden einer gemeinsamen Be- |
HERDERSCHEE d zeichnung (Oberbegriff) 6 „ +12-+ 44
Verständnis d. Wortes „Dankbark.“ S + 6-+100
Kritik Definiti { SE Me
Boria 13 g ritik von Definitionen 13—14 |— 30
„ Gründen 8—10 +42
Richtige Beantwortung von on |
BrocuH-PRreiss al „Was mu[s man tun, wenn. 8 „ +20 + 40
Nacherzählen einer Geschichte. 8 , + 48'+ 56
Vos 108 |Verständnis d. Pointe e. Geschichte 9—13 „ + 4-+ 22
W. STERN 100 Erfassen d. Zusammenhangs einer
bildl. darg. Geschichte 12 , + 44-100
74. C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher | Vpp | Do | Du
8 21. (Fortsetzung.)
Einzel-Eigenschaften der Intelligenz.
Mess 8 fiLeichtes Begreifen eines Witzes 15jährig | — 16
i = einer Erklarung/18—19 __,, — 36
Auffassungsfähigkeit + 11) + 28
Selbständige Ansichten + 9 +16
HEYMANS-WIERSMA 48| Praktisch, findig + 4
Menschenkenntnis + 15} + 10
Weitblickend + 13) + 18
§ 22. Eigenschaften des Gefühls- und Willenslebens.
1. Neigung zu intellektueller Betätigung.
THOMPSON 105 |Erwihlter Beruf: ein intellektueller| Studenten |— 38
MAYER 62 [Motiv d. Berufswahl: etwas lernen; 9—16jährig — 7, — 2
Norris 72 |Lieblingsbeschäftigung: studieren | 12—18 „ —100, — 2
Vergnügen an Vorlesungen Studenten | — 54
‘THOMPSON el be » dem Bes. v. Theater, |
Oper, Konzerten | — 54
Monroe 65 |Motiv des Sparens: Bücher und
Bilder kaufen 7—16jährig | — 40. — 2
SHELDON 93 |Beteiligung an einem künstl.,literar.,
musik. Klub 12—14 ,, —57 — 3
SCHEIFLER 82 |Motiv fir die Beliebtheit von |
Glücksspielen: belehrend 7—14 - —100 + 0
Eigenschaft des Lieblingsbuches:| |
Maven 62 belehrend 9—16 ,, —20 + 0
Eigenschaft des Freundes: Eigen- |
schaften der Bildung z — 60 — 2
BRANDELL 15 |Idealperson: Wissenschaftler (1—18 , —34 — 2
Eigenschaften der Idealperson: (/10—13 _,, 29 + 4
ae d intellektuelle und künstler. 14 , as — 4
BRANDELL 15 [Eigenschaft der ldealperson: in- |
tellektuelle und kiinstler. 10—14 , +25 +15
H. STERN 98 Eigenschaften der Idealperson: Ver-
falste eindrucksvolle Bücher 14 „ +50 + 2
MAYER 62 Eigenschaften der Idealperson: |
Können und Wissen | 9—16 „, +16 + 6
Heymans-WIERSMA 48 |Vergnügen an Verstandesspielen + 37 + 21
SCHEIFLER 82 |Lieblingsbeschäftigung: Lesen 10—13 , +91 + 1
Norris 72 R H 12—18 „ |—73—8
HEYMANS 8 we „ 15—19 , — 31 — 11
W. STERN 99 Beliebtheit d. Unterrichtsf.: Lesen! 9—14 , +16:
H. STERN 98 Se i » |13—14 ,, — 8 — 2
Liverpool El. Sc. 4 |Unterrichtsleistung im Lesen 7—12 „ +15 — 52
Bielefeld Volkssch. 1 e yi ji (1—14 , — 4) — AR
Stockholm Volkssch. 7 7 D S 79, —72:— 4
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Kate
| Vep | Do
Untersucher
C
$ 22. 2. Neigung zu politischer Betätigung.
Stärke des politischen Interesses
Heymans-Wiersma 48| „ der n Tätigkeit
Patriotismus |
MAYER 62 |Lieblingslektüre: Patriotisches | 9—16 jahr.
FRIEDRICH 31 |Eigensch. d. Idealperson: Titigk.
in nationalem Sinne V 2298
BRANDELL 15 |Eigensch. d. Idealperson: soziales
oder politisches Verdienst 10—14
H. STERN 98 |Eigensch. d. Idealperson: Tätigk.
im Dienste des Vaterlandes 14
”
3. Neigung zu philanthropischer Betätigung.
Heymans-Wrersma 48 |Tätigkeit auf dem Gebiete der
Philanthropie.
MonroE 65 Motiv d. Berufswahl: philanthro-
pische Gründe 8—16 jähr.
MAYER 62 Motiv der Berufswahl: Nächsten-
liebe 9—16 IT
SHELDON 93 |Mitglied eines philanthrop. Clubs|13—15 _,,
Monroe 65 |Motiv des Sparens: Geschenke
kaufen 7—16 „
Heymans-Wiersma 48 mitleidig, hilfsbereit, egoistisch,
grausam
og grausam 13—19 ,
ne den Mitschülern b. Schularbeiten
helfen 14—19 ,
H. STERN 98 |Beste Eigenschaft: Nächstenliebe,
Feindesliebe 14 „
GODDARD 40 |Eigensch. d. Idealpers.: Güte 8-13 „
RICHTER 77
Í 3 H ” ” 9—14 n
BRANDELL 15
| a ps „ andern helfeul 8—14 ,
MAYER 62 b ‘s ., N&chstenliebe| 9—16__,,
STERN 98 Ge d » werktätige
Menschenl. 14 ,,
ScHAFER
81 |Antwort auf die Frage: geed 14
darf man nicht stehlen ?“ ”
Aus Mitleid f 16 „
75
Du
+ 45 + 36
+ 70; +4
+ 14| + 6
+10| + 0
+ 100 + 22
+ 58 + 7
+ 44 +14
stark | schwach
— + 12
ja nein
— 20°), 4.
ja nein
— 100
ja nein
— 83| + 2
ja nein
— 8. +
mitleidig| grausam
— 6] + 20
nein ja
= + 100
ja nein
— 17; +
a 42 nein
ja nein
= Bl
ja nein
= 46 2
ja nein
— 6| + 12
ja nein
— 90 +
ja nein
— 100 | +
ja nein
328 Le
ja nein
— 40| + 16
ja nein
+100 | — 16
76 C. Tabellen zu Kapitel IIl.
t
Untersucher | Vpp | Do | Du
§ 22. 4. Religiositat.
Hryrmans-Wrernsma 48 |Religiosität — 19 | — 20
THOMPSON 105 |Festigkeit d. relig. Uberzeugungen| Studenten — 38
Bielefeld, Volkssch. 1 |Unterrichtsleistung in Religion 7—14 jihr.| — 39 | — 43
Stockholm 7 > 5 á 10', , — 38 | — 6
H. STERN 98 |Beste Eigenschaft: Frömmigkeit 14 „ — 52 | — 4
MAYER 62 |Eigenschaft der Idealperson:
Heiligkeit 9—16 „ — 20 | — 16
Eigensch. d. Idealp. : glaubensfest 121, — 64 | — D
F RIRDRICH a S S » œ. Reformator x —100 | — 4
H. STERN 98 e n 9 Religiositét 14 — 52 | — 4
Moxnog 65 , 4. Spielgefihrten: religiés| 7—16 —100 | — 2
MAYER 62 » » Freundes: Religiositat | 9—16 — 34 | 40
Moxpog 65 |Angeberei ist nicht erlaubt: weil
es Sünde ist 7-16 „ +26 | + 2
SCHÄFER 81 |Stehlen ist nicht erlaubt: aus | 13 , +10 | +8
religiösen Gründen 17 „ — 74 | — 18
Motiv d. Berufswahl: Gott gefallen; 9—16 „ +60 |- 2
Lieblingslektüre: Heiligenlegen-
den und religiöse Zeitschrift ý — 59 | — 2
MAYER 62 ? |Lieblingslektüre: Kommunions-
geschichten e +50 | + 2
Eigenschaft des Lieblingsbuches:
ist heilig, handelt von Jesus 5 — 50 | — 6
GIESE 39 Literarische Behandlung reli- | 9 , +50 | 4+ 2
giöser Stoffe 10—15 „ — 93 | — 12
Beliebth. d. Unterr.faches Religion| 13—14 , — 20 | — 60
H. STERN d ý 2 5 5 l4 „ — 66 | — 4
e a » Bibl. Gesch. 4 +100 | + 2
5. Neigung zu praktischer Betätigung.
'Der erwählte Berufi.e.praktischer| Studenten | -+ 38
THOMPSON 05 | Studium ist nur ein not-
wendiges Übel E + 38
Vorsätze für das spätere Leben:
D Sonny 98 allgemein praktische 14 jähr. + 30 + 12
Grund für die Unbeliebtheit eines!
Unterrichtsf.: Nutzlosigkeit | e —34 | —18
6. Erwerbssinn. geld- | uneigen-
suchtig nützig
‘geldsiichtig, uneigennützig | —
Heymans-Wıersua 48° geizig, sparsam, flott, verschwende-| geizig | verschw.
| risch —12 ot
Motiv der Berufswahl: ja natn
MONROE 65 gutes Einkommen | 8—16 jähr. | +30 | — 16
ja nein
MATER 62 f Besitz, Verdienst | 9—16 „ +12 —
| bequem leben 5 4°36 a
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 77
SE
Untersucher | Vpp | Du Do
§ 22. 6. (Fortsetzung.)
SCHEIFLER 82 Grund für die Beliebtheit von ja | nein
Glücksspielen: Gewinn 7-14 jährigl — 34 +0
ja nein
MONROE 65 |Eigensch. d. Spielgefährten: reich| 7—16 ,, | +100 | +
GODDARD 40 |Eigensch. der Idealperson: ja Hein
materieller Besitz 8—14 , | +65 | — 6
8—10 to | — 3
RICHTER 77 3 e E 2 E e
1-14 97
7. Streben nach Macht.
RICHTER 77 |Eigenschaft der Idealperson: die Do Du
Macht haben, etwas zu tun 8—14jährig| +61 + 8
GODDARD 40 s = S 7 9—14 „ | +10] + 4
” ” nm „ 9—16 ” + 72 + 6
Mayer 62° Motiv der Berufswahl: Befehlen-
Können nm -+ 100 + 2
Hrymans-WigrsMa 48 |Herrschsucht — 12
8. Streben nach Ehre.
Herımans-Wıensma 48 ehrgeizig +17 +17
HEYMANS 8 a 15—18jährig| — 19 | — 8
Eigenschaft der Idealperson: Ehre
MAYER 62 Berühmtheit 9—16 „ + 32 + 7
Mot.d. Berufswahl: Ehre, Ansehen e + 725 +2
9. Eitelkeit.
ja nein
Heymans-Wrersma 48 leitel, gefallsüchtig | — 15 +10
leich-
| Së
13—17jährig + 27
HEYMANS 8 stutzerhaft, gleichgültig stutzerh.
18—19 , + 28
Motiv des Sparens: Kleidungs- i nain
stücke kaufen 71—16 , — 10
Moxgog 65 ( |Eigensch. d. Spielgefihrten: adrett
gekleidet, schön, spez. körperl. j ein
Eigensch. a — 67
Ja nein
RICHTER 77 |Eigenschaft der Idealperson: 9-1 „ — 32 ,
Eigensch. d. äufs. Erscheinung 14 „ Can an
ja nein
MAYER 62 | Schönheit, Kraft 9—16 , | —42 |, +
ja nein
H. STERN 98 | persönliche Vorzüge 14 „ | — 42 + 2
Stören der Schul-
78 C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher | | Vpp | Do Du
§ 22. 10. Neigung zu Geselligkeit.
SCHEIFLER 82 |Grinde fiir die Beliebtheitt von| ja nein
Glücksspielen: Geselligkeit | 7—14jähr. | — 10 | + 0
e ja nein
SHELDON 93 |Mitglied eines rein geselligenClubs; 9—16_ , — 66 + 4
Norris 72 |Lieblingsbeschaftigung: Besuche ja nein
machen 12—18 , — 10 |+ 2
nein ja
HEYMANS 8 geneigt, sich abzusondern 15—19 „ —4 + 62
in Gesell-
schaft
lieber allein oder in Gesellschaft! Studenten | +38
THOMPSON 1054 Vergniigen an geselligen Vereini- nein
gungen > — 38
11. Sexualleben.
Auf sexuellem Gebiete ausschweif. +8 |
HEYMANN-WIERSMA ja | nein
Liebhaber obscöner Witze + 26 | — 16
FRIRDRICH 81 |Eigenschaft der Idealperson: EE E
keusch, unschuldig 121, jährig | +24 — 96
Schlechteste Eigenschaft: Leicht- sain ja
H. STERN 9 sinn, schlechte Lebensweise | 14 e — 50
Vorsatz fir die Zukunft: meiden Wain ja
schlechter Gesellschaft 14 a — 2 + 100
12. Moralität im allgemeinen. Do Du
Eigenschaft der Idealperson: 8jihr.| +50 | +14
EE = moralische Eigenschaften | 9—12 — bi — 10
GODDARD 40 Eigenschaft der ldealperson { 8 , + 20 + 6
versch. Charaktereigensch. l| 10—14 „ —19 — 21
H. STERN 98 |Eigenschaft der Idealperson:
allgemein sittliche Eigensch. 14 „ — 40 — 14
MAYER 62 |Eigenschaft des Freundes:
Eigenschaften des Willens 9—16 , — 34 — 2
13. Betragen. ATA. Kee
GALTON 34 |mild, fügsam mürrisch, heftig,
herrisch 22
Haymans-WıErsma 48 herrschsüchtig — 12
IVANOFF 52 heftig Kinder + 8
‘mild scharf, hämisch 14—18jähr. | — 27 +12
höfl.,freundl. mürrisch, flegelhaft 18:7, +12
starrköpfig 13—18 „ — 2 + 36
HEYMANS 8 ungezogen 13—19 , — 3 + 49
| | +
Vis
Ne
ordnung 13—19 ,
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse.
Untersucher
HEYMANS 8
Mac DonaLp 61
Stockholm Volkssch. 7
‘Bristol Merr. Sec. 8. 3
Bielefeld Volkssch. 1
MAYER 62
98
98
H. STERN
H. STERN
Heymans-Wiersma 48
HEYMANS 8
IvVANOFF 52
Mac Donan 61
Stockholm, Volkssch. 7
Bielefeld, Volkssch. 1
48
HeyMans-WIERSMA
HEYMANS
FRIEDRICH
H. STERN 98
§ 22. 13. (Fortsetzung.)
Rädelsführer bei
Störungen
bis an die äufserste
15—19
Grenze gehen |13—19
widerspenstig
|
bei Verweis: frech,
räsonnieren,
gleichgültig
geneigt zu stillem
Widerstand
Ungezogenheit
Schulzensur im Betragen
n n n
n n n
Eigenschaft des Freundes: Fried-
fertigkeit
Beste Eigenschaft: Höflichkeit
Vorsatz für Zukunft: Gehorsam
gegen Vorges. u. Lehrer der
Schule
14. Fleifs.
eifrig, faul
39 LE
fleifsig
faul
Schulzensur in Fleifs
LE 29
meist beschiftigt oder geneigt, es
sich bequem zu machen
frisch angreifen oder aufschieben
8 lin einzelnen Fächern über d.
Schulpensum hinaus arbeiten
Beste Eigenschaft: Fleils
Schlechteste Eigenschaft:
31 |Eigenschaft d. Idealperson: Fleifs
Faul-
heit, Trägheit, Müssiggang
16
19
13—19
18—19
6—16
vm |
T'h—12'h j.
11'h—15j.
12 jähr.
9~.16
14
14
13—19 jähr.
Kinder
9—16 jähr.
10
„ u.Aufmerksk.| 9—14
13—19
11"),
14
»
>?
3?
”
79
i i
a. del. | Eur
— 2 CSS 52
— 3 |+ 60
+2 |— 42
— 4 |+100
— 4 |4 27
— 4 | +100
— 8 |+4 97
— 8 | +100
—7 |+ 79
+ 44
ja nein
—34 |+ 2
43: |, 2
—80 | + 8
eifrig faul
= Alla 19
eifrig faul
— + 19
ja
— 8
nein ja
— 1| #83
schlecht
24
gut schlecht
— 50| + 57
beschäftg.| bequem `
— 1: 25
angreifen|aufschieb.
5| + 22
nein
ja
+ 37
— 2
ja nein
— 76
ja nein
+ 46) —
nein ja
+ 48| — 8
80
C. Tabellen zu Kapitel III.
Untersucher
Heymans- WIERSMA
HEYMANS
H. STERN
Hrymans- WIERSMA
Heymans
Hey{mans-WIRRSMA
HEYMANS
THOMPSON
HEYMANS
Heymans- WIERSMA
Monroe
MAYER
H. STERN
H. STERN
MAYER
FRIEDRICH
MAYER
H. STERN
§ 22. 15. Ordnungsliebe.
48 jreinlich, ordentlich od. unordentl.
8 jauf Reinlichkeit und Ordnung
haltend oder unordentlich 13—17 jähr.
| Beste Eigenschaft: Ordnungsliebe
Sauberkeit 14 „
je Eigenschaft: Unord-
nung, Unsauberkeit 5
16. Pünktlichkeit.
48 pünktlich
8 j 13—19 ,
17. Wahrheitsliebe.
48 glaubwürdig, lügnerisch
8 |wahr o 15—18 jähr.
105 |aufrichtig Studenten
ehrlich gestehen | en jahr.
8 nm
Verwendung unehrlicher Mittel |14—19 ,,
‚demonstrativ, verschlossen 15—17 ,
48 } intrigant, diplomatisch
zuverlässig inGeldangelegenheiten
65 iEigenschaft des Spielgefihrten:
verschwiegen 7—16 „
62 Eigenschaft des Freundes: Wahr-
heit, Ehrlichkeit 9—16 „
[Beste Eigensch.: Wahrheitsliebe 14 „
Schlechteste Eigensch.: Lüge, Un-
treue, Prahlerei, Klatschsucht,
Falschheit, Hinterlist, Heuchelei E
18. Treue.
(Beste Eigenschaft: Treue 14 jähr.
98 < iVorsatz für die Zukunft: Treue
gegen die Eltern e
62 |Motiv der Berufswahl: Pietät
gegen die Eltern 9—16 „
31 |Eigenschaft der Idealperson:
Elternliebe 12), „
62 verdient Dankbarkeit! 9—16
| ae 14
98 | vont fir die Zukunft: Dank-
barkeit gegen Schule u. Lehrer) j
ordentlich'unordent?.
9 | +22
ordentlich unordentl.
15
ja
— 22
nein
ja
+ 12
ja
20
wahr
u. dgl.
—16
—19
+ 40
— 5
— 16
— 24
— 24
— 52
— 34
— 60
— 62
— 50
+ 56
+ 42
nein
+ 4
ja
i + 2
nein
nein
+2
unwahr
|
||
Ww te
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 81
|
Untersucher Vpp | |
ş 22. 19. Geduld.
FRIEDRICH 31 ‘Kigensch. d. Idealperson: Geduld| 11'/, jährig +100 | SA
Maygr ey _ | 9-16, | —100| + 2
Hermaxs-Wirrsma 48 Bei Krankheit geduldig oder un- geduldig |ungeduld.
i geduldig | — 14: + 22
20. Mut.
| mutig
u. del. en Se,
Heymans-WIERSMA mutig furchtsam, foig eld. [se
HEYMANS E Ze a 13—19 jihr.| +12 |
Heymans-Wiersaa 48 |bei Krankheit: mutig, angstlich — 21 | +
ängstl., bedenkl., (z.B. vor Examen); 14—18 „ +20 | oa
Iruhig, nervös (z. B. bei Prüfungen) s +23 | — 23
Heyxanss Ifroimütig, schüchtern (z. B. beim; | 14—17 „ | —11 | —10
Vorlesen) \ 19 „ +24 |
Heyuans- WIERSMA 48 leichtmütig, zuversichtlich + 9 |
MAYER 62 |Eigenschaft der Idealperson: |
Tapferkeit, Heroismus, 9—16 + 36 — 5
FRIEDRICH 31 ` Š Mut 111,12", j| + 93 — 11
H. STERN o e „ Heldentum) 14jahrig | +62 ' — 8
21. Bescheidenheit.
| | beschei- Iunbeschei-
| den u. dgl. den u. dgl.
eingebildet i 14—19 jähr.| — 4 +45
| geneigt, grofszutun | — 3 + 72
HeyYMANs 8° natürlich, » eine Rolle a 13—17 S — 18
| spielen | 19 , + 28
| hochmütig 18-16 „ + 14 | —18
Hrymans-WieRSMA = 48 selbstzufrieden, prahlerisch: — 12 | +16
FRIEDRICH 31 |Eigensch. der Ipealperson: Demut 12'/,_ „ —100 HF
Beste Eigensch.: Bescheidenheit 14 , — 82
H. STERN 98, Schlechteste Eigenschaft: Hoch- , |
| mut, Hoffart | S | — 66 | + 2
22. Emotionalitit.
Keng (sich etwas zu Herzen| | a |
, nehmen, leicht begeistert, leicht aa Ne
Heyrmans-Wigrsma 48 | ja Trinon) a, a
reizbar, leicht verletzt — 4
f n n 16 jihr.| — 38 | + 6
HEYMANS 8 = verstimmt 14—16 „ — 20 + 3
l in Begeisterung 3 „ + 28) — 2
a | 14-17 , | — 37 | + 4
MAYER 62 |Eigenschaft des Freundes: nicht
| neidisch, nicht empfindlich 9—16 „ + 2 | 10
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Teil. 6
82
Untersucher
HEYMANS
HEYMANS- WIERSMA
Hrymans- WIERSMA
HEYMANS
CoHN-DiFFENBACHER
MONROE
MAYER
HEYMANS
Heymans- WIERSMA
HEYMANS
Hrymans-WIERSMA
GIESE
HEYMANS
JIEYMANS-WIERSMA
Bielefeld
Ivanorr
HEYMANS
C. Tabellen zu Kapitel III.
| Vpp | Do Du
$ 22. 22. (Fortsetzung).
8l Beharren b. etwas Verkehrtem |13—19 jähr.! + 61 + 2
Konstanz der Stimmung 13—18 , +18 +18
nm d ” — 8 — 10
4 e „ Sympathien + 14 + 12
g „ Trauer — 26 — 15
Gewohnheitsmensch +12 +12
23. Allgemeine Gefühlsrichtung.
| | heiter trauri
| u. dgl u. dgl.
48 jheiter, munter, schwermüt., düster — 10 + i
8 ” ” ” 15—19 „ — 23 + 28
24 |Art der im Aufsatz ausgedrück-
teh Gefühle: heiter 1383—19 , — 34 + 12
65 |Eigenschaft des Spielgefährten:
heiter, lustig, lebhaft munter 7—16 ,, — 38 + 2
Eigenschaft des f lustig 9—16 , — 50 +
62 Lieblingsbuches ee rihrend ” + 2 — 7d
Do Du
8 llachlustig 14—18 , — 15 — 8
48 |Häufigkeit des Lachens — 12 — 12
8 |witzig 13—16 ,, + 29 + 2
48 ‘3 + 26 + 12
39 |Literarische Produktion satirisch.
| Stoffe 16—17 „ | +850 + 2
24. Impulsivität.
| | impulsiv |bedächtig
| u. del. u. del.
8 jimpulsiv, bedachtsam H 15—17 ,, —19 + 16
j , Prinzipienmensch: — 13 + 16
48) resolut | — 4
(icine Meinung entschied. äufsern: + 8
§ 23. Aufmerksamkeit.
1. Ergebnisse der Beobachtung.
aufmerk-| unauf-
| saın merksam
1 |Schulzensur in Aufmerksamkeit |
und Fleifs 9—14 jahr.. — 50 + 57
52 Zerstreutheit Kinder | + 44
stets aufmerks., leicht abgelenkt, |
mit and. Ding besch.| 18—19 jahr. — 20 + 32
stets wach zerstreut | 5 | —13 | +17
8) plötzl. Nachl. d. Auf- |
| merksamkeit 13—18 ,, — 8 + 41
‘ während d. Unterr.
| oft n.d. Uhr Steel 13—19 , | — 3 + 47
6*
Systematische Übersicht über die Einzelergebnisse. 85
Untersucher | Vpp | Do Du
$ 23. 2, Ergebnisse des Experiments.
Schnellig- f| 6-9jähr.| + 33 +45
HENROTIN 45 |Durchstreichen ein- keit d 91,,—15'/,j.} —43 TI — 57
zelner Buchstaben dks ta 6—7 jähr. + 40
(,Bourdon-Test“) | Richtig- 81/,—10'/,j.| —32 | —40
eit (/10,—15', | +47 | +43
Dick 29 |Besserung der Arbeitsleistung
unter dem Einfl. von Störungen 17—19jährigl| +50 ° +78
3. Intravariation. | Art der Reaktion
regel- | unregel-
a maßig maBi
BRANDENBERGER 16 beim Bezeichnen der sch wereren | 7— 8jüähr. | +24 | — 1
von 2 Additionsaufgaben 9-11 , —32 | + 8
i g g 1 „ +8 | — 8
STOCKTON 101 |beim Abschreiben zweier Worte | um | — 44 | +100
v. d. TORREN 106 | „ Benennen unvolist. Bilder | 4—12 ,„ | +30 | — 30
JONES 51 |bei opt. Schwellenbestimmungen| 4—14 „ : +44 |
„ Gewichtsvergleichungen Studenten | — 50 | + 59
Sn g1 J|” der Reproduktion von Inter- | |
z vallen | = +46 E 39
„ Reaktionsversuchen S | + 18 |
n n n | 77 46
THOMPSON 105 » Versuchen über Sicherheit der | |
Hand E | +38 | — 70
§ 24. Widerstand gegen Suggestion.
Widerstand gegen die Suggestion Do | Du
eines Tones 9'/, jabr.| — 50 | — 30
f Widerstand gegen die Suggestion
Soroa 564] eines Geruches i — 24 | — 34
Widerstand gegen die Suggestion |
einer Berührung = | + 24 | + 24
YUNG 116 |Widerstand gegen die Suggestion | |
Ä einer unbest. Empfindung 20 » | +66 i + 26
- Dick 29 |Widerstand gegen die Suggestion | |
einer Erinnerung 17—19 „ | +50), + 42
HEYMANS 8 |Führer (o) oder geneigt, es zu | |
| machen wie die andern (u) 13—16 , er
84
D. Tabellen zu $ 26.
Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei
verschiedenen Eigenschaften.
Wir untersuchen in, diesem Abschnitt, ob sich im obersten
Leistungsviertel bei einer Klassifikation nach der Eigenschaft A
mehr männliche Personen befinden als bei einer Klassifikation
nach der Eigenschaft B. Ist dies der Fall, so bezeichnen wir das
Verhältnis der Eigenschaften A zu B mit M; umgekehrt, wenn sich
im obersten Leistungsviertel bei einer Klassifikation nach A weniger
männliche, also mehr weibliche Personen befinden als bei einer
Klassifikation nach B, so bezeichnen wir dieses Verhältnis mit F.
Entsprechend werden wir das Symbol M dann zu wählen haben,
wenn sich im untersten Leistungsviertel bei A weniger männliche
Personen befinden äls bei B, — und das Symbol F, wenn sich im
untersten Leistungsviertel bei A weniger weibliche Personen be-
finden als bei B.
Wenn wir z. B. die Leistungen der Klasse Ib der Liverpool
Elementary School (4) in Zeichnen (A) und Lesen (B) miteinander
vergleichen, so ist
Do A = + 44, Do B = — 40; also ist A : B mit M zu bezeichnen.
Vergleichen wir dagegen die Leistungen der Klasse Vb in
Geschichte (A) und Zeichnen (B), so ist
Du A = + 62, Du B = + 80; also ist A : B mit F zu bezeichnen.
Wir haben jedoch im folgenden nicht die sämtlichen vielen
tausend M und F registriert, die sich aus einer derartigen Durch-
arbeitung unseres gesamten Materials ergeben hätten. Erstens
haben wir uns auf einige Eigenschaftsgebiete beschränkt, wie
Unterrichtsleistungen, Interessengebiete u. dgl. Ferner haben wir
nur solche M und F in die Tabellen aufgenommen, die sich über-
einstimmend bei mehreren Personengruppen ergaben.
Hierfür haben wir folgende Regel aufgestellt: Die Prozentzahl der
übereinstimmenden Fälle muis so grois sein, dafs ihre Differenz von 50°) |
einen wahrscsheinlichen Fehler!) hat, der höchstens halb so grols ist wie
die Differenz selbst. Für den Bereich, mit dem wir es zu tun haben, genügt
zur Berechnung dieser Mindestanzahl von Fällen die Formel p = 0,56n + 3,
in der p die gesuchte Mindestzahl von Fällen, n die Gesamtzahl der Ver-
gleichsfälle (mit Ausnahme der Gleichheitsfälle) bedeutet. Wenn z. B.
30 Vergleichsfälle vorliegen, so müssen mindestens 20 (66°) Fälle über-
einstimmen, und die übrigen 10 Fälle können vernachlässigt werden. (Um
!) Vgl, LIPMANN, Welche Mindestzahlen von Versuchen ist zur Siche-
rung eines zahlenmälsigen Resultats erforderlich? Z ing Ps 7, 409— 414.
Vergleich der Geschlechtsverhältnisse bei verschiedenen Eigenschaften. 85
das Material nicht allzusehr zu verringern, haben wir auch solche Fälle
berücksichtigt, bei denen n > 3, — natürlich (für n< 6) nur dann, wenn
sämtliche Vergleichsfälle untereinander übereinstimmen.)
Die Do und die Du wurden im allgemeinen getrennt behandelt;
nur dann wurde (anstatt wie sonst Do A mit Do B und Du A mit
Du B) Do A + Du A mit Do B + Du B verglichen, wenn es sich
um verschiedene Antworten auf dieselbe Frage (z. B. Idealperson,
Lieblingsbeschaftigung) handelte.
Die Tabellen sind folgendermafsen konstruiert: jedes Feld
gehört zu einer — links verzeichneten — Eigenschaft A und einer
— oben verzeichneten — Eigenschaft B. Wenn die Vergleichung
dieser beiden Eigenschaften in einer hinreichenden Anzahl von
Fällen zu einem übereinstimmenden Resultat führt, so ist in das
betreffende Feld je nach dem M oder F eingetragen. — Die Eigen-
schaften sind folgendermalsen geordnet: je öfter sich bei ihr (A)
eine stärkere Überlegenheit der m zeigt, als bei anderen Eigen-
schaften (B), desto höher steht sie in der linken Kolonne und desto
weiter links in der Übeıschriftzeile.
1. Begabungen (Literatur: 8, 48).
ae aey Ant Eada ee weg Se
erzähl. | | |
Mathematik — | M | M | “IM M
Anekdterz. | M M | M | M| M
Zeichnen pe, M M M M
Aufsatz? Ose F M M
Phantasie ? F | | |
Schauspielk.| F F F |
Musik > Bee |
Sprachen F | el. 4, OF | |
! Aufsatz und Schriftstellerei.
? Erzählen selbsterfundener Geschichten.
Tabelle 2 und 3 S. 86—88.
4. Güte der Zeichnung (Literatur: 54).
-= selalela|¥/¥]¢
A B 883 Ss dl:
Eis 2 | ZS AE zZ > E
Trambahn aus dem Gedächtnis | M | MIMIM
Stuhl aus dem Gedächtnis M
Geige nach der Natur
Raumdarstellung F Kai |
Sitzendes Kind nach der Natur F | ch
Stehendes Kind mit Schirm nach der Natur] F E d
Blume aus dem Gedächtnis F Pla
(ueqovadsp Wet
‘n eyovidsi10ezj ny)
ueyouidg
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RISCH
‘yishq gq ‘PIUIIG
ZYUSJUYV
(yasıpoayog
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2. Schul- und Examensleistungen
arydeıdoon
usuw1loz
yonipsny "[punu
(yosyneq)
aypwadsıoynw `
VIGO [VY
D. Tabellen zu § 26.
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86
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S oO d SS Oo OG S ev e SG e D d D E bh DG e o e
87
Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften.
(Literatur: 1, 2, 3, 4, 5, 7, 19, 52, 61, 68, 69, 105).
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D. Tabellen zu § 26.
85
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3. Beliebtheit der Unterrichts- und Studienfächer (gewähltes Studienfach)
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Erdkunde | M | ! IM
Medizin | M : | |
Zahnheilkunde | | | | | i M
Geschichte | | | | F A M M! | M
Science | | | M ` M | | | M
Naturgeschichte | ! | F | | M | | M M
Zeichnen MF Mi. F M MIM! | | M
Schreiben | | || | | | ! M
Handfertigkeit | F M | | | ! |
Gesang F , | F , | M | : M
Lesen F , F | | | | | | M
Turnen F ` F EF ` | ' F, NM | |
Rechnen und Mathem. | | | | F |
Muttersprache | F | | Reg
Sprachlehre | ` | ~
Geistes wissenschaft F F | | | | | | ee
Religion F | F | F] F| F k | | |
(Literatu
r: 8, 17, 19, 69, 78, 80, 94, 98, 99, 112).
Tabelle 4 s. S. 85.
|
89
Vergleich des Geschlechtsterhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften.
W
W
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90 D. Tabellen zu § 26.
6. Einzelheiten der Darstellung
|
|
V
Bekleidung des Halses
V
Bart
Q
Beine
Q
Rumpf
yV
Nase
Q
Ansatz der Arme
V
Augen
y
Brille Si
Q
Hals
y
Zigarre oder Pfeife
E (RE SO
ai re
u mn = =
_
Kopf Q
Bekleidung des Halses V
Bart V i
Beine Q
Rumpf Q
Nase V
Ansatz der Arme Q
Augen V
Brille V
Hals Q F
Zigarre oder Pfeife V |
Schuhe V
Gliederung der Beine V |
Knöpfe an Rumpf V
Haare V
_
—
Kur
| |
Kopfbedeckung V |
Bekleidung der Beine V F | F | |
Ohren V F F
Füße Q F | Be, N F
Finger Q FIF|F| | | | F
Mund ohne Zähne V F | ae F
Gliederung der Arme V EF) | | | | F
Hand Q FF pete | F
Arme Q a Fi | | F | F
Geschlechtsteile V F Pie) ee oe F| F
Nabel V leislsislslsls F|F
Mund mit Zähnen V Pe et EIE IT PIE TI ETZ
Zahl der Arme Q F/F/F/F\/FlF/F/Fi/ FI] FIFI |
Zahl der Finger Q F | F | FIrF|r|r| |
bry
=
=
a
=
Anmerkung: Q heifst Qualität der Darstellung.
V heifst Vorhandensein der betr. Einzelheiten.
91
Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften.
eines Menschen (Literatur 87).
93u 19p (487
D
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A
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D
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SAAS SSS 6S SAA AS SSS SS
S SS e zs
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AA AAR a ā A
A A a LM
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S
92 D. Tabellen zu § 26.
7. Einzelheiten der Schlaraffenlandzeichnungen (Literatur: 109).
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Brunnen a | | | M | | M | |
Bauern Wë | M
Wettlauf | = | | M
Jungbrunnen | | | M |
Schweine E | | M | M | M | M
Käse | F MIN
Fische F F F | M | | |
Wurstzaun F asia |
Kuchenberg F = F |
Schlafröcke | F F| F | =
8. Lieblingsbeschäftigung (Literatur: 8, 48, 72, 82, 105).
— - —— —
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|
Basteln, Bauen u M | M | | | | M M
Sammeln | | | | | | M
Sport! F | | lm MM
Verstandes- und Brettspiele F | | | | | | MIM
Lesen | F | | |
Musik, Besuch von Konzert | | | |
und Opern | F
Geselligkeit, Besuchemachen ? F
Handarbeitsspiele F |
Studieren, Besuch von Vorl.? GIRA P
Glicksspiele F EE |
! Sport und Spiele im Freien, Wintersport, Schlittschuhlauf, Turnspiele,
Beteiligung an einen Athleticklub.
? Besuch geselliger Vereinigungen, Beteiligung an einem rein ge-
selligen Klub.
° Abstrakte und philosophische Grübeleien.
9. Lieblingsspiel (Literatur 65, 82).
Vergleich des Geschlechtsverhältnisses bei verschiedenen Eigenschaften. 93
|
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D. Tabellen zu § 26.
94
10. Idealperson (Literatur: 15, 31, 40, 49, 50, 77).
Herrscher, Kaiser, Kaiserin, Präsident
aus der Geschichte
aus der Geschichte fremder Länder
aus der Geschichte des eigenen Landes
öffentliche Person
Verwandte, Vater und Mutter
aus der Dichtung
Schriftsteller oder Künstler
Jesus
Person des Umgangs, Bekannte
aus der Bibel
Person des anderen Geschlechts
Herrscher
aus der
Geschichte
eig. Landes
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Geschlechts:
95
Vergleich des Geschlechtsverhdlinisses bei verschiedenen Eigenschaften.
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949
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96 D. Tabellen zu $ 26.
Aulser der Frage der relativen Überlegenheit der männlichen oder der
weiblichen Personen interessiert auch die Frage der Gröfse des Geschlechts-
unterschiedes. Wenn wir z. B. gefunden haben, dafs die Begabung für
Mathematik bei den Knaben relativ gröfser ist als die Begabung für Sprachen,
so können wir weiter fragen, ob die Begabung der Knaben für Mathematik
gröfser oder kleiner sei als die Begabung der Mädchen für Sprachen, — ob
sich grölsere Geschlechtsunterschiede, abgesehen von ihrer Richtung,
ergeben, wenn wir nach dieser oder jener Eigenschaft klassifizieren. Mit
anderen Worten: neben dem Vergleich von DA mit DB (unter Berück-
sichtigung der Vorzeichen) interessiert auch der Vergleich von |DA| und
| DB; (ohne Berücksichtigung der Vorzeichen, den absoluten Beträgen nach).
Wir haben den paarweisen Vergleich der Eigenschaften auch hierfür durch-
geführt, sind aber dabei nur so selten zu übereinstimmenden Ergebnissen
gelangt, dafs wir nicht näher darauf eingehen.
97
E. Tabelle zu §§ 28 und 29.
Anderungen des Geschlechtsunterschiedes in ihrer
Abhängigkeit vom Alter.
Wir haben in sämtlichen Fällen des in Kapitel II niedergelegten
Materials, in denen derselbe Versuch an Angehörigen verschiedener
Altersgruppen angestellt war, die absoluten Beträge der Do + Du
bei je zwei Altersstufen (a und A) miteinander verglichen. Wenn
bei einer Altersstufe nur Do oder Du berechnet war, so haben wir
auch nur das Do oder das Du der anderen Altersstufe zum Ver-
gleich herangezogen.
Wir haben hier nur volle Altersstufen miteinander verglichen;
d.h. wir haben Altersstufen, die sich nur um 4%, Jahr unterscheiden,
aulser Vergleich gelassen, im übrigen Halbjahresstufen der nächst-
niedrigeren zugerechnet. Wir haben also z. B. 9- mit 9% jährigen
gar nicht verglichen und die Vergleiche von 9- mit 10Y/, jährigen
mit den Vergleichen der 9- und 1l0jährigen zusammengeworfen.
Wir scheiden zunächst diejenigen 618 Vergleichsfälle aus, in
denen Do a + Du a ein anderes Vorzeichen hat als Do A + Du A.
Solche Fälle von Richtungsänderungen des Geschlechtsunter-
schiedes finden sich, wenn wir die Altersstufen von 3 bis 17 Jahren
mit den um je 1 bis 2 Jahre höheren Altersstufen vergleichen, unter
2390 Vergleichsfällen 223mal (9%); wenn wir sie mit den um je
3 bis 4 Jahre höheren Altersstufen vergleichen, unter 1419 Ver-
gleichsfällen 202mal (14%), und wenn wir sie mit Altersstufen,
die um 5 oder mehr Jahre höher sind, vergleichen, unter 839 Ver-
gleichsfällen 179mal (21%).
Die 3725 Fälle, bei denen überhaupt Zunahmen oder Abnahmen
des Geschlechtsunterschiedes vorkommen, verteilen sich über 135
Vergleichspaare derart, dafs die Zahl der auf ein Vergleichspaar
entfallenden Fälle meist zu klein ist, als dafs die Zahl der Zunahmen
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Teil. 7
98 E. Tabelle zu §§ 28 und 29.
deutlich genug die Zahl der Abnahmen übersteigt. Wir haben
nur diejenigen 28 Vergleichspaare mit 888 Vergleichsfällen weiter
berücksichtigt, bei denen der Überschufs der Zunahmen über die
* Abnahmen (oder umgekehrt) der im Teil II D, S. 84 aufgestellten
Regel entspricht. Dafs diese Auswahl, bei der wir nur zwischen
4 und 8,4 und 9, 4 und 10 Jahren mehr Abnahmen als Zunahmen,
in den übrigen 25Fällen aber mehr Zunahmen finden, die allgemeine
Gesetzmälsigkeit nicht fälscht, geht daraus hervor, dals auch unter
den übrigen 107 Vergleichspaaren in 86 Fällen die Zahl der Zu-
nahmen und nur in 14 Fällen die Zahl der Abnahmen grofser ist.
(in 7 Fällen ist die Zahl der Zu- und Abnahmen gleich).
& A | Zunahme | Abnahme & A | Zunahme | Abnahme
| |
4 8 0 6 12 17 3 0
4 9 0 6 13 19 14 1
4 10 | 0 7 14 15 27 16
6 11 32 19 14 17 17 4
6 13 14 5 14 18 9 1
7 10 52 34 14 19 9 1
7 IE 49 31 15 19 26 1
7 13 24 10 16 17 21 10
8 13 1 38 17 16 18 13 3
9 12 | 80 54 16 19 15 0
10 13 66 36 16 20 3 0
11 14 30 15 17 19 13 2
11 15 16 7 18 19 14 13
12 13 | 74 47 jg.!) alt. | 47 13
1) Kinder und Eltern bei HEYMANS-WIERSMA (48).
99
F. Tabelle und Figur zu $ 30.
Die Besserleistung eines Geschlechts in seiner Abhängig-
keit vom Alter.
Die Vergleichung je zweier Altersstufen ist für diejenigen
Ergebnisse, die eine Wertung enthalten, auch in der Weise durch-
geführt worden, dals wir untersucht haben, ob sich von der nie-
drigeren Altersstufe (a) zur höheren (A) hin, die Leistung der
männlichen Personen oder die der weiblichen relativ stärker ver-
bessert. Während wir also im vorigen Paragraphen die absoluten
Beträge der Ausdrücke | Do a + Du a | und | Do A + Du A | unter-
suchten, ziehen wir hier die Vorzeichen mit in Betracht und
sprechen von einer relativen Besserung der männlichen Leistungen
(M), wenn (Do a + Du a) — (Do A + Du A) < 0, dagegen von
einer relativen Besserung der weiblichen Leistungen (F), wenn
(Do a + Du a) — (Do A + Du A) > 0.
Wir brauchen uns also hier nicht auf diejenigen Fälle zu be-
schränken, in denen keine Richtungsänderung des Geschlechts-
unterschiedes vorliegt.
Ferner haben wir hier auch die Halbjahresstufen besonders
berücksichtigt.
M (relative Besserung der männlichen Leistungen) liegt in 1708
(54% bzw. 58%) Fallen vor, F in 1240 (39% bzw. 42%) und ein
Gleichbleiben in 232 (7%) Fallen.
Diese Prozentzahlen haben jedoch hier keine allgemeine Be-
deutung, weil bei einer Betrachtung der 339 einzelnen Vergleichs-
paare sich sowohl eine Zahl von Vergleichspaaren ergibt, bei denen
die M-Fälle in der Überzahl sind (191), wie auch eine Zahl von
Vergleichspaaren, bei denen die F-Fälle in der Überzahl sind (112).
Dafs die Verteilung der M- und F-Fälle jedoch keine rein zu-
fällige ist, zeigt eine nähere Betrachtung derjenigen 42 Paare ver-
7%
100 F. Tabelle und Figur zu $ 30.
glichener Altersstufen mit 622 Vergleichsfällen, bei denen wiederum
(nach der in Teil II D, S. 84) aufgestellten Regel der Überschufs
der M- über die F-Fälle genügend grols ist, um nach der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung eine reale Bedeutung beanspruchen zu
dürfen. Unter Zugrundelegung dieser 42 Vergleichspaare zeigt sich
nun, dafs die M-Fälle sich auf die Altersstufen zwischen 31, und
10 Jahren, die F-Fälle auf die Altersstufen zwischen 14 und 19
Jahren konzentrieren.
7
3 | 0 6% 10% 10 0
31, 4 0 7 81, 11 2
3% 8% | E 0 7 10 38 16
BO 8 0 az n 35 18
31,10 5 0 ou 8% 12 2
3% 10% 6 0 1%, 10% 10 1
3% 1l 5 o 10 42 27
3% 11% 5 0 9 10 43 28
Se 12 | 4 0 9 16 9 22
3, 12% 5 0 10 10% 11 3
8 3 0 023 21 11
5 8%, 3 0 10% u 2 10
5 100% |} 38 0 10% 138% 0 3
e ol 8 0 1 12% 12 3
Be Bi a 0 121, 131, 0 4
6 sy | 7 0 13 M 16 25
6 10 29 14 131, 14 3 0
6 10%, 8 0 4 19 0 3
6 11 27 14 6 19 0 4
6 111, 6 0 18 19 0 3
6% 10 9 1 | Jg.*) alt. 13 1
Die Kurve stellt sämtliche in der Tabelle enthaltenen Grölsen-
verhältnisse graphisch dar. Sie ist natürlich nicht die einzige Mög-
lichkeit einer graphischen Wiedergabe dieser Gröfsenverhältnisse ;
insbesondere muls es nach der Tabelle ganz dahingestellt bleiben,
ob und wo die Kurven, welche die Entwicklung der beiden Ge-
schlechter darstellen sollen, sich schneiden ; ebensowenig Anhalts-
punkte haben wir für den Neigungswinkel. Das einzige, was wir
1) Kinder und Eltern bei HEYMANS-WIERSMA (48).
Die Besserleistung eines Geschlechts in seiner Abhängigkeit vom Alter. 101
a
LI
eben ies
keet
ptt ttt tt
ITT
~
AA Eee
xt ttt tT e
/L | | i | tT tt TT a
Aller: 5 mo 12 13 jw 15 1 17
aus der Tabelle annäherungsweise entnehmen können, ist das
Gröfsenverhältnis der Abstände der beiden Kurven voneinander,
und bei jeder Darstellungsweise mülste sich z. B. dies ergeben,
dafs der Abstand (von der Mädchenkurve zur Knabenkurve hin
als positiv betrachtet) im Alter von 12 Jahren am grölsten ist.
102
G. Tabelle und Figur zu § 31.
Das Verhältnis des Geschlechtsunterschiedes im Ver-
laufe eines Schuljahres.
Wir vergleichen jedes einem bestimmten Termin (,,T‘) zu-
geordnete Zeugnisergebnis der Bristol Holt Secondary School (2)
mit allen anderen, früheren und späteren Terminen (,,t‘‘) zuge-
hörigen Zeugnisergebnissen derselben Klasse und desselben
Unterrichtsfaches. Wir bezeichnen alle diejenigen Fälle als „+“,
in denen die Knabenleistung bezogen auf die Leistungen der
Mädchen, zu dem Termin T besser ist als zu dem Vergleichstermin t,
und wir bezeichnen sie als ,,— ‘‘, wenn sie zu dem Termin T schlechter
ist als zu dem Termin t. Als „+“ werden also diejenigen Fälle
gezählt, in denen von t zu T eine relative Besserung oder von
T zu t eine relative Verschlechterung der Knaben-Leistung ein-
tritt, als ,,—‘“‘ diejenigen Fälle, in denen von t zu T eine relative
Besserung, von T zu teine relative Verschlechterung der Mädchen-
Leistung eintritt, als ‚O0‘ diejenigen Fälle, in denen der Geschlechts-
unterschied in T und t der gleiche ist.
Die nachstehende Tabelle enthält die Anzahl der +, — und
0-Fälle, und zwar in jedem einem bestimmten T und t zugeordneten
Felde links oben die Zahl der +-Fälle, in der Mitte die Zahl der
0-Fälle, rechts unten die Zahl —-Fälle. Zu jedem T gehört eine
(vertikale) Kolonne, zu jedem t eine (horizontale) Zeile.
Die vorletzte Zeile enthält für jedes T die Summe der +- 0-,
und —-Fälle, die letzte Zeile die entsprechenden Prozentzahlen ;
hierbei sind die 0-Fälle zur Hälfte den +-, zur Hälfte den —-Fällen
zugerechnet.
— go
Das Verhältnis des Geschlechtsunterschiedes im Verlaufe eines Schuljahres. 103
14.X.|28. X. |18. X1.9. XII. 2, 11,23. IL| 15. 11| 25. V. |15. ve VI.
3 2 3 6 | 1
14
J
26
"
| |
2 2 2 2 3
19 (21
12 3
20 31 | 14
40 Lg
29 52 An 421 on 54 5
In der Kurve ist die Prozentzahl der zu jedem T gehörigen
+-Fälle graphisch dargestellt.
104 G. Tabelle und Figur zu § 31.
Die Schulleistungen der Knaben im Verhältnis zu denen der
Mädchen an verschiedenen Zeugnis-Terminen.
(Je gröfser die Ordinate, desto gröfser die Überlegenheit der Knaben über
die Mädchen bzw. desto geringer die Überlegenheit der Mädchen über die
Knaben.)
Winter frühjahrs Sommer
-Trimester -Trimester -Trimester
Mont X WD M I Z M PW
105
H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
Allgemeine Statistik der Ergebnisse.
Wir teilen die Ergebnisse unserer Zusammenstellung
a) in solche, die nach der Alternative(A)- und solche, die
nach der Klassifikations(K)-Methode festgestellt worden sind,
b) in solche, die eine Wertung (W), und solche, die nur eine
nicht-wertende Konstatierung enthalten (oW),
c) die Wertungsresultate ferner in solche, die zugunsten
der m, und solche, die zugunsten der f sprechen.
d) die Klassifikations-Wertungsresultate ferner in solche, die
das oberste und solche, die das unterste Leistungsviertel betreffen.
So entstehen 8 Gruppen von Resultaten. Innerhalb jeder
Gruppe sind nach ihrer Zuverlässigkeit unterschieden diejenigen
Resultate, bei denen @ = 2,3... Jedoch sind die Resultate bet
den Q gleich 6 oder 7, 8-10, 11—20, 21—100, > 101 zu je einer
Gruppe zusammengefalst; dadurch werden kleine Unregelmäfsig-
keiten, die durch Zugrundelegung zu kleiner Anzahlen entstehen,
ausgeglichen. — Tabelle 1 orientiert über die Resultate dieser
Z&ählung?).
1) Tabelle la gibt eine Statistik der Q für diejenigen Resultate, die
HEYMANS-WIERSMA (48) an der jüngeren Generation ihrer Enquete-Per-
sonen gewonnen haben, Dies ist von unseren Materialien dasjenige, welches
die meisten Einzelbestimmungen über ein und dieselbe Personengruppe
umfafst. Daher sind die Gröfsenverhältnisse der Q hier ausschliefslich
durch die Prozentzahlen und nicht durch die Personenzahl bestimmt.
Daher können wir hier auch diejenigen — in der Tabelle des Kapitels II
nicht mit aufgenommenen Fälle — in denen Q < 2 mit in Vergleich stellen.
Die beiden ersten Zeilen der Tabelle la enthalten die absoluten Anzahlen
der Ergebnisse, bei denen Q = 0, 1, 2.. ., getrennt nach Klassifikations-
und Alternativergebnissen; die beiden letzten Zeilen enthalten die ent-
sprechenden Prozentzahlen, dividiert durch die Anzahl der (in der Über-
schrift) zusammengefalsten Gröfsenklassen (analog der Figur ]).
106 H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
Ta-
— SS
Leistungs- zugunsten |
Methode | Seet déo Q= 2 3 ne EELER 4
l A — — 736 588 438
2 A — m 160 132 80
3 A _ f 86 86 48
4 K — | — 133 77 53
5 K o m 105 64 60
6 K u m 86 95 45
7 K o f 123 78 66
8 K | u | f | 109 98 79
Tabelle la (s. Anm. vor. Seite).
Q =
0—1 2—4 5—10 11—20 > 21 Summe
134
68
202
K 12,7 6,7 4,0 1,6 0,2 --
A 8,8 9,8 2,0 1,8 0,3 —
In den folgenden Tabellen (2—9) sind die Gesamtanzahlen
der in verschiedene Gruppen entfallenden Ergebnisse zusammen-
gezogen oder zueinander in Vergleich gestellt.
Tabelle 2. Tabelle 3.
1—3 A 5804 1,4 ohne Wertung 4755
4—8 K 2737 2,3.5—8 mit Wertung 3786
Gesamt-Anzahl . . . . 8541 Gesamt-Anzahl . . . . 8541
Tabelle 4. Tabelle 5.
5 Oo 606 51% 7 o 466 48%,
6 u 577 49% 8 u 513 52%,
K-Ergebnisse zu- K-Ergebnisse zu-
gunsten der m . 1183 gunsten der f . 979
Tabelle 6. Tabelle 7.
2, 5, 6 m 2269 60% 2 m 1086 67%
3, 7,8 f 1517 40% 3 f 538 33%,
Wertungs- A-Wertungs-
Ergebnisse 3786 Ergebnisse 1624
Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 107
belle 1.
Tabelle 8. Tabelle 9.
5 m 606 56% 6 m 577 53%
7 f 466 44% 8 f 513 47%
Ergebnisse im o- Ergebnisse im u-
Leistungsviertel 1072 Leistungsviertel 1090
Die Figuren 1—3 geben den Inhalt der Tabelle 1 in graphischer
Darstellung wieder; die einzelnen Q-Werte sind als Abszissen und
ihre Häufigkeit als zugehörige Ordinaten eingetragen. Überall da,
wo in Tabelle 1 die auf zwei oder mehr Q-Werte entfallenden
Ergebnisanzahlen zusammengefalst wurden, ist als Abszisse das
arithmetische Mittel der zusammengefalsten Ergebnisanzahlen
eingetragen. Aus Gründen der Platzersparnis sind in den Figuren
die zu Q > 21 gehörigen Ergebnisanzahlen weggeblieben.
Figur 1 enthält in getrennten Kurven die Prozentzahlen
der Alternativ- und der Klassifikationsergebnisse, die auf die Q
verschiedener Grölse entfallen. Es werden also einmal die Zeilen
1—3, und zweitens die Zeilen 5—8 der Tabelle 1 zusammengefalst.
(Figur 1 siehe Seite 108.)
Für Figur 2 wurde berechnet, wieviel Prozent einmal der
Alternativ- und zweitens der Klassifikations-Wertungsergebnisse
zugunsten des einen oder des anderen Geschlechts sprechen und
zugleich auf ein Q bestimmter Grölse entfallen. Als Divisor der
Prozentzahlen-Berechnung dient also für die Alternativresultate
die Summe der Zeilen 2 und 3 (1624), für die Klassifikations-
tesultate die Summe der Zeilen 5—8 (2162); im Zähler der Brüche
aber treten die Werte der Zeilen 2 und 3 einzeln auf, bzw. werden
108 H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
Figur 1.
Prozentuale Häufigkeit der Q verschiedener Gröfse bei sämtlichen (5804)
Alternativ- und (2737) Klassifikations-Ergebnissen.
m m m mem um em em =m. am + ees a ms as ae o em
Zum Vergleich ist ein Stück der Kurve
— x?
29 0%
y= E e SES eingezeichnet.
4Qy2x
% K
. Es
OLA
18
>
7
i rer
; CONE
et En
P DRETT
, Ket tT tt
ZS
GEN
ITT
— a
Q2 3 + 5 6 F 8 1 1 13 1% 75
16
Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 109
nur die der Zeilen 5—6 und 7—8 zusammengefalst. Diejenigen Q,
zu denen Resultate zugunsten der m gehören (Zeile 2, 5—6),
werden als Abszissen nach rechte, diejenigen, zu denen Resultate
zugunsten der f gehören (Zeile 3, 7—8) nach links von der Ordinaten-
achse abgetragen. Jedem Q von bestimmter Grölse entspricht
also eine rechts und eine links von der Achse liegende Ordinate.
Bei der Kurve der Alternativergebnisse hat der auf der rechten
(m-) Seite gelegene Kurvenpunkt stets eine grölsere Ordinate als
der zu einer gleichen Abszisse gehörige auf der linken (f-) Seite
gelegene; bei der Kurve der Klassifikationsergebnisse ist dies
nur für diejenigen Kurvenpunkte der Fall, die zu Abszissen (Q)
> 5 gehören, während bei Abszissen < 5 die auf der f-Seite ge-
legenen Punkte gröfsere Ordinaten haben.
Figur 2.
Prozentuelle Häufigkeit der Q verschiedener Grölse bei sämtlichen 1624
gebnisse zugunsten der m und zugunsten der f.
PTT TTT TNT TTT
EE EE
a i
eA tT | | | EL
~
MIKAT Miz
A A Yate
AT
LJ
oe
ett | ty
ITLL oS
e
nd
mund
a ar am ne m:
0:16 1% 12 00 8 6 4 ZO ZA 6 8 M 12 "jk 6H.
110 H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
- Figur 3 enthält auf der rechts von Ordinatenachse gelegenen
Hälfte die absoluten Anzahlen der zugunsten der m sprechenden
Klassifikationsergebnisse (Zeile 5 und 6), auf der linken Seite
‘die Anzahlen der zugunsten der f sprechenden (Zeile 7 und 8).
O
Auch hier sehen wir, dafs zu Q < 5 auf der f-Seite grölsere Er-
gebnis-Anzahlen gehören als auf der m-Seite, dagegen zu Q > &
auf der m-Seite grölsere Anzahlen als auf der f-Seite. — Ferner
sind auf der m-Seite diejenigen Anzahlen, die sich auf Geschlechts-
vergleiche im obersten Leistungsviertel beziehen, bei allen Q > 4
fast ständig grölser als diejenigen, die sich auf das unterste Leistungs
viertel beziehen, während auf der f-Seite schon von © = 3 ab die
Anzahlen für das unterste Leistungsviertel fast ständig grölser sind
als die für das oberste.
Figur 3.
Absolute Häufigkeit der Q verschiedener Grölse bei sämtlichen Klassifikations-
viertel, getrennt in Ergebnisse zugunsten der m und zugunsten der f.
I HE DR ER KR SO EEE HE
ERR eee
ptt de TINGS le
zee iS
SE
(lU Net
(CITT IS
Lk alles
EEL VELL
ji
[a or
| | | LAR EBT
Ee hes a a |
TE Hei
die eT [| [ | |
ZA
>
mY
N
74 70
©
e
"E
N
©
N
>
Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 111
Wir teilen die Ergebnisse der Zusammenstellung der Pem
a) in solche, die nach der Alternativ(A)- und solche, die nach
der Klassifikations(K)- Methode festgestellt worden sind,
b) in solche, die eine Wertung (W), und solche, die nur eine
nichtwertende Konstatierung enthalten (oW),
c) in solche, die zugunsten der m, und solche, die zugunsten
der f sprechen (Wertungsergebnisse) oder die wenigstens zeigen,
dafs die betr. Eigenschaft bei dem einen oder anderen Geschlecht
häufiger ist (Alternativergebnisse ohne Wertung).
So entstehen 7 Gruppen von Resultaten. Innerhalb jeder
Gruppe sind diejenigen Resultate gezählt, bei denen Pem = 50,
51, 52... 148, 149, 150. Jedoch sind die Resultate, bei denen
Pem = 650 bis 68, 69 bis 84, 85 bis 92, 93 bis 96, 97 bis 98, 102
bis 103, 104 bis 107, 108 bis 115, 116 bis 131, 132 bis 150 zu je
einer Gruppe zusammengefalst. — Aulserdem sind bei den Klassi-
fikationsergebnissen diejenigen Resultate besonders gezählt, bei
denen nur Qo oder Qu grölser als 2 ist, und bei denen sich daraus
ergibt, dafs Pem als grölser oder als kleiner als 100 anzunehmen
ist. — Tabelle 10 orientiert über die Resultate dieser Zählung).
(Tabelle 10 siehe Seite 112 und 713.)
Aus den absoluten Zahlen der Tabelle 10 sind dann in Ta-
belle 11 die entsprechenden Prozentzahlen berechnet; als Divisor
dient dabei stets die Summe der in einer Zeile der Tabelle 10
stehenden Zahlen ; nur bei den Klassifikationsergebnissen ist nicht
diese Summe zugrunde gelegt, sondern nur die Summe derjenigen
Anzahlen, bei denen Pcm wirklich der Gröfse nach bestimmt
werden konnte, also die Gesamtsumme vermindert um die An-
1) Wie aus einem Vergleich der Tabellen 1 und 10 ersichtlich, decken
sich die Resultate der beiden zugrundeliegenden Zählungen nicht. Die
grolsen Unterschiede zwischen den Summen rühren daher, dafs in Tabelle 1
die Resultate des obersten und des untersten Leistungsviertels gesondert
gezählt wurden, während hier im allgemeinen zwei solche Resultate als
zusammengehörig und nur als eines gezählt wurden. Sieht man von dieser
Verschiedenheit der Zählung ab, so bleiben noch einige kleinere Differenzen
übrig, die z. T. daher rühren, dafs es bei manchen Resultaten zweifelhaft
ist, ob ihnen eine Wertung oder keine Wertung zugrunde liegt. Es mag
also hier und da vorgekommen sein, dafs dasselbe Resultat einmal als
Wertungsergebnis, einmal als Ergebnis ohne Wertung gezählt wurde. Da
diese Zählungsunterschiede aber im Verhältnis zur Gesamtzahl minimale
sind, und die Resultate, auf die es ankommt, nicht verändern können,
so lohnte es sich nicht, ihnen nachzugehen und sie zu eliminieren.
IAAP oh =
112 H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
ten Eet lt TT" |
Methode | der | Wertung | _ 100 506818984 85—92 93 —96 EEN
K — 125 | 1 5 | 20 | 25 | 24
K m 202| 3 | 39 | 51 | 53 | 29
K f W 251; O | 14 | 37 | 46 | 34°)
A | m | W — | 62 | 8 | 53 | 52 | 28
A f W — | 20 | 21 | 25 | 20 | 31
A m oW — | 395 | 306 | 160 | 49 | 16
A f oW — į 1 | 26 | 45 | 55 | 41
zahlen der ersten und letzten Kolonne. — Die so entstehenden
Prozentzahlen wurden ferner dividiert durch die Anzahl der in
der Überschrift je einer Kolonne zusammengefalsten Gruppen.
Die in der Tabelle stehende Prozentzahl 5,5 derjenigen Pcm, die
bei den Klassifikationsergebnissen ohne Wertung auf die Grölsen
99 bis 101 entfallen, besagt also z. B., dafs 16,5%, aller Pem in
dieser Resultat-Gruppe die Grölse 99, 100 oder 101 hatten, oder
dals auf die Werte 99, 100, 101 durchschnittlich je 5,5% der
Pem entfielen.
EE
zugunsten vag (eras leo es
Methode der Wertung | 50—68 |69—84 '85—92 |93—96 | 97—98
1 K == oW 0,0 0,2 1,5 3,7 7,0
2 K m Ww 0,0 0,6 1,6 3,3 3,6
3 K f W 0,0 0,3 1,8 4,6 6,8
4 A | m OO W 05 : 1 1,2 2,4 2,6
5| A f vw 04 | o5 |13 | 2,0 | 6,3
6 A m oW 1,9 1,7 18 ' 1,1 0,7
7 A f | oW 0,0 0,2 | 06 . 1,4 2,0
In Figur 4 sind die in den Zeilen 1 bis 3 der Tabelle 11 ent-
haltenen Prozentzahlen noch einmal graphisch dargestellt. Als
Abszissen sind die Durchschnittswerte der Überschriften, als
Ordinaten die eben definierten durchschnittlichen Prozentzahlen
eingetragen. Die Werte, die zu Abszissen gehören, die für je
eine Kurve gleich weit von 100 entfernt sind, sind durch
punktierte Linien verbunden; ihr schräger Verlauf zeigt, dafs die
Kurven schief sind, und dafs die links von der Mittellinie gelegenen
Ordinaten, die zu Abszissen < 100 gehören, stets grölser sind als
Ta-
Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 113
belle 10.
Se gé ei Ales, > 100 ae
20 | 4 21 23 19 l 0 lll 171 | + 236
40 | 12 28 45 50 Pe | 2 176 803 | + 378
35 | 6: 20 25 25 9 1 208 258 | + 459
7 | 18 | 20 40 60 65 48 536 =
3! 9; 15 22 32 24 14 e 245 =
1% | 14, 24 38 34 A0 3 = 1111 Sg
13/11: 30 72 154 265 279 = 1004 SE
die zu Abszissen > 100 gehörigen Punkte der rechten Kurven-
halfte.
(Figur 4 siehe Seite 114.)
Bei den Alternativergebnissen ohne Wertung (Zeile 6 und 7
der Tabellen 10 und 11) gewährt die Grölse von Pcm einen Mals-
stab für die Häufigkeit, in der die betreffende Reaktionsweise
überhaupt vorkommt, und zwar ist, wenn es sich um m-Ergebnisse
handelt (Zeile 6), die Reaktionsweise um so seltener, je kleiner
Pem ist; wenn es sich um f-Ergebnisse handelt (Zeile 7), so ist
belle 1l.
99—101 kee Reg 132—150
5,5 6,1 3,4 1,4 0,1 0,0
5,0 3,5 2,8 1,6 0,7 0,0
6,2 4,0 2,5 1.2 0,2 0,0
2,1 1,9 1,9 1,4 0,8 0,5
2,9 3,1 2,2 1,6 0,6 0,3
1,4 1,1 0,9 0,4 0,2 0,0
1,2 1,1 1,8 1,9 1,7 1,5
die Reaktionsweise um so seltener, je kleiner Pcf, oder je grölser
Pem ist (vgl. Teil I, S. 96). — Wenn wir sagen, dafs diejenigen
Reaktionen, die ein m-Resultat ergeben, und bei denen Pem = 60,
den Häufigkeitsgrad h = 10 besitzen, so werden wir denselben
Häufigkeitsgrad h = 10 auch denjenigen Reaktionen zuschreiben
müssen, die ein f-Resultat ergeben, und bei denen Pem = 140.
Dagegen werden Reaktionen, die ein m-Resultat und Pem = 140,
oder ein f-Resultat und Pem = 60 ergeben, den Häufigkeitsgrad
h = 90 besitzen usw. — In Figur 5 sind die in den Zeilen 6 und 7
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 14. Zweiter Tel. 8
114 H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
Figur 4.
Prozentuelle Häufigkeit der Pcm verschiedener Gröfse bei den 403 Klassi-
fikations- Wertungs- Ergebnissen zugunsten der m, den 258 Klassifikations-
e LA
09
OL
2
E
Cl
=
zx
=
=
CG
Ki
WW
E
- EITI > Y 703
{ i pe / ke wë | 102-7
{ ! w A} — E J
2L
» =
af ET
IG. 1 jars
1/7
Si
eC
116-757
bert
I IT:
|
pit ft FEE
“a A
~
Q
der Tabelle 10 enthaltenen Anzahlen graphisch dargestellt. Als
Abszissen sind die durchschnittlichen Häufigkeitsgrade, die sich
aus den Kolonnenüberschriften ergeben, als Ordinaten die durch-
‚Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 115
schnittlichen Anzahlen eingetragen, und zwar getrennt fiir die
m- und fiir die f-Ergebnisse. — Die Kurve der m-Ergebnisse hat.
ihr Maximum beim Häufigkeitsgrad h = 9, die der f-Ergebnisse
beim Häufigkeitsgrad h = 52,5.
Figur 5.
grade.
been em
60.
7 5865
3
h ——
eg ‘
du
te, Denge wg
ng,
+6
48 52-5354
47
abs. Anzahl
is
116 H. Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
Die im Teil II B, 8. 54 und 55 zusammengestellten 440 Paare
zusammengehöriger Vm und Vf lassen eine doppelte Behandlungs-
weise zu:
1. Wenn wir die Differenzen je zweier zusammengehöriger Vm
und Vf nach ihrer Grölse ordnen, so ergeben sich die in Tabelle
12 verzeichneten Häufigkeiten. Der Zentralwert der Differenzen
Vm — Vf ist + 0,03, ihr mittlerer Bereich liegt zwischen + 0,11
und —:0,07.
Tabelle 12.
— [|
Häufigkeit | Diffe- | Häufigkeit | Häufigkeit | Diffe- | Häufigkeit
Vm — Vf renz Vf — Vm Vm — Vf renz Vf — Vm
27 | 0,00 | 26 1 0,24 0
5 0,01 6 11 0,25 10
3 0,02 2 1 0,26 0
24 e 0,03 8 0 | 0,27 1
24 0,04 16 0 0,28 1
13 0,05 2 2 0,29 0
5 0,06 2 0 0,30 l
10 0,07 5u 2 0,31 0
17 0,08 23 11 0,33 3
7 | 0,09 5 2 0,35 1
9 0,10 9 2 0,37 0
so | ou 0 1 0,40 0
10 | 0,12 6 0 0,44 1
15 0,13 19 6 0,50 0
3 0,14 1 2 0,58 l
4 0,15 5 4 0,67 l
1 0,16 2 1 0,75 | 2
15 0,17 14 1 0,83 0
2 0,18 0 1 0,87 0
l 0,19 0 0 0, ei 1
s 0,20 2 0 1
1 0,22 1 233 23 |Summe| 14 mer] 154
3 0,23 2
Der Inhalt der Tabelle 12 ist in Figur 6 graphisch dargestellt,
und zwar sind die Differenzen Vm — Vf als Abszissen, ihre Häufig-
keiten als Ordinaten eingetragen. Im Interesse grölserer Anschau-
lichkeit sind wiederum mehrere Differenzen zusammengefalst,
und ihre Durchschnittswerte (als Abszissen) bzw. die Durchschnitts-
werte ihrer Häufigkeiten (als Ordinaten) den Kurvenpunkten
zugrunde gelegt worden. — Auf die bereits früher geschilderte
Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 117
Art wurde wiederum veranschaulicht, dafs die zu positiven Diffe-
renzen (als Abszissen) gehörigen Häufigkeiten (Ordinaten) stets
grölser sind als die zu negativen gehörigen.
Figur 6.
Absolute Häufigkeit der Vm-V£ verschiedener Gröfse bei 440 Klassifikations-
Ergebnissen.
2. Wenn wir die Vm und die Vf — ohne Rücksicht auf Zu-
sammengehörigkeit, jeden Wert für sich, nach ihrer Grölse ordnen,
so erhalten wir die in Tabelle 13 verzeichneten Häufigkeiten. —
Der Zentralwert der Vm ist 0,20, und der mittlere Bereich der Vm
ist begrenzt durch 0,13 und 0,28; der Zentralwert der V£ ist 0,17
und die mittelsten 50%, der Vf liegen zwischen 0,11 und 0,25.
Auch hier ergibt sich also, dafs die Vm durchschnittlich um 0,03
grölser sind als die Vf.
118 Tabellen und Figuren zu Kapitel V.
Tabelle 13.
ae a Eee m Een a en se ge
Häufigkeit | Häufigkeit | Häufigkeit Häufigkeit
der | V der der V der
Vm Vi Vm Vi
um
54 0,00 48 10 0,30 ! 5
0 001 ` 3 1 0,31 | 2
2 0,02 2 4 0,32 | 2
3 0,03 4 23 0,33 | 33
3 0,04 1 l 0,34 | 0
2 0,05 1 l 0,35 | 2
2 | 0,06 2 2 0.36 | 3
3 | 0,07 8 5 0,38 | 5
6 0,08 4 3 0,40 | 5
3 ` 0,09 3 l 0,42 ` 1
14 i 0,10 36 3 0,43 ` 1
7 | 0,11 4 0 0,44 | 1
0 | 0,12 2 1 | 045 | 0
o 50 | 0,13 69 2 0,47 | l
6 ' 0,14 6 30 0,50 | 12
l | 0,15 5 1 0,51 | 0
1 | 0,16 2 1 0,54 | 0
54 ' 0,17 64 1 0,55 | 0
6 i 0,18 3 3 0,56 | 0
2 0,19 4 1 0,57 | 0
c 23 0,20 16 0 0,60 1
3 | 0,21 7 2 0,63 1
3 0,22 3 2 0,67 2
4 | 0,23 | 4 1 0,73 0
2 | 0,24 1 0 0,75 4
64 ' 0,25 | 40 0 0,79 1
2 Ä 0,26 | 3 1 0,83 0
5 0,27 4 8 1,00 | l
u3 ` 0,28 2 0 1,50 1
5 | 0,29 4 0 o 1
Bei 42 Resultaten, bei denen die Anzahlen der männlichen
und weiblichen Versuchspersonen die gleichen waren (nm = nf),
konnte aufser Vm und Vf auch Vz berechnet werden. Aus der
Zusammenstellung in Teil II B, S. 5£ u. 55 ergibt sich, dals in der
grolsen Mehrzahl (60%) dieser Fälle Vz grölser ist als Vm und Vf
oder wenigstens gleich dem grölseren dieser beiden Werte. In
Allgemeine Statistik der Ergebnisse. 119
24%, der Fälle liegt Vz seiner Grölse nach zwischen Vm und Vf
und nur in 16% ist es höchstens ebenso grofls wie der kleinere der
beiden Werte. Wenn wir uns diese drei Haupttypen graphisch-
schematisch darstellen (vgl. Figur 7), so zeigt sich, dafs die Ver-
teilungskurve für eine aus beiden Geschlechtern kombinierte
Gruppe in den weitaus häufigsten Fällen (Typus I und II, 84%)
zweigipfelig ist ; sie ist nur in den sehr seltenen Fällen des Typus III
eingipfelig, in denen die ‚Normalzonen‘‘ der Leistungen beider
Geschlechter wenigstens teilweise zusammenfallen.
Figur 7.
Häufigkeit
Thi VE us II
TË "aam
é ree bn UO N u == = Vz = 0,25 t
DE DRlu KH E
=: aM (Cut N L
Jr GP S rye ee a
SE
mA | I
= ~
Ve = 0,33
Vk = 0,25 Typus III
0
Vz = 0,14 E
Mebzehlen:7 2 = 9 1 11
120
J. Bibliographie.
a) Die benutzten im Original nicht veröffentlichten Materialien
sind die folgenden:
1.
bo
Bielefeld. Volksschule.
Zeugnislisten.
Ostern 1913.
Übermittelt durch Herrn Rektor A. FRANKEN.
. Bristol Holt Secondary School.
14 tägige Zeugnisse des Schuljahres 1911 X bis 1912 VII.
Übermittelt durch Herrn Prof. C. Burr.
. Bristol. Merrywood Secondary School.
Ergebnisse der Prüfungen im Herbst 1912 und Früh-
jahr 1913.
Ubermittelt durch das Bristol Education Committee.
. Liverpool. Elementary School.
Ergebnisse der Prüfungen 1911 XII, 1912 V1 und
1912 XI.
Ubermittelt durch Herrn Prof. C. Burt.
. Liverpool. St. Margarets Higher Grade School.
Ergebnis der Weihnachtsprüfung 1912.
Ubermittelt durch Herrn Prof. C. Burt.
. Oberlin, Ohio. Oberlin College.
Aufnahmen in die ®BK-Society 1895 bis 1910.
Ubermittelt durch Prisident Henry C. Kina.
. Stockholm. Volksschule.
Halbjährliche Zeugnisse einer Gruppe 1899 geborener
Schüler und Schülerinnen während ihrer Schullaufbahn
von 1906 XII bis 1912 XII.
Ubermittelt durch Herrn Dr. G. A. JAEDERHOLM,
J. Bibliographie. 121
8. Hrymans. Schulenquéte.
Beantwortung von Fragen nach Charaktereigenschaften
der Schulkinder durch Lehrer und Lehrerinnen an 54
niederlindischen Schulen. Ergebnisse nach dem Alter
getrennt. |
Ubermittelt durch Herrn Prof. Hermans.
b) Arbeiten tiber psychische Geschlechtsunter-
schiede.
In die nachstehende Bibliographie sind nur solche Arbeiten
aufgenommen worden, die psychische Geschlechtsunter-
schiede betreffen. Es sind also unberücksichtigt geblieben
einmal Arbeiten rein physiologischer oder anatomischer Art, und
zweitens solche, die nur zur Charakterisierung eines Geschlechtes
beitragen, ohne die Charakterisierungsmerkmale durch Vergleich
mit dem anderen Geschlecht zu finden. (Sehr viele, aber eben
nicht alle Arbeiten über die Psychologie der Frau, sind im
Grunde genommen, Arbeiten über psychische Geschlechtsunter-
schiede.) Andererseits sind auch solche Arbeiten in die Biblio-
graphie aufgenommen worden, in denen z. B. bei gleichartigen
Experimenten an Studenten und Studentinnen — gewissermalsen
als Nebenergebnis der Untersuchung ein Vorhandensein oder
Nichtvorhandensein psychischer Geschlechtsunterschiede sich
herausstellte.
Diejenigen Arbeiten, die originale Beiträge zahlenmülfsiger
Art — als Ergebnis von Experimenten oder Statistiken enthalten,
sind in Korpus-Druck angeführt. Für solche Arbeiten dürfte die
Bibliographie eine annähernde Vollständigkeit erreichen.
Dazwischen sind in Petit-Druck solche Arbeiten genannt, die
entweder gar kein zahlenmälsiges Material bringen, oder nur
über anderweitige Ergebnisse experimenteller oder statistischer
Art berichten. Für diese Arbeiten ist die Bibliographie selbst-
verständlich sehr weit von einer Vollständigkeit entfernt.
Da ich nicht alle in der Bibliographie aufgeführten Arbeiten
im Original eingesehen habe, so sind vielleicht die Titel einiger
Arbeiten, die nach Obigem in Korpus anzuführen waren, in
Petit gedruckt und umgekehrt. Ebenso gehören vielleicht manche
der hier genannten Arbeiten eigentlich in die Abteilung c, und
möglicherweise wären auch manche Arbeiten der Abteilung c
richtiger hier anzuführen gewesen.
122 J. Bibliographie.
Diejenigen Arbeiten, deren Ergebnisse in unserer Unter-
suchung benutzt wurden, sind mit einer Nummer versehen, die
sich auch sonst bei Zitierung der betreffenden Ergebnisse wieder-
findet.
ANATHON AALL, Zur Psychologie der Wiedererzählung. Eine ex-
perimentelle Untersuchung. a) Psyke 10 (3); b) ZAngPs. 7
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c) Arbeiten über Koedukation.
Bei der Materialsammlung für die vorliegende Arbeit sind mir auch
eine grofse Anzahl Schriften und Titel von Schriften vorgekommen, die
nicht eigentlich zum Thema der psychischen Geschlechtsunterschiede ge-
hören, sondern sich nur mehr oder weniger theoretisch mit der praktischen
Frage der Koedukation und Koinstruktion befassen. Obwohl in meiner
Untersuchung diese Frage nur gelegentlich gestreift wird, und ich selbst
also von dieser Art Arbeiten keinen Gebrauch gemacht habe, scheint es mir
nützlich, ihre Titel hier der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. —
Eine Vollständigkeit dieser Bibliographie ist weder erreicht, noch auch
nur angestrebt. |
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Vgl. ferner die Bibliographien in den United States Reports, bei Burness
und Meylan.
Abkürzungen.
Für diejenigen Zeitschriften-Titel usw., die in den vorstehenden Biblio-
graphien mehrmals vorkommen, wurden Abkürzungen verwendet; ihre Be-
deutung ist die folgende:
AgDLehZ. = Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung. Her.: Lınpr. Leipzig,
J. Klinkhardt.
4AgZ. = Beilage zur (Münchener) Allgemeinen Zeitung.
AmJPs. = American Journal of Psychology. Her.: Hart. Worcester,
Florence Chandler.
AnPs. = Année psychologique. Her.: Pıtron. Paris, Masson & Cie.
ArFrauEu. = Archiv für Frauenkunde und Eugenik. Her.: Hırsch. Würz-
burg, Curt Kabitzsch.
ArGsPs. = Archiv für die gesamte Psychologie. Her.: MEUMAnN, WIRTH.
Leipzig, W. Engelmann.
J. Bibliographie. 163
ArPs(e\. = Archives of Psychology. Her.: WoopwortH. New York, The
Science Press.
ArPs(f). = Archives de Psychologie. Her.: FLoußnoyY, Cuaparétps. Genf,
Kündjg.
ArPtCr. = Archivio di psichiatria, neuropatia, antropologia criminale e
medicina legale. Her.: Anpenıno. Turin, Bocca.
ArbBundScRef. = Arbeiten des Bundes für Schulreform. Leipzig-Berlin,
B. G. Teubner.
AssAmUn. = Association of American Universities. Journal of proceedings
and addresses of the sixth annual conference.
BPsAu. = Beitrige zur Psychologie der Aussage. Her.: Srern. Leipzig,
J. A. Barth.
BhZAngPs. = Beihefte zur Zeitschrift fir angewandte Psychologie und
psychologische Sammelforschung. Her.: Stern, Liruann. Leipzig,
J. A. Barth.
BibPhContemp. = Bibliothéque de Philosophie Contemporaine. Paris, Felix
Alcan.
BIHSc. = Blätter für höheres Schulwesen. Her.: Eıckuorr. Berlin, Rosen-
baum und Hart.
BrJPs. = British Journal of Psychology. Her.: Warp, Rivers. London,
Cambridge University Press.
BuAcRoBelg. = Bulletin de l'Académie royale de Belgique.
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DSc. = Die deutsche Schule. Her.: Rissmann. Leipzig, J. Klinkhardt.
DScPrax. = Deutsche Schulpraxis. Her.: Seyrert. Leipzig, Ernst Wunderlich.
DScZ. = Deutsche Schulzeitung.
Diagn AssS1. = Diagnostische Assoziationsstudien. Her: CG Jose Leipzig,
Johann Ambrosius Barth.
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Unterrichswesens. Her.: Wycueram. Leipzig, Teubner.
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Ludwig Auer.
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Poligrafico Emiliano.
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versity.
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SmAbPdPs. = Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der päda-
gogischen Psychologie und Physiologie. Her.: ZIEGLER, ZıeHEx. Berlin,
Reuther & Reichard.
StidwestDScBl. = Südwestdeutsche Schulblätter. Her.: ARMBRUSTER. Karls-
ruhe, F. Gutsch.
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Norstedt & Sõnner.
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ZEPd, = Zeitschrift fiir experimentelle Padagogik. Her.: Mrumann. Leipzig,
Otto Nemnich.
ZPAPs. = Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle
Pädagogik. Her.: MEUMANN, SCHEIBNER, GAUDIG. Leipzig, Quelle & Meyer.
ZPs. == Zeitschrift für Psychologie. Her.: Scaumann. Leipzig, J. A. Barth
ZRef HSe, = Zeitschrift für die Reform der Höheren Schulen. Her.: LrUTZ.
Berlin, Otto Salle.
K. Briefliche Mitteilungen tiber das Problem der
Geschlechtsunterschiede und der Koedukation.
Fr. MARGARETE TRUAN-BORSCHE, Morges, früher Lehrerin in Bedales,
Petersfield Hants.
„Ich habe fast nur mit Kindern im Alter von 7—13 Jahren zu
tun gehabt, und zwar nicht nur im Unterricht, auch im täglichen Um-
gang. Meiner Ansicht nach steigert sich die Verschiedenheit mit dem
Alter. Bei den Kleinen von 7—8 Jahren war kein Unterschied vor-
handen, was die Begabung und die Fähigkeit des einen oder des
anderen Geschlechts betrifft, die Interessen waren aber schon aus-
einandergehend. Die Mädchen haben mehr Interesse für Geschichte,
Aufsatz, fremde Sprachen und solche Fächer, die die Phantasie an-
regen, während die Knaben sich für Rechnen, Geometrie, Geographie,
Naturwissenschaften und vor allen Dingen für Maschinen jeder Art
interessierten. Durch das auseinandergehende Interesse steigerte sich
auch die Verschiedenheit der Leistungen in den einzelnen Fächern mit
den Jahren, so dafs die Mädchen in Sprachen, Literatur, Geschichte,
Besseres leisteten, während im allgemeinen die Knaben in der Mathe-
matik, Physik, Chemie usw. besser waren. Aufserhalb der Stunden
waren die Mädchen geneigt, sich abzusondern und Klicken (sets) zu
bilden, ihre Freundschaften waren mehr ausschliefslicher und heftiger
Natur, sie ,,liebten“ oder „hafsten‘“ und sprachen sich über ihre Ge-
fühle mehr aus; ich glaube, sie waren sich derselben mehr bewufst.“
Prof. CYRIL BURT, London (früher Liverpool):
“The ,social workers‘ commonly belives that in the poorest districts
the women are more intelligent than the men. When questioned on
this point, the teacher commonly says that the girls are better readers
and better talkers, but that he has noticed no other difference.”
Colonel CurRTIs, Walmer :
“I doubt that capacity of boys varies more than that of girls to
master particular subjects of instruction. The variation is that of
the individual not of the sex.“
Prof. G. C. FERRARI, Imola:
„En dehors des Asili ou Giardini d’Infanzia, oü vont les enfants
touts petits, et sans faire mention des écoles moyennes (Ginnasi e Licei)
ou des cours universitaires, où l'instruction est impartie aux jeunes
K. Briefliche Mitteilungen. 167
hommes et aux jeunes filles ensemble -il n’y a pas en Italie aucun lieu
ou lon pratique la coéducation des deux sexes. L’unique exception
est faite par notre Colonie libre pour enfants anormaux. Nous avons
été trés contents car nous avons vu disparaitre rapidement l’onanisme
chez tous nos enfants excepté un.”
Central Education Committee of the Society of Friends, London:
“The system of co-education has been gradually introduced into
our Boarding Schools, about 12 in number, during the last 30 or 35
years. Most of these Boarding Schools are comparatively small, and
certainly reason» of economy and the better grading of classes have
had something to do with the introduction of the system. At the same
time, our experience has led us more and more to believe in the prin-
ciples of co-education as applicable in the case of such children as we
have to deal with in our Schools. These are really picked children,
coming for the most part from refined homes, where the moral stan-
dard is high. I do not think it follows from our experience that the
methods of co-education will work in all cases, particularly in the case
of large day schools in the urban centres.”
Prof. A. FOREL, Yvorne:
„Ich bin unbedingt für die Koedukation, wie sie z. B. in Zürich
in allen Volksschulen, in Winterthur und in den derartigen Privat-
gymnasien vorkommt.‘
Paut H. Hanus, Harvard University:
“In the United States coeducation is will-nigh universal in all
public schools. In some of the larger cities of the eastern portion of
the country, in some of the public schoools, the sexes are sometimes
segregated in the upper grades of the elementary schools, and in the
high schools. The public high schools are for pupils from fourteen or
fifteen to about eighteen or twenty years of age. Coeducation is
also well-nigh universal in the state universities of the country; and
in most of the endowed colleges and universities, except those of the
eastern United States, where most of the colleges and universities
are for men and for women separately ... So far as my own experience
and observation go, and without having made any thoroughgoing
investigation into the subject, I heartily favor coeducation thoughout
the entire school career of both boys and girls from the kindergarten
through the university. This does not mean that separate classes
should not be formed within coeducational schools, colleges, and univer-
sities for the appropriate instruction of each sex, but it does mean that
I favor the association of the sexes during the entire period of their
systematic education, because it provides the opportunity for the
development of common interests of a serious sort as well as merely
social interests in the narrower sense. I have every reason to believe
that the normal relation of the sexes and their respect for each other
is promoted by coeducation; and that this is not the case to the same
degree under separate education of the sexes.”
168
K. Briefliche Mitteilungen.
Direktor HENSING, Oppenheim a. Rhein:
„Wir nehmen nur Mädchen mit guten Zeugnissen und nur solche,
die im allgemeinen ein Jahr älter sind als die Knaben der betr. Klasse.
Trotzdem ist die alte Beobachtung bestätigt, dafs die Mädchen im
deutschen und fremdsprachlichen Ausdruck gute Leistungen bieten, in
Grammatik und Mathematik aber geringere.‘
Indiana University, College of Liberal Arts, Bloomington:
“The difference in the scholarship of men and women is more
noticeable in the Sophomore and Freshman classes. Also, it is more
marked in the Fall term than in any other term. Some of the reasons
for this difference are the following: A larger proportion of men than
of women are earning part or all of their living while in College; so-
called “student activities’ command a larger share of the time of the
men than of the women; the women are more conscientious
in their work; a larger percentage of the men have little interest in
real intellectual training and culture. Many of them go to College
because they are sent or because they think it is the proper thing.”
. JAEDERHOLM, Lund:
„In der Koeduktionsfrage sind zwei Gesichtspunkte genau aus-
einanderzhualten: Die rein theoretische Frage nach den psychischen
Geschlechtsunterschieden und die rein praktisch-organisatorische
Frage nach den Vorteilen und Nachteilen sowie der Möglichkeit, über-
haupt eine Koedukation zustande zu bringen, in welch letzterem Falle
eine Fülle von Tatsachen, populäre Vorstellungsweisen und ökonomi-
sche Angelegenheiten mitzureden haben, die evtl. wichtiger sind als
alle psychischen Geschlechtsunterschiede. — In bezug auf die psy-
chischen Geschlechtsunterschiede weils ich durch persönliche Unter-
haltungen mit Iknen während der Vorbereitung Ihrer Arbeit. dafs
Sie sehr viel mehr davon wissen, als ich es für möglich gehalten
habe darüber festzustellen. Vielleicht haben Sie auch ein wenig Inter-
esse für die Resultate meiner Beobachtungen ? Bei meinen Intelligenz-
messungen in den Stockholmer Volksschulen, die mehr als 1000 Kinder
beiderlei Geschlechts umfafst haben, habe ich gefunden, dafs im Vor-
pubertätsalter recht wenig Unterschiede hinsichtlich der Erkenntnisse
ausfindig zu machen sind, nach dem Eintritt des Pubertätsalter aber
grölsere Differenzen eintreten, so dafs ein Material, das aus sowohl
Knaben wie Mädchen besteht, selten als homogen bezeichnet werden
kann, — entweder so, dafs die Mittelwerte zu stark differieren, oder
so, dafs die Variabilitiitswerte zu sehr verschieden sind, als dais sie
eine Zusammenfassung erlauben könnten. Aber die betreffenden
Knaben und Mädchen in den Volksschulen werden während der ersten
vier Schuljahre zusammen unterrichtet; dann bekommen die Mädchen
eine Lehrerin und die Knaben einen Lehrer; auf der untersten Stufe
wird Unterricht nur von Lehrerinnen gegeben. Es ist also möglich, dais
die Unterschiede hier vom Unterricht bedingt sind; und dies wird nicht
weniger wahrscheinlich dadurch, dafs die Lehrerinnen im Durchschnitt
einer höheren Bildungs- und sozialen Stufe angehören als die Lehrer,
und im Durchschnitt die Mädchen auch beim Abschlufs ihrer Volks-
K. Briefliche Mitteilungen. 169
schularbeit den Jungen weit voran sind. Komplizierend wirkt hierbei
aber auch, dafs in manchen kleinbiirgerlichen Familien das Geld nur
für die höhere Bildung der Jungen ausreicht, welche deshalb sehr oft
nach dem vierten Schuljahr den Eintritt in die Realschulen (gleich Vor-
schulen der Gymnasien) suchen, wodurch, da Eintrittsprüfungen in die
Realschulen obligatorisch sind, eine Auswahl der Besten durchgeführt
wird; daher verlassen die besser begabten der Jungen in recht grolser
Anzahl die Volksschule, während die Mädchen bis zum Ende der Volks
schulzeit in der Volksschule bleiben. Erst danach erreichen evtl. nach
sehr anstrengendem Privatunterricht die Leistungsfähigeren von ihnen
den Eintritt in die Mädchen- oder Koedukationsgymnasien. Die
Inhomogeneität in Bezug auf Erkenntnisresultate kann in solchen
Fällen natürlich ebenso wohl durch den ungleichen Unterricht wie durch
eigentliche Geschlechtsunterschiede hervorgerufen werden. Trotzdem
ist es natürlich unbedingt erforderlich, dafs die Differenzen der Mittel-
werte und der Variabilität zwischen Knaben und Mädchen sowohl
bei Koedukation wie in gewöhnlichen Schulen festgestellt werden;
diese Differenzen oder evtl. Ähnlichkeiten sind ja das Tatsächliche, wie
man auch nachher dieselben zu erklären haben mag. Urteile, die nicht
auf experimentell-statistischem Wege gewonnen werden, sind natürlich
in hohem Mafse nur Ausdrücke für persönliche Einstellungen und für
eine nach diesen Einstellungen unabsichtlich vorgenommene Auswahl
der Beobachtungen. Wir stehen also in dieser Hinsicht noch ganz am
Anfang von Untersuchungen, die wir unbedingt nötig haben. Es gilt
dabei sowohl die Variabilität wie die evtl. existierenden signifikativen
Differenzen zwischen den arithmetischen Mitteln festzustellen, und
aulserdem muls man, auf praktische Erfahrungen gestützt, eineimmerhin
arbiträre Grenze festsetzen, welche die Maximalunterschiede, die in einer
Klasse zulässig sind, feststellen. (Gerade so wie BINET eine Verspätung
in der Intelligenzentwicklung um zwei Jahre innerhalb gewisser Lebens-
alter etwas arbiträr als genügend grofs bestimmt, um die Überführung
in eine Hilfsklasse geeignet erscheinen zu lassen.) Zu beobachten ist
aber jedenfalls, dafs, schon wenn eine Differenz gerade signifikativ
ist, der gemeinsame Unterricht auf die sich später Entwickelnden
ungerecht und entmutigend wirkt, und es ist schwer zu verstehen, wie
mit Vorteil gemeinsamer Unterricht unter solchen Verhältnissen durch-
geführt werden könnte; denn entweder ist dieser den Bedürfnissen der
Leistungsfähigeren angepafst und geht dann zum Teil für die anderen
verloren und die Aufgaben werden für dieselben zu schwer; oder der
Unterricht pafst den Schwächeren, und dann lernen die Leistungsfähi-
geren nichts dabei; oder schliefslich, wie er auch sonst eingerichtet sein
mag, pafst er keinem recht. In solchen Fällen ist weiter darauf acht
zu geben, dafs die Prüfungen der Leistungsfähigkeit sowohl mit kurz-
dauernden wie mit langdauernden Aufgaben auszuführen sind; die
Korrelation zwischen beiden ist ja recht grofs; aber speziell bei Mädchen
im Pubertätsalter kommt es wohl vor, dafs sie zu einer hurzen Anstren-
gung wohl im Stande sinde sind, aber bei einer langdauernden deutlich
versagen. — Ich wiederhole auch, was eben gesagt wurde: Psychische
170
K. Briefliche Mitteilungen.
Geschlechtsunterschiede können auch von dem früheren Unterricht
(von einem Lehrer oder einer Lehrerin) abhängig sein. Eine sehr grofse
Vorsicht bei der Deutung der statistischen Werte ist also in hohem
Grade nötig.‘
Fr. Dr. Kempr, Frauenseminar für soziale Berufsarbeit, Frankfurt a. M.:
„Da ich nämlich selbst fast ausschliefslich mit berufstätigen Frauen
und zugleich auch mit vielen berufstätigen Männern zu arbeiten habe
und auch innerhalb dieses Kreises gesellschaftlich und in Vereinen ver-
kehre, stehe ich persönlich unter dem Eindruck einer aufserordent-
lich grofsen Verschiedenheit der mit dem Strom des Lebens verbundenen
Frauen gegenüber den ‚„Nur-Hausfrauen‘. Dem persönlichen Emp-
finden nach sind mir die reinen „Nur-Hausfrauen‘“ durchschnittlich
viel unverständlicher als Männer des mit meiner Arbeit verbundenen
Interessengebietes. Das ist natürlich nur ein ganz persönliches Emp-
finden ohne Beweiskraft, das höchstens den Weg dafür weist, wie stark
die Einwirkungen der Lebensumstände sind.“
ELLEN KEY, Strand, Alvastra:
„Seit einem halben Jahrhundert sind alle Volksschulen auf dem
Lande (in Schweden) Koedukationsschulen ; seit 30 Jahren arbeiten mit
ausschliefslich gutem Erfolg private Koedukationsschulen; seit etwa
5 Jahren hat der Staat in vielen kleineren Städten für die höhere
Erziehung bis 15—16 Jahre, Koedukationsschulen errichtet. Nur einige
konservative Dogmatiker (in bezug auf diese Frage) bedauern es; sonst
sind Eitern wie Lehrer und Kinder vergnügt mit dem Resultat. Meiner
Meinung nach ist der einzige Fehler, dafs die Mädchen in das falsche
Schulsystem der Knaben eingezogen worden sind.“
Department of Home Affairs. Commonwealth Bureau of Census
and Statistics, Melbourne:
“Except in the more important metropolitan and country schools,
the sexes are not separated in the State Schools of Australia. Women
students are also admitted to the University and are free to take up
any of the courses prescribed. At the larger so-called private schools
there are separate institutions for girls and boys but this rule ist not
universal. — As regards the moral results of Co-education I may say
there has been a considerable amount of discussion here. Opposite
conclousions have been reached by the disputante but as the arguments
in every case were probably based on a limited personal knowledge,
they were statistically of little value. So far as the statistics of crime bear
on the question in Australia it may be said that contemporaneously
with Co-education there has been a considerable decrease in crime of
all kinds during the last forty or fifty years. If again one considers
the proportion of illegitimate to total births it will be found that while
the figure has risen somewhat during the last thirty or forty years there
is a tencency towards a decline during recent years, the percentage
in 1912 being only 5 : 53 as compared with nearly 6 in 1901. In any
case co-education could play only an unimportant part in this question
since it is affected by so many other factors such as growth of the
factory system, lack of parental control, increase in number and
K. Briefliche Mitteilungen. 171
variety of open air evening entertainments etc. Personally I think
that viewing the matter broadly, there is no evidence that coeduca-
tion has the slightest influence one way or the other on morals. —
As to intellectual results I do not think co-education has much effect.
If anything girls are more handworking and studious than boys, and
it has been found that this fact has perhaps had the effect in Univer-
sities of stirring up the stronger sex to greater efforts to avoid being
beaten by the girls. The mosts succesful school as the recent University
Examinations (Junior and Senior) in Melbourne was a school where
the sexes are tought together. Generally speaking girls are somewhat
slower at mathematics than boys, but this rule is subject to frequent
exceptions. — At the Universities no difference is made in the quality
of lectures and the women students are apparently quite equal to
the men except in the later stages when original work is called for.”
Direktor LIETZ, Landerziehungsheim Schlofs Bieberstein:
„Meiner Meinung nach kann durch Zensuren, Zahlen u. dgl.
unmöglich in das Wesen der Zusammenerziehung ein Einblick er-
langt werden. Der Erfolg hängt ja zu sehr von der Eigentümlichkeit
der Kinder, ihrer Herkunft und Vorbildung ab. Überhaupt liefse es
sich erst nach längeren Versuchen feststellen, und dann auch kaum
zahlenmäfsig, zumal wir ja in der Erziehung Verschiedenes von den
Geschlechtern verlangen müssen, vor allem bei der körperlichen Arbeit.
Bei sorgfältiger Auswahl der Kinder hat Zusammenerziehung manches
für sich.‘
Board of Education of the City of St. Louis:
“Co-education in the public schools is so nearly universal throughout
our country and, in general, the results of educating boys and girls
together have been so favourable in our estimation that we have not
made any extensive studies of our school work from this point of
view. While we recognize the desirability of learning the nature of
sex differences as affecting educational practice, the broad facts of our
experience have made us feel that other features of our work should
engross our attention.
M. LUSERKE, Freie Schulgemeinde Wickersdorf:
»,Wickersdorf hat seit 1906 (als erstes deutsches Schulinternat)
Koedukstion in vollem Umfange und grundsätzlich (nicht nur ge-
legentlich) für die ganze Schulzeit durchgeführt. Bei dauernder gröfster
Sorgfalt in der Auswahl des Schülermaterials wurden bisher nur
gute Erfahrungen gemacht. — Koedukation ist eine Selbstverständ-
lichkeit. Alle „Gegengründe‘‘ sind äulserer Art, beziehen sich auf
Wirkungen unserer Zivilisation, die in einem Internat, das das
ganze Leben der Zöglinge beherrscht, durch ein gesundes, natürliches
Leben ausgeschaltet werden können. Wichtig ist, dafs die Verschieden-
heit der Geschlechter beachtet, ja betont werde und alle Eigenarten
im Schulleben zur Geltung kommen. Dies ist in der Praxis das Problem
der Koedukation. — Man darf Koedukation an der Tagesschule (siehe
Amerika!) und am Internat (siehe Skandinavien!) sowie die der ver-
schiedenen Länder und Rassen nicht als eine Sache betrachten,
172
K. Briefliche Mitteilungen.
— — Nach dem Eindruck, den ich aus der jahrelangen Arbeit hier
habe, dürften die Fächer: Deutscher Aufsatz, Algebra, Geometrie und
Französisch am geeignetsten sein, etwaige Unterschiede festzustellen.
Nach allen meinen Beobachtungen sind die Unterschiede in der Unter-
tertia sehr gering, und einen wirklich tiefgreifenden Unterschied habe
ich nur in Mathematik und dementsprechend in Physik konstatieren
können: die Mädchen sind den Knaben fast durchweg in arithmetischen
und algebraischen Fertigkeiten überlegen, sie arbeiten gewandter
und sicherer. Dagegen fand ich stets einen auffallenden Mangel in
Geometrie und zwar dahin, dafs die Mädchen ein bedeutend geringeres
räumliches Vorstellungsvermögen besitzen als die Knaben. Dieser
Unterschied zeigte sich bei sonst vorzüglich begabten Mädohen in
Prima, z. B. in der mathematischen Geographie in ganz auffallender
Weise. Die Geometrie stellt in der modernen Art, wie sie jetzt getrieben
wird, vor allem Anforderungen an die schaffende Phantasie, und
wenn ich nach dem Umfange meiner Erfahrungen nicht behaupten
will, dafs den Mädchen dieselbe fehle, so scheint es mir doch sicher,
dafs ihnen die Freude an derartigem „Ausdenken“ fehlt. Sie wählen,
wenn es darauf ankommt, lieber irgendeinen bequemeren und häufig
oberflächlicheren Weg, eine Erscheinung, die auch in der Physik stets
zu bemerken war. — Die zweite Beobachtung, die ich so häufig gemacht
habe, dafs ich sie als Regel bezeichnen möchte, ist, dals in den oberen
Klassen, d. h. etwa vom 16. Lebensjahre an die Mädchen nicht imstande
sind, gleichmäfsig intensiv zu arbeiten. Es treten Depressionen der
Arbeitskraft auf, die natürlich mit der körperlichen Entwicklung zu-
sammenhängen und die die Leistungen der Mädchen schwankend
machen, und zwar nicht nur im kurzen Rhythmus der körperlichen
Zustände, sondern aulserdem noch in grölserem Maisstabe.‘
Oberlin College, Oberlin, Ohio:
“In general, a distinctly larger percentage of women than of men
find a place in the upper eighth of the class. Members of the Faculty
mean that the women are intellectually abler, but that in general
they have fewer outside interests, and are usually rather more faithful
in the performance of assigned tasks. Class marks evidently do not
tell the whole story, but they at least make it plain, that the women
are more than able tho hold their own in the specifically assigned work
of college courses.”
Staatsrat Dr. E. voN SALLWURK, Karlsruhe:
„Ich stehe immer noch auf dem Standpunkte, dafs die Zulassung
von Mädchen zu den Knabenschulen ein Notbehelf ist, mit dem man
dem gegenwärtigen (!) Bildungseifer des weiblichen Geschlechts
entgegenkommen mufste, dafs aber diesem Notbehelf mit der Zeit
positive Einrichtungen folgen müssen, die m. E. nicht auf der Linie
der Koedukation liegen können.“
G. Pätz’sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a.d.S.
guer `,
_ Zeitirift für angewandte Pivdologie
WIbLIAM nn bIPMANN.
SO: 22 29229202222 |), SS: 2 9222222020
Die hüge
Dei Rindern und Jugendlidıen
Eine Umirage in den polniihen Schulen
von hodz
von
Dr.phil.Franziszka Baumgarten
beipzig 1917. |
Verlag von Johann Ambrofius Barth.
Dörrienstr. 16.
Verlag von Johann Ambrosius Barth in Leipzig.
Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von `
William Stern und Otto Lipmann.
6 Hefte bilden einen Band von etwa 36 Bogen mit mehreren Tafeln. Preis des Bandes 20 M.
Der 12. Band ist im Erscheinen begriffen.
Die Aufgabe der Zeitschrift ist die Bearbeitung psychologischer Probleme unter be-
: sonderer Berücksichtigung ihrer Verwertharkeit für anderweitige praktische und wissen-
schaftliche Fragestellungen und die Ansgestaltung der besonderen experimentellen, psycho-
graphischen, statistischen und Sammel- Methoden für diese Zwecke. Hauptgebiete der
Zeitschrift sind die pädagogische, forensische, pathologische, literarische, ethnologische und
vergleichende Psychologie.
Die Zeitschrift enthilt Abhandlungen, Mitteilungen, Sammel- und Einzelberichte und
verfolgt ständig die internationale Bewegung auf dem Gebiete der angewandten Psycho-
logie. Sie ist Organ des Instituts für angewandte Psychologie in Kleinglienicke, des
psychologischen Laboratoriums in Hamburg und mehrerer Universitiits-Seminare.
BEIHEFTE
zur
Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
= Die Beihefte sind cinzeln käuflich.
Heft 1. Orro Liwmaxs. Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihre Zune
Theorie, Methoden und Ergebnisse der „Tatbestandsdiagnostik“. IV, 9y6S. M.3.—
Heft 2. J. Coun u. F. Drerrennacuer (Freiburg). Untersuchungen über Geschlechts-,
Alters- und Begabungs-Unterschiede bei Schülern. VI. 213 Seiten. M. 6 40
Seit, 1911 erscheinen:
Heft 3. W. Berz. Über Korrelation. VI, $8 S. M. 5.—
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Heft 5. Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen gre-
sammelt. und herausgegeben vom Institut für angewandte Psychologie und psychc-
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Heft 6. oe aere Ethno-psychologische Studien an Sildseevölkern auf
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Heft 7. Fritz Giese. Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen.
2 Teile. XVI, 220 u. IV, 242 Seiten mit 4 Abbildungen. 1914. M. 14.—
Heft 8. Herca Exe. Abstrakte Begriffe im Sprechen und Denken des Kindes. V1.
112 Seiten. 1914. M. 360
Heft 9. Hermann Danu. Korrelative Beziehungen zwischen elementaren Vergleichs-
leistungen. Ein Beitrag zur psychologischen Korrelationsforschung. IV, 84 Seiten
mit 4 Abbildungen, 31 Tabellen und $ Tafeln. 1914. M. 2.60
Heft 10. GronG Branvern. Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfächern.
IV, 168 Seiten mit 37 Figuren. 1915. M. 5.60
| Heft 11. Curr Piorkowski. Beiträge zur psychologischen Methodologie der wirt-
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schaftlichen Berufseignung. IX, 84 S. 1915. M. 3.—
Heft 12. Jugendliches Seelenleben und Krieg. Materialien und Berichte. Unter Mit-
wirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes fiir Schulreform und von O. Bobertag.
K. W. Dix, C. Kik, A. Mann herausgegeben von Win Stern. 181 Seiten
~ mit 15 Abbildungen. 1915, M. 5.—
Heft 13. Ta. VArentiner. Die Phantasie im freien Anfsatze der Kinder und Jugend-
lichen. VI, 168 S. mit 1 Kurventafel. 1916. M. 5.60
- Heft 14. Orro Lırmaxnx. Psychische @eschlechtsunterschiede. Ergebnisse der differen-
tiellen Psychologie. Zwei Teile. IV, 108 und 172 Seiten mit 9 Kurven im
Text. 1917. M. 12. —
Heft 15. Franzıska Bav{xoarres. Dic Liige bei Kindern und Jugendlichen, Eine Um-
frage in den polnischen Schulen von Lodz. IV, 111 Seiten. 1917. M. 4.20
BEIHEFTE
Zeitihriit für angewandte Piymhologie
Herausgegeben von
WILLIAM STERN und OTTO LIPMANN.
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Die hiige
bei Kindern und Jugendlidten
Eine Umfrage in den polnlihen Schulen
von hodz
Dr. phil. Franziszka Baumgarten
beipzig 1917.
Verlag von Johann Ambrofius Barth.
Orrienstr. 16
Dorrienst: S
Übersetzungsrecht vorbehalten.
Copyright by Johann Ambrosius Barth, Leipzig. 1917.
IDO Pw dH
Inhaltsverzeichnis.
. Einleitung ... Era
. Methodologische Vorbeinerküngen ;
. Die Häufigkeit der Lüge zu Hause andi in der Shule
Die Motive der Lüge zu Hause
Die Motive der Schullügen .
. Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander ad
. Das Verhältnis der Kinder zu ihren er.
A. Das Bedauern .
B. Die Scham
. Das Schuldgeständnis
. Allgemeine Folgerungen
. Pädagogische Nutzanwendungen
. Literatur . E er
. Abkürzungen .
Fantettanyg. 1
Einleitung.
Schon bei einer oberflächlichen Beobachtung der Kinder muß
man eine Verlogenheit und zwar nicht selten im hohen Grade
feststellen. Es ist deshalb seit Jahrhunderten bei den Denkern
die Frage aufgetaucht, ob das Kind von Natur aus verlogen ist,
oder ob es dies erst im Laufe seines Lebens wird. Die Antwort,
die man auf diese Frage bei den Philosophen und Pädagogen
findet, ist eine dreifache :
1. Die einen behaupten, Lüge sei eine angeborene Eigenschaft
der Kinder. Im Mittelalter war diese Meinung allgemein, weil sie
aus der damals herrschenden christlichen Idee der Unvollkommen-
heit der menschlichen Natur entsprang. Der heilige Augustinus
sagt, „unschuldig ist nur die Schwäche der zarten Glieder des
Kindes, aber nicht sein Herz,“ und er schreibt schon dem Säug-
ling solche Fehler wie Lüge, Neid und Zorn zuł. Der berühmte
Mystiker Ruysgrock, der derselben Meinung ist, gebrauchte öfters
den Vergleich: ‚verlogen wie ein Kind“. Man unterschied sich
nur in der Prognose dieses Fehlers: einige, wie der heilige Augusti-
nus, behaupteten: ‚mit der Zeit verschwindet er, denn die Gnade
Gottes führt den Menschen auf dem Wege des Lichtes zu der
Wahrheit‘, die anderen, besonders in späteren Zeiten, wie z. B.
MonTAIGNE, glaubten, ‚der Eigensinn und die Lüge wachsen in
den Kindern mit ihrem Körper“. In neueren Zeiten hat die An-
sicht des Angeborenseins der Lüge ebenfalls ihre Anl.änger. Aulser
den Theologen wie Rorue, für den jeder Mensch von Geburt an
ein Sünder ist?, sind auch berühmte Philosophen und Pädagogen
derselben Meinung. SCHOPENHAUER sagt: es gibt auf der Welt
nur ein lügenhaftes Wesen, es ist der Mensch’. Bounin sagt:
1 Bekenntnisse, übers. v. BORNEMANN, Gotha 1888, S. 10—13.
2 Theologische Ethik. Wittenberg 1867, 3. Bd.
3 Parerga und Paralipomena, II. Bd., S. 615.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 15. 1
2 Einleitung.
„alle Kinder sind Lügner‘, BERNARD Dëse: bemerkt, indem er auf
das frühe Entstehen des Zornes beim Kinde hinweist, dafs wir im
allgemeinen schon in der Wiege die Zeichen einer angeborenen
Zuneigung zum Maskieren und zur List beobachten können.
Descuaneı, DuranLoup, LA BRuv&ire, La Fontaine sehen ebenfalls
die Kinder als geborene Lügner an. Lomsroso hat von der Moral
des Kindes keinen hohen Begriff, wenn er den berükmten Satz
aufstellt: „Ein Verbrecher ist ein Mensch, welcher in seinen mora-
lischen Gefühlen und Taten auf der Stufe des Kindes geblieben ist“.
Mancher Naturwissenschaftler behauptet, dafs beim Menschen
eine Urtendenz zum Sich-Verstellen vorhanden ist, welche phylo-
genetisch aus der Zeit stammt, wo durch Entstehung der Sprache
der Inhalt des Gedankens von dem Ausdruck gehemmt wurde
(Lowinsky).
2. Freilich nicht immer wird die Wahrhaftigkeit des Kindes so
verleumdet. Zahlreiche Poeten und Denker priesen in schönen
Worten die Unschuld der Kinderseele. ‚Die Unschuld des
Kirdes ist wie der unbefleckte weilse Schnee auf dem Gipfel der
Jungfrau‘ meint Asourt. Rousseau, der den Satz aufgestellt hat,
„alles ist gut, was aus den Härden des Schöpfers kommt, alles
entartet unter den Händen des Menschen‘ meint in Konsequenz
davon, das Kind ware seiner Natur nach wahrhaftig und nur die
Erziehung mache aus ihm einen Liigner. Dieses in Frankreich
so genannte ,,RoussEau’sche Dogma“ ist in England als das Dogma
von Lord Parmerston bekannt. In Deutschland vertritt FRÖBEL
die Meinung, ‚aller Erscheinung der Fenlerhaftigkeit in dem
Menschen liegt eigentlich und ursprünglich eine zerdrückte oder
verrückte gute Eigenschaft zugrunde‘“!. GasrieL Compayre be-
hauptet, daß das Kind die Offenherzigkeit selbst ist. Es spricht
alles aus, was es auf dem Herzen hat, es spricht noch mehr, als es
manchen Eltern lieb wäre. Die Indiskretion der Kinder, die ihnen
den Beinamen ‚Enfants terribles‘ eingetragen hat, ist weltbe-
kannt; zu diesen gehören alle Kinder, die einen mehr, die anderen
weniger?. Aus der vergleichenden Tierpsychologie folgert PORTER
ST. Jonn, dafs bei den lebendigen Wesen eine natürliche Tendenz
zur Wahrheit besteht.
3. Der dritte Standpunkt ist ein Mittelweg zwischen diesen
1 Menschenerzichung. Knabenfehler (ausg. v. SEIDEL, S. 76).
2 S. 379 des im Literaturverzeichnis angeführten Buches.
Einleitung. 3
beiden Extremen. Man kann zu dieser Gruppe die älteren Päda-
gogen wie ComEnıus und DiEsTErRwEG zählen, für welche die Seele
des Kindes ein unbeschriebenes Blatt war, das ganz allmählich und
abhängig von den Umständen entweder mit positivem oder mit nega-
tivem Inhalt beschri..ben wird. Im 18. Jahrhundert hat mandie Rolle
der Umstande so tiberschatzt, dafs HEtvetius glaubte behaupten
zu durten, die ganze Verschiedenhcit der Menschen komme einzig
und allein von der Verschiedenheit der Umgebung und Erziehung;
Talent und Tugend liefsen sich lehren. Diesen Einflufs der äulseren
Umstände auf die, wie er glaubte, bei allen gleiche menschliche
Natur zu untersuchen, stellte sich sogar Joxn Stuart MIL.
als Aufgabe in seiner ‚Ethologie‘‘ oder der Lehre vom Charakter
(1845). Die neueren Ergebnisse der Untersuchungen über Ver-
erbung der geistigen Eigenschaften sowie auch die Feststellung
der psychischen Typen haben die Theorie des unbeschriebenen
Blattes umgestürzt. Die Geschichte des Lebens des Kindes ist
nach verschiedenen naturwissenschaftlichen Anschauungen teil-
weise schon voraus geschrieben, aber nicht in den geheimnisvollen
Schicksalsbüchern des Kindes, sondern in den Annalen seiner
Ahnen. DasKind bringt als Erbe der Eltern sowohl die Anlage der
guten als die der schlechten Eigenschaften mit sich auf die Welt.
Jede Anlage kann sich aber weiter entwickeln und zwar gemäls
den Verhältnissen, in denen ein Kind aufwächst und erzogen wird.
Durch sie kann sie aber auch gehemmt, ja sogar gänzlich aufge-
hoben werden. Das Kind ist also sowohl das Produkt seiner an-
geborenen Anlagen der Vererbung als auch das der Erziehung.
So behaupten James SurLy, FoERSTER, PEREZ, MEUMANN und
überhaupt alle Pädagogen der modernen experimentellen Richtung.
Alle diese Ausführungen sind wichtig in Anbetracht der Kon-
sequenzen, die sich für die Praxis daraus ergeben. Nach der Theorie
von den ‚angeborenen guten Eigenschaften‘ sollte man das Kind
sich selbst überlassen und nur acht geben, daß seine angeborenen
guten Eigenschaften nicht verkümmern. So dachten in ihren
Lehren Rousseau und FröseL. „Erziehung, Unterricht und
Lehre sollen ursprünglich und in ihren ersten Grundsätzen
leidend, nachgehend — nur behütend, schützend — nicht vor-
schreibend, bestimmend, eingreifend sein“ sagt FRÖBEL in seiner
Menschenerziehung (S. 9—10).
Wer glaubt, daß das Kind von Geburt an schlecht ist, der
wird, sofern er die ‚Natur‘ als das Stärkere hält, jeden Kampf
1%
4 Finleitung.
mit ihr als unfruchtbar und jede Pädagogik für überflüssig halten,
sofern er jedoch die Erziehung, wie das im ganzen 18. Jahrhundert
der Fall war, als das Stärkere betrachtet, dann wird er sich be-
mühen, die ‚‚böse‘‘ Natur von Grund aus auszurotten. Das lehrte
z. B. Pestatoza ... ,,der Mensch neige von Natur zur Entartung
und Verwilderung .. . der Sohn der Freiheit und der König des
Raubes ist der Gesellschaft nicht nur nichts nütze, sondern ist ihr
im höchsten Grade gefährlich und unerträglich. Deshalb mufs
sie... aus ihm etwas ganz anderes machen als er von Natur ist
und als er, wenn er sich selbst überlassen, wild aufwächst, werden
könnte“!. Die dritte Ansicht endlich führt: zu der pädagogischen
Forderung, die Erziehung solle bestimmte Anlagen hemmen und
schwächen, andere dagegen entwickeln und stärken.
Dies ist das eigentliche Postulat der modernen experimentellen
Pädagogik. Bei der Entwicklung und Hemmung der Eigenschaften
des Kindes richtet sie sich natürlich nach den Forderungen der
Ethik. Da unsere moderne Ethik die Lüge verwirft und die Wahr-
"haftigkeit rühmt, so ist das Ziel unserer Pädagogik, aus jedem
Kinde ein offenes und wahrhaftiges Wesen zu entwickeln. Um
aber entsprechend auf das Kind einzuwirken und die Lügenhaftig-
keit zu bekämpfen, bedient sie sich des wissenschaftlichen Mittels
der genauen Untersuchung des Ursprungs und der Entwicklung
dieses Fehlers beim Kinde. Alle einschlägigen psychologisch-
pädagogischen Arbeiten über die Lüge in den letzten Jahrzehnten
sind in diesem Sinne abgefaßt. Diese Arbeiten haben letzten
Endes ein ganz neues Licht auf die Lüge der Kinder geworfen, und
vollständig die Forderungen der alten Pädagogen bezüglich der
Wahrhaftigkeit der Kinder geändert.
In erster Linie bewiesen die aaa Beobachtungen
von Kindern seit deın Tage ihrer Geburt, dafs manche Zeichen
der Psyche des Kindes unrichtig gedeutet wurden, dafs man sie
nicht in Vergleich mit den Anforderungen eines Erwachsenen
setzen soll. Denn uni sich ein richtiges Urteil über die Kindeslüge
zu machen, genügt nicht der Wortlaut der Aussage, sondern es
bedarf auch des sich Hineinfühlens in die gesamte Situation mit
allen den sie begleitenden Erscheinungen (wie z. B. die Mimik).
Wenn also z. B. das 21,jährige Kind auf die Frage der Mutter:
wer hat das zerbrochen ? unrichtig mit „Papa“ antwortet, so darf
1 Bd. IV. I. Auflage. s. W. SEYFARTH, S. 534.
ge
Einleitung. : 9
man diese Antwort absolut nicht als eine Liige betrachten. Denn
in solchem Falle antwortet das durch den schroffen Ton der Mutter
erschreckte Kind mit dem Wunsche, zum Vater zu fliehen. Der
kleine Wortschatz, den das Kind besitzt, erlaubt ihm nicht, seinen
Gedanken klarer auszudrücken. Ebenso als Ausdruck für etwas
Unangenehmes und nur als Wunsch, eine angenehme Situation
herbeizuführen, mufs man den Schrei des Säuglings deuten, der
weder hungrig ist noch belästigt wird. Die Mutter, die gewöhnt ist,
den Kindesschrei als Ausdruck ganz bestimmter Bedürfnisse zu
deuten, hält den Säugling für ‚lügenhaft‘“, während das Kind
nur die einzige ihm bekannte Weise, die Mutter zu rufen, benutzt.
Von der Richtigkeit dieser Interpretation zeugen ganz unab-
hängig voneinander zu derselben Überzeugung gekommene Be-
obachter wie CLara und WILLIAM STERN, K. L.ScHÄrEr, PREYER u. a.
Crara und WırLıaM Stern behaupten, dafs ‚bis zum Ende
des zweiten Lebensjahres wohl die meisten sog. Lügen der Kinder
nur auf falschen Deutungen beruhen, die umso mehr vermieden
werden mülsten, als sie zu pädagogischen Konsequenzen von ver-
hängnisvoller Wirkung für des Kindes spätere Wahrhaftigkeits-
liebe führen könnten‘“!. Über das Vorhandensein der Lüge bei
Kindern von vier Jahren entspann sich übrigens im Jahre 1905
in der Zeitschrift für pädagogische Psychologie eine interessante
Polemik, auf die hier nur hingewiesen werden kann?.
In den folgenden Lebensjahren des Kindes (4 Jahre und
höher) finden wir Scheinlügen, die entweder durch eine Suggestiv-
frage (wie z. B. war es so ?) provoziert werden können oder die
durch eine affektive Antwortreaktion entlockt werden und schliels-
lich die spontane Pseudolüge. Ein klassisches Beispiel einer
solchen hervorgerufenen Scheinlüge geben Scuriss an. Ihr Söhn-
chen Bubi ‚liebte es, die Schlüssel von der Tür zu nehmen. Als
er einmal nach einem fehlenden Türschlüssel gefragt wurde, dachte
er erst angestrengt nach, dann sagte er: Frag den Sohni (Spiel-
kamerad). Sohni wufste aber auch nichts von dem Schlüssel,
aber als wir uns von neuem an den Jungen wandten, sann er
wieder nach und sagte mit Bestimmtheit: ‚Die Spinne hat den
Slissel aufgefrefst!‘‘ Das ist ja nicht wahr, Bubi. ‚‚Nu, ein Hundl
ist gekommen und hat den Slissel abgebissen‘‘. Das ist auch nicht
1 S. 111—112.
* g. SCHAFER und MARCINOWSKI.
6 g Einleitung.
wahr, Bubi. ‚Nu, aber die Tante Marta hat den Slissel weg-
nehmt und ist in die Treppe gelauft‘“. Es stellte sich nachträglich
heraus, dafs das Kind wirklich unschuldig war, die lügenhaften
Antworten gab es auf Grund der Fragesuggestion!.
In solchen Scheinlügen spielt natürlich das sich erst ent-
wickelnde Sprachvermögen eine grolse Rolle. Der von den Päda-
gogen oft zitierte Satz von Jeax Paur besteht zu Recht: ‚In den
ersten 5 Jahren sagen unsere Kinder kein wahres Wort und kein
lügendes, sondern sie reden nur ... Sie spielen gerne mit der
ihnen neuen Kunst der Rede; so sprechen sie oft Unsinn, nur um
ihrer eigenen Sprechkunst zuzuhören‘“. Dieser Meinung sind auch
STERN, COMPAYRE (das kleine Kind spielt mit der Sprache so wie
mit Holzstiickchen?), VoGr, Karr GrRoos?, Guyau4 und viele
andere.
Die Scheinlüge ist teilweise durch die Sprechlust der Kinder
bedingt, hauptsächlich ist sie aber ein Produkt der kindlichen
Phantasie. Das Kind ist sehr früh fähig zur schöpferischen
Kombination, d. h. zu den verschiedenartigsten Zusammenstel-
lungen, die nichts gemeinschaftliches mit der Realität haben,
und zu Illusionen, welche die kleine Welt seiner Wünsche reali-
sieren. Das spiegelt sich in seinen Spielen, die für das Kind ein
Land der möglichen Unmöglichkeiten sind. Das Kind reitet auf
einem Stock wie auf einem Pferd, in Stühlen sieht es Menschen
und Tiere, mit welchen es grolse Kämpfe zu bestehen hat, es fühlt
sich als König, Indianer, Soldat, Bär, es dichtet sich die ver-
schiedenartigsten Abenteuer und Geschichten zusammen, die es
so detailliert erzählt, als hätte es alles selbst erlebt. Die Realität
spricht ihm wenig zu, ein Spielzeug, das eine treue Kopie irgend
cincs Gegenstandes ist, mag es nicht, es macht es so lange ,,kaput",
bis die zerschlagenen Teile ihm erlauben, darin Dinge der eigenen
Phantasie zu sehen 5.
Die Fähigkeit des Kindes, die äulsere Welt umzugestalten,
das Leben in einer anderen, nicht realen, sondern aus sich selbst
erschaffenen Welt zu leben, ist dasselbe schöpferische Vermögen,
1 S. 156.
2 5. 309.
3 Spiele der Menschen, S. 178.
£8. 201.
5 DuPRAT, HALL (8. 126—130), Groos (Spicle der Menschen, S. 163
bis 180), GUYAU u. a.
Einleitung. 7
das die Dichter kennzeichnet. Toısroı erzählt, was für reiche
Phantasie er bei den Bauernkindern entdeckt hat, die er eine von
ihm selbst erdichtete Fabel zu Ende erzählen liefs. Er kam dabei
zu der Überzeugung, dafs in jedem Kinde ein Dichter lebt. Das-
selbe behaupten SteckerL!, Kari Groos?, P£rez?, Pıora Lom-
BROSO, Guyau. Andererseits ist diese schöpferische Fähigkeit,
diese Phantasietätigkeit der gewöhnlichen Lüge ähnlich — jede
Lüge ist doch eine neue Schöpfung, eine Dichtung. Guyvau sagt
also mit Recht: ‚In den meisten Fällen ist die Lüge die erste
Probe ihrer Einbildungskraft, die erste Erfindung, keimhaftes
Kunstschaffen. Die Lüge ist die erste kindliche Dichtung . . "73
Duprat bemerkt in seiner Monographie über die Lüge, dafs die
Mehrheit der Kinder eine so lebhafte Phantasie besitzt, dafs ‚,‚ils
se jouent dans les mensonges inoffensives‘®. Nicht immer aber
sind jedoch die kindlichen Lügen derartig unschuldige Phantasien.
(Goethe erzählt im zweiten Buche von ‚Wahrheit und Dichtung“
über die von ihm ausgedachten Erzählungen und fügt hinzu:
‚Wenn ich nicht nach und nach meinem Naturell gemäls diese
Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmälsigen Darstellungen
hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderische An-
fänge gewils nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben °.“
In demselben Sinne äulsert sich Grillparzer in seinen Tage-
büchern. Auch Gottfried Keller erzählt in scinem autobiographi-
schen Roman ‚Der grüne Heinrich‘ von einer Verleumdung, die er
sich ausgedacht hatte, und die schlimme Folgen für den Betreffen-
den hatte. Die in der kriminalistischen Literatur so häufig er-
wähnten Verleumdungen von Mädchen über ihre angebliche Ver-
gewaltigung usw. gehören in die gleiche Kategorie.
Alle diese Lügen, die durch Phantasietätigkeit hervorgerufen
sind, wurden in einer Gruppe zusammengefalst, die Phantasie-
lügen genannt ist. Für diese Lüge ist das Kind ebenfalls nicht
verantwortlich, denn sie tritt spontan in dieser Periode der Kind-
heit auf, wo die noch schwach entwickelte Fähigkeit zur Aufmerk-
1 Dichtung und Neurose, S. 1.
2 Spiele der Menschen, S. 174.
9 L’art et la poesie chez l'enfant, Kap. IN.
t S. 201.
5 S. 60.
6 Goethe: Wahrheit und Dichtung. Ausg. v. HEINEMANN, II. Buch,
S. 64, s. auch das Kapitel: Der neue Paris, Kinderinärchen.
8 Einleitung.
samkeit und das ebenso schwach entwickelte kritische Urteils-
vermögen keine logischen Zusammenhänge erlaubt und der Phan-
tasie darum nicht entgegenwirkt. Dafs diese Phantasielügen zur
eigentlichen bewufsten Lüge keine Beziehung haben, beweist
Goethe, der trotz seiner völlig erdichteten Erzählungen von sich
sagen durfte, immer ,,war ich der Lüge und der Verstellung ab-
geneigt“1. Guyau behauptet, „so erfindungsreich das Kind von
Natur aus ist, das sich nie darum kiimmert, ob das von ihm Er=
zählte sich in Wirklichkeit zugetragen haben kann, so fern liegen
ihm Heucheln und Verstellung“?. In demselben Sinne drücken
sich SuLLY?, Vocrt u. a. aus. Mit der Entwicklung des Urteils
und der Aufmerksamkeit vermindert sich die Phantasietätigkeit
und mit ihr auch die Lüge. Der Erwachsene spielt mit seiner
Phantasie, in der Kindheit spielt die Phantasie mit dem Kinde.
Verschiedene Pädagogen, welche den Zusammenhang der
Phantasie mit der Lügenhaftigkeit der Kinder erkannt haben,
hielten es für dringend nötig, die Phantasie möglichst zu hemmen.
Ein Unterdrücken der Phantasie bedeutet aber oft nur ein brutales
Zerreilsen der goldenen Illusionen des Kindes und übt keinen
guten Einflufs auf die psychische und moralische Entwicklung
aus. ForrstEr behauptet, „Kinder ohne reiches inneres Leben
sind häufig vor der Lüge geschützt, eben weil die Wirklichkeit
übermälsig von ihrem ganzen Scelenleben Besitz nimmt und
keine Gegenwirkung seitens der Gebilde der Phantasie findet:
solche Kinder sind aber andererseits wegen dieses gering ent-
wickelten Eigenlebens wieder schr der Gefahr ausgesetzt, von
fremder Seite suggeriert zu werden. Man unterdrücke darum nie-
mals die phantasievolle Selbsttätigkeit des Kindes, nur interes-
siere man es lebendig für die gewissenhafte Kontrolle seiner Aus-
sagen‘‘*). 'Tuzonor ZIEHEN bewies, wie der Mangel an Phantasie
das Einfühlen des Kindes in eine fremde Lage unmöglich macht
und wie dadurch die Entwicklung der sympathischen, d. h. der
sozialen Gefühle gehemmt wird. Bei der Hemmung der Phan-
tasie besteht die Gefahr, ‚das Kind mit dem Bade auszuschütten.'
Es ist also zweckmälsiger, der Entwicklung der Phantasie freie
Bahn zu lassen, ja sogar dort, wo sie nicht vorhanden ist, sie zu
1 l e., S. 79.
2S... 202:
3 S. 254.
4 Jugendlehre, S. 680, Fufsnote.
Einleitung. 9
bereichern und die von ihr stammenden Lügen als malum neces-
sarium der Kindheit anzusehen. Die bisher so harte Bestrafung
der Kinderlügen, deren Phantasiequelle man nicht gekannt hat,
und die Prophezeiung einer schlechten Zukunft einem lügen-
haften Kinde entbehrt also nach den modernen pädagogischen
Untersuchungen jeder Begründung und ist zu verpönen.
Einen weiteren Beitrag zum Verständnis der Lügen brachten
die Untersuchungen der Experimentalpsychologie über die Aus-
sage. Die von Bıxer inaugurierten Experimente über suggestive
Fragen und von W. STERN über die Aussage, fortgesetzt von
zahlreichen modernen Psychologen und Pädagogen, führten zu
demselben Ergebnis: die fehlerlose Aussage ist nicht die Regel,
sondern die Ausnahme. So fand STERN, dafs sie 76%, 1, WRESCHNER,
dals sie 74%? aller gemachten Angaben betragen. Marie Borst
kam zu dem Ergebnis: nicht eine einzige Gesamtaussage ist fehler-
los. Diese falschen Aussagen, (also im gewissen Sinne Lügen)
sind jedoch nicht absichtlich, sondern sie sind Fehler, die wie die
Untersuchungen bewiesen, aus folgenden Ursachen stammen:
a) aus der mangelhaften Entwicklung der Sinne und des Ver-
mögens der Aufmerksamkeit, b) aus der schwachen Merkfähigkeit
des Gesehenen und Gehörten und aus Illusionen des Gedächt-
nisses, c) aus der Unfähigkeit, die Eindrücke zu reproduzieren.
Die sich so oft widersprechenden Aussagen der Personen, die alle
Zeugen eines und desselben Falles waren, und die doch im besten
Glauben berichten, erhalten auf Grund der Aussageexperimente
ihre Erklärung: die Menschen verstehen nicht zu schauen und
sich Rechenschaft von dem Geschehenen zu geben. Dabei stellt
das ungeschulte Gedächtnis die vergangenen Dinge in ganz an-
derem, meist günstigeren Lichte dar. Bei dem Kinde, wie Experi-
mente bewiesen haben, sind die falschen Aussagen noch häufiger,
sie steigen um so höher, je kleiner das Kind ist. Es trägt dazu
natürlich besonders die oben erwähnte rege Phantasie des Kindes
bei, der Mangel an Kritizismus und die Suggestibilität, die þe-
kanntlich um so grölser ist, je kleiner die eigene psychische Kraft.
Die durch Suggestivfragen bewirkten Aussagefälschungen sanken
von 50% bei 7jährigen auf 20% bei 15jährigen Kindern (STERN).
Viele fehlerhafte Aussagen verursacht auch der emotionale
1 BPsAu 1 (3).
2 ArGsPs 1, 148ff.
3 BPsAu 2 (3), 63.
10 Einleitung.
Faktor. Das, was das Kind wünscht, daß es geschehe, das wandelt
sich in seinem Bewulstsein in die Wirklichkeit um (quae volumus,
ea credimus libenter), das, was es sich nicht wünscht, das erscheint
ihm als nicht existierend. Nur das, was gefühlsmälsig betont ist,
` das interessiert das Kind, der Rest wird übersehen. Das kleine
Kind, bei dem sich wie bekannt, das Gefühlsleben früher ent-
wickelt, als der Intellekt, spricht in seinen Lügen nur seine Wünsche
aus (POPPELREUTER).
Auf solche Weise wird wieder festgestellt, dafs ein grofser
Teil der Kinderlügen nicht vom Willen des Kindes abhängig ist,
und dafs man deshalb das Kind fiir sie nicht verantwortlich machen
kann. Jene Psychologen, welche die Unabsichtlichkeit solcher
Lügen eingesehen haben, fordern, dals die Kinder wenigstens
bis zu ihrem siebenten Lebensjahre nicht als Zeugen vor Gericht
Aussagen ablegen sollen. Nachdem durch Marie Borst und Rosa
OPPENHEIM experimentell festgestellt wurde, dafs durch Übung
Fortschritte in der Treue der Aussage erzielt worden sind, so dafs
ein Erinnerungsunterricht möglich sei, stellten sie die Forderung,
die auch von W. STERN unterstützt wurde, dals der Mensch er-
zogen werden muls zur Lebhaftigkeit, Treue und Zuverlässigkeit
der Beobachtung und der Erinnerung!. Durch solche Erziehung
wird natürlich eine ganze Menge von Kinderlügen ausgeschaltet
sein. —
Aulser der experimentellen Psychologie hat auch die moderne
Psychiatrie wertvolle Beiträge zum Verständnis der Kindeslügen
geliefert. Sie stellte die Lüge fest als Symptom der Geisteskrank-
heit und als eine Krankheit sui generis (Pseudologia phantastica).
Die pathologische Lüge kann verursacht werden durch Störungen
der Gesichtswahrnehmung und der Aufmerksamkeit (Halluzi-
nation und Illusion), durch Störungen des Gedächtnisses, welche
zur sog. Konfabulation führen, oder durch Schwäche der geistigen
Fähigkeiten des Denkens und Urteils (wie bei Imbecillen). Bei
intakter Intelligenz kann die Lüge verursacht werden durch
Störungen der Affekte, wie bei Hysterie, Epilepsie, Angstneurose,
Manie und ähnlichem. Ohne andere Krankheitsmerkmale kann
man jedoch die Lüge nicht als pathologisch ansehen, die Krank-
heit mufs daher auch aus anderen Momenten festgestellt werden.
Aus diesem Grunde halten viele Psychiater die Lüge nicht für
1 BPsAu 1 (1). S. 60.
Einleitung. 11
ein besonderes Krankheitsbild, sondern immer nur für ein Symptom.
DeıBrück, Verfasser der bekannten Monographie über ‚„Pseudo-
logia phantastica‘“, glaubt jedoch, dafs ein bestimmter krank-
hafter Zustand sich in erster Linie oder sogar ausschlielslich in
Lügenhaftigkeit ausdrücken kann und führt dafür zahlreiche
Beispiele an. Ob wir aber die Lüge als Symptom oder als selb-
ständiges Krankheitsbild ansehen, eines steht fest, dafs wir eine
spezielle Art der Lüge aussondern müssen, die sich in vielem von
der normalen Lüge unterscheidet: Die normale Lüge ist nämlich
grölstenteils passiv, durch eine äulsere Ursache hervorgerufen,
die pathologische Lüge dagegen ist aktiv und aggressiv; die nor-
male ist durch die Umstände erzwungen, um eine traurige Wirk-
lichkeit zu verbessern, die pathologische tritt ohne einen solchen
äulseren Zwang auf. Die normale Lüge bezieht sich auf einen
bestimmten speziellen Fall, die pathologische ist frei, unabhängig,
sie beginnt schon bei kleinen unwichtigen Fällen und ist zwecklos.
Dabei ist das ganze Benehmen der Lügner in beiden Fällen anders:
der normale Lügner hat Angst vor der Entdeckung seiner Lüge,
der pathologische glaubt daran, was er sagt, so dafs DELBRÜCK
bei Lügnern eine Verdoppelung des Bewulstseins (also auch der
Persönlichkeit) annimmt, die charakteristisch sei nach seiner
Meinung für die Pseudologia phantastica!. Aber aulser diesem
prinzipiellen Unterschied existiert andererseits eine grofse Ahn-
lichkeit der pathologischen Lügner mit Menschen, deren grolse
Phantasie, Vorstellungskraft und Affektivität die Dinge in einer
Form darstellt, die ihren Wünschen entsprechend ist. Sprich-
wörtlich dafür sind die Jägergeschichten (Jägerlatein) geworden;
in der Literatur sind als Typen bekannt: Falstaff (Shakespeare),
Baron von Münchhausen, Tartarin de Tarascon (Daudet) und
Zagtoba (Sienkiewicz). Die Lügen dieser Figuren grenzen einer-
seits an die pathologischen, andererseits an die auf die Höhe des
Selbstbelügens gebrachten Selbsttäuschungen, denen wir schon in
den Spielen der Kinder begegnet sind. Daudet sagte mit Recht
von seinem Helden: ,,L’>homme de Midi ne ment pas, il se trompe.
Il ne dit pas toujours la verite, mais il croit la dire. Son mensonge
à lui ce m'est pas du mensonge, c'est une espèce de mirage.“
Wir haben also eine Verwandtschaft zwischen Pseudologia phan-
l Vgl. die interessanten Notizen von O. DANGER und CHR. UFER.
12 Einleilung.
tastica, einer chronischen Lüge des normalen Menschen und der
Lügen der phantasiereichen Kinder.
Alle diese Feststellungen sind von grölster Bedeutung. Die
vielen Fälle von Lügen und Verleumdungen der heranwachsenden
Jugend, die vor Gericht ihr trauriges Ende erleben, dürften auf
Grund der psychiatrischen Forschungen hinfort nicht mehr als
„Bösartigkeit‘‘ der Jugendlichen angesehen werden, sondern nur
als Folgeerscheinungen der Pubertät, die durch grölsere Sug-
gestibilität, grölsere Empfindlichkeit auf Eindrücke, grölsere
Phantasietätigkeit (die einen neuen Inhalt erhält), sich charak-
terisiert und die auf diese Weise die physiologischen Grund-
lagen der Verlogenheit der Jugendlichen schafft. Statt harter
Strafe für solche Lügen fordert die moderne Psychiatrie deshalb
entweder die Anstalt für Geisteskranke (wenn die Lüge ein Sym-
ptom der Hysterie, Epilepsie usw. ist), oder eine entsprechende
Erziehungsanstalt.
Alle diese oben erwähnten Arten von Lügen zeigen, wie vor-
sichtig man die Kinderlügen beurteilen muls. Solange das Kind
nicht im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte ist, solange es noch
in der natürlichen Unvellkommenheit seiner Sinnesempfindung
und geistigen Fähigkeiten ist — solange wird es lügen aus Un-
möglichkeit, sich richtig auszudrücken, aus der Lust, mit der sich
entwickelnden Sprache zu spielen, aus Suggestibilität, Gedächtnis-
schwäche, unausgebildeter Aufmerksamkeit, überreicher Phan-
tasietätigkeit und aus gewissen Eigentümlichkeiten der Pubeıtäts-
zeit. Für alle diese Lügen kann das Kind keine Strafe treffen,
man muls nur die Entwicklung seiner Fähigkeiten richtig leiten.
Aber alle diese Arten der Lüge erschöpfen immer noch nicht
die Lüge, durch die das Kind mit bewulster Absicht seine
Eltern, Erzieher oder Freunde täuschen möchte. Diese Art Lügen
mit Vorbedacht, wovon Beispiele bei kleinen Kindern Scurıxs!)
und Cr. und Wir. STERN?) gaben, kann zwar durch Mangel an
ethischen Gefühlen erklärt werden, wie es allgemein behauptet
wird, aber es kann nicht die einzige Erklärung dafür sein, denn
das fortwährende Schildern der Häfslichkeit der Lüge und der
Schönheit der Wahrheit durch die Eltern und Erzieher und deren
andere Bemühungen um die sittliche Entwicklung der Kinder
1S. 49 und 89.
2 8. 119 und 121.
Einleitung. 13
mülsten dann bessere Resultate ergeben. Da aber die beabsichtigte
und bewulste Lüge der Kinder eine groflse Wichtigkeit für Eltern
und Lehrer hat, so bemühen sich in allen Ländern nicht nur
einzelne Denker und Pädagogen, sie zu erforschen, sondern auch
ganze pädagogisch-psychologische Gesellschaften. So bestrebte
sich in Frankreich die ,,Société libre pour létude psychologique
de l’enfant‘, in Deutschland der ‚Verein für Kinderpsychologie“
in Berlin Klarheit über diesen Gegenstand zu beschaffen, und ihre
Forschungen bezogen sich nicht nur auf die Beobachtung einzelner
Fälle, sondern auch auf das Bearbeiten eines umfangreichen
Erhebungsmaterials.
Die Resultate, die auf diese Weise erhalten wurden, sind aber
nicht imponierend. Auch das ist nicht verwunderlich. Denn wenn
wir das Erhebungsmaterial durchsehen, so überzeugen wir uns
leicht, dafs es eine sehr schwache Seite aufweist. Die Antworten,
die auf diese Weise erlangt wurden, sind nicht Aussagen des Kindes
selbst, sondern Beobachtungen der Eltern und Lehrer. Dies hat
seinen grolsen Mangel: Die Mutter oder der Lehrer geben stets
solche Lügen an, welche sie für interessant ansehen vom Stand-
punkte ihrer Ansichten, ihres Vorurteils, oder ihres Ehrgeizes usw.
Es sind also dadurch wahrscheinlich viele wichtige Beispiele un-
beachtet geblieben. Dabei mufs man noch in Betracht ziehen,
dals viele Eltern zwar sehr gute Beobachter sind, dals sie aber
andererseits nicht genügend vorbereitet sind, richtige Schlüsse aus
ihren Beobachtungen zu ziehen, d.h. sie verstehen es gut, ein Kind
auf einer Lüge zu ertappen, aber sie vermögen es nicht immer,
den richtigen Grund der Lüge zu erkennen. Alles, was wir bisher
über die Motive der Lügen des gesunden Kindes wissen, ist eine
Interpretation der Tatsachen von Lehrern und Erziehern, eine
Interpretation, die nicht immer plausibel erscheint. Durrart z.B.
gibt an, dals aus 136 Fällen von Lügen 14 durch „intellektuelle
Tendenz‘, 6 durch ‚Ilogismus‘“ und 4 durch ‚ästhetische Ten-
denzen‘“ verursacht waren. Da die betreffenden Fälle nicht an-
gegeben wurden, so müssen wir dem Verf. aufs Wort glauben,
aber wo haben wir ein Kriterium solcher Mitteilung, und ist diese
Interpretation nicht wieder nach dem Beispiel des erwachsenen
Menschen vollzogen? Man muß also endlich das Kind selbst zu
Wort kommen lassen. |
Aufserdem ist in allen von Eltern und Erziehern bisher an-
gegebenen Fallen von Liigen eines der wichtigsten Momente, dic
14 Einleitung.
zur Erklärung der beabsichtigten Lüge des Kindes dienen, nicht
vorhanden: die Beziehung des Kindes zur Lüge. Nachdem
ich die Ergebnisse aller Erhebungen nachgeprüft habe, fand ich
niemals eine Erwähnung davon, ob das Kind eine Lüge bedauert
habe, ob es eine Reue gefühlt habe, ob in ihm die Lust erwachte,
nicht mehr zu lügen oder im Gegenteil weiter zu lügen, ob es zu
seinen Lügen durch die Umstände gezwungen war oder ob es aus
freiem Willen gelogen hat. Aus den bisherigen besten Arbeiten
über die Lüge der Kinder, wie z. B. bei Hat (auf 300), bei Duprat
(200), wissen wir absolut nichts über die Verschiedenheit der
Motive des Lügens bei kleineren und mehr erwachsenen Kindern,
bei Mädchen und Knaben, bei Kindern armer und bei Kindern
reicher Eltern. Unter diesen Umständen erschien mir die Kinder-
lüge noch ein weites Forschungsfeld und meine Absicht war, zwei
Probleme, die alle oben genannten Fragen umfassen, zu erläutern :
welches sind die Motive der beabsichtigten Kinderlüge und in was
für einem Verlältnis steht das Kind zu der betreffenden Lüge ?
Im Jahre 1912 wurde in der polnischen Gesellschaft für Kinder-
forechung in Lodz eine Sektion zur Erforschung des Charakters
des Kindes gegründet. Als nächste Aufgabe sollte sich die Sektion
mit der Frage der Kinderlüge bescl.äftigen. Der Plan eines gemein-
samen Arbeitens ist aber nach einigen Wochen gescheitert und
als Vorsitzende dieser Sektion übernahm ich diese Arbeit auf
eigene Faust. Die folgende Arbeit iet also eine selbständige sowohl
hinsichtlich des Fragebogens als auch des von mir gesammelten
Materials. Die Erhebung führte ich durch: in einer Schule für
Fröbelerzieherinnen (einer Klasse), in sechs- und siebenklassigen
polnischen Knaben- und Mädchenschulen (in jeder von diesen sieben
Schulen in 3 Klassen, 1, 3, 6.) und in zwei Anfangsschulen für
arme Mädchen, von denen die eine vom Wohltätigkeitsverein
„Niedola Dziecieca‘ und die andere von Frau Marnie Hertz unter-
halten werden. Um ein möglichst vielseitiges Material zu sammeln,
wällte ich sowohl ein’ge Schulen, die durch ihr hohes Niveau des
Unterrichts in der Stadt bekannt waren, als auch solche, die in
dieser Hinsicht einen ebenso schlechten Ruf hatten!.
Die Antwort auf meine Erhebung gaben 553 Kinder und
Jugendliche von 9 bis 18 Jahren (284 Knaben und 269 Mädchen),
L Aus diesem Grunde vermeide ich die Benennung der Leiter der
einzelnen Schulen.
Einleitung. 15
darunter 9 Antworten von Hörerinnen einer Fröbel-Erziehe-
rinnenanstalt im Alter von 16—20 Jahren!. Die Vorbildung dieser
Hörerinnen übertraf nicht diejenige der höheren Klassen der
Mädchenschulen. —
An dieser Stelle ist es für mich eine angenehme Pflicht, im
besonderen herzlichst zu danken: Fräulein AnrEta Szyc, der Vor-
sitzenden der polnischen Gesellschaft für Kinderforschung in
Warschau, deren Empfehlung mir den Zutritt zu verschiedenen
Schulen gewährte (da die betreffenden Direktoren mit der Durch-
fübrung nicht einverstanden waren), Frl. Dr. MicnaLına STEFA-
nowsKa, Herrn Dir. Wacraw Kıoss und Herrn Dir. CzERASZKIEWICZ,
welche durch ihr Beispiel das Milstrauen ihrer Kollegen zerstreut
haben.
Bevor ich jedoch zu den Ergebnissen meiner Untersuchung
übergehe, mulfs ich näher auf die Erhebung als Methode der päda-
gogischen Untersuchung eingehen.
1) 32 Kinder, deren Antworten ich nicht verwertet habe, sind hier
nicht mitgezählt.
16 Methodologische Vorbemerkungen.
Methodologische Vorbemerkungen.
Die Frage der Erhebung als Methode der psychologischen
Forschung wurde in den Zeitschriften schon mehrmals, und zwar
durch Ta. Rısor!), Hitricourt?), GaAULT?), BAERwALD4), GROET-
HUYSENÖ), STERN®), MEUMANN”?) erörtert. Die Haupteigenschaft
einer Erhebung ist, dafs sie eine möglichst groflse Zahl von Ant-
worten auf eine bestimmte Frage zu erhalten erlaubt. Aber es
kommt dabei aufserdem in Frage, ob diese Antworten als wissen-
schaftliches Material verwendet werden können. Die Antwort wird
nämlich in den meisten Fällen nicht unmittelbar dem Fragenden
entlockt: zwischen dem Versuchsleiter und der Versuchsperson
gibt es keine unmittelbare Beziehung, zwischen beide drängt sich
ein Vermittler in Form eines Papiers, welches nicht unbeträchtlich
die erbetenen Antworten beeinflufst. Mit der Minute, in der wir
einer Person den Fragebogen überreichen, verlieren wir jede
Möglichkeit der Kontrolle über ihn, das Papier erhält sein eigenes
Leben und kann einen nicht erwünschten Eindruck ausüben: seine
Ausdrücke werden schlecht verstanden und es gibt dann niemanden,
der den Fehler korrigieren könnte. Es kommt dabei außerdem in
Betracht, dals die Fragen nicht der Individualität des einzelnen
Angefragten angepalst sind; sie können also eine Suggestion aus-
1 TH. Rrpot. Sur la valeur des questionnaires au psychologie. JPsPu
1, 1. 1904.
2 HERICOURT, Projet de questionnaire psychophysique. RPh 29.
445. 1890.
3 GAULT, A history of the questionnaire method in psychology.
PdSe 14, 366. 1907.
4 BAERWALD, Die Methode der vereinigten Selbstwahrnehmune.
ZPs 46, 174. 1907.
5 B. GROETHUYSEN. Das Mitgefühl. ZPxs 34, 161. 1904.
6 STERN, Differentielle Psychologie. Leipzig, 1911. S. 127—138.
7 MEUMANN, Vorles. z. Einf. i. d. exp. Padag. Bd. I. IT, III. 2. Aufl.
und ArfısPs 17. Literaturbericht 1910.
Methodoloyische Vorbemerkungen. 17
üben und damit den Befragten auf falsche Gedanken bringen.
Man kann auch niemals wissen, auf welche Weise die Antworten
gegeben wurden: ob sie ernst oder leicht genommen wurden, ob
sie aufrichtig waren oder durch Ehrgeiz diktiert wurden, ob sie
von einem guten oder einem schlechten Beobachter stammen.
GRroETHUYsSEN bemerkt, dafs jede Frage sogar eine spezielle Lust
zu paradoxen Antworten erweckt, damit man seine Originalität
leuchten lassen könne. Diese Schwierigkeiten werden noch grölser,
wenn man die Erhebung bei Kindern vornimmt. Abgesehen
davon, dafs alle diese Fehlerquellen bei Kindern noch stärker
hervortreten, kommt bei ihnen noch der ungünstige Umstand
hinzu, dafs bei den Kindern sehr selten der Verfasser des Frage-
bogens die Erhebungen ausführt, sondern dafs dies gröfstenteils
durch den Lehrer geschieht. Und das ergibt eine neue Fehlerquelle.
Denn jede Antwort ist abhängig davon, ob der Lehrer beliebt oder
unbeliebt ist, sie ist abhängig von der Weise, wie der Lehrer sich
zu den Kindern wendet, von seiner Kunst, Weisungen zu erteilen
usw. Aus jedem dieser Umstände fallen die Antworten der Kinder
verschieden aus, deshalb hat auch WiırLıam STERN früher ganz
energisch bestritten, dafs man auf Grund einer solchen Erhebung
wissenschaftliche Ergebnisse erhalten könne; auch heute nimmt
er dies nur mit grolsem Vorbehalt an!. GRroETHUYSEN verwirft
absolut diese Methode?. Dagegen macht Max Meyer der deutschen
Psychologie den Vorwurf, dals sie zu ihrem grofsen Schaden diese
Methode verwirft?; und der bekannte Psychologe Ernst MEUMANN
behauptet ebenfalls, dafs das Milstrauen der deutschen Psycho-
logie dieser Methode gegenüber weichen müsse. — „Es ist keine
Frage“ — sagt er — „dafs wir vorläufig für die Erforschung zahl-
reicher Seelenzustände des Kindes überhaupt keine andere Methode
besitzen, die uns mit ihnen bekannt machen könnte. Eine gute
Bearbeitung der Methode der Umfrage ist daher eine Lebensfrage
der Kinderpsychologie®.“ Bestrebungen, diese Methode zu ver-
vollkommnen, wurden infolgedessen mehrmals gemacht, so dals
man heute von einer speziellen Umfragetechnik sprechen kann.
Sie beruht erstens auf einer geeigneten Fragestellung, d. h. eine
Frage darf weder zu unbestimmt, also nichtssagend sein, noch zu
1 Differentielle Psychologie, S. 132f.
2 A. a. O., S. 232.
3 ZAngPs 1, 472.
4 ArGsPs 17, Literaturbericht, S. 218—219. 1910.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 18. 2
18 Methodologische Vorbemerkungen.
sehr bestimmt, d. h. zu viel suggerierend. Am zweckmäflsigster
sind solche Fragen, welche die weiteste und freie Aussprache des.
Kindes ermöglichen (z. B. die Frage: was möchtest du werden ?).
Dann muls auch der Umfang der Fragen streng an die gegebene:
Gruppe von Personen angepalst sein, damit er nicht das geistige-
Niveau des Gefragten übersteigt und so bei einer zu grolsen Zahl der
Fragen eine gewisse Automatisierung der Antworten hervorruft.
Eine zu grolse Zahl von Fragen wird auch infolge der eintretenden
Müdigkeit den Selbstkritizismus einschränken. Dringend erforderlich
ist auch die Homogenität der Forscher, d. h. die Forderung, dafs.
eine Umfrage nur solche Personen durchführen sollen, die sich auf
demselben geistigen Niveau befinden — im allgemeinen ist daher
eine Sammelforschung nicht wünschenswert.
In Anbetracht all dieser Schwierigkeiten und um die oben
angegebenen Fehlerquellen zu vermeiden, habe ich in der folgenden
Umfrage die weitesten Vorsichtsmalsregeln eingeführt. Vor allenı
verzichtete ich grundsätzlich darauf, Fragebogen an Eltern oder
Erzieher zu versenden, wie es bisher bei Pädagogen und Psycho-
logen üblich war, sondern ich unternahm es, die Fragen den Kindern
mündlich zu stellen, und von ihnen eigenhändige Antworten ent-
gegenzunehmen. Da ich mir als Aufgabe stellte, die Fragen zu
erläutern: welche Motive sind es, die das Lügen bei den Kindern
verursachen und wie verhalten sich die Kinder zu ihren Lügen, so
verfalste ich für 8—10jährige Kinder einige Fragen, deren Beant-
wortung mir das obige Problem klären sollte. Probeweise, un
mich zu überzeugen, ob die Kinder auch der Aufgabe gewachsen
seien, legte ich diese Frage den Schülerinnen der I. Klasse einer
Anfangsschule vor; die Antworten bewiesen jedoch, dafs die
Fragen schlecht gestellt waren. Eine meiner Fragen lautete:
Warum hast du gelogen? Darauf gab die Mehrheit der Kinder
keine Antwort, aber indem sie ein Beispiel ihrer Lüge nieder-
schrieben, ergab sich stets von selbst das Motiv ihrer Lüge. Die
obige Frage erwies sich als überflüssig, es genügte also, ein Beispiel
der Lüge von dem Kinde zu erfordern. Weil ich mehrmals die
Erwähnung las: ‚das war meine erste Lüge“, so zog ich weiter
den Schluls, dafs die erste Lüge sich sehr oft tief in das Gedächtnis
des Kindes eingräbt, und fügte meinem Fragebogen die Frage
hinzu: ‚„Denkst du noch an deine erste Lüge?“ Eine andere
spontane Antwort der Kinder: ‚ich habe mich meiner Lüge ge-
schämt, aber ich habe sie nicht bedauert‘, veranlafste mich zu
Methodologische Vorbemerkungen 19
einer Auseinanderhaltung der Scham und des Bedauerns infolge
einer begangenen Unwahrheit. Auf diese Weise setzte ich mehrmals
die Frageliste neu zusammen und änderte sie immer auf Grund
solcher Vorversuche mit Kindern, bis ich endlich bei einigen Fragen
blieb, auf die alle Kinder der ersten Klasse (nach polnischer Ein-
teilung, also der deutschen Septima) ausführliche Antworten ge-
geben haben. Dieser Umstand war für mich ein Kriterium der
Berechtigung der Fragen und ich habe sie dann unverändert so-
wohl den 8jährigen Kindern wie auch der 18jährigen Jugend
gestellt. Die Fragen lauteten in ihrer letzten Redaktion:
1. Hast du irgend einmal zu Hause gelogen ?
2. Hast du irgend einmal in der Schule gelogen ?
3. Gib Beispiele deines Lügens!
4. Hast du dich deiner Lüge geschänit ?
5. Hast du deine Lügen bedauert ?
6. Erinnerst du dich deiner ersten Lüge ?
Den Jugendlichen bemerkte ich nur bei den ersten zwei
Fragen, dals es mir um das Verhältnis zwischen der Häufigkeit der
Lüge im Hause und in der Schule geht, sie sollten also angeben,
wo sie öfter lügen. Die Frage: Erinnerst du dich deiner ersten
Lüge ? gab ich als letzte, da ich mich überzeugte, dals die Kinder
besser sich dessen erinnern, was unlängst passierte; diese Frage
erforderte also mehr Anstrengung und als schwerere gab ich sie
am Ende. Die Zahl der Fragen ist absichtlich erheblich kleiner
als in irgendeiner bisher veranstalteten Umfrage, die an Eltern
und Lehrer verschickt worden sind (man vergleiche nur MALAPERTS
Erhebung über den Zorn), da Kinder Einzelheiten nicht ausein-
anderzuhalten vermögen wie Erwachsene. Aus eigenem Antrieb
schreibt das Kind sehr ausführlich, so dals es Sache dex Bearbeiters
ist, aus der spontanen Erzählung der Kinder gewisse Einzelheiten
hervorzuheben.
Die Abfassung der Fragen ist jedoch, wie ich mich überzeugte.
eine Kleinigkeit im Vergleich mit der Kunst, das Material zu
sammeln. Um vom Kinde die grölste Zahl der Fälle herauszuholen,
muls man verstehen, zu Kindern zu sprechen, ihr Vertrauen zu
gewinnen, in ihnen die Lust zu erwerken, auf das gestellte Thema
ihre Gedanken zu lenken. Nur dann, wenn der Psychologe es
vermag, das Vertrauen, und seies noch so gering, zu sich zu wecken,
pur dann kann er aufrichtige Antworten in solch drastischen Fragen
wie ein Bekenntnis der Lüge erwarten. Um also dieses Ziel zu
dé
21) Methodologische Vorbemerkungen.
erlangen, stellte ich mich aulserhalb des Lehrerpers>nals, zu dem
die Kinder fast immer eine gewisse Abneigung fühlen. Ich trat
mit dem Direktor oder der Vorsteherin der Schule unerwartet in
eine Klasse hinein und nachdem mich der Direktor den Kindern
vorgestellt hatte, teilte er ihnen mit, dafs die folgende Stunde eine
Plauderei mit mir ausfüllen wird. Er liefs die Kinder weilse Blätter
aus den Heften ausreifsen und auf ihnen das Alter (die Zahl der
Jahre) aufschreiben. Darauf verliels der Direktor die Klasse und
liefs mich mit den Kindern allein.
Dieses „tête-à-tête“ mit den Kindern machte ihnen, wie ich
bemerkte, immer sehr viel Freude. Ungeniert in Abwesenheit
der Schulobrigkeit, fragten sie laut lachend: was wird es sein?
Ich hielt dann an sie eine kleine Ansprache, erklärte ihnen, dafs
ich von ihnen schriftlich aufrichtige Antworten auf einige Fragen
wünsche (ohne noch zu sagen, um was es sich eigentlich handelt)
und gab ihnen die Versicherung, dafs niemand aufser mir, also
weder der Direktor noch einer der Lehrer diese Antworten lesen
wird. Dann machte ich sie darauf aufmerksam, dafs sie ihren
Familiennamen nicht zu unterschreiben brauchen. Und da ich sie
alle doch nicht kenne, ebensowenig ihre Schreibweise, so werde
ich ja niemals wissen, wer das Betreffende geschrieben hat. Das
Geheimnis der Antworten wurde auf diese Weise gesichert. Dann
erst sagte ich, über welches Thema sie schreiben sollten. Daraufhin
erfolgte stets eine ungewöhnliche Betretenheit. Die Schülerinnen
der 3. Klasse einer Schule legten sogar die Feder nieder und er-
klärten cinstimmig, daß sie nicht schreiben werden. Nur der
Hinweis, dafs auf meine Fragen sowohl die Schülerinnen der oberen
wie auch die der unteren Klassen fast in allen polnischen Schulen
der Stadt geantwortet hätten, vermochte sie zu beruhigen und sie
zum Schreiben zu bewegen. (Merkwürdigerweise zeigten sich in
allen Schulen die Schülerinnen der 3. Klasse am meisten rebellisch.)
Natürlich hat man sich in allen Klassen immer wieder von neuem
vergewissert, ob nun nicht doch der Direktor oder irgend sonst
einer von den Lehrern die Blätter lesen wird. Einer der Schüler
der 3. Klasse hat sogar gefragt, ob der Geistliche, der den Religions-
unterricht erteilt, das Geschriebene ebenfalls nicht sehen wird.
Wenn die Schüler und Schülerinnen auf ihren Blättern neben ihrem
Alter unaufgefordert auch ihren Namen gesetzt hatten, so haben
die diesen, nachdem sie wulsten, um was es sich in ihren Nieder-
schriften handeln wird, sofort ausgestrichen und unleserlich ge-
Methodologische Vorbemerkungen. 1
macht. Um die Indiskretion der Nachbarn zu verhüten, haben die
Kinder beim Schreiben sorgfältig ihre Blätter mit Löschpapier
zugedeckt und als ich selbst mir irgendeine Notiz auf ein Stück
Papier machte, erhoben sich sofort einige Stimmen, ob ich auch
die Schüler nicht ‚einschreibe‘‘, um sie den Lehrern später zu
zeigen. Als die Kinder mir später die beantworteten Fragebogen
abgeben sollten, mulste ich mich auf ihren allgemeinen Wunsch
gegen die Wand wenden, um nicht zu sehen, in welcher Reihen-
folge sie die Blätter auf das Katheder legten, damit ich auf diese
Weise nicht erfahre, von wem ein Blatt herrührt. Man hat also
geglaubt, dafs ich mir irgendeines vom Sehen merken könne.
Aufserdem hat man mich während der ganzen Zeit des Schreibens
immer wieder gefragt: wozu und warum ist das? Ich erklärte,
dafs ich es zu einem wissenschaftlichen Zwecke brauche, aber
natürlich haben mich nur die älteren Kinder verstanden, worauf
es mir ankommt. Eine gröfsere Lust zum Schreiben als jedes
Erklären hat die Bemerkung hervorgerufen, dafs ich die Lüge
nicht für eine grolse Sünde halte, dafs jedermann lügt und dafs
ich selbst im Leben nicht blofs einmal gelogen habe. Das letztere
hat die Kinder stets in grolse Begeisterung versetzt, man lachte
laut und mancher Widerspenstige griff jetzt zur Feder. Eine `
besondere Beruhigung der Kinder erzielte ich auch mit der Be-
merkung, dafs derjenige, welcher absolut nicht schreiben. will,
es auch lassen könne, da ich nicht wünsche, dafs die Kinder lügen,
indem sie über das Lügen schreiben; es wäre mir aber sehr lieb,
wenn man mir ausführlich schreiben würde. Auf diese Bemerkung
stand in einer Klasse ein etwa l0jähriger Knabe auf und sagte
sehr resolut, dafs nur schlechte Knaben viel zu schreiben hätten,
weil doch die guten Jungen nicht lügen. Das forderte natürlich
wieder von mir die Erklärung, dafs gerade die schlechten Jungen
wenig schreiben, weil sie ihre Taten zu verheimlichen wünschten,
während im Gegenteil ein guter Junge aufrichtig sein wird, und
seine kleinen Vergehen, von denen auch der beste nicht frei ist,
gerne beichten wird. Aus solchen Bemerkungen, mit denen man
mich überschüttete, ist zu ersehen, dafs in den erhaltenen Ant-
worten der Kinder vieles doch nicht enthalten ist. Und man
kann wohl nicht in Abrede stellen, dafs immer ebensoviel ver-
heimlicht, wie zugestanden wurde. Auch glaube ich, dafs, welches
Bild von der Kinderliige wir auf Grund dieser Fragen auch er-
halten mögen, es bestimmt immer eine viel zu harmlose Dar-
29 Methodologische Vorbemerkungen.
stellung des wirklichen Tatbestandes ergibt. Nach einigen Mi-
nuten (manchmal aber auch erst nach mehr als einer Viertel-
stunde) fing man an zu schreiben. Ich bemerkte, dafs, je länger
man eine Klasse überzeugen mulste, um sie zum Schreiben zu
bewegen, ich um so unbefriedigendere Antworten bekam: d.h.
ich erhielt dann meistens nur kurze Antworten, zwischen denen
sich aber hier und da das Geständnis einer häfslichen raffinierten
Lüge vorfand. Ohne Zweifel wirkte hier der Widerstand zum Ge-
stehen der Wahrheit. Kleine Mädchen machten sich ans Schreiben
mit grölserem Ernst als kleine Jungen. Als ich in einer ersten
Knabenklasse, um die Knaben zum Schreiben anzuregen, sagte,
dafs die Mädchen sehr aufrichtig und ausführlich geschrieben
haben, sagte einer der Jungen: ‚na eben, weil sie dümmer sind“.
Wenn man die Schreibenden beobachtete, konnte man in allen
Klassen ohne Ausnahme leicht feststellen, dafs einige Schüler
oder Schülerinnen sofort nach dem Erhalten der Fragen zu schrei-
ben anfingen und die ganze Zeit fleilsig und mit einem konzen-
trierten Gesichtsausdruck geschrieben haben; von diesen stammten
natürlich die vierseitigen vollgeschriebenen Blätter. Die Mehrheit
der Kinder fing aber erst nach einiger Zeit, und wahrscheinlich unter
dem Einflufs des Beispieles der Nachbarn, an zu schreiben. Damit
erklärt es sich, dals in den unteren Klassen die Kinder auf die
Fragen: Hast du in der Schule gelogen ? Hast du zu Hause ge-
logen ? zuerst nur: nein, nein antworteten und dann dies ent-
weder ausstrichen oder auch nach den negativen Antworten
trotzdem noch ruhig Beispiele ihrer Lügen gaben.
Im Hinblick auf all dieses entsteht die Frage, ob die Ant-
worten der Kinder aufrichtig sind. Was das anbetrifft, so hatte
ich längere Zeit sehr grolse Zweifel. Ein vielleicht Sjähriges Mäd-
chen sagte mir bei dem 3. Punkte der Erhebung (Gib Beispiele
deiner Lüge): „Wenn man dem Muttchen davon nicht gesagt hat,
soll man da Ihnen sagen ? Nein.“ Dem ähnlich schrieb auch
ein Junge: „nur der Pfarrer darf meine Fehler wissen, Sie werden
es nicht wissen, nur der Pfarrer.“ Ich hörte auch zufällig im Kor-
ridor, als eine Schülerin der 1. Klasse (etwa 10jährig) zu ihrer
Freundin sagte: ‚ich konnte doch nicht schreiben, dafs ich ge-
logen habe. Ich bin doch die erste (die beste) Schülerin.“ Eine
Schülerin, der 7. Klasse (17jährig) schrieb: ‚ich habe gar nicht
die Absicht, die dumme Neugierde einer dummen Philosophin
zu stillen.“ Eine andere Schülerin der 7. Klasse schrieb: ‚Indem
Methodologische Vorbemerkungen. 23
ich diese Fragen beantworte, werde ich die Unwahrheit schreiben,
und das deshalb, weil ich nicht will, dafs jemand von meinen
Lügen etwas wissen soll. Ich weifs zwar, dafs nie jemand wissen
wird, wer diese Zeilen geschrieben hat, aber es ist ganz überflüssig,
dafs ich die Wahrheit schreibe, denn immer ist man am schlech-
testen daran, wenn man seine Gedanken verrät und zu viel spricht.“
Wer weils also, wieviel Schülerinnen dasselbe dachten ? Ich
hatte auch einen solchen Fall: in einer Schule schrieben in einer
Klasse 8 Schülerinnen von 24: ‚ich habe nicht gelogen.‘ Nach
‚einigen Tagen kam ich wieder in die Klasse und sagte, dafs die,
welche nicht gelogen haben, aufstehen sollen. Ich führte sie dann
alle in ein grolses Zimmer und rief sie einzeln wieder in ein anderes
Zimmer hinein, wo ich jede dann allein gefragt habe, ob sie wirk-
lich niemalr gelogen hätte. Weil ich jede Befragte sofort auf den
Hof schickte, so konnte keine ihre Freundinnen benachrichtigen,
was sie erwartet. Auf diese Weise erwies es sich, dafs von diesen
8 nicht lügenden Mädchen 3 die schlimmsten Lügnerinnen waren.
Eine von ihnen — eine 1l2jährige — gab zu, dals sie ein ganzes
‚Jahr ihre Eltern betrogen hat, indem sie diesen vorgetäuscht hat
aus Klasse b in die Vorbereitungsklasse!) versetzt worden zu sein.
Auf Grund dessen erhielt sie Geld fiir neue Biicher; auf ihren
Heften schricb sie die unrichtige Klasse auf. Das zweite und
dritte Mädchen haben ebenfalls systematisch ihre Eltern belogen.
Die vierte gab an, sie hätte sich nicht genau ihrer Lügen erinnert,
also glaubte sie, man müsse schreiben nein. Von den übrigen
Mädchen war nicht viel herauszubekommen, aber sie machten
darum nichts weniger als den Eindruck aufrichtiger Geschöpfe.
Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit einer kritischen Unter-
suchung aller Antworten auf die gestellten Fragen und ein Nach-
prüfen jeder Einzelheit, ob keine Widersprüche in den Aussagen
vorhanden sind. Dort also, wo ich eine spöttische Bemerkung
{z. B. warum fragen Sie nicht, wann ich zum erstenmal geliebt
habe, davon hätte ich mehr geschrieben), eine falsche Alters-
angabe (eine Schülerin der dritten Klasse gibt z. B. an: bin ein-
undzwanzig Jahre alt), eine Unterschrift in der Art: ‚Mein Name
ist Geheimnis“, „Ihr ergebener X. Y. Z.“ „Fräulein Unbekannt“
oder ‚ich heilse Piff Paff, wohne in der Strafse, die man nicht
L Zwei Klassen in privaten polnischen Schulen unter der ersten
lasse. Das Durchschnittsalter der Kinder ist 8—9 Jahre, da es aber eine
Wohltätigkeitsschule für arme Kinder war, betrug ihr Alter 10—11 Jahre.
24 Methodologische Vorbemerkungen.
finden kann“ (im Polnischen reimt sich diese Aussage) oder auf
dem Blatt befand sich meine Karikatur, was fünf ma] vorkam,
— solche und ähnliche Antworten zog ich grölstenteils aus dem
Material zurück).
Im Verhältnis zu 585 ausgefragten Kindern waren solche
Antworten jedoch nicht allzu zahlreich — sie überstiegen die Zahl
30 nicht. Viel häufiger waren die Beweise, dafs sowohl die Kinder
als auch die Jugendlichen die gestellte Aufgabe überaus ernst
nahmen. Selbst in den Anfängerschulen suchten sich die Kinder
klar bewulst zu machen, was man von ihnen verlangte. Das be-
weisen ihre vielen an mich gerichteten Fragen: ,,heifst das, dafs
ich gelogen habe, wenn ich meinem Bruder sagte, dals ich ihm
Bilder schenken werde und ich sie ihm doch nicht gab, weil ich
es vergessen habe ?‘‘ — ‚Ist jemand in den ‚‚April schicken“ auch
eine Lüge ?‘‘ — ‚Ich log, dafs Frl. Eva (die Lehrerin) schon ge-
kommen ist, damit sich alle freuen, ist das eine Sünde ?““ — „Ich
drohte meinem Brüderchen, dafs wenn es weiter schreien wird, ich
einen Schutzmann rufen werde, ich rief den Schutzmann jedoch
nicht, als es trotzdem nicht aufhörte. Ist das eine Lüge?“ — „Ich
versprach meiner Freundin, dafs ich zu ihr kommen werde, aber
ich kam nicht. Ist das eine Lüge?“ — ‚Meine Freundin sagte
mir ein Geheimnis, das ich niemandem verraten sollte. Als man
mich fragte, ob ich davon was weils, sagte ich ‚‚nein“ -— ist das eine
Lüge?“
Aulser diesen an mich gerichteten Fragen beweisen auch
noch einige andere Merkmale, dafs sie aufrichtig schrieben. Das
ist das Nennen der Namen der Lehrerinnen und der Verwandten,
gegenüber denen sie gelogen haben. Viele der älteren haben ihre
Aufrichtigkeit mit einer solch detaillierten Schilderung ihrer Fami-
lienverhältnisse dokumentiert, dafs man nicht einen Augenblick an
ihrer Wahrhaftigkeit zweifeln kann. Dabei waren sehr oft die
Antworten mit Erklärungen versehen: ‚Ich mufs betonen, dafs
ich zum erstenmal über diesen Fall aufrichtig schreibe, und zwar
deshalb, weil ich meinen Namen nicht anzugeben brauche.“ Ein
16jähriger Schüler schreibt: „Über das Lügen zu schreiben ist
sehr drastisch. Sich zu einer Lüge bekennen ? Aber in dem Be-
1 Ein 16jähriger unterschrieb seine Aussage „Ein guter Pole‘. Dies
war aber voll und ernst zu nehmen. Der Junge schrieb unter anderen ieh
bekenne es Ihnen, weil ich hoffe, dafs Sie eine gute Polin sind und tuiser
Vaterland lieben“.
nn Aë RE emp nn u en ang ka gical a a tt
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u See"
a
Methodoloyische Vorbemerkungen. 25
kenntnis selbst muls eine Lüge sein. Warum ? Weil sich doch
jeder in einem besseren Lichte vorstellen möchte und hier bittet
man ihn, dafs er sich schwarz malt. Aber ich schreibe das für
einen wissenschaftlichen Zweck und deshalb werde ich so auf-
richtig wie möglich schreiben.“ Eine 15jährige Schülerin sagt:
„Ich würde ohne Ende schreiben, ich fühle, dafs ich in Ihnen eine
Frau gefunden habe, die mich von meinen Fehlern abbringen
könnte und aus mir eine hundertfach bessere, eine wirkliche Frau,
ein Vorbild für andere machen könnte.‘ Wieder eine andere,
ebenfalls 15jährige, schreibt: ‚Ich bedauere sehr, dafs ich nicht
alle meine Gedanken zu Papier bringen kann. Im Anfang wollte
ich Sie anlügen, aber allmählich fing ich an, die Wahrheit zu
schreiben.“ In einer Knabenschule haben die Jungens die Um-
frage als Beichte verstanden und in ihren Antworten findet man
viele Vergehen, die gar keine Lügen sind. So z. B.: „ich gebrauchte
unanstäöndige Worte‘ usw. Das ist aber eine gewisse Garantie,
dafs die Bekenntnisse aufrichtig gewesen waren. Das Gefühl
einer Beichte empfanden übrigens sehr oft die Schreibenden,
nachdem sie ihren Sündenbericht zu Ende hatten. Zwei Mädchen,
13- und 14jährig, drückten sich so aus, dafs sie sich während des
Schreibens immer gröfserer Lügen erinnerten und nachdem sie
sie niedergeschrieben haben, ‚wurde mir so wohl“. Die andere
sagte, „es wurde mir so leicht ums Herz“. Eine Schülerin
der 7. Klasse (16 Jahre) bekennt: ‚nachdem ich den kleinen Be-
richt geschrieben habe, blieb in der Seele so eine Genugtuung,
und das deshalb, weil man nicht gelogen hat“.
Alle diese Aussagen bezeugen deutlich, wie ehrlich die Kinder
ihre Aufgabe zu erfüllen suchten. Diese und ähnliche Antworten
beweisen auflserdem, wie ernst die Kinder ihre Aufgabe aufge-
faßt haben.
Es kommt hier aber noch eine Frage in Betracht: wie weit
wirkt in einer aussagegebenden Klasse die Suggestion der
Masse. O. Kosoc erwähnt in seinem Artikel „Wahrheit und Un-
wahrheit bei Schulkindern‘ (Die deutsche Schule 1907, 2), dals
anfangs das Resultat der von ihm in den Schulen veranstalteten
Umfrage in bezug auf den Genuls von Tabak und Alkohol ein
negatives war, d. h. die Schüler haben keine Aussagen gemacht,
aber dann haben solche Mittel wie Ermutigung, das Versprechen,
dafs ihre Aufrichtigkeit keine schlechten Folgen nach sich ziehen
werde usw. bewirkt, dafs die Schüler mit einem förmlichen Stolz
26 Methodologische Vorbemerkungen.
ihre Vergehen angegeben haben. Von 40 Schülern haben angeblich
20 Zigaretten geraucht, alle haben Alkohol getrunken in Form
von Bier, 32 tranken Schnaps, 5 gaben an, dals sie Schnaps sogar
schon vor dem Frühstück getrunken haben. Kosoc behauptet
aber, dies Resultat stehe nicht im Einklang mit seinen subjektiven
Überzeugungen, da er die Hausverhältnisse seiner Schüler kenne
und auf Grund dessen behaupten könne, dafs diese Ergebnisse
der Umfrage Wirkungen der Suggestion seien (S. 73 u. 74).
Kosoc kann zum Teil mit seiner eigenen Waffe geschlagen
werden. Die Forschungen mittels einer Umfrage sind doch eigent-
lich nur dazu da, um die „subjektiven Überzeugungen‘ des Er-
ziehers zu eliminieren und deshalb mu [sdas Resultat derobjektiven
Forschung stets in einem Gegensatz zur subjektiven Überzeugung
stehen. Die Resultate sind dabei keinesfalls die Ergebnisse der Sug-
gestion. Kosoc schreibt auf 8.75, dafs wenn das Kind auf die Frage:
hast duesgetan ?mitder Lügenein antwortet,soistdas nein keines-
fallseine Verneinung der 'Tatsache, sondernganzeinfach der Wunsch,
eine unangenehme Sache von sich fernzuhalten. Meines Erachtens
geschieht das nicht nur bei mündlichen, sondern auch bei schrift-
lichen Fragen (wie in einer Erhebung). Um daher diese Absicht
zu erreichen, das Unangenehme von sich fernzuhalten, muls man
das Kind zum Schreiben anregen, denn ohne diese Anregung
würde es nichts schreiben. Aber diese Anregung in Form einer
Ermutigung, eines Versprechens, es dafür nicht zu strafen usw.,
darf man nicht als eine Suggestion ansehen, wenn wir nur. nicht
dem Kinde einfach sagen: schreibe in dieser oder jener Art,
sondern ihm auch die Freiheit des Nichtschreibens überlassen,
so dals das Kind, wenn es will, auch nicht zu antworten braucht
(so wie ich es tat). Unter solchen Umständen kann nicht von
einer Suggestion, sondern nur von einer Ermutigung die Rede
sein. Die Vermeidung der Suggestion von seiten des Lehrers ist
also nur eine Frage seiner Geschicklichkeit in der Aussprache mit
den Schülern.
In dieser Hinsicht hatte ich einen charakteristischen Fall, der
meine obigen Ausführungen durchaus bestätigt. Als ich in der
Mädchenschule einer Frau Dr. S.die Umfrage veranstaltete, kam
eine Mutter zu der Vorsteherin der Schule mit der Klage, man
hätte ihrem Töchterchen zu schreiben befohlen, dafs sie gelogen
hätte und nun hätte sich das Kind eine Lüge ausgedacht, um
den Forderungen der fremden Dame nachzukommen, es wäre aber
Methodologische Vorbemerkungen. 27
grausam, ein Kind, das niemals lüge, auf solche Weise zu demorali-
sieren und zur Lüge zu zwingen.
Ich beruhigte die empörte Mutter, so gut ich konnte, wollte
aber dieser Sache auf den Grund gehen. Neugierig, was so ein
12jähriges Mädchen — das nach der Aussage der Mutter nie ge-
logen hat — für eine Lüge sich ausdenkt, bat ich die Schulvor-
steherin mir irgendein Heft des betreffenden Mädchens zu geben,
damit ich auf Grund ihrer Handschrift ihr Blatt aussuchen könne.
(Natürlich wurde weder der Mutter noch dem Kinde etwas davon
berichtet.) Da ich die Blätter jeder Klasse gesondert hielt, gelang
es mir in wenigen Minuten, die Antwort des Mädchens herauszu-
suchen. Ich gebe sie hier in extenso wieder:
„Bin 12 Jahre alt.
Nein, ich log nicht in der Schule.
Ich log zweimal zu Hause. Muttchen hat mir nie erlaubt, mit dem
Dienstmädchen zu sprechen, damit ich nicht häfsliche Worte von ihr lerne.
Eines Tages, ich war damals vier Jahre alt, ging ich in die Küche, da mich
Muttchen ein Glas holen liefs. Das Mädchen sprach mich an und ich unter-
hielt mich mit ihr trotz des Verbotes der Mutter. Nach einigen Minuten
kehrte ich in das Zimmer zurück und Muttchen fragte: Hast du mit dem
Mädchen gesprochen, weil du solange in der Küche warst ? Sag die Wahr-
heit, du wirst nicht bestraft. Ich werde nur dem Mädchen sagen, dafs sie
dich nicht nochmals aufhält. Nein, Muttchen, ich habe mich mit ihr nicht
unterhalten, sagte ich ernst.
Aber weil ich keinen Grund sehe, mich dessen zu schämen, bekenne
ich, dafs ich es nur aus Mitleid für das Mädchen tat. Ich bitte also um ein
aufrichtiges Urteil: war meine Lüge sehr sündenhaft ?
Einst spielte ich mit meiner Cousine „Gefängnis“, das war ein Spiel,
welches uns von den Eltern verboten war, weil es mit Schlägen verbunden
ist. Eines Tages ging die Grofsmutter in ein anderes Zimmer und niemand
war mehr aufser ihr zu Hause. Wir fingen an zu spielen und in diesem
Moment geht die Tür auf. Wir sprangen in eine Ecke und fingen an, schnell
die Schnürchen und Stöckchen, mit denen wir spielten, zu verstecken.
Die Grofsmutter konımt herein und fragt: „Was habt ihr getan ?“ — Und
ich antwortete: „Wir haben geschaukelt.“ „Und was macht ihr dort in der
Ecke %“ ‚Nichts, ich wollte nur mal schauen, ob der Ofen heifs ist.“ Dann
wollte ich alles der Grofsmutter bekennen, aber die Cousine sagte: Sage
es nicht, denn die Grolsmutter wird auf mich böse sein. Und diese Schuld
habe ich verschwiegen, nur Ihnen sage ich sie.
Ich habe mich meiner Lüge geschämt, aber ich habe sie nicht gestan-
den. Ich habe meine Lüge bedauert.
Zum erstenmal log ich, als ich 4 Jahre alt war, das habe ich eben
beschrieben.‘ —
Es ist schwer, dieses Bekenntnis als erlogen anzunehmen.
28 Methodologische Vorbemerkungen.
Die Beschreibung ist zu genau. Wahrscheinlich hatte die Mutter
den Ehrgeiz, dafs ihr Kind nie gelogen habe und die Entriistung
der Mutter über diese ,,Schulaufgabe“ zwang das Kind zu einer
Liige: in der Aufgabe etwas vorgelogen zu haben.
Ich zweifle nicht daran, dafs manche Antwort auch insofern
unaufrichtig war, als sie durch den Wunsch, schneidig zu erscheinen,
hervorgerufen war. Dieses oder jenes Kind hat bei seinen Über-
tretungen manches hinzuphantasiert, aber ein solches Protzen
mit dem Mut des Gestehens kam in dieser Umfrage sicher nicht in
grolsem Malse vor, und einige Fälle, in welchen ich es feststellen
konnte, habe ich aus dem zu bearbeitenden Material ausgeschaltet.
Ihr Einfluls auf das Gesamtergebnis war gering. Aus den hier
reichlich angegebenen Beispielen der Kinderlüge kann niemand
eine spezielle Neigung zur Bravour herausfinden.
Ich mufs aber eine andere charakteristische Beobachtung her-
vorheben. Dritte Personen, wie Mütter, Tanten, Cousinen oder Be-
kannte von Schülern oder Schülerinnen gaben mir an, dafs die
Schüler über das spotteten, was sie geschrieben haben und sie
behaupteten, es sei alles Bluff, was sie angegeben haben. Ich
glaube aber auf Grund aufmerksamen Durcharbeitens des Ma-
terials und deshalb, weil mich viele Schüler in jeder Klasse immer
wieder fragten, ob sie in einem Briefe an mich noch weiteres über
die Lüge mir berichten dürfen, da sie mir noch viel zu sagen haben,
— auf Grund von alledem glaube ich, dafs die Selbstverspottung
ihrer Angaben vor dritten Personen nur dem Wunsch zum Klein-
machen, zum Herabsetzen dessen entsprach, was man in einem
Moment der Aufrichtigkeit, unter dem Einfluls der Minute getan
hat. Wir müssen uns doch vorstellen, dafs unter der Wirkung der
Ermutigung und der sich mengenden Erinnerungen das Kind
ohne besondere Überlegung handelt. Später erst, nachdem es seine
Aufzeichnungen abgegeben hat, und die Stimmung verflogen ist,
kommt es ihm zum Bewulstsein, dafs es zuviel gesagt habe. Dann
erst entsteht der Wunsch, das Gesagte herabzusetzen. Und weil
es unmöglich ist, dies vor dem Veranstalter der Umfrage zu tun,
so erzählt man davon den Angehörigen. Auf diese Weise glaube
ich, entsteht die Fabel von der Erlogenheit der gemachten Aussage.
Die Suggestion der Aussagen geht viel weniger von dem Ver-
anstalter der Umfrage aus als gegenseitig von den Schreibenden
selbst. Ich überzeugte mich, dafs mehr als meine Überredungen
der Umstand wirkte, dafs der Nachbar zu schreiben anfing. Viele
Methodologische Vorbemerkungen. 29
Schüler griffen zur Feder nur dem Beispiele der Mitschüler folgend.
Um also die gegenseitigen Mitteilungen der Kinder unmöglich zu
machen, erlaubte ich keinerlei Gespräche in der Klasse. Ich be-
mühte mich auch, die Umfrage in einer Schule in allen Klassen
an einem Tage zu veranstalten, damit die Schüler der einen Klasse
sich nicht mit den Schülern der anderen verständigen konnten.
Dank der Liebenswürdigkeit der Direktoren der Schulen war es
mir möglich, in jeder Schule eine Stunde nach der anderen die
Umfrage zu veranstalten, und ich konnte aufserdem veranlassen,
dafs die Kinder einer Klasse, die schon geschrieben hatten, während
der Pause in einen besonderen Saal geführt wurden, damit sie
mit den Schülern, die noch nichts geschrieben hatten, nicht in
Berührung kämen. Ich konnte aber folgende Fälle nicht vermeiden:
in einer Knabenschule begriifst mich ein kleiner Knirps von der
ersten Klasse (8—9 Jahre) mit den Worten: ,,ah, mein Cousin
hat mir schon von Ihnen erzählt, in seiner Schule waren Sie auch
schon“. Ich glaube, dafs der Knabe nicht allzuviel von seinen
Streichen erzählt hat. Ich zweifle auch nicht, dafs ein 12jähriger
Knabe, der, nachdem er das Thema der Unifrage erfahren hat,
mit Begeisterung schrie: ‚Oh! dann gehen Sie in die Schule von
Frau W., dort ist meine Schwester, die kann lügen !“, da[s dieser
Knabe bestimmt seiner Schwester von der sie erwartenden Exe-
kution erzählt hat und dafs das edle Schwesterchen sich gehütet
hat, allzu drastische Fälle anzugeben. Aber solche Fälle kann
man nicht ausschalten, wenn man die Umfrage in mehreren Schulen
einer nicht allzu grofsen Stadt veranstaltet und schlielslich sind
auch diese Fälle nicht so zahlreich, dafs sie zu den auf die Tausend
angegebener Lügenbeispiele in Betracht kämen.
Übrigens macht man sich über den Wert der Umfrage am
besten ein Urteil auf Grund der von mir angeführten Beispiele.
Die Antworten der Kinder gab ich in extenso, den Stil und die
Orthographie der Kinder habe ich beibehalten!. Die in Paren-
thesen nach jeder Antwort angegebene Zahl betrifft das Alter des
Kindes, die Geschlechtsangabe ist mit m und f bezeichnet. Das
gesamte Material werde ich dem ersten pädagogischen Museum.
das in Polen entsteht, überweisen.
1 In der deutschen Übersetzung fällt das Letztere leider fast ganz aus
(Anm. d. Übers.).
30 Die Häufigkeit der Lüge im Hause und in der Schule.
Die Häufigkeit der Lüge im Hause und in der Schule.
Auf die Frage: Hast du mal zu Hause gelogen ? Hast du in
der Schule gelogen ? gaben die Kinder nicht nur kurze Bestäti-
gungen oder Verneinungen, sondern brachten ganz charakte-
ristische Bemerkungen, welche bewiesen, wie sehr dieser Fehler
bei ihnen eingewurzelt ist. „Ich lüge, wie dazu gemietet‘ schreibt
die eine (16 Jahre). ,,O ja, ich liige sehr, sehr viel‘ bekennt die
zweite (15 Jahre). ,,Ob ich gelogen habe ? — Kleinigkeit‘“ bezeichnet
frech die dritte (16 Jahre). ‚Warum soll ich nicht lügen ?‘ fragt
wieder ein anderer, — „im Leben muls man sogar in wenig wich-
tigen Dingen lügen“ (18 Jahre). ‚Ich bin ein Mensch“ sagt ein
Fünfter — ‚‚nichts Menschliches, also auch die Lüge nicht, ist mir
fremd“. Von 553 Kindern haben nur 18 geantwortet, dals sie
nicht lügen und 5 gaben an, dals sie sich ihrer Lügen nicht er-
innern. Von diesen 18 haben 9 sofort nach den Verneinungen
Beispiele ihrer Lügen gegeben, 4 haben sich nachträglich zu ihren
Lügen in dem obenerwähnten Gespräch bekannt ; von denen, dieihre
Lügen vergessen haben, fügte ein Kind hinzu, dals es einmal aus
Scherz gelogen habe, es erinnere sich aber nicht mehr, was. Also
auf 553 Kinder haben 5 nicht gelogen und 4 erinnern sich nicht
mehr ihrer einzelnen Lügen. Wenn wir aber in Betracht ziehen,
dafs alle diese fünf Mädchen 10—11 jährige Schülerinnen einer An-
fangsschule für arme Kinder waren, die vielleicht Angst hatten.
eine aufrichtige Antwort zu geben, oder die aus Mangel an
Sprachkenntnis (es waren jüdische Mädchen, die das Polnische
nicht gut beherrschten) sich nicht völlig Rechenschaft geben
konnten, was man von ihnen verlangt hat, so können wir den
Schlufs ziehen, dals alle befragten Kinder gelogen
haben.
Hiergegen werden natürlich manche der Mütter protestieren,
deren Kinder befragt wurden. Der im vorigen Kapitel angegebene
Die Häufigkeit der Lüge im Hause und in der Schule. 31
Fall ist jedoch ein drastisches Beispiel dafür, wie wenig begründet
Mütterbehauptungen sind. Die Proteste der Mütter sind die
Folgen von unrichtiger Beurteilung der Tatsachen: wenn ein Kind
gelogen hat, so heilst das noch nicht, dals es lügenhaft ist. Es
lassen sich hier die Worte EıLen Keys anwenden: ‚man kann
manchmal eine Lüge sagen und doch eine aufrichtige und ehr-
liche Seele haben, und man kann nie im Leben eine Lüge gesagt
haben und bis zum Grunde ein unehrlicher Mensch sein.‘ Es
entsteht jetzt die Frage, wo lügt das Kind mehr: zu Hause oder
in der Schule ? Aus den Antworten der Kinder auf die 2 ersten
Fragen der Erhebung folgt, dafs es Kinder gibt, die nur zu Hause
lügen und solche, die nur in der Schule lügen; wieder andere be-
kennen, dals sie hier und dort in gleichem Malse lügen, dabei findet
man auch solche, die behaupten, ‚in der Schule lüge ich mehr“
oder ‚zu Hause lüge ich mehr“. Wenn wir zu positiven Zahlen
übergehen, so finden wir, dafs nur 18 (13 Mädchen und 5 Knaben)
angeben, sie hätten nie zu Hause gelogen, viel öfter ist aber der
Fall, dafs man in der Schule nicht gelogen hat, nämlich in 72
Fällen ! (47 Knaben und 22 Mädchen). Zur Rehabilitation des
Hauses muls man hinzufügen, dafs die nicht in der Schule lügenden
Kinder hauptsächlich Schüler und Schülerinnen der ersten (un-
teren) Klasse sind. Nur 8 Mädchen aus der 3. Klasse gaben an,
dafs sie in der Schule nicht logen, aber von den Knaben ist schon
kein einziger wahrhaftig in der Schule. Es erweist sich also,
dafs die Kinder am Anfang in der Schule sehr wenig
lügen, und sich nur allmählich auch hier ans Lügen
gewöhnen. Eine ganz charakteristische Antwort gab ein Junge
von 11 Jahren (erste Klasse): ,,Ich lige in der Schule, aber
nicht in dieser Schule, da ich hier erst ein neuer Schüler bin.“
Und ein anderer schreibt: ‚nachdem ich in die Schule zu gehen
anfing und mehr Verstand angenommen habe, fing ich an zu
lügen” (15 Jahre). —
Eine grofse Anzahl von Kindern, 90, geben an, dafs sie ebenso
oft zu Hause wie in der Schule lügen. 179 (darunter 136 Knaben
und 43 Mädchen) geben an, dals sie öfters zu Hause lügen, 106
Kinder, (darunter 55 Mädchen und 5l Knaben) behaupten, sie
lügen häufiger in der Schule. Es ist bezeichnend, dafs ganze
Klassen und sogar ganze Schulen eine Tendenz zu der einen oder der
anderen Häufigkeit der Lügen aufweisen. In der IV. Klasse einer
Mädchenschule (S.) habert von 22 Schülerinnen 15 öfter zu Hause
32 Ine Haufigkett der Lniye im Hause und in der Schale.
gelogen. Dasselbe ist in der dritten Klasse einer Knabenschule
der Fall (H.). Hier haben von 35 Schülern 22 öfter zu Hause ge-
logen. In einer anderen Knabenschule (R.) haben
in der I. Klasse von34 Schülern 31 häufiger zu Hause gelogen
» » HI 0.383 6,
33 an IV. d 29 38 an 23 29
2? 23
33
Die Erklärung dieses Verhältnisses gaben die Kinder selbst
unaufgefordert : ‚Ich lüge häufiger zu Hause, weil sich zu Hause
viel mehr Gründe dazu bieten als in der Schule“ sagt eine
15jahrige und identisch schreibt eine 14jährige: ‚ich lüge häu-
figer zu Hause, weil ich hier ein grölseres Feld dazu habe“. Mathe-
matisch erklärt es ein 16jähriger Schüler der A Klasse: ‚Weil
ich in der Schule nur 6 Stunden und zu Hause 18 Stunden bin,
so ist es also ein einfacher Schlufs, dafs ich zu Hause 3mal so oft
lüge“. ‚Zu Hause habe ich ein grölseres Feld zur Lüge.“ Hier
muls man sich auf Schritt und Tritt aus den verschiedensten For-
derungen der Eltern herausdrehen“ klagt ein anderer (15 Jahre).
Außer dieser ‚häufigeren Gelegenheit‘ zur Lüge erklären die
Kinder ihre grölsere Lügenhaftigkeit zu Hause auch durch die
„Straflosigkeit zu Hause“. ‚Zu Hause kann ich mehr lügen, weil
meine Eltern gut sind und mich niemals schlagen‘ sagt ein 15-
jähriger. „Zu Hause ist es leichter zu lügen, weil mich niemand
denunziert “‘ — sagt ein anderer — ‚in der Schule habe ich Angst,
dafs mich mein Mitschüler anzeigt, und ich möchte mich nicht
vor den anderen schämen müssen‘ (14 Jahre).
Es ist ganz merkwürdig, dafs wieder andere Kinder genau
auf dieselbe Weise ihre besondere Lügenhaftigkeit in der Schule
erklären. ‚Natürlich lüge ich in der Schule mehr, weil ich dort
mehr Gelegenheit zum Lügen habe‘ (15 Jahre m.). ,,In der
Schule lüge ich häufiger, weil ich mit vielen Kollegen zusammen-
komme, daher auch die grölsere Gelegenheit zum Lügey habe“
(verm. 15—16 Jahre ml „In der Schule lüge ich häufiger, weil
ich zu Hause mein eigenes Zimmer habe und den ganzen Tag be-
schäftigt bin‘ (15 Jahre m.). ‚Ohne Zweifel lüge ich mehr in
der Schule, weil ich weils, dafs ich zu Hause fürs Lügen schwerer
bestraft werde, als in der Schule“ (16 Jahre m.).
Wir sehen an diesen Beispielen, wie identisch die Kinder ihre
Lügen begründen. Es müssen also zu Hause und in der Schule
dieselben Motive vorhanden sein, die diese Lügen hervorrufen.
Die Hüufigkeit der Lüge im Hause und in der Schule. 33
Jedoch erst eine weitere Begründung und ein Eingehen auf die ein-
zelnen Motive der Lügen ermöglichen uns ein näheres Betrachten
der Beispiele der Kinderlügen. Es wurden sehr viele Beispiele
angegeben: 365 Beispiele der Lügen in der Schule, 520 Beispiele
der Lügen zu Hause, 193 sog. erste Lügen, also insgesamt 1078
Fälle. Aus den Lügen zu Hause wurden 110 der Schule wegen
begangen, auf die sog. ersten Lügen kommen auch 30 auf solche
durch die Schule verursachte Lügen. Insgesamt betreffen also
die Schullügen (365 + 110 + 30) 505 und die Hauslügen (520
— 110 + (193 — 30) 573 Fälle.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 15. 3
34 Die Motive der Lüge zu Hause.
Die Motive der Liige zu Hause.
Die erste Lüge.
Die Beispiele der Lügen, die die Kinder auf die Frage ange-
geben haben: ‚erinnerst du dich deiner ersten Lüge ?““ ermöglichen.
es, in die Motive der in der frühesten Kindheit begangenen Lügen
einzudringen. Wie ich schon oben betonte, haben von 553 Kindern
193 ihre ersten Lügen angegeben, dabei haben nur 90 gleich-.
zeitig auch ihr Alter angegeben !, der Rest der Kinder erwähnt
nur kurz, dafs er sich der Fälle nicht: mehr erinnert. oder die Kinder
geben nur das Alter an, in welchem sie zu lügen anfingen. Diese
verhältnismälsig kleine Zahl der ‚ersten Lügen‘ sowie auch der
Umstand, dals die jüngeren Kinder viel seltener als die älteren
ihre Lügen angaben, bestätigen die Behauptungen von Binet und
anderen Psychologen, dafs die Erinnerungen der Kindheit ver-
hältnismäfsig karg sind, und je kleiner das Kind ist, desto weniger
ist es imstande, sich von seinen früheren Erlebnissen Rechenschaft
zu geben. Weil viele Kinder angeben ‚von dieser Zeit fing ich
an zu lügen‘, mufs man annehmen, dafs es in vielen Fällen ein
bedeutsames Moment in ihrem Leben war. Man muls hier freilich
auch noch in Erwägung ziehen, dafs wahrscheinlich nicht jeder
von den angegebenen Fällen wirklich die erste Lüge war, sondern
dafs er als erster im Gedächtnis blieb. Das am frühesten an--
gegebene Alter, wo man zum erstenmal gelogen hat, ist 3 Jahre
(in 2 Fällen), 6mal sind 4 Jahre erwähnt, am spätesten log man
im 13. Lebensjahre (3 Fälle), die meisten Fälle (die Hälfte aller
angegebenen) fällt auf das 6. Jahr.
Wie aus den Antworten der Kinder hervorgeht, ist das häu-
1 Deshalb war es mir unmöglich, bei allen in diesem Kapitel ange-
führten Beispielen der ersten Lüge das Alter des zum erstenmal lügenden
Kindes anzugeben. Das am Ende jeder Aussage angegebene Alter bezieht
sich auf das des schreibenden Kindes.
Die Motive der Liige zu Hause. 35
figste Motiv der Lüge die Näscherei. Solcher Fälle haben die
Kinder im Alter von 3—8 Jahren — 84 angegeben. Interessant
sind die einzelnen Aussagen:
„Ich sagte der Bonne, dafs der Vater Rosinen möchte und inzwischen
habe ich sie allein aufgegessen.‘“‘ (8 Jahre f.) „Ich ging in den Garten, als
viel grüne Stachelbeeren und dann sagte ich, dafs ich nichts gegessen habe““
(13 Jahre f.). ‚Die Mutter, als sie aus dem Hause ging, liefs das Brot auf
dem Tisch, ich afs es auf und als die Mutter kam, schlüpfte ich so schnell
als möglich auf den Hof‘ (15 Jahre m.). „Als uns die Mutter Kuchen gab,
sagte ich, ich hätte noch nicht bekommen, obwohl ich schon bekommen
habe“ (9 Jahre m.). ,„Muttchen brachte einen kleinen Sack Äpfel. Apfel
hatte ich sehr gerne. Ich kämpfte einen inneren Kampf, ob ich einen Apfel
nehmen soll oder nicht. Die Näscherei siegte. Mit grolser Geschicklichkeit
afs ich ein kleines Äpfelchen, aber es wurde mir sehr unbehaglich. Als die
Mutter in das Zimmer eintrat, bemerkte sie sofort, dafs ich unruhig und
traurig war. Sie fragte nach dem Grund. Ich sagte, dafs mir nichts fehlte.
Dann auf die Apfel schauend sagte sie: Du hast einen Apfel genommen,
bekenne es! — Nein — sagte ich — ohne nachzudenken. Ich bedauerte es
sehr, denn seit dieser Zeit fing ich an zu lügen‘“ (14 Jahre m.).
Aus der angegebenen grolsen Zahl solcher Fälle kann man
sich leicht überzeugen, dafs das heimliche Essen von Bonbons,
Naschwerk usw. bei den Kindern an der Tagesordnung ist und dafs
sje, umihre Naschsucht zu befriedigen, niemanden schonen. Charak-
teristisch hiefür ist z. B. die folgende Erzählung eines Knaben:
„Ich war 5 Jahre alt, Papa war damals sehr krank. Mama schickte
nach Bonbons aus gegen Husten für Papa. Papa legte sie in den Nacht-
tisch und dann habe ich sie alle aufgegessen. Pape fragte, wo sind die
Bonbons und ich habe nichts eingestanden.“
Nicht immer sind die Lügen so unkompliziert, denn nicht
selten führen sie auch kleine Betrügereien und Diebstähle nach
sich, die, wie die Umfrage beweist, viel öfter passieren, als man
gewöhnlich glaubt, die aber nicht als solche angesehen werden.
Hierfür die folgenden Beispiele:
„Als ich noch keine 5 Jahre alt war, bekam ich von der Mutter Nüsse.
Die Schwester bat mich, dafs ich mit ihr teile. Ich hatte aber zum Teilen
keine Lust, und als die Schwester aus dem Zimmer ging, habe ich die Nüsse
eingesteckt. Als sie zurückkam, sagte ich, dafs ich schon alle aufgegessen
habe. An diesen Fall erinnert man mich öfter zu Hause. Damals hat man
es als einen Beweis von Schlauheit meinerseits angesehen“ (13 Jahre m.).
„Ich nahm 5 Kopeken und kaufte mir Hörnchen und Kürbisse und als
mich die Mutter fragte, sagte ich, ich hätte kein Geld gesehen und wisse
nicht, wo es war, Ich war damals 4 Jahre alt‘‘ (11 Jahre m.). „Ich nahm
eine Kopeke, kaufte mir Bonbons und sagte, dafs ich sie von der Ver-
3+
36 Ine Motive der Liige zu Hause.
käuferin bekouuen hätte“ (13 Jahre f.). ‚Ich kaufte in der Konditorei
Weihnachtslämmchen zu einer Kopeke für Geld, welches ich den Eltern
aus der Tasche oder aus dem Beutel genommen hatte, später habe ich auf
das eifrigste protestiert und behauptet, ich hätte die Lämmchen gar nicht
gerne, erst später, als es der Konditor den Eltern erzählte und die Etern
zum Stock griffen, habe ich einiges zugegeben‘‘ (13 Jahre m.). ,,Ich log,
dafs ich Geld zu einem Hefte brauche, und kaufte mir Sülsigkeiten; als
die Mutter sagte: zeige das Heft, log ich, dafs die Lehrerin es mitgenommen
hat“ (15 Jahre f.). „Als ich 7 Jahre alt war, lernte ich in einer Vorschule.
Eines Tages, als alle meine Freundinnen aus der Klasse gegangen waren,
sah ich auf einer Bank eine Kopeke liegen. Erfreut darüber nahm ich sie
und kaufte mir Bonbons. Den andern Tag hat die Freundin, die die Kopeke
liegen gelassen hat, mich gefragt, ob ich sie nicht gesehen habe. Ich sagte:
nein“ (17 Jahre f.).
Sehr oft wurde von den Kindern erwähnt, dafs sie Geld ent-
wendet haben, ohne anzugeben zu welchem Zweck, aber nach
den hier in Frage kommenden Altersstufen (6—8 Jahre) ist es
leicht zu erraten, dals es fast immer zum Kauf von Sülsigkeiten
verwendet wurde. Die folgenden Lügen wurden zwar direkt durch
die kleinen Diebstähle veranlalst, aber es ist anzunehmen, dafs
das eigentliche Motiv letzten Endes doch die Naschsucht war.
„Ich nahm heimlich eine Kopeke, als ich klein war, und habe es nicht
' gugegeben“’ (15 Jahre m.). ,,Als kleiner Knabe nahm ich der Mutter 3
Groschen (3 Pfennige) und sagte, dafs ich sie gefunden habe.“ ‚Meine
erste Lüge war, als ich den Eltern 12 Kopeken nahm und log, dafs ich sie
von einem Freunde bekommen habe“ (15 Jahre m.). „Ich nahm Geld,
95 Kopeken, aber nicht auf einmal, und sagte, dafs wahrscheinlich der
Onkel das Geld genommen hat, da er ohne Arbeit damals war. Ich war
damals 8 Jahre alt‘‘ (12 Jahre m.)!).
Das weitere Motiv der bewulsten ‚‚ersten‘‘ Lüge bei Kindern
ist die Angst, d. h. die Furcht vor Strafe. Sie kann her-
vorgerufen werden:
a) durch Nichterfüllung der verschiedenartigsten
kleinen Befehle der Eltern und Erzieher. Z. B.:
„Als ich 6 Jahre alt war, log ich, dafs ich mich gewaschen habe,
ohne es getan zu haben“ (11 Jahre m.). „Ich putzte meine Zähne nicht
und sagte, dafs ich sie geputzt habe‘ (10 Jahre f.). „Ich ging spät schlafen
und log der Mutter vor, dafs ich früh schlafen gegangen sei‘‘ (13 Jahre f.).
„Ich log, als ich klein war, dafs ich die Arznei genommen habe, und ich
habe sie doch nicht genommen“ (16 Jahre m.). „Ich afs neue Kartoffeln,
nach denen trinkt man kein Wasser, und die Mutter hat mir deshalb nicht
1) Alle diese Fälle über Gelddiebstahl stammen aus einer Schule, die
von Kindern wenig bemittelter Eltern besucht wird.
Die Motive der Lüge zu Hause. 37
erlaubt zu trinken. Ich habe aber dennoch getrunken und als mich die
Mutter fragte, was ich in der Küche machte, sagte ich, dafs ich mir die
Hände gewaschen habe“ (13 Jahre f.).
| fters wurden auch Lügen erwähnt, die aus dem Grunde
begangen wurden, weil man die Kinder zum Essen zwang:
„Als ich 6 Jahre alt war, wollte ich nicht essen. Als man mich mal
allein im Zimmer liefs und mir das Frühstück gab, habe ich die Semmel
zum Fenster hinausgeworfen“ (11 Jahre f.). „Ich war 6 Jahre alt, liebte
kein Phosphatin! und gofs es aus‘ (12 Jahre m.).
Ebenso häufig wurden die Befehle übertreten, mit den Dienst-
boten oder den Straflsenjungen zu verkehren:
„Als ich 5 Jahre alt war, bekam ich ein neues Kleidchen und
nachdem ich es angezogen hatte, wollte ich es. dem Dienstmädchen
zeigen. Die Mutter hatte es mir aber nicht erlaubt, also sagte ich, dafs
ich der Bonne noch was sagen mufs und ging in die Küche‘ (14 Jahr f.).
„Ich war 5 oder 6 Jahre alt, spielte damals mit Stralsenjungen, dem
Vater sagte ich, dafs es nicht wahr ist. Der Vater erfuhr es von einem
Nachbar und ich erhielt Schelte‘“ (14 Jahre mi „Als mich die Mutter
nicht auf den Hof gehen liefs, weil sich dort ein paar Strafsenjungen
befanden, mit welchen sie mir nicht erlaubte zu spielen; und als sie
sagte, dafs sie mich gehen lassen wird, wenn ich nicht mit ihnen spielen
werde, so habe ich es ihr versprochen, obwohl ich wufste, dais ich so-
fort mit ihnen spielen werde, und als ich auf dem Hofe war, habe ich
es selbstverständlich getan‘ (14 Jahre m.).
b) Ein zweiter Grund zur Angst vor der Strafe sind die kleinen
Vergehen, die sich das Kind zuschulden kommen liels:
„Ich zerschlug einen Teller, als ich klein war, und sagte, dafs ich es
nicht gemacht habe‘ (14 Jahre f.). „Ich habe eine Puppe zerschlagen und
sagte, dals sie allein herunterfiel und zerbrach‘“‘ (15 J. f.). „Als ich klein
war, kletterte ich auf einen Zaun, weil wir ein Spielspielten, welches, erinnere
ich mich nicht mehr. — An einem Nagel habe ich mir den Anzug zerrissen.
Zu Hause fragte man mich, wo ich meinen Anzug zerrissen hätte, ich sagte,
dafs ich ihn nicht zerrifs, sondern er zerrifs von selbst“ (14 Jahre mm.)
„Das erstemal log ich in meiner Kindheit, als ich eine Vase init Blumen
zerbrach, und dann sagte ich, die Katze hat sie umgestofsen, und auf diese
Weise bin ich den Vorwürfen entgangen“ (14 Jahre f.). „Ich habe mal
mein kleines Brüderchen so heftig geschlagen, dafs es so laut geweint
hat, dafs die Mutter sehr erschrocken vom letzten Zimmer herbeilief.
Auf die Frage, wer den Bruder geschlagen hat, zeigte ich auf den
älteren Bruder, der zeigte wieder auf mich und wir wurden beide be-
straft‘‘ (13 Jahre m.). „Ich habe, als ich klein war, im Garten ein Spatzen-
nest zerstört und log meinem Vater vor, dafs es mein Freund getan hat’
1 Ein Kräftigungsmittel.
38 Die Motive der Liige zu Hause.
(13 Jahre ın.). „Eines Tages bekam ich Lust, ein Feuerwerk los zu lassen,
das Fröschchen heifst und zwei Kopeken kostet. Ich ging auf das Klosett,
zündete das Fröschchen an, es explodierte und gab viel Rauch. Als Mutter
vorüberging, hat sie den Rauch bemerkt und fragte mich, was so riecht.
Da habe ich Angst bekommen, dafs ich Wichse kriegen könnte und Magte,
dafs ich ein Stückchen Papier verbrannt habe und das hat so viel Rauch
gemacht‘‘ (12 Jahre m.).
Bei den älteren Kindern (von acht Jahren ab) werden die
Motive der Lüge schon komplizierter und mannigfaltiger. Nasch-
sucht findet man seltener erwähnt, dagegen mehren sich lügnerische
Rechtfertigungen von Diebstählen kleiner Beträge, und auch deren
Formen werden immer komplizierter. Wir sahen, dafs die kleinen
Kinder heimlich eine Kopeke nahmen und sich damit verteidigten,
sie hätten das Geld geschenkt bekommen oder gefunden. Die
älteren Kinder stehlen schon systematisch, indem sie bei einem
Einkauf von irgendwelchen Kleinigkeiten einen höheren Preis
angeben und den Überschuß für sich behalten ur auch, indem
sie Ausgaben vortäuschen. Z. B.:
„Ich liefs mir von den Eltern 5 Kopeken für ein Heft geben und
kaufte eines für 3 Kopeken‘ (10 Jahre m.). „Ich log zu Hause, dafs ich
ein Heft gekauft habe, und kaufte mir statt dessen Soldaten, und ich habe
zu Hause davon schon 52 Stück“ (11 Jahre m.). „Ich nahm zu Hause
ein paar Kopeken, um Brot zu kaufen. Die Verkäuferin hat mir 5 Kopeken
herausgegeben. Für diese 5 Kopeken kaufte ich Schokolade. Als ich nach
Hause kam, sagte ich, dafs ich diese 5 Kopeken einem Bettler gegeben
habe‘ (11 Jahre m.). „Einmal schickte mich die Mutter nach Arznei in
die Apotheke und gab mir 50 Kopeken, (die Mutter glaubte, dafs es so
viel kostet). Als ich die Arznei bekam, erhielt ich 15 Kopeken zurück.
welche ich für mich behielt; der Mutter sagte ich, sie kostet 50 Kopeken“
(13 Jahre m.).
Häufig sind auch Diebstähle von fremden Sachen, wie Bücher,
Federmesser usw. angegeben; der treibende Grund dazu ist das
Verlangen, eine angenehme oder nötige Sache zu besitzen. Cha-
rakteristisch hierfür ist die Erzählung eines l1jährigen Knaben:
„Eines Tages spielten wir Ball; ich, meine Brüder und zwei meiner
Vettern. Schliefslich waren wir 9 an der Zahl. Der Ball gehörte einem
meiner Vettern. Der Ball gefiel mir sehr, es war ein Fufsball. Plötzlich
ist der Ball in einen anderen Hof geflogen. Ich kam als erster auf den Hot.
wo er lag und hob ihn auf. Aber weil er mir gefiel, bin ich damit durch
ein anderes Tor heimlich hinausgegangen. Alle haben den Ball gesucht.
auch ich. Als ich jedoch meinen Vetter in grofser Verzweiflung sah, habe
ich meine Schuld eingestanden und später habe ich mich sehr geschämt
(11 Jahre ın.).
Die Motive der Lüge zu Hause. 39
Das Motiv der Verheimlichung aus Angst vor den
Eltern ändert sich auch bei den älteren Kindern. Vor allem
ist der Umfang der verheimlichten Sachen jetzt grölser. Das
bewirkt einerseits die Schule mit ihrem System, das die Kinder
zum Lügen sogar zu Hause zwingt (davon weiter unten mehr),
andererseits das sich immer mehr entwickelnde geistige Leben
des Kindes. Die älteren Kinder erwähnen schon nichts mehr
von Verheimlichung kleiner Vergehen, wie Zerbrechen eines Glases
usw., und das nicht deswegen, weil solche Sachen nicht passieren,
sondern weil zie es fiir nicht wichtig halten. Das Kind fängt an,
eine besondere Sphäre von Interessen und Wünschen zu haben,
und deren Nichtbefriedigung von Seiten der Umgebung ruft Lügen
hervor.
Ein solches Interesse für das Kind stellt vor allem das
Lesen dar. Die Kinder lügen also dementsprechend:
„Muttchen hat mir nicht erlaubt, viel Bücher zu lesen, ich las je-
doch täglich zwei oder drei hintereinander‘ (13 Jahre f.). — „Mein älterer
Bruder brachte den ,,Storch‘‘! und schlofs ihn in einen kleinen Koffer ein.
Ich suchte mir einen Schlüssel dazu und las den ‚Storch‘ (14 Jahre m). —
„Ich schlielse mich in ein besonderes Zimmer ein und lese Bücher, die mir
zneine Eltern nicht zu lesen erlauben‘ (17 Jahre f.).
Das gleiche läfst sich auch von den den Kindern verweigerten
Vergnügungen sagen. Das Leben der Kinder ist grölstenteils
sehr monoton, es vergeht in der Langeweile der Schule oder im
Auscrbeiten der Aufgaben für dieselbe langweilige Schule. Die
Streiche der Kinder sind oft nur die Reaktion auf diese Lebens-
.weise und den Mangel an Abwechslung; viele von den Kinder-
streichen rufen zahlreiche unschuldige Lügen hervor, die auch
ganz offenherzig in der Umfrage zugestanden werden:
„Ich habe Mutters Schlüssel versteckt und tat so, als wüfste ich
nicht, wo sie sind und habe ruhig mit allen anderen gesucht‘ (11 Jahre m.).
„Einst fragte mich meine Mutter, ob eine bestimmte Trambahn in der
Richtung gehe, wo wir hin mülsten; ich sagte ja, obgleich ich wulste, dals
‘es falsch war. Wir sind eingestiegen und natürlich fuhren wir ganz wo
anders hin“ (12 Jahre m.). — „Am 1. April gab ich deın Lehrer, Herrn L.,
ein Stückchen Zucker statt Kreide und eine zerbrochene Stahlfeder‘ (12
Jahre m.). — „Ich belüge alle am 1. April. Zum Dienstmädchen sagte ich,
Ge ee S n.
1 Ein bekanntes polnisches Witzblatt, das erotische Zeichnungen
und Witze enthält, und das man deshalb sorgfältig vor der Jugend
verbirgt.
40 | Die Motive der Lüge zu Hause.
dals ihr Bräutigam ihr einen goldenen Ring geschickt habe, sie ging zur
Mutter, um ihn zu holen und er war natürlich nicht da‘‘ (14 Jahre f.).
Verbotene Spiele sind, wie zu erwarten ist, ebenfalls ein
sehr häufiger Grund zum Lügen. Besonders häufig gilt dies vom
Fufsballspiel. Das interessanteste und fiir unsere Zeit am meisten
charakteristische ist die grolse Rolle, die das Kino in den Kindeı -
unterhaltungen spielt. Der heimliche Besuch des Kincs als Ur-.
sache der Lüge wurde nicht weniger als 60mal erwähnt:
„Ich log der Tante vor, dafs ich mit dem Cousin in den Garten gehe-
und ich ging ins Kino‘ (11 Jahre m.). — „Ich und mein Bruder sagten
zu unserem Vaterchen, dals wir spazieren gehen wollen, aber wir gingen
ins „Theater Luna‘ und kamen nagı Hause und sagten, dafs wir nirgends
waren‘ (11 Jahre m.). — „An einem schönen Wintertag kam zu mir meine
Freundin und wir haben verabredet, dafs wir zu einer ziemlich ernsten
Vorstellung ins Kino gehen werden. Ich sagte der Mutter, dafs ich spa-
zieren gehe‘‘ (12 Jahre f.). — „Einst wollte ich mit meiner Schwester ins
Kino gehen, ohne dafs jemand es wisse, also sagten wir, dafs wir ein Buch.
kaufen gehen‘ (15 Jahre f.).
Es ist natürlich, dals wegen solcher Vergnügungen ständig
auch sonst noch die verschiedensten Schwindeleien verübt werden.
„Ich log sehr oft meinem Bruder vor, dafs ich Geld für verschiedene-
nötige Sachen brauche. Es war aber gar nicht so, weil ich für dieses Geld
ins Kino ging“ (13 Jahre m.). — „Zu Hause erhielt ich 15 Kopeken für ein
Heft, statt dessen ging ich ins Kino und sagte nichts davon zu Hause‘*
(13 Jahre m.). — „Ich log, dafs ein Kollege ein Billett ins Kino hatte und ich
statt ihm ging‘ (11 Jahre m.). — „Am häufigsten lüge ich zu Hause, wenn
ich einige Kopeken fürs Kino brauche“ (15 Jahre f.).
Eine ähnliche häufige Rolle wie das Kino spielt der Wunsch,
sich auf der Strafse herumzutreiben. Wie aus der Umfrage
hervorgeht, lügen sogar schon 6jährige Kinder, um auf die Stralse-
zu kommen:
„Ich war 6 Jahre alt und einmal versprach mir Muttchen, dafs, wenn
ich schnell mit dem Mittag fertig bin, ich mit ihr spazieren fahren dürfe.
Ich hatte aber noch ein ganzes Kotelett. auf das ich aber gar keinen Appe-
tit hatte. Ich warf es deshalb hinter den Ofen. Als Muttchen kam und
sah, dafs ich schon alles aufgegessen hatte, hat sie sich sehr gewundert.
dafs ich so schnell gegessen habe und natürlich fuhren wir spazieren“ (f.).
Das Lügen wegen verbotener Ausflüge in den Wald oder aufser-
halb der Stadt finden wir nur bei kleineren Knaben, sehr selten
dagegen bei älteren Jungen. Vom 13. Lebensjahre ist bei Knaben
wie bei Mädchen immer nur die Rede von gegenseitigen heim-
lichen Zusammenkünften, sei es auf der Strafse oder
pe PLT PE ED EES IE BE EIER u i ET nn (or D ee) Su
L
Die Motire der Lüge zu Hause. 41
bei sonstigen Gelegenheiten. Selbst die strengsten Verbote
werden hierbei durch Lügen umgangen. Folgendes schreiben
z. B. die Mädchen:
„Wenn ich mit Muttchen spazieren gehe und treffe einen Bekannten,
der mich grüfst, dann fängt Muttchen zu schimpfen an, dafs ich noch zu
jung sei, um mit jungen Herren zu verkehren. Ich sage dann sofort, dafs
ich ihn nicht kenne und, nicht wisse, wie er dazu komme, mich zu grülsen.
Dann sagt Muttchen, dafs ich ein zweites Mal einen Unbekannten nicht
wieder grüfsen soll. Aber ich habe gelogen, weil ich ihn doch gut gekannt
habe‘‘ (15 Jahre). — „Die Mütter sagen immer: Gott behüte, dafs ich dich
einmal mit Jungens sehe!“ Aber das ist doch so einfach, wenn man einen
kennt, lernt man immer mehr kennen. Wenn ich ausgehe, um Einkäufe
zu machen oder wenn ich spazieren gehe und cs begegnet mir ein Bekannter,
kann ich denn dann sagen: Ichdarf mit Ihnen nicht spazieren gehen ? Ob gern
oder ungern, ich gehe mit ihm. Aber meine Eltern wissen nichts davon.
Auf diese Weise sinke ich immer mehr in die Lügen“ (15 Jahre). — „Zu
Hause ist die häufigste Ursache zur Lüge die, dafs, wenn ich z. B. ausgehen
will, um mich mit einem Jungen zu treffen, so schütze ich vor, dafs ich zu
einer Freundin gehe, und die Zeit, die ich auf das gemeinsame Lernen mit
ihr verwenden soll, opfere ich dann dem Spazierengehen (natürlich nicht
dem einsamen). Das tu ich, weil ich weils, dafs, wenn ich zu Hause den
wahren Zweck meines Ausgehens sagen würde, ich grofse Unannehmlich-
keiten von seiten meiner Eltern hätte‘ (17 Jahre). — „Ich muls lügen
und bedauere es gar nicht, weil ich den Umgang mit jungen Leuten nicht
entbehren kann und die Eltern erlauben mir das nicht‘! (16 Jahre).
Dasselbe schreiben die Schüler:
„Ich log der Mutter vor, dafs ich zu einem Kollegen gehe, und ich
ging zu einem Fräulein‘ (14 Jahre). — ..Wenn ich fort ging, log ich der
Mutter vor, dafs ich zur Stunde gehe. Ein anderes Mal sagte ich auch,
dafs ich eines Buches wegen fort gehe. Die Wahrheit gesagt, ging ich wegen
Fräulein X. weg, weil ich grofse Lust hatte, sie zu sehen. Ich blieb länger
fort und ging mit Fräulein X. spazieren‘ (15 J.). — „Ich ging vom Hause
mit Büchern fort, als müfste ich in die Schule gehen, aber ich ging zu einem
Rendez-vous mit einem Fräulein in cine abgelegene Strafse, wo uns weder
jemand schen noch hören konnte. Manchmal ging ich auch deswegen aus
der Schule fort‘ (15 Jahre). — „Wenn ich spät von einem Rendez-vous
heimkomme, fragen mich die Eltern, wo ich war, ich sage natürlich: bet
einem Kollegen und die Lüge ist fertig‘ (18 Jahre). — „Ich ging häufig spa-
zieren und log zu Hause, dafs ich irgendwo aus einem sehr wichtigen Grunde
sein mufs. Sehr oft ging ich mit einem Fräulein spazieren und konnte
deshälb auch meine Schulaufgaben nicht machen. Wenn mich der Lehrer
gesehen hatte, entschuldigte ich mich in der Schule, dafs es meine Schwester
oder meine Cousine war“ (14 Jahre). — .,Oft wollte ich nicht lernen und ging
lieber mit einem Fräulein spazieren. Wenn mich der Lehrer dann fragt,
warum ich die Aufgaben nicht mache, aber mit Mädchen herumspaziere,
so sage ich, ich wäre krank und gehe mit meiner Schwester‘ (14 Jahre).
42 Die Motive der Liige zu Hause.
Es ist natürlich, dafs das Zusammensein von Madchen und
Knaben das Entstehen zärtlicher Gefühle begünstigt. Dieses
Gefühl jedoch zu verraten, davon hält die meisten eine gewisse
Scham zurück. Dieses Schamgefühl kann ebenfalls als ein
spezielles Motiv der Lüge bezeichnet werden. So schreiben
die Mädchen:
„Einmal fragte man mich, ob ich wünsche, dafs eine gewisse Person
kommen möchte, ich sagte nein", aber sagen wollte ich eigentlich „ja“
(12 Jahre f.). — „Ich liebe jemand sehr und als mich Muttchen frug,
warum ich so sonderbar gewesen sei, als er kam, da sagte ich, dafs
Muttchen sich irre, mir fehle nichts, weil ich mich schämte, dafs sie mioh
auslachen wird“ (13 Jahre f.). — „In meinem Geiste entstehen Gedanken,
die zu verraten, dafs ich Angst habe und mich schäme — dann lüge ich“
(16—17 Jahre m.).
Aus den vorstehenden Beispielen ist es klar, dafs das
Verhältnis der Kinder zu den Eltern keinesfalls auf Aufrichtigkeit
und Vertrauen beruht. Das Kind fühlt, dafs sein Tun auf
Mifsfallen stofsen wird, darum verheimlicht es dieses und bemüht
sich, es in einem anderen Lichte zu zeigen. Solches Tun ist nicht
immer zu rügen, es ist manchmal ganz unschuldig, und verheim-
licht werden bestimmte Dinge nur deshalb, weil das Kind dem
elterlichen Verständnis nicht traut, wie z. B. folgende Beispiele
beweisen:
„Eines Tages habe ich Geld verloren und als ich nach Hause kam,
sagte ich, dafs ich es bei der Freundin gelassen habe. Den folgenden Tag
habe ich von jemanden geborgt und gab es Muttchen“ (13 Jahre £.). — „Ich
log, dafs ich einen schönen Bleistift geschenkt bekommen habe, aber ich
hatte ihn mir von meinein Gelde gekauft; ich log, damit die Eltern nicht
böse sein sollten‘ (13 Jahre f.).
Nicht selten werden aus dem gleichen Grunde, des Mangels
an Verständnis bei den Eltern, Dinge verheimlicht, die
edle, altruistische Züge aufweisen:
„Eines Tages bat mich meine Cousine, dafs ich ihr mein Portemonnaie
schenke. Ich gab es ihr, aber als mich mein Vater fragte, warum ich mir
ein anderes Portemonnaie wünsche, sagte ich, dafs ich das meinige verloren
habe, damit der Vater mir nicht zürnt“ (14 Jahre f.). — „Eines Tages kaın in
unsere Wohnung ein armer Knabe, welcher mich um ein Almosen bat;
dabei schaute er auf die Milch und die Semmeln, welche auf dem Tische
standen. Ich erriet sofort, dafs der Junge hungrig ist und gab ihm Milch
und eine Semmel, damit er esse. Als die Mutter kam, fragte sie mich, wer
hat die Milch ausgetrunken, also sagte ich: die Milch hat die Katze ge-
trunken und die Katze hat auch die Semmeln gefressen‘ (13 Jahre m.).
„Eines Tages schickte mich die Mutter fort, Besorgungen zu machen. Im
Die Motive der Lüge zwu Hause. 43
Vorübergehen sah ich einen Armen, der ein kleines Mädchen an sich drückte.
Ich hatte ein grofses Mitleid mit ihm und gab ihm 10 Kopeken. Als ich
nach Hause kam, fehlte mir natürlich das Geld, Muttchen frug mich, was
ich damit gemacht habe und ich antwortete: verloren“ (12 Jahr f.).
Derartige Verheimlichungen vor den Eltern treten, wie man
aus den Antworten ersehen kann, in einem früheren Alter nur
sporadisch auf, vom 14. Lebensjahre an jedoch kann man schon
eine systematische Verheimlichung alles dessen beobachten, was
das innerliche ,,[ch‘‘ der Mädchen oder Knaben betrifft. Die
Jugend fangt in diesem Alter an, ibre eigenen, individuellen Er-
lebnisse zu haben, die sie aber sorgfältig versteckt, die Eltern
werden jetzt in keiner Weise mehr zum persönlichen Leben zu-
gelassen. Auf deren Fragen, und wenn sie auch die unschuldigsten
Dinge betreffen, antwortet man fast stets mit Lügen, um nar die
Einmischung der Eltern in die eigenen Angelegenheiten zu ver-
hindern. Charakteristisch sind diese Beispiele:
„Als ich bei einem Freunde war, den die Eltern nicht kennen, da
sagte ich, dafs ich bei einem anderen Kameraden war, welchen die Eltern
kennen, damit ich dem Ausfragen von seiten meiner Eltern entgehe‘“ (13
Jahre m.). — „Zu Hause log ich oft aus diesem Grunde, weil ich den Eltern
nicht sagen wollte, wohin ich gebe und wann ich kommen werde“ (17 Jahre
m.) „Zu Hause lüge ich dann, wenn ich die persönlichsten Angelegen-
heiten verheimlichen möchte“ (17 Jahre m.). — „Ich habe jetzt gerne, dafs
mich niemand kontrolliert und dafs ich möglichst unabhängig wäre. Das
hätte mir, glaube ich, das grölste Vergnügen gemacht. Es handelt sich
nämlich für mich nicht darum, mit jungen Leuten spazieren zu gehen und
abends spät nach Hause zu kommen, woran anderen Mädchen liegt, son-
dern darum, dafs ich im individualistischen Sinne ich selbst sein will; das
hätte die sog. „Unlüge‘““ bedingt oder ganz einfach die Wahrheit, und ich
möchte in Wahrheit leben und durch Wahrheit das Leben kennen lernen“
416 Jahre f.).
Eine der unmittelbaren Ursachen dieses Verhältnisses der
Kinder zu den Eltern ist nach den Aussagen deı Kinder der Unter-
schied in den Anschauungen, welcher zwischen ihnen herrscht :
„Zur Lüge gegenüber den Eltern zwingt uns hauptsächlich die Ver-
schiedenheit der elterlichen Anschauungen mit den unsrigen. Die Eltern
haben, wie alle älteren Leute, ganz andere Ansichten über das Leben als
wir. Aus diesem Grunde sind wir, um Zwistigkeiten zu Hause zu vermeiden.
genötigt, zu lügen“ (17 Jahre m.). — „Ich lebe zwar schon im 20. Jahrhundert,
aber meine Eltern sind noch aus dem 19. und verstehen nicht die moderne Er-
ziehung, die Emanzipation der Gedanken usw. Wir müssen also lügen. um
die heimlich erworbenen Kenntnisse vom sexuellen Leben usw. zu verheim-
lichen. Je naiver wir in dieser Beziehung sind, desto grölsere Freude haben
dd Die Motive der Lüge zu Hause.
die Eltern. Ich mufs fast alles verheimlichen, denn ich darf keinen sozia-
listischen Gedanken äufsern oder mich zur Assimilation mit dem Volke.
unter welchem ich lebe, bekennen (17 Jahre f.).
Von den mit den Eltern in Widerspruch stehenden Ansichten
ist besonders oft der Glaube erwähnt (in 15 Fällen). Schon bei
12jährigen Knaben begegnen wir Lügen wegen der für sie unan-
genehmen Pflicht, in die Kirche zu gehen:
„Eines Tages, Sonntags, ging ich aus und sagte zu meinen Eltern,
dafs ich in die Kirche gehe, aber dann ging ich auf den Hof spielen“ (12
Jahre m.). „Ich ging nicht in die Kirche, sondern ging lieber mit anderen
Knaben auf die Straise, um Tauben zu füttern“ (14 Jahre m.). — ‚Mit der
älteren Schwester sollte ich in die Kirche gehen, aber ich ging nicht, son-
dern wir gingen zur Tante und sagten, dafs wir schon aus der Kirche zurück-
kommen“ (14 Jahre f.). — „Es war am Sonntag um 101; Uhr, die Eltern
befahlen mir, zum Gottesdienst zu gehen. Also ging ich in ein Zimmer,
wohin die Eltern sehr selten kommen, und dort versteckte ich mich. Als
die Kirchenzeit vorüber war, ging ich auf den Hof, als wäre ich eben zu-
riickgekominen. Und die Eltern, die nichts ahnten, dachten, ich wire in
der Kirche gewesen‘ (14 Jahre f.).
Bei den Jugendlichen kommt der Glaube schon als Idee zur
Geltung, gegenüber der man eine bestimmte Stellung einnimmt:
„Lüge kann ich das nennen: ich lerne Religion, aber glaube ich denn
daran ? Nein — ich bin in diesem Falle ganz unschuldig. Es ist also kein
Wunder, dafs ich auch bei der Beichte lüge‘ (15 Jahre f.). — „Nachdem ich
RENAN, NORWID! und andere Schriftsteller gelesen habe, deren Werke
auf dem Index sind, hörte ich auf, an Jesus zu glauben, und den Priester
und die Mutter habe ich belogen, indem ich vortäuschte, ich wäre relisiös'“
(14 Jahre m.). — „Ich glaube nicht an den Wert und die Bedeutung der reli-
giösen Gebräuche, und wenn man mir zu Hause den Unglauben vorhält, so
schweige ich, trotzdem ich liberale Ansichten habe. Das ist, denke ich,
eine Lüge, denn sehr oft ist auch Schweigen eine Lüge“ (15 Jahre ın.).
Dieses traurige Bild des Verhältnisses der Kinder zu den
Eltern wird durch die Antworten von 10 Kindern gemildert, welche
aus Liebe zu den Eltern gelogen haben:
„Meine Mutter war krank und wulste, dafs ich vorgestern über Hals-
weh klagte. Als sie mich fragte, ob mir der Hals noch weh tut, sagte ich,
um ihr Keine Sorgen zu machen, dafs mir nichts weh tut, trotzdem ich
Schmerzen hatte‘‘ (12 Jahre f.). — „Als Muttchen krank war und Papa ver-
reiste, um sich operieren zu lassen, sagte ich, als sie mich fragte, dafs er
geschäftlich verreist ist‘“ (13 Jahre ın.). — „Einmal erkrankte meine Mutter
schwer. Den anderen Tag erhielt ich eine Zwei? in der Mathematik. Als ich
t Bekannter polnischer Dichter des 19. Jahrh.
2 In den polnischen und russischen Schulen ist eine Eins die schleeh-
teste Note, jede folgende ist die bessere, (2, 3, 4) 5 ist vorzüglich.
Die Motive der Liige zu Hause. 45
ihr mein Heft! zur Unterschrift gab, sah ich, dafs sie die Note bemerkte.
Aus Furcht, dafs es ihrer Gesundheit schaden könnte, sagte ich, dafs ich
die Zwei dafür bekommen hätte, weil der Mathematiklehrer gesehen
habe, wie ich mein Heft einem Kollegen gab, der die Aufgabe von mir ab-
schreiben wollte“ (12 Jahre m.). — ‚Das erstemal log ich, als ich 5 Jahre
alt war. Ich kam nach Lodz mit meiner Familie und es ging uns damals
sehr schlecht. Neben uns wohnte eine Frau, die einen Laden hatte. Ich
ging zu ihr, um etwas zu kaufen, und sah, dafs auf dem Tische ein Rubel
lag. Das war für mich ein grofses Glück. Ich nahm den Rubel, ohne dafs
die Frau es sah, lief zu der Mutter und sagte, dafs ich einen Rubel gefunden
habe. Die Mutter sagte, dafs Gottes Vorsehung über ihr wache. Seit dieser
Zeit gehe ich stets auf die andere Seite, wenn ich an diesem Laden vorüber
mufs und schäme mich sehr, aber niemand zu Hause weils davon“ (f.).
In dem Verhältnis zu den Eltern läfst sich noch eine weitere
interessante Gruppe von Lügen feststellen, nämlich solche, die
aus Ehrgeiz verursacht sind:
„Als ich noch klein war, sagte ich immer, dafs ich keine Angst habe,
in ein dunkles Zimmer zu gehen, und wenn man mich dann nach irgend-
was schickte, habe ich gesungen oder Gott weils was getan, um meine Furcht
zu überwinden“ (13 Jahre f.). — „Wenn ich zu Hause etwas Schlechtes tue,
habe ich Angst vor den Unannehmlichkeiten, die für mich daraus folgen
— oder dafs man mich wegen einer begangenen Sache auslacht; ich bemühe
mich deshalb, eine schlecht gemachte Sache anders zu erklären als sie in
Wirklichkeit war‘‘ (15 Jahre f.). — ‚Ich liebe es nicht, zu sagen, wieviel eine
von mir gekaufte Sache gekostet hat, da ich fürchte, dafs ich zuviel bezahlt,
habe. Ich sage lieber weniger und zahle das, was es mehr gekostet hat, aus
meiner eigenen Tasche‘ (16 Jahre m.). — „Ich wurde in einen Laden geschickt,
wo wir auf Rechnung kauften, um die Schulden zu bezahlen; ich hatte
bereits ausgerechnet, wieviel es ausmacht. Im Laden zeigte es sich, dafs
ich mich verrechnet hatte, aber ich wollte wegen des Fehlers nicht aus-
geschimpft werden (der Vater hätte gesagt, ich könne nicht rechnen)
und so sagte ich, ich hätte richtig gerechnet, den fehlenden Betrag hab ich
ein anderes mal bezahlt‘‘(15 Jahrem.). — „Ich log einmal, als mich Muttchen
frug, warum ich immer so kleinlaut sei. Obwohl ich nicht die Schlechteste
bin, wollte ich in ihren Augen besser erscheinen und fing nun an, mich
selbst zu loben, indem ich erzählte, dafs dieser oder jener sagte, dafs ich
Talent habe, oder dafs ich am besten von allen lerne usw. Meine Lügen
habe ich niemals bedauert und werde sie auch nicht bedauern, weil die
Eltern in solchen Fällen immer zu mir sagten, sie wären auf eine solche
Tochter stolz‘‘ (13 Jahre f.).
1 Ein Heft, in dem jeden Tag alle erhaltenen Noten des Schülers
eingetragen werden, Jede Woche wird das Heft von der Mutter oder dem
“ Vater unterschrieben. Die Unterschrift soll der Beweis sein, dafs die Eltern
von den Noten der Kinder Kenntnis genommen haben.
46 Die Motive der Schullügen.
Die Motive der Schullügen.
Die Motive der Lügen zu Hause ändern sich, wie wir gesehen
haben, mit dem Alter des Kindes, indem sie mannigfaltiger und
komplizierter werden. Dagegen herrscht in den Motiven der
Schullügen eine gewisse Starrheit und Unveränderlichkeit ; sowohl
in den unteren als auch in den oberen Klassen kann man nur zwei
Motive der Lüge feststellen:
Das erste ist die Furcht vor der schlechten Note.
Aulfser den allgemein angegebenen lakonischen Gründen: ich lüge
in der Schule, um einer schlechten Note zu entgehen, hat man,
wie ich schon früher erwähnte, 505 Beispiele von Lügen in der
Schule gegeben und diese Beispiele fallen durch ihre Stereotypie-
auf. Sowohl die jüngsten wie die ältesten Schüler schreiben: ich
log, dals mir der Kopf, Zahn, Finger weh tut, dals ich das Heft
vergessen habe, dafs ich das Buch verloren habe, dafs ich selb-
ständig den Aufsatz geschrieben habe, dafs ich allein die Aufgabe-
gelöst habe, ich brachte falsche Zeugnisse von Vater, Mutter,
Bruder, Schwester, Onkel, Tante, ich unterschrieb selbst (statt
der Eltern) mein Zeugnisheft usw. Solcher identisch klingender
Beispiele gab man 230! Dem Vergessen der Hefte begegnet man
in der Rubrik der Schulausreden so systematisch, dals man ein-
fach dem Lehrer empfehlen muls, niemals an diese Ausrede zu
glauben. Einer der Schüler erklärt kurz und bündig diese Häufiz-
keit, indem er schrieb: ‚‚ich log, dafs ich das Heft vergessen habe,
weil die Strafe für das Nichtlösen der Aufgabe grölser ist als die
für das Vergessen der Hefte‘‘ (16 Jahre m.). Diese Angst vor der
schlechten Zensur hat zur Folge, dafs der Aufenthalt des Kindes
in der Schule eine einzige Kette von Lügen wird. Eine Schülerin
beschreibt ihren Schultag folgendermalsen: ‚Eines Tages habe ich
keine einzige Aufgabe gemacht. Es kommt die erste Stunde —
ich mache die Ausrede, dafs mir das Buch verloren ging und ich
Die Motive der Schulliigen. 41
nicht lernen konnte. Es kommt die zweite Stunde, ich rede mich
aus, dafs ich die Notizen, die der Lehrer uns diktiert hat, ver-
loren habe und deshalb nicht lernen konnte; es kommt die dritte
Stunde, ich spiele die Kranke, also kann ich nicht antworten,
in der vierten Stunde sage ich, dafs ich das Heft vergessen habe,
die fünfte Stunde waren Handarbeiten, auf diese Weise gelang
mir alles vortrefflich“ (14 Jahre f.).
Das Motiv der Angst vor der schlechten Note zeigt jedoch
einige subtile Unterschiede: es gibt Schüler und Schülerinnen, und
diese bilden die Mehrheit, welche die schlechte Note deshalb nicht
erhalten wollen, weil für sie eine Strafe zu Hause zu erwarten ist.
Einer der Schüler sagt sehr treffend: ‚Wenn man eine schlechte
Note nach Hause bringt, so ist sie ein fertiges Material zum Lügen“
(15 Jahre m.). Den anderen Schülern ist an der guten Note als
solcher gelegen. In diesem Falle handelt es sich schon nicht um die
Angst vor der Strafe, sondern um Befriedigung des Ehrgeizes,
um den Ehrgeiz, der gute Schüler weiter zu bleiben, „sich nicht
vor den Kollegen zu blamieren‘, wie einer der Schüler schreibt,
(17 Jahre m.). Es ist sebr interessant, dafs man aus Angst vor
Strafe für die schlechte Note eine Krankheit simuliert (wie wir
es oben gesehen haben), dafs man aber dann, wenn man aus Ehr-
geiz die schlechte Note fürchtet, sogar eine vorhandene Krank-
heit ableugnet. So schreibt ein 13jähriges Mädchen: ‚Der
Hals tat mir eines Tages sehr weh, da ich aber meine Note ver-
bessern wollte, weil wir in kurzer Zeit Zeugnisse erhalten sollten,
wollte ich unbedingt in die Schule gehen. Als man mich also ge-
fragt hat, warum ich so blals sei, sagte ich, dafs mir nur etwas
der Kopf weh tut. Aber später bin ich ernstlich erkrankt, aber
das Zeugpis war gut.“
Dieselbe Rolle wie die Note spielt in der Motivierung der
Schullüge die Persönlichkeit des Lehrers oder der Leh-
rerin. Die Antworten der Umfrage sind in dieser Hinsicht ein
schwerer Vorwurf tür die Lehrer:
„Ich habe die Lehrerin angelogen, weil sie sehr streng ist‘* (12 Jahre
f.). — ‚In der Schule belüge ich eine von den Lehrerinnen, die ich sehr hasse,
weil sie sehr ungerecht ist‘‘ (14 Jahre f.). — „Eine Lehrerin verfolgt mich.
Da ich also manchmal sehr schlecht von ihr behandelt werde, so habe ich
jede Lust zum Lernen verloren. Da ich aus diesem Grunde viel Aufgaben
nicht machte, so war es mir schwer, das nachzuholen, was die Mitschülerinnen
inzwischen gelernt haben, und so fing ich an, auf alle möglichen Weisen mir
Ausreden zu verschaffen, bis ich endlich ohne Wissen der Eltern die Stun-
48 Die Motive der Schullügen.
den geschwänzt habe‘ (15 Jahre f.). — „Man lügt wegen der Aufgaben. weil
die Lehrerinnen dazu zwingen. Wenn sie nicht glauben wollen, so fälscht
man die Zeugnisse (dafs man krank war) und wenn sie noch nicht glauben
wollen, so gibt man das Wort, dafs man die Aufgaben allein geschrieben
hat‘‘ (14 Jahre f.).— „In der Schule ist es schwer, ohne Lügen auszukommen
— wenn man sich rechtfertigen mufs, so genügen die wirklichen Gründe
den Herren Professoren nicht, aber man muls ‚‚kolorieren‘‘, um gröfseren Ein-
druck zu erwirken‘ (16 Jahre m.). — „Gröfstenteils sind die Lehrer schlechte
Pädagogen und mitunter sind sie gar keine. Wenn ich die Aufgabe aus
irgendeinem unbedeutenden Grunde, der aber doch Berücksichtigung ver-
dient, nicht mache, so werde ich ausgeschimpft. Natürlich will ich einer
solchen Eventualität vorbeugen, deshalb lüge ich“ (17 Jahre m.). — „Ich
lüge nur aus Angst vor der Lehrerin. Denn es gibt nicht nur solche, welche
gut zu uns sind und unsere Bedürfnisse verstehen, sondern auch solche,
welche nicht in unser Leben eindringen und vor diesen mufs ich lügen‘
(14 Jahre f.). — ..Ich lüge auch nur deshalb, damit der Lehrer mir nicht mit
einem höhnischen Lächeln antwortet, denn um die Note geht es mir gar
nicht" (17 Jahre f.). — „Ich lüge in der Schule nur deshalb, damit ich nicht
eingeschrieben werde oder damit ich nicht von Herrn W. als Esel ausge-
schimpft werden soll‘ (14 Jahre ın.).
Wir sehen in dieser Zusammenstellung ‘aus einigen Aussagen,
wie sich die Vorwürfe gegen die Lehrer türmen. Die Jugend klagt
über Strenge, Ungerechtigkeit, feindliche Beziehungen und Mangel
an Verständnis. Schmerzlich sind die geschilderten Überzeu-
gungen, dafs der Lehrer in die zwar kleinen aber doch Berück-
sichtigung verdienenden Gründe zum Nichtmachen der Arbeiten
nicht eindringen will, dafs er die Gründe des Schülers nicht schätzt
und ihn einen Esel und anderes mehr schimpft. Bis zu welchem
Grade sich zuweilen die Bitterkeit gegen die Lehrer ansammelt,
erweist der Umstand, dals die Kinder sich sogar nicht scheuen,
den Namen des betreffenden Lehrers zu nennen und als Beweis
für die Wahrhaftigkeit dieser Aussagen der Kinder kann die Tat-
sache dienen, dafs man in zwei Schulen, einer Knabea- und einer
Mädchenschule, über denselben Lehrer geklagt hat, der denn auch
tatsächlich an beiden Schulen lehrte. Ich glaube nicht, dafs der
betreffende Lehrer von dieser Antipathie Kenntnis hat, denn in
der Umfrage wurde mehrmals hervorgehoben, dafs man die Anti-
pathie gegenüber diesem Lehrer verheimlicht, um noch schlim-
mere Folgen zu vermeiden. So schreiben die Jugendlichen:
„Den Widerwillen gegen die Schule verbergen wir durch Lügen.
das heifst durch eine geheuchelte Aufmerksamkeit, damit uns der Lehrer
oder die Lehrerin gute Noten geben" (17 Jahre f.) Menn der Lehrer
Die Motive der Schullügen. 49
einen dummen Witz erzählt, so lache ich und tue so als ob es mich
interessiert‘ (17 Jahre m.).
Man hört sehr oft, wie die Lehrer ihre Strenge den Kindern
gegenüber damit rechtfertigen, dafs die Kinder faul sind und kein
Pflichtgefühl haben, dafs sie keine Aufgaben machen usw. Die
Umfrage wirft auch ein Licht auf diese Seite der Sache. Als Ur-
sache ihrer Lügen geben eine ganze Anzahl Kinder an, dafs
es für sie unmöglich sei, die Schulaufgaben zu be-
wältigen. Zehn Kinder der niederen Klassen (hauptsächlich
Mädchen) bekennen sich zu Lügen, die sie aus dem Grunde ge-
sagt haben, weil ihnen das Zeichnen geographischer Dar-
stellungen schwer fällt: Ä
„Ich konnte die Karte Amerikas nicht zeichnen, ich habe sie des-
halb durchgepaust, aber ich sagte, dals ich sie selbst gezeichnet habe“
(13 Jahre f.). — „Eines Tages sollten wir eine Karte zeichnen, ich bat meinen
Cousin. dafs er sie mir zeichnet, er ging darauf ein und ich erhielt eine
Fünf‘) (11 Jahre f.).
Wieder andere Kinder klagen über die allgemeine Über-
bürdung durch Aufgaben:
„Ich lüge zu Hause wegen der Überbürdung mit Aufgaben, weil ich
einige davon nicht machen kann“ (17 Jahre f.). — „Sehr oft bin ich nicht
imstande, die Menge der Aufgaben zu machen, trotzdem ich nicht zu den
Unfähigen gezählt werde und es auch nicht bin. Da ich für dieses Defizit,
das von dem Lehrer als Faulheit betrachtet wird, nicht gestraft sein will,
so lüge ich und denke mir immer irgendeine Krankheit aus. Solche Lügen
bedauere ich nicht, denn der Mensch ist nur ein Mensch und macht
so viel wie er kann“ (16 Jahre m.). — „Wenn ich allen diesen Schulforde-
rungen nachkommen wollte, so könnte ich wirklich weder Zeit zum Lesen
eines Buches, noch zum Verkehr mit den Kollegen, noch zum Besuch eines
Vortrages oder des Theaters, oder einen Ausflug zu machen finden. Um
das zu erreichen, mufs ich sehr oft lügen‘ (17 Jahre m.).
Manchmal ist es freilich auch nur der Mangel an Lust zum
Lernen, der die Schullügen provoziert. Die Knaben empfinden
besonders schwer die Pflichten, die ihnen die Schule auferlegt,
weil sie ihnen den natürlichen Hang zur Lustigkeit und zum Spiel
unmöglich machen. Und der Knabe verteidigt sich mit der Lüge.
Ein Schüler der ersten Klasse schreibt:
„In der Schule hatte ich gar keine Lust zum Lernen, also sagte ich,
dafs mir übel sei. Darauf schickte mich die Vorsteherin nach Hause. Zu
Hause sagte ich, dafs mir schlecht wurde und dafs ich mich erbrochen
1 Siehe Anmerkung S. 44, 2. Fulsnote.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 15. 4
50 Die Motive der schullügen.
hätte, in der Schule habe ich aber gar nicht erbrochen. Auf solche Weise
log ich“ (10 Jahre m.). — „Wenn ich aus der Schule nach Hause komme,
habe ich gar keine Lust zum Arbeiten. Es ist mir schon schrecklich, nur
daran zu denken; dann werfe ich die Bücher in die Schublade und mache
was anderes. Ich fälsche meine Zeugnisse und spiele die Kranke“ (14
Jahre f.).
Das Lügen in der Schule ist im allgemeinen um so schwer-
wiegender, als es unerbittlich zu neuen Lügen zu Hause führen
muls. Die Überbürdung mit den Aufgaben und die Unlust oder
die Unmöglichkeit sie zu machen, verursacht die lügenhaften Aus-
reden in der Schule und gleichzeitig auch solche Lügen zu Hause.
Die Eltern, welche wollen, dals das Kind gut lernt, überwachen
und kontrollieren die Ausführung der Schulaufgaben, sei es mit
der ewigen Frage: hast du die Aufgaben zu morgen schon ge-
macht? Und darauf bekommen sie fast immer lügenhafte Ant-
worten: ‚Ja, ich habe sie gemacht.“ „Wir haben heute sehr
wenig auf.“ ‚Die Aufgaben sind sehr leicht.‘“ ‚Morgen kommt
der Lehrer nicht.‘ usw. Die schlechten Noten, die nach Hause
gebracht werden, provozieren natürlich ebenfalls lügenhafte Er-
klärungen, die so zahlreich und dabei so stereotyp sind, dafs man
sie in einige Gruppen teilen muls:
1. Lügenhafte Antworten, dafs man überhaupt nichts ge-
antwortet hat.
2. Dals man nicht weils, welche Note der Lehrer gegeben hat.
3. Nach dem eigenhändigen Unterschreiben des Notenheftes,
damit die Eltern die schlechte Note nicht bemerken, lügt man zu.
Hause, dafs man das Notenheft nicht erhalten hat.
4. Man fälscht die Note, um die Eltern zu täuschen, man
radiert eie mit Gummi aus oder macht an der betreffenden Stelle
einen Tintenfleck. Zu Hause lügt man, dals man überhaupt keine
Note erhalten hat.
5. Wenn die Eltern schon von der schlechten Note erfahren,
dann bleibt als letzte Hoffnung noch die Lüge, dafs der Lehrer
ungerecht war, oder dafs er diese Note aus Irrtum gestellt hat.
Die Schullüge ist also gewöhnlich eine Lüge ‚nach zwei
Fronten“. Aus Angst vor der schlechten Note lügt man gleich-
zeitig in der Schule und zu Hause. Hier nur zwei krasse Bei-
spiele:
„Da ich die Aufgaben fürchtete, ging ich hinter die Schule und schrich»-
Die Motive der Schullügen. 51
in das Journal, dafs ich nicht in der Schule war!. Zu Hause sagte ich, ich
sei wegen Zahnschmerzen früher entlassen worden‘ (12 Jahre m.). — „Im
Französischen habe ich in dem Zeugnis eine Zwei, ebenso in Algebra. Näch-
sten Sonnabend wird ein französischer Aufsatz und eine Aufgabe aus Algebra
sein. Schon seit einigen Tagen denke ich darüber nach, wie ich den Lehrer
und die Eltern beschwindeln soll. Ich mufs nämlich den beiden Aufgaben
ausweichen, Ha, ich habe es schon! Ich mufs meine Schuhe, die etwas
zerrissen sind, vollständig zerreilsen. Das ist für zu Hause. In der Schule
werde ich lügen, dafs ich krank war. Also werde ich doppelt lügen“ (16
Jahre m.).
1 In den Schulen in Russ.-Polen führt man ein Journal, worin jeden
Tag die fehlenden Kinder notiert werden.
4*
52 Die Liige in den Beziehungen der Kinder zueinander.
Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander.
Aus den Antworten der Kinder läfst sich aulser der Lüge zu
Hause und in der Schule noch eine dritte Art Lügen hervorheben,
die ganz andere Merkmale als die zwei bis jetzt bekannt gemachten
Arten aufweist. Es ist dies das gegenseitige Belügen der Kinder
untereinander. Die Angst vor Strafe, als Motiv, verschwindet;
die Gleichheit des Alters, der geistigen Entwicklungsstufe, die
Gleichartigkeit der Interessen schaltet hier die Furcht aus. Im
Verkehr unter sich sind die Kinder frei. In den Lügen, die sie
trotzdem gegeneinander verüben, zeigt sich deshalb in ganzer
Fülle die dem Kinde eigene Psyche.
Die Lügen im gegenseitigen Verkehr der Kinder zeigen eine
grolse Mannigfaltigkeit. Man kann sie jedoch in einige Haupt-
gruppen einteilen. Als die wichtigsten sind jene hervorzuheben,
die entweder aus den Gefühlen des Wohlwollens oder denen des
Übelwollens gegenüber den Mitschülern hervorgerufen sind, die
man also kollegiale und unkollegiale Lügen nennen kann. Ich
beginne mit den letzteren.
IA. Die unkollegialen Lügen.
Die unkollegialen Lügen bilden eine ganze Skala, angefangen
von kleinen harmlosen Betrügereien zum Zwecke beabsichtigter
gemeinsamer Spiele bis zu schweren Vergehen mit schlechten
Absichten. Wir können diese Skala aufwärts anfangen mit den
an sich verwerflichen Methoden, einen Freund oder Kollegen zu
sich zu rufen:
„Eines Tages telephonierte ich zu meinem Cousin, dals der Onkel
aus Berlin gekommen sei. Er glaubte es und kam sofort gelaufen. Als er
erfuhr, dafs ich ihn angelogen hatte, wollte er wieder nach Hause gehen,
aber ich sagte ihm, dafs ich extra so telephonierte, damit er zu uns kame.
um mit mir zu spielen, also blieb er bei uns“ (10 Jahre m.). — ‚‚Ich sagte
Die Liige in den Beziehungen der Kinder zueinander. 53
meiner Freundin, dafs ich ein Buch habe. Aber ich hatte keines und wollte
nur, dafs sie zu mir käme‘ (13 Jahre f.).
In enger Beziehung zu solchen Lügen stehen Lügen- Scherze,
um sich auf Kosten der anderen zu amüsieren:
„In der Schule sagte ich, dafs der Visitator gekommen sei, infolge-
dessen liefen alle Schüler hinauf und von dort hörte man später ein helles
Lachen‘ (10 Jahre m.). — „Der Bruder sagte mir ein Geheimnis, ich sagte
es meiner Bonne und lachte ihn aus, dafs er mir sogar einen Pfennig gab,
damit ich es nicht weiter sage und ich nahm den Pfennig und sagte, dafs
ich nichts sagen werde‘ (14 Jahre f.).
Viel häufiger schlummert in diesen Lügen jedoch eine böse
Absicht des Kindes, das sich auf Kosten fremden Leidens oder
Schmerzes freut:
„Ich log, damit ich jemanden kränken könne‘ (12 Jahre m.). — ne
Bosheit nahm ich meiner Freundin die Feder und sagte auf ihre Frage,
dals ich sie nicht habe, aber später habe ich sie zurückgelegt‘‘ (13 Jahre f.).
„Ich sagte einem Kameraden, der tags zuvor nicht in der Schule war, dais
er eine schlechte Note erhalten hat, worüber er sich sehr grämte‘‘ (13 Jahre
m.). — „Wenn mich ein Kamerad um etwas fragt und ich weils, dafs ihn die
Unwahrheit nervös macht, so lüge ich absichtlich“ (11 Jahre m.). — „Eines
Tages sagte ich zu einem kleinen Mädchen, dals sie die Finger in das Mäul-
chen eines gefangenen Hechtes stecken soll, sie wollte nicht und sagte,
dafs er sie beiflsen werde; ich sagte, dals er sie nicht beilsen wird, weil er
keine Zähne habe, aber ich wulste sehr gut, dafs er Zähne hat. Sie steckte
die Finger hinein und der Hecht hat sie so heftig in den Finger gebissen,
dafs das Blut herausspritzte. Durch meine Lüge hatte das Kind grolse
Schmerzen‘ (13 Jahre f.). — „Ich lige um meinen Bruder zu kränken, der
um mich sehr besorgt ist, indem ich ihm sage, dafs ich viel Männer kenne“
(14 Jahre f.).
Eine sehr grofse Gruppe von Kinderlügen unter sich bilden
solche Lügen oder Betrügereien, deren Zweck im eigenen
Nutzen besteht, oder um dem anderen keine Hilfe
leisten zu müssen: |
„ich habe einem Mitschüler eine falsche Briefmarke verkauft, die
wenn sie echt wäre, sehr wertvoll gewesen wäre‘ (13 Jahre m.). — „Inder
Schule bat mich eine Freundin, dafs ich ihr eine Stahlfeder borge, ich
hatte zwar eine, aber ich sagte, dals ich keine hätte“ (13 Jahre f.). — „Ich
verweigerte einer Freundin meine Hilfe bei der Schulaufgabe, indem ich
sagte, dafs ich sie selbst noch nicht gemacht habe, obwohl dies nicht wahr
war“ (12 Jahre f.). — ‚‚Einst belog ich eine Mitschülerin, indem ich ihr eine
für sie sehr nötige Sache nicht geben wollte und sagte, dafs ich das Ge-
wünschte nicht habe. Dadurch hat sie eine schlechte Note erhalten‘ (12
Jahre f.).
54 Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander.
Dieser Mangel an kollegialen Gefühlen wird von den Kindern
durch verschiedene Gründe erklärt. Ein kleiner Teil (3 Fälle)
ist vom Selbsterhaltungstrieb diktiert. So wird die Absage einer
Anleihe durch Nichtzurückgeben der geliehenen Beträge gerecht-
fertigt: . e
„Ich verweigere Darlehen, indem ich liige, dafs ich kein Geld be-
sitze, jenen Mitschülern gegenüber, die bekannt dafür sind, dafs sie das
Geld nicht zurückgeben“ (15 Jahre m.).
Sehr viel Lügen a der Rachsucht oder der Anti-
pathie. Z. B.:
„Ich belog meine Cousine. Sie fragte mich, ob ich das Buch „Russkoje
Slowo‘! habe, ich sagte, dafs ich es nicht habe, und zwar deshalb, weil sie
- zu mir nicht gut ist‘‘ (10 Jahre £.). — „Ich log, wenn es sich darum handelte,
eine verhalste Mitschülerin schlecht zu machen“ (12 Jahre f.). — „Ich lüge
oft nur deshalb, um einer unbeliebten Person eine Unannehmlichkeit zu
bereiten‘ (15 Jahre f.).
Nicht wenige Lügen entspringen dem Neid und der Eifersucht,
was sehr charakteristisch für die Kinderpsyche ist:
„Als ich in der 3. Klasse war, log ich mir immer selbst etwas vor,
und das war so: Ich wetteiferte mit einer Schulfreundin in den Noten und
oft redete ich mir selbst ein, dafs ich ihr nur deshalb Unannehmlichkeiten
mache, weil sie dumm und schlecht sei, während sie in Wirklichkeit das
svmpathischste Mädchen unter der Sonne war und seitdem ich eine andere
Schule besuche, lebe ich mit ihr am besten und habe sie sehr lieb‘‘ (16
Jahre f.). — „Ich belog eine Freundin aus dem Grunde, damit sie mit einem
bestimmten Bekannten nicht verkehrt‘ (14 Jahre f.).
Zu den häufi gsten unter den unkollegialen Lügen gehören die
Abwälzungen einer Schuld, auf andere und falsche
Anklagen:
„In der Schule wollte ich nicht gestehen, dafs ich das Glas zerschlagen
habe und wälzte die Schuld auf einen Kameraden“ (15 Jahre m.). — „In
der Schule gab ich während der Stunde viel an. Der Professor hat es be-
merkt und wollte mir eine schlechte Note geben, darum sagte ich, dafs
nicht ich den Lärm gemacht habe, sondern ein anderer‘ (14 Jahre m.).
„Ich log, indem ich meine Freundin einer Sache anklagte, die gar nicht ge-
wesen ist‘‘ (12 Jahre f.). — „Ich klagte meine Schulfreundin vor anderen
Schülern an‘ (13 Jahre f.).
In den Antworten der Umfrage ist ein Beispiel enthalten.
wo einfach die Wut des Kindes als Motiv angegeben ist. Ohne
Zweifel war diese Wut durch irgendwelche Erlebnisse hervor-
gerufen, die aber, leider, nicht erwähnt wurden:
ı „Russisches Wort‘ — bekanntes Schulbuch.
Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander. 55
„Aus Wut habe ich kleine Lügen begangen, welche ich später ge-
stand‘ (11 Jahre f.).
IB. Die kollegialen Lügen.
Neben den unkollegialen Lügen finden wir in der Umfrage
quantitativ zwar weniger zahlreiche, aber qualitativ um so mehr
tröstende Beweise der kollegialen Lüge, hervorgerufen durch die
Solidarität der Kinder untereinander. Wir finden diese Solidarität
schon bei Geschwistern. In der Umfrage finden wir sehr charakte-
ristische Geständnisse in dieser Richtung:
„Ich lüge oft zugunsten meines Bruders, der jünger ist‘‘ (16 Jahre f.).
„Ich log zu Hause, um nicht zu verraten, dafs mein Bruder mit einem
Fräulein korrespondiert — als mich Muttchen gefragt, sagte ich, dafs ich
nichts wisse“ (13,Jahre £.). — ‚Mein Bruder erteiltseinem Freunde Unterricht.
Die Mutter ist neugierig, wohin der Bruder jeden Tag geht. Ich weils es
natürlich, als aber die Mutter mich fragte, wohin geht der Bruder, ant-
wortete ich, das er zur Schule geht, um den dort stattfindenden Proben
beizuwohnen, denn in einigen Wochen soll dort ein Theaterstück aufge-
führt werden‘ (15 Jahre m.). — ‚Ich lüge, um die Ehre meiner Nächsten zu
verteidigen. Einst geschah es, dafs einer meiner Freunde mich fragte,
ob mein Bruder sich schon besser benimmt, denn wegen seines schlechten
Benehmens ist er ihm böse geworden. Obwohl mein Bruder sich noch nicht
‘gebessert hat, habe ich gesagt, dafs er sich sehr zu seinen Gunsten geändert
hat“ (15 Jahre f.).
Häufiger als diese Lügen aus Bruderliebe sind Lügen, die im
Namen der kollegialen Solidarität begangen werden, also um
einem Freunde einen Dienst zu erweisen. Auf diese Solidarität
wird gerechnet und sie wird sogar nicht selten mifsbraucht:
„Eines Tages habe ich das Heft mit der schriftlichen Arbeit nicht
mit zur Schule gebracht. Trotzdem sagte ich zu dem Schüler, der die
Hefte nachgesehen hat!, dafs ich es habe. Er glaubte mir, weil wir Freunde
waren‘ (12 Jahre m.). — „Wenn mein guter Freund eine schlechte Note
wegen Unaufmerksamkeit erhält und er bittet mich, dafs ich zum Direktor
‚oder zum Lehrer gehe und die Sache in einem für ihn günstigen Lichte
«darstelle, da bemühe ich mich als guter Freund, durch eine Lüge den Lehrer
zu täuschen und zu beweisen, dafs mein Freund als Opfer eines Irrtums eine
ungerechte Note erhalten habe‘‘ (16 Jahre m.).
Manchmal erhalten die Lügen zugunsten der Mitschüler
Merkmale edler Taten und erweisen sich als richtige Verdienste
der Kinder:
1 In den Schulen Polens werden jede Woche in der Klasse zwei Schüler
dazu bestimmt, dem Lehrer zu helfen die Hefte einzusammeln, zu tragen usw.
56 Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander.
„Als eines Tages unser Klassenlehrer krank war, machten sich einige
meiner Freunde einen Scherz: sie nahmen einen Nagel und schlugen ihn mit
einem Hammer in die Tafel ein, der Schuldiener sagte es einem der Klassen -
lehrer aus den höheren Klassen. Man machte eine grofse Geschichte da-
von. Man sonderte die Schüler in solche, die den Schaden gemacht haben
oder von ihm gehört haben und in solche, die nichts gewufst haben. Ich
sagte, dafs ich von allem keine Alm, Dabe, obwohl ich dabei stand, als
es die Kameraden gemacht habeo“ (13 Johre m.) —- „Man erlaubte mir
nicht, mit einer bestimmten Freandin zo verkehren, ja nicht einmal sie
zu sehen. Diese Freundin batte es in der Schule gerade in dem Fache
schwer, das mir am leichtesten fiel, als sie nun in der Schule geprüft werden
sollte, ging ich zu ihr, lehrte sie die Aufgabo und kam ziemlich spät nach
Hause. Eine mir sehr nahestehende Person erriet es sofort, wo ich war,
aber als sie mich fragte, ob ich dort war, sagte ich nein. Ich Jog, weil ich
der Freundin helfen wollte, da sie mir wirklich sehr gut war und ist“ (14
Jahre f.). ‚Eines Tages hat eine meiner Freundinnen Lärm in der Klasse
gemacht. Als die Lehrerin frug, wer es war, um sie einzuschreiben, habe
ich gelogen und gesagt, dafs ich es war, weil ich wulste, dafs die Freundin
mit der schlechten Note zu Hause viel Unannehmlichkeiten haben wird‘
(14 Jahre m.). In diesem Beispiel ist eine charakteristische Einzelheit.
Vor der Beschreibung des Falles hat die Schreibende das folgende Frag-
ment durchgestrichen: „Als ich ein kleines Mädchen war, log ich eine ganz
komische Sache. Ich las, dafs ein Junge sagte, er habe die Scheibe in der
Schule zerschlagen und es war gar nicht so, denn sein Kamerad hat sie
zerschlagen, wofür man ihn sehr gelobt hat.“
Dies Beispiel ist wahrscheinlich tief in dem Gedächtnis des
Mädchens haften geblieben und rief die Lust in ihr wach, cs
nachzuahmen. Dies Beispiel zeigt, wie Kinder durch Suggestion
altruistisch werden.
Il. Lügen aus Ehrgeiz.
Die gegenseitigen Beziehungen der Kinder zeitigen noch
eine zweite Art der Lüge: nämlich Lügen aus Ehrgeiz. In erster
Linie sind das Lügen, in denen das Kind die verletzte Eigenliebe
verteidigen und sich vor seinen Kollegen rehabilitieren will, z. B.:
„Ich log, dafs ich zu Hause niemals weine und auch keine Schläge
bekäme‘ (11 Jahrem.). — „Weil ich die Aufgabe nicht konnte, hatte ich vor
der Stunde Angst zu antworten und wollte es auch nicht, nach der Stunde
tat ich so, als hätte ich es gut gekonnt und hätte auch antworten wollen”
(13 Jahre f.). — ‚Als ich 6 Jahre alt war, nahm mich die Mutter an der einen
Hand, das Dienstmädchen an der anderen und wollten mich in die Schule
führen, die sich gegenüber unserer Wohnung befand, aber ich rifs mich
weinend los. Endlich gelang es dem Dienstmädehen, mich festzuhalten
und mich in die Klasse hineinzuführen. Die Schülerinnen umringten mich,
ich sah helle und dunkle Mädcheuköpfe, die mich mit Kinderneugier be-
Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander. 5T.
trachteten. Einige von ihnen lachten, aber eine mit gelben Haaren und mit
einem bösen Gesichtsausdruck kam zu mir heran und sagte: Ist das wahr,
dafs deine Mutter dich geschlagen hat, weil du nicht in die Schule gehen:
wolltest ? Ich wurde rot bis über die Ohren und sagte äufserlich gleichgültig:
Das war nicht ich, sondern mein kleines Schwesterchen. Ich hatte aber
gar kein Schwesterchen“ (12 Jahre f.). „Ich log, wenn ich mich mit anderen
Schülerinnen unterhalten habe und wenn sie erzählten, wo jede von ihnen
schon war, dann sagte ich manchmal, dafs ich dort auch schon gewesen
sei, obwohl ich noch nicht dort war‘ (13 Jahre f.).—,,In der Schule liige
ich, wenn es sich um meine persönlichsten Dinge handelt. Ich bemühe
mich nämlich, mich meinen Freundinnen anzupassen. Z. B. um nicht die
Heilige zu spielen, erzähle ich ihnen oft von meinen verschiedenen Flirten
mit jungen Leuten, die ich in Wahrheit niemals in meinem Leben gesehen
habe“ (16 Jahref.). — „Ich muls unbedingt lügen, wenn ich zufällig meiner
Freundin oder irgend jemand anderem von einem unangenehmen Ereignis
zu Hause erzähle. Ich tue das deshalb, um in den Augen der betreffenden
Person kein Mitleid zu finden‘ (17 Jahre f.).
III. Prahlereien.
Die dritte Gruppe, die der zweiten sehr nahe steht, schliefst
jene Lügen in sich, die durch keine besondere Notwendig-
keit hervorgerufen sind, sondern nur durch den Ehrgeiz, einen
Kameraden zu übertreffen oder ihm zu imponieren, sich inter-
essant zu machen und die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Diese Lügen — Überhebungen, Prahlereien — sind die zahl-
reichsten unter den aus Ehrgeiz verübten Lügen:
„Ich sagte einer Freundin, dafs wir einen Wagen haben und dafs uns.
die Mutter zwei Bonnen und mehrere Lehrerinnen hält“ (12 Jahre f.).
„Ich log in der Schule, dafs ich 22 polnische Bleisoldaten besitze“ (11
Jahre m.). „Ich log, dafs ich geritten sei‘‘ (15 Jahre ml ,.Ich log in der
Schule, indem ich einen Schüler anlog, meine Briefmarke sei eine mexi-
kanische und es war nur eine englische“ (11 Jahre m.). „Ich log über meine
Kraft, über verschiedene Heldentaten und über meinen Verstand, was
alles in Wirklichkeit gar nicht existiert‘‘ (10 Jahre m.). ‚Ich sagte, dafs.
ich singen lernen werde, dafs ich bei einen Vergnügungsabende war, und
als ich in der B-Klasse war, sagte ich, dafs ich schon in der ersten war,
doch ich sagte das nicht zu Hause, sondern zu Bekannten“‘ (13 Jahre f.).
„Ich prahlte vor den Kameraden, dafs ich ein schönes Mädchen kenne
und dafs ich mit ihr spazieren gegangen sei‘‘ (16 Jahre m.). „Um mir ein
Renommee zu machen und um bewundert zu werden, log ich ein Lob vor“
(14 Jahre m.). ‚Ich erzähle Sachen, die gar nicht existieren, um die Freun-
dinnen zu interessieren‘ (16 Jahre f.). ‚Ich erinnere mich, dafs ich Dinge
als von mir erlebt erzählt habe, obgleich ich sie rein erfunden hatte. Ich tat
dies in Gegenwart von Kameraden, denen ich imponieren wollte. Ich habe
zwar meinen Kameraden imponiert, aber nicht zu meinen Gunsten, denn
später haben sie mich zwei Jahre lang mit meinem „Aufschneiden‘‘ geuzt:
58 Die Lüge in den Beziehungen der Kinder zueinander.
"und haben mir dafür Gott weils was für Namen gegeben für Dinge, die ich
doch erfunden hatte; so habe ich Unschuldiger für meine Lügen sehr ge-
litten“ (16 Jahre m.).
IV. Lügen aus Lust am Phantasieren.
Die letzte Gruppe, die sich aus den Lügen in den gegenseitigen
Beziehungen der Kinder hervorheben lälst, sind die Lügen aus
reiner Lust am Phantasieren. Die Prahlereien haben immer
den Zweck zu. imponieren, die Lügen- Phantasien haben gar
keinen Zweck, es sind die Verschönerungen der Wirklichkeit,
welche, obwohl mit vollem Bewulstsein, ganz absichtslos von
den Kindern gemacht werden, und zwar ganz einfach deshalb,
weil ihnen die Wirklichkeit nicht genügt:
„Iınmer lüge ich was beim Erzählen‘ (15 Jahre ın.). „Wenn ich was er-
zählte, so habe ich immer eine Portion Unwahrheiten hinzugefügt, und wenn
ich jemand angeklagt habe, so ist es immer nicht so, wie es in Wirklichkeit
war‘ (13 Jahr m.). ‚Wenn ich den Freundinnen eine Geschichte erzähle,
so lüge ich manchmal, um sie mehr zu interessieren, manchmal lüge ich
aber auch aus guter Laune zu meinem Vergnügen, indem ich mir sage:
Der Kluge ligt, der Dumme glaubt‘ (15 Jahre m.). — „Ich lüge immer dann,
wenn ich eine Geschichte erzähle, ich schmücke sie mit verschiedenen
überflüssigen Kommentaren aus, indem ich meiner Phantasie freien Lauf
lasse. Was diese Lügen betrifft, so weifs ich, dafs sie den Freundinnen ge-
fallen, welche sich für andere Fragen nicht interessieren. Vielleicht ist
dies deshalb, weil ihnen das Alltagsleben nur Langweiliges bietet. Ich bin
auch sehr zufrieden, wenn mir meine Lügen gelingen, weil ich mich bei
einer Erzählung derart begeistere, dafs ich selbst an meine Schilderungen
glaube‘‘ (16 Jahre f.). — ‚Ich habe ein grofses Talent zum Phantasieren,
ich denke oft an Sachen, die ich nie gesehen habe und ich stelle sie mir
so genau vor, als würde ich sie sehen. Ich entzücke mich selbst manohmal
an meinen einzelnen Lügen. Die Lehrer sagen, dafs ich das Talent des
„Schwimmens‘“ in den Aufsätzen habe. Was kann ich aber dafür, wenn
ich soviel unglaubliche Einfälle habe, die ich für eigene und wirkliche halte.
ich gebe exzentrische Beispiele und ergötze mich selbst am meisten an
ihnen. Wir lügen, weil wir Frauen sind und Frauen haben immer eine
reiche Phantasie‘‘ (16 Jahre f.).
Solche Phantasielügen werden natürlich nur um ihrer selbst
wegen gemacht. Mit der Zeit werden sie lediglich getrieben, um
«die Wirkung, die sie hervorrufen, beobachten zu können:
„Das Lügen macht mir geradezu Vergnügen“ (15 Jahre f.). „Ich
liige oft, um zu lügen oder um jemand lustig zu machen“ (16 Jahre f.).
„Ich lüge. um die Wirkung auf den Gesichtern der Hörer zu sehen“
(14 Jahre f.).
Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen. 59
Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen.
(Bedauern und Scham.)
A. Das Bedauern.
Es entsteht jetzt die Frage: welches ist das Verhältnis der
Kinder zu ihren Lügen? Lügen die Kinder leichthin oder kommt
es ihnen schwer an? Fühlen sie nach dem Lügen eine Reue oder
lügen sie kalten Blutes? Ist das Geständnis einer Lüge für sie ein
Bedürfnis, kam es freiwillig oder nach langen Überredungen von
seiten der erwachsenen Personen, oder kam es überhaupt nicht ?
Bedauert das Kind seine Lügen ?
Es ist: schwer, die Antworten auf diese Fragen zu erhalten.
Wenn wir sie in dieser Ordnung wie oben stellen, so wird das
Kind darauf ‚ja‘ oder ‚nein‘ sagen und im Resultat werden wir
arithmetische Summen der Bejahungen und Verneinungen haben.
Sie werden uns keinen Blick in die Psyche des Kindes tun lassen,
worauf uns doch am meisten ankommt. Dabei kann diese Rechen-
schaftsfrage ein unangenehmes Gefühl bei den Kindern auslösen
wegen des sich leicht aufdrängenden Gedankens, dafs hier eine
„Prüfung“ (ein Examen) vorliegt, und das kann eine gewisse
Zurückhaltung der Kinder hervorrufen, aus Furcht, ihre ,,Intimi-
täten‘ zu verraten. Aus diesen und ähnlichen Ursachen habe ich
aus der Umfrage alle obigen Fragen ausgeschaltet, und nur die
zwei, die mir die Kinder selbst in der Probeumfrage aufgedrängt
haben, zurückbehalten: hast du dich deiner Lügen geschämt ?
Und: hast du sie bedauert * Die Antworten darauf waren so aus-
giebig, dals es mir möglich war, über die mich oben interessieren-
den Fragen Klarheit zu gewinnen.
Wenn man die Antworten liest, fällt die grolse Zahl der Aus-
sagen auf, die von dem grolsen Leid zeugen, das die Kinder nach
dem Lügen empfanden, und von den sie quälenden Gewissens-
bissen :
60) Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen.
„Nach einer Lüge fühle ich ein gewisses Unbehagen und ein gewisses
Bedauern“ (16 Jahre f., 15 Jahre f., 16 Jahre m., 14 Jahre m., 15 Jahre m.). —
„Wenn ich nach einer Lüge auf den Vater oder auf die Mutter schaute, ver-
ursachte mir das immer ein peinliches Gefühl“ (15 Jahre m.). — „Diese
Lüge hat mir viel Unruhe verursacht, wenn ich sprach, konnte ich den
Eltern nicht in die Augen schauen, so geschämt habe ich mich“ (15
Jahre m.). — ‚Wenn ich gelogen habe, ist mir so peinlich zumute, ich
glaube, dafs alle wissen, dafs ich gelogen habe, so unangenehm ist mir,
dafs mir das ganze Gesicht brennt (14 Jahre f.). — „Nachdem ich ge-
logen habe, hatte ich ein Gefühl, als hätte ich einen grolsen Stein auf dem
Herzen“ (14 Jahre f.) — ‚Nach jeder Lüge erlaubt mir das Gewissen
nicht zu schlafen‘‘ (14 Jahre m.). — „Nach dieser Lüge hat mich das Ge-
wissen gequält‘‘ (13 Jahre f.). — „Nach dieser Lüge hat mich das Ge-
wissen gefoltert‘‘ (13 Jahre m.). — „In Fällen von Lügen, besonders der
Bonne gegenüber, hatte ich schreckliche Gewissensbisse und in der Nacht
einen Traum: jemand hat mir meine Lügen vorgeworfen‘ (12 Jahre f.).
Natürlich sind diese Gewissensbisse nach dem Lügen keine
Regel. In der Umfrage finden wir auch zahlreiche Antworten, die
von einem absoluten Fehlen von Gewissensbissen über begangene
Lügen zeugen:
„Ich war lustig, als ich gelogen habe‘‘ 14) Jahre m.). — „Ich war
lustig und sehr glücklich, dafs ich betrogen habe“ (15 Jahre m.). — „Ich war
ınit meiner Lüge zufrieden“ (17 Jahre m.). — ‚Ich war stolz auf meine
Lüge“ (17 Jahre m.). — „Den Lehrer zu betrügen, bereitet mir eine
srofse Genugtuung‘“ (15 Jahre m.). — „Nach einer Lüge freue ich mich,
dlafs cs mir gelungen ist und ich brüste mich damit vor den anderen. Ja
sogar die anderen loben mich, dafs ich den Lehrer so geschickt betrogen
habe“ (16 Jahre m.).
Es drängt sich jetzt: die Frage auf, ob es irgendwelche all-
gemeinen Ursachen gibt, die dazu führen, dals die einen Kinder
sich über ihre Lügen freuen, die anderen dagegen diese bedauern,
und dafs ein und dasselbe Kind sich über eine seiner Lügen freut
und über die andere sich schänt ? Was für ein Gesetz waltet in
der Tatsache, dafs 159 Kinder antworteten, sie hätten sich ihrer
Lügen geschämt und diese bedauert, dagegen 187 dieses ver-
neinten und 113 behaupteten, dafs sie es je nach den Umständen
bedauern oder auch nicht. (Dabei unterscheiden manche streng
Bedauern und Scham.)
Gewöhnlich glaubt man, dafs sich das Kind seiner Lüge des-
halb schämt und sie bedauert, weil es weils, dafs das Lügen eine
schlechte Sache, eine Sünde sei. Aus der Umfrage komnit jedoch
die ungewöhnliche Seltenheit dieses Motivs klar zur Geltung,
denn es wird im ganzen nur 4mal erwähnt:
Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen. 61
„Ich schämte mich und bedauerte, dafs ich gelogen habe und ich
will mich bessern, weil ich weils, dafs die Lüge eine Sünde ist. sogar eine
viel schwerere, als alle anderen Sünden‘ (12 Jahre m.). Die Lüge ‚kann
als eine unmoralische Sache keine Befriedigung gewähren‘ (15 Jahre m.).
„Manchmal habe ich gar keine Lust zu lügen, weil ich weils, dals es un-
moralisch ist‘‘ (15 Jahre f.). ‚Ich bedauerte meine Lüge, weil Lügen nicht
schön ist und ich deshalb auch nicht mehr lügen werde‘ (15 Jahre f.).
Nur ein einziges Kind hat sich auf die Autorität der Eltern
gestützt:
„Ich bedauerte meine Lüge, weil ich wulste, dafs man das nicht tun
darf, was die Eltern nicht erlauben‘‘ (14 Jahre m.).
Dieser geringe Einflufs des Gedankens an das Sündige auf
das Lügen des Kindes kommt wahrscheinlich davon, dafs der
Begriff der Sünde für das Kind eine Abstraktion ist. Das elter-
liche Verbot übt deshalb auch keinen Einflufs aus, im besten Falle
im frühesten Alter, denn wie ein Mädchen sagt: ‚ich bedauerte
die Lüge, als ich 6 Jahre alt war, da meine Mutter sich darüber
ärgerte; jetzt würde ich eine Lüge aus diesem Grunde nicht be-
dauern (13 Jahre f.)“! Als die einzige Realität erscheint, wie die
Umfrage beweist, das Leben mit seinen Forderungen und die
Lüge erscheint in ihm als eine eiserne Notwendigkeit. Deshalb
auch bedauert man nicht, sie begangen’ zu haben: Ä
„Ich bedauerte das Lügen nicht, weil ich lügen mulfste‘‘ (15 Jahre ın.).
— „Ich bedauerte deshalb nicht, weil ich mir keinen anderen Rat wufste‘“
(13 Jahre m.). — „Ich bedauerte meine Lügen niemals, weil ich schon lange
bemerkt habe, dafs mein Leben ohne Lügen in solchen Schulumständen
nicht möglich wäre‘ (16 Jahre m.). — „Ich erinnere mich nicht solcher dum-
men Sachen wie das Bedauern. Das Leben ist doch Kampf um die Exi-
stenz‘‘ (16 Jahrem.). — „Ich bedauere nicht, weil ich die Lüge als natürliches
Mittel der Existenz in der Schule betrachte‘ (17 Jahrem.). — „Ich bedauere
deshalb nicht, weil ich dazu gezwungen war. Ich wäre mit mir nur dann
unzufrieden, wenn ich unter solchen Umständen gelogen hätte, wo ich die
Lüge hätte vermeiden können“ (16 Jahre m.).
In enger Beziehung zu dieser Ansicht stehen solche Ant-
worten, aus denen hervorgeht, dafs die Kinder ihre Lügen
nicht bedauern, wenn dieselben ihnen einen Vorteil
gebracht haben:
„Ich habe meine Lüge nicht bedauert, weil die Zeit dadurch ange-
nehm und fröhlich verging‘‘ (14 Jahre m.). — „Manchmal ist mir, als hätte
ich meine Lügen bedauert, aber was sollman tun? Hätte ich nicht ge-
logen, ı so hätte ich eine 2 und später eine 3! in der Zensur erhalten und
a Siche Anmerkung 8. 44 2. Fulsnote.
62 Das Verhdltnis.der Kinder zu ihren Liigen.
dann wäre zu Hause ein Geschrei gewesen, dafs ich schlecht lerne. Alles
das veranlalst mich, immer wieder zu lügen“ (15 Jahre f.). — ,,Ich habe
meine Lüge nicht bedauert, denn wenn ich gesagt hätte, dafs ich den
Aufsatz nicht geschrieben habe, so hätte ich eine 1 bekommen‘ (14 Jahrem.).
Ganz konsequent mit diesem Utilitarismus sind die Aus-
sagen der Kinder, die von einem Bedauern der Lüge nur dann
zeugen, wenn sie keinen Vorteil gebracht hat oder wenn durch
ihr Vermeiden grölserer Vorteil erzielt wurde:
„Wenn ich gelogen habe und die Lüge brachte mir keinen Nutzen, so
bedauerte ich sie‘ (16 Jahre f.). — ‚Ich bedauerte die Lüge nur in einigen
Fällen, wo mir die Lüge nicht zugute kam“ (12 Jahre f.). — „Ich bedauerte
später die Lüge, weil ich ein zweites Mal nicht lügen konnte‘‘ (12 Jahre m.).
— „Ich bedauerte ziemlich oft, wenn die Folgen der Lüge nicht allzu günstig
fiir mich waren“ (16 Jahre m.). — „Wenn der Lehrer mir glaubt, dafs ich
krank war, so bedauere ich die Lüge nicht, wenn er mir eine schlechte Note
gibt, so bedauere ich eine Lüge deshalb, weil, wenn ich die Wahrheit ge-
sagt hätte, ich vielleicht keine schlechte Note erhalten haben würde“ (13
Jahre m.). — „Ich bedauerte mein Lügen nur dann, wenn ich entdeckte,
dafs ich von der Wahrheit mehr profitiert hätte‘ (14 Jahre m.). — „Ich be-
dauerte die Lüge nur dann, wenn sie entdeckt wurde und mir eine Strafe
drohte, aber ich bedauerte nicht so sehr, dafs ich gelogen habe, als dafs es
entdeckt wurde“ (16 Jahre m.). — „Ich bedauerte nicht, sondern war böse,
dafs es mir nicht gelang, und ich habe den Lehrer verflucht, der mich beim
Lügen ertappt hat“ (16 Jahre m.).
Dieser Utilitarismus der Kinder ist kein blitzschneller Ent-
schlufs unter dem Einflufs der Notlage, er ist eine Folge des Prüfens
und der Erwägung der Kinder. Wir finden bei den Kindern eine
klare Überlegung, für praktische Zwecke zu lügen:
„Es passierte mir selten, dafs ich die Lüge bedauert habe. Und zwar
deshalb, weil ich mir stets vorker so sage: wenn ich schon lügen sollte, so
muls ich es mir vorher gut überlegen, ob es gut sein wird oder schlecht“
(15 Jahre m.). — „Wenn ich gelogen habe, empfinde ich gar keine Reue,
denn bevor ich die Lüge begangen habe, hatte ich das Bewulstsein aller
ihrer Folgen‘ (15 Jahre f.).— „Wenn die Lüge nicht entdeckt wurde, so
schäme ich mich ihrer nicht und bedauere sie nicht, weil ich mit Bewulst-
sein und Überlegung lüge‘“ (16 Jahre f.).
Diese ‚‚realpolitische‘‘ Ansicht der Kinder über die Dinge kommt
auch in den philosophischen Bemerkungen der Kinder zur Geltung:
„Niemals bedauerte ich die Lüge; wenn ich etwas begehe, so be-
dauere ich es nicht, weil dadurch nichts geändert wird“ (15 Jahre m.). —
„Ich bedauerte nie, wenn ich gelogen habe; denn was habe ich davon,
wenn ich es nachträglich bedauere ?“ (14 Jahref.).
Aus einer Reihe kurzer kräftiger Antworten klingt auch deut-
Dus Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen. 63
lich der feste Vorsatz heraus, immer wieder von neuem zu lügen,
wenn es nötig sein wird:
„Ich bedauerte einmal, aber fünfzehnmal bedauerte ich es nicht (13
Jahre f.). — „Ich bedauerte ganz und gar nicht“ (14 Jahre m.). — „Ich be-
dauerte nicht für einen Groschen“ (12 Jahre f.).
Dieses ziemlich traurige Bild, das die eben angeführten An-
sichten der Kinder enthüllen, ist zum Glück nicht vollständig.
Das Bedauern der Lüge ist noch von anderern wenig utilitären
Umständen abhängig. In erster Linie kommt die tröstliche Tat-
sache zur Geltung, dals die Kinder jene Lügen bedauern,
die sie gegenüber ihnen sympathischen oder geliebten
Menschen begangen haben, während sie jene nicht
bedauern, die sie gegenüber ihnen unsympathischen
Menschen begangen haben.
„Was ich meinen Eltern vorgelogen habe, bedauere ich aufrichtig‘“
(16 Jahre f.). — „Ich bedauerte die Lüge gegenüber den Personen, die ich
gerne habe“ (16 Jahre f.). — „Der Lügen, die ich vor den mir teueren und
geliebten Personen begehe, schäme ich mich und ich bedauere sie. Ich kann
manchmal lügen und den mir teueren Personen weh tun, was ich später
bedauere, aber ich reagiere absolut nicht, wenn ich gegenüber ungeliebten
Personen gelogen habe“ (15 Jahre f.). — „Die Lehrerin hat mir geglaubt,
aber seit dieser Zeit hatte ich Angst, vor ihr zu lügen und das Gewissen
hat mich sehr gequält, dafs sie so gut sei und ich habe sie so eklig belogen‘“
(14 Jahref.). — „Ichschämemichnicht, aberich liebeesnicht, vorden Lehrern
zu lügen, die Vertrauen zu den Schülern haben‘ (16 Jahre m.). — „Wenn ich
lügen will, so denke ich den ganzen Tag darüber nach, bis ich was ausdenke
und glaube, gut gehandelt zu haben. Wenn ich zu Hause lüge, so schäme
ich mich etwas, aber mache mir später nichts daraus, aber wenn ich der
Mutter was Schlechtes tue und sage, dafs ich es nicht gemacht habe, so be-
dauere ich es, und später, wenn die Mutter sich beruhigt hat, sage ich dio
Wahrheit‘ (14 Jahre m.).
Mit diesem Faktor der Liebe zu bestimmten Personen erklärt
sich die Tatsache, dafs die Kinder so oft das Bedauern über die
Lüge zu Hause und des Nichtbedauerns ihrer Lügen
in der Schule erwähnen:
„Ich hatte gar kein Bedauern gefühlt, wenn ich das Diktat von der
Freundin abschrieb, aber als ich zu Hause gelogen habe von den Birnen
und Noten, da habe ich es sehr bedauert‘“ (15 Jahre f.). — „Wenn ich in der
Schule log, habe ich mich nicht geschämt und hatte keine Gewissensbisse
(so z. B. wenn ich die aufgegebene Lektion abgeschrieben habe), aber zu
Hause. Die Lügen zu Hause habe ich mir oft vorgeworfen und auch das,
dafs ich meine Schuld nicht zugestanden habe, so z. B. in dem Falle, als
ich 3 Kop. ohne zu fragen genommen habe“ (13 Jahre f.). — „Der Lügen,
64 Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen.
die ich in der Schule begangen habe, habe ich mich nicht geschämt, da ich
wulste, dafs alle meine Freundinnen ohne Ausnahme es ebenso machen.
Aber über die Lüge zu Hause fühle ich oft Gewissensbisse und auch die
Lust, sie einzugestehen‘“ (17 Jahre f.). — „Ich bedauere die Lügen, die ich
zu Hause begangen habe und schäme mich vor mir selbst und mache mir
Vorwürfe, wie kann ich nur die Eltern betrügen, aber dann beruhige ich
mich, indem ich mir sage, dals sie mich selbst dazu bringen“‘ (17 Jahre f.).
Die zweite tröstliche Erscheinung ist der Umstand, dafs
die Kinder jene Lügen nicht bedauern, die sie für andere Per-
sonen begangen haben:
„Ich habe die Lügen, die ich im Namen der Kollegialität begangen
habe, nicht bedauert“ (15 Jahre f.). — „Ich bedauere diese Lüge nicht, weil
ich meinem Bruder versprach, den Eltern nichts davon zu sagen‘ (13 Jahre
m.). — „Ich bedauere die Lüge nicht immer. Das war nur damals der Fall,
wenn die Lüge irgend jemand Nutzen gebracht hat“ (16 Jahre m.). — ,.Wenn
ich zum Wohl der anderen lüge, so bedauere ich es nicht, sondern glaube,
dafs das edel meinerseits ist, und so denkt, wie mir scheint, ein jeder“
(13 Jahre m.). — „Allerdings habe ich manchmal eine Lüge bedayert, aber
wenn ich mit meiner Lüge jemanden etwas Gutes getan habe, dann nie-
mals‘ (16 Jahre m.). — „In einigen Fällen habe ich gar nicht bedauert, weil
die Lügen einigen Personen zugute kamen. So habe ich z. B. eine Ver-
leumdung über eine gewisse Person gehört, und wenn ich diese wiederholen
würde, so wäre es für die betreffende Person sehr unangenehm“ (15 Jahre
m.). — „Ich habe die Lüge nicht bedauert, als icb insgeheim einem Armen
10 Kopeken gegeben habe, da ich gelesen habe, dafs es gut sei, die Armen
zu unterstützen‘ (13 Jahre f.). — „Ich bedauerte die Lüge nicht, denn wenn
ich der Mutter gesagt hätte, dafs ich mich unwohl fühle, so würde ich ihr
Sorge bereitet haben“ (14 Jahre m.). — „In diesem Falle (dafs er vor der
Mutter einen bösen Streich verheimlichte), habe ich gar keine Gewissens-
bisse gehabt, denn die Gesundheit meiner Mutter ist mir teurer als die
Unruhe wegen einer Lüge“ (12 Jahre m.).
In engster Beziehung mit diesen Antworten stehen die Aus-
sagen, dafs man nur dann die Lügen bedauert, wenn da-
durch jemand gelitten hat:
„Es passiert sehr selten, dafs ich eine der Lügen bedauere, es passiert
nur dann, wenn nicht ich, sondern ein anderer einen Schäden davon hat“
(16 Jahre m.). — „Manchmal bedauerte ich die Lügen, aber nur dann. wenn
ein anderer für meine Schuld gebüfst hat‘ (15 Jahre f.). — ‚Diese Lüge, wo
der Fisch das Mädchen gebissen hat, habe ich sehr bedauert, denn es tat
mir leid, dafs das Kind soviel durch meinen Leichtsinn leiden mufste*
(13 Jahre f.). — „Ich bedauerte, dafs ich gelogen habe, dafs die Katze fur
ihren Streich keine Schläge bekommen hat, denn die Katze hat dadurch
zweimal Schläge bekommen“ (12 Jahre f.). — „Als ich am andern Tag nach
der Lüge in die Schule kam, konnte ich niemand in die Augen schauen,
ich bedauerte sehr, dafs ich gelogen habe, denn andere meiner Freunde
Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen. 65
wnufsten nachsitzen und ich, der sich am meisten geschlagen hat, konnte
mach Hause gehen‘ (12 Jahre m.).
In sehr wenigen Fällen, nur in dreien, wurde angegeben, dafs
man die Lüge aus solchen Gründen bedauert hat, die ich ver-
nünftige nennen würde, indem das Kind, seine Tat erwägend,
zu der Überzeugung kommt, dafs es würdiger gewesen wäre,
nicht oelopen zu haben:
„Manchmal bedauerte ich, weil ich zu der Überzeugung kam, dafs man
in diesem Falle offen und aufrichtig handeln solle“ (16 Jahre m.). — „Ich
bedauere meine Tat und meine Schwäche, dafs ich die Schwierigkeiten nicht
‚bekämpfen und siegreich aus ihnen herauskommen konnte“ (14 Jahre f.). —
„Wenn ich gelogen habe, so bedauere ich es, weil man mir den Kopf doch
nicht heruntergerissen hätte, auch wenn ich die Wahrheit gesagt hätte
(15 Jahre f.). |
B. Die Scham.
Von der Scham wurde zwar quantitativ ebensoviel wie über
das Bedauern berichtet; das heifst, alle jene Kinder, die etwas
über ihr Bedauern erzählt haben, gaben auch etwas über ihr Scham-
empfinden an, aber qualitativ sind diese Aussagen bedeutend ge-
ringer. Die Kinder schrieben meistenteils: ja, ich habe mich ge-
schämt, oder: nein, ich habe mich nicht geschämt ; und nur selten
fügten sie kleine Erklärungen oder Aussagen dazu. Immerhin
war das Material genügend, um daraus einige Schlüsse zu ziehen.
Vor allem finden wir dieselbe Tatsache wie bei dem Bedauern:
‘es gibt Kinder, die angeben, dafs sie absolut keine Scham emp-
fanden, und solche, die sie empfunden haben:
' „Nein, ich schäme mich gar nicht, ich lüge mit der grölsten Kalt-
blütigkeit‘‘ (15 Jahre m.). — ‚Ich schämte mich gar nicht, sondern ich hatte
Angst, dafs die Lüge entdeckt wird“ (14 Jahre m., 15 Jahre w ).— „Ich habe
mehr Angst vor der Lüge, als dafs ich mich ihrer schäme“ (15 Jahre w.).
Aber wir finden auch, obwohl viel seltener, Antworten in der
folgenden Art:
„Ich schämte mich sehr und wollte niemandem sagen, was ich getan
habe“ (13 Jahre m.).— „Ich bedauerte die Lügen sogar sehr und wollte nie-
mandem sagen, was ich gemacht habe“ (14 Jahre f.).
Die Gründe der Scham werden durch verschiedene Momente
erklärt:
Die Kinder schämen sich der Lüge ihrer selbst
wegen, weil sie eine Erniedrigung des Menschen her-
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psvchologie. 15. d
66 Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen.
vorruft. Von 553 gaben jedoch nur 4 an, dals sie sich der Lüge
ihrer selbst wegen geschämt haben:
„Ich habe mich meiner Lüge vor mir selbst geschämt, wenn ich
irgendeine Verleumdung über einen gänzlich Unschuldigen gesagt habe. Dann
erscheine ich mir niederträchtig‘‘ (14 Jahre m.). — „Ich habe mich meiner
Lüge geschämt, weil ich sah, dafs sie der Furcht, die Wahrheit zu sagen,
entstammt‘‘ (15 Jahre f.). — „Nach einer solchen Lüge, wie z. B. die Lüge
aus Scherz, habe ich mich nicht nur geschämt, sondern ich war böse auf
mich selbst, dafs der Mensch lügen mufs‘“ (15 Jahre m.). — „Ich habe mich
meiner Lüge geschämt (ich verheimlichte, dafs ich der Freundin half),
aber nicht der Ursache meiner Lüge, denn ich kann mich vor mir selbst
verteidigen und rechtfertigen‘‘ (14 Jahre f.).
Wesentlich häufiger ist ein anderes Motiv der Scham:
nämlich der ehrgeizige Wunsch, bei den Kameraden eine vor-
handene gute Meinung von sich zu erhalten:
„Wenn die Lüge meinem Ansehen schadet, so schäme ich mich’
(14 Jahre f.). — „Ich habe mich sehr geschämt und bedauerte dann, wenn je-
mand davon erfahren hat‘ (11Jahre m.).— „Vor den Leuten schäme ich mich
meiner Lüge, weil es mir scheint, dafs ich mich in ihren Augen erniedrige‘*
(15 Jahre f.). — „Der Lüge schäme ich mich dann, wenn es aufgedeckt und
ich vor den Leuten erniedrigt werden könnte‘ (15 Jahre f.).— „In den Fällen.
die die Schule betreffen, habe ich mich der Lüge geschämt, weil ich wulste,
dafs die Kolleginnen wissen, dafs es nicht wahr ist‘‘ (14 Jahref.).— „Als ich
klein war, habe ich mich gar nicht geschämt, auch wenn die Lüge entdeckt
wurde und man mich ausgelacht hat. Aber heute, wenn ich lügen soll,
so überlege ich erst gut, dafs die Lüge ja nicht aufgedeckt wird, damit ich
mich nachher nicht zu schämen brauche‘ (15 Jahre m.). — „Wenn man die
Lüge entdeckt, so bemühe ich mich, die Sache so zu drehen, als hätte ich
nicht gelogen. Aber die Entdeckung der Lüge bereitet mir grofsen Ver-
drufs‘“ (15 Jahre £.).
Wir sehen also, dals die Kinder sich nicht der Lüge selbst
schämen, sondern nur, wenn sie zutage kam. Der Grund
dafür ist ein rein utilitaristischer: die Gewinnung irgendeines
Vorteils:
„Ich schämte mich, wenn meine Lüge ans Licht kam, aber wenn es
mir gelungen ist, war ich zufrieden‘ (13 Jahre f.). — „Ich schämte mich.
als die Lüge entdeckt wurde, ich habe sie aber nicht bedauert, weil ich
mich köstlich amüsiert habe‘ (17 Jahre f.). — „Niemals habe ich mich ge-
schämt, weil es niemals entdeckt wurde, wenn es aber entdeckt wurde, so
log ich weiter‘ (16 Jahre m.).— „Ich habe mich meiner Tat nicht geschämt.
weil sie ein Rettungsbrett war‘ (15 Jahre f.). — „Ich habe mich meiner
Lüge nicht geschämt, denn ich würde mich dadurch verraten und bestraft
werden‘ (12 Jahre m.).
Das Verhältnis der Kinder zu ihren Lügen. 67
Ein weiteres Motiv der Scham ist die Persönlichkeit
des Erziehers oder des Lehrers. Wie wir oben sahen,
fällt es den Kindern schwer, gegenüber geliebten oder ihnen sym-
pathischen Personen zu lügen. Nach Lügen vor solchen Personen
tritt immer die Scham auf:
„Ich habe mich geschämt, wenn ich vor den Eltern oder angesehenen
Personen gelogen habe und diese Lüge, obwohl nichtig, entdeckt wurde‘‘
(15 Jahre f.).— „Ich schäme mich mehr, vor Kameraden, als vor dem Lehrer
zu lügen‘ (16 Jahre m.). — „Ich schäme mich der Lügen vor Personen, die
mich lieben und mir ihr Vertrauen schenken. Es ist mir gar nicht peinlich,
vor den Leuten zu lügen, die mir nicht trauen‘ (17 Jahre f.),
Als letztes Motiv der Scham ist die — zwar geringe — Rolle
der Wichtigkeit einer Lüge zu nennen. Ist die Sache wichtig,
wegen deren man gelogen hat, so schämt man sich der Lüge, ist
sie unbedeutend, so schämt man sich der Lüge nicht.
„Wenn die Lüge entdeckt wird und ich weils, dafs es eine Lüge von
grolsem Gewicht ist, so schäme ich mich auch sehr meiner Lüge‘‘ ( 15 Jahre
f.). — „Wenn ich aus Scherz lüge, so schäme ich mich nicht, wenn ich aus
anderen Motiven lüge, so schäme ich mich fast immer‘“‘ (10 Jahre f.).— „Dieser
kleinen Lügen, die ich in der Schule begehe, schäme ich mich nicht“ (15
Jahre f.).
68 Das Schuldgeständnis.
Das Schuldgeständnis.
Die seitherigen Antworten beweisen schon zurgenüge, dals die
Kinder nur aus Furcht vor Strafe so ungern ihre Lügen gestehen.
Die Eltern und Erzieher, die ein Geständnis von ihren Kindern `
erhalten wollen, müssen es gröfstenteils erpressen. Auf die Fragen:
wer hat das getan, zerbrochen, befleckt, kaput gemacht, ver-
loren ? bekommt man selten eine aufrichtige Antwort. Die Drohung
einer schwer zu empfindenden Strafe: ich werde dich nicht zum
Spazieren mitnehmen, wenn du’s mir nicht sagst, du bekommst
keine Schokolade usw., viel seltener milde Versprechungen: ‚ich
werde dir nichts tun, wenn du’s sagst,‘ sind die Mittel, mit welchen
man von den Kindern die Wahrheit herauszubringen sucht.
Meistenteils nützen sie aber gar nichts. Die Kinder wissen ganz
genau, dafs sie für ihre Vergehen be_traft werden oder wenigstens
bittere Vorwürfe zu hören bekommen. Darum ziehen sie vor, die
Wahrheit nicht zu sagen. Dafs es sich dabei lediglich um Angst vor
der Strafe handelt, beweisen folgende Angaben der Kinder,
denen man in kleinen Variationen immerzu wieder begegnet:
„Ich gestand meine Schuld, als ich wulste, dafs man mir nichts
machen wird“ (15 Jahre f.). — „Ich gestand meine Schuld nach einigen
Tagen, als die Mutter sich schon beruhigt hatte, und als ich wulste, dafs
ich nicht mehr bestraft werden würde (14 Jahre m.).
Ebenso nutzlos erweist es sich, Erhebendes über den Mut der
Wahrheitsliebe zu sagen. Die Kinder erweisen sich als viel zu
gute Praktiker, und wenn sie irgend eine Tatsache schon nicht
mehr leugnen können, so wälzen sie wenigstens die Schuld von
sich auf jemand anderen ab. Dieser „jemand andere‘ kann der
Bruder, die Schwester, ein Mitschüler, ein Dienstmädchen oder
auch ein Tier sein:
„Ich habe eine Vase zerschlagen und sagte, dafs es die Katze gemacht
hat“ (12 Jahre f.). — „Ich habe die Milch ausgegossen und sagte, die Katze
hätte es getan‘‘(16 Jahre m.). — „Ich fiel ins Wasser und log, dafs mich mein
Das Schuldgeständnis. 69
Freund begossen hat‘ (13 Jahrem.).— ,,Am Karfreitag afs ich ein Stiickchen
Schinken und dazu rohen. Ich gestand jedoch die Schuld nicht ein und
wälzte sie auf meinen Bruder ab‘ (15 Jahre f.).— „Eines Tages gingen die
Eltern fort und ich blieb allein mit meinem Bruder, als ich Himbeersaft
fand, habe ich ihn ausgetrunken und später schob ich es auf meinen armen
unschuldigen Bruder‘ (14 Jahre m.).
Das Leugnen der Tat und das Abwälzen der Schuld, wird aber
auch aufser der Angst vor Strafe von anderen, freilich etwas
nebensächlicheren Motiven veranlalst. So z. B. auch durch Ehr-
geiz:
„Ich wollte schon gestehen, aber ich schämte mich vor meinen Freun-
dinnen“ (13 Jahre f.).— „Oft wollte ich schon gestehen, weil ich mich vor
mir selbst schämte, aber als ich mich von den Mitschülern umringt sah,
die der Sache zuhörten, habe ich den Tapferen vorgetäuscht und erging
mich in immer gröfseren Lügen‘ (14 Jahre m.).
Die Beziehung zu den Personen, denen man die Lüge
gestehen soll, spielt auch beim Geständnis mit. Die Antipathie
gegen die betreffende Person bewirkt, dafs das Kind sich in seiner
Hartnäckigkeit versteift und die Lüge nicht gesteht:
„Wenn ich diese Person, die die Lüge entdeckt hat, nicht gerne habe,
so gestehe ich niemals, denn es macht mir eine Freude, wenn sie sich ärgert‘“
(15 Jahre f.).
Angst vor Strafe, Ehrgeiz, Unbeliebtheit des Erziehers oder
des Lehrers sind Motive des Nichtgestehens der schon entdeckten
Lüge. Zum Geständnis wird das Kind aus den entgegengesetzten
Gründen getrieben: aus Mangel an Furcht, wenn der Ehr-
geiz nicht im Spiel ist, wenn die betreffende Person
sich die Liebe des Kindes erworben hat. Diese Gründe
sind jedoch so stark, dafs sie vermutlich sofort wirken, so dafs
das Kind die Schuld auf der Stelle gesteht. Die Lügen werden
dann von dem Kinde nicht verurteilt und es legt ihnen keine Wich-
tigkeit bei. In der Umfrage werden sie nur ganz flüchtig zitiert:
„Ich habe gelogen, aber ich habe es meiner lieben Mutter sofort
gesagt.“ „Ich habe gelogen, aber ich habe gleich meine Schuld
eingestanden‘ usw.
Ist einige Zeit nach der begangenen Schuld vergangen, so
spielen schon andere Motive zum Geständnis mit. In erster Linie
ist es das Mitleid. Es tritt in solchen Fällen hervor, wenn durch
die Abwälzung der Schuld der fälschlich Beschuldigte eine Strafe
oder sonstige Unannehmlichkeiten zu erleiden hat:
70 Das Schuldgestandnis.
„Ich wälzte die Schuld auf meinen jüngeren Bruder, welchen die
Mutter tiichtig ausschimpfte. Am zweiten Tag hat mir der Bruder leid
getan und ich habe alles der Mutter gestanden‘ (12 Jahre f.). — „Als ich
meinen Cousin nach dem Verlust des Balles, den ich heimlich genommen
habe, in Verzweiflung sah, gestand ich die Schuld‘ (11 Jahre m.). — ‚Ich
war 6 Jahre alt und spielte mit meinem Schwesterchen auf dem Hofe, un-
weit stand meine ältere Schwester. Ich spielte mit meiner Schwester so
unvorsichtig, dafs sie so unglücklich hingefallen ist, dafs sie sich den Fuls
verstaucht hat. Ich hatte Angst, ausgeschimpft zu werden und wälzte
die Schuld auf meine ältere Schwester. Sie verteidigte sich anfangs. aber
weil sie sehr gut war und mich liebte, so sals sie ruhig, sprach nichts und
wurde streng bestraft. Als ich sie aber weinen sah, habe ich die ganze
Schuld gestanden. wofür sie mich herzlich küfste‘‘ (14 Jahre f.).
In seltenen Fällen (10 F.) werden das Bewulstsein der
Schuld und die Scham die Triebfeder des Geständnisses :
„Ich habe mich meiner Lüge geschämt und konnte solange kein
Abendbrot essen, bis ich die Mutter in ein anderes Zimmer zog und alles
gestanden hatte“ (12 Jahre £.\.
| Ferner ist ein interessanter Fall zu notieren, der beweist, wie
kompliziert die Motive des Handelns der Kinder mitunter sind.
Es ist nach ihm zu vermuten, dals das Kind willig eine Lüge ein-
gestehen würde, wenn es nicht den Zwang, das Fordern des Ge-
ständnisses von seiten der Umgebung fühlen würde. Nachdem
wir die Unabhängigkeitswünsche der Jugend gelesen haben, ist es
zu begreifen, dafs ein Jüngling oder Mädchen gerade aus freien
Stücken das Geständnis ablegen möchten. So schreibt ein 16j ähriges
Mädchen:
„Fast immer habe ich mich meiner Lüge geschämt und sie gerne ge-
standen, bevor sie entdeckt wird; wenn sie aber entdeckt wurde, so machte
ich keine reuige Miene, sondern leugnete energisch, also log ich zum zweiten-
mal. Ich habe keine Angst vor irgendwelcher Strafe für eine Lüge und ich
gestehe sie nicht aus Furcht, sondern nur freiwillig.‘“!
In engster Beziehung zu den Geständnissen steht der Vor-
satz der Kinder, nicht mehr zu lügen. In der ganzen Umfrage habe
1 Aus den Aussagen der Kinder ist eine interessante psychologisché
Tatsache erweisbar. Es ist eine überaus geläufige Meinung, dafs Schuld-
geständnis identisch mit Reue ist. Die Richter pflegen sogar einen ge-
ständigen Verbrecher milder zu bestrafen, da sie darin Reue über die
Tat sehen. Die Aussagen der Kinder beweisen, dafs man die Schuld ge-
stehen möchte und man es gegenüber einem unsympathischen Lehrer doch
nicht tut, oder man hat keine Absicht es zu tun und sie doch einer sym-
pathischen Person gegenüber gesteht. Avis au juge! Wie viel Starrsinnig-
keit der Verbrecher könnte aus rein persönlichen Motiven erklärt werden !
Das Schuldgestündnis. 11
ich keine einzige Antwort gefunden, wo das Kind von einem deshalb
solchen Vorsatz spricht, weil es fiir die Liige bestraft wurde. Die
Eltern und Erzieher pflegen zwar immer, wenn sie sich mit dem
Kinde versöhnen, zu sagen: Nicht wahr, du wirst das nicht mehr
tun? was das Kind natürlich prompt bejaht. Aber nie wurde ein
solcher Fall angegeben, aus dem hervorgeht, dafs dieses Ver-
sprechen zu fernerer Wahrhaftigkeit des Kindes geführt hätte.
Dagegen wurden Gewissensbisse, Scham, Reue usw. zu Beweg-
gründen eines Vorsatzes, hinfort nicht mehr zu lügen:
„Ich habe mich geschämt und bedauert und habe mir vorgenommen,
das in der Zukunft nie mehr zu machen‘ (14 Jahre m.). — „Ich habe meine
Lüge bedauert und habe mir vorgenommen, nie mehr im Leben zu lügen“
(15 Jahre ff). — ,,Jedesmal habe ich mich sehr geschimt und bedauert, ge-
Jogen zu haben. Ich habe mir versprochen, nie mehr zu liigen, aber niemals,
niemals konnte ich meinen Vorsatz halten“‘ (13 Jahre f.). — „Ich bedauerte,
dafs ich gelogen habe, ich nahm mir fest vor, nicht mehr zu liigen, aber
kaum sehe ich mich um, so fange ich schon wieder an zu lügen‘‘ (16 Jahre m.).
In einzelnen Fällen kommen die Kinder auf Grund ihrer
Überlegung zu dem Vorsatz, nicht mehr zu lügen oder wenigstens
nicht in die Lage zu kommen, lügen zu müssen:
„Wenn ich zu einer Minute des Nachdenkens über mich komme, bin
ich auf mich sehr böse, ich nehme mir vor, niemals mehr zu lügen und
sofort der Vorsteherin oder Lehrerin zu sagen, dafs ich mich verspätet
oder die Aufgabe nicht gemacht habe, weil ich ein Faulenzer bin, aber leider
vergesse ich später meinen Vorsatz und ich beginne wieder dasselbe, d.h.
zu lügen, aber ich habe gemerkt, dafs dieses seit einiger Zeit seltener wird,
obwohl es ein sehr kleiner Unterschied ist“ (16 Jahre f.). — „Als ich dem
Muttchen von der 1 im Diktat! nichts gesagt habe, habe ich es gar nicht
bedauert, denn nach einiger Überlegung kam ich zu der Überzeugung, dafs
das Muttchen einen sehr grofsen Schmerz haben könnte. Aber im Geiste ver-
sprach ich mir, dafs ich mich bemühen werde, ein anderes Mal gut zu schrei-
ben*‘ (15 Jahre in.).
Interessant ist, dafs alle guten Vorsätze zu nichts führen.
Schon in den obigen ‘Beispielen sehen wir die Vergeblichkeit der
kindlichen Mühe, Versprechen zu halten. Weitere Beispiele be-
stätigen das:
„Ich habe mir einigeinal vorgenommen, nicht zu lügen, aber ohne
die Lüge könnte ich nicht auskommen“ (14 Jahre m.). — „Der Lüge schäme
ich mich immer und gebe mir Mühe, so wenig als möglich zu lügen, aber
ich habe eine solch schwache Natur, dafs ich nicht widerstehen kann, immer
wieder von neuem zu lügen. Wenn ich einen guten Rat wülste, würde ich
1) Siehe Anmerkung 2 auf S. 44.
12 Das Schuldgestindnis.
ınich bemühen, nicht zu lügen“ (13 Jahre f.). — „Manchmal, wenn ich Ge-
wissensbisse habe, sagte ich mir, dafs ich niemals mehr lügen werde, aber
dann vergals ich es und sündigte wie vorher“ (13 Jahre f.). — „Ich habe mir
vorgenommen, in meinem weiteren Leben solche Auswege zu meiden, aber
ich weils nicht, wann ich es werde tun können“ (15 Jahre m.).
Diese guten Vorsätze sind vergeblich nicht nur infolge des
schwachen Willens des Kindes, sondern auch durch die immer
kehrende Angst vor der Strafe. So schreibt ein Mädchen:
„Oft bedauerte ich die Lüge und habe mir Mühe gegeben, nicht mehr
zu lügen, aber es war mir eine Unmöglichkeit, denn ich wollte lieber lügen,.
als bestraft werden“ (14 Jahre f.).
Allgemeine Folgerungen. 13
Allgemeine Folgerungen.
Wir haben bis jetzt bei der Betrachtung der einzelnen Fälle
schon verschiedene Motive der Lügen kennen gelernt. Eine Fest-
stellung solcher erkennbaren Motive des Lügens bedeutet aber noch
keineswegs die Kenntnis der eigentlichen psychischen Quelle dieses
Fehlers. Dasselbe Kind kann an einem Tage aus Angst vor einer
ungenügenden Note in der Schule, aus Hals auf einen Mitschüler,
um ihn anzuschwärzen, oder auch aus Scherz, um seinen Freund
zu sich zu locken, lügen.
Mufls man demnach also nicht nach einer allgemeinen Quelle
der Lügenhaftigkeit des Kindes suchen, einer Quelle, die uns erst
erklärlich macht, warum das eine Kind bei jeder Gelegenheit aus
diesem oder jenem Motiv lügt, während das andere unter denselben
Umständen gar nicht lügt? Um diese Frage zu beantworten
werden wir versuchen, das gesamte Material der Umfrage nach
den einzelnen Zusammenhängen zu ordnen.
I. Ale einer von den Faktoren der Lüge erweist sich das Alter
des Kindes. Diesen Zusammenhang haben wir in der Umfrage
festgestellt, in dem Erscheinen immer neuer Motive der Lüge, je
älter das Kind wird. Ein kleines Kind lügt, weil es genascht hat,
oder aus Angst vor der Strafe wegen Ungehorsams. Die älteren
Kinder lügen zwar noch aus denselben Motiven, aber in weit man-
nigfacherer Weise, denn mit dem Alter wird ihr geistiger Horizont
sowohl hinsichtlich des Denkens als auch des Tuns weiter. Das
Schulleben vermehrt schon die Sphäre ihrer Interessen und, ihres
Tuns, die Lust nach Vergnügungen, das Verlangen nach einem
gesellschaftlichen und gleichzeitig nach einem selbständigen Leben.
Das sich entwickelnde Sexualleben bildet ebenfalls immer neue
Motive zu lügen. Je mehr und je vielseitiger sich also das Kind
mit der Zeit entwickelt, desto mehr ‚Gründe‘ zum Lügen ent-
stehen.
74 Allgemeine Folyerungen.
Die Abhängigkeit vom Alter zeigt sich auch in der Häufig-
keit der Lügen. Kinder bis zu 12 Jahren schrieben «stets: ich log
damals und damals, sie haben also die Fälle individualisiert, das
beweist, dals die Lügen bei ihnen (mit wenigen Ausnahmen) keine
Alltäglichkeit sind. Über 12 Jahre treffen wir schon eine andere
Art der Erzählung, man schreibt: ‚ich lüge“. Dieses beweist
schon die Stetigkeit der Fälle. Statt einen besonderen Fall zu be-
schreiben, wie es die kleinen Kinder tun, geben die Schüler und
Schülerinnen der höheren Klassen eine ganze Theorie ihres Lügens
und selten illustrieren sie diese mit einem Beispiel. Wenn also das
Kind seine Lüge alsNotwendigkeit der Minute ansieht, so sieht sie
die reifere Jugend als eine stete Notwendigkeit an. Die Aussagen
der Kinder beweisen schlagend die sich allmählich bei ihnen
ent wickelnde Liigenhaftigkeit :
| „So wie ich als kleines Kind lügen lernte, so entwickelt sich jetzt immer
mehr die Lüge“ (15 Jahre f.). — „Nachdem mir die erste Lüge gelungen war.
log ich immer wieder von neuem und lüge bis zum heutigen Tage; denn
ohne das Lügen könnte ich nicht auskomimnen“ (15 Jahre f.). — „Im allge:
meinen kann ich sagen, dafs, je älter ich werde, ich um so häufiger lüge.
Ich könnte sagen, dafs das Leben mich dazu zwingt‘ (12 Jahre m.). — „Als
ich jünger war, habe ich nie gelogen. oder ich bin wenigstens fest über-
zeugt, dafs ich nie gelogen habe, und dafs die Lüge nicht zum Leben nötig
sei. Später log ich immer öfter und zwar besonders in der Schule, wo man,
wie ich mich überzeugt habe. ohne Lügen gar nicht auskommen kann“
{16 Jahre m.).
Das Alter erweist sich also nicht als selbständiger Faktor, in-
dem es nur auf die Häufigkeit und die Art der Lüge einwirkt, da
für dieselben nur die Notwendigkeit der Lüge ausschlaggebend
ist, die freilich mit dem Alter wächst. Eine Tatsache spricht nur
dagegen. Aus der Umfrage ist es nämlich leicht zu ersehen, dafs
ja nur die heranwachsenden Knaben und Mädchen von dem Vor-
satz des Nichtmehrlügenwollens sprechen. Nur zwischen dem
13. und 15. Lebensjahre kommen sie spontan zur Geltung. Diese
Tatsache bekommt aber ihre richtige Erklärung in der Beleuchtung
der Forschungen der amerikanischen Psychologen: STARBUCK,
James, LEUBA usw. Sie erwähnen plötzliche religiöse und mora-
lische Bekehrungen, welche in der Pubertätazeit vorkommen und
stellen diese Bekehrungen in Abhängigkeit von dieser Pubertäts-
periode. Einige Aussagen der Kinder in der Umfrage erlauben es.
den Schlufs zu ziehen, dafs auch bei unserer Jugend solche mora-
lischen Bekehrungen, obwohl in viel schwächerem Grade, vor-
Allgemeine Folgerungen. 75
kommen. Einige Mädchen und Knaben erwähnen nur allein die
Tatsache der moralischen Veränderung, ohne sie jedoch zu kom-
mentieren :
„Jetzt werden meine Lügen immer weniger und ich fühle, dafs ich
mir den schlimmen Fehler ganz abgewöhnen werde“ (15 Jahre m.). — „Ich
kann jetzt nicht mehr lügen, denn ich werde sofort rot und sage auf der
Stelle die Wahrheit. Als ich jedoch noch kleiner war, habe ich gelogen und
das sogar sehr oft (zu Hause), jetzt kann ich mir das nicht verzeihen‘ (14
Jahre f.).— „Es gibt manchmal Wochen, in denen ich mich bemühe, nicht zu
lügen, aber irgendeine drastische Frage gibt Anlals zum Lügen und ich
lüge wieder, als möchte man mich dazu engagieren. Wie ich bemerkte,
werden bei mir die Fälle allmählich seltener, aber die Wichtigkeit der Lüge
grölser‘‘ (17 Jahre m.).
Es ist dies ohne Zweifel eine Folge der in einem gewissen Alter
auftretenden Wahrheitsliebe, die aber doch nur wenige Kinder
betrifft und kein ‚Wahrheitsfanatismus‘‘ wie ihn Stern!, Scv-
PIN?, PREYER?, CompayReE* u. a. charakterisieren. Aber auch
das Gegenteil, ein Ausbruch der schlechten Gefühle, kann gerade
in den Pubertätsjahren stattfinden. Wir haben einen Beleg in
einer Aussage, die ich hier in extenso wiedergebe:
„Seit langer Zeit, d. bh schon seit 5 Jahren denke ich über alle diese
Fragen nach. Was die Lüge in der Schule betrifft, so war und blieb sie
sehr naiv. Also ich lüge, wenn ich die Aufgabe nicht gemacht habe und
spiegle verschiedene niemals existierende Gründe vor: Kopfweh, Zahnweh,
Krankheit der Mutter. Nach solch einer Lüge mache ich mir nie Vorwürfe.
Ganz anders ist es aber zu Hause. Ich erinnere mich, als ich 10—12 Jahre
alt war, da stahl ich zu Hause, wo und wann ich nur konnte, Geld: der
Mutter aus dem Portemonnaie, dem Dienstmädchen, der Köchin das, was
sie für Wirtschaftsausgaben vorbereitet hatte usw. Ein Fall läfst mich
heute noch erröten, sowie ich mich seiner nur erinnere. Das Dienstmädchen
hatte ihren Geldbeutel immer unter dem Kissen aufbewahrt, was mir be-
kannt war. Eines Tages schlich ich leise in ihr Zimmer und nahm ihr einen
halben Rubel heraus. Ich lief auf die Strafse und kaufte mir Mandeln,
Chalwa5-Bonbons usw. Ich afs davon sehr wenig und warf das übrige weg.
Zu Hause war inzwischen Geschrei und Lärm entstanden. Das Dienst-
mädchen verdächtigte die Köchin des Diebstahls. Ich blieb allem gegen-
über ganz gleichgültig wie eine raffinierte Diebin; aber, indem ich das
schreibe, zittere ich bei der blofsen Erinnerung. Und dabei bin ich ein
21 S. 121—124.
2 8. 146.
3 PREYER, Die Seele des Kindes, 8. 237.
4 S. 387/388.
5 Eine spezifisch russische Süfsigkeit.
76 ` Allgemeine Folgerungen.
Kind vermögender Eltern (sogar das einzige Kind) und es fehlt mir an
nichts. Was mit mir damals war, weils ich nicht. ... — Jetzt kann ich gar
nicht lügen, denn ich werde bald rot, konfus und sofort sage ich dann die
Wahrheit. Als ich jünger war, log ich viel (zu Hause) und jetzt noch kann
ich es mir nicht verzeihen‘‘ (16 Jahre f.).
Wir sehen an diesem Beispiel, dafs ein Kind auch eine Periode
durchleben kann, wo es skrupellos unehrliche Taten vollbringt und
dafs diese Periode mit dem Vollzug der körperlichen Entwicklung
wieder vergeht. Das Kind kann also in dieser Periode eine Um-
wandlung durchleben, die plötzlich kommt und nicht lange dauert,
aber es genügt, dals sie da war und eine Spur in der Seele hinter-
lassen hat. Sehr gut schildert diesen Wendepunkt ein 16jähriger
Schüler, der ihn auch mit dem richtigen Namen benennt:
„Vor einigen Jahren, ich dürfte damals 12—13 Jahre alt gewesen
sein, ging in mir eine seelische Umwandlung vor, die mich zum Verzicht
auf das Lügen brachte. Wenn ich damals log, so bedauerte ich es. Einige
Monate danach fing ich wieder an zu lügen‘ (17 Jahre m.).
Solche positiven und negativen Umkehrungen, welche bei.
manchen Individuen in einer gewissen Periode auftauchen, lassen
sich leicht durch grölsere Suggestibilität der Jugend zu dieser Zeit
erklären, was auch die Untersuchungen von Stern und Rosa
OprENHEIM beweisen. Wie aber diese seelischen Umwandlungen in
ihrem endlichen Resultat doch von der Umgebung abhängig sind.
beweist die Antwort eines Mädchens:
„Jetzt bemühe ich mich, es so einzurichten, dafs ich so wenig wie
möglich zu lügen brauche, und ich überzeuge mich, dafs es mir sehr leicht
ankommt, denn ich mufs gestehen, dafs die Eltern, trotzdem sie nicht
immer meine Ansichten teilen, mich nicht allzusehr beschränken" (Le
Jahre f.).
II. Der Geschlechtsunterschied wirkt nicht ausschlag-
gebend auf die Lüge der Kinder. Wenigstens führen die Zahlen der
Umfrage zu keinem Resultat. Wie schon oben erwähnt wurde,
haben 18 Kinder niemals zu Hause gelogen : nämlich 15 Mädchen
und 5 Knaben; es haben 72 Kinder niemals in der Schule gelogen:
nämlich 47 Mädchen und 22 Knaben, ‚‚also“ die Mädchen lügen
weniger. Dieses Resultat steht im Widerspruch zu der allge-
meinen Ansicht, dafs dice Frauen häufiger lügen. Voer, der sich
jüngst mit der Lüge bei jugendlichen Verbrechern beschäftigt
hat, sagt ebenfalls, dafs die Zahl der lügenden Mädchen um vieles
die Zahl der lügenden Knaben übertrifft!. Auch bei BERNHARD
1 X. 436.
Allgemeine Folgerungen. 17
Pérez finden wir den Satz: ‚enfin, on convient généralement que
les petites filles sont moina droites, plus compliquées, plus diplo-
mates que les garçons; dans leurs récits elles brodent, elles ampli-
fient avec un art consommé. Dans leurs mensonges elles ne se
coupent jamais .. . Elles mentent comme on dit pour le plaisir,
une sorte de plaisir d’artiste‘‘4. Das von mir erzielte Resultat
konnte aber durch mehrere Faktoren beeinflufst werden: ein Teil
der Antworten, die ich nicht verwenden konnte, stammt von
Madchen, es ist also nicht vorauszusehen, wie deren Verfasserinnen
das zahlenmafzige Resultat beeinflussen würden. Dann ist es
auch nicht bekannt, wer aufrichtiger geschrieben hat: die Knaben
oder die Madchen. Ein Fehlen der Liigen kann doch auch ein Mangel
an Aufrichtigkeit sein. Endlich mufs man in Betracht ziehen, dafs
grofse Unterschiede in den Lügen selbst bestehen — ein Knabe,
welcher vielleicht nur einmal gelogen hat, wird zu der Gruppe der
lügenden zugerechnet sein, ebenso wie ein Mädchen, das syste-
matisch lügt. Dabei ist der Unterschied zwischen ihnen grofs, denn
e3 kommt nicht darauf an, ob ein Kind einmal in einem Aus-
nahmefall gelogen hat, sondern auf die systematische Anwendung
dieser Waffe. In dieser Beziehung ist die Zahl der von den ein-
zelnen Mädchen angegebenen Fälle viel grölser, als die der Knaben.
Ob das aber eine Folge der gröfseren Verlogenheit der betreffen-
den Mädchen oder ihrer grölseren Aufrichtigkeit ist, konnte ich
nicht feststellen.
Die Art der Lüge ist aber etwas verschieden bei beiden Ge-
schlechtern. Die Madchen liigen öfters aus Naschhaftigkeit, die
Knaben zum Zwecke der Verheimlichung von Diebstählen kleiner
Beträge, die ihnen zum Ankauf von Kleinigkeiten (Feuerwerk, Capi-
schonen asw.) dienen; die Knaben begehen mehr Lügen zur Ver-
deckung ihrer Streiche, ihrer heimlichen Ausfliigeinden Wald. Auch
erwähnen sie öfter als die Mädchen die Versäumnis des Kirch-
gangs als Ursache ihrer Lügen. Ein spezieller Grund zur Lüge ist
bei den Knaben das Rauchen. Weil sich bei den Knaben viel
früher als bei den Mädchen eine gewisse Selbständigkeit zeigt,
tritt also auch die Lüge viel früher bei ihnen auf: während wir die
Lüge wegen des heimlichen Besuchs des Kinos erst bei 13jährigen
Mädchen finden, haben wir solche Fälle schon bei 11jährigen
1 L’enfant de 3 & 7 ans, Paris 1907, S. 282. Auch nach der Er-
hebung von WILLIAM VAN BRABANT waren 28,45°/, liignerische Knaben
und 29,03°/, lügnerische Mädchen (S. 44—45).
78 Allgemeine Folgerungen.
Knaben. Das Eingestehen einer Lüge finden wir wieder öfter bei
Mädchen (es ist aber nicht klar zu ersehen, ob aus Furcht oder aus
Ehrgeiz), auch den Vorsatz, nicht zu lügen, fassen häufiger die
Mädchen. Alle diese Unterschiede sind jedoch, wie wir sehen, keipe
prinzipiellen, sie stammen von den Unterschieden in der Erziehung
der Knaben und der Mädchen. Den Satz Vocre, dals die Lüge
der Knaben, sogar auch dann, wenn sie in einer phantastischen
Form sich äufsert, immer den Charakter der Abwehrlüge trage,
bei den Mädchen aber ausschliefslich phantastisch seit, kann ich
auf Grund meiner Umfrage nicht bestätigen. Denn sowohl Knaben
wie Mädchen logen aus der Notwendigkeit, um das eigene Ich,
seine Wünsche, zu verteidigen. Für richtig halte ich den Satz
G. Drommarnps, welcher sagt: ,,L’hypocrisie n’est pas l’apanage
d’un sexe; elle est l’apanage des faibles en lutte contre les plus
forts. Un homme sans indépendance est plus hypocrite qu’aucune
femme, une femme indépendante peut être aussi franche gu un
homme‘ ?.
III. Inwieweit hängt die Lüge von der Intelligenz ab?
Bei den gutmütigen Erziehern und den verblendeten Müttern ist
der Satz allgemein, dals ein intelligentes Kind d. h. ein aufge-
wecktes und gut lernendes ‚artiges‘‘ Kind weniger lügt, als ein
Kind, welchem Lernen nur Mühe kostet und welches ungehorsam
und starrsinnig ist. Diese Ansicht wird bekräftigt durch die kli-
nisch festgestellte Tatsache, dafs die schwachbegabten Kinder
gleichzeitig auch moralisch minderwertig sind, d. h. sie lügen,
stehlen usw. Ohne diese ‚Erfahrung‘ der Mütter und diejenige
der Klinik zu widerlegen, kann man es doch als fraglich bezeichnen,
ob der umgekehrte Satz richtig sei, d. h. dafs die lügenden Kinder
auch geistig unentwickelt und schwachsinnig sind ? Diese letzte
Abhängigkeit kennte ich nicht nur in keinem Fall feststellen,
sondern ich muls im Gegenteil gegen sie Stellung nehmen. In
allen den hier angegebenen Fällen von Lügenhaftigkeit war es
ohne Ausnahme leicht festzustellen, dafs jene Kinder, welche
wenig geschrieben haben (also wie man schlielsen muls, auch
wenig gelogen haben), die in dürftigen Worten ihre Lüge schildern,
so als möchten ‚ie den ihnen gegebenen Auftrag möglichst rasch
los werden, —diese Kinder machten besonders viel orthographische
1 S. 435.
2 Essais sur la sincérité, S. 182.
Allgemeine Folgerungen. 79
Fehler, auch war ihr Bogen zumeist schmutzig und voll Tinten-
flecken, vieles war durchgestrichen, sehr oft machten sie auch
unanständige Bemerkungen. Jene Lügen dagegen, die detaillierter,
beschrieben wurden, und die an und für sich als listiger erschienen,
waren schon bei 12jährigen Kindern einwandfrei stilisiert, die
Orthographie und die Interpunktion waren gut, manchmal sprühte
sogar aus jedem Satz ein Witz. Es liegt hier also die Folgerung
nahe, dafs je intelligenter und schlauer ein Kind ist, je besser es
sich in der Umgebung orientiert, um so geschickter wird es auch
lügen. In der pädagogischen Literatur fand ich nur bei PÉREZ
eine Bestätigung diezes Gedankens. In seinem Buche ,,L’enfant
de 347 ans“ sagt er: ,,Les mensonges mêmes de l’enfant denotent
un certain progrès logique, soit qu’il les ourdisse avec plus de
finesse et d’aplomb, soit qu’il les répousse loin de sa pensée comme
un moyen inutile et dangereux.. .“ (S. 86)1. Ob aber das intelli-
gente Kind auch häufiger lügt? Auch auf diese Frage kann man
bejahend antworten, denn das sich besser orientierende Kind wird
früher als ein minderwertiges die Lüge als eine Lebensnotwendig-
keit erkennen; es wird die Lüge anwenden, wo es ihm irgendwie
nötig erscheinen wird. Diese Notwendigkeit tritt aber im Leben
sehr oft ein. Diese Folgerung bestätigt auch die charakteristische
Tatsache, dafs die Schulen, die in Lodz durch ihr hohes Niveau
bekannt sind, also jene, die die meisten begabten Schüler besalsen,
mir auch ein Material geliefert haben, das nicht nur umfangreicher,
sordern auch besser zur Bearbeitung brauchbar war, als das
Material, das aus schlecht geführten Schulen stammte, wo die
Schüler weniger entwickelt waren. Schon beim ersten Durch-
sehen der Blätter konnte ich bereits nach kurzer Zeit ohne Irr-
tum erraten, aus was für einer Schule die betreffende Antwort
stammt. Wenn gewisse Mütter mit grolser Bestimmtheit behaup-
1 PEREZ sagt von einem 6jährigen Kinde: „quand il a un grand in-
terét & mentir, il le fait avec plus d’art. Non qu’il puisse longtemps dissi-
muler, il n’est pas assez maitre de la mimique, des émotions pour cela;
mais ci l’on n’insiste pas, si son röle de comédien n’est pas long à soutenir,
il s’en fait bellement accroire. I] a acquis une certaine adresse à exprimer
ce qu’il sent ou à le cacher, et même à feindre une émotion peu ou point
ressentie. Il commande mieux dans ce double but à ses bras, à ses jambes,
à son cou, à ses lèvres et comme la rougeur et la paleur, l'éclat et la dis-
crétion de l’œil ne sont pas toujours chez lui, les indices d’un certain état
mental, il modère et arrange mieux pour nous tromper tous les organes
révélateurs des sentiments‘“‘ (ibid. S. 86—87).
80 Allgemeine Folgerungen.
ten, dafs ihr intelligentes Kind weniger lige als andere Kinder,
so stammt diese Anschauung nicht zum wenigsten daher, dafs
diese Kinder die Spuren ihrer Lüge schlauer zu verwischen ver-
stehen.
IV. Die obigen Abhängigkeiten der Lügen der Kinder sind
physiologischer, angeborener Natur. Welches ist aber die Ab-
hängigkeit der Lüge von den Umständen, in denen ein Kind lebt,
von seiner Umgebung ? Es ist unmöglich, eine solche Abl ängig-
keit in ihrer Einheitlichkeit festzustellen; der Begriff der Um-
gebung enthält in sich viele einzelne Begriffe, wie die materiellen
Verhältnisse der Eltern, das geistige und ethische Niveau, die
Einfachheit der Familienverhältnisse usw. Jeden einzelnen von
diesen Einflüssen mufs man also besonders nachprüfen.
Die Umgebung, in welcher jedes Kind zuerst sein Leben
verbringt, sind die Eltern und Erzieher. Die Liebe, die die Eltern
zu ihren Kindern fühlen, ist aber keine Garantie, dafs ihre Be-
ziehung zu den Kindern ehrlich und aufrichtig sei. Im Gegenteil.
Wenn wir erwägen, dals die häufigsten Fälle von Lügen begangen
worden sind wegen Nichtbefolgens der Befehle der Eltern und
Lehrer und aus dem Wunsch der Verheimlichung kleiner Vergehen
aus Angst vor der Strafe, so kommt einem leicht der Gedanke von
einem fehlerhaften Verhältnisse der Kinder zu den
Eltern. Dieses Verhältnis ist, wie ersichtlich, nicht gegründet auf
gegenscitigem Vertrauen, einer Achtung der Individualität des
Kindes und deren Duldung von seiten der Eltern, sondern auf
einer Forderung strikten Gehorsams des Kindes. Die Eltern treten
den Kindern in der Rolle des Starken zum Schwachen entgegen,
in der Rolle des Herrn zum Knecht;; in dem Kinde sehen sie nicht
ein lebendiges Wesen, nicht eine Persönlichkeit, mit der man
rechnen mufs und der man eine gewisse Unabhängigkeit des
Handelns gestatten muls, sondern eine Sache, die sie ganz nach
ihrem Belieben in diese oder jene Richtung drängen wollen. In
den Lügen der Kinder schen wir daher eine Reaktion gegen eine
solche Hemmung ihres Willens, wir sehen eine Verteidigung ihres
Ichs, eine Verteidigung ihres individuellen Fühlens und Urteilens.
„Zu Hause zwingen mich die Umstände häufiger zur Lüge; denn
wenn ich immer aufrichtig sein wollte, so hätte ich ebenso oft per-
sönliche Unannehnlichkeiten,‘“ schreibt ein 15jähriges Mädchen.
Dem Kinde liegt nicht soviel daran, ein Vergehen im eigent-
lichen Sinne des Wortes zu verheimlichen, als vielmehr um Ver-
Allgemeine Folgerungen. 81
heimlichung dessen, was mit dem heiligen Willen der EI-
tern nicht in Einklang steht, was den Eltern milsfallen und
ein Verbot veranlassen könnte. Ein 16jähriger Junge charakteri-
siert das kräftig mit einem Satze:
„Es gibt Sachen, welche man vor den Eltern nur deswegen verheim-
lichen mufs, um sie nicht zu kränken, die aber gar nicht so schrecklich
sind, wie sich die Eltern das vorstellen“.
Das Kind lügt also, dafs es andere Freunde habe, als die
Eltern sich es wünschen, dafs es die Zeit mit dem Lernen ver-
bringt, während es auf der Stralse spielt oder die Kinos besucht,
dafs es die ihm übergebenen kleinen Summen auf irgendwelche
würdige Weise — würdig nach den Begriffen der Eltern — be-
nutzt, während es sie für die Befriedigung eigener Wünsche aus-
gibt, dals es alle kleinen Befehle ausführt, wie es sich einem gut
dressierten Tierchen ziemt, während es heimlich macht, was ihm
gefällt. In jeder solcher Lüge sehen wir also den Durch-
bruch eigener Wünsche, eigenen Wollens, eigener Sym-
pathien im Gegensatz zu dem ihm aufgedrängten
elterlichen Willen.
Am frühesten tritt das Milsverständnis zwischen Eltern und
Kindern in den Fragen des Lernens in Erscheinung. Für die
Eltern ist der Gipfel der Träume, ihr Kind als ‚ersten Schüler“
zu sehen. In Lodz spielt natürlich der Umstand mit, dafs bei der
geringen Zahl der Gymnasien, deren Absolvierung Rechte beim
Militärdienst und den Eintritt in die Universität gewährt, nur eine
gewisse Zahl der Kinder auf Grund einer Reifeprüfung aus den
Vorschulen aufgenommen werden kann. Diese Ambitionen stehen
aber häufig nicht im Einklang mit der wirklichen Begabung des
Kindes. Da es jedoch die Forderungen der Eltern kennt, ihnen
aber nicht gewachsen ist, so lügt es. Ein 12jähriges Mädchen
schreibt in der Umfrage:
„Als ich zum erstenmal eine Eins! für das D ktat erhalten habe,
sagte ich nichts davon der Mutter, da ich ihre Vorwürfe und ihren Zorn
gefürchtet habe“.
Nicht minder bezeichnend ist ein anderes Geständnis:
„ich erhielt in der Schule in einem Fache eine 4, als ich nach Hause
kam, sagte ich, ich hiitte eine 5 erhalten“.
Obwohl wir sogar bei dem Mädchen einen stark ent-
wickelten : Ehrgeiz annehmen, so müssen wir doch zugeben,
1) Siehe S. 44, Anmerkung 2.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 15. 6
82 ‚Allgemeine Folgerungen.
dafs das Kind keine Genugtuung bei seiner Lüge hätte, wenn die
Eltern nicht eine spezielle Freude an der besseren Note hätten.
Man kann nun vermuten, dafs es eine bei uns im Lande übliche
Belohnung erwartete: für jede Fünf — 5 Kopeken. Ein solches
Aufdringen eines Notenideals hatte schon mehr als einmal traurige
Folgen ; man weils doch zu gut, dafs es nicht selten zu Selbstmorden
der Kinder geführt hat; in meiner Umfrage erweist es sich als
Motiv einer ununterbrochenen Kette der Lügen der Kinder, als
eine unerschöpfliche Quelle verschiedenartigster und schwerster
Betrügereien. Die Note ist der Giftpilz des Haus- und Schullebens
des Kindes, wie wir es im Kapitel ‚Die Schullügen“ gesehen
haben. |
Nicht minder fatal erweist sich das zweite Ideal der Eltern
— die Mora] des Kindes. Unter diesem Wort verstehen die Eltern
und Lehrer gewöhnlich den Mangel eines Interesses für Fragen
des sexuellen Lebens. Je weniger Fragen das Kind in dieser Hin-
sicht stellt, je geringere Lust es für das Lesen verbotener Bücher
oder zum Spielen mit Freunden des anderen Geschlechts zeigt,
desto ‚moralischer‘ ist es nach Ansicht der Eltern. Diese ‚Moral‘
wird natürlich durch verschiedene Verbote im Zaum gehalten.
Das Kind weils sich aber auch gegenüber diesem ‚Ideal‘ vortreff-
lich zu helfen. Wenn es nur im Widerspruch steht zu seiner Natur,
dann bemüht es sich durch Lügen seine Wünsche zu verteidigen.
Wir sahen in der Umfrage, wie das Romanelesen, die Spaziergänge,
die Rendez-vous unserer Jugend ungeniert von statten gehen. Die
schärfsten Strafen sind nicht imstande, die Schüler dazu zu
bringen, der „Stimme des Herzens‘ zu entsagen, im Gegenteil,
je mehr man sie hemmt, mit desto gröfserer Hartnäckigkeit und.
Schlauheit beharren sie auf ihrem Willen. Die Lüge ist die einzige
Waffe, mit der sie kämpfen können, und diese handhaben sie
meisterhaft. In dieser Hinsicht kann ich einen ganz interessanten
Fall angeben. In einer Mädchenschule, die in der Stadt den Ruf
hatte, dafs in ihr ,,Verdorbenheit der Sitten‘ herrscht — sie
veranstaltete nämlich einigemal im Jahre ‚Teegesellschaften‘ für
die Schülerinnen und deren Brüder und Bekannte —, habe ich
über diesen Punkt auf ganz interessante Mitteilungen von denSchüle-
rinnen gehofft. Zu meinem grolsen Erstaunen hat jedoch keine
einzige von den Schülerinnen der höheren Klassen eine Lüge be-
treffa3 heimlicher Spaziergänge, Rendez-vous usw. erwähnt. Ich
hatte also den Verdacht, dafs die Schülerinnen mir gegenüber
Allgemeine Folgerungen. 53
nicht aufrichtig seien. In derselben Zeit veranstaltete ich die
Umfrage in einer anderen siebenklassigen Mädchenschule, deren,
Vorsteherin mich ziemlich unhöflich empfangen hat. Sie erklärte
mir, dafs man ihren Schülerinnen gar keine Fragen über daş
Lügen zu stellen brauche. Da die Lügen bei ihr immer sehr streng,
bestraft werden, so seien sie gänzlich ausgerottet; dabei führe sie
ihre Schule nicht so unmoralisch wie Frau X., welche den Mädchen,
erlaube, Teegesellschaften zusammen mit den Knaben abzuhalten.
Nur dem Umstande, dafs ich der ehrwürdigen Vorsteherin schmei-
chelte, das bei ihr gesammelte Material werde mir als Beweis
dienen, wie die „moralische Führung der Schule auf eine vorbildliche
Wahrhaftigkeit einwirkt‘‘, hatte ich es zu danken, dafs sie mir er-
laubte, den Schülerinnen die ‚überflüssigen‘ Fragen zu stellen.
Diese Unterhaltung fand in dem Empfangszimmer statt, keine von,
den Schülerinnen hat sie gehört. Zum Glück, denn fast das gesamte
Material der Umfrage, das sich auf heimliche Rendez-vous und die
widerlichsten Lügen bezieht, stammt eben aus dieser Schule! Buch-
stäblich hat keine einzige Schülerin der 7. Klasse hier von etwas
anderem gesprochen, als von Lügen wegen ihres schlechten Be-
tragens. Ich habedaraufhin die zuerst erwähnte Schule in Gedanken
rehabilitiert. Es war freilich nicht schwer, die Folgerung zu ziehen:
dort wo den Schülerinnen gestattet ist, mit ihren gleichaltrigen
Kameraden zusammen zu sein, und dies als ganz natürliche Sache
angesehen wird, da werden keine Lügen über dieses Thema an-
gegeben, wo man es aber als etwas ‚‚Unmoralisches‘‘ ansieht,
dort wird es doch getan und als Folge hiervon gelogen. Die Be-
ziehungen der jungen Leute zueinander sind überall die gleichen,
aber die Bekanntschaften werden bei den einen auf dem Wege der
Offenheit und Wahrheit, bei den anderen auf dem der Heucheleci
und Lüge gepflegt. Man kann hier dasselbe wie bei allen Er-
scheinungen des Lebens des Kindes feststellen: je kleiner die Frei-
heit, je grölser die Hemmung, desto häufiger die Lüge.
| ‘Der Gehorsam des Kindes wird von den Eltern zu er-
awingen gesucht mit dem Universalmittel — der Strafe. Je mehr
ihnen daran liegt, .dafs die Kinder nicht aus dem Rahmen des
Gehorsams heraustreten, desto fühlbarer ist die Strafe. Ein bereit-
williges und aufrichtiges Bekennen zur Schuld wirkt selten auf
die Milderung des Urteils: den Erziehern liegt doch an dem Grund-
satz: jedes Verletzen der Verbote muls von den Kindern schmerz-
lich gefühlt werden. ‚Dieses System bringt auch würdige Früchte.
6*
84 Allgemeine Folgerungen.
Da das Kind weils, dafs es sogar für das Übertreten kleiner Ver-
bote eine Strafe zu erwarten hat, und zwar ganz gleichgültig, ob
es aufrichtig gesteht oder nicht, so riskiert eben das Kind die
Verheimlichung. (Es ist merkwürdig, dals kein einziges Kind an-
gegeben hat, dafs es deshalb seine Lüge gestanden hat, weil man
ihm versprach, die Strafe zu erlassen.) In den meisten Fällen ist.
die Berechnung nicht falsch, die Wolke des elterlichen Zornes
entlädt sich nicht über ihm. Die Lüge erweist sich also wieder
als eine praktische Waffe, und gegenüber diesem Lebensargument
verflüchtigen sich alle guten Wünsche, die Wahrheit offen zu sagen.
Aus fast allen bisher hier angegebenen Antworten des Kindes
wird es klar, bis zu welchem Grade die Strafe der spirtus movens
der Lüge ist. Und zur Ehre des Kindes mufs man zugeben, dafs
die drohende Strafe nicht immer konkret und körperlich sein mufs,
um fühlbar zu sein. Wir haben z. B. das folgende Geständnis
eines 12-jährigen Schülers, der nach einer Eins in der Geographie
aus Angst vor dem Vater sein Notenheft verheimlichte. Er er-
klärt dies folgenderweise:
„Obwohl der Vater niemals auf mich böse wird, mir sogar nichts
sagt, aber dann zum Beispiel, wenn er bestimmen soll, wer von uns eine
Belohnung oder was anderes bekommen soll, wendet er sich von mir ab.“
Für einen feinfühligen Knaben ist so ein ,,Wegwenden“
schon eine Strafe. Ebenso empfinden die Kinder jene zweite
häfsliche Angewohnheit der Eltern als Strafe: in jeder Aussage des
Kindes schon deshalb eine Lüge zu wittern, weil das betreffende
Kind früher einmal gelogen hat. Die Spencersche Theorie der
„natürlichen Strafe‘, dafs das Kind die Konsequenzen seiner
Fehler dulden soll: d. h. wenn es gelogen hat, so darf man
ihm hinfort nichts glauben, erweist sich in der Praxis als höchst
demoralisierend. Ein solches Miflstrauen erweckt in den Kindern
eine gewisse Apathie und Gleichgültigkeit für seine Taten. Eine
Schülerin der höheren Klassen schreibt:
„Die Eltern haben entdeckt, dafs ich einmal gelogen habe. und seit
dieser Zeit glauben sıe mir nichts mehr, also mufs ich immer lügen, denn
wenn ich auch die Wahrheit gesagt hätte, würde man mir doch nichts
glauben“ (16 Jahre".
Es ist also völlige Indifferenz grolsgezogen worden, was die
fatalsten Folgen in der Praxis hat!.
1 Zu vgl. FELIX ADLER, The Punishment of Children. Burns Weston.
Allgemeine Folgerungen. 85
Dieses Resultat der Erhebung über den Einflufs der Strafe
auf die Lüge bestätigt mit seinem Beweismaterial die Resultate
der Beobachtungen vieler Pädagogen. In dem berühmten ‚‚Krebs-
büchlein‘ von Ca. G. SaLrzuann, das in 6. Auflage im Jahre 1829
herauskam, und in dem der Verfasser zu beweisen bemüht ist,
„wenn eure Kinder Untugenden und Fehler an sich haben, so
sucht den Grund davon nicht in ihnen, sondern in Euch‘, finden
wir in dem Kapitel: „Mittel Kinder das Lügen zu lehren“ den
ironischen Rat: ‚Strafe deine Kinder, wenn sie die Wahrheit
sagen‘‘l. Guyau sagt ebenfalls: „Verstellung, diese wahre Lüge,
die sittliche Lüge kann im Kinde nur durch Furcht entstehen,
sie, steht in geradem Verhältnis zu der an falscher Stelle ange-
brachten Strenge der Eltern, mit einem Wort: zur schlechten Er-
ziehung‘‘?, Im Einklang mit dieser Einsicht erwähnt BERNHARD
PEREz von einem 6jährigen Kind, welches, nachdem es sich über-
zeugt hat, dafs es mit der Wahrheit weiter kommen könne, diese
angewendet habe?. FerpınanD Kensızs fügt den charakteristischen
Satz bei: „von guten Kennern der englischen Erziehung wird be-
hauptet, dafs die englische Jugend bei weitem die deutsche an
Wahrhaftigkeit übertrifft, aus dem einfachen Grunde, weil der
Zwang in der Erziehung und die Strafandrohung weniger oft an-
gewendet wird‘.
Das, was von den Eltern hier gesagt wurde, bezieht sich in
noch weit höherem Malse auf die Lehrer. Die Strafe des Lehrers
ist fühlbarer und hat schlimmere Folgen als die der Eltern. Nach-
dem die Eltern ihr Kind bestraft haben, kehren sie doch zu ihrer
gewöhnlichen Fürsorge zurück, die es dem Kinde leicht ermög-
licht, das zugefügte Weh zu vergessen. Die Strafe des Lehrers
ist jedoch noch nach einigen Monaten fühlbar, weil sie in den
meisten Fällen in schlechten Noten besteht und darum in der Zensur
nochmals fühlbar ist. Aufserdem leidet auch der Ehrgeiz des
Kindes beim Bestraftwerden durch die Gegenwart der Mitschüler
viel mehr als durch die Gegenwart von Geschwistern. Auf den
Lehrer also sammelt sich der Hafs des Kindesherzens. In der
Umfrage sehen wir, dals einige Kinder die Lüge zu Hause bedauert
haben, kein einziges aber gibt an, dals es die Lüge in der Schule
1 S. 86—98.
2 5. 202.
3 L’enfant de 3 & 4 ans, S. 86—87.
* Kinderliigen und Kinderaussagen. ZPdPs 7 (3), 179, 1905.
‘86 Allgemeine Folgerungen.
bedauert. Einige Beispiele der Sympathie für die Lehrer bezogen
sich auf Privatlehrerinnen.
Aber abgesehen davon, dafs dieStrafe des Lehrers fühlbarer ist,
ist sie zumeist auch ungerechter. Dem Lehrer ist es viel schwerer,
gegenüber 30 Kindern seiner Klasse gerecht zu sein, als der Mutter
‘des einzelnen Kindes. Der Lehrer bevorzugt unwillkürlich die-
jenigen Kinder, die ihm sympathisch sind. Diese durchaus mensch-
liche Erscheinung gibt aber ständig zur Ungerechtigkeit Anlals
und damit den Kindern zugleich einen neuen Anlafs zum Hassen
des Lehrers. In der Umfrage begegnen wir nicht selten Klagen
„der Lehrer liebt nicht mich, sondern den oder jenen anderen
Schüler‘, ‚er verfolgt mich‘ usw. Den Fehler, den der Lehrer
begeht, gleichen die Kinder auf ihre Weise aus, d. h. mit Hilfe
der Lüge. Sehr interessant ist eine Aussage eines 12jährigen
Knaben:
„Ich log in der Klasse, als ich sah, dafs der Lehrer X. ungerecht
urteilte. Es hat mich z. B. ein anderer Schüler geschlagen. Ich blieb
natürlich nichts schuldig, in diesem Augenblick kommt der Herr X. und
bestraft nur mich, obwohl er mich erst über alles ausgefragt hat (und ich
log nicht); er hat jedoch nur mich bestraft.“
Natürlich wird der Junge das nächste Mal zu irgendeiner
Verleumdung seine Zuflucht nehmen, damit der andere nicht
wieder begünstigt werden soll. Ein gewisses Gerechtigkeits-
gefühl in Verbindung mit dem Ehrgeiz rufen ein feindliches
Gefühl gegenüber dem Lehrer hervor, und bei der ersten Ge-
legenheit offenbart es sich in dem Belügen des Lehrers.
| Dic Angst vor der Strafe und ein angespornter Ehrgeiz wirken
zusammen bei einer so häufigen Lüge in der Schule wie das Nicht-
gestehen eines begangenen Streiches. Jedes einzelne dieser Gefühle
oder beide zusammen führen zu dem Nichteingestehen einer
Schuld bei dem Sünder, andererseits führt der Hafs gegen den
Lehrer zu einer Solidarität der Schüler unter sich und damit
zum Nichtanzeigen des schuldigen Kollegen. Nicht so sehr die
Kollegialität als vielmehr der Hals gegen den Lehrer
ist der Kitt, der die Kinder zu einer gemeinsamen Aktion gegen
den Lehrer vereinigt. Das Erzwingen des Verrates des Misse-
täters führt fast niemals zum Ziel. Der Lehrer, statt sich mit
Vertrauen an die Kinder zu wenden, schliefst seine Ermahnungen
gewöhnlich mit den Worten: ‚aber warte nur, wenn du mich be-
lügst‘“, was natürlich die Kinder am wenigsten zur Wahrheit
Allyemeine Folgerungen. 87
bewegt. Dieser Mangel an Vertrauen, welchen der Lehrer zur
Schau trägt, diese Manie des Lehrers in jedem Schüler und in
jeder seiner Taten den Schuldigen und eine schlimme Absicht
gegen sich zu wittern, entwickelt ein feindliches Verhältnis zwischen
dem Lehrer und Schüler und gibt Anlafs zu immer neuen Be-
trügereien und Lügen. Und doch könnte es mit ein bilschen Takt
von seiten des Lehrers anders sein. Von dem grolfsen englischen
Pädagogen ArnoLp erwähnt Foerster, dafs er eine verlogene
Schule dadurch völlig regeneriert habe, indem er jedem aufs Wort
glaubte. Bald hiels es: Arnoro zu belügen, ist gemein!.
Dieses fortwährende Lügen, dessen sich das Kind sowohl in der
Schule als auch zu Hause bedienen mufs, wird ihm jedoch zur
Last. Es fühlt das Bedürfnis, aufrichtig und wahrhaftig zu sein,
und dennoch sieht es die Notwendigkeit, so zu handeln. So sagt
ein 13jähriges Mädchen: „ich mache mir Vorwürfe, dafs ich die
Eltern betrügen kann, aber ich erkläre es mir wieder und beruhige
mich damit, dafs sie mich selbst dazu zwingen‘‘. Ein anderes 15-
jahriges Madchen sagt: „ach, wie gerne möchteich einmal vor irgend
jemand aufrichtig sein und nicht lügen, sondern die Wahrheit
sagen und mich aussprechen dürfen ... Aber ich kann nicht, denn
- ich fand noch keine Person, die mich verstehen und die mir raten
konnte“ ...
Man wird von der Wahrheit nicht weit entfernt sein, wenn
man behauptet, dafs dieses auf Belügen bestehende Verhältnis
der Kinder zu seinen Eltern und Erziehern das herzliche Gefühl
zu töten imstande ist. Der Hals auf die Lehrer ist so allgemein,
dafs, während viele Kinder von dem Bedauern schreiben, das ihnen
die den Eltern gegenüber begangenen Lügen verursachen, es kein
einziges Kind gibt, das die den Lehrern gegenüber begangenen
Lügen bereut oder sich deren schämt.
Die sog. Kindesliebe hat übrigens auch zuweilen ihre Schatten-
seiten. In meiner Umfrage stolsen wir auf eine ganz merk-
würdige Aussage, die zwar einzeln dasteht;; ich glaube aber, dals
sie viel verbreiteter ist, als es in der Umfrage in Erscheinung tritt.
Ein 14jähriges Mädchen schreibt am Schlufs, nachdem sie ihre
verschiedenen Lügen gebeichtet hat:
„Ich sage meinen Eltern, dafs ich sie sehr lieb habe, und ich habe sie
gar nicht lieb.“
1 ehule und Charakter, S. 184.
88 Allgemeine Folgerungen.
Es ist vielleicht zum erstenmal in dieser Erhebung auf Grund
der Aussagen der Kinder selbst so klar zum Vorschein gekommen,
welch grolse Rolle die Persönlichkeit des Erziehers spielt. Wir
sahen sie als Hauptfaktor in den Schullügen (einen sympathischen
Lehrer belügt man nicht gern) und in dem Bedauern und der Scham
der Kinder gegenüber geliebten Personen gelogen zu haben. Aus
der grolsen Liebe zur Mutter haben einzelne Kinder sog. edle
Lügen begangen, nur um ihr Unannehmlichkeiten zu ersparen.
Andererseits ist ja Angst vor der Strafe nichts anderes als Furcht
vor dem Zorne einer gewissen Person. Wenn die Kinder eine
Strafe fürchten, so fürchten sie eigentlich den Str:fenden, d. h.
sie haben zu seiner Milde kein Vertrauen.
b) Die Umgebung übt ferner einen grolsen Einflufls durch die
materiellen Verhältnisse aus. Meine Umfrage bestätigt
STERNS Behauptung, dafs die Kinder armer Eltern häufiger lügen.
In allen Schulen, welche von Kindern unbemittelter Eltern be-
sucht werden, sprechen alle Kinder von Lügen, die sie zu Hause
gesagt haben. Das ist leicht begreiflich. Die wenig bemittelten
Eltern beschäftigen sich aus Mangel an Zeit viel weniger mit
ihren Kindern als die reichen, es fehlt also gegenüber der Ver-
führung durch schlechte Mitschüler der immer hemmende Einflufs,
den die steten Beziehungen der Eltern zu den Kindern mit sich
bringen. Sehr stark fördern auch die unerfreulichen häuslichen
Verhältnisse der armen Leute das Lügen. Die dumpfe Atmo-
sphäre, die zu Hause herrscht, drückt auf die Kinder, sie
schleichen sich fort zu einem Gespielen auf den Hof und recht-
fertigen ihre Abwesenheit mit Ausreden. Ein Beweis hiefür ist,
dafs die Kinder unbemittelter Eltern, die sich mehr selbst über-
lassen sind, eher unter den suggestiven Einflufs schon ver-
dorbener Mitschüler und Spielkameraden geraten.
Aber nicht nur die Häufigkeit, sondern auch die Art der
Lügen der reichen und der armen Kinder sind verschieden. Die
Kinder vermögender Eltern lügen öfters zu Hause, dafs sie krank
seien. Auf diese Weise erhalten sie Zeugnisse, dafs sie die Aufgaben
nicht machen konnten, oder dafs sie zu Hause bleiben mufsten.
Die Kinder armer Eltern rechtfertigen sich mit einer Krankheit nur
in der Schule. Sie wissen ganz genau, dals ein leichtes Unwohl-
sein von den schwer arbeitenden Eltern nicht ernst genommen
wird, und dafs diese Ausrede deshalb keine richtige Wirkung aus-
übt. Nur die reicheren Kinder lügen, dafs sie schon gegessen und
Allgemeine Folgerungen. 89
getrunken hätten, um sich von der übergrolsen Fürsorge zu be-
freien ; in den Schulen für unbemittelte Kinder wurde kein einziger
solcher Fall erwähnt. Die Kinder reicher Eltern lügen wegen
ihres Verkehrs mit den ‚„Stralsenjungen‘ und der Gespräche mit
den Dienstboten, denn nur Eltern gewisser Klassen achten auf
sog. gute Gesellschaft für ihre Kinder. Bei den ärmeren Kindern
finden wir dagegen häufiger Lügen über Diebstähle von Sachen
und Geld, was sich ja auch mit dem Mangel an diesen Gegenstän-
den nur zu leicht erklärt. Auch die Lügen wegen Nichtbesuchs
der Kirche sind bei den armen Kindern häufiger, was sich aus
zwei Gründen ergibt. Erstens: das Kind reicher Eltern wird
nicht allein in die Kirche geschickt, sondern stets in irgendeiner
Begleitung, dadurch ist das ‚Drücken‘ vom Kirchgang unmög-
lich. Zweitens: Die ärmere Klasse legt ınehr Gewicht auf die
religiöse Praxis und darum zwingt sie ihre Kinder zum Kirchen-
besuch. Die armen Kinder lügen auch häufiger wegen heimlicher
Ausflüge, die sie unternommen haben, was sich wieder aus dem
Mangel an Zerstreuung, um die sich die Armen für ihre Kinder
gar nicht kümmern, erklärt, andererseits auch aus den Besitz
gröfserer Freiheit, die ihnen die Ausführung solcher Pläne, wenn
sie auch riskant sind, immer wieder ermöglicht. Das Sich-Grols-
machen in Gesprächen findet man auch häufiger bei den ärmeren
Kindern, was sich aus dem Wunsch erklärt, den reicheren Kollegen
gleich zu sein. Der Charakter dieser „Grolsmacherei‘‘ unter-
scheidet sich sehr von den Prahlereien der reichen Kinder; dic
letzteren prahlen mehr mit dem Besitz von bestimmten, dem
einzelnen fehlenden geistigen Eigenschaften, der Klugheit, des
Mutes usw.; ferner mit aufsergewöhnlichen Heldentaten, die sie
vortäuschen, begangen zu haben. Die ärmeren Kinder prahlen
mit dem Besitz von Gegenständen mehr realer Natur. Es ist
auch interessant, dafs die Kinder ärmerer Leute öfter ihre Angst
vor der Entdeckung der Lüge erwähnt haben. Das erklärt sich
widerum leicht aus dem Umstand, dals die Strafen der reichen Leute
viel milder sind, als die der armen Leute, diese greifen viel häufiger
zu Schlägen. Es ist bezeichnend, dals von den sog. ‚„edlen‘‘ Lügen
immer nur in den von Kindern reicherer Leute besuchten Schulen
gesprochen wurde. Zweifellos kommt dies daher, dafs man in
den materiell besser gestellten Kreisen mehr auf das Ethische
Wert legt, und dals man den Kindern hier mehr von solchen Taten
spricht. Nur ein einziger Fall eines Diebstahles, den ein Mäd-
90 Allgemeine Folyerunyen.
chen begangen hatte, um Brot fiir ihre arme Familie zu kaufen,
ist vermerkt. Diese Familie war aber früher vermögend. Die Be-
ziehung des Reichtums zur Ethik kann auf Grund der in der
Erhebung angegebenen Fälle 10 nicht deutlich erörtert werden.
Aus den verschiedenen gelegentlich gegebenen Antworten kann
man jedoch gewisse Schlüsse auf den allgemeinen Einflufs des
ethischen Niveaus der Umgebung ziehen.
c) Das Gesamtbild von den Lügen, die wir in der Umfrage
erhalten haben, beweist einem Ethiker das niedrige moralische
Niveau des Kindes. Es ist aber die Frage, ob das Kind einem
ethischen Einflusse überhaupt zugänglich ist. Aus den Antworten
der Kinder ist ersichtlich: wenn die Eltern gewisse ethische Be-
griffe ihren Kindern einflölsen und sich bemühen, ihnen einen
Abscheu vor der Lüge einzuimpfen, und, was noch mehr bedeutet,
wenn sie ihren Kindern selbst mit Wahrheitsliebe vorangehen,
— diese Eltern werden sich über Unaufrichtigkeit ihrer Kinder
nicht zu beklagen haben. Das Kind spürt unbewulst die Atmo-
sphäre seines Hauses und handelt in seinem Geiste:
„Ich liige nicht, weil ich unter dem Einflufs meiner Mutter bin”,
schreibt ein 13jähriges Mädchen.
Leider ist diese Antwort nur vereinzelt. Der Einflufs der
Eltern muls sehr grols sein, um der weiteren Umgebung — ich
denke hier an die Kreise der Mitschüler und Spielkameraden —)
in der das Kind auch lebt, und der es sehr leicht unterliegt, das
Gegengewicht zu halten. Aus sehr zahlreichen Antworten der
Kinder ersieht man, dafs der Einflufs der Mitschüler alles andere
übertrifft:
„Schr oft habe ich auf Anraten meiner Kameraden gelogen“ (14 Jahre
111.). — „Meine erste Lüge, deren ich mich erinnern kann, war diese: ich nahm
von den Eltern Geld für Hefte und ging ins Kino. Ich hatte einen Freund,
der mich dazu angestiftet hat“ (16 Jahre m.). — „In meinem 15. Lebensjahre
geriet ich in eine Gesellschaft, welche mich demoralisierte. Als die Eltern
davon erfuhren, verboten sie mir unter Androhung einer schweren Strafe
dort hinzugehen. Aber die Worte der Eltern prallten an mir ab wie von
einem Felsen und hatten gar keine Wirkung (es war schon zu spät); in-
folgedessen sank ich immer tiefer, bis ich endlich dazu kam, dafs ich ein
Raucher wurde und sogar ...“ (17 Jahrem.).— „Der Lügen, die ich zu Hause
gesagt habe, schämte ich mich nicht, weil sch wufste, dafs es alle meine
Freundinnen ohne Ausnahme ebenso machen“ (17 Jahre f.).
Die grofse Zahl solcher Aussagen bestätigt die Worte ArnoLps:
I am afraid, that the fact is indeed indisputable: Public schools
Allgemeine Folgerungen. 91
are the very seats and nurseries of vice!. Dieser Einflufs der
Umgebung, dem das Kind in hohem Grade unterliegt, hat zur
:Folge, dals die Kinder eine doppelte Moral besitzen — für jede
Umgebung eine andere. Sehr interessant ist in dieser Beziehung
die Aussage einiger Kinder:
„Ich bin ehrenhaft und habe zu Hause nie gelogen. In der Schule
belog ich jeden Lehrer zehnmal und noch mehr“ (12 Jahre m.). — „Ich be-
dauere jede Lüge zu Hause, aber mit meinen Lügen in der Schule brüste
ich mich vor den Kollegen“ (16 Jahre m.).— „Ich lüge mehr in der Schule als
zu Hause und zwar deshalb, weil die Schule so eine Art Welt im kleinen
ist und es gibt doch auf der ganzen Welt keinen Menschen, der gicht ge-
logen hätte. Zu Hause dagegen ist man ein kleiner geschlossener Kreis, in
dem man schon aus Liebe nicht lügt‘‘ (14 Jahre m.).
Interessant ist auch der Einflufs, den der Anschlufs an be-
stimmte Vereinigungen imstande ist, zu erzeugen. In dieser Be-
ziehung ist eine Antwort charakteristisch:
„Ich lüge nicht mehr, weil ich Pfadfinder bin‘ (16 Jahre m.).
Dieser Einflufs der Umgebung in all seiner Mannigfaltigkeit
auf das Lügen der Kinder mufs auch zu dem Gedanken führen,
dafs aufsergewöhnliche lokale Umstände der jeweiligen Um-
gebung sich ebenfalls in den Lügen der Kinder abspiegeln müssen.
Diese Schlufsfolgerung ist in der Tat ganz richtig.
d) Wie bekannt, existierte im Königreich Polen leider kein
Schulzwang. Die Eltern, die ihre Kinder in die Schule schicken
wollten, mufsten es auf eigenen Antrieb tun. Natürlich kann
unter solchen Umständen auch der ehrlichste Wille der Eltern,
ihre Kinder ausbilden zu lassen, an der eisernen Notwendigkeit
der Mittellosigkeit zerschellen. Manchmal freilich denken auch
die Eltern, dafs ihre Kinder Bildung genug besitzen, wenn sie
nur lesen und schreiben können, und nach 2 oder 3Jahren nehmen
sie das Kind aus Sparsamkeitsgründen wieder aus der Schule.
Der Widerstand der von Lerneifer erfüllten Kinder führt da zu
besonders schmerzlichen Lügen:
„Um weiter in die Schule gehen zu können, log ich zu Hause, dafs
ich Stunden geben werde, und dafs ich bestimmt verdienen werde, indessen
habe ich sie bisher noch nicht“ (Schülerin der IV. Klasse, 14 Jahre). — „Ich
log den Eltern vor, dafs wir Deutsch lernen werden, damit sie mir erlauben,
weiter in die Schule zu gehen‘ (Schülerin der II. Klasse, 13 Jahre).
Solche Aussagen machten nur die Mädchen; es stammt das
zweifellos daher, dafs man allgemein glaubt, dem Jungen sei die
` 1 Zitiert bei FOERSTER, Schule und Charakter, S. 24.
9) Allgemeine Folgerungen.
Wissenschaft nötiger als dem Mädchen, für welches das Lernen
ein Luxus sei — ihr Endziel ist doch schliefslich das Heiraten.
Die eben genannten Lügen können natürlich in einem Lande, wo
ein Schulzwang existiert, nicht vorkommen.
Die besonderen lokalen Schulverhältnisse in Lodz rufen auch
spezielle Lügen hervor. In Lodz gab es bis vor dem Kriege einige
deutsche Schulen und ein deutsches Gymnasium mit sog. Kron-
rechten. In diese Schulen schickten auch die Polen ihre Kinder,
teils wegen dieser Rechte, teils auch weil andere Krongymnasien
überfüllt waren. Und dadurch kommt es zu einer aufsergewohn-
lichen Liige:
„Ich ging in die deutsche Schule, aber man hat dort so über die Polen
veschimpft, dafs ich es nicht aushalten konnte — ich blieb deshalb aus
der Schule weg und sagte zu Hause, dafs man mich herausgeworfen bat,
und ich ging nicht mehr in diese Schule‘* (15 Jahre m.).
Die abscheulichen Verhältnisse, die seit dem Judenboykott
in Polen herrschten, haben sich auch auf die Verhältnisse in der
Schule ausgedehnt. Aus einer grolsen Fülle solcher Aussagen, die
uns von einem unbegrenzten Zwiespalt zwischen den einzelnen auf
derselben Bank sitzenden Schülern Kunde geben, führe ich hier
nur zwei an:
„Ich lüge in meinem Verkehr mit bestimmten Mitschülerinnen;
denn dem Scheine nach komme ich ihnen freundlich entgegen, in Wirk-
lichkeit kann ich sie nicht leiden, denn ich weifs, dafs sie niedrige Vor-
urteile haben und sich feindselig zu den Mitschiilerinnen anderen Glaubens
verhalten‘ (14 Jahre f.). — ‚In der Schule war ich wegen meines Glaubens-
unterschiedes gezwungen zu lügen, über welchen Punkt mich die Mit-
schülerinnen niemals zu verstehen iınstande waren. Bei jedem Schritt
traf ich auf Feindseligkeit wegen meiner Religion. Um mir meine Mit-
schülerinnen zu gewinnen, habe ich oft gelogen, wodurch ich die gewollte
Wirkung erreichte. Aber ich habe doch bedauert, dafs es keine Verstän-
dügung und keine Einigkeit zwischen Mädchen verschiedenen Glaubens gibt.
und dafs man sie nur mit Lüge gewinnen kann’ (14 Jahre f.).
In den polnischen Schulen im Königreich Polen war es die
Regel, dafs manche Fächer, wie z. B. Naturwissenschaft und
Psychologie, hinter dem Rücken der russischen Regierungsauf-
sichtsräte des Schulbezirkes gelehrt wurden. Den Kindern war
cs deshalb von den Lehrern verboten, aufserhalb der Schule, mit
Ausnahme gegenüber den Eltern, davon zu sprechen, um eine
Anzeige und ein eventuelles Schliefsen der Schule zu vermeiden.
Eine solche Lage mufs natürlich einen sehr schlechten Einflufs
/
Allgemeine Folgerungen. 93
auf die Kinder ausüben; denn das gibt ihnen doch eine Berech-
tigung zum Lügen. Eine der Schülerinnen hatte wahrscheinlich
Angst, diese Bemerkung von sich selbst aus zu sagen und schreibt
deshalb:
„Mein Brüderlein fragt immer: warum sollen wir nicht lügen, wenn
uns die Schule selbst zum Lügen veranlafst, denn wir dürfen nicht sagen,
dafs wir Zoologie lernen“.
Man kann wohl mit Recht annehmen, dafs diese Überlegung
mehr als eine Kinderlüge sanktioniert hat.
Von all diesen Abhängigkeiten der Lüge von gewissen Fak-
toren, seien sie physiologisch-psychischer Natur (Alter, Geschlecht,
Intelligenz). seien sie ökonomisch-sozialer Natur (ökonomische Ver-
hältnisse, die Umgebung) übt auf die bewufste Lüge, wie wir
gesehen haben, die Umgebung in ihren mannigfaltigen Formen
den grölsten Einfluls aus. Während wir von dem Einfluls des
Geschlechtes auf die Lüge nicht viel Positives zu sagen vermögen,
sind wir imstande, genau den Einflufs der verschiedenartigen
Veränderungen der Umgebung auf das Zunehmen oder Ver-chwin-
den der Lüge zu verfolgen. Sympathische oder unsympathische
Erzieher, gutgesinnte oder schlecht 3esinnte Mitschüler, schlechtere
oder bessere materielle Verhältnisse, gröfsere oder kleinere per-
sönliche Freiheit rufen sofort eine Änderung in dem Verhältnis
des Kindes zu seiner Umgebung und damit in seiner Wahrhaftig-
keit hervor.
Dieses Resultat steht in Einklang mit der anderweitig ge-
wonnenen Statistik. So gibt Compayre an, dale von 9906 Kindern,
die sich im Jahre 1905 in Strafanstalten befanden, 4543 Waisen
waren, 154 waıen in den Krippen erzogen, 1518 waren uneheliche
Kinder, 1615 stammten von Eltern, die für Verbrechen bestraft
wurden. Also 80% von den in den Strafanstalten befindlichen
Kindern hatten einen schlechten Umgebungseinflufs?).
Ebenso gibt Henry Rotter an, dals die Kinder, die für
irgendein Vergehen bestraft wurden, sich wie folgt zusammen-
setzten:
Waisen ` A5 %
Uneheliche Kinder 11,25%
Bestrafte Eltern 13,25%
Geschiedene Eltern 16,25% ?.
1 S. 299.
2 Zitiert bei WILLIAM VAN BRABANT, S. 73.
94 Allgemeine Folgerungen.
Man ist also gezwungen, sich der Worte Rousseaus über die Kind-
heit zu erinnern: ce n’est pas la nature qui la corrompt. c'est
l’exemple!.
Es drängt sich nun die Frage auf, ob diese, alle aus verschie-
denen Motiven begangenen Kinderlügen nicht doch ein allgemeines
sie charakterisierendes Merkmal besitzen, so dafs man von einem
qualitativen Unterschied zwischen den Lügen der Kinder und
denjenigen der Erwachsenen sprechen kann. Manche Autoren
versuchten solch einen Unterschied zu finden. So ist die Mei-
nung W. Aments ziemlich verbreitet, dafs den Kinderlügen sitt-
liche Überlegung fehle, da das sittliche Bewulstsein sehr spät
entsteht und sich erst mit der Geschlechtsreife vollendet. .,Erst
aus der Wirkung der Lüge auf seine Umgebung kommt ihm
(dem Kinde) ihr Wesen und ihre Verwerflichkeit zum Bewulst-
sein "78 Diese Ansicht kann in Anbetracht der Antworten, die die
Kinder in dieser Umfrage gegeben haben, nicht aufrecht erhalten
werden, denn gerade aus der praktischen Wirkung, die die Lüge
hat, wird sie bewulst von den Kindern angewendet. Erinnern
wir uns doch an die Antworten über das „Bedauern der Lüge“.
Ebenso ist eine zweite, sehr verbreitete Überzeugung, dafs die
Kinderlüge im Gegensatz zur Lüge der Erwachsenen den Cha-
rakter der Heuchelei entbehrt, nicht stichhaltig. So sagt z. B.
1 Als positives Gegenstück kann hier die folgende Schilderung von
Frau L. SCHALK-HoPFEN dienen: „In England und Amerika ist die Kinder-
wahrheit ausgebildet wie der Sport. Wer sich nicht zu seinen Taten be-
kennt, gilt als untauglich auf jedem Gebiet, ein Schwächling, ein Ver-
ächtlicher, und kommt für keine andere Leistung mehr in Betracht. Er ist
kriegsuntauglich, ist ausrangiert. Kinder kennen auf solchem Gebiet keine
Kompensationen, so sehr sie dieselbe auf jedem anderen gelten lassen.
Lüge geht an englischen Schulen ein, wie bei uns Wahrheit. Der ganze
Betrieb von Abschreiben, Vorsagen, Ausreden und geschicktem Umgehen
der bestehenden Vorschriften entfällt. Man bemüht sich nicht dagegen,
man kennt ihn nicht, nicht unter Knaben, nicht unter Mädchen. Man
lebt dort in einer reineren Luft, einer menschlicheren, wirklicheren Ge-
rechtigkeit und mifst mit Erfahrung und nicht mit Dogmen. Man läist
auch Kinder gelten, die anständig und verläfslich sind, ohne in den Wissen-
schaften hervorzuragen und macht nicht ihre Lernfähigkeiten zum aus-
schliefslichen Herrn über Leben und Tod. Man gönnt ihnen ein eigenes
reiches Leben und einen eigenen Wert. Warum sollten diese Kinder trügen ?
So phantasielos, gedankenlos, so gewohnheitsmälsig lügen wie der Durch-
schnitt unserer Schulkinder %* (Österr. Rundschau 1913 S. 39).
2 W. AMENT, Die Seele des Kindes, S. 8.
Allgemeine Folgerungen. Un
ScHALK-HorrEN: ‚„‚gewils, es gibt unangenehme Kinder, die Löcher
in das Tischbein schnitzeln und dann sagen, der Hund oder die
kleine Schwester habe es getan... Kinder, die um den Stand
ihrer Schulerfolge gefragt, von phantastischen Erfolgen und
musterhaften Leistungen berichten, denen in der Wirklichkeit
leider nichts entspricht ... Aber es gibt bestimmt keine Kinder,
die von demselben Menschen, den sie soeben in das gehörnte
Tierreich versetzten, in tiefster Ergebenheit hochachtungsvollst
sich empfehlen.‘‘! Ebendasselbe sagt auch Louis RatisBonne:
„Das Kind ist besser als der Mann, es kann schon lügen, aber es
vermag sich noch nicht zu verstellen“ ?. Leider mufs auch diese
gute Meinung von den Kindern zerstört werden. Die Kinder —
man vergleiche ihre eigenen Äufserungen in den vorigen Kapiteln
— heucheln in ihren Lügen ebenso wie die Erwachsenen. Er-
innern wir uns nur an die Aussage der 12jährigen: ‚ich sage den
Eltern, dals ich sie sehr lieb habe und ich habe sie gar nicht lieb“,
oder an diejenigen der vielen Schüler, die dem Lehrer ihre Sym-
pathie oder ihr Interesse für seine Witze vortäuschen, um sich die
Note nicht zu verderben. Die bewulste Lüge der Kinder erweisi
sich somit nicht qualitativ verschieden von der Lüge der
Erwachsenen, sie gehört zu demselben Kapitel der Notlüge.
Da aber die Verhältnisse, in denen das Kind lebt, einfacher sind
und ihre Angelegenheiten kleine Dinge sind, so ist die kindliche
Notlüge naiver und komischer. Man darf sich aber darüber nicht
täuschen, dals sie denselben Zweck verfolgt — etwas Unangenehmes
abzuwehren —, und dals sie aus derselben Quelle herrührt — aus
dem Selbsterhaltungstrieb?.
! ScHALK-HOPFEN, S. 49.
2 Zit. bei COMPAYRE, S. 390.
? Es ist mir leider unmöglich die statistischen Tafeln beizufügen,
da sie sämtlich durch die Kriegsereignisse in Lodz verloren gingen; das
gleiche gilt von den Notizen, auf Grund deren diese Tafeln aufgestellt.
worden sind.
96 Pädagogische Nutzanwendungen.
Pädagogische Nutzanwendungen.
Wie wir in der Einleitung dieser Arbeit schon anführten, haben
die Pädagogen aus der Beobachtung der Häufigkeit der Lüge
bei den Kindern die Frage aufgestellt, ob das Kind von Natur
aus lügenhatt sei, oder ob es erst im Laufe seines Lebens diese
Fähigkeit erwirbt, um daraus die richtigen pädagogischen Mats,
regeln zu treffen. Die Lüge wurde dabei von vornherein selbst-
verständlich als ein Laster behandelt, das mit allen pädagogischen
Mitteln auszurotten sei.
Diese immer kritiklos von den Pädagogen angenommene
Lasterhaftigkeit der Lüge mülste doch einmal näher betrachtet
werden, bevor man bestimmte pädagogische Folgerungen und
Weisungen aus der vorstehend in ihren Resultaten geschilderten
Erhebung ziehen will.
Wenn wir die Völkersitten und die Geschichte der Ethik be-
trachten, so finden wir keinesfalls eine allgemeine Verwerfung
der Lüge, sondern im Gegenteil eine grofse Verschiedenheit zu
allen Zeiten in ihrer Anwendung und Beurteilung bei den ver-
schiedenen Völkern. Im Altertum sehen wir einerseits eine Ver-
breitung der Lüge: wir finden im Alten Testament zahllose
Beispiele von Liigen (die Schlange hat Eva belogen, Kain belog
Gott, Jakob belog den blinden Isaak, der König David rettete
sich öfter durch Lügen usw.). Die Griechen haben es mit der
Wahrheit auch nicht streng genommen. In der Ilias und der
Odyssee werden die listigen Taten der Götter und Helden be-
sungen (Zeus, Pallas Athene, Odyszeus) und in dem Dialog Platons
„Hippias“ beweist Sokrates, dafs der mit Vorbedacht lügende
Mensch ,,besser“ sei, als ein Mensch, der unbewulst ligt; denn,
wie er sagt, verschafft jede Fertigkeit, also auch die des Lügens,
ein Übergewicht über eine Unfertigkeit, also über eine unbe-
dachte Lüge. Andererseits sind im Altertum auch wahrheits-
Pädagogische Nutzunwendungen. 97
liebende Völker, so 2. B. die Perser, die wie bekannt die Kinder
drei Dinge lehrten: Reiten, Schiefsen und die Wahrheit sagen.
Ebenso zeichneten sich die ersten Römer, die alten Skandinavier
und die Germanen durch ihre Wahrheitsliebe aus. Dieselben
Unterschiede finden wir bei den jetzt lebenden wilden Völkern:
es gibt Stämme, die die Lüge aufs sorgfältigste meiden, so z. B.
in Indien die Gonds und die Mäls, die Veddas auf Ceylon, die
Dapahen auf Borneo, die Batahen auf Sumatra usw. und wiederum
solche, bei denen der Lügner, der es zu grolser Vollkommenheit
gebracht hat, als ein Mann mit besonderen Gaben angesehen wird,
das gilt bei den afrikanischen Völkern von Kaffern, Hereros und
Batschapins, sowie bei den Bewohnern der Fidschiinsel usw. !.
Diese verschiedene Stellung zur Lüge bei den einzelnen Völ-
kern hat man durch ein allgemeines Prinzip zu erklären versucht:
man suchte den jeweiligen Grad der Kultur dafür verantwortlich
zu machen. Die am meisten verbreitete Behauptung ist: Je
niedriger die Kultur, desto verbreiteter die Lüge — je höher die
Kultur, desto üppiger blüht die Wahrheit.
Eine solche Erklärung kann schwerlich zu Recht bestehen.
Der wahrheitsliebende Perser stand auf keiner höheren Kultur-
stufe als der listige lügenhafte Grieche. Zwischen der Kultur der
verschiedenen wilden Stämme, von denen die einen der Lüge
und die anderen der Wahrheit huldigen, besteht kein gradueller
Unterschied. Und gerade bei den zeitgenössischen europäischen
Kulturvölkern, die an der Spitze der Zivilisation schreiten, ist
die Lüge am verbreitetsten. Man muls die Werke von M. Norpau
(Konventionelle Lügen), Paurmann (Les mensonges des carac-
tères, Le mensonge du monde, Le mensonge de Fart), I. G. Pa-
LANTES (Le mensonge de groupe), G. Dromarp (Les men-
songes de la vie), Vernon Lers (Vital Lies) u. Nierzscne (Bd.
XI, XII, siehe sein „Wille zur Täuschung“) und ScHoPENHAUER
lesen, um zu der Überzeugung zu kommen, dals das Urelement
des modernen Lebens die Lüge sei. Wenn man also ein Verhält-
I! WESTERMARCK, Ursprung und Entwicklung des moralischen Be-
griffs. Deutsche Übers. von KATScHER, Bd. IL: Die Achtung vor Wahr-
heit und Treue S. 602—605. LETOURNEAU, L’évolution de la morale,
S. 231—232 und S. 405. Interessant ist die Charakteristik eines indischen
Stammes: „Un vrai Gond peut commettre un crime, mais il ne dit jamais
un mensonge‘.
Beiheft zur Zeitschrift für anzewandte Psychologie. 13. d
98 Pädagogische Nutzanwendungen.
nis der Lüge zur Kultur formulieren will, so wäre schon der Satz.
richtiger: Je höher die Kultur, desto häufiger wird gelogen.
Eine zweite Erklärung Setzt die Lüge in Beziehung zur In-
telligenz. Ein intelligentes Volk lügt, — ein schwerfälliges nicht.
Die wilden Stämme, die sich durch ihre Wahrheitsliebe auszeichnen,
sind zu dumm und zu unwissend, um jemand überlisten zu können.
Aber auch diese Behauptung besteht nicht zu Recht. Die For-
schungsreisenden berichten einstimmig, dafs viele wilden Stämme,
die keine Lüge kannten, eine grolse Fertigkeit im Betrügen er-
werben, sobald sie in Berührung mit den europäischen Händlern
kommen. Das gilt nach SommerviLLE von den Eingeborenen in
Neu-Georgien, nach Rırper für die Eingeborenen von Ambon
und Uluax, für dieIndianer Mexikos, für viele afrikanischen Völker,
für die Kamtschadalen und Tungusen in Rulsland!. Die Wahr-
haftigkeit der Wilden ist also weniger Folge eines Mangels an
Intelligenz als der Gelegenheit zu lügen. —
Man muls also als Quelle der Lüge andere bestimmende
Ursachen in Betracht ziehen als die ‚Kultur‘ und ‚Intelligenz‘
eines Volkes. Und es ist denn auch viel richtiger, wenn man in
erster Linie als eigentliche Quelle der Lüge die soziale Diffe-
renzierung ansieht.
Wo zwei Gesellschaftsklassen sich gegenüberstehen, welche
verschiedene meist widerstreitende Interessen haben, da entsteht
die Lüge als Mittel, sich zu behaupten und die eigenen Interessen
zu wahren. Somit können wir uns leicht erklären, dafs überall
dort, wo Unterdrückte sind, wo es Starke und Schwache gibt.
auch die Lüge verbreitet ist. Schon Evuriripes bemerkte.
dafs die Sklaven lügenhaft sind. .. In der modernen Zeit be-
richtet Livincstone, dala unter den freien Völkern Ostafrikas das
Lügen viel weniger verbreitet ist, als unter den geknechteten.
Bei den Chinesen, die grolse Neigung zur Lüge an den Tag legen,
ist sie die Folge ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung und der
damit zusammenhängenden demütigen Furcht vor den Bean:ten.
Fast jedes politisch unselbständige Volk hat den Ruhm grolser
Lügenhaftigkeit. Die Völker, die grolse politische Freiheiten haben,
gelten dagegen als wahrheitsliebend (Engländer, Skandinavier). —
Es ist also begreiflich, dafs die Moral, die nur eine gewisse
Regelung der gegenseitigen Beziehungen der Menschen unter-
1 WESTERMARCK, 1. c. 2, S. 106--109.
Pädagogische Nutzanwendungen. 99
einander zu ihrem allgemeinen Wohl ist, die Lüge verschieden
bewerten wird und zwar je nach ihrer Abhängigkeit von den so-
zıalen Verhältnissen. Jede Herrenmoral wird sie rügen, jede
Sklavenmoral wird sie rechtfertigen. Bei einem sefshaften Stamme,
einem friedlich lebenden Volke wird sie verurteilt, weil sie gegen-
seitiges Vertrauen und Glauben unmöglich macht — bei den
kämpfenden Völkern wird sie als Mittel im Kampfe geduldet.
Charakteristisch ist hier das Beispiel der Spartaner, die sonst;
durch ihre strengen Sitten bekannt waren. Das geschickte Stehlen
und Betrügen wurde nicht bestraft, da die Geschicklichkeit eine
Eigenschaft eines guten Soldaten ist, ein guter Soldat aber wieder-
um eine Garantie vor der feindlichen Übermacht ist. Ganz folge-
richtig mit alledem war die bei einigen Völkern vorhandene dop-
pelte Moral gegenüber der Dualität der Interessen. So sehen wir
z. B. bei den alten Juden eine strenge Bestrafung der Unehrlich-
keit, sofern sie gegenüber den eigenen Glaubensgenossen begangen
wurde, und eine Toleranz derselben Hardlungsweise gegenüber
einem Heiden oder Christen. Dasselbe gilt noch heute bei vielen
Völkern und Stämmen!.,
Wir sehen also, dafs die bewulste Lüge als Mittel zum Zweck
der Selbstbehauptung entsteht und als solche auch von der Moral
der einzelnen Völker nicht getadelt wurde. Aber unabhängig von
jeder herrschenden Moral entwickelte sich schon im Altertum von
den Philosophen und Denkern begründet eine sittliche Bewertung
der Lüge vom rein ethischen Standpunkte aus. Diese Bewertung,
die mit der Zeit einen grofsen Einflufs auf die normative Ethik
gewann, war zweifach. Die einen Denker sprachen der Liige jede
Existenzberechtigung ab. ,,Wenn eine einzige Liige die Mensch-
heit erlösen könnte, so wäre es besser, wenn die ganze Menschheit
zugrunde ginge‘ — erklärt der hl. Augustinus. ‚Die Lüge ist
so niederträchtig, dafs, wenn durch sie sogar am besten Gott ge-
priesen worden wäre, sie den Zauber seiner Göttlichkeit schänden
würde, während im Gegenteil die Wahrheit so vornehm ist, dals
` die kleinsten Dinge, die sie lobt, edel werden“ — erklärt LEONARDO
pa Vıncı. Diese Verdammung der Lüge geschieht hauptsächlich
wegen des Schadens, den sie dem anderen Individuum bringt,
das drückt sich schon in der rechtlichen Definition der Lüge aus:
1 HAHN: Albanesische Studien, 1853. S. 179. WAUTERS: Létat
indépendant du Congo, 1899, S. 297. MAKAREWICZ: Eintührung in die
Philosophie des Strafrechts, S. 273. |
"*
100 Pddagogische Nutzanwendungen.
„mendacium est falsiloquium in praejudicium alterius“. Kant
verurteilt die Lüge nicht nur deshalb, weil sie ein anderes Indi-
viduum schädigen kann, sondern weil sie der ganzen Menschheit
schadet, ,,indem sie die Rechtsquelle unbrauchbar macht‘“‘1. In
den letzten zehn Jahren hoben besonders die Psychologen die
Schädlichkeit des Lügens hervor, die diese für den Lügenden
selbst hat. Forrster beweist, dals die Lüge eine gewisse Willens-
schwäche und ein solches Schwinden der menschlichen Würde
hervorruft, dals sie das betreffende Individuum ohne Widerstand
jeder anderen Schwäche und Schande ausliefert*. Dabei spaltet
sie die Persönlichkeit, und deshalb wehrt sich der Selbsterhaltungs-
trieb des Charakters gegen eine gesagte Unwahrheit?. STANLEY
Hatt weist auf die ,niedere Gesinnung‘ hin, welche durch die
Lüge entsteht. Sie sei nur ein Mäntelchen, um die schlechten
Taten zu verdecken. Für das aktive Leben sei die Wahrheit die
beste Vorbereitung. Lowınsky behauptet, dafs die Harmonie
aller seelischen Kräfte, die ihren Ausdruck in der Persönlichkeit
findet, durch die Lüge zerstört wird und zwar in um so höherem
Grade, je stärker diese Harmonie entwickelt ist. Die ethische
Wertung der Wahrhaftigkeit ist proportional der Persönlich-
keit... Auf diese Weise erklärt Lowinsxy, dafs sich die nor-
dischen Völker, bei welchen die persönliche Kultur stark ent-
wickelt ist, sich durch solche Wahrheitsliebe auszeichnen.
Andere Denker nehmen die Wahrheitsliebe nicht so rigoros.
Sie weisen darauf hin, dafs die Lüge auch aus edlen Motiven
entspringen kann (z. B. Verheimlichung eines Unglücks vor einem
kranken Menschen), dafs sie ein Laster sei, welches nicht nur
schadet, sondern auch Nutzen entweder dem Lügenden oder dem
Belogenen bringen kann. Wenn die Lüge verurteilt wird, weil
sie den Lügenden demoralisiert und den Belogenen schädigt, so
kann man sie andererseits nicht als etwas Böses betrachten, wenn
wir jemandem damit einen Nutzen bringen. Der eine ethische
Grundsatz hält den anderen im Schach.
Das Anerkennen der Schädlichkeit der Lüge, sei es für den
Belogenen sei es für den Lügenden selbst, zieht natürlich die For-
ı 8. 471.
2 Schule und Charakter.
3 Jugendlehre, S. 312.
4 8. 496.
Pädagogische Nutzanwendungen. 101
derung strenger Wahrhaftigkeit nach sich. Bei manchen Denkern,
wie z. B. bei Kanr ist sie absolut und geht sogar so weit, dafs sie
die Lüge verbietet, auch wenn dadurch das Leben des Freundes
gerettet werden könnte!. Bei denjenigen Denkern, die den Nutzen
der Loge ane kennen, (et die Lüge in jedem ‚Notfall‘ entschuld-
bar und die fromme Loge" darf ohne Skrupel angewendet
werden. Merkwürdigerweise hat aber diese theoretische Zwei-
teilung niemals zu der Frage geführt, ob man den Kindern ge-
legentlich die Lüge erlauben kann. Das Prinzip der Pädagogik
ist von jeher das der Wahrheit, und diese wird von den Kindern
in rigorosester Weise gefordert.
Jedes denkbare Mittel wird zu diesem Zweck angewendet.
Die Lesebücher der Kinder sind überfüllt von Märchen und Er-
zählungen, die alle die Hälslichkeit der Lüge beweisen und die
Schönheit der Wahrheit preisen. Stets wird die Lüge von den
Menschen und vom lieben Gott schwer bestraft. Die Katecheten
drohen sogar mit den Höllenstrafen und mit ewiger Verdammnis
(sehr interessant sind diese Drohungen in der ‚Pädagogischen
Psychologie“ von L. Hasrıcnh). Dadurch wird die Angst vor der
Strafe für die Lüge als sittlicher Hebel angewendet. Die modernen
Pädagogen nehmen in Anbetracht der Nutzlosigkeit dieser Mals-
nahmen andere Gefühle zu Hilfe. W. Jauzs, der prinzipiell gegen
eine auf Negation aufgebaute Erziehung ist, rät, die Kinder zur
Wahrheit zu gewöhnen nicht durch den Nachweis von der Häls-
lichkeit der Lüge, sondern durch das Enthusiasmieren für die
Wahrheit. Fr. W. FoErsTER, der berühmte Münchener Pädagoge,
empfiehlt, durch die Erziehung mehr Mut in die Kinder zu pflan-
zen, weil dieser dem Kinde später erlaubt, mutig einer unange-
nehmen Tatsache gegenüber zu stehen und sich zur Schuld zu be-
kennen ?. Gazın betrachtet den Mut als nicht genügend für dieses
Ziel, man mülste einen Heroismus inden Kindern erziehen. STANLEY
Hau empfiehlt, an den Ehrgeiz zu appellieren, an die eigene Würde
und die Selbstbeherrschung. Wieder andere fordern statt dieser
„Gymnastik des Wollens‘ bei Kindern das gute Beispiel durch den
Lehrer, als den am meisten wirksamen Faktor. (Der Einfluls
geht von Trieb zu Trieb, vom Willen zum Willen, nicht vom In-
tellekt zum Willen.) Guyvau schlägt sogar die Ausrottung der
Lüge vermittels Suggestion und Hypnose vor.
1 S. 216.
2 Schule und Charakter, S. 25--42.
102 Pädagogische Nutzanwendungen.
Die zeitgenössischen Pädagogen beschränken sich nicht auf
diese von einzelnen Personen gemachten Vorschläge und Be-
strebungen, sondern sie wollen die Propaganda für ihre An ‚ichten
im grofsen Malse betrieben sehen. In verschiedenen Ländern
wurden „Ethische Ligen‘ gebildet, die in ihrem Programm die
Charakterbildung, folglich auch die Entwicklung der Wahrhaftig-
keit bei den Kindern haben. Solche Gesellschaften sind : in England
die ,, Moral Educational League“, in Frankreich die „Ligue française
de l'instruction morale“ und die ,,Ligue de Bonté“, in Deutschland
die „Deutsche Gesellschaft für ethische Kultur“, in Amerika exi-
stiert eine Ethische Gesellschaft, die von ADLER gegriindet wurde.
Damit Schule und Haus nicht verschiedene Ziele verfolgen, wurden
in den letzten Jahren zahlreiche Vereinigungen der Schule und der
Familie gebildet, wie z. B. die ,, Association des parents d’éléves des
lycées“ (lycée Carnot, lycée de Reims), ,,Société libre pour l’ötude
psychologique de l’enfant‘, ‚Ligue des medecins et des familles“,
, Associations scolaires des péres de famille‘ in Frankreich, ,,Pa-
rent’s National Educational Union“ in England, ,,Ligue belge de
VYéducation familiale‘‘ in Belgien, ‚Home and School Ligue“,
„Mothers Union“, ‚Bostons Home and School Association‘ in
Amerika, ‚Elternabende‘ in Deutschland und Österreich, schliefs-
lich in Polen, nämlich in Warschau der während der Revolution
auch in Lodz existierende Verein ‚Kolo rodzicöw, i wycho-
wawcow“,
Alle diese Bestrebungen der Pädagogen haben jedoch nur
sehr wenig positive Resultate gezeitigt. Die Kinderlüge floriert
heute trotz der Mittel der modernen Pädagogen ebenso üppig wie
früher, wo es keine pädagogischen Kunstgriffe gab. Ein klein
wenig mag ja daran die theoretische Uneinigkeit der betreffenden
Kreise in der Frage der Verwerflichkeit der Lüge die Schuld tragen.
Es gibt Lehrer, die das Kind für jede Lüge streng bestrafen, es
gibt aber auch andere, die gegenüber einer Lüge ein Auge zu-
drücken, sodafs das Prinzip der Wahrheit seine Autorität ver-
liert und ein und dasselbe Kind schliefslich den einen Lehrer be-
lügt, den anderen dagegen nicht. In meiner Erhebung fanden
sich 4 Bemerkungen dieser Art: ‚Ich belüge die Lehrer, aber
nicht alle, denn nicht jeden kann ich belügen.‘“ — Aus diesem
Grunde hat auch W. Forrster (Prof. d. Astronomie in Berlin)
auf dem 5. Kongrefs fiir sittliche Erziehung in London 1908
cine Verständigung der Pädagogen in den sittlichen Grundsätzen
Pädagogische Nulzanwendunyen. 103
gefordert. Zu einer solchen Verständigung kam es jedoch nicht,
weder auf dem Londoner Kongrels noch vier Jahre später auf
dem Kongrels im Haag. Man darf sich aber auch nicht täuschen:
auch eine etwaige Einigkeit der Lehrer untereinander über diese
Frage würde auf das Handeln der Kinder keinen Einflufs ausüben.
Diese Uneinigkeit ist doch nicht die Quelle der Kinderlüge.
Wie diese Erhebung bewiesen hat, sind es hauptsächlich die
praktischen Erwägungen, die das Kind zum Lügen bewegen.
Das Kind rechnet gut, und wenn es ohne eine Lüge eine schlechte
Note und mit Hilfe einer Lüge eine gute Note bekommen kann.
wenn es ohne zu lügen bestraft und durch eine Lüge unbestraft
bleiben wird, so wird es gerne die Lüge mit in Kauf nehmen.
Nicht leiden zu müssen, das ist das Ziel des Kindes. Die Erzieher
und Eltern mögen dagegen wettern soviel sie wollen — die ge-
priesene Schönheit der Wahrheit wird das Kind nicht dazu be-
wegen, darum die bösen Folgen irgendeiner Tat zu erleiden. Das
Kind benimmt sich in dieser Beziehung wie ein Erwachsener und
sein Erhaltungstrieb drängt es instinktiv zu der richtigsten d.h.
zu der ihm nützlichsten Handlungsweise.
In eineı Diskussion in der polnischen Gesellschaft für Kinder-
forschung, wo ich die Ergebnisse dieser Erhebung vorlas, wurde
mir eingeworfen, dafs dieser praktische Sinn der Kinder nur eine
lokale Eigenschaft der Lodzer Kinder sei, weil diese ja fortwährend
nur von Geschäften, Betrug usw. hören. Das trifft aber nicht zu:
der praktische Sinn ist eine Eigenschaft der Kinder aller Orte.
Als Beleg dafür kann die schon oben erwähnte kleine Arbeit von
MEssMER dienen, in welcher.er einige Beispiele von seiner Erhebung
in einem Lehrerseminar über die Notlüge angibt. Die Sentenzen
seiner Schüler zeigen eine frappante Übereinstimmung mit den
Antworten der Lodzer Kinder. In dem ersten angegebenen Bei-
spiel sagt der Schüler: ‚In diesem Fall ist die Notlüge besser als
die Wahrheit.“ — In dem dritten Beispiel heifst es: ‚Sie (die
Luge) hat mich auch niemals geargert, sondern gefreut, weil der
Nachbar nichts aufbringen konnte‘, in dem sechsten: ‚es war
mir dabei, als mülste ich den Bruder retten durch die Lüge und
ich schätzte sie in diesem Falle höher als die Wahrheit‘‘t. Ich
glaube, dafs auch in jeder anderen Schule. wo man eine solche
Erhebung rationell durchführte, die Antworten ebenso lauten
würden.
28. 140—142.
104 Pädagogische Nutzanwendungen.
Wen das durch diese Erhebung gewonnene Bild der Kinder-
lügen erschreckt, der soll sich bei dem Gedanken beruhigen, dafs
es nur eine Miniatur der Welt der Erwachsenen ist. Die Gesell-
schaftsordnung, in der wir leben, und die bei der Allgemeinheit
schliefslich so wenig Proteste hervorruft, bringt konsequent diese
Resultate mit sich. Wir haben in dem Vorwort gesehen, für wie-
viel Arten der Lüge ein Kind aus physiologischen Gründen nicht
verantwortlich sei, aber wir sehen jetzt, dafs es auch nicht ver-
antwortlich sein kann für eine bewulste Lüge, da die Notwendig-
keit es dazu drängt. Diese Notwendigkeit ist in den fatalen Fa-
milienverhältnissen, in denen kleine Kinder immer noch als „Ob-
jekte“ und in einem noch schlimmeren Schulsystem, in dem die
Kinder nur eine „Nummer“ sind, begründet. Infolgedessen be-
findet sich das Kind ununterbrochen unter einer „Gewalt“, die
ihm gegenüber das Recht der Strafe besitzt. Solange also innerhalb
dieser beiden Institutionen keine radikalen Veränderungen ein-
treten werden, so lange werden wir das pädagogische Ideal —
der absoluten Wahrhaftigkeit nicht erlangen können. Die be-
wulsten Lügen der Kinder sind, wie die der Erwachsenen.
meist sozialer Natur und sie können nicht durch rein pädago-
gische, sondern nur durch soziale Mittel ausgerottet werden.
Unter diesem Gesichtspunkt muls man übrigens auch sagen,
dafs eigentlich alle diejenigen Pädagogen, die aus den Kindern
absolut wahrhaftige Wesen zu erziehen streben, diese der Gefahr
ähnlicher tragischer Zusammenstölse aussetzen, wie sie [IBSENS
Helden durchgelebt haben. Der französische Psychologe Ducas
sagt darüber: „La sincerite absolue en education n’est ni désirable
ni possible. .. Quant à séduire les âmes enfantines en prêchant un
idéal généreux et sublime c’est un peu criminel et dangereux.“
— Und wirklich, ein Kind, das nach den ausgezeichneten Wei-
sungen von STERN (bis zum 8. Jahr!) und nach den Erziehungs-
Dänen von Fr. W. Foerster in gré{ster Wahrhaftigkeit erzogen
wird, und das später im Leben auf Schritt und Tritt auf Lüge und
Betrug stölst, ein solches Kind hat alle Aussicht, dies mit einer
moralischen Katastrophe bezahlen zu müssen. Es wäre wirklich
interessant zu erfahren, wie ein Kind, das nach dem pädagogischen
Wahrheitsideal erzogen wurde, und das ‚noch niemals gelogen
t Siehe das vortreffliche Buch: Erinnerung, Aussage und Lüge in
der ersten Kindheit.
Piidayoyische Nutzanwendungen. 105
hat‘, auf die gegenwärtig in den Zeitungen sich ständig wieder-
holenden Notizen über die Lügen, deren sich die Völker jetzt
täglich gegenseitig beschuldigen, reagiert. Werden solche und
ähnliche ‚Lebenserfahrungen“ nicht schon in einer einzigen
Stunde das vernichten, woran die Pädagogen Jahre gearbeitet
haben ?
Venn man also die Wahrheit als unbedingtes Prinzip der
Pauagogik aufstellen will, so müssen die Formen des sozialen
Lebens eben auch solche sein, dafs man nicht täglich und stünd-
lich der Gefahr ausgesetzt sein darf, die Lüge anwenden zu müssen,
um sich vor Schaden zu bewahren. Die Erziehung zum Herois-
mus, um sich der Lüge auf Schritt und Tritt entziehen zu können,
wie es z. B. Gazın fordert, ist unmöglich. Heroisch kann eine
einzelne Tat sein, da sie die höchste Kräfteanspannung fordert.
Einen solchen Zustand sozusagen in Permanenz zu erreichen ist
jedoch schon aus rein physiologischen Gründen nicht möglich.
Statt also solche gewaltsamen Forderungen an den menschlichen
Organismus zu stellen, wäre es doch vernünftiger, die Gelegen-
heiten zum Lügen hinwegzuräumen. Man wird die Lüge am
gründlichsten ausrotten, indem man sie überflüssig macht. Die
Pädagogen müssen sich also, wenn sie zweckmälsig handeln wollen,
mit ihren Forderungen nicht an die Kinder, sondern an die Sozio-
logen wenden. Wenn nun aber demgegenüber das Bedenken be-
steht, dafs der Bau unseres sozialen Lebens ein solch festes Ge-
bilde sei, dafs an ihm nicht zu rütteln sei, wäre es dann nicht
vielleicht vernünftiger, wenn man am Prinzip der Wahrhaftigkeit
etwas änderte?
Beide Wege stehen zu ermitteln. Sie seien den Theore-
tikern und den pädagogischen Kongressen zum Nachdenken über-
lassen. Das Resultat der vorliegenden Arbeit ist, dafs es nur
diese zwei Wege zur Vermeidung der Kinderlüge gibt, Tertium
non datur.
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Monatsschrift für Seelenkunde. Her.: Stecker. Wiesbaden, J. F.
Bergmann.
qs. Patz sche Buchdr. Lippert & Co. G.m.b. H., Nauinburg a. d.s.
BEIHEFTE
Zeitihriit für angewandte Pivdologie
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| WILLIAM STERN und OTTO DIPMANN.
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von P. Grasemann, h. Cohn, W. Steinberg... . .:--
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Zeitschrift für angewandte Psychologie
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6 Hefte bilden einen Band von etwa 36 Bogen mit mehreren Tafeln. Preis des Bandes 20 M.
Der 12. Band ist im Erscheinen begriffen.
Die euro der Zeitschrift ist die Bearbeitung psychologischer Probleme unter be-
sonderer Berücksichtigung ihrer Verwertbarkeit für anderweitige praktische und wissen-
schaftliche Fragestellungen und die Ausgestaltung der besonderen experimentellen, psycho-
graphischen , statistischen und Sammel-Methoden für diese Zwecke. Hauptgebiete der
Zeitschrift sind die pädagogische, forensische, pathologische, literarische, ethnologische und
vergleichende Psychologie.
Die Zeitschrift enthält Abbandlungen, Mitteilungen, Sammel- und Einzelberichte und
verfolgt ständig die internationale Bewegung auf dem Gebiete der eee Psycho-
logie. Sie ist Organ des Instituts fiir angewandte Psychologie in Kleinglienicke, des
psychologischen La orato lams in Hamburg und mehrerer Universitäts-Seminare.
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Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
Die Beihefte sind einzeln käuflich.
Heft 1. Otro Lirmaxn. Die ae interessebetonter Erlebnisse und ihre EE
Theorie, Methoden und Ergebnisse der „Tatbestandsdiagnostik“. IV, 96 S
Heft 2. J. Coun u. F. DierrengacHzr (Freiburg). Untersuchungen über Geschlechts-,
Alters- und Begabungs-Unterschiede bei Schülern. VI, 213 Seiten. M. 6.40
Heft 3. W. Berz. Über Korrelation. VI, 88 S. M. 3.—
Heft 4. Pıur Marcıs. E. T. A. Hoffmann. Eine Individualanalyse mit 2 Faksimiles,
2 Stammtafeln und 2 graphologischen Urteilen. VIII, 220 S. M. 7.—
Heft 5. Vorschlige zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen ge-
sammelt und herausgegeben vom Institut fiir angewandte Psychologie und psycho-
logische Sammelforschung (Institut der Gesellschaft fiir experimentelle Psychologie).
1. Teil. IV, 124 Seiten mit 1 Tafel im Text. M. 4.—
Heft 6. Ricwarp eer Ethno-psychologische Studien an Südseerölkern auf
dem Bismarck-Archipel u. den Salomo-Inseln. IV, 163 S. mit 21 Taf. M.9.—
Heft 7. Fritz Gıese. Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen.
2 Teile. XVI, 220 u. IV, 242 Seiten mit 4 Abbildungen. 1914. M. 14.—
Heft 8. Herea Exe. Abstrakte Begriffe im Sprechen und Denken des Kindes. VI,
112 Seiten. 1914. M. 3.60
Heft 9. Hermann Daum. Korrelative Beziehungen zwischen elementaren Vergleichs-
leistungen. Ein Beitrag zur psychologischen Korrelationsforschung. IV, &4 Seiten
mit 4 Abbildungen, 31 Tabellen und 4 Tafeln. 1914. M. 2
Heft 10. Grorc BranpELu. Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfächern.
IV, 168 Seiten mit 37 Figuren. 1915. M. 5.60
Heft 11. Curr Pıorkowskı. Beiträge zur psychologischen Methodologie der wirt-
schaftlichen Berufseignung. IX, 84 S. 1915. M. 3.—
Heft 12. Jugendliches Seelenleben und Krieg. Materialien und Berichte. Unter Mit-
wirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Schulreform und von O. Bobertag,
W. Dix, C. Kik, A. Mann herausgegeben von WiLLıam STERN. 181 Seiten
mit 15 Abbildungen. 1915. M. 5—
Heft 13. Ta. Vatentixer. Die Phantasie im freien Aufsatze der Kinder und Jugend-
lichen. VI, 168 S. mit 1 Kurventafel. 1916. M. 5.60
Heft 14. Orro Lırmann. Psychische Geschlechtsunterschiede. Ergebnisse der differen-
tiellen Psychologie. Zwei Teile. IV, 108 und 172 Seiten mit 9 Kurven im
Seit 1911 erscheinen:
Text. 1917. M. 12.—
Heft 15. Franziska BAUMGARTEN. Die Lüge bei Kindern und Jugendlichen. Eine Um-
frage in den polnischen Schulen von Lodz. IV, 111 Seiten. 1917. M. 4.20
Heft 16. Kızı, Bürkıen. Das Tastlesen der Blindenpunktschrift. Nebst kleinen Bei-
trägen zur Blindenpsychologie von P. Grasemann, L. Cobn, W. Steinberg. 93 Seiten
mit 16 Abbildungen im Text und 6 Tafeln. 1917. M. 5.60
BEIHEFTE
Zeitidrift fir angewandte Piyhologie
Herausgegeben von
WILLIAM STERN und OTTO LIPMAN.
9922922222200. 1. ©2222 OO
Das Taitleien der Blinden-
punkticriit
Karl Bürklen.
Mebit kleinen Beiträgen zur Blindenpipdıologie:
von P. Grasemann, h. Eohın, W. Steinberg. _
beipzig 1917.
Verlag von Johann Ambroßus Barth.
örrienstr. 16.
II
Vorbemerkung.
Eine Reihe von Beiträgen zur Blindenpsychologie, die der
Zeitschrift für angewandte Psychologie zur Verfügung gestellt
wurden, werden in der Form eines Beiheftes herausgegeben, um
sie auch den Blindenanstalten, Blindenpädagogen und Augen-
ärzten gesondert zugänglich zu machen.
Den Hauptteil des Heftes bildet eine systematische experi-
mentell-psychologische Untersuchung des Blindenanstaltsdirektors
BüRKLEN (Purkersdorf bei Wien) über die psychologischen Vor-
gänge und die Ökonomie des Tastlesens der Punktschrift..
Von den kleineren Beiträgen steht die Arbeit des Hamburger
Blindenlehrers (jetzigen Frankfurter Anstaltsdirektors) GRASEMANN
der Hauptabhandlung inhaltlich nahe und ist geeignet, diese
nach einer bestimmten Seite hin zu ergänzen.
Einen anderen Charakter haben die beiden aus Vorträgen
hervorgegangenen Aufsätze der Herren Dr. Comun und W. StEm-
BERG. Die Verfasser sind akademisch gebildete Blinde, die auf
Grund ihrer Selbstbeobachtung sowie vielseitiger Erfahrungen an
Schicksalsgenossen einen Gesamtüberblick über die Eigenart
der Blindenpsyche zu geben versuchen. Hierbei gewinnt die
Nebeneinanderstellung der beiden Schilderungen dadurch an
Interesse, dafs die Verfasser augenscheinlich verschiedene Ideale
vertreten: während der eine die Kluft, die zwischen dem Blinden
und dem Sehenden besteht, möglichst zu verringern strebt, be-
tont der andere mit vollem Bewulfstsein die vorhandenen Ver-
schiedenheiten und fordert die Entwicklung einer besonderen,
dem Erleben des Blinden angemessene, Persönlichkeitsform.
IV Inhalt.
Mir scheint, dafs dieser Gegensatz selbst psychologischer
Natur ist; vermutlich gehören die beiden Verfasser verschiedenen
Typen an, die beide in der Blindenwelt zahlreiche Vertreter haben.
Eine solche Typenscheidung könnte gerade in unseren Zeiten be-
sondere Bedeutung gewinnen, da es sich darum handelt, die zahl-
reichen Kriegsblinden in ihrem Seelenleben richtig zu verstehen
und entsprechend zu behandeln.
Angehängt ist den Mitteilungen ein kurzer Bericht über eine
jüngst erschienene Broschüre zur Blindenpsychologie.
W. Stern.
Inhalt des Beihefts.
e Seite
I. K. Bünkıen. Das Tastlesen der Blindenpunktschrift
nach besonderen Versuchen zu dessen Erforschung 1
II. Kleine Beiträge zur Blindenpsychologie.
P. Grasemann. Das Tastlesen . . . . 57
L. Commn. Beiträge zur Blindenpsychölogis ‘auf Grund von | Selbat-
beobachtungen. . . . der ee e EE
W. Stemsere. Der Blinde als Persönlichkeit . e ae Ai, Bh. ey ie OS
Bericht über: F. von Gegnarpt. Aus dem Seelenleben des Blinden 94
I.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift
nach besonderen Versuchen zu dessen Erforschung.
Von
kant, BÜRKLEN,
Direktor der n.-ö. Landes-Blindenanstalt in Purkersdorf bei Wien.
(Mit 6 Tafeln und 16 Abbildungen im Text.)
Einbegleitung.
Das Problem des Tastlesens in seiner Gesamtheit zu erfassen,
ist bei dem Mangel an Vorarbeiten und dem lediglich auf Er-
fahrung und Beobachtung beruhenden, spärlichen und zer-
streuten Materiale ein schwieriger Versuch. Ich betrachte des-
halb auch vorliegende Arbeit durchaus nicht als vollkommen und
abgeschlossen, sondern nur als grundlegend für weitere For-
schungen.
So sehr ich mich auch selbst bemühte, die gestellte Aufgabe
nach Kräften zu bewältigen, so bin ich doch gezwungen, mit Dank
der wertvollen Mithilfe zu gedenken, die mir durch die Herren
Professor Dr. W. Stern in Hamburg, Professor Dr. W. KAMMEL
in Wien und Blindenlehrer P. Grasemann in Hamburg zuteil
wurde. Meinen Fachkollegen sei damit gezeigt, welch grofsem
Interesse jede Arbeit auf dem Gebiete der Blindenpsychologie
in Forscherkreisen begegnet, sicher ein Ansporn zu allgemeiner
Betätigung.
| Der Verfasser.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psycholozie. 1. 1
Karl Bürklen.
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Geschichtliches über die Punktschrift . 2
Die Punktschrift . : 4
Eignung der Punktschrift für das Tastlesen:., 7
Das Leseorgan š been g 9
Der Vorgang beim Tastlesen : 13
Schnelligkeit des Tastlesens . 18.
Untersuchungen über die Lesbarkeit, fErkennbarkeit) der Punkt-
schriftzeichen D e ta hs Sel E í 20:
Charakteristik der Punktschriftzeichen : i 26.
Versuch zur EES der Tastbewegungen mittels des test,
schreibers“ : d ; yr Sie et ën 28
Die Versuche und ihre Ergebnisse 30:
1. Versuch. Die Tastbewegungen eines Deeg ‘Gein
Lesen einzelner Zeichen . . . . - SU
2. Versuch. Die Tastbewegungen eines Lesétingerd KH
Lesen von Worten und Sätzen 2 35
3. Versuch. Beantwortung folgender Fragen:
Welche Finger besitzen die Fähigkeit, zu lesen? 37
Welcher Finger liest am besten?. 38.
Welcher von den Zeigefingern (bzw. Mittelöngern) liest
am schwersten ? e 2 EN 99
Welche Finger werden gewöhnlich zum Deseni ge-
braucht? . 39
4. Versuch. Lesen einzelner: Zeichen it zwei ringen: 40
5. Versuch. Lesen von Worten in einem Satze durch zwei
Lesefinger (beide Zeigefinger) . . . By ck 42
6. Versuch. Aufzeichnung der Druckstärke beim Tastiesen 42
7. Versuch. Veränderungen der Tastfähigkeit während des
Tastlesens . 46.
8. Versuch. Leaeproven inbezug auf Hë Leseflüchtigkeit 54
Vorschläge zur Erhöhung der Leseflüchtigkeit. 56
Das Tastlesen und die neueren Forschungen über die Tastempfin-
dungen und das Augenlesen. ; 58
Zusammenfassung der Versuchsersebniase 3 63
65
Literatur
Geschichtliches über die Blindenschrift.
Die Erkenntnis, dals die Finger des Blinden Augen seien,
führte schon frühzeitig zu dem Versuche, die Schrift der Sehenden
für die Blinden tastbar herzustellen.
Aus Holz geschnittene und
aus Draht geformte Buchstaben sind bereits aus alter Zeit be-
kannt. Aber erst die Buchdruckerkunst liefs die Herstellung
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 3
eines tastbaren Schriftdruckes möglich erscheinen. Tatsächlich
wurden diesbezüglich bereits im 16. Jahrhundert flüchtige Ver-
suche unternommen, doch erschien das erste Buch in Reliefdruck
für: Blinde erst im Jahre 1786. Es war die von dem Begründer
des Pariser Blindeninstituts V. Haüy verfafste „Abhandlung über
die Erziehung blinder Kinder“. Das Buch war von besonders
geschnittenen Lettern auf feuchtem Papier in einem schwachen
Relief gedruckt worden. Haüy wählte anfangs für seine Relief-
Blindendrucke die am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein ge-
bräuchlichen Kursivschriftformen in Grofs- und Kleinbuch-
staben und hielt dadurch an einer einheitlichen Lese- und Schreib-
schrift fest (Tafel I, Nr. 1). In den ersten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts wurden die Kursivschriftformen jedoch bereits
durch die einfacheren und leichter tastbaren Antiquaformen
ersetzt. Die von dem Nachfolger Haitys, P. Durav, herrührenden
Grofsbuchstaben dieser Schrift (Tafel I, Nr. 2) enthielten noch
manche Nebensächlichkeiten, doch wurden die Formen bei wech-
selnder Gröfse immer mehr vereinfacht (Tafel I, Nr. 3—5). Bei
der technischen Herstellung des Antiquadruckes unterschied man
den Linien- (Nr. 2 und 5), Stachel- (Nr. 3) und Perldruck
(Nr. 4). Diese Druckarten gehen nebeneinander und erlöschen
mit der Aufgabe der Antiquaformen in der zweiten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts.
Den Blindenpädagogen genügten auch die Antiquaformen
in bezug auf leichte Erfassung nicht, und es wurden daher mannig-
fache Versuche zu einer weiteren Vereinfachung angestellt. Die
Gatische Runenschrift (Tafel I, Nr. 6) bedeutete bereits eine
starke Abänderung der Antiqua, denn einzelne Formen liefsen
die ursprünglichen Zeichen nur mehr schwer erkennen. Noch
weiter von ihren Vorbildern entfernte sich die Moonsche Blin-
denschrift (Tafel I, Nr. 7), so dafs die Zeichen für Sehende
unlesbar wurden und damit bereits eine spezifische Blindenschrift
geschaffen war, die aber immer noch, wenn auch an möglichst
einfachen und charakteristischen Linienformen festhielt.
Die Lösung des Problems einer vollendeten Blindenschrift
gelang jedoch nicht auf diesem Wege. Sie ergab sich vielmehr
aus der Tatsache, dafs für das Tastgefühl der Punkt das ein-
fachste Gebilde sei und daher eine Blindenschrift aus Punkten
zusammengesetzt sein müsse. Die Erfahrung lehrte, dafs gegen-
über dem Linienrelief das Punktrelief leichter zu tasten ist. Das
1*
4 Karl Bürklen.
zeigte schon der Stachel- und Perldruck. Aufserdem war durch
eine Punktschrift die verloren gegangene Einheitlichkeit von Lese-
und Schreibschrift wieder herzustellen.
Gedanke und Ausführung der Idee, aus Punkten eine Blinden-
schrift zusammenzustellen, rühren von dem Franzosen L. BARBIER
her, der sich mit der Telegraphie beschäftigte. Er stellte nicht
nur ein System für eine solche Schrift auf, sondern schuf auch
eine Schreibtafel, mittels der sich seine Punktschrift leicht her-
stellen liefs. Wohl erwies sich sein System, das im Pariser In-
stitut im Jahre 1821 Eingang fand, aus mehreren Gründen als zu
umständlich, fand jedoch durch den Zögling L. BRAILLE eine
geniale Vereinfachung. Als Brauznuesche Punktschrift (Tafel I,
Nr. 8) hat sie dann ihren Siegeslauf durch die Blindenwelt an-
getreten. Wohl gab es noch einen harten Kampf zwischen ihr
und den Linienschriften, aber die Jahre 1850 bis 1870 entschieden
endgültig den Streit mit der allgemeinen Annahme der Punkt-
schrift (16, 1917, S. 691).
Die Punktschrift.
Die Brartiesche Punktschrift beruht auf einer Gruppie-
rung von Punkten auf einem Sechspunktfelde, das zwei senkrechte
Reihen zu je drei Punkten untereinander oder drei wagrechte
Reihen zu je zwei Punkten nebeneinander enthält. Dieses ge
Sechspunktsystem bietet nicht nur die Möglichkeit einer aus- @@
reichenden Zahl von Kombinationen, sondern gestattet noch
eine simultane Erfassung der Zeichen und palst sich in seiner
Rechteckform der Tastfläche des lesenden Fingers gut an. Die
Bezeichnung der Punkte durch Ziffern geschieht derart, dals die
Punkte der links stehenden senkrechten Reihe mit 1, 2, 3, die
der rechts stehenden mit 4, 5 und 6 belegt werden, so ı@@«
dals in den wagrechten Reihen die Punkte 1 und 4, 2
und 5 sowie 3 und 6 nebeneinander stehen. |
BRAILLE wählte von den möglichen Kombinationen der oberen
vier Punkte unter Ausscheidung jener Gruppierungen, welche
Anlals zu Verwechslungen geben können, die einfachsten für die
ersten zehn Buchstaben des Alphabetes A bis J aus und nannte
sie Grundzeichen, weil mit ihrer Hilfe alle anderen Zeichen
leicht zu bilden sind. Es sind dies folgende:
En
Das Tastlesen der Blinden-Punktsehrift.
@ ; ® z TI BO © f TI oo ® z R ® z ®
À 2 © 2 7 5 j ® S ® ® e © ®® © . (X)
e e e e . r e e e e ® e e e e s +
A B © D E F G H I J
Durch Hinzufügen des linken unteren Punktes (Punkt 3) zu
den Grundzeichen erhielt er eine zweite Reihe für die Buch-
staben K bis T.
e. ©. ee og
.. @.- . e
©. ọ. ©
K L M
Die weiteren Buchstaben des Alphabetes (W fehlt unter den
französischen Zeichen) ergaben sich durch Hinzufügung der beiden
unteren Punkte 3 und 6 zu den Grundzeichen:
ee ee ee ee ee
U Vv A Y Z
und weitere Zeichen für akzentuierte Vokale, Umlaute usw. durch
Verbindung des rechten unteren Punktes 6 mit den Grundzeichen.
Schlielslich verwendete BRILLE die Grundzeichen durch
Tieferstellung um eine Punktreihe als Satzzeichen:
©. @: ee ee e. ee 0680 © d -@
- @- d -© ©- 080 LR 8@: E
9 5 ° e ? ! () a * >
°@
und durch Voransetzen eines eigenen Zifferzeichens oe nochmals
die Grundzeichen als Bezeichnungen ftir die Ziffern. Wo dieses
Zifferzeichen einem Grundzeichen vorgestellt ist, bedeutet dasselbe
nicht mehr einen Buchstaben, sondern eine Ziffer und zwar:
d ©: E ee ee ©. oo 00 e: ->È -©
© © d CH e ee 90: EK
1 2 3 4 5 6 T 8 9
Trotzdem sich bei der praktischen Verwendung der BRAILLE-
schen Punktschrift manche Mängel zeigten, wurden der Einheit-
6 Karl Biirklen.
lichkeit wegen die französischen Zeichen auch für das deutsche
Alphabet beibehalten und nur besondere Zeichen für die Buch-
staben w, st usw. hinzugefügt.
Deutsches Alphabet.
©. ©. 00 eg e oe og e -@
0: -@ -© ©. 00 oe e: O00
A B © D E F G H I J
©. ©- 00 OO ©- oe og ©. oe oa
.. ©. .. .© -© ©- 00 OO ©- og
e ©. ©. oe o o o o 0: ©:
K L M N O P Q R $S T
©. ©- oe oo ©- -@ -©
e œ ®- e e -@ -@ ©. o o
gë ée oe OO eg ee 00
U vV X Y 42 SZ ST
©. ©. 00 ege ©. oe -© .© -@ ©
. AA .. -@ -@ ®® e oo e o
.® -© © e e ee -® -® © e. ee oe.
AU EU EI CH SCH Ë () W ÄU IE Ä
ee: ©. ee ee ® a - oe. eo 998 O0. :®© -© a
©.. @: EC 98 -© ® 00 00 0. ee -©
ee - ae Ce Ze ee VB u. x be og dé
1 2 3 4 5 6 T 8 9 QO — Ziffer-
zeichen
® ©. 680 @20 ® - 80 99 9- -@ -©
. -@ -© Ọ- 00 00 80: O00
Gedankenstrich u. Apostroph.
Abteilungszeichen
Hierzu kommt noch ein Vernichtungszeichen eg durch
welches ein fehlerhaft geschriebener Buchstabe ungültigerklärt wird.
Die grofsen Vorzüge der BrarLLEschen Punktschrift gegen-
über jeder anderen Blindenschrift liegen in der leichten Erlern-
barkeit, in der guten Tastbarkeit und der einfachen schriftlichen
Darstellung. Zur Erlernung gentigt die Kenntnis der Grund-
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 7
zeichen, aus denen sich die meisten anderen Zeichen ableiten
lassen und die Einprägung der aufserhalb der Reihen stehenden
Buchstaben.
Das vorstehende Alphabet ist jenes der sogenannten Voll-
schrift, bei der jedem Laut ein Zeichen entspricht, während
es sonst noch in der Punktschrift eine Art Stenographie, die
Kurzschrift, gibt, ebenso wie die Punktschriftzeichen auch
noch anderweitig zur Darstellung der Musiknoten dienen.
Wir ziehen nur die Zeichen der Vollschrift in den Kreis unserer
Erörterungen.
Eignung der Punktschrift für das Tastlesen.
„Der Tastsinn ist im Gegensatz zum Gesichtssinn, dem Sinn
der kontinuierlichen Linien und Flächen, auf die Unterscheidung
diskreter punktförmiger Eindrücke angelegt“, sagt WUNDT und
er nennt die Geschichte der Blindenschrift eine „lange Geschichte
der Überwindung: von Vorurteilen, die sämtlich in einer falschen
Analogie zwischen Gesichts- und Tastsinn ihre Quelle hatten“.
Tatsächlich ging, wie wir gesehen haben, die Entwicklung der
Blindenschrift von den Linienschriften der Sehenden zur Auf-
lösung der Buchstabenbilder in Punkte (Stacheltypen) bis zur
Aufstellung von Punktschriftzeichen, deren Punktzahl sechs nicht
überschreitet (BrAıtLe). Eine Weiterbildung hat seither weder
in der Praxis stattgefunden, noch wurde sie wissenschaftlich be-
gründet oder angeregt.
Die Anordnung der sechs Punkte in einem hochstehenden
Rechtecke durch L. BraıLLe kann als ingeniös bezeichnet werden.
Wunpr führt bei der Betrachtung der Punktschrift aus, dafs „der
Erfassung durch die Aufmerksamkeit mit Rücksicht auf die Zahl
der simultan zu apperzipierenden Eindrücke ziemlich enge Grenzen
gesetzt sind, da im allgemeinen sechs die Maximalzahl einzelner
gesonderter Eindrücke ist, die wir mit irgendeinem der räum-
lichen Sinnesorgane, sei es Auge oder Haut, gleichzeitig aut-
fassen können“. Er findet es „bewundernswert, wie genau BRAILLE
auf Grund seiner lediglich durch die praktische Erfahrung ge-
leiteten Versuche die Verhältnisse getroffen hat, die das psycho-
logische Experiment als die geforderten kennen lehrt“ (14, II. B.
S. 491 und 495..
8 Karl Bürklen.
Auch Ta. HELLER (3) fand bei Versuchen, dafs bei der Ver,
wendung von sechs punktförmigen Reizen die Anordnung in drei
genau untereinander befindlichen Reihen zu je zwei Punkten die
beste war. Über die durchaus vorteilhafte Stellung des Punkt-
rechteckes kann um so weniger ein Zweifel herrschen, als ver-
suchte Abänderungen (Amerikanische Braille mit liegendem Recht-
eee
ecke @@@) nicht durchdrangen.
Die Punkte zeigen bei rund 1 mm Höhe Halbkagsirehei oder
etwas konisch zugespitzte Form. Für die leichtere Lesbarkeit
kommt die konische Form der Punkte insofern in Betracht, als
sich derlei Punkte nicht so leicht verdrücken als halbkugelförmige
(Abb. 1).
Abb. 1. Relief der Punkte (vergréfsert).
Die Gröfse der Punktschriftzeichen wurde aus der Praxis ge-
wonnen. Grolse Punkte sind allerdings leichter tastbar, doch
zerfällt ein grofses Buchstabenbild in seine Einzelheiten und
kann als Ganzes schwer erfalst werden. Zu kleine und zu nahe-
stehende Punkte erschweren ebenfalls die Aulfassung oder machen
sie überhaupt unmöglich. Als allgemein verwendet können fol-
gende Malse festgestellt werden: Die einzelnen Punkte haben
17, mm im Durchmesser. Die Spitzen der Punkte stehen 3 mm
voneinander ab, so dafs sich Zeichen bis zu 7mm Hohe und
4,5 mm Breite ergeben. Der Zwischenraum zwischen nebenein-
ander stehenden Zeichen ist etwas grölser als der Abstand der
Punkte voneinander.
Wespr sagt über die Gröfse der Zeichen und die Entfernung der
Punkte voneinander: „Die Punkte stehen in solchen Distanzen, dals diese
an der Fingerbeere des Zeigefingers deutlich die Raunıschwelle überschreiten,
während doch die Punkte cines einzelnen Zeichens sämtlich auf derselben
Platz tinden“ (14, S. 495). Javar findet dagegen, dafs die gebräuchlichen Punkt-
zeichen liinger sind als der emptindlichste Teil seines Zeigefingers (3, S. 77).
Das Verlangen, beim Punktdruck Raum zu sparen, hat schon
mehrmals (so auch gegenwärtig) zur Einführung kleinerer Zeichen
gedrängt (bis zu 6 mm Höhe), ohne dafs deren Anwendung all-
gemein geworden wäre.
Das Tastiesen der Blinden-Punktschrift. 9
Hierüber bemerkt Kuxz: „Für simultane Auffassung waren bei kleinem
französischen Druck) die Brücken (Schwellen) unter 2!, mm zu kurz; es
waren zeitraubende Tastbewegungen — sukzessive Erfassung der Punkte
erforderlich, die ein geläufiges Lesen unmöglich machen. Für gleich-
zeitige Auffassung mehrerer stumpfer Punkte sind also für die Blinden
Schwellenlängen von 3!mn erforderlich“ (7, S. 188).
Die mit Rücksicht auf die Tastbarkeit notwendige Grölse
der Punktschriftzeichen bringt es mit sich, dafs die Punktschrift
gegenüber der Schwarzschrilt einen unverbältnismäfsig grolsen
Raum einnimmt, und zwar ist dieser bei der Vollschrift in bezug
auf den Flächenraum ein zehnmal grölserer. Bei Anwendung
der Kurzschrift geht dieses Raumbediirfnis auf das siebenfache
zurück. Jedes Punktschriftzeichen benötigt mit den dazugehörigen
Zwischenräumen rund 1 gem Fläche. Hierzu kommen als weitere
ungünstige Faktoren die Erhabenheit der Punktschrift und die
für den Punktdruck notwendige Stärke des Papiers. Bei gün-
stigen Verhältnissen (Kurzschrift und Zwischenpunktdruck) über-
treffen daher die Punktschriftbücher die Schwarzdruckbücher
gleichen Inhalts um das Dreifsigfache an Rauminhalt, bei un-
günstigen Verhältnissen (Vollschrift und Zwischenzeilendruck) um
das Fünfzigfache und darüber (16, 1917, S. 508). |
Obwohl über die tauglichste Gröfse der Punktschriftzeichen
noch keine endgültige Entscheidung getroffen ist, kann die be-
sondere Eignung der Punktschrilt in bezug auf die Anordnung
der Punkte im Sechspunktfelde als feststehend betrachtet werden.
Die Erfahrung hat auch gezeigt, dals das Lesenlernen der Punkt-
schrift bereits im ersten Schuljalire für blinde Kinder möglich ist.
Das Leseorgan.
Organe für das Tastlesen sind die Hände !, bzw. deren
Finger mit ıhren Tastnerven, von denen namentlich die Finger-
spitzen besondere, das Tasten vermittelnde Endorgane besitzen.
Für das Abtasten der Punktschriftzeichen kommt jene Hautstelle
der Fingerbeere in Verwendung, weiche von der Mitte der so-
genannten Tastrosette bis zur Wölbung unter dem Fingernagel
reicht.
Die Fläche, die bei leichtem Aufdrücken der Fingerspitze
! Der Seltsamkeit halber sei erwähnt, dafs von Blinden auch «das Lesen
mit den Fufszehen versucht wurde.
10 Karl Biirklen.
auf das Papier bedeckt wird, ist bei den Fingern derselben Hand
verschieden grofs. Bei den Zeige- und Mittelfingern, die beim
Lesen die Hauptrolle spielen, ist die Tastfläche des stärkeren
Mittelfingers an und für sich gréfser als die des Zeigefingers,
verringert sich aber durch die notwendig stärkere Krümmung
und die sich daraus ergebende Steilerstellung ungefähr auf die-
selbe Gröfse. Weiter ist die Tastfläche der Lesefinger, wie dies
die beigegebenen Abbildungen der Abdrücke von Zeige- und
Mittelfingern ersehen lassen, nach der Stärke der Finger infolge
individueller Entwicklung nach Alter und Geschlecht verschieden
(Abb. 2 bis 4).
Abdrücke der Tastflächen an den Fingerspitzen.
(Zeige- und Mittelfinger beider Hände in natürlicher Gröfse.)
Abb. 4. Knabe, 16 Jahre. Abb. 5. Mädchen, 19 Jahre.
Die Form der Tastfläche ist ein Oval von kreisähnlicher
bis zu länglicher Ausdehnung. Steilstellung der Finger verkürzt
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 11
das Oval. Man hat angenommen, dafs diese Fläche stets die
Punktschriftzeichen in normaler Gröfse (bis 7mm Höhe und
4,5 mm Breite) zu bedecken vermögen. Die Tastflächen bei 11
bis 19 jährigen Lesern zeigen jedoch eine Höhe von 6 bis 18 mm
und eine Breite von 6 bis 12mm, können also unter Umständen
unter der Buchstabenhöhe stehen. Es ist mithin, namentlich
den jüngeren Lesern nicht immer möglich, die Zeichen mit leicht
aufgedrückten Fingerspitzen voll zu bedecken, so dals in solchen
Fällen ein Flacherstellen der Lesefinger oder stärkeres Aufdrücken
notwendig erscheint.
Der Winkel, in dem der Lesefinger gegen das Papier gestellt
wird, ist ein geringer. Bei den Zeigefingern beträgt er 20 bis
30 Grad. Die Mittelfinger müssen, wenn ihre Spitzen mit jenen
der Zeigefinger auf gleicher Höhe bleiben sollen, etwas steiler
gestellt werden, wodurch der Winkel ein etwas grölserer wird.
Die Hände selbst werden beim Tastlesen nebeneinander so über
den Text gehalten, dafs die Lesefinger unter dem angegebenen
Winkel die Zeichen berühren, während die anderen Finger leicht
gekrümmt, in geringer Entfernung über dem Blatt bleiben.
Die Stellung, welche die lesenden Hände einnehmen, zeigen
die Abb. 6 und 7.
(Abb. 6 und 7 siehe S. 12.) |
Inwieweit der Bau von Hand und Fingern dem Tast-
lesen förderlich ist, liifst sich nur allgemein dahin entscheiden,
dafs den beweglicheren dieser Organe wohl der Vorzug zu geben
‘ist. Entscheidend für das Tastlesen ist die innere Anlage des
Tastorgans, vor allem die Tastempfindlichkeit der Fingerspitzen,
wogegen die äulsere Form (bis auf Milsbildungen) von geringerer
Bedeutung erscheint. Nach dem Bau besondere Lesehände er-
kennen zu wollen, geht zu weit und kann nur zu einer ober-
fächlichen und unsicheren Auswahl führen.
Über die Arm- und Körperhaltung beim Tastlesen,
denen bisher wenig Beachtung geschenkt wurde, sei nur an-
geführt, dals sich die Oberseite des Buches in einer solchen Höhe
befinden soll, die eine freie und ungezwungene Bewegung sowoh:
‘der Hände als auch der Unterarme ermöglicht. Diese Bewegungs-
freiheit ist nur dann vorhanden, wenn sich die Oberseite des
‚Buches nicht über Ellbogenhöhe der am Körper anliegenden
Oberarme befindet (16, 1916, S. 579.
12 Karl Bürklen.
fi Stellung der Hände.
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Abb. 7. Die rechte Hand lesend am Ende der Zeile, während die linke
den Anfang der neuen Zeile sucht.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 13
Der Vorgang beim Tastlesen.
1
Ein einzelnes Punktschriftzeichen kann durch Aufdriicken
eines Lesefingers als Ganzes simultan erfafst werden. In’ der
Praxis spielt eine derartige Auffassung nur insoweit eine Rolle,
als der von links nach rechts sich weiter bewegende Finger die
einzelnen Buchstaben im Übergleiten berührt. Aber selbst beim
Erkennen eines einzelnen Zeichens genügt meistens ein Auf-
drücken der Fi ingerspitze nicht, sondern es werden Tastbewe-
gungen vorgenommen, die für die Erkennung notwendig er-
scheinen.
JavaL sagt darüber: „Wenn ein Blinder auch die grölste Übung im
Lesen der Blindenschrift besitzt, so wird er sie doch nicht immer entziffern
können, wenn er seinen Finger nur auf die Punkte drückt. Vielmehr mufs
er, um sie und ihre Anordnung deutlich zu erkennen, mit dem Finger dar-
über hin- und herfahren, wobei die Bewegung weder zu schnell noch zu
langsam sein darf. Die meisten Blinden wissen gar nicht, dafs sie, um
schnell zu lesen, ihren Finger mit nur mäfsigem Drucke, um das Gefühl
nicht abzustumpfen, über die Punkte hinzuführen haben“ (5, S. 8).
Noch deutlicher beobachtet Hocnkısen die Tastbewegungen des lesenden
Fingers. „Der Finger beschreibt über den Buchstaben Kreise nach allen
Richtungen, welche im Handgelenk und Metacarpophalangealgelenk aus-
geführt werden. Aufserdem werden in den Interphalangealgelenken Beuge-
und Streckbewegungen gemacht. Der Buchstabe wird mit ein und dem-
selben Punkte der Fingerspitze berührt. Bei Behinderung dieser Bewe-
gungen findet die Erkennung einzelner Buchstaben in sehr langsamer Weise
statt, ja es werden überhaupt nur die einfachen Buchstaben erkannt“
(4, S. 33).
Die bei Blinden besonders hervortretenden Tastbewegungen
beobachtete bereits ÜZERMAK bei seinen Zirkelversuchen. _
HocHEISEN sind die CzEerMAkschen Tastzuckungen bei der
Prüfung von sieben Blinden nur in einem Falle aufgefallen.
„Dieselben bestanden darin, dafs der Junge seine Finger in die be-
rührenden Spitzen hineindrückte und um die Spitzen als Mittelpunkte plan-
lose Exkursionen machte, welche sich in verschiedenen Hautspannungen
äulserten. Über den Zweck dieser Tastzuckungen kann ich mir nicht klar
werden; dieselben sind unwillkürlich und lassen sich nicht unterdrücken.“
Wonprt findet für die Tastzuckungen folgende Erklärung:
Sie sind offenbar keine ursprünglichen Reflexe, sondern sie scheinen
aus willkürlichen Bewegungen hervorzugehen, die namentlich der mit
feineren Arbeiten beschäftigte Blinde ausführt, und die allmählich mecha-
nisch eingeübt werden, so dafs sie nun reflexartig eintreten, wo immer
durch die Einwirkung äufserer Tastobjekte Anlals dazu gegeben ist“ (14,
S. 491).
14 Karl Bürklen.
ÜZERMAK zieht auch einen Vergleich mit dem Augenlesen:
„Dem Blinden mag es mit den Tastzuckungen ähnlich gehen, wie dem
Sehenden mit der Einstellung der Sehachse. So wie nämlich Sehende, wenn
sie einen Gegenstand vermittels des Gesichtes scharf wahrnehmen wollen,
unwillkürlich die Sehachse auf das zu fixierende Objekt richten, um das
Bild desselben auf den gelben Fleck fallen zu machen, ebenso und aus ähn-
lichen Gründen versetzen wahrscheinlich Blinde ihre Tastorgane in Be-
wegungen und Zuckungen.“
Aus den beobachteten Tastbewegungen liefs sich erkennen,
dafs das Tasten kein einfacher, sondern ein kombinierter Vorgang
sei, bei dem neben den äulseren auch innere Tastempfindungen
mitspielten.
„Das in Frage kommende Objekt kommt in Berührung mit der Haut
und setzt gewissermalsen einen Abdruck auf dieselbe. Dabei kann der
Gegenstand entweder gleichzeitig mit allen seinen Punkten unsere Haut
berühren oder es kommen nacheinander verschiedene Stellen des Objektes
mit neuen Bezirken unserer Haut in Berührung. Der zweite Weg ist der,
dafs wir der Reihe nach neue Punkte des Objektes mit ein und derselben
Stelle der Cutis, meist der Fingerkuppe betasten; aus der Gröfse und
Richtung der von uns vollführten Bewegungen schliefsen wir auf die Gröfe
und Gestalt des Gegenstandes.“ „Wir benützen also (beim Tasten) Raum-
sinn, Drucksinn und die Fähigkeiten, welche unter dem Begriff Muskelsinn
zusammengefalst werden. Es ist dies ein Übergang zu dem zweiten oben
erwähnten Wege. Diese benutzen die Blinden bei allen Obliegenheiten, nie
jedoch oder nur gezwungen den ersten.“ „Obgleich der Raumsinn von
Natur genügend fein angelegt ist, um allein den Anforderungen des Lesens
zu genügen, benützen die Blinden die extensive Unterschiedsempfindlichkeit
der Haut nicht in vollem Mafse dazu. Sie ziehen besonders die Gelenks-
sensibilität, die Grundlage der Bewegungsempfindung, in den Dienst des
Lesens“ (4, S. 31 und 34).
Von Tx. HELLER sind die Bezeichnungen ,synthetisches und
analysierendes“ Tasten in die Blindenliteratur übernommen worden.
Er sagt im „Blindenfreund“ (Jahrgang 1905, S. 4):
„Der gröfste Teil meiner Studien zur Blindenpsychologie ist von dem
Nachweis erfüllt, dafs das synthetische Tasten (mittels des Raumsinnes der
Haut) nicht genügt, um dem Blinden adäquate Vorstellungen zu verschaffen,
sondern dals hierzu das Tasten mit bewegten Tastorganen (analysierendes
Tasten) unentbehrlich sei. Nach meinen Untersuchungen kann das unvoll-
kommene synthetische Tasten nichts anderes vermitteln als ein schema-
tisches Gesamtbild kleiner Objekte, das erst durch analysierende Tast-
bewegungen verdeutlicht werden mufs.“
Die schon beim Lesen einzelner Zeichen auftretenden Tast-
bewegungen, für die im vorstehenden die bisher aufgestellten
Erklärungen wiedergegeben sind, erweitern sich beim Tastlesen
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 15
aneinander gereihter Punktschriftzeichen, während andererseits
bei vorgeschrittener Übung auch ein Ausfall von Tastbewegungen
festzustellen ist.
Der Lesevorgang gestaltet sich nach der Beobachtung
in folgender Weise. Eine Zeile wird gelesen, indem der
Finger (angenommen, dafs nur ein Finger dabei gebraucht wird)
mit einigen ÖOrientierungsbewegungen den Anfang sucht und
nachdem er ihn gefunden hat, über die Buchstaben weitergleitet.
Stockungen durch Tastbewegungen, die von der Leserichtung
abweichen, erfolgen nur bei schwerer zu erkennenden Zeichen.
Mitunter muls der Finger auch zum Anfang eines nicht erkannten
Wortes, das der Leser als Gesamtbild zu erfassen sucht, zurück-
gleiten.
„Das Lesen von ausgeschriebenen Worten vollzieht sich derartig, dafs
immer eine grolse Zahl von Zeichen tbersprungen wird; mıan errät sie
nämlich entweder aus dem ganzen Zusammenhang, aus den ersten Buch-
staben eines Wortes oder aus seiner Länge“ (5, S. 139).
Am genauesten wurde der Leseakt von Dr. Tu. HELLER be-
obachtet und in folgender Weise beschrieben:
„Beim ersten Leseunterrichte kommt hauptsächlich die rechte
Hand in Betracht. Diese führt die eigentlichen Lesebewegungen aus, wäh-
rend die linke Hand die Aufgabe übernimmt, die Zeilen zu fixieren und
der Rechten den Anfangspunkt ihrer Bewegung anzuweisen. Die Bewe-
gungen, welche den Zweck haben, die Hand in der Leserichtung zu ver-
schieben, erstrecken sich zunächst auf den ganzen Arm. Sobald aber die
schnellere Auffassung der Schriftzeichen notwendig wird, beschränken sich
diese Bewegungen blofs auf den Unterarm, der sich um den festliegenden
Ellbogen bewegt und einen Kreisbogen beschreibt, dessen Radius gleich
ist der Verbindungslinie des Ellbogenstützpunktes mit Anfang und Ende
der Zeile, die in diesem Falle als Sehne eines Kreisbogens vom Radius des
Unterarmes aufzufassen ist. Die horizontale Projektion dieser Kreisbewe-
gung erfolgt durch wechselnde Stellung des Lesefingers, der seine Streckung,
wenn auch kaum merklich in der Mitte der Zeile verringert, um dieselbe
am Ende der Zeile wieder anzunehmen. Die Unterstützung des Unterarmes
beim Lesen hat offenbar den Zweck, den Lesefinger vollständig zu entlasten
und ihm die Möglichkeit zu geben, einen bestimmt regulierbaren Druck
auf die Unterlage auszuüben. An der Unterstützung beteiligen sich auch
die beim Lesen nicht in Betracht kommenden Finger, die gleichsam das
Vehikel darstellen, auf welchem sich die Hand fortbewegt. Hat der Blinde
die Zeichen zur Genüge kennen gelernt, so nimmt nun auch die linke Hand
am Lesen teil. Diese liest aber weder so rasch noch so kontinuierlich wie
die rechte; man kann hierbei häufig beobachten, dafs der Arm ruckweise
seine Lage verändert. Infolge der gröfseren Schwierigkeiten, die natur-
gemäls der Bewegung der linken Hand entgegenstehen, eignet sich diese
16 Karl Bürklen.
vorzugsweise zur Vornahme eines langsam analysierenden Tastens, währen }
die rechte Hand, welche rasch über die Zeilen hingleitet, dem Blinder
wenn auch nur flüchtige Gesamtbilder der einzelnen Zeichen verschafft“
(3, S. 87).
„Bei jenen Blinden, welche am raschesten zu lesen im-
stande sind, bemerkt man nichts von den zuckenden Tastbewegungen.
Rechte und linke Hand fahren ruhig mit breit aufgelegten Fingern über
die Zeilen hinweg, und die beiden Hände unterscheiden sich in bezug avf
ihre Auffassung nur durch die Schnelligkeit der Lesebewegung. Übrigens
ist edie Beteiligung der be’:in Hände bei verschiedenen Individuen eine
sehr ungleiche. Nicht sr häufig tritt der Fall ein, dafs sich die beiden
Hände in der Mitte der Zeile gleichsam ablösen, indem die linke Hand bis
dahin vereint mit der rechten vorwärts bewegt wird, worauf dann die linke
Hand zum Anfang der nächsten Zeile übergeht, während die rechte Hand
allein den Rest der Zeile zu lesen ibernimmt“ (3, S. 92).
„Bei den in der Auffassung der Brailleschrift hinlänglich geübten
Blinden unterbleibt in der Regel das analysierende Tasten. Nur dann, wenn
ein Zwang zum Buchstabieren geschaffen wird, wie z.B. beim Vorkommen
den Blinden nicht geläufiger Fremdwörter oder bei abgegriffenen Buch:
staben, die sich über das Niveau des Papiers nicht genügend merklich er-
heben, treten wieder die analysierenden Tastbewegungen in ihre Rechte“
(3, S. 92).
Die Frage, welche Finger der Hand das eigentliche Tast-
lesen besorgen, ist bisher nicht klar beantwortet worden. Nach
den bisherigen Annahmen wird hierzu selten ein Finger allein,
sondern meistens werden die Zeigefinger, unter Umständen auch
die Mittelfinger benützt. Welche Rolle den Lesefingern — zum
Teil ganz widersprechend — zugeteilt wird, erhellt aus nach-
stehenden Beschreibungen:
„Gelesen wird bei leicht aufgelegten Unterarmen gewöhnlich mit den
beiden Zeigefingern, von denen meist der rechte bei leichtem Hinweg-
gleiten — also nicht starkem Aufdrücken — über den Reliefbuchstaben
den „Rekognoszierungsdienst“, der linke den „Kontrolldienst“, bzw. die Er-
gänzung oder Korrektur zu besorgen hat. Dies ist aber durchaus nicht
Regel. Es sei auch darauf verwiesen, dafs sich in der Lesemanier des
Fingers die Qualität der Lesefertigkeit äufsert. Während nämlich der ge-
wandte Lesefinger in einem Zuge über die Wortbilder hinweggleitet, schreitet
der mangelhaft tastende mühsam von einem Buchstaben zum anderen, wobei
er entweder eine leicht rotierende oder zickzackförmige Bewegung zeigt.
Schon aus diesem Grunde soll nicht pedantisch darauf gesehen werden, dais
das blinde Kind nur mit den Zeigefingern lesen darf; viel zweckmäfsiger
scheint es, nach und nach womöglich alle Finger (vielleicht ausschliefslich
des Dauınes) zu Lesefingern heranzubilden“ (E. GigErL, 9, S. 462).
„Beim Lesen der Blindenschrift ist blofs der Zeigefinger beteiligt.
Wenn auch durch die eigentümliche Fingerstellung bei manchen Blinden
der Schein entsteht, als ob sich auch die anderen Finger bei der Auffassung
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 17
der Schriftzeichen beteiligen, so läfst sich in diesen Fällen durch Aus-
schaltung des Lesefingers, wodurch der Zwang geschaffen wird, mit einem
anderen, z. B. dem Mittelfinger, zu lesen, mit Sicherheit rmchweisen, dafs
dieselben nur als Stützorgane fungieren“ (Tr. HELLER, 3, S. 86).
„Der Blinde benützt zum Lesen in der Regel die beiden Zeige-
finger. Der rasch bewegte rechte Finger übernimmt die Synthese, während
der langsamer fortschreitende linke analysierend vorgeht. Bei geübten
Lesern fliefsen Synthese und Analyse zusammen; nur bei undeutlich aus-
geprägten Buchstabenformen tritt eine Auflösung des Tastaktes ein“ (F. ZECH,
15, S. 122).
„Wenn ein Blinder lesen soll, so legt er beide Hände auf das Papier,
fixiert sich die Zeilen, und gleitet nun mit beiden Händen über die Buch-
staben hinweg. Hierbei gehen in beiden Händen lebhaft gröfsere oder
kleinere Bewegungen vor sich. Die Finger verteilen sich auf das Lesen
so, dafs eigentlich nur ein einziger das Lesen übernimmt. Liest ein
Blinder z. B. mit dem Zeigefinger der linken Hand, so geht er diesem
Finger mit der rechten Hand voraus und zwar übernimmt auch hier ein
Finger die Hauptrolle. Durch dieses Vorgehen grenzen sich die Blinden
die einzelnen Worte ab, verschaffen sich einen flüchtigen Gesamtüberblick
über das Wort und erleichtern dem eigentlichen Lesefinger seine Aufgabe.
Die übrigen Finger dienen dazu, die Zeilen zu fixieren. — Als Lesefinger
benützen die Blinden meist den Zeigefinger, aber es zeigen sich auch hier
individuelle Verschiedenheiten. Der Lesefinger gleitet nicht als Ganzes
über die Buchstaben, sondern in allen Gelenken desselben, sowie im Hand-
gelenk werden Exkursionen ausgeführt“ (Hockeisen, 4, S. 32).
„In der gröfsten Zahl der Fälle wird mit den beiden Zeige-
fingern gelesen. Diese weisen in der Regel auch das meistgeübte Tast-
gefühl auf; ihnen zunächst stehen die Mittelfinger, die ihnen in der Ge-
schicklichkeit gleichkommen können, dann die Goldfinger; die kleinen
Finger kommen für das Lesen ebenso selten in Betracht, wie die Daumen,
die meist ganz ausgeschaltet sind. Die nicht lesenden Finger werden in
der Regel leicht gehoben gehalten, so dafs sie die Buchstaben gar nicht
berühren. Fast durchwegs lesen die Blinden mit zwei Fingern, von denen
der eine tatsächlich (!) liest, während der andere als Kontrollfinger voran-
geht (!) oder folgt. Werden beide Zeigefinger verwendet, so liest bei dem
einen Blinden der linke Zeigefinger, während der rechte kontrolliert (!i, bei
dem anderen ist es umgekehrt. Bei der Verwendung der anderen Finger
ist es ebenso. Der Kontrollfinger hat neben dem Bestätigen dessen, was
der lesende Finger greift, meist auch die Aufgabe, den Übergang zur näch-
sten Zeile zu finden (auch wenn es der rechte Zeigefinger ist?), zum min-
desten zu erleichtern. Das Zeilensuchen geschieht auf verschiedene Weise.
Häufig gehen beide Finger auf der gelesenen Zeile zurück und tasten zur
nächsten, häufig sucht der orientierende Finger die nächste Zeile und dann
ihren Beginn, häufig stellt er bereits das fest, während der lesende Finger
noch über die letzten Worte gleitet. Blinde, die nur mit einem Zeigefinger
lesen, lassen den unbeschäftigten am Anfang der Zeile ruhen und rücken
ihn zur nächsten, sobald der lesende Finger von ihm fortrückt“ (ON. Met,
8, S. 89 und 90).
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. Ib. 2
18 g Karl Bürklen. ‘
Javar meint, dafs der linke Zeigefinger trotz seiner grölseren Empfind-
lichkeit zum Lesen weniger zu gebrauchen ist, ale der rechte (5, 8. 7).
„Indem die Blinden beim Lesen mit den Fingern der einen Hand
die bekanntlich aus Punkten bestehenden Buchstaben der Blindenschrift
berühren und darauf mit der anderen Hand, von einem Punkte zum
anderen fühlend, das Bewegungsbild zu diesen einfachen Tastempfindungen
hinzu assoziieren, gelangen sie zu einer räumlichen Auffassung der Buch-
stabenbilder, die sie zum Lesen befähigt“ (R. Scaurzs, 12, S. 70).
Zeigen schon die oben angeführten Beschreibungen des Tast-
lesevorganges wenig Übereinstimmung, so ist die letzte von
R. ScauLze ein Beispiel dafür, wie flüchtig sie von der Praxis
Fernestehenden übernommen und weiter gegeben werden.
Schnelligkeit des Tastlesens.
Es ist von vornherein klar, dals die Raschheit, mit welcher
die Finger des Blinden die Punktschrift zu lesen vermögen, weit
hinter jener der Augen beim Lesen der Druckschrift für Sehende
zuriickbleiben mufs.
Javar sagt darüber: „Das Leesen der BrarLLeschen Zeichen geht des-
halb so langsam vonstatten, weil der Finger zurzeit immer nur einen Buch-
staben fühlen kann, während das Auge im Durchschnitt auf einen Blick
zehn Buchstaben überschaut. Das Lesen mit den Fingern erfolgt daher
aus physiologischen Gründen um mindestens zehnmal langsamer als das
Lesen mit den Augen“ (5, S. 64). An anderer Stelle des JavaLschen Buches
findet sich die Angabe „Fünfmal“ (5, S. 72).
Die aufser Frage stehende verhältnismäfsige Langsamkeit
des Tastlesens liegt also in der beschränkten Fähigkeit des Lese-
organs. Ein indirektes Fühlen, das sich mit dem indirekten
Sehen, welches das Augenlesen so sehr befördert, vergleichen
liefse, gibt es beim Tastlesen nicht.
V. Haüy, der zum erstenmal ausgiebige Beobachtungen beim Tastlesen
machte, sagt über die Leseflüchtigkeit bei seinen Schülern: „Unsere Zög-
linge lesen allerdings langsam. Aufser dem Umstande, dafs sie bei der
Neuheit unseres Institutes nur wenig Übung im Lesen gehabt haben, sind
sie auch deshalb im Nachteile, weil sie beim Lesen nur einen Buchstaben
auf einmal sehen (wenn wir uns dieses Ausdruckes bedienen dürfen), wie
es bei unseren Lesern der Fall sein würde, wenn er die Buchstaben des
vorliegenden Werkes durch eine Öffnung läse“ (Essai sur l’education des
aveugles, 1786).
Nicht nur die unmittelbare Berührung eines jeden Zeichens
in seiner ganzen Ausdehnung, sondern auch das Übergleiten von
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 19
Zeile zu Zeile wirken verzögernd. Der letztere Umstand führt
bei ungeübten Lesern zu störenden Pausen, die ein gleichmäfsiges
fliefsendes Lesen unmöglich machen.
Die Lesefertigkeit ist höchst individuell. Sie wird be-
fördert durch besondere Tastempfindlichkeit der Lesefinger, die
geistigen Fähigkeiten des Lesers und seine Aufmerksarnkeit, sowie
durch praktische Grölse der Zeichen, Deutlichkeit des Reliefs,
selbst durch das zum Druck verwendete Papier. Eine Ver-
minderung der Leseflüchtigkeit zeigt sich bei Ermüdung (Ab-
stumpfung der Tastempfindung, Nachlassen der Aufmerksamkeit),
bei zu scharfem oder verdrücktem Relief, sowie beim Schwitzen
oder Erkalten der Lesefinger.
Unter diesen das Tastlesen beeinflussenden Umständen ist
eine Feststellung der Leseflüchtigkeit schwierig. Lälst man die
oben angeführte Annahme Javars als Grenze nach unten gelten,
so findet sich in einer Aufserung Kunz’ (7, S. 193), dafs die
besten Leser der Punktschrift beinahe so schnell wie die Voll-
sinnigen lesen, eine ungefähre Abgrenzung nach oben.
Als Höchstleistung im Tastlesen führt Javar (d, S. 71) die des Biblio-
thekars Deménivus an. Dieser las in Gegenwart Javats nahezu 200 Worte
in der Minute laut vor. „Diese Schnelligkeit — fügt Javar bei — erreicht
er aber nur, wenn er mit beiden Zeigefingern liest. Wenn nämlich sein
rechter Zeigefinger mit einer Zeile zu Ende ist, hat der linke schon un-
gefähr die Mitte der folgenden Zeile erreicht, so dafs der linke Finger dem
rechten im Lesen fast immer voraus ist, während diesem das gesprochene
Wort wohl immer erst nachhinkt. |
Eine Prüfung der Leseflüchtigkeit, allerdings nur mit einigen
Blinden nahm Ta. HELLER vor (3, S. 95). Die Ergebnisse waren
bei einer Lesezeit von 2 Minuten:
In 1 Minute:
Prosaischer Text (Krummacher):
„Der blühende Weinstock“ 158 Worte 79 Worte.
Poetischer Text (Rückert):
„Am 19. Oktober 1816“ 146 , 13: y
Sinnvolle zweisilbige Worte 92 Ap „
Sinnlose zweisilbige Worte 68, 34 ,
Eine Durchschnittsgeschwindigkeit ist damit nicht gegeben,
da HELLER die geübtesten Zöglinge zum Lesen heranzog. Die
Frage, mit welcher Schnelligkeit das Tastlesen durchschnittlich
vor sich geht ist also noch eine offene.
A
eg
20 Karl Bürklen.
Nur Javar macht (5, S. 69, 71) hierüber noch einige flüchtige Angaben:
„Ich bringe es“, sagt er vom Tastlesen, „(in französischer Sprache) auf
20 Wörter in der Minute, viele Blindgeborene auf 60, eine kleine Anzahl auf
100, ganz Vereinzelte auf 120,“ während man annehmen kann, dafs der
Sehende, ohne etwas zu übersehen, 500 Worte in der Minute liest.“ In der
deutschen Sprache, fügt Javar hinzu, geht das Tastlesen wegen der zu-
sammengesetzten Worte noch langsamer vonstatten.
Untersuchungen über die Lesbarkeit (Erkennbarkeit) der
Punktschriftzeichen.
Wie aus vorstehenden Kapiteln zu ersehen ist, bedarf es
sowohl über das Wesen der Punktschrift wie über den Vorgang
beim Tastlesen noch mancherlei Aufklärungen, welche den
Blindenpädagogen, die daran das nächstliegende Interesse haben,
von grölstem Wert erscheinen. Der Verf. dieser Schrift sah sich
deshalb zu mehrfachen Untersuchungen veranlafst, durch
die hauptsächlich auf experimentellem Wege richtig Erkanntes
bestätigt, Irrtümer berichtigt und neue Einblicke gewonnen
werden können. Von den vielen Fragen, die sich der Blinden-
pädagoge über die Punktschrift stellt, ist im Hinblick auf den
Leseunterricht bei Blinden jene nach dem Grade der Erkennbar-
keit der einzelnen Punktschriftzeichen eine der wichtigsten. Die
hierüber vom Verf. angestellten Untersuchungen, welche im
Blindenfreund (1), veröffentlicht wurden, führten zu vollkommen
neuen Ergebnissen. Wir geben diese Veröffentlichung in den
Hauptpunkten wieder.
Die Annahme, dafs die aus wenigen Punkten zusammen.
gesetzten Punktschriftzeichen leichter zu lesen sind als jene aus
mehreren, ist eine alte und man schlug auf Grund dieser An-
nahme seinerzeit (bei der Einführung der Punktschrift in aufser-
französischen Ländern) eine angeblich praktischere Anordnung
der Zeichen im Alphabete vor, indem man den häufigst ge-
brauchten Lauten die Zeichen mit nur wenigen Punkten zuteilen
wollte. Schliefslich verblieb es wenigstens für das Deutsche bei
einer unveränderten Übernahme des Braillealphabetes.
Wie sehr aber noch die mathematische Konsequenz gleichlaufend mit
der Lesbarkeit der Punktschriftzeichen erscheint, geht aus einigen Sätzen
Javars hervor (5, S. 184), in denen als die einfachsten, also lesbarsten
Zeichen jene bezeichnet werden, welche aus möglichst wenigen Punkten
bestehen. Er wird beim Lesen, sagt er, durch allzu grofse Anhäufung von
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 21
Punkten leicht verwirrt. In einem Eigennamen z. B. unterscheidet er nicht
mehr sicher zwischen mehreren Buchstaben, deren jeder mehr als vier
Punkte enthält.
Eine flüchtige Überprüfung der Braillezeichen durch das
Tastgefühl ergibt jedoch schon die Tatsache, dafs die Punktzahl
durchaus nicht jene ausschlaggebeude Rolle spielt, welche man
ihr bisher zugewiesen hat, denn es ist unverkennbar, dafs eine
Punktgruppe dem Tastgefühle gröfsere Anhaltspunkte bietet als
ein oder zwei Punkte. Allerdings handelt es sich beim Lesen
um das Erfassen der Punktzahl und der Lage der Punkte zu-
einander, aber es gibt Buchstaben mit mehreren Punkten, die
eine so charakteristisehe Form zeigen, dafs sie in erster Linie
durch dieses Kennzeichen erfafst werden. Ein Beispiel dafür ist
. @ ee Ge
(lie Gegenüberstellung von und®@®@. Bei der Ähnlichkeit der
Form hat letzterer Buchstabe die gröfsere Ausdehnung vor
ersterem voraus und es ist ohne weiteres erklärlich, dals das
ee...
Zeichen @@ gleich gut, unter Umständen sogar besser erkannt
werden kann als der Buchstabe = Die Ausdehnung und
charakteristischeForm der Punktzeichen kann also
gegenüber der Punktzahl durchaus nicht von unter-
geordneter Bedeutung sein, wie dies sehon seinerzeit von
MOLDENHAWER und HELLER abgedeutet wurde.
Punktzahl und Formcharakter kommen übrigens beim Lesen,
bzw. Lesenlernen, in verschiedener Weise in Betracht. Beim
Lesenlernen nach der heute üblichen Methode als Punktezählen
und Erfassung der gegenseitigen Stellung der Punkte ist es
natürlich, die Zeichen mit wenigen Punkten an die Spitze zu
stellen. Die Rücksicht auf die Erlernung der Punktschrift, wohl
mehr aber noch die Rücksicht auf das Schreiben derselben, wobei
(lie Punktzahl in erster Linie ausschlaggebend ist, scheint BRAILLE
jene allerdings nicht streng durchgeführte mathematische Kon-
sequenz aufgedrängt zu haben, die wir an seinem Systeme be-
merken. Beim Lesen der Punktschrift nach ihrer Er-
lernung kommt jedoch nicht mehr die Punktzahl,
sondern die einheitliche Form des Zeichens als
charakteristisches Tastbild zur Auffassung und diese
Tatsache hat bis jetzt fast gar keine Beachtung gefunden, wenn
von der Lesbarkeit der Punktschrift die Rede war.
22 Karl Bürklen.
Es mufste daher von Interesse sein, einmal den Versuch
zu machen, die einzelnen Punktschriftzeichen auf
ihre Lesbarkeit näher zu betrachten und in prakti-
scher Weise zu erproben. Eine tatsächliche Fest-
stellung durch Leseversuche liels hoffen, die Eigen-
schaften kennen zu lernen, welche für die Tastleichtigkeit mals-
gebend sind. Ich habe mich, da die Angaben von Blinden,
welche ich über ihre Beobachtungen beim Lesen der Punkt-
schrift befragte, ungenau und widersprechend waren, dieser Auf-
gabe nach Kräften unterzogen.
Als allgemeinen Grundsatz hielt ich bei den Ver-
suchen fest, dafs diejenigen Zeichen, welche unter
einer festgesetzten Zahl von Leseversuchen am
öftesten erkannt wurden, auch als die am leichte-
sten tastbaren, also die lesbarsten, gelten können.
Dieser Annahme dürfte auch nicht widersprochen werden können.
Ich hebe weiter hervor, dals ich mich vorläufig auf die
Prüfung der einzelnen Zeichen beschränkte, da eine Zu-
sammenstellung der Zeichen im Worte andere Tastverhältnisse
ergibt, die besonders untersucht werden müssen. Für die Ver-
suche konnten infolgedessen nur jene Zeichen desBraille-
alphabetes in Betracht gezogen werden, welche für
sich allein erkannt werden können. Es sind dies alle
im deutschen Alphabete vorkommenden Zeichen unter Ausschluls
der Satzzeichen, des Apostroph- und Abteilungszeichens, jedoch
unter Einschlufs des Zifferzeichens. Die Ziffern selbst entsprechen
den Grundzeichen, blieben daher unberiicksichtigt.
Zu den Versuchen wurden 30 Zöglinge der n. d. Landes-
Blindenanstalt herangezogen und zwar Zöglinge aller Altersstufen
und von unterschiedlicher Fertigkeit im Tastlesen. Sämtliche
vermochten die Punktschrift fertig zu lesen und zu schreiben.
Es waren fast lauter Totalblinde und nur wenige verfügten über
einen äulserst geringen Sehrest, dessen Gebrauch sich von selbst
ausschlofs.
Als Aufgabe wurde gestellt, die vorgelegten Punktzeichen
unter bestimmten Bedingungen zu erkennen. Die Zahl der
Lesungen belief sich mit den ungebuchten Vorübungen auf
12000, eine Zahl, die nach meiner Meinung bereits Schlüsse ge-
stattete, wenn auch natürlich eine doppelte oder dreifache Zahl
grölsere Sicherheit geboten hätte.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 93
Es wurden 10 Versuche angestellt, sowohl in bezug auf den
Tastvorgang als auch in anderer Weise voneinander verschieden.
Bei jedem Versuche hatten die ausgewählten 30 Zöglinge die
vorgelegten 38 Zeichen zu lesen und die Namen der getasteten
Buchstaben anzugeben. Nichterkanntes wurde mit o bezeichnet.
Was die Grölse der zu lesenden Buchstaben anbe-
langte, so wurden für den Versuch I Lesetäfelchen aus Holz ge-
wählt, wie sie beim Lesenlernen in der Elementarklasse zur Ver-
wendung kommen. Diese Täfelchen sind aus Holz und tragen
die Zeichen aus Nagelköpfen gebildet. Die einzelnen Punkte
sind 6 mm voneinander entfernt, so dafs sich eine Buchstaben-
breite von 6 mm und eine Höhe von 6 bzw. 12 mm ergibt. Die
Punkte selbst haben einen Durchmesser von 2 mm. Für die
Versuche II bis X wurden die Zeichen in der üblichen Gröfse
benützt und zwar genau in der Grölse der Punktfelder der Prager-
tafel. Jedes Zeichen stand einzeln auf einem Papierblättchen
von 8cm :5 cm Aulsmals. Die starke Abnützung, welcher die
in Papier geprägten Zeichen unterlagen, führten mich für die
Versuche VII bis X zur Verwendung von in Blech gestanzten
Buchstaben, bei denen die Gefahr des Verdrückens der Punkte
nicht mehr bestand.
Als Lesefinger wurde der Zeigefinger der rechten Hand
bestimmt. (Die einzige Ausnahme machte ein Zögling, welchem
der rechte Zeigefinger fehlte, so dals er dafür den linken benützen
mulste.) Der Finger des Lesenden wurde stets von meiner Hand
geführt, damit die Tastfläche in entsprechender und immer
gleicher Weise mit dem Buchstaben in Berührung kam.
Die Richtung der Tastbewegung wählte ich ver-
schieden und zwar bei je drei Versuchen als blofses Aufdriicken,
als Gleiten von links nach rechts, als Abwärtsgleiten, bei einem
Versuche als Aufwärtsgleiten. Die kreisende (reibende) Bewegung,
die beim Erkennen einzelner Zeichen stets eintritt, war nämlich
in ihrer Kompliziertheit für einen Tastversuch während einer
kurzen Zeitdauer untauglich. Ich zerlegte daher diese Bewegung
in einzelne Abschnitte und bestimmte mit Ausnahme des Auf-
wärtsstreifens, welcher Bewegung beim Tastlesen wohl geringere
Bedeutung zukommt als den anderen, für die angeführten Teil-
bewegungen gleichmälsig drei Versuche.
Die Dauer des Druckversuches betrug eine Sekunde. Das
Gleiten über das Zeichen geschah in langsamer gleichförmiger
24 Karl Bürklen.
Bewegung, bei der — wie schon gesagt — der Finger des Lesen-
den geleitet wurde. Um die Vpn. mit der Absicht und den
wechselnden Umständen vertraut zu machen, wurden vier bis
fünf Proben vorausgeschickt, deren Resultate natürlich nicht
gebucht wurden.
Schliefslich mulsten beim Tastlesen, um überhaupt zu einem
brauchbaren Ergebnisse zu gelangen, erschwerende Umstände `
hervorgerufen werden, denn mit dem blofsen Finger wäre der
grölste Teil der Zeichen leicht erkannt worden, so dafs sich nur
für einige Buchstaben Unterschiede in der Lesbarkeit ergeben
hätten. Es zeigten sich hierfür zwei Wege. Das Relief der
Punkte konnte verwischt und dadurch schwerer tastbar gemacht
oder die Tastempfindlichkeit desLesefingers konnte
herabgesetzt werden, um die Auffassung zu erschweren.
Ich wählte letzteres Mittel und zwar durch Aufstecken von
Gummikappen auf den Lesefinger, wie solche Ärzte und
Badende benützen. Es sei gleich hier bemerkt, dafs das Auf-
stecken einer Kappe wenig Effekt hervorbrachte und meistens
zwei oder drei Kappen genommen werden mulsten, um die Tast-
empfindlichkeit stärker herabzusetzen.
Aus den Untersuchungen, die durch O. WAxEcEX überprüft
wurden (13), ergab sich bei mehr als 25000 Lesungen, 600
Lesungen für jedes Zeichen, unter entsprechender Berücksichti-
gung der häufigen Verwechslungen von symmetrischen Zeichen,
folgende Reihung nach der Lesbarkeit (bei der Nach-
prüfung wurde auch das Sechspunktzeichen einbezogen):
©. 00 = Š A LW . - @@ Š Š ®
.. o .. ©. .. OÒ ọ. -© ọọ `-
425, 411, 402, 389, 387, 382, 381, 371, 347, 335,
©. . 0 OO OG Oe oe, ©. @- ea. a
e. ©. ©. ®- -@ ®. 9 -- -@ :® @-:
ss a. @: Sg Be -@ :- 90: Oe
334, 824, 323, 311, 310, 302, 301, 299, 299, 298,
ee © ® - d © © © © © 00
ee © ©: @-: © 00o 00O 0 d
ee © -© . © 00 © . @ ® ©
296, 289, 289, 288, 285, 284, 276, 265, 263, 262,
©. © © © d © © ee 00
A . © ®® © © OO . ©
©. ®@ © ©. 00 ee UI
262, 257 256, 254, 230, 228 214, 214, 2083.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 25
Unter sonst gleichen Bedingungen zeigt das Lesen mit blofsem
Finger bessere Resultate als das Lesen mit durch Gummikappen
abgestumpfter Tastempfindlichkeit. Die Simultanerfassung durch
blofses Aufdrücken des Fingers steht hinter dem Erkennen durch
Tastbewegungen zurück. Beim Aufdrücken werden grölsere,
über die Grölse der Tastfläche an der Fingerspitze nicht hinaus-
gehende Zeichen leichter erkannt als kleinere. Die festeren
Zeichen auf Blech sind deutlicher fühlbar als auf Papier.
Als die wichtigste Tastbewegung erscheint — die
Verwendung der Gummikappen mit in Betracht gezogen — das
Gleiten von links nach rechts. Beim Herabgleiten
waren die Zeichen weniger gut erkennbar als beim
Gleiten von links nach rechts. Noch geringer war
im Verhältnisse das Resultat beim Aufwärtsgleiten.
Die steigenden Schwierigkeiten in der Auffassung hängen wohl
mit dem veränderten Bilde, das sich in den Richtungslinien der
verschiedenen Tastbewegungen ergibt, zusammen. Aulserdem
sind das Abwärtsgleiten, mehr noch aber das Aufwärtsgleiten
dem Gleiten von rechts nach links gegenüber ungewohnte Be-
wegungen.
Die Beobachtungen über unwillkürliche Tast-
zuckungen und Tastbewegungen zeigten: Beim Auf-
drücken des Fingers traten deutlich die Bemühungen zutage,
Tastbewegungen zu versuchen und zwar entweder nach rechts
oder nach abwärts. Beim Gleiten von links nach rechts wurde
ein Druck oder ein Herabstreifen versucht, beim Abwärts- und
Aufwärtsgleiten meistens nur ein Stillhalten zum Druck. Schliefs-
lich wurden, sobald jede Beschränkung der Bewegung fortfiel,
eine kreisrunde (reibende) Bewegung in der Richtung ® über
dem Zeichen ausgeführt.
Als wichtigstes, sofort in die Augen springendes Ergebnis
ist den Untersuchungen die Widerlegung der Ansicht zu
entnehmen, dafs die aus wenigen Punkten bestehen-
den Zeichen die lesbarsten sind. Die Lesbarkeit
geht also nur in verschwindendem Umfange mit der
Anzahl der Punkte parallel. Wesentlich für die Les-
barkeit erscheint vielmehr die Form der Zeichen.
Voranstehend finden wir die Zeichen von ein-
fachster geometrischer Form. Deren Uberlegenheit
in bezug auf Tastbarkeit steht also aufser Frage.
t
26 Karl Bürklen.
Dagegen siud die meisten der weiterhin stehenden
Zeichen sicher als die schwerer tastbaren anzu-
sprechen.
Die Form der Punktschriftzeichen ist also fiir das Tastlesen
von so grofser Wichtigkeit, dafs eine Charakteristik derselben
notwendig erscheint.
Charakteristik der Punktschriftzeichen.
Zur Charakteristik der Bkaızteschen Punktschrift im
allgemeinen ist zu sagen, dafs dieselbe gegenüber den Schriften
fiir Sehende — man ziehe zum Vergleiche die Grofsantiqua heran,
welche sich heute noch neben der Punktschrift als Blindenschrift
behauptet — weit zurücksteht. Die wenigen Formelemente, aus
welchen sie sich zusammensetzt, die geringe Zahl von Kombi-
nationen, die sich auf dem Sechspunktfelde ergeben, lassen eine
die Unterscheidbarkeit fördernde Charakterisierung nur in be-
schränktem Umfange zu. Während wir in der Grolsantiqua,
unserer einfachsten Linienschrift, nur wenige ähnliche Zeichen
und keine Spiegelbilder finden, haben wir im Pralea phabete
© © 808 O00 =
aufser den Zeichen ©, 5. ee, Se und + nur solche Zeichen,
welche bei gleicher Form sich nur durch die veränderte Lage
voneinander unterscheiden, darunter 26 symmetrische Gegenbilder.
Die charakterischen Formen unter den letztgenannten sind mit
folgenden erschöpft:
© 00 © © ee © a ee a ee © LL
© © © © ee © 00 O00 oa
? I ? ®, © 9 ® 9 © ? © I © 9 © 9 ® ? 9 @ a
Diese 18 Formen von ausgesprochener Charakteristik nach Zahl
der Punkte, Ausdehnung und Lage machen unter den 51 Zeichen
des Alphabetes nur ein Drittel aus und die Brarzzesche Punkt-
schrift mufs daher geradezu charakterarm genannt
werden. Sie steht im Formenreichtum gegenüber der KLEix-
schen Stachelschrift weit zurück und gibt bei der grolsen An-
zahl ähnlicher Zeichen Gelegenheit zu Verlesungen, die nach
TH. HELLER (3, S. 95) bei der Punktschrift auch tatsächlich häu-
figer eintreten als bei der Stachelschrift.
Der Formcharakter der Punktschriftzeichen ist ein aus-
schliefslich geometrischer, wie dies sonst bei keiner anderen Schrift
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 27
der Fall ist. Eine übersichtliche Zusammenstellung, wobei die
Lageveränderungen in Klammer erscheinen, zeigt dies deutlich.
©
Punktform:
® ( © © )
Zusammensetzungen von Punktformen: © '® , ©
© SH ° Bis e
Linienform: © | , ©
3 ?
Zusammensetzungen von ©® (°° © )
Punkt- und Linienformen: ®@ ©, 00
ee
Zusammensetzungen von Linienformen: @@
Winkelformen:
ee LD © eo oe oe. © © © ©
© 0O oe. a © © © © o)
rechtw. : ; ; ,@ , ©, 00, 00, 0,0
© © ® ©
: © | © © el
schiefw.: @ ©, 0,0
i ee e
Zusammengesetzte Winkelformen: @@, 00 ‘oo, ©
eg eg eg ee Ge zl
ee © © Te
Flichenformen: , 00, 0, ©
Zusammensetzungen von SE (es
Flächen- und Linienformen: © oo
Von Bedeutung für die Form der Punktschriftzeichen ist auch die
bereits von JavaL bemerkte Tatsache, dats die Zeichen in ihrer oberen
Hälfte vielcharakteristischer erscheinen alsin der unteren.
Eine nähere Untersuchung hierüber liefert folgende Ergebnisse:
Punkt 1 kommt vor in 36 SN Pinkte d-4 in Gt Zeon
n 4 r n nm 31 n
2 31 1
n Eo n 108000935, ,
n D r r r 31 r j
3 . 29 |
n r ’ fo = r e 3,6 „ 51
n 6 pn np 22 r | i
D
Die obersten nnd mittleren vier Punkte (1, 4, 2, 5) erscheinen mithin
gegenüber den untersten (3, 6) im Verhältnis von 129: 51.
Von Punktzahl, Entfernung der Punkte, Lage, Ausdehnung
und geometrischer Form wird jedes Buchstabenbild bedingt.
28 Karl Biirklen.
Alle diese Eigenschaften können zum Teil günstig, zum Teil un-
günstig auf die Lesbarkeit der Zeichen einwirken. In der Mannig-
faltigkeit ihres Zusammenwirkens lassen sich diese Einwirkungen
jedoch vorläufig nicht sicher erkennen und in ihrer Bedeutung
für das Tastlesen abschätzen, denn die von mir angestellten Ver-
suche haben mehr nach der negativen Seite hin das Ergebnis
geliefert, dafs die Punktzahl nicht wie bisher angenommen wurde,
das entscheidende Moment für die Tastbarkeit bildet. Die von
mir im Blindenfreund (1913, S. 64—67) versuchte Analysierung
der Punktschriftzeichen nach Form, Ausdehnung und Lage dürfte
wohl klar sein, aber der Einflufs dieser getrennten Momente auf
die Lesbarkeit ist nicht sichergestellt. Weitere Versuche in dieser
Richtung werden wohl auch darüber Klarkeit bringen und eine
einwandfreie Reihung der Punktschriftzeichen nach ihrer Les-
barkeit ermöglichen.
Versuch zur Aufzeichnung der Tastbewegungen.
Der Versuch, die Tastbewegungen der Lesfinger aufzuzeichnen,
ist, obwohl dieselben vielfach beobachtet und beschrieben wurden,
bisher nicht gemacht worden. Als ich den Gedanken hierzu
falste, schien er mir nur schwer und umständlich ausführbar,
denn es mulste erst eine Vorrichtung hierfür geschaffen werden
und schlielslich fragte es sich, ob dieselbe brauchbar, d.h. genau
genug arbeite. Am tauglichsten erschien mir hierfür eine auf-
zusetzende Verlängerung des Lesefingers, die in einer Spitze
endend, die Bewegungen zu Papier brachte. Nach mehreren
Proben entschied ich mich für eine solche Verlängerung, die ich
„Tastschreiber“ nannte (Abb. 8).
Der Tastschreiber ist eine längliche, den Lesefinger zu zwei Dritt-
teilen der Länge umfassende Klammer, die, aufgesetzt, das erste Fingerglied
an der Unterseite freilüäfst, während der Fingernagel an das vordere, etwas
umgebogene Ende anstifst. An dieser Stelle kann auch eine halbkreis-
formige Drahtschlinge angebracht werden, in welche der vorstehende Teil
des Nagels eingeschoben wird. An jener Stelle der Klammer, die über dem
- Fingernagel sich befindet, ist eine 3 bis 4 cm vorstehende federnde Schlinge
angebracht, an deren Ende sich ein Zirkeleinsatz fiir Bleistift betindet. Die
yleistiftspitze vermag dadurch wohl nach oben und unten, nicht aber nach
inks und rechts zu federn.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 29
Abb. 9. Verwendung des Tastschreibers.
Wird der Tastschreiber richtig auf den Lesefinger gesetzt, so
zeichnet die Bleistiftspitze die Bewegungen desselben auf einem
untergelegten Papierstreifen mit.
Um möglichste Gleichmäfsigkeit zu erzielen, stellte ich noch eine
Tafel her, auf welcher sich zwischen zwei schmalen Schienen ein Lese-
30 Karl Biirklen.
streifen einschieben, knapp oberhalb aber ein Papierstreifen auflegen läfst.
Die zu lesenden Punktschriftzeichen sind in einen dünnen Blechstreifen
gestanzt, während der Papierstreifen, auf welchem sich die Tastbewegungen
des Fingers beim Lesen abzeichnen, neben mehreren Angaben über das
Lesen die gleichen Punktschriftzeichen wie der Blechstreifen in Schwarz-
druck zeigt. Die Aufzeichnung der Tastbewegungen erfolgt jedoch nicht
auf diesen Zeichen, sondern der Deutlichkeit wegen unter denselben. Für
die Papierlesestreifen wählte ich ein stärkeres Papier, das vor dem Gebrauch
angefeuchtet wird, damit die Aufzeichnungen des Tintenstiftes, der in dem
Tastschreiber steckt, deutlich genug werden. (Das für ähnliche Zwecke
meistens verwendete berufste Papier hätte wohl feinere Linien geliefert,
die Versuche wären dadurch aber nur noch umständlicher und zeitraubender
geworden.)
Mit den so geschaffenen Hilfsmitteln lieferten schon die
ersten Versuche brauchbare Ergebnisse. Allerdings sollen auch
gewisse Ungenauigkeiten, die in der Einfachheit der Vorrichtung
ihren Grund haben, nicht übersehen werden. So erfolgt die Auf-
zeichnung der Bewegungen nicht so abgerundet und ausgeglichen
wie diese selbst, sondern etwas zitterig. Die Aufzeichnung ge-
schieht mitunter in zu starken Linien, so dafs dann deren Verlauf
nicht genau verfolgt werden kann. Auch stehen die Linien nicht
stets unter den dazu gehörigen Zeichen, da der Finger beim
Lesen in grölseren oder kleineren Winkeln von der senkrechten
Lage abweicht. Beugungen des Lesefingers können nicht vor-
genommen werden, doch ist dadurch die ganze Hand zu den sonst
nur vom Finger unternommenen Tastbewegungen gezwungen.
Trotz dieser Mängel wird nach der Benützung des Tastschreibers
an seiner Brauchbarkeit nicht gezweifelt werden können. Viel-
leicht lassen auch noch anzubringende Verbesserungen die an-
geführten Nachteile verschwinden.
Die Versuche und ihre Ergebnisse.
I. Versuch. Die Tastbewegungen eines Lesefingers
beim Lesen einzelner Zeichen.
Es war vor allem darum zu tun, die Tastbewegungen eines
Lesefingers festzustellen. Zu diesem Leseversuch wählte ich
sämtliche Zeichen der Vollschrift mit dem Sechspunktzeichen.
Ziffern und Satzzeichen liels ich als Wiederholungen der Grund-
zeichen weg, da sie nur in enger Nebeneinanderstellung zu er-
kennen sind. Die Entfernung der einzelnen Zeichen voneinander
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 31
nahm ich so, dafs der Finger zwischen ihnen auf eine leere
Stelle gerät, also in 1!/, cm Weite. Um die übliche Textbreite
einzuhalten, mulsten die gewählten 39 Zeichen auf vier Lese-
streifen verteilt werden. Eine alphabetische Reihenfolge der
Zeichen verbot sich von selbst. Ich griff daher zu der bei den
Untersuchungen über die Lesbarkeit gefundene Reihenfolge, denn
es erschien mir von Wert, deren Richtigkeit auch bei dem neuen
Versuche prüfen zu können. Aufser den Punktschriftzeichen
enthielten die Papierstreifen folgende Angaben : Name (des Lesers),
Klasse, Alter, liest Punktschrift seit .... Jahren, gilt als sehr
guter, guter, mittelmälsiger, schwacher, sehr schwacher Leser,
Finger: Zr, Zl, Mr, Ml.
Für die Versuche wurden von den blinden Anstaltszöglingen
50 solche ausgewählt, welche die Punktschrift bereits lesen ge-
lernt hatten. Es waren unter ihnen die meisten ohne Sehver-
mögen, doch auch einige mit Sehresten. Einzelne lasen sogar
die Punktschrift mit den Augen besser als mit den Fingern.
Die Leser standen im Alter von 9 bis 18 Jahren und waren
Schüler der III., IV., V. und der beiden Fortbildungsklassen.
Die Vpn. wurden einzeln vorgenommen, ihnen die leere
Tafel und die Stellung der Hand gezeigt, dann erst der Tast-
schreiber auf den Finger gesetzt, wobei ihnen auch der Zweck
des Vorhabens erklärt wurde. Nachdem ein Blechstreifen — in
der Reihenfolge derselben wurde natürlich abgewechselt — ein-
geschoben und der Papierstreifen aufgelegt war, wurde der aus-
gestreckte Lesefinger (die anderen Finger blieben eingebogen) an
den Anfang der Zeile geführt, um von da an das Lesen zu be-
ginnen. Beim ersten Versuche wurde der rechte Zeigefinger als
Lesefinger benützt. Die einzelnen Zeichen waren zu erkennen
und richtig anzugeben.
Von den erlangten Aufzeichnungen der Tastbewegungen
gebe ich vor allem einige Beispiele wieder, die ein leichteres
und schwereres Erkennen derselben Reihe von Punktschriftzeichen
(1. Lesestreifen) zeigen. Während der gute Leser sich auf die
notwendigsten Tastbewegungen beschränkt, sehen wir bei den
ungeübteren und schlechten Lesern die Tastbewegungen immer
komplizierter werden (Tafel II, Nr. 1—3). |
Auch die bereits früher festgestellte Leseschwierigkeit findet
sich dadurch bestätigt, dals bei dem 1. Lesestreifen sich eine
32 Karl Bürklen.
einfachere Tastlinie ergibt als bei den folgenden, doch fallen die
Unterschiede bei geübten Lesern weniger auf.
Lassen schon die ersten Proben in der Verschiedenheit der
Tastlinien eine gewisse Charakteristik erkennen, so zeigen
die folgenden eine solche ganz deutlich (Tafel II, Nr. 4—10).
Wir sehen da: Nr. 4. Eine fast ohne Unterbrechung verlaufende
ruhige Tastlinie. Nr. 5. Eine ruhige Tastlinie mit schwachen
Zuckungen. Nr. 6. Eine sägeförmige, der einfachsten Schreib-
bewegung ähnliche Tastlinie. Nr. 7. Eine mianderartige Tast-
linie. Nr. 8. Eine Tastlinie mit mehreren Zuckungen an der-
selben Stelle. Nr. 9. Eine schlingenförmige Tastlinie. Nr. 10.
Kine verworrene Tastlinie.
Was nimmt auf diese eigentümliche Gestaltung
der Tastlinien Einflufs? Hat das blitzartig sich orien-
tierende Auge beim Lesen eines Textes gewisse Suchbewegungen
zu machen, wie erst die schwer sich zurechtfindende Hand des
Blinden. Gibt man dem blinden Leser ein bedrucktes Blatt in
die Hand, so sucht er mit der aufgelegten Hand durch Über-
fahren die Ausbreitung des Textes zu erkennen. In der linken
oberen Ecke, wo er den Textanfang vermutet, werden mit den
Zeigefingern (meistens mit dem rechten) zickzackförmige Orien- -
tierungsbewegungen unternommen und auf diese Art der Beginn
der ersten Zeile festgestellt. Am Ende der Zeile angelangt, wird
mit den Fingerspitzen im Zwischenraum zur nächsten Zeile nach
links gefahren und der Beginn dieser gefunden. Häufig besorgt
dies bereits der linke Zeigefinger, während der rechte noch im
Lesen der vorhergehenden Zeile begriffen ist. Diese weit aus-
greifenden Suchbewegungen beim Auffinden des Textes ver-
ringern sich um so mehr, je mehr der Leser mit der Textein-
richtung, Randbreite, Zeilenlänge, Zwischenraum und Zahl der
Zeilen, vertraut wird. Die Tastbewegungen der lesen-
den Finger sind also in erster Linie Suchbewe-
gungen. Sie erstrecken sich über das ganze Blatt, werden
besonders am Anfange der ersten Zeile bemerkbar (auf den Lese-
streifen sind sie selten zu sehen, da der Lesefinger angesetzt
wurde) und erstrecken sich auch auf den Verlauf der Zeile, ob-
wohl sie sich hier bedeutend verkleinern.
Nach dem Gesetze der Kraftersparung, das, wie bei allen
körperlichen Tätigkeiten, auch beim Tastleseu in Geltung steht.
fallen ohne Zweifel alle überflüssigen Bewegungen weg oder
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 33
wenigstens besteht die Temdenz hierfür. Die ideale Tast-
dinie sollte also, sobald der Zeilenanfang festgestellt ist, als eine
Gerade von links nach rechts durch die Mitte der Buchstaben
gehen oder besser gesagt, der Taststreifen der Fingerkuppe
mülste den Buchstabenstreifen der Zeile decken. So sicher vermag
nun aber die Fingerspitze niemals die Richtung zu finden und
einzuhalten, und der Lesefinger ist daher zu Abweichungen von
einer geraden Linie nach ab- und aufwärts gezwungen. Diese
Abweichungen von der idealen Leselinie erfolgen zur Korrektur
‘der Leserichtung besonders an jenen Stellen, wo der Finger auf
ein Zeichen trifft. Trifft er es voll, so genügt beim guten Leser
ein Übergleiten, geschieht dies nicht, so müssen notgedrungen
die zur vollen Berührung des Buchstabens notwendigen Bewe-
gungen ausgeführt werden. Die Bewegungen können auch den
Zweck haben, sich zu vergewissern, dals das Zeichen, z. B. ein
oo
E.
kurzes ‚ von oben berührt, nicht noch einen weiteren Punkt
oo
-zeigt è | . Aus diesen Gründen kann eine ununterbrochen ge-
rade verlaufende Leselinie auch von den besten Lesern nicht
eingehalten werden. Es sind vielmehr zur Einhaltung
der Leserichtung mehr oder weniger häufige Such-
bewegungen notwendig, deren Gestaltung einer Wellenlinie
nahekommt.
Mitunter erscheinen auch bei sehr guten Lesern andauernd
stärkere Suchbewegungen, die aber sofért als Folge nervöser
Erregungen erkannt werden können. Bei nervenempfindlichen
Lesern bringt das Auftreffen des Fingers auf ein Zeichen un-
willkürliche Zuckungen hervor. Macht ihnen das Einhalten der
Leserichtung schon Schwierigkeiten, so scheint die nervöse Er-
regung eine Reihe von Bewegungen auszulösen, die der ruhige
Leser vermeidet. Diese Bewegungen erfolgen weniger ab- und
aufwärts, sondern bestehen, wie die Aufzeichnungen zeigen, in
einem unruhigen Gleiten in verschiedenen Richtungen, haupt-
sächlich vor und zurück.
Die Tastbewegungen sind jedoch auch zum Er-
kennen der Zeichen (Buchstaben und Wörter) not-
wendig. Ein Punkt (auch ein ganzes Zeichen) kann beim
Aufdrücken des Fingers erkannt werden. Er wird jedoch
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 16. 3
34 Karl Biirklen.
umso friiher und um so sicherer erkannt, je mehr Stellen der
Haut mit ihm in Berührung kommen und derartige Berührungen.
erfolgen eben während der Tastbewegungen. Zur raschen und
sicheren Erfassung des Buchstaben- bzw. Wortbildes erfolgen
daher neben den Suchbewegungen, wenn nötig, noch weitere Be-
wegungen, hauptsächlich nach ab- und aufwärts. Dieselben ge-
schehen niemals in den Zwischenräumen, sondern über einem
Zeichen und zwar nach Notwendigkeit nicht einmal, sondern
auch mehrmals. Die Richtigkeit obiger Behauptung geht auch:
daraus hervor, .dafs sich die angeführten Tastbewegungen bei
guten Lesern sehr stark verringern, aber auch bei diesen, wenn
sie auf schwer leserlichen (verdrückten) Text stofsen, sofort wieder-
auftauchen. Übrigens wurden sie auch bei den Versuchen be-
obachtet, bei denen die Fingerspitze voll auf das Zeichen auf-
gesetzt wurde, so dals sie keinesfalls als Suchbewegungen be-
trachtet werden können.
Welche Rolle die Tastbewegungen bei der angenommenen
Synthese und Analyse der Buchstaben und Wortbilder spielen,
bleibe vorerst dahingestellt. Wie die psychologische Erfassung,
das Erkennen stattfindet, ist eine noch höchst unklare, die später
berührt werden soll.
Durch die Verschmelzung der Suchbewegungen.
(abgesehen von jenen am Anfang der Zeile) mit den Er-
kennungsbewegungen lälst sich für die Tastbewegungen.
beim Lesen einzelner um mehr als Fingerbreite auseinander-
stehender Zeichen folgendes Schema bilden (Abb. 10).
m m
Ideale Tastlinie.
ee
Tastlinie mit leichten Unterbrechungen.
Tastlinie mit stärkeren Unterbrechungen.
| Tastlinien mit mehrmaligen Unterbrechungen.
oa oO oo Naa
Abb. 10.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 35
Die Form der Unterbrechungen ist meist sägeförmig, zeigt
mitunter aber auch Mäander- und Schlingenform.
I]. Versuch. Die Tastbewegungen eines Lesefingers
beim Lesen von Worten und Sitzen.
Unter sonst gleichen Bedingungen wie beim ersten Versuche
wurden diesmal zwei Zweilen mit Worten bzw. Sätzen gelesen.
Es sollte dies die Beobachtung ermöglichen, welche Tastbewe-
gungen beim Lesen von zusammenhängenden Worten ausgeführt
werden und wie der Übergang von einer Lesezeile zur anderen
geschieht.
Der Lesestreifen V enthielt Worte (also zusammenhängende
Zeichen in der gewöhnlichen Entfernung, 2 mm, mit den üblichen
Zwischenräumen, 8 mm, zwischen je zwei Worten) und zwar die
Namen: |
„Otto August Hermann Konrad Ida
Georg Wilhelmine Vitus Kastor.“
Aufser bekannten Eigennamen wurden auch zwei fremde, den
Lesern ungewohnte, gewählt. Der Zweck dieser Auswahl war,
zu sehen, ob letztere ebenso leicht gelesen würden als die be-
kannten. |
Der Lesestreifen VI zeigte zwei Sätze:
„Morgenstund hat Göld im Mund.
Xerxes war ein Perserkönig.“
In das erste, allen Lesern geläufige Sprichwort wurde im Worte
„Gold“ ein Fehler, statt des o das symmetrische Zeichen fiir 6,
absichtlich eingefügt, um die Aufmerksamkeit beim Lesen zu er-
proben. Der zweite Satz hatte einen den Lesern fernliegenden
Inhalt mit den fremden Worten „Xerxes“ und „Perser“. Das
Wort „Perserkönig“ hatte mit 11 Zeichen auch die gröfste Aus-
dehnung.
Zu Beginn der Leseproben wurde den J.esern gesagt, dals
sie diesmal zwei Zeilen mit Worten, also nicht einzelne Zeichen
wie früher, zu lesen hätten. Gelesen wurde wieder mit dem
Zeigefinger. |
Als allgemeine Bemerkungen bei den Leseproben sind an-
zuführen, dafs das Lesen von Worten mit nur einem Finger den
meisten Lesern ziemlich schwer fiel, also nur langsam und mit
grolser Aufmerksamkeit vonstatten ging, und dals viele der Leser
D 3*
e
36 Karl Bürklen.
aufgefordert werden mulsten, beim Zurückfahren den Lesefinger
auf dem Lesestreifen zurückzuführen, da sie ihn in der Luit
zurücknehmen wollten.
Betrachtet man vorerst den Verlauf der Tastlinien
über die zwei Lesezeilen ohne Rücksicht auf den Text an
solchen Beispielen, bei denen relativ gleichmälsig gut gelesen
wurde, so findet man bei den guten Lesern eine wenig unter-
brochene Linie, bei den schwächeren eine Vermehrung der Tast-
bewegungen, die sich bei den schwachen Lesern bis zur Ver-
worrenheit der Linien steigert. (Tafel III, Nr. 11—16.) Die von
der Leserichtung abweichenden Tastbewegungen sind infolge der
engen Stellung der Zeichen mehr aneinandergedrängt, als bei
dem ersten Versuche mit entfernter stehenden Zeichen. Mitunter
sind es nur leichte Abweichungen, mitunter zeigen sich wellen-
förmige Bewegungen der Tastlinie, häufig ist diese sägeförmig.
Grölsere Bewegungen werden nur am Anfang eines schwer zu
erkennenden Wortes ausgeführt (Tafel III, Nr. 14 und 16), während
die kleineren Bewegungen die Feststellung der einzelnen Zeichen
bezwecken oder Suchbewegungen sind. Die leeren Räume zwi-
schen nebeneinander stehenden Worten werden deutlich erkannt
und glatt überfahren.
Am Anfange der Zeilen treten deutliche Suchbewegungen
auf. Der Übergang von einer Zeile zur anderen erfolgt
im Zwischenraum der Zeilen oder auf der gelesenen Zeile, selten
auf der neuen Zeile. Die Rückkehrlinie ist in ihrem glatten
Verlauf von den Leselinien gut zu unterscheiden.
Die Erkennbarkeit der Worte zeigte, abgesehen von
den Leseschwierigkeiten der einzelnen Zeichen, grofse Verschieden-
heiten. In der Mehrzahl wurden die Wortbilder erfalst und nur
bei schwer lesbaren Worten kommt es, wie die daselbst sich
häufenden Tastbewegungen zeigen, zum Zerlegen des Wortbildes,
zum Buchstabieren.
Bei dem Lesestreifen V wurde nach dem Lesen der ersten
Worte, bei denen die Leser sehr vorsichtig zu Werke gingen,
bald erkannt, dafs es sich um Taufnamen handle, was die Er-
fassung der folgenden Namen sichtlich erleichterte. In der ersten
Zeile bereiteten die Worte „Otto“ und „Ida“ trotz der wenigen
Zeichen verhältnismäfsige Schwierigkeiten. Ich führe dieselben
auf die durch die Breite der Zeichen bedingte Zusammendrängung
bei „Otto“ und auf die Kürze der Zeichen bei „Ida“ zurück.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 37
Das Wort „Wilhelmine“ wurde oft, bevor es ganz überfahren
war, als „Wilhelm“ gelesen, sobald der Finger aber das Ende
des Wortes traf, als , Wilhelmine“ richtiggestellt. Die relativ
grölste Unsicherheit trat in der zweiten Zeile bei den Namen
, Vitus“ und ,Kastor“ auf. Das erstere wurde oft sofort richtig
gelesen, zur Sicherheit aber nochmals überfahren, bei letzterem
wurde die Silbe „Ka“ leicht, dagegen die Silbe „stor“ schwer
gelesen.
Lesestreifen VI. Auch hier tritt dieselbe Erscheinung wie
bei Lesestreifen V auf, dals den Lesern fernliegende oder un-
bekannte Worte, trotzdem sie aus leicht zu erkennenden Zeichen
zusammengesetzt sind, die relativ grölsten Schwierigkeiten bieten.
Die Bedeutung des sinngemälsen Lesens tritt hier noch stärker
hervor. Im Sprichwort „Morgenstund hat Gold im Mund“ wurden
nach Feststellung der ersten Worte die weiteren nur flüchtig über-
fahren. Dabei wurde der im Worte „Göld“ absichtlieh gemachte
Fehler unter 50 Lesern von 36 übersehen und nur von 14 be-
merkt. Die Feststellung des Fehlers erforderte stets vermehrte
Tastbewegungen. Häufig wurden auch die Worte „Morgenstund“
als „Morgenstunde“ und „Mund“ als „Munde“ gelesen. Die
Hauptschwierigkeiten des Satzes „Xerxes war ein Perserkönig“
lagen in den Worten „Xerxes“ und „Perserkönig“, wobei die
Länge des letzten Wortes sichtlich erschwerend wirkte (Tafel III,
Nr. 15 und 16).
Das Tastlesen von Worten und Sätzen weist nach
diesen Untersuchungen bis auf dieLangsamkeit des
Vorganges gro[lse Ähnlichkeiten mit dem Augen-
lesen auf. Dasselbe erfolgt in zusammenfassender
Weise durch die Auffassung von Wortbildern. Je
grölser die Aufmerksamkeit des Lesers und sein
Wortschatz, desto bedeutungsvoller ist die Rolle
der Assimilation. Unbekannte Worte erschweren
den Lesevorgang um ein Bedeutendes und machen
eine Zerlegung des Wortbildes notwendig. Der Über-
gang von einer Zeile zur anderen führt zu einer,
das flie[sende Lesen störenden Pause.
III. Versuch.
Dieser Versuch galt der Beantwortung folgender Fragen:
1. Welche Finger besitzen die Fähigkeit, zu lesen?
38 Karl Bürklen.
2. Welcher Finger liest am besten’?
3. Welcher von den Zeige- bzw. Mittelfingern liest am schwersten?
4. Welche Finger werden gewöhnlich beim Lesen gebraucht?
1. Frage. Welche Finger besitzen die Fähigkeit, zu lesen?
Die Angaben der 50 Leser waren folgende: In 47 Fällen wurden
in erster Linie die Zeige- und Mittelfinger als befähigt bezeichnet;
hierzu in 14 Fällen die beiden Ringfinger, in 14 Fällen Ring-
finger und kleine Finger. 22 Leser erklärten, mit Ringfinger und
kleinem Finger nicht lesen zu können. Zwei Leser gaben an,
nur mit den beiden Zeigefingern lesen zu können, einer nur mit
dem Zeige- und Mittelfinger rechts.
Vor allem sind Zeige- und Mittelfinger Lesefinger, jedoch
schon mit deutlicher Abstufung der Fähigkeit. Bei den Ring-
fingern sinkt die Lesefähigkeit bereits unter die Brauchbarkeit.
Noch geringer ist sie bei den kleinen Fingern. Die Möglichkeit,
auch diese Finger zum Tastlesen heranziehen zu können und
ihre geringe Lesefähigkeit zu steigern, steht wohl aulser Frage,
doch besteht hierfür keine Notwendigkeit. Ich liefs deshalb auch
Ringfinger und kleine Finger für die folgenden Fragen aufser
Betracht.
2. Frage. Welcher Finger liest am besten? Es wurden be-
zeichnet: |
Zeigefinger rechts in 34 Fällen,
4 links , 14 in.
Mittelfinger rechts „ 2 ae
Die letzten Fälle betreffen zwei Leser, welche erst mit 15 bzw.
16 Jahren und ohne gründliche Anleitung das Tastlesen erlernt
hatten. Als beste Lesefinger sind ohne Frage die beiden Zeige-
finger zu betrachten.
Nach vorstehenden Angaben hatte es den Anschein, als würde
der rechte Zeigefinger gegenüber dem linken der bessere Lese-
finger sein und ich neigte nach meinen Beobachtungen beim
Lesen auch dieser Ansicht zu. Die Bekanntgabe jedoch, dals
Blindenlehrer P. GrasEMANN in Hamburg, mit welchem ich wih-
rend meiner Arbeit in Verbindung trat und welchem ich wert-
volle Anregungen zu danken habe, durch Leseversuche zu dem
Ergebnisse gelangt sei, die linke Hand sei der rechten in der
Lesetüchtigkeit überlegen, veranlafste mich, die Angaben unserer
Versuchspersonen mittels GRASEMAnxNs Methode nachzuprütfen.
Ich liefs wie er drei Seiten eines erzühlenden Lesestoffes (Voll-
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 39
schrift oder Kurzschrift) lesen und zwar die erste Seite mit beiden
Händen, die zweite Seite mit der linken, die dritte Seite mit der
rechten Hand allein. Die Lesezeiten wurden ohne Rücksicht auf
‘Stockungen und Wiederholungen aufgezeichnet. Wie bei GRASE-
MANN liefsen sich die vorgenommenen 66 Leser in solche scheiden,
die mit beiden Händen gleich gut lesen, solche, die mit der linken
und solche, die mit der rechten Hand besser lesen. Nach GRASE-
MANN rechnete ich zur 1. Gruppe diejenigen, bei denen das links-
händige und rechtshändige Lesen ungefähr dieselben Zeiten auf-
wies (bei denen der Unterschied nicht mehr als 20°, betrug),
zur 2. Gruppe diejenigen, welche links, zur 3. Gruppe diejenigen,
welche rechts rascher lesen konnten.
Von den 66 Lesern lasen
beidhändig gleich gut 15 Leser = 23°,,,
linkshändig besser 30 , = 45%,
rechtshindig besser 21 , == 32%).
Die Richtigkeit der Grasemannschen Versuchsergebnisse war
damit bestitigt und es galt nun den Grund der abweichenden
früheren Angaben der Versuchspersonen zu finden. Der Ver-
gleich der angelegten Tabellen zeigte, dafs nur einige Leser sich
in den Angaben links und rechts geirrt hatten. Dagegen hatte
eine grölsere Zahl rechts angegeben, trotzdem sie rechts und
links gleich gut lesen, so dafs in der ersten Angabe die Gruppe
der Beid- und Rechtshänder in einer Gruppe vereinigt erscheinen,
während sie durch die Leseversuche getrennt wurden.
3. Frage. Welcher von den Zeige- bzw. Mittelfingern liest
am schwersten? Es wurden angegeben:
Mittelfinger links in 33 Fällen,
o rechts „ 12 E
Zeigefinger links , 4 on
S rechts „ 1 Fall.
4. Frage. Welche Finger werden gewöhnlich beim Lesen
gebraucht? Es wurde nach den Angaben gelesen:
Mit zwei Fingern in 41 Fällen und zwar
mit Zr und Zl in 37 Fällen,
» “ZL , Ml, 2 k,
, or , Mr, 1 Fall,
e. NEE a EK eg, D ou
40 Karl Biürklen.
Mit einem Finger in 6 Fällen und zwar
mit Zr in 5 Fällen,
» Mr, 1 Fall.
Mit drei Fingern in 3 Fällen und zwar
mit Zr Zl und Mr in 2 Fallen,
» “r Zl, Ml, 1 Fall.
Als Kontrollfrage wurde schliefslich folgende gestellt: Welcher
Finger ist beim Lesen am tätigsten? Die Angaben deckten sich
mit jenen der Frage 2.
Die Ergebnisse aus Vorstehendem lassen sich also zusammen-
fassen: Die Möglichkeit zum Tastlesen ist bei allen
Fingern gegeben. Wenn hauptsächlich die Zeige-
finger, ausnahmsweise auch Mittelfinger, zum Le-
sen gebraucht werden, so liegt dies in ihrer bevor-
zugten Stellung, grölseren Beweglichkeit und der
erlangten Übung.
Als beste Lesefinger sind die Zeigefinger anzu-
sehen. InderRegellesen auch nur die beiden Zeige-
finger. Mitunter wird nur mit einem Zeigefinger gelesen. In
Ausnahmefällen kommen aulser einem Zeigefinger auch ein
Mittelinger gemeinsam mit ersterem zur Verwendung, noch
seltener lesen drei Finger gemeinsam, wobei zu den Zeigefingern
noch ein Mittelfinger tritt.
Vergleicht man die Lesetüchtigkeit der beiden
Hände miteinander, so findet man, dafs bei ',, der
blinden Leser rechte und linke Hand gleich gut
lesen, bei ï, sich jedoch ein Unterschied in der Art
bemerkbar macht, dafs die linke Hand der rechter
Hand in der Lesefertigkeit einigermafsen über-
legen ist.
IV. Versuch.
Lesen einzelner Zeichen mit zwei Fingern.
Lesefinger waren bis auf einen einzigen Fall, wo die beiden
Mittelfinger verwendet wurden, stets beide Zeigefinger. Um die
Tastbewegungen der beiden Lesefinger voneinander zu unter-
scheiden, wurden in die Tastschreiber verschiedenfarbige Stifte
eingesetzt und zwar für den rechten Finger grün, für den
linken rot. Gelesen wurde am Lesestreifen III.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 4l
Als allgemeine Beobachtung bei diesem Versuche konnte
festgestellt werden, dafs die Tätigkeit der beiden Lese-
finger in bezug auf Zahl und Form der Tastbewe-
gungen eine verschiedene ist. Bei guten Lesern gleiten
wohl die beiden Lesefinger gleichmäfsig auf der Zeile hin (Tafel IV,
Nr. 17), so dals sich ein Unterschied in der Betätigung kaum
entdecken lälst, doch in der überwiegenden Zahl der Fälle ist
die Verschiedenartigkeit der Betätigung der Finger in den Tast-
linien deutlich zu erkennen. So ist aus den Beispielen (Tafel IV,
Nr. 19—25) das Hervortreten der Bewegungen des einen Lese-
fingers zu ersehen und zwar ist es sowohl der rechte, häufiger
jedoch der linke Lesefinger, der umfangreichere Tastbewegungen
ausführt. Neben diesen gehäuften Bewegungen des
einen Fingers geht der zweite mit mehr oder minder
gleichlaufenden Bewegungen dahin. Diese Parallel-
bewegungen erfolgen wohl unwillkürlich, denn sie erscheinen
selbst dort, wo der zweite Finger gar nicht mehr auf der Zeile
läuft (Tafel IV, Nr. 21 und 23). Mitunter wird der eine oder an-
dere Lesefinger gänzlich ausgeschaltet (Tafel IV, Nr..22). Schliels-
lich gibt es auch Fälle, wo beide Finger nahezu gleichmälsig
tätig erscheinen oder in ihrer Arbeit abwechseln (Tafel IV, Nr. 24
und 25).
Die überwiegende Tätigkeit des einen Fingers beim Tastlesen
könnte die Annahme rechtfertigen, dafs überhaupt nur ein Finger
liest und die Tätigkeit des zweiten Fingers nur der Ergänzung
oder Kontrolle dient. Jedoch läfst sich vorläufig noch nicht ab-
sehen, in welchen Beziehungen die Tastbewegungen zu den ein-
zelnen Vorgängen des Leseaktes stehen. Für diese Frage wären
besonders zwei Fälle, wie sie aus dem vorstehenden Versuche
deutlich hervortreten, in Betracht zu ziehen.
1. Fall. Ruhigere Leselinie des rechten Fingers, lebhaftere
Tastbewegungen des linken Fingers.
NN I ee
Tr 11-0771.
Abb. 11.
Hierbei könnte dem rechten Finger eine flüchtige übersicht-
liche Erfassung, dem linken eine deutliche Aufnahme durch Er-
42 Karl Bürklen.
gänzung oder Zergliederung, also die Sicherstellung zugeschrieben
werden.
2. Fall. Lebhafte Tastbewegungen des rechten Fingers,
ruhigere Leselinie des linken Fingers.
penne LS
Abb. 12.
Hier könnte bereits eine vollständige Erfassung durch den
rechten Finger angenommen werden, während dem linken wohl
nur eine notwendig erscheinende Überprüfung obliegt.
Als weiterer Fall wäre anzunehmen, dafs die geschilderten
Tätigkeiten der beiden Finger untereinander abwechseln.
V. Versuch. Lesen von Worten in einem Satze
durch zwei Lesefinger (beide Zeigefinger).
Als Lesetext wurde folgender, auf zwei Zeilen stehender
Satz gewählt:
„Es war einmal ein Mann, Egbert
geheilsen, aus dem Lande Bayern.“
Bei einer Reihe von Lesern traten wieder mehr oder weniger
ruhige gleichlaufende Tastlinien auf, die ein besonderes Hervor-
treten des einen oder anderen Fingers nicht erkennen lassen
(Tafel V, Nr. 26—30).
Das Aufsuchen der neuen Zeile wird meistens durch den
linken Lesefinger besorgt (Tafel V, Nr. 26 und 27).
Bei anderen Lesern ist eine grölsere rechts- oder linksseitige
Tätigkeit der Lesefinger zu ersehen (Tafel V, Nr. 23—30).
Leseschwierigkeiten waren vor allem bei den Worten „Egbert“
und „Bayern“ zu bemerken.
VI. Versuch. Aufzeichnung der Druckstärke
beim Tastlesen.
Das Hinweggleiten der. Lesefinger über die Punktschrifi-
zeichen ist zur Berührung der Zeichen von einem gewissen Druck
begleitet. In der Literatur findet sich keinerlei Hinweis auf die
Stärke und Veränderlichkeit dieses Druckes. Wohl ist schon aus
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 43
der Beobachtung zu erkennen, dafs das Tastlesen bei guten
Lesern mit einem verhältnismälsig geringen und möglichst gleich-
bleibenden Fingerdruck vor sich geht. Wo sich Leseschwierig-
keiten ergeben, wie beim Anfänger oder bei undeutlichem Punkt-
relief, kann auch eine mit vermehrten Tastbewegungen ver-
bundene Druckverstärkung vermutet werden. Namentlich das
Herabgleiten des Lesefingers über die schwerer zu erkennenden
Punktschriftzeichen bekräftigt diese Annahme.
Zur Aufzeichnung der Druckstärke beim Tastlesen empfahl
mir Herr Prof. Dr. W. Kammer, Leiter des „Pädagogisch-psycho-
logischen Laboratoriums an der n.-ö. Landes-Lehrerakademie in
Wien“ die Schreibwage und unterstützte mich bei den Aufnahmen
in entgegenkommendster Weise. Dr. W. Kammer beschreibt die
Versuchsanordnung folgendermalsen: „Was die experimentelle
Analyse der Druckempfindlichkeit beim Tastlesen betrifft, so ge-
schah dieselbe durch die Druck- und Zeitmessung. Um die sehr
charakteristischen Druckverhältnisse experimentell nachzuweisen,
bedienten wir uns des pneumatischen Apparates, den E. MEUMANN
(10, III. B. S. 538) beschreibt und den die Lichtbildaufnahme
(Abb. 13) wiedergibt. Die blinden Zöglinge wurden angewiesen,
|
Abb. 13. Versuchsanordnung bei der Aufzeichnung der Druckstärke
beim Tastlesen.
| 44 Karl Bürklen.
bestimmte Schriftzeichen (Buchstaben, Worte und kurze Sätze)
von dünnen Metallplatten abzulesen, die auf einer beweglichen
Holzplatte befestigt waren. Diese Holzplatte stützte sich durch
einfache Holzhebel auf zwei pneumatische Kapseln,! von denen
der Druck durch einen Gummischlauch auf einen Marrvschen
Tambour übertragen wurde, dessen Registrierhebel die beim Ab-
lesen der Schriftzeichen hervorgebrachten Druckschwankungen
im Volumen der eingeschlossenen Luft auf einer mälsig schnell
rotierenden Kymographiontrommel aufzeichnete. Was die Be-
stimmung der zum Lesen notwendigen Zeit betrifft, so wurde
dieselbe gleichzeitig auf der Kymographiontrommel aufgezeichnet,
indem mit Hilfe eines Markiermagneten der Augenblick markiert
wurde, in welchem der Leser das folgende Zeichen mit dem
Zeigefinger der rechten Hand berührte. Aufserdem wurde die
Zeit mittels eines Chronographen nach JaQquEtT in Ftinftelsekunden
markiert, so dafs es möglich war, die Lesezeit bis auf 0,2 Se-
kunden zu bestimmen.“
Die Versuche wurden mit 15 Zöglingen der n.-ö. Landes-
Blindenanstalt in Purkersdorf, welche die Lesefertigkeit der Punkt-
schrift in verschiedenem Grade zeigten, ausgeführt. Gelesen
wurde nur mit dem rechten Zeigefinger, ohne die Hand aufzu-
stützen, um ein klares Bild der Druckstärke zu erhalten. Gelesen
wurde auf den Lesestreifen I, III und V. Aus den Abbildungen
auf Tafel VI ist die Bedeutung der auf den Streifen sichtbaren
Linien zu ersehen. Die oberste volle Linie ist die Druck-
kurve, welche vom Registrierhebel des Marreyschen Tambours
gezeichnet wurde, die wagrechte punktierte Linie die Normal-
oder Nullinie. Wie bereits angeführt wurde, geschah die
Markierung des Zeitpunktes, bei welchem der Lesefinger einen
einzelnen Buchstaben oder bei Worten das erste Zeichen be-
rührte, durch einen besonderen Taster, dessen Marken auf der
dritten Linie zu finden sind. Auf diese Weise konnte nachträg-
lich der Lesetext, wie er auf den Streifen zu sehen ist, einge-
tragen werden. Die unterste Linie zeigt die Zeitmarkierung
in 0,2 Sekunden und gestattet die genaue Bestimmung der Lese-
zeiten für die Zeichen bzw. Worte.
In den Lesekurven (Tafel VI, Nr. 1—3) haben wir bei
! Um genauere Messungen vorzunehmen, wurden zwei Kapseln ver-
wendet. MEUMANN benützte nur eine,
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 45
gleichem Lesetext und zwar einzelnen Zeichen drei vonein-
ander gänzlich verschiedene Drucklinien vor uns. Die geringe
Erhebung der ersten Drucklinie über die Nullinie sagt uns, dafs
der beim Lesen ausgeübte Druck nur ein geringer war; der
gleichmälsige Verlauf lälst erkennen, dals der Lesefinger mit
gleichbleibendem Druck über die Zeilen hinglitt. Es handelt sich
hier um einen guten und ruhigen Leser. Ähnliche Aufnahmen
finden sich von mehreren anderen guten Lesern vor. Die zweite
Drucklinie zeigt bereits einen ungleichmäfsigen Verlauf. Sie
steigt beim Berühren des ersten Zeichens ziemlich stark an unıl
auch bei den folgenden Zeichen löst fast jede Berührung einen
stärkeren Druck aus, obwohl die Linie nicht mehr zur früheren
Höhe ansteigt. Diese Linie rührt von einem mittelmäfsigen Leser
einer unteren Klasse her. Noch schwankender ist die dritte
Drucklinie. Besonders in der ersten Hälfte wird ein starker
Druck ausgeübt, der bei jedem Zeichen schroff ansteigt, währen:
in der zweiten Hälfte sich die Druckschwankungen bedeuten!
abschwichen. An dem Verlauf der Drucklinie über dem fünften
Zeichen lassen sich gut die mit der Erkennungsschwierigkeit ver-
bundenen Tastbewegungen als Druckschwankungen erkennen.
Der Leser, ebenfalls ein Schüler der unteren Klassen, besitzt
mittelmäfsige Lesefertigkeit, ist jedoch ein nervöser Knabe, so
dafs ein Teil der Druckschwankungen wohl auf seine Erregung
zurückzuführen ist. Von schwachen Lesern sind Aufnahmen vor-
handen, welche das gleiche Bild wie die dritte Drucklinie zeigen.
Die Lesezeiten für ein Zeichen sind beim ersten l.eser
nahezu gleich (1—2 Sek.), während sich bei den anderen grölsere
Unterschiede bemerkbar machen (2—5 Sek). Noch weiter dehnt
sich die Lesezeit bei schwachen Lesern aus. Wurde der gleiche
Lesetext von demselben Leser wiederholt, so verkürzte sich woll
die Lesezeit, der Verlauf der Drucklinie veränderte sich jedoch
nur wenig.
Die drei wiedergegebenen Drucklinien kann
man als typisch für gute, mittelmälsige und schwache
Leser ansehen.
Beim Lesen von Worten wiederholen sich dieselben Er-
scheinungen wie beim Lesen einzelner Zeichen (Tafel VI, Nr. 4—6).
Wir finden wieder bei guten Lesern einen geringen und gleich-
mälsigen Druck, bei mittelmäfsigen Lesern stärkeren Druck und
Ansteigen der Drucklinie bei jedem neuen Worte, endlich kräftige
46 Karl Bürklen.
und vermehrte Druckschwankungen bei schwachen Lesern. Auch
die Lesezeiten, welche sich bei Worten im allgemeinen verkürzen,
verteilen sich ähnlich wie bei den einzelnen Zeichen. Die Druck-
schwankungen beim Zeilenübergang prägen sich deutlich aus.
Die Drucklinien vier und fünf rühren von den Lesern eins und
zwei her, während mit der Drucklinie sechs die eines guten aber
nervösen Lesers wiedergegeben ist, was sich aus dem Verlaufe
in der ersten und zweiten Zeile ersehen läfst.
Mit der Orientierung zu Beginn des Lesens ist ein stärkerer
Druck verbunden, der den Suchbewegungen zuzuschreiben ist.
Betrachtet man die dreilsig erlangten brauchbaren Aufnahmen
der Druckstärke, so läfst sich jeder Leser aus dem charakte-
ristischen Verlauf der Drucklinie erkennen, so indivi-
duell sind diese Linien gestaltet. In dieser Hinsicht besteht eine
Ahnlichkeit mit dem Schriftcharakter sehender Personen. Sicher
ist für diese Charakteristik nicht allein die Lesefertigkeit, sondern
es sind auch gewisse individuelle Eigenschaften mafsgebend. Am
deutlichsten tritt in den Drucklinien nervöse Erregbarkeit hervor.
Zusammengefafst stellen sich die Versuchsergebnisse folgender-
mafsen dar:
Am Anfange einer Zeile ist durch die Drucklinie
ein stärkeres Aufdrücken des Lesefingers festzu-
stellen. Diese Druckschwankungen hängen mit den
Suchbewegungen des Lesefingers zusammen.
Gute Leser zeigen meistens eine in gleicher Höhe
verlaufende glatte Drucklinie, während unsichere
Leser den Druck mehr oder weniger verstärken.
Leseschwierigkeiten führen in Verbindung mit ver-
mehrten Tastbewegungen zur Druckverstärkung und
damit zu einer schwankenden Drucklinie.
Die Drucklinien zeigen bei jedem Leser einen
ganz individuellen Charakter, der nicht nur aus der
Lesefertigkeit, sondern auch aus anderen indivi-
duellen Besonderheiten sich ergibt.
VII. Versuch. Veränderungen der Tastfähigkeit
während des Tastlesens.
Lingeres Tastlesen mufs naturgemäfs nicht nur mit geistiger
Ermüdung, sondern auch mit einer Herabsetzung der Tast-
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 47
empfindlichkeit an den Fingerspitzen verbunden sein. Die An-
nahme der Blindenpidagogen ging bisher dahin, dafs durch die
Inanspruchnahme der Lesefinger die Herabsetzung der Tastemp-
findlichkeit an den Fingerspitzen ziemlich rasch vor sich geht,
während dagegen die Augen beim Lesen der Schwarzschrift eine
bedeutend grölsere Ausdauer entwickeln. Abgesehen von den
bereits angeführten Umständen, die das Tastlesen erschweren
oder gänzlich unmöglich machen, erklären blinde Leser, nach
längerer Lesezeit (4—5 Stunden) keinen deutlichen Eindruck
der Zeichen mehr zu erhalten.
JavaL bemerkt diesbezüglich (5, 8. 7): „Wenn ich viel gelesen habe,
fühlen sich die Punkte mit dem geben Zeigefinger wie Wolle an, mit dem
linken dagegen spitz. Allerdings wurden auch in bezug auf die Ermüdung
beim Tastlesen ziemlich weit auseinandergehende individuelle Unterschiede
beobachtet.“
Soweit war auch ich über diese Sache orientiert, als ich an
nachstehend beschriebenen Versuch ging. Zur Prüfung der Ab-
stumpfung der Tastempfindlichkeit beim Lesen gebrauchte ich
das Asthesiometer und wählte unter den verschiedenen Formen
das Doppelgewichts-Ästhesiometer von Dr. W. KAMMEL aus, konnte
es jedoch in seiner Einteilung von 5 zu 5 mm für die Finger-
spitzen nicht gebrauchen. Vorversuche führten vielmehr dazu,
für die Prüfung an den Fingerspitzen als zweckmälsigste Inter-
valle 2, 3, 4 und 5 mm zu nehmen. Diese geringen Abstände
machten eine Abänderung in der Form der Nadelköpfe not-
wendig, die nicht rund sondern flach gestaltet wurden. Weiter
erschien eine Erhöhung der Nadelgewichte bis 1,5 g notwendig,
um mit den abgestumpften Nadeln einen entsprechend starken
Eindruck auf der ziemlich dicken Haut an den Spitzen der
Zeigefinger hervorzubringen.
Die Untersuchungen über die Veränderungen der Tastempfind-
lichkeit wurden an den beiden Zeigefingern vorgenommen, um
erkennen zu lassen, ob die Herabsetzung der Tastempfindlichkeit
an beiden Lesefingern in gleichem oder verschiedenem Grade vor
sich geht. Die Nadeln wurden im ersten Drittel jener Linie auf-
gesetzt, die von der Rosette des ersten Fingergliedes zur Spitze
gezogen wurde und zwar senkrecht auf die Medianlinie (Abb. 14).
(Abb. 14 siehe S. 48.)
Nach der Methode Dr. KAmmEıs wurden in jeder der Ent-
fernungen von 2, 3, 4 und 5 mın Serien von Berührungen vor-
48
Karl Biirklen.
genommen, von denen jede Serie 3 Kontakte und 1 Vexier-
versuch umfalste.
Die Tabellen wurden (siehe S. 50) dement-
sprechend eingerichtet.
Abb. 14.
Die Lesezeit umfalste 6 Stunden mit
einer halbstündigen Unterbrechung nach der
dritten Stunde und zwar die Stunden von
9 bis 12 Uhr vormittags ('/, Stunde Pause)
und 1/1 bis !/,4 Uhr nachmittags. Gelesen
wurde in Unterhaltungsschriften, die in üb-
licher Punktgröfse gedruckt waren (Voll,
oder Kurzschrift nach Wahl).
Mit diesen Untersuchungen wurde die
Ermüdungsmessung am Unterarm genau
nach den Angaben Dr. KAmmeus verbunden,
um einen Vergleich mit beiden gewinnen
zu können (Abb. 15).
Abb. 15. Versuchsanordnung bei der Prüfung der Tastempfindlichkeit.
Als Versuchspersonen wurden 20 Zöglinge der hiesigen An-
stalt ausgewählt und zwar 10 in der Berufsbildung stehende
(5 männlich, 5 weiblich) im Alter von 16 bis 19 Jahren und
10 Schüler (5 männlich, 5 weiblich) im Alter von 10 bis 15 Jahren.
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 49
Sämtliche vermochten die Punktschrift, allerdings mit verschie-
dener Fertigkeit, zu lesen. Die Zusammenstellung nach Geschlecht,
Alter und Beschäftigung wurde mit Absicht getroffen. Die Prü-
fungen wurden in Gruppen von 2 bzw. 3 Lesern vorgenommen.
Eine gröfsere Anzahl hätte in bezug auf eine gewissenhafte Prü-
-fung zu grolse Anforderungen an den Experimentator gestellt.
Die ersten Messungen mit drei Leserinnen (Bauer, Cumpelik
und Wiesinger) ergaben das überraschende Resultat, dafs weder
die allgemeine Ermüdung noclı die Herabsetzung der Tastempfind-
lichkeit an den Fingerspitzen besonders deutlich war, trotzdem
die ursprünglich auf 4 Stunden angesetzte Lesezeit auf 6 Stunden
ausgedehnt wurde. Auffallend war bei einer Leserin (Wiesinger)
die Ergebnislosigkeit der Ermüdungsmessung (stets 12:0) und
die Angabe einer anderen (Cumpelik), dafs sie in der 6. Lese-
stunde zeitweilig mit dem Lesen aussetzen mulste, da sie nicht
mehr gut fühle, ohne dafs durch die Messungen eine Herab-
minderung der Tastempfindlichkeit festzustellen war. Da ich für
diese ersten Versuche an den Fingerspitzen spitze Reiznadeln
(Gewicht 0,5 g) verwendete, erklärte ich mir diese Tatsache so,
dafs vielleicht durch das Lesen wohl eine Herabsetzung der Druck-
empfindlichkeit, zugleich aber eine Steigerung der Schmerzempfin-
dung stattfinde, und nahm daher für die folgenden Messungen
an den Fingerspitzen stumpfe, dafür aber schwerere Nadeln (1,5 g).
Bevor ich das Gesamtergebnis der Messungen anführe, gebe
ich eine Tabelle für einen einzelnen Leser wieder und zwar eine
- solche mit grölseren Schwankungen in den Messungsresultaten.
(Siehe die Tabellen auf S. 50 und 51.)
Aus ihr ersehen wir für die in der Berufsbildung stehenden
Leser aus der steigenden Zahl der Fehlurteile nur eine sehr
geringe Abnahme der Tastempfindlichkeit. Beachtens-
wert ist, dafs die Höchstzahl der Fehlurteile nicht am Ende der
Reihe, sondern in der ersten Hälfte steht. Nimmt man die Ge-
samtsumme der Fehlurteile: 49, 53, 66, 71, 59, 66, 66, so ergibt
sich eine bis Schlufs der dritten Lesestunde ansteigende Kurve,
die dann in der zweiten Hälfte nach einer starken Senkung
wieder ansteigt, jedoch die frühere Höhe nicht mehr erreicht
(Abb. 16).
(Abb. 16 siehe S. 52.)
Es ist wohl aufser Frage, dafs sie bei .Fortsetzung des
Lesens weiterhin steigen würde. Der zweigipflige Verlauf der
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 16. 4
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Die gesamten Messungsergebnisse finden sich unter Angabe der Fehlurteile in nachstehender Tabelle vor
Anzahl der Fehlurteile (1 Spitze) bei je 12 Berübrungen
Ge-
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift.
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bei 60 Berührungen
52 Karl Bürklen.
Kurve stimmt auch mit den Angaben der Leser überein, datz
sie in den ersten Lesestunden mehr Tastschwierigkeiten ergeben
‚als späterhin. |
Abb. 16. Kurve zur Abnahme der Tastempfindlichkeit.
Ist schon die Feststellung der Tatsache einer nur geringen
und äulserst langsam fortschreitenden Abnahme der Tast-
empfindlichkeit bei den ersten 10 Lesern während einer sechs-
stündigen, also sehr langen Lesezeit eine überraschende, so wird
jeder Fachmann mit Verwunderung den zweiten Teil der Tabelle
betrachten, aus dem zu ersehen ist, dafs bei den 10 jüngeren
Lesern (Schülern) eine Herabsetzung der Tastempfind-
lichkeit überhaupt nicht festzustellen war. Schon
unter den älteren Lesern finden sich drei (Strenn, Lhotan, Besser),
bei denen die Fehlurteile über drei nicht hinausgehen, die Ver-
minderung der Tastfähigkeit also kaum zu bemerken ist. Noch
deutlicher wird diese Tatsache durch die Zahlen bei sämtlichen
Schülern, von denen sich neun unter zehn in ihren Fehlurteilen
überhaupt gleichbleiben. Ein Irrtum in obiger Folgerung ist
daher wohl ausgeschlossen.
Die Ergebnisse der vorgenommenen Messungen lassen sich
in folgenden Sätzen zusammenfassen: Die Abnahme der Tast-
empfindung beim Tastlesen ist auch nach stunden-
langem Lesen nur eine sehr geringe. Bei älteren
Lesern, die nicht in ständiger Übung sind, ist eine
solche Abnahme festzustellen und zwar vollzieht
sie sich in einer Kurve mit zwei Höhepunkten. Bei
jüngeren Lesern, die das Lesen täglich üben, ist bis
zu einer Zeit von 6 Lesestunden keine Tastabstump-
fung zu bemerken. Es sei hierzu nochmals bemerkt, dals
die Messungen an Blinden vorgenommen wurden, die bereits
fertig zu lesen vermochten und eine jahrelange Ubung hinter
sich haben. Ein anderes Bild mag sich vielleicht bei jenen
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 53
Blinden ergeben, die erst in der Erlernung des Tastlesens be-
griffen sind. |
. Auch was die allgemeine Ermüdung durch das Tast-
jesen betrifft, ergibt sich aus den Tabellenzahlen kein Anhalts-
punkt für die frühere Annahme einer raschen Zunahme der Er-
müdung. Mit Rücksicht auf die beschränkte Zahl der Messungen
und den leichten anregenden Lesestoff möchte ich keine zu weit
gehenden Schlüsse ziehen, neige aber der Ansicht zu, dafs das
Lesen für die Blinden nicht zu den geistig anstren-
gendsten Beschäftigungen gehört.
Höchst interessant ist auch die Verteilung der Fehlurteile
(1 Spitze) auf die Entfernungen in mm. Sie stellt sich folgender-
mafsen dar:
Zahl der Be-
Entfernung: 2mm 3mm 4mm 5mm "brongen
i in jeder
Leser in der Entfernung:
Berufsbildung : 305 59 48 14 420
Leser in der
Schulbildung: 351 — —_— — 420
. Summe: 656 59 48 14 840
Die absolut und relativ gröfste Zahl der Fehlurteile (656)
fällt also in die Entfernung von 2 mm, bei den Schülern sogar
sämtliche Fehlurteile.. In der Entfernung von 3 mm sind die
Fehlurteile (59) bereits stark herabgesetzt, bei den Schülern gar
nicht mehr vorhanden. Ähnlich verhält es sich in der Ent-
fernung von 4 mm, während bei 5 mm die Anzahl der Fehl-
urteile schon eine sehr kleine ist (14 bei den Lesern in der Be-
rufsbildung). Mit gröfster Deutlichkeit ist aus diesen Zahlen zu
entnehmen, dafs die Simultanrdumschwellen an den Spitzen der
Zeigefinger zwischen 2 und 3 mm liegen. Bei 2 mm erfolgte
eine überwiegende Anzahl von Fehlurteilen. Nur ein einziger
Leser (Hammerschmid) fühlte auch in dieser Entfernung durch-
wegs richtig. Eine Entfernung von 2mm zwischen den
einzelnen Punkten der Punktschriftzeichen er-
scheint also zu gering, während andererseits eine
Entfernung von 3 mm als durchaus hinreichend an-
genommen werden kann, auch für ungeübtere Leser.
Mit Rücksicht darauf, dafs erwiesenermalsen die
Sukzessivraumschwelle eine geringere als die Si-
54 Karl Bürklen.
multanraumschwelle ist und die Erkennbarkeit der
Punktschriftzeichen durch die beim Tastlesen vor-
genommenen Tastbewegungen erleichtert wird,
wäre innerhalb von 2 bis 3 mm eine Normaldistanz
für den Punktabstand zu finden.
VII. Versuch.
Leseproben inbezug auf die Leseflüchtigkeit.
Dieser Versuch war zur Feststellung der Leseflüch-
tigkeit bestimmt. Dabei wurde von 50 Lesern (von solchen
im 3. Schuljahre stehenden angefangen bis zu jenen in den Fort-
bildungsklassen) folgender leichter Schultext und zwar je 1 Minute
lang gelesen:
„Es gibt Leute, die das Essen für das wichtigste Geschäft auf Erden
halten. Das ist es sicherlich nicht. Aber immerhin ist es ein wichtiges
Geschäft. Durch das, was wir essen, wird in erster Linie unser Gesunil-
heitszustand bestimmt. Es ist auch nicht gleichgültig, wie wir essen. Dazu
kommt noch, dafs man nach der Art und Weise, wie jemand ifst, auf seine
Bildung und seinen Anstand schliefsen kann. Es ist nicht fein, beim Essen
den Löffel zu kurz oder gar in der Faust zu halten, den Suppenrest aus
dem Teller zu trinken oder das Brot auf dem Tischtuche zu zerschneiden.
Wenn du mit dem Essen fertig bist, lege das E/[szeug nicht neben, sondern
auf den Teller. Es schaut sonst aus, als ob du noch eine Fortsetzung er-
wartest. Nicht fein ist es endlich, gar zu langsam zu essen. Unanständiz
ist es, beim Essen mıit den Lippen zu schmatzen. Wenn man ifst, soll der
andere nichts davon hören.“
Der Druck des Textes war Zwischenpunktdruck der Voll-
schrift in gewöhnlicher Gröfse aus der Druckerei des k. k. Blinden-
Erziehungs-Institutes in Wien.
Vor dem Lesen wurde den Lesern gesagt, sie hätten auf die
bei ihnen übliche Art auf ein gegebenes Zeichen möglichst rasch
zu lesen, nachdem ihre Lesefinger am Anfang der ersten Zeile
angesetzt waren, und auf ein neuerliches Zeichen das Lesen zu
beenden.
Es wurden sowohl die gelesenen Worte als auch die Anzahl
der Zeichen gezählt. Die Satzzeichen wurden zum betreffenden
Worte genommen und auch als Zeichen diesem hinzugeziihlt.
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 55
Die Ergebnisse waren in ansteigender Reihung folgende:
Leser: 1 2 3. 4 5 6 78910 1 12
Worte: 19 29 31 33 36 37 40 41 42 44
Zeichen: 79 117 127 134 160 168 174 178 189 195
Leser: 13 14 15 16 17181920 21 22 23 24 25 26 27
Worte: 45 46 47 54 58 61 69
Zeichen: 201 205 210 232 250 263 284
Leser: 28 29 30 31 32 33 34 35 36 36 37 38 39
Worte: 66 68 71 72 74 "op op 82 83 85
Zeichen: 289 293 304 309 318 320 324 342 349 361
Leser: 40 41 4243 44 45 46 47 48 49 50
Worte: 90 92 96 98 102 na 116 117 146
Zeichen: 383 390 406 418 429 485 490 494 621
Insgesamt wurden gelesen 3290 Worte mit 14131 Zeichen.
Die Leistungen der Leser gehen von 19 Worten = 79 Zeichen
bis zu 146 Worten = 621 Zeichen, sind also sehr verschieden.
Im Durchschnitte ergaben sich für 1 Minute Lese-
zeit rund 66 Worte = 283 Zeichen.
Die Höchstleistung ist, trotzdem sie vereinzelt dasteht, sicher-
lich eine beachtenswerte. Die Leistung des besten Lesers bei
Ta. HELLER mit 79 Worten wurden von 14 Lesern übertroffen.
Berücksichtigt man den leichten Text und viele wiederkehrende
kurze Worte in demselben, so bleibt trotzdem eine gewisse Über-
legenheit gegenüber den Feststellungen HELLERS bestehen.
Nimmt man an, dals ein mittelguter sehender Leser in
1 Minute 250 Worte leise und 150 Worte laut zu lesen vermag,
so stellt sich die Leseflüchtigkeit der blinden und
sehenden Leser im Durchschnitte derart, dafs der
Blinde drei bis viermal langsamer liest als der
Sehende.
Das Lesen mit beiden Händen geht am raschesten vor sich,
während die Verwendung nur einer Hand das Lesen bedeutend
verlangsamt. Ich folgte auch hier den Anregungen des Kollegen
P. Grasemany in Hamburg, indem ich je eine Textseite zuerst
mit beiden Händen, dann mit der linken Hand allein und schlie[:-
56 Karl Bürklen.
lich mit der rechten Hand allein lesen liefs. Als durchschnitt.
liche Lesezeiten ergaben sich bei einer Zahl von 52 Lesern für
beidhändiges Lesen 2 Min. 4 Sek.,
linkshändiges „ I a AO 3:5
rechtshändiges „ 4 , 138 „,
Die Lesefertigkeit zeigt sich mithin in folgendem Verhältnisse:
Beidhändiges : Linkshändiges : Rechtshändiges
Lesen Lesen Lesen
1 : 1,82 ; 2,04
Es ist dies ein etwas ungünstigeres Verhältnis, als es GRAsE-
MANN feststellte (1: 1,64: 1,71).
Das Lesen mit beiden Händen geht also am
raschesten vor sich. Wird nur eine Hand zum Lesen
verwendet, so verdoppelt sich ungefähr die Lese-
zeit. Bereits früher wurde gesagt, dafs im Durchschnitte die
linke Hand allein etwas rascher zu lesen vermag, als die rechte
Hand allein.
Vorschläge zur Erhöhung der Leseflüchtigkeit.
Der aus der Gröfse der Punktschrift sich ergebende weite
Tastweg hat das Bestreben gezeitigt, sowohl zur Raumersparnis
als zum Zeitgewinn beim Tastlesen die Gröfse der Zeichen
soweit als möglich zu verringern. Mehrfache Versuche
dieser Art hatten vorerst keinen Erfolg. Doch ist man neuer-
dings daran, die Punktschrift bis auf eine Höhe von 6 mm und
eine dementsprechende Breite zu verkleinern. Von manchen
Blinden wird diese verkleinerte Punktschrift als ganz gut lesbar
bezeichnet, andere erklären sie für schwerer lesbar als die in
bisher üblicher Grölse gehaltenen. Bei einer zu weit gehenden
Verkleinerung wäre der Zeitgewinn, welcher sich aus dem kür-
zeren Tastwege ergäbe, durch die geringere Lesbarkeit wieder
aufgehoben. Übrigens käme es auch hier auf Versuche an, die
Grenze und den Wert einer Schriftverkleinerung für die Lese-
flüchtigkeit festzustellen. Dals eine Verringerung der bisher üb-
lichen Grölse der Punktschrift möglich ist, wurde bereits an an-
derer Stelle angedeutet.
Die beim Ubergleiten der Lesefinger von einer Zeile zur an-
deren eintretende störende Pause führte zu dem Vorschlage, zur
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 57
Abkürzung des Tastweges den Text in den ungeraden
Zeilen von links nach rechts, in den geraden Zeilen
von rechts nach links zu lesen. Der Finger gleitet dann
am Ende der ungeraden Zeile sofort zum darunter stehenden
Anfange der geraden Zeile, auf welcher Buchstaben und Worte
in umgekehrter Reihenfolge stehen. Das Wort „Vaterhaus“ kann
also in folgenden zwei Schreibweisen vorkommen.
Ungerade Zeile:
ge e eg oe e e o
: & ®® © 00 00 ®
Leserichtung —> @@ © ® © ©
Gerade Zeile:
ee O ® Ọ © © ©
e 00 00 ©0090 © i
® © ® © ee <— Leserichtung.
Dafs dadurch nicht nur eine blofse Umkehrung des Wort-
bildes entsteht, sondern eine viel weitergehende Anderung auf-
tritt, ist aus vorstehendem Beispiele zu erkennen. Was auch hier
an Zeit beim Zeilensuchen erspart würde, ginge sofort wieder
durch die von der angedeuteten Veränderung des Schriftbildes
bedingten Leseschwierigkeit verloren. Der Vorschlag dürfte also
keine Aussicht auf praktische Verwertung haben, trotzdem er für
die Moonsche Blindenschrift (eine Relief-Linienschrift) bereits
angewendet wurde.
Eine tatsächliche Ersparnis und Erhöhung der Leseflüchtig-
keit liegt in der Verwendung der Kurzschrift. Sie besteht
in einer Anzahl von Silben- und Wortkürzungen, bedeutet also
gegenüber der Vollschrift eine Verminderung der Zeichen. Bei
entsprechender Übung geht das Lesen der Kurzschrift ohne
Frage rascher vonstatten, als das Lesen der Vollschrift, obwohl
auch hier der Einwand erhoben wird, dafs bei ungenügender
Kenntnis der Kurzschrift die Langsamkeit der Entzifferung den
Zeitgewinn wettmache oder sogar tibertreffe. Die Wortbilder
werden in der Kurzschrift abwechslungsreicher, also auch charak-
teristischer gestaltet, wodurch die Tastbarkeit sicher befördert wird.
Die Kurzschrift stellt bereits einen Übergang des alphabe-
tischen Systems der Vollschrift zu einem phonographischen
Systeme dar. Java, der sich eingehend mit den Mitteln zur
Beschleunigung des Tastlesens beschäftigte und die gebräuch-
lichen Kurzschriften für unpraktisch hält, verlangt (5, S. 138), dafs
58 Karl Biirklen.
man bei der Auswahl stenographischer Zeichen auf die Bediirf-
nisse der Phonographie die gröfste Rücksicht nehmen solle. Er
geht in einem diesbezüglichen Vorschlage unter Beibehaltung des
Sechspunktfeldes auf das alte Barsrersche System zurück und
will, von der Phonographie allmählich zur raschen Stenographie
überleiten. Ohne Zweifel könnte eine derartige Schreibweise,
wenn sie durchzusetzen wäre, eine weitere Erhöhung der Lese-
flüchtigkeit herbeiführen. Nach Einbürgerung der bestehenden
Kurzschriften ist jedoch auf die Annahme eines neuen Systems
kaum zu hoffen.
Gegen das Braillesystem der Punktschrift wird schliefslich
auch der berechtigte Vorwurf erhoben, dafs die gebräuchlichsten
Buchstaben nicht mit den lesbarsten Zeichen bedacht sind, Häufig-
keit und Lesbarkeit also nicht Hand in Hand miteinander gehen.
Durch Beachtung des Häufigkeitsprinzips lielse sich
allerdings die Lesbarkeit erhöhen und es wurden auch bereits
diesbezügliche Versuche unternommen (New Yorker System o al
Dieselben waren aber so oberflächlich, dafs sie keine Erfolge auf-
weisen konnten. Einer grundlegenden Änderung des Braille-
systems steht auch das Vorhandensein einer grofsen Punktdruck.
literatur entgegen, die mit der Annahme eines neuen Systems
wertlos würde. Bevor übrigens neuerlich an eine Systemänderung
gedacht werden kann, bedarf der Vorgang des Tastlesens vorerst
einer gründlichen Aufklärung, um die bisher fehlenden Grund-
lagen für eine Verbesserung zu schaffen.
Das Tastlesen und die neueren Forschungen über die Tast-
empfindungen und das Augenlesen.
Der Lesevorgaug ist kein einfacher, sondern ein äulserst ver-
wickelter Prozefs. MEUMANN nennt (10, S. 464) das Lesen (mit
den Augen) eine psychische Welt im kleinen, denn es betätigt
sich dabei: die Wahrnehmung der Zeichen; die Vorstel-
lungstätigkeit, mit der wir die Bedeutung der Zeichen er-
fassen; das Gedächtnis, indem wir das Vorausgehende fest-
halten, während wir das Folgende lesen; der Verstand, indem
wir den Zusammenhang des Gelesenen erfassen; der Wille,
den das Lesen ist eine spontane Tätigkeit; das Gefühl, indem
der Leseinhalt uns mehr oder weniger interessiert. Dazu kommen
Das Tustlesen der Blinden-Punktschrift. 59
die motorischen Prozesse des stillen oder lauten Sprechens.
Es ist klar, dafs sich der Vorgang beim Tastlesen noch umständ- .
licher gestaltet, namentlich was die taktile Auffassung durch die
Finger betrifft, während die intellektuelle Verarbeitung der dabei
erlangten Empfindungen wohl die gleiche wie beim Augenlesen ist.
Lassen sich die Ergebnisse neuerer Forschungen über das
Lesen mittels der Augen durchaus nicht so ohne weiteres auf das
Tastlesen anwenden, so verdienen sie doch durch die vielfachen
Beziehungen zwischen optischem und taktilem Lesen gröfste Be-
achtung. Auch Versuchsmethoden, die beim Augenlesen zur Ver-
wendung kommen, lielsen sich zur Erforschung des Tastlesens
heranziehen. Es ist z. B. aulser Frage, dafs sich zur Aufzeich-
nung der Tastbewegungen Apparate herstellen liefsen, die viel
genauer und sicherer arbeiten könnten, als mein einfacher „Tast-
schreiber“. Namentlich sei auf jene Apparate verwiesen, welche
zur mechanischen Registrierung und photographischen Aufzeich-
nung der Augenbewegungen beim Lesen bereits erprobt wurden.
Ihre Anwendung würde sicherlich eine Reihe neuer Ergebnisse
liefern und Versuche ermöglichen, für die der Tastschreiber nicht
ausreicht.
Unsere Kenntnisse über die psychophysiologische Erfassung
beim Tastlesen sind — wie wir gesehen haben — nur sehr spär-
liche und ungenaue. Der Einzige, der sich näher damit befalste,
Tu. HELLER, unterscheidet zu seiner Erklärung zwei Tastarten,
das synthetische und analytische Tasten. Für das Tastlesen der
Punktschrift nimmt er als unzweifelhaft an (3, S. 93), dafs dabei
weder die Tastanalyse noch die Tastsyntlıese eine selbständige
Stellung in Anspruch nehmen können, sondern dals beide erst
in ihrer Wechselwirkung zum Zustandekommen einer betriedi-
senden extensiven Vorstellung beitragen.
„Die Entwicklung des Tastlesens ist offenbar einerseits beeinflufst
durch das Verlangen, eine adäquate Vorstellung von den zur Auffassung
zgelangenden Schriftzeichen zu erhalten, andererseits aber durch das Gesetz
der Kraftersparnis. Dem letzteren entsprechend begnügen sich die Blinden
nach längerer Übung damit, nur den einen der Faktoren, die notwendiz
erscheinen, zur Entwicklung einer präzisen Raumvorstellung, durch un-
mittelbare Sensation zu empfangen, während der andere durch Reproduktion
ergänzt wird. — Beim Lesen der Blindenschrift ist die Reproduktionsfähig-
keit der beiden Faktoren eine wechselseitige. Hier vermag der Sukzessiv-
den Simultaneindruck, aber auch der Simultan- den Sukzessiveindruck
hervorzurufen. Bei der Wahl der beiden Tastarten leitet den Blinden das
60 Karl Biirklen.
Gesetz der Kraftersparung: er entscheidet sich demgemiifs fiir das synthe-
tische Tasten zur unmittelbaren Gewinnung der Eindrücke.
Diese Erklärung HELLERs erscheint insofern unvollkommen,
als die Untersuchungen von Frey tiber die Sinnestitigkeit der
menschlichen Haut und die von ihm festgestellte Verschmel-
zung der Hautempfindungen neue Gesichtspunkte in bezug
auf das Tastlesen eröffnen. Heer versteht unter dieser Ver.
schmelzung einen psychophysischen Prozefs, dem die in das Nerven-
system einströmenden Erregungen unterworfen sind, das Inein-
anderflielsen gleichzeitiger Erregungen gleicher oder ungleicher
Art zu einem neuen mehr oder weniger einheitlichen Eindruck
(2, S. 217). Besonders deutlich lälst sich dieser Prozels verfolgen
bei der Untersuchung der Raumschwellen der Haut, die eine der
Grundlagen unserer Raumvorstellungen bilden (2, S. 220). Die
besondere Form, in der die Verschmelzungserscheinungen im
Gebiete des Drucksinns auftreten, besteht darin, dals zwei oder
mehrere, gleichzeitig gesetzte Erregungen ihre räumliche Selbst-
ständigkeit einbülsen und zu einem Gesamteindruck von einheit-
licher Lokalisation zusammenfliefsen (2, S. 223). Werden zwei
Punkte der Haut, in nicht zu geringem Abstand voneinander,
gleichzeitig gereizt, so gewinnen die beiden zugehörigen Empfin-
Jungen eine besondere Beschaffenheit oder Qualität. Während
sie für sich gegeben deutlich erscheinen, d. h. gut abgegrenzt
von dem übrigen Bewulstseinsinhalt, werden sie bei gleichzeitiger
Erregung undeutlich, verwaschen oder stumpf. Sie sind dann
auch schwer voneinander zu sondern und erscheinen wie durch
eine Brücke miteinander verbunden. FRrEY bezeichnet diesen
Vorgang als die gegenseitige Abstumpfung benachbarter Er-
regungen. Sie stellt die erste Stufe der Verschmelzung dar.
Nähern sich nun die beiden Reizorte der Haut, so wird die
Sonderung der Erregungen immer schwieriger und sie ver-
schmelzen schlielslich zu einem neuen, völlig einheitlichen Ein-
druck. Dies ist die zweite Stufe der Verschmelzung. Sie findet
um so leichter statt, je ungleicher die Stärke der beiden Er-
regungen ist. Die Raumschwelle von WEBER oder die Simultan-
schwelle, wie sie FREY nennt, ist dann erreicht. Hierbei bülst
bei gleicher Erregungsstärke jeder der beiden Eindrücke, bei un-
gleicher hauptsächlich der schwächere, seinen Ortswert ein und
es entsteht ein neuer, für beide gemeinschaftlicher. Die Ver-
einfachung tritt nur bei gleichzeitiger Reizung auf; bei ungleich-
Das Tastlesen der Blinden-Punktschrift. 61
zeitiger behauptet jede der beiden Erregungen ihren scheinbaren
-Ort. Reizt man die beiden Hautstellen zuerst nacheinander und
dann gleichzeitig, so hat man den Eindruck, als ob die Reize
sich aufeinander zu bewegten (2, S. 224).
Die Tatsache, dafs zwei Punkte in geringem Abstande schwer
voneinander zu sondern sind und wie durch eine Brücke mitein-
ander verbunden erscheinen, bestätigt die Annahme, dafs
beim Tastlesen die Punkte eines Zeichens nicht
mehr einzeln gefühlt werden, sondern ein Gesamt-
bild des Zeichens aufgenommen wird und dafs da-
her die Form des Zeichens für die Auffassung ent-
scheidend ist. Eine Verbindung der Punkte durch Striche,
wie sie Kunz und Javau fiir die Punktschrift zur Erhöhung der
Tastbarkeit vorschlugen, erscheint dadurch überflüssig.
Das Zusammenfliefsen von zwei innerhalb der Raumschwelle
stehenden Punkten erfolgt nach Frey nur bei gleichzeitiger
Reizung, während bei ungleichzeitiger Reizung jede der beiden
Erregungen ihren scheinbaren Ort behauptet.. Dies scheint die
Notwendigkeit der Tastbewegungen beim Tastlesen
wohl genügend zu erklären. Die Bewegungen erfolgen
eben, um eine ungleichzeitige Reizung herbeizuführen und die
Auffassung in schwierigen Fällen zu ermöglichen, bzw. das Tast-
lesen überhaupt zu erleichtern. Es könnte auch dafür sprechen,
dafs man, nachdem beim Tastlesen niemals eine gleichzeitige
Berührung der Punkte erfolgt, in der Entfernung der Punkte
voneinander selbst unter die Raumschwelle heruntergehen könnte,
wodurch einer Verkleinerung der Punktschrift das Wort geredet
wäre. Die Tastbewegungen erfolgen also wohl mehr zu dem
vorangeführten Zweck als zur Erzielung innerer Bewegungs-
empfindungen, wie dies hauptsächlich von HELLER und Hoch-
EISEN angenommen wird.
Auch die Untersuchungen RANSCHBURGS wiesen nach, dals
bei der Umsetzung der Reize der Aulsenwelt im Bewulstsein
nicht blofs, wie angenommen, die Intensität, die Zahl, der Ge
fühlston usw., der um die Bewulstheit konkurrierenden Reize,
sondern die Qualität derselben, die gegenseitigen Relationen,
ibre Gleichheit, Ähnlichkeit und Verschiedenheit
untereinander von eminenter Bedeutung sind (11, 8.161). Auch
auf die reproduzierten Vorstellungen, als sekundäre
Reizwirkungen, liefs sich das genannte Verhalten als gültig nach-
62 Karl Bürklen.
weisen. Gleichartige Vorstellungen suchen zu ver-
schmelzen, stören sich aber jedenfalls in ihrer un-
abhängigen Entwicklung, in ihrer Merkbarkeit und
Reproduzibilität. Heterogene Vorstellungen stören
sich höchstens insofern, als jede für sich ein ge-
wisses Mals an Aufmerksamkeit beansprucht, nie
aber inihrer Selbständigkeit, in ihrem qualitativen
Charakter (11, S. 163 und 164). Das Gleiche sucht sich
zu vereinigen, das Verschiedenestrebt auseinander,
hebt sich vom Gleichen und untereinander dem
Grade seiner Verschiedenheit entsprechend ab (11,
S. 165).
Diesespsychologische Grundgesetz ist abermals
eine Bestätigung dafür, dafs die homogenen Reiz-
wirkungen der Punkte sich beim Tastlesen zu einem
Ganzen vereinigen und diecharakteristischen Form-
sebilde der Buchstaben und Wörter in Geltung
setzen. Weiter scheint dieses Gesetz geeignet, die
Verschiedenheitin derErfassungähnlicherZeichen
ee 0680 O- |
E - ©. .- 6@
@-, -:, @©@, -- usw.’ zu erklären So steht in der
ee ee
Lesbarkeitsreihe (S. 24) das Zeichen ©- an 4., das Zeichen
®@ - E
.. ®®
aber erst an 10. Stelle. Ebenso @@ an 6, -- an 16. Stelle,
Gë ee
-@ an8., .- : aber an 15. Stelle. Die leichtere Erfassung der
ee 0O. 080
Zeichen @®-, @@, -@ liegt danach in der heterogenen, die
ee ©. ee
©. eo ©
schwerere der Zeichen --, * =, «+ m der homogenen La-
gerung der Punkte gegeneinander. Offene Zeichen (mit weiterer
Lagerung der Punkte) besitzen also. gegenüber ähnlichen ge-
schlossenen (mit enger Lagerung der Punkte) eine bessere Les-
barkeit. Nur jene geschlossenen Zeichen haben einen Vortritt,
ee ©-
SCH . | (ee o. )
welche ganz einfache geometrische Formen zeigen \+-, ©...
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 63
Zusammenfassung der Versuchsergebnisse.
In Richtigstellung bzw. Ergänzung der bisherigen Annahmen,
lassen sich auf Grund der angestellten Untersuchungen über die
Punktschrift und das Tastlesen folgende zusammenfassende Fest-
stellungen machen:
Die Punktschrift. Diebesondere Eignung der Punkt-
schrift für das Tastlesen ist feststehend. Die An-
ordnung der Punkte im aufrechten Sechspunktfelde
es)
(ss erscheint als die zweckmälsigste. Die Lesbar-
keit der Punktschriftzeichen geht nicht parallel mit
der Zahl der Punkte, aus denen jene bestehen, son-
dern fürdieErkennbarkeit ist diecharakteristische
Form der Zeichen malsgebend.
Gröfse der Punktschrift. Die gebräuchliche Grölse
der Zeichen (bis zu 7 mm Höhe und 45 mm Breite) ist
wohl als Grenze nach oben, nicht aber nach unten
zu bezeichnen. Der tauglichste Abstand der Punkte
voneinander liegt zwischen 2 und 3mm, wäre aber
noch durcheingehende Versuche festzustellen. Eine
Verkleinerung der Punktschrift unter die ange-
gebenen Malse erscheint möglich.
Raumerfordernis der Punktschrift. Diese ist gegen-
über der Schwarzschrift eine sehr bedeutende. Bei
günstigen Verhältnissen übertreffen die Punkt-
schriftbücher dieSchwarzdruckbücher gleichen In-
haltes um das Dreifsigfache an Rauminhalt, bei un-
günstigen um das Fünfzigfache und darüber An
diesen Tatsachen wird sich auch in der Zukunft nur
wenig ändern lassen.
Das Leseorgan. Die Gröfse der Tast£fläche an den
Fingerspitzen ist verschieden und übersteigt nicht
immer die Höhe der Punktschriftzeichen. Für das
Tastlesen kommen infolge ihrer bevorzugten Stel-
lung besonders die Zeige- und Mittelfinger der bei-
den Hände in Betracht, obwohl die Möglichkeit zum
Tastlesen bei allen Fingern gegeben ist. Der Hand.,
64 arl Bürklen.
Arm- und Körperhaltung kommt beim Tastlesen
eine besondere Bedeutung zu, weshalb dieser Hal-
tung ein besonderes Augenmerk zuzuwenden ist.
Der Vorgang beim Tastlesen. Die mechanische Tätig-
keit besteht in verschiedenartigen Tastbewegungen
der Finger und Hände. Als Lesefinger sind vor allem
die Zeigefinger beider Hände anzusehen. Die Ver-
wendung der Mittelfinger ist beim Lesen mit beiden
Händen vereinzelt. Zwischen den genannten Tast-
organen findet eine Arbeitsteilung statt, die sich
nach Umständen verschieden gestaltet. Über die
innere Auffassung beim Tastlesen konnte bisher
keine Klarheit gewonnen werden.
Tastbewegungen. Die Tastbewegungen der lesenden
Finger sind teils Suchbewegungen, teils für die Er-
kennbarkeit notwendigeBewegungen. Ihre Häufig-
keit geht parallel mit der Erkennbarkeit. Ihr Ver-
lauf nähert sich bei guten ruhigen Lesern einer fort-
laufenden Geraden, nimmt bei wenigerguten Lesern
säge- oder schlingenförmigen Charakter an und
steigert sich bei schlechten Lesern bis zur Ver-
worrenheit. Lesen zwei Finger gleichzeitig, so er-
folgen mehr oder minder gleichlaufende Bewegungen,
doch tritt stets die grölsere Beweglichkeit jenes
Fingers, welcher die Hauptarbeit verrichtet, deut-
lich hervor, denn neben gehäuften Bewegungen des
einen Fingersgeht der zweite mit mehr oder minder
gleichlaufenden Bewegungen dahin.
Die Druckstärke beim Tastlesen. Mit den Tastbewe-
gungen ist ein entsprechender Fingerdruck ver-
bunden. Dieser ist bei guten Lesern ein geringer
und gleichmälsiger. Leseschwierigkeiten führen ın
Verbindung mit vermehrten Tastbewegungen zu er-
höhtem Druck. Bei schwachen Lesern ist der Finger-
druck ein stärkerer und schwankender. Am Anfang
einer Zeile erhöht sich der Druck durch die Such-
bewegungen.
Veränderungen der Tastfähigkeit beim Tastlesen. Die
Abnahme der Tastempfindlichkeit beim Tastlesen
Das Tastlesen der Blinden- Punktschrift. 65
ist auch nach stundenlangem Lesen nur eine sehr
geringe. Ebenso die allgemeine Ermüdung, so dafs
das Lesen für die Blinden als nicht besonders an-
strengend bezeichnet werden kann.
Leseflüchtigkeit der Punktschrifte. Im Durchschnitt
lesen Blinde drei- bis viermal langsamer als Sehende.
Das Lesen von Worten und Sätzen erfolgt in zu:
sammenfassender Weise durch Erfassung von Wort-
bildern. Bei Leseschwierigkeiten kommt es zu einer
Zerlegung des Wortbildes. Mit beiden Händen wird
am schnellsten gelesen. Liest nur eine Hand, so
verdoppelt sich ungefähr die Lesezeit. Die linke
Hand liest allein etwas besser als die rechte Hand.
Literatur.
1. K. BürkLen. Untersuchungen über die Lesbarkeit der Braıteeschen
Punktschriftzeichen. Blindenfreund (Düren, Hamel) 38, 2/3. 1913.
2. M. v. Frey. Neuere Untersuchungen über die Sinnesleistungen der
menschlichen Haut. Fortschritte der Psychologie (her.: MarBe; Leipzig,
R. G. Teubner). 2 (4). 1914.
A Tu. HELLER. Studien zur Blindenpsychologie. Leipzig, W. Engelmann)
1904.
4. P. Hocazısen. Der Muskelsinn Blinder. Berlin, G. Schade,
5. E. Javar. Der Blinde und seine Welt. Hamburg-Leipzig, Leopold Vofs
1904.
6. W. Kammet, Eine neue Methode zur Bestimmung der Ermüdbarkeit
mit Demonstration eines neuen Gewichtsdoppelästhesiometers. Jahr-
buch des Vereins für christliche Erziehungswissenschaft (München, J. Kösel)
7. 1914.) |
7. M. Kunz. Abhandlungen in: ’ Geschichte der Blindenanstalt zw Ilzach-
Mühlhausen i. Ẹ. (Leipzig, W. Engelmann) 1911.
H A Mert Der Blindenunterricht. Wien, A. Pichlers Witwe u. Sohn. 1910.
H A Mert Abhandlung in Enzyklopädisches Handbuch des Blindenwesens
(Wien, A. Pichlers Witwe u. Sohn) 1900.)
10. E. Mecmann. Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Päda-
gogik. Leipzig, W. Engelmann. 1914.
11. P. Ranscheure. Über die Wechselwirkung gleichzeitiger Reize im Nerven-
system und in der Seele. Zeitschrift für Psychologie (her.: SCHUMANN;
Leipzig, Johann Ambrosius Barth) 66. 1913.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 16. ð
66
18.
14.
15.
16.
Karl Biirklen.
R. Scuusze. Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und
Pädagogik. Leipzig, R. Voigtländer. 3. Aufl. 1913.
O. Wangcex. Untersuchungen über die Lesbarkeit der Braiıtieschen
Punktschriftzeichen. Blindenfreund 34 (7). 1915.
W. Wuxpt. Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig,
W. Engelmann. 6. Aufl. 1910.
F. Zeca Erziehung und Unterricht der Blinden. Danzig, A. W Kafe-
mann. 1913.
Das Raumerfordernis der Punktschrift. Zeitschrift für das österreichische
Blindenwesen. (Wien) 3 und 4. 1916/1917.
67
I.
Kleine Beiträge zur Blindenpsychologie.
—
Eine Untersuchung über das Lesen der Blinden.
Von
P. GrRasEMANN-Hamburg.
Das Lesegeschäft der Blinden ist entschieden eins der interessantesten
Probleme, und es ist daher ganz natürlich, dafs viele Blindenpädagogen
gerade ihm ihre Aufmerksamkeit zugewandt haben. Aber die bisher vor-
liegenden Arbeiten über diese Frage stützen sich — von einigen Ausnahmen
abgesehen — fast ausschliefslich auf blofse Beobachtungen oder auf Aus-
sagen der Versuchspersonen. Sie können daher auch keinen Anspruch
auf unbedingte Gültigkeit machen. Erst in neuerer Zeit hat man versucht,
diese Frage ‚durch experimentelle Methoden zu untersuchen. Auch ich
habe mich bemüht, auf experimentellem Wege etwas zur Klärung des
Lesevorganges bei Blinden beizutragen, und zwar interessierte mich vor
allem die Frage, in welchem Mafse die beiden Hände der Blinden am Lesen
der Punktschrift beteiligt sind.
Die verschiedenen Ansichten darüber brauche ich hier nicht aus-
führlich anzuführen; ich kann vielmehr auf die Arbeit von Direktor BÜRKLEN
in diesem Heft verweisen. Von altersher wurde der rechte Zeigefinger
als der eigentliche Lesefinger der Blinden angesehen, während der linke
Zeigefinger nur die Aufgabe haben sollte, die folgende Zeile rechtzeitig
aufzusuchen, um eine Unterbrechung des Lesens beim Übergang auf die
nächste Zeile zu vermeiden. Später wurde dem linken Zeigefinger schon
eine wichtigere Rolle zugeschrieben. Der rechte Zeigefinger sollte den
sogenannten „Rekognoszierungsdienst“, der linke den „Kontrolldienst“, d. bh.
die Ergänzung oder die Korrektur der rechts aufgefalsten Wortbilder tiber-
nehmen. Diese Tatsache wurde dann von Tu. Herrer dahin ausgedrückt,
dafs die rechte Hand nur flüchtige Gesamtbilder synthetisch auffalst, während
die linke Hand mehr dem langsamen, analysierenden Tasten dient.
Ich wählte nun zur genaueren Untersuchung aus einem gedruckten
Lesebuch ein Stück aus, das eine Körper- und Lebensbeschreibung des
Wolfes enthielt, und aus diesem wieder drei Druckseiten, die dem Leser
ungefähr gleich grofse Schwierigkeiten boten. Es mufste vor allem darauf
gesehen werden, dafs keine geographischen Namen oder technischen Aus-
drücke vorkamen, da sie naturgemäfs gröfsere Leseschwierigkeiten bieten
5x
68 P. Grasemann.
Die erste Seite wurde mit beiden Händen zugleich, die zweite mit der linken,
die dritte mit der rechten Hand allein gelesen. Es wurden jedesmal zu-
nächst die Lesezeit gemessen, ferner die Zahl der vorgekommenen Lese-
fehler und schliefslich die Zahl der verbesserten und noch einmal gelesenen
Wörter festgestellt, da sie einen Mafsstab für die Sicherheit oder Unsicher-
heit des Lesens abgeben.
Diese Versuchsreihe ist nachstehend skizziert worden.
(Siehe die Tabelle auf S. 69.)
An Hand dieser Tabelle lassen sich verschiedene interessante Fragen
beantworten.
I. Welche Leseart ist die vorteilhafteste, die mit beiden Händen, die
mit der linken oder die mit der rechten allein?
In der untersten wagerechten Reihe finden wir den Gesamtdurchschniitt
der Lesezeiten. Beim Lesen mit beiden Händen wurden danach 153 Se-
kunden gebraucht, beim Lesen mit der linken Hand verlängert sich die
Lesezeit um 87 Sekunden = 57%,, beim Lesen mit der rechten Hand un
108 Sekunden = VU,
Daraus ergibt sich, dafs das beidhändige Lesen dem einhändigen bei
weitem überlegen ist. Allerdings mufs man dabei in Betracht ziehen, dafs
die Anforderung, nur mit einer Hand zu lesen, für die Versuchspersonen
etwas Ungewohntes und Unnatürliches bedeutet. Man würde durch be-
sondere Übung die Zeiten des einhändigen Lesens sicher bedeutend ver-
kürzen können. Doch wird davon weiter unten noch die Rede sein.
II. Welche Hand ist am meisten am Lesevorgang beteiligt?
Es wurde schon von früheren Beobachtern festgestellt, dafs manche
Leser beide Hände gleichmäfsig gebrauchen, andere sich mehr auf die linke
und wieder andere sich mehr auf die rechte Hand verlassen. Der rechten
wurde wie gesagt das Übergewicht zugeschrieben. Um nun die Beteiligung
der Hände aus der Tabelle feststellen zu können, ging ich von der Voraus-
setzung aus, dafs diejenigen Leser, welche beim einhändigen Lesen an-
nähernd gleiche Lesezeiten aufwiesen, auch beim beidhändigen Lesen beide
Hände ziemlich gleichmäfsig gebrauchen werden. Ich nahm daher eine
gleichmäfsige Beteiligung der beiden Zeigefinger als vorliegend an, wenn der
Unterschied der Lesezeit der einen und der anderen Hand weniger ale 20°;,
ausmachte. Solche Leser werde ich in folgendem als Beidhänder bezeichnen.
Überwiegt die Lesezeit der rechten Hand, so nenne ich sie Linkshänder,
überwiegt die der linken Hand, so nenne ich sie Rechtshänder.
Nach dieser Berechnung fand ich, dafs die ersten 7 Versuchspersonen
der Tabelle Beidhänder, die nächsten 15 Linkshänder, die letzten 9 Rechts-
händer waren. Wir hätten dann 22!/,%, Beidhänder, 48°, Linkshänder
und 29'/,°/, Rechtshinder.
Das wirft also ein völlig neues Licht auf die Beteiligung der Hände
beim Lesen der Blinden. Fast die Hälfte aller Versuchspersonen verlälst
sich mehr auf die linke als auf die rechte Hand, also liegt durchaus keine
Berechtigung in der bisherigen Annahme, dafs der rechte Zeigefinger der
eigentliche Lesefinger sei. Diese Tatsache stimmt auch durchaus mit der
obenerwähnten psychologischen Erklärung Ta. HELLERS überein; denn wenn
Eine Untersuchung tiber das Lesen der Blinden.
69
| „| | Lesen mit Lesen mit der | Lesen mit der
È. | Z Name ` beiden Händen sin | linken = rechten Hand
ale | | |
kb Im | E 1:
| d l | S | | S g a
S £ | = | Lese- | bŠ 58 Lese- | 3 fo |S & | Lese- Bab
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“xj | °° °°» a ot ie a Tea a re:
z. | Alfred R. | 158 Sek. 2, 5; 266 Sk. a 18 | 288 sex. | 7 | 8
=| 2|| Gertrud B. ‚19 „272,00, 1 8/41, 3|5
> 3] Willi N. |188 n 4 2 [26 , 8 , 2,280, | 6 | 2
= ' 4 | Auguste M 242 „ | 3 i10 |400 , 4 |14 | 422 , 4 | 22
@ \ 5 | Max R. [7 5 1: 8 \188 5 | 6 ı 17, 5 1
= | 6 | Frieda L. 112 , | 2 ~,— 417% , | 2 | 4 1152 , | 2 | 4
© | a Johanna W. | 6 , = ei; 825 NS ı 2 | 6, |1 1
BL o Det an ee ne | | | |
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Durchschnitt 135 , 2 | 8 | 211 Sek. 3,8 Verl. 6,4 Wied
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| 8 | Heinrich M. | 145 , | — | 2 | 180 Sek.: 2 , 2 , 268Sek | 2 7
| 9 | Emil M. ı147 „ 2 |11 [236 „ 6 18 |860 „ | 6 |66
10 | Karl Sch. | 100 „ 1 | 15 | 105 „ §' 1 | 12 | unmög lic} ch
= |11 | Alwin D. ug "le 1/18 „ : 5 | 3 | 290 2
5 | 12 ' Dora K. 1183 „ | 4 | 2 1200 5 , 2 2 |260 1514
2, | 13 Ella Pm. >05 | 68130 7 8 |10 '; unmégilich
= ‚14 | Frieda Sch. | 226 „ 14 |14 ‚310 „ | 16 | 14 | i
2 Walter H. 147, | 5 | 2 1146 , D 2 126 , | 4 | 16
e 16 | Hermann K. | 150 , 1 | 5 !170 „ | 4 6 ; unmöglich
11 Erna H. [153 , | £ | 4 | 166, | 6 10 | 366, | 6 | 20
S | Sidney Qu. ı 145 „ 2 4 , 1796 „ | 6 6 ‘ unmöglich
È 4 19 | Anni H. '195 „ 3 | 4 |198 7 AE Ke
= ' 20 Heinrich S. (88 , | 8 |11 1164 , 12 ' 8 E
21 | Lina N. 28 , | 4/8 112, /— = 2 ee
| 22 | Emmy B. ai, 22 S É
Es ee i —-—- SÉ —_—_- er H = a _ — e e eg
| ; |
Durchschnitt 154 „ Ä 4 | sa 188 „ | 5,31 6,5. | |
POE EAEE EA E E | a p | er a aan
si | br | N | | |
® | 23 , Heinrich W. | 225 , 9 5 ;}390 , | 10 . 12 300 Sek. | 3 —
= | 24! Ella Ps. Bt , | 3 | 3 278 „ 2 |10 |16, | 2 l1
=. |25 | Anna B. 9 , ' 1! 1 fist, |—'— | 9, | 2 —
= | 26) Lilli M. 7, |e] 1 J14, ee —
2 127 | Erna Sch. rare, - ala, ac —
ee | 28 | Adolar K. vii a — 4 | liest nur re chtshand ig
$ |29 | Minna G. 1245 „ 2 | 1 | 494 41,8 |330 „ — 6
— 130 | Frieda Seh. 128 „ | 2 | 3 |386 „ 216, |— | 6
æ 3l | Therese S. i16 , 4 d) erte | H4 „| 4 |10
e e Ee E EE E
Durchschnitt ‘168, 27| 3 l 215 , 2 42
fi j ,
m = = ae = Ee: yo wnat P Fee "ne T = De =i Ce e E
Gesamt-Durchschnitt '! 153 | 31° 4,4 | 240 47:65 261 | 32, 7,8
n | n ne |i |
70 P. Grasemann.
der rechte Zeigefinger nur die ungefähre Orientierung über die Wortlänge
und das Wortbild übernimmt, der linke aber die eigentliche Analyse
verrichtet, so ist damit dem linken Finger die Hauptaufgabe beim Lesen
zugeschrieben. Für die überwiegende Tätigkeit des linken Fingers gibt es
auch einen rein technischen Grund. Wenn der Blinde aus einem Buche
‚abschreibt, — was vor allen Dingen von Kindern sehr häufig verlangt wird —
so gebraucht er die rechte Hand zum Halten des Schreibstiftes, während
die linke Hand allein den abzuschreibenden Text liest, woraus sich eine
grölsere Übung des linken Zeigefingers erklärt.
Wir können also wohl behaupten, dafs der rechte Zeige-
fingerdurchaus nicht als dereigentliche Lesefinger bezeich-
net werden kann, vielmehr mit gréfserem Recht der linke.
III. Welche Leser sind im Vorteil?
Wir hatten oben Beidhänder, Linkshänder und Rechtshänder unter-
schieden. Die Bezeichnung Links- und Rechtshänder war aber nicht etwa
so gemeint, als ob diese Personen nur mit einer Hand lesen. Im allgemeinen
lesen nämlich alle Blinden mit beiden Händen zugleich; von den 31 Ver-
suchspersonen liest nur eine (Vp. 28) immer, mit der rechten Hand allein.
Wenn wir nun untersuchen wollen, welche von den Lesern im Vorteil sind,
so müssen wir die Lesezeiten der Beidhänder, Linkshänder und Rechts-
händer beim natürlichen Lesen mit beiden Händen vergleichen. Wir finden
dann folgende Durchschnittslesezeiten:
Beidhänder: 135 Sekunden,
Linkshänder: 154 = ‚ Verlängerung: 14%
Rechtshänder: 163 = ; z 21%.
Auch die Unsicherheit im Lesen ist bei den Rechts- und Linkshändern
gréfser, was sich in einer Steigerung der Fehler und Wiederholungen
deutlich zeigt. Date die Unsicherheit bei den Rechtshändern weniger grols
ist, hat seinen Grund wahrscheinlich darin, dafs bei ihnen der eigentliche
Lesefinger die Buchstaben zuerst, also auch sofort genauer erfalst, während
die Linkshänder die Wörter zunächst nur ungefähr überfühlen und sich
auf die Korrektur der linken Hand verlassen.
Dafs die Beidhändler im Vorteil sein müssen, erklärt sich aus der
Tatsache, dafs sie vor allem den Übergang von einer Zeile zur andern
leichter überwinden. Sie lesen nämlich den ersten Teil einer Zeile mit
beiden Händen gemeinsam, im letzten Drittel aber, bei manchen Lesern
sogar schon in der letzten Hälfte der Zeile, liest die rechte Hand allein
weiter, während die linke Hand schon die nächste Zeile aufsucht und den
Inhalt derselben vorweg erfafst.
JavaL hat bei einem geübten Leser dieselbe Beobachtung gemacht und
drückt das mit folgenden Worten aus: „Wenn nämlich sein rechter Zeige-
finger mit einer Zeile zu Ende ist, hat der linke schon ungefähr die Mitte
der folgenden Zeile erreicht, so dafs der linke Finger dem rechten im
Lesen fast immer voraus ist, während diesem das gesprochene Wort wohl
immer erst nachhinkt.“ 1!
3 Javar, Der Blinde und seine Welt. 1904. Seite 71.
Eine Untersuchung tiber das Lesen der Blinden. 71
IV. Welchen Wert hat die zweite hinzutretende Hand für
den Blinden?
Wenn auch die Linkshänder sich vorzugsweise auf die linke, die
Rechtshänder sich auf die rechte Hand verlassen, so ist die andere hinzu-
tretende Hand doch nicht ohne Wert für das Lesegeschäft. Diesen zahlen-
mälsig festzustellen, ist ebenfalls mit Hilfe unserer Tabelle möglich, indem
wir die Lesezeiten der einzelnen Lesergruppen beim einhändigen mit denen
beim beidhändigen Lesen vergleichen. Das Ergebnis ist folgendes:
Beidhändige Leser Lesezeit mit einer Hand: 211 Sek.
e mit beiden Händen: 135 Sek.
Verkircune der Lesezeik: 76 Sek. = 36 °%
Linksh. Dener Lesezeit mit der linken Hand: 188 Sek.
e mit beiden Hinden: 154 Sek.
Verkürzung der Lesezeit: 34 Sek. = 18 °%
Rechtsh. Lenor: Lesezeit mit der rechten Hand: 215 Sek.
a mit beiden Händen: 163 Sek.
Verkürsdrung der Lesezeit: 52 Sek.= 24°),
Dafs die durch das Hinzutreten des zweiten Fingers entstehende Ver-
kürzung der Lesezeit bei den Beidhändern am grdfsten sein mufs, ist
ganz erklärlich weil bei ihnen beide Hände gleichmäfsig am Lesen beteiligt
sind, weshalb das Fehlen eines Fingers beim einhändigen Lesen für sie
naturgemäfs einen grölseren Nachteil bedeutet, der durch das Hinzutreten
des anderen Fingers wieder ausgeglichen wird.
Bei den Rechtshändern liegt die Bedeutung des zweiten Fingers wahr-
scheinlich in dem schnelleren Auffinden der nächsten Zeile, bei den Links-
händern aber in dem leichteren Innehalten der Zeile und dem ungefähren
Erkennen des Wortbildes.
Noch auffälliger ist die Bedeutung des zweiten Fingers für die Sicher-
heit des Lesens, da wir im Durchschnitt ein Herabgehen der Lesefehler
um 25°, ein Sinken der Wiederholungen um 35 °% beobachten können.
Zur Nachprüfung der in obiger Tabelle skizzierten Versuche unternahnı
ich noch eine zweite Versuchsreihe. Sie wich von der ersten zunächst
darin ab, dals ich nicht einen gedruckten, sondern einen selbst geschriebenen
Text wählte. Dadurch hatte ich den grofsen Vorteil, dafs ich jede Lese-
schwierigkeit vermeiden und jeden Leseabschnitt genau auf 100 Wörter
einrichten konnte. Ferner erstreckte sich diese Untersuchung auch auf
die Kurzschrift der Blinden. Es ist das eine Art Stenographie, die sich
vor allem aus Silben- und Wortkürzungen zusammensetzt. Das Ergebnis
dieses Versuchs war ungefähr das gleiche, es fanden sich unter 37 Ver-
suchspersonen:
18 Linkshänder, also 49 %,
12 Rechtshänder, also 32 jo
7 Beidhänder, also 19 %
Am schnellsten lasen wieder die Beidhänder, dann folgen die Links-
händer und zuletzt kamen erst die Rechtshänder.
Übrigens hat Direktor BürkLex-Wien, der diese Versuche nachgeprüft
hat, ein ähnliches Ergebnis gefunden. Unter seinen 58 Versuchspersonen
12 P. Grasemann.
waren 23°), Beidhänder, 45°, Linkshänder und 32°, Rechtshänder. Die
kleinen Abweichungen in der Verteilung erklären sich leicht aus dem
gänzlich anderen Schülermaterial sowie aus den Einflüssen des Unterrichte.
Es liegt nun nahe, aus den gefundenen Ergebnissen einige Folge-
rungen zu ziehen.
1. Dals der eigentliche Lesefinger der linke Zeigefinger ist, mufs im
Leseuntericht der Blinden beachtet werden. Der Lehrer sollte also besonders
im Anfang des Unterichts den linken Zeigefinger auf das Schriftbild setzen.
Er mufs aber, wenn dieser versagt, dem rechten Zeigefinger die Rolle des
Lesefingers übertragen. Es sollte auch beachtet werden, ob etwa Narben
oder andere eigentümliche Bildungen der Haut einen Finger zum Lesen
ungeeignet machen. In diesem Falle mufs er den Schüler veranlassen,
einen anderen, etwa den Mittelfinger, als Lesefinger zu verwenden. Es
ist also für den Blindenlehrer eine genaue Kenntnis der Anlage seiner
Schüler auch in diesem besonderen Sinne nötig.
2. Da die beidhändigen Leser den einhändigen bei weitem überlegen
waren, so kann man wohl mit Recht zwei Lesestufen unterscheiden, die
des einhändigen und die des beidhändigen. Zu dieser Unterscheidung
glanbe ich mich um so mehr berechtigt, als die beidhändigen Versuchs-
personen in meinen Versuchsreihen immer diejenigen waren, welche die
grölste Leseübung hatten. Es mufs also das Bestreben des Blindenlehrers
dahin gehen, den blinden Leser zur Stufe des beidhändigen Lesens hinauf-
zuführen. Dazu genügt es nicht, die Schüler immer wieder zum Gebrauch
beider Hände anzuhalten; denn dadurch hat der Lehrer immer noch nicht
die Kontrolle über die gleichmäfsige Beteiligung beider Hände. Vielmehr
mufs man sie durch Leseübungen mit nur einem Finger sowohl zum Ge,
brauch des linken als auch des rechten Fingers systematisch erziehen.
Diese Übung wird dann dem beidhändigen Lesen wieder zugute kommen
und sich in einer Steigerung der Lesefertigkeit äufsern.
3. Es erhellt, dafs das Lesen der Blinden einen viel komplizierteren
psychischen Vorgang darstellt als das der Sehenden. Während diese mit
einem Blick eine ganze Reihe von Wörtern zu überblicken vermögen, er-
kennt der Blinde in einem Augenblick nur dasjenige Wort, das sich gerade
unter seinem Finger befindet. Er mu/s sich darum dadurch helfen, dafs
er möglichst viele Wörter schon liest, ehe er sie ausspricht, so dals also
gleichzeitig eine ganze Reihe von Wörtern in seinem Bewulfstsein stehen
müssen. Diese grofse Anforderung macht es erklärlich, dals zum fliefsenden
Lesen der Blinden ein ziemlich hoher Intelligenzgrad gehört, dafs ferner
nur durch beständige Übung die höchste Lesestufe erreicht und inne-
gehalten werden kann, und dafs endlich der Blinde bei geringerer Übung
leicht wieder auf eine niedrigere Lesestufe zurücksinkt.
Schliefslich möchte ich hier dem Wunsche Ausdruck verleihen, dafs
die oben skizzierten Versuche vielerorts nachgeprüft werden möchten,
damit immer mehr Klarheit über den so interessanten Lesevorgang bei
Blinden geschaffen wird.
73
Beiträge zur Blindenpsychologie.'
Auf Grund von Selbstbeobachtungen
von
Ltvpwıe Conux- Breslau.
Wenn die vorliegende Arbeit unter den Schutze einer captatio bene-
volentine stehen möchte, so hat das seinen guten Grund darin, weil ich
viel von mir selbst sprechen mufs, doch das ist bei der Eigenart des zu
behandelnden Stoffes unvermeidlich, weil es sich zum grolsen Teil um
Selbstbeobachtungen und energische Versuche an und mit mir selbst handelt.
Im Alter von 6 Jahren erblindete ich so weit, dafs ein Besuch der
Normalschule ohne Erfolg gewesen wäre, und ich erfuhr daher eine spezi-
fische Blindenausbildung in einem Unterrichtsinstitute. Meine Sehschärfe
verringerte sich immer mehr, bis in meinem sechzehnten Lebensjahre
völlige Erblindung eintrat. Ich erwähne das, um bei späteren Mitteilungen
darauf zurückgreifen zu können; denn es ist eine wichtige Vorfrage bei
der Behandlung von Fragen der Blindenpsychologie, ob Erblindung seit der
Geburt oder spätere Erblindung vorliegt. Für mich gipfelt die ganze
Blindenpsychologie darin, in welchem Umfange und bis zu welchem Grade
es dem Blinden möglich wird, sich für das fehlende Auge Ersatz zu schaffen
und so sein Innenleben zu bilden und ein seelisches Gleichgewicht herzu-
stellen, das, wie man ja gerade jetzt an den Kriegserblindeten sehen kann,
durch die Blindheit stark erschüttert wird.
!) Die obige Mitteilung ist im wesentlichen die Wiedergabe eines
Vortrages, den Dr. C. in der philos.-psychol. Sektion der „Schles. Ges. f.
vaterländ. Kultur“ gehalten hat. Dr. C. ist nicht Psychologe von Fach,
sondern Sozialwissenschaftler und Literarhistoriker; daher entspricht seine
Ausdrucksweise nicht immer unseren fachlichen Gewohnheiten. Indessen
gewinnt der Beitrag durch die Fähigkeit der Verfassers, Selbstbeobachtungen
zu schildern, auch fachpsychologisches Interesse ; denn die Blindenpsychologie,
die bisher fast ausschliefslich von Sehenden bearbeitet worden ist, bedarf
dringend eines umfassenden Selbstbeobachtungsmäaterials, womöglich von
Personen, die wissenschaftlich-kritische Schulung besitzen. W. St.
714° Ludwig Cohn.
Zunächst ist es der Tastsinn, der durch eine besondere Schulung und
Übung sich die Fähigkeit erwirbt, optische Eindrücke in Tasteindrücke
umzuwandeln und das Geschaute dem Gehirn als plastisches Bild zu ver-
mitteln. Es ist diese Fähigkeit genau so gut Sache der Übung, wie der
sehend Gewordene erst regelrecht lernen mufs, das Auge zu nutzen und
das, was er bisher nur als Tastbild kannte, als optisches Bild zu erkennen.
Somit ist also die Annahme von dem a priori besseren Tastsinn der Blinden
irrig, soweit es sich um eine dem Blinden allein eigene Sonderheit handeln
soll. Ich kenne Sehende, die mit Erfolg den Versuch gemacht haben, die
tastbare Blindenschrift mit den Fingern zu lesen. Diese von Lovis BRAILLE
1829 erfundene und nach ihm benannte Blindenschrift beruht auf dem
Prinzip, dafs der tastende Finger in einem Raume von nicht ganz einem
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Quadratzentimeter aus einem Punktekomplex von dieser Form og Bilder
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aufnimmt, die sich aus ein bis 5 Punkten zusammensetzen.
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Es ist erwiesen, dafs zum Erkennen von Bildern innerhalb dieses
Sechspunktekomplexes nur eine einzige Tastbewegung erforderlich, das Lesen
also in der denkbar kürzesten Zeit möglich ist. Eine früher übliche Schrift,
die erhabene Darstellung der grofsen lateinischen Buchstaben, ungefähr in
demselben Raume von einem Quadratzentimeter, erfordert dagegen eine
ganze Reihe von Tastbewerungen und liest sich daher nur sehr langsam.
Beiträge zur Blindenpsychologie. 75
Der Anschauungsunterricht, der durch den Handfertigkeits- und
Modellierunterricht eine notwendige Ergänzung erfährt, führt das blinde
Kind dann weiter in die Welt der Objekte ein. Es ist wunderbar, wie
weit dadurch das Vorstellungsvermögen in richtiger Weise gebildet wird. Bei
Gelegenheit von Ausstellungen, die im Anschlufs an Blindenlehrerkongresse
stattfinden, habe ich so naturgetreue Nachbildungen gefunden, dafs man
ihren Hersteller für sehend halten könnte.
Sind schon die normalen Leistungen sehr grofse, so zeigen sie bei
einer Übung zum Zwecke hauptberuflicher Ausnutzung einen tätsächlich
künstlerhaften Charakter. Das gilt z. B. von Husertr Morxoeı, einem blinden
Modelleur in Litau in Mähren, dessen lebenswahre Büsten, Jagdstücke,
Seestücke u. v. a. m. preisgekrönt sind und den Vergleich mit den Arbeiten
sehender Künstler aushalten.!
Auch die Feinheit, ich meine die Intensität des Fühlens kann bis
zu einem ganz hervorragenden Grade geübt werden. So vermag ich mit
Stoff-oder Wildlederhandschuhen auf den Händen gut, durch Glacehandschuhe
sehr gut zu lesen. Als Schüler habe ich mir den Spafs gemacht, das Lesen
mit den Zehen zu üben und habe es auch da nach kurzer Übung so weit
gebracht, das ich mit den grofsen Zehen die Zeilen innehalten und einzelne
Worte entziffern konnte. Dieser damals scherzhafte Versuch kann heute
durchaus zu einer praktischen Verwendbarkeit ausgebaut werden, wenn
es sich z. B. um einen Kriegserblindeten handelt, dem auch noch die
Finger fehlen. Ich bin überzeugt, dafs auch er bei anhaltender Schulung
den Fülsen grofse Tastleistungen anerziehen kann.
Es sind nun aber nicht nur die Extremitäten, an deren Ausläufen sich
der Tastsinn am stärksten ausprägt, es ist vielmehr die ganze Oberfläche
der Haut, die zu Tastleistungen ausgebildet werden kann. Dafs Zunge und
Lippen in ganz hervorragendem Malse zum Tasten geeignet sind, braucht
kaum erwähnt zu werden. Allerfeinste Wahrnehmungen vermag ich auch
nur mit der Zunge festzustellen, und von einer blinden Dame ist mir
bekannt, dafs sie feinetes Garn in ein sehr enges Nadelöhr in der Weise
einfädelt, dafs sie beides an die Zunge hält, die Nadel dreht, bis sie den
Faden am Öhr spürt, dann saugt sie ihn mit dem Atem an. Meine
Frage, ob sie das auch mit dem Finger fühlen würde, verneinte sie. In
welcher Weise der Tastsinn anderweitig am Körper zum Ausdruck kommt,
und welche Bedeutung er dort hat, bespreche ich in anderem Zusammen-
hange.
Zusammenfassend will ich hier nur noch sagen, dafs sich der Blinde
mit Hilfe das Tastsinnes alles nahebringen und sich von all dem eine
richtige Vorstellung machen kann, was räumlich darstellbar ist, sei es auch
in bedeutender Verkleinerung. So sind mir Blinde bekannt, die nach
Prägungen auf Geldstücken lebensgetreue Büsten modellieren, und aus
Reliefdarstellungen Dinge nachbilden, an die sie überhaupt nicht heran
) Vgl auch die Mitteilung von W. STERN über „Künstlerische Plastik
eines Blinden“. (Mit Abbildung.) ZAngPs 6 7879. 1912-
76 Ludwig Cohn.
kommen, so z. B. die Wartburg mit Skulpturen und arehitektonischen
Sonderheiten. Durch solche Nachbildungen zeigt der Blinde eben, dafs er
das Objekt richtig erfafst hat.
Als zweites Ersatzmoment kommt das Gehör in Betracht. Auch von
seiner Schulung und Übung hängt für den Blinden viel ab. Hier gilt
genau dieselbe Regel, wie vom Tastsinn. „Nur die Übung macht den
Meister.“ Man mufs hören lernen, mu[s dazu herangebildet werden, kein
Geräusch unaufgefangen vorübergehen zu lassen und nach Möglichkeit
eine Erklärung dafür zu finden. Es ist ganz ähnlich wie mit den Sehen.
Viele übersehen Dinge, an denen ein anderer nicht achtlos vorübergeht.
So nimmt der, dessen Gehör geschult und gewöhnt ist, auf alles zu achten,
Geräusche wahr, die ein anderer überhaupt nicht zu hören vermeint. Wie
oft habe ich durch mein feines Gehör schon bei Sehenden frappante Wir-
kungen hervorgerufen. Ich erkenne im Strafsengeräusch den Taxameter
an einem Knaxen bei jeder Radumdrehung, ein Geräusch, dafs die meisten
Sehenden noch nie gehört haben, obgleich es laut und deutlich ist. Ich erkenne
Wagen an ihrem eigenartigen Rollen, wenn es ihnen typisch ist, wie z. B.
den Paketpostwagen, den Möbelwagen, den Leiterwagen u. a. Ja ich ver-
mag zu unterscheiden ob Flüssigkeiten kalt oder heifs sind; beim Eingiefsen
derselben sind nämlich starke Unterschiede des Plätschergeräusches zu
bemerken. Hierher gehört auch die Leistung des Gehörs beim Erkennen
einzelner Menschen am Schritt. So ist es mir einmal zu meinem eigenen
Erstaunen begegnet, dafs ich einen Schritt sofort wieder erkannt habe,
den ich drei Jahre nicht mehr gehört hatte. Die jetzt sehr beliebten Gummi-
absätze sind erklärlicherweise für unsere Ohren die gröfsten Feinde. Sie
heben die Differenzierung des Schrittes vollständig auf, wie überhaupt jeder
Schalldämpfer das Erkennen durch das Gehör stark erschwert, z. B. Schnee,
auch schon stark beregneter Fufsboden. Der Schall des eigenen Schrittes
nämlich ist von ungemein grolser Bedeutung, Räume, die vom Blinden
oft betreten werden, sind ihm ganz unbewufst durch diesen Schall kenntlich,
und jede Veränderung, die den Schall modifiziert, macht sich bemerkbar,
So behauptete ich einmal, in einem Zimmer, in das ich täglich kam, müsse
irgend etwas oder irgend jemand sein, und ich ging von dieser Meinung
trotz nachdrücklichster gegenteiliger Belehrung nicht ab. Endlich stellte
sich heraus, dafs der Störenfried für mein Ohr ein Korb Plättwäsche
vewesen war, dessen späteres Fehlen im Zimmer ich auch wieder wahr-
nahm, obgleich er vorher, als ich ihn auch schon bemerkte, unter dem
Tische gestanden hatte.
Diese und ähnliche Erscheinungen berühren sich nahe mit Wahr-
nehmungen, die ohne das Ohr lediglich durch den Tastsinn gemacht werden
und hinsichtlich derer eine lebhafte und vielfach literarisch behandelte Kontro-
verse entstanden ist. Herrirr, Hitscumany, Kuntz, Trescnen und andere
haben schon viel darüber geschrieben, und ich will mich hier nicht mit
dieser Literatur auseinandersetzen, die inLaienkreisen durch das Schlagwort
„ein sechster Sinn* bekannt geworden ist. Dieser vermeintliche sechste
Sinn bringt nämlich dem Blinden Emptindungen, die weit über die normale
aire
deg, al
Beitrage zur Blindenpsychologie. 17
Leistungsfähigkeit seines Tast- oder Gehörsinnes hinausgehen. WILLIAM STERN
hat zu dieser Frage wertvolles Material durch seinen Besuch bei der taub-
blinden Helen Keller geliefert,! wodurch für mich einwandfrei festgestellt
ist, dafs der Anteil des Tastsinnes am Ersatz des Auges grölser ist, als der
Anteil des Gehörs. Dieselbe Wahrnehmung habe ich im Zusammensein
mit dem taubblinden Hofrat Hugo Ritter von Chlumecky in Brünn gemacht.
Meine Wahrnehmungen decken sich mit den Sterxschen bei Helen Keller.
Hier nur ein Beispiel. Hofrat von Chlumecky und ich treten in ein Lokal
ein, das ihm als sehr gut bezeichnet worden war. Als wir durch den Speise-
saal gehen, fragt er seine Frau, mit der er sich durch die Fingersprache
verständigt: Ist das Lokal nicht sehr leer? Es war tatsächlich der Fall.
Eine Gehörleistung ist hierbei ganz ausgeschlossen. Es kann sich also
lediglich um Tastleistungen handeln. Ebenso nimmt Helen Keller einen
Baum wahr, an dem sie vorüber geht. Bei einem Spaziergang, den ich mit
einem ebenfalls blinden Freunde im Berliner Tiergarten unternahm, blieben
wir vor einem Hindernis stehen, das in einer Höhe von etwa einem halben
Meter von der Erde die Strafse sperrte, ohne dafs wir angestofsen wären.
Da es keine Schall reflektierende Wand, sondern nur eine dicke Stange
war, kann auch hier kein Gehörsempfinden in Betracht kommen.
Es ist eine müfsige Frage, wo dieses feine Tastempfinden seinen Sitz
hat, ob wie häufig gesagt wird, in der Stirn, oder im Nacken. Meines
Erachtens kann eine besondere Körperstelle überhaupt nicht in Betracht
kommen, denn, wie Experimente zur Genüge ergeben haben, Aufsert es
sich einmal da, einmal dort, somit ruht die Fähigkeit der feinsten Tast-
empfindung in der gesamten Haut. Erklärt ist dieser feine Druck, der sich.
dann als teils bestimmbare, teils unbestimmbare Tastempfindung ausdrückt,
dadurch, dafs durch ein Hindernis, eine Wand, einen Baum usw. Luft
abgesperrt wird, und dafs an dieser Stelle ein Teil des Körpers von einem
modifizierten Druck getroffen wird und dadarch das Vorhandensein dieses
Hindernisses wahrnimmt. Als ich einmal von meinem Abteil in einem
Eisenbahnzuge allein in den Speisewagen ging und mich ziemlich in der
Mitte des Wagens richtig auf einen leeren Stuhl setzte, wollte ein Mit-
reisender nicht glauben, dafs ich nichts sehe. Das ganze Kunststück dabei
war, dafs ich langsam an der Tischreihe entlang ging und genau spürte,
ob neben mir jemand safs oder nicht. Dieses feine Tastempfinden dient
dem Blinden ganz wesentlich zur Orientierung. Wenn er allein geht, schickt
er es gewissermafsen immer auf Vorposten?, um rechtzeitig gewarnt zu
werden, wenn ein Feind in der Nähe ist. Solche Feinde umgeht er dann
geschickt, selbst wenn sie die geringe Stärke eines Zaunes oder Laternen-
pfahles haben. Dafs in solchen und ähnlichen Fällen neben diesen Druck-
wirkungen auch Schallwirkungen mitsprechen können, ist selbstverständlich,
ı W. Stern: Helen Keller, Persönliche Eindrücke. ZAngPs 3, insbes.
S. 328/9.
® DECKER, „Auf Vorposten im Lebenskampf.“ Stuttgart, Franckh'sche
Buchhandlung.
78 Ludwig Cohn.
aber nach meinen Beobachtungen an mir und anderen, nur dann, wenn
durch starke Geräusche das Gehör sehr angespannt ist, während die bewufste
Druckempfindlichkeit nicht so lebhaft arbeite. Es kommt nämlich beim
Blinden, genau wie beim Sehenden auch sehr auf das bewulste Empfinden
an. Habe ich meinen Geist intensiv beschäftigt, so kommt es durchaus
vor, dafs der an und für sich auf Vorposten wachende Tastsinn ruht, oder
zu wenig scharf arbeitet, und die Folge ist, dafs ich an ein Hindernis
anlaufe, was bei Wachsamkeit des Sinnes niemals geschieht. Dals in Fällen
aber, in denen das Gehör gänzlich ausschaltet, der Tastsinn ständig auf der
Wacht ist, und selbst den geringsten Druck aufnimmt, dafür sind Taubblinde
das beste Beispiel. Sie reagieren immer und lebhaft. Ihr Tastempfinden
wird durch nichts abgelenkt. Daher diese überragenden Leistungen, die uns
z.B. von Helen Keller und anderen Taubblinden bekannt sind. Helen Keller
fühlt Musik. WırLıam Stern berichtet uns, wie er Klavier gespielt, hat sie
ihren Arm auf den Flügel gelegt, und durch das Vibrieren annähernd die
Taktart erkannt. So erkannte sie den Rhythmus eines Marsches, den Cho-
pinschen Trauermarsch erklärte sie als Wiegenlied, und einen Strau[swalzer
erkannte sie als Walzer.’ Dadurch angeregt, habe ich nach dieser Richtung
auch Eigenversuche angestellt und habe, als ich in einem Kammermusik-
abend meine Hand auf den Holzsitz eines neben mir stehenden Stuhles
legte ein kräftiges Vibrieren des Sitzes gefühlt, das ganz verschiedenartig
war, je nach der Art der Musik. So konnte ich nach einiger Übung ganz
genau härtere Druckwellen bei hohen Geigen und Klaviertönen wahrnehmen,
während ganz andere, ich möchte sagen, weichere, längere Wellen von
Cellotönen zu spüren waren. Den Takt heraus zu fühlen aber habe ich
mich vergebens bemüht. Klar geworden aber ist mir dabei, dafs auch
hier Schulung alles leisten kann. Kommt dann noch die Notwendigkeit
hinzu, den Tastsinn bis zum Äufsersten anspannen zu müssen, so sind
Leistungen wie die von Helen Keller nichts allzu Überraschendes mehr.
Auch der Geruch leistet dem Blinden ab und zu unterstützende Dienste
für die Orientierung. So haben mein blinder Freund und ich bei dem oben
erwähnten Spaziergänge eine Brücke nur dadurch gefunden, dafs wir dem
Wassergeruch nachgingen, bis wir ans Geländer des Ufers kamen. Ich
kann mir sehr wohl Fälle denken, in denen der Geruch als Orientierungs-
sinn von grolser Bedeutung ist. Auch bei ihm kann durch Übung ein
Plus gegenüber normalen Leistungen erzielt werden. Dieses Plus an
Leistungsfähigkeit aller Ersatzsinne zusammengenommen ergibt endlich
das, was ich oben mit „sechster Sinn“ bezeichnete. Es sind zum Teil
wirklich geradezu exorbitante Leistungen, die für den Laien die Grenze
des Wunderbaren überschreiten. Diesen Stempel tragen sie in noch höherem
Mafse, wenn der Blinde seine kleinen Kniffe und Hilfsmittel anwendet,
die er sich als Unterstützung für ein sicheres Auftreten ausdenkt. Wenn
ich z. B. im D-Zuge aus meinem Abteil gehe, knöpfe ich um zurück zu
finden beim gogenüberliegenden Fenster den Riemen in ein bestimmtes
!a.a. 0, NS. 325.
Beitriige zur Blindenpsychologie. 79
Loch. Es ist mir bis jetzt noch nie vorgekommen, dafs ich auf dem Riick-
wege dieses Merkmal nicht mehr gefunden hätte. In voller-Fahrt werden
ja im allgemeinen die Fenster nicht geöffnet.
Als weiteres Beispiel möchte ich anführen, dafs sich der Blinde bei
einer Strafsenbahn- oder Wagenfahrt, die er öfter zurücklegt, auch nach
gewissen Merkmalen orientiert. So achtet er auf die Art der Pflasterung,
auf Kreuzungspunkte, auf die verschiedenen Geräusche in engen oder
breiteren Strafsen, auf die Durchfahrt unter Eisenbahnbögen, kurz, da gibt
es so vielerlei kleine Hilfsmittel, an die der Sehende gar nicht denken
kann, dafs der Blinde tatsächlich imtande ist, genau anzugeben, wo er
sich befindet. Wie eigenartig der Beweis dieser Fähigkeit auf Sehende
wirkt, das erfährt wohl jeder Blinde dann und wann. Als ich z. B. einmal
einem Kutscher zurief: „Sie fahren ja falsch, links herum !* war das Einzige,
was der verblüffte Mann sagen konnte: „Ich denke, Sie sind blind!“ Das
der Blinde in ihm bekannten Orten Sehenden Wege angibt, das hat so
mancher schon bewiesen. Ich kenne viele, die, wie auch ich, das Berliner
Strafsenbild vollständig im Kopfe haben, und in meinem Breslau kenne
ich wohl jeden Winkel. In fremden Orten fährt der Blinde nicht gern,
denn er kann sie nur beim Gehen kennen lernen, So ist mir in London
der gröfste Teil der Stadt trotz des riesigen (rewoges so gut vertraut, wie
manche kleine Stadt, weil ich dort immer zu Fufs gegangen und gut orien-
tiert worden bin.
Ich reise sehr gern, meine Frau, meine ständige Begleiterin, versteht
es vorzüglich mir alles zu erklären, und ich habe von allem ein so voll-
ständiges Bild, dafs ich in Vorträgen und Schilderungen lebhafte und
zutreffende Bilder entwickeln kann, wobei ich übrigens immer die Illusion
habe, alles vor mir zu sehen. Es spricht da sicherlich die eingangs er-
wähnte Tatsache viel mit, dafs ich bis zum 6. Lebensjahr gesehen habe.
Hier möchte ich auch auf die Farbenvorstellung des Blinden eingehen.
Es kommt, wie bei der Vorstellung nicht greifbarer Objekte, natürlich auf
den Zeitpunkt der Erblindung an. Wie soll sich der blind Geborene z.B.
die Sonne vorstellen? Nach und nach wird ihm allerdings ein geschickter
Lehrer auch von solchen Objekten richtige Vorstellungen beibringen.
Natürlich gibt es auch hier eine Grenze. Alles ist nicht falslich darzustellen.
So die Farbe. Ob beim später Erblindeten mit der Dauer der Blindheit
ein Verblassen und endlich ein Vergessen der Farbenvorstellung eintritt,
darüber gibt es keine sicheren Nachrichten. Mein schon mehrfach an-
geführter blinder Freund und ich glauben auf Grund von Experimenten
sagen zu können, trotz unseres mehr als dreifsigjahrigen Blindseins noch
eine richtige und kräftige Farbenvorstellung zu haben. Vielleicht trägt
das viel dazu bei, dafs ich grofse Freude am Besuche von Museen habe,
deren Bilder mir allerdings niemand so gut erklären kann, wie meine Frau.
Gerade für die Schattierungen habe ich ein besonderes Verständnis, und
auch bei Bildern habe ich das Empfinden, sie vor mir zu sehen. Ich glaube
sogar die richtige Vorstellung von Hintergrund und Perspektive zu haben.
80 Ludwig Cohn.
Hierbei unterstützt mich zweifellos die Reliefdarstellung der Perspektive-
zeichnung, die ich vor vielen Jahren einmal gefühlt habe.
Blind Geborene aber könnet von Farben keine Vorstellung haben.
Für sie sind Farben nur Worte, und, wenn sie richtig angewandt sind,
wie wir das bei Helen Keller finden, so hilft dabei das Gedächtnis und
gibt Erzähltes richtig wieder, wie ja das Gedächtnis überhaupt dem Blinden
eine unschätzbare Stütze ist. So könnte er sich oft Geräusche überhaupt
nicht erklären, wenn er nicht ihre Analogien im Gedächtnis hätte und
Schlufsfolgerungen ziehen könnte.
Von unwesentlichen Einschränkungen abgesehen, hat der Blinde die
Möglichkeit und auch die Fähigkeit, das fehlende Auge bis zu einem Grade
zu ersetzen, dafs er sagen kann, ihm fehle nichts, als die absolute un-
beschränkte Bewegungsfreiheit. Sein gut gebildetes Vorstellungsvermögen
vermittelt ihm das ihn umgebende Leben in richtigen Bildern und sein
lebhaft arbeitender Geist, der sich absolut nicht ins Dunkel gebannt fühlt,
führt ihn mitten in die Welt der Sehenden. Es gibt nur wenige Blinde, die
ihre Blindheit beklagen und sich sehend wünschen. Sonderbar ist aber
doch die Erscheinung, dafs die meisten im Traume sehen. Ich habe
hierüber einmal eine Erhebung angestellt. Das Material, das mir auf meine
Umfrage zuging, ist zu lückenhaft, als dafs es eine Grundlage für eine
Spezialstudie sein könnte. Durchgängig aber war fast auf allen Bogen
die Antwort: Im Traume sehe ich. Wie das Sehen des blind Geborenen
beschaffen sein mag, darüber konnte ich leider nichts erfahren. Wohl
aber kann ich von mir selbst sagen, dafs ich im Traume nie geführt wurde,
dafs ich mit den Augen lese, vorherrschend Zeitung, und dafs ich mich
immer ganz schrecklich wundere, wenn man mich führen will. Auch
Bergbesteigungen und komplizierte Fahrten unternehme ich allein, oder
doch als Sehender in Gesellschaft anderer. Ob diese immerhin auffallende
Erscheinung eine Bestätignng der Theorie ist, der Traum sei eine Fort-
setzung des in wachem Zustande unbewulst Gewünschten,! oder ob bei
später Erblindeten Erinnerungsbilder mitsprechen, die z. B. WILLIAM STERN
für sehr wichtig und bis in das früheste Lebensalter zurückreichend ansieht,
weils ich nicht zu besprechen. Stützen möchte ich die Theorie vom Er-
innerungsbild aber doch damit, dafs in meiner sehenden frühen Kindheit
die Zeitung für uns eine gro[lse Bedeutung hatte, und dafs ich etwa von
meinem dritten bis sechsten Lebensjahre in Begleitung oder später allein
täglich zur Post gegangen bin und als von meinem Vater als besonders
wichtig bezeichnet die Zeitung geholt habe. Vielleicht hängt damit mein
häufiges Zeitungslesen im Traume zusammen. Interessant ist ferner, dafs
ich im Traume Bilder genau so sehe, wie sie mir beschrieben worden sind,
dasselbe gilt von landschaftlichen Rundblicken, bei denen fast immer ein
wunderschöner Sonnenuntergang ist. Ein solcher war das letzte, was ich
kurz vor meiner völligen Erblindung gesehen habe. Er taucht immer vor
mir auf, wenn ich an eine Berglandschaft denke.
I Die Theorie FREUDS.
Beiträge zur Blindenpsychologie. 8]
Endlich noch ein Wort tiber den Schénheitssinn Blinder, Er ist stark
ausgeprägt, vielleicht als weitere Folge ihres hohen ethischen und ästhe-
tischen Empfindens, das für mich aus dem Gehör und den Tastsinn resultiert.
Schönes und häfsliches kann mit dem Auge kaum lebhafter wahrgenommen
werden, als mit Gehör und Tastsinn. Musik ist dem Blinden ein hoher
ästhetischer Genufs. Dasselbe’ gilt von schöngestalteten Dingen, von weichen,
glatten Oberflächen. Sodann spielt auch das Ebenmals eine grofse Rolle.
‚Ich habe schon oft Gelegenheit gehabt, feststellen zu können, dafs der
Blinde besonderen Gefallen an symmetrischen Darstellungen findet, und
dafs er beim Gestalten selbst auch durchaus symmetrisch verfährt.
So kann sich z. B. der Buchschmuck, besonders bei der Ausgestaltung
von Titelblättern in seinen Grundformen immer nur in den bei der Be-
sprechung des Blindenschriftsalphabetes mitgeteilten 6 Punktenanordnung
bewegen, und es ist staunenswert, mit welchem bis ins einzelne gehenden
Schönheitssinn dabei verfahren wird, und wie als Grundprinzip immer
die Symmetrie in Erscheinung tritt. Sein Schönheitssinn läfst aber den
Blinden auch dann und wann im Stich. Das gilt besonders von der Be-
hauptung, der Blinde könne sich eine Vorstellnng von der menschlichen
Physiognomie machen. Es unterliegt nämlich keinem Zweifel, dafs das
Organ gewisse Anhaltspunkte für das Aussehen eines Menschen bietet.
Vorzugsweise handelt es sich um Schlüsse auf die Mundbildung, den Gesichts-
ausdruck und die Kérpergestalt. Doch hier mufs eine gute, umfassende
Übung vorhanden sein, und auch dann ist von einer absoluten Sicherheit
nicht die Rede. Dals gewisse Tonfälle und Spracheigentümlichkeiten wie
Klangfärbungen auf ganz bestimmte Gesichtszüge schliefsen lassen, steht
aufser aller Frage, und es gibt viele Blinde, die hier überraschend sicher
hören. |
Das hier Gesagte macht keinen Anspruch auf Vollständigkeit, wohl
aber auf strengste Sachlichkeit. Ich beobachte mich und andere Blinde `
unausgesetzt, um unsere Leistungsfähigkeit hinsichtlich unserer Sinnesarbeit,
aber auch unsere Grenzen kennen zu lernen. Dafs diese Grenzen keine
engen sind, steht für jeden Fachmann fest. Ferner weils der Blinden-
psychologe, dafs diese mannigfachen und weit ausgreifenden Fähigkeiten
das fehlende Auge zu ersetzen, geeignet sind, den Blinden zu einer har-
monischen Natur zu machen. Weniger als jeder andere Nicht-Vollsinnige
hat der Blinde das Gefühl, seinen Mitmenschen nachzustehen, es sei denn,
dafs ihn ein wirtschaftliches Manko drückt. Als Individuum aber fühlt
sich der Blinde gröfser als z. B. der Taube oder gar der Taubstumme. Ich
habe jüngst ein taubblindes Mädchen unterrichtet. Als sie lesen und
schreiben konnte und nun imstande war, äufsere Eindrücke durch Ver-
mittlung der Schriftin sich aufzunehmen, sagte sie zu mir: Dafs ich nicht
sehe, ist lange nicht so schlimm, als dafs ich nicht höre.
Der Blinde nimmt doch vollständig an seiner Umgebung teil. Er ist
sogar imstande, bis zu einem sehr hohen Grade im Theater die Bewegungen
der Schauspieler herauszuhören; kurz, gut ausgebildet und gut geleitet,
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 16. 6
82 Ludwig Cohn.
daran gewöhnt, die ihm verliehenen Fähigkeiten und Sonderheiten zu nutzen,
vermag der Blinde sich zu einer psychologischen Elitespezies zu entwickeln.
Die Grundlage hierzu wird in den Instituten gelegt, in denen er seine
Sinne ausnutzen lernt. Dann aber mus es weiterer eigener Schulung
und Selbsterziehung vorbehalten bleiben, sich auf dem beschrittenen Wege-
vorwärts zu bringen.
Man sagt oft, der Blinde ist heiter, und das sei doch sonderbar.
Sonderbar wäre es, wenner nicht heiter wire. Ihm ist ja so viel geblieben,.
er ist durch die Nachhaltigkeit der an ihn herankommenden Eindrücke-
innerlich so lebhaft und vermag sich und andere durch die Harmonie-
seines Gemütes so viel zu sein, dafs es eine Undankbarkeit gegen das Ge-
schick wäre, wollte er ob seiner Blindheit grollen... Ist auch sein körperliches
Auge erloschen, ist auch die äufsere Buntfarbigkeit der Erdenpracht für-
ihn kein Schauobjekt, spiegelt ihm auch Licht und Farbe keine Freude
wider, er führt dennoch ein lebenswertes Leben, er hat dennoch in sich
Quellen des Glückes und Ströme des Lichtes, denn seine Seele ist reich,
ja, kann überreich sein, und das macht den Blinden zu einer harmonischen,.
abgeklärten, zufriedenen Natur, die in sich Frieden findet und ihn noch
anderen spendet. So wandelt der Blinde, wenn seine zahlreichen Geistes-
. schätze gehoben und geläutert worden sind, in äufserlicher Dunkelheit doch
in innerer leuchtender Helle.
83
Der Blinde als Persönlichkeit.
Von
WILHELM STEINBERG. !
Der Ausfall des wichtigsten Sinnes bestimmt die Gestaltung des Seelen-
lebens so entscheidend und zugleich so eigenartig, dafs man sich von jeher
mit der Blindheit und den durch sie bedingten Lebensformen beschäftigt
hat. Entsprechend ihren geistigen Einstellungen steigerte das Altertum in
mystischen Erwägungen richtig beobachtete psychische Gesetzmäfsigkeiten,
wie die durch verminderte Reizzahl erhöhte Konzentrationsfähigkeit, ins
Ungeheure und schuf so einen Ansatzpunkt für Mythenbildung, während das
Mittelalter vorzüglich erbauliche Betrachtungen an die Blindheit knüpfte.
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde sie zum Gegenstande’
wissenschaftlicher Fragestellungen, und die methodische Beschränkung der
damals allein gepflegten Sinnespsychologie brachte es mit sich, dafs man
nur die seelischen Funktionen der Blinden untersuchte, die dem Experi-
mente zugänglich sind. Man richtete also sein Augenmerk ausschliefslich
auf die Leistungen der Sinne und beschränkte sich hierbei des weiteren
auf ihre rein quantitativen Verhältnisse. Solche Untersuchungen waren um
so willkommener, als sie ohne Einfühlung in die besonderen Seelenzustände
möglich schienen, deren die Forscher meist entbehrten; denn man glaubte
Sinnesleistungen, ohne sie grundsätzlich zu modifizieren, aus der psychischen
Einheit herauslösen und in ihrer Isolierung voll verstehen zu können. War
diese Ansicht irrig, und wurde man daher selbst den Sinnesleistungen der
Blinden nicht gerecht, so vermag uns auch abgesehen hiervon diese Auf-
fassung der Blindenpsychologie einfach darum nicht zu befriedigen, weil
ihre Fragestellung gar nicht bis zu dem eigentlichen Hauptprobleme vordringt.
Die Persönlichkeit des Blinden bleibt ja bei all diesen Untersuchungen
unberührt; und doch kann uns nur ihre Analyse auch die scheinbar aus-
schliefslich peripheren Funktionen verstehen lehren, so gewifs diese nämlich
nur mehr oder weniger abgehobene Glieder innerhalb der psychischen
Einheit darstellen. Die Frage, inwieweit das Fehlen des Auges der Ge-
1 Der Verfasser ist ein Studierender der Philosophie und Psychologie,
der von Geburt an nahezu blind ist. Er hat sich die Blindenpsychologie
als spezielles Arbeitsgebiet gewählt. Obige Darstellung ist aus einem Vor-
trag hervorgegangen, den Herr Sreinzere im Philosophischen Seminar zu
Hamburg gehalten hat. W. Sr.
6*
84 Wilhelm Steinberg.
staltung der Persönlichkeit eigenartige Wege weist, hat die moderne Psycho-
logie nie getan. Wir müssen die Schriften der ältesten Blindenpädagogik
aufschlagen, um ausführliche Angaben über das Innenleben der Nicht-
sehenden zu finden. Sie bringen eigene Beobachtungen zum Ausdruck, die
sich meist einfach aneinander reihen, höchstens nach dem herkömmlichen
Schema der Vermögenspsychologie geordnet. Wir haben hier ein reiches
Material für wissenschaftliche Arbeit vor uns, das in seiner Bedeutung
noch lange nicht genügend gewürdigt ist, eine wertvolle Sammlung zart
abgelauschter Einzelzüge, in keinem Falle aber auch nur den Versuch einer
systematischen Darstellung, deren Geschlossenheit der alle ihre besonderen
Äufserungen einheitlich umfassenden Persönlichkeit entspräche.
Will man dieser Aufgabe gerecht werden, dann darf man sich nicht
vorzugsweise auf die Beobachtungen Sehender stützen, die stets Gefahr
laufen, wahrnehmbare Zeichen falsch zu deuten, sondern mufs Blinde in
viel weiterem Umfange zu Worte kommen lassen, als das bisher geschah.
Dabei mufs man die seelischen Differenzen zwischen Blindgeborenen, Spät-
erblindeten und Blinden mit Sehresten berücksichtigen, welch letzteren
im allgemeinen leider nur gelegentlich Beachtung geschenkt wird, obwohl
‚gerade sie als Übergangsform von. zwiefachem Interesse sind. Auch die
Entwicklung der Persönlichkeit ist in den Bereich der Untersuchungen zu
ziehen, so gewils sie nichts ursprünglich Gegebenes, sondern ein Gewordenes
ist, das im Grunde stets ein Werdendes bleibt. Man darf sich freilich
nicht auf die unmittelbaren Äufserungen weniger Blinder beschränken;
denn eine einzelne Aussage kann uns nie darüber belehren, ob das Erlebnis
in seiner Eigenart durch das Fehlen des Auges, oder, ganz unabhängig
hiervon, durch irgendeine rein individuelle Besonderheit bedingt wurde,
wie sie mit der Einzigartigkeit der Persönlichkeit gesetzt ist. Das schlecht-
hin Einmalige ist aber hier wie stets kein mögliches Objekt einer Wissen-
schaft. Wie daher die differentielle Psychologie nur die Aufgabe haben
kann, die Beziehungen zwischen den Besonderheiten einmal ein und des-
selben Individuums und alsdann einer Reihe von Individuen klar zu stellen,
die gegeben ist durch allen Gliedern gemeinsame eigenartige, doch ein-
deutig bestimmbare Bedingungen, so will die Blindenpsychologie nur die
aus dem Fehlen des Auges folgenden, darum typischen spezifischen
Formen des Seelenlebens erforschen, deren einzigartige Verflechtungen
mit den mannigfachsten psychischen Faktoren die Blinden zu Persönlich-
keiten machen.
Nach alledem kann es nicht die Aufgabe dieser kleinen Abhandlung
sein, das Innenleben der Blinden in all seinen Abstufungen und dem
ganzen Reichtum seiner Formen darzustellen. Dafür ist schon das Material,
das ich in den letzten zwei Jahren sammeln konnte, noch viel zu beschränkt.
Weil ich aber zunächst andere blindenpsychologische Arbeiten zum Ab-
schlufs bringen will, sich der Stoff bei der Zartheit des Gegenstandes über-
dies nur langsam vermehren lafst, wird noch geraume Zeit vergehen, ehe
ich all diese Fragen werde erschöpfend behandeln können. Ich will in
den folgenden Zeilen darum nur die entscheidenden Gesichtspunkte fest-
stellen, um Richtlinien für weitere Arbeit zu haben und womöglich auch
andere Blinde und ihnen nahestehende Forscher zu bestimmen, sich ein-
Der Blinde als Persönlichkeit. 85
gehender mit den Persönlichkeitserlebnissen des Nichtsehenden zu be-
echiaftigen.
Das blinde Kind erhält in den ersten Lebenswochen von seiner Um-
welt nur Kunde durch das Ohr. Während das Auge die Dinge selbst
kennen lehrt. vermittelt das Ohr ursprünglich nur Eindrücke, denen keinerlei
gegenständliche Bedeutung zukommt. Denn ihre überaus grofse Mannig-
faltigkeit kann wohl dem entwickelten Bewufstsein Aufschlufs über die
Beschaffenheit des tönenden Dinges geben, nicht aber dem Säugling, da
die Möglichkeit der eindeutigen Beziehung der Empfindung auf den Reiz
ılessen Kenntnis als Raumform und als Schallquelle bereits voraussetzt.
Geräusche und Klänge regen daher primär nur das Gefühlsleben des
Blinden an, das, begünstigt durch die geringere Vielfältigkeit äulserer Reize,
seine beherrschende Stellung im Seelenleben auch später meist zu wahren
weils. Weil seine Entwicklung besonders in den ersten Jahren nur un-
genügend durch Wahrnehmungen geleitet wird, liegt in der unabweisbaren
Aufdringlichkeit akustischer Eindrücke eine Gefahr für die harmonische
Bildung der Persönlichkeit. Ihr kann man nur durch planvolle Bereicherung
des Vorstellungslebens begegnen, die dadurch angebahnt wird, dafs man
dem Kinde zahlreiche Gegenstände in die Hand gibt, die durch ihre
charakteristische Form und stoffliche Beschaffenheit seine Aufmerksamkeit
auf sich lenken. Solcher zielbewufster Anregungen bedarf es um so mehr,
als es in seiner Nachahmungsmöglichkeit sehr beschränkt ist. Ganz über-
wiegend sind Tätigkeiten nur dem Auge wahrnehmbar, und die Bewegungen
in unmittelbarer Nähe werden oft durch die tastende Hand gestört. Man
braucht nur zu bedenken, wie viele Kenntnisse das sehende Kind durch
sein absichtslos umherschweifendes Auge ungewollt erwirbt, wie viele
Fertigkeiten es sich in spielender Nachahmung zu eigen macht, um das
hohe Mafs planvoller Anregung zu begreifen, dessen das blinde bedarf,
wenn seine Entwicklung mit der des vollsinnigen einigermafsen Schritt
halten soll. Seine Erziehung stellt nach alledem seine Eltern vor besonders
schwere Aufgaben, denen sie meist nicht gerecht werden. Auch wenn es
ihnen nicht an Zeit gebricht. sich so eingehend mit ihrem unglücklicheu
Kinde zu beschäftigen, wie es sein eigenartiger Zustand verlangt, fehlt
ihnen gewöhnlich das Verständnis dafür, dafs man nur durch Betätigung
seelisch wächst; und aus Sorge, ihr Liebling könne Schaden nehmen, lassen
sie ihn nicht die einfachsten Verrichtungen ausführen. Mangelt es ihnen
an Zeit zu so weitgehender Betreuung und bleibt der Blinde sich meist
selbst überlassen, dann versinkt er oft in Teilnahmslosigkeit. Aber auch
wenn er die Hemmung überwindet, die die geringere Mannigfaltigkeit
äulserer Eindrücke seiner Entwicklung setzt, fehlt seiner Kindheit vielfach
der Frohsinn, der unsere Erinnerung so gern in ihr verweilen lälst. Er
kann Ja nur im Spiel mit Kameraden zu vollem Durchbruch kommen,
von dem der Blinde oft ganz ausgeschlossen ist, bei dem er jedenfalls
stets Gefahr läuft, verletzt zu werden. Sein Gebrechen macht es ihm
eben unmöglich, es seinen sehenden Altersgenossen in allem gleich zu tun,
und gibt seine Ungeschicklichkeit wehrlos ihrer Spottlust preis. Ge-
wifs entspringen solche Hänseleien nicht böser Absicht, sondern haben
in demselben Unverständnis ihren Grund, das Kinder Tiere quälen läfst,
86 Wilhelm Steinberg.
deren Schmerzäulserungen sie nicht verstehen; doch das Ergebnis ist das
gleiche: der Blinde wird verschlossen und zieht sich ganz von seinen
Kameraden zurück.
Um so entscheidender ist sein Eintritt in die Blindenanstalt. Sie
vermittelt ihm ja nicht nur Kenntnisse. auf Wegen, die seinem besonderen
Zustande angemessen sind, sie erschlie{st ihm vor allem eine Welt, in der er
sich als vollwertiger Mensch fühlen darf. Diese Gleichheit der Lebens-
bedingungen bringt die Fähigkeiten zur Entfaltung, deren Entwicklung die
erdrückende Überlegenheit der Vollsinnigen hemmte. Das ist die unersätz-
liche Bedeutung der Blindenanstalt, dafs sie innerhalb ihrer Mauern das
blinde Kind zum normalen Kinde macht, dafs es hier zu lernen vermag,
ohne an Schranken zu gelangen, die für seine Kameraden nicht vorhanden
sind, dafs es sich hier rückhaltslos dem frohen Spiel mit seinen Gefährten
hingeben kann und in heiteren Kinderjahren die Kräfte sammelt, deren
es später so sehr bedarf.
Schon an der Schwelle der Kindheit tritt das Leben dem Blinden mit
doppeltem Ernste entgegen. In dieser Zeit entdeckt der Mensch, dessen
Blick bisher vorwiegend nach aufsen gerichtet war, eine Welt in sich, die
ihm in ihrer Einzigartigkeit unerschöpflich reich erscheint. Schlummernde
Kräfte beginnen sich zu regen und drängen nach Betätigung; unübersehbare
Möglichkeiten zu wirken und zu geniefsen tun sich auf, und wenn uns auch
das Leben gar bald viel bescheidener werden läfst, so macht doch die Ge-
wilsheit, dafs uns die ganze Welt offen steht, das eigentliche Glück dieser
Jahre aus. Auch der Blinde entdeckt mit bebender Ehrfurcht sein Selbst-
auch er fühlt tausend Kräfte in sich wach werden; ihrer Auswirkung aber
setzt sein Gebrechen unüberschreitbare Schranken. Die Erkenntnis macht
die Entwicklungsjahre oft zur schwersten Zeit in seinem Leben, dafs seine
Blindheit als äufseres Hemmnis mannigfache innerlich angelegte Möglich-
keiten vernichtet. Seinem bitter ernsten Bildungsstreben kann er wegen
rein technischer Schwierigkeiten nicht Genüge tun; zahllosen Dingen, die
anderen zu Gegenständen reinsten Genusses werden, steht er fremd gegen-
über; Berufe, denen er seine Neigung schenkt, sind ihm verschlossen. Er
fragt sich bitter, was er denn eigentlich im Leben soll, und die Erschütterung
seines Zweckbewulstseins bedroht zugleich sein ganzes Weltbild. Er fühlt
sich ohne seine Schuld in unausgleichbarem Grade benachteiligt und wird
an der Güte eines allmächtigen Leiters der Geschicke irre. Sein Welt-
schmerz ist berechtigter und darum gefährlicher als dergleichen Stimmungen,
die in diesen Jahren auch bei Sehenden üblich sind. Er sucht oft in
Gedichten die Befreiung, die uns aus dem Fernerriicken des Schweren
erwächst. Sie sind freilich meist ohne künstlerischen Wert, doch als
unmittelbare Äufserungen sonst wenig zugänglicher Zustände von hoher
psychologischer Bedeutung.
Dem Blinden. der also unter seinem Gebrechen leidet, mufs das
Auge als das Köstlichste, ja als das einzig wahre Gut erscheinen, das
Leben der Sehenden als das Paradies auf Erden. An ihm teilzunehmen,
soweit es sein Mangel irgend, ermöglicht, gerade ihm zum Trotz doch »»
zu leben, als wenn er gar nicht vorhanden wäre. das wird sein leiden-
schaftliches Bemühen. Er will ein Sehender unter Sehenden sein, wii
Der Blinde als Persönlichkeit. 87
gern die gleichen Pflichten auf sich nehmen wie sie, dafür aber auch
die gleichen Ansprüche stellen dürfen. Der einzige Unterschied, dafs
er nicht sieht, hat ganz zurückzutreten, da ihm der Blinde selbst keine
Bedeutung einräumt. Dieses unkritische Streben nach unbedingter An-
gleichung entspringt aus dem Bewulstsein seiner Sonderstellung und ist
im Grunde eine Flucht vor sich selbst. Es ist ein verzweifelter Versuch,
‘die Auseinandersetzung mit der Welt des Lichtes, die sein Anderssein
aotwendig macht, dadurch zu umgehen, dafs er dieses aufhebt. Form und
Leidenschaftlichkeit seines Bemtihens sind verschieden je nach den Lebens-
verhältnissen und der Zeit der Erblindung. Der Blindgeborene ahnt seine
Besonderheit als Kind nur dann, wenn sie ihn andere schmerzlich fühlen
lassen. Sobald er aber anfängt, über sich nachzudenken, . wird er sich der
ganzen Schwere seines Gebrechens bewulst. Er ist in seinen Ent-
wicklungsjahren meist noch nicht stark genug, um den Kampf, den ihm
seine Ausnahmestellung aufzwingt, derart sieghaft zu bestehen, dafs er
sein Leben seinen andersartigen Bedürfnissen und Glücksmöglichkeiten
entsprechend gestaltet. So setzt er seine ganze Kraft daran, sich trotz
alledem den Zugang zu der Welt des Lichtes zu erringen, die ihm seine
Phantasie zum Paradiese ausschmückte. Für den spät Erblindeten ist sie
die Heimat, aus der ihn ein hartes Geschick verstiels; kein Wunder, wenn
er auch ferner an ihrem Treiben teilzunehmen sucht, so weit es irgend
möglich ist, und seiner neuen Daseinsform nicht Rechnung tragen will.
Der hochgradig Schwachsichtige ist in Wahrheit ein Bürger zweier Welten.
Ihm gewährt das Auge noch mannigfache Anregung und Bereicherung,
sodafs er sich nur um so leichter der süfsen Täuschung hingeben kann,
als ob er sich restlos in das Leben der Sehenden einzugliedern vermöchte.
In der Zeit des unkritischen Strebens nach Angleichung um jeden
Preis legt der Blinde allem Äufseren und Äufserlichen unangemessene Be-
deutung bei und läfst den Wert der Dinge von dem Grade abhängig sein,
in dem er sie sich in gleicher Weise zu eigen machen kann wie jeder Sehende.
Vor allem mufs die Wurzel alles Übels, die Blindheit, möglichst verborgen
werden. Dies glaubt man am besten dadurch zu erreichen, dafs man ihre
Folgen tunlichst einschränkt. Der peinigende Eindruck, den sie auf das
Auge macht, soll ausgeglichen werden durch überladene Kleidung, ein
Streben, das sich nicht selten, zumal bei Mädchen, bis zur Eitelkeit steigert.
Die Abhängigkeit wird um jeden Preis vermindert; selbst Gefahr nimmt
man gern in Kauf, wenn man sich dadurch diesem heifsersehnten Ziele
nähert. So legt der Blinde grofsen Wert auf; Fertigkeiten und mifst Hand-
lungen hohe Bedeutung bei, die für den Sehenden ganz selbstverständlich
sind und jeden inneren Wert entbehren. Dieses leidenschaftliche Bemühen
kann so weit führen, dafs er seinen besten, seinen eigensten Besitz, seine
Persönlichkeit preisgibt, nur um sich äufserlich anzugleichen, da er oft den
normalen Zustand mit dem alltäglichen verwechselt. Er will in seiner Arbeit
vor den Sehenden nichts voraus haben, doch ihnen darum auch in nichts
nachstehen, keinem Genusse entsagen. Er geht in Gemäldegalerien und
glaubt ein Bild durch Beschreibung in gleicher Weise, ja noch verinner-
lichter zu genielsen als sein Begleiter, deshalb auch nicht mit seinem Urteil
in falscher Bescheidenheit zurückhalten zu müssen. Er unternimmt neuer-
88 Wilhelm Steinberg.
dings gefahrvolle Wanderungen ins Hochgebirge und ist überzeugt, die Fern-
sicht, die sich seinem Führer nach für beide unsäglichen Mühen erschliefst,
in dessen Schilderung nicht weniger unmittelbar und darum durchaus
gleichartig zu erleben. Die Freuden, die auch dem Blinden zugänglich
sind, will er sich auf demselben Wege wie der Sehende erschliefsen. Ihm
genügt nicht ein geselliger Verkehr mit wenigen Nahestehenden, bei dem
Persönlichkeitswerte entscheidend sind, sodafs auch er etwas zu geben
vermag; er sehnt sich nach glänzenden Gesellschaften, bei denen die Form
alles ist. Vor plastischen Kunstwerken läfst es der Blindgeborene nicht
bei der Freude an Formen sein Bewenden haben, soweit sie seinem tastenden
Finger überhaupt zugänglich sind, sondern versucht, weil dies die Sehenden
tun, die Züge zu deuten, ohne dafs er ihren Wechsel als Ausdruck seelischer
Vorgänge je hätte erleben können. Die Gaben, die auch ihm die Natur
mühelos gewährt, sind ihm zu gering, da der vollsinnige Mensch schwerlich
auf Berge stiege, wenn ihm das Tal genug der Freuden böte.
Dieses unkritische Streben nach unbedingter Angleichung läfst den
Blinden seines Lebens nicht froh werden, ermöglicht bestenfalls ein
Scheinglück. Denn es ist nur möglich, wenn er seine seelische Eigenart
verkennt. Durch dieses Nichtverstehen hält er selbst ihre wertvolle Aus-
gestaltung hintan, ohne die Hemmungen vermindern zu können, die nun
einmal mit ihr gesetzt sind. Sie machen sich gerade in Äufserlichkeiten
geltend. Kleine Milsgriffe und Ungeschicklichkeiten begegnen dem Blinden
fast täglich. Seine Abhängigkeit beschränkt sich ja nicht darauf, dafs er
auf unbekannten Wegen nicht allein gehen kann, sondern ist viel ent-
scheidender in seiner geringen Nachahmungsmöglichkeit begründet. Sie
zwingt ihn, sein ganzes Leben hindurch nach Dingen und Verhaltungsweisen
zu fragen, die der vollsinnige Mensch anderen absieht. Jede mögliche
Situation läfst sich nicht voraussagen und selbst der Eintritt einer er-
warteten Tage beim Fehlen des Auges nicht immer sogleich erkennen.
Daher ist der Blinde im Verkehr mit Sehenden ohne ihre freundliche An-
weisung oft ratlos. Das Nichtbeherrschen der Situation kann aber nur den
wirklich bedrücken, der vergifst, dafs Geselligkeiten, bei denen Formen aus-
schlaggebend sind, wohl manches Leben äufserlich bereichern, in keinem Falle
aber innere Werte treffen. Zudem ist es für die Vollsinnigen nicht immer
leicht, dem Blinden gegenüber den rechten Ton zu finden, und wenn er
obendrein allzu empfindlich ist, wird er sich selbst die Freude am Verkehr
mit manchem wertvollen Menschen trüben. Wie soll er erst die Leute ge-
lassen abfertigen, die ihn mit aufdringlichem Bemitleiden verletzen, oder
sich in seiner Gegenwart in einer Weise gehen lassen, als wäre er auch
taub. Wie soll er für die ein Lächeln finden, die bei ihm selbstverständlichen
Verrichtungen des Lobes voll sind, doch für die Frucht ernster Arbeit kein
Wort des Verständnisses haben. Wenn ihm solche peinlichen Auftritte zu
Katastrophen werden, dann reibt er sich in einem vergeblichen Kampfe
gegen Äufserlichkeiten auf und behält keine Kraft, um die unabwendbaren
Schwierigkeiten zu überwinden und dort zu entsagen, wo er unüberschreit-
bare Grenzen erkennen muls. Die Natur bietet ihm mühelos so viele Freuden,
dafs er es seinem geduldigen Begleiter wirklich ersparen kann, ihn auf ge-
jährliche Gratwanderungen mitzunehmen. Was er zudem durch die Be-
Der Blinde als Persönlichkeit. 89
schreibung einer Landschaft oder eines Gemäldes geniefst, sind: nie sie
selbst, sondern Stimmungen, die der verständnisvolle Schilderer in ihm zu
wecken weils. Beim Späterblindeten kommen reproduzierte visuelle Vor-
stellungen hinzu, die wohl eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bilde haben
mögen, niemals aber seine Individualität zum Ausdruck bringen, die doch
der Träger seines künstlerischen Wertes und normalerweise der eigentliche
Gegenstand des Genielsens ist. Der Blinde findet also Freude nicht am
Gemälde, sondern allein an Innenzuständen, die nicht eimal unmittelbar
durch das künstlerische Objekt ausgelöst wurden. Er mag Gaierien be.
suchen, wenn es ihm Vergnügen macht, soll sich aber klar darüber sein,
dafs es mindestens in bezug auf das geschilderte Kunstwerk zu eigentlich
ästhetischer Einstellung bei ihm gar nicht kommt. Denn hier wie in allen
Fällen, in denen die Differenz zwischen Absicht und Erfolg so wenig zu-
tage tritt, dafs er sich ihrer und seiner Grenzüberschreitung oft gar nicht
bewulst wird, geht er nur scheinbar in der Welt der Sehenden auf. In
Wahrheit verwandeln sich ihre Güter unter seiner Betrachtung, und was
sie ihm an innerer Bereicherung bei dieser unangemessenen Art der Zu-
wendung etwa gewähren, das hätte er auch bei liebevoller Versenkung in
sein eigenes Reich gewinnen können. Die Möglichkeit, sich in weitem
Umfange über den Erfolg ihres Strebens zu täuschen, läfst viele Blinde
zu der Überzeugung kommen, dafs sie im Grunde nichts entbehren und
restlos glücklich sind. Weil dieses Glück auf Illusionen ruht, ist es ein
Scheinglück, das das harte Leben jeden Augenblick zerstören kann. Indem
sie sich so über ihre Grenzen hinwegtäuschen, können sie ihre Sehnsucht
wohl verdrängen, nicht aber überwinden. Das unkritische Streben nach un-
bedingter Angleichung hat ein zwiefaches Ergebnis: Entweder ist sein Mifs-
erfolg so unverkennbar, dafs er den Blinden sein Giebrechen doppelt schwer
fühlen läfst und ihm die Freude am Leben nimmt, oder er ist weniger
handgreiflich und ermöglicht ihm so Illusionen und ein Scheinglück. Wir
wollen gewifs nicht wegen jeder Grenzüberschreitung mit ihm rechten.
So gänzlich andersartig ist sein Leben zum Glück nicht, dafs keine Pfade
hinüber und herüber führten. Aber er mufs sich dessen bewulst bleiben,
dafs es sich stets nur um Freiheiten handeln kann, die sich der innerlich
gefestigte Mensch einmal erlauben darf. Wenn er vergifst, dafs er in jener
Welt nur Gast ist, dafs seine besten Kräfte in einem anderen Boden wurzeln,
dann verleugnet er seine Eigenart; und was er auch im Leben der Sehenden
an Gütern erraffen mag, sein unaufhebbares Anderssein macht es für ihn
zu Scheinwerten.
Der Blinde ist nun einmal ein besonderer Typus. — Das Auge ist
das wichtigste Organ für die Erfassung der äufseren Welt und, da Wahr-
nehmungen auch in die komplexesten psychischen Bildungen als Elemente
eingehen, zugleich von ausschlaggebender Bedeutung für das gesamte Seelen-
leben. Sein Einflufs erstreckt sich bis auf rein intellektuelle Leistungen;
denn jeder Gedanke mufs ausdrückbar sein, so dafs wir zugleich mit ihm
die Möglichkeit seiner sprachlichen Formulierung setzen. Das sinnliche
Substrat der Sprache aber, dafs mindestens bis zu einer gewissen Stufe
der geistigen Entwicklung Träger des Verständnisses ist, besteht ganz
überwiegend aus optischen Vorstellungen. Zahllose Vorgänge der ver-
90 Wilhelm Steinberg.
schiedensten Art sind nur durch das Auge wahrnehmbar und können darum
den Willen des Blinden nicht anregen und bestimmen. Raumformen und
Farbenkomplexe, die ihre Besonderheit zu Trägern ästhetischer Werte
macht, können nur durch das Sehorgan unser Gefühlsleben bereichern;
und selbst die Beziehungen von Mensch zu Mensch sind in gewissem Grade
von ihm abhängig: Nur wer das schmerzliche Zucken um den Mund des
still Trauernden sieht, kann trösten, nur das Auge berichtet uns von dem
freundlichen Lächeln, das uns willkommen heifst. Die Blindheit hat nach
alledem einen Ausfall so mannigfacher und wertvoller Anregungen für das
gesamte Seelenleben zur Folge, dafs man sich fragt, ob sie dem Unglück-
lichen überhaupt die Möglichkeit läfst, sich zu einer Persönlichkeit heran-
zubilden. Solange man glaubt, sie durch die Mängel, die sie bedingt,
erschöpfend charakterisieren zu können, wird man ihr aber nicht gerecht.
Denn dank der Plastizität des Seelenlebens begründen Ausfallserscheinungen
nicht nur Mängel, sondern auch Abwandlungen des Verbliebenen. Diese
Umbildungen machen die positiven Faktoren in der seelischen Besonderheit
des Blinden aus. Vor allem gilt es, um eine Entwicklung überhaupt zu
ermöglichen, Ersatz zu schaffen für die zahllosen fehlenden Anregungen
und die von aufsen kommenden Bereicherungen. Dazu bedarf es einer
andersartigen Einstellung gegenüber der Sinnestätigkeit. Es wird als selbst-
‚verständlich erwähnt und doch in seiner Bedeutung meist nicht genügend
gewürdigt, dals sich der Blinde mit grofser Intensität den Empfindungsdaten
zuwendet, die ihm seine verbliebenen Sinne vermitteln. Sie bilden die
Grundlagen seines Seelenlebens, und nur weil der Sehende ihrer meist
wenig bedarf und sie darum auch nicht voll ausnutzt, kann er sich schwer
einen Begriff von ihrem Reichtume machen. Er ist durchaus grofs genug,
um das sinnliche Substrat abgeben zu können, das für die Gestaltung eines
mannigfach gegliederten Innenlebens unentbehrlich ist. Seine intensive
Einstellung auf taktile und akustische Empfindungsdaten lehrt den Blinden,
sie in ihrer gegenständlichen Bedeutung besser zu erfassen, und ermöglicht
Um darum Leistungen, die der Sehende wohl nicht grundsätzlich, doch
meist tatsächlich nicht vollbringen kann. Ihre rein psychische Bedingheit
verbietet uns, sie als Geschenk der reuigen Natur aufzufassen, sondern
läfst sie uns als Ergebnis seelischer Arbeit erkennen und macht zugleich
verständlich, wie sich die Späterblindeten in ihre neue Welt einleben
können. Der Blinde. dies folgt unabweisbar aus unseren Erwägungen, ist
ein besonderer Typus: Einmal, weil ihm die für das Seelenleben des nor-
malen Menschen grundlegenden Wahrnehmungen fehlen, alsdann, weil die
durch die verbliebenen Sinne vermittelten gänzlich andersartigen Eindrücke
für seine elementaren Innenzustände und somit für die Gestaltung seiner
Persönlichkeit die gleiche Bedeutung gewinnen, die sonst den optischen
Vorstellungen zukommt.
Gerade die positiven Faktoren seiner Besonderheit ermöglichen dem
Blinden innerhalb seiner Grenzen ein gesegnetes und glückliches Leben.
Er kann arbeiten und darf sich darum sagen, dafs sein Dasein für ihn und
auch für andere nicht wertlos ist. Wenn es ihn bedrückt, dafs er sich
häufig nicht in einem Berufe betätigen kann, der seinen Fähigkeiten voll
entspricht, so soll er bedenken, dafs viele Sehenden in der gleichen Lage
Der Blinde als Persönlichkeit. 91
sind. Grdfser sind die Schwierigkeiten, die er im Kampfe ums Dasein zu
überwinden hat; sie suchen die Blinden neuerdings durch sozialen Zusammen-
schlufs mit Erfolg zu mindern. Es ist überdies nicht zu verkennen, dafs
gerade die Hemmungen, die ihnen auf allen Gebieten der Betätigung hindernd
entgegenstehen, das Beste in ihnen zur Entfaltung bringen. Sie erklären,
weshalb wir unter den Nichtsehenden so vielfach Extreme finden: Ein
schwacher Wille sinkt vor einer schweren Aufgabe völlig in sich zusammen.
ein starker wächst mit ihrer Überwindung. Die mangelhafte Kenntnis,
die der Blinde durch seine Sinne von entfernteren Objekten erhält, zwingt
ihn, sich über die Eindrücke und ihre gegenständliche Bedeutung in viel
weiterem Umfange Rechenschaft zu geben, als dies der Sehende nötig hat;
er nimmt ja die Dinge selbst mit all ihren Eigenschaften wahr, von denen
jenem nur sein Ohr und allenfalls der Geruchssinn dürftige Kunde gibt.
Die Notwendigkeit, sich vieles geistig zu erarbeiten, was dem Vollsinnigen
mühelos zufällt, macht den Lichtlosen oft zu einem bewufsten Menschen,
der seinen Verstand auch dort zu Rate zieht, wo sich andere allein ihrem
Gefühle hingeben. Dafs hierdurch sein Gemüt wohl weniger zutage
tritt, doch nicht verarmt, das beweist die Innigkeit, mit der er in Freund-
schaft und Familie lebt. Freundschaft mit Sehenden ist ihm vielfach von
Nutzen und darum ursprünglich sehr ersehnt; doch seine Daseinsbedingungen
sind so andersartig, dafs dieser Wunsch nur ausnahmweise erfüllt wird,
und er nach mancherlei Enttäuschungen Verständnis und Teilnahme vor-
wiegend bei seinen Schicksalsgefährten sucht. Wenn er eine Frau findet,
die in opferfreudiger Liebe sein Leben mit ihm teilt, dann erschlieflst sich
ihm in der Familie ein Quell stärkender Kraft und reinsten Glückes; denn
hier setzt sein sebrechen dem Drange, anderen etwas zu geben, im Grunde
keine Schranken. Musik und Poesie sind ihm treue Freunde, die ihn in
schweren Stunden über sein eigenes Leid emporheben. Sein inniges Leben
mit der Natur kann sich bis zur religiösen Weihe steigern, und so mancher
Blinde findet seinen Gott in ihr. Religiösen Betrachtungen, Allgemein-
fragen der Weltanschauung folgt er oft mit leidenschaftlicher Hingebung.
Hier fällt ja zugleich mit der Ausschaltung der Sinne jede trennende
Schranke, und wenn er sich eine unerschütterliche Lebensanschauung er-
arbeiten kann, dann verleiht sie ihm An schweren Stunden die Kraft, sein
Schicksal mit Würde zu tragen.
Das Leben der Blinden ist trotz aller Einschränkungen reich, es kann
reich werden. Darin sind sie ihm gegenüber in der gleichen Lage wie die
Sehenden: Es ist im Grunde doch stets das, was sie aus ihm zu machen
wissen. Diese Aktivität prägt sich bei ihnen in der besonderen Form aus,
dafs sie sich ihrer Grenzen bewufst werden. Der Nichtsehende mache
sich klar, dafs er unter besonderen Bedingungen steht, darum sein Leben.
soll es ihnen gerecht werden, auch anders gestalten muls. Denn nur wenn
sich die Persönlichkeit ihren unaufhebbar gegebenen Entwicklungs-
bedingungen gemäüfs heranbildet, kann sie zu einem echten Werte werden;
das unkritische Streben nach völliger Angleichung führt bestenfalls au
einem Scheinwerte und einem Scheinglücke, die keiner ernstlichen Prüfung
standbalten. Er soll die Sehnsucht nach der Welt der Sehenden nicht
dadurch verdrängen, dafs er sich einredet, er habe im Grunde nichts zu
99 Wilhelm Steinberg.
entbehren; er mufs sie überwinden. Dies vermag er in der Gewilsheit,
dafs sein Gebrechen nicht nur einen Mangel bedeutet, sondern zugleich
gestaltende Kräfte erschliefst, die es ihm ermöglichen, sich zu einer Persön-
lichkeit von stark ausgeprägter Eigenart, doch auch von unbestreitbarem
Eigenwerte heranzubilden. Diese Gewifsheit ist in keinem Falle etwas
ursprünglich Gegebenes; sie mufs darum errungen werden in innerer
Umkehr. Sie gestaltet sich verschieden je nach den Lebensbedingungen.
Dem Blindgeborenen wird sie meist am leichtesten, da er von vornherein
in seine Welt hineingewachsen ist. Der Späterblindete lebt weiter in
visuellen Vorstellungen und benutzt die Wahrnehmungen der verbliebenen
Sinne zunächst nur, um sie zu reproduzieren. Erst allmählich lernt er
einsehen, dafs er aus ihnen allein keine Bereicherung mehr schöpfen kann,
dafs deshalb die bisher hintangesetzten Eindrücke für ihn entscheidend
sind. Nur wenn er der gestaltenden Kräfte, die in der Blindheit schlummern,
gewifs wird, kann er sich mit der Unmöglichkeit aussöhnen, sein früheres
leben fortzusetzen. Dem Blinden mit einem Sehreste liegt die Ver-
lockung besonders nahe, sich als Sehender zu fühlen und auf den Anteil,
‚en er noch an ihrem Leben nehmen kann, allzu grofsen Wert zu legen.
Auch ihm bleiben bittere Enttäuschungen so lange nicht erspart, ale er
nicht weifs oder nicht wissen will, dafs ihm die Welt des Lichtes wohl
manche Bereicherung bietet, doch dafs er seinen Eigenwert stets nur dem
verdankt, was er unabhängig von seinem geringen Sehvermögen Sein nennen
darf. Günstige äulsere Lebensbedingungen machen die Blindheit durch-
aus nicht notwendig weniger schwer. Der einfache Mann, der sich seinen
Unterhalt durch seiner Hände Arbeit mühselig erwerben muls, hat hiermit
zugleich ein unabweisbares Ziel und meist auch eine bestimmte Forni seiner
Betätigung. Für jeden bescheidenen Genufs, den ihm seine Mufsestunden
gewähren, ist er doppelt dankbar, weil er ihn doppelt schwer verdienen
mufste. Der Blinde, dem reichere Mittel, vor allem eine umfassendere
Bildung zu Gebote stehen, setzt die Befriedigung seiner physischen Be-
dürfnisse als selbstverständlich voraus, und seine Forderungen an das Leben
beginnen erst dort, wo sich jener bereits bescheidet. Hinzu kommt, dafs
mit dem gréfseren Umfang seiner Betätigung auch die Schwierigkeiten
wachsen und dafs es gerade ihm oft unmöglich ist, einen Wirkungskreis
zu finden, den er nach seinen Gaben und Kenntnissen verdiente Die
weiblichen Blinden kommt es oft besonders hart an, sich in ihr Schicksal
zu finden. Denn da ihnen die Berufe der Gattin nnd Mutter so gut wie
gänzlich verschlossen sind, mufs ihre Vernunft ihrem Herzen gebieten,
vine erwachende Neigung niederzuhalten und Ansprüchen an das Leben zu
entsagen, die alle anderen ungestraft erheben dürfen. Überdies können
ihnen die verbleibenden Tätigkeiten oft keinen inneren Anteil abgewinnen,
während der blinde Mann viel häufiger volle Befriedigung in seinem Wir-
kungskreise findet.
Gerade unter den tüchtigen Blinden erfreut sich das Wort grofser
3eliebtheit: Wir sind nicht blind, wir können nur nicht sehen. Entsprinst
cs dem Wunsche, das peinigende Gefühl zu vermeiden, das das Wort
„blind“ fast stets auslöst, wenn es von Sehenden selbst bildlich gebraucht
wird, so ist natürlich nichts dagegen einzuwenden. Doch es will meist
Der Blinde als Persönlichkeit. 93
mehr; es will zum Ausdruck bringen, dafs die Blinden wohl mit einem
kleinen, einem verschwindend kleinen Mangel behaftet sind, im übrigen
aber den Sehenden in allem gleichen, dieselben Pflichten haben und darum
auch dieselben Forderungen an das Leben stellen dürfen. Dem gegenüber
kann nicht genug betont werden, dafs der Blinde ebensowenig ein Sehender
ist, der nicht sieht, wie der Sehende ein Blinder ist, der sieht. Der Ausfall
des wichtigsten Sinnes schafft nun einmal so besondere Bedingungen, dafs
sich das gesamte Seelenleben eigenartig gestalten mufs. Sein Anderssein
macht es dem Blinden unmöglich, sich zu einer wertvollen Persönlichkeit
heranzubilden, solange er ihm nicht in seiner Stellung zum Leben Rechnung
trägt. Entschliefst er sich aber zu innerer Umkehr, die ihn lehrt, sein
Dasein nach seinen besonderen Bedürfnissen und Glücksmöglichkeiten
einzurichten, dann findet er für die mannigfachen kleinen Mifsgeschicke,
die ihm unvermeidlich begegnen, ein Lächeln, das ihn über sie erhebt, dann
gewinnt er die Seelenstärke, ernste Schwierigkeiten zu überwinden und
dort zu entsagen, wo er seine Grenzen erkennen mufs; dann kann sein
Leben für ihn und andere ein Segen werden. Er soll sich nicht vor der
Welt der Sehenden verschliefsen, sondern dankbar empfangen, was sie ihm
zu bieten hat, und so manche Bereicherung vermag er aus ihr zu schöpfen.
Er lebt mitten unter normalen Menschen und mufs sich in vielem nach
ihnen richten. Nicht nur äufseres Benehmen kann und soll er von ihnen
lernen, auch wahre Güter haben sie ihm zu geben. Sein Dasein. ist viel zu
innig mit dem ihren verflochten, als dafs er jede Grenzüberschreitung ver-
meiden könnte. Ohne Schaden mag er sich auch gelegentlich tröstlichen
Illusionen hingeben; frei von Schwächen — und Illusionen sind Schwächen
— ist ja keiner. Dann aber werden sie zu einer Gefahr für die Echtheit
seiner Persönlichkeit, wenn er den Wert seines Lebens von ihnen abhängig
macht. Denn in die Mauer, die ihn von den Sehenden trennt, legt wohl
Liebe und Treue manche Bresche, ginzlich fallen aber kann sie nie. Es
hilft ihm nichts, sich über diese Tatsache hinwegzutäuschen; er mufs sich
seiner Besonderheit und ihres Eigenwertes bewulst werden und so die
Schranken, die ihm ein unerbittliches Schicksal setzte, in freier Tat der
Persönlichkeit als Grenzen achten lernen.
94
Literaturbericht.
F. von GermaRDT. Aus dem Seelenleben des Blinden. Psychologische Studie
auf Grund persönlicher Beobachtungen. Frankfurt a. Main, Emil Münster.
1916. 36S. M. 1.—
Das kleine Heft, hervorgegangen aus jahrelanger aufmerksamer Be-
obachtung an Blinden, ıst dazu bestimmt, weiten Kreisen den Blinden als
Mensch näher zu rücken und des Absonderlichen zu entkleiden. Wenn
der Verfasser auch nicht als Fachpsychologe an sein Thema heranging, so
bewirkte doch seine allgemeine wissenschaftliche Schulung, dafs er in
klarer und das Wesentliche herausarbeitender Form die Sinneswahr-
nehmungen, die Denktätigkeit, die Gemütsbewegung, das ästhetische Ver-
halten, die durch den Sinnesmangel bedingten Charaktereigentümlichkeiten,
die geistige Leistungsfähigkeit des Blinden — und zwar des erwachsenen
Blinden — darzustellen vermag.
Ein grofser Teil der Beobachtungen G.'s deckt sich mit den Selbst-
beobachtungen, über die in diesem Hefte berichtet wird. So legt auch G.
den Nachdruck darauf, dafs der Ersatz des Gesichts durch andere Sinne
nicht in einer Verfeinerung der peripheren Sinnesleistung, sondern in
einer anderen Einstellung der Aufmerksamkeit, in einer feineren Ver-
wertung der Sinneseindrücke seinen Grund habe. Dale hierbei aufser
Gehör, Getast und Geruch auch der Temperatursinn eine bedeutende
Erkenntnisrolle für den Blinden spielt, ist eine interessante Ergänzung
früher bekannter Tatsachen. Die Anräherung an eine Mauer, das Vorbei-
gehen an einer offenen Tür und vieles andere wird nach G. durch die
Änderung der Wärmestrahlung erkannt und zu Orientierungszwecken
benutzt.
Psychologisch wichtig ist ferner der Hinweis, dafs das Denken des
Blinden vorwiegend synthetisch sein mufs, weil ihm die ein Ganzes
auf einmal bietende optische Anschauung fehlt. Er mufs sich aus isolierten
Einzeldaten des Gehörs- und Tastsinnes erst die Gesamtvorstellung, z. B.
eines Möbelstücks, eines Menschen aufbauen, — wodurch sein ganzes
Denken eine andersartige, mehr deutungsmälsige Struktur erhält. So
dienen zur Stütze der Porsonenvorstellung und Menschenkenntnis Stimm-
klang und Händedruck, zwei Symptome, die für den Blinden einen für
uns kaum nachfühlbaren Wert erhalten.
Als weitere psychologisch interessante Einzelheit sei erwähnt, dafs
das ästhetische Verhalten des Blinden stark von dem Erkenntniswert des
Eindrucks bestimmt wird. „Im allgemeinen ist als Grundsatz festzuhalten,
dafs der Blinde alles das bevorzugt, was für ihn am mühelosesten wahr-
nehmbar ist und dadurch sein fehlendes Augenlicht am wenigsten fühlbar
werden lälst.* So erscheint ihm eine besonders markante deutliche Sprache
leicht als „schön“, weil er ihren Träger leicht wiedererkennt; und Blinde
mit Sehresten lieben grelle und bunte Farben, weil sie diese noch am
besten sehen und deshalb auch die Träger solcher Kleider leicht identi-
fizieren können. W. STERN.
G. Pütz’sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S.
Zeitschrift fiir angewandte Psychologie, Beiheft 16 (zu Karl Biirklen).
ABC HEF GHIFKLM"
abcdefghijklm:
ABCDEFGHIJKLM 3
2. Älterer Liniendruck in Antiqu
3. Stachelschriftin Antiqua von
ABCDEFGHIJKLM|
4. Perldruck in Antiqua, Stuttgart.
ABCDEFGHIJKLM|
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5. Spdterer Antiquadruck. Wien. .
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6 Runenschrift von J. Gall. Stark-
ALESFFTVOIlJS set",
7. Blindenschrift von W. Moon. §
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8. Punktschrift von L. Braille. Sp.
Verlag von Jobino -
LQRSFOVW LYZ
7473 kuv w £t y2
chrift von W. Hady. Seit. 1786.
OPQRSTUVWXYZ
*. Lesueur t 1806. P. Dufe 1840.
= PORS STUYW XYZ
1840.
OPQRSTUVWXYZ
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1840.
LOR APS TUYUVW XYZ
änderte Antiqua. Seit 1833.
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hsche Blindenschrift in Liniendruck. Seit 1847.
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Q O Q o Q oa oa D oa ao ao
lne Blindenschrift in Punktdruck. Seit 1821.
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us Barth in Leipzig.
Tastlinien bei sich
steigernder Lese-
schwierigkeit
Ruhige Tastlinie
Tastlinie mit ge-
fingen Zuckungen
Sägeförmige Tast-
linie
Mäanderförmige
Tastlinie
Tastlinie
mit vermehrten
Zuckungen
Schlingenförmige
Tastlinie
Verworrene Tast-
linie
Nr. 2
Nr. 3
Nr. 4
Nr. 5
Nr. 6
Nr. 7
Nr. 8
Nr. 9
Nr. 10
Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 16. Bia
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Kunstanstalt H. F. Jütte, Leipzig.
Nr. 11
Nr. 12
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Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 16. Bürklen.
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Zeitschrift für angewandte Psychologie, Beiheft 16 (zu Karl Bürkle:
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BEIHEFTE
Zeitihriit für angewandte Piydiologie |
Herausgegeben von
WIbLIAM STERN und OTTO LIPMANN.
und die Phantaiie des Rindes.
Von
Charlotte Bühler.
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Das Marden
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beipzig 1918.
Verlag von Johann Ambroüus Barth.
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Verlag von | Johann Ambrosius Barth in | Leipzig.
Zeitschrift fur angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
6 Hefte bilden einen Band. Preis des Bandes 20 M. Der 14. Band ist im Erscheinen begriffen.
Die Au feo der Zeitschrift ist die Bearbeitung psychologischer Probleme unter be-
sonderer Berücksichtigung ihrer Verwertbarkeit für anderweitige praktische und wissen-
schaftliche Fragestellungen und die Ausgestaltung der besonderen experimentellen, psycho-
grap phischen, statistischen und Sammel-Methoden für diese Zwecke. Hauptgebiete der
Zeitschrift sind die pädagogische, forensische, pathologische, literarische, ethnologische und
vergleichende Psychologie.
Die Zeitschrift enthält Abhandlungen, Mitteilungen, Sammel- und Einzelberichte und
verfolgt ständig die internationale Bewegung auf dem Gebiete der an eens Psycho-
logie. Sie ist ae des Instituts fiir angewandte Psychologie in Kleinglienicke, des
psychologischen Laboratoriums in Hamburg und mehrerer Universitäts-Seminare.
Seit 1911 erscheinen: BEIH E FTE
Zeitschrift für angewandte Psychologie
Herausgegeben von
William Stern und Otto Lipmann.
Die Beihefte sind einzeln käuflich.
Heft 1. Orro Lipmann. Die Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihre symptome.
Theorie, Methoden und Ergebnisse der „Tatbestandsdiagnostik“. IV, 968
Heft 2. J. Cons u. F. DierrensacHer (Freiburg). Untersuchungen über nn a o
Alters- und, Begabungs-Unterschiede bei Schiilern. VI, 213 Seiten. 6.46
Heft 3. W. Berz. Uber Korrelation. VI, 88 S.
Heft 4. Pav Marans. E. T. A. Hoffmann. Eine Individualanalyse mit 2 Faksimile,
2 Stammtafeln und 2 graphologischen Urteilen. VIII, 220 S. M.
Heft 5. Vorschläge zur psychologischen Untersuchung primitiver Menschen i
sammelt und herausgegeben vom Institut fiir SR Psychologie und psycho-
logische Sammelforschung (Institut der Gesellschaft fiir experimentelle Psychologie).
1. Teil. IV, 124 Seiten mit 1 Tafel im Text. M. 4.—
Heft 6. Rıcnarp Tuurnwarn. Ethno-psychologische Studien an Südseevölkern auf
dem Bismarck-Archipel u. den Salomo-Inseln. IV, 163 S. mit 21 Taf. M.9.—
Heft 7. Fritz Giese. Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen.
2 Teile. XVI, 220 u. IV, 242 Seiten mit 4 Abbildungen. 1914. M. 14.
Heft 8. Herea Ene. Abstrakte Begriffe im Sprechen und Denken des en VI,
112 Seiten. 1914. M. 3.60
Heft 9. Hermann Damm. Korrelative Beziehungen zwischen elementaren Vergleichs-
leistungen. Ein Beitrag zur psychologischen Korrelationsforschung. IV, 84 Seiten
mit 4 Abbildungen, 31 Tabellen und 4 Tafeln. 1914. M.
Heft 10. Grons Branpeır. Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfächern.
IV, 168 Seiten mit 37 Figuren. 1915. M. 5.60
Heft 11. Curr Pıiorkowskı. Beiträge zur ae eee Methodologie der wirt-
schaftlichen Berufseignung. IX, 84 S. M. 3.—
Heft 12. Jugendliches Seelenleben und Krieg. Ee und Berichte. Unter Mit-
wirkung der Breslauer Ortsgruppe des Bundes für Schnlreform und von O. Bobertag,
K. W. Dix, C. Kik, A. Mann herausgegeben von WırLıam Stern. 181 Seiten
mit 15 Abbildungen. 1915. M. 5.—
Heft 13. Ta. VaLentiner. Die Phantasie im freien Aufsatze der Kinder und Jugend-
lichen. VI, 168 S. mit 1 Kurventafel. 1916. M. 5.60
Heft 14. Orro Lirmann. Psychische Geschlechtsunterschiede. Ergebnisse der differen-
tiellen Psychologie. Zwei Teile. IV, 108 und 172 Seiten mit 9 Kurven im
Text. 1917. M. 12.—
Heft 15. Franzıska BAaumGARTEn. Die Lüge bei Kindern und Jugendlichen. Eine =
frage in den polnischen Schulen von Lodz. IV, 111 Seiten. 1917. M. 4.20
Heft 16. Kant Bonten Das Tastlesen der Blindenpunktschrift. Nebst kleinen Bei-
trägen zur Blindenpsychologie von P. Grasemann, L. Cohn, W. Steinberg. 93 Seiten
mit 16 Abbildungen im Text und 6 Tafeln. 1917
*Heft 17. on BüuLer. Das Märchen und die Phantasie des Kindes. IV, j s.
18 .—
—— — — —— —————— ur oo —
Zu den Preisen kommen die jetzt eingeführten n Teuerungsaufschläge hinzu. Bei
dem mit * versehenen Buche ist der Verlegerzuschlag schon einbegriffen.
BEIHEFTE
Zeitidrift für angewandte Piydıologie
Herausgegeben von
WILLIAM STERN und OTTO LIPMANN.
POP POS SOOO SOOO OL OO OOOO OOOO OOo
Das Marden
und die Phantañe des Kindes.
Von
Charlotte Bühler,
heipzig 1918.
Verlag von Johann Ambrofius Barth.
©
III
Vorbemerkung.
Den dulseren Anlafs zu dieser Untersuchung bot die von
meinem Mann in seinem Kolleg über Kinderpsychologie aus-
gehende Anregung, das Märchen systematisch daraufhin zu analy-
sieren, ob es uns Einsicht in die kindliche Phantasie verschaffe.
Einzelne Beobachtungen sind von ihm selbst schon gemacht
worden, im Verlaufe dieser Arbeit wird auf sie hingewiesen.
Einen Auszug aus dieser Arbeit wird man im 5. Kapitel seines
Werkes über „die geistige Entwicklung des Kindes“ ! wiederfinden.
Die vorliegende Schrift dient in erster Linie der kinderpsy-
chologischen Forschung, lälst sich aber auch als Beitrag zu einer
Psychologie der Literatur betrachten. Ich hoffe, dafs sie durch
das Thema und die Art der Behandlung auch weiteren, vor allem
pädagogisch und literarhistorisch interessierten Kreisen Anregung
bieten möge.
Für den liebenswürdigen Nachweis literarhistorischen Materials
bin ich Herrn Professor von DER LEYEn zu besonderem Dank
verpflichtet. Zugleich möchte ich auch an dieser Stelle meinem
Mann für das herzliche Interesse danken, mit dem er die Ent-
stehung meiner Arbeit dauernd begleitet hat.
München 1917.
Charlotte Bühler.
ı Kırı. BühHLse, Die geistige Entwicklung des Kindes. Jena 1918.
av
Inhaltstibersicht.
: Seite
Vorbemerkung. . . s NN Ae Be ee A aCe Be ew owe a‘ H
Einleitung: s a-a og? Ss cas Ge ce Re a a a ee a ee ee Ar ar A
1. Kapitel: Die Personen des Marchens. ......... 18
2. Kapitel: Das Milieu im Märchen . . . 2 2. 2 2 2 2 2 2202.97
3. Kapitel: Die Handlung im Märchen ..........2.2. =. 48
4. Kapitel: Die Darstellung der Handlung . `, . ». . 2 2 2 2 2.2.58
5. Kapitel: Denkende und anschauende Phantasie. . ....... W
HEGER A 1 we See ee ee ei ee ee Bi
Einleitung.
Wenn wir an die Erforschung der höheren Seelenvorgänge
des Kindes gehen, sind wir auf objektive Methoden beschränkt,
da wir die Methode der Selbstbeobachtung hier nicht anwenden
können. Gegner derselben werden das nicht bedauern. Doch
verkennt wohl niemand die Schwierigkeiten, die sich für höhere
seelische Funktionen zwingenden Schlufsfolgerungen gerade aus
objektivem Material entgegenstellen. Schon die Aufspürung ge-
eigneten Materials ist eine schwierige Aufgabe.
Hinsichtlich der Phantasie des Kindes sind wir mit solchem
Material recht gut daran, und es mufs Wunder nehmen, dafs man
nicht schon früher auf den Gedanken gekommen ist, das
Märchen systematisch für das Studium der kindlichen Phantasie
auszuwerten. Verschiedene Überlegungen lassen uns das Märchen
als ein dafür besonders günstiges Material erscheinen. Das
Märchen ist heutzutage fast ausschliefslich Literatur des Kindes
und fast seine einzige Literatur in einem bestimmten Alter seines
Lebens. Zudem trägt gerade das Märchen ein so spezifisches
Gepräge nach Form und Inhalt, dafs es nicht schwer fallen kann,
bei exakter Analyse ganz spezifische Züge zu isolieren, die das
Märchen von aller übrigen Literatur unterscheiden und die gerade
etwas dem kindlichen Geist gemäfses enthalten, was er in der
ihm unzugänglichen Literatur nicht findet. Nun mu/ls man sich '
freilich vor der Übertreibung hüten, alles Märchenhafte schon
als solches auch für kindlich zu erachten, denn das Märchen ist
von Haus aus nicht so sehr Literatur des Kindes wie vielmehr
des Volkes. Die Ausdeutung und Analyse mufs daher den Zu-
sammenhang mit der bisherigen kinderpsychologischen Forschung
zu wahren und im Anschluls an sie vorzugehen suchen. Von
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 17. 1
2 Charlotte Bühler.
diesen Gesichtspunkten aus verfährt die folgende systematische
Untersuchung.
Schon mehrfach ist in der Literatur bemerkt worden, dals
ein besonders enger Zusammenhang zwischen dem Märchen und
der kindlichen Phantasie besteht, ohne dafs indes mehr als bei-
läufige Folgerungen daraus gezogen wurden. Bereits 1866 hebt
JuLius KLAIBER in einem pädagogisch orientierten Vortrag über
„das Märchen und die kindliche Phantasie“ hervor, „wie das
Märchen und die Kinderseele sich verstehen“, z. B. in den Wundern
und abenteuerlichen Unmöglichkeiten, die dem Kinde nicht an-
stölsig sind. Doch hat er naturgemäls an einer exakteren Beweis-
führung kein Interesse. Vereinzelte Bemerkungen über die Be-
ziehungen des Märchens zum Kinde finden wir sodann bei dem
Literarhistoriker ADoLF Taimme. Unter den Psychologen haben
nur wenige versucht, das Märchen zu einer Charakterisierung
der kindlichen Phantasie heranzuziehen. Man findet einige nicht
gerade überaus beweiskräftige und auch nicht näher bewiesene
Behauptungen bei Compayreé und Souty. Ausführlicher be-
handelt Wunpt den Zusammenhang von Märchen und kindlicher
Phantasie. Als charakteristisch für die Kindererzählungen sowohl
wie für die dem Kinde erzählten Märchen hebt Wunpr dfreierlei
hervor: 1. Die Steigerung. „Entfernung und Zahl, Gröfse und
Kleinheit der Dinge werden so weit übertrieben, als die zu Ge-
bote stehenden Vorstellungen oder Ausdrücke es zulassen, und
nicht selten wird das Gesagte noch weiter gesteigert. Die Steige-
rung bezeichnet eben den Gefühlsakzent, der auf den manchmal
an sich ganz gleichgültigen Objekten ruht.“*! 2. Die „Vorliebe
für Gestalten, die entweder Grauen oder Entzücken
erwecken. Riesen und Zwerge, Hexen und wilde Tiere oder
wundervolle Prinzessinnen, gütige Feen und glänzende Ritter, das
sind die typischen Gebilde der Märchenerzählung, in denen sich
nach den beiden Seiten von Lust und Leid das gesteigerte Ge-
fühlsleben des Kindes selbst spiegelt.“ 3. Die „Neigung zum
Unerwarteten, Überraschenden und Wunderbaren“.?
Eine ins einzelne gehende Untersuchung der Folgerungen, die
sich aus diesen Feststellungen ergeben können, unternimmt WUNDT
1 (44) 8. 73.
2 (44) 8. 73.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 3
nicht. Er sieht in ihnen nur eine Bestätigung seiner im vorn-
hinein aufgestellten Behauptung von dem intensiveren Gefühls-
leben des Kindes, durch welches es „den Objekten einen ihrer
wirklichen Beschaffenheit nicht entsprechenden, von irgendwelchen
Eigenschaften derselben ausgehenden Gefühlswert beilegt*.? Mit
den von Wunprt hervorgehobenen Momenten werden auch wir uns
im folgenden und zwar weit eingehender zu beschäftigen haben.
Die ersten Anregungen zu einer systematischen Behandlung
der Frage nach dem Zusammenhang von Märchen und kindlicher
Phantasie gab mein Mann. Die Beobachtungen, die schon
von ihm gemacht wurden, sind hier verwertet und im
vermerkt worden. In dieser Arbeit soll rein von psychologischem
Gesichtspunkt aus der Versuch einer Märchenanalyse unternommen
werden mit der besonderen Fragestellung: was lehrt uns das
Märchen über die kindliche Phantasie? *? ee
Damit tritt diese Schrift zunächst in den Dienst der Kinder-
psychologie. Doch sucht sie zugleich darüber hinaus den Zu-
sammenhang mit der allgemeinen Psychologie und mit deren
noch im Entstehen begriffenen Methoden zur Erforschung der
höheren seelischen Funktionen. Einerseits ziehen wir ihre Er-
gebnisse hier heran, andererseits versuchen wir von dieser Spezial-
untersuchung aus einen neuen Gesichtspunkt zur psychologischen
Untersuchung der Phantasie überhaupt aufzustellen.
Sollte nämlich der Versuch gelingen, durch Analyse der
Märchen Einblick in die Phantasie des Kindes zu gewinnen, so
liegt es nahe, dasselbe einmal in ähnlicher Weise an der Literatur
des Erwachsenen für dessen Phantasievorgänge durchzuführen.
Aus der einfacheren Analyse des Märchens nehmen wir dann
vielleicht Ausgangspunkt und Gesichtspunkte mit hinüber. Auch
über die Entwicklung der kindlichen Phantasie in den Pubertäts-
1 (44) S. 72.
2 Die Fruchtbarkeit einer solchen Fragestellung lehrt schon ein Auf-
satz von FARIEDBICH VON DER LEYEN (20). VoN DER LEYEN unterzieht hier die so-
genannte chundliteratur einer ähnlichen Prüfung und Analyse, von der
Frage ausgehend, warum die Schundliteratur so begehrt und niemals aus-
zurotten sei. Ihre Beliebtheit führt ihn auch zu dem Schlufs, dafs sie in
irgendetwas den Bedürfnissen der Volksphantasie sehr gut entsprechen
müsse. Eine knappe eindringende Analyse führt uns die hier in Betracht
kommenden Momente vor, welche sich übrigens zu einem kleinen Teil
recht gut mit denen decken, die wir aus der Analyse der Märchen zur Ein-
sicht in die kindliche Phantasie gewinnen.
19
4 Charlotte Bühler.
jahren werden wir mit demselben Verfahren Aufschlufs erhalten,
und der Vergleich der verschiedenen Perioden vermittels des
Vergleichs der wechselnden Lektüre verspricht neue fruchtbare
Gesichtspunkte für die Betrachtung jedes einzelnen Stadiums.
Mit dem Ausblick auf diesen weiteren Problemkreis beginnen wir
unsere Untersuchung der kindlichen Phantasieleistungen, soweit
solche durch das Märchen angeregt werden. Dabei gehen wir
von der Erwägung aus, dafs in einem gewissen Alter bei uns in
Deutschland so allgemein die Grimmschen Märchen vorherrschen,
dals wir sie als standard work betrachten können und zunächst
nur sie unserer Untersuchung zugrunde legen wollen.
Doch können wir hier nicht ganz unabhängig von aller Praxis
vorgehen. Die Erfahrung lehrt, dafs sich nicht jedes Grimm-
sche Märchen gleicher Beliebtheit und Bekanntheit erfreut; auch
dürfen wir vermuten, dafs im Verlauf der Jahre bald dieses, bald
jenes Märchen besonders fesselt. Denn während der langen Zeit,
in der das Märchen die fast ausschliefsliche Literatur des Kindes
bildet, entwickelt sich das Kind und verändert seinen Geschmack
mit der Entwicklung seines Intellektes. Gibt es unter den Grimm- :
schen Märchen solche, die durchweg auf der einen oder auf der :
anderen Stufe der Entwicklung bevorzugt werden? Darüber kann.
uns nur die Praxis belehren und an sie müssen wir uns zunächst
mit unseren Fragen wenden. Wir bedürfen also vorerst einer
statistischen Feststellung über die Streuung, d. h. die Ver-
teilung der einzelnen Märchen auf verschiedene Altersstufen.
Dabei kann es uns nun nicht darauf ankommen zu wissen, welche
Märchen etwa einem vierjährigen Kind überhaupt schon einmal
erzählt oder vorgelesen wurden. Der Erzähler kann sich ja über
die Schwierigkeit seiner Geschichte oder über die Fähigkeiten
seines kindlichen Zuhörers im unklaren befunden und einen Stoff
vorgetragen haben, der an dem Kind fremd und unverstanden
vorüberglitt. Uns kommt es aber gerade darauf an zu wissen,
welcher Stoff der Leistungsfähigkeit der kindlichen Phantasie am
besten entspricht; wir bedürfen einer Garantie dafür, dals das
Märchen wirklich verstanden und auch gern gehört wurde. Da
nun im allgemeinen die beliebteste auch eine der gut verstandenen
Geschichten sein wird, leiteten wir unsere Erhebungen mit der
Hauptfrage ein: welches Märchen liebt Ihr Kind am meisten?
Eine grölsere Serie solcher Fragebogen wurde an die Eltern
uns bekannter Kinder versandt. Ferner wurde in einigen
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 5
Klassen von Volks- und Mittelschulen dieselbe Umfrage veran-
staltet.
Bei dieser Umfrage kam es uns nicht allein darauf an, die
Streuung der Marchen auf verschiedene Altersstufen festzustellen,
sondern auch Anfang, Ende und Übergänge des „Märchenalters“
zu ermitteln. Dankenswerte spontane Angaben aus praktischer
Erfahrung verschafften uns Einblick in mancherlei interessante
Nebenumstände, welche wir bei unserer Analyse verwerten
werden.
Nicht alle Ergebnisse, welche uns Statistik und Analyse
liefern, sind einwandfrei gesichert. In manchen Punkten müssen
wir uns vorerst mit Hypothesen begnügen. Da bietet sich aber
die Möglichkeit, durch das Experiment nachzuhelfen. Aus
unserer Untersuchung gewinnen wir nämlich Gesichtspunkte zur
Beobachtung des lauschenden Kindes, dem gerade ein Märchen
erzählt wird und das man zu Fragen und zu einer Unterhaltung
über das Gehörte zwanglos anregen kann. Eine solche Beob-
achtung wird sich zwar nicht mit der strengen Systematik des
wissenschaftlichen Experimentes durchführen lassen, hat aber mit
diesem im Unterschied zu blofser Gelegenheitsbeobachtung die
Systematik der Gesichtspunkte gemein, von denen aus sie das
im Gespräch gewonnene, zunächst wörtlich zu fixierende Material
bearbeiten kann. Eine solche ergänzende Untersuchung im An-
schlufs an die Gesichtspunkte und Hypothesen dieser Arbeit ist
bereits in Aussicht genommen.
Was lehrt uns die Statistik, von der wir ausgehen? Zu-
nächst gibt sie uns Aufschlufs über Anfang und Ende des
Märchenalters und Verteilung der Märchen in dieser Zeit, zu-
gleich aber auch eine Auswahl der beliebtesten Grimmschen
Märchen. Werden wir auf sie unsere Analyse beschränken und
zugleich den Anhaltspunkt für die Entwicklung benutzen, den
uns die Statistik liefert? Wir werden sehen, dafs beides nicht `
nötig ist. Betrachten wir zunächst die Resultate der Statistik
selbst.
Unsere Statistik, die in dem bisherigen kleinen Umkreis nur
als eine gelegentliche Umfrage ohne den endgültigen Wert einer
Statistik grolsen Stils gelten kann, lehrt uns, dafs die eigentliche
Zeit der Grimmschen Märchen bei Kindern der höheren Stände
etwa vom vierten bis zum achten Lebensjahr dauert. Bei
6 Charlotte Bühler.
den geistig weniger regsamen und weniger sorgfältig erzogenen
Kindern unterster Volksklassen setzt das Märchenalter gewöhn-
lich erst mit der Schulzeit ein und erstreckt sich mindestens bis
das zwölfte, dreizehnte Lebensjahr. Am Ende der Periode
ört zwar das Grimmsche Märchen noch nicht völlig auf, doch
wird es bereits ergänzt und abgelöst von anderem Lesestoff; zu-
nächst von dem in Deutschland sehr beliebten Andersenschen
Kunstmärchen, sodann von Erzählungen spezielleren Inhalts.
Eine deutliche Spezialisierung des Interesses setzt ein. Helden-
sagen, die Märchen aus tausend und eine Nacht, Robinson Crusoe,
Lederstrumpf, Till Eulenspiegel, Reinicke Fuchs, Münchhausen,
Tier-, Reise- und Räubergeschichten treten in den nächsten Jahren
bis in die Pubertät hinein in den Vordergrund. Einen einheit-
lichen Namen für diese Periode zu finden, ist schwierig. Ver-
schiedene Züge treten mit gleicher Deutlichkeit hervor. Eine
leidenschaftliche Begeisterung für den heldenhaften Charakter
ist unverkennbar. Aber im Gegensatz zu dem Märchenhelden,
der einfältig, ja sogar dumm und weltfremd sein darf, soll jetzt
der Held Gewandtheit und eine gewisse W eltklugheit besitzen.
Dadurch gewinnt das Ganze einen realistischeren Anstrich.
Man will genau wissen, wie der Held es fertig brachte, durch
eigene Tüchtigkeit, — nicht mehr mit Hilfe von Wunder und
Zauber, wie im Märchen — aller Schwierigkeiten in gefahrvoller
und verwickelter Lage Herr zu werden. Ein eifriges, fast wissen-
schaftliches Interesse für die Hilfsmittel, die menschlicher Scharf-
sinn, menschliche Unerschrockenheit und Gewandtheit ausfindig
machen, regt sich, getragen von einer heroischen und kraftbe-
wulsten Stimmung, mit der das Leben erwartet wird. Auch der
Hang zum Abenteuerlichen, der im Märchen nur als eine
vage Sehnsucht in die Welt hinaus zum Ausdruck kommt, nimmt
jetzt viel konkretere Formen an. Der Held zieht in ferne Länder,
die mit Namen genannt und genau beschrieben werden. Oder
der Held gehört einem fremden und merkwürdigen Volksstamm
an, für dessen Lebensweise und Gewohnheiten man sich in-
teressiert. Als eine der bezeichnendsten Geschichten dieser
Perioden können wir die von Robinson Crusoe! ansehen, wir
wollen daher dieses Stadium mit einem kurzen Schlagwort die
Robinsonzeit nennen.
! Auch Surry (41) S. 22.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 7
Ihr voran geht das Märchenalter. Ist nun das Märchen
die erste und früheste Literatur des Kindes? Durchaus nicht.
Das Märchenalter wird vorbereitet und eingeleitet durch eine
andere Periode. Es ist jene erste Zeit, in der dem Kinde Lieder
vorgesungen und von der Mutter selbst erfundene oder aus den
Märchen zurechtgestutzte Geschichten erzählt werden, die sich
vom Märchen vor allem durch ihre persönliche Beziehungnahme
zum Leben des Kindes unterscheiden. Am frühesten scheint die |
Vorliebe für Reime und Rhythmen zu sein,! dann folgen die Er- |
zählungen. SS
Es ist von besonderem Interesse, aus beiläufigen Angaben
den Übergang von dieser Vorperiode zur ersten literarischen
Periode, dem Märchenalter, zu beobachten. Er scheint sich fast
unbemerkt zu vollziehen. Eine Mutter schreibt: „Den Anlafs zur
Erzählung des ersten Märchens Rotkäppchen, gab ein Bildermosaik,
das der Knabe im Alter von drei Jahren erhielt...“ Als erste
Märchen werden meistens Rotkäppchen oder Der Wolf und die
7 Geifslen genannt, die zunächst nur erzählt, nicht vorgelesen
und mit reichlichen persönlichen Anspielungen versehen werden.
„Ein kleines Mädchen, so alt wie du...“ Eine kleine Moral wird
bisweilen angehängt, wie sie gewöhnlich den Kern der ausge-
dachten Geschichten bildet. Diese haben einen typischen und
anmutigen Ausdruck im Struwelpeter gefunden, den ein Arzt für
seine kleinen Patienten gedichtet hat. Um ein bezeichnendes
kurzes Schlagwort zu gebrauchen, wollen wir diese literarische
Vorperiode die Struwelpeterzeit nennen. Ereignisse des
täglichen Lebens stehen hier im Vordergrund, Essen und Trinken,
Spiel und Schlafengehen, Momente, die dem Kind noch interessant
und bedeutsam sind. Eine Mutter erzählt, dafs sie das Kriegs-
menü für die Woche in Verse zu bringen und ihrem dreijährigen
Töchterchen unter nicht endenwollendem Entzücken vorzusingen
pflegte.?
ı Vgl. A. Draorr, (8), S. 95.
® Dieselbe Mutter berichtet: „Margot hört nur zu, wenn ich ihr etwas
erzähle, was ich selbst ausdenke und mit ihrer kleinen Person in Verbindung
bringe. So kann ich zum Beispiel die Geschichte vom kleinen Mädchen
mit den erfrorenen Händen bis zur Bewufstlosigkeit erzählen. (Sie hat im
Winter immer Eispfoten und läfst sie sich nie wärmen, erst seitdem ich
ihr die dazu passende Geschichte erzählte, in der auch ein kleines Mädchen
ungezogen ist, die Hände erfrieren läfst und nun nicht zugreifen kann, wie
8 Charlotte Bühler.
Der Übergang von dieser Periode in die Märchenzeit ist
immerhin ein recht bemerkenswerter. Zum erstenmal tritt die
Fiktion dritter unbekannter Personen als literarische Gewohnheit
in den Gesichtskreis des Kindes, Personen, für die es sich in-
teressieren soll, obwohl es sie doch gar nicht kennt, mit ihnen
nichts zu tun hat und andere Dinge erlebt wie sie. Die momentane
Loslösung des Interesses vom eigenen Ich muls doch ein bedeut-
samer Schritt sein und scheint auch als solcher empfunden zu
werden, da die Mutter nicht nur die persönlichen Beziehungen
zum Leben ihres Kindes noch lange beim Erzählen festzuhalten
sucht, sondern auch durch Beteiligung der Kinder das Interesse
lebendig zu halten bemüht ist. So sprechen oder singen die
Kinder mit, wenn kleine Verse dem Märchen eingefügt sind, ja
sie führen Szenen aus dem Märchen auf, das schlafende Dornrös-
chen oder Rotkäppchen, welches mit dem Körbchen voll Leckereien
zur Grofsmutter wandert. Im Kindergarten werden die Tellerchen
der sieben Zwerge und der Spiegel von Schneewittchens böser
Stiefmutter beim Erzählen ausgeschnitten. Durch verschiedene
Zeugnisse ist uns belegt, dafs zunächst gerade an dieser persön-
lichen Beteiligung die Freude haftet und nur in ihr der Grund
für die Bevorzugung eines Märchens zu suchen ist.! Erst ganz
ihr der Vater eine Tüte Schokolade schenkt, die dann die grofse Schwester
aufifst, lafst sie es zu.)“
ı Einzelne Belege für die hier vertretene Auffassung sind folgend
Angaben: :
Zu Schneewittchen: 1. 2 Knaben, 1 Madchen, 6—9 Jahre: Am meisten inter-'
essierte, was die Zwerge essen, wehe, wenn der Erzähler eine
andere Speisenfolge wählte! Sie wollten immer ihre Lieblings-
speisen auf den Tellern der Zwerge haben.
2. Die Kinder sprachen mit: Spieglein, Spieglein an der Wand...
Anscheinend hat gerade dieses Mitspielen die Teilnahme ge-
steigert.
Zu Rotkäppchen: 1. Das Körbchen R's. wurde mit Gerichten gefüllt, die die
Kinder besonders gern alsen.
2. Wichtig waren die Speisen im Körbchen R’s. Das dreijährige
Mädchen verbesserte stets, wenn einmal für Pudding Gemüse
und für Erdbeeren Kirschen unterschoben wurden.
3. Bei R. interessierten hauptsächlich die Sachen, die die Mutter
einpackt. Der Kuchen kann nie grofs genug sein.
4. Das Mädchen hatte selbst ein rotes Käppchen, das ihr eo gut
stand, darum mochte sie das Märchen am liebsten.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 9
allmählich wird die Einstellung hier objektiver, wächst das In-
teresse am Stoff. Doch stets wird die mehr persönliche Vortrags-
weise des Erzählens dem Vorlesen vorgezogen und hat gröfsten
Einflufs auf die Wirksamkeit des Stoffes. Fast durchweg sind
die klassisch gewordenen Märchen von Rotkäppchen, dem Wolf und
. den sieben Geißlein, Dornröschen, Hänsel und Gretel und Schnee-
wittchen die frühesten. Frau Holle, Aschenputiel, Brüderchen und
Schwesterchen gesellen sich dann dazu. Zu den Märchen der letzten
Zeit gehören die Gänsemagd, der Froschkönig, der Meisterdieb, König
Drosselbart, Jorinde und Joringel, der König vom goldenen Berg u. a.
Im einzelnen der Streuung nachzugehen, ist aus verschiedenen
Gründen nicht von solchem Interesse, wie man zunächst an-
nehmen möchte Einmal ist die Auswahl, in der das Kind die
Märchen kennen lernt, sowie die Reihenfolge, nicht von ihm
selbst gewählt. Nur ein Teil und zwar eine Auswahl der ge-
schlosseneren, literarisch wertvolleren unter den recht ungleich-
wertigen Märchen liegt in den Märchenbüchern vor. Sodann
wird sich bei der Analyse zeigen, dafs die für die Konstitution
des Märchens wesentlichen Züge fast allen in gleichem Malfse an-
haften, so dafs die Anforderungen an das Verständnis nicht sehr
ungleich und die Grundwirkungen nicht sehr verschieden sind.
Einige der allerersten und der letzten Märchen mögen hiervon
auszunehmen sein. Ein Märchen wie das vom Rotkäppchen er-
innert noch stark an die Geschichten, welche die Mutter erfand,
sowohl durch das moralische Schwänzchen wie durch die Ein-
fachheit der Handlung. Verwandlungen, Verzauberungen, Riesen
und Zwerge kommen in dem allerersten Märchen noch nicht vor. |
Das erste Märchen schlielst sicb noch enger an das Leben ai |
Zu Dornröschen: 1. Gröfstes Interesse bei der Stelle, wo D. sich in den
Finger sticht und ein Pflästerchen aufgeklebt wird. (Drei.
jähriges Mädchen.)
2. Grofse Wichtigkeit hatte das Einschlafen und Aufwachen der
verschiedenen Personen und Tiere in ihren Stellungen. (Vier-
jähriges Mädchen.)
3. Am beliebtesten, weil sie es immer aufgeführt haben.
4. Sie hat sich vorgestellt, dafs es ihr auch so gehen könnte,
darum mochte sie es am liebsten. `
Zu Der Wolf und die 7 Geifslein: Fünfjähr. Mädchen bevorzugt dieses Märchen,
„weil es so ulkig ist, dafs die alte Ziege Kaffee kocht“, wie es
das zu dem Märchen gehörige Bild des Märchenbuches zeigte.
10 Charlotte Buhler.
und ist weniger sensationell in seinen Erfindungen als die späteren
Geschichten. Was manche von diesen zu den spätesten und zu-
letzt eingeführten macht, ist weniger ihre abweichende Struktur
als vielmehr inhaltliche Schwierigkeiten. -Eine grolse Episoden-
häufung wie im König vom goldenen Berg oder die für das kleine
Kind unverständliche Geschichte der hochmütigen Frau des
Königs Drosselbart, der beiden Geliebten Jorinde und Joringel, des
raffinierten Meisterdiebes verweisen diese, wie leicht verständlich,
in eine spätere Zeit. } Das Märchen ist ja nicht, wie man immer
Auge’ behalten mufs, fiir das Kind geschrieben, sondern es ist
Volkeliteratur 1 und enthält genug des Unverständlichen für das
Kind. Höchstens ein Märchen wie das von Hänsel und Gretel,
Rotkäppchen oder Dornröschen? können wir uns so, wie es jetzt
vorliegt, für Kinder entstanden oder doch bearbeitet denken.
Den Einflüssen, die die Verwendung des Volksmärchens als Kinder-
märchen auf dessen Umgestaltung vielleicht ausgeübt hat, ist man
von literarhistorischer Seite leider bisher noch nicht nachgegangen.
Hier fände sich wohl manches auch psychologisch Interessante.
Wir können das Märchen daher nur so betrachten, wie es
uns vorliegt und Aufnahme in die Märchenbücher der Kinder
findet. Inhalt und Form dieses Märchens sind charakteristisch.
Sowohl in der Wahl der Personen wie in der des Milieu und der
Örtlichkeiten, schliefslich in Verlauf und Art der Handlung und
ihrer Darstellung treten spezifische Züge hervor, die nur dem
Märchen eigen sind. Daher gliedert sich unsere Untersuchung
in eine Betrachtung über:
1. Die Personen des Mirchens.
2. Das Milieu im Märchen.
3. Die Handlung des Märchens.
4. Die Darstellung der Handlung.
Ein 5. Kapitel wird zusammenfassen, was über Leistungen und
Anteil der denkenden und der anschauenden Phantasie aus unseren
Untersuchungen hervorgeht.
ı Vgl. Wısser (43), Einleitung 8. XXI.
? Man vergleiche die deutsche Fassung vom Dornröschen mit den aus-
ländischen Parallelen, etwa mit „la belle au bois dormant" urspr. „Fleur
d’Epine‘ von 1696, durch Pexraurt 1697 in den Contes de ma mere l'oye
bekannt geworden, oder mit ,,Sole, luna e-Talia* im Pentamerone des
Giambattista Basile von 1637. Zweifellos ist die deutsche Fassung fir
Kinder bearbeitet.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 11
Was gibt dem Märchen eine so besondere Stellung in aller
Literatur, was macht das Märchen zur Literatur des Kindes? Nicht
allein seine Volkstümlichkeit. Diese haftet auch der Sage, dem
Volkslied und mancher Anekdote an, ohne dafs diese darum Ein-
gang in die Kinderstube fänden. Rıcmarp Benz sagt in seinem
Buche‘, die „Märchendichtung der Romantiker“, um Goethes
Verhältnis zum Märchen zu charakterisieren: „Dafs er (Goethe)
vom Volksmärchen und seinen „Ungeheuern“ eine Ahnung hat,
ist wohl anzunehmen, desgleichen aber auch, dafs er ihre Art,
das Geringste und Alltäglichste im Leben mit dem Höchsten
wundergläubig in Verbindung zu setzen, nicht mag. Das Leben
ist dem grolsen Bildner eine Domäne für sich; aus Scheu, die
Realität, die er nur plastisch gestalten kann, mit Wundern zu
vermischen, und dadurch ein Zerrbild ohne Glaubwürdigkeit
hervorzubringen, schafft er aus Ergänzungsbedürfnis seiner gleich-
sam frei gewordenen Einbildungskraft (in seinen Märchen) ein
eigenes Reich, das über Leben und Gegenständlichkeit in der
Luft schwebt. Das ist ihm das Märchenreich. Im Volksmärchen
herrschen durchgängig die gewöhnlichen Bedingungen und Ver-
hältnisse eines schlichten bürgerlichen oder bäurischen Menschen-
daseins; erst durch den Eintritt des Wunders werden sie durch-
brochen, offenbart sich eine höhere Welt.“
In der Tat, diese naive Verkettung des Alltäglichen, ja
Profanen, mit dem Aufserordentlichen und Wunderbaren ist eine
nur dem Volksmärchen anhaftende Eigentümlichkeit, die eine
einzigartige Einfalt bekundet. Eine solche Anschauungsweise
mois der kindlichen Auffassung vom Leben sehr nahe kommen.
Profanes und Heiliges nimmt es ohne Unterscheidung unbefangen
und mit Unschuld hin, Wirklichkeit und Wunder sind ihm noch
nicht durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt.! Dem Kinde
mag die Märchenwelt in eben dem Malse natürlich sein als sie dem
Erwachsenen unwirklich ist.
Dem Ineinanderwirken von Wunder und Wirklichkeit ver-
dankt die Märchenwelt ihre Entstehung und Existenz, wir be-
ı Über die ersten Bemühungen, Wirklichkeit und Märchenwelt, die
bisher stets vermengt wurden, voneinander zu unterscheiden, berichten
Sourins im 6. Lebensjahr ihres Sohnes (32) S. 184. Aber einen Monat später
vermerken sie wieder noch „ein ständiges Hin- und Herpendeln des Knaben
zwischen Dichtung und Wirklichkeit“. Sein Glaube an ein „Riesenland“
ist noch unerschüttert. 8. 188.
12 Charlotte Bühler.
gegnen ihm auf Schritt und Tritt. Nicht erst die Handlung
bringt uns das Wunder, schon die Personenwelt und das Milieu
setzen Wunderbares neben das Wirkliche. Dem Aufbau dieser
Welt und ihren Beziehungen zum Kinde im einzelnen nachzu-
gehen, ist nun die Aufgabe der folgenden Ausführungen.
1. Kapitel.
Die Personen des Märchens.!
‚Schon die Personenwelt des Märchens ist charakteristisch und
eng begrenzt, schon sie gibt dem Märchen sein besonderes Ge-
präge.
Die Hauptrolle spielen — wenigstens in den Grimmschen
Kinder- und Hausmärchen, von denen wir hier immer ausgehen
— die Kinder selbst.” Und zwar sind es stets, sobald über-
haupt die Verhältnisse des Kindes beschrieben werden, Kinder
aus sehr armem oder aber aug königlichem Hause. Zum Teil er-
klärt sich das wohl daraus, dafs manche Märchen aus einer Zeit
stammen, in der das Bürgertum noch keine hervorragende Rolle
spielte. Wichtiger aber dafür, dafs man jene Verhältnisse so
treu bewahrt hat, ist wohl der Umstand, dafs gerade sie der
Phantasie und dem Gefühl einen besonderen Reiz boten.? Das
+ Zu diesem und dem folgenden Kapitel vgl. A. v. Löwıs or Mmmax (23).
» A. v. Löwıs op Menar (23) betont im Gegensatz zu dieser auch von
Tumme (42) vertretenen Auffassung, dafs nicht die Kinder, sondern Jüng-
iinge und Jungfrauen weitaus am häufigsten die Hauptpersonen seien.
Diese Behauptung gilt nicht speziell für die Grimmschen, sondern für die
Gesamtheit deutscher Märchen überhaupt. Auch wenn wir ihre formale
Richtigkeit zugeben, werden wir von psychologischem Gesichtspunkt aus
unsere Behauptung daneben aufrecht erhalten können. Denn bei näherem
usehen sind alle jene heiratsfähigen Jünglinge und Jungfrauen doch nur
inder; sie sind als Kinder charakterisiert und müssen auf das Kind durch-
Aus wie seinesgleichen wirken. Es ist nicht zu bezweifeln, dafs das Kind
diese Gestalten als Kinder auffafst, und in unserem Zusammenhang
kommt es allein darauf an. Auch Tumme hat an jener Stelle wohl ähn-
liches im Auge gehabt. Ein Beispiel statt vieler für die Berechtigung
unserer Auffassung: man denke nur an die Prinzessin im Froschkönig (1),
welche einen Tag vor ihrer Hochzeit noch auf dem Schlofshof Ball spielt
und weint, als ihr goldener Ball in den Teich fallt!
3 Löwis or Menar (23 S. 21) erklärt die schroffe „Zweiteilung
zwischen der eigenen und der erwünschten Umwelt“ aus dem von Are,
Das Marchen und die Phantasie des Kindes. 13
Kind hat Vergniigen am Anblick von Glanz und Pracht, und
das Kind ist mitleidig. Beide sehr charakteristische Züge finden
in jenen Verhältnissen am besten Befriedigung.
Neben den Kindern sind von grolser Bedeutung die Tiere
und unter Umständen auch leblose Gegenstände wie die
Kohle, der Strohhalm, die Stopfnadel. .Sie sind belebt und charak-
terisiert wie die Menschen, wobei auch der besonderen Natur
jedes Tieres Rechnung getragen wird. Der Inhalt der Tier-
märchen ist aber wesentlich verschieden von dem der Erzählungen
aus dem Menschenleben.
Schlielslich sind von besonderer Wichtigkeit im Märchen
eine Reihe von Fabelwesen, Hexen, Zwerge, Riesen. Auch
diese gebärden sich wie Menschen und sind überall mit im Spiele.
Doch haben sie stets besonders hervorstechende Eigenschaften,
welche sie wirksam charakterisieren und ihr Auftreten mit Spannung
begleiten lassen. Wenn sie kommen, so ist etwas Aufsergewohn-
liches zu erwarten, auch dies ein Umstand, der ihnen für die
Kinder besonderen Reiz verleiht, besondere Affekte an sie knüpft.
Neben diesen handelnden Personen treten im Märchen nur
noch bestimmte Typen. zur Staffage auf. Vater und Mutter
und Grofsmutter, Schwestern und Brüder, die Paten, der König
und die Königin, Prinzen und Prinzessinnen, der Graf — diese
kehren immer wieder. Wenn der Müller, der Bäcker, der Krämer,
der Schneider, der Fischer genannt werden, so geschieht das ohne
jede Charakteristik. Eine lebhafter gezeichnete Lieblingsgestalt
ist nur der Bauer. Auch am Soldaten nehmen einige Märchen
ein gewisses Interesse. Hier haben bestimmte historische Ver-
hältnisse ihren Niederschlag gefunden. Der Soldat ist stets der
tapfere und brave, welcher seinem Kriegsherrn treue Dienste
leistete, aber nach Beendigung der Fehden seiner Wege gehen
OLrix aufgestellten Stilgesetz des Gegensatzes, das sich hier geltend mache.
Doch warum wird dieses hier wirksam? Den psychologischen Grund haben
wir entschieden darin zu suchen, dafs eben jene extremen Verhältnisse
dem Gefühl und der Phantasie besonders anregend sind. Ein zweiter
Grund ist die leichtere Verständlichkeit des zum Extrem Stilisierten, noch
dazu, wo es in gegensätzlichem Verhältnis auftritt. Näheres über die
Polarisation auf S. 14ff. — Den Hauptgrund für die Freude an der Schilde-
rung von Glanz und Pracht vermute ich jedoch in dem Umstand, dafs sich
dem Kinde die staunende Bewunderung, mit welcher die Erwachsenen jene
Herrlichkeiten zu rähmen pflegen, mitteilt, selbst ohne dals es genaue `
Vorstellungen davon hat.
14 Charlotte Bühler.
mufste, nachdem er gar noch Invalide geworden. Ohne Beruf,
Geld und Gut zieht er abenteuernd umher, leichtsinnig, aber auch
furchtlos und daher schliefslich oft mit Glück belohnt. Eine
leise Bitterkeit klingt mitunter in der etwas reichlich gespendeten
Sympathie an. Auch diese Gestalt ist nur Typus und kommt
nicht so häufig vor, dafs wir weiter auf sie eingehen mülsten.
Welche Rolle spielen alle jene Personen, wie werden sie uns
näher beschrieben ? Das wichtigste Gesetz für die Charakteristik
der Personen im Märchen ist das Gesetz der Polarisation.
Darin ist ein Mehrfaches beschlossen, einmal dafs die Charaktere
einfach und typisiert, sodann dafs sie meist als Extreme
aufgefalst sind, schliefslich dals sie in Beziehung aufeinander
und zwar in gegensätzlicher Beziehung gedacht sind.
Die Polarisation ergibt die einfachste Charakteristik, die
denkbar ist. Wenn ich nämlich eine Person durch ihren schroffen
Gegensatz zu einer anderen Person kennzeichne, so habe ich
damit auf die wirksamste und verständlichste Weise die Eigen-
schaft hervorgehoben, auf die es mir ankommt. Mit dieser Art
der Charakteristik wende ich mich an die geringstmögliche Fähig-
keit der Abstraktion. Und wir müssen annehmen, da dieses
Verfahren das Kind durchaus befriedigt, dafs es seinen Fähigkeiten
aufs genaueste angepalst ist. Nicht nur aus diesem Zusammen-
hang ist uns bekannt, dafs die Abstraktionsfähigkeit des Kindes
eine sehr geringe ist. Hier entnehmen wir, dals das Kind nur
bei der schärfsten Betonung durch den Gegensatz zu genügender
Beachtung einer Eigenschaft gezwungen wird,' während es nicht
fähig ist, dieselbe aus einer komplizierten Charakteristik heraus-
zuabstrahieren.
_. Damit aber verbietet sich die Einführung eines komplexen
Charakters von selbst. Die Personen müssen alle aufserordentlich
einfach sein, am besten, sie haben nur jene eine Eigenschaft,
auf die es ankommt.? Und zu weiterer markanter Hervorhebung,
auch durch die Polarisation schon bedingt, gehört, dafs jene
Eigenschaft im Extrem auftritt. Die eine Schwester, die Gold-
marie, ist ganz besonders fleilsig, die Pechmarie besonders faul;
Aschenputtel ist rührend gut und brav, seine Schwestern sind
abschreckend boshaft. Die Schönheit wie die Häfslichkeit sind
stets aulserordentlich.
1 Vgl. die Antithese in der Sprache des Kindes. Srean (35), S. 189.
* Lowis or Menar, a. a. O. 8. 38 ff.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 15
In der Tatsache dieser polaren und das Extreme bevor-
zugenden Charakteristik ist zugleich mitbeschlossen, dafs alle im
Märchen auftretenden Gestalten keine individuellen Personen,
sondern Typen sind.!? Es ist das fleilsige, faule, gute, böse
Kind, die böse Stiefmutter, die böse Hexe, die schöne Prinzessin
usw.® Auch das ist den Fähigkeiten des Kindes angemessen.
Die lebenswahre Schilderung einer Individualität erfordert einen
komplizierten Aufbau verschieden kombinierter Eigenschaften,
die verschieden ausgeprägt sind und nicht einfach nur genannt
werden dürfen, sondern in den Handlungen hervortreten müssen.
Derartige koınplizierte und fein verschlungene Kombinationen
erfreuen den Erwachsenen und bilden den wertvollsten Bestand-
teil in dessen Literatur. Dem Kinde dagegen sind sie unzu-
ginglich. Es ermangelt sowohl der nötigen Kombinationg- wie
auch der Abstraktionsfähigkeit, um aus den Handlungen
mannigfache Eigenschaften zu entnehmen. Ferner besitzt
es noch gar nicht die Kenntnis dieser Eigenschaften. Und
schliefslich könnte es, wie wir später noch sehen werden,
niemals dem dadurch komplizierteren Verlauf einer Hand-
lung folgen, vielmehr vermag es nur der allereinfachsten, in
der Konsequenz einer Eigenschaft liegenden Entwicklung nach-
zugehen.
Das Repertoire der Eigenschaften kommt kaum über die
genannten hinaus. Unschuld und Bosheit spielen die gröfste
Rolle, aber auch Fleifs und Faulheit, Schönheit und Häfslichkeit,
Neid, Neugier und Hochmut, Mut und Treue, Dummheit und
Schlauheit, sowie Stärke und Schwäche, Kleinheit und Gröfse
werden oft von Bedeutung. Hiermit sind wohl die Eigenschaften |
erschöpft, die das Kind kennt und versteht.
In der Verteilung der Sympathien ist das Märchen nicht
übertrieben moralisch. Zwar ist es stets die Unschuld, die
1 Léwis oy Mewak (23) S. 88 ff.
* Auch Srenzmaer stellt fest, dafs die Steigerung eine Typisierung im
Gefolge hat. (89) 8. 76.
$ Wie sehr in der Auffassung des Kindes das Individuelle gegenüber
dem Typischen zurücktritt, geht aus einer Notis von Scuprms über ihren
bald fünfjährigen Sohn hervor; er verwechselte beständig die böse Knusper-
hexe und die böse Stiefmutter Hänsels und Gretels, (32) 8. 117 und 8. 43.
Offenbar bedeuteten ihm beide nur eine böse Frau, welche die armen
Kinder quälte.
~— 8 ee on
16 Charlotte Bühler.
der Bosheit und Tücke gegenüber zum Sieg gelangt. Das verlangt
der Optimismus des Kindes, der vielleicht ein Ausdruck seiner
Schwäche ist, jedenfalls aber noch in anderen Erscheinungen
zum Durchbruch kommt, die wir kennen lernen werden. Doch
vermissen wir auf dieser Stufe noch einen empfindlichen Ge-
rechtigkeitssinn und das feine Empfinden für die Adäquat-
heit von Charakter und Schicksal. Der zweiten Braut des Helden
wird stets schlecht mitgespielt, auch wo sie offenbar ganz un-
schuldig ist und gar nichts von ihrer Vorgängerin weils. (Z. B. Die
Jungfrau Maleen (198). Harmloser und sehr naiv: Der Trommler
(193). „Die andere Braut behielt die schönen Kleider zur Ent-
schidigung und gab sich zufrieden.“) Dummheit und leere
Schönheit gelangen oft ohne sonderliches Verdienst zu grölstem
Glück. Auch die Faulheit wird nicht immer bestraft wie in der
Frau Holle (24), man denke nur an die drei Spinnerinnen (14), wo
das Märchen ihr Recht gibt. Die List gilt durchaus nicht immer
als verboten, nur mufs sie nicht gerade im Dienst der Bosheit
arbeiten, so denke man an den Meisterdieb (192), an das Märchen
von Serviette, Tornister, Kanonenhütlein und Horn (37), Fitchers Vogel
(46), Rumpelstilzchen (55).?
Es ist im ganzen eine sehr gesunde und einfache Volksmoral,
die hier dem Kinde nahegebracht wird, mit starken Instinkten,
starken Sympathien und Antipathien. Viel überlegt wird da nicht.
Warum wird z.B. die unfreundliche Prinzessin im Froschkönig (1)
mit dem Froschprinzen belohnt, den sie nicht durch Verdienst
sondern durch Zufall bei höchst unfreundlicher Behandlung ent-
zaubert? Aus dem Rahmen gesunden, sehr durchschnittlichen
Fühlens fallen nur einige Handlungen besonderer Grausamkeit
heraus, die sich aus alter Überlieferung herleiten müssen und
unserem Verständnis sich schon entziehen, so im Machandelboom
(47), im Mädchen ohne Hände (31), so die Aussetzung Hänsels und
Gretels (15) oder die Drohung des Königs in den zwölf Brüdern (9),
! Die Nummern beziehen sich auf die vollständige Ausgabe der
Grimmschen Märchen (K. H. M. 1843). Reclam.
2? Vgl. Löwıs or Menar (23) S. 41: „Doch macht das Märchen keinen
Anspruch darauf, dafs alle seine Helden sich so hervorragend durch Tugend-
haftigkeit auszeichnen.“ S. 43: „Mit der Wahrheit braucht der Held es
nicht allzu genau zu nehmen, wenn er sich in Situationen befindet, wo ein
Geständnis des wahren Sachverhalts ihm Schaden brächte.“
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 17
alle zwölf Söhne umzubringen, wenn sein dreizehntes Kind ein
Mädchen sei.'
Wir sehen, die Charakteristik i im Märchen ist höchst ein--
fach, die Moral der Personen wie all ihr Fühlen und Denken,”
durchschnittlich — hier liegt also sicher kein Akzent für das
Interesse des Kindes. Das ist in der Literatur des Erwachsenen
doch wesentlich anders. Differenzierte Charakteristik, differen-
zierte Wertung und moralische Problemstellung rücken hier doch
weit mehr in den Mittelpunkt. Diesen haben wir in der Litera-
tur des Kindes entschieden an anderer Stelle zu suchen. Was. `
an den Personen interessiert, was die Phantasie des X
Kindes anregt, ist sicher nicht ihr Charakter, — das’
lälst sich einwandfrei feststellen.
Wir wenden uns jetzt der zweiten Gruppe handelnder Per-
sonen zu, nämlich den Tieren und leblosenGegenständen,
die meist im Zusammenhang mit Tieren in die Handlung ein-
geführt werden. (Z. B. Das Lumpengesindel (10.)
Die Charakteristik der Tiere ist doch eine recht wesentlich
andere wie die der Menschen.” Wir müssen hier drei Gruppen
unterscheiden: die eigentlichen Tiermärchen, die Tiere im
Verkehr mitMenschen und die Tiere als verwandelte
Menschen. Auf das Tier als Tier sind die bekanntesten und
einfachsten Eigenschaften gar nicht anwendbar. Unschuld,
Schönheit, Häfslichkeit, Faulheit und Fleifs besagen hier nichts.
Mit diesen einfachsten Mitteln kann das Tiermärchen nicht ar-
beiten. So verzichtet es häufig ganz auf Charakteristik und er-
zählt mit blofser Namennennung eine drollige Geschichte wie im
Lumpengesindel (10). Wo doch charakterisiert wird, wiederholen
sich die Eigenschaften List und Schlauheit gegenüber der Dumm-
heit anderer Tiere, für deren Wehrlosigkeit nicht dieselben Sym-
pathien bestehen wie für die unschuldiger Menschenkinder. Er-
barmungslos wird im Märchen von Katze und Maus in Gesell. `
schaft (2) der armen Maus sehr schlecht mitgespielt. — Anders
steht es mit dem Welf und den sieben Geißlein (5), die so wie Rot-
ı Eine Folge solcher das Extreme bevorzugenden Charakteristik ist
einerseits eine starke Wirkung auf den Affekt und die Ursache ungehemmter
Entfaltung des Affektes, andererseits dagegen die Erklärung für das Fehlen
alles Schwebenden, Unausgesprochenen, Stimmungsmälsigen.
° W. Grimm (14), „Das Wesen der Märchen“ 8.354f: „Die Tiermärchen
öffnen eine andere Welt.“ |
Beibeft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 17. 2
18 Charlotte Bühler.
käppchen (26) aufgefalst sind. Sehr im Vordergrund steht überall
die Frefsgier, die auch stets die Ursache der boshaften und
listigen Streiche bildet.
Im Verkehr mit Menschen wird an den Tieren auch Hilfs-
bereitschaft und Treue gerühmt, so an den Vögeln im Hänsel
und Gretel (15), am gestiefelten Kater (33, 1. Ausgabe), an den Vögeln
im Aschenputtel (21), an den Tieren in der weißen Schlange (17).
Die Tiere in diesen Wundermärchen sind überhaupt ein eigenes
Kapitel. Der eigentliche Tiercharakter tritt bei ihnen ganz
zurück. Sie sind häufig den Menschen durch irgendein Wissen
überlegen und üben ihnen gegenüber bisweilen eine Art richter-
liche Funktion aus. Sie strafen und belohnen, helfen und hin-
dern, je nach Verdienst, so im Waldhaus (169), in der weißen
Schlange (17). Die Vögel! besonders wissen oft um Geheimnisse
der Menschen und verraten sie im rechten Augenblick, so der
Vogel an der Wand in den drei Vügelkens (96), die drei Raben
im getreuen Johannes (6).
‘ Die eigentlichen 'Tiermärchen jedoch charakterisieren mehr
durch solche Eigenschaften, welche der Natur des Tieres ent-
sprechen oder ihm im Dienst des Menschen erwachsen sind. Sie
zeigen den tölpigen Bär (102), den gefräfsigen Wolf (73), den
schlauen Fuchs (38, 46, 73, 74), das alte, ausgediente Pferd (132),
den schlecht behandelten, hungrigen Hund (1758), den hilfsbereiten
Sperling (58), die listige Katze (2, 75), die überlistete Maus (2ı,
die schnattrigen Gänse (86). Ebenso die Sachmärchen, die wir
mit jenen zusammenstellten. Sie erzählen von Strohhalm, Kohle
und Bohne (78, 80), was diese erleben müssen, eigentlich nur,
weil sie Strohhalm, Kohle und Bohne sind; so auch von der
Bratwurst (23), so von Näh- und Stecknadel (20).
Ganz im Unterschied zu den übrigen Märchen ist hier die
Geschichte oft nur eine Beschreibung der Tiere bei ihrem Tun
und Treiben oder eine scherzhafte kleine Episode. Daran zeigt
sich, was wir auch sonst schon aus Beobachtungen des Kindes
wissen, dals es Interesse an den Tieren selbst nimmt. Die Tier-
geschichten enthalten keine spannenden und unerwarteten Aben-
teuer mit wunderbaren Begebenheiten, sie sind in dem Sinne gar
keine Märchen. Jedenfalls sind sie keine Wundermärchen, und
ihre realistische Handlung interessiert hauptsächlich um der han-
! Die Vögel fast WırueLm Grimu als Geister auf. (14), 8. 340.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 19
delnden Personen willen, der Tiere selbst. Ihr alltägliches Tun
und Treiben bietet der Phantasie des Kindes schon Anregung
genug, es bedarf da keiner Erfindungen mehr, um die Situation
reizvoll zu gestalten. !
Ganz anders ist es, sobald die Tiere nur verwandelte, ver-
zauberte Menschen sind, was im Märchen ja häufig der Fall ist.
Sie bilden ein weiteres Kapitel für sich. Sie werden dann ähn-
lich behandelt und charakterisiert wie die Menschen selbst.
Selten spielt ihre Tiernatur dabei eine Rolle wie etwa im Frosch-
könig (1). Meist geben sie sich ganz menschlich und sind dem, der
sie erlösen soll, durch ihr Gebahren dazu behilflich, so das Reh
in Schwesterchen und Brüderchen (11), der Bär in Schneeweißchen
und Rosenrot (161). Sie sind in diesem Zusammenhang nicht von
Interesse.
Schliefslich haben wir noch die letzte Gruppe handelnder
Personen zu betrachten, die Fabelwesen. Ihre Geschichte in
der Literatur der Menschen ist sehr alt. Riesen und Zwerge,
Drachen und Ungeheuer leben schon lange in der Phantasie der
Menschen. Es ist hier nicht unsere Aufgabe nachzuweisen, wie
diese Gestalten in die Literatur eingedrungen sind, ob etwa aus
alten Mythen, oder aber aus Erlebnissen der Menschen, beson-
ders ‘[raumerlebnissen, sich ihre Abkunft herleitet. Wir haben
uns hier nur zu fragen, welche dieser Gestalten sich in unserm
Märchen vorfinden, wir können Vermutungen darüber anstellen,
warum wir gerade diesen und nicht jenen begegnen und weiter,
welche Bedeutung ihnen im Zusammenhang mit den übrigen
Personen des Märchens für die kindliche Phantasie zukommen
mag. Unsere Aufgabe ist also einzig und allein eine phänomeno-
logische und psychologische, nicht eine philologische und histo-
rische.
Von psychologischem Gesichtspunkt lassen sich zwei
Gruppen solcher Fabelwesen unterscheiden. Es sind die, deren
Aussehen und Gebahren sich in Analogie zu menschlichem
Verhalten betrachten lälst, und die, deren Gestalt und Lebens-
weise auf merkwürdigen Erfindungen, Neukombinationen
beruht. Eine strenge Trennung ist hier natürlich nicht durch-
zuführen, Analogiebildungen und kombinatorische Elemente finden
L Diese Behauptung wird bestätigt durch die wiederholte Angabe auf
unseren Fragebogen, dafs neben dem Märchen sich Tiergeschichten grofser
Beliebtheit erfreuen.
2*
20 Charlotte Bühler.
sich schliefslich überall. Aber doch kann man wohl sagen, dals
ein Riese und ein Zwerg einen bedeutend anderen, uns weniger
fremdartigen Charakter haben als etwa die Sphinx oder der
Pegasus. Worin liegt hier der Untersehied? Zweifellos sind
jene im Grunde nichts anderes wie eine Art menschlicher Wesen,
die nur durch einige Proportionsverschiebungen ihr be-
sonderes Äufsere wie ihren Charakter gewonnen haben. Hier
liegen keine Neubildungen, sondern Umbildungen vor. Die Fee
ist von menschlichem Aussehen, nur mit besonderen Machtmitteln
versehen und oft sehr schön, die Hexe ist so häfslich wie kein
Mensch je war und hat auch grölsere Machtmittel als ein Mensch;
Riesen und Zwerge sind auch nur Menschengestalten von be-
sonderer Grifse und Kleinheit, mit besonderer Kraft, List oder
Macht. ,
Ganz anders jene merkwiirdig kombinierten Wesen, die halb
Mensch, halb Tier, halb Pferd, halb Vogel uns etwas Unheim-
liches, Fremdes, ja Abschreckendes sind. Merkwiirdig kombiniert
wie ihr Aufseres ist auch ihr Charakter und ihre Gepflogenheiten.
So sind die Meerfrauen mit dem Fischschwanz, die hierher ge-
hören, seelenlos; die Satyrn machen Bockssprünge, haben Hörner,
Schwanz und Bocksfüfse. Ja, auch die Engel und Teufel kann
man in gewisser Hinsicht hier einordnen. Nur sind sie von
anderer Seite her, durch ihren Zusammenhang mit der lebenden
Religion, populärer und gleichsam menschlicher.
Es ist nun von Interesse, festzustellen, dafs im Grimmschen
Kindermärchen nur Fabelwesen der ersten Art auftreten. Es gibt
Riesen, Zwerge, Hexen, Feen. Aber Satyrn und Meerweibchen !
oder andere dieser merkwürdigen Wesen gibt es in diesen Märchen
nicht. Engel und Teufel machen, wie eben schon erwähnt, eine
Ausnahme. Doch ist es auffällig, dafs auch diese nicht sehr
häufig auftreten, nicht annähernd so häufig wie die vorher ge-
nannten Fabelwesen. Nur im Mädchen ohne Hände (31) ist der
Engel wirklich von Bedeutung für die Handlung. Das tote Kind
im gestohlenen Heller (154) dagegen und im Totenhemdchen (109)
erscheinen ihren Angehörigen nicht als Engel wie so oft das tote
Kind der Legende, sondern in ihrer menschlichen Gestalt. Auch
ı Es gibt ein Märchen von der Wassernixe (79) und von der Nire im
Teich (181). Diese Nixen sind aber überhaupt nicht beschrieben, jedenfalls
wird eines Fischschwanzes mit keiner Silbe erwähnt.
Das Märchen und die Phanlasie des Kindes. 21
der Teufel ist meist angetan wie ein Mensch, im Märchen vom
Bärenhäuter (101) kommt er mit einem grünen Rock, ein ander-
mal wird nur erwähnt, er habe goldenes Haar (Der Teufel mit
den drei goldenen Haaren (29) oder eine rote Feder (Der Grabhügel
(195). Einmal erscheint er als kleines Männchen (Des Teufels
Bruder (100) und fast nie wird er mit tierischen Merkmalen aus-
gestattet, ein- oder zweimal mit dem Pferdefuls.
Nicht bei Grimm, aber bei Andersen, dem nächst Grimm
populärsten Märchenbuch in Deutschland, wird „die kleine See-
Jungfrau“ als schönes Kind mit einem Fischschwanz beschrieben,
bekommen die Blumen der kleinen Ida des Nachts menschliche
_Gesichter. Aber Andersen ist, — und eben das ist uns dabei
von Interesse — nicht das Märchenbuch der jüngsten Kinder,
Andersen führt aus dem eigentlichen Märchenalter schon hinaus.
Es dürfte kein Zufall sein, wenn das Grimmsche Märchen die
Beschreibung solcher kombinierter Gestalten vermeidet.! Die Be-
deutung dieser Tatsache werden wir noch zu würdigen haben.
An dieser Stelle beschäftigt uns noch die Frage, welche Rolle
die Fabelwesen im Märchen spielen. Schon oben merkten wir
flüchtig an, dafs sich an ihr Auftreten stets Aufsergewöhnliches
knüpft. Sie erscheinen plötzlich, meist in einem kritischen Augen-
blick der Handlung, um hilfreich oder verderbenbringend, immer
entscheidend, einzugreifen. Sie haben aufsergewöhnliche Gaben,
grolsen Reichtum, grolse Kraft, besondere Schlauheit oder ge-
heime Hilfsquellen und Machtmittel. Sie sind gütiger oder aber
boshafter, als Menschen zu sein pflegen, und nie ist es einem in
ihrer Gesellschaft ganz geheuer. Schon ihr Äufseres wirkt bei
der Plötzlichkeit ihres Auftretens erschreckend. Sie sind so
winzig oder so riesenhaft oder so häfslich oder so alt, wie man
sich einen Menschen nicht vorstellen kann. Kurz, ihre Person
wie ihre Handlungen sind von grölstem Interesse.
Am häufigsten begegnen uns in dem Grimmschen Märchen
die Zwerge. Ihr Charakter ist am wenigsten gleichförmig. Sie
I Das Fehlen der kombinierten Gestalten aus affektiven Gründen zu
erklären, wie man vielleicht geneigt wäre, also etwa, weil sie dem Kinde
furchterregend und unheimlich sein könnten, geht nicht an, weil das
Märchen sonst in dieser Hinsicht nicht allzu ängstlich ist. So wird im
Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen (4), mit Totenköpfen
Kegel gespielt — gewifs eine unheimliche und gruselige Vorstellung. Der
Grund wäre daher nicht stichhaltig.
22 Charlotte Bühler.
sind gütig und hilfsbereit (Schneewitichen (53), die Wichtelmanner (39),
dann aber wieder höchst boshaft und launisch (Schneeweißchen
und Rosenrot (161), Rumpelstilechen (55), der starke Hans 166). Sie
treten bisweilen in Scharen auf wie im Schneewittchen und den
Wichtelmännern, doch meist ebenso vereinzelt wie die übrigen Fabel-
wesen. Als „ein kleines Männchen“ steht plötzlich und unverhofft
in zahllosen Märchen der Zwerg vor dem Helden, wenn er sich
in irgendeiner Verlegenheit befindet oder Abenteuer sucht.
Neben den Zwergen treten auch die Hexen sehr häufig
auf. Klassisch geworden ist die Hexe im Hänsel und Gretel (15);
eine Hexe verzaubert Jorinde in Jorinde und Joringel (69), bannt
im Trommler (193) schöne Königstöchter auf den Glasberg, hat
die Tiere im Waldhaus (169) verzaubert und ist überhaupt überall
im Spiel, wo ein böser Bann oder Zauber auf einem Menschen
- Jastet. Im Märchen von der Hirtin am Brunnen (179) entpuppt
sich die Hexe als weise Frau.
Bedeutend seltener als Hexen und Zwerge sind Feen und
Riesen. Unser klassisches Feenmärchen ist Dornröschen (50). Auch
die Fee in Rapunzel (12) ist bekannt. Die Riesenmärchen sind
bisweilen humoristisch gefärbt. (Der junge Riese (90). Der starke
Hans (166). Der Riese und der Schneider (183).) Sie nähern sich
schon dem Schwank. |
Von Gestalt wie die Zwerge, aber als Menschen gedacht sind’
der Schneider Daumerling (45) und Daumesdick (37). Sie sind nur
besonders kleine Menschen, die durch Schlauheit den Mangel an
Kräften sich zu ersetzen wissen, an deren Streichen das Volk
seinen Spals hat. Auch der junge Riese wird als Daumenlang
geboren.
Gemeinsam mit den übrigen Personen des Märchens ist allen
Fabelwesen eine grolse Einfachheit des Charakters. Auch sie
sind entweder gut oder böse, sind hilfreich, mildtätig und selbst-
los oder grausam und habgierig. Ein Wesenszug füllt sie hin-
reichend aus. Nur bewahren sie eine geringere Konstanz in den
Richtlinien ihres Verhaltens. Nicht immer sind dieselben Zwerge
gutmütig und freundlich, sie üben bisweilen eine Art richterliche
Gewalt aus und vergelten den Menschen ihr Tun je nach Ver-
dienst. In dieser Hinsicht bestehen einige Parallelen zu dem
Verhalten mancher Tiere gegenüber den Menschen. Auch diese
erweisen sich hilfreich gegen die, von denen sie Gutes empfangen
haben. Besonders die Wichtelmännchen stehen in dem Ruf, die
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 23
Fleifsigen zu unterstützen, einem Haus mit guten Menschen Segen
zu bringen, lieblose Behandlung dagegen hart zu vergelten. Auch
die Frau Holle gehört hierher, welche die fleifsige Marie belohnt,
die faule bestraft; ebenso übt die Hexe in der Hirtin am Brunnen
(179) eine richterliche Funktion aus. Belohnen und Bestrafen
spielen ja überhaupt, wie wir noch sehen werden, im Märchen
eine grolse Rolle, und häufig vertreten die Fabelwesen die aus-
gleichende Gerechtigkeit, wie das Volk, der einfache Mensch sie
sich denkt. Zusammenfassend können wir sagen, dafs die Fabel-
wesen durch Aussehen, Charakter und Verhalten wohl geeignet
sind, Interesse an ihrer Person zu erwecken.
Bisher haben wir eine im wesentlichen von dem Ziel unserer
Untersuchung unbeeinflufste und unabhängige Analyse des
Märchens im Hinblick auf seine Personenwelt vorgenommen.
Erst jetzt fragen wir uns zurückblickend: was können wir aus
alledem schliefsen, wenn wir den Stoffkreis und die Leistungs-
fähigkeit der kindlichen Phantasie erforschen wollen? Soviel er-
gab sich uns schon aus einem gelegentlichen Hinweis (S. 15):
das Material und seine Gestaltung ist eine wesentlich andere in
der Literatur des Kindes wie in der des Erwachsenen. Somit
wird es sich wohl auch an spezifische Fähigkeiten des einen und
des anderen wenden.
Zunächst die Personenwelt selbst. Kinder, Tiere und Fabel-
wesen treten in der klassischen Literatur des Erwachsenen, in
seiner Lyrik, seinem Drama, seiner Prosaerzählung nicht hervor.
Für ihn hat eine äufserliche Besonderheit der Personenwelt gar
kein Interesse mehr. Seine reifsten Werke befassen sich einzig
und allein mit seelischen Problemen, mit seelischer Entwicklung
und seelischen Konflikten. In der Kinderliteratur dagegen existiert
ein seelisches Problem noch nicht. Der Charakter hat Bedeutung
nicht um seiner selbst, sondern um der Handlungen willen, die
von ihm ausgehen.! Diese interessieren, und neben ihnen hat
‘ Interesse nur ein merkwürdiges Äulsere der Person. Die sicht-
bare Aulsenseite des Lebens steht im Vordergrund.
Doch nicht allein das Nebeneinander sonderlicher Gestalten
und spannender Handlungen erfreut, ein formales Moment
kommt noch hinzu. Aus dem Spiel des Kindes ist uns seine
Freude an Nachahmungen und Scheindeutungen gut
1 vgl. Löwıs or Mewar (23), 8. 39.
m.
24 Charlotie Biihler.
bekannt. Im Spiele werden die primitivsten Dinge vom Kinde
belebt und beseelt gedacht, ein Holzklotz wird zum Haus, fährt
als Stralsenbahnwagen umher oder spricht und bewegt sich als
Mensch. In alledem liegt ein spielendes Umdeuten der Wirk-
lichkeit vor, die dem Kinde doch stets bewulst bleibt', zu der
es mit Leichtigkeit schmerzlos im nächsten Augenblick zurück-
kehrt. Es überträgt in buntem Durcheinander mannigfaltige
Handlungen, Namen, Eigenschaften auf völlig inadäquate Dinge.
Eine andere Form solcher Übertragungen sind seine Nach-
ahmungen, verschiedenste Manipulationen, in denen es mit Vor-
liebe des Erwachsenen, aber auch der Tiere Sprache und Gebaren
zur Schau trägt. Auch dabei eine Inkongruenz von Handelndem
und Handlung, die offenbar Spielfreude bereitet.
Ganz ähnlich steht es mit Personen und Handlungen im
Märchen. Die seltsamsten Übertragungen finden auch hier statt.
Tiere mit Eigenschaften und Fähigkeiten wie die Menschen treten
auf. Ihre Beseelung hat natürlich zunächst ihren tieferen Grund
in der Unerfahrenheit des Kindes, das die Tierwelt wie die un-
beseelte Natur als seinesgleichen betrachtet und behandelt. Aber
selbst wenn das Kind schon lange aus Erfahrung weils, dafs der
Hund und das Pferd, die Kohle und die Stecknadel niemals so
handeln und sprechen werden wie die Menschen, auch dann noch
nimmt es seine Spielfreude an solchen Übertragungen mit herüber
in seine Marchenwelt.
Man hat die Ubertragung bisher nur als Nachahmung und
Scheindeutung im Spiele beobachtet und sie einzig als Zeichen
der lllusionsfähigkeit gewürdigt. Bei Groos? macht diese „lllu-
sionsfähigkeit* zusammen mit der „Kombinationsfähigkeit“ in
der Hauptsache das aus, was wir unter dem Namen Phantasie
zusammenzufassen pflegen. Bei der Ausdeutung der Übertragung
als Illusion wird nun aber, wie mir scheint zu Unrecht, aller
Nachdruck einseitig auf die jedesmalige Auffassung ge-
legt, gleichviel ob man Illusion als „unrichtige Apperzeption“,
als falsche Beurteilung oder noch anders definiert. Man hat auf
die verschiedenste Weise zu erklären und zu beschreiben ver-
sucht, wie die „bewulste Selbsttäuschung“, das Verharren bei
der unrichtigen Auffassung dem Kinde Spielfreude bereiten mag.
1 Vgl. ,Scheintitigkeit* bei Kar. Groos (15), und „Scheindeutung“
bei Kart Biurer (6), S. 208.
* (16), S. 157 f.
= wtb I
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 25
Doch wenn wir Nachahmung und Scheindeutung im Zusammen-
hang mit den vielfachen Formen der Übertragung betrachten,
die wir im Märchen immer wieder antreffen, so werden wir den
Grund für alle diese Erscheinungen tiefer in der gesamten
. Denkweise des Kindes suchen. Das ganze Denken des Kindes
bewegt sich, wie wir noch an verschiedenen Stellen ausführlich
beweisen wollen, in Analogiebildungen. Wir sind diesen
schon bei der psychologischen Betrachtung der Fabelwesen be-
gegnet und werden sie noch in verschiedenster Form wieder-
finden. Wir betrachten die mannigfachen Formen der Über
tragung in Spiel und Märchen von anderem Gesichtspunkt aus,
nicht von der Auffassungsweise vereinzelter Fälle her, sondern
von stetiger Denkweise des Kindes. Die Neigung des Kindes,
in Analogien zu denken, überall analogistische Neubildungen
vorzunehmen, machen wir auch für die vielfachen Übertragungen
verantwortlich, mögen diese nun in denkendem Phantasieren oder
in praktischer Betätigung sich letzten Ausdruck verschaffen. Auf
ihre Bedeutung in den sprachlichen Neubildungen des Kindes
hat man ja schon seit langem häufig hingewiesen, ihre Bedeu-
tung für das volkstümliche Denken, also für jedes primitive
Denken, betont ausdrücklich WILLIAM STERN in seiner Schrift
über die Analogie im volkstümlichen Denken. Gegenüber den
einzelnen Inhalten, die man bisher ins Auge falste, hebt also
unsere Betrachtungsweise ein funktionales Moment hervor,
die Freude des Kindes an analogistischer Betätigung.
Wir stellen ferner fest, dafs ebenso sehr wie die analogi-
stische Betätigung hervortritt, die kombinatorische zurücksteht.
Ein erster Beleg für diese Behauptung war das Vorhandensein
von Fabelwesen, deren Aussehen und Gebaren aus Analogien
zu begreifen war, während solche von kombinierter Gestalt völlig
fehlten. Wir werden eine Reihe vielleicht noch überzeugenderer
Beweise für den Mangel an Kombinationslust und -fähigkeit auf
dieser Stufe des Märchenalters erbringen. Wirklich zielbewulste
Kombinationen versteht das Kind auf dieser Stufe noch ebenso
unvollkommen, wie es sie selber versucht. Auch Groos! nimmt
Abstand davon, die von ihm als Kombinationen zitierten und
bezeichneten „Erzählungen“ von Kindern mit zielbewulster Pro-
duktion in Zusammenhang zu bringen. Er unterscheidet „drei
ı (16) 8. 161.
op Charlotte Bühler.
Hauptleistungen der kombinatorischen Phantasie des Kindes“?:
erstens „die Vereinigung gröfserer Vorstellungskomplexe, die in
der Realität nicht, oder doch nicht so verbunden waren, zweitens
das Ablösen einzelner Eigenschaften von einem Komplex und
ihre Übertragung auf ein anderes Ganzes, drittens das Vergröfsern
und Verkleinern“. Das Vergröfsern und Verkleinern haben wir
als Proportionsverschiebung zusammengefafst und unter
die Analogiebildungen mit einbegriffen. GRoos gesteht selbst, dafs
„man es freilich nur mit einem gewissen Zwang der Kombinations-
fähigkeit unterordnen kann“. Als analogistische Umbildung da-
gegen verstehen wir die Erscheinung ohne weiteres. Groos rechnet
zum Vergrölsern und Verkleinern auch das Übertreiben, das wir
an anderer Stelle erst betrachten und auch als Proportionsver-
schiebung, also Analogiebildung, deuten werden (S. 69 ff.).
An zweiter Stelle nennt Groos die Übertragung als kombi-
natorische Leistung, und zwar erwähnt er ihrer nur in der einen
Form der Übertragung von Eigenschaften, er nennt es „Ablösung
und Übertragung einzelner Züge“. Auf die Übertragung einzelner
Züge werden wir auch erst später (S. 72ff.) eingehen und im
einzelnen nachweisen, dafs es durchaus keiner kombinatorischen
Leistung bedarf, um sie vorzunehmen. Im übrigen haben wir
schon hier die Übertragung noch in anderer Form kennen ge-
lernt, in der Allbeseelung und der bis ins einzelne gehenden
Übertragung von Handlungen und Eigenschaften der Menschen
auf andere Lebewesen und leblose Gegenstände. Es dürfte ohne
weiteres einleuchten, dafs wir in ihnen keine kombinatorischen
Zusammenstellungen, sondern einfach eine analogistische Aus-
gestaltung zu erblicken haben, bei der die Einfühlung mit be-
teiligt sein wird.
Schliefslich „die Vereinigung gioire Vorstellungskomplexe“
gelangt, wie Groos selbst zugestebt, nicht bis zu zielbewulster
Produktion oder Kombination, sondern ist zunächst eine lose
assoziierte Wortfolge, die das Kind herunterplappert, und nimmt
erst allmählich eine wenigstens „richtunggebende Kraft“ auf.
Möglich, dafs hier minimale Anfänge freier Kombination vor-
liegen, eher oder doch häufiger noch werden wir es auch dabei
mit allerhand durcheinandergehenden Reproduktionen zu tun
haben.
—
1 (16) S. 159.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 27
Indem wir auf unsere Betrachtung der Personen des Märchens
zurückkommen, stellen wir weiterhin fest, dafs auch in ihrer
Anordnung sich geringes kombinatorisches Talent offenbart.
Kein einheitlicher Gedanke liegt der Zusammenstellung all der
Personen zugrunde, die sich in einem Märchen begegnen. In
den Hauptpersonen prallen stets das Gute und das Böse oder
ein anderer Gegensatz aufeinander, irgendeine Veränderung oder
Komplizierung dieser Konstellation ist nirgends vorgesehen. Ent-
wicklung und Wandlung des Charakters kommen dafür auch
nicht in Betracht, die Menschen: des Märchens haben alle eine
merkwürdige Starrheit in ihrem Wesen. Interessanter sind schon
die Konstellationen in den Tier- und Sachmärchen. Zwar können
wir auch bier von einer zielbewulsten Anordnung oder Auswahl
der handelnden Personen nicht sprechen. Immerhin finden sich
hier mannigfaltigere, meist scherzhafte Zusammenstellungen.
Hühnchen, Hähnchen, Steck- und Nähnadel treffen als Lumpen-
gesindel zusammen. Das ist eine lustige und bescheidene, aber
doch noch ganz unabsichtliche und keineswegs zweckbewulste
Kombination, die wir als ersten Ansatz betrachten können.
|e en
2. Kapitel.
Das Milieu im Märchen,
Unter dem Milieu im weitesten Sinne des Wortes fassen wir
‘ hier alle Betrachtungen über das soziale Milieu, die Umstände
des Ortes, der Zeit, der Umgebung und aller besonderen Ver-
hältnisse, in denen die Märchenperson sich befindet, zusammen.
Wir wiesen gelegentlich schon darauf hin (S. 12), dals das
‘ Märchenkind gewöhnlich in sehr prächtiger oder sehr armer Um-
gebung aufwächst. Es ist entweder ein Königssohn, eine Königs-
tochter oder aber das Kind armer Tagelöhner oder Bauern. In
zahlreichen Fällen wird uns gar nichts über seine Herkunft be-
richtet. Mitunter können wir dann noch aus näheren Umständen
im Verlauf der Handlung etwas über seine Verhältnisse ent-
nehmen.
Dornröschen, Schneewittchen, Allerleirauh, das Mädchen im
Froschkönig, die Braut des Königs Drosselbart, die Gänsemayd sind
98 Charlotte Bühler.
alle Prinzessinnen ; der Held im Eisenhans, die sechs Schwäne, die
zwölf Brüder sind Prinzen. Aus ganz ärmlichen Verhältnissen
stammen Hänsel und Gretel, ihr Vater ist Holzhacker, ebenso der
des Marienkindes; Rumpelstilzchens Vater ist Müller, Daumerlings
Vater Schneider, Daumesdick und der Meisterdieb stammen von
armen Bauern, die Mutter von Schneeweißchen und Rosenrot ist eine
arme Witwe, das Kind im Sterntaler und im gestohlenen Heller
sind auch armer Leute Kind usw. In anderen Fällen heilst es
nur: „ein reicher Mann“ hatte eine Tochter, z. B. Aschenputtel,
die‘aber offenbar eines Edelmannes Kind ist, da ihre Schwestern
zum Hofball gehen. Wohl einfacher, aber doch besserer Leute
Kind sind Rotkäppchen, die Gold- und Pechmarie, Rapunzel, Ein-
äuglein, Zweiäuglein, Dreiäuglein. Gar nichts können wir entnehmen
über Brüderchen und Schwesterchen, in Fitchers Vogel, Jorinde und
Joringel u. a.
Was erfahren wir nun Näheres zu diese Verhältnissen im
Märchen? Wir können eigentlich sagen: nichts Näheres. Es
heifst nur: ein König, eine Königin, ein armer Mann, ein reicher
Mann, eine böse Hexe, ein Zauberer, eine Stiefmutter usw. Oder:
_»Briiderchen nahm sein Schwesterchen bei der Hand und sprach: seit
die Mutter tot ist, haben wir keine gute Stunde mehr, die Stiefmutter
schlägt uns alle Tage . . . komm, wir wollen miteinander in die Welt
gehen“, so fängt ein Märchen an. „Ein Mann hatte sieben Söhne. . .“
(Die sieben Raben 25). In den seltensten Fällen ist es wirklich
auf eine Beschreibung der Verhältnisse abgesehen +, und wo das
der Fall ist, da geschieht es in einer äufserst wortkargen Weise
und stets sich wiederholenden Wendungen. Die Namenlosigkeit
ist als eine Eigentümlichkeit besonders des deutschen Märchens
bekannt.?
Über die Beschreibung des Milieus wie der Situationen im
Märchen lälst sich folgender Satz aufstellen: eine ausdrück-
liche Beschreibung findet nur dann statt, wenn ein
plötzlicher Übergang in eine neue Umgebung ein-
getreten ist; die zu Beginn gegebene Situation, das
gegebene Milieu dagegen werden nicht beschrieben.
1 Léwis or Menar (23), S. 27 sagt: „Die Zugehörigkeit zu allen
bisher besprochenen Ständen ist grölstenteils nichts weiter als eine blofse
Etikette des Helden, die für den Inhalt des Märchens, die Haupthandlung,
fast immer bedeutungslos bleibt .. .*
* Lowis or Menax (23), S. 15.
Das Miirchen und die Phantasie des Kindes. 29
Nur drei Ausnahmen von dieser Regel konnte ich feststellen,
einen Fall, in dem das Milieu, zwei andere, in denen die Situa-
tion zu Beginn kurz skizziert werden, nämlich: Die Sterntaler,
Schneewittchen und Jorinde und Joringel. Wenn auch nur mit
einem Satz wird hier auf die gegebenen Verhältnisse so ein-
gegangen, dals man sie bildartig vor sich sehen kann.
Eine eigentliche Beschreibung des Milieus dagegen findet
sich nur bei dem Übergang in neue ungewohnte Verhältnisse,
aber auch solche Fälle siwd sehr selten. Am hübschesten und
ausführlichsten geschieht es in dem von Runge an die Brüder
Grimm mitgeteilten schönen Märchen „von dem Fischer un syner Fru“ :
„Do güng de Mann hen, un syne Fru seet nich meer iwn Pissputt,
dar stünn awerst ene liittje Hitt, un syne Fru seet vor de Döhr up
ene Bänk. Do nöhm syne Fru em by de Hand un säd to em: kumm
man herin, süh, nu is dat doch veel beter. . .“
„Da güng de Mann hen un dachd he wull nach Haus gaan, as
he awerst daar köhm, so stün door 'n grooten stenern Pallast, un syne
Fru stünn ewen up de Trepp un wull henin gaan. . .“ (Grimm 19).!
Die Schilderung wiederholt sich noch mehrmals in ähnlichen
Wendungen, jedesmal wenn eine neue Rangerhöhung der ehr-
geizigen Fischersfrau erfolgt ist, vom Edelmann zum Konig,
Kaiser und Papst, bis sie schlielslich der liebe Gott sein will
und zur Strafe für diesen Frevel wieder in ihrem elenden
„Pissputt“ sitzt, als der Mann vom Meere heimkommt.
Kein anderes Märchen enthält eine nur annähernd so aus-
führliche Milieuschilderung. Vielmehr müssen wir sonst alles,
was wir wissen möchten, aus ganz gelegentlichen Äufserungen
erschliefsen. Zu diesen gehört zunächst die Benennung mit dem
Königs- oder Grafentitel, der offenbar dem Erzähler selber sehr
imponiert; sodann die Erwähnung des Schlosses, in dem alles
golden vorgestellt wird. Nur ein oder das andere wird stets ge-
nannt, aber was genannt ist, ist sicher golden: die Teller und
Becher, die Stühle und Tische, der Thron und vor allem die
Krone, welche der Märchenkönig immer mit sich trägt, selbst im
Wald auf der Jagd. Bisweilen imponiert dann noch die Schar
der Diener oder eine marmorne Treppe oder eine prächtige
Kutsche und natürlich die kostbaren Kleider. Damit dürfte aber
4 Wir zitieren wörtlich in der klassischen Fassung der Brüder Grimm,
wiewohl der Dialekt nicht richtig wiedergegeben ist.
30 Charlotte Bühler.
alles erschöpft sein. Man merkt dem Erzähler durchweg un,
dafs auch er wie der kindliche Hörer alle jene Verhältnisse nur
vom Hörensagen kennt und in ehrfürchtigem Staunen davorsteht.
Diese aufrichtige und wortlose Bewunderung ist offenbar sehr
geeignet, sich dem kindlichen Hörer mitzuteilen und findet bei ihm
unmittelbaren Widerhall. Man hat durchaus keine Veranlassung
— wie oft geschieht — anzunehmen, dals die kindliche Phantasie
nun Gelegenheit nimmt, an der Hand der kargen Einzelheiten,
die ihr geboten werden, sich die Verhältnisse vorstellungsmäfsig
näher auszumalen. Viel eher haben wir zu vermuten, dals es
dem Durchschnittskinde sowohl an dem Bedürfnis wie an der
Fähigkeit hierzu fehlt. Sorgfältige Beobachtungen scheinen diese
Behauptung durchaus zu bestätigen. Wir wissen ja auch aus
anderen Untersuchungen °, dafs die Vorstellungen des Kindes
durchaus vag, ärmlich und unzuverlässig sind. Die wenigen
Anhaltspunkte, die das Märchen dem Kinde in dieser Hinsicht
bietet, reichen völlig aus, um es ganz zu beschäftigen. Es
verharrt vielleicht lange genug bei jeder dieser Einzelheiten oder
ist auch gar nicht imstande, mehr davon aufzufassen. Jedenfalls
scheint die landläufige Meinung, das Kind spinne die angedeuteten
Situationen aus eigener Initiative sich weiter aus, völlig ungerecht-
fertigt und weder durch die bisherige Forschung noch Beobach-
tung nahegelegt.
Noch weniger als das Milieu am Königshof ist das in der
Hütte des Tagelöhners beschrieben. Wir hören nur, die Leute
seien arm. Hänsel und Gretel bekommen blols ein Stück trocken
Brot auf den Weg, so arm sind ihre Eltern.. Ein einziges Bei-
spiel fand ich hier, wo gleich anfangs die Ärmlichkeit des Milieus
etwas ausführlicher geschildert wird. Das Märchen von den
Sterntalern (153) beginnt: „es war einmal ein kleines Mädchen, dem
war Vater und Mutter gestorben und es war so arm, dap es kein
Kammerchen mehr hatte darin zu wohnen und kein Bettchen mehr darin
zu schlafen und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib
und ein Stückchen Brot in der Hand, das thm ein mitleidiyes Herz
geschenkt hatte.“ — Die Eltern des Marienkindes (3) waren so arm,
1 Eine erfahrene Kindergartnerin schreibt uns: „Für Details inter-
essieren sich die Kinder im Märchen nicht. Sie haben meistens zu wenig
Phantasie und begnügen sich mit dem Gegebenen.“
* Die Resultate finden sich mit Literaturangaben zusammengestellt bei
Mevuuanxn, (24), 5. Vorlesung, S. 335 ff.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 31
„daß sie nicht mehr das tägliche Brot hatten“. — Und das Märchen
vom Mädchen ohne Hände (31) beginnt: „Ein Müller war nach und
nach in Armut geraten und hatte nichts mehr als seine Mühle und
einen großen Apfelbaum dahinter.“
Auch von diesen kurzen Angaben gilt offenbar dasselbe, was
wir oben schon bemerkten. Und hier liegen noch weitere Ver-
mutungen nahe. Wie in jenen Märchen der Hörer einen leb-
haften Eindruck von der Pracht und Herrlichkeit des Milieus
empfangen soll, so wird er hier zu Mitleid mit den Armen an-
geregt. Es ist nicht zu bezweifeln, dafs die häufig erwähnte grofse
- Armut Sympathien erwecken soll, denn wenn es dem Armen
nachher gelingt, durch wunderbare Umstände zu Glück und nie-
geahntem Reichtum zu gelangen, so herrscht darob stets be-
sondere Freude. Da nun trotz dieser unverkennbaren Absicht
wenig Mittel angewandt werden, um die Verhältnisse mitleid- `
erregend darzustellen, so können wir daraus schlielsen, dafs schon
ein geringer Aufwand genügt, um lebhafte Gefühle beim Kinde
auszulösen. Es ist jedem bekannt, dafs das Kind beim Märchen-
erzählen grolse Anteilnahme an den Armen und Leidenden ver-
rät, dafs es bittere Tränen über Hänsel und Gretel oder Brüder-
chen und Schwesterchen vergiefst, weil es ihre Verlassenheit sehr
lebhaft empfindet, ohne doch mehr als nur einen sehr flüchtigen
Einblick in ihre Verhältnisse gewonnen zu haben. Häufig trägt
dann allerdings eine sehr wirksame, wenn auch ebenso knapp
geschilderte Situation, der einsame grofse Wald, das ihrige zu
der Stimmung bei.
Aber gerade in diesem Zusammenhang werden wir die Lö-
sung für die Frage zu suchen haben, wie die Phantasie des Kindes
sich an so wenigem genügen lassen kann, ohne noch, wie der Er-
wachsene es wohl.aus reicherem Wissen heraus zu tun vermag,
dies oder jenes Stück eigener Erfahrung der geschilderten Situa-
tion ergänzend hinzuzufügen. Wir müssen es noch einmal be-
tonen: das Kind hat weder Vorstellungen noch Wissen zu solch
spontaner Ergänzung bereit. Doch kann es sich an dem Ge-
! Vgl. W. Wunpr: „Die Quelle dieser gröfseren Regsamkeit (der Phan-
tasie des Kindes) liegt nämlich nicht darin, dafs die Empfindungen und
Vorstellungen des Kindes wesentlich andere wären, sondern lediglich in
der gröfseren Intensität und leichteren Erregbarkeit seiner Gefühle“
(44) 8. 71 und unsere Einleitung 8. 8.
32 Charlotte Bühler.
botenen genügen lassen, da es mit ganz anderer Gefühlsintensi-
tät die Einzelheit erlebt, die der Erwachsene ohne Gefühlsauf-
wand hinnimmt. Vielleicht finden wir auch hier einen Erklä-
rungsgrund für die bekannte Tatsache, dafs Einzelheiten der
Darstellung so aufserordentlich in der Erinnerung des Kindes zu
haften und stets wiederholt zu werden pflegen. Würde das Kind
spontan die geschilderte Situation erweitern und ausbauen, so
wäre das Haften an der einmal zufällig gegebenen Einzelheit
nicht so leicht erklärlich.
Verfolgen wir nun im einzelnen Märchen die Zusammen-
stellung der geschilderten sozialen Verhältnisse. Hier gilt ausnahms-
los der wichtige Satz, dafs jede soziale und kulturelle
Distanz zwischen den Menschen glattweg aufge.
hoben ist. In diesem Punkt vor allen andern berührt uns das
Märchen unendlich naiv und wirklichkeitsfremd. Nichts hindert
den ärmsten Bauernsohn, am nächsten Tag König oder Prinz zu
werden und die schönste Prinzessin zu freien, die gerade nur
auf ihn gewartet hat. Das erste beste kleine Mädchen, das der
König auf einem Jagdritt verlassen und einsam im Walde findet,
und dessen Schönheit ihn ebenso rührt wie seine Verlassenheit,
wird von ihm zu seiner Gemahlin erhoben. Zwar verstölst er
sie mit eben derselben Leichtigkeit wieder, wenn es bösen Zungen
gelingt, sie bei ihm zu verdächtigen. Aber das Ende ist doch
stets versöhnlich.
Alle Distanz zwischen arm und reich, hoch und niedrig ist
ohne jegliche Schwierigkeit aufgehoben. Hier träumt das Mär-
chen seinen kindlichsten und rührendsten Traum, und mit ihm
träumt ihn das Kind, dem diese Seite des Märchens sicher nicht
sonderbar erscheint. Gerade diese Verhältnisse wird man zunächst
jedenfalls historisch zu würdigen haben, sie werden ihren Ent-
‘stehungsgrund in den Wünschen und geheimen Träumen des
niederen Volkes finden, bei dem das Märchen zu Hause war.
Aber wie den Wünschen des Volkes, so entspricht all das zweifel-
los der inexplizierten Erwartung, mit der das Kind dem Leben
als etwas Wunderbarem und Freudigem entgegenträumt. Das
Kind ist gläubig und optimistisch; auch ist es zum Frohsinn
veranlagt, wenn nicht Kummer es frühzeitig stört. Es glaubt
an alle die glücklichen Zufälle, mit denen das Märchen arbeitet,
ja es rechnet auf sie. Kein Zweifel, dafs es auch ihm einst so
ergehen muls. Auch fehlt dem Kind noch das Wissen um die
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 33
mannigfaltigen Unterschiede der Bildun; , Geburt und Veran-
lagung, welche die Menschen meist als unüberbrückbare Kluft
voneinander trennen. Das Märchen entspricht hier wie in vielem
gerade dem Erfahrungskreis und dem Wissen des Kindes, auf
dessen Belehrung ihm nichts ankommt. So wie das Märchen
dem Kinde die Welt gibt, so lebt sie auch natürlich in seiner
Phantasie und seinem Gefühl.
Ohne soziales Milieu und bestimmte Umgebung sind die
Tiermärchen. Die Tiere führen meist irgendeinen einfachen
. Haushalt,? dessen Verhältnisse — man kann sagen: — rein
menschlich dargestellt werden, d.h. in ihren sachlichen, von be-
stimmtem Milieu unabhängigen Beziehungen. Man denke an
den Haushalt der Katze und Maus in Gesellschaft (2) oder an
die Frau Füchsin mit ihrer Magd, der Jungfer Katze (38). Bis-
weilen werden die Tiere im Zusammenhang mit Menschen und
deren Umgebung genannt, in der sie sich gerade befinden, so
Strohhalm, Bohne und Kohle (18) bei einer armen Frau, das
Lumpengesindel (20) in der Wirtschaft usw.
Das Milieu der Fabelwesen wird ganz entsprechend ihrer
von uns des näheren geschilderten Wesensart in Analogie zu
menschlichen Verhältnissen beschrieben. Die Hexe wohnt in
einer ärmlichen Hütte, die Zwerge haben ihr Häuschen, die Fee
im Rapunzel (12) hat Haus und Garten. Doch auf nähere Schil-
derungen lälst das Märchen sich hier noch weniger ein als bei
den Menschen.
In engem Zusammenhang mit dem Milieu steht die jeweils
geschilderte Umgebung, sofern wir Angaben über sie finden.
Unter allen Orisangaben spielt im Gxrımmschen Märchen die
grölste Rolle der Wald. Kein Schlofs, in dessen Nähe sich nicht
ein Wald befände, in dem der König jagt, in den die verstolsenen
Kinder flüchten, in dem sich die wunderbarsten und schauer-
lichsten Dinge ereignen. Keine Hütte, die nicht im Walde stände.
Fast kann man sagen, kein wunderbares Ereignis ohne Wald.
Die Zwerge, die Riesen, die Hexen, die Räuber hausen im Wald,
im Walde sind auch die Ungeheuer, welche das Land verheeren.
Wie geheimnisvoll und wie eindrucksvoll muls die blolse Erwäh-
! Von dem einfachen Haushalt der Tiere, ihrem Tun und Treiben
spricht in diesem Zusammenhang auch WILHELM Grimm (14) S. 354.
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 17.
<
34 Charlotte Bühler.
nung des grolsen Waldes für das Kind sein! Er ist der Ort
aller Wunder, und ohne dafs auch nur ein Wort auf seine nähere
Beschreibung verwendet würde, knüpfen sich an seinen Namen
ganz offensichtlich die intensivsten Gefühle des Kindes. Auch
hier diese wortlose Art, auf das kindliche Gefühl einzuwirken.
Alles, was von den Dingen des Waldes interessieren könnte,
findet nur gelegentliche Erwähnung im Anschlufs an einzelne
Ereignisse. Wie für das Milieu gilt ja auch für die Umgebung:
sie wird nur bei plötzlichem Umschwung der Situation ausführ-
licher beschrieben, sonst aber nur durch unauffällige Bemerkungen
im Vorübergehen markiert.
Das Märchenkind wandert stets lange durch den grolsen
Wald, bis es müde und hungrig ist. Dann schläft es vielleicht
in einem hohlen Baum wie Brüderchen und Schwesterchen (11).
„Am andern Morgen, als sie aufwachten, stand die Sonne schon hoch
am Himmel und schien heiß in den Baum hinein.“ Regen gibt es
im Märchen nie, (wenn man vom Gold- und Pechregen der Frau
Holle absieht). Als sie Durst haben, finden sie eine Quelle, „die
so ylitzrig über die Steine sprang“. Im Walde, wo er noch tiefer
ist, findet sich gewöhnlich ein kleines Haus, in dem das Märchen-
kind sich einrichtet, um von Wurzeln und Beeren zu leben, bis
es durch einen Prinzen oder König aus seiner Einsamkeit geholt
wird. Oder aber es kommt zu einer Hexe oder zu Räubern, bei
denen es bleiben mufs, bis es auch dort durch einen glücklichen
Zufall befreit wird.
Noch andere Ortsangaben finden sich in unsern Märchen,
ohne aber eine ähnliche Rolle zu spielen wie der Wald. So wird
gelegentlich der Brunnen und der Bach erwähnt. In den Brunnen
stürzt sich die Goldmarie, um die Spule zu holen, die ihr beim
Spinnen hineinfiel; aus dem Brunnen steigt der Froschkönig,
welcher der Prinzessin ihre goldene Kugel heraufholt; im Brunnen
ersäuft der Wolf, der die sieben Geilslein gefressen hatte; die
Gänsehirtin am Brunnen wird dort von ihrem Befreier aufge-
funden; die Wassernixe steigt aus dem Brunnen, eine andere
Nixe lebt im Teich. Im Bach ertrinken Hühnchen und Hähnchen
und ihre ganze Gefolgschaft; im Bach entkommt die Ente, nach-
dem das übrige Lumpengesindel sie im Stich gelassen hatte; im
Bach ertrinken Kohle und Strohhalm, worüber die Bohne, die
noch am Ufer steht, so lacht, dafs sie platzt; auf einem fliefsenden
Wasser gelangt der Kaufmannssohn zum goldenen Berg; die
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 35
königliche Gänsemagd muls sich allein das Wasser aus dem Bach
schöpfen usw. In Hänsel und Gretel heifst es, dafs sie nach langem
Wandern an ein „großes Wasser“ gelangten, über das kein Steg
und keine Brücke führte. Ausdrücklich von einem See wird
nirgends gesprochen. Doch das Meer wird erwähnt, einmal im
Märchen vom Fischer und seiner Frau und einmal in den drei
Schlangenblattern.
- Als spezifisch märchenhaft ist eine dieser Örtlichkeiten wohl
deshalb kaum anzusehen, weil sie mit der Gegend wechseln, in
der das Märchen erzählt wird und die Lokalfarbe dieser Gegend
annehmen. Nur der Wald dürfte in einer engeren Beziehung
zu dem eigentlich Märchenhaften stehen. Doch auch ohne ihn
gibt es Wundermärchen, wenn sie aus waldlosen Gegenden
stammen. Das zeigt der Fischer und seine Frau. Es ist daher
von geringem Interesse in diesem Zusammenhang, alle Örtlich-
keiten, die uns noch gelegentlich im Märchen begegnen, aufzu-
zählen. Auch erübrigt es sich, ausdrücklich zu belegen, dafs
Hütte, Haus und Schlofs so gut wie die Natur die Szenerie bilden
können, bisweilen, sehr selten, ein Dorf oder eine Stadt. (In der
Gänsemagd wird ein altes Tor erwähnt.) Charakteristisch und
interessant ist vielmehr allein die Art, wie uns jene Örtlichkeiten
geschildert werden, wo mehr als ihr blofser Name genannt wird.
Ehe wir uns einer Betrachtung darüber zuwenden, wollen wir
aber noch kurz eines Umstandes gedenken, der doch wohl recht
bezeichnend ist.
Sehr häufig wird nämlich im Märchen ein einzelner Baum
von Bedeutung, gewöhnlich auf einem Grabe gepflanzt oder ge-
wachsen, mit besonderen Erinnerungen behaftet und mit wunder-
baren Eigenschaften ausgerüstet. Alter Aberglaube und altüber-
lieferte Vorstellungen von dem bleibenden Zusammenhang der
Lebenden mit geliebten Verstorbenen, von deren geheimen Zauber-
kräften, wohl auch von ihren Wandlungen und Wanderungen
mögen hier hereinspielen.”! Ein solcher Baum wird häufig für
das Gesehick eines armen Märchenkindes entscheidend, er schenkt
ihm Hilfsmittel zur Erlösung aus irgendeiner qualvollen Lebens-
lage. So der Haselbaum des Aschenputtel (21) auf seiner Mutter
Grab, der ihm die schönen Kleider herabwirft, so der Machandel-
boom (47), der eine ganze wunderbare Geschichte hat, so der
Apfelbaum des Zweiäuglein (130).
1 Vgl. W. Gamu (14): „Über das Wesen der Märchen“ 8. 340.
3*
36 "Charlotte Bühler.
Ein näheres Wort der Beschreibung erhalten alle Örtlich-
‚keiten wie überhaupt alle äufseren Umstände des Märchens nur,
wie wir schon wissen, bei einem Umschwung der Handlung. Die
Szenerie wird in diesem einzigen Fall zu einer kleinen
Situation ausgebaut, über welche uns ein paar Angaben ge-
macht werden. Mein Mann wies schon darauf hin, wie aulser-
ordentlich arm an Kombinationsstücken eine solche Situations-
schilderung zu sein pflegt. Mehr als vier Elemente fände man
kaum zusammengestellt. Wir können diese Beobachtung nur be-
stätigen und sehen darin zugleich einen neuen Beweis für die
Richtigkeit unserer Behauptung, dafs die Kombination im
Märchen eine aulserordentlich geringe Rolle spiele. Die kombi-
natorischen Gaben müssen beim Kinde — das sieht man hier
wieder, wülste iman es nicht schon sonst — sehr wenig ausge-
bildet sein.
Wenn eine umfangreichere Schilderung angestrebt wird, pflegt
die Situation in Sukzession aufgelöst zu werden. Diese Suk-
zession aber wird, wenn möglich, zur Handlung. So haben diese
Beschreibungen eine einfache und stets sich wiederholende Struktur.
Zunächst wird der Umschwung der Handlung angekündigt; dann
setzt der Erzähler neu ein: als nun..., hier ist der Umschwung
bereits vollzogen; lange Zeiträume werden in dieser Weise
überflogen; nun folgt eine knappe Beschreibung und alles Nähere
wird in die sogleich weiterlaufende Handlung mit hineingenommen.
Ein gutes Beispiel stellt die schon beim Milieu erwähnte Schilde-
rung aus dem Fischer und seiner Frau dar (s. S. 29). Diese ist
ja zugleich auch Situationsschilderung. Andere Beispiele sind
folgende:
Frau Holle (24): „Es (das Mädchen) verlor die Besinnung, und
als es erwachte und wieder zu sich kam, war es auf einer schönen
Wiese, wo die Sonne schien und viel tausend Blumen standen. Auf
dieser Wiese ging es fort und kam zu einem Backofen. . .*
„Rotkäppchen (26) schlug die Augen auf, und alses sah, wie die
Sonnenstrahlen durch dic Bäume hin- und hertunzten und alles voll
schöner Blumen stand, dachte es... ., lief vom Wege ab...“
Marienkind (3): „Da versank das Mädchen in einen tiefen
Schlaf, und als es erwachte, lag es unten auf der Erde, mitten
in einer Wildnis. Es wollte rufen... Es sprang auf und wollte fort-
laufen. . .*
Das Märchen und die Phanlasie des Kindes. 37
Solcher Beispiele wären unzählige beizubringen. Sie sind
wichtig, nicht allein hier im Zusammenhang der Situations-
schilderung, sondern auch der Technik beim Aufbau der Hand-
lung. Dort werden wir ihnen noch einmal begegnen.
Nur zwei Situationsschilderungen konnte ich finden, die nicht
derart im Verlauf und Umschwung der Handlung standen, sondern
gleich zu Beginn des Märchens einleitend auftraten, nämlich in
Schneewittchen (53) und in Jorinde und Joringel (69). Aber bereits
nach dem ersten Satz wird auch hier die Beschreibung in die
Handlung hineingenommen, aufgelöst in ein Tun der Person bei
der und der Umgebung.
Bei der Beschreibung werden nur einfachste und nahe-
liegende Umstände herangezogen. Es finden sich im Märchen
weder genaue Orts- und Zeitangaben noch eine genauere
Betrachtung der Dinge. In diesem Punkt mag nun einmal die
spontane Ergänzung durch die kindliche Phantasie in Anspruch
genommen werden. Das Kind mag sich das Märchen lokalisieren
und mit den Dingen seiner Umgebung ausstatten. Die Ortlich-
keiten, die es gut kennt, werden, dem Kinde unbewulst, im
Mittelpunkt stehen. In den Wald, den es sah, die Umgebung,
die ihm vertraut ist, wird es die Ereignisse des Märchens hinein-
stellen. Vielleicht auch, dafs es sich selber gern handelnd und
beteiligt vorstellt und auch in dieser Hinsicht spontan ergänzt
(vgl. 8. 40). Doch müssen wir immer beachten, dafs es sich hier
nicht um ein Hinzufügen einzelner neuer, nicht geschilderter
Züge handelt, sondern jedenfalls nur um ein Einordnen des
Gebotenen in ein individuell gefärbtes Raum- und Zeitschema.
Denn auch auf allen diesen Dingen, Ort, Zeit, Milieu, — so können
wir aus dem Gesagten schliefsen — liegt nicht der Ton im Ver-
lauf des Märchens.' Wie die Charakteristik der Personen läuft
die Schilderung ihrer Verhältnisse, ihrer Umgebung, der Ortlich-
keiten und der Zeiten nur nebenher. Den eigentlichen Kern, um
den sie sich lagern, bildet die Handlung. 8
~ Im Zusammenhang der Betrachtung über die Situations-
schilderung unserer Märchen haben wir auf die interessante, für
uns höchst lehrreiche SeeAusche Arbeit „über das Vorstellen von
Objekten und Situationen“ einzugehen. Seear definiert im An-
schlufs an die Ergebnisse seiner experimentellen Untersuchung
ı Vgl. Löwis or Menar (23).
38 Charlotte Bühler.
den Begriff der Phantasie „ganz allgemein als ein Denken, Fühlen
und Wollen in vorgestellten Situationen mit Wirklichkeits- und
Gegenwartscharakter“. Als eine erschöpfende Definition des Be-
griffes Phantasie läfst sich das nun keinesfalls ansehen. Nur so-
weit können wir dem zustimmen, dafs wir sagen: die Situation
läfst sich als eine Art Grundlage für den Aufbau der Handlung
betrachten. Doch wenn ich in Roman oder Drama die seelische
Entwicklung sowie die seelischen Konflikte verfolge, die aus der
Begegnung mehrerer Personen erwachsen, so bietet die Situation
doch stets nur den Rahmen, die anschauliche Grundlage für die
eigentlich schöpferische Leistung der denkenden Phantasie. Nicht
nur, dals sie ein Denken, Fühlen, Wollen in Situationen be-
stimmter Art ist, charakterisiert die Phantasieleistung, sondern
auch dies Denken, Fühlen, Wollen ist beim Phantasieren
besonderer Art. Nicht jedes Denken in der von SrGau im einzelnen
bestimmten Situation ist schon ein Phantasieren. Damit soll nicht
bestritten werden, dafs das anschauliche Element für alle Phantasie-
leistung aufserordentlich charakteristisch und wesentlich ist. Einige
wenigstens für die kindliche Märchenphantasie charakteristische
Denkleistungen werden wir am Schlufs unserer Analyse heraus-
zustellen versuchen. Hier sei im Anschlufs an SEesAL und im
Zusammenhang unserer Besprechung des Milieu und der Situation
im Märchen nur auf den anschaulichen Teil der Phantasie-
leistung des Kindes eingegangen, über den eine zusammenfassende
Darstellung auch erst im letzten Kapitel erfolgt.
Der neue malsgebende Gesichtspunkt ist für Seear das Zu-
standekommen der Situation, nicht ihre Struktur, ihr
innerer Aufbau. Er legt allen Nachdruck darauf, jenes als
Handlung zu analysieren und zu beweisen. So spielt im Zu-
sammenhang seiner Darstellung die Frage keine Rolle, wie die
Situation aufgebaut ist, wieviel Elemente aufgefalst zu werden
pflegen usw. In dieser Hinsicht haben wir also keine Vergleiche
zu den Leistungen des Kindes. Anders für die Frage der auf-
bauenden Tätigkeit. Diese ist, wie SEGALs zahlreiche Experimente
erwiesen haben, ein Wandern in der Vorstellung. Motorische
Impulse und die Vorstellung des Sich-Vorwärtsbewegens, des
Kopfdrehens, des Hinstrebens auf ein Ziel sind ganz unentbehr-
lich für das Zustandekommen einer bestimmten Situation, eines
in der Vorstellung aufgesuchten Ortes usw. Dabei kann der
Vorstellende sich selber lebhaft beteiligt und in der Situation
Das Marchen und die Phantasie des Kindes. 39
stehend fiihlen, oder aber er sieht sich oder einen Dritten die
Handlungen vollführen. — Besonderen Anlafs zu solchen , Wan-
derungen“ boten SEGALs interessante Wanderversuche, bei denen
er die Vp. in der Vorstellung von einem bestimmten Ausgangs-
punkt zu einem zweiten und dritten Ort wandern liefs. Gerade
diese Versuche haben — wie SesAL betont — besonders gut die
Vorgänge beim Phantasieren nachgebildet.
Dem Wanderbedürfnis der vorstellenden Phantasie kommt
das Märchen in weitgehendstem Mafse entgegen. Alle Situation
ist iher, wie wir sahen, in Sukzession aufgelöst. Das Kind wird
vom Erzähler geführt, es geht mit ihm durch die Räume und
Ortlichkeiten, in denen sich die Vorgänge abspielen. Das Märchen
unterscheidet sich hier ganz bedeutend von der Literatur des
Erwachsenen, etwa vom Roman. Betrachten wir die detaillierte
Milieuschilderung eines modernen Romans, etwa der Budden-
brooks von THomas Mann, so finden wir dort selten das Bestreben,
eine Situation in einen Vorgang aufzulösen. Die Schilderung
einer aus zahlreichen Elementen kombinierten, gleichsam bild-
artigen Situation ist nichts Seltenes. Man vergleiche dazu auch
z. B. die Novellen von Maupassant. Das Raffinement eines
solchen Aufbaus wendet sich dabei an ganz andere Fähigkeiten
und Interessen der Phantasietätigkeit, wie sie das in Vorgängen
schildernde Märchen beansprucht. Die Sesarschen Wanderver-
suche entsprechen offenbar ebenso wie unsere Märchen den nächst-
liegenden und einfachsten Bedingungen des Phantasierens. Die
Dinge werden betrachtet, indem man unter ihnen umherwandert.
Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dafs man in kleinem
Rahmen das Einzelne scharf erfalst, sondern vielmehr, dafs man
vorwärts kommt und recht viel sieht. Auf diesem Stadium der
Entwicklung macht es noch Freude, sich umherzutummeln und
immer wieder Neues zu schauen und zu erleben.! Die qualitative
Mannigfaltigkeit, welche erst die Feinheiten des einzelnen, des
genau Betrachteten liefern, sowie eine besondere und persönliche
Betrachtungsweise des Beschauers sind hier noch ohne jedes
Interesse. Eben dies mag die eigentlich ästhetisch eingestellte
Art des Phantasierens von der Lust am blofsen lebhaften Spiel
ı Vgl. W. Srenn (38) S. 202: Das Kind hat „zunächst eine rein stoff-
liche Freude an der Fülle und dem Wechsel anschaulicher Vorstellungen,
die es — hörend oder selbst sprechend — an sich vorüberziehen läfst.“
l
40 Charlotte Bühler.
der Vorstellungen unterscheiden. Und wir begreifen sehr gut,
dafs die Märchen hier so völlig mit Sesaus Wanderversuchen
übereinstimmen, denn auch diese wurden nicht um ästhetischer
Betrachtung, sondern um erhöhter Vorstellungstätigkeit willen
angestellt. Dabei scheint das Märchen darauf auszugehen, den
kindlichen Hörer recht häufig zum Beteiligten und zum Helden
der Handlung werden zu lassen. Die von Seear als „persönliche
Vorstellungsweise“ bezeichnete Haltung des Vorstellenden, näm-
lich die Einfühlung und persönliche Teilnahme an den Vorgängen
mag recht häufig vorkommen.!
Ein wichtiger Umstand, den Secar betont, ist die Konti-
nuität der Vorstellungsfolge in den Wanderversuchen, selbst
bei Lückenhaftigkeit der Bilder. Auch diesem Bedürfnis nach
Kontinuität des Verlaufs wird im Märchen bedeutend besser
Rechnung getragen als in der Literatur des Erwachsenen. Der
Roman bricht seine Bilderfolge beliebig ab und setzt an anderer
Stelle neu ein. Das Märchen bringt in der Regel eine durch-
gehende Sukzession. Wir bleiben immer auf dem Laufenden
über das, was die ganze Zeit hindurch geschieht. Zeitläufte, die
übersprungen werden, sind zwar nicht selten, doch werden sie
als ereignislos betrachtet und ganz unauffällig ignoriert. Die
Jahre, die das Märchenkind im Walde zubringt, gehen spurlos
an ihm vorüber, man hat den Eindruck, die Handlung bewege
sich ununterbrochen weiter fort. Wo aber die Einzelvorgänge
eines Situationswechsels übersprungen werden sollen, weil sie
interesselos sind, da macht das Märchen vom Zaubermantel und
anderen Wundermitteln Gebrauch, um die Kontinuität der Hand-
lung nicht zu unterbrechen. In den folgenden Kapiteln, die sich
mit der Handlung beschäftigen, wird man noch davon hören.
Denn, wie auch Brout, betont, das Wandern mm der Vorstellung
ist bereits echte Handlung; da, wo die Situation in Sukzession
aufgelöst ist, bildet sie daher bereits einen integrierenden Be-
' standteil der eigentlichen Handlung.
Nach den bisher von SEAL veröffentlichten Resultaten können
I Vgl. die kindlichen Konfabulationen, von denen C. und W. STERN
(36) S. 103ff berichten, in denen vorzugsweise das eigene Ich mit in die
Erzählung verflochten wird. Vgl. dazu auch Goethes Knabenmärchen „Der
. neue Paris“ im zweiten Buch von Dichtung und Wahrheit. — Ferner tritt
bei der Bildbetrachtung die egozentrische Einstellung hervor, vgl. Stern
(35) S. 90ff und (38) S. 137.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 41
wir leider noch nichts über Umfang und Genauigkeit der
Vorstellungen beim Wandern entnehmen, was wir zum Vergleich
mit dem Märchen heranziehen könnten. Was sieht die Vp. beim
Wandern in der Vorstellung? Sieht sie Einzelheiten, oder sieht
sie in der Regel die Dinge nur so flüchtig, dafs sie sie eben
benennen kann? Formuliert sie sich den Namen der Dinge, die
sie sieht, der Einzelheiten, deren Auffassung beim Weitergehen
ihr noch eben gelingt? Falst sie die Dinge in ihrer individuellen
Besonderheit auf oder als Häuser, Menschen, Stralsen überhaupt ?
SEGAL sagt uns nur, die Vorstellungen hätten durchaus Wahr-
nehmungs- oder Wirklichkeitscharakter. Dann aber fragen wir weiter
nach den Wahrnehmungen bei wirklichem Wandern und Schauen.
Was wir bei wirklichem Wandern von den Dingen auffassen, im
Vergleich zu der Auffassung bei ruhender Betrachtung, wie sich `
das dann verhält zu dem in der Wanderung der Vorstellung
Aufgefalsten bliebe noch im einzelnen zu untersuchen.
Wir wissen vom Kind, dafs es ungenau wahrnimmt und
ungenaue Sachvorstellungen hat. Auch wissen wir, dals es mangel-
haft abstrahiert und so die wesentlichen Einzelheiten des Gegen:
standes oft nicht auffalst. Statt dessen greift es bisweilen be-
langlose Einzelheiten zufällig heraus und wendet ihnen hartnäckig
seine Aufmerksamkeit zu. | -g
Diesen Fähigkeiten entspricht es, wenn, wie wir sahen, das
Märchen sich aufgenaue Angaben niemalseinläfst. Andererseitsgreift
es spalshafte Einzelheiten gern heraus. Wie die Personen pflegen
auch die Dinge nur mit einer, höchstens zwei Eigenschaften
näher bezeichnet zu werden. Offenbar fafst das Kind — es
handelt sich hier immer um Anschauen und Vorstellen in der, wie
wir sahen, unablässig fortschreitenden Handlung — nicht mehr als
diese auf. Viele, ja die meisten Gegenstände werden gar nicht charak-
- terisiert, es wird nur mit dem Namen auf sie hingewiesen. Nur
. wenige werden zur Betonung durch irgendein Merkmal heran-
gezogen.
Dabei ist die Charakteristik höchst allgemein gehalten. Sehr
selten begegnen wir einem wirklich bezeichnenden Wort, das
etwas Wesentliches hervorhebt. Grofs und klein, schön und
häfslich, gut und böse, jung und alt kehren überall wieder. Eine
besondere Rolle spielt noch das golden, darauf werden wir
später eingehen. Es dient durchweg der Bezeichnung von Glanz
und Pracht, in der das Märchen ebensowenig modifiziert wie in
49 Charlotte Bühler.
seinen übrigen Bezeichnungen. Ganz wenig Adjektive trifft man
an, die im einzelnen Märchen individuellere Verwendung finden.
Wie irrelevant diese Charakterisierung ist, geht auch daraus her-
vor, dals sie in den Fassungen wechselt, wie sich aus einem
Vergleich der verschiedenen Auflagen der Gremm’ schen Märchen
ergibt.
Die Art der Charakteristik ist für das Märchen sehr be-
zeichnend. Sie gibt ihm etwas Leichtes, Harmloses. Die Dinge
gleiten spielend, kaum genannt, an uns vorüber. Weder die
Natur der Dinge, noch die der Personen wird zum Problem, zur
Sache genauer Betrachtung. So einfach wie das praktische Leben
selbst geht das Märchen mit ihnen um. Kein sorgfältiges Ab-
wägen, kein Nachdenken, keinerlei ästhetisch zielbewulste Formung.
Die Dinge, die Personen als solche — alles hat nur Interesse im
Flufs des Geschehens.
3. Kapitel.
Die Handlung im Märchen.
Als Handlung pflegen wir ein zielbewulstes Tun zu bezeichnen,
das seinen natürlichen Abschluls im Erreichen oder Verfehlen
des Zieles findet. Eine derartige Handlung mit bestimmtem Ab-
schluls enthält das Volksmärchen nicht. Sein Charakter ist viel-
mehr biographisch,! d.h. es erzählt in blofsem Nacheinander
die Geschichte und die Taten eines Helden. Eine oder mehrere
Episoden oder aber ei ganzer Entwicklungsgang wird berichtet.
Dabei haben die einzelnen Episoden selten einen anderen Zu-
sammenhang wie den der zeitlichen Aufeinanderfolge, und den
Abschlufs bildet ein hervorragendes Ereignis, in den meisten
Fällen eine glückliche Eheschliefsung. Das Überwiegen der Braut-
werbungsgeschichten unter den Märchen weist uns recht deutlich
darauf hin, dafs die meisten ursprünglich nicht für Kinder ent-
standen sind. Um so interessanter ist es, dals die Märchen jetzt
in so hervorragendem Malse, wenn auch in Auswahl, die Literatur
des Kindes bilden.
ı Vgl. Löwıs or Menar (23), 8. 30, 58.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 43
Nach welchem Gesichtspunkt sammelt das Märchen seine
Episoden? Zweifellos steht nicht das biographische Interesse als
solches im Vordergrund. Nicht auf den Lebenslauf seines Helden
kommt es dem Märchen an. Er soll nur recht viel und recht
Bemerkenswertes erleben und am Schlufs mit Ruhm und Glück,
gekrönt werden. Daher steht, in unserem Märchen wenigstens,
auch die Brautwerbung nicht so sehr an der Spitze und im
Mittelpunkt, vielmehr bildet die glückliche Hochzeit nur den
glänzenden Absehluls, weil sie in Verbindung mit einer hohen
Stellung das grölste Glück ist, welches das Märchen seinen Lieb-
lingen zu bescheren weils.
Den eigentlichen Mittelpunkt des Interesses, den Kern aller
Einzelheiten, die für das Milieu, die Verhältnisse und Situationen,
die Person des Helden und der anderen Personen erfunden sind,
bildet eine Reihe merkwürdiger und spannender Ereignisse, Taten,
Abenteuer. Auf sie allein kommt es wirklich an. Alles andere
dient nur als Rahmen, dient ihrer Verknüpfung und hat für sich,
wie wir sahen, kein Gewicht. Selbst der Held, dem alle Liebe
und Anteilnahme gilt, gewinnt sie nicht so sehr wegen seines
Charakters — dieser ist viel zu wenig und viel zu monoton ge-
zeichnet — sondern wegen seiner Taten, seiner leidvollen, gefähr-
lichen oder aufsergewöhnlichen Erlebnisse. Wenn wir von einer
Handlung im Märchen sprechen, so können wir allein diese Folge
von Taten und Geschehnissen unter den einen Namen zusammen-
fassen. Damit ist zugleich gesagt, dafs ein innerer Abschlufs
nicht erwartet werden darf, vielmehr dafs die Taten beliebig ge-
häuft aneinandergereiht oder abgebrochen werden können.
Wenn wir die Handlung des Märchens so fassen, haben wir
darunter auch die des mehr schwankartigen und des Tiermärchens
mit einbegriffen, welche eines eigentlichen Helden meist ent-
behren. Zugleich haben wir damit eine hier ausreichende Ab-
grenzung von Tiermärchen und Tierfabel gegeben. Ohne morali-
sierende Tendenz hat das Tiermärchen wie jedes andere Märchen
an einer bunten Folge oft spalshafter Ereignisse seine Freude.
Dieser absolut kunstlose Aufbau der Märchenhandlung ent.
spricht nun wieder ganz ausgezeichnet den Fähigkeiten des Kindes !
ı Auch die Erzählungen des Kindes selbst sind aneinandergereihte
Episoden, vgl. W. Stern (38), S. 201 ff und schon zuvor über die „Bedingungen
der Verkettung“ der kindlichen Phantasie 8. 196 ff.
44 | Charlotte Biihler.
und scheint seinen Bedürfnissen aufs beste angepafst. In der
Literatur des Erwachsenen finden wir selten ähnliches. Wenn wir
schon von dem durch einen Grundgedanken zusammengehaltenen
Drama absehen, so finden wir selbst in dem biographischen Roman
eine innerlichere Verkettung der Ereignisse, die, je kunstvoller der
Roman angelegt ist, um so ausschliefslicher durch die seelische
Entwicklung und die Anlagen der handelnden Personen bedingt
sind: Die Situation kombiniert sich allemal aus den verschiedenen
Tendenzen verschieden handelnder Personen. Wieder gibt hier
die sorgfältige Kombination den Ausschlag, das einzelne Ereignis
interessiert nicht mehr um seiner selbst willen, nicht als Ereignis,
sondern im Zusammenhang der mannigfaltigen Entwicklungs-
möglichkeiten. Etwas derartiges gibt es im Märchen nicht. Ohne
Rückhalt gibt sich der Hörer hier an das Einzelne hin, und
“ weder Gewesenes noch Kommendes kümmert ihn im Moment,
da ihn eine aufsergewöhnliche Tat beschäftigt. Keine andere
Verknüpfung wird verlangt wie die im Nacheinander der Zeit-
folge. Eine kombinatorische Leistung ist nicht erforderlich.
Was für Taten und Ereignisse bringt das Märchen? Es ist
bekannt, dafs die ungeheure Fülle der uns bekannten Märchen
bei näherem Zusehen auf eine grolse, aber doch überseh-
bare Menge von Motiven zusammenschrumpft, die sich in
zahllosen Varianten ein und desselben Stoffes, aber auch ver- `
schiedener Märchen immer wiederfinden. Ja, manches Märchen
scheint nichts als ein Konglomerat mehrerer Motive, die aus anderen
einheitlicher gebauten Märchen zusammengetragen sind. Diese
Motive zu sammeln und ihre Zusammensetzungen zu studieren,
bildet einen wesentlichen Teil der heutigen literarhistorischen
Märchenforschung. In den Motiven konzentriert sich nämlich
der Gehalt des Märchens und seiner Handlung. Denn wenn wir
ein und dasselbe Märchen von Volk zu Volk, ja sogar von einem
Stamm zum anderen verfolgen, so finden wir, dafs das einzig
Beharrende in den Varianten eine Anzahl von Grundmotiven ist,
während Ort und Landschaft, Milieu und Personen beliebig
wechseln. Die einzelnen Motive wahren einen festen Kern. Sie
erst enthalten letzte Grundbestandteile, letzte Invarianten,
die sich nicht mehr wandeln. 7
Schon 1864 hat J. G. von Haun bei Gelegenheit einer Samm-
lung griechischer und albanesischer Märchen eine Zusammen-
stellung von „Formeln“ unternommen. Diese Formeln sind nach
Das Mürchen und die Phantasie des Kindes. 45
von Haun Grundbestandteile, auf deren verschiedener Gruppierung
die Mannigfaltigkeit der Märchen beruht. Die einzelnen Formeln
` sind hierbei oft sehr komplexe und einem speziellen Fall ent-
nommene Motivgruppen, die zum Schlufs in ein Gesamtschema
eingefügt sind. Ihre Auswahl ist noch unvollständig und will-
kürlich in verschiedener Hinsicht. Seit diesem geistreichen Ver-
such ist viel unternommen worden, um erst einmal die wirklich
einfachen Grundmotive herauszustellen und vollständig zu
sammeln,! wobei eine systematische Gesamtanordnung bisher wohl
noch nicht möglich war. Für zahlreiche Motivgruppen aber
wurden solche Anordnungen bereits durchgeführt. Die voll-
ständigste Sammlung, die aber nicht den Gesichtspunkt syste-
matischer Anordnung im Auge hat, ist zurzeit die von BOLTE
und PoLıvka, als neue Ausgabe der Anmerkungen zu den GRIMM-
schen Märchen erschienen.?
Mag nun für die auf Vollständigkeit des Materials hin-
strebende und in weitem Umkreis sammelnde Forschung ein
Übersichtsschema noch nicht durchführbar sein, so wird sich
doch im engen Rahmen unserer Betrachtung, unseres kleinen
Untersuchungsgebietes und von dem begrenzten Gesichtspunkt
aus, den wir augenblicklich im Auge haben, die Anlage eines
solchen Schemas als möglich und nützlich erweisen. Unser Ent-
wurf will daher nur im Zusammenhang unserer psychologischen
Untersuchung brauchbar sein und dient dem Zwecke, bessere
Übersicht und Gesichtspunkte für unsere Folgerungen zu gewinnen.
Für unsere Zwecke unterscheiden wir zwei Hauptreihen von
Motiven, eine Motivreihe, welche die Handlungen der Märchen-
menschen umfalst, eine zweite, zu der alle Tatsachen und Um-
stände gehören, die den Märchenmenschen mitgegeben sind oder
! Die Literatur vgl. bei FRIEDRICH VoN DER Leyen (22).
3 Anttıi-Aarne (1) hat aufserdem eine Sammlung von „Märchentypen“
vorgenommen. Diese Märchentypen sind nicht Motive, sondern „den ein-
zelnen Märchentypen sind, soweit möglich, vollständige Erzählungen zu-
grunde gelegt worden.“ (S. V.) Die Sammlung hat in erster Linie den
praktischen Zweck einer systematischen Anordnung des Materials. „Es wäre
natürlich auch denkbar gewesen, ein systematisches Verzeichnis der ein-
zelnen Episoden und Motive auszuarbeiten, doch hätte dies eine solche
Zerstückelung aller vollständigen Märchenerzählungen zur Folge gehabt,
dafs der Forscher weit geringeren Nutzen aus dem Verzeichnisse gezogen
hätte.“ (8. V.)
46 Charlotte Bühler.
begegnen, wir nennen sie kurz Ereignisse. Jede Reihe um-
falst mehrere Gruppen.
Zu den Handlungen gehören in der Hauptsache: I. Wunder-
taten aller Art (Verwandlungen, Bezauberungen, übernatürliche
Leistungen), sodann 2. Heldentaten, zu denen wir auch die
Kraftproben und die Lösung schwieriger Aufgaben rechnen wollen,
sodann 3. Brautwerbungen und dazugehörige abenteuer-
liche Unternehmungen, sodann 4. Intelligenzleistungen,
seien es Proben besonderen Scharfsinns oder aber Torenstreiche
des Dummlings, schliefslich, von anderem Gesichtspunkt her,
5.normbedingte und Affekthandlungen; hierher gehört
nicht nur das Verhalten gegenüber bestimmten Ge- und Ver-
boten, der Gehorsam, die Übertretungen und Verstöfse, sondern
auch Vernachlässigung einer Warnung, die Befolgung besonderer
“Ratschläge, die Verwünschungen, sowie auch die eigentlich sitt-
lichen Vergehen und die dem Leiden und der Schmach trotzende
Geduld und Pflichterfüllung.
Zu den Ereignissen im weitesten Sinne, wie vorher definiert,
rechnen wir zunächst 1. wirkliche Abenteuer und Begegnungen,
sodann 2. alle jene besonderen Zufälle des Märchens, als da
sind Prophezeiungen, Geschenke, Funde, wunderbare Hilfen und
Glückszufälle, ferner 3. die von übergeordneter Instanz ausgehen-
den Wirkungen, Lohn und Strafe, schliefslich 4. bestimmte
Schicksalsgegebenheiten, z. B. die im Märchen häufig
als Ausgangspunkt einer wunderbaren Geschichte wiederkehrende
Kinderlosigkeit.
Ein solches Schema, wie wir es eben entworfen haben, bleibt
bei der Fülle der Motive nur ein Notbehelf und ein unvollstän-
diges Gerüst. Immerhin bietet es uns einige Anhaltspunkte zur
Zusammenfassung der Motive und zu ihrer Beurteilung, speziell
für unsern Zweck. Die Einteilung in Handlungen und Ereig-
nisse ist dabei durchaus nicht zwingend oder erschöpfend, dürfte
aber für uns die zweckmälsigste sein, denn wir betrachten die
Motive im Zusammenhang der Handlung. An sich könnte man
ebenso gut andere Einteilungsprinzipien zugrunde legen; z. B.
fällt sofort ins Auge, welchen grolsen Raum unter den Motiven
die das Familienleben betreffenden einnehmen. Von Haun geht
bei seiner Einteilung von ihnen aus. Doch zeigt sich, dafs dann
entsprechende Gesichtspunkte für die grofse Menge der übrigen
Motive fehlen. Diese erschöpfen sich durchaus nicht in Beziehungen
Das Marchen und die Phantasie des Kindes. 47
der handelnden Personen. Auch hier bleiben Liicken. Ver-
suchen wir also, wieweit wir mit unserm Schema kommen.
Den gröfsten Raum nehmen im Märchen die Wunder-
taten ein und unter ihnen vor allem die Verwandlungen. Kein
Märchen verläuft ja ganz ohne wunderbares Ereignis, einen
merkwürdigen Glückszufall, eine merkwürdige Begegnung usw.
Alles, was man wünscht, ist möglich; alle Märchen spielen in
der Zeit, „da das Wünschen noch geholfen hat“. In diesem
Sinne kann man unsere gesamten Märchen als Wundermärchen
bezeichnen, soweit sie nicht anders schwankartig sind und eine
Wendung ins Komische nehmen. Das schwankliafte Märchen
hat seine Pointe in der Komik und entschlägt sich des Wunders.
Doch das ernst zu nehmende Märchen legt allen Nachdruck auf
das wunderbare Ereignis. Dieses, in dem vorhin angedeuteten
Sinn des Wortes, ist der Wendepunkt der Handlung, ist ihre
Entscheidung.
Nach allem läfst sich gut begreifen, warum gerade das
Wunder im Märchen so hervortritt. Für den Wundergläubigen,
das Kind wie das Volk, birgt es eine Quelle heimlich genährter
Wünsche und Hoffnungen, grolser Erwartungen auf die Verwirk-
lichung eines aulsergewöhnlichen Ereignisses, das ihnen zu un-
geahnter Herrlichkeit verhelfen könnte. Irgend etwas soll ge-
schehen, etwas Besonderes, nicht Alltägliches, etwas Aufregendes
und Spannendes, das den Rahmen des Alltags sprengt, das einem
Traume gleicht und die nach Stoff suchende, umherschweifende
Phantasie wie das unbeschäftigte Denkvermögen anzuregen und
zu fesseln geeignet ist. Hier haben wir wohl den Kern erfalst.
Wir begegnen beim Volk wie beim Kinde einer unkonzentrierten,
unbeschäftigten und ungeschulten geistigen Anlage, einem Keim
geistigen Lebens, der Entfaltung in irgendeiner ihm unbekannten
Richtung sucht. Es fehlt ihm die Zielstrebigkeit des gebildeten
Geistes, und irgendeine unklare Expansion verdichtet sich ihm
zu Hoffnungen, Wünschen, Erwartungen eines Geschehens, das
die Befriedigung des unverstandenen Bedürfnisses bringen soll.
Erst der bei sich selbst ruhende, denkende und konzentrierte
Geist weils, dafs er vom äulseren Geschehen nicht viel für sich
zu erwarten hat. Der ungebildete Geist ist nach aufsen gerichtet.
Es ist sehr verständlich, dafs für ihn nur die Sensation zur
Anregung zu werden vermag. Um auch dem Einfachen, Alltäg-
lichen geistige Anregung entnehmen zu können, fehlen ihm Ge-
48 | Charlotte Bühler.
sichtspunkte und Kenntnisse. Er braucht das Wunder, um ge-
hoben und mit der Ahnung höheren Lebens erfüllt zu werden.
Erst von. dieser Einsicht aus können wir die Bedeutung des
Wunders für das Kind ganz ermessen.
An dieser Stelle gelangen wir zum erstenmal zu einer po-
sitiven Bestimmung dessen, was das Märchen dem Kinde
bietet, und dessen, was die kindliche Phantasie bedarf und vom
Märchen erwartet. Die Wunderhandlung, das aulsergewöhnliche
Zufallsereignis sind, qualitativ bestimmt, die Anregungen, die den
Geist des Kindes beschäftigen und erheben können. Von hier
aus gelangen wir zum Verständnis anderer Besonderheiten des
Märcheninhalts, wie sie uns etwa in den Proportionsverschie-
bungen, in der Tatsache der Fabelwesen, in der polaren Charak-
teristik schon entgegentraten.
Psychologisch analysiert läfst uns die Wunderhandlung des
Märchens und die Tatsache ihrer bevorzugten Stellung noch
‚einiges mehr entnehmen. Die unablässige Wiederkehr von Wun-
dern im Märchen lälst uns vermuten, dafs der rasche, vom Wunsch
dirigierte Vorstellungswechsel an sich für das Kind eine
Quelle der Lust ist. Damit ist ein Doppeltes festgestellt: einmal
die Lust des Kindes am Vorstellungswechsel überhaupt, am Spiel
mit den Vorstellungen, sodann die Lust am hemmungslosen Vor-
stellungsablauf in einer Richtung, die vom Wunsch bezeichnet
ist. So sicher das Wunder im Mittelpunkt der echten Märchen-
handlung steht, gelangen wir mit ihm an die wichtigsten Be-
ziehungspunkte des Märchens zu der Phantasie des Kindes: in
einem von Wünschen dirigierten, durch den Affekt des Aulser-
gewöhnlichen bestimmten und durch keine Verstandeskritik ge-
hemmten Vorstellungsspiel sucht die kindliche Phantasie ihre
regste Entfaltung. Sie mag hier in etwas der Traumphantasie
nahekommen, die wiederum umgekehrt vielleicht die Vorbilder
für die Wundergeschichten geliefert hat. ?
! Die Träume, die hier in Betracht kämen, brauchten nicht, wie
LaıstneR (19) sie allein als Märchenvorbilder kennt, nur Angstträume, oder
wie Feeup (10) annimmt, nur Wunschträume zu sein, sondern könnten, wie
schon Von DER Leen (20, S. 36) treffend gegen diese Einseitigkeit bemerkt,
auch „Träume der reinen Phantasie“ sein. von per Leyen selbst sieht
speziell für die Wundermärchen das Vorbild in Paroxysmen und Wahn-
sinnserscheinungen,
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 49
Den Hauptanteil an den Wundern und Zufällen haben die
eigentlichen Wundertaten im engeren Sinn des Wortes. Den
gröfsten Prozentsatz hilden hier in mannigfaltigen Motiven die
Verwandlungen und Verzauberungen. Seltener sind
wunderbare Belebungen, Auferweckungen und das Um-
herwandeln von Toten, sowie ferner die Lösung aus
einem Bann, die Begabung mit wunderbaren Fähig-
keiten. Dieser Gruppe der Handlungen entsprechen bei den
Ereignissen die wunderbaren Zufälle, wunderbare Ge-
schenke, Funde, wunderbare Hilfen, Prophezeiungen.
Die reichsten Variationen und Motive finden wir bei den
Verwandlungen und Bezauberungen. Folgende Einzelgruppen
können wir unterscheiden.
I. Gruppe:
1. Ein Mensch wird aus Bosheit in ein Tier oder einen leb-
losen Gegenstand verwandelt
a) durch einen Zauberer, eine Hexe oder ein anderes
Fabelwesen. Bisweilen hat die Verzauberung vor Be-
ginn der Geschichte stattgefunden.
Nr. 1, 43, 69, 85, 123, 161, 169, 193.
b) Kinder durch ihre gehässige Stiefmutter.
Nr. 11, 49, 141.
c) Eine vom Glück begünstigte Frau oder deren Kind
von ihren neidischen Verwandten (Stiefmutter und
Schwestern), oft nach ihrer ersten Niederkunft.
a) Nr. 13. 8) Nr. 135.
2. Ein Mensch wird infolge einer Verwiinschung (der Eltern)
oder durch ein ungliickliches Geschick zum Tier.
a) Nr. 25, 93. b) Nr. 9.
3. Ein Mensch wird zur Strafe für eine verbotene oder
schlechte Tat verwandelt.
Nr. 6, 76, 122.
4. Ein Mensch wird durch elterlichen Wunsch in Tiergestalt
geboren.
Nr. 108, 144.
‚Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 17. 4
50 d Charlotte Bühler.
. I. Gruppe:
_ Menschen verwandeln sich selbst, um sich vor Verfolgern zu
schützen.
a) Verfolgte Kinder. Nr. 51.
b) Verfolgte Geliebte. Nr. 56, 113.
c) Zauberer und Lehrling. Nr. 68.
III. Gruppe:
Eine verzauberte Person wird erlöst und vom Tier zum
Menschen zurückverwandelt.
a) Nr. 122, 93, 169.
b) Häufig in der Brautnacht. Nr. 1, 88, 108, .144.
IV. Gruppe:
Zauber durch Hindernisse-Werfen bei Verfolgung. Nr. 181.
V. Gruppe:
1. Tote wandeln umher. Nr. 11, 109, 154.
2. Tote werden auferweckt und wiederbelebt. Nr. 4, 6, 16.
Neben diesen wunderbaren Handlungen kommen eine An-
zahl wunderbarer Zufälle und Ereignisse vor; auch bei ihrer
Aufzählung können wir systematische Vollständigkeit nicht an-
streben. |
I. Gruppe:
a) Geschenke. Nr. 13, 135, 21, 127, 19, 60, 63, 130.
b) Funde. Nr. 19, 85, 57, 64, 122.
II. Gruppe:
Wunderbare Begabung
a) von Menschen (mit der Tiersprache). Nr. 17, 33.
(mit der Heilkunst). Nr. 42, 44.
b) Von Gegenständen. Nr.36, 54, 103, 130, 93, 193, 99, 116.
IHI. Gruppe:
Wunderbare Hilfen
1. durch dankbare Tiere. Nr. 15, 17, 21, 57, 60, 62, 107, 191.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 51
2: Durch Eingreifen von Fabelwesen oder plötzlich erscheinen-
den Menschen.
a) Nr. 13, 29, 31, 39, 55.
b) Nr. 14, 130, 136.
3. Durch wunderbare Werkzeuge.
Nr. 13, 16, 17, 36, 54, 88, 127, 188, 193, 93, 92.
IV. Gruppe:
Prophezeiungen. |
1. Unbedingte. Nr. 6, 50, 44.
2. Bedingte. Nr. 69, 97.
Nächst den Wundermärchen sind die häufigsten die, welche
von Taten und Abenteuern des Helden oder der Heldin berichten.
Es handelt sich dabei nicht nur um eigentliche Heldentaten,
sondern häufiger noch um die Erledigung besonders schwieriger
oder ganz unmöglicher Aufgaben, die gewöhnlich nicht ohne
wunderbare Hilfen zu leisten sind, bisweilen auch um Kraft-
proben oder Scharfsinnsproben. Solche Geschichten sind
fast durchgehend mit Brautwerbungsmotiven verknüpft, ohne
dafs diese stets im Vordergrunde ständen. Die Freude an den
Abenteuern, am umständlichen Bericht von der Durchführung
der Taten, der Überwindung aller Hindernisse und Schwierig-
keiten mit wunderbaren Hilfen ist meistens viel aktueller als die
eigentliche Heiratsgeschichte. Die Heirat ist oft nur der Lohn
und Abschlufs einer Reihe von Abenteuern; selten zieht der Held
schon mit der Absicht aus, eine Braut zu gewinnen; vielmehr
bewirbt er sich aus Abenteuerlust um die königliche Jungfrau,
weil ihn die Taten reizen, als deren Lohn sie versprochen ist.
Besonders liebt es das Märchen, einem armen Schlucker auf diese
Weise zu hohen Ehren, ja zur Königskrone zu verhelfen. Ein
armes Schneiderlein, ein als Dummling zu Haus mifsachteter
Bauernsohn, ein entlassener Soldat sind die Lieblingsgestalten des
Volkes in solchen Geschichten. In folgenden Märchen wird die
Braut durch Taten des Helden gewonnen:
Nr. 4, 16, 17, 18, 22, 28, 29, 57, 62, 63, 64, 92, 94, 97, 107,
111, 113, 121, 133, 144, 156, 166, 193.
Aber nicht nur in diesen eigentlichen Tatenmärchen caidas
Handeln so stark hervor. Fast alle tibrigen Motive des Marchens
sind in gleichem Mafse voll drängender lebhafter Handlung.
Überall geschieht etwas, niemals wird ein Zustand geschildert.
4*
52 Charlotte Biihler.
Kein Motiv, dafs uns eine ruhige unbewegte Gegebenheit zeichnete.
Einige der interessantesten Motive gehören zu den Brautwerbungen.
1. Die Entführung (Nr. 6, 46) oder Befreiung der Braut aus
einem Turm (Nr. 12, 193) oder Erlösung von einem Bann (Nr. 50).
2. Die Demütigung der Hochmütigen. Nr. 52, (111), 144.
3. Die Schuhprobe auf die Echtheit der Braut. Nr. 21.
4. Die Erlösung des Tierbräutigams. Nr. 1, 85, 88, 108, 123
(Baum), 144, 161. Tierbraut: 69, 63, 106, 93.
5. Die vergessene Braut (Nr. 56, 67, 186, 193, 198), welche
ihren Geliebten wiederzugewinnen trachtet.
6. Sie erlangt von der falschen Braut um drei Prachtgewänder
die Erlaubnis, drei Nächte bei dem Geliebten zu schlafen. Nr. 88,
113, 127, 193.
7. Der Bräutigam erkennt die rechte Braut wieder, an der
Stimme (Nr. 88, 193), am Gesang (Nr. 56), am Flötenspiel (Nr. 181),
an einem Ring (Nr. 67, 101).
8. Die Heldin gewinnt den Bräutigam auf einem Fest durch
ihre Schönheit; sie erscheint dreimal in Prachtgewändern wie
Sonne, Mond und Sterne, die sie entweder von diesen selbst oder
von einem Wunderbaum erhält, häufig in drei Nüssen. No. 21,
65, 186, (113, 127).
9. Die Braut wird gefunden, meist als Stumme im Wald
(Nr. 3, 9, 49) oder als unglückliches Kind. Nr. 11, 13, 31, 130.
10. Unterschiebung einer falschen Braut. Nr. 11, 13, 89,
135, (198).
11. Das Motiv Nr. 9 führt meistens nach sich, dafs durch
die gehässige Stief- oder Schwiegermutter die gefundene Braut
oder Gattin verleumdet und verstofsen wird. Nr. 9, 49. Man
klagt sie an, ihr Kind umgebracht zu haben. Nr. 3, 31, 49, 76, 96.
Ein höchst interessantes Kapitel bilden die Motivgruppen,
welche zur Motivation der Handlung beitragen. Sie gewähren
uns einen Einblick in die Moral und Reife der Märchenleute.
Schon oben konnten wir feststellen, dafs die Helden deg Mar.
chens, obwohl meist schon junge Leute, sich doch betragen
wie die Kinder und so naiv und unreif in ihrem Denken, Fühlen
und Wollen sind, dafs man sie unwillkürlich als Kinder betrachtet.
Nur wenige Personen des Märchens wirken als reife und männliche
Gestalten, wie König Drosselbart, allenfalls noch der Meisterdieb
und der Fischer. Sie allein bandeln zielbewulst, überlegt und
besonnen. Alle übrigen Personen handeln überwiegend affekt- und
Das Marchen und die Phantasie des Kindes. 53
instinktmafsig oder unter dem Einflufs einer Autorität. Intellek-
tuell motiviertes, bewufstes und autonomes Handeln finden wir
kaum. Die Initiative zu den ausschlaggebenden Handlungen
verleiht in der Regel ein Affekt. Neid und Bosheit der Stief-
oder Schwiegermutter, der häfslichen Schwestern, der älteren
Brüder führen zu Mifshandlung und Verbrechen, Zorn der Eltern
zu Verwünschungen, Habsucht und Sucht, einen augenblicklich
dringenden Wunsch befriedigt zu sehen, zu unverantwortlichen
Gelübden und unüberlegten Versprechungen, die dann oft nicht
gehalten werden, Rachsucht der Fabelwesen zu Vergeltungsmals-
regeln an ihren Beleidigern und Peinigern, andererseits Dankbar-
keit zu Bevorzugung des Freundlichen, Belohnung des Hilfreichen.
Abenteuerlust und Neugier sind starke Triebkräfte. Eine asketische
Geduld im Leiden wird vom Weibe verlangt und belohnt. Über-
haupt folgen Lohn und Strafe den Taten auf dem Fulse und auch
diese Auffassung von der Gerechtigkeit des Daseins berührt uns
kindlich.* Die Tat liegt stets klar nach der guten oder bösen
Seite hin; wo die Beurteilung nicht mehr so einfach ist, wird
der Märchenmensch unsicher, sehr deutlich im Meisterdieb. Dabei
ist die Bewertung der Handlung so durchaus unlogisch und
unzuverlässig, wie sie das stets beim Volke zu sein pflegt. Zwar
soll nur das Gute siegreich sein, und doch freut man sich, dem
anderen einen Schabernack spielen, ibn tibervorteilen zu können.
Zwar soll nur das Böse bestraft werden, und doch geht es oft
einem harmlosen Nebenspieler übel, weil er im Augenblick stört;
etwa der zweiten Braut, welche regelmäfsig nach dem Wieder-
finden der ersten getötet wird, auch wo sie offenbar unschuldig
ist (vgl. S. 16).?
! Scurins berichten von ihrem dreijährigen Jungen gelegentlich einer
Erzählung des Märchens von Hänsel und Gretel (31) S. 43: „Etwas, was’
gar nicht in seinen Kopf hinein wollte, war, dafs den Kindern Böses ge-
schah, obwohl sie artig gewesen waren. Wiederholt fragte Bubi: ‚War'n
die Kindern ungeBogen?' Als wir verneinten, meinte er ratlos: ‚Nu, weil
die alte Frau doch so böse is... .“ Die Strafe als natürliche Konsequenz
einer bösen Tat ist dem Kinde früh verständlich, vgl. Stern (38) S. 348.
: Es scheint, dafs sich an das Belohnen und Bestrafen starke Affekte
des Kindes knüpfen. Oder ist es nur die Sensationslust an den in solchen
Momenten stets recht sensationellen Handlungen? Das geht aus den bis-
herigen Beobachtungen noch nicht einwandfrei hervor. Ich habe folgende
Angaben: „Dreijähriges Mädchen: Lebhafte Befriedigung über die Über-
listung der Bösewichter, z. B. der Hexe in Hänsel und Gretel.“ Und dreimal
die Angabe: Freude, wenn die Hexe verbrannt wurde.
54 Charlotte Bühler.
Die Art des Lohnes und der Strafe ist nicht minder naiv
und äulfserlich. Den inneren Lohn des guten Gewissens findet
das Märchen nirgends ausreichend. Es verlangt überall eine
äulsere Manifestation der Beurteilung. Der Gute wird reich, wird
‚König, bekommt eine schöne Braut; die Schlechten werden grau-
sam zu Tode gemartert, „sie verdient, daß man sie nackt auszieht
und in ein Faß mit Nägeln legt und daß man vor das Faß ein Pferd
spannt und das Pferd in alle Welt schickt“, oder die Strafe des Feuer-
todes wird vollzogen, oder „er ward in einen Sack. genäht und
lebendig ersäuft“. Interessanterweise ist im Märchen die Nieder-
tracht und Bosheit viel häufiger Eigenschaft der Frau als des
Mannes. Die böse Stiefmutter findet an Schlechtigkeit unter
Männern nicht ihresgleichen, die böse Hexe ist häufiger als der
böse Zauberer oder der böse Zwerg, nur die neidischen Schwestern
haben Partner an den neidischen Brüdern. Andererseits ist auch
die Tugend des Weibes eine höhere als die des Mannes. Die
Standhaftigkeit und Geduld der edlen Frau im Unglück, etwa
der Gänsemagd, des Aschenputtel, des Zweiäuglein, der wahren
Braut usw. läfst alles weit hinter sich, was uns von Mut und
Ausdauer des Mannes berichtet wird. Das treubrüchige Weib
begegnet uns nur in den drei Schlangenblättern, dagegen kommt es
oft vor, dafs der Mann seine Frau oder Braut verlälst und vergilst.
Die zweite Gruppe der hierhergehörigen Motive ist die der
die Handlung beeinflussenden Autoritäten. Gebote, Verbote,
Warnungen und Prophezeiungen von Fabelwesen oder auch
Tieren leiten und begleiten fortwährend das Tun der Märchen-
menschen. Sie bestimmen aufserdem in einer merkwürdigen
Weise, wie wir noch sehen werden, den technischen Aufbau der
Handlung, indem sie die Entwicklung implizite vorwegnehmen.
Das Gebot und Verbot ist für den Aufbau stets mehr als solches.
Der Fall, den es als möglich hinstellt, wird stets zur Wirklich-
keit. In der Warnung wird der spätere Ablauf vorweggenommen,
es scheint immer, als sei die Warnung nur dazu da, um mils-
achtet zu werden, aus Gründen des Leichtsinns und des Affektes,
und regelmälsig tritt dann die prophezeite, mit der Übertretung
verknüpfte schlimme Folge als Hemmnis und Verwicklung des
Ablaufes ein. Die Handlung ist nichts wie die explizierte Prophe-
zeiung. Dieses für die Technik der Darstellung aufserordentlich
wesentliche und bezeichnende Verfahren ist überaus häufig an-
gewandt.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 55
An dieser Stelle interessiert uns nur, dafs das Handeln der
Märchenmenschen gleichsam eingespannt ist in Ge- und Verbot,
wie das Tun des kleinen Kindes sorglich von Rat und Warnung
der Erzieher umgeben und begleitet wird. Es ist weitaus die
grölsere Zahl der Märchen, die in dieser Weise inexpliziert vor-
wegnimmt, was später umständlich expliziert werden soll. Die
Formen dieser Vorwegnahme, zu denen wir einige SE bei-
bringen, sind folgende:
1. Prophezeiung. Nr. 50, 6, 17, 25, 44, 49, 69.
2. Versprechen und Gelübde. Nr. 1, 16, 31, 55, 14, 88, 108, 92.
3. Warnung und Verbot. Nr. 3, 5, 6, 11, 12, 26, 35, 46, 53,
69, 92.
4. Aufgabe und Gebot. Nr. 9, 21, 24.
Am auffallendsten und fast lächerlich ist die dauernde Mifs-
achtung der Warnung im goldenen Vogel (57). Man sieht hier
deutlich, dafs die Absicht vorliegt, die Handlung in die Länge
zu ziehen und möglichst viele Abenteuer einzuflechten. Das
ganze Märchen konstituiert sich aus dieser Folge von Abenteuern.
Auch mit dem Befolgen und Übertreten der Ge- und Ver-
bote sind Lohn und Strafe stets eng verknüpft. Die Fabelwesen
wachen eifersüchtig darüber, dafs ihren Anordnungen gehorcht
wird, und sind oft sehr rachsüchtig, wo man ihnen nicht folgt.
Schon mehrfach konnten wir im Märchen ein Zurücktreten
des Intellektuellen wahrnehmen, so zuletzt in der Motivation.
Bisweilen aber macht es gewissermalsen Intelligenzproben,
in den Scharfsinns- und Dummlingsgeschichten. Was für Leistungen
verlangt es da? Die Scharfsinnsproben gehören zur Kategorie
der Aufgabenmotive. Eine stolze Königstochter gibt nur dem
Manne ihre Hand, der ihre Fragen beantwortet oder der ihr so
schwere Rätsel stellen kann, dafs ihr Scharfsinn versagt. So im
„Rätsel“ (22). Die Aufgaben, welche hier vorgelegt werden, sind
nun aber durchaus keine Scharfsinnsproben, sondern sind einer
so speziellen Situation entnommen, dafs kein Scharfsinn je auf
sie verfallen könnte. Ähnlich steht es überall, wo besondere
Intelligenzleistungen verlangt werden, etwa ın den „drei Sprachen“
(33), im „Meisterdieb“ (192), „Rumpelstilechen“ (55), im „Teufel mit
den drei goldenen Haaren“ (29), im „Rätselmärchen“ (160). Zur Lösung
bedarf es stets ganz bestimmter Hilfen, die mit dem Scharfsinn
der Person nichts zu tun haben, sondern ihr durch Glückszufall
geboten werden. Eigentlichen Scharfsinn finden wir am ehesten
56 Charlotte Bühler.
noch in der „klugen Bauerntochter“ (94), welche einen tdrichten
Rechtsspruch ihres königlichen Gatten auf witzige Weise blofs-
‚stellt und welche dann, als sie zur Strafe dafür das Schlofs ver-
lassen soll und nur ihren liebsten Besitz mitnehmen darf, ihren
Gatten in einem Leinentuch in ihre Hütte entführt — das be-
kannte Motiv der Weiber zu Weinsberg. So wenig an eigent-
lichem Scharfsinn, so viel an bäuerlicher Gerissenheit führt uns
das Märchen vor, so im Bürle (61), am Schlusse des guten Handels
(7), in den drei Spinnerinnen (14), im klugen Gretel (77), im Bauer
und Teufel (189) u. a.
Noch gröfseres Vergnügen aber als die ins Komische ge-
wendeten Erfolge der Verschlagenheit bereitet offensichtlich die
extremste Borniertheit, die auf einer intellektuelleren Stufe als zu
dumm und zu grob keinen Lacherfolg mehr erzielen kann. Solche
Beispiele sind die kluge Else (34), der Frieder und das Kather-
lieschen (59), die klugen Leute (104), Hans im Glück (83), der kluge
Knecht (162), der kluge Hans (32). Hier ist die Dummheit wirk-
lich unerträglich auf die Spitze getrieben. Der Dummling ist
eine Lieblingsgestalt des Märchens. Er ist meist der jüngste, von
Vater und Brüdern verachtete und für dumm angesehene Sohn,
dem später das Glückslos zufällt, weil er durch Herzensgüte
und Unschuld — Tumbheit — sich die Gunst hilfreicher Tiere
oder Fabelwesen erwirbt. Hier tritt eine ganz offene Mifsachtung
der Verstandesklugheit zutage. Dieser zum Trotz kommt der
Dumme zu Ehren, weil man die Vorzüge seines Gemütes für
wesentlicher hält.
Die analysierten Motivreihen bilden den Kern der Handlung
in unseren Märchen. Ausgenommen davon sind allein die Tier-
märchen. In diesen finden wir nicht immer dieselben formel-
haften Motivgruppen wieder. Die Handlung ist hier viel einfacher
und wechselt von Fall zu Fall, sie ist meistens nur eine scherz-
hafte Episode aus dem täglichen Leben des betreffenden Tieres,
die anthropomorphistisch dargestellt ist.
Es würde zu durchaus künstlichen Konstruktionen führen,
wollten wir versuchen, jedem einzelnen Motiv Bedeutung für die
kindliche Phantasie zuzusprechen und nachzuweisen. Sind doch
die meisten jener seltsamen, bisweilen närrischen Motive Produkte
des Zufalls, historische Überbleibsel, an deren Stelle mit gleichem
Recht andere Überlieferungen stehen könnten. Aber doch mufs
dieser bunten Fülle zufälliger Einzelheiten, die das Märchen
Das Märchen und die Phantaste des Kindcs. 57
konstituieren, irgendein gemeinsamer und durchgehender Zug
anhaften, der ihnen als Glieder in der Kette des ganzen Märchens
"ihren Reiz und ihre Wirksamkeit verleiht. Mancherlei läfst sich
hier vermuten. Die wichtigsten Gesichtspunkte, die sich im Zu-
sammenhange mit dem, was wir oben über das Wunder sagten,
betrachten lassen, mögen folgende sein.
1. Die Phantastik und Seltsamkeit der Einfälle bei grölster
Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit des Auftretens sowie
gröfster Einfachheit der Darstellung mögen dem Kinde gut ent-
sprechen. Man weils, dafs das Kind mit sichtlichem Vergnügen
oft Sätze plappert, die es gar nicht versteht, Gedichte pomphaft -
rezitiert ohne ihren Inhalt aufzufassen und an der Fremdartig-
keit des Unverstandenen Freude bekundet. Vieles Unverstandene
wird auch im Märchen als vage Ahnung hingenommen werden.
— Andererseits mag vieles, was dem Erwachsenen seltsam und
phantastisch erscheint, dem Kind ganz natürlich vorkommen.
An den plötzlichen Entschlüssen, den unbegründeten Handlungen
der Märchenpersonen nimmt es keinen Anstols, weil es von einer
Motivierung der Handlung noch nichts weils, weil es selber
instinkt- und affektmäfsig ohne Überlegung handelt. Vieles tut
es grund- und zwecklos im Spiel, wie auch die Märchenmenschen
spielend das und jenes vornehmen, ihren Launen nachgebend
und der Tragweite der Folgen nicht achtend. Das Wollen und
Handeln des Kindes hat manche Ähnlichkeit mit dem der Märchen-
menschen. Aber auch seiner Art zu denken ist diese Auffassung
und Darstellung vom Leben und Handeln ganz adäquat.
2. Ein zweiter Gesichtspunkt, der mit dem eben berührten
zusammenhängt, ist das Zurücktreten des Intellektes. Gefühl,
Affekt und Instinkt sind die entscheidenden Triebkräfte. Der In-
tellekt wird nur im Dienste der Komik nutzbar gemacht für das
Motiv der Überlistung und der Torenstreiche. Die Klugheit wird
nicht entfernt so gepriesen wie etwa die Schönheit, und selbst
wo so etwas wie Scharfsinn verlangt und hervorgehoben wird,
liegt eigentlich eine vollständige Verkennung der Verstandes-
leistung vor. Das erklärt sich historisch aus der Heimat des
Märchens in den ungebildeten Kreisen des Volkes, ist nun aber
wiederum ein Umstand, der das Märchen für jedes Kind geeignet
macht, selbst wenn es unbegabt oder das geistige Leben in ihm
noch wenig rege ist. Ganz andere Ansprüche stellt gerade in
dieser Hinsicht das Anpersensche Märchen.
58 Charlotte Bühler.
3. Ein dritter Gesichtspunkt endlich ist die ungemeine Akti-
vität, die allen Motiven gemeinsam ist. Keines weist auf Zu-
standsschilderung hin, eine solche kennt das Märchen nicht: Alle
Motive bringen Handlungen, Vorgänge. Man würde vergeblich
einwenden, dals diese Tatsache mehr auf Rechnung der Dar-
stellung zu setzen sei. Es ist nicht nur die besondere Erzähl-
technik, welche alles im Flufs des Geschehens bringt. Auch der
Inhalt ist Geschehen, unaufhörliches Handeln, gegeben als eine
Bilderfolge, die einen dauernden Vorstellungswechsel anregt.
4. Kapitel.
Die Darstellung der Handlung.
Ist es nicht merkwürdig? Immer von neuem wiederholt
man, das Hauptinteresse des Kindes hafte am Fortschritt der
Handlung in der Erzählung, und doch kennt die ganze Kinder-
literatur kein Drama! — Nein; nach alledem, was wir nun schon
wissen, ist das durchaus begreiflich. Das Drama ist für das Kind
zu schwierig, weil es die denkbar gröfsten Anforderungen an die
Kombinationsgabe stellt. Das Drama gibt eine Szenerie und
einen Dialog. Die Szenerie will ergänzt und vervollständigt sein,
denn sie ist nur eine Andeutung und ein Ausschnitt aus der
Umgebung. Und ebenso bietet der Dialog nur Andeutungen über
alle näheren Verhältnisse und das Geschehen aulserhalb der
Szene. Diese Andeutungen wollen aufgefalst, ergänzt und zu-
sammengefalst sein. Zu keiner dieser Leistungen wäre das Kind
imstande.! |
1 Vgl. hierzu, was Pérez (27) über die Wirkung von dramatischen Vor-
führungen auf Kinder berichtet. _Er falst seine Ausführungen mit folgenden
Worten zusammen (p. 220): „Ainsi, les premières impressions de théâtre se
rapportent à quelques sensations dominantes de la vue, à des couleurs et
à des formes bien tranchées, à des images plus vagues et plus confuses de
spectateurs et d'acteurs, à quelques gestes et à quelques attitudes inter-
prétés d'une manière quelconque.“ Besonders interessiert uns für unsere
späteren Betrachtungen ein Bericht, den P£rzz den Memoiren von Alexandre
Dumas über die Erinnerung an einen Theaterbesuch im Alter von 3 Jahren
entnimmt (Pérez p. 219): ,On jouait Paul et Virginie & l’Op6era-Comique.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 59
Damit haben wir aber umgekehrt ungefähr bezeichnet, wie
die Handlung für das Kind beschaffen sein muls. Sie mufs ex-
pliziert und mit deutlichen Hinweisen versehen sein. Sie darf
keine Anforderungen an die Kombinationsgabe stellen. Beide
Punkte sind aufserordentlich wesentlich und in der eigenartigen
Technik der Märchenhandlung bestimmend. Wir werden mehr-
fach darauf zurückkommen. Die explizierende Darstellung ist
naturgemifs rein episch; wie wir wissen, hat sie im Märchen
biographischen Charakter. Und zwar kann die Handlung sich
in einer oder mehreren Episoden um ihren Helden reihen, oder
aber sie ist nach dem Ausdruck von Löwıs or MENAR! zweiaktig,
d. h. sie zerfällt in zwei Teile, deren jeder von einem Helden
beherrscht ist. Häufig ist dann der zweite Held der Gegen-
spieler des ersten (Frau Holle 24), der genau dieselben Erleb-
.nisse, nur stets mit umgekehrtem Erfolg wie der erste hat.
Persca ? nennt sie Doppelmärchen.
Diese Doppelmärchen machen in ihrer Anlage von der Tech-
nik der Wiederholungen Gebrauch®, dem einfachsten und
‘in der Volksliteratur aufserordentlich beliebten Stilmittel, dessen
sich die klassische Literatur des Erwachsenen bedeutend seltener
bedient. Nicht nur im Aufbau der Gesamthandlung, sondern
auch der einzelnen Episoden und Geschehnisse findet es reich-
liche Anwendung. Häufiger als die Wiederholung der ganzen
Handlung durch den Gegenspieler wie in Frau Holle ist die
- dreimalige Inangriffnahme eines Unternehmens* durch drei ver-
‘schiedene Personen, drei Brüder, deren letzter und jüngster erst
zum Ziele gelangt (Die drei Federn 63, die goldene Gans 64 u.a.).
‘Ebenso häufig ist die dreimalige Wiederholung bei der Lösung
‚von Aufgaben durch denselben Helden, die dreimalige Über-
windung von Hindernissen usw. Gleichviel wie man diese Er-
scheinung deuten mag, soviel steht fest, dafs sie sich grolser Be-
Une des plus notables impressions qui restèrent dans l'esprit de cet enfant
de trois ans, c’est que Mme de Saint-Aubin, qui tenait le rôle de Virginie,
était énormément grosse, ...“
1 (28), 8. 2ff.
3 (29), 8. 11 Anm.
® Anttı AARNE spricht von „Duplettenformen“ und „Analogieformen“.
(2), 8. 28f.
Vgl Arer, Oe (26). 1909.
60 Charlotte Bühler.
liebtheit erfreut. Und zwar müssen wir den Nachdruck weniger
auf die Tatsache der dreimaligen Wiederholung legen als
vielmehr auf die Technik der Wiederholungen überhaupt. Auch
in Scherzmärchen wird diese angewandt, wo mit denselben
Fragen oder Aufforderungen bei verschiedenen Personen die
Runde gemacht wird (Die schöne Katrinelje und Pif Dat Poltrie
131). Ebenso bildet bei den Häufungsmärchen die Wiederholung,
die jedesmalige Wiederaufnahme aller Tatsachen von Anfang an
den Grundstock (Läuschen und Flöhchen 30). Diese Form der
Häufungen findet sich noch öfter in Kinderreimen, sie scheint
schon den kleinsten Kindern aufserordentliches Vergnügen zu
bereiten.
Es mögen verschiedene Gründe für die Freude an der Wie-
derholung vorliegen. Einmal ist es die positive Gefühlsqualität,
die der Bekanntheitseindruck verursachen kann. Sodann ist es
der Reiz, selber mitmachen zu können, wenn schon Dagewesenes
sich wiederholt. Schliefslich ist, wie AxeL OLkık hervorhebt,
die Wiederholung ein primitives Mittel zur Hervorhebung des
Wichtigen, demgegenüber sich die nicht volkstümliche Literatur
eines anderen Mittels bedient: sie malt die einzelnen Teile aus.
„Der Volksdichtung fehlt zumeist diese lebendige Fülle, und sie
wäre mit der Schilderung sehr bald fertig: um das zu vermeiden,
hat sie nur einen Ausweg, die Wiederholung.“
Das Stilmittel der Wiederholung hält in glücklicher Gegen-
wirkung dem -dauernden Betätigungsdrang, dem Aufsuchen von
immer Neuem die Wagschale. Einerseits soll immerfort etwas
geschehen, soll Neues geschaut werden. Andererseits ist die
Fähigkeit, solches aufzunehmen und zu verarbeiten, begrenzt. An
Stelle der unbegrenzten Expansion tritt nun die Wiederholung
mit kleinen Variationen, welche eben hinreichen, um das In-
teresse aın Fortgang nicht erlahmen zu lassen und doch den
lustvollen Bekanntheitseindruck noch nicht zu verwischen. Von
ähnlichen Gedanken ausgehend leitet STERN eine ganze Reihe
von Analogiebildungen aus dem „gleichzeitigen Streben nach
Wiederholung und Abwechslung“ ab.! Der gröfste Prozentsatz
aller Märchen macht in irgendeiner Weise von diesem Stilmittel
Gebrauch, nur wenige verzichten darauf. Noch aus einem an-
deren Grunde mag das der Fall sein, und das führt uns zu et-
was Neuem.
| Wiiuiam Stern (37) 8. 53 ff.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. GI
Die Wiederholung ist eine Stilisierung der Handlung
und als solche eine Vereinfachung. Sie setzt voraus, dafs der
Verlauf den Erwartungen entsprechen wird, dafs keine unerwar-
teten Hemmnisse dem intendierten Ablauf einen Strich durch
die Rechnung machen. Die parallelen Entwicklungsreihen der
Wiederholungen sind stilisiertes Geschehen, keine realistische
Abbildung des Lebens. Und das ist denn überhaupt das Wesen
in der Handhabung der Darstellungstechnik: Stilisierung; An-
ordnung des Geschehens nach dem Willen des Erzählers, nicht
nach den Gesetzen des Lebens. Wo Hemmungen nicht er-
wünscht sind, dürfen sie nicht hineinspielen; doch wo man eines
bestimmten Zufalls bedarf, da ist der deus ex machina bereit;
und wo sie vom Erzähler in irgendeiner Form vorgesehen sind,
dürfen auch Hemmonisse den Verlauf komplizieren.
Die Formen, in denen uns eine solche Komplizierung an-
gekündigt wird, sind Prophezeihung, Gebot, Verbot und Warnung.
Von der Vorhersage wird in zahllosen Unternehmungen Gebrauch
gemacht. Schon ehe der Held sich an eine Aufgabe, an ein
Abenteuer wagt, werden ihm mehr oder minder ausführlich die
Gefahren und Schwierigkeiten genannt, die seiner warten. Auch
das Gebot ist meist mit einer Vorhersage verknüpft. Wenn das
und das geschieht, sollst du so handeln. Und die angedeutete
Möglichkeit wird auf alle Fälle eintreten, in solchem Fall sagt
das Märchen nichts zum Überflufs. Ebenso steht es mit Verbot
und Warnuug. Sie scheinen nur da zu sein, um übertreten zu
werden und den als möglich vorhergesehenen Fall sich verwirk-
lichen zu lassen. |
Schon bei dem einfachsten Mirchen der Jiingsten, dem Wolf
und den sieben Geißlein, können wir all diese Regeln beobachten,
die in zunehmender Komplizierung und Häufung auch für die
andern Märchen gelten. Die vorhergesehene Verwicklung ist
hier der listige Überfall des Wolfes. Die alte Geifs warnt ihre
Jungen vor dem Wolf, er wird kommen und Einlafs begehren.
Diese Warnung würde nicht erfolgen, wenn der Wolf nicht tat-
sächlich nachher kommen sollte. Und zwar wird es dann auf
Pfote und Stimme ankommen, denn die alte Geils macht aus-
drücklich darauf aufmerksam, dafs die Jungen ihn daran er-
kennen könnten und ihm den Eintritt daraufhin verwehren
sollten; sonst würde er sie fressen. Wir können sicher sein, dafs
die Pfote und Stimme nachher eine Rolle spielen werden, dafs
62 Charlotte Bühler.
der Wolf eine List anwenden und doch Einlafs erhalten wird
— denn sonst würde die Warnung nicht erfolgen. Diese
Vorwegnahme regelt für den Hörer den Gang der Entwicklung
und gibt ihm eine Art Disposition an die Hand. Ganz offenbar
ist eine derart zum voraus geregelte Handlung leichter aufzu-
fassen, die Explikation nimmt alle angedeuteten Teile auf und
macht so wiederum von der Technik der Wiederholung Ge-
brauch. | |
Andererseits darf nun aber nichts erfolgen, was störend den
so disponierten Verlauf durchbräche. Alles mulfs tatsächlich sich
so abspielen, wie vorgesehen. Vom Zufall aber wird erst da
Gebrauch gemacht, wo man seiner bedarf. Man will einen glück-
lichen Abschlufs. Also müssen die Geifslein durch einen glück-
lichen Zufall lebend im Bauch des Wolfes erhalten bleiben, mufs
die alte Geils rechtzeitig von dem Unglück erfahren, mufs der
Wolf noch in der Nähe und in einer Verfassung sein, die es
möglich macht, sich ihm unbemerkt zu nähern, ja ihm sogar
unbemerkt den Bauch aufzuschneiden. Der Wolf darf nicht
etwa aufwachen, fortlaufen, sich wehren, den Plan hindern. Auch
mufs er seine wohlverdiente Strafe sogleich empfangen. Man
betrachte daraufhin gleichviel welches Märchen, der Charakter
der Handlung bleibt immer der gleiche. Dem Wunsch des
Hörers wird ein eminenter Einflufs auf die Entwicklung der
Handlung zugestanden — das ist eine einzig im Märchen zu
beobachtende Eigenheit der Darstellungstechnik.
Diese Tatsache weist uns aber sogleich auf eine Eigenheit
des kindlichen Hörers, im Unterschied zu der Kunstauffassung
des Erwachsenen. Zwar wird auch dieser sich nicht völlig von
Sympathie und Antipathie gegen die im Drama oder Roman
handelnden Personen freimachen können, wird nicht völlig seine
Wünsche und bestimmten Erwartungen unterdrücken können —
und doch steht er letzten Endes dem Werk mit der ruhigeren
Objektivität gegenüber, die allein es dem Künstler erlaubt, die
Entwicklung der Personen nach dem ihnen selbst innewohnenden
Gesetz zu leiten. Ja, man hält es sogar für ein Merkmal der
Unbildung oder Unreife, wenn dem Erwachsenen das Verständnis
für die Notwendigkeit solcher Entwicklung fehlt, und die eigent-
lich künstlerische Betrachtung setzt erst da ein, wo die subjektive
aufhört. Ä
‘Eben diese Unreife aber charakterisiert naturgemäfs die kind:
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 63
liche Auffassung. Kunst in unserem Sinne gibt es für das Kind
nur ausnahmsweise. „Schön“ ist für das Kind die Geschichte,
welche ihm Freude macht oder es rührt. Die Beurteilung geht.
aus Affekt und Gefühl hervor, und aus ihnen heraus erfolgt auch
die Stellungnahme des Kindes zu der Fülle der Geschehnisse.
Sein Wunsch und seine Erwartung sind da vor allem richtung-
gebend.
Für die Richtlinien kindlichen Wünschens und Wollens wie
seines Denkens sind daher die Ereignisse des Märchens und ihre
Anordnung sehr bezeichnend. Viel Aufregendes soll geschehen,
selbst fremdartigen Grausamkeiten hält die ungebrochene Nerven-
kraft des Kindes stand. Auch Trauriges darf sich ereignen, da
wird reichliches Mitleid gezollt. Aber am Schlufs mufs es harm-
los befriedigend ausklingen. Ich habe nur ein GrımMsches
Märchen mit tragischem Abschlufs finden können (Der singende
Knochen (28). Optimismus und Gerechtigkeitssinn schreiben den
Ausgang des Märchens vor. Die gerechte Verteilung von Lohn
und Strafe ist Voraussetzung für ein befriedigendes Ende.!
Aber wie erklären wir diesen auffallenden Widerspruch des
kindlichen Kunstbedürfnisses, das einerseits nicht genug des Auf-
regenden, Grausamen, Traurigen bekommen kann, andererseits.
oft geradezu ängstlich darauf bedacht ist, am Schluls zu heiteren,
versöhnlichen, alles beilegenden Bildern zu gelangen?? Man mag
hier von der Schwäche und dem durch sie bedingten Optimismus
des Kindes reden, doch werden wir noch zu tieferliegenden
Gründen und tieferer Einsicht gelangen, wenn wir in dieser Hin-
sicht einen Vergleich zu dem Kunstbedürfnis des Erwachsenen
ziehen. Wir denken jetzt an dessen tragische Kunst, also etwa
! Aber einschränkend hierzu vgl. S. 16.
3 Eine Mutter berichtet uns, dafs ihr kleiner Sohn Märchen mit.
traurigem Schlufs niemals hören wollte und sich schon vor Beginn der
Geschichte eines glücklichen Endes zu vergewissern pflegte. — Hierher ge-
hören auch zwei Notizen von E. und G. Scurin (32) S.147: „Er (Bubi, dem
das Märchen von Rotkäppchen zum erstenmal erzählt wurde) seufzte in
den Augenblicken grofser Gefahr tief auf, verweilte aber bei diesen sicht-
lich am liebsten“ und S. 156: „Es wurde ihm recht drastisch erzählt, wie
der Wolf das Rotkäppchen frafs, da schrie er in ängstlicher Abwehr: „Nein,
nein, der Wolf soll nicht das Rotkäppchen aufessen, das Rotkäppchen sagt:
mein, du undefsogen Wolf!“ Allerdings ist hier auch eine andere Inter-
pretation denkbar, indem die Abwehr des Kindes sich möglicherweise gegen.
die drastische Ausmalung, d. h. allgemein gegen das Gräfsliche wendet.
64 Charlotte Bühler
eine Tragödie. Schon oft sind Nachforschungen darüber an-
gestellt worden, wie man sich den „Grund des Vergnügens an
tragischen Gegenständen“, um mit Schiller zu reden, zu erklären
habe. Ziehen wir gleich seine, später oft wiederholte Erklärung
des Tragischen hier heran, ohne indes unsere Folgerungen not-
wendig von ihr abhängig zu machen. Die Lust an dem tragischen
Geschick eines Wesens, das unseres Mitleids würdig scheint, ist
Lust als ein Bestandteil dieses Mitleids, welches Leid und Lust
zugleich enthält, und bleibt noch Lust, wenn der Untergang des
Helden doch zugleich ein Sieg einer höheren sittlichen Idee ist.
Gibt es beim Kind etwa ein ähnliches Bedürfnis? Mir scheint,
bereits im Kinde ist der Sinn für diese Kunstform angelegt. Zu-
nächst die Lust an den tragischen Schicksalen einer Lieblings-
person, das stimmt. Lebhaftes Mitleid wird gespendet. Aber
der Schlufs? Warum darf der Held nicht erliegen und durch
einen Tod den Sieg einer Idee besiegeln? Einfach genug, wir
stehen hier wieder an einer Grenze intellektueller Leistungsfähig-
keit des Kindes. Den Sieg einer Idee, während der Held doch
stirbt, würde es nie erfassen. Nur an dem geretteten, siegreichen,
mit Glück und Lob belohnten Helden wird ihm der Sieg des
ideell Wertvollen fafslich, weil sichtbar und real vorhanden. Wir
finden also hier in den dem kindlichen Verständnis angepafsten
Verhältnissen die Elemente allgemeiner künstlerischer Gesetze
wieder.
Aus dem bisher Gesagten werden wir schliefsen, dafs eine
Handlung mit vorher disponiertem Verlauf wünschenswert ist, um
volles Verständnis zu erzielen, dafs das Kind nicht fähig ist,
ohne vorherigen Hinweis eine Entwicklung vorwegnehmend zu
überschauen, dafs es auch unvorhergesehene Komplizierungen
nicht mit zu verarbeiten vermag. Die Explikation löst ın
eine Unzahl von Einzelakten auf, was in der Disposition angelegt
ist. Der Zweck dieser Auflösung ist nicht etwa Detailschilderung,
sondern Bereicherung des Geschehens und lebhafte Ver-
anschaulichung des Geschehens. Beide Gesichtspunkte sind
aulserordentlich wesentlich.
Genau betrachtet geschieht im Märchen ja nicht mehr als
anderswo auch. Ein Wolf frifst sieben Geilslein, die ihn gegen
Verbot der Mutter bei sich einlielsen; doch ereilt ihn die gerechte
Strafe. Eine Prinzessin, welcher der frühe Tod durch einen
Spindelstich prophezeit ist, wird infolge ihres Ungehorsams trotz
Ws.
"Mën, mu We, VA
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 65
aller Vorsichtsmalsregeln von ihrem Geschick ereilt; nach hundert-
jährigem Schlaf wird sie erlöst. Eine Prinzessin läfst ihre Gold-
kugel in den Teich fallen; ein Frosch holt sie ihr heraus, nach-
dem sie ihm versprochen hat, ihn zu ihrem Genossen zu machen;
gegen ihr Sträuben vom Vater gezwungen, ihr Versprechen zu
halten, erlöst sie dadurch den zum Frosch verzauberten Prinzen,
mit dem sie sich dann vermählt. Aber diese kurzen Handlungen
sind in so zahlreiche kleine Einzelmomente zerlegt, dafs sie reich
an Ereignissen scheinen. Wie wird diese Wirkung erzielt?
Was wir hier in knapper Form darstellen konnten, weil wir
nur die Grundgedanken heraushoben, mufs dort so weitläufig
werden, weil der Gedanke in anschauliche Bilder aufgelöst wird.
Es heifst nicht: um die Geifslein zu täuschen, wandte der Wolf
folgende List an — sondern in einfachem Nacheinander wird
umständlich berichtet, was der Wolf nun tat und nun tat und was
der schliefsliche Erfolg war, so dafs wir die einzelnen Stadien der
Handlung miterleben und den Wolf auf seinen Gängen in der
Vorstellung kontinuierlich begleiten können. Ebenso wird uns in
allen Einzelheiten berichtet, wie es dazu kommt, dafs die Prinzessin
die verbotene Spindel doch berührt, dafs die Froschprinzessin ihr
Versprechen brechen möchte und doch halten mufs usw. Von
den Absichten, dem Vorhaben, dem Gedanken, der dem Tun
vorangeht, erfahren wir nichts, dafür wird uns alles Tun selbst
ausführlich vorgeführt. Daher einerseits der Reichtum des Ge-
schehens, andererseits seine Anschaulichkeit.
Durch die Disposition und die Einzelheiten der Darstellung
wird also das Gedankliche umschrieben nahegelegt, der Gedanke
selbst wird nicht entblöfst. Die Disposition legt es zu späterer
Zusammenfassung zurecht. Der gedankliche Prozefs ist umgesetzt
in die aus ihm resultierenden anschaulichen Vorgänge. Bo ge
buet e dem Märchen, der Literatur der Jüngsten, mit Mitteln
der Anschauung allein seine Handlung aufzubauen.
Auch emotionale Erlebnisse werden gern durch ihre ob-
jektiven Kennzeichen fixiert. Sie werden nicht beschrieben, nicht
genannt, sondern in Handlungen, Ausdrucksbewegungen vorge-
geführt. Es heifst nicht: das kleine Mädchen war traurig, sondern :
es weinte. Überall verweist diese Darstellungstechnik den Hörer
auf die Aufsenwelt, die er schaut. Diese ist der Schauplatz
alles Geschehens. Eine Innenwelt wird nur erschliefsbar an-
gedeutet, sie gewinnt noch keine selbständige oder gar ausschliefs-
Beiheft zur Zeitschrift für angewandte Psychologie. 17. 5
66 Charlotte Bühler.
liche Bedeutung wie in der Literatur des Erwachsenen. — Das
entspricht der Lebensweise des Kindes. Das Kind lebt draufsen
in seiner Umgebung, es kennt noch keine reflektierende Selbst-
schau, kein In-sich-sein. Es kennt auch nicht die Tragweite des
seelischen Lebens, des Gedankens, des Willensentschlusses, des
Motivs. Man fesselt es nur, indem man ihm den Effekt vorführt.
An diesen knüpft es auch stets mit seinen Fragen und Über-
legungen ‘an. Es fragt nach Dingen, die es sieht und die ge-
schehen, nicht nach Erlebnissen der Innenwelt.
Aus der Anschaulichkeit alles Geschehens im Märchen folgt
seine Kontinuierlichkeit. Was sich dauernd vor unseren
Augen abspielt, kann nicht plötzlich abgebrochen werden. Unsere
Augen lassen es gleichsam nicht los, verfolgen es imıner weiter
überall hin. Nur da wo nicht der Verlauf des Geschehens als
solcher interessiert, kann ein plötzlicher Abbruch erfolgen. Der
Roman bringt uns eine Situation, einen Vorgang, der für die
Entwicklung der Personen, für ihre Lebensweise und ihren Lebens-
kreis besonders charakteristisch ist. Solcher Vorgänge greift er
beliebig viele, in kleinerem oder grölserem Zeitabstand mit geringerer
oder grölserer Vollständigkeit heraus. Das Märchen aber will
alles wissen, was der Held tut oder erlebt. Wo grölsere Zeit-
abstände übersprungen werden sollen, da müssen sie entweder
ignoriert werden, oder besondere technische Kniffe sind anzu-
wenden. Wir wissen bereits, dals das Märchen sich solcher be-
dient. Durch Zauber versetzt es die Personen schnell an einen
neuen Ort, an dem die Handlung weitergehen soll, wie Mephisto
den Faust im Zaubermantel in Auerbachs Weinkeller entführt.
Die Personen schlafen ein und erwachen in neuer Umgebung
oder doch in neuer Situation. So wird die Zeit des Stillstandes,
des Nichtgeschehens, des unbemerklichen Werdens kurzerhand
übersprungen. Da wo das Märchen einsetzt, ist immer gerade
ein Stadium reichsten Geschehens. Auch hier weicht die Technik
des Romanes ab. Sie entfaltet ihre grölste Kunst oft gerade in
der Schilderung des bedeutungslosen, aber für das wirkliche
Leben charakteristischen Alltags. Im Märchen gibt es keinen
Alltag. Der Ungebildete entflieht ihm durch das Märchen und
begibt sich in das Reich seiner Wünsche und Träume; das Kind
aber kennt den Alltag noch nicht oder doch nur seine eine Seite,
die Langeweile, welche mit Geschäftigkeit überwunden wird. Dem
entspricht das Märchen, welches geschäftig Geschehen an Ge-
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 67
schehen reiht. und die Langeweile überspringt. Es erhält in
dauernder Spannung, wozu nicht zum wenigsten die dispositionelle
Vorwegnahme beiträgt.
Das Märchen hat nirgends das Interesse, realistisch oder
künstlerisch darzustellen. Es wählt seine Darstellungsmittel nicht
bewulst. Frei von solchen Rücksichten will es einzig durch seinen
spezifischen Inhalt den Hörer fesseln. Daraufhin wählt es Per-
sonen und Dinge und benutzt es die Darstellungsmittel zu ihrer
Charakteristik. Man kann nicht schlechthin sagen, dafs es alles
Unnötige weglasse. Es ist nicht bewulst sparsam, es vereinfacht
nicht etwa aus künstlerischem Prinzip, sondern es nimmt auf,
was ihm gerade in den Weg läuft und interessant genug scheint.
So ist der Schmuck der Darstellung dufserst karg bemessen,
das sahen wir schon an dem Mangel an Beiwörtern." Nirgends
wird mit Absicht und Aufmerksamkeit der Blick auf Dinge und
Personen geheftet, was im Vorübergehen von Tat zu Tat gerade
auffällt, wird uns gezeigt. So wird denn auch durchaus nicht
immer gerade das Wesentliche und Charakteristische hervor-
gehoben. An Bildern und Vergleichen fehlt es naturgemäls
ganz.? Etwa zwölf wirkliche Vergleiche und zwei Metaphern
konnte ich in den ganzen Grimmschen Märchen auffinden. Hier
stofsen wir offenbar noch auf eine besondere Unfähigkeit des
kindlichen wie auch des ungebildeten Hörers. Er sieht der-
gleichen nicht oder sieht es doch nur in der realen Anschauung,
nicht in der Vorstellung.
Die einzige metaphorische Übertragung, der wir unausgesetzt
begegnen, ist die des Wortes „golden“. Mit ihr hat es, abgesehen
von ihrer rein formelhaften Anwendung auf alles, was prächtig
und reich scheinen soll, noch eine besondere Bewandtnis. Golden
sind Teller, Becher, Bestecke, Früchte, Tische, Stühle, Thron und
Krone, Haare, Kleider, Federn, Blätter und Apfel, der Regen der
ı Die Brüder Grimm haben bei ihrer Darstellung aus eigenem künst-
lerischen Empfinden schon vieles eingefügt, was wir in echt volkstümlichen
Darstellungen gar nicht finden. Man vergleiche die nach dem Bericht ein-
facher Leute wörtlich wiedergegebenen plattdeutschen Märchen von
WısskrR (43).
? Inwieweit Bilder in den Märchenbüchern die knappe Schilderung
ergänzen müssen, um etwa überhaupt erst dem Märchen eine eindringliche
Wirkung auf das Gemüt des Kindes oder volles Verständnis bei ihm zu
verschaffen, das zu beurteilen, ist allerdings der empirischen Forschung
vorbehalten.
Dë
68 Charlotie Bühler.
Frau Holle, die Kugel oder der Spielball der Prinzessin. Die
metaphorische Verwendung des Wortes golden gehört zu der
Reihe einfacher Übertragungen, von denen das Märchen
statt Vergleich und Metapher Gebrauch macht und die wir jetzt
näher betrachten wollen. Die einfache Übertragung ist wohl zu
unterscheiden von der bei Bild oder Vergleich (vgl. S. 72ff). Sie
ist die einfachste und früheste Umbildung gegenüber der Wirk-
lichkeit, die erste Leistung der neubildenden Phantasie, eine
noch frühere Erfindung als Verwandlung und Neukombination.
Wir haben sie schon gelegentlich als Analogiebildung erwähnt
und wollen jetzt ihre verschiedenen Formen zusammenstellen.
Als Übertragung von Eigenschaften und Handlungen haben
wir die Allbeseelung bereits kennengelernt. Man hat der
Allbeseelung schon von jeher in der Literatur so eingehende Be-
trachtungen gewidmet, und die Erscheinung ist so hinlänglich
bekannt, dafs wir nicht ausführlich darauf einzugehen brauchen.
Wir weisen nur darauf hin, dafs sowohl STERN ! wie auch SuLLY °
die Allbeseelung, welche die Grundlage aller Mythenbildung * ist,
durch analogistisches Denken entstanden glauben. Wir haben
also in der Allbeseelung unstrittig eine erste Form analogisti-
scher Ubertragung.
Auf der Allbeseelung, welche das Menschliche auf die Welt
der Tiere und leblosen Dinge wie auf die gesamte Natur über-
trägt, beruht letzten Endes die Erfindung der mythischen Ge-
stalten, also auch unserer Fabelwesen. WILLIAM STERN weist dies
ausführlich nach. Dabei mus man wohl unterscheiden: den
Glauben an ihre Existenz und die Ausgestaltung, die ihr Aus-
sehen durch die Vorstellungen erfährt, d. h. die Art, wie man
sie sich denkt. Wenn auch die Erfindung mythischer Geschöpfe
letzten Endes auf Analogieschlüssen beruht, so ist der Glaube an
ihre Existenz, ihre Einführung und ihr Verlarren in der Phan-
tasie der Menschen doch ein neuer gedanklicher Akt. Nur die
Tatsache der Allbeseelung, die zugrunde liegt, und die Aus-
gestaltung ihres Wesens, sowie die Ausstattung ihrer Erscheinung
sind analogistische Übertragungen.
Auf der zweiten Form analogistischer Übertragung, der
Ausstattung ihrer Erscheinung beruht die analogistische Um-
ı WILLIAM STERN (37).
® Surcy (41) 8. 26.
® Mythenbildung als Analogiebildung auch bei Wunpr (44) S. 76ff.
Das Mürchen und die Phanlasie des Kindes. 69
bildung der Proportionsverschiebung. Das Qualitative
der Erscheinung unterscheidet sich nicht von ınenschlichem Wesen
und Aussehen, das Quantitative aber ist über menschliches Mals
hinaus gesteigert, umgebildet nach Analogie. Verschiedene be-
kannte Qualitäten treten in so extremer Form auf, dals sie wie
Neubildungen gegenüber der Wirklichkeit wirken. Zu diesen
Proportionsverschiebungen gehört erstens die als Vergrölsern
und Verkleinern bekannte Erscheinung, zweitens aber die als
Übertreibung bezeichnete Steigerung und Häufung.
Die Steigerung und Häufung, das beim Kinde so beliebte
Übertreiben, ist auch ein beliebtes Stilmittel der Literatur des
Kindes. Einerseits scheint dabei das Übertreiben als solches dem
Kinde wie übrigens noch manchem Erwachsenen Vergnügen zu
bereiten; andererseits ist es aber ein ernstgemeinter stilistischer
Notbehelf für mangelnde Ausdrücke. Auch in der klassischen
literatur des Erwachsenen begegnen wir dem „Steigerungs-
phänomen“. Doch wird dort eine Steigerung nur zur Ver-
schärfung einer Charakteristik, zur Hervorhebung eines Bildes
in bewulst begrenztem Mafs und Umfang angewandt, während sie
in aller Volksliteratur aus dem schon von F. von DER LEYEN ver-
merkten „Hang zum Massenhaften“ ! hervorgeht und durch keine
Regeln des Geschmacks in ihrer Ausdehnung gehemmt wird.
In einem interessanten Aufsatz über „das Steigerungsphänomen
beim künstlerischen Schaffen“ ? weist O. STERZINGER die Bedeutung
der Steigerung als Vergrölserung, Vervielfachung und Verstärkung
für das Zustandekommen des poetischen Vergleiches nach. Es
dürfte kein Zufall sein, dafs das Material, an dem allein
in grölserem Umfang das Steigerungsphänomen nachgewiesen
werden kann, gerade der poetische Vergleich ist. Aufserhalb der
Bildersprache, der uneigentlichen, indirekten Charakterisierung
in der literarischen Darstellung wird sich kaum die Tendenz zur
Steigerung, als quantitative Steigerung betrachtet, nachweisen
lassen. Den Ausdruck auch auf qualitative Verschärfung, Kon-
kretisierung, grölsere Prägnanz der Darstellung eines Objektes
im Verhältnis zu dem Objekt selbst auszudehnen, halte ich nicht
für ratsam. STERZINGER selbst erwähnt die sich daraus ergeben-
den Schwierigkeiten der Beurteilung. Rurtas, der aus der Be-
! Volkeliteratur und Volksbildung (21) S. 116.
2 (39). Vgl. auch (40) S. 16 ff.
70 Charlotte Bühler.
obachtung des Phänomens beim Anhören von Tonwerken ein
Gesetz von allgemeinerer Gültigkeit, das Gesetz der Progression,
ableiten will, weils in der Literatur aulser Vergleich und Metapher
in der Hauptsache noch die Sagen und mythologischen Vor-
stellungen ! — also die Volksliteratur, zu der unser Märchen ge-
hört, als Beweismaterial anzuführen. Die Quantifizierung,
die in der klassischen Literatur sich in die Bildersprache des
Vergleiches zurückgezogen hat, begegnet uns in der Volksliteratur
als fast ausschlielsliches Stilmittel auf Schritt und Tritt.
Was die psychologische Deutung der Quantifizierung an-
langt, so haben wir die Erscheinung unter die Analogiebildungen
eingereiht und uns damit der Auffassung von Rutas genähert,
der das Zustandekommen der Progression als Substitution er-
klärt. STERZINGER stellt demgegenüber den Prozefs einer Unter-
schiebung (ein Ausdruck, der m. E. den Gegensatz nicht über-
mälsig klar hervortreten läfst). Die Unterschiebung ist nach
STERZINGERS Protokollbeispielen bald als eine steigernde Ausge-
staltung °, bald als eine Verschmelzung ? von Vorstellungen an-
zusehen. STERZINGER bemerkt im Verlauf seiner Argumentation,
dafs Rurus seine Schlüsse eben nur aus fertigem Material ge
zogen, den Schaffensakt selbst aber nicht beobachtet habe. Ge-
rade aus diesem Unterschied ergeben sich, wie mir scheint, die
beiden Gesichtspunkte für die Beurteilung der beiderseitigen Be-
hauptung. Vom Standpunkt des Schaffenden aus mag in
der Tat eine steigernde Ausgestaltung und Verschmelzung für
die Erklärung der Quantifizierung in Betracht kommen, für den
künstlerisch Genie/senden aber verläuft der Prozels beim
1 Far die Progression als qualitativ steigernde Ausgestaltung genommen
findet er natürlich auch in anderer Dichtung Belege.
® Vgl. Protokoll 89: „Wie grofse Brummfliegen summt das Milsver-
gnügen um mich herum.“ — „Ich bin sehr mifsmutig gestimmt, liege auf dem
Sofa und blicke gegen die miflsfarben-grünliche Wand und den mifsfarbenen
Vorhang. Eine Fliege summt herum; ...“ „Aus der Fliege wird Brumm-
fliege, ihre Laute (Lautheit) und damit ihre Gröfse wird unwillkürlich ver-
grölsert, .. .. das ganze ist ein ‚Aufgehen, Voluminös-Werden‘.“
® Vgl. Protokoll 41: „Das Auto sprang wie ein plumper Dickhäuter in
grolsen Sätzen die Strafse herab.“ „Ich höre ein schweres Lastautomobil
durch die Strafsen fahren. Steigerung: Vorstellung von einem Auto, das
rascher fährt, dann von einem, wie es die Strecke von einem Strafsen-
ende... bis zum anderen Ende in einem Ruck durchfährt, in diesem
Augenblick habe ich schon die Unterschiebung des Sprunges eines rasenden
Tieres usw.“
Das Miirchen und die Phantasie des Kindes. 71
Verstehen des Bildes doch wesentlich anders. Für ihn ist ja nicht
die zugrunde liegende Objektsvorstellung das Primäre, aus der
sich dann die gesteigerte Vorstellung entwickelt, sondern er wird
sogleich an diese herangeführt und setzt sie von vornherein, analog
beobachteten Erscheinungen, mit der gewünschten Steigerung. Vom
Standpunkt des einem Märchen lauschenden Kindes aus werden
wir daher die Ansicht beibehalten, dafs die Quantifizierung eine
analogistische Betätigung auslöst.
‚Die Quantifizierung der Ausdrücke muls die Diffe-
renzierung eines reicheren Sprachschatzes ersetzen. Auf den
roheren und ungebildeteren Geist wirkt überall die Quantität, erst
der verfeinerte Geist differenziert statt dessen die Qualität. Die
Ausdrucksweise des Märchens ist diesen Verhältnissen wieder
völlig adäquat. Die Quantifizierung wird hier zum Stilmittel und
äulsert sich in verschiedenen Formen.
Zunächst macht sich das Prinzip der Steigerung und Häu-
fung bei den Aufgaben als Quantifizierung der Schwierig-
keit geltend. Die Schwierigkeit und Unlösbarkeit der dem Hel-
den gestellten Aufgabe beruht meistens nicht auf der Art der
Aufgabe, sondern auf dem Mats, d bh ihrer unendlichen Fein-
heit oder Mühseligkeit. Viel häufiger als der Kampf mit dem
Drachen oder dem Wildschwein sind im Märchen Aufgaben fol-
gender Art: ein Haufen Linsen oder Federn soll aus der Asche
gelesen werden, ein ganzer Wald, ein Berghang voll Dornbüsche
soll in kurzer Zeit abgehauen, ein Berg in kurzer Zeit abgetragen,
ein Schlo[s in kürzester Frist errichtet sein, ein Teich mit einem
Löffel schnell ausgeschöpft werden, und dgl. mehr. Nur durch
eine Häufung der Arbeitsmenge entsteht die Lösungsunmöglichkeit.
Ähnlich sind Steigerung und Häufung Stilmittel zur Be-
zeichnung des Au[lserordentlichen einer Eigenschaft. Beide
Male verdeckt das Stilmittel den natürlichen Mangel. Es ge-
bricht der Märchendarstellung das eine Mal am Raffinement der
Erfindung, das zweite Mal an der Feinheit der Ausdrucksmittel.
Da es qualitativ unlösbare Aufgaben nicht raffiniert genug zu
ersinnen weils, muls es sie quantitativ häufen. Da ihm Worte
und Ausdrucksmittel zur prägnanten Charakterisierung des Aulser-
ordentlichen abgehen, so mufs es in seinem Wortkreis quantitativ
steigern. |
Am hübschesten kommt das zum Ausdruck in dem Märchen
vom Fischer und seiner Frau (19). Die Rangerhöhung vom König
12 Charlotte Bühler.
zum Kaiser weils das Märchen nur dadurch zu bezeichnen, dafs
es den hohen Thron des Königs sich noch zu zwei Meilen er-
höhen läfst. Statt aus Gold und Edelstein ist er nun auch aus
einem grolsen Stück Gold. Und als die Fischerin sogar Papst:
wird, bekommt sie eineu noch höheren Thron und statt einer
Krone drei Kronen auf den Kopf. Die Herrlichkeit ihres Hof-
staates wird dadurch markiert, dafs sie als König zu ihren beiden
Seiten in langer Reihe Jungfern stehen hat, eine immer um einen
Kopf kleiner als die andere; als Kaiser aber Trabanten in zwei
Reihen, immer einer kleiner als der andere, vom allergröfsten
Riesen, der war zwei Meilen lang, bis zum allerkleinsten Zwerg,
„der wöör man so groot as min lütlje Finger“; und als Papst zwei
Reihen Lichter, das grölste so dick und so grols wie der aller-
grölste Turm „bet to dem allerkleensten Käkenlicht“. Das Märchen
kann sich hier gar nicht genug tun in der Steigerung der ganz
einfachen Dinge, zu den ungeheuren Dimensionen, die sie ihm
zu etwas Besonderem gestalten. Ä
Neben der Lust am Übertreiben und dem Mangel an Aus-
drücken besteht beim Kinde wohl auch eine Unkenntnis der
normalen Grölsenverhältnisse, welche es in dieser Ausdrucksweise
unterstützt. Doch kann man die Vermutung aufstellen, dafs
es gerade im Märchenalter Proportionen kennen
lernt und übt, weil es solche auffallende Freude an ihren
mannigfaltigen Verschiebungen bekundet. .
Endlich lernen wir eine dritte Form der analogistischen
Übertragung kennen, die Merkmalsübertragung. Es ist die
Form, mit der auch Groos sich beschäftigt, wie wir schon oben
sahen (S. 29), die Übertragung von Eigenschaften auf Gegen-
stände, denen sie ursprünglich gar nicht zukommen. Wie ver-
halten sich zunächst diese von uns in Betracht gezogenen Über-
tragungen zu Metaphern und Vergleichen? Wenn wir mit
WILLIAM Stern als das „integrierende Moment“ der Metapher an-
sehen: die „Benennung eines Gegenstandes mit dem Namen eines
- anderen, ohne dafs diese Benennung die Wesensgleichheit der
beiden involvierte“,! wenn wir ferner mit StERN die Metapher
unter die Erscheinungsformen der Analogietätigkeit einreihen, so
haben wir zweifellos damit auch das Wesen unserer Merkmalsüber-
tragung charakterisiert. Doch wenn wir weiterhin mit W. STÄHLIN
ı Stern (37), S. 153.
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 73
als „eigentliche Metaphern“ nur diejenigen Fälle in Betracht
ziehen, „bei denen eine Bewulstseinslage der doppelten Bedeu-
tung vorhanden und ein metaphorisches Verstehen möglich ist“,!
so fallen aus diesem Rahmen unsere Übertragungen heraus.
Unter sie sollen nur solche Fälle mit einbegriffen sein, in
denen bestimmte Handlungen oder Eigenschaften einem Gegen-
stand zugeschrieben werden, dem sie sonst nicht zukommen, und
zwar solche Handlungen und Eigenschaften, die ohne Schwierig-
keit an jenem Gegenstand vorgestellt oder gedacht werden können.
Es soll also ein Bewulstsein der doppelten Bedeutung, eine Zwei-
heit der Sphären, nicht auftreten. Solche Fälle bezeichnen wir
als einfache Merkmalsübertragungen, die von den Meta-
phern zu unterscheiden sin? Diese überaus einfachen, den Ver-
gleich und die Metapher höchstens vorbereitenden Fälle sind die
einzigen, die sich wirklich häufig im Märchen nachweisen lassen,
vor allem im Gebrauch des Wortes „golden“. An eigentlichen
Metaphern und Vergleichen ist das Märchen, wie schon bemerkt,
sehr arm, und in Übereinstimmung mit anderweitigen Erfahrungen
müssen wir annebmen, dafs hier die Schwierigkeiten für das
Verständnis zu grofs sind. Gerade jene Zweiheit der Sphären,
die für das Verständnis der Metapher und des Vergleiches ent-
-= scheidend sind, zugleich zu beherrschen, ist das Kind offenbar
nicht fähig. Dagegen ein Blatt, das sonst grün oder rot oder
braun ist, nun einmal golden vorzustellen, kann ihm nicht schwer
fallen. |
Man wende nicht ein, dafs das Kind selber doch so häufig
in Metaphern und Vergleichen sich ausdrücke, die kinderpsycho-
logische Literatur habe zahlreiche solche Beispiele zusammen-
getragen. Gegen diesen Einwand bemerkt mein Mann,? dafs
der Vergleich in der Wahrnehmung etwas anderes ist wie
der in der Vorstellung. Denn, wie wir im Anschlufs an
Stiuuın fortfahren, der literarische Vergleich erfordert die un-
mittelbare Vergegenwärtigung zweier verschiedener Sphären in
der Vorstellung. Dazu ist das Kind ganz gewils nicht fähig.
Beim Wahrnehmungsvergleich ist die eine der Sphären als an-
schauliche Situation gegeben, nur die zweite braucht in der Vor-
stellung aus der Erinnerung ergänzt zu werden. Es ist interessant,
1 (84) S. 328.
2 a. a. O.
74 Charlotte Bühler.
wie bei einer der wenigen Metapbern des Märchens die blofse
Analogiebildung auch noch überwiegt, ohne dafs ein eigentliches
Ausdenken des Bildes erwartet wird. Im Dornröschen (50) schläft
nämlich das Feuer auf dem Herde ein, als Dornröschen den
Spindelstich empfängt. Aber dieses Feuer schliefst sich nur einer
grolfsen Reihe anderer Schlafender, dem gesamten Hofstaat und
Küchenpersonal an, denen analog es sich verhält.
In Abweichung zu Groos stellen wir also nochmals fest, dafs
es zum Verständnis der einfachen Übertragung keiner Kombi-
nationsleistung bedarf, sondern dafs sie in ihren verschiedenen
Formen als Analogiebildung hinreichend erklärt ist.
Von einer Handlung des Märchens haben wir bisher nur im
Sinne einer Folge von Taten und Abenteuern gesprochen und
die Mittel zu ihrer Darstellung im einzelnen verfolgt. Wie wird
nun das Ganze als Ganzes einigermafsen zusammengehalten?
Einen gewissen Halt gibt der Sache die dispositionelle Vorbe-
reitung, welche meist einzelnen Teilen, bisweilen aber auch dem
Ganzen vorangestellt ist. Doch vor allem stiftet den Zusammen-
hang natürlich die Person des Helden. Aber in welcher
Weise? Nicht etwa, dafs seine Persönlichkeit die Grundlage für
das Ganze abgäbe, sondern nur in der äufserlichen Form, dafs
sie Träger all der Einzelheiten ist. Es gibt keine Gesamthand-
lung, die aus dem Charakter des Helden hervorwüchse. Es sind
einzelne Eigenschaften an ihm zu beobachten, und diese geben
den Anstols zu einzelnen Taten, Verstöfsen und Leistungen; doch
sind sie unwandelbar, sind von Anfang an da, entwickeln sich
nicht, sind einfach als gegeben hinzunehmen, und die Gesamt-
entwicklung der Handlung ist unabhängig von ihnen wie von
jedem Motiv überhaupt. An eine Motivation der Handlung, der
von dem einzelnen Tun des Helden unabhängigen Begebnisse
denkt das Märchen überhaupt nicht. Niemals wird, wie im guten
Roman, der Held in einen gröfseren Lebenszusammenhang hinein-
gestellt, in dem alles Geschehen untereinander verkettet ist. Zu-
sammenhangslos tritt er aus einem Milieu in ein anderes, be-
gegnet ihm dies oder jenes durch Zufall. Das Märchen hat
keinerlei Bedürfnis nach Motivation der Handlung. Dem Kind
ist das nicht wunderbar oder anstöfsig. Was ihm begegnet, nimmt
es auch als Zufall, als vereinzelte Begebenheiten hin, zwischen
denen es kausale Zusammenhänge nicht vermutet, deren Zu-
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. TD
sammenfassung es nicht versucht und auch nicht zustande brächte.
Es lebt sorglos von einem Geschehen zum anderen.
Was will es nun besagen, dafs die Sukzession des Geschehens
wieder nicht kombinatorisch in Beziehung gesetzt und gefiigt ist,
sondern in ihrem losen Nacheinander belassen, aber doch von
einer Person als Träger zusammengehalten wird? Warum dann
diese äufserliche Zentralisation? Sie ist nicht so ganz äulserlich,
wie sie scheint, wie sie der denkenden Einsicht in die
Struktur des Ganzen vorkommen mufs. Der zentrale Beziehungs-
punkt des Märchens ist freilich kein gedankliches Zentrum und
gibt keinen gedanklichen Zusammenhalt. Doch ist er ein ein-
heitlicher Beziehungspunkt für das Gefühl. Alles subjektive
Interesse, welches ja so wesentlich für die Aufnahme literarischen
Stoffes durch das Kind ist, alles beteiligte Mitgefühl sammelt
sich um dieses Zentrum, welches der Märchenheld darstellt. Wir
beobachten in dieser Struktur wieder ein Zurücktreten des In-
tellektuellen zugunsten des Affektes.
Die ganze äulserst kunstlose Darstellungsweise des Märchens,
welche wir auf den vorangehenden Seiten betrachtet haben,
welche sich der primitivsten, jedem zugänglichen Stilmittel be-
dient, ermöglicht und unterstützt seine mündliche Überlieferung.
Ein erzählter Roman wäre nicht mehr, was er ist. Die Durch-
dringung von Inhalt und Form ist hier eine so vollständige, die
Abhängigkeit der inhaltlichen Wirkung von jeder subtilen Nuance
des Ausdrucks eine so grolse, dafs der Roman erst durch seine
schriftliche Fixierung entsteht und nur in ihr besteht. Ganz
anders beim Märchen. Auf den einzelnen Terminus kommt es
hier niemals an. Ja selbst die Personen, der Ort und das Milieu
können von Fassung zu Fassung wechseln, und doch kann der
Kern derselbe bleiben. Es besteht hier die denkbar gréfste Un-
abhängigkeit von Stoff und Form. Der eigentliche Gehalt sind
die um einen Helden gereihten Taten und Erlebnisse, welche in
jeder einfachen Darstellung dieselben bleiben. Einen Selbstzweck
der Darstellung von ästhetischem Gesichtspunkt gibt es in der Prosa
der Kinderliteratur noch nicht. Anders steht es wohl mit Reimen
und Rhythmen, welche als solche das Kind erfreuen. Zahlreiche
Verschen sind auch dem Märchen eingefügt, und es lälst sich
beobachten, dafs hier ein ästhetisch-formales Interesse des Kindes
erwacht, indem es die Verschen genau zu behalten sucht und
mitspricht. Wenn es auch gelegentlich den Prosatext in immer
76 Charlotte Bühler.
gleichen Wendungen erzählt haben will und den Erzähler ver-
bessernd unterbricht, so haben wir das doch auf andere Gründe
zurückgeführt (S. 60 ff.).
5. Kapitel.
Denkende und anschauende Phantasie.
Wir sprachen schon oben die Ansicht aus, dafs auch das
phantasierende Denken, nicht nur das phantasierende Schauen
spezifischer Natur ist. Nicht jedes Denken spielt sich wie das
der künstlerischen Phantasie in anschaulichen Situationen ab,
und selbst ein solches Denken kann noch sehr verschiedener
Art sein. Was charakterisiert die Denkweise des Kindes in seinen
Phantasieleistungen, und wie grols sind an diesen Leistungen die
Anteile des Denkens einerseits, andererseits die der Anschauung ?
Zweifellos räumt das Volksmärchen dem Denken einen nur ge-
ringen Raum ein, ja man kann es als die typische Anschauungs-
literatur bezeichnen. Alles was man an Mitteln äufserer Wahr-
nehmung hat, wird aufgeboten, der denkende Intellekt dagegen
tritt überall zurück. Die Darstellung beruht nicht auf ihm und
strengt ihn auch nicht an.
Charakteristisch für eigentliches Nachdenken ist das Ziel-
bewufste. Der Gesamthandlung des Volksmärchens fehlt jedes
Zielbewulstsein. Wir fanden an ihr mehr ein Gefüge aneinander-
gereihter Situationen, Taten, Ereignisse, denn eine geschlossene
zielstrebige Handlung. Unbeschadet des Zusammenhanges lielse
sich immer noch diese oder jene Episode einflechten. Dieselbe
ungezwungene und unabsichtliche Art beherrscht, wie wir oben
sahen, auch die Darstellungsweise. Da ist kein bewulstes Setzen
der Worte, keine nachdenkliche Formung, welche eine bestimmte
Wirkung erzielen will, sondern jeder Erzähler schaltet nach Belieben.
Der Hörer aber darf in derselben unbedachtsamen Art auffassen.
Er kann sich dem Einzelnen hingeben, das ihn interessiert, er
braucht nicht von Anfang bis zu Ende auf ein Ziel hin alles Ge-
schehen zusammenzufassen, er braucht in dem Abschluls keine
innere Konsequenz der Gesamtentwicklung zu suchen. Weder
zusammenfassendes noch zielstrebiges Denken werden
ernstlich angestrengt. Besonders interessant war die Beobach-
Das Marchen und die Phantasie des Kindes. 717
tung, dafs auch, wo in Einzelakten zielstrebiges Denken tatsächlich
vorlag, uns doch nicht dieses selbst, sondern sein Resultat be-
richtet wird. Die resultierende Tat, nicht die zielstrebige Über-
legung wird uns mitgeteilt. Zwar wird ein Rückschlufls von der
Tat auf die Überlegung nahegelegt durch eine dispositionelle
Vorbereitung, doch auch ohne den Rückschlufs zu vollziehen —
den das Kind vielleicht allmählich lernen soll — kann die Ent-
wicklung der Handlung mit Verständnis aufgefafst werden, wenn
Disposition und die explizierende Tatenfolge im Bewulstsein des
Aufnehmenden zusammenwirken.
So erfahren wir nicht, dafs der Wolf, um die Geifslein zu
täuschen, sich die Pfote mit Mehl bestreuen und den Fufs mit
Teig bestreichen läfst. Es genügt, dafs er es tut und tatsächlich
die Geifslein täuscht. Dafs er es darauf absehen mufs, wird nahe-
gelegt durch die warnende Voraussicht der alten Geifs, doch ist
dieser Rückschlufs nicht unbedingt erforderlich, um dem Verlauf
zu folgen. — Wenn Aschenputtel, Allerleirauh und andere Mädchen
in herrlichen Gewändern auf das Fest des Prinzen gehen, so
wissen wir nie, ob sie es schon mit der heimlichen Absicht und
Hoffnung tun, ihn sich zu gewinnen. Genug, es gelingt ihnen.
Zu welchem Zwecke wunderbare Geräte und Hilfsmittel verliehen
werden, erfahren wir nie zum voraus — genug, dals sie sich im
entscheidenden Augenblick bewähren. Das Märchenkind scheint
auch stets genau zu wissen, wie es sich ihrer bedienen muls, ein
Beispiel unter vielen sind die Geschenke der Itsche im Eisenofen
(127): drei grofse Nadeln, ein Pflugrad, drei Nüsse. Kein Mensch
wülste mit diesen seltsamen Mitteln über den Glasberg zu kommen,
aber die Prinzessin weils es. — Wenn König Drosselbart die
hochmütige Prinzessin als Bettler freit und in hartem Elend
leben und arbeiten läfst, so wird uns nicht gesagt, dafs er es in
der Absicht tut, sie zu erziehen und zu demütigen — der Erfolg
erst lehrt es. Ähnliche Beispiele könnten wir beliebig häufen.
Das Gedankliche des zielbewufsten Handelns wird dem Kind in
einer Art Umschreibung geboten, die es erst allmählich und durch
Übung zu enthüllen lernt — ähnlich wie man Abstraktes durch
Konkretes umschreibt. Hier liegt eine erste Anleitung zu rück-
schliefsendem und damit abstrahierendem Denken vor.
Vorausgesetzt wird ebensowenig wie zielstrebiges und
zusammenfassendes Denken die Fertigkeit im Abstrahieren. Man
mutet dem Kind, wie wir sahen, nicht zu, aus einem komplexen
78 Charlotte Bühler.
Charakter das Wesen des Menschen im einzelnen sich zu er-
schlielsen, herauszuabstrahieren. Eine Eigenschaft der Personen
wird mit hinreichender Deutlichkeit herausgehoben und zu
schärferer Pointierung in polaren Gegensatz zu einer anderen
gestellt (vgl. S. 14 ff... Von Vergleichen, welche zur Erkenntnis
des tertium comparationis abstrabierendes Denken verlangen,
nimmt das Märchen fast völlig Abstand (vgl. S. 67f., 72f.).
Erst in den Analogiebildungen erhebt sich die denkende
Phantasie des Kindes zu schöpferischen und aufserordentlichen
Leistungen. Die grolse Wichtigkeit, welche die Analogiebildung
und der darauf beruhende Analogieschlufs im volkstümlichen
und naiven Denken hat, betonte, wie wir sahen, W. Sırkx. Er
wies auf die hervorragende Beteiligung der Analogie bei aller
Mythenbildung hin und erklärte auch mit ihrer Hilfe die Ent-
stehung maucher Fabelwesen. Welche grofse Rolle noch sonst
die Analogiebildung in der Handlung des Märchens spielt, haben
wir an zahlreichen Stellen gesehen. Die verschiedenen Formen
der Übertragung (Allbeseelung, Merkmalsübertragung), die Pro-
portionsverschiebungen, die Steigerung und Häufung lernten wir
als Analogiebildungen kennen, welche sowohl an der Gestaltung
des spezifischen Inhalts, wie auch der darstellenden Formung
Anteil haben. Die wesentlichen schöpferischen Leistungen der
denkenden Märchenphantasie lassen sich insgesamt auf sie zurück-
führen.
Gelegentliche Ausblieke haben uns gezeigt, dafs ganz ver-
schieden davon die denkende Phantasiegestaltung des Erwachsenen
aussieht. Hier steht die Analogiebildung durchaus nicht im
Vordergrund. Alle wesentlichen schöpferischen Fähigkeiten offen-
baren sich hier in kombinatorischen Leistungen. Wir können in
diesem Zusammenhang naturgemäls keinen ausführlichen Beweis
für diese Behauptung erbringen; doch durch wiederholte Hin-
weise ist sie uns sehr nahegelegt worden. Wir sahen, dafs der
kombinatorische Aufbau des Milieu, der Situationen, des einzelnen
differenzierten Charakters und der Konstellationen, die sich aus
seinem Zusammentreffen mit anderen Charakteren ergeben, eine
ungleich gröfsere, ja fast ausschliefsliche Bedeutung in der Literatur
des Erwachsenen haben.
Soweit das Märchen überhaupt gedanklich fundiert ist, wird
es beherrscht von analogischem Denken. In jeder anderen Hin-
sicht tritt der Intellekt zurück. Wir finden keine Intelligenzauf-
Das Märchen und die Phantasie des Kindes. 19
gaben, die ein wirkliches Nachdenken erforderten (vgl. S. 55f.),
keine intellektuelle Motivierung des Handelns, sondern meistens
die Motivierung durch den Affekt (vgl. S. 52f.). Auch die ana-
logistische Umbilbung selbst gründet sich fest auf das anschau-
liche Material, von dem alle Märchenhandlung erfüllt ist. Von
der Anschauung geht die Handlung überall aus; was leistet uns
nun die anschauende Phantasie im Märchen ?
Auch hier wird auf gewisse Feinheiten, bestimmte Höchst-
leistungen von vornherein verzichtet. Die kombinatorisch
zusammengestellte Situation ist selten und arm, detail-
lierte und nuancierte Betrachtungsweise fehlt.
Dagegen treten besonders lebhaft einige Züge hervor, die in
späterer Literatur nicht mehr in solchem Reichtum, mit solcher
Verschwendung wiederkehren. Zunächst findet eine aufserge-
wöhnliche Übung des Vorstellungsmechanismus statt.
Plötzliche Veränderung des Bildes wird auf verschiedenste Weise
geübt, als Verwandlung, Verkleidung, Versetzung an einen an-
deren Ort und Umschlagen der ganzen Situation, als Zauber
des Tischchen deck dich, als plötzliches Erscheinen einer Person.
Diese szenischen Wechsel werden mit so lebhafter Spannung
und Freude vom Kinde begleitet, dals wir mit Sicherheit be-
haupten können, sie seien der Kern einer echten Märchenhand-
lung. Für das Kind des Märchenalters liegt hier das stärkste
Interesse, es übt offenbar mit Vergnügen an diesen plötzlichen
Übergängen die Gewandtheit und Fertigkeit des Vorstellens.
Wir beobachten ferner eine Übung im Proportionsver-
schieben. Hier kommt es nicht auf Schnelligkeit eines Über-
ganges an, sondern auf das Erfassen von Unterschieden und
Ähnlichkeiten der Gröfsenverhältnisse verschiedenster Art. Wie
viel gröfser muls Schneewittchen sein als die sieben Zwerge!
Kann es in ihr Häuschen überhaupt hinein? Wie sehen Teller-
chen und Messerchen und Bettchen dort wohl aus! — Dann das
Bild des Däumlings, etwa wie er auf dem Hutrand umherspa-
ziert und sich die Gegend beschaut. — Oder die Vorstellung des
Schneiderleins, das mit dem Riesen einen Baum schleppen soll,
sich stattdessen auf die Krone setzt und von dem überlisteten
Riesen tragen läfst. Die krassen Unterschiede und abnormen
Grölsenverhältnisse in diesen Bildern müssen für das Kind offen-
bar aufserordentlich lustbetont sein. Auch scheint es ihm natür-
lich zu sein, sich das Auisergewöhnliche von Eigenschaften und
80 Charlotte Bühler.
Gaben in rein quantitativen Steigerungen und Häufungen vor-
zustellen, wie das Märchen sie uns vorführt (vgl. S. 71f.).
Wie der schnelle Wechsel der Vorstellungen und das Spiel `
mit abnormen Gröfsenverhältnissen, so bereitet offenbar das
Wandern in der Vorstellung Vergnügen. Das Märchen
kennt keine Ruhe, keine Zustandsschilderung. Eine kunstvoll
aufgebaute, ruhende Situation finde keinen Anklang. Lebhafte
Bilderfolge, Bewegung während des Schauens ist überall Grund-
gesetz. So wird alle Situation in Sukzession aufgelöst (vgl. S.
36f.), und das Interesse für die Umgebung erwacht erst bei
ihrem Wechsel, bei plötzlichen Orts- und Milieuveränderungen
(vgl. 8. 28ff.). Bei diesen kindlichen, nicht künstlerischen und
nicht intellektuellen Phantasieleistungen spielt in der Tat das von
SEGAL so sehr betonte Wandern in der Vorstellung eine grofse Rolle.
Ein begleitendes Moment, das die anschauliche Tätigkeit des
Kindes überall charakterisiert, ist ein lebhafter Gefühlston,
der auf das Schauen gelegt wird. Schon das Schauen an sich
ist für das Kind eine Lust. So ist der Gefühlston, der sich auf
das einzelne Bild heftet, schon an sich intensiv akzentuiert;
aulserdem werden offenbar gefühlsbetonte Bilder den sachlichen
und ruhigen vorgezogen. Milieu und Situation werden gern so
gewählt, dafs sie zu Gefühlsbetonung Anlafs geben: grolse Pracht
und Reichtum, bittere Not und Armut sind häufiger als mittel-
mäfsige und ruhige Verhältnisse. Die gefühlsbetonte Situation,
ein verlassenes Kind im Wald, ein gepeinigtes und zurückgesetztes
Kind bei schwerer Arbeit, ein Jüngling im Heldenkampf oder
bei der Lösung schwieriger Aufgaben, die ihres Kindes beraubte,
verstofsene oder zum Tode verurteilte Mutter, der glänzende
Hochzeitszug der fiirstlichen Brautleute — alles das wird ein-
fachen alltäglichen Situationen bei weitem vorgezogen. Der Ge-
fühlston, den das Kind auf das einzelne, nicht einmal näher
geschilderte Bild verwendet, ist lebhaft und warm, denn das Kind
ist offenbar noch völlig von dem Aufsergewöhnlichen solchen
Bildes durchdrungen.
. Wir können zusammenfassend sagen, dafs das Kind besonders
lebhaft schauend durch die bunte Bilderfolge des Märchens
wandert, begleitet von intensiven Affekten, die sich teils als
Sympathie und Antipathie auf das Tun der Personen richten,
teils als Spannung, Bewunderung, Freude auf das Geschehen, das
unmittelbar anschaulich geboten wird.
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